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Full text of "Geschichte des Dirigierens"

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Geschichte  des 

Dirigierens 


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Date  Due 

Ubntrr  Bur«tu   Cat.  no.  1137 

Kleine  Handbücher 


der 


Musikgeschichte  nach  Gattungen 


Herausgegeben 

von 

Hermann  Kretzschmar 


Band  X 
Geschichte  des  Dirigiereiis 


von 


Georg  Schünemann 


Leipzig 

Druck  und  Verlag  von  Breitkopf  &  Härtel 

1913 


Geschichte 

des 


Dirigier ens 


Georg  Schünemann 


Mit  vielen  Orchesterplänen 


Leipzig 

Druck  und  Verlag  von  Breitkopf  &  Härtel 
1913 


Copyright  1913  l)y  Broitkopf  &  Härtel,  Leipzig. 

HL 


Printei)  i.i   Bermany 


Vorwort. 


Die  vorliegende  Arbeit  ging  aus  meiner  Untersuchung  über  das 
Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik  hervor1.  Bei  dieser  Studie, 
die  das  Direktionsverfahren  zur  Zeit  der  Niederländer  behandelte, 
ergaben  sich  so  viele  Abweichungen  von  der  heutigen  Praxis,  daß 
ich  das  Thema  weiter  zu  verfolgen  und  die  Entwicklung  des 
Dirigierens  im  Zusammenhang  darzustellen  versuchte.  Der  Schwer- 
punkt wurde  dabei  auf  die  ältere  Zeit  gelegt,  auf  den  Zeitraum 
zwischen  den  Jahren  1400  und  1800,  der  auf  Grund  eines  um- 
fassenderen Quellenm'aterials  behandelt  wurde,  als  es  den  wenigen, 
bisher  erschienenen  Beiträgen  zur  Geschichte  des  Taktschiagens  zu 
Gebote  stand2.  Es  kam  mir  bei  dieser  Arbeit  vor  allem  darauf 
an,  ein  möglichst  geschlossenes  Bild  von  den  Hauptphasen  der 
Geschichte  des  Dirigierens  zu  geben  und  durch  die  Darstellung 
der  älteren  Praxis  auch  dem  praktischen  Musiker  Anregungen  zu 
bringen.  Aus  diesem  Grunde  ist  die  älteste  Zeit,  die  Epoche 
der  alten  Kulturvölker  und  der  Griechen,  nur  so  weit  in  die 
Arbeit  einbezogen  worden,  als  sie  Grundzüge  für  die  weitere 
Entwicklung  aufgestellt  hat.  Das  19.  Jahrhundert,  das  eine  ge- 
sonderte Behandlung  erfordert,  habe  ich  dem  Thema  in  einer  kurzen 
Skizze  angeschlossen,   die   nicht  den  Anspruch  auf  Vollständigkeit 


*  Als  Berliner  Dissertation  erschienen.  Die  Arbeit  wurde  unter  dem  Titel 
»Zur  Frage  des  Taktschiagens  und  der  Textbehandlung  in  der  Mensuralmusik« 
auch  in  den  Sammelbänden  der  Internationalen  Musik-Gesellschaft  (Jahrgang  X, 
S.  73  f.)  veröffentlicht.  Ebenda  (S.  385  f.)  erschien  ein  kleiner  Nachtrag  zu 
dem  Aufsatz  von  Adolf  Chybinski. 

2  Eine  Übersicht  und  Kritik  über  diese  Vorarbeiten  habe  ich  bereits  in 
meiner  Dissertation  gegeben.  Die  wichtigsten  sind  die  Aufsätze  von  Emil  Vogel 
(»Zur  Geschichte  des  Taktschiagens«,  Peters- Jahrbuch  1898),  Rudolf  Schwartz 
(>Zur  Geschichte  des  Taktschiagens«,  ebd.  1907)  und  Ambrosius  Kienle 
(»Notizen  über  das  Dirigieren  mittelalterlicher  Gesangschöre«,  V.f.M.  1885). 
Nach  Abschluß  der  vorliegenden  Arbeit  erschien  noch  eine  kleine,  wenig  er- 
giebige Broschüre  von  Adolf  Chybinski  (»Beiträge  zur  Geschichte  des  Takt- 
schlagens«),  die  unberücksichtigt  bleiben  konnte. 


VI  Vorwort. 

erhebt,    sondern  nur  über  das  Fortleben  und  den  Ausbau  der  im 
Verlauf  der  Arbeit  aufgestellten  Theorien  orientieren  soll. 

Bei  der  Beschaffung  des  verwerteten  Quellenmaterials  waren 
mir  die  Vorstände  der  Bibliotheken  zu  Upsala  und  Brüssel  und 
namentlich  Herr  Prof.  Dr.  Albert  Kopfermann,  Direktor  der 
Musik-Abteilung  der  Kgl.  Bibliothek  in  Berlin,  behilflich.  Besonderen 
Dank  schulde  ich  Herrn  Geh.  Regierungsrat  Professor  Dr.  Her- 
mann Kretzschmar,  der  meine  Arbeit  durch  mannigfache  Rat- 
schläge unterstützt  und  gefördert  hat. 

Berlin,  im  Januar  4  913. 

Georg  Schünemann. 


Verzeichnis  der  Abkürzungen1. 

B.  B.  =  Kgl.  Bibliothek,  Berlin. 
V.  f.  M.  =  Vierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft. 
M.  f.  M.  =  Monatshefte  für  Musikgeschichte. 
I.  M.-G.  =  Internationale  Musik-Gesellschaft. 
Smlbd.  =  Sammelbände. 
Eitner  =  Biogr.-Bibliographisches  Quellen-Lexikon  von  Bob.  Eitner. 


1  Die  allgemein  gebräuchlichen  Abkürzungen  sind  hier  ausgelassen.  Gleich- 
zeitig möchte  ich  bemerken,  daß  der  Ausdruck  >Auf-  und  Niederschlag«,  den 
ich  im  Sinne  älterer  Musiktheoretiker  gebraucht  habe,  nur  die  Taktierbewegung 
kennzeichnet,  nicht  die  Folge  der  Taktschläge. 


Inhalt. 

Kapitel  I. 
Das  Takts chlageii  in  der  Musik  des  Altertums. 

Hörbares  Angeben  rhythmischer  Akzente  S.  1  f.  —  Die  Cheironomie 
S.  2  f.  —  Die  Rhythmik  in  der  griechischen  Musik  S.  3  f.  —  Das  Taktschlagen 
des  Chorführers  S.  4  f.  —  Verteilung  von  Auf-  und  Niederschlag  in  geraden 
und  ungeraden  Takten  S.  6  f.  —  Beispiele  aus  dem  Anonymus  Bellermanns 
und  den  Resten  der  griechischen  Musik  S.  7  f.  —  Charakter  der  Chordirektion 
S.  1 0  f. 

Kapitel  II. 
Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals. 

Rhythmik  der  Chorgesänge  im  Gregorianischen  Choral  S.  12  f.  —  Die 
Schola  Cantorum  als  Mittelpunkt  der  liturgischen  Organisation  und  ihr  Diri- 
gent S.  1  6.  —  Die  Cheironomie  im  Gregorianischen  Choral  S.  4  7  f.  —  Ihr 
Ursprung  aus  der  Musikübung  der  griechischen  Kirche  S.  19  f.  —  Der  Vor- 
sänger und  sein  Amt  S.  20  f.  —  Grundformen  der  Cheironomie  und  der 
Neumenschrift  S.  22  f.  —  Die  Neumation  im  Zusammenhang  mit  der  Chor- 
leitung betrachtet  S.  24  f.  —  Einführung  der  griechischen  Taktlehre  in  die 
Choraltheorie  S.  27  f.  —  Taktische  Direktion  der  Hymnen  S.  30  f.  —  Direktion 
von  mehrstimmigen  Sätzen  im  Organalstil  S.  32  f.  —  Einfluß  der  Mehrstim- 
migkeit und  Mensuralmusik;  die  musica  plana  S.  34  f. 

Kapitel  III. 
Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik. 

Die  Moduslehre  nach  griechischem  Muster  S.  36  f.  —  Vorzeichnungen 
zur  Messung  der  Tonquantität  S.  37  f.  —  Nachrichten  vom  Präcentor  und  vom 
Taktieren  mit  unbewaffneter  Hand  oder  mit  dem  Fuß  S.  38  f.  —  Der  Gebrauch 
des  Taktstocks  und  der  Kantorstab  S.  41  f.  —  Mißbräuche  beim  Taktieren 
S.  43  f.  —  Angabe  der  Mensur  in  der  Instrumentalmusik  S.  46  f.  —  Die  Takt- 
arten der  Mensuraltheoriker  im  16.  Jahrhundert  und  die  Verteilung  von  Au f- 
und  Niederschlag  S.  47  f.  —  Die  Takteinheit  S.  47.  —  Sinn  der  Taktzeichen 
und  des  »tactus<  S.  48  f.  —  Dauer  des  einmaligen  Auf-  und  Niederschlags 
S.  53  f.  —  Gleichmäßiges,  metronomisches  Taktieren  S.  54  f.  —  Taktieren 
zusammenfallender  gerader  und  ungerader  Taktarten  S.  56  f.  —  Direktion 
nach  dem  Chorbuch  S.  63.  —  Praktische  Winke  für  Chordirigenten  und  neue 
Anschauungen  vom  Dirigieren  S.  64  f.  —  Beteiligung  von  Instrumenten  bei 
der  Ausführung  der  Chormusik  S.  65  f.  —  Vorschläge  für  die  Übertragung  und 
Direktion  der  a  cappella-Literatur  S.  67  f. 


VIII  Inhalt. 


Kapitel  IV. 
Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance. 

Der  neue  Musikstil  S.  68  f.  —  Der  Continuo  als  stenographische  Partitur 
für  den  Kapellmeister;  Taktstriche  und  Notation  S.  70  f.  —  Umbildung  der 
alten  Rhythmik  in  die  Taktmetrik  S.  73  f.  —  Taktzeichen  und  Taktlehre  im 
17.  Jahrhundert  S.  74  f.  —  Die  Cembalodirektion  in  der  Oper;  Orchester- 
besetzung und  Instrumentenspiel  S.  76  f.  —  Taktschlagen  in  Chor-  und 
Kirchenmusikaufführungen  S.  86  f.  —  Taktstockdirektion,  Taktrolle  und  andere 
Hilfsmittel  des  Taktschiagens  S.  87  f.  —  Einteilung  der  Noten  auf  Nieder-  und 
Aufschlag  S.  90  f.  —  Pisas  Taktierform  S.  94  f.  —  Die  Leitung  mehrchöriger 
Musikstücke  und  ihre  Anordnung  S.  97  f.  —  Direktion  nach  den  in  der 
Musik  ausgedrückten  Affekten  S.  102  f.  —  Dynamik  und  Tempomodifikation 
S.  104  f.  —  Zeitdauer  des  Breventakts  S.  111.  —  Schwierigkeiten  der  Chor- 
leitung, und  unfähige  Dirigenten  S.  111  f.  —  Lautloses  Taktieren  S.  114  f.  — 
Zusammenfassung  S.  116. 


Kapitel  V. 
Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert. 

Taktlehre  und  Taktzeichen  im  1 8.  Jahrhundert  S.  1 1 7  f.  —  Verteilung  von 
Nieder-  und  Aufschlag  nach  der  alten  Theorie  S.  121.  —  Giuppentaktdirektion 
durch  wiederholtes  Auf-  und  Niederschlagen  oder  durch  Seitenbewegungen. 
Die  italienische  Taktierform  S.  123  f.  —  Französische  Taktierform  S.  124  f.  — 
Pointierter  Vortrag  S.  136  f.  —  Die  deutschen  Taktiermethoden.  Reaktionäre 
Stimmen  S.  141.  —  Vertreter  der  italienischen  Praxis  S.  142  f.  —  Neue  Figuren 
der  Gruppentaktdirektion  S.  145  f.  —  Der  Sieg  der  französischen  Taktiorform 
S.  150  f.  —  Hilfsmittel  des  Dirigierens  S.  153  f.  —  Unterscheidung  von  Kirchen- 
musik- und  Operndirektion  S.  154  f.  —  Taktschlagen  in  der  Kirchenmusik  und 
Proteste  gegen  den  Taktierlärm  S.  155  f.  —  Die  Klavierdirektion  in  der  Oper- 
und  Instrumentalmusik.  Wiederholtes  Anschlagen  der  Harmonien  und  Mit- 
spielen der  Hauptstimme  S.  162.  —  Vorschlagen  bei  pausierendem  Generalbaß 
S.  163  f.  —  Direktion  bei  Fermaten,  Kadenzen  und  Recitativen  S.  165  f.  —  Füh- 
rung des  Orchesters  durch  den  Konzertmeister  S.  169  f.  —  Doppeldirektion 
S.  170  f.  —  Meinungsverschiedenheiten  über  die  Bedeutung  des  Kapellmeister- 
und  Konzertmeisteramts  S.  172 f.  —  Zusammenfassung  S.  177.  —  Praxis  des 
Dirigierens.  Orchesterbesetzung  S.  178  f.  —  Orchesterstellung,  im  Konzert- 
saal S.  1 86  f.,  —  in  der  Kirche  S.  1 94  f.,  —  in  der  Oper  S.  1 99  f.  —  Einstimmen 
S.  203  f.  —  Vortragsfragen.  Schulung  der  Orchestermusiker  S.  205.  — 
Dresdener  Orchesterschule  S.  205  f.  —  Berliner  Schule  S.  207  f.  —  Mannheimer 
Schule  S.  209.  —  Ausarbeitung  des  Vortrags.  Dynamik  S.  211  f.  —  Echowir- 
kungen S.  211.  —  Kontrastierende  Dynamik  S.  21 2  f.  —  Crescendo  und  Decre- 
scendo S.213L  —  Tempobestimmung  nach  dem  Notenbild  S.  220  f.  — 
Tempovorschriften  und  ihre  Anwendung  S.  2ä1  f.  —  Tempobestimmung  nach 
dem  Pendelgesetz  bei  den  Franzosen  S.  224  f.  —  Quantz'  Tempoangabe  nach 
dem  Pulsschlag  S.  227  f.  —  Schnelle  Tempi  in  der  alten  Musik  S.  228  f.  — 
Tempo modifikation  nach  der  Affektenlehre  S.  229  f.  —  Affektbestimmung 


Inhalt.  IX 

in  Vokalwerken  S.  234  f.,  in  Instrumentalstücken  S.  236  f.  —  Vortrag  der 
Affekte  durch  modifizierte  Tempoführung  S.  239  f.  —  Junkers  Theorie  als 
Zusammenfassung  S.  242  f.  —  Politik  des  Kapellmeisters  S.  249  f.  —  Anzeichen 
einer  neuen  Musikpraxis;  das  Ende  des  freien,  subjektiven  Improvisierens 
S.  252  f. 

Kapitel  VI. 
Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland. 

Stellung  der  Kapellmeister  im  19.  Jahrhundert  S.  253  f.  —  Beseitigung  des 
Continuo  und  Ende  der  Klavierdirektion  S.  255  f.  —  Der  moderne  Taktstock- 
dirigent S.  258  f.  —  Nachteile  der  Taktstockdirektion  und  die  Gegner  S.  259  f.  — 
Vorteile  der  neuen  Praxis  und  ihre  Verbreitung  S.  261  f.  —  Joh.  Fr.  Reichardt 
einer  der  ersten  Fortschrittsmänner  S.  264.  —  Bernh.  Anselm  Weber  und  die 
Erfolge  seiner  Opernleitung  S.  264  f.  —  Die  neben  Beethoven  wirkenden  Wiener 
Kapellmeister  S.  265  f.  —  Otto  Nicolai  als  Dirigent  S.  269  f.  —  Ludwig  Spohr 
S.  271  f.  —  Spontinis  musikalisches  Regiment  in  Berlin;  Charakter  seiner 
Direktion  S.  274  f.  —  Carl  Maria  von  Weber  als  Kapellmeister  S.  278  f.  — 
Mendelssohns  Direktion,  ihre  Eigenart  und  Bedeutung  S.  283  f.  —  Meyerbeer 
S.  295  f.  —  Umblick  unter  den  Dirigenten  kleinerer  und  größerer  Musikplätze 
S.  297  f.  —  Das  Wirken  der  vormärzlichen  Kapellmeister  und  Gassners  Direk- 
tionsbüchlein. Kapellmeisterpolitik  S.  299,  Studium  S.  299  f.,  Taktierbewegungen 
S.  300,  Besetzung  der  Orchester  S.  302  f.,  Stellung  der  Instrumente  in  der 
Kirche  S.  305  f.,  im  Konzertsaal  S.  308,  bei  Musikfesten  S.  308  f.,  Orchester- 
disposition im  Theater  S.  312  f.  —  Allgemeine  Vortragslehren,  Tempofüh- 
rung S.  316  f. 

Kapitel  VII. 
Ausblick. 

Die  französische  Musikübung  als  Ausgangspunkt  einer  neuen  Direktions- 
richtung S.  318  f.  —  Habenecks  Direktion  S.  319  f.  —  Berlioz'  Bedeutung  im 
Direktionsfach  und  die  Grundzuge  seiner  Direktionslehre  S.  323  f.  —  Franz  Liszt 
als  Dirigent  und  sein  Vortragsstil  S.  328  f.  —  Richard  Wagners  Direktion. 
Grundlagen  seiner  Vortragslehre  und  der  Aufsatz:  >Über  das  Dirigiren« 
S.  333  f.  —  Wagners  Lehre  im  Zusammenhang  mit  der  älteren  Direktions- 
literatur S.  339  f.  —  Ihre  Stellung  zur  Lisztschen  Richtung  und  zur  Men- 
delssohnschule S.  341.  —  Hans  von  Bülow  als  Apostel  Lisztscher  und  Wag- 
nerscher Ideen  S.  342  f.  —  Umblick  unter  den  modernen  Dirigenten  S.  344. 


Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    X. 


Erstes  Kapitel. 
Das  Taktschlagen  in  der  Musik  des  Altertums. 

Die  primitivste  Art  des  Taktschiagens  ist  ein  hörbares  An- 
geben rhythmischer  Akzente,  etwa  durch  Zusammenschlagen  der 
Hände,  durch  Klopfen  oder  Schlaginstrumente.  Bei  den  Natur- 
völkern wird  noch  heute  Gesang  und  Tanz  mit  solchen  Takt- 
schlägen begleitet,  mit  Klappern,  Becken  und  Pauken  der  ver- 
schiedensten Form,  mit  Händeklatschen  und  Fußstampfen.  Der 
Rhythmus  ist  das  eigentlich  gestaltende  Prinzip  dieser  Musik.  Nicht 
die  Führung  der  Stimmen,  nicht  die  melodischen  Linien  geben 
ihren  Gesängen  den  Charakter,  sondern  die  hineilenden  Schläge 
der  Trommeln,  die  gedämpften  Klänge  der  Pauken,  die  anfeuern- 
den Rhythmen  der  Tanzschritte  oder  die  gleichmäßig  pochenden 
Schläge  der  Instrumente,  zu  denen  eine  fast  improvisatorisch 
gehaltene,  scheinbar  frei  und  willkürlich  gesungene  Sprachmelodie 
vorgetragen  wird.  Man  kann  viele  von  diesen  Stücken  nach  den 
Phonogrammaufnahmen,  die  im  Berliner  psychologischen  In- 
stitut aufbewahrt  werden,  analysieren  und  wird  doch  immer  bei 
der  rhythmischen  Aufzeichnung  der  Weisen  Schwierigkeiten  finden, 
da  unser  moderner  zwei-  und  dreiteiliger  Gruppentakt  der  exo- 
tischen Musik  fremd  ist.  Versucht  man,  durch  Nachzählen  der 
rhythmischen  Schwerpunkte  andere  Gruppierungen  oder  Perioden 
aufzustellen,  so  trifft  man  oft  auf  7-  oder  15-teilige  Takte, 
die  wir  nicht  mehr  als  ein  Ganzes  auffassen  können.  Aber 
diese  komplizierte  Rhythmik  und  das  frei  Rezitativische  des 
Gesanges,  der  mitunter  einem  exstatischen  Rufen  und  Jauchzen 
gleicht,  beruht  doch  auf  innerer  Gesetzmäßigkeit,  auf  einer 
Gliederung,  die  nicht  immer  leichte  und  schwere  Rhythmen  in 
gleiche  Teile  teilt,  sondern  nach  dem  Charakter  des  Stückes  und 
der  Textbetonung  frei  akzentuiert.  Allerdings  gibt  es  in  der  exo- 
tischen Musik  auch  viele  Tanzlieder  in  taktischem  Gleichmaß, 
sie  bilden  aber  bei  den  von  abendländischer  Kultur  unabhängigen 
Stämmen  die  Ausnahme.  Meist  sind  die  Stücke  so  gebaut,  daß 
durch  fortlaufende  Trommelschläge  ein  fester  rhythmischer  Halt 
gegeben  wird,  nach  dem  sich  der  Gesang  in  sprachmelodischen 

Kl.  Handb.  der  Musikgesell.  X.  1 


2  Erstes  Kapitel. 

Formen  und  Formeln  bewegt.  Für  die  Ausführung  der  über- 
lieferten Kult-  und  Gebrauchsmusik  genügt  daher  ein  Vorsänger, 
der  den  Sängern  Ton  und  Tempo  angibt  und  mit  lauter  Stimme 
mitsingt,  während  Musiker  und  Tänzer  die  Stücke  mit  Schlag- 
instrumenten oder  durch  Fußstampfen  und  Händeklatschen 
rhythmisch  begleiten. 

Ähnlich  haben  wir  uns  die  Musikübung  der  alten  Kulturvölker 
zu  denken.  Auch  bei  ihnen  stand  die  Freude  am  rhythmischen 
Element  der  Musik  im  Vordergrund  der  Kunstübung1.  Auf  aus- 
gegrabenen Reliefs  und  Malereien  sieht  man  Tanzszenen,  Umzüge 
und  Festbilder,  bei  denen  Lärminstrumente,  Klappern,  Zymbeln, 
Sistren,  Pauken  und  auch  Taktschläger  eine  große  Rolle  spielen2. 
Man  wird  annehmen  können,  daß  auch  in  diesen  Epochen  die 
Musik  durch  Vorsänger  und  durch  lautes  Taktschlagen  geleitet 
wurde. 

Neben  diesem  Markieren  des  Taktes  gab  es  in  alter  Zeit  noch 
eine  andere  Art  der  Gesangsleitung,  die  sogenannte  Gheironomie, 
die  man  namentlich  in  Kultgesängen  anwandte.  Sie  bestand 
darin,  den  Verlauf  der  Melodie  oder  ihren  Vortrag  durch  Be- 
wegungen der  Hände  und  Finger  anzudeuten3.  In  der  vedischen 
Musik  soll  der  führende  Sänger  beim  Gesang  der  heiligen  Melodie 
die  Töne  an  den  Knöcheln  der  rechten  Hand  bezeichnet  und  mit 
dem  Zeigefinger  der  linken  darauf  geschlagen  haben,  eine  Me- 
thode, die  als  Gedächtnishilfe  für  die  Sänger  ausreichen  mochte4. 
Vortragsnuancen  drückte  man  durch  ähnliche  Zeichen  aus:  z.  B. 
die  Schwäche  dadurch,  daß  man  mit  dem  Daumen  der  Rechten 
über  die  Fingerspitzen  der  Linken  in  möglichst  gerader  Linie 
fuhr.  Die  Stärke  wurde  durch  ein  starkes  Drücken  des  Daumens 
auf  die  innere  Fläche  der  rechten  Hand  angegeben8.  Auch  durch 
Kopfbewegungen  versuchte  man  sich  verständlich  zu  machen6. 
Alle  diese  Bewegungen  werden  mnemotechnische  Hilfsmittel  ge- 
wesen sein.    Sie  wurden  notwendig,  sobald  die  Sänger  im  Vortrag 

1  Das  beweist  die  große  Zahl  von  Schlaginstrumenten,  die  uns  erhalten 
geblieben  sind. 

2  Wilkinson,  Manners  and  custonis  of  the  Ancient  Kgyptians.  London 
1837,  Bd.  II.  S.  270.283.  Fig.  5—8,  vgl.  auch  Rowbothun,  History  of  Musio. 
London  1885,  S.  212  3.  Karl  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus.  4.  Aufl.  Reise- 
berichte, S.  5:<  und  Tafel  VII. 

3  W.  Christ  et  M.  Paranikas,  Anthologie  graeca  carminum  christia- 
norum.     Leipzig  1871,  S.  114. 

*  Chry sander,  Über  altindische  Opferrmisik.     V.  f.  M.  1885,  S.  30. 

5  Oskar  Fleischer,  Neumen-Studien  I,  S.  35. 

6  Fetis,  Hist.  gener.  de  la  mus.  IV.  S.  43. 


Das  Taktschlagen  in  der  Musik  des  Altertums.  3 

der  Melodien,  die  nur  in  mündlicher  Überlieferung  erhalten  blieben, 
unsicher  wurden.  Später  entwickelte  sich  aus  diesen  cheiro- 
nomischen  Zeichen  eine  selbständige  Kunst  der  Gesangsleitung, 
die  sich,  wie  wir  sehen  werden,  bis  zum  späten  Mittelalter  gehalten 
hat.  Beide  Arten  der  Direktion,  das  laute  Taktschlagen  und  die 
Gheironomie,  bilden  den  Ausgangspunkt  für  eine  Geschichte  des 
Dirigierens. 

Die  Musik  der  alten  Kulturvölker  bietet  noch  viele  Probleme,  die 
der  Lösung  harren,  so  daß  man  über  Charakter  und  Ausführung 
der  Gesänge  nicht  mehr  als  Vermutungen  aufstellen  kann.  Sichere 
und  verbürgte  Nachrichten  von  der  Musikübung  des  Altertums 
finden  wir  erst  in  der  klassischen  Zeit  der  griechischen  Kunst. 
Hier  stehen  wir  zum  ersten  Male  in  der  Geschichte  der  Musik  vor 
einer  festen,  in  sich  geschlossenen  Kunstlehre,  vor  sicheren  Quellen 
und  Musikdenkmälern,  die  einen  Überblick  über  die  gesamte 
Kunstübung  eines  Volkes  geben. 

In  der  griechischen  Kunst  nimmt  die  Musik  keine  Sonder- 
stellung ein,  sie  ist  keine  für  sich  stehende  selbständige  Kunst- 
gattung, sondern  nur  ein  Teil  des  Gesamtkunstwerks,  der  sich 
mit  der  Lyrik,  dem  Drama  oder  der  Orchestik  zu  einem  Ganzen 
verbindet.  Im  wesentlichen  ist  die  Musik  der  Griechen  Gesangs- 
kunst, sie  schließt  sich  an  die  Poesie  an,  leitet  ihre  Gesetze  aus 
der  Dichtung  ab  und  tritt  umschreibend,  Stimmung  und  Aus- 
druck der  Poesie  vertiefend  hinzu.  Wohl  haben  die  Musik- 
instrumente, namentlich  Kithara  und  Aulos,  eine  eigene  Literatur 
von  Übertragungen  der  Gesangsstücke,  von  Unterrichts-  und 
Virtuosenwerken,  aber  in  erster  Reihe  sind  auch  sie  Begleitinstru- 
mente, die  den  einstimmigen  Sprachgesang  mitspielen  oder  hin 
und  wieder  verzieren1.  Die  Entwicklung  der  Musik  hält  daher 
mit  der  Geschichte  der  Dichtung  gleichen  Schritt,  so  daß  die 
Epochen  der  Epik,  der  Jambenpoesie,  der  Meliker  Sappho  und 
Alkaios,  der  Chorlyrik  und  Tragödie  auch  Etappen  der  griechi- 
schen Musikentwicklung  bilden. 

Die  Eigenheit  und  Kraft  der  griechischen  Tonkunst,  die  weder 
Harmonien  noch  Akkorde  anwandte,  liegt  in  der  kunstvollen 
Verbindung  von  Melik  und  Rhythmik.  Doch  überwiegt  auch 
hier  die  Gestaltung  der  Rhythmik,  da  ein  Betonen  des  melodischen 
Prinzips  nicht  der  griechischen  Anschauung  vom  Wesen  der  Kunst 
entsprach.    Die  Musik  sollte  den  Sprachvortrag  beleben  und  heben, 


1  S.  Riemann,  Handbuch  der  Musikgeschichte  I,   I. 

1* 


4  Erstes  Kapilel. 

die  Ausdruckskraft  der  Dichtung  verstärken,  sie  sollte  der  Ethik 
dienen,  aber  nicht  selbstherrisch  hervortreten1.  Daher  ist  das 
rhythmische  Moment  das  Ausschlaggebende  für  Charakter  und 
Wirkung  eines  Tonstückes.  Der  Rhythmus  verbindet  die  Teile 
des  Gesamtkunstwerks  zu  einem  Ganzen,  er  bildet  das  einende 
Prinzip  von  Poesie,  Tanz  und  Musik.  Es  gibt  Poesie  ohne 
Melodik  und  Tanz  ohne  Gesang,  aber  keine  Kunstgattung  ohne 
rhythmische  Gliederung.  Sie  bringt  die  Geschlossenheit,  die  ge- 
regelte Teilung  von  Zeit  und  Bewegung. 

Was  von  der  griechischen  Metrik  über  Versbau  und  Versmaß 
gelehrt  wird,  gilt  ebenso  für  die  musikalische  Rhythmik.  Alle  Ge- 
sänge folgen  dem  Sprachmetrum,  wenn  nicht  durch  die  Notation, 
durch  Punkte  oder  Striche  über  den  Noten,  eine  Abweichung  vom 
Versakzent  gefordert  wird.  Wir  finden  also  auch  in  der  Musik 
Gruppen,  die  dem  Daktylus,  Jambus  und  Trochäus  entsprechen, 
und  Perioden  nach  Art  des  Hexameter,  Tetrameter,  der  loga- 
ödischen  und  päonischen  Versmaße.  Aus  dieser  Harmonie  von 
Metrik  und  musikalischer  Rhythmik  erklärt  sich,  daß  vielen 
griechischen  Musikstücken  die  Rhythmenbezeichnung  fehlt.  Über- 
haupt ist  überall  da,  wo  die  Musik  nur  als  Umschreibung  oder  ton- 
liche Verstärkung  der  Sprache  auftritt,  eine  rhythmisch  exakte 
Notation  überflüssig.  Das  zeigt  sich  noch  in  der  Kunst  des 
Mittelalters  und  in  den  Gesängen  der  Minnesänger. 

Es  würde  zu  weit  führen,  wenn  ich  an  dieser  Stelle  den  fein- 
gliedrigen  Rhythmenbau  der  griechischen  Musik,  der  oft  be- 
schrieben wurde,  noch  einmal  entwickeln  wollte.  Uns  inter- 
essiert hier  lediglich  die  praktische  Seite  der  Kunstübung.  Ich 
will  mich  daher  auf  einen  kurzen  Überblick  über  die  Grundzüge 
der  Aristoxenischen  Taktlehre,  soweit  sie  für  die  spätere  Zeit 
wichtig  geworden  ist ,  beschränken  und  versuchen ,  aus  der 
griechischen  Theorie  und  einigen  Musikbeispielen  eine  Anschauung 
von  der  Direktion  und  Ausführung  der  Chorgesänge  zu  geben. 

Nach  den  Berichten  griechischer  Schriftsteller  taktierte  der 
Chorführer  mit  lautem  Fußstampfen.  Er  bewaffnete  die  Füße 
auch  mit  eisernen  Sohlen,  damit  die  Taktschläge  weithin  gehört 
wurden.  Dies  lärmende  Taktieren,  das  Thesis  (Niederschlag)  und 
Arsis  (Aufschlag)  genau  angab,  ergibt  sich  aus  der  Verbindung 
von  Musik  und   Orchestik2.     Aber  auch  der  zum  Tanz  spielende 


»  Vgl.  H.  Abert,  Die  Lehre  vom  Ethos  in  der  griech.  Musik   1899. 

2  Julii   Pollucis  Onomastikon  (rec.  Immanuel  Bekker  184fi,  B.  199): 


Das  Taktschlagen  in  der  Musik  des  Altertums.  5 

Flötenbläser  oder  der  Lehrer  taktierte  mit  dem  Fuß,  um  die 
Taktzeiten  deutlich  zu  markieren1.  Seltener  dirigierte  man  mit 
der  Hand2.  Sänger  und  Tänzer  hatten  sich  nach  dem  lauten 
Taktschlag  des  Chorführers  zu  richten.  Wie  haben  wir  uns  nun 
bei  dieser  Direktion  die  Ausführung  der  Chorgesänge  zu  denken  ? 
Wie  wurden  die  Noten  auf  den  Auf-  und  Niederschlag  verteilt? 
Nach  der  Lehre  des  Aristoxenos  lassen  sich  alle  Taktarten  auf 
eine  Maßeinheit  zurückführen,  auf  den  chronos  protos,  der  die 
kleinste,  nicht  teilbare  Einheit  bildet3.  Die  Zusammenfassung 
mehrerer  Chronoi  zu  einem  geschlossenen  Komplex  ergibt  eine 
Taktgruppe4.  Unter  diesen  sind  die  gebräuchlichsten,  die  eine 
fortlaufende  Aneinanderkettung  zulassen  und  keine  unübersicht- 
lichen Periodisierungen  aufstellen.  Sie  teilen  sich  in  drei  Ge- 
schlechter: in  das  gerade  (daktylische),  ungerade  (jambische) 
und  fünfteilige  (päonische)5.     Auf  die  Taktgruppen,  die  in  kon- 


Scholia  graeca  in  Aeschinis  Timarcheam  (rec.  Fr.  Franke  1839, 
S.  167  zu  ßdrraXov):  'j7TOt:o5iov  5i7r).oüv  bitb  xöv  5e;iov  uooa  eyorce;,  oxav  aüXäiat, 
xataxpo'jo'jatv  o.\xa  tw  Ttooi  xö  urcorcootov,  xöv  p'jfttiöv  xö  »tjxö  auva7roBi5övx£;, 
ö  xaXoüst  ßaxaXov. 

Bacchii  Isagoge  (C.  v.  Jan.,  Mus.  Script.  4895,  §  98):  "Apoiv  rcotav  Xe-fo- 
jaev  elvat;  —  Oxav  [A£X£tupo;  tj  ö  itou;,  Yjvixa  av  [AjXXojjaev  £[i.ßaiveiv.  8£oiv 
o£  noiav;  —   Otav  xeijaevo;  —  u.  a. 

1  Lucianus  (rec.  Jul.  Sommerbrodt  1886—99  II,  1,  S.  132) :  —  xotl  aükr^i 
[xev  dv  x<ö  [A£3(u  xaHrjxou  Ina'jkwv  xal  xxujtöjv  xtp  Kohl. 

Terentius  Maurus  (de  litteris  et  metris  rec.  Lachmann  1836,  Vers 
2254/55):  pollicis  sonare  vel  plausu  pedis  discriminare,  qui  docent  artem,  solent. 

2  Quintilian,  de  institutionc  orat.  libr.  XII  (Gesner  ed.  1738  IX,  4, 
S.  466):  maior  tarnen  illic  licentia  est,  ubi  tempora  etiam  animo  metiuntur  et 
pedum  et  digitorum  ictu  intervalla  signant.  Auch  Terentius  Maurus 
a.  a.  0.  Vgl.  Aristoteles,  Probleme  XIX,  22  und  45  (Übersetzung  bei  Gerh. 
Tischer,  Die  aristotelischen  Musikprobleme,  Berlin  1903),  auch  Westphal, 
Fragmente  und  Lehrsätze  der  griech.  Rhythmiker  1861,  S.  98  f.  u.  v.  u. 

3Aristoxenos,  Rhythmische  Fragmente  (Textabdruck  in  West p hals 
Griechische  Rhythmik  und  Harmonik,  1867,  Anhang,  S.  7):  KotXefaftai  Be  -pöVco? 
|x£v  xöjv  ypöviov  6  buch  ftTjöevö;  tön  p'jil|Ai£o[A£vo)v  Suvaröc  wv  ötaip£&T]vat. 
(Unter  Ö'.>S}|ai£o|A£v(mv  ist  der  rhythmusfähige  Stoff  zu  verstehen,  wie  Feußner 
—  Arist.  Grundzüge  der  Rhythmik,  Hanau  1840  —  nachgewiesen  hat.)  Siehe 
auch  Aristox.  S.  8:  'Ev  <p  otj  ypöv<o  ;atjx£  ouo  cpftöfY01  Bövovxat  TeSrjvai  xaxa 
fAT)0£va  xponov.  .  . 

*  Aristox.  S.  9:  ßt  Ö£  C7]ixaiv6p.£^a  xöv  ou&jaöv  xai  Yvl»ptfJLOV  Ttotoü(AEv  xr, 
a{arlr,a£t,  itoög  dsxiv  a;  tj  tiXeio'j;  evo;.  —  Oxi  ;aev  ouv  1%  evo;  ypovou  itou« 
oux  av  £tT)  cpav£pov,  £r£tofjTT£p  £v  a'fj|A£tov  o'j  icotei  Siatpestv  ypovc'j. 

5  Aristox.  S.  12:  Tüiv  0£  tcoqüiv  xal  auve^ij  p'j&[AOjroitav  cittoEyopvIvtuv 
xpia  y^vt)  £3xt"  to  x£  öaxx'jXtxöv  xai  xö  ia[At3txöv  xal  to  Ttaiwvtxov.  AaxxuXtxöv 
[aev  o'jv  £axi  to  £v  'taw  X6yui,  lajtfiixöv    öe   xö  Iv  xö>  öiirXastip,    7tauuvtxöv  oe  xö 

dv    TO)   TjfAtoXlip. 


6  Erstes  Kapitel. 

tinuierlicher  Folge  gesetzt  wurden  oder  aber  miteinander  wech- 
selten, hatte  der  Dirigent  Auf-  und  Niederschlag  zu  verteilen. 
Die  Einteilung  charakterisiert  Aristoxenos  mit  diesen  Worten: 
»Von  den  Taktgruppen  bestehen  die  einen  aus  zwei  Zeiten,  eine 
auf,  eine  ab;  die  anderen  aus  drei,  zwei  auf,  eine  ab  oder  eine  auf, 
zwei  ab1.«  Damit  wird  die  Anordnung  der  geraden  und  un- 
geraden Takte  erklärt.  Die  daktylischen  werden  in  Hälften 
geteilt,  wie  die  geraden  Takte  der  modernen  Musik,  die  un- 
geraden in  ungleiche  Teile,  in  zwei  Zeiten  für  den  Aufschlag  und 
eine  für  den  Niederschlag  oder  umgekehrt.  Die  Variante  ist  durch 
die  Metrik  bedingt,  da  Jamben  und  Trochäen  trotz  gleicher  Chro- 
noszahl  in  der  Anordnung  der  Länge  einander  entgegengesetzt 
sind.  Von  den  genannten  Taktgruppen  sind  die  kleinsten  die 
dreiteiligen,  die  dem  Jambus  oder  Trochäus  entsprechen.  Sie 
vereinen  drei  Chronoi  protoi  in  einem  Takt.  Der  Größe  nach 
folgen  die  vier-,  fünf-,  sechs-  und  achtzeitigen  Takte  bis  zum 
achtzehnzeitigen  ungeraden,  dem  sechzehnzeitigen  geraden  und 
dem  25-zeitigen  päonischen  Takt2.  Das  sind  die  Grenzen,  in  denen 
sich  sämtliche  Taktarten  bewegen.  Alle  Gruppen,  mögen  es  nun 
sechzehn-  oder  vierzeitige  Takte  sein,  lassen  sich  auf  wenige  Takt- 
teile oder  Unterabteilungen  zurückführen.  So  umfassen  etwa  die 
kleinsten  (vierzeitigen)  daktylischen  Takte  zwei  Takt  teile  von  je 
zwei  Chronoi;  die  eine  Hälfte  gehört  zur  Thesis,  die  andere  zur 
Arsis.  Die  großen  Takte  werden  in  mehrere  Unterabteilungen  oder 
Taktteile  zerlegt,  da  sie  ihres  Umfanges  wegen  schwer  aufzufassen 


1  Aristo x.  S.  9:  Töjv  oe  zoSt&v  ot  \xiv  im.  060  ypovow  sv-pteivrai  toü  re 
avi»  xai  toü  xctTco,  ol  Ik  (%  Tpiwv,  ouo  (xev  tiüv  ava>,  evöc  8e  toü  xc£tu>,  tj  i% 
dvo?  (jtiv  toü  ä'^iu,  ouo  oe  töw  xgcto).  —  Die  folgende  Stelle,  die  wohl  die 
Teilung  der  fünfteiligen  Takte  enthielt,  ist  unvollständig  überliefert.  Feußner 
a.  a.  0.  ergänzt:  ol  oe  ex  Terrapurv,  ouo  xe  t<hv  ävw  xat  ouo  x&v  xotttu.  Ebenso 
Westphal.  Morelli  (Aristox.-Ausgabe  1785)  bringt  keine  zuverlässige  Fassung. 
Die  Ergänzung  Feußner-Westphal  scheint  mir  nicht  überzeugend.  Vielleicht 
sollte  für  die  päonischen  Takte  noch  die  Teilung  3  :  2  gegeben  werden  Da 
der  fünfteilige  Takt  in  der  späteren  Zeit  keine  führende  Rolle  spielt,  ja  bis  in 
die  Neuzeit  hinein  in  der  Praxis  wenig  berücksichtigt  wurde ,  ist  an  dieser 
Stelle  von  einer  eingehenderen  Behandlung  seiner  Teilung  abgesehen  worden. 

2  Aristox.  S.  43:  Mit  der  Aufstellung  des  achtzeitigen  Taktes  bricht  das 
Aristoxenos-Fragment  ab.  Pscllus,  der  die  Aristoxenische  Lehre  kommen- 
tierte, ergänzt  die  Lehre  von  der  Ausdehnung  der  Takte  nach  der  oben  ge- 
gebenen Theorie:  otusjecDai  oe  tfottvetat  tö  p.ev  b(j.ßixöv  ylvoc  |*^XP'  T0^  ^*T">- 
xat&sxav/jp.ou  f/eYeSou;  wüte  -fwecSai  töv  |i£-fi<JTOv  ir6oa  l^arÄofotov  toü  e").a- 
ytaxo'j,  tö  oe  oV*TuXixöv  \xiyjn  toü  exxcttSexaoT^jiou,  tö  oe*  r.mmviv.6v  pfyßt  toü 
TrevTexateixooaotjfAou. 


Das  Taktschlagen  in  der  Musik  des  Altertums.  7 

und  zu  übersehen  sind1.  Solcher  Taktteile  kann  es  nach  der  Lehre 
des  Aristoxenos  nicht  mehr  als  vier  geben2,  d.  h.  der  größte  gerade 
Takt,  der  sechzehnzeitige,  könnte  etwa  in  4  +  4+4  +  4  Zeiten 
zerlegt  werden;  jede  Vierergruppe  würde  einen  Taktteil  aus- 
machen: wir  hätten  einen  großen  daktylischen  Takt,  der  nach 
Analogie  des  geraden  Rhythmengeschlechts  8  +  8  zu  taktieren 
wäre.  Ebenso  müßte  der  größte  ungerade  Takt  von  18  Zeiten, 
der  6+6  +  6  gegliedert  sein  könnte,  nach  dem  trochäischen 
Taktschema  12  +  6  oder  6  +  12  Zeiten  nach  dem  Bilde  des  jam- 
bischen Rhythmengeschlechtes  dirigiert  werden.  Ein  zwölf- 
zeitiger  Takt,  etwa  die  erste  Hälfte  des  Hexameter,  wäre  6  +  6 
zu  taktieren,  oder  aber  8  (4  +  4)  +  4  nach  dem  trochäischen 
Muster.  Die  letzte  Einteilung  wäre  vorzuziehen,  da  bei  gerader 
Teilung  der  zweite  Versfuß  des  Hexameter  zerschnitten  würde. 
Die  Taktteile  sind  innerhalb  jeden  Taktes  gleich,  der  Zahl  und 
Größe  nach,  z.  B.  18  Zeiten  =6+6  +  6.  Nur  die  rhythmische 
Gliederung,  wie  sie  Sprachakzent  und  Wortbetonung  bringt, 
gibt  dem  Takt  Mannigfaltigkeit  und  Abwechslung3. 

Ich  will  die  Taktlehre  an  einigen  Beispielen  aus  der  griechi- 
schen Musik  erläutern.  In  einer  Traktatsammlung,  die  Beller- 
mann zusammengestellt  hat,  wird  im  Anschluß  an  Aristoxenos 
eine  Schule  für  Instrumentenspiel  gegeben,  die  unter  anderem 
auch  Beispiele  für  das  Taktschlagen  enthält4.  In  jeder  Takt- 
gruppe wird  von  dem  Verfasser  die  Arsis  durch  einen  Punkt  be- 
zeichnet, die  Thesis  durch  die  Noten  ohne  Punkt5.  So  wird  ein 
vierzeitiger  Takt  in  dieser  Form  aufgestellt: 

h    r    L    f 

A       II        c       d 

Die  beiden  ersten  Noten  gehören  zur  Thesis,  c  und  d  zur  Arsis:  eine 
Einteilung  nach   dem   geraden   daktylischen   Geschlecht.      Aller- 

1  A  rist.ox.  S.  i»/1 0  :  oi  frip  iXdxxo'j;  x&v  t:ooü>v,  EUTTepfXirjTrTOM  tri  aii\)rt<3Ei .  .  . 
oi  0£  \j.sfdXrji  TO'Jvsvttov  rerovOaat,  8uorepiX?j7:TGv  yap  ttj  ata!)T,-£i  tö  [t.ifZ%oi 
c'/ovTe?,  7tXao\(i)v  hiovzai  ot((j.£iwv.  .  . 

2  Aristox.  S.  10 :  Aia  xi  5e  o'j  iwrzav Tz),dt»  «jjiefa  xo.iv  xExxapoiv,  ot;  ö  ttoö; 
ypfjtai  y.rxxa  xfjv  autoü  'A'-vpiv,  EJstspoN  ÖEty>)T)a£x«!.  Die  Stelle,  auf  die 
Arist.  hinweist,  ist  nicht  erhalten. 

3  Aristox.  S.  tO:  xai  7rpooil£X£ov  oi  xoi;  elpTjfjivot? ,  oxi  ra  piv  sxdaxo'j 
~ooo;  OT|U.£ia  Otaptiva  'icx  ovxc*  xat  x<ü  äot}}|AÖ>  v.al  xw  (A£f£i)£i,  oi  ö'utto  xyj; 
p'j9|i.07:oiia;  iv/6\xt\o.i  Staipioeis  zoXXyjv  }.a|xß<£,vo,jai  itotxtXiav. 

4,Av(i)v6[j.ou  aif7pa[Xfxa  ~£pi  \to'JOiy.ffi.     Berlin  1844,  ed.  Fr.  Bellermann. 
5  A.  a.  0.  S.  21  :    H  |aev  oOv  Slssi?  0f)(j.7iv£Tc.t,  orav  ärj.wz  xö  otjaeTov  soxiv- 
xov  7j*  olov  H  (A)  7)  o'apois  ot^v  caTtY|j.e\ov 


8  Erstes  Kapitel. 

dings  geht  aus  dem  Beispiel  nicht  hervor,  welche  Noten  dem  Auf- 
und  Niederschlag  zukommen,  denn  die  Worte  Thesis  und  Arsis 
werden  von  den  Theoretikern  in  verschiedenem  Sinne  gebraucht. 
Entweder  dachte  man  mit  Bacchius  an  die  Orchestik  und  identi- 
fizierte Thesis  mit  Niederschlag,  Arsis  mit  Aufschlag1,  oder  man 
bezog  die  Worte  auf  Hebung  und  Senkung  der  Stimme,  wobei 
dann  die  Arsis  (Hebung)  als  schwere  oder  gute  Taktzeit  gelten 
muß2.  Da  der  Anonymus  Bellermanns  in  einer  späten  Zeit,  im 
4.  Jahrhundert,  schrieb,  wird  die  Gleichstellung  von  Arsis  mit 
schwerer  Zeit,  wie  sie  die  Metriker  lehren,  das  Richtige  treffen. 
Es  ist  auch  für  eine  Taktlehre  das  Gegebene,  daß  der  Nieder- 
schlag bezeichnet  wird,  zumal  es  sich  um  eine  Instrumenten- 
schule handelt,  die  mit  einer  Markierung  leichter  Taktteile  kaum 
eine  praktische  Anleitung  zum  rhythmisch  exakten  Spiel  ver- 
binden kann.  Das  zitierte  Notenbeispiel  wäre  auftaktisch  zu 
lesen:  die  ersten  beiden  Noten  kommen  auf  den  Aufschlag,  die 
übrigen  auf  den  Niederschlag. 

Für  den  sechszeitigen  Takt  wird  u.  a.  dies  Beispiel  gegeben: 

r     L     r     F 

A      c        H       fl 

Die  Striche  über  den  Noten  zeigen  eine  zweizeitige  Länge  an, 
der  Punkt  die  Arsis,  die  schwere  Zeit.  Es  wäre  zu  taktieren: 
A— c— H  auf  den  Aufschlag  (vier  Zeiten),  d  auf  den  Niederschlag 
(zwei  Zeiten),  eine  Teilung  nach  ungeradem  Rhythmengeschlecht. 
Diese  Anordnung  in  ungleiche  Teile  ist  für  das  Taktschlagen  ebenso 
wichtig  geworden  wie  die  Teilung  der  geraden  Takte  in  Hälften. 
Bis  in  die  Zeit  der  Renaissance  hat  sich  die  gleiche  Gruppierung 
der  Taktteile  behauptet. 

Interessant  ist  auch  das  Beispiel  für  den  zwölfzeitigen  Takt, 
das  der  Anonymus  anführt.  Da  wird  an  zwei  Notenreihen,  die 
leider  unvollständig  überliefert  sind,  die  Einteilung  nach  ge- 
radem und  ungeradem  Rhythmengeschlecht  gezeigt.  Einmal 
teilt  der  Punkt  die  Noten  in  6  +  6  und  dann  in  3  +  9  Zeiten, 
wodurch  die  Zugehörigkeit  zum  daktylischen  oder  jambischen 
Takt  gekennzeichnet  wird. 


1  S.  o.  die  zitierte  Stelle  (S.  4,  Anui.  2)  und  Aristides  Quint.  (Meibom, 
Antiqu.  mus.  auct.  Septem  S.  31):  apot;  [xsv  oüv  eaxt  cpopa  ouifAaxo;  irzl  xö 
avtu'  ftiai;  81  lr\  xo  xaxio  xaiixoü  [xspou;. 

2Martianus  Capeila  'Meibom,  a.  a.  0.  S.  4  91):  Arsis  est  elevatio, 
thesis  depositio  vocis  ac  remissio.  Vgl.  Bellermann  a.  a.  0.  S,  21  Kommentar. 


Das  Taktschlagen  in  der  Musik  des  Alterturas. 


9 


In  den  erhaltenen  Musikresten  der  griechischen  Kunst  ist 
meist  ein  einheitlicher  Takt  durchgeführt1.  Nur  in  zwei  Stücken 
tritt  Taktwechsel  ein,  in  dem  Gesang  des  Mesomedes  an  die  Muse, 
wo  der  trochäische  Rhythmus  im  Mittelteil  vom  Hexameter  ab- 
gelöst wird,  und  im  zweiten  delphischen  Hymnus,  der  allerdings 
nicht  lückenfrei  erhalten  ist.  Beide  Male  ist  der  Rhythmenwechsel 
tonmalerisches  Ausdrucksmittel.  Der  Text  wird  eindrucksvoller, 
dramatischer  gestaltet2.  Wo  aber  die  Dichtung  keine  Kontraste, 
keine  Stimmungsgegensätze  erfordert,  hält  sich  die  Rhythmik 
an  ein  durchgehendes  Taktmaß,  das  von  der  Metrik  bestimmt 
wird.  Als  Beispiel  für  diesen  gleichmäßigen  Takt  soll  das  Epi- 
taphium des  Seikilos,  das  auf  einer  Säule  in  Tralles  in  Kleinasien 
gefunden  wurde,  analysiert  werden.  Es  ist  mit  genauer  Rhyth- 
menbezeichnung geschrieben.  Über  die  Noten  sind  Striche  ge- 
setzt: die  Zeichen  für  zweizeitige  (  — )  und  dreizeitige  (_i)  Länge. 
Außerdem  sind  Punkte  eingefügt,  die  nach  den  Worten  des  zitier- 
ten Anonymus  den  Niederschlag  bezeichnen.  Auch  die  metri- 
sche Betonung  wird  durch  Punkte  gekennzeichnet.  Durch  diese 
Zeichen  ist  die  Rhythmik  der  Musik  festgelegt.  Das  Notenbild 
mit  der  Übertragung  sieht  nach  Jan  so  aus3: 


CZ    Z     KIZ     I,     K     I     ZIKOCO(J>CKZ 


f 


-*•     JL»  *    I    •'- 


£§=§! 


3 


s* 


■ß—ä- 


"Oaov  £fj;       <pat    -    vo'j,  [atj-oev     o  -  Xoj?  a>j    hj  -  r.w'    rpöc  6-H- 


Ü 


Kl    K     C     OOCK     O     I     ZK     CCCX-i 


^=t 


3- 


S 


t=& 


t 


*=u 


v- 


•pv  iz  -  ti  tö  £»jv,  "o  tI  -  Xoc  6  ypö-vo?  in  -  ai  -  teT. 
Das  Stück  —  wohl  das  schönste,  das  uns  von  der  griechischen 
Musik  erhalten  geblieben  ist  —  zeigt  eine  Einteilung  nach  geradem 
Rhythmengeschlecht.     Je  drei  Chronoi  werden  zu  einer  Gruppe 

1  Jan,  Mus.  script.  X.  Carmjnum  graecorum  reliquiac.  Dazu:  Supp- 
lementum  Melodiarum  rel.  (1899). 

2  Vgl.  Abert,  Die  Lehre  vom  Ethos  in  der  griech.  Musik.     S.  163. 

3  Jan,  a.  a.  0.  S.  452/53  und  Supplementum  Melodiar.  S.  38/39.  Über  die 
innere  rhythmische  Gliederung  der  Melodie  siehe  Spitta,  V.  f.  M.  1894, 
S.  1(M.  Die  dreiteilige  Länge  mit  Punktangabc  auf  <J>  in  fcj-r/j  und  £fj\/ 
bezieht  sich  mit  auf  die  vorangehende  Note.  Riemann  Handb.  d.  Musik- 
gesch.  I,  1)  bringt  das  Stück  im  6/4-Takt  und  in  anderer  Tonlage. 


10  Erstes  Kapitel. 

zusammengefaßt  und  bilden  die  Hälfte  eines  Taktes.  Der  Gesang 
wäre  zu  taktieren  wie  unser  schneller  6/s"Takt.  Man  kann  daran 
denken,  die  Musik  im  3/8-Takt  zu  notieren,  so  daß  jeder  Takt  drei 
Chronoi  umfaßt,  dem  widerspricht  aber  die  Punktangabe  und  die 
Haltung  der  Melodie.  Im  Chorgesang  hätte  der  Chorführer  bei  diesem 
Stück  die  schweren  Taktzeiten  durch  Fußstampfen  zu  markieren. 

Auch  die  Hymne  des  Mesomedes,  die  beginnt:  'Aeios  jxoücä 
|xoi  <fi/.7,  müßte  nach  dem  Schema  J^  |  J  ^,  J  J\  J  J\  '.  | 
in  geraden  Takten  dirigiert  werden.  Sechs  Zeiten  auf  den  Auf- 
schlag, sechs  auf  den  Niederschlag.  Bei  der  Stelle  KaXXufcst« 
aoepa  jjouoojv  tritt  dann  Taktwechsel  ein  durch  einen  zweimal  ge- 
setzten  Hexameter,    der    etwa  J     h  J^  ^  J^    J    J  I  J    J"  -T1 

)  #  ,  9  m  ■  aufzulösen  wäre.  Hier  liegt  eine  Zusammenfassung 
in  zwei  6/4-Takte  vor,  denn  der  Hexameter  kann  mit  seinen 
24  Zeiten  nicht  als  eine  einzige  Taktgruppe  aufgefaßt  werden1. 
In  jeder  Hälfte  des  Hexameters  würden  vier  Viertel  dem  Nieder- 
schlag gehören,  zwei  Viertel  dem  Aufschlag.  Eine  gerade  Teilung 
würde  den  zweiten  Versfuß  zerreißen.  Nach  diesen  im  epischen 
Versmaß  gehaltenen  Takten  lenkt  die  Hymne  wieder  in  den 
Rhythmus  des  Anfangs  ein.  Wir  haben  eine  Gegenüberstellung 
von  geraden  und  ungeraden  Rhythmen,  die  der  Chorführer  mit 
seinem  Taktschlag  anzugeben  hat. 

Es  handelt  sich  stets  darum,  die  Rhythmen  auf  den  zwei-, 
drei-  oder  fünfteiligen  Takt  zurückzuführen.  Sprachakzent  und 
Metrik  geben  dann  dem  Taktbau  die  Vielfarbigkeit  und  Beweg- 
lichkeit, die  akzentreiche  Schattierung  und  Ausdruckskraft,  denn 
das  Tempo  wurde  im  Chorgesang  meist  ohne  größere  Schwan- 
kungen und  Änderungen  durchgeführt2. 

Die  Gesamtleitung  lag  bei  allen  chorischen  Aufführungen  in 
den  Händen  des  Chorführers.  Mochten  Festspiele,  Umzüge  oder 
Tempelkult  durch  Chorgesang  verherrlicht  werden,  wurden  Tra- 
gödien oder  Satyrspiele  aufgeführt,  stets  war  der  Chorführer  der 
Leiter  von  Tanz  und  Musik.  Er  gab  den  Sängern  den  Ton  an 
und  sang  mit  lauter  Stimme  vor,  während  der  mitwirkende  Flöten- 
bläser, der  wohl  mehrere  Instrumente  verschiedener  Stimmung 
besaß,  die  Gesänge  begleitete3.     Der  Chorführer  leitete  Einzug 

1  Über  die  Größe  der  Takte  s.  o.  S.  (5. 

2  Aristoteles  l'robl.  XIX.  (5:  Ali  t(  oi  itoXXoi  aoovte;  au'j^o'jot  päXXov 
tov  (!>'ji)}jl6v  tj  ot  6X1701;  tj  '6~i  ;i.äXXov  ttoöc  £va  te  xal  ■i\fz\>.'>\a  [iXiTouai  xa\ 
ßpaoiitepov  apyovroit,  &o-£  pöov  toü  otötoO  T'jf/dwo'joiv •  lt  j/cv  y«P  Tt£  fa/it 
ttXeuuv  Y^veTat  '(\  äfxaptt«  (Jan,  Script.,  S.  107).  Vgl.  hierzu  Abert,  a.  a.  0..  S.  427 f. 

3  Vgl.  Riemann,  Handb.  d.  Musikgesch.  I.  4,  S.  4  42. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  11 

und  Aufstellung  der  Choreuten,  Tanzbewegungen,  Reigen  und 
Prozessionen,  und  führte  das  Ineinandergreifen  von  Musik  und 
Drama.  Diese  Gesamtleitung  des  Chorführers  beruht  auf  der 
Verbindung  von  Musik,  Poetik  und  Orchestik.  Es  war  keine  rein 
musikalische  Direktion,  sondern  eine  rhythmische  Führung  von 
Tanz  und  Gesang.  Die  Grundzüge  dieser  Leitung  sind  für  die 
Geschichte  des  Dirigierens  von  großer  Bedeutung  geworden.  Sie 
bilden  in  der  Zeit  der  Mensuralmusik  den  Ausgangspunkt  für 
die  Lehre  vom  Taktschlagen  und  sind  bis  in  das  17.  Jahrhundert 
hinein  in  der   alten  Form  gültig  geblieben. 


Zweites  Kapitel. 
Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals. 

Zu  den  Aufgaben  einer  Musikgeschichte,  die  die  genetische 
Entwicklung  des  christlichen  Kirchengesangs  aus  der  Kunst 
der  Griechen  und  Orientalen  ableiten  wollte,  gehört  die  Frage 
nach  Ursprung  und  Beschaffenheit  des  jüdischen  Tempelgesangs 
und  der  heidnischen  Musik.  So  viel  von  den  Historikern  hier  ge- 
arbeitet worden  ist,  so  wenig  Positives  ist  bisher  geleistet.  Es  ist  ver- 
sucht worden,  die  christliche  Musik  mit  dem  antiken  Hymnengesang 
in  Verbindung  zu  bringen1,  es  ist  bewiesen  worden,  daß  die  Liturgie 
des  Abendlandes  aus  den  kirchlichen  Gemeinschaften  in  Jeru- 
salem, Antiochien  und  Alexandrien  hervorging,  doch  der  innere 
Zusammenhang  mit  der  Kunst  der  Hellenen  und  die  Entstehung 
der  Psalmodie,  die  das  älteste  Dokument  christlicher  Musik  bildet, 
sind  noch  nicht  einwandfrei  und  überzeugend  nachgewiesen 
worden.  Bezeichnend  ist,  daß  die  exakte  Buchstaben-Ton- 
schrift der  griechischen  Musik  von  der  christlichen  Kirche  nicht 
übernommen  wurde,  daß  sie  trotz  der  Bestrebungen  der  mittel- 
alterlichen Hellenisten  durch  eine  neue  Art  der  Notierung,  durch 
die  Neumierung,  ersetzt  wurde.  Vielleicht  ist  hier  der  Kult  des 
Orients  die  bestimmende  Macht  gewesen,  denn  der  Grundcharakter 
der  christlichen  Musik  weist  nicht  nach  dem  Hellas  des  Pindar 
und  Sophokles,  sondern  nach  der  Kultmusik  des  Morgenlandes. 
Wenn  überliefert  wird,  daß  in  Milet  die  religiösen  Gesänge  durch 
Instrumente,  durch  Tanz  und  Händeklatschen  rhythmisch  belebt 


1  Gevaert,  La  melopee  antique  dans  le  chant  de  l'eglise  latine.  1895. 


12  Zweites  Kapitel. 

wurden,  daß  im  jüdischen  Tempeldienst  lärmend  und  laut  beim 
Gesang  agiert  wurde1,  so  wird  man  an  die  Musikübung  der  alten 
Kulturvölker  erinnert.  Und  wenn  wir  im  Abendland  von  der 
Gheironomie  als  der  gebräuchlichen,  der  christlichen  Musik  eigen- 
tümlichen Direktion  hören,  dann  denkt  man  zurück  an  die  Bräuche 
der  Inder,  die  mit  Hand-  und  Fingerbewegungen  eine  auswendig 
gekannte  Melodie  begleiteten.  Wohl  lassen  sich  im  Aufbau  der 
christlichen  Hymnengesänge  Verbindungsfäden  mit  der  griechi- 
schen Kunst  auffinden,  aber  in  einer  Beziehung  stehen  alle  Gesänge 
der  Kirche  im  Gegensatz  zur  griechischen  Musik:  in  der  Haltung 
der  Melodie,  die  alle  Enharmonik  und  Chromatik  ausschaltete 
und  durch  die  reine,  keusche  Diatonik  ersetzte.  Erst  als  die  christ- 
liche Kirche  zur  Herrschaft  gekommen  war,  wurde  die  griechische 
Theorie  von  Melik  und  Rhythmik  in  der  Gestalt,  wie  sie  Boetius, 
Gassiodorus  und  Martianus  Capella  verkündeten,  wieder  auf- 
genommen, der  Kirchenmusik  angepaßt  und  von  antikisierenden 
Schriftstellern  nach  neuen  Gesichtspunkten  ausgelegt. 

Von  einer  Ablehnung  heidnischer  Kunst  ist  der  christliche 
Kirchengesang,  der  nach  Gregors  Reform  der  Gregorianische 
Choral  genannt  wurde,  ausgegangen,  um  in  eine  Wiederaufnahme 
und  Weiterführung  der  antiken  Lehre  einzumünden.  Eine  Ent- 
wicklung, die  wir  nur  in  ihrer  zweiten  Periode,  in  der  Epoche 
nach  Gregors  des  Großen  Regierung,  sicher  verfolgen  können, 
da  Musiktheoretiker  des  Chorals  und  erhaltene  Musikdenkmäler 
zum  großen  Teil  einer  späteren  Zeit  angehören.  Von  dieser  Epoche 
wollen  wir  in  unserer  Darstellung  ausgehen  und  durch  Rück- 
blicke und  ältere  Nachrichten,  wie  sie  Kirchenväter  und  Histo- 
riker bringen,  den  Charakter  der  Choraldirektion  entwickeln. 

Es  gibt  kaum  ein  zweites  Problem,  daß  die  Liturgen  so  viel 
beschäftigt,  als  die  Frage  nach  der  Rhythmik  des  Chorals.  Die 
widersprechendsten  Theorien  stehen  einander  gegenüber.  Bald 
wird  eine  strenge,  taktmäßige  Gliederung,  bald  wieder  ein  freier, 
oratorischer  Rhythmus  als  Fundament  des  Chorals  nachgewiesen. 
Eine  Folge  der  unrhythmischen  Notierung  der  Gesänge  in  Neumen, 
d.  h.  in  Notenformen,  die  durch  Striche,  Punkte,  Häkchen  und 
Bogen  die  ungefähre  Richtung  der  Melodie,  aber  nicht  ihre  Rhyth- 
mik und  Tonhöhe  angeben.  Allerdings  bringen  Satzgliederung, 
Wortakzent  und  Syntax  einen  Anhalt  für  die  Gruppierung  der 
Tonformeln,  aber  eine  Taktlehre  im  Sinne  der  griechischen  Musik, 

1  Peter  Wagner,  Ursprung  und  Entwicklung  clor  liturgischen  Gesangs- 
lormen,  4  911,  3.  Aufl.  S.  16,  nacli  Theodoret,  haeret.  fab.  IV,  7. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  13 

eine  Theorie  von  der  Mensur  der  Gesänge,  die  sich  auf  alle  Musik- 
stücke anwenden  ließe,  ist  aus  dem  frühen  Mittelalter  nicht  über- 
liefert. Wir  müssen  uns  an  Musik  und  Nachrichten  von  Musik- 
schriftstellern und  Geschichtschreibern  halten,  wenn  wir  nicht 
die  in  unserer  Zeit  übliche  Methode  des  Choralgesangs  als  bindend 
anerkennen  wollen.  Indes  haben  die  Versuche,  den  Choral  in 
ein  festes  Taktmaß  zu  spannen,  keine  greifbaren  Resultate  gebracht. 
So  geistvoll  Hugo  Riemann  die  taktische  Mensur  der  Gesänge 
durchgeführt  hat,  eine  befriedigende  Lösung  ist  damit  nicht  er- 
reicht worden.  Das  gesamte  Notenbild  wird  in  dieser  Über- 
tragung zu  unruhig  und  kompliziert.  Namentlich  die  chorischen 
Gesänge  haben  sich  wohl  selten  in  Quintolen,  Triolen  und  ähnlichen 
Gruppen  bewegt.  Man  fragt  sich  auch,  weshalb  die  Stücke  nicht 
taktmäßig  abgeteilt  wurden,  wenn  man  eine  gleichmäßige  Ein- 
teilung, eine  stets  wiederkehrende  Gruppierung  gleicher  Ab- 
schnitte verlangte.  In  den  römischen  Notenbüchern  waren  nicht 
einmal  Pausenzeichen  in  die  Tonschrift  eingefügt!  Ich  glaube, 
die  Beibehaltung  einer  unrhythmischen  Notation  erklärt  sich 
aus  liturgischen  und  rein  praktischen  Gründen.  Die  christliche 
Musik  sollte  die  Dienerin  der  Sprache  sein,  eine  Steigerung 
und  Verinnerlichung  des  Wortgedankens.  Sie  sollte  einem 
Sprachgesang  gleichen,  nicht  einer  selbständigen  Musik  in  unserem 
Sinne.  Daher  schloß  sich  auch  die  Psalmodie,  der  älteste  Bestand- 
teil der  Kirchenmusik,  eng  an  den  Rhythmus  der  Sprache  an. 
Der  Gesang  war  mehr  ein  akzentisches  Rezitieren  als  ein  eigent- 
liches Singen.  Eine  Ausnahme  bilden  allerdings  die  Halleluja- 
Gesänge,  die  mit  ihren  reichen  Melismen  einem  Jubilieren  und 
Jauchzen  gleichen.  Aber  auch  hier  war  eine  freie,  ataktische, 
nur  inneren  musikalischen  Gliederungen  folgende  Rhythmik 
möglich,  da  die  Kleriker  die  Gesänge  nach  der  Methode  ihres 
Gesangsmeisters  genau  einstudierten,  so  daß  die  Chorliturgie 
auswendig  gesungen  werden  konnte1.     Die  Stücke  wurden  ohne 


1  Guido,  Reg.  rhythni.  (Gerb.  Script.  II,  S.  25):  Hac  de  causa  rusticorum 
multitudo  plurima — Donec  frustra  vivit,  mira  laborat  insania,  —  Dum  sine 
magistro  nulla  discitur  antiphona.  Ebd.  S.  34:  Mirabiles  autein  can- 
tores  et  cantorum  discipuli,  etiamsi  per  centum  annos  quotidie  cantent,  num- 
quam  per  se  sine  magistro  unam  vel  salteni  parvulam  antiphonam 
cantabunt.  AurelianusReomensis  sagt  (Gerb.  Script.  I,  S.  53) :  Porro  autem, 
etsi  opinio  me  non  fefellit,  licet  quispiam  cantoris  censealur  vocabulo,  minime 
tarnen  perfectus  esse  poterit,  nisi  modulationem  omnium  versuum  per  omnes 
tonos,  discretioneinque  tarn  tonoruni,  quam  versuum  antiphonaruni  seu  in- 
troitum  in  theca  cordis  memoriter  insitam  habuerit. 


14  Zweites  Kapitel. 

Notenbuch  vorgetragen,  da  die  wenigen  kostbaren  Musikbücher, 
die  man  anfertigte,  in  erster  Reihe  für  den  Chordirigenten  oder 
Leiter  der  Liturgie  bestimmt  waren. 

Durch  eine  oratorische  Rhythmik  wurde  auch  jeder  Anklang 
an  die  profane  Musik  ausgeschlossen.  Volks-  und  Tanzmusik 
waren  zu  allen  Zeiten  an  den  Gruppentakt  mit  betontem  und 
leichtem  Taktteil  gebunden.  Von  diesem  rhythmischen  Gleich- 
takt hielt  sich  der  Choral  fern,  denn  die  Geistlichen,  die  alle  In- 
strumente aus  dem  Kirchendienst  verbannten,  wollten  auch  in 
der  .Rhythmik  einen  Gleichklang  mit  der  weltlichen  Musik  ver- 
meiden. Diese  Abtrennung  des  liturgischen  Gesangs  von  der 
außerkirchlichen  Gebrauchsmusik  betont  schon  Diodor  von  Tarsus 
(um  370),  wenn  er  den  Gläubigen  sagt,  daß  nicht  das  Singen  der 
Unvollkommenheit  angehöre,  sondern  das  »Singen  mit  Begleitung 
seelenloser  Instrumente«.  »Daher  sind  —  nach  Diodor  —  in 
den  Kirchen  bei  den  Gesängen  die  Instrumentalbegleitung 
und  die  anderen  kindischen  Zugaben  abgeschafft,  und  nur  das 
pure  Singen  beibehalten  worden.  Denn  das  Lied  erweckt  die 
Seele  zu  einer  glühenden  Sehnsucht  nach  dem,  was  im  Liede  dar- 
gestellt ist;  es  besänftigt  die  vom  Fleisch  aufsteigenden  Leiden- 
schaften; es  wehrt  die  . . .  bösen  Gedanken  ab;  es  betaut  die  Seele, 
daß  sie  fruchtbar  wird  in  der  Hervorbringung  mannigfaltiger 
Güter;  es  macht  die  frommen  Kämpfer  edel  und  stark  in  bezug 
auf  das  Ertragen  furchtbarer  Übel;  es  wird  den  Frommen  zu 
einer  heilenden  Salbe  aller  Wunden,  die  das  Leben  schlägt  . . . 
alles  dies  ...  kommt  durch  die  Kirchengesänge  den  Frommen  zu1.« 
Dieser  Gedanke  der  reinen,  durch  keine  weltlichen  Anklänge  pro- 
fanierten Kirchenmusik  ist  das  Leitmotiv  in  der  Gestaltung  der 
frühchristlichen  Liturgie.  Und  aus  diesen  Anschauungen  läßt  sich 
auch  die  ataktische  Rhythmik  der  christlichen  Musik  verstehen, 
jene  freie  Deklamation,  die  sich  an  keine  schweren  und  leichten 
Taktteile  bindet,  sondern  allein  dem  Wortakzent  und  der  Satz- 
gliederung folgt.  Für  die  vorgregorianische  Zeit  ist  dieser  rezi- 
tativische, akzentische  Vortrag  der  Chorsätze  vielfach  bezeugt. 
So  sieht  Diodor  die  Kraft  des  Gesangs  in  einer  harmonischen  An- 
passung der   Rhythmen  an  den  Text2,  und  die   Psalmodie  wird 


1  Übersetzung  nach  Harnack,  Diodor  von  Tarsus.  Texte  und  Unter- 
suchungen zur  Geschichte  der  altchristlichen  Literatur  von  Gebhardl  und 
Harnack.     Neue  Folge,  VI.  Band,  1901,  S.  131. 

2  A.  a.  0.  S.  102. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  15 

geradezu  mehr  »ein  Sprechen  als  eigentliches  Singen«1  genannt. 
Auch  der  Ambrosianische  Gesang  schloß  sich  eng  an  den  Text  an, 
wenn  auch  nicht  bewiesen  ist,  daß  das  Metrum  streng  beachtet 
wurde2.  Es  ist  anzunehmen,  daß  alle  Gesänge  der  Liturgie,  die 
zum  weitaus  größten  Teil  Prosatexten  folgen,  in  deklamatorischer 
Rhythmik  vorgetragen  wurden.  Daß  aber  auch  verzierte  Gesänge 
einer  ataktischen  rhythmischen  Gliederung  folgen  können,  läßt 
sich  noch  heute  an  vielen  Volksweisen  zeigen.  Für  die  ältere 
Zeit  wird  man  da  kaum  bindende  Vorschriften  aufstellen,  da 
gerade  die  ornamentreichen  Weisen  der  Liturgie  in  verschiedenen 
Kirchen  auch  verschieden  ausgeführt  wurden. 

Aus  der  engen  Verbindung  von  Wort  und  Ton,  die  wir  als  Norm 
für  die  Ghorgesänge  ansehen,  erklärt  sich,  daß  wir  in  der  Blüte- 
zeit des  Gregorianischen  Chorals,  in  der  Epoche  von  Gregors  Wirken 
bis  etwa  zur  Regierung  Karls  des  Großen,  so  wenig  von  der  Rhyth- 
mik hören.  Alle  Rhythmenregeln  waren  überflüssig,  solange 
sich  die  Rhythmik  auf  den  Text  stützte  und  alle  melismatischen 
Tongruppen  nach  überlieferter  Praxis  gesungen  wurden.  Erst 
im  10.  Jahrhundert,  als  der  Bestand  an  liturgischen  Weisen  stark 
zugenommen  hatte  und  Tradition  und  Sicherheit  in  der  Aus- 
führung der  Sätze  verloren  gehen,  werden  Gesetze  über  die  Choral- 
rhythmik gegeben,  die  ihre  Herkunft  aus  der  Wiederaufnahme 
der  antiken  Kunstlehre  herleiten.  Diese  Theorien  werden  am 
Schluß  des  Kapitels  behandelt,  da  sie  kaum  Anspruch  auf  All- 
gemeingültigkeit erheben  können.  Die  Epoche  der  neumierten 
Tonstücke  hält  sich  nach  den  Musikdenkmälern  und  Geschicht- 
schreibern zu  urteilen  an  keine  Taktlehre,  an  keine  sich  stets 
gleichbleibende  Gruppenteilung  der  Rhythmen  und  Takteinheiten, 
sondern  an  einen  freien  solistischen  Vortrag  und  eine  oratorische 
Rhythmik  in  den  einfachen  Stücken  und  Chorgesängen. 

Mit  Ausnahme  der  Hymnen,  die  nach  metrischen  Texten  kom- 
poniert sind,  bieten  somit  die  Gesänge  des  Chorals  keine  Anhalts- 
punkte für  eine  taktische  Mensur.  Sie  können  daher  nicht  nach 
griechischem  Muster  dirigiert  worden  sein,  da  eine  regelmäßige 
Folge  von  schweren  und  leichten  Taktteilen  das  Ebenmaß  der  Ge- 
sänge und  die  deklamatorische  Tonsprache  zerstört  haben  würde. 

1  Primitiva  autem  Ecclesia  ila  psallehat,  ut  modico  flexu  vocis  faceret 
psallentem  resonare:  ita  ut  pronuncianti  vieinior  esset,  quam  psallenti  [quam 
canenti].    Gerbert,  De  cantu  et  mus.  sacr.  I,  S.  203. 

2  S.Peter  Wagner,  Neumenkunde,  Palaeographie  des  Gregorianischen 
Chorals,  S.  238  f. 


16  Zweites  Kapitel. 

Im  Mittelpunkt  aller  kirchenmusikalischen  Bestrebungen  stand 
die  schola  cantorum  in  Rom,  jene  Sängergemeinschaft,  die  Gregor 
der  Große  nach  dem  Zeugnis  des  Johannes  Diaconus  gegründet 
und  materiell  gesichert  haben  soll.  Was  die  Päpste  Sylvester 
(—336),  Sixtus  (—440)  und  Leo  der  Große  (—461)  für  die 
Ausbildung  der  Sängerchöre  getan  haben1,  tritt  hinter  der 
Organisation  der  Schola  zurück.  Die  römischen  Sänger  über- 
holten in  kurzer  Zeit  alle  Chorvereinigungen.  Hier  wurde  die 
Liturgie  im  Sinne  Gregors  —  dem  nach  der  neuerdings  angefochte- 
nen Überlieferung  die  Regelung  und  Reformierung  der  Liturgie 
zugeschrieben  wird  —  in  \  einheitlicher  Manier  ausgeführt.  Ein 
Vortragsstil  bildete  sich,  der  als  vorbildlich  in  allen  Kirchen  galt. 
Von  der  Schola,  die  die  liturgischen  Gesänge  im  Gottesdienst 
nach  Gregors  Vorschrift  ausführte,  ist  die  römische  Methode  des 
Gesangsvortrags  in  die  fernsten  Kirchengemeinden  gekommen; 
und  nach  dem  Muster  der  Schule,  in  der  auch  die  heranwachsende 
Jugend  Unterricht  erhielt,  wurden  an  vielen  Orten  Singeschulen 
eingerichtet.  Die  Gesänge  erhielten  sich  durch  Unterricht  und 
Überlieferung  in  traditioneller  Vortragsmanier,  so  daß  die  Be- 
deutung der  Schule  immer  weiter  wuchs.  Wie  in  Rom  gesungen 
wurde,  galt  als  Vorbild  und  Gesetz  der  christlichen  Kirche. 

Der  Dirigent  der  schola  cantorum  war  der  Primicerius,  der 
Prior  scholae,  ihm  folgten  dem  Range  nach:  der  Secundicerius, 
Tertius,  Quartus  —  letzterer  unterwies  die  Sängerknaben  —  und 
die  Subdiakonen,  sieben  an  der  Zahl.  Zu  diesen  Männerstimmen 
gesellte  sich  bei  der  Ausführung  der  Chorgesänge  noch  die  Reihe 
der  Singknaben.  Der  Primicerius  rangierte  nach  Gregors  Be- 
stimmung unter  den  höchsten  Würdenträgern;  er  leitete  Zere- 
monie und  Musik  und  überwachte  Lehre  und  Vortrag  des  Gesanges. 

Nach  dem  I.  Ordo  Romanus,  der  im  7.  oder  8.  Jahrhundert 
aufgestellt  wurde,  standen  die  Sänger  an  allen  Tagen,  an  denen 
der  Papst  zelebrierte,  im  unteren  Chor  der  Kirche.  »War  der 
Papst  im  Secretarium  angekleidet,  so  erschien  der  vierte  Sänger 
vor  ihm  und  meldete,  wer  die  Epistel  lesen  und  wer  das  Graduale 


1  Gerb.,  De  cantu  I,  S.  36.  Anm.  a. :  Quamquain  tempore  S.  Silveslri  P.  ei 
poslea  plures  et  magnae  fuerint  in  urbe  basilicae  conditae,  non  tarnen  singulae 
Clericos  vel  Monachos  speciatim  liabebant,  qui  in  illis  sacra  offieia  celcbrarent. . . 
Ideoque  schola  cantorum  instituta  fuit,  quae  urbi  communis  erat  et  ad  sta- 
tiones,  processiones.  singulasque  diebus  eorundem  festis  occlesias  urbis  con- 
veniebat,  ibique  sacra  officia,  et  Missarum  solemnia,  Pontifice  vel  Presbytern 
cclebrante,  deeantabat. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  17 

singen  sollte.  Hatte  er  die  Zustimmung  des  Papstes  erhalten,  so 
brachte  er  die  Meldung  an  seinen  Obern,  den  Primicerius  zurück; 
die  Schola  stellte  sich  in  zwei  Reihen  auf,  die  Männer  an  den 
Flügeln,  die  Knaben  in  der  Mitte,  oder  die  Männer  gegen  das 
Schiff  hin,  die  Knaben  dem  Altare  zu1.  Nach  dieser  Aufstellung 
hob  der  Primicerius  den  Introitus  an.  Sobald  der  Subdiakon 
der  Schola  die  Antiphon  zum  Introitus  angestimmt  hatte,  faßte 
er  seine  Planeta  zu  einem  Bausch  auf,  d.  h.  er  faßte  den  vorderen 
Teil  seiner  Planeta  vorn  auf  der  Brust  in  einen  Bausch  zusammen, 
so  daß  die  Arme  frei  wurden2.«  Das  geschah,  wie  Kienle  nach- 
gewiesen hat,  um  den  Gesang  durch  Handbewegungen  zu  leiten. 
Über  die  Art  dieser  Direktion  erfahren  wir  aus  der  römischen  Ur- 
kunde nichts  weiter.  Aber  es  sind  Notizen  in  anderen  Schriften 
erhalten,  die  einen  Rückschluß  auf  die  römische  Praxis  zulassen, 
Nachrichten  aus  den  Kirchen  zu  St.  Gallen,  Mainz,  Mailand 
und  Monte  Cassino. 

So  findet  sich  in  einem  Bericht  über  eine  Osterfeier  in  Ingel- 
heim, die  im  Jahre  1030  abgehalten  wurde,  eine  interessante  Be- 
merkung über  die  Direktion  einer  Sequenz.  Ekkehard  IV.  aus 
St.  Gallen,  der  nach  Mainz  als  Dirigent  einer  Singeschule  berufen 
war,  mußte  in  Ingelheim  vor  Kaiser  Conrad  und  vielen  Bischöfen 
und  Fürsten  die  Ostersequenz  »Laudes  Salvatori«  dirigieren.  Der 
Chronist  gibt  davon  folgende  Beschreibung:  »Mitten  im  Chore, 
dem  kaiserlichen  Throne  gegenüberstand  der  choralkundige  Mönch 
von  St.  Gallen,  um  den  Gesang  zu  leiten.  Als  nun  nach  dem  Alle- 
luja  Pasca  nostrum  die  Sequenz  beginnen  sollte  und  der  Kantor 
die  Hand  erhoben  hatte,  um,  wie  es  sich  gebührt,  dieWeisen  der 
Sequenz  mit  der  Hand  zu  malen,  da  ereignete  sich  das 
dem  Kantor  so  Ehrenvolle,  daß  drei  Bischöfe  im  Pontifikalschmuck 
in  den  Chor  hinabstiegen,  um  mit  ihm  die  Gesänge  zu  singen, 
die  er  sie  in  St.  Gallen  selber  gelehrt  hatte3. «  Die  Sequenz  wurde 
also  nicht  taktiert,  sondern  mit  der  Hand  »gemalt«,  die  Ton- 
figuren wurden  mit  Gesten  veranschaulicht,  die  die  Ausbiegungen 


i  Migne,  Patr.  Lat.,  Tom.  78,  S.  9H  :  Tunc  illi  elevantes  se,  per  ordinem 
vadunt  ante  altare,  et  statuuntur  per  ordinem  acies  duae  tantum,  paraphonistae 
quidem  hinc  inde  aforis,  infantes  ab  utroque  latere  infra  per  ordinem.  Et 
mox  incipit  prior  scholae  antiphonam  ad  Introitum. 

2  Ambrosius  Kienle,  Notizen  über  das  Dirigieren  mittelalterlicher  Ge- 
sangschöre, V.  f.  M.  48S5,  S.  4  60. 

3  Anselm  Schubiger,  Die  Sängerschule  St.  Gallens,  S.  82:  »Cum  ma- 
num  ille  ad  modulos  sequentiae  pingendos  rite  levasset.«  Kienle 
[a.  a.  0)  weist  die  Sequenz  nach.     Obige  Stelle  nach  seiner  Übersetzung. 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.  X.  " 


18  Zweites  Kapitel.' 

und  Steigerungen  der  einfachen  Melodie  durch  leichte  Hand- 
bewegungen nachzeichneten.  Diese  Gheironomie,  die  schon  bei 
der  Musikübung  der  alten  Kulturvölker  erwähnt  wurde,  war  in 
der  Musik  der  christlichen  Kirche  die  gebräuchliche  Direktions- 
form. Wir  wissen  aus  Mailand,  daß  dort  noch  im  Jahre  1130 
der  Verlauf  der  Melodie  vom  Kantor  durch  entsprechende  Hand- 
bewegungen angedeutet  wurde1,  und  können  somit  den  Gebrauch 
der  Cheironomie  für  die  Kirchen  in  St.  Gallen,  Mainz  und  Mai- 
land nachweisen. 

Zu  diesen  Nachrichten  kommt  als  wichtigste  Quelle  ein  Bericht 
von  der  Chorleitung  in  Monte  Cassino,  den  ein  Mönch  im  11.  Jahr- 
hundert aufgeschrieben  hat.  Er  gibt  eine  Beschreibung  von  der 
Gruppierung  der  Sänger,  die  wie  in  Rom  in  zwei  Reihen  aufge- 
stellt waren,  und  fährt  dann  in  holprigem  Kirchenlatein  fort: 
»Ein  Magister  steht  mitten  im  Chor  mit  Alba  und  Mantel  be- 
kleidet; in  der  Linken  hält  er  den  Hirtenstab,  das  Zeichen  der 
Disziplin,  da  alle  Sänger  ihm  unterstellt  sind.  Dann  hebt  er  die 
rechte  Hand  und  zeigt  mit  gemessenen  und  gut  berechneten  Be- 
wegungen allen  Sängern  (den  Verlauf  der  Noten).  Alle  haben 
nach  seiner  Hand  zu  sehen,  damit  der  Gesang  durch  die  gemesse- 
nen Bewegungen  gleichsam  vorher  gezeigt  wird  und  alle  einmütig 
wie  aus  einem  Munde  singen2.«  Noch  ausführlicher  beschreibt 
der  Mönch  die  Cheironomie  an  einer  anderen  Stelle,  die  sich  so 
übersetzen  ließe:  »Ein  Magister  steht  mitten  im  Chor  mit  dem 
Festgewand  geschmückt.  Er  heißt  der  die  Cheironomie  aus- 
führende Dirigent  (Cheironomikos).  In  der  Linken  hält  er  den 
Stab  des  Bischofs  oder  Abbaten,  um  gleichsam  die  ihm  übertragene 
Würde  zu  zeigen.  Dann  hält  er  ihn  in  der  Rechten  hoch,  damit 
alle  darauf  hinsehen,  und  zeigt  ihnen  nach  der  Kunstlehre  den 
Ablauf  der  Noten,  wie  wir  gesagt  haben.  Mit  klarer  Stimme  singt 
er  auf  fünf  Tonstufen  fünf  aufsteigende  und  ebensoviel  absteigende 
Noten.  Daher  heißt  die  Tongruppe,  die  er  vorträgt:  Serenimpha. 
[Eine  Bezeichnung,  die  auch  als  Neumenfigur  vorkommt.]  So 
sieht  das  Notenbild  aus,  das  er  mit  den  Handbewegungen  zeigt: 


1  Kienle,  a.  a.  0.  S.  166. 

2  Gerbert,  De  cantu  I,  S.  320,  Anm.  a:  Ex  una  parte  chori  tres  cleriei 
in  ecclesia  et  tres  de  alia;  et  magister  per  medium,  qui  albas  indutum  atquc 
pluvialem  sinistra  manu  pastoralem  virgam  propter  disciplinam  tenens,  ut 
omnes  obiiciantur.  Proinde  dcxtra  manu  elevata  metiri  atque  componere 
ostensionibus  omnibus  demonstrat,  ut  insimul  aspiciantur  ad  manum,  ut  sicut 
metiendo  praenotatur  cantus  omnes  quasi  una  voce  concorditer  cantum  componat. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  19 


Der  Dirigent  gibt  nach  diesem  Bericht  durch  einen  Quintengang 
Tonart  und  Tonhöhe  an,  so  daß  die  Sänger  die  Lage  der  Halb- 
töne hören  und  sich  danach  richten  können.  Dann  leitet  er 
durch  malende  Handbewegungen,  durch  Zeichen,  die  dem  Gang 
der  Melodie  entsprechen. 

Wie  das  Wort  Cheironomie  (x^P  und  vojxo?)  auf  Griechenland 
weist,  so  zeigen  auch  die  Erläuterungen,  die  der  Mönch  aus  Monte 
Cassino  über  Tonformeln  wie  Jonicon,  Chamilon,  Cuphos  u.  a. 
gibt,  daß  die  Praxis  der  cheironomischen  Direktion  aus  dem 
Osten  stammt.  Nach  den  Berichten  von  Allatius  und  Goar  wurden 
noch  in  späterer  Zeit  im  Gottesdienst  der  griechischen  Kirche 
die  Sänger  in  zwei  Abteilungen  aufgestellt,  von  denen  jede  einem 
Chorsänger  folgte.  In  der  Mitte  stand  der  Kantor,  der  die 
Melodie  cheironomierte.  Im  Euchologium  graecum  sagt  Goar2, 
daß  die  Griechen  selten  aus  Büchern  singen  und  »noch  seltener 
aus  solchen,  die  mit  Musiknoten  versehen  sind «.  Diesem  Mangel 
helfen  sie  dadurch  ab,  »daß  irgend  jemand  halblaut,  so  daß  er 
von  allen  gut  gehört  werden  kann,  beiden  Chorseiten  aus  einem 
Buche  in  kleinen  Abschnitten  vorsagt,  was  zu  singen  ist.  Bei 
Gesängen,   die   mehr   bekannt   und  gebraucht  sind,  bedienen  sie 


1  Ebd.  I,  S.  321,  Anm.  a:  Unus  magister  in  medio  stat  sacris  vestibus  indutus, 
qui  dicitur  cheronomika  (!)  (y_eipovo[i.txtf?),  sinistra  manu  baculum  episcopi  vel 
abbati  tenens,  quasi  potestate  ab  eo  accepta,  dextra  manu  sursum  tenens,  ut 
omnes  ibi  aspiciant,  et  ille  per  Studium  artis  neumarum  casibus  demonstrat, 
ita  ut  diximus,  serena  voce  ostendens  per  quinque  neumas  in  quinque  cordis 
ascendit,  vel  descendit  per  gradibus  cordarum  tonando :  ita  illa  neuma,  qui 
per  quinque  gradibus  cordarum  tonando  ascendit  vel  descendit  serenimpha 
vocatur.  Ita  facta  est,  quem  cum  manibus  demonstrat.  —  Zur  Cheironomie 
vgl.  Kienle,  a.a.O.,  Fleischer,  Neumen-Studien  I,  2,  Peter  Wagner, 
Neumenkunde  und  Paleographie  mus.,  Bd.  I  und  VII.  In  Bd.  VII  der  Pa- 
leographie  ist  ein  Deutungsversuch  der  Cheironomie  unternommen,  der  allerdings 
praktisch  nicht  recht  brauchbar  ist.  Unbeachtet  blieb  bisher  eine  Stelle  in  den 
Schriften  des  Aelredus  (1 2.  Jahrhdt.) :  Interim  histrionicis  quibusdam  gestibus 
totum  corpus  agitatur  [a  cantoribus],  torquentur  labia,  rotant,  ludunt  humeri; 
et  ad  singulas  quasque  notas  digitorum  flexus  respondet  (Migne,  Patr., 
Tom.  195,  S.  571). 

2  Goar,  Euchologium  graecum.  Übersetzung  nach  Kienle,  a.  a.  0.,  vgl. 
Fleischer,  a.  a.  0.  I,  S.  34.  Die  doppelchörige  Aufstellung  ist  von  Philo- 
Eusebius  schon  für  den  Vigiliengesang  der  Therapeuten  bezeugt.  Auch  hier 
werden  zwei  Vorsänger,  die  sich  > durch  die  Würdigkeit  der  Person,  wie  in 
der  Musikc  auszeichneten,  als  Leiter  des  Chors  genannt.  Siehe  P.  Wagner, 
Ursprung  und  Beschaffenheit,  S.  23. 

2* 


20  Zweites  Kapitel. 

sich  verschiedener  Bewegungen  der  rechten  Hand  und  der  Finger, 
die  sie  ganz  (oder)  halb  einbiegen,  ausstrecken  usw.,  als  Zeichen, 
um  die  verschiedenen  Töne  und  Modulationen  auszudrücken, 
was  Cedrenus  ,Cheironomia'  nennt.  Derjenige  nun,  der  die 
Kanones  und  Hymnen  versweise  vorspricht,  .  .  .  der  alles,  was 
zu  singen  ist,  angibt  und  durch  seine  Stimme  die  Führung  hat, 
heißt  Kanonarch,  d.  h.  derjenige,  der  die  Kanones  anstimmt 
und  ihren  Gesang  leitet.«  Daß  hier  betont  wird,  die  Griechen 
bedienten  sich  keiner  Notenbücher,  beweist,  daß  der  Verfasser 
das  später  in  Rom  übliche  Absingen  von  Noten  gekannt  hat1.  In- 
teressant sind  vor  allem  seine  Nachrichten  von  der  Cheironomie 
und  dem  Kanonarch.  Was  da  vom  Einbiegen  der  Finger  und  den 
Handbewegungen  gesagt  wird,  schließt  unmittelbar  an  die  Musik- 
übung der  alten  Kulturvölker  an2.  Die  römische  Kirche  wird 
die  orientalisch-griechische  Methode  einer  sichtbaren  Notenangabe 
aufgenommen  und  ihrem  Zweck  entsprechend  umgebildet  haben. 
Auch  das  Amt  des  Vorsängers  finden  wir  —  wenn  auch  in 
anderer  Form  —  in  der  Liturgie  des  Abendlandes  wieder.  Der 
Präzentor,  auch  Kantor  genannt,  war  der  Solist  des  Kirchen- 
gesangs. Auf  seinen  Vortrag  hatte  der  Gesamtchor  zu  antworten. 
Er  stand  auf  einem  abgesonderten  Platz  und  mußte  mit  deutlicher, 
klarer  Stimme  die  Intonationen  und  Solostücke  singen,  die  er 
noch  häufig  mit  Verzierungen,  Ornamenten  und  Figuren  um- 
rankte. Man  verglich  ihn  etwas  drastisch  mit  dem  »Knecht,  der 
die  Ochsen  mit  dem  Stachel  antreibt«3,  oder  man  sagte:  »was 
auf  dem  Schiff  der  Steuermann,  auf  dem  Wagen  der  Lenker, 
das  ist  im  Chor  der  Präzentor«4.  Dem  Präzentor  gegenüber, 
auf  der  anderen  Seite  des  Chores  stand  der  Succentor,  der  die 
Responsion   ausführen  mußte.     Wo   die  liturgischen  Funktionen 


i  Vgl.  Kienle,  a.  a.  0.  S.  U>8. 

2  S.  o.,  S.  2.  Eingehende  Quellennachweise  über  die  Cheironomie  der 
Kulturvölker  gibt  Fleischer,  a.  a.  0.  I,  4. 

3  Honorius  Augustodunensis  (Migne,  Tom.  4 72,  S.  549):  Praecentor 
qui  cantantes  voce  et  manu  incitat,  est  servus,  qui  boves  sümulo  minans 
dulci  voce  bobus  jubilat.  Ebd.  S.  567:  Praecentores,  qui  chorum  utrinque 
regunt,  sunt  duces,  qui  agmina  ad  pugnam  instruunt. 

4  Quod  est  in  triremi  gubernator,  in  curru  rector,  praecentor  in  choris. 
(Du  Gange,  Glossar,  Artik.  »Praec.<)  Ausführlich  behandelt  das  Amt  des 
Präzentors  Udalricus  Gluniacensis  Monachus  (II.  Jahrhdt.)  in  dein 
Kapitel:  De  praecentore  et  armario  (Migne,  Tom.  149,  S.  7 4 8 f .) .  U.  a.  heißt 
es  da:  tota  servitutis  divinae  ordinatio  in  ecclesia  super  nulluni  pendet  quam 
super  illum  —  Quod  voluerit  ut  cantetur,  cantatur;  quod  voluerit  ut  legatur, 
legitur  .  .  . 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  21 

nicht  nach  römischem  Muster  verteilt  werden  konnten,  mußte  der 
Vorsänger  auch  die  Chordirektion  übernehmen.  So  wird  in  den 
constitutiones  Lichefeldenses  verordnet:  der  Kantor  solle  den  Ge- 
sang nach  dem  Verlauf  der  Noten  (also  cheir onomisch)  leiten 
oder  aber  dem  Succentor  die  Direktion  überlassen.  Alle  Anord- 
nungen der  Liturgie  habe  er  zu  überwachen  und  die  Singknaben  zu 
unterrichten1.  Weiter  wird  dem  Dirigenten  die  Intonation  über- 
tragen, die  Aufstellung  des  Chors,  die  Kontrolle  der  Musikbücher2. 
Im  Chor  haben  wir  uns  sein  Amt  als  Vorsänger  ähnlich  zu  denken, 
wie  die  Führung  des  ersten  Tenors  in  unseren  kleinen  Männer- 
chören. Der  Präzentor  gab  Ton  und  Tempo  an  und  leitete  mit 
seiner  Stimme  die  übrigen  Sänger,  falls  die  cheironomische 
Direktion  nicht  ausreichte.  Auch  die  Ausführung  der  Absätze 
oder  der  Endpunkte  der  Psalmodie  wurde  von  ihm  dirigiert, 
denn  die  Kadenzen  wurden  nicht  nach  dem  Wortakzent,  sondern 
nach  dem  Charakter  der  Melodie  gesungen3.  Dann  sorgte  er 
dafür,  daß  in  der  Psalmodie  nicht  geeilt  oder  geschleppt  wurde, 
daß  das  Zeitmaß  dem  Affekt  des  Musikstücks  entsprach; 
Trauergesänge  wurden  langsam  und  gemessen,  Responsorium, 
Graduale  und  Traktus  bald  langsamer,  bald  schneller  gesungen. 
Er  mußte  auch  auf  die  richtige  Ausführung  der  Absätze 
(Pausen)  achten,  die  bei  ruhigem  Zeitmaß  länger,  bei  lebhaften 
kürzere  Zeit  gehalten  wurden4.     Man  sieht,  daß  eine  gesangliche 


1  Gerbert,  De  cantu  I,  S.  304  Anm.  b:  Cantoris  officium  est  chorum  in 
cantuum  elevatione  et  depressione  vel  per  se,  vel  per  succentorem  suum  regere, 
et  in  omni  duplici  festo  lectiones  legendas  canonicis  praesentibus  iniungere, 
chronica  paschalia  singulis  annis  mutare,  cantores,  lectores  et  ministros  altaris 
in  tabula  ordinäre.  Ad  illum  pertinet  instructio  puerorum  et  disciplina  et  eorun- 
dem  admissio  et  ordinatio  .  .  .  (Const.  Lichef.  an.  1193.) 

2  Ebd.  I,  S.  304,  Anm.  a:  Cantor  debet  stare  in  dextro  choro  et  succentor 
in  sinistro,  et  unusquisque  in  choro  suo  fratres  ad  vigilandum  et  cantandum 
excitare,  neglegentias  de  antiphonis,  psalmis,  responsoriis  et  hymnis,  atque 
versiculis  unusquisque  in  suo  et  in  altero,  si  alter  non  emendaverit,  corrigere; 
ut  fratres  ordinate  Stent  vel  sedeant,  providere  ....  canticum  incipere  (nach 
Martenius). 

3  Instituta  patrum  de  modo  psallendi  (Gerb.  Script.  I,  S.  6):Om- 
nis  enim  Tonorum  depositio  in  finalibus,  mediis  vel  ultimis,  non  est  secundum 
accentum  verbi  sed  secundum  musicalem  melodiam  Toni  facienda. 

4  Ebd.:  Psalmodia  semper  pari  voce,  aequa  lance,  non  nimis  protrahatur, 
sed  mediocri  voce,  non  nimis  velociter,  sed  rotunda,  virili,  viva  etsuccincta  voce 
psallatur:  syllabas,  verba,  metrum  in  medio  et  in  finem  versus,  id  est  initium, 
medium  et  finem,  simul  incipiamus  et  pariter  dimittamus.  Punctum  aequaliter 
teneant  omnes.  —  Una  qualitate  cantemus,  simul  pausemus,  semper  auscultando. 
Si  morose  cantamus,  longior  pausa  fiat,  si  propere,  brevior.  —  S.  7:  Ergo  cum 


22  Zweites  Kapitel. 

Leitung,  ein  Mitsingen  des  Präzentors  oder  Kantors  neben  der 
Cheironomie  häufig  notwendig  wurde;  es  mußte  mit  »Hand  und 
Stimme«  dirigiert  werden,  wenn  der  Gesang  ohne  Schwankungen 
durchgeführt  werden  sollte1.  Da  in  der  Kirche  ein  verhältnismäßig 
kleiner  Chor  die  einstimmigen  Choralsätze  sang,  die  in  der  Schule 
bereits  einstudiert  waren,  so  konnte  der  Dirigent  mit  der  ge- 
sanglichen Führung  und  einer  cheironomischen  Leitung  bei  der 
Direktion  auskommen. 

Ambrosius  Kienle  erzählt  in  seiner  zitierten  Schrift,  wie  er 
beim  Studium  des  Chorals  nach  einer  ähnlichen  Methode  ge- 
sungen hat:  »Oft  unbewußt  und  unwillkürlich  hob  sich  die  Hand 
des  Lehrers  und  malte  in  feinen  Linien  die  graziöse  Bewegung 
der  Melodie.«  Weiterhin  gibt  er  folgende  Charakteristik  der 
cheironomischen  Direktion:  »Ruhig  und  gemessen  zeichnet 
die  Hand  die  mittlere  mäßige  Bewegung,  gewandt  und  schnell 
die  flink  eilenden  rhythmischen  Füße,  gewaltig  und  hoch  schwingen 
sich  die  melodischen  Bogen,  langsam  und  majestätisch  gleiten 
sie  von  ihrer  melodischen  Gipfelung  nieder,  zart  und  weich  legen 
sich  die  weihevollen  Formen  eines  innigen  Gebetes  hin,  kräftig 
und  fest  treten  andere  auf;  hier  türmt  es  sich  langsam  und  impo- 
sant auf,  dort  springt  es  in  überraschender  Plötzlichkeit  wie  eine 
schlanke  Säule  empor.«  Doch  man  braucht  nicht  die  Phantasie 
zu  befragen,  um  eine  Vorstellung  von  dieser  Direktion  zu  geben. 
Will  man  die  Grundformen  der  Cheironomie  aus  der  Musik  ableiten, 
so  stelle  man  sich  vor  die  Aufgabe,  einem  Chor  von  Singknaben 
und  Männern  eine  einstimmige  Melodiebewegung  so  anzudeuten, 
daß  der  Verlauf  des  Tonstücks  von  allen  Sängern  wiedererkannt 
wird.  Drei  Grundbewegungen  werden  dabei  stets  wiederkehren: 
die  aufsteigende,  absteigende  und  wagerechte  Linie: 

// \\ 

Diese  drei  Typen  sind  die  Grundformen  der  Sprachakzente  und 
auch  die  der  Neumenschrift.     Dem  Akut  /,  der  eine  Hebung  der 


quidquid  agitur  pro  Defunctis,  totum  flebili  et  remissiori  debet  fieri  voce  .  .  . 
Responsoria  vero  et  Antiphonas,  Gradualia,  Tractus,  Alleluja,  Offertoria  et 
Communiones,  omnemque  gravem  cantum,  remissiori  ac  velociori  processu  per- 
solvamus  .  .  . 

1  Honorius  Augustodunensis  (Migne,  Tom.  172,  S.  567):  Cantores 
manu  et  voce  alios  ad  harmoniam  incitant,  quia  et  ducere  alios  manibus  pu- 
gnando,  et  voce  hortando  ad  certamen  instigant.  S.  auch  Joh.  de  Muris  (Gerb. 
Script.  III,  S.  202):  Sed  tarnen  hinc  oculi  nequeunt  perpendere  cantum,  si 
non  auris  adest  et  voces  praemodulantum. 


Das  Dirigieren  dos  Gregorianischen  Chorals.  23 

Stimme  anzeigt,  entspricht  in  der  Neumation  die  Virga  /,  dem 
Gravis  \  der  Punkt.  Der  wagerechte  Strich  bleibt  in  der  Neu- 
mierung  als  Zeichen  gleicher  Tonhöhe,  oder  er  geht  als  Zirkum- 
flex zur  Notenform  der  Clivis  ^  über,  die  die  Verbindung  zweier 
Töne  darstellt.  Der  Akut  würde  in  der  Neumenschrift  einen 
höheren  Ton  bezeichnen,  die  Hebung  der  Melodie,  der  Gravis 
einen  tieferen,  die  Senkung  der  Stimme,  und  der  Zirkumflexus 
eine  Vereinigung  zweier  Noten,  von  denen  die  zweite  tiefer  steht 
als  die  erste.  ■      [      ■      ■      \ 

Der  Zusammenhang  von  Sprachakzent  und  neumierter  Ton- 
schrift ist  schon  vor  vielen  Jahrzehnten  von  Coussemaker1  erkannt 
worden  und  wird  in  unserer  Zeit  kaum  noch  bestritten.  Am 
ausführlichsten  haben  Peter  Wagner2,  Oskar  Fleischer3  und 
Dom  Mocquerau4  den  Ursprung  der  Neumation  aus  den  Sprach- 
akzenten entwickelt.  Die  Akzente  werden  als  bildlicher  Ausdruck 
der  Gesten  des  Redners  gesehen,  als  Grundformen  jener  Hand- 
bewegungen, die  ein  Redner  beim  Vortrag  unwillkürlich  anwendet. 
Quintilian  spricht  daher  von  einer  Cheironomie,  die  man  das 
Gesetz  der  Gesten  nennen  könnte,  und  von  Bewegungen,  die  den 
Formen  der  Akzente  gleichen5.  Man  findet  auch  Neumenschriften 
in  den  denkbar  einfachsten  Formen,  Akzentneumen,  die  allein 
die  Sprachakzente  variieren,  z.  B.  die  Lamentationes  Jeremiae, 
die  etwa  um  das  Jahr  700  aufgeschrieben  wurden6,  oder  die  Car- 
mina  Adhelmi,  von  denen  Gerbert  ein  Faksimile  gegeben   hat7. 

Sieht  man  sich  ein  rein  akzentisch  notiertes  Tonstück  an, 
das  etwa  rezitierend  mit  wenigen  Tonfällen  vorgetragen  werden 
müßte,   z.  B.  den  Anfang  zum  Johannes-Evangelium8: 


1  Histoire  de  l'harmonie  au  moyen-äge.    Paris  1852.     III.  Chap.  II. 

2  Neumenkunde  (s.  o.). 

3  Neumen-Studien  (s.  o.). 

*  Paleographie  mus.  Les  principaux  manuscrits  de  chant  .  .  publik  par  les 
B6n6dictins  de  Solesmes.     Bd.  I. 

6  M.  Fabii  Quintiliani,  De  institutione  oratoria  libri  XII  (ed.  Gesner) 
XI,  3,  S.  578:  Optime  autem  manus  a  sinistra  parte  incipit,  in  dextra  ponitur; 
und  I,  11,  S.60:  Et  certe  quod  facere  oporteat,  non  indignandum  est  discere,  cum 
praesertim  haec  chironomia,  quae  est  ..  lex  gestus  et  ab  illis  temporibus  heroicis 
orta  sit,  et  a  summis  Graeciae  viris  et  ab  ipso  etiam  Socrate  probata,  a  Piatone 
quoque  in  parte  civilium  posita  virtutum,  et  a  Chrysippo  in  praeceptis  de  libe- 
rorum  educatione  compositis  non  omissa.  Über  die  Cheironomie  der  Hellenen,  die 
keine  ausgebildete  Kunst  der  Gesangsleitung  darstellt,  siehe  Fleischer,  a.  a.  O. 

6  Faksimile  bei  Fleischer,  a.a.O.  II,  S.  4. 

7  Gerbert,  De  cantu  I,  S.  202. 

8  Ebd.   II,  Tab.   II.    Faksimile. 


24  Zweites  Kapitel. 

xai     yo>pt,c     aurou     e^evsto     oüöe     ev 

dann  erkennt  man  den  Zusammenhang  von  neumierter  Tonschrift 
und  Sprachakzent.  Auch  die  komplizierter  notierten  Musik- 
stücke der  abendländischen  Kirche,  wie  wir  sie  aus  dem  9.  und 
10.  Jahrhundert  kennen,  lassen  sich  auf  die  Urformen  der  Akzente 
zurückführen ;  es  sind  variierte  Formen  des  Akuts,  des  Punktum 
und  des  Zirkumflex. 

Von  den  alten  Schriftstellern  ist  die  Entwicklung  der  Neu- 
mation  aus  den  Sprachakzenten  bezeugt,  am  prägnantesten  in 
den  Worten:  »De  accentibus  toni  oritur  nota  quae  dicitur  neuma«, 
die  Dom  Mocquerau  nach  einer  Urkunde  des  10.  oder  11.  Jahr- 
hunderts zitiert1.  Man  kann  annehmen,  daß  die  Neumenschrift 
anfangs  nur  die  Akzente  umgebildet  und  kombiniert  hat,  bis  sie 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  jene  Gestalt  bekam,  die  wir  in  den 
Musikdenkmälern  der  römischen   Kirche  finden. 

Es  war  gezeigt  worden,  daß  in  der  Musikübung  der  griechischen 
Kirche  die  Noten  an  Hand  und  Fingern  bezeichnet  wurden,  um 
die  Sänger  im  Vortrag  zu  stützen,  und  daß  auch  das  Abendland 
die  orientalisch-griechische  Cheironomie  übernahm.  Wenn  nun 
die  Grundformen  der  Neumen  den  Typen  der  cheironomischen 
Handbewegung  gleichen,  so  werden  auch  die  Notenzeichen  ein 
Abbild  der  Gesten  des  Chorleiters  gewesen  sein,  ähnlich  den  Ak- 
zenten der  Schrift,  die  gleichfalls  ein  Bild  von  den  Gestikulationen 
des  Redners  und  vom  Worttonfall  geben.  Die  Neumenschrift 
brachte  keinen  Anhalt  für  Tonhöhe  und  Rhythmik  der  Gesänge. 
Sie  war  ohne  Kenntnis  der  überlieferten  Ausführung  als  Noten- 
schrift unbrauchbar.  Wohl  aber  gab  sie  eine  ungefähre  Andeutung 
über  den  Verlauf  der  Melodie,  die  der  Sänger  kannte.  Sie  ent- 
sprach dem  Bild,  das  der  Chorleiter  durch  seine  tonmalerische 
Direktion  veranschaulichte.  Die  Neumenschrift  stellte  also  in 
ihren  Grundformen  gleichsam  ein  graphisches  Bild  der  Cheiro- 
nomie dar.  Was  die  Sänger  im  Unterricht  gelernt  hatten,  wurde 
ihnen  durch  die  Direktionsführung,  durch  das  Nachmalen  der 
Melodiebewegung  wieder  lebendig.  Sie  sahen  den  Verlauf  der 
Melodien  in  den  Gesten  des  Chorleiters,  in  seinen  in  schräger  und 
wagerechter  Linie  geführten  Handbewegungen. 


1    Aus  Cod.  Pal.  lat.  Nr.  235,  fol.  38  v°  in  der  Paläogr.  mus.  (Bd.  I).  S.  auch 
P.Wagner,  Neumenkunde(S.215),wodieUrkunde  abgedruckt  und  übersetzt  ist. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  25 

Das   zitierte   Beispiel   aus   dem   Johannes-Evangelium  könnte 
ich  mir  durch  die  Cheironomie  in  dieser  Form: 

/      \d       d  J       \d 


\c  --..c 

«ai     ytopn;     aurou     e-j-evsTo     oüoe     sv 

ausgeführt  denken;  die  Zeichen  — [  und  | —  sind  Spiritus  lenis  und 
asper,  und  die  Schleifer  an  den  Buchstaben  wohl  Vortragszeichen. 
Es  blieben  Gravis,  Akut  und  Zirkumflex  auszudrücken,  deren  Ton- 
bewegung in  der  punktierten  Linie  angedeutet  ist.  Damit  soll 
keine  Übertragung  des  solistischen  Stücks,  sondern  nur  eine 
Vorstellung  von  der  praktischen  Seite  der  Cheironomie  gegeben 
werden.  Da  alle  chorischen  Tonsätze  auswendig  vorgetragen 
wurden,  so  wird  wohl  diese  cheironomische  Gedächtnishilfe  neben 
der  Führung  des  Vorsängers  für  die  Praxis  des  frühen  Mittel- 
alters ausgereicht  haben. 

Die  drei  Typen  des  Akut,  Gravis  und  Zirkumflex  findet  man 
auch   in    einer   Tabelle    spätgriechischer    Neumenformen    wieder. 
Es    sind    die    sogenannten    »Papadiken«,   Unterrichtsbücher    für 
Sänger,  die  vielleicht  auf  Johannes  von  Damaskus  (8.  Jahrhundert) 
zurückgehen.   In  dieser  Tonschrift,  die  von  Gerbert  und  Fleischer1 
veröffentlicht,   bisher  keine  überzeugende  Lösung  gefunden  hat, 
trifft  man  die  Akzentzeichen  in  den  Figuren 
« — -    Ison 
/    Psephiston 
s    Bareia. 

Diese  Neumenformen  gehören  zu  den  großen  Zeichen,  von 
denen  gesagt  wird,  daß  sie  keine  Tonbedeutung  haben,  da  sie 
»allein  der  Cheironomie  wegen  gesetzt  werden«2.  Sie  können  als 
Formeln  für  die  melodiemalende  Direktion  angesehen  werden. 
Die  übrigen  Figuren  der  Tabelle  sind  in  seltsamen,  z.  T.  recht 
komplizierten  Formen  aufgezeichnet.  Ich  kann  mir  vorstellen, 
daß  die  Zeichen £-*  (Tromikon)  und"!  (Strepton)  durch  ein  Drehen 

der  gespreizten  Hand  nach  rechts  und  links:    %     und     cp  ,    dem 

1  Gerbert,  Decantu  II,  Tab.  VIII  f.,  Fleischer,  a  .a.  O.  III,  Riemann.. 
Handb.  der  Musikgesch.  I,  2,  S.  108 f. 

2  A.  a.  0.:  Eist  Taü-a  oid  [xfar^  tyj;  veipovoliua?  xsiixeva  xal  oO  oca  cpoovT(v, 


26  Zweites  Kapitel. 

Sänger  Andeutungen  für  den  Vortrag  geben  können,  etwa  für  ein 
Tremolieren  oder  Verzieren  des  Tones,  aber  unmöglich  können  diese 
Zeichen:  -©0->  und  ähnliche  für  die  praktische  Cheironomie  in 
Betracht  kommen.  Man  wird  diese  Figuren  anders  deuten  müssen: 
als  Tempoangabe  (schnell,  langsam),  als  Charakterbezeichnung  von 
Tonstücken  (vgl.  das  Choreuma)  oder  als  Vorschriften  für  Gesten 
und  Bewegungen,  wie  sie  der  Kult  vorschreibt.  Darauf  weisen 
auch  die  beigefügten  Namen  und  die  Einzeichnung  der  Figuren. 
Sie  werden  häufig  in  roter  Farbe  über  oder  unter  die  Noten  ge- 
setzt, sind  also  Vortragszeichen  in  unserem  Sinne1.  Sicherlich 
liegen  allen  Figuren  einfache  Formen  zugrunde,  vielleicht  jene 
drei  Akzentformen,  die  wir  aus  den  Notierungen  der  christlichen 
Musik  kennen. 

Die  komplizierten  Zeichen,  die  die  griechische  Tabelle  zeigt, 
kommen  in  der  Neumenschrift  der  abendländischen  Kirche  nicht 
vor.  Das  erklärt  sich  daraus,  daß  Vortragsangaben  wie  schnell, 
langsam  und  ähnliche  in  der  älteren  Tonschrift  unnötig  waren,  so- 
lange noch  tüchtige  Gesangsmeister  die  Ausführung  der  Stücke  nach 
überlieferter  Methode  einstudierten.  Später  half  man  sich  mit 
der  Einzeichnung  von  Buchstaben,  um  Tempoänderungen  und  Vor- 
tragshinweise zu  geben,  eine  Methode,  die  sich  mit  der  eben 
beschriebenen  Einfügung  der  Cheironomiezeichen  in  die  Papa- 
diken  in  Verbindung  bringen  ließe,  wenn  sich  diese  Figuren  auf 
ein  älteres  orientalisches  Alphabet  zurückführen  ließen2.  Im 
wesentlichen  bringen  die  neumierten  Stücke  des  Abendlandes 
Weiterbildungen,  Kombinationen  und  Zusammenfassungen  der 
Akzentzeichen.  Man  wird  in  diesen  Notierungen  eher  ein  Abbild 
cheironomischer  Bewegungen  sehen  können  als  in  den  stark  ver- 
schlungenen Zeichen  der  spätgriechischen  Tonschrift. 

Natürlich  hat  der  Chorleiter  bei  der  Direktion  nicht  alle  Einzel- 
heiten und  Feinheiten  der  Neumennotation  in  der  Luft  nach- 
gemalt. Solche  Bewegungen  wird  kein  Sänger  verstanden  haben. 
Wohl  aber  wurden  an  wichtigen  Stellen  das  Steigen  und  Fallen, 
das  Umbiegen  und  Ausweiten  der  melodischen  Linie,  möglich  er- 
weise auch  Verzierungen  einer  Note  —  z.  B.  das  Quilisma  cd/  der 
Tonschrift  —  durch  die  Cheironomie  veranschaulicht.  Man  würde 
auch  kaum  verstehen,  wie  sich  eine  unrhythmische  und  in  der 
Tonhöhenbezeichnung  unklare  Notenschrift,  wie  die  Neumierimg, 


1  Vgl.  Fleischer  und  Riemann,  a.a.O. 

2  Vgl.  Fleischer,  a.a.O.,  Bd.  III. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  27 

Jahrhunderte  lang  behaupten  konnte,  wennjiieht  die  Cheironomie 
die  Tonzeichen  erklärte,  jene  melodiemalende  Direktion,  die  die 
überlieferten  Tonstücke  in  ähnlicher  Weise  darstellte  wie  die  Noten- 
schrift. Was  die  Musikbücher  dem  Sänger  sagten,  das  zeigte 
der  Dirigent  in  seiner  Leitung. 

Die  Neumierung  des  Gregorianischen  Chorals  ist  in  ihrer  Grund- 
form eine  Gedächtnishilfe  für  Chordirigenten,  Gesanglehrer  und 
Sänger.  Eine  Tonschrift  wie  die  unsrige  ist  sie  nie  gewesen,  und 
alle  Versuche,  die  Zeichen  in  moderne  Notierung  zu  übertragen, 
können  nur  von  Berichten  der  Theoretiker,  von  Vergleichen  mit 
späteren  Dokumenten,  in  die  Linien  oder  Buchstaben  eingefügt 
sind,  ausgehen,  aber  nicht  von  den  Tonzeichen  der  früheren  Jahr- 
hunderte selbst,  da  Intervalle  und  Rhythmik  nicht  kenntlich 
gemacht  sind.  Durch  diese  Notation,  deren  Sinn  nur  den  Kle- 
rikern bekannt  war,  wurde  jede  Profanierung  der  Musik,  jede 
Ausbeutung  der  Melodien  durch  die  Gebrauchsmusik  ausge- 
schlossen. In  späterer  Zeit,  als  die  Tradition  in  der  Ausführung 
der  Gesänge  verloren  zu  gehen  drohte,  wurde  dann  die  Tonlage 
der  Stücke  durch  höher  und  tiefer  gesetzte  Neumen  vorgeschrieben. 
Man  glossierte  die  Zeichen  mit  Buchstaben  und  Vortragsbe- 
merkungen, bis  die  Einführung  von  Linien  mit  vorgeschriebener 
Tonhöhe  und  Guidos  Notenreform  die  Unsicherheit  der  Notie- 
rungen beseitigte. 

Es  ist  bezeichnend,  daß  wir  vom  10.  Jahrhundert  an,  in  einer 
Zeit,  wo  die  Neumenschrift  kritisiert  und  verbessert  wird1,  Nach- 
richten finden,  die  die  Rhythmik  des  Chorals  nach  antikem  Muster 
schematisieren  oder  erklären.  Berühmt  ist  da  das  15.  Kapitel 
aus  Guidos  »Micrologus «,  das  die  Gesänge  nach  Analogie  der  Me- 
trik analysiert.  Auch  Hucbald  und  andere  Musiktheoretiker 
bringen  solche  Ausführungen.  Diese  Rhythmenlehren,  die  sich 
kaum  zu  einer  einheitlichen  Theorie  verdichten  lassen,  gehen 
auf  die  Wiederaufnahme  der  griechischen  Kunstlehre  zurück. 
Was  Augustin  in  seinen  »Büchern  der  Musik«,  was  Boetius, 
Cassiodor  und  Capella  aus  der  griechischen  Musik  herausdeuten, 


1  Hucbaldi  musica  (Gerb.  Script.  I,  S.  117):  Quod  hisnotis,  quas  nunc  usus 
tradidit,  quaeque  pro  locorum  varietate  diversis  nihilominus  deformantur  figuris, 
quamvis  ad  aliquid  prosint,  remunerationis  subsidium  minime  postet  contingere: 
incerto  enim  semper  videntem  dueunt  vestigio  .  .  .  Johannes  Cotto  erzählt, 
daß  selten  drei  Sänger  in  einem  Gesang  übereinstimmend  gesungen  hätten : 
tot  fiunt  divisationes  canendi,  quot  sunt  in  mundo  magistri.  (Gerb.  Script. 
II,  S.  258).    S.  auch  Guido  (Gerb.  Script.  II,   S.  25  u.  S.  34)  u.a.m. 


28  Zweites  Kapitel. 

wurde  umgeformt  und  als  Regulativ  der  Choraltheorie  benutzt. 
Daß  diese  Lehren  erst  vom  9.  Jahrhundert  an  einen  größeren 
Raum  in  der  Musiktheorie  einnehmen,  geht  auf  die  antikisieren- 
den Bestrebungen  der  Zeit  zurück.  Die  Theorieen  wurden  not- 
wendig, als  die  Unsicherheit  in  der  traditionellen  Ausführung 
der  Gesänge  zunahm  und  der  Konnex  mit  der  römischen  Schule 
gebrochen  war.  In  vielen  Kirchen  folgte  man  einer  besonderen 
Maxime  in  der  Interpretierung  des  Chorals;  es  gab  »so  viel  Aus- 
führungsmethoden als  Sänger  in  der  Welt«,  wie  Johannes  Cotto 
sagt.  »Wenn  der  eine  sagt:  Meister  Trudo  hat  mich  unterrichtet, 
so  erwidert  ein  anderer:  ich  habe  aber  bei  Meister  Albinus  studiert; 
und  ein  dritter  setzt  hinzu:  Meister  Salomon  singt  das  sicher 
ganz  anders.  So  weiß  denn  keiner,  welche  Intervalle  in  der 
Neumierung  ausgedrückt  sind1.«  Viele  Gesangsmeister  lehrten 
ihre  eigene  Methode  des  Choralgesangs,  weil  der  Anschluß  an 
Roms  Autorität  verloren  war.  So  wurde  auch  versucht,  die 
Neumen  auf  Schlüssellinien  zu  notieren  und  die  Rhythmik  des 
Chorals  nach  griechischem  Muster  auszubauen,  um  die  Unsicher- 
heit der  Neumennotierung  und  des  Choralgesangs  zu  beseitigen. 
Was  die  Theoretiker  hier  lehren,  sind  keine  allgemein  gültigen 
Gesetze,  keine  bindenden  Vorschriften,  sondern  wohl  mehr  Vor- 
schläge und  subjektive  Anschauungen  von  Gesanglehrern.  Huc- 
bald  macht  sich  z.  B.  eine  Theorie  zurecht,  nach  der  im  Choral 
keine  ungleiche  oder  willkürliche  Rhythmik  zulässig  ist.  Alle 
kurzen  Noten  müßten  gleich  kurz,  alle  Längen  gleichmäßig  lang 
sein.  Die  langen  Töne  sollen  den  kurzen  genau  entsprechen  und 
die  Gesänge  mit  Ausnahme  der  Distinktionen  in  gleichmäßigem 
Tempo  vom  Beginn  bis  zum  Ende  durchgeführt  werden2.  Damit 
stellt  Hucbald  das  Gesetz  der  gemessenen  Noten  auf,  die  Norm 


1  Joh.  Cotto  (Gerb.  Script.  II,  S.  258) :  Unde  fit,  ut  unusquisque  tales  neu- 
mas  pro  libitu  suo  exaltet  aut  deprimat,  et  ubi  tu  semiditonum  vel  diatessaron 
sonas,  alius  ibidem  ditonum  vel  diapente  faciat;  et  si  adhuc  tertius  adsit,  ab 
utrisque  disconveniat.  Dicat  namque  unus  hoc  modo:  Magister  Trudo  me  do- 
cuit;  subjungit  alius:  Ego  autem  sie  a  magistro  Albino  didici;  ad  hoc  tertius: 
Certe  magister  Salomon  longe  aliter  cantat  .  .  .  (s.  S.  27,  Anm.  1). 

2  Hucbald,  Commemoratio  brev.  (Gerb.  Script.  I,  S.  226/227):  Inaequalitas 

ergo  cantionis  cantica  sacra  non  vitiet Item  brevia  quaeque  impeditiosiora 

non  sint,  quam  conveniat  brevibus.  Verum  omnia  longa  aequaliter  longa,  bre- 
vium  sit  par  brevitas,  exceptis  distinetionibus,  quae  simili  cautela  in  cantu  obser- 
vandae  sunt.  Omnia,  quae  diu,  ad  ea,  quae  non  diu,  legitimis  inter  se  morulis 
numerose  coneurrant,  et  cantus  quilibet  totus  eodem  celeritatis  tenore  a  fine 
usque  ad  finem  peragatur  ,  •  .  S.  auch  ebd.  S.  228. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  29 

für  eine  Noteneinteilung  in  Längen  und  Kürzen,  bei  der 
jede  Länge  zwei  Kürzen  in  sich  aufnimmt.  Eine  Theorie,  die 
bereits  die  Mensuralmusik  mit  ihrer  strikten  Messung  der  Noten- 
werte  ankündigt.  Auch  in  der  Hucbald  zugeschriebenen  Musica 
enchiriadis  wird  eine  taktmäßige  Choralausführung  erwähnt,  die 
die  Quantität  der  Silben  zur  Grundlage  der  Rhythmik  nimmt1. 
Guido  führt  eine  ähnliche  Theorie  in  dem  erwähnten  Kapitel 
des  Micrologus  aus.  Er  unterscheidet  prosaische  und  metrische 
Gesänge.  Letztere  folgen  dem  Versbau,  so  daß  von  jambischen, 
daktylischen,  spondeischen  Takten  gesprochen  werden  kann. 
Die  einzelnen  Neumen  gleichen  den  Versfüßen,  die  Neumengruppen 
dem  einzelnen  Vers.  Jeder  Ton  muß  ein  Vielfaches  der  kleinsten 
Kürze  sein  und  im  Verhältnis  von  1:2,  1:3,  2:3  oder  3  :  4 
stehen.  Guido  setzt  hinzu:  seine  Theorie  ließe  sich  besser  lehren 
als  aufschreiben,  und  schließlich  sagt  er,  man  solle  seine  Lehren 
nicht  zu  wenig,  aber  auch  nicht  beständig  anwenden,  sondern 
mit  Vorsicht2.  Daraus  geht  hervor,  daß  auch  er  keine  festen 
Gesetze  für  die  Choralrhythmik  geben  will,  sondern  mehr  An- 
leitungen zu  ihrem  Verständnis  und  ihrer  Komposition  (de  com- 
moda  componenda  modulatione).  Seine  Lehre  ist  eine  Einführung 
der  mittelalterlichen  Auffassung  der  griechischer  Kunsttheorie  in 
den  Choralgesang,  ein  spekulatives  System,  das  die  Unsicherheit 
und  Willkürlichkeit  des  Choralgesangs  beseitigen  will3.     Sobald 

1  Mus.ench.  (Gerb.  Script.  I,S.  182):  Quid  est  numerose  canere?  —  Ut  atten- 
datur,  ubi  productioribus,  ubi  brevioribus  morulis  utendum  sit.  Quatenus  uti 
quae  syllabae  breves,  quae  sunt  longae,  attenditur. 

2  Guido,  Microl.,  Kap.  XV  (Gerb.  Script.  II,  S.  16f.):  Sunt  vero  quasi  pro- 
saici  cantus  ...  in  quibus  non  est  curae,  si  aliae  maiores,  aliae  minores  partes 
et  distinctiones  per  loca  sine  discretione  inveniantur  more  prosarum.  Metri- 
cos  autem  cantus  dico,  quia  saepe  ita  canimus,  ut  quasi  versus  pedibus  scandere 
videamur.  —  Non  autem  parva  similitudo  est  metris  et  cantibus,  cum  et  neumae 
loco  sint  pedum,  et  distinctiones  loco  versuum,  utpote  ista  neuma  dactylico, 
illa  vero  spondaico,  illa  iambico  metro  decurreret  .  .  .  S.  15:  Ac  summopere 
caveatur  talis  neumarum  distributio,  ut  . .  .  neumae  alterutrum  conferantur, 
atque  respondeant,  nunc  aequae  aequis,  nunc  duplae  vel  triplae  simplicibus, 
atque  alias  collatione  sesquialtera  vel  sesquitertia.  S.  17:  Et  omnia,  quae 
diximus,  nee  nimis  raro,  nee  nimis  continue  facias,  sed  cum  discretione. 

3  Die  Einführung  griechischer  Lehren  und  griechischer  Fachausdrücke  ia 
die  Theorie  des  Chorals  zeigen  u.  a.  folgende  Stellen:  Quae  canendi  aequalitas 
rhythmus  graece,  latine  dicitur  numerus:  quod  certe  omne  melos  more  metri 
diligenter  mensurandum  sit  (Hucbald,  Gerb.  Script.  I,  S.  228)  oder:  Neque 
audiendi  sunt,  qui  dieunt,  sine  ratione  omnino  consistere  [cantum],  quod  in 
cantu  aptae  numerositatis  moram  nunc  velociorem,  nunc  vero  faeimus  pro- 
duetiorem  —  Idcirco  ut  in  metro  certa  pedum  dimensione  contexitur  versus, 


30  Zweites  Kapitel. 

aber  der  Gesang  in  eine  strenge  Mensur  gespannt  wurde, 
mußten  neue  Gesetze  für  seine  Direktion  aufgestellt  werden. 
Eine  cheironomische  Chorleitung  konnte  für  taktisch  gegliederte 
Stücke  nicht  ausreichen. 

Schon  früher  war  erwähnt  worden,  daß  die  Hymnen  und  alle 
Gesänge  nach  metrischen  Texten  eine  taktmäßige  Ausführung  wahr- 
scheinlich machen.  Hier  erforderte  das  Versmaß  eine  geschlossene, 
ebenmäßige  Rhythmik.  Guido  sagt  daher,  daß  häufig  so  ge- 
sungen würde,  als  ließen  sich  die  Versfüße  mit  den  Füßen  mar- 
kieren, wie  es  auch  wirklich  gemacht  werde,  wenn  metrische 
Texte  gesungen  würden1.  Seine  Worte  erinnern  an  das  Tak- 
tieren des  griechischen  Chorführers.  Doch  wird  man  daraus  nicht 
auf  ein  lautes  Taktschlagen  schließen  dürfen,  denn  im  Gottes- 
dienst war  ein  lärmendes  Skandieren  der  Metrik  schlecht  an- 
gebracht. Wohl  aber  zeigen  Guidos  Ausführungen,  daß  man 
im  Unterricht  die  Versfüße  genau  auszählte,  und  daß  im  Chor 
nach  taktmäßiger  Direktion  gesungen  wurde.  Auch  Hucbald 
schreibt,  daß  im  Unterricht  jede  Note  durch  Fußstampfen  genau 
ausgemessen  wurde,  »damit  das  Gedehnte  dem  Kurzen  genau  ent- 
spräche und  der  Gesang  gleichsam  nach  metrischen  Füßen  ge- 
schlagen werde«.  Weiter  sagt  er  zum  Schüler:  »Wohlan,  beginnen 
wir  zur  Übung,  ich  werde  beim  Vorsingen  die  einzelnen  metrischen 
Füße  durch  Schläge  markieren,  du  magst  es  dann  nachmachen2.« 
Die  Zitate  beweisen,  daß  man  neben  der  cheironomischen  Direk- 
tion auch  das  Taktieren  kannte.  Metrische  Gesänge  wurden 
demnach  mit  auf-  und  niederschlagender  Hand  dirigiert3.  Wir 
hätten  eine  cheironomische  Direktion  für  die  Prosatexte  und  eine 


ita  apta  et  concordabili  brevium  longorum  sonorum  copulatione  componitur 
cantus:  et  velut  in  hexametro  versu  si  legitime  currit,  ipso  sono  animus 
delectatur.  Berno  von  Reichenau  (Gerb.  Script.  II,  S.  77).  Vgl.  Aribo 
(Gerb.  Script.  II,  S.  227)  u.v.a. 

1  Guido,  a.  a.  0.  (Gerb.  Script.  II,  S.  16):  Metricos  autem  cantus  dico, 
quia  saepe  ita  canimus,  ut  quasi  versus  pedibus  scandere  videamur,  sicut  fit, 
cum  ipsa  metra  canimus. 

2  Mus.  ench.  (Gerb.  Script.  I,  S.  182):  [Videndum  est]  ut  ea,  quae  diu, 
ad  ea,  quae  non  diu,  legitime  concurrant  et  veluti  metricis  pedibus  cantilena 
plaudatur.  Age  canamus  exercitii  usu;  plaudam  pedes  ego  in  praecinendo, 
tu  sequendo   imitabere. 

3  Vgl.  Augustinus,  Demus.  libri  sex(Migne,  Patr.  lat.,Tom.  32,  S.  1113) : 
Intende  ergo  et  aurem  in  sonum,  et  in  plausum  oculos:  non  enim  audiri,  sed 
videri  opus  est  plaudentem  manum,  et  animadverti  acriter  quanta  temporis  mora 
in  levatione,  quanta  in  positione  sit.  Ebenda,  S.  1110:  In  plaudendo  enim, 
quia  levatur  et  ponitur  manus,  partem  pedis  sibi  levatio  vindicat,  partem  positio. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  31 

taktische  für  Hymnengesänge  anzunehmen.  Beide  Formen  der 
Chorleitung  können  ineinandergegriffen  haben.  Wurde  der  Chor 
unsicher,  dann  konnte  man  sich  mit  einem  Angeben  rhythmischer 
Schwerpunkte  helfen,  war  der  Gang  der  Melodie  dem  Gedächtnis 
der  Sänger  nicht  gegenwärtig,  so  konnte  der  Dirigent  die  Musik 
cheironomieren.  Indes  war  die  Cheironomie,  nach  den  Quellen  zu 
urteilen,  in  der  klassischen  Zeit  des  Chorals  die  bevorzugte  Direk- 
tionsform. Sie  entsprach  mehr  dem  Charakter  der  Gesänge, 
der  priesterlichen  Würde  und  der  weihevollen  Stimmung  der  gottes- 
dienstlichen Handlung.  Eine  schöne,  ruhige,  ästhetisch  wirkende 
Führung  der  Hand,  die  die  wichtigen  Einschnitte  und  Weitungen 
der  melodischen  Linien  nachzeichnete,  fügte  sich  eher  in  den 
Rahmen  der  Zeremonie  als  ein  währendes  Auf-  und  Niederschlagen. 
Die  Sänger  kannten  die  Melodien  und  ihre  Ausführung  auswendig, 
sie  konnten  dem  Dirigenten  und  Vorsänger  folgen,  ohne  einen 
regelmäßigen  Taktschlag  vor  Augen  zu  haben. 

Fassen  wir  zusammen,  was  über  die  Direktion  des  Chorals 
gesagt  wurde,  so  ergibt  sich,  daß  in  der  christlichen  Kirche  die 
orientalisch-griechische  Cheironomie  weiter  ausgebildet  und  um- 
gestaltet wurde.  Aus  einem  Gestikulieren  mit  Händen  und  Fingern, 
das  als  Gedächtnishilfe  dienen  sollte,  wurde  eine  eigene  Art  der 
Direktion,  ein  tonmalerisches  Veranschaulichen  der  Melodie,  das 
den  Sängern  ein  ähnliches  Notenbild  zeigte  wie  die  Neumenschrift. 
Voraussetzung  dieser  Chorleitung  war,  daß  alle  Stücke  mit  ihren 
Texten  ohne  Notenhilfe  aus  dem  Gedächtnis  gesungen  werden 
konnten,  daß  Rhythmus  und  Melodien  aus  dem  Unterricht  be- 
kannt waren.  Metrische  Texte  in  regelmäßiger  taktischer  Fassung 
wurden  taktmäßig  dirigiert.  Bei  den  Aufführungen  sang  in  der 
Regel  der  Kantor  oder  Präzentor  mit.  Er  führte  mit  seiner 
Stimme  den  einstimmigen  Chorgesang  und  sorgte  auch  dafür, 
daß  die  Texte  auf  die  Melodien  richtig  verteilt  wurden.  Wurden 
die  Sänger  unsicher,  so  half  der  Chorleiter  durch  Vorsingen  und 
Cheironomieren  oder  durch  Bezeichnung  rhythmischer  Schwer- 
punkte. Auch  gab  er  vorher  die  Tonart  und  Lage  der  Halbtöne 
an,  wenn  unbekanntere  oder  neue  Weisen  gesungen  wurden. 

Für  die  Geschichte  des  Chorals  beginnt  mit  dem  Wirken  Huc- 
balds  und  Guidos  eine  neue  Epoche,  die  Zeit  der  Umbildung  und 
Erweiterung  des  Kirchengesangs.  Viele  Neuerungen  in  Liturgie 
und  Ausführungspraxis  datieren  aus  dieser  Zeit:  die  Einführung 
der  Sequenzen,  die  eine  strenge  Silbenmessung  aufstellten, 
d.  h.   jeder  Note   eine   Silbe   zuteilten,   wodurch  die  Ausführung 


32  Zweites  Kapitel. 

der  langen  Vokalisen  im  Alleluja- Gesang  geregelt  wurde;  dann 
die  Bekanntschaft  mit  der  Orgel,  die  durch  die  byzantinischen 
Musiker,  die  zur  Zeit  Pippins  und  Karls  des  Großen  nach  Franken 
kamen,  vermittelt  wurde,  und  schließlich  die  Erfindung  der 
Mehrstimmigkeit.  In  der  unter  Hucbalds  Namen  überlieferten  Mu- 
sica  enchiriadis  finden  wir  die  frühesten  Beispiele  von  Parallel- 
fortschreitungen  in  Quinten  und  Quarten.  Diese  Versuche, 
mehrere  verschiedene  Stimmen  gleichzeitig  erklingen  zu  lassen, 
wurden  schon  im  10.  und  11.  Jahrhundert  in  den  Choral  gebracht 
und  haben  Rhythmik  und  Gestalt  der  Gesangsweisen  von  Grund 
aus  umgestaltet.  Wie  man  sich  die  Ausführung  und  Leitung 
solcher  Stücke  zu  denken  hat,  zeigt  eine  Stelle  in  der  Scientia 
artis  musicae  des  Elias  Salomon  (13.  Jahrhundert)1.  Er  beschreibt 
da  die  Direktion  eines  Satzes  im  Organalstil  und  sagt:  »Sind 
vier  gute  Sänger  vorhanden,  die  zu  singen  haben,  dann  müssen 
sie  sich  nach  einem  richten.  Dieser  kann  die  erste,  zweite,  dritte 
oder  vierte  Stimme  selbst  übernehmen.  Singt  er  die  vierte,  dann 
muß  er  von  seiner  Stimme  aus  dem  ersten  Sänger  leise  den  Ton 
angeben.  Dabei  ist  genau  zu  beachten,  daß  der  erste  Sänger 
auf  seinem  Ton  so  lange  zu  warten  hat,  bis  der  Dirigent  dem 
zweiten  den  Ton  gegeben  hat.  Beide  haben  zu  warten,  bis  auch 
der  dritte  seinen  Ton  vom  Dirigenten  bekommen  hat.  Alle  drei 
müssen  dann  in  der  ersten  Harmonie  bleiben,  bis  der  Dirigent 
selbst  die  vierte  Stimme  eingesetzt  hat.  Sie  dürfen  von  der 
ersten  Note  nicht  früher  weggehen,  bis  der  Dirigent  die  zweite  zu 
singen  beginnt,  nachdem  alle  drei  Stimmen  zuerst  mit  seiner 
Stimme  übereingestimmt  haben. . .  Ebenso  ist  zu  beachten,  daß 
der  Dirigent  die  Sänger  bei  allen  Abschnitten  leiten  und  danach 
als  erster  wieder  einsetzen  muß,  welche  Stimme  er  auch  über- 
nommen hat.«  Weiter  zeigt  Salomon,  wie  der  Dirigent  zu  ver- 
fahren hat,  wenn  er  selbst  die  erste,  zweite  oder  dritte  Stimme 
singt,  und  fährt  dann  fort:  »Wenn  der  Dirigent  nicht  zu  den  vier 
Sängern  gehört,  die  zu  singen  haben,  . . .  dann  gibt  er  allen  der 
Reihe  nach  die  Töne  an  und  schlägt  ihnen  mit  der  Hand  die  Absätze 
oder  Einschnitte  des  Tonstücks  auf  das  Notenbuch  vor,  indem  er 


1  Elias  Salomon,  a.  a.  O.  (Gerb.  Script.  III,  S.  57):  Rubrica  de  notitia 
cantandi  in  quatuor  voces.  S.  59:  Et  est  sciendum,  quod  secunda  vox  differt  a 
prima  per  quinque  punctos,  tertia  a  secunda  differt  quatuor  punctos,  quarta  a 
tertia  quinque.  S.  60:  Sed  quare  voces  non  distant  aequali  numero  punctorum? 
Respondeo:  consonantia  vocum,  neque  natura  cantus  artificialis  nee  naturalis 
hoc  permittit. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  33 

ihnen  leise  den  Text  vorsagt  (?).  Singt  ein  Sänger  zu  wenig  oder 
nicht  sicher  genug,  oder  bringt  er  falsche  Noten,  dann  soll  der 
Dirigent  ihm,  wie  es  sich  gehört,  ins  Ohr  sagen:  Du  singst  zu 
wenig,  du  singst  zu  tief,  zu  steif,  du  bringst  die  Noten  zu  un- 
genau, und  ähnliches,  doch  soll  er's  so  sagen,  daß  es  von  anderen 
nicht  verstanden  wird;  oder  er  muß  bisweilen  mit  einem  Sänger 
mitsingen,  wie  es  gerade  nötig  wird.  So  wird  er  am  besten  den 
ganzen  Gesang  in  die  rechte  Tonstärke  und  den  rechten  Klang 
bringen«1. 

Elias  Salomon  gibt  hier  in  etwas  weitschweifiger  Rede  die 
interessantesten  Nachrichten,  praktische  Winke,  die  doppelt 
wertvoll  sind,  da  andere  Kirchenmusiker  und  Theoretiker  über 
ihren  Spekulationen  die  Praxis  ganz  vergessen.  Nach  Salomon 
geht  in  der  mehrstimmigen  Musik  Vorsingen  und  Dirigieren 
Hand  in  Hand.  Der  Chorleiter  gibt  jedem  einzelnen  den  Ton 
an,  bis  die  Harmonie  sicher  eingesetzt  ist.  Dann  haben  die 
Sänger  seiner  Stimme  zu  folgen  und  zwar  so,  daß  alle  Stimmen 
in  gleicher  Bewegung  singen  und  sich  immer  nach  dem  Vorsänger 
richten.  Natürlich  ist  ein  solcher  Gesang  nur  im  langsamen  Zeit- 
maß möglich.  Wir  haben  uns  ein  Aushalten  der  Zusammen- 
klänge zu  denken,  ein  Ausklingenlassen,  das  an  der  reinen  Har- 
monie  Gefallen   findet.     Großes   Gewicht  legt  Salomon   auf  die 


1  EI.  Salomon,  a.a.O.  S.  57  f. :  Item  notandum  notabiliter,  quod  dato, 
quod  essent  aeque  boni  cantores  quatuor,  qui  cantare  debent,  necesse  est,  quod 
regant  se  per  unum :  et  ille,  aut  etiam  unus  de  quatuor,  qui  debebunt  cantare 
vel  non,  si  debet  ipse  cantare  primam  vocem,  hoc  est,  magis  bassam,  aut  se- 
cundam,  aut  tertiam,  aut  quartam:  si  quartam,  tunc  tacito  de  sua,  primo  ponet 
primum  in  prima.  Et  nota  notabiliter,  quod  iste  primus  tantum  exspectabit 
in  primo  puncto,  quousque  posuerit  secundum  in  secunda  voce:  et  illi  duo  tan- 
tum exspectabunt,  quousque  tertium  posuerit  in  tertia:  et  ipsi  tres  tantum 
exspectabunt  in  primo  puncto  firmiter,  quousque  ipse  fuerit  in  quarta  voce; 
nee  se  movebunt  de  primo  puncto,  quousque  ille  summus  ineeperit  cantare 
secundum  punctum,  obtemperatis  primo  tantum  tribus  voeibus  cum  sua  voce. 
Item  notandum,  quod  in  omnibus  punetis  illum  Rectorem  quasi  primum  ineipere 
permittere  debent.  Item  notandum,  quod  ipse  debet  eos  regere  in  omnibus 
pausis  et  post  pausas  ineipere  debet,  qualemcumque  ipse  cantaverit  vocem.  — 
Item  si  Rector  iste  non  fuerit  de  quatuor,  qui  debent  cantare  in  quatuor  voces, 
tunc  inspectis,  quae  dieta  sunt  de  sonoritate  vocum,  ponet  omnes  ordinatim  in 
suas  voces  et  faciet  eis  pausas  cum  manu  super  librum  honeste  dissyllabando. 
Sed  si  quisquam  parum  aut  minus  rigide  sonabit,  aut  posuerit  vanos  punetos, 
tunc  dicet  ad  aurem  cuiuslibet  honeste:  parum  sonas,  minus  sonas,  nimis 
rigide  cantas,  nimis  figuraliter  ponis  punetos;  et  taliter,  ne  ab  aliis  agnoscatur: 
aut  cantabit  aliquotiens  cum  aliquo,  prout  erit  magis  et  minus  necesse;  et 
tunc  affirmabit  totum  cantum  in  debitam  sonoritatem. 

Kl.  Eandb.  der  Musikgescti.  X,  3 


34  Zweites  Kapitel. 

Ausführung  der  Kadenzstellen.  Hier  mußte  der  Chorleiter  die 
rhythmische  Bewegung  durch  Handbewegungen  andeuten,  auch 
dann,  wenn  er  selbst  nicht  mitsang.  War  die  Pause  vorüber, 
so  begann  der  Dirigent  wieder  als  erster  mit  seiner  Stimme, 
worauf  die  übrigen  Sänger  ebenso  einsetzten  wie  am  Anfang. 
Während  des  Gesanges  wurde  auf  die  Noten,  die  man  zu  singen 
hatte,  mit  dem  Finger  oder  einem  Stäbchen  hingewiesen,  damit 
sich  Mie  Sänger  schnell  orientieren  konnten1. 

Vom  12.  Jahrhundert  an  weichen  Organum  und  Diaphonie 
der  Lehre  vom  Discantus,  von  der  gemessenen  Musik  (Mensural- 
musik). Auch  diese  Kunst  zog  man  in  die  Liturgie,  so  daß 
der  Gregorianische  Choral  immer  mehr  an  Geschlossenheit  ver- 
lor. Als  die  päpstlichen  Sänger  in  Avignon  die  mehrstimmige 
Musik  Frankreichs  kennen  lernten  und  sie  im  Jahre  1377  nach 
Italien  brachten,  war  die  Tradition  Gregors  auch  in  Rom  am 
Ende  angelangt.  Die  Polyphonie  hielt  ihren  Einzug  in  die  Kirche, 
die  begleitenden  Faktoren  beim  Hochamt  wurden  zum  Mittel- 
punkt der  Kirchenmusik,  das  Ordinarium  der  Messe  der  Aus- 
gangspunkt einer  neuen  Literatur. 

Der  Einfluß  der  Mehrstimmigkeit  machte  sich  in  der  gesamten 
Ausführung  des  Chorals  geltend.  An  die  Stelle  einer  freien,  viel- 
gestaltigen Rhythmik  trat  eine  gemessene,  taktische  Mensur. 
Der  Choral  wurde  in  die  rhythmischen  Gesetze  der  neuen  Kunst 
gezwängt.  Auf  den  Sprachakzent  nahm  man  nicht  die  gleiche  Rück- 
sicht wie  in  früherer  Zeit,  ja  man  begann  sogar  die  alten  Melodien 
in  genau  gemessenen  Notenwerten  vorzutragen.  Sollte  ein  Musiker 
einen  Kontrapunkt  zu  einer  gegebenen  Stimme  improvisieren 
(cantus  supra  librum),  oder  sollte  eine  Choralmelodie  den  Tenor 
eines  mehrstimmigen  Tonsatzes  bilden,  so  war  es  das  beste,  wenn 
die  Grundstimme  oder  der  cantus  firmus  in  gleichen  Zeitwerten 
gesungen  wurde.  So  wurde  es  auch  in  der  Praxis  gehalten.  Das 
dreistimmige  »Benedicamus  Domino«,  das  Johannes  Wolf  in 
seiner  »Geschichte  der  Mensural-Notation«  mitteilt2,  ist  nach  diesem 
Grundsatz  angelegt.  Der  Tenor  muß  in  gleichen  Notenwerten 
gesungen  werden,  da  sonst  kein  erträgliches  Partiturbild  zustande 
kommt.  Trotzdem  ist  die  Tenorstimme  in  der  Notierung  genau 
rhythmisiert.    Da  nun  auch  die  alte  Neumenschrift,  deren  Einzel- 


1  EliasSalomon,  a.  a.  O.  (Gerb.  Script.  III,  S.  24) :  cum  dextra  facimua 
pausas,  ostendimus  punctoscum  digito  et  stilo,  et  aliquotiens  volvimus  librum. 

2  Bd.  II,  Nr.  48,  S.  81.  Tenor  auf  S.  82,  System  3. 


Das  Dirigieren  des  Gregorianischen  Chorals.  35 

formen  sich  um  das  Punctum  und  die  Virga  kristallisierten,  in 
die  viereckige  Choralnotenschrift  nach  und  nach  überging,  so 
zeigt  der  Choral  vom  12.  Jahrhundert  ab  ein  völlig  verändertes 
Aussehen.  Man  definierte  ihn  als  eine  Folge  gleichwertiger 
Noten.  In  der  Discantus  positio  vulgaris  heißt  es:  »Alle  Noten 
sind  im  Choral  lang  und  liegen  außerhalb  der  Mensur1.«  Oder  es 
wird  definiert:  »Der  Choral  ist  durchweg  in  gleichen  Notenwerten 
gesetzt2.«  Man  unterschied  einen  cantus  planus  und  eine  musica 
mensurata.  Dem  Gregorianischen  Choral  wurde  durch  diese 
Spekulationen  und  durch  die  Übernahme  seiner  Melodien  in  die 
mehrstimmige  Mensuralmusik  nicht  genutzt,  vielmehr  datieren 
von  dieser  Zeit  die  Unsicherheit  und  Ungewißheit  über  die  Aus- 
führung seiner  Melodien,  die  sich  durch  alle  Jahrhunderte  hin- 
zieht. Mit  der  Einführung  der  Mehrstimmigkeit  verschwand  denn 
auch  die  Praxis  der  Cheironomie.  Die  neue  Chorliteratur,  deren 
Ausführung  einem  besonderen  Kirchenchor  übertragen  wurde, 
ließ  sich  nicht  mehr  nach  den  alten  Gesetzen  dirigieren.  Man 
taktierte    die    Stücke    nach    der  Praxis    der  Mensuralmusik3. 


1  D  i  s  c.  p  o  s.  v  u  1  g.  (Coussemaker  Script.  I,  S.  95) :  Propterea  notandum, 
quod  omnes  notae  planae  musicae  sunt  longae  et  ultra  mensuram,  eo  quod  men- 
suram  trium  temporum(!)  continent. 

2  Hieronymus  deMoravia  (Couss.  Script.  I,  S.  90) :  Omnis  cantus 
planus  et  ecclesiasticus  notas  primo  et  principaliter  aequales  habet.  Vgl. 
Joh.  de  Muris  (Couss.  Script.  II,  S.  303)  u.  a. 

3  Über  das  Eindringen  der  Ideen  von  der  gemessenen  Musik  in  den  Choral 
siehe  Bermudo,  libro  primero  de  la  declaracion  de  instrumentos.  Ossuna  1549 
(folLXIIv.);  Poisson,  Traitö  th6orique  et  pratique  du  piain  chant.  (Paris 
1750,  S.  400);  Dom  Pierre  Benoit  de  Jumilhac,  La  science  et 
pratique  du  piain  chant  1673  (ed.  Nisard  et  Leclercq  1847,  S.  145).  Weitere 
Quellen  bei  Raph.  Molitor,  Reform-Choral  1901,  I,  S.  72ff.  Vgl.  Gafurius, 
Pract.  mus.  (1496,  fol.  A.  IV),  Salomon,  a.  a.  O.  (S.  33):  cum  cantus  intendat 
orationem  decorare,  u.  a.  m. 


3* 


36  Drittes  Kapitel. 

Drittes  Kapitel. 
Das  Taktschlageu  in  der  Meiisuralmusik. 

Die  Entwickelung  der  christlichen  Musik  hatte  von  einem  ein- 
fachen Rezitieren  und  Jubilieren  den  Weg  zu  melismenreichen, 
vielgestaltigen  Gesängen  genommen,  zu  einer  Folge  von  Sätzen, 
deren  Rhythmik  sich  weder  aus  der  unsicheren  Neumenschrift, 
noch  aus  dem  Anschluß  an  das  Textwort  klar  erkennen  ließ.  Man 
versuchte  deshalb,  die  Choralrhythmik  ähnlich  der  griechischen 
Taktlehre  auszubauen,  die  Mensur  in  eine  Reihe  von  Notenwerten 
aufzulösen,  die  einander  zu  größeren  Einheiten  ergänzten.  Die 
Rhythmenregeln,  die  Guido  und  Hucbald  für  die  Neumation 
aufstellen,  können  als  Anfang  der  neuen  Theorie  von  der  Mensural- 
musik gelten.  Sie  nahmen  ihre  Anregungen  aus  der  Kunstlehre 
hellenistischer  Schriftsteller,  verwerteten  sie  nach  eigener  An- 
schauung und  gaben  damit  den  Anstoß  zu  einer  Umgestaltung 
der  traditionellen  Vortragslehre. 

Auch  die  Führer  der  Mensuralmusik  griffen  auf  die  griechische 
Theorie  zurück.  Sie  bildeten  nach  griechischen  Metren  eine  so- 
genannte Moduslehre,  die  die  Folgen  der  Noten  nach  dem  Schema 
der  gleich  kurzen  oder  langen,  der  jambischen,  trochäischen,  dak- 
tylischen, anapästischen  Versfüße  zu  taktischen  Gruppen  zusam- 
menfaßten. Die  Noten  stellten  allerdings  auch  in  diesen  Gruppen 
noch  keine  festgeprägten  Werte  vor,  da  sie  erst  durch  ihre  Stel- 
lung im  einzelnen  Modustakt  bestimmte  Zeitwerte  erhielten, 
aber  schon  in  der  Zeit  der  beiden  Franconen  (nach  1260)  ist  eine 
feste  Wertbestimmung  der  Noten  erreicht.  Zum  ersten  Male 
wird  in  der  Geschichte  der  christlichen  Musik  der  rhythmische 
Wert  der  einzelnen  Note  unabhängig  vom  Text  ausgedrückt1. 
Während  die  Neumen  erst  durch  die  Textunterlage  rhythmische 
Werte  erlangen,  ist  in  der  Mensuralmusik  die  Note  für  sich  eine 
rhythmische  Quantität,  die  ohne  Rücksicht  auf  die  Wortbetonung 
stets  den  gleichen  Zeitwert  beansprucht.  Wenn  auch  die  Lehre 
der  ars  antiqua  nur  die  dreiteilige  Notenmessung  kennt,  so  tritt 
doch  bereits  im  14.  Jahrhundert  durch  die  italienische  Kunst  auch 


1  Quellenangaben  und  weitere  Ausführungen  sind  in  meiner  Arbeit:  »Zur 
Frage  des  Taktschiagens  und  der  Textbehandlung  in  der  Mensuralmusik«  ge- 
geben (Sammelb.  der  I.  M.-G.  1908,  S.  73f.).  Weiterhin  zitiert  unter:  Seh.  1908. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  37 

das  zweiteilige  Maß  in  der  Theorie  auf,  so  daß  die  Grundele- 
mente der  taktischen  Mensur,  der  gerade  und  ungerade  Takt,  von 
dieser   Epoche  an  in   der  Mensuraltheorie  festgelegt  sind. 

Durch  die  Übernahme  eines  zwei-  und  dreiteiligen  Maßes  in 
die  Mensurregeln  wurden  arithmetische  Abteilungszeichen,  Striche, 
Punkte  oder  Zeichen  notwendig,  die  über  die  zugrunde  liegende 
Mensurierung  orientieren  mußten.  Philipp  de  Vitry,  der  die 
Notenschrift  durch  Einführung  roter  Noten  zur  Bezeichnung  von 
Rhythmenänderungen  (Triolen,  Synkopen)  vereinfachte  und  auch 
die  Notationsregeln  übersichtlicher  und  klarer  faßte,  gibt  folgende 
Vorzeichen  zur  Notenmessung: 

jrITj  modus  perfectus,  d.  h.  die  Longa  ist  dreizeitig  zu  messen. 
|       modus  imperfectus,  d.  h.  die  Longa  ist  zweizeitig  zu  messen. 
jr;_  tempus  perfectum,  d.  h.  die  Brevis  ist  dreizeitig  zu  messen. 
jp_  tempus  imperfectum,  d.  h.  die  Brevis  ist  zweizeitig  zu  messen. 

Zu  diesen  vielfach  verschieden  formulierten  Zeichen  kommen 
noch  andere,  die  die  Zerlegung  der  Semibrevis  in  Minimen  an- 
geben. Ihre  Wertbestimmung  wird  durch  einen  Punkt  im 
Kreis  oder  Halbkreis  dargestellt1.  Man  könnte  folgende  Zeichen 
als  Grundnormen  der  Theorie  aufstellen: 

! ,n    Longa-Takt   ■  =  ■  ■  ■  Modus  perfectus. 

|  '  |  Longa-Takt  ■  =  ■  ■      Modus  imperfectus. 

O   Brevis-Takt  ■  =  «  *  *  Tempus  perfectum. 

=  ♦  ♦    ♦  ♦    ♦  ♦ 

II     II     II 
Q    Brevis-Takt   ■  =  ♦  ♦  1 

=  ♦  ♦    ♦  ♦  I  Tempus  imperfectum. 
1    I     I    I    ' 
0    Brevis-Takt  ■  =  ♦      ♦    ♦  (Tempus  perfectum  cum 

=  ttt    t  t  T    t  ^  ?    )      prolatione  maiori. 
d    Brevis-Takt    ■  =  ♦♦  )    Tempus  imperfectum  cuin_ 

===  1 1 1    t  t  t      (  prolatione  maiori. 


1  Über  die  Mensuraltheorie,  über  Taktbuchstaben  und  -zeichen  siehe  J  0  h. 
Wolf,  Geschichte  der  Mensural-Notation  I,  92f.,  97f.,  274. 


38  Drittes  Kapitel, 

Nehmen  wir  die  Brevis  als  ganze  Note,  die  Semibrevis  als 
halbe,  die  Minima  als  Viertelnote,  so  hätten  wir  in  der  Tabelle 
einen  3/1}  2/x,  einen  3/2,  2/2,  einen  9/4  und  6/4  Takt.  Diese  Takte 
werden  aber  nicht  nach  modernen  Grundsätzen  angewandt. 
Die  Vorzeichnungen  geben  nur  die  Messung  der  Noten 
an;  sie  legen  keine  Gruppentakte  fest. 

Die  aufgestellten  Zeichen  zeigen  die  Haupteinteilungen  der  ars 
nova,  die  von  verschiedenen  Theoretikern  noch  weiter  geführt 
und  durch  Buchstaben  und  Mensurregeln  in  ein  festes  System 
gebracht  wurden.  Wurde  die  vorgezeichnete  Messung  der  Noten 
im  Verlauf  des  Tonstücks  noch  geändert,  so  konnten  durch  einen 
Punkt  (punctus  divisionis)  die  zusammengehörigen  Notenwerte 
getrennt,  andere,  zweiteilige,  durch  den  Punctus  perfectionis 
(unserm  Additionspunkt  entsprechend)  dreiteilig  gemacht  werden. 
Durch  alle  diese  Regeln  war  die  musikalische  Rhythmik  fest  fixiert. 
Konnte  die  herrschende  Notenmessung  nach  dem  Notenbild  be- 
stimmt werden,  so  brauchte  man  keine  fortlaufenden  Taktpunkte 
oder  Taktzeichen  mehr  zu  setzen,  da  alle  Werte  durch  die  gleiche 
Noteneinheit  gemessen  wurden1.  Wir  haben  also  eine  ähnliche 
Rhythmenbestimmung  wie  in  der  griechischen  Musik  vor  uns; 
die  kleinste  Maßeinheit  der  Mensuraltheorie  entspricht  dem  chronos 
protos  des  Aristoxenos.  Nur  ist  die  Rhythmik  in  der  neuen 
Kunst  unabhängig  vom  Text,  es  ist  eine  selbständige,  rein  musi- 
kalische Rhythmenlehre,  die  ebensogut  für  Instrumental-  als 
Vokalmusik  gilt. 

Aus  der  praktischen  Musik  geht  hervor,  daß  in  der  frühesten 
Zeit  nach  dem  Longatakt  gesungen  wurde2,  bis  durch  die  ars 
nova  im  14.  Jahrhundert  der  Brevistakt  in  weiteren  Gebrauch 
kam,  der  sich  zwei  Jahrhunderte  hindurch  in  Theorie  und  Praxis 
behauptet  hat.  Über  die  Direktion  dieser  rhythmisch  genau 
fixierten  Gesänge  geben  die  Theoretiker  in  der  ersten  Epoche 
der  Mensuralmusik  wenig  Auskunft.  Eingehende  Nachrichten  habe 
ich  in  den  zeitgenössischen  Werken  nicht  gefunden.  Doch  steht 
fest,  daß  man  sich  auch  in  dieser  Epoche  nach  einem  Vorsänger 
richtete.  So  sagt  Hieronymus  von  Mähren,  daß  sich  alle 
Sänger,    wenn  sie  auch  sehr  tüchtig  sind,   einen  Präzentor  und 


1  Hier.   v.  Mähren  (Couss.   Script.  I,  S.  89):  Tempus    armonicum   est 
mensura  omnium  notarum,  qua  scilicet  unaquaeque  mensuratur  nota. 

2  S.  Wolf,  a.  a.  O.  II,  Nr.  1.    Das  Stück  ist  in  Longatakten  zu  übertragen, 
da  sonst  Dissonanzen  am  Anfang  des  Taktes  entstehen  würden. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  39 

Direktor  wählen,  auf  den  sie  beim  Gesang  genau  achten1. 
Die  Musiker  kannten  die  Mensurregeln,  sie  hatten  die  Intervall- 
und  Proportionslehren  im  Unterricht  studiert  und  wußten,  daß 
im  Anfang  eines  jeden  Taktes  Konkordanzen  stehen  mußten. 
So  konnten  sie  nach  der  Führung  eines  Vorsängers  wohl  auch 
ohne  sichtbare  Direktion  ihre  Stimme  vortragen,  zumal  wenn 
man  mit  Riemann  annimmt,  daß  Instrumente  die  Stimmen  be- 
gleiteten oder  die  Führung  der  Unterstimmen  übernahmen2. 
Indes  haben  die  Nachrichten,  die  ich  aus  dem  15.  und  16.  Jahr- 
hundert für  das  Taktschlagen  gefunden  habe,  und  die  weiter 
unten  zitiert  werden,  auch  für  die  frühe  Epoche  der  Mensural- 
musik Beweiskraft.  Denn  man  kann  sich  kaum  denken,  daß  eine 
rhythmisch  genau  notierte  Musik  erst  vom  Jahre  1450  an  mit 
auf-  und  niederschlagender  Hand  dirigiert  worden  ist.  Man  wird 
annehmen  können,  daß  der  Präzentor  auch  in  früherer  Zeit  nach 
der  gleichen  Art  wie  die  Chorleiter  der  klassischen  a  cappella- 
Periode  taktiert  hat.  Daß  wir  aus  der  Epoche  der  ars  nova 
nichts  weiter  darüber  erfahren,  erklärt  sich  aus  der  theoretisch- 
spekulativen Methode  der  Mensuralschriften. 

Mit  der  Entwickelung  der  Mehrstimmigkeit  zum  durchimi- 
tierenden Vokalstil  hin  und  mit  dem  Schwinden  der  komplizierten 
Notation  wurden  die  Schriftsteller  praktischen  Fragen  mehr  zu- 
gänglich, und  wir  finden  in  dieser  Zeit  auch  Hinweise  auf  die  Di- 
rektion der  Musik.  So  schreibt  Ramis  von  Pareia  (15.  Jahrhun- 
dert), man  solle  beim  Singen  »mit  der  Hand  oder  mit  dem  Fuß 
oder  Finger«  taktieren3.  Und  Adam  von  Fulda  (um  1490) 
bringt  sogar  ein  ganzes  Kapitel  vom  Takt,  das  den  tactus-Begriff 
genau  definiert4.  Auch  Bildwerke  geben  darüber  Aufschluß, 
daß  ein  Taktieren   mit    Hand    oder  Finger  im   15.   Jahrhundert 


1  C  o  u  s  s.  Script.  I,  S.  93:  Secundum  est,  ut  quantumque  sint  omnes  equa- 
liter  boni  cantores,  unum  tarnen  precentorem  et  directorem  sui  constituant, 
ad  quem  diiigentissime  attendant.     Vgl.  Seh.  1908. 

2  Hugo  Riemann,  Das  Kunstlied  im  14.  und  15.  Jhdt.  (Sammelbd.  d. 
I.  M.-G.  1906,  S.  529 f.).  Handbuch  für  Musikgeschichte  II,  1.  Kap.  18.  Vgl. 
auch  Kinkel  dey,  Orgel  und  Klavier  in  der  Musik  des  16.  Jhdts.,  und 
Arnold  Schering,  Die  niederländische  Orgelmesse  im  Zeitalter  des 
Josquin.  Schering,  der  fast  die  gesamte  Literatur  als  Vokalmusik  mit  Orgel- 
begleitung erklärt,  geht  in  seiner  einseitigen  Theorie  sicherlich  zu  weit.  Man 
weiß  nicht  recht,  wo  die  Grenze  von  Vokal-  und  Instrumentalliteratur  liegen 
soll.    Die  Frage  bedarf  noch  einer  eingehenden  Untersuchung. 

8  Ramis  de  Pareia,  Neuausgabe  von  Joh.  Wolf,  S.  83. 
*  Gerb.  Script.  III,  S.  362 f. 


40  Drittes  Kapitel. 

allgemein  bekannt  war.  Berühmt  ist  das  linke  Altarwerk  der 
Brüder  van  Eyck,  wo  man  einen  Sänger  mit  niederschlagender 
Hand  taktieren  sieht1.  Bernhard  Pinturicchio  (1454—1513) 
malt  einen  Chor  von  10  Engeln,  die  aus  einem  Notenblatt  singen, 
während  ein  anderer  mit  der  erhobenen  rechten  Hand  den  Takt 
gibt,  ein  Bild,  das  die  Praxis  der  Zeit  deutlich  widerspiegelt2. 
Zwei  Chöre  von  je  drei  Engeln,  die  nach  einem  Notenblatt  singen, 
zeigt  Sandro  Boticelli  (1446—1510).  Der  mittlere  taktiert 
mit  leicht  niederschlagender  Hand3.  Auch  in  der  Practica  musica 
des  Gafurius  (Ausgabe  vom  Jahre  1496)  sieht  man  auf  Folio  1 
einen  Knabenchor,  der  von  einem  Taktschläger  geleitet  wird. 
Alle  Singeschüler  singen  nach  einem  großen,  auf  einem  Pult 
stehenden  Notenbuch4.  Die  Musikbilder  des  15.  Jahrhunderts 
bestätigen  somit  die  Bemerkungen  der  Theoretiker:  man  tak- 
tierte mit  auf-  und  niederschlagender  Hand. 

Ausführlichere  Nachrichten  über  das  Taktschlagen  und  die  Form, 
in  der  die  Taktschläge  auf  die  Noten  verteilt  wurden,  finden  wir 
allerdings  erst  im  16.  Jahrhundert,  in  einer  Zeit,  wo  der  a  cap- 
pella-Stil  der  Niederländer  seinen  Siegeszug  durch  die  Kultur- 
länder hält.  Fast  in  jedem  praktischen  Lehrbuch  der  Gesangs- 
kunst oder  Musik  steht  in  dieser  Zeit  ein  Kapitel  über  den  Takt 
(de  tactu).  Leider  bringen  die  Werke  infolge  des  skrupellosen 
Abschreibens,  das  früher  allgemein  üblich  war,  fast  durchweg 
dasselbe.  Die  hierhin  gehörigen  Definitionen  des  Taktes  sind  in 
meiner  zitierten  Arbeit  zusammengestellt  worden.  Ich  will  hier 
aus  der  Liste  der  dort  gegebenen  Taktdefinitionen  nur  die  wich- 
tigsten anführen.     Adam  von  Fulda  schreibt: 

»Der  Takt  ist  eine  beständige  Bewegung,  die  die  Mensur  richtig 
zusammenhält.  —  Er  ist  nichts  anderes  als  die  notwendige  und 
passende  Messung  des  Modus,  Tempus  und  der  Prolation.«  Ahn- 
lich oder  mit  gleichen  Worten  wird  der  Takt  von  den  übrigen 
Theoretikern  erklärt.  Ornitoparch  (1517)  sagt,  daß  der  Präzentor 
nach  Angabe  der  Taktzeichen  den  Gesang  dirigieren  müsse;  andere 
meinen:  der  Takt,  der  durch  Auf-  und  Niederschlagen  der  Hand 


1  Original  im   Kaiser  Friedrich-Museum  zu  Berlin. 

2  Chiesa  di  S.  Maria  Maggiore.    Rom. 

3  Sa.  Vergine  col  Bambino  ed  angeli.    Rom. 

4  Erwähnt  sei  auch  das  Relief  von  Lucca  della  Robbiaim  Floren- 
tiner Dom  (Sängertribüne).  Ein  kleiner  Junge  macht  die  Bewegungen  des  Takt- 
schlägers nach,  er  schlägt  mit  dem  Zeigefinger  der  Rechten  in  die  hohle  linke 
Hand. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  41 

oder  eines  Fingers  gegeben  werde,  gleiche  dem  Pulsschlag;  oder 
es  heißt:  »Der  Takt  ist  eine  von  der  Hand  ausgeführte  Bewegung, 
die  die  Art  und  Weise  kennzeichnet,  die  die  Sänger  beim  Gesang 
einhalten  müssen1.«  Agricola  (1532)  beschreibt  den  Takt  mit 
diesen  Worten :  »Der  Tact  odder  schlag  /  wie  er  allhie  genomen 
wird  ist  eine  stete  vnd  messige  bewegung  der  hand  des  sengers  / 
durch  welche  gleichsam  ein  richtscheit  /  nach  ausweisung  der 
zeichen  /  die  gleicheit  der  stymmen  vnd  Noten  des  gesangs  recht 
geleitet  vnd  gemessen  wird  /  Denn  es  müssen  sich  alle  stymmen  / 
so  der  gesang  wol  sol  lauten /darnach  richten/.« 

Diese  Definitionen  sagen  zunächst,  daß  der  Takt  durchweg 
durch  Auf-  und  Niederschläge  der  Hand  geführt  wird,  oder  aber  — 
möglichst  unauffällig  —  durch  Heben  und  Senken  eines  Fingers. 
In  einer  Handschrift  des  16.  Jahrhunderts  (de  signis  musicali- 
bus.  B.  B.)  heißt  es  z.  B.:  »Der  Takt  ist  die  Ordnung,  nach  der 
durch  gleichmäßiges  Heben  und  Senken  eines  Fingers  die  Werte 
der  Noten  und  Pausen  gemessen  werden.«  Oder  es  wird  defi- 
niert: »Tactus  ist  ein  gleichförmige  bewegung  eines  fingers  oder 
hand  /  darauff  alle  Noten  vnd  Pausen  /  nach  irem  valore  oder 
wert  gesungen  werden  (1572,  Wilfflingseder).«  Der  Harfner  auf 
dem  rechten  Flügel  des  Genter  Altarwerks  taktiert  nach  dieser 
Methode.      Er  zählt  mit  dem  Finger  den  Takt  aus. 

Auch  der  Gebrauch  des  Taktstocks  war  den  Musikern  be- 
kannt. Die  Theoretiker  Philomates  (1523),  Bermudo  (1549), 
Vogelsang  (1542),  Raselius  (1589)  und  andere  schreiben  aus- 
drücklich, daß  man  mit  der  Hand  oder  mit  einem  Taktstock 
taktieren  soll.  Diese  Taktstockdirektion,  die  oft  eine  Errungen- 
schaft des  19.  Jahrhunderts  genannt  wird,  läßt  sich  weit  zurück- 
verfolgen. Ich  hatte  schon  im  vorigen  Kapitel  eine  Urkunde 
des  11.  Jahrhunderts  angeführt,  in  der  berichtet  wird,  daß  der 
Kantor  im  Chor  einen  Stab  in  der  linken  Hand  hält,  zum  Zeichen, 
daß  alle  Sänger  ihm  unterstellt  sind.  Bei  der  Direktion  hält  er 
ihn  in  der  Rechten  hoch,  »damit  alle  hinsehen«,  und  gibt  dann 
den  Verlauf  der  Noten  an2.  Damit  ist  der  Gebrauch  des  Takt- 
stocks schon  für  die  älteste  Zeit  bewiesen.  In  vielen  Kirchen 
galt  ein  häufig  aus  Gold  oder  Silber  gefertigter  Stab  als  Abzeichen 
der  Kantoren.    Man  nannte  ihn  die  »königliche  Rute«,  vielleicht 


1  Quellenangabe:  Seh.  1S08,  S.  76—78. 

2  S.  o.,  S.  18. 


42  Drittes  Kapitel. 

um  damit  auf  die  Direktion  hinzuweisen1.  Er  war  das  Symbol 
des  Präzentors  oder  Sängers.  Auch  in  Regensburg  wird  der 
silberne  oder  vergoldete  Stab  als  äußeres  Abzeichen  des  Kan- 
tors genannt2.  Wenn  nun  überliefert  wird,  daß  Palestrina  im 
Jahre  1564  in  Rom  mit  einem  »güldenen«  Stab  dirigiert  hat3, 
so  wird  man  die  Herkunft  der  Taktstockdirektion  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  aus  dem  Gebrauch  des  alten  Kantorstabs 
ableiten  können. 

Im  16.  Jahrhundert  war  der  Taktstock  als  Direktionsmittel 
weit  verbreitet.  Auf  Bildern  und  Miniaturen  sieht  man  Takt- 
stockdirigenten, und  auch  in  zeitgenössischen  Werken  finden  sich 
viele  Nachrichten  über  die  Praxis,  von  denen  ich  hier  die  wich- 
tigsten anführen  will. 

Auf  einem  Bild  in  der  Margarita  philosophica  von  Reischius 
(1496)  ist  z.  B.  ein  Konzert  von  Orgel,  Blockflöte,  Harfe  und 
Laute  dargestellt.  Ein  Sänger  steht  vor  den  Musizierenden  mit 
einem  langen  Taktstock4.  Eine  Miniatur,  die  in  den  Jahren 
1504—1522    angefertigt    wurde,    zeigt    einen    Kapellmeister,    der 


1  Honorius  Augustodunensis  (Migne,  Tom.  172,  S.  567) :  Can- 
tores  . .  .  baculos  vel  tabulas  manibus  gerunt.  Gerbert  (De  cantu  II,  S.  173) : 
Passim  observavimus  cantores  in  Gallia  cum  baculis  . . .  referuntque  . . .  quatuor 
cantores  in  diebus  solemnibus  indutos  pluvialibus  assistere  in  choro,  cum 
baculis  argenteis  ad  formam  baculorum  peregrinantium,  sed  crassioribus :  item- 
que  in  Siciliae  ac  Melitae  cathedralibus  reperiri  canonicalem  dignitatem  cantoris, 
qui  fert  baculum,  seu  potius  virgam  argenteam.  —  Ebenda  I,  S.  322:  Praeterea 
veteri  more  tenebant  baculum  cantores  in  choro  . . .  vocaturque  baculus  aureus 
vel  argenteus,  . . .  quem  portabant  cantores,  virga  regia.  Über  die  symbolische 
Bedeutung  dieser  Sitte  schreibt  Honorius  (a.a.O.  S.  552):  Ex  legis  quippe 
praecepto  baculos  manibus  tenebant,  qui  paschalem  agnum  edentes  ad  patriam 
tendebant.  Secundum  hunc  morem  cantores  in  officio  missae  baculos  tenere 
noscuntur,  dum  verus  paschalis  Agnus  benedicitur.  Vgl.  auch  El.  S  a  1  o  m  o  n 
(Gerb.  Script.  III,  S.  24). 

2  Dom.  Mettenleiter,  Musikgeschichte  der  Stadt  Regensburg,  1866,S.lll. 

3  Otto  Kade,  Zwei  archivarische  Schriftstücke  aus  dem  16.  Jhdt., 
M.  f.  M.  1872,  S.  48f. 

4  Die  Auflage,  die  mir  vorlag,  enthält  die  Jahreszahl  1503,  eine  Ausgabe 
von  1515  bringt  sogar  ein  farbiges  Bild.  Reproduktion  des  »Typus  musices« 
in  Haberls  Kichenmusik.  Jahrbuch  1885,  S.  74.  Auf  den  mir  vorliegenden 
Bildern  hält  der  Sänger  den  Stab  in  der  Linken,  ein  Fehler  des  Holzschneiders. 
In  einer  Pariser  Vorlage  (Reproduktion  bei  L  a  v  o  i  x  fils,  Musique  dans  l'yma- 
gerie  du  moyen  äge,  Chronique  musicale  1874)  ist  der  Fehler  vermieden.  — 
Vgl.  auch  das  Bild  im  »Weißkunig«:  Die  geschicktheit  in  der  musiken 
(Jahrbuch  der  kunsthistorischen  Samml.,  Wien  VI,  S.  79),  auf  dem  Kaiser  Maxi- 
milian unter  Musikern  und  Instrumenten  mit  einem  Stab  (Kantorstab?)  ab- 
gebildet ist. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  43 

seine  Sänger  mit  einem  langen  Stabe  dirigiert1.  Auch  das  Titel- 
bild von  Rhaus  encbiridion  musicae  practicae  (1520)  schmückt 
ein  kleines  Bild,  auf  dem  musizierende  Engel  mit  einem  Taktstock- 
dirigenten zu  sehen  sind.  Philomates  sagt:  »Wer  den  Gregoria- 
nischen Choral  gut  dirigieren  will,  muß  in  der  Hand  einen  Stab 
halten,  den  Verlauf  der  Noten  zeigen  und  fortwährend  die  Mensur 
angeben2.«  Sehr  hübsch  erzählt  Bermudo  (1549)  von  dieser 
Taktstockleitung.  Er  meint:  Die  Rute  gibt  die  Mensur  ungenau 
an,  denn  manche  Sänger  sehen  nach  der  Spitze  der  Rute,  manche 
wieder  nach  der  Hand,  und  so  entstehen  Verwirrungen.  Andere 
wieder  vergessen,  daß  sie  in  der  Kirche  sind,  sie  führen  nämlich 
mit  der  Rute  so  heftige  Schläge  auf  das  Buch  aus,  daß  man  es  in 
der  ganzen  Kirche  hört.  Nach  seiner  Meinung  genügt  es,  wenn 
man  zu  Anfang  des  Gesanges  zwei  bis  dreimal  mit  der  Hand  den 
Takt  anmerkt3.  In  einer  Musica  von  Jan  Blahozlav  werden 
weitere  Vorstellungen  über  die  Taktstockdirektion  gemacht. 
In  den  Verboten,  die  der  Sänger  sich  zu  merken  hat,  heißt  es  u.  a. : 
»Das  achte  Vitium  ist  ein  schlechtes  Taktieren,  d.  i.  ein  Bewegen 
der  Rute  über  den  Sängern.  Der  Rute  bedienen  sich  auch  gute 
Kantoren  wegen  der  Unwissenheit  der  Sänger  oder  wegen  ihrer 
großen  Zahl,  besonders  wenn  sie  in  dieser  oder  jener  Ecke  singen, 
und  wenn  manchmal  bei  irgendeinem  Satz  ein  schnelles  oder  lang- 
sames Singen  nötig  wird.  Die,  welche  in  der  Ecke  singen,  richten 
sich  nach  der  Bewegung  der  Rute,  da  sie  sich  nicht  nach  der 
Stimme  des  Kantors  richten  können,  besonders  wenn  diese  schwach 
ist.  Aber  für  die  nahestehenden  Sänger  soll  man  sich  nicht  der 
Rute  bedienen.  Geschickte  Kantoren  scheuen  sich  auch  davor. 
Und  ebenso,  wie  der  Kundige  dessen  nicht  bedarf,  so  ist  auch 
für  den  Kantor,  der  nichts  vom  Takt  versteht,  zuweilen  besser, 
nicht  die  Rute  in  die  Hand  zu  nehmen.  Der  anwesende  Fach- 
mann wird  nur  lachen,  wenn  er  sieht,  daß  der  Kantor  einen  schlech- 
ten Takt  gibt,  d.  h.  auf  jeder  einzelnen  Note  die  Rute  bewegt,  sie 
sei  nun  länger  oder  kürzer.  —  Das  Taktieren  mit  dem  Kopf  oder 
Fuß   soll  man  unbedingt  vermeiden4.«     Nach   diesen   Berichten 


i  Von  Chybinsky  erwähnt,  Sammelb.  d.  I.  M.-G.  1909,  S.  386. 

2  Vencesl.  Philomates,  Mus.  libri  IV.  III,  1 :  Gregorii  cantum  recturo 
congruit  una  —  Ferre  stilum  palma,  seriem,  saltumque  notarum  —  Pandere,  et 
assiduo  mensuram  tangere  motu. 

3  Bermudo,   a.  a.  0.  fol.  138v. 

4  J.  Blahozlav  schrieb  eine  »musica«  mit  Ergänzungen.  Er  wurde 
später  Bischof  der  Sekte  der  böhmischen  Brüder,  in  welchem  Amt  er  1591  starb. 


44  Drittes  Kapitel. 

darf  man  nun  nicht  annehmen,  daß  nur  eine  kleine,  zierliche 
Rute,  eine  »virgula«1,  im  Gebrauch  war.  Die  erwähnten  Musik- 
bilder zeigen,  daß  man  zuweilen  auch  mit  einem  langen  und 
starken  Stock  taktierte.  So  sieht  man  auf  einem  Holzschnitt  zu 
Kaiser  Maximilians  »Weißkunig«  einen  Knabenchor,  der  aus 
einem  großen  Notenbuch  singt,  während  der  Kantor  mit  einem 
dicken  Stock  dirigiert2. 

Interessant  ist  eine  Darstellung  auf  einer  Tischdecke,  die 
zwischen  1562  und  1568  angefertigt  wurde.  Man  sieht  ein  Or- 
chester von  Frauen  und  Männern  und  einen  Taktstockdirigenten3. 
Das  Titelblatt  von  »Elias  Nicolaus  (sonst  Ammerbach  genannt) 
Orgel  und  Instrument  Tabulatur«  (1571)  zeigt  wieder  eine  Tafel- 
musik mit  Instrumenten  und  Sängerchor,  die  ein  Kapellmeister 
mit  dem  Taktstock  dirigiert.  Weiter  wird  von  einer  Dirigentin 
erzählt,  die  mit  einem  langen,  biegsamen  und  polierten  Stäbchen 
die  Musik  leitete4.  Raselius  und  Vogelsang  definieren  deshalb 
den  Takt  als  eine  regelmäßige  Bewegung  der  taktierenden  Hand, 
des  Fingers  oder  Taktstocks5. 

Wir  haben  also  aus  dem  16.  Jahrhundert  genug  Quellen  für 
die  Taktstockdirektion.  Die  Praxis  war  ebensoweit  verbreitet 
wie  das  Taktieren  mit  unbewaffneter  Hand.  Man  durfte  mit 
dem  Stab  nicht  laut  aufschlagen,  wie  Bermudo  bezeugt,  Van- 
neo  sagt  geradezu,  das  Taktschlagen  solle  stillschweigend 
geschehen,  d.  h.  ohne  lautes  Aufschlagen  oder  Aufklopfen6,  und 
Sancta   Maria   erzählt,   es  sei   oft  in   der    Luft  taktiert  worden, 

Die  musica  erschien  in  1.  Auflage  1558,  in  zweiter  1569.  Erhalten  ist  nur  die 
zweite  in  Prag.  Seine  Schrift,  die  in  böhmischer  Sprache  abgefaßt  ist,  wurde 
abgedruckt  bei  O  t.  H  os  t  i  n  s  k  y,  J.  Blahozlav  a  Jan  Josquin  (Pseudonym 
eines  böhmischen  Priesters),  Prag  1896.  —  Diese  Mitteilungen  und  obige  Über- 
setzung verdanke  ich  Herrn  Dr.  Wladimir  Helfert  in  Prag. 

1  Joan.  Vogelsang,  Musicae  rudimenta,  1542,  Cap.  VII:  Tactus  est 
continua  percussio  motiove,  manu  vel  virgula  precentoris  .  .  .  facta. 

2  Jahrbuch  der  kunsthist.  Samml.  Wien.     1883,  VI,  S.  XXII. 

3  C.  Becker  und  J.  von  Hefner,  Kunstwerke  und  Gerätschaften  des 
Mittelalters  und  der  Renaissance.  1852,  I,   S.  45. 

4  Bottrigari,  II  Desiderio,  1599.  Beschreibung  bei  Lavoix,  Histoire 
de  l'instrumentation,  S.  173/4. 

5  Vogelsang,  s.  Anm.  1.  Raselius,  Hexacord.  mus.  (1589,  fol.  E. 
III):    [Tactus]  est  digiti  vel  baculi  motus. 

6  Stef.  Vanneo,  Recenatum  de  mus.  aurea  (1533)  II,  8:  Et  haec  eadem 
tacite  fieri  potest,  id  est  sine  ulla  evidenti  expressaque  alicuius  instrumenti 
percussione,  ut  dictum  est,  sed  animo  atque  mente  ea  observanda  erit.  Das 
»animo  atque  mente«  ist  dem  Beachten  des  Taktes  durch  das  Gehör  entgegen- 
gesetzt und  soll  wohl  nicht  das  Taktieren  überhaupt  ausschließen. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  45 

wobei  beim  Nieder-  oder  Aufgehen  der  Hand  nicht  aufgeschlagen 
wurde1.  Im  Jahre  1546  wurde  auch  einmal  befohlen,  daß  sich 
der  Dirigent  mitten  im  Chor  aufstellen  sollte,  damit  man  »die 
Menssur  (das  Taktieren)  ssehe  und  darinn  ain  Glaichheit  gehalten 
werden  müg«2.  Man  kann  demnach  das  lautlose  Taktieren,  das 
gern  zu  den  modernen  Errungenschaften  gezählt  wird,  bis  in 
die  Epoche  der  Mensuralmusik  zurückdatieren,  wenn  man  von  der 
cheironomischen  Direktion  einer  einstimmigen  Melodie  absieht. 

Vanneo  meint,  daß  mit  der  Hand,  dem  Fuß  oder  mit  »irgend 
einem  in  der  Hand  gehaltenen  Gegenstand3«  taktiert  werden  kann, 
ein  Vorschlag,  der  später  viel  befolgt  wurde  und  zu  Mißbräuchen 
aller  Art  führte.  Sehr  hübsch  hat  schon  Philomates  gegen  diese  Un- 
manieren  beim  Taktschlagen  geschrieben.  Er  sagt:  »Manche  pflegen 
die  Gesänge  unter  häßlichen  Bewegungen  zu  leiten,  in  der  Meinung, 
sie  befolgten  gute  Vorschriften  und  eine  ganz  besondere  Methode  der 
Kantoren.  Einige  leiten  die  Gesänge  mit  nach  beiden  Seiten  weithin 
ausgebreiteten  Händen,  wie  wenn  beim  Streite  von  zweien  der  eine 
die  Haare  des  andern  mit  seinen  Nägeln  nicht  ausraufen  kann 
und  der  verderbliche  Streit  damit  zu  enden  droht,  daß  er  beide 
Hände  wehrlos  ausstreckt.  Andere  habe  ich  gesehen,  die  die 
Mensur  mit  den  Füßen  angaben  und  dabei  niederstampften  wie 
ein  sattes  Pferd,  das  beim  Spielen  auf  grüner  Au  umherstampft 
und  sich  ausgelassen  freut.  Manche  machen  es  wieder  wie  ein 
Schwan  und  geben  die  Noten  (mit  Kopfbewegungen)  an:  wie  der 
Schwan  mit  zurückgebogenem  Halse  singt,  so  pflegen  auch  sie 
sich  beim  Singen  zu  zeigen.  Sie  sollten  sich  schämen,  für  sie  wäre 
es  (wahrlich)  besser,  sie  pflügten  mit  der  Pflugsterze  den  Acker 
in  Geduld4.« 


1  Sancta  Maria,  Arte  de  tarier  Fantasia,  Valladolid  1565,  fol  8: 
como  muchas  vezes  vemos  llevarse  el  compas  en  vago  sin  topar  la  mano  en  baxo 
ni  en  alto. 

2  Mitgeteilt  von  Joh.  Peregrinus,  Geschichte  der  salzburgischen 
Dom-Sängerknaben  oder  schlechthin  des  Kapellhauses.      Salzburg  1889,  S.  48. 

3  Vanneo,  a.a.O.  II,  8:  [tactus]  est  ictus  seu  percussio  quaedam  levis,  quae 
a  musicis  manu  vel  pede,  vel  quovis  alio  instrumento  manu  tento  fieri  solet. 

4  Philomates,  a.  a.  O.  III,  1 : 

Sunt  quibus  est  usus  moderari  turpibus  odas 
Gestibus,  egregios  mores  se  scire  putantes. 
Atque  exquisitam  cantorum  conditionem. 
Mensuram  quidam  palmis  moderantur  utrisque 
Eminus  expassis,  veluti  cum  in  lite  duorum 
Alter  in  alterius  nequit  insultare  capillos 
Unguibus,'  extensa  letale  minatur  inermi 


46  Drittes  Kapitel. 

Danach  scheint  es  in  manchen  Chören  arg  zugegangen  zu  sein. 
Man  darf  diese  Nachrichten  aber  nicht  verallgemeinern.  Wer 
Proben  mit  Sängern  oder  Musikern  geleitet  hat,  die  keinen 
Takt  im  Leibe  haben,  wird  ebenso  wie  die  alten  Kapellmeister 
taktieren  und  gestikulieren.  Das  sind  nebensächliche  Begleit- 
erscheinungen, die  für  die  Beurteilung  einer  Zeit  kaum  in  Rechnung 
gestellt  werden  können.  Und  wenn  die  Musiker  das  Fußstampfen 
verbieten  oder  einschränken  wollen,  so  wenden  sie  sich  damit 
gegen  einen  allgemeinen  Brauch  der  Instrumentalisten.  Bei  der 
Instrumentalmusik  wurde  in  der  Regel  die  Mensur  durch  Nieder- 
treten mit  dem  Fuß  ausgezählt.  Saunas  meint:  »Was  die 
Sänger  mit  der  Hand  (beim  Taktieren)  angeben,  müssen  die 
Instrumentalisten,  da  sie  die  Hände  nicht  freihaben,  mit  den 
Füßen  ausführen1.«  Für  den  Unterricht  wurde  die  gleiche  Me- 
thode empfohlen2.  Viele  Theoretiker,  die  für  Instrumental- 
und  Vokalmusik  schreiben,  erklären  deshalb  den  Takt  als  ein 
gleichmäßiges  Heben  und  Senken  der  Hand  oder  des  Fußes3. 
Daß  man  hierbei  zuweilen  auch  lärmend  verfuhr,  zeigen  die  an- 
geführten Verbote  von  Blahozlav  und  Philomates.  Doch  haben 
wir  uns  bei  guten  Musikern  das  Fußtaktieren  nicht  anders  zu 
denken  als  in  unserm  Instrumentalunterricht,  wo  man  ebenso 
ohne  diese  Hilfe  nicht  auskommt.  Im  Orchester  war  es  jedenfalls 
besser,  wenn  die  Instrumentalisten  nicht  sämtlich  den  Takt  traten, 
sondern  sich  bei  schwierigeren  Rhythmen  die  Taktteile  durch  Heben 
und  Senken  der  Instrumente  auszählten  (Zacconi)  4,  zumal  wenn 


Certamen  duplici  palma.     Multos  quoque  vidi 
Mensuram  pede  signantes  calcante,  caballus 
Ut  satur  in  viridi  ludendo  cespitat  herba, 
Luxuriatque  salax.    Plerique  imitantur  holorem 
Neuma  gubernantes,  velut  hie  cervice  reflexa 
Drensat,  ita  soliti  conquiniseunt  modulando 
Hui  pudor,  in  campo  satius  deeuisset  eosdem, 
Si  stiva  liras  regerent  patienter  arantes. 

1  S  al  i  n  a  s,  De  mus.  libri  VII  (1577)  V, 4:  Sed  quod  canentes  manu  faciunt, 
id  musicis  instrumentis  ludentes,  quia  manu  non  possunt,  pede  facere  coguntur. 

2  St.  Maria,  a.  a.  O.  toi.  8  v:  es  muy  importante  y  necessario  Ilevar  el 
compas  .  .  .  con  el  pie,  pues  que  tanendo  no  se  pue  de  Ilevar  la  mano. 

3  S.  o.  V  a  n  n  e  o ,  S.  45,  Anm.  3 ;  R  a  m  i  s  d  e  P  a  r  e  i  a  (s.  o.,  S.  39) ;  ferner 
Pietro  Aron,  Compendiolo  (nach  1545),  Kap.  38,  Pierre  Davantes, 
nouvelle  et  facile  methode  pour  chanter  (M.  f.  M.  1869,  S.  168)  u.  a.  Vgl.  Seh. 
1908,  S.  79. 

4  Zacconi,  Prattica  di  musica  I,  Kap.  33:  —  perche  nel  sonar  delleViole, 
■o  de  Tromboni  essi  sonatori  fanno  attione  simile  alle  attione  del  tatto. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  47 

der  Kapellmeister  nicht  von  allen  Spielern  gesehen  werden  konnte, 
oder  wenn  er  als  Sänger  mitsang  und  auf  die  Instrumentalisten 
nicht  achten  konnte. 

Alle  diese  Nachrichten  werden  eine  Vorstellung  von  der  älteren 
Praxis  des  Taktierens  geben.  Das  Bild  gleicht  in  großen  Zügen 
durchaus  unserer  modernen  Musikübung,  wenn  wir  an  kleinere 
Männerchöre,  an  Hausmusiken,  an  Proben  und  Unterricht  den- 
ken. Man  taktierte  kleine  Kapellen  und  Chöre  durch  Auf-  und 
Niederschlagen  der  Hand  oder  des  Taktstocks.  Die  Instrumen- 
talisten zählten  die  Notenwerte  mit  Fußbewegungen  aus  oder 
durch  Heben  und  Senken  der  Instrumente,  wie  die  Geigendiri- 
genten oder  die  ersten  Bläser  unserer  Gartenkonzerte.  Bei  guten 
Chören  oder  in  der  Gesangstunde  genügten  auch  Fingerbewegungen 
zur  Angabe  des  Taktes. 

Im  16.  Jahrhundert  unterschied  man  drei  Taktarten:  den 
großen  Takt  (tactus  maior),  den  kleinen  (tactus  minor)  und  den 
proportionierten  (tactus  proportionatus)  mit  der  Unterteilung 
des  Sesquialter.  Takteinheit  war  die  Semibrevis  (0).  Sie  galt 
einen  tactus  integer,  wenn  keine  Proportionen  und  Augmenta- 
tionen vorlagen.  So  umfaßte  der  große  Takt:  eine  Semibrevis, 
der  kleine:  eine  Minima  (<>),  der  Proportionatus:  drei  Semibreven 
und  der  Sesquialter  drei  Minimen,  oder  nach  den  Worten 
Agricolas  (1532): 

Der  ganze  Takt  (tactus  maior)  »Ist  /  welcher  eine  vngeringerte 
Semibrevem  odder  eine  Brevem  in  der  helfft  geringert  /  mit  seiner 
bewegung  begreif ft  /«. 

Der  halbe  Takt  (tactus  minor)  »Ist  das  halbe  teil  vom  gantzen  / 
Vnd  wird  auch  darumb  also  genant  /  das  er  halb  soviel  /  als 
der  gantze  Tact  /  das  ist  /  eine  Semibrevem  inn  der  helfft  ge- 
ringert /  odder  eine  vngeringerte  Minimam  mit  seiner  bewegung  / 
das  ist /mit  dem  nidderschlagen  vnd  auf  f  heben  begreif  ft /«. 

Der  Proporcien-Takt  »Ist  /  welcher  drey  Semibreves  als  in 
Tripla  /  odder  drey  Minimas  als  inn  Prolatione  perfecta  /  be- 
greifft«1. 

Auf  diese  Takte  wurden  Auf-  und  Niederschlag  so  verteilt, 
daß  beim  geraden  Takt  die  Noten  in  Hälften  geteilt  wurden  und 
beim  ungeraden  zwei  Taktteile  auf  den  Nieder-,  der  dritte"auf  den 


1  Ebenso  definieren  Ornitoparch,  Mus.  activae  mikrologus  1517,  II,  6; 
Faber,  Ad  mus.  pract.  introductio,  Kap.  II;  Euch.  Hoffmann,  Mus. 
pract.  praecepta  1572,  Kap.  X  u.  a.;  s.  Seh.  1908,  S.  80. 


48  Drittes  Kapitel. 

Aufschlag  kamen1.  Eine  Gruppierung,  die  mit  der  griechischen 
Taktlehre  vollkommen  übereinstimmt.  Es  ergibt  sich  somit 
für  das  Taktschlagen  im  16.  Jahrhundert  folgendes  Bild: 

v    t         I    t 
Tactus  maior:  0      —  <>    o 

I    t         l    t 
Tactus  minor:  o        ===  ♦    f 

i     i 

I    t         \         t 
Tactus  proportion  atus:    y    o  =  0    o    0 

v    t        l_     t 
Sesquialter:  o    <>  =  <^    <>    <> 


Taktzeichen  sind  nach  Adam  v.  Fulda:  ©2,  ©,  ©  für  den 
Minimentakt,  O*  C»  (j)  für  den  Semibreventakt  und  (£,  02,  C2 
für  den  Breventakt  (H  =  o  0),  der  als  diminuiert  aus  dem  Tactus 
maior  anzusehen  ist2.  Von  diesen  Zeichen  haben  sich  Kreis, 
Halbkreis  und  durchstrichener  Halbkreis  am  längsten  behauptet, 
während  die  in  großer  Zahl  aufgestellten  Varianten  aus  der  Praxis 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  verschwinden3.  Für  das  Taktschlagen 
bringt  Agricola  in  seiner  »musica  figuralis  deudsch«  aus  dem 
Jahre  1532  folgendes  Beispiel: 

»Vom  gantzen  vnd  halben  Tact  ein  Figur. 

Item  /  das  nidderschlagen  vnd  das  auffheben  zu  hauff  /  macht 
allzeit  einen  Tact  /  Vnd  wird  der  Halbe  noch  so  risch  /  als  der 
gantz  Tact  /  geschlagen  /  wie  volgt: 

M  i     2  auf:  Ä  2  auf: 


1  nid:  1  nid: 


CV- 


2 ein  m tact     ? !  > 

Q)  ein  halb   )  Q2  * 


1  A  g  r  i  c  o  1  a,  a.  a.  O. ;  St.  M  a  r  i  a,  a.  a.  O.;  T  i  g  r  i  n  i,  Compendio  1588, 
Lib.  IV,  Kap.  XVI;  Henningus  Dedekind,  Praecursor  metricus  mus.  artis 
1590,  fol.  B.  6,  u.V.  a.;  s.  Seh.  1908,  S.  80. 

2  Gerb.  Script.  III,  S.  362. 

3  Ernst  Prätorius,  Die  Mensuraltheorie  des  Fr.  Gafurius  1905 
(Beihefte  der  I.  M.-G.)  hat  die  Taktzeichen  der  Theoretiker  eingehend  behandelt. 
Ich  halte  mich  in  der  vorliegenden  Arbeit  an  die  praktische  Seite  des  Taktierens 
und  übergehe  deshalb  die  theoretischen  Spekulationen  in  der  Taktvorzeichnung. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik. 


49 


ftfc 


laut:  1    1 


& 


\j     -iauf:!  Lj  *   I  1 


Quäl  1    t 


TnT3T 


^C\- 


Ci 


tact 


— i   I — 

C    i 

C-2    * 


fit 


Der  Proporcien  Tact 
lnid: 


Ml 


2  auf: 


nid; 


u»'      I   =j   I  *  |  T   ^ 


ein  propor.-tact 


ein  propor.-tact 


itf 


TnHT 


i'Hfll|l   »-t^^ 


^s^" 


ein  propor.-tact. 

Der  halbe  Takt  soll  »noch  so  risch«  geschlagen  werden  als  der 

ganze,  d.  h.  man  muß    ^       o    in  der  Dauer  gleich  *  '    taktieren. 

i  v  _ 

Der  Unterschied  zwischen  beiden  Takten  besteht  nur  in  dem  ein- 
maligen oder  doppelten  Auf-  und  Niederschlagen,  so  daß  der  Aus- 
druck »tactus«  nichts  weiter  bedeutet  als  Auf-  und  Niederschlag. 
Deshalb  sagt  auch  Agricola:  »das  nidderschlagen  vnd  das  auff- 
heben  zu  hauff  /  macht  allzeit  einen  Tact«.  Wenn  nun  der 
große  Takt  diminuiert  wurde,  so  daß  zwei  Semibreven  anstatt 
einer  den  Takt  bildeten,  so  konnte  auch  hier 

1 1         mt 


entweder  °a°    oder 


o     0 


taktiert  werden.  Da  die  Dauer  der  Brevis  die  gleiche  ist,  müßte 
im  ersten  Falle  noch  einmal  so  langsam  als  im  zweiten  dirigiert 
werden.  Salinas  meint:  »Im  Breventakt  wird  bisweilen  einmal  auf- 
und  niedergeschlagen,  das  nennen  die  Musiker  den  großen  Takt, 
zuweilen  zweimal,  was  kleiner  Takt  genannt  wird1.«  Er  unter- 
scheidet also  großen  und  kleinen  Takt  nur  nach  dem  sichtbaren 
Taktschlag.  Rhau  sagt,  im  Breventakt  müßten  entweder  die 
Noten  schneller  vorgetragen  werden  oder  zwei  »tactus«  an  Stelle 
eines  genommen  werden2.     Man  sieht  schon  aus  diesen  Quellen, 

i  S  a  1  i  n  a  s,  a.  a.  0.  V,  4,  S.  242:  in  spatio  temporis,  quod  in  brevis  cantu 
consumitur  nonnunquam  semel  manus  tollitur  et  ponitur  in  eo,  quem  ipsi  com- 
passum  maiorem  appellant,  nonnunquam  bis  in  eo,  quem  minorem  dicunt. 

2  Rhau,  Enchiridion  musices,  Kap.  VII:  Hinc  est  quod  in  ipsis  [signis] 
vel  notae  velocius  tangi  debent,  vel  semper  duo  tactus  (0)  accipi  pro  uno. 
Weitere  Quellen:  Seh.  1908,  S.  82. 

Kl.  Handfc.  der  Mußikgesch.  X.  * 


50 


Drittes  Kapitel. 


daß  der  tactus  im  16.  Jahrhundert  keine  Taktgruppe  darstellt. 
Er  weist  nicht  auf  einen  fest  bestimmten  Gruppentakt,  sondern 
bezeichnet  nur  ein  einmaliges  Auf-  und  Niederschlagen. 

Welche  Art  des  Taktierens  der  Chorleiter  anzuwenden  hatte, 
richtete  sich  nach  dem  Charakter  des  Stückes,  der  durch  das 
äußere  Notenbild  gekennzeichnet  war.  Langsame,  getragene  Sätze 
wurden  in  großen  Notenwerten,  bewegtere  in  kleineren  notiert. 
In  lebhaften,  mit  (£  notierten  Stücken  dirigierte  man  die  Brevis- 
werte  durch  zwei  Nieder-  und  Aufschläge,  in  langsamen  durch 
einmaliges  Senken  und  Heben  der  Hand.  Ein  Stück  wie  Ludwig 
Senfl's  »Wol  kumpt  der  May«  wäre  nach  der  Regel:  »zwei  tactus 
an  Stelle  eines  einzigen«  so  zu  taktieren: 


4 1     4 1       4   t        1 1    I    t     I 


£# 


+-F- 


P 


4  t      4  t 4   t         4t     4     t      4 


Ludwig  Senfl 

(vgl.  Ambros, 
Gesch.  der  Mus. 
Bd.  V). 


Ä 


4t      4t       4t 


4t     4     t 


Wol 


kumpt 


der       May 


mit 


während  ein  in  größeren  Notenwerten  notierter  Satz  unter  glei- 
chen Taktzeichen  in  dieser  Form  taktiert  werden  muß: 


4   t  4   t  4   t 

"tTTTt  ~ü H ^~t^ 

4 

t 

4 

4   t  4   t  4   t 

4 

t 

4 

fl-3-bMT  — fei H fr- 

— 0— 

=8= 

M  !I-V- — N H H H — 

^       4   t  4   t  4   t 

4 

t 

4 

4   t  4   t  4   t 

-4= 

4 

— B- 

t 

4 
-a— 

In 


pit 


Eleazar  Genet-Car- 
pentras.   (Ambros  V, 

S.  212.) 


Sobald  man  den  Breventakt  mit  einmaligem  Taktschlag  darstellte, 
konnte  auch  er  als  eine  Taktgattung  für  sich  gelten;  er  hieß  dann 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik. 


51 


Tactus  maior  und  der  Semibreventakt :  Tactus  minor.  So"definieren 
Lossius  (1563)  und  Finck  (1556)  in  ihren  Musikbüchern.  Andere 
wieder,  wie  Agricola,  sehen  den  Breventakt  nur  als  diminuiert  an. 
So  kommen  in  die  Bezeichnung  des  tactus  Unterschiede,  die  sich  aus 
der  jeweiligen  Ansicht  des  Theoretikers,  aus  seiner  Entscheidung  für 
Semibreven-  oder  Breventakt  als  Maß  für  ein  einmaliges  Auf-  und 
Niederschlagen  erklären  lassen.  Eine  Tabelle  über  diese  Theorien 
der  Musiklehrer  habe  ich  in  meiner  früheren  Arbeit  gegeben. 

Historisch  ist  die  Entwicklung  der  Tactuseinheit  so  vor  sich 
gegangen,  daß  der  Longatakt  der  ars  antiqua  im  14.  und  15.  Jahr- 
hundert vom  Breventakt  abgelöst  wurde.  Ihm  folgte  um  die 
Wende  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  der  Semibreventakt.  Die 
Entwickelung  ließe  sich  an  Beispielen  so  veranschaulichen: 

I.  Petrus  de  Gruce  (ca.  1250). 

Lösung  nach  Longatakten;  nach  der  Regel:  In  omnibus  modis  uten- 
dum  est  semper  concordantiis  in  principio  perfectionis. 


ii       «> — H — 

o     o     o 

^ 

1    d. 

äf 

-^ &- 

— Ä> — 5, — «S1 — ■ 

-5 — s — 2 

\\ji — -z 

■  a*    — = 

Wolf,  a.  a.  0.  II,  \. 

II  ^ 

rl" 

II.  Joh.  Dunstap 
Lösung  nach 

le. 

der  Theorie 

des  4  5.  Jahrhunderts  in  Brevistakten. 

= — «> — — 

W- 

_i — & —   

T"5 ~ 

I1 1  L  <  '     r*     • 

s> — f*- 

-T-i P-^5-^ 

\\-i\7             C      .      l 

Wolf,  a.  a.  0.  II,  73. 

a 

\\\w                 •     M 

■W  c     '     i 

w 

.     d                    > 

i    t 

l 

t 

e)Pfv       W 

H 

•     H 

M    *  L. 

.                                            .        H        . 

III.  Jos  quin. 

Lösung  nach  der  Theorie  des  4  6.  Jahrhunderts    Missa   l'omme    arme 
super  voces  musicales. 

I  t I  t 


B 


5s= 


B 


Ky     - 

It.     It. 


ri      -      e    Petrucci,  1502,  Nr.  4, 


Ky 


4* 


52 


Drittes  Kapitel. 


Die  Maßeinheit  ist  im  Laufe  der  Jahrhunderte  im  Werte  kürzer 
geworden.  Damit  hängt  auch  die  veränderte  Notierungsweise 
zusammen.  Die  großen  Notenwerte  (Maxima  und  Longa)  machen 
der  ganzen  Note  und  ihren  Teilwerten  Platz.  Schon  Rhau  (1520) 
nennt  den  Semibreventakt  die  am  weitesten  verbreitete  Taktart,, 
und  Faber  (1550)  berichtet  sogar,  daß  der  Minimentakt,  dessen 
Zählzeiten  Viertel  sind,  bei  den  Kantoren  sehr  beliebt  war. 
Um  das  Jahr  1540  waren  sich  allerdings  die  Musiker  in  Maßeinheit 
und  Taktvorzeichnung  noch  so  wenig  einig,  daß  man  gleich  auf 
die  Madrigalsammlungen  drucken  ließ:  a  misura  di  breve  oder 
a  note  bianche  bzw.  a  note  negre,  nach  Vierteln  zu  zählen1. 
Durch  diese  Angaben  wurde  von  vornherein  die  zugrunde  liegende 
Maßeinheit  und  auch  das  Tempo  bestimmt. 

Nehmen  wir  mit  den  Theoretikern  Agricola,  Dreßler,  Hoff- 
mann und  Raselius  die  Semibrevis  als  tactus  integer,  so  müßte 
nach  unseren  bisherigen  Ausführungen  ein  Musikstück,  wie  das 
»Et  in  terra«  aus  Josquins  Messe  »l'homme  arme«  in  folgender 
Weise  übertragen  und  taktiert  werden: 


0  =  Auf- 
und  Nieder- 
schlag. 


i 


Q: 


-&>. .&- 


It.   It. 


-7 


S 


(Petrucci,  1502.) 


iiS 


-<g  :    <s>—\ — <g— j 


Wendet  man  ein,  daß  bei  dieser  Deutung  die  Zeichen:  O  für  drei- 
teiligen und  C  fur  zweiteiligen  Takt  keinen  Sinn  mehr  haben, 
so  ist  zu  erwidern,  daß  die  Zeichen  auf  das  Taktschlagen  keinen 
Einfluß  ausüben,  sondern  lediglich  die  Mensur  der  einzelnen  Note 
angeben.  Das  Zeichen  O  sagt  nichts  anderes,  als  daß  die  Brevis 
drei  Auf-  und  Niederschläge  ausgehalten  werden  muß  und  unter 
dem  Signum  £  zwei  Auf-  und  Niederschläge.  Hierdurch  rücken 
die  Taktzeichen  in  neue  Beleuchtung.  Sie  bezeichnen  die  Messung 
der  Noten  und  setzen  das  Verhältnis  vom  einzelnen  Notenwert 
zum  Taktschlag  fest,  sie  teilen  aber  keine  Gruppentakte  ab.  Was 
die  Theoretiker  >>tactus«  nennen,  ist  stets  der  Ausdruck  für  ein  ein- 
maliges Auf-  und  Niederschlagen.     In  einer  modernen  Partitur- 


1  Eine  Liste  von  Madrigalsammlungen  mit  solchen  Überschriften  hat  Th. 
Kroyer  (»Die  Anfänge  der  Chromatik  im  italienischen  Madrigal  des  16.  Jahr- 
hunderts«, Beihefte  der  I.  M.-G.  S.  46f.)  zusammengestellt. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  53 

Übertragung  bekommen  die  Werke  deshalb  ein  fremdes  Aus- 
sehen. Sie  werden  in  die  moderne  akzentuierende  Taktmetrik 
gespannt,  die  die  musikalische  Struktur  der  Stücke  verändert  und 
eine  stilistisch  einwandfreie  Aufführung  erschwert.  Hier  könnte 
nur  eine  neue  Notierungsmethode  abhelfen,  eine  Abgrenzung 
gleicher  Noteneinheiten  durch  punktierte  Taktstrichlinien,  durch 
Auseinanderrücken  der  einzelnen  einem  tactus  zukommenden 
Werte  oder  durch  ähnliche  Methoden.  In  den  Sammelbänden  der 
Internationalen  Musikgesellschaft  (1908)  habe  ich  einige  Stücke 
nach  diesen  Prinzipien  übertragen.  Sie  unterscheiden  sich  von 
anderen  Übertragungen  durch  die  Negierung  eines  Gruppentaktes 
und  durch  die  zugrunde  liegende  Maßeinheit.  Nicht  jedes  Stück, 
das  das  Zeichen  (h  trägt,  ist  nach  der  Brevis  abgeteilt,  sondern, 
je  nachdem  es  der  Affekt  des  Tonstücks  erfordert,  nach  dem 
tactus  der  Semibrevis  oder  Brevis.  Die  Herausgeber  der  klassi- 
schen a  cappella-Musik  müssten  sich  darüber  klar  werden,  daß 
wir  mit  unserem  modernen  Takt  ein  fremdes  Moment  in  die  alte 
Chormusik  hineintragen.  Die  Taktzeichen  der  alten  Musik  sind 
nur  für  die  Mensur  der  einzelnen  Note  vorgeschrieben,  nicht  für 
die  Form  der  Taktgebung.  Letztere  richtet  sich  allein  nach  dem 
Charakter  des  Tonstücks  und  gibt  lediglich  das  äußere  Orien- 
tierungszeichen für  die  Einteilung  der  Noten. 

Die  Lehre  vom  tactus  wurde  durch  das  Eingreifen  von  Sebald 
Heyden,  dessen  Gesangsschule  »de  arte  canendi«  im  Jahre  1537 
in  erster  Ausgabe  erschien,  wesentlich  vereinfacht.  Er  verlangt, 
daß  alle  Gesänge  nach  einem  einzigen,  fest  bestimmten  Modus 
von  Taktschlägen  eingeteilt  werden.  Die  Takteinheit  der  Semibre- 
vis soll  überall  das  Grundmaß  abgeben.  Alle  Proportionen,  Aug- 
mentationen oder  Diminutionen  sind  auf  die  Semibrevis  zu  be- 
ziehen. Sie  ist  das  Einheitsmaß,  das  durch  einmaliges  Auf-  und 
Niederschlagen  der  Hand  gekennzeichnet  wird.  Hat  der  Sänger 
ein  Diminutionszeichen,  etwa  ([  2 ,  in  der  Stimme  vorgezeichnet, 
so  singt  er  zwei  Semibreven  an  Stelle  einer  einzigen  auf  die  ein- 
malige Tactusangabe,  ebenso  bringt  er  bei  einem  Zeichen,  das 
Dreiteiligkeit  verlangt,  z.  B.  03  ,  drei  Semibreven  auf  den  Auf-  und 
Niederschlag.  Es  wurde  also  nicht  das  Taktschlagen  verändert,  son- 
dern die  Noten  selbst  wurden  schneller  oder  langsamer  vorgetragen. 

Die  Dauer  des  einmaligen  Auf-  und  Niederschlags  (des  tactus) 
beträgt  nach  Buchners  Fundamentbuch  (etwa  1550):  »die  Zeit 
zwischen  zwei  Schritten  eines  mäßig  gehenden  Menschen«.  Eine 
Angabe,   aus    der  sich  nicht   viel    feststellen   läßt.     Ebensowenig 


54  Drittes  Kapitel. 

besagen  die  Vorschriften,  wie  sie  Agricola,  Finck  und  Pierre  Da- 
vantes  in  ihren  Musikwerken  bringen1.  Am  bestimmtesten  drückt 
Gafurius  in  der  »Practica  musicae«  den  Zeitwert  der  Semibrevis 
aus.  Er  sagt:  »Sie  gilt  solange  als  der  Pulsschlag  eines  ruhig  atmen- 
den Menschen2.«  Wir  könnten  die  Dauer  der  Semibrevis  bei  der 
Annahme  von  72  Pulsschlägen  in  der  Minute  mit  M.  M.  =  72 
festsetzen,  wobei  natürlich  Modifikationen  nach  80  oder  60  zu 
stets  möglich  sind. 

Im  Verlauf  der  Arbeit  ist  darauf  hingewiesen,  daß  der  tactus 
der  alten  Musik  nur  ein  Orientierungsmittel  für  die  Sänger  dar- 
stellt, daß  er  keine  schweren  und  leichten  Taktzeiten  abteilt. 
Wir  verstehen  bei  ganz  anderen  rhythmischen  und  metrischen 
Verhältnissen  unter  einem  Takt  eine  Gruppe  von  Semibreven  oder 
anderen  Zeiteinheiten  mit  bestimmten  Akzenten.  Der  tactus  des 
16.  Jahrhunderts  ist  aber  nur  eine  Maßeinheit  der  Noten,  ein 
regelmäßiges  Auf-  und  Niederschlagen,  eine  Orientierung  für  die 
Sänger.  Der  Taktschläger  der  alten  Zeit  konnte  deshalb  nur  das 
Tempo  angeben,  aber  keine  Akzentuierungen.  Er  führte  keine 
Seitenbewegungen  bei  der  Direktion  aus,  sondern  taktierte  gleich- 
mäßig mit  auf-  und  niederschlagender  Hand,  wie  ein  Metronom. 
Man  verglich  seinen  sich  stets  gleichbleibenden  Taktschlag  dem 
Klopfen  des  Pulses  oder  den  Schlägen  der  Uhr  3.  So  gibt  Hermann 
Finck  folgende  Anleitung  zum  Verständnis  des  Taktbegriffs: 
»Ich  möchte  die  Schüler  auf  die  Uhren  hinweisen,  die  nach  be- 
stimmten Zeiten  die  Stunden  durch  (Hammer-)  Schläge  angeben, 
und  zwar  so,  daß  die  Schläge  immer  in  gleichen  Abständen  gegeben 
werden,  d.  h.  niemals  langsamer  oder  schneller  werden,  während 
man  doch  auf  diese  Schläge  bisweilen  mehr  oder  weniger  Silben 
sprechen  kann.  Wir  wollen  hier  von  der  deutschen  Sprache  reden, 
da  sie  zu  unserer  Auseinandersetzung  geeigneter  ist.  Mag  man 
nun  zwei  oder  mehr  Silben  auf  einen  solchen  Stundenschlag 
sprechen,  so  bleibt  der  Schlag  doch  derselbe  und  gleich  lang,  so 
daß  er  weder  durch  viele  Silben  gedehnt,  •  noch  durch  wenige 
schneller  wird.  Ebenso  muß  man  es  sich  im  Gesang  denken, 
wo  vor  allem  beachtet  werden  muß,  daß  hier  immer  derselbe 
Takt  beobachtet  wird,  daß  er  nicht  bald  langsamer,  bald  be- 
wegter wird,   so  daß,  mögen  nun  eine,  zwei  oder  mehr  Noten 


i  S.  Seh.  1908,  S.  88. 

2  Gafurius,  a.a.O.  III,  4:  Semibrevis...  plenam  temporis  mensuram 
consequens:  in  modum  scilicet  pulsus  aeque  respirantis. 

3  S.  Seh.  1908,  S.  89. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  55 

auf  einen  Takt  zu  singen  sein,  jene  Noten  gut  auf  diesen  eingeteilt 
werden  können1.«  Diese  Gleichheit  des  Taktierens  wird  von  allen 
Theoretikern  betont.  Viele,  die  für  den  Unterricht  schreiben, 
führen  den  Vergleich  mit  den  Uhrschlägen  bis  inEinzelheiten  aus. 
Von  den  Quellen,  die  in  meiner  zitierten  Arbeit  für  diese  Praxis 
gegeben  wurden,  will  ich  an  dieser  Stelle  nur  Hans  Gerle  an- 
führen, der  in  seiner  »Musica«  vom  Jahre  1532  (fol.  B.  3  v)  eine 
Taktlehre  für  Geigenschüler  in  dieser  Form  gibt: 

»Ein  Prob  wie  du  die  Mensur  sblt  lernen. «  »Thu  ym  also  / 
lerns  von  einer  schlag  glocken  /  die  die  stundt  anzaygt  /  Wann 
sie  anhebt  zu  schlahen  /  so  schlecht  sie  ein  steten  schlag  /  ein 
als  (ebenso)  lang  als  den  andern  /  hast  aber  dannoch  ein  mal 
mer  sylben  zu  zelen  dann  das  ander  mal  /  vnnd  bleybt  doch  die 
Glock  in  jrem  steten  schlag  /  du  zelst  wieviel  sylben  du  wollest  / 
Also  thu  ym  auch  wann  du  geygest  /  so  tridt  die  mensur  mit  dem 
fuß2  /  ein  drit  (Tritt)  als  (ebenso)  lang  als  den  andern  /  es  kummen 
drey  oder  vier  buchstaben  in  der  Tabulatur  die  auff  ein  schlag 
gehoeren  die  mustu  geygen  vnnd  doch  nur  ein  drit  (Tritt)  dar- 
zuthun  /  nicht  soviel  dritt  thun  als  viel  du  züg  thust  /  wie  ich  dann 
oft  von  manchen  gesehen  hab  /  Welche  /  als  offt  sie  ein  zug  theten 
als  offt  theten  sie  auch  ein  dritt  /  das  soll  aber  gar  nichts  sein   .  .  . 3 

Nun  merck  weyter  wann  die  Glock  anfecht  zu  schlagen  / 
so  sprichstu  nur  ein  wort  /  Nemlich  eins  auff  den  selben  schlag. 
Also /mustu  auch  thun  /  wann  dir  ein  buchstab  oder[ein  Zyffer  be- 

kumbt  /  den  mustu  auff  ein  dritt  oder  ein  schlag  geygen  /  Also.  n.<< 
Kommt  eine  ganze  Pause  vor,  so  soll  der  Spieler  aufhören  zu 

geigen,  aber  nicht  vergessen,  mit  dem  Fuß  den  Takt  zu  schlagen. 
»Merck   wann    du    der  schlag   vr  nach  wilt  viere  zellen  /  so 

hastu  zwu   sylben    am   vie-  re   zu    sprechen  /  die    selbigen   zwu 

müssen  gleych  so  bald  gesprochen  werden  als  das  eins  .  .  .« 
Auch  die  vier  Silben  in  dem  Worte  »siebenzene«  können  auf 


1  S.  Seh.  1908,  S.  90,  lat.  Text.  Finck  bringt  den  Vergleich  in  ähnlicher  Weise 
zu  Ende,  wie  Hans  Gerle  in  der  weiterhin  zitierten  Stelle. 

2  S.  o.,  S.  46. 

3  Vgl.  auch  Hans  Neusidler,  Ein  newgeordent  künstl.  Lauten- 
buch (1536),  fol.  B  IIIv:  »Einen  solchen  strich  wie  da  |  den  mustu  schlagen 
das  er  weder  lenger  noch  kurtzer  prumbt/  als  wie  die  vr  oder  glocken  auff  dem 
Turm  schlecht /gerad  dieselbe  leng /  oder  als  wan  man  gelt  fein  gemach  zeit/ 
vnd  spricht  eins  /  zwey  /  drey  /  vier  /  ist  eins  als  vil  als  das  ander  /  der  glocken 
straich  oder  mit  dem  gelt  zelen/  das  bedeutt  der  lang  strich  /wie  da  vnd  wirdt 
ein  schlag  genant  /  .  .  .« 


56  Drittes  Kapitel. 

einen  Uhrschlag  gesprochen  werden.    Ebenso  ist  es  in  der  Musik. 
Die  Worte: 


r  f 

F    F  F 

F  F  F  F 

D 

c       n 

4       d     0 

5     0     d     4 

Eins 

vie  -  re 

drey  - ze-ne 

Sie-ben-ze-ne 

sind  jedes  für  sich  auf  einen  Schlag  zu  sprechen  und  auf  einen 
tactus  zu  spielen: »Als  wann  drey  oder  vier  mit  einander  schmiden/ 
Do  müssen  sie  ein  steten  schlag  füren  ein  als  lang  als  den  andern  / 
dann  wo  einer  lenger  oder  kürtzer  schlecht  dann  die  andern  /  so 
werden  sie  all  yer  (irr)  /  Also  ist  es  auch  wann  du  nicht  auff  die 
Mensur  oder  den  schlag  geygest  .  .  A« 

|  Dies  gleichmäßige  Taktieren,  das  die  Musiklehrer  in  den  Vor- 
dergrund ihrer  Taktlehre  stellen,  bildet  den  Schlüssel  zum  Verständ- 
nis der  alten  Musikpraxis.  Es  war  ein  mechanisches  Auf-  und 
Niederschlagen,  ein  sichtbares  Angeben  der  einem  Stücke  zu- 
grunde liegenden  Takteinheit.  Da  die  Noten  nicht  durch  Takt- 
striche abgegrenzt  wurden,  sondern  sich  in  fortlaufender  Linie  an- 
einanderreihten, so  blieb  der  gleichmäßige  Taktschlag  das  einzige 
Orientierungszeichen  für  die  Sänger.  Er  ersetzte  ihnen  die  Takt- 
striche. Aus  dieser  metronomischen  Taktusangabe  erklärt  sich 
auch  die  Freiheit  der  Textakzentuierungen  in  der  polyphonen 
Kunst,  jene  reiche  rhythmische  Gliederung,  die  keinen  regel- 
mäßigen Wechsel  von  betont  und  unbetont  kennt,  sondern  die 
Deklamation  und  Motivik  frei  schalten  und  walten  läßt.  Die 
Betonung  gibt  allein  der  Sprachakzent,  der  bald  auf  diese,  bald 
auf  jene  Stelle  des  tactus  fallen  kann2.  Die  Sänger  sangen  eben 
ihre  Stimmen  mit  der  jeweilig  erforderlichen  Wort-  und  Rhythmen- 
betonung zu  dem  sichtbaren,  gleichmäßigen  Taktschlag  des  Chor- 
führers. Sie  sahen  allein  auf  sein  Taktschlagen  und  trugen  da- 
nach ihre  Stimmen  vor. 

Wurde  den  Sängern  ein  rhythmisch  kompliziertes  Tonstück 
vorgelegt,  z.  B.  das  dreistimmige  Agnus  Dei  aus  der  Messe  »l'omme 
arme  super  voces  musicales«  von  Josquin: 


Diskant 


»^ 


fl3Pfc-6-»_  C 


5EE£*TT    ^  "  Q  ,»4=^=^ 


t 


Proportionatus 


1  Ge  rle,  a.  a.  O.  fol.  B  II.  v. 

2  Aus  dieser  Tactus-Theorie  geht  auch  hervor,  daß  die  Synkope,  die  in 
der  a  cappella-Literatur  häufig  auftaucht,  nicht  akzentuierend  vorgetragen 
werden  darf. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik. 


57 


^    B  ■  0  0    0    o^j-—.  »    o    o    f^jfTTTt 


& 


jEzgfer^-^sz^lF  ■  ^s^ 


Tenor  (integer) 


c:    0    0    Ö1 


O1 


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Y^^^-fö 


:*=£ 


^gE| 


-fr-Q- 


Bassus  (dirainutus) 


g^^^r^r^^-^n^ 


E£ 


T0<?0' 


T^^-^t^-i 


-Q-g- 


so  wußten  sie,  daß  im  Diskant  unter  dem  Zeichen  (£  3  drei  Semibreven 
auf  Auf-  und  Niederschlag  kamen,  im  Tenor  nach  dem  Zeichen  C 
eine  Semibrevis,  im  Bassus  nach  der  Vorschrift  (f  zwei  Semibreven. 
Das  Stück    würde  in  moderner   Notenschrift   dies  Bild  ergeben: 


1 


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I 


v 


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ST. ' *-. •" 


^ 


Wz±z 


3Z: 


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[Ag-nus  De i         qui to     - 


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De 

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(Ag  -  nus        De 

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y 


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.  V  V  Y 


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mi  -  se  -  re- 


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58 


Drittes  Kapitel. 


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-        -    /bis) 


*  = 


^t=3 


mi  -  se  -  re 


/  bis) 


Der  Dirigent  muß  hier  ganze  Takte  geben1.  Solche  Stücke,  in 
denen  gerader  und  ungerader  Takt  gleichzeitig  auftreten,  machten 
den  Musikern  schon  im  16.  Jahrhundert  Schwierigkeiten.  Faber 
(1550)  rät,  bei  diesen  Sätzen  den  ungeraden  Takt  so  zu  singen, 
als  ob  ein  gerader  vorläge,  bis  längere  Übung  von  diesem  Hilfs- 
mittel befreie.  Diese  Umbiegung  des  ungeraden  Taktes  hat  bis 
zum  18.   Jahrhundert  nachgewirkt.     In  Seb.  Bachs  Werken  wird 

noch  häufig    »3»  als  "-*    notiert2.     Em.  Bach    gibt   in    seinem 

»Versuch  über  die  wahre  Art  das  Ciavier  zu  spielen«  dafür  fol- 
gende Erklärung:  »Seit  dem  häufigen  Gebrauche  der  Triolen 
bey  dem  so  genannten  .  .  .  Vier  Viertheil-Tacte,  ingleichen  bey 
dem   Zwey-    oder  Dreyviertheil-Tacte   findet   man   viele  Stücke, 


1  Über  die  Textunterlage  s.  Seh.  1908,  S.  99  f.  Im  Diskant  hätte  ich  regulär 
drei  Ganze  (Semibreven),  im  Baß  zwei  Semibreven  notieren  müssen.  Da  aber 
die  Dauer  der  Semibrevis  im  tactus  proportionatus  und  diminutus  kürzer  ist 
als  im  tactus  integer,  sind  die  Werte  gekürzt  worden. 

2  Bach,  Ges.-Ausg.  XXII,   S.  123,  XXIII,  S.  271—299,  S.  310—313  usw. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  59 

die  statt  dieser  Tact-Arten  oft  bequemer  mit  dem  Zwölf,  Neun, 
oder  Sechs-Achttheil-Tacte  vorgezeichnet  würden.  Man  theilt 
alsdann  die  bey  Fig.  XII  befindlichen  Noten  wegen  der  andern 
Stimme  so  ein,  wie  wir  allda  sehen.  Hierdurch  wird  der  Nach- 
schlag, welcher  oft  unangenehm,  allezeit  aber  schwer  fällt,  ver- 
mieden. « 

Fig.  XII. 


FF=P 


P* — r—P- 


Im  16.  Jahrhundert  wurde  die  Fabersche  Methode  der  Anpassung 
eines  Dreitakts  an  einen  geraden  von  vielen  Musikern  befolgt. 
Ich  habe  den  Diskant  der  übertragenen  »Fuga  trium  vocum« 
von  Josquin  in  einem  Manuskript  des  16.  Jahrhunderts  (de  signis 
musicalibus;  in  der  Kgl.  Bibl.  zu  Berlin)  und  auch  in  Eucharius 
Hoffmanns  »musicae  practicae  praecepta«  in  gerader  Taktart 
analysiert  gefunden,  ohne  aus  diesen  »Resolutiones  valoris  pro- 
portional« ein  festes  System  erkennen  zu  können.  Der  Beginn 
dieser  Beispiele  sieht  in  Gegenüberstellung  so  aus: 

Seb.  Hey  den. 


H=3£ 


m^ 


Mscr.  Cod.  XVI  saec. 

Resolutio  valoris  proportionati 


vtA-V* «— +•  ttM— tm^o  .  i  :     ■  ?5 


m^m 


Euch.  Hoffmann. 
Resolutio 


Diese  Auflösungen  des  Dreitakts  sind  sicherlich  nur  Muster  für 
den  Anfängerunterricht.  Faber  nennt  sie  eine  molestia,  von  der 
man  sich  bald  freimachen  solle.  Bei  gleichmäßigem,  ganztaktigen 
Taktschlag  ließen  sich  diese  Stücke  korrekt  ausführen,  sobald 
tüchtige  Sänger  den  Chor  übernommen  hatten. 

Aus  den  gegebenen  Nachrichten  und  Anweisungen  vom  Takt- 
schlagen ergibt  sich  die  Tatsache,  daß  wir  in  der  altklassischen 


1  A.a.O.,  Ausg.  1780,  I,  III,   §27. 

2  Vollständig  8.  Seh.  1908,  S.  95. 


60  Drittes  Kapitel. 

Chormusik  keinen  modernen  Takt  vor  uns  haben.  Der  tactus 
ist  nach  der  Theorie  nichts  weiter  als  ein  einfaches  Auf-  und  Nieder- 
schlagen, ein  Orientierungsmittel  und  eine  Stütze  für  die  Sänger. 
Er  wurde  so  gleichmäßig  geschlagen,  wie  die  Uhr  die  Stunden- 
schläge angibt.  Nach  diesem  metronomisch-exakten  Taktschlag, 
der  keine  Betonungen  und  Vortragsnuancen  andeutet,  wurden 
die  einzelnen  Stimmen,  die  ohne  Taktstriche  aufgeschrieben 
waren,  vorgetragen,  so  daß  die  Musik  nicht  in  die  engen  Schranken 
des  Gruppentakts  gezwängt  wurde,  sondern  sich  frei  und  unge- 
zwungen bewegen  konnte.  Das  Fehlen  der  Taktstriche  erleich- 
terte die  Deklamation  des  Textes  und  die  klare  Hervorhebung 
der  einzelnen  Motive. 

Bei  der  tactus-Angabe  wurden  Auf-  und  Niederschlag  in  ge- 

u    U  I  t   I  t 

raden  Takten  in  dieser  Weise:  ^  ^,    QJi   oder     ^__^£     und    in 

ungeraden  Takten  nach  dieser  Form:  *~.  £  angegeben.  Die 
Wahl  zwischen  Semibreven-  und  Breventakt  richtete  sich  nach 
dem  Charakter  des  Musikstücks,  so  daß  die  Sänger  vorher  über 

die  Form  des  Taktschiagens,   entweder  $■—$    &—-$  oder    <^  a  ^  ^> , 

I  I  i  I  I     T     !      I 

orientiert  sein  mußten.  Die  Taktzeichen  selbst  charakterisieren  nur 
die  Mensur  der  Noten,  nicht  den  Taktschlag.  Der  Kreis  O  gibt 
an,  daß  die  Brevis  dreiteilig  zu  singen  ist,  daß  sie  drei  Auf-  und 
Niederschläge  ausgehalten  werden  muß.  Soll  ein  dreiteiliger  Takt 
durchgeführt  werden,  so  weisen  Zeichen  wie  (£3  oder  03  darauf 
hin,  daß  drei  Semibreven  einem  tactus  entsprechen,  daß  zwei 
ganze  Noten  dem  Niederschlag  und  eine  dem  Aufschlag  zukommen. 
Wenden  wir  uns  der  praktischen  Seite  des  Kapellmeisteramts 
zu,  so  ist  zunächst  daran  zu  denken,  daß  die  Kapellen  der  alten 
Zeit  keine  Massenchöre  waren.  Ihre  Mitgliederzahl  hielt  sich 
an  bedeutenden  Musikplätzen,  wie  in  der  päpstlichen  Kapelle 
zu  Rom1,   in   der  Wiener  Hofkapelle2  oder  in  der  Kapelle  von 


1  Haberl,  Die  römische  schola  cantorum.  V.  f.  M.  1887,  S.  281.  Papst 
Julius  III.  bestimmte,  daß  die  Zahl  der  Sänger  auf  24  reduziert  werden  sollte. 
Unter  Clemens  VII.  bestand  die  Kapelle  aus  22  Sängern  (ebd.,  S.  262). 

2  Die  Wiener  Hofkapelle  zählte  im  Jahre  1508/1509  einmal  20  Knaben-  und 
29  Männerstimmen,  die  wohl  nicht  sämtlich  zum  ständigen  Personal  der 
Kapelle  gehörten.  Im  Jahre  1519  hat  die  Kapelle  sechs  Tenöre,  sechs  Bässe, 
sieben  Altisten  und  21  Singknaben.  Vgl.  Bruno  Hirzel,  Dienstinstruktion 
und  Personalstatus  der  Hofkapelle  Ferdinands  I.  aus  dem  Jahre  1527.  (Sammelb. 
d.  I.  M.-G.  X,  S.  152/3. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  61 

St.  Marco  in  Venedig1  zwischen  17  und  40  Köpfen.  Auch  die 
Tatsache,  daß  man  schon  im  16.  Jahrhundert  in  den  einzelnen 
Stimmen  Verzierungen  improvisierte,  beweist,  daß  nur  kleinere 
Chöre  die  Ausführung  der  Stücke  übernehmen  konnten.  In  der 
Regel  waren  es  kleine  Solisten-Ensembles.  Im  Jahre  1475  wird 
einmal  ein  Chor  von  32  Sängern  eine  außergewöhnlich  große 
Besetzung  genannt2.  Kleine  Sängerchöre  zeigen  die  beschriebenen 
Bilder  von  Pinturicchio,  van  Eyck,  Boticelli  u.  a.  Auch  auf  dem 
Titelblatt  zu  Seb.  Felsztyns  »opusculum  musicae  mensuralis« 
(1519)  sieht  man  einen  kleinen  Männerchor  von  6  Mitgliedern, 
die  nach  einem  Notenblatt  singen,  während  der  Chorleiter  —  in 
Amtskette  und  Pelzmantel  —  die  Musik  mit  Handbewegungen  leitet. 
Wir  haben  also  nur  an  kleine  Chöre  zu  denken,  die  vom  Chorleiter, 
der  womöglich  selbst  mitsang,  dirigiert  wurden.  Seine  Direktion, 
die  mit  Hand  oder  Taktstock  ausgeführt  wurde,  mußte  lautlos  oder 
doch  möglichst  unauffällig  vor  sich  gehen,  ja  die  Bewegungen  der 
Hand  sollten  von  den  Zuhörern  nicht  einmal  bemerkt  werden3, 
eine  Forderung,  die  auch  das  Taktieren  mit  dem  Finger  erklärt. 
Zu  den  wichtigsten  Aufgaben  des  Kapellmeisteramts  gehörte 
die  Erzielung  eines  gleichmäßigen  Vortrags.  Die  Sänger  mußten 
eine  gute  gesangliche  Ausbildung  genossen  haben  und  vollkommen 
gleichmäßig  singen4.  Für  dieses  Ebenmaß  des  Vortrags  war 
neben  einer  sorgfältigen  gesanglichen  Schulung  die  Erziehung  zur 
Selbständigkeit  bei  der  Textunterlage  und  der  Ausführung  der 
Dynamik  von  großer  Wichtigkeit.  Das  Notenbild  glich  hier  einer 
Skizze,  deren  Ausführung  und  Ausgestaltung  dem  Dirigenten 
und  dem  einzelnen  Sänger  überlassen  war.  Der  Text  wurde  bei 
bekannten  Sätzen,  z.  B.  in  den  Meßkompositionen,  nur  an  einigen 
Hauptstellen  vorgeschrieben  und  mußte  den  Regeln  des  guten 
Vortrags  entsprechend  ohne  Barbarismen  und  Verstöße  gegen 
die  Sprachgesetze  auf  die  Noten  verteilt  werden.     Josquinf  legte 


1  C  a  f  f  i,  Storia  della  Musica  Sacra  nella  giä  cappella  ducale  di  San  Marco 
dal  1318  al   1797  (Venezia  1854/55).  II,  S.  39. 

2  Vgl.  K  i  n  k  e  1  d  e  y ,  a.  a.  O.  S.  166. 

3  Motus  [tactus]  tarnen  caute,  quantum  fieri  potest,  monstrandus  est,  nee 
omnium  auditorum  oculis  exponendus.  Calvisiana.  M.  f.  M.  1901.  S.  90.  Vgl. 
Joachim  Burmeister,  Musica  a&ToajfeSiaaTixvj,  Rostock  1601,  fol.  Aa.  4: 
Quo  modestior  fuerit  motus,  eo  ornatior  et  gratiorem  aspectum  merebitur. 

4  S.  Chybiüski,  a.a.O.,  S.  387,  ebenda  die  Stelle  aus  Cochläus'  »musica«: 
Decet  autem  alterum  alteri  vocem  aecomodare  (puta  tenorem  cantui)  ne  alte 
alteribus  clamoris  excessu  profundatur  atque  suecumbat.  Vgl.  Molitor,  a.  a. 
O.  S.  164f. 


62  Drittes  Kapitel. 

nach  dem  Zeugnis  des  Coclicus  auf  diese  Textunterlage  großen 
Wert1.  Auch  die  Regeln,  die  später  Vicentino,  Tigrini  und  Zarlino 
dafür  geben,  zeigen  deutlich  genug,  daß  man  mit  einer  selbstän- 
digen Textunterlage  rechnete.  Diese  Vorschriften,  die  von  mir 
an  anderer  Stelle  zusammengestellt  wurden2,  haben  für  die  Zeit 
der  Niederländer  rückwirkende  Kraft  und  dürfen  von  den  Heraus- 
gebern alter  Musikwerke  nicht  übergangen  werden. 

Die  gleiche  Selbständigkeit  der  Ausführung  wurde  in  der 
Anwendung  dynamischer  Effekte  vorausgesetzt.  In  Drucken 
und  Handschriften  finden  sich  keine  Angaben  darüber.  Die  Kom- 
ponisten verließen  sich  darauf,  daß  Dirigent  und  Sänger  aus  dem 
musikalischen  Satz  heraus  die  dialogisierenden  Partien,  Echo- 
wirkungen und  die  durch  die  Stimmführung  gegebenen  Kontras- 
tierungen des  Ausdrucks  erkannten.  Es  galt  als  Hauptregel,  daß 
die  Dynamik  dem  Textgehalt  entsprechen,  daß  sie  den  Gefühls- 
ausdruck der  Musik  vertiefen  soll3,  ein  Gesetz,  das  auf  feine 
dynamische  Schattierungen  schließen  läßt. 

Wichtig  war  für  die  Aufführung  auch  die  Aufstellung  des 
Chores.  Nach  Zacconi  sollen  die  Sänger  nicht  dicht  beieinander- 
stehen, da  der  einzelne  dann  die  eigene  Stimme  nicht  deutlich 
genug  kontrollieren  kann4.  Philomates  will  die  einzelnen  Stimmen 
so  gruppiert  haben,  daß  Diskant  und  Tenor  zusammenstehen, 
ferner  Alt  und  Baß.  Jede  Gruppe^soll  von  den  andern  getrennt  sein5. 


1  Adr.  Petit  Coclicus,  Compendium  musices  (1552)  fol.  FIIv:  Cum 
autem  videret  suos  utcunque  in  canendo  firmos,  belle  pronunciare,  ornate  canere, 
et  textum  suo  loco  applicare,  docuit;  s.  auch  Finck,  a.  a.  O.,  Lib.  V:  De  arte 
eleganter  et  suaviter  canendi,  und  Schneegass,  Isagoges  Musicae  libri  duo  1591, 
Kap.:  »De  canendi  elegantia«  (Regel  5). 

2  Seh.  1908,  S.  103f.  Nachzutragen  sind  zwei  Stellen  aus  Burmeister, 
Hypomnematum  musicae  poeticae  (Rostock  1599,  Kap.  X.),  und  aus  Chr. 
Praetorius,  Erotemata  renov.  musicae  (1581,  Kap.  V). 

3  Ganassi,  Fontegara  1535,  Kap.  2:  quanto  al  fiato  la  voce  humana 
comemagistra  ne  insegna  doveressere  proceduto  mediocralmente  perche  quando 
il  cantor  canta  aleuna  composition  con  parole  placabile  lui  fa  la  pronuncia  pla- 
cabile  se  gioconda  e  lui  con  il  modo  giocondo  pero  volendo  imitar  si  le  effetto 
si  prociedera  il  fiato  medioero  accio  si  possa  crescere  e  minuir  ali  sui  tempi. 

4  Zacconi,  Prattica  di  mus.  II,  fol.  56:  Neil'  aecomodamento  delle  parti, 
molti  cercano  d'amontonarle  insieme,  parendo  ä  loro,  che  quanto  piü  i  cantori 
stanno  uniti,  e  stretti,  la  Musica  sia  meglio  per  riuscire,  e  s'ingannano  pur  assai; 
poiehe,  le  parti  havendo  troppo  vicine  l'altrui  voci,  non  possano  sentir  l'effetto 
della  loro  propria  voce  .  .  . 

6  a.  a.  0.  III,  2:  Cum  pueris  occentores  simul,  atque  seorsum,  et  suc- 
centores  stent  cum  excentoribus  una.  Mit  den  occentores  sind  vielleicht  die 
Tenoristen,  mit  succentores  die  Altisten  gemeint.     Excentor  ist  der  Bassist. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  63 

Der  Dirigent  gibt  jedem  Sänger  den  Ton  an  und  beginnt 
dann  die  Musik.  Singt  er  selbst  die  Baßstimme  mit,  so  ist  seine 
Leitung  noch  sicherer,  denn  » der  Baß  gibt  den  übrigen  Stimmen 
das  feste,   volle  Fundament« 1. 

Vom  Dirigenten  verlangte  man  eine  gute  kompositorische 
und  gesangliche  Ausbildung,  Kenntnis  der  Lehre  von  Kirchen- 
tönen und  Transpositionsregeln  und  eine  vollkommene  Übersicht 
über  die  vorliegende  Komposition.  Diese  Übersicht  war  schwie- 
riger zu  erreichen  als  heutzutage,  denn  die  Chöre  der  a  cappella- 
Zeit  wurden  nicht  in  Partitur  geschrieben,  sondern  in  einzelnen 
Stimmen  oder  Chorbüchern.  In  letzteren  ist  die  Verteilung  der 
Stimmen  so  getroffen,  daß  Diskant  und  Baß  auf  der  linken 
Seite  des  Buches,  Alt  und  Tenor  auf  der  rechten  stehen.  Jede 
Stimme  ist  dabei  für  sich  allein  geschrieben,  so  daß  die  zusammen- 
gehörigen Notenwerte  des  Diskant  und  Baß  nicht  untereinander- 
stehen. Wir  haben  ein  Notenbild,  das  nach  unserer  Gewöhnung 
schwer  zu  übersehen  ist.  Für  die  Musiker  der  Zeit  existierten 
hier  nicht  die  gleichen  Schwierigkeiten.  Das  Zusammenlesen 
der  einzelnen  Stimmen  gehörte  mit  zum  Musikstudium.  Kinkel- 
dey  hat  nachgewiesen,  daß  die  Klavierspieler  aus  den  Chorbüchern 
das  Partiturspiel  lernten,  daß  sie  die  nebeneinanderstehenden 
Stimmen  abspielen  mußten2.  Diese  Praxis  mußte  auch  der 
Kapellmeister  beherrschen,  er  mußte  imstande  sein,  aus  dem 
Notenbild  eines  Chorbuchs  den  Verlauf  eines  Tonstücks  ohne 
weiteres  abzulesen.  Die  Methode  ist  nach  unseren  Begriffen  reich- 
lich kompliziert.  Doch  muß  man  dabei  in  Rechnung  stellen, 
daß  die  alten  Musiker  die  Mensuralnotierung  ebenso  leicht  lasen 
wie  wir  die  heutigen  Noten,  und  daß  sie  eine  lange  Unterrichts- 
zeit durchmachten,  in  der  Notations-  und  Gesangsregeln,  Theorie 
und  Partiturspiel  gelehrt  wurden.  Wurde  nicht  aus  dem  Chor- 
buch, sondern  aus  einzelnen  Stimmbüchern  gesungen,  so  mußte 
der  Kapellmeister  sich  die  Stimmen  nebeneinander  aufstellen, 
so  daß  er  einen  ähnlichen  Überblick  über  den  Tonsatz  hatte, 
wie  in  den  Chorbüchern.  Er  konnte  so  die  Einzelbewegungen  der 
Stimmen  verfolgen  und  auch  bei  Fehlern  hier  und  da  einhelfen. 

Ausführliche  Nachrichten  über  die  praktische  Seite  des  Kapell- 


1  Ebd.:  Voce  subinde  susurranti  da  cuique  seorsum  initium  parti,  quo 
ocncepto,  incipe  tandem  . . .  Vox  gravis  in  fundo  versanda  regentibus  odas  Har- 
monicas  frugi  est,  et  conduxit  vehementer. 

2  Kinkeldey,  a.a.O.  S.  98  und  187f, 


64  Drittes  Kapitel. 

meisteramts  bringt  Zacconi  in  seiner  »Prattica  di  musica«1,  ein 
Buch,  das  an  die  alte  Mensuralmusik  anschließt,  das  aber  in 
vielen  Partien  schon  auf  die  Zeit  der  Renaissance  weist.  In  der 
Taktlehre  kann  Zacconis  Werk  zum  Teil  noch  als  Dokument 
der  Mensuralepoche  gelten.  Er  betont  die  Gleichmäßigkeit  des 
Taktschiagens:  der  Kapellmeister  soll  ohne  Schwankungen  diri- 
gieren, selbst  dann,  wenn  die  Sänger  Verzierungen  improvisieren2. 
Zacconi  warnt  auch  vor  auffälligen  Direktionsmanieren.  Der 
Dirigent  darf  nicht  zu  Beginn  der  Musik  »los  «  oder  ähnliche  Worte 
rufen  und  sich  bei  der  Mitwirkung  von  Instrumentalisten  nicht 
durch  ihre  Bewegungen  beirren  lassen3.  Der  gleichmäßige,  genau 
abgemessene  Taktschlag  verbürge  eine  sichere  Direktion. 

Gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  mehren  sich  die  Stimmen, 
die  an  Stelle  eines  metronomischen  Taktschiagens  eine  modi- 
fizierte Direktion  vorschlagen.  Es  sind  die  Vorboten  der  Re- 
naissance. Schneegaß  sagt  in  seiner  Musiklehre  (1591),  die 
Gleichheit  müsse  in  der  Mensur  wohl  beachtet  werden,  damit  nicht 
die  Harmonie  verwirrt  oder  geändert  werde,  trotzdem  sei  aber 
nach  Maßgabe  des  Textes  bisweilen  ein  langsamerer 
Taktschlag  zu  führen,  darin  liege  die  Anmut  und  Erhaben- 


1  Prattica  di  mus.,  Venetia  1596.  Seconda  Parte:  Venetia  1622. 

2  Zacconi,  a.  a.  0.  (I  fol.  21  v.) :  II  debito  de  quelli  che  lo  reggano  & 
di  reggerlo  chiaro,  sicuro,  senza  paura,  e  senza  veruna  titubatione  pigliando 
l'essempio  dell'  attione  del  polso  ö  dal  moto  che  fa  il  tempo  dell'  Orologgio,  e  han 
da  fare  che  si  come  dal  tatto  si  reggano  e  s'informano  di  suono  le  figure  Musicali, 
che  cosi  ancora  i  cantori  l'habbiano  a  seguire,  e  esser  soggetti:  Ne  mai  a  quäl 
si  voglia  voce  di  cantore  piegar  si  deve;  perche  il  piegarsi  alle  voglie  di  questo, 
e  di  quello  per  darli  tempo  ch'empiano  i  canti  di  vaghezze,  fa  che  l'harmonie 
divenghino  debole  e  lente;  e  che  i  cantori  si  stanchino  fuor  di  proposito  odiando 
quella  ritardanza,  e  mal  gradita  attione,  e  se  bene  per  vaghezza  del  cantare,  i  can- 
tori alle  volte  ritardano  alquanto,  egli  non  deve  riguardar  a  quella  ritardanza: 
ma  attendere  al  officio  suo  accioche  i  cantanti  vedendo  la  sicurezza  del  tatto 
s'inanimischino,  e  prendino  ardire,  che  s'egli  vuole  ritardar  col  tatto  fin  che  il 
cantore  habbia  perfettamente  informato  le  figure  di  suono,  in  ogni  tatto  con- 
verä  ritardare;  perche  il  cantore  si  piglia  auttoritä  sempre  di  pronuntiar  la  figura 
dopd  il  tatto:  per  farla  sentire  con  maggior  vaghezza. 

3  fol.  22.  Ancora  si  biasmano  i  rettori  del  tatto  che  sono  pigri  nel  far  prin- 
cipiare,  e  quelli  piu  che  inanzi  al  dar  principio  dicano  alcune  parole.  Come  seria 
a  dire,  ö  sü  d  via,  ö  altre  simile,  massimamente  quanto  le  dicano  si  forte  che 
quasi  tutti  i  circunstanti  l'odano.  fol.  21v. :  Oltra  di  questo  nasce  alle  volte  occasione 
di  summistrar  quest'  atto  col'  internento  de  gli  instrumenti:  e  perche  nel  sonar 
delleViole,  ö  deTromboni  essi  sonatori  fanno  attione  simile  alle  attione  del  tatto: 
per  questo  bisogna  esser  avertito  di  non  lasciarsi  co  gl'atti  loro  cavar  di  tempo, 
e  uscir  di  misura. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  65 

heitvdes  Gesangs1.^  Zacconi  unterscheidet  "den  Vortrag  von  welt- 
licher und  geistlicher  Musik.  Letztere  müsse  würdig  und  ergeben 
klingen  und  nur  das  Lob  Gottes  verherrlichen.  Der  Vortrag, 
der  an  Liebeslieder  erinnere,  sei  der  Kirchenmusik  durchaus  fern- 
zuhalten2. Auch  soll  jedes  Retardieren  mit  Vorsicht  angewandt 
werden,  damit  kein  Sänger  in  Verwirrung  komme3.  Die  Tempo- 
modifizierung ist  somit  schon  für  das  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
bezeugt,  für  eine  Zeit,  in  der  die  Bestrebungen  der  Hellenisten 
und  der  Kampf  gegen  den  Kontrapunkt  sich  immer  merklicher 
vernehmen  lassen,  in  der  die  weltliche  Musik  mit  den  Madrigalen, 
Kanzonetten,  Villanellen  und  die  Instrumentalkunst  die  Prin- 
zipien der  Mensuralmusik  umgestalten  und  einer  freieren,  sub- 
jektiven Direktionsform  die  Wege  weisen. 

Für  die  klassische  Zeit  der  Mensuralmusik  ist  aber' festzuhalten, 
daß  der  Takt  gleichmäßig,  fast  mechanisch  geschlagen  wurde, 
daß  er  den  Musikern  als  Orientierungsmittel  diente  und  keine 
Tempoänderungen1  innerhalb  eines  Tonstücks  zuließ.  Die  rhyth- 
mischen Gliederungen  waren  durch  die  Noten  und  ihre  Men- 
surierung  vorgezeichnet;  jede  Beschleunigung  oder  Verlangsamimg 
des  Taktschiagens  wurde  vermieden,  da  eine  Tempoänderung 
im  Verlauf  eines  Tonsatzes  durch  den  Wechsel  der  Taktzeichen 
angezeigt  wurde.  Die  gleichen  Grundsätze  galten  für  Aufführungen, 
in  denen  Instrumente  mitwirkten.  Das  beweisen  die  früher 
zitierten  Stellen  aus  Lautenschulen,  Geigen-  und  Klavierwerken, 
die   sich  völlig  mit  der  Lehre  der  Gesangsschulen  decken. 

Wieweit  die  Instrumente  in  der  Musik  des  15.  und  16.  Jahr- 
hunderts selbständig  tätig  sind,  kann  erst  eine  spezielle  Unter- 
suchung entscheiden.  Aus  Berichten  der  Zeitgenossen  und  musi- 
kalischen Darstellungen  läßt  sich  nachweisen,  daß  vom  16.  Jahr- 
hundert an  die   Instrumente  tüchtig  zur  Chorbegleitung  heran- 


1  Schneegaß,  a.  a.  0.  (De  canendi  observ.  XI) :  Mensurae  ser- 
vanda est  aequalitas,  ne  harmonia  deformetur  vel  perturbetur:  Sed  tarnen  pro 
ratione  textus,  tardiore  tactu  interdum  uti,  maiorem  maiestatem  et  gratiam 
habet  et  cantum  mirifice  exornat. 

2  A.  a.  O.  II,  fol.  55:  E  prima  di  dire,  che  le  Musiche  secolari,  essendo  Villa- 
nelle,  Canzonette,  e  Madrigali,  si  cantano,  e  possano  cantare  ä  commun  volere 
di  coloro,  che  le  cantano  e  fanno  cantare;  ma  perche  l'Ecclesiastiche  sono  d'altra 
natura  e  consideratione.  Ebenda  fol.  54:  Questo  sia  detto  per  Zelo  di  Dio, 
e  per  avertire  i  cantori,  che  cantando  nelle  Chiese,  si  ricordino  di  cantar  ä  lode 
del  Signore,  e  non  ä  sodisfattione  delle  loro  passioni  amorose. 

3  I  fol.  22:  Di  stringerlo  e  allargarlo  con  maniera,  e  modo,  che  non  si 
habbia  a  por  in  periculo  quel  che  si  canta. 

Kl.  Handb,  der  Mnsikgesch.  X,  5 


66  Drittes  Kapitel. 

gezogen  wurden,  namentlich  bei  Hausmusiken,  festlichen  Ver- 
anstaltungen und  an  Plätzen,  wo  das  Sängerpersonal  oder  die 
Geldmittel  für  die  Aufstellung  eines  tüchtigen  Chors  nicht  aus- 
reichten. Das  Titelblatt  von  Hermann  Fincks  »Practica  musica« 
(1556)  zeigt  z.  B.  eine  Musikaufführung,  wo  ein  Männerchor  von 
etwa  14  Köpfen,  ein  Knabenchor  von  (etwa)  sieben  Mitgliedern, 
ein  Trompetenbläser  und  zwei  Zinkenisten  musizieren.  Der  Ka- 
pellmeister schlägt  mit  der  Hand  den  Takt.  Ein  ähnliches  Bild, 
ein  Konzert  von  Cembalo,  Baß,  Posaune,  Theorbe  und  Arm- 
geige ist  einer  handschriftlichen  Liedersammlung  vom  Jahre  1592 
vorangestellt1.  Auch  hier  taktiert  ein  Sänger.  Interessant  für 
die  Praxis  der  Zeit  ist  das  bereits  erwähnte  Bild  in  Ammerbachs 
Tabulaturbuch  vom  Jahre  1571.  Die  Szene  zeigt  ein  Festessen. 
Im  Hintergrund  wird  an  einem  langen  gedeckten  Tisch  gespeist, 
während  im  Vordergrund  musiziert  wird.  Es  konzertieren  drei 
Sänger,  ein  Diskantist,  ein  Trompeter,  ein  Posaunist,  ein  Flötist, 
ein  Pommerbläser  und  ein  Positifspieler.  Vor  ihnen  steht  der 
Kapellmeister  und  dirigiert  mit  einem  Taktstock2.  Eine  ähnliche 
Tafelmusik  mit  Clavichord-,  Violen-,  Theorben-,  Baßviolen-  und 
Zinkenbegleitung,  die  vom  Dirigenten  mit  der  Hand  geleitet  wird, 
ist  als  Wandbild  in  Auerbachs  Keller  in  Leipzig  dargestellt3.  Auch 
in  den  Chorbüchern,  die  der  Verleger  Berg  edierte  (z.  B.  in  den 
»Missae  4  vocum«  von  Blasius  Amon,  1591)  findet  man  ein  Musik- 
bild, wo  eine  Flöte,  zwei  Zinken,  Armgeige,  Cello,  zwei  Posaunen, 
Laute,  Cembalo,  drei  Männer  und  zwei  Knaben  (die  Sänger) 
musizieren.  Diese  Bilder  und  Titelblätter  zeigen,  wie  man  sich 
die  Werke  mit  der  Überschrift:  »zum  Singen  und  Spielen«  prak- 
tisch ausgeführt  zu  denken  hat.  Je  nachdem  geeignete  Kräfte 
vorhanden  waren,  werden  sie  zur  Musik  herangezogen  worden  sein. 
Nach  den  Bildern  zu  urteilen,  waren  es  verhältnismäßig  kleine 
Besetzungen  und  kleine  Instrumentengruppen,  die  diese  oder  jene 
Stimmen  übernahmen.  Diese  Instrumentalbegleitung  hat  viel  zu 
der  Umgestaltung  der  alten  Rhythmik  und  zur  Begründung  der 
modernen  Taktmetrik  beigetragen. 

Für  unsere  heutigen  Konzertaufführungen  kann  eine  instru- 
mentale Begleitung  der  klassischen  Vokalmusik  kaum  in  Betracht 
kommen.     Die  Praktiker  werden  sich  mit  der  neuerdings  etwas 

i  Kgl.  Bibl.  in  Berlin,  Ms.  Germ.  4°  733. 

2  Reproduktion  in  Rudolf  Wustmanns  Musikgeschichte  Leipzigs, 
S.  74. 

3  Reproduziert  bei  W  u  s  t  m  a  n  n,  a.  a.  O.  S.  308/309. 


Das  Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik.  67 

zu  stark  betonten  Theorie  der  begleiteten  Chorliteratur  des  15. 
und  16.  Jahrhunderts  nicht  befreunden  und  sicherlich  bei  der 
rein  vokalen  Ausführung  der  Werke  stehen  bleiben.  Sie  läßt 
sich  aus  der  Praxis  unserer  Tage  ebensowenig  streichen  wie  aus 
der  Musikübung  der  alten  Zeit.  Dagegen  kann  für  das  Verständ- 
nis und  die  moderne  Wiedergabe  der  alten  Literatur  von  Histo- 
rikern und  praktischen  Musikern  noch  viel  getan  werden,  denn 
unsere  heutige  Notierung  der  Werke  in  Partitur  und  Gruppentakt 
macht  Sängern  und  Zuhörern  noch  immer  viel  Schwierigkeiten. 
Die  Herausgeber  alter  Musik  müßten  von  der  modernen  Notierung 
abkommen  und  die  Taktstriche  in  den  modernen  Übertragungen 
aufgeben.  Die  Einteilung  der  Notenwerte  kann  durch  Takt- 
punkte, durch  Striche  an  den  Linien,  wie  sie  im  Renaissance- 
zeitalter angewandt  wurden,  oder  durch  ähnliche  Methoden  an- 
gegeben werden.  Auf  alle  Fälle  ist  in  den  Neudrucken  darauf 
hinzuweisen,  daß  der  moderne  Gruppentakt  in  der  alten  Chor- 
literatur nicht  existiert,  daß  der  tactus  der  Theoretiker  keine 
schweren  und  leichten  Taktzeiten  kennt.  Die  Wortbetonungen 
und  Motivakzente  müssen  frei  vorgetragen  werden,  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Stellung  in  der  modernen  Taktgruppe.  Am  besten 
wird  man  die  alten  Werke  mit  ruhigen  und  gleichmäßigen  Be- 
wegungen der  auf-  und  niederschlagenden  Hand  dirigieren.  Leitet 
der  Dirigent  einen  kleinen  Solistenchor,  so  ist  durch  ruhige,  gleich- 
mäßige Taktschläge  eine  gute  Wiedergabe  des  polyphonen  Stimm- 
gewebes und  eine  sichere  Angabe  der  Textbetonung  leicht  zu 
erzielen.  Modifikationen  im  Tempo  sind  allemal  möglich,  wenn 
auch  ein  zu  starkes  Nuancieren  im  Zeitmaß  die  Ausdruckskraft 
der  Musik  schwächen  muß.  In  der  Tempoangabe  gibt  allein  der 
Affekt  des  Stückes  den  Ausschlag,  nicht  das  moderne  Partitur- 
bild, das  oft  genug  weltliche  Chorlieder  in  Chorälen  Notenwerten 
notiert.  Ferner  wäre  auf  eine  sorgfältige  Textunterlage  —  die  sich 
am  besten  nach  den  Regeln  Zarlinos  und  Vicentinos  durchführen 
läßt  —  und  auf  eine  gute,  sinngemäße  Dynamik  zu  achten. 

Neuerdings  ist  versucht  worden,  in  den  Partituren  alter  Chor- 
werke die  Taktstriche  in  den  einzelnen  Stimmen  verschieden  zu 
stellen,  um  eine  gute  Textdeklamation  zu  ermöglichen.  Dadurch 
wird  das  Notenbild  unübersichtlich  und  für  die  praktische  Aus- 
führung nicht  viel  gewonnen.  Wertvoller  ist  der  von  Riemann 
verfolgte  Weg,  solche  Stücke,  die  eine  regelmäßige  rhythmische 
Struktur  und  Akzentuierungsfolge  zeigen,  ohne  Rücksicht  auf 
die  alten  Taktzeichen  in  einen  dreiteiligen  oder  vierteiligen  Takt 

5* 


68  Viertes  Kapitel. 

aufzulösen,  je  nachdem  es  der  Charakter  der  Taktmetrik  erfordert. 
Die  Methode  läßt  sich  allerdings  nicht  in  allen  Sätzen  durch- 
führen. Es  wird  deshalb  am  besten  sein,  wenn  man  Partituren 
und  Stimmen  in  gleiche  Semibreven- Gruppen  abteilt,  Takt- 
punkte oder  kleine  Striche  an  der  obersten  Notenlinie  einführt 
und  möglichst  gleichmäßig  taktiert.  Eine  freie  Deklamation 
und  eine  exakte  Motiv-  und  Wortbetonung  werden  sich  dann 
leicht  erreichen  lassen.  Grundbedingung  für  eine  gute  Aufführung 
bleibt  aber  das  Aufgeben  einer  akzentuierenden  Direktion. 


Viertes  Kapitel. 
Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance. 

Wie  das  Mittelalter  durch  Boetius  mit  der  griechischen  Kunst- 
lehre vertraut  wurde  und  in  bewußter,  nachschaffender  Arbeit 
zu  einer  völlig  neuen  Theorie  der  Musik  gelangte,  wie  die  Men- 
suralisten  auf  die  griechische  Metrik  ihr  exaktes  und  zuverlässiges 
System  der  Notation  gründeten  und  damit  die  Grundlage  für  das 
freie  künstlerische  Schaffen  der  Musiker  brachten,  so  führt  die 
erneute  Beschäftigung  mit  der  griechischen  Kunst  um  die  Wende 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  zu  einer  völligen  Umgestaltung  der 
Kunstanschauung  und  der  musikalischen  Formen.  Italienische 
Humanisten  leiten  einen  Kampf  gegen  die  Kunst  der  Polyphonie 
ein  und  versuchen  eine  Neubelebung  der  griechischen  Musik  nach 
den  Grundsätzen  der  alten  Kunst.  Das  praktische  Resultat 
dieser  Renaissancebestrebungen  war  die  Begründung  der  italie- 
nischen Oper  durch  die  Florentiner  Hellenisten  und  die  Erfindung 
der  Monodie,  deren  Übertragung  auf  die  verschiedensten  Musik- 
gattungen zum  Oratorium,  zur  begleitenden  Kantate  und  zu  den 
solistischen,  konzertierenden  und  chorischen  Instrumentalstücken 
führte. 

Diese  Umgestaltung  der  Musik  brach  nicht  wie  ein  Elementar- 
ereignis herein.  Lange  vorbereitende  Zeichen  deuten  eine  Ände- 
rung des  künstlerischen  Empfindens  an.  Wenn  man  von  großen 
italienischen  Festkonzerten  und  Intermedienaufführungen  mit  ge- 
waltigen Orchestermassen  hört1,  wenn  man  liest,  daß  diesem 
Musiker  am  besten  die  begleitete  Vokalmusik  oder  ein  Sologesang 


i  Vgl.  Vogel,  Bibliothek  der  weltl.  Vokalmusik    Italiens   I,  S.  383f.,  und 
Kinkeldey,  a.  a.  0.  S.  167 f. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  69 

zur  Viole  oder  Laute  gefällt,  da  das  Gemüt  durch  diese  Musik 
stärker  ergriffen  werde1,  daß  einem  anderen  wieder  der  Gesang 
zur  Orgel,  Laute  oder  Lyra  mehr  Freude  macht  als  die  kontra- 
punktliche Musik2,  dann  wird  man  die  um  das  Jahr  1600  ein- 
setzende Renaissanceliteratur  als  eine  Erfüllung  der  Ideen  ansehen, 
die  an  Stelle  der  Polyphonie  den  Sologesang,  an  Stelle  der  in 
der  Chormusik  üblichen  breiten  Textbehandlung  und  -Wieder- 
holung den  logischen  Wortakzent  setzen  wollten.  Es  galt,  den 
Wortsinn  und  den  Affekt  der  Tonsprache  klar  und  deutlich  zum 
Ausdruck  zu  bringen  und  auch  rein  instrumentalen  Stücken 
einen  Inhalt  zu  geben,  der  sich  nicht  auf  die  übliche  Struktur  der 
Tanzstücke  oder  die  Übertragungen  vokaler  Werke  beschränkte. 
Eine  Musikliteratur  erstand,  die  sich  in  vollen  Gegensatz  zur 
Polyphonie  der  a  cappella-Zeit  stellte. 

So  verschieden  die  Werke  der  Renaissance:  die  Oper  und 
Monodie,  das  Oratorium  und  die  Instrumentalmusik,  aussehen,  — 
gemeinsam  ist  ihnen  die  Ausführung  des  Basses  auf  einem  Tasten- 
instrument. Der  bezifferte  Baß  oder  Basso  continuo  wird  das 
Fundament  der  Renaissancemusik.  Er  gibt  die  akkordische 
Füllung  der  Musik,  die  harmonische  und  rhythmische  Stütze 
für  Solo  und  Chor. 

Orgel  und  Klavier  waren  schon  früh  zu  Hausmusiken,  Fest- 
konzerten und  Choraufführungen  hinzugezogen  worden,  um  der 
Musik  einen  sicheren  Halt  zu  geben3.  Der  Organist  oder  Klavier- 
spieler begleitete  die  Chorstimmen,  er  gab  die  Harmonien  an, 
die  er  aus  Stimmen  oder  Chorbuch  ablas  oder  vorher  in  Tabulatur- 
schrift   aufgezeichnet   hatte.     Mit   den   zunehmenden   Schwierig- 

1  Castiglione,Gortigiano(1528),s.  Kinkeldey  a.  a.  O.  S.  153.  SethusCal- 
visius  schreibt  in  der  MeXozoua  sive  Melodiae  condendae  ratio  (1592  fol.  I,  2) : 
Etsi  autem  Harmonia  nuda,  ut  videre  est,  in  instrumentis  Musicis,  scienter  et 
perite  ab  artificibus  tractatis,  propter  numerorum  ac  proportionum  rationem, 
quibus  sese  humanis  mentibus  insinuat,  plurimam  in  affectibus  excitandis  exer- 
cet  potentiam:  tarnen  si  accesserit  humana  vox,  quae  sententiam  insignem, 
numeris  Harmonicis  expressam,  simul  accinat,  propter  duplicem,  quam  et  Har- 
monia et  sententia  aliqua  praeclara  gignit,  delectationem,  Melodia  multd 
est  mirabilior,  augustior,  auribusque  pariter  atque 
animoacceptatior. 

2  Zarlino,  Le  Istitutioni  Harmoniche,  Venedig  1588,  II.  Parte,  Cap.  8 — 9, 
Affektenlehre,  s.  besonders  S.  89:  si  pud  comprendere  da  questo,  che  con  mag- 
gior  dilettatione  si  ode  un  solo  cantare  al  suono  dell'  Organo,  della  Lira,  del 
Leuto,  o  di  un  altro  simile  istrumento  .  .  . 

3  Vgl.  die  zitierten  Instrumentenbilder  im  vorigen  Kapitel  S.  66  und  K  i  n- 
k  e  1  d  e  y ,  a.  a.  O. 


70  .  Viertes  Kapitel. 

keiten  der  vielstimmigen  Kirchenmusiken  wurde  aber  das  Par- 
titurspiel nach  dem  Chorbuch  komplizierter  und  das  Absetzen 
in  die  Tabulatur  immer  mühsamer,  so  daß  sich  ein  Breslauer 
Organist  schon  im  16.  Jahrhundert  damit  half,  nur  die  Cantus- 
und  Baßstimme  aufzuzeichnen,  um  danach  den  Chorgesang  zu 
begleiten1.  Diese  Notierung  und  Vereinfachung  des  Partitur- 
spiels, die  sich  nach  den  Forschungen  von  Kinkeldey  häufiger 
findet,  kann  als  Urbild  des  Continuo  angesehen  werden.  Der 
bezifferte  Baß  war  gleichsam  eine  stenographische  Partitur. 
Der  Dirigent  improvisierte  die  vorgeschriebenen  Harmonien  am 
Klavier  und  gab  so  Sängern  und  Musikern  Taktgang  und  Ton- 
höhe an. 

Die  Aufnahme  der  Tasteninstrumente  in  die  Vokalmusik  und 
Oper  hat  die  gesamte  Musikübung  von  Grund  aus  umgestaltet. 
Das  zeigt  sich  schon  im  äußeren  Notenbild:  die  großen  Noten- 
werte,  Longa,  Maxima  und  Brevis,  treten  hinter  den  Halben, 
Vierteln,  Achteln,  Sechzehnteln  zurück,  die  aus  der  Tabulatur 
bekannten  Zweiunddreißigstel  kommen  in  die  Instrumental- 
stimmen2, die  einzelnen  Takte  werden  durch  Taktstriche  ab- 
geteilt. Wie  die  Werke  des  16.  Jahrhunderts  notiert  waren,  ist 
früher  gezeigt  worden.  Das  Auffallende  war  das  Fehlen  der  Takt- 
striche, die  durch  einen  gleichmäßigen  Taktschlag  ersetzt  wurden. 
Trotzdem  war  den  Musikern  der  Gebrauch  der  Taktstriche 
bekannt,  wie  Beispiele  in  den  Lehrbüchern  Agricolas,  Virdungs 
(1511),  Bermudos  (1549)  und  des  Anonymus  aus  dem  16.  Jahr- 
hundert3  beweisen.  In  der  Orgel-,  Klavier-  und  Lautenmusik 
bediente  man  sich  meist  einer  möglichst  genauen  Abgrenzung 
der  Werte  durch  Taktstriche,  Punkte  oder  größere  Zwischen- 
räume. So  sind  in  dem  ältesten  erhaltenen  Denkmal  der  Orgel- 
musik aus  dem  14.  Jahrhundert  die  einzelnen  Takte  durch  Punkte 
genau   abgeteilt4   und   in  Conrad    Paumanns   Fundamentum   or- 


i  Kinkeldey,  a.  a.  O.  S.  191. 

2  Die  Zweiunddreißigstel  kommen  ihrer  kurzen  Dauer  wegen  erst  spät  in 
die  Chorliteratur.  G  a  r  i  s  s  i  m  i  (Ars  cantandi,  1693,  S.  12)  meint:  Sie  werden 
in  den  Singstimmen  »schier  niemals«  und  in  den  Instrumental-Stimmen  selten 
gebraucht.  Nicol.  Stenger  (Manuductio  ad  Musicum  theor.  1659,  S.  12) 
nennt  sie  modern;  Niedt  (Musicalisches  A-B-C,  1708,  S.  17)  erzählt  eine 
hübsche  Historie  von  einem  Hoffagottisten,  der  20  Jahre  in  Diensten  stand, 
ohne  jemals  Zweiunddreißigstel  geblasen  zu  haben.  —  In  der  Sololiteratur  und 
Verzierungslehre  sind  diese  Noten  schon  in  der  Renaissancemusik  heimisch. 

3  S.  o.  S.  59. 

4  Wooldridge,  Early  English  Harmony  from  the  lOth  to  the  15th  Century. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  71 

ganisandi  (1452)  regelmäßig  Taktstriche  gezogen.  Auch  in  Orgel  - 
tabulaturen  und  in  der  Mehrzahl  der  Lautenbücher  findet  man 
oft  die  reguläre  Taktabteilung.  Diese  Notierung  kam  mit  den 
Tasteninstrumenten  in  die  Renaissanceliteratur.  Continuo  und 
Partitur  wurden  durch  Taktstriche  abgeteilt.  Allerdings  findet 
man  die  Striche  nicht  mathematisch  genau  nach  Semibreven- 
gruppen  gesetzt1.  Bald  wechseln  Breventakte  und  Semibreven- 
takte  miteinander,  bald  fehlen  Taktstriche  —  besonders  beim 
Zeilenbruch  —  bald  findet  wieder  innerhalb  der  Taktstriche 
Taktwechsel  statt2.  Man  sieht  deutlich,  daß  die  Striche  zu- 
nächst nur  zur  Erleichterung  des  Notenlesens  gesetzt  sind.  Das 
Notenbild  soll  in  der  Einteilung  leicht  zu  übersehen  sein  und 
über  zusammengehörige  Werte  schnell  orientieren.  Das  Ein- 
tragen der  Taktstriche,  das  Spartieren,  bedeutete  eben  nichts 
weiter  als  ein  rein  mechanisches  Abteilen  nach  »Tempora«  oder 
Zweitaktern.  Sartorius  definiert:  »Tempus  bedeutet  in  der  Mu- 
sica  zween  tactus,  als  wenn  ein  Organist  seine  tabulatur  oder 
ein  Componist  seine  partitur  in  tempora  eintheilet  /  so  machet 
er  allezeit  nach  2  Schlägen  ein  strich  durch  die  Linien:  Wie  auch 
der  Bassus  contmuus  heutiges  tages  in  tempora  distribuirt  wird3.« 
Die  Taktstriche  sind  in  der  Literatur  des  beginnenden  17.  Jahr- 
hunderts lediglich  Orientierungsmarken,  keine  Akzentstriche. 
Deshalb  findet  man  auch  oft  Dreitakter,  die  im  Breventakt  unter- 
gebracht sind,  und  zweitaktige  Rhythmen  im  Dreitakt,  eine  Folge 
des  rein  mechanischen  Spartierens. 


London  1897.  Vol.  I.  Facsimile  Plate  42f.  Zur  Notation  siehe  Joh.  Wolf, 
Zur  Gesch.  d.  Orgelmusik  im  14.  Jahrhundert  (Kirchenmusikalisches  Jahr- 
buch 1899,  S.  14f.).  Über  Taktpunkte  bei  den  Mensuralisten  vgl.  Wolfs  Gesch. 
der  Mensural-Notation,  auch  Seh.  Taktschi.  1908. 

1  Die  Opernpartituren  von  Peri,  Gagliano,  Monteverdi,  Cavalli  und  Cesti 
sind  taktmäßig  notiert.  Die  bezifferten  Baßstimmen  werden  in  der  Regel  mit 
Taktstrichen  notiert,  doch  gibt  es  auch  Stimmen,  in  denen  nicht  gleiche 
Takteinheiten  abgeteilt  werden.  In  Gabriel  Fattorini  da  Faenza  »I  sacri 
concerti  a  due  voci  —  da  cantare  e  sonare  co'l  Basso  generale«  (1615)  ist  der 
Generalbaß  ohne  Taktstriche  geschrieben.  Dagegen  wieder  regulär  in  Fran- 
cesco Guilianis  »Sacri  concerti  ä  1,  2,  3  &  4  voci  con  il  suo  Basso  per  l'Organo« 
(1619):  Stimmen  ohne,  Orgelbaß  mit  Taktstrichen,  die  nicht  immer  gleiche 
Taktgrößen  umfassen.    Vgl.  hierzu  Kinkeldey,  a.  a.  O.   S.  204  und  S.  HOf. 

2  Vgl.  Frescobaldis  Tokkaten,  P  e  r  i  s  Euridice,  Cipriano  da 
R  o  r  es  Madrigale  (Partitur  1577),  Frescobaldis  Canzoni  alla  Francese  (1645, 
Partitur  in  Semibreventakten)   u.  v.  a. 

3  Institutionum  musicarum  traetatio  nova  et  brevis.  1635,  fol.  K.  6.  Ebenso 
Fuhrmann,    Musicalischer  Trichter.     1706,  S.  82. 


72  Viertes  Kapitel. 

In  den  Singstimmen  blieb  man  bei  der  alten  Notierung  ohne 
Taktstriche.  Man  wollte  die  bewährte  freie  Textakzentuierung 
nicht  durch  die  Taktabgrenzung  einengen.  Noch  in  den  Werken 
von  Heinrich  Schütz,  Michael  Bach,  Tunder  und  Buxtehude 
findet  man  die  Vokalstimmen  zuweilen  ohne  Taktstriche  geschrie- 
ben, während  die  Instrumentalstimmen  genau  abgeteilt  sind.  Um 
den  Choristen  das  Singen  nach  solchen  ataktisch  notierten  Stim- 
men zu  erleichtern,  setzte  man  häufig  zur  Orientierung  über 
die  zugrunde  liegende  Takteinheit  —  »ad  discernendum  tactum« 
sagt  Prätorius1  —  kleine  Striche  zwischen  die  Noten  oder  an  die 
erste  Zeile  des  Systems.  Solche  Einzeichnungen  habe  ich  in 
Handschriften  des  17.  Jahrhunderts  oft  gefunden,  z.  B.  in  dieser 
Form:2 


i-pEpEÖ^^P 


wie  es  war  von  Anfang  jetzt  und  im 


Prätorius  hat  diese  Striche  an  die  oberste  oder  unterste  Zeile 
gesetzt  und  rechtfertigt  seine  Methode  mit  diesen  Worten :  »Dieweil 
auch  in  etlichen  Cantionibus  vnd  Gesängen  /  sonderlich  aber  in 
den  Symphonien  ohne  Text  /  viel  Fusen  (^ )  nach  einander  ge- 
setzt /  vnd  dahero  /  wie  denn  sonderlich  auch  in  den  Propor- 
tionibus  primo  intuitu,  wegen  des  tacts  gar  leichtlich  irrungen 
vorfallen  können:  So  erachte  ich  nicht  vnnötig  seyn  /  daß  do- 
selbst  vnten  oder  oben  an  kleine  Strichlin  vnd  Virgulae  (gleich- 
sam in  meiner  Terpsichore3  zu  finden)  zwischen  jedem  tact  ge- 
setzt werden  /  damit  man  sich  in  der  eyl  vmb  so  viel  besser  / 
nach  dem  Tact  richten  /  vnd  wo  man  etwa  darauss  kömpt  / 
desto  füglicher  vnd  eher  sich  wiederumb  in  den  Tact  finden  könne. 
—  Vnd  wiewol  ich  hernach  in  etlichen  Italianischen  Autoribus 
befunden  /  daß  sie  die  Tactus  zu  vnterscheyden  /  der  Puncten 
zwischen  den  Noten  sich  gebrauchen  /4,  so  kan  ich  doch  noch 
zur  zeit  bey  mir  nit  befinden  /  welches  vnter  diesen  beyden  am 

1  M.  Prätorius,  Polyhymnia  caduceatrix  1619.  —  Generalbaßstimme. 
Ordinantz  fol.  A.  III,  Nr.  12. 

2  Aus  der  Polyhymnia  von  Prätorius,  Bassus  (In  meinem  Besitz).  S.  auch 
die  Löbauer  Musikalien  in  d.  Kgl.  Bibl.  zu  Dresden  (Handschriften)  und 
Christian  Hoffmann,  Musica  synoptica  1693,  S.  11  u.  a. 

3  Terpsichore.      Musarum    aoniarum    quinta   1612,  Wolfenbüttel. 

*  Dies  Punktabteilen  habe  ich  in  italienischen  Werken  des  17.  Jahrhunderts 
nicht  gefunden.  Wohl  aber  war  die  Praxis  in  früheren  Jahrhunderten  verbreitet, 
s.  o.  S.  37  und  S.  70. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  73 

bequemesten  zu  gebrauchen;  Sintemal  die  Puncta  offtmals  /  als 
rechte  zu  den  Noten  gehörige  Puncta  angesehen  werden.  .  .  Wie 

allhier  zu  sehen: 

i 


In  seinen  Kompositionen  hat  sich  Prätorius  zu  den  Strichen 
entschlossen,  die  er  auch  in  Drucke  einfügen  ließ2. 

Durch  diese  Orientierungsstriche  sollte  auch  äußerlich  die 
freie  Rhythmik  der  vokalen  Literatur  von  der  Taktmetrik  der 
Instrumentalkunst  unterschieden  werden,  denn  die  selbständige 
Instrumentalmusik  kennt  keine  Rhythmik  im  Sinne  der  a  cappella- 
Kunst,  sondern  nur  den  Gruppentakt,  der  stets  die  gleiche  Zahl 
von  Notenwerten  in  einem  Takt  eint,  und  der  den  regelmäßigen 
Wechsel  von  betonten  und  unbetonten  Taktteilen  aufstellt.  Die 
frühe  Instrumentalmusik,  soweit  sie  nicht  Übertragungen  vokaler 
Literatur  bringt,  beruht  auf  diesem  Konstruktionsprinzip.  Das 
zeigen  die  nach  Taktstrichen  abgeteilten  Instrumentalsätze,  die 
von  Aubry  mitgeteilten  mittelalterlichen  Tanzstücke3,  die  Musik- 
werke der  Virginalisten  und  die  Suitenmusik.  Bei  jeder  reinen 
Instrumentalmusik,  bei  jeder  selbständigen  Führung  der  Instru- 
mente ist  eine  regelmäßige,  taktische  Gruppierung  notwendig. 
Diese  Struktur  der  Instrumentalmusik,  die  die  Rhythmik  der  a 
cappella-Zeit  schon  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts 
beeinflußt  hat4,  setzt  sich  in  der  Renaissancezeit  in  allen  Musik- 
formen durch.  Wann  dieser  Prozeß  der  Umbildung  der  alten 
freien  Rhythmik  in  die  Gruppentaktmetrik  zum  Abschluß  kommt, 
läßt  sich  nach  Jahreszahlen  nicht  abgrenzen.  Am  Beginn  des 
17.  Jahrhunderts  rechnet  man  in  der  Kirchenmusik-  und  Solo- 
gesangsliteratur überall  mit  einem  freien  rhythmischen  Vortrag, 
während  weltliche  Chöre  und  Instrumentalsätze  auf  die  regel- 
mäßige Folge  von  schweren  und  leichten  Taktteilen  gestellt  sind. 
Gegen  Ende  des  Jahrhunderts  läßt  sich  diese  Scheidung  nicht 
mehr  verfolgen:  Die  Chorstimmen  werden  in  der  Regel  nach 
Taktstrichen  abgeteilt;  Taktschwerpunkt  und  Textbetonung  fallen 
zusammen. 


1  Prätorius,  Syntagma  musicum  III,  V,  S.  34/35. 

2  S.  o.  Terpsichore  und  auch  Polyhymnia  caduceatrix. 

3  Pierre  Aubry,    Estampies  et  Danses  royales.     Paris  1907. 

4  S.  Seh.  Taktschi.  1908. 


74  Viertes  Kapitel. 

Auch  in  der  Taktlehre  spiegelt  sich  diese  Umgestaltung  der 
Rhythmik.  Zeichen,  Vorschriften  und  Regeln  über  die  Dauer 
der  Noten  wurden  hinfällig,  sobald  ein  durch  Taktstriche  be- 
grenzter Takt  aufgestellt  war,  der  die  Einteilung  der  Noten  regelte. 
Die  verwickelten  Proportionslehren  der  Alten  verschwinden  denn 
auch  im  17.  Jahrhundert  aus  Theorie  und  Praxis.  Nur  die  Per- 
fektion zweier  nacheinander  gesetzter  Breven  oder  Semibreven 
bleibt  noch  längere  Zeit1.  Als  sich  auch  dieser  Rest  der  alten 
Zeit  verliert,  ist  unser  modernes  Notenbild  erreicht.  Man  teilt 
die  Notenwerte  in  zwei  Unterteilungen,  die  Brevis  in  zwei  Semi- 
breven, die  Semibrevis  in  zwei  Minimen  u.  s.  f.  Wir  finden  also 
nur  noch  zweiteilige  Notenwerte,  die  zwischen  den  Taktstrichen 
in  Gruppen  zusammengefaßt  werden2. 

Von  den  alten  Taktzeichen  rettet  sich  die  Mehrzahl  in  die 
neue  Zeit.  Sie  bezeichnen  aber  nicht  mehr  die  Notendauer  nach 
dem  geregelten  Taktschlag,  sondern  orientieren  über  Anzahl  und 
Dauer  der  in  einem  Takt  vorkommenden  Notenwerte.  Ihre  An- 
wendung geschieht  anfangs  ohne  festes  System.  Frescobaldi 
verteilt  z.  B.  unter  dem  Zeichen:  03/2  einmal  sechs  Halbe  auf 
einen  Takt,  dann  unter  dem  Zeichen:  C  ZU  regulär  drei  Minimen, 
ebensoviele  aber  auch  unter  dem  Zeichen  £3/2.3  Prätorius  stellt 
für  den  Dreitakt  u.  a.  folgende  Varianten  auf:  3  .  3/i  •  (£3  .  (j)3  . 
0  3/i-03/2-undG3.O3.C3/2-O3/2-©-C3.C3/2.*  Hierbei 
deutet  die  Punktangabe  im  Kreis  oder  Halbkreis  noch  auf  die 
alte  Prolation.  Aber  schon  Joh.  Kretzschmar  (1605)  sagt:  »Heu- 
tiges tages  brauchen  die  Musici  diese  zeichen  gantz  vnd  gar 
ohne  vnterscheid6.«  Auch  die  Taktvorzeichnungen  C  und  (^  für 
den  geraden  Takt  werden  nicht  streng  geschieden,  was  Prätorius 
aus  der  Literatur  seiner  Zeit  genau  nachweist6;  für  uns  ist  daraus 

1  Sie  wird  erwähnt  von  Chr.  Thom.  Wallis  er,  Mus.  fig.  praec.  1611, 
S.  24/25;  Wolfgang  Hase,  Gründliche  Einführung  in  die  edle  Music, 
1657,  S.  45;  Georg  F  al  c  k,  Idea  boni  cantoris  1688,  S.  54/55;  Joh.  Rud. 
Ahle,  Kurze  doch  deutliche  Anleitung  zu  der  Singekunst,  1690,  cap.  IX; 
Nie.  S  t  e  n  g  e  r,  a.  a.  O.  S.  21   u.  v.   a. 

2  Die  Notenschrift  hat  durch  diese  Werteinteilung  an  Klarheit  verloren. 
Die  Dreiteiligkeit  der  Noten,  die  früher  von  dem  vorgezeichneten  Taktzeichen 
geregelt  wurde,  kann  nur  noch  durch  Augmentationspunkte  erreicht  werden 
oder  durch  Triolen-  und  Sextolenbildungen. 

3  Frescobaldi,  Toccate  e  Partite  d'intavolatura  di  Cimbalo,  1614, 
S.  63,  67,  77,  79  usw. 

4  Synt.  mus.  III,  S.  52. 

5  Joh.  Kretzschmar,  Musica  Latino-Germanica,  Leipzig  1605,   B.  8. 

6  Ebenda,  S.  51.  Die  kritischen  Neuausgaben  alter  Musik  geben  einen  Einblick 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  75 

ersichtlich,  daß  die  Werke  des  17.  Jahrhunderts  nicht  nach  der 
Regel:  ft  =  alla  Breve,  C  —  a^a  Semibreve  zu  übertragen  sind, 
sondern  daß  aus  der  Betrachtung  von  Text  und  Notenbild  von 
Fall  zu  Fall  festzustellen  ist,  wo  man  ein  langsames  oder  ge- 
schwindes Tempo  vorzuschreiben  hat1.  Dabei  werden  Charakter 
des  Werkes  (Motette  oder  Madrigal,  Kirchenmusik  oder  weltliche 
Musik)  und  das  verwendete  Notenmaterial  (lange  oder  kurze 
Notenwerte)  den  Ausschlag  geben,  denn  getragene  Stücke  wurden 
in  langen,  lebhafte  in  kurzen  Werten  notiert. 

Von  den  alten  Taktarten  bleiben: 

»1.  Der  grosse  /  welcher  ist /wenn  eine  kurtze  [Brevis]  mit 
einem  Tact  abgemessen  wird  /  nach  dem  es  der  Modus  vnd  das 
Tempus  zulest2  /  diesen  gebrauchen  die  Musici  in  den  alten 
langsamen  Gesängen. 

2.  Der  kleine  /  welcher  ist  /  wenn  eine  halb  kurtze  [Semi- 
brevis]  oder  zwo  kleine  [Minimen]  mit  einem  Tact  abgemessen 
werden  /  diesen  gebrauchen  die  Musici  in  den  newen  geschwinden 
Gesängen. 

3.  Der  Sprungtakt3  /  wenn  dreyhalb  kleine  [Semiminimen] 
oder  drey  kleine  [Minimen]  oder  dreyhalb  kurtze  [Semibreven] 
mit  einem  Tact  abgemessen  werden.  Vnd  das  geschieht  in  Trip- 
peln [Dreitaktern]4.« 

Zu  diesen  Taktarten,  dem  Tactus  maior  (maggiore),  dem  Tactus 
minor  (minore)  und  den  Tripeltakten  (Tripla  maggiore,  minore, 
Sesquialter)  kommt  noch  als  Unterteilung  der  Sextupla  (6/2,  6/4)-5 
Andere  teilen  die  Takte  in  gerade  und  ungerade  oder  gleiche  und 
ungleiche,  in  spondäische  und  trochäische,  oder  schlechte  (schlichte) 
und  Tripeltakte  (Proporzientakte).    Im  Prinzip  sind  es  die  gleichen 

in  diese  Praxis  der  Taktvorzeichnung.  Unterschiede  im  Tempo  werden  mit 
C,  und  (£  nicht  sicher  bestimmt.  S.  Hassler,  H.  L. :  »Concentus«  (Denkm. 
d.  Tonk.  in  Bayern,  Bd.  V,  2,  Vorw.  S.  XXX);  Scheidt,  »Tabulatura  nova« 
(Denkm.  d.  Tonk.,  Bd.  I,  S.  X),  Joh.  Hermann  Schein,  (Prüfer,  Ges. -Aus- 
gabe I,  S.  VIII);  Schütz,  Ges.-Ausgabe  I,  Vorw.  S.VII. 

1  Prätorius ,  Synt.  mus.  III,  51 :  »Es  kan  aber  ein jederden  Sachen  selbsten 
nachdencken  vnd  ex  consideratione  Textus  et  Harmoniae  observiren,  wo  ein 
langsamer  oder  geschwinder  Tact  gehalten  werden  müsse.« 

2  S.  o.  S.  37. 

3  Er  wird  »fast  tantzende  vnnd  sprungsweise  gesungen  oder  abgetheilet«« 
Chr.  Demantius,  Isagoge  artis  musicae  1632,  fol.  C.  2. 

4  Joh.  Kretzschmar,  a.a.O.  B  7/8. 

5  Prätorius,  Synt.  mus.  III,  S.  73,  ebenda  Beispiele  für  den  Sechstakt 
(S.  77).  Die  Quellen  für  die  aufgestellte  Takttheorie  bilden  die  im  Verlauf  der 
Arbeit  zitierten  Theoretiker  des  17.  Jahrhunderts. 


76  Viertes  Kapitel. 

Taktarten,  wie  in  der  a  cappella-Zeit.  Doch  führen  die  Aufstellung 
des  Gruppentakts  und  die  geregelte  Geltung  der  Noten  innerhalb 
der  Taktstriche  zu  einem  weiteren  Ausbau  und  zu  einem  Fixieren 
der  zweckdienlichsten  Taktarten.  So  wird  der  kleine  Tripel- 
takt (3/2)  beim  Vorherrschen  der  Viertel  zum  Sextupla  oder  6/4. 
Dieser  wird  bei  weiterer  Teilung  zum  12/8-Takt,  den  bereits  Fres- 
cobaldi  vorschreibt1.  Der  große  Tripeltakt  kann  wieder  in  einen 
6/2-  und  12/4-Takt  zerlegt  werden.  Ebenso  kommt  man  im  geraden 
Takt  durch  Abteilen  in  kleinere  Werte  zum  4/4-,  4/8-und  2/4-Takt. 
Mit  dieser  Gruppierung  und  Abgrenzung  des  Gruppentakts  sind 
die  modernen  Taktarten  gefunden,  wenn  sich  auch  die  Theoretiker 
über  Namen  und  Aufstellung  der  Spezialtakte  nicht  einig  sind. 
Aber  der  Sinn  ihrer  Takttheorie,  mögen  sie  nun  von  Subsequiterza, 
Tripolina  oder  Quadrupla  reden,  ist  der  gleiche   wie  heute.    Die 

Figuren:  C  3/2,  C  3/4,  C  3/s,  C9/^  C9/8,  C9ie,  C6/4>  C6/s,  C  12/8> 
C12/i6  gehorchen  alle  demselben  Gesetz:  der  Zähler  gibt  die 
Anzahl,  der  Nenner  den  Wert  der  in  einem  Takt  vereinten  Noten  an2. 
Andere  Zeichen  wie  4/3,  8/12  u.  ähnl.  erklären  sich  aus  der  In- 
version. Vorher  gebrauchte  Taktarten  werden  umgeschrieben; 
kommt  nach  einer  Partie  im  3/4-Takt  das  Zeichen  4/3  vor»  so 
heißt  das:  man  soll  4  Dritteile  des  vorigen  Taktes  in  einem 
Takt  spielen.  Da  der  dritte  Teil  des  3/4-Takts  ein  Viertel  aus- 
macht, so  lautete  der  neue  Takt:  4/4.  Ein  8/12-Takt  nach  einem 
12 18  würde  demnach  den  8/8-  oder  4/4-Takt  ergeben3. 

Takt-  und  Zähleinheit  ist  im  17.  Jahrhundert  die  Semibrevis. 
Sie  gilt  einen  Takt  oder  Schlag4. 

Durch  die  genaue  Takteinteilung  und  das  übersichtlich  ange- 
ordnete Notenbild  wurden  das  Zusammenspiel  der  Instrumente  und 
die  Direktionsführung  wesentlich  erleichtert.  Der  Kapellmeister, 
der  bei  einer  Opernaufführung  vom  Klavier  aus  dirigierte,  konnte 
die  Solostimmen  und  Instrumentalsoli  leicht  verfolgen,  im  Tempo 
nachgeben  und  auch,  wo  es  nötig  wurde,  durch  Anschlag  der  Har- 
monien oder  durch  Winke  die  Spieler  und  Sänger  unterstützen, 
ohne  den   Überblick  über  den  Gang  der  Stimmen  zu  verlieren. 

1  A.  a.  O.  secondo  libro,  Toccata  prima,  S.  3. 

2  Nach  Bononcini,    Musico  prattico  1673,  S.  llf.,  S.  21f. 

•     3  Die  Taktinversion  wird  in  Frescobaldis  Tokkaten  oft  angewandt. 

4  Otto  Sigfr.  H  a  r  n  i  s  c  h,  art.  mus.  delineatio  1608,  S.  70.  Chr.  D  e  m  a  n  - 
t  i  u  s ,  a.  a.  O.  fol.  B.  V.  Fredericus  Funccius,  Janua  lat.  germ. 
(1680),  cap.VI.  Horatio  Scaletta,  Scala  di  musica  1610,  S.  3.  Diruta, 
sec.  parte  del  Transilvano  1609,  IV,  S.  25.  A  n  d  r.  Crappius,  mus.  art. 
elementa  1608,  fol.  A.  6  u.  v.  a. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  77 

Das  Orchester,  das  der  Dirigent  einer  Oper  leitete,  war  in  der 
Regel  nicht  stark  besetzt.  Peris  »Euridice  «  wurde  von  einem  Gravi- 
cembalo,  einer  Chitarrone,  einer  großen  Lira  und  einer  großen 
Laute  begleitet,  also  lediglich  durch  Akkordinstrumente,  die  hinter 
der  Szene  aufgestellt  waren1.  Gagliano  verlangt  in  der  »Dame« 
»4  Viole  da  braccio  ö  da  gamba<<  für  die  Begleitung  des  Apollo- 
gesangs2, und  Guidotti  schreibt  in  der  Ausgabe  der  »Rappresen- 
tazione«  des  Cavalieri,  daß  sich  das  Orchester  nach  der  Größe 
des  Saales  richten  solle;  eine  große  Lyra,  Clavicembalo,  Chitar- 
rone oder  Theorbe  würden  gut  wirken,  oder  auch  eine  sanfte  Orgel 
mit  einer  Chitarrone.  Der  Komponist  halte  es  für  gut,  wenn  sich 
die  Wahl  der  Instrumente  nach  dem  vom  Sänger  gewünschten 
Effekt  richte3.  Bottrigari  erzählt,  daß  am  Hofe  zu  Ferrara  viele 
Instrumentalvirtuosen  angestellt  waren:  Posaunen-,  Kornett-, 
Flöten-,  Schalmeien-,  Violen-,  Zither-,  Lauten-,  Harfen-  und 
Cembalospieler4;  in  Florenz  ließ  man  einmal  ein  Intermedio 
mit  vier  »Gravicembali  doppi«  begleiten5,  und  in  den  von  Mal- 
vezzi  edierten  Intermedien  werden  für  alle  Stücke  drei  Organi 
di  legno  verlangt6.  Wir  finden  in  allen  Orchestern  eine  große 
Zahl  von  Akkordinstrumenten,  die  die  Ausführung  des  Continuo 
übernahmen,  und  daneben  verhältnismäßig  wenig  melodieführende 
Instrumente.  Eine  Ausnahme  macht  nur  das  Orfeo- Orchester 
Monteverdis,  das  neben  zwei  Gravicembali,  einer  Arpa  doppia, 
zwei  Chitarroni,  zwei  Organi  di  legno,  einem  Regale:  zwei  Con- 
trabassi  de  Viola,  zehn  Viole  da  brazzo,  zwei  Violini  piccoli  alla 
Francese,  drei  Bassi  di  gambi,  vier  Tromboni,  zwei  Cornetti,  ein 
Flautino,  eine   hohe    und    drei  gedämpfte   Trompeten    aufstellt, 


1  Peri,  Euridice,  »Ai  Lettori«:  Jacobo  Corsi  ...  sono  un  Gravicembalo, 
e  il  Sig.  Don  Grazia  Montalvo,  un  Chittarone;  Messer  Gio.  Battista  dal  Violino, 
una  Lira  grande;  e  Messer  Giov.  Lapi  un  Liuto  grosso. 

2  Gagliano,  »Dafne«  (1608),  Vorrede:  Non  voglia  anche  tacere,  che 
dovendo  Apollo  nel  canto  de  terzetti  »Non  curi  la  mia  pianta,  ö  fiamma,  ö  gielo« 
recasi  la  lira  al  petto  .  .  .  e  necessario  far  apparire  al  Teatro,  che  dalla  lira 
d'Apollo  esca  melodia  piü  che  ordinaria,  perö  pongansi  quattro  sonatori  di 
viola  (abbraccio,  ö  gamba  poco  rilieva)  in  una  delle  strade  piü  vicina  .... 

3  Vogel,  a.  a.  O.  I,  S.  151 :  una  Lira  doppia,  un  Clavicembalo,  un  Chitarrone, 
ö  Tiorba  che  si  dica,  insieme  fanno  buonissimo  effetto:  come  ancora  un  Organo 
suave  con  un  Chitarrone.  Et  il  Signor  Emilio  [Cavaliere]  laudarebbe  mutare 
stromenti  conforme  all'  effetto  del  recitante. 

4  II  Desiderio,  1599.  Ausg.  in  der  Kgl.  Bibl.  zu  Brüssel.  Obige  Angabe  nach 
Lavoix,l'hist.  de  l'instrumentation,  S.  173.   Vgl.  Kinkeldey ,  a.  a.  O.  S.  158. 

5  Kinkeldey,  a.a.O.  S.  169. 

6  Vogel,  a.a.O.  I,  S.  383ff.    Textwiedergabe. 


78  Viertes  Kapitel. 

wozu  noch  einige  in  der  Partitur  näher  angeführte  Instrumente 
kommen.  Ein  gewaltiges  Orchester,  das  mit  genialer  Virtuosität 
verwendet  wird.  Klangwirkungen  wie  die  von  fünf  Bratschen, 
zwei  Cembali,  drei  Chitarronen  und  einem  Kontrabaß,  oder  von 
Clavicembalo ,  zwei  Chitarronen  und  zwei  Violini  piccoli  hinter 
der  Szene1  sind  für  diese  Zeit  überraschend  und  als  dramatisches 
Ausdrucksmittel  durchaus  Monteverdis  Eigentum.  Aber  das 
Orfeo-Orchester  machte  keine  Schule.  Die  Cavalli-  und  Cesti- 
Zeit  hielt  sich  an  kleine  Besetzungen  und  intime  Wirkungen. 

Aus  den  Instrumentengruppen  schält  sich  ein  orchestraler 
Kern  heraus,  der  weniger  dem  Gabrielischen  Sinfonieorchester 
und  dem  »Orfeo«  folgt,  als  der  Instrumentenverteilung  in  den 
Kammersonaten  und  Instrumentalkonzerten.  Die  durchschnitt- 
lich drei-  bis  fünfstimmigen  Sinfonien  der  venetianischen 
Opern  geben  etwa  das  Grundmaß  für  die  Instrumentenverwendung 
ab,  nur  müssen  wir  viele  Akkordinstrumente  für  die  Baßaus- 
führung hinzurechnen2.  Unter  den  Baßinstrumenten,  die  den 
Continuo  führen,  sind  Cembalo,  Theorbe,  Laute,  Chitarrone  die 
wichtigsten3.  Von  Streichinstrumenten  sind  alle  Formen  und 
Gattungen  der  Violen  vertreten4,  unter  ihnen  die  Diskantviola, 
die  im  Laufe  des  17.  Jahrhunderts  durch  die  Violinen  ersetzt 
wird.  So  wird  in  Landis  »Alesio«  eine  Sinfonie  von  drei 
Violinen  gespielt5,  in  Cavallis  »Statira«  gibt  es  ein  »Lamento 
di  violini«6,  bei  Domenico  Freschi  eine  »sinfonia  per  due 
violini  e  Organo«7,  und  Rossi  überschreibt  die  Sinfonie  zur 
»Erminia«:  »quatro  Violini  con  Basso  continuo  per  tutti  gli  in- 
strumenti«8.     Weiter  werden  noch   Flöten,    Hörner,   Zinken  und 


1  Das  Spiel  hinter  der  Szene  ist  bei  Cavalieri,  den  Florentinern  und  in  den 
Intermedien  bereits  gebräuchlich. 

2  Vgl.  hierzu:  Taddeo  Wiel,  J  Godici  Musicali  Gontariniani  del  Secolo 
XVII,  Venedig  1888. 

3  S.  o.  In  Freschis  »Berenice  vendicativa«  ist  sogar  ein  »Coro  di  Cembali« 
genannt.    (Wiel,  Nr.  46.) 

4  Cavalli  schreibt  in  »Le  Nozze  di  Teti  e  di  Peleo«  eine  »sinfonia  di  viole«, 
Carlo  Pallavicino  ein  »Lamento  con  viole«  und  im  »Enea«  ein  »pezzo  con 
accomp.  di  viole  (e  basso).«  Wiel,  a.  a.  O.  Nr.  15,  58,  62. 

5  »Le  Sinfonie  de'  Violini  sono  ä  tre  voci,  e  quasi  sempre  fanno  armonia  per- 
fetta  da  se;  mä  per  accidente  vi  sono  Bassi  sotto,  i  quali  tal  volta  caminano 
con  uno  de'  Soprani  d  in  ottave,  ö  in  quinte  .  .  .  Vogel,  a.  a.  O.  I,  S.  345. 

6  Wiel,  a.  a.  O.  Nr.  22. 

7  Ebenda,  Nr.  92. 

8  H.  Goldschmidt,  Das  Orchester  der  italienischen  Oper  im  17.  Jahr- 
hundert.    Sammelb.  der  I.  M.-G.  II,  1900,  S.  36. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  79 

für  besondere  Effekte  bei  Festmusiken  und  Kriegsszenen  auch 
Trompeten  und  Schlaginstrumente  angewandt1.  Eine  genaue 
Angabe  über  die  Verteilung  der  Instrumente  wird  von  den  Kom- 
ponisten selten  gegeben.  Oft  genügt  ein  bezifferter  Baß  für  alle 
Instrumente.  Einzelne  Stücke,  wie  der  berühmte  Satz  des  Tri- 
flauto  in  Peris  »Euridice«,  Monteverdis  geniale  Sinfonien  und 
Tokkaten  im  »Orfeo«,  viele  Sätze  in  den  Venetianeropern  sind 
in  Partitur  geschrieben,  doch  ist  die  Verwendung  der  Instrumente 
aus  den  Noten  nicht  ohne  weiteres  abzulesen.  Die  Instrumente 
wirken  bald  selbständig  in  Ritornellen,  Instrumentalsätzen  oder 
Begleitungen  mit,  bald  dienen  sie  zur  Verstärkung  von  Chor- 
stimmen. Zuweilen  ist  ihnen  der  Weg  überhaupt  nicht  vorge- 
zeichnet, oder  es  sind  über  einer  Baßstimme  mehrere  Instrumente 
zur  Ausführung  der  Musik  genannt.  Diese  Praxis  erklärt  sich 
aus  der  Kunst  des  freien  Improvisierens.  Ein  Musiker,  der  im 
Opernorchester  mitwirkte,  mußte  über  dem  gegebenen  Baß  einen 
Kontrapunkt  spielen,  Diminutionen  anbringen  oder  auf  einem 
Akkordinstrument  die  vorgezeichneten  oder  durch  das  Notenbild 
verlangten  Harmonien  greifen.  Den  Continuospielern  lag  nur  die 
Baßstimme  vor,  zuweilen  auch  Solo-  und  Baßstimme  auf  zwei 
Systemen2.  Der  Spieler  folgte  allein  dem  Baß,  der  bei  der 
Aufführung  stets  stark  besetzt  war,  und  seinem  Gehör,  denn  der 
Kapellmeister  leitete  die  Gesänge  nicht  nach  einem  gleichmäßigen 
Taktschlag;  er  folgte  dem  Solisten  und  bestimmte  das  Tempo 
nach  den  in  der  Musik  ausgedrückten  Affekten.  Darauf  werde 
ich  noch  zurückkommen. 

Über  die  Methode  des  Improvisierens,  die  der  Kapellmeister 
vollständig  beherrschen  mußte,  haben  wir  nicht  viel  Nachrichten. 
Die  Vorreden  der  Opernwerke  geben  nur  wenig  Einzelheiten, 
und  die  Ansichten  von  Nutzen  und  Nachteil  des  Continuo,  wie 
sie  Komponisten  von  Kirchenwerken,  Madrigalen  und  Kanzonen 
aufstellen3,  bringen  keine  rechte  Klarheit  in  die  eigentliche  Praxis. 
Am  ausführlichsten  behandelt  Agostino  Agazzari  das  Spiel  über 
dem  Continuo  in  dem  schon  in  alter  Zeit  oft  zitierten  Kapitel: 


1  Vgl.  Cesti,  Porno  d'oro  (Denkm.  d.  Tonk.  in  Österreich  Bd.  III  und 
IV).  Zu  den  Trombensignalen,  wie  sie  im  4.  Akt,  Szene  14,  oder  im  2.  Akt, 
Szene  14  vorkommen,  wird  man  auch  Pauken  zugezogen  haben. 

2  Vgl.  die  von  Goldschmidt  gefundenen  Orchesterstimmen,  beschrieben 
in  den  Sammelb.  der  I.  M.-G.  II,  1900.  S.  23. 

3  Kinkeldey  (a.a.O.)  gibt  in  Anhang  II  eine  Liste  über  diese  Quellen. 


80  Viertes  Kapitel. 

»Vom   Instrumentenspiel  nach   dem   Continuo  und  vom   Instru- 
mentengebrauch«1. 

Nach  Agazzari  teilen  sich  alle  Instrumente  in  zwei  Gruppen, 
in  die  Fundament-  und  Ornamentinstrumente.  Zu  den 
Fundamentinstrumenten  gehören:  Orgel,  Gravicembalo,  Laute, 
Theorbe,  Harfe;  Prätorius  übersetzt2:  »Fundament-Instrument 
seynd  diese  /  so  alle  voces  oder  Stimmen  eines  jeden  Gesangs 
führen  vnd  begreiffen  können  /  vnd  also  das  gantze  Corpus  vnd 
vollkommene  Harmony  aller,  so  wol  der  mittel-  als  vnterstimmen 
oder  parteyen  so  wol  in  Vocali  als  Instrumentali  Musica  auff  sich 
erhalten;  Als  da  seynd:  Orgeln  /  Positiff,  Regalwerck  /  starcke 
doppel-  drey-  vnd  vierfache  Clavicymbel.  Vnd  hieher  können 
auch  die  Spinetten  /  Lauten  /  Theorben  /  doppel  Harffen  /  grosse 
Cithern  /  Lyren  etc.  [gerechnet  werden].  Wenn  man  sie  als 
Fundament-Instrumenta,  meistentheils  aber  nur  zu  einer  eintzigen, 
zwo  oder  dreyen  Stimmen  in  einer  stillen  vnd  eingezogenen  Musik 
gebraucht.«  Ornamentinstrumente  werden  die  genannt,  »die 
in  einen  Gesang  /  gleichsam  als  mit  schertzen- . . .  vnd  contrapunc- 
tiren  die  Harmony  lieblicher  vnd  wolklingender  zu  machen  / 
Item  /  den  Gesang  zu  exorniren  vnd  zu  ziehren  adhibiret  wer- 
den; Das  sind  alle  einfache  Instrumenta,  welche  nur  eine 
eintzige  Stimme  von  sich  geben  vnd  zu  wege  bringen  können. 
Vnd  werden  dieselbige  in  .  .  .  Blasende  /  als  Zincken  /  Flöiten  / 
Posaunen  /  Fagotten  etc.  vnd  Besaittete  Instrument,  als 
Geigen  /  etc.  abgetheilet.  .  .  .  Vnd  zu  diesen  Ornament  Instru- 
menten werden  auch  .  .  .  die  Spinetten  /  Lautten  /  Theorben 
etc.  (wenn  sie  nicht  als  Fundament  Instrumenta,  sondern 
allein  zur  zier  vnd  verfüllung  der  Mittelpartheyen  gebraucht) 
vom  A.  Agazzari  referiret«3.  Man  unterschied  Instrumente, 
die    den    Baß    ausführen ,   und    Ornamentinstrumente ,    die   selb- 


1  Del  suonare  sopra  il  basso  con  tutti  stromenti  e  uso  loro  nel  conserto, 
im  Bassus  zu:  »Sacrae  Cantiones«  von  1609,  abgedruckt  bei  Kinkeldey, 
a.  a.  0.  Anhang  I. 

2  Prätorius,  Synt.  mus.   III,  Cap.   IV,  S.  139f. 

3  Agazzari  schreibt:  Come  ornamento  sono  quelli,  che  scherzando,  e 
contrapontegiando,  rendono  piu  aggradevole,  e  sonora  l'armonia.  Über  die 
Blasinstrumente  denkt  Agazzari  nicht  wie  Prätorius:  Di  questi  secondi  [stro- 
menti di  fiato]  (eccetuando  l'Organo)  non  diremo  cosa  alcuna,  per  non  esser 
in  uso  ne'  buoni  e  dolci  conserti,  per  la  poca  unione  con  quei  di  corde,  e  per 
l'alterazione  cagionato  loro  dal  fiato  umano,  se  ben  in  conserti  strepitosi,  e  grandi 
si  meschiano.  Er  gibt  aber  zu,  daß  die  Instrumente  sehr  gut  geblasen  werden 
und  im   Konzert  sehr  gut  wirken  können. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  81 

ständig  über  dem  Continuo  kontrapunktieren.  Zwischen  beiden 
Gruppen  stehen  Lauten,  Theorben  usw.,  die  bei  kleinen  Besetzun- 
gen als  Akkord-Instrumente  gelten,  bei  größeren  als  verzierende, 
kontrapunktierende.  Von  den  Spielern  der  Harmonieinstru- 
mente verlangt  Agazzari  vollkommene  Beherrschung  der  Musik- 
theorie und  des  Kontrapunkts,  gutes  Instrumentenspiel,  Kenntnis 
des  Intavolierens  (derTabulatur-Einrichtung)  oder  der  Partitur  und 
ein  gutes  musikalisches  Gehör,  um  dem  Solisten  leicht  nachgeben 
und  folgen  zu  können.  Die  Ornamentinstrumente,  »welche  auff 
mancherley  weise  mit  den  Stimmen  variiret  vnd  vermischet 
werden  /  zu  keinem  andern  ende  /  als  das  sie  die  selben  Zieren  / 
Schmücken  vnd  gleichsam  als  Condiren  vnd  Würtzen«  müssen  sich, 
wie  Prätorius  übersetzt,  »auff  eine  andere  Art  /  vnd  nicht  als 
Fundament-Instrumenta  hören  lassen.  Denn  gleich  wie  jene 
das  rechte  Fundament  vnd  die  Harmony  fest  vnd  beständig 
halten;  Also  müssen  diese  Ornament-Instrumenta  jetzunder  mit 
Varietet  vnd  verenderungen  schöner  Contrapuncten,  nach  qualitet 
der  Instrumenten  die  Melodiam  zieren  vnd  aus  Putzen.  Aber 
hierin  ist  der  vnterscheid  /  das  vff  diesen  Ornament- Instrument 
nötig  ist  /  dass  der  Instrumentist  vom  Contrapunct  gute  Wissen- 
schaft habe /die  weil  man  alda  vber  demselben  Bass  / 
newer  Passaggien,  Contrapunct,  vnd  also  fast  gantz 
newe  Parteien  oder  Stimmen  Componieren  muss1  .  .  .  Soll 
derwegen  der  Lautenist  seine  Lauten  [als  Ornamentinstrument] . . . 
wohl  vnd  herrlich  schlagen  /  mit  mancherley  inventionen  vnd 
Variationen:  Vnd  es  nicht  machen /wie  etliche  /  Welche  weil 
sie  mit  einer  geraden  Hand  begäbet  seyn  /  vom  Anfang  biss  zum 
Ende  anders  nicht  thun  als  tirare  e  diminuere,  das  ist  /  eitel  Läuff- 
lein  und  Colloraturen  machen  /  insonderheit  /  wenn  sie  mit  andern 
Instrumentisten  zu  gleich  ein  schlagen  /  Welche  denn  gleicher 
gestalt  diesen  nichts  nachgeben  /  vnd  auch  vor  grosse  Meister 
vnd  geschwinde  Coloraturen  macher  angesehen  vnd  gehalten  sein 
wollen :  Daher  denn  anders  nichts  gehöret  wirt  /  als  eine  vnliebliche 
Confusion  vnd  Widerwertiges  streiten  (Zuppa,  das  ist  /  elend 
Lahm  ding)  den  Zuhörern  gantz  vnangenehm  vnd  beschwerlich2. 
Darumb  ist  es  viel  besser  /  wenn  der  Lauttenist  .  .  .  bissweilen 
mit  lieblichen  nider-  vnd  wiederschlägen ;  Bald  mit  weitlauf fen- 

1  Agazzari,  a.  a.  0.:  ma  il  secondo  lo  ricerca:  poiche  deve  sopra  il  mede- 
simo  basso  compor  nuove  parti  sopra,  e  nuovi,  e  variati  passaggi,  e  contraponti. 

2  Agazzari:   dove  non  si  sente  altro  che  zuppa,  e  confusione,  cosa  dispiace- 
vole,  e  ingrata,  ä  chi  ascolta. 

Kl.  Handb.  der  Ht  sikgesch.  X.  6 


82  Viertes  Kapitel. 

den  /  bald  mit  kurtzen  eingezogenen  /  vnd  gedoppelten  redu- 
plicierten  Passaggien,  bald  mit  einer  sbordonata  frembden  Har- 
monia,  gleichsam  als  wenn  man  aus  dem  Thon  kommen  wolte  / 
mit  einer  hüpschen  Schönen  art  (gare  e  perfidie)  in  dem  das  er 
repetieret,  vnd  einerley  Fugen  vff  vnterschiedenen  Saiten  /  vnd 
an  vnterschiedenen  örtern  herausser  vnd  zu  wege  bringet  /  die 
selbe  repetieret  vnd  widerholet  /  vnd  in  summa  die  Stimmen  mit 
langen  Gruppen  /  Trillen  vnd  Accenten  zu  rechter  zeit  gebraucht  / 
einflechte  /  das  er  dem  Goncert  eine  Lieblikeit  vnd  geschmack 
gebe.  .  .  Darneben  sich  aber  mit  grossem  fleiss  vnd  judicio  hüte 
vnd  fürsehe  /  das  er  die  andern  Instrumentisten  nicht  offendire, 
oder  mit  ihnen  zu  gleich  lauffe  /  sondern  ihme  wol  zeit  vnd  weile 
nehme  /  Fürnehmlich  /  wenn  einerley  Instrument  nahe  bey  ein- 
ander /  vnd  nicht  in  vnterschiedenen  Tonen  gestimmet  oder  von 
vnterschiedlicher  grosse  seyn1. «  Weiter  gibt  Agazzari  Vorschriften, 
wie  die  verschiedenen  Ornamentinstrumente  am  besten  Kontra- 
punkte und  Verzierungen  anbringen.  Die  Violine  muß  schöne 
»Passaggien«  machen,  »vnterschiedliche  vnd  lange  Schertzi, 
rispostine,  feine  Fugen  /  welche  an  vnterschiedlichen  örtern 
repetiret  vnd  wiederholet  werden  /  anmutige  Accentus,  stille  lange 
striche /  Gruppi,  Trilli  etc.«;  die  Baßgeige  (Violone)  aber  »gehet 
gar  gravitetisch«  und  bleibt  meist  auf  den  tiefen  Saiten,  die  Theorbe 
wieder  muß  in  den  tiefen  Saiten  »mit  gar  frischen  widerschlägen 
vnd  langsamen  herunter  vnd  hienauff  lauffen«  gut  gespielt  werden, 
» mit  stillen  vnd  messigen  Trillen  vnd  Accenten  ...  so  mit  der 
Hand  gar  vnten  am  Stege  gemacht  werden«2.  Die  Doppelharfe 
soll  »mit  scharf  fen  griffen  tractiret  werden /das  beyde  Hände 
einander  fein  vnd  wol  Respondiren  mit  Trillen  etc. «,  die  große 
Zither  muß  »  allerhand  gute  vnd  lustige  possen  mit  leufflin  /  sprin- 
gen vnnd  contrapunctiren «  fertig  bringen.  Dabei  ist  darauf  zu 
achten,  daß  die  Musiker  sich  gegenseitig  nicht  übertönen  und 
Konfusion  anrichten.  Jeder  muß  auf  den  andern  hören  und  in 
einer  stark  besetzten  Musik  warten,  bis  die  Reihe,  »  seine  Schertzi, 
Trilli  vnd  Accent  zu  erweisen  /  auch  an  ihn  komme«3. 

Die  Spieler  der  Ornamentinstrumente  haben  demnach  zu  im- 
provisieren, über  dem  gegebenen  Baß  selbständige  Kontrapunkte 

1  Prätorius  übersetzt  den  Text  Agazzaris  wörtlich. 

2  La  Tiorba  poi,  con  le  sue  piene,  e  dolci  consonanze  accresse  molto  la  me- 
lodia,  ripercotendo  e  passegiando  leggiadramente  i  suo  bordoni,  particolare 
eccellenza  di  quelle-  stromento,  con  trilli,  e  accenti  muti.fatti  con  la  mano  di  sotto. 

3  Prätorius  a.  a.  O.,  fol.  T.  2f. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  83 

und  Verzierungen  zu  spielen.  Für  dies  freie  Orchesterspiel  ge- 
nügte die  Baßvorlage;  der  Baß  wurde  von  den  Musikern  je  nach 
ihrer  Fertigkeit  ausgeschmückt  und  frei  ausgeführt.  »Bald 
variierte  eine  Laute  zehn  oder  zwölf  Motive,  von  denen  jedes 
fünf  oder  sechs  Takte  lang  war,  auf  tausendfache  Weise;  sodann 
spielte  eine  andere  .  .  .  dasselbe,  obwohl  auf  abweichende 
Art«1,  so  daß  ein  freies  Phantasieren  und  Ausgestalten  der  Baß- 
skizze zustande  kam.  Die  Musiker  der  Renaissancezeit  rechneten 
mit  dieser  Praxis.  Sie  sahen  in  dem  Orchestermusiker  einen 
selbständigen  Interpreten  der  Musik.  Wie  man  in  der  Solostimme 
eine  Auszierung,  Variierung  und  Veränderung  von  jedem  tüch- 
tigen Solisten  verlangte,  so  auch  in  der  Begleitung.  In  den  alten 
Opernpartituren  sind  deshalb  selten  alle  Instrumente  mit  ihren 
Stimmen  eingezeichnet.  Nur  wo  man  eine  vieltönige  Improvi- 
sation aus  dramatischen  Rücksichten  vermeiden  wollte,  wurden 
Instrumentalpartien  vorgeschrieben. 

Auf  den  Akkordinstrumenten  wurden  die  Harmonien  bald 
laut,  bald  leise,  je  nach  Besetzung  und  Kraft  der  Singstimmen, 
angeschlagen.  Die  Musiker  mußten  dabei  nachgeben  und  dem 
Sänger  folgen  und  durften  den  Gesang  nicht  durch  Passagen 
stören  oder  den  Affekt  der  Musik  schwächen.  Die  hohen  Stimmen 
des  Diskant  wurden  im  Akkompagnement  möglichst  vermieden. 
Nach  Agazzari  soll  der  Fundamentspieler  den  Sopran  überhaupt 
nicht  mitspielen,  sonst  würden  die  freien  Verzierungen  des  So- 
listen unklar  und  undeutlich2.  Am  besten  sei  ein  gemessenes, 
ruhiges  Fortschreiten  in  den  Harmonien.  Ludovico  Viadana 
will  höchstens  in  der  Rechten  Läufe  und  Passagen  beim  Begleiten 
mit  einem  Tasteninstrument  zulassen,  doch  dürfen  die  Sänger 
dadurch  nicht  verwirrt  werden3.  Der  Spieler  eines  Akkordinstru- 
mentes sollte  stets  die  Absichten  des  Komponisten  zu  verwirk- 
lichen suchen  und  in  seinem  Akkompagnement  den  Musikaus- 
druck und  Affekt  des  Textes  berücksichtigen.     Der  Baß  war  meist 

1  Ein  französischer  Musikbericht  aus  der  ersten  Hälfte  des  XVII.  Jahrhun- 
derts, übersetzt  und  mitgeteilt  von  Wasielewski.    M.  f.  M.,  1878,  Nr.  1. 

2  Agazzari  a.  a.  O.:  fuggendo  spesso  le  voci  acute,  perche  occupano  le 
voci,  massime  i  Soprani,  d  falsetti:  dove  e  d'avvertire  di  fuggire  per  quanto  si 
puole,  quel  medesimo  tasto  che  il  soprano  canta  ...  in  tal  caso  devono  tenere 
l'armonia  ferma,  sonora,  e  continuata,  per  sostener  la  voce,  toccando  hora  piano, 
hora  forte,  secondo  la  qualitä  e  quantitä  delle  voci,  del  loco  e  dell'  opera.  Vgl. 
Prätorius,  a.  a.  O. 

3  Viadana.  Goncerti  ecclesiastici  1602.  Vorrede;  s.  auch  Prätorius: 
Synt.  mus.  III,  VI,  2.  Stück.    Fol.  S  f. 

6* 


84  Viertes  Kapitel. 

mit  Ziffern  versehen,  so  daß  die  verlangten  Harmonien  schnell 
und  sicher  gegriffen  werden  konnten.  Agazzari  gibt  ein  Beispiel 
für  die  Baßbezifferung  und  -ausführung,  in  welchem  die  Anwen- 
dung der  Gegenbewegung  und  die  gelegentliche  Baßverdoppelung 
auffallen.  Allerdings  scheut  er  sich  in  der  Kadenz  nicht  vor  einer 
Quinten-  und  Oktavenparallele.  Im  Anschluß  an  Agazzari  geht 
auch  Prätorius  auf  das  Generalbaßspiel  ein.  Er  behandelt  es  als 
ein  ruhiges,  nur  den  Sänger  stützendes  Begleiten,  als  ein  Akkom- 
pagnement,  das  Solisten  und  Chor  in  der  Harmonie  und  im  rechten 
Takt  hält. 

Dies  Generalbaßspiel,  dessen  eingehende  Beschreibung  vom 
Thema  ablenken  würde,  bedeutete  für  die  Praxis  des  17.  Jahr- 
hunderts, für  Musiker,  Kapellmeister  und  Komponisten  eine  große 
Erleichterung.  Mit  dem  Continuo  wurde  eine  Einrichtung  in 
Tabulaturnotierung  und  das  Partiturspiel  überflüssig.  Man  hatte 
die  Hauptstimme,  den  Baß,  vor  sich  und  konnte  daraus  den  har- 
monischen Verlauf  einer  Musik  ablesen.  Bei  Chorwerken,  Kan- 
taten und  vielstimmigen  Musiken  konnte  sich  der  Kapellmeister 
auch  die  Melodie  oder  die  führende  Stimme  einzeichnen,  um 
eventuell  einzuhelfen.  Doch  genügte  in  der  italienischen  Renais- 
sancemusik bis  zur  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  meist  eine  be- 
zifferte Baßstimme1,  da  die  Musik  sich  oft  in  einfachen,  rezitieren- 
den Weisen  bewegte  oder,  wie  Agazzari  sagt:  »Weil  man  itzt  .  .  . 
die  rechte  Art  /  die  Wörter  zu  exprimiren  erfunden  hat  /  in  dem 
man  fast  vnd  so  viel  als  muglich  /  eben  so  singet  /  als  wenn  man 
sonsten  mit  einem  redete  welches  dann  am  besten  mit  einer 
eintzigen  /  oder  Ja  mit  wenig  Stimmen  angehet.  .  .  Als  ist  nicht 
nötig  /  das  man  alle  [Stücke]  absetze  /  oder  in  die  Tabulatur 
bringe  /  sondern  es  ist  gnug  am  blossen  Bass  /  wenn  nur  die  Signa 
darüber  bezeichnet  werden2.« 

Diese  Nachrichten  geben  ein  Bild  von  den  Verhältnissen, 
mit  denen  der  Kapellmeister  in  der  Frühzeit  der  Renaissance 
rechnen  mußte.  Er  hatte  ein  mit  Akkordinstrumenten  stark 
besetztes  Orchester  zu  leiten,  das  in  der  Oper  etwa  20  bis  40  Mu- 
siker vereinte,  wenn  nicht  vom  Komponisten  eine  größere  oder 

1  Nach  Doni  (De'  trattati  di  musica  Tom.  II,  Franc.  Gorius  ed.  Florenz 
1763,  S.  111)  lag  jedem  Musiker  eine  Baßintavolatur  vor.  Das  war  jeden- 
falls keine  Einrichtung  des  Basses,  wie  H.  Goldschmidt  erklärt,  sondern  nur 
eine  Baßabschrift. 

2  Agazzari  a.  a.  O.,  obige  Übersetzung  von  Prätorius  (im  Synt.  mus. 
III,  VI,  Fol.  T  3  v). 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  85 

kleinere  Besetzung  vorgeschrieben  war1.  Wie  ein  Bild  von  der 
Wiener  Aufführung  der  Oper  »Porno  d'oro«  von  Cesti  zeigt2, 
gruppierten  sich  die  Musiker  um  das  Klavier  des  Dirigenten  nach 
beiden  Seiten  hin.  Sie  spielten  in  einem  tiefer  gelegenen  Orchester- 
raum, der  von  der  Bühne  getrennt  war.  Dieser  besondere  Or- 
chesterraum scheint  erst  mit  der  venetianischen  Oper  in  Aufnahme 
gekommen  zu  sein;  früher  wurde  das  Opernorchester,  wie  oben 
erwähnt  wurde,  häufig  hinter  der  Szene  aufgestellt.  Den  Instru- 
mentalisten  lag  die  Baßstimme  vor,  die  frei  ausgestaltet  wurde. 
Die  Fundamentinstrumente  gaben  die  Akkordfolgen  an,  bald 
leise,  bald  wieder  voll  und  stark,  wie  es  der  Ausdruck  der  Musik 
forderte.  Dazu  improvisierten  die  Spieler  der  Ornamentinstru- 
mente Kontrapunkte  und  Verzierungen,  wenn  ihnen  nicht  eine 
ausgeführte  Instrumentalstimme  vorgeschrieben  war3.  Nach 
Doni  wurde  vom  ersten  Instrumentenspieler  (vom  Konzertmeister) 
mit  dem  Fuß  »nach  altem  Brauch«  taktiert,  also  in  der  gleichen 
Weise,  wie  die  Chorführer  der  Griechen  und  die  Instrumenta- 
listen  des  16.  Jahrhunderts  den  Takt  schlugen.  Auch  hier  haben 
wir  uns  nur  eine  gelegentliche,  mäßige  Markierung  des  Taktes 
vorzustellen,  nicht  ein  fortgesetztes  Fußstampfen4.  Den  festen 
rhythmischen  Halt  gab  der  Kapellmeister  mit  seinem  Cembalo- 
spiel. Er  saß  am  Klavier  und  leitete  durch  genaue  Harmonie- 
angaben und  durch  Winke  Orchester  und  Solisten.  Sein  Spiel 
war  einfach,  rhythmisch  exakt  und  mußte  dem  in  der  Musik  aus- 
gedrückten Affekt  entsprechen.  Bei  der  Chordirektion  hatte 
er  einfach  und  ohne  Passagen  zu  begleiten.  Sein  Spiel  mußte, 
um  mit  Pietro  della  Valle  zu  reden,  »möglichst  simpel  sein, 
alle  Feinheiten  des  Kontrapunktes  vermeiden  und  nur  durch 
gut    konsonierendes    und    schönes   Akkompagnement    die   Sing- 


1  Cesti  verlangt  für  seine  Serenata,  die  1662  in  Florenz  zur  Aufführung 
kam,  6  Violinen,  4  Altviolen,  4  Tenor-,  4  Baßviolen,  1  Kontrabaß  und  von 
Akkordinstrumenten  ein  kleines  und  ein  großes  Klavier,  Theorbe  und  eine  große 
Archiliuto.  Ambros-Leichtentritt,  Gesch.  der  Musik  IV,  S.  658,  s.  auch 
Denkm.  d.  Tonk.  in  Österreich,  Bd.  III,  Vorwort,  Peris  »Euridice«,  Monte- 
verdis  »Orfeo«-Orchester  und  Kinkeldeys  Angaben  a.a.O.,  S.  169f. 

2  Denkm.  d.  Tonk.  in  Österreich,  Bd.  III. 

3  Vgl.  die  Vorschrift  in  Paolo  Quagliatis  La  Sfera  armoniosa,  1623; 
Avertimento  per  il  Violino:  Neil'  Opere  concertate  con  il  Violino,  il  Sonatore 
ha  da  sonare  giusto  come  stä  adornandola  con  trilli  e  senza  passaggi. 

4  Doni  a.a.O.  II,  S.  113:  sequitasse  per  tutto  la  battuta  del  principal 
Sonatore  (che  la  facesse  col  piede  all'  uso'  antico). 


86  Viertes  Kapitel. 

stimmen  stützen«1.  Wenn  die  Solisten  das  Tempo  beschleunigten 
oder  zurückhielten,  um  ihren  Partien  hier  und  da  mehr  Nach- 
druck zu  geben,  so  mußten  ihnen  Dirigent  und  Musiker  in  ihrer 
Begleitung  folgen2.  Der  Kapellmeister  gab  wohl  auch  Hinweise 
auf  starkes  und  leises  Spiel,  auf  Beachtung  der  Klangwirkungen 
und  Affekte,  wie  denn  überhaupt  die  gesamte  Anordnung  der  Musik 
in  den  Händen  des  Dirigenten  lag.  Er  hatte  die  Aufstellung  der 
Spieler  zu  regeln,  das  Stimmen  der  Instrumente  und  die  Anferti- 
gung und  Verteilung  der  Baßabschriften  (Intavolaturen)  zu  kon- 
trollieren3 und  dafür  zu  sorgen,  daß  die  Spieler  der  Ornament- 
instrumente mit  ihren  Improvisationen  nicht  den  Gesang  über- 
tönten und  »wie  ein  hauffen  Sperlinge«  durcheinander  zwitscherten, 
wie  Prätorius  sagt4.  Daß  wir  von  dieser  vorbereitenden  Tätig- 
keit des  Kapellmeisters  verhältnismäßig  wenig  erfahren,  erklärt 
sich  daraus,  daß  der  Komponist  selbst  einstudierte.  Die  Kapell- 
meister waren  in  der  Regel  Komponisten,  nicht  lediglich  repro- 
duzierende Musiker  wie  viele   Dirigenten  der  späteren  Zeit. 

Neben  der  Cembalodirektion,  die  sich  in  der  italienischen  Oper 
bis  in  die  Neuzeit  gehalten  hat,  bestand  im  17.  Jahrhundert  die 
alte  Form  des  Taktschiagens  weiter.  Sie  war  besonders  bei  Chor- 
aufführungen und  in  Kirchenmusiken  gebräuchlich,  da  man  die 
häufig  an  verschiedenen  Stellen  der  Kirche  aufgestellten  Chöre  nicht 
vom  Klavier  aus  leiten  konnte5.  Über  Gebrauch  und  Methode 
des  Taktschiagens  unterrichten  am  besten  die  Musiktheoretiker; 
wir  hören  vom  Taktschlagen  mit  Hand  oder  Taktstock,  auch  vom 
Taktieren  mit  Fuß  oder  Finger.  Andreas  Crappius  sagt:  »Der 
Takt  ist  eine  beständige  Bewegung,  die  der  Kantor  mit  der  Hand 
ausführt,  um  die  Gleichheit  der  Mensur  im  Gesang  recht  zu 
leiten«6,  oder  es  heißt:  »Der  Takt  ist  die  Messung  der  Notengröße; 

1  Della  musica  dell '  etä  nostra  (Gorius  ed.  II.  S.  254):  II  sonare 
per  reggere  un  Coro  ha  da  essere  il  piü  semplice  di  tutti,  con  nessuno  artificio  di 
contrappuntto;  solo  con  buone  consonance,  e  con  graziosi  accompagnamenti,  che 
secondino  le  voci  con  garbo.  Übersetzung  in  Leipz.  Allg.  Mus.  Ztg.  (1868,  Nr.  49) 
und  in  der  Süddeutschen  Musikzeitung  (Schott.  Red.  u.  Verl.  1857,  Nr.  38.) 

2  Agazzari  a.  a.  O. 

3  Doni  a.  a.  O.,  S.  110/111:  perche  con  molto  perdimento  di  tempo,  e  con- 
fusione  bisogna  disporre  gl'  Instrumenti,  e  distribuire  i  lumi,  collocare  i  sedili, 
rizzare  i  leggii,  e  accordare  gl'  Instrumenti  .  .  .  senza  parlare  della  fatica,  e  del 
tempo,  che  si  mette  in  fare  tante  copie  dell'  intavolatura  del  Basso  .  .  . 

4  A.  a.  0.  T  2  v. 
6  S.  S.  96  f. 

6  Crappius  a.  a.  O.,  fol.  A  Vv:  Tactus  est  motio  successiva  manu  Can- 
toris  facta,  mensurae  aequilitatem  in  cantu  dirigens. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  87 

nach  dieser  Messung  werden  die  Töne  in  gleichen  Zeitteilen  aus- 
gezählt und  gesungen.  Die  Taktteile  sind  Senkung  und  Hebung. 
Jene  beginnt  und  zählt  den  Takt,  diese  teilt  ihn.  Geführt  wird 
der  Takt  durch  Bewegungen  der  Hand  oder  des  Fingers1.«  Ähn- 
lich definieren  viele  Musiker2. 

Selbst  die  Gleichmäßigkeit  der  Taktführung  wird  noch  von 
einzelnen  Theoretikern  erwähnt3,  doch  ist  damit  kein  metro- 
nomisches Taktieren  gemeint.  Diruta  sagt,  daß  das  schnelle 
oder  langsame  Taktieren  ganz  im  Belieben  des  Sängers  oder 
Kapellmeisters  stehe,  und  Orgosinus  definiert:  der  Takt  »ist 
eine  gewisse  abmessung  der  stimmen  nach  der  Zeit  in  vngleicher 
geltung  /  Daher  der  eine  gesang  langsam  /  der  ander  geschwind 
genennet  wird«4;  andere  sagen  ausdrücklich,  daß  man  den  Takt 
nicht  »schnurgleich«  abmessen  solle5.  So  werden  wir  bei  der 
»Gleichmäßigkeit«,  von  der  die  Musiker  zuweilen  sprechen,  an 
eine  ruhige,  ebenmäßige  Taktführung  zu  denken  haben,  nicht  an 
den  alten  Tactus  der  a  cappella-Zeit6. 

Die  Taktstockdirektion,  die  im  16.  Jahrhundert  als 
allgemein  gebräuchlich  nachgewiesen  wurde,  ist  auch  im  General- 
baßzeitalter weit  verbreitet.  Orgosinus  schreibt,  daß  der  Takt 
»gemeiniglich    mit   dem   stabe  regiert  vnd   gehalten  wird«7. 

1  Johann  Magirus,  Artis  musicae  libri  II,  1611,  1,  IV:  Tactus  est  mensu- 
ratio  Quantitatis,  qua  soni  aequabili  temporis  mora  mensurati  numerantur  et 
decantantur.  Partes  sunt  Depressio  et  Elevatio:  lila  incoantur  et  numerantur 
hac  mediantur  tactus  .  .  .  Fitque  vel  .  .  manu,  vel  digito  .  .  . 

2  Der  Takt  wird  bewirkt  durch  Heben  und  Senken  der  Hand  (Cerone,  El 
Melopeo,  1613,  lib.  VI,  18,  S.  495),  D  i  r  u  t  a  a.  a.  O.  IV,  S.  24,  ebenso  mit  dem  Zusatz 
»ugualmente  portata«.  Ähnlich  Marin  Mersenne,  Harmonie  universelle,  1637, 
(lib.  V.  de  la  composition,  Tom.  II,  fol.  324),  ferner  Ahle  (a.  a.  O.  1690,  cap. 
IX),  Demantius  (a.a.O.,  fol.  C.  II),  DanielFriderici  (Musica  figuralis,  1649, 
cap.  IV),  Erasm.  Grub  er,  Synopsis  musica,  1673,  cap.  V,  S.  15/16,  Dan.  Speer 
(Grundrichtiger  .  .  .  Unterricht  der  musikal.  Kunst  1687,  cap.  XIV),  Hase 
(a.  a.  O.,  1657,  cap.  IV,  S.  40)  In  der  »Disputatio  musica  de  tactu«  von  Retzelius 
(Upsalal698)  heißt  es  in  These  VII:  manum  demittamus  et  elevemus,  quemad« 
modum  apud  nos  fieri  solet.  Andrea  Bontempi,  (Historia  musica  1695,  II, 
S.  205/6)  schreibt:  La  Battuta  e  la  positione  e  elevatione  della  mano,  col  quäl 
movimento  si  dimostra  la  Misura  del  tempo  sotto  la  quäle  si  canta,  il  quäl 
Tempo  e  binario  e  ternario. 

3  S.  Diruta  a.a.O.  (IV,  S.  24):  »ugualmente  portata«  oder  Mersenne: 
Nulla  ...  in  tota  cantilena  fiat  mensurae  mutatio,  nisi  ex  propriis  signis  et 
characteribus  praenotata  fuerit  (Harm,  libri  XII,  1648,  S.  153). 

4  H.  Orgosinus,  Musica  nova,  1603,  cap.  IV§ 
6  Friderici  a.a.O.,  cap.  VII,  Reg.  19. 

6  S.  weiter  unten  S.  106f. 

7  A.  a.  O.,  fol.  A.  V. 


88  Viertes  Kapitel. 

Beringer  sagt:  Die  Dimensio  »isteine  steteBewegung  dessBaculi 
mit  niderschlagen  vnd  auffschlagen  /  nach  welcher  die  Figuren 
abgemessen  werden«1,  Magirus  spricht  vom  »Baculus«2,  Ban- 
chieri  von  der  »bacchetta3«  und  Printz  vom  »Taktir  Stock«4. 
Friderici  verbietet  dem  Kapellmeister,  mit  dem  »Chorstocke« 
allzu  laut  zu  schlagen5,  Hase  und  Speer6  berichten  wieder  vom 
Taktieren  mit  Hand  oder  Stock  —  kurz,  die  Taktstockdirektion 
ist  den  italienischen  und  deutschen  Musikern  im  17.  Jahrhundert 
bekannt.  Auch  auf  bildlichen  Darstellungen  findet  man  Beispiele 
für  diese  Praxis.  Bartholomaeus  Kilian  zeigt  auf  einem  Bild 
eine  Anbetung  der  Maria,  die  unter  Chor-  und  Instrumental- 
musik vor  sich  geht.  Auf  der  linken  Seite  musizieren  unter  einem 
Baldachin  Instrumentalisten  (mit  Cembalo)  und  ein  Chor,  der  von 
einem  Kapellmeister  mit  einem  Taktstock  dirigiert  wird7.  Die  Muse 
Cleio  wird  von  Wolf  gang  Kilian  auf  seinem  Bilderzyklus  der  neun 
Musen  (1612)  durch  zwei  Frauengestalten  symbolisiert,  von  denen 
die  erste  aus  einer  vierstimmigen  Partitur  spielt,  während  die  zweite 
mit  einem  Stock  zu  taktieren  scheint8.  Auf  dem  Titelblatt  von 
Christian  Hoff  manns  Musica  synoptica  (1693)  —  das  Bild  datiert 
1692  —  sieht  man  wieder  einen  Knabenchor  und  den  unterrich- 
tenden Kantor  mit  dem  Taktstock.  Man  dirigierte  aber  nicht  allein 
mit  Taktstöcken,  sondern  auch  mit  Papier-  und  Notenrollen, 
oder  mit  irgendeinem  brauchbaren  Gegenstand,  den  man  gerade 
zur  Hand  hatte.  Stephan  Vanneo  schrieb  schon  im  Jahre  1533, 
daß  man  den  Takt  mit  »jedem  beliebigen,  in  der  Hand  gehaltenen 
Instrument«  angeben  kann9.  Dasselbe  sagen  einige  Musiker  des 
17.  Jahrhunderts,  so  Ambrosius  Profe,  Athanasius  Kircher, 


1  Mat.  Beringer,  Musicae  .  .  .  Erster  vnd  Anderer  Theil,  1610,  fol.  B.  III. 

2  Magirus  a.  a.  O.  I,  IV:   Tactus  fitque  vel  baculo,  vel  manu,  vel  digito. 

3  Adriano  Banchieri,  Cartella  musicale,  1614.  S.  33:  .  .  .  potiamo  aggi- 
ungere  si  nomini  battuta  della  percussione,  che  fa  il  Maestro  di  Capeila  con 
jnano,  bacchetta. 

4  Casp.  Printz  im  »Satyrischen  Komponisten«  1696,  Teil  III,  Kap.  19, 
S. 175. 

5  Dan.  Friderici  a.'a.  O.,  cap.  VII,  Reg.  17. 

6  Wolfg.  Hase  a.a.O.,  cap.  IV,  S.  40:  Der  Tact  ist  nichts  anders  /  als 
eine  Bewegung /so  geschieht  mit  der  Hand  oder  einem  Stocke.  Dan.  Speer 
a.  a.  0.,  cap.  XIV:  Der  Takt  kann  »augenscheinlich  /  dass  man  ihn  sehen  kan  / 
mit  einem  baculo  .  .  .«  geschlagen  werden.  Vgl.  auch  Joh.  Mich.  Corvinus 
Heptachordum  Danicum  1646,  S.  16. 

7  Kgl.   Kupferstichkabinett  in  Berlin. 

8  Kgl.   Kupferstichkabinett  in  Berlin. 

9  Vanneo,  Recenatum  de  mus.  II,  8,  s.  o.  S.  45. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  89 

Mersenne1  und  Georg  Falck,  der  den  Takt  mit  den  Worten  er- 
klärt: er  ist  »eine  richtige  und  beständige  Niederlassung  und 
Aufhebung  der  Hand  /  oder  dessen  /  was  in  derselben  gehalten 
und  geführet  wird«2.  Unter  diesen  beliebigen  Taktinstrumenten 
kommt  in  erster  Reihe  die  Papierrolle  in  Betracht.  Auf  dem 
Vorsatzblatt  zu  Christian  Michels  »Tabulatura«  (1645)  sieht 
man  große  Frauengestalten,  die  auf  verschiedenen  Instrumenten 
.musizieren,  während  eine  Dirigentin  mit  einer  Rolle  taktiert; 
und  der  schon  häufiger  genannte  Musiker  Daniel  Speer  schreibt, 
man  könne  mit  einem  »baculo«  oder  auch  mit  einer  »Charta« 
dirigieren3.  Diese  Methode  hat  sich  besonders  im  18.  Jahrhundert 
großer  Beliebtheit  erfreut  und  sich  noch  bis  in  die  jüngste  Zeit 
gehalten.  Daß  man  aber  im  Zeitalter  des  Generalbasses  auch 
andere  »Instrumenta«  zum  Taktieren  gebrauchte,  als  Stock  und 
Notenrolle,  ist  von  vielen  Musikern  bezeugt.  So  meint  Banchieri, 
man  könne  auch  mit  einem  Schnupftuch  (fazzoletto)  taktieren4, 
und  Caspar  Printz  erzählt  sogar,  man  habe  in  Syrakus  einen 
Kapellmeister  gesehen,  der  das  Schnupftuch  an  den  Taktierstock 
gebunden  und  damit  den  Takt  geschlagen  habe,  »nicht  anders, 
als  wenn  er  eine  Fahne  (habe)  schwingen  wollen«5.  Daniel  Speer 
meint,  es  könne  auch,  wenn  der  Dirigent  die  Instrumentalisten  nicht 
sehen  kann,  »mit  einem  Schlüssel  auf  deß  Organisten  sitzendes 
Bäncklein  /  doch  mit  Bescheidenheit  /  geschlagen  oder  geklopffet 
werden«,  damit  sich  die  Musiker  danach  richten  können.  Er 
habe  es  selbst  »oft  practicirt«6.|Alle^diese  Hilfsmittel  beim  Tak- 

1  Kircher,  Musurgia  1650.  Tom.  II,  III,  S.  52:  ...  ad  motum  .  .  .  manus 
aut  alterius  cuiuscumque  rei  manu  detenti .  .  .  Mersenne,  Harm.  univ.  1637. 
Tom.  II,  V,  fol.  324:  on  peut  aussi  faire  [sc.  battre  la  mesure]  avec  le  pied  ou  en 
teile  autremaniere,  que  l'on  voudra.  AmbrosiusProfe,  Gompendium  musicum 
1641  (Moderne  Kopie  in  der  Kgl.  Bibl.  zu  Berlin,  Original  in  Brüssel)  S.  15  der 
Kopie:  ....  »Hand  oder  Fuss  /  oder  Kopff  /  oder  wormit  man  sonst  die  mensur 
des  Gesanges  geben  möchte«.  Anonym,  Musicae  rudimenta  latino  -  belgica. 
Amstelodami  1645,  S.  10:  Dimensio  fit  manus  aut  instrumenti  cuiuslibet  ele- 
vatione  et  depressione.     Vgl.  Speer  a.  a.  O.,  cap.  XIV. 

2  Idea  boni  cantoris,  1688,  Gap.  IX. 

3  A.  a.  0.  1687,  Cap.  XIV. 

4  Adriano  Banchieri  a.  a.  O.,  S.  33. 

5  Casp.  Printz  im  »Satyr.  Komponisten«  1696.  Teil  III,  Kap.  19,  S.  175. 
Vgl.  auch  Riepel,  Anfangsgründe  zur  musicalischen  Setzkunst  1752,  S.  67, 
der  ähnliche  Unarten  zur  Sprache  bringt. 

6  Speer  a.a.O.,  Kap.  XIV.  Gegen  dies  »Gehämmer  mit  Stöcken, 
Schlüsseln  und  Füssen«  hat  noch  Mattheson  (Vollk.  Capellmeister  1739, 
III,  XXVI,  §  14)  geschrieben. 


°0 


Viertes  Kapitel. 


tieren,  die  zu  Mißbräuchen  aller  Art  führten,  bilden  gewiß  ein 
nebensächliches  Moment  für  die  Entwicklung  des  Dirigierens, 
aber  die  Nachrichten  beweisen  doch,  daß  man  schon  früh  auf 
das  einfache  Mittel  verfiel,  die  Hand  mit  einem  Taktstock  oder 
einer  Rolle  zu  bewaffnen,  um  die  Direktionsbewegungen  deutlich 
und  weithin  sichtbar  angeben  zu  können. 

Die   Einteilung   der   Noten   auf  Auf-   und   Niederschlag   gibt 
Walliser1  in  dieser  Tabelle: 


Forma  Tactus  Simplicis 
Depressio  Elevatio 


In  Tripla 
Depressio     Elevatio 


Depressio 

^5 


Elevatio 


£={E 


Depressio 


Elevatio 


t=n±-  ^^n 


In  Sesquialtera 
Depressio     Elevatio 

4= 


3=$=$: 


Es  ist  die  gleiche  Verteilung  der  Taktschläge,  die  wir  aus  der 
Mensuralmusik  kennen:  gerade  Takte  in  Hälften,  ungerade  Takte 
in  ungleiche  Teile:  zwei  Takteinheiten  auf  den  Niederschlag,  eine 
auf  den  Aufschlag2.  Ausführlicher  als  die  oben  zitierte  Tabelle 
ist  die  Tafel  in  Maternus  Beringers  »Musicae  .  .  .  Erster  vnd 
Anderer  Theil«  (1610),  der  die  Einteilung  der  Noten  auf  die 
Taktschläge  so  formuliert: 

Dimensio  notarum  binaria. 


Niderschlag 

Aufschlag 

t       t 
J   J  J  j 

mmu 

t         t 

1 

2 

i  Christ.  Thom.  Walliser  a.  a.  O.,  Kap.  VII. 

2  Dan.  Hizler,   Newe  Musica   oder  Singkunst,  1628,   Kap.  IV:   Es  ist 
ein  Tact  oder  Schlag  /  welcher  in  zwey  gleiche  theil  der  zeit  /  darinn  er  geschieht  / 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance. 


91 


Dimensio  notarum  ternaria. 
Proportionis  Triplae. 


Mit  weissen  Semibrevibus. 


Mit  schwartzen  Semibrevibus. 


H 

0 

Niderschag 

Auffschlag 

0 

?      ? 

tttt 

0 

0  $ 

1  I 

tttt 

0 

?   ? 

tttt 

1 

2 

3 

0 

H 

■ 

♦ 

Niderschlag 

Auffschlag 

t   t 

♦ 

t   t 
tttt 

♦ 

t   t 
tttt 

\ 

2 

3 

♦ 

■ 

Proportionis  Sesquialterae. 


Mit  weissen  Minimis. 


Mit  schwartzen  Minimis. 


0 

? 

Niderschlag 

Auffschlag 

t   t 

MM 

? 

t  t 
tttt 

t   t 

MM 

\ 

2 

3 

i 

0 

♦ 

t 

Niderschlag 

Auffschlag 

t 
t  t 

MM 

t 
t  t 

MM 

t 
t  t 

MM 

\ 

2 

3 

t 

♦ 

Ebenso  werden  die   abgeleiteten  Takte  eingeteilt:    der   Sex- 
tupla  :  3  \  3   fi,  der  12/s  :6  j  6   f,  der  9/4:  6  j  3  f  usw.2. 

kan  abgetheilt  werden:  Nämblich/ein  theil  /  darinn  man  niderschlägt  /  vnnd 
ein  theil  /  darinn  man  auffhebet:  Heisset  auch  Tactus  vulgaris.«  Der  ungerade 
Takt  enthält  »eine  zeit  /  darinnen  man  niderschlägt  /  die  ander  zeit  /  da  man 
vnten  hält  /  vnd  die  dritte  zeit  /  darinnen  man  wider  auffhebt«.  Vgl.  Bon- 
tempi, Hist.  mus.  II,  S.  205/6:  cantandosi  sotto  il  tempo  binario  il  valore 
d'una  nota  nella  positione,  e  ugualmente  il  valor  d'un  altra  nella  elevatione;  e 
sotto  il  tempo  ternario,  il  valore  di  due  note  nella  positione  e  disugualmente  il 
valore  d'una  sola  nell'  elevatione  u.  v.  a. 

1  Vgl.  Joh.  Crüger,  Musicae  practicae  Praecepta  brevia  1660,  cap.  V. 

2  Bononcini,  Musico  prattico  1673,  S.  20ff. 


92 


Viertes  Kapitel. 


Ähnliche  Tafeln  wie  Beringer  bringen  die  Musikbücher  von 
Staden,  Hase  und  Hoffmann1,  während  Diruta2  seinen 
Beispielen  noch  die  Synkopierung  hinzufügt,  z.  B. 


^3^£ 


i= 


^=f=A^-L^ 


Von  den  Minimen  kommt  eine  auf  den  Niederschlag,  die  andere  auf  den  Aufschlag. 


i=^=f^=f^^^ 


Synkopierte  Minimen,  die  in  der  Mitte  jeder  Note  Auf-  oder  Niederschlag 

bekommen. 

Interessant  ist  das  Taktbeispiel,  das  Adriano  Banchieri  in  der 
Cartella  musicale  (1614)  anführt.  Er  bezeichnet  darin  die  Nieder- 
und  Aufschläge  mit  den  Worten  giü  (nieder)  und  sü  (auf)  in  dieser 
Weise : 

Battuta  nel  tempo  maggiore  e  perfetto,  e  sua  proportione. 

3 


Gala  e  percuote.  Alza        giü    sü    giü     sü      giü       sü  giü 

e  termina. 

x 


S 


^ 


1-4  *it  i  ?   Hfc 


gm    su 


gm 


su     gm 


gm 


v  f  °  1 M  v  ?  „ 


w- 


£ 


gm     su     gm 


T*±3=t± 


su     gm 

T-S r- 


su      gm  su       gm  SU 

— 3rr-^ 


33 


*^ 


giü         sü    giü  sü   giü  sü   giü      sü  giü     sü. 

Battuta  nel  tempo  minore  perfetto,  e  sua  proportione 


f  1  ?   Y  1  ■    'iTM  |  T 


:FF^ 


|Ö 


Gala  e  percuote,  Alza     giü  sü    giü    sü       giü       sü 
e  termina. 


gm 


1  Sieg  m.  Theophil  Staden,  Rudimentum  musicum   1648,    Stück 
VIII,  Hase  a.  a.  O.,  Kap.  IV,  Christian  Hoffmann  a.  a.  O.,  S.  8—10. 

2  Diruta  a.  a.  O.,  IV,  S.  25. 

3  Original  im  ersten  Takt:  ä;  offenbar  ein  Druckversehen,  wie  das  korre- 
spondierende Beispiel  im  Minore-Takt  zeigt. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance. 


93 


1 1  i  i  j  ^n=  f  i  a  ,  t  i-ttpi  h* 


[giü  sü]  giü 


su     gm        su 


gm 


^T^Tt^XXTHTr^ 


giu     su     gm 


su     gm 


su     gm 


su      gm 


S 


-r^-n^f 


:H=j=T: 


gs£ 


gm 


giü     sü     giu      su    gm 


su     gm 


Bei  den  angekreuzten  Stellen  (*)  gehört  das  giü  oder  sü  eigentlich 
unter  die  Pause.  Banchieri  setzt  es  zur  Note,  um  deren  Zuge- 
hörigkeit zum  Auf-  oder  Niederschlag  zu  charakterisieren.  Aus 
dem  Beispiel  geht  noch  hervor,  daß  die  Noten  in  den  Schluß- 
takten nicht  der  regulären  Takteinteilung  folgen,  sondern  frei 
vorgetragen  werden.  Staden  sagt:  »So  im  vnd  ausser  dem  Tripel 
[Takt]  in  Acht  zu  nemen  /  daß  die  letzte  Noten  vor  dem  Final  / 
vmb  der  Zier  willen  /  keiner  Mensur  mehr  vnterworffen  / 
sondern  lang  gehalten  /  vnd  dann  erst  auf  das  Final  vnd  letzte 
Noten  gefallen  /  vnd  außgehalten  werde1.«  Die  Schlußkadenz 
wurde  demnach  ritardierend  vorgetragen,  um  der  Musik  einen 
wirkungsvollen  Ausklang  zu  geben.  Auch  Frescobaldi  schreibt 
im  ersten  Buch  der  Tokkaten:  »Die  Kadenzen,  wenn  sie  auch  in 
schnellen  Noten  ausgeschrieben  sind,  soll  man  im  Tempo  sehr 
zurückhalten,  und  je  mehr  man  sich  dem  Schluß  der  Passage 
oder  der  Kadenz  nähert,  desto  langsamer  soll  das  Tempo  werden2.« 
Wie  man  im  17.  Jahrhundert  Theorien  über  die  Herkunft  des 
Taktes,   über  seine   Ähnlichkeit  mit  dem    Pulsschlag,   der   Ebbe 


1  Rudim.  mus.  VIII,  6.  Vgl.  Prätorius,  Synt.  mus.,  fol.  K  4  v.:  Cantores, 
Organicines  et  alii  Instrumentales  Musici  Oppidani  pro  more  consueto  statim  ex 
penultima  cuiusque  Cantionis  Nota,  in  finalem  ultimam  sine  morulaaliquadepro- 
perant,  monendos  hie  esse  puto,  qui  adhuc  .  .  .  hoc  non  observarunt,  d  i  u  t  i  u  s 
aliquantum  in  penultima,  qualis  quantaque  etiam  illa 
sit,  commorati  in  quartum,  quintum  vel  Sextum  usque  Tactum  canendo 
consistant  et  dehinc  in  ultima  demum  desinant. 

2  Ambros-Leichtentritt  a.  a.  O.  IV,  S.  748.  Vgl.  F  r  i  d  e  r  i  c  i 
a.  a.  O.  VII,  Reg.  20:  in  penultima  consonantia  .  .  .  sollen  alle  Stimmen  auß- 
halten  /  vnd  ein  sanfftes  /  fein  messig  gezogenes  Confinal  machen  /  und  nicht 
also  bald  daz  final  dem  Gesänge  anhengen. 


94  Viertes  Kapitel. 

und  Flut  des  Meeres  oder  mit  den  Hammerschlägen  aufstellte1, 
so  wurden  auch  Untersuchungen  über  Beginn  und  Ende  des 
Taktes  angestellt.  Es  handelte  sich  um  die  Frage:  Wo  beginnt 
der  Takt?  In  der  Luft  oder  erst  beim  Aufschlagen  der  taktieren- 
den Hand?  Und  wo  endet  er? 

Sehr  gründlich  ist  darauf  Agostino  Pisa  in  seinem  Buch 
»Battuta  della  musica«  (Rom  1611)  eingegangen.  Er  kommt 
nach  langen  Untersuchungen  dahin:  Der  Takt  beginnt  in  der 
Luft,  ist  beim  Aufschlagen  halb,  und  wenn  die  Hand  wieder  ge- 
hoben ist,  vollständig2.  Diese  Figur:  V  zeigt  seine  Anschau- 
ung von  der  Battuta.  Um  es  musikalisch  auszudrücken: 
Anfang  des  Taktes  Ende  des  Taktes 


Die  gleiche  Auffassung  finde  ich  bei  Erasmus  Grub  er: 
»Oben  im  Lufft  fangt  [der  Tact]  an  /  wann  man  den  Tisch  berührt 
oder  schlägt  /  ist  er  halb  /  das  ist  unten  /  und  die  Hand  wieder 
aufgehebt  oder  oben  /  ist  er  auss;  Ist  also  von  oben  biss  unten 
ein  halber  Tact,  von  unten  biss  oben  wieder  ein  halber,  und  zu- 
sammen ein  gantzer  Tact3.«  Damit  stellt  sich  auch  Gruber  in 
Gegensatz  zur  allgemeinen  Lehre  und  Praxis,  die  Pisa  mit  den 
Figuren : 

!    ,_äL_  (canto  eguale)  und  |  —Ä (canto  ineguale) 

—G> — '  —  &    &  • 

kennzeichnet4.      Der    Takt    beginnt    hier    beim    Niederschlagen, 

1  S.  B  a  n  c  h  i  e  r  i  a.  a.  O.,  S.  33;  M  e  r  s  e  n  n  e,  Harm.  univ.  II,  fol.  324v; 
K  i  r  c  h  e  r,  Musurgia  1650,  II,  52;  R  e  t  z  e  1  i  u  s,  De  tactu  musico  These  VII. 
Bei  Retzel  findet  sich  auch  der  Vergleich  mit  dem  Uhrschlag.     S.  o.  S.  54. 

2  Pisa,  Batt.  della  mus.  (Original  in  der  Kgl.  Bibl.  zu  Brüssel),  cap.  V: 
La  prima  parte  della  nostra  [battuta]  comincia  in  aria  e  descendendo  vä  ä  finire 
nel  battere  ....  La  seconda  parte  della  nostra  battuta  comincia  nel  levare  d'essa 
battuta  e  va  sin  al  fine  della  elevatione.  Cap.  VII:  .  .  .  essendo  la  vera  battuta 
della  musica  questa,  la  quäle  si  descrive  in  questa  maniera  V  ,  e  non  con  due 
linee  rette,  acciö  sia  facile  il  conoscere  il  descendere  dall'  ascendere  e  facendola 
in  questa  maniera    A  •  •  •  • 

3  Syn.  mus.,  cap.  V,  S.  16. 

4  Cap.  V:  Ma  primo  mostrarö,  come  questi  eccellenti  architetti  vadino 
disponendo  le  figure  del  canto  sopra  quelli  ballaustri,  delle  loro  figure  della  battuta. 
Quella  del  canto  eguale  cosi  depingono  .  .  | »  Quella  delle  proportioni  cosi  disse- 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  95 

oder  wie  Penna  sagt:  »(La  battuta)  incomincia  in  quel  punto,  ö 
momento  di  percussione  della  Mano,  e  siegue  nel  levare,  e  ribbas- 
sare  sino  alla  seconda  percussione,  e  in  quel  punto  di  questa  se- 
conda  percussione,  finisce  la  prima  Battuta,  e  nell'  istesso  in- 
stante, ö  momento  incomincia  la  seconda1.«  Pisa  übersieht  bei 
seiner  Theorie,  daß  das  Niedergehen  der  Hand  vor  dem  Beginn 
des  Takts  noch  nicht  zur  Battuta  gehört,  daß  es  nur  ein  Orien- 
tierungszeichen für  die  Musiker  bildet.  »Der  Anfang  wird  beim 
Taktieren  stets  mit  dem  Aufheben  der  Hand  gemacht,  denn 
sonst  würde  man  nicht  niederschlagen  können«,  schreibt  Tevo. 
Das  Aufheben  ist  ein  »segno  initiativo  ö  indicativo«,  während 
das  Niederschlagen  erst  darüber  informiert,  daß  der  Gesang  be- 
ginnen soll2.  Die  allgemeine  Praxis  ließe  sich  nach  Anologie 
der  gegebenen  Figuren  so  aufzeichnen3: 

|        f\ und   4,  f  •'•    ' 

Pisas  Taktierform,  die  den  Schwerpunkt  des  Taktes  nicht  berück- 
sichtigt, bleibt  unbequem.  Es  ist  auch  sehr  fraglich,  ob  sie  über- 
haupt in  Gebrauch  war;  eine  ähnliche  Methode  habe  ich  mit  Aus- 
nahme von  Grubers  Theorie  in  der  durchgesehenen  Literatur 
nirgends  erwähnt  gefunden.  Es  ist  eine  interessante,  doch  keine 
praktisch  zu  verwertende  Idee.  Pisa  führt  seine  Beweise  stets 
mit  Aristoteles,  Euclit  und  den  Theoretikern  des  16.  Jahrhunderts 
(vor  allem  mit  Stephan  Vanneo).  Er  wollte  in  den  zitierten  Stellen 
wohl  mehr  eine  theoretische  Analyse  der  Battuta  als  eine  prak- 
tische Anleitung  zum  Dirigieren  geben.  Der  »Dottore  di  Legge 
canonica  e  civile  e  musico  speculativo  e  prattico«  Agostino  Pisa 
wird    von    Zeitgenossen    und    späteren    Theoretikern    oft    zitiert. 


gnano  ....  La  prima  parte  della  loro  battuta  comincia  nel  battere  e  va  sü  sin' 
all'  estremitä  dell'  elevatione,  detto  loro  levata  ....  La  seconda  parte  della  loro 
battuta  comincia  della  levata  e  vä  descendendo  sin  al  fine  della  discesa. 

1  Lor.  Penna,  Li  primi  albori  musicali,  Bologna  1672,  cap.  15. 

2  Zaccaria  Tevo,  II  Musico  testore.  Venezia  1706,  II,  18:  II  princi- 
piare  della  Battuta  e  nell'  elevatione  della  mano,  che  se  cid  non  fosse,  non  si 
potrebbe  battere  se  la  mano  prima  non  si  levasse,  cosa  che  pare  ridicola,  mä  in 
veritä  e  cosi.  La  elevatione  e  segno  initiativo  d  indicativo;  e  la  positione  ö  segno 
informativo,  che  comincia  il  canto. 

3  Vgl.  Dan.  Hizler  a.a.O.,  Kap.  IV. :  Der  ungerade  Takt  enthält 
»eine  zeit/ darinnen  man  niderschlägt /  die  ander  Zeit  /  da  man  vnten  hält/ 
vnd  die  dritte  zeit  /  darinnen  man  wider  auffhebt«. 


96  Viertes  Kapitel. 

Banchieri  druckt  ein  ganzes  Sonett  von  Pisa  ab1,  und  noch  Bo- 
noncini2,  Tevo3  und  Mattheson4  erwähnen  sein  Werk.  Seine 
Figuren  vom  Taktieren  haben  sich  in  der  gegebenen  Form  nicht 
durchgesetzt. 

Was  bisher  von  der  Taktlehre  und  vom  Taktschlagen  im 
17.  Jahrhundert  gesagt  wurde,  läßt  sich  dahin  zusammenfassen, 
daß  auch  in  der  Zeit  der  Renaissance  mit  der  Hand,  dem  Takt- 
stock oder  irgendeinem  brauchbaren  Gegenstand  der  Takt  ge- 
schlagen wurde,  und  zwar  so,  daß  die  geraden  Takte  in  Hälften, 
die  ungeraden  in  ungleiche  Teile  geteilt  wurden.  Wir  finden 
also  neben  der  in  Oper  und  Instrumentalmusik  gebräuchlichen 
Cembalodirektion  noch  eine  Leitung  durch  einen  Taktschläger. 
Sie  war  besonders  in  Chorkonzerten  gebräuchlich,  wo  die  Zahl 
der  Mitwirkenden  und  ihre  Aufstellung  eine  sichtbare  Direktion 
nötig  machten,  und  dann  auch  wegen  der  Notierung  der  Vokal- 
stimmen, die  oft  ohne  Taktstriche  gedruckt  und  geschrieben 
wurden.  Selbst  bei  kleineren  Gesangskonzerten  mit  schwacher 
Instrumentenbesetzung  pflegte  man  zu  taktieren.  So  malt 
Kaspar  Netscher  ein  Konzert,  wo  eine  Flügelspielerin  und  ein 
Sänger  musizieren,  während  der  Solist  den  Takt  schlägt5,  oder 
er  zeigt  einen  Lautenspieler,  der  eine  Sängerin  und  einen  tak- 
tierenden Sänger  begleitet6.  Auch  Franz  Hals  hat  in  seinem 
Bild  »Musizierende  Knaben«  den  Taktschläger  deutlich  charak- 
terisiert7. In  Ecorchevilles  Ausgabe  alter  Suitenmusik8  ist 
wieder  ein  Konzert  reproduziert,  wo  eine  Sängerin,  eine  Lauten- 
spielerin, ein  singender  Knabe  und  ein  Kniegeiger  konzertieren, 
während  ein  Sänger  aus  einem  Notenbuch  dirigiert.  Auch  die 
bildlichen  Darstellungen  von  größeren  Orchestern  und  Chören,  die 

1  Cart.  mus.  S.  34:  Sonetto  dell'  eccellente  S.  D.  Agostino  Pisa  utile  a  gli 
studiosi  musici  e  cantori  in  dichiaratione  della  battuta  overo  misura  musicale. 
Die  Schlußzeilen  lauten:  S'alla  breve  e  il  concento,  ö  Semibreve,  —  Si  divid' 
egualmente  la  figura:  —  Nella  proportion  van  dui  contr'  una.  —  Nt»n  variasi 
Misura,  in  ciascheduna  —  Sorte  di  Canto.  E  per  parlar  piü  breve,  —  II  Canto 
e  di  tre  Spetie,  e  una  Misura. 

2  Bononcini  a.  a.  O. ,  cap.  XIII,  S.  40. 

3  Zaccaria  Tevo  a.  a.  O.  II,  Kap.  18. 

4  Joh.  Mattheson,  Das  forschende  Orchestre  oder  desselben  dritte 
Eröffnung.    Hamburg  1721,  S.  403,  Anm.  f,  und  C  r  i  t  i  c  a  musica  I,  S.  38. 

5  Kgl.  Gemälde-Galerie.     Dresden. 

6  Kgl.   Pinakothek.     München. 

7  Kgl.  Galerie  zu   Kassel. 

8  Jules  Ecorcheville,  Vingt  Suites  d'Orchestre  du  XVII.  Siecle 
francais.     1906.    Tom.  I,  Blatt  1. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  97 

früher  beschrieben  wurden1,  und  die  sich  leicht  um  viele  Bilder 
vermehren  lassen2,  zeigen,  daß  man  trotz  akkordischer  Beglei- 
tung b  Solo-  und  Chorwerken  mit  der  Hand  dirigierte.  Die 
Cembalodirektion  beschränkte  sich  auf  die  Instrumentalmusik 
und  auf  die  Leitung  der  Oper. 

Eine  eigene  Praxis  erforderte  die  Direktion  mehrchöriger 
Musikstücke,  der  Kantaten  und  Kirchenmusiken.  Ludovico 
Grossi  da  Viadana  gibt  für  die  mehrchörigen  Stücke  seiner 
Kirchenpsalmen  (1612)  diese  Direktionsanweisung:  »Bei  dem 
ersten  Chor  ist  auch  der  Posten  des  Kapellmeisters.  Dieser  hat  aus 
dem  Basso  continuo  des  Organisten  die  Tempoangaben  zu  be- 
stimmen und  die  Soli,  Duo,  sowie  die  drei-,  vier-  und  fünfstimmi- 
gen Sätze  anzudeuten.  Wenn  dann  die  Ripieni  einzusetzen  haben, 
so  hat  er  sein  Angesicht  allen  Chören  zuzuwenden  und  durch  Erheben 
der  beiden  Hände  das  Zeichen  für  sämtliche  Sänger  und  Musiker 
zu  geben3.«  Der  Kapellmeister  sorgt  also  für  das  rechte  Tempo, 
für  die  richtigen  Einsätze  und  leitet  durch  Handbewegungen  die 
vereinten  Chöre,  die  man  in  der  Kirche  an  verschiedenen  Plätzen 
aufzustellen  pflegte.  Seit  dem  vielchörigen  Musikstil  der  Venetianer 
war  es  zur  Regel  geworden,  die  Chöre  auf  Emporen,  im  Schiff  der 
Kirche,  bei  der  Orgel,  oder  wo  ein  geeigneter  Platz  vorhanden 
war,  voneinander  getrennt  aufzustellen.  Jeder  Chor  wurde  von 
einem  Unterdirigenten  geleitet.  Über  diese  Aufstellung  und 
Anordnung  der  Kirchenmusik  sind  wir  am  besten  durch  Michael 
Prätorius  unterrichtet,  der  die  italienische  Praxis  beschrieben 
und  seine  Kompositionen  nach  diesem  Muster  angelegt  hat.  Seine 
mehrchörigen  Werke  sind  sämtlich  auf  eine  solche  Verteilung 
der    Chöre    berechnet.      Er    beschreibt    den    Brauch    so:     >>Nun- 


i  S.  oben,  S.  88f. 

2  S.  Albert  Jacquot,  La  Musique  en  Lorraine  (Paris  1882,  S.  73). 
Ein  Orchester  und  etwa  20  Sänger  konzertieren  auf  einer  Empore.  Ein  Sänger — 
vorn  in  der  Mitte  des  Orchesters  —  taktiert  mit  der  Hand.  Vgl.  auch  das 
Bild  auf  S.  77,  Fig.  19.  Caroline  Valentin  (Gesch.  der  Musik  in  Frank- 
furt a.  M.  1906,  S.  111)  beschreibt  ein  Bild  aus  dem  Jahre  1612  (etwa).  Man 
sieht  auf  demselben  »in  der  Nähe  des  Eingangs  zum  festlich  geschmückten, 
mit  Wachskerzen  erleuchteten  Kaisersaale  eine  Estrade  errichtet,  auf  der  sich 
acht  Bläser  befinden,  die  mit  Zinken,  Pfeifen,  Bomharden  und  Posaunen  musi- 
zieren; in  ihrer  Mitte  dirigiert  aus  einem  großen  Buch,  in  das  alle  hineinsehen, 
der  Kapellmeister«. 

3  Viadana,  Salmi  a  4  chori  per  cantare  e  concertare  .  .  .  con  il  Basso 
continuo  1612.  In  der  Orgelstimme:  Modo  di  concertare  i  detti  Salmi  a  4  chori. 
Übersetzung  nach  Haberl  (Kirchenmus.  Jahrbuch  1889,  S.  59f.).  Vgl.  Prä- 
torius, Synt.  mus.  III,  fol.  O  1  v. 

Kl.  Handb.  der  Mnsitgesoh.  X.  7 


98  Viertes  Kapitel. 

mehr  .  .  nennen  etliche  auch  dieses  eine  Capellam,  wenn  man 
zu  einem  Choro  Vocali,  einen  Chorum  Instrumentalem  compo- 
niret  vnd  setzet.  Doselbsten  wird  der  Chorus  Instrumentalis, 
welcher  ...  in  mangelung  der  Instrumentisten  gar  wohl  aussen 
gelassen  werden  köndte  /  vom  Choro  Vocali,  welcher  Principalis, 
vnd  vor  sich  selbsten  ohne  zuthun  der  Instrumentisten,  doch 
dass  ein  Organist  mit  einem  Positiff  oder  Regal  darbey  /  den 
Sachen  eine  gnüge  thun  kan  /  abgesondert  /  vnd  etwa  gegen- 
über /  oder  an  ein  höhern  /  oder  aber  niedrigem  ort  vnd  stelle 
geordnet:  Welches  in  Italia  auch  Palchetto  genennet  wird  / 
da  sie  bissweilen  mehr  als  einen  Chor  pro  Capella,  vnd  immer 
einen  vber  den  andern  stellen1.  .  .  Es  kan  aber  das  Wort  Pal- 
chetto aus  nachfolgendem  kurtzen  Bericht  /  so  viel  besser  verstan- 
den werden  /  weil  man  in  etzlichen  Kirchen  /  vnd  bevorab  Fürstl. 
Capellen  vnten  bey  der  Erden  /  oder  sonsten  an  einem  bequemen 
Ort  /  do  die  Musici  von  den  Zuhörern  vngehindert  bleiben  können  / 
einen  gewissen  stand  /  einem  Theatro  gleich  /  von  Balcken  vnd 
Brettern  auffzubawen  /  oder  aber  die  Bretter  vber  etliche  Stüle  / 
do  sichs  leiden  wil  /  zulegen  /  vnd  oben  mit  Lehnen  vnd  Tappe- 
zereyen  zubeschmücken  vnd  ausszustaffiren  pflegt.  Wie  man 
dann  auch  wol  /  do  man  wil  /  gar  einen  sonderlichen  Ort  in  die 
höhe  /  einer  kleinen  Poerkirchen  gleich  /  dahin  vnterschiedene 
Chor  von  den  anderen  weit  abgesondert  vnd  gestalt  werden  können  / 
auffbawen  kan:  Inmassen  dann  dergleichen  fügliche  örther  in 
alten  Kirchen  /  vnd  zuvoraus  hinten  in  den  Choren  /  deren  man 
zu  jetzverstandener  behuff  gebrauchen  /  vnd  daher  Palchetto 
nennen  kan  /  offtmals  *  gefunden  werden2.«  Von  einer  ähnlich 
angeordneten  Kirchenmusik  in  Rom  ist  uns  ein  interessanter 
zeitgenössischer  Bericht  erhalten.  Bei  dieser  Aufführung  waren 
zwei  Orgeln  rechts  und  links  vom  Hochaltar  aufgestellt  und  in 
der  Länge  des  Schiffs  8  Chöre,  je  vier  und  vier  auf  Tribünen  ein- 
ander gegenüber.     Der  Dirigent  des  Hauptchors,  der  die  besten 

1  S.  auch  Prätorius  über  die  Anordnung  der  Polyhymnia- Chöre 
(ebd.  III,  fol.  Y  2  v.) :  Es  »müssen  vier  Knaben/  an  vier  absonderliche  Örter  in  der 
Kirchen  gegen  einander  vber/  oder  wohin  es  sich  füglich  schicken  wil/  gestellet 
werden«.  Jeder  Solist  bekommt  ein  Akkordinstrument  zur  Stützung  des  Gesangs 
mit  an  seinen  Platz.  Vgl.  ebenda  fol.  P,  Definition  von  Capella:  Bei  verschiedenen 
Chören  und  Instrumenten  wird  von  den  Italienern  noch  ein  besonderer  Chorus 
ausgezogen,  »darvmb  daß  der  ganze  Chorus  Vocalis,  oder  die  gantze  Capella 
denselben  im  Chor /vnd  von  den  andern  Choren  gantz  ab- 
gesondert/ musiciret«. 

2  Prätorius,  Synt.  mus.  III,  fol.  P  2. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  99 

Sänger  um  sich  versammelt  hatte,  schlug  den  Takt  für  den  ersten 
Chor.  Bei  jedem  der  anderen  Chöre  stand  ein  Kapellmeister, 
der  »nichts  weiter  tat,  als  die  Augen  auf  dieses  Taktieren  zu  heften, 
um  dasselbe  mit  dem  seinigen  in  Übereinstimmung  zu  bringen, 
so  daß  alle  Chöre  nach  ein  und  demselben  Zeitmaß  sangen, 
ohne  zu  schleppen«1.  In  einer  vielchörigen  Kirchenmusik  wirkten 
demnach  ein  Hauptdirigent  und  mehrere  Subdirektoren  mit.  Die 
Chöre  standen  getrennt;  bei  jedem  dirigierte  ein  Chordirigent, 
der  dem  ersten  Kapellmeister  folgen  mußte2.  Jeder  Einzelchor 
und  Solist  hatte  außerdem  ein  Akkordinstrument  —  wenn  viele 
Musiker  zur  Verfügung  standen,  auch  mehrere  Baß-  und  Orna- 
mentinstrumente —  auf  seinem  Platz3.  So  war  für  jeden  Chor 
der  rhythmische  und  harmonische  Halt  gegeben,  denn  die  Cho- 
risten richteten  sich  nach  ihrem  Chordirigenten  und  dem  Ge- 
neralbaßinstrument, das  ihre  Stücke  begleitete.  Prätorius  ver- 
langt, daß  der  Continuo  etliche  Male  abgeschrieben  und  an  die 
Organisten  und  Lautenspieler  verteilt  werde.  In  jeder  Baßstimme 
soll  der  Chor,  den  der  Organist  zu  begleiten  hat,  deutlich  be- 
zeichnet sein,  womöglich  »mit  rother  Tinten  vnterstrichen  «  werden. 
Auch  der  Dirigent  muß  den  Generalbaß  vor  sich  haben,  »damit  er 
nicht  allein  des  Tacts  halben  /  wenn  sich  derselbe  in  Tripeln  vnd 
sonsten  verendert  /  sondern  auch  einen  vnnd  dem  andern  Chor 
einzuhelffen  /  den  gantzen  Gesang  vor  sich  haben  möge«4. 

Ein  Bild  von  einer  solchen  mehrchörigen  Kirchenmusik  hat 
Michael  Prätorius  seinem  Syntagma  (Theatrum  Instrumentorum) 
vorangestellt.  Man  sieht  den  Hauptchor  mit  dem  Dirigenten 
unten  auf  dem  Bilde.  Zwei  Posaunenbläser,  ein  Fagottist,  vier 
Sänger  und  Orgel  musizieren,  während  der  Kapellmeister  aus  dem 
Notenbuch  dirigiert.  Rechts  und  links  sind  Emporen  gezeichnet, 
auf  denen  je  ein  Musikchor  postiert  ist.    Bei  beiden  dirigiert  ein 


1  Ein  französischer  Musikbericht.     M.  f.  M.  1878.  S.  5. 

2  Vgl.  Casp.  Printz,  Musica  modulationis  vocalis  1678,  I,  §6:  »Die  Sub- 
Directores  . . .  formiren  den  Tact  dergestalt  /  dass  er  gar  genau  übereinkomme  / 
mit  dem  Tact  des  Directoris.« 

3  Prätorius,  (a.  a.  O.  III,  fol.Y  2)  über  die  Ausführung  seiner  Polyhymnia- 
Musik:  »So  ist  es  sehr  gut  /  daß  /  wo  man  es  haben  kan  /  bey  einem  jeden 
Knaben /ein  Regal,  Positiff,  Clavi-Cymbel,  Theorba  oder  Lastten  geordnet/ 
damit  also  bey  dem  Knaben  /  wenn  er  singet  /  zu  gleich  mit  drein  geschlagen« 
werde.  S.  auch  den  erwähnten  Musikbericht  (M.  f.  M.  1878,  S.  5),  wo  es  heißt: 
Die  Chöre  wurden  in  Italien  sehr  vorteilhaft  aufgestellt,  jeder  Chor  hatte  eine 
.-kleine  tragbare  Orgel  in  der  Nähe. 

4  Prätorius,  Synt.  mus.  III,  fol.  Q  3. 

7* 


100  Viertes  Kapitel. 

Subdirektor  aus  dem  Notenbuch  und  begleitet  ein  Organist  auf 
einer  kleinen  Orgel.  Von  Instrumentalisten  erkennt  man  auf 
der  linken  Empore  Streichbaß-  und  Geigenspieler,  auf  der  rechten 
zwei  Zinkenisten. 

Die  Anordnung  einer  vielchörigen  Musik  war  dem  Kapellmeister 
überlassen,  der  je  nach  der  Zahl  seiner  Solisten  und  Instrumenten- 
spieler und  nach  dem  Konzertlokal  die  Werke  besetzte  und 
dem  Charakter  der  Musik  entsprechend  bald  eine  große  Zahl 
von  Akkordinstrumenten,  bald  eine  kleinere,  schwächere  In- 
strumentengruppe dem  einzelnen  Chor  zuteilte1.  So  hat  Prätorius 
einmal  die  siebenstimmige  Motette  »Egressus  Jesus«  von  Jacches 
de  Werth  »mit  2  Theorben,  3  Lauten  /  2  Cithern,  4  Clavi- 
cymbeln  vnd  Spinetten  /  7  Violen  de  Gamba,  2  Quer-Flöitten, 
2  Knaben  /  1  Altisten  vnd  einer  grossen  Violen  (Bass-Geig)  ohne 
Orgel  oder  Regal  musiciren  lassen.  Welches  ein  trefflich-prech- 
tigen  /  herrlichen  Resonantz  von  sich  geben  /  also  /  das  es 
in  der  Kirchen  wegen  des  Lauts  der  gar  vielen  Saiten  fast  alles 
geknittert  hat«2.  Man  richtete  also  auch  die  Werke  der  a  cap- 
pella-Periode  für  Instrumentenbesetzung  ein,  um  sie  dem  neuen 
Stil  der  begleiteten  Kantatenmusik  anzupassen.  Prätorius  hat 
uns  ausführlich  beschrieben,  wie  man  Motetten  von  Lassus  für 
Instrumentenmusik  mit  Sologesang  arrangieren  kann.  Er  schlägt 
vor,  die  Schlüsselvorzeichnung  jeder  Stimme  nacheinander  auf- 
zuzeichnen, so  daß  man  Lage  und  Umfang  jeder  Konzertstimme 
übersehen  kann.  Danach  läßt  sich  dann  ohne  große  Mühe  eine 
Instrumentengruppierung  vornehmen.  Die  Stimmlage  in  der 
achtstimmigen  Motette  »In  convertendo«  von  Lassus  gibt  er  in 
folgender  Form: 


lüHte 


Stimme  5.         6.         7.         8.     Stimme 


*.  Chor.  2.  Chor. 

Aus  dieser  Tabelle  kann  die  Tonlage  des  Gesanges  bestimmt  werden; 
es  bleibt  nur  übrig,  nach  dem  Charakter  des  Textes  und  nach  den 
gerade  zur  Verfügung  stehenden  Musikern  die  einzelnen  Stimmen 

1  Die  Instrumentenmenge,  die  in  Kirchenmusiken  mitwirken  konnte,  zeigt 
das  Titelblatt  von  M.  Prätorius'  »Polyhymnia«  1619.  Positif,  Regal,  Orgel, 
Baßinstrumente,  Zinken,  Krummhörner,  Fagotte  und  alle  möglichen  Arten  von 
Zupfinstrumenten  sind  abgebildet. 

2  Prätorius,    Synt.  mus.  III,  fol.  X  4  v. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  101 

instrumental  zu  besetzen.  Prätorius  schlägt  folgende  Anordnung 
vor1:  »Zum  1.  Choro  kan  man  gar  füglich  3  Querflöiten  /  oder 
drey  stille  Zincken/ oder  drey  Violini;  Oder  aber  1  Violin,  1  Cornett, 
vnd  ein  Quer-  oder  Blockflöit  vnter  einander  vermenget;  Zum 
Bassett  aber  ein  Tenoristen,  darneben  so  man  wil  /  auch  ein 
Posaun;  Auch  wol  eine  Posaun  oder  Fagott  absque  voce  humana; 
Do  dann  auch  ein  Knabe  zu  dem  einen  Diskant,  darmit  die  Worte 
gehöret  vnd  vernommen  werden  können  /  anordnen  vnd  bestellen. 
Zum  andern  Chor  kan  man  eitel  voces;  Oder  aber  Violn  de  Gamba, 
oder  Violn  de  bracio,  oder  Blockflöiten  /  nebenst  einem  Fagott 
oder  Quart  Posaun  /  doch  dass  der  Discant  oder  der  Tenor,  oder 
beyde  miteinander  auch  humana  voce  neben  den  Instrumenten 
zugleich  mit  drein  gesungen  werden.« 

Prätorius  bringt  noch  weitere  Anweisungen  über  die  Anord- 
nung von  Chorwerken;  er  bespricht  die  einzelnen  Instrumenten- 
gruppen, ihre  Verwendung  bei  der  Aufführung  und  gibt  dann 
eine  Übersicht  über  die  Art,  wie  man  seine  eigenen  Kompositionen 
in  der  Polyhymnia,  die  »vff  2.  3.  4.  5  vnd  6  Chor  gerichtet«  ist, 
und  ähnliche  Werke  mit  »allerhandt  musikalischen  Instrumenten 
vnd  Menschen  Stimmen,  auch  Trommeten  vnd  Heer-Paucken« 
besetzen  kann.  Seine  Vorschläge  und  Anordnungen  beweisen, 
daß  der  Kapellmeister  die  vorliegenden  Werke  frei  ausgestalten 
konnte.  In  der  geschmackvollen,  wirkungssicheren  Arrangierung 
eines  Musikstücks  zeigte  sich  die  Tüchtigkeit  des  Dirigenten. 

Mit  dieser  Selbständigkeit  der  Ausführung  rechneten  die  Mu- 
siker der  Renaissance  in  ihren  Werken;  und  wir  können  uns 
aus  den  Angaben  des  Prätorius  eine  Vorstellung  davon  machen, 
wie  die  vielen  Werke  mit  der  Überschrift:  »per  cantare  e  sonare«, 
»da  cantarsi  sü  l'instrumento«,  »per  cantare  alla  Tiorba,  Grave- 
cimbalo,  Arpa  doppia  e  altri  Instrumenti«  u.  ähnl.2  in  der  Praxis 
ausgeführt  werden  konnten.  Wo  der  Komponist  bestimmte 
Klangwirkungen  haben  wollte,  schrieb  er  detaillierte  Angaben 
über  die   Besetzung  vor3.     Sonst  genügten   das   Notenbild   und 


1  Prätorius,  Synt.  mus.  III,  fol.  V. 

2  Vogel,  Bibl.  der  weltl.  Vokalm.  I,  S.  451  (Melli,  sec.  musiche),  S.  501 
(I  lieti  giorni  von  Montesardo),  S.  436  (Part,  de  Madrig.  v.  Mazzocchi);  II, 
S.  109  (Quagliati,  Canto,  Canzonette  per  sonare  et  cantare)  u.v.a. 

3  Z.  B.  Monteverdi  im  8.  Buch  der  Madrigale:  Altri  canti  d'Amor  .  .  . 
ä  6  (c.  4  viole  e  2  violini),  Sinfonia  ä  doi  Violini  e  una  Viola  da  brazzo  u.  s.  f. 
(siehe  Tavola  im  B.  c).  Vgl.  auch  G  i  o  v.  P  r  i  o  1  i  s  Delicie  musicali  (1625) : 
La  violetta  ä  7  (4  v.  e  3  istr.),  F  iL  Laurenzis  Concerti  et  Arie  (1641)  »con 


102  Viertes  Kapitel. 

allgemeine  Hinweise  auf  Stimmenzahl  und  Continuo,  um  dem 
Kapellmeister  einen  Anhalt  über  den  Bau  der  vorliegenden  Musik- 
stücke zu  geben1. 

Bisher  ist  lediglich  das  äußere  Bild  vom  Taktschlagen  und 
Kapellmeisteramt,  von  Orchesterbesetzung,  Instrumentenspiel, 
Orchester-  oder  Choranordnung  aus  zeitgenössischen  Schriften 
und  Werken  abzuleiten  versucht  worden.  Die  rein  künstlerische 
Seite  der  Direktion,  die  Frage  nach  der  Vortragsmethode  des  Diri- 
genten ist  nur  vorübergehend  gestreift  worden.  Es  gibt  eben 
im  Renaissancezeitalter  so  viel  neue  Triebe  in  der  Musikübung, 
daß  sich  kaum  ein  Blatt  einzeln  untersuchen  läßt,  ohne  auf  den 
Wuchs  der  ganzen  Pflanze  einen  Blick  zu  werfen.  So  ist  schon 
häufiger  darauf  hingewiesen,  daß  die  Direktion  im  17.  Jahr- 
hundert freier  und  subjektiver  wurde.  An  die  Stelle  des  gleich- 
mäßigen Taktschiagens  trat  die  Direktion  vom  Cembalo  aus 
oder  ein  Dirigieren  mit  Hand  oder  Stock,  das  sich  nach  dem 
im  Tonstück  ausgedrückten  Affekt  richtete.  Die  frühesten  Nach- 
richten über  diese  Leitung  nach  dem  Gehalt  der  Musik  sind  schon 
im  Kapitel  vom  »Taktschlagen  in  der  Mensuralmusik«  aufge- 
führt, dieMeinungen  der  Musiker  Schneegaß  undZacconi.  Beide 
betonen,  daß  nach  dem  Textausdruck  das  Tempo  modifiziert, 
daß  weltliche  und  geistliche  Musik  im  Vortrag  streng  geschieden 
werden  müssen.  Diese  Gedanken  sind  Vorboten  der  Renaissance- 
bewegung. Man  wollte  die  Gesangsmusik  aus  den  Fesseln  der 
Polyphonie  befreien,  um  den  Affekt  der  Textworte  mehr  zur  Gel- 
tung zu  bringen,  man  wollte  die  kontrapunktische  Technik  da, 
wo  sie  Selbstzweck  geworden  war,  durch  die  einfache  Rezitation, 
durch  sinngemäße  musikalische  Unterstreichung  der  Wortge- 
dänken  ersetzen.  Im  letzten  Grunde  geht  die  Renaissancekunst 
immer  wieder  auf  ein   Problem  zurück:  auf  die  Frage,  wie  die 


una  Serenata  ä   5  e  doi  Violini,  e  Chitarrone«.    Vogel,  a.a.O.  Vgl.  hierzu 
Schütz'  Werke  (Ges. -Ausgabe,  Breitkopf    &  Härtel),  Vorwort. 

1  Vgl.  Ahles  Vorschriften,  seine  Neuen  Geistl.  Arien  aufzuführen  (Denkm. 
d.  Tonk.  I.  V.  S.  X,  XIII,  XIV):  Die  Stücke  kann  1.  einer  allein  zugleich  spielen 
und  singen  zu  einem  Fundament,  2.  können  sie  mit  zwei  Stimmen,  mit  3  und 
dann  mit  vier  »mit  und  ohne  Fundament«  musiziert  werden,  3.  kann  man  sie 
für  zwei  und  drei  Chöre  arrangieren,  4.  können  die  Ritornelle  mit  vier  Violinen 
oder  mit  »2  Violinen  und  einem  Corpore«  gespielt  werden.  Bei  anderen 
Chören  schließt  er  seine  Vorschläge  mit  der  Bemerkung:  Die  Anstellung  wird 
»Jedem  anheim  gegeben«.  Vgl.  auch  die  Vorschriften  im  Zodiacus  (Denkm.  d. 
Tonk.  X,  S.  90).  Die  genaue  Besetzung,  heißt  es  da,  wird  dem  »Judicio 
eines  wohlerfahrnen  Musikalischen  Gehörs  überlassen«. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  103 

Musik  eine  Affektensprache  darstellen  kann.  Vincenzo  Galilei, 
ein  leidenschaftlicher  Vorkämpfer  der  Renaissance,  berührt  in 
seinem  Fronimo- Dialog  diese  Frage,  er  kritisiert  die  Werke  eines 
Merulo  und  Guami  vom  Standpunkt  des  Renaissancemusikers  und 
findet,  daß  ihre  Arbeiten  die  Affekte  der  Schärfe  oder  Härte,  der 
Milde  oder  Weichheit,  der  Rauheit  und  Anmut,  des  Klagens,  Seuf- 
zens,  Weinens,  der  Beruhigung  und  Raserei  nicht  mit  der  Kraft  aus- 
drücken konnten,  wie  die  Lautenmusik  seiner  Zeit1.  Auch  Castig- 
lione  und  Zarlino,  die  am  Anfang  des  Kapitels  zitiert  wurden2, 
legen  auf  den  Ausdruck  der  Affekte  großen  Wert.  Nach  Castiglione 
gibt  das  solistische  Singen  zur  Violenbegleitung  den  Worten  eine 
Anmut  und  Wirkung,  die  geradezu  wunderbar  sind3.  Diese  Be- 
tonung der  Affektensprache  zieht  sich  durch  die  ganze  Literatur 
der  Renaissancemusiker  und  -theoretiker,  ja  Agazzari  behauptet, 
daß  man  erst  jetzt  den  wahren  Stil  des  Wortausdruckes  gefunden 
habe4.  Berühmt  ist  Monte verdis  Vorrede  zum  8.  Buch  der  Madri- 
gale, in  der  er  seine  Erfindung  des  Tremolo  beschreibt.  Er  habe 
erkannt,  daß  alle  Leidenschaften  oder  Gemütsbewegungen  in 
drei  Graden  sich  abstufen,  in  Zorn,  Mäßigung  und  Demut  oder 
Flehen.  Diesen  Affekten  entspräche  der  erregte,  weiche  und  ge- 
mäßigte Charakter  der  Musik,  von  denen  der  Zorn  durch  die 
Tonsprache  noch  nicht  realistisch  dargestellt  worden  wäre.  Aus 
diesem  Grunde  habe  er  die  musikalische  Nachahmung  des  Zornes 
im  Anschluß  an  das  pyrrhische  Versmaß  versucht  und  jene  Noten- 
repetition  auf  gleicher  Tonhöhe  erfunden,  die  er  auch  in  weiteren 
Arbeiten  für  Kirche  und  Kammer  gebraucht  habe6.     Monteverdi 


1  Vinc.  Galilei,  Fronimo  Dialogo,  Venedig  1584,  S.  51:  .  .  .  al  pre- 
sente  alcune  altre  dir  vene  voglio  io  con  sopportatione  di  Claudio  da  Coreggio, 
del  maestro  nostro  di  Capella,  e  del  caro  nostro  Giosophe  Guami,  i  quali  tutti 
non  per  diffetto  del'  Arte  e  saper  loro  ma  della  natura  dello  strumento,  non 
hanno  possuto,  non  possano,  ne  potranno  mai,  esprimere  gli  affetti  delle  Ar- 
monie  come  la  durezza,  mollezza,  asprezza  e  dolcezza;  e  consequentemente  i 
gridi,  i  lamenti,  gli  stridi,  i  pianti,  e  ultimamento  la  quiete  e'l  furore,  con  tanta 
gratia,  e  maraviglia,  come  gli  Eccellenti  Sonatori  nel  Liuto  fanno. 

2  S.  o.  S.  69. 

3  Castiglione,  Cortigiano:  ma  sopra  tutto  parmi  gratissimo  il  cantare 
alla  viola  per  recitare:  il  che  tanto  di  venustä,  et  efficacia  aggiunge  alle  parole, 
che  e  gran  maraviglia  (s.  Kinkeldey,  a.  a.  O.  S.  154,  Anm.  i), 

4  Agazzari,  a.  a.  0. :  dico,  che  essendosi  ultimamente  trovato  il 
vero  stile  d'esprimere  le  parole,  imitando  lo  stesso  iagionare  nel  meglior  modo 
possible. 

5  Vgl.  E  m  i  1  V  o  g  e  1  s  Übersetzung  in  der  V.  f.  M.  1887,  S.  396f.  Das  Wort 
Tremolo  begegnet  schon  früher  in  den  »Madrigali  e  Symfonie«  Biagio  Marinis, 


104  Viertes  Kapitel. 

ist  also  aus  der  rein  spekulativ-reflektierenden  Anschauung  über 
Charakter  und  Eigenheit  der  Musik  zur  Erfindung  des  Tremolo- 
effektes gekommen.  Auch  die  erwähnten  Arrangierungen  der 
a  cappella-Musik,  wie  sie  Michael  Prätorius  vorschlägt,  gehen 
auf  die  Anschauung  der  Renaissance  zurück,  auf  das  Hervor- 
heben des  Wortgedankens  und  Affekts.  Überall  sieht  man  das 
Streben,  zu  einer  schärferen  Musikcharakteristik  zu  kommen. 

Für  diese  Richtung  ist  auch  die  allmähliche  Einbürgerung 
von  Vortragszeichen  charakteristisch.  Früher  genügten  die  Vor- 
tragslehren des  Gesangmeisters,  um  eine  schulgerechte  und  gute 
Wiedergabe  eines  Chors  zu  erzielen1.  Proportions-  und  Takt- 
zeichen reichten  aus,  um  den  Verlauf  des  Tonstücks  nach  dem 
gleichmäßigen  Taktschlag  zu  regeln.  Jetzt  hatte  man  ein  neues 
Notenbild  vor  sich,  eine  taktmäßig  notierte  Partitur  oder  eine 
Vokalstimme,  die  trotz  ataktischer  Notierung  nicht  nach  einem 
gleichmäßigen  tactus,  sondern  nach  den  Akzentuierungen  des 
Gruppentaktes,  wie  ihn  Instrumente  und  Continuo  brachten, 
ausgeführt  werden  sollte.  Die  freie  Direktion  und  die  taktische 
Rhythmik  hatten  neue  Ausführungsbedingungen  gestellt.  Um 
den  Musikern  und  Dirigenten  nun  einige  Anhaltspunkte  für  den 
Vortrag  zu  bieten,  die  sich  aus  der  allgemeinen  Musiklehre  nicht 
ohne  weiteres  ergaben,  griff  man  zu  Vortragszeichen,  die  über 
Dynamik  und  Tempoführung  orientieren  sollten.  Die  einfachsten 
dynamischen  Effekte,  die  Echowirkungen  und  das  Gegenüber- 
stellen verschiedener  Stimmgruppen  hatten  schon  die  Meister 
des  a  cappella-Stils  ausgenutzt.  Sie  sind  in  der  Renaissancemusik 
Gemeingut  der  Komponisten.  In  Oper-  und  Chormusik,  in  Solo- 
konzert- und  Instrumentalliteratur  werden  diese  Effekte  reichlich 
angewandt.  Berühmte  Beispiele  sind  da  Andrea  Gabrielis 
Sonate  »pian  e  forte«  und  die  Echoarien  der  venetianischen  Oper. 
Viele  Musiker  geben  die  Dynamik  genau  an.  So  schreibt  Adriano 
Banchieri  in  der  »La  Pazzia  senile«  (1601)  Piano  und  Forte 
vor,  damit  mit  genauer  Abwechslung  gesungen  würde2.     Prä- 

doch  ist  damit  wohl  nur  ein  Tonvibrieren  gemeint  und  nicht  der  Monteverdische 
Effekt.  Ich  urteile  allerdings  nur  nach  der  Baßstimme  der  genannten  Sammlung 
aus  dem  Jahre  1618. 

1  S.Bernh.  Ulrich,  Die  Grundsätze  der  Stimmbildung.  Leipzig  1910, 
Kap.  1  und  4. 

2  La  Pazzia  senile,  1601.  Vorrede:  Per  ultimo  avertasi  in  alcune  Scene 
dove  e  scritto  Piano  e  Forte,  che  vuol  significare  si  canti  con  mutatione,  o  per 
meglio  dire  alteratione  di  voce,  e  questo  per  conoscere  la  diversitä  de  gl'  inter- 
locutori  (Vogel,  a.  a.  0.  I,  S.  57). 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  105 

torius  meint,  eine  solche  »Variation  vnd  vmbwechselung«  sei 
gut  und  vortrefflich,  »wenn  sie  fein  moderate  vnd  mit  einer 
guten  gratia,  die  affectus  zu  exprimiren  vnd  in  den  Menschen 
zu  moviren,  vorgenommen  vnd  zu  werck  gerichtet  wird«.  Es 
wisse  jeder  Musiker,  was  die  Worte  »Forte,  elate,  clare,  id 
est,  summa  seu  intentä  voce«  bedeuten,  nämlich,  daß  die  In- 
strumentalisten  und  Vokalisten  »zugleich  starck:  Pian,  submisse, 
wenn  sie  die  Stimme  moderiren  vnd  zugleich  gar  stille  intoniren 
vnd  Musiciren  sollen1«.  Diese  Schattierungen  seien  am  besten 
in  Kammerkonzerten  angebracht,  wenn  die  »Stimmen  oder 
Chori  sich  selbsten  oder  aber  per  vices  in  art  eines  Echo, 
forte  e  Pian,  starck  vnd  still  respondiren«2.  In  großen  Kirchen 
müsse  man  mit  Vorsicht  vorgehen,  da  der  weite  Raum  viele 
Schönheiten  der  Dynamik  verschlinge.  Noch  feinere  Unter- 
schiede als  die  von  Forte,  Piano,  elate  und  submisse  gibt  Do- 
menico Mazzocchi  in  seiner  Partitura  de'  Madrigali  ä  5(1638), 
wo  das  Madrigal  »Sul  mattino«  mit  Vortragszeichen  vom  Forte 
bis  zum  Pianissimo  bezeichnet  ist3.  Heinrich  Schütz  gebraucht 
die  gleichen  Zeichen;  am  genialsten  in  der  großen  Chorszene  »Saul, 
Saul,  was  verfolgst  du  mich«  an  der  Stelle,  wo  die  Worte  des  Herrn 
erst  forte,  wie  ein  gewaltiger  Ruf  herausgestoßen  werden,  dann 
mezzo-piano  und  schließlich  —  wie  eine  ernste  Mahnung  —  im 
zartesten  pianissimo4. 

Auch  die  Crescendo-  und  Decrescendomanier  war  den  Re- 
naissancemusikern bekannt.  Caccini  spricht  in  seiner  »Nuove 
Musiche«  (1601)  vom  Schwellton  und  bringt  Vorschläge  für  einige 
Arten  der  Esklamation,  die  einem  Crescendo  und  Decrescendo 
gleichen5.    Überhaupt  zeigt  die  ganze  italienische  Gesangsmethode 

1  Prätorius,  Synt.  mus.  III,  fol.  O  4  v, 

2  Ebenda,  fol.  B  b  2. Vgl.  J oh.  An dr.  Herbst,  Mus.  pract.  1642, S.  54:  P.  id 
•est  Piano,  Lind/  still.  F.  id  est  forte,  wenn  alle  Stimmen  starck  vnd  laut  sich 
sollen  hören  lassen. 

3  Theodor  Kroyer,  Dialog  und  Echo  in  der  alten  Chormusik,  Peters- 
Jahrbuch  1909,  S.  30. 

4  Ges. -Ausgabe  Bd.  XI,  S.  102.  Die  Dynamik  ist  im  folgenden  Kapitel  zu- 
sammenfassend behandelt  worden. 

5  Caccini,  Le  nuove  Musiche.Vorrede  S.  6:  Sono  . . .  alcuni  altri  detta  prima 
nota  nella  propria  corda,  sempre  crescendola,  dicendosi  questa  essere  la  buona 
maniera  per  mettere  la  voce  con  grazia.  Ebenda:  ho  trovato  essere  maniera  piü 
affettuosa  lo  intonare  la  voce  per  contrario  effeto  all'  altro,  cioe  intonare  la 
prima  voce  scemandola,  perö  che  l'esclamazione  che  6  mezzo  piü  principale 
per  muovere  l'affetto:  e  esclamazione  propriamente  altro  non  e,  che  nel  lassare 
de  la  voce  rinforzarla  alquanto.     Vgl.  hierzu  B.  Ulrich,  a.  a.  O.  S.  76. 


106  Viertes  Kapitel. 

des  17.  Jahrhunderte,  daß  man  im  Sologesang  und  auch  im 
Chorvortrag  durchaus  modern  nuancierte1.  In  der  erwähnten 
Madrigalsammlung  Mazzocchis  werden  sogar  Vortragszeichen  für 
Crescendo  und  Decrescendo  angeführt.  Der  Buchstabe  V  zeigt 
ein  Anschwellen  vom  Piano  zum  Forte  an,  der  Buchstabe  C 
das  Crescendo  und   Decrescendo,  An-  und  Abschwellen2. 

Noch  deutlicher  als  in  diesen  Vortragszeichen  drückt  sich  der 
Geist  der  Renaissance  in  den  Direktionsvorschriften  aus,  die 
die  Musiker  des  17.  Jahrhunderts  im  Anschluß  an  die  Vor- 
kämpfer der  Renaissance  geben.  Fast  einmütig  wird  betont, 
daß  der  Kapellmeister  nach  dem  Affekt  eines  Tonstücks  Tempo 
und  Ausführung  zu  bestimmen  hat.  Monte verdi  unterscheidet 
im  8.  Buch  seiner  Madrigale  (1638)  sogar  ein  »tempo  de  la  mano« 
und  ein  »tempo  del'  affetto  del  animo  e  non  a  quello  de  la  mano«. 
Das  erste,  das  für  ein  in  Stimmen  gedrucktes,  dreistimmiges 
»Non  havea  Febo  ancora«  vorgeschrieben  ist,  soll  ohne  Schwan- 
kungen und  Tempoänderungen  nach  dem  Taktschlag  gesungen 
werden,  das  letztere,  ein  vierstimmiges,  in  Partitur  gesetztes 
»Lamento  della  ninfa«,  ist  nach  der  ausgedrückten  Stimmung 
mit  Tempomodilikationen  vorzutragen,  so  daß  der  Klagegesang 
der  Nymphe,  ein  Sopransolo,  sich  deutlich  von  den  leise  beglei- 
tenden Unterstimmen  abhebt.  Agazzari  legt  großes  Gewicht  auf 
eine  solche  geschmackvolle  Begleitung  der  Hauptstimme;  auf 
keinen  Fall  sollen  die  Akkordinstrumente  den  Affekt  stören3.  Auch 
Prätorius  plaidiert  für  die  Direktion  nach  dem  Affekt  eines  Ton- 
stückes. Er  sagt,  man  müsse  »ex  consideratione  Textus  et 
Harmoniae  observiren,  wo  ein  langsamer  oder  geschwinder  Tact 
gehalten  werden  müsse«4.  Kirchengesänge  und  weltliche  Chor- 
stücke   sollen    verschieden    dirigiert   werden,    erstere    langsamer, 


1  Vgl.  Max  Kuhn,  Die  Verzierungskunst  in  der  Gesangsmusik  des  16. 
und  17.  Jahrhunderts.  Hugo  Goldschmidt,  Die  ital.  Gesangsmelhode 
des  17.  Jahrhunderts.     Bernhard  Ulrich,  a.  a.  O. 

2  Mazzocchi,  Partitura  de'  Madrig.  (1638),  Vorrede:  Questo  V  significa 
sollevatione,  ö  messa  di  voce  che  nel  caso  nostro  e  l'andar  crescendo  ä  poco,  ä 
poco  la  voce  di  fiato  .  .  .  Questo  C  dimosträ,  che  si  come  nelle  tenute  si  hä  prima 
da  crescer  con  soavitä  la  voce  di  spirito,  e  non  di  tuono,  cosi  anche  doppo  succes- 
sivamente  si  debba  ä  poco,  ä  poco  andar  smorzando  e  tanto  pianeggiarla  in- 
sieme,  che  si  riduca  all'  insensibile  ö  al  nulla  (Vogel,  Bibl.  I,  S.  437). 

3  A  g  a  z  z  a  r  i ,  a.  a.  O. :  in  tal  caso  devono  tenere  l'armonia  ferma, . . .  non 
ribattendo  troppo  le  corde,  mentre  la  voce  fa  il  passagio,  e  qualche  affetto,  per 
non  interromperla. 

4  Prätorius,  Synt.  mus.  III,   S.  51. 


Vom  Dirigieren  im  Zeilalter  der  Renaissance.  107 

letztere  schneller  und  frischer.  Doch  können  auch  beide  Stil- 
gattungen ineinander  greifen  und  in  »Concerten  per  Choros  .  .  <► 
bald  Madrigalrsche,  bald  Motetten  Art  vnter  einander  vermenget 
vnd  vmbgewechselt «  werden.  Hier  hat  man  sich  »auch  im  Tac- 
tiren«  nach  der  ausgedrückten  Stimmung  zu  richten1.  Prä- 
torius  wendet  sich  dann  gegen  die  Musiker,  die  diese  Stilmischungen 
in  den  Kompositionen  nicht  anerkennen  wollen,  und  begründet 
seine  Ansicht  aus  dem  Charakter  der  Musik  und  ihrer  klang- 
lichen Wirkung:  »Ettliche  wollen  nicht  zu  geben  /  dass  man  in 
compositione  alicuius  Cantionis  zugleich  Motettische  vnd  Ma- 
drigalische Art  vntereinander  vermischen  solle.  Deroselben 
Meynung  ich  mir  aber  nicht  gefallen  lasse;  Sintemahl  es  den 
Motetten  vnd  Concerten  eine  besondere  lieblich:  vnnd  anmütig- 
keit  gibt  vnnd  conciliiret,  wenn  im  anfang  etliche  viel  Tempora 
gar  pathetisch  vnd  langsamb  gesetzet  seyn  /  hernach  etliche 
geschwinde  Clausulen  daruff  folgen:  Bald  wiedervmb  langsam 
vnd  gravitetisch  /  bald  abermahl  geschwindere  vmbwechselung 
mit  einmischen  /  damit  es  nicht  allezeit  in  einem  Tono  vnd  Sono 
fortgehe  /  sondern  solche  vnd  der  gleichen  verenderungen  mit 
eim  langsamen  vnd  geschwinden  Tact:  So  wol  auch  mit  erhebung 
der  Stimmen  /  vnnd  dann  bissweilen  mit  gar  stillem  Laut  mit 
allem  fleiss  in  acht  genommen  werde2.«  Prätorius  kommt  darauf 
zurück,  als  er  die  italienischen  Vortragszeichen  Forte,  Piano 
und  Adagio,  Lento,  Presto  erklärt.  Diese  Tempobezeichnungen 
sind  ebenso  wie  die  dynamischen  Vortragszeichen  erst  im  Re- 
naissancezeitalter in  Aufnahme  gekommen.  Sie  geben  spezielle 
Hinweise  auf  den  Affektausdruck,  denn  das  Tempo  eines  Ton- 
satzes war  bereits  durch  das  Notenbild  charakterisiert:  durch 
lange  Notenwerte  für  getragene  Stücke  und  durch  kurze  Werte  für 
lebhafte  Sätze. 

Ein  Stück  im  C-Takt,  »so  fern  der  halbe  Zirkul  gantz«,  hat 
nach  Carissimi  eine  »langsame,  gravitätische  /  gleiche  Mensur«, 
eine  Komposition  im  3/1  erfordert  ein  langsameres  Tempo  als  ein 
Stück  im  3/2-Takt.  Der  3/4  verlangt  wieder  eine  geschwindere 
Bewegung  als  der  3/2.3  Es  gibt  allerdings  Musiker,  sagt  Carissi- 
mi4, welche  >>  in  allen  Triplis  ohne  Unterscheid  einerley  Tact  und 
Mensur   gebrauchen  /  geben   darbey   vor  /  die   vilfältige   Verände- 

1  Prätorius,  Synt.  raus.  III,  S.  51. 

2  Ebenda,   S.  80. 

3  Ars  cantandi,  S.  14  f. 
*  Ebenda,  S.  16. 


108  Viertes  Kapitel. 

rung  der  Zahlen  seye  nur  von  den  Componisten  erfunden  /  die 
Musicos  dardurch  zu  vexiren  /  aber  weit  gefehlt  /  daß  die 
Triplae  alle  in  der  Quantität  Außtheilung  oder  Proportion  über- 
ein kommen  /  gesteht  man  gern  /  aber  in  der  Qualität  Langsam- 
oder Geschwindigkeit  /  oder  wie  es  die  Italiäner  Tempo,  und  die 
Franzosen  Mouvement  nennen  /  wird  rotunde  negirt  /  und  gäntz- 
lich  widersprochen  /  auch  in  den  unterschiedlichen  Modis  und 
Gemüths  -  Bewegungen  deren  Gesänger  (!)  genugsam  probirt  / 
wie  weit  solche  Klügling  sich  verschiessen;  Ist  eben  /  als  sagte 
man:  Ein  Gulden  wird  in  3  Theil  /  als  nemlich  in  3  Kopfstück 
getheilt  /  ein  Groschen  auch  in  3  /  als  nemlich  3  Kreutzer:  so 
folgt  dann  /  daß  ein  Gulden  und  ein  Groschen  eins  ist.  Man  sehe 
und  höre  nur  den  großen  Unterschied  der  Triplen  in  Couranten, 
Sarabanden,  Menueten,  Giguen  u.  dgl.;  Wjrd  alsdann  mehrere 
Proben  nicht  brauchen.«  Jede  Taktart  hat  ihre  eigene  Bewegung, 
die  durch  das  Vorherrschen  größerer  oder  kleinerer  Notenwerte 
charakterisiert  wird1. 

Für  die  Notwendigkeit  der  Tempomodifikation  gibt  Prä- 
torius  diese  Erklärung:  »Es  erfordert...  offtermahls  die 
composition,  so  wol  der  Text  vnd  Verstand  der  Wörter 
an  ihm  selbsten:  dass  man  bisweilen  /  nicht  aber  zu 
offt  oder  gar  zu  viel /den  Tact  bald  geschwind  /  bald 
wiederumb  langsam  führe;  auch  den  Chor  bald  stille  vnd 
sanfft  /  bald  starck  vnd  frisch  resoniren  lasse.  Wiewol  in  solchen 
vnd  dergleichen  vmbwechselungen  /  in  Kirchen  viel  mehr  /  alss 
vor  der  Taffei  eine  moderation  zu  gebrauchen  vonnöten  sein 
wil«2,  d.  h.  die  dynamischen  und  Zeitmaß-Schattierungen  sind 
eher  bei  der  Tafel-  oder  Kammermusik  am  rechten  Platz  als  in 
der  Kirche,  wo  in  dem  großen  Raum  die  feineren  Nuancierungen 
oft  verloren  gehen.  Aus  diesen  Worten  und  den  früher  zitierten 
Quellen  ergibt  sich,  daß  man  schon  zur  Zeit  der  Renaissance 
Tempomodifikationen  kannte  und  anwandte.  Lediglich  der  Affekt, 
der  Textausdruck  bestimmte  Tempoführung  und  Wiedergabe  eines 
Tonstücks.  Wir  stehen  hier  am  Anfang  einer  Kunst  des 
Dirigierens,  am  Ausgangspunkt  der  modernen  Auf- 
fassung vom  Kapellmeisteramt. 

Die  Affektdirektion  der  Renaissancezeit  hat  sich  im  17.  Jahr- 
hundert rasch  durchgesetzt.     Viele  Musiker  stellten  ihren  durch 

1  Auf  diese  Kennzeichen  für  die  Tempobestimmung  wird  im  folgenden 
Kapitel  näher  eingegangen. 

2  Ebenda  III.,  fol.  O  4  v. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  109 

den  Druck  veröffentlichten  Werken  die  Notiz  voran,  daß  die 
Kompositionen  nach  den  ausgedrückten  Stimmungen  frei  aus- 
geführt, beziehungsweise  dirigiert  werden  sollen.  So  Monte- 
verdi  im  8.  Buch  seiner  Madrigale  in  dem  erwähnten  »Lamento 
della  ninfa«,  so  Frescobaldi  im  ersten  Tokkatenbuch,  wo  es  aus- 
drücklich heißt:  »Die  Art  des  Spielens  darf  nicht  dem  strengen 
Taktschlagen  unterworfen  sein.  Man  muß  diese  Stücke  viel- 
mehr in  der  Art  der  modernen  Madrigale  vortragen,  die,  obschon 
schwierig,  dennoch  für  die  Auffassung  erleichtert  werden  durch 
den  Wechsel  im  Zeitmaß,  indem  man  bald  schmachtend, 
bald  rasch  singt,  bisweilen  den  Ton  gleichsam  in  der  Luft  hemmt, 
wie  es  gerade  der  Ausdruck  des  Affekts  verlangen  mag  und 
der  Sinn  der  Worte1.«  Der  freie  Vortrag  wurde  auch  vom 
Instrumentalsolisten  gefordert.  Wir  haben  uns  vorzustellen,  daß 
die  gesamte  Renaissancemusik  in  ähnlich  subjektiver  Manier 
ausgeführt  wurde  wie  die  moderne  Musik.  Ja  die  Freiheit  der 
Wiedergabe  war  in  alter  Zeit  noch  größer  als  heutzutage.  Denn 
die  Solisten  verzierten  ihre  Stimme  mit  Trillern,  Koloraturen 
und  Ornamenten,  die  Continuospieler  improvisierten  ihre  Be- 
gleitung, während  die  Komponisten  in  ihren  Werken  nur  die 
notwendigsten  Vorschriften  über  Dynamik  und  Vortrag  angaben, 
da  sie  in  den  Ausführenden  nicht  allein  reproduzierende,  sondern 
auch  produktive  Künstler  sahen. 

Die  Tempomodifikation  ist  noch  von  vielen  Musikern  bezeugt. 
So  sagt  Daniel  Friderici2:  »Im  singen  sol  durchauss  nicht  einer- 
ley  tact  gespüret  werden:  Sondern  nach  dem  die  worte  des  Textus 
seyn  /  also  muss  auch  der  tact  gerichtet  seyn.  (Irren  demnach 
die  Cantores,  welche  den  tact  so  schnurgleich  abmessen  /  alss 
dass  Uhrwerck  seine  minuten3  vnd  observiren  gantz  kein  decorum 
vnd  convenientz  des  Textus  vnd  der  Harmoney.  Denn  bald  ein 
geschwinder  /  bald  ein  langsamer  tactus  erfordert  wird/. «  Er 
gibt  diese  Beispiele: 

geschwind  langsam 


^Ö 


ce-le-ri     prae-ce-dit,     ce-le  -  ri     prae-ce  -  dit     tar-da     se-qui-tur 


1  Übersetzung  nach  Ambros-Leichtentritt,  Gesch.  der  Musik  IV,  S.  748. 

2  A.  a.  0.   Kap.  VII,  Reg.  19. 

3  Er  meint  die  Kollegen,  die  der  alten  Tradition  folgen  wollten. 


HO  Viertes  Kapitel, 

langsam  geschwind 


-w> 


i 


£^-f     f"7q: 


tri  -  sti  -  ti  -  a  gau  -  di-um,      gau-di  -  um  magnum 

Auch  Mersenne  verlangt,  daß  man  nach  dem  Wortgedanken 
oder  den  verschiedenen  Affekten  dirigiere2.  Ähnlich  schreibt 
Erasmus  Gruber  in  seiner  Synopsis  musica  (fol.  B  iTlv):  Der 
Takt  soll  »nach  dem  Genio  und  Beschaffenheit  des  Texts  /wie  es 
derselbe  erfordert«  geschlagen  werden.  Retzelius  sagt,  es  klinge 
sehr  schön,  wenn  der  Gesang  bisweilen  langsamer  und  wieder 
schneller  genommen  werde,  je  nachdem  es  der  Affekt  des  Stückes  — 
Ernst  oder  Lebhaftigkeit  —  andeute3.  Hanns  Haiden  sieht 
in  dieser  Tempomodifizierung  eine  schöne  Manier,  »die  affectus 
zu  movirn«4.  Diese  Nachrichten,  die  sich  leicht  vermehren 
lassen5,  beweisen,  daß  im  Zeitalter  der  Renaissance  nicht  mehr 
metronomisch  taktiert  wurde,  sondern  daß  man  nach  dem  Aus- 
drucksgehalt  der  Musik  dirigierte.  Wie  die  Worte  von  Prätorius 
aus  Wolfenbüttel,  des  Rostocker  Kantors  Friderici,  des  Regens- 
burgers Gruber,  die  Angaben  von  Mersenne  und  vielen  anderen 
Musikern  zeigen,  ist  die  neue  Richtung  in  der  Direktion  ebenso 
schnell  wie  die  Renaissanceliteratur  in  Deutschland  und  Frank- 
reich durchgedrungen.  Im  17.  Jahrhundert  beginnt  die  Kunst  der 
Direktionsführung,  die  selbständige  Leitung  von  Chor  und  Orchester 
oder,  wie  die  Renissancemusiker  sagen,  die  Direktion  nach  dem 
Affekt  eines  Tonstückes.  Natur  und  Ausdruck  des  Textes, 
Stimmung  und  Gehalt  eines  Instrumentalsatzes  bestimmen  Vortrag 
und  Tempomodifikation. 

Ein  fester  Zeitwert  des  Semibreven-  oder  Breventaktes,  ein 
integer  valor  notarum,  existiert  für  diese  Zeit  nicht  mehr.     Un- 

1  Worte  und  Notenbeispiele  stehen  fast  notengetreu  auch  bei  Joh.  Mich. 
Corvinus  (Heptachordum  Danicum  1646,  S.  16). 

2  Mersenne,  Harm.  univ.  (II,  fol.  324  v) :  suivant  la  lettre  et  les  paroles, 
ou  les  passions  differentes  du  sujet. 

3  Retzelius,  De  tactu  musico:  nunc  velocius,  mox  iterum  languidius 
Tactum  incedere  animadvertimus;  adeo  ut  saepe  omnia  instrumenta  jam  quie- 
tura  videantur,  cum  redintegrato  quasi  certamine  novis  viribus  personare  in- 
cipiunt.  Immo  in  voce  ipsa  pro  rei  gravitate  aut  alacritate  interdum  tardioribus 
et  rursum  celerioribus  Battutis  uti  perquam  decorum  est. 

*  H.  Haiden,    Musicale  instrumentum  reformatum.  1610,  B.  V. 

6  S.  D  i  ru  t  a,  a.  a.  O.  IV,  S.  24/25;  Kircher,  Musurgia  II,  S.  52;  J.Cas- 
par  Printz,  Mus.  modul.  VII,  §9,  wo  es  u.  a.  heißt,  daß  der  Direktor 
»eines  Affecten  oder  anderer  Ursach  halber  die  Mensur  geschwinder  oder  lang- 
amer«  führt. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  Hl 

gefähr  läßt  sich  aber  die  Dauer  einer  Viertelnote  aus  einer  Angabe 
von  Michael  Prätorius  feststellen1.  Er  hat  berechnet,  daß  bei 
einem   »mittelmäßigen  Takt«: 


80 
160 
320 

640 


tempora  in  einer 


halben 

}   viertel  Stunde 
gantzen 

halben 

gantzen 


J»  Stunde 


gespielt  werden  können.  Die  Dauer  eines  Breventaktes  beträgt 
demnach  ^©-Minute,  die  Viertelnote  würde  etwa  M.  M.  80  ent- 
sprechen, eine  Angabe,  die  dem  heutigen  Gebrauch  nahekommt. 
Die  neue  Richtung  in  Direktion  und  Musikübung  machte 
vielen  Musikern  Schwierigkeiten,  namentlich  bei  der  Ausführung 
von  Chorwerken  mit  Orchesterbegleitung.  In  der  Direktion 
wurde  das  Tempo  nach  dem  Textgehalt  modifiziert  und  frei  ge- 
führt, während  in  den  Chorstimmen  die  reguläre  Taktabteilung 
nicht  überall  durch  Striche  angezeigt  war.  Oft  genug  kamen 
durch  das  Festhalten  an  der  traditionellen  vokalen  Notation  Ver- 
wirrungen und  Taktfehler  in  den  Konzerten  vor,  zumal  an  kleineren 
Plätzen,  wo  der  Kantor  die  Männerstimmen,  auch  wohl  einzelne 
Instrumente,  mit  Laien  besetzen  mußte.  Dann  war  aber  auch  die 
Pflege  des  Chorgesangs  an  vielen  Orten,  besonders  in  Deutschland, 
zurückgegangen.  Es  gab  viele  Chöre,  die  in  den  Kirchenmusiken 
und  Konzerten  so  unsicher  sangen,  daß  der  Kantor  gezwungen 
war,  laut  und  hörbar  den  Takt  zu  schlagen.  Gegen  diese  lärmende 
Direktion  haben  viele  Musiker  protestiert.  Man  könnte  eine 
ganze  Broschüre  füllen,  wollte  man  alle  Proteste  zitieren,  die 
im  17.  Jahrhundert  und  später  gegen  unfähige  Kapellmeister 
niedergeschrieben  wurden.  Alle  Musiker  sind  sich  darüber  einig, 
daß  man  beim  Dirigieren  nicht  unnötig  lärmen  soll,  daß  die  Werke 
erst  tüchtig  probiert  und  einstudiert  werden  müssen,  ehe  man 
öffentliche  Konzerte  gibt.  Solche  Dirigenten  sind  »thöricht«, 
schreibt  Friderici,  die  »mit  dem  Chorstocke  also  zuschlagen, 
daß  die  Stücke  davon  fliegen;  Vnd  meinen,  es  sey  recht  tac- 
tiret,  wenn  sie  nur  männlich  niederschlagen  können  /  gleich  als 
wenn  sie  Haberstroh  dreschen  müsten«.  Wo  taktiert  werden  muß, 
soll  »nicht  nur  zweyen  oder  dreyen  Knaben  allein  /  sondern  dem 
gantzen  Choro  tactiret  werden«.  Auch  die  Kantoren  sind  im 
Irrtum,  die  »nur  einen  oder  zween  Knaben  vor  sich  stehend 
haben  /  und  denen  den  tact  vorschlagen  /  und  lassen  die  andern 

1   Prätorius,  Synt.  mus.  III,  S.  87/88.     Vgl.  Ahle,  a.  a.  O.  S.  27/28. 


112  Viertes  Kapitel. 

Concentores,  gleich  als  der  Hirte  seine  Hunde  hinter  sich  her- 
ziehen«1. Nach  Johann  Caspar  Printz  soll  der  Dirigent  den 
Takt  »alleine  schlagen  /  und  zwar  deutlich  /  und  ohne  unnöthige  / 
närrische  oder  hoffärtige  Gauckeleyen«2.  Daniel  Speer  empfiehlt 
vor  allem  ein  tüchtiges  Studium  der  aufzuführenden  Musik.  Die 
Dirigenten  sollen  sich  »dahin  bestreben  /  die  aufführende  Music- 
Stück  zuvor  zu  probiren  /  vnd  dann  sehen  /  nach  welcher  Art  sie 
am  besten  gehen  /.  .  .  Es  gibt  aber  viel  Neidhammel  /  so  manchem 
ehrlichen  Mann  seine  wohlgemeinte  Arbeit  durch  den  Tact  nur 
verschimpffen  /  und  dencken  nicht  /  dass  sie  sich  auch  darmit 
versündigen«3.  Kein  Dirigent  soll  »mit  einem  Prügel  auf  das 
n'ähste  Pulpet  /  oder  ein  ander  Corpus  solidum«  so  stark 
schlagen,  » dass  man  solche  donnernde  Schläge  weiter  höret  / 
als  die  Sänger  selbst«4.  Sehr  grob  wird  Bontempi,  der  Ver- 
fasser der  Musikgeschichte,  den  Chordirigenten  gegenüber,  von 
denen  ein  großer  Teil  kaum  eine  einzige  Stimme  übersehen 
könne,  geschweige  denn  einen  ganzen  Chor5;  das  Taktschlagen, 
von  dem  so  viel  Aufhebens  gemacht  werde,  sei  im  Grunde  genom- 
men doch  eine  einfache  Sache6.  Am  köstlichsten  werden  die 
unfähigen  Kapellmeister  von  Johann  Bahr  vorgenommen,  der 
auf  alle  Taktiermanieren  der  Reihe  nach  eingeht.  Er  schreibt  in 
seinen  »Musicalischen  Diskursen«  in  dem  Kapitel:  »Von  dem 
modo  oder  Art  und  Manier  zu  tactiren«:  »An  etlichen  Orten  haben 
die  Organisten  /  wann  sie  informiren  ein  höltzern  Gestelle  /  vnd 
in  demselben  einen  hölzernen  Arm  /  diesen  tretten  sie  mit  dem 
Fuss  auf  und  nieder  /  dabey  ich  mich  dann  fast  kranck  lachen 
müssen.     Andere  tappen  mit  dem  Fuss  wider  den  Boden7/  dass 

1  F  r  i  d  e  r  i  c  i ,  a.  a.  O.   Kap.  VII,  Reg.  17/18. 

2  Printz,    raus,  modul.   I,   §33. 
s  Speer,  a.a.O.  Kap.  XIV. 

*  Printz,  a.  a.  O.  VII,  §11. 

6  Bon  tempi,  Historia  mus.  1695,  II,  S.  206:  Fra  questi]  v'  hanno  alle 
volte  gran  parte  quelli  ch'  hanno  meno  scientia  degli  altri;  i  quali  come  Oche 
fra  i  Cigni,  raccomandando  il  Concerto  parte  alla  fortuna,  parte  al  valore  di  chi 
canta  o  suona,  senza  habilitä  di  rimettere  ne  meno  una  semplice  Parte  non  che 
un  Choro  intero,  come  se  tra  il  Compositore  e'l  Copiatore,  tra]  l'Asino  di  Sileno, 
e  '1  Pegaso  delle  Muse,  overo  tra  l'Huomo  e  la  Scimia  non  vi  fosse  differenza  al- 
cuna  di  spetie. 

6  Ebenda:  A  questi  aerei  Contrapuntisti  e  eccellentissimi  Dottori  di  Musica 
altro  non  manca,  se  non  che  sopra  quel  cubito  di  carta  col  quäle  fanno  pomposa 
mostra  d'una  Dottrina,  non  consistente  in  altro,  che  nelP  alzare  e  abassare. 

7  S.  o.  S.  45  f.  G  e  o  r  g  M  u  f  f  a  t  empfiehlt  in  der  Vorrede  zum  Flori- 
legium  (Denkm.  d.  Tonk.  in  Österreich  II,  2,  S.  25)  das  Fußstampfen,  d.h.  das 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  113 

es  pufft  /  und  es  mit  grossem  Aergerniss  durch  die  gantze  Kirche 
schallt.  Vnd  wann  derer  etliche  zusammen  tappen  /  klingt  es  nicht 
viel  anders  /  als  ein  knappender  Weber-Stuhl  /  darinnen  Meister 
Michel  Teppicht  würcket.  Andere  tactiren  mit  dem  Kopffe  /  und 
wann  du  von  ferne  stehest  /  vnd  sie  heimlich  fragest:  Bist  du  nicht 
ein  Mausskopff?  sprechen  sie  immer:  Ja /ja /ja /ja.  Andere 
nehmen  zusammen  gerolltes  Papier  in  die  Fäuste  /  und  vergleichen 
sich  also  mit  denen  Kriegs  Generalen  /  die  mit  dem  Regiments-Stabe 
ihre  esquadronen  commandiren.  Etliche  führen  den  tact  mit 
einer  /  etliche  mit  beyden  Händen  /  und  stellen  sich  nicht  viel 
anders  /  wie  Attavan  zu  Regenspurg  /  da  er  auf  der  Heyde  gleich 
dem  Vogel  Phoenix  vom  Thurm  fahren  wollen.  Andere  gebrau- 
chen sich  eines  langen  Steckens  oder  Stragels  /  ohne  Zweifel  ver- 
mittelst desselben  die  unachtsamen  Jungen  auf  den  Scheidel  zu 
schmeissen,  wie  dann  das  Bayerische  Lied  lautet: 

Ainer  hat  ainen  Stecken  ghabt  / 
so  bald  sich  a  Bue  verschnagelt  hat  / 
da  hat  ern  übern  Scheddel  gschlogn  / 
dass  sich  da  Stecka  hat  zama  bogn1. 

Alle  diese  und  dergleichen  Arten  können  so  ferne  passiren  /  als 
sie  nicht  über  ihre  limites  hinaus  schreiten.  Dann  es  würde  nicht 
wol  stehen  /  wann  man  einem  Knaben  /  welcher  ein  solo  sänge  / 
mit  allen  beyden  Händen  (welches  nur  in  vollen  Chören  gewöhn- 
lich/2) die  mensur  geben  wolte.  So  würde  es  auch  ein  greulich 
Auggesperr  abgeben  /  wann  der  director  auf  den  Chor  guter  Leute 
mit  einer  Spitzruthe  von  zweyen  Klafftern  kommen  solte. 

Summa  /  ein  jeder  wird  sich  hierinnen  pro  variatione  loci 
temporis  et  subjectorum  /  zu  richten  wissen3.« 

Nach  diesen  Berichten  zu  urteilen,  muß  es  in  manchen  Kon- 
zerten mitunter  schlimm  hergegangen  sein.  Aber  sicherlich  haben 
die  Musiker  in  ihrem  Eifer  auch  viel  übertrieben.    Es  wäre  völlig 

Taktauszählen  mit  dem  Fuß,  mit  diesen  Worten:  »Letzlich  zur  Richtigkeit 
deß  Zeitschlags  wird  vilhelffen,  wann  mit  den  Lullisten  [wie  die  Lullysche  Schule] 
jeder  Geiger  das  Tempo  mit  einer  gebührlichen  (I)  Fuß-  Bewegung  anzeiget.« 

1  Speer  (a.  a.  O.  S.  6)  meint,  der  Präzeptor  »soll  seine  Sing-Knaben 
um  und  bey  dem  Pult  fein  genau  an  der  Hand  haben  /  .  .  .  und  soll  er  solche 
zum  öfftern  mit  Worten  /  und  wo  es  nöthig  auch  mit  dem  Baculo  zum  fleissigen 
Mitsingen  vermahnen«.  Daß  die  armen  Diskantisten  nach  dieser  Methode  recht 
oft  »vermahnt«  wurden,  ist  aus  vielen  Musiker-Biographien  bekannt. 

2  S.  o.,  S.  97. 

3  Johann  Beerens,  Musicalische  Discurse  1719.  S.  171  f. 

Kl.  Handb.  der  Mnsikgesch.  X.  " 


114  Viertes  Kapitel. 

verkehrt,  wollte  man  die  zitierten  Mißstände  verallgemeinern. 
Wie  hoch  man  von  der  Kunst  des  Dirigierens  dachte,  haben  die 
früher  erwähnten  Nachrichten  von  Prätorius  und  anderen  Musikern 
gezeigt.  Das  Taktierlärmen  kam  sicherlich  nur  bei  unfähigen 
Musikern  vor,  oder  es  wurde  notwendig,  wenn  man  schlechte  Kräfte 
auf  dem  Chor  hatte  oder  Entgleisungen  verhüten  wollte.  Daß  davon 
in  früherer  Zeit  so  viel  die  Rede  ist,  beweist  nur,  daß  es  um  die 
Leistungskraft  vieler  Chöre  nicht  gut  bestellt  war,  denn  die 
schlechtesten  Orchester  werden  stets  am  lautesten  dirigiert.  Die 
chorische  Technik  stand  im  17.  Jahrhundert  nicht  mehr  auf  der 
Höhe  der  a  cappella-Zeit,  was  sich  aus  der  neuen  Chorliteratur,  die 
durchweg  mit  Instrumentalbegleitung  gesetzt  war,  und  aus  der  ge- 
samten Musikpraxis  leicht  erklären  läßt.  Früher  waren  die  we- 
nigen Chorsänger  einer  Kapelle  auf  sich  allein  angewiesen,  jetzt 
hatte  man  bei  der  Aufführung  ein  Positif  zur  Hand,  auf  dem  der 
Kapellmeister  oder  der  Organist  begleitete  und  womöglich  auch 
die  Stimmen  mitspielte,  die  man  chorisch  nicht  besetzen  konnte1. 
Es  ist  erklärlich,  daß  durch  die  Orgelbegleitung  die  Technik  des 
Chorgesangs  zurückging  und  die  Leistungen  mancher  Chorvereine 
schlechter  wurden.  Dann  wurden  auch  im  17.  Jahrhundert, 
namentlich  in  Deutschland,  die  Dilettanten  noch  mehr  zum 
Chorgesang  in  Kirchenvereinen  und  Kantoreien  herangezogen 
als  früher.  Daß  man  bei  solchen  Kapellen  in  den  Proben  mit 
einer  lautlosen,  ruhigen  Direktion  nicht  weit  kommt,  weiß  jeder 
Chordirigent. 

Die  hübsche  Schilderung,  die  uns  Johannes  Bahr  vom  Diri- 
gieren gegeben  hat,  ist  häufiger  abgedruckt  worden  und  hat  wohl 
manchem  Leser  ein  Lächeln  über  die  gute  alte  Zeit  abgewonnen. 
Solche  aus  dem  Zusammenhang  gerissene  Notizen  bringen 
aber  unsere  Kenntnis  von  der  alten  Praxis  nicht  weiter.  Es 
muß  stets  darauf  hingewiesen  werden,  daß  man  in  guten  Ka- 
pellen ebenso  wie  in  unserer  Zeit  möglichst  ohne  Lärm  und  auch 
lautlos  dirigierte.  Dafür  haben  wir  genug  Belege,  die  allerdings 
bisher  nicht  beachtet  worden  sind.  Ich  hatte  schon  für  die  Praxis 
der  a  cappella-Zeit  nachgewiesen,  daß  von  vielen  Musikern  ein 
geräuschloses,  unauffälliges  Taktieren  verlangt  wird.  Das  Gleiche 
fordern  auch  Theoretiker  und  Musiker  der  Renaissancezeit.   Ago- 

1  Viadana  sagt,  er  habe  oft,  besonders  in  Klöstern,  gesehen,  daß  eine 
Motette  von  fünf,  sechs  oder  mehr  Stimmen  zur  Orgel  gesungen  wurde,  während 
nur  zwei  oder  drei  Sänger  auf  dem  Chore  standen.  Vgl.  Prätorius,  a.  a.  O. 
III,  S.  4. 


Vom  Dirigieren  im  Zeitalter  der  Renaissance.  115 

stino  Pisa  betont  in  seinem  Buch  über  den  Takt,  daß  das  »stre- 
pito  del  battere«  vermieden  werden  soll;  es  sei  nur  notwendig, 
daß  die  Sänger  das  Taktieren  sehen  können1.  Er  beruft  sich 
auf  die  Theoretiker  Zacconi,  Lusitano,  Tigrini,  Diruta  und  Sca- 
letta,  deren  Werke  schon  früher  zitiert  wurden.  Von  tüchtigen 
Kapellen  wurde  sogar  ohne  sichtbare  Direktion  gesungen,  wie 
bei  unseren  kleineren  Vokal-  oder  Streichkonzerten.  Man  folgte 
dem  Gehör  und  der  führenden  Stimme  des  Vorsängers.  So  wurde 
z.  B.  von  der  päpstlichen  Kapelle  in  Rom  im  17.  Jahrhundert 
gesungen.  Antimo  Liberati  erzählt  in  seiner  »Epitome  della 
musica«,  daß  die  Kapelle  alle  Gesänge  in  guter  und  ausgezeich- 
neter Ordnung  ohne  jedes  Zeichen  und  ohne  irgendwelche  sicht- 
bare Taktbewegung  vortrug,  und  zwar  so  gleichmäßig,  »daß 
die  Sänger  nicht  allein  ohne  Verwirrung  oder  Konfusion  weiter- 
gingen, sondern  auch  mit  der  notwendigen  Langsamkeit  oder 
Schnelligkeit  sangen  und  den  Gesang  so  einrichteten,  daß, 
wenn  die  Zeremonie  des  Priesters  oder  Zelebranten  beendet  war, 
auch  im  selben  Augenblick  der  Gesang  endete2«.  Selbst  Messen  von 
Palestrina  und  Morales  —  die  allerdings  nur  eine  kleine  Besetzung 
beanspruchen  —  konnten  von  tüchtigen  Sängern  ohne  sichtbaren 
Taktschlag  gesungen  werden3.  Solche  Aufführungen,  wie  sie 
Liberati  beschreibt,  waren  für  gute  Kapellen  vorbildlich.  Des- 
halb sagt  auch  Friderici:  Der  Takt  soll  »durchauss  nicht  ge- 
höret /  sondern  allein  gesehen  /  oder  wo   es  müglich  /  nur  obser- 


1  Pisa,  a.  a.  O.  S.  29,  48.  Vgl.  Gorvinus,  Heptachordum  Danicum 
1646,  S.  16:  In  canendi  actu  et  tractu  Tactum  non  aure  sed  oculo  observabis. 
Id  est,  tarn  leni  et  submisso  indicabitur  motu,  ut  ictus  aurem  non  moleste  cadat. 

2  Ant.  Liberati,  ein  Schüler  Benevolis,  kam  1661  als  Sänger  in  die 
päpstliche  Kapelle.  Um  diese  Zeit  ist  wohl  das  zitierte  Werk  entstanden.  In 
Gaet.  Gasparis  Catalogo  della  Biblioteca  del  Liceo  musicale  (I,  S.  34)  ist  die 
erwähnte  Stelle  abgedruckt.  Sie  lautet:  Se  tutti  i  Musici  e  Cantori  fussero  dell' 
istesso  valore,  et  ammaestrati  nell'  uso  e  essercitio,  come  i  nostri  della  Capeila 
Pontificia  (unico  essempio,  e  stupore  al  mondo  tutto)  i  quali  senza  segno,  o  moto 
alcuno  di  battuta  cantano  unitamente  tutti  i  concerti  musicali  attenenti  per  le 
sacre  fontioni  del  sommo  Pontefice  con  un  ordine  cosl  ponderato,  et  esquisito, 
che  non  solo  vanno  procedendo  con  il  canto  senza  disturbo  o  confusione  imagi- 
nabile,  madipiüsanno,  o  con  la  tarditä,  o  con  la  velocitä  necessaria  compassar, 
e  distribuire  in  modo  la  cantilena,  che  finita  la  cerimonia,  o  del  Pontefice,  o  del 
Celebrante,  si  trova  anche  nel  medesimo  punto  finita  la  cantilena. 

3  Vgl.  Erculeo,  Lumi  primi  (1686,  S.  51) :  oltre  cid  puö  dirsi,  che  le 
Messe  del  Palestina,  Morales,  Vittoria,  Soriano  e  d'  altri  Regolari  Compositori 
Ecclesiastici  si  potrebbero  quasi  tutte  Scriver,  e  Cantar  benessimo  con  le  Figure 
del  nostro  Canto,  e  quasi  senz'  altra  misura,  che  del  buon  giudizio  de  Cantanti. 


116  Fünftes  Kapitel. 

viret  vnnd  gemercket  werden1«,  und  Johannes  Magirus  meint, 
daß  man  den  Takt  nach  dem  Wink  des  Dirigenten  oder  aber 
nur  in  »Gedanken«  beachten  solle2. 

Die  angeführten  Quellen  beweisen,  daß  das  lautlose  Taktieren 
auch  im  17.  Jahrhundert  bekannt  war,  und  denkt  man  daran, 
daß  selbst  Tempomodifikationen  und  Vortragsschattierungen  vom 
Dirigenten  angegeben  wurden,  so  wird  man  die  Kunst  der  Chor- 
leitung und  die  geräuschlose  Direktion  nicht  mehr  für  eine  Er- 
rungenschaft des  19.  Jahrhunderts  erklären  können.  Man  war 
offenbar  bestrebt,  störende  Taktierbewegungen  auszuschalten  oder 
aber,  wenn  das  Taktschlagen  bei  großen  Kapellen  oder  unsicheren 
Musikern  nötig  wurde,  möglichst  ohne  Lärm  und  lautlos  zu 
dirigieren.  Gute  Chöre  wurden  durchaus  nach  modernen  Anschau- 
ungen dirigiert,  ohne  jene  Kraftäußerungen  und  Mätzchen,  von 
denen  oben  die  Rede  war. 

Die  Zeit  der  Renaissance  hat  eine  künstlerische  Auffassung 
vom  Kapellmeisteramt  begründet  und  die  Grundsätze  für  ein 
freies  Dirigieren,  für  die  Direktion  nach  dem  Affekt  eines  Ton- 
stücks aufgestellt.  Dem  Taktschläger  der  a  cappella- Periode 
folgte  der  Dirigent  der  Renaissance,  der  vom  Klavier  aus  die 
Opern  und  Instrumentalstücke  leitete  oder  aber  mit  Hand,  Takt- 
stock oder  Notenrolle  Kantaten  und  Chöre  dirigierte.  Er  schlug 
nicht  mehr  einen  gleichmäßigen  Takt,  sondern  bestimmte  Aus- 
führung und  Tempobewegung  nach  der  in  der  Musik  ausgedrückten 
dichterischen  Idee.  Das  ist  das  Neue  und  Wichtigste,  was  die  Epoche 
der  Renaissance  für  die  Geschichte  des  Dirigierens  gebracht  hat. 

Fünftes  Kapitel. 
Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert. 

Mit  dem  Vordringen  der  Instrumentalmusik  im  17.  Jahr- 
hundert waren  die  rhythmischen  Konstruktionsprinzipien  der 
a  cappella-Musik  verloren  gegangen.  Der  Gruppentakt,  der  stets 
die  gleiche  Zahl  von  Notenwerten  zusammenfaßt  und  den  regel- 
mäßigen Wechsel  von  betonten  und  unbetonten  Taktteilen  auf- 
stellt, setzte  sich  auch  in  der  vokalen  Literatur  durch.  Anfangs 
suchte   man   seinem    Einfluß    durch    Fortlassen    der   Taktstriche 


i  Friderici,  a.  a.  O.  VII,  Reg.  17. 

2  A.  a.  O.  I.  IV,   tactus  fit  vel  »nutu  vel  cogitatione«. 


Taktschlagen  und  üoppeldirektion  im  1  8.  Jahrhundert.  H7 

oder  durch  kleine  Orientierungsstriche  in  den  Vokalstimmen  zu 
begegnen,  doch  führten  die  anwachsenden  Schwierigkeiten,  die 
sich  bei  der  Aufführung  für  die  Sänger  ergaben,  bald  zur  Ab- 
grenzung der  Notenwerte  in  allen  Stimmen,  zur  Einführung  der 
Taktstriche  in  die  Vokalstimmen.  In  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  ist  diese  Umbildung  des  Notenbildes  in  der 
Chor-  und  Sololiteratur  zum  Abschluß  gekommen.  Wir  finden 
in  den  Stimmen  das  moderne  Notierungsbild  und  in  der  Literatur 
eine  Rhythmik,  die  nicht  mehr  frei  aus  der  durch  Taktzeichen 
und  Taktschlag  geregelten  Dauer  der  Noten  werte  die  Musik 
aufbaut,  sondern  die  mit  der  Metrik,  mit  dem  Einordnen  der 
Schwerpunkte  in  den  Gruppentakt  rechnet,  die  akzentuierende 
Silben  nach  dem  Akzent  oder  Taktstrich  einstellt. 

Wie  sich  dieser  Gruppentakt  in  Musik  und  Theorie  darstellt, 
war  im  vorigen  Kapitel  gezeigt  worden.  An  die  Stelle  der  drei 
Taktarten  der  Mensuralmusik,  die  lediglich  die  Notendauer  zum 
gleichmäßigen  Taktschlag  regelten,  traten  die  fest  begrenzten 
zwei-  und  dreiteiligen  Haupttakte  mit  ihren  Unterteilungen. 
Sie  umfaßten  innerhalb  der  Taktstriche  eine  Reihe  von  Noten- 
werten, deren  Zahl  und  Dauer  durch  vorgezeichnete  Angaben, 
wie  3/4,  6/8  usw.  geregelt  wurden.  Diese  Taktmetrik  ist  bis  in 
die  Neuzeit  geblieben.  Nur  in  unseren  Tagen  des  Experimen- 
tierens  und  Suchens  nach  neuen  rhythmischen  Wirkungen  ist 
durch  die  Renaissancebewegung  eine  Änderung  eingetreten. 
Man  versucht,  den  Taktstrich  als  Orientierungsmarke  anzusehen 
und  die  alte  freie  Rhythmik  der  a  cappella-Zeit  in  Chor  und  In- 
strumentalmusik wieder  zu  Ehren  zu  bringen,  ein  Streben,  das 
Debussy  und  die  Neufranzosen  bisher  am  erfolgreichsten  durch- 
geführt haben,  während  Scriabines  Versuche,  durch  fortwähren- 
den Taktwechsel  der  Rhythmik  ein  neues  Relief  zu  geben,  bisher 
kein  Resultat  gebracht  haben. 

Die  Musik  des  18.  Jahrhunderts  steht  ebenso  wie  die  frühe 
Instrumentalmusik  und  die  Literatur  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  unter  dem  Gesetz  des  Gruppentakts.  Die  Schran- 
ken des  Taktstrichs  sind  die  Gesetzgeber  der  Taktmetrik  und 
Akzentuierung.  Es  ist  das  gleiche  Bild  wie  in  der  vorangehenden 
Epoche:  der  Takt  bringt  eine  Zusammenfassung  von  Notenwerten, 
deren  Zahl  und  Dauer  durch  die  Vorzeichnung  bestimmt  wird. 
Solcher  Takte  kann  es  nach  dem  Gesetz  der  zwei-  oder  drei- 
teiligen Notendauer  eine  unabsehbare  Reihe  geben.  Doch  wird  ihre 
Zahl  durch  die  Aufnahmefähigkeit  unseres  Gehörs  begrenzt.    Wir 


118  Fünftes  Kapitel. 

können  Gruppentakte,  deren  Ausdehnung  etwa  16/4  oder  12/2 
in  gemäßigter  Bewegung  umfaßt,  nicht  als  eine  Einheit  auffassen, 
wir  werden  stets  Unterteilungen  in  kleinere  Taktgruppen  vor- 
nehmen, je  nachdem  Akzentuierung  oder  Harmonie  einen  Anhalt 
geben.  Alle  Taktarten  gehen  deshalb  auf  wenige  Haupttypen 
mit  ihren  Unterabteilungen  zurück.  Ihre  Zahl  wird  von  den 
Theoretikern  des  18.  Jahrhunderts  in  folgender  Tafel  angegeben: 

2/l,    2/2,    4/2,    2/4,    4/4',    »/l,    3/2,     3/4,    3/8,    3/l6;     6/l,    6/2,    6/4,    6/8, 

6/ie;  9/i,  9/2,  9/4,  9/s,  9/ie;  12lx,  12/2,  12/4,  12/s,  "/m1-  Die 
obere  Zahl  zeigt  die  Quantität  an,  »wieviel  nemlich  Noten  aufm 
Tact  gehen«,  die  untere  die  Qualität,  »was. . .  für  Noten  es  seyn«2. 
Die  Grenzen  der  Taktarten  sind  durch  die  Notenwerte  (Ganze, 
Halbe,  Viertel,  Achtel  usw.)  und  durch  ihre  Zusammenfassung 
in  Gruppen  von  2,  3,  4  bis  zu  12  Einheiten  oder  Taktglieder 
gezogen.  In  der  Praxis  kommen  noch  anders  formulierte  Takte 
vor,  z.  B.  der  1/4-,  der  24/32-Takt  oder  die  Fünftakter,  mit  denen 
schon  Adolphati,  Telemann  und  Kirnberger  Versuche  aufgestellt 
haben3,  oder  auch  Zeichen  wie  8/12,  4/3  und  ähnliche,  die  auf 
die  Taktinversion  zurückgehen4.  Die  gebräuchlichsten  Taktarten 
bleiben  aber  auch  im  18.  Jahrhundert  der  2/2-Takt,  4/2,  2/4,  4/4, 

6/        6/        12/        12/        12/  3/,      3/        3/        3/        9/         9/         9/      5        \UTP 

/4>      ISi         /4»         /8>         /16'      /l>      I2i      /4»      /8>      1 8i       /4i       /16    ■      11UB 

Ableitung  ist  verschieden;  bald  werden  zwei  Grundformen,  bald 
wieder  vier  gegeben.  Man  kann  folgende  Gruppierungen  verfolgen: 
1.  Gerade  und  ungerade  Takte  (Proportientakte),  Ordinar- 
und  Tripeltakte,  äquale  und  inäquale,  spondäische  und  trochä- 
ische6.    Werden  die  großen  Tripeltakte  i3/^)  in  Unterabteilungen 

1  Vgl.  Joh.  Peter  Sperling,  Porta  musica,  das  ist:  Eingang  zur  Music. 
Görlitz  und  Leipzig  1708,  II,   Kap.  II. 

2  Sperling,  Principia  musicae.  Budissin  1705,  Kap.  IV.  Die  gleiche 
Lehre  bei  allen  Theoretikern. 

3  Vgl.  Rousseau,  Dictionnaire  de  musique.  1768.  Art.:  »Mesure«.  Er 
weist  auf  die  Arie  »se  la  sorte  mi  condanna«  aus  der  Oper  Ariana  von  Le  Sieur 
Adolphati  hin,  die  im  Fünftakt  geschrieben  ist.  In  Sulzers  »Allgemeiner 
Theorie  der  schönen  Künste«  werden  von  J.  A.  P.  Schulz  Telemannsche  Chöre 
im  Fünftakt  erwähnt  (Art.:  »Tact«).  Kirnberger  notiert  das  letzte  Stück 
seiner  »Lieder  mit  Melodien«  1762  (Das  »Liebesband«)  im  5/4"  un(^  6/2-Takt. 

*  S.  o.,  S.  76. 

5  Zur  Aufstellung  der  Takttheorie  sind  die  im  weiteren  Verlauf  der  Arbeit 
zitierten  Quellen  benutzt  worden.  Eine  Aufzählung  muß  hier  aus  Raum- 
rücksichten unterbleiben. 

6  Zaccaria  Tevo,  a.  a.  O.  II,  18.  Sperling,  Porta  mus.  II,  1.  M  a  t  - 
t  h  e  s  o  n,  Das  Neu-eröffnete  Orchestre,  1713,  I.  Kap.  III,  vgl.  Critica  musica  I, 
S.  38f.  Münster,  Musices  Instructio  1748  (3.  Aufl.  §  5f.).  Scheibe, 
Über  die  musikalische  Composition  1773,   Kap.  V  u.v.a. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  H9 

aufgelöst,  so  können  6/4,  6/8,  12/4  und  12/8  auch  als  Tripel- 
takte —  spondäische  Tripel  —  angesehen  werden1.  Diese  Teilung 
in  gerade  und  ungerade  oder  gleiche  und  ungleiche  Takte  schließt 
an  die  im  vorigen  Kapitel  gegebene  Takttheorie  unmittelbar  an. 

2.  Die  Abteilung  in  zwei-,  dreigliedrige  und  zusammengesetzte 
Takte,  die  besonders  bei  den  Franzosen  gebräuchlich  ist.  Lam- 
bert (1702)  gibt  als  erste  Klasse:  C,  (^,  -2-,  4/8,  als  zweite:  3/2, 
3,  3/8,  (9/4/9/8),  als  dritte:  <74,  e/gj  (ia/4i  i2/8)a  Demotz 
(1728)  gruppiert  die  Takte:   ä  2  (2/4,   */8,   */16,  6/4?  6/g>  6/ie). 

ä   3  (3/2,    3/4,    S/g|   8/l6f   9/4i   9/8>  9/ie);  ä  4  (*/4>   18/4|    ™/g|    1»/16)». 

Die  gleiche  Teilung  kennen  Dard  (1769)4  und  Corette  (1782)5. 
Wichtig  ist  an  dieser  französischen  Takttheorie  die  Gleichberech- 
tigung des  zweiteiligen  und  zusammengesetzten  Takts. 

3.  Die  Teilung  in  gerade  zwei-  und  dreigliederige  und  in  un- 
gerade zwei-  und  dreigliederige  Takte.  Die  geraden  zweigliede- 
rigen sind  nach  Marpurg:  2/2,  4/2,  2/4,  4/4,  die  ungeraden  zwei- 
gliederigen: 3/2,  3/4,  3/8,  was  aus  der  alten  trochäischen  Takt- 
führung verständlich  wird.  Die  geraden  dreigliederigen  Takte 
sind  6/4,  6/8,  12/8,  die  ungeraden  9/4,  9/86.  Die  gleiche  Auf- 
stellung bringt   Kalkbrenner7. 

4.  Einfache  und  zusammengesetzte  Taktarten.  Meinradus 
Spieß  unterscheidet  Triplae  simplices  et  compositae8.  Brossard 
bringt  Tafeln  über  Triples  simples  (3/1?  3/2  usw.),  Triples  com- 
posez  (9/l5  9/2,  9/4  usw.),  Triples  sestuples  ou  binaires  '  (6/i>  6/2  usw.) 
und  Triples  dosduples  ou  ä  quatre  temps  (12/i,  12/2  usw.)9.     Im 

1  Fuhrmann,  Musicalischer  Trichter  1706.  S.  48.  Vgl.  Ernst  Wilh. 
Wolf,  Musikalischer  Unterricht  1788.     Taktlehre,  S.  23  u.a. 

2  Les  principes  du  clavecin,  Paris  1702.  S.  23.  Die  eingeklammerten  Takte 
im  Nachtrag,  S.  65. 

3  m,  *  *  *  Pretre  (Demotz  de  la  Salle),  Methode  de  musique  selon  un 
nouveau  Systeme,  Paris  1728,  S.  150  f. 

*  Dard,  Nouveaux  Principes  de  Musique,  Paris  (1769)  S.  8. 

6  Mich.  Gorrette,  Le  parfait  maitre  ä  chanter,  nouv.  edition.  1782(?) 
Kap.  VIII.  Loulie  (Elements  ou  Principes  de  Musique,  Amsterdam  1698, 
S.  34f.)  gibt  eine  andere  Theorie;  er  gruppiert  nach  zwei-,  drei-,  vier-,  sechs-, 
neun-  und  zvvölfzeitigen  Takten. 

6  Fr.  Wilh.  Marpurg,  Anleitung  zur  Musik  überhaupt,  Berlin  1763, 
S.  70.  Vgl.  Kritische  Briefe  über  die  Tonkunst  I,  S.  123.  61.  und  62.  Brief 
und  II,  67.  Brief.  S.  22. 

7  Christ.  Kalkbrenner,  Theorie  der  Tonkunst,  Berlin  1789.  Vgl. 
Hiller,  Anweisung  zum  musikal.  richtigen  Gesänge  1774,  VIII   §  12. 

8  Tractatus  musicus,  Augspurg  1745,  S.  79. 

9  Seb.  de  Brossard,  Dictionaire  de  Musique,  2.  edit.  Paris  1705. 
Artikel:  Tripola. 


120  Fünftes  Kapitel. 

Chemnitzer  Musiklexikon  werden  Triplae  simplices,  compositae 
et  mixtae  erwähnt1.  Türk  gibt  als  Grundform  den  geraden  und 
ungeraden  Takt  und  unterscheidet  in  jeder  Klasse  einfache  und 
zusammengesetzte  Takte2. 

Alle  diese  Theorien  haben  einen  gemeinsamen  Ausgangspunkt: 
den  einfachen  geraden  und  ungeraden  Takt.  Seine  Vorzeichnung 
ist  die  gleiche  wie  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  17.  Jahrhunderts. 
Doch  sind  die  alten  Reste  der  Mensuralnotation,  die  Prolations- 
punkte  und  Perfektionskreise,  mit  denen  sich  die  Renaissance- 
zeit noch  schleppte,  vollständig  verschwunden.  Man  findet  die 
noch  heute  gebräuchlichen  Zeichen  oder  auch  einfache  Zahlen 
wie  2  und  3.  Die  2  oder  £  ersetzt  in  der  französischen  Ouver- 
türenliteratur das  alla  Breve-Zeichen.  Sperling  sagt  dazu:  2  be- 
deutet zwar  einen  Ordinar-Tact,  welcher  4  Viertel  in  sich  hat, 
»es  wird  aber  solcher  Tact  sehr  geschwind  tractiret  /  also  /  dass 
zwey  dergleichen  Tacte  fast  nur  so  lange  dauren  als  sonsten  einer; 
diese  .  .  .  Manier  oder  Species  des  Tacts  ist  von  denen  Frantzosen 
zu  uns  kommen  /  und  wird  solcher  in  Ouvertüren,  Bourreen  etc. 
gebraucht«3.  Bei  Vorzeichnung  einer  3  muß  der  Takt  aus  den  No- 
ten bestimmt  werden,  aus  den  zwischen  zwei  Taktstrichen  stehen- 
den Werten.  Die  Zeichen  C  und  (jr,  die  im  Renaissancezeitalter 
unterschiedlos  angewandt  werden,  gelten  im  18.  Jahrhundert 
wieder  als  Vorzeichen  für  die  Taktbewegung.  C  »bedeutet  eine 
langsame  /  gravitätische  /  gleiche  Mensur,  Tact,  Proportion  oder 
Eintheilung«,  (f",  einen  Takt  der  »noch  so  geschwind«  gegeben 
werden  soll4.  Die  Regel  bleibt  für  das  18.  Jahrhundert  Ge- 
setz und  ist  in  dieser  Form  noch  in  unserer  Zeit  gültig.  Die 
gesamte   Taktordnung  gleicht   der   modernen   Theorie.      Brüche, 

1  Kurtzgefaßtes  Musicalisches  Lexicon.  Chemnitz,  bey  Joh.  Christ,  und 
Joh.  Dav.  Stösseln,  1737.     Artikel:  Tact. 

2  Dan.  Gottl.  Türk,  Klavierschule,  Leipzig  und  Halle  1789,  S.  89f., 
vgl.  auch  S.  94. 

3  Sperling,  Porta  mus.  II,  1.  Vgl.  Friedr.  Ehrh.  Niedt,  Musicalisches 
A — B — C.  Hamburg  1708,  Kap.  IX,  S.  21:  2,  alla  Breve  ist  »bey  den  Frantzosen 
in  ihren  Ouvertüren«  sehr  beliebt.  Ferner  Niedt,  Musicalische  Handleitung, 
Hamburg  1700,  I,  IV,  Mattheson,  Neu  eröffnetes  Orchestre  I.  Kap.  III  u. 
v.  a.     Vgl.  die  Partiturdrucke  der  Lullyschen  Opern. 

4  Carissimi,  Ars  cantandi,  S.  14  f.  Joannes  BaptistaSamber,  Manu- 
ductio  ad  Organum,  Saltzburg  1704,  S.  9:  £,  bedeutet  —  »ein  langsames  und 
gravitätisch  Gesang«  —  (£  geht  noch  einmal  so  schnell.  In  kontrapunk- 
tischen Stücken  deutet  das  Q}  nach  Samber  auf  einen  hurtigen  Gesang,  während 
(£,  als  Proportio  dupla  gilt:  Allen  Noten  ist  die  Hälfte  des  Wertes  entzogen, 
statt  einer  ganzen  Note  kommen  zwei  auf  den  Takt. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  121 

ganze  Zahlen  und  die  Taktzeichen  C  und  (fc  geben  Aufschluß 
über  Anzahl  und  Wert  der  in  einem  Gruppentakt  vereinten  Noten. 
Zählzeiten  sind  im  alla  Breve  die  Halben,  in  den  übrigen  Takten 
Viertel,  Achtel  usw.  Rhythmik  und  Notation  zeigen  das  moderne 
Aussehen. 

Die  Verteilung  der  Noten  auf  Nieder-  und  Aufschlag  lehren  die 
an  der  alten  Theorie  festhaltenden  Theoretiker  nach  dem  be- 
kannten Schema  der  gleichen  und  ungleichen  Taktteile.  Gerade 
Takte  werden  in  Hälften  geteilt,  ungerade  in  ungleiche  Teile,  nach 
dieser  Form: 

im  2/4  gehört    1  Viertel  zum  Niederschlag,  1  zum  Aufschlag. 


»  2/2 

» 

1  Halbe       » 

»      4/4 

gehören  2  Viertel      » 

»      6/4 

» 

3  Viertel      » 

»     6/8 

» 

3  Achtel      » 

»  12/4 

» 

6  Viertel      » 

»12/8 

» 

6  Achtel       » 

»   Vi 

» 

2  Ganze       » 

»  3/2 

» 

2  Halbe       » 

»      3/4 

» 

2  Viertel      » 

»    9/s 

» 

6  Achtel      » 

»      9/4 

» 

6  Viertel      » 

» 

1 

» 

» 

» 

2 

» 

» 

» 

3 

» 

» 

» 

3 

» 

» 

» 

6 

» 

» 

» 

6 

» 

» 

» 

1 

» 

» 

» 

1 

» 

» 

» 

1 

» 

» 

» 

3 

» 

» 

» 

3 

» 

» 

Diese  Takteinteilung  lehrt  neben  vielen  anderen  Musikern  der  sonst 
so  reformatorisch  gesonnene  Mattheson1.  Er  nahm  in  seiner 
Taktlehre  die  alte  Theorie  mit  in  die  Neuzeit,  zitierte  Stephan 
Vanneo  und  Agostino  Pisa  und  bewies  den  Musikern,  daß  kein 
Takt  in  der  Welt  mehr  als  zwei  Teile  haben  kann2.  Seine  Be- 
weisführung richtete  sich  gegen  die  Theoretiker,  die  dem  Tripel- 
takt drei  Teile  zuerkannten,  und  gegen  die  Praktiker,  die  von  der 
alten  Taktiermethode  nichts  mehr  wissen  wollten.  Mattheson 
blieb  in  diesen  Fragen  rückständig.  Er  sah  nicht,  daß  die  von 
vielen  Musikern  aufgestellten  neuen  Taktierformen  eine  Forderung 
der  Zeit  geworden  waren,  daß  Vanneo  und  auch  Pisa  andere  rhyth- 
mische Verhältnisse  berücksichtigten  als  die  Theoretiker  und 
Praktiker  seiner  Zeit. 

Die  neue  Richtung,  gegen  die  Mattheson  auftrat,  macht  sich 
in  der  theoretischen  Literatur  schon  in  der  zweiten   Hälfte  des 


1  Mattheson,  Critica  musica  I,  S.  38f.,  und  Neu  eröffnet.  Orch.  a.a.O. 
Vgl.  Niedt,   Mus.  A— B— G.  Kap.  IX.     Münster,  a.  a.  O.  §  12  u.  v.  a. 

2  Crit.  mus.  a.  a.  O. 


122  Fünftes  Kapitel. 

17.  Jahrhunderts  bemerkbar,  in  einer  Zeit,  wo  die  Taktstrich- 
abgrenzung in  den  Vokalstimmen  zur  Regel  wird  und  der  Gruppen- 
takt auch  auf  die  Chorliteratur  übergreift.  Man  kam  bei  Chor- 
aufführungen nicht  mehr  mit  der  alten  Taktierform  aus.  Ein- 
mal war  der  Taktumfang  durch  das  Vorherrschen  der  kleineren 
Notenwerte  so  groß  geworden,  daß  sich  ein  einzelner  Gruppen- 
takt, der  etwa  nur  Sechzehntel  umfaßte,  nicht  durch  einmaliges 
Senken  und  Heben  der  taktierenden  Hand  angeben  ließ,  und  dann 
war  auch  dem  gleichmäßigen  Taktschlag  die  Direktion  nach  dem 
Affekt  des  Stückes  gefolgt:  man  modifizierte  das  Tempo.  Bei  der 
Klavierdirektion  gab  es  hier  keine  Schwierigkeiten.  Der  Kapell- 
meister konnte  überall  die  rhythmische  Struktur  des  Notenbildes, 
die  Aufhaltung  und  Beschleunigung  des  Tempos  durch  Mit- 
spielen der  Hauptakzente  angeben.  Sobald  er  aber  den  Takt 
schlug,  reichte  dafür  die  Markierung  durch  einmaliges  Nieder-  und 
Aufschlagen  in  den  großen  langsamen  Takten  nicht  aus.  Die  ein- 
zelnen Taktteile  mußten  ausgeschlagen  werden,  wenn  die  Musiker 
exakt  zusammenspielen  sollten.  Musiker  wie  Johann  Caspar 
Printz  (1678)1  und  Retzel  (1698)2  sprechen  daher  von  einem  Ab- 
teilen des  Taktes  in  gleiche  Teile,  von  einem  Taktieren  des  geraden 
Taktes  in  vier  Unterteilungen.  Daß  hiermit  eine  Direktion  ge- 
meint ist,  die  neben  den  alten  Taktbewegungen  auch  Seiten- 
schläge oder  wiederholte  Nieder-  und  Aufschläge  anwendet,  wird 
von  italienischen,  französischen  und  deutschen  Musikern  bezeugt. 
Ihre  Ausführungen,  die  in  den  Hauptpunkten  übereinstimmen, 
werden  am  besten  nach  den  einzelnen  Ländern  besprochen,  denn 
die  Aufstellung  der  modernen  Taktfiguren  ist  nicht  mit  einem 
Schlage  erreicht.  Die  Entwicklung  führt  von  Italien  nach  Frank- 
reich und  zuletzt  nach  Deutschland. 

Aus  Italien  haben  wir  bereits  im  Jahre  1672  eine  Nachricht, 
die  beweist,  daß  man  mit  der  alten  Taktierform  nicht  mehr  auskam. 
Lorenzo  Penna  gibt  in  den  »albori  musicali«3  folgende  Takt- 
theorie: Der  Takt  besteht  aus  Niederschlagen  und  Aufschlagen  der 
Hand  und  hat  vier  oder  drei  Teile.  Der  erste  Teil  im  Viervierteltakt 
wird  durch  den  Niederschlag  bezeichnet,  der  zweite  durch  ein 
mäßiges  Heben  der  Hand,  die  man  ein  wenig  wiegen  läßt  (un 


1  Mus.  mod.  I,  §33:  Der  Dirigent  soll  »den  Tact  in  gehörige  gleiche  Theil 
gantz  just«  abteilen. 

2  A.  a.  O.  These   XIII:  [musici]  in  quatuor  partes   aequales   hunc   tactum 
distinguere  .  .  .  solent. 

3  Lor.  Penna,  Li  primi  albori  musicali,  Bologna  1672. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  123 

poco  ondeggiando),  der  dritte  kommt  auf  den  Aufschlag,  der 
vierte  auf  das  völlige  Heben  der  Hand,  auf  das  Anhalten  im  Auf- 
schlagen. Im  Tripeltakt  kommt  der  erste  Teil  auf  den  Nieder- 
schlag, der  zweite  auf  das  Wiegen  der  Hand,  der  dritte  auf  den 
Aufschlag1.  Das  Ondeggiare  erklärt  Brossard  in  seinem  Musik- 
lexikon als  ein  wellenförmiges  Bewegen  der  Hand:  »Ondeggiando 
la  mano  heißt  das  Umwenden  der  Hand  beim  Taktschlagen  nach 
dem  Niederschlag,  um  den  zweiten  oder  dritten  Taktteil  zu  mar- 
kieren, bevor  man  wieder  aufschlägt  oder  den  Takt  beendet«  2.  Die 
Pennaschen  Taktfiguren  würden  so  aussehen: 

^     t     l    und  f 

12      3      4  12      3 

Zaccaria  Tevo  (1706)  gibt  sie  in  ähnlicher  Form:3 

H   '  '  -  i  J   f 

12      3      4  12      3 

Dies  wiederholte  Nieder-  und  Aufschlagen  ist  für  die  gesamte 
Gruppentaktdirektion  charakteristisch.  Es  ist  die  einfachste 
und  aus  dem  alten  Schema  des  Taktschiagens  sich  natürlich 
ergebende  Methode.  Wir  werden  sehen,  daß  sie  sich  in  allen  Län- 
dern als  die  ältere  Taktierform  des  Gruppentakts  nachweisen  läßt. 
Die  »Principii  di  musica«  aus  dem  Jahre  1708  stellen  die  be- 
kannten Formen  des  wiederholten  Nieder-  und  Aufschlages  auf: 
beim  Viertakt  zwei  Taktteile  nieder,   zwei  auf;   beim   Dreitakt 


1  A.  a.  O.  Kap.  15:  Hä  la  Battuta  quattro  parti,  la  prima  e"  battere,  e  la 
seconda  6  fermare  in  giü,  la  terza  e"  alzare,  e  la  quarta  e"  fermare  in  sü;  Nelle 
Note  nere  spiccano  benissimo  questo  quattro  parti  di  Battuta,  perche  la  prima 
6  nel  percuotere,  la  seconda  ö  nel  levare  un  poco  ondeggiando  la  mano,  la  terza  e" 
nell'  alzata,  e  la  quarta  6  nel  fermare  in  sü.  Nella  Tripola  si  fanno  trö  parti  di 
Battuta,  una  nel  percuotere,  la  seconda  nel  levare  ondeggiando,  e  la  terza  nel 
fermare  in  sü. 

2  Brossard,  Dictionaire,  Art.  Ondeggiare:  C'est  proprement  dötourner 
la  main  en  battant  la  mesure,  apr^s  l'avoir  baissöe,  afin  de  former  un  second  ou 
troisi^me  temps  avant  que  de  la  lever  tout  ä  fait,  ou  terminer  la  mesure. 

3  II  Musico  testore,  Venezia  1706,  II,  18:  la  battuta  d'egualitä  hä  quattro 
parti;  la  prima  e  il  battere;  la  seconda  il  fermarsi  all'  in  giü;  la  terza  nell'  alzar 
della  mano;  e  la  quarta  in  fermarsi  all'  in  sü.  Nelle  Triple  si  formano  tre  parti; 
la  prima  6  nel  percuotere;  la  seconda  nel  levare  ondeggiando;  el  la  terza  nel 
fermarsi  in  sü.  Nelle  Sestuple  si  formano  sei  tempi,  tre  nell  battere,  e  levare,  e 
altri  tre  nell'  alzare,  e  fermarsi  in  sü. 


124  Fünftes  Kapitel. 

zwei  nieder,  einer  auf1.  Ebenso  erklärt  Tessarini  (1741)2  das 
Taktieren.  Die  Taktteile  werden  also  beim  Taktieren  ausgeschlagen, 
und  zwar  werden  die  Hauptzeiten  in  der  alten  Form  dirigiert, 
während  die  anderen  durch  nochmaliges  Senken  und  Heben  der 
Hand  gegeben  werden.  Diese  Taktierform  hat  sich  in  Italien 
bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  gehalten.  Rousseau  sagt  in 
seinem  Dictionnaire,  daß  die  Italiener  die  ersten  beiden  Zeiten 
des  Dreitakts  niederschlagen  und  die  dritte  auf  den  Aufschlag 
nehmen,  und  daß  sie  beim  Viertakt  die  ersten  beiden  Zeiten  nieder-, 
die  andern  beiden  nach  oben  schlagen,  eine  Form,  die  in  Frank- 
reich in  dieser  Zeit  nicht  mehr  gebräuchlich  war3.  Selbst  Loren- 
zoni  (1779)  hebt  noch  den  Unterschied  zwischen  französischer 
und  italienischer  Taktiermethode  hervor4,  so  daß  man  das  wieder- 
holte Auf-  und  Niederschlagen  als  spezifisch  italienische  Taktier- 
form ansehen  kann. 

Die  französischen  Musiker  gehen  zur  gleichen  Zeit  wie  die 
Italiener  auf  eine  Umänderung  der  alten  Dirigierformen  aus. 
Die  bewegte  und  vielgestaltige  Rhythmik  ihrer  Ballett-  und  Tanz- 
musik, der  Ouvertüren  und  Opern  erforderte  von  vornherein  eine 
exakte,  rhythmisch  genaue  Direktion.  Wir  wissen  auch,  daß 
gerade  in  der  französischen  Oper  nicht  nach  italienischem  Muster 
vom  Cembalo  aus  dirigiert  wurde,  sondern  mit  einem  Taktstock. 
Lully  hat  sich  bekanntlich  bei  dieser  Direktion  mit  einem  langen 


1  Principii  di  mus.  (am  Schluß:  Venezia  1708,  Appresso  Anton.  Bortoli): 
La  Battuta  e  un  abbassare,  ed  alzar  della  mano,  la  quäle  comincia  in  terra,  e  fi- 
nisce  in  aria,  e  si  divide  in  quattro  parti,  due  in  terra,  e  due  in  aria.  —  3/i  •  •  •  s' 
batte  in  tre  terzi,  due  in  terra  ed  uno  in  aria. 

2  CarloTessarini,  Gramatica  di  Musica,  1741 :  Tempi  della  Musica, 
avvertendo  che  quelli  che  saranno  composti  di  4  Tempi  anderanno  battuti,  due 
in  battere,  e  l'altri  due  in  levare;  quelli  di  3  Tempi,  due  in  battere,  e  l'altro  in 
levare;  quelli  di  2  Tempi  uno  in  battere,  e  l'altro  in  levare. 

3  Rousseau,  Dictionnaire  de  musique,  Art.  Frappe:  Les  Italiens  frappent 
les  deux  premiers  de  la  mesure  ä  trois,  et  levent  le  troisieme,  ils  frappent  de  meme 
les  deux  premiers  de  la  mesure  ä  quatre,  et  levent  les  deux  autres.  Ces  mouve- 
mens  sont  plus  simples  et  semblent  plus  commodes  [que  les  mouvemens  des 
musiciens  Francais].  Vgl.  auch  Art.  Battre  la  mesure:  Les  Musiciens  Francois 
ne  battent  pas  la  Mesure  comme  les  Italiens.  Geux-ci,  dans  la  Mesure  ä  quatre 
tems  frappent  successivement  les  deux  premiers  tems  et  levent  les  deux 
autres  .  .  .  etc. 

4  Antonio  Lorenzoni,  Saggio  per  ben  sonare  il  Flauto  traverso,  Vi- 
cenza  1779,  S.  46  Anm.:  J  Francesi  non  battono  la  misura  come  noi  Italiani. 
S.  weiter  unten  S.  136  Anm.   2. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  <  8.  Jahrhundert.  125 

Stock  eine  Verletzung  am  Fuß  zugezogen,  an  deren  Folgen  er  starb1. 
Seine  Nachfolger  an  der  französischen  Oper,  die  sich  gleichfalls 
eines  Taktstocks  bedienten2  und  wohl  auch  hin  und  wieder  da- 
mit aufschlugen,  um  den  wenig  leistungskräftigen  Chor  im  rechten 
Tempo  zu  halten,  wurden  gerade  dieser  hörbaren  Taktstock- 
direktion wegen  von  Kritikern  und  Schriftstellern  scharf  mitge- 
nommen, so  daß  der  Kampf  zwischen  Nationaloper  und  italie- 
nischer Oper  auch  auf  die  Direktionspraxis  übergriff.  Grimm 
nannte  den  Kapellmeister  der  französischen  Oper  einen  Holz- 
hacker3, Rousseau  wurde  noch  ausfallender,  und  andere  Schrift- 
steller schlössen  sich  an4.    Selbst  die  deutschen  Musiker  spotteten, 

1  Histoire  du  th6ätre  de  l'acad^mie  royale  de  musique  en  France,  2.  Edit. 
Paris  1757,  I,  S.  55. 

2  Rousseau,  a.a.O.,  Art.  Bäton  de  mesure:  [II]  estun  Bäton  fort  court, 
ou  meine  un  rouleau  de  papier  dont  le  maitre  de  musique  se  sert  dans  un  Concert 
pour  regier  le  mouvement  et  marquer  la  mesure  et  le  tems.  A  l'Op6ra  de  Paris 
il  n'est  pas  question  d'un  rouleau  de  papier,  mais  d'un  bon  gros  Bäton  de  bois 
bien  dur,  dont  le  maitre  frappe  avec  force  pour  etre  entendu  de  loin.  Vgl.  auch 
die  weiterhin  zitierten  Quellen. 

3  Le  petit  prophete  de  Boehmischbroda,  s.  1.  1753.  Kap.  IV:  Le  Bucheron. 

4  Rousseau,  a.a.O.,  Battre  la  mesure:  Gombien  les  oreilles  ne  sont- 
elles  pas  choquöes  ä  l'Opera  de  Paris  du  bruit  dösagröable  et  continuel  que  fait, 
avec  son  bäton,  celui  qui  bat  la  Mesure,  et  que  le  petit  Prophete  compare  plai- 
samment  ä  un  Bucheron  qui  coupe  du  bois  !  Mais  c'est  un  mal  inävitable;  sans 
ce  bruit  on  ne  pourroit  sentir  la  Mesure;  la  Musique  par  elle-meme  ne  la  marque 
pas:  aussi  les  Etrangers  n'appercoivent-ils  point  le  Mouvement  de  nos  Airs  .  .  . 
L'Opera  de  Paris  est  le  seul  theätre  de  l'Europe  oü  l'on  batte  la  Mesure  sans 
la  suivre;  partout  ailleurs  on  la  suit  sans  la  battre.  Vgl.  auch  Art.  Orchestre: 
Le  bruit  insupportable  de  son  bäton  qui  couvre  et  amortit  tout  l'effet  de 
la  Symphonie.  —  AngeGoudar  schreibt  im  »  Le  Brigandage  de  la  musique 
italienne«  (1777,  S.  119):  II  serait  tems,  pour  me  servir  de  l'expression  d'un 
auteur,  de  nous  döfaire  de  ce  bücheron  qui  fend  nos  opöra  d'un  bout  ä 
l'autre.  Ces  coups  redoubl6s  de  l'homme  au  bäton  placö  devant  l'orchestre, 
etourdissent  le  spectateur  sans  le  mettre  en  mesure.  Cette  maniere  d'inter- 
rompre  l'harmonie  par  un  bruit  sourd,  vient  de  loin.  Vgl.  die  Übersetzung  der 
Stelle  in  Cramers  Magazin  der  Musik  I,  S.  436  f.  S.  auch  Gretry  ,  M6- 
moires  ou  Essai  sur  la  Musique,  Paris  1789,  I,  S.  49f. ;  C  a  s  t  i  1  B  1  a  z  e ,  De 
l'Opera  en  France,  Paris  1820,  I,  S.  444 f.;  Hect.  Berlioz,  Les  Soir6es  de  l'Or- 
chestre,  Paris  1852,  S.  137f.  u.  a.  Ein  Parteimann  der  französischen  Oper  sagt 
in  dem  »Lettre  sur  le  mechanisme  de  l'opöra  italien«  (Naples  et  se  vend  ä  Paris 
1756,  S.  61f.) :  Vous  avez,  sans  doute,  entendu  parier  plus  d'une  fois  de  la  vanite 
des  Italiens,  de  ce  qu'on  ne  bat  pas  la  mesure  ä  leur  Opera,  comme  au  nötre; 
c'est,  dit  on,  parce  que  leurs  Acteurs  sont  Musiciens,  et  que  les  nötres  ne  le  sont 

pas On  ne  bat  pas  la  mesure  ä  l'Opera  en  Italie,  cela  est  vrai;  mais  le  premier 

Violon  y  suppige  d'une  maniere  quelquefois  aussi  dösagreable;  et  il  la  bat  avec 
le  pied,  il  se  demene  comme  un  possede  et  soutient  l'Orchestre  par  des  coups 
d'Archet  si  frappes,  qu'on  les  distingue  du  fond  de  la  Salle  .  .  .  etc. 


126  Fünftes  Kapitel. 

die  wahrlich  wenig  Grund  dazu  hatten1.  In  Deutschland  wurden 
nur  wenige  Choropern  aufgeführt,  meist  gab  man  italienische 
Opern,  die  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  überhaupt  keine 
Chöre  hatten  oder  höchstens  ein  paar  kleine  Sätze,  die  zur  Not 
von  den  Solisten  oder  von  Schülern  (wie  in  Dresden)  übernommen 
werden  konnten.  Im  französischen  Musikdrama  waren  aber 
Chöre  und  Tanzszenen  Hauptfaktoren  der  Oper.  Eine  hörbare 
Direktion  ist  hier  eher  verständlich  als  in  der  italienischen  Oper, 
die  sich  vom  Klavier  aus  ohne  große  Mühe  dirigieren  ließ.  In 
Frankreich  ist  man  auch  im  18.  Jahrhundert  bei  der  Taktstock- 
direktion geblieben.  Nur  einmal,  im  Jahre  1762,  wurde  der  Ver- 
such gemacht,  nach  italienischer  Manier  zu  dirigieren.  Die  Partei- 
männer der  Italiener  waren  begeistert,  andere  Musiker  protestierten. 
Der  Versuch  war  indes  nur  von  kurzer  Dauer,  man  kehrte  bald 
zur  altbewährten  Lullyschen  Direktion  zurück2. 

Lully  hat  jedenfalls  bei  seiner  Leitung  nur  die  Chorszenen, 
die  Instrumental-  und  Ballettstücke,  vielleicht  auch  die  begleiteten 
Arien  mit  dem  Taktstock  dirigiert.  Die  übrigen,  nur  vom  Con- 
tinuo  gestützten  Sätze  wird  er  vom  Klavier  aus  geführt  haben, 
wenn  nicht  ein  besonderer  Akkompagnist  die  Begleitung  über- 
nommen hatte.  Die  Rhythmik  der  altfranzösischen  Oper  ist  so  viel- 
gestaltig und  abwechslungsreich,  daß  die  Dirigenten  bei  der 
Taktstockleitung  kaum  mit  der  alten  Taktierform  auskommen 
konnten;  oft  wechselt  der  Rhythmus  von  Takt  zu  Takt,  es  werden 
Drei-  oder  Sechstakter  in  einen  geraden  Takt  eingeschaltet,  oder 
es  folgt  einem  längeren  Stück  im  4/4-Takt  ein  einzelner  6/4- Rhyth- 
mus und  dann  der  Schluß takt;  ein  Effekt,  der  nur  dann  sicher 
zur  Wiedergabe  kommen  kann,  wenn  der  Kapellmeister  die  Ak- 
zente genau  markiert  und  der  Continuospieler  sich  nach  seiner 
Angabe  richtet3.    Bei  solchen  rhythmischen  Veränderungen  konnte 


1  Quants,  Autobiographie  in  Marpurgs  hist.  krit.  Beyträgen  I,  S.  238: 
»Das  [Pariser]  Orchester  war  damals  [im  Jahre  1726]  schlecht  und  spielte  mehr 
nach  dem  Gehör  und  Gedächtniss,  welches  der  mit  einem  großen  Stocke  vor- 
geschlagene Tact,  in  Ordnung  halten  mußte,  als  nach  den  Noten.«  Vgl.  auch 
J.  Ad.  Hiller,  Anweisung  zum  musikalisch-richtig.  Gesänge,  1774,  V,  8: 
Wenn  man  ...  in  französischen  Orchestern  gar  einen  hölzernen  Stock  nimmt, 
um  sich  bei  jedem  Tactstriche  damit  hören  zu  lassen,  so  ist  das  nicht  die  beste 
Art 

2  Vgl.  Michel  Brenet,  Les  Concerts  en  France  (Paris  1900,  S.  272f.), 
Konzerte  der  Direktoren  Dauvergne  und  Gavinie. 

3  Vgl.  in  Lullys  Roland  (Part.  Ballard,  1685)  den  Schluß  der  Ouvertüre 
mit  der  Bemerkung,  daß  der  Continuospieler  im  Schlußtakt  die  ganze  Note  in 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  4  8.  Jahrhundert.  127 

ein  einmaliges  Senken  und  Heben  des  Taktstocks  zur  Bezeichnung 
größerer  Takte  und  ihrer  Unterteile  nicht  genügen.  Die  einzelnen 
Taktzeiten  mußten  durch  wiederholtes  Auf-  und  Niederschlagen 
oder  durch  Seitenbewegungen  angegeben  werden.  Diese  Methode 
haben  die  Franzosen  im  17.  Jahrhundert  befolgt,  und  schon  an 
der  Jahrhundertwende  sind  von  ihnen  die  Prinzipien  der  Taktier- 
bewegung gefunden,  die  bis  zum  heutigen  Tage  gültig  geblieben 
sind. 

Unter  den  französischen  Theoretikern  bringt  Etienne  Loulie, 
maitre  de  musique  ä  Paris,  wohl  als  erster  eine  ausführliche  Direk- 
tionsanleitung. Er  schließt  in  seinen  Elements  ou  Principes  de  Mu- 
sique1 an  die  italienische  Praxis  an  und  stellt  an  die  Spitze  seiner 
Ausführungen  den  Satz,  daß  es  beim  Taktieren  einen  ersten  und 
zweiten  Niederschlag  (frapper)  und  einen  ersten  und  zweiten 
Aufschlag  (lever)  gibt2.  Die  Verteilung  dieser  Taktschläge  richtet 
sich  nach  Taktart  und  Tempo. 

In  den  zweizeitigen  Takten  (2,  C,  2/4)  ist  nach  Loulie  nur 
eine  Taktierform  möglich,  ein   Niederschlag,  ein  Aufschlag:  |  t- 

Beim  Dreitakt  (3/l7  3/2,  3/4,  3/8,  3/16)  gibt  es  drei  ver- 
schiedene Taktierformen : 

1.  Zwei  Niederschläge,  ein  Aufschlag  für  die  langsamen  Tempi 

oder    v  I   t  3 
uaer     4.  2.  3. 

2.  Ein  Niederschlag,  der  2  Zeiten  gilt,  ein  Aufschlag  für  schnellere 
Tempi  (alte  Taktierform)      j  g   | 

3.  Ein  Niederschlag,  der  3  Zeiten  gilt,  ein  Aufschlag  für  sehr 
schnelle  Tempi  [  ^  \  2  3 

Die  Viertakter  sind  nach  einer  einzigen   Form   zu   dirigieren: 
Zwei  Nieder-,   zwei  Aufschläge:   |  ^    £  £,  doch  wird   der  schnelle 
Vierachteltakt  stets  zweizeitig  taktiert. 

Die  sechszeitigen  Takte  haben  verschiedene  Taktfiguren. 

1.  für  langsame  Tempi:  1  Niederschlag  (2  Zeiten),  ein  zweiter 
Niederschlag  (1  Zeit),  ein  Aufschlag  (2  Zeiten)  und  ein  zweiter 
Aufschlag  (1  Zeit)  oder:    j  2  j    \     | 

eine  Halbe  und  zwei  Viertel  auflösen  soll,  um  für  das  folgende  Prelude  Ton  [und 
Takt]  anzugeben. 

1  Amsterdam  1698,  S.  34f. 

2  II  y  a  deux  Frappers:  1.  Frapper,  2.  Frapper.  II  y  a  deux  Levers:  1.  Lever, 
2.  Lever. 

3  Die  Pfeile  sind  von  mir  zugefügt. 


128  Fünftes  Kapitel. 

2.  Für  schnelle  Tempi:  1  Niederschlag  (3  Zeiten),  1  Aufschlag 

(3Zeite*):i.s.3.  L.6.1 

Schüler   können    die    Sechstakter    auch   nach    der    Dreitaktfigur 
taktieren,  indem  sie  in  jedem  Takt  zwei  Dreitakte  dirigieren. 
Die  neunzeitigen  Takte  werden  nach  einer  Manier  taktiert: 
Ein  Niederschlag  (3  Zeiten),  ein  zweiter  Niederschlag  (3  Zeiten), 

ein   Aufschlag  (3  Zeiten):     f.  2.3. t.  5. 6.  V  8. 9. 
Auch  hier  kann  man  drei  Dreitaktsfiguren  in  jedem  Takt  angeben. 
Der  zwölf  zeitige  Takt  hat  nur  eine  Taktier  form:  ein  Nieder- 
schlag (3  Zeiten),  ein  zweiter  Niederschlag  (3  Zeiten),  ein  Aufschlag 
(3  Zeiten),   ein  zweiter  Aufschlag  (3  Zeiten)  oder:    j  2  3   \  - 
t  t 

7.  8.  9.   10.  \\.  12. 

Loulies  Taktfiguren  sind  im  Prinzip  die  gleichen  wie  die  ita- 
lienischen. Er  geht  ausführlicher  auf  die  Praxis  ein,  weil  das 
Taktieren  in  Frankreich  eine  größere  Rolle  spielt  als  in  anderen 
Ländern.  Während  in  Italien  und  Deutschland  Opern  und  In- 
strumentalkonzerte vom  Klavier  aus  dirigiert  werden2,  ist  in  Frank- 
reich auch  bei  diesen  Musikformen  ein  Taktschläger  tätig. 

Die  gegebenen  französischen  Taktfiguren  bringen  noch  keine 
neuen  Ideen.  Loulies  Theorie  zeigt  ebenso  wie  die  Definition 
Brossards  über  das  »Ondeggiare«  den  Einfluß  der  Italiener. 
Aber  schon  aus  dem  Jahre  1702  haben  wir  ein  Buch,  das  die  Grup- 
pentaktdirektion  wohl  zum  ersten  Male  in  Frankreich  nach  mo- 
dernen Grundsätzen  formuliert:  die  Klavierschule  von  Saint- 
Lambert,  die  unter  dem  Titel  »Les  principes  du  clavecin«  bei 
Christophe  Ballard  in  Paris  erschien.  Lambert  bietet  in  seinem 
Klavierbuch  die  Direktionsformen  mit  einer  Ausführlichkeit,  die 
kein  Musiker  der  vorangehenden  Jahre  erreicht  hat.  Er  beginnt 
seine  Lehre  vom  Taktschlagen  mit  dem  vierzeitigen  Takt  und  läßt 
dann  die  Taktierform  des  zwei-  und  dreiteiligen  Takts  folgen.  Der 
Viertakt  muß  nach  Lambert  vierzeitig  geschlagen  werden.  Die  erste 
Taktzeit  kommt  auf  den  Niederschlag.  Man  senkt  die  Hand 
oder  läßt  sie  in  die  Linke  schlagen.  Bei  der  zweiten  Taktzeit 
führt  man  die  Hand  nach  rechts  (!),  bei  der  dritten  nach  links 
und  bei  der  vierten  nach  oben.  Man  zeigt  beim  Dirigieren 
diese  Figur : 

1  Vgl.  T  e  v  0,  a.  a.  0.  zitiert  S.  123,  Anm.  3. 

2  S.  0.  französische  Taktstockdirektion.  Rousseau  u.  a.,  auch  weiter  unten: 
Unterscheidung  der  Kirchenmusik-  und  Operndirektion  in  Deutschland,  S.  154 f. 


Taktschlagcn  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert. 
4 


129 


Die  Handbewegungen  müssen  gleichmäßig  ausgeführt  werden,  d.  h. 
man  soll  nicht  längere  Zeit  dazu  gebrauchen,  um  von  dem  ersten 
zum  zweiten  oder  vom  dritten  zum  vierten  Punkt  zu  kommen1. 
Der  alla  Breve  (^  und  (fc)  und  der  4/8-Takt  werden  zweizeitig 
geschlagen.     Lambert  gibt  diese  Figur:2 


Im  Dreitakt  wird  beim  3/2-Takt,  der  ein  langsameres  Tempo  ver- 
langt, nach  der  Figur 

3 


dirigiert.  Ebenso  der  3/4-  und  z/8-Takt.  Hat  der  letztere  ein 
schnelles  Tempo,  so  dirigiert  man  ganztaktig,  man  schlägt  auf  der 
ersten  Achtelnote  nieder  und  läßt  die  beiden  anderen  Achtel 
beim  Heben  der  Hand  spielen,  ohne  eine  zweite  oder  dritte  Zeit 
zu  unterscheiden.  So  werden  auch  die  Menuettänze  im  3/4-Takt 
dirigiert3. 

Der  6/4-Takt  kann  nach  zwei  Manieren  geschlagen  werden,  ent- 

1  A.  a.  0.  S.  17:  Aux  Piexes  marqu^es  du  Signe  majeur,  la  Mesure  se  bat 
ä  quatre  temps;  c'est-ä-dire,  qu'il  faut  faire  quatre  mouvemens  de  la  main,  pour 
chaque  Mesure.  On  les  fait  ordinairement  de  la  main  droite,  pour  la  bonne 
grace  en  cette  sorte.  Le  premier  temps  en  baissant  la  main,  ou  en  la  faisant 
frapper  dans  la  gauche.  Le  second  en  la  portant  ä  droit.  Le  troisiSme  en  la 
passant  ä  gauche;  Et  le  quatriöme  en  la  relevant,  imitant  par  ces  quatre  mouve- 
mens la  Figure  qu'on  voit  icy  — .  Ces  quatre  mouvemens  doivent  etre  £gaux; 
c'est-ä-dire,  qu'il  ne  faut  pas  employer  plus  de  temps,  ä  passer  du  premier  au 
second,  que  du  second  au  troisie"me,  du  troisieme  au  quatrieme  et  du  quatriäme 
au  premier. 

2  A.  a.  O.  S.  18. 

3  A.  a.  0.  S.  19. 


Kl.  Handb.  der  Musikgesili.  X. 


9 


130 


Fünftes  Kapitel. 


weder  zweizeitig:  drei  Viertel  auf,  drei  Viertel  ab,  oder  drei- 
zeitig nach  der  Form  des  schnellen  3/4"Takts,  man  macht  dann 
zwei  Takte  an  Stelle  eines  einzelnen.  Lamberts  Notenbeispiele 
wären  so   zu  bezeichnen1: 


i 


i.    | 


f 


t 


4 


t 


^ 


£EE 


i 


■v— i- 


Der  6/8-Takt  wird  zweizeitig  dirigiert,  der  9/4  und  9/8  nacn  der 
Dreitaktsfigur,  der  12/4  und  12/8  nach  der  Viertaktsfigur.  »Die 
Handbewegungen  dürfen  nicht  nachlässig  ausgeführt  werden«, 
sagt  Lambert,  »sie  müssen  im  Gegenteil  merklich  markiert  und 
deutlich  sein.  Wenn  sie  auch  in  der  Luft  ausgeführt  werden,  so 
muß  es  doch  so  aussehen,  als  ob  man  auf  etwas  aufschlüge.  Die 
Hand  muß  so  zu  sagen  bei  den  Bewegungen  tanzen  und  den  Augen 
ein  Bild  von  dem  Tonfall  geben,  den  das  Ohr  hören  soll.  Die 
erste  Zeit  jeden  Taktes  muß  noch  markierter  sein  als  die  anderen. 
Die  Musiker  nennen  sie  ,  Frappe',  weil  die  Konzertdirigenten 
bei  dieser  Taktzeit  in  ihre  Hand  oder  mit  einer  Papierrolle  auf 
einen  Tisch  [Notenpult]  zu  schlagen  pflegen.  Man  läßt  so  die 
erste  Taktzeit  deutlicher  als  die  andern  fühlen2.« 

Lambert  geht  dann  auf  die  Schwierigkeiten  ein,  die  Augmen- 
tationspunkte und  Synkopen  bei  der  Direktion  hervorrufen  können, 
und  stellt  danach  für  den  Auftakt  folgende  Regel  auf:  Wenn  die 
Stücke  mit  einem  halben  Takt  beginnen,  etwa  der  4/4-Takt  mit  zwei 
Vierteln  oder  der  6/8  mit  drei  Achteln,  so  beginnt  man  beim  Takt- 
schlagen mit  dem  Aufschlag.  Macht  der  Auftakt  nur  ein  Drittel 
oder  Viertel  des  Gruppentaktes  aus  oder  noch  weniger,  so  beginnt 
man  erst  bei  der  Anfangsnote  des  ersten  vollen  Taktes  zu  dirigieren ; 
was  vorhergeht,  wird  gespielt  oder  gesungen,  während  man  die 

1  S.  16  u.  19:  Quand  les  Notes  sont  distribuees  dans  la  Mesure,  de  la  fagon 
que  j'ay  appellöe  premiöre  maniere  [1.  exemple]  .  .  .  la  Mesure  se  bat  a  deux 
temps,  sur  chacun  desquels  on  met  trois  Noires,  ou  leur  valeur.  Mais  quand 
les  Notes  sont  distribuöes  de  la  facon  que  j'appelle  seconde  maniere,  la 
Mosure  se  bat  .  .  .  ä  trois  temps  gais,  pareils  ä  ceux  du  Signe  Binaire,  [Trinaire?] 
en  ne  mettant  qu'une  Noire  sur  chaque  temps,  et  faisant  ainsi  deux  Mesures 
d'une,  puis   qu'il  y  a  six  Noires  dans  la  Mesure. 

2  A.  a.  O.  S.  20. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1  8.  Jahrhundert.  131 

Hand  in  der  Luft  hält,  bereit,  auf  die  erste  Taktzeit  niederzufallen. 
Allemanden,  Couranten,  Giguen,  Rigaudons,  Bourreen  bringen 
dafür  Beispiele1. 

An  Ausführlichkeit  und  Genauigkeit  läßt  Lamberts  Lehre 
vom  Taktschlagen  nichts  zu  wünschen  übrig.  Er  ist  unter  den 
französischen  Theoretikern  der  Bahnbrecher  einer  neuen  Richtung. 
Zum  ersten  Male  wird  die  italienische  Taktierform  weitergeführt. 
Es  lag  nahe,  die  Pennasche  Dreitaktsfigur  >ir  ^     f"   in  die  Form 


!  ^>    umzubilden  und  aus  dieser  wieder    3 — —2      abzuleiten. 


Wann  dieser  Umbildungsprozeß  vor  sich  gegangen  ist,  läßt  sich 
schwer  bestimmen.  In  Deutschland  werden  schon  am  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  ähnliche  Taktfiguren  ausprobiert,  und  auch  Lam- 
bert trägt  seine  Direktionsfiguren  nicht  als  eigene  Erfindung  vor. 
Man  wird  annehmen  können,  daß  die  Grundzüge  dieser  Takt- 
bewegungen in  Frankreich  schon  längere  Zeit  neben  den  italienischen 
gebräuchlich  waren.  Wichtig  ist,  daß  bei  diesen  Figuren  in 
jeder  einfachen  Taktart  nur  einmal,  bei  der  ersten  Taktzeit, 
niedergeschlagen  wird,  während  die  übrigen  Taktteile  durch 
Seitenbewegungen  angegeben  werden,  die  an  das  »Ondeggiare« 
der  Italiener  erinnern. 

Die  Taktformen,  wie  sie  Lambert  formuliert,  haben  sich  mit 
einigen  Änderungen  in  Frankreich  rasch  durchgesetzt  und  die 
italienische  Methode  vollständig  verdrängt.  So  gibt  Monteclair 
in  der  »Nouvelle  Methode  pour  aprendre  la  Musique«  (Paris, 
1709)    für  den   Zweitakt  die  Figur: 

2«  tems  en  levant 


für  den   Dreitakt: 


premier  tems  en  frappant 

Lever 

^^>  Fraper 

Frap«r 


l  A.  a.  0.  S.  27. 


132 


Fünftes  Kapitel. 


und  für  den  Viertakt  diese  Form:1 


Neu  ist  hier  das  Angeben  der  zweiten  Taktzeit  im  Viertakt 
durch  eine  Bewegung  nach  links  und  der  dritten  durch  eine 
Bewegung  nach  rechts.  Die  noch  heute  gültige  Direktions- 
form des  vierteiligen  Gruppentaktes  ist  damit  gefunden.  Von 
Monteclair  an  geben  denn  auch  die  französischen  Theoretiker, 
die  sich  eingehender  mit  dem  Taktschlagen  beschäftigen,  durch- 
weg die  modernen  Taktfiguren.  Dupont2  (1718),  der  im  ein- 
zelnen noch  älteren  Vorlagen  folgt,  auch  für  den  8/8-Takt  eine 
neue  Figur:  ]  \  3  vorschlägt,  bringt  für  den  3/4-  und  4/4"Takt 
die  Monteclair  sehen  Formen,  die  auch  von  De  motz  in  seiner 
»Methode  de  Musique  selon  un  nouveau  Systeme«  (Paris  1728) 
beschrieben  werden3.  Letzterer  gruppiert  die  Figuren  für  den 
zwei-,  drei-  und  vierzeitigen  Takt  auf  drei  Tafeln: 


3 


Second  Temps  ou  Lever 


I   i 


Premier  Temps    ou 
Frapper      


c 

IQ 

C 

o 
E 

c 

UJ 


i  A.  a.  O.  (1709)  S.  10,  11,  14. 

2  Henri  Bonav.  Dupont,  Principes  de  Musique,  par  demande  et  par 
r6ponce,  Paris  1718,  S.  16,  20  und  42. 

3  A.  a.  O.  S.  151:  La  Mesure  ä  trois  Tems  se  bat  en  Triangle-Rectangle, 
son  premier  Temps  se  fait  en  baissant  la  main  en  ligne  droite,  et  s'appelle 
Frapper;  son  second  Temps  se  decrit  en  balancant  la  main  de  gauche  ä  droit; 
et  son  troisieme  en  la  levant,  et  se  nomment  second,  et  troisieme  Temps. 
S.  152:  La  Mesure  ä  quatre  Tems  se  bat  en  figure  d'Equerre,  et  Triangle- 
Rectangle;  son  premier  Temps  se  fait  en  baissant  la  main  droite  en  ligne 
d'aplomb;  son  second,  et  troisiöme  Temps  se  figurent  en  deux  Balencers,  ou 
en  ligne  directe  de  droit  ä  gauche,  et  de  gauche  ä  droit;  et  son  quatrieme 
Temps  se  decrit  en  levant  la  main. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert. 


133 


Troisieme  Temps  ou  Lever 


£-  f    Premier  Temps  ou  Frapper    1 
Balancemenr  


.    I 


rn 


Quarneme  Temps  ou  Lever ^ 


Second  Temps  ou 
premier  Balancer 


o 

e 


Mit  großer  Gründlichkeit  hat  auch  Ghoquet  das  Taktschlagen 
behandelt.  Seine  »Methode  pour  apprendre  facilement  la  Mu- 
sique  soi-meme«,  von  der  mir  die  Neuausgabe  aus  dem  Jahre 
1782  (Paris)  vorlag,  gehört  zu  den  besten  Büchern,  die  für 
Autodidakten  geschrieben  worden  sind.  In  der  Taktlehre,  die 
allein  10  Kapitel  umfaßt1,  werden  die  bekannten  Taktfiguren 
auf  Seite  114/115  so  aufgezeichnet: 


1  I.  De  !a  mesure  en  g6ne>al.  II.  Mesure  ä  quatre  temps.  III.  Mes.  ä 
trois  temps.  IV.  Mes.  ä  deux  temps.  V.  Division  des  mesures  en  gäneral; 
VI.  Ordre  des  Battements  des  temps.  VII.  Diff6rence  des  mouvements  dans 
les  mesures  ä  deux  temps.   VIII.  Legons  pour  la  mesure  ä  deux  temps  Graves. 


134  Fünftes  Kapitel. 

r> 

Figure  de  la  mesure  ^    2^e  temps 


ä  deux  temps 


A   1er  temps 


Figure  de  la  mesure  ^   t 

ä  quatre  temps 


nie 


gme    B  G    3m 


A 


ier 


Figure  de  la  mesure  G  3me 

ä  trois  temps  B  2™ 

A  1er 

Sehr  hübsch  ist  seine  Methode,  das  Taktieren  ohne  jede  Hilfe  zu 
erlernen.  Er  rät,  ein  Pendel  aufzustellen  und  zu  den  Schwin- 
gungen laut  zu  zählen:  »eins«  —  »zwei«  usf.,  bis  der  Zweitakt  voll- 
kommen beherrscht  wird.  Schwieriger  ist  das  Erlernen  der  Vier- 
taktfigur. Choquet  weiß  auch  da  Hilfe.  Er  schlägt  vor,  ein  etwa 
48  cm  hohes  Brett  aufzustellen  und  daran  Spielkarten  oder  Blätter 
zu  heften,  auf  die  man  die  Zahlen  1,  2,  3,  4  schreibt.  Ihre  An- 
ordnung und  die  Form   des  Bretts  zeigt  diese  Figur: 


In  die  Mitte  der  Karten  kann  man  Nägel  schlagen,  die  mit  einer 
Schnur  oder  einem  Band  so  verbunden  sind,  daß  die  Route,  die 
die  Hand  beim  Taktieren  nimmt,  vorgezeichnet  ist.  Das  Band 
führt  also  von  1  zu  2,  3  und  4.  Man  stellt  das  Brett  auf  den 
Tisch  und  taktiert  danach,  während  man  laut  zählt.  Ein  anderes 
Mittel  ist:  man  stellt  einen  Toilettenspiegel  auf,  steckt  die  Karten 
in  der  angegebenen  Form  in  den   Rahmen  und  bezeichnet  den 

IX.  Maniere  de  battre  la  mesure  ä  quatre  temps.  Moyen  de  se  redresser  en 
battant  cette  mesure.  Lecons  sur  la  mesure  ä  quatre  temps,  Syncope;  son 
explication.  X.  Battre  la  mesure  ä  trois  temps,  Lecons  sur  la  mesure  ä 
trois  t  mps,  Gauchers;  comment  ils  battront  la  mesure. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert. 


135 


Weg  der  taktierenden  Hand  mit  Kreidestrichen.  Nach  dieser 
Marschroute  muß  so  lange  taktiert  werden,  bis  dem  Lernenden 
die  Taktfigur  vollständig  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  ist1. 

Wer  »Linkshänder«  (Gaucher)  ist,  kann  dabei  mit  der  linken 
Hand  dirigieren,  wie  es  Andre  Campra  gemacht  hat2. 

Die  gleichen  Taktfiguren  wie  Choquet  geben  Bordier3  und 
Michel  Corrette.  In  der  Violoncellschule  hat  Corrette  noch 
auf  das  mehrmalige  Niederschlagen  im  Viertakt  hingewiesen4, 
doch  ist  damit  nur  ein  Taktieren  mit  dem  Fuß  während  des  In- 
strumentalspiels gemeint,  nicht  ein  Neubeleben  der  italienischen 
Taktierform.  Die  erwähnte  Gesangsschule  Correttes  gibt  im 
Kapitel  VIII  klar  und  deutlich  die  Taktfiguren: 


Corrette  ist  sich  vollständig  klar  darüber,  daß  ein  wiederholtes 
Auf-  und  Niederschlagen  nicht  ratsam  ist.  Er  nennt  die  Methode, 
beim  Taktieren  mit  der  Hand  zweimal  im  Viertakt  niederzu- 
schlagen, eine  schlechte  Manier,  die  beständig  Verwirrungen  her- 
vorrufe5. Die  Lambert-Monteclairsche  Taktierform  ist  auch  weit 
klarer  und  übersichtlicher  als  die  italienische,  und  es  gehört  schon 
die  Brille  des  italienischen  Parteigängers  dazu,  um  ein  wiederholtes 
Auf-  und  Niederschlagen  innerhalb  des  einzelnen  Gruppentaktes 
>> einfacher«  und  »bequemer«  zu  nennen  als  die  französische  Direk- 
tionsweise. Rousseau,  der  diese  Meinung  in  seinem  Musiklexikon 
vertritt,  zeigt  sich  auch  hier  als  blinder  Anhänger  der  italienischen 
Praxis6.  Interessant  ist  aber  seine  Gegenüberstellung  der  italie- 
nischen und  französischen  Taktiermethode.    Im  Artikel  »Frappe« 

i  a.  a.  o.  S.  131f. 

2  A.  a.  0.  S.  157/158. 

3  Bordier,    Nouvelle  Methode  de  Musique  (1760),  S.  38 — 40. 

4  Mich.  Corrette,  Methode,  thdorique  et  pratique  pour  apprendre  en 
peu  de  tems  le  Violoncelle,  Paris  (1741),  S.  5.  Vom  Viertakt:  on  la  peut  battre 
deux  fois;  C'est  a  dire,  Couper  la  mesure  en  deux,  qui  est  de  battre  surle3e  tems, 
apr£s  qu'on  a  trappe"  sur  le  1er. 

6  Mich.  Corrette,  Le  parfait  maitre  ä  chanter,  Kap.  VIII:  II  y  a  per- 
sonnes  qui  ont  la  mauvaise  maniere  de  batre  deux  fois  dans  la  mesure  ä  quatre 
tems,  .  .  .  Ce  qui  les  jettent  dans  un  embarras  continuel  .  .  . 

e  S.  o.  S.  124,  Anm.  3. 


136  Fun  tes  Kapitel. 

seines  Musiklexikons  sagt  er:  »Beim  Taktschlagen  mit  der  Hand 
schlagen  die  Franzosen  nur  bei  der  ersten  Taktzeit  nieder  und 
markieren  die  übrigen  durch  verschiedene  Handbewegungen: 
doch  die  Italiener  schlagen  die  ersten  beiden  Taktteile  des  Drei- 
takts nieder,  den  dritten  Taktteil  auf,  und  beim  Viertakt  schlagen 
sie  die  ersten  beiden  Taktteile  nieder,  die  andern  auf.«  Dasselbe 
wiederholt  er  im  Artikel  »Battre  la  mesure«1.  Auch  Antonio 
Lorenzoni  sagt  in  seiner  Flötenschule  vom  Jahre  1779:  »Die 
Franzosen  schlagen  den  Takt  nicht  so  wie  die  Italiener.  Im 
Viertakt  schlagen  sie  den  ersten  Taktteil  nieder  und  bezeich- 
nen die  anderen  mit  verschiedenen  Handbewegungen  nach  rechts 
und  links:  im  Dreitakt  schlagen  sie  die  erste  Taktzeit  nieder  und 
bezeichnen  die  übrigen  mit  Winken.  Überhaupt  schlagen  sie  in 
jedem  Takt  nur  bei  der  ersten  Taktzeit  nieder2.«  Wir  haben  also 
eine  italienische  und  französische  Taktierform  zu  unterscheiden. 
Erstere  basiert  auf  wiederholten  Auf-  und  Niederschlägen,  letztere 
auf  dem  Grundsatz,  nur  den  ersten  Taktteil  auf  den  Niederschlag 
zu  nehmen  und  die  übrigen  durch  Seitenbewegungen  anzugeben. 
Die  französische  Form  ist  ihrer  Klarheit  und  Deutlichkeit  wegen 
auch  die  unsere  geworden. 

Die  französischen  Theoretiker  machen  fast  ohne  Ausnahme 
bei  ihrer  Taktlehre  noch  auf  einen  anderen  Unterschied  zwischen 
französischer  und  italienischer  Praxis  aufmerksam:  auf  den  poin- 
tierten Vortrag  der  Rhythmen.  Rousseau  meint  im  Artikel 
»Pointer«  seines  Musiklexikons:  »In  der  italienischen  Musik  sind 
stets  alle  Achtel  gleichmäßig  vorzutragen,  wenn  sie  nicht  mit 
Augmentationspunkten  versehen  sind.  Aber  in  der  französischen 
Musik  trägt  man  die  Achtel  nur  im  Viertakt  gleichmäßig  vor, 
in  allen  anderen  werden  sie  stets  ein  wenig  punktiert  gespielt, 
wenn  nicht  gerade  vorgeschrieben  ist:  gleichmäßige  Achtel'.« 
Den  gleichen  Unterschied  stellt  Michel  Corrette  fest3.  Wir  er- 
fahren,  daß   die    Rhythmen  in   Frankreich   schärfer   akzentuiert 


1  Vgl.  oben  S.  124,  Anm.  3. 

2  A.  a.  O.  S.  46  Anm.:  I  Francesi  non  battono  la  misura  come  noi  Italiani. 
Nella  misura  a  quattro  tempi  battono  il  primo,  e  segnano  gli  altri  con  diversi 
movimenti  della  mano  a  destra,  ed  asinistra:  nella  misura  a  tre  tempi  battono 
il  primo,  e  segnano  gli  altri  nel  modo  accennato;  e  geueralmente  non  battono  di 
qualunque  misura  que  il  primo  tempo. 

3  Violoncellschule,  S.  4/5:  Dans  chaque  Mesure  Ies  Croches  se  jouent  ögale- 
ment  dans  la  Musique  Italienne; . . .  Et  dans  la  M usique  francoise  on  passe  la 
deuxiöme  Croche  de  chaque  tems  plus  vfte. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  i  8.  Jahrhundert. 


137 


gespielt  und  gesungen  wurden  als  in  anderen  Ländern,  eine  Eigen- 
heit, die  sich  mit  dem  Vorherrschen  der  Tanzformen  in  der  fran- 
zösischen Literatur  in  Verbindung  bringen  läßt.  Dieser  poin- 
tierte Vortrag  wird  von  allen  Theoretikern  erwähnt,  die  sich  mit 
der  Takttheorie  genauer  befassen. 

Ausführlich  geht  bereits  L'Affillard  in  den  »Principes  tres 
faciles  pour  bien  apprendre  la  Musique«1  darauf  ein.  Er  sagt: 
Man  muß  von  zwei  Achteln,  die  einer  Viertelnote  folgen,  die  erste 
punktieren  und  die  zweite  schnell  vorübergehen  lassen,  z.  B.: 


Efe 


tfEJEJ 


£==£ 


33±==£= 


Kommen  vier  Noten  auf  einen  Schlag,  dann  muß  die  erste  lang 
sein,  die  zweite  kurz,  die  dritte  lang,  die  vierte  kurz,  d.  h.  die 
Notenreihe: 


fcr2~P~£ 


?* 


V=&- 


^=tc 


ist  zu  spielen: 


Em^r=rr=f^ii 


Von  zwei  Achteln  nach  einer  Viertelpause  wird  die  erste  punktiert: 


-flr r^ 1 

X 

1    1    T1 

A.7    9         i      f      P        m 

f       J        m 

WTV   ■=           *    i        i 

•       _l      1 

<rs      *      *        i 

w      gl — v — u- 

i     U- 

*        _ 1/_. 

Nach  einer  Achtelpause  wird  das  zweite  Achtel  punktiert,  während 
das  erste  schnell  gespielt  wird: 


i^ 


£ 


=§FE 


->-- 


Die  Achtel  werden  demnach  punktiert,  je  nachdem  ihre  Zahl 
gerade  oder  ungerade  ist.  »Ist  die  Zahl  der  Achtel  gleich,  spielt 
man  die  erste  lang,  die  zweite  kurz,  ebenso  die  übrigen.  Bei  un- 
gleicher Anzahl   wird    es    umgekehrt  gemacht,  was   man  ,poin- 

1  Amsterdam,  Septieme  Edition  . .  .  corrigee  et  augmentee,  s.  a.  S.  34  f.  (Erste 
Ausgabe  nach  Eitner,  1694.) 

2  A.  a.  O.  S.  36:  Quand  il  y  a  deux  Croches  apres  un  Soupir  on  pointe -la 
premiero  et  l'on  passe  vite  la  seconde,  au  Heu  qu'apres  le  demi-Soupir,  on  passe 
vlte  la  premiere,  on  pointe  la  seconde,  et  l'on  fait  encore  promptement  la  troisi- 
6me  pour  aller  tombersur  la  lre  Note  de  l'autre  tems.  Weitere  Beispiele  S.  38,  40. 


138 


Fünftes  Kapitel. 


tieren'  nennt1.«  Dies  Pointieren  ist  nach  Hotte  terre  am  gebräuch- 
lichsten im  Zweitakt,  im  einfachen  Dreitakt  und  im  6/4-Takt. 
Damit  meint  er  aber  nur  den  Vortrag  der  Achtel,  denn  im  6/8-, 
12/8-,  9/8-Takt  gilt  die  Ungleichheit  für  die  Sechzehntel,  im  3/2 
für  die  Viertel2.  Die  kleinsten  Notenwerte  eines  Taktes  sind 
stets  die  Träger  des  rhythmisch  akzentuierten  Vortrags.  Zu- 
sammenfassend läßt  sich  das  Gesetz  für  die  verschiedenen  Takt- 
arten so  formulieren: 

Im  4/4-Takt  werden  die  Achtel  gleichmäßig  gespielt,  die  Sech- 
zehntel pointiert3.  Im  3/4-Takt  wird  das  zweite  Achtel  jeder  Takt- 
zeit (eines  Viertels)  schneller  gespielt;  in  der  Chaconne  aus  Lullys 
»Phaeton«  sind  also  die  angekreuzten  Achtel  sehr  schnell  vor- 
zutragen : 


-•— 


S± 


e£ 


Nach  Monteclair5  wird  oft  in  Kompositionen  für  die  Geige: 


^nmn  ™  p*-tf-&=z£ 


gespielt.  Doch  gibt  es  auch  hier  Ausnahmen.  Die  Achtel  werden 
gleichmäßig  vorgetragen,  wenn  Sechzehntel  vorkommen6,  d.  h. 
die  Sechzehntel  übernehmen  dann  den  pointierten  Vortrag.  Monte- 
clair meint:  die  Achtel  werden  in  den  Stücken,  wo  die  Melodie  in 
größeren   Intervallen  gehalten  ist,  gleichmäßig  gespielt,  z.  B. 


f 


o — t ß 0 0 —      ß «_. . —     -p-4— • 


1  Louis  Hotteterre,  Principes  de  la  Flute  traversiöre,  Paris,  s.  a- 
(nach  Eitner  vor  1707  erschienen)  S.  22;  ebenso  Lambert  a.  a.  0.,  S.  25,  26; 
Dard,    Nouveaux  Principes  de  Musique,  Paris  (1769),  S.  lOf.  u.v.a. 

2  Lambert  a.  a.  O.,  S.  26.  Dard  a.  a.  O.,  Monteclair  a.  a.  O.,. 
S.  15f.     D  6  m  o  t  z  a.  a.  O.,  S.  155f.  u.  a. 

3  L  a  m  b  e  r  t ,  S.  26.  Vgl.  Monteclair,  S.  15.  Corrette  (Violon- 
cellschule), S.  5.     D  a  r  d  ,  S.  10 f.  u.  a. 

4  Auf  das  Beispiel  bezieht  sich  Corrette  (a.a.O.):  dans  la  Musique  fran- 
coise  on  passe  la  deuxieme  Croche  de  chaque  tems  plus  vite,  comme  dans  la 
Chaconne  de  Phaeton  de  Mr.  de  Lully. 

6  A.  a.  O.  S.  15. 

6  S.  o.  Corrette  a.  a.  O.,  S.  5.:  mais  on  joue  [les  Croches]  aussi  quelque 
fois  e"galement  —  quand  il  y  a  des  doubles  Croches. 


Takischlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert. 


139 


Auch  Choquet  verlangt  für  das  Lied  »L'Amour  croit  s'il  s'in- 
quiette«  aus  Rousseaus  »Devin  de  village«  ausdrücklich  einen 
gleichmäßigen  Vortrag  der  Achtel:  »sans  pointer«1.  Andere, 
wie  Demotz,  geben  als  Regel  für  den  3/4-Takt:  Achtel  egal,  Sech- 
zehntel unegal2. 

Für  den  3/8-Takt,  wo  die  Sechzehntel  den  ungleichen  Vortrag 
übernehmen,  bringt  Monteclair  als  Beispiel: 

3 


W- 


Es  ist   zu   spielen: 


Generalregeln  für  den  pointierten  Vortrag  lassen  sich,  wie  Mon- 
teclair sagt,  schwer  aufstellen,  der  Charakter  der  Stücke  muß  da 
entscheiden4.  Es  gibt  Sätze,  die  man  scharf  pointieren  kann, 
andere  wieder,  wo  es  weniger  angebracht  ist:  »Le  goüt  juge  de 
cela6.«  Doch  ist  in  allen  Taktarten  zu  beachten,  daß  vier  Noten 
von  gleichem  Wert,  die  einen  Taktteil  ausmachen,  pointiert 
werden  müssen,  z.  B. 


%^m> 


=*=^= 


wird 


3-  ~^""*=(^r      f    L    wircl 


und 


gespielt.  Dard  und  Demotz  geben  bei  jeder  Taktart  eine  An- 
weisung zum  pointierten  Vortrag,  z.  B.  2/4:  Achtel  egal,  Sech- 
zehntel unegal;  3/2:  Viertel  unegal;  3/4:  Achtel  egal,  Sechzehntel 


unegal;   6/8:  Achtel  egal,  Sechzehntel  unegal;   4/16:   Sechzehntel 
egal,  Zweiunddreißigstel  unegal  usw. 

Für  scharf  rhythmisierte,  charakteristische  Sätze,  besonders 
für  Tanzstücke,  gilt  demnach  die  Regel,  daß  die  Noten,  die  die 
kleinsten    Notenwerte   repräsentieren,  pointiert  werden   müssen7, 

i  A.a.O.  S.  190. 

2  A.  a.  O.  S.  162f. 

3  A.  a.  O.  S.  15. 

4  Ebenda. 

6  Lambert  a.  a.  O.,  S.  26. 

6  Beispiele  aus  Monteclair  a.  a.  0.,  S.  15. 

7  Demotz  a.  a.  O.,  S.  160:  11  faut  observer,  que  dans  les  Mesures  oü  une 
sorte  de  Note  est  dite  egale,  ou  inegale,  toutes  les  autres  sortes  de  Notes  moindres 
en  valeur  que  la  de'nomm^e,  sont  inegales. 


140  Fünftes  Kapitel. 

und  zwar  ist  bei  gerader  Anzahl  die  erste  Note  länger  zu  halten 
als  die  zweite,  während  bei  ungerader  Zahl  der  kleinsten  Noten- 
werte die  zweite  Note  länger  gehalten  wird  als  die  erste.  Hugo 
Riemann,  der  diese  Verlängerung  der  schweren  oder  betonten 
Taktzeiten  den  agogischen  Akzent  nennt,  kommt  unabhängig 
von  den  hier  besprochenen  Theoretikern  zu  dem  gleichen  Resultat 
wie  die  Franzosen:  »Die  zu  verlängernden  Werte  sind  immer 
und  überall  die  auf  die  Schwerpunkte  fallenden  Noten  und  zwar 
die  kürzesten;  wo  nämlich  mehrere  Stimmen  zusammenwirken, 
wird  stets  diejenige  zum  Träger  des  agogischen  Ausdrucks,  welche 
sich  in  den  kleinsten  Werten  bewegt1.« 

Diese  Akzentuierung  bedeutet  keine  Umrhythmisierung  des 
Notentextes.  Nach  Monteclair  soll  die  zu  verlängernde  Note 
»beinahe  so  lang  gehalten  werden,  als  wenn  ein  Augmentations- 
punkt dabei  stünde«.  Auch  Quantz,  der  den  agogischen  Akzent 
in  seinem  »Versuch  einer  Anweisung,  die  Flöte  traversiere  zu 
spielen«2,  behandelt,  sagt:  das  Aushalten  darf  im  Wert  nicht 
so  viel  betragen,  als  wenn  ein  Punkt  bei  der  Note  stände.  Quantz 
stimmt  überhaupt  in  seiner  Theorie  mit  den  Franzosen  überein: 
die  geschwindesten  Noten  im  Adagio  oder  mäßigen  Allegro  müssen 
ungleich  gespielt  werden,  die  1.  3.  5.  7.  Hauptnote  in  der  Figur 
M—M  M— M  sollen  länger  ausgehalten  werden.  Er  rechnet  unter 
die  geschwinden  Noten  die  Viertel  im  3/2-Takt,  die  Achtel  im  3/4, 
die  Sechzehntel  oder  Zweiunddreißigstel  im  2/4-  und  4/4-Takt. 
Kommen  noch  kürzere  Noten  vor,  so  müssen  diese  ungleich  ge- 
spielt werden.  Ausgenommen  sind:  1.  die  geschwinden  Passagen 
im  schnellen  Tempo,  wo  man  nur  die  erste  von  vier  Noten  durch 
längeres  Aushalten  akzentuieren  darf,  2.  die  schnellen  Staccato- 
läufe  in  Singstücken,  3.  die  punktierten  und  die  mit  einem  Strich 
über  dem  Notenkopf  versehenen  Noten,  4.  die  Tonrepetition  auf 
gleicher  Tonhöhe,  5.  die  mit  Bogen  versehenen  Gruppen  von 
vier,  sechs  oder  acht  Noten  und  schließlich  die  Achtel  in  der 
Gigue  (6/8-Takt). 

Mit  diesen  Anmerkungen  schließt  Quantz  direkt  an  die  fran- 
zösische Theorie  an.  Wie  stets,  bringt  er  auch  hier  eigene  Beob- 
achtungen: er  weist  auf  Ausnahmen  hin,  die  sich  aus  Notierung 
und  Charakter  eines  Musikstücks  ergeben.  Seit  Quantz  wird 
die  Lehre  vom  agogischen  Akzent  bei  den  deutschen  Theoretikern 


i  Präludien  und  Studien  II,  S.  94. 
2  Berlin  1752,  XI,   §12. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  141 

häufiger  behandelt.  Interessant  ist  aber,  daß  auch  diese  Ak- 
zentuierungsregeln auf  die  französische  Musikübung  zurück- 
gehen1. 

Ich  hatte  gezeigt,  daß  die  Franzosen  schon  zu  Beginn  dea 
18.  Jahrhunderts  die  moderne  Taktierform  gebraucht  haben.  Die 
Deutschen  bleiben  lange  Zeit  bei  der  italienischen  Praxis.  Einige 
Musiker  experimentieren  allerdings  schon  frühzeitig  mit  den  ver- 
schiedensten Taktfiguren,  doch  stehen  ihre  Versuche  vereinzelt. 
Berühmte  Männer,  wie  Mattheson  und  Hiller,  sind  durchaus 
gegen  die  Einführung  der  französischen  Taktfiguren.  Mattheson 
sagt:  »Es  ist  wunderlich  !  Unsere  Lands-Leute  wollen  von  den 
Frantzosen  ihren  Fleiß  /  ihre  Accuratesse,  ihre  Fertigkeit  in  den 
Schlüsseln  /  ihre  Einigkeit  im  Spielen  /  und  andere  gute  Eigen- 
schafften keines  weges  erlernen;  aber  die  Lufftstreiche  /das 
Auffheben,  das  Windfechten,  die  Contorsiones,  so  ihrer  et- 
liche mit  Händen  und  Füssen  /mit  Leib  und  Seele  /  bey  ihrem 
Tactschlagen  anbringen  /  das  sind  Sachen  /  die  uns  Teutsche 
sonderlich  /  charmiren  müssen  /  weil  wir  uns  so  viel  Mühe  geben  / 
ihnen  es  hierinn  als  Affen  /  nachzumachen  /  und  uns  noch  Airs 
dazu  geben2.«  Auch  Hiller  meint,  daß  mit  einem  »nach  allen 
vier  Winden  gerichteten  Gefechte  der  Hand,  wobey  die  Nach- 
barn zur  Rechten  und  Lincken  für  ihre  Augen  besorgt  seyn 
müssen,  im  Taktgeben  wenig  gewonnen«  werde.  Er  plaidiert  für 
ein  wiederholtes  Nieder-  und  Aufschlagen  der  Hand,  für  die 
italienische  Praxis3. 

Man  sieht,  daß  in  Deutschland  die  französische  Taktierform 
am  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  bekannt  ist,  daß  sie  aber  von 
einigen  Musikern  bekämpft  wird.  Viele  wollen  von  der  neuen 
Richtung  überhaupt  nichts  wissen,  wie  Mattheson,  Münster  und 
Niedt4,  andere  wieder,  wie  Hiller,  treten  für  die  italienische  Me- 
thode ein.  Daneben  gibt  es  noch  eine  dritte  Partei,  die  im  An- 
schluß an  die  Franzosen  selbständig  an  dem  Ausbau  des  Gruppen- 


1  S.o.  die  Nachrichten  von  Rousseau  und  Corrette.  Vgl.  auch  Muffat, 
Florilegium  (Denkm.  d.  Tonk.  in  Österreich.  Bd.  I,  2.  S.  6,  und  Bd.  II,  S.  24). 
Daß  diese  Rhythmenlehren  schon  früher  bekannt  waren,  zeigen  die  Vortrags- 
anmerkungen von  St.  Maria  (1565,  vgl.  Kinkeldey  a.  a.  0.,  S.  40).  Sie- 
scheinen aber  zur  Zeit  Lullys  eine  Spezialität  der  französischen  Vortrags- 
kunst gewesen  zu  sein. 

s  Exemplarische  Organisten-Probe,  1719,   I,  S.  180f. 

2  Anweisung  zum  mus.  rieht.  Gesänge  VI.   §  15. 
3S.  o.  S.  121. 


142  Fünftes  Kapitel. 

takts   arbeitet,  und   die   schließlich   die   französische   Taktierform 
zur  Herrschaft  bringt. 

Wenden  wir  uns  zunächst  der  Hillerschen  Richtung  zu.  Schon 
frühzeitig  trifft  man  in  Deutschland  Nachrichten,  die  die  italie- 
nische Praxis  vertreten.  Die  früheste  finde  ich  bei  Wolf  gang  Michael 
Mylius  in  den  »Rudimenta  musices«  aus  dem  Jahre  1686.  Mylius 
bringt  für  den  großen  Tripeltakt  noch  das  alte  trochäische  Schema 
des  Taktschiagens,  aber  beim  9/4  und  9/8-Takt  meint  er,  daß  der 
Takt  durch  »zwey  Rückungen  des  Armes  im  Niederschlag  /und  eine 
im  Auffheben«  dirigiert  werden  muß,  und  daß  die  Zwölftakter 
(12/4,  12/8)  »vier  gleiche  Rückungen/  zwey  im  Niederschlag, 
und  zwey  im  Auffheben  des  Armes«,  verlangen1.  Es  ist  im  Prin- 
zip die  gleiche  Methode,  die  Lorenzo  Pen  na  und  seine  Landsleute 
befolgten.  Ähnlich  wie  Mylius  beschreibt  Joannes  Baptista 
Samber  in  der  »Manuductio  ad  Organum«  das  Taktschlagen2. 
Er  sagt:  Der  gerade  Takt  wird  auch  die  »gevierdte  Mensur«  ge- 
nannt, »und  dises  darmben  [darumben],  weilen  man  auch  pflegt 
den  Tact  in  vier  Theil  mit  der  Hand  zu  theilen  /  der  Gestalt  / 
das  man  in  Thesi  oder  nider-  wie  auch  in  Arsi  oder  Auffstreich 
die  Hand  zweymahl  doch  aber  in  gleicher  Proportion  bewöge  / 
dardurch  der  Tact  in  vier  Theil  getheilet  /  und  angezeigt  wird«. 
Die  »ungleiche  /  ungerade  /  oder  gedritte  Art  der  Mensur«  wird 
darum  so  genannt,  »an  weilen  man  in  dem  nider  Streich  zwey- 
und  einmahl  im  Auffstreich  als  in  ungleicher  Proportion  die  Hand 
zu  moviren  pflegt«.  Wie  wir  uns  diese  Bewegungen  der  Hand,  die 
»Rückungen«,  wie  Mylius  sagt,  zu  denken  haben,  zeigt  eine  Stelle 
aus  JustinusaDesponsatione's  »Musicalische  Arbeith  und  Kur  tz- 
Weil .  Das  ist:  Kurtze  und  gute  Regulen:  der  Componier  und 
Schlag- Kunst«3.  Es  wird  gefragt,  wie  man  den  Takt  schlagen 
muß;  die  Antwort,  die  der  Lehrer  gibt,  lautet:  »Schlage  mit  der 
Hand  ...  für  einen  gantzen  oder  geraden  Tact,  NB.  Drey  Staffel  / 
oder  Sprüssen;  In  dem  Obersten  fang  an  (nit  zu  zehlen)  zu  schla- 
gen /und  fall  auf  den  Mitteren  /sprechend:  Ein  Viertel;  fall  auf  den 
Untersten  /  sprechend:  Zwey;  Steige  aufwärts  wider  in  den  Mit- 
tern/sprechend: Drey;  In  dem  Anschlag  dess  Obersten  auf- 
wärts /  sprich:  Vier;  Und  so  fort  wider  auf  den  Mittern  abwärts  / 
sprechend:  Eins  /  etc.  In  dem  ungleichen  oder  Trippel-Tacten 
ä  3  aber  /  mache  nur  den  Anfang  zu   zehlen  /  und  zu  sprechen 

i  Rud.  mus.  Gotha.  1686.  S-  31/32. 

2  Saltzburg  1704,   Kap.  III,  S.  8. 

3  Augsburg  und  Dillingen,   1723.    Kap.:  Tägliches  Examen,  U.  Frag-Stuck. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  4  8.  Jahrhundert.  143 

unter  dreyen  Stafflen:  In  der  Untersten  sage:  Eins;  Auf- 
wärts in  dem  Mittern  Zwey;  In  dem  Obersten  drey;  und  fall 
gleich  wider  in  den  Untersten.  Im  Trippel  von  6  schlage  nur 
2  Sprüssen  oder  Staffeln;  Auf  der  Untersten  sprich:  Eins  /  Zwey  / 
Drey;  Fahre  in  die  Oberste  /und  zehle  wider  so  vil.  Im  Trippel 
von  9  mache /wie  im  Trippel  von  3  /  auch  Drey  Stafflen/ 
fang  von  der  Untersten  an  /  sprich:  Eins  /  Zwey  /  Drey; 
Steige  auf  in  die  Mittere  /  sprich  wider  3  /  und  so  in  der  Obersten 
wider  3.  In  12  Achteln  aber  /  schlage  /  und  spreche  /  unter 
•  drey  Stafflen  in  dem  Mitteren  anfangend  /  wie  oben  NB.  in 
dem  gantzen  Tact,  mit  dem  einzigen  Unterschid:  daß  du  an  statt 
eines  Viertels  /  drey  Achtel  sprichest  /  oder  haltest.«  Die  Takt- 
figuren würden  so  aussehen: 


I 


4.  3.  | 

t  4.5.6. 


1.     3.  2. 


1.2.3. 


I  <•  I 

Viertakt  Dreitakt  Sechstakt 

|   7.8.9.  |    10.1  i.  12. 

t 


1-2.3.     7.8.9. 


4.5.6 

v 
1.2.3.1  4.5.6.1 

Neuntakt  Zwölftakt 


Diese  italienische  Taktierform  hat  sich  lange  in  Deutschland 
gehalten1.  Marpurg  gibt  dafür  Beispiele  in  seiner  »Anleitung 
zur  Music  überhaupt«  (1763)2,  und  auch  Hiller  sagt  in  seiner 
Singeschule3,  daß  man  die  Bewegung  des  Viertakts  sich  am 
besten  fühlbar  macht,  »wenn  man  das  erste  Viertel  mit  einem 
etwas  stärkern,  das  zweyte  mit  einem  schwächern  Niederschlage, 
das  dritte  und  vierte  aber  mit  einer  doppelten  Rückung  der 
Hand  aufwärts  ausdrückt«.  Für  den  Dreitakt  stellt  Hiller  zwei 
Formen   auf.     Er  soll  nach  dem  Schema  j  |  £  oder  J  |  |  tak- 


1  Mattheson  sagt  in  der  Exemplar.  Organisten- Probe  I,  S.  85 :  »Ich  vernehme  / 
in  Franckreich  schlage  man  zweymahl  in  einem  Tacte  nieder  [?]  /  das  ist  noch 
leidlich;  hier  giebt  es  Leute  /  die  solches  wohl  viermahl  thun.« 

2  Weiter  unten  zitiert. 
»  A.  a.  O.  VI.  §  15. 


144  Fünftes  Kapitel. 

tiert  werden1.     Die  zweite,  jambische  Form,  »  |  f,die  sich  sehr 

gut  für  Sarabandenrhythmen  eignet,  hatte  schon  Dupont  er- 
wähnt2. Sie  wird  von  Scheibe  in  seiner  großen  Kompositions- 
schule neben  der  trochäischen  aufgeführt  und  den  Musikdirek- 
toren noch  besonders  empfohlen3. 

Zu  den  italienischen  Parteimännern  gehört  auch  Georg  Fried- 
rich Wolf.  Er  führt  in  seinem  »Unterricht  in  der  Singekunst«4 
die  Taktfiguren 

i  4,l         3,l  I  • 

2.  3. 

3.  2. 

i.\  '  h.2. 

auf,  die  unmittelbar  an  Mylius  und  Justinus  anschließen. 

Die  zitierten  Quellen  zeigen,  daß  man  in  Deutschland  viel 
länger  bei  der  italienischen  Praxis  blieb  als  in  Frankreich,  wo 
bereits  an  der  Jahrhundertwende  die  modernen  Taktfiguren  all- 
gemein gebraucht  wurden.  Aber  es  gab  in  Deutschland  auch 
Fortschrittsmänner,  die  an  der  Formulierung  der  Gruppentakt- 
direktion  selbständig  mitarbeiteten. 

Unter  diesen  Musikern  gebührt  Daniel  Speer  die  erste 
Stelle.  Er  bringt  in  seinem  »Unterricht  der  musikalischen  Kunst« 
aus  dem  Jahre  1687  im  14.  Kapitel  eine  Anweisung  zum  Tak- 
tieren des  12/8-Takts,  die  nach  meiner  Kenntnis  der  Literatur 
das  früheste  Beispiel  für  die  moderne  Viertaktfigur  bildet.  Es 
heißt  da:  »Ein  zwölf  fach  tel  Trippel-Gesangs-Tact  12/8  dieser  hat 
seine  besondere  Manier  /  theils  tractiren  ihn  nach  eines  schlechten 
[schlichten]  Gesangs  langsamen  Tact,  welches  nicht  gar  unrecht  / 
aber  am  gewissesten  und  besten  ists  /  wann  er  Viertelweiß  trac- 
tirt  wird  /  als  das  erste  Viertel  mit  der  Hand  unter];  sich  /  das 

i  A.  a.  O.  III.  §  14. 

2  S.  o.  S.  132. 

3  Über  die  musik.  Compos.,  S.  227:  Ein  Musikdirektor  hat  daher  »bey  der 
Aufführung  eines  musikalischen  Stückes  sehr  genau  darauf  zu  sehen,  wo  der 
Componist  in  seinem  Stücke  in  den  ungeraden  Taktarten  die  allgemeine  Regel 
beobachtet,  oder  verlassen,  und  also  dem  Aufschlage  einen  von  denen  zum  Nie- 
derschlage gehörigen  Theilen  gegeben,  und  ihn  dadurch  gegen  die  gemeine  Regel 
größer  als  den  Niederschlag  gemacht  hat«.  Ebd.  S.  229:  Die  Verschiedenheit 
der  Größe  des  Niederschlags  und  Aufschlags  soll  der  Dirigent  beim  Taktschlagen 


A  |         A 

I      nrlpr     V 
.3 

*   Halle  1784,  S.  59f. 


angeben  (entweder     Y      '    oder    y 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert. 


145 


ander  auf  die  lincke  Seit  /  das  dritte  auf  die  rechte  Hand  /  das 
vierte  über  sich  oder  in  die  Höh  /  diss  ist  seine  rechte  Manier.« 
Wir  haben  Gruppentakt  in  der  bekannten  Form: 

-10.11.12 


<*-.5.6- 


^7.8.9 


1.2.3 

Mit  neuen  Taktfiguren  operiert  Quirsfeld  in  seinem  » Breviarium 
musicum«1.     Er  gibt  zur  Taktanschauung  die  Figuren 


und  fügt  hinzu:  »wiewohl  man  die  Bewegung  der  Hand  nicht  eben 
mit  einer  solchen  Figur  führen  dar  ff«.  In  der  Quirsfeldschen 
Form  ist  der  4/4-Takt  nicht  gerade  zweckmäßig,  brauchbarer 
ist  die  erste  Figur  des  Dreitakts.  Die  gleichen  Taktierfiguren  hat 
noch  Marpurg  in  der  »Anleitung  zum  Clavierspielen«  (1765) 
aufgeführt2.  Sie  scheinen  demnach  trotz  Quirsfelds  Verbot  in 
Umlauf  gekommen  zu  sein. 

Bevor  wir  die  Entwicklung  der  modernen  Taktfiguren  in 
Deutschland  weiter  verfolgen,  muß  eine  Quelle  berücksichtigt 
werden,  die  die  gesamte  Lehre  des  Taktschiagens  behandelt, 
und  die  zeitlich  dem  Quirsfeldschen  Buch  unmittelbar  folgt:  das 
Musiklexikon  des  Böhmen  Thomas  Balthasar  Janowka,  das  im 
Jahre  1701  in  Prag  erschien.  Im  Artikel  »Tactus«  bringt  Janowka 
eine  Anleitung  zum  Taktieren,  die  an  Ausführlichkeit  und  Be- 
deutung hinter  den  Werken  von  Lambert  und  Choquet  nicht 
zurückbleibt3.  Janowka  definiert  den  Takt  als  eine  regelmäßige 
Bewegung  der  rechten  Hand  oder  beider  Hände.    Die  Methode, 

1  1.  Auflage  nach  Eitner,  1675.  Ich  zitiere  nach  der  Dresdener  Ausgabe 
vom  Jahre  1688.     Punctum  VI,  S.  16/17. 

2  S.  unten  S.  148  f. 

3  Janowka,  Clavis  ad  Thesaurum  Magnae  Artis  Musicae. 

KL  Handb.  d»r  Mnsikgesci.  X.  10 


146 


Fünftes  Kapitel. 


mit  beiden  Händen  zu  dirigieren,  ist  uns  im  Verlauf  der  Arbeit 
schon  begegnet.  Viadana  spricht  davon,  und  Johann  Bahr 
weiß  in  seinen  Diskursen  allerlei  darüber  zu  sagen1.  Auch  in 
Walthers  Musiklexikon  (Titelkupfer)  sieht  man  einen  Diri- 
genten, der  in  jeder  Hand  eine  Taktrolle  hält  und  mit  beiden 
Händen  taktiert.  Janowka  denkt  also  bei  seiner  Taktdefinition 
an  einen  allgemeinen  Brauch,  der  jedenfalls  früher  ebensoweit 
verbreitet  war  wie  in  unseren  Tagen. 

Er  gibt  sogar  eine  Anleitung,  wie  man  beim  Taktieren 
mit  beiden  Händen  die  Viertel  des  C-Taktes  markieren  kann.  Die 
gewöhnliche  Taktierfigur : 

4 


die  Janowka  für  das  Dirigieren  mit  einer  Hand  beschreibt2,  ist 
dahin  abzuändern,  daß  die  linke  Hand  den  ersten  und  letzten 
Taktteil  mit  der  rechten  gemeinsam  ausführt  und  nach  rechts 
geht,  wenn  die  andere  Hand  nach  der  linken  Seite  geführt  wird, 
nach  diesem  Muster3: 

linke  Hand  rechte  Hand 


-': 


3^ 


1  1 

Diese  Windmühlenbewegung  wird  sonst  meines  Wissens  nicht 
erwähnt.  Sie  ist  beim  Taktieren  mit  unbewaffneter  Hand  sehr 
gut  brauchbar,  erinnert  auch  an  manchen  Temperamentsdiri- 
genten unserer  Zeit. 

Bei  dem  Dreitakt  (3/l5  3/2,  3/4)  kennt  Janowka  das  Dirigieren 
nach  trochäischem  Schema  (2  ab,  1  auf)  und  das  Abteilen  in  gleiche 

i  S.  o.  S.  97  und  S.  113. 

2  S.  133/34:  Modus  ordinarium  tactum  mensurandi  est,  ut  primus  eius 
quadrans  manüs  demissione,  alter  ad  sinistram  partem  modice  altius,  tertius 
rursum  ad  dextram  altiüs,  quartus  denique  supra  ad  humeros  elevatione  fiat. 
Et  hoc  de  manu  dextra  intelligendum. 

3  Ebenda:  si  uträque  manu  tactum  mensurare  placeat,  tunc  quoad  sinistram 
manum  secundus  quadrans  ad  dextram,  tertius  ad  sinistram  elevatur,  primö 
et  ultimo  cum  dextra  manu  conveniente. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  147 

Teile1.  Bei  lebhaft  bewegten  Taktarten,  z.  B.  beim  3/8-Takt,  gibt  er 
der    ungleichen   Teilung  des   Gruppentakts  ( |  2  | )  den  Vorzug2. 

Über  das  Taktieren  nach  gleichen  Abschnitten  bringt  eine  Stelle 
bei  der  Erklärung  des  9/8-Takts  Aufschluß.  Es  wird  gesagt,  daß 
diese  Taktart  in  drei  Teilen  taktiert  wird.  Der  erste  kommt 
auf  den  Niederschlag  der  Hand,  der  zweite  auf  einen  mäßigen, 
der  dritte  auf  einen  vollständigen  Aufschlag3.  Das  ist  die  aus 
Italien  bekannte  Taktierform.  L 

Am  interessantesten  ist  in  Janowkas  Taktlehre  die  Behand- 
lung der  Sechstakter.  Er  beschreibt  die  sonst  übliche  Ableitung 
nach  dem  Muster  des  Zweitakts,  gibt  aber  bei  der  Besprechung 
des  6/4-Takts  eine  völlig  neue  Theorie.  Die  sechs  Viertel  sollen 
so  taktiert  werden,  daß  die  ersten  beiden  Viertel  auf  den  Nieder- 
schlag kommen.  Das  dritte  Viertel  ist  nach  links  zu  schlagen 
{wenn  man  mit  der  Rechten  dirigiert)  oder  aber  in  der  Richtung 
nach  dem  Dirigenten  zu,  viertes  und  fünftes  Viertel  kommen 
auf  die  Taktbewegung  nach  der  rechten  Seite  und  das  letzte  auf 
den  Aufschlag4.     Die  Taktfigur  sieht  so  aus: 

.6 


M5 


1  S.  156,  vom  3/2-Takt:  quidam  tactum  in  duas  inaequales  medietates 
dividunt,  ut  thesis,  seu  prior  medietas  duas,  in  praesenti  albas  [notas]  .  .  . 
posterior  verd,  seu  arsis  tertiam  capiat,  alii  e  contra  in  tres  pares  .  .  .  melius 
secant,  üt  quamlibet  sectionem,  seu  divisionem  una  .  .  .  alba,  aut  duae  nigrae, 
[notae]  .  .  .  ingrediantur.  Vgl.  auch  S.  130:  alii  e  contra  in  tres  partes  aequales 
. .  .ad  meliorem  tactüs  faciendam  distinctionem  dividere  solent  [tactum  3/i  e*  zlz\' 

2  S.  262. 

3  S.  272:  hie  tactus  in  tres  partes,  et  non  in  medietates  duas  secatur,  üt 
prima  Sectio  manüs  depressione,  altera  modica,  tertia  tandem  altiori  ad  hu- 
meros  usque  elevatione  determinetur. 

4  S.  265:  Dividendus  itaque  hie  tactus  (6/4)  in  duas  medietates  aequales, 
medietatum  verö  medietates  inaequales,  ita,  üt  ad  primum  quadrantem  tactus, 
qui  depressione  manüs  fit,  duae  nigrae  aut  una  alba  etc,  ad  alterum,  qui  ad 
sinistram  (si  dexträ  solüm  dirigatur  manu)  seu  ad  corpus  Tactistae  contingit,  tertia 
nigra  veniat;  ad  tertium  autem  quadrantem,  qui  fit  ad  dextram  partem,  rursum 
duae  nigrae,  aut  una  alba  etc,  et  ad  quartum,  qui  manüs  in  altum  prope  humeros 
■  quodam  modo  contingit  positione,  iterum  sexta  nigra,  aut  duae  caudatae  [notae]. 

10* 


148 


Fünftes  Kapitel. 


Janowka  bringt  damit  —  wohl  zum  erstenmal  in  der  Musiklite- 
ratur —  die  moderne  Taktierform  des  langsamen  Sechstakts. 
Die  bisher  besprochenen  Theoretiker  kennen  sie  nicht,  sie  gehen 
entweder  auf  das  Schema  des  Zweitakts  zurück  oder  aber  auf  ein 
Teilen  des  Gruppentakts  in  zwei  kleinere  Takte,  wie  Loulie  oder 
Lambert.  Mit  der  Sechstaktfigur  Janowkas  und  den  französi- 
schen Taktier  formen  sind  alle  Bewegungen  umschrieben,  die  wir 
noch  heute  ^beim  Taktieren  anwenden. 

In  Deutschland  dringen  die  modernen  Taktier figuren  erst  all- 
mählich durch.  Viele  Musiker  hielten  sich,  wie  wir  gesehen  haben, 
an  die  italienische  Praxis,  die  heute  ebenso  wie  früher  im  Unter- 
richt unentbehrlich  ist.  Noch  in  den  sechziger  Jahren  kreuzen  sich 
die  verschiedenen  Richtungen  in  der  deutschen  Musikliteratur  so 
oft,  daß  Friedrich  Wilhelm  Marpurg  in  seiner  »Anleitung  zur 
praktischen  Musik  überhaupt«  (1763)  und  in  seiner  »Anleitung 
zum  Gla vierspielen  «  (1765)  nicht  weniger  als  elf  verschiedene  Takt- 
figuren aufstellen  kann.  Die  Zeichnungen,  die  in  seiner  Klavier- 
schule auf  Tafel  1  und  in  der  »Anleitung  zur  Musik«  auf  Seite  79 f. 
stehen,  haben  diese  Form: 

1  II 


2      2 


III 


IV 


1 
V 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert. 


149 


Marpurg  bemerkt  dazu:  die  Figuren  I,  II,  III  sind  gleich  gut. 
Figur  IV  wird  nur  im  zusammengesetzten  Alla  Breve  (4/2)  ge- 
braucht. Bei  Figur  VII  ist  im  Unterricht  auch  geteilter  Auf- 
und  Niederschlag  möglich.  Die  Figuren  V  und  VI  und  »gewisse 
andere  Figuren,  mit  welchen  etwas  Harlekinade  verknüpfet  ist, 
ingleichen  die  der  Hereinschiebung  eines  Orgelregisters  ähnlich 
sehende,  sehr  gewaltsame  Tactstösse  etc.  sind  billig  abgeschaffet 
worden«1. 

Sieht  man  die  Figuren  genauer  an,  so  findet  man  alle  Rich- 
tungen, von  denen  bisher  die  Rede  war,  vereint.  Figur  I  be- 
gegnete bei  Lambert,  Fig.  II  bei  Speer,  Janowka,  Monteclair  usw., 
Fig.  VII  und  XI  sind  die  alten  Taktfiguren  der  Mensural- 
zeit, Fig.  VIII  steht  bei  Lambert  und  Nachfolge,  Fig.  V,  VI 
und  IX  kennen  wir  von  Quirsfeld2,  Fig.  III  ist  die  italienische 


i  Anl.  zur  prakt.  Mus.,  S.  79/80  f. 


2  S.  o.  Scheibe  gibt  diese  Figur: 


für  den  Viertakt,  die  mit  Quirs- 


feld in  Verbindung  gebracht  werden  kann.  Er  erklärt  sie  nicht  weiter,  sondern 
sagt  nur,  daß  man  »um  der  Schwachgläubigen  willen«  die  Minimen  im  Vier- 
takt (4/2)  durch  eine  »kleine  Veränderung  mit  der  Hand«  nach  der  gegebenen 
Form  anzeigen  kann.    (Über  die  mus.  Comp.,  S.  200.) 


150  Fünftes  Kapitel. 

Taktierform,  Fig.  IV  stellt  eine  Zusammenfassung  zweier  Einzel- 
takte dar,  wie  sie  Loulie  und  Lambert  erwähnen.  Fig.  X  kommt 
bei  Quirsfeld  vor.  Es  fehlt  nur  eine  Figur  für  das  Taktieren  nach 
ganzen  Takten1. 

Wir  haben  hier  eine  Zusammenfassung  der  italienischen,, 
französischen  und  deutschen  Taktierformen.  Sie  gehen  noch 
lange  Zeit  nebeneinander,  wie  Hillers  und  Georg  Friedrich  Wolfs 
Musikbücher  zeigen.  Doch  kommt  von  der  Mitte  des  Jahrhunderts 
an  die  französische  Manier  immer  mehr  in  Aufnahme,  eine  Ent- 
wicklung, die  von  dem  großen  Erfolg  der  französischen  Instru- 
mentalmusik, der  am  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  einsetzt,  sicher- 
lich beeinflußt  worden  ist.  Auch  die  allmählich  aufkommenden 
größeren  Chor-  und  Orchesterbesetzungen2  haben  wohl  mit  dazu 
beigetragen,  die  italienische  Taktierform,  die  beim  Zusammen- 
spiel leicht  verwirren  kann,  durch  die  französische  zu  ersetzen. 
Von  den  fünfziger  Jahren  ab  findet  man  die  modernen  Taktier- 
marken in  Deutschland  häufiger  erwähnt.  G.  G.  G.  gibt  sie  in 
seiner  »Kurzen  Anweisung  zu  den  ersten  Anfangs-Gründen  der 
Musik«  (1752)  in  folgender  Form3: 

4 


Bey  langsamer  Mensur  2 3  bey  geschwinder 

I 
3 

I  3 
Bey  langsamer  Mensur    2  bey  geschwinder 


1  .2 


1  S.  o.  L  o  u  1  i  4.  D^motz  (a.  a.  O.,  S.  173)  schreibt:  Tous  les  Airs  de 
Danses  mesurees  ä  trois  Tems  legers,  vites,  et  tres-vites  se  battent  ordinaire- 
ment  par  Messieurs  les  Maitres  ä  Danser  et  Simphonistes  ä  un  seul  Temps  pour 
chaque  Mesure:  La  Mesure  ä  deux  Tems  legers,  vites  et  tres-vites  peut  se  battre 
de  la  meme  maniere.  Marpurg  erwähnt  im  Critischen  Musicus  an  der  Spree 
(1750,  I,  S.  39)  das  Zusammenfassen  zweier  Takte:  »Wenn  die  Bewegung  in  diesen 
Tactarten  (3/2)  ZU,  3/s)  seftr  geschwinde  seyn  soll,  so  pfleget  man  nur,  in  der 
äusserlichen  Vorstellung  derselben  mit  der  Hand,  zwey  Schläge  zu  machen,  da 
denn  die  beyden  ersten  Theile  auf  den  Niederschlag,  der  letztere  Theil  auf  den 
Aufschlag  genommen  wird.  Die  Herren  Tantzmeister  haben  hier  die  Gewohn- 
heit, daß  sie  in  den  Menuetten  zwey  Tacte  zusammenziehen,  und  die  drey  Glie- 
der des  ersten  zum  Niederschlage,  und  die  drey  Gliedern  (I)  des  andern  zum 
Aufschlage  nehmen.«  2  S.  weiter  unten. 

3  Langensalz,  bei  Joh.  Christian  Martini.    1752,  Kap.  III,    S.  11. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  151 

Die  gleichen  Figuren  sieht  man  in  Johann  Lorenz  Albrechts 
»Gründliche  Einleitung  in  die  Anfangslehren  der  Tonkunst« 
(1761)1,  in  Kalkbrenners  »Theorie  der  Tonkunst«  (1789)2  und 
anderen  Musikbüchern.  Man  kann  sagen,  daß  die  französische 
Direktionsmethode  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  in 
Deutschland  allgemein  befolgt  wurde,  wenn  sich  auch  einige  Mu- 
siker von  der  italienischen  Praxis,  die  im  Gesang-  und  Instrumen- 
talunterricht heute  wie  früher  eine  große  Rolle  spielt,  nicht  trennen 
wollten. 

Aus  unsern  Quellen  ergibt  sich,  daß  gegen  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts die  alte  Form  des  Taktschiagens  in  allen  Ländern  der 
veränderten  rhythmischen  Struktur  der  Musik  angepaßt  wird. 
Man  dirigiert  nach  Gruppentakten.  Die  einzelnen  Taktteile,  die 
Achtel,  Viertel  oder  Halben  werden  einzeln  angegeben,  wie 'es 
Taktgröße  und  Tempo  erfordern.  Zunächst  verfiel  man  auf  das 
Mittel,  durch  wiederholte  Auf-  und  Niederschläge  die  Taktteile 
anzugeben,  eine  Methode,  die  zuerst  in  Italien  auftaucht,  und  die 
sich  dort  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  hält.  In  Frankreich, 
wo  in  Oper  und  Konzert  ein  Taktschläger  tätig  ist,  wird  die  ita- 
lienische Praxis  durch  eine  neue  ersetzt:  man  schlägt  in  den 
Haupttakten  einmal  nieder  und  gibt  die  übrigen  Taktteile  durch 
Seitenbewegungen  an.  Diese  Taktierform  ist  schon  am  Beginn 
des  18.  Jahrhunderts  in  Frankreich  gebräuchlich  und  wird  nicht 
mehr  abgeändert.  Die  deutschen  Musiker,  die  gleichfalls  am  Ende 
des  17.  Jahrhunderts  Versuche  mit  der  Gruppentaktdirektion  an- 
stellen, und  die  auch  an  der  Jahrhundertwende  die  französische 
Direktionsform  kennen,  folgen  zum  Teil  der  italienischen,  zum 
Teil  der  alten  Taktierform,  bis  die  neue  Richtung,  für  die  einige 
Fortschrittsmänner  schon  früh  eintreten,  in  der  zweiten  Hälfte 
des  Jahrhunderts  allgemein  in  Aufnahme  kommt. 

Die  entwickelten  Grundsätze  der  Direktionsführung  sind  bis 
in  unsere  Zeit  hinein  gültig  geblieben,  trotzdem  häufiger  Versuche 
aufgestellt  wurden,  die  Taktiermethode  abzuändern.  So  macht 
Carl  Ludwig  Junker  im  Jahre  17823  den  Vorschlag,  man  solle 

i  S.  37  und  41. 

2  S.  8.  Vgl.  Simp.  Schmelz,  Fundamenta  musica  1752.    S.  26f. 

3  Einige  der  vornehmsten  Pflichten  eines  Kapellmeisters  oder  Musikdirektors. 
Winterthur  1782,  S.  42.  Die  Ausführungen  Junkers  hat  Cramer  in  seinem 
»Magazin  der  Musik«  II,  2,  S.  lf.  abgedruckt.  Junker  erzählt,  daß  Abt  Vogler 
sich  einer  Taktierbewegung  bediente,  »die  das  dritte  Moment  [des  Takts]  am 
deutlichsten  bezeichnen  soll«!  Was  es  mit  dieser  Taktierform  auf  sich  hat, 
wird  aus  Junkers  Worten  nicht  klar. 


152  Fünftes  Kapitel. 

beim  Taktieren  das  »lezte  Moment  des  Takts,  durch  die  Nieder- 
senkung der  Hand«  anzeigen,  das  erste  »durch  eine  Bewegung 
aufwärts«,  eine  Theorie,  die  sich  aus  der  damaligen  Kenntnis  der 
griechischen  Rhythmik  erklären  läßt.  Viele  Musiker  —  unter  ihnen 
der  in  Deutschland  eifrig  gelesene  Rousseau  —  glaubten,  die 
Griechen  hätten  den  schweren  Taktteil  durch  einen  Aufschlag, 
den  unbetonten  durch  einen  Niederschlag  angegeben,  eine  An- 
schauung, aus  der  leicht  eine  Theorie  wie  die  von  Junker  resul- 
tieren konnte.  Es  wird  übrigens  erzählt,  daß  Scarlatti  und  einige 
andere  Tonkünstler  in  dieser  Weise  taktiert  haben1,  was  sich  indes 
aus  der  Musikliteratur  nicht  weiter  beweisen  läßt.  Auch  Jeröme 
de  Momignys  (1762—1838?)  Vorschlag,  nach  der  Form: 


3  2  4 

zu  dirigieren2,  hat  keine  größere  Beachtung  gefunden.  Die  Prin- 
zipien der  Gruppentaktdirektion,  die  aus  der  Entwicklung  der  Takt- 
metrik hervorgegangen  sind,  und  die  sich  jahrhundertelang  in 
praktischer  Übung  gehalten  haben,  sind  eben  durch  neue  Theorien 
ebensowenig  umzustoßen,  wie  die  Notenschrift  durch  neue  No- 
tierungsmethoden nach  enharmonischen  oder  auf  dem  bloßen 
Klavierbild  basierenden  Grundsätzen  umgestaltet  werden  kann. 
Es  liegt  in  der  Natur  des  Gruppentakts,  der  auf  regelmäßigem 
Wechsel  von  betonten  und  unbetonten  Taktteilen  beruht,  daß 
die  schweren  Taktzeiten  durch  akzentuierte  Niederschläge  dar- 
gestellt werden,  daß  die  unbetonten  ohne  Zeichenangabe  bleiben 
oder  durch  Seitenbewegungen  ausgedrückt  werden  und  die  unter- 
betonten wie  das  dritte  Viertel  im  C-Takt  oder  das  vierte  Achtel 
im  6/8-Takt  durch  eine  Taktierbewegung  nach  der  rechten  Seite 
angegeben  werden,  da  die  Führung  der  Hand  nach  rechts  die 
nachdrücklichste  und  energischste  Akzentangabe  nach  dem  Nieder- 
schlag bildet.  In  der  Form  der  Taktführung  hat  die  spätere 
Musikpraxis  nichts  gebracht,  was  sich  nicht  an  die  gegebenen 
Prinzipien  anreihte.  Mit  der  Aufstellung  des  modernen  Noten- 
bildes und  dem  Ausbau  des  Gruppentakts  waren  auch  die  Grund- 
sätze der  modernen  Direktionsbewegungen  gefunden. 

1  Heinr.  Christ.  Koch,   Musikalisches  Lexikon  1802.    Art.:  »Aufschlag«. 

2  Paleographie  musicale,  Bd.  VII,  S.  364  f. 


Taktschlagen  und  Doppeldireküon  im  4  8.  Jahrhundert.  153 

Man  dirigierte  im  18.  Jahrhundert  ebenso  wie  in  früheren 
Zeiten  mit  Taktstock ,  Taktrolle  oder  mit  unbewaffneter 
Hand.  Der  Taktstock  war  besonders  in  Frankreich  bei  der  Opern- 
direktion gebräuchlich,  während  man  Konzert-  und  Chorauf- 
führungen oft  mit  einer  Taktrolle  leitete1.  Die  deutschen  Musiker, 
die  gleichfalls  den  Gebrauch  des  Taktstocks  kannten2,  bevor- 
zugten die  Noten-  oder  Papierrolle  zur  Direktion,  jedenfalls  ihrer 
leichten  Handhabung  wegen.  In  zeitgenössischen  Berichten 
wird  die  Taktrolle  oft  erwähnt,  man  sieht  sie  auch  auf  Musik- 
bildern und  Porträts3.  Sie  galt  an  manchen  Plätzen  als  Ab- 
zeichen des  Kapellmeisters4  und  war  bis  in  das  19.  Jahrhundert 
hinein  beliebt.  Bernhard  Anselm  Weber,  der  Berliner  Kapell- 
meister, ließ  sich  Rollen  aus  starkem  Leder  mit  Kälberhaaren 
ausstopfen,  um  mit  dieser  Taktrolle  aus  der  Partitur  zu  dirigieren5, 
und  noch  Carl  Maria  v.  Weber  leitete  sein  erstes  Londoner 
Konzert  mit  einer  Papierrolle6. 

1  Lambert  a.  a.  O.,  S.  20  (zitiert  auf  S.  130),  vgl.  auch  Rousseau, 
Dictionnaire,  Art.:  »Bäton  de  mesure«  (zitiert  auf  S.  125,  Anm.  2). 

2  S.o.  S.  87 f.  Vgl.  auch  Jakob  Adlung,  Anleitung  zu  der  musikalischen 
Gelahrtheit,  1758,  S.  209  Anm:  An  manchen  Orten  wird  der  Takt  mit  einem 
»gravitätischen  Regimentsstab«  gegeben. 

3  In  Jos.  Friedr.  Bernh.  Caspar  Majers  »Neu  eröffneter  Theoretisch- 
und  Pracktischer  Music-Saal«  1741  sind  die  neun  Musen  mit  Musikinstrumenten 
abgebildet,  eine  von  ihnen  taktiert  mit  einer  Papierrolle.  Die  Rivista 
musicale  (Bd.  V,  S.  54)  bringt  das  Faksimile  vom  Titelblatt  zu  Bordes 
»Le  Privilege«,  der  Dirigent  führt  die  Taktrolle,  gleichzeitig  mit  dem  Fuß 
taktierend.  In  Lamberts  »Les  princ.  d.  clav.«  sieht  man  auf  dem  Titel- 
kupfer musizierende  Engel,  von  denen  einer  mit  einer  Taktrolle  dirigiert. 
Auf  einem  Kupfer  von  C.  Guörin  vom  Jahre  1785  ist  Franz  Xaver  Richter 
abgebildet,  er  taktiert  mit  einem  lose  zusammengefalteten  Notenblatt.  S  p  i  1 1  a 
erwähnt  in  der  Bachbiographie  (II,  S.  156)  eine  Kupferstichsammlung,  die  bei 
Joh.  Christ.  Weigel  in  Nürnberg  herauskam,  und  in  der  Dirigenten  mit  Takt- 
rolle dargestellt  sind.  Ich  habe  die  Sammlung,  die  weder  im  Berliner  Kupfer- 
stichkabinett noch  im  Nürnberger  Germ.  Museum  vorhanden  ist,  bisher  nicht 
sehen  können.  In  Christ.  Weigels  »Abbildung  der  gemein-nützlichen  Haupt- 
stände« (Regensburg  1698)  findet  man  ein  Bild,  wo  der  Kantor  als  Taktstock- 
dirigent dargestellt  ist.  Zur  Direktion  mit  der  Taktrolle  siehe  auch:  Mizler, 
Mus.  Staarstecher  1740,  S.  66;  Adlung  a.a.O.;  Joh.  Ad.  Hillcr,  Anweis. 
z.  mus.  rieht.  Ges.  V,  §8;  Gottfried  Weber,  Versuch  einer  geordn.  Theorie 
der  Tonsetzkunst  1824—26,  I,  S.  120  u.  v.  a. 

4  A.  G.  M  e  i  ß  n  e  r  erzählt  in  den  »Bruchstücken  zur  Biographie  J.  G.  Nau- 
manns «  (I,  S.  215)  folgendes:  »Naumann,  noch  nicht  im  Kurfürstlichen  Dienste 
stehend,  maßt  es  sich  auch  nicht  an,  mit  einer  Papier- Rolle  (die  durch  lange  Ge- 
wohnheit für  das  Zeichen  eines  Kapellmeisters  gilt)  den  Tackt  anzugeben.« 

ö  Allgem.  Deutsche  Musik-Zeitung  (Tappert)  1878,  S.  190. 

6  Carl  Maria  v.  Weber.    Ein  Lebensbild  von  Max  Maria  v.  Weber,  II, 


154  Fünftes  Kapitel. 

Wie  die  französischen  Musiker  bei  ihrer  bewährten  Taktstock- 
direktion blieben,  so  hielt  man  in  Italien  und  Deutschland  an  der 
alten  Praxis  des  17.  Jahrhunderts  fest:  Opern  und  Instrumental- 
stücke wurden  vom  Klavier  aus  dirigiert,  und  nur  bei  Chorauf- 
führungen, in  der  Kirche  oder  bei  »weitläuftigen  Musicken«,  wie 
Em.  Bach  sagt1,  war  ein  Taktschläger  tätig.  Charles  de  Brosses 
erzählt  in  seinen  Reisebriefen  aus  den  Jahren  1739  und  1740, 
daß  in  Rom  nur  bei  Kirchenmusiken  taktiert  wurde,  »niemals 
in  der  Oper,  so  groß  das  Ensemble  auch  war«2.  Dasselbe  berichten 
Corrette  und  Goudar3.  Dieser  behauptet  sogar,  die  Italiener 
sähen  die  französische  Oper  als  eine  Vereinigung  von  Blinden 
an:  sie  hätten  einen  Stock  nötig,  um  geführt  zu  werden;  die  Ita- 
liener taktierten  in  der  Oper  überhaupt  nicht,  sondern  allein 
bei  Kirchenmusiken.  Ebenso  wie  in  Italien  wurde  es  in  Deutsch- 
land gehalten.  Junker  sagt:  bei  der  Kirchenmusik  ist  der  Kapell- 
meister, »nicht  Spieler,  sondern  Taktschläger«4,  und  Löhlein 
meint:  »bey  einer  Kirchenmusik,  wo  die  Musici  zerstreut  stehen, 
ist  es  beynahe  unmöglich,  daß  alle  Mitspielende,  ohne  Takt  geben, 
immer  so  genau  beysammen  bleiben,  als  bey  einem  Concerte 
oder  Cammer-Musik,  wo  die  Musici  nahe  beysammen  stehen« 5. 
Auch  Mattheson6,  Scheibe7  u.  a.  sprechen  vom  Taktieren  in  der 


S.  666,  vgl.  die  Zeichnungen  von  J.  Hay  ter  (London  1826):  Weber  dirigie- 
rend. Abbildung  in  H erm.  Gehrmanns  Weber-Biographie  (Harmonie-Verlag, 
Berlin). 

1  Versuch  über  die  wahre  Art  d.  Ciavier  zu  spielen  I,  S.  4  Anm. 

2  Charles  de  Brosses,  Le  President  de  Br.  en  Italic  Lettres  fa- 
miliäres, 2.  edition,  Paris  1858,  II,  S.  378:  On  bat  la  mesure  ä  l'^glise  dans  la 
musique  latine,  mais  jamais  ä  l'Opera,   quelque  nombreux  que  soit  l'orchestre. 

3  Corrette,  Celloschule  (s.o.),  S.  46:  Les  habiles  Violons  jouent  les 
Adagio  et  Largo  sans  battre  la  mesure  .  .  .  ce  que  les  Italiens  pratiquent  avec 
beaucoup  de  justesse  ne  battans  la  mesure  que  dans  les  musiques  ä  grand  Choeur. 
L'Abbe  Raguenet,  Paralele  des  Italiens  et  des  Francois,  en  ce  qui  regarde 
la  Musique  et  les  Op£ra,  Amsterdam,  nouv.  edit.,  S.  36:  On  ne  bat  point  la 
mesure  aux  Orchestres  d'Italie,  et  cependant  on  n'y  voit  jamais  personne 
manquer  d'un  tems.  Goudar  a.  a.  O.,  S.  120:  Les  Italiens  regardent  l'opöra 
de  Paris  comme  une  compagnie  d'aveugles;  ils  disent  pour  raison  qu'ils  ont 
besoin  d'un  bäton  pour  se  conduire. .  . .  Eux-memes  [les  Italiens]  hatten  t  la  mesure 
ä  la  musique  d'öglise.  Vgl.  Rousseau,  Dictionnaire,  Art.:  »Battre  la  mesure«. 

4  A.  a.  0.  S.  17. 

5  Anweisung  zum  Violinspielen,  2.  verb.  Auflage,  1781,  S.  55. 

6  Exempl.  Organisten-Probe,  I,  S.  181. 

7  Über  d.  mus.  Comp.,  S.  297:  »Das  Taktschlagen  ist  einem  Musikdirektor 
und  Chorregenten  oft  ein  unentbehrliches  Hülsmittel,  einen  musikalischen  Chor, 
zumal  wenn  er  sehr  stark  besetzt  ist,  oder  auch  aus  ungleichen  Leuten  bestehet, 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  155 

Kirchenmusik,  und  noch  Heinrich  Christoph  Koch  schreibt  in 
seinem  »Musikalischen  Lexikon«  (1802):  »Bey  der  Kirchenmusik 
giebt  [der  Kapellmeister]  durch  das  ganze  Tonstück  hindurch 
den  Takt;  bey  der  Oper  aber  pflegt  er  gemeiniglich  aus  der  Par- 
titur zugleich  den  Generalbaß  auf  dem  Flügel  zu  spielen«;  an 
einer  anderen  Stelle  heißt  es:  »Man  ist  anjetzt  gewohnt,  nur  bey 
Singstücken,  und  insbesondere  bey  der  Kirchenmusik  und  bey 
andern  großen  Cantaten  den  Takt  zu  geben,  wo  es  bey  jener 
insbesondere  die  oft  vorkommenden  Fugen  und  fugenartigen 
Sätze,  bey  diesen  aber  die  begleiteten  Recitative  nothwenig 
machen1.«  Wir  haben  im  18.  Jahrhundert  in  Deutschland  und 
Italien  zwischen  der  Direktion  der  Kirchenmusik  und  der  Direk- 
tion der  Opern  und  Instrumentalstücke  zu  unterscheiden.  Wenn 
auch  einige  Musiker,  wie  wir  noch  sehen  werden,  das  Taktschlagen, 
das  durch  die  Raumverhältnisse,  durch  die  Zahl  der  Mitwirkenden 
oder  durch  die  Aufstellung  von  Choristen  und  Musikern  auf  ver- 
schiedenen Emporen2  nötig  wurde,  nach  Möglichkeit  einschränken 
wollten,  so  ist  doch  im  ganzen  18.  Jahrhundert  die  Scheidung 
von  Kirchenmusik  und  Operndirektion3  in  der  Literatur  deutlich 
zu  verfolgen. 

Wenden  wir  uns  zunächst  der  Kirchenmusik  zu.  Die  Renais- 
sance hatte  hier  die  allgemeine  Praxis  durch  das  Generalbaßspiel 
umgestaltet.  Jeder  Chor  sang  unter  Begleitung  von  Tasten- 
instrumenten, zu  denen  sich  in  der  Regel  ein  Orchester  gesellte. 
Das  18.  Jahrhundert  hat  da  nicht  viel  geändert.  Wenn  auch  die 
Freiheit  in  der  Besetzung  von  Instrumenten  und  Chören  einge- 
schränkt und  die  Ausführung  der  Werke  vom  Komponisten  genauer 

die  nicht  gewohnt  sind,  mit  einander  zu  musiciren,  in  gehöriger  Ordnung  zu 
halten.  Vgl.  auch  Joh.  Friedr.  Wiedeburg,  Der  sich  selbst  informirende 
Ciavierspieler,  1765—1775.     Teil  II,  S.  397. 

1  Art.:   »Taktgeben«  und   »Kapellmeister«. 

2  Fuhrmann,  Mus.  Trichter,  S.  80:  Capella  ist/  wenn  in  einer  Vocal- 
Music  ein  absonderlich  Chor  in  gewissen  Clausuln  zur  Pracht  und  Stärckung  der 
Music  mit  einfällt/  muß  dahero  an  einem  aparten  Ort  von  den  Concertisten  ab- 
gesondert gestellt  werden.  S.  auch  Mattheson,  Neu  eröffn.  Orch.,  S.  158: 
Besetzung  u.  Aufstellung  mehrerer  Chöre;  und  Mattheson,  Kern  mel.  Wissen- 
schaft, 1737,  S.  100,  wo  das  Abwechseln  der  an  »verschiedenen  Orten«  der  Kirche 
aufgestellten  Chöre  »die  grosseste  Lust  von  der  Welt«  genannt  wird. 

3  Daß  bei  außergewöhnlich  großer  Besetzung  auch  in  der  italienischen 
Oper  ein  Taktschläger  tätig  war,  bestätigt  Quant z  in  seiner  Autobiographie 
(a.  a.  0.,  S.  217);  er  erzählt,  daß  bei  der  Aufführung  der  Fuxschen  »Costanza 
e  Fortezza«,  die  unter  freiem  Himmel  vor  sich  ging,  »wegen  Menge  der  Ausführer« 
von  Caldara  der  Takt  gegeben  wurde. 


156  Fünftes  Kapitel. 

angegeben  wurde,  die  äußere  Praxis  war  die  gleiche  geblieben. 
Nur  hatten  die  Kapellmeister  jetzt  mit  noch  größeren  Schwierig- 
keiten zu  kämpfen  als  früher,  da  die  Ghorleistungen  fast  an  allen 
Plätzen  zurückgegangen  waren.  Schlechte  Aufführungen,  unzuver- 
lässige Kräfte,  untüchtige  Kantoren  gab  es  in  großer  Zahl.  Die 
Musiker  kämpften  genug  gegen  diese  Zustände,  doch  ohne  rechten 
Erfolg.  Man  protestierte  gegen  unfähige  Dirigenten  und  gegen 
Kapellmeister,  die  durch  lärmendes  Taktieren  ihre  Musiker  zusam- 
menhalten wollten;  man  wiederholte  immer  von  neuem,  daß  auch 
ohne  Poltern  eine  gute  Auf führung  zustande  kommen  kann.  Solche 
Kritiken  findet  man  in  Musikbüchern,  Reiseberichten  und  Instru- 
mentalschulen überall.  Einige  davon  will  ich  hier  anführen, 
um  eine  Vorstellung  davon  zu  geben,  wie  die  Musiker  über  un- 
fähige Kollegen  urteilten,  und  wie  sie  sich  eine  gute  Direktions- 
führung dachten.  Fuhrmann  sagt  z.  B.:  Ein  Vitium  mensurae 
entsteht,  »wenn  einige  Musicanten  sich  angewehnet  den  Tact  mit 
den  Füssen  starck  zu  stossen  /  welches  die  gantze  Music  ver- 
unzieret. Hiewider  handeln  einige  Directores  selbst  /  so  entweder 
mit  den  Füssen  den  Tact  allzeit  stampffen;  Oder  mit  einem  in 
der  Hand  haltenden  Papier  bey  jedem  Niederschlag  so  starck 
auff  das  vor  sich  stehende  Pulpet  oder  Brett  klopffe,n  /  dass  es 
laut  klatscht  /  und  die  Gemeine  in  der  Kirchen  jeden  Tact  kan 
schlagen  hören;  Welches  aber  ein  hesslicher  Soloecismus  Direc- 
torius  ist  /  denn  man  solte  durchaus  keinen  Tact,  als  NB.  nur  den 
ersten  zur  Losung  /  in  der  Music  schlagen  hören  /  und  die  andern 
alle  (wenn  es  nicht  anders  seyn  kan)  nur  schlagen  sehen1.«  Johann 
Adolph  Scheibe  schreibt  im  »Critischen  Musicus«,  er  verlange 
nicht,  daß  der  Kapellmeister  ein  »ungeschicktes  und  polterndes 
Tacktschlagen  mit  den  Füßen«  anwende,  es  sei  genug,  wenn  er 
die  Mensur  im  Anfange  der  Sätze  ein-  oder  zweimal  stark  an- 
gebe und  dann  mit  der  Hand  bis  zum  Schlüsse  eine  mäßige 
Bewegung  beibehalte2.  Wenn  er  seinen  Chor  aber  so  gewöhne, 
daß  die  laute  Angabe  der  Anfangstakte  überhaupt  wegfallen 
könne,  so  sei  es  desto  besser3.  Auch  Mi  zier  meint,  viele  Kan- 
toren verständen   wohl  »den  Tact   mit  einer  langen    Rolle   von 


1  Fuhrmann,  Mus.  Trichter,  S.  75. 

2  Von  der  Aufführung  des  Kühnauschen  »Weltgerichts«  in  Berlin,  das 
Benda  und  Bachmann  dirigierten,  heißt  es  in  Cramers  Magazin  (I,  S.  848), 
daß  Herr  Kühnau  nicht  nötig  hatte,  »mehr  als  einen  oder  zwey  Tacte  [lang] 
die   Mensur  eines  jeden  Stücks  anzugeben«. 

3  A.a.O.  1740.    78  Stück.    S.  412. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  157 

Papier  zugleich  mit  den  Händen,  dem  Kopf,  dem  Leib  und  den 
Füßen  zu  geben«;  durch  das  »heftige  stampfen  der  Füße«  würde 
aber  die  Musik  übertäubt,  und  »durch  allerhand  unartige  Gebehrden 
des  hin  und  her  wankens  mit  dem  Kopf  nach  dem  Tact« 
brächten  sie  die  Zuhörer  nur  zum  Lachen.  Ähnlich  kritisiert 
Adlung  die  unfähigen  Dirigenten  in  seiner  »Anleitung  zur  musikali- 
schen Gelahrtheit«:  Es  ist  lächerlich,  schreibt  er,  »vorsieh  selbst 
den  Tact  zu  führen  durch  das  Tappen  mit  den  Füßen,  oder  Nicken 
mit  dem  Kopfe  .  .  .  Wenn  .  .  in  dergleichen  Zusammenkunft 
Virtuosen  sind,  oder  wenigstens  solche,  welche  nach  der  herr- 
schenden Melodie  sich  zu  richten  wissen ;  so  ist  auch  weiter  nichts 
nöthig,  als  nur  die  Mensur  beym  Anfange  zu  geben.  Nachdem 
hat  man  billig  sich  nicht  ferner  darum  zu  bekümmern,  oder  man 
rege  die  Hand  nur  ein  wenig.  . .  .  Bisweilen  bekommen  die  Füße 
dabey  etwas  zu  strampfen,  welche  Bewegungen  dienlich  wider  das 
hypochondrische  Uebel.  .  .  .  Noch  närrischer  ist  es,  wenn  außer 
dem  Director  derer  andern  mit  musicirenden  Köpfe,  Hände 
oder  Füße  sich  bewegen,  und  bisweilen  so  laut,  daß  einer  den 
andern  irre  macht,  und  die  Musik  verhudelt  wird1.«  Also  auch 
Adlung  ist  für  ein  Angeben  der  Mensur  am  Anfang  eines  Musik- 
stücks. Scheibe  und  Fuhrmann  wollen  diese  Takte  sogar  laut 
markiert  haben,  damit  die  Musiker  gleich  das  rechte  Tempo  fassen. 
Nach  Scheibe  ist  das  hörbare  Taktieren  auch  dann  notwendig, 
wenn  Schwankungen  im  Takte  vorkommen.  Er  sagt:  ein  wohl 
angebrachtes  starkes  Niedertreten  mit  dem  Fuße  kann  vielen 
Fehlern  vorbeugen.  »Es  ist  dieses  starke  Niedertreten  zuweilen 
ein  nothwendiges  Uebel,  doch  nur  bey  starkbesetzten  Chören; 
man  muß  aber  kein  Handwerk  daraus  machen,  sonst  störet  man 
die  Zuhörer  in  ihrer  Aufmerksamkeit,  und  macht  sich  und  die 
Musik  lächerlich.  —  Auch  sind  heftige  und  abentheuerliche  Ge- 
bärden gänzlich  zu  vermeiden,  unter  andern,  wrenn  man  mit  der 
Hand  bald  hoch  in  die  Luft,  bald  bis  unter  den  Fußboden  fährt,, 
bald  auch  in  die  Perücke,  daß  sie  sich  um  den  Kopf  herum  drehet, 
oder  auch  mit  dem  Körper  zugleich  auf  und  nieder  und  gleichsam 
in  der  Luft  herum  schwebet,  oder  wohl  gar  gräßliche  Gesichter 
dazu  schneidet,  und  zuweilen  laut  zu  schreyen  anfängt2.«    Auch 


1  A.a.O.,  S.  209  Anm.  Adlung  erzählt  auch,  daß  Christoph  Semler 
eine  Taktiermaschine  erfunden  habe,  die  die  Stelle  des  Präfekten  vertreten 
könne.  Damit  ist  jedenfalls  ein  Metronom  gemeint  oder  aber  ein  ähnliches 
Instrument,  wie  es  Joh.  Bahr  beschrieben  hat.     S.  o.  S.  112. 

2  Über  die  mus.  Comp.,  S.  298/99. 


158  '   Fünftes  Kapitel. 

Mattheson  hat  gegen  den  Taktierlärm  oft  protestiert.  Sehr  hübsch 
schreibt  er  in  der  »Exemplarischen  Organisten- Probe«:  »Was  von 
dem  Tactschlagen  mit  dem  Fuß  etliche  für  sonderbahre  Meinung 
haben  ist  zu  verwundern;  zumahl  da  sie  dafür  halten  müssen  / 
ihr  Fuß  sey  klüger  als  ihr  Kopff  /  und  habe  sich  dieser  nach  jenem 
zu  richten.  Sagen  sie  es  zwar  nicht  absolute,  so  folgt  es  doch 
per  indirectum  aus  ihrem  Sentiment.  Solches  ist  aber  wider  alle 
Ordnung  und  Vernunfft.  Denn  vors  erste  /  wenn  einer  im  Goncert 
spielet  /  muß  ja  bey  Leibe  keinen  Tact  /  sondern  nur  derjenige 
führen  /  der  entweder  par  Autoritate  oder  par  Credit  dirigiret  / 
sonst  hätte  ein  jeder  seinen  eigenen  Tact  /  und  würde  es  gehen: 
Quot  capita  totTactus,  wie  es  denn  am  Tage  lieget  /  und  gar  nichts 
neues  ist  /  daß  dieser  auf-  und  jener  zu  gleicher  Zeit  niederschlaget 
,  .  .  Dieses  habe  gemercket;  je  weniger  einer  von  der  Musik 
verstehet  /je  öffter  wird  er  den  Tact  schlagen.«  Das  15.  Probe- 
Stück  seiner  Organisten- Probe,  einScherzando  im  2/4-Takt,  hat  er 
hingesetzt,  damit  den  Musikern  »die  beliebte  badinerie  ihrer  Füße 
nicht  gar  vergehe«1.  Er  ist  der  Meinung,  »daß  ein  kleiner  Winck, 
nicht  nur  mit  der  Hand,  sondern  bloß  und  allein  mit  den  Augen 
und  Geberden  das  meiste  hiebey  ausrichten  könne,  ohne  ein 
großes  Federfechten  anzustellen;  wenn  nur  die  Untergebene  ihre 
Blicke  fleißig  auf  die  Vorgesetzten  gerichtet  seyn  lassen  wollen«2. 
Dies  Taktierlärmen ,  das  in  den  Musikbüchern  so  oft  erwähnt 
wird3,  steht  im  Zusammenhang  mit  dem  erwähnten  Verfall  des 

i  A.  a.  O.  I,  S.  84,  85,  180,  §  2,  vgl.  auch  Große  General-Baß-Schule,  1731, 
S.  284/5  und  386/7. 

2  Vollk.  Capellm.  III,  26,  §  14,  s.  auch  Exempl.  Organisten-Probe,  S.  85: 
Ich  bin  der  Meinung  mit  vielen  Verständigen  /  daß  es  besser  wäre  /  auch  bey 
grossen  Musiken  /  das  Lufftfechten  und  Tactschlagen  gar  einzustellen  /  falls  es 
nur  müglich  /  einen  Coetum  sonst  im  Aequilibrio  zu  erhalten;  da  aber  solches 
nicht  thunlich  /  soll  man  sich  billig  der  geringsten  Motion  die  nur  ersinnlich 
ist  /  bedienen. 

3  Proteste  gegen  das  Taktierlärmen  liest  man  bei  Joseph  Riepcl, 
Anfangsgründe  zur  musicalischen  Setzkunst  1752,  S.  67  (»Fünf,  sechs,  oder 
sieben  Bauernknechte,  .  .  .  treffen  mit  ihren  Drischein  in  der  Scheune  den  Tact  so 
genau,  daß  sie  oft  nicht  ohne  Ursache,  in  Kirchen  oder  bey  andern  Musiken, 
sich  über  das  einfältige  Tactschlagen  aufhalten  und  heimlich  lachen«),  in  M  a  r  - 
purgs  Anleitung  zur  Mus.  S.  7  (»Der  Ghorstock  des  Tarierenden  muß  nicht 
gehöret,  sondern  nur  gesehen  werden«),  in  Spi  es  s  '  Tract.  mus.,  Anhang,  Art.: 
»Vitium  mensuraei  (der  Fehler  entsteht,  »wennbeym  Tact  geben  von  dem  Directore 
NB.  daß  Decorum  nicht  in  Acht  genommen  wird«),  in  Löhleins  Anw.  z.  Violin- 
spielen (2  .Aufl.,  S.  55  —  »es  ist  nichts  ungereimter,  als  wenn  man  [beim  Takt- 
schlagen] mit  dem  Fuße  stampft,  daß  der  Fußboden  bebt«),  in  Carl  Rolles 
»  Neue  Wahrnehmungen  zur  Aufnahme  . . .  der  Musik«  1784  (S.  42  —  »ein  starkes 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  i  8.  Jahrhundort.  159 

Chorlebens.  Viele  Kantoren  waren  angestellt,  die  ihren  Aufgaben 
nicht  gewachsen  waren,  während  die  Sparsamkeit  von  Stadt  und 
Kirche  mit  dazu  beitrug,  daß  die  Leistungen  der  Chöre  zurück- 
gingen. Die  Zuwendungen,  die  früher  an  Kantoreien  und  Vereine 
gemacht  wurden,  fielen  im  Laufe  der  Jahre  vielfach  fort,  so  daß 
sich  an  vielen  Plätzen  die  freiwilligen  Kirchenchöre  auflösten. 
Zum  Teil  hatten  sich  diese  Chöre  überlebt.  Die  Zunahme  der  Con- 
vivia  und  Tafelfreuden,  die  Abnahme  der  singenden  Mitglieder 
verurteilten  viele  Kantoreien  zu  einem  Scheinleben.  Die  Interessen 
der  Laien  wandten  sich  immer  mehr  der  Instrumentalmusik  zu, 
so  daß  die  Kirche  oft  auf  die  Laienkräfte  verzichten  mußte. 
Die  Schulen  boten  nicht  viel  Ersatz,  da  man  die  Singstunden  zu 
beschränken  und  überhaupt  die  Schulchöre  abzuschaffen  versuchte. 
Allerlei  Vorfälle  bei  Umzügen,  Begräbnis-  oder  Straßengesängen 
brachten  willkommenen  Anlaß,  um  gegen  die  Schulchöre  vor- 
zugehen. Wie  Seb.  Bach  mit  den  Pädagogen  zu  kämpfen  hatte, 
wie  er  Privatschüler  und  Studenten  mit  auf  den  Chor  nahm,  um 
gute  Aufführungen  zu  erzielen,  ist  aus  der  Bachbiographie  bekannt. 
Auch  der  lange  Streit  zwischen  Kantor  Doles  und  Rektor  Bieder- 
mann in  Freiberg  ist  berühmt  geworden.  Der  Pädagoge  prophe- 
zeite den  Singeschülern  Verderbnis  der  Moral.  Wenn  die  Kan- 
toren zweier  durch  Tradition  und  pekuniäre  Mittel  gut  gestellter 
Musikstädte  solchen  Widerstand  bei  den  Behörden  fanden,  dann 
kann  man  sich  die  Verhältnisse  an  kleineren  Orten  leicht  denken. 
Hinzu  kommt  in  der  nachbachischen  Zeit  eine  oft  im  Stil  ver- 
fehlte, weichliche  oder  erschrecklich  nichtssagende  Kirchenmusik. 
Aus  diesem  kurz  umrissenen  Zeitbild  erklären  sich  die  Klagen 
der  Musiker,  die  vom  Taktierlärmen  so  viel  zu  erzählen  wissen. 
Es  mag  bisweilen  schlimm  bei  solchen  Aufführungen  hergegangen 
sein,  und  der  gute  Rat,  nur  den  Anfang  der  Musik  laut  zu  taktieren 
oder  nur  mit  einem  Wink  und  einer  mäßigen  Handbewegung  die 
Aufführung  zu  leiten,  war  leichter  hingeschrieben  als  durchge- 
führt. Jeder  Kantor  mußte  sich  eben  so  gut  helfen,  wie  er  konnte. 
Mattheson  sagt  z.  B.,  er  sei  allezeit  besser  dabei  gefahren,  wenn 
er  sowohl  mitgespielt  und  mitgesungen  habe,  als  wenn  er  »bloß 


Fußtreten  begünstiget  die  Aufführung  auch  nicht  sonderlich«),  in  Sam.  Petris 
Anleitung  zur  prakt.  Mus.  1782  (S.  183:  für  Stadtmusikos  gilt  die  Warnung:  nicht 
beim  Taktieren  »so  auftreten  und  stampfen,  daß  man  glauben  möchte,  man  wäre 
in  einer  Papiermühle,  oder  Hammerwerke«).  Vgl.  auch  Hiller  a.  a.  0.  VI,  §15; 
(Voigt);  »Gespräch  von  der  Musik,  zwischen  einem  Organisten  und  Adjuvanten« 
1742,  S.  36/37  u.  a. 


160  Fünftes  Kapitel. 

des  Tacts  wegen  da  gestanden«  sei.  Der  Chor  würde  durch  solches 
Mitspielen  und  Mitsingen  ermuntert,  und  man  könne  die  Leute 
viel  besser  anfrischen1.  Ähnlich  machte  es  Seb.  Bach.  Gesner 
hat  uns  davon  eine  Nachricht  gegeben.  Er  sagt,  es  sei  kaum 
zu  beschreiben,  wie  Bach  »bei  dreißig  oder  gar  vierzig  Musikern 
den  einen  durch  einen  Wink,  den  andern  durch  Treten  des  Takts, 
den  dritten  mit  drohendem  Finger  in  Ordnung  hält,  jenem  in  hoher, 
diesem  in  tiefer,  dem  dritten  in  mittlerer  Lage  seinen  Ton  angibt, 
und  daß  er  ganz  allein,  im  lautesten  Getön  der  Zusammenwirkenden, 
obgleich  er  von  allen  die  schwierigste  Aufgabe  hat,  doch  sofort 
bemerkt,  wenn  und  wo  etwas  nicht  stimmt,  und  alle  zusammen- 
hält und  überall  vorbeugt  und  wenn  es  irgendwo  schwankt,  die 
Sicherheit  wieder  herstellt,  wie  der  Rhythmus  ihm  in  allen  Gliedern 
sitzt,  wie  er  alle  Harmonien  mit  scharfem  Ohre  erfaßt  und  alle 
Stimmen  mit  dem  geringen  Umfange  der  eignen  Stimme  allein 
hervorbringt2«.  Gesner,  der  diese  Worte  in  einer  Anmerkung 
seiner  Quintilian ausgäbe  unterbringt3,  hat  jedenfalls  an  eine 
Bachsche  Probe  gedacht.  Seine  Beschreibung  gehört  aber  mit 
in  die  aus  zeitgenössischen  Berichten  gegebene  Anthologie  vom 
Taktierlärmen.  Man  sieht,  wie  sich  schon  Seb.  Bach,  der  doch 
viele  tüchtige  Kräfte  auf  seinem  Chor  hatte,  mit  den  Musikern 
abmühen  mußte.  Kleinere  Plätze  waren  in  dieser  Beziehung 
noch  schlechter  gestellt. 

Bachs  Direktion  und  Matthesons  Bericht,  er  habe  bei  der  Di- 
rektion mitgespielt,  ohne  den  Takt  zu  schlagen,  führt  uns  auf 
eine  Praxis,  die  sich  ebenso  wie  im  17.  Jahrhundert  neben  der 
Hand-  oder  Taktstockdirektion  gehalten  hat:  auf  die  Leitung  vom 
Klavier  aus.  Sie  ist  im  18.  Jahrhundert  die  gebräuchliche  Direk- 
tionsform in  der  Oper  und  Instrumentalmusik.  Em.  Bach  sagt: 
»Auch  bey  den  stärksten  Musiken,  in  Opern,  so  gar  unter  freyem 
Himmel4,  wo  man  ganz  gewiß  glauben  solte,  nicht  das  geringste 
vom  Flügel  zu  hören,  vermißt  man  ihn,  wenn  er  wegbleibt5.« 
Der  Flügel  gibt  der  Musik  das  harmonische  Rückgrat  und  die 
feste,   rhythmische   Führung.      Das    Klavier    muß    »allezeit    das 


i  Vollk.  Capellm.  III,  26,   §16. 

2  Übersetzung  nach  Spitta,  Bach  II,  S.  89. 

a  S.  o.  S.  5. 

*  Auf  Barthol.  Kilians  Bild  »Die  Anbetung  der  Maria«  (s.  o.  S.  88),  sieht 
man  eine  solche  Aufführung  unter  freiem  Himmel.  Auch  Fuxens  Festoper 
»Costanza  e  Fortezza«  wurde  im  Freien  aufgeführt  (s.  Quantz'  Autobiographie). 

5  Versuch  über  die  wahre  Art ...  II.  Einl.  §  1. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  \(j\ 

Augenmerck  des  Tactes  seyn  und  bleiben«1.  Es  ist  nach  Em. 
Bach  am  besten  imstande,  »nicht  allein  die  übrigen  Bässe,  sondern 
auch  die  ganze  Musick  in  der  nöthigen  Gleichheit  vom  Tacte  zu 
erhalten;  diese  Gleichheit  kan  auch  dem  besten  Musico,  ob  er  schon 
übrigens  sein  Feuer  in  seiner  Gewalt  hat,  im  andern  Falle  durch 
die  Ermüdung  schwer  werden.  Da  dieses  nun  bey  einem  ge- 
schehen kan ;  so  ist  diese  Vorsicht,  wenn  viele  zusammen  musi- 
ciren,  um  so  viel  nöthiger,  jemehr  hierdurch  das  Tact-Schlagen, 
welches  heut  zu  Tage  bloß  bey  weitläuftigen  Musicken  gebräuch- 
lich ist,  vollkommen  ersetzet  wird.  Der  Ton  des  Flügels,  welcher 
ganz  recht  von  den  Mitmusicirenden  umgeben  stehet,  fällt  allen 
deutlich  ins  Gehör.  Dahero  weiß  ich,  daß  sogar  zerstreuete  und 
weitläuftige  Musicken,  bey  welchen  oft  viele  freywillige  und  mittel- 
mäßige Musici  sich  befunden  haben,  blos  durch  den  Ton  des 
Flügels  in  Ordnung  erhalten  worden  sind2.« 

Der  Kapellmeister  übernahm  bei  der  Aufführung,  wenn  kein 
besonderer  Akkompagnist  an  einem  zweiten  Flügel  tätig  war3, 
das  Akkompagnement,  die  Begleitung  nach  dem  Generalbaß. 
Ohne  Überladungen  in  den  Figuren  und  Manieren  spielte  er  die 
Harmonien,  um  Solisten,  Chor  oder  Instrumentalisten  zu  stützen. 
Die  Regeln,  die  er  in  seinem  Spiel  befolgte,  gehen  auf  einen  Haupt- 
satz zurück:  Das  Akkompagnement  mußte  dem  Ideengehalt 
des  Stückes  entsprechen.  Außerdem  mußte  der  Klavierist  oder 
der  Spieler  des  ersten  Flügels  auf  die  Taktordnung  achten.  Em. 
Bach,  den  Schubart  einen  ausgezeichneten  Dirigenten  nennt, 
der  »viele  geheime  Kapellmeisterkünste  aus  dem  Grunde  ver- 
stand«4, begründet  die  Notwendigkeit  dieser  Taktführung  mit 
folgenden  Worten:  »Will  jemand  anfangen  zu  eylen  oder  zu  schlep- 
pen, so  kan  er  durchs  Ciavier  am  deutlichsten  zu  rechte  gebracht 
werden,  indem  die  andern  [Musiker]  wegen  vieler  Passagien  oder 
Rückungen  mit  sich  selbst  genug  beschäftiget  sind;  besonders 
haben  die  Stimmen,  welche  Tempo  rubato  haben  [d.  h.  die  die 

1  Em.  Bach,  ebenda  I,  Einl.  §9  Anm. 

2  Ebenda. 

3  In  Dresden  dirigierte  z.  B.  Hasse  vom  ersten  Flügel,  während  an  einem 
zweiten  Klavier  ein  besonderer  Generalbaßspieler  mitwirkte.  Ebenso  wurde 
es  in  der  Berliner  Oper  unter  Karl  H.  Graun  gehalten. 

4  Ges.  Schriften,  Stuttgart  1839,  V,  S.  187:  /»Er  weiß  hundert  Stimmen  und 
Saiten  so  in  eins  zu  verflößen,  so  in  den  Pulsschlag  der  Natur  einzuleiten,  so 
das  Genie  selbst  in  den  Schranken  der  Ordnung  zu  erhalten,  daß  hierin  schwerlich 
seines  Gleichen  ist.  Die  Akustik,  die  Orchesterordnung,  und  viele  geheime  Kapell- 
meisterkünste verstand  er  aus  dem  Grunde.« 

Kl.  Haiidb.  der  Musikgescli.  X.  11 


162  Fünftes  Kapitel. 

Noten  etwas  dehnen  oder  geschwinder  spielen,  als  die  Notierung 
angibt1]  hierdurch  den  nöthigen,  nachdrücklichen  Vorschlag  des 
Tacts.  Endlich  kan  auf  diese  Art,  weil  man  durch  das  zu  viele 
Geräusche  des  Flügels  an  der  genauesten  Wahrnehmung  nicht  ver- 
hindert wird,  sehr  leicht  das  Zeit-Maas,  wie  es  nöthig  ist,  um 
etwas  weniges  geändert  werden,  und  die  hinter,  oder  neben  dem 
Flügel  sich  befindenden  Musici  haben  einen  in  beyden  Händen 
gleichen,  durchdringenden  und  folglich  den  mercklichsten  Schlag 
des  Tacts  vor  Augen2.« 

Bei  dieser  Klavierdirektion  bediente  sich  der  Dirigent  vieler 
praktischer  Hilfsmittel:  er  griff  zuweilen  Harmonien,  wenn  der 
Continuo  pausierte,  er  teilte  lange  Noten  in  kürzere,  betonte  ein- 
zelne rhythmisch  wichtige  Stellen  oder  spielte,  wenn  Fehler  vor- 
kamen, die  Melodiestimme  mit,  bis  die  Musiker  sich  zurechtge- 
funden hatten. 

Der  Anfang  eines  Musikstücks  machte  den  Musikern,  wie  wir 
schon  gehört  haben,  große  Schwierigkeiten.  Telemann  nannte 
die  Anfangstakte,  wie  Petri  erzählt3,  die  »Hundetakte«,  »weil 
sie  Menschen  unerträglich  waren«,  und  Quantz  berichtet,  daß 
bei  großen  Orchestern  oft  ein  oder  mehr  Takte  vorübergingen, 
bevor  alle  miteinander  einig  wurden4.  Em.  Bach  schlägt  des- 
halb vor,  die  Oberstimme  namentlich  bei  schnellen  Sätzen  mit- 
zuspielen, damit  die  Musiker  gleich  in  das  rechte  Tempo  kommen5. 
Ein  anderes  Hilfsmittel  war  das  Anschlagen  der  Harmoniefolgen. 
Der  Kapellmeister  gab  z.  B.  beim  C-Takt  die  einzelnen  Viertel 
durch  Akkordwiederholungen  an,  auch  dann,  wenn  das  Stück 
mit  einem  langgehaltenen  Akkord  begann6.  Durch  dies  wieder- 
holte Anschlagen  der  Harmonien  wurde  der  rhythmische  Gang 
markiert.  Der  erste  Geiger  nahm  das  Tempo  auf,  akzentuierte 
wohl  noch  die  wichtigeren  Taktteile7  und  vermittelte  so  den  In- 
strumentalisten  das  Tempo.  Hatten  sich  die  Musiker  den  Anfang 
eines  Satzes  genau  eingeprägt,  so  brauchten  sie  nur  auf  den  Klavier- 
spieler zu  hören  und  sich  im  Spiel  nach  dem  Konzertmeister  oder, 
wenn  sie  ihn  nicht  sehen  konnten,  nach  ihrem  Nebenmann  oder 

i  Vgl.  Em.  Bach,  a.  a.  O.  I,  III,  §28.     S.  auch  weiter  unten  S.  207. 

2  Em.  Bach,  a.  a.  O.  I,  Einl.  §  9  Anm. 

3  Anl.  zur  prakt.  Mus.  1782,  S.  171/172. 
*  A.a.O.  XVII,  VII,   §45. 

ö  A.  a.  O.  II,  29,   §24. 

6  J  u  n  k  e  r  ,  a.  a.  O.  S.  41,  42  und  Joh.  Jos.  Klein,  Versuch  eines  Lehr- 
buchs der  prakt.  Musik  1783,  S.  254,   §  282. 

7  Vgl.  Petri,  a.  a.  0.  S.  172. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert. 


163 


Stimmführer  zu  richten1.     Telemannsche  »Hundetakte«  konnten 
dann  nicht  mit  unterlaufen. 

Das  Betonen  der  akzentuierten  Taktzeiten  bildete  ein  Haupt- 
mittel der  Klavierdirektion.  Die  Baßnoten  wurden  mit  ihren 
Harmonien  stärker  angeschlagen,  so  daß  jeder  die  rhythmischen 
Akzente  deutlich  hörte.  Schwieriger  war  die  Direktion,  wenn  der 
Continuo  pausierte.  Hier  fielen  die  Fundamentstimme  und  der 
hörbare  Taktschlag  fort.  An  solchen  Stellen  gab  der  Kapell- 
meister, wenn  die  Pausen  kurz  waren,  die  Harmonie  mit  der  rechten 
Hand  an,  d.  h.  er  spielte  über  den  einzelnen  Pausen  des  Basses 
die  jeweilige  Harmonie,  um  den  rhythmischen  Gang  aufrecht  zu 
halten.    Bei  folgenden  Stellen,  die  Em.  Bach2  entnommen  sind: 


Allegretto. 

i 1        4. 


S 


..^ 


S 


Presto. 


b.9* 


^f 


-7    p  ,» 


^= 


•  0 


tsf 


können  bei  der  Pause  mit  der  rechten  Hand  die  Harmonien  an- 
geschlagen werden.  Ein  geschickter  Dirigent  wird  im  ersten 
Beispiel  erst  beim  Sextakkord  einsetzen,  im  zweiten  ist  das  har- 
monische Vorschlagen  unvermeidlich;  würde  man  auf  f  die  Har- 
monie einsetzen,  so  wird  der  Rhythmus  unverständlich. 
In  dieser  Bewegung: 


^ 


__L 


6 

5b 


fcjf=d!fc^ 


kann  die  Taktordnung  nur  durch  eine  Achtelbegleitung  ange- 
geben werden.  Man  wird  ein  Achtel  —  im  langsamen  Tempo  — 
unbegleitet  lassen,  um  den  Vortrag  der  langen  Note,  die  meist 
piano  angesetzt  wird,  nicht  zu  »verdunkeln«,  dann  aber  spielt  man 
in  Achteln: 


1  Quantz,  a.a.O.  XVII,  VII,   §42. 

2  A.  a.  O.  II,  37,  §  4.  Die  folgende  Darstellung  basiert  auf  Em.  Bach,  wenn 
keine  andere  Quelle  angegeben  wird. 

11* 


164 


Fünftes  Kapitel. 


5     * 


*      TT 

6         6 

5b 4 


9t 


# 


^ 


#* 


'— a 


In  den  Stellen,  wo  durch  das  Vorschlagen  mit  der  rechten  Hand 
die  Harmonie  oder  der  Gang  der  Hauptstimme  undeutlich  wird, 
fällt  die  Ausfüllung  der  Baßpausen  fort,  z.  B.  bei  der  Wendung: 


i 


würde  erst  beim  C  des  Basses  einzusetzen  sein,  das  Vorschlagen 
bei  der  Note  f  wirkt  unharmonisch.     In  dem  Motiv: 


j^L 


IS 


-— — —- 1^— | 1 1 —1-7 jmr-  -v T 


5b 

würde  ein  Einfallen  den  Vorschlag  der  Hauptstimme  stören. 
Auch  charakteristische  Gänge,  wie  dieser  »pathetische  Baß  nach 
französischem  Geschmack«: 


= 


vertragen  kein  Vorschlagen  bei  den  Pausen.  Wenn  der  Kom- 
ponist auf  den  Vortrag  markanter  Modulationen  in  der  Haupt- 
stimme Gewicht  legt,  fällt  gleichfalls  eine  füllende  Harmonie- 
angabe bei  der  Pause  fort.  Solche  solistischen  Stellen  erkannte 
der  Klavierist  aus  der  Partitur  oder  aus  der  seiner  Stimme  über- 
schriebenen  Melodie.  In  der  Regel  lag  dem  Kapellmeister  die 
Partitur  vor,  zuweilen  aber  auch  eine  Direktionsstimme,  in  der 
über   dem   Baß   die  wichtigsten   Einsätze   der   übrigen   Stimmen 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  165 

eingezeichnet  waren1.  Bei  Instrumentalkonzerten  oder  Arien 
reichte  der  bezifferte  Baß  mit  der  darübergesetzten  Solopartie 
aus.  War  diese  nicht  eingezeichnet,  so  wurde  eine  vorherige 
Verständigung  nötig,  die  Bach  im  Interesse  der  Solisten  für  die 
Ausführung  eines  improvisierten  Akkompagnements  überhaupt 
empfiehlt. 

Das  Vorschlagen  der  Harmonien  bei  kurzen  Baßpausen  diente 
lediglich  zur  Stützung  des  Taktes.  Es  ersetzte  die  pausierende 
Fundamentstimme  durch  eine  mit  der  Bechten  gegriffene  Har- 
monie. Sonst  genügte  bei  regulär  fortschreitendem  Continuo 
ein  gleichmäßiges  Anschlagen  der  Harmonien,  um  die  Takt- 
bewegung zu  markieren  und  die  Instrumentalisten  auch  an  den 
Stellen  sicher  zu  führen,  wo  der  Solist  durch  Ausschmückung 
und  Verzierung  der  Solostimme  seine  Partie  variierte  und  mit 
Ornamenten  umrankte.  Sobald  aber  Kadenzen,  Fermaten  oder 
Recitative  in  der  Orchesterbegleitung  vorkamen,  mußte  der  Ka- 
pellmeister andere  Kunstgriffe  anwenden,  um  eine  exakte  rhyth- 
mische Bewegung  zu  erzielen.  Bei  den  zur  Fermate  leitenden 
Takten,  die  retardierend  gespielt  wurden,  hielt  er  im  Tempo 
zurück;  er  schlug  die  Harmonien  schleppend  an.  Hatte  der 
Solist  die  Fermate  beendet  —  Quantz  schlägt  für  ihre  Dauer 
vor:  im  Tripel,  alla  Breve  und  2/4-Takt  einen  ganzen  Takt  außer 
dem  Fermatentakt,  für  den  4/4  dagegen  einen  halben  oder  einen 
ganzen  Takt,  je  nachdem  die  Fermate  in  der  Arsis  oderThesis  steht2 
—  dann  mußte  auf  ein  genaues  Weitergehen  der  Instrumente 
gesehen  werden.  Der  Kapellmeister  schlug  die  erste  Note  nach 
der  Fermate  stark  an,  um  allen  Musikern  den  Fortgang  des  Stückes 
anzugeben.  »Wenn  auch  .  .  .  piano  unter  dieser  Note  stehen  solte«, 
sagt  Em.  Bach3,  »so  giebet  man  ihr  dennoch  durch  einen  mäßig 
starken  Anschlag  einen  Nachdruck.  Diese  Freyheit  des  Vor- 
trages ist  alsdenn  besonders  nöthig,  wenn  der  vorhergegangene 
Stillstand  von  dem  Basse  allein  zuerst  gebrochen  wird.  Es  ist 
besser,  daß  man  alsdenn  eine  Note  etwas  stärker,  als  es  eigent- 
lich  seyn  solte,   anschlaget,   und   dadurch   die  Mitspielenden   in 

1  Vgl.  S  p  i  1 1  a  ,  Bach  II,  S.  159f.  Solche  Direktionsstimmen  findet  man 
in  den  Kirchenbibliotheken  Sachsens  in  großer  Zahl.  Noch  Habeneck  diri- 
gierte aus  einer  Violinstimme,  in  der  die  wichtigen  Soli  und  Einsätze  mit  roter 
Schrift  eingezeichnet  waren  (s.  w.  unten).  Je  nach  dem  Instrument,  das  der 
Dirigent  übernahm,  sind  diese  Stimmen  verschieden.  Im  18.  Jahrh.  diente 
meist  der  Continuo  als  Direktionsstimme. 

2  Quantz,  a.a.O.  XVII,  VII,   §43. 

3  A.  a.  O.  II,  29,  §11. 


166 


Fünftes  Kapitel. 


der  Ordnung  erhält:  als  wenn  man  aus  einer  übertriebenen  Ge- 
nauigkeit dieses,  denen  übrigen  Mitmusicirenden,  wegen  der 
gehörigen  Nachfolge,  unentbehrliche  Zeichen  weglassen,  und 
dadurch  wagen  wolte,  daß  ein  ansehnlicher  Theil  vom  Stücke, 
wo  der  Componist  oft  eine  besondere  Schönheit  angebracht 
hat,  durch  eine  Unrichtigkeit  verdorben  würde.  In  dergleichen 
Fällen  ist  der  erste  Anfänger  der  Führer,  und  wenn  es  auch  die 
Bratsche  trift.«  War  dem  Baß  mit  allen  Ripienstimmen  ein 
langer  Ton  zugeteilt,  während  die  Hauptstimmen  ihre  eigene 
Bewegung  beibehielten,  so  wurde  für  die  Taktordnung  und 
zur  Sicherheit  der  übrigen  Musiker  notwendig,  die  Taktteile  auf 
dem  Klavier  mit  der  rechten  Hand  harmonisch  anzuschlagen. 
Das  geschah  auch  an  den  Stellen,  wo  die  Harmonie  sich  nicht 
ein  einziges  Mal  veränderte1,  z.  B.: 


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3t 


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Wenn  die  liegende  Stimme  allein  dem  Baß  zufiel,  so  konnte  die 
Grundnote  repetiert  werden,  sobald  sie  verklungen  war.  Dies 
Wiederholen  der  Baßnote  durfte  aber  nie  gegen  den  Takt  ge- 
schehen, d.  h.  im  C-Takt  konnte  die  Note  am  Anfang  und  in  der 
Mitte  des  Takts  angeschlagen  werden,  beim  ungeraden  Takt  nur 
im  Niederschlag2.  Kam  bei  diesem  Aushalten  der  Baßnote  ein 
forte  vor,  nachdem  ein  Piano  vorhergegangen  war,  so  kehrte 
man  sich  nicht  an  die  Takteinteilung,  sondern  schlug  »gleich  bey 
dem  Eintritt  des  Forte  die  Grundnote  nebst  der  Harmonie  mit 
beyden  Händen«  an,  und  wenn  ein  Fortissimo  angezeigt  war, 
mit  vollen  Akkorden3. 

Für  die  Kadenzen  galten  die  gleichen  Hilfsmittel.  Auch  hier 
gab  der  Kapellmeister  den  Taktgang  durch  Betonen  der  Baß- 
noten und  durch  markantes  Anschlagen  der  weiterführenden 
Noten  an.  Die  die  Kadenz  einleitenden  Partien  wurden  stark 
gespielt,  auch  wenn  es  nicht  ausdrücklich  vorgeschrieben  war. 
Man  hielt  im  Tempo  zurück,  so  daß  der  Solist  wußte,  man  erwarte 

i  Em.  Bach,  a.  a.  O.  II,  29,   §18. 

2  Ebenda. 

3  Ebenda. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  157 

eine  ausgeführte,  verzierte  Kadenz,  die  er  übrigens  selbst  durch 
ein  »schleppendes  Forte«  vorher  andeutete1.  Wollte  er  sich 
bei  der  Kadenz  nicht  aufhalten,  so  gab  er  dies  »seinen  Begleitern 
durch  eine  Bewegung  mit  dem  Kopfe,  oder  mit  dem  Leibe  zu  ver- 
stehen«. Sobald  der  Akkompagnist  das  bemerkte,  schlug  er 
an  Stelle  der  liegenden  Grundnote  kurze  Noten  an,  er  löste  die 
Grundnote  in  kürzere  Notenwerte  auf,  wie  sie  vorher  gespielt 
wurden,  damit  die  Musiker  gleich  hörten,  daß  die  Kadenz  der 
Solostimme  ausfällt,  nach  dieser  Form: 


tr 


*       ±    1         J 


9* 


Nach  der  Kadenz  mußte  der  Baß  mit  großer  »Festigkeit«  und 
»sichern  Wiederergreifung  des  Tempo«  weitergehen.  Wie  bei 
den  Fermaten  wurden  auch  hier  die  ersten  Noten  nach  dem  Ruhe- 
zeichen kräftig  und  stark  angeschlagen,  »damit  die  übrigen  Aus- 
führer  das  wieder  ordentlich  fortgehende  Tempo  deutlich  fühlen«3. 
Sollten  die  Noten  ausdrücklich  piano  vorgetragen  werden,  was 
selten  vorkam,  dann  wurden  die  ersten  Noten  vor  dem  Eintritt 
des  nächsten  Taktes  laut  gespielt,  oder  der  Klavierist  gab  den 
Musikern  »durch  eine  Bewegung  des  Cörpers«  die  Takteinteilung 
zu  erkennen: 


Cfi- 

7 

6         5 

4        3          L 

4 

G 

17 

HN^= 

!    7  k! 

Schwieriger  war  die  Direktion  der  Recitative,  die  von  langge- 
haltenen Harmonien  gestützt  oder  von  eingeworfenen  Instru- 
mentalphrasen unterbrochen  wurden,  und  in  denen  der  Solist 
frei,  ohne  strenge  Taktgliederung  rezitierte.  Der  Kapellmeister 
hatte  in  solchen  Sätzen  dem  Sänger  genau  zu  folgen,  Ton  und 
Modulation  deutlich  vorzuspielen  und  bei  »feurigen  Recitativen«, 
wie  Bach  sagt,  die  weiterführenden  Harmonien  schon  unter  der 
letzten  Textsilbe  anzuschlagen,  damit  die  Instrumentalisten  sich 
danach    richten    und    rechtzeitig    einfallen   konnten.      So   wurde 

i  Em.  Bach,  a.  a.  0.  II,  29,   §12. 

2  Ebenda  II,  30,  §5. 

3  Ebenda,  §4. 
*  Ebenda. 


168 


Fünftes  Kapitel. 


die  »Lebhaftigkeit«1  des  Recitativs  am  besten  unterhalten2. 
Hatten  die  Begleiter  einen  Einsatz  zusammen,  so  mußte  der 
Kapellmeister  den  Musikern  »mit  dem  Kopfe  oder  mit  dem 
Leibe  bey  Zeiten  ein  merkliches  Zeichen  geben,  damit  sie  alle 
zugleich  geschwind  einfallen«  konnten: 


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9t 


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Der  Quintenschnitt  wurde  gleichfalls  möglichst  unter  der  letzten 
Textsilbe  angefangen  und  mit  vollstimmigen  Akkorden  ange- 
schlagen4.    Auch  in  Recitativen  wie  das  folgende: 


wo  Läufe  und  kurze,  »präcipitant«  zu  spielende  Noten  vorkommen, 
mußten  die  Musiker  einsetzen,  bevor  die  letzte  Silbe  völlig  aus- 
gesprochen wurde5.  Sie  sollten,  wie  Hiller  sagt,  dem  Sänger 
das  letzte  Wort  so  zu  sagen  »aus  dem  Munde  nehmen«6.  Für  die 
Ausführung  solcher  Passagen,  wie  sie  das  gegebene  Recitativ 
bringt,  rät  Em.  Bach,  bei  der  kurzen  Pause  vor  den  Zweiund- 
dreißigsteln das  Signal  zum  Einsetzen  durch  einen  starken  An- 
schlag der  C-Harmonie  anzugeben7.  Bei  einem  unsicheren  Sänger 
schlug  der  Kapellmeister  die  Akkorde  einige  Male  hintereinander 
an.  Ähnlich  verfuhr  man,  wenn  der  Solist  den  Notentext  ver- 
gessen hatte  oder  seine  Noten  frei  veränderte8.    Der  Kapellmeister 

a  Vgl.   Em.  Bach,  a.  a.  0.  II,  38,  §3. 

2  Quantz,  a.  a.  O.  XVII,  VII,   §59. 

3  Em.  Bach,  a.  a.  O.  II,  38,  §9. 

*  Quantz,  a.  a.  0.  XVII,  VII,  §59. 
5  Quantz,  ebenda. 
«  A.a.O.  XIV,  §14. 

7  A.  a.  O.   II,  37,   §4. 

8  Bach,  a.  a.  0.  38,   §  7. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  169 

mußte  stets  seine  Harmonien  ruhig  weiterspielen,  um  dem  Sänger 
einen  festen  Halt  zu  bieten.  Weiter  konnte  er  bei  ungeübten 
Solisten  die  Melodiestimme  mitspielen  oder  einzelne  Intervalle 
vorher  anschlagen1. 

Mit  diesen  Vorschriften  und  Grundsätzen  sind  die  Haupt- 
regeln der  Klavierdirektion  umschrieben:  das  Betonen  der  guten 
Taktteile,  das  Vorschlagen  mit  der  Rechten,  das  Auflösen  längerer 
Baßnoten  in  kürzere,  das  Mitspielen  der  Hauptstimme  und  das 
deutliche  Herausstellen  der  Noten  am  Anfang  eines  Stückes, 
nach  Halten  und  Kadenzen.  Doch  die  Klavierdirektion  reichte 
in  Sinfonie  und  Oper  nicht  für  alle  Partien  aus,  z.  B.  nicht 
für  die,  welche  ohne  Continuo  gesetzt  waren.  In  solchen  zwei- 
und  dreistimmigen  oder  konzertierenden  Stellen,  wie  sie  die  Kon- 
zerte von  Quantz,  Graun,  Mozart,  die  Sinfonien  der  Wiener 
Vorklassiker,  Haydns  Jugendsinfonien  und  die  italienischen 
Opern  in  großer  Zahl  bringen,  ging  die  Führung  an  den  ersten 
Violinisten  über.  Es  gab  demnach  neben  der  Cembalodirektion 
noch  eine  Spezialdirektion  durch  den  Primgeiger.  Er  taktierte 
zuweilen  mit  dem  Geigenhals  oder  unterbrach  sein  Spiel,  um  mit 
dem  Geigenbogen  Taktbewegungen  auszuführen.  Der  Violin- 
direktor dirigierte  also  nach  der  gleichen  Methode  wie  die 
Instrumentalisten  in  früheren  Jahrhunderten,  die  den  Takt  durch 
Heben  und  Senken  ihrer  Instrumente  sichtbar  machten2.  Samuel 
Petri  sagt:»Ich  bediene  mich  statt  der  Battute  [des  Taktschiagens] 
seit  einigen  Jahren  hinter  meinem  altvaterischen  Rückpositive 
der  Geige  ebenfalls  zu  dieser  Absicht  mit  so  guter  Wirkung,  daß 
die  Musiker  stets  im  ersten  Takte  vollkommen  beisammen  sind, 
und  jeder  das  tempo  genau  inne  hat3.«  Von  diesem  Mitspielen 
am  Beginn  eines  Stückes  war  schon  bei  der  Klavierdirektion  die 
Rede.  Petri  meint,  es  könne  da  niemand  irren,  wenn  der  Prim- 
geiger » der  Stimme,  die  die  kleinsten  Noten  hat,  sagt,  daß  er  ihre 
Noten  .  .  .  vortragen  wolle,  und  der  Stimme,  die  die  grossesten 
Noten  hat,  sagt,  daß  er  ihre  Noten  stark  angeben  wolle«.     Wenn 

1  Quantz,  a.  a.  0.  VII,  VI,  §  33,  ebenda  Notenbeispiel.  S.  auch  Löhlein, 
Clavier-Schule,  2.  Aufl.  1773,  II,   Kap.  18,   §3. 

2  S.  o.,  Kap.  III,  S.  46.  Vgl.  auch  Mersenne,  Harm.  univ.  1637,  Tom.  II, 
fol.  324  v:  Ceux  qui  conduisent  maintenant  les  concerts,  marquent  la  mesure 
par  le  mouvement  du  manche  des  Luths  ou  des  Tuorbes,  dont  ils  iouent,  afin 
de  tenir  le  ton  ferme  qui  regle  les  Chantres.  Auf  dem  Titelblatt  von  Mozarts 
Raillerie  musicale  (1787,  reproduziert  in  der  Rivista  musicale  IX,  S.  563) 
sieht  man  einen  Musiker,  der  mit  dem  Geigenbogen  zu  dirigieren  scheint. 

3  A.  a.  O.  S.  172. 


170  Fünftes  Kapitel. 

z.  B.  die  erste  Violine  Sechzehntel,  der  Baß  aber  Viertel  vorträgt, 
so  spielt  er  die  Sechzehntel  und  gibt  dabei  die  einzelnen  Viertel 
stark  an.  »Als  unübertreffliches  Muster«  in  dieser  Direktion  wird 
der  Dresdner  Konzertmeister  Pisendel  gerühmt.  Er  hatte  die 
Angewohnheit,  beim  Spielen  die  Taktbewegung  mit  dem  Halse 
und  Kopfe  der  Violine  anzugeben.  »Waren  es  vier  Viertel,  die  den 
Tackt  ausmachten,  so  bewegte  er  die  Violine  einmal  unterwärts, 
dann  hinauf,  dann  zur  Seite,  und  wieder  hinauf;  waren  es  drei 
Viertel,  so  bewegte  er  sie  einmal  hinunter,  dann  zur  Seite,  dann 
hinauf.  Wollte  er  das  Orchester  mitten  im  Stücke  anhalten 
[aufhalten],  so  strich  er  nur  die  ersten  Noten  jedes  Tackts  an, 
um  diesen  desto  mehr  Kraft  und  Nachdruck  geben  zu  können, 
und  .  .  .  hielt  [darin]  zurück.«1  Genau  so  machten  es  Matthäi 
und  Ferdinand  David  im  Leipziger  Gewandhaus,  und  noch 
heute  werden  Gartenorchester  in  ähnlicher  Weise  von  Geigen- 
spielern dirigiert,  so  daß  es  sich  erübrigt,  auf  das  äußere  Bild 
dieser  Direktion  näher  einzugehen. 

Es  handelt  sich  im  18.  Jahrhundert  um  eine  Doppeldirektion, 
eine  Gesamt-  oder  Oberdirektion  durch  den  Cembalisten  (Kapell- 
meister) und  eine  Spezialdirektion  des  Orchesters  oder  der  Ri- 
pienisten  durch  den  ersten  Geiger  (Konzertmeister).  Dies  Zu- 
sammenwirken zweier  Anführer  war  durch  die  gesamte  musi- 
kalische Entwicklung  gegeben.  Die  Instrumentalmusik  hatte  die 
Violine  an  die  Spitze  des  Orchesters  gestellt  und  ihrer  Stimme 
die  Führung  übertragen.  Damit  war  der  erste  Violinspieler  neben 
dem  Klavieristen  das  wichtigste  Mitglied  einer  Kapelle  geworden. 
Der  Violindirektor,  der  an  fürstlichen  und  königlichen  Höfen 
auch  Konzertmeister  genannt  wurde2,  war  der  Leiter  der  In- 
strumentengruppen und  der  Instrumentalmusik.  Er  sorgte  für 
ein  exaktes,  einheitliches  Orchesterspiel,  während  die  Oberleitung 
in  den  Händen  des  Kapellmeisters  lag.  Dieser  dirigierte  Chor-  und 
Opernaufführungen,  wählte  die  aufzuführenden  Stücke  aus  und 
bestimmte  Vortrag  und  Wiedergabe  der  Werke.  In  Italien  und 
Deutschland  war  er  zugleich  als  Komponist  verpflichtet  und  mußte 


1  Joh.  Friedr.  Reichardt,  Briefe  eines  aufmerksamen  Reisenden  1774, 
S.  40. 

2  Reichardt,  a.  a.  O.  S.  37,  und  Koch,  Mus.  Lex.  (1802),  Art.  Concert- 
meister:  »Diesen  Charakter  bekömmt  gemeiniglich  derjenige  Tonkünstler  in 
den  Hofkapellen  der  Regenten,  dem  das  Direktorium  der  Instrumentalmusik 
übertragen  ist.  In  andern  Orchestern,  die  von  keinem  Hofe  abhängen,  wird 
er  der  Vorspieler  oder  Anführer  genannt.« 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  171 

den  lokalen  Bedarf  an  neuen  Musikstücken  decken.  Doch  hatte 
er  ebensogut  für  fremde  Kompositionen  einzutreten,  er  durfte 
»andrer  Leute  löbliche  Arbeit  nicht  gantz  unter  die  Banck« 
werfen,  wie  Mattheson  sagt1.  Daß  man  diese  Matthesonsche  Ma- 
xime schon  früh  befolgte,  zeigen  die  Bestände  der  Kirchenbiblio- 
theken und  Opernarchive2.  So  wurden  z.  B.  in  Berlin  wiederholt 
Hassesche  Opern  unter  Graun  aufgeführt.  Ein  Zeitgenosse  sagt, 
Graun  habe  damit  gezeigt,  »daß  er  nicht  in  seine  eigenen  Arbeiten 
verliebt  sey;  sondern  die  Vorzüge  eines  fremden  Meisterstückes 
mit  Empfindung  zu  schätzen  wisse«3.  In  der  Pariser  Oper  bildete 
die  Direktion  überhaupt  ein  besonderes,  vom  Komponieren  un- 
abhängiges Amt4.  Quantz  meint  sogar,  es  sei  nicht  nötig,  »an 
einem  jeden  Orte,  oder  bey  einer  jeden  Musik,  einen  besonders 
guten  Componisten  zu  haben«,  wichtiger  sei,  daß  der  Dirigent 
»eine  vollkommene  Einsicht«  habe,  um  »alle  Arten  der  Com- 
position  nach  ihrem  Geschmacke,  Affecte,  Absicht  und  rechtem 
Zeitmaaße«  zu  spielen.  Ein  Dirigent  müsse  deshalb  noch  mehr 
Erfahrung  vom  Unterschied  der  Stücke  haben  als  ein  Komponist5. 
Auch  Kirnb erger  identifiziert  den  Kapellmeister  nicht  mehr  mit 
dem  Komponisten.  Er  sagt  in  Sulzers  »Allgemeiner  Theorie 
der  schönen  Künste«:  der  Kapellmeister  muß  alles,  was  aufge- 
führt werden  soll,  herbeischaffen,  »es  sey,  daß  er  die  Sachen 
selbst  componirt,  oder  anderswoher  genommen  habe«6.  Ähnlich 
beschreibt  Heinrich  Christ.  Koch  das  Kapellmeister amt,  er  fügt 
aber  hinzu,  daß  der  Kapellmeister  in  größeren  Orchestern  dem 
Violindirektor  die  Aufmerksamkeit  auf  jede  Partie  der  Instru- 
mentalbegleitung überlassen  solle.  Jener  habe  sein  Haupt- 
augenmerk auf  die  Singstimmen  zu  richten. 

Diese  Doppeldirektion  hielt  sich  in  der  Zeit  des  erwachenden 
öffentlichen  Konzertlebens,  als  in  jeder  größeren  Stadt  Deutsch- 
lands Dilettantenorchester,  Vereine  zur  Pflege  der  Instrumental- 
musik oder  stehende  Orchester  konzertierten,  und  blieb  noch 
bis  in   die   Beethovensche   Epoche.     Gyrowetz   dirigierte   seine 


1  Vollk.  Capellm.  III,  26,  §33. 

2  S.  u.  a.  das  Dresdener  Opernarchiv  und  die  Bibl.  der  kathol.  Hofkirche 
(Katalog  im  Archiv  der  Musikgeschichtlichen  Kommission  in  Berlin). 

3  Briefe,  zur  Erinnerung  an  merkwürdige  Zeiten  .  .  .   aus   dem   wichtigen 
Zeitlaufe  von  1740,  bis  1778,  Berlin  1778.     I,  S.  139. 

4  Rousseau,  Dictionnaire,  Art.  Maitre  de  musique. 
6  A  a.  0.  XVII,  I   §  2  und  4. 

6  Art.  Capelle,  ebenso  in  G.  Fr.  W  o  1  f  s  Musikal.  Lexikon  1787,  Art.  Capellm. 


172  Fünftes  Kapitel. 

Sinfonien  in  Neapel  mit  der  Geige,  während  Paisiello  am  Klavier 
saß1.  Selbst  Joseph  Haydn  mußte  noch  in  London  seine  großen 
englischen  Sinfonien,  die  keine  Harmoniefüllung  mehr  verlangen, 
vom  Klavier  aus  dirigieren2. 

Die  Direktion  durch  Kapellmeister  und  Primgeiger  brachte 
manche  Mißhelligkeiten  mit  sich.  Oft  wollte  der  Konzertmeister 
in  Chor-  und  Opernaufführungen  die  Oberleitung  übernehmen, 
oft  wieder  der  Cembalist  in  den  Sinfonien.  So  kam  es  an  vielen 
Plätzen  zu  Meinungsverschiedenheiten  über  die  Bedeutung  des 
Kapellmeister-  und  Konzertmeisteramts.  Nikolaus  Forkel 
plaidiert  in  einem  Artikel  über  die  »Direction  einer  Music«  für 
das  Dirigieren  vom  Flügel.  Bei  großen  Vokalwerken  kann  nach 
Forkel  die  Violine  unmöglich  das  Tempo  genau  und  allen  Mit- 
spielenden fühlbar  angeben.  Es  müßten  notwendig  Haupt- 
taktteile angeschlagen  werden,  die  in  den  meisten  Fällen  der  Baß 
enthielte,  wenn  nicht,  so  könne  doch  der  Flügelspieler,  »der  zur 
Begleitung  und  genauem  Verbindung  aller  Instrumente  und  Stim- 
men unentbehrlich«  sei,  die  kleinen  Taktteile  ohne  Nachteil  des 
Ganzen  in  Haupttaktteile  verwandeln  und  dadurch  den  Gang 
des  Takts  fühlbar  machen;  dies  könne  und  dürfe  die  Violine  auf 
keinen  Fall,  denn  ihre  Stimme  sei  gegen  die  übrigen  wie  das  Schnitz- 
werk am  Gebäude.  Auch  ein  Zurechtweisen  der  Irrenden  sei  nur 
dem  Flügelspieler  möglich,  da  der  Anführer  der  Musik  die  voll- 
ständige Partitur  vor  sich  haben  müsse.  Der  Violinist  aber  habe 
in  einem  fort  umzuwenden,  den  Bogen  aus  der  Hand  zu  legen 
und  sein  Spiel  zu  unterbrechen.  Der  Flügel,  der  am  besten  in  die 
Theorie  der  Musik  einführe,  sei  daher  am  geeignetsten  zur  An- 
gabe des  Takts:  »Jede  wohleingerichtete  Capelle  kann  zur  Be- 
stätigung dienen.  Hier  ist  der  Capellmeister  Director,  und  bedient 
sich  zur  Anführung  des  Flügels.  Der  erste  Violinist  ist  gleichsam 
sein  Adjutant,  weil  die  Stimme  desselben  die  stärckste  ist,  und  am 
deutlichsten  durch  alle  Glieder  des  Orchesters  gehört  werden 
kann.  Anführer  aber  ist  er  nie,  es  sey  denn,  daß  ihm  der  Director 
irgend  eine  kleine  Expedition  anvertraue,  dergleichen  hier  die 
Sinfonien  und  andere  einzelne  Instrumentalstücke  sind.«  Forkel 
denkt  an  die  Werke  der  siebziger  Jahre,  an  Sinfonien  mit 
vollem  Instrumentalakkompagnement,  deren  Direktion  der  Kon- 


i  Selbstbiographie,  Wien  1848,  S.  30. 

2  Dies,  Biogr.  Nachrichten   von    J.  Haydn    1810,  S.  93.    Vgl.  auch  C.   F. 
Pohl,  Mozart  u.  Haydn  in  London  II,  S.  166. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  4  8.  Jahrhundert.  17'd 

zertmeister  allein  übernehmen  konnte.  Solche  Stücke  sind  in 
der  Zeit  der  Wiener  Vorklassiker  und  der  Mannheimer  noch 
große  Seltenheiten.  Seine  Ausführungen  erinnern  aber  an  die 
Art,  wie  die  neunte  Sinfonie  in  Leipzig  noch  bis  Mendelssohn 
dirigiert  wurde.  Die  ersten  drei  Sätze  leitete  Konzertmeister 
Matthäi,  indem  er  an  den  nötigen  Stellen  einsetzte  und  Tempo- 
änderungen mit  dem  Bogen  markierte,  beim  Chorfinale  kam 
dann  der  Chordirigent  und  dirigierte  von  einem  besondern 
Pult  aus. 

Eine  hübsche  Übersicht  über  alle  möglichen  Arten  der  Di- 
rektion liest  man  in  den  »Wahrheiten  die  Musik  betreffend  gerade 
herausgesagt  von  einem  teutschen  Biedermann«2.  Diese  »Wahr- 
heiten«, die  bisher  wenig  beachtet  worden  sind,  bringen  einen 
ganzen  Abschnitt  über  die  Direktion  einer  Musik,  der  so  inter- 
essant ist,  daß  er  hier  im  Wortlaut  folgen  soll.  Unser  Biedermann 
ist  ein  Gegner  der  Violindirektion  und  begründet  das  so: 

»1.  Da,  wo  das  Orchester  so  eingerichtet,  daß  sich  die  Mit- 
glieder desselben  alle  übersehen,  und  einander  zu  gleicher  Zeit 
hören  können,  mit  braven  Virtuosen  besezt  ist;  der  Komponist 
sein  Stück  vollkommen  richtig  bezeichnet,  das  Zeitmaaß  ange- 
geben, und  vor  der  öffentlichen  Aufführung  sattsame  Proben  ge- 
halten hat,  braucht  es  weiter  keiner  Direktion;  es  dirigirt  sich 
alsdann  von  selbst,  wie  die  Uhr,  wenn  sie  aufgezogen  worden  ist. 
Dieses  ist  die  wahre  und  freye  Direktion  eines  Orchesters,  wovon 
der  Zuhörer  wenig  oder  nichts  gewahr  wird. 

2.  Wo  aber  das  Orchester  nicht  die  gehörige  Einrichtung  hat, 
wird  die  Direktion  davon  schon  hörbarer,  sichtbarer,  und  mehr 
gezwungen.  Der  Zembalist  und  die  Bassisten  müssen  immer  in 
Bewegung  seyn,  ihre  Grundtöne,  von  welchen  alle  Zusammen- 
stimmungen getragen  werden,  so  wie  es  Noth  thut,  durch  stärkern 
Anschlag  den  übrigen  Instrumentisten  hörbar  zu  machen,  damit 
sie  solchem  ihre  anzugebenden  Töne  zugleich  beyfügen  können, 
auf  daß  die  Zusammenstimmungen,  oder  Gedanken  des  Stücks, 
nicht  in  Unordnung  empfunden  werden  mögen.  Dieses  geht 
ohne  auszeichnende  körperliche  Bewegung  derer,  welche  die  Grund- 
instrumente spielen,  nicht  wohl  an,  daher  fällt  diese  Direktion 
eben  etwas  ins  Gezwungne. 


1  Genauere    Bestimmung    einiger    musicalischer  Begriffe  Göttingen   1780, 
abgedruckt  in  Cramers  Magazin  der  Mus.  I,  2,  S.  1055f. 

2  Frankfurt,  a.  M.  1779,  S.  42f. 


174  Fünftes  Kapitel. 

3.  Bey  Opern  sezt  man  den  obersten  Violinspieler  an  einigen 
Orten  auf  einen  etwas  über  das  Orchester  erhabnen  Stuhl,  damit 
ihn  jedes  Mitglied  des  Orchesters  sehen  kann,  und  er  so  das  ganze 
Werk  dirigiren  soll.  Das  sieht  nun  zwar  abendtheuerlich  genug 
aus,  zumal  wenn  der  hochsitzende  Herr  Direktor  sich  so  konvul- 
sivisch dabey  geberdet,  daß  man  alle  Augenblicke  den  Arzt  herbey- 
zurufen  für  nöthig  halten  muß,  geschweige  der  üblen  Wirkung, 
wenn  eine  Violine  hoch  sizt,  und  die  übrigen,  nebst  andern  In- 
strumenten, tief  sitzen.  Die  in  die  Höhe  gesezte  Violine  schreyt 
über  das  Orchester  hinweg,  als  bestünde  die  Oper  aus  einer  ein- 
zigen Violine,  oder  es  käme  zum  wenigsten  alles  darauf  an.  Der 
hoch  sitzende  Herr  Direktor  hat  nöthig  umzuwenden;  hier  erhält 
die  schreyende  Musik  eine  Pause,  und  die  übrigen  Instrumente 
stöhnen  nun,  gleich  Fröschen,  düstern  aus  dem  Sumpfe  heraus. 
Er  braucht  das  Schnupftuch;  hier  fällt  die  Musik  ebenfalls  in  ein 
dumpfes  Tönen.  —  Dieses,  und  die  konvulsivischen  Geberden 
des  Herrn  Direktors,  sind  für  den  aufmerksamen  Zuschauer  gar 
ein  artiges  Nebenamüsement.  Aber  ob  dadurch  ein  Orchester 
dirigirt  wird,  oder  dirigirt  werden  kann?  Dawider  Hesse  sich 
wol  vieles  einwenden.  Erstlich  ist  es  schon  ein  Fehler  der  Ein- 
richtung des  Orchesters,  wenn  man  dabey  nöthig  hat,  ein  Mit- 
glied höher  zu  setzen,  als  die  andern  Mitglieder,  um  von  den 
übrigen  gesehen  werden  zu  können.  Zweytens  spielt  die  erste 
Violine  allemal  nur  den  obersten  Ton  einer  Zusammenstimmung, 
oder  die  Melodie  des  Stücks,  mit  oder  ohne  Schnitzwerk  oder 
Figuren.  Da  aber,  wie  vor  bewiesen  worden,  Melodie  mit  allen 
möglichen  Zierrathen  doch  weiter  nichts  ist,  als  das  ausgezierte 
Dach  am  Hause,  die  Zusammenstimmungen  eines  Stücks  aber 
allemal  die  Gedanken  desselben  ausmachen  und  ein  ganzes  Ge- 
bäude vorstellen;  so  wird  leicht  begriffen  werden  können,  daß 
die  Violine  nicht  das  Instrument  allein  seyn  kann,  welches  [die] 
Orchester,  die  musikalische  Gedanken  in  der  grösten  Stärke  dekla- 
miren  sollen,  dirigiren  muß,  so  wie  man  ein  Haus,  um  es  von  seinem 
Standorte  wegrücken  zu  wollen,  nicht  am  Dach  anzufassen  hat. 
Und  es  ist  also  diese  Art  von  Direktion  blosse  Frazze. 

4.  Ein  Direktor  muß  das  Tempo  von  allen  Stücken  so  anzu- 
geben wissen,  wie  es  der  Komponist  zu  der  Zeit  gedacht,  da  er 
das  Stück  komponirt  hat;  er  muß  bey  Proben  jedem  Instru- 
mente, das  wankend  wird,  einzuhelfen,  und  was  falsch  geschrieben 
ist,  in  Richtigkeit  zu  bringen  wissen,  und  also  die  Partitur  vor 
sich  haben  und  verstehn. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  175 

Da  nun  dieses  niemand  besser  kann,  als  der  Komponist 
selbst,  so  folgt  augenscheinlich,  daß  der  Komponist  selbst  Direk- 
tor seyn  muß1. 

5.  Bey  regelmässigen  Kapellen  oder  Orchestern  wird  auch 
gewöhnlicherweise  das  Tempo  oder  Zeitmaaß  so  erhalten:  Der 
Komponist,  der  immer  einen  Flügel  dabey  spielt,  und  mit  den 
Bässen,  wie  es  sich  von  selbst  verstellt,  in  der  Mitte  des  Orchesters 
sizt,  gibt  es  auf  demselben  so  an,  wie  er  es  im  vollen  Feuer  dachte, 
als  er  das  Stück  komponirte;  die  Bassisten  richten  sich  nach 
demselben,  und  der  erste  Violinspieler  nimmt  es  ihm  gleichsam 
ab,  und  theilt  es  unter  die  übrigen  Mitglieder  eben  so  aus,  als 
er  es  vom  Komponisten  erhielt,  und  so  geht  jedes  Stück  in 
seinem  Gange  unverrückt  fort.  Diese  Direktion  ist  eine  sichre 
Direktion. 

6.  Da  aber,  wo  blos  der  erste  Violinspieler  das  Direktorium 
führen  will;  wo  sich  der  Komponist  nach  demselben  richten  soll; 
wo  sich  der  Violinspieler  angewöhnt  hat,  bey  Passagien  recht 
zu  eilen,  und  verlanget,  das  ganze  Orchester  soll  alsdann  auch 
sogleich  mit  ihm  forteilen;  wo  er  nur  mit  dem  Zeitmaaße  sich 
nach  seiner  Violine,  und  nicht  nach  den  Zusammenstimmungen 
richtet;  wo  er,  wann  die  Bassisten  Passagien  oder  Läufer  haben, 
so  eilt,  daß  sich  die  Passagien  auf  den  Bässen,  wegen  des  dickern 
Tons  nicht  deutlich  ausnehmen  können,  wenn  sie  ihm  folgen 
wollen;  wo  er,  wenn  das  Orchester  auch  einmal  richtig  zusammen 
im  Tempo  spielt,  den  Direktor  vergessen,  und  nun,  indem  ihm 
derselbe  wieder  einfällt,  mit  possierlichen  Grimassen,  Fußstampfen 
und  dergleichen,  dasselbe  auf  einmal  wieder  ganz  in  Verwirrung 
sezt;  wo  ihm  alle  niedrige  Chikanen  gegen  den  Komponisten 
verstattet  werden  usw.,  da  wird  die  Direktion  nicht  nur  unsicher, 
sondern  auch  lächerlich2. 


1  Anmerkung  Biedermanns:  »Man  weiß,  daß  die  Dresdner,  Berliner  und 
Stuttgardische  Opern  und  Orchester  in  Teutschland  die  besten  waren,  als  die 
Kapellmeister  Graun,  Hasse  und  Jomelli,  als  Komponisten,  das  Direktorium 
darüber  führten.  Erstere  und  leztere  sind  zu  Grunde  gegangen,  und  die  Ber- 
liner war  nach  Grauns  Tode  dem  Verfall  sehr  nahe;  der  jetzige  Kapellmeister, 
Herr  Reichhardt  daselbst,  hat  aber  Anstalten  getroffen,  sie  wieder  in  Ordnung 
zu  setzen,  und  wird  vom  grossen  Friederich  auf  rechtmässige  Art  dabey  geschüzt.« 

2  Vgl.  ebenda  S.  86:  »Ganz  unvergleichlich  lustig  ist  es,  ein  Orchester  zu 
hören,  wo  ein  Violinspieler,  der  nicht  Kenner  der  Harmonie  ist,  das  Direktorium 
führt.  O,  da  akkompagnirt  man  so  piano,  so  forte,  daß  es  Vergnügen  ist 
zuzuhören.«  —  Auch  Mattheson  hielt  die  Violindirektion  für  eine  »Musicanten 
Charlatanerie«.     Exempl.  Organistenprobe,  Teil  I,  S.  85,   §4. 


176  Fünftes  Kapitel. 

Man  kann  also  die  Direktion  eines  Orchesters  eintheilen: 

a)  in  die  wahre  Direktion, 

b)  in  die  gezwungne, 

c)  in  die  Frazzendirektion, 

d)  in  die  sichre,  und 

e)  in  die  unsichere  und  lächerliche. 

Das  Taktschlagen  ist  bei  Virtuosen  Pedanterey,  wie  in  Paris 
bey  der  grossen  Oper,  und  hilft  zur  Sache  eigentlich  nichts,  als 
daß  sie  dadurch  sehr  oft  ins  Lächerliche  gezogen  wird;  bey  Lehr- 
purschen  aber  ist  es  Notwendigkeit.« 

Unser  Biedermann  hält  also  die  Doppeldirektion  für  die  ge- 
wöhnliche Form  des  Dirigierens  bei  regelmäßigen  Kapellen. 
Er  überträgt  dem  Klavieristen  und  Komponisten  die  Oberleitung 
der  Musik.  Auch  Fried r.  Rochlitz  tritt  in  den  »Bruchstücken 
aus  Briefen  an  einen  jungen  Tonsetzer1«  für  die  Klavierdirektion 
ein,  und  Mozart  erzählt  von  der  Wiener  Aufführung  der  »Ent- 
führung aus  dem  Serail«,  daß  er  für  gut  befunden  habe,  wieder 
an  das  Klavier  zu  gehen,  teils  um  das  ein  wenig  in  Schlummer 
geratene  Orchester  wieder  aufzuwecken,  teils  um  sich  den  an- 
wesenden Herrschaften  als  Vater  von  seinem  Kinde  zu  zeigen2. 
Aus  Paris  aber  schreibt  er,  die  Probe  zu  seiner  Pariser  Sinfonie 
sei  so  schlecht  gegangen,  daß  er  am  liebsten  selbst  mit  der  Geige 
dirigiert  hätte3.  Seine  Nachrichten  gehen  eine  verhältnismäßig 
späte  Zeit  an,  eine  Epoche,  in  der  die  Sinfonie  sich  von  der  An- 
koppelung  an  den  Continuo  schon  zu  lösen  beginnt.  Sie  zeigen 
aber  die  Unterscheidung  von  Sinfoniedirektion  und  Opernleitung. 
Dort  ist  der  Konzertmeister,  hier  der  Klavierist  der  entschei- 
dende Dirigent. 

Zu  den  Musikern,  die  die  Direktion  dem  Konzertmeister 
übertragen,  gehört  J.  J.  Quantz.  Er  meint,  es  könne  gleich  sein, 
welches  Instrument  der  Anführer  spiele,  da  aber  die  Violine  zum 
Akkompagnement  unentbehrlich  und  auch  im  Tone  durchdrin- 
gender sei  als  jedes  andere  Instrument,  so  sei  es  am  besten,  wenn 
der  Anführer  die  Violine  spiele4.    In  einem  Artikel  in  dem  »Jahr- 

1  Allgem.  Mus.  Ztg.  Jahrgang  II,  1799,  S.  18f. 

2  Nohl,  Mozarts  Briefe,  1877,  S.  369. 

3  Pariser  Brief  vom  3.  Juli  1778:  »Den  andern  Tag  hatte  ich  mich  entschlos- 
sen, gar  nicht  ins  Concert  zu  gehen,  es  wurde  aber  Abends  gut  Wetter  und  ich 
entschloß  mich  endlich  mit  dem  Vorsatz,  daß,  wenn  es  so  schlecht  ginge,  wie 
bei  der  Probe,  ich  gewiß  aufs  Orchester  gehen  werde  und  dem  Hrn.  La  Hussaye, 
erstem  Violin,  die  Violine  aus  der  Hand  nehmen  und  selbst  dirigiren  werde.« 

i  A.  a.  O.  XVII,  I,  §  3. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  177 

buch  der  Tonkunst  von  Wien  und  Prag«1  wird  dem  Konzert- 
meister sogar  die  gesamte  Oberleitung  eingeräumt.  Es  heißt 
da:  »Wer  .  .  im  Spiele  Bewegungen  und  Gebärden  machen  darf 
und  muß,  dies  ist  der  Konzertmeister  oder  Direktor.  . . .  Tempo, 
Bewegung,  Feuer,  Schatten  und  Licht,  muß  er  theils  durch  die 
Richtung  seines  Bogens,  theils  durch  den  Kopf,  und  theils  durch 
den  ganzen  Körper  geben.  ...  Auch  der  Kapellmeister  [Klavierist] 
ist  diesem  Gesetze  unterworfen,  und  zwar  müssen  seine  Bewe- 
gungen noch  stärker  seyn,  so  daß  er  .  .  .  oft  mit  dem  Kopf,  den 
Händen  und  Füssen  arbeiten  muß,  ja,  er  ist  nicht  selten  genöthigt, 
die  Führung  auf  dem  Flügel  ganz  zu  unterlassen,  um  mit  beiden 
Armen  die  Luft  zu  durchsäbeln.  .  .  .  Schicklicher  wäre  es  freilich, 
wenn  der  Kapellmeister  die  Sorge  des  Dirigirens  allein  dem  Direk- 
tor überließe,  und  er  nur  auf  die  Zusammenhaltung  des  Ganzen, 
und  auf  das  richtige  Einfallen  der  Vokalisten  bedacht  wäre.  .  .  . 
Wie  leicht  entstehen  nicht  Unordnungen,  wenn  zwei  Individuen 
zugleich,  das  Eine  bei  dem  Klavier  und  das  Andre  bei  der  Violine 
dirigiren  ?  Ein  Theil  der  Musiker  sieht  auf  den  Kapellmeister,  ein 
andrer  auf  den  Direktor.  Man  nehme  nun  an,  (was  so  möglich 
ist)  daß  diese  beide  verschiedene  Tempi  führen,  und  urtheile  dann 
über  den  Erfolg.« 

Die  Frage,  ob  der  Klavierist  oder  der  Konzertmeister  die 
Oberleitung  einer  Musik  beanspruchen  kann ,  war  aktuell  ge- 
worden, als  die  Literatur  der  vollstimmig  gesetzten  Sinfonien 
anwuchs  und  die  Konzertmeister  im  Sinfonieorchester  die  ersten 
Dirigenten  wurden.  Aber  über  das  Zusammenwirken  zweier 
Anführer  lassen  die  Quellen  keinen  Zweifel.  Solange  der  Flügel 
im  Orchester  blieb,  war  ein  Kapellmeister  im  Em.  Bachschen 
Sinne  und  ein  Violindirektor  oder  Konzertmeister  tätig.  Nach 
dieser  Form  wurden  Sinfonien  mit  Continuo,  Opern  und  Kon- 
zerte geleitet,  während  bei  großen  Choraufführungen,  wie  in  der 
Berliner  Händel-Aufführung  unter  Hiller,  und  bei  großen  Kirchen- 
musiken noch  von  einem  besonderen  Pult  aus  durch  Taktschlagen 
dirigiert  wurde2. 


1  1796,  S.  173f. 

2  S.  o.,  S.  154  f.  Bei  der  genannten  Händelaufführung  war  J.  Ad.  Hiller 
der  Hauptdirektor,  Benda  führte  die  Violinisten  an,  Fasch  saß  am  Flügel. 
S.  »Nachricht  von  der  Aufführung  des  Händeischen  Messias  in  der  Domkirche 
zu  Berlin«  v.  J.  A.  Hiller,  1786.  Bei  den  Oratorienaufführungen  der  Wiener 
»Tonkünstler-Societät«  im  Burgtheater  hieß  es  noch:  »Dirigent  bei  der  ersten 
Violine:  H.  Ant.  Hofmann;  am  Flügel:  Herr  Umlauf;  bei  der  Battuta:  Herr 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.  X.  12 


178  Fünftes  Kapitel. 

Wenn  wir  uns  nach  diesem  Überblick  über  Taktschlagen  und 
Doppeldirektion  der  eigentlichen  Dirigentenpraxis  und  den  Vor- 
tragsfragen zuwenden,  so  muß  zunächst  ein  Bild  von  den  Orchester- 
verhältnissen gegeben  werden,  mit  denen  ein  Kapellmeister  zu 
rechnen  hatte.  Den  Kern  des  Orchesters  bildete  im  18.  Jahr- 
hundert die  Streichergruppe  mit  Continuo.  Hinzu  kommen 
Bläser  und  Schlaginstrumente,  die  das  harmoniefüllende  Klavier- 
instrument umgeben.  Der  Continuo  gibt  der  Musik  das  harmonische 
Gerüst,  das  von  Streichern  und  Bläsern  weiter  ausgestaltet  wird. 
Er  wird  auf  einem  Flügel  unter  Assistenz  von  Generalbaßinstru- 
menten —  Theorbe,  Harfe  oder  zweites  Klavier  —  ausgeführt 
oder  auch  auf  der  Orgel,  wenn  man  kein  besonderes  Klavier- 
instrument in  der  Kirche  zur  Verfügung  hat,  oder  wenn  es  der 
Komponist  ausdrücklich  verlangt1.  Die  Holzbläser  sind  den 
Streichern  koordiniert,  sie  werden  konzertierend,  klangverstärkend 
(im  Tutti)  oder  zur  tonmalerischen  Charakteristik  gesetzt,  doch 
nehmen  sie  nicht  im  modernen  Sinne  an  der  motivischen  Arbeit 
teil.  Erst  die  Monnsche  Schule,  dann  die  Mannheimer  und  der 
spätere  Haydn  geben  den  Bläsern  selbständigere  Partien,  die  nicht 
wie  das  Lullysche  Bläsertrio  oder  Seb.  Bachs  konzertante  Par- 
tien vorübergehend  gebraucht  werden,  sondern  die  von  vornherein 
an  der  Entwicklung  und  Durchführung  der  Gedanken  teilnehmen. 
Die  Streicher  und  eine  im  Vergleich  zur  Renaissancezeit  verhält- 
nismäßig kleine  Bläsergruppe  sind  die  Grundlage  des  Orchesters. 
Die  Besetzung  wechselt  je  nach  den  Mitteln  des  Haushaltes,  nach 
dem  Ort  der  Aufführung  und  dem  Charakter  der  Musik.  Doch 
läßt  sich  aus  zeitgenössischen  Quellen  ein  ungefähres  Bild  von  der 
allgemein  gebräuchlichen  Orchesterbesetzung  geben.  Ich  habe 
die  wichtigeren  Orchesterbesetzungen  auf  einer  Tafel  zusammen- 
gestellt und  will  hier  einen  Ausschnitt  davon  anfügen.  Die  Ein- 
richtung der  Tabelle  ist  so  getroffen,  daß  erste  und  zweite  Vio- 
linen, Celli  und  Bässe  zusammengezählt  oder  durch  ein  +  unter- 
schieden werden.  Die  Nebeninstrumente,  die  dieser  oder  jener 
Musiker  übernehmen  kann,  sind  in   Klammern  beigefügt. 

Salieri.«  S.  Hanslick,  Gesch.  des  Conzertwesens  in  Wien,  S.  94.  Auch  der 
Chorsatz  der  neunten  Sinfonie  wurde  bei  der  Uraufführung  von  Schuppanzigh 
bei  der  ersten  Violine,  von  Umlauf  am  Klavier  und  vom  taktierenden  Beethoven 
geleitet.     (Ebenda,  S.  274.) 

1  Biedermann,  a.  a.  O.  S.  29  nennt  als  Generalbaßinstrumente  den 
Flügel,  das  Fortepiano  oder  die  Orgel.  Die  weiter  unten  zitierten  Bilder  u. 
Orchesterpläne  von  H.  J.  Hahn  (1720),  Walther  (1732),  Burney  (1784), 
Junker  (1782)  zeigen  als  Continuoinstrument  die  Orgel  (S.  195f.). 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1  8.  Jahrhundert. 
Tabelle  zur  Orchesterbesetzung. 


179 


Kapelle. 

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a 
o 

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"o 

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—  -.cd 

"3  CQ 

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3 

a 

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■o 

X 

o5 
© 

Verschiedene 
Instrumente. 

Quelle. 

Leipzig    (Große 

5  +  5 

1  +(2) 

2  +  2 

I 

2 

3 

Flügel. 

Dörffel,    Gesch. 

Konzertgesellsch.) 
1746— »48. 

3 

der  Gewandhaus- 
konzerte, S.  6. 

Leipzig,  Kon- 
zerte unter  Hiller 
(1765—68). 

8  +  8 

3 

2  +  2 

2 

2 

2 

2 

Laute,  Flügel. 

Gerber,  Alt. 
Lexikon  i   (Hiller). 

Dresden,    Hof- 
orchester   (1753). 

8  +  7 

4 

3  +  3 

2 

5 

2 

5 

Tromp.Pauke, 
2  Flügel. 

Rousseau,  Dic- 
tionnaire  Orches- 
tertafel). 2 

do.  1756. 

18 

4 

3  +  2 

3 

6 

2 

6 

Pentaleon, 
Gambe. 

Fürsten  au.  Zur 
Gesch.  d.  Musik  zu 
Dresden II,  S.  294. 

do.  1783. 

15 

4 

4  +  3 

3 

4 

3 

4 

Laute. 

Cr  am  er,  Mag.  d. 
Musik  I,  S.  12  36  f. 

Berlin,  Hof- 
orchester    1754  3. 

12 

3 

4+2 

4 

3 

2 

4 

Gambe, 

Theorbe, 

2  Cembali. 

Marpurg,  Hist. 

Krit.  Beyträge  I, 

S.  76 f. 

do.  1782. 

13 

4 

4  +  3 

2  +  2 

2  +1 

2 

2  +  2 

Harfe, 
2  Flügel. 

Forkel  ,Mus.  Al- 
man.l782,S.146f. 

do.   1787. 

20 

6 

8+4 

2 

4 

4 

4 

2  Klarinetten. 
2    Tromp.,    3 
Posaunen,  ein 
Paar  Pauken, 
1   Harfe. 

Anonymus,  Be- 
merkungen   eines 
Reisenden  über 
die  zu  Berlin  vom 
September     1787 
bis    Januar   1788 
gegebene  .  .  Musi- 
ken.   Halle  1788. 

Kapelle   des 
Prinzen  Hein- 
rich v  o  n 
Preußen    1754. 

4 

1 

1  +1 

1 

1 

Cembalo. 

Marpurg,  a.    a. 
0.  I,  S.  85  f. 

do.   1782. 

5 

2 

2  +  1 

2 

2 

Cembalo. 

Forkel,  Alman. 
1782,  S.  149 f. 

Kapelle  des 

Prinzen  und 

Markgrafen 

Carl  1754. 

5 

1 

1  +  1 

1 

3 

2 

1 

Harfe, 
Cembalo. 

I 

Marpurg,  a.   a. 
0.  I,  S.  1 56  f. 

1  Vgl. dazu  Christian  Gottfried  Thomas,  Unpartheiische Kritik  der  vorzüglichsten  seit 
drey  Jahren  ...  zu  Leipzig  aufgeführten  ...  Concerte  und  Opern,  Leipzig  1798,  S.  18. 
Orchester:  1 2  Viol.,  3  Va.,  2  Vcl.,  3  Bässe. 

2  Vgl.  Mennicke,  Hasse  und  die  Brüder  Graun,  S.  270  f.;  Fürstenau,  a.  a.  0.;  Forkel, 
Mus.  Almanach  1782,  S.  143 f.  (Etat  von  1782). 

3  Vgl.  Briefe,  zur  Erinnerung  an  merkwürdige  Zeiten... aus  dem  wichtigen  Zeitlaufe 
von  1740  bis  1778,  Berlin  1778,  I,  S.  101.  Zum  Orchester  gehören:  2  Flügel,  12  Viol., 
4  Violen,  4  Vcl.,  3  Bässe,  4  Fl.,  2  Fag.,  2  Hörner,  4  Oboen,  auch  abwechselnd  (!)  zu  manchen 
Stücken  eine  Theorbe,  eine  Harfe. 

12* 


180 


Fünftes  Kapitel. 


Kapelle. 

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fe  I 

Verschiedene 
Instrumente. 

Quelle. 

Kapelle  des  Grafen 

Branicki  in  Polen 

1754. 

8           1 

1  +1 

2 

2 

2 

2 

Marpurg,  a.  a. 
0.  I.  S.  447  f. 

Kammer-  und 
Kapellmusik  in 
Gotha  1754. 

I 
6 

2 

2 

Zum    Accom- 

pagnement : 

1  Fagott, 

1   Laute,    1 

Violone,Orgel. 

Marpurg,   a.  a. 
0.  I.  S.  270  f. 

Hzgl.    Hofkapelle 
in    Gotha   1782. 

9 

1 

2  +  1 
(Ob.) 

3 

4 

1 

Orgel. 

F  o  r  k  e  1 ,  \  Alma- 
nach1782,S.140f. 

(vgl.  Cr  am  er, 

Mag.  d.  Mus.  I,  2, 

S.  756 f.) 

7 

1 

(<)+< 

2 

2 

Flügel. 

Bischöfl.    Kapelle 
zu  Breslau1754. 

5 

Marpurg,  a.  a. 
0.  I,  S.  446. 

HochfürsÜ. 

Schwarzburg- 

Rudolstädti- 

schc  Kapelle 

1757. 

8 
(2 

Trom- 
peten.) 

3 

(Ob.) 
(Viol.) 

3  +  2 
(Trom- 
pete.) 
(Viol. 

di 
Gamb.) 

(2) 

2 
(Fl.) 
(Viol.) 

2 

1 

(Fl.) 
(Viol.) 

Pauke, 
3  Tromp., 

(Cello), 
Cembalo. 

Mar  p  u  r  g,    a.  a. 
0.  III,  S.  77  f. 

W  ü  r  1 1  e  in  b  e  r  - 

gischc  Kammer- 

u.  Kirchenmusik 

1757. 

11 

2  +  1 
Hofmi 

1 

isiker. 

1 

1 

Cembalo, 
Orgel. 

Marpurg,  a.  a. 
0   III    S   65 f 

4 

2+  1 

2 

2 

3 

do.   1782. 

13 

6 

3  +  3 

2 

3 

2 

2 

Orgel. 

Forkel,  Alman. 
1782,    S.  132. 

Kapelle  des  Mark- 
grafen    Friedrich 

Heinrich  v. 
Schwedt     1782. 

6 

2 

2  +  2 

3 

2 

2 

3 

Cembalo. 

Forkel,   Alman. 
1782,  S.  150. 

Döbbelin'sche 

4  +  4 

2 
4 

1 

2 

2 

»Wenn  Flöten 
und  Hoboen 
. .  gebraucht 
werden,    so 
sind  noch 
zween    Flöte- 
nisten da,  die 
aber  nicht  in 
Sold   stehen.« 

Forkel,  a.  a.  0. 
S.  151. 

Schauspielgesell- 
schaft in   Berlin 
1782. 

i 

Churf.  Trier1- 

schc  Hof-  und 

Kammermusik  zu 

Coblenz  1782. 

13 

2  +  3 

3 

3 

4 

3 

2  Klarinetten. 

2  Tromp., 
Pauke,  Orgel. 

Ebd.,  S.  151  f. 

Hochfstl.  Anhalt- 
Zerbst'sche 
Kapelle  1757. 

8 

1 

1+(1) 

2 

1 

Cembalo. 

Marpurg,   a.  a. 
0.  III,  S.  130  f. 

Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1  8.  Jahrhundert. 


181 


Kapelle. 

Violinen. 
Violen. 

-3 
3    « 

-1     CO 
CO 

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3 

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Et, 

Verschiedene 
Instrumente. 

Quelle. 

Virtuosen. 

1 

1 
I 
Zum  Acc 

it. 

Mecklenburg- 

Schwerin'sche 

Hofkapelle    1757. 

1 

I 
ompagnemei 

\ 

(Fl) 

Cemb.,  Orgel, 
Tromp., 
Pauke. 

Marpurg,  a.  a. 
0.  III,  S.  339 f. 

6 

2 

2  +  1 

2 

2           2 

1 

Kapelle   des  Car- 
dinais  zu  Preß- 
burg  1783. 

9 

(Fag. 
Fl.Kla- 
rinett.) 

■+{«) 

(Klar.) 

2  +  2 

1 

(Viol.) 

2 

2 

2 
(Viol.) 

2  Klarinetten, 

(Viol.), 
2  Trompeten, 
Pauke,  Harfe. 

Forkel,   Alman. 
1783,  S.  99  f. 

Thurnu.  Taxische 

Kammermusik  zu 

Regensburg 

1783. 

12 

2 

2  +  2 

2 

2 

4 

2 

2  Klarinetten, 

4  Trompeten, 

Pauke. 

Ebd.,  S.  102 f. 

Churf.  Hof-  und 

2  +1 

2 

3 

2 

1 

Laute, 

2  Klarinetten. 

Forkel,   Alman. 
1782,  S.127f.  Vgl. 

Kammermusik  in 
Mainz  1782. 

1 

J 

auch  Cramer, 

Mag.  d.  Mus.  I,  2. 

S.  749 f. 

Churf ürstl.  Ka- 
pelle in  Bonn 
1782. 

8 

+  4 
Akzes- 
sisten. 

4 

2 

4 

2 

Forkel,  Alman. 
1782,S.  129  f. 

do.   1783. 

9 

+  2 
(Akzes- 
sisten.) 

2 

2+2 

2 

2 
(Klari- 
nette.; 

4 

3 

3  Trompeten, 

Pauke  (1 
Tromp.    kann 
auch  den  Baß 
übernehmen). 

Cramer, Mag.  d. 
Mus.  I,  S.  384  f. 

Hofmusik  in 
Cassel  1783. 

7+7 

2 

2  +  2 

2 

2 

2 

3 

Cr  am  er,  Mag.  d. 
Mus.  I,  S.  146 f. 

do.  1782. 

5  +  6 

1 

2  +  2 

2 

2 

2 

2 

Forkel,    Alman. 
1782,  S.139f. 

Ansbac  bische 

Kapelle,  Kammer- 

und  Hofmusik 

1782. 

12 

3 

5  +  2 

2 

3 

4 

3 

3  Klarinetten. 

Forkel,    Alman. 

1782,S.136f.,  ^vgl. 

Mizlers   Mus. 

Bibl.  III,  S.  366  f.) 

Bcntheim- 

Steinfurtische 

Kapelle. 

6  +  (1) 

2 

2  +  1 

2 

(<) 

i  Klarinetten, 
Pauke. 

Cramer,  Mag.  d. 
Mus.  I,  2,  S.  784  f. 

8+(2) 
(Fl. 
Hörn, 
Fag. 
Ob. 
Vcl.) 

2 
(Ob) 

2  +  2 
(Viol  ) 

2 
(Viol. 
Vcl.) 

4 
(Ob.) 

Orgel,  Cemb., 

Posaune    (der 

Posaunist 

spielt  auch 

Viol.,  Vcl.  und 

Hörn),  2  Chöre 

Trompet.  und 

Pauken. 

Kapelle   des  Erz- 
bischofs zu  Sal  z- 
burg  1757. 

(Vi 

Ol) 

Marpurg,   a.  a. 
0.  III,  S.  183  f. 

182 


Fünftes  Kapitel. 


Kapelle. 

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SC 

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O 

Verschiedene 
Instrumente. 

Quelle. 

Fürstl.  Hofkapelle 
in  Bamberg. 

10 

2 

2 
Bässe. 

1 

Hoboen, 

Waldhörner, 

Violoncelli. 

Fr.  Nicolai,  Be- 
schreibung   einer 

Reise  durch 

Deutschland   und 

die  Schweiz.  1783. 

I,  S.  129. 

K.  K.  Hof-  und 

Kammermusik  in 

Wien  4782. 

10 

2  +  2 

2 

3  Posaunen. 

Forkcl,  Alman. 
4  "82,  S.  13Uf. 

Fürstl.  E ster- 
il azische    Ka- 
pelle zu  Ester- 
haz  in  Ungarn 
4783  (unter 
Haydn). 

11 

2 

2  +  2 

2 

2 

2 

Fork  el,  Alman. 
1783,  S.  1001. 

Salomon- 
Haydn  Kon- 
zerte in 
London. 

1  2-1  6 

4 

3  +  4 

[2] 

[2] 

[2] 

[2] 

Tromp.  Pauk. 

C.  F.  Pohl,   Mo- 
zart u.  Haydn  in 
London  II,  S.  121. 

Paris  1754  Con- 
cerls  spirituels. 

16 

2 

6  +  2 

. 

3 

Orgel. 

5 

Marpurg,  a.  a. 

16 

(+2) 

6 

12 

(mit 
Gam- 
bisten) 

2 

Flügel. 

Opernorchester. 

S 

0.  I,  S.  192  f. 

Hofkapelle  in 

Mannheim 

1756. 

10+10 

4 

4  +  2 

2 

2 

4 

2 

Tromp.  Pauke 
Orgel. 

Marpurg,    a.  a. 
0.  II,  S.  567. 

do.   178-2. 

1  8+(2) 
(+5 
Akzes- 
sisten) 

3 

4  +  3 

4 

3 

4 

(+2 
Akzes- 
sisten) 

4 

3    Klarinetten 
+  1.  Akzess. 

Forkel,  Alman. 
1782,  S.  123  f. 

Bei  allen  Orchestern  ist  auch  ohne  ausdrückliche  Hervor- 
hebung ein  Klavierist  tätig:  »Den  Clavicymbal  verstehe  ich  bey 
allen  Musiken,  sie  seyn  kleine  oder  große,  mit  dabey«,  sagt  Quantz1, 
und  der  Biedermann  schreibt  in  seinen  Wahrheiten:  »Da  .  .  bey 
jedem  Tonstück,  in  dem  der  Komponist  jeder  Stimme  eine  natür- 
liche Melodie  für  sich  giebt  . . .  immer  Lücken  in  den  Zusammen- 
stimmungen bleiben:  so  ist  bey  der  Ausübung  hauptsächlich  ein 
Instrument  nöthig,   welches  diese  Lücken   ausfüllt.      Dieses   In- 


i  A.  a.  O.  XVII,  I,  §  16,  Biedermann,  a.  a.  O.   S.  29:   » Kein  Stück 
kann  ohne  Generalbaß  vollkommen  ausgeübt  werden.« 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  183 

strument  ist  der  Flügel,  das  Fortepiano  oder  die  Orgel;  bey  regel- 
mäßigen Orchestern  nimmt  man  noch  Harfen  oder  Theorben 
dazu1.« 

Die  in  unserer  Tafel  zusammengestellten  Nachrichten  sind 
nicht  alle  gleich  -beweiskräftig;  einige  berücksichtigen  nicht  die 
Musiker,  die  Nebeninstrumente  spielen,  andere  zählen  die  Konzert- 
meister und  die  Spieler  der  Bratsche,  der  Flöte,  Oboe  usw.  nicht 
besonders  auf,  andere  wieder  bringen  ihren  Kapell-Etat  summarisch 
—  kurz,  es  gibt  bei  diesen  Berichten  genug  Lücken.  Im  großen 
ganzen  kann  man  sich  aber  doch  aus  der  Tabelle  eine  ungefähre  Vor- 
stellung von  den  Orchesterverhältnissen  bilden.  Durchschnittlich 
finden  wir  Besetzungen  von  4—20  Violinen  mit  den  entsprechen- 
den Blasinstrumenten.  Man  kannte  aber  auch  Massenorchester. 
Charles  de  Brosses  erzählt  von  einer  Aufführung  in  Born  im  Jahre 
1740,  wo  zirka  200  Instrumentalisten  mitwirkten2,  die  Berliner 
Händel-Feier  (1786)  stellte  allein  38  erste,  39  zweite  Violinen,  18 
Bratschen,  23  Celli,  15  Kontrabässe  usw.  auf3;  in  London  wurde 
bei  dem  ersten  Konzert  zur  Feier  des  Händel-Jubiläums  aus  274 
Notenbüchern  musiziert4,  und  Dittersdorf  führte  seinen  »Hiob« 
mit  einem  Orchester  von  etwa  230  Personen  auf5.  Aber  diese  Or- 
chester blieben  in  der  alten  Zeit  vor  der  Einführung  der  Musik- 
feste und  Händel-Aufführungen  nach  dem  Muster  der  Londoner 
Jubiläumsfeier  Ausnahmen;  man  hat  sich  auch  lange  Zeit  gegen 
diese  großen  Besetzungen  gewehrt6. 

Sieht  man  sich  die  Anordnungen  auf  unserer  Tabelle  näher  an, 
so  fällt  zuerst  die  schwache  Besetzung  der  Bratsche  auf:  zu  16  Vio- 
linen —  3  Bratschen  (Hiller),  zu  8  Violinen  —  2  Bratschen  (Döb- 
belin'sche  Gesellschaft)  oder  eine  einzige  (Gotha  1782).  Diese 
Anordung  wird  indes  von  allen  Musikern  bestätigt.     Petri  ver- 


i  A.  a.  O.  S.  29. 

2  Lettres  familieres  II,  S.  379:  Dans  un  concert  spirituel  qui  fut  exiScute"  la 
veille  de  Noöl,  dans  la  salle  papale  de  Monte  Cavallo,  je  jugeai  qu'il  y  avait  ä 
peu  prös  deux  cents  instruments. 

3  Hiller,  a.a.O.  S.  22f. 

4  Burney-Eschenburg,  Nachricht  von  G.  Fr.  Händeis  Lebensumständen 
und  der  ihm  zu  London  im  Mai  und  Juni  1784  angestellten  Gedächtnisfeyer. 
Berlin  u.  Stettin  1785,  S.  9. 

6  Selbstbiographie,  Kap.  26.  Eine  Aufzählung  außergewöhnlich  großer 
Orchesterbesetzungen  bringt  Burney,  a.a.O.,  Vorbericht. 

6  S.  Gerber,  Neues  Lex.,  Vorrede;  Arteaga-Forkel,  Gesch.  der 
ital.  Oper  II,  S.  222f.,  Koch,  a.a.O.,  Art.  Begleitung.  Vgl.  Men  nicke, 
a.  a.  O.  S.  45. 


184  Fünftes  Kapitel. 

langt  z.  B.  zu  6  ersten  und  4  zweiten  Ripien- Violinen  nur  2  Brat- 
schen1, und  noch  in  Kochs  Musikalischem  Lexikon  (1802)  wird 
als  gewöhnliche  Besetzungsregel  vorgeschrieben:  8  Violinen  —  2 
Bratschen  oder  10  Violinen  —  3  Bratschen.  Man  hat  dabei  zu  be- 
rücksichtigen, daß  die  Bratschen  in  der  italienischen  Oper  und  in 
der  frühen  Sinfonieliteratur  sehr  oft  an  den  Baß  gekoppelt  sind, 
daß  sie  nicht  die  gleiche  Rolle  in  der  Literatur  spielen  wie  in 
unserer  Zeit.  Vielleicht  hatten  die  Instrumente  auch  einen  be- 
sonders starken  Ton  und  konnten  leichter  durchdringen.  Quantz 
und  Petri  fordern  ausdrücklich  tüchtige  Spieler  für  die  Bratsche, 
keine  abgedienten  Violinisten2. 

Quantz  gibt  folgende  Besetzungsregel:  Zu  vier  Violinen  gehören 

1  Bratsche,  1  Violoncell,  1  Kontraviolon  von  mittlerer  Größe; 
zu  6  Violinen  das  gleiche  (!)  und  ein  Basson,  zu  8  Violinen  aber: 

2  Bratschen,  2  Celli,  ein  zweiter,  etwas  größerer  Kontraviolon, 
2  Oboen,  2  Flöten,  2  Bassons  und  zu  12  Violinen:  3  Bratschen, 
4  Violoncelli,  2  Kontrabässe,  3  Bassons,  4  Oboen,  4  Flöten,  ein 
zweiter  Flügel  und  eine  Theorbe3.  Damit  stimmt  unsere  Tafel  in 
den  Hauptzügen  überein.  Auch  die  Besetzungsregeln  von  Petri 
und  Koch  bestätigen  die  Quantzsche  Aufstellung.  Jener  verlangt 
zu  12  Violinen:  3  Bratschen,  3 — 4  Ripienbässe,  Celli  und  2  Kon- 
trabässe nebst  dem  Flügel,  dieser  zu  8  Violinen  und  2  Bratschen: 
2  Celli  und  2  Kontrabässe,  oder  zu  10 Violinen:  3 Bratschen,  3 Celli, 
2  Bässe.  Wichtig  ist  bei  der  Quantzschen  Besetzung  auch  die 
«horische  Anordnung  der  Bläser:  Zu  8  Violinen  gehören  2  Flöten, 
2  Oboen,  zu  12  und  mehr  Violinen  aber  4  Flöten,  4  Oboen.  Dreßler 
meint  deshalb:  »Zehn,  auch  zwölf  Violinisten,  weniger  aber  nicht, 
die  eine  gehörige  und  gute  eingreifende  Spielart  haben,  sind  in  einem 
Orchester  nothwendig;  und  alle  blasende  Instrumente  müssen 
gehörig  doppelt  besetzt  seyn4. «  Das  bleibt  so  bis  zum  Aufkommen 
des  klassischen  Instrumentalstils  und  der  durchbrochenen  Instru- 
mentation. Die  Holzbläser  sind  entweder  konzertierende,  soli- 
stische, oder  aber  Tutti- Instrumente,  während  Trompeten  und 
Pauken  bei  der  alten  Bestimmung  bleiben,   Festmusiken,  kriege- 


1  Petri,  a.  a.  O.  S.  187. 

2  Quantz  a.  a.  0.  XVII,  III,  Petri,  a.  a.  O.  S.  173. 

3  A.a.O.  XVII,  I,   §16. 

*  Ernst  Christ.  Dreßler,  Fragmente  einiger  Gedanken  des  Musikalischen 
Zuschauers  die  bessere  Aufnahme  der  Musik  in  Deutschland  betreffend,  Gotha 
1767,  S.  13. 


Taktschlagen  und  Doppeldiroküon  im  \  8.  Jahrhundert.  185 

rische  Aufzüge  und  ähnliche  Situationen  zu  begleiten.  Die  Ab- 
weichungen von  der  Quantzschen  Regel,  wie  sie  unsere  Tafel 
hier  und  da  zeigt,  sind  zum  Teil  durch  den  Etat  der  Orchester- 
verwaltung  bedingt  oder  auch  durch  Lokalverhältnisse.  Viele 
Schriftsteller  sagen  ausdrücklich,  daß  man  bei  der  Orchester- 
besetzung den  Ort  der  Aufführung  in  erster  Reihe  berücksichtigen 
muß1.  Der  genannte  Biedermann  meint:  in  der  Besetzung  muß 
man  sich  »immer  nach  dem  Orte,  wo  ein  Orchester  stehen  soll«, 
richten.  »In  Sälen,  Kirchen,  Opernhäusern,  richtet  man  sich  mit 
der  Verstärkung  ...  nach  der  Größe  derselben;  und  da  hat  man 
bemerkt,  daß  bey  stärkerer  Besetzung  der  Orchester  die  Violon- 
zellos  nicht  Kraft  genug  haben,  durch  die  Violinen  durchzu- 
dringen, und  daß  der  unterste  Ton  von  Zusammenstimmung 
deutlich  sich  ausnehmen  soll.  Man  hat  daher  zu  zwey  Violon- 
zellos  noch  einen  Kontraviolon  gesezt  und  dann  erwünschte 
Wirkung  vernommen2.«  Diese  Verstärkungen  sind  auf  unserer 
Tafel  leicht  zu  erkennen.  In  einigen  Kapellen  haben  wir  sogar 
3  Celli,  3  Bässe  u.  s.  f.,  eine  Besetzung,  die  sich  aus  der  Grund- 
regel ergibt,  daß  in  jedem  Orchester  die  Bässe  deutlich  gehört 
werden  müssen.  Sie  sind  das  Fundament  des  musikalischen 
Aufbaus  und  müssen  alle  anderen  Stimmen  stützen  und  im  Takt 
halten3.  »Allemal  müssen  die  Bässe  die  Anzahl  der  Violinen 
bestimmen,  wie  der  Boden  oder  Grund  die  Schwere  des  Gebäudes«, 
sagt  unser  Biedermann.  »Immer  müssen  die  verschiednen  Töne 
der  Zusammenstimmungen  gleich  stark,  kräftig  und  schön  da- 
bey  gehört  werden,  welches  eben  geschieht,  wenn  der  unterste 
Ton  jeder  Zusammenstimmung,  als  Basis,  worauf  das  musikalische 
Gebäude  ruhet,  diejenige  Kraft  hat,  welche,  dieses  Gebäude  zu 
tragen,  nöthig  ist.  Und  hierzu  gehören  hauptsächlich  Kontra- 
violonen4. « 

Hatte  der  Kapellmeister  die  Besetzung  einer  Musik  nach  den 
zur  Verfügung  stehenden  Kräften  angeordnet,  so  konnte  er  sich 
•der  Aufstellung  der  Musiker  zuwenden.     »Die  Stellung  und  An- 


1  Sulzers  Allg.  Theorie,  Art.  Besetzung;  G.  Fr.  Wolfs  Mus.  Lex.  1787, 
Art.  Besetzung. 

2  A.  a.  O.  S.  37. 

3  Rousseau,  Dictionnaire,  Art.  »Orchestre«:  c'est  la  Basse  qui  doit 
regier  et  soutenir  toutes  les  autres  Parties.  Wolfs  Lexikon,  Art.  Besetzung: 
der  Baß  muß  seiner  Natur  nach  etwas  mehr  als  alle  Stimmen  gehört  werden. 
S.  auch  Sulzer,  a.  a.  0. 

4  A.  a.  O.  S.  38/39. 


186 


Fünftes  Kapitel. 


Ordnung  der  Personen  ist . .  kein  geringes  Stück  einer  musikalischen 
Regierung«,  schreibt  Mattheson,  »jedoch  muß  man  sich  hierin 
offtmahls  nach  der  Gelegenheit  des  Ortes  viel  richten.  Im  Gottes- 
Hause  ist  die  Eintheilung  anders  zu  machen,  als  in  der  Kammer. 
Auf  dem  Schauplatz  und  im  Orchester  wiederum  anders.«1  Der 
deutsche  Biedermann  begnügt  sich  mit  der  Anmerkung,  daß  die 
Orchesterstellung  verschieden  sei,  die  beste  sei  die,  wo  sich  die 
Musiker  alle  sehen  und  hören  könnten,  man  solle  sie  in  einem  Zirkel 
oder  Halbzirkel  aufstellen2.  Eingehender  behandeln  Quantz, 
Rousseau,  Junker,  Petri  und  Koch  die  Orchesterstellung. 
Ihre  Nachrichten  und  eine  Reihe  von  Orchesterplänen  beweisen, 
daß  man  auch  hier  festen  Grundsätzen  folgte.  Als  Grundregel 
galt  der  Satz:  die  Bässe  müssen  dicht  beim  Cembalo  stehen.  Sie 
bestimmen  am  deutlichsten  die  Taktzeiten  und  können  auch  das 
Tempo  nach  der  Angabe  des  Kapellmeisters  dem  ganzen  Orchester 
übermitteln.  Der  Cembalist  hat  »kein  Instrument,  in  welches 
er,  den  bestimmten  Tackt,  sicherer  und  schleuniger  überpflanzen 
kann,  um  ihn,  übers  ganze  Orchester  auszubreiten,  als  die  Bässe«3. 
Auf  allen  Orchesterplänen  sieht  man  deshalb  dicht  beim  Klavier 
mehrere  Baßinstrumente: 


Concerfisten 

1  Cello;  2  Baß;  3  Streicher;  4  Bläser;  5  Konzertvioline;  6  Flöte;  1  Cello; 

8  Gesangsolo. 

Nach  MaxSeiffert:   Die  Verzierung  der  Sologesänge  in  Händeis  »Messias«, 
Smlbd.  der  I.  M.-G.  VIII,  S.  600.    (Händel  im  Kreise  seiner  Musiker  in  London.) 


i  Mattheson,  Vollk.  Capellm.  III,   Kap.  26  §  28. 

2  A.  a.  O.  S.  40. 

3  Junker,  a.  a.  O.  S.  13. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert. 


187 


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188 


Fünftes  Kapitel. 


Um  das  Cembalo  gruppieren  sich  die  übrigen  Instrumente.  Be- 
vor wir  ihre  Anordnung  behandeln,  ist  noch  ein  zweiter  Grund- 
satz anzuführen,  der  gleichfalls  für  alle  Orchester  gilt:  die 
Stellung  des  Konzertmeisters  dicht  am  Cembalo.  Em.  Bach 
sagt:  »steht  der  erste  Violinist,  .  .  wie  es  sich  gehört,  nahe  am 
Flügel;  so  kan  nicht  leicht  eine  Unordnung  einreißen.«1  Sehr 
hübsch  zeigen  diese  Regel  die  Orchesterpläne  des  Berliner  Lieb- 
haberkonzerts (unter  Bachmann)  und  des  Rellstabschen  »Konzerts 
für  Kenner  und  Liebhaber«  in  Berlin,  die  der  schon  früher  an- 
geführte Anonymus  in  seinen  »Bemerkungen  eines  Reisenden« 
mitteilt: 

Berliner  Liebhaberkonzert  unter  Bachmann. 

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d       f       g 
c       c 


=r      b  + 


k    I    m 


Das  Orchester  ist 

gegen    den    Saal 

erhöht  und   geht 

nach  hinten 

schräg  hinauf. 


Orchester-Barriere 

a.  Flügel.  f.  Oboen. 

b.  Violine  I.  g.  Hörner. 
bf.  Anführer  (Viol.)  h.  Fagotte. 

c.  Violine  II.  i.    Flöte. 

d.  Bratsche.  k.  1.  m.  Solospieler  und  Sänger. 

e.  Bässe.  n.  Choristen. 


i  Em.  Bach,  a.a.O.  I,  Einl.  §9  Anm. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  189 

Konzert   für   Kenner   und    Liebhaber   in  Berlin  (Rellstab)^ 
Wand  des  Chors. 

Dritte  Erhöhung  i  e  d         h 

Zweire  Erhöhung  c     c       H  h        b 

Ersre  Abtheilung 


■0S 


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a.  Fortepiano.  f.  Flöten. 

b.  Violine  I.  g.  Oboen. 
b|.  Anführer  (Viol.)  h.  Fagotte. 

c.  Violine  II.  i.  Hörner. 

d.  Bratsche.  k.  1.  m.  n.  Solosänger-  und  Spieler. 

e.  Bässe. 


Der  Anonymus  hält  die  Bachmannsche  Anordnung  für  unge- 
schickt. Der  Anführer  kehre  dem  Orchester  den  Rücken  zu;, 
besser  sei  die  Rellstabsche  Stellung,  da  hier  der  Konzertmeister 
dem  Direktor  (Klavierist)  gegenüberstehe  und  von  den  Spielern 
leicht  gesehen  werden  könne. 

Die  Aufstellung  der  Instrumente  ist  auf  den  gegebenen  Or- 
chesterplänen, die  für  Saalaufführungen  gelten,  so  getroffen: 
erste  und  zweite  Violinen  stehen  entweder  hintereinander  (Leipzig, 
Berlin,  Liebh. -Konz.)  oder  nebeneinander  (Rellstab-Konz.). 
Blechbläser  werden  in  den  Hintergrund  postiert.  Die  Solisten 
und  Konzertisten  stehen  vorn  in  der  Nähe  des  Klaviers,  während 
der  Chor  entweder  hinter  den  Flügel,  zur  Seite  oder  vor  den 
Kapellmeister  gestellt  wird.  Eine  ähnliche  Aufstellung  schlägt 
Quantz  vor1.  Er  verlangt,  daß  bei  einer  zahlreichen  Musik,  die 
im  Saal  oder  an  einem  großen  Ort,  wo  kein  Theater  ist,  aufgeführt 
wird,  die  Spitze  des  Cembalos  gegen  die  Zuhörer  gerichtet  werden 
soll.  Damit  nun  kein  Musiker  dem  Zuhörer  den  Rücken  kehre, 
sollen  die  ersten  Violinen  beim  Klavier  in  einer  Reihe  nachein- 
ander   stehen,    und    zwar    der    Anführer    (Konzertmeister)    beim 


i  A.a.O.  XVII,  i,  §14. 


190  Fünftes  Kapitel. 

•Klavieristen  zur  Rechten.  Die  Baßspieler,  die  mit  dem  Klavier 
gehen,  sollen  dicht  beim  Cembalisten  spielen,  zweite  Violinen 
hinter  den  ersten,  und  hinter  diesen  die  Bratschen.  Neben  die 
Bratschen  kommen  nach  der  rechten  Seite  zu  die  Oboen,  hinter 
diesen  die  Waldhörner  und  Bässe.  Die  Flöten  will  Quantz,  wenn 
sie  konzertierende  Partien  blasen,  vor  die  erste  Violine  haben 
oder  auf  die  linke  Seite  des  Flügels.  Auch  die  Sänger  können 
■diesen  Platz  einnehmen,  da  sie,  wenn  sie  hinter  dem  Klavieristen 
stehen  und  aus  der  Partitur  singen,  nur  die  Cellisten  und  Bässe 
ßtören,  zumal  kurzsichtige  Sänger  sich  beim  Notenlesen  bücken 
müssen,  wodurch  Ton  und  Atmung  behindert  werden.  Quantz' 
Anordnung  ließe  sich  so  aufzeichnen: 

Bässe 

X       X 


(Floren 
od.  Solisten! 


Eine  Aufstellung,  die  durch  die  Gruppierung  der  Instrumente 
-nach  einer  Seite  hin  von  den  gegebenen  Plänen  abweicht.  Aber 
«auch  hier  sind  die  gegebenen  Grundsätze  der  Instrumentenanord- 
nung beibehalten. 

Für  die  Verteilung  der  Instrumente  um  den  Flügel  plaidiert 
-Junker;  er  macht  diese  Vorschläge1:  »Einer  von  den  Contro- 
bässen  stehet  gleich  beym  Cembalisten,  um  die  Zeitfolge  aufzu- 
nehmen. . . .  An  die  Bässe  gränzen  die  Violen,  auf  der  einen  Seite 
des  Flügels.  Die  Horns  werden  etwas  entfernter,  hinter  die  Bässe 
gestellt,  weil  in  einer  größern  Nahheit,  die  Summe  ihres  Tons, 
keine  gehörige  Proportion  mit  dem  ganzen  haben  würde,  und  die 
Melodie,  auf  Kosten,  der  Harmonie  leiden  müßte  [vgl.  die  Ber- 
liner Orchester].  Braucht  man  Trompeten  und  Pauken,  so  ist 
ihr  Plaz  noch  hinter  den  Horns,  weil  ihr  Ton,  noch  schärfer  ist.  . . . 
Am  Flügel  zunächst,  gegen  die  Violen  über,  stehen  die  ersten 


i  A.a.O.    S.  13f.     Kapitel  »Von  der  Stellunga. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  191 

Violinen,  will  man  die  zweyten  Violinen  den  ersten  gerade 
überstellen  (da  sie  sonst,  etwas  unter  die  Violen  zu  stehen  kämen) 
so  sind  wir  auch  der  Meinung:  und  die  Violen  kämen  alsdenn 
etwas  seitwärts  gegen  die  Bässe.  Die  übrigen  Blasinstrumente, 
als  Oboen,  Flöten,  Clarinetten,  stehen  am  entferntesten  von  den 
Bässen  unter  den  Saiteninstrumenten,  theils,  weil  ihre  Entfernung 
an  sich,  von  den  Bässen  die  größte  ist,  theils,  weil  sie  eigentlich 
blos  ausfüllen,  theils,  am  wenigsten  zur  Bestimmung  der  Mo- 
mente [Taktteile]  beytragen. «  Seine  Anordnung,  die  nicht  gerade 
klar  formuliert  ist,  könnte  so  aussehen: 

Trompeten      Pauken 

Hörner 
Basse  ■>; 

Branchen      t» 


I.Violinen 


2. Violinen 
ßass 


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Diese  Orchesterdisposition  ist  aber  nach  Junker  nicht  brauchbar, 
wenn  auf  einem  Podium  konzertiert  wird.  Diese  Bühnen  haben 
seinen  vollkommenen  Beifall,  »nicht  allein  in  Absicht  der  Wirkung 
der  musikalischen  Töne  selbst,  sondern  auch  in  Absicht  einer  größern 
Freyheit  und  Ungezwungenheit,  die  hier  denen  Kapellisten  über- 
haupt, und  insbesondere  dem  Solospieler  zu  statten  kommt,  der 
hier  gesichert  ist,  daß  kein  Nobilis,  der  auch  etwas  krazen  oder 
dudlen  kann,  hart  hinter  ihm,  in  sein  Blatt  sehe,  und  ihn  schenire«. 
Weiter  gewähren  die  Bühnen  den  Vorteil,  daß  man  das  ganze 
Orchester  leicht  übersieht,  die  Spielenden  alle  im  Auge  behält, 
und  daß  die  Töne  genau  miteinander  sich  vereinigen.  Auch  bei 
dieser  Aufstellung  gehören  die  Sänger  an  den  Flügel,  so  daß 
»wenigstens  außer  dem  Fall  von  Collisionen  jeder  Solosänger,  mit 
dem  Cembalisten,  aus  einem  Blatt  singe.  . . .  Um  den  Flügel  herum, 
können  hier  die  Spieler  freylich  nicht  vertheilt  seyn,  sie  können 
auf  solchen  Bühnen,  dem  Flügel  blos  seitwärts  neben  einander 
stehen.  Rechts  ohngefähr  die  Reihe  der  ersten  Violinen,  links 
gegen  über,  die  Reihe  der  zweyten ;  hinter  den  ersten,  die  Oboen, 
hinter  den  zweyten,  die  Flöten;  hinter  dem  Flügel,  in  der  Mitte 
die  Bässe.    Doch  könnte  man,  die  Violen  zu  den  Oboen,  und  die 


192 


Fünftes  Kapitel. 


Violoncells  zu  den  Flöten  stoßen  lassen.«  Auch  diese  Anordnung, 
die  die  gegebenen  Pläne  nur  wenig  modifiziert,  hält  sich  an  die 
entwickelten  Regeln.  Sehr  ausführlich  ist  Petri  auf  die  Orchester- 
stellung eingegangen.     Er  bringt  diesen  Orchesterplan: 


B ratschen 


Flöten 


Direktor 


Trompeten 


Zwote  Violine  r1 

% 


Erste  Violine 


Horns 


o— o 

Pauken 


Violoncelli 
Violon  Violon 


Fagotts 


Oboen 


Tisch 


und  gibt  für  seine  Brauchbarkeit  folgende  Erklärung: 

»Der  Direktor  hat  alle  die  Haupstimmen  um  sich.  Ihm  zur 
Rechten  steht  der  erste  Hauptgeiger,  der  ihn  observirt,  und 
seine  Stimme  alsdenn  wiederum  gut  anführen  kan.  Ja  der  Di- 
rektor kan  ihm  so  gar  theils  zwischen  den  Säzzen,  theils  mitten 
darinn  ein  Wort  sagen,  ohne  daß  irgend  ein  andrer  gestört  wird. 
Eben  so  hat  er  den  ersten  Geiger  bey  der  andern  Violine  bey  sich, 
und  der  erste  Violoncellist,  der  bey  ihm  sitzt,  spielt  aus  seinem 
Generalbasse  oder  Partitur  mit.  (Er  ist  auf  der  Tabelle  mit  A 
Cello  bezeichnet.)  Dieser  sitzt  schief  und  hat  seitwärts  rechter 
Hand  die  andern  Bässe  hinter  sich  im  Gesichte,  welche  er  diri- 
giren  soll1.  Die  Bratschen,  welche  theils  beim  Schweigen  der 
Bässe  einen  verjüngten  Baß  machen,  werden  alsdenn  stark  genung 
zu  hören  seyn,  theils  werden  sie  bey  voller  Harmonie  sich  nach 
der  zwoten  Violine  als  der  ersten  Mittelstimme  gut  richten  können, 
wenn  sie  die  zwote  machen  sollen.  Man  könte  zwar  die  Brat- 
schen auch  neben  die  zwote  Geige  zur  Linken  stellen,  allein  selten 
wird  man  so  viel  Breite  im  Salon  haben,  und  außerdem  entfernen 
sie  sich  auch  zu  sehr  von  den  Bässen,  mit  denen  sie  doch  so  oft 


1  D.  h.  er  ist  der  Stimmführer  der  Bässe. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  193 

gemeinschaftliche  Arbeit  haben.  Die  Blasinstrumente  sehen 
den  Takt  im  Bogenstriche  der  Geigen  vor  sich  so  wohl,  als  der 
Pauker,  so  daß  bey  gehöriger  Aufmerksamkeit  nicht  leicht  Fehler 
vorfallen  können.  Das  ■+■  aber  mit  dem  NB.  bedeutet  die  Stelle 
des  Solosängers,  welcher  wohl  thut,  wenn  er  sich  zum  Akkom- 
pagnement  so  nahe,  als  möglich  macht,  damit  er  es  nach  seinem 
Gefallen  in  dis  und  jenes  Tempo  sezzen  könne,  wozu  nur  ein  kleiner 
Wink  eines  Fingers  in  der  linken  Hand  nöthig  ist,  der  von  nie- 
manden bemerkt  wird,  als  von  denen,  die  es  bemerken  sollen. 
Endlich  so  hat  er  bey  dieser  Stellung  auch  die  erste  Geige  un- 
mittelbar neben  sich. 

»Gesetzt  aber,  ein  Solosänger  wollte  gern  allein  seyn,  so  kan 
er  sich  des  Konzertspielers  oder  Bläsers  Ort  erwählen,  und  dieser 
ist  vor  der  ersten  Geige  bey  den  Flöten  und  Flügel  über  dem  NB, 
denn  noch  weiter  gegen  die  Zuhörer  vorrücken  zu  wollen,  wäre 
wohl  zu  eitel. 

»Die  Singstimmen  bey  Chören  habe  ich  nicht  blos  darum  so 
gestellt,  weil  die  Diskantisten  und  Altisten,  die  vorne  stehen, 
die  kleinsten  sind;  sondern  damit  Alt  und  Tenor  auf  der  Seite 
stehe,  wo  die  zwote  Geige  und  die  Bratsche  stehn,  die  ihre  Ge- 
hülfen sind,  besonders  bey  Fugen1;  ferner  damit  der  Diskantist 
vor  der  ersten  Violine  stehe,  die  es  gern  mit  ihm  hält,  und  der 
hinter  ihm  stehende  Bassiste,  der  gemeiniglich  sein  Präfekt  ist, 
ihm  im  Pausiren  und  andern  Fällen  mit  Hülfe  nahe  sey.  Denn  wir 
reden  hier  nur  von  Stadtkonzerten;  für  Kapellen  wäre  dergleichen 
vorzuschreiben  lächerlich.  .  .  . 

»Noch  eins  muß  ich  anführen,  warum  ich  die  Fagottisten  und 
Hoboisten  zusammengestellt  habe.  Die  Ursach  ist  doppelt: 
Einmal  weil  nicht  jede  Stadt  sie  beide  zugleich  besezzen  kan, 
und    eben    dieselben    bald    Oboe    bald    Fagott    blasen   müssen2; 


1  Vgl.  ErnstWilh.  Wolf,  Auch  eine  Reise,  aber  nur  eine  kleine  mu- 
sikalische in  den  Monaten  Junius,  Julius  und  August  1782,  Weimar  1784,  S.  25 
von  einem  Ludwigsluster  Konzert:  »Das  Singe-Chor  machte  die  Fronte  auf  beiden 
Seiten  des  Flügels,  und  die  Instrumente  hatten  ihre  Plätze  dahinter;  Trom- 
peten und  Pauken  nahmen  die  Seitenwand  am  Ende  des  Orchesters  ein  und  die 
übrigen  blasenden  Instrumente  standen  hinter  den  Violinen.« 

2  S.  o.  dio  Tabelle,  vgl.  Quantz'  Selbstbiographie  in  Marpurgs  Bey- 
trägen  I,  S.  197  f.  Einer  der  ersten,  die  gegen  das  Spielen  mehrerer  Instrumente 
Front  machen,  ist  Dreßler:  »Wer  auf  Instrumenten,  besonders  blasenden,  was 
gethan,  soll  vorzüglich  sich  zu  einem  halten;  damit  nicht  der  Ansatz,  oder  bey 
Violin  und  Violoncell  die  Faust  verdorben  werde,  ...  man  wird  manchmal 
kaum  vor  eins  gehörig  bezahlt.«  (Fragm.  einiger  Gedanken,  S.  13.) 

Kl.  Handt».  der  Musi>gesch.  X.  13 


194  Fünftes  Kapitel. 

zweytens,  weil  oft  eine  Oboe  und  ein  Fagott  mit  einander 
obligat  gesetzt  werden,  die  daher  einander  in  der  Nähe  seyn 
müssen. « 

Die  Petrische  Aufstellung  stimmt  im  Prinzip  mit  den  Plänen 
von  Quantz,  Junker  und  Rellstab  überein.  Die  Abweichungen 
erklären  sich  aus  dem  Aufführungslokal  und  aus  dem  Charakter 
der  aufzuführenden  Musik.  Eine  Kantatenaufführung,  wie  sie 
der  Londoner  Plan  und  Petris  Vorschläge  berücksichtigen,  ist 
anders  anzuordnen  als  die  Konzert-  und  Kammermusik,  auf  die 
sich  Quantz  und  Rellstab  beziehen.  Auf  allen  Tafeln,  die  für 
Saalaufführungen  gegeben  sind,  sind  aber  die  gleichen  Regeln 
für  die  Orchesterstellung  befolgt:  die  Bässe  und  der  Konzert- 
meister stehen  dicht  beim  Cembalo,  erste  und  zweite  Geigen  sind 
entweder  einander  gegenüber  oder  hintereinander  gestellt,  während 
die  schwächeren  Holzbläser  bei  den  Violinen  oder  am  Klavier 
postiert  werden.  Die  Blechbläser  spielen  im  Hintergrund,  damit 
sie  die  übrigen  Stimmen  nicht  übertönen.  Violinen  und  Bläser 
können  aber  auch  getrennt  voneinander  stehen,  wie  im  Leipziger 
Orchester.  Die  Solisten  und  Sänger  konzertieren  in  der  Nähe 
des  Klaviers.  Der  Chor  steht  vor  dem  Kapellmeister  oder  dicht 
beim  Klavier1.  Sind  die  Sänger  hinter  den  Instrumentalisten 
aufgestellt,  so  muß  der  Kapellmeister  seinen  Flügel  so  stellen, 
daß  er  sie  stets  im  Auge  behalten  kann. 

Die  gleichen  Grundsätze  gelten  für  Aufführungen  in  der 
Kirche.  Nur  sind  hier  aus  Raumrücksichten  oft  andere  Voraus- 
setzungen für  die  Aufstellung  gegeben.  Von  der  Orchester- 
stellung in  der  Kirche  werden  die  folgenden  Tafeln  eine  Vor- 
stellung geben2. 


1  Vgl.  Pohl,  Mozart  und  Haydn  in  London  II,  S.  27  über  die  Orchester- 
stellung bei  den  Oratorien-Aufführungen  im  Covent-Garden-  und  Drury-Iane- 
Theater:  »Das  Arrangement  des  Orchesters  ist  sehr  gut.  Ganz  vorn  ist  eine 
Reihe  der  Solosänger;  hinter  diesen,  erhöht,  die  der  Chorsänger;  sodann  wieder 
unmittelbar  hinter  ihnen  und  dem  Fortepiano,  das  das  Ganze  dirigirt,  zur  Seite 
die  Violoncellen  und  Contrabässe,  und  auf  den  Seiten  folgen  dann  wieder  in  einem 
Amphitheater  die  übrigen  Instrumente,  bis  hinten  zur  Orgel,  die  nur  zur  Ver- 
stärkung der  Chöre  gebraucht  wird(l).« 

2  Die  Pläne  berücksichtigen  nicht  die  Anordnung  mehrchöriger  Werke. 
Wie  solche  Kompositionen  am  Anfang  des  18.  Jahrh.  aufgeführt  wurden,  zeigt 
eine  Stelle  in  Matthesons  Neu  Eröffn.  Orch.  (S.  158).  Es  heißt  da:  Man  »macht 
Stücke  mit  3.  ä  4.  Chören  /  und  besetzet  selbige  gemeiniglich  also:  Auff  einem 
Chor  stehen  v.  g.  Trompeter  und  Paucker  /  da  immer  zu  6.  Trompeten  ein  Paar/ 
und   zu   12.   zwey   Paar   Paucken   gehören.     Auf  dem  andern  sind  Posaunen  / 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  195 


|    Trompefen    Orgel        Tromperen 

IIIMiimilllllllllllllllllil    I         I         I 


f~TT 


tzjgpx 


^Qy 


T^T~I 


O/  Kapellmeister,  der  Orgel  den  Rücken  zukehrend; 

1.  Sänger; 

2.  Violinen  und  Gambe; 

3.  Organist. 

Nach:  Altes  und  Neues  aus  dem  Lieder-Schatze,   Welcher  vor  Gott  der  .  .  . 

Ev.  Kirchen    .  .  .   geschencket   und  in  dieses  .  .  Gesang-Buch  gebracht  von 

M.   Hermann  Joach.  Hahn.     Dresden.  1720.     Titelkupfer. 


Walther,   Musical.  Lexikon,   1732.     Titelkupfer: 


^     KapeÜmsisfer 


Cincken  und  andere  Blaß-Instrumenten.  Auff  dem  dritten  ein  Chor  Sänger 
mit  zugehörigen  Accompagnement,  .  .  .  und  auf  dem  Vierten  abermahl  ein 
Chor  Sänger  /  welches  das  Haupt-Chor  ist  und  aus  Concertisten  .  .  .  bestehet; 
allda  sind  die  vornehmsten  Symphonisten  und  wird  die  Direction  geführet. 
Nach  Gelegenheit  des  Ortes  nimmt  man  auch  wol  das  fünffte  Chor  in  Ripieno, 
(wenn  alles  gehet)  auf  der  Orgel  mit  dazu  /  allwo  so  dann  wiederum  ein  Chor 
Capellisten  mit  ihrem  Direttore  dell'Organo  magiore,  welcher  dem  Organisten  / 
der  den  Tact  auf  dem  Haupt-Chor  nicht  sehen  kan  /  dio  Mensur  gibt  /  und  eine 
solche  Bestellung  /  wenn  sie  wol  dirigirt  wird  /  ist  gewiß  eine  Sache  /  die  gar 
mercklich  zur  Andacht  contribuiret.«    Vgl.  S.  97  f.  und  155. 


13* 


196 


Fünftes  Kapitel. 


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Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  J97 


Aufführung  des  Händeischen  Messias  in  der  Domkirche 
zu  Berlin  1786. 

Nach   J.  Ad.  Hiller  a.  a.  0.   S.  28. 


a)  Director. 

b)  Flügel,  mit  einem  Violoncell  und 
Violon  zur  Seite. 

c)  Anführer  der  Violinen. 

d)  Principal  Sänger. 

e)  Violoncelle  und  Violone. 

f)  Erste  Violinen. 

g)  Zweyte  Violinen. 
h)  Bratschen 

i)  Flöten. 


k)  Oboen. 
1)  Fagotte, 
m)  Waldhörner, 
n)  Trompeten, 
o)  Posaunen, 
p)  Pauken, 
q)  Discantstimmen. 
r)  Altstimmen, 
s)  Tenorstimmen, 
t)  Baßstimmen. 


Nota,  p  p  ist  das  Orgelchor,  wo  in  der  Mitte  ein  Stück  der  Brustlehne  heraus- 
genommen ist;  diesem  wagrecht  laufende  Tribunen  auf  beyden  Seiten  der  Kirche 
sind  o,  n,  s,  t,  q,  r,  die  durch  Pfeiler  von  einander  abgesondert  werden. 


198  Fünftes  Kapitel. 

Mannheimer  Hofkapelle 
(nach  den  Angaben  von  Carl  Ludw.  Junker  entworfen)1. 


Contra  B.  -f- 
Kpm. 

In  den  Tabellen  sind  die  angeführten  Grundsätze  leicht  wieder- 
zuerkennen: Im  Vordergrund  die  Sänger,  beim  Klavier  oder  der 
Orgel  die  Bässe,  der  Konzertmeister  nahe  dem  Kapellmeister,  die 
Instrumentengruppen  vermischt,  erste  und  zweite  Geigen  ein- 
ander gegenüber  und  die  Blechbläser  weit  hinten.  Bei  vielen 
Orchesteranordnungen  fällt  die  zerstreute  Verteilung  der  Holz- 
bläser auf.  So  wurden  von  den  Berliner  Liebhabern  die  Hoboen 
in  den  Hintergrund  gestellt  und  die  Flöten  ins  Vordertreffen; 
in  der  Berliner  Messias -Aufführung  spielten  sie  rechts  und 
links  von  der  Baßlinie.  Diese  Anordnung  erklärt  sich  aus  der 
Literatur.  Die  Holzbläser  werden  in  der  Regel  konzertierend 
oder  klangverstärkend  gebraucht.  Sie  bilden  keine  geschlossene 
Instrumentengruppe   wie   die   Streicher   und   werden   deshalb   je 


1  Junker,  a.  a.  O.  S.  18:  »Zu  unsrer  Zeit,  war  in  der  Mannheimer  Hof- 
kapelle, die  Vertheilung  der  Stimmen  folgende.  Die  Orgel  hatte  die  Gestalt 
eines  halben  Monds;  Im  Durchschnitt  derselben  stand  der  Kapellmeister,  er- 
höht; ihm  zur  linken  ein  Controbaßist;  etwas  tiefer  unter  ihm,  zu  beyden  seifen, 
die  Sänger,  in  der  ganzen  Krümmung  des  halben  Monds.  Höher  ober  den  Sän- 
gern, standen  in  eben  der  Krümmung  die  ersten  Violinen,  dem  Kapellmeister 
rechts;  ihm  zur  linken  eben  so,  die  zweyten  Violinen.  Hinter  den  ersten  Vio- 
linen, waren  die  Violen,  und  Horns;  hinter  diesen  die  Trompeten  und  Pauken. 
Ober  den  zweyten  Violinen,  waren  eben  so,  die  Violoncells  und  Controbäße, 
auch  wohl  manchmal  ein  Doppelchor  von  Horns,  angebracht.  In  einer  graden 
Linie,  standen,  ober  dem  Kapellmeister,  also  gerade  zwischen  den  ersten  und 
zweyten  Violinen,  —  die  Oboen,  und  Flöten;  und  oberhalb  dieser  erst,  war  das 
Orgel  possitiv  angebracht,  dem  zur  Seiten,  die  Fagotts  spielten.« 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  199 

nach  ihrer  Beschäftigung  in  der  aufgeführten  Musik  in  den  Vorder- 
grund oder  weiter  zurück  postiert.  Als  einheitliche,  individuelle 
Klangfarbe  treten  sie  erst  bei  den  Wiener  Klassikern  auf,  wodurch 
auch  ihre  Aufstellung  im  Orchester  in  ein  festes  System  kommt. 
In  Mannheim  ist  allerdings  eine  geschlossene  Aufstellung  schon 
früher  erreicht.  Wie  die  angeführte  Tafel  zeigt,  schieben  sich 
die  Holzbläser  keilförmig  in  das  Orchester.  Junker  hat  aber  ge- 
rade an  dieser  Disposition  viel  auszusetzen:  Die  Instrumenten- 
gruppen sind  nach  seiner  Meinung  nicht  dicht  genug  beisammen, 
was  für  die  Streicher  zutrifft.  Auch  soll  der  Kapellmeister  schlecht 
zu  sehen  gewesen  sein.  Trotzdem  bedeutet  die  Mannheimer  Auf- 
stellung einen  wichtigen  Fortschritt  in  der  Entwicklung  der 
Orchesteranordnung. 

Geradezu  mustergültig  für  die  ältere  Zeit  ist  die  Orchester- 
stellung, die  Burney  gibt.  Da  sind  alle  Forderungen  der  Praxis 
glänzend  gelöst:  In  der  Mitte  dirigiert  der  Kapellmeister,  dies- 
mal vom  Orgelspieltisch  aus,  ihm  gegenüber  steht  der  Konzert- 
meister, der  das  Tempo  dem  hinter  ihm  spielenden  Streichkörper 
übermittelt,  und  rings  um  den  Dirigenten  gruppieren  sich  die 
Bässe  —  das  Fundament  von  Chor  und  Orchester. 

Auch  in  den  Opernorchestern  finden  wir  die  entwickelten 
Grundsätze  befolgt.  Auf  einem  von  Wilhelm  Kleefeld  veröffent- 
lichten Aufstellungsplan  des  Hamburger  Opernorchesters  sieht 
man  beim  Flügel  die  Bässe  und  Generalbaßinstrumente  und  zur 
Linken  die  Streicher,  während  Pauken  und  Trompeten  mög- 
lichst in  den  Hintergrund  gestellt  sind1.  Eine  andere  Orchester- 
stellung, die  ein  zeitgenössischer  Kupferstich  von  der  Aufführung 
der  Fuxschen  Oper  »Costanza  e  Fortezza«  zeigt,  scheint  nicht  all- 
zu verläßlich,  da  zusammengehörige  Instrumente  nicht  immer  bei- 
sammenstehen, aber  auch  hier  erkennt  man  im  Vordergrund 
des  in  drei  ansteigenden  Beihen  aufgestellten  Orchesters  den 
Baßspieler  beim  Klavieristen2.  Auch  die  Orchesterbilder  aus 
Amsterdam,  die  Scheurleer  veröffentlicht  hat3,  bringen  die 
gleiche  Anordnung  von  Klavier-  und  Baßinstrumenten.  Am  be- 
rühmtesten war  im  18.  Jahrhundert  die  Hassesche  Orchester- 
stellung in  Dresden,  von  der  Bousseau  nach  den  Angaben  des 


1  Wilh.  Kleefeld,    Das  Orchester  der  Hamburger  Oper.      Smlbd.  der 
I.  M.-G.   I,  S.  234. 

2  Denkmäler  der  Tonk.  in  Österreich,  XVII.  Jahrg. 

3  D.  F.  Scheurleer,   Het   Muziekleven   in    Nederland.      'S   Gravenhage 
1909,    II,  S.  198,  199,   232,  234. 


200 


Fünftes  Kapitel. 


Baron  Grimm,  der  im  Jahre  1753/54  in  Dresden  weilte,  folgenden 
Plan  in  seinem  Musiklexikon  veröffentlicht  hat: 


m 


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bessiii 


EGO®  EU]  CS  EU 


1.  Clavecin  du  Maitre  de  Chapelle.  1. 

2.  Clavecin  d'accompagnement.  8. 

3.  Violoncelles.  a. 

4.  Contre-basses.  b. 

5.  Premiers  Violons.  c. 

6.  Seconds  Violons,  ayant  le  dos  tourne    d. 
vers  le  Theätre. 


Haubois,  de  meme. 

Flütes,  de  meme. 

Tailles,  de  meme. 

Bassons. 

Cors  de  Chasse. 

e.  Une  Tribüne  de  Chaque  cöt6  pour 

les  Timballes  et  Trompettes. 


Diese  Aufstellung1  erinnert  an  die  Leipziger  Konzertgesellschaft, 
zum  Teil  auch  an  das  Berliner  Liebhaberkonzert,  sie  ist  aber 
durch  das  zweite  Klavier  und  durch  die  Stellung  der  Bratschen 
zwischen  den  Geigen  wesentlich  unterschieden.  An  das  Dres- 
dener Orchester  denkt  auch  Quantz  bei  seiner  Theorie  der  Opern- 
orchesterstellung,  die  sich  in  einer  Tafel  so  fixieren  läßt: 

Bühne 


"Tl 

Qj 
CO 
O 

T 

"T 

ro 

Branchen 

2.Violinen 
I.Violinen 
4-  Viol:Direkror 
Cello      . 

Vcl. 
Violone 

Cello 
Cello 

J 

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CD 
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\ 

Theo 

rbe 

Hörner  Oboen 

rra1 

4- 

Kp.M 

/iolen 

Pc 

rrer 

*e 

1  Rousseau,  Dictionnaire,  Art.  »Orchestre«:  Le  premierOrchestre  de  TEa- 
rope  pour  le  nombre  et  l'intelligence  des  Symphonistes  est  celui  de  Naples:  mais 
celui  qui  est  le  mieux  distribue  et  forme  l'ensemble  le  plus  parfait  est  l'Orchestre 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  201 

Er  bringt  für  seine  Disposition  folgende  Erklärung1:  Das  erst^ 
Klavier  soll  mit  der  breiten  Seite  gegen  das  Parterre  stehen, 
damit  der  Kapellmeister  die  Sänger  im  Auge  behalte.  Zur  Rechten 
muß  der  Anführer,  d.  h.  der  Konzertmeister  sitzen  und  zwar  ein 
wenig  vorwärts  und  erhöht2.  Violinen  und  Bratschen  können 
von  ihm  an  im  länglichen  Kreis  sitzen,  so  daß  die  Bratschen  mit 
dem  Rücken  gegen  das  Theater  kommen;  bei  größerem  Orchester- 
raum können  auch  die  zweiten  Violinen  in  der  Mitte  zwischen 
ersten  Violinen  und  Bratschen  sitzen;  also  umgekehrt  wie  in  Dres- 
den, wo  die  zweiten  Geigen  mit  dem  Rücken  gegen  das  Theater 
gestellt  sind.  Auf  der  Seite,  wo  die  Violinisten  aufhören,  kann 
nach  Quantz  noch  ein  Violoncell  und  ein  großer  Violon  Platz 
finden.  Auf  der  linken  Seite  des  ersten  Klaviers  hat  das  zweite 
zu  stehen,  die  Länge  am  Theater  hin  und  mit  der  Spitze  gegen 
das  erste  zugekehrt:  doch  so,  daß  die  Bassons  noch  dahinter 
Platz  finden  können,  wenn  man  sie  nicht  auf  die  rechte  Seite  des 
zweiten  Klaviers  bringen  will.  Bei  diesem  zweiten  Cembalo  können 
noch  ein  Paar  Violoncelli  Platz  finden.  Oboen  und  Waldhörner 
will  Quantz  dahin  stellen,  wo  in  Dresden  die  Bassons  standen; 
die  Flöten  sollen  nahe  beim  ersten  Klavier  in  die  Quere  postiert 
werden,  so  daß  sie  das  Gesicht  gegen  das  Klavier  und  das  untere 
Ende  der  Flöte  gegen  das  Parterre  wenden.  An  Orten,  wo  zwischen 
Orchester  und  Zuhörern  noch  ein  leerer  Platz  vorhanden  ist, 
werden  auch  die  Flöten  mit  dem  Rücken  gegen  das  Parterre 
und  die  Oboen  in  die  Quere  zwischen  Flöte  und  zweites  Klavier 
gesetzt.  —  Die  Quantzschen  Ausführungen  gehen  in  der  Haupt- 
sache auf  die  Hassesche  Orchesterstellung  zurück,  doch  bringen  sie 


de  l'Ope>a  du  Roi  de  Pologne  ä  Dresde,  dinge"  par  Pillustre  Hasse.  Ebenda: 
on  a  soin. .  que. . .  chaque  Violon  soit  vü  de  son  premier  et  le  voye:  c'est  pour- 
quoi  cet  Instrument  ötant  et  devant  etre  le  plus  nombreux,  doit  etre  distribue 
sur  deux  lignes  qui  se  regardent;  savoir,  les  premiers,  assis  en  face  du  Thöätre, 
le  dos  tourne  vers  les  Spectateurs,  et  les  seconds  vis-ä-vis  d'eux  le  dos  tourne" 
vers  le  Theätre.  Diese  Hassesche  Stellung  hat  noch  K  o  c  h  in  seinem  Lexikon 
(1802)  beschrieben  (Art.  »Stellung«) :  In  der  Mitte  steht  der  Flügel  mit  den  Haupt- 
bässen, »auf  der  rechten  Seite  desselben  befinden  sich  die  beyden  Violinen  und 
die  Viole;  .  .  .  man  ordnet  ihre  Sitze  [auch]  so,  daß  die  ersten  Violinisten  vom 
Flügel  an  längs  dem  Geländer  des  Orchesters  mit  dem  Gesichte  nach  dem  Theater 
zu,  und  die  zweyten  Violinisten  gerade  gegen  über  mit  dem  Rücken  an  dem 
Theater  sitzen;  in  diesem  Falle  werden  beyde  Reihen  zuletzt  vermittelst  der 
Ausüber  der  Viole  verbunden«. 

i  A.a.O.  XVII,  I,   §13. 

2  S.  o.  S.  174  (Biedermann). 


202  Fünftes  Kapitel. 

zum  Teil  auch  Verbesserungen,  denn  im  Dresdener  Opernorchester 
stehen  die  Fagotte  zu  dicht  am  Parterre  und  die  Oboen  zu  weit 
entfernt.  Wichtig  ist  bei  diesen  Anordnungen  die  Trennung 
von  Bläsern  und  Streichern  rechts  und  links  vom  Kapellmeister, 
ein  Auf  Stellungsprinzip,  das  sich  bis  in  unsere  Zeit  gehalten  hat. 
Im  Berliner  Opernorchester  unter  Graun  waren  die  Instru- 
mente in  einem  Halbkreis  aufgestellt,  dessen  Mittelpunkt  da& 
erste  Klavier  mit  den  Generalbaßinstrumenten  (Theorbe,  Harfe,. 
Celli)  bildete1.  Als  Joh.  Fr.  Reichardt  die  Direktion  über- 
nahm, begann  er  seine  Tätigkeit  mit  einer  Reform  der  Orchester- 
stellung.     Er  stellte  die  Musiker  nach  folgendem   Plan  auf2: 

Berliner  Opernorchester. 

TheaFerwand 


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co       a. 


o         n          3         -O  £> 

S>  JD 


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i    h    h     g       e        e       e  f         f         k 

a.  Kapellmeister.  g.  Flöten, 
b.f  Konzertmeister.  h.  Oboen. 

b.  Erste  Violinen.  i.  Fagotte. 

c.  Zweite  Violinen.  k.  Klarinetten. 

d.  Bratschen.  1.  m.  n.  Posaunen,  Trompeten  und 

e.  Bässe.  Pauken. 

f.  Hörner.  o.  Harfe. 

Hier  fällt  zuerst  das  Fehlen  des  Klaviers  auf.  Reichardt  hatte  es- 
aus  dem  Orchester  beseitigt.  Er  begleitete  nicht  mehr  am  Klavier, 
sondern  dirigierte  mit  Geigenbogen  oder  Taktstock,  was  ihm  von 
unserm  »Reisenden«  recht  übel  genommen  wurde.  Von  dieser 
Reform  wird  später  die  Rede  sein.  Das  Orchester  ist  so  gestellt: 
Bässe    in    der    Nähe    des    Kapellmeisters3,     sämtliche    Streicher 

1  L.  Schneider,  Gesch.  der  Oper  und  des  Kgl.  Opernhauses  in  Berlin,  S.  87. 

2  Nach  »Bemerkungen  eines  Reisenden«,  Halle  1788.    S.  57. 

3  Unser  Plan  scheint  einige  Bässe  hinter  dem  Kapellmeister  übersehen  tu 
haben.  J.  Carl  Fr.  R  e  1 1  s  t  a  b  sagt  in  seiner  Broschüre  »Über  die  Bemer- 
kungen eines  Reisenden«  (Berlin  1789,  S.  49),  daß  zwischen  ersten  und  zweiten 
Geigen  die  Bässe  placiert  waren,  wodurch  die  gleiche  Bogenführung  der  Violi- 
nisten behindert  würde. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  203 

einander  gegenüber,  Bläser  rings  um  den  Kern  des  Orchesters. 
Diese  Reichardtsche  Instrumentengruppierung  steht  im  Gegensatz 
zur  Dresdener  Kapelle  und  repräsentiert  ein  Prinzip  der  Orchester- 
anordnung, das  ebenso  wie  das  Dresdener  grundlegend  wurde: 
das  Prinzip  der  Streicherverteilung  rechts  und  links  vom  Kapell- 
meister und  der  Instrumentenzusammenfassung  nach  chorischen 
Instrumentengruppen1. 

Aus  Theorie  und  Praxis  ergeben  sich  somit  für  die  Orchester- 
stellung im  18.  Jahrhundert   folgende  Grundsätze: 

1.  Im  Kernpunkt  des  Orchesters  steht  der  Dirigent  oder  das 
Klavier  des  Kapellmeisters,  um  das  sich  alle  Instrumente  grup- 
pieren. 

2.  Die  ersten  Bässe  und  die  Generalbaßinstrumente  spielen 
dicht  beim  Klavier  oder  Kapellmeister. 

3.  Der  Konzertmeister  hat  seinen  Platz  in  der  Nähe  des  Ka- 
pellmeisters; er  muß  den  Streichern  das  Tempo,  wie  es  der  Kapell- 
meister gibt,  übermitteln. 

4.  Die  Klangmassen  der  Streicher  und  Bläser  sind  entweder 
voneinander  getrennt  auf  der  rechten  und  linken  Seite  vom  Flügel 
aufzustellen  oder  vermischt,  d.  h.  auf  beiden  Seiten  Streicher  und 
Blasinstrumente. 

5.  Die  Holzbläser  spielen  je  nach  ihrer  Beschäftigung  in  der 
Nähe  des  Dirigenten  oder  im  Hintergrund.  Doch  können  sie  auch 
in  geschlossenen  Gruppen  aufgestellt  werden  (Mannheim,  Ber- 
liner Oper  unter  Reichardt). 

6.  Die  Blechinstrumente  und  die  Pauken  sind  möglichst  weit 
vom  Kern  des  Orchesters  zu  entfernen,  sie  dürfen  niemals  die 
schwächeren  Instrumente  übertönen. 

7.  Die  Sänger  stehen  in  Konzert-  und  Kirchenmusiken  im 
Vordergrund,  werden  sie  weiter  hinten  postiert,  so  muß  sie  der 
Kapellmeister  leicht  übersehen  können. 

8.  Alle  Solisten  müssen  möglichst  im  Vordergrund  beim 
Klavier  konzertieren. 

Gestimmt  wurde  nach  dem  Ton  des  Flügels2.     Der  Kapell- 

1  Daß  die  Klarinette  nicht  zu  den  Flöten,  Oboen  und  Fagotten  gestellt  ist, 
sondern  neben  die  Hörner,  ändert  nichts  an  dem  modernen  Prinzip  der  Reichardt- 
schen  Aufstellung.  Die  Klarinette  bildet  in  dieser  Zeit  den  Ersatz  für  die  hohen, 
weichen  Trompetenstimmen.  Ihr  Klang  mußte  das  alte  Klarinblasen  ersetzen; 
so  war  denn  auch  der  natürliche  Platz  der  Klarinettenbläser  neben  den  Blech- 
instrumenten. 

2  Quantz,  a.  a.  O.  XVII,  I,  8;  Junker,  a.  a.  0.  S.  6;  P  e  t  ri,  a.  a.  O. 
S.  177;  Wolfs  Lexikon,  Art.  »Stimmung«  u.a.m. 


204  Fünftes  Kapitel. 

meister  schlug  den  D-Akkord  oder  Quinte  und  Oktave1  gleich- 
zeitig mit  mäßigem  Druck  an,  während  die  Musiker  einzeln  ein- 
stimmten2. Viel  Lärm  durfte  dabei  nicht  gemacht  werden, 
vorheriges  Präludieren  und  Phantasieren,  das  ohnehin  die  Stim- 
mung verdirbt,  mußte  vermieden  werden3.  Bei  Sinfonie- 
konzerten pflegten  die  Musiker  stehend  zu  spielen,  doch  gab  es 
auch  hier  Ausnahmen.  Im  Berliner  Liebhaberkonzert  saßen  die 
im  Hintergrund  postierten  Musiker  (Bratsche,  Oboe,  Hörn),  die 
übrigen  standen4,  und  Dittersdorf  erzählt,  daß  er  in  Großwardein 
die  »Wiener  Methode«,  sitzend  zu  spielen,  eingeführt  habe.  Er 
ließ  lange  Bänke  und  Pulte  machen  und  rangierte  das  Orchester 
so,  daß  jeder  Musiker  gegen  die  Zuhörer  Front  machte5. 

Besetzung  und  Aufstellung  eines  Orchesters  war  lediglich 
Aufgabe  des  Dirigenten.  Hier  zeigte  sich  sein  Geschick,  die  ge- 
gebenen räumlichen  und  musikalischen  Verhältnisse  wirkungs- 
voll auszunutzen.  Aber  die  Aufführungen  hingen  in  der  Zeit 
der  willkürlichen  Veränderungen,  der  Ausschmückung  simpler 
Melodienschritte  nicht  allein  vom  Talent  des  Kapellmeisters  ab, 
sondern  zum  großen  Teil  auch  von  der  Schulung  der  Musiker, 
die,  sobald  sie  selbständige  solistische  Partien  ausführten  —  aber 
auch  nur  dann6  —  ihre  Stimme  ebenso  ausschmücken  durften, 

1  Junker,  a.a.O.;  Koch,  Lex.  Art.  »Stimmung«,  vgl.  auch  Sulzer, 
Allg.  Theorie,  Art.  »Stimmung«:  Die  Cellisten  stimmen  nach  dem  C  der  Orgel 
oder  des  Clavicymbals  die  C-Saite,  danach  in  reinen  Quinten  weiter,  die 
Bratschisten  machen  es  ebenso.  Violinisten  stimmen  g  und  d1  nach  dem 
Klavier  oder  der  Orgel,  und  dann  weiter  in  reinen  Quinten.  Quantz  (a.  a.  O. 
XVII,  VII,    §  4)  rät,  die  Quinten  unter  sich  schwebend  zu  stimmen. 

2  Junker,  a.  a.  0.  S.  8.  Mattheson  nennt  den  Konzertmeister  Farinelli  in 
Hannover  als  Vorbild  im  Einstimmen.  Er  stimmte  erst  die  eigene  Violine,  durch 
Anstreichen  der  Saiten,  nicht  durch  »Fingerknippen«,  wie  es  häufig  geschah, 
danach  stimmte  der  erste  Violinist,  der  dann  im  Orchester  die  Runde  machte 
und  mit  jedem  einzeln  einstimmte.  (Vollk.  Capellm.  III,  26,  §22).  Gegen  das 
Einstimmen  der  Streichinstrumente  durch  »Kneipen«  der  Saiten  schrieb  noch 
Pe  tri  (a.  a.  0.  S.  177). 

3  Quantz,  a.  a.  0.  XVII,  I,  §  8;  Junker,  a.  a.  O.  S.  9;  Petri,  a.  a.  0. 
S.  178;    Sulzer,   a.  a.  O. 

4  Bemerkungen  eines  Reisenden,  S.  15. 
8  Selbstbiographie,   Kap.  IG. 

6  Qu  an  tz,  a.  a.  O.  XVII,  VII,  §  15:  »Ein  jeder  Concertist  muß,  wenn  er  eine 
Ripienstimme  spielet,  seiner  Geschicklichkeit,  die  er  im  Concertiren  und  im 
Solospielen  besitzet,  auf  gewisse  Art  entsagen,  und  sich  aus  der  Freyheit,  die 
ihm,  wenn  er  allein  hervorraget,  erlaubet  ist,  zu  der  Zeit,  wenn  er  nur  accom- 
pagniret,  so  zu  sagen  in  eine  Sklaverey  versetzen.  Er  darf  also  nichts  hinzu- 
fügen, was  irgend  nur  die  Melodie  verdunkeln  könnte:  besonders  wenn  eben 
dieselbe  Stimme  mehr  als  einmal  besetzet  ist.« 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  205 

wie  die  Sänger.  Die  Orchestermusiker  mußten  deshalb  eine  ein- 
heitliche Manier  im  Abspielen  der  Noten  befolgen,  sie  mußten 
die  gleiche  musikalische  Schule  zeigen.  Es  kam  somit  auf  die 
musikalische  Tüchtigkeit  und  den  Geschmack  des  Dirigenten 
viel  an.  Der  Anführer  mußte  ein  geschickter  und  erfahrener 
Musiker  sein,  Kenntnis  der  Theorie  und  Komposition  besitzen, 
Praxis  im  Orchesterspiel  haben  und  sich,  wie  Quantz  sagt, 
ein  reiches  Wissen  durch  Anhören  guter  Musiker  oder  Kapellen 
angeeignet  haben1.  Er  fügt  hinzu:  »allein,  so  werden,  leider,  öfters 
nur  solche  zu  Anführern  erwählet,  die  .  .  .  durch  das  Vorrecht 
der  Jahre  in  einem  Orchester  hinauf  rücken«.  Eine  Kritik,  der  man 
noch  in  Wagners  Schriften  begegnet.  Quantz  beklagt  sich  auch 
über  die  durch  Zufall  und  Unverstand  gewählten  Dirigenten; 
es  befänden  sich  in  großen  Orchestern  unter  den  Spielern  oft 
bessere  Musiker  als  der  Anführer2.  Ein  tüchtiger  Direktor  solle 
aber  stets  das  Vorbild  aller  Musiker  sein.  Seine  Kenntnisse 
und  die  Virtuosität  auf  seinem  Instrument  mußten  die  Leistungen 
der  Orchestermitglieder  übertreffen,  denn  der  Konzertmeister  war 
nicht  nur  technischer  Leiter  einer  Aufführung,  sondern  auch  der 
Bildner  des  Orchestervortrags.  Er  hatte  einen  gleichen  Vortrag 
im  Orchester  einzuführen  und  zu  erhalten.  Die  Schönheit  des 
Orchesterspiels  bestand  darin,  daß  »die  Mitglieder  desselben  alle 
einerley  Art  zu  spielen«  hatten,  einerlei  Bogenführung,  einerlei 
Schule  im  Anbringen  von  Verzierungen3.  Alle  Manieren  mußten 
gleichmäßig  ausgeführt  werden,  damit  nicht,  wie  Quantz  sagt, 
»einer  z.  E.  einen  Triller  hinsetze,  wo  andere  simpel  spielen;  oder 
Noten  schleife,  welche  von  anderen  gestoßen  werden;  oder  nach 
einem  Vorschlage  einen  Mordanten  mache,  den  die  andern  weg- 
lassen«4. In  der  Einheitlichkeit  des  Vortrags  lag  die  Kraft  des 
Orchesters.  So  beruhte  der  Ruhm  der  Dresdener  Kapelle  unter 
Hasses  Direktion  zum  guten  Teil  auf  der  Erziehung  des  Orchesters 
durch  die  Konzertmeister  Volumier  und  Pisendel.  Quantz  rühmt 
in  seiner  Autobiographie  die  von  jenem  eingeführte  »französische 
egale  Art  des  Vortrags«,  die  Pisendel  durch  Einführung  des  »ver- 
mischten Geschmacks«  zu  solcher  Feinheit  der  Ausführung  brachte, 
daß  Quantz  auf  allen  seinen  Reisen  kein  besseres  Orchester  ge- 


1  Quantz,   a.  a.  0.  XVII,  I,  §2  und  4. 

2  Ebenda. 

3  Quantz,  a.a.O.  XVII,  VII,   §16. 

4  Ebenda  XVII,  I,  §  9. 


206  Fünftes  Kapitel. 

hört  haben  will1.  Pisendel  wird  einer  der  »genauesten  Anführer« 
genannt,  der  den  französischen  und  italienischen  Stil  vollkommen 
beherrschte.  Der  berühmte  Senesino  soll  ihm  einmal  bei  der 
Probe  einer  Arie,  die  ihm  Volumier  niemals  recht  begleitete,  die 
Hand  gereicht  und  gesagt  haben:  »Dies  ist  der  Mann,  der  zu 
akkompagnieren  versteht2.«  Pisendel  nahm  es  überhaupt  mit 
der  Direktion  sehr  genau,  jede  Wirkung  probte  er  aus  »bis  auf 
■die  Schicklichkeit  oder  Unschicklichkeit  oder  Nothwendigkeit 
einer  kurzen  Pause«3,  er  gab  sich  »die  fast  unglaubliche  Mühe, 
zu  jeder  Oper,  zu  jedem  Kirchen-Stücke,  so  unter  ihm  aufgeführt 
wurde,  über  alle  Stimmen  das  Forte  und  Piano,  seine  ver- 
schiedenen Grade,  und  selbst  jeden  einzelnen  Bogenstrich 
vorzuschreiben«,  wie  Reichardt  erzählt.  Er  soll  auch  zu  Hasses 
großer  Bewunderung  niemals  das  Tempo  einer  einzigen  Arie  ver- 
fehlt haben4.  Das  Orchester  spielte  vollkommen  nach  seiner 
Methode.  Seine  Art,  das  Adagio  vorzutragen,  Verzierungen  zu 
improvisieren,  zu  nuancieren  und  den  Bogen  zu  führen,  wurde 
von  allen  Orchestermusikern  befolgt,  so  daß  ein  Zusammenspiel 
erreicht  wurde,  das  nach  Rousseaus  Worten  von  keiner  anderen 
Kapelle  wieder  erreicht  wurde5.  Auch  Gerber  sagt:  »Der  große 
Hasse  war  Komponist,  und  der  eben  so  große  Mann  als  Conzert- 
meister,  Pisendel  sorgte  für  die  Ausführung.  Nach  jeder  ver- 
fertigten Oper  besprach  sich  Hasse  mit  dem  Conzertmeister 
über  die  Bezeichnung  der  Bogenstriche,  und  anderer  zum  guten 
Vortrage  nöthiger  Nebendinge6.  Und  so,  wie  die  ausgeschriebenen 
Stimmen  aus  der  Hand  des  Copisten  kamen,  erhielt  sie  Pisendel, 
der  sie  alle  mit  Aufmerksamkeit  durchsähe  und  jeden  kleinen, 
die  Ausführung  betreffenden  Umstand,  sorgfältig  anzeigte.  Daher 
entstand  ...  die  mit  Recht  so  vielfältig  bewunderte  Akkuratesse 
•des  damaligen  Dressdner  Orchesters,  wo  es  schien,  als  wenn  die 

1  Autobiographie,  Marpurgs  Beytr.  I,  S.  206. 

2  Hillers  Wöchentl.  Nachrichten  I,  S.  287f. 

3  Ebenda  S.  288. 

*  Reichardt,  Briefe  eines  aufmerksamen  Reisenden  I,  S.  10;  Über  die 
Pflichten  des  Ripien-Violinisten,   1776,   S.  80. 

6  S.  o.  S.  200,  Anm. 

6  Daraus  erklärt  sich  auch,  daß  gerade  Hasse  in  der  Bezeichnung  seiner 
Werke  überaus  genau  ist.  Tempovorschriften  wie:  Allegro  non  troppo  perö, 
ma  con  molto  spirito  (La  conversione  di  S.  Agostino.  Denkm.  deutscher  Ton- 
kunst, Bd.  20,  S.  3),  Amoroso,  ma  non  troppo  lento  u.  ähnl.,  die  für  diese  Zeit 
selten  sind,  findet  man  in  Hasseschen  Werken  sehr  oft. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im   18.  Jahrhundert.  207 

Aerme  der  Violinisten  durch  einen  verborgenen  Mechanismus  alle 
zu  einer  gleichförmigen  Bewegung  gezwungen  würden1.« 

Eine  ähnlich  exakte,  einheitliche  Schule  zeigte  das  Berliner 
Opernorchester  unter  Carl  Heinrich  Graun,  den  Schubart  einen 
»Kapellmeister  im  buchstäblichen  Verstände«  nennt2.  Schon  in 
Ruppin  und  Rheinsberg  stand  die  Kapelle  »in  einer  Verfassung, 
die  jeden  Componisten  und  Conzertisten  reizen,  und  ihm  voll- 
kommene Gnüge  leisten«  konnte.  Nach  Friedrichs  des  Großen 
Regierungsantritt  wurde  dann  das  Orchester  eins  »der  ansehn- 
lichsten in  Europa«3.  Die  Musikererziehung  lag  in  den  Händen 
des  Konzertmeisters  Joh.  Gottlieb  Graun,  der  Schüler  von  Pi- 
sendel  und  Tartini  gewesen  war.  Er  eignete  sich  aber  nicht  Tar- 
tinis  Bogenführung  an,  sondern  ging  auf  Pisendels  Schule  zurück, 
die  er  durch  eigene  Vortragsnuancen  weiterzubilden  suchte4. 
Besonders  wurde  sein  Tempo  rubato  gerühmt5,  eine  Vortrags- 
manier, die  »im  Vorausnehmen  der  folgenden«  oder  »im  Aufhalten 
der  vorhergehenden  Noten«  bestand,  d.  h.  wenn  man 
nach    dieser    Form    h    I       h  ausführte6.      Grauns    Schule    wurde 

4     4  4  4 

unter   seinem  Nachfolger  Franz  Benda  ebenso  berühmt  wie  die 
Dresdener.    Benda  bildete  seinen  Adagiovortrag  nach  Graunscher 


1  Gerber,  Alt.  Lexikon,  Art.  »Pisendel«. 

2  Ges.  Schriften  V,  S.  88. 

3  Quantz,  Autobiographie,  a.a.O.  S.  249. 

4  Hillers  Wöchentl.  Nachrichten  I,  S.  75. 

5  Reichardt,  Briefe  eines  aufm.  Reisenden  I,  S.  162:  Das  Eigene  des 
Bendaschen  Vortrags ,  der  dem  Graunschen  Stil  nachgebildet  war,  besteht  in 
einigen  »äußerst  bedeutenden  Nachläßigkeiten  in  dem  Zeitmasse  der  Noten,  die 
dem  Gesänge  das  Gezwungene  benehmen,  und  den  Gedanken  mehr  dem  Spieler 
eigen  machen«.     Vgl.  auch  ebenda  S.  42. 

6  Marpurg,  Anl.  zur  Mus.,  S.  148  f.  Vom  Rubato  wird  in  den  meisten 
Musikbüchern  gesprochen.  Quantz  hat  die  Manier  zum  erstenmal  von  der 
Sopranistin  Lotti  gehört,  wie  er  in  seiner  Lebensbeschreibung  erzählt  (a.  a.  O. 
S.  214).  Tosi-Agricola  (Anleitung  zur  Singkunst  1757,  S.  196)  nennt  das 
Rubato  ein  Verziehen  der  Geltung  der  Noten.  Ebenso  erklärt  es  der  Bieder- 
mann in  seinen  »Wahrheiten«  (S.  117,  s.  o.).  Siehe  auch  H  iller,  Anweisung 
zum  musikal.  zierlich.  Gesänge  (1780,  S.  88f.),  Wolfs  Lexikon,  Art.  »Tempo 

rubato«,  wo  es  in  dieser  Form  «     J,  d.  h.  als  Aneinanderbinden  zweier  oder  meh* 

rerer  betonter  Noten  erklärt  wird,  die  keinen  neuen  Anschlag  bekommen.  T  ü  rk 
(Klavierschule  S.  374f.)  gibt  als  Definition  das  Tonverziehen  u  n  d  ein  Akzen- 
tuieren gegen  den  Takt.  Kalkbrenner,  Theorie  der  Tonkunst  (1789,  S.  12), 
sagt,  daß  man  unter  Rubato  eine  Veränderung  der  Bewegung  versteht,  und  »die 
Noten  allmählich  etwas  länger«  gehalten  werden  können.  Der  heutige  Gebrauch 
des  Wortes  scheint  erst  in  den  achtziger  Jahren  aufgekommen  zu  sein. 


208  Fünftes  Kapitel. 

Art.  Es  war  nach  Reichardts  Worten  ein  »äusserst  rührender« 
Vortrag,  der  durch  die  ganze  Bogenführung,  den  Nachdruck 
auf  einzelnen  Noten,  durch  die  Dynamik  und  die  nach  Sängerart 
angebrachten  Manieren  erzielt  wurde1.  Schubart  schreibt  in 
seiner  phantastisch  überschwenglichen  Weise:  »Der  Ton,  den  er 
aus  seiner  Geige  zog,  war  der  Nachhall  einer  Silberglocke«,  er  spielte 
nicht  so  geflügelt  wie  andere  Zeitgenossen,  aber  »desto  saftiger, 
tiefer,  einschneidender.  Im  Adagio  hat  er  beinahe  das  Maximum 
erreicht:  er  schöpfte  aus  dem  Herzen  —  und  drang  in  die  Herzen2.« 
Burney  charakterisiert  ihn  mit  den  Worten:  »Sein  Styl  ist  weder 
der  Styl  des  Tardini,  Somis,  Veracini  noch  irgend  eines  Hauptes 
einer  musikalischen  Schule  oder  Sekte,  davon  ich  die  geringste 
Kenntniß  hätte:  sondern  es  ist  sein  eigner,  und  nach  dem  Muster 
gebildet,  welches  alle  Instrumentalisten  studiren  sollten,  gutes 
Singen  nemlich3.«  Dieser  Gesangsvortrag  wird  von  allen  Kri- 
tikern und  Reisenden  eine  Eigenheit  der  Fridericianischen  Musiker 
genannt.  »Nicht,  als  wenn  sonst  nirgends  Gesang  zu  hören  sey,  nein ! 
sondern,  weil  das  Wesen  des  Gesangs  .  .  .  dort  am  wenigsten  durch 
bunte  Zierrathen  verdunkelt  wird«,  schreibt  der  Frankfurter  Bieder- 
mann4. Wie  lange  sich  diese  Manier  im  Orchester  gehalten  hat, 
zeigt  ein  Bericht  in  Cramers  »Magazin  der  Musik«  aus  dem  Jahre 
1784:  »Was  auf  Einspielen  und  eine  Schule  ankommt«,  heißt  es 
da,  »sieht  man  am  [Berliner]  Orchester,  welches  noch  immer 
ein  Ganzes  bleibt,  wie  man  wenige  hören  wird ;  obgleich  viele  seiner 
berühmtesten  Mitglieder  fehlen,  und  mancher  Stümper  von  Alter 
und  Profession  darinnen  ist.  Die  Art,  die  Akzente  zu  markiren,  die 
Vorschläge  anzubinden  und  das  Abziehen  der  Hauptnote,  die  Ab- 
setzung der  Perioden,  der  kurze  elegante  Vortragbey  Sechzehntheilen, 
bey  zuweilen  kurzen  Stellen  von  Ouvertürnoten,  bey  punktierten,  die 
Pracht,  dieß  schöne  Ensemble  hat  kein  Orchester« ;  —  nach  des 
Referenten  Meinung:  ein  Rest  der  alten  Graun-Bendaschen  Schule5. 


1  Briefe  eines  aufm.  Reisenden  I,  S.  162  f. 

2  A.  a.  O.  V,  S.  95f. 

3  Tagebuch  seiner  Mus.  Reisen  1772/73  III,  S.  101. 

4  A.a.O.  S.  71. 

5  A.  a.O.  II,  1,S.  81  f.  Vgl.  Ernst  Wilhelm  Wolf,  Auch  eine  Reise,  1784,  S.12 
und  S.  16:  »So  sehr  sich  die  jezt  [in  Berlin]  herrschende  Spielart  von  der  Benda- 
ischen,  auf  den  Streichinstrumenten,  unterscheidet;  so  hörte  man  doch  im  ganzen 
Orchester  noch  die  großen,  edlen  Züge  dieses  Mannes.«  Eine  sehr  feine  An- 
merkung über  den  Berliner,  Dresdener  und  Wiener  Vortrag  hat  Fr.  Nicolai 
in  seiner  »  Beschreibung  einer  Reise  durch  Deutschland  und  die  Schweiz«  ge- 
geben, die  hier  aus  Raumrücksichten  fortfallen  muß.    (Bd.  IV,  S.  542f.) 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  ^  8.  Jahrhundert.  209 

Auch  das  berühmteste  Orchester  des  18.  Jahrhunderts,  das  Mann- 
heimer, verdankte  sein  Ensemblespiel  und  seine  Tüchtigkeit  einer 
einheitlichen,  künstlerischen  Erziehung  durch  die  Konzertmeister. 
Joh.  Stamitz  und  Christ.  Cannabich  waren  die  Bildner  des  Or- 
chesters, in  dem  sich  mehr  Solisten  und  Komponisten  befanden 
als  »in  irgend  einem  andern  Orchester  in  Europa«1.  Der  Erfolg 
dieser  Schulung  war  ein  Spiel,  das  alle  Musiker  und  Zeitgenossen 
in  eine  wahre  kritiklose  Begeisterung  brachte2.  Wie  die  Berliner 
Musiker  den  Gesangsvortrag  zur  Hauptstärke  ihres  Spiels  gemacht 
hatten,  so  hatten  auch  die  Mannheimer  ihre  Spezialität:  den 
Crescendo-  und  Decrescendovortrag.  Junker  sagt,  wo  Canna- 
bich mit  seinen  Musikern  spielt,  »da  muß  die  Empfindung  der 
Spielenden  bis  auf  einen  Punkt  gestimmt  seyn;  da  wird  jedes 
Colorit,  einstimmig,  im  Fortgang  abgeändert;  da  wird  Schatten 
und  Licht  durch  einseitig-gleichzeitige  Empfindung,  präziß  und 
klug,  durchs  Forte  und  piano  ausgetheilt ;  —  da  müssen  mittel- 
mäßige Stücke,  durch  die  Zauberkraft  der  Spieler .. .  bezaubern«3. 
Auch  Beichardt  nennt  das  Spiel,  namentlich  die  Crescendomanier, 
geradezu  »meisterhaft«4,  und  Schubart  meint  sogar,  das  Forte 
des  Orchesters  sei  ein  Donner,  sein  Crescendo  ein  Katarakt, 
sein  Diminuendo  »ein  in  die  Ferne  hin  plätschernder  Krystall- 
fluß,  sein  Piano  ein  Frühlingshauch«;  nirgends  werde  Licht  und 
Schatten  besser  markiert,  nirgends  die  halben,  mittel-  und  ganzen 
Tinten  fühlbarer  ausgedrückt,  der  Töne  Gang  und  Verhalt  dem 
Hörer  »so  einschneidend  gemacht«  und  die  Charaktere  des  Har- 
moniestroms in  seiner  höchsten  Höhe  allwirkender  vorgetragen 
als  in  Mannheim5.  Diese  Vortragskunst  verdankte  das  Orchester 
Johann  Stamitz  und  seinem  großen  Nachfolger  Christ.  Canna- 
bich, der  nach  Schubart  alle  jene  Zaubereien  des  Orchesterspiels 
erfand,  die  ganz  Europa  bewunderte6. 

Solche  Leistungen,  wie  sie  von  den  Kapellen  in  Dresden, 
Berlin  und  Mannheim  gerühmt  werden,  konnten  nur  durch  die 
Tüchtigkeit  der  Konzertmeister  erreicht  werden.  Der  Violin- 
direktor mußte  selbst  ein  tüchtiger  Virtuose  sein,  alle  musika- 


1  Burney,  Tagebuch  II,  S.  73. 

2  Diese  z.  T.  oft  wiederholten  Nachrichten  gibt  am  besten  Mennicke, 
Hasse  und  die  Brüder  Graun,   S.  317  f. 

3  Junker,  Zwanzig  Componisten,  1776,  S.  22/23. 
*  Briefe  eines  aufm.  Reisenden  I,  S.  11. 

6  Ges.  Schriften  V,  S.  138,  und  I,  S.  153. 
6  Ges.  Schriften  V,  S.  145. 

Kl.  Hr.dK  der  Musikgesch.  X.  14 


210  Fünftes  Kapitel. 

lischen  Stile  und  Spielarten,  alle  Manieren  und  Schönheiten  des 
freien  Vortrags  studiert  haben  und  seine  Schule  im  Orchester 
einzuführen  verstehen.  Bei  der  Aufführung  leitete  er  dann  die 
Musiker  durch  sein  Vorspiel,  das  durchdringend  und  exakt  sein 
sollte.  Der  Konzertmeister  muß  sich,  wie  Reichardt  sagt,  auf 
sein  Instrument  verlassen  können,  das  an  Stärke  alle  anderen 
überragen  soll,  er  muß  einen  Arm  haben,  »der  mehr  gilt,  als  die 
übrigen,  das  heißt,  er  muß  bey  einem  deutlichen  und  kräftigen 
Vortrage  alle  Vortheile  seinem  Instrumente  und  sich  selbst  ab- 
lernen, wodurch  er  seinen  Ton,  so  viel  als  möglich,  verstärken 
und  durchdringend  machen  kann«1. 

Bei  der  Ausbildung  des  Orchestervortrags  war  die  Einstudie- 
rung des  Streichquartetts  die  erste  Pflicht  des  Konzertmeisters. 
Man  verlangte  von  jedem  Musiker  einen  schönen  vollen  Ton  und 
Fertigkeit  und  Sicherheit  in  der  Fingersetzung2.  Von  großer  Be- 
deutung war  auch  die  Bogenführung.  Nicht  Willkür  bestimmte  die 
Wahl  von  geschleiften  oder  gestoßenen  Noten,  sondern  die  Angabe 
des  Komponisten  oder,  wo  diese  fehlte,  die  allgemein  übliche 
Praxis  und  die  Einsicht  in  den  Affekt  des  jeweiligen  Tonstücks. 
Ein  Allegretto  oder  Allegro  non  presto  wurde  »ernsthafter,  und 
mit  einem  zwar  etwas  schweren,  doch  muntern  und  mit  ziem- 
licher Kraft  versehenen  Bogenstriche«  ausgeführt,  während  ein 
Sostenuto  mit  langem  und  schwerem  Strich  vorgetragen  wurde. 
Das  gleiche  hatten  die  Bratschisten  zu  beachten,  die  ebenso  tüch- 
tige Spieler  wie  die  zweiten  Geiger  sein  mußten,  und  die  auch 
etwas  Harmoniekenntnis  besitzen  sollten.  Sie  mußten  aus  ihrer 
Stimme  beurteilen  können,  welche  Noten  »sangbar  oder  trocken, 
stark  oder  schwach,  mit  einem  langen  oder  kurzen  Bogen«  ge- 
spielt wurden;  sie  hatten  nach  der  Natur  des  Tonstücks  und  dem 
herrschenden  Affekt  ihren  Vortrag  einzurichten.  Bei  den  Cellisten 
mußte  darauf  gesehen  werden,  daß  sie  ihren  Part  nicht  mit  Ver- 
zierungen verbrämten.  Dadurch  würde,  wie  Quantz  sagt,  nur 
Schaden  angerichtet.  Wer  gute  theoretische  Kenntnisse  besaß, 
durfte  an  wenigen  passenden  Stellen  Zusätze  einfügen.  Sonst 
hatte  der  Cellist  einfach  zu  spielen  und  sich  mit  seiner  Bogen- 
führung nach  der  Natur  und  dem  Gehalt  des  Tonstücks  zu  richten. 


1  Briefe  eines  aufm.  Reisenden  I,  S.  39. 

2  Die  folgende  Darstellung  über  die  Ripienisten  beruht,  wenn  keine  anderen 
Quellen  gegeben  sind,  auf  Quantz,  Von  den  Pflichten  derer,  welche  accompag- 
niren,  a.  a.  0.  Hauptstück  XVII. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  i  8.  Jahrhundert.  211 

Größere  Schwierigkeiten  bot  bei  der  Ausarbeitung  eines  Musik- 
stücks und  bei  der  Ausbildung  der  Musiker  die  Dynamik.  Vom 
Komponisten  wurden  die  verschiedenen  Stärkegrade  nur  in  breiten 
Flächen  vorgeschrieben :  durch  Einzeichnung  von  Vortragszeichen, 
wie  f  —  ff  —  p  —  pp  —  mf  —  piü  f  —  u.  ähnl.,  durch  Angabe 
von  Solo  und  Tutti  —  jenes  wurde  von  den  Konzertisten,  dies  von 
den  Ripienisten  gespielt  —  oder  durch  Bemerkungen,  daß  man 
an  dieser  oder  jener  Stelle  von  der  allgemein  gültigen  Praxis  ab- 
weichen und  die  vorgeschriebene  Dynamik  anwenden  sollte. 
Solche  Vorzeichnungen  sind  aber  in  Partitur  und  Stimmen  spär- 
lich gesät.  Die  nähere  Ausarbeitung  blieb  dem  Dirigenten  und 
in  den  Solopartien  dem  Solisten  überlassen.  Das  erklärt  sich 
einmal  aus  der  großen  Freiheit  in  der  gesamten  Musikübung  des 
18.  Jahrhunderts  und  dann  auch  aus  der  Tatsache,  daß  die  Kom- 
ponisten meist  die  Dirigenten  ihrer  Werke  waren. 

Feste  Regeln  für  die  Anwendung  des  forte  und  piano  kann  man 
nach  Em.  Bach  nicht  aufstellen,  »weil  auch  die  besten  Regeln  eben 
so  viel  Ausnahmen  leiden  als  sie  fest  setzen«1.  Die  Wirkung  von 
Schatten  und  Licht  hing  allein  von  den  musikalischen  Gedanken 
und  ihrer  Verbindung  ab.  Wiederholte  Motive,  sie  mochten 
notengetreu  oder  in  veränderter  Harmonie  erscheinen,  wurden 
durch  forte  und  piano  unterschieden2,  ein  Gesetz,  das  für  alle 
Musikstücke  galt.  Die  ältere  Musik  rechnet  mit  diesen  Echo- 
effekten. Mag  eine  Bachsche  Kantateneinleitung  oder  ein  Solo 
von  Vivaldi  oder  Quantz  vorliegen,  stets  sind  Themen  und  Ge- 
dankenwiederholungen dynamisch  zu  schattieren.  Türk  sagt  in 
seiner  Klavierschule:  »Wird  ein  Gedanke  wiederholt,  so  pflegt 
man  ihn  zum  zweytenmal  schwach  vorzutragen,  wenn  er  nämlich 
vorher  stark  gespielt  wurde.  Im  entgegen  gesetzten  Falle  trägt 
man  auch  wohl  eine  wiederholte  Stelle  stärker  vor,  besonders  wenn 
sie  der  Komponist  durch  Zusätze  lebhafter  gemacht  hat.  Über- 
haupt müssen  sogar  einzelne  Töne  von  Bedeutung  nachdrück- 
licher angegeben  werden  als  die  übrigen3.«  Das  Thema  erforderte 
eine  starke  Hervorhebung,  um  seinen  Eintritt  deutlich  zu  machen, 
ebenso  wurde  ein  besonderer  Schwung  der  musikalischen  Gedan- 
ken stark  vorgetragen4.    Einen  weiteren  Anhalt  zur  Bestimmung 


i  A.a.O.  I,  III,  §29. 

2  Em.  Bach,  ebenda. 

3  A.  a.  0.  S.  350. 

*  Quantz,  a.a.O.   XVII,  VI,   §  10,  und  Bach,  a.  a.  0.   I,  III,  §29. 

14* 


212 


Fünftes  Kapitel. 


der  Dynamik  gaben  die  Harmonien.  Alle  Töne  außerhalb  der 
Leiter,  Konsonanzen  oder  Dissonanzen,  vertragen  nach  Em.  Bach 
ein  forte,  während  die  leiter eigenen  schwach  zu  spielen  sind1. 
Die  Dissonanzen  wurden  als  das  treibende,  leidenschaftliche  Ele- 
ment der  Musik  durch  starkes  Betonen  herausgestellt.  Quantz 
unterscheidet  drei  Klassen  von  Dissonanzen,  die  mf,  f  und  ff 
zu  spielen  sind2;  in  die  erste,  mezzo  forte- Klasse  gehören  Sekunde 
mit  Quarte,  Quinte  mit  großer  Sexte,  große  Sexte  mit  kleiner 
Terz,  kleine  Septime  mit  kleiner  Terz  und  die  große  Septime. 
Die  forte- Klasse  bilden:  Sekunde  mit  übermäßiger  Quarte,  und 
verminderte  Quinte  mit  kleiner  Sexte.  Zur  fortissimo-Klasse  ge- 
hören: übermäßige  Sekunde  oder  kleine  Terz  mit  übermäßiger 
Quarte,  verminderte  Quinte  mit  großer  Sexte,  übermäßige  Sexte, 
verminderte  Septime,  große  Septime  mit  Secunde  und  Quarte. 
Quantz  gibt  für  die  Anwendung  der  dynamischen  Abstufungen 
folgendes  Beispiel: 


™/    P     f 


i  A.  a.  0.  I,  III,   §  29. 
~   A.  a.  O.  XVII,  VI,  §14. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  213 

Durch  diesen  Vortrag  sollten  auf  dem  Klavier  die  Singstimme 
und  jene  Instrumente  nachgeahmt  werden,  die  » das  Wachsen  und 
Verlieren  des  Tones«  in  ihrer  Gewalt  haben1.  Uns  mutet  die 
Quantzsche  Periodisierung  etwas  gezwungen  an,  doch  gilt  das 
Beispiel  nur  als  Muster,  wie  man  dynamische  Akzente  anwenden 
kann;  schon  Bach  schreibt,  daß  die  Art, »alle Augenblicke  Schatten 
und  Licht  anzubringen,  verwerflich  ist,  weil  sie  statt  der  Deut- 
lichkeit eine  Dunckelheit  hervor  bringet,  und  statt  des  Frappanten 
zuletzt  etwas  gewöhnliches  wird«2.  Trotzdem  wurde  häufig  mit 
diesem  Kontrastieren  gerechnet.  Ein  Hauptbeispiel  ist  dafür 
das  Larghetto  aus  Reutters  »Servizio  di  Tavola«,  wo  piano-  und 
forte-Effekte  beständig  abwechseln3. 

Dies  dynamische  Schattieren  in  breiten  Flächen  und  scharf 
geschnittenen  Winkeln  schloß  ein  feineres  Nuancieren,  ein  allmäh- 
liches Übergehen  vom  piano  zum  forte  und  umgekehrt  nicht  aus. 
Man  übte  im  18.  Jahrhundert  ebenso  wie  in  den  vorangehenden 
Epochen  das  An-  und  Abschwellen  eines  Tones,  einer  Harmonie 
oder  einer  ganzen  Stelle.  Für  das  17.  Jahrhundert  waren  schon 
im  vorigen  Kapitel  Beispiele  aus  Caccinis  und  Mazzocchis  Werken 
angeführt,  die  den  Gebrauch  des  messa  di  voce  verbürgen.  Im 
18.  Jahrhundert  gibt  es  viele  Hinweise  auf  diese  Kunst  in  Gesangs- 
werken und  in  den  der  Gesangschule  folgenden  Instrumental- 
werken. Berühmt  ist  Tartinis  Brief  an  Magdalena  Lombardini, 
der  das  An-  und  Abschwellen  als  Grundlage  der  Tonbildungslehre 
nimmt4.  Geminiani  bringt  für  diesen  Effekt  ähnlich  wie  Mazzoc- 
chi  Vortragszeichen  in  der  Form  von  Akzentstrichen,  die  er,  wie 
Riemann  nachweist5,  bereits  im  Jahre  1739  angewandt  hat.  Die 
Zeichen  Geminianis  haben  sich  nicht  durchgesetzt;  man  wollte 
auch  hier  den  freien  Vortrag  nicht  einengen  und  das  Notenbild 
durch  neue  Zeichen  nicht  unübersichtlich  machen.  Ein  kundiger, 
erfahrener  Musiker  wußte  auch  ohne  ausführlichen  Wegweiser 
den  rechten  Weg  zu  finden.  Nach  Em.  Bach  galt  als  Regel  des 
guten  Vortrags,  daß  jeder  langgehaltene  Ton  mit  einem  pianissimo 
anfangen,  bis  auf  ein  fortissimo  allmählich  anwachsen  und  dann 
wieder  nach  und  nach  bis  auf  ein  pianissimo  abnehmen  solle6. 


i  Quantz,  a.  a.  O.  XVII,  VI,   §14. 

2  A.a.O.  I,  III,   §29. 

3  Denkm.  der  Tonkunst  in  Österreich,  XV.  Jahrg.,  2.  Teil,  S.  6 f. 

*  Abgedruckt  in  H  i  1 1  e  r  s  Lebensbeschreibungen,  S.  279. 
«  Zeitschrift  der  I.  M.-G.,  Jahrg.  X,  1909,  S.  137. 

•  A.  a.  O.  II,  29,   §13. 


214  Fünftes  Kapitel. 

Auch  Quantz  sagt,  man  müsse  im  Akkompagnement,  wenn  der 
Konzertist  im  Adagio  den  Ton  bald  verstärkt,  bald  mäßigt,  und 
so  »durch  Schatten  und  Licht«  mit  den  Affekten  spielt,  dem  So- 
listen nachgeben  und  mit  ihm  zugleich  die  Töne  »verstärken  und 
mäßigen«1. 

Daß  dies  An-  und  Abschwellen  nicht  auf  einzelne  gehaltene 
Töne  beschränkt  blieb,  zeigen  Quantzens  Worte  und  die  Lehren 
der  Theoretiker.  Oder  soll  man  glauben,  daß  das  piü  forte 
oder  men  forte  (moins  fort)2,  das  piü  piano  und  das  ppp,  das 
bereits  Mylius  im  Jahre  1686  nennt3,  im  Sinne  einer  Register- 
dynamik4 gebraucht  wurden?  Es  ist  doch  im  Orchester  wie  im 
Gesang  unmöglich,  ohne  Crescendieren  oder  Decrescendieren  die 
vielfachen  Abstufungen  des  forte  und  piano  auszudrücken.  Die 
Musikschriftsteller  erklären  eine  große  Reihe  von  Stärkegraden, 
die  die  Crescendomanier  geradezu  voraussetzen,  forte,  piü  forte, 
(ff),  fortissimo  (fff6),  das  piano,  pianissimo  (pp,  ppp),  das  piü 
piano,  mezzo  piano6,  das  rinforzando.  Auch  die  Steigerungen 
p— poco  f— p  (bei  Hasse)7  oder  f— mezzo  piano— piano  (Händel)8 
lassen  kaum  etwas  anderes  annehmen  als  ein  Crescendieren 
und  Decrescendieren.  Man  schrieb  eben  nur  die  notwendigsten 
Zeichen  vor,  »damit  nicht  ganz  grobe  Unschiklichkeiten  begangen« 
würden,  wie  J.  A.  P.  Schulz  sagt9.  Dem  Sänger  wurden  über- 
haupt selten  dynamische  Vortragszeichen  angegeben,  da  man  von 
ihm  verlangte,  daß  er  den  Grad  der  Stärke  und  Schwäche  aus 
den  Worten  und  der  darübergelegten  Melodie  erkannte10. 

Man  braucht  aber  bei  dieser  Frage  nicht  bei  Wahrscheinlich- 
keitsgründen stehen  zu  bleiben.  Wir  haben  Nachrichten,  die 
klar  genug  vom  Crescendo  sprechen,  und  die  beweisen,  daß  man 

i  A.a.O.  XVII,  VII,   §25. 

2  Brossard,  Dictionaire  1705. 

3  Rudimenta  musices,  S.  42. 

4  Vgl.  Alf  r.  H  e  u  s  s'  Aufsatz:  Über  die  Dynamik  der  Mannheimer-Schule 
( R  iemann-Festschrif  t) . 

6  Vgl.  Walthers  Lexikon  und  Brossard,  a.a.O. 

6  Fuhrmann,  Mus.  Trichter  S.  79:  Mezzo  piano  bedeutet  »ein  wenig 
sachte«.  Janowka,  Clavis  ad  thes.  (1701):  »Mezo-piano;  est  idem  quod  semi- 
piano,  seu  semi-paulatim.« 

7  Vgl.  Men  nicke,  a.a.O.  S.  320f.,  und  Herrn.  Abert,  Jommelli, 
Halle,  1908   S.  146f. 

»  Fritz    Vollbach   (Praxis  der  Händelaufführung,    S.  9,    lOf.)   stellt 
die  hierher  gehörigen  Partien  bei  Händel  zusammen. 
9  Sulzers  Allgem.  Theorie.    Art.  »Vortrag«. 
10  Sulzer,  ebenda. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion   im   18.  Jahrhundert.  215 

neben  der  Echomanier  mit  einem  allmählichen  Anwachsen  und 
Abnehmen  der  Klangstärke  rechnete.  Am  ausführlichsten  ist 
eine  Stelle  in  Mylius'  »Rudimenta  musices«  vom  Jahre  1686,  die 
bisher  ganz  übersehen  worden  ist.  Es  heißt  da:  »Was  ist  Piano 
und  Forte?  —  Piano,  piü  piano,  heist  sanfft  /  gantz  sanfft  / 
und  zeigen  an  /  daß  man  daselbst  /  wo  bey  einer  Stimme  das  p. 
oder  pp.  ppp.  zu  finden  /  seine  Stimme  mäßigen  /  und  mit  zurück 
gehaltener  Stimme  singen  müsse  /  dieses  gebrauchet  man  in  gantzen 
und  halben  Tacten  /  darauf  gemeiniglich  das  forte  folget  /welches 
man  mit  diesen  Wechselweise  anbringet.  Forte  heist  starck 
und  frisch  /  anzeigend  /  daß  /  wo  bey  einer  Nota  das  f  zu  finden  / 
man  munter  /  frisch  und  hertzhafftig  daselbst  singe.  Doch  ist 
bey  beyden  zu  mereken  /  daß  man  nicht  so  plötzlich 
aus  dem  piano  ins  forte  falle  /  sondern  allmählig  die 
Stimme  stäreken/und  auch  wieder  fallen  lassen  solle/ 
daß  daher  das  piano  voran  /  forte  in  der  Mitten/  und 
wieder  mit  dem  piano,  bey  denenNoten,  wo  man  solche 
brauchet  /  geschlossen  werden   müsse1.« 

Der  Wechsel  zwischen  forte  und  piano  konnte  also  durch  dyna- 
mische Übergänge  vermittelt  werden.  Doch  wurde  das  Decrescendo 
nach  dem  forte  nur  bei  einer  folgenden  piano-Stelle,  »wo  man 
solche  brauchet«,  angebracht,  d.  h.  ein  Crescendo  zum  forte  hin 
ohne  ein  folgendes  Abschwellen  war  ebensogut  möglich.  Daraus 
geht  hervor,  daß  die  dynamischen  Abstufungen  nicht  ruckweise 
gespielt  werden,  und  daß  das  Übergangscrescendo  schon  im 
17.  Jahrhundert  durchaus  dem  Echoprinzip  gleichgestellt  und 
auch  gleichberechtigt  war. 

Gewiß  denkt  Mylius  an  den  Gesangsvortrag,  wo  eine  feinere 
dynamische  Nuancierung  durch  den  Text  von  vornherein  ge- 
geben ist.  Was  aber  für  den  Solo-  und  Chorgesang  gilt,  ist  ebenso 
für  Kantate,  Oper  und  Instrumentalkonzert  maßgebend.  Bei 
einem  begleiteten  Chorwerk  wird  kein  Dirigent  die  Instrumenta- 
listen  gleichmäßig  forte  oder  piano  spielen  lassen,  sobald  die  Sing- 
stimmen ein  Crescendo  bringen.  Wenn  der  Konzertist  bei  einer 
»langen  Aushaltung«  den  Ton  an-  und  abschwellen  läßt,  so  muß 
der  Akkompagnist,  wie  Em.  Bach  sagt2,  die  Klangstärke  mit 
wachsen  und  fallen  lassen,  »nicht  mehr,  nicht  weniger«  als  der 
Solist.      Das    Orchestercrescendo    ergibt    sich    ebenso    wie    das 


i  A.a.O.  S.  42  f. 

2  A.a.O.  II,  29,  §13. 


216  Fünftes  Kapitel. 

messa  di  voce  der  Instrumente  aus  der  Nachahmung  des  gesang- 
lichen Vortrags. 

Neuerdings  hat  man  sich  mit  dem  Ursprung  des  Orchester- 
crescendo, das  von  einigen  Zeitgenossen  der  Mannheimer  Schule 
zugesprochen  wird1,  eingehend  beschäftigt,  und  die  Nachrichten, 
die  Burney,  Vogler,  Schubart  u.  a.  geben,  nachgeprüft.  Karl 
Mennicke,  der  die  gesamte  einschlägige  Literatur  berücksichtigt, 
ist  der  Ansicht,  daß  Jommelli,  der  zuerst  die  Vorschrift  crescendo 
il  forte  anwendet,  und  die  Mannheimer  eine  gemeinsame  Quelle  für 
ihren  Effekt  haben  müssen2.  Allerdings  war  über  diese  Quelle 
bisher  nichts  zu  erfahren.  Hermann  Abert  kommt  deshalb  zu 
dem  Schluß,  daß  Jommelli,  der  das  crescendo  il  forte  in  den  Opern 
Eumene  (1747)  und  Artaserse  (1749)  zum  ersten  Male  gebraucht, 
auch  als  Erfinder  der  Crescendovorschrift  anzusehen  ist,  was 
die  Ausführungen  Voglers  und  Schubarts  bestätigen  würde3. 
Bei  diesen  Untersuchungen  hat  man  eine  Nachricht  aus  dem 
Jahre  1711  übersehen,  die  klar  und  deutlich  die  bekannte  Cre- 
scendomanier eine  Spezialität  der  römischen  Konzerte  nennt.  Sie 
steht  in  Scipione  Maffeis  Beschreibung  des  von  Cristofori 
erfundenen  Pianoforte  und  lautet  in  der  Königschen  Übersetzung: 
»Es  ist  jedem  Kenner  bewust,  daß  in  der  Music  das  Schwache  und 
Starcke,  gleich  wie  Licht  und  Schatten  in  der  Mahlerey,  die  vor- 
nehmste Quelle  sey,  woraus  die  Kunsterfahrne  das  Geheimniß 
gezogen,  ihre  Zuhörer  ganz  besonders  zu  ergötzen.  Es  sey  nun 
in  einem  Vor-  oder  Nach-Satz  oder  in  einem  künstlichen  Zu- 
oder  Ab- nehmen,  da  man  nach  und  nach  die  Stimme 
vergehen,  und  hernach  mit  einem  starcken  Geräusche 
auff  einmahl  wiederkommen  lasset;  welches  Kunst- 
Stück  bey  den  grossen  Concerten  in  Rom,  häuffig  im 
Gebrauch  ist,  und  denjenigen,  die  einen  rechten  Ge- 
schmack von  der  Vollkommenheit  dieser  Kunst  be- 
sitzen, ein  gantz  unglaubliches  und  verwundersames 
Ergötzen  schencket4. «    Diese  Crescendomanier  wurde  in  den 


i  Burney,  Tagebuch  II,  S.  74 ;  s.  M  e  n  n  i  c  k  e  a.  a.  O.    S.  317  f. 

2  A.  a.  O.  S.  317f. 

3  Abert,  Jommelli  S.  215 f.  u.  S.  446. 

4  Nuova  invenzione  d'un  Gravecembalo  col  piano,  e  forte;  aggiunte  alcune 
considerazioni  sopra  gli  strumenti  musicali  (Giornale  de'  Letterati  d'Italia. 
Tom.  V,  Venezia  1711,  p.  144):  »Egli  e  noto  a  chiunque  gode  della  musica,  che 
uno  de'  principali  fonti,  da'  quali  traggano  i  periti  di  quest'  arte  il  segreto  di 
singolarmente  dilettar  chi  ascolta,  e  il  piano,  e '1  forte;  o  sia  nelle  proposte, 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  4  8.  Jahrhundert.  217 

römischen  Konzerten  noch  in  den  vierziger  Jahren  fleißig  geübt 
wie  Charles  de  Brosses  in  seinen  römischen  Reisebriefen  aus  dem 
Jahre  1740  bestätigt.  Er  erzählt  da  von  der  außerordentlichen 
Geschicklichkeit  der  römischen  Musiker  im  Akkompagnement  und 
fährt  dann  fort:  »Ils  ont  une  methode  d'accompagner  que  nous 
n'entendons  pas,  qu'il  nous  serait  facile  d'introduire  dans  notre 
execution,  et  qui  releve  infiniment  le  prix  de  leur  musique;  c'est 
l'art  de  l'augmentation  ou  de  la  diminution  du  son,  que 
je  pourrais  appeler  l'art  des  nuances  et  du  clair-obscur. 
Ceci  se  pratique,  soit  insensiblement  par  degres,  soit  tout  ä 
coup.  Outre  le  fort  et  le  doux,  le  tres-fort  et  le  tres-doux,  ils  prati- 
quent  encore  un  mezzo  piano  et  un  mezzo  forte  plus  ou  moins 
appuye.  Ce  sont  des  reflets,  des  demi-teintes  qui  mettent  un 
agrement  incroyable  dans  le  coloris  du  son.  .  .  .  Quelquefois  l'or- 
chestre  accompagnant  piano,  tous  les  instruments  se  mettent  ä 
forcer  ä  la  fois  pendant  une  note  ou  deux,  et  ä  couvrir  entiere- 
ment  la  voix,  puis  ils  retombent  subitement  dans  la  sourdine: 
c'est  un  effet  excellent1.« 

Nach  diesen  Nachrichten  war  der  Crescendovortrag  in  der  ersten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  eine  Berühmtheit  der  römischen 
Musikaufführungen.  In  den  angeführten  Stellen  wird  nichts 
von  der  Erfindung  dieses  Effekts  gesagt.  Wenn  hier  wirklich 
etwas  Neues,  noch  nie  Gehörtes  vorgelegen  hätte,  wären  die  Musik- 
schriftsteller sicherlich  darauf  eingegangen.  Die  römischen  Mu- 
siker hatten  eben  aus  der  bekannten  Crescendomanier  lediglich 
eine  Spezialität  gemacht,  die  von  Zuhörern  und  Reisenden  nach 
Gebühr  bewundert  wurde.  Durch  Jommelli,  der  sich  den  Cres- 
cendoeffekt in  Rom  angeeignet  hat,  kam  die  Vortragsmethode 
nach  Stuttgart.  Er  wurde  in  Deutschland  der  Vertreter  der 
römischen  Crescendomanier,  die  vielleicht  schon  in  der  italienischen 
Schule,  sicherlich  aber  bei  Jommelli  und  den  Mannheimern  oft 
mit  einem  Kompositionseffekt  —  Hinauftragen  eines  Motivs 
oder  sequenzenmäßiger  Aufbau  einer  Periode  —  verbunden  war2. 


«  risposte.o  sia  quando  con  artifiziosadegradazione 
lasciandosi  a  poco  a  poco  mancar  la  voce,  si  ripiglia 
poi  ad  un  tratto  strepitosamente:  il  quäle  artifizio  ö  usato  frequente- 
m  e  n  t  e ,  ed  a  maraviglia  ne'  gran  concerti  di  Roma  con  dilettc- 
incredibile  di  chi  gusta  la  perfezione  dell'  arte.«  Die  Übersetzung  Königs 
steht  in  Matthesons  Criticae  musicae  Tom.  II,  S.  335. 

1  Lettres  familieres  II,  S.  379/80. 

2  Vgl.  Abert,   a.  a.  0.  S.  216f. 


218  Fünftes  Kapitel. 

Aus  Italien  oder  auch  von  Jommelli  her  werden  die  Mannheimer 
ihre  berühmten  Effekte  bekommen  haben.  Sie  wurden  in  Deutsch- 
land die  Hauptpioniere  des  Orchestercrescendos. 

Charles  de  Brosses  meint,  in  Frankreich  könne  man  eine  ähn- 
liche dynamische  Nuancierung  wie  die  römische  nicht  hören. 
Das  mag  für  die  dreißiger  Jahre  zutreffen,  wird  sich  aber  für  die 
frühere  Zeit  kaum  beweisen  lassen.  In  Frankreich  kam  man 
sogar  schon  sehr  früh  zu  einer  Erfindung  von  Vortragszeichen 
für  den  Crescendo-  und  Decrescendovortrag.  Rameau  gebraucht 
in  der  gedruckten  Partitur  von  »Acante  et  Cephise«1  (1751) 
bereits  die  Zeichen  f^^  und  ^^^\ .  Er  setzt  sie  zu  den  einzelnen 
Noten,  um  Ab-  und  Anschwellen  des  Tones  zu  bezeichnen.  In  der 
Partitur  sind  die  Zeichen  nicht  weiter  erläutert,  sie  sind  also  den 
Musikern  bekannt  gewesen,  denn  man  führt  keine  neuen  Zeichen 
ein,  ohne  sie  zu  erklären.  La  gar  de  (1758)  bezeichnet  die  Figuren 
mit  den  Worten  »Diminues«  und  »en  augmentant«2.  Von  deut- 
schen Musikern  hören  wir  denn  auch,  daß  unsere  heutigen  Zeichen 
aus  der  französischen  Musikübung  stammen.  Löhlein  sagt  in  seiner 
»Anweisung  zum  Violinspielen«:  »Die  Franzosen  drücken  cresc. 
mit  diesem  ^>^\,  decresc.  mit  diesem  Zeichen  f^»^  ,  beydes  mit 
-«Cd^5''  aus«3.  Und  Kalkbrenner  meint  in  der  »Theorie  der 
Tonkunst«:  »Die  französischen  Tonsetzer  haben  in  den  letzten 
20  Jahren  ein  Zeichen  erfunden,  welches  zugleich  das  crescendo  und 
das  diminuendo  sehr  gut  bezeichnet,  und  deswegen  von  den  mehre- 
sten  Tonsetzern  Deutschlands  ist  angenommen  worden;  es  ist 
dieses  -«cCC^-*^-  Dieses  Zeichen  wird  auch  sehr  oft  bloa 
zur  Hälfte  gebraucht,  nemlich  <dj  oder  £>-.  Das  erstere 
ist  das  Zeichen  des  crescendo,  und  das  zweite  das  Zeichen  des 
diminuendo*. « 

In  der  Datierung  irrt  Kalkbrenner,  die  Zeichen  sind  weit  älter r 
aber  seine  Worte  bestätigen  die  Ausführungen  Löhleins.  Durch 
die  Mannheimer  Musiker,  durch  Abt  Vogler,  der  die  Zeichen  in 
der  Form  Rameaus  setzt5,  haben  sich  die  französischen  Figuren 


1  Partitur,  Paris,  chez  Pauteur,  la  Veuve  Boivin  et  Leclerc,  s.  Ouvertüre 
Takt  15/16,  und  Akt  III,  S.  128. 

2  Lagarde,  Journal  de  musique,  Paris  1758.    S.  2,  5,  6,  10  usw.  Exem- 
plar in  der  Bibliothek  des  Herrn  Dr.  Werner  Wolffheim  in  Berlin. 

3  A.  a.  O.  2.  Aufl.  1781,  S.  HO. 

4  A.a.O.  1789,  S.U. 

6  S.  Voglers  Betrachtungen  der  Mannheimer  Tonschule,  Beispielband, 
IX.— XII.  Lieferung,  S.  2,  7, 10,  11;   III.  Lief.  Tab.  XIX;  I,  Lief.  Tab.  II  usw. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  219 

in  Deutschland  eingebürgert.  Schubart  nennt  allerdings  den  Ber- 
liner Kapellmeister  J.  Friedr.  Reichardt  als  den  Musiker,  der  mit 
den  Crescendozeichen  den  Anfang  gemacht  habe1,  doch  zeigt  er 
sich  hier  schlecht  unterrichtet.  Reichardt  hat  die  Notierung 
lediglich  übernommen2. 

Die  Mannheimer  sind  demnach  bei  der  Einführung  dieser  Zeichen 
Nachahmer  gewesen;  ja  die  Nachrichten  über  die  französischen  Cre- 
scendofiguren lassen  vermuten,  daß  der  vielgerühmte  Mannheimer 
Vortrag  auch  von  Frankreich  her  beeinflußt  worden  ist.  Ohne 
Frage  liegt  aber  in  der  Crescendomanier  eine  alte  Ausdrucksform 
vor,  die  im  17.  Jahrhundert  ebenso  bekannt  war  wie  in  der  Vor- 
zeit der  Mannheimer. 

Unser  Umblick  wird  gezeigt  haben,  daß  die  alte  Zeit  nicht 
nur  mit  dem  Prinzip  der  Echomanier,  sondern  auch  mit  einem 
allmählichen  Übergehen  zum  forte  und  piano  hin  rechnet.  Wer 
diesen  Effekt  erst  von  Jommelli  datieren  will,  nimmt  der  ge- 
samten Musik  der  Renaissance  und  der  Bach-Händelzeit  ihren 
tondichterischen  Ausdruck.  Der  Unterschied  zwischen  alter  Zeit 
und  Mannheim  ist  allein  der,  daß  man  eine  bekannte  Vortragsart 
mit  neuen  kompositorischen  Effekten  ausstattete  und  durch  ein 
glänzendes  Ensemblespiel  zu  einer  Berühmtheit  machte,  und  daß 
man  die  selbstverständlichen  Ausdrucksformen  der  alten  Zeit  von 
den  fünfziger  Jahren  an  mit  neuen  Zeichen  und  Vorschriften  ver- 
sah3. Diese  beschränkten  in  der  Dynamik  die  Zeit  der  freien 
Vortragskunst,  so  daß  dem  Dirigenten  die  dynamische  Ausarbeitung 
eines  Satzes  wesentlich  erleichtert  war.  Er  hielt  sich  an  die  Vor- 
schriften des  Komponisten,  die  ihm  bei  der  Einstudierung  und 
Direktion  die  Hauptrichtung  wiesen. 

Ebenso  wichtig  wie  die  Erreichung  einer  sinngemäßen ,  wirkungs- 
vollen Dynamik  waren  bei  einer  Musikaufführung  die  Tempobe- 
stimmung eines  Musikstücks  und  die  Tempoführung.  Mattheson 
nennt  es   »die   Hauptverrichtung  des  Regierers  einer  Musik  bey 

1  Ges.  Schriften  I,  S.  273. 

2  Vgl.   Reichardt,   Über  die   Pflichten  des  Ripien-Violinisten,  S.  65  f. 

3  Eine  Erklärung  der  Crescendovorschrift  finde  ich  in  der  theoretischen 
Literatur  zuerst  in  Marpurgs  Kritischen  Briefen  (CXXXI.  Brief,  S.  19, 
1763).  Von  den  achtziger  Jahren  an  steht  eine  Definition  des  crescendo  fast  in 
jedem  größeren  Lehrbuch  der  Musik;  s.  Klein,  Versuch  eines  Lehrbuchs,  1783, 
S.  43,  Georg  Fr.  W  o  1  f ,  Unterricht  in  d.  Singekunst  1784,  S.  93,  ders.,  Unterr. 
im  Klavierspielen,  1784,  S.  82,  Wolfs  Lexikon  1787,  Art.  »Crescendo«;  Musikal. 
H  andwörterbuch,  Weimar  1786,  Art.  »Crescendo«  usw.  Vgl.  auch  Ernst 
Wilhelm  Wolf,  Auch  eine  Reise,  1784,  S.  27. 


220  Fünftes  Kapitel. 

deren  Bewerckstelligung«;  sie  erfordere  eine  »scharffe  Urtheils- 
Krafft«,  da  man  bei  der  Aufführung  »fremder  Gedancken  Sinn  und 
Meinung«  recht  treffen  solle1.  Die  Kapellmeister  des  18.  Jahr- 
hunderts folgten  hier  den  gleichen  Grundsätzen  wie  die  Renais- 
sancemusiker. Während  diese  aber  auf  Einzelheiten  nur  selten 
eingehen  und  sich  mit  einem  Hinweis  auf  die  Affektendirektion 
begnügen,  finden  wir  bei  den  Theoretikern  des  18.  Jahrhunderts 
viele  ausführliche  Nachrichten,  die  sich  zu  einem  Gesamtbild 
einen.  Die  Grundzüge  ihrer  Lehre  lassen  sich  in  drei  Abschnitte 
gliedern,  in  die  Tempobestimmung  nach  dem  Notenbild,  in  die 
Tempovorschriften  und  die  Tempomodifikation,  die  wir  im  Zu- 
sammenhang behandeln  wollen. 

Den  sichersten  Anhalt  für  die  Tempobestimmung  bringt  das 
Notenbild  durch  die  vorgezeichnete  und  durchgeführte  Taktart. 
Je  nachdem  große  Notenwerte,  Ganze  und  Halbe,  oder  kleinere, 
Viertel  und  Sechzehntel,  in  der  Notierung  vorherrschen,  wird 
ein  langsameres  oder  schnelleres  Tempo  festgelegt.  Ein  3/1-Takt 
geht  »gravitätisch«,  ein  3/2  »ein  wenig  munterer  und  freudiger«, 
ein  3 /4  »gehet  hurtig«,  ein  3/8  »gantz  geschwinde«,  ein  9/8  »hüpffet 
gar«,  wie  Fuhrmann  sagt2.  Aus  der  vorgezeichneten  Taktart  er- 
kennt man,  » ob  der  Gesang  langsamb  /  mittelmässig  /  oder  ge- 
schwind und  hurtig  gehen  solle«3,  denn  jede  Taktart  hat  ihre 
eigene  natürliche  Bewegung4.  Nach  Lambert  hat  der  C-Takt  ein 
langsames  Tempo,  der  ([  -Takt  geht  noch  einmal  so  schnell,  der 
2-Takt  ist  noch  schneller  als  der  (£  -Takt,  der  4/8  wieder  schneller 
als  der  2-Takt  u.  s.  f.5  Der  schon  früher  zitierte  Demotz,  der  in 
seiner  »Methode  de  musique«  so  gern  systematisiert,  gibt  auch 
für  diese  Theorie  eine  summarische  Übersicht,  die  sich  etwa  so 
zusammenfassen  läßt: 

2/4  se  bat  ä  2  Tems  legers 

vites 

tres-vites 

plus  ou  moins  graves  selon  le  Garactere 
des  Airs 

legers 

vites 

i    Vollkomm.  Capellm.  III,  26,   §13  u.  34. 

2  Music.  Trichter,  S.  48. 

s  Samber,  Manuductio,  S.  13. 

4  S  u  1  z  e  r  s  Allg.  Theorie,  Art.  »Tact«. 

«  A.  a.  O.  S.  23. 


4/8 

» 

» 

ä  2 

» 

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ä  2 

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6/l6 

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» 

ä  2 

» 

Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  221 


3/2  se  bat  ä  3  Tems  graves 

U 


16 


»     ordinairement  ä  trois  Tems  legers 

»    ä  3  Tems  vites 

»  ä  3  »  tres-vites  etc.1 
Auch  hier  ist  das  gleiche  Prinzip  wie  im  17.  Jahrhundert  be- 
achtet: die  in  den  verschiedenen  Taktarten  herrschenden  Noten- 
werte geben  den  Anhalt  zur  Tempobestimmung.  Das  Gesetz 
hat  für  die  gesamte  Literatur  Geltung2,  besonders  für  Kompo- 
sitionen, die  keine  nähere  Tempovorschrift  aufweisen,  wie  die 
Mehrzahl  der  Sing-  und  Chorwerke  des  17.  Jahrhunderts.  Wollte 
man  die  Bewegung  näher  charakterisieren,  oder  sollte  das  ge- 
gebene Gesetz  modifiziert  werden,  so  wurde  das  Tempo 
durch  die  Worte  Tardo,  Allegro,  Adagio  usw.  angegeben.  Sie 
wurden  schon  in  der  Renaissancezeit  gebraucht,  in  einer  Epoche, 
wo  der  integer  valor  notarum,  das  absolute  Zeitmaß  der  Noten- 
dauer, verloren  geht.  Dabei  ist  aber  charakteristisch,  daß  man 
die  Tempovorschriften  am  häufigsten  bei  der  Instrumentalmusik 
findet.  So  bringt  Marini  in  den  »Madrigali  et  Symfonie«  vom 
Jahre  1618  in  den  Singstücken  keine  Tempovorschriften,  während 
er  bei  den  Instrumentalsätzen  »Tardo«  und  »Presto«  vorschreibt3. 
Auch  die  in  den  Denkmälerbänden  im  Neudruck  vorliegenden 
Werke  des  17.  Jahrhunderts  zeigen  das  gleiche  Prinzip:  Instru- 
mentalstücke werden  mit  Tempovorschriften,  Vokalsätze  oft 
ohne  nähere  Angabe  notiert.  Bei  diesen  gibt  der  Text  neben 
dem  Notenbild  den  festen  Anhalt  zur  Zeitmaßbestimmung. 

Die  Tempovorschriften:  Allegro,  Adagio  usw.,  die  von  den 
Theoretikern  in  drei,  vier,  fünf  oder  sechs  Klassen  gruppiert  werden4, 
heben  das  Gesetz  von  Notenbild  und  Tempobestimmung  nicht  auf. 
Die  Vorschrift  Adagio  beim  4/4-  und  3/2-Takt,  Allegro  beim  3/4, 
Presto  beim  3/8-Takt  ist  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  das 
Reguläre.  Diese  doppelte  Zeitmaßangabe  durch  Notenwert  und 
Wortvorschrift  läßt  sich  allerdings  kaum  verstehen,  wenn  die 
Angaben  Adagio,  Allegro  und  Andante  wirklich  nichts  weiter  be- 
deuteten  als  etwa:  langsam,  munter  und  gehend,  zumal  da  sie  zu 


i  A.a.O.  S.  161  f. 

2  Vgl.  L  o  u  1  i  6  s  Lehre  vom  Taktschlagen  (s.  o.  S.  127  f.),  Janowka, 
Ciavis  ad  thes.,  Art.  »Tactus«,  Marpurg,  Critisch.  Musicus  an.  d.  Spree,  S.  23, 
Sulzer,  a.  a.  O.,  Scheibe,  Über  die  mus.  Composition,  S.  204  f.  u.  v.  a. 

3  Ich  urteile  nach  der  Baßstimme. 

4  S.Rousseau,  Dictionnaire,  Art.  »Mouvement«;  Demotz,  a.  a.  O. 
S.  149,   und  Türks  Zusammenfassung  in  der   Klavierschule,  S.  110  u.a. 


222  Fünftes  Kapitel. 

Instrumentalstücken  ohne  nähere  Charakterbezeichnang  gesetzt 
werden.  Man  muß  den  Sinn  der  Worte  weiter  fassen:  als  Cha- 
rakterbezeichnung eines  Tonstücks  und  als  Anweisung  zum  musi- 
kalischen Vortrag.  Daß  diese  Deutung  für  die  Praxis  des  18.  Jahr- 
hunderts zutrifft,  beweisen  Quantzens  Worte  über  die  Ausführung 
der  Adagio-  und  Allegrosätze:  »Im  Allegro,  und  allen  dahin  ge- 
hörigen muntern  Stücken  muß  Lebhaftigkeit;  im  Adagio,  und  denen 
ihm  gleichenden  Stücken  aber,  Zärtlichkeit,  und  ein  angenehmes 
Ziehen  oder  Tragen  der  Stimme  herrschen1.«  Mattheson  erklärt 
die  Worte  als  Charakterbezeichnungen:  das  Adagio  zeigt  die 
»Betrübniß«  an,  ein  »Lamento  den  Schmertz;  ein  lento  die  Er- 
leichterung; ein  Andante  die  Hoffnung;  ...  ein  allegro  den  Trost; 
ein  presto  die  Begierde  etc.«2.  Ähnlich  beschreibt  Löhlein  die 
italienischen  Worte:  Eine  mäßige  Freude  wird  durch  Vivace, 
Allegro  ausgedrückt;  eine  Freude,  die  mehr  Ausgelassenheit  hat, 
durch  Allegro  assai,  Allegro  di  molto,  Presto;  eine  ausschweifende 
Freude  durch  Prestissimo;  eine  wütende  Ausgelassenheit  durch 
Allegro  furioso;  die  Gelassenheit  durch  Andante,  Andantino 
oder  poco  Andante,  Larghetto;  die  Traurigkeit  durch  Mesto, 
Adagio,  Largo,  Lento,  Grave3.  Die  italienischen  Worte  sind  also 
nicht  allein  Tempo-  und  Vortragsvorschriften4,  sondern  auch 
musikalische  Charakterbezeichnungen,  sie  kennzeichnen  den  einem 
Tonstück  zugrunde  liegenden  Hauptaffekt. 

Die  Generalaffekte,  auf  die  sich  alle  in  einem  Musikstück  aus- 
gedrückten Leidenschaften  zurückführen  lassen,  sind  nach  Ja- 
nowka  und  Spieß:  Liebe,  Leid,  Freude,  Zorn,  Mitleid,  Furcht, 
Frechheit  [Mut,  Entschlossenheit]  und  Verwunderung5.  Dieser 
Affektengruppierung  würden  Andante,  Adagio,  Allegro,  Pre- 
stissimo, Largo,   Vivace,    Presto,   Allegro  moderato  ungefähr  ent- 


i  A.a.O.  XI,   §15. 

2  Kern  melodischer  Wissenschaft,  1737,  S.  67. 

3  Anweisung  zum  Violinspielen,  1781,  S.  104. 

*  In  Wolfs  Lexikon  findet  man  beide  Erklärungen  vereint:  »Adagio 
bedeutet  etwas  mittelmäßig  langsames,  und  wird  den  Tonstücken  vorgesetzt, 
welche  mit  schmachtendem  und  zärtlichem  Affect  gespielt  oder  gesungen  werden 
sollen.     Ein  solches  Stück  wird  auch  selbst  ein  Adagio  genant.« 

5  Janowka,  Clavis  ad  thes.,  S.  2 :  Primus  amoris,  Secundus  luctüs  seu 
planctüs.  Tertius  laetitiae  et  exultationis.  Quartus  furoris  et  indignationis. 
Quintus  commiserationis  et  lachrymarum.  Sextus  Timoris  et  afflictionis.  Sep- 
timus  praesumptionis  et  audaciae.  Octavus  admirationis.  Ad  quos,  si  qui  prae- 
terea  sunt,  omnes  fere'  revocari  possunt.  Vgl.  Spieß,  Tract.  mus.,  Anhang, 
S.  1,  »Affectus«. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  223 

sprechen1.  Wie  die  Affekte  im  Grunde  genommen  aus  der 
Freude  und  Traurigkeit  abgeleitet  werden  können,  so  gehen  auch 
alle  Gharakterbezeichnungen  auf  zwei  Grundformen  (Allegro  und 
Adagio)  zurück.  Die  italienischen  Vorschriften  bilden  in  der 
älteren  Literatur  das  tondichterische  Programm  des  Musikstücks. 
Sie   sind  Charakteristika  der  Hauptaffekte. 

Sobald  man  die  Worte  Adagio,  Allegro  usw.  nur  als 
Tempovorschriften  ansah,  war  das  alte  Gesetz  der  Zeitmaß- 
bestimmung nach  dem  Notenbild  aufgehoben.  Man  konnte  ein 
Stück  in  kurzen  Notenwerten  mit  Adagio  bezeichnen,  ohne  Miß- 
verständnisse befürchten  zu  müssen.  Von  der  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts ab  wurde  oft  nach  diesem  Rezept  verfahren.  Ein  frühes 
Beispiel  dafür  gibt  bereits  Meinrad  Spieß.  Er  sagt,  die  Bei- 
spiele : 


Tempus  Binarium 

Presto. 

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Adagiö. 

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1         ! 

Alla  Breve.  Alla  Capella2. 

seien  in  der  Taktmessung  sämtlich  gleich.  Bei  dieser  Notierung 
verliert  die  Taktvorzeichnung  jeden  Wert  für  die  Zeitmaßbe- 
stimmung. Kalkbrenner  zieht  deshalb  nur  die  Konsequenz  aus 
dieser  Notierungsweise,  wenn  er  schreibt:  »Der  Takt  hat  .  .  keinen 
Bezug  auf  den  langsamem  oder  geschwindern  Gang  eines  Ton  Stücks, 
sondern  er  bezeichnet  nur,  wie  viel  Noten  einer  gewissen  Gattung 
im  Umfange  eines  jeden  Taktes  müssen  enthalten  seyn3. «  Es  ist 
die  moderne  Erklärung  des  Gruppentakts,  die  keine  Rücksicht 
auf  das  Gesetz  der  Notendauer  kennt.     Ohne  Frage  ist  die  alte 


1  Die  Aufstellung  ist  im  Anschluß  an  Marpurgs  Affektenlehre  (Krit.  Briefell, 
S.  273f.)  gegeben,  wo  es  u.  a.  heißt:  ruhige  und  stille  Liebe —  Melodien  in  mäßiger 
Bewegung;  Traurigkeit  —  Melodien  in  langsamer  Bewegung;  Freude 
erfordert  eine  geschwinde  Bewegung;  Zorn  verlangt  »geschwinde  Tiraden  auf- 
laufender Noten«  und  eine  sehr  heftige  Bewegung;  Mitleiden  und  Erbarmen 
geht  in  langsamer  Bewegung  bei  »öfters  einige  Zeit  liegen  bleibendem  Basse«; 
Furcht,  Angst,  Bangigkeit  wird  mit  zitternden,  abgebrochenen  Tönen  aus- 
gedrückt; Mut,  Entschlossenheit,  Unerschrockenheit  leitet  den  Ausdruck  von 
der  Hoffnung  und  Liebe  ab.  Die  Verwunderung  fehlt  bei  Marpurg,  sie  ge- 
hört wohl  mit  in  seine  Klasse:  Freundlichkeit,  Gütigkeit,  Wohlgewogenheit, 
Versöhnlichkeit,  Eintracht,  Dankbarkeit  usw.,  die  an  den  Ausdruck  der  Liebe 
anschließt. 

2  Alla  Capella  bedeutet  »auf  Capell-  oder  Kirchenmusik- Art«  (Musikalisches 
Handwörterbuch,  Weimar  1786).    Obiges  Zitat  nach  Spieß,  Tract.  mus.,  S.  73. 

3  Theorie  der  Tonk.,  S.  7. 


224  Fünftes  Kapitel. 

Notierung  übersichtlicher,  verständlicher  und  logischer  als  die 
unsrige,  doch  wird  sich  ein  Zurückgreifen  auf  die  ältere  Schreib- 
weise wohl  erst  durchführen  lassen,  wenn  unsere  Musiker  sich 
daran  gewöhnen,  die  Notierung  ihrer  Werke  ebenso  sorgfältig 
auszuarbeiten  wie  die  Vortragsbezeichnung. 

Die  Frage,  welche  Zeitdauer  einem  Allegro  oder  Adagio,  einer 
Gavotte,  Gigue,  Ghaconne  usw.  zukommt,  hat  die  Musiker  schon 
frühzeitig  beschäftigt.  Prätorius  berechnete  die  Taktdauer  nach 
der  Uhr1.  Ähnlich  machte  es  Joh.  Ad.  Scheibe.  Er  erzählt,  er 
habe  die  Zeit,  die  seine  Kompositionen  bei  der  Aufführung  be- 
anspruchen, nach  der  Uhr  bestimmt  und  den  Dirigenten,  die  seine 
Werke  aufführten,  vorher  davon  Mitteilung  gemacht2.  Diese  Zeit- 
bestimmung hält  Türk  mit  Recht  für  sehr  unvollkommen3.  Auch 
die  Bestimmung  der  Tempi  durch  Schritte,  die  Lambert  wieder 
aufgefrischt  hat4,  ist  so  unsicher,  daß  man  daraus  keine  brauch- 
baren Resultate  ableiten  kann.  Am  genauesten  ist  Quantzens 
Berechnung  der  Zeitmaße  nach  dem  Pulsschlag  und  die  franzö- 
sische Tempobestimmung  nach  den  Schwingungen  eines  Pendels. 

Bei  den  Franzosen  sind  Etienne  Loulie  und  Sauveur  die 
ersten,  die  das  Pendelgesetz  zur  Tempobestimmung  ausnutzen5. 
Loulie  konstruierte  ein  Chronometer,  mit  dem  er  alle  Taktbewe- 
gungen leicht  bestimmen  konnte.  Es  ist  ein  einfaches  Pendel,  das 
nach  einem  genau  eingeteilten  Maßstab  verkürzt  oder  verlängert 
werden  kann.  Loulie  gibt  eine  Anweisung  zum  Gebrauch  seines 
Chronometers,  läßt  sich  aber  auf  eine  genauere  Tempobestimmung 
zeitgenössischer   Kompositionen  nicht  ein.     Ergiebiger  sind  hier 


i  S.o.  S.  in. 

2  Über  die  mus.  Composition,  S.  299.  Vgl.  Löhlein,  Clavier-Schule  1773, 
S.  5. 

3  Klavierschule,  S.  112  f. 

4  A.a.O.   S.  18 f. 

6  Loulie"  veröffentlichte  seine  Beschreibung  eines  Chronometers  in  den 
schon  früher  zitierten  Elements  ou  Principes  de  Musique  (1698),  S.  96f.  Nach 
Rousseau  (Dictionnaire,  Art.  »Ghronometre«)  hat  Sauveur  in  den  »Prin- 
cipes d'Acoustique«  ein  Chronometer  beschrieben.  Auch  L'Affillard  (Prin- 
cipes tres-faciles,  7. edit.,  S.  54/55)  nennt  von  Sauveur  ein  Werk:  »Principes  nou- 
veaux  pour  apprendre  ä  Chanter«  (Eitner  unbekannt),  das  vom  Pendelgesetz 
zur  Tempobestimmung  handelt.  Ich  finde  das  Chronometer  bei  Sauveur  erst 
im  Jahre  1701  erwähnt,  in  dem  »Systeme  göneral  des  intervalles  des  Sons  et 
son  Application  ä  tous  les  Systemes  et  ä  tous  les  Instrumens  de  Musique«.  (Hi- 
stoire  de  l'Acad^mie  royale  des  Sciences,  Jhrg.  1701.  M^moires  deMathömatiqu 9, 
S.  315.) 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert. 


225 


die  Arbeiten  von  L'Affillard1,  Choquet2  und  Onzembray3, 
die  Loulies  Ideen  weiterführen  und  praktisch  verwerten.  L'Affil- 
lard bringt  eine  Reihe  von  Musikstücken,  bei  denen  er  genau  die 
Pendelschwingungen  berechnet  hat,  ebenso  Onzembray  und 
Choquet.  Ihre  Beispiele,  die  ich  an  einem  in  der  Manier  Loulies 
konstruierten  Pendel  nachgeprüft  habe,  zeigen  eine  mit  unserer 
Bestimmung  übereinstimmende  Bewegung.  So  lautet  bei  der 
Arie   »J'abandonne  ma  gloire«  aus  Lullys   Roland: 


9%tt  i  >  ?  r 


-•— £?- 


$: 


t=t 


J'abandonne  ma  gloire  et  la  lais-se  ter-nir,  Je  cheris  le       trait 

die  Vorschrift  Choquets,  das  Pendel  müsse  1  Fuß  4  Zoll  lang  sein 
oder  nach  unserem  Maß  etwa  43,2  cm.  Die  Bewegung  würde  un- 
gefähr der  Bestimmung M.M.  (J.)  =  72  entsprechen.   Für  das  Lied: 


I 


*Mb—d- 


* 


i 


Si  des  Ga-lants   de     la    vil  -  le,  J'eus-se  e-cou-te    les    dis-cours 

aus  Rousseaus  »Devin  de  Village«  ist  die  Pendellänge  auf  2  P\iß 
berechnet,  was  der  Angabe  M.M.(^)  =  60  ungefähr  gleichkommt. 
Die  Pendellänge  für  das  Tempo  der  »Rigaudons,  Gavotes,  Contre- 
Danses,  et  autres  Simphonies«  ist  mit  8  Zoll  (21,6  cm)  angegeben, 
etwa  M.M.  (ä))-  116. 

Verläßlicher  als  diese  Angaben  sind  die  von  Onzembray,  der 
auf  einer  Tafel  die  Taktdauer  mehrerer  charakteristischer  Musik- 
stücke nach  Sekundenteilen  berechnet  hat4.  Man  findet  da  an 
erster  Stelle  eine  Anzahl  Lullyscher  Kompositionen.  Für  die 
Bourree  aus  der  Oper  »Phaeton«  gibt  er  64  tierces  —  eine  Sekunde 
enthält  60  tierces  —  an,  d.  h.  die  Dauer  des  Einzeltaktes  beträgt 
li/jg  Sekunde  oder: 


1  A.  a.  0.  S.  54 f. 

2  A.a.O.  S.  116f. 

3  Onzembray,  Desription  et  usage  d'un  M6trometre,  ou  Machine  pour 
battre  les  Mesures  et  les  temps  de  toutes  sortes  d'Airs.  Histoire  de  l'Acad£mie 
royale  des  Sciences,  Jg.  1732,  S.  182f.  Onzembray  schließt  an  Loulie  an,  dem 
wohl  das  Prioritätsrecht  für  die  Tempobestimmung  nach  Pendelschwingungen 
zukommt. 

4  A.  a.  O.  S.  191.  La  [colomne]  marque  le  nombre  de  tierces  que  la  duröe 
de  chaque  mesure  contient. 

Kl.  Handb.  d.  Mnsikgesch.  X.  15 


226 


Fünftes  Kapitel. 


(M.  m.  gj=  m. 


-9 ii 

f  r  r 

^r  rir  r  n 

-*—+     J.      j> i— 

1 « 0 — . &z 

was  mit  Choquets  Gesamtangabe  übereinstimmt.  Folgende  Stücke 
aus  Lullys  »Atis«  und  »Phaeton«  hat  Onzembray  mit  126  und 
68  tierces  berechnet : 


Entree  des  Songes  funestes  aus  der  Oper  »Atis«. 
(M.  M.  J  =  58.) 


fc£ 


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P=S= 


s 


#=s^ 


4=^ 


Le  Printemps  et  sa  suite  dansent  (aus  der  Oper  »Phaeton«^ 
(M.  M.  «)=  106.) 


s 


fe* 


e  r  ej-Ith: 


fSEEgE* 


J3* 


-•— 


& 


=£*=& 


Unsere  Metronomangabe  müßte  etwa  J  =  58  und  J  =  106  lauten. 
Die  weiteren  Berechnungen  von  Onzembray  z.  B.  2.  Air  des  Songes 
funestes  aus  der  Oper  »Atis«:  64  tierces,  Gavotte  aus  der  Oper 
»  Roland«  74  tierces;  les  Demons  aus  der  Oper  »  Psiche«:  90  tierces, 
Passacaille  aus  »Persee«:  114  tierces  u.  a.  bestätigen,  was  unsere 
Beispiele  zeigen:  man  nahm  die  Tempi  durchweg  etwas  lebhaft. 
Interessant  sind  in  der  Tafel  noch  die  Angaben  über  die  »Thetis«- 
Ouvertüre  von  Colasse,  deren  Beginn  auf  112  und  deren  zweiter 
Teil  auf  90  tierces  geschätzt  wird.  Man  könnte  folgende  Metronom- 
angaben aufstellen: 


Colasse,   »Thetis« -Ouvertüre. 
(M.  M.  «1=64.)  ^ 


m^ 


■0-  -ß-'-m- 


t=n 


ß-p- 


A 


£ 


U\^   ^rfü 


t=f 


pm 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert. 


227 


Mittelteil: 
(M.  M.  J.  =  80. 


•^ 


rtt 


SE 


f=Sfr 


ft^S^ 


, — 1 I I I 


Dies  Kontrastieren  im  Tempo  gilt  für  alle  französischen  Ouvertüren. 
Auch  Lully  ließ  nach  Lamberts  Zeugnis  die  Reprise  in  der  »  Armiden  «- 
Ouvertüre,  die  gleichfalls  im  Sechsvierteltakt  steht,  sehr  lebhaft 
spielen1.  Bei  wortgetreuer  Satzwiederholung  wurde  stets  die 
Wiederholung  schneller  genommen.  »Geschähe  dieses  nicht«, 
sagt  Quantz,  »so  würden  die  Zuhörer  glauben,  das  Stück  sey  noch 
nicht  zu  Ende.  Wird  es  aber  in  einem  etwas  geschwindern  Tempo 
wiederholet,  so  bekömmt  das  Stück  dadurch  ein  lebhafteres,  und, 
so  zu  sagen,  ein  neues  oder  fremdes  Ansehen;  welches  die  Zuhörer 
in  eine  neue  Aufmerksamkeit  versetzet2.«  Die  Manier  war  nach 
Quantz  bei  guten  und  mittelmäßigen  Spielern  gebräuchlich  und 
von  guter  Wirkung. 

Unsere  Metronomangaben  französischer  Sätze  zeigen  in  den 
bewegten  Stücken  ein  äußerst  frisches  Tempo.  Darin  stimmen 
auch  alle  Theoretiker,  die  sich  mit  der  Zeitmaßbestimmung  be- 
schäftigen, überein:  charakteristische  Stücke,  wie  die  französischen 
Tanz-  und  Instrumentalsätze,  verlangen  schnelle  Tempi.  Auch 
Quantz  hat  bei  seiner  Tempobestimmung  der  französischen  Tanz- 
musik ein  flottes  Zeitmaß  angenommen.  Seine  Berechnungen, 
die  er  nach  dem  Pulsschlag  unter  Annahme  von  80  Schlägen  in 
der  Minute  angestellt  hat,  ergeben  für  die  Hauptstücke  der  fran- 
zösischen Musik  folgende  Metronomangaben3: 

Entree,  Loure,  Sarabande,  Courante  (3/4)  M.  M.  J  =  80 


Chaconne  (3/4) 
Passecaille  (3/4) 
Musette  (3/4  oder  3/8) 

oder  auch  zuweilen : 

Bourree  und  Rigaudon  ((£)  (jeder  Takt 

bekommt  einen  Pulsschlag) 


j— 160 

^'=88,  j  =  176 
4    oder  J>  =  80 
J.  oder  J.  =  80 

a  =80 


1  L  a  m  b  e  r  t ,  a.  a.  O.  S.  25 :  Mr.  de  Lully,  qui  fait  jouer  la  reprise  de  l'ou- 
verture  d'Armide  tres  vite  .  .  . 

2  A.  a.  O.  XVII,  VII,   §55. 

3  A.  a.  O.  XVII,  VII,   §49—58. 

15* 


228  Fünftes  Kapitel. 

Gavotte  ((£  oderC)  (etwas  gemäßigter  als  ein  Rigaudon)  M.M.J  =144 
Rondeau  ((£  oder  3  4)  »    »  J  =80 

Gigue  und  Canarie  (6/8)  *   *  Äj.=80 

Menuett  («/4)  >   >  ,  =160 

Passepied  (3/8)  »   »  #N  =  168 

Marsch  «£)  »    »  J  =80 

Diese  ungefähren  Tempoangaben  sind  sehr  hoch  gegriffen 
und  scheinen  nach  unserer  Gewöhnung  fast  zu  schnell.  Quantz 
denkt  dabei  an  Tanzstücke  im  Rahmen  einer  szenischen  Auf- 
führung, die  die  angegebenen  Tempi  sehr  gut  vertragen.  Auch  er 
kann  als  Gewährsmann  für  die  Feststellung  gelten,  daß  die 
französischen  Charakterstücke  im  18.  Jahrhundert  sehr  schnell 
gespielt  wurden. 

Quantz  hat  auch  die  Tempovorschriften  Allegro,  Adagio  usw. 
nach  dem  Pulsschlag  angegeben.  Er  stellt  fest,  daß  man  in  der 
Zeit  eines  Pulsschlages  nicht  mehr  als  acht  schnelle  Noten  spielen 
kann,  und  gibt  für  die  Taktdauer  der  einzelnen  Sätze  folgende 
Aufstellung: 

Im  geraden  Takt  (C)  kommt: 
In  einem  Allegro  assai  (4/4)  auf  jeden  halben  Takt  die  Zeit  eines 

Pulsschlages,  nach  unserer  Bestimmung:  M.  M.  J  =  80. 
In   einem   Allegretto   kommt   auf   jedes   Viertel   ein    Pulsschlag, 

M.  M.  j  =  80. 
In  einem  Adagio  cantabile  kommt  auf  jedes  Achtel  ein  Pulsschlag, 

M.  M.  ,s  =  80. 
In  einem  Adagio  assai  kommen  auf  jedes  Achtel  2  Pulsschläge, 

M.  M.  «,s  =  40. 
Im  Alla  Breve  ((£)  kommt: 
In  einem  Allegro  auf  jeden  Takt  ein  Pulsschlag,  M.  M.  ^  =  160. 
In  einem  Allegretto  auf  jeden  halben  Takt  ein  Pulsschlag,  M.  M. 

J  =  80. 
In  einem  Adagio  cantabile  auf  jedes  Viertel  ein  Pulsschlag,  M.  M. 

«  =80. 
In  einem  Adagio  assai  kommen  auf  jedes  Viertel  zwei  Pulsschläge, 

M.  M.  j  =  40. 
Ein  poco  Allegro,  Vivace  oder  Allegro  allein  bildet  etwa  die  Mitte 

zwischen  Allegretto  und  Allegro  assai. 
Im   2/4-  oder  schnellen   6/8-Takt  hat  im  Allegro  jeder  Takt 
einen  Pulsschlag,  M.  M.  J  oder  J.  =  80. 

Im  12/8-Takt  kommen  im  Allegro,  wenn  keine  Sechzehntel 
vorhanden  sind,  auf  jeden  Takt  zwei  Pulsschläge,  M.  M.  J,  =  80. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1S.  Jahrhundert.  229 

Beim  Allegro  im  3/4-Takt,  das  nur  Sechzehntel  oder  Achtel- 
triolen  aufstellt,  bekommt  das  erste  und  dritte  Viertel  des  ersten 
Taktes  und  jedes  zweite  Viertel  des  zweiten  Taktes  jedes  einen 
Pulsschlag,  drei  Pulsschläge  auf  6  Viertel,  etwa  M.  M.  j  =  160. 
Für  9/8  gilt  das  gleiche. 

Im  sehr  schnellen  3/4-  oder  3/8-Takt,  wo  nur  6  geschwinde 
Noten  in  jedem  Takt  vorkommen,  hat  jeder  Takt  einen  Puls- 
schlag, M.  M.  J.  oder  j.  =  80.  Im  Presto  sind  die  drei  Viertel 
oder  Achtel  so  schnell  zu  spielen  wie  die  Achtel  im  2/4-Takt. 

Im  Adagio  cantabile  (3/4),  wo  die  Grundstimme  in  Achteln 
gesetzt  ist,  hat  1  Achtel  einen  Pulsschlag,  M.  M.  f  =  80.  Ist 
die  Bewegung  in  Vierteln  notiert,  der  Gesang  mehr  arios  als  traurig, 
so  kommt  auf  jedes  Viertel  ein  Pulsschlag,  M.  M.  J  =  80.  Man 
hat  hier  genau  auf  Tonart  und  Tempovorschrift  zu  sehen,  denn 
wenn  Adagio  assai,  Mesto  oder  Lento  vorgeschrieben  ist,  so  erhält 
jedes  Viertel  zwei  Pulsschläge,  M.  M.  J^  =  80. 

Beim  Arioso  (3/8)  bekommt  jedes  Achtel  einen  Pulsschlag, 
M.  M.  /  =  80. 

Wenn  man  zwei  Pulsschläge  in  drei  Teile  teilt,  so  bekommt 
im  Siciliano  (12/8)  das  erste  und  dritte  Achtel  einen  Pulsschlag. 
Doch  kann  man  sich  hier,  wie  Quantz  sagt,  nicht  weiter  nach 
dem  Pulsschlag  richten,  da  sonst  das  dritte  Achtel  zu  lang  wird. 

Schnelle  Stücke  mit  Triolenpassagen  ohne  Sechzehntel  oder 
Zweiunddreißigstel  können  nach  Belieben  etwas  schneller,  als  der 
Pulsschlag  geht,  gespielt  werden,  was  besonders  für  die  schnellen 
<78-,   9/8-  und  i2/8-Takte  gilt. 

Die  Aufstellung,  die  mit  unserer  Tempoführung  in  den  Grund- 
zügen übereinstimmt,  gibt  nur  eine  ungefähre  Formulierung  der 
Haupttempi.  Quantz  sagt  selbst,  daß  es  ungereimt  und  unmöglich 
ist,  jedes  Stück  genau  nach  dem  Pulsschlag  abzumessen1.  Nur 
die  Grundtypen  sollen  durch  die  Tafel  eingeprägt  werden. 
Die  italienischen  Tempobezeichnungen  bringen  nach  Hiller  nur 
eine  einfache  Andeutung  und  Anleitung  zur  Tempoführung2, 
denn  das  »Langsame  sowohl  als  das  Geschwinde  und  Lustige  hat 
seine  Stuffen«3.  Die  eigentliche  Tempoführung  und  der  rhyth- 
mische Fluß  können  nicht  durch  Wortvorschriften  und  Regeln 
festgelegt  werden,  sie  müssen  aus  dem  Stücke  selbst  abgeleitet 


1  A.  a.  O.  XVII,  VII,   §  48. 

2  Anweisung  zum  musik.  richtig.  Ges.,  Anhang,   §  3. 

3  Leop.  Mozart,  Versuch  einer  gründlichen  Violinschule  1756,  I,  2,   §7. 


230  Fünftes  Kapitel. 

werden,  wie  Leop.  Mozart  sagt1,  aus  den  in  der  Musik  ausge- 
drückten Affekten.  Ein  geschickter  Musikus,  der  ein  Werk  gut 
zu  studieren  und  zu  dirigieren  weiß,  ist  stets  das  beste  Metro- 
nom (Rousseau)2. 

Im  Verlauf  der  Arbeit  ist  häufiger  auf  die  Affektentheorie 
hingewiesen  worden.  Sie  war  der  Hintergrund  aller  Bemerkungen 
über  Musikererziehung,  Orchesterspiel  und  Dynamik.  Wie  die 
Betonung  der  Ausdrucks  werte  der  Musik,  die  bei  der  Lehre  vom 
griechischen  Ethos,  bei  den  Vortragsregeln  des  gregorianischen 
Chorals  und  der  a  cappella- Kunst  erwähnt  wurde,  im  17.  Jahr- 
hundert zu  einer  neuen,  auf  Subjektivität  gegründeten  Literatur 
und  Ausführungspraxis  führte,  so  stehen  wir  im  18.  Jahrhundert 
vor  dem  völligen  Ausbau  dieser  praktischen  Musikästhetik,  vor 
einem   geschlossenen  musikalischen  System. 

Im  Kompositionsstil  und  im  Vortrag  spiegelt  sich  ebenso  wie 
in  der  Musikkritik  die  Lehre  von  den  Affekten.  Die  Darstellung 
von  Leidenschaften  und  Gemütsbewegungen  ist  das  Endziel  von 
Komposition  und  Vortragskunst3.  Der  Vortrag  besteht  nach 
Em.  Bach  in  »nichts  anderem,  als  der  Fertigkeit,  musikalische 
Gedancken  nach  ihrem  wahren  Inhalte  und  Affect  singend  oder 
spielend  dem  Gehöre  empfindlich  zu  machen«4,  und  Quantz  sagt: 
»Der  musikalische  Vortrag  kann  mit  dem  Vortrage  eines  Redners 
verglichen  werden.  Ein  Redner  und  ein  Musikus  haben  sowohl 
in  Ansehung  der  Ausarbeitung  der  vorzutragenden  Sachen,  als  des 
Vortrages  selbst,  einerley  Absicht  zum  Grunde,  nämlich:  sich  der 
Herzen  zu  bemeistern,  die  Leidenschaften  zu  erregen  oder  zu  stillen, 
und  die  Zuhörer  bald  in  diesen,  bald  in  jenen  Affect  zu  versetzen5.« 


1  Leop.  Mozart,  a.  a.  0.   I,  2,  §  7. 

2  Rousseau,  Dictionnaire,  Art.  »Chronometre  «:  le  seul  bon  Chronometre 
que  Ton  puisse  avoir,  c'est  un  habile  Musicien  qui  ait  du  goüt,  qui  ait  bien  lü 
la  Musique  qu'il  doit  faire  exöcuter,  et  qui  sache  en  battre  la  Mesure. 

3  Heinichen,  Der  General-Baß  in  der  Komposition,  1728,  S.  4:  Unser 
»finis  Musices«  ist,  »die  Affecten  zu  bewegen«.  S.  auch  ebenda  S.  25.  Meinr. 
S  p  i  e  s  s  ,  a.  a.  0.,  Anhang  S.  5:  »Affectus.  Bey  denen  Menschen  zu  erregen 
oder  zu  stillen,  ist  der  Music  eintziges  Zihl.«  Mattheson,  Kern  mel. 
Wissenschaft,  S.  6G:  »Das  rechte  Ziel  aller  Melodien  ist  nichts  anders,  als 
eine  solche  Vergnügung  des  Gehörs,  dadurch  die  Affecten  rege  werden.« 
H  i  1 1  e  r  ,  Wöchentl.  Nachrichten  1769,  S.  370:  »Zweck  in  der  Musik«  ist,  »Ge- 
müthsbewegungen  zu  erregen.«  S.  auch  S  u  1  z  e  r  s  Theorie,  Art.  »Ausdruck 
in  der  Musik «  u.  v.  a.  Vgl.  Hermann  Kretzschmar,  Allgemeines  und 
Besonderes   zur  Affektenlehre,   Peters-Jahrbuch  1911,  S.  67  f. 

*  A.a.O.  I,  III,  §2. 
6  A.  a.  0.  XI,  §1. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im   1 8.  Jahrhundert.  231 

Jedes  wahre,  vollkommene  Musikstück1  drückt  Leidenschaften 
oder  Gemütsbewegungen  aus.  Es  ist  »entweder  traurig  oder  leb- 
haft, ernsthaft  oder  zärtlich,  wild  oder  sanft,  gleichgültig  oder  emp- 
findsam« und  gibt  ein  Abbild  der  Verzweiflung,  des  Trostes,  der 
Ruhe,  des  Vergnügens,  der  Freude,  des  Kaltsinns,  der  Ungeduld 
und  anderer  Lagen  unserer  Empfindungen  und  Denkungsart2. 
Die  Affekte  treten  bald  vermischt,  bald  allein  auf,  sie  greifen  in- 
einander, kreuzen  sich  oder  bewegen  sich  in  kontrastierender 
Stellung,  um  schließlich  einer  einzigen  Stimmung  die  Führung 
zu  überlassen.  Kaum  hat  der  Komponist  einen  Affekt  gestillt, 
so  erregt  er  einen  andern,  »folglich  wechselt  er . .  mitLeidenschaften 
ab3.«  Diese  Erkenntnis  von  der  Ausdruckskraft  der  Musik  ist 
das  leitende  Prinzip  von  Produktion  und  Musikübung. 

Wir  können  uns  die  Affektenlehre  des  18.  Jahrhunderts  kaum 
in  ihrer  vollen  Wirkungskraft  vorstellen,  da  wir  eine  ähnliche, 
rein  praktische  Musikästhetik  nicht  mehr  besitzen.  Im  18.  Jahr- 
hundert folgte  jeder  Musiker,  Kritiker,  Komponist  und  Dirigent 
ihren  Gesetzen.  In  unserer  Zeit  ist  die  Affektenlehre  durch 
Hermann  Kretzschmars  musikalische  Analysen  und  durch 
seine  hermeneutischen  Anregungen  wieder  zu  Ehren  gebracht  und 
die  Berechtigung  einer  rein  musikalischen  Dolmetscherkunst  neben 
der  philosophischen  Richtung  in  der  Musikästhetik  erwiesen  worden. 
Die  praktischen  Erfolge  dieser  Anregungen  liegen  in  der  ver- 
änderten Auffassung  der  Bachschen  Kunst  vor  (Schweitzer,  Pirro 
und  Heuß)  und  in  der  allmählich  systematisch  werdenden 
Kritik  unserer  Tage.  Allerdings  steht  eine  umfassende  Behand- 
lung der  alten  Ästhetik  noch  aus4.  Sie  müßte  die  Lehre  aus  Theo- 
rie, Praxis  und  Komposition  ableiten  und  auch  auf  die  Gefahren 
einer  musikalischen  Sammlung  von  Affektenformeln  aufmerksam 
machen,  wie  sie  sich  kleinere  Geister  schon  in  früheren  Jahr- 
hunderten zurechtgemacht  haben. 

Diese  Affektentheorie,  die  bereits  in  der  Renaissance  der 
Direktionsführung  neue  Bahnen  weist,  bildet  im  18.  Jahrhundert 
den  Hintergrund  der  Kunst  des  Dirigierens.    Der  wahre  Ausdruck 


i  S.  Quantz,  a.  a.  0.   XVII,  VI,   §25. 

2  Pe  tri,  a.  a.  O.  S.  166. 

3  Bach,  a.a.O.  I,  III,  §13. 

*  S.  Kretzschmar,  Allgemeines  und  Besonderes  zur  Affektenlehre, 
Peters-Jahrbuch  1911,  und  Wilhelm  Casparis  meist  übersehene  Disser- 
tation: Gegenstand  und  Wirkung  der  Tonkunst  nach  der  Ansicht  der  Deutschen 
im  18.  Jahrhundert,  Erlangen.  1903. 


232  Fünftes  Kapitel. 

der  Affekte  und  deren  lebensvolle  Wiedergabe  ist  das  Ziel,  das 
der  Kapellmeister  zu  erreichen  sucht.  »Der  höchste  Grad  der 
von  einem  Anführer  erforderlichen  Wissenschaft  ist:  daß  er  eine 
vollkommene  Einsicht  habe,  alle  Arten  der  Composition  nach 
ihrem  Geschmacke,  Affecte,  Absicht  und  rechtem  Zeitmaaße  zu 
spielen.  Es  muß  derselbe  also  fast  mehr  Erfahrung  vom  Unter- 
schiede der  Stücke  haben,  als  ein  Componist  selbst«,  denn  der 
Kapellmeister  hat  die  Werke  verschiedener  Komponisten  aufzu- 
führen, während  sich  der  Komponist  oft  nur  um  das  kümmert, 
was  er  selbst  geschrieben  hat1.  Der  Dirigent  muß  also  die  Ge- 
danken eines  Stückes  bestimmen  können,  er  muß  die  ausgedrückten 
Affekte  erkennen  und  danach  Direktion  und  Vortrag  einrichten. 
Quantz  drückt  das  so  aus:  »Weil  in  den  meisten  Stücken  immer 
eine  Leidenschaft  mit  der  andern  abwechselt;  so  muß  .  . .  der  Aus- 
führer jeden  Gedanken  zu  beurtheilen  wissen,  was  für  eine  Lei- 
denschaft er  in  sich  enthalte,  und  seinen  Vortrag  immer  derselben 
gleichförmig  machen.  Auf  diese  Art  nur  wird  er  den  Absichten 
des  Componisten,  und  den  Vorstellungen,  so  sich  dieser  bey  Ver- 
fertigung des  Stückes  gemacht  hat,  ein  Gnüge  leisten2.«  Der 
Vortrag  gründet  sich  demnach  auf  die  Untersuchung  der  Affekte 
und  deren  Wiedergabe.  Welche  Anhaltspunkte  waren  dem 
Kapellmeister  für  diese  Affektenbestimmung  gegeben,  und  wie 
brachte  er  die  Affekte  in  seiner  Direktion  und  Tempo führung 
zum  Ausdruck? 

Nach  Quantz  hat  der  Dirigent  zunächst  die  Art  der  Kom- 
position und  »Ort  und  Absicht«  einer  Musik3  zu  berücksichtigen; 
ob  sie  in  Kirche,  Kammer  oder  Opernhaus  aufgeführt  wird,  und 
welche  besondere  Gelegenheit  vorliegt,  eine  Fest-  oder  Hochzeits- 
musik, eine  Passionsaufführung  oder  liturgische  Kirchenmusik, 
denn  jede  Musikgattung  hat  ihre  eigenen  Gesetze.  So  fordert 
die  Kirchenmusik  mehr  »Pracht  und  Ernsthaftigkeit«  als  eine 
theatralische.  Ihr  Vortrag  ist  in  Ausführung  und  Zeitmaß  ge- 
mäßigter als  der  einer  Oper4.  Kommen  in  der  Kirchenmusik 
»freche  und  bizarre  Gedanken«  vor,  d.  h.  Themen  im  Zuscbnitt 
der  Allesro-  oder  Prestomotive,  so  müssen  sie  soviel  als  möglich 


i  Quantz,  a.  a.  0.  XVII,  I,  §4. 

2  Ebenda  XI,   §15. 

3  Ebenda  XVII,  VII,   §  12.     Vgl.   Reichardt,    Briefe   eines   aufmerks. 
Reisenden  I,  S.  35 f. 

4  Quantz,   a.  a.  0.    §  12  und  53. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  233 

»vermäntelt ,  gezähmet,  und  sanfter  gemacht  werden«1.  Mit 
anderen  Worten:  freudige,  fröhliche  Affekte,  wie  sie  die  Bachschen 
Jubelchöre  in  den  Kantaten  und  die  Allegri  der  Haydnschen 
Messen  bringen,  sind  im  Charakter  von  ähnlichen  Sätzen  weltlicher 
Musik  zu  unterscheiden.  Sie  müssen  durch  einen  »bescheidenen 
Vortrag«  (Quantz)  gemildert  und  dem  Rahmen  der  Kirchenmusik 
angepaßt  werden.  Hier  muß  der  Direktor  alle  Gedanken,  die  der 
Komponist  an  den  Begriff  des  Allegro  binden  kann,  in  der  Bewe- 
gung »einer  mäßigen  Geschwindigkeit«  vortragen2.  Anders  steht  es 
bei  der  theatralischen  Musik.  Sie  gibt  dem  Kapellmeister  größere 
Freiheit  in  Tempo  und  Ausdruck,  während  die  Intermezzi,  die 
»mehr  aus  gemeinen  und  niedrigen,  als  ernsthaften  Gedanken 
von  den  Componisten  verfertiget«  werden,  nicht  nach  dem  Modus 
der  Oper,  sondern  »auf  eine  niedrige  und  ganz  gemeine  Art«  zu 
spielen  sind3,  d.  h.  in  einer  sinnfälligen,  charakteristischen,  weder 
galanten  noch  reich  verzierten  Spielmanier.  Das  gleiche  gilt  von 
der  Ballettmusik,  die  aus  bestimmten  Charakteren  besteht,  die  ihr 
eigenes  Tempo  verlangen.  Die  Musik  nimmt  an  der  herrschenden 
Lustigkeit  Anteil.  Der  Kapellmeister  hat  bei  solchen  Stücken  auf 
das  Temperament  der  Ausführenden,  auf  ihre  Bewegungen  und 
Gesten  zu  achten,  damit  die  Musik  nicht  nachschleppt  oder  voreilt; 
er  muß  auf  das  »Niederfallen  der  Füße«  sehen,  um  die  rechte  Be- 
wegung zu  finden,  und  dann  möglichst  ernsthaft  spielen  lassen,  da 
»das  Zärtliche  undCantable«in  diesen  Stücken  selten  zu  finden  ist4. 
Ein  gut  pointierter,  rhythmisch  genauer  Vortrag,  ein  wenig  verän- 
dertes Tempo  ist  hier  die  erste  Regel  einer  guten  Aufführung. 
Freier  kann  die  italienische  Tanzmusik  vorgetragen  werden,  da 
sie  nicht  auf  bestimmte  Charaktere  zugeschnitten  ist.  Der  Diri- 
gent hat  überhaupt  zu  unterscheiden,  ob  italienische,  französische 
oder  deutsche  Stücke  gespielt  werden,  und  welcher  Richtung  die 
einzelnen  Musiksätze  angehören,  denn  der  »Stylus  lustig-  und  frö- 
licher  Musicken  ist  sehr  unterschieden  /  von  dem  ernsthafften 
und  ernstlichen;  der  Kirchen -Styl  ist  sehr  unterschieden  von 
dem  Theatralischen  oder  Kammer-Styl ;  der  Italiänische  Styl  ist 
scharff  /  bunt  und  ausdrückend;  der  Frantzösische  hergegen  natür- 


1  Quantz,  a.  a.  O.  XVII,  VII,  §12.  Vgl.  Sulzers  Allg.  Theorie,  Art. 
»Vortrag«  :  »Ein  Allegro  für  die  Kirche  verträgt  keine  so  geschwinde  Bewegung, 
als  für  die   Kammer  oder  das  Theater  .  .  .« 

2  Junker,  a.  a.  O.  S.  30. 

3  Quantz,  a.  a.  O.   XVII.  VII,   §13. 

*  Quantz,  a.  a.  O.  XVII,  VII,  §  56f.,  auch  Reichardt,  a.  a.  O.  I,  S.  35. 


234  Fünftes  Kapitel. 

lieh  /  fliessend,  zärtlich«1.  Die  Kenntnis  dieser  musikalischen 
Stilistik  ist  Sache  der  Ausbildung  und  Erfahrung.  Der  Dirigent 
muß  in  einem  wohlgezogenen  Orchester  unter  einem  guten  An- 
führer »vielerley  Arten  von  Musik«  mitgespielt  haben,  oder  aber 
er  muß  »  an  verschiedenen  Orten« ,  wo  er  gute  Aufführungen  hören 
kann,  gewesen  sein,  und  davon  Nutzen  gezogen  haben2,  denn 
nur  durch  ein  vielseitiges  Studium  und  durch  die  Praxis  können 
die  verschiedenen  Stilgattungen  und  ihr  rechter  Vortrag  getroffen 
werden. 

Hat  der  Kapellmeister  aus  Gattung,  Charakter  und  Stilistik 
einer  Musik  allgemeine  Anhaltspunkte  für  die  Direktion  gefunden, 
so  kann  er  sich  der  Detailausarbeitung  der  Musik  zuwenden,  der 
Untersuchung  über  die  einem  Stück  zugrunde  liegenden  Affekte 
und  über  ihre  sinngemäße  Interpretierung. 

Diese  Ausdrucksanalyse,  bei  der  man  nicht  allein  die  Melodie- 
stimme, sondern  die  gesamte  Partitur  untersuchen  soll3,  ist  in 
der  Vokalmusik  am  leichtesten  zu  treffen.  Der  Textgedanke 
gibt  den  Anhalt  zur  Affektbestimmung.  Aber  die  Ausdrucks- 
möglichkeiten sind  auch  hier  unbegrenzt,  wie  die  verschiedenen 
Kompositionen  gleicher  Texte,  die  Messen,  Hymnen,  Psalmen 
und  die  Opern  nach  den  Libretti  von  Zeno  und  Metastasio  zeigen. 
Der  Dirigent  steht  also  in  der  Vokalmusik  vor  der  Aufgabe,  den 
vom  Komponisten  in  den  Vordergrund  gestellten  Ausdruck  zu 
erkennen.  Er  muß,  wie  Reichardt  sagt,  bei  einer  Arie  die  Stel- 
lung zu  den  übrigen  Stücken  untersuchen  und  den  Punkt  treffen, 
unter  dem  der  Komponist  die  Worte  betrachtete.  Für  diese 
Untersuchung  hat  Joh.  David  Heinichen  in  seiner  Generalbaß- 
schule hübsche  Beispiele  gegeben4.  Sie  sind  zwar  für  die  Kompo- 
nisten hingesetzt,  lassen  sich  aber  ebensogut  auf  die  Untersuchung 
einer  Vokalmusik  auf  die  Affekte  hin  anwenden.  Heinichen  zeigt, 
wie  der  Komponist  bei  einem  unfruchtbaren,  dem  Affektausdruck 
wenig  entgegenkommenden  Text  die  Worte  in  ein  festes  Stim- 
mungsbild, in  eine  Affektendarstellung  einspannen  kann.  Der 
Komponist  müsse  »3  fontes  principales,  nehmlich  Antecedentia, 
Concomitantia,  et  Consequentia  Textus«  auf  die  Locos  Topicos 
untersuchen  und  die  »occasione  der  Worte  /die  dabey  coneurriren- 


1  Mattheson,  Das  Beschützte  Orchestre  1717,  S.  115. 

2  Quantz,   a.  a.  O.  XVII,  I,  §4.     Vgl.  Em.  Bach,  a.  a.  0.  I,  III,  §8. 

3  Reichardt,  a.  a.  O.  S.  36. 

4  Der  General-Baß    in    der  Composition,   Einleitung.      Siehe  Kretzsch- 
mar,  a.  a.  0. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  4  8.  Jahrhundert.  235 

den  Umstände  der  Person  /  der  Sache  /  des  Wesens  /  des  Uhr- 
sprungs /  der  Arth  und  Weise  /  des  Entzweckes  /  der  Zeit  /  des 
Ortes  etc.  wohl  erwegen«,  dann  kann  es  seiner  Phantasie  an 
Bildern  und  Affekten  nicht  fehlen.  So  können  in  einer  Opern- 
arie der  Metilde  Worte:  »Non  e  sola  e  straniera  —  la  causa,  che 
vera;  —  non  dubito  nö.  —  se  oprire  si  sä  —  spesso  meglio  da  se 
la  veritä  — «,  die  wahrlich  keine  Affekte  ausdrücken,  so  gefaßt 
werden,  daß  der  Komponist  an  das  Vorangegangene  (die  An- 
tecedentia  Textus)  denkt,  an  die  Worte  »alti  dissegni,  e  preci- 
picii  inmensi:  accusare,  gridare,  chieder  raggione«  etc.  und  sie  mit 
»dem  aller  furieusesten  Affect«  ausdrückt,  zu  dem  die  Worte 
»Non  e  sola«  gesungen  werden.  Oder  der  Musiker  hält  sich  an 
die  Worte  »accusare,  gridare«  etc.,  um  den  Hintergrund  der  Arie 
auf  einen  »gleichsam  zanckenden«  Ton  zu  stimmen.  Auch  kann 
der  Komponist  den  Entschluß  der  Metilde,  ihren  Geliebten  zu  be- 
freien, durch  einen  heroischen  Affekt  in  pompöser  Manier  in  der 
Arie  fortklingen  lassen.  Geht  der  Komponist  auf  die  Concomi- 
tantia  Textus  aus,  so  wird  er  auf  den  ersten  Teil  der  Arie  zurück- 
greifen und  die  Eigenschaften  des  Glücks,  » das  uns  stets  verfol- 
gende /  .  .  das  wandelbahre  /  und  unbeständige  /  das  rasende  /  das 
flüchtige  /  das  opiniatre  und  contraire«,  ja  endlich  das  Leid 
bringende  Glück  vorführen.  Heinichen  bringt  noch  mehr  Bei- 
spiele. Er  zeigt  die  »Tentresse  des  Affectes«  in  einem  »languis- 
santen«  Siziliano,  die  »seufftzende  Liebe«  in  einem  klagenden, 
schluchzenden  C-moll-Satz,  den  ängstlich  die  Geliebte  suchenden 
Aminta  in  einem  »bizarren  /  mit  syncopationibus  und  semitoniis 
angefülleten  Themate«  und  die  »spielenden  Liebes -Blicke«  in 
einem  lieblichen  C-moll-Satz  im  3/8-Takt  mit  schmeichelnden 
»Flauti  unisoni«.  Mattheson  führt  Heinichens  Theorie1  noch 
weiter.  Er  gibt  für  die  Melodieerfindung  noch  eine  große  Anzahl 
weiterer  Fontes2,  während  Spieß  an  die  Chrie:  Quis?  quid? 
ubi?  quibus   auxiliis?  cur?  quomodo?   quando?  erinnert3. 


1  Interessant  ist  H  i  1 1  e  r  s  Kritik  der  Lehre  Heinichens.  Er  bedauert, 
daß  die  Theorie  »nicht  etwas  bestimmter  und  ordentlicher  ist«.  Sie  sei  »bey 
dem  vielen  Guten,  das  sie  enthalte,  nicht  an  allen  Orten  richtig  und  brauchbar« 
und  erfordere  für  den,  der  sich  solcher  Hilfsmittel  bediene,  viel  Unterscheidungs- 
kraft, »damit  nicht,  bey  einigen  Gelegenheiten,  über  den  neuen  Erfindungen  der 
eigentliche  und  wahre  Ausdruck  verloren  gehe«.  (Lebensbeschreibungen,  Hei- 
nichen.) 

2  Vollkomm.  Capellm.  II,  IV. 

3  Tract.  mus.,  S.  133. 


236  Fünftes  Kapitel. 

Diese  Erfindungslehren  haben  auch  ihren  Wert  für  die  Direk- 
tion. Der  Kapellmeister  soll  die  vom  Komponisten  gewählten 
Grundaffekte  eines  Stückes  bestimmen,  d.  h.  er  muß  zusehen, 
ob  der  Musiker  in  unserer  Arie  die  amourösen,  die  seufzenden 
oder  die  fröhlichen  Affekte  in  den  Vordergrund  gestellt  hat.  Er 
muß  die  Stimmung  treffen,  von  der  der  Komponist  ausgegangen 
ist,  die  dem  Stücke  zugrunde  liegt.  Aus  dieser  Untersuchung 
ergibt  sich  dann  die  Durchführung  und  Modifikation  des  Zeit- 
maßes, denn  in  dem  wahren,  lebensvollen  Ausdruck  der 
Affekte   beruht  die   Kunst   des  musikalischen   Vortrags. 

Schwieriger  ist  die  Affektbestimmung  bei  den  Instrumental- 
stücken, die  »ohne  Worte,  und  ohne  Menschenstimmen,  eben 
sowohl  gewisse  Leidenschaften  ausdrücken,  und  die  Zuhörer  aus 
eine  in  die  andere  versetzen,  als  die  Vocalmusik«1.  Die  Ausdrucks- 
analyse kann  hier  nur  aus  der  Untersuchung  des  Notenbildes, 
der  Setzart,  der  Stilistik  und  aus  speziellen  Vorschriften  des 
Komponisten  abgeleitet  werden. 

Zuerst  hat  man,  wie  Quantz  sagt,  auf  die  Tonarten  zu  achten. 
Dur  ist  meist  der  Ausdruck  des  »Lustigen,  Frechen,  Ernsthaften, 
und  Erhabenen«,  während  Moll  das  »Schmeichelnde,  Traurige 
und  Zärtliche«  anzeigt2.  Auch  die  Tonartencharakteristik  gehört 
hierher.  A-moll,  C-moll,  Dis-dur  und  F-moll  drücken  nach  Quantz 
den  traurigen  Affekt  viel  mehr  aus  als  andere  Molltöne,  während 
die  übrigen  Moll-  und  Durtöne  zu  den  »gefälligen,  singenden,  und 
ariosen  Stücken«  gehören3.  Hierin  schließt  Quantz  an  Mattheson4 
an.  Für  Mattheson  hat  D-moll  etwas  »devotes,  ruhiges«,  auch 
»etwas  grosses  /  angenehmes  und  zufriedenes«.  G-moll  mischt 
»ziemliche  Ernsthaftigkeit  mit  .  .  Lieblichkeit«;  A-moll  ist  »etwas 
klagend /ehrbar  und  gelassen«,  doch  gar  nicht  unangenehm;  E-moll 
macht  » tief fden ckend  /  betrübt  und  traurig«,  doch  so,  daß  man 
sich  noch  zu  trösten  hofft;  C-dur  hat  eine  »ziemlich  rüde  und 
freche  Eigenschafft«,  ist  nicht  ungeschickt,  »um  der  Freude 
ihren  Lauff«  zu  lassen;  F-dur  ist  geeignet,  »die  schönsten  Senti- 
ments  von  der  Welt  zu  exprimiren«;  D-dur  ist  »etwas  scharf f 
und  eigensinnig«,  mitunter  auch  »delicat«,  wenn  an  Stelle  der 
weichen  Trompeten   eine  Flöte   dominiert;   G-dur  hat    »viel  in- 


1  Quantz,  a.  a.  0.  XVIII,  §  28. 

2  Ebenda  XI,    §  16. 

3  Ebenda  XIV,  §6. 

4  Neu  Eröffn.  Orchestre  III,   Kap.  II.     Ich  gebe  nur  einen  kurzen  Auszug 
aus  dem   Kapitel. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  4  8.  Jahrhundert.  237 

sinuantes  und  redendes«;  C-moll  ist  ein  »überaus  lieblicher«, 
aber  auch  »trister  Tohn«;  F-moll  ist  gelinde,  gelassen,  dabei  mit 
tiefer  und  schwerer  Verzweiflung  und  Herzensangst  gemischt; 
B-dur  ist  sehr  »divertissant  und  prächtig«,  hat  gern  etwas  mo- 
dcstes;  A-dur  ist  mehr  zu  »klagenden  und  traurigen  Passionen« 
geneigt;  E-dur  ist  verzweiflungsvoll  oder  traurig,  es  hat  etwas 
»schneidendes /scheidendes/  leidendes /und  durchdringendes«  usw. 
Bei  der  Anwendung  dieser  Tonarten  in  »Ausdrückung  der  Affekte« 
gibt  es  allerdings  viel  Ausnahmen.  Quantz  rät  daher,  bei  der 
Affektbestimmung  auch  noch  auf  die  Intervalle  und  die  Phra- 
sierung  zu  sehen.  Geschleifte,  naheliegende  Intervalle  sind 
schmeichelnd,  traurig  oder  zärtlich,  kurz  gestoßene,  in  Sprüngen 
gehaltene  Noten  und  Figuren,  in  denen  Punkte  hinter  der  zweiten 
Note  stehen,  sind  lustig  und  kühn1.  Punktierte  und  anhaltende 
Noten  drücken  Ernst  und  Pathos  aus,  lange  Noten  im  Werte 
halber  und  ganzer  Takte  zwischen  schnelleren  sind  prächtig  und 
erhaben2. 

Das  Hauptkennzeichen  der  Affekte  sind  in  den  Instrumental- 
stücken die  Dissonanzen.  »Es  stecken  . . .  schöne  affectus  und  Be- 
wegungen in  dem  Gebrauch  der  dissonantien  /  sonderlich  da  man 
etwas  trauriges  wil  einführen  . . .  denn  was  weit  von  der  aequalität 
oder  Vollkommenheit  /  das  ist  trauriger  /  verwirreter  Natur3.« 
Die  Konsonanzen  befriedigen  das  Gemüt,  die  Dissonanzen  bringen 
Unruhe  und  Verdruß4.  Sie  bilden  das  wichtigste  Mittel  des 
Affektausdrucks,  denn  »ohne  diese  Vermischung  des  Wohlklanges 
und  des  Übelklanges,  würde  in  der  Musik  kein  Mittel  übrig  seyn, 
die  verschiedenen  Leidenschaften  augenblicklich  zu  erregen,  und 
augenblicklich  wieder  zu  stillen«5.  Auch  die  verschiedenen  Takt- 
arten  geben  einen  Anhalt  zur  Bestimmung  der  herrschenden 
Affekte.  Sie  sind,  wie  Fuhrmann  sagt,  erfunden,  damit  sie 
»den  affectum  laetitiae  et  tristitiae  desto  besser  rühren  möchten«6, 

1  Vgl.  Em.  Bach,  a.  a.  O.  I,  III,  §5:  Lebhaftigkeit  wird  durch  gestoßene 
Noten  ausgedrückt,  das  Zärtliche  des  Adagio  in  »getragenen  und  geschleiften 
Noten«. 

2  Quantz,  a.  a.  O.  XI,   §16. 

3  Werckmeister,  Musicae  mathemat.  Hodegus  Curiosus  1686,  Kap.  28, 
S.  84.     S.   auch   desselben  Cribrum  musicum  1700,  Cap.  XV,  S.  38. 

4  Quantz,  a.  a.  O.   XVII,  VI,   §12. 

5  Ebenda,  vgl.  Li ngke,  Einige  zum  allgemeinen  Nutzen  deutlicher  gemachte 
Erwegungs  und  andere  .  .  .  Wahrheiten.  Leipzig  (ca.  1750),  S.  60  über  den  Ge- 
brauch der  Konsonanzen   und  Dissonanzen   zur  Erregung   der  Leidenschaften.. 

ß  Musical.  Trichter,  S.  44. 


238  Fünftes  Kapitel. 

und  Werckmeister  meint,  »daß  an  der  Mensur  und  Tacte  zu  Er- 
vveckung  der  Liebligkeit  viel  gelegen«  ist1.    So  weist  der  3/x-Takt 
auf  ernste  und  traurige  Affekte,  der   3/8  wieder  auf  Freude  und 
Frohsinn2.     Nach  Mattheson  wird  der  2/2-Takt   gern  »zu  An- 
fang   der   Ouvertüren,    zu    Gavotten,    Rigaudons,    Entreen    und 
anderer  Frantzösischen  Arten«  gebraucht;  der  2/4,  »ein  sehr  be- 
liebtes   Mouvement«,   deutet    auf    kantabile  Stücke,    er   »bringt 
fast  von  selbst  singende  Sachen  hervor«,  während   der  C-Takt 
der  Arien,  Allemanden,  Bourreen  usw.  zu  vielen  Affekten  geeignet 
ist.      Der    6/4,    der   besonders   in   »gravitätischen   Giguen«   vor- 
kommt, zeigt  » serieuse  Sachen«  an,  der  6/8  ist  f ür  »  coulante,  melo- 
dieuse,   auch  frische  und  hurtige  Sachen«  geschickt.    Mattheson 
nennt  ihn  fast  die  schönste  Taktart  der  modernen  Komposition. 
Der  12/8,  der  immer   mehr  zu  »traurigen  und  touchanten  Affecten« 
gebraucht  wird3,  bringt  »eine  gewisse  Ernsthafftigkeit«  mit  sich. 
Er  kennzeichnet  die  »aller  tendresten  und  beweglichsten  Sachen« 
in  Kirchen-,  Opern-  und  Vokalmusik.     Der   12/i6  hat  ein  etwas 
»vehementes  mouvement«,   er   drückt  eine  ungeduldige   Passion 
aus.    Von  den  ungeraden  Takten  ist  der  3/x  nur  in  alten  Stücken 
zu  finden,  der  3/2  kommt  in  »tristen  Arien«  vor,  der  3/4,  der  am 
gebräuchlichsten  ist,  dient  meist  für  »lustige  Sachen«.     Der  3/8 
kommt  oft   »par  affectation«    mit  dem  vorigen  überein.    Er  ist 
sehr  beliebt  und  wird  auch  in  Adagio -Arien  angewandt.     Sein 
eigentliches  Feld  sind  »Passepieds,  Canaries,  und  andere  hüpfende 
Species«.    Der  9/8  wird  weniger  gebraucht,  ist  aber  zu  »bizarrien« 
tauglich.      Das   gleiche  gilt  vom   9/16.   —   Diese  Aufstellung  ist 
nur  die    »formirung   einer   general-Idee«,    wie   Mattheson    sagt4. 
Sie    zeigt  aber  ebenso  wie  die  Takttheorien  Fuhrmanns,   Ja- 
nowkas,  auch  Kirnbergers5  und  Scheibes6,  daß  im  18.  Jahr- 
hundert jeder  Taktart  ein  eigener  Charakter  zugesprochen  wurde. 
Der  Hauptaffekt  wird   schließlich   durch  die  Worte   »Allegro, 
Allegro  non  tanto,  —  assai,   —  di  molto,    —   moderato,    Presto, 


i  Mus.  math.  Hod.,  Kap.  6-5,  S.  129. 

2  Janowka,  Clavis  ad  thes.,  Art.  »Tactus«  :  3/i ,  rebus  gravibus  Majes- 
tuosis,  itemque  tristibus  ac  lamentuosis  maxime  inservit.  Vom  3/8:  rebus  gau- 
diosis  et  exultantibus  in  Ecclesiastico  stylo  [inservit]. 

3  Vgl.  Heinichen,  a.  a.  0.  S.  62:  Der  Sicilano  im  i2/8-Takt  hat  »gern 
etwas  languissantes  bey  sich«. 

*  Mattheson,  Neu  Eröffn.  Och.,  I,  Kap.  III,  Vom  Tacte. 

5  Die  Kunst  des  reinen  Satzes,  II.  Teil,  I.  Abteilung,  S.  122 f. 

6  Über  die  musical.  Compos.,  S.  204f. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  239 

Allegretto,  Andante,  Andantino«  usw.  bestimmt1.  Jedes  dieser 
Worte  legt  einen  andern  Vortrag  fest.  Doch  muß  man  stets 
daran  denken,  daß  jedes  Musikstück  verschiedene  Mischungen 
von  »pathetischen,  schmeichelnden,  lustigen,  prächtigen,  oder 
scherzhaften  Gedanken«  ausdrücken  kann,  so  daß  sich  der 
Ausführende  unter  Umständen  bei  jedem  Takt  in  einen  an- 
deren Affekt  versetzen  muß2.  Außer  diesen  Vorschriften 
werden  von  vielen  Komponisten  noch  spezielle  Hinweise  auf  die 
im  Stück  ausgedrückten  Gemütsstimmungen  gegeben,  Worte,  »die 
wegen  des  Affekts  und  Hauptkarakters  eines  musikalischen 
Stücks  zu  Anfange  desselben  überschrieben  werden  .  .  .  Sie  kommen 
auch  .  .  .  mitten  in  einem  Stükke  vor,  wenn  ein  andrer  Affekt 
erfordert  wird,  welches  vornehmlich  in  Singstükken  des  Affekts 
wegen  öfters  geschieht,  den  der  Text  mit  sich  bringt...  In  Absicht 
dieses  Affekts  gehören:   Doloroso,  Mesto,   Languido,  Lagrimoso, 

Lugubre Pomposo,  Maestoso,  Affettuoso,  Amoroso,  Scher- 

zando«  u.  s.w.3.  Diese  Angaben  sind  das  sicherste  Kennzeichen 
der  einem  Satz  zugrunde  liegenden  Affekte,  sie  bilden  die  Pro- 
grammüberschrift der  Instrumentalstücke. 

Hatte  der  Dirigent  ein  Musikstück  nach  den  gegebenen  Ge- 
sichtspunkten auf  die  Affekte  hin  untersucht  und  auch  die  in 
einzelnen  Stimmen  etwa  vorkommenden  Schwierigkeiten4,  sowie 
das  Vorherrschen  kleinerer  oder  größerer  Notenwerte  als  Anhalt 
zur  Tempobestimmung  geprüft,  so  konnte  er  sich  bei  der  Di- 
rektion ganz  dem  Ausdruck  der  Affekte  zuwenden,  vorausgesetzt, 
daß  die  Musiker  ihm  zu  folgen  wußten5  und  nach  einer  ein- 
heitlichen Schule  spielten.  Wie  er  dabei  im  einzelnen  die  rhyth- 
mische Bewegung  ausgestaltete,  darüber  lassen  sich  keine  festen 
Regeln  geben.    »Hier  muß  ein  ieder  in  seinen  Busen  greiffen  und 


i  S.  o.  S.  221  f.,  u.  Qu  an  tz,  a.a.O.  XI,  §16. 

2  Quantz ,  ebenda. 

3  Petri,  a.a.O.  S.  158 f. ;  auch  Marpurg,  Anl.  zum  Clavierspielen, 
S.  17  u.  a. 

4  Reichardt,  Briefe  eines  aufm.  Reisenden  I,  S.  3 6 f . ;  Sulzers  Allg. 
Theorie,  Art.  »  Vortrag«  :  »Ein  Stük  mit  allegro  bezeichnet,  dessen  mehreste  und 
geschwindeste  Noten  Achtel  sind,  hat  eine  geschwindere  Taktbewegung,  als 
wenn  diese  Noten  Sechzehntel  sind,  und  eine  gemäßigtere,  wenn  sie  Zweyund- 
dreyßigtheile  sind;  so  auch  in  den  übrigen  Gattungen  der  Bewegung.«  Vgl.  auch 
oben:  Tempobestimmung  nach  den  Notenwerten,  S.  107 f.  und  220 f. 

5  Petri,  a.  a.  O.  S.  172:  Die  Musiker  müssen  sich  nach  dem  Konzertmeister 
und  Musikdirektor  richten,  »welcher  den  Affekt  des  vorzutragen  - 
den   Stücks   am  besten  überdacht  hat«. 


240  Fünftes  Kapitel. 

fühlen,  wie  ihm  ums  Hertze  sey:  da  denn  nach  Befindung  desselben 
unser  Setzen,  Singen  und  Spielen  auch  gewisse  Grade  einer  ausser- 
ordentlichen und  ungemeinen  Bewegung  bekommen  wird,  die 
sonst  weder  der  eigentliche  Tact,  an  und  für  sich  selbst,  noch  auch 
die  merckliche  Auffhaltung  oder  Beschleunigung  desselben,  viel- 
weniger der  Noten  eigene  Geltung  ertheilen  können;  sondern  die 
von  einem  unvermerckten  Triebe  entstehet«  (Mattheson)1.  Zur 
Direktion  taugen  eben  keine  »hölzernen  Seelen«,  wie  Quantz 
sagt,  sondern  tüchtige  Musiker2:  »Niemand  wird  geschickt  seyn, 
eine  Leidenschafft  in  andrer  Leute  Gemüthern  zu  erregen,  der 
nicht  eben  dieselbe  Leidenschafft  so  kenne,  als  ob  er  sie  selbst 
empfunden  hätte,  oder  noch  empfindet.«3  Da  aber  keine  Leiden- 
schaft der  andern  vollkommen  gleicht4,  so  kann  auch  das  Zeit- 
maß nicht  schnurgleich  und  abgezirkelt  verlaufen;  es  muß  durch 
Aufhaltung  und  Beschleunigung  modifiziert  werden,  durch  Ver- 
weilen bei  nachdenklichen,  traurigen  Affekten  und  durch  Vor- 
wärtsgehen bei  energischen,  fröhlichen  Motiven,  mit  anderen 
Worten:  die  Tempoführung  muß  den  musikalischen  Affekten 
entsprechen.  Rousseau  betont  in  seinen  Werken  an  verschiede- 
nen Stellen  die  Notwendigkeit  dieser  Modifikation:  man  müsse 
das  Tempo  bald  beschleunigen,  bald  verzögern,  wie  es  die  herr- 
schenden Leidenschaften  erfordern5.  Mattheson  übersetzt  eine 
dieser  Stellen  in  seinem  »Vollkommenen  Capellmeister«  und  setzt 
hinzu,  es  gäbe  außer  den  mathematischen  Zeitmaßen  noch  andere, 
die  »nach  Erfordern  der  Gemüths-Bewegungen,  gewisse  ungewöhn- 
liche Regeln«  vorschreiben,  die  »auf  den  guten  Geschmack  sehen«. 
Der  Dirigent  müsse  deshalb  das  Tempo  bisweilen  »verzögern,  nach- 
geben; oder  auch,  in  Betracht  einer  gewissen  Gemüths-Neigung, 


i  Vollk.  Capellm.  II,  7,   §20. 

2  A.a.O.  XVIII,   §28. 

3  Mattheson,  Vollk.  Capellm.  II,  2,  §  64. 

*  Vgl.  Löhlein,  Anw.  z.  Violinspielen,  S.  106.  Sulzers  Allg.  Theorie, 
Art.  »Ausdruck  in  der  Musik«.  Kimberger,  a.a.O.  11,1.  S.  106f.  u.  a. 

5  Rosseau,  Methode  claire,  certaine  et  facile  pour  apprendre  ä  chanter 
la  Musique,  IV.  Edition,  15.  Question:  il  y  a  . . .  de  la  difference  entre  la  Mesure 
et  le  mouvement.  ...  De  lä  vient  que  sous  un  mesme  Signe,  on  conduit  souvent 
la  Mesure  differement;  car  quelquefois  on  l'anime  et  quelquefois  on  la  ralentit 
suivant  les  differentes  passions  que  la  Voix  doit  exprimer.  Vgl.  Dictionnaire, 
Artikel  »Execution«  :  II  faut,  en  particulier  dans  la  musique  Frangoise,  que  la 
partie  principale  sache  presser  ou  ralentir  le  mouvement,  selon  que  l'exigent  le 
goüt  du  Chant,  le  volume  de  Voix  et  le  developpement  des  bras  du  Chanteur. 
Siehe  auch  Art.    »Mouvement«,  ebenda. 


Taktschlagen  und  Doppeldircktion  im  1  8.  Jahrhundert.  241 

und  andrer  Ursachen  halber,  den  Tact  in  etwas  beschleunigen 
und  stärcker  treiben«1.  Quantz  erklärt  ein  nachdem  Pulsschlag 
abgemessenes  gleichmäßiges  Tempo  für  eine  Ungereimtheit2,  und 
Leop.  Mozart  sagt:  jedes  Zeitmaß,  das  langsame  und  lustige, 
hat  seine  Stufen3.  Hill  er  nennt  die  Tempobezeichnungen  Spiritoso, 
Con  brio  usw.  »Meilenzeiger«,  die  vor  dem  Stadttore  stehen  »und 
zwar  die  Gegend  der  Örter,  nebst  ihren  Entfernungen,  nicht  aber 
den  richtigen  Weg,  den  man  nie  verfehlen  könnte« ,  anzeigen ;  es 
sei  besser,  wenn  man  sich  in  den  Charakter  und  in  die  rechte  Be- 
wegung eines  Stückes  hineinstudiere,  wenn  man  den  Meilenzeiger 
zwar  ansehe,  aber  immer  auf  der  Straße  sich  erkundige,  ob  man 
auf  dem  rechten  Wege  sei,  d.  h.  man  müsse  das  vorgeschriebene 
Wort  zum  Leitfaden  nehmen,  aber  im  Zusammenhang  des  Stückes 
fleißig  auf  Stellen  Achtung  geben,  »die  den  Grad  des  Affectes  und 
der  Bewegung  richtiger  und  genauer  bestimmen«4.  Türk  bringt 
in  seiner  Klavierschule  eine  ausführliche  Besprechung  der  Tempo- 
modifikation5. Er  meint,  man  könne  bei  Stücken,  deren  Cha- 
rakter Heftigkeit,  Zorn,  Wut,  Raserei  und  dergleichen  andeute, 
»die  stärksten  Stellen«  beschleunigen,  ebenso  auch  einzelne  in 
der  Wiederholung  hervorgehobene  Gedanken  oder  lebhaftere  Par- 
tien zwischen  Stellen  von  sanfter  Empfindung.  »Bey  außer- 
ordentlich zärtlichen,  schmachtenden,  traurigen  Stellen,  worin 
die  Empfindung  gleichsam  auf  Einen  Punkt  zusammen  gedrängt 
ist,  kann  die  Wirkung  durch  ein  zunehmendes  Zögern,  (Anhalten, 
tardando,)  ungemein  verstärkt  werden.  .  .  .  Stellen,  welche  gegen 
das  Ende  eines  Tonstückes  (oder  Theiles)  mit  diminuendo,  diluendo, 
smorzando  und  dgl.  bezeichnet  sind,  können  ebenfalls  ein  wenig 
verweilend  gespielt  werden.  Eine  zärtlich  r ührende  Stelle  zwischen 
zwey  lebhaften,  feurigen  Gedanken,  .  .  .  kann  etwas  zögernd  aus- 
geführt werden;  nur  nimmt  man  in  diesem  Falle  die  Bewegung 
nicht  nach  und  nach,  sondern  sogleich  ein  wenig  (aber  nur  ein 
wenig)  langsamer.     Besonders  ereignet  sich  eine  schickliche  Ge- 

i  Mattheson,  Vollk.  Capellm.  II,  7,  §6  und  III,  26,  §  13.  Vgl.  auch  Neu  Er- 
öffn.  Orchest.,  S.  91.  Die  Stelle  aus  der  Methode  bringt  auch  Scheibe,  Über 
die  mus.  Compos.  im  Kapitel  von  der  Taktbewegung,  S.  299 f.,  §126.  Scheibe 
sagt:  »Ein  Musikstück  muß  mit  und  in  derselben  Empfindung,  mit  welcher  es 
der  Componist  gesetzt,  oder  die  er  auszudrücken  gesuchet  hat,  und  die  es  also 
gleichsam  beseelen  soll,  aufgeführet  werden  .  .  .« 

2  S.  o.  S.  229. 

3  A.a.O.  I,  2,  §7. 

4  Anw.  zum  mus.  rieht.  Ges.,  Anhang,   §  3. 
&  A.a.O.  S.  371  f. 

Kl.  Handb.  der  Musikgescli.  X.  Iß 


242  Fünftes  Kapitel. 

legenheit  zum  Zögern  in  Tonstücken,  worin  zwey  Charaktere  von 
entgegen  gesetzter  Art  dargestellt  werden  .  .  .  Überhaupt  kann  das 
Zögern  bey  Stellen  in  langsamer  Bewegung  wohl  am  zweckmäßig- 
sten statt  finden1.«  Türk  hat  sogar  hakenförmige  Zeichen  für  die 
Angabe  von  Beschleunigung  oder  Aufhaltung  des  Zeitmaßes  er- 
funden; er  setzt  sie  über  oder  unter  die  Noten,  ohne  damit  in  der 
Praxis  durchgedrungen  zu  sein2. 

Alle  diese  Nachrichten  zeigen,  daß  es  bei  der  Tempoführung 
nicht  auf  die  einzelne  nur  allgemein  gültige  Tempo-  und  Affekt- 
bezeichnung ankam,  sondern  auf  ein  Verstehen  und  Erfassen 
der  in  der  Musik  ausgedrückten  Ideen.  Diese  bestimmten  Vor- 
trag und  Tempomodifikation. 

Junker  hat  die  entwickelten  Grundzüge  der  Direktionskunst 
an  speziellen  Beispielen  erläutert3.  Seine  Ausführungen,  die  für 
das  18.  Jahrhundert  geradezu  klassisch  sind,  mögen  hier  als  Zu- 
sammenfassung und  Spezialisierung  unserer  Darstellung  im  Wort- 
laut folgen.  Er  beantwortet  die  Frage  nach  der  Tempobestimmung 
mit  folgenden  Worten: 

»Für  den  Kapellmeister,  in  so  ferne  wir  ihn  hier  als  Cemba- 
listen, oder  überhaupt  als  Direktor,  gedenken,  kann  das  Allegro, 
nicht  an  einen  einzigen  erschöpfenden  Begriff  von  Geschwindig- 
keit, das  Adagio,  nicht  an  den  von  Langsamkeit,  gebunden  seyn. 

»Die  nähere  Bestimmung  der  Bewegung  beruhet  blos  auf  dem  Ge- 
schmack; beruhet  auf  seinem  eigenen  Gefühl  der  Wahrheit,  das 
erst  fixirt  werden  kann,  durch  vorhergegangenes  Studium  der 
Partitur,  und  um  so  sicherer  bestimmt  werden  kann,  wenn  das 
Stück  selbst,  Singmusik  ist.  .  .  . 

»Die  Bewegung  des  Stücks  . . .  wird  ganz  allein  bestimmt,  nach 
der,  im  Stück  enthaltenen  Haupt-Empfindung;  und  deren  Gang, 
deren  Bewegung,  muß  der  Kapellmeister  kennen;  Studium  der 
leidenschaftlichen  Bewegung,  muß  also  auch  schon  aus  diesem 
Grunde,  sein  Hauptstudium  seyn. 

»Wenn  der  Sezer  [Komponist],  über  sein  Stück  Allegro  sezet, 
so  versichert  er  also  mit  einem  Wort,  daß  er  eine  Empfindung, 


1  Türk  gibt  im  Anschluß  daran  noch  einige  Musikbeispiele.  Er  zeigt,  daß 
man  Einleitungen  in  Haupsätze  retardieren  und  einen  »matten  Gedanken«  bei 
der  Wiederholung  zuweilen  etwas  verweilend  spielen  kann. 

2  Die  Figuren  hat  auch  Georg  Friedrich  Wolf  in  seine  Musikbücher  auf- 
genommen. Unterricht  im  Klavierspielen  1784,  S.  85  f.  Kurzgefaßtes  Musi- 
kalisches Lexikon  1787,  Art.  »Zeichen«. 

«  A.  a.  0.  S.  20  ff. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  1 8.  Jahrhundert.  243 

in  einer  merklich  lebhaften,  oder  geschwinden  Bewegung,  vor- 
trage: Aber  welche,  von  den  Empfindungen,  von  den  Leyden- 
schaften? 

»Eine  Gesellige,  oder  Menschenfeindschaftliche?  Und  welche 
unter  den  Gesellschaftlichen?  Wäre  es  gleich  viel?  haben  Freude, 
Liebe,  Wohlwollen,  Erstaunen,  Dankbarkeit,  Entzückung,  einerley 
Gang,  einerley  Bewegung?? 

»Der  Direktor  kann  also  ohnmöglich  nach  der  bloßen  Bezeich- 
nung, die  richtigste  Bewegung  bestimmen;  der  Sezer  kann  es  eben 
so  wenig  durch  sie;  Nur  bey  der  Singmusik,  thut  es  der  Dichter; 
Er  legt  durch  die  nähere  Bezeichnung  der  Leydenschaft,  und 
dadurch,  daß  er  sie  kolorirt,  die  Art  ihrer  Bewegung  auch  näher 
ans  Herz  des  Kapellmeisters,  in  so  ferne  er  dirigirt. 

»Ist  es  nicht  Singmusik;  so  muß  er  die  Art  der  Bewegung,  im 
Thema  des  Stücks  suchen. 

»Welchen  Vorzug  hat  abermahls  die  Singmusik,  wenn  es  auf 
-die  genaue  Bestimmung  der  Zeitfolge  ankommt ! 

»Laßet  uns  drey  Grundregeln  bestimmen,  die  den  Kapellmeister, 
dessen  Sache  es  ist,  Musiken  aufzuführen,  immer  sicher  und  rich- 
tig führen  können. 

»Um  die  Bewegung  richtig  und  entsprechend  zu  bestimmen: 
nimm 

1.  Rücksicht,  auf  den  besonderen  Anlaß,  und  Gelegenheit  der 
Musik. 

2.  Frage  besonders  (dieß  gielt  hauptsächlich  bey  Oratorien) 
nach  dem  Hauptinhalt  des  Ganzen. 

3.  Richte  dich,  bey  Conzerten  nach  der  Natur  des  Instruments, 
bey  Solo  Arien  nach  den  Fähigkeiten  des  Sängers1,  und  dem  Inhalt 
der  Arie,  und  in  beyden  zum  Theil  nach  dem  Wunsch,  des  Spielen- 
den, oder  Singenden,  wenn  sie  Kenntniß,  mit  Geschmack  ver- 
binden. 


1  »Die  Erlaubniß,  sich  in  der  Bestimmung  des  Tempo  auch  nach  den  Fähig- 
keiten des  Sängers  zu  richten,  scheint  mir  sehr  mißlich  und  gefährlich.  Man 
sieht  nicht  recht,  wo  diese  Erlaubniß  ihre  Gränzen  habe.«  Diese  Anmerkung 
in  Cramers  Magazin  (II,  2,  S.  757)  trifft  nicht  das  Rechte.  Gewiß  sind  die 
Grenzen  in  der  musikalischen  Praxis  schwer  zu  ziehen,  aber  Junker  meint  doch 
nur  das  gleiche,  was  Q  u  a  n  t  z  empfiehlt :  Man  achte  bei  schnellen  Stücken  auf  die 
Fertigkeit  und  die  Stimmen  der  Sänger:  »Ein  Sänger,  der  die  geschwinden  Pas- 
sagien  alle  mit  der  Brust  stößt,  kann  dieselben  schwerlich  in  solcher  Geschwindig- 
keit herausbringen,  als  einer,  der  sie  nur  in  der  Gurgel  markiret«  (XVII,  VII, 
§  52),  oder  an  anderer  Stelle:  Der  Anführer  muß  dem  Concertisten  die  Freiheit 
lassen,  »sein  Tempo  zu  so  fassen,  wie  er  es  für  gut  befindet«  (XVII,  I,  §  6). 

16* 


244  Fünftes  Kapitel. 

* 
»Der  besondere  Anlaß,  oder  die  Gelegenheit    der  Musik  hilft 

mit  bestimmen. 

»Die  besonderen  Anläße  laßen  sich  sehr  leicht  in  zwey  Ge- 
schlechter theilen,  nemlich  in  freudige,  und  in  traurige. 

»Sind  sie  un vermischt  freudig,  oder  traurig,  so  wie  sie  es  selten 
sind;  so  ist  der  Weg  zur  Bestimmung  der  Bewegung,  leicht  und 
sicher  für  den  Direktor. 

»Schwehr  und  unsicher  ist  dieser  Weg,  wenn  bey  solchen  Ge- 
legenheits-Musiken (so  wie  es  . .  .  fast  immer  geschiehet)  Emp- 
findungen der  Freude  zum  Beyspiel,  mit  entgegengesezten  Emp- 
findungen, als  zum  Beyspiel,  der  Traurigkeit,  der  Melancholie, 
abwechseln;  und  so  umgekehrt;  —  und  also  dadurch  aufhören, 
unvermischt  zu  seyn. 

»Wie  sieht  es  da  mit  der  Bewegung  aus  !  Welches  sind  die 
Data  ihrer  Bestimmung? 

»Bey  diesem  Wechsel  entgegengesezter  Empfindungen,  hier 
wo  eigentlich  die  leztern  blos  die  Resultate  der  erstem  sind, 
kann  doch  wahrhaftig  am  allerwenigsten,  die  Freude  an  den 
bloßen  Begriff  der  Geschwindigkeit,  die  Traurigkeit  an  den  bloßen 
Begriff  der  Langsamkeit  ...  für  den  gebunden  seyn,  der  die 
Zeitfolge  bestimmen  soll. 

»Wenn  das  Miserere  mit  dem  Magnificat,  in  einer  und  derselben 
Musik  und  in  einer  so  kurzen  Zeitfolge  abwechselt,  welche  feine 
Nüanzen  von  Mittelbewegungen  zwischen  beyden,  entsprechen 
dieser  Abwechslung? 

»Laßet  uns  die  Sache  deutlicher  machen,  dadurch,  daß  wir 
sie  auf  einen  besondern  Fall,  concentriren,  laßet  uns  ohngefähr, 
ein  Friedensfest,  als  den  Anlaß,  als  die  Gelegenheit,  der  besondern 
Musik  annehmen. 

»Dank  wäre  der  Zweck  des  Festes  überhaupt.  Er  wär's  auch 
für  den  Dichter,  und  Sezer,  allein  für  den  Sezer  könnte  er  keinen 
andern  Ausdruck  haben,  als  den,  den  die  Freude  überhaupt  hat, 
weil  er  ihn  durch  keine  andre  Zeichen  ausdrücken  kann,  als 
durch  die,  durch  welche  er,  die  gesellschaftliche  Leydenschaft  der 
Freude,  überhaupt  ausdrückt. 

»Wäre  dieß  nun  der  Charakter  dieser  Gelegenheits-Musik  über- 
haupt; so  entsteht  die  Frage,  ob  er  es  im  Ganzen  und  unver- 
mischt ganz  wäre. 

»Wäre  die  höhere  Freude  der  Andacht  der  Geist,  der  in  dieser 
Musik  herrschen  müßte,  so  entstehet  die  Frage,  ob  er  ganz  allein,. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  245 

durchaus  ganz  kenntlich,  ohne  Vermischung,  ohne  Kontrast, 
herrschen  könne. 

»Nein!  Denn  diese  Freude  wäre  hier  erst  das  Resultat  ihrer 
entgegengesezten  Empfindung;  könnte  und  dürfte  es  hier  nur 
seyn,  müßte  selbst,  als  dieß  Resultat  sinnlich  vorgestellt  werden, 
wenn  sie  nicht  dunkel,  sondern  erklärlich,  begreiflich  seyn  soll; 
und  so  müßten  auch,  um  dem  Stück  mehr  Leben,  Wärme,  und  Deut- 
lichkeit zu  geben,  jene  einzelnen  Empfindungen  von  Schrecken, 
Furcht,  Bemitleiden,  Traurigkeit,  in  der  Stufenfolge  mit  ange- 
geben werden,  in  welcher  sie,  zur  Zeit  des  Kriegs,  das  Herz  be- 
stürmten. 

»Dieß,  was  eigentlich  für  den  Sezer  gesagt  zu  seyn,  scheinen 
könnte,  hat  auch  seinen  großen  Nuzen  für  den  Direktor  der 
Musiken  !  Denn  die  Frage,  ,\vie  ist  die  Bewegung  der  Freude, 
und  der  Traurigkeit,  einzeln  und  an  sich  betrachtet?'  löst  sich 
eigentlich  jezt  in  die  Frage  auf:  ,wie  muß  die  Bewegung  beyder 
seyn,  in  einer,  an  einander  geketteten  Zeitfolge,  nicht  mehr  an  sich, 
sondern  kontrastirend  betrachtet?'1. 

»Die  Bewegungen,  die  zwischen  dem  Begriff  von  Geschwindig- 
keit und  Langsamkeit  liegen,  erschöpft  der  Componist  noch  lange 
nicht,  wenn  er  auch  die  Bewegungen  der  Geschwindigkeit,  durch 
Maestoso  Moderato,  presto,  näher  bestimmen  wollte;  denn  sie 
sind  nur  dem  feinsten  Gefühl  merkbahr. 

»Die  Bewegung  der  Freude,  in  so  ferne  sie  Resultat  ihrer  ent- 
gegengesezten Leydenschaft  ist,  ist  so  unendlich  entfernt  von 
aufbrausender  Hize,  und  schnellen  Gang,  daß  sie  vielmehr  in  Ruhe, 
und  froher  Gelaßenheit  bestehet2. 

»Dieß  ist  eine  Grundregel  für  den  Kapellmeister,  er  mag  nun 
Sezer,  oder  Aufführer  seiner  Musiken  seyn.  Und  sie  wird  sich  in 
der  Folge  mehr  bestätigen. 

»Bey  der  Bestimmung  der  musikalischen  Zeitfolge  muß  der 
Direktor  auch  Rücksicht  nehmen,  auf  den  Zweck,  und  Haupt- 
inhalt des  Ganzen. 


1  Nichts  ist  Sprung  in  der  Natur;  .  .  .  keine  Empfindung  geht  durch  einen 
Sprung  in  ihre  entgegengesezte  über.  Es  giebt  Mitteltöne,  die  eine  Empfin- 
dung durchgehen  muß,  wenn  sie  zu  ihrer  entgegengesezten  über  gehen  will. 
(Anm.  Junkers.) 

2  Denn  empfindet  die  Seele,  Freude  nach  Schmerzen,  so  empfindet  sie  eigent- 
lich Freude,  über  dasWegseyn,  des  Schmerzens.  Ihre  Freude  ist  also  nicht  unver- 
mischt,  sondern  mit  dem  mentalen  Bewußtseyn  ihres  vorigen  Zustandes,  ver- 
bunden (Junker). 


246  Fünftes  Kapitel. 

»Eine  Regel,  die  man  besonders  für  die  Arten  der  traurigen 
Musik,  nicht  genug  empfehlen  kann.  Durch  den  Mangel  dieser 
Regel,  habe  ich  oft  unsere  besten  Paßions-Musiken ,  entstellt 
gefunden.  Es  ist  unglaublich,  wie  sehr  durch  eine  falsche  Takt- 
bewegung die  Wahrheit  des  ganzen,  und  ihr  Eindruck  geschwächt 
wird. 

»Um  unsern  Saz  deutlicher  zu  machen,  so  wollen  wir  uns  hier, 
auf  ein  ganz  bekanntes  Stück,  auf  das  Stabat  Mater  [Pergolesis], 
als  Beyspiel  berufen. 

»Der  Hauptinhalt  dieses  Oratoriums  wäre  Traurigkeit,  auf  der 
Seite,  wo  sie  am  erklärlichsten  ist,  auf  der  Seite,  wo  sie  aus  Mit- 
leid entstand.  Die  erhebenden  Leydenschaften,  die  in  diesem 
Oratorio  mit  vorkommen,  stehen  in  einer  nahen  Verbindung  mit 
ihr;  also  jede  Bewegung  der  Freude,  die  der  Sezer  an  den  Begriff 
der  Geschwindigkeit  nur  überhaupt  binden,  und  mit  Allegro  be- 
zeichnen konnte,  muß  der  Direktor,  nur  in  der  Bewegung  einer 
mäßigen    Geschwindigkeit,    vortragen    lassen. 

»Denn  hier  ist  keine  einzige  erhebende  Leydenschaft 
unvermischt,  rein..  .  . 

»Zuerst  mußte  das  Herz  [des  Christen]  seinen  Jammer  mit 
empfinden,  ehe  es  sich  durch  die  Betrachtung  der  seeligen  Folgen 
seiner  Leyden,  erheben  konnte. 

»Diese  Geschichte  des  Herzens  mußte  wenigstens  der  Compo- 
nist  liefern,  an  diese  Stufenordnung  mußte  er  sich  wenigstens  mit 
dem  Dichter  binden. 

»Aber  sollte  denn  diese  Anmerkung,  nicht  gleichfalls  für  den 
Direktor  der  Musiken  intereßant  seyn,  da  sie  ihm  einen  sichern 
Weg  bahnen  kann,  zur  Erfindung,  richtiger  musikalischer  Be- 
wegungen? 

»Geschehen  Verändrungen ,  durch  allmählige  Uebergänge,  so 
muß  hier,  selbst  in  der  Freude,  noch  leiser  Nachklang  der  Traurig- 
keit tönen ;  so  muß  die  Freude  über  die  Versöhnung,  noch  etwas 
an  sich  haben,  von  der  Traurigkeit  über  den  Leydenden. 

»So  unterscheiden  sich  für  die  Bestimmung  der  Zeitfolge  über- 
haupt, in  einem  Kirchenstück,  alle  erhebenden  Leydenschaften, 
von  den  erhebenden  geselligen  Leydenschaften  überhaupt;  so  unter- 
scheidet sich  die  Freude  aus  Andacht  entsprungen,  überhaupt  von 
jeder  andern  Freude,  kurz  so  macht  der  Begriff  der  Andacht 
überhaupt,  mäßige  leidenschaftliche  Bewegung  nothwendig. 

»Es  ist  offenbahrer  Betrug,  für  das,  nun  schon  einmahl,  in  den 
ruhigen  leisen  Ton  der  Andacht  gestimmte  Herz,  wenn  man  die 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  <  8.  Jahrhnudert.  247 

Allegros  in  geistlichen  Musiken,  so  schlendrianmäßig  herunter- 
rollen hört1 

»Unsre  dritte  Regel  war:  der  Direktor  muß  sich  in  der  Be- 
stimmung der  musikalischen  Zeitfolge,  nach  der  Natur  des  Instru- 
ments, und  auch  nach  dem  Willen  des  Spielers  .  .  richten;  .... 
[denn]  jedes  Instrument,  hat  seinen  eigenen  erreichbaren  Grad 
von  Geschwindigkeit2 

»Das  was  ich  bisher  von  der  Einschränkung,  der  Geschwindig- 
keit eines  Allegro  gesagt  habe,  gilt  auch  von  der  Einschränkung 
der  Langsamkeit  eines  Adagio.  Nicht  [von  der]  Vorzeichnung 
des  Sezers,  denn  sie  ist  zu  arm,  wie  wir  wißen;  Also  nicht  Begriff 
der  langsamen  Bewegung  überhaupt,  sondern  Zweck  und  Haupt- 


1  Junker  gibt  für  seine  Theorie  in  einer  Anmerkung  folgendes  interessante 
Beispiel.  Er  zitiert  den  Schlußchor  aus  Grauns  »Tod  Jesu«:  »Hier  liegen  wir 
gerührte  Sünder«.  Die  begleitenden  Stimmen  sind  dort  staccato  gesetzt,  sie 
sollen  das  von  vielen  Empfindungen  bestürmte  Herz  des  Sünders  zeichnen. 
Hier  sind  die  Pulsschläge  nach  Junker  nicht  abgezirkelt  genau  zu  nehmen,  son- 
dern jedes  Sechzehntel  muß  mit  dem  punktierten  Achtel  oder  das  Achtel  mit 
dem  punktierten  Viertel  ohne  Gefühl  des  Zwischenraums  leise  verbunden 
werden.  In  der  Oper  würde  der  gleiche  Staccatoeffekt  —  etwa  als  Ausdruck 
der  bangen  Sorgen  eines  verurteilten  Sklaven  —  möglichst  genau  gespielt 
werden.  Hier  ist  die  Wirkung  denn  auch  eine  ganz  andere  als  in  religiösen 
Stoffen.  Auch  Petri  (a.  a.  0.  S.  159)  zitiert  die  gleiche  Stelle  bei  Graun. 
Er  meint,  der  Bogen  müsse  hier  geschleppt  werden,  sonst  würde  die 
Traurigkeit  zur  Wildheit;  das  Seufzende  und  Traurige  solle  in  dem  Chor 
vorherrschen,  nicht  das  Trotzige;  Wehmut  sei  aber  »allezeit  ein  sanfter, 
niedergeschlagner  Affekt,  ohne  Wildheit«  (vgl.  Reich  ard  ts  Briefe  eines 
aufm.  Reisenden,  S.  56,  wo  die  gleiche  Ansicht  vertreten  wird).  Die  Ausfüh- 
rungen Junkers  über  die  Modifizierung  freudiger  Affekte  in  Kirchenstücken, 
die,  wie  wir  gesehen  haben ,  auch  Q  u  a  n  t  z  ausdrücklich  verlangt,  wird  von  C  r  a  m  e  r 
in  dem  Abdruck  des  Junkerschen  Aufsatzes  eingeschränkt.  Er  sieht  nicht  ein, 
daß  die  Person,  welche  die  freudige  Stelle  singt,  von  der  andern  verschieden 
sein  könne,  mit  andern  Worten,  er  glaubt  nicht,  daß  die  Arie:  »Sings  dem  gött- 
lichen Propheten«  noch  Traurigkeit  atmen  solle.  Dem  wäre  entgegenzuhalten, 
daß  der  zweite  Teil  der  Arie  ein  etwas  gemäßigtes  Zeitmaß  ganz  gut  ver- 
trägt. Die  Frage  nach  den  freudigen  Sätzen  in  kirchlichen  WTerken  ist  heute 
wieder  aktuell  geworden.  Es  gibt  auch  für  Cramers  Anschauung  Verteidiger. 
(Vgl.  Schnerich,  Messe  und  Requiem  seit  Haydn  u.  Mozart.  Wien,  Leipzig. 
1909.)  Junker  ist  zweifellos  im  Recht.  Die  Allegri  der  Messen  und  Kirchen- 
musiken müssen  moderiert  gespielt  werden,  wenn  anders  der  Eindruck  einer 
liturgischen  Musik  gewahrt  werden  soll.  Daran  ändert  die  Tatsache  nichts, 
daß  gerade  zur  Zeit  Haydns  die  theatralische  Kirchenmusik  in  allgemeine  Auf- 
nahme kam. 

2  Die  weiteren  Ausführungen  Junkers  über  diese  bekannten  Dinge  über- 
gehe ich. 


248  Fünftes  Kapitel. 

empfindung  des  Ganzen,  und  hauptsächlich  der  Kontrast  ent- 
gegengesezter  Empfindungen,  bestimmen  sie. 

»Durch  die  verfehlte  Bewegung  eines  Adagio,  wird  die  Täuschung 
für's  Herz  weit  mehr  gehindert,  als  durch  die,  eines  Allegro;  und 
es  giebt  Fälle,  besonders  bey  Trauer-Musiken,  wo  man  das  Adagio 
fast  nicht  langsam  genug  vortragen  kann 

»Nun  entsteht  noch  eine  intereßante  Frage?  ,Wie?  ist  jedes 
Stück  durchaus,  jedes  Allegro,  jedes  Adagio,  an  eine  völlig  gleich  - 
förmige  Bewegung  gebunden?  Muß  jedes  Stück,  ganz  bis  zu 
Ende,  in  der  nemlichen  Bewegung,  die  sich  niemahls,  weder  einer 
größern  Geschwindigkeit  noch  Langsamkeit  nähert,  vorgetragen 
werden?  Oder  darf  diese  Bewegung,  selbst  in  der  Mitte  des  Ton- 
stücks, etwas  abgeändert,  darf  sie  beschleunigt,  darf  sie  zurück 
gehalten  werden?.' 

»Das  erste  überhaupt  bejahen,  würde  eben  so  viel  heißen, 
als  der  Tonkunst,  oft  das  kräftigste  Mittel  der  Rührung  be- 
nehmen, und  sie,  außer  aller  Beziehung,  auf  die  verschie- 
denen Modifikationen1,  der  leidenschaftlichen  Bewegung  ge- 
denken. 

»Das  letzte  überhaupt  bejahen,  würde  den  Strom  aus  seinen 
Ufern  reißen,  tausend  Unordnungen  verursachen,  und  der  Ton- 
kunst, ihre  Wahrheit,  benehmen  heißen. 

»So  bald  der  lezte  Satz  eingeschränkt  wird,  so  läßt  er  sich 
bejahen;  der  Conzertist,  der  Solo-Sänger  schränken  ihn  ein. 

»Es  giebt  keine  Leydenschaft,  deren  Bewegung,  sich  selbst 
immer  gleichartig,  abgezirkelt  seyn  sollte;  Sie  wälzt  sich  durch 
verschiedene  Modifikationen  der  Bewegung  hindurch. 

»Daß  diese  Modifikationen,  der  Komponist,  durch  seinen  Satz 
selbst,  durch  die  verschiedenen  Arten  der  Kolorirung,  beßer  und 
vollständiger  ausdrücken  könne,  als  der  Direktor,  durch  die  Ver- 
änderung der  musikalischen  Zeitfolge,  bleibt  richtig;  aber  eben  so 
richtig  bleibt  es,  daß  beyde,  Sezer  und  Aufführer,  einander 
in  die  Hände  arbeiten  müßen,  und  daß  die  Verände- 
rung der  Zeitfolge,  als  unterordnete  Kunst,  noth- 
wendig  bleibe. 


1  »Modifikation«  ist  im  18.  Jahrhundert  ein  Lieblingsausdruck  der  Musik- 
theoretiker, der  besonders  bei  der  Affektenlehre  oft  vorkommt.  Man  findet  ihn 
auch  häufiger  in  Verbindung  mit  der  Tempoführung.  Vgl.  Rousseau,  Dic- 
tionnaire,  Art.  »Mouvement<.  Marpurg  sagt:  Die  »Modification  des  Zeit- 
raums« nach  Charakter  und  Affekt  eines  Stückes  wird  besser  mit  »Bewegung 
oder  Zeitmaß«  als   mit  dem  Worte  Takt   ausgedrückt   (Anl.  zur  Musik,  S.  68). 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  \  8.  Jahrhundert.  249 

»Ich  höre  nicht  gerne  von  Nachgeben,  wenn  es  eine  Kapelle 
darnach  ist,  aber  ich  behaupte  zu  gleicher  Zeit,  daß  in  einer  guten 
Kapelle,  wie  ich  mir  sie  denke;  das  heißt,  daß,  von  Ripienistcn, 
die  Geweihte  der  Kunst  sind,  dem  Conzertisten,  oder  Solo-Sänger, 
nachgegeben  werden  müße,  da,  wo  er  die  Kleinheitsschönheiten, 
die  ihm  der  Sezer  nicht  vorschreiben  konnte,  und  die  ganz  seinem 
eigenen  Geschmack  überlaßen  sind,  in  seine  Solos,  webt. 

»Ferner:  so  wenig  ich,  überhaupt  vom  Tempo  rubato  halte, 
(weil  es  meistens  zu  halsbrechendem  Geklirr,  gemißbraucht  zu 
werden  pflegt)  so  behaupte  ich  doch,  daß  in  einer  guten  Ka- 
pelle, das  heißt,  von  Männern,  die  dadurch  nie  irre  gemacht  werden 
können,  dem  Conzertisten  nachgegeben  werden  müße,  wenn  er 
Geschmack  genug  hat,  die  Tonverziehung  da  anzubringen,  wo 
sie  hin  gehört ,  und  unter  denen  Umständen  anzubringen,  unter 
welchen  sie  Wirkung  thun  kann1. 

»Des  Cembalisten  Sache  ist  es,  den  Solospieler,  oder  Sänger, 
der  zunächst  bey  ihm  am  Flügel  steht,  am  ersten,  und  sichersten 
zu  verstehen,  und  so  wie  er  ihn  verstanden  hat,  den  Strom  auf- 
zuhalten oder  fortzutreiben.« 

Junker  gibt  mit  seinen  Ausführungen  in  den  Hauptzügen  nicht 
mehr  als  die  übrigen  Musiker.  Der  Wert  seines  Aufsatzes  liegt 
in  der  auf  bestimmte  Fälle  angewandten  Untersuchung.  Er  zeigt 
die  Wege,  denen  der  Kapellmeister  bei  Bestimmung  des  Ausdrucks- 
gehaltes eines  Stückes  folgen  muß,  und  beweist  die  Tempomodi- 
fikation aus  Natur  und  Charakter  der  Musik.  Seine  Theorie 
schließt  vollkommen  an  die  gegebenen  Grundsätze  an:  Bestimmung, 
Charakter,  Anlage  des  Tonstücks,  Aufstellung  und  Durchführung 
der  Affekte  geben  die  Richtlinie  für  Vortrag  und  Tempoführung. 

Diese  Lehren  und  die  Hervorhebung  der  Affektendirektion 
ergänzen  das  Bild,  das  vom  Dirigieren  im  18.  Jahrhundert  ent- 
worfen wurde.  Wir  stehen  vor  einer  Kunst  der  Direktion,  die 
durchaus  unseren  modernen  Forderungen  gleichkommt.  Ja  der 
Dirigent  der  alten  Zeit  hatte  noch  ein  größeres  Feld  künstlerischer 
Betätigung  als  unsere  Kapellmeister,  denn  die  Freiheit  im  Vortrag, 
der  Subjektivismus  in  der  gesamten  Musikpraxis  erforderte  neben 
musikalischer  Tüchtigkeit  auch  organisatorisches  und  päda- 
gogisches Talent. 

Junker  schließt  den  zitierten  Ausführungen  ein  Kapitel  »Von 
der  Politik  des  Kapellmeisters«  an.    Er  sagt  da,  ein  Kapellmeister 

1  S.  o.  S.  207. 


250  Fünftes  Kapitel. 

müsse  stets  freundlich  sein,  nicht  schimpfen  und  nicht  beleidigen. 
Das  sei  die  wahre  Politik  des  Dirigenten.  Darin  kommt  er  mit 
Mattheson  überein,  der  verlangt,  daß  ein  Chordirigent  mit  »un- 
gezwungenen Lobsprüchen  nicht  faul«  sein  solle,  wenn  er  nur 
einigermaßen  dazu  Ursachen  finde.  Er  soll  seine  Aussetzungen 
und  Monierungen  »ernsthafft,  doch  so  gelinde  und  höfflich,  als 
nur  immer  möglich«  anbringen  und  sich  befleißigen,  stets  »um- 
gänglich, gesellig  und  dienstfertig«  zu  sein1.  Nach  diesem  Re- 
zept ist  Joh.  Ad.  Hill  er  verfahren.  Sehr  zu  seinem  Nachteil, 
wie  es  scheint,  denn  Burney  weiß  zu  erzählen,  daß  Hillers  Proben 
schlecht  gingen,  weil  er  zu  wenig  polterte  und  lärmte,  zu  wenig 
den  strengen  Herrn  spielte2.  Als  Vorbild  in  der  Politik  des  Ka- 
pellmeisters nennt  Mattheson  den  bekannten  Kapellmeister  der 
deutschen  Oper  in  Hamburg,  Joh.  Sieg.  Cousser,  der  eine 
Gabe  besaß,  »die  unverbesserlich  war«:  er  war  nämlich  »uner- 
müdet  im  Unterrichten;  ließ  alle  Leute,  vom  grossesten  bis 
zum  kleinesten,  die  unter  seiner  Aufsicht  stunden,  zu  sich  ins 
Haus  kommen;  sang  und  spielte  ihnen  eine  iede  Note  vor,  wie 
er  sie  gern  herausgebracht  wissen  wollte;  und  solches  alles  bey 
einem  ieden  ins  besondre,  mit  solcher  Gelindigkeit  und  Anmuth, 
daß  ihn  iedermann  lieben,  und  für  treuen  Unterricht  höchst  ver- 
bunden seyn  muste.  Kam  es  aber  von  der  Anführung  zum  Treffen 
und  zur  öffentlichen  Aufführung,  oder  Probe,  so  zitterte  und 
bebte  fast  alles  vor  ihm,  nicht  nur  im  Orchester,  sondern  auch 
auf  dem  Schauplatze:  da  wüste  er  manchem  seine  Fehler  mit 
solcher  empfindlichen  Art  vorzurücken,  daß  diesem  die  Augen 
dabey  offt  übergingen.  Hergegen  besänfftigte  er  sich  auch  alsofort 
wieder,  und  suchte  mit  Fleiß  eine  Gelegenheit,  die  beigebrachte 
Wunden  durch  eine  ausnehmende  Höfflichkeit  zu  verbinden.  Auf 
solche  Weise  führte  er  Sachen  aus,  die  vor  ihm  niemand  hatte 
angreiffen  dürffen3.«  Ein  strenges  Regiment  führte  Lully,  der, 
wie  Mattheson  nacherzählt,  »demjenigen  die  Violine  auf  dem 
Puckel  entzwey«  schlug,  welcher  sie  nicht  zu  gebrauchen  wußte. 
»Aber  nach  geendigter  Probe  ruffte  er  ihn  zu  sich  /  bezahlet  ihm 


i  Vollk.  Capellm.  III,  26,  §  7. 

2  Burney,  Tagebuch  III,  S.  47.  Burney  schließt  daran  die  Bemer- 
kung: »es  ist  eine  traurige  Anmerkung,  daß  wenigen  Komponisten  von  einem 
Orchester  Gerechtigkeit  widerfährt,  wenn  sie  die  Spieler  nicht  vorher  hart  an- 
gefahren und  sich  in  ein  gewisses  Ansehn  gesetzt  haben.« 

3  Vollk.  Capellm.  III,  26,  §  8.  Vgl.  auch  Mattheson,  Grundlage  einer 
Ehren- Pforte,  Art.  »Gottfr.  Krause«. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im   1  8.  Jahrhundert.  251 

die  Violine  doppelt/  und  behielt  ihn  bey  sich  zu  Gaste (I)1.«  Nach 
Junker  soll  auch  Jommelli  nicht  immer  die  nötige  Zurückhaltung 
gewahrt  haben;  er  brachte  aber  Aufführungen  zustande,  von 
denen  die  Zeitgenossen  im  Tone  der  höchsten  Begeisterung 
schreiben2.  Auch  Händel  war  ein  strenger  Kapellmeister, 
der  sich  von  Primadonnen  und  Virtuosen  so  leicht  nicht  drein- 
reden ließ3.  Geradezu  »unausstehlich«  wird  die  Glucksche  Poli- 
tik genannt4.  Wie  es  bei  seinen  Proben  zuging,  davon  hat  uns 
Joseph  Kämpfer  einen  hübschen  Bericht  gegeben.  »So  ein  gut- 
müthiger  lieber  Mann  [Herr  Gluck]  sonst  in  jedem  Verhältnisse  des 
Lebens  ist«,  erzählt  er,  »so  macht  er  doch,  sobald  er  auf  dem 
Platze  als  Director  steht,  den  wahren  Tyrannen,  der  durch  den 
geringsten  Schein  von  Fehler  in  Harnisch  und  bis  zu  den  stärk- 
sten Äußerungen  der  Hitze  gebracht  wird.  Zwanzig,  dreyssig- 
mal  reicht  nicht,  daß  er  die  geübtesten  Spieler  der  Capelle, 
unter  denen  gewiß  Virtuosen  sind,  die  Passagen  widerholen  läßt, 
bis  sie  die  von  ihm  intendirte  Wirkung  desEnsemble  herausbringen. 
Er  brusquirt  sie  alsdenn  so  sehr,  daß  sie  ihm  oft  schon  den  Ge- 
horsam aufgekündigt  und  nur  durch  Zureden  des  Kaisers:  ,Ihr 
wißt  ja,  er  ist  nun  einmal  so  !  er  meints  nicht  so  arg'  haben 
bewogen  werden  können,  unter  ihm  zu  spielen.  Auch  müssen 
sie  immer  doppelt  bezahlt  werden,  und  diejenigen,  die  z.  E.  für 
ihr  Spielen  Einen  Ducaten  sonst  erhielten,  bekommen,  wenn 
Gluck  dirigirt,  zweye.  Kein  Fortissimo  kann  ihm  an  gewissen 
Stellen  stark  und  kein  Pianissimo  schwach  genug  seyn5.«  Auch 
allerlei  amüsante  Geschichten  werden  erzählt.  Reichardt  schreibt 
in  seiner  Autobiographie6,  Kaiser  Joseph  habe  mit  ihm  über 
Glucks  Direktion  gesprochen  und   erzählt,   wie  Gluck   einmal  bei 


1  Mattheson,  Critica  musica  I,  S.  180. 

2  Schubart,  Ges.  Schriften  I,  S.  83.  Mus.  Realzeitung  (Boßler)  1789, 
abgedruckt  bei  Abert,  Jommelli,  S.  102.  Hiller  sagt  allerdings,  Jornmelli 
soll  »gefälliger  und  höflicher«  als  Händel  gewesen  sein  (Lebensbeschreibung, 
S.  181). 

3  B  u  r  n  e  y  ,  Tagebuch  II,  S.  253.     Vgl.  H  i  1 1  e  r,  a.  a.  0.  S.  104  u.  119, 

4  Junker,  a.  a.  O.  S.  46.  Burney,  a.  a.  O.  II,  S.  253:  »Er  ist  ein  strenger 
Zuchtmeister,  und  eben  so  furchtbar  als  Händel  zu  seyn  pflegte,  wenn  er  ein 
Orchester  dirigirte;  dennoch  versicherte  er  mich,  daß  er  seine  Brigade  niemals 
widerspenstig  befunden  habe,  ob  er  gleich  niemals  gelitten,  daß  sie  den  geringsten 
Theil  ihrer  Schuldigkeit  versäumt,  und  er  sie  zuweilen  eines  von  seinen  Manö- 
vern zwanzig  bis  dreyssigmal  habe  machen  lassen.  « 

5  Cramer,  Magazin  I,  1,  S.  561  f. 

6  Schletterer,  Joh.  Fr.  Reichardt,  1865,  S.  326/7. 


252  Fünftes  Kapitel. 

einer  Aufführung  unter  dem  Pult  hinweggekrochen  sei  zu  einem 
Kontrabassisten  hin,  der  falsch  spielte  und  auf  seinen  Wink  und 
Ruf  nicht  achtete,  und  ihn  so  derb  in  die  Wade  gekniffen  habe, 
daß  er  aufschrie  und  sein  gewaltiges  Instrument  mit  großem  Ge- 
räusch hinwarf.  Als  dem  dirigierenden  Meister  ein  anderes  Mal 
die  Trompeter  bei  einem  kriegerischen  Gefecht  immer  nicht 
stark  genug  bliesen,  rief  er  zuletzt,  um  sie  zu  schmetterndem 
Blasen  anzuhalten,  aus  vollem  Halse:  »Mehr  Blech,  mehr  Blech!« 
Gluck  hat  selbst  einmal  erzählt,  daß  er,  wenn  er  für  die  Kom- 
position einer  Oper  20  Livres  bezahlt  bekomme,  für  das  Ein- 
studieren 20  000  Livres  erhalten  müßte1. 

Die  Zeitgenossen  berichten  aber  auch  von  den  großen  Er- 
folgen, die  Gluck  mit  seiner  Politik  erzielte.  Er  schmolz 
alles  »durch  die  genauesten  Verabredungen  mit  Maschinist,  De- 
korator  und  Balletmeister  in  ein  großes  Ganzes  zusammen,  das 
des  kältesten  Hörers  Herz  und  Geist  erschütterte«2.  In  dieser 
peinlich  genauen  Einstudierung  seiner  Opern  war  Gluck  der 
Spontini  des  18.  Jahrhunderts.  Auch  sein  ganzes  Auftreten  er- 
innert an  den  Berliner  Generalmusikdirektor,  wenn  man  Kämpfers 
Schlußbericht  liest.  Es  heißt  da,  es  sei  »ganz  originell,  wie  jede 
Stelle  des  Affects,  des  wilden,  sanften,  traurigen«,  sich  in  seinen 
Mienen  und  Geberden  male:  »Er  lebt  und  stirbt  mit  seinen  Helden, 
wütet  mit  dem  Achill,  weint  mit  der  Iphigenia,  und  in  der  Sterbe- 
arie der  Alceste  bey  der  Stelle:  manco  .  .  .  moro  ...  e  in  tanto 
affano  non  hö  pianto  etc.  —  sinkt  er  ordentlich  zurück,  und  wird 
mit  ihr  beynah  zur  Leiche. « 

Die  Gluckschen  Direktionserfolge  können  allein  die  Berichte 
über  sein  unermüdliches  Studieren  erklären.  Aber  sie  erhalten 
erst  ihre  rechte  Beleuchtung,  wenn  man  daran  denkt,  daß  Gluck 
in  seinen  Werken  mit  der  allgemein  gültigen  Praxis  brach.  Bei 
seinen  Aufführungen  gab  es  keine  eigenmächtigen  Improvisationen 
der  Solisten  und  Konzertspieler  mehr.  Alle  Mitwirkenden  durften 
nur  den  Notentext  bringen,  keine  Manieren  oder  willkürliche 
Veränderungen  einlegen.  Seine  Opern  sind  in  ihrer  Einfach- 
heit und  Schlichtheit  auf  die  strengste  und  peinlichste  Genauig- 
keit im  Vortrag  angelegt.  Ein  Stück  wie  das  »Che  farö  senza 
Euridice«  aus  dem  Orpheus  wird  nach  Glucks  Worten  durch  die 
geringste  Veränderung  im  Tempo  oder  Ausdruck  zu  einer  Arie 


i  Marx,  Gluck  und  die  Oper,  1863.   II,  S.  112. 
2  Schubart,  Ges.  Schriften  I,  S.  92. 


Taktschlagen  und  Doppeldirektion  im  18.  Jahrhundert.  253 

für  das  Marionettentheater.  Ein  Triller,  eine  Passage,  ein  Tempo- 
versehen könne  den  Effekt  der  ganzen  Szene  zerstören1.  Diese 
Einheit  von  Vorschrift  und  Ausführung,  von  Szene  und  Orchester, 
von  Solo  und  Akkompagnement  war  im  18.  Jahrhundert  nur  durch 
einen  Dirigenten  von  der  Energie  und  Willenskraft,  wie  sie  Gluck 
besaß,  zu  erreichen. 

Der  in  Deutschland  allerdings  erst  spät  einsetzende  Erfolg 
seiner  Opern  und  vor  allem  der  Aufschwung  der  deutschen  Sin- 
fonie entschieden  zum  großen  Teil  das  Geschick  der  alten  Im- 
provisationskunst. Eine  neue  Musikpraxis  erstand.  Die  Litera- 
tur der  Vorklassiker,  der  Mannheimer,  die  Werke  Haydns, 
Glucks  und  Mozarts  stellten  neue  Ziele  und  lenkten  in  andere 
Bahnen.  Der  Continuo  verschwand  aus  der  Sinfonie,  und  der 
Klavierist  überließ  die  Führung  dem  Konzertmeister.  Die  Musiker  r 
die  selbständig  für  ihren  Part  eintraten,  ihn  frei  ausführten,  räum- 
ten den  Instrumentalisten  das  Feld,  die  lediglich  die  Noten  nach 
den  gegebenen  Vorschriften  abspielten.  Was  Quantz  von  den 
Ripienisten  verlangte,  was  Em.  Bach  und  Mattheson  voraussetzten, 
wurde  vom  Orchesterspieler  der  Beethovenschen  Zeit  nicht  mehr 
gefordert.  Die  Kapelle  wurde  ein  vielstimmiges  InStrument  in 
der  Hand  des  Dirigenten  —  die  Selbständigkeit  der  Orchester- 
musiker ging  verloren.  Eine  Entwicklung,  die  von  den  Mann- 
heimern, von  Jommelli,  Gluck,  Reichardt  u.  a.  angebahnt  und 
durch  die  deutsche  Instrumentalmusik,  durch  den  Sieg  der 
klassischen  Kunst  zum   Abschluß    gebracht   wird. 


Sechstes  Kapitel. 
Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland. 

Wenn  man  an  die  Epoche  der  höfischen  Kunstinteressen  denkt, 
an  die  Zeiten,  in  denen  ein  Musiker  als  Komponist,  Dirigent  und 
womöglich  auch  als  Virtuose  aufzuwarten  hatte,  und  sich  ver- 
gegenwärtigt, wie  Beethoven,  Schubert  oder  Mendelssohn  im 
Leben  standen,  so  sieht  man  den  Umschwung,  den  die  Jahr- 
hundertwende im  Musikleben  gebracht  hat.  Dort  ein  Schaffen 
auf  Bestellung,  aus  Dienst-  oder  Geldrücksichten  —  hier  ein 
Musizieren  aus  innerster  Notwendigkeit,  ein  freies  künstlerisches 
Wollen,  das  die  Musik  als  Lebensbedingung  aller  Menschen  sieht. 

i  Vgl.  Marx,  a.  a.  O.  I,   S.  444. 


254  Sechstes  Kapitel. 

Gewiß    haben    die   Musiker   der    vorangehenden    Epochen    selbst 
bestellten  Arbeiten  Ewigkeitswerte    verliehen,    aber   das  Wirken 
des  Musikers  ist  doch  erst  nach  Beethovens  Vorbild  freier  und 
idealer  im  guten  und    schlechten  Sinne    des   Wortes    geworden. 
Wie   im   politischen    Leben    Deutschlands   in    den    ersten    Jahr- 
zehnten   des    19.   Jahrhunderts    das    nationale    Bewußtsein   auf- 
strebt, so  wird  auch  in  der  Musik  die  Anteilnahme  des  Volkes  an 
der  Kunstpflege  und   Kunstübung  der   Grundstein   einer    neuen 
musikalischen  Kultur.     Die   vielen  Musikvereine,  Singakademien 
und    gemischten   Chöre,    die   Musikfeste    und    die    Begeisterung 
für   die    deutsche   klassische    Musikliteratur    zeigen    den    Beginn 
eines   neuen,    auf   breiterer,    fester  Basis    stehenden    öffentlichen 
Konzertlebens.    Mit  den  Haydnschen  Oratorien  und  dem  Händel- 
kult auf  den  Musikfesten  setzt  die  neue  Zeit  ein,  sie  blüht  mit 
den  Werken   der  Wiener   Klassiker   auf,    um   schließlich  in    die 
moderne,   überreiche,    aber   einseitige  Musikpflege   einzumünden. 
Auf  diesem  Grund  basiert  die  Stellung  der  Dirigenten  im  ver- 
gangenen  Jahrhundert.     Waren   früher   die   Komponisten   meist 
die  Ausführer  ihrer  eigenen  Werke,  so  scheidet  sich  im  19.  Jahr- 
hundert die"  Komponistentätigkeit  vom  Dirigentenamt.     Mozart, 
Beethoven    und    Schubert    hatten    keinen    Kapellmeisterposten, 
keine  Anstellung  wie   Haydn  oder   Jommelli.     Sie    umgab    eine 
Reihe  kleinerer  oder  größerer  Geister,  die  nicht  mehr  die  eigene 
Literatur  im  alten  Umfange  vertraten.     Der  Kapellmeisterposten 
wurde  unabhängig  von  den  großen  Tonsetzern,  der  Berufskapell- 
meister der  Nachfolger    der   dirigierenden  Komponisten  und  In- 
strumentalvirtuosen.    Wer  einmal  in  der  Leipziger  »Allgemeinen 
Musikalischen  Zeitung«  die  Konzertnotizen  und  auswärtigen  Korre- 
spondenzen nachliest,  wird  Namen  an  Namen  von  Kapellmeistern 
aneinanderreihen  können,  die  die  Mission,  deutsches  Kunstschaffen 
zu  interpretieren,  allerorten  mit   mehr  oder  weniger  Glück  auf- 
nahmen.    Es  sind  die  Vertreter  einer  neuen  Zeit  in  Konzert  und 
Oper,  die  Vormänner  der  modernen  Dirigenten. 

Technik  und  Prinzip  ihrer  Tätigkeit  ist  die  gleiche  wie  im 
18.  Jahrhundert,  doch  schafft  die  klassische  Literatur  andere 
Bedingungen  und  Grundsätze  für  die  Aufführungen.  Nicht 
das  Zusammenwirken  von  Konzertmeister  und  Klavierist,  nicht 
die  Tüchtigkeit  der  Musiker  in  der  selbständigen  Ausführung 
ihrer  Stimmen  steht  im  Vordergrund,  sondern  allein  die  Kraft 
und  der  Wille  des  Dirigenten,  der  das  Orchesterinstrument  seinen 
Intentionen    dienstbar    macht.      Die   Geschichte    des    Dirigierens 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  255 

wird  zu  einer  Geschichte  der  Interpretationskunst,  deren  Aus- 
gangspunkt die  Kunst  der  Klassiker  bildet.  Diese  beendet  das 
Generalbaßzeitalter  und  begründet  Form  und  Methode  unserer 
musikalischen  Praxis. 

Wir  haben  gesehen,  wie  der  bezifferte  Baß  beinahe  zwei  Jahr- 
hunderte hindurch  die  Musikübung  beherrschte,  wie  Kapell- 
meister und  Musiker  von  der  Generalbaßlehre  in  die  Musik  sahen, 
wie  alle  Welt,  selbst  die  Dilettanten,  ihr  Bündel  Theorie  zugleich 
mit  der  Erlernung  eines  Instruments  mit  auf  den  Weg  bekamen. 
Das  bleibt  so  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  hinein. 
Dann  mehren  sich  die  ausgearbeiteten  Tonstücke  —  zum  Teil 
noch  mit  Generalbaß  ad  libitum  — ,  um  schließlich  der  Zeit  der 
Buchstabenpraxis,  d.  h.  der  fertigen,  unabänderlichen  Aufzeichnung 
zu  weichen.  Wann  die  Sonaten,  Trios  und  Sinfonien  mit  Con- 
tinuo  aufhören,  läßt  sich  in  Jahreszahlen  noch  nicht  bestimmen. 
Man  findet  bei  den  Wiener  Vorklassikern,  beim  jungen  Haydn  und 
den  Mannheimern  oft  Gontinuostimmen  oder  aber  Lücken  in 
der  Harmonie,  die  auf  eine  Baßausführung  am  Klavier  schließen 
lassen.  Im  deutschen  Lied,  wo  man  mit  Laien  und  Dilettanten 
rechnen  mußte,  kündigt  sich  die  neue  Zeit  schon  bei  Joh.  Ernst 
Bach  und  Valentin  Herbing  an1.  In  der  Kammermusik  sind  es 
Schobert  und  Mozart,  in  der  Sinfonie  Joseph  Haydn  (von  den 
Pariser  Sinfonien  an)  und  Mozart,  die  eine  Harmoniefüllung 
durch  den  Continuo,  der  sonst  den  Skizzen  erst  Form  und  Leben 
gab,  überflüssig  machen.  Welche  Veränderungen  der  Fortfall 
des  bezifferten  Basses  in  der  Sinfonie  geschaffen  hat,  zeigt  ein 
Blick  auf  Haydns  liebenswürdige  erste  Sinfonie  (D)2  und  auf 
seine  englische  B-dur-Sinfonie.  Beide  Werke  trennt  eine  Welt 
voneinander.  Im  musikalischen  Gehalt  und  im  technischen  Bild. 
Die  Instrumente  sind  selbständig  geworden,  der  Baß  und  die 
Bratsche  haben  sich  vollständig  vom  alten  Continuo  gelöst,  die 
rein  instrumentalen  Ausdrucksmittel  sind  bereichert,  die  Ak- 
kompagnementsbässe  durch  die  durchbrochene  motivische  Arbeit, 
durch  die  volle,  nuancenreiche  Instrumentation  ersetzt.  Die  Ein- 
bürgerung der  Klarinette  und  die  Beethovensche  Wiederaufnahme 
des  großen  Blechbläserchors  bedingen  nicht  den  Unterschied, 
sondern  die  rein  technische  Behandlung  der  Instrumente,  ihre 
solistische,  im  Ausdruck  der  Ideen  vollwichtige  Stimme  und  ihre 


1  Hermann  Kretzschmar,  Gesch.  des  neuen  deutschen  Lieds,  S.  226f. 

2  Ges. -Ausgabe  Breitkopf  &  Härtel,  Nr.  1. 


256  Sechstes  Kapitel. 

gruppenweise  Zusammenfassung,  die  jene  Lückenbeißer  der  Har- 
monie, die  die  Alten  dem  Continuo  zuteilten,  beseitigten.  Mit 
dem  Generalbaß  verschwand  auch  der  Klavierist  aus  der  Sin- 
fonie. Der  Violindirektor  oder  Taktstockdirigent  wurde  der 
alleinige  Anführer  der  Musik. 

Am  längsten  hielt  sich  der  Continuo  in  der  Kantate  und  in 
der  italienischen  Oper,  wo  das  Klavier  die  Begleitung  der  Recita- 
tive  und  die  Führung  der  Vokalisten  bis  weit  in  das  19.  Jahr- 
hundert hinein  behält.  So  sagt  Friedrich  Rochlitz  in  seinen 
»Bruchstücken  aus  Briefen  an  einen  jungen  Tonsetzer«,  daß  der 
Flügel  oder  sein  Ersatz,  das  Pianoforte,  für  die  Stimmung  des 
Orchesters,  für  das  Zusammenhalten  der  Harmonien  und  für 
die  Recitativbegleitung  unentbehrlich  seien.  Der  Ausweg,  die 
Recitative  durch  Cello-  oder  Geigenakkorde  zu  stützen,  nütze 
wenig;  mit  der  Begleitung  am  Pianoforte  würde  am  besten  das 
»sehr  gewöhnliche  Übel«  beseitigt,  »daß  man  einen  Direktor  hat, 
der  außer  dem  Recitativ  müßig  sitzt,  um  nicht  zu  viel,  oder  der 
das  schöne  Anschließen  unsrer  jetzigen  Instrumente  an  einander 
im  Eigenen  ihres  Tones  stört,  um  nicht  zu  wenig  mitzuspielen«1. 
Ein  Anonymus,  der  im  Jahre  1803  die  Frage:  »Was  soll  man 
von  dem  Musikdirektor  eines  Operntheaters  verlangen?«  be- 
handelt und  praktische  Winke  für  das  Einstudieren  und  Kor- 
rigieren bringt,  ist  der  Meinung,  daß  in  guten  Orchestern  das 
Pianoforte  oder  die  Geige  das  beste  Direktionsinstrument  bilden; 
in  weniger  guten  könne  man  aber  den  Flügel  »seines  hervor- 
stechenden Tons  wegen«  nicht  leicht  entbehren.  Ohne  alles 
Instrument  zu  dirigieren  setze  ein  vorzüglich  gutes  Orchester 
und  »die  genaueste  Übereinstimmung  mit  dem  Cembalisten«  vor- 
aus; auch  diesen  wegzulassen  mache  die  Recitative  »schaal  und 
matt,  wenn  auch  die  Sänger  so  fest  wären,  ganz  genau  im  Ton 
zu  bleiben«.  Der  Kapellmeister  solle  nicht  fortwährend  mit- 
spielen, sondern  nur  bei  Taktänderungen,  in  Recitativen,  bei 
Fehlern  und  dgl.2.  Daß  bei  dieser  Direktionshilfe  neben  Flügel 
und  Pianoforte  auch  die  Geige  gebraucht  wurde,  liegt  in  der 
Natur  der  Sache.  Wer  die  Violine  zu  seinem  Hauptinstrument 
gewählt  hatte,  wird  die  Oberleitung  mit  der  Geige  geführt  und 
einem  zweiten  Musiker  die  Recitativbegleitung  überlassen  haben. 
Bei  dieser  Geigendirektion  ging  es  mitunter  nicht   ohne  Charla- 


1  Allg.  Mus.  Ztg.  2.  Jahrg.   1799,  3.   Brief.  S.   18/19. 

2  Ebenda,  6.  Jahrg.,  S.  165f.,   172,  174. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  257 

tanerie  ab,  wie  ein  Bericht  in  der  Leipziger  Musikzeitung  zeigt. 
Der  Dirigent,  heißt  es  da,  »lief  mit  eiligen  Schritten,  bald  da, 
bald  dorthin,  rückte  hier  ein  Notenpult  zurecht,  schob  dort 
ein  Licht  auf  die  Seite,  rief  diesem  zu,  er  stimme  zu  hoch, 
jenem,  er  stimme  zu  tief,  gebot  einem  dritten  mit  mißfälliger 
Gebärde,  zu  schweigen,  ermahnte  einen  vierten  zur  richtigen 
Execution  seiner  Solopartie,  pochte  einem  fünften  den  Takt  mit 
dem  Finger  auf  die  Schulter  usw.«  Dann  gab  er  mit  dem  Geigen- 
bogen das  Signal  zum  Beginn.  Er  setzte  »die  Geige  unter  das  Kinn, 
hob  sich  mit  sammt  dem  Instrumente,  so  daß  dieses  mit  dem 
Kopfe  zu  dem  Coulissenhimmel  empor  sah,  auf  den  Zehen  der 
Füße  empor,  legte  den  Bogen  nahe  am  Frosch  auf  die  Saiten,  drehte 
noch  einmal  den  Kopf,  so  weit  es  bey  dem  Beschwerlichen  dieser 
Situation  möglich  war,  nach  beyden  Seiten,  und  strich  nun,  als  wenn 
er  alle  Saiten  durchschneiden  wollte,  seinen  ganzen  Körper  mit 
diesem  Herunterstrich  plötzlich  so  tief  abwärts  neigend,  daß  der 
Kopf  unter  das  Pult  zu  stehen  kam,  herab«1.  Aus  dieser  Karikatur 
erkennt  man  doch  wahre  Umrisse:  die  Schwierigkeit,  ein  schlechtes 
Orchester  mit  der  Geige  zu  leiten.  Bei  gutgeschulten  Musikern 
gab  es  hier  weniger  Umstände.  Habeneck,  der  junge  Spohr, 
Matthäi,  Ferdinand  David  u.  v.  a.,  die  mit  der  Geige  dirigierten,, 
sind  denn  auch  von  solchen   Persiflagen  verschont  geblieben. 

Zu  den  Fortschrittsmännern,  die  die  Klavierdirektion  auch  aus 
der  Oper  beseitigen  wollten,  gehört  Joh.  Friedr.  Beichardt. 
Er  dirigierte  nicht  mehr  vom  Flügel  aus,  sondern  taktierte  an 
einem  besondern  Dirigentenpult.  Der  Anonymus,  der  die  Or- 
chesteraufstellung Beichardts  beschrieben  hat,  nimmt  ihm  das 
Weglassen  des  Flügels  recht  übel.  Er  behauptet,  die  Sänger 
auf  der  Bühne  hätten  »ganz  artig  heruntergezogen«,  weil  kein 
Flügel  aufgestellt  war2.  Auch  Kirnberger  schrieb  an  Forkel, 
daß  »Beichardt,  Marpurg  und  etliche  solch  Gesindel«  den  ä  la 
modischen  Geschmack  durchsetzen  und  den  Flügel  vom  Akkom- 
pagnement  ganz  verdrängen  wollten3.  Und  der  deutsche  Bieder- 
mann sagt:  »Wer  dafürhält,  der  Flügel  sey  bey  Orchestern  gar 
nicht  nöthig,  der  giebt  deutlich  zu  erkennen,  daß  er  von  der  ganzen 
Sache    nichts    verstehe!4«      Aber    diese    reaktionären  Stimmen 


1  Allg.  Mus.  Ztg.  1814,  16.  Jahrg.   S.  392f. 

2  Bemerkungen  eines  Reisenden,  Halle  1788,   S.  57. 

3  Allg.  Mus.  Ztg.  ed.  Chrysander  u.  J.Müller  1871,  S.  61 7 f.  (Briefe  Kirn- 
bergers  an  Forkel). 

4  A.  a.  O.  S.  30. 

Kl.  Handb.  der  Mnsikgesch.  X.  17 


258  Sechstes  Kapitel. 

drangen  nicht  durch.  Je  voller  und  selbständiger  der  musika- 
lische Satz  wurde,  um  so  mehr  wurde  das  Klavier  entbehrlich. 
Gramer,  der  die  »Bemerkungen  eines  Reisenden«  bespricht,  macht 
die  Anmerkung,  daß  Reichardt  ihm  gesagt  habe,  er  hasse  den 
von  allen  Saiteninstrumenten  so  heterogenen  Ton  des  Klaviers 
beim  Akkompagnieren.  In  Frankreich  würde  der  Flügel  häufig 
überhaupt  nicht  gebraucht,  wie  sollte  da  sein  Fehlen  an  schlechten 
Aufführungen  schuld  sein?1  Rellstab  sagt  in  seiner  Gegen- 
schrift »Über  die  Bemerkungen  eines  Reisenden«  geradezu: 
»Seit  [Ph.  Em.]  Bachs  Buch  hat  sich  nun  unser  Harmoniesystem 
gewaltig  geändert;  wir  haben  den  Flügel  mit  Recht  von  unsrer 
jetzigen  Music  verwiesen,  denn  es  würde  unausstehlich  seyn,  auf 
einem  monotonischem  Instrumente,  nun  noch  monotonische  Caco- 
phonie  zu  hören.  Wir  brauchen  ihn  nur  noch  bei  Singmusiken 
zuweilen,  und  dabey  ist  das  Accompagnement  jetzt  nicht  mehr 
Wissenschaft,  des  Clavierspielers,  sondern  nur  Hülfe  des  schwachen 
Sängers  und  bedarf  man  dazu  weiter  nichts  als  nur  die  Sing- 
stimme fleißig  zu  begleiten,  in  der  Art  wie  dem  Sänger  am  meisten 
geholfen  wird2.« 

Man  sieht,  daß  die  Generalbaßzeit  ihrem  Ende  entgegengeht. 
Die  neue  Literatur  verlangte  eine  andere  Ausführungsform  als  die 
Werke  Matthesons  und  Heinichens.  »Das  Harmoniesystem  hat 
sich  gewaltig  geändert«,  d.  h.  das  Akkompagnement  hat  sich 
vom  Gontinuo  befreit,  es  ist  durch  den  vollen  Instrumentalsatz 
selbständig  geworden.  Sobald  aber  die  Harmoniestütze  in  der 
Oper  und  Kantate  vom  Komponisten  nicht  mehr  verlangt  wurde, 
war  die  Geigen-  oder  Taktstockleitung  auch  hier  die  gegebene 
Direktionsform. 

In  der  Literatur  tritt  für  die  moderne  Praxis  als  einer  der 
ersten  Gottfried  Weber  ein.  »Ich  kenne  keinen  bodenlosem 
Streit«,  schreibt  er  im  Jahre  1807 3,  »als  über  das  Instrument, 
das  bey  Aufführung  vollstimmiger  Musikstücke  zum  Dirigiren 
das  geschickteste  sey?  —  Keines,  als  der  Taktirstab  !  ist  mein 
Bekenntnis Einer  muß  es  seyn,  dessen  Willen  im  Moment  un- 
bedingt alles  überlassen  bleibt,  auch  wenn  dieser  Eine  weder  dem 
Dienstrange,  noch  der  Geschicklichkeit  nach  der  Erste  seyn  sollte; 
und  ihm  müssen  selbst  die  Granden  seines  Reichs  im  Augenblicke 


i  Mag.  der  Mus.  III,  S.  230  f. 

2  J.  Carl  Fr.  Rellstab,  Über  die  Bemerkungen  eines  Reisenden,  Berlin 
(1789)  S.  38.  Anm. 

3  Allg.  Mus.  Ztg.  9.  Jahrgg.  1807,  S.  805f. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  259 

blindlings  nachfolgen Folgen  nun  alle  diesem  Einen,  so  kann 

das  ganze  Chor  und  Orchester  eben  so  wenig  auseinander  kommen, 
-als  die  zwey  Hände  oder  die  zehn  Finger  des  Klavierspielers.  .  .  . 
Wer  es  liebt,  die  Takte  hörbar  angeben  zu  lassen,  wer  das  unaus- 
stehliche und  unter  gesitteten  Menschen  nie  zu  duldende  laute 
Takttreten,  oder  das  Klappern  mit  dem  Bogen  auf  dem  Musik- 
pulte, ertragen  und  dulden  mag,  der  übertrage  dem  sogenannten 
Vorgeiger  zugleich  die  Direktion  und  das  Vorgeigen.  Wer  aber 
allen  diesen  Unfug  gern  verbannt  sehen  will,  stelle  einen  Mann 
an  die  Spitze,  welcher  mit  keiner  Instrumental-Partie 
beschäftigt,  sich  ungetheilt  der  Sorge  für  das  Ganze 
widmen  kann;  welcher  blos  taktire  —  wohl  gemerkt, 
nie  hörbar,  durch  lautes  Hämmern  der  Niederschläge  auf  das 
Pult,  sondern  immer  nur  sichtbar;  dahingegen  aber  auch  durch 
große,  weit  und  leicht  jedem  Einzelnen  sichtbare  Bewegungen, 
durch  Bewegungen,  welche  genau  und  unverbrüchlich  die  Takt- 
theile,  so  wie  sie  vorgeschrieben  sind,  angeben  und  zwar  unaus- 
gesetzt angeben,  nicht  erst  dann,  wenn  eine  Unordnung  sich  zeigt 
oder  im  Entstehen  ist  und  schon  merkbar  wird,  damit  jeder  Ein- 
zelne, welcher  mit  seiner  einzelnen  Partie  beschäftigt,  einen  Augen- 
blick ungewiß  seyn  sollte,  durch  einen  einzigen  Blick  auf  den  Tak- 
tirstab  sich  seinen  Zweifel  auf  der  Stelle  selbst  lösen  könne,  ohne 
erst  durch  merkbares  Fehlen  den  Dirigirenden  zur  Einhülfe 
auffordern  zu  dürfen.«  Welches  Instrument  der  Dirigent  be- 
herrscht, ist  nach  Gottfried  Weber  gleichgültig,  das  beste  ist, 
wenn  er  die  Geige  zur  Hand  hat,  um  den  Sängern  einzuhelfen, 
doch  muß  er  sich  »ausschließlich  mit  seiner  Direktion, 
durchaus  nicht  mit  Ausführung  einer  einzelnen  Partie« 
beschäftigen. 

Diese  Direktionsführung,  die  durch  Bernhard  Anselm  Weber, 
Carl  Maria  v.  Weber,  Spohr,  Spontini  und  Mendelssohn  propa- 
giert wurde,  bringt  viele  Nachteile  mit  sich.  Der  Taktstock- 
dirigent, der  kein  Instrument  zur  Hand  hat,  kann  vorkommende 
Fehler  während  des  Spiels  nicht  so  schnell  verbessern,  wie  der 
Klavierist  der  alten  Sinfonie  und  Oper,  er  kann  unsichere  Sänger 
nicht  unterstützen  und  keine  Choreinsätze  durch  Mitspielen 
angeben.  Seine  Hilfsmittel  sind  allein  Winke,  Zeichen  oder 
Worte,  mit  denen  bei  schlechten  Kräften  wenig  ausgerichtet  wird. 
Voraussetzung  seiner  Direktion  bleiben  stets  ein  exaktes,  ge- 
naues Studium  und  ein  tüchtiges,  gut  eingespieltes,  aufmerk- 
sames Orchester. 

17* 


260  Sechstes  Kapitel. 

Für  die  musikalische  Bildung  der  Orchestermusiker  ist  die 
neue  Direktionsführung  nicht  förderlich  gewesen.  Während 
früher  jeder  Musiker  für  seinen  Part  einstand,  nach  der  allge- 
meinen Musiklehre  und  Schule  des  Konzertmeisters  dynamische 
Abstufungen  selbständig  anbrachte  und  sein  Solo  ebensogut  ver- 
zierte wie  der  Sänger,  so  hatte  er  jetzt  nur  noch  die  genau  be- 
zeichnete Stimme  nach  den  Angaben  des  Komponisten  getreu 
abzuspielen.  Jede  Selbständigkeit  war  unterbunden.  Die  Kom- 
positionen wurden  immer  sorgfältiger  mit  Vortragsbemerkungen 
versehen.  Überall  waren  dem  Ausführenden  die  Wege  vorge- 
zeichnet, die  er  bei  der  Wiedergabe  einzuhalten  hatte.  Damit 
sank  die  Verantwortlichkeit  des  einzelnen  Musikers  für  die  Auf- 
führung. 

Dann  fühlten  sich  auch  die  Orchestermitglieder  durch  die 
Bevormundung  eines  nicht  mitspielenden  Dirigenten  zurück- 
gesetzt. Alle  Gegner  der  Taktstockdirektion  berufen  sich  darauf, 
daß  die  Musiker  auch  ohne  einen  besonderen  Taktschläger  ihre 
Stimmen  gut  spielen  können.  Robert  Schumann  erzählt, 
daß  ihn  beim  ersten  Konzert  Mendelssohns  im  Leipziger  Ge- 
wandhaus der  Taktierstab  gestört  habe;  ein  Orchester  müsse 
wie  eine  Republik  dastehen,  über  die  kein  Höherer  anzu- 
erkennen sei1.  Und  Moritz  Hauptmann  schreibt  im  Jahre 
1836  seinem  Freunde  Hauser:  »Mir  hat  von  jeher  der  verfluchte 
weißbuchne  kleine  Taktstock  Ärgerniß  gegeben,  und  wenn  ich 
das  Ding  dominiren  sehen  muß,  vergeht  mir  nun  einmal  alle 
Musik,  es  ist  als  wenn  die  ganze  Oper  nur  da  wäre,  damit  Takt 
dazu  geschlagen  werden  könne,  und  nun  gar  das  geflissentliche 
Markiren  der  kleinen  Nuancen  mit  diesem  verwünschten  Hölzchen, 
es  mag  nothwendig  geworden  sein  —  wenn  ich  aber  da  an  Matri- 
monio  segreto  denke,  wo  der  Maestro  so  hübsch  ruhig  am  Cembalo 
saß,  das  Recitativo  secco  accompagnirte,  wo  alles  wie  von  selbst 
ging,  da  bin  ich  doch  in  einer  ganz  andern  Sphäre,  himmelweit 
von  unsrer  gegenwärtigen,  die  mir  auf  die  crudeste  Weise  bar- 
barisch, aller  Anmuth,  ja  aller  Würde  entkleidet  vorkommt2.« 
Auch  Seyfried,  Fetis  und  viele  andere  schrieben  gegen  die 
neue   Direktionsform3,   und  ein   »Stadtmusikus  Fabian  in  Kräh- 


1  Ges.  Schriften  über  Musik  u.  Musiker,  ed.  G.  Jansen,  Leipzig  1891,  I,  S.  161. 

2  Briefe  von  M.  Hauptmann  an  Franz  Hauser,  ed.  Alfred  Schöne,  I,  S.  196. 

3  Seyfried,  Selbsterfahrungen  auf  Berufswegen,  »Der  Tactirstab«,  in  der 
Mainzer  »Cäcilia«,  XIII.  Bd.  1831  S.  233 f.;  Fetis  in  der  Revue  musicale 
1828,  Tom.   II,  S.  583.    Siehe  Neue  Zeitschrift  für  Musik  1836,  Nr.  31:   »Vom 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  261 

winkel«  sagt  sogar  in  einer  Satire  über  die  »Dirigenten- Künste«  : 
»Wer  eine  ganze  Oper  hindurch  immer  nur  mit  der  rechten  Hand 
tactirt  und  diese  am  Morgen  darauf  noch  rühren  kann,  den  er- 
kenne ich  für  meinen  Meister,  denn  ich  halte  so  was  nicht  aus; 
aber  das  thut  nichts;  da  ich  abwechselnd  auch  den  linken  Arm 
gebrauche,  dann  wieder  einmal  beyde  Hände  zugleich  (was,  wunder- 
bar genug,  weniger  angreifend  ist,  und  sich  überdieß  allerliebst 
ausnimmt)  und  zuweilen  auch  den  Kopf  oder  den  ganzen  Ober- 
leib. .  . .  Übrigens  wird  wohl  kein  Billigdenkender  verlangen,  daß 
der  Dirigent  eine  ganze  Oper  hindurch  den  Tact  bestimmt  genug 
angebe,  um  immer  genau  Auf-  und  Niedertact,  Viertel  und  Halbe 
von  einander  unterscheiden  zu  können,  da  ein  scharfes,  stunden- 
langes Markiren  des  Tactes  Arme  erfordert,  kräftiger  als  Drescher- 
arme1.«  Was  würde  wohl  unser  biederer  Stadtmusikus  vom  Diri- 
genten der   »Meistersinger«   gesagt  haben? 

Daß  die  Taktstockdirektion  für  die  neuere  Literatur  die  zweck- 
mäßigste Leitung  war,  hat  die  Entwicklung  gezeigt.  Alle  Klagen 
über  unstilistische  Veränderungen  der  Melodien  mußten  mit  der 
Zeit  verstummen.  Der  Wille  eines  Einzigen  stand  für  das  Werk 
ein.  Seine  Auffassung  und  sein  Können  brachte  in  eine  Haydnsche 
Sinfonie  mehr  Disziplin  und  Einheit  der  Wiedergabe  als  mancher 
Klavierist  der  Alten.  Es  handelte  sich  um  die  künstlerische  Kraft 
des  Dirigenten.  Um  seine  Kunstanschauung  zur  Anerkennung 
zu  bringen,  strebte  er  danach,  die  Tonwerke  in  möglichster 
Vollkommenheit  aufzuführen.  Er  brauchte  seine  Aufmerksam- 
keit nicht  mehr  zwischen  einer  Instrumentalstimme  und  dem 
Orchester  zu  teilen;  er  konnte  sich  ganz  der  Direktion,  der  Aus- 
arbeitung der  Partitur  zuwenden.  Das  Orchester  war  für  ihn 
ein  vielköpfiges  Instrument,  auf  dem  er  seine  Intentionen  zu  ver- 
wirklichen suchte. 

Die  Einbürgerung  dieser  Praxis  geht  mit  dem  Vordringen  der 
klassischen  Literatur  und  mit  der  steigenden  Leistungskraft  der 
Orchester  Hand  in  Hand  und  ist  erst     in  den  dreißiger  Jahren 


Dirigiren  und  insbesondere  von  der  Manie  des  Dirigirens«,  S.  130:  »Je  weniger 
ein  Orchester  dirigirt  wird,  desto  höher  steht  es.«  Vgl.  ebenda  1854:  »Die  Manie 
des  Dirigierens«  von  Hoplit.     (Rieh.  Pohl.) 

1  Allg.  Mus.  Ztg.  1827,  S.  737 f..  Vgl.  auch  Ed.  Devrient,  Meine  Er- 
innerungen an  Mendelssohn,  3.  Aufl.,  S.  59,  wo  es  u.  a.  heißt:  »Mich  störte  da- 
mals (1829)  und  alle  spätere  Zeit  das  unausgesetzte,  bei  Mangel  an  Genialität 
mechanische  Taktiren.  Die  Musikstücke  werden  in  solchen  Fällen  gewisser- 
massen  durchgefuchtelt.« 


262  Sechstes  Kapitel. 

beendet.  In  Berlin  haben  Reichardt1  und  Anselm  Weber2  die 
neue  Direktion  eingeführt.  Hanslick  erzählt,  daß  es  in  Wien 
noch  im  Jahre  1812  Aufsehen  erregte,  als  Mosel  bei  dem  ersten 
großen  Wiener  Musikfest  mit  einem  Stäbchen  taktierte3.  In 
Dresden  führte  Carl  Maria  v.  Weber  den  Taktstock  im  Jahre  1817 
ein,  im  gleichen  Jahre  Spohr  in  Frankfurt  a.  M.,  im  Jahre  183& 
Mendelssohn  in  Leipzig4.  Wann  diese  Direktion  in  Wien  und 
Hamburg  definitiv  in  Gebrauch  kam,  haben  weder  Hanslick 
noch  Sittard  feststellen  können5.  Am  besten  sind  wir  hier 
über  London  orientiert,  wo  die  Taktstockdirektion  durch  Spohr 
und  Mendelssohn  hinkam.  Vor  diesen  Konzerten  war  in  England 
ebenso  wie  in  Deutschland  die  Doppeldirektion  durch  Kapell- 
meister und  Violindirektor  allgemein  üblich.  Der  Klavierspieler 
hatte  die  Partitur  vor  sich  und  spielte  mit,  der  Vorgeiger  gab  die 
Tempi  an  und  führte  mitunter  mit  dem  Bogen  Taktbewegungen 
aus.  So  hielt  man's  noch  in  den  Haydnschen  Konzerten,  trotz- 
dem der  Klavierspieler  in  Haydns  englischen  Sinfonien  nicht» 
mehr  zu  sagen  hatte.  Das  Anführen  besorgt,  wie  Moscheies- 
schreibt,  eigentlich  der  Vorgeiger  (Leader),  der  Conductor  (Flügel- 
spieler) »ist  und  bleibt  eine  Null«6.  Spohr  erzählt  von  der  Ein- 
führung des  Taktstocks  in  London  folgende  hübsche  Geschichte7: 
Es  war  damals  in  London  gebräuchlich,  »daß  bei  Symphonien 
und  Ouvertüren  der  Pianist  die  Partitur  vor  sich  hatte,  aber 
nicht  etwa  daraus  dirigirte,  sondern  nur  nachlas  und  nach  Be- 
lieben mitspielte,  was,  wenn  es  gehört  wurde,  einen  sehr  schlechten 
Effekt  machte Ein  so  zahlreiches  und  weit  von  einander  stehen- 
des Orchester  wie  das  philharmonische,  konnte  aber  bei  solcher 
Direktion  unmöglich  genau  zusammengehen,  und  trotz  der  Treff- 
lichkeit der  einzelnen  Mitglieder  war  das  Ensemble  doch  viel 
schlechter,  als  man  es  in  Deutschland  gewohnt  war.  Ich  hatte 
mir  daher  vorgenommen,  wenn  die  Reihe  zu  dirigiren  an  mich 
käme,  einen  Versuch  zu  machen,  diesem  Uebelstande  abzuhelfen. 
Zum  Glück  war  an  dem  Tage,  wo  ich  dirigirte,  Herr  Ries  am  Piano, 


i  S.o.,   Kap.V,  S.  202. 

2  S.  S.  153. 

3  Hanslick,  Gesch.  des  Concertwesens  in  Wien,  S.  94. 
*  S.  \v.  unten  die  Dirigenten-Charakteristiken. 

5  Hanslick,  a.  a.  0. ;  Sittard,  Gesch.  des  Musik-  und  Concertwesens 
in  Hamburg  1890,  S.  93. 

6  Aus  Moscheles'  Leben,    Nach   Briefen   und  Tagebüchern  herausgegeben 
von  seiner  Frau.    1872.     Bd.  I,  S.  74. 

7  Louis  Spohr,  Selbstbiographie.     1860/61,  II,  S.  86f. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  263 

und  dieser  verstand  sich  gern  dazu,  mir  die  Partitur  zu  überlassen 
und  ganz  davon  zu  bleiben.  Ich  stellte  mich  nun  mit  derselben 
an  ein  besonderes  Pult  vor  das  Orchester,  zog  mein  Taktirstäbchen 
aus  der  Tasche  und  gab  das  Zeichen  zum  Anfangen.  Ganz  er- 
schrocken über  eine  solche  Neuerung,  wollte  ein  Theil  der  Direk- 
toren dagegen  protestiren;  doch  als  ich  sie  bat,  wenigstens  einen 
Versuch  zu  gestatten,  beruhigten  sie  sich.  Die  Symphonien  und 
Ouvertüren,  welche  probirt  werden  sollten,  waren  mir  sehr  bekannt 
und  in  Deutschland  von  mir  öfters  dirigirt  worden.  Ich  konnte 
daher  nicht  nur  die  Tempi  sehr  entschieden  angeben,  sondern 
auch  den  Blas-  und  Blech-Instrumenten  alle  Eintritte  andeuten, 
was  ihnen  eine  dort  nicht  gekannte  Sicherheit  gewährte.  Auch 
nahm  ich  mir  die  Freiheit,  wenn  mir  die  Ausführung  nicht  genügte, 
aufzuhören  und  den  Herren  sehr  höflich,  aber  ernst  Bemerkungen 
über  die  Vortragsweise  zu  machen,  die  Ries  auf  meine  Bitte  dem 
Orchester  verdolmetschte.  Hierdurch  zu  außergewöhnlicher  Auf- 
merksamkeit veranlaßt  und  durch  das  sichtbare  Taktgeben  mit 
Sicherheit  geleitet,  spielten  Alle  mit  einem  Feuer  und  einer  Ge- 
nauigkeit, wie  man  es  bis  dahin  von  ihnen  noch  nicht  gehört  hatte. 
Durch  diesen  Erfolg  überrascht  und  begeistert,  gab  das  Orchester 
auch  sogleich  nach  dem  ersten  Satze  der  Symphonie  seine  all- 
gemeine Billigung  der  neuen  Direktionsweise  laut  zu  erkennen 
und  beseitigte  dadurch  alle  weitere  Opposition  von  Seiten  der 
Direktoren.  Auch  bei  den  Gesangssachen,  deren  Direktion  ich 
auf  Bitte  des  Herrn  Ries  übernahm,  insbesondere  beim  Reci- 
tativ,  bewährte  sich  das  Taktiren  mit  dem  Stäbchen,  nachdem  ich 
die  Erklärung  meiner  Taktzeichen  vorausgeschickt  hatte,  voll- 
kommen, und  die  Sänger  gaben  mir  über  die  Genauigkeit,  mit 
der  ihnen  nun  das  Orchester  folgte,  wiederholt  ihre  Freude  zu- 
erkennen. 

»Der  Erfolg  am  Abend  war  noch  glänzender,  als  ich  ihn  ge- 
hofft hatte.  Zwar  stutzten  anfangs  die  Zuhörer  über  die  Neue- 
rung und  steckten  die  Köpfe  zusammen;  als  aber  die  Musik 
begann,  und  das  Orchester  die  wohlbekannte  Symphonie  mit  un- 
gewöhnlicher Kraft  und  Präcision  ausführte,  gab  sich  schon  nach 
dem  ersten  Satz  die  allgemeine  Zustimmung  durch  ein  langanhal- 
tendes Beifallklatschen  zu  erkennen.  Der  Sieg  des  Taktirstäb- 
chens  war  entschieden,  und  man  sah  bei  Symphonien  und  Ouver- 
türen von  da  an  Niemand  mehr  am  Piano  sitzen.«  Die  dreißiger 
Jahre  bilden  denn  auch  die  Grenze  für  die  Flügeldirektion.  Der 
Sieg   der  deutschen  Sinfonie  und  Oper  hatte   die   alte   General- 


264  Sechstes  Kapitel. 

baßpraxis  völlig  zurückgedrängt,  und  im  gleichen  Maß,  wie  die 
von  den  Komponisten  gestellten  Aufgaben  wuchsen,  nahm  auch 
die  Virtuosität  der  Fachmusikerkonzerte  zu.  Eine  Direktions- 
hilfe durch  Mitspielen  auf  dem  Klavier  oder  der  Geige  war  bei 
der  Aufführung  überflüssig.  Der  Taktstockdirigent  wurde  der 
alleinige  Führer  der  Musik. 

Unter  den  Kapellmeistern,  die  die  neue  Zeit  einleiten,  gebührt 
Joh.  Friedrich  Reichardt  ein  Hauptplatz.  Er  ist  in  Berlin  der 
erste,  der  mit  der  Abschaffung  der  Klavierdirektion  in  der  Oper 
Ernst  macht,  sein  Orchester  nach  neuen  Grundsätzen  anordnet 
und  von  der  alten  Graun-Bendaschen  Schule  abkommt.  Friedrichs 
des  Großen  Worte:  er  solle  die  Berliner  Kapelle  tüchtig  exer- 
zieren, hat  Reichardt  nach  Kräften  befolgt.  Er  beseitigte  den 
durch  unfähige  und  gealterte  Musiker  und  das  ewige  Graun- Hasse- 
Repertoire  eingerissenen  Schlendrian,  gewöhnte  die  Musiker  an 
ein  exaktes  Nuancieren  und  versuchte  die  Crescendo-  und  De- 
crescendomanier nach  Mannheimer  Muster  einzuführen1.  Allein 
seine  eifrig  verfochtenen  Reformen,  seine  freimütigen  Kritiken 
und  sein  selbstbewußtes  Auftreten  schafften  so  viele  Feinde, 
daß  er  sich  als  Dirigent  der  Königlichen  Kapelle  nicht  halten 
konnte. 

Reichard  ts  künstlerischer  Nachfolger  wurde  B  er  nhard  An  sei  m 
Weber2,  der  unter  Holzbauer  studiert  und  unter  dem  Einfluß 
des  Allerweltmanns  Vogler  gestanden  hatte.  Nach  kurzer  Direk- 
tionszeit in  Hannover  wurde  er  als  Kapellmeister  an  das  Berliner 
Nationaltheater  neben  dem  unbedeutenden  Bernhard  Wessely 
berufen.  Seine  Begeisterung  für  die  Werke  Glucks  brachte  ihn 
in  Berlin  bald  an  die  Spitze  des  Musiklebens;  seine  Aufführung 
der  »Schöpfung«  und  die  großen  Erfolge  der  Gluckschen  Opern 
gaben  der  nur  noch  mühselig  gehaltenen  italienischen  Oper  den 
Todesstoß.  Beide  Bühnen  wurden  unter  dem  Königlichen  Kapell- 
meister Weber  geeint.  Seine  Direktion  stand  im  Zeichen  Reichardts. 
Er  dirigierte  mit  einer  Taktrolle  aus  starkem  Leder,  die  mit  Kälber- 
haaren ausgestopft  war.    Damit  »bearbeitete«  er  die  Partituren  so 


1  S.  Schletterer,  Reichardt,  S.  223  f.  u.  267;  Reichardt,  Über  die 
Pflichten  des  Ripien -Violinisten,  Kap.  V,  Gerbers  Lex.,  Art.  »Reichardt«; 
W.  Pauli,  J.  Fr.  Reichardt,  sein  Leben  und  seine  Stellung  in  der  Gesch.  des 
deutschen  Liedes,  S.  52  u.  a. 

2  Die  Direktion  Alessandris  und  die  Gastdirektionen  des  sehr  energisch 
auftretenden  Naumann  haben  im  Berliner  Opernleben  keine  nachhaltige  Wirkung 
gehabt. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  265 

.stark,  daß  die  Kälberhaare  weit  umherflogen,  wie  erzählt  wird1. 
Gerber,  der  ihn  persönlich  kannte,  nennt  seine  Aufführungen 
musterhaft,  er  habe  nie  ein  Orchester  einstimmiger  und  feuriger 
spielen  hören  als  die  Kapelle  am  Berliner  Nationaltheater.  »Weder 
Eilen  noch  Nachschleppen«  der  Sänger  war  zu  hören,  stets  blieben 
Chor  und  Orchester  selbst  bei  den  schwierigsten  Finalsätzen  eines 
Salieri  zusammen.  »Der  Zuhörer,  ganz  hingerissen,  sah  und  hörte 
weder  Orchester,  noch  Sänger,  sondern  verlor  sich  ganz  in  Emp- 
findungen.« Erst  am  Schluß  des  Stücks  kam  er  wieder  zu  sich2. 
Reichardt  schreibt,  daß  der  brave  Kapellmeister  Weber  einen  in 

•  das  Werk  eines  Gluck  so  tief  eindringenden  musikalischen  Sinn 
gehabt  habe  und  einen  Eifer,  wie  er  sich  äußerst  selten  finde. 
Die  Werke  des  Reformators  Gluck  würden  nirgends  »mit  so  viel 
Geist  und  Feuer«  gegeben  wie  in  Berlin3.  Seit  Anselm  Weber  hat 
Berlin  lange  Zeit  hindurch  den  Ruf  einer  Gluckstadt  gehabt,  ein 
Ruhm,  den  auch  Webers  Nachfolger,  Gasparo  Spontini,  gewahrt  hat. 

Hinter  diesen  Berliner  Kapellmeistern  bleiben  die  in  Wien 
neben  Beethoven  wirkenden  Dirigenten  an  Bedeutung  weit  zurück. 
Wir  finden  wenig  Charakterköpfe,  aber  um  so  mehr  Routiniers; 

•  eifrige  Musikanten  mußten  künstlerische  Vollnaturen  ersetzen. 
Da  betätigten  sich  in   der  »Gesellschaft  der  Musikfreunde«  der 

-aus  der  Bearbeitung  Händelscher  Oratorien  bekannte  Hofsekretär 
Ignaz  Franz  von  Mosel,   dann  Schmiedl,    Baron    Lannoy, 

"Vincens  Hauschka  und  Gebauer,  der  Gründer  der  Concerts 
spirituels,  alles  Musiker,  die  für  Organisationsfragen  verdienstlich 
gewirkt  haben,  die  aber  keine  bedeutenden  Dirigenten  waren4. 
Ihre  dilettantische  Art  zeigt  sich  schon  in  der  Bestimmung  der 
»Gesellschaft  der  Musikfreunde«,  das  Dirigentenamt  abwechselnd 
nach  dem  Los  zu  bestimmen,  dann  auch  in  den  Programmaufstel- 
lungen, in  denen  Sinfonien  und  Konzerte  oft  durch  eingeschobene 
Arien  zerstückelt  oder  überhaupt  nur  fragmentarisch  gespielt 
wurden.  Einmal  wurde  in  Mozarts  G-moll- Sinfonie  das  Me- 
nuett fortgelassen,  ein  anderes  Mal  von  der  Eroica  nur  der  erste 
Satz  gespielt,  eine  Unmanier,  die  sich  bis  in  die  letzten  Jahre 
Beethovensehen  Schaffens  und  bei  der  Chorsinfonie  noch  bis  in 


i  Allg.  Deutsche  Musik-Zeitung  (Tappert)  1878,  S.  190. 

2  Gerber,  Neues  Lexikon,  IV,  S.  520. 

3  Reichardt,  Vertraute  Briefe,  geschrieben  auf  einer  Reise  nach  Wien, 
1810,  II,  S.  213. 

4  Die   folgende   Darstellung  basiert,   wenn  nichts   anderes   angemerkt   ist, 
;auf  H  a  n  s  1  i  c  k  s  beschichte  des  Concertwesens  in  Wien«. 


266  Sechstes  Kapitel. 

unsere  Zeit  gehalten  hat.  Gute  Kapellmeister,  doch  keine  über- 
ragenden Interpreten  waren  Ign.  Umlauf,  der  bei  der  ersten 
Aufführung  der  neunten  Sinfonie  die  Chöre  dirigierte,  Salieri  und 
Ign.  von  Seyfried,  der  noch  gegen  den  Taktstockdirigenten 
in  der  Oper  aufgetreten  ist.  Ihnen  standen  die  Violindirektoren 
Clement  und  Schuppanzigh  zur  Seite,  jener  durch  sein  fabel- 
haftes Gedächtnis  berühmt  —  er  schrieb  einen  Klavierauszug 
zur  »Schöpfung«  aus  dem  Gedächtnis  nieder1  —  dieser  durch 
sein  Apostolat  Beethovenscher  Werke.  Schuppanzigh  suchte 
förmlich  ein  Patent  für  Beethovensche  Interpretation  zu  erhalten. 
Sein  Vortrag  und  die  Wiedergabe  Haydnscher  und  Mozartscher- 
Werke  werden  im  ersten  Band  der  Rochlitzschen  Musikzeitung 
mustergültig  genannt.  Von  den  Augarten- Konzerten,  in  denen 
sich,  von  Kontrabässen  und  Bläsern  abgesehen,  nur  Dilettanten- 
befanden,  die  Schuppanzigh  mit  der  Violine  dirigierte,  heißt 
es,  daß  der  Dirigent  jede  Komposition  mit  Feuer  »in  ihr  vor- 
teilhaftes Licht«  zu  stellen  wußte,  man  höre  »die  schwersten 
Symphonien  von  Haydn  und  Mozart  mit  einer  Deutlichkeit  und 
Präzision«  im  Vortrag,  die  »jede  Schönheit,  welche  die  Verfasser- 
in ihre  Instrumente  zu  legen  wußten«,  unübertrefflich  darstelle2. 
Allerdings  hatte  man  später  an  seinem  Spiel  allerlei  auszu- 
setzen, so  seine  Art,  zusammengehörige  Phrasen  zu  trennen,  viel' 
rubato  zuspielen  und  Unwichtiges  herauszukehren3.  Reichardt 
meint,  er  habe  eine  eigene  pikante  Manier,  die  humoristischen 
Quartette  von  Mozart,  Haydn  und  Beethoven  zu  spielen,  er 
trüge  die  größten  Schwierigkeiten  deutlich  vor,  wenn  auch  nicht 
vollkommen  rein,  seine  Akzentuierung  sei  aber  richtig  und  bedeu- 
tend4. Reichardt  fügt  noch  hinzu,  daß  ihn  in  Wien  das  allgemein 
eingeführte  Taktieren  mit  dem  Fuß  recht  geärgert  habe.  Selten  sei; 
ein  Forte  oder  gar  Fortissimo  zu  hören,  ohne  daß  der  Dirigent 
dabei  ungestüm  mit  dem  Fuße  dreinschlüge.  Auch  bei  Schup- 
panzigh wurde  nach  Reichardts  Worten  so  taktiert5.  Immerhin* 
kann  Reichardt  übertrieben  haben,  denn  Beethoven  vertraute 
Schuppanzigh  sicherlich  nicht  ohne  Grund  seine  Werke  an.  Das 
Taktierlärmen  stand  in  Oper  und  Konzert  noch  immer  auf  der 
Tagesordnung  und    blieb    das    einzige  Mittel,    die  Musiker,    die- 


i  Spohr,  Selbstbiographie  I,  S.  175. 

2  Allg.  mus.  Ztg.  I,  S.  543. 

3  H  an  s  1  ick  ,  a.  a.  O.   S.  204. 
*  Vertraute  Briefe  I,  S.  206 f. 

6  Ebenda. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  267 

wenig  oder  überhaupt  nicht  geprobt  hatten,  zusammenzuhalten. 
Bezeichnend  ist  dafür,  daß  in  den  Concerts  spirituels  grundsätz- 
lich alle  Werke  a  vista  oder  bei  schwierigen  Stücken  nach  einer 
einzigen  Probe  gespielt  werden  sollten,  daß  Beethoven  für  sein 
Riesenprogramm  im  Jahre  1808,  wo  zwei  Sätze  der  C-dur-Messe,. 
das  G-dur- Konzert,  die  Chorphantasie  und  die  fünfte  und  sechste 
Sinfonie  von  den  verschiedensten  Musikern  und  Dilettanten  ge- 
spielt wurden,  nicht  einmal  alle  Stücke  gehörig  durchprobiert 
hatte.  Bei  tüchtigen  Musikern  konnte  das  a  vista-Spiel  für  die 
Arbeiten  Pleyels,  Rosettis,  Krommers  u.  a.  ausreichen,  aber  der 
Beethovenschen  Sinfonie  gegenüber  kam  man  mit  dieser  Methode 
nicht  durch.  Erst  als  sämtliche  Dilettantenvereine  in  Berufs- 
orchester umgestaltet  waren,  erstand  eine  Interpretationskunsfc 
Beethovenscher  Sinfonien. 

Ein  Blick  auf  die  Wiener  Kapellmeister  zeigt,  daß  Beethovens 
nicht  nur  dem  Brauch  der  Zeit  folgte,  sondern  auch  die  ihn  um- 
gebenden Taktschläger  gut  kannte,  wenn  er  seine  großen  Werke 
selbst  in  die  Öffentlichkeit  brachte1.  Daß  er  hierbei  ebenso- 
wenig glücklich  war,  wie  bei  seinen  ungeheuerlichen  Programm- 
aufstellungen, beweisen  die  oft  zitierten  Schilderungen  von  Spohr, 
Ries,  Reichardt,  Wild,  Seyfried  und  Atterbohm,  von  denen  hier 
nur  die  Berichte  Spohrs  und  Atterbohms  angeführt  seien.  »Beet- 
hoven hatte  sich  angewöhnt«,  erzählt  Spohr  in  seiner  Selbst- 
biographie2, »dem  Orchester  die  Ausdruckszeichen  durch  allerlei' 
sonderbare  Körperbewegungen  anzudeuten.  So  oft  ein  sforzando 
vorkam,  riß  er  beide  Arme,  die  er  vorher  auf  der  Brust  kreuzte, 
mit  Vehemenz  auseinander.  Bei  dem  piano  bückte  er  sich  nieder,, 
und  um  so  tiefer,  je  schwächer  er  es  wollte.    Trat  dann  ein  Cres- 


1  Vgl.  Beethovens  Brief  an  Breitkopf  &  Härtel  vom  7.  Jan.  1809:  »Wir 
haben  Kapellmeister,  die  so  wenig  zu  dirigieren  wissen,  als  sie  kaum  eine  Par- 
titur lesen  können.  —  Auf  der  Wieden  ist  es  freilich  noch  am  schlechtesten.  — 
Da  hatte  ich  meine  Akademie  zu  geben,  wobei  mir  von  allen  Seiten  der  Musik 
Hindernisse  in  den  Weg  gelegt  wurden  ....  Hauptsächlich  waren  die  Musiker 
aufgebracht,  daß,  indem  aus  Achtlosigkeit  bei  der  einfachsten  plansten  Sache 
von  der  Welt  gefehlt  worden  war,  ich  plötzlich  stille  halten  ließ  und  laut  schrie: 
noch  einmal.  So  was  war  ihnen  noch  nicht  vorgekommen;.  .  .  Es  wird  aber 
täglich  ärger.  Tags  zuvor  meiner  Akademie  war  im  Theater  in  der  Stadt  in  der 
kleinen  . .  Oper  Milton  das  Orchester  so  auseinandergekommen,  daß  Kapell- 
meister und  Direktor  förmlich  Schiffbruch  litten;  —  denn  der  Kapellmeister, 
statt  vorzuschlagen,  schlägt  hinten  nach;  und  dann  kommt  erst  der  Direktor 
[Konzertmeister].«  Beethovens  sämtliche  Briefe  ediert  von  E.  Kastner,  S.  142.. 

2  I,  S.  200. 


268  Sechstes  Kapitel. 

cendo  ein,  so  richtete  er  sich  nach  und  nach  wieder  auf  und  sprang 
beim  Eintritt  des  forte  hoch  in  die  Höhe.  Auch  schrie  er  manch- 
mal, um  das  forte  noch  zu  verstärken,  mit  hinein,  ohne  es  zu  wissen. 
....  Daß  der  arme  taube  Meister  die  piano  seiner  Musik  nicht 
mehr  hören  konnte,  sah  man  ganz  deutlich.  Besonders  auf- 
fallend war  es  aber  bei  einer  Stelle  im  zweiten  Theile  des  ersten 
Allegro  der  Symphonie  [aus  A-dur].  Es  folgen  sich  da  zwei  Halte 
gleich  nacheinander,  von  denen  der  zweite  pianissimo  ist.  Diesen 
hatte  Beethoven  wahrscheinlich  übersehen,  denn  er  fing  schon 
wieder  an  zu  taktiren,  als  das  Orchester  noch  nicht  einmal  diesen 
zweiten  Halt  eingesetzt  hatte.  Er  war  daher,  ohne  es  zu  wissen, 
dem  Orchester  bereits  zehn  bis  zwölf  Takte  vorausgeeilt,  als 
dieses  nun  auch,  und  zwar  pianissimo  begann.  Beethoven,  um 
•dieses  nach  seiner  Weise  anzudeuten,  hatte  sich  ganz  unter  dem 
Pulte  verkrochen.  Bei  dem  nun  folgenden  crescendo  wurde  er 
wieder  sichtbar,  hob  sich  immer  mehr  und  sprang  hoch  in  die  Höhe, 
als  der  Moment  eintrat,  wo,  seiner  Rechnung  nach,  das  forte 
beginnen  mußte.  Da  dieses  ausblieb,  sah  er  sich  erschrocken 
um,  starrte  das  Orchester  verwundert  an,  daß  es  noch  immer 
pianissimo  spielte  und  fand  sich  erst  wieder  zurecht,  als  das  längst 
erwartete  forte  endlich  eintrat  und  ihm  hörbar  wurde.«  Ähnlich 
schildert  Atterbohm  die  Beethovensche  Direktion.  Beethoven 
stand,  wie  er  erzählt1,  »wie  auf  einer  abgeschlossenen  Insel  und 
dirigirte  .  .  .  mit  den  seltsamsten  Bewegungen;  so  z.  B.  com- 
mandirte  er  pianissimo  damit,  daß  er  leise  niederkniete  und  die 
Arme  gegen  den  Fußboden  streckte;  beim  fortissimo  schnellte 
•er  dann  wie  ein  losgelassener  elastischer  Bogen  in  die  Höhe,  schien 
über  seine  Länge  hinauszuwachsen  und  schlug  die  Arme  weit 
auseinander;  zwischen  diesen  beiden  Extremen  hielt  er  sich  be- 
ständig in  einer  auf-  und  niederschwebenden  Stellung«.  Die 
Berichte,  die  in  der  Beschreibung  des  sonderbaren  Auftretens 
Beethovens  sämtlich  übereinstimmen,  sind  vielleicht  feuille- 
tonistisch  gefärbt,  aber  so  viel  scheint  sicher  zu  sein,  daß  Beet- 
hoven seine  Intentionen  mit  größter  Peinlichkeit  ausgeführt 
haben  wollte,  daß  er  zu  allen  möglichen  Mitteln  griff,  um  die  Mu- 
siker anzufeuern  und  zu  begeistern.  Daß  er  sich  mit  diesem 
ungestümen  Gebahren  leicht  lächerlich  machen  konnte,  kam 
-dem  Schwerhörigen  kaum  zum  Bewußtsein.  Trotzdem  zeigt  aber 
die   Begeisterung,   die  besonders  seine   Konzerte  in   den   Jahren 


1  Zum  ersten  Male  mitgeteilt  von  H  a  n  s  1  i  c  k  ,  a.  a.  O.  S.  276. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  269 

1813,  1814  und  1824  hervorriefen,  daß  die  Zeitgenossen  unter  den 
Absonderlichkeiten  des  äußeren  Menschen  doch  die  Genialität 
und  das  Große  des  Beethovenschen  Ausdrucks  erkannten.  Man 
kann  auch  verstehen,  daß  Beethoven  die  Erstaufführung  seiner 
Werke  nicht  den  Wiener  Kapellmeistern  anvertrauen  wollte, 
wenn  diese  auch  glatter  mit  dem  Orchester  durchgekommen 
wären.  Beethoven  besaß  ein  großes  Vertrauen  zu  der  eigenen 
Kraft,  er  wollte  für  seine  Werke  ebenso  wie  die  übrigen  Kapell- 
meister auch  in  eigener   Person  einstehen1. 

Die  dreißiger  Jahre  führten  den  großen  Wiener  Musik- 
instituten keine  neuen  Kräfte  im  Kapellmeisteramt  zu,  die 
Gesellschaftskonzerte  stagnierten  unter  den  Dirigenten  Lannoy, 
Klemm,  Holz  und  dem  besonders  eifrigen  Schmiedl,  die  Ton- 
künstler-Sozietät,  von  dem  späteren  Hofkapellmeister  Aßmayer 
und  von  Randhar  tinger  »mit  handwerksmäßigem  Gleichmut«  ge- 
leitet, wie  Hanslick  sagt,  ging  im  Krebsschritt  einher,  und  die 
zweiten  großen  Dilettantenkonzerte,  die  Concerts  spirituels,  dilet- 
tierten  im  alten  Fahrwasser  weiter,  das  nur  durch  einige  Gastdirek- 
tionen, durch  Preisausschreibungen  und  einen  in  der  Ausführung 
nicht  gerade  würdigen  Beethovenkult  eine  Nuance  in  die  Alltäglich- 
keit des  Musikbetriebs  brachte.  Das  Orchester  der  Concerts  spirituels 
spielte  noch  nach  längst  veralteter  Methode  mitten  im  Saal  ohne 
jede  Erhöhung,  und  dazu  meist  nach  einer  einzigen  Probe,  so  daß 
Schubert  einmal  den  Saal  verließ,  weil  die  Wiedergabe  nicht  mit 
anzuhören  war.  Hanslick,  der  die  alten  Herren  Lannoy,  Holz, 
Georg  Hellmesberger  noch  gekannt  hat,  schreibt,  er  habe  außer 
ihrem  guten  Willen  und  der  schönen  Pietät  des  Publikums  nichts 
Rühmliches  weiter  an  ihren  Konzerten  gefunden. 

Man  kann  sich  leicht  vorstellen,  welchen  Beifall  die  im 
Jahre  1842  von  Otto  Nicolai  begründeten  Philharmonischen 
Konzerte  beim  Publikum  und  bei  der  Kritik  nach  den  voran- 
gegangenen fragwürdigen  Veranstaltungen  hervorriefen.  Mit 
Nicolai  trat  unter  die  Wiener  Musiker  ein  geborener  Orchester- 
dirigent, ein  Künstler,  dessen  Ehrgeiz  sich  mit  zähem  Fleiß  und 
mit  einer  Ausdauer  paarte,  wie  sie  in  Wien  lange  Zeit  ungekannt 
waren.  Nicolais  Energie  und  Unermüdlichkeit  in  den  Proben 
und   seine  Strenge  zu  den  Musikern  spornte  zu  glänzenden  Lei- 

1  Vgl.  Beethovens  Danksagung  nach  der  Aufführung  der  Schlachtsinfonie: 
»Mir  fiel  nur  darum  die  Leitung  des  Ganzen  zu,  weil  die  Musik  von  meiner  Com- 
position  war;  wäre  sie  von  einem  andern  gewesen,  so  würde  ich  mich  ebenso  gern 
wie  Herr  Hummel  an  die  große  Trommel  gestellt  haben.« 


270  Sechstes  Kapitel. 

stungen  an.  Die  neunte  Sinfonie  bot  er  zum  ersten  Male  in  künst- 
lerischer Vollendung.  Die  Kritik  nannte  seine  Konzerte  die  Krone 
der  Wiener  Musikgenüsse,  wie  überhaupt  aller  orchestralen  Auf- 
führungen1. Nicolai  duldete  keine  Sinfoniezerstückelungen, 
noch  Virtuosenkunststücke  in  seinem  Programm.  Die  einge- 
schobenen Liedvorträge  standen  auf  dem  gleichen  künstlerischen 
Niveau  wie  die  Orchesterstücke.  Wie  schnell  das  Orchester 
unter  seiner  Leitung  erstarkte,  zeigt  ein  Bericht  von  Berlioz2. 
Er  schreibt,  daß  das  Orchester  vielleicht  von  anderen  erreicht, 
'doch  von  keinem  übertroffen  würde.  Den  Dirigenten  charak- 
terisiert er  mit  diesen  Worten:  »Nicolai  besitzt,  meiner  Ansicht 
nach,  die  drei  Eigenschaften,  welche  unentbehrlich  sind,  um  einen 
vollkommenen  Dirigenten  zu  bilden.  Er  ist  gelehrter,  geübter, 
begeisterungsfähiger  Komponist;  er  hat  Gefühl  für  alle  Anforde- 
rungen der  Rhythmen  und  eine  vollständig  klare  und  deutliche 
Technik  der  Bewegung;  endlich  ist  er  ein  erfinderischer  und  uner- 
müdlicher Veranstalter,  der  in  den  Proben  weder  mit  seiner 
Mühe,  noch  mit  seiner  Zeit  kargt,  und  der  weiß,  was  er  tut,  weil 
-er  nur  das  tut,  was  er  weiß.  Daher  die  ausgezeichneten  materi- 
ellen und  moralischen  Eigenschaften,  das  Vertrauen,  die  Er- 
gebenheit, die  Geduld  und  auch  die  wunderbare  Sicherheit  und 
das  einheitliche  Wirken  des  Orchesters  vom  Kärntnertor.«  Das 
Orchester  spielte  mit  »jener  Wärme  und  Treue,  mit  jener  Aus- 
arbeitung der  Einzelheiten  und  Macht  des  Zusammenspiels«, 
»  welche,  wenigstens  für  mich,  eine  solches  Orchester  unter  solcher 
Leitung  zum  schönsten  Produkt  moderner  Kunst  gestalten«3. 
Die  Worte  Berlioz'  zeigen  besser  als  alle  anderen  Kritiken 
die  Größe  und  Kraft  der  Nicolaischen  Direktion,  die  mit  einem 
Schlage  das  Wiener  Musikleben  in  die  Höhe  brachte.  Aber  die 
glänzenden  Jahre  seiner  Orchesterleitung  gingen  bald  ihrem  Ende 
entgegen.  1847  verabschiedete  er  sich  vom  Wiener  Publikum  und 
ging  nach  Berlin;  Georg  Hellmesberger  (d.  ä.),  Reuling 
und  Prodi  suchten  die  Konzerte  noch  zu  halten  —  aber  »ver- 
flogen war  der  Spiritus«,  wie  Hanslick  sagt.  Das  Konzertleben 
ging   zurück,    bis  Karl  Eckert  als  Reformator  auftrat. 


1  Witthauersche  Zeitschrift.    Nach  Hanslick,  a.  a.  O.  S.  317. 

2  Berlioz,  Literarische  Werke.  Erste  Gesamtausgabe,  Breitkopf  &  Härtel, 
II,  S.166f.  Auf  diese  Ausgabe  beziehen  sich  alle  weiteren  Quellenangaben,  wenn 
nichts  anderes  angegeben  ist. 

3  Ebenda,  S.  168. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  271 

Unter  den  Jahr  für  Jahr  nach  Wien  ziehenden  Virtuosen,  die 
sich  in  der  Stadt  Haydns  und  Mozarts  hören  lassen  wollten,  be- 
fand sich  im  Jahre  1812  auch  Ludwig  Spohr.  Gleich  sein  erstes 
Konzert,  das  mit  dem  ersten  Satz  seiner  Es-dur-Sinfonie  ein- 
geleitet wurde,  brachte  ihm  einen  großen  Erfolg.  Doch  wurde 
nicht  der  Komponist,  sondern  nur  der  Violinspieler  gerühmt. 
Dieser  virtuosen  Meisterschaft  auf  der  Geige  verdankte  er  auch 
seine  Erfolge  als  Konzertmeister  und  Orchesterbildner1.  Seine 
Dirigentenlaufbahn  begann  er  in  Gotha,  wo  der  junge  Konzert- 
meister sehr  energisch  und  selbständig  auftrat.  Er  ließ  für  jedes 
Hofkonzert  drei  bis  vier  Proben  abhalten  und  alles  mit  pein- 
lichster Genauigkeit  einüben.  Als  Kapellmeister  am  Klavier 
fungierte  neben  ihm  bei  Vokalsachen  ein  Musiker  Reinhard,  der, 
wie  Spohr  erzählt,  »anfangs  einige  schwache  Versuche«  machte, 
»sich  bei  den  Vokalvorträgen  als  Dirigenten  zu  geriren«.  Spohr 
wußte  ihm  aber  als  Vorgeiger  durch  Entschiedenheit  so  zu  impo- 
nieren, daß  jener  sich  allen  seinen  Anforderungen  willig  am  Piano- 
forte  fügte  und  Spohr  im  ungestörten  Dirigentenansehen  stand2. 
Durch  die  vielen  Kunstreisen,  die  Spohr  späterhin  unternahm, 
wurde  er  als  Virtuose  und  Dirigent  weit  bekannt,  und  wir  finden 
ihn  denn  auch  beim  ersten  deutschen  Musikfest,  dem  Franken- 
hausener,  an  der  Spitze  des  Orchesters.  Ihm  standen  Kapell- 
meister Krille  am  Klavier  und  als  Chordirektor  Kantor  Bischoff 
zur  Seite.  Die  Kritik  nennt  Spohrs  Leitung,  der  mit  einer  Papier- 
rolle »ohne  alles  Geräusch  und  ohne  die  geringste  Grimasse« 
dirigierte,  äußerst  »graziös«,  bestimmt  und  wirksam.  Dem 
glücklichen  Talente  Spohrs  schreibt  der  Kritiker  der  Leipziger 
Musikzeitung  »die  Vortrefflichkeit  und  Präzision  —  der  erschüt- 
ternden Gewalt,  so  wie  des  sanften  Anschmiegens  dieses  zahl- 
reichen Orchesters  an  den  Sänger,  beym  Vortrage  der  , Schöpfung' 
zu«.  Eine  einzige  Bewegung  Spohrs  genügte,  um  die  Musiker 
verstummen  zu  machen.  Die  erste  Sinfonie  von  Beethoven, 
die  unser  Kritikus  im  Jahre  1810  »unstreitig  seine  gefälligste 
und  populärste«  nennt,  klang  »unverbesserlich«,  sie  wurde  mit 
»Liebe,  Feuer  und  höchster  Präzision«  vorgetragen;  beim  Trio 
des  Menuett  glaubte  das  Ohr  eine  reine  Harmonika  (Glasklavier) 
zu  hören,  so  herrlich  und  einheitlich  wurde  gespielt3.    Von  diesem 


1  Vgl.  Reichardts  Vertr.  Briefe  I,  S.  26/27. 

2  Spohrs  Selbstbiographie  I,  S.  96. 

3  Allg.  Mus.  Ztg.  1810,  S.  751  f. 


272  Sechstes  Kapitel. 

Konzert,  das  die  erste  Blütezeit  der  Musikfeste  einleitete  —  die 
zweite  erleben  wir  in  unseren  Tagen  —  datiert  Spohrs  Ruhm  als 
Festdirigent.  Sein  Organisationstalent  half  über  viele  Klippen 
solcher  Veranstaltungen  hinweg,  und  noch  im  Alter  von  61  Jahren 
finden  wir  ihn  bei  der  Enthüllung  des  Beethovendenkmals  in  Bonn 
neben  Liszt  am  Dirigentenpult,  um  die  neunte  Sinfonie  und 
die  große  Messe  zu  leiten. 

Spohrs  Anstellung  am  Wiener  Theater,  die  er  nach  seinen 
Wiener  Konzerterfolgen  erhielt,  war  lediglich  die  eines  Konzert- 
meisters. Er  hatte  an  der  ersten  Geige  vorzuspielen,  die  Violin- 
soli in  Opern  und  Balletten  zu  übernehmen  und  nur,  falls  Seyfried 
verhindert  war,  aus  der  Partitur  zu  dirigieren.  Sein  Einfluß  auf 
das  Musikleben  erstreckte  sich  daher  mehr  auf  die  Propagierung 
seines  Vortragsstils,  wenn  überhaupt  von  dieser  Wiener  An- 
stellung eine  richtunggebende  Tätigkeit  angenommen  werden 
kann.  Spohr  ging  von  Wien  aus  wieder  auf  Reisen  und 
durchstreifte  Deutschland  und  Italien.  In  Italien  hatte  er  bei 
Konzertveranstaltungen  seine  liebe  Not.  Die  Musiker  kannten 
keine  Nuancen  der  Stärke  und  Schwäche,  noch  richtige  Tempi 
und  konnten  von  ihrer  alten  Manier,  Verzierungen  willkürlich  an- 
zubringen, noch  immer  nicht  lassen1.  In  den  Jahren  1817  —  1819 
wirkte  Spohr  als  Kapellmeister  in  Frankfurt  a.  M.  Er  exer- 
zierte auch  hier  die  Musiker  so  lange,  bis  alles  auf  das  pein- 
lichste beachtet  wurde.  Sein  Vorgänger  hatte  mit  der  Geige 
dirigiert;  da  die  Sänger  an  diese  Manier  gewohnt  waren,  begann 
auch  Spohr  zuerst  mit  dem  Geigenbogen  zu  taktieren  und  nahm 
die  Geige  nur  zur  Hand,  um  nötigenfalls  einzuhelfen.  Er  hielt 
dabei  die  Sänger  zu  einem  sehr  genauen  Studium  ihrer  Partien 
an ,  bis  die  Geigenhilfe  allmählich  wegfallen  konnte.  Nun 
legte  er  die  Geige  beiseite  und  taktierte  »auf  französische  Weise 
mit  dem  Stäbchen«2.  Wie  er  diese  Direktionsmanier  in  England 
verbreitete,  ist  schon  erzählt  worden.  Die  englische  Presse 
nannte  seine  Direktion  »wunderbar  taktfest  und  dabei  durch 
erläuternde  Bewegungen  den  beabsichtigten  Effekt  deutlich  an- 
merkend«3. Nach  diesen  Reisen,  die  ihn  auch  nach  Paris 
führten,  wo  er  sich  davon  überzeugte,  daß  jedes  Theaterorchester 
»durch  unausgesetztes  Taktgeben«  dirigiert  werden  müsse,  wenn 


i  Selbstbiographie  I,  S.  297  u.  330. 

2  Ebenda  II,  S.  57.     Vgl.  oben  S.  124f. 

3  Ebenda  II,  S.  245. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  273 

es  gut  klingen  soll1,  wurde  er  vom  Jahre  1822  an  dauernd  in 
Kassel  als  Kapellmeister  angestellt.  Sein  Kasseler  Wirken  fiel 
in  eine  reichbewegte  Zeit.  Er  erlebte  die  Revolution  in  Kunst 
und  Leben,  die  großen  Direktionstaten  Spontinis,  Mendelssohns 
und  Wagners  und  mußte  sich  gestehen,  daß  er  trotz  seiner  Energie 
und  seines  Strebens,  nicht  beim  Alten  stehen  zu  bleiben,  in  Kassel 
nichts  Ähnliches  leisten  konnte.  Moritz  Hauptmann  schreibt 
auch  an  seinen  Freund  Hauser  einmal,  daß  fast  alle  Opern  in  Kassel 
durch  die  Bank  schlecht  gingen.  Schuld  daran  sei,  daß  Spohr 
nicht  Klavier  spiele ;  die  ersten  Proben  einer  neuen  Oper  würden  mit 
dem  Quartett  gehalten,  wo  doch  eine  Klavierprobe  viel  mehr  im 
Anfang  helfe  als  etwa  zehn  mit  dem  Quartett2.  Es  würde  ein 
falsches  Bild  geben,  wenn  man  alle  diese  Angriffe  auf  den  gealterten 
Künstler  aneinanderreihen  wollte.  Wer  Spohrs  Selbstbiographie 
gelesen  hat,  weiß,  welch  ein  willensstarker,  vorwärtsstrebender 
Musiker  er  gewesen  ist.  Er  hatte  sich  vom  Konzertmeister  zum 
freien,  nur  auf  sich  gestellten  Dirigenten  durchgearbeitet.  In 
seiner  Gothaer  Zeit  spielte  er  bei  der  Aufführung  neben  dem 
Klavieristen  der  alten  Richtung,  und  bei  der  großen  Beethoven- 
feier in  Bonn  stand  er  als  moderner  Taktstockdirigent  vor  dem 
Orchester.  Durch  Reisen  und  tüchtiges  Studieren  von  der  Zweck- 
mäßigkeit der  neuen  Direktionsform  überzeugt,  wurde  er  einer 
der  wichtigsten  Vorkämpfer  der  modernen  Praxis.  Die  Einheit- 
lichkeit und  Präzision,  die  er  bei  seinen  Aufführungen  erreichte, 
sein  edler  und  vornehmer  Vortrag,  der  mit  »Glätte,  Füllung  und 
Rundung«  des  Tons  eine  wohlige  Weichheit  verband3,  wurden 
das  Vorbild  vieler  Kapellmeister  und  Violinspieler. 

Spohr  hat  mit  allen  Mitteln  auf  einen  exakten  Orchestervortrag 
hingearbeitet.  Er  duldete  keine  solistischen  Freiheiten  im  Or- 
chesterspiel; alle  Musiker  mußten  einheitlich,  deutlich,  ohne 
konzertmäßige  Kunstgriffe  ihren  Part  ausführen4.  Auch  der 
Praxis  hat  er  manchen  Wink  gegeben.  So  erfand  er  das  Mittel, 
beim  Studium  eines  Werkes  Partitur  und  Stimmen  an  geeig- 
neten Stellen  mit  Buchstaben  des  Alphabets  zu  bezeichnen5. 
Dagegen   scheint   er   dem   Wunsch   der   Sänger   bei   willkürlichen 


1  Selbstbiographie  II,  S.  126. 

2  A.  a.  O.  I,  S.  244. 

3  Jos.  v.  Wasielewski,  Aus  siebzig  Jahren.  Lebenserinnerungen.  Stutt- 
gart und  Leipzig,  1897,  S.  54. 

4  F.   S.   Gassner,    Dirigent  und  Ripienist.     Karlsruhe  1844.     S.  53/54. 
6  Gassner,  a.a.O.   S.  46f. 

Kl.  Handb.  d.  Musikgescli.  X.  18 


274  Sechstes  Kapitel. 

Veränderungen  ihrer  Partie  mitunter  doch  nachgegeben  zu  haben. 
Als  bei  einer  Jessondaprobe  der  Tenorist  Terska  einmal  eine  eigene 
Passage  einflocht,  rief  Spohr  mit  zorniger  Stimme:  »Das  steht  nicht 
da  ! «  Aber  der  Tenorist  bat  den  Meister  so  inständig,  daß  Spohr 
mit  einem  »In  drei  Teufels  Namen«  nachgab1.  Als  Kapellmeister 
gehört  Spohr  neben  Reichardt  und  Anselm  Weber,  doch  ist  sein 
Einfluß  auf  die  Direktionskunst  weit  größer  als  der  der  Berliner. 
Er  wird  durch  seine  Leitung  der  Musikfeste  der  erste  richtung- 
gebende Dirigent. 

Wenn  die  Zeitgenossen  von  der  Eigenart  der  Spohrschen 
Direktion  verhältnismäßig  wenig  zu  berichten  wissen,  so  haben 
sie  sich  desto  eingehender  mit  dem  Berliner  Generalmusikdirektor 
Spontini  beschäftigt.  Dieser  musikalische  Alleinherrscher  wurde 
auf  Friedrich  Wilhelms  III.  Antrieb  im  Jahre  1820  —  ein  Jahr 
nach  Anselm  Webers  Rücktritt  —  an  die  Spitze  der  Berliner 
Oper  berufen.  Kontraktlich  war  Spontini  verpflichtet,  alle 
drei  Jahre  zwei  Opern  zu  liefern  oder  eine  kleine  Oper  im  Jahr, 
die  Premieren  seiner  Werke  zu  leiten  und  die  übrigen  Kapell- 
meister bei  Krankheitsfällen  zu  vertreten.  Es  war  ausdrücklich 
festgelegt,  daß  Spontini  nur  am  Klavier  oder  Flügel,  »ohne  selbst 
den  Musikstab  zu  führen,  mit  Beihülfe  eines  auf  sein  Verlangen 
von  der  General-Intendantur  der  Schauspiele  behufs  Führung 
des  Musikstabes  anzuweisenden  Mitgliedes  des  Königlichen  Or- 
chesters« zu  dirigieren  habe2.  Zu  dieser  Subdirektion  waren  Kon- 
zertmeister Moser  und  Seid ler  verpflichtet  und  zwar  in  der 
Weise,  daß  der  erste  Konzertmeister  »jedesmal  mit  der  Violine 
vorspiele,  der  andere  aber  nach  der  Bestimmung,  welche  Herr 
Spontini  in  Hinsicht  auf  die  verschiedenen  Tempos  geben  wird, 
taktieren  soll«3.  In  der  Praxis  kam  es  anders.  Spontini,  der 
trotz  seiner  Tätigkeit  an  der  Pariser  italienischen  Oper  keine 
sonderliche  Kapellmeisterroutine  besaß,  führte  den  Taktstock 
selbst  und  dirigierte  sein  Repertoire  allein.  Gleich  sein  erstes 
Debüt  zeigte,  daß  man  an  dem  Generalmusikdirektor  eine  Kraft 
ersten  Ranges  besaß.  Nicht  die  freie  humane  Art  im  Umgang 
mit  den  Musikern,  nicht  die  eigene  Geschicklichkeit  waren  es,  die 
seine  Aufführungen  berühmt  machten,  sondern  sein  eiserner  Wille, 

1  J.  Schucht,  Meyerbeers  Leben  und  Bildungsgang.  Leipzig  1869, 
S.  292  f. 

2  Wilh.  Altmann,  Spontini  an  der  Berl.  Oper,  eine  archivalische  Studie. 
Smlbd.  d.  I.  M.-G.  1903,  S.  249f.     Kontrakt  mit  Spontini. 

3  Dienst-Instruktion  für  Spontini,  Altmann,  a.a.O.  S.  257 f. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  275 

seine  zähe  Energie  und  seine  souveräne  Herrschaft  über  das 
gesamte  Opernwesen.  Er  verstärkte  das  Königliche  Orchester 
auf  94  Kammermusiker  und  placierte  sie  nach  seiner  eigenen 
Manier1.  Er  setzte  auch  durch,  daß  alle  Opern  ohne  Ausnahme 
von  den  etatsmäßigen  Kapellmeistern  dirigiert  werden  sollten; 
Gastdirektionen,  wie  sie  überall  üblich  waren,  sollten  ausge- 
schlossen sein,  eine  Ordre,  die  mit  wenigen  Ausnahmen  durch- 
geführt wurde. 

Unter  Spontinis  musikalischem  Regime  wurde  die  Berliner 
Kapelle  ein  Werkzeug,  das  so  lange  geölt  wurde,  bis  die  Räder 
ohne  jede  Unregelmäßigkeit  liefen  und  schnurrten.  Der  Na- 
poleonide herrschte  wie  ein  General  über  seine  Musiker.  Wenn  er 
im  »dunkelmoosgrünen  Frack«,  die  Brust  mit  einer  Reihe  ganz 
kleiner  Orden  geschmückt,  in  aristokratischer  Haltung  schnell 
ins  Orchester  trat,  saßen  die  Musiker  »regungslos,  alle  Bogen 
über  den  Saiten,  alle  Mundstücke  an  den  Lippen  «2.  Konzertmeister 
Moser  klopfte  mit  dem  Violinbogen  an  den  blechernen  Lampen- 
deckel seines  Pultes,  um  anzudeuten,  daß  alle  bereit  seien3.  Nach 
diesem  Signal  faßte  Spontini  seinen  massiven  Taktstock,  der  von 
dickem  Ebenholz,  mit  Griff  und  Spitze  aus  Elfenbein  gearbeitet 
war,  in  der  Mitte  und  begann  mit  seinem  Marschallstab  zu  tak- 
tieren4. Seine  »energischen,  präzisen,  beinahe  eckigen  und  doch 
graziösen  Contouren  des  rechten  Armes  und  seiner  die  Battuta 
schwingenden  Hand«  zeigten  »dieselbe  gebieterische  Haltung 
der  ganzen  wie  in  Bronze  gegossenen  Figur«.  Sein  Blick  traf 
bald  rechts,  bald  links  einen  Musiker,  ohne  auch  nur  einen  Moment 
die  »majestätische  Ruhe  des  olympischen  Hauptes«  zu  stören5. 
Trotz  seiner  Kurzsichtigkeit  beherrschte  er  Szene  und  Orchester 
mit  einem  Blick,  nicht  die  kleinste  Unregelmäßigkeit  konnte  ihm 
entgehen.  »Mein  linkes  Auge  ist  erste  Violin,  mein  rechtes  zweite 
Violin«,  sagte  er  in  gebrochenem  Deutsch  zu  Richard  Wag- 
ner. Er  faszinierte  durch  sein  Auftreten  Musiker  und  Sänger. 
Allerdings  war  es  keine  Kleinigkeit,  unter  seiner  Führung  zu 
probieren  und  zu  studieren.     Unzählige  Quartett-  und  Orchester- 


1  Über  die  Berliner  und   Dresdener  Orchesterstellung  siehe  weiter   unten 
S.  312  f. 

2  Ad.  Bernh.  Marx,  Erinnerungen.     Berlin,  1865.  I,  S.  220f. 

3  Heinr.  Dorn,  Aus  meinem  Leben.    Berlin,  1870 — 75.    II,  S.  126. 

4  Ebenda  I,  Spontini,  S.  34.     S.  auch  Rieh.  Wagner,  Erinnerungen  an 
Spontini. 

5  Heinr.  Dorn,  a.  a.  O.  I,  Spontini,  S.  2. 

18* 


276  Sechstes  Kapitel. 

proben  wurden  zu  einer  Spontinischen  Premiere  abgehalten. 
Jeder  Musiker,  jeder  Solist  wurde  so  lange  exerziert,  bis  alle  Partien 
klappten  und  die  Musiker  ihre  Stimmen  auswendig  kannten. 
Dann  kamen  Generalproben,  letzte  und  allerletzte  Proben,  die 
durch  ein  »encore«  des  Dirigenten  immer  länger  hingezogen 
wurden.  Erst  wenn  die  Oper  wie  am  Schnürchen  ging,  wurde  die 
Aufführung  angesetzt.  Spontini  brauchte  dann  das  Orchester 
nur  anzutippen,  das  ohne  Fehler  und  Störungen  bis  zum  Schluß 
spielte.  Er  konnte  am  Anfang  des  Takts  auf-  oder  niederschlagen, 
er  konnte  sein  mächtiges  Szepter  nach  allen  Richtungen  bewegen 
oder  überhaupt  ruhen  lassen,  stets  waren  die  Musiker  beisammen. 
Ein  Recitativ  Spontinis  hätte  kein  anderes  Orchester  nach  seiner 
Leitung  spielen  können,  als  die  von  ihm  »gemaßregelte  Königlich 
Preußische  Kapelle«1. 

Mit  welcher  Peinlichkeit  er  studierte,  zeigen  die  »Erinnerungen 
an  Spontini«  von  Richard  Wagner,  der  über  die  Forderungen, 
die  Spontini  bei  der  Dresdener  Aufführung  der  »Vestalin«  stellte, 
wahrhaft  erschreckt  war.  Wagner  fühlte  aber  auch,  daß  hier  ein 
ihm  nahestehender  Künstler  vor  dem  Orchester  stand,  der  selbst 
das  kleinste  Detail  bei  der  Aufführung  beachtete,  und  der  die 
gesamte  Regie  am  Dirigentenpult  zu  führen  verstand.  Durch 
diese  Proben  kamen  Aufführungen  zustande,  von  denen  die 
Zeitgenossen  in  begeisterten  Worten  sprechen.  Was  über- 
haupt von  Nuancen  möglich  war,  wurde  von  Spontini  erreicht: 
»Forte  wie  ein  Orkan,  Piano  wie  ein  Hauch,  Crescendo,  daß  man 
unwillkürlich  die  Augen  aufriß,  Decrescendo  von  zauberisch  er- 
mattender Wirkung,  Sforzando  um  Todte  zu  erwecken«2,  und 
Kammermusikus  Hanemann  schreibt:  »Das  ..Piano,  von  der 
ganzen  Masse  ausgeführt,  klang  wie  das  Pianissimo  eines  Quar- 
tetts, und  das  Forte  übertraf  den  stärksten  Donner.  Zwischen 
diesem  Piano  und  diesem  Forte  bewegten  sich  Spontinis  unüber- 
treffliche Crescendos  und  Decrescendos3.«  Auch  Berlioz  be- 
wunderte diese  mit  Kompositionseffekten  verbundenen  Nuancen, 
er  nennt  Spontini  geradezu  den  Erfinder  des  großen,  weit  ange- 
legten Crescendo4. 


1  Heinr.  Dorn,  a.a.O.   I,  Spontini.     Vgl.  auch  Marx,  a.a.O. 

2  Heinr.  Dorn,  a.  a.  O.   II,  S.  127f. 

3  Paul   Bekker,    Leben  und   Schriften   des  Kammermusikers  Moritz 
Hanemann.     Allg.  Musik-Zeitung  (Lessmann)   1908.     35.  Jahrg.,  S.  859  f. 

4  Berlioz,  Abendunterhaltungen  im  Orchester,  Bd.  8,  S.  195,  217. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  277 

Das  Hauptgewicht  legte  Spontini  auf  scharfe  Unterstreichung 
der  rhythmischen  Akzente1  und  völlige  Übereinstimmung  zwischen 
Szene  und  Musik.  Nichts  entging  ihm,  was  zur  Wirkung  seiner 
Opern  irgendwie  beitragen  konnte.  Sehr  hübsch  erzählt  Wagner, 
wie  drastisch  er  bei  der  Einstudierung  der  »Vestalin«  den 
Bratschern,  die  ihre  Begleitungsfigur  bei  der  Kantilene  Julias 
im  2.  Akt  nicht  nach  seinem  Wunsche  spielten,  mit  hohler  Grabes- 
stimme zurief:  »Ist  der  Tod  in  den  Bratschen  !«,  so  daß  die  armen 
Musiker  ganz  bleich  wurden,  und  wie  er  dann  beim  Triumphmarsch 
auf  der  höchsten  Übereinstimmung  in  allen  Bewegungen  der 
Statisten  bestand.  Ebenso  drollig  ist  Hanemanns  Bericht  von 
der  Generalprobe  der  »Olympia«,  in  der  der  Baritonist  Hammer- 
meister als  sterbender  Antigonus  nicht  an  der  von  Spontini  be- 
zeichneten Stelle  der  Bühne  seinen  Geist  aushauchte.  Spontini 
gebot  Halt  und  war  ganz  untröstlich  über  den  Fehler,  dann  zeigte 
er  mit  dem  Taktstock  über  den  Souffleurkasten  die  rechte  Stelle 
und  sagte:  »Ick  biete,  sterbe  Sie  da. «  Ein  anderes  Mal  bei  der  Auf- 
führung des  2.  Akts  der  »Olympia«  auf  dem  Kölner  Niederrhei- 
nischen Musikfest  (1847)  machte  er  einer  Sängerin  klar,  daß  die 
Olympia  ein  kindlich  schüchternes  Wesen  sei,  die  der  königlichen 
Erscheinung  der  Statira  gegenüber  kaum  zu  atmen  wage.  Er 
stellte  sich  zu  diesem  Zweck  in  Positur,  machte  sich  ganz  klein 
und  sagte,  den  Kopf  seitwärts  gedreht,  ganz  unschuldig:  »Ich  bin 
ja  so  ein  arme  Kind,  ich  weiß  ja  nicht,  wer  meine  Mutt  ist«;  bei 
einer  anderen  Solistin,  die  immer  in  den  Oratorienstil  fiel,  richtete 
er  sich  riesenhaft  auf,  riß  die  Augen  weit  auf  und  rief:  »Sie  sein 
die  Frau  von  dem  groß  Alexandre,  und  jetzt  sein  Sie  dem  Mord 
auf  die  Spur  und  verfluch  den  Cassandre,  weil  Er  is  gewees  der 
Mord2.«  Solche  Worte  wirkten  bei  ihm  niemals  lächerlich.  Er 
blieb  auch  nach  seiner  Verbannung  aus  Berlin  stets  der  gleiche 
Souverän.  Sein  Auge  hätte  noch  immer  den  »wildesten  Pauken- 
schläger« verstummen  lassen,  »wenn  ihn  mitten  im  rasenden 
Wirbel  ein  drohender  Blick  getroffen  hätte«.  Dorn,  der  diese 
Geschichten  erzählt,  berichtet  noch,  daß  es  ihm  unvergeßlich 
bleiben  wird,  wie  Spontini  beim  »Don  Juan«  abklopfte  und  den 
Solisten  auseinandersetzte,  daß  die  Noten  bei  den  Worten:  »Deiner 
Bänke  sind  zu  viel«  (Finale,  1.  Akt)  nicht  in  Vierteln  gesungen 
werden  sollten,    die   Noten  zeigten  wohl    den  bestimmten   Ent- 


1  Rieh.  Wagner,  a.  a.  0. 

2  Heinr.  Dorn,  a.a.O.  I,  Spontini,  S.  28. 


278  Sechstes  Kapitel. 

Schluß  zur  Bestrafung  des  Bösewichts  an,  aber  die  abgestoßene 
Achtelbewegung  müßte  zugleich  die  Furcht  vor  dem  übermütigen 
Feind  ausdrücken,  eine  Bemerkung,  die  mehr  als  alle  andern  den 
großen  Musiker  charakterisiert1.  Sie  beweist  auch,  daß  Spontini 
die  Opern  anderer  Meister  nicht  so  obenhin  einstudierte,  wie 
R  eil  st  ab  behauptet  hat.  Wenn  dieser  Kritiker  sagt,  Spontini 
habe  Mozarts  und  Glucks  Werke  barbarisch,  unkünstlerisch, 
ja  geradezu  lächerlich  aufgeführt,  so  läßt  sich  diese  Kritik  nur 
aus  erbittertem  Parteifanatismus  verstehen2.  Mendelssohn, 
dem  Spontini  nicht  sympathisch  war,  schreibt  von  einer 
»Armida «-Aufführung,  daß  die  große  Masse  trefflicher  Musiker 
sehr  gut  gespielt  habe,  wenn  er  auch  der  Meinung  war,  daß 
Spontini  das  ganze  Orchester  »von  Grund  aus  demoralisirt« 
habe3.  Das  strenge  Regiment  Spontinis  hat  gewiß  viel  böses 
Blut  unter  den  Musikern  hervorgerufen,  sein  Hochmut  viel  ge- 
schadet, aber  die  Berliner  Oper  verdankt  ihm  doch  Aufführungen, 
wie  sie  in  diesen  Jahren  nur  wenige  Bühnen  bieten  konnten. 

Gegen  einige  Gastdirektionen  konnte  sich  Spontini  nur  schwer 
wehren.  Spohr  stand  bei  der  Berliner  Premiere  der  »Jessonda«  am 
Kapellmeisterpult,  und  Carl  Maria  v.  Weber  leitete  die  Erst- 
aufführung des  »Freischütz«,  der  mit  einem  Schlage  populär  und 
der  aristokratisch-französisierenden  Richtung  der  großen  Oper 
gefährlich  wurde.  Die  Begeisterung  für  die  Deutschromantik 
Webers  war  Spontini  im  höchsten  Grade  unsympathisch,  zumal 
seine  kurz  vorher  gegebene  »Olympia«  keinen  sonderlichen  Erfolg 
hatte.  Spontini  hatte  seine  Oper  mit  peinlichster  Genauigkeit 
eingeübt  und  glaubte  eine  musikalische  und  szenische  Glanz- 
leistung gebracht  zu  haben.  Doch  die  Webersche  Premiere  blieb 
dahinter  nicht  zurück.  Auch  Weber  hatte  tüchtig  studiert  und 
mit  den  Musikern  geprobt,  nur  nicht  in  dem  Kommandoton 
Spontinis,  sondern  in  freundlich  zusprechender  Weise4.  Der 
Enthusiasmus  für  den  deutschen  Kapellmeister  brachte  denn 
auch  eine    von   Eifer    und  Vertrauen    geführte  Aufführung    zu- 


1  Heinr.   Dorn,  a.a.O.  I,  Spontini,  S.  15f. 

2  Vgl.  Ludwig  Rellstab,  Über  mein  Verhältniss  als  Kritiker  zu  Herrn 
Spontini,  Leipzig  1827,  S.  26  f.,   46,  51  f. 

3  Ferd.  H  i  1 1  e  r  ,  Felix  Mendelssohn-Bartholdy,  Briefe  und  Erinnerungen. 
Köln  1878,  S.  105,  und  Meister-Briefe  (ed.  E.  Wolff)  S.  187. 

4  Spontini  soll  42  Proben  zur  »Olympia«  abgehalten  haben,  Weber  zum 
»Freischütz«  16;  vgl.  Max  Maria  v.  Webers  Weber-Biographie  II,  S.  304 
und  309. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  279 

stände,  deren  Geist  ein  absolutistisches  Regiment  nie  erreichen 
konnte. 

Weber  war  als  Kapellmeister  der  geborene  Organisator,  ein 
arbeitsfroher,  neuerungsfreudiger  Dirigent,  der  überall  mit  dem 
Schlendrian  des  alten  Opernbetriebs  aufräumte.  Schon  in  seinen 
Breslauer  Kapellmeisterjahren  war  er  als  Reformator  tätig.  Er 
sorgte  für  ein  gutes,  zuverlässiges  Personal,  ließ  neue  Kräfte  en- 
gagieren und  erwirkte  den  Orchestermusikern,  die  früher  auf 
Nebenverdienst  angewiesen  waren,  ein  größeres  Gehalt.  Das 
Orchester  stellte  er  nach  neuen  Gesichtspunkten  auf.  Die  rechte 
Flanke  bildeten  erste  Violinen,  Oboen  und  Hörner,  Kontrabaß 
und  Cello,  die  linke  zweite  Violinen,  Klarinetten  und  Fagotte, 
neben  diese  kamen  die  Bratschen;  Trompeten  und  Pauken  standen 
hinter  den  Bratschen.  Den  Musikern  und  den  maßgebenden  Bres- 
lauer Kreisen  gefiel  diese  Anordnung  sehr  wenig.  Man  war  ge- 
wohnt, daß  die  Bläser  vorn  am  Orchester  postiert  wurden  und  die 
Saiteninstrumente  weiter  zurück,  also  in  ähnlicher  Manier  wie 
im  Berliner  Orchester  unter  Reichardt1.  Trotz  der  Angriffe,  die 
Webers  Reform  hervorrief,  hielt  er  an  seiner  Disposition  fest  und 
reformierte  unbekümmert  weiter.  Er  veranstaltete  Sänger- 
proben, dann  Proben  mit  Quartett  und  schließlich  ganze  Dar- 
stellungs-  und  einige  Generalproben,  die  man  in  solchem  Um- 
fang in  Breslau  nie  angesetzt  hatte.  Mit  gleicher  Energie 
betrieb  er  die  Organisation  der  Prager  Oper.  Er  arbeitete  ein 
Regulativ  für  den  Orchesterdienst  aus,  eine  Ordnung  für  die 
Tätigkeit  des  Bühnenpersonals  und  entwarf  genaue  Szenarien, 
die  sich  bis  ins  kleinste  erstreckten.  Neue  Mitglieder  wurden 
angestellt,  unbrauchbare  Kräfte  abgestoßen,  ein  Opernchor 
organisiert  und  geschult.  Auch  hier  brachte  Weber  seine  Me- 
thode der  Opernproben  durch.  Von  jeder  neuen  Oper  wurden 
drei  Vorproben,  eine  Leseprobe,  eine  Quartett-  und  Dialogprobe, 
eine  Korrekturprobe,  eine  Setzprobe  und  eine  vollständige  General- 
probe abgehalten.  Dabei  überwachte  er  noch  Dekorationen, 
Kostüme  und  Tanzarrangements.  Er  war,  wie  Spontini,  Dirigent 
und  Regisseur  in  einer  Person. 

In  Prag  erprobte  Weber  auch  das  von  Reichardt  und  Forkel 
angeregte  Mittel,  das  Publikum  durch  Programmeinführungen, 
durch  kleine  historische  und  ästhetische  Analysen,   die  vor  der 


1  Die  folgende  Darstellung  beruht,  wenn  nichts  anderes  angegeben  wird, 
auf  Max  Maria  v.  Webers  Weber-Biographie. 


280  Sechstes  Kapitel. 

Aufführung  veröffentlicht  wurden,  auf  die  Vorstellung  vorzu- 
bereiten. So  erreichte  er,  daß  alle  bedeutenden  Werke  auf  dem 
Repertoire  standen,  von  dem  »Don  Juan«  an  bis  zum  »Faust« 
von  Spohr  und  zum  »Fidelio«,  an  dem  beinahe  vier  Wochen  ge- 
probt wurde. 

In  Dresden,  einem  Hauptplatz  der  Italiener,  lagen  für  ihn  die 
Verhältnisse  besonders  ungünstig.  Vom  Hofe  wurden  die  Italiener 
noch  im  alten  Ansehen  gehalten,  und  der  Ruf  zur  Gründung  der 
deutschen  Oper  entsprach  mehr  einer  Forderung  des  Volkes  als  dem 
Wunsche  des  höfischen  Geschmacks.  Aber  Weber  ging  auch  hier 
mit  Energie  und  Schaffenskraft  rasch  ans  Werk.  Seine  erprobten 
Mittel,  zunächst  die  Öffentlichkeit  für  die  deutsche  Sache  zu 
interessieren  und  die  internen  Dienstangelegenheiten  der  An- 
gestellten zu  regeln,  bewährten  sich  auch  hier.  Er  veröffentlichte 
den  berühmten  Aufsatz:  »An  die  kunstliebenden  Bewohner  Dres- 
dens«, der  die  Aufgabe  der  deutschen  Oper  aufstellte,  und  entwarf 
eine  tabellarische  Aufstellung  über  das  notwendigste  Personal 
seines  Unternehmens. 

Weber  ging  der  Ruf  eines  Organisators  voraus.  Aber  eine 
solche  Energie,  wie  er  sie  in  seinem  Regiment  entfaltete,  hatte 
man  in  Dresden  nicht  erwartet.  Schon  sein  erstes  Erscheinen 
vor  dem  Orchester,  das  er  mit  einer  gepanzerten  Ansprache  ein- 
leitete, dann  seine  Reglements  und  die  musikalisch-kritischen 
Einführungen  in  die  aufzuführenden  Werke  gaben  viel  Stoff  zum 
Hin-  und  Herreden,  auch  zu  mancherlei  Intrigen  der  Italiener. 

Zu  Webers  Reformen  gehörte  auch  die  Einführung  des  Takt- 
stocks. Bis  zu  dieser  Zeit  hatte  man  an  der  Klavierdirektion 
festgehalten,  die  für  die  italienische  Oper  die  natürlichste  Leitung 
war.  Weber  griff  als  Dirigent  der  deutschen  Oper  zu  seiner 
schon  in  Prag  erprobten  Taktstockdirektion,  an  die  sich  die 
Musiker  bald  gewöhnten.  Mehr  Widerstand  fand  er  beim  Ein- 
studieren der  Sänger,  die  bei  ihrer  alten  Manier,  Verzierungen 
zu  improvisieren,  bleiben  wollten.  Weber  ging  dagegen  uner- 
bittlich vor  und  erreichte  es,  daß  wenigstens  unter  seiner  Direk- 
tion alle  Melodieveränderungen  fortfielen.  In  den  Proben  hatte 
er  »Ohren  und  Augen  überall,  jede  falsche  Note  des  am  entfernte- 
sten sitzenden  Instruments  rügte  ein  rascher  Blick,  unermüdlich 
stieg  er  aus  dem  Orchester  auf  die  Bühne  und  von  dieser  ins  Or- 
chester, schob  Sänger  und  Statisten  zurecht,  bezeichnete  den 
Ort  der  Versetzstücke,  führte  allein  und  vollständig,  um  dem 
Regisseur  Hellwig  die  Form  seiner  Anschauung  zu  zeigen,  Regie 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  281 

und  Musik  und  war   so  präzis  in  seinen  Befehlen,   daß  an  kein 
Zögern  gedacht  werden  konnte«1. 

Weber  legte  den  Schwerpunkt  seiner  Direktion  auf  die  Ein- 
heitlichkeit und  die  dramatische  Kraft  der  Aufführung  und  auf 
das  Zusammenwirken  aller  Künste.  Der  Deutsche  »will  ein 
Kunstwerk,  wo  alle  Teile  sich  zum  schönen  Ganzen  runden«, 
schreibt  er  an  den  Theaterdirektor  Liebich  in  Prag2.  »Die  Auf- 
stellung eines  schönen  Ensembles«  ist  die  erste  Notwendigkeit 
einer  Opernbühne,  nichts  ist  Nebensache.  Ähnlich  lautet  sein 
Dresdener  Programm:  »Hat  eine  Kunstdarstellung  es  erreicht, 
in  ihrem  Erscheinen  nichts  Störendes  mitgebracht  zu  haben,  so 
hat  sie  schon  etwas  Verdienstliches,  das  Gefühl  der  Einheit,  be- 
wirkt3.« Auf  diese  Anschauung  vom  Wesen  der  Operndirektion, 
die  in  Webers  Schriften  häufiger  wiederkehrt  und  auch  als  leitendes 
Prinzip  in  seiner  Opernkritik  auftritt4,  gehen  alle  seine  drama- 
tischen Reformen  zurück.  Musik,  Szene  und  Regie  sind  Teile  des 
Musikdramas,  deren  Vereinigung  zu  einem  Gesamtkunstwerk  und 
deren  Ineinandergreifen  erst  eine  geschlossene  Aufführung  schafft. 
Für  Weber  ist  das  dramatische  Moment  der  Kernpunkt  des  Opern- 
studiums. Nur  wenn  vom  Darsteller  der  Ausdruck  lebenswahr 
getroffen  wird,  ist  nach  seinen  Worten  ein  Nachgeben  im  Tempo 
möglich.  Alle  Passagen  und  Rouladen  sind  nicht  ihrer  selbst  willen 
geschrieben,  sondern  allein  aus  dramatischen  Rücksichten.  »Wer  .  . 
die  letzten  Passagen  in  der  Arie  der  Eglantine  nicht  mit  loderndem 
Feuer  vortragen  kann,  vereinfache  sich  lieber  diese  Stelle,  als  daß 
die  Leidenschaftlichkeit  des  ganzen  Musikstücks  erkältet  werde. 
Wer  die  racheschnaubende  Arie  der  Elvira  im  , Opferfest'  (von 
Peter  v.  Winter)  nicht  auch  ebenso  singen  kann,  wird  dem  Werke 
weniger  schaden,  wenn  er  sie  wegläßt,  als  wenn  er  sie  gleich  einem 
ruhigen  Solfeggio  dem  Hörer  giebt5.«  Die  Aufgabe  des  Dirigenten 
ist,  Gesang  und  Instrumente  so  zu  verbinden,  daß  die  Wahrheit 
des  Ausdrucks  aus  der  Vereinigung  beider  resultiert,  denn  ihrer 
Natur  nach  stehen  beide  im  Gegensatz  zueinander,  vokale  Musik 
artikuliert  und  bedingt  ein  »Wogen  im  Takte«,  instrumentale 
gliedert  die  Musik  in  scharfe  Abschnitte.     Erst  die  modifizierte 


i  Max  Maria  v.  Weber,  a.  a.  0.  II,  S.  59f. 

2  Sämtl.   Schriften  von  C.  Maria  v.  Weber,    Krit.  Ausgabe  v.  Georg 
Kaiser.    Schuster  und  Loeffler,  Berlin/Leipzig,  S.  45. 

3  Ebenda,  S.  277. 

*  Vgl.  Einführung  in  Cherubinis  »Lodoiska«,  a.  a.  0.   S.  297 f. 
5  Ges.  Schriften,  S.  224. 


282  Sechstes  Kapitel. 

Tempoführung  verleiht  dem  Stück  das  musikalisch  dramatische 
Leben,  denn  es  gibt  »kein  langsames  Tempo,  in  dem  nicht  Stellen 
vorkämen,  die  eine  raschere  Bewegung  forderten,  um  das  Gefühl 
des  Schleppenden  zu  verhindern.  Es  gibt  kein  Presto,  das  nicht 
ebenso  im  Gegensatze  den  ruhigen  Vortrag  mancher  Stellen  ver- 
langte, um  nicht  durch  Uebereifer  die  Mittel  zum  Ausdruck  zu 
benehmen«1.  »Das  Vorwärtsgehen  im  Tempo,  ebenso  wie  das 
Zurückhalten,  darf  nie  das  Gefühl  des  Rückenden,  Stoßweisen 
oder  Gewaltsamen  erzeugen«,  wie  Weber  sagt.  »Es  kann  .  .  . 
in  musikalisch-poetischer  Bedeutung  nur  perioden-  und  phrasen- 
weise geschehen,  bedingt  durch  die  Leidenschaftlichkeit  des 
Ausdruckes.«  So  müssen  in  einem  Duett  zwei  kontrastierende 
Charaktere  auch  verschieden  gesungen  werden.  Das  Duett  zwi- 
schen Licinius  und  Oberpriester  in  der  »Vestalin«  (III.  Akt,  Nr.  4) 
muß  nach  Webers  Worten  durch  ruhige  Führung  der  Partie  des 
Priesters  und  durch  fortreißende  Gewalt  in  den  Reden  des  Lucinius 
lebendig  gemacht  werden.  Dadurch  werden  erst  die  Charaktere 
anschaulich.  Für  diese  dramatische  Gestaltung  gibt  es  in  der 
Musik  keine  Bezeichnungen.  Sie  liegen  allein  im  menschlichen 
Herzen.  Wo  sie  fehlen,  kann  kein  Metronom,  keine  Regeltabelle 
helfen2.  Das  sind  Worte,  die  uns  von  Mattheson,  Junker  und 
Türk  her  vertraut  sind,  wenn  sie  auch  Weber  nicht  in  die  Form 
der  alten  Ästhetik  kleidet.  Er  spricht  von  den  Leidenschaften 
des  Musikstücks,  von  der  musikalisch-poetischen  Bedeutung  ein- 
zelner Phrasen  und  Perioden  und  meint  im  Grunde  genommen 
das  gleiche  wie  die  alten  Musiker:  die  Direktion  muß  den  in  der 
Musik  ausgedrückten  Affekten  entsprechen  und  danach  modifi- 
ziert werden,  ein  Grundsatz,  der  durch  Richard  Wagners  Schriften 
Allgemeingut  unserer  Musiker  geworden  ist. 

Als  Dirigent  war  Weber  ein  Kapellmeister  im  Wagnerschen 
Sinne.  Der  dramatische  Gehalt  der  Oper  und  das  Zusammen- 
wirken von  Musik,  Szene  und  Regie  bestimmten  seine  Direktion. 
Wagner  erzählt,  daß  ein  alter  Musiker  bei  seiner  Einstudierung 
der  »Freischütz«  -Ouvertüre  sagte : »  So  hat  es  Weber  auch  genommen, 
ich  höre  es  jetzt  zum  ersten  Male  wieder  richtig3.«  Wenn  hier 
wirklich   eine   Ähnlichkeit  mit   der  Weberschen  Auffassung  vor- 

1  Weber,  »Metronomische  Bezeichnungen  zur  Oper  ,Euryanthe'  nebst 
einigen  allgemeinen  Bemerkungen  über  die  Behandlung  der  Zeitmaße«.  Ges. 
Schrift.   S.  224f. 

2  Ebenda,  S.  225. 

3  Wagner,  Über  das  Dirigiren. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  28^ 

gelegen  hat,  was  nach  Webers  und  Wagners  Schriften  nicht  zu 
bezweifeln  ist,  so  bleibt  es  verwunderlich,  daß  Wagner  gerade- 
diese  Seite  des  Weberschen  Wirkens  in  seinem  Aufsatz:  Ȇber 
das  Dirigiren«  übergeht.  Dafür  hat  er  an  der  gleichen  Stelle- 
desto  kräftiger  die  Mendelssohnsche  Richtung  vorgenommen  und 
dabei  Wahrheit  und  Dichtung  zu  einem  Ganzen  so  geeint,  daß 
es  sich  vielleicht  lohnen  wird,  die  Wagnerschen  Ausführungen 
nachzuprüfen. 

Man  kann  sich  kaum  einen  größeren  Gegensatz  vorstellen,, 
als  die  Dirigenten  Weber  und  Mendelssohn.  Dort  der  geborene 
Bühnenkapellmeister,  der  sein  Werk  und  seine  Ideen  mit  eiserner 
Energie  durchführt, hier  ein  vornehmer,zurückhaltender,inKonzert-, 
Kirchen-  und  Kammermusik  aufgewachsener  Musiker,  der  die 
ganze  Zeit  seines  Lebens  in  klassischen  Bahnen  bleibt  und  seine 
Haupterfolge  im  Konzertsaal  erzielt.  In  Mendelssohn  begegnet 
ein  eigener  Künstlerkopf,  ein  philologisch  und  historisch  gleich 
geschulter  Dirigent,  der  den  Renaissancegedanken  durch  die 
Aufführung  der  Matthäus- Passion  mit  einem  Schlage  den  Ge- 
bildeten verständlich  macht,  ein  vielseitig  gebildeter  Künstler,, 
dessen  Gerechtigkeit  allen  Andersdenkenden  gegenüber,  dessen 
Eintreten  für  alles  Wahre  und  Edle  der  Kunst  von  allen,  die 
nicht  zur  Partei  gehörten,  anerkannt  wurde.  Er  steht  mit 
seinem  Streben,  den  Musikern  eine  größere  geistige  Bildung  zu 
vermitteln,  als  erster  in  der  Reihe  der  neueren  Musiker.  Ihm 
verdanken  wir,  daß  sich  der  deutsche  Musikerstand  auf  die  jetzige 
Höhe  der  Bildung  erhob. 

Mendelssohn  wuchs  im  Orchester  auf,  er  konnte  in  den  Sonn- 
tagsmusiken des  elterlichen  Hauses  schon  früh  Charakter  und 
Eigenart  der  Instrumente  kennen  lernen  und  sich  die  gesamte 
Orchesterpraxis  aneignen.  Schon  bei  der  Aufführung  der  Mat- 
thäus-Passion zeigte  er  sich  als  Dirigent,  der  das  Technische 
des  Kapellmeisteramts  vollkommen  beherrschte.  Mendelssohn 
nahm  in  den  Proben  zunächst  die  Stücke  gruppenweise  vor, 
übte  »mit  unerbittlicher  Genauigkeit«  und  erklärte  und  be- 
richtigte mit  kurzen,  prägnanten  Worten.  Oft  mußte  er  in  den 
Proben  mit  der  linken  Hand  auf  dem  Klavier  begleiten  und  mit 
der  rechten  dirigieren.  Als  dann  das  zum  Teil  aus  Dilettanten 
bestehende  Orchester  hinzukam,  stellte  er  das  Klavier  zwischen 
beide  Chöre,  so  daß  er  Orchester  und  zweiten  Chor  vor  sich,  den 
ersten  hinter  sich  hatte.  Devrient  erzählt,  Mendelssohn  habe 
diese  Situation  beherrscht,  »als  ob  er  schon  zehn  Musikfeste  diri- 


284  Sechstes  Kapitel. 

giert  hätte«1.  Mit  den  Konzertreisen  wuchs  Mendelssohns  Ruhm 
als  Dirigent.  In  London,  wo  er  im  Jahre  1829  zum  ersten  Male 
konzertierte,  kamen  die  Direktoren  nach  der  Probe  ans  Orchester, 
um  ihm  zu  gratulieren,  Mendelssohn  mußte  herunter  und  im 
Orchester  »an  200  verschiedene  Hände  schütteln«2.  Er  dirigierte 
mit  einem  Taktstock,  den  er  sich  in  London  hatte  machen  lassen. 
»Der  Riemer  dachte,  ich  sei  ein  Aldermann  und  wollte  durchaus 
-eine  Krone  darauf  befestigen«,  schreibt  er3.  Aus  allen  seinen 
Reiseberichten  und  Konzertbeschreibungen  sieht  man  die  harmo- 
nische Natur,  die  Frische  und  Freudigkeit  seines  Musizierens, 
das  ihm  überall  Freunde  und  Anhänger  verschaffte.  Ob  er  in 
München  dirigierte,  wo  im  Orchester  »die  forte  krachten«4,  oder 
ob  er  in  Düsseldorf  den  »Israel  in  Ägypten«  von  Grund  auf 
einstudierte,  stets  weckten  sein  Eifer,  seine  Freundlichkeit  und 
sein  außergewöhnliches  Dirigiertalent  eine  wahre  Begeisterung. 
Das  Düsseldorfer  Musikfest  glich  einem  Triumph  auf  seine  ganze 
bisherige  Wirksamkeit.  Der  Düsseldorfer  Magistrat  setzte  es  bald 
durch,  daß  Mendelssohn  die  für  ihn  geschaffene  Stelle  eines  städti- 
schen Musikdirektors  annahm.  Das  Konzertieren  machte  ihm 
aber  in  Düsseldorf  leidlich  Mühe.  Seine  Aufführungen  schlugen 
nicht  ein.  Ebensowenig  die  Mustervorstellungen,  die  er  mit 
Immermann  gemeinsam  inszenierte.  Der  Skandal,  der  bei  der 
ersten  »Don  Juan  «-Aufführung  ins  Werk  gesetzt  wurde,  die  Arge- 
reien,  die  er  später  als  musikalischer  Intendant  des  neuen  Stadt- 
theaters durchkostete,  führten  bald  dazu,  daß  er  sich  vom  Theater 
zurückzog  und  nur  noch  die  vorgeschriebenen  Konzerte  leitete,  bis 
er  nach  Leipzig  als  Direktor  des  Gewandhausorchesters  berufen 
wurde,  ein  Posten,  den  er  nur  unter  der  Bedingung  annahm,  daß 
kein  anderer  durch  ihn  verdrängt  würde5.  Mendelssohn  hatte 
sich  in  Düsseldorf  nie  recht  wohl  gefühlt.  Orchester  und  Oper 
waren  mittelmäßig.  An  Hiller  schreibt  er  einmal:  »Ich  versichere 
Dich,  wenn  man  niederschlägt,  und  alle  fangen  einzeln  an,  aber 
keiner  recht  tüchtig,  und  beim  piano  hört  man,  wie  die  Flöte  zu 
hoch  stimmt,  und  Triolen  kann  kein  Düsseldorfer  deutlich  spielen, 


1  Ed.  Dcvrient,  Meine  Erinnerungen  an  Fei.  Mendelssohn-Bartholdy  und 
•seine  Briefe  an  mich.     3.  Aufl.,  S.  57/58. 

2  S.  H  e  n  s  e  1 ,  Die  Familie  Mendelssohn  I,  S.  226. 

3  Ebenda  S.  225. 

*  Reisebriefe  von  Fei.  Mendelssohn.     Leipzig  1861,  I,  S.  282. 
6  S.  Mendelssohns  Brief  an  Conrad  Schleinitz  vom  26.  Januar  1835,   ab- 
gedruckt in  Dörffels  Gesch.  der  Gewandhauskonzerte,  S.  84. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  285 

sondern  er  macht  ein  Achtel  und  zwei  Sechzehntel,  und  jedes 
Allegro  hört  noch  einmal  so  schnell  auf,  als  es  anfängt,  und  die 
Hoboe  spielt  E  in  C-moll,  und  alle  Saiten-Instrumente  werden 
unter  den  Röcken  im  Regen  getragen,  im  Sonnenschein  bloß  — 
wenn  Du  mich  einmal  dies  Orchester  dirigiren  hörtest,  Dich  brächten 
vier  Pferde  nicht  zum  zweiten  Male  hin1.«  Und  über  das  Theater 
klagt  er  seinem  Freund  Klingemann:  »Das  Theater  .  .  geht  so  so, 
es  ist  und  bleibt  mittelmäßig,  und  ob's  ein  bischen  drüber,  ein 
bischen  drunter  ist,  ist  keine  Woche  solcher  Arbeit  wert.  Das  Plaisir 
zu  regieren  empfinde  ich  nicht, . . .  mit  Immermann  vertrage  ich  mich 
nicht,  die  Mittelmäßigkeit  preisen  tu  ich  nicht2.«  Daß  er  unter 
diesen  Zuständen  viel  zu  leiden  hatte  und  mit  Freuden  nach 
Leipzig  ging,  kann  man  sich  leicht  denken.  Er  besaß  kein  orga- 
nisatorisches Talent.  Engagieren  neuer  Kräfte,  Gehaltssätze  regeln, 
Statuten  und  neue  Organisationen  entwerfen,  was  man  von  ihm 
in  Düsseldorf  und  Berlin  verlangte,  war  ihm  verhaßt,  seiner  ganzen 
Anlage  zuwider.  Er  konnte  erst  da  neuordnend  eingreifen,  wo 
gesicherte  Grundlagen  wie  in  Leipzig  gegeben  waren.  Die  Leip- 
ziger Vereine,  Thomaner-  und  Paulinerchor,  Singakademie  und 
Ossianverein,  dazu  eine  Menge  guter  Musiker  und  Dilettanten  und 
ein  Orchester,  das  von  Hiller  und  Schicht,  später  von  Christian 
Schulz  und  August  Pohlenz  geschult  wurde,  mit  dem  tüchtigen 
Matthäi  am  ersten  Pult,  und  die  Tradition,  an  der  das  Musik- 
leben seit  den  ältesten  Zeiten  ein  kräftiges  Rückgrat  hatte  — 
das  waren  Faktoren,  die  den  berühmten  Konzert-  und  Musikfest- 
dirigenten anziehen  mußten.  Er  schreibt  auch  gleich  nach  den 
ersten  Proben,  daß  in  Leipzig  eine  ruhige,  ordentliche  Geschäfts- 
stellung herrsche,  daß  die  Musiker  seinen  Anforderungen  mit 
größter  Aufmerksamkeit  und  Liebe  entgegenkämen.  Einige 
Mängel  seien  noch  im  Personal,  die  sich  mit  der  Zeit  wohl  noch 
abstellen  ließen3.  Das  erste  Konzert  Mendelssohns,  am  4.  Oktober 
1835,  bedeutete  für  Leipzig  den  Beginn  einer  neuen  Epoche.  Es 
brachte  Mendelssohns  »Meeresstille  und  glückliche  Fahrt«,  Weber, 
Spohr,  Cherubini  und  als  Hauptwerk  Beethovens  B-dur-Sinfonie, 
ein  Lieblingsstück  Mendelssohns.     Die  Aufführungen  der  klassi- 


1  Ferd.  Hill  er.    Fei.   Mendelssohn,   Briefe  u.   Erinnerungen,   2.  Aufl., 
1878,  S.  39. 

2  Karl    Klingemann,   Mendelssohns   Briefwechsel    mit    Legationsrat 
Karl  Klingemann,  Essen  1909,  S.  154. 

3  Brief  vom  6.  Oktober  1835,  Reisebriefe  II,  S.  lOlf.    (Briefe  aus  den  Jahren 
1833—1847). 


286  Sechstes  Kapitel. 

sehen  Sinfonien  waren  schon  unter  Matthäi,  der  als  Violin- 
•direktor  fungierte,  berühmt  gewesen,  aber  die  Präzision,  die 
Mendelssohn  erreichte,  hatten  die  Musiker  früher  nicht  gekannt. 
Schumann  schreibt  unter  dem  frischen  Eindruck  der  Auffüh- 
rung, daß  es  eine  Lust  war,  zu  sehen,  wie  Mendelssohn  die  Geistes- 
windungen der  Kompositionen  vom  Feinsten  bis  zum  Stärksten 
mit  dem  Auge  vorausnuancierte  und  als  Seligster  voranschwamm 
■dem  allgemeinen.  Mendelssohn  selbst  hatte  an  der  Aufführung 
■allerdings  einiges  auszusetzen,  die  Musiker  wollten  das  Allegro 
zur  »Meeresstille«  verschleppen,  da  sie  ein  langsameres  Tempo 
gewohnt  waren,  und  auch  die  Solostücke  gingen  im  Orchester 
nicht  gerade  gut,  »es  wackelte  manchmal«.  Die  Sinfonie 
»klappte«  aber  »ganz  herrlich«.  »Es  war. . .  eine  Aufmerksamkeit 
■und  Spannung  im  ganzen  Orchester,  wie  ich  sie  nie  größer  gesehen, 
sie  paßten  auf,  wie  die  —  Schießvögel1.«  Im  Laufe  der  Jahre 
schwanden  alle  Unebenheiten  im  Ensemble,  das  Orchester  spielte 
mit  einer  Virtuosität,  daß  Musiker  und  Solisten  von  weit  herkamen, 
um  sich  im  Rahmen  der  Gewandhauskonzerte  hören  zu  lassen 
oder  aber  ihre  Werke  von  Leipzig  aus  bekannt  zu  machen.  Die 
Klassiker  Haydn,  Mozart,  Beethoven,  Cherubini  gaben  den  Grund- 
ton der  Konzerte.  Daneben  wurden  viele  neue  Werke  von  Schu- 
mann, Schubert,  Burgmüller,  Hiller,  Kalliwoda,  Lachner  u.  a.  auf- 
geführt2. Mendelssohn  brachte  alles,  was  ihm  von  den  massenhaft 
eingesandten  Kompositionen  tauglich  erschien,  und  sorgte  dafür, 
daß  die  solistische  Mitwirkung  in  jener  Vielseitigkeit  vor  sich  ging, 
wie  sie  die  Zeit  liebte.  Konzerte  für  Klavier,  Geige,  Cello,  Flöte, 
Hörn,  Klarinette,  Fagott,  Posaune,  Glasharmonika  standen  neben 
Lieder-,  Kammermusik-  und  Opernfragmentaufführungen.  Selbst 
Konzerte  mit  historischem  Programm  wurden  gegeben  —  kurz, 
Mendelssohn  bot  ein  Programm,  das  auf  Publikum  und  Kritik 
bildend  wirkte,  und  dessen  Vielseitigkeit  bis  in  unsere  Zeit  hinein 
ein  unerreichtes  Vorbild  geblieben  ist. 

Mendelssohn  stand  seinem  Orchester  nicht  wie  der  Napoleonide 
Spontini  gegenüber.  Freundlichkeit  und  Güte,  Herzlichkeit  und 
vorbildliche  Pflichttreue  schufen  ein  inniges  Band  zwischen 
Dirigenten  und  Musiker.  Alle  sahen  ihre  Ehre  darin,  dem  ver- 
ehrten  Dirigenten   alle   Wünsche   und   Forderungen   zu   erfüllen. 


1  W.  A.   Lampadius,  Felix  Mendelssohn,  Leipzig  1886.  S.  208. 

2  Vgl.  die    Programmaufstellungen  in  Dörffels    Gesch.  der  Gewandhaus- 
konzerte. 


Die  Berufskapelloieister  in  Deutschland.  287 

Ein  treuer  Helfer  war  Mendelssohns  Jugendfreund  ^Ferdinand 
David,  ein  geschickter  Komponist,  geschmackvoller  Solist  und 
ausgezeichneter  Konzertmeister.  »Seine  Violine  allein  ist  zehn 
andere  gute  werth«,  schreibt  Mendelssohn1.  Beim  Anführen  des 
Streichquartetts  folgte  er  allen  Anordnungen  Mendelssohns  ohne 
Widerrede  und  zeigte  seine  Selbständigkeit  nur  im  Angeben  von 
Strichmanieren  und  Fingersätzen.  Gegen  andere  Dirigenten 
konnte  er  aber,  wie  Wasielewski  erzählt2,  geradezu  unbotmäßig 
werden,  er  setzte  dann  sein  eigenes  Tempo  durch, »wobei  er  seinen 
großen  Mund  bedrohlich  in  die  Breite  zog  und  fulminanten  Blicks 
drauflos  strich«,  so  daß  das  Ensemble  unsicher  wurde.  Bei  den 
Kollegen  stand  David  in  großer  Achtung,  wenn  sie  ihn  auch 
nicht  gerade  verehrten.  Mendelssohn  schätzte  sein  Talent  sehr 
hoch,  er  schrieb  seinem  »Principe«  ganz  offen,  daß  er  sich  keinen 
zweiten  Musiker  denken  könnte,  mit  dem  er  so  einig  wäre  in  der 
Kunst,  an  dessen  Tun  und  Treiben  er  solch  innige  Freude  haben 
könnte  als  an  dem  seinen3.  David  mußte  Mendelssohn  auch  bei 
seiner  Abwesenheit  als  Dirigent  vertreten,  was  ihm  zuweilen 
viel  Schwierigkeiten  machte.  »Ein  Uebelstand  bleibts  aber  doch 
mit  dem  Dirigiren  und  dem  Vorgeigen  zugleich«,  schreibt  er, 
»die  neueren  und  neuesten  Componisten  verlangen  doch  durch- 
gehends  einen  Dirigenten,  der  mit  dem  Spielen  selbst  nichts  zu 
schaffen  hat.  Bei  den  wichtigsten  Stellen  muß  ich  immer  diri- 
giren, und  da  ists  wieder  am  Nöthigsten,  daß  ich  mit  geige4.« 
Die  Musiker  hatten  sich  auch  in  Leipzig  schnell  an  die  Taktstock- 
direktion gewöhnt. 

Im  Laufe  der  Jahre  kam  es  unter  den  Musikern,  von  denen 
uns  der  Paukist  Pfundt,  der  Posaunist  Queisser,  dann  Kiengel 
und  Flöten-Grenser  u.  a.  durch  die  hübschen  Briefe  Mendels- 
sohns und  Davids  vertraut  sind,  zu  einer  beinahe  einzig  dastehenden 
Anhänglichkeit  an  Mendelssohn,  die  ihren  schönsten  Ausdruck 
in  den  Briefen  Mendelssohns  und  in  dem  herzlichen  Schreiben 
des  gesamten  Orchesters  an  seinen  Dirigenten  gefunden  hat5. 
Mendelssohn    stand    nicht    nur    seinen   Musikern,    sondern   auch 


1  Mendelsssohn  an  Ign.  Moscheies  am  30.  Nov.  1839.    (Meister-Briefe,  ed. 
Ernst  Wolff,   S.  77). 

2  Wasielewski,  Aus  siebzig  Jahren,  S.  67. 

3  Jul.Eckardt,  Ferd.  David  und  die  Familie  Mendelssohn,  Leipzigl888, 
S.  93. 

*  Ebenda,  S.  149. 

6  Jul.  Eckard  t,  a.a.O.  S.  141. 


288  Sechstes  Kapitel. 

Solisten  und  Komponisten,  die  seine  Hilfe  in  Anspruch  nahmen, 
mit  Rat  und  Tat  zur  Seite.  Die  Lisztschen  Konzerte  brachte 
er  durch  seine  liebenswürdige  Bereitschaft  zum  Gelingen,  und 
bei  den  Berlioz- Konzerten  begütigte  und  »vertuschte«  er,  so  daß 
Berlioz,  der  über  das  Orchester  und  seinen  Dirigenten  in  den 
Memoiren  begeistert  schreibt,  schnell  befreundet  war  und  beide 
ihre  Taktstöcke  »wie  die  alten  Krieger  ihre  Rüstungen«  tauschten. 
Mendelssohns  »nettes,  leichtes,  mit  weißem  Leder  überzogenes 
Fischbeinstöckchen«  erhielt  Berlioz,  Mendelssohn  bekam  von 
Berlioz  einen  »unbehauenen,  mit  der  Rinde  versehenen,  unge- 
heuren  Lindenknüppel«1. 

Mendelssohns  Direktion  ist  von  Zeitgenossen  häufig  geschildert 
worden.  »Die  feine  und  anspruchslose  Weise«,  sagt  Devrient2 
von  der  Aufführung  der  Matthäus- Passion,  »in  welcher  er  durch 
Miene,  Kopf-  und  Handbewegung  an  die  verabredeten  Schat- 
tierungen des  Vortrages  erinnerte  und  ihn  so  mit  leiser  Gewalt 
beherrschte;  die  gelassene  Sicherheit,  mit  welcher  er  bei  General- 
proben und  Aufführung,  sobald  größere  Stücke  von  gleichmäßiger 
Bewegung  ganz  im  Zuge  waren,  kaum  merklich  nickend,  al& 
wollte  er  sagen:  ,Nun  geht  es  gut  und  ohne  mich',  den  Taktstock 
sinken  ließ  und  mit  der  verklärten  Miene  zuhörte,  die  ihn  beim 
Musizieren  seltsam  verschönte,  ...  bis  er  wieder  vorausempfandr 
daß  es  nöthig  sei,  den  Taktstock  zu  gebrauchen  —  alles  das  war 
so  bewunderungs-  als  liebenswürdig.«  Auch  Ferdinand  Hill  er 
beschreibt  sein  leicht-elegantes,  vornehm-gewinnendes  Auftreten. 
»Wenn  ich  von  dem  Einflüsse  des  genialen  Leiters  auf  die  Zuhörer 
spreche«,  sagt  er3,  »so  muß  man  nicht  glauben,  daß  derselbe  die 
Aufmerksamkeit  der  Letzteren  auf  sein  Gebahren  am  Dirigenten- 
pulte irgendwie  herausgefordert.  Seine  Bewegungen  waren  kurz, 
bestimmt;  meistentheils,  da  er  mit  der  rechten  Seite  dem  Or- 
chester zustand,  kaum  sichtbar.  Ein  dem  Conzertmeister  zu- 
geworfener Blick,  ein  kleiner  Wink  nach  der  einen  oder  anderen 
Seite  genügten.  Es  war  die  Theilnahme  an  der  Sache,  die  an  der 
Theilnahme  erstarkte,  welche  ihr  ein  so  außerordentlicher  Mensch 
entgegentrug.«  Ebenso  charakterisiert  ihn  Lampadius4:  »An- 
fangs, wenn  er  an  das  Dirigentenpult  trat,  ruhte  auf  seinem  Ge- 
sicht jedesmal  ein  feierlicher  Ernst.    Man  sah,  daß  ihm  der  Tem- 

i  H  ensel,  a.a.O.  III,  S.  2. 

2  A.  a.  O.  S.  58. 

3  Ferd.  Hiller,  a.a.O.  S.  134. 
*  A.a.O.  S.  372f. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  289 

peldienst  der  Kunst  etwas  Heiliges  war.  So  wie  er  aber  den  ersten 
Tact  angegeben  hatte,  kam  dann  ein  eigenes  Leben  in  die  feinen, 
schönen  Züge.  Sein  edles  Mienenspiel  begleitete  die  ganze  Musik, 
und  man  konnte  die  kommenden  Effekte  oft  zum  voraus  darin 
lesen.  Die  Forti's  und  Crescendi's  begleitete  er  mit  einem  eigenen 
energischen  Ausdruck  des  Gesichts  und  mit  lebhaften  Schwin- 
gungen, während  er  bei  den  Decrescendi's  und  Piani's  oft  beide 
Hände  beschwichtigend  aufhob  und  langsam  wieder  sinken  ließ. 
Den  entfernteren  Musikern  winkte  er,  wenn  sie  anfangen  sollten, 
und  markierte  es  auch  oft  durch  eine  sehr  charakteristische  Hand- 
bewegung, wenn  ihre  Pause  kam,  als  wollte  er  sagen:, weg  damit1'.« 

Mendelssohn  ließ  beim  Studium  zunächst  das  Stück  glatt  durch- 
spielen, nahm  dann  einzelne  Stellen  besonders  vor  und  studierte 
so  lange,  bis  alles  glatt  ging.  Seine  Bemerkungen  und  seine  Aus- 
stellungen gab  er  meist  im  freundlichen  Ton.  Die  Worte,  die  da 
zitiert  werden,  sind  kurz,  mitunter  ironisch,  aber  niemals  grob 
oder  beleidigend2.  In  Leipzig  hat  sich  wohl  niemand  über  ihn 
beschweren  können.  Dagegen  schreibt  Mendelssohn  aus  Berlin, 
daß  die  Kapelle  mit  ihm  habe  »Schindluder  spielen«  wollen  und 
er  unangenehm  grob  werden  mußte.  Er  nahm  sechs  Musiker  in 
Strafe.  Sie  hielten  ihn  dann  für  Spontini,  und  keiner  muckste 
mehr3.  Solch  Regiment  war  ihm  aber  im  innersten  Herzen  zu- 
wider. Er  liebte  mehr  ein  freundliches,  williges  Zusammenarbeiten 
als  eine  militärische  Disziplin. 

Will  man  die  Eigenart  der  Mendelssohnschen  Direktion  näher 
entwickeln,  so  lassen  sich  für  seinen  Vortragsstil  nur  wenig  Vor- 
bilder angeben.  Zelter  konnte  ihm  wohl  die  Grundzüge  der  älteren 
Musikpraxis  vermitteln,  aber  nicht  den  Weg  vorzeichnen,  der  zum 
Verständnis  der  Klassiker  führte.  Hier  mußten  Mendelssohns 
musikalische  Anlage,  seine  Erziehung  und  das  Musikleben  der 
Tage  weiterhelfen.  Daß  es  in  Berlin  zu  Mendelssohns  Jugendzeit 
um  die  Musik  nicht  schlecht  bestellt  war,  haben  wir  aus  den  Cha- 
rakteristiken Anselm  Webers  und  Spontinis  gesehen.  Mendels- 
sohn hörte  in  den  Möserschen  Konzerten  die  neuesten  Beethoven- 
schen    Sinfonien ,     unter    Spontini    Teile    der     Beethovensehen 


1  Vgl.  auch  die  Beschreibungen  der  Mendelssohnschen  Direktion  bei  Wa- 
sielewski,  Aus  siebzig  Jahren,  S.  59,  den  Brief  Rebeckas  an  C^cilie  bei 
Hensel,  a.a.O.  II,  S.  43,  die  Charakteristik  inDörffels  Gesch.  der 
Gewandhauskonzerte,  S.  85  u.  a. 

2  Vgl.  Lampadius,  a.a.O.  S.  373. 

3  Eckardt,  a.  a.  O.  S.  156. 

Kl.  Handb.  der  Musikges-L.  X.  19 


290  Sechstes  Kapitel. 

und  Bachschen  Messe.  Auf  seinen  Reisen,  namentlich  in  Paris 
und  London,  lernte  er  dann  Musik  und  Musiker  seiner  Zeit  kennen, 
deren  Vortrag  auf  seine  Kunstanschauung  wohl  den  größten  Ein- 
fluß geübt  hat.  Auch  die  Habeneckschen  Konzerte  hat  Mendels- 
sohn besucht  und  bewundert1,  wenn  sie  auch  auf  ihn  nicht  so 
bestimmend  gewirkt  haben  wie  auf  Richard  Wagner. 

Als  Interpret  der  Klassiker  hat  Mendelssohn  einen  eigenen 
Stil  geschaffen.  Was  er  in  Leipzig  brachte,  war  eigenes  Kunst- 
erleben, eigenes  Denken  und  Fühlen.  Hier  erfüllte  sich  zum 
ersten  Male  das  Ideal  klassischer  Instrumentalkonzerte.  Nicht 
allein  durch  die  rein  technischen  Leistungen  der  Musiker,  sondern 
durch  den  Geist  und  die  Individualität  des  Dirigenten.  Die  Sinfonien, 
die  für  ein  Orchester,  das  nicht  nur  aus  Virtuosen  bestand,  glänzend 
gingen,  erhielten  ihre  Hauptwirkung  gerade  durch  den  persön- 
lichen und  eigenartigen  Vortrag  des  Dirigenten.  Lampadius, 
der  Mendelssohns  Konzerte  besuchte,  sagt,  daß  die  Aufführungen 
von  Werken  Mozarts  und  Haydns  durch  die  geistreiche  Auffassung 
Mendelssohns  ein  ganz  neues  Gesicht  erhielten.  Er  verstand  es, 
durch  »ein  hin  und  wieder  etwas  beschleunigtes  Tempo  und  durch 
die  feinste  Nuancierung  mittelst  Piano,  Crescendo  und  Decrescendo« 
die  Werke  bei  aller  Pietät  doch  »mit  dem  Geschmack  der  Gegen- 
wart auf  das  sinnigste«  auszusöhnen2.  Schumann  nennt  seine 
Aufführungen  treffliche  Leistungen3.  Man  nahm  Mendels- 
sohns Interpretation  überhaupt  als  Autoritätsausspruch  hin, 
freute  sich  über  Einzelheiten,  wie  das  Hervorkehren  des  d  der 
Baßposaune  im  Scherzo  der  neunten  Sinfonie ,  dem  Schumann 
»eine  erstaunliche  Wirkung«  zuspricht4,  und  schrieb  meist  nur, 
daß  dies  oder  jenes  Stück  hinreißend  vorgetragen  wurde,  oder  daß 
es  Mendelssohn  »mit  der  Kraft«  dirigiere,  »die  ihm  eigen  ist,  und 
mit  der  Liebe,  die  ihm  das  allseitige  Entgegenkommen  einflößen 
muß«6. 

Charakteristisch  ist  für  Mendelssohns  Direktion  die  Vorliebe 
für  schnelle  Tempi.  Schleppen  und  behäbige  Zeitmaße  konnte 
er  nicht  mit  anhören.  Im  Unterricht  pflegte  er  aufs  strengste 
auf  die  richtige  Taktbewegung  zu  halten  und  seine  Schüler  mit 

i  Vgl.  H  e  n  s  e  1 ,  a.  a.  O.  I,  S.  335f.;  Eckardt,  a.  a.  0.  S.  46. 

2  Lampadius,  a.  a.  O.  S.  214. 

3  Ges.  Schriften  über  Musik  und  Musiker,  Ausgabe  1854,  III,  S.  49. 

*  Ebenda  IV,  S.  98.  Partitur  Breitkopf  &  Härtel  (Ges. -Ausg.),  S.  102. 
Takt  11. 

6  Schumann,  Ges.  Schriften  II,  S.  203/4. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  291 

den  Worten:  »nur  flott,  frisch,  immer  vorwärts!«  anzuspornen1. 
Den  Sängerinnen  gab  er  zur  Devise:  »Singen  Sie  nie  ein  Lied 
so,  daß  man  dabei  einschlafen  kann,  auch  selbst  ein  Wiegenlied 
nicht  !2«  Sein  Orchester  gewöhnte  er  gleich  beim  ersten  Konzert 
an  schnellere  Zeitmaße,  und  in  den  Proben  begleiteten  alle  Schwan- 
kungen die  Worte:  »Tempo,  Tempo,  meine  Herrn  !3«  Die  Ou- 
vertüren und  schnellen  Sinfoniesätze  mußten  durchweg  flott 
und  frisch  gespielt  werden.  Schumann  war  mit  diesem  »leiden- 
schaftlichen Treiben«  einverstanden.  Wer  wollte  entscheiden, 
schreibt  er  einmal,  ob  diese  Zeitmaße  »unter  Voraussetzung 
eines  makellosen  Vortrags«  nicht  Beethoven  gerade  recht  ge- 
wesen?4 In  seiner  Besprechung  des  ersten  Mendelssohnschen 
Konzerts  war  ihm  sogar  das  Scherzo  der  B-dur-Sinfonie  von 
Beethoven  noch  zu  langsam.  »Du  weißt,  wie  wenig  ich  die  Streite 
über  Temponahme  leiden  mag«,  heißt  es  da5,  »und  wie  für  mich 
das  innere  Maß  der  Bewegung  allein  unterscheidet.  So  klingt 
das  schnellere  Allegro  eines  Kalten  immer  träger  als  das  lang- 
samere eines  Sanguinischen.  Beim  Orchester  kommen  aber  auch 
die  Massen  in  Anschlag:  rohere,  dichtere  vermögen  dem  Einzelnen, 
wie  dem  Ganzen  mehr  Nachdruck  und  Bedeutung  zu  geben;  bei 
kleineren,  feineren  hingegen,  wie  unserm  Firlenzer,  muß  man  dem 
Mangel  an  Resonanz  durch  treibende  Tempos  zu  Hülfe  kommen. 
Mit  einem  Worte,  das  Scherzo  der  Symphonie  schien  mir  zu  lang- 
sam; man  merkte  das  auch  recht  deutlich  dem  Orchester  an  der 
Unruhe  an,  mit  der  es  ruhig  sein  wollte.«  Damit  stellt  sich  Schu- 
mann im  Prinzip  auf  die  Seite  Mendelssohns,  wenn  ihm  auch 
dessen  Tempi,  z.  B.  beim  ersten  Satz  der  neunten  Sinfonie, 
zuweilen  zu  lebhaft  schienen6.  Wagner  hat  Mendelssohn  nur  ein- 
mal in  einer  Probe  zur  achten  Sinfonie  dirigieren  sehen.  Er 
bemerkte,  daß  hin  und  wieder  ein  Detail,  wie  es  Mendelssohn 
gerade  paßte,  herausgegriffen  wurde,  was  so  schön  klang,  daß 
Wagner  gern  gewünscht  hätte,  alle  Stellen  wären  mit  gleicher 
Sorgfalt  ausgeführt  worden.  Sonst  »floß  diese  so  unvergleichlich 
heitere   Symphonie   außerordentlich   glatt   und   unterhaltend   da- 


1  Hans  v.  Bülows  Ausgewählte  Schriften,  2.  Aufl.,  1911,  II,  S.  209. 

2  L  a  m  p  a  d  i  u  s  ,  a.  a.  O.  S.  373/4. 

3  Wasielewski,  Aus  siebzig  Jahren,  S.  60. 

4  A.  a.  O.  II,  S.  214f. 

5  A.  a.  O.  I,  S.  194. 

6  Wagner,   Über   das  Dirigiren.     Vgl.  Schumanns  Ges.  Schriften    II, 
S.  214. 

19* 


292  Sechstes  Kapitel. 

hin«1.  Mendelssohn  soll  auch  Wagner  gegenüber  die  Meinung 
vertreten  haben,  daß  jedes  zu  langsame  Tempo  schade,  er  emp- 
fehle, lieber  etwas  zu  schnell  zu  nehmen,  damit  könne  man  über 
Schwächen  des  Ensembles  am  besten  hinwegtäuschen.  Eine  Be- 
stätigung dieser  Mendelssohnschen  Maxime  will  Wagner  in  London 
bei  den  Konzerten  der  Philharmonischen  Gesellschaft  gefunden 
haben.  Die  Instrumentalmusik,  die,  wie  Wagner  meint,  noch  nach 
Mendelssohnscher  Tradition  gespielt  wurde,  »floß  .  .  .  wie  das 
Wasser  aus  einem  Stadtbrunnen ;  an  ein  Aufhalten  war  gar  nicht 
zu  denken,  und  jedes  Allegro  endete  als  unläugbares  Presto«. 
Erst  bei  dem  Wagnerschen  Studium  deckten  sich  die  Schäden 
des  Vortrags  auf.  Ebenso  verstand  Mendelssohn,  als  er  mit  Wagner 
einer  Aufführung  der  achten  Sinfonie  beiwohnte,  nicht  die  Be- 
zeichnung »Tempo  di  Menuetto«.  Reissiger  sollte  den  Satz,  der 
nach  Wagner  bisher  im  Ländlertempo  gespielt  wurde,  langsam, 
im  alten  Menuettzeitmaß  spielen,  wurde  aber  daran  durch  äußere 
Umstände  verhindert  und  verfiel  wieder  in  das  alte  Tempo.  Ehe 
Wagner  noch  seinen  Unwillen  äußern  konnte,  sah  er,  wie  Mendels- 
sohn lächelte,  wohlgefällig  mit  dem  Kopf  nickte  und  sagte:  »So 
ist's  ja  gut!  Bravo!«  —  »Ich  glaubte  in  einen  wahren  Abgrund 
von  Oberflächlichkeit,  in  eine  vollständige  Leere  zu  blicken«  —  so 
schließt  dieser  Abschnitt  des  Wagnerschen  Aufsatzes  »Über  das 
Dirigiren«.  Durch  den  ganzen  Artikel  zieht  sich  wie  ein  roter 
Faden  der  Gedanke:  Mendelssohn  ist  der  Begründer  der  eleganten 
Manier  im  Dirigieren,  des  glatten  »Darüberhinweggehens«,  der 
Oberflächlichkeit.  Und  schließlich  wird  unter  Wagners  Feder 
aus  Mendelssohns  Bildung  eine  Gebildetheit,  eine  befangene 
Kunstanschauung,  die  von  der  wahren  Geistesfreiheit  weit  ent- 
fernt sei.  Daß  diese  Charakterisierung  Mendelssohns  über- 
trieben ist,  wird  niemand,  der  sein  Wirken  näher  kennt,  be- 
streiten. Wagner  war  nicht  der  Musiker,  der  seine  Mitwelt  ob- 
jektiv zu  beurteilen  verstand.  Das  zeigen  seine  Schriften  und 
seine  Autobiographie.  Ihm  war  es  selbst  kaum  noch  bemerkbar, 
wenn  er  bei  der  Verfolgung  eines  Gedankens  übers  Ziel  schoß  und 
gegen  Zeitgenossen  ungerecht  wurde.  Man  kann  seine  einseitige 
Stellung  zur  Mendelssohn-Schule,  zur  musikhistorischen  Bildung 
und  zur  musikalischen  Renaissance  verstehen,  aber  man  wird 
stets  dagegen  protestieren,  wenn  Wagner  bei  diesen  Fragen  als 
Autorität  zitiert  wird.     Bei  der   Charakterisierung  der  Mendels- 


1  Wagner,  Über  das  Dirigiren. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  293 

sohnschen  Direktion  kombiniert  er  aus  wenigen  Tatsachen 
eine  Theorie ,  die  ihm  als  Hintergrund  seiner  Ausführungen  ge- 
eignet scheint.  Wagner  hat  Mendelssohn  nur  in  einer  einzigen 
Probe  gehört !  Das  kann  für  ein  Gesamturteil  sicherlich  nicht 
ausreichen.  Er  hat  das  Londoner  Orchester  mendelssohnisch 
spielen  hören.  Dabei  fragt  man  sich,  ob  das  Londoner  Orchester 
wirklich  alle  Tempi  und  Details  Mendelssohns  Jahrzehnte  hin- 
durch beibehalten  konnte,  und  ob  nicht  gerade  dies  Orchester 
durch  viele  Gastdirektionen  bald  diese,  bald  jene  Ausführung  ge- 
wohnt war.  Ferdinand  David  schreibt  einmal,  daß  das  Lon- 
doner Orchester  nur  dann  das  erste  der  Welt  werden  könnte, 
wenn  es  »statt  eines  halben  Dutzend  von  Dirigenten  einen  Kerl« 
wie  Mendelssohn  ständig  an  der  Spitze  hätte,  vor  dem  die  Musiker 
»Respect  haben«  müßten,  und  der  sie  ein  paar  Jahre  hindurch 
tüchtig  »curanzte«,  so  aber  klinge  das  Orchester  wie  eine  wunder- 
volle Orgel,  auf  der  ein  langweiliger  geschmackloser  Spieler  sein 
Wesen  treibe.  »Der  Klang  ist  schön,  aber  keine  Schattirung, 
dazu  hauen  sie  bei  allen  verfänglichen  Stellen  vor,  als  ob  sie  extra 
dafür  bezahlt  würden,  die  sforzandos  sind  gleich  Elephanten- 
Tritten,  und  pianissimo  und  fortissimo  kennen  sie  nicht1.«  So 
schreibt  Mendelssohns  Konzertmeister  im  Jahre  1839.  Wenn  er 
bei  dieser  Musiziererei  irgendwo  eine  Mendelssohnsche  Nuance 
gehört  hätte,  er  wäre  sicherlich  mit  einigen  Worten  darauf  ein- 
gegangen. Zwei  Jahre  später  hören  wir,  daß  die  neunte  Sin- 
fonie unter  Moscheies  in  einer  bösen  Verarbeitung  —  die  Baß- 
recitative  wurden  Solo  gespielt,  Orgelbässe  zugesetzt  und  Vokal- 
partien abgeändert  —  in  London  aufgeführt  wurde2.  Wäre  das 
unter  Mendelssohn  möglich  gewesen  oder  überhaupt  geduldet 
worden?  Wagner  gab  seine  Londoner  Konzerte  im  Jahre  1855. 
Da  kann  niemand  die  Schuld  an  dem  Schlendrian  des  Orchester- 
spiels, wie  ihn  nach  David  auch  Wagner  vorfand,  dem  schon  vor 
vielen  Jahren  entschlafenen  Meister  zuschreiben.  Es  bliebe  somit 
nur  jene  Probe,  die  Wagner  hörte,  und  die  Freude  Mendelssohns 
über  das  schnelle  Zeitmaß  des  Tempo  di  Menuetto,  die  Wagners 
Theorie  halten  könnten.  Es  bleibt  aber  fraglich,  ob  Mendelssohn 
den  altvaterischen  Ton  dieser  Musik,  die  freundliche,  beinahe 
Haydnsche  Idylle  des  Trio  nicht  im  richtigen  Tempo  genommen 
hat.    Ich  kenne  keine  zeitgenössische  Stimme,  die  gerade  auf  diesen 


i  Eckardt,  a.a.O.  S.  102/103. 
2  Ebenda,  S.  124. 


294  Sechstes  Kapitel. 

Punkt  einginge.  Die  Kritik  nennt  Mendelssohns  Vortrag  der 
achten  Sinfonie  einmal  »sehr  bestimmt  und  genau  vorgetragen«1. 
Sonst  heißt  es  von  seinen  Konzerten  nur:  »vortrefflich  aus- 
geführt«, »geschmackvoll«,  »gelungen«  usw.,  womit  uns  wenig 
gedient  ist2.  Ich  finde  aber  in  Berlioz'  Beethoven -Analysen 
folgenden  Satz:  »Eine  Menuett,  im  Zuschnitt  und  Zeitmaß  der 
Haydnschen,  ersetzt  hier  das  Scherzo  mit  raschem  Dreiviertel- 
takt3.« Daraus  geht  hervor,  daß  Wagner  nicht  der  erste  war, 
der  dem  Satz  zu  seinem  rechten  Zeitmaß  verhalf.  Ob  Berlioz 
in  seiner  Anschauung  auf  Habenecks  Direktion  zurückgeht,  die 
auch  Mendelssohn  gehört  hat,  ist  schwer  zu  entscheiden.  Diese 
Anleitung  war  aber  weder  für  Berlioz,  noch  für  Mendelssohn  nötig, 
denn  Beethovens  Tempo  und  Vortragsangabe  konnten  von  einem 
guten  Kapellmeister  kaum  mißverstanden  werden.  Es  ist  möglich, 
daß  Mendelssohn  den  Satz  schneller  haben  wollte  als  Wagner, 
aber  ein  Scherzotempo  wird  er  sicherlich  nicht  von  den  Musikern 
verlangt  haben,  zumal  das  Trio  kaum  im  schnellen  Zeitmaß 
durchgeführt  werden  kann.  Im  Falle  Mendelssohn  hat  Wagner 
ein  Charakteristikum,  nämlich  Mendelssohns  Vorliebe  für  schnelle 
Tempi,  etwas  übertrieben  und  karikiert.  Ohne  Frage  ist  das 
Vorwärtsgehen  im  Zeitmaße  bei  den  Beethovenschen  Sinfonien 
kein  Fehler.  Nur  der  musikalische  Ausdruck  der  Affekte 
ist's,  der  lebendig  macht,  nicht  der  Autoritätsglaube.  Dafür 
zeugen  aber  Mendelssohns  Künstlernatur  und  die  Berichte  der 
Zeitgenossen ,  daß  man  in  Leipzig  nicht  oberflächlich  musi- 
ziert hat.  Mendelssohn  besaß  ein  so  feines  rhythmisches  Gefühl 
und  einen  so  feinen  Klangsinn,  daß  er  die  kleinsten  Unregelmäßig- 
keiten des  Ensembles  hörte  —  da  wird  er  über  Unebenheiten 
sicherlich  nicht  hinweggeeilt  sein. 

Wenn  man  bei  komponierenden  Dirigenten  in  der  eigenen 
Musik  die  künstlerische  Auffassung  der  klassischen  Werke  sich 
spiegeln  sieht,  so  daß  jene  diese  erklären  könnte,  so  würde  ich 
in  den  Konzertouvertüren  Mendelssohns  und  den  schnellen  Sätzen 
der  schottischen  und  italienischen  Sinfonie  jenes  freudige, 
frische  und  flotte  Musizieren  erkennen,  jene  subtile  klangliche 
Farbenzeichnung,  die  von  seinen  Konzertaufführungen  über- 
haupt  gerühmt   werden.      Die   stets   gediegene   und   meisterhaft 

i  Allg.  Mus.  Ztg.   1836,  S.  105. 

2  Vgl.  Allg.  Mus.  Ztg.  1836,  S.  87,  104,  273,  692  usw.,  auch  Dorf  fei, 
Gesch.  der  Gewandhauskonzerte. 

3  A  Travers  Chants.     Deutsche  Ausg.  von  R.  Pohl,  Leipzig  1864,  S.  57. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  295 

beherrschte  Form  der  Mendelssohnschen  Werke,  seine  saubere, 
durchsichtige  thematische  Arbeit,  scheint  mir  das  Abbild  seiner 
musikalischen  Interpretation.  Gewiß  haben  Mendelssohns  Schüler 
seine  Wiedergabe  der  Klassiker  einseitig  weitergeführt  und  damit 
die  in  unserer  Zeit  wieder  auflebende  Mendelssohnsche  Idee  zur 
Manier  erstarren  lassen.  Dafür  kann  Mendelssohn  nicht  ver- 
antwortlich gemacht  werden.  Er  war  der  erste,  der  das  deutsche 
Konzertleben  nachdrücklich  in  die  Bahnen  des  Klassizismus  und 
der  Renaissance  lenkte,  ohne  sich  dem  modernen  Schaffen  zu 
verschließen,  und  der  in  den  dreißiger  Jahren  mit  einem  tüch- 
tigen Orchester  vorbildliche  Aufführungen  und  eine  durchaus 
persönliche,   individuelle  Interpretation    schuf.   — 

Unter  die  »Musikbanquiers«,  denen  die  Kraft,  das  Berliner 
Musikleben  zu  reformieren,  fehlte,  rechnet  Wagner  neben  Mendels- 
sohn auch  den  Meister  der  Staatsaktionsoper:  Giacomo  Meyer- 
beer, der  allerdings  niemals  Anspruch  darauf  erhoben  hat,  als 
Organisator  zu  wirken.  Wenigstens  nicht  als  Kapellmeister. 
Sein  unsicheres  Auftreten,  sein  ruheloser,  wenig  energischer  Cha- 
rakter machten  ihn  zum  Dirigenten  im  Weberschen  oder  Mendels- 
sohnschen Sinne  nicht  geeignet.  Er  besaß  ein  subtiles  rhyth- 
misches und  klangliches  Gefühl,  er  verstand  es,  durch  Höflichkeit 
und  weitgehendes  Entgegenkommen  sich  die  Musiker  zu  ver- 
pflichten und  sie  zu  guten  Aufführungen  anzuhalten,  aber  ein 
Kapellmeister,  von  dem  große  Wirkungen  ausgehen,  ist  Meyerbeer 
nie  gewesen,  wollte  es  nicht  sein.  So  viel  Effekte  er  durch  seine 
subtile  und  fein  ausgedachte  Instrumentation  in  der  Oper  schuf  — 
als  Orchesterführer  hat  er  kaum  etwas  Neues  gebracht.  Er  ging 
sogar  Einladungen  zum  Dirigieren  von  Musikfesten  aus  dem  Wege 
und  hat  sich  sehr  bald  aus  den  Fesseln  seiner  Berliner  Stellung 
befreit.  An  Dr.  S  diu  cht  schrieb  er  einmal:  »Der  Hochgenuß 
[zu  dirigieren]  ist  keines  Falls  so  groß  wie  Sie  glauben.  Im  Gegen- 
theil,  ich  werde  sehr  unangenehm,  fast  ärgerlich  durch  die  vielen 
Fehler  und  falschen  Auffassungen  berührt,  welche  bei  den  ersten 
Proben  auch  des  größten  Künstlerpersonals  unvermeidlich  sind. 
Ich  eigne  mich  überhaupt  nicht  gut  zum  Dirigenten.  Man  sagt; 
,ein  tüchtiger  Kapellmeister  muß  ein  gut  Theil  Grobheit  haben'. 
Ich  will  das  nicht  bejahen.  Mir  ist  eine  solche  Grobheit  stets 
zuwider  gewesen.  Es  macht  einen  sehr  unangenehmen  Eindruck, 
wenn  gebildete  Künstler  mit  Worten  traktirt  werden,  die  man 
keinem  Bedienten  sagt.  Grobheit  verlange  ich  nicht  von  einem 
Dirigenten,   aber   er   muß   energisch   auftreten,   scharfe  Verweise 


296  Sechstes  Kapitel. 

ertheilen  können,  ohne  grob  zu  werden  und  darf  bei  den  stärksten 
Rügen  den  Anstand  nicht  verletzen.  Zugleich  muß  er  soviel 
Jovialität  entfalten,  um  sich  die  Liebe  sämtlicher  Künstler  zu 
erwerben;  sie  müssen  ihn  lieben  und  fürchten.  Nie  darf  er  Cha- 
rakterschwäche blicken  lassen,  das  beeinträchtigt  den  Respect 
ungemein.  Ich  kann  nicht  so  energisch,  schneidend 
auftreten,  wie  es  beim  Einstudieren  erforderlich  ist, 
und  überlasse  daher  diese  Function  sehr  gern  den 
Kapellmeistern.  .  .  .  Die  Proben  haben  mich  zuweilen 
krank  gemacht1.«  Auch  in  zeitgenössischen  Berichten,  die  in 
dieser  Zeit  allerdings  schon  wenig  verläßlich  werden,  findet  man 
immer  wieder  die  Hauptseite  des  Meyerbeerschen  Charakters 
betont:  sein  wenig  energisches  Auftreten  und  seine  Konzilianz 
gegen  die  Musiker.  Ihm  war  viel  daran  gelegen,  selbst  die  klein- 
sten Partien  seiner  Partituren  gut  gespielt  zu  hören,  er  engagierte 
lieber  einen  berühmten  neuen  Virtuosen,  als  daß  er  eine  Stelle 
von  einem  weniger  begabten  Spieler  ausführen  ließ2.  Hieraus 
resultierte  zum  guten  Teil  die  Vortrefflichkeit  seiner  Aufführungen3. 
Epochemachend  oder  geschichtlich  bedeutend  hat  aber  Meyerbeer 
als  Kapellmeister  nicht  gewirkt. 

In  den  Korrespondenzen  und  Kritiken  der  Musikzeitungen 
findet  man  in  der  Rubrik  »Konzerte«  oder  »Musikbriefe«  noch 
viele  Lobhymnen  auf  diese  oder  jene  Lokalgrößen.  Es  ist  schwer, 
wenn  nicht  unmöglich,  aus  diesen  einander  oft  widersprechenden, 
meist  recht  leeren  Berichten  die  Bedeutung  der  einzelnen  Kapell- 
meister klarzustellen.  Weit  verläßlicher  sind  da  die  Lebenser- 
innerungen und  Aufsätze  von  Dorn,  Marx,  Wasielewski, 
Berlioz,  Wagner  u.  a.,  die  einen  kleinen  Umblick  auf  die 
Dirigenten  der  größeren  und  kleineren  Musikplätze  in  den 
dreißiger  und  vierziger  Jahren  gestatten. 


1  A.  Niggli.Giac.  Meyerbeer  (Waldersees  Samml.  musikal.  Vorträge), 
S.  311.    J.  Schlicht,  Meyerbeers  Leben  und  Bildungsgang,  S.  399f. 

2  Wagner,  Über  das  Dirigiren. 

3  Vgl.  Berlioz,  Memoiren  II,  S.  92:  »Ich  möchte  nur  sagen,  daß  [Meyer- 
beers Direktion  der  Hugenotten]  mir  von  Anfang  bis  zu  Ende  der  Vorstellung 
prächtig  schön,  vollkommen  nuanciert  und  selbst  in  den  schwierigsten  Sätzen 
unvergleichlich  klar  und  präzis  vorgekommen  ist.«  Über  die  von  Meyerbeer 
genommenen  Tempi  orientiert  sehr  gut  E.  M.  E.  D  e  1  d  e  v  e  z,  L'art  du  Chef 
d'Orchestre,  1878  (Remarques  sur  l'interprötation,  ä  l'op£ra,  de  la  Partition 
des  Huguenots.).  Von  Meyerbeers  Auftreten  anderen  Kapellmeistern  gegen- 
über erzählt  Wasielewski  (a.  a.  O.  S.  172)  einige  charakteristische 
Züge. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  297 

Als  Dirigent  der  alten  Schule  wird  Guhr  in  Frankfurt  gerühmt, 
ein  sicherer,  strenger  Kapellmeister,  »despotisch  und  namentlich 
grob«,  ähnlich  wie  der  Dessauer  Friedrich  Schneider1.  Das 
Orchester  spielte  unter  Guhrs  Leitung  wie  »ein  einziges  Instru- 
ment«2. Weiterwäre  Lindpaintner  zu  nennen,  nach  Wasielewskis 
Worten,  ein  »biederer,  wohlroutinirter,  aber  keineswegs  poetisch 
veranlagter«  Musiker3.  Er  hatte  seine  Stuttgarter  Kapelle  so 
gut  geschult,  daß  sie  Berlioz'  Werke  ohne  Fehler  vom  Blatt  spiel- 
te, eine  Leistung,  die  noch  heute  jedem  Orchester  Ehre  machen 
würde4.  Auch  Mendelssohn  lobt  die  Disziplin  der  Stuttgarter 
Musiker,  die  so  vollkommen  schön  und  genau  zusammenspielten, 
wie  man  sich's  nur  wünschen  könnte;  er  nennt  Lindpaintner  den 
besten  Orchesterdirigenten  Deutschlands5.  In  Dresden,  wo  die 
Webersche  Tradition  bald  vergessen  war,  wirkte  Reißiger, 
der  Komponist  von  »Webers  letztem  Gedanken«  und  ähnlichen 
.Salonstückchen,  ein  bei  der  Kapelle  sehr  beliebter  Dirigent,  der 
es  mit  dem  Dienst  nicht  so  genau  nahm.  Man  erzählte  sich, 
daß  er,  wenn  er  von  der  Frau  zur  bestimmten  Zeit  erwartet 
wurde,  beim  Dirigieren  nach  der  Uhr  sah  und  schnelli  Tempi 
nahm,  um  pünktlich  zu  sein6.  Braunschweig  hatte  an  Georg 
Müller  einen  ausgezeichneten  Kapellmeister,  der  sein  »Staats- 
orchester«, wie  es  Meyerbeer  nannte,  zu  hervorragenden  Leistungen 
gebracht  hatte7.  In  Hamburg  dirigierte  der  gestrenge  Kapell- 
meister Krebs8,  in  Hannover  Heinrich  Marschner,  der  sich 
mit  schlechten  Kräften  redlich  abmühen  mußte.  Weiter  wären 
als  tüchtige  Dirigenten  zu  erwähnen:  Franz  Lachner  und  der 
im  Dienst  sehr  schroff  und  grob  auftretende  Julius  Rietz,  der, 
mit  einem  ausgezeichneten  Gehör  begabt,  sehr  genau  studierte, 
so  daß  man  erzählte,  er  habe  nie  einen  Fehler  beim  Dirigieren 
gemacht.  »Seine  Behandlung  des  Kunstwerkes  war  sachlich 
ruhiger,  durchdringender  Art.  Demgemäß  wußte  er  alle  Einzel- 
heiten des  Ensembles  klar  und  deutlich  durchzubilden.  Seine 
Aufführungen  zeugten  von  lebhaftem  Temperament,  aber  bis  zu 

1  Wagner,  Über  das  Dirigiren.  Vgl.  auch  »Mein  Leben«  von  R.  Wagner, 
I,  S.  133. 

2  Berlioz,  Memoiren  II,  S.  11. 

3  Wasielewski,  Aus  siebzig  Jahren,  S.  147. 

4  Berlioz,  Memoiren  II,  S  22. 
6  H  ensel,  a.  a.  O.  I,  S.  331. 

6  Wasielewski,  a.  a.  O.  S.  171. 

7  Berlioz,  Memoiren  II,  S.  67. 

8  Berlioz,  a.  a.  O.  II,  S.  77. 


298  Sechstes  Kapitel. 

schwungvoller  Erhebung  kam  es  nicht.  Die  vollständige  Korrekt- 
heit ging  Rietz  über  alles1.«  Eine  ähnliche  Natur  zeigte  Ferdi- 
nand Hiller,  den  Meyerbeer  als  Kapellmeister  neben  Weber 
stellte2.  Hiller  war  ein  fruchtbarer,  heute  stark  unterschätzter 
Komponist,  der  bei  seiner  Direktion  sehr  viel  herumexperi- 
mentierte. David  soll  bei  seiner  langsamen  Tempoführung  im 
Händelschen  Halleluja  gesagt  haben:  »Das  Stück  wird  erst  am 
nächsten  Musikfeste  zu  Ende  sein.«  In  Paris  schrieb  man  von 
seinen  Konzerten,  er  »führe  das  Orchester  wie  ein  österreichischer 
Oberst  seine  Panduren«.  Wasielewski,  der  diese  Kritik  erwähnt, 
erzählt  noch,  Hiller  habe  einmal  beim  Anfang  der  C-moll- Sin- 
fonie Beethovens,  der  möglichst  genau  kommen  sollte,  zwei  Takte- 
voraus  markiert;  bei  den  Proben  hätte  der  Beginn  ganz  gut  ge- 
klappt, bei  der  Aufführung  aber  setzten  einige  Musiker  gleich  einr 
was  dem  Dirigenten  einen  hübschen  Heiterkeitserfolg  einbrachte. 
Auch  um  seine  Kenntnis  der  Klassiker  scheint  es  nicht  gut  be- 
stellt gewesen  zu  sein3.  Wollte  man  diese  Größen  zweiter  Ord- 
nung nach  den  zeitgenössischen  Kritiken  weiter  vorführen,  man 
würde  keine  abwechslungsreiche  Galerie  zusammenstellen.  Aber 
wie  die  um  die  großen  Meister  sich  gruppierenden  kleineren 
Geister  ein  Bild  von  dem  Schaffen  einer  Epoche  geben  und 
die  Eigenart  der  Vorbilder  schärfer  kennzeichnen,  so  wird 
vielleicht  eine  Zusammenfassung  von  ihrem  Wirken,  von  ihren 
praktischen  und  künstlerischen  Ansichten  das  musikalische  Zeit- 
bild etwas  beleben. 

Es  gibt  ein  kleines  Büchlein,  das,  im  Jahre  1844  erschienen, 
ein  Kompendium  des  Dirigierens  enthält:  das  wenig  gekannte 
Werk  »Dirigent  und  Ripienist«  von  F.  S.  Gassner.  In  der  Ein- 
führung erfahren  wir,  daß  der  Verfasser  bei  seinen  Studien  durch 
die  freundliche  Teilnahme  der  Meister  Spohr,  Mendelssohn, 
Reißiger,  Marx  usw.  unterstützt  wurde,  also  Grund  genug,  die 
vorgetragenen  Theorien  als  kompetent  für  die  vormärzliche  Zeit 
anzusehen.  Gassner  bringt  zunächst  Ausführungen  über  die  Kennt- 
nisse, die  bei  der  Direktion  vorausgesetzt  werden,  und  geht  dann 
zu  den  Eigenschaften  eines  Dirigenten  über,  der  allein  für  das 
richtige  Erfassen  der  Tondichtungen,  für  die  Besetzung  der  Stim- 


i  Wasielewski,  a.  a.  0.  S.  70/71. 

2  Johannes  Weber,  Meyerbeer.  Notes  et  Souvenirs  d'un  de  ses  secrö- 
taires,  Paris  1898,  S.  113. 

3  Wasielewski,  a.a.O.  S.68,    140f.,    147.     Vgl.  F  e  r  d.    Hiller, 
Musikalisches  und  Persönliches,  Leipzig  1876,  »Über  das  Auswendig-Dirigiren«, 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  299 

men  und  die  Wahl  der  Werke  verantwortlich  zu  machen  ist. 
Durch  eigene  Tüchtigkeit  und  ein  »leutseliges  Benehmen«  erringt 
sich  ein  Kapellmeister,  wie  Gassner  sagt,  am  ersten  die  Verehrung 
seiner  Untergebenen,  und  durch  einen  guten  Vortrag,  durch  die 
Einsicht  in  die  »inneren  Schönheiten«  und  den  »Charakter  jeden 
Werkes«  die  allgemeine  Anerkennung.  Sein  Amt  verlangt  ein 
tiefes  Eindringen  in  die  tondichterischen  Ideen,  ein  Ȋsthetisch 
gebildetes  Gemüth«.  Darum  müssen  Geist  und  Phantasie  durch 
Studium,  auch  in  der  bildenden  Kunst  und  Literatur,  geschult 
werden,  eine  Forderung,  die  durch  Mendelssohn  Allgemeingut 
der  Musiker  wurde.  Weiter  gibt  Gassner  zehn  Gebote  für  den 
Kapellmeister.  Sie  sind  allgemeiner  Natur,  in  der  Art  der  »Politik 
des  Kapellmeisters«  Junkerscher  Richtung.  Interessant  ist  da 
nur  die  Regel:  »Zeige  dich  als  Componist,  wenn  du  solcher  bist;, 
es  ist  nöthig,  seine  gegen  Andere  überwiegende  Fähigkeiten 
geltend  zu  machen,  wenn  man  an  der  Spitze  eines  Künstlercorps 
steht;  bringe  aber  deine  Arbeiten  ja  nicht  zu  oft.«  Die  Regel: 
haben  die  deutschen  Kapellmeister  fleißig  befolgt,  ohne  damit 
die  Entwicklung  weitergebracht  zu  haben.  Dann  stellt  Gassner 
Vorschläge  für  das  Einstudieren  neuer  Werke  zusammen,  wobei 
er  dem  »sinnigen  Dirigenten«  rät,  einzelne  Effektmomente,  die  in 
der  Partitur  »gar  nicht,  nicht  bestimmt  genug  oder  unrichtig« 
bezeichnet  sind,  zu  berichtigen.  Dies  Korrigieren  fremder  Ar- 
beiten war  auch  bei  fehlerlosen  Partituren  gang  und  gäbe.  Wie 
Moscheies  die  neunte  Sinfonie  umarbeitete  ,  war  schon  erwähnt 
worden;  auch  Mendelssohn  verbesserte  eine  Ferd.  Hillersche 
Ouvertüre  bei  der  Aufführung1,  andere  transponierten  den  Sängern 
zu  Gefallen  Opernarien,  komponierten  Übergänge  dazu  oder 
strichen  tüchtig  in  der  Partitur  herum.  Die  Achtung  vor  dem 
Urtext  war  bei  vielen  Dirigenten  nicht  allzu  groß.  Sie  er- 
streckte sich  höchstens  auf  die  bekannteren  Werke  der  Klas- 
siker, aber  auch  da  wurde,  wie  die  Geschichte  der  Gluckschen 
Oper  und  der  Beethovenschen  Sinfonien  zeigt,  viel  »verbessert«. 
Gassner  fordert  vom  Kapellmeister  Klavierproben  mit  den 
Solisten,  Chor-,  Quartett-,  Bläser-,  Haupt-  und  Generalproben.  Be- 
zeichnend ist  da  seine  Bemerkung,  der  Dirigent  solle  sich  mit  den 
Sängern  über  etwa  anzubringende  Verzierungen  vorher  verständigen . 
Er   hält   die  notengetreue   Wiedergabe   bei    den    Ripienisten   für 


1  Vgl.  Mendelssohns  Brief  an  Hiller  vom  24.  Jan.  1837.  Meister-Briefe, 
S.  127. 


300  Sechstes  Kapitel. 

selbstverständlich,  macht  aber  bei  Sängern  und  Solisten  doch 
eine  Ausnahme.  Diese  Praxis  hat  sich  noch  bis  zur  Koloratur- 
und  Effektfermate  Meyerbeers  in  der  Oper  gehalten  und  ist 
erst  mit  dem  Durchdringen  des  Wagnerschen  Dramas  verschwun- 
den. Gegner  wie  Gluck,  Spohr,  Spontini  oder  Weber  bleiben  bis 
dahin  Ausnahmen.  In  der  Sinfonie  waren  die  Willkürlichkeiten, 
wie  wir  gesehen  haben,  schon  früher  abgeschafft,  und  wenn  man 
liest,  daß  einige  Flötisten  in  ihrer  Partie  noch  Verzierungen  an- 
brachten1, so  sind  das  alte  Praktiken,  die  aus  der  allgemeinen 
Richtung  herausfallen.  Besonderes  Gewicht  legt  Gassner  auf  die 
Dynamik.  Er  gibt  Anweisungen,  die  man  heute  noch  mit  Nutzen 
lesen  kann,  über  die  Abstufung  der  Stärkegrade  nach  dem  Auf- 
führungslokal, nach  Natur  und  Anlage  eines  Werkes  und  über  die 
Erklärung  der  Vortragszeichen,  deren  Sinn  der  Kapellmeister 
den  Musikern  nahebringen  soll.  Mit  der  Forderung,  daß  ein 
Ripienist  alles  andere,  nur  nicht  Virtuosenallüren  in  den  Vortrag 
einführen  darf,  daß  er  einfach  und  gediegen  spielen  muß,  schließt 
Gassner  an   Reichardt  und  Spohr  an. 

Die  rein  artistische  Seite  der  Direktion,  das  Taktschlagen, 
berührt  unser  Buch  eingehend.  Es  wird  eine  unauffällige,  aber 
sichere  Taktführung  mit  dem  Taktstock  oder  Violinbogen  geraten. 
Die  Armbewegungen  sollen  ohne  Charlatanerie  gegeben  werden, 
Winke  und  Blicke  müssen  unauffällig  sein,  alles  Taktieren  soll 
ohne  Lärm  und  Koketterie  vor  sich  gehen;  je  anspruchsloser  die 
Taktierbewegungen  aussehen,  desto  wirkungsvoller  sind  sie.  »Der 
Dirigent  hat  nur  das  Zeichen  zum  Anfangen,  die  Tempis  und 
jene  Marken  zu  geben,  die  in  den  Proben  verabredet  wurden,  oder 
überhaupt  bei  der  Direktion  üblich  sind.«  Bei  einem  tüchtigen 
ersten  Geiger  erreicht  er  dann  ohne  große  Mühe  den  Kontakt 
mit  den  Musikern,  so  daß  er  keineswegs  von  Anfang  bis  zu  Ende 
zu  taktieren  braucht.  Es  genügt,  beim  Tempowechsel  so  lange  den 
Takt  zu  geben,  bis  das  neue  Zeitmaß  erfaßt  ist.  Ebenso  hat  der 
Kapellmeister  bei  Schwankungen  und  Nuancierungen  zu  ver- 
fahren. Ein  anhaltendes  mechanisches  Taktieren  ist  überflüssig; 
es  bleibt  ein  Mißstand,  wie  Gassner  sagt,  wenn  der  Dirigent  eines 
stehenden  geübten  Orchesters  den  Arm  fortwährend  rühren  muß. 
Man  soll  nur  die  Wirkung  der  Direktion  sehen,  letztere  aber 
entweder  gar  nicht  oder  aber  »so  anspruchslos  wie  möglich«. 
.Das  sind  die  gleichen  Forderungen,  die  die  alten  Musiker  auf- 


1  Vgl.  B  e  r  1  i  o  z  ,  Memoiren  II,  S.  20  und  26. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  301 

gestellt  haben.  Auch  Mendelssohn  dirigierte  unauffällig  mit 
kleinen,  eleganten  Bewegungen  und  legte  oft  den  Taktstock  bei- 
seite, um  ihn  erst  bei  schwierigen  Stellen  wieder  zu  führen.  Von 
Weber  wird  ähnliches  erzählt;  er  hatte  seine  Musiker  so  einstudiert, 
daß  er  mitunter  im  Allegro  der  »Freischütz «-Ouvertüre  nur  die 
ersten  vier  Takte  dirigierte  und  erst  am  Schluß  wieder  den  Takt- 
stock zu  führen  begann1.  Berlioz  meint,  die  Orchestermusiker 
müßten  stolz  sein,  wenn  ihr  Dirigent  bei  leichteren  Stellen  »die 
Hände  in  den  Schoß  legt«2.  Noch  Hans  v.  Bülow  hat  seine 
Musiker  so  geehrt. 

Die  Marken  des  Taktschiagens  sind  bei  Gassner  die  gleichen, 
die  wir  aus  dem  18.  Jahrhundert  kennen.  Er  betont,  daß  jeder 
Dirigent  die  Normen  seiner  Direktion  bei  Tempo-  oder  Takt- 
wechsel und  beim  Anfang  eines  Stückes  den  Musikern  klar  mache, 
damit  kein  Mißverständnis  einreißen  könne,  und  empfiehlt,  An- 
gaben über  Taktierung  von  Auftakt  und  Tempoführung  (nach 
Achteln,  Vierteln  usw.)  gleich  in  die  Stimmen  einzuzeichnen.  Seine 
Ausführungen  über  die  Recitativdirektion  sind  durchaus  modern. 
Er  kritisiert  die  Methode,  alle  Taktteile  regulär  auszuschlagen, 
bespricht  das  Angeben  der  Takte  durch  einen  einzigen  Nieder- 
schlag, wobei  nur  die  a  Tempo-Stellen  dirigiert  werden,  und  schließ- 
lich die  Methode,  den  Taktstock  in  der  Luft  zu  halten,  solange 
die  gleiche  Harmonie  ertönt,  um  nur  beim  Wechsel  der  Harmonie 
ein  Zeichen  zu  geben.  Die  Ensembleschläge,  die  bei  freien  Reci- 
tativen  zwischen  die  Gesangsphrasen  fallen,  sollen  genau  und 
deutlich  angegeben  werden,  da  man  sich  hier  ganz  nach  dem 
Sänger  richten  muß.  Interessant  ist,  was  Gassner  vom  Begleiten 
der  alten  bezifferten  Recitative  sagt.  Die  Begleitung  soll  ent- 
weder auf  dem  Pianoforte  gespielt  werden  oder  von  Kontrabaß 
und  Cello  in  der  Weise,  daß  der  Baß  die  Grundnote,  das  Cello 
aber  die  zur  Harmonie  gehörigen  Intervalle  spielt.  In  einer  An- 
merkung heißt  es,  daß  dies  Generalbaßspiel  früher  von  jedem 
Cellisten  verlangt  wurde;  daraus  folgt,  daß  es  in  den  vierziger 
Jahren  nicht  viele  Musiker  mehr  gab,  die  die  alte  Methode  noch 
beherrschten.  Eine  andere  Manier  ist  nach  Gassner  das  Aussetzen 
des  Continuo  für  Streichquartett  und  das  notengetreue  Ab- 
spielen, wo  sich  der  Zuhörer  die  Harmonie  denken  muß(!),  aller- 
dings eine  barbarische  Zumutung,  die,  wie  Gassner  auch  zugibt, 
von  »minderer  Wirkung«  ist. 

1  Berlioz,  Memoiren  II,  S.  63. 

2  Ebenda. 


302  Sechstes  Kapitel. 

Von  der  Besetzung  und  Stellung  des  Orchesters  bringt  unser 
Kompendium  ein  ganzes  Kapitel.  Wie  die  Theoretiker  des  18.  Jahr- 
hunderts stellt  auch  Gassner  an  die  Spitze  seiner  Ausführungen 
den  Satz,  daß  man  bei  der  Anordnung  der  Instrumente  zuerst 
die  Lokalität  berücksichtigen  muß,  in  der  die  Aufführung  statt- 
findet. '  Ein  kleinerer  Raum  erfordert  eine  schwächere  Besetzung 
-als  ein  größerer,  ein  Erfahrungssatz,  der  noch  heute  oft  genug 
übersehen  wird.  Das  vollständige  Sinfonieorchester  besteht 
nach  Gassner  aus  Streichquintett,  2  Flöten,  2  Oboen,  2  Klari- 
netten, 2,  auch  4  Hörnern,  2  Fagotten,  2  Trompeten,  3  Posaunen 
und  Pauken,  wozu  als  Verstärkungen  Tamtam,  Ophikleide, 
große  und  kleine  Trommel,  Pikkolo,  engl.  Hörn,  Baßklarinette, 
Klappentrompete  usw.  kommen.  Diese  Verstärkungen  können 
einzelne  Musiker  übernehmen.  Besondere  Kapellisten  sind  nach 
Gassner  nicht  nötig.  Zu  den  Bläsern  rechnet  er  mindestens  8  Geigen, 
4  erste  und  4  zweite,  2  Bratschen,  2  Celli  und  2  Bässe.  Das 
stimmt  mit  der  beschriebenen  Aufstellung  von  Quantz  und 
Koch  überein.  Auch  Beethoven  hielt  sich  an  diese  Taxe. 
Er  schreibt  anläßlich  der  im  Frühjahr  1813  stattfindenden  Proben 
zur  siebenten  und  achten  Sinfonie  an  Erzherzog  Rudolph: 
»In  der  Besetzung  der  Sinfonien  wünschte  ich  wenigstens  4  Vio- 
linen, 4  Sekund,  4  Prim,  2  Kontrabässe,  2  Violonschell1.«  Nimmt 
man  dazu  die  Beethovensche  Bläserbesetzung,  dann  läßt  sich 
leicht  denken,  daß  die  Klangwirkung  dieser  Sinfonien  in  früherer 
Zeit  mehr  an  die  alte  chorische  Besetzung  erinnert  haben  muß  als 
an  die  moderne,  die  den  2  Oboen,  2  Klarinetten  usw.  ein  Ensemble 
von  16  und  mehr  Violinen  mit  den  zugehörigen  Streichinstrumenten 
gegenüberstellt.  Wenn  wir  Beethovens  Aufstellung,  die  mit  den 
früher  angeführten  Quellen  genau  übereinkommt,  als  die  in  kleinerem 
Musiklokal  gültige  Anordnung  ansehen,  so  rückt  die  Beethovensche 
Instrumentation  in  ein  neues  Licht.  Wir  haben  ein  Nebenein- 
ander der  Streich-  und  Bläsergruppen,  kein  Dominieren  des  Strei- 
cherklangs. So  ungewohnt  uns  diese  Klangwirkung  erscheinen 
muß,  so  konsequent  ist  ihre  Ableitung  aus  der  älteren  Zeit.  Die 
Bläser  sind  bei  Beethoven  trotz  ihrer  selbständigen  Führung 
ebenso  wie  in  der  alten  Literatur  den  übrigen  Instrumenten  koordi- 
niert. Ihre  Stimme  ist  selbst  bei  vollem  Streicherakkompagnement 
stets  durchdringend  und  kann  nicht  einmal  im  Tutti  vom  Streich- 
quintett gedeckt  werden.     Wollten  wir  auf  diese  Besetzung,  die 


1  Thayer,  Beethovens  Leben.     2.  Aufl.  (Riemann)  III,  S.  376. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  303 

uns  durch  das  über  Gebühr  starke  Hervortreten  der  Streicher 
verloren  gegangen  ist,  und  die  Beethovens  Bläsereffekte  viel 
dramatischer  und  wuchtiger  wiedergeben  würde,  zurückgreifen, 
so  müßten  wir  die  Bläser  stärker  besetzen  und  sie  womöglich  in 
Konzertisten  und  Ripienisten  teilen,  oder  aber  das  Streichquintett 
verringern,  was  sich  indes  bei  unsern  großen  Musiklokalen  kaum 
durchführen  lassen  wird.  Daß  Beethoven  eine  Besetzung,  wie 
wir  sie  heutzutage  anwenden,  gutheißen  würde,  erscheint  mehr 
als  fraglich.  In  der  Beethovenschen  Zeit  ist  bei  Aufführungen 
in  kleineren  Sälen  das  Verhältnis:  8  Geigen,  2  Flöten,  2  Oboen, 
2  Klarinetten,  2  oder  4  Hörner  das  reguläre1.  Die  Berechtigung 
und  Wirkung  dieser  Klangverteilung  ist  in  unserer  Zeit  durch 
das  Verstärken  des  Bläserchors  wieder  zu  Ehren  gekommen. 
Leider  wird  in  dem  Beethovenschen  Brief  die  Zahl  der  Brat- 
schen nicht  angegeben.  Nach  Koch  und  Gassner  müßten  zu 
8  Violinen  2  Bratschen  genommen  werden,  eine  Forderung,  die 
der  erwähnte  Anonymus  der  Leipziger  Musikzeitung  die  ge- 
wöhnliche Besetzung  nennt,  die  er  aber  durch  ein  stärkeres 
Heranziehen  der  Bratschen  verbessern  will2. 

In  einem  größeren  Musiksaal  wurde  die  Zahl  der  Streicher 
und  auch  die  der  Bläser  vermehrt.  Durch  die  Fachmusiker- 
konzerte in  größeren  Sälen,  durch  große  Opernhäuser  und  durch 
die  Erfolge  der  Musikfeste  wird  die  alte  Besetzungsregel  immer  häu- 
figer abgeändert.  Die  Streicher  werden  auf  das  Doppelte  gebracht, 
während  die  Bläser  bei  der  alten  Taxe  bleiben.  So  zählte  nach 
Spohrs  Bericht  die  Münchener  Königliche  Kapelle  im  Jahre  1815 
12  erste,  12  zweite  Violinen,  8  Violen,  10  Celli  und  6  Bässe3. 
Die  gleiche  Geigen-  und  Bratschenzahl  mit  9  Celli  und  7  Kontra- 
bässen spielte  in  Berlin  unter  Spontini4.  Sehr  gut  orientieren 
über  die  Orchesterbesetzung  in  dieser  Zeit  die  Gassnerschen 
Orchestertafeln.  Sie  stammen,  wie  der  Verfasser  versichert, 
aus  authentischen  Quellen,  von  Spohr,  Mendelssohn,  Reißiger, 
Marx  und  anderen  und  zeigen  neben  der  Stellung  der  Instru- 
mente auch  ihre  Besetzung.     Wir  finden  da: 

Im  Dresdener  Opernorchester:  8  erste  Violinen,  8  zweite 
Violinen,  4  Bratschen,  4  Celli,  4  Bässe,  4  Hörner,  1  Harfe,  2  Oboen, 


1  Vgl.   Allg.  Mus.  Ztg.  1803,   Jahrg.  VI,  S.  183f:   Meist  ist  die  Besetzung 
»daß  zu  8  Violinen  höchstens  zwey  Bratschen  angestellt  sind«. 

2  Ebenda  S.  182.     Vgl.  Allg.  Mus.  Ztg.    1810.   S.  731.   Anm. 

3  Selbstbiographie  I,  S.  228. 

*  H  e  i  n  r.  D  o  r  n  ,  a.  a.  0.  II,  S.  126  f. 


304  Sechstes  Kapitel. 

2  Flöten,  2  Fagotte,  2  Klarinetten,  4  Trompeten,  Posaunen,  Baß- 
tuba,  Pauken,  Schlaginstrumente. 

Im  Kasseler  Opernorchester:  8  erste  Violinen,  8  zweite 
Violinen,  4  Bratschen,  5  Celli,  3  Bässe,  2  Flöten,  2  Oboen, 
2  Klarinetten,  2  Fagotte,  4  Hörner,  2  Trompeten,  3  Posaunenr 
Harfe,  Schlaginstrumente. 

Im  Berliner  Opernorchester:  8  erste  Violinen,  8  zweite 
Violinen,  6  Bratschen,  8  Celli  (bei  großen  Opern  10),  4  Kontrabässe 
(bei  großen  Opern  5),  Pikkolo-Flöte,  2  große  Flöten,  2  Oboen, 
2  Klarinetten  (bei  großen  Opern  4),  2  Fagotte  (bei  großen  Opern 
4),  4  Hörner,  2  Trompeten  (bei  großen  Opern  4),  3  Posaunen 
(Tuba  und  Ophikle'ide),  große  Trommel,  Becken  usw. 

Im  Wiener  Opernorchester:  8  erste  Violinen,  8  zweite  Vio- 
linen, 4  Bratschen,  4  Celli,  4  Bässe  und  die  angeführte  doppelte 
Bläserbesetzung. 

Im  Darmstädter  Hoftheater:  8  erste  Violinen,  8  zweite  Vio- 
linen, 6  Bratschen,  4  Bässe,  4  Celli  (4  Pulte  für  die  Bässe)  und 
die  übliche  Bläserbesetzung1. 

Das  ergibt  der  angeführten  B-eethovenschen  Besetzung  gegen- 
über eine  Verstärkung  des  Streichquintetts  um  die  doppelte  In- 
strumentenzahl. Es  ist  die  noch  heute  gewöhnliche,  für  die  ältere 
Literatur  allerdings  nicht  berechtigte  Aufstellung:  wir  haben 
eine  starke  führende  Streichergruppe  und  eine  im  Verhältnis 
zur  älteren  Epoche  schwächere  Bläserbesetzung. 

Bei  Choraufführungen  und  besonders  großem  Musiklokal 
reichten  die  angeführten  Besetzungen  nicht  aus.  Sie  mußten 
nach  dem  Charakter  der  Musik  und  nach  der  Saalgröße  verstärkt 
werden.  Solche  Aufstellungen  sind  uns  schon  im  18.  Jahrhundert 
in  Rom,  London  und  Berlin  begegnet.  Sie  kommen  durch  das 
Vorbild  der  Londoner  Händel-Feier  in  allgemeine  Aufnahme  und 
führen  zu  den  Riesenorchestern  der  deutschen  Musikfeste.  Schon 
in  Frankenhausen  finden  wir  unter  Spohr  im  Jahre  1810  nicht 
weniger  als  42  Violinen,  12  Bratschen,  11  Celli,  9  Bässe,  4  Klari- 
netten, 4  Flöten,  4  Oboen,  4  Fagotte2,  und  die  Musikfeste  der 
»Gesellschaft   der   Musikfreunde«   in   Wien   brachten  700,    dann 


1  Vgl.  B  e  r  1  io  z  ,  Memoiren  II,  S.  11.  Frankfurter  Orchester:  8  Viol.  I, 
8  Viol.  II,  4  Va.,  5  Celli,  4  Bässe,  2  Fl.,  2  Ob.,  2  Klar.,  2  Fag.,  4  Hörner,  2  Tromp., 
3  Pos.,  Pauke.  Diese  Aufstellung  kehrt  nach  Berlioz  »in  fast  allen  deutschen 
Städten  zweiter  Größe«  wieder.  Vgl.  auch  Stuttgarter  Orchester,  ebenda, 
S.  19. 

2  Allg.  Mus.  Ztg.  1810,  S.  747  f. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland.  305 

sogar  800  —  1000  Mitwirkende  auf1,  die  in  der  Hauptsache 
in  Händeischen  und  Haydnschen  Oratorien  in  Aktion  traten. 
Als  Muster  dieser  Besetzung  mag  die  Wiener  Aufführung  der 
»Schöpfung«  am  5.  und  9.  November  1843  dienen.  Man  liest  von 
einem  Orchester  von  59  ersten  Violinen,  59  zweiten  Violinen, 
40  Bratschen,  41  Celli,  25  Bässen,  13  Flöten,  12  Oboen,  12  Klari- 
netten, 12  Hörnern,  12  Fagotten,  4  Kontrafagotten,  8  Trompeten, 
9  Posaunen,  4  Pauken  usw.  Dazu  kam  ein  Chor  von  200  Sopran-, 
150  Altstimmen,  150  Tenören  und  160  Bässen2.  Das  bleibt 
hinter  den  jüngsten  Aufführungen  der  achten  Sinfonie  von  Mahler 
nicht  zurück.  Solche  Massen  traten  aber  in  früherer  Zeit  nur  in 
außerordentlichen  Konzerten  zusammen.  Die  Regel  ist  in  der 
vormärzlichen  Zeit  ein  Orchester  von  16  Geigen,  4—6  Bratschen, 
4—8  Celli  und  4  Bässen  mit  entsprechender  doppelter  Bläser- 
Besetzung3. 

In  der  Stellung  der  Instrumente  folgten  die  Kapellmeister 
den  gleichen  Grundsätzen  wie  die  Musiker  des  18.  Jahrhunderts. 
Sie  gruppierten  die  Streicher  und  Bläser  entweder  rechts  und 
links  vom  Dirigentenpult  oder  stellten  die  Streicher  in  die  Mitte, 
dahinter  die  weicheren  Bläser  und  das  Blechorchester.  Ein 
Fortschritt  zeigt  sich  nur  in  der  geschlossenen  Anordnung 
der  Instrumentengruppen,  die  durch  die  volle  Instrumentation 
und  die  Gleichberechtigung  aller  Instrumente  in  der  klassischen 
Literatur  gegeben  war.  Aber  trotz  der  allgemein  durchgeführten 
Zusammenfassung  der  Instrumentenchöre  gibt  es  bei  der  Anord- 
nung noch  viele  Unterschiede,  Kapellen,  in  denen  prinzipiell  das 
System  der  Trennung  von  Bläsern  und  Streichern  durchgeführt 
ist,  und  andere,  wo  die  Dirigenten  die  Instrumentengruppen 
mischen  oder  sich  nach  den  gegebenen  Raumverhältnissen  richten 
müssen.  Die  Rücksicht  auf  das  Aufführungslokal  kam  besonders 
bei  Kirchenaufführungen  in  Frage.  So  wurden  in  der  Dresdener 
Hofkirche  die  Instrumente  nach  Streichern  und  Bläsern  geteilt, 
die  rechts  und  links  vom  Dirigenten  postiert  wurden.  Der 
Kapellmeister  kehrte  dem  Gros  der  Instrumente  den  Rücken 
zu,  da  er  bei  der  Aufführung  einer  Messe  den  zelebrierenden 
Geistlichen  sehen  mußte.  Der  Chor  stand  zu  seiner  Rechten, 
während  Trompeten  und   Pauken  auf  Seitentribünen  aufgestellt 

1  H  ans  lick  ,  a.  a.  O.  S.  145,  298  f.  Vgl.  auch  Mendelssohns  Be- 
richt aus  München,  wo  im  Jahre  1831  32  Geigen  unter  seiner  Führung  spielten. 

2  G  a  s  s  n  e  r  ,  a.  a.  O.,  siehe  Beilage,  Orchestertafel. 

3  Vgl.  oben  S.  303  f. 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.  X.  20 


306 


Sechstes  Kapitel. 


waren.     Die  Anordnung,  die  in  der  Hauptsache  noch  heute  bei- 
behalten wird,  sieht  nach  Gassner  so  aus: 


Kirchenorchester  in  der  Dresdener  Hofkirche. 


Schiff  der  Kirche 


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Ähnlich  war  die  Aufstellung  von  Chor  und  Orchester  in  der 
Wiener    Hof  kapeile.      Auch    hier    waren    Streicher    und    Bläser 

Diposition  des  Orchesters  in  der  k.  k.  Hofkapelle  zu  Wien. 


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Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland. 


307 


getrennt.  Der  zur  Verfügung  stehende  Raum  erforderte  eine  Längs- 
stellung der  Streicher,  die  durch  den  Konzertmeister  (rechter 
Hand  vom  Dirigenten)  angeführt  wurden.  Der  Chor  sang  in  der 
Nähe  des  Kapellmeisters  auf  der  linken  Seite.  Die  Stellung  der 
Celli  und  Bässe  entspricht  dem  Dresdener  Prinzip. 

Von  diesen  Plänen  weicht  die  Aufstellung  in  der  Münchener 
Hofkapelle  wesentlich  ab.  Der  Chor  stand  rechts  und  links  vom 
Dirigenten,  dahinter  die  weichen  Bläserstimmen,  Oboe,  Flöte, 
Klarinette,  und  erst  hinter  diesen  spielten  Streichquintett  und 
Blechbläser1. 

Hof-Kapelle  in  München. 


Sopran 


Clarineri-o  Oboe 

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Fagorri 


Violoncello,  Basso 


Die  Schwächen  dieser  Disposition  liegen  offenbar  in  der  Auf- 
stellung der  Bässe,  die  durch  die  Celli  direkt  mit  dem  Kapell- 
meister in  Verbindung  bleiben  müssen.  Dagegen  gruppieren 
sich  Streicher  und  Bässe  sehr  gut  um  den  Platz  des  Organisten. 
Allerdings  kann  dieser  nicht  ausschließlich  die  Führung  bean- 
spruchen, und  so  bleibt  die  Zurückstellung  von  Fagott  und  Bässen 
ein  Übelstand,  der  durch  die  zwischengeschobenen  Holzbläser 
noch  verstärkt  wird.  Die  Münchener  Tafel  ist  noch  in  anderer 
Beziehung  interessant.  Sie  zeigt  nicht  mehr  die  Teilung  von 
Bläsern  und  Streichern  auf  gegenüberliegenden  Seiten;  Geigen 
und  Bläser  spielen  auf  beiden  Seiten  des  Orchesterraums.  Außer- 
dem ist  der  Chor  in  Hälften  geteilt,  die  sich  vom  Kapellmeister 
leicht  dirigieren  lassen.  Mit  diesen  Tafeln  sind  die  früher  auf- 
gestellten Regeln  der  Anordnung  auch  für  die  Kirchenmusik  im 
19.  Jahrhundert  bewiesen:  die  Gegenüberstellung  von  Bläsern 
und  Streichern    und    ihre  Zusammenfassung;   für   den  Chor:   die 


1  Die  folgenden  Tafeln  sind,  wenn  nichts  anderes  bemerkt  wird,  dem  Gassner- 
schen  Buch  entnommen. 

20* 


308 


Sechstes  Kapitel. 


Teilung  rechts  und  links  vom  Kapellmeister  und  die  geschlossene 
Seitenaufstellung. 

Die  gleichen  Grundzüge  findet  man  in  den  Aufführungen 
befolgt,  die  in  einem  größeren  Saal  oder  auf  einer  Theaterbühne 
stattfanden.  In  Dresden  hielt  man  auch  hier  an  der  Trennung 
von  Bläsern  und  Streichern  fest.  Den  Kern  bildeten  die  Bässe, 
während  der  Chor  rechts  und  links  vom  Dirigenten  stand: 

Dresden,  Terrassenförmiges  Konzertorchester  auf  der  Bühne. 


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i  Elle  höher 
l  Elle  höher 

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Bässe 

Corni                Corni 

Trompeten 

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Chor  Bass  erhöhriElle 


Chor Soprani  I      Dirigens         Chor Alri 

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Die  gleiche  Anordnung  sieht  man  in  Gassners  Orchestertafel 
von  den  Wiener  Concerts  Spirituels1.  Nur  die  Bratschen  haben 
ihren  Platz  hinter  den  Violinen  gefunden. 

Große  Konzerte  und  Musikfeste,  in  denen  gewaltige  Chor- 
und  Orchestermassen  mitwirkten,  verlangten  eine  Disposition, 
in  der  die  Violinen  mehr  hervorgezogen  und  außer  den  Konzer- 
tisten  auch  die  Menge  der  Ripienisten  untergebracht  werden 
mußte.  Solche  Aufstellungen  sind  von  Zeitgenossen  häufiger  be- 
schrieben worden.  So  liest  man  in  der  Leipziger  Musikzeitung 
einen  genauen  Bericht  über  Spohrs  Orchester-  und  Chorverteilung 
beim  Frankenhausener  Musikfest2.  Die  Mitwirkenden  waren  in  der 
Kirche  so  verteilt,  daß  in  der  unteren  Galerie  das  Orchester,  die 
Solisten  und  der  Flügel  standen,  während  auf  der  oberen  Galerie 
die  Choristen  sangen,  die  Kantor  Bischoff  als  Subdirektor  leitete. 
Das  Orchester  arrangierte  Spohr  so,  daß  zu  seiner  Rechten  die 


1  S.  die  Tafel  auf  S.  309.  Vgl.  auch  Gassners  Orchestertafel:  Stabiles 
Orchester  im  alten  öpernhause  zu  Dresden  bei  großen  Aufführungen.  Sie 
deckt  sich  in  den   Grundzügen  mit  den  gegebenen  Aufstellungen. 

2  Allg.  Mus.  Ztg.  1810,  S.  749  f. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland. 


309 


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310  Sechstes  Kapitel. 

ersten  Violinen  und  zur  Linken  der  Flügel,  die  Solisten  und  die 
Bläser  standen,  hinter  diesen  spielten  zweite  Violinen  und  Bratschen 
in  der  ganzen  Breite  der  Kirche,  die  beiden  Anführer  der  Bässe 
standen  hinter  dem  Kapellmeister.  Einfacher  als  in  Frankenhausen 
lagen  die  Raumverhältnisse  bei  den  Wiener  Aufführungen.  Beim 
ersten  Musikfest  unter  Mosels  Leitung  sang  der  Chor  rechts  und 
links  vom  Kapellmeister.  Hinter  dem  Dirigenten  spielte  der  Kla- 
vierist, der  von  den  Solisten  und  neben  diesen  und  zur  Seite  von 
konzertierenden  Bläsern  und  den  Bässen  umgeben  war.  Nach 
dem  Chor  kam  eine  kleinere  Abteilung  von  Bläsern,  Bässen, 
Trompeten  und  Pauken  und  hinter  ihnen  der  Streicherchor  mit 
dem  Violindirektor  an  der  Spitze.  Den  Beschluß  machten  die 
Ripienisten1.  Diese  sehr  geschickt  getroffene  Aufstellung  wurde 
auch  bei  der  Wiederaufnahme  der  Musikfeste  in  den  dreißiger 
Jahren  in  der  Hauptsache  beibehalten.  Man  stellte  aber  mehr 
Baßinstrumente  in  die  Nähe  des  Kapellmeisters  und  ließ 
den  Chor  bis  an  die  Rampe  vortreten.  Auch  die  Bläser 
und  Baßgruppen  vor  den  Streichern  fielen  fort.  Sie  bil- 
deten jetzt  die  Flanken  des  Chors  (s.  den  beiliegenden 
Orchesterplan). 

Die  Wiener  Anordnung  erinnert  an  die  Aufstellung  in  den 
Pariser  großen  Konzerten,  wie  sie  eine  Tafel  aus  dem  Jahre 
1810  gibt:  der  von  Bässen  umgebene  Chor  singt  rechts  und  links 
vom  Kapellmeister,  die  Anführer  der  Bässe  und  die  Recitativ- 
spieler  stehen  in  seiner  Nähe  und  der  Flügel  mit  den  Solisten 
vor  dem  dem  Publikum  zugewandten  Dirigenten.  Doch  waren 
die  Violinen  in  Paris  vor  den  Chor  gestellt,  während  Bläser,  Celli 
und  Bratschen  hinter  dem  Kapellmeister  spielten.  Die  Auf- 
stellung galt  auch  für  die  Oper,  wo  die  Violinisten  dann  die  Stelle 
des  Chors  einnahmen2.  ßH.  IJÜ       '1 

In  den  Münchener  Odeonkonzerten  wurden  Chor  und  Or- 
chester vollständig  getrennt.  Vorn  sangen  Solisten  und  Chor, 
und  erst  hinter  ihnen  spielte  das  Orchester,  das  nach  der  Me- 
thode der  Mannheimer  Hofkapelle  aufgestellt  war3:  links  und 
rechts  vom  Dirigenten  erste  und  zweite  Violine,  zwischen  ihnen 
Bratschen  und  Bläser,  in  der  Mitte  die  Bässe: 


1  Orchestertafel  bei  Kandier,  Giov.  Ad.  Hasse,  Tav.  II.  Distribuzione 
dell'  Orchestra  nel  grande  Concerto  degli  anatori  di  musica  in  Vienna 
1812. 

2  Orchestertafel  in  der  Allg.  Mus.  Ztg.  1810,  S.  729/30. 

3  S.  oben  S.  198. 


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Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland. 
München,  (Odeon-)  Konzert-Saal. 


311 


Die  halbkreisartige  Stellung  der  Instrumente  und  die  strahlen- 
förmige Verteilung  der  Violinen  ist  hier  sehr  geschickt  durchgeführt, 
doch  haben  die  letzten  Violinen  neben  den  Posaunen  keinen 
günstigen  Platz.  Auch  der  Konzertmeister  ist  zu  weit  vom 
Dirigenten  und  vom  Sopran  entfernt.  Ein  ganz  neues  Prinzip  zeigt 
die  Aufstellung,  die  vom  Darmstädter  Musikfest  im  Jahre  1844  über- 
liefert wird.  Das  Orchester  schiebt  sich  keilförmig  in  die  Chormasse: 

Stellung  des  Personals  bei  dem  Musikfest  in  Darmstadt 

am  25.  August  1844. 

Audirorium 


312 


Sechstes  Kapitel. 


Diese  Disposition  hat  sich  bis  zum  heutigen  Tage  bewährt  und  wird 
in  unserer  Zeit  am  häufigsten  angewandt.  Durch  Hervorziehen 
der  Streicher  und  Zusammenfassen  aller  Orchestermusiker  zwischen 


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den  Choristen  ist  sie  weit  vorteilhafter  als  die  in  den  Wiener 
und  Dresdener  Aufführungen  durchgeführte  Trennung  von  Chor 
und  Orchester  in  zwei  zum  Teil  hintereinander  oder  neben- 
einander musizierende  Klanggruppen. 


Die  Berufskapellmcistcr  in  Deutschland. 


313 


Die  gleichen  Grundsätze,  die  für  größere  Choraufführungen  ge- 
geben wurden,  findet  man  in  den  Theaterorchestern  befolgt.  Auch 
hier  lassen  sich  die  beiden  Richtungen,  Blas-  und  Streichgruppen 
getrennt  oder  untereinander  vermischt  aufzustellen,  verfolgen. 
Die  Ausbreitung  kann  im  Theaterorchester  nur  nach  den  Seiten  er- 
folgen. Deshalb  ist  hier  die  Methode,  Streicher  und  Bläser  rechts 
und  links  vom  Kapellmeister  aufzustellen,  die  Berlioz  die  in 
Deutschland  überhaupt  gebräuchliche  Auf  Stellungsform  nennt1, 
am  häufigsten  durchgeführt.  Dafür  bringen  Gassners  Orchester- 
tafeln aus  Dresden  und  Kassel  hübsche  Beispiele    (S.  312). 

Der  Dresdener  Plan  zeigt  noch  Spuren  der  Hasseschen  Stellung, 
bei  der  gleichfalls  Streicher  und  Bläser  voneinander  geschieden 
wurden.  Eine  Änderung  der  alten  Stellung  brachte  in  Dresden 
zuerst  Carl  Maria  von  Weber,  der  die  Streichinstrumente  auf 
die  rechte  Seite,  die  Bläser  auf  die  linke  postierte  und  das  Diri- 
gentenpult bis  nahe  an  den  Souffleurkasten  rückte2.  Unsere 
Tafel  gibt  im  wesentlichen  das  gleiche  Bild,  nur  mit  dem  Unter- 
schied, daß  Streicher  und  Bläser  ihre  Plätze  getauscht  haben. 
Als  Spontini  in  Dresden  die  »Vestalin«  einstudierte,  verteilte  er 
das  Streichorchester  über  den  ganzen  Raum,  Blech-  und  Schlag- 
instrumente getrennt  auf  beide  Seiten,  eine  Neuerung,  die  Wagner 
beibehielt  und  auch  bei  der  Intendantur  durchsetzte3.  Eine 
kleine  Modifikation  der  Dresdener  und  Kasseler  Anordnung 
bringt  das  Darmstädter  Hoforchester,  wo  die  Bässe  zur  Linken 
und  die  führende  Geige  zur  Rechten,  also  im  Prinzip  nach  der 
Weberschen  Manier  postiert  waren.  Sonst  war  auch  hier  die 
Teilung  der  streichenden  und  blasenden  Gruppen  beibehalten: 


Hoftheater-Orchesterstellung  in  Darmstadt 
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1  Memoiren  II,  S.  12. 

2  Max  M.   v.  Weber,   a.a.O.    II,   S.  140 f.,    vgl.   Webers   Eingabe 
vom  Jahre  1818,  ebenda,  S.  144f. 

3  R.  Wagner,    Erinnerungen  an  Spontini. 


314 


Sechstes  Kapitel. 


In  München,  wo  die  gleiche,  von  Wagner  übrigens  scharf  ver- 
urteilte Methode,   Bläser  und  Streicher  zu  trennen1,   angewandt 


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1  R.  Wagner,  Erinnerungen  an  Spontini:  Die  »noch  bei  den  größten  und 
berühmtesten  Orchestern  übliche  Zertheilung  des  Instrumentalkomplexes  in 
zwei  Hälften,  die  der  Saiten-  und  die  der  Blasinstrumente«,  bedeutet  »eine 
wirkliche  Roheit  und  Gefühllosigkeit  für  die  Schönheit  eines  sich  innig  ver- 
schmelzenden, überallhin  gleich  wirkenden  Orchesterklanges«. 


Die  Berufskapellmeister  in  Deutschland. 


315 


wurde,  dirigierte  der  Kapellmeister  nicht  an  der  Bühnenwand, 
sondern  stand  weiter  zurück,  wodurch  die  Orchesterleitung  wesent- 
lich erleichtert  wTurde  (S.  314). 

In  Berlin  wurden  die  Instrumentengruppen  nicht  streng  von- 
einander geschieden.  Die  Geigen  waren  in  zwei  Abteilungen 
rechts  und  links  vom  Dirigenten  aufgestellt,  ähnlich  wie  unter 
J.  Fr.  Reichardt.  Der  Dirigent  stand  vor  der  Theaterwand,  so 
daß  er  die  Bühne  leicht  übersehen  konnte.  Die  Bläser  spielten 
zur  Linken,  während  die  Flöten  etwas  abseits  saßen  (S.  314). 

Die  jedenfalls  von  Marx  aufgezeichnete  Berliner  Tafel  wird 
Meyerbeers  Orchesterstellung  zeigen.  Sie  bildet  die  Übergangs- 
form zu  jener  Disposition,  die  das  gesamte  Streichquintett  um 
den  Dirigenten  vereint  und  die  Holzbläser  und  Hörner  von  den 
starken  Blechbläsern  und  Schlaginstrumenten  absondert.  Durch- 
geführt war  diese  Anordnung  in  den  vierziger  Jahren  in  der  Wiener 
Hofoper: 

Orchester  des   k.  k.  Hofoperntheaters  in  Wien. 
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Durch  diese  Zusammenfassung  wird  die  gleiche  Klangver- 
teilung erreicht  wie  bei  der  Übereinanderreihung  von  Streichern,. 
Holz-  und  Blechbläsern  im  Konzertsaal. 

Die  Entwicklung  der  Orchesterstellung,  die  durch  die  klassi- 
sche Literatur  und  den  Fortfall  des  Flügels  verändert  wurder 
führt  im  19.  Jahrhundert  zur  Zusammenfassung  aller  Instru- 
mentengruppen. Bläser  und  Streicher  treten  entweder  einander 
gegenüber,  oder  das  Streichquartett  steht  im  Mittelpunkt  und 
breitet  sich  nach  beiden  Seiten  aus,  während  die  Bläser  in  chorischer 
Anordnung  auf  den  übrigen  Raum  verteilt  werden.  Tritt  ein  Chor 
hinzu,  so  wird  er  in  den  Vordergrund  gestellt,  und  das  Orchester 
spielt  hinter  den  Choristen,  oder  aber  der  Chor  rahmt  das  zu- 
sammenstehende   Orchester    ein,    vorausgesetzt,    daß    nicht    be- 


316  Sechstes  Kapitel. 

sondere    Raumverhältnisse    eine    seitliche    Aufstellung    des    ge- 
samten Chors  erfordern. 

Gassners  Büchlein  vom  Dirigieren,  von  dem  unsere  Beschrei- 
bung der  Orchesterstellung  ausging,  bringt  noch  Ausführungen 
über  Technik  und  Praxis  des  Dirigierens,  die  indes  nicht  viel 
Neues  bringen.  Interessant  sind  nur  die  Kapitel  vom  Vortrag 
und  musikalischen  Ausdruck.  Gassner  greift  da  auf  den  uns  von 
Quantz  her  vertrauten  Vergleich  zwischen  Musik  und  Redekunst 
zurück.  Ihm  gilt  als  Haupterfordernis  eines  guten  Vortrags: 
Deutlichkeit  und  richtige  Auffassung  des  »Charakters  der  Ton- 
dichtung«. Seine  Vorschläge,  die  Hauptsachen  plastisch  hervor- 
treten zu  lassen,  die  Dynamik  genau  zu  beachten,  Eilen  und 
Schleppen  zu  verhindern  und  das  Tempo  nach  den  schnellsten 
Figuren  zu  bemessen,  sind  uns  aus  der  älteren  Literatur  bekannt. 
Er  ist  Anhänger  der  Affektenlehre1,  gehört  also  als  Ästhetiker 
zu  den  letzten  Vertretern  der  Quantzschen  Richtung,  was  immer- 
hin in  einer  Zeit,  in  der  die  philosophische  und  romantische  Musik- 
ästhetik im  Vordergrund  steht,  dem  Verfasser  ein  gutes  Zeugnis 
für  seine  Literaturkenntnis  ausstellt.  Er  gibt  auch  auf  Grund  der 
in  einem  Adagio  oder  Allegro  ausgedrückten  Affekte  interessante 
Anmerkungen  für  ihren  Vortrag.  Ein  Forte  im  Allegro  kann 
»schneidend«,  »durchgreifend«  und  »reissend«  sein,  im  Adagio 
verlange  man  mehr  »Größe,  Fülle,  Rundung«  im  Ton;  das  Adagio 
erfordere  »mehr  Verschiedenheit  der  Tonqualität«,  mehr  Gesangs- 
manier als  das  flüchtige  Allegro.  Während  im  Allegro  alles  »leicht, 
tändelnd,  pikant«  erscheine,  so  herrsche  im  Adagio  »mehr  Ge- 
wicht, Schwere,  Tiefe  des  Gemüths«,  im  ersteren  würde  alles 
mehr  »gestossen,  kurz  angeschlagen«,  im  letzteren  »mehr  gedehnt, 
gebunden«.  Für  die  Wahl  der  Tempi  und  den  Vortrag  kann  aber 
nach  Gassner  nur  Geschmack  und  Gefühl  ausschlaggebend  sein. 
Jeder  Dirigent  soll  sich  durch  das  Studium  der  Klassiker  bilden 
und  »ästhetische  Einsichten«  in  die  musikalischen  Kunstwerke 
zu  gewinnen  suchen;  der  Geist  der  Tondichtung,  nicht  die 
unsichere  Überschrift  bestimmen  Tempoführung  und  Vortrag. 
Uns  sind  diese  Gedanken  und  auch  Gassners  Ausführungen  über 
genaues  Beachten  von  Rhythmik  und  Dynamik,  über  Einheit 
und  Egalität    des   Bogenstrichs   aus  der   früheren  Zeit   geläufig, 

1  A.  a.  O.  S.  122,  Man  soll  nicht  das  »Geschwindspielen«  zur  Hauptsache 
machen,  »sondern  jederzeit  den  Affekt,  der  ausgedrückt,  oder  den  Effekt,  der 
erreicht  werden  soll,  zur  Norm  machen«,  oder  S.  123:  »Mit  dem  Adagio  werden 
zärtliche,  schmachtende  und  traurige  Affekte  geschildert«  usw. 


Die  Bcrufskapellmeister  in  Deutschland.  317 

sie  zeigen  aber,  daß  man  in  der  ersten  Epoche  der  Berufskapell- 
meister nicht  nur  die  Noten  einfach  herunterspielte,  wie  noch 
heute  populäre  Musikschriftsteller  im  Mißverständnis  Wagnerscher 
-Ausführungen  behaupten  wollen. 

Gassner  kommt  in  seinem  Buch  wiederholt  auf  das  »heutzuTage 
nur  zu  sehr  einreissende  Abjagen  schneller  Tempis«  zurück.  Wir 
wissen,  daß  gegen  Mendelssohn  und  seine  Schule  der  gleiche 
Vorwurf  erhoben  wurde,  und  können  die  Tendenz  zu  schnellen 
Zeitmaßen  sogar  bis  zur  Wende  des  18.  Jahrhunderts  zurück- 
datieren1. Die  Vorliebe  für  rasche  Zeitmaße  scheint  für  die  ganze 
erste  Hälfte  des  Jahrhunderts  charakteristisch  zu  sein,  denn 
Mendelssohn  war  sicherlich  nicht  der  geistige  Vater  der  Richtung,, 
wenn  er  auch  für  die  spätere  Entwicklung  durch  seine  Ausnahme- 
stellung im  Konzertleben  bedeutend  genug  wurde.  Berlioz  hat 
die  gleiche  Neigung  zum  Übereilen  der  Tempi  bei  vielen  deutschen 
Kapellmeistern  gefunden,  neben  Mendelssohn  auch  bei  Krebs, 
Guhr  und  Lindpaintner.  Er  hatte  die  »Stumme«,  die  »Vestalin«, 
»Moses«  und  »Hugenotten«,  die  in  Paris  von  den  Komponisten 
einstudiert  waren,  und  deren  Tempi  sich  dort  ohne  Schwankungen 
gehalten  hatten,  an  Ort  und  Stelle  gehört  und  nennt  die  »Ueber- 
stürzung,  mit  welcher  einzelne  Teile  . .  in  Stuttgart,  Leipzig,  Ham- 
burg und  Frankfurt«  gespielt  wurden,  einen  »Verstoß  in  der  Ausfüh- 
rung« ,  ohne  Zweifel  einen  »unfreiwilligen,  aber  einen  wirklichen,  dem 
Eindruck  sehr  schädlichen  Verstoß«2.  Wenn  man  dazu  Wagners 
Worte  über  die  in  seiner  Zeit  gewöhnliche  »fatale  Vorliebe  für 
das  Herunter-  oder  Vorüberjagen«  hält,  dann  wird  man  die  Ten- 
denz, schnelle  Zeitmaße  zu  nehmen,  eine  Eigenheit  der  deutschen 
Kapellmeister  nennen  können.  Daß  diese  raschen  Tempi  stets 
eine  Verzerrung  bedeuten,  wird  niemand  behaupten.  Wir  hören 
heute  die  Klassiker  unter  Richard  Strauß  in  vielleicht  noch  schnel- 
lerem Tempo,  ohne  darin  einen  Verstoß  gegen  den  Geist  der  Musik 
zu  sehen.  Es  kommt  allein  auf  den  Sinn  der  Wiedergabe,  auf 
das  Darstellen  der  dichterischen  Idee  an.  In  dieser  Beziehung 
können  wir  einem  Ferdinand  Hiller,  Guhr  oder  Krebs  Originalität 
und  Größe  der  Anschauung  absprechen,  nicht  aber  den  großen 
Kapellmeistern    der    ersten    Jahrhunderthälfte.      Den    deutschen 

1  Allg.  Mus.  Ztg.  1799,  Jahrgg.  II,  S.  60:  »Hüten  Sie  sich  vor  dem  Über- 
nehmen des  Tempo's  mozartscher  und  diesen  ähnlicher  Allegros  I  .  .  .  Jeder- 
mann klagt,  man  vernehme  bei  dem  gewöhnlichen  Abjagen  nichts  genau  ... 
und  gleichwohl  bleibt  es  beym  Übereilen.« 

2  Berlioz,  Memoiren  II,  S.  18/19. 


318  Siebentes  Kapitel. 

Kapellmeistern  und  ihrer  Pflege  der  klassischen  Literatur  ver- 
danken wir  einen  gewaltigen  Aufschwung  im  Konzert-  und  Musik- 
leben, das  sich  nicht  auf  einzelne  Plätze  wie  in  Frankreich  und 
England  konzentrierte,  sondern  an  dem  die  gesamte  Nation  Anteil 
nahm.  Erst  auf  dem  Grund  des  Klassizismus,  den  gerade  die  vor- 
märzlichen Dirigenten  dem  Publikum  nahegebracht  und  vev-r 
ständlich  gemacht  haben,  war  das  Wirken  der  Neudeutschen 
möglich  geworden. 

Siebentes  Kapitel. 
Ausblick. 

Die  Geschichte  des  Dirigierens  wird  durch  die  Entwicklung 
der  Musikliteratur  bestimmt.  Neue  Richtungen  geben  neue 
Interpretationsmöglichkeiten.  Wie  die  Musik  der  Renaissance 
zur  Affektendirektion  führte,  wie  die  Werke  der  Wiener  Klassiker 
die  Tätigkeit  der  Berufskapellmeister  begründeten,  so  brachte 
auch  die  Kunst  der  Neudeutschen  in  der  zweiten  Hälfte  des  19. 
Jahrhunderts  einen  neuen  Vortragsstil  und  eine  neue  Auffassung 
der  klassischen  Literatur.  Der  Ausgangspunkt  dieser  Richtung  weist 
nach  Frankreich.  Berlioz  und  Liszt  nahmen  ihre  Anregungen 
aus  der  französischen  Musikübung,  und  auch  Wagner  stellt  sie  in 
seinen  Schriften  wiederholt  als  Muster  auf.  Er  nennt  die  Pariser 
Konservatoriumskonzerte  die  ersten  Aufführungen,  die  ihm  das 
Verständnis  der  Beethovenschen  Kunst  erschlossen  haben.  Das 
Musikleben  konzentrierte  sich  in  Frankreich  in  der  Hauptsache 
■auf  Paris.  Hier  erhielten  die  Novitäten  ihre  Feuertaufe  und  ihr 
Testat  zu  einem  eventuellen  Umlauf  in  andere  Städte.  Stamitz 
fand  in  Paris  schon  frühzeitig  Anerkennung,  Haydn  gründete 
durch  die  Pariser  Aufführung  des  Stabat  mater  seinen  Weltruf, 
Mozart  schulte  sich  hier  an  der  Musik  Schuberts  und  Eckards 
die  eigene  Technik.  Im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  war  die  Be- 
deutung des  französischen  Musiklebens  noch  höher  gestiegen. 
Spontini  und  Meyerbeer  begannen  hier  ihren  Siegeszug,  Wagner 
wollte  sich  von  Paris  aus  Anerkennung  verschaffen,  und  Chopin, 
Liszt,  Paganini,  um  nur  einige  Virtuosen  zu  nennen,  holten  sich 
in  Paris,  dem  internationalen  Marktplatz  des  gesamten  Kunst- 
lebens, die  Bestätigung  ihrer  Kunst.  Alle  Anregungen  der  fremden 
Musikliteratur  wurden  hier  aufmerksam  verfolgt.  Man  versuchte, 
die     im     eigenen    Lande     zurückgebliebene     Sinfonieproduktion 


Ausblick.  319 

durch  Import  zu  beleben  und  wollte  neben  den  altbeliebten  Werken 
Haydns  und  Mozarts  auch  das  Schaffen  der  Modernen  kennen 
lernen.  Diesem  Wunsche  kam  nach  den  ersten  Beethoven-Auf- 
führungen Cherubinis  ein  Musiker  entgegen,  der  für  die  Ver- 
breitung der  neueren  Musik  von  größter  Bedeutung  wurde:  Anton 
Franz  Habeneck.  Er  war  Geigenvirtuose,  Schüler  Baillots  und 
trefflicher  Blattspieler,  der  es  in  kurzer  Zeit  zum  Konzertmeister 
und  schließlich  zum  Kapellmeister  der  Großen  Oper  brachte1. 
Habeneck  sah  seine  Lebensaufgabe  im  Wirken  für  die  Beethoven- 
sche  Musik.  Den  Enttäuschungen,  die  seine  ersten  Versuche, 
Beethoven  aufzuführen,  fanden,  folgte  bald  die  Genugtuung, 
überall  anerkannt  zu  werden.  Aus  den  Musikern,  die  anfangs 
kopfschüttelnd  ihrem  Vorgeiger  folgten,  wurden  begeisterte 
»Beethovener«,  deren  Konzerte  im  Mittelpunkt  des  französischen 
Konzertlebens  standen. 

Habenecks  Orchester  zählte  im  Jahre  1828:  15  erste,  16  zweite 
Violinen,  8  Bratschen,  12  Celli,  8  Kontrabässe,  4  Flöten,  3  Oboen, 
4  Klarinetten,  vollzählige  Blechbläser  und  Schlagzeug.  Es  über- 
traf also  in  der  Besetzung  den  in  dieser  Zeit  in  Deutschland  gel- 
tenden Durchschnittstarif.  Die  Anordnung  der  Instrumente  im 
großen  Konservatoriumssaal  war  dem  Pariser  Opernorchester 
vom  Jahre  1810  analog:  links  vom  Kapellmeister  spielten  die 
ersten  Violinen,  rechts  die  zweiten,  deren  Verbindung  die  Brat- 
schen herstellten,  Flöten,  Oboen,  Klarinetten  standen  hinter  den 
ersten  Violinen,  hinter  den  zweiten  Celli  und  Bässe,  hinter  den 
Holzbläsern  kamen  die  Blechbläser  und  zum  Schluß  die  Schlag- 
instrumente, eine  Stellung,  die  mit  kleinen  Änderungen  auch 
von  Berlioz  empfohlen  wird2.  Trat  ein  Chor  hinzu,  so  wurde  er 
vor  die  Violinen  gestellt. 

Habeneck  dirigierte  mit  der  Violine,  also  als  Violindirektor 
der  alten  Schule.  In  seinen  Direktionsstimmen,  die  noch  erhalten 
sind,  waren  Instrumentaleinsätze  und  Soli  mit  roten  Zeichen 
angemerkt,  so  daß  er  den  Musikern  nötigenfalls  einhelfen  konnte3. 


1  Vgl.  A.Elwart,  Histoire  de  la  Societe  des  Concerts.  Paris  1860,  S.  321f. 
Biographie  d'Habeneck. 

2  Habenecks  Orchesterbesetzung  und  Stellung  beschreibt  Elwart, 
a.  a.  0.  S.  101  f.,  114  f.,  ebenda  Orchestertafel.  Vgl.  Berlioz,  Instrumentations- 
lehre X,  S.  298.  Mendelssohn  schreibt  im  Jahre  1832  an  Zelter,  daß  beim 
letzten  Konzert  Habenecks  14  Geiger  auf  jeder  Seite  gespielt  hatten  (Hensel, 
a.  a.  O.  I,  S.  335). 

3  Vgl.  E.  M.  E.  D  e  1  d  e  v  e  z  ,  L'Art  du  Chef  d'Orchestre,  S.  141,  Anm. 


320  Siebentes  Kapitel. 

Solche  Fälle  kamen  indes  selten  vor,  denn  Habeneck  probte  mit 
seinen  Musikern  so  fleißig  und  zeigte  ihnen  durch  sein  Vorspiel 
den  Ausdruck  jeder  schwierigen  Stelle  so  oft,  daß  die  Musiker  ihre 
Stimmen  völlig  beherrschten.  Das  Streichquartett  war  außerdem 
durch  gleiche  Ausbildung  und  häufiges  Kammermusikspiel  mit 
Habenecks  Anführung  vollkommen  vertraut.  Alle  Musiker 
spielten  mit  gleichem  Bogen  und  Strich,  mit  derselben  Ruhe  und 
demselben  Feuer  wie  ihr  Anführer1.  Mendelssohn  nennt  es 
das  beste  Orchesterspiel,  das  man  in  der  Welt  hören  könne.  Nie 
sei  ein  Wanken,  ein  Fehler  oder  die  leiseste  Ungenauigkeit  zu 
hören.  Zu  seiner  Sommernachtsträum-Ouvertüre  wurden  allein 
sieben  Proben  angesetzt,  trotzdem  er  die  Ausführung  schon  nach 
zwei  Proben  gut  fand,  ein  Beweis  für  die  Exaktheit  und  Gediegen- 
heit, mit  der  das  Habenecksche  Orchester  alle  Werke  einstu- 
dierte2. Ferdinand  Hiller  stellte  die  Aufführungen  noch  über 
die  Leipziger  Gewandhauskonzerte  in  den  ersten  Jahren  der 
Mendelssohnschen  Direktion3,  und  Richard  Wagner  betont  in 
seinen  Schriften  immer  von  neuem  den  Eifer  der  Pariser  Musiker, 
die  auf  das  Studium  der  neunten  Sinfonie  allein  drei  Jahre 
verwandten.  Das  Resultat  sei  eine  »unglaublich  vollendete 
Technik  der  Ausführung«  gewesen,  durch  die  das  Verständnis 
geweckt  wurde  und  das  Publikum  förmlich  in  Exstase  geriet. 
»Diesen  Erfolg  verdanken  diese  Künstler  dem  redlichen  Fleiße, 
welchen  sie  Jahre  lang  ihrer  Aufgabe  einzig  widmeten,  und  der, 
von  sehr  richtigem  Gefühl  geleitet,  einzig  auf  den  Gewinn  des 
richtigen  Vortrages  für  die  gesangsmelodische  Substanz  dieser 
anscheinend  so  schwer  verständlichen  Werke  [Beethovens]  ge- 
richtet war.  Sie  hielten  hierbei  keine  noch  so  unscheinbare  Phrase, 
keinen  Takt  für  erledigt,  ehe  es  ihnen  nicht  gelungen  war,  diese 
melodische  Substanz  durch  Auffindung  der  ihr  entsprechenden 
Technik  des  Vortrages  sich  vollständig  anzueignen,  und  der  wirk- 
lich auffallende  Erfolg  hiervon  ist  nun,  daß  ein  solches,  für  schwül- 
stig und  unverdaulich  geltendes  Musikstück  [wie  die  neunte  Sin- 
fonie] plötzlich  in  der  Weise  melodiös  ansprechend  und  fließend 
erscheint,  daß  das  naiveste  Publikum  gar  nicht  begreifen  kann, 
warum    diese    Kompositionen    für    unverständlicher    als    andere 


1  S.  den  Brief  Mendelssohns   an   Zelter  bei   Hensel,  a.a.O.   I,  S.  335 f. 
Vgl.  M.'s  Reisebriefe  I,  S.  318f. 

2  Jul.  Eckardt,  a.  a.  O.  S.  46. 

»  Ferd.  Hill  er,  Fei.  Mendelssohn,  S.  133. 


Ausblick.  321 

gelten  konnten1.«  Beim  Anhören  dieser  »unbeschreiblich  schön« 
vorgetragenen  Sinfonie  im  Jahre  1839  ist  Wagner  nach  seinen 
eigenen  Worten  erst  das  Verständnis  für  den  Beethovenschen 
Vortrag  aufgegangen.  Er  erzählt,  daß  die  französischen  Musiker 
durch  unermüdliches  Ausfeilen  der  Technik  und  Eindringen  in 
den  Gesamtbau  des  Werkes  dahin  kamen,  ihre  Stimmen  zu  »singen«, 
während  Habeneck  das  rechte  Tempo  allein  aus  dem  durch  das 
Studium  geweckten  Melos  der  Beethovenschen  Musik  fand.  Nie- 
mals wieder  will  Wagner  die  schwierigen  Stellen  der  neunten 
Sinfonie  so  vollendet  gehört  haben  als  von  den  Pariser  Musikern2. 

Habeneck  war  ein  Musiker  »vom  alten  Schrot«,  ein  Allein- 
herrscher, dem  alle  unbedingt  gehorchten3.  Daß  er  aber  »keine 
abstrakt  -  ästhetische  Inspiration«  besaß  und  »ohne  alle  Ge- 
nialität« war,  wie  es  bei  Wagner  heißt4,  ist  schwer  glaublich. 
Jedenfalls  meint  Wagner,  daß  Habeneck  naturalistisch  musi- 
zierte, daß  er  sich  über  diese  oder  jene  Ausdrucksnuance  keine 
Rechenschaft  geben  und  seine  Anordnungen  nicht  in  ästhetische 
Maximen  kleiden  konnte,  denn  mit  Fleiß  allein  ist  eine  solche  Ver- 
geistigung der  Musik,  wie  sie  von  Habenecks  Konzerten  gerühmt 
wird,  nicht  zu  erreichen.  Wenn  Habeneck  nicht  die  eigene 
Anschauung,  das  eigene  Erleben  der  Beethovenschen  Kunst  den 
Musikern  übermittelt  hätte,  es  wäre  nie  eine  außergewöhnliche 
Kunstleistung  von  seinem  Orchester  erzielt  worden. 

Habeneck  erlaubte  sich  allerdings  in  seiner  Direktion,  die  in 
der  Oper  ebenso  anerkannt  wurde  wie  im  Konzert,  viele  Frei- 
heiten. So  ließ  er  im  Finale  der  zweiten  Sinfonie  Beethovens 
an  der  Stelle,  wo  alle  Instrumente  vor  dem  Schluß  auf  dem  fis 
liegen  bleiben,  die  Hörner  allein  während  der  ganzen  Dauer  der 
Fermate  die  Oktave  halten5.  Dann  fand  er,  wie  Berlioz  meint, 
daß    die    Kontrabässe    im    dritten    Satz    der    fünften    Sinfonie 


1  »Bericht  über  eine  in  München  zu  errichtende  deutsche  Musikschule.« 

2  Wagner,  Über  das  Dirigiren. 

3  Wagner,  ebd.  Vgl.  Elwart,  a.  a.  O.  S.  328:  »II  avait  l'ecorce  rüde;  mais 
cette  £corce  cachait  un  coeur  excellent.«  S.  auch  Mendelssohns  Reisebriefe  I, 
S.  326:  »Es  würde  Euch  freuen,  all  die  Freundlichkeiten  und  kleinen  Artigkeiten 
zu  sehen,  die  Der  [Habeneck]  für  mich  hat;  nach  jedem  Symphoniestück  fragt 
er  mich,  ob  mir  irgend  etwas  nicht  recht  sei,  und  so  habe  ich  einige  Lieblings- 
nüancen  hier,  im  französischen  Orchester,  zuerst  durchsetzen  können.« 

4  Wagner,  a.  a.  O. 

5  Deldevez,  a.  a.  0.  S.  58:  »A  l'execution,  Habeneck  laissait  tenir  la 
note  (en  octave)  des  cors  isol^ment,  pendant  tout  le  temps  de  l'arret. « 

Kl.  Handb.  a.  Musikgesch.  X.  21 


322  Siebentes  Kapitel. 

»nicht  gut  klingen«;  er  ließ  sie  einfach  fortfallen1.  Auch  mit  den 
Reprisen  ging  er  sehr  frei  um,  was  ihm  vonBerlioz  stark  angekreidet 
wurde.  Bekannt  ist  auch,  daß  Habeneck  bei  Erstaufführungen 
Beethovenscher  Werke  viel  streichen  mußte.  Im  Finale  der  zwei- 
ten Sinfonie  wurde  vom  ersten  Halt  an  der  fis-dur-Stelle  zum 
Unisono-fis  am  Schluß  gesprungen  und  für  das  Larghetto  das 
berühmte  Allegretto  der  siebenten  Sinfonie  eingelegt  »pour 
faire  passer  le  reste«,  ein  Zugeständnis  an  das  Publikum,  das 
sich  aus  der  Habeneckschen  Politik,  für  Beethoven  Propaganda 
zu  machen,  sehr  gut  erklärt2.  Habeneck  kannte  die  Sinfonien 
in-  und  auswendig.  Zu  Deldevez,  der  ihn  einmal  bei  der  Auf- 
führung einer  eigenen  Komposition  um  ein  Ritardando  bat,  sagte 
er:  »Lassen  Sie  mich  nur  machen,  es  ist  weit  besser,  die  rhyth- 
mische Bewegung  aufrecht  zu  halten  !  Sehen  Sie  auf  Beethoven; 
bei  ihm  kommt  in  der  fünften  Sinfonie  zum  ersten  Male  ein 
poco  ritardando  vor3.«  Die  Worte  zeigen  mehr  als  alle  anderen 
Berichte,  wie  eingehend  Habeneck  die  Werke  studiert  hatte;  und 
seine  Beobachtung,  daß  Beethoven  in  den  Sinfonien  I— VIII  ver- 
hältnismäßig spärlich  mit  dem  ritardando  und  stringendo  umgeht4, 
läßt  einen  Rückschluß  auf  das  erwähnte  Tempotreiben  in  der 
Beethovenschen  Epoche  zu.  Man  kann  daraus  vielleicht  ein 
Stück  Tradition  heraushören.  Deldevez  nennt  Habeneck  auch  den 
Erfinder  des  Tremolo  nahe  am  Steg.  Als  ihm  einmal  in  der  Orakel- 
szene der  Gluckschen  »Alceste«  das  Tremolo  der  Geigen  nicht 
schauerlich  genug  klang,  rief  er  den  Spielern  zu:  »Immer  stärker, 
noch  stärker  ! «,  bis  die  Spieler,  dadurch  angetrieben,  den  Ton  in 
einem  rasenden  Tremolo  nahe  am  Steg  erzittern  ließen5.  Habe- 
neck war  überhaupt  ein  erfinderischer  Kopf.  Die  ewigen  Sorgen, 
die  ihm  die  seit  alter  Zeit  mit  Taktierlärm  verbundene  Chordirek- 
tion hinter  der  Szene  machte,  führten  ihn  auf  den  Gedanken, 
eine  Taktmaschine  zu  erfinden.  Er  ließ  durch  einen  Mechaniker 
zwei  Pedale  anfertigen,  mit  denen  er  vom  Dirigentenpult  aus 
den  Takt  hinter  die  Koulissen  »treten«  konnte.  In  Meyerbeers 
»Robert  der  Teufel«  soll  sich  die   Erfindung  sehr  gut  bewährt 


1  B  e  r  1  i  o  z  ,  Memoiren  I,  S.  78. 

2  Deldevez,  De  l'execution  d'ensemble,  Paris  1888,  S.  141f. 

3  L'art  du  chef  d'orchestre,  S.  103. 

4  Die   betreffenden    Stellen  hat   Deldevez   zusammengestellt     (L'art  du 
chef  d'orch.). 

6  Deldevez,  De  l'execution,  S.  121. 


Ausblick.  323 

haben1.  Habeneck  verstand  alles  Technische  so  auszufeilen, 
daß  nach  dem  Urteil  der  Zeitgenossen  kein  vollkommeneres 
Orchesterspiel  zu  hören  war;  alle  Komponisten,  auch  Meyerbeer, 
waren  herzlich  froh,  wenn  ihre  Werke  unter  seiner  Ägide  zur  Auf- 
führung kamen2. 

Der  Habeneckschen  Direktion,  die  auf  die  deutschen  Musiker, 
vor  allem  auf  Richard  Wagner,  einen  so  großen  Eindruck  gemacht 
hat,  verdankt  auch  Berlioz  mehr,  als  er  eingestehen  will.  Sein 
leidenschaftliches  Temperament,  sein  krankhaftes  Gefühl,  in  jedem 
Musiker,  der  seiner  Kunst  fernstand,  einen  persönlichen  Feind 
zu  sehen,  haben  ihm  die  Freundschaft  vieler  Musiker,  auch  die 
Habenecks  verscherzt.  Daraus  erklären  sich  am  besten  seine  vielen 
Angriffe  auf  den  berühmten  Beethovendirigenten.  Er  schreibt 
Habeneck  zwar  gute  Absichten,  Talent  und  Begeisterung  zu3,  aber 
in  erster  Reihe  sieht  er  in  ihm  doch  nur  den  Verkleinerer  seiner 
Kunst  und  den  Intriguanten.  Dabei  hatte  Habeneck  Berlioz' 
Preiskantate,  seine  Phantastique  und  auch  das  Requiem  dirigiert! 
Allerdings  ging  der  Dirigent  nach  des  Komponisten  Worten  mit 
den  Werken  reichlich  oberflächlich  um.  Die  Geschichte  mit  der 
Tabaksdose,  die  Habeneck  gerade  im  größten  Effektmoment 
des  Tuba  mirum  bei  der  Direktion  herauszieht,  oder  das  Ab- 
brechen der  Proben  zum  »Benvenuto  Cellini«,  weil  Habeneck  den 
Komponisten  nicht  zufriedenstellen  kann4,  können  gewiß  seine 
Autorität  im  Dirigentenfach  in  Frage  stellen.  Aber  man  wird 
wohl  auch  diese  Berichte  nicht  Wort  für  Wort  unterschreiben. 
Berlioz  hat  viel  von  dem  alten  General  gelernt,  vor  allem  die 
Technik  der  Ausarbeitung  und  das  Verständnis  für  die  deutsche 
Musik. 

Berlioz'  Bedeutung  im  Dirigentenfach  liegt  nicht  in  der  neue 
Momente  suchenden  Reproduktion  klassischer  Musik,  sondern 
in  der  Leitung  seiner  eigenen,  an  Instrumentation  wie  dichte- 
rischer Kühnheit  überreichen  Werke.  Gerade  die  rhythmisch 
und  technisch  neuartige  Faktur  seiner  Kompositionen  bestimmte 


1  M.  Murland,  Anton  Franz  Habeneck,  Allg.  Musik-Ztg.  1910,  S.  1175f. 
Vgl.  auch  Berlioz'  Nachrichten  von  der  Londoner  Taktiermaschine,  Instrumen- 
tationslehre X,  S.  292. 

2  Henry  Blaze  de  Bury,  Meyerbeer  et  son  temps,  Paris  1865,  S.  70 
Anm.:  »Jamais  Meyerbeer  ne  dormait  plus  tranquille  apres  son  diner  que  lorsqu'il 
savait,  ä  n'en  pas  douter,  qu'  Habeneck  dirigeait.« 

3  Memoiren  I,  S.  92. 

4  Berlioz,  Memoiren  I,  S.  263  f.  und  279. 

21* 


324  Siebentes  Kapitel. 

sein  Erweitern  der  Direktionspraxis,  sein  Übernehmen  und  Aus- 
bauen  der   Habeneckschen  Tendenzen  in   der  modernen  Musik. 

Berlioz  war  kein  Instrumentalvirtuose  wie  Habeneck,  Spohr, 
Mendelssohn  oder  Liszt,  dafür  besaß  er  einen  außerordentlich 
feinen  Klangsinn  und  ein  Gefühl  für  musikalische  Nuancen  und 
Farben,  wie  wenige  Musiker  seiner  Zeit.  Wenn  wir  seinen  Worten 
glauben  dürfen,  so  war  es  einzig  und  allein  der  Mißerfolg  seiner 
Werke  unter  fremder  Direktion,  der  ihm  den  Taktstock  in  die 
Hand  zwang.  »Lernt  euch  selbst  aufführen,  und  zwar  gut  auf- 
führen, . . .  denn  der  gefährlichste  eurer  Dolmetscher  ist  der  Diri- 
gent, vergeßt  das  nicht!1«  In  diese  Worte  faßte  Berlioz  alle 
seine  Erfahrungen  zusammen.  Nach  dieser  Maxime  handelte  er 
von  seiner  Rückkehr  aus  Italien  bis  zu  seinen  letzten  Konzerten. 

Er  muß  ein  temperamentvoller,  feuriger  Kapellmeister  ge- 
wesen sein,  eine  Persönlichkeit,  die  Musiker  und  Publikum  gleich 
von  den  ersten  Takten  an  faszinierte.  »Leidenschaftliches  Un- 
gestüm«, »träumerische  Weichheit  der  Empfindung«  und  eine 
gewisse  »krankhaft  melancholische  Stimmung«  sind  die  Charak- 
teristika  seiner    Werke   und   seines   Vortrags2. 

Bei  der  Direktion  verkörperte  er  das  ganze  Orchester,  wie  der 
Fürst  von  Hohenzollern-Hechingen  sagte3.  Und  wenn  er  auch  in 
dem  äußeren  Auftreten  mehr  tat  »als  nöthig  war,  so  daß  er  die 
Aufmerksamkeit  der  Zuhörer  auf  sein  Gebahren  lenken  mußte,  so 
geschah  dies  doch  ohne  alle  Coquetterie«;  er  wollte  sich  nicht  als 
Dirigiervirtuose  zeigen,  sondern  lediglich  seine  Musik  zur  Geltung 
bringen4.  In  den  Proben  unermüdlich,  bewies  er  bei  der  Organisa- 
tion seiner  Privatkonzerte  eine  geradezu  erstaunliche  Willenskraft 
und  Energie.  Den  ihm  ergebenen  Musikern  war  er  stets  kamerad- 
schaftlich gesinnt  und  konnte  nur  gegen  Choristen  reichlich  grob 
werden ;  er  geriet  aber  im  nächsten  Augenblick  über  eine  gelungene 
Stelle  wieder  in  solche  Begeisterung,  daß  er  alles  Vorangegangene 
vergaß.  Er  lebte  in  der  Musik  und  fühlte  sich  glücklich,  wenn  er 
vor  einem  guten  Orchester  stand  und  seine   Kunstbegeisterung 

1  Berlioz,  Memoiren  I,  S.  280. 

2  Ebenda  II,  S.  322. 

3  Ebenda  II,  S.  342. 

4  Ferd.  Hill  er,  Künstlerleben,  Köln  1880,  S.  98.  Anton  Seidl 
sagt  von  Berlioz  (Über  das  Dirigiren.  Bayreuther  Blätter  1900,  S.  306):  »Bald 
war  er  hoch  oben  in  der  Luft,  bald  wieder  unterm  Pult,  bald  drohte  er  unheim- 
lich dem  großen  Trommler  zu,  bald  wieder  schmeichelte  er  dem  Flötisten  um 
den  Bart,  bald  zog  er  die  längsten  Fäden  aus  den  Violinisten,  bald  wieder  stieß 
er  durch  die  Luft  auf  die  Contrabässe  los.« 


Ausblick.  325 

auf  die  Musiker  übertragen  konnte.  »Mit  welcher  rasenden  Freude 
gibt  sich  [der  Komponist  und  Dirigent]  der  Wonne  hin,  auf 
dem  Orchester  zu  spielen!«  schreibt  er  an  Liszt1.  »Wie  ver- 
steht er  es,  dieses  großartige,  feurige  Instrument  zu  drängen,  zu 
fassen,  zu  umklammern  !  er  entfaltet  wieder  eine  allseitige  Auf- 
merksamkeit ;  er  sieht  überall  hin;  mit  einem  Blick  gibt  er  den 
Sängern  und  Musikern  ihre  Einsätze  an,  oben,  unten,  links,  rechts, 
mit  einer  Bewegung  des  rechten  Armes  wirft  er  Akkorde  hin, 
welche  wie  harmonische  Geschosse  in  der  Ferne  zu  platzen  scheinen ; 
dann  läßt  er  in  den  Fermaten  die  ganze  durch  ihn  entstandene 
Bewegung  anhalten;  er  fesselt  die  Aufmerksamkeit  aller;  er  hält 
jeden  Arm,  jeden  Atemzug  in  seinem  Bann,  er  lauscht  einen  Augen- 
blick der  Stille  und  gibt  den  bezähmten  Wirbelsturm  zu  noch 
tollerem  Laufe  wieder  frei.  .  .  .  Und  im  großen  Adagio  !  Wie 
ist  er  da  glücklich,  sich  auf  dem  schönen  See  seiner  Harmonien 
sanft  zu  wiegen  .  .  .  Dann  geschieht  es  oft,  aber  nur  dann,  daß 
der  Komponist  und  Dirigent  das  Publikum  ganz  vergißt;  er  be- 
lauscht sich,  er  beurteilt  sich;  und  wenn  er  mit  den  Künstlern, 
die  ihn  umgeben,  ergriffen  ist,  legt  er  keinen  Wert  mehr  darauf, 
welchen  Eindruck  das  Publikum  .  .  .  empfangen  hat.  Wenn  sein 
Herz  gebebt  hat,  bei  der  Berührung  der  poetischen  Melodie,  wenn 
er  gefühlt  hat,  wie  seine  Seele  in  innerlicher  Glut  entbrannte, 
so  ist  sein  Ziel  erreicht,  der  Kunsthimmel  steht  ihm  offen,  was 
kümmert  ihn  die  Erde  ! «  .  .  . 

Berlioz  ist  in  seiner  Kapellmeisterlaufbahn  nur  als  Interpret 
der  eigenen  Werke  weiteren  Kreisen  bekannt  geworden.  Und 
wenn  er  fremde  Arbeiten,  sicherlich  aber  solche,  die  ihm 
unsympathisch  waren,  nicht  ohne  Voreingenommenheit  hat  auf- 
führen können,  so  ist  er  doch  durch  seine  Schriften,  besonders 
durch  die  Instrumentationslehre,  einer  der  wichtigsten  Förderer 
der  Direktionskunst  geworden. 

»Der  Dirigent  muß  sehen  und  hören  können;  er  muß  geistes- 
gegenwärtig und  energisch  beanlagt  sein«,  mit  diesen  Worten 
leitet  Berlioz  die  positiven  Ausführungen  seiner  Direktionslehre 
ein2.  »Er  muß  in  der  Kompositionslehre  bewandert  sein, 
die  klangliche  Natur,  den  Umfang  der  Instrumente  kennen.« 
Er  muß  Partitur  lesen  können  und  »Empfindung,  Verständnis 
und    Leidenschaft«    besitzen,    um    seine  Musiker    anfeuern    und 


1  Memoiren  II,  S.  33 f. 

2  Instrumentationslehre  X,  S.  269  f. :  »Der  Dirigent,  zur  Theorie  seiner  Kunst.« 


326  Siebentes  Kapitel. 

begeistern  zu  können,  kurz  er  muß  eine  angeborene  Direk- 
tionsgabe besitzen,  damit  er  seine  künstlerische  Aufgabe,  die 
sich  in  Wiederholung  und  Ausarbeitung  bekannter  Stücke 
und  in  Neueinstudierungen  teilt,  mit  gutem  Erfolg  durchführen 
kann.  Bei  neuen  Werken,  die  den  Musikern  nicht  bekannt  sind, 
handelt  es  sich  vor  allem  darum,  »den  Gedanken  des  Kompo- 
nisten ans  Licht  zu  ziehen  und  klar  und  deutlich  darzustellen«1. 
Der  Dirigent  muß  sich  den  »geistigen  Charakter  des  Werkes« 
klar  machen  und  den  Sinn  und  die  Idee  der  Musik  erfassen. 
Dafür  geben  persönliche  Anweisungen  des  Komponisten  oder, 
wo  diese  fehlen,  Tradition,  dann  auch  Metronomangaben  wert- 
volle Hinweise2.  Trotzdem  bleiben  bei  den  älteren,  nicht  metro- 
nomisierten  Werken  noch  genug  Zweifel  über  das  jeweilige  Tempo. 
In  solchen  Fällen  entscheidet  nach  Berlioz  allein  die  persönliche 
Auffassung  des  Dirigenten  und  sein  Stilgefühl.  Wie  dies  theo- 
retisch und  auch  praktisch  zu  bilden  ist,  darüber  gibt  er  keinen 
Aufschluß.  Seine  praktischen  Vorschläge  berücksichtigen  in  erster 
Reihe  die  neuere  Musik.  Für  diese  waren  aber  Tradition  und 
Metronomangabe  noch  immer  zuverlässige  Wegweiser. 

Das  rein  Mechanische  des  Taktierens  bringt  Berlioz  in  der  aus 
den  früheren  Kapiteln  bekannten  Form.  Er  plaidiert  für  den 
Taktstock  als  Direktionsmittel  und  gibt  die  bekannten  Taktier- 
marken. Interessant  sind  da  nur  die  Bemerkungen  vom  Drei- 
takt, der  in  Deutschland  auch  in  dieser  Weise: 

3 


geschlagen  wurde,  eine  Form,  die  Mendelssohn  bevorzugt  haben 
soll.  Sie  ist  unauffälliger  als  die  jetzt  allgemein  übliche  und  noch 
heute  sehr  gut  brauchbar,  wenn  der  Dirigent  alle  Musiker  vor 
seinem  Pult  aufgestellt  hat.  Neu  sind  Berlioz'  Angaben  über  das 
Taktieren  zusammenfallender  Taktarten.  Er  gibt  zum  erstenmal 
eine  theoretisch  begründete  Anleitung,  komplizierte  Rhythmen- 
mischungen, wie  sie  im  »Don  Juan«,  in  Spohrs  Sinfonien, 
in    der  » Harold «-Sinfonie    oder    in    »Fausts  Verdammung«  vor- 


i  Memoiren  II,  S.  216. 

2  Instrumentationslehre  S.  273. 


Ausblick.  327 

kommen,  zu  dirigieren.  Er  schlägt  eine  Einteilung  der  kleineren 
Rhythmen  in  die  große  Taktart  und  kleine  Hilfsbewegungen 
mit  der  Hand  vor,  über  deren  Anwendung  von  Fall  zu  Fall  zu 
entscheiden  sei. 

Berlioz'  Beobachtungen  von  dem  Verschleppen  ganztaktiger 
Triolen  im  Alla  Breve,  ebenso  seine  Ausführungen  über  das 
Dirigieren  des  Recitativs,  wo  mit  Nachdruck  das  Ausschlagen 
der  Taktteile  verlangt  wird,  seine  Forderung,  daß  alle  Musiker 
bei  schwierigen  Stellen  den  Dirigenten  ansehen  müssen,  und  ähn- 
liche Ratschläge  gelten  noch  heute  als  Grundlage  jeder  Direktions- 
anleitung. Er  kommt  dann  auf  das  alte  Erbübel  der  französi- 
schen Operndirektoren,  auf  das  laute  Markieren  des  Takts  zurück. 
Er  nennt  es  »einfach  eine  Barbarei«.  Nur  ein  einziger,  vor- 
bereitender, hörbarer  Taktschlag  kann  gestattet  werden,  wenn 
der  Dirigent  aus  irgendeinem  Grunde  den  Opernchor  nicht  sehen 
kann.  Berlioz'  Bemerkungen  vom  elektrischen  Metronom,  das 
jetzt  allgemein  eingeführt  ist,  und  sein  Vorschlag,  tüchtige  Chor- 
direktoren anzustellen  und  geteilte  Proben  anzusetzen,  erinnern 
zum  Teil  an  Gassners  Direktionslehre. 

Das  von  Berlioz  ausdrücklich  geforderte  exakte,  notengetreue 
Spiel  der  Musiker  ist  in  unsern  Tagen  Gemeingut  der  Musikpraxis 
geworden.  Wie  die  deutschen  Musiker  seit  Reichardts  Zeiten 
gegen  die  willkürlichen  Veränderungen  im  Orchesterspiel  gekämpft 
haben,  ist  früher  gezeigt  worden.  Für  Berlioz  ist  das  Orchester 
ein  einziges  Instrument  in  der  Hand  des  Dirigenten,  der  für  Auf- 
fassung und  Wiedergabe  selbst  einstehen  muß.  »Die  Ausführenden 
sind  nur  mehr  oder  weniger  einsichtige  Werkzeuge,  um  Gestalt 
und  Wesen  der  Werke  ans  Licht  zu  setzen;  sie  haben  zu  folgen, 
aber  nicht  zu  gebieten.«  Nicht  die  Musiker  stehen  im  Mittel- 
punkt einer  Aufführung,  sondern  die  Individualität  des  Kapell- 
meisters. »Ich  weiß  wohl«,  sagt  Berlioz,  »daß  sich  einige  Künstler 
in  ihrer  Eigenliebe  gekränkt  fühlen,  wenn  sie  so  (,wie  die  Kinder', 
sagen  sie)  am  festen  Gängelbande  gehalten  werden.  In  den  Augen 
des  Dirigenten  aber,  der  lediglich  auf  ein  glänzendes  Endresultat 
hinausarbeiten  muß,  verliert  dieser  Einwand  jegliche  Bedeutung — 
Irgendwelche  Bestrebungen  individueller  Auffassung .  .  .  sollten 
[bei  den  Orchestermitgliedern]  nicht  zugelassen  werden1.«  Der 
Satz   kann   nur   für   die   neuere  Musik   gelten    und   ist  in  dieser 


i  Instrumentationslehre  S.  279.     A  Trav.  Chants  (ed.  Pohl)  S.  355. 


328  Siebentes  Kapitel. 

Form  auch  zu  scharf,  da  jedes  Solo  dem  eigenen  Empfinden 
eines  guten  Spielers  überlassen  bleiben  muß. 

Berlioz'  Entwurf  der  Aufgaben  eines  Kapellmeisters  und  sein 
Eintreten  für  das  moderne  Direktionsprinzip  sind  für  diese  Zeit 
nicht  neu.  In  Deutschland  hatten  wir  von  den  gleichen  Be- 
strebungen schon  in  früheren  Jahren  gehört.  Berlioz'  Kunst- 
reisen haben  aber  seine  Anschauungen  weit  propagiert.  Seine 
Instrumentationslehre  wurde  eines  der  wichtigsten  Lehrwerke 
der  Zeit,  und  seine  Wanderreisen  mit  der  »  Phantastique«,  »  Romeo 
und  Julia«,  dem  »Harold«  führten  der  musikalischen  Romantik 
und  der  Nachklassik  Deutschlands  eine  Literatur  zu,  deren  Klang- 
mischungen, deren  Satztechnik  und  musikalisch-literarische  Faktur 
einen  großen  Einfluß  auf  die  Musikübung  gewannen. 

Ihren  größten  Vermittler  haben  seine  Ideen  in  Franz  Liszt 
gefunden,  der  der  französischen  Kultur  mehr  verdankt,  als  man 
anzunehmen  geneigt  ist.  Er  verlebte  seine  Jünglings-  und  ersten 
Mannesjahre,  in  denen  ein  Künstler  fremden  Einflüssen  leichter 
zugänglich  ist  als  in  späterer  Zeit,  in  dem  Paris  der  sozialen 
und  kunstphilosophischen  Reformer  und  der  freigeistigen  Literaten, 
die  auf  sein  Denken  und  Fühlen  ebenso  stark  wirkten  wie  die 
Musiker  Paganini,  Chopin,  Urhan,  Fetis  und  Berlioz.  Sein  ganzes 
Leben  hindurch  hat  Liszt  die  französische  Kunstanschauung 
nicht  verleugnet.  Die  sinfonischen  Werke,  die  Klavier-  und 
Liedliteratur  zeigen  überall  jene  rhythmische  Beweglichkeit  und 
jene  fein  nuancierte  Farbengebung,  die  ein  Hauptkennzeichen 
der  französischen  Musik  bilden.  Selbst  in  seinen  an  den  Weimarer 
Poetenkreis  anschließenden  Kompositionen  klingt  der  französische 
Ton  durch,  der  allerdings  durch  die  Eigenheiten  seines  Stils  und 
die  Schmiegsamkeit  seiner  künstlerischen  Natur  häufig  verdeckt 
wird.  Auf  dem  Gebiet  der  Orchesterdirektion  läßt  sich  Liszts 
französische  Richtung  mit  strikten  Beweisstücken  kaum  belegen. 
Man  darf  annehmen,  daß  Liszt  Habenecks  Konzerte  fleißig 
besucht  hat,  und  daß  auch  er  durch  die  Konservatoriumsauffüh- 
rungen in  Beethovens  Stil  näher  eingedrungen  ist.  Den  größten 
Einfluß  übte  aber  auf  ihn  die  Kunst  Berlioz'.  Die  »  Phantastique« 
übertrug  er  fürs  Klavier,  Berlioz'  Konzerte  unterstützte  er  durch 
sein  Klavierspiel,  Berlioz'  Werke  gaben  den  Anstoß  zur  Schöpfung 
seiner  sinfonischen   Dichtungen. 

Das  künstlerische  Ergebnis  der  Pariser  Jahre  wurde  der  Öffent- 
lichkeit zunächst  nur  durch  den  Klaviervirtuosen  bekannt,  der 
seinem  Programm  durch  ein  beinahe  beispielloses  Eintreten  für 


Ausblick.  329 

-die  moderne  und  klassische  Literatur  eine  eigene  Note  gab.  Aber 
erst  nach  Liszts  Siegeszügen  durch  die  kultivierte  Welt,  erst  in 
den  Jahren,  wo  der  Virtuose  in  Weimar  einen  festumrissenen 
Wirkungskreis  fand,  wurden  seine  künstlerischen  Ideen  auch  in 
•der  Direktion  in  vollem  Umfang  wirksam.  Am  Weimarer  Hof, 
wo  er  das  Musikleben  durch  tüchtige  Aufführungen  zum  Mittel- 
punkt der  neudeutschen  Musik  und  des  Wagnerschen  Musikdramas 
machte,  wurde  er  der  Begründer  einer  neuen  Direktionsführung 
in  Deutschland. 

Gleich  seine  ersten  Konzerte  in  Weimar  zeigten  der  Öffent- 
lichkeit, daß  ein  Kapellmeister  vor  dem  Orchester  stand,  dessen 
Vortragsstil  sich  nicht  in  die  bekannten  Listen  einordnen  ließ. 
:So  meint  der  Referent  der  Allgemeinen  Musikalischen  Zeitung, 
daß  die  Beethovenschen  Sinfonien  »in  langsameren  Tempo's« 
genommen  wurden,  als  man  es  allgemein  gewohnt  war,  er  fügt 
hinzu:  »mit  überraschendem  Gewinn  für  die  Wirkung«1.  An 
•einer  anderen  Stelle  heißt  es:  »Sein  Feuergeist  dämpfte  sich  .  .  . 
zu  acht  künstlerischer  Ruhe  und  Besonnenheit,  ohne  an  Kraft  und 
Lebendigkeit  zu  verlieren2.«  Damit  wird  der  Hauptcharakter 
•seines  Vortrags  gekennzeichnet:  sein  Abweichen  von  der  Mendels- 
sohnschule. Er  dirigiert  Beethovens  Sinfonien  langsamer  im 
Tempo,  also  in  entgegengesetztem  Sinne  wie  die  deutschen  Ka- 
pellmeister. Unser  Kritiker  läßt  sich  an  dieser  Feststellung  ge- 
nügen. Er  schreibt  in  begeistertem  Ton  von  Liszts  Dirigenten- 
eigenschaften, fragt  aber  nicht,  ob  seine  Beethovenwiedergabe 
sich  musikalisch  rechtfertigen  läßt.  Weiter  werden  Liszts  Kon- 
zerte ein  »Erwecken  schlummernder  Kräfte«  genannt.  Er  ver- 
stand es,  »den  Geist  des  Werkes  in  vollem  Glänze  aufleuchten 
zu  lassen«,  jede  feinste  Nuance  » allen  Ausführenden  erkennbar  in 
seinen  Bewegungen  auszuprägen,  ohne  in  carikirtes  Herum- 
fahren auszuarten.  Sein  bewegliches,  alle  Gefühle  abspiegelndes 
Antlitz  verdolmetscht  die  Freuden  und  Leiden  der  Töne  .  .  .  Liszt 
ist  die  verkörperte  Musikseele«3.  Und  Cornelius  schreibt  enthu- 
siastisch4: »Welche  Studien  enthielten  die  Proben  zu  den  großen 
Musikaufführungen,  welche  Wunder  erlebte  man  an  Liszts  Gehör, 
.an  seiner  leitenden  und  darstellenden  Hand,  an  der  Art,  wie  er 
;sich  mitzutheilen,  wie  er  zu  begeistern,   zu  elektrisiren  wußte.« 

1  A.  a.  O.  1844,  S.  164. 

2  Ebenda,  S.  243. 

3  Neue  Zeitschrift  für  Musik  1844,  S.  72  und  Allg.  Mus.  Ztg.  1844,  S.  164f. 
*  Neue  Zeitschrift  für  Musik  1867,  S.  287. 


330  Siebentes  Kapitel. 

Er  erzog  sein  Orchester  zu  völliger  Herrschaft  über  alles  Materielle,, 
um  dann  in  ungebundener  Freiheit  auf  dem  Orchester  zu  phan- 
tasieren wie  auf  dem  Klavier.  Durch  anhaltendes,  eifriges  Proben 
brachte  er  seine  Musiker  dazu,  daß  sie  alles  Handwerkliche  voll- 
kommen im  Griff  hatten  und  nur  auf  ihren  Führer  zu  achten 
brauchten,  um  seinen  Intentionen  zu  folgen. 

Liszt  besaß  keine  deutsche  Kapellmeistertechnik,  kannte  keine 
Mendelssohnschule,  keine  Webersche  oder  Spohrsche  Tradition. 
Er  hatte  viele  deutsche  Dirigenten  gehört,  aber  der  Geist,  wie  er 
durch  Mendelssohn  gefestigt  war,  konnte  ihm  nicht  zur  Herzens- 
sache werden.  Seine  Kunstanschauung  wurzelte  in  der  französi- 
schen Kultur.  Habenecks  Präzisionstechnik  und  Berlioz'  pro- 
grammatisches Erfassen  des  musikalischen  Ausdrucks  bildeten  die 
Grundlage  seiner  Direktion,  die  er  durch  innigstes  Anschmiegen 
an  deutsche  Denkungsart  weiterführte. 

Er  legte  den  Schwerpunkt  seiner  Interpretation  in  den  Aus- 
druck der  poetischen  Idee.  Nicht  der  Takt  und  das  strenge  Tempo, 
nicht  der  gleichmäßige  Fluß  von  Rhythmik  und  Mensur  waren  für 
seinen  Vortrag  bestimmend,  sondern  der  musikalische  Gedanke, 
der  Inhalt  der  Motive1.  Er  sah  in  der  Sinfonie  Beethovens 
ein  Aufstellen,  Entwickeln  und  Ausdeuten  von  Affekten  nach 
programmatischen  Gesichtspunkten.  Es  ist  der  gleiche  Hinter- 
grund, auf  dem  die  Alten  ihre  musikalische  Fachästhetik  grün- 
deten, nur  vom  Standpunkt  des  Programmusikers  aus  gesehen. 
Der  lebhaften,  frischen  Leitung  der  Mendelssohnschule  trat  mit 
Liszt  die  größte  Freiheit  der  künstlerischen  Wiedergabe  gegen- 
über, der  ungebundene,  nur  dem  Geist  der  Tondichtung  folgende, 
stark  modifizierte  Vortrag.  Liszt  nennt  ihn  den  »periodischen 
Vortrag«,  da  nicht  der  Einzeltakt  mit  seinen  Akzenten  Tempo 
und  Ausdruck  der  Themen  bestimmt,  sondern  die  musikalische 
Periode,  die  zur  Einheit  gefaßte  Motivik.  Er  nahm  die  Themen- 
gruppe, die  in  der  neuen  Kunst  an  Ausdehnung  gewonnen  hat 
und  im  Aufbau  komplizierter  geworden  ist,  zur  Grundlage  seiner 
Tempoführung.  Doch  hielt  sich  seine  Freiheit  im  Vortrag  stets 
in  den  Grenzen,  die  die  ebenmäßige  Architektur  und  die  Indivi- 
dualität des  Komponisten  erfordern;  Takt  und  Tempo  sind, 
wie    Liszt    sagt,    der    Stamm    des    Baumes,    der    unverrückbar 


1  S.  L  i  s  z  t  s  Ges.  Schriften  V,  Breitkopf  &  Härtel,  S.  228  f.  Brief  vom 
5.  Nov.  1853  an  Richard  Pohl  über  das  Dirigieren.  Vgl.  hierzu  L.  Ramann, 
Franz  Liszt  II,  1,  S.  222 f. 


Ausblick.  331 

festhält,  wenn  Blätter  und  Zweige  im  Winde  hin  und  her 
wogen1. 

In  der  Direktion  nach  dem  Affekt  eines  Stückes,  die  wir  von 
der  Renaissance  an  verfolgen  konnten,  liegt  gewiß  nicht  das  Neue 
der  Lisztschen  Direktion,  sondern  in  dem  Herausstellen  der  musi- 
kalischen Periode,  in  der  veränderten  Führung  der  Rhythmik,, 
die  die  Schranken  der  Gruppentakte  überspringt,  in  der  musi- 
kalisch freien  Deklamation.  Die  Kapellmeister  der  älteren  Zeit 
sind  keine  Taktschläger  oder  »Ruderknechte«  gewesen,  um  mit 
Liszt  zu  reden2,  sie  kannten  das  Nuancieren  und  Modifizieren 
ebensogut  wie  er.  Aber  jenes  freie  Gestalten,  wie  es  die  Musik 
der  sinfonischen  Dichtungen  zeigt,  war  der  alten  Kunst  und  der 
vor-Lisztschen  Musikübung  fremd.  Nur  aus  dem  Geist  der  Liszt- 
schen Orchesterwerke  läßt  sich  auch  die  Eigenart  seiner  Direktion 
verstehen:  ein  freies,  dem  dichterischen  Gedankengang  folgendes 
Phantasieren,  das  einzig  und  allein  durch  den  lebenswahren  Aus- 
druck der  dichterischen  Ideen  und  ihre  Charakterisierung  mittelst 
weitgehender  Modifikationen  im  Vortrag  und  Tempo  bestimmt  wird- 

Wie  sich  Liszt  als  Klaviervirtuose  eine  eigene  Technik  schuf, 
so  leitete  auch  der  Dirigent  seine  Musiker  nach  einer  eigenen 
Methode.  Er  führte  den  Taktstock  nicht  in  abgezirkelten  Dreiecken 
und  anderen  Polygonen,  sondern  versuchte,  den  Gang  der  Melodie 
nachzuzeichnen,  ihr  Heben  und  Fallen,  ihr  Verweilen  auf  ent- 
scheidenden Noten.  Er  versinnbildlichte  in  seiner  Führung  die 
musikalischen  Perioden  und  Motive.  Man  könnte  von  einer  mo- 
dernen Cheironomie  sprechen,  denn  Liszt  erstrebte  eine  sichtbare 
Darstellung  von  Phrasierung  und  Nuancierung.  Seine  Musiker 
hatten  sich  an  diese  freie  Stabführung  bald  gewöhnt,  sie  ver- 
standen ihn  vollkommen,  wenn  »bei  lyrischen  Partien  sein  Takt- 
stock [der  Idee]  mehr  zu  folgen  als  zu  befehlen  schien,  wenn  er 
bei  Stellen  lyrischen  Hebens  und  Senkens  völlig  ruhte,  oder  wenn 
er  bei  hervortretend  epischen  und  deklamatorischen  Momenten  nur 
den  rhetorischen  und  Hauptaccent  angab,  oder  auch,  wenn  Liszt 
bei  Solopartien  ihn  ganz  hinlegte,  um  dem  Künstler  die  Bewe- 
gungsfreiheit zu  sichern«3.    Er  wollte   sich  bei  seiner   Direktion 


1  Ramann,  a.  a.  O.  II,  2,  S.  105.  Vgl.  Liszt,  Vorwort  zur  Partitur  der 
Symph.  Dichtungen. 

2  Brief  über  das  Dirigieren. 

3  Ramann,  a.a.O.  II,  2,  S.  93f.  Vgl.  Hanslick,  Gesch.  des  Conzert- 
wesens,  S.  310:  Liszt  meint,  »es  sei  nicht  nothwendig  zu  taktiren,  sondern  blos- 
die  Eintritte  der  Rhythmen,  Cäsuren  und  der  Instrumente  zu  markiren«. 


332  Siebentes  Kapitel. 

»augenscheinlich  überflüssig«  machen;  die  Dirigenten  sind  nach 
seinen  Worten  »Steuermänner,  keine  Ruderknechte«1.  Kleinere 
Opern,  wie  »Martha«,  leitete  er  überhaupt  ohne  Taktstock,  und  bei 
Instrumentalsoli  ließ  er  einem  tüchtigen  Musiker  völlig  freie 
Hand2,  hierin  Berlioz'  diktatorisches  Regiment  weit  übertreffend. 
Gegen  die  Lisztsche  Direktion  erhob  sich  in  der  den  Neu- 
deutschen feindlichen  Presse  ein  wahrer  Sturm.  Aus  seinen 
Dirigierbewegungen  wollte  man  seine  Unfähigkeit  als  Orchester- 
leiter beweisen.  Seine  Freiheiten  im  Vortrag  wurden  als  un- 
gehörig hingestellt,  während  sein  Eintreten  für  Berlioz,  Wagner 
und  selten  aufgeführte  Werke  einen  starken  Widerhall  in  den 
antimodernen  Blättern  hervorrief.  Liszt  sah  über  die  Hoch- 
fahrenheit  manchen  Kritikers  hinweg  und  nur  aus  wenigen  Briefen 
hört  man,  wie  ihm  die  Unduldsamkeit  der  alten  Schule  naheging. 
Als  nach  dem  Karlsruher  Musikfest,  das  unter  Liszts  Führung 
neben  den  Klassikern  auch  Werke  von  Wagner  und  Berlioz 
brachte  und  bis  auf  einige  Versehen  des  der  Lisztschen  Direktion 
ungewohnten  Orchesters  einen  glänzenden  Verlauf  nahm3,  viele 
Berufsmerker  von  seiner  Unfähigkeit  als  Dirigent  sprachen4,  schrieb 
er  jenen  oft  zitierten  Brief  an  Richard  Pohl,  den  Hopliten,  in 
dem  er  seine  Anschauung  vom  Dirigentenamt  niedergelegt  hat.  Die 
Werke  Beethovens  und  der  neueren  Kunst  erfordern  nach  seinen 
Worten  »einen  Fortschritt  in  der  Betonung,  in  der  Rhythmisie- 
rung, in  der  Art,  gewisse  Stellen  im  Detail  zu  phrasieren,  zu  de- 
klamiren  und  Schatten  und  Licht  im  Ganzen  zu  vertheilen  — 
mit  einem  Wort:  einen  Fortschritt  im  Stil  der  Ausführung  selbst. 
Dieser  knüpft  zwischen  dem  dirigirten  und  dem  dirigirenden 
Musiker  ein  Band  anderer  Art  als  das,  welches  durch  einen  unver- 
wüstlichen Taktschläger  geknotet  wird.  Denn  an  vielen  Stellen 
arbeitet  die  grobe  Aufrechterhaltung  des  Taktes  und  jedes  einzel- 
nen Taktteiles  |  1,  2,  3,  4  |  1,  2,  3,  4  |  einem  sinn-  und  ver- 
ständnisvollen Ausdruck  geradezu  entgegen.  Hier  wie  allerwärts 
tödtet  der  Buchstabe  den  Geist.« 


1  Brief  vom  Dirigieren. 

2  Ramann  II,   2,  S.  94,  Anm.  1. 

3  Hoplit  (R.  Pohl),  Das  Karlsruher  Musikfest,  Leipzig  1853,  S.  79f. 
Zur  Lisztschen  Direktion  vgl.  das  Vorwort  zur  Partitur  seiner  sinfonischen 
Dichtungen  und  Liszts  Briefe   (ed.  La  Mara)  I,  S.  275  und  327,  II,  S.  109,  120. 

4  Noch  heute  wird  von  vielen  Musikern  behauptet,  daß  Liszt  ein  schlechter 
Dirigent  gewesen  sei.  Vgl.  Arthur  Laser,  Der  moderne  Dirigent,  Leipzig 
1904.    S.  29f. 


Ausblick.  333, 

Liszt  schießt  in  seinen  weiteren  Ausführungen  etwas  am. 
Ziel  vorbei.  Niemand  hatte  von  ihm  verlangt,  vor  dem  Orchester 
als  Windmühle  zu  fungieren.  Selbst  die  rüstigsten  Taktschläger 
der  alten  Schule  waren  keine  lebenden  Metronome.  Aber  gerade 
das  einseitige  Verurteilen  seiner  Vormänner  charakterisiert  Liszts- 
Auffassung  vom  Dirigieren:  Die  neue  Kunst  fordert  einen  neuen 
Stil  in  der  Ausführung,  eine  freie,  individuelle,  nur  der  poetischen 
Idee  folgende  Direktion.  Für  die  Geschichte  ist  diese  program- 
matische Richtung  epochemachend  geworden.  Sie  bildet  neben 
Richard  Wagners  Direktionslehre  das  Vorbild  der  modernen. 
Dirigenten. 

Als  Liszt  das  Weimarer  Musikleben  reformierte,  war  Richard 
Wagners  Tätigkeit  als  Berufskapellmeister  bereits  beendet.  Nach 
den  Kapellmeisterjahren  in  Lauchstädt,  Magdeburg,  Königsberg 
und  Riga  hatte  er  in  Dresden  eine  feste  Anstellung  gefunden,, 
in  der  er  als  Dirigent  und  Organisator  des  Musiklebens  bis  zu 
den  Märztagen  wirkte.  Auch  Wagner  war,  wie  Berlioz,  kein 
Instrumentalvirtuose,  als  er  zum  Dirigentenpult  kam,  dafür  hatte 
er  aber  die  wichtigen  Lehrjahre  an  kleineren  Bühnen  durch- 
gemacht. Er  wuchs  in  der  Praxis  auf.  Die  Theaterluft  war  ihm 
ebenso  wie  seinem  Vorgänger,  Carl  Maria  von  Weber,  Lebens- 
bedürfnis. Beide  besaßen  von  Haus  aus  die  Neigung  zum  Bühnen- 
leben, beide  waren  geborene  Reformatoren,  beide  erfüllte  der- 
gleiche  dramatische  Geist  in  Wirken  und  Schaffen.  Als  Opern- 
dirigent gehört  Wagner  zur  Weberschen  Richtung,  doch  hat  er 
durch  neue  praktische  Vorschläge,  durch  seine  Musikdramen  und 
Schriften  auf  unsere  Zeit  nachhaltiger  gewirkt  als  irgendein  an- 
derer Kapellmeister.  Es  gibt  keinen  schaffenden  Künstler,  der 
sich  nicht  Wagners  Kunst  zu  eigen  gemacht  hätte,  keinen  Diri- 
genten, der  nicht  auf  Wagners  Ideen  zurückginge. 

Das  Leipziger  Konzertleben  vor  Mendelssohn  hatte  auf  Wagner 
keinen  Eindruck  gemacht.  Matthäis  Vorspiel  in  den  Gewand- 
hauskonzerten und  die  Direktion  von  Kapellmeister  Pohlenz, 
dem  »Typus  aller  gemütlichen,  dicken  Musikdirektoren«,  hatten 
ihn    abgestoßen1.      Im    Chorwesen,    das    in    Leipzig    und    Um- 


1  Vgl.  »Mein  Leben«  von  R.  Wagner,  I.  S.  73.  Wagners  Darstellung  des 
alten  Leipziger  Konzertlebens  ist  stark  anfechtbar.  Vgl.  D  ö  r  f  f  e  1 ,  Gesch. 
der  Gewandhauskonzerte,  S.  67  f.  Die  zeitgenössische  Kritik  schreibt  einmal 
von  Pohlenz'  Direktion:  »Unser  Musikdirector  Hr.  Aug.  Pohlenz  dirigirt  um- 
sichtig und  sicher  und  verdient  allen  Dank  für  das  fleissige,  eben  jetzt  besonders 
schwierige    Einstudiren   der   Ensemblesätze.«     S.  auch  Allg.   Mus.   Ztg.   1836, 


;334  Siebentes  Kapitel. 

gegend  noch  eine  Nachblüte  der  großen  Kantatenzeit  erlebte,  und 
ebenso  auf  Ausflügen  konnte  der  junge  Wagner  seinen  Musikdurst 
stillen.  Aber  es  zog  ihn  zum  Instrumentalkonzert  und  zur  Oper, 
deren  Hauptvertreter  er  gerade  in  seiner  Jugend  nicht  zu  hören 
bekam.  So  wurde  nicht  einer  der  großen  Kapellmeister  Wagners 
künstlerisches  Vorbild,  sondern  eine  Sängerin,  Frau  Wilhelmine 
Schröder- Devrient.  »Was  Polenz  durch  seine  Direktion  der 
neunten  Smphonie,  was  das  Wiener  Conservatorium,  Dionys  Weber 
und  mancherlei  andre  stümperhafte  Eindrücke,  durch  welche 
mir  die  klassische  Musik  in  Wahrheit  eindruckslos  vorgeführt 
Avorden  war,  noch  nicht  vollständig  erreicht  hatten,  gelang  der 
unbegreiflichen  Wirkung  der  unklassischsten,  italienischsten  Musik 
durch  die  wunderbar  zündende  und  entzückende  Darstellung  des 
,  Romeo'  durch  dieSchröder-Devrient1.«  Die  Kunst  dieser  genialen 
Sängerin  erschloß  Wagner  das  Verständnis  für  melodische  Kraft 
und  dramatische  Wirkung.  In  Magdeburg  gastierte  sie  unter 
seiner  Direktion,  und  in  Nürnberg  hörte  er  sie  als  Emmeline  in 
<ler  »Schweizerfamilie«  von  Weigl,  was  auf  sein  empfängliches 
Gemüt  einen  so  starken  Eindruck  auslöste,  daß  er  noch  in  späteren 
Jahren  bedauerte,  daß  »so  etwas,  wie  die  Darstellung  dieses  Schwei- 
zermädchens nicht  als  Monument  allen  Zeiten  erkenntlich  fest- 
gehalten und  überliefert  werden  kann«.  Dem  Gesang  der  Schröder- 
Devrient  entnahm  er  die  »besten  Anleitungen  im  Betreff  des 
Tempo's  und  des  Vortrages  Beethoven'scher  Musik«2. 

Noch  stärker  wirkte  auf  ihn  die  Pariser  Aufführung  der  ersten 
drei  Sätze  der  neunten  Sinfonie  unter  Habeneck.  Hier  hörte 
er  zum  erstenmal  die  Beethovensche  Kunst  in  einer  Vollendung, 
die  seinem  ganzen  Denken  und  Fühlen  eine  andere  Richtung 
gab.  Seine  frühere  Geschmacksrichtung  versank  »wie  in  einem 
tiefen  Abgrund  der  Scham  und  Reue«.  Er  fand  das  geahnte 
Traumbild  der  neunten  Sinfonie  verwirklicht.  Klar  und  deutlich 
stand  das  Werk  vor  Wagner,  der  an  Beethoven  durch  die  Auf- 
führungen schwächlicher  Kapellmeister  irre  geworden  war.  Jetzt 
erst  verstand  er  nach  seinen  eigenen  Worten  das  Melos  der  Beet- 
hovenschen  Sinfonie  und  den  dichterischen  Willen  des   Kompo- 


S.  327:  »Herr  Musikdir.  Pohlenz  dirigirte  mit  einer  solchen  Sicherheit,  Bestimmt- 
heit und  Umsicht,  daß  wir  uns  wundern  müßten,  wenn  dies  nicht  von  Allen 
anerkannt  würde.« 

1  Wagner,  Mein  Leben  I,  S.  101  f. 

2  Aufsatz  »Über  das  Dirisfiren«. 


Ausblick.  335 

nisten.  Das  Jahr  1839  bedeutet  denn  auch  einen  Wendepunkt 
in  Wagners  künstlerischer   Entwicklung. 

In  Dresden  fand  er  das  erste  weite  Feld  künstlerischer  Be- 
tätigung, einen  Platz,  an  dem  er  die  nachhaltigen  Eindrücke  der 
Pariser  Konzerte  und  die  Anregungen  aus  der  Kunst  einer  Schröder- 
Devrient  schöpferisch  verwerten  konnte.  Aus  seiner  Selbst- 
biographie hört  man,  wie  die  neugewonnene  Kunstauffassung 
nach  Ausdruck  ringt,  aus  seinen  Schriften  klingt  die  Begeisterung 
und  praktische  Erfahrung  heraus,  mit  der  er  Beethovens  neunte 
Sinfonie  studierte,  Gluck  und  Mozart  dirigierte.  Und  wenn  er 
auch  durch  den  Einfluß  Liszts  und  durch  Vertiefung  des  eigenen 
Schaffens  noch  neue  Ausdrucksmomente  und  eine  mächtige 
Steigerung  der  Schöpfungskraft  errang  —  das  Fundament  seiner 
praktischen  Tätigkeit  weist  doch  nach  den  Dresdener  Kapell- 
meisterjahren. Hier  steht  schon  der  Musiker  vor  uns,  der  im 
Jahre  1869  seine  Schrift  vom  Dirigieren  schrieb.  Wagner  ver- 
schmähte später  einen  festen  Kapellmeisterposten.  Ihm  war 
jede  die  Phantasie  hemmende  Berufstätigkeit,  ebenso  wie  Meyer- 
beer, eine  Last.  So  hat  er  auch  auf  die  Nachwelt  mehr  durch 
seine  Dramen  und  Schriften  als  durch  seine  Tätigkeit  als  Berufs- 
kapellmeister gewirkt.  Wohl  bedeuten  seine  Dresdener  Direktionszeit 
und  seine  späteren  Konzerte  Höhepunkte  künstlerischen  Nach- 
schaffens. Doch  alle  diese  Kunstleistungen  treten  zurück  gegen 
die  in  Werk  und  Wort  niedergelegten  Gedanken  von  der  Kunst 
des  Dirigierens. 

In  den  Schriften  Wagners  und  der  anschließenden  schier 
unübersehbaren  Literatur  ist  viel  vom  Dirigieren  die  Rede1. 
Das  Bedeutendste  bringt  Wagner  in  seiner  oft  angezogenen 
Schrift  »Über  das  Dirigiren«  aus  dem  Jahre  1869.  Der  Aufsatz 
hat,  so  wertvoll  er  für  Wagners  Persönlichkeit  und  die  musikali- 
sche Praxis  im  allgemeinen  ist,  viel  Unheil  angerichtet.  Jene 
Wagnerianer,  die  alle  Worte  des  Meisters  kritiklos  hinnehmen, 
halten  die  Ausfälle  und  historischen  Rückblicke  Wagners  für 
einwandfrei,  und  so  liest  man  denn  oft  von  den  Taktschlägern 
der  alten  Zeit,  von  ihrem  Unverständnis  der  Klassiker,  von  phili- 
strösen Kapellmeistern  und  was  der  Worte  mehr  sind.  Ja,  wenn 
man   den   Berichten   einer    Fachzeitung   glauben   soll,    dann   hat 

1  Vgl.  Felix  Weingartner,  Über  das  Dirigieren,  3.  Aufl.,  Leipzig 
1905.  Arthur  Laser,  Der  moderne  Dirigent.  Leipzig  1904.  Anton 
Sei  dl,  Über  das  Dirigieren.  Bayreuther  Blätter  1900,  S.  291  f.  Josef 
Pembaur,    Über  das  Dirigieren,  Leipzig  1892  u.  a. 


336  Siebentes  Kapitel. 

Wagner  erst  das  kunstvolle  Dirigieren  entdeckt,  ist  er  der  erste 
gewesen,  der  uns  die  wahre  Kunst  des  Dirigierens  offenbart  hat. 
Daran  ist  wenig  wahr.  Wagner  hat  sich  durch  seine  bösen  Er- 
fahrungen, die  er  mit  minderwertigen  Kapellmeistern  bei  der  Auf- 
führung seiner  Werke  gemacht  hatte,  dazu  hinreißen  lassen,  fast 
die  gesamte  Musikübung  seiner  Zeit  zu  negieren  und  anerkannte 
Musiker  entweder  mit  Stillschweigen  zu  übergehen  oder  ihre 
Leistungen  herabzusetzen.  Daß  er  Mendelssohn  als  Dirigenten 
schief  beurteilte  und  seine  Vormänner,  die  ihm  die  Wege  ebneten,, 
nicht  richtig  einzuschätzen  wußte,  war  schon  früher  erwähnt 
worden.  Davon  abgesehen  macht  es  keinen  guten  Eindruck, 
wenn  man  hören  muß,  daß  eigentlich  keine  anderen  Musiker 
als  Wagner  und  seine  Anhänger  das  Kapellmeisteramt  verstünden. 
Der  gesamte  historische  Überblick  und  zeitliche  Umblick  wird 
schwarz  gehalten,  so  daß  sich  die  positiven  Ausführungen 
scharf  und  in  derben  Farben  vom  Hintergrund  abheben. 

Nach  Wagner  gibt  es  drei  Arten  von  Kapellmeistern:  die 
Musikanten  alten  Stils,  deren  Hauptstärke  die  Grobheit,  Strenge 
und  ein  despotisches  Regiment  ausmachen,  dann  die  eleganten, 
oberflächlich  gebildeten  Konzertdirigenten  aus  der  Schule  des 
glatten  »Darüberhinweggehens«  Mendelssohns  und  die  Opern- 
kapellmeister, die  nur  vom  »Standpunkte  der  allgemeinsten 
Handwerksleistung«  aus  beurteilt  werden  können.  Wie  unter 
diese  Dirigenten  die  von  Wagner  verehrten  Meister  Weber, 
Spontini  und  Spohr  einzuordnen  sind,  darüber  ist  sich  Wagner 
nicht  klar  geworden.  Er  hätte  sonst  noch  eine  besondere  Klasse 
von  tüchtigen  Kapellmeistern  einrichten  müssen,  die  allerdings 
seine  Ausführungen  abgeschwächt  hätte.  Entschuldigen  lassen 
sich  seine  einseitigen  Angriffe  nur  aus  seiner  auf  das  eigene  Ziel 
gerichteten  Anschauung  vom  Musikleben  und  aus  den  vielen  An- 
feindungen, denen  seine  Kunst  ausgesetzt  war. 

Dagegen  sind  seine  positiven  Ausführungen  von  größtem 
Wert.  Wagner  bringt  hier,  wie  überall,  wo  er  aus  der  Praxis  schöpft, 
weitblickende  und  fruchtbare  Gedanken  vor.  Er  entwickelt  eine 
Theorie,  die  im  gleichen  Maße  von  praktischer  Erfahrung,  künst- 
lerischer Schöpfungskraft  und  philosophischer  Schulung  zeugt. 
Sie  ist  der  Niederschlag  seiner  eigenen  Direktionsführung  und 
spiegelt  den  Geist  wider,  den  er  den  Klassikern  entgegenbrachte. 

Alle  Schwierigkeiten,  die  sich  einem  Kapellmeister  in  der 
neueren  Zeit  bei  der  Aufführung  entgegenstellen,  laufen  im  letzten 
Grunde  auf  die  Wahl  von  Vortrag  und  Tempo  zurück.    Zeitmaß 


Ausblick.  337 

und  Vortrag  stehen  in  innigster  Verbindung  miteinander.  Die 
Frage  ist  allein  die:  Woraus  erkennt  man  die  vom  Komponisten 
gewünschte  Bewegung?  Die  Geschichte  der  Aufführungspraxis 
dreht  sich  um  dies  Problem,  seit  die  Direktion  von  den  Kom- 
ponisten auf  die  Berufskapellmeister  übergegangen  war.  Früher 
hatte  hier  die  Affektenlehre  willkommene  Hinweise  gegeben. 
Als  sie  vergessen  war,  wurde  von  dem  Charakter  der  Themen, 
von  ihrem  Ausdruck  und  vom  Effekt  gesprochen.  Wagner  faßt 
seine  Meinung  in  die  Worte  zusammen:  »Nur  die  richtige  Er- 
fassung des  Melos  gibt  das  richtige  Zeitmaß  an:  beide  sind  un- 
zertrennlich; eines  bedingt  das  andere.«  Die  Musiker  müssen 
ihre  Stimmen  »singen«,  sie  müssen  den  melodischen  Kern  und 
die  figurativen  Partien  ihrer  Stimme  vollständig  kennen.  Dazu 
kann  aber  nur  ein  Kapellmeister  die  Anleitung  geben,  der  selbst 
die  Gesangskunst  beherrscht. 

Die  gesamte  Instrumentalmusik  ist  an  der  Gesangsliteratur 
erstarkt.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  dieser  Zusammenhang  bei 
-den  Musikern,  die  die  Musik  vom  Wortgedanken  befreiten.  Ihre 
Instrumentalmusik  war  ein  Aussprechen  von  Affekten  in  rein 
instrumentalen  Tonformen.  Die  Gesangskunst  stand  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  im  Mittelpunkt  aller  Vortragslehren.  Jeder 
Instrumentalist,  jeder  Konzertmeister  richtete  sich  nach  der 
gesanglichen  Tonbildungslehre  und  den  solistischen  Vortrags- 
manieren tüchtiger  Sänger.  Wagner  greift  auf  diese,  durch  die 
klassische  Instrumentalmusik  in  den  Hintergrund  geratene  Praxis 
zurück.  Er  fordert  vom  Kapellmeister  Kenntnis  der  Gesangs- 
kunst und  die  Fähigkeit,  eine  Melodie  »mit  guter  oder  schlechter 
Stimme«  so  zu  singen,  daß  er  das  innere  Leben  der  Melodie  und 
ihren  Ausdruck  versteht. 

Im  Orchesterspiel  gründet  sich  der  gesangliche  Vortrag  auf 
Tonbildung,  Dynamik  und  auf  die  Wechselwirkung  von  gehalte- 
nem und  figuriertem  Ton1.  Grundlage  aller  Vortragskunst  ist  der 
»gleichmäßig  stark  ausgehaltene  Ton«,  »erst  von  ihm  aus  ist  zu 
allen  den  Modifikationen  zu  gelangen,  deren  Mannigfaltigkeit . .  den 
Charakter  des  Vortrages  überhaupt  bestimmt«.  Die  Eckpfeiler  der 
Dynamik  sind  Forte  und  Piano.  %  Nicht  ein  charakterloses  Lärmen 
oder  ein  überleises  Piano,  sondern  ein  tonerfülltes  sattes  Piano 
und  klangfrohes  Forte.     Der  Kapellmeister  muß  deshalb  die  In- 


1  Die  folgende  Darstellung  beruht  auf  dem  Aufsatz  »Über  das  Dirigiren« 
von  Wagner. 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.  X.  22 


338  Siebentes  Kapitel. 

strumentalgruppen,  Bläser  und  Streicher  in  das  rechte  Klang- 
verhältnis bringen,  damit  nicht  in  das  leise  Schimmern  der  Streicher 
das  häufig  von  Nebenluft  begleitete  Piano  des  Holzquartetts 
aufdringlich  hineinklingt  (Wagner).  Abwägen  des  Klanges  und 
gegenseitiges  Abstimmen  musikalischer  Farben  bilden  ein  Haupt- 
moment des  künstlerischen  Studiums.  Aus  der  fein  abgestuften 
und  klangreichen  Dynamik  ergibt  sich  erst  jene  Ausdrucks- 
technik des  Instrumentenspiels,  die  die  virtuose,  von  künst- 
lerischem Geist  getragene  Interpretation  fundiert. 

»Die  Erfordernisse  des  Vortrages,  ob  er  vorwiegend  dem  ge- 
haltenen Tone  (dem  Gesänge)  oder  der  rhythmischen  Bewegung 
(der  Figuration)  sich  zuneigt,  diese  haben  den  Dirigenten  dafür 
zu  bestimmen,  welche  Eigenthümlichkeiten  des  Tempo's  er  vor- 
wiegend zur  Geltung  zu  bringen  hat. «  Adagio  und  Allegro  ergänzen 
einander.  Jenes  beherrscht  nach  Wagners  Worten  das  Gesetz 
des  gehaltenen  Tones,  dieses  die  Figuration.  Wie  beide  ineinander 
verschmelzen,  zeigt  der  dritte  Satz  der  neunten  Sinfonie,  das 
Gegenüberstellen  des  modifizierten  Andante  und  des  langsamen, 
langgehaltenen  Adagio.  Mit  der  Brechung  in  den  12/8-Takt  mit 
seinen  ruhig  fließenden  Figuren  wird  »das  neue  Gesetz  der  Fest- 
haltung einer  bestimmten  Bewegung  gegeben,  welches  in  seinen 
ausgebildeten  Konsequenzen  uns  zum  Gesetz  für  das  Zeitmaß 
des  Allegro  wird«.  Wagner  unterscheidet  ein  naives  und  senti- 
mentales Allegro.  Jenes  kommt  am  reinsten  in  Mozarts  Alla 
Breve-Sätzen  zum  Ausdruck,  dieses  in  den  ersten  Sätzen  Beethoven- 
scher Sinfonien.  Der  Vergleich  des  Anfangssatzes  einer  Neapo- 
litaner, Mannheimer  oder  Jungwiener  Sinfonie  zeigt  diesen  Unter- 
schied noch  deutlicher  als  die  Gegenüberstellung  mit  Mozartschen 
Sätzen,  deren  Eigenart  gerade  in  der  weiten  melodischen  Span- 
nung der  Seitenthemen  besteht.  Aber  der  Gedanke,  daß  Beet- 
hovens Allegri  eine  abgestuftere  und  freiere  rhythmische  Bewegung 
verlangen  als  die  »Don  Juan  «-Ouvertüre,  bleibt  bestehen  und  in 
gleichem  Sinne  auch  der  an  Liszt  anschließende  Satz,  daß  »seit 
Beethoven  hinsichtlich  der  Behandlung  und  des  Vortrages  der 
Musik  eine  ganz  wesentliche  Veränderung  gegen  früher  eingetreten 
ist.  Was  früher  in  einzelnen  abgeschlossenen  Formen  zu  einem 
Fürsichleben  auseinandergehalten  war,  wird  hier,  wenigstens  seinem 
innersten  Hauptmotive  nach,  in  den  entgegengesetzten  Formen, 
von  diesen  selbst  umschlossen,  zu  einander  gehalten  und  gegen- 
seitig aus  sich  entwickelt.  Natürlich  soll  dem  nun  auch  im  Vor- 
trage entsprochen  werden,  und  hierzu  gehört  vor  allen  Dingen, 


Ausblick.  339 

daß  das  Zeitmaß  von  nicht  minderer  Zartlebigkeit  sei,  als  das 
thematische  Gewebe,  welches  durch  jenes  sich  seiner  Bewegung 
nach  kundgeben  soll,  selbst  es  ist.«  Damit  spricht  Wagner  die 
Hauptforderung  seiner  Lehre  aus:  die  Modifikation  des  Tempos 
nach  dem  Geist  der  ausgedrückten  Affekte.  Die  Grundzüge  der 
Symphonik:  im  Adagio  der  gehaltene  Ton,  im  AllaBreve  die  schnelle 
Figuration,  fließen  in  der  neueren  Musik  zusammen  und  müssen 
nach  ihrem  Gehalt  und  nach  der  zugrunde  liegenden  program- 
matischen Idee  hervorgehoben  werden.  Das  kann  nur  durch 
Änderungen  in  der  Tempoführung  erreicht  werden.  Ein  Verweilen 
bei  ruhigen,  träumerischen  Gedanken,  ein  Vorwärtsgehen  in  Partien 
freudig  erregten  Charakters  bilden  den  Grundzug  dieser  aus  der 
alten  Literatur  bekannten  Tempomodifikation.  Die  Beispiele,  die 
Wagner  aus  Beethovens  Eroica  und  der  neunten  Sinfonie, 
aus  der  »Freischütz «-Ouvertüre,  der  Kreutzersonate,  dem  Cis-moll- 
Quartett  und  Mozarts  Werken  ableitet,  sind  wahrhaft  klassische 
Denkmäler  Wagnerscher  Kunstanschauung.  Genialer,  tiefdrin- 
gender ist  nie  eine  Direktionsanalyse  in  Worte  gefaßt  worden. 
Wie  er  das  Programm  dieser  Werke  entwickelt  und  durch  nach- 
schaffende Phantasie  zu  einem  wahren  Gemälde  seelischen  Lebens 
gestaltet,  das  sind  Gedanken  und  Anregungen,  die  uns  die  Eigen- 
art und  Größe  der  Wagnerschen  Direktion  ahnen  lassen.  Alle, 
die  ihn  am  Kapellmeisterpult  gesehen  haben  oder  unter  seiner 
Leitung  gespielt  haben,  rühmen  auch  seine  lichtvollen  Anweisungen 
und  Erklärungen  in  den  Proben,  seine  heilige  Kunstbegeisterung 
und  geniale  Gestaltungsgabe.  Es  muß  ein  gewaltiger  Eindruck 
gewesen  sein,  als  Wagner  in  Bayreuth  die  neunte  Sinfonie 
mit  dramatischer  Kraft  und  innigster  Hingabe  dirigierte.  Viele 
datieren  von  dieser  Aufführung,  die  Wagners  Direktionsgabe 
der  ganzen  gebildeten  Kunstwelt  offenbarte,  eine  neue  Epoche 
der  deutschen  Musikübung. 

Stellt  man  die  von  Wagner  entwickelten  Vortragslehren  der 
älteren  Zeit  gegenüber,  so  findet  man  kaum  einen  Punkt,  der  nicht 
auf  die  frühere  Kunstübung  zurückginge.  Der  Gesangsvortrag 
war  bis  zum  19.  Jahrhundert  in  der  Instrumentalmusik  erstes 
Gesetz  und  die  Tempoführung  nach  der  ausgedrückten  musi- 
kalischen Idee  ein  Vermächtnis  der  Benaissance.  Selbst  die 
Unterscheidung  des  Allegro-  und  Adagiocharakters  findet  man  in 
der  älteren  Literatur,  im  Wagnerschen  Sinne  auch  in  Gassners 
Direktionsbüchlein.  Gassner  lehrt  sogar  die  dynamische  Modi- 
fikation nach  dem  Musikcharakter  und  Aufführungslokal.     Die 

22* 


340  Siebentes  Kapitel. 

Wagnerschen  Vorschläge  zur  Tempo-  und  Vortragsbestimmung 
bedeuten  demnach  eine  Wiederaufnahme  und  eine  aus  der  neueren 
Musik  abgeleitete  Begründung  älterer  Vortragslehren.  Man  wird 
aus  diesen  Vorschriften  kaum  eine  Wagnersche  Neuerung  ab- 
leiten können.  Sie  liegt  allein  in  der  Weiterführung  der  Weber- 
schen  Gesamtdirektion  und  in  Wagners  Anschauung  von  der 
Kunst  der  Klassiker. 

Wenn  man  an  die  Schriften  und  Direktionstaten  Webers  und  an 
unsere  Charakteristiken  Glucks  und  Spontinis  denkt  und  liest 
Wagners  Einführungen  in  die  eigenen  Werke,  seine  organisatorischen 
und  kunstkritischen  Aufsätze,  so  sieht  man  den  Vollender  Gluck- 
scher und  Weberscher  Gedanken.  Das  Zusammenwirken  aller 
Künste,  das  Vereinen  szenischer,  musikalischer  und  rein  drama- 
tischer Wirkungen  zu  einem  geschlossenen  Eindruck,  das  Neben- 
einander und  Miteinander  der  Künste,  wie  es  die  Renaissanceoper, 
Monteverdi,  Cavalli,  Gluck,  Spontini  und  Weber  aufstellten, 
ist  in  der  Oper  Wagners  und  auch  in  seiner  Direktion  erreicht. 
Die  Gesamtleitung  liegt  in  einer  Hand.  Ein  einziger  Wille  ist 
für  die  Aufführung,  für  die  Anordnung  und  Ausführung  von 
Musik,  Szene  und  Regie  maßgebend.  Der  Dirigent  schreibt 
»dem  Orchester  das  Gesetz  der  Bewegung,  für  den  Vortrag  wie 
für  das  Tempo,  vor,  und  zwar  nicht  wie  der  einzelne  Sänger  nach 
seinem  persönlichen  Belieben, . . .  sondern  im  Sinne  des  Ensemble's, 
der  Uebereinstimmung  Aller«  (Wagner).  Diese  Gesamtdirektion, 
das  Zusammengehen  aller  Mitwirkenden  unter  einer  Führung  und 
die  einheitliche,  korrekte  Wiedergabe  aller  musikalischen  und  szeni- 
schen Vorschriften  des  Komponisten  hat  Wagner  in  seiner  Direktion 
durchgesetzt  und  damit  die  Bestrebungen  seiner  Vorgänger  durch 
Wort  und  Werk  zu  einer  allgemein  durchgeführten  Praxis  er- 
hoben. 

Auch  Wagners  zuerst  in  Bayreuth  durchgeführte  Neuerung, 
das  Opernorchester  durch  Tieferlegung  und  Verdeckung  klang- 
lich abzudämpfen,  hat  sich  so  bewährt,  daß  die  Wagnersche 
Reform,  die  an  die  Orchesterstellung  in  der  Florentiner  Frühoper 
erinnert,  vielleicht  unsere  gesamte  Musikübung  umgestalten  wird1. 


1  Vgl.  Wagners  »Bericht  über  eine  in  München  zu  errichtende  deutsche 
Musikschule«,  wo  es  u.  a.  heißt:  »Euere  Majestät  haben  .  .  einem  berühmten, 
.  .  .  Architekten  die  Aufgabe  gestellt,  vor  Allem  einen  inneren  Theaterraum  zu 
konstruiren,  in  welchem  .  .  die  ästhetisch  unschöne  und  störende  Sichtbarkeit 
des  Orchesters,  bei  möglichster  Steigerung  einer  edlen  Klangwirkung  desselben, 
vermieden«  werden  soll. 


Ausblick.  341 

Seine  Orchesterstellung  wird  in  Bayreuth  bis  zum  heutigen  Tag 
beibehalten.  Die  Saiteninstrumente  stehen  unterhalb  des  oberen 
Schalldeckels,  die  weichen  Holzbläser  und  Harfen  unterhalb  der 
Öffnung  und  die  Blech-  und  Schlaginstrumente  unter  dem  Bühnen- 
vorsprung,  so  daß  die  Schärfe  ihrer  Tongebung  abgeschwächt 
wird1.  Diese  praktischen  Anregungen  Wagners  und  seine  Auf- 
führungsanweisungen sind  von  einer  Tragweite,  die  nur  in  einer 
gesonderten  Abhandlung  erschöpft  werden  könnte.  ! 

Mit  Ausnahme  der  Instrumentationsänderungen,  die  Wagner  für 
Beethovensche  Werke  vorschlägt,  fußen  seine  Ausführungen  über 
die  Wiedergabe  der  Klassiker  auf  den  Lehrsätzen  der  älteren  Zeit, 
sobald  man  auf  die  Grundlage  des  Vortrags  sieht.  Dagegen  zeugen 
die  Begründung  und  Angabe  der  Tempomodifikation,  die  Ana- 
lysen und  praktischen  Vorschläge  von  einer  künstlerischen  Dar- 
stellungsgabe und  einem  Einfühlen  in  die  klassische  Musik,  die 
in  der  gesamten  Direktionsliteratur  ohne  Beispiel  dastehen.  Wag- 
ner führt  die  Direktion  nach  der  dichterischen  Idee  im  Lisztschen 
Sinne  aus.  Er  ist  unabhängig  von  seinem  hochherzigen  Förderer 
zu  dem  gleichen  Ziel  wie  Liszt  gekommen,  wie  wenn  zwei  Männer, 
die  von  verschiedenen  Stellen  ausgingen,  sich  plötzlich  am  Ziel 
finden  und  in  gegenseitiger  Überraschung  einander  die  Hände  ent- 
gegenstrecken (Wagner).  Liszt  kam  von  der  sinfonischen  Dichtung, 
Wagner  vom  Musikdrama  zu  jener  Freiheit  der  Auslegung,  die  ein 
Charakteristikum  ihrer  Interpretation  ausmacht.  Beide  über- 
trugen die  aus  ihrem  Schaffen  gewonnenen  persönlichen  Eindrücke 
auf  die  Kunst  der  alten  und  neueren  Meister  und  gewannen  damit 
eine  neue  Anschauung  von  der  musikalischen  Interpretation, 
als  die  in  der  ersten  Jahrhunderthälfte  wirkenden  Kapellmeister. 
Wie  Liszt,  der  die  Beethovenschen  Sinfonien  langsamer  im 
Tempo  nahm  als  die  vormärzlichen  Kapellmeister,  sah  auch  Wag- 
ner in  den  klassischen  Werken  programmatische  Tondichtungen, 
die  er  durch  ein  stark  modifiziertes  Zeitmaß  dramatisch  und 
musikalisch  belebt  haben  wollte.  Seine  Auffassung,  die  man  im 
Gegensatz  zu  der  frischen,  lebensfreudigen  Wiedergabe  der  Men- 
delssohnschule die  pathetische,  sentimentalische  nennen  könnte, 
steht  noch  heute  im  Mittelpunkt  unserer  Musikübung.  Was  die 
alten  Kapellmeister,  was  Weber  und  Liszt  als  Dirigenten  ge- 
schaffen, hat  Wagner  durch  sein  Wirken  und  Schaffen  gekrönt. 
Er  hat  in  goldenen  Worten  sein   künstlerisches   und   praktische» 


1  Glasenapp,  Rieh.  Wagner  V,  S.  198  f. 


342  Siebentes  Kapitel. 

Glaubensbekenntnis  niedergelegt,  das  ein  Vermächtnis  unserer  Zeit 
geworden  ist. 

Die  von  Wagners  Schriften  ausgehende  Wirkung  läßt  sich  noch 
in  unseren  Tagen  kaum  übersehen.  Die  Anhänger  seiner  Direk- 
tionsmaximen beherrschen  Konzertsäle  und  Opernhäuser.  Der 
wichtigste  unter  ihnen  und  der  größte  Apostel  seiner  Lehren  war 
Hans  von  Bülow.  Er  hat  dem  Beispiel  seines  großen  Meisters 
nachgeeifert  und  durch  eigene  Kraft  und  Tüchtigkeit  einen  Ehren- 
platz unter  den  Dirigenten  unserer  Zeit  errungen.  Bülow  hatte 
unter  Wagners  Augen  seine  Lehrjahre  durchgemacht,  an  kleineren 
Bühnen  Routine  erworben  und  in  Liszts  Schule  jene  pianistische 
Virtuosität  erreicht,  die  ihn  ein  gutes  Stück  über  viele  Kapell- 
meister der  Zeit  hinausrückte.  Was  Bülow  unserer  Zeit  gewesen, 
weiß  jeder,  der  die  Kunstreisen  der  Meininger  Kapelle  oder  die 
Philharmonischen  Konzerte  in  Berlin  miterlebt  hat.  Ein  Diri- 
gent von  außerordentlicher  Beweglichkeit  des  Geistes,  ein  glänzender 
Vortragsbildner  und  Erzieher,  ein  unübertrefflicher  Organisator 
und  vielseitiger  Musiker  und  ein  unermüdlicher  Vorkämpfer  für 
die  musikalische  Bildung. 

Bülows  Direktion  war  »Wagnerisch«  in  der  gesamten  Anlage 
und  in  der  weitgehenden  Modifikation  des  Tempos  und  zeigte 
Liszts  Einfluß  in  der  geistvollen,  feinsinnigen  Klangauslegung. 
Die  Vorbilder  lassen  sich  aus  allem,  was  die  höher  stehende  musi- 
kalische Kritik  über  Bülow  schreibt,  heraushören.  Bülow  blieb 
aber  nicht  beim  Nachahmen  stehen.  Er  trieb  die  Tempo-  und 
Vortragsänderungen  noch  weiter  als  seine  Vorgänger,  so  daß  Wein- 
gar tn  er  für  diese  Eigenmächtigkeiten,  denen  Wagners  Theorie 
Tor  und  Haus  geöffnet  hat,  das  Wort  »Bülowiaden«  geprägt  hat1. 
Auch  Retouchen  in  klassischen  Werken  soll  sich  Bülow  nach 
Wagners  Vorbild  geleistet  haben.  So  ließ  er  im  Andante  der 
fünften  Sinfonie  bei  den  im  Forte  gespielten  Zweiund- 
dreißigsteln der  Celli  und  Bässe,  die  ihm  nicht  deutlich  genug 
herauskamen,  von  der  Hälfte  der  Spieler  gebunden,  von  der 
andern  Hälfte  aber  gestoßen  spielen  und  im  selben  Satz  die  erste 
Note  des  drittletzten  Taktes  und  den  Auftakt  pizzicato  anstatt 
arco  spielen,  weil  ihm  das  vorgezeichnete  Piano  zum  Kontrast 
nicht  genügte2.  Er  experimentierte  auch  mit  einer  neuen  Or- 
chesterdynamik,  die   durch   das   nacheinander   einsetzende   Spiel 


1  Weingartner,  Über  das  Dirigieren,  3.  Aufl.,  S.  12 f. 

2  Arthur  Laser,  Der  moderne  Dirigent,  S.  14. 


Ausblick.  343 

eines  oder  mehrerer  Geigenpulte  ein  wirksames  Crescendo  erzielen 
wollte,  eine  Methode,  die  vor  ihm  schon  Gottfried  Weber  versucht 
hatte1.  Die  Beispiele  lassen  sich  beliebig  vermehren,  sie  zeigen 
das  Launenhafte  der  Bülowschen  Direktion  und  das  Ausgehen 
auf  den  Effekt.  Aber  alle  diese  Eigenmächtigkeiten  treten  doch 
hinter  der  großen,  glänzenden  Einstudierung,  wie  sie  Bülow 
bot,  zurück.  Er  hat  als  Orchestererzieher  eine  große  Mission 
erfüllt.  Ihm  war  eine  bis  ins  kleinste  ausgefeilte  Wiedergabe 
das  höchste  Gesetz  der  Aufführung.  Jeder  Musiker  kannte  nicht 
nur  seine  Stimme,  sondern  auch  die  Rolle,  die  seiner  Partie  im 
Ganzen  zuerteilt  war.  So  wurde  eine  Genauigkeit  im  Vortrag, 
eine  Übersichtlichkeit  und  Klarheit  erreicht,  die  vielen  Dirigenten 
vorbildlich  wurde.  Und  dann  übersah  Bülow  nicht  eine  einzige 
wichtige  oder  vom  Komponisten  nicht  klar  genug  bezeichnete 
Stelle.  Namentlich  in  Beethovens  mehr  der  dichterischen  Idee 
als  dem  realen  Klangbild  folgenden  Instrumentation2  war  er 
unerschöpflich  im  Abwägen  der  Instrumente  und  der  Dynamik. 
Darin  lag  auch  der  Haupterfolg  seiner  Konzertreisen,  in  dem 
mustergültigen  Ensemble  seiner  Kapelle  und  der  kristallenen 
Deutlichkeit  seiner  Wiedergabe.  Er  hat  als  Dirigent  die  Ideen 
Wagners  und  Liszts  propagiert,  die  Meininger  Kapelle  zu  einer 
Berühmtheit  deutscher  Musikübung  gemacht  und  durch  glänzende 
Aufführungen  den  Beweis  erbracht,  daß  selbst  eine  kleinere  Kapelle 
große  Kunstleistungen  bieten  kann,  sobald  ein  tüchtiger  Musiker 
an  ihrer  Spitze  steht. 

Durch  Bülows  Konzertreisen  ist  das  Taktstockvirtuosentum 
recht  eigentlich  erst  in  Aufnahme  gekommen.  Die  glänzenden 
Erfolge  der  Meininger  unter  Bülows  Direktion  riefen  eine  große 
Nachfolge  von  Kapellmeistern  auf,  die  ihr  großes  Muster  nicht 
nur  in  Äußerlichkeiten,  in  temperamentvoller  Beweglichkeit  und 
im  Auswendigdirigieren  oder  in  den  Bülowiaden  noch  zu  über- 
trumpfen suchten,  sondern  die  auch  eigene  Wege  einschlugen. 
Der  bedeutendste  seiner  Schüler  ist  Richard  Strauß,  der  von 
Bülow  in  die  Direktionspraxis  geradeswegs  eingeführt  wurde. 
Im  Wagnerschen  Sinne  ist  Strauß  in  Meiningen  erzogen  worden, 
Bülows  geistvolle  Interpretation  und  auch  Liszts  Vorbild  waren 
seine  Führer  in   jener   schnell  anstrebenden  Dirigentenlaufbahn, 


i  Allg.  Mus.  Ztg.  1807,  S.  823f. 

2  Vgl.  Paul  Bekker,  Beethoven  1911,  II,  3,  Die  Symphonien,  und  II,  5, 
Gesangswerke. 


344  Siebentes  Kapitel:  Ausblick. 

die  in  unsern  Tagen  noch  nicht  abgeschlossen  ist.  Die  Münchener, 
Weimarer  und  Berliner  Jahre  ließen  einen  Dirigenten  heranreifen, 
der  mit  seinen  weitgehenden  Temporückungen  und  schnellen  Zeit- 
maßen, die  nicht  reflektierend,  sondern  impulsiv  und  intuitiv 
gefunden  zu  sein  scheinen,  die  Klassiker  in  hellen,  freudigen 
Farben  erklingen  läßt,  der  in  Beethoven  nicht  mehr  den  pathe- 
tischen Dichter,  sondern  den  lebensvollen  modernen  Musiker  sieht. 
Dadurch  entfernt  sich  Strauß  von  Wagnerschen  Idealen.  Da- 
gegen scheint  bei  Arthur  Nikisch  die  Wagnersche  Tradition 
nach  der  Seite  des  Schwermütig -Tiefsinnigen  fortzuleben.  Kein 
größerer  Gegensatz  als  etwa  die  Eroica  unter  Strauß  und  Nikisch. 
Dort  sprühende  Rhythmen,  ein  »Heldenleben«  in  klassischen 
Formen,  hier  ein  gewichtiges  Epos  mit  großen  lyrischen  und 
tragischen  Akzenten.  Ruhiger,  ebenmäßiger  und  zurückhaltender 
ist  Weingar tners  Direktion.  Sie  gilt  vielen  als  die  berufenste 
Auslegung  der  Klassiker  und  bildet  gleichsam  eine  Reaktion  gegen 
Bülow.  Weiter  wären  noch  Mahler,  Levi,  Schuch,  Mottl, 
Fiedler,  Richter,  Hausegger  und  viele  andere  zu  nennen. 
Ihnen  gerecht  zu  werden  ist  einer  späteren  Zeit  vorbehalten, 
denn  wie  sich  mit  den  Jahren  aus  der  musikalischen  Massenpro- 
duktion unserer  Tage  nur  wenige  Werke  von  bleibendem  Wert 
herausschälen,  so  wird  auch  die  Nachwelt  unter  der  Unmenge 
von  Dirigenten,  die  sich  in  unserer  Zeit  hören  lassen,  nur  wenige 
Charakterköpfe  finden.  Die  Orchesterleitung  ist  zu  einer  selb- 
ständigen Kunst  geworden,  die  nicht  mehr  an  schaffende  Musiker 
gebunden  ist,  und  die  ihr  Hauptziel  in  der  individuellen  Inter- 
pretation sieht. 


Namen-  und  Sachregister. 


Abert,  Hermann,  4,  9,  10,214,216, 
217,  251. 

Adam  von  Fulda  39,  Taktdefinition 
40,  Taktzeichen  48. 

Adlung,  Jakob,  Nachricht  von  der 
Taktstockdirektion  in  Deutschland 
153,  Protest  gegen  den  Taktierlärm 
und  gegen  unfähige  Dirigenten  157. 

Adolphati,  Le  Sieur,  118. 

Aelredus,  Nachricht  von  Unmanie- 
ren  beim  Kirchengesang  19. 

Aeschines,  Erklärung  des  ßaxa- 
Xov  5. 

Affekt,  Tempoführung  nach  dem 
Affekt  21,  102f.,  106f.,  220,  229  f., 
232,  239  f.,  278,  281  f.,  290,  316, 
326,  330  f.,  336  f.  Berücksichtigen 
des  Affekts  beim  Akkompagnement 
83,  106,  Affektenlehre  im  Renais- 
sancezeitalter 102  f.,  im  18.  Jahr- 
hundert 222  f.,  230  f.,  Affektenbe- 
stimmung  in  der  Vokalmusik  234  f., 
in  der  Instrumentalmusik  236  f. 

Agazzari,  Agostino,  über  Instru- 
mentenspiel und  Improvisation  im 
17.  Jahrhundert  79  f.,  über  den 
neuen  Stil  der  Renaissance-Litera- 
tur 84,  103,  über  Ausführung  des 
Akkompagnements  84,  86,  106. 

Agogischer  Akzent  140,  siehe 
>Pointer«. 

Agricola,  Martin,  51,  52,  54,  70, 
Taktdefinition  41,  47,  Beispiel  vom 
Taktschlagen  48  f. 

Ahle,  Joh.  Rud.,  74,  87,  111,  Vor- 
schläge zur  Aufführung  seiner  geist- 
lichen Arien  102. 

Akzente  und  Neumenschrift  22  f. 

Akzentneumen  23  f. 

AI  brecht,  Johann  Lorenz,  Taktier- 
form des  Gruppentakts  151. 

A  lessandri,  Feiice  264. 

A  llatius,  Leo,  19. 

Altmann,  Wilhelm,  274. 

Ambros,  A.  Wilhelm,  85,  93,    109. 

Ammerbach  (Elias  Nicolaus),  Bild- 
liche Darstellung  einer  Musikauf- 
führung 44,  66. 


A  m  o  n  ,  Blasius,  Bildliche  Darstellung 
einer  Musikaufführung  66. 

Anhalt  Zerbstsche  Kapelle  180. 

Anonym,  Bericht  eines  Anonymus 
aus  dem  11.  Jahrhundert  18  f.  — 
Traktat  >de  signis  musicalibus« 
41,  59,  70.  —  Musicae  rudimenta 
(1645)  89.  —  Principii  di  musica 
(1 708)  1 23  f.  —  Lettre  sur  le  möcha- 
nisme  de  Fopera  italien  (1756)  125. 
—  Anonymus  (1803)  256,  257,  303, 
siehe  auch:  Bemerkungen,  Bieder- 
mann, Gespräch. 

Anordnung  eines  mehrchörigen 
Musikstücks  97  f. 

Ansbachische  Kapelle  181. 

Aribo  30. 

Aristides,  s.  Quintilian. 

Aristoteles  5,  Tempoführung  in 
den  griechischen  Chorgesängen 
10. 

Aristoxenos,  Taktlehre  und  Ver- 
teilung von  Auf-  und  Niederschlag 
in  der  griechischen  Musik  5  f. 

Aron,  Pietro,  Taktdefinition  46. 

Arteaga  183. 

Aßmaier,  Ignaz,  269. 

Atterbohm,  schwedischer  Dichter, 
267,   268. 

Aubry,  Pierre,  73. 

Aufstell  ungdesChorsinderchrist- 
lichen  Kirche  17,  18,  in  der  griechi- 
schen Kirche  19,  in  der  Zeit  des  a 
cappella-Stils  62  f.,  des  Orchesters 
in  der  Oper  des  17.  Jahrhunderts 
78,  85,  der  Chöre  in  der  Renaissance- 
Zeit  86,  97  f.,  im  18.  Jahrhundert 
bei  mehrchörigen  Musikwerken  1 55, 
194  f.,  Aufstellung  des  Orchesters 
und  Chors  bei  Saal-,  Kirchen-  und 
Opernaufführungen  im  18.  Jahr- 
hundert 186  f.,  im  19.  Jahrhundert 
305  f.,   319,  340  f. 

August  in  27,  Nachricht  über  das 
Taktschlagen  30. 

Augustodunensis,  s.  Honorius. 

Aurelianus  Reomensis  13. 


346 


Namen-  und  Sachregister. 


Bacchius  8,  Thesis  und  Arsis  er- 
klärt 5. 

Bach,  C.  Ph.  Emanucl,  177,  234,  253, 
258,  Einteilen  von  zusammenfallen- 
den, verschiedenen  Rhythmen  59, 
Taktschlagen  bei  großen  Musikauf- 
führungen 154,  Klavierdirektion 
160  f.,  Stellung  des  Konzertmeisters 
im  Orchester  188,  über  die  Dyna- 
mik 211  f.,  213,  215,  Affektenlehre 
230,  231,   237. 

Bach,  Joh.  Ernst,  255. 

Bach,  Michael,  72. 

Bach,  Seb.,  58,  159,  178,  211,  219, 
290,  als  Dirigent  160. 

Bachmann  188. 

Baculus  episcopi  vel  abbati  18,  19, 
—  cantoris  42. 

Bahr,  Johann,  114,  146,  157,  Nach- 
richt von  allerlei  Mißbräuchen  beim 
Dirigieren   11  2  f. 

Bässe,  ihre  Besetzung  im  18.  Jahr- 
hundert 184  f.,  ihre  Aufstellung  im 
Orchester  186  f. 

Baillot,  Pierre,  319. 

Ballard,  Christophe,  128. 

Bamberg,  Kirchenmusik  182. 

Banchieri,  Adriano,  94,  Taktstock- 
direktion 88,  Hilfsmittel  bei  der 
Taktangabe  89,  Beispiele  für  das 
Taktschlagen  92  f.,  Sonett  von  Pisa 
96,  Angabe  von  dynamischen  Vor- 
tragszeichen 10  4. 

Basso  continuo  69 f. ,  Spiel  nach 
dem  Continuo  80  f.,  Direktion  nach 
dem  Generalbaß  99,  161  f.,  165  f. 
(siehe  auch  Klavierdirektion!,  Ende 
der  Generalbaßzeit  255  f.,  257,  263. 

Becker,  C,  44. 

Beethoven,  Ludwig  v.,  177  (Anm.), 
253,  25  4,  255,  265,  266,  267,  269, 
271,  280,  285,  286,  289,  291,  294, 
299,  303,  318,  319,  320,  321,  322, 
328,  329,  330,  332,  334,  335,  338, 
339,  341,  342,  344,  als  Dirigent 
267  f.,  Orchesterbesetzung  bei  den 
Proben  zur  7.  und  8.  Sinfonie  302, 
304. 

Bekker,  Paul,  276,  343. 

Bellermann,  Fr.,  Anonymi  Sriptio 
de  musica  7  f. 

Bemerkungen  eines  Reisenden  179, 
204,  257,  258,  Orchestertafeln  188, 
189,  202. 

Benda,  Franz,  264,  als  Violinspieler 
und  Konzertmeister  207 f. 

Bentheim-SteinfurtischeKapelle 
181. 


Bericht  über  eine  Osterfeier  in  Ingel- 
heim 17. 

Beringer,  Maternus,  über  die  Takt - 
Stockdirektion  88,  über  Verteilung 
von  Auf-  und  Niederschlag  in  den 
Taktarten  des  1 7.  Jahrhunderts  90  f. 

Berliner  Hoforchester,  Besetzungs- 
etat (vom  Jahre  1754,  1782,  1787) 
179,  Berliner  Liebhaberkonzert  (Or- 
chestertafel) 188,  189,  198,  200, 
Berliner  Orchestervortrag  207  f., 
Opernorchester  in  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts  304,  Stellung 
der  Instrumente  314,  315. 

Berlioz,  Hector,  125,270,276,288, 
294,  296,  297,  300,  301,  317,  318, 
321,  322,  328,  330,  332,  333,  als 
Dirigent  323  f.,  über  die  Orchester- 
besetzung in  Deutschland  304,  über 
die  Stellung  der  Instrumente  313, 
319,  über  die  Tempoführung  in 
Deutschland  317,  über  das  Diri- 
gieren 325  f. 

Bermudo  35,  41,  70,  Taktstock- 
direktion 43,  44. 

Berno  von  Reichenau  30. 

Biedermann,  ein  teutscher  178, 
182,  183,  201,  257,  Betrachtungen 
über  die  Direktion  einer  Musik 
173  f.,  Besetzung  der  Bässe  im 
Orchester  185,  Aufstellung  des  Or- 
chesters 186,  Tempo  rubato  207, 
Berliner  Orchestervortrag  208. 

Biedermann,  Joh.  Gottl.,  Rektor 
159. 

Bischoff,  Kantor  271,  308. 

Blahozlav,  J.,  4  6,  Taktstockdirek- 
tion 43. 

Blaze  de  Bury,  Henry,  323. 

Boetius  12,  27,  68. 

Bonn,  Churf.  Kapelle  181. 

Bononcini,  Giovanni  Maria,  96, 
Taktlehre  76,  91. 

Bontempi,  Andrea,  Taktdefinition 
87,  Lehre  von  der  Einteilung  der 
Noten  auf  Nieder-  und  Aufschlag 
91,  Nachricht  von  unfähigen  Diri- 
genten 1 1 2. 

Borde,  La  153. 

Bordier,  Abbe  Louis-Charles,  135. 

Bortoli,  Anton.,  124. 

Boßler  (Herausgeber  der  Mus.  Real- 
zeitung) 251. 

Boticelli,  Sandro,  40,  61. 

Bottrigari,  Ercole,  44,  77. 

B  r  a  n  i  c  k  i ,  Graf  in  Polen,  Etat  seiner 
Kapelle  180. 


Namen-  und  Sachregister. 


347 


Bratsche,  schwache  Besetzung  der 
B.  im  18.  Jahrhundert  183  f.,  Be- 
setzung  im    19.  Jahrhundert  303  f. 

Brenet,  Michel,  126. 

Breslauer  Kapelle  180. 

Briefe  zur  Erinnerung  an  merkw. 
Zeiten  171,  179. 

Brossard,  Seb.  de,  Unterscheidung 
der  Tripeltakte  119.  Definition  des 
»Ondeggiandc-c  123,  128,  dyna- 
mische Vortragszeichen  214. 

Brosses,  Charles  de,  Unterschei- 
dung von  Kirchenmusik-  und  Opern- 
direktion in  Italien  154,  Nachricht 
von  großen  Orchesterbesetzungen 
in  Italien  183,  von  der  Crescendo- 
und   Decrescendomanier  217,   218. 

Buchner,  Fundamentbuch  53. 

Bücher,  Karl,  2. 

Bülow,  Hans  von,  291,  301,  als 
Dirigent  342  f. 

Burgmüller,  Norbert,  286. 

Burmeister,  Joachim,  61,  62. 

Burney,  Karl,  178,  183,  209,  216, 
250,  251,  Orchester-  und  Chor- 
stellung bei  der  Londoner  Hiindel- 
feier  196,  199,  Benda  als  Violin- 
virtuose 208. 

Buxtehude,   Dietrich,  72. 

Caccini,  Giulio,  213,  über  dyna- 
mische Vortragseffekte  105. 

Caffi  61. 

Caldara,  Antonio,  155. 

Calvisiana  61. 

Calvisius,  Sethus,  69. 

Ca  mpra,  Andrej  135. 

Cange,  Du  20. 

Cannabich,  Christ.,  209. 

Capella,  s.  Martianus. 

Carissimi,  Giacomo,  70,  120,  über 
Tempoführung  im  17.  Jahrh.  107  f. 

Ca  r  1 ,  Prinz  und  Markgraf,  Etat  seiner 
Kapelle  179. 

Carmina,  Adhelmi,  23. 

Carpentras,  Eleazar  Genet,  50. 

Caspari,  Wilhelm,  231. 

C  assiodorus  12.  27. 

Castiglione,  Baldassare,  69,  103. 

Castil  Blaze  125. 

Cavaliere,  Emilio,  77. 

Gavalli,  Francesco,  71,  78,  340. 

Cedrenus,  Nachricht  von  der  Cheiro- 
nomie  20. 

Cerone,  Pedro,  87. 

Cesti,  Marc'  Antonio,  71,  78,  79, 
Orchesterbesetzung  einer  Serenata 
85,  Orchesterbild  von  der  Auffüh- 
rung des  >Pomo  d'orot  85. 


Chamilon,  Neumenfigur  19. 

Cheironomie  bei  den  alten  Kultur- 
völkern 2  f.,  20,  in  der  christ- 
lichen Musik  12,  17  1'.,  in  St.  Gallen, 
Mainz,  Mailand  und  Monte  Cassino 
gebräuchlich  17  f.,  in  Griechen- 
land 19  f.,  Cheironomie  und  Sprach- 
akzente 22  f. ,  Cheironomie  und 
Neumensch rift  24  f.,  Cheironomie- 
zeichen  in  den  Papadiken  25  f. 

Cheironomikos,  der  cheirono- 
mierende  Dirigent  18. 

Cherubini,  M.  Luigi,  281,  285, 
286,  319. 

Chopin,  Fr.,  318,  328. 

Choquet,  (Henri  Louisj,  145,  franzö- 
sische Taktierform  133  f.,  Vor- 
schläge, die  Direktionsbewegungen 
ohne  Lehrer  zu  erlernen  134 f.,  vom 
Pointieren  139,  Tempobestimmung 
225,  226. 

Choralnotenschrift,  s.  Neumen, 
viereckige  Choralnoten  35. 

Chorbesetzung  im  15.  u.  16.  Jahr- 
hundert 60  f. 

Chor  buch,  Anlage  im  15.  und 
16.  Jahrhundert  63,  ebd.  Direktion 
aus  dem  Chorbuch. 

Chorführer  der  Griechen  9  f. 

Christ,  W.  und  Paranikas,  2. 

Chrono  s  protos  in  der  griechi- 
schen Musik  5,  38. 

Chrysander,  Fr.,  2,  257. 

Chybinsky,  Adolf,  43,   61. 

Clement,  Franz,  266. 

Cochläus  61. 

Coclicus,  Adrian  Petit,  62. 

Colasse,  P.,  226,  227. 

Con  ducto  r  262. 

Conrad,  Kaiser  17. 

Cons  tit  utio  nes      Lichefeldenses, 
über  das  Amt  des  Kantors  (Präzen- 
tors)  und  Succentors  21. 

Cornelius,  Peter,  329. 

Corrette,  Michel,  119,  französische 
Taktierform  135,  pointierter  Vor- 
trag in  der  französischen  Musik- 
übung 136,  138,  141,  Taktschlagen 
in  der  italienischen  Chormusik  154. 

Corvinus,  Joh.  Michael,  88,  110, 
Nachricht  vom  lautlosen  Takt- 
schlagen 115. 

Cotto,  Johannes,  über  die  Unsicher- 
heit der  Neumenschrift  27,  28. 

Coussemaker  23,  35,  38,  39. 

Cousser,  Joh.  Sieg.,  als  Dirigent 
250. 


348 


Namen-  und  Sachregister. 


Cramer,  Karl  Friedrich,  125,  151, 
156,  173,  179,  180,  181,  243,  251, 
258,  Berliner  Orchestervortrag  208, 
Tempoführung  247. 

Crappius,  Andreas,  76,  Taktdefini- 
tion 86. 

Crescendo  (und  Decrescendo)  in 
der  Renaissance-Literatur  105  f.,  im 
18.  Jahrhundert  21  3  f.,  Spezialität 
des  Mannheimer  Orchestervortrags 
209,  —  im  Berliner  Orchesterspiel 
264. 

Cristofori,  Bartol.,  216. 

Cruce,  Petrus  de,  Musikbeispiel  51. 

Crüger,  Joh.,  91. 

Cup  hos,  Neumenfigur  19. 

Dard  119,  pointierter  Vortrag  138, 
139. 

Darmstadt,  Opernorchester  in  der 
ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
304,  Stellung  der  Instrumente  31  3, 
Musikfest  in  D. ,  Orchester-  und 
Chorstellung  311,  312. 

Dauvergne,  Direktor  126. 

Davantes,  Pierre,  54,  Taktdefinition 
46. 

David,  Ferdinand,  170,  257,  287, 
293,  298. 

Debussy,  Claude,  117. 

Decrescendo,  s.  Crescendo. 

Dedekind,  Henningus,  48. 

Deldevez,  E.  M.  E.,  296,  319,  321, 
322. 

Demantius,  Chr.,  76,  84,  über  den 
Tripeltakt  75. 

D  e  m  o  t  z  (de  la  Salle),  Taktlehre  1 1 9, 
französischeTaktierform  1 32  f.,  poin- 
tierter Vortrag  1 38  f.,  Taktieren  nach 
ganzen  Takten  150,  Tempobestim- 
mung 220  f.,  Tempovorschriften  221. 

Desponsatione,  s.  Justinus. 

Devrient,  Ed.,  261,  283,    284,    288. 

Diaconus,  Johannes,  16. 

Dies,  Alb.  Christ.,  172. 

Diodor  von  Tarsus,  Nachricht  von 
der  frühchristlichen  Kirchenmusik 
14. 

Direktionsstimme  164  f.,  319 
(siehe  auch  Basso  continuo  und 
Klavierdirektion). 

D  iruta,  Girolamo,76,  Taktdefinition 
87,  Beispiel  für  die  Taktierbewe- 
gungen 92 ,  Tempomodifikation 
110. 

Discantus  positio  vulgaris  35. 

Dissonanzen  als  Kennzeichen  für 
die  Affektbestimmung  237  f. 

Dittersdorf,  Ditters  v.,  183,  204. 


Döbbelinsche  Schauspielgesell- 
schaft 180,  183. 

Dörffel,  Alfred,  179,284,  286,289, 
294,  333,  Orchestertafel  187. 

Doles,  Joh.  Fried.,  159. 

D  o  n  i ,  Giov.  Batt.,  84,  über  das  Takt- 
schlagen bei  einer  Opernaufführung 
85  ,  Anordnung  der  Aufführung 
86. 

Doppeldirektion  im  18.  Jahrhun- 
dert 170  f.,  262. 

Dorn,  Heinrich,  275,  276,  277,278, 
296,  303. 

Dresdener  Hoforchester,  Besetzung 
(im  Jahre  1753,  1756,  1783)  179, 
(in  der  ersten  Hälfte  des  1 9.  Jahr- 
hunderts) 303 f.,  Orchesterstellung 
in  der  Oper  unter  Hasse  200,  in 
der  Dresdener  Hofkirche  305  f.,  bei 
Konzertaufführungen  auf  der  Bühne 
308,  in  der  Oper  (erste  Hälfte  des 
1 9.  Jahrhunderts)  31 2,31 3,  Dresdener 
Orchestervortrag  im  I  S.Jahrhundert 
205  f. 

Dreßler,  Ernst  Christ.,  über  die 
Orchesterbesetzung  184,  Gegner 
des  Spiels  mehrerer  Instrumente 
bei  den  Orchestermusikern  193. 

Dreßler,  Gallus,  52. 

Dunstaple,  Musikbeispiel  51. 

Dupont,  Henri  Bonav.,  französische 
Direktionsform  1 32,  Nachricht  von 
der  jambischen  Taktierform  des 
Dreitakts  132,  144. 

Dynamik  in  der  a  cappella-Literatur 
62,  in  der  Renaissanceliteratur  1 0  4  f., 
im  18.  Jahrhundert  211  f.,  im  19. 
Jahrhundert  316,  337  (s.  auch  die 
Dirigenten-Charakteristiken). 

Eckard,  Joh.  Gottfr.,  318. 

Eckardt,  Jul.,  287,  289,290,293, 
320. 

Eckert,  Karl,  270. 

Ecorche ville,  Jules,  96. 

Einführung  griechischer  Lehren 
in  die  Theorie  des  Gregorianischen 
Chorals  29  f. 

Einrichtung  von  Werken  der  a 
cappella-Zeit  für  Instrumental- und 
Vokalmusik  100  f.,  Einrichtung  der 
Werke  des  17.  Jahrhunderts  101  f. 

Einstimmen  der  Instrumente  203  f. 

Einstudieren  der  Orchester- 
musiker 205  f.,  210. 

Ekkehard  IV.  aus  St.  Gallen   17. 

Elwart,  A.,  319,  321. 

Epitaphium  des  Seikilos,  Taktbe- 
zeichnung und  Direktion  9  f. 


Namen-  und  Sachregister. 


349 


Erculeo,  Marzio,  Nachricht  von 
einer  lautlosen,  nicht  sichtbaren 
Führung  des  Chorgesangs  H5. 

Eschenb  ur  g  183. 

Esterhaz,  Kapelle  in,  182. 

Euclit  95. 

Eyck,  Genter  Altarwerk  40,  41,  61. 

Faber,  Heinrich,  Taktdefinition  47, 
Nachricht  vom  Minimentakt  52, 
vom  Einteilen  gleichzeitig  auftreten- 
der verschiedener  Takte  58,  59. 

Fabian,  Stadtmusikus  (Pseudonym) 
260,  261, 

Falck,  Georg,  74,  Taktdefinition  89. 

Farinelli,  Christ.,  204. 

Fattorini,  Gabriel  da  Faenza,  71. 

F  e  1  sz  t  y  n ,  Seb.,  bildliche  Darstellung 
in  seinem  Musikbuch  61. 

F6tis,  F.  J.,  2,  260,  328. 

Fe  ußner  5,  6. 

Fiedler,  Max,  344. 

F  i  n  c  k ,  Hermann,  51,54, 62,  Nachricht 
vom  gleichmäßigen  Taktschlagen 
54  f.,  Bild  von  einer  Musikaufführung 
mit  Instrumentalbegleitung  66. 

Fleischer,  Oskar,  2,  19,  20,  23,  26. 

Forkel,  Nicolaus,  179,  180, 181, 182, 
183,  257,  279,  Aufsatz  über  die 
Direktion  einer  Musik  172. 

Franken  hausen,  Musikfest  271, 
310,  Orchesterbesetzung  304,  Or- 
chesterstellung 308  f. 

Freschi,  Domenico,  78. 

Frescobaldi,  Girolamo,  71,  74,  76, 
über  das  Retardieren  93,  über  die 
Tempomodifikation  109. 

Friderici,  Daniel,  87,  Nachricht 
von  der  Taktstockdirektion  88,  vom 
Retardieren  vor  dem  Abschluß  eines 
Musikstücks  93,  von  der  Tempo- 
modifikation 109  f.,  Protest  gegen 
den  Taktierlärm  111  f.,  lautloses 
Taktieren  115  f. 

Friedrich  der  Große  207,  264. 

Friedrich  Heinrich  v.  Schwedt, 
Etat  seiner  Kapelle  180. 

Friedrich  Wilhelm  III.  274. 

Führung  durch  den  Vorsänger  2, 
21,  22,  31,   38  f.,   115. 

Fürstenau ,  M.,  179. 

Fuhrmann,  Martin  Heinrich,  71, 
1 1 9,  getrennte  Aufstellung  der  Chöre 
bei  einer  Kirchenmusik  155,  Pro- 
test gegen  den  Taktierlärm  und 
praktische  Vorschläge  für  die  Direk- 
tion 156,  157,  Definition  des  mezzo 
piano  214,  Tempobestimmung  220, 
Taktarten-Charakteristik  237,   238. 


Funccius,  Fredericus,  76. 
Fundament  -  Instrumente      im 

17.  Jahrhundert  69  f.,  77  f.,  80  f. 
Fux,  Joh.  Jos.,  155,  160,  199. 

G.  G.  G.,  Taktierfiguren  des  Gruppen- 
takts 150. 

Gabrieli,  Andrea,  104. 

Gafurius  35,  40,  Dauer  des  ein- 
maligen Nieder-  und  Aufschlags  54. 

Gagliano,  Marco  da,  71,  77. 

Galilei,  Vincenzo,  Vorkämpfer  der 
Renaissancebewegung  103. 

Ganassi,  Sylvestro  di,  62. 

Gaspari,  Gaetano,  115. 

Gassner,  F.  S.,  273,  305,  306,  307, 
308,  313,  Buch  über  das  Dirigieren 
298  f.,  31  6f.,  327,   339. 

Gaviniö  126. 

Gebauer,  Franz  Xaver,  265. 

G  ehr  mann,  Herrn.,  153  (Anm.  6). 

Geminiani,  Franc,  Zeichen  für  An- 
und  Abschwellen  des  Tones  213. 

Generalbaß,  s.  Basso  continuo. 

Gerbers  Lexikon  179,  183,  206,  264, 
265. 

Gerbert,  Martin,  13,  14,  16,  18,  19, 
21,  22,  23,  27,  28,  29,  30,  32,  33, 
34,  39,  42,  48. 

Gerle,  Hans,  Nachricht  vom  gleich- 
mäßigen Taktschlagen  55  f. 

G  esner,  Herausgeber  des  Quintilian 
5,  23,  160. 

Gespräch  von  der  Musik  (Voigt) 
158. 

G  evaer  t,  F.  A.,  11. 

Giornale  de'  Letterati  216. 

Glasenapp,  C.  Fr.,  341. 

Gluck,  Chr.  (Ritter  v.),  253,  264, 
265,  278,  299,  300,  322,  335,  340, 
als  Dirigent  251  f. 

Goar,  Euchologium  graecum  19. 

Goldschmidt,  Hugo,  78,  79,  84, 
106. 

Gorius,  Franc,  Herausgeber  der 
Werke  Donis  und  Pietro  dellaValles 
84,  86. 

Gothaer  Kapellmusik  180,  183. 

Goudar,  Ange,  Protest  gegen  den 
Taktierlärm  in  der  französischen 
Oper  125,  Unterscheidung  von 
Kirchenmusik-  und  Operndirektion 
in  Frankreich  154. 

Graun,  Joh.  Gottl.,  als  Konzert- 
meister 207,  208. 

Graun,  Karl  Heinr.,  161,  169,  171, 
175,  247,264,  Orchesterstellung  in 
der  Berliner  Oper  202,  als  Kapell- 
meister 207. 


350 


Namen-  und  Sachregister. 


Gregor  der  Große  12,  15,  16. 

Grenser,  Carl  Augustin,  Flötist  im 
Gewandhausorchester  287. 

Gr6try,  Andre,  125. 

Grimm  (Friedr.  Melch.),  Baron  von, 
200,  Protest  gegen  den  Taktier- 
lärm 125. 

G  r  u  b  e  r ,  Erasmus,  87.  Theorie  über 
Beginn  und  Ende  des  Takts  94, 
Tempomodifikation  110. 

Guerin,  C,  153. 

Guhr,  Karl  W.  Ferd.,  297,  317. 

Guido  13,  31,  36,  Rhythmenlehre 
27,  29  f. ,  Taktschlagen  in  metri- 
schen Gesängen  30. 

Guido  tti,  Aless.,  77. 

Guiliani,  Francesco,  71. 

Gyrowetz,  Adalbert,  "Violindirigent 
171  f. 

Habeneck,  Anton  Franz,  165,  257, 
290,  294,  323,  324,  330,  334,  als 
Dirigent  31 9  f.,  Orchesterbesetzung 
und  -Stellung  319. 

Haberl,  F.  X.,  42,  60,  97. 

Händel,  G.  Fr.,  183,  186,  196,  197, 
214,  219,  254,  298,  304,  305,  als 
Kapellmeister  251. 

Hahn,  Hermann  Joachim,  178,  Or- 
chester- und  Chorstellung   195. 

Haiden,  Hans,  über  Tempomodifi- 
kation  110. 

Hals,  Franz,  bildliche  Darstellung 
96. 

Handwörterbuch,  Musikalisches 
219,  223. 

Hanemann,  Moritz,  276,  277. 

Hanslick,  Eduard,  177  (Anm.),  262, 
265,    266,   268,   269,   270,   305,   331. 

Harnack,  Herausgeber  des  Diodor 
14. 

Harnisch,  Otto  Sigfr.,  76. 

Hase,  Wolfgang,  74,  87,  92,  Nach- 
richt von  der  Taktstockdirektion 
88. 

Hasse,  Joh.  Ad.,  161,  171,  175,  264, 
310,  Orchesterstellung  in  Dresden 
199,  200,  201,  als  Kapellmeister 
206  f.,  Dynamik  206,   214. 

Haßler,  H.  Leo,  75. 

Hauptmann,  Moritz,  273,  Gegner 
der  Taktstockdirektion  260. 

Hauschka,  Vinc,  265. 

Hausegger,  Siegmund  v.,  344. 

Hauser,  Franz,  260,  273. 

Haydn,  Joseph,  169,  253,  254,25:;, 
261,  262,  266,  271,  286,  290,  293, 
305,  318,  als  Klavierdirigent  172. 

Hayter,  J.,  153  (Anm.  6\ 


Hefner,  J.  v.,  44. 

Heinichen,  Joh.  Dav.,  258,  Affekten- 
lehre 230,  Affektendarstellung  234  f., 
Charakter  des  i2/8-Takts  238. 

Heinrich,  Prinz  von  Preußen,  Etat 
seiner  Kapelle  179. 

Helfert,  Wladimir,  44. 

Hellmesberger ,  Georg,  (d.  ältere) 
269,  270. 

Hell  w  ig,  Regisseur  280. 

Hensel,  S.,  284,  288,  289,290,297, 
319,   320. 

Herbing,  Valentin,  255. 

Herbst,  Joh.  Andreas,  Erklärung 
dynamischer   Vortragszeichen  105. 

Heuß,  Alfred,  214,  231. 

H e  y  d e n ,  Sebald,  Taktlehre  53,  Musik- 
beispiel 56  f.,  59. 

Hieronymus,de Moravia,  Definition 
des  cantus  planus  35,  Nachricht 
vom  Präzentor  38  f. 

Hilfsmittel  bei  der  Taktangabe 
45,  88 f.,  s.  auch:  Taktstockdirek- 
tion. 

Hiller,  Ferdinand,  278,  284,  285, 
286,  288,  299,  317,  320,  324,  als 
Dirigent  298. 

Hiller,  Joh.  Adam,  119,  142,  150, 
153,  158,  177,  179,  183,  206,  207, 
213,  251,  285,  über  die  französi- 
sche Taktstockdirektion  1 26,  Gegner 
der  französischen  Taktierform  141, 
Nachricht  von  der  italienischen 
Direktionsform  143,  von  der  Direk- 
tion des  Dreitakts  143,  144,  von 
der  Recitativbegleitung  168,  Or- 
chester- und  Chorstellung  bei  der 
Messias-Aufführung  in  Berlin  197, 
198,  Tempoführung  229,  241,  An- 
hänger der  Affektenlehre  230,  Kritik 
der  AfTektentheorie  Heinichens  235, 
als  Dirigent  250. 

Hirzel,  Bruno,  60. 

Histoire  du  theatre  de  l'academie 
royale  125. 

Hizler,  Daniel,  über  die  Einteilung 
der  Noten  auf  den  Nieder-  und 
Aufschlag  90/91,  über  die  Taktier- 
bewegung im  Tripeltakt  95. 

Hoffmann,  Christian,  72,  92,  Bild- 
liche Darstellung  einer  Unterrichts- 
stunde 88. 

H  o  f  f  m  a  n  n ,  Euch.,  52,  Taktdefinition 
47,  Resolutio  des  ungeraden  Taktes 
59. 

Hof  mann,  Anton,  177. 

Holz,  Carl,  269. 

Holzbauer,  Ign.,  264. 


Namen-  und  Sachregister. 


351 


H  o  n  o  r  i  u  s  ,  Augustodunensis,  Nach- 
richt vom  Präzentor  20,  vom  Diri- 
gieren 22,  vom  Kantorstab  42. 

Hoplit,  Pseudonym  für  Rieh.  Pohl 
261,  332  (s.  Pohl). 

Hostinsky,  Ot.,  44. 

Hotteterre,  Louis,  über  den  poin- 
tierten Vortrag    137  f. 

Hucbald,  27,  31,  36,  Rhythmenlehre 
28  f.,  Taktschlagen  im  Unterricht 
30,  Organum  32. 

Hummel,  Joh.  Nep.,  269. 

Hymnus,  delphische  9,  des  Meso- 
medes  10,  Hymnen  des  Gregoria- 
nischen Chorals  15,  taktmäßige 
Ausführung  30  f. 

Improvisation  im  Orchesterspiel 
des  17.  Jahrhunderts  79  f. 

Instituta  patrum  de  modo  psallendi 
21. 

Instrumentalbegleitung  in  den 
Werken  der  a  cappella-Zeit  39,  65  f. 

Instrumentenspiel  im  4  7.  Jahr- 
hundert 78  f. 

Intervalle  als  Kennzeichen  zur 
Affektbestimmung  237. 

Inversion  der  Taktzeichen  76,  1  1 8. 

Jacches  de  Werth  100. 

Jacquot,  Albert,  bildliche  Darstel- 
lung einer  Musikaufführung  97. 

Jahrbuch  der  Tonkunst  von  Wien 
und  Prag  177. 

Jan,  Carl  v.,  5,  9. 

Janowka,  Thomas  Balthasar,  149, 
221,  Lehre  vom  Taktschlagen  145  f., 
Definition  des  mezzo  piano  214, 
Generalaffekte  222,  Taktarten-Cha- 
rakteristik 238. 

Jommelli,  Niccol.,  175,  216,  217, 
219,  253,  254,  als  Dirigent  251. 

Jonicon,  Neumenfigur  19. 

Jos  quin  d.  Pres,  Musikbeispiele  51, 
52,  56  f. 

J  o  s  q  u  i  n ,  Jan,  böhmischer Priester4  4 . 

Jumilhac,  Pierre  Benoit  35. 

Junker,  Carl  Ludwig,  162.  178,  186, 
194,  203,  20  4,  282",  299,  Theorie 
einer  neuen  Direktionsform  des 
Gruppentakts  1 51  f.,  Unterscheidung 
von  Kirchenmusik-  und  Opern- 
direktion 154,  Vorschläge  für  die 
Aufstellung  eines  Orchesters  190  f., 
Nachricht  von  der  Chor-  und 
Orchesterstellung  in  Mannheim  198, 
199,  über  das  MannheimerOrchester- 
spiel209,  Tempoführung  233,  242  f., 
Politik  desKapellmeisters 249  f.,  251. 


Justinus  aDesponsatione, Anhänger 
der  italienischen  Direktionsform  des 
Gruppentakts  142f.,  144. 

Kade,  Otto,   42. 

Kämpfer,  Joseph,  251,  252. 

Kaiser,  Georg,  281. 

Kalkbrenner,  Christ.,  1 19, moderne 
Taktierfigur  des  Gruppentakts  151, 
Tempo  rubato  207,  über  die  Cre- 
scendo- und  Decrescendo-Zeichen 
218,  Taktdefinition  223. 

Ka  l  liwoda,  JohannWenceslaus,  286. 

Kandier,  Franz  S.,  310. 

Kanonarch,  der  Chorführer  in  der 
griechischen  Kirche  20. 

Karl  der  Große  15,  32. 

Kassel,  Hofmusik  181,  Opern- 
orchester in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  304,  Stellung  der 
Instrumente  312,  313. 

Kienle,  Ambrosius,  17,  18,  19,20,  22. 

Kilian,  Bartholomäus,  Darstellung 
einer  Musikaufführung  unter  freiem 
Himmel  88,  160  (Anm.  4). 

Kilian,  Wolfgang,  Bilderzyklus  der 
neun  Musen  88. 

Kinkeldey,  Otto,  39,  61,  63,  68, 
69,  70,   71,  77,  79,  80,  85,  141. 

Kircher,  Athanasius,  94,  Hilfsmittel 
bei  der  Taktangabe  88  f.,  Tempo- 
modifikation 1 10. 

Kirnberger,  Johann  Philipp,  118, 
238,  240,  257,  über  das  Kapell- 
meisteramt 171. 

Klavierdirektion  im  17.  Jahrhun- 
dert 70,  76,  79  f.,  84  f.,  122,  im 
18.  Jahrhundert  128,  154  f.,  160, 
161  f.,  172 f.,  im  19.  Jahrhundert 
256  f. 

Kleefeld,  Wilhelm,  199. 

Klein,  Joh.  Jos.,  162,  219. 

Klemm,  Mitglied  und  Dirigent  der 
»Gesellschaft  der  Musikfreunde«269. 

Kien  gel,  Moritz  Gotthold,  287. 

Klingemann,  Karl,  285. 

Koch,  Heinr.  Christ.,  152,  170,  183, 
184,  186,  204,  302,  303,  Unter- 
scheidung von  Kirchenmusik-  und 
Operndirektion  155,  Kapellmeister- 
und  Konzertmeisteramt  171,  Or- 
chesterstellung 200  (Anm.). 

König,  Übersetzer  des  Scipione  Maffei 
216. 

Konzertmeister,  Titel  des  Violin- 
direktors 170,  Leiter  der  Instru- 
mentalmusik 170,  171,  172f.,  177, 
Stellung  im  Orchester  1 88  f.,  Bildner 
des  Orchestervortrags  205  f.,  209  f. 


352 


Namen-  und  Sachregister. 


Krause,  Gottfried,  250. 

Krebs,  Karl  August,  297,  317. 

Kretzschmar,  Hermann,  230,  231, 
234,  255. 

Kretzschmar,  Johannes,  Takt- 
zeichen in  der  Renaissance-Litera- 
tur 7  4,  Taktarten  des  4  7.  Jahrhun- 
derts 75. 

Krille,  Kapellmeister  271. 

Krommer,  Franz,  267. 

Kroyer,  Theodor,  52,  105. 

Kühn  au,  Joh.  Christoph,  156. 

Kuhn,  Max,  106. 

Lachner,  Franz,  286,  297. 

L'Affillard,  pointierter  Vortrag  in 
der  französischen  Musikübung  137, 
Tempobestimmung  224,  225. 

Lagarde,  dynamische  Vortrags- 
zeichen 218. 

La  Mara  332. 

Lambert,  Saint,  135,  145,  149,  150, 
1 53,  227,  Taktlehre  1 1 9,  neue  Direk- 
tionsform des  Gruppentakts  und 
Lehre  vom  Taktschlagen  128  f., 
pointierter  Vortrag  138,  139,  Titel- 
bild seiner  Klavierschule  153, 
Tempobestimmung  220,  224. 

Lamentationes  Jeremiae,  23. 

Lampadius,  W.  A.,  286,  288,  289, 
290,  291. 

Lan  di,  Stefano,  78. 

Lannoy,  Eduard,  Baron  v.,  265, 
269. 

Laser,  Arthur,  332,  335,  342. 

Lassus,  Orl.,  100. 

Laurenzi,  Fil.,  101. 

Lavoix  42,  44. 

Leader  262. 

Leclercq,  Herausgeber  des  Jumil- 
hac  35. 

Leichtentritt,  Hugo,  85,93,  109. 

Leipziger  Konzertgesellschaft,  Or- 
chesterbesetzung 179,  Orchester- 
tafel 187,200,  Konzerte  unter  Hiller, 
Orchesterbesetzung  179. 

Leo  der  Große  16. 

Lettre  sur  le  mechanisme  de  l'opera 
italien,  Verteidigung  der  französi- 
schen Operndirektion  125. 

Levi,  Hermann,  344. 

Liberati,  Antimo,  Nachricht  von 
den  Aufführungen  der  Päpstlichen 
Kapelle  im  17.  Jahrhundert  115. 

L  i  e  b  i  c  h ,  Theaterdirektor  in  Prag  281 . 

Liederhandschrift  aus  dem  Jahre 
1592  (Nürnberg),  bildliche  Darstel- 
lung einer  Musikaufführung  66. 

Lindpaintner,P.  Josef  v.,  297,  317. 


Lingke,  Georg  Friedrich,  237. 

Liszt,  Franz,  272,  288,  318,  324, 
325,  335,  338,  34!  ,  342,  343,  als 
Dirigent  328  f. 

Löhlein,  Johann  Simon,  169,  224, 
240,  Taktschlagen  in  der  Kirchen- 
musik 154,  Protest  gegen  den  Tak- 
tierlärm 15S,  über  die  Crescendo- 
und  Decrescendo  -  Zeichen  218, 
Tempovorschriften  als  Charakter- 
bezeichnung 222. 

Lombardini,  Magdalena,  213. 

London,  Salomon-Haydn-Konzerte, 
Orchesterbesetzung  182. 

Lorenzoni,  Antonio, Unterscheidung 
einer  französischen  und  italieni- 
schen Direktionsform  124,  136. 

Lossius,  Lucas,  51. 

Lotti  (Sängerin)  207. 

Louliö,  Etienne,  150.  221,  Taktlehre 
119,  Lehre  vom  Taktschlagen  nach 
italienischen  Grundsätzen  127  f., 
Tempobestimmung  224,  225. 

Lucca  della  Robbia  40. 

Lucianus,  Nachricht  vom  Fußtak- 
tieren 5. 

Lully,  Jean-Baptiste,  120,  138,  141, 
178,  225,  226,  227,  Taktstockdiri- 
gent 124  f.,  126,  als  Kapellmeister 
250  f. 

Lusitano,  Vincentio  115. 

Maffei,  Scipione,  216. 

Magirus,  Johann,  Taktdefinition  87, 
Taktstockdirektion  88,  Chorführung 
ohne  sichtbares  Taktgeben  116. 

Mahler,  Gustav,  305,  344. 

Mainz,  Churf.  Hof-  u.  Kammermusik 
181. 

Malvezzi,  Cristofano,  77. 

Mannheim,  Aufstellung  von  Chor 
und  Orchester  198,  199,  310,  Or- 
chesterspiel 209,  217,  218,  219. 
Orchesterbesetzung  1 82. 

Maria,  Sancta,  48,  141,  lautloses 
Taktschlagen  44,  45,  Taktschlagen 
der  Instrumentalisten  46. 

Marini,  Biagio,  Anwendung  des 
Wortes  >Tremolo«  103,  Tempo- 
vorschriften 221. 

Marpurg,  Fr.  Wilh.,  126,  143,  145, 
158,  179,  180,  181,  182,  206,  221, 
239,  257,  Taktlehre  119,  Übersicht 
über  die  verschiedenen  Taktier- 
formen des  Gruppentakts  148  f., 
Taktieren  schneller  Rhythmen  150, 
Tempo  rubato  207 ,  Crescendo- 
definition 219,  AlTektenlehre  223, 
Tempomodifikation  248. 


Namen-  und  Sachregister. 


353 


Marschner,  Heinrich,  297. 

Martenius,  Nachricht  vom  Amt  des 
Präzentors  und  Succentors  21. 

Martianus  Capeila  8,  12,  27. 

Marx,  Adolf  Bernh.,  252,  253,  275, 
276,   296,  298,   303,   315. 

Massenorchester  im  18.  Jahrhun- 
dert 183. 

Matthäi,  H.  Aug.,  170,  173,  257, 
285,  286. 

Mattheson,  Johann,  89.  96,  118, 
120,  154,  171,  216  (Anm.)',  250,  251, 
253,  258,  2S2,  Verteilung  der  Noten 
auf  Nieder-  und  Aufschlag  121, 
Gegner  der  französischen  Taktier- 
form 141,  Nachricht  von  neuen 
Direktionsmethoden  143,  von  der 
Choraufstellung  in  der  Kirche  155, 
194,  Protest  gegen  den  Taktier- 
lärm und  praktische  Vorschläge 
für  die  Direktion  15  8,  159  f.,  über 
die  Violindirektion  175,  Orchester- 
stellung 186,  194,  Einstimmen  der 
Instrumente  204,  Tempoführung 
21 9  f.,  Tempovorschriften  als  Cha- 
rakterbezeichnung 222,  Affekten- 
theorie 230,  Stilistik  233  f.,  Themen- 
erfindung 235,  Tonartencharakte- 
ristik 236 f.,  Ausdruckswert  der 
Taktarten  238,  Affektendirektion 
239  f.,  Politik  des  Kapellmeisters 
250. 

Maurus,  s.  Terentius. 

Mayer,  Jos.  Friedr.  Bernh.  Caspar, 
Titelbild  seines  Musikbuchs  153. 

Mazzocchi,  Domenico,  101,  213, 
Angabe  dynamischer  Vortrags- 
zeichen 105  f. 

Mecklenburg-Schwerin  sehe  Ka- 
pelle 181. 

Mehrstimmigkeit  im  Choral  32  f. 

Meibom,  Herausgeber  griechischer 
Schriftsteller  8. 

Meißner,  A.  G.,  153. 

Melli  101. 

Mendelssohn,  Felix,  253,  259,  260, 
261,  262,  273,  278,  295,  297,  298, 
299,  303,  305,  317,  319,  320,  321, 
324,  326,  329,  330,  336,  341,  als 
Dirigent  283  f.,  301. 

Mennicke,  Carl,  179,  183,  209,  214, 
216. 

Mensuralmusik  29,  35,  36 f. 

Mersenne,  Marin,  94,    Taktführung 
87,    Hilfsmittel  beim  Taktschlagen 
89,  Tempomodifikation  1.10,  Taktie- 
ren der  Instrumentalisten  169. 
Mesomedes,  Hymne  10. 
Messa  di  voce  106,  213  f. 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.   X. 


Metastasio,  P.,  234. 

Mettenleiter,  Dom.,  42. 

Meyerbeer,  Giac,  274,  297,  298, 
300,  315,  318,  323,  335,  als  Diri- 
gent 295  f. 

Michel,  Christian,  89. 

Migne  17,  19,  20,  22,  30. 

Mißbräuche  beim  Taktschlagen  43, 
45  f.,  111  f.,  125  f.,  156  f.,  257,  266, 
327. 

Mizler,  Lorenz  Christ.,  15  3,  181, 
Protest  gegen  den  Taktierlärm  1 56  f. 

Mocquerau,  Dom.,  23,  24. 

Moduslehre  der  Mensuralisten  36. 

Moser,  Karl,  Konzertmeister  274, 
275,  289. 

Molitor,  Raph.,  35,  61. 

Momigny,  Jerome  de,  Vorschläge 
für  eine  neue  Direktionsform  des 
Gruppentakts  152. 

Monteclair,  Michel  Pignolet  de, 
135,  149,  franzosische  Taktierform 
131  f.,  pointierter  Vortrag  in  der 
franz.  Musikübung  138  f. 

Montesardo,  Girolamo  del,  101. 

Monteverdi,  Claudio,  71,  79,  85, 
101,  340,  Orchesterbesetzung  des 
»Orfeoc  77  f.,  Erfindung  des  Tre- 
molo 103,  Unterscheidung  einer 
taktisch  genauen  und  einer  modifi- 
zierten Tempoführung  106,  109. 

Morales,  Christ.,  115. 

Morelli,  Herausgeber  der  rhythmi- 
schen Fragmente  des  Aristoxenos  6. 

Moscheies,  Ignaz,  262,  293,  299. 

Mosel,  Ign.  Franz  v.,  262,  265,  310. 

Mottl,  Felix,  344. 

Mozart,  Leopold,  Tempoführung 229, 
230,  241. 

Mozart,  Wolfgang,  169,  253,  254, 
255,  265,  266,  271,  277,  278,  280, 
286,  290,  317,  318,  326,  335,  338, 
339,  Klavier-  undViolindirigent176. 

Müller,  Georg,  Kapellmeister  in 
Braunschweig  297. 

Müller,  J.,  257. 

München,  Kgl.  Kapelle,  Orchester- 
besetzung (im  Jahre  1815)  303, 
Orchesterstellung  in  der  Hofkapelle 
307,  in  den  Odeonkonzerten  310  f., 
in  der  Oper  31  4  f. 

Münster,    Jos.    Joachim    Benedict, 

118,  121,  141. 
Muf  fat,  Georg,  Nachricht  vom  Fuß- 
taktieren in  der  Instrumentalmusik 
112,  vom  pointierten  Vortrag  141. 
Muris,  Job.  de,  22,  35. 
Murland,  M.,  323. 
Musicae  rudimenta  (1645)  89. 

23 


354 


Namen-  und  Sachreejister. 


Musiklexikon,  Chemnitzer,  über 
die  Einteilung  der  Tripeltakte  1 20. 

Musikzeitungen,  Allg.  Mus.  Ztg. 
(Leipzig)  86,  176,  254,  256,  257, 
258,  26!,  266,  271,  294,  303,  304, 
308,  310,  317,  329,  333,  334,  Allg. 
Deutsche  Mus.  Ztg.  (Tappert)  153, 
265,  Witthauersche  Zeitschrift  270, 
Neue  Zeitschrift  für  Musik  260,  329, 
Allg.  Mus.  Ztg.  (Leßmann)  276,  323, 
Süddeutsche  Musikzeitung  86,  siehe 
auch  Rivista,  Boßler. 

Mylius,  Wolfgang  Michael,  italieni- 
sche Direktionsform  des  Gruppen- 
takts 142,  144,  dynamische  Vor- 
tragszeichen 214,  Crescendo  und 
Decrescendo  215. 

Naumann,  Joh.  Gottl.,   153,  264. 

Netscher,  Kaspar,  bildliche  Dar- 
stellung ü6. 

Neumen  12,  Ursprung  aus  den  Ak- 
zenten 22 f.,  Neumenschrift  und 
Gheironomie  24  f.,  spätgriechische 
Neumen  25  f.,  die  Neumierung  des 
Gregorianischen  Chorals  als  Ge- 
dächtnishilfe für  die  Sänger  27, 
Kritik  der  Neumenschrift  27. 

Neusidler,  Hans,  Nachricht  vom 
gleichmäßigen  Taktschlagen  55. 

Nicolai,  Fr.,  182,  208. 

Nicolai,  Otto,  als  Dirigent  269 f. 

Niedt,  Friedrich  Erhardt,  70,  120, 
121,  141. 

Niggli,  A.,  296. 

Nikisch,  Arthur,  344. 

Nisard,  Herausgeber  des  Jumilhac  35. 

Nohl,  Ludwig,   176. 

Onzembrav,      Tempobestimmung 

225  f. 
Operndirektion    in    Italien    und 

Deutschland    76  f.,    126,    161  f.,    in 

Frankreich  124  f. 
Orchesterbesetzung     66 f. ,    77  f., 

178 f.,    302  f.,    Orchesterspiel    65  f., 

79  f.,  205  f.,  210  f. 
Orchesterstellung  85,  im  18.  Jahr- 
hundert 185 f.,  im  1 9.  Jahrhundert 

305  f.,   319,   340  f. 
Ordo  Romanus  16. 
Organum  32,  Direktion  der  Stücke 

im  Organalstil  32  f. 
Orgosinus,  Heinrich,  Taktdefinition 

ü7,  ebd.  Taktstockdirektion. 
Ornament-Instrumente    im 

17.  Jahrhundert  80  f. 
Ornitoparch,  Taktdefinition  40,  47. 


Ostersequenz  >Laudes  Salvatori« 
ihre  Direktion  17. 

Paganini,  Nicolo,  318,  328. 

Paisiello,  Giovanni,  172. 

Paleographie  musicale  19,  23,  24, 
152. 

Palestrina  42,  1  15. 

Pallavicino,  Carlo,  78. 

Papadiken,  spätgriechische  Neu- 
menformen  25. 

Paris,  Orchesterbesetzung  in  den 
Concerts  spirituels  und  in  der  Oper 
(1754)  182,  Orchesterstellung  in  den 
Pariser  großen  Konzerten  und  der 
Oper  (1810)  310,  319. 

Partiturspiel  im  16.  Jahrhundert 
63. 

Pauli,  Walter,  264. 

Paumann,  Conrad,  Fundamentbuch 
70. 

Pembaur,  Josef,  335. 

Pen  na,  Lorenzo,  Beginn  und  Ende 
des  Takts  95,  italienische  Gruppen- 
taktdirektion  122  f.,  131,  142. 

Peregrinus,  Joh.,  45. 

Perfektion  zweier Semibreven  oder 
Breven  im  17.  Jahrhundert  74. 

Pergolesi,  Giov.  Batt.,  246. 

Peri,  Jacobo,  71,  77,  79,  85. 

Petri,  Sam.,  162,  186,  203,  204,  Pro- 
test gegen  den  Taktierlärm  158, 
Violindirektion  169  f.,  Orchester- 
besetzung 183,  184,  Regeln  für  die 
Aufstellung  von  Chor  und  Orchester 
192  f.,  Affektenlehre  231,  239, 
247. 

Petrucci  51. 

Pfundt,  Paukist  im  Gewandhaus- 
orchester 287. 

Philipp  de  Vitry   87. 

Philo mates  41,  Taklstockdirektion 
43,  Mißbräuche  beim  Taktschlagen 
45,  46,  Chorstellung  und  Direktion 
62  f. 

Phrasierung,  als  Kennzeichen  zur 
Affektbestimmung  237. 

P  i  e  t  r  o  d  e  1 1  aV  a  1 1  e ,  über  die  Klavier- 
direktion  im    17.  Jahrhundert   85  f. 

Pinturicchio,  Bernard.,  40,  61. 

Pirro,  Andrä,  231. 

Pisa,  Agostino,  Theorie  über  Beginn 
und  Ende  der  Battuta  94  f.,  Nach- 
richt vom  lautlosen  Taktschlagen 
115,   P.  von  Mattheson  zitiert  121. 

Pisendel,  Johann  Georg,  170,  207, 
als  Konzertmeister  205  f. 

Pleyel,  lgnaz  267. 

Pohl,  C.  F.,  172,  182,  194. 


Namen-  und  Sachregister. 


355 


Pohl,  Rieh.,  261,  294,  330,  332  (vgl. 
Hoplit). 

Pohlenz,  August,  285,  333,  334. 

Pointer,  pointierter  Vortrag  in  der 
französischen  Musikübung  1  3G  f. 

Poisson,  Leonard,  35. 

Politik  des  Kapellmeisters  249  f. 

Pollux,  Erklärung  der  ßdat;  4. 

Prätorius,  Christoph,  62. 

Prätorius,  Ernst,  48. 

Prätorius,  Michael,  84,  86,  104,  114, 
224,  Taktstrichabgrenzung  in  den 
Vokalstimmen  72  f,  Taktzeichen  in 
der  Renaissanceliteratur  74  f.  (ebd. 
Taktarten),  Instrumentenspiel  80  f., 
Continuoausführung  83,  84,  vom 
Retardieren  vor  Abschluß  eines 
Musikstücks  93,  Anordnung  mehr- 
chöriger  Musikwerke  97  f.  Bild 
von  einer  mehrchörigen  Aufführung 
99  f.,  Einrichtung  älterer  Musik- 
werke 100  f.,  Erklärung  dynami- 
scher Vortragszeichen  105,  Tempo- 
modifikation 106  f.,  Tempobestim- 
mung 111. 

Präzentor  20,  31,  39,  sein  Amt 
20  f.,  Führung  des  Vorsängers  bei 
Aufführungen,  in  denen  nicht  diri- 
giert wurde  1  I  5  f. 

Preßburg,  Kapelle  des  Kardinals 
181. 

Primicerius  der  Schola  cantorum 
16,  17. 

Principii  di  musica,  italienische 
Taktierform  des  Gruppentakts  1 23  f. 

Printz,  Job.  Caspar,  422,  Nachricht 
von  der  Taktstockdirektion  SS,  von 
Mißbräuchen  beim  Taktschlagen  89, 
von  der  Direktion  mehrchöriger 
Musikwerke  99,  von  der  Tempo- 
modifikation 440,  Proteste  gegen 
den  Taktierlärm  1 1 2. 

Prioli,  Giov.,  101. 

Proch,  Heinrich,  270. 

Profe,  Ambrosius,  über  Hilfsmittel 
bei  der  Taktangabe  88/89. 

Psalmodie,  Ausführung  und  Direk- 
tion 21. 

Psellus,  Taktgröße  in  der  griechi- 
schen Musik  6. 

Quagliati,   Paolo,  85,  101. 

Quartus   der  Schola   cantorum   16. 

Quantz,  Job.  Joachim,  182,  186, 
193,  194,  195,  204,  207,  211,  240, 
247,  253,  302,  316,  französische 
Taktstockdirektion  126,  agogischer 
Akzent  140,  Aufführung  der  Fest- 
oper  »Costanza   e    Fortezza«    155, 


160,  Beginn  eines  Musikstücks  4  62, 
Nachrichten  von  der  Aufführung 
einer  Musik  und  der  Klavierdirek- 
tion 162,  163,  165,  168,  169,  Dauer 
der  Fermate  165,  über  den  kompo- 
nierenden Kapellmeister  171,  Vio- 
lindirektionl  76,  Orchesterbesetzung 
184,  Aufstellung  der  Orchester 
189  f.,  200  f.,  Spiel  der  Ripie- 
nisten  204,  Einstudieren  der  Mu- 
siker 205  f.,  210  f.,  Dynamik  211  f., 
21  4, Tempovorschriften  222, Tempo- 
bestimmung 224,  227f.,  243,  Wie- 
derholung eines  Musiksatzes  227, 
Affektenlehre  230,  231,  239,  Affek- 
tendirektion 232 f.,  241,  Affekten- 
bestimmung  bei  Instrumental- 
stücken 236  f. 

Queisser,  Carl  Traugott,  Posaunist 
im  Gewandhausorchester  287. 

Quintilian  5,  8,  Cheironomie  23. 

Quirsfeld,  Johann,  neue  Taktter- 
figuren  des  Gruppentakts  145,  149, 
150. 

Raguenet,  L'Abbe  ,  über  die  Or- 
chesterdirektion in  Italien  154. 

Ramann,  L.,  330,  331,  332. 

Rameau,  J.  Phil.,  218. 

Rarais  de  Pareia,  Taktdefinition 
39,  46. 

Randharti  nger,  Benedikt,  269. 

Raselius  52,  Taktstockdirektion  41, 
44. 

Regensburg,  Thurn  und  Taxische 
Kammermusik  zu  R.  181. 

Reichard t,  Joh.  Friedr.,  170,  175, 
219,  232,  233,239,  247,253,  265,266, 
267, 271, 274, 279, 300, 327,  Orchester- 
stellung in  derBerlinerOper2  02,  über 
Pisendel  als  Konzertmeister  206, 
über  Benda  als  Konzertmeister  207  f., 
über  den  Mannheimer  Orchester- 
vortrag 209,  über  das  Konzert- 
meisteramt 210,  Afiektenbestim- 
mung  234,  über  Gluck  als  Diri- 
genten 251  f.,  R.  als  Dirigent  257, 
258,  262,  264. 

Reinhard,  Chordirigent  in  Gotha 
271. 

Reischius,  Musikbild  in  der  Marga- 
rita  philosopbica  42. 

Reißiger,  Karl  Gottl.,  292,  297,  298, 
303. 

Rellstab,  J.  Carl  Fr.,  202,  258. 

Rellstab,  Ludwig,  278. 

Rellstabs  Konzert  für  Kenner  und 
Liebhaber  188,  4  94,  Orchestertafel 
189. 

23* 


356 


Namen-  und  Sachregister. 


Resolut io  des  ungeraden  Taktes 
59  f. 

Retardieren  in  den  Kadenzen  und 
vor  Abschluß  eines  Musikstücks 
93. 

Retzelius  94,  Taktdefinition  87, 
Tempomodifikation  110,  Nachricht 
von  der  Gruppentaktdirektion  122. 

Reuling,  W.,  270. 

Reutter,  Karl  Georg  v.,  213. 

Rh  au,  Georg,  Bildliche  Darstellung 
in  seinem  Musikbuch  4  3,  Erklärung 
des  Taktschiagens  im  Breventakt 
49,  Nachricht  vom  Semibreventakt 
52. 

Rhythmus  in  der  exotischen  Musik 
1  f.,  in  der  griechischen  Musik 
3  f. ,  im  Gregorianischen  Choral 
•12  f.,  Rhythmenlehren  Guidos  und 
Hucbalds  28  f. 

Richter,  Franz  Xaver,  Porträt  153. 

Richter,  Hans,  344. 

Riemann,  Hugo,  3,  9,  10,  13,  26, 
39,   67,   140,   213,   302. 

Riepel,  Joseph,  89,  Protest  gegen 
den  Taktierlärm  158. 

Ries,  Ferdinand,  262,  263,  267. 

Rietz,  Julius,  297. 

Rivista  musicale  153,  169. 

Rochlitz,  Friedr.,  266,  Anhänger  der 
Klavierdirektion  176,  256. 

Rolle,  Carl,  Protest  gegen  den  Tak- 
tierlärm 158. 

Rore,  Cipriano  da,  71. 

Rosetti,  Ant.,  267. 

Rossi,  Michel  Angclo,  78. 

Rousseau,  .1.  J.,  128,  153,154,171, 
179,  185,  186,  199,  200,  206,  221, 
225,  24S,  Musikstücke  im  Fünftakt 
118,  Unterscheidung  einer  italieni- 
schen und  franzosischen  Taktier- 
form 124,  135  f.,  Proteste  gegen 
den  Taktierlärm  in  der  französischen 
Oper  125,  Anhänger  der  italieni- 
schen Direktionsbewegungen  135, 
Pointierter  Vortrag  136,  141,  Takt- 
schlagen in  der  griechischen  Musik 
152,  Tempoführung  230,  240. 

Rowbothan,  John  Frederick,  2. 

Rudolph,   Erzherzog  302. 

Salieri,  Ant.,  266. 

Salinas,  Franciscus,  Nachricht  vom 
Taktschlagen  in  der  Instrumental- 
musik 46,  im  Breventakt  49. 

Salomon,  Elias,  34,  35,  42,  Direk- 
tion mehrstimmiger  Sätze  32  f. 

Salzburg,  Kapelle  des  Erzbischofs 
181. 


Samber,  Joannes  Baptista,  über  die 
Vorzeichnung  des  */4-  und  Alla 
Breve-Taktes  120,  italienische  Tak- 
tierform 142,    Tempoführung  220. 

Sartorius,  Erasmus,  71. 

Sauveur  224. 

Scaletta,  Horatio,  76,  115. 

Scarlatti,  (Aless.),  152. 

Scheibe,  Joh.  Adolph,  118,  154,  221, 
238,  über  die  Taktierfiguren  des 
Dreitakts  144,  über  die  Taktierform 
des  4/2-Takts  149,  Protest  gegen 
den  Taktierlärm  und  praktische 
Vorschläge  für  die  Direktion  156, 
157,  241,  Tempobestimmung  nach 
der  Uhr  224. 

Scheidt,  Sam.,  75. 

Schein,  Joh.  Hermann,  75. 

Schering,  Arnold,  39. 

Scheurleer,  D.  F.,  199. 

Schicht,  Joh.  Gottfr.,  285. 

Schleinitz,  Conrad,  284. 

Schletterer,  H.  W.,  251,  264. 

Schmiedl,  J.  B.,  265,  269. 

Schneegaß,M.  Cyriacus,  62,  modifi- 
zierte Direktion  64  f.,   102. 

Schneider,  Friedrich,  297. 

Schneider,  L.,  502. 

Schnerich,  Alfred,  247. 

Schobert,  Johann,  255,  318. 

Schöne,  Alfred,  260. 

Schola  cantorum  in  Rom  16,  ihre 
Bedeutung  für  den  Choralgesang, 
Organisation  16  f. 

Sehr  öde  r-Devrient,  Wilhelmine, 
334,   335. 

Schubart,  C.  F.  D.,  216,  219,  251, 
über  Em.  Bach  als  Kapellmeister 
161,  über  C.  H.  Graun  als  Kapell- 
meister 207,  über  Benda  als  Violin- 
virtuosen208,  über  das  Mannheimer 
Orchesterspiel  209,  über  Gluck  als 
Dirigenten  252. 

Schubert,  Franz,  253,  254,  269,  286. 

Schubiger,  Anselm,  17. 

Schlich,  Ernst  v.,  344. 

Schlicht,  J.,  274,  295,  296. 

Schütz,  Heinrich,  72,  75,  102,  An- 
gabe dynamischer  Yortragszeichen 
105. 

Schulz,  Christian,  285. 

Schulz,  J.  A.  P.,  118,  über  die 
Dynamik  214. 

Schumann,  Robert,  291,  über  die 
Taktstockdirektion  260,  über  Men- 
delssohn als  Dirigenten  2S6,   290  f. 

Schuppanzigh,  Ignaz,  177  (Anm.\ 
als  Dirigent  266. 


Namen-  und  Sachregister. 


357 


Schwarzburg-Rudolstädtische 
Kapelle  480. 

Schweitzer,  Albert,  231. 

Scriabine  117. 

Secundicerius  der  Schola  canto- 
rum  4  6. 

Seidl,  Anton,  324,  335. 

Seidler,  Konzertmeister  im  Berliner 
Opernorchester  274. 

Seiffert,  Max,  186. 

Selbständigkeit  in  der  Arrangie- 
rung von  Musikwerken  des  4  7.  Jahr- 
hunderts 4  04  f. 

Semler,  Christoph,  Erfinder  einer 
Taktiermaschine  167. 

Se  nesino  206. 

Senfl,  Ludwig,  Musikbeispiel  50. 

Sequenzen  34,  Direktion  47. 

Serenimpha,  eine  Neumenfigur  4  8. 

Seyfried,  Ign.  v.,  260,  266,  267, 
272. 

Sittard,  J.,  262. 

Sixtus,  Papst  16. 

Somis,  Giov.  Batt.,  208. 

Spartieren  eines  Tonstücks  im 
17.  Jahrhundert  71. 

Speer,  Daniel,  87,  149,  Taktstock- 
direktion 88,  Hilfsmittel  bei  der 
Taktangabe  89,  Nachricht  von 
schlechten  Aufführungen  112,  Vor- 
schläge für  das  Einstudieren  der 
Singknaben  1 1  3,  Nachricht  von  der 
modernen  Taktierform  des  12/s-Takts 
144  f. 

Sperling,  Joh.  Peter,  118,  über  die 
Vorzeichnung  des  Alla  Breve-Tak- 
tes  120. 

Spieß,  Meinradus,  4  58,  Taktlehre 
419,  Generalaffekte  222,  Definition 
der  Tempovorschriften  223,  Affek- 
tenlehre 230,  235. 

Spitta,  Ph.,  9,  153,  160,  165. 

Spohr,  Ludwig,  257,  259,  266,  267, 
278,  280,  285,  298,  300,  303,  304, 
308,  324,  326,  330,  336,  Einführung 
der  Taktstockdirektion  in  London 
262  f.,  als  Dirigent  274  f. 

Spontini,  Gasparo,  259,  265,  273, 
282,  289,  300,  303,  318,  386,  340, 
als  Dirigent  274  f.,  Orchesterstellung 
3 13. 

Staden,  Siegmund  Theophil,  92,  über 
das  Retardieren  vor  dem  Abschluß 
eines  Musikstücks  93. 

Stamitz,  Joh.,  209,  348. 

Stenger,  Nicolaus,  70,  74. 

Stößel,  Joh.  Christ,  u.  Joh.  David, 
420. 

Strauß,  Richard,  347,  343  f. 


Subdiakon  der  Schola  cantorum  17. 

Succentor  20,  21. 

Sulzer,  Johann  Georg,  118,  171,  185, 

204,  214,  220,  221,  230,  233,    239, 

240. 
Sylvester,  Papst  16. 

Tactus  der  Mensuralmusik  49 f. 

Takt  in  der  griechischen  Musik  5  f., 
in  der  Mensuralmusik  37  f.,  47  f., 
in  der  Renaissanceliteratur  73  f., 
90  f.,  Theorien  über  Herkunft  und 
Gestalt  des  Taktes  93  f.,  Taktlehre 
im  1 8.  Jahrhundert  1 1 7  f.,  Taktarten 
als  Kennzeichen  für  die  Affektbe- 
stimmung 237  f. 

Taktgröße  in  der  griechischen  Mu- 
sik 6  f. 

Taktierform,  alte  6 f.,  47 f.,  90  f., 
4  21,  italienische  Taktierform  des 
Gruppentakts  1  22  f.,  Unterscheidung 
einer  italienischen  und  französischen 
Taktierform  124,  4  36,  italienische 
Taklierform  bei  den  Franzosen  1 27  f., 
bei  den  Deutschen  141,  142  f.,  fran- 
zösische Direktionsform  4  28  f.,  die 
Entwickelung  der  Taktierformen  in 
Deutschland  142  f.,  Übersicht  über 
die  verschiedenen  Taktierformen 
148  f. 

Taktrolle  89,  112,  113,  130,  453, 
4  56. 

Taktschlagen  in  der  exotischen 
Musik  4  f.,  in  der  griechischen  Mu- 
sik 4  f.,  im  Gregorianischen  Choral. 
30  f.,  in  der  Mensuralmusik  36  f., 
in  der  Instrumentalmusik  des 
4  6.  Jahrhunderts  46  f.,  in  der  Oper 
des  4  7.  Jahrhunderts  83,  in  der 
Chormusik  der  Renaissance  86  f., 
90  f.,  Beispiele  für  das  Taktschlagen 
im  4  7.  Jahrhundert  90  f.,  92  f.,  Takt- 
schlagen bei  der  Aufführung  mehr- 
chöriger  Musikwerke  97  f.,  lautloses 
Taktschlagen  4 4 f.,  444  f.,  Takt- 
schlagen im  1  8.  Jahrhundert  4  24  f., 
in  der  Kirchenmusik  des  18.  Jahr- 
hunderts 154  f.,  im  19.  Jahrhundert 
300  f.,  326 f. 

Takt  stock- Direktion,  im  4  6.  Jahr- 
hundert bekannt  44  f.,  der  Kantor- 
stab als  Vorläufer  des  Taktstocks 
41  f.,  Gegner  der  Taktstockdirektion 
im  16.  Jahrhundert  43,  Taktstock- 
direktion im  1 7.  Jahrhundert  86, 
87  f.,  im  18.  Jahrhundert  bei  den 
Franzosen  124 f.,  153,  154,  beiden 
Deutschen  153,  im  4  9.  Jahrhundert 
258  f.,    300,    326,    327,   Einführung 


358 


Namen-  und  Sachregister. 


der  Taktstockdirektion  in  London 
262 f.,  in  Wien,  Frankfurt  a.  M., 
Hamburg,  Dresden, Leipzig262,  272, 
280,  s.  auch  Virga,  Baculus. 

Taktstriche    in    der  Notation   des 

16.  und  17.  Jahrhunderts  70  f. 
Taktzeichen    37  f.,    48,   52  f.,   74  f., 
118  f.,  120  f. 

Tartini,  Giuseppe,  207,  208,  über 
das  messa  di  voce  213. 

Telemann,  Georg  Philipp,  118,  über 
den  Beginn  eines  Musikstücks  162, 
163. 

Tempo  in  der  griechischen  Musik 
10,  im  Gregorianischen  Choral  21, 
in  der  Mensuralmusik  53  f.,  64  f.,  in 
der  Renaissanceliteratur  75,  102  f., 
106 f.,  111,  im  18.  Jahrhundert 
21 9  f.,  Tempobestimmung  nach  den 
Notenwerten  107  f.,  21 9  f.,  Tempo- 
vorschriften 107,  221  f.,  Tempobe- 
stimmung nach  den  Schwingungen 
eines  Pendels  224,  225,  nach  der 
Uhr  224,  225  f.,  nach  dem  Puls- 
schlag 227  f.,  Tempomodifikation 
im  1  8.  Jahrhundert  229  f.,  236,  239  f., 
im  1 9.  Jahrhundert  31 6  f.,  326,  330  f., 
338  f.  (s.  auch  die  Dirigenten-Cha- 
rakteristiken), schnelle  Tempi  in 
der  vormärzlichen  Zeit  31  7  f. 

Tempo  rubato  161  f.,  207,  249. 

Terentius  Maurus  5. 

Terska  (Tenorist)  274. 

Tertius  der  Schola  cantorum  16. 

Tessarini,  Carlo,  italienische  Tak- 
tierform des  Gruppentakts  124. 

Tevo,  Zaccaria,  96,118  128,  über  den 
Beginn  des  Takts  95,  über  die  ita- 
lienische Gruppentaktdirektion  123. 

Textunterlage  zur  Zeit  des  a  cap- 
pella-Stils  61  f. 

Thayer,  A.  W.,  302. 

Thomas,  Christian  Gottfried,   179. 

Tigrini,  Orazio,  48,  62,  115. 

Tischer,  Gerh.,  5. 

Tonartencharakteristik  im  18. 
Jahrhundert  236  f. 

Tosi-Agricola  207. 

Triersche  Hof-  und  Kammermusik 
zu  Coblenz  180. 

Türk,  Dan.  Gottl., 282, Taktlehre  120, 
Tempo  rubato  207,  über  die  Dyna- 
mik 211,  Tempovorschriften  221, 
Tempobestimmung  224,  Tempomo- 
difikation 241  f. 

Tun  der,  Franz,  72. 

Udalricus  Monachus,  de  prae- 
centore  20. 


Ulrich,  Bernhard,  104,  105,  106. 
Umlauf,  Ign.,  177,  266. 
Urhan,  Chr.,  328. 

Valentin,  Caroline,  Beschreibung 
einer  bildlichen  Darstellung  (aus 
dem  Jahre  1612)  97. 

Valle,  s.  Pietro. 

Vanneo,  Stef.,  45,  95,  121,  lautloses 
Taktschlagen  44,  Taktdefinition  46, 
88. 

Veracini,  Franc,  208. 

Viadana,  Ludovico  Grossi  da,  114, 
über  die  Ausführung  des  Continuo 
83,  über  dieDirektion  mehrchöriger 
Musikwerke  97,  14  6. 

Vicentino,  Nicolo,  62. 

Violindirektion  1 69  f.,  172,  174, 
175f.,  177,  209f.,  256f.,  319. 

V  i  o  1  i  n  d  i  r  e  k  t  o  r,  s.  Konzertmeister. 

Virdung,  Sebastian,  70. 

Virga  pastoralis  18. 

Vivaldi,  Ant.,  211. 

Vogel,  Emil,  68,  77,  78,  101,  102, 
103,  104,  106. 

Vogelsang,  Taktstockdirektion  41, 
44. 

Vogler,  Abt  151,  216,  264,  dyna- 
mische Vortragszeichen  für  Cre- 
scendo und  Decrescendo  218. 

Vollbach,  Fritz,  214. 

Volum ier,  J.  Bapt. ,  als  Konzert- 
meister 205,  206. 

Vorsänger  s.  Präzentor. 

Vorschläge  für  das  Übertragen 
von  Musikwerken  der  a  cappella- 
Zeit  53,  67 f. 

Vortragszeichen  im  17.  Jahr- 
hundert 1 0  4  f.,  im  18.  Jahrhundert 
206,  211  f.,  213  f.,  21 8  f.,  im  ^.Jahr- 
hundert 260,  316,  338  f. 

Wagner,  Peter,   12,  15,  19,  23,  24. 

Wagner,  Richard,  205,  273,  275, 
276,  277,  282,  290,  296,  297,  317, 
318,  320,  332,  333,  342,  343,  344, 
über  Mendelssohn  als  Dirigenten 
291  f.,  Orchesterstellung  313,  314, 
340  f.,  Konzerte  Habenecks  318,  320, 
321,  W.  als  Dirigent  333 f.,  über 
das  Dirigieren  335  f. 

Walliser,  Chr.  Thom.,  74,  Tabelle 
von  der  Einteilung  der  Noten  auf 
Nieder-  und  Aufschlag  90. 

Walt  her,  Johann  Gottfried,  Titel- 
bild seines  Musiklexikons  146,  178, 
195,  dvnamische  Yortragszeichen 
214. 


Namen-  und  Sachregister. 


359 


Wandbild  in  Auerbachs  Keller  in 
Leipzig  66. 

Wasielewski,  Jos.  W.  v.,  83,  99, 
273,  287,  289,  291,  296,  297,    298. 

Weber,  Bernhard  Anselm,  153,259, 
262,  274,  289,  als  Dirigent  264  f. 

Weber,  Carl  Maria  v.,  153,  259, 
262,  283,  285,  295,  298,  300,  330, 
333,  336,  339,  340,  341  ,  als  Diri- 
gent 278  f.,  30  1,  Orchesterstellung 
279,   313. 

Weber,  Dionys,  334. 

Weber,  Gottfried,  153,  343,  über 
den  Taktstockdirigenten  258  f. 

Weber,  Johannes,  298. 

Weber,  Max  Maria  v.,  153,  278,  279, 
281,  313. 

Weigel,  Joh.  Christ.,  Kupferstich- 
sammlung 153. 

Weigl,  Josef,  334. 

Weingartner,  Felix,  335,  342,  344. 

Weißkunig,  Bildliche  Darstellungen 
42,  44. 

Werckmeister,  Andreas,  über  den 
Ausdruckswert  der  Dissonanzen  237, 
der  Taktarten  238. 

Wessely,  Bernhard,  264. 

Westphal,  R.,  5,  6. 

Wiedeburg,  Joh.  Friedr. ,  154 
(Anm.  7). 

Wiel,  Taddeo,  78. 

Wien,  Hof-  und  Kammermusik  182, 
Opernorchester  in  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts  304,  Chor- 
und  Orchesterbesetzung  bei  den 
Musikfesten  der  »Gesellschaft  der 
Musikfreunde<  304  f.,  Orchesterstel- 
lung in   der  k.  k.  Hofkapelle  306, 


in  den  Concerts  spirituels  308,  309, 
bei  den  Musikfesten  310  (s.  auch 
die  eingeschaltete  Orchestertafel), 
in  der  Hofoper  315. 

Wild,  Franz,  267. 

Wilfflingseder,  Ambr.,  Taktdefini- 
tion 41. 

Wilkinson,  J.  Gardner,  2. 

Winter,  Peter  v.,  281. 

Wolf,  Ernst  Wilhelm,  119,  219,  Or- 
chesterstellung in  einem  Ludwigs- 
luster  Konzert  193,  Berliner  Or- 
chestervortrag 208. 

Wolf,  Georg  Friedrich,  171,  185, 
203,  219,  Anhänger  der  italieni- 
schen Taktierform  144,  150,  Tempo 
rubato  207,  Definition  der  Tempo- 
vorschriften 222,  Zeichen  für  die 
Tempomodifikation  242. 

Wolf,  Johannes,  34,  37,  38,  39,  51, 
71. 

Wolff,  Ernst,  278,  287. 

Wolffheim,  Werner,  218. 

Wooldridge   70. 

Württembergische  Kammer-  und 
Kirchenmusik  180. 

Wust  mann,  Rudolf,  66. 

Zacconi,  Lud.,  115,  Taktschlagen 
der  Instrumentalisten  46 ,  Auf- 
stellung der  Chöre  62,  praktische 
Anmerkungen  für  die  Dirigenten 
64,  modifizierte  Direktion  65,  102. 

Zarlino,  Gioseßb,  62,  69,  103. 

Zelter,  Karl,  289,  319,  320. 

Zeno,  Ap.,  234. 

Zodiacus  102. 


781.63  Sch73< 


3  5002  00258  7769 


Schunemann,  Georg 
Geschichte  des  Dmgierens, 


ML  457  .  S3 

Seh  unemann,  Georg,  1884- 
1945. 


Geschichte  des  Dirigier 


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