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Full text of "Geschichte des gelehrten unterrichts auf den deutschen schulen und universitäten vom ausgang des mittelalters bis zur gegenwart. Mit besonderer rücksicht auf den klassischen unterricht"

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GESCHICHTE 


DES 


GELEHRTEN  ÜITERßlCHTS 

AUF  DEN  DEUTSCHEN  SCHULEN  UND  UNIVERSITÄTEN 

VOM  AUSGANG 
DES  MITTELALTERS  BIS  ZUR  GEGENWART. 

HIT  BESONDERER  ROCKSICHT  AUF  DEN  KLASSISCHEN  UNTERRICHT. 

VOK 

Dr.  FKIEDRICH  PAÜLSEN. 

PROFESSOR  AN    DER   UNIVERSITÄT   ZU   BERUN. 

ZWEITE,  UMGEARBEITETE  UND  SEHR  ERWEITERTE  AUFLAGE. 

ERSTER  BAND. 


LEIPZIG, 
VERLAG  VON  VEIT  &  COMP. 

1896. 


\ . 


I 


<4 


i 


Siehe,  er  gehet  vor  mir  über, 
ehe  ichs  gewahr  werde, 

und  verwaudelt  sich, 
ehe  ichs  merke. 

Hiob. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Druck  TOD  Metxger  St  Wittig  in  Leipzig. 

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MEINEM  FREUNDE 


FRIEDRICH  REUTER 


IN  ALTONA 


AUFS  NEUE  ZUGEEIGNET. 


C  S  \  %^ 


Siehe,  er  gehet  vor  mir  über, 
ehe  Ichs  gewahr  werde, 

und  verwandelt  sich, 
ehe  ichs  merke. 

Hiob. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Druck  von  Metxger  A  Wittig  in  Leipzig. 


MEINEM  FREUNDE 


FRIEDRICH  REUTER 


IN  ALTONA 


AUFS  NEUE  ZUGEEIGNET. 


Cb  5  \  %B 


Liebster  Freund! 

Dir  schreibe  ich  dies  Buch  aufe  neue  zu.  Du  bist  mir,  mehr  als 
Du  selber  wissen  kannst,  Führer  gewesen,  als  ich  für  das  Gebiet  der 
Erziehung  und  des  Unterrichts  leitende  Anschauungen  und  feste  Grund- 
satze suchte.  Du  hast  mir  gezeigt,  was  in  der  Jugendbildung  allein 
wesentlich  und  wahrhaftig  wirkt:  die  lebendige  Teilnahme  des  Lehrers 
für  die  Sache  und  für  die  Schüler.  Sie  weckt  lebendige  Kräfte  in  den 
Seelen.  Der  Lehrplan  thut's  nicht,  und  auch  der  Lehrstoff  und  die 
Methode  thut's  nicht,  die  vollkommenste  Methode  und  der  schönste 
„Gesinnungsstofi*^'  ist  tot  an  ihm  selber.  Noch  weniger  thun's  AuMcht 
und  Eontrolle.  Der  Mensch  thut's,  der,  selbst  von  der  Sache  erfüllt, 
den  der  Menschenseele  eingebomen  Trieb  zum  Wahren  und  Guten  und 
Schönen  zu  wecken  weiß. 

Hierfür  aber  ist  Freiheit  die  Bedingung.  Freie  Selbstthätigkeit 
ist  das  Wesen  des  Geistes.  Darum  ist  Freiheit  die  Lebensluft  der 
Schule;    ohne    sie    kann   Lehren    und  Lernen  nicht  gedeihen.     Ein 

« 

mechanistischer  Unterrichtsbetrieb,  der  mit  den  Mitteln  der  Aufeicht 
und  des  Zwangs  Lehrer  und  Schüler  auf  der  hartgetretenen  Straße 
gebotener  und  kontrollierter  Pensenarbeit  vorwärts  treibt,  der  tötet  Lust 
und  Liebe  und  mit  ihnen  das  Leben.  Freilich,  Jugend  hat  eine  zähe 
Lebenskraft;  ist  in  der  Schule  kein  Raum  für  Lebendiges,  so  sucht  und 
findet  sie  es  außerhalb.  Aber  der  Schule  und  dem  Lehrer,  der  in  ihr 
seinen  Lebensberuf  hat,  wird  mit  der  Freiheit  die  Freude  an  der  Arbeit, 
die  Freude  am  Leben  genommen:  denn  was  hat  der  Mensch  vom  Leben, 
als  daß  er  froh  sei  bei  seiner  Arbeit? 

In  dieser  Gesinnung  weiß  ich  mich  eins  mit  Dir.  Ich  wollte,  dies 
Buch  könnte  ein  wenig  beitragen,  sie  auszubreiten,  unter  den  Gebietern 
der  Schule,  daß  sie  erkennen,  was  Ordnung  und  Aufsicht  und  äußere 


VI  Widmung, 


Antriebe  zu  leisten  vermögen,  was  nicht;  unter  den  Lehrern,  daß  unter 
ihnen  der  Wille  zur  Freiheit  wieder  lebendiger  werde.  Überall  wird 
heute  über  Mangel  an  Freiheit  geseuM;  aber  man  vergißt  leicht,  daß 
die  erste  Ursache  der  Unfreiheit  der  Mangel  an  freier  Gesinnung,  der 
Mangel  an  Willen  zur  Freiheit  ist.  — 

Als  ich  vor  zehn  Jahren  Dir,  dem  Lehrer  an  einem  Gymnasium, 
dies  Buch  widmete,  da  ahnte,  ich  nicht,  ein  wie  zweifelhaftes  Geschenk 
ich  Dir  machte.  Ein  heftiges  Zornwetter  entlud  sich  über  meinem 
Haupt,  fast  fürchte  ich,  daß  auch  auf  Dich  etwas  übergespritzt  ist.  — 
Inzwischen  ist  eine  andere  Zeit  heraufgekommen,  schneller  als  ich  er- 
wartet hatte.  Vielleicht  konmit  dies  Buch,  das  bei  seinem  ersten 
Erscheinen  so  revolutionär  und  ketzerisch  befunden  wurde,  heute  schon 
manchem  zaghaft  und  rückstandig  vor.  Es  liegt  nicht  an  dem  Buch, 
meine  Anschauungen  haben  sich  nicht  wesentlich  geändert.  Geändert 
hat  sich  die  Zeit;  die  alte  Gymnasialorthodoxie  ist  auf  das  Empfind- 
lichste getroffen,  für  den  lateinischen  Aufsatz,  der  damals  noch  als 
Fahne  und  Siegeszeichen  des  klassizistischen  Humanismus  hoch  gehalten 
wurde,  rührt  sich  heute  kaum  noch  eine  Hand.  Die  alte  Zuversicht 
ist  vielfach  ratlosem  Zweifel  und  Kleinmut  gewichen.  Vielleicht  findet 
unter  solchen  Umständen  auch  das  Schlußwort  jetzt  geneigteres  Gehör; 
ich  versuche  darin  zu  zeigen,  wie  die  letzten  Ziele,  in  deren  Be- 
stimmung ich  mit  dem  Humanismus  einig  bin,  auch  dann  nicht  auf- 
gegeben zu  werden  brauchen,  wenn  wir  die  Mittel  nicht  auf  die  Dauer 
festhalten  können,  mit  denen  der  alte  Humanismus  im  16.  Jahrhundert 
und  wieder  der  Neuhumanismus  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  sie 
zu  erreichen  strebte. 

F.  P. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


Es  ist  eine  alte  Frage,  ob  es  möglich  sei,  aus  der  Geschichte  zu 
lernen,  nicht  bloß^  was  war,  sondern  auch,  was  kommen  wird.  In  der 
Überzeugung,  daß  dies  möglich  sei,  ist  die  vorliegende  Untersuchung 
unternommen  worden;   wenn  das  Leben   eines  Volkes  nicht  in  einem 

# 

Nacheinander  von  Zufallen  besteht,  wenn  in  ihm^  wie  in  einem  Einzel- 
leben, Zusammenhang  und  Konsequenz  ist^  so  muß  es  möglich  sein, 
durch  Beachtung  der  Richtung,  in  welcher  die  zurückgelegte  Wegstrecke 
verlief,  auf  die  Richtung  der  Fortsetzung  Folgerungen  zu  ziehen.  Die 
geschichtliche  Entwickelung  in  den  letzten  drei  Jahrhunderten  läßt  sich 
als  die  allmähliche  Loslösung  einer  selbständigen  und  eigentümlichen 
modernen  Kultur  von  der  antiken  Kultur  beschreiben;  wie  die  reifende 
Frucht  von  dem  Stamme  sich  löst,  auf  dem  sie  gewachsen  ist,  so  ist  die 
geistige  Bildung  der  abendländischen  Völker  in  stetigem  Fortschritt  aus 
dem  Altertum  hervor-  und  herausgewachsen.  /  Der  gelehrte  Unterricht 
ist  der  allgemeinen  Kulturentwickelung  beständig,  wenn  auch  in  einigem 
Abstand,  gefolgt.  Wenn  diese  Deutung  der  historischen  Thatsachen 
nicht  gänzlich  fehlgeht,  so  wäre  hieraus  für  die  Zukunft  zu  folgern, 
daß  der  gelehrte  Unterricht  bei  den  modernen  Völkern  sich  immer 
mehr  einem  Zustand  annähern  wird,  in  welchem  er  aus  den  Mitteln 
der  eigenen  Erkenntnis  und  Bildung  dieser  Völker  bestritten  werden 
wird.  Auf  den  Universitäten  ist  dieser  Zustand  schon  erreicht;  die 
Alten  sind  nicht  mehr,  wie  im  14.  und  16.  und  noch  im  18.  Jahr- 
hundert, die  Lehrer  der  Wissenschaft  und  der  Bildung,  sie  sind  Objekte 
der  wissenschaftlichen  Forschung.  Die  Gelehrtenschulen  sind  von  diesem 
Znstand  noch  etwas  weiter  entfernt;  es  ist  aber  niemandem  verborgen, 
und  von  den  Anhängern  des  Alten  wird  es  am  meisten  beklagt,  daß 
die  „klassische  Bildung**,  welche  sie  früher  gegeben  hätten,  nicht  mehr 


vin  Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


erreicht  werde,  seitdem  sie,  den  Forderungen  des  Zeitgeistes  nachgebend, 
zu  dem  Alten  eine  Menge  neuer  und  fremdartiger  Unterrichtsgegen- 
stande auf  ihren  Lehrplan  gesetzt  hätten.  Ein  Versuch  der  „klassischen 
Bildung^'  durch  Zurückdrangung  oder  Ausscheidung  jener  fremdartigen 
Elemente  wieder  Baum  zu  schaffen,  ist  in  den  fünfziger  Jahren  gemacht 
worden;  er  ist  an  dem  Widerstand  der  Wirklichkeit  gescheitert  und 
wird  schwerlich  wiederholt  werden.  Es  scheint  demnach  nur  ein  Weg 
übrig  zu  bleiben,  der,  daß  wir  versuchen,  die  humanistische  Bildung, 
welche  wir  mit  den  Mitteln  der  alten  Sprachen  zu  erreichen  vergeblich 
ringen,  mit  andern  Mitteln  zu  gewinnen.  Ich  habe  in  dem  Schluß- 
kapitel angedeutet,  mit  welchen  Mitteln  etwa  die  zukünftige  Gelehrten- 
schule die  alten  Ziele  der  Sapienz  und  Eloquenz  zu  erreichen  trachten 
könnte. 

Dem  Geständnis,  daß  es  zunächst  das  Interesse  an  der  Zukuni't 
unseres  gelehrten  Unterrichts  gewesen  ist,  welches  mich  zur  Beschäftigung 
mit  seiner  Vergangenheit  geführt  hat,  lasse  ich  eine  Bitte  an  den  Leser 
folgen:  er  wolle  nicht  erwarten,  daß  im  Folgenden  ihm  ein  sehr  in  die 
Länge  gezogener  historischer  Leitartikel  vorgelegt  werde,  eine  Litteratur- 
gattung,  die  ebenso  unerquicklich  als  unfruchtbar  ist  Die  Geschichte 
kann  nur  den  belehren,  der  ihr  zuhört,  nicht  den,  der  ihr  zuredet. 
Ich  hoffe,  daß  jede  Seite  dieses  Buches  von  dem  ernsthaften  Bemühen, 
zu  hören,  Zeugnis  ablegt  Mein  Interesse  an  der  Vergangenheit  als 
solcher  ist  im  Fortgang  der  Arbeit  beständig  gewachsen.  Vielleicht 
giebt  es  kein  Einzelgebiet  historischer  Forschung,  welches  in  so  engem 
Zusammenhang  mit  der  gesamten  Eulturentwickelung  unseres  Volkes 
steht,  als  die  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts.  Die  Geschichte  des 
geistigen  Lebens,  der  Philosophie  und  der  Wissenschaft,  der  religiösen 
und  der  litterarischen  Bewegungen,  spiegelt  sich  darin,  freilich  mit 
eigentümlicher  Verkürzung.  /  Die  Entwickelung  der  Gesellschaft  stellt 
sich  schwerlich  an  einem  Punkte  greifbarer  dar,  als  in  der  jedesmaligen 
Stellung  der  gelehrten  Schulen  zu  der  Gliederung  der  Gesellschaft. 
Endlich  werden  in  der  Organisation  der  Schulverwaltung  die  Wand- 
lungen in  den  großen  Formen  des  öffentlichen  Lebens  sichtbar:  das 
Wachstum  des  Staates  auf  Kosten  der  Kirche  und  der  Gemeinde.  Ich 
habe  versucht,  soweit  es  mit  meinem  Hauptzweck  verträglich  schien, 
diese  Beziehungen  anzudeuten.    Was  den  Unterricht  selbst  anlangt,  so 


Vorwort  x/ur  ersten  Auflage.  ix 


handelte  es  sich  natürlich  nicht  darum,  möglichst  zahlreiche  Data  hier 
zusammenzustellen;  die  Aufgabe  war,  aus  dem  mir  zuganglichen 
Material  repräsentative  Thatsachen  und  Äußerungen  auszuwählen,  aus- 
reichend, um  eine  deutliche  Vorstellung  von  seinem  Bestand  in  jedem 
Zeitalter  zu  geben.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  daß  ich  hierin  immer 
das  richtige  Maß  und  die  richtige  Wahl  getroffen  habe,  und  ich  zweifle 
nicht  daran,  daß  mir  manches,  das  Beachtung  verdient  hätte,  überhaupt 
entgangen  ist.  Für  Mängel  und  Versehen  von  dieser  Art  hoffe  ich  bei 
dem  billigen  Leser  Nachsicht  zu  erlangen,  um  so  leichter,  wenn  er  er- 
wägt, daß  Vollständigkeit  in  der  Benutzung  des  Materials  für  kultur- 
historische Untersuchungen  aus  dem  Gebiet  der  letzten  vier  Jahrhunderte 
auch  dem  längsten  Leben  unerreichbar  ist,  und  femer,  daß  hier  zum 
erstenmal  der  Versuch  gemacht  worden  ist,  das  unermeßliche  Material 
für  eine  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  zu  einer  zusammen- 
hangenden Darstellung  zu  verwerten. 

Denn  eine  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  in  Deutschland 
war  bis  dahin  noch  nicht  vorhanden.  Das  Werk,  welches  bisher  die 
SteUe  eines  solchen  vertrat,  ist  die  verdienstvolle  Geschichte  der  Päda- 
gogik von  K.  V.  Raumeb.  Wie  der  Titel  sagt,  bilden  die  pädagogischen 
Theorien  den  eigentlichen  Inhalt  des  Werkes;  allerdings  wird,  nament- 
lich für  das  16.  Jahrhundert,  auch  die  wirkliche  Gestaltung  des  Schul- 
wesens und  des  Unterrichts  in  den  Bereich  der  Darstellung  gezogen; 
doch  ist  selbst  für  die  Zeit  des  Humanismus  und  der  Reformation  die 
RAUMEBsche  Geschichte  entfernt  nicht  ausreichend,  weder  um  von  dem 
Verlauf  der  Dinge  in  dem  großen  Revolutionszeitalter,  noch  von  dem 
Bestand  des  Schulwesens  am  Schluß  desselben  eine  zutreffende  Vor- 
stellung zu  geben.  Für  das  17.  und  18.  Jahrhundert  giebt  sie  nur 
Andeutungen  und  das  19.  fehlt  ganz.  Außerdem  fehlt  die  Berück- 
sichtigung der  Universitäten  fast  vollständig.  Hierin  folgt  ihr  auch 
die  von  Schmid  redigierte  Encyklopädie  des  gesamten  Erziehungs-  und 
Unterrichtswesens;  die  Artikel,  in  welchen  über  das  Unterrichtswesen 
der  einzelnen  deutschen  Staaten  berichtet  wird,  enthalten  regelmäßig 
auch  eine  Übersicht  über  die  Schulgeschichte  des  Landes,  aber  mit 
Ausschluß  der  Universitäten.  Für  die  Gegenwart  mag  diese  Trennung 
angehen,  für  die  ältere  Zeit  ist  sie  ganz  unzulässig.  Nicht  nur  während 
des  Mittelalters,  sondern  bis   gegen  das  Ende  des    18.  Jahrhunderts 


Vorwort  imr  ersten  Auflage. 


funktionierte  die  philosophische  Fakultät,  die  facultas  arthtm,  als  Ober- 
gymnasium. Seitdem  ist  zwar  das  Gynmasium  so  erweitert ,  daß  es 
thatsachlich  den  Vorbereitungskursus  für  das  Fachstudium  zum  Ab- 
schluß bringt;  aber  die  philosophischen  Fakultäten  sind  schon  dadurch 
im  engsten  Zusammenhang  mit  den  Gymnasien  geblieben,  daß  sie  fort- 
fuhren, als  Lehrerbildungsanstalten  zu  dienen.  Endlich  aber  ist  eine 
Charakteristik  der  allgemeinen  Bewegungen  im  Gebiet  des  Gelehrten- 
schulwesens nicht  möglich  ohne  Hineinziehung  der  Universitäten;  den 
Schulen  ist  ihr  Anteil  daran  wenigstens  in  Deutschland  stets  durch  die 
Universitäten  vermittelt  worden. 

Raümeb  lehnt  es  in  der  Vorrede  zu  seinem  Werk  ausdrücklich  ab 
objektiv  zu  sein:  er  sei  nicht  frei  von  Liebe  und  Haß  und  wolle  es 
nicht  sein,  sondern  nach  bestem  Wissen  und  Gewissen  das  Böse  hassen 
und  dem  Guten  anhangen.  Gewiß  ein  löblicher  Vorsatz;  nur,  scheint 
mir,  hat  eine  Schulgeschichte  es  zunächst  nicht  mit  dem  Guten  und 
Bösen  zu  thun,  sondern  mit  den  verschiedenen  Formen,  in  welchen 
verschiedene  Zeitalter  ihr  Unterrichts-  und  Bildungsbedürfnis  zu  be- 
friedigen suchten.  Es  mag  das  von  den  verschiedenen  Zeiten  mit  mehr 
oder  weniger  Geschick  geschehen  sein,  man  wird  aber  annehmen 
dürfen,  daß  jede,  so  gut  sie  es  verstand,  das  Gute  und  Zweckmäßige 
suchte,  und  vielleicht  ist  es  eine  dem  Historiker  ziemende  Bescheidenheit, 
seinem  Urteil  hierüber  nicht  mehr  zu  trauen,  als  dem  Urteil  der  Zeit 
selbst.  Er  mag  über  das  für  seine  Zeit  Geeignete  ein  Urteil  sich  zu- 
trauen, über  das,  was  dem  14.  oder  dem  16.  oder  dem  18.  Jahrhundert 
not  that,  ist  es  doch  wohl  am  geratensten,  das  14.  oder  das  16.  und 
18.  Jahrhundert  selbst  urteilen  zu  lassen.  Wer  nur  die  Kategorien 
gut  und  böse  für  die  historischen  Erscheinungen  kennt,  für  den 
Humanismus  und  die  Reformation  etwa  das  Prädikat  gut,  für  Jesuiten 
und  Eealisten,  für  Aufklärung  und  Rationalismus  das  Prädikat  böse, 
oder  umgekehrt,  der  wird  den  Dingen  nirgends  gerecht  Nach  meinem 
Dafürhalten  gilt  für  den  Historiker  im  wesentlichen  ebenso,  wie  für 
den  Arzt  oder  den  Psychologen,  jenes  Spinozistische:  neque  ridere^ 
neque  fUre,  nee  detestari,  sed  intelligere, 

Berlin,  26.  Sept.  1884. 

Friedrich  Panlsen. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


Die  neue  Auflage  dieses  Werkes  ist  eine  neue  Bearbeitung  des 
Gegenstandes.  Geblieben  ist  das  Grundschema  und  die  Grund- 
anschauung; dagegen  ist  die  Ausfahrung  im  ganzen  und  im  einzelnen 
durchweg  erneuert  Dabei  ist  der  umfang  beinahe  auf  das  Doppelte 
gewachsen,  aus  einem  Bande  sind  zwei  geworden.  Eine  große  Fülle 
neuen  Materials,  das  durch  den  Fleiß  zahlreicher  Herausgeber  und 
Bearbeiter  in  dem  letzten  Jahrzehnt  zugänglich  gemacht  worden  ist, 
hat  Verwertung  gefunden.  In  den  fortlaufenden  Bericht  sind  an  den 
Ruhepunkten  zusammenfassende  Darstellungen  des  Zuständlichen  ein- 
gelegt worden.  Die  Universitäten  und  der  üniversitätsunterricht  haben 
erheblich  eingehendere  Behandlung  gefunden;  denn  es  gilt  für  eine 
Geschichte  der  deutschen  Bildung  ein  Wort  von  H.  Steffens:  „Auf 
den  Universitäten  muß  man  das  Bewußtsein  der  nationalen  Entwicke- 
lung  in  seiner  größten  Klarheit  suchen;  es  giebt  keine  Richtung,  die 
nicht  von  diesem  Mittelpunkt  der  höheren  Bildung  aus  erweckt,  be- 
gründet und  befestigt  wurde"  (Über  Deutschlands  protest.  Universitäten, 
S.  20).  Endlich  ist  die  Darstellung  bis  auf  die  jüngste  Wendung  in 
der  Entwickelung  unseres  Gelehrtenschulwesens  herabgeführt  worden, 
trotz  der  Beschränktheit  des  Materials  für  die  Kenntnis  der  Vor- 
gänge, die  zum  Erlaß  der  Schulordnung  vom  Jahre  1891  geführt 
haben,  und  trotz  jener  nicht  grundlosen  Warnung  an  den  Geschichts- 
schreiber: den  Dingen  nicht  allzu  nahe  auf  den  Fersen  zu  folgen,  weil 
sie  gelegentlich  hintenaus  schlügen.  —  An  manchen  Orten  habe  ich 
Gelegenheit  genonmien,  meine  Auffassung  gegen  anders  gerichtete  zu 
verteidigen;  die  dialogische  Verhandlung  ist  vielleicht  geeignet,  Leben 
und  Frische  der  Darstellung  zu  erhöhen. 

Es  sei  gestattet,  gleich  am  Eingang  eine  Bemerkung  über  Inhalt, 
Umfang    und   Grenzen    der    nachfolgenden    Darstellung    vorauszu- 


xn  Vorwort  %wr  zweiten  Auflage. 

schickeDy  auch  um  irrigen  Erwartungen  vorzubeugen,  wie  sie  hin  und 
wieder  von  Eritikem  der  ersten  Auflage  mitgebracht  und  als  Maßstab 
an  sie  gelegt  worden  sind. 

Gegenstand  dieses  Werks  ist  die  allgemeine  Eildung  des  Ge- 
lehrten in  den  Ländern  deutscher  Zunge  während  der  letzten  vier 
Jahrhunderte.  Ausgeschlossen  ist  auf  der  einen  Seite  der  Elementar- 
unterricht und  die  Volksschule ,  auf  der  andern  Seite  der  fach  wissen- 
schaftliche Unterricht  in  den  technischen  Schulen  und  den  oberen 
Fakultäten.  Dagegen  gehört  mit  der  Gelehrtenschule  auch  die  philo- 
sophische Fakultät  zu  dem  hier  abgesteckten  Gebiet. 

Ich  bezeichne  noch  etwas  genauer,  was  innerhalb  dieses  Bahmens 
dieses  Buch  geben  will,  was  nicht 

Nicht  erwarten  wolle  man  eine  Geschichte  der  einzelnen  An- 
stalten. Die  einzelnen  Schulen  und  Universitäten  kommen  hier  nur 
so  weit  vor,  als  es  für  die  Auffassung  und  Beurteilung  des  allgemeinen 
Entwickelungsganges  notwendig  oder  forderlich  ist.  Wozu  ich  bemerke, 
daß  die  einzelnen  Anstalten  um  so  mehr  zurücktreten,  je  mehr  in 
jüngster  Zeit  die  Individualität  der  Schulen  durch  allgemeine  Vor- 
schriften zurückgedrängt  wird. 

Ebenso  wenig  wolle  man  erwarten  eine  Geschichte  einzelner 
Personen,  ihrer  Thätigkeit  oder  ihrer  Theorien,  wie  sie  z.  B. 
K.  V.  Eaumee  giebt.  Die  einzelnen  Personen  kommen  wieder  nur  so 
weit  vor,  als  sie  entweder  auf  die  Gesamtentwickelung  des  Unter- 
richtswesens eingewirkt  haben,  oder  als  typische  Bepräsentanten  der 
Bildungsbestrebungen  und  der  Lebensverhältnisse  ihrer  Zeit  dienen. 
Übrigens  hat  die  neue  Auflage  den  Lebensbildern  namentlich  in  der 
letzteren  Absicht  einen  etwas  breiteren  Baum  gewährt;  die  Schilde- 
rung von  Zuständen  erhält  sichtbare  und  greifbare  Wirklichkeit  erst 
durch  ihre  Erscheinung  im  Leben  einzelner  Personen. 

Endlich  wolle  man  nicht  erwarten  eine  Geschichte  der  einzelnen 
Lehrfächer,  ihrer  Methodik  und  ihrer  Litteratur.  Auch  sie  kommen 
nur  so  weit  vor,  als  es  für  die  Charakterisierung  der  Bildungs- 
bestrebungen jedes  Zeitalters  erforderlich  ist.  Eingehender  wird  nur 
die  Geschichte  des  klassischen  Unterrichts  behandelt,  da  er  bis  auf  die 
jüngste  Vergangenheit  im  Mittelpunkt  der  allgemeinen  Gelehrtenbildung 
stand.    Doch  hab  ich  auch  hier  nicht  vorgehabt,   das  Technische  des 


Vonoort  var  zweiten  Auflage.  xm 


Unterrichtsbetriebs  im  einzelnen  darzustellen  oder  die  gesamte  Unter- 
richts- und  Lehrmittel-Litteratur  in  litterar-historischer  Absicht  zu  be- 
handeln. Hätte  ich  attoh  nur  zu  jedem  Buch  und  jedem  Namen,  die 
hier  vorkommen,  einige  Zeilen  biographischen  oder  litterarhistorisch- 
bibliographischen  Inhalts  hinzufügen  wollen,  so  würde  das  nicht  nur  den 
Umfang  dieses  Werkes  sehr  yermehrt,  sondern  auch  seinen  Charakter 
yerwischt  haben:  es  ist  kein  Nachschlagebuch  und  wollte  es  nicht  sein.^ 

Was  ich  dagegen  zu  geben  die  Absicht  habe,  das  ist  vor  allem 
eine  Geschichte  der  bewegenden  Ideen  im  Gebiet  der  gelehrten 
Bildung.  Ich  habe  versucht,  das  Ideal  der  Gelehrtenbildung  zu  zeichnen, 
wie  es  die  auf  einander  folgenden  Zeitalter  in  verschiedener  Gestalt, 
ihrem  eigenen  inneren  Wesen  entsprechend,  hervorgebracht  haben; 
wobei  ich  so  viel  als  möglich  den  schöpferischen  oder  repräsentativen 
Personen  das  Wort  gelassen  habe.  Ich  habe  mich  sodann  bemüht, 
die  Unterrichtsziele,  die  sich  von  hier  aus  ergaben,  zu  bezeichnen  und 
die  Mittel,  mit  denen  man  sie  zu  erreichen  strebte,  darzulegen.  Ich 
habe  femer  die  Institutionen,  in  denen  diese  Bestrebungen  ihre  In- 
korporation fanden,  zu  beschreiben  und  durch  Schilderung  typischer 
Anstalten  zu  illustrieren  mir  angelegen  sein  lassen,  wobei  ich,  so  weit 
dies  erforderlich  und  möglich  schien,  der  Bewegung  durch  die  einzelnen 
Territorien  gefolgt  bin.  Endlich  habe  ich  die  Beziehungen  des  Schul- 
wesens zum  Gesamtleben  unseres  Volkes,  wie  es  in  Wissenschaft  und 
Litteratur.  in  sozialen  und  politischen  Bewegungen  sich  darstellt,  nach 
Möglichkeit  verfolgt  und  aufgezeigt 

Ich  füge  eine  Bemerkung  über  die  Quellen  und  die  Quell en- 
benutzung  hinzu.  Im  Ganzen  habe  ich  mich  durchaus  an  das  ge- 
druckt vorliegende  Material  gehalten.  Auf  die  handschriftlichen  Quellen 
zurückzugehen  war  im  allgemeinen  weder  durchfuhrbar  noch  notwendig; 

^  Wer  biographische  und  litterar- historische  Daten  sucht,  den  kann  ich 
jetzt  in  erster  Linie  auf  die  nunmehr  ihrem  Abschluß  nahe  Allgemeine  Deutsche 
Biographie  verweisen.  Daneben  sind  ein  paar  kleine  hilfreiche  Bücher: 
F.  A.  Eckstein,  Nomenclator  Philologorum  (Leipzig  1871)  und  mehr  noch 
W.  Pökel,  Philologisches  Schriftstellerlezikon  (Leipzig  (1882).  Auch  Goedbkes 
Grmndriß  der  deutschen  Litteratur,  sowie  einige  Bände  aus  der  Geschichte  der 
Wissenschaften  in  Deutschland,  wie  Bursians  Geschichte  der  Philologie,  wird, 
wer  auf  diesem  Gebiet  arbeitet,  mit  Dank  benützen.  Anderes  wird  im  Verlauf 
der  folgenden  Darstellung  erwähnt  werden. 


xrv  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


schon  die  Fülle  des  Gedruckten  ist  schier  unübersehbar.  Über  eine 
Ausnahme  von  der  Kegel  bei  der  preußischen  Schulverwaltung  im 
1 9.  Jahrhundert  wird  an  seinem  Ort  berichtet  werden.  Von  gedrucktem 
Material  kommen,  neben  den  allgemeinen  Darstellungen  der  verschie- 
denen Seiten  des  geschichtlichen  Lebens,  Staatengeschichte,  Kirchen- 
geschichte, Kulturgeschichte,  Geschichte  der  Gesellschaft,  der  Litteratur, 
der  Wissenschaften,  der  Erziehung,  im  besonderen  folgende  Arbeiten 
in  Betracht. 

1.  Geschichten  der  einzelnen  Universitäten  und  Schulen,  und  Ge- 
schichten des  Schulwesens  einzelner  Städte  und  Länder.  An  letzteren 
fehlt  es  noch  sehr;  Koldewey's  Geschichte  des  Braunschweigischen 
Schulwesens  ist  fast  die  einzige  in  größerem  Stil  durchgeführte  Arbeit 
von  dieser  Art.  Es  wäre  sehr  wünschenswert,  wenn  die  Monumenta 
Germaniae  Paedagogica  weitere  ähnliche  Darstellungen  der  Landes- 
schulgeschichte  brächten.  Zum  Teil  enthält  Schmids  Encyklopädie  des 
gesamten  Erziehungs-  und  Unterrichtswesens  gute  Artikel,  wie  Fickers 
Abhandlung  über  Osterreich.  Die  Geschichten  einzelner  Anstalten  sind 
meist  Gelegenheitsschriften,  Programme,  Festschriften  zu  Jubiläen,  and 
daher  sehr  verschiedenen  Werts;  nicht  selten  fehlt  ihnen  die  all- 
gemeine Orientierung  und  damit  die  Unterscheidung  des  Bedeutenden 
und  Unbedeutenden.  Im  ganzen  sind  sie  doch  eine  sehr  wichtige 
Quelle,  ohne  die  niemand  auf  diesem  Gebiet  erfolgreich  arbeiten  kann. 
Ich  bin  für  zahlreiche  freundliche  Zusendungen  dieser  Art  den  Ver- 
fassern zu  Dank  verpflichtet  und  bitte  mich  auch  in  Zukunft  als  dank- 
baren Empfanger  derartiger  Gaben  betrachten  zu  wollen. 

2.  Lebensbeschreibungen  von  Lehrern  und  Schülern,  vor  allem 
Biographien  hervorragender  Schulmänner,  Rektoren,  Schulräte,  Organi- 
satoren, Theoretiker  der  Erziehung  und  des  Unterrichts.  Besonders 
sind  Selbstbiographien,  die  häufig  den  Erinnerungen  aus  der  Schul- 
und  Bildungszeit  breiteren  Baum  geben,  eine  wichtige  Quelle:  sie  zeigen 
das  Ist,  während  in  den  offiziellen  Darstellungen  meist  das  Soll  die 
Stelle  des  Ist  vertritt. 

3.  Gesetze  und  Verordnungen  über  das  Schulwesen,  wie  sie  sich 
in  allen  Gesetzsammlungen  der  einzelnen  Staaten  finden.  Zu  Hilfe 
kommen  hier  die  Sammelwerke,  Vormbaum,  Wiese  u.  a. ;  auch  unter  den 
bisher  erschienenen  Bänden  der  Mon.  Germ.  Paed,  gehören  viele  hierher. 


Vorwort  xur  zweiten  Auflage.  xv 


4.  Die  gesamte  Litterator  der  Pädagogik  und  der  Schulorgani- 
sation. Sie  ist  wichtig  für  die  Erkenntnis  der  Ideale  und  Wünsche 
der  leitenden  Personen ,  man  denke  an  die  Schriften  Melanchthons, 
Sturms,  Camera ktus^,  Basedows,  Thierschs,  Herbarts;  zugleich  aber 
auch  für  die  Erkenntnis  des  Bestehenden,  das  Bestehende  bildet  viel- 
fach den  kontrastierenden  Hintergrund  für  das  Ideal. 

5.  Lehr-  und  Lesebücher  nebst  methodologischen  Anweisungen 
für  alle  Lehrfacher.  Sie  lassen  den  Unterrichtsbetrieb  am  unmittel- 
barsten erkennen.  Hier  wäre  für  Einzelarbeiten  und  für  zusammen- 
fassende geschichtliche  Darstellungen  noch  ein  fruchtbarer,  beinahe 
unabgebauter  Boden. 

6.  Die  Zeitschriftenlitteratur,  pädagogischen  und  allgemeinen  In- 
halts, in  unübersehbarer  Fülle.  Für  die  jüngste  Vergangenheit,  etwa 
seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts,  ist  diese  Quelle  von  der  allergrößten 
Wichtigkeit 

7.  Endlich  die  allgemeinen  Darstellungen  der  Geschichte  der 
Pädagogik,  der  Erziehung  und  des  Unterrichts.  Ich  nenne  Karl 
T.  Raumer,  Geschichte  der  Pädagogik,  in  4  Bänden,  die  dritte  und 
letzte  von  ihm  selbst  besorgte  Auflage  von  1857,  der  noch  zwei  Aus- 
gaben gefolgt  sind;  Karl  Schmidt,  Geschichte  der  Pädagogik,  4  Bde., 
4.  Aufl.  1888;  Lorenz  Stein,  Verwaltungslehre,  2.  Aufl.,  Bd.  V,  VI, 
VIII  (1884  ff.);  K.  A.  Schmid,  fortgeführt  von  Georg  Schmid,  Ge- 
schichte der  Erziehung  von  Anfang  an  bis  auf  unsere  Zeit,  bisher  3  Bde. 
(1884  ff.);  H.  Schiller,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Pädagogik, 
2.  Aufl.  1892;  0.  Willmann,  Didaktik  als  Bildungslehre,  Bd.  I, 
2.  Aufl.  1894;  Theobald  Ziegler,  Geschichte  der  Pädagogik  mit 
besonderer  Rücksicht  auf  das  höhere  Unterrichtswesen,  1895  (Bd.  I 
des  Handbuchs  der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  für  die  höheren 
Schulen,  herausgegeben  von  A.  Baumeister). 

Ich  darf  mir  das  Zeugnis  geben,  daß  ich  fleißig  aus  allen  diesen 
Quellen  geschöpft  habe.  Es  sind  Tausende  von  Bänden,  die  ich  ge- 
lesen oder  durchblättert  habe,  um  für  das  Allgemeine  und  für  das 
Einzelne  Belehrung  daraus  zu  schöpfen,  mit  Erfolg  und  ohne  Erfolg. 
Daß  ich  dabei  von  Vollständigkeit  der  Quellenbenutzung  noch  weit 
entfernt  geblieben  bin,  weiß  niemand  so  gut,  als  ich  selbst.  Ich  bin 
geneigt,  es  mir  zum  Trost  zu  machen,  daß  sie  auf  diesem  Gebiet  über- 


XVI  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


haupt  nicht  erreichbar  ist  Wer  Geschichte  der  Neuzeit  schreiben  will, 
mnB  schwimmen  lernen;  mit  den  Füßen  auf  dem  Boden  watend  kommt 
hier  niemand  ans  Ziel 

Es  giebt  Leute^  die  meinen:  zu  einer  Gesamtdarstellung  der  Ge- 
schichte des  gelehrten  Unterrichts  sei  es  noch  nicht  Zeit;  erst  müßten 
die  Quellen  in  viel  weiterem  Umfang  erschlossen  und  erforscht  werden. 
Mir  ist  jede  Arbeit  auf  diesem  Gebiet,  die  Wertvolles  und  Neues 
bringt,  erfireulich;  und  daß  dabei  neben  vollen  Garben  auch  leeres 
Stroh  eingebracht  wird,  ist  wohl  unvermeidlich.  Einem  Vorwurf  aber, 
der  aus  solcher  Betrachtung  gegen  meine  Arbeit  erhoben  werden 
könnte,  sei  es  gestattet  mit  einem  Wort  zu  begegnen,  das  Goethe  zu 
Anfang  der  Einleitung  in  die  Metamorphose  der  Pflanzen  den  Zer- 
gliederem  und  Mikroskopieren!  sagt:  sicher  sei  Trennung  und  iso- 
lierende Betrachtung  der  Teile  ein  Weg,  der  weit  führe.  „Aber  diese 
trennenden  Bemühungen,  immer  und  immer  fortgesetzt,  bringen  auch 
manchen  Nachteil  hervor.  Das  Lebendige  ist  zwar  in  Elemente  zer- 
legt, aber  man  kann  es  aus  diesen  nicht  wieder  zusammenstellen  und 
beleben.  Dieses  gilt  schon  von  vielen  unorganischen,  geschweige  denn 
von  organischen  Körpern.''  Man  wird  leicht  hiervon  die  Anwendung' 
auf  die  Geschichte  machen.  Ohne  den  bestandig  nebenher  gehenden 
Versuch  der  Synthese,  geht  die  Sammlung  und  Zergliederung  ins 
Leere.  Ich  zweifle  gar  nicht  daran,  daß  es  möglich  ist,  noch  einige 
hundert  oder  auch  tausend  Bände  mit  bisher  ungedruckten  Schulord- 
nungen und  Stundenplänen  zu  füllen;  allein  aus  dem  19.  Jahrhundert 
müssen  ja  im  Archiv  jeder  Schule  ganze  Stöße  von  Beratungen,  Ent- 
würfen, Plänen  vorhanden  sein;  wohl  aber  zweifle  ich  daran,  ob 
dadurch  das  Geschäft  eines  künftigen  Schulgeschichtsschreibers  merk- 
lich erleichtert  und  gesichert  werden  würde.  Schließlich  wird  das  Ge- 
lingen hier  wie  überall  bei  der  Geschichte  des  geistigen  Lebens  doch 
davon  abhangen,  daß  der  Historiker  den  rechten  Blick  mitbringt,  der 
ihn  wie  durch  eine  Art  Intuition  das  Wesentliche,  das  Bedeutende, 
das  Typische  sehen  und  herausfinden  läßt.  Allzu  viel  Papier  verdirbt 
aber  die  Augen. 

Was  die  Form  der  Darstellung  anlangt,  so  habe  ich  so  viel  als 
möglich  die  Quellen  selbst  reden  lassen.  Es  ist  neuerdings  eine 
andere  Form  üblich  geworden:   daß  in  Geschichtsdarstellungen  allein 


Vorwort  ouwr  woeiten  Auflage.  xvn 


der  Autor  spricht;  Citate  und  Anmerkuiigen  sind  jetzt  alt&änkisch. 
Ich  verkenne  die  Vorteile  dieses  Verfahrens  nicht,  gestehe  aber,  daß 
mir  Geschichtswerke  lieber  sind,  die  mich  nicht  bloß  lehren,  wie  es 
war,  sondern  auch,  woher  wir  wissen,  daß  es  so  war.  Dazu  ist  ein 
Quellenverzeichnifi  am  Schluß  des  Werkes  oder  jedes  Buches  weniger 
dienlich,  als  die  fortlaufende  Einfahrung  der  Berichterstatter,  wenn 
möglich  mit  ihren  eigenen  Worten.  Hierzu  kommt  ein  anderer  Vor- 
teil: der  Geruch  der  Zeit  steigt  aus  der  Rede  in  der  ihr  eigenen 
Form  auf.  Und  noch  ein  Vorteil:  hat  ein  einziger  Darsteller  500 
oder  1000  Seiten  hindurch  das  Wort,  so  läuft  er  Gefahr,  die  Leser  zu 
ermüden;  man  bleibt  munter,  wenn,  wie  bei  einem  Gespräch,  bald 
der,  bald  jener  das  Wort  ergreift.  Ich  war  demnach  geneigt,  so  viel 
als  möglich,  mein  Geschäft  darauf  zu  beschränken,  den  Leser  mit  den 
leitenden  Persönlichkeiten  auf  diesem  Gebiet  unmittelbar  zusammen  zu 
bringen  und  diese  ihre  Sache  selbst  vor  ihm  führen  zu  lassen.  Unter 
dem  Namen  Theatrum  mundi  hatte  man  früher  geographisch-historische 
Bilderbücher;  so  möchte  ich  hier  ein  Theatrum  scholarum  errichten, 
wo  der  Leser  selbst  sieht  und  hört,  wie  es  früher  zuging  und  wie 
endlich  die  heutige  Schule  in  Szene  gegangen  ist.  —  Dabei  werde  ich 
mir  allerdings  die  Freiheit  nehmen,  dazwischen  als  Interlokutor  auf- 
zutreten und  meine  Meinung  über  die  Dinge  zu  sagen.  Es  ist  gar 
nicht  meine  Absicht,  meine  persönliche  Auffassung  zu  verleugnen, 
oder  mich  hinter  jene  Form  zu  verstecken.  Hat  man  doch  in  der 
ersten  Auflage  die  Auffassung  viel  zu  subjektiv  und  persönlich  ge- 
funden; denn  das  kann  ja  allein  die  Bedeutung  des  Vorwurfs  sein:  daß 
meine  Darstellung  tendentiös  sei.  Hierüber  zum  Schluß  noch  ein  Wort. 
Daß  diese  ganze  hier  vorliegende  Geschichtsdarstellung  eine  Ten- 
denz habe,  fallt  mir  nicht  ein  zu  leugnen.  Aber  ich  meine:  es  ist 
die  Tendenz  der  geschichtlichen  Bewegung  selbst,  welche  meine  Dar- 
stellung tendentiös  oder,  wenn  man  so  will,  zielstrebig  macht  Ich 
bin  mir  bewußt,  nicht  von  außen  durch  Willkür  eine  Tendenz  in  die 
Geschichte  hineingetragen  zu  haben,  ich  habe  redlich  die  den  Dingen 
selbst  innewohnende  Tendenz  zu  finden  und  darzulegen  gesucht,  und 
das  ist  ja  doch  wohl  die  eigentliche  Aufgabe  des  Historikers.  Daß  ich 
in  ihrer  Lösung  nicht  ganz  unglücklich  gewesen  bin,  dafür  gab  mir 
bei  der  Bearbeitung  dieser  zweiten  Auflage  eine  Beobachtung  einige 

Paulsen,  Unterr.  Zweite  Aafl.   L  * 


xvm  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

m 

Gewähr,  die  man  mir  gestatte  mit  den  Worten  auszusprechen,  welche 
Goethe  aus  Rom  an  seine  Freunde  richtete:  „So  viel  Neues  ich  finde, 
finde  ich  doch  nichts  Unerwartetes,  es  paßt  alles  und  schließt  sich  an, 
weil  ich  kein  System  habe  und  nichts  will  als  die  Wahrheit  um  ihrer 
selbst  willen".  Wenn  nun  die  von  mir  gefundene  Tendenz  der  Dinge 
eine  andere  ist,  als  sie  nach  der  Meinung  der  orthodoxen  Gymnasial- 
pädagogen sein  sollte,  so  ist  das  ja  zu  bedauern,  aber  es  ist  nicht  meine 
Schuld.  Ich  kann  ihnen  nur  raten,  ihre  Meinung  der  Tendenz  der  Dinge 
anzupassen;  denn  diese  wird  sich  auf  die  Dauer  doch  nicht  ihren 
Meinungen  anpassen.  Übrigens  wird  ihnen  dies  jetzt  vielleicht  schon 
etwas  leichter  werden,  als  bei  dem  ersten  Erscheinen  dieses  Buches. 
Andererseits  ist  es  mir  vielleicht  etwas  leichter  geworden,  den  Ton 
ruhiger  und  unbefangener  Darlegung  zu  bewahren ;  denn  es  mag  sein, 
daß  unter  dem  Eindruck  einer  starken,  damals  alleinherrschenden 
Einseitigkeit  auch  meine  Darstellung  hin  und  wieder  etwas  von  ent- 
gegengesetzter Einseitigkeit  angenommen  hat. 

Im  übrigen,  ich  will  es  nur  gestehen,  war  Korrektheit  der  An- 
sichten nie  meine  starke  Seite;  sie  wird  es  auch  schwerlich  mehr 
werden.  Sollte  ich  hierin  von  der  Natur  etwas  mangelhaft  ausgestattet 
sein,  so  hat  sie  mich  dafür  einigermaßen  entschädigt  durch  eine  gute 
Gabe  der  Harthörigkeit  gegen  üble  Nachrede,  mit  der  inkorrekte  An- 
sichten so  reichlich  bedacht  zu  werden  pflegen,  eine  Gabe,  die  mir 
schon  manchmal  im  Leben  zu  statten  gekommen  ist 

Da  auch  meine  Haltung  gegenüber  den  konfessionellen  Gegen- 
sätzen vielfach  bemängelt  worden  ist  und  mir  von  protestantischer 
Seite  bitteren  Tadel  eingetragen  hat,  so  mag  noch  hierüber  ein  Wort 
gestattet  sein.  Ich  bin  nicht  katholisch  und  habe  nicht  vor  es  zu 
werden.  Durch  Geburt  und  Erziehung  Protestant,  stehe  ich  auch  mit 
meinen  Überzeugungen  auf  dieser  Seite;  freilich  nicht  in  dem  Sinne, 
daß  ich  die  Bekenntnisformeln  einer  Landeskirche  als  Grenzen  für 
mein  Denken  und  als  Grund  für  meinen  Glauben  ansähe;  Glaube 
und  Überzeugung,  darin  folge  ich  dem  IjUthee  von  Worms,  sind  die 
innerlichste  und  freieste  Lebensbethätigung,  die  keiner  menschlichen 
Gewalt  und  Autorität  untersteht.  Dieser  mein  Protestantismus  kann 
mich  aber  nicht  abhalten,  das  Gute  und  Tüchtige  in  der  katholischen 
Welt,   im  Mittelalter   wie   in   der  Neuzeit,   zu  sehen  und  als  solches 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage,  ittt 


anzuerkennen,  und  ebenso  wenig  dag  Verfehlte  auf  der  andern  Seite 
zu  sehen  und  so  zu  nennen,  selbst  auf  die  Gefiahr  hin,  in  der  katho- 
lischen Polemik  als  protestantischer  Zeuge  gegen  den  Protestantismus 
zitiert  zu  werden.  Es  wäre  unverantwortlich,  wenn  der  Protestant 
die  Freiheit,  die  ihm  die  Reformation  erkämpft  hat,  nicht  brauchen 
wollte,  um  auch  die  geschichtlichen  Dinge  ohne  die  Brille  des  Kon- 
fessionalismus zu  sehen.  Oder  meint  man,  daß  der  Protestantismus, 
um  im  Kampf  ums  Dasein  zu  bestehen,  an  derselben  engherzigen 
Abstempelung  aller  geschichtlichen  Dinge  mit  der  Parteischablone 
festhalten  müsse,  wie  sie  bei  ultramontanen  Schriftstellern  und  Ge- 
schichtsschreibern nur  allzu  sehr  üblich  ist?  Ich  glaube  nicht,  daß 
dem  Protestantismus  dies  Verhalten  Vorteil  bringen  könnte.  Eine 
siegreiche  Macht  ist  er  in  unserem  Volksleben  nicht  dann  gewesen, 
wenn  er  sich  am  meisten  der  Bekenntnistreue  befliß  oder  in  kirchen- 
regimentlicher  Disziplin  der  Gedanken  mit  dem  Katholizismus  wett- 
eiferte, sondern  da,  wo  er  mit  fröhlichem  Glauben  auf  die  innere 
Macht  der  Wahrheit  baute.  Als  Luthee  am  Anfang  seiner  Laufbahn 
den  Deutschen  von  der  i'reiheit  eines  Christenmenschen  zeugte,  als 
ICant  und  ScHiLLEE  und  Goethe  ihrem  Zeitalter  von  der  Freiheit 
des  Geistes  und  Gewissens  predigten,  da  war  der  Protestantismus  eine 
Macht  im  deutschen  Lande.  Der  konfessionell  gebundene  Protestantismus 
verkümmert;  so  zeigt  es  das  16.  und  17.  Jahrhundert;  so  hat  es  auch 
das  19.  Jahrhundert  gezeigt;  tiefer  hat  der  Einfluß  der  protestantischen 
Edrche  wohl  nie  gestanden,  als  um  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts. 

Übrigens  haben  Selbstüberhebung  und  Unduldsamkeit  es  nie  und 
nirgends  an  sich  gehabt,  vor  Gott  und  Menschen  angenehm  zu  machen. 
Wohl  aber  haben  Selbstkritik  und  freie  Anerkennung  alles  Guten  und 
Wahren  diese  Gabe.  Vielleicht  überzeugt  sich  hiervon  auch  der 
Katholizismus  noch  einmal.  Wenigstens  wird  er  das  bald  wieder  zu 
lernen  Gelegenheit  haben,  daß  die  eccUsia  triumphans  et  insultans 
weniger  Freunde  hat  als  die  ecdesia  pressa.  — 

Die  hier  vorliegende  Geschichte  der  deutschen  Gelehrtenschule  ge- 
hört nicht  zu  der  Gattung  der  enkomiastischen  Darstellungen,  woran 
dieses  Litteraturgebiet  so  reich  ist.  Ich  meine  es  nicht  entschuldigen 
zu  müssen.  Ich  will  mit  dem  oft  wiederholten  Wort  Goethes,  daß 
das  Beste  an  der  Geschichte  sei  die  Begeisterung,  die  sie  errege,  nicht 


>Mt 


XX  Vorwort  zur  xweUen  AuflagB, 


rechten;  an  einer  Geschichte  einer  einzelnen  Institution  wird  doch  das 
Beste  sein,  daß  sie  zum  Nachdenken  über  Ziele  und  Mittel  der  Insti- 
tution erregt  und  anleitet  Um  aber  einer  falschen  Vorstellung  über 
mein  inneres  Verhältnis  zur  Entwickelung  des  deutschen  Gelehrten- 
schulwesens entgegenzutreten,  bemerke  ich  noch  dies:  die  deutsche  Ge- 
lehrtenschule ist  ein  echtes  und  rechtes  Kind  des  deutschen  Geistes,  in 
allen  ihren  Entwickelungsstufen  ist  sie  den  Bildungsbestrebungen  des 
deutschen  Volkes  im  ganzen  getreulich  gefolgt.  Viel  mehr  als  in  Eng- 
land und  Frankreich  standen  und  stehen  in  Deutschland  die  Universi- 
täten und  Schulen  im  Mittelpunkt  des  nationalen  Lebens.  In  England 
sind  durch  den  starren  Konservatismus  sich  isolierender  Korporationen 
die  Bildungsanstalten  lange  Zeit  hindurch  dem  wirklichen  Leben  des 
Landes  völlig  entfremdet  worden.  In  Frankreich  folgte  auf  die  Jesuiten- 
schule die  Revolution,  die  über  alles  Vorhandene  einen  Strich  zog;  und 
auf  die  Revolution  folgte  der  zentralistische  Staatsabsolutismus  mit 
seinen  immer  fortgesetzten  Versuchen,  die  Schule  in  den  Dienst  des 
politischen  Regiments  zu  stellen.  In  Deutschland  hat  sich  das  Unter- 
richtswesen, von  der  Universität  bis  zur  Volksschule,  in  beständiger 
Wechselwirkung  mit  allen  lebendigen  Kräften  des  Volkslebens,  mit 
Staat  und  Kirche,  mit  Wissenschaft  und  allgemeiner  Bildung  entwickelt 
Mannigfaltig  und  individuell  gestaltet,  spiegelt  es  den  Reichtum  des 
deutschen  Volkslebens  in  der  Vielheit  seiner  Glieder.  Ohne  Erstarrung 
und  ohne  gewaltsamen  Bruch,  hat  es  sich  in  kontinuierlicher  Entwicke- 
lung entfaltet,  allen  lebenskräftigen  Antrieben  der  Zeit  sich  öffnend, 
aber  zugleich  die  Überlieferung  ehrend,  ohne  die  es  kein  geschicht- 
liches Leben  giebt 

Möge  auch  in  den  kommenden  Jahrhunderten  den  deutschen 
Universitäten  und  Schulen  dieser  ihr  geschichtlicher  Charakter  erhalten 
bleiben:  Mannigfeltigkeit  und  Beweglichkeit,  geschichtlicher  Sinn  und 
Trieb  zum  Fortschreiten.  Die  Wurzel  aber  dieses  ihres  Wesens  ist  die 
Freiheit  des  Geistes,  dieses  Palladium  des  deutschen  Volkes.  Unfreiheit 
des  Geistes,  Gefangenschaft  in  Formeln  und  Dogmen,  sei  es  der  Politik 
oder  der  Religion,  tötet  beides,  die  Ehrfurcht  vor  der  Vergangenheit 
und  die  Kraft  zur  Zukunft 

Steglitz  bei  Berlin,  im  August  1895. 

Friedrich  Panlsen. 


DER  GELEHRTE  UNTERRICHT  IM  ZEICHEN 
DES  ALTEN  HUMANISMUS. 


1450—1740. 


Wer  alte  Greschichten  beschreiben  will 
Mit  Wahrheit,  erhält  des  Danks  nicht  viel, 
Weil  eines  jeden  sein  Begehr, 
Daß  man  ihn  rühm  von  Adam  her. 

Wer  solche  Schmeichelei  nicht  kann, 
TrSgt  wenig  Gnad  und  Dank  davon; 
£s  ist  dann  alle  Müh  verlorn; 
Des  bin  ich  selbsten  inne  wom. 

Aus  Michael  ScHWAiaERs 

Bürgermeisters  zu  Amberg  (um  1550) 

Sprüchen  und  Denkreimen. 


Inhalt. 


Seite 
Einleitung 1 

Erstes  Bnch. 

Das  Zeitalter  des  Humanismus. 
1450—1520. 

Erstes  Kapitel.    Renaissance  und  Mittelalter 7 

Zweites  Kapitel.    Das  Unterrichtswesen  des  Mittelalters 13 

Drittes  Kapitel.    Der  Humanismus  und  sein  Bildungsideal      ....  49 

Viertes  Kapitel.    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten     .  74 

Fünftes  Kapitel.  Das  Eindringen  des  Humanismus  in  die  Partikular- 
schulen   146 

Zweites  Bnch. 

Die  Begründimg  des  protestantischen  und  katholischen 
Gelehrtenschulwesens  im  Zeitalter  der  Reformation  und  Gegen- 
reformation. 
1520—1600(1648). 

Erstes  Kapitel.    Der  Ausbruch   der   kirchlichen  Revolution  und  ihre 

Wirkung  auf  die  Universitäten  und  Schulen 173 

Zweites  Kapitel.    Die  Anschauungen  der  Reformatoren  vom  gelehrten 

Unterricht  und  seiner  Aufgabe 196 

Drittes  Kapitel.  Neubegründung  der  Universitäten  in  den  protestan- 
tischen Gebieten 209 

Viertes  Kapitel.  Äußere  Gestalt  und  Unterrichtsbetrieb  der  protestan- 
tischen Universitäten  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts 248 

Fünftes  Kapitel.    Die  Neubegründung  des  Gelehrtenschulwesens  in  den 

protestantischen  Gebieten 268 

Sechstes  KapiteL  Äußere  Grestalt  und  Unterrichtsbetrieb  der  Gelehrten- 
schulen in  den  protestantischen  Gebieten  am  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts      318 

Siebentes  Kapitel.    Die  Neubegründung  des  römisch-katholischen  Ge- 

lehrtenschulwesens  durch  die  Gesellschaft  Jesu 379 

Achtes  Kapitel.    Schlußbetrachtung 432 


xxiY  InhaU. 

Seit« 

Drittes  Buch. 

Das  Zeitalter  der  französiBch-höflschen  Bildung. 
Beg^innende  Modernisiening  der  Universitäten  und  Schulen. 

1600(1648)  — 1740. 

Erstes  Kapitel.  Beginnendes  Erwachen  des  modernen  Geistes.  Reaktion 
gegen  den  humanistischen  Schulbetrieb  im  Übergangszeitalter  (1600 
bis  1648) 458 

Zweites  Kapitel.    Das  Zeitalter  Ludwigs  XIV.  und  das  höfisch-moderne 

Bildungsideal 480 

Drittes  Kapitel.    Die  Kitterakademien 501 

Viertes  Kapitel.  Die  Universitäten  unter  dem  Einfluß  der  höfisch- 
modernen  Bildung  und  des  Pietismus.  Die  neue  Universität  Halle. 
Thomasius.    Francke.    Wolf 511 

Fünftes  Kapitel.    Die  Modernisierung  der  Gelehrtenschulen  unter  dem 

Einfluß  der  höfischen  Bildung  und  des  Pietismus 550 

Sechstes  Kapitel.    Zustände  des  gelehrten  Unterrichtswesens  am  Anfang 

des  18.  Jahrhunderts  und  Urteile  darüber 584 


Einleitung. 


Ich  versuche  den  Leser  auf  einen  Standpunkt  zu  stellen,  von  wo 
er  das  Ganze  der  Bewegungen  überblicken  kann,  die  den  Gegenstand 
der  folgenden  Darstellung  ausmachen. 

In  drei  großen  Flutwellen  hat  sich  die  geistige  Kultur  der  alten 
Welt,  ihre  Religion  und  Philosophie,  ihre  Sprache  und  Litteratur  über 
die  Völkerwelt  ergossen,  die  zur  Trägerin  des  geschichtlichen  Lebens 
der  Neuzeit  bestimmt  war. 

Die  erste  befruchtende  Überschwemmung,  wenn  man  die  Fest- 
haltung des  Bildes  gestatten  will,  erfuhr  die  germanische  Völkerwelt 
mit  ihrer  Bekehrung  zum  Christentum.  Es  war  nicht  allein  der 
christliche  Glaube,  sondern  mit  ihm  die  ganze  antike  Kultur,  soweit 
sie  sich  an  das  Schiff  der  Kirche  angesetzt  hatte,  die  seit  dem  An- 
schluß an  die  Kirche  allmählich  aufgenommen  wurde.  Vor  allem  wurde 
die  lateinische  Sprache,  als  Sprache  der  Kirche,  zur  Sprache  des  geistigen 
Lebens  der  neuen  Weltj^  Die  Zeit  Karls  des  Großen,  des  Gründers  dos 
neurömischen  Kaisertums,  des  Kaisertums  deutscher  Nation,  ist  der 
erste  Höhepunkt  des  Einflusses  antiker  Kultur  und  Litteratur  auf  die 
neue  Welt;  man  hat  sie  wohl  als  erste  Renaissance  bezeichnet.  Dann 
folgt  im  12.  und  13.  Jahrhundert  die  Aufnahme  der  antiken  Wissen- 
schaft, vor  allem  der  aristotelischen  Philosophie;  der  Lehrbetrieb  der 
jetzt  aufblühenden  LTniversitäten,  die  Schulphilosophie,  bedeutet  den 
Assimilationsprozeß,  worin  dieser  neue  Inhalt  aufgenommen  wird. 

Die  zweite  große  Flutwelle  überströmte  die  abendländische  Welt 
im  15.  und  16.  Jahrhundert.  Es  ist  die  sogenannte  Renaissance. 
Sie  bedeutet  das  Wiederaufleben  des  klassischen,  d.  h.  des  hcidnisclien 
Altertums  in  Kunst  und  Litteratur,  in  Philosophie  und  Lebensstinimung. 
Das  Mittelalter  hatte  zunächst  unter  dem  Einfluß  des  christlich  go- 
wordencA  Altertums  gestanden;  jetzt  war  die  Meinung,  mit  Auslrschung 
dieses  Zeitalters,  als  eines  Interregnums  der  Barbarei,  in  dem  a^^iatische 
und  gotische  Bohheit  sich  zur  Erstickung  der  Bildung  die  Hand  ^v- 
reicht  hätten,  das  eigene  Leben  unmittelbar  an  die  Zeit  Ciceros  und 

Paalsen,  Unterr.   Zweite  Aufl.    I.  1 


Einleitung. 


Yirgils  aDzuschließen.  Die  Bewegung  ging  von  Italien  aus,  wo  das 
römische  Altertum  in  romantischem  Schimmer  als  eigene  Vorzeit  er- 
schien. Sie  überflutete  ganz  Europa,  wurde  aber  seit  1520  durch  die 
tiefere,  von  Deutschland  ausgehende,  volkstümlich -religiöse  Bewegung 
der  Reformation  verhindert,  die  innere  Umformung  der  Denkart  im 
Sinne  des  klassischen  Humanismus  zu  vollenden.  —  Als  Niederschlag 
blieb  zurück:  das  klassische  Latein  und  die  Imitationslitteratur  in  der 
gelehrten  Welt,  die  Renaissancekunst  und  der  Same  der  naturalistischea 
Sinnesart  in  den  oberen  Gesellschaftsschichten. 

Die  dritte  Flutwelle  erhob  sich,  langsam  ansteigend,  im  Laufe 
des  18.  Jahrhunderts;  um  seine  Wende  erreichte  sie  ihren  höchsten 
Stand.  Es  ist  der  Neuhumanismus,  man  könnte  ihn  zum  Unter- 
schied von  dem  italienisch-römischen  Humanismus  der  Renaissance 
auch  den  deutsch-griechischen  Humanismus  nennen.  Diese  neu- 
humanistische Flutwelle  war  nicht  in  demselben  Sinney  wie  die  beiden 
früheren,  universell,  ihr  eigentliches  Überschwemmungsgebiet  ist  das 
protestantische  Deutschland.  Sie  durchtränkte  die  ganze  deutsche  Litte- 
ratur  und  Bildung  mit  hellenistischen  Ideen  und  Anschauungen.  — 
Als  Niederschlag  hat  diese  jetzt  ablaufende  Welle  zurückgelassen  die 
klassische  deutsche  Litteratur  und  den  klassischen  Unterricht  auf 
unseren  Gymnasien.  — 

Innerhalb  der  Grenzen  unserer  Darstellung  liegen  die  beiden 
letzten  Überflutungen;  nicht  die  erste.  Der  erste  Band  wird  die  alt- 
humanistische Überflutung  von  den  Anfangen  in  der  zweiten  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  bis  zum  vollständigen  Abebben  um  die  Wende 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts  darstellen.  Der  zweite  Band  hat  den 
Verlauf  der  neuhumanistischen  Flutwelle  zu  verfolgen  von  den  An- 
fingen um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  bis  zum  Abebben,  das  sich 
eben  vor  unseren  Augen  vollzieht. 

Jeder  Band  hat  drei  Bücher.  Sie  entsprechen  einigermaßen  den 
drei  Phasen  der  Flutwelle:  Ansteigen,  Hochwasser,  Ablaufen.  Im  ersten 
Band  ist  das  Aufsteigen  der  humanistischen  Flut  Gegenstand  des  ersten 
Buchs;  ihre  Stauung  im  Zeitalter  der  Reformation  und  ihr  Niederschlag 
im  Schalwesen  wird  im  zweiten,  ihr, Abläufen  im  17.  Jahrhundert  im 
dritten  Buch  behandelt.  Im  zweiten  Band  handelt  das  erste  Buch 
von  dem  Aufsteigen  des  Neuhumanismus  im  Zeitalter  der  Aufklärung 
das  zweite  von  seinem  Höhepunkt,  im  Zeitalter  Goethes,  seiner  Stauung, 
im  Zeitalter  der  Romantik  und  Reaktion  und  seinem  Niederschlag  im 
Schulwesen  in  den  ersten  vier  Jahrzehnten  dieses  Jahrhunderts,  das 
dritte  von  dem  Abebben  und  den  Versuchen  der  Politiker  und  Gymnasial- 
pädagogen, gegen  diese  Strömung  Dämme  zu  errichten. 


Einleitung, 


Über  das  Bildangsideal  und  die  ihm  entsprechende  Gestaltung 
des  klassischen  Unterrichts  in  den  beiden  großen  Epochen  bemerke 
ich  hier  folgendes.  Das  Ziel  des  Schulunterrichts,  wie  er  sich  unter 
dem  Einfluß  des  Humanismus  und  der  Reformation  im  16.  Jahrhundert 
gestaltet  hat,  ist:  litterarische  Bildung  und  konfessionelle  Becht- 
gläubigkeit,  oder,  mit  Jos.  Sturms  Formel:  litterata  pietas.  Die 
litterarische  Bildung  aber  zeigt  sich  in  der  Eloquenz,  d.  h.  der  Fähig- 
keit, klassisches  Latein  in  Prosa  und  Versen  zu  schreiben.  Und  so  ist 
hierauf  der  althumanistische  Unterricht  gerichtet;  Imitation  der  alten 
Bedner  und  Dichter  ist  der  Weg  zur  Eloquenz. 

Die  zweite  Epoche,  die  Epoche  des  Neuhumanismus,  ist  zu- 
nächst dadurch  charakterisiert,  daß  sie  dieses  Ziel  aufgiebt.  Die  latei- 
nische Imitations -Eloquenz  und  Imitations -Poesie  war  im  Verlauf  des 
17.  Jahrhunderts  obsolet  geworden,  an  ihre  Stelle  trat  zunächst  die 
französische  und  daneben  die  deutsche  klassizistische  Poesie  und  Elo- 
quenz, sie  selber  Imitation  der  römischen  Litteratur.  Seit  den  Tagen 
Elopstocks,  Ijessings,  Herders,  Goethes  erhob  sich  die  selbständige 
deutsche  Litteratur,  die  Poesie  der  Originalgenies.  Sie  hat,  sich  be- 
geisternd für  die  griechische  Litteratur  als  die  Originallitteratur  gegen- 
über der  römischen,  den  deutsch-griechischen  Humanismus  auf  die  Bahn 
gebracht.  Unter  seinem  Einfluß  ist  nun  die  Beschäftigung  mit  der 
griechischen  Sprache  und  Litteratur  zu  einem  Hauptstück,  der  Absicht 
nach  zu  dem  Hauptstück  des  Gymnasialunterrichts  gemacht  worden. 
Die  Absicht  aber  des  klassischen  Unterrichts  wird  damit  eine  andere: 
das  Ziel  des  neuhumanistischen  Schulbetriebs  ist  nicht  Imitation, 
weder  in  griechischer  Sprache,  noch  auch  in  deutscher,  sondern 
Bildung  des  Geistes  und  Geschmacks  durch  den  Verkehr  mit  den 
alten  Schriftstellern  in  allen  Litteraturgattungen. 


Erstes  Buch. 


Das  Zeitalter  des  Humanismus. 

1450—1520. 


^■•j 


Erstes  Kapitel. 

Benaissance  nnd  Mittelalter. 

Die  große  Bewegung  im  geistigen  Leben  der  abendländischen 
Yölkerwelt,  die  wir  mit  dem  Namen  dej  Renaissance  bezeichnen,  ist 
wie  ein  Vorspiel  der  Geschichte  der  Neuzeit.  Es  kommt  in  ihr  die 
Richtung  des  modernen  Geistes,  seine  Tendenz  zur  Loslösung  von  der 
supranaturalistisch- asketischen  Welt-  und  Lebensanschauung  des  alten 
Christentums  in  einem  ersten  Anlauf  zur  Erscheinung.  £s  ist  der 
Geist  der  heidnischen  Antike,  der  Geist  eines  diesseitigen  Naturalismus^, 
eines  kulturfreudigen  Optimismus,  der  in  der  Renaissance  seine  Auf- 
erstehung erlebt  Der  ebep  yom  Mittelalter  sich  losringende  moderne 
Geist,  der  bald  in  der  Entdeckung  und  Eroberung  der  neuen  Welt, 
in  der  Erforschung  der  Erde  und  des  Hinunels,  in  der  Erkenntnis  und 
Ifnterwerfung  der  Gesetze  und  Kräfte  der  Natur,  in  der  neuen  rationalen 
Philosophie  und  Wissenschaft  seine  Triumphe  feiern  ^te,  empfand 
mit  der  Sicherheit  des  Instinkts,  der  auch  dem  Yolkerleben  nicht  fremd 
ist,  seine  innere  Verwandtschaft  mit  dem  antiken  Geist.  Und  darum 
rief  er  das  Alt-ei^um  in  seinem  Befreiungskampf  gegen  die  ihm  nicht 
mehr  ^einaäen  Xebensformen  der  überlieferten  kirchlichen  Bildung 
zu  Hilfe. 

Auf  den  ersten  Blick  erscheint  die  Renaissance  als  der  volle  Gegen- 
satz gegen  das  Mittelalter  und  seine  Bildung;  und  so  fühlt  sie  sich 
selbst  Der  tiefer  Blickende  wird  indessen  nicht  verkennen,  daß  es  im 
Grande  der  Geist  des  Mittelalters  selbst  ist,  der  diese  Wandlung  aus 
dem  eigenen  Wesen  hervortreibt;  wie  sollte  auch  eine  rein  innere  Um- 
gestaltung des  Lebens,  wie  die  Renaissance  ist,  von  außen  über  eine 
Völkerwelt  kommen?  Man  kann  die  Dinge  so  betrachten:  die  ger- 
manischen Völker  waren  in  der  ersten  Hälfte  des  Mittelalters  in  die 
£ärche  aufgenommen  worden;  sie  waren  aber  nicht  zum  Christentum 
bekehrt  worden,  wenn  man  unter  Bekehrung  jene  innere  Umwandlung 
der  ganzen  Lebensstimmung  und  Lebensführung  versteht,  die  im  Evan- 
gelium Wiedergeburt  heißl.    Die  alten  Völker  hatten  etwas  derartiges 


/,  1,    Renaissance  und  Mittelalter, 


erlebt;  sie  bekehrten  sich  zum  Christentum,  nachdem  sie  den  Weg 
der  Civilisation  und  Kultur  l)is  zu  Ende  gegangen  waren  und  am  Ende 
die  Enttäuschung  und  den  Überdruß  gefunden  hatten.  Sie  richteten 
nun,  sich  abwendend  von  des  Fleisches  Lust  und  der  Augen  Lust, 
ihre  Sehnsucht  auf  ein  übersinnliches  Jenseits;  sie  kehrten  um  von 
dem  Wege,  auf  dem  sie  bisher  der  Befriedigung  der  Begierden  durch 
die  Güter  der  Kultur  nachgegangen  waren,  um  nun  durch  Erlösün^l^ 
von  der  Begierde  nicht  Befriedigung  und  Glück,  aber  Ruhe  und  Frieden 
zu  linden. 

Die  Bekehrung  der  germanischen  Völker  ist  ein  Vorgang  von  ganz 
anderer  Art.  P]ine  ähnliche  Umkehr  konnte  hier  gar  nicht  stattfinden, 
weil  sie  den  Kulturweg  noch  kaum  betreten  hatten.  Ihre  Christiani- 
sierung stellt  sich  vielmehr  als  der  erste  Schritt  zu  ihrer  Kultivierung 
dar.  Die  Kirche,  nach  ihrer  ursprünglichen  Idee  das  Reich,  das  nicht 
von  dieser  Welt  ist,  auf  Erden  repräsentierend,  erscheint  im  Mittelalter 
als  die  Trägerin  aller  Kultur;  von  den  Klöstern  geht  alle  Bereicherung 
und  Verschönerung  des  Lebens  aus.  Allerdings  ist  der  ursprüngliche 
weitabgewendete  Charakter  des  Christentums  nicht  ganz  verschwunden. 
Die  Lehre  der  Kirche  hat  ihn  nie  verleugnet  und  auch  in  den^ebens- 
formen,  soweit  sie  unter  dem  Einfluß  der  Kirche  stehen,  begegnet  man 
überall  seinen  Spuren.  Aber  der  wirkliche  Lebensinhalt  des  Mittel- 
alters ist  mit  seiner  kirchlichen  Form  nicht  in  Übereinstimmung;  in 
Wahrheit  ist  es  gar  nicht  weltmüde  und  lebenssatt,  sondern  voll  freu- 
digen Verlangens.  Kampf  und  Eroberung,  mit  den  Waffen,  im  Handel, 
in  der  Kolonisation,  ist  sein  Tagewerk,  Macht  und  Reichtum  sein  Ziel, 
Jagd  und  Kampfspiel  seine  Erholung.  Der  Inhalt  seiner  Lieder  ist 
Liebeslust  und  Liebesleid.  Seine  Heldendichtung  preist  Tapferkeit  und 
Solbstdurchsetzung. ')  Nach  den  Wissenschaften,  die  das  Evangelium 
geringschätzt,  streckt  es  die  Hand  aus,  um  sie  aus  den  Händen  der 
Griechen,  Juden  und  Araber  ^lu  nehmen.  Die  scholastische  Philosophie, 
was  ist  sie  anders  als  ein  erster  Versuch,  den  Glauben  mit  der  Vernunft 
zu  bewältigen?  Das  credo  ut  inteHigam  ist  ihr  Prinzip,  das  Gegenteil 
des  crcdihile,  quia  ineptum,  —  Natürlich  soll  hiermit  nicht  gesagt  sein, 
daß  dem  Mittelalter  echte  Erlösungssehnsucht  von  der  Welt  überhaupt 
fremd  gewesen  sei;  mancher  lateinische  Kirchengesang  giebt  von  ihrem 
Voriiandensein  zuverlässige  Kunde.  Nur  das  wird  behauptet,  daß  in 
solchen  Stimmen  nicht  seine  Grundstimmung  zum  Ausdruck  kam. 
Das  Mittelalter  ist,  wenn  man  auf  seine  tiefste  Wissensrichtung  sieht, 
der  ersten,  kultur-  und  weltfreudigen  Hälfte  der  Lebensentwickelung 
der  alten  Völker  näher  verwandt,  als  der  zweiten,vder  christlich -reli- 
giösen.  Dicht  unter  der  Oberfläche,  die   ganz   von   dem   supranatura- 


Verhältnis  des  Mittelalters  xum  Altertum,  9 

listisch-asketischen  Christentum  beherrscht  erscheint,  stöbt  man  überall 
auf  die  starke  Unterströmung  einer  mächtig  aufstrebenden  Kultur- 
tendenz. ^ 

Man  kann  das  Verhältnis  des  Mittelalters  zum  Altertum  vielleicht 
so  bezeichnen.  Das  Mittelalter  ist  die  Schulzeit  der  germanischen 
Völker;  das  Altertum  ist  ihr  Lehrer,  aber  nicht  das  jugendliche,  heid- 
nische, sondern  das  alt  gewordene  Altertum,  das  sich  von  der  Welt 
und  ihrer  Lust  abgewendet  und  zum  Christentum  bekehrt  hat  Von 
diesem  Lehrer  nehmen  die  jungen  Völker  zugleich  mit  den  Elementen 
der  EuUur  auch  die  Form  seiner /Welt-  und  Lebensanschauung  an. 
Diese  paBt  eigentlich  nicht  für  sie;  die  supranaturalistisch -asketische 
Lebensanschauung  ist  dem  Alter  natürlich,  dem  Alter  der  Einzelnen 
wie  der  Völker,  nicht  aber  der  thatkräfügen,  lebensfreudigen,  zur  Kultur 
aufstrebenden,  nach  Bildung  verlangenden  Jugend.  Aber  die  Unan- 
gemessenheit wurde  nicht  empfunden,  so  wenig  als  sie  noch  heute  von 
dem  Knaben  empfunden  wird,  der  aus  dem  Katechismus  die  Lehre 
von  der  Sünde  und  der  Erlösung  aus  dem  irdischen  Jammerthal  und 
der  Sehnsucht  nach  dem  Jenseits  lernt.  Er  nimmt  die  Worte  an,  ohne 
viel  darüber  zu  denken,  daß  sein  wirkliches  Empfinden  nicht  zu  ihnen 
stiomit  So  nahmen  die  Franken  und  Sachsen  die  alten  heiligen 
Formeln,  die  ihnen  die  Kirche  vorsagte,  als  ihr  Bekenntnis  an^  ohne 
daß  ihre  Lebensstimmung  und  ihr  Wille  in  seiner  Grundrichtung  da- 
durch umgewendet  worden  wäre.  Das  Mittelalter  gleicht  einer  in  die 
Tracht  des  Alters  gehüllten  jugendlichen  Gestalt. 

Li  der  Renaissance  kommt  die  Unangemessenheit  zum  Bewußt- 
sein« Man  entdeckt,  daß  die  supranaturalistisch -asketische  Religion  des 
Christentums  die  eigene  Lebensstimmung  gar  nicht  ausdrückt  Und 
gleichzeitig  entdeckt  man,  daß  der  Lehrmeister,  das  Altertum,  einmal 
jung  war  und  damals  ganz  anders  empfand  und  dachte,  als  in  seinem 
Greisenalter.  Man  hatte  davon  eine  abstrakte  Kenntnis  freilich  auch 
früher  gehabt;  aber  jetzt  erst  ging  das  Verständnis  dafür  auf.  Und 
nun  entstand  unter  den  abendländischen  Völkern  ein  wetteiferndes 
Bemühen,  die  christlich-supranaturalistischen  Formen,  wie  sie  das  Mittel- 
alter in  der  Kunst,  in  der  Litteratur,  in  der  Wissenschatt  getragen 
hatte,  abzuthun  und  dafür  die  altklassischen  anzulegen.  Mit  jener  eigen- 
tümlichen Emjpfindung  von  Scham  und  Verachtung,  welche  die  Träger 
einer  veraltet-en  Mode  überkommt,  sobald  sie  dessen  inne  werden,  wurde 
die  alte  Sprache,  die  alte  Dichtung,  die  alte  'Kunst,  die  alte  Wisseö- 
schaft  eiligst  beiseite  geworfen  und  an  ihrer  Stelle  klassisches  Latein, 
klassische  Versmaße,  klassische  Formen  in  der  Kunst  angeschafi*t.  Es 
fehlte  nicht  viel,  daß  auch  die  alten  Götter  wieder  wären  angenommen 


10  /,  7.    Renaissance  und  Mittelalter. 


worden,  wenn  nur  die  klassischen  Schriftsteller  selbst  noch  an  sie  ge- 
glaubt hätten.    So  wurden  denn  wenigstens  die  alten  Redewendungen^ 
die  man  als  Erinnerung  an  einen  ehemaligen  Glauben  bei  Cicero  und 
Virgil  fand,  als  besonderer  Schmuck  auch  der  imitiert-klassischen  Rede'- 
eingefugt.  — 

Die  Renaissance  begann,  wie  natürlich  ist,  in  den  oberen  Schichten^, 
der  Gesellschaft;  es  ist  eine  aristokratische  Bewegung.  Die  Aristokratiy 
der  Bildung  und  des  Besitzes  ist  ihr  Träger.  An  ihrer  Spitze  sehen 
wir  die  geistlichen  und  weltlichen  Fürsten,  voran  Papst  und  Kaiser^ 
ihnen  folgend  Kardinäle  und  Bischöfe,  Könige  und  Kurfürsten.  In 
den  Kirchen  begannen  humanistische  Prunkreden  die  herbe  Predigt 
von  der  Ertötung  des  Fleisches  zu  verdrängen.  Als  in  Florenz  der 
gewaltige  Mönch  von  San  Marco  jene  große  demokratisch-puritanische 
Reaktion  gegen  das  neue  Evangelium  und  seinen  Protektor,  das  forst- 
liche Kaufherrengeschlecht  der  Medici,  erregte,  da  erhob  er,  in  den 
Adventspredigten  1493,^  die  Klage  ^:  „Geh  hin  nach  Rom  und  durch 
die  ganze  Christenheit:  in  den  Häusern  der  großen  Prälaten  und  der 
großen  Herren  treibt  man  nichts  als  Poesie  und  Rhetorik.  Geh  nur 
hin  und  sieh  nach:  du  wirst  sie  finden  mit  humanistischen  Büchern 
in   der  Hand,   wie  sie  sich  den  Anschein  geben,   als  wüßten  sie  mit 

Virgil,  Horaz  und  Cicero  die  Seelen  zu  leiten. Mit  Aristoteles^ 

Plato,  Virgil  und  Petrarcha  speisen  sie  das  Ohr  und  kümmern  sich 
nicht  um  das  Heil  der  Seelen.  Warum  lehren  sie  nicht,  statt  so  vieler 
Bücher,  das  eine,  in  welchem  das  Gesetz  und  das  Leben  enthalten  ist?" 
Die  Antwort  ist:  weil  es  zu  ihrem  Leben  nicht  mehr  paßt.  Die  Eman- 
zipation des  Fleisches  ist  das  Gesetz  ihres  Lebens;  was  soll  ihnen  das 
Evangelium?  Die  Prälaten  sind  in  Ehrgeiz,  Unkeuschheit  und  Luxus 
versunken.  Bücher  des  Teufels  nennt  sie  Savonakola,  denn  dieser 
schreibe  seine  ganze  Bosheit  hinein.  Nicht  anders  die  Fürsten:  ^hre 
Paläste  und  Höfe  sind  der  Zufluchtsort  aller  Tiere  und  Ungeheuer  der 
Erde,  d.  h.  ein  Asyl  für  alle  Bösewichter  und  Verbrecher.  Dieselben 
strömen  dahin,  weil  sie  dort  Gelegenheit  und  Anreizung  finden,  allen 
ihren  maßlosen  Begierden  und  bösen  Leidenschaften  freien  Tjauf  zu 
lassen.  Dort  finden  vsich  die  schlechten  Ratgeber,  welche  stets  auf  neue 
Lasten  und  Steuern  sinnen,  um  das  Blut  des  Volkes  auszusaugen.  Dort 


*  P.  ViLLARi,  Savonarola,  deutsch  von  Berdubchek,  S.  128  ff.;  ein  aus- 
gezeiclmetes  Werk,  das  zwei  andere  ausgezeichnete  Werke  auf  das  glücklichste 
ergänzt:  J.  Bcrckuardt's  Kultur  der  KenaiHsance  in  Italien  (3.  Aufl.  1877)  und 
G.  Vokjt's  Wiederbelebung  de»  Altertums  (2.  Aufl.  1881).  Vielleicht  giebt  es 
keine  Zeit,  deren  innerste  Tendenzen  deutlicher,  als  hier  geschehen  ist,  dar- 
gelegt worden  sind. 


Die  italienische  Renaissance,  11 


leben  die  schmeichlerischen  Philosophen  und  Dichter,  die  mit  Fabeln 
und  Lügen  aller  Art  den  Stammbaum  jener  schlechten  Fürsten  von 
den  Göttern  herleiten.  Was  aber  das  schlimmste  ist,  dort  sieht  man 
auch  Geistliche,  welche  in  denselben  Ton  einstimmen.  —  Da  habt  ihr 
die  Stadt  Babylon,  die  Stadt  der  Thoren  und  Gottlosen,  die  Stadt, 
welche  der  Herr  zerstören  will." 

So  stellte  sich  dem  Mönch  die  Renaissance  dar.  Sie  rächte  das 
Urteil  durch  seinen  Tod.^ 

Die  Bewegung  nahm  ihren  Ursprung  in  Italien.  Hier  hat  sie 
auch  die  ausgeprägteste  Darstellung  ihres  innersten  Wesens  erreicht 
In  Italien  war  die  wirtschaftliche  Entwickelung  am  weitesten  fort- 
geschritten, hier  waren  zuerst  moderne  Großstädte  als  Vermittler  des 
Welthandels  entstanden;  in  ihnen  kam  der  moderne  Geist  zuerst  zum 
Bewußtsein  seiner  selbst  Dazu  kam  ein  anderes.  Italien  war  das 
JLand  der  Römer,  tausend  Spuren  gaben  dem  lebenden  Geschlecht 
Zeugnis  davon.  Die  Italiener  waren  die  Nachkommen  der  Römer.  Sie 
hatten  es  vergessen.  In  seinem  Werk  De  officio  ministrorum  sucht 
der  heilige  Ambrosius  nachzuweisen,  daß  die  vier  Kardinaltugenden 
und  besonders  auch  die  Tapferkeit  bei  den  Christen  so  gut  zu  finden 
sei  als  bei  den  Heiden;  zum  Beweis  führt  er  Josua  und  David,  Eleazar 
und  die  Makkabäer  an;  diese  nennt  er,  der  geborene  Römer,  seine  Vor- 
fahren (majores  nostri).  So  groß  war  der  Abfall  von  dem  natürlichen 
Bewußtsein  menschlicher  Beziehungen.  Im  14.  Jahrhundert  begann 
sich  Italien  zu  besinnen:  nicht  die  Juden  sind  unsere  Vorfahren,  sondern 
die  alten  Römer.  Und  nun  erschien  es  so,  als  sei  dies  Bewußtsein 
nicht  durch  eine  innere  Wandlung,  sondern  durch  die  Invasion  der 
Barbaren  getrübt  worden:  die  Goten  hätten  das  Römerreich  zerstört, 
die  römische  Kultur  mit  ihrem  Barbarentum  befleckt,  die  Sprache  ver- 
derbt, barbarisches  Recht  und  barbarische  Sitten  eingeführt  Diese 
Befleckung  gelte  es  nunmehr  abzuwischen  and  das  echte  Römertum, 
die  römische  Republik  und  die  römische  Beredsamkeit  wieder  herzu- 
stellen. In  Petrarcha  ist  diese  Gesinnung  lebendig.  Er  erwartete  von 
Cola  Rienzi  die  Vertreibung  der  Barbaren,  d.  h.  der  von  den  Goten 
abstammenden  Nobili  (Voigt  I,  67,  II,  364). 


^  Eine  eiDgehendere  Darlegung  des  großen  Gegensatzes  der  antiken  und 
der  christlichen,  der  naturaliBtisch-optim istischen  imd  der  supranaturalistisch- 
asketischen  Weltanschauung,  sowie  eine  von  hieraus  orientierte  Darstellung  der 
mittelalterlichen  und  der  modernen  Lebensauffassung  findet  der  Leser  im  ersten 
Bach  meines  Systems  der  Ethik  (3.  Aufl.  1894).  Ich  verweise  auch  auf  Otto 
WnuiAKN,  Didaktik  der  Bildungslehre^  1.  Bd.  (2.  Aufl.  1894),  und  P.  Nekrlicu, 
Das  Dogma  vom  klassischen  Altertum  (1894). 


k 


12  /,  7.    Renaissance  und  Mittelalter, 

Dem  damals  führenden  Volk  folgte  mit  den  übrigen  auch  das 
deutsche.  Wie  einst  Ambrosius  mit  Verleugnung  der  natürlichen 
Abstammung  die  christlichen  Italiener  zu  Nachkommen  Davids  gemacht 
hatte,  so  versuchten  nun  mit  den  Italienern  auch  die  Deutschen  aus 
sich  Nachkommen  Ciceros  zu  machen.  Sie  fingen  an  ihrer  gotischen 
Herkunft  sich  zu  schämen  und  deshalb  streiften  sie  so  viel  als  immer 
möglich  ab,  was  daran  erinnerte.  Mit  den  Namen  der  Dinge  und  ihren 
eigenen  Namen  fingen  sie  an;  aus  einem  Magister  Krachenborger  wurde 
ein  Gracchus  Pierius,  aus  einem  Mag.  Walzemüller  ein  Hylacomylus, 
aus  einem  Schlaginhaufen  ein  Turbicida  oder  Ochloplectes.  Den  Magister 
und  Baccalarius  ließ  man  ganz  weg;  hatte  auch  irgend  ein  griechischer 
oder  römischer  Philosoph  mit  so  absurdem  Titel  sich  auszuzeichnen  ge- 
trachtet? Aus  dem  Studium  geiterale  machte  man  eine  academia  oder 
ein  gymnasiuniy  aus  der  faaiUas  artivm  ein  collegium  oder  einen  ardo 
p/iilosophoriim,  aus  einer  hursa  ein  contuberniujn ,  aus  dem  pedellus 
einen  viator  u.  s.  f.  Auch  der  alte  Kalender,  der  nach  den  Hoiligen- 
tagen  rechnete,  wurde  durch  die  RecbnuYig  nach  Kalendeu  und  Iden 
ersetzt.  Nicht  minder  würde  die  Barbarei  der  gotischen  Länder-  und 
Ortsnamen  abgethan  oder  wenigstens  verdeckt,  indem  man  entweder 
die  alten  römischen  Namen  wieder  aufnahm  oder,  wo  solche  fehlten, 
durch  Antikisierung,  wie  bei  den  Personen,  sich  half.  So  wurde  aus 
Meißen  Mysia,  aus  Wittenberg  Albioreia.  Mochte  das  Verständnis 
darunter  leiden,  was  schadete  es,  wenn  nur  das  barbarische  Ärgernis 
aus  der  Rede  entfernt  wurde;  allenfalls  konnte  man  ja  am  Rand  hin- 
zufügen, mit  welchem  Namen  der  Ort  unter  den  Barbaren  genannt  wurde. 

So  tief  wie  in  Italien  ist  allerdings  der  Humanismus  in  Deutsch- 
land nicht  gedrungen.  Die  gotische  Natur  ließ  sich  nicht  sogleich 
mit  dem  Namen  ablegen  und  sie  fügte  sich  nie  ganz  in  die  antike 
Anschauung.  Die  Religion  wurzelte  tiefer  im  Gemüt  und  ein  gewisser 
schwerfalliger  flrnst,  der  sich  mehr  zur  Arbeit  als  zu  leichtem  Lebens- 
genuß und  ästhetischem  Spiel  schickt,  hielt  von  einer  gleichen  Hin- 
gebung an  das  Altertum,  an  Schönheit  und  Sinnenlust  zurück.  Die 
Renaissance  blieb  in  Deutschland  im  Grunde  immer  ein  exotisches 
Gewächs.  Nur  die  gelehrten  Kreise  wurden  von  ihr  stärter  bewegt; 
und  zu  dem  italienischen  Evangelium  von  der  Emanzipation  des 
Fleisches  hat  auch  unter  diesen  sich  nur  ein  Teil  bekannt,  wie  die 
Gruppe,  welche  in  den  Briefen  der  dunkeln  Männer  sich  selber  ein 
Denkmal  gesetzt  hat.  Die  eigentlichen  Führer  des  Humanismus  in 
Deutschland,  Reuchlin  und  Ebasmüs,  Hegius  und  Wtmpheling,  Mosel- 
LANus  und  Melanchthon,  waren  ehrbare  Gelehrte  und  Professoren.  Ihr 
Humanismus  bestand  vor  allem  im  lateinischen  Stil.     Freilich  der  Stil 


Renaissance  in  Deutschland,  13 


ist  der  Mensch.  Die  Bewunderung  der  Ciceronischen  Sprache  und  die 
Verachtung  des  kirchlichen  Lateins  führte  unvermerkt  zu  einer  ent- 
sprechenden Schätzung  des  Inhalts. 

So  hat  denn  allerdings  auch  in  Deutschland  der  Humanismus  als 
revolutionäres  Prinzip  gewirkt.  Das  Ziel  der  Revolution  war  freilich 
nicht  die  römische  Republik,  es  handelte  sich  zunächst  nur  um  eine 
Universitäts-  un(J  Schulrevolution.  Diese  aber  hat  sich  wirklich  voll- 
zogen. Der  Wissenschafts-  und  Unterrichtsbetrieb  des  Mittelalters,  wie 
er  sich  im  14.  und  15.  Jahrhundert  ausgebildet  hatte  und  noch  am 
Anfang  des  16.  an  allen  deutschen  Universitäten  und  Schulen  bestand, 
ist  in  den  zwei  Jahrzehnten  der  humanistischen  Invasion  zerstört  worden. 
Schon  vor  dem  Ausbruch  der  Kirchenrevolution  hatte  auf  allen  deutschen 
Universitäten  eine  ziemlich  tiefgreifende  Umgestaltung  des  gelehrten 
Unterrichts,  besonders  in  der  artistischen  Fakultät  stattgefunden.  Über- 
all waren  Professuren  der  Eloquenz  und  der  griechischen  Sprache  er- 
richtet; überall  waren  die  Lehr-  und  Promotionsordnungen  reformiert, 
als  durch  die  Reformation  die  Entwickelung  der  Dinge  unterbrochen 
wurde. 

Ehe  ich  aber  diese  Umgestaltung  darstellen  kann,  ist  das  Be- 
stehende kurz  zu  charakterisieren. 


Zweites  Kapitel. 

'Das  ünterrichtewesen  des  Mittelalters/ 

Da  die  Kirche   nach  der  mittelalterlichen  Auffassung  Inhaberin 
aller  Wahrheit  ist,  so  geht  von  ihr  alle  Lehre  und  aller  Unterricht 


*  Eine  Geschichte  des  geeamten  mittelalterlichen  üntemchtswesens  ist 
noch  nicht  vorhanden.  Eine  vo^reflTliehe  Darstellung  der  ersten  Hälfte  giobt 
F.  A.  Specht,  Geschichte  des  Unteirichtswesens  in  Deutschland  bis  zur  Mitte 
des  13.  Jahrhunderts,  1885.  In  Schmids  Geschichte  der  Erziehung  (11,  1)  be- 
handelt MAsnis  die  ältere  Zeit  und  die  allgemeinen  Verhältnisse  recht  gut.  Die 
Schalgeschichte  vom  13.  Jahrhundert  ab  fehlt  aber  auch  hier.  H.  Kämmel,  Ge- 
schichte des  deutschen  Schulwesens  im  Übergang  vom  Mittelalter  zur  Neuzeit 
(1882),  hat  die  zahlreichen  Monographien  fleißig  benutzt,  doch  fehlt  ihm  die 
Yertraatheit  mit  den  allgemeinen  Verhältnissen.  Dem  Werk  von  Lok.  v.  Stein, 
Das  Bildungswesen  des  Mittelalters  (im  V.Teil  der  Ver^altungslehre,  2.  Aufl.  1883), 
fehlt  es  an  gründlichem  Quellenstudium,  wofür  die  breiten  allgemeinen  Er- 
wägongen  nicht  entschädigen.  Sehr  wertvoll  ist  Jon.  Müller,  Vor-  und  früh- 
reformatorische  Schulordnungen  und  Schulverträge  (1885);  dazu  desselben 
Quellenschriften  und  Geschichte  des  deutschsprachlichen  Unterrichts  bis  zur 
Mitte  des  16.  Jahrhunderts  (in  Kehrs  Geschichte  der  Methodik  des  deutschen 


/- 


14  I,  2.    Das  Unterrichtswesen  des  Mittelalters. 


aus.  Der  Klerus  ist  sein  Träger.  An  zwei  kirchliche  Institute  haben 
sich  zuerst  die  ünterrichtsanstalten  angelehnt:  das  Kloster  und  das 
Bistum.  Das  Bedürfnis,  das  zunächst  zur  Einrichtung  von  Schulen 
trieb,  war  bei  beiden  das  gleiche.  Das  Kloster  mußte  die  neu  ein- 
tretenden Mitglieder  mit  den  für  die  gottesdienstlichen  Verrichtungen 
nötigen  Kenntnissen  und  Fertigkeiten  ausstatten;  dem  Bischof  lag  die 
Sorge  für  den  Nachwuchs  des  Diözesanklerus  ob.  So  entstanden  Kloster- 
und  Domschulen,  an  die  sich  weiterhin  die  Stifts-  und  Pfarr- 
schulen anschlössen.  Die  nächste  Aufgabe  ist  überall  dieselbe:  Unter- 
weisung in  allen  den  Kenntnissen  und  Fertigkeiten,  die  der  klerikale 
Beruf  notwendig  macht  In  erster  Linie  stehen :  Singen,  Lesen,  Schreiben, 
sowie  die  Kenntnis  der  Kirchensprache  (grammatica)  und  der  Fest- 
rechnung (computus).  Dies  sind  daher  die  ersten  Gegenstande  des 
Schulunterrichte;  sie  werden  in  den  Verordnungen  Karls  des  Großen  den 
Kloster-  und  Domschulen  vorgeschrieben.  Da  dem  Klerus  außer  den 
gottesdienstlichen  Übungen  immer  mehr  die  Leitung  des  gesamten 
geistigen  Lebens,  cura  et  regimen  animarum,  als  Berufsaufgabe  zufiel, 
80  wurde  der  Umfang  der  notwendigen  Künste  und  Wissenschaften 
immer  größer;  vor  allem  treten  Rhetorik  und  Dialektik,  die  Gabe  der 
Darstellung  und  der  Beweisführung,  in  den  Vorbildungskursus  des 
Klerikers  ein.  Und  auch  die  Realwissenschaften  erwiesen  sich  als  un- 
entbehrlich, schon  für  die  Auslegung  der  Schrift  So  kommen  zu  den 
drei  formalen  Disziplinen  (den  artes  sermocinales,  wie  sie  auch  genannt 
werden:  Grammatik,  Rhetorik,  Dialektik),  die  vier  artes  reales  hinzu: 
Arithmetik,  Geometrie,  Astronomie,  Musik.  Das  ist  der  Umkreis  der 
Septem  artes  liberales.  Auf  ihnen  baut  sich  die  höchste  der  Wissen- 
schaften, die  Theologie,  auf.  So  hat  schon  Alkwin,  der  Lehrbücher 
aller  sieben  Künste  verfaßt  hat  (die  des  trivium  sind  erhalten,  abge- 
druckt bei  MiGNE,  Patrologia,  Bd.  CI)  die  Sache  dargestellt:  „die  gött- 
liche Weisheit",  heißt  es  in  dem  einleitenden  Dialog,  „wird  getragen 
von  den  Säulen  der  sieben  freien  Künste  und  niemand  kommt  zur 
vollkommenen  Erkenntnis,    der  nicht  auf  diesen  sieben  Säulen  oder 


Volksschulunterrichts,  Bd.  IV,  1882).  Eine  lehrreiche  Geschichte  des  Unterrichta 
in  den  artes  reaks  giebt  S.  Günther,  Greschichte  des  mathematischen  Unter- 
richts im  deutschen  Mittelalter  bis  1525  (Mon.  Germ.  Paed.  III,  1887).  Unter 
den  Darstellungen  des  Schulwesens  für  begrenzte  Gebiete  nenne  ich  ein  paar 
der  bedeutenderen:  Koldewey,  Braunschweigische  Schulordnungen  (Mon.'G^rm. 
Paed.  I  u.  VIII);  F.  Nettesheim,  Geschichte  der  Schulen  im  alten  Herzogtum 
Geldern  (1881);  E.  Meyer,  Geschichte  des  hamburgischen  Schul-  und  Erziehungs- 
wesens im  Mittelalter  (1843);  Fb.  Gramer,  Geschichte  der  Erziehung  in  den  Nieder- 
landen während  des  Mittelalters  (1843).  Noch  sei  erwähnt  G.  Kbuffel,  Historia 
originis  (ic  progressus  scholarum  inter  Christianos  (Helmstedt  1743). 


Kloster-  und  Domschtden.  15 


Stufen  sich  erhebt.  —  Durch  sie  haben  die  Philosophen  Muße  und 
Geschäfte  erfüllt;  durch  sie  sind  auch  die  heiligen  und  katholischen 
Lehrer  und  Verteidiger  unseres  Glaubens  allen  Häresiarchen  in  öffent- 
lichen Disputen  stets  überlegen  gewesen."^ 

Ausführlich  ist  dieser  Bildungsgang  entwickelt  und  seine  Not- 
wendigkeit begründet  in  dem  Werk,  das  ein  Schüler  Alkwins,  der  be- 
rühmte Vorsteher  der  ersten  berühmten  Bildungsstätte  Deutschlands, 
der  Klosterschule  zu  Fulda,  Rhabanus  Maübus,  über  die  Vorbildung 
der  Kleriker  verfaßt  hat.  Ich  kann  darauf  hier  nicht  eingehen,  mag 
mir  aber  doch  nicht  die  Mitteilung  der  Formel  versagen,  in  die  jener  erste 
Praeceptar  Germaniae  seine  Anforderungen  an  die  Bildung  eines  Kleri- 
kers zusammenfaßt;  er  muß  haben:  scientiae  plenitudinem,  vitae  rectitU' 
dinem  et  eruditioms  perfectionem,  die  Fülle  der  Weisheit  (der  göttlichen), 
ein  rechtschaffenes  Leben  und  eine  gründliche  Gelehrsamkeit.  Die 
Idee  des  Klerus,  trage  er  priesterliches  Gewand  oder  nicht,  kann 
nicht  bündiger  ausgedrückt  werden. 

Kloster-  und  Domschulen  sind  nun  während  der  ersten  Hälfte 
des  Mittelalters  die  eigentlichen  Sitze  der  gelehrten  Studien;  in  ihnen 
findet  die  Erhaltung  und  Fortpflanzung  wie  der  theologischen  Wissen- 
schaften, so  auch  der  Kenntnis  der  Sprache  und  Litteratur  des  klas- 
sischen Altertums  statt.  Die  größeren  Klöster  lassen  zum  Unterricht 
neben  den  Novizen  auch  Auswärtige  zu,  die  dem  klösterlichen  Leben 
nicht  bestimmt  sind,  doch  in  einer  von  der  Mönchsschule,  auch  räum- 
lich gesonderten  äußeren  Schule.    Ebenso  findet  sich  bei   den   Dom- 

*  Die  Vergleichung  der  Wissenschaften  mit  einem  Bauwerk  ist  dem  ganzen 
Blittelalter  geläufig.  Ein  Holzschnitt,  welcher  dem  letzten  berühmten  mittelalter- 
lichen Kompendium  der  Wissenschaften:  der  Margarita  philosophica  des  Frei* 
burger  Professors  Gregor  Beisch  (1503  zum  erstenmal  gedruckt)  beigegeben  ist, 
zeigt  das  Lehrgebäude  der  Wissenschaften  in  Gestalt  eines  Turmes  mit  sechs 
Ge«cho8sen.  In  den  beiden  untersten  mühen  sich  Knaben  unter  Assistenz  eines 
Baccalarius  mit  dem  Donatus  und  Priscianus;  die  Rute  in  der  Hand  des  Lehrers 
Eeigt,  daß  die  Wurzel  der  Wissenschaften,  die  Grammatik,  bitter  ist.  Das  dritte 
und  vierte  Geschoß  nehmen  die  Logik,  die  Rhetorik  und  Poesie,  die  Arithmetik, 
die  Musik,  die  Greometrie,  die  Astronomie  ein;  das  fünfte  philosophia  physica 
und  moraiis.  Jede  Disziplin  ist  repräsentiert  durch  ihren  kanonischen  Lehrer; 
in  obiger  Folge  sind  es:  Aristoteles,  Cicero,  BoCtius,  Pythagoras,  Euclides, 
Ptolemäus,  Plinius,  Seneca.  Auf  der  Spitze  steht  P.  T^ombardus,  seine  Wissen- 
schaft ist  Theologia  s.  Metaphysica.  Eine  Nachbildung  des  Holzschnittes  findet 
man  in  Geigers  Renaissance  und  Humanismus  in  Italien  und  Deutschland, 
S.  499.  Man  sieht  übrigens,  daß  hier  das  alte  System  der  sieben  Künste  er- 
weitert ist  durch  die  scholastische  Philosophie,  welche  Physik  und  Moral  aus 
dem  Aristoteles  hinzufügte.  Bemerkt  sei  noch,  daß  diese  Anschauung  sich  an- 
lehnt an  ein  Wort  in  den  Sprüchen  Salomonis  9,  1:  Die  Weisheit  bauete  ihr 
HauB  und  hieb  sieben  Säulen. 


16  ly  2,    Das  Unierrichtswesen  des  Mittelalters. 


und  Stiftsschulen  der  Unterschied  einer  inneren  Schule  für  die  jungen 
Kanoniker  und  einer  äußeren,  öffentlichen  Schule,  die  namentlich  auch 
arme  Knaben  aufnimmt,  um  sie  zum  Weltpriesterdienst  zu  erziehen.  Eine 
Anzahl  solcher  erhält  auch  Unterkunft  und  Verpflegung,  gegen  die 
Verpflichtung  zum  Chordienst.  Ist  die  Zahl  der  Schüler  groß,  so  werden 
auch  mehrere  Lehrer  angenommen.  Die  Leitung  des  Schulwesens 
eines  Dom-  oder  KoUegiatstifts  liegt  immer  in  der  Hand  eines  hierzu 
tauglichen  Mitglieds  des  Kapitels,  das  den  Titel  magüter  scholarum 
fuhrt;  später  wird  der  Name  scholasticus  üblich.  Seit  dem  zwölften 
Jahrhundert  erscheint  der  Scholastikus  als  einer  der  Hauptwürden- 
trager  des  Stifts,  in  der  Regel  verwaltet  er  zugleich  das  Amt  des  Kanzlers, 
der  den  diplomatischen  Verkehr  des  Stifts  mit  der  Außenwelt  führt, 
daher  in  Frankreich  dieser  Name  für  die  Würde  üblich  ist-.  Als  großer 
und  vielbeschäftigter  Herr  zieht  er  sich  nun  von  dem  Schnlmeistertum 
auf  die  allgemeine  Leitung  und  Beaufsichtigung  des  Schulwesens  zu- 
rück; für  den  Unterricht  stellt  er  einen  rector  scholarum  oder  scholarium 
an.  Der  Scholastikus  eines  Domstifts  nimmt  dazu  die  Aufsicht  über 
die  Schulen  in  der  ganzen  Diözese  in  Anspruch,  besonders  die  Ertei- 
lung der  licenüa  docendi  s,  scholas  regendi,  welcher  Anspruch  dann,  seit- 
dem das  Unterrichtsbedürfnis  stieg,  zu  häufigen  Konflikten  führte,  wo« 
von  gleich  die  Rede  sein  wird. 

Das  Kirchenregiment  ließ  sich  im  ganzen  überall  die  Förderung  des 
Unterrichtswesens  angelegen  sein;  Konzilien  und  Synoden  schärfen  über- 
all die  Unterrichtspflicbt  dem  Klerus  und  den  Klöstern  ein;  die  Lehre^ 
dies  Bewußtsein  ist  der  Kirche  nie  fremd  geworden,  ist  neben  der  Seelsorge 
die  zweite  große  Aufgabe  des  Klerus.  Seit  der  Entwickelung  der  Städte 
wird  namentlich  den  Dom-  und  KoUegiatstiften  die  Pflicht,  Schulen  zu 
unterhalten,  wiederholt  eingeschärft.  Theologische  Lektüren,  denen  der 
Vortrag  der  Philosophie  und  Theologie  in  öffentlichen  Vorlesungen  obliegt» 
begegnen  uns  seit  dem  13.  Jahrhundert  häufig.  Ebenso  wird  der  Univer- 
sitätsbesuch dem  Klerus  durch  allgemeine  und  besondere  Bestimmungen 
erleichtert,  namentlich  durch  Dispens  von  der  Residenzpflicht.  Endlich 
breitet  sich  das  neue  Ordenswesen  der  Dominikaner,  Franziskaner,  Augus- 
tiner im  13.  Jahrhundert  rasch  über  ganz  Deutschland  aus;  alle  diese 
neuen  Orden  haben  an  dem  wissenschaftlichen  Studium  der  Zeit,  an  der 
mit  dem  1 1.  Jahrhundert  aufgekommenen  scholastischen  Philosophie  regen 
Anteil  genommen,  wir  finden  sie  zahlreich  auf  allen  Universitäten.  — 

Seit  dem  13.  Jahrhundert  führte  das  mit  dem  städtischen  Leben 
rasch  und  stetig  anwachsende  Unterrichtsbedürfnis  zur  Entstehung  von 
zwei  neuen  Schularten,  den  Stadtschulen  für  den  niederen  Unter- 
richt und  den  Universitäten  für  die  höheren  Studien. 


Die  Stadtschulen,  17 


In  den  Städten  entstanden  neben  den  Kloster-  und  Stiftsschulen 
überall  sogenannte  Stadt-  oder  Ratsschulen,  das  heißt  Schulen,  die 
unter  der  Stadtobrigkeit  stehen.  Sie  sind  der  Ausgangspunkt  eines 
weltlichen  Schulwesens  neben  dem  kirchlichen;  aus  ihnen  sind  die 
städtischen  Lateinschulen  des  16.  Jahrhunderts  hervorgegangen.  Aller- 
dings muß  man  sich  vor  einem  Mißverständnis  hüten.  Man  hat  in 
den  Stadtschulen  den  Anfang  eines  der  Kirche  entfremdeten,  ihr  feind- 
lichen säkularen  Schulwesens  erblicken  wollen.  Das  ist  eine  Sinnes- 
täuschung, hervorgerufen  durch  das  Vorurteil,  daß  auch  im  Mittelalter 
die  Kirche  als  eine  feindliche  Macht  widerstrebenden  liberalen  Bürger- 
schaften gegenüber  gestanden  habe.  So  etwas  kommt  heute  vor;  im 
Mittelalter  war  dagegen  die  Kirche  die  allgemein  anerkannte  Form  des 
geistigen  Lebens,  und  darum  war  es  selbstverständlich,  daß  sie  Herrin 
der  Lehre  sei  und  daß  alle  Schulen  in  Hinsicht  der  Lehre  der  Kirche 
unterstehen.  Den  Stadtschulen  fehlt  auch  keineswegs  der  kirchliche 
Charakter  überhaupt.  Sie  gehören  regelmäßig  zu  einer  Pfarrkirche; 
der  Lehrer  erscheint  mit  der  ganzen  Schule  zu  jedem  Gottesdienst, 
sie  gehen  zu  Chor.  Man  wird  annehmen  dürfen,  daß  in  der  Regel  die 
an  der  Pfarrkirche  gehaltenen  Chorschüler  den  Krystallisationskem  für 
die  Entstehung  einer  Stadtschule  geboten  haben.  Ursprünglich  wird 
die  Sorge  für  den  Unterricht  der  Chorschüler  dem  Pfarrheirn  obgelegen 
haben,  sei  es  daß  er  ihn  selbst  erteilte  oder  einen  der  niederen  Kirchen- 
diener dazu  anhielt.  Wurde  die  Zahl  der  Bürgerkinder,  die  an  dem 
Unterricht  teil  nahm,  größer,  so  daß  die  Bestellung  eines  besonderen 
Schulmeisters  erforderlich  wurde,  so  suchte  der  Rat  auf  die  Schule 
Einfluß  zu  gewinnen.  Wo  er  das  Kirchenpatronat  hatte,  machte  sich 
die  Sache  von  selbst;  wo  das  nicht  der  Fall  war,  suchte  er  das  Schul- 
patronat  in  seine  Hände  zu  bringen.  So  finden  wir  nicht  selten,  daß 
er  es  vom  Landesherm,  der  es  etwa  als  Patron  der  Kirche  besaß,  er- 
warb. Die  Grundlage  des  Rechts  waren  hier,  wie  bei  dem  Patronat 
überhaupt,  Leistungen  für  die  Schule,  etwa  die  Erbauung  des  Schul- 
hauses, die  Zahlung  eines  Gehalts  an  den  Lehrer.  Im  14.  Jahrhundert 
erscheint  das  Verhältnis  in  der  Regel  so,  daß  der  Rat  der  wirkliche 
Schulherr  ist;  er  nimmt  den  Schullehrer  in  seinen  Dienst,  in  der  Regel 
auf  ein  Jahr;  in  den  Schulverträgen  wird  häufig  festgesetzt,  daß  der 
Schulmeister  allein  bei  der  Stadt  Recht  nimmt,  d.  h.  nicht  das  geist- 
liche Recht  gegen  die  Stadt  anrufen  will;  ebenso  wird  im  Vertrag  das 
Schulgeld  nebst  den  andern  Leistungen  der  Schüler  festgestellt.  Am 
Ausgang  des  Mittelalters  giebt  der  Rat  wohl  auch  eine  Schulordnung, 
worin  die  innere  Ordnung  und  der  ganze  Unterrichtsbetrieb  festgestellt 
wird,  und  übt  durch  Beauftragte  die  Schulaufsicht.     Der  Unterricht 

PaalieD,  Unterr.   Zweite  Aufl.    I.  2 


18  /,  2.    Das   Unierrichiswesen  des  Mittelalters. 


in  den  Stadtschulen  unterschied  sich  übrigens  nicht  von  dem  der 
kirchlichen  Schulen,  außer  etwa  dadurch,  daß  er  vielfach  mehr  auf  das 
Elementare  beschrankt  blieb;  den  Dom-  und  Stiftsschulen  wird  hin 
und  wieder  ausdrücklich  der  höhere  Unterricht  vorbehalten. 

Es  kann  nicht  auffallen ,  daß  gegen  die  Entstehung  eines  solchen 
unabhängigen  stadtischen  Schulwesens  von  den  alten  Inhabern  der 
Schulgewalt  Widerstand  geleistet  wurde  und  daß  es  darüber  zwischen 
ihnen  und  der  Stadt  gelegentlich  zum  Kampf  kam.  Es  sind  die  Akten 
solcher  Händel  mehrfach  erhalten,  so  aus  Hamburg,  Lübeck,  Stettin, 
Stendal,  Leipzig,  Nordhausen:  der  Dom-  oder  Stiftsscholaster  verteidigte 
sein  Schulmonopol,  die  Stadt  suchte  sich  unabhängig  zu  machen.  Die 
Bedeutung  dieser  Kämpfe,  die  in  langwierigen  Prozessen  vor  den  kirch- 
lichen Oberen,  bis  nach  Kom,  gefuhrt  wurden,  ist  aber  eine  rein  äußer- 
liche und  lokale;  es  handelt  sich  dabei  nicht  um  einen  Widerstand 
der  Kirche  gegen  die  Ent Wickelung  des  Schulwesens,  sondern  lediglich 
um  die  lokalen  Interessengegensätze.  Den  Anlaß  zum  Schulkrieg 
mochte  die  Unzulänglichkeit  eines  von  dem  Scholaster  angesetzten 
Schulmeisters  oder  die  Höhe  des  Schulgelds  geben;  der  Scholastikus 
betrachtete  etwa  die  Schule  als  Einnahmequelle,  indem  er  das  Schul- 
amt an  den  Mindestfordemden  vergab  und  den  Überschuß  des  Schul- 
gelds einsteckte.  Oder  die  Erweiterung  der  Stadt  und  die  weite  Ent- 
fernung der  Stiftsschule  machte  die  Errichtung  einer  neuen  Schule  im 
neuen  Stadtteil  wünschenswert.  Übrigens  scheint  in  allen  Fällen  zu- 
letzt die  Stadt  ihren  Willen  durchgesetzt  zu  haben. 

Noch  ist  zu  erwähnen,  daß  gegen  Ausgang  des  15.  Jahrhunderts  in 
manchen  Städten,  besonders  in  den  großen  niederdeutschen  und  nieder- 
ländischen, reine  Frivatschulen  vorkommen,  in  denen  deutsch  lesen 
und  schreiben,  jenachdem  auch  rechnen  gelernt  wird;  das  Bedürfnis 
des  bürgerlichen  Lebens  trieb  sie  mit  Notwendigkeit  hervor.  (Über 
Kechenmeister  und  ßechenschüler  zu  Nürnberg  s.  Günther,  Gesch.  des 
math.  Unt.  S.  293  flf.). 

So  darf  man  annehmen,  daß  am  Ausgang  des  Mittelalters  jede 
nicht   ganz   geringe  Stadt   eins    oder    mehrere   Schulen    hatte.  ^     In 


^  Auf  dem  Gebiet  des  jetzigen  Herzogtums  Braunschweig  (67  Quadratmeilen) 
weifit  KoLDEWEY  25  Stifte  und  Klöster  nach,  also  auf  2,68  Quadratmeilen  je  eins. 
Jede  dieser  Stiftungen  ist  aber  zugleich  etwas  wie  eine  Studienanstalt,  es  findet 
wenigstens  Unterweisung  der  Novizen  statt  Eine  statistische  Übersicht  des 
sfichsischen  Schulwesens  im  14.  Jahrhundert  giebt  J.  Müller,  Neues  Archiv  fUr 
sfichsische  Geschichte  VIII,  1 — 40,  243—271,  Es  sind  im  Gebiet  des  jetzigen 
Königreichs  Sachsen  bis  1400  23  Schulen  nachweisbar.  Um  1500  ist  die  Zahl 
ohne  Zweifel  außerordentlich  viel  größer. 


Die  Stadtschulen.  19 


größeren  Städten  £üiden  wir  oft  eine  ganze  Anzahl,  kirchliche  und 
städtische  nebeneinander;  an  den  alten  Bischofssitzen,  wie  Köln,  Worms, 
Hildesheim,  sind  Dom-,  Stifts-  und  Elosterschnlen,  in  den  neuen  großen 
Handelsstädten  Nürnberg,  Hamburg,  Lübeck  sind  die  Batsschulen  im 
tTbergewicht  Über  die  städtischen  Schulen  sind  wir  besser  unterrichtet, 
Verträge  mit  dem  Schulmeister,  neue  Schulordnungen  des  Bats  gaben 
zu  Aufzeichnungen  Veranlassung,  die  in  alle  Verhältnisse  einen  Einblick 
gewähren.  Der  Vorsteher  der  Schule  (Schulmeister,  ludimagister,  rector 
scholarum)  ist  wenigstens  in  größeren  Städten  regelmäßig  ein  Mann, 
der  auf  einer  Universität  studirt  und  einen  Grad  erworben  hat,  den 
moffister  artium.  Er  erhält  von  der  Stadt  einen  Gehalt,  wofür  er  denn 
regelmäßig  ihr  auch  zum  Dienst  mit  der  Feder  verpflichtet  ist,  wenn 
sie  etwas  aufzusetzen  hat  Daneben  bildet  das  Schulgeld  einen  wich- 
tigen Bestandteil  des  Einkommens,  es  wird  vom  Bat  festgestellt;  Ver- 
ehrungen zu  den  Festtagen,  Accidenzen  bei  Hochzeiten,  Leichen,  Seel- 
messen u.  s.  w.  kommen  hinzu.  Endlich  hat  er  regelmäßig  freie 
Wohnung,  in  der  Begel  ein  paar  Bäume  im  Schulhaus.  Daneben  wird 
öfter  freier  Tisch  erwähnt,  beim  Pfarrer  oder  auch  bei  den  Bürgern; 
der  Schulmeister  ist  natürlich  unbeweibt.  Unter  sich  hat  er  einen 
oder  mehrere  Gehilfen  {socii);  sie  führen  die  Namen  provisor,  cantor, 
baccalaureus,  locatus.  Der  cantor  wird  wohl  von  der  Gemeinde  an- 
genommen, die  Provisoren  und  Lokaten  dagegen  vom  Schulmeister; 
sie  erhalten  Anteil  am  Schulgeld.  Als  provisor  mag  auch  einmal  ein 
baccalarius  einer  Universität  vorkommen;  die  Lokaten  sind  regelmäßig 
ältere  Schüler,  die  selbst  beim  Bektor  in  die  Schule  gehen,  anderer- 
seits die  Jungen  in  den  Elementen  unterrichten.  Sie  werden  auch 
Pädagogen  oder  Schreiber  genannt^ 


^  Den  Namen  locatus  hat  man  von  locarCy  mieten,  abgeleitet:  der  Schul- 
meister dinge  seine  Gehilfen.  Wenn  das  auch  auf  gewisse  Weise  der  FaU  ist, 
80  wäre  es  doch  kein  bezeichnender  Name.  Das  Wort  ist  ohne  Zweifel  von 
locus  gebildet,  ganz  ebenso,  wie  das  mittelalterliche  Latein  von  colle^ium  col- 
legiaius,  von  cura  curatus  bildet  und  so  den  Inhaber  einer  cura,  einer  Stelle 
im  coüegium  bezeichnet  Ebenso  ist  locatus  der  Inhaber  eines  locus;  locus  aber 
(Plor.  loca)  bedeutet  in  der  mittelalterlichen  Schulsprache  eine  Schülerabteilung, 
dasselbe  was  nachher,  seit  dem  Durchdringen  des  humanistischen  Sprach- 
gebrauchs, dassis  oder  ordo  heißt.  Locus  ist  natürlich  zunächst  der  besondere 
Platz,  den  eine  Abteilung  in  dem  allgemeinen  Schulraum  inne  hat;  der  Luxus 
eines  eigenen  Zimmers  für  jede  Abteilung  ist  dem  Mittelalter  noch  unbekannt. 
Für  diese  Deutung  spricht  auch  die  gelegentlich  vorkommende  Nebenform 
hcator,  die  jedenfalls  den  Mietling  ausschließt ;  sie  wird  nach  (falscher)  Analogie 
von  rector,  signator  gebildet  sein.  Denkbar  wäre  noch,  daß  der  locatus  seinen 
Namen  von  der  locatio  hätte,  in  der  bei  der  Promotion  zum  baccalarius  die 
Kandidaten  geordnet  wurden,   es  wäre  dann  gleichbedeutend  mit  baccalarius. 


20  /.  2.    Das  Unterriclitsivesen  des  Mittelalters. 


Die  Schüler  zerfallen  regelmäßig  in  zwei  Gruppen:  Bürgerkinder 
und  Armenschüler  (pauperes,  mendicantes).  Jene  besuchen  den  Unter- 
richt, um  einige  Übung  in  den  ^^klerikalen^'  Künsten,  Lesen,  Schreiben 
und  Latein,  zu  gewinnen.  Die  Armenschüler  haben  als  fahrende  Leute 
vielfach  ihre  Behausung  in  der  Schule ;  sie  „ernähren  sich  des  Almosens,** 
d.  h.  sie  ziehen  singend  und  bett^elnd  durch  die  Straßen  der  Stadt; 
vielfach  hat  auch  die  Schule  kleine  Stiftungen.  Der  günstigste  Fall 
ist,  wenn  sie  als  „Pädagogen'^  bei  einem  Bürger  Aufnahme  finden, 
dem  sie  die  Kinder  zur  Schule  führen  und  zu  Hause  verhören,  auch 
sich  sonst  im  Haushalt  nützlich  machen.  Bekanntlich- war  auch  Luther 
in  Magdeburg  und  Eisenach  ein  solcher  Armenschüler  oder,  wie  er 
sagt,  Partekenhengst.  Das  Wort  Partekenhengst  oder  Pdrtekenfresser 
ist  ein  übliches  Schimpfwort  für  die  Armenschüler;  Pärteken  ist  das 
deutsch  gebildete  Diminutiv  von  pars^  dem  Anteil  an  dem  erbettelten 
Almosen,  das  regelmäßig  nach  der  Schule  unter  die  „Partemisten'^  aus- 
geteilt wird.  Einen  höchst  belehrenden  Einblick  in  das  Leben  dieser 
Armenschüler,  die  für  die  Schulen  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  die 
regelmäßige  Staffage  bilden,  giebt  die  Selbstbiographie  Thomas  Plattebs, 
dem  wir  noch  später  wieder  begegnen  werden. 

Für  den  Unterricht  sind  die  Schüler  in  Abteilungen  (Cirkel, 
Letzgen  =  lectiones,  auch  Haufen  genannt)  geteilt,  deren  jede,  wie  er- 
wähnt, im  allgemeinen  Schulraum  ihren  bestimmten  Platz  (locus) 
inne  hat.  Die  Zahl  der  Abteilungen  richtet  sich  natürlich  nach  der 
Zahl  und  dem  Wissen  der  Kinder.  Als  allgemeines  Grundschema 
kann  man  drei  Abteilungen  annehmen:  die  erste  umfaßt  die  Kinder, 


Doch  sind  die  locafi  regelmäßig  bloß  ältere  Schüler,  übrigens  ist  das  Wort 
locus  noch  in  dem  der  Studentensprache  bekannten  ad  locaf  erhalten;  es  ist  der 
alte  Kuf ,  mit  dem  in  der  jnittelalterlichen  Lateinschule  den  Schülern  geboten 
wurde,  sich  in  ihre  Abteilungen  zu  verteilen,  wenn  sie  etwa  aus  dem  Chor  in 
die  Schule  zurückkamen.  Wer  übrigens  über  die  Natur  und  Stellung  eines 
Lokaten  noch  Näheres  erfahren  will,  der  sehe  eine  Bittschrift  nach,  welche  die 
Lokaten  der  Leipziger  Thomasschulc  im  Jahre  1581  an  den  Rat  richteten, 
und  die  leges,  die  ihnen  bald  darauf  zugefertigt  wurden  (Eckstein,  Progr.  der 
Thomasschule  1880).  —  Und  nun  mag  hier  noch  einer  weiteren  Vermutung 
Raum  gegeben  sein.  Der  „Schütz"  (wovon  unser  ABC-Schtitz),  der  mit  seinem 
Bachauten  als  Bettelschüler  im  Lande  umherzieht^  wie  aus  Platters  Selbstbio- 
graphie bekannt  ist,  hat  seinen  Namen  doch  wohl  nicht  vom  „Schießen"  (  =  Stehlen) 
der  Hühner  und  Gänse.  In  einem  auf  der  Berliner  Bibliothek  befindlichen, 
Oaudium  shtdenticum  betitelten,  1593  s.  1.  erschienenen  Scherz-  und  Schmutz- 
po^m  findet  sich  einmal  die  Form  „Hosenschützius".  Wie,  wenn  das  die  volle 
Form  für  jenen  Schütz  wäre?  Ein  bekannter  studentischer  Ausdruck  für  einen 
angehenden  Studenten  (Seh . . .  fuchs)  bietet  sich  als  Erklärung  zugleich  und 
als  Hinweisung  auf  die  Region,  wo  man  nach  Etymologien  sich  umzusehen  hat. 


I>ie  Stadtschulen,  21 


die  lesen  und  schreiben  lernen,  die  zweite  die,  welche  die  Antangs- 
gTünde  der  Grammatik  lernen,  die  dritte  die  Geforderteren,  die  schon 
ein  wenig  Latein  lesen  und  schreiben  können.  Die  drei  Abteilungen 
werden  gelegentlich  nach  ihren  Lehrbüchern  Tabulistae,  Donatistae, 
Alexandristae  genannt  Das  Lehrbuch  der  ersten  ist  die  „Tafel",  eine 
Fibel  mit  den  Buchstaben  und  einigem  lateinischen  Lesestoff,  Glaube, 
Vaterunser,  Gebete,  die  dann,  sowie  die  Kinder  lesen  können,  Wort 
for  Wort  übersetzt  und  auswendig  gelernt  werden.  Der  Mittelstufe 
gehören  der  Donat  und  der  Cato  nebst  dem  Aesop  und  Avian  an, 
jenes  der  Name  für  die  kleine,  in  Frage  und  Antwort  abgefaßte 
lateinische  Elementargrammatik,  diese  Bezeichnungen  für  kleine 
Elementarlesebücher,  die  Sprüche  und  Fabeln  in  kurzen  lateinischen 
Versen  zum  Lesen  und  Auswendiglernen  enthalten.  Luther  lobt  ein- 
mal in  den  Tischreden  diese  Lesebüchlein,  sie  seien  durch  eine  sonder- 
liche Gnade  Gottes  in  den  Schulen  erhalten  geblieben.  Das  Lehrbuch 
für  die  Größeren  endlich  ist  das  sogenannte  Docirinale,  eine  lateinische 
Grammatik  in  leoninischen  Hexametern,  von  dem  französischen  Kleriker 
AiiEXANDEB  DE  ViLLA  Dei  in  der  Normandie  um  1200  verfaßt;  es 
dient  zugleich  als  grammatisches  Lehrbuch  und  als  Lesestoff.  Die 
alten  lateinischen  Schriftsteller  sind  der  Schule  so  gut  wie  ganz  fremd. 
Dagegen  werden  kleine  Gesprächbücher  gebraucht,  die  den  notwendigen 
Sprachstoff  in  handlicher  Form  enthalten,  ähnlich  wie  unsere  kleinen 
Beisekonversationsbücher.  Auch  fehlt  es  nicht  an  Wörterbüchern,  die 
sprachliche,  und  sachliche  Belehrung  in  lexikalischer  Form  anbieten. 
Ich  komme  auf  diese  Litteratur  und  ihren  Wert  weiter  unten  zurück. 
Die  Grundform  des  Unterrichts  ist  das  Auswendiglernen;  die  Auf- 
gabe des  Lehrers  besteht  wesentlich  im  Aufgeben  und  „Behören"  der 
Lektion.  Das  Auswendiglernen  mußte  naturgemäß  in  einer  Zeit,  wo 
Bücher  eine  Seltenheit  waren,  eine  große  Rolle  spielen:  das  Gedächt- 
nis mußte  aufnehmen,  was  wir  heute  in  Hilfs-  und  Nachschlagebüchem 
für  wenig  Groschen  kaufen.  So  wird  die  Grammatik  auswendig  gelernt, 
welchem  Zweck  das  Doctrinale  durch  seine  gereimten  Verse  entgegen- 
kommt; doch  wird  sie  natürlich  auch  erklärt  und  eingeübt^  Ebenso 
werden  die  Verse  des  Lesebuchs  auswendig  gelernt.  Gleich  von  An- 
fang des  Schulbesuchs  an  ist  es  üblich,  den  Kindern  abends  vor  dem 
Nachhausegehen  ein  paar  Wörter,  ein  Verslein  oder  ein  paar  zum 
Lernen  mit  auf  den  Weg  zu  geben.  Es  handelt  sich  darum,  dem 
Kinde  möglichst  bald  einen  kleinen  Wort-  und  Sprachschatz  zu  sichern; 
denn  die  Schulsprache  ist  das  Latein,  und  nicht  bloß  die  Sprache  des 
Unterrichts,  auch  unter  einander  dürfen  die  Schüler  wenigstens  der 
oberen  Abteilungen  nur  Latein  sprechen.    Die  Durchführung  des  Ge- 


/ 


22  /,  2,    Das  Unterrichtswesen  des  Mittelalters, 


bots  zu  erzwingen  steht  überall  Strafe  auf  dem  Deutschreden.  Über- 
all kehrt  hierfür  die  Einrichtung  des  lupus  und  asinus  wieder,  wodurch 
die  Schuldigen  der  Strafe  zugeführt  werden.  Daß  dies  manchmal  er- 
staunliches Latein  geben  mußte ,  entging  natürlich  auch  dem  Mittel- 
alter nicht,  vermutlich  half  man  sich  in  der  Not  vielfach  damit,  daß 
man  deutsche  Wörter  durch  Anhängung  der  lateinischen  Endungen 
straflos  zu  machen  suchte:  die  sogenannten  maccaronischcn  Yerse 
stammen  wohl  daher.  Aber,  sagte  man  damals,  melius  malum  latinum 
quam  bonum  teutonicum;  mit  dem  bonum  latinum  nahm  man  es  ohne- 
hin nicht  so  genau,  und  dann  mochte  man  denken:  ist  nur  die  Zunge 
gelöst  und  das  Ohr  an  den  Klang  gewöhnt,  so  wird  die  Bichtigkeit 
wohl  allmählich  nachkommen.  Und  vielleicht  hätte  man  hierfür  mit 
mehr  Recht  auf  „naturgemäße  Methode'^  sich  berufen  mögen,  als 
manche  Späteren,  die  das  Wort  im  Munde  führen.  Kinder  sprechen 
ja  auch  zuerst  ihr  eigenes  Deutsch,  und  kommen  doch  zuletzt  zum 
allgemeinen.^ 


*   Über   die  Natur   des  lupus  und  asinus,   welche  beiden  Geschöpfe  in 
allen  älteren  Schulordnungen  eine  Rolle  spielen,  kann  man  sich  jetzt  aus  der 
MüLLERSchen    Sammlung    yorreformatorischer   Schulordnungen    bequem    unter- 
richten, besonders  aus  der  Memminger  von  1513  und  der  Nördlinger  von  1512 
und  1521.     Der  Memminger  asinua,  von  Holz  gefertigt,  hängt  an  einem  Seil 
in    der  Schule;   am  Morgen   muß    ihn  der  jedesmalige  ultimus  sich  anhängen; 
sowie  er  einen  „tiutsch  reden**  hört,  giebt  er  ihn  an  den  weiter,  und  der  hängt 
ihn  seinem  Nachfolger  in  dem  gleichen  Vergehen  an :  „welcher  ihn  über  Nacht 
behält,  wird  geschlagen,  und  welcher  ihn  über  Tags  hat,  dem  giebt  man  eine 
Tolle;  auch  wird  der  gestrichen,  der  ihn  morgens  als  tUiimus  anninmit*^    Lupus 
heißt  ein  Schüler,  der  die  Rolle  des  heimlichen  Aufpassers  hat;  er  notiert  alle, 
die  Unziemliches  thun,  vor  allem  fluchen,  schwören  oder  deutsch  reden;    und 
zwar   schreibt  er  sich  auf  „von  wort  zu  wort,  das  er  ayn  yeden  hert  tiutsch 
reden".    Dies  Verzeichnis   übergiebt   er   dem  Lehrer,    der   dann   alle  Wochen 
einmal  den  lupus  durchnimmt  „und  schwingt  die  schuler  um  das  selbig  tiutsch 
reden;   von  einem  puncte  gchertte  ain  straich;    doch  rieht  er  nach  gestalt  der 
sach,  ob  der  schuler  schlechtiglich  tiutsch  geredt  oder  geschworen  hat".   Auch 
wird  in  Memmingen  den  großen  Schülern  nachgelassen,  die  Schläge  abzukaufen, 
drei  Punkte  um  einen  Heller.    Das  Geld  sammelt  der  Schulmeister  und  giebt 
es  ihnen  zu  vertrinken,  „wann  sy  uff  dem  dicken  riss  in  den  rutten  sind",  das 
heißt  wenn  sie  aus  dem  Busch  die  Weiden  oder  Birkenruten  holen,  mit  denen 
sonst  der  Lohn  für  die  Vergehen  haar  beglichen  wird.    Man  sieht,  es  ist  der 
mittelalterlichen  Schule  über  dem  fleißigen  Grebrauch  der  Rute  der  Humor  nicht 
ausgegangen.   Der  Memminger  Schulmeister  stellt  allerdings  diese  Umwandlung 
der  wohlverdienten  „Schillinge"  in  Heller  und  endlich  in  Wein  als  seine  be- 
sondere Großmut   dar,    denn  eigentlich  gehörten  jene  Heller  „von  lupus  Ger 
rechtigkeit  in  allen  Schulen  einem  Schulmeister".    Doch  dürfen  wir  hoffen,  daß 
auch    andere  Schulmeister  Spaß    verstanden.    Wenigstens  wird  uns  aus  Nörd- 
lingen  berichtet,  daß  auch  hier  ein  ehrbarer  Rat  das  virgatum  gehen,  allerdings 


Aus  Burckhardt  Zenggs  Leben,  23 


Zum  Schluß  ein  Bild  aus  dem  mittelalterlichen  Schülerleben;  ich 
entnehme  es  der  Selbstbiographie  Bueckhabdt  Zengös.^  Freilich 
kann  es  sich  an  Beichtum  und  Farbenfälle  mit  der  bekannten  Selbst- 
biographie Thomas  Platteks  nicht  messen;  dafür  ist  es  100  Jahre 
älter.  Zengö  ist  1396  zu  Memmingen  geboren.  Nachdem  er  vier 
Jahre  lang  die  heimatliche  Schule  besucht  hatte ,  wurde  er  als  elf- 
jähriger Knabe  nach  Krain  zu  einem  Vaterbruder  geschickt,  der  in 
einem  Dorf  Pfarrer  war.  Dieser  nahm  sich  seiner  an  und  schickte  ihn 
in  die  Schule  im  Marktflecken  Reisnitz.  Sieben  Jahre  blieb  der  Knabe 
dort.  Dann  zog  er  heim,  das  Erbe  seiner  Mutter,  die  schon  vor  seiner 
Abreise  gestorben  war,  anzutreten.  Sein  Vater  aber  hatte  sich  in- 
zwischen wieder  verheiratet  und  über  das  Erbe  verfügt,  da  er  jenen 
im  Osten  versorgt  meinte.  Burckhard  wendete  sich  nun  wieder  nach 
Krain  zurück;  aber  inzwischen  war  sein  Oheim  gestorben.  Er  kehrte 
daher  nach  Memmingen  zurück.  „Da  war,'<  erzählt  er,  „niemand  mein 
froh,  alle  mein  Freund  achteten  mein  nicht  Also  kam  ich  zu  einem 
Biedermann,  der  war  aus  einem  Dorf  in  die  Stadt  gezogen.  Dem  führt 
ich  zwei  Knaben  in  die  Schul,  und  bei  dem  blieb  ich  ein  Jahr  und 
lernt  ihm  die  Knaben.  Da  ward  ich  einem  Töchterlein  hold  und  ging 
je  länger  je  ungemer  in  die  Schul."  Er  entschloß  sich  also  ein  Hand- 
werk zu  lernen  und  kam  zu  einem  Kürschner  in  die  Lehre.  „Aber 
nach  14  Tagen  hatte  ich  deß  genug,  hub  mich  auf,  nahm  mein  Schul- 
buch und  kam  gen  Biberbach.  Da  kam  ich  von  Stund  an  zu  einem 
jörommen  Mann,  war  gar  reich  und  ein  Schuhmacher  gewesen,  aber 
trieb  das  Handwerk  nicht.  Der  wollt  mich  um  Gotteswillen  behalten 
ein  Jahr  und  länger,  daß  ich  in  die  Schul  ginge.  Doch  sollt  ich  das 
Brot  selbst  schaffen.  Also  ging  ich  da  in  die  Schul  bei  1 4  Tagen.  Ich 
schämte  mich  aber  zu  betteln  und  wenn  ich  von  der  Schul  ging,  so 
kauft  ich  einen  Laib  Brot  um  1  Pfg.  und  schnitt  Stücken  daraus; 
und  wenn  ich  heim  kam,  fragte  mich  mein  Herr,  ob  ich  in  der  Stadt 
gewesen  sei  nach  Brot;  ich  sagte:  ja.  Da  sagte  er:  man  giebt  hier 
gar  gern  den  armen  Schülern.  Ich  mochte  aber  nicht  betteln.  Und 
es  sagte  mir  einer  der  Schüler,  daß  eine  gar  gute  Schule  zu  Ehingen 
wäre.  Da  ging  ich  mit  ihm  nach  Ehingen.  Da  waren  große  Bac- 
chanten, die  liefen  alle  in  die  Stadt  nach  Brot    Da  ich  das  sah,  daß 


höchstens  yiermal  im  Jahr,  gestattet  und  dabei  ,,ain  zimlichen  trunck  biers  oder 
weins  zu  einer  ergeczUchkeit^S  doch  mit  guter  Mäßigkeit,  dulden  will;  wohin- 
g^en  er  verbietet,  „in  den  wurczheusem  zu  ligen,  auch  weder  trumen  noch 
pfeiffen  mitzunehmen*^  Statt  dessen  ermuntert  er  „die  kurezweil  des  parr- 
laufens  und  der  gleichen  unnachtailige  leibs  Übung  zu  geprauchen*^ 
*  OsFFfiLius,  Rerum  Boiearum  Scriptoreä  I,  245  flf. 


24  ly  2,   Das  Unterrichtswesen  des  Mittelalters. 


die  alten  und  großen  Schüler  nach  Brot  liefen  und  sungen,  da  lief 
ich  mit  ihnen  und  schämte  mich  nicht  mehr  und  gewann  mir  genug, 
ich  wollte  mir  selbviert  genug  gebettelt  haben. 

Als  ich  ein  halb  Jahr  zu  Ehingen  in  die  Schul  gegangen  war, 
da  kam  ein  großer  Student  zu  mir  und  sprach:  ob  ich  mit  ihm  wollt 
ziehen  gen  Balingen,  da  wäre  eine  gar  gute  Schule;  und  er  wollte  mir 
zu  einem  guten  Dienst  helfen.  Und  er  bracht  mich  mit  seinen  guten 
Worten  mit  sich  nach  Balingen.  Da  blieben  wir  wohl  ein  Jahr  und 
ich  ging  in  die  Schule.  Und  mein  Gesell  verließ  mich,  that  mir 
weder  Rat  noch  Hilfe.  Also  kam  ich  zu  einem  armen  Mann,  der  war 
ein  Schmied,  genannt  Spilbenz,  bei  dem  war  ich  eine  Zeit  und  führt 
ihm  einen  Knaben  in  die  Schule.  Damach  kam  ich  zu  einem  Gast- 
geber, der  gab  mir  die  ganze  Kost,  daß  ich  des  Betteins  nicht  bedurfte. 

Damach  zog  ich  von  dannen  und  kam  gen  Ulm,  da  blieb  ich  ein 
Jahr  und  war  bei  einem  Pfeiffer,  der  war  der  Stadt-PfeifiFer,  genannt 
Henslin  von  Bibrach,  der  thät  mir  gütlich.  Ich  führt  ihm  einen 
Knaben  in  die  Schul,  ist  seither  auch  ein  Pfeiffer  geworden.  Ich 
bettelte  das  Brot." 

Dann  kam  er,  auf  Zureden  eines  Schwagers,  nach  Augsburg,  sich 
die  niederen  Weihen  geben  zu  lassen.  Er  fand  aber  hier  einen  Dienst 
bei  einem  Kaufmann  und  ließ  nunmehr  ganz  von  der  Schule  und  zog 
mit  seinem  Herrn  auf  die  Märkte,  wobei  ihm  denn  auch  seine  Schul- 
wissenschaft sich  als  nützlich  erwiesen  haben  mag.  Später  wurde  sie  ihm 
wieder  in  anderer  Weise  nützlich.  Nachdem  er  einige  Jahre  mehreren 
Herren  in  Augsburg  und  Nürnberg  gedient  hatte,  nahm  er  ein  Weib. 
Darob  erzürnte  sich  sein  Herr  und  entließ  ihn,  und  es  war  große  Not, 
„also  daß  ich  nit  wüßt,  was  ich  anfahen  sollt.  Doch  war  mir  das  Weib 
lieb  und  war  gern  bei  ihr.  Und  bedacht  mich  mit  meiner  Hausfrauen, 
die  war  mir  auch  hold.  Die  tröstete  mich  und  sprach:  mein  Burck- 
hart,  gehab  dich  wohl  und  verzag  nicht,  laß  uns  einander  helfen,  wir 
wollen  wohl  auskommen;  ich  will  spinnen  und  will  alle  Wochen  wohl 
4  ß  Wolle  verspinnen,  das  ist  32  Pf.  Und  da  die  Frau  so  trostvoll 
war,  da  gewann  ich  auch  Mut  und  gedacht:  ich  kann  ein  wenig 
schreiben;  ich  will  besehen,  ob  ich  mög  einen  Pfaffen  haben,  der  mir 
zu  schreiben  gieb;  wie  wenig  du  verdienst,  so  gewinnt  dein  Weib 
32  Pf.;  und  es  ist  wohlfeil,  vielleicht  giebt  Gott  zu,  daß  wir  wohl 
auskommen."  Und  er  fand  einen  Pfarrer,  der  gab  ihm  ein  Buch,  ge- 
nannt compendium  S.  Thomae  abzuschreiben;  und  er  schrieb  in  der- 
selben Woche  4  Sextem  des  großen  Papiers  karia  regal  und  erhielt 
4  Groschen  von  einem  Sextem.  „Also  schrieb  ich  ihm  bei  50  Sextem 
und  gewann  Gelds  genug  und  mein  Weib  und  ich  saßen  zusammen 


Die  ühiversitäien,  25 


und  ich  schrieb  und  mein  Weib  spann  und  gewannen  oft  3  Pfund 
Pfennige  in  einer  Wochen.  Doch  sind  wir  oft  bei  einander  gesessen 
die  ganze  Nacht  und  ging  uns  ganz  wohl.'^ 

Im  folgenden  Jahr  war  er  als  Söldner  der  Stadt  Augsburg  bei 
der  Einnahme  der  Burg  Zollem,  wo  ihm  die  Schreibkunst  wieder  einen 
guten  Posten  TerschaSte,  also  daß  er  30  fl.  heimbrachte.  Dann  diente 
er  der  Stadt  als  Bote  an  König  Sigismund  in  Ungarn  und  gewann 
endlich  im  Kaufmannsdienst  (nach  Venedig)  Vermögen  und  Ansehen. 


In  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  entstanden  neben  den 
alten  Schulen  in  Deutschland  die  ersten  Universitäten.  Die  übrigen 
Länder,  vor  allem  Frankreich  und  Italien,  waren  vorangegangen.  Schon 
lange  waren  die  ausländischen  Studien  auch  von  Deutschen  besucht 
worden;  jetzt  ging  man  endlich  daran,  ebensolche  Anstalten  auch  auf 
dem  heimischen  Boden  zu  begründen. 

Als  die  Aufgabe  der  Universitäten  und  damit  zugleich  als  die 
Ursache  ihrer  Entstehung  kann  man  bezeichnen:  zu  leisten,  was  die 
Dom-  und  Stifbsschulen  nicht  mehr  vermochten,  nämlich  den  Klerus 
die  Wissenschaften  zu  lehren.  Es  waren  seit  der  Entstehung  jener 
Schulen  auf  dem  Gebiete  der  Wissenschaften  gewaltige  Veränderungen 
vor  sich  gegangen;  vor  allem  war  die  Wissenschaft  und  Philosophie 
der  Griechen,  wie  sie  im  System  des  Aristoteles  beschlossen  war, 
wieder  zugänglich  geworden.  Eine  neue  Philosophie  war  entstanden, 
weitschichtig,  schwer  zu  fassen,  ein  komplizierter  logischer  Apparat  ihr 
Werkzeug.  Die  Theologie  selbst  hatte  die  Gestalt  eines  philosophischen 
Lehrgebäudes  angenommen.  Auch  das  Recht  war  zum  Gegenstand 
einer  Wissenschaft  geworden.  Die  neue  Philosophie  und  Theologie  er- 
fanden zu  haben  war  der  unsterbliche  Ruhm  von  Paris,  während 
Bologna  die  Rechtswissenschaft  in  Anspruch  nahm  und  Salerno  im 
südlichen  Italien,  wo  die  christliche  Welt  an  die  mohammedanische 
grenzte,  die  Medizin. 

Die  Lehrkräfte  der  kleinen  isolierten  Dom-  und  Stiftsschulen  reichten 
nicht  mehr  zu,  den  Umkreis  der  neuen  Wissenschaften  zu  umspannen. 
Seit  dem  13.  Jahrhundert  war  es  daher  gebräuchlich  geworden,  daß 
höher  Strebende  nach  Frankreich  und  Italien  zogen,  um  dort  die  neuen 
W^issenschaften  an  der  Quelle  zu  schöpfen.  Endlich,  nachdem  man 
längere  Zeii  damit  sich  zu  helfen  gesucht  hatte,  daß  man  Pariser  Dok- 
toren als  Lektoren  an  den  großen  Stiftsschulen  angestellt  hatte,  wurde 
der  Versuch  gemacht,  die  Wissenschaften  in  ähnlichen  Organisationen 
auf  dem  deutschen  Boden  anzusiedeln.    Im  Jahre  1348  wurde  am  Sitz 


26  /,  2,    Das   ünterrichiswesen  des  Mittelalters, 


des  kaiserlichen  Hofes  zu  Prag  die  erste  Universität  im  Reich  errichtet. 
Es  folgten  bald  Wien  (1365)  1384,  Heidelberg  1386,  Köln  1388, 
Erfurt  1392,  (Würzburg  1402),  denen  sich  nach  kurzem  Zwischen- 
raum noch  Leipzig  1409  und  Rostock  1419  anschlössen.  Damit  war 
das  Bedürfnis  vorläufig  gedeckt  Eine  zweite  Gründungsepoche  begann, 
nicht  ohne  Zusammenhang  mit  der  humanistischen  Bewegung,  um  die 
Mitte  des  15.  Jahrhunderts;  sie  fügte  zu  den  sieben  alten  Gründungen,  die 
sich  als  lebensfähig  erwiesen  hatten,  achtneue:  Greifswald  1456,  Frei- 
burg 1457,  (Trier  1457),  Basel  1459,  Ingolstadt  1472,  Tübingen 
1477,  Mainz  1477,  Wittenberg  1502,  Frankfurt  1506.i 

Auch  die  Universitäten  waren  kirchliche  Lehranstalten.  Sie  wurden 
vom  Papst  formell  errichtet,  d.  h.  mit  der  Befugnis  zu  lehren  und  die 
akademischen  Grade,  d.  h.  Zeugnisse  der  Lehrbefähigung  zu  erteilen, 
ausgestattet.  Die  B[irchengüter  wurden  überall  für  die  Dotation  in  An- 
spruch genommen,  regelmäßig  in  der  Form,  daß  eine  Anzahl  Pfründen, 
meist  an  einer  Stiftskirche  der  Stadt,  doch  auch  an  auswärtigen  Kirchen^ 
an  ältere  Lehrer  der  Universität,  besonders  Theologen  und  Juristen, 
verliehen  wurden;  was  natürlich  die  kirchliche  Qualifikation  derselben 
zur  Voraussetzung  hatte.  Man  kann  sagen,  die  mittelalterlichen  Uni- 
versitäten Deutschlands  waren  vielfach  ihrem  Ursprung  und  ihrer 
Stellung  nach  eigentlich  nichts  anderes  als  freier  konstruierte  EoUegiat- 
stifte,  welchen  von  den  beiden  Aufgaben  solcher  Institute,  dem  Gottes- 
dienst und  dem  Unterricht,  wesentlich  nur  die  letztere  oblag;  von  der 
ersteren  waren  sie  dispensiert,  um  der  anderen  ganz  sich  widmen  zu 
können.  Lehrer  und  Schüler  derselben  waren  Kleriker  und  dem  ent- 
sprechend die  Lebensordnungen  in  allen  Stücken  den  klerikalen  nach- 
gebildet Für  die  Lehrer  war  der  Cölibat  selbstverständliche  Forderung; 
sie  wohnten  in  den  Kollegien  nach  Art  regulierter  Kleriker  beisammen. 


^  Eine  ausführliche  Greschichte  der  deutschen  Universitäten  im  Mittelalter 
giebt  es  noch  nicht  G.  Kaufmann,  Geschichte  der  deutschen  Universitfiten, 
Bd.  I  (1888),  behandelt  die  außerdeutschen  Vorbilder;  H.  Denifle,  Die  Ent- 
stehung der  Universitäten  des  Mittelalters  bis  1400  (1885),  giebt  nur  für  die 
ältesten  deutschen  Universitäten  die  Entstehungsgeschichte.  Eine  gute  Über- 
sicht bietet  Otto  Kämmel  in  Schmidts  Greschichte  der  Erziehung  11, 1.  Über  die 
Gründung  und  Fundation  der  deutschen  Universitäten  im  Mittelalter,  sowie  über 
ihre  öffentliche  Stellung  und  ihre  Lebensordnungen  habe  ich  ausführlich  in 
einem  Aufsatz  in  v.  Stbel's  Histor.  Zeitschrift,  Bd.  45  (Jahrg.  1881),  S.  251 — 811, 
385 — 440  gehandelt  Hier  mag  auch  der  Umriß  einer  Geschichte  der  deutschen 
Universitäten  erwähnt  sein,  den  ich  in  dem  von  der  preußischen  Unterrichts- 
verwaltung veranlaßten,  von  Lexis  herausgegebenen  Werk:  Die  deutschen  Uni- 
versitäten (1893)  gegeben  habe  in  der  Eingangsabhandlung:  Wesen  und  Ge- 
schichte der  deutschen  Universitäten. 


Die  Universitäien,  27 


Erst  seitdem  die  humanistischen  Emanzipationsbestrebangen  eindrangen^ 
wurde  diese  Ordnung  aUmählich  durchlöchert.  Bis  dahin  wurden  auch 
die  Scholaren  der  deutschen  Universitäten  in  den  Kollegien  und  Bursen 
in  klösterlicher  Zucht  zusammengehalten.  — 

Es  ist  gewöhnlich,  von  dem  Verfall  des  kirchlichen  Schulwesens 
am  Ausgang  des  Mittelalters  zu  reden.  So  viel  ich  sehe,  geben  die 
Thatsachen  hierzu  keine  Veranlassung.  Man  weist  darauf  hin,  daß  die 
zweite  Hälfte  des  Mittelalters  nicht,  wie  die  erste,  von  berühmten 
Kloster-  und  Domschulen  zu  berichten  habe,  und  findet  die  Ursache 
darin,  daß  Weltklerus  und  Klostergeistlichkeit  miteinander  in  Trägheit 
und  Wohlleben  versunken  seien;  Wissenschaft  und  Religion  sei  seit  dem 
13.  Jahrhundert  den  Stiftern  und  Klöstern  mehr  und  mehr  fremd  ge- 
worden und  Laster  und  Barbarei  hätten  ihren  Einzug  gehalten.  Was 
die  wissenschaftliche  Kultur  des  Klerus  anlangt,  so  sagt  diese  Bede  im 
allgemeinen  gewiß  das  Gegenteil  der  Wahrheit.  Gerade  im  14.  und 
15.  Jahrhundert  ist  die  Kultur  der  eigentlichen  Wissenschaften  in 
Deutschland  einheimisch  geworden;  es  waren  Kleriker,  welche  sie  aus 
der  Fremde  holten  und  in  der  Heimat  anpflanzten  und  pflegten. 
Freilich  nun  nicht  mehr  in  den  alten  klösterlichen  Pflegestätten;  ^ie 
abgelegenen  Benediktiner-  und  Cisterzienserklöster  waren  im  15.  Jahr- 
hundert nicht  mehr,  wie  im  10.  oder  12.,  Mittelpunkte  des  Kulturlebens; 
Universitäten  konnten  natürlich  nur  in  Städten  errichtet  werden.  Es 
geschah,  wie  bemerkt,  in  der  Regel  in  Anlehnung  an  vorhandene 
kirchliche  Unterrichtsorganisationen  in  Dom-  und  Kollegiatstiften.  Die 
Bischöfe  erwiesen  sich  überall  als  eifrige  Förderer  der  Universitäten; 
die  Kapitel  hielten,  hierin  den  Anordnungen  der  Synoden  und  kirch- 
lichen Oberen  folgend,  ihre  Mitglieder  an,  auf  den  Universitäten  sich 
wissenschaftliche  Bildung  zu  erwerben.  Nicht  minder  trafen  die  Orden, 
namentlich  seitdem  die  Reformationsbewegungen  der  großen  Konzilien 
des  15.  Jahrhunderts  durchdrangen,  Veranstaltungen,  ihren  Mitgliedern 
die  neue  wissenschaftliche  Bilduag  zugänglich  zu  machen.  Bei  vielen 
Universitäten  finden  sich  Studienhäuser  der  verschiedenen  Orden,  in 
welchen  die  studierenden  Mitglieder  Unterkunft  und  wohl  auch  Unter- 
richt empfingen.  In  allen  Inskriptionslisten  mittelalterlicher  Universi- 
täten konmien  zahlreiche  Namen  von  Ordensbrüdern  vor.  Nicht  minder 
stellen  sie  zu  den  Lehrkörperschaften,  besonders  der  theologischen  und 
philosophischen  Fakultäten,  ein  sehr  bedeutendes  Kontingent.  Die 
Bückwirkung  auf  das  Leben  in  den  Klöstern  selbst  konnte  natürlich 
nicht  ausbleiben.  Die  Neigung  zu  wissenschaftlichen  Studien,  zum 
Anfertigen  und  Sammeln  von  Handschriften,  ist  im  15.  Jahrhundert 
wieder  im  Zunehmen,  gelehrte  Äbte  werden  häufiger.    Auch  der  Schul- 


28  I,  2.    Das  Unterrichtswesen  des  Mittelalters. 


Unterricht  in  den  Klöstern  wird  unter  solchen  Einflüssen  sich  gehoben 
haben.  Freilich  es  war  eine  stille  und  wenig  beachtete  Thätigkeit 
Die  Auftnerksamkeit  der  gelehrten  Welt  war  nicht  mehr  auf  die  Klöster, 
sondern  auf  die  Universitäten  gerichtet  Hier  hatte  der  höchste  wissen- 
schaftliche Unterricht  definitiv  seine  Statte  gefunden.  Die  alten  Schulen 
waren  den  Universitäten  gegenüber  ein  für  allemal  in  die  Stellung  von 
Vorbereitungsschulen  herabgesunken.^  — 


^  Nachweisungen  zu  dem  oben  Gesagten  findet  man  in  allen  Universitftts- 
geschichten;  ferner  in  den  Ordensgeschichten,  z.B.  Winter,  Die  Cisterzienser 
des  nordöstlichen  Deutschlands  (III,  55 ff.),  Kolde,  Die  deutsche  Augustiner- 
kongregation, S.  166.  Für  die  bayrischen  Klöster  manches  bei  Günthmer,  Ge- 
schichte der  litterarischen  Anstalten  in  Bayern  (8  Bde.  IBlOff.);  auch  die  Artikel 
des  großen  Sammelwerkes  Bavaria  über  Geschichte  der  Volksbildung  enthalten 
manche  hierher  gehörige  Mitteilung.  Über  österreichische  Klöster  und  den 
Aufschwung  der  Studien  in  ihnen  um  diese  Zeit  findet  man  einiges  bei  Czerkt, 
Die  Klosterschule  zu  St.  Florian  und  in  einem  Progr.  von  Linz  1854.  Eine 
Ordnung  vom  Dominikanergeneral  für  das  vom  Pfalzgraf  Friedrich  zu  Heidel- 
berg im  Dominikanerkloster  gestiftete  Studium  der  theologiae  et  bonarum  artiu?n 
vom  Jahre  1501  findet  man  im  Auszug  in  den  historisch-politischen  Blättern, 
Bd.  78,  S.  925.  Die  „fratres  studentes  generales*^  die  aus  den  verschiedenen 
Klöstern  der  Provinz  zusammenkommen,  sollen  (außer  an  den  geistlichen  Übungen, 
soweit  es  ohne  Vernachlässigung  der  Studien  geschehen  kann),  sich  regelmäßig 
an  den  Vorlesungen,  die  im  Hause  gehalten  werden,  beteiligen.  Der  Konvent 
soll  einen  tüchtigen  Doktor  und  einen  ebensolchen  Baccalaureus  anstellen  (de 
bono  ae  honesto  sufßciente  doctore  regente  studii  und  femer  de  aliquo  bono  ac 
docto  baccalaureo,  qui  senfentias  aitidentibtis  legat,  provideai).  Ebenso  sollen 
einen  Tag  um  den  anderen  Disputationen  in  der  Theologie  stattfinden,  wobei  die 
studentes  respondieren.  Sie  können  auch  den  Disputationen  und  Sermonen  an 
der  Universität  beiwohnen,  und  ebenso  mögen  die  Studenten  an  der  Universität 
Sermonen  halten,  auf  Erfordern  des  Kegens,  der  das  Thema  giebt  und  sie  vorher 
durchsieht  —  Ein  in  mehrerer  Beziehung  interessantes  Aktenstück,  welches 
J.  Frey  im  Progr.  von  Rössel  1880  veröffentlicht  hat,  kann  ich  mir  nicht  ver- 
sagen, nach  seinem  wesentlichen  Inhalt  hier  mitzuteilen.  Es  ist  ein  Vertrag, 
welchen  acht  märkische,  pommersche  und  preußische  Augustinerkonvente  im 
Jahre  1415  zur  Begründung  eines  wandernden  Studiums,  als  Notbehelf  statt 
des  Universitätsstudiums,  miteinander  schlössen.  Das  Studium  soll  nach  fest- 
gestellter Ordnung  bei  den  acht  Klöstern  immer  auf  ein  Jahr  unterhalten  werden : 
jedes  Kloster  schickt  einen  Bruder;  die  Provinz,  in  welcher  es  sich  befindet, 
bestellt  den  Rektor,  der  von  allen  gemeinsam  besoldet  wird.  Als  Gegenstände 
des  Unterrichts  werden  Grammatik,  Logik,  Philosophie  und  Theologie  genannt. 
Die  Dauer  der  Vorlesungen  wird  festgestellt,  wie  in  den  Universitätsordnungeu; 
Alle  Tage  soll  gelesen  werden,  diebtis  iUegibilibtis  dumtaxat  excepHs,  und  es 
werden  dann  diese  Vorlesungen  Lehrern  und  Hörern  als  Universitätsvorlesungen 
angerechnet  (pro  forma  computabitur),  nämlich  offenbar  bei  einem  etwaigen 
späteren  Besuch  einer  Universität  behufs  der  Promotion.  Pro  formxt.  lesen  und 
hören  heißt  die  zur  Erlangung  eines  gradus  durch  die  Statuten  vorgeschriebenen 
Vorlesungen  lesen  und  hören;    daher  lectiones  formales y  baccalarius  formatus; 


Die  Universitäten,  29 


Was  nun  die  Gestaltung  der  mittelalterlichen  Universitäten  anlangt, 
so  geht  uns  hier  nur  die  philosophische  Fakultät,  facultas  artium 
(sc.  liberaUum)  genannt,  näher  an.  Sie  nimmt  regelmäßig  den  neu  an- 
ziehenden Scholaren  zuerst  auf.  Ihre  Aufgabe  ist,  den  Kursus  der 
Lateinschule,  der  auf  die  Sprache  geht,  durch  einen  allgemein- wissen- 
schaftlichen Kursus  zu  ergänzen.  In  ihrer  Stellung  und  in  ihrem  Unter- 
richtsbetrieb hat  sie  allerdings  mehr  Ähnlichkeit  mit  dem  Obergym- 
nasium unserer  Zeit,  als  mit  der  gegenwärtigen  philosophischen  Fakultät: 
sie  giebt  Schulunterricht  in  schulmäßiger  Form,  wie  es  auch  zum  Alter 
ihrer  Scholaren  stimmt,  das  durchweg  etwa  zwischen  dem  15.  und 
20.  Lebensjahr  liegen  mag.  Dem  Rang  nach  die  letzte  Fakultät,  ist  sie 
für  den  Bestand  der  Universität  weitaus  die  wichtigste;  die  große 
Mehrzahl  der  Lehrer  und  Studierenden  gehört  ihr  an.^  Zu  bemerken 
ist  übrigens,  daß  eine  feste  Abgrenzung  des  Universitätsunterrichts 
gegen  den  der  Lateinschule  überhaupt  nicht  stattfindet  Rechtlich  sind 
die  Anstalten  scharf  geschieden,  das  Studium  generale,  wie  der  offizielle 
Name  der  Universität  als  Lehranstalt  lautet  —  universitär,  zu  ergänzen: 
mcLffistrorum  et  scolarium,  z.  B.  stfidii  Fiennensis,  bezeichnet  die  Ge- 


auch  das  eoglische  Wort  form  für  Schülerabteilung,  Klasse,  hat  wohl  hierin 
seinen  Ursprung;  es  ist  dasselbe,  was  lectio  im  mittelalterlichen  Sprachgebrauch 
der  deutschen  Schulen.  Ahnliche  Bestimmungen  finden  sich  auch  noch  in  den 
Konstitntionen  des  Augustinerordens,  die  1504  auf  dem  von  Staupitz  veran- 
laßten  Konvent  zu  Nürnberg  geschlossen  wurden:  die  studia  generalia  sollen 
eifrigst  betrieben  werden.  Der  Vikar  sagt  an,  in  welchem  Kloster  jedesmal 
Studium  generale  oder  particulare  stattfinden  soll;  kein  Kloster  darf  mehr  als 
zwei  Brüder  dazu  schicken;  wo  das  Studium  generale  stattfindet,  sollen  alle 
Brüder  daran  teilnehmen.  Gewisse  Erleichterungen  von  Chorverpflichtungen 
treten  für  Lehrende  und  Lernende  ein  (Jürgens,  Luther  I,  567).  Man  sieht,  die 
Klöster  sind  zugleich  Studienanstalten.  So  sagt  auch  Luther  in  der  Schrift  an 
den  christlichen  Adel:  „Denn  was  sind  Stifit  und  Klöster  anders  gewesen,  denn 
christliche  Schulen,  darinnen  man  lehret  Schrift  und  Zucht  nach  christlicher 
Weise,  und  Leute  auferzog,  zu  regieren  und  zu  predigen/*  Daß  auch  an  den 
Dom-  und  Kollegiatstiften  die  Aufgabe  des  wissenschaftlichen  Unterrichts  im 
15.  Jahrhundert  in  Aufnahme  kam,  dafür  mag  als  ein  symptomatisches  Anzeichen 
erwähnt  sein,  daß  unter  dem  Einfluß  des  Schleswiger  Bischofs  Nie.  Wulf  am 
Schleswiger  und  am  Haderslebener  Kapitel  Lektüren  errichtet  und  fundiert  wurden 
(1458  und  1465),  in  denen  graduierte  Magister  Unterricht  in  den  Fakultätswisseu- 
Bchaften  erteilen  sollen  (Jessen,  Progr.  von  Hadcrsleben  1867). 

*  Für  Köln  haben  wir  in  der  Matrikel  (herausgegeben  von  Keussen  1892) 
die  Verteilung  auf  die  Fakultäten;  es  bekennen  sich  um  die  Mitte  des  15.  Jahr- 
hunderts zur  theologischen  4,5,  zur  juristischen  16,  zur  medizinischen  0,6,  zur 
artistischen  Fakultät  67  ^/q  der  Immatrikulierten,  für  den  Rest  fehlt  die  Angabe. 
Die  Juristen  sind  übrigens  natürlich  auch  Kleriker,  die  das  geistliche  Recht 
studieren. 


30  I,  2,    Das  ünterrichtswesen  des  Mittelalters. 


samtheit  der  Glieder  als  rechtliche  Körperschaft  —  hat  durch  päpst- 
liche und  kaiserliche  Privilegien  (daher  auch  Studium  privileffiaium, 
gefreite  Schul)  das  Recht ,  die  akademischen  Grade  zu  verleihen,  mit 
der  Wirkung,  daß  diese  Grade  in  der  ganzen  Christenheit  gleiche 
Geltung  und  Rechte  geben,  während  das  Studium  particulare,  wie  die 
Stadtschulen  im  Gegensatz  zu  den  Universitäten  heißen,  keine  Rechte 
und  Grade  zu  verleihen  hat.  Aber  im  ünterrichtsbetrieb  findet  viel- 
faches Uebergreifen  statt.  Es  hindert  den  Schulmeister  einer  Stadt- 
schule nichts,  wenn  er  es  für  angemessen  hält,  die  Logik  und  selbst 
die  physikalischen  Bücher  des  Aristoteles  mit  seinen  großen  Schülern 
zu  behandeln;  es  folgen  dafür  später  ein  paar  Beispiele.  Andererseits 
schließt  die  Universität  keinen  Unterricht  von  ihrem  Kursus  überhaupt 
aus.  Es  war  allerdings  Regel,  daß  die  Scholaren  einige  Kenntnis  der 
gelehrten  Sprache  mitbrachten.  Doch  war  es  nicht  Bedingung  der 
Aufnahme;  vielfach  wurden  auch  junge  Knaben,  die  etwa  mit  einem 
Pädagogen  ankamen  oder  in  der  Stadt  wohnten,  immatrikuliert;  ja  ganze 
Schulen  waren  als  solche  der  Universität  inkorporiert,  so  waren  Lehrer  und 
Schüler  der  Stephansschule  zu  Wien  als  solche  Mitglieder  der  Universität. 
Dem  entsprechen  die  Einrichtungen.  Von  akademischer  Freiheit 
war  noch  nicht  die  Rede.  Die  Scholaren  der  Artisten  wohnen  mit 
den  Magistern  in  den  Häusern  der  Universität,  den  Kollegien  und 
Bursen,  wo  sie  auch  die  Kost  haben,  in  klösterlicher  Zucht  beisammen. 
Das  Ausserhalbwohnen  (stare  oder  stantiam  habere  extra  loaim  pro- 
batum)  ist  regelmäßig  verboten ;  nur  unter  besonderen  Umständen,  wird 
es,  vorzugsweise  den  Angehörigen  der  oberen  Fakultäten,  gestattet  Für 
ganz  ungenügend  vorbereitete  Knaben  hatten  übrigens  die  meisten 
Universitäten  eine  eigene  Schule  (paedagogium)\  Magister  der  Fakultät 
erteilen  den  Unterricht.  Die  Zucht  ist  auch  in  den  Kollegien  eine 
ganz  schulmäßige.  Selbst  die  Rute  fehlt  nicht;  aus  Köln  wird  ein- 
mal berichtet,  wie  ein  Delinquent  von  sämtlichen  Magistern  der  Fakultät, 
anhebend  vom  Dekan,  durchkastigiert  wird.  Die  Sprache  ist  natürlich 
Latein;  deutsch  sprechen  ist  hier  wie  in  den  Schulen  untersagt  Auch 
der  Lupus  kehrt  wieder,  wie  uns  das  Manuale  Scolarium  (Zakncke, 
Die  deutschen  Universitäten,  S.  28)  belehrt,  wo  überhaupt  mancher 
interessante  Einblick  in  die  Verhältnisse  sich  bietet  Man  sieht,  der 
Unterschied  einer  mittelalterlichen  Universität  von  einer  modernen 
ist  ein  durchgreifender;  am  nächsten  dürften  ihr  unter  den  bestehen- 
den Schulformen  die  alten  Fürstenschulen,  wie  Pforta,  kommen;  in 
anderer  Hinsicht  ist  ihr  ein  Schullehrerseminar  mit  Internat  vielleicht 
noch  mehr  verwandt,  durch  klösterlich-kirchlichen  Zuschnitt  und  durch 
encyklopädischen  Charakter  des  Unterrichts. 


i 


Die  Universitäten.  31 


Die  eigentliche  Substanz  des  Unterrichts  der  artistischen  Fakultät 
bildete  die  Philosophie:  Logik,  Physik,  woran  sich  Naturkunde  und 
Psychologie,  und  fernerhin  auch  die  Metaphysik  schließt,  endlich  Ethik 
und  Politik.  Zu  Grunde  liegen  dem  Unterricht  überall  die  aristote- 
lischen Bücher  in  lateinischer  Übersetzung;  doch  werden  daneben 
auch  lehrbuchartige  Bearbeitungen,  wie  z.  B.  die  mmmulae  logicdles  des 
Petbüs  Hispanus  gebraucht.  Ebenso  werden  für  die  kosmologischen 
und  mathematischen  Disziplinen  außer  den  Alten  auch  moderne  Hand- 
bücher gebraucht. 

Das  Studium  der  artistischen  Fakultät  zerfallt  in  zwei  Kurse,  für 
deren  jeden  ein  Mindestmaß  von  Dauer,  ly^ — 2  Jahre,  vorgeschrieben 
ist.  Der  erste  Kursus  führt  zum  ersten  Grad,  dem  Baccalariat  Er 
umfaßt  wesentlich  das  Studium  der  vorgeschriebenen  logischen  Schriften 
und  die  Bücher  der  Physik.  Wer  sich  zur  Prüfung  meldet,  muß  nach- 
weisen, daß  er  diese  Bücher  gehört  und  die  zugehörigen  Übungen, 
Besumptionen  und  Disputationen,  mitgemacht  hat  Die  zweite  Hälfte 
des  Kursus  umfaßt  die  übrigen  Disziplinen,  die  Statuten  schreiben  die 
Bücher  vor:  debet  audivisse.  Das  vorschriftsmäßige  Abhören  der  Vor- 
lesungen und  Übungen  heißt  complere  pro  gradu.  Übrigens  ist  es 
durchaus  nicht  Begel,  daß  die  Studierenden,  wie  es  heute  regelmäßig 
der  Fall  ist,  den  ganzen  Kursus  durchlaufen;  sehr  viele  verlassen  die 
Universität  als  baccalarü  oder  ohne  Grad  überhaupt.  Heute  ist  der 
Zugang  zu  allen  Ämtern  durch  gesetzliche  Vorschrift  an  die  Vollen- 
dung des  akademischen  Kursus  und  das  Bestehen  der  Prüfungen  ge- 
knüpft Das  war  im  Mittelalter  keineswegs  der  Fall,  das  Studium  und 
der  Grad  waren  mehr  eine  Empfehlung,  als  eine  Notwendigkeit,  wenig- 
stens für  weitaus  die  meisten  Stellungen.  Nach  einer  Zusammen- 
stellung, die  ich  in  dem  oben  erwähnten  Aufsatz  gemacht  habe,  kann 
man  annehmen,  daß  etwa  der  vierte  Teil  der  Immatrikulierten  das 
Baccalariat,  und  von  diesen  wieder  nur  etwa  ein  Viertel  das  Magiste- 
rium  erreichte.  —  Nur  für  eine  Laufbahn,  die  akademische,  ist  die 
Vollendung  des  Kursus  und  die  Erwerbung  der  Grade  Vorbedingung. 
Wobei  denn  zu  bemerken,  daß  die  Beteiligung  am  akademischen  Unter- 
richt in  viel  weiterem  Umfange  stattfand,  ja  ursprünglich  von  denen, 
die  die  Grade  erwarben,  als  Pflichtleistung  gefordert  wurde:  der  Ma- 
gistereid enthielt  ursprünglich  vielfach  die  Pflicht,  nach  Erlangung  des 
Grades  zwei  Jahre  lang  die  artes,  zu  deren  Meister  man  gemacht 
wird,  zu  lehren  (biennium  complere);  eine  Regel,  die  einen  doppelten 
Zweck  hatte:  erstens  das  Studium  zu  erhalten;  das  obligatorische  zwei- 
jährige Privatdozententum  diente  als  Ersatz  für  ständige  besoldet«  Lek- 
türen, wofür  die  Mittel  nicht  reichten;  zweitens  die  Ausbildung  des 


32  I,  2.    Das   Unterrichtswesen  des  Mittelalters. 


jungen  Magisters  selbst  zu  vollenden;  docendo  discimus.  Wir  werden 
derselben  Einrichtung  bei  der  Gesellschaft  Jesu  wieder  begegnen. 

Auf  die  oberen  Fakultäten  gehe  ich  nicht  weiter  ein.  Sie  bleiben, 
was  die  Zahl  der  Lehrer  und  Studierenden  anlangt,  regelmäßig  weit 
hinter  der  artistischen  zurück.  In  der  Regel  trat  man  in  den  Kursus 
der  oberen  Fakultät  erst  ein,  nachdem  man  den  allgemein- wissenschaft- 
lichen Yorbereitungskursus  der  artistischen  durchlaufen  hatte.  Sehr 
gewohnlich  war  es,  daneben  in  artibus  zu  lesen,  etwa  sein  biennium 
zu  komplieren  und  daneben  in  theohgia  oder  in  jure  die  vorge- 
schriebenen Vorlesungen  zu  hören,  um  dann  nach  Erlangung  der  Grade 
in  sie  überzutreten.  Der  Unterricht  hat  hier  übrigens  ganz  denselben 
Charakter  wie  bei  den  Artisten:  es  werden  kanonische  Bücher,  die  den 
Bestand  der  Lehre  enthalten,  vorgelegt  und  erklärt;  das  gilt  nicht 
minder  von  der  medizinischen  Fakultät,  wo  Hippokrates  und  Galenus 
gelesen  werden,  als  von  der  theologischen,  für  die  in  der  heiligen  Schrift 
und  in  den  scholastischen  Lehrsystemen,  oder  von  der  juristischen, 
für  die  in  kanonischen  Rechtsbüchem  der  Stoflf  der  Wissenschaft  ge- 
geben ist.  — 

Dieser  Charakter  des  Unterrichts  entspricht  durchaus  der  Lage 
der  wissenschaftlichen  Kultur  im  Mittelalter.  Es  handelt  sich  um 
Lernen  und  Aneignen,  nicht  um  Hervorbringung  der  Wissenschaft.  Das 
gilt  besonders  auch  von  der  artistischen  Fakultät:  die  Philosophie,  d.  h. 
der  ganze  Umkreis  der  theoretischen  Wissenschaften,  im  Unterschied 
von  den  technischen  der  oberen  Fakultäten,  ist  fertig  vorhanden;  in 
den  Schriften  des  philosophus,  wie  Aristoteles  oft  citiert  wird,  liegt  sie 
vor.  Die  Aufgabe  ist,  sie  von  ihm  zu  lernen.  Die  Vorstellung,  durch 
eigene  Forschung  die  Wissenschaft  erst  hervorbringen  zu  müssen,  der 
Ehrgeiz,  von  dem  heute  auch  der  jüngste  Privatdozent  beseelt  ist, 
neue  Wahrheiten  zu  finden  und  solche  im  Vortrag  mitzuteilen,  das 
Verlangen,  die  Schüler  zur  Mitarbeit  heranzuziehen,  sie  in  die  Forschung 
selbst  einzuführen,  alles  das  lag  dem  alten  „Meister  der  freien  Künste" 
ganz  fem.  Er  hatte  das  Handwerk  gelernt  und  war  Meister  geworden; 
jetzt  sollte  er,  was  er  empfangen,  wieder  lehren,  lehren  in  derselben 
streng  gebundenen  Form,  in  der  er  gelehrt  worden  war.  Darum  konnte 
jeder  die  ganze  Philosophie  lehren;  es  ist  anfangs  gewöhnlich,  daß  die 
kanonischen  Texte  unter  sämtliche  magistri  legentes  (oder  regentesj 
sc,  scholas)  durchs  Loos  verteilt  werden,  nämlich  damit  niemand  an 
der  Nahrung  verkürzt  werde,  die  verschiedenen  Bücher  sind  nicht  gleich 
einträglich.  Der  Gedanke,  über  den  Aristoteles  hinauszugehen,  liegt 
allen  gleich  fem.  Übrigens  findet  diese  Unterordnung  unter  eine  ge^ 
gebene  philosophische  Wahrheit  natürlich  ihre  Anlehnung  an  die  gleiche, 


Der  UniversüätsunterriclU.  33 


allgemein  als  notwendig  anerkannte  Unterordnung  unter  die  theologische 
Wahrheit.! 


^  In  dem  Werk  des  Dominikaners  Jon.  Nidbs,  der  in  der  ersten  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  an  der  Wiener  Universität  lehrte  (f  1438):  „Die  vier  und 
zwanzig  goldenen  Harfen",  gieht  das  vierzehnte  Stück  (die  vierzehilte  Harfe) 
eine  schematische  Darstellung  des  mittelalterlichen  Wissenschafts-  und  Unter- 
richtsbetriehes.  In  vier  ^^Unterschieden''  (Fakultäten)  sind  fünfzehn  Schulen 
(Klassen),  deren  jede  ihren  Meister  hat  Das  System  wird  dargestellt  im 
Bilde  eines  Bauwerks.  Der  sei.  Bruder  Seuse,  heißt  es,  ward  einmal  gezogen 
in  ein  Gesicht,  daß  er  die  fünfzehn  Künste  sah  in  dem  kaiserlichen  Palast  In 
dem  ersten  „Unterscheid"  sah  er  sieben  Schulen,  darin  lernet  man  die 
sieben  freien  Künste.  In  der  ersten  Schule  lernet  man  grammatfcam ;  da 
flitzt  ein  Meister,  der  heißet  Donatus,  der  lernet  die  Kinder  das  ABC,  dar- 
nach die  Tafeln,  darnach  den  Donat,  und  die  Kegel,  daß  sie  die  Wörter  recht 
zusammensetzen,  und  recht  latein  reden;  wo  sie  dann  fehlen,  da  giebt  man  den 

Knaben  den  tMinuiUy    das  sind  Schläge. In  der  andern  Schul  lernt  man 

die  Kunst  rhetaricam;  Tullius  und  andere  Meister  sind  hier  die  Lehrer.  Sie 
lehrt  fünf  Stück:  das  erst,  daß  er  einen  guten,  weisen  Anfang  hab;  das  ander, 
daß  er  sein  Sach  könne  erzählen;  das  dritte,  daß  er  Zeugnis  dazu  habe;  das 
vierte,  daß  er  das  Obel  an  den  Tag  leg,  das  er  gegen  einen  andern  hat;  das 
fOnft:  er  soll  sein  £nde  beschließen  mit  einem  Gebet  In  der  dritten  Schul 
ein  Meister,  heißt  Aristoteles,  der  lert  die  Kunst  logicamj  die  lert,  wie  man  wiß, 
was  Lüge  oder  Wahrheit  oder  Falschheit  sei.  Der  Kunst  ist  so  Not,  denn 
niemand  leicht  zu  den  andern  Künsten  mag  kommen,  er  lerne  denn  zuvor 
hgicam,  ohne  die  kann  niemand  wohl  zu  dem  ewigen  Leben  kommen.  Die 
Kunst  in  der  vierten  Schul  heißt  die  Messerin;  da  lert  man  messen,  wie  hoch, 
wie  weit,  und  breit  das  Erdreich  ist  und  andere  leibliche  Dinge.  Ohne  die 
Kunst  kann  keiner  nimmer  kein  guter  Meister  werden.  Die  Kunst  in  der  fünften 
Schul  heißt  Aristmetrica(!),  die  Zählerin;  ohne  die  Kunst  kann  nimmer  keiner 
das  Jahr  ausrechnen,  noch  die  Stern  sehen  noch  erkennen.  Die  Kunst  in  der 
sechsten  Schule  heißt  Musika,  die  Singerin,  darinnen  lernet  man  singen  und 
Ssdtenspiel.  Die  siebente  und  letzte  Schule,  darin  lernt  man  Stern  sehen  und 
erkennen  und  die  Dinge,  die  auf  dem  Erdreich  geschehen  und  auch  die  Natur 
der  Sonne.  —  Die  Kunst  in  der  achten  Schul  ist  Wundarznei,  die  lert  den 
Leib  kennen,  imd  wie  man  Wunden  heilt;  in  der  neunten  Schule  die  Buch- 
arznei, da  lernet  man  kennen  die  Komplexion,  d.  i.  die  Natur  des  Menschen 
und  die  ELraffc  der  Kräuter  und  wie  man  den  Menschen  gesuud  macht.  In  der 
zehnten  Schul  lernt  man  natürliche  Kunst,  alles  was  im  Himmel  und  auf  Erden 
ist,  so  viel  als  menschliche  Vernunft  begreifen  mag.  Die  Kunst  der  elften 
Schule  heißt  metaphysica ,  die  ist  die  edelste  Kunst  unter  den  vorgenannten 
Künsten  und  heißet  die  erste  Weisheit,  darin  lernt  man  erkennen,  wie  alle 
Dinge  im  Himmel  und  auf  Erden  so  gar  ordentlich  beschaffen  sind,  zum  andern 
wer  alle  geschaffene  Ding  regiert,  zum  dritten  wie  alle  Ding  in  einem  Gut  be- 
schlossen sind.  Die  Kunst  in  der  zwölften  Schul  heißt  ethira,  darin  lernt  man 
Tugend  üben.  Die  Kunst  in  der  dreizehnten  Schul  sind  die  kaiserlichen  Rechte, 
in  der  vierzehnten  die  geistlichen  Rechte.  Die  fünfzehnte  und  letzte  Schule  ist 
die  der  ewigen  Weisheit,  darin  ist  Christus  der  Lehrer,  die  heilige  Schrift 
das  Buch. 

Paulseii,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  3 


34  I,  2,    Das  ünterrichtswesen  des  MittelaUers. 


Was  die  Form  der  Lehrthätigkeit  anlangt,  so  bestand  sie  in  zwei 
Stücken:  der  lectio  und  der  disputatio.  Legere  bedeutet  nicht  den  Text 
diktieren  (diktieren  heißt  pronunäare),  sondern  den  Text  nach  Inhalt 
und  Form  erläutern.  Der  Besitz  eines  Textes  wurde  Torausgesetzt,  in 
den  Statuten  wird  häufig  ausdrücklich  gefordert:  mindestens  je  drei 
Zuhörer  sollen  einen  Text  zusammen  haben.  Ein  Vorlesen  des  Textes 
durch  den  Dozenten  kann  allerdings  auch  stattfinden,  nämlich  in  der 
Absicht,  daß  der  Schüler  seinen  Text  darnach  korrigiere  und  inter- 
pungiere.^  Die  Erläuterung  bestand  in  der  Wort-  und  Sacherklärung, 
wozu  denn  auch  Zusammenfassung  des  Inhalts,  Eingehen  auf  streitige 
Fragen  [quaestianes)  gehörte.  In  der  Jurisprudenz  hatte  sich  ein  festes 
Schema  für  die  Textinterpretation  gebildet;  da  die  Form  der  Behand- 
lung in  allen  Wissenschaften  wesentlich  gleichartig  war,  so  scheint  es 
nicht  unangemessen,  dies  Schema  hier  einzufügen.  Es  hat  in  folgen- 
dem Distichon  seine  mnemonische  Formel  erhalten: 

PtaemittOj  sdndo,  summOj  casumque  figuroy 
Perlego,  do  causas,  connoto  objicio. 

Praemittere  bezeichnet  eine  einleitende  Charakteristik  der  Materie 
der  Textstelle,  in  welcher  zugleich  die  termini  definiert  werden.  Scindere 
bedeutet  die  Zerlegung  in  Teile  (partitio).  Sodann  wird  der  Inhalt  in 
eine  summarische  Formel  gefaßt.  Es  folgt  die  Au&tellung  eines  casus, 
eines  fingierten  oder  wirklichen,  woran  die  faktischen  Voraussetzungen 
des  Rechtssatzes  der  Stelle  dargelegt  werden.    Nunmehr  folgt  die  Vor- 


^  In  Geiger^s  Geschichte  der  Renaissance  findet  man  einen  Holzschnitt, 
auf  welchem  eine  aus  dem  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  stammende  Abbildung 
eines  Universitätsauditoriums  reproduziert  ist  Die  Hörer  haben  meist  einen 
Text  vor  sich,  ebenso  wie  der  Lehrer;  nicht  einer  (oder  einer?)  schreibt.  In 
den  Gesichtern  ist  höchst  lebendig  ausgedrückt,  wie  sie  das  Gehörte  innerlich 
verarbeiten.  Eine  ähnliche  Darstellung  in  Lacroix,  Science  et  Lettres  au  Moyen- 
Äge  (Paris  1877),  S.  25.  Seit  der  Erfindung  des  Buchdrucks  ist  es  üblich,  daß 
der  Dozent  den  Text,  über  den  er  liest,  für  die  Hörer  drucken  läßt;  wohl  auch 
gleich  in  einer  Form,  daß  sie  Erklärungen  bequem  eintragen  können.  So  be- 
richtet JoH.  Oldecop  (Chronik,  herausgegeben  von  K.  Euling,  1891),  daß  Luther, 
den  er  im  Jahre  1515  hörte,  für  seine  Hörer  den  Römerbrief  hatte  drucken 
lassen,  die  Zeilen  weit  von  einander  „umme  gloserens  willen".  In  dem  Entwurf 
für  die  Ratio  studiorum,  die  der  Jesuitenorden  durch  eine  internationale 
Kommission  Hausarbeiten  ließ  (gedruckt  1586,  jetzt  Mon.  Germ.  Paed.  V,  81) 
findet  sich  eine  Betrachtung  über  den  akademischen  Vortrag,  in  der  das  Dik- 
tieren als  ein  neumodischer  Mißbrauch  bezeichnet  und  entschieden  verworfen 
wird:  vor  etwa  40  Jahren,  also  wohl  zu  der  Zeit,  wo  die  Verfasser  studierten, 
sei  dieser  Brauch  unerhört  gewesen.  —  Vielleicht  hängt  sein  Eindringen  mit 
dem  Umstand  zusammen,  daß  die  Vorlesungen  allmählich  einen  andern  Cha- 
rakter annahmen,  statt  Glossicrung  eines  Textes  Darstellung  eines  wissenschaft- 
lichen Systems;  das  Hecht  ging  darin  voran. 


Der  Univeraitätsunterricht,  35 


lesiing  der  Stelle  selbst,  wobei  auf  abweichende  Lesarten  aufmerksam 
gemacht  wird.  Dann  folgen^  nachdem  die  eigentliche  Interpretation 
vollendet  ist,  additionelle  Bemerkungen.  Unter  causae  werden  die 
rationellen  Gründe  der  Entscheidung  und  des  gefundenen  Bechtssatzes 
verstanden,  etwa  nach  dem  Schema  der  vier  Aristotelischen  Ursachen. 
Unter  dem  Namen  der  Connotationes  werden  allerlei  Erläuterungen  der 
Materie  durch  angrenzende  Bechtssätze  und  allgemeine  Axiome  (loci 
communes)  eingeführt.  Die  objectiones  endlich  führen  in  das  Gebiet 
der  Kontroversen.^ 

In  die  Vorlesungen  eines  Artisten  läßt  eine  Stelle  in  dem  Chroniken 
PFT.TjyANS  (deutsch  von  Th.  Vulpinüs,  S.  69)  einen  lehrreichen  Blick 
thun.  Er  erzählt  von  seinem  Oheim,  Jodocus  Gallus,  wie  er  um  1480 
als  junger  Magister  an  der  Heidelberger  Universität  über  aristotelische 
Logik  und  Physik  las:  „Vor  der  Vorlesung  schrieb  er  sich  alles,  was 
er  sagen  wollte,  für  jede  Stunde  mit  wenigen  Worten  und  Bemerkungen 
auf  einen  Zettel,  den  er  nach  der  Vorlesung  sorgföltig  wie  einen  Gold- 
schätz  aufhob,  um  nach  ein  oder  zwei  Jahren,  für  den  Fall,  daß  er 
den  Schriftsteller  wieder  behandeln  wollte,  all  seine  Aufzeichnungen 
wohl  geordnet  zur  Hand  zu  haben.  Wenn  er  über  einen  Dichter  zu 
lesen  hatte,  schrieb  er  das  Nötige  an  den  Band,  damit  die  einmal  recht 
verstandene  Stelle  auch  künftighin  klar  erscheine.  Beim  Beginn  seiner 
Vorlesung  fragte  er  stets  zuerst  nach  dem,  was  er  in  der  vorigen 
Stunde  vorgetragen  und  erklärt  hatte ;  aber  keiner  wußte,  von  wem  er 
Rechenschaft  fordern  werde,  ein  Verfahren,  durch  das  er  alle  in  ge- 
spannter Aufmerksamkeit  erhielt.  Fand  er  einen  offenbar  nachlässigen, 
namentlich  unter  den  armen  Schülern,  so  schritt  er  rücksichtslos  ein; 
gegen  Dreistigkeit  oder  Zerstreutheit  wurde  er  mitunter  sogar  hand- 
greiflich. Auf  diese  Weise  kam  er  mit  seinen  Schülern  sehr  weit,  die 
Saumseligen  und  Nachlässigen  zitterten  vor  ihm." 

Die  disputatio  war  die  notwendige  Ergänzung  zur  lectio.  Wenn 
diese  den  wissenschaftlichen  StoflF  überlieferte,  so  sollte  jene  in  seiner 
Anwendung  üben.  Die  Anwendung  aber  der  Wissenschaft  bestand  im 
Lehren  und  Überzeugen  und  in  der  Entscheidung  von  streitigen  Fragen, 
welches  letztere  man  als  die  Form  der  produktiven  wissenschaftlichen 
Thätigkeit  des  Mittelalters  ansehen  kann.  Es  handelte  sich  darum,  auf 
Grund  gewisser  und  anerkannter  Wahrheiten  noch  unentschiedene  Dinge 
zur  Entscheidung  zu  bringen.  In  den  Disputationen,  für  welche  ein 
Tag  in  der  Woche  ausgesetzt  war,  trat  die  Fakultät  als  Körperschaft 
auf.     Die  Gesamtheit   der  Lehrer   und  Schüler   versammelte   sich   im 


*  SriMTziNa,  G^sch.  d.  deutsch.  Rechtswiss.,  106  ff. 

8* 


36  I,  2,    Das   Unierrichtswesen  des  Mittelalters, 

großen  Hörsaal.  Ein  Magister  hielt  einen  Vortrag  und  proponierte  im 
Anschluß  daran  Thesen ,  über  welche  nnn  unter  seinem  Präsidium 
disputiert  wurde.  Die  Magister  opponierten  der  Reihe  nach,  mit  Argu- 
menten in  syllogistischer  Form  (arguere)\  sodann  lösten  Baccalarien 
unter  Leitung  des  Präses  die  Argumente  auf,  wieder  in  streng  syllo- 
gistischer Form  (respandere).  Außerdem  fanden  Disputationen  der 
Scholaren  zur  Übung  statt,  bei  denen  Baccalarien  präsidierten  und 
opponierten;  wie  denn  die  Baccalarien  auch  unter  Kontrolle  eines 
Magisters  Vorlesungen  hielten.  —  Die  Disputationen  galten  für  beschwer- 
liche, aber  überaus  wichtige  Übungen;  die  Statuten  enthalten  regelmäßig 
sehr  genaue  Vorschriften  darüber  und  Strafandrohungen  gegen  Säumige.^ 


Über  den  Wert  dieses  ünterrichtsbetriebes  ist  es  schwer  unbefangen 
zu  urteilen.    Die  Humanisten  sprechen  darüber  nie  ohne  alle  Ausdrücke 
von  Verachtung  zu  erschöpfen,   an  welchen  ihr  Latein  reich  ist;  ihr 
Urteil  ist  bis  auf  diesen  Tag  meist  als  historisches  Zeugnis  unbesehens 
angenommen  worden.    Man  könnte  ebenso  gut  das  Urteil  der  Romantik 
über  die  Aufklärung  oder  der  Sozialdemokratie  über  die  heutige  Ge- 
sellschaft ohne  weiteres  als  authentische  Auskunft  über  Bestand  und 
Wert  dieser  Dinge  annehmen.    Es  ist  das  Schicksal  jeder  historischen 
Gestaltung,   von   der  nachdrängenden  Lebensform  mit  Haß  und  Ver- 
achtung beseitigt  zu   werden.    Die  Aufgabe   der  Geschichte  ist,   das 
Vergangene  aus  dem  zu  verstehen,  was  es  für  sich  selber  war,  eine 
Aufgabe,  die  meist  gleichbedeutend  sein  wird  mit  der,   es   zu  retten 
gegen  das  Urteil  des  Nächstfolgenden.    Ich  muß  diese  Rettung  jemand 
überlassen,   der  in  der  scholastischen  Philosophie   und   ihrem  Unt^r- 
richtsbetrieb  mehr  zu  Hause  ist,  als  ich  es  bin.    Der  gute  Wille,  mich 
hineinzuarbeiten,  ist  immer  wieder   erlahmt  in  dem  Gefühl   der  Er- 
müdung, das  den,  der  nicht  in  seiner  Jugend  an  diese  Denkweise  ge- 
wöhnt ist,  alsbald  überkommt,  wenn  er  sich  in  diese  uns  nach  Inhalt 
und    Form    fremdartige    Litteratur    hinein  verirrt;    eine    hoflFnungslose 
Stimmung  überkommt  einen  bald:  es  sei  auf  dem  Wege  überhaupt  nicht 
klüger  zu  werden.     Aber   widerföhrt  das   allein   der  mittelalterlichen 
Schulphilosophie?  Geht  es  heutzutage  Hegel  oder  Fichte  anders?  werden 
sie  nicht  von  den  meisten  derer,  die  sie  überhaupt  in  die  Hand  nehmen, 
mit  ähnlichen  Empfindungen  gelesen  und  wieder  weggelegt?    Geht  es 
Chb.  Wolf  und  Bilfingeb  und  Thümmig  und  wie  sie   alle   hießen, 


'  Es  giebt  noch  keine  Darstellung  des  Unterrichtsbetriebes  der  mittel- 
alterlichen Universit&t  Es  wäre  eine  lohnende  Arbeit,  wofür  reichliches 
Material  vorliegt 


Wert  der  Schulphüosophie.  37 


die  als  Haupter  der  Schulphilosophie  im  vorigen  Jahrhundert  geehrt 
wurden,  anders?  Geht  es  den  Humanisten  selbst,  einem  Ebasmus, 
einem  Eobanus  anders,  die  für  die  Ewigkeit  zu  schreiben  so  fest  über- 
zeugt waren?  Sind  nicht  ihre  humanistischen  Erbauungsschriften,  ihre 
Gedichte  und  Deklamationen  ebenso  im  Staub  begraben,  wie  dieQuästionen 
und  Distinktionen  der  Scholastiker?  Und  ob  nicht  am  Ende  eine  Zeit 
kommen  wird,  der  die  unendlichen  philosophischen  und  historischen, 
erkenntnistheoretischen  und  psychophysischen  Untersuchungen  der  Gegen- 
wart ebenso  trostlos  öde  vorkommen  werden,  als  uns  scholastische  imd 
spekulative  Philosophie,  humanistische  Schönrednerei  und  mühselige 
Polyhistorie  des  17.  Jahrhunderts?  Ich  sage  das  nicht,  um  daraus  zu 
folgern,  daß  alle  wissenschaftlichen  Bemühungen  eitel  seien,  sondern 
daß  ihr  Wort  in  dem  liegt,  was  sie  ihrer  Zeit  leisten.  Es  ist  unrecht, 
den  Wert  wissenschaftlicher  Bestrebungen  nur  danach  zu  messen,  wie 
viel  davon  eine  spatere  Zeit  aufbehalten  hat  und  wie  viel  davon  wir 
etwa  noch  uns  anzueignen  vermögen.  Haben  sie  diejenigen,  die  sie 
anstellten  und  daran  teil  hatten,  einsichtiger  und  weiser  gemacht,  so 
haben  sie  ihre  Aufgabe  erfüllt  So  thöricht  eine  Ethik  ist,  die  ver- 
langt, daß  jeder  Mensch  nur  um  der  Andern  willen  lebe,  so  thöricht 
ist  eine  Geschichtsphilosophie,  die  jedes  Zeitalter  nur  um  der  Zukunft 
willen  leben  läßt  oder  seine  Leistungen  bloß  an  ihrem  Wert  für  die 
Gegenwart  mißt. 

Das  Mittelalter  selbst  legte  seinen  wissenschaftlichen  Leistungen 
und  ihren  Trägem,  den  Universitäten,  überaus  großen  Wert  bei.  Ein 
alier  Spruch  reiht  die  Universität  den  Weltmächten  des  Mittelalters 
an:  Italien  habe  das  Papsttum,  Deutschland  das  Kaisertum,  Paris  das 
Studium.  Es  scheint  billig,  daß  man  dem  Mittelalter  nicht  bestreite, 
über  den  Wert,  den  seine  Einrichtungen  für  es  selbst  hatten,  aus 
seiner  eigenen  Lebensempfindung  zu  urteilen.  Man  müßte  denn  sagen, 
daß  es  sich  überhaupt  unfähig  erwiesen  habe,  über  das  ihm  Zuträgliche 
zu  urteilen  und  daher  noch  nachträglich  gleichsam  unter  Kuratel  ge- 
stellt werden  müsse;  eine  Ansicht,  die  allerdings  lange  geherrscht  hat 
und  noch  nicht  ganz  ausgestorben  zu  sein  scheint.  Daß  die  Universi- 
täten sich  wesentlich  rezeptiv  verhielten,  daß  sie  meinten,  die  Wissen- 
schaft nicht  erst  selbst  hervorbringen  zu  müssen,  sondern  sie  aus  dem 
Aristoteles  und  einigen  Anderen  lernen  zu  können,  verdient  nicht  Tadel. 
Der  ist  freilich,  nach  dem  Spruch  des  alten  Hesiodus,  der  erste,  der 
selber  jegliches  wahrninmit;  doch  ist  trefflich  auch  der,  welcher  von 
einem  Meister  zu  lernen  weiß.  Vielleicht  hätten  auch  heutzutage  die 
Scholaren  nicht  unter  allen  Umständen  es  zu  beklagen,  wenn  ihnen 
vom  Katheder  herab,  statt  des  Angebots  eigengemachter  Weisheit^  ein 


38  /,  2.    Das  Unterrichiswesen  des  Mittelalters. 


gutes  Lehrbuch  erklärt  würde;  wobei  es  mir  denn  fem  liegt,  die  Rück* 
kehr  zu  diesem  System  im  allgemeinen  empfehlen  zu  wollen.  —  tTbrigens 
könnte  man  diejenigen,  die  geneigt  sind,  mit  den  Humanisten  die  Namen 
von  Thomas  und  Scotus  als  Bezeichnungen  für  verrückten  Unsinn  zu 
gebrauchen,  darauf  hinweisen,  daß  es  doch  auch  heute  noch  Leute 
giebt,  die  ähnlich  denken,  ja  die  den  heiligen  Thomas  auch  heute  noch 
für  den  Gipfel  der  Philosophie'  ansehen  und  deshalb  den  ganzen 
philosophischen  Unterricht  auf  ihn  gründen.  Und  zwar  sind  das  Leute, 
denen  die  Verächter  der  Scholastik  sonst  ein  großes  Maß,  wenn  nicht 
von  Weisheit^  so  doch  eine  ausbündige  Klugheit  und  Weltkenntnis  zu- 
zutrauen pflegen,  nämlich  die  Jesuiten.  Hat  doch  der  römische  Stuhl 
den  heil.  Thomas,  den  Philosophen,  den  die  Gesellschaft  Jesu  sich  er- 
wählt hat,  als  den  Philosophen  der  Kirche  restituiert  und  seinen 
Gebrauch  in  allen  Lehranstalten  empfohlen.  Etwa  zum  Zwecke  der 
Yerdummung  des  Klerus?  Das  kann  wohl  nicht  die  Meinung  derer 
sein,  die  durch  den  Klerus  die  Welt  beherrschen  wollen. 

Und  was  die  Disputationen  anlangt,  so  dürfte  das  Mittelalter  über 
ihren  Wert  sich  schwerlich  in  einer  Täuschung  befunden  haben.  Sie 
waren  ohne  Zweifel  geeignet,  eine  große  Präsenz  des  Wissens  und  eine 
erstaunliche  Geübtheit  im  Auffassen  von  Argumentationen  hervorzu- 
bringen. Von  DuNS  ScoTüS  wird  (bei  Bülaeus,  Eist  univers.  Par.IV,  70) 
folgendes  berichtet.  Er  kam  im  Jahre  1304  von  Oxford  nach  Paris 
und  verteidigte  dort  in  einer  großen  Disputation  das  Theorem  der 
Franziskaner  von  der  unbefleckten  Empfängnis  der  Jungfrau  Maria 
gegen  die  Dominikaner,  welche  es  bestritten.  „Groß  war  das  Gewicht 
der  Argumente,  mit  denen  er  angegriffen  wurde,  es  waren  ihrer  an 
Zahl  bei  200.  Ohne  Unterbrechung  hörte  er  dieselben  mit  ruhigem 
Gemüt  aufmerksam  an;  dann  wiederholte  er  alle  mit  staunenswertem 
Gedächtnis  in  ihrer  Ordnung,  löste  die  verzwicktesten  Schwierigkeiten 
und  die  verknotetsten  Syllogismen  mit  einer  Leichtigkeit,  wie  Samson 
der  Delila  Stricke  zerriß.  Er  fügte  danach  viele  vortreffliche  Gründe 
an,  wodurch  er  bewies,  daß  die  heil.  Jung&au  ohne  Befleckung  mit 
der  Erbsünde  empfangen  sei."  Die  Universität  war  hingerissen  von 
der  Kraft  der  Beweisführung  und  zierte  aus  Dankbarkeit  den  Scotüs 
mit  dem  Namen  des  doctor  subtilis.  —  Ob  unsere  Einsicht  in  die  Natur 
der  Dinge  durch  derartige  Erörterungen  gefordert  worden  ist,  wird  man 
mit  Recht  bezweifeln;  dagegen  scheint  es  mir  nicht  zweifelhaft,  daß 
sie  geeignet  waren,  die  Kräfte  des  Verstandes,  besonders  die  formalen 
Fertigkeiten  des  Auffassens,  Analysierens  und  Argumentierens  zu  üben 
und  zu  entwickeln.  Daß  die  führenden  mittelalterlichen  Philosophen 
es  zu  einem  großen  Maß  von  Scharfsinn  und  Virtuosität  in  der  Fassung 


Wert  der  SchtUphüosophie.  39 


und  Auflösung  von  dialektischen  und  metaphysischen  Problemen  ge- 
bracht haben,  wird  niemand  in  Abrede  stellen,  der  sich  irgendwie  mit 
ihnen  beschäftigt  hat.  Was  ihnen  fehlt,  wenn  wir  sie  an  dem  heutigen 
Wissenschaftsbetrieb  messen,  das  ist  die  Richtung  auf  anschaulich- 
sachliche Erkenntnis;  die  Aufmerksamkeit  ist  auf  die  Begriffe  des 
Systems  und  ihre  Zusammenstimmung  untereinander  gerichtet,  nicht 
auf  die  Zusammenstimmung  mit  der  Wirklichkeit,  womit  denn  die 
Neigung  zu  verbohrter  Spitzfindigkeit  und  haarspaltender  Dialektik 
gegeben  ist  Es  ist  eine  Richtung  des  Denkens,  die  keineswegs  mit 
den  alten  Scholastikern  ausgestorben  ist;  wenn  wir  mit  dem  Namen 
des  scholastischen  Denkens  ein  Denken  bezeichnen,  dem  die  Begriffe 
des  eigenen  Systems  wichtiger  sind  als  die  Dinge,  so  kommt  es  zu 
allen  Zeiten  vor  und  von  Zeit  zu  Zeit  wird  es  epidemisch:  man  denke 
an  das  Zeitalter  der  spekulativen  Philosophie;  Fichte  und  Hegel, 
ScHLEiEBMACHER  uud  Kbause,  ja  auch  ein  so  realistisch  angelegter 
Kopf  wie  Herbart,  sie  alle  haben  den  scholastischen  Tic,  der  denn 
freilich  mit  der  Richtung  auf  das  systematische  Denken  selbst  eng 
zusammenhängt.  Eben  diese  modernen  Philosophen  machen  uns  nun 
auch  die  Gewalt  verständlich,  die  solche  fein  ausgesponnenen  Systeme 
über  eine  Schule  erlangen  können.  Ebenso  zeigen  sie  auch,  wie  diese 
Schulherrschaft  verloren  geht:  nachdem  die  Begriffe  in  der  Schule  eine 
Zeit  lang  immer  feiner  ausgearbeitet,  in  immer  neue  Beziehungen  ge* 
setzt,  zur  Lösung  immer  neuer  Quästionen  verwendet  sind,  verlieren 
sie  auf  einmal  die  Kraft,  die  Jugend  anzuziehen  und  gefangen  zu 
nehmen.  Sie  wendet  sich  von  dem  „Scholastizismus"  ab,  und  heraus- 
tretend aus  dem  Zauberbann  des  Systems  auf  die  grüne  AVeide  der 
Thatsachen,  begreift  sie  gar  nicht,  wie  man  sich  so  lange  hat  im  Kreise 
dieser  Spekulationen  drehen  können.  Ganz  das  ist  es,  was  um  die 
Wende  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  die  Jugend  erlebte:  die  Weis- 
heit der  Schulsysteme,  ihre  feinen  Quästionen  und  Solutionen,  sie 
kommen  dem  neuen  Geschlecht  plötzlich  unglaublich  abgeschmackt 
vor:  seid  ihr  nicht,  nachdem  ihr  Jahrhunderte  lang  diese  Dinge  ge- 
wälzt habt,  genau  so  klug  als  wie  zuvor?  Der  Durst  nach  Thatsachen 
kommt  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  mit  Macht  über  die  Welt,  wie 
er  über  das  Geschlecht  kam,  das  auf  das  Zeitalter  der  spekulativen 
Philosophie  in  Deutschland  folgte.  Das  19.  Jahrhundert  wendete  sich 
vor  allem,  nicht  allein,  den  Thatsachen  der  Natur  zu,  das  15.  und 
16.  Jahrhundert  wurde  vor  allem  von  den  Thatsachen  der  Geschichte, 
von  dem  eben  in  so  erstaunlicher  Fülle  eindringenden  Altertum  und 
seiner  unendlichen  LebepsfüUe  angezogen;  nicht  allein  von  diesen:  man 
vergesse   nicht  die  gleichzeitigen  großen  Entdeckungen  auf  der  Erde. 


40  ly  2.   Das  UrUerrichistoesen  des  Mittelalters. 


und  am  Himmel.  Diese  neoeti  Dinge  will  die  Jugend  miterleben, 
und  darum  wendet  sie  sich  von  den  altersgrauen  Begriffssystemen  der 
Philosophie  ab. 

Übrigens  hatte  der  scholastische  Unterricht,  wie  er  sich  am  Aus- 
gang des  Mittelalters  thatsachlich  gestaltete,  ohne  Zweifel  seine  be- 
sonderen Schwächen.  Gewisse  Schwierigkeiten  lagen  schon  in  den 
Einrichtungen  an  sich.  Die  Schüler  waren  wohl  durchweg  etwas  zu 
jung  für  den  philosophischen  Unterricht;  die  aristotelische  Logik  und 
Physik  paßt  nicht  für  Knaben  Ton  15,  16  Jahren,  wie  sie  zahlreich 
in  den  Lektorien  der  Artisten  saßen.  Die  Beschäftigung  mit  dem 
Konkreten  oder  mit  den  durchsichtigen  Begriffen  der  Mathematik  ist 
diesem  Lebensalter  gewiß  angemessener.  Dazu  kommt  ein  anderes: 
auch  die  Lehrer  werden  vielfach  der  Sache  nicht  Herr  gewesen  sein. 
Im  ganzen  galt  die  artistische  Lektur  als  Durchgangsstufe,  man  betrieb 
daneben  das  Studium  in  einer  oberen  Fakultät,  die  Lektur  war  der 
Broterwerb.  Die  Folge  war,  daß  man  sich  nicht  in  das  Gebiet  ein- 
lebte, mancher  wird  sich  darauf  beschränkt  haben,  den  Stoff,  wie  er 
ihm  überliefert  worden  war,  weiter  zu  überliefern.  Dabei  wird  sich 
denn  leicht  die  Neigung  geltend  gemacht  haben,  durch  yiel  Detail 
von  Quästionen  und  Opinionen,  oder  durch  Behandlung  spitzfindiger 
und  dunkler  Kontroversen  seine  tiefgründige  Gelehrsamkeit  zu  zeigen. 
Je  mehr  ein  Lehrer  der  Sache  Herr  ist,  um  so  einfacher  sein  Unter- 
richt. Es  scheint,  daß  jenes  Übel  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  sich 
sehr  entwickelt  und  ausgebreitet  hatte,  so  daß  bei  den  Schülern  das 
Gefühl  entstand:  vor  lauter  gelehrtem  Apparat  gar  nicht  mehr  zur 
Sache  zu  kommen.  Und  alle  diese  Übel  zu  steigern  trug  dann  der 
Umstand  bei,  daß  das  eigentliche  Gebiet  der  Anwendung  dieser  Künste 
das  Religiöse  war;  die  dialektische  Verarbeitung,  die  gerade  hier  leicht 
zur  Übung  frivolen  Witzes  führt,  konnte  dann  dem  religiösen  Leben 
selbst  gefahrlich  werden.  Der  Haß,  mit  dem  Luther  von  der  Schul- 
philosophie redet,  wird  nicht  zuletzt  hierin  seine  Wurzel  haben. 
Übrigens  hat  auch  in  diesem  Stücke  eine  Zeit,  in  der  eben  der  große 
Kampf  um  das  „geboren  von  der  Jungfrau"  geführt  wird,  nicht  viel 
Ursache  zur  Überhebung.  — 

Ich  füge  diesen  Betrachtungen  noch  eine  Bemerkung  über  die 
Gelehrtensprache  des  Mittelalters  und  sein  Verhältnis  zu  den 
klassischen  Schriftstellern  hinzu. 

Auch  im  Mittelalter  war  es  niemand  zweifelhaft,  daß  die  Schriften 
der  römischen  Autoren  Muster  der  lateinischen  Sprache  und  der  littera- 
rischen Form  seien.  Man  hat  auch  niemals  vollständig  aufgehört  die 
Verse  Virgils,   die  historische,   philosophische   und  rhetorische  Prosa 


Lkis  mütelaUerliche  Latein.  41 


Ciceros,  Livius'  a.  &  nachzuahmen.  Aber  die  mittelalterlichen  Gelehrten 
hatten  für  litterarische  und  sprachliche  Form  wenig  Sinn,  ihr  Interesse 
an  Schriftwerken  war  wesentlich  ein  materiales,  auf  den  Inhalt  und  seine 
Wahrheit  gerichtetes.  Dem  entspricht  der  Charakter  der  Schriften, 
welche  es  vorzugsweise  schätzte  und  las.  Die  heiligen  Schriften  lehnten, 
als  Mitteilungen  Gottes^  jede  Auffassung  und  Beurteilung  unter  dem 
litterarisch-formalen  Gesichtspunkt  von  vornherein  ab.  Es  stand  nicht 
viel  anders  um  die  Werke  des  Aristoteles,  die  in  der  zweiten  Hälfte 
des  Mittelalters  beinahe  die  Geltung  einer  subsidiarischen  naturwissen- 
schaftlich-philosophischen Offenbarung  erlangten.  Die  Form  oder  viel- 
mehr Formlosigkeit  dieser  Schriften  machte  auch  hier  ein  anderes 
Interesse  als  ein  materiales  fast  ganz  unmöglich.  Es  kann  kaum 
Schriften  geben,  die  weniger  auf  das  Wie,  ausschließlicher  auf  das 
Was  des  Gesagten  selbst  gerichtet  wären  und  die  Auftnerksamkeit  des 
Lesers  richteten. 

Das  waren  die  Schriften,  welche  dem  Verlangen  des  späteren  Mittel- 
alters nach  Wahrheit  und  Belehrung  zusagten.  Es  hatte  kein  Bedürf- 
nis nach  anderen.  Was  sollten  ihm  die  Fabeln  heidnischer  Dichter, 
oder  die  Reden  der  römischen  Advokaten?  Betrafen  sie  doch  nicht 
das  Ewige  und  Bleibende,  wie  Theologie  und  Philosophie,  sondern  Ver- 
gängliches oder  ganz  Nichtiges.  Auch  daß  ihnen  ein  gewisses  Vermögen 
innewohne,  angenehme  Eindrücke  auf  die  Sinnlichkeit  und  die  Phantasie 
zu  machen,  entging  ihnen  nicht;  aber  es  schien  nicht  ungefährlich, 
diesem  Spiel  sich  hinzugeben:  das  Schöne  ist  mit  dem  Sinnlichen,  dem 
Profanen,  dem  Heidnischen  allzu  nahe  verwandt,  als  daß  dem  Christen, 
der  den  Ernst  dieses  Lebens  kennt,  und  gar  dem  Kleriker  die  Beschäf- 
tigung damit  ziemte.  Algttintjs,  welchen  man  in  dem  Kreise  des  Königs 
Karl  einst  Flaccus  genannt  hatte,  und  welcher  seine  Schüler  früher  selbst 
zum  Studium  und  zur  Nachahmung  der  heidnischen  Dichter  angeleitet, 
wehrte,  ab  er  älter  geworden  war,  den  jungen  Mönchen  in  der 
Schale  zu  Tours:  sie  sollten  sich  an  den  heiligen  Dichtern  genügen 
lassen  und  sich  nicht  mit  der  üppigen  Beredsamkeit  Virgils  beflecken. 
Sein  Schüler  Hbabanus  will  in  der  schon  erwähnten  Schrift  über  den 
Unterricht  der  Kleriker  den  Gebrauch  der  heidnischen  Autoren  aller- 
dings nicht  ausschließen;  die  Gedichte  und  Schriften  der  Heiden  möge 
man  propter  florem  eloguentiae  wohl  lesen;  aber  mit  der  Vorsicht,  welche 
dem  Juden  hinsichtlich  kriegsgefangener  Weiber  durch  das  Gesetz  des 
Herrn  vorgeschrieben  sei:  er  schere  ihr  die  Haare  ab  und  die  Nägel, 
dann,  wenn  sie  rein  gemacht  ist,  mag  er  sie  zum  Weibe  nehmen.  Das 
spätere  Mittelalter  war  nicht  ängstlicher,  aber  gleichgültiger  gegen  die 
Poeten   und  Redner;   es  war   ganz  und  gar  mit  den  neuen  AVissen- 


42  I,  2,    Das  Unterrichtswesen  des  Mittelalters. 


Schäften  beschäftigt  Auf  den  Universitäten  kommen  in  dem  offiziellen 
Kursus  bis  zur  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  die  Klassiker  gar  nicht  vor, 
sie  wurden  ohne  Zweifel  auch  so  gut  wie  gar  nicht  gelesen.  Einige 
Gitate  aus  ihnen  wandern  aus  einem  Buch  in  das  andere,  wie  gegen- 
wärtig dieselben  exotischen  Pflanzen  als  Schaustücke  von  einem  Fest- 
essen zum  andern  wandern. 

Aber  waren  für  die  Erlernung  der  Sprache  die  Schriftsteller  nicht 
unentbehrlich?  —  Im  früheren  Mittelalter  galten  sie  einigermaßen  dafür^ 
im  späteren  nicht  ebenso  sehr.  Nicht  ohne  Grund.  Die  Sprache  der 
Wissenschaften,  die  im  14.  und  15.  Jahrhundert  auf  den  Uniyersitäten 
gesprochen  wurde,  konnte  man  aus  den  römischen  Schriftstellern  gar 
nicht  lernen.  Sie  war  durchaus  ein  einheimisches  Produkt  Die  alte- 
lateinische Sprache  hatte  dafür  allerdings  das  Material  größtenteils 
geliefert,  sowohl  Formen  als  Wörter,  aber  das  Mittelalter  hatte  aus  dem 
Material  eine  neue  Sprache  gemacht  Es  machte  damit  natürlich  nur 
von  dem  ersten  allgemeinen  Menschenrecht  Gebrauch,  die  Dinge  mit 
den  Namen  zu  nennen,  die  zu  ihrer  Bezeichnung  ihm  geeignet  schienen. 
Die  Sprache  Ciceros  taugte  ohne  Zweifel  wenig  für  deutsche  Scholaren 
und  Magister,  die  etwa  am  Tisch  der  Burse  ihre  persönlichen  Erleb- 
nisse besprachen  oder  im  Hörsaal  über  die  Yorzüglichkeit  des  Tho- 
mistischen  oder  Scotistischen  Systems  yerhandelten.  Wollten  sie  nicht 
gänzlich  darauf  verzichten  von  ihren  eigenen  Angelegenheiten  zu 
sprechen,  so  mußten  sie  sich  eine  eigene  Sprache  machen.  Den  bis  zum 
Überdruß  wiederholten  Vorwurf  alter  und  neuer  Humanisten,  daß  CScera 
diese  Sprache  nicht  verstanden  hätte,  würden  sie  als  einen  ganz  albernen 
zurückgewiesen  haben:  sie  sprächen  ja  auch  nicht  zu  Cicero,  sondern  zu 
ihren  Kameraden  und  von  denen  würden  sie  verstanden,  das  einzige, 
was  sie  beabsichtigten.  Ja  sie  hätten  hinzufügen  mögen:  die  armselige 
Sprache  des  Cicero  hätten  sie  mit  gutem  Bedacht  aufgegeben,  als  welche 
für  ihre  feinen  Untersuchungen  über  die  Beziehungen  von  Begriffen  zu 
einander  schlechterdings  nicht  zureiche;  um  die  Sachen  herumzureden 
möge  sie  mit  ihrem  quasi  quidam  taugen,  aber  sie  scharf  und  präzise 
zu  fassen,  sei  sie  ganz  und  gar  ungeschickt 

Also  diese  Sprache,  worin  die  mittelalterlichen  Gelehrten  und 
Kleriker  ebenso  wie  die  wissenschaftlichen  und  kirchlichen,  auch  ihre 
Alltagsangelegenheiten  besprachen,  konnten  sie  überhaupt  nicht  aus 
den  römischen  Schriftstellern  lemen.  Man  lernte  sie  nicht  viel  anders 
als  eine  lebende  Sprache  wesentlich  durch  den  Gebrauch.  Latein  war 
in  allen  Schulen  die  Unterrichts-  und  Verkehrasprache.  Die  Elemente 
lernte  man  aus  den  kleinen  Lehr-  und  Lesebüchern,  Donat,  Cato, 
Aesop;  kleine  Gesprächbücher,  wie  das  Manuale  scolariwn,  erweiterten 


Die  SpracfUehrbücher.  43 


die  Sprachfertigkeit.  Sodann  gab  es  ausführlichere  Lehrbücher  der  Gram- 
matik; weitaus  das  meist  gebrauchte  war  das  schon  genannte  Doctrinale 
des  Alexander  DE  YiLiiADEi;  es  ist  in  unzähligen  Drucken,  mit  und 
ohne  Kommentar,  yerbreitet  gewesen;  pars  prima,  secunda  bedeutet  in 
der  Schulsprache  ohne  weiteres  die  betreflfenden  Teile  des  Doctrinale^ 
wie  Priarum,  Posteriorum  (sc,  libri)  ohne  weiteren  Zusatz  die  Analytiken 
des  Aristoteles  bezeichnet.  Die  Teile  des  Doctrinale  behandeln  übrigens 
I.  die  Formenlehre,  II.  die  Syntax,  III.  Quantität,  Accent,  Figuren.^ 


^  Über  Schulbücher  und  Unterrichtsmethode  des  Mittelalters  belehrt  jetzt 
am  besten  J.  Müller,  Quellenschriften  und  Geschichte  des  deutschsprachlichen 
Unterrichts,  S.  198 ff.  Vgl.  Voigt  in  den  Mitteil,  der  Gesellsch.  f.  deutsche 
Schnlgesch.  I,  42  ff.  Eine  Zusammenstellung  von  Namen  aus  der  Schulbuch- 
litteratur  des  Mittelalters  findet  man  auch  in  der  Kompilation,  die  F.  A.  Eckstein 
in  dem  Art  Latein.  Unterricht  in  Schmids  Encyklopftdie  gegeben  hat.  In  die 
Form  einer  Buchausgabe  hat  H.  Hetden  diesen  Artikel  gebracht  imd  aus 
Ecksteins  handschriftlichen  Sammlungen  einen  Abschnitt  über  den  griechischen 
Unterricht  hinzugefugt:  F.  A.  Eckstein,  Latein,  u.  griech.  Unterr.,  mit  einem 
Vorwort  von  Schrader  (Leipzig  1887).  Indessen  ist  weder  für  die  Geschichte 
der  Lehrbuchlitteratur  noch  für  die  Entwickelung  des  Unterrichtsverfahrens  aus 
diesem  Buch  viel  zu  gewinnen.  Die  ars  Donati  findet  man  im  4.  Bd.  von 
H.  Keils  Orammatiei  Latini.  Eine  sehr  sorgfältige,  mit  Nachweisungen  aller 
Art  versehene  Ausgabe  des  Doctrinale  hat  D.  Beichlinq  im  XU.  Bd.  der  Mon. 
Grerm.  Paed,  geliefert.  Um  dem  Leser  eine  Probe  von  der  Behandlungsweise 
des  Stoffes  zu  geben,  setze  ich  die  Verse  hierher,  die  den  Singular  der  ersten 
Deklination  enthalten: 

Reetis  as  es  a  tibi  dat  declinatio  prima, 
Atque  per  am  propria  quaedam  ponuntur  Hebraea. 
Dans  ae  diphthongum  genitivus  atque  dativus 
Am  servat  quartus;  tamen  an  aut  en  reperimuSf 
Cum  rectus  fit  in  as  vel  in  es  vel  cum  dat  a  Oraeeus, 
Reetus  in  a  Oraeci  faeit  an  quarto  breviari. 
Quintus  in  a  dabitur,  post  es  tamen  e  reperitur. 
Ä  sextus;  tamen  es  quandoque  per  e  dare  debes. 
Am  reeti  repetes  quinto,  sextum  sociando. 

Man  sieht,  daß  ein  Kommentar  zu  diesen  Versen  allerdings  nicht  überflüssig  ist. 
Eine  Baseler  Ausgabe  vom  Jahre  1481  giebt  zu  jedem  Vers  ein  paar  Zeilen 
Kommentar  mit  Beispielen.  Proben  aus  sehr  viel  umfangreicheren  Kommentaren 
giebt  Zarncke  im  Kommentar  zu  Seb.  Brants  Narrenschiff  S.  346  ff.  Wenn  ein 
tmverständiger  Lehrer,  um  seine  Gelehrsamkeit  an  den  Tag  zu  legen,  solche 
Kommentare  den  Elementarschülcm  diktierte,  so  mag  es  wohl  vorgekommen 
sein,  daß  ein  Schüler  trotz  eines  zehn-  oder  zwanzigjährigen  Unterrichts  in  der 
Grammatik  noch  kein  Latein  verstand,  wie  Wihphelinq  oder  Luther,  im  Unmut 
übertreibend,  es  als  alltägliches  Vorkommnis  hinstellen.  Daß  solcher  Unverstand 
nicht  Regel  war,  kann  derjenige,  dem  es  um  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeit 
und  nicht  um  oratorische  Phrasen  zum  Behuf  historischer  Leitartikel  zu  thun 
ist,  aus  der  Thatsache  entnehmen,  daß  die  mittelalterlichen  Gelehrten  zum  Teil 


44  I,  2,   Das  Unierrichtswesen  des  Mittelalters. 


Über  den  didaktischen  Wert  dieser  Bücher  ist  es  nicht  leicht  sich  ein 
Urteil  zu  bilden.  Vor  allem  ist  es  schwierig,  sich  eine  deutliche  Vor- 
stellung davon  zu  machen,  wie  sich  der  Unterricht  mit  ihrer  Hilfe  in 
der  Praxis  gestaltete  und  davon  hängt  doch  das  Urteil  über  ihre  Brauch- 
barkeit zuletzt  ab.  Daß  man  sich  nicht  rein  darauf  beschrankte,  die 
lateinisch  geschriebenen  Lehrbücher  auswendig  lernen  zu  lassen,  wird 
zwar,  wer  dem  Mittelalter  auch  nur  eine  Spur  von  gesundem  Menschen- 
verstand zutraut,  a  priori  annehmen;  nunmehr  kann  man  inj.  Mülleb's 
Quellenschriften  auch  eine  Menge  Nachweisungen  dafür  finden,  daß  man 
sich  wenigstens  beim  ersten  Unterricht  der  deutschen  Sprache  bediente, 
wie  es  übrigens  auch  Alexandeb  selbst  gleich  am  Anfang  des  Doctrinale 
als  selbstverständlich  voraussetzt  Auch  kann  man  bei  Mülleb  sehen, 
wie  schon  das  15.  Jahrhundert  zahlreiche  Versuche,  den  nächsten  und 
bequemsten  Weg  zur  Erlernung  der  lateinischen  Sprache  zu  entdecken, 
gemacht  hat  Das  Exercitium  perorum  grammaticale  per  dietas  (in 
Tagespensen)  distributum  aus  den  80  er  Jahren  (auf  der  kgL  Bibl.  zu 
Berlin  ist  eine  Ausgabe  von  Deventeb  1489)  zeigt,  daß  man  sich  auch 
schon  ein  wenig  auf  Reklame  verstand :  wer  dieses  Buches  sich  bedient, 
heißt  es  am  Schluß,  es  sei  Mann  oder  Weib,  Kleriker  oder  Kaufmann, 
kann  es  ohne  Lehrer  und  ohne  viel  Mühe  zur  Vollkommenheit  in  der 
Grammatik  bringen. 

Was  speziell  das  Doctrinale  anlangt,  so  ist  es  für  die  richtige 
AVürdigung  dieses  Buches,  aus  dem  drei  Jahrhunderte  hindurch  das 
ganze  Abendland  sein  Lateinisch  gelernt  hat  —  ßEiCHLiNa  weist  nicht 
weniger  als  228  Handschriften  und  279  Drucke  nach  —  vor  allem 
wichtig  sich  klar  zu  machen,  erstens,  daß  es  nicht  ein  Gedicht,  auch 
nicht  ein  didaktisches  Gedicht,  sondern  lediglich  ein  technisches  Hilfs- 
mittel für  den  grammatischen  Unterricht  ist  und  sein  will,  eine  Samm- 
lung von  Memorirversen;  zweitens  daß  es  nicht  für  den  ersten  Unter- 
richt, sondern  für  die  Geforderteren  bestimmt  ist,  ihnen  die  Ausnahmen 
der  Formenlehre  und  die  Syntax  einzuprägen.  Überhaupt  ist  das  Doc- 
trinale nur  ein  Teil,  der  allein  erhaltene,  aus  einem  großen  Unternehmen, 
worin  sein  Verfasser  das  gesamte  einem  Kleriker  notwendige  Schul- 


Behr  frQh  auf  die  Universität  gingen  und  zu  schreiben  begannen,  und  hierbei 
eine  große  Leichtigkeit  im  Gebrauch  ihres  Lateins  zeigen.  Obrigens  verwerfen 
die  älteren  Freunde  humanistischer  Bildung,  Heqius,  Drinoenberq,  Wimphelinq, 
Spiegel,  den  Alexander  nicht  überhaupt;  mit  Verstand  gebraucht,  scheint  er 
ihnen  ein  nützliches  Hilfsmittel  für  den  Unterricht  zu  sein.  —  Das  Manuale 
Scholarium  qui  stttdentium  universitates  aygredi  etpoatea  in  tisproficere  inatituuni 
hat  Zarncke  herausgegeben:  Die  deutschen  Universitäten  im  Mittelalter  (1857). 
Catomis  Diatieha  de  moribus  sind  von  Hauthal  ediert  (1870). 


Die  Sprachlehrbücher,  45 


wissen  zunächst  in  Prosa  kompiliert  hatte.  Man  kann  das  Unter- 
nehmen dem  berühmten  „Elementarwerk''  vergleichen,  worin  600  Jahre 
später  Basedow  die  Summe  des  Schulwissens  verfaßte  und  aus  dem 
diddrtischen  Gesichtspunkt  bearbeitete.  Das  Verdienst  selbständiger 
wissenschaftlicher  Arbeit  nimmt  jenes  so  wenig  als  dieses  in  Anspruch. 
Das  Doctrinale  im  besondem  ist,  wie  Reichung  aus  handschriftlichen 
Notizen  mitteilt^  aus  dem  Unterricht  heryorgewachseu ,  ganz  ebenso  wie 
Basedow's  neue  Sprachlehrmethode.  Alexandeb  unterrichtete  die  Enkel 
des  Bischofs  von  Dol  uud  gab  ihnen  die  grammatischen  Regeln  in 
Versen,  die  sie  auswendig  lernten  und  dem  Großvater  hersagten.  Dieser 
foad  die  Sache  sehr  nützlich,  und  auf  seine  Bitte  stellte  der  Lehrer 
nun  die  ganze  Grammatik  in  Hexametern  zusammen: 

Auxilioque  metri  levnts  poterit  retineri. 

Ob  das  eine  nützliche  Arbeit  war,  darüber  kann  natürlich  allein 
die  Zeit  urteilen,  für  die  sie  gethan  ist;  und  sie  hat  geurteilt,  die  oben 
angeführten  Ziffern  über  seine  Verbreitung  sprechen  die  deutlichste 
Sprache.  Daß  die  Verse  einem  heutigen  Leser  befremdlich  vorkommen, 
daß  der  Gedanke,  sie  auswendig  lernen  zu  müssen,  uns  entsetzlich  wäre, 
beweist  nichts:  das  Mittelalter  hatte  andere  Vorstellungen  vom  Wissen, 
seiner  Erwerbung  und  seinem  Besitz,  als  wir.  Freilich,  leicht  wird  die 
Sache  der  Jugend  auch  damals  nicht  eingegangen  sein;  aber  das  pflegt 
die  lateinische  Grammatik  bis  auf  diesen  Tag  nicht  zu  thun.  Und 
heutzutage  fehlt  es  ja  nicht  an  Leuten,  die  meinen,  daß  das  sehr  gut 
sei:  die  Jugend  erfahre  so  gleich  am  Anfang,  daß  das  Studieren  ent- 
sagungsvolle Arbeit  und  Pflichterfüllung  fordere.  Das  werden  die  jungen 
Kleriker  denn  auch  damals  am  Alexander  gemerkt  haben,  so  sehr  seine 
Absicht  darauf  ging,  die  Sache  leicht  und  erfreulich  zu  machen. 

Was  den  wissenschaftlichen  Wert  dieser  Bücher  anlangt,  so 
können  die  Humanisten  in  Ausdrücken  des  Absehens  vor  ihrem  Bar- 
barentum sich  nicht  genug  thun,  und  es  ist  bis  auf  diesen  Tag  üblich 
geblieben,  den  Lesern  von  Geschichten  der  Pädagogik  einen  Schauder 
vor  der  Barbarei  des  Mittelalters  durch  die  Namen  seiner  gramma- 
tischen und  lexikalischen  Hilfsmittel  beizubringen.  Man  schreibt  irgend 
woher  die  Namen  Doctrinale,  Graecismus,  Florista,  Mammotrepius, 
(Jatholican,  Gemma  Gemmarum,  Vocabularius  ex  quo,  Vocabularius  brevi- 
hquus  zusammen  und  erwartet  wohl  nicht  mit  Unrecht,  daß  der  Leser 
finde,  die  Namen  sagten  schon  genug.  Ohne  Zweifel  sind  diese  Bücher 
für  den  Gebrauch  unserer  Gelehrten  oder  Schüler,  die  mit  der  Si)rache 
und  Litteratur  des  römischen  Altertums  sich  beschäftigen,  ohne  Wert. 
Damit  ist  aber  natürlich  nicht  bewiesen,  daß  sie  für  die  Sprache  und 
Litteratur   des  Mittelalters   ohne  Wert   waren.    So  viel  ich  sehe,   ist 


46  I,  2,    Dcts  Unterrichiswesen  des  Mittelalters.  * 


z.  B.  die  Gemma  Gemmarum,  die  in  unzähligen  Ausgaben  verbreitet 
gewesen  sein  muß,  für  jene  Sprache  ungefähr  ebensoviel  oder  so 
wenig  wert  als  die  Taschenwörterbücher  der  neueren  Sprachen,  welche 
buchhändlerische  Industrie  gegenwärtig  hervorbringt  Die  größeren 
geben  auch  sachliche  Belehrungen,  vertreten  also  zugleich  die  Stelle 
von  Reallexicis. 

Über  den  wissenschaftlichen  Wert  der  mittelalterlichen  Gramma- 
tiker hat  Fb.  Haase  in  einem  beachtenswerten  Schriftchen  De  medii 
€ievi  studiis  philologicis  ein  Urteil  gefällt,  das  mitgeteilt  zu  werden  ver- 
dient Er  findet  sie  zwar  „voll  von  Fehlern  und  Irrtümern,  wo  es 
auf  historische  Forschung  ankommt^',  also  in  der  Formenlehre  und  im 
Lexikalischen;  dagegen  zeigten  sie  da,  wo  es  auf  philosophischen  Scharf- 
sinn ankomme,  ihre  ganze  geistige  Kraft  und  leisteten  höchst  Aner- 
kennenswertes. Das  gelte  besonders  von  der  Syntax.  Diese  sei  von 
den  mittelalterlichen  Grammatikern,  Ebbabd  Bethünensis,  in  seinem 
Graecismus  genannten  Lehrbuch  und  Alexandeb  im  Doctrinale,  wesent- 
lich selbständig  zustande  gebracht  und  zwar  mit  solchem  Erfolg,  daß 
noch  die  heutige  Syntax,  freilich  ohne  es  zu  wissen,  auf  den  Arbeiten 
jener  beruhe.  Die  Valla,  Pebottüs,  Linaoeb,  Heinbichmann  u.  a, 
hätten  besser  gethan  jenen  zu  folgen,  als  im  Anschluß  an  die  Alten 
Neuerungen  zu  versuchen.  Aber  damals  sei  der  Abscheu  vor  allem 
aus  dem  Mittelalter  kommenden  so  groß  gewesen,  daß  man  es  unbe- 
sehens  weggeworfen  habe.  Und  als  man  im  18.  Jahrhundert  auf  die 
mittelalterliche  Syntax  zurückgegangen  sei,  habe  man  es  heimlich  ge- 
than, aus  Furcht  vor  der  Schande,  vom  Mittelalter  etwas  zu  lernen. 
So  sei  es  gekommen,  daß  heute  fast  niemand  es  wisse,  daß  die  Form, 
in  welcher  Cellabius,  Lange,  Zumpt  die  lateinische  Syntax  darstelle, 
den  Gbaeoista,  Alexandeb,  Flobista,  Modista  verdankt  werde;  und 
doch  sei  hieran  gar  kein  Zweifel  Zur  Bearbeitung  aber  der  Syntax 
sei  das  Mittelalter  durch  seine  philosophischen  Studien  geführt  und 
befähigt  worden;  wie  denn  auch  die  philosophische  Grammatik  oder 
Metagrammatik  keineswegs  erst  eine  Erfindung  des  18.,  sondern  viel- 
mehr des  13.  und  14.  Jahrhunderts  sei;  der  liber  de  modis  significandiy 
als  dessen  Autor  bald  Thomas,  bald  Scotüs,  bald  ein  anderer  Scholas- 
tiker genannt  werde,  enthalte  das  erste  vollständige  System  der  philo- 
sophischen Grammatik.  Mit  Recht,  urteilt  Haase,  möge  im  16.  Jahr- 
hundert diese  Disziplin  aus  den  Schulen  beseitigt  sein,  aber  sie  selbst 
habe  die  Verachtung  der  Vergessenheit  nicht  verdient,  sie  sei  auch 
heute  noch  der  Kenntnisnahme  durchaus  wert 

Über  das  mittelalterliche  Latein  endlich  mag  noch  das  Urteil  eines 
ebenso  kompetenten  als  unverdächtigen  Zeugen  Platz  finden.    In  einem 


Das  mittelalterliche  Latein,  47 


An&atz  in  Monbs  Zeitschrift  für  die  Gesch.  des  Oberrheins,  Bd.  XXY, 
36 — 69  teilt  Wattenbach  Auszüge  aus  Briefen  mit,  die  der  Wiener 
Theologe  K  Säldneb  um  1460  an  den  Augsburger  Patrizier  und  Kauf- 
herm  S.  Gossembbot  schrieb,  um  ihn  zu  überzeugen,  daß  für  ihn  Er- 
bauungsschriften eine  passendere  Lektüre  seien,  als  die  Produkte  der 
modernen  humanistischen  Poeten.  Säldneb  war  kein  Bewunderer 
der  letzteren,  weder  von  ihrer  Gelehrsamkeit,  noch  von  ihrem  Charakter 
hielt  er  viel  und  auch  ihr  Stil  sagte  ihm  nicht  zu.  Über  den  Stil 
dieser  Briefe  sagt  Wattenbach:  er  sei  freilich  von  klassischer  Latinitat 
weit  entfernt,  aber  frisch  und  lebendig,  eine  Schreibweise,  welche  sich 
durch  langen  Gebrauch  den  behandelten  Gegenstanden  entsprechend 
ausgebildet  habe.  „Ich  kann",  fügt  Wattenbach  hinzu,  ,4hm  vollkommen 
nachfühlen,  wie  ihm  diese  moderne,  gezierte  und  gespreizte  Weise 
vfiderstand,  wo  der  Dünkel  aus  jeder  Zeile  hervorblickt,  und  auch  die 
Schmeichelei  gegen  vornehme  und  reiche  Gönner,  welche  Säldneb  so 
zuwider  war.  Ich  begreife,  wie  er  das  Wesen  dessen,  was  man  Poesie 
nannte,  in  gesuchten  Ausdrücken  und  ungewöhnlicher  Wortstellung  sah". 
Vielleicht  kann  man  von  der  mittelalterlichen  Schriftsprache  über- 
haupt sagen,  was  hier  von  Säldnebs  Schreibweise  gesagt  wird:  daß 
sie  durch  langen  Gebrauch  den  behandelten  Gegenstanden  entsprechend 
sich  ausgebildet  habe.  Wenn  barbarisch  reden  bedeutet:  anders  reden 
als  die  Bömer  zu  Ciceros  Zeiten  redeten,  dann  ist  das  mittelalterliche 
Latein  ohne  allen  Zweifel  barbarisch,  nicht  viel  weniger  als  Französisch 
und  Italienisch.  Wenn  man  dagegen  unter  barbarisch  reden  nicht  diese 
zuSllige  Abweichung  verstünde,  sondern  allgemein:  unangemessen  zum 
Inhalt,  ohne  Sprachgefühl,  mit  überallher  zusammengerafften,  an  diesem 
Ort  unpassenden  und  sinnlosen  Phrasen  reden,  dann  dürfte  der  Vor- 
wurf der  barbarischen  Rede  den  Humanisten  häufiger  zu  machen  sein, 
als  den  mittelalterlichen  Philosophen  und  Theologen.  Für  die  wissen- 
schaftlichen Untersuchungen  der  letzteren  ist  ihre  Sprache  vielleicht 
nicht  weniger  passend  und  notwendig,  als  der  aristotelische  Stil  für 
seine  Philosophie.  Alle  die  neugebildeten  abstrakten  Ausdrücke,  die 
substantia,  essentia,  existentia ,  quantitas,  qualitas,  identitas,  causalitas, 
finalitas,  guidditas,  haecceitas,  wie  sie  von  humanistischen  Schwätzern 
den  Gaffern  als  monstra  und  portenta  vorgeführt  zu  werden  pflegen, 
waren  ein  augenscheinliches  Bedürfnis  jener  be^ifflichen  Untersuchungen. 
Die  meisten  sind  in  unmittelbarer  Anlehnung  an  die  aristotelischen  termim 
gebildet;  und  daß  sie  nicht  überflüssige  oder  sinnlose  Bildungen  sind, 
wird  am  besten  dadurch  bewiesen,  daß  sie  trotz  aller  Anstrengungen 
der  Humanisten  sich  erhalten  haben,  indem  sie  direkt  oder  in  der 
tl)ersetzung  in  die  modernen  Sprachen  übergingen.     Lotze  sagt  ein- 


48  I,  2,   Das  Unterrichtstüesen  des  Mittelalters, 


mal,  einer  Sprache  müßten  in  etwas  die  Glieder  gebrochen,  die  Bänder 
erweitert  werden,  damit  sie  ganz  schmiegsam  werde,  dem  Gedanken 
sich  anzupassen.  Diesen  Prozeß  hat  das  Latein  im  Mittelalter  durch- 
gemacht; es  war  völlig  geeignet  zu  sein,  was  es  war:  die  Universal- 
sprache der  Wissenschaft. 

Aber  diese  selbe  Sprache  war  auch  der  Erregung  des  Gemütes 
und  Willens  nicht  durchaus  unfähig,  ja  gewisser  Wirkungen  vielleicht 
mehr  als  jede  andere  mächtig.  Die  lateinischen  Kirchengesänge  werden 
auch  heute  noch  ihre  Wirkung  selbst  auf  solche,  die  ganz  außerhalb 
der  Anschauuugswelt  stehen,  aus  der  sie  gedichtet  sind,  schwerlich 
verfehlen.  Die  Majestät  des  Dies  irae,  die  Innigkeit  des  Salve  regina^ 
die  weltverachtende  Großartigkeit  des  Chtr  mundtis  militcU,  sind  sie  in 
irgend  einer  Sprache  erreicht  worden?  Oder  man  nehme  die  Prosa 
der  Imitatio  Christi\  es  kann  kein  angemesseneres  sprachliches  Gewftnd 
für  diese  Betrachtungen  und  Gebete  geben.  Schopenhauer  citiert 
die  heilige  Schrift  regelmäßig  in  lateinischer  Sprache;  er  verstand  sich 
auf  stilistische  Wirkungen.  Und  daß  diesem  selben  Instrument  auch 
noch  andere  Töne  sich  entlocken  ließen,   zeigen  die  Vagantenlieder. ^ 


*  Ich  kann  mir  nicht  versagen,  hier  eine  Stilprobe  von  einem  der  berüchtigtsten 
Dunkelmänner,  von  Jacob  von  Hochstraten,  einzulegen.  Er  veröffentlichte  1521 
eine  Moralphilosophie.  Das  Vorwort  an  den  Leser  enthält  eine  Antwort  auf  die 
Beschimpfungen  der  Epistolae  obsc,  vir.  NoH^  heißt  es  hier,  noli  obseero  inviäa- 
rum  sequi  catervam,  qui  invectivia  et  turpitudinibus  suis  conienti  plurimumque 
ghriantes  non  me  solum  verum  et  optimos  viros  vere  etiam  eruditos  ac  eoratn 
deo  sineeros  et  justos  persequi  non  verentur;  diciiones  quoque  et  syUabas  puero- 
rum  more  arroganter  notantes,  quae  apud  priscos  oratores  et  po'itas  non  in- 
veniuntur;  ac  si  sacrae  litterae  et  doctrina  moralis  phiiosophine  ethnicis  subjectae 
forent  ac  picturae  indigerent  verhortim.  Quis  enim  sanae  mentis  hämo  non 
pluris  faciai  materiam  quam  verha?  Noa  stylo  utimur  scholastico  atque  fami- 
liari  et  in  scholia  vehiH  in  drculis  consueto;  quem  si  praeterire  velimus,  non 
ab  Omnibus  intelligeremur.  Tu  igiturf  lector  carissime,  modestia  potius  utere  ac 
sapientia,  animoque  accipias  grato,  quod  nostris  tibi  vigiliis  humiliter  dedicamus; 
tibique  vero  vertue  perauade  sacram  iheologiam  ipsamque  etiam  moralem  philo- 
sophiam  non  indigere  orationis  fuco  aut  verborum  pompa,  illarumque  profesaores 
non  convinci  aut  etiam  concuti  invidetitium  contumeliis  atque  invectivis,  nee 
maledicentibus  respondere  consuetos,  quin  potii^s  sapientia  duee  Ulis  parcere 
atque  ignoscere,  quum  teste  sacra  ecriptura  deus  reddat  abundanter  facientibus 
superbi'nm.  —  Ich  wüßte  keine  verständigere  und  würdigere  Antwort  auf  jene 
unsagbaren  Beschimpfungen.  Und  wenn  man  den  Inhidt  dieses  Buchs  heute 
in  deutscher  Sprache  läse,  würde  man  ihn  in  vielen  Stücken  über  alle  Erwartung 
modern  finden,  viel  modemer  als  die  Deklamationen  der  humanistischen  Oratoren 
und  Poeten.  Rein  Wunder:  steht  uns  doch  auch  Aristoteles,  der  Moralphilosoph, 
sehr  viel  näher,  als  Cicero,  der  Moralredner.  —  Übrigens  will  ich  doch  noch 
dies  hinzufügen:  ich  zweifle  natürlich  nicht  im  mindesten  daran,  daß  in  den 
Bürden  und  hin  und  wieder  wohl  auch  auf  den  Kathedern  unter  dem  Namen 


/,  3,    Der  Humanismus  und  sein  Bildungsideal.  49 


Drittes  Kapitel. 

Der  Hnmanismns  nnd  sein  Bildungsideal. 

Das  Zeitalter,  in  dem  das  deutsche  Volk  von  den  Ideen  des 
Humanismus  lebhaft  bewegt  wurde,  liegt  zwischen  den  Jahren  1450 
und  1520.  Die  zweite  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  ist  die  Zeit  seines 
allmählichen  Eindringens,  in  den  beiden  ersten  Jahrzehnten  des  1 6.  Jahr- 
hunderts gewinnt  er  in  den  gebildeten  Kreisen  die  Herrschaft  Seit 
dem  Anfang  der  zwanziger  Jahre  entzieht  ihm  der  Ausbruch  der  großen 
kirchlichen  Bewegung  rasch  die  Teilnahme. 

Das  15.  Jahrhundert  ist  eine  Zeit  gewaltig  vorwärts  drängender  Ent- 
wickelung.  Die  Ausbildung  des  internationalen  Verkehrs  führte  zu  raschem 
Wachstum  des  städtischen  Lebens;  mit  der  Fülle  neuen  Beichtums  und 
der  Zunahme  materieller  Kulturgüter  aller  Art  entstanden  verfeinerte 
Bedürfnisse  und  gesteigerte  Bildungsbestrebungen;  schnelle  Erweiterung 
des  Gesichtskreises  durch  intensive  Berührung  mit  der  östlichen,  bald 
auch  einer  neuen  westlichen  Welt,  beschleunigte  den  Gedankenumlauf; 
die  Erfindung  des  Buchdrucks  wurde  notwendig,  um  den  gesteigerten 
Ansprüchen  breiterer  Bevölkerungskreise  auf  Teilnahme  am  geistigen 
Leben  durch  Zuführung  von  Bildungsmitteln  zu  genügen.  Der  ge- 
steigerten Thätigkeit  entspricht  das  gesteigerte  Selbstbewußtsein  der 
Zeit  Die  Menschen  des  ausgehenden  15.  Jahrhunderts  fühlen  sich 
nicht^  wie  es  im  früheren  Mittelalter  der  Fall  war,  als  Epigonen  einer 
großen  Vergangenheit,  der  Zeit  der  großen  Heiligen  und  Väter  der 
Kirche,  sondern  als  Bahnbrecher  einer  neuen  Weltepoche.  Alle  Stände, 
die  Fürsten,  die  Ritter,  die  Bürger,  selbst  die  Bauern  sind  von  der 
machtigen  Bewegung  ergriflfen;  der  Wille  zur  Macht,  mit  modernem 
Schlagwort,  regt  sich  in  allen,  als  Wille  zur  Freiheit  bei  den  Unteren, 
als  Wille  zur  Herrschaft  bei  den  Oberen.  Die  alten  Christentugenden, 
Demut,  Entsagung,  Gehorsam,  Glaube,  Pietät,  verlieren  in  den  Augen 
des  neuen  Geschlechts  ihren  alten  Glanz.  Ungebundenes  Genießen  und 
freies  Denken,  stolzer  Sinn  und  trotzige  Unabhängigkeit,  die  keinen 
Herrn  duldet,  Kühnheit  und  Kraft,   die   nach   der  Macht   zu   greifen 


von  Latein  wirklich  ein  greulicher,  barbarischer  Schuljargon  gesprochen  worden 
ist.  Das  wird  überall  unvermeidlich  sein,  wo  eine  fremde  Sprache  Lehrern  und 
Schülern  als  Unterrichts-  und  Umgangssprache  aufgenötigt  wird.  Auch  im  16. 
nnd  18.  Jahrhundert  würde  man  manch  wunderliches  Latein  in  der  Schule  und 
wohl  auch  in  der  Universität  zu  hören  Gelegenheit  gehabt  haben. 

Paalsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  4 


50  /,  3,    Der  Hutnanisnius  und  nein  Bildung sideal. 

wagt,  dcos  sind  die  Bilder  des  Vollkommenen,  wie  sie  den  vorgeschritten- 
sten Geistern  der  neuen  Zeit  vorschweben. 

Es  wird  eine  Zeit  harter  Kämpfe  sein,  in  der  solche  Ideen  die 
Gemüter  bewegen.  Der  Kampf  um  den  Reichtum  und  die  Herrschaft 
dieser  Welt  wird  zwischen  den  Fürsten  und  Völkern  entbrennen;  und 
innerhalb  der  Völker  wird  der  Freiheitsdrang  der  Massen  und  das 
Machtverlangen  der  oberen  Stande,  wird  das  freie  Denken  und  der  ge- 
steigerte Geltungsanspruch  der  Autoritäten  aufeinander  stoßen.  Das 
ganze  16.  Jahrhundert  ist  erfüllt  mit  solchen  Kämpfen,  Erhebungen 
der  Bauern  gegen  die  Obrigkeit,  der  Ritter  gegen  die  Fürsten,  der 
Fürsten  gegen  den  Kaiser,  der  Laien  gegen  den  Klerus,  der  Kleriker 
gegen  das  Kirchenregiment.  In  allen  hat  schließlich,  um  das  gleich 
zu  bemerken,  zunächst  die  Macht  über  die  Freiheit  gesiegt,  nur  daß 
dem  Kaiser  das  Reich  aus  der  Hand  glitt  und  das  Gebiet  der  päpst- 
lichen Herrschaft  um  die  Hälfte  verkürzt  wurde;  dafür  befestigte  sie 
sich  in  der  anderen  Hälfte  mit  einem  bisher  unerhörten  Absolutismus, 
und  ebenso  wurde  in  den  abgefallenen  Gebieten  der  Absolutismus  des 
landesherrlichen  Regiments  in  weltlichen  und  geistlichen  Dingen  er- 
richtet 

Es  ist  begreiflich,  daß  eine  solche  Zeit  im  Evangelium  nicht  den 
Ausdruck  ihrer  Lebensstimmung  finden  kann ;  das  Dulden  und  Dienen, 
das  untenan  sitzen  und  gering  von  sich  denken,  die  Verachtung  der 
Welt  und  ihrer  Lust  und  das  Streben  nach  dem,  was  droben  ist,  das 
alles  ist  gar  nicht  nach  ihrem  Sinn.  Vielmehr  sagt  ihr  zu,  was  die 
Philosophen  und  Redner,  die  Historiker  und  Dichter  der  alten  Römer 
und  Griechen  rühmen:  der  Hochsinn  und  das  groß  von  sich  denken, 
der  Bürgerstolz,  der  sich  die  Freiheit  im  Kampf  erhält,  die  Herrscher- 
kraft, die  Widerstrebende  niederwirft,  auch  die  Kraft  des  Denkens, 
die  die  Wirklichkeit  bewältigt,  die  Bildung  und  der  freie  Lebensgenuß, 
der  sich  alle  Dinge  dienstbar  zu  machen  weiß:  das  ist  der  Würde  des 
Menschen  gemäß,  das  ist  der  Inhalt  wahrhaft  menschlichen  Lebens. 
In  diesem  „Humanismus",  in  der  Richtung  auf  das  irdische  Leben  und 
seine  Güter,  im  Gegensatz  zu  dem  altchristlichen  Supranaturalismus, 
begegnet  sich  die  Lebensstimmung  der  angehenden  Neuzeit  mit  dem 
klassischen,  d.  h.  dem  heidnischen  Altertum. 

Große  Wandlungen  im  Völkerleben  pflegen  sich  in  ümstimmungen 
der  ästhetischen  Empfindungsweise  anzukündigen.  So  sehen  wir  es  im 
18.  Jahrhundert,  Rousseau  geht  der  Revolution  vorher.  Ebenso  kündigt 
sich  der  große  Umschwung,  womit  die  Neuzeit  anhebt,  mit  einer  Um- 
wälzung in  der  Kunst  und  Litteratur  an;  die  Renaissancekunst  ver- 
drängt die  Gotik,  die  humanistische  Poesie  die  scholastische  Philosophie. 


Allgemmner  Charakter  der  humanistischen  Liiteratur.  51 


Ein  Versuch  die  neue  Litteratur  zu  charakterisieren,  wird  etwa  auf 
folgende  Punkte  führen.  Der  zuerst  in  die  Augen  fallende  Zug,  durch 
den  sie  sich  von  der  voraufgehenden  Litteratur  unterscheidet,  ist  die 
Richtung  auf  die  Darstellung  des  eigenen  Selbst.  Das  gesteigerte 
Selbstgefühl  drangt  den  Schriftsteller  von  sich  zu  reden;  seine  persön- 
lichen Erlebnisse  und  Gefühle  erscheinen  ihm  wichtig  genug,  die  öflfent- 
liche  Aufmerksamkeit  dafür  in  Anspruch  zu  nehmen.  Damit  hängt 
zusammen,  daß  die  Form,  der  Stil,  eine  Wichtigkeit  erhält,  die  er  bis- 
her nicht  hatte.  Wer  nicht  an  sich,  sondern  an  die  Sache  denkt,  dem 
kommt  es  weniger  auf  das  Wie,  als  auf  das  Was  des  Gesagten  an. 
Wer  sich  zeigen  will,  dem  wird  die  Form  wichtig,  er  will  nicht  so 
sehr  auf  den  Verstand,  als  auf  die  Phantasie  wirken,  er  will  nicht 
so  sehr  Zustimmung  in  der  Sache,  als  Beifall  für  seine  Person  ge- 
winnen. In  der  Universitatslitteratur  des  Mittelalters  begegnet  uns  viel- 
fach vollständige  Gleichgültigkeit  gegen  die  stilistische  Form,  nur  die 
logische  gilt.  In  manchen  Erzeugnissen  der  humanistischen  Litteratur 
haben  wir  den  komplementären  Gegensatz:  der  Stil  ist  alles,  Inhalt 
und  Logik  sind  gleichgültig,  an  dem  Gegenstand  liegt  gar  nichts,  er 
ist  nur  der  Ständer,  woran  der  elegante  Anzug  zur  Schau  gestellt  wird. 
Ein  anderer  hervorstechender  Zug  der  neuen  Litteratur  ist  die  Ab- 
wendung von  dem  Heimischen  und  Volkstümlichen.  Er  hängt  auch 
mit  dem  gesteigerten  Selbstgefühl  zusammen.  Der  Einzelne  will  etwas 
Besonderes,  Apartes  sein;  es  ist  distinguiert,  anders  zu  denken  und  zu 
reden  als  die  Masse;  in  den  allgemeinen  Formen  und  Gedanken  sich 
bewegen  ist  vulgär.  Dieses  Streben  nach  Distinktion,  das  bei  jedem 
Modewechsel,  auch  dem  litterarischen  und  ästhetischen,  wesentlich  mit- 
wirkt, erhält  bei  den  Humanisten  nun  seinen  eigentümlichen  Charakter 
dadurch,  daß  sie  die  Denk-  und  Ausdrucksweise  einer  fremden  Kultur- 
welt sich  aneignen  und  als  allermodernste  zur  Schau  tragen.  Indem 
man  den  inneren  und  soweit  es  gehen  will  auch  den  äußeren  Menschen 
und  seine  Umgebung  antik  drapiert,  kommt  es  zur  Aufführung  einer 
Art  großen,  welthistorischen  Maskenspiels.  Man  geriert  sich  wie  ein 
antiker  Redner,  Philosoph,  Dichter,  man  phantasiert  sich  in  die  Rolle 
hinein,  man  spricht  seine  Umgebung  auf  die  angenommene  oder,  unter- 
gelegte Rolle  hin  an,  die  Kaiser  als  Cäsaren,  die  biederen  Ratsherren 
deutscher  Städte  als  römische  Senatoren,  die  Kollegen  in  der  Poesie 
und  Eloquenz  als  weltberühmte  und  die  Ewigkeit  in  der  Tasche 
tragende  Cicerone  und  Virgile.  Die  litterarischen  Gesellschaften,  die 
überall  aus  der  Erde  schießen,  gehören  wesentlich  mit  zum  Apparat 
dieser  Maskerade.  Freilich,  allzu  oft  widerspricht  die  Wirklichkeit 
dieser  Traumwelt;  um  so  erhitzter  wird  die  Beredsamkeit,  um  durch 


52  /,  3,    Der  Humanismtis  und  sein  Büdungsideai. 


superlativische  Ausdrücke  die  Wahrheit  der  Empfindung  und  den 
Glauben  zu  ersetzen.  Die  Beredsamkeit  liebt  den  Superlativ,  vor  allem 
die  römische;  so  viel  ist  er  nie  gebraucht  und  mißbraucht  worden,  als 
von  den  Oratoren  und  Poeten  des  Humanismus.  Ob  sie  Bewunderung 
oder  Abscheu  und  Entrüstung  ausdrücken,  und  eins  von  beiden  fließt 
immer  aus  ihrer  Feder,  ob  sie  Erasmus  und  Reuchlin  preisen,  oder 
einen  altmodischen  Gelehrten,  der  nicht  mitthun  will  oder  kann, 
schmähen,  immer  geschieht  es  in  Ausdrücken  des  bis  zur  Siedehitze 
gesteigerten  rhetorischen  Pathos. 

Hiermit  hängt  ein  weiterer  Zug  in  der  Physiognomie  des  Humanis- 
mus zusammen:  Schauspielerei  und  Ehetorik  sind  mit  Unwahrheit  nahe 
verwandt;  ein  Zug  von  Un Wahrhaftigkeit  geht  durch  die  humanistische 
Litteratur.  Zunächst  unwillkürlich  aus  dem  Schauspielerwesen  hervor- 
wachsend, steigert  er  sich  nicht  selten  zur  bewußten  Löge,  zur  ge- 
wollten Fertigkeit,  die  Dinge  nicht  zu  sehen,  wie  sie  sind.  Erst  als 
die  Reformation  hereinbricht  und  der  großen  Maskerade  ein  Ende 
macht,  schwindet  dieser  Zug;  die  Menschen  beginnen  die  Dinge  wieder 
ernsthaft  und  eigentlich  zu  nehmen. 

Endlich  hängt  noch  ein  Zug  hiermit  zusammen:  der  Mangel  an 
Humor.  Der  Humor  gedeiht  nur  auf  dem  Grunde  volkstumlicher 
Empfindung,  das  Mittelalter  ist  voll  davon,  seine  Religion,  seine  Rechte, 
seine  Dichtung,  seine  Schwanke;  man  getraut  sich  das  Ehrwürdige  und 
Ernste  einmal  von  der  lächerlichen  Seite  zu  nehmen,  weil  man  seines 
wesentlichen  Verhältnisses  zu  ihm  gewiß  ist;  der  „Schimpf"  kränkt 
nicht;  was  seiner  selbst  sicher  ist,  ist  nicht  empfindlich  gegen  die 
Scherzrede.  Der  humanistischen  Litteratur  ist  der  Humor  ganz  fremd. 
Witz  und  Stachelrede  ist  ihr  geläufig,  aber  das  fröhliche  Lachen  des 
Humors  ist  ihr  fremd.  Sie  ist  pathetisch-rhetorisch.  Aus  dem  Gefühl 
der  eigenen  Erhabenheit  blickt  sie  von  oben  herab  auf  die  Masse  und 
ihre  Thorheit;  deklamatorische  Moralpredigt,  epideiktische  Ausstaffierung 
eines  theatralisch-heroischen  Tugendideals,  pomphafte  Lobpreisung  der 
Gönner  und  Freunde  als  Helden  und  Weise,  oder  andererseits  boshafte 
Invektive  und  Satire,  frivoler  und  spöttischer  Witz  auf  Kosten  persön- 
licher oder  litterarischer  Gegner,  das  alles  sind  Formen  humanistischer 
Eloquenz.  Aber  die  Töne  des  Humors  fehlen  ganz.  Man  lacht  über 
alle  Dinge,  über  göttliche  und  menschliche,  nur  über  eines  vermag 
man  nicht  zu  lachen:  über  sich  selbst. 

Das  Prototyp  der  humanistischen  Bildung  ist  Petrarcha.  Sein 
Bild  hat  G.  Voigt  in  der  Geschichte  der  Wiederbelebung  des  Altertums 
mit  Meisterhand  gezeichnet  Der  Wohllaut  und  Rhythmus  der  klassischen 
Sprache,  Ciceros  Perioden  und  Virgils  Verse  hatten  Petrarchas  Herz 


Allgemeiner  Oharafäer  der  humanistischen  Litterattir,  58 

zuerst  den  Alten  gewonnen.  Er  verließ  die  barbarische  Jurisprudenz, 
um  ganz  mit  und  in  jenen  zu  leben.  Eine  unbedingte  Verachtung 
derer,  „mit  denen  ein  ungünstiger  Stern  zu  leben  ihm  beschieden", 
war  die  Kehrseite  seiner  unbedingten  Verehrung  der  Heroen  des 
Altertums.  Vor  allem  verachtete  er,  was  seine  Zeitgenossen  ihre 
Wissenschaft  und  Philosophie  nannten:  die  Theologie,  die  Philosophie, 
die  Jurisprudenz,  die  Medizin,  die  Astrologie.  Ganz  nichtig  und  in- 
haltlos erschienen  ihm  diese  Dinge  und  unwürdig  der  Teilnahme  eines 
Mannes,  der  zu  höherem  Leben  geboren  sei;  für  Knaben  und  Sophisten 
mögen  die  Schulwissenschaften  taugen,  jenen  zur  Übung,  diesen  zum 
Nahrungserwerb  und  Hochmut.  Und  was  ist  denn  des  Strebens  eines 
Mannes  würdig?  Petrarcha  antwortet:  die  Weisheit  und  die  Tugend 
und  dazu  als  drittes  die  Beredsamkeit,  durch  welche  die  Weish(iit  sich 
darstellt  und  zur  Tugend  führt.  Cicero  und  Plato  besaßen  sie,  nicht 
Aristoteles,  wenigstens  nicht  die  Beredsamkeit,  wenn  anders  die  Über- 
setzungen (Petrarcha  verstand  nicht  Griechisch)  nicht  ganz  irre  führen. 

Eines  von  diesen  drei  Dingen  hat  Petrarcha  ohne  Zweifel  erlangt: 
die  Beredsamkeit.  Von  der  Weisheit  und  Tugend  verstand  er  zum 
Entzücken  zu  reden,  aber  sie  blieben  in  seiner  Bede,  in  sein  Leben 
wollten  sie,  so  begehrenswert  sie  ihm  erschienen,  nicht  kommen.  Er 
pries  die  Einsamkeit,  er  schrieb  über  die  Verachtung  der  Welt,  er 
wußte  das  einfache  Leben  unter  friedlichen  Landleuten,  ohne  Begierden, 
ohne  Furcht,  ohne  Täuschungen,  die  Ruhe  und  Freiheit  eines  sich 
selber  genügenden  Lebens  mit  der  Natur  und  den  befreundeten  Büchern, 
zu  schildern  und  zu  preisen,  wie  niemand,  seitdem  die  Sprache  Virgils 
und  Horazens  verstummt.  Und  er  lebte  an  dem  Hof  von  Avignon, 
stets  bedacht,  durch  alle  geeigneten  Mittel  seine  reichen  Pfründen  zu 
mehren;  er  diente  dann  dem  Visconti  in  Mailand  als  Schaustück  und 
Prunkredner.  Er  schalt,  wie  ein  Moralprediger  und  Prophet,  die  Kleriker 
um  ihrer  Üppigkeit  und  Unenthaltsamkeit  willen;  er  selbst  war  Priester 
und  hatte  Konkubinen  und  Kinder,  für  die  er  aufs  neue  auf  die 
Pfründenjagd  ging.  Er  schalt  den  Wissenshochmut  der  Philosophen, 
und  stellte  ihm  die  sokratische  Weisheit  des  Nichtwissens  gegenüber;  aber 
es  erging  ihm  wie  dem  Diogenes:  durch  die  Löcher  seines  Philosophen- 
mantels blickt  überall  die  Eitelkeit  und  Selbstgefälligkeit 

Petrarcha  ist  ein  durch  und  durch  epideiktischer  Mann.  Von  sicli 
selber,  seinen  Empfindungen  und  Stimmungen,  seinen  Neigungen  und 
Abneigungen,  seinen  inneren  und  äußeren  Kämpfen  zu  reden  ist  ihm 
unwiderstehliches  Bedürfnis.  Die  mittelalterlichen  Philosophen  sind 
von  der  Sache  beherrscht,  ihr  Denken  und  Argumentieren  ist  ein  un- 
persönliches;  es   ist   fast  zufallig,   daß  wir  ihre  Namen   wissen.     Bei 


54  i,  3,    Der  Hufnanismus  und  sein  BüdungaideaL 


Fetrarcha  ist  die  Sache  der  Persönlichkeit  untergeordnet;  sie  ist  oft 
nur  Vorwand  von  sich  zu  reden  und  reden  zu  machen.  Nirgends  viel- 
leicht tritt  dies  deutlicher  hervor  als  in  seiner  Beteiligung  an  der 
Politik.  Er  hatte  sich  eine  historische  Dichtung  von  einer  heroischen 
römischen  Republik  zurechtgemacht  Ihre  Wiederherstellung  war  sein 
luftiges  Ideal,  Cola  Bienzi  sein  Held.  Als  dieser  gefallen  war,  rührte 
er  nicht  einen  Finger  für  ihn  und  seine  Sache;  daß  Worte  zu  Thaten 
verpflichten,  war  ein  ihm  völlig  fremder  Gedanke.  Er  suchte  sich 
einen  neuen  Helden,  an  den  er  die  Erzeugnisse  seiner  republikanischen 
Beredsamkeit  adressierte;  er  fand  Kaiser  Karl  lY.  dazu  geeignet;  der 
nahm  die  Reden  für  das,  was  sie  waren:  Worte.  Die  hochfiiegenden 
Träume,  sagt  Voigt,  waren  mehr  das  Produkt  seiner  Feder  als  seines 
Herzens.^ 

Dem  Bilde  des  Erzvaters  des  Humanismus,  wie  Petrarcha  bei  Voigt 
einmal  genannt  wird,  gleichen  die  Nachkommen.  Auch  sie  reden  viel 
von  Weisheit  und  Tugend,  auch  sie  verachten  die  Wissenschaft  der 
Fakultäten  als  nichtsnutziges  Schulgeschwatz.  Sie  lieben  es,  den  Zeit- 
genossen, besonders  dem  Klerus,  die  Sünden  vorzuhalten,  die  sie  selbst 
reichlich  und  täglich  begehen;  Hütten  stellt  die  Unzuchtsünden  der 
Leipziger  und  Kölner  Magister  an  den  Pranger,  sein  Freund  Eobaijüs 
schreibt  gegen  die  Trunksucht  In  ihren  Schriften  tragen  sie  gern 
den  Philosophenmantel,  sie  deklamieren  gegen  Üppigkeit  und  Eitelkeit, 
gegen  Luxus  und  Wohlleben,  das  Leben  findet  sie  an  den  Höfen  der 
Fürsten  und  Prälaten,  wo  sie  durch  litterarische  Dienste  und  Adulations- 
poesie  ihr  Brot  verdienen.  In  der  That,  sie  können  an  keinem  andern 
Ort  leben;  es  ist  der  einzige,  der  zur  Ausübung  ihrer  Kunst  Gelegen- 
heit giebt.  Ihre  Kunst  aber  ist  Poesie  und  Eloquenz:  sie  können,  so 
werden  sie  nicht  müde  zu  versichern,  durch  ihre  Poesie  und  Eloquenz 
Ruhm  und  Unsterblichkeit  verschaflfen,  wem  sie  wohlwollen,  oder  Übel- 
gesinnte in  Schmach  und  Schande  verstoßen.  Die  Italiener  sind  das 
Vorbild,   und  hier  hat  die  Sache,   begünstigt  durch  das  Naturell  des 


*  Als  Cola  Rienzi,  der  klassische  Tribuii,  die  römischen  Nobili  als  Feinde 
der  römischen  Freiheit  auszurotten  begann,  ermunterte  ihn  Petrarcha  durch 
seinen  Zuruf  in  diesem  Werk  fortzufahren.  Gleichzeitig  schrieb  er  an  einen 
dieser  Nobili,  den  Kardinal  Colonna:  „Wenn  das  Haus  auch  einige  Säulen  ver- 
loren hat,  was  schadet  es?  Bleibt  doch  mit  Dir  eine  feste  Grundlage;  Julius 
Caesar  war  allein  und  genug".  Villari,  Macchiavelli ,  I,  82.  Der  Verfasser, 
fügt  Villari  hinzu,  bemerkte  diesen  Widerspruch  kaum,  seine  Schriften  waren 
litterarische  Übungsstücke.  War  der  Gegenstand  gegeben,  so  lief  die  Feder 
hurtig  dahin  in  den  Spuren  Ciceros,  eifrig  bedacht  auf  die  harmonische  Kadenz 
der  Perioden. 


Allgemeiner  Charakier  der  humanistischen  Ldtteratur,  55 


Volkes  und  durch  die  öffentlichen  Verhältnisse  einen  großen  Zug.^ 
Die  deutsche  Imitation  ist  meist  langweilig  und  oft  wird  sie  plump; 
es  fehlt  dem  deutschen  Poeten  die  scharfe  Zunge  des  Italieners ,  es 
fehlt  dem  Lob-  wie  dem  Schmähgedicht  an  einem  aufhorchenden  Volk, 
es  fehlt  ihm  endlich  an  jenen  gewaltigen  Persönlichkeiten,  wie  die 
italienischen  Höfe  und  die  römische  Kurie  sie  boten.  Der  ehrsame 
Rat  einer  deutschen  Stadt,  ein  hausbackener,  vierschrötiger  Fürst  oder 
Bischof,  der  sich  auf  einen  guten  Trunk  sehr  viel  besser  als  auf 
lateinische  Verse  verstand,  sie  sind  wirklich  ein  undankbares  Objekt 
für  humanistische  Eloquenz  und  Poesie.  Um  so  plumper  und  härter 
tritt  denn  die  Absicht  zu  Tage. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  diese  Richtung  nicht  auf  der  indivi- 
duellen Neigung  der  Einzelnen  beruht,  die  uns  als  litterarische  Träger 
des  Humanismus  bekannt  sind.  Die  ganze  humanistische  Litteratur 
war  natürlich  nicht  möglich,  wenn  sie  nicht  einem  Bedürfnis  der  Zeit 
entgegenkam;  die  Litteraten  schufen  nicht  das  Bedürfnis,  sondern  sie 
empfanden  es  nur  zuerst  und  halfen  es  in  den  andern  durch  das  An- 
gebot der  Befriedigung  wecken.  Eine  leidenschaftliche  Freude  an 
der  epideiktischen  Rede  wurde  damals  in  der  Gesellschaft  allgemein. 
„Lateinische  Reden",  sagt  Villari  (Macchiavelli  I,  103),  „waren  da- 
mals so  sehr  in  Mode,  daß  man  sie  bei  Friedensschlüssen,  Gesandt- 
schaften und  allen  öffentlichen  und  privaten  Feierlichkeiten  niemals 
entbehren  wollte.  Jeder  Hof,  jede  Regierung,  bisweilen  auch  die  reichen 
Familien,  hatten  ihren  offiziellen  Redner.  Und  wie  man  heute  selten 
ein  Fest  ohne  Musik  begeht,  so  war  damals  eine  lateinische  Rede  in 
Poesie  oder  Prosa  die  beste  Unterhaltung  einer  gebildeten  Gesellschaft. 
Viele  davon  sind  gedruckt  worden,  aber  es  ist  nur  der  kleine  Teil. 
Die  italienischen  Bibliotheken  enthalten  noch  Hunderte  unedierter.  Und 
doch  finden  sich  in  all  diesem  Überfluß  niemals  Beispiele  wirklicher 
Beredsamkeit,  mit  Ausnahme  einiger  Reden  Pius'  IL,  welcher  nicht 
nur  um  der  Übung  willen  sprach."  —  Bei  einer  Fürstenversammlung 
zu  Wien  im  Jahre  1515  wurden  an  22  anwesende  Fürstlichkeiten  von 
17  Mitgliedern  der  Universität  22  lateinische  Begrüßungsreden  gehalten 
(Aschbach,  Wiener  Humanisten,  136). 

Es  ist  das  lange  aufgestaute  Bedürüiis,  das  sich  in  dem  Strome 
dieser  neulateinischen  Beredsamkeit  Luft  macht.  Im  Mittelalter  hatte 
man  das  Schweigen  und  die  Betrachtung  empfohlen,  das  Reden  stand 
nicht  in  großer  Schätzung.    Der  h.  Benedict  hatte  im  vierten  Kapitel 


*  Man  sehe  in  Bürckhardts  Kultur  der  Kcnaissancc  den  zweiten  Abschnitt 
des  ersten  Buchs. 


56  I,  3,    Der  Humanismus  und  sem  Büdungsideal. 


der  Regel  den  Brüdern  unter  den  Werkzeugen  der  guten  Werke  auch 
diese  genannt:  vieles  reden  nicht  lieben,  und  eitle  Worte  oder  die 
zum  lachen  sind,  nicht  reden.  In  diesem  Sinne  hatte  er  angeordnet, 
daß  über  Tisch  vorgelesen  werde,  damit  kein  Kaum  zu  müßiger  Unter- 
haltung bleibe,  und  daß  nach  dem  Eompletorium  niemand  mehr  ein 
Wort  rede,  bei  schwerer  Züchtigung.  Die  Statuten  der  deutschen 
Universitäten  schrieben  das  Lesen  über  Tisch  in  den  Kollegien  und 
Bursen  in  derselben  Absicht  vor.  Die  persönliche  Mitteilung  sollte 
zurückgedrängt,  die  Aufmerksamkeit  auf  dea  großen  und  wichtigen 
Gemeinschaftsbesitz  in  Wissenschaft  und  Glauben  konzentriert  werden. 
Im  Humanismus  erfolgt  die  Reaktion.  Die  persönliche  Mitteilung  und 
Aufzeigung  wird  zu  einer  ungemein  wichtigen  Angelegenheit,  die  Ent- 
wickelung  des  Briefschreibens  in  dieser  Zeit  ist  ein  Zeugnis  dafür. 
Auch  das  Nichtpersönliche  versucht  man  auf  individuelle  Weise  zu 
sagen;  die  Form  ist  es,  die  der  Einzelne  hinzuthut:  darum  wird  sie 
so  unermeßlich  wichtig.  — 

Über  die  litterarischen  Erzeugnisse  des  deutschen  Humanis- 
mus im  Zusammenhang  zu  handeln,  bleibt  der  Litteraturgeschichte 
überlassen;  ich  verweise  auf  die  älteren  Werke  von  Erhaed  und  Eülgen, 
femer  auf  Geigers  Geschichte  der  Renaissance,  Bürsians  Geschichte 
der  Philologie,  Goedekbs  Grundriß  der  deutschen  Litteratur.  Ich  ver- 
suche nur  eine  allgemeine  Charakteristik. 

Man  kann  die  humanistischen  Litteraturprodukte  in  zwei  Gruppen 
teilen:  1)  Werke  der  Redekunst,  2)  Anleitungen  und  Hilfs- 
mittel zu  ihrer  Hervorbringung. 

Zu  der  ersten  Art  gehören  vor  allem  die  Prunkreden;  sie  sind, 
wie  gesagt,  in  diesem  Zeitalter  bei  allen  öffentlichen  Feierlichkeiten 
unerläßlich:  bei  der  Einholung  und  Begrüßung  hoher  Personen,  beim 
Empfang  von  Gesandtschaften,  beim  Übernehmen  des  Rektorats,  beim 
Antritt  eines  Lehramts,  bei  einer  Promotion,  überall  sind  Reden  er- 
forderlich, die  das  Ereignis  und  die  Personen  verherrlichen.  Ebenfalls 
gehören  hierher  politische  Deklamationen  und  Exhortationen,  morali- 
sierende Ansprachen,  Reden  de  formando  studio  u.  s.  w.  Auch  historisch- 
patriotische Darstellungen  mit  epideiktischer  Tendenz  mag  man  hierher 
rechnen.  Endlich  sind  auch  die  Briefe  zum  Teil  rhetorische  Schau- 
stücke, von  vornherein  für  den  Druck  geschrieben.  Die  Bedeutung  dieser 
Werke  der  Redekunst  ist  überall  in  erster  Linie  die  Selbstdarstellung 
des  Redners,  er  zeigt  seine  Kunst,  seinen  Geschmack,  sein  Wissen. 
Dazu  kommt  meist  ein  besonderer  Zweck;  er  will  sich  an  einflußreicher 
Stelle  empfehlen,  für  sich  Stimmung  machen,  um  irgend  eine  Absicht 
zu  erreichen,  ein  Amt,  eine  Pfründe,  ein  Geschenk  oder  auch  bloß  ein 


Die  liUerarischen  Erzeugnisse  des  HuTnanismus.  57 


Gregenlob.  Der  Gegenstand  der  Rede  hat  eigentlich  bloß  die  Bedeutung, 
den  Sammelplatz  für  die  eleganten  Wendungen  und  guten  Einfalle  zu 
bieten.  So  wird  die  Beredsamkeit  der  italienischen  Humanisten  von 
BuKCKHABDT  (I,  272flf.)  Charakterisiert:  „Viele  benutzten  den  Anlaß  nur, 
um   neben   einigen  Schmeicheleien   für  vornehme  Zuhörer  eine  wüste 

Masse  von  Worten  und  Sachen  aus  dem  Altertum  vorzubringen. 

FiLELro's  meiste  Orationen  sind  ein  abscheuliches  Durcheinander  von 
klassischen  und  biblischen  Citaten,  aufgereiht  an  einer  Schnur  von  Ge- 
meinplätzen; dazwischen  werden  die  Persönlichkeiten  der  zu  rühmenden 
Großen  nach  irgend  einem  Schema,  z.  B.  der  Kardinaltugenden,  ge- 
priesen, und  nur  mit  großer  Mühe  entdeckt  man  bei  ihm  und  anderen 
die  wenigen  zeitgeschichtlichen  Elemente  von  Wert,  die  wirklich  darin 
sind.**  Von  den  Briefen  heißt  es:  der  Zweck  des  Briefschreibens  ist 
selten  die  persönliche  Mitteilung,  „man  betrachtete  es  vielmehr  als  eine 
litterarische  Arbeit  und  betrieb  es,  teils  um  seine  Bildung  zu  erweisen, 
teils  um  bei  den  Adressaten  Ruhm  zu  erwerben.  Zuerst  vertrat  der 
Brief  die  Stelle  der  gelehrten  Abhandlung,  —  —  später  wurden  die 
Briefe  zu  Sammelplätzen  eleganter  Wendungen,  durch  welche  man  die 
Untergebenen  zu  erheben  oder  zu  demütigen,  Kollegen  zu  beweih- 
räuchern oder  anzufeinden,  Höherstehende  zu  preisen  oder  anzubetteln 
versucht«."  ^ 

Die  zweite  Form  der  Eloquenz  ist  die  Poesie,  sie  ist  Beredsam- 
keit in  metrischer  Form.  Auch  sie  dient  Absichten  und  Zwecken;  der 
ostensible  Zweck  ist,  zum  moralischen  Leben  zu  ermuntern,  indem  sie 
die  Tugend  preist  und  das  Laster  in  seiner  Abscheulichkeit  darstellt; 
der  wirkliche  Zweck  ist  auch  hier,  wie  bei  der  Rede  in  Prosa,  die 
Selbstdarstellung  des  Dichters,  vielfach  auch  die  Förderung  persönlicher 
Absichten.  Wie  die  Eloquenz,  so  gilt  auch  die  Poesie  für  eine  erlern- 
bare Kunst;  und  das  bleibt  die  Voraussetzung  des  humanistischen  Schul- 
betriebs, wie  es  bis  ins  18.  Jahrhundert  dauert:  durch  fleißiges  Lernen, 
Sammeln  und  Üben  kann  jedermann  ein  Dichter  werden. 

Was  die  Erzeugnisse  dieser  Technik  anlangt,  so  giebt  es  Poesien 
in  allen  Formen  und  Metren,  lyrische,  didaktische,  beschreibende,  er- 
zählende, epische,  dramatische.  Eine  hervorragende  Stelle  nimmt  das 
Lobgedicht  ein;  man  macht  Lobgedichte  auf  Fürsten,  geistliche  Herren, 
Gelehrte,  Frauen,  auf  Städte  und  Universitäten,  auf  Kriegsthaten  und 
litterarische  Erzeugnisse;  wie  kein  Buch  in  die  Welt  geht  ohne  Wid- 
mung, so  auch  keines  ohne  einige  von  Freunden  beigesteuerte  Verse, 


*  Vgl.  auch  die  vortreflniche  Charakteristik  der  humanistischen  Litteratur 
bei  Voigt  II,  368  ff. 


58  ly  3,   Der  Humanis^nus  und  sein  BUdungsideal. 

die  an  der  Spitze  den  Verfasser  und  sein  Werk  preisen.  Das  Gegen- 
stück zum  Lobgedicht  ist  die  Satire  und  das  boshafte  Epigramm;  es 
ist  dies  die  Gattung,  in  der  die  humanistische  Poesie  wohl  ihre  wirk- 
samsten und  dauerndsten  Erzeugnisse  hervorgebracht  hat.  Mehr  der 
Schul  Übung  gehören  die  beschreibenden  und  erzählenden  Dichtungen 
au,  besonders  ist  die  poetische  Reisebeschreibung  beliebt.  Vielfach 
werden  auch  religiöse  Stoflfe  bearbeitet,  in  lyrischer,  epischer  und  drama- 
tischer Form.  Die  dramatische  Dichtung  gewinnt  großen  Umfang,  seit- 
dem die  Schäleraufführungen  in  Aufnahme  kommen;  es  wird  zur  An- 
standspflicht  des  Lehrers,  selber  das  Stück  für  die  Aufführung  zu  machen; 
der  Stoflf  wird  aus  dem  Altertum  oder  aus  der  biblischen  Geschichte 
entnommen;  die  Form  ist  in  den  römischen  Vorbildern  gegeben,  der 
Inhalt  ist  meist  moralisierende  Rhetorik. 

Um  doch  einige  Namen  zu  nennen,  so  ragt  unter  der  älteren 
Generation  der  humanistischen  Poeten  Deutschlands  viel  bewundert  hervor 
CoNBAD  Celtis,  Vorfassor  von  Oden,  Elegien  und  Epigrammen.  Unter 
den  jüngeren  wird  hochgepriesen  Eobanüs  Hessus,  dessen  leichte  und 
glückliche  Versifikation  Ebasmus  nicht  genug  zu  rühmen  vermag. 
Seine  christlichen  Herolden,  in  welchen  er  die  Heiligen  mitsamt  der 
Jungfrau  und  Gott  Vater  und  Sohn  selbst  sich  in  poetischen  Briefen 
unterhalten  läßt,  trugen  ihm  den  Namen  des  christlichen  Ovid  ein, 
wie  Celtis  mit  dem  Namen  des  deutschen  Horaz  geehrt  wurde.  Später 
wurde  Eobanüs  der  Schuldichter  des  Protestantismus,  seine  poetischen 
Übersetzungen  der  Psalmen  wurden  in  den  Schulen  gebraucht  Sein 
Landsmann  Eukiciüs  Cobdus  erlangte  durch  Epigramme  einen  Namen. 
Hebmannüs  Buschiüs  war  fruchtbar  in  Lobgedichten  auf  Personen 
und  Städte,  die  übrigens  auch  dem  Eobanüs  gelangen.  Ulbich 
V.  Hütten,  wie  alle  bisher  genannten  aus  dem  fränkisch-hessischen  Ge- 
biet stammend,  wurde  durch  Neigung  und  Talent  zur  Satire  und  In- 
vektive  geführt;  in  ihm  war  Kraft  und  Energie  mit  bedeutender 
Fähigkeit  der  Gestaltung  verbunden.  Im  Drama  versuchten  sich 
J.  Reüchlin  und  Jag.  Locheb,  doch  blieb  dasselbe  wesentlich  inner- 
halb der  Schul  Übung.  Eine  glückliche  Gabe  im  Versemachen  hatte 
auch  Jag.  Micyllüs,  er  hat  sie  besondei*s  in  beschreibenden  Gedichten 
geübt  Unter  der  letzten  Generation  der  Humanisten  hatten  als  Dichter 
einen  Namen  G.  Sabinüs,  ein  strebsamer  Hofpoet,  und  der  fruchtbarste 
von  allen  Nicodemüs  Fbischlin,  der  Dramen  und  Epen  in  großer 
Zahl  gedichtet  hat 

Diese  ganz  umfangreiche  neulateinische  Litteratur  in  Gedichten, 
Reden  und  epideiktischen  Darstellungen  ist  so  gut  wie  ganz  unter- 
gegangen.    Der  im  Bewußtsein  des  Volkes  lebenden  Litteratur  gehört 


Die  lilterariscfien  Erzeugnisse  des  Humanismus.  59 


von  all  den  bewanderten  und  gepriesenen  Poeten,  die  sich  und  ihre 
Gönner  des  ewigen  Nachruhms  zu  versichern  nicht  müde.werden,  keiner 
mehr  an,  es  sei  denn  Hütten  und  die  anonyme  Satire  der  Dunkel- 
männerbriefe. Der  Rest  führt  in  den  Litteraturgeschichten  ein  un- 
gewisses Schattendasein.  Woher  kommt  es,  daß^die  Lebenskraft  dieser 
Poesien  so  gering  war?  Zunächst  offenbar  darui^,  daß  sie  ihre  Wurzeln 
nicht  im  Volksleben  hatten.  In  fremder  Sprache^  geschrieben,  sind  sie 
von  vornherein  verurteilt,  innerhalb  des  Schulkreises  zu-bleiben;  aus 
einer  Welt  fremder  Gedanken  und  Anschauungen  stammend,  welken 
sie  wie  ein  exotisches  Gewächs,  das  in  dem  neuen  Klima  und  der 
fremden  Erde  nicht  gedeihen  kann.  Dazu  kommt  aber  ein  Weiteres. 
Diese  Poesie  ist  keine  wirkliche  Dichtung,  sie  ist  nicht  Natur-,  sondern 
Kunstprodukt,  sie  kommt  nicht  aus  dem  Herzen,  sondern  aus  dem  Kopf; 
nicht  der  Drang  zur  Offenbarung  des  innerlich  Erlebten  und  Geschauten, 
sondern  das  Verlangen,  seine  Virtuosität  zu  zeigen,  und  allerlei  zufallige 
Absichten  treiben  zu  ihrer  Hervorbringung.  Dauerndes  Leben  hat  aber 
allein  die  Dichtung,  die  frei  und  absichtslos  aus  dem  inneren  Erleben 
hervorbricht. 

Von  größerer  Dauer  und  Bedeutung  sind  die  Arbeiten  der  zweiten 
Art,  die  Hilfsmittel  der  Eloquenz,  obwohl  sie  von  jener  Zeit  eigent- 
lich nur  als  Mittel  zum  Zweck,  nämlich  der  Hervorbringung  von  eigenen 
poetischen  und  oratorischen  Produkten  angesehen  wurden.  Das  meiste, 
was  an  wissenschaftlichen  Leistungen  aus  der  Werkstatte  des  Humanis- 
mus hervorgegangen  ist,  gehört  hierher.  In  erster  Linie  stehen  die 
Ausgaben,  Kommentare,  Übersetzungen  der  griechischen  und  römischen 
Klassiker.  Erst  durch  diese  Arbeit  ist  das  Altertum  und  auch  die 
christliche  Entwickelung  geschichtlich  bekannt,  erst  damit  ist  überhaupt 
ein  wirkliches  geschichtliches  Bewußtsein  der  Menschheit  von  ihrem 
eigenen  Leben  möglich  geworden.  Fast  alle  Humanisten  haben  Anteil 
hieran,  allen  voran  Desidebius  Ebasmus;  das  lange  Vei*zeichnis  der 
von  ihm  besorgten  Ausgaben  heiliger  und  profaner  Schriftsteller  findet 
man  bei  Ebhaed  II,  615 ff.  Unter  den  jüngeren  Humanisten  haben 
Melanchthon,  Camebakiüs,  Wolf  u.  a.  durch  Ausgaben  und  Er- 
klärungen namentlich  auch  griechischer  Schriftsteller  sich  Verdienste 
erworben.  Unter  den  Übersetzern  griechischer  Autoren  ins  Lateinische 
mögen  noch  W.  Pibckheimer  und  Eobanüs  genannt  werden. 

Eine  zweite  Gattung  von  Arbeiten,  woran  fast  alle  Humanisten 
sich  beteiligten,  sind  die  Anleitungen  zur  Erzeugung  von  Werken  der 
Eloquenz:  Lehrbücher  der  Rhetorik,  Poetik,  Epistolographie. 
Celtis,  Aesticampianüs,  Hütten,  Erasmus,  Wimpheling,  Bebel, 
Mubmellius  u.  a.  sind  Verfasser  derartiger  Schriften.  —  Grammatische 


60  /,  3.    Der  Humanismus  und  sein  ßiläungsideal. 


Lehrbücher  und  Monographien  haben  Bebel  und  seine  Schüler  Bbassi- 
CANUs  und  Heinbichmann,  Büschiüs,  Caesabiüs,  Kemneb,  Cobvinüs, 
Melanchthon  u.  a.  in  großer  Zahl  geschrieben.  Lehrbücher  der  Sti- 
listik sind,  nach  dem  Vorgang  der  Elegantiae  des  Valla,  von  Ebasmüs, 
WiMPHELiNa,  Bebel,  Mübmelliüs  u.  a.  bearbeitet  worden,  auch  in 
der  Form  von  Antibarbaris.  Ebenfalls  für  den  Schulgebrauch  sind  die 
zahlreichen  Gesprächbüchlein  bestimmt,  unter  denen  des  Ebasmus 
CoUoquia  weitaus  die  größte  Bedeutung  und  auch  Verbreitung  hatten; 
viel  benutzt  wurden  auch  die  kleinen  Sammlungen  des  Mosellanus 
und  Mübmelliüs.  Endlich  gehören  hierher  die  Sammlungen  von 
Materialien  für  Werke  der  Eloquenz,  als  da  sind  Sprichwörter,  Sen- 
tenzen, Anekdoten  u.  s.  f.  Auch  hier  hat  der  unermüdliche  Ebasmüs 
weitaus  das  bedeutendste  geleistet:  seine  große  Sammlung  von  griechischen 
und  römischen  Sprichwörtern  ist  in  der  That  eine  erstaunliche  Leistung 
und  eine  unerschöpfliche  Fundgrube  für  den,  der  nach  der  römischen 
und  griechischen  Eloquenz  strebt.  Bebels  Facetien  repräsentieren  in 
der  Litteratur  des  deutschen  Humanigdnus  die  in  Italien  sehr  beliebte 
Gattung  von  Erzählungen  und  Anekdoten,  welche  miteinander  feine 
Latinität  und  elegante  Obscönität  lehrten  und  so  zum  guten  Gesell- 
schafter bildeten. 

Als  ein  fernerer  neuer  Litteraturzweig,  der  für  uns  besonderes 
Literesse  hat,  entstand  in  diesem  Zeitalter  die  Gymnasialpädagogik. 
Es  erschien  eine  überaus  große  Menge  von  Schriften,  die  sich  als  Rat- 
geber in  Sachen  der  Reform  der  gelehrten  Bildung  anboten,  eine  Er- 
scheinung, die  als  Symptom  jede  große  Wandlung  im  Kulturleben  der 
modernen  Völker  begleitet:  die  zahllosen  Schriften  unserei*  Tage  zur 
Gymnasialreform  entsprechen  den  Traktaten,  Reden,  Briefendes  16.  Jahr- 
hunderts de  formando  studio.  Das  Thema  aller  dieser  Schriften  ist: 
daß  der  Mangel  an  Eloquenz  Schuld  sei  an  allen  Übeln  in  der  Bildung 
und  den  Sitten  des  Klerus,  über  welche  auf  allen  Konzilien  und  Reichs- 
tagen geklagt  werde;  mit  der  Eloquenz  würden  auch  Weisheit  und  Tugend, 
die  mit  jener  unzertrennlich  verbunden  seien,  ihren  Einzug  halten. 

Auch  hierin  waren  die  Italiener  vorangegangen.  An  den  kleinen 
oberitalienischen  Höfen  ist  die  humanistische  Pädagogik,  mit  der  Praxis 
die  Theorie,  zuerst  ausgebildet  worden;  an  den  Söhnen  der  dortigen 
Dynasten  und  reichen  Familien  sind  ihre  Grundsätze  zuerst  versucht 
worden.  Ich  kann  auf  die  Schriften  und  das  Verfahren  der  Vebgeriüs, 
Vegiüs,  ViCTORiNus,  GüARiNüS,  die  alle  in  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahr- 
hunderts lebten  und  wirkten,  nicht  weiter  eingehen.^   Gemeinsame  Züge 

*  Man  sehe  Schmid,  Gesch.  der  Erziehung  TT,  2,  14 ff.;  oder  die  Artikel 
in  ScuMiDS  Encyklopädie. 


Die  hvmanwtische  Oymnasicdpädagogik,  61 


sind,  daß  ihnen  allen  als  die  erste  Aufgabe  des  Unterrichts  erscheint, 
durch  das  Lesen  und  Nachahmen  der  Alten  die  Fähigkeit  der  Rede 
zu  entwickeln;  hinsichtlich  der  Zucht  sind  sie  darin  einverstanden,  daß 
sie  von  Strenge  und  Schlägen  abmahnen,  dagegen  den  Ehrtrieb  und 
die  Begierde  sich  auszuzeichnen  zu  pflegen  und  benutzen  raten;  wozu 
denn  die  Wertschätzung  körperlicher  Übungen  und  höfischer  Sitte 
kommt  Man  sieht,  wie  bestimmt  der  Gegensatz  gegen  das  Mittelalter 
hervortritt,  welches  Schweigen  und  Demut  und  Abtötung  des  Fleisches, 
wenn  auch  nicht  überall  übte,  so  doch  als  Grundsatz  für  die  Erziehung 
festhielt  Allerdings  handelte  es  sich  für  jene  Italiener  nicht  um  die 
Erziehung  von  Mönchen  und  Klerikern,  sondern  von  Fürsten  und  Herren; 
aber  daß  die  Bildung  der  letzteren  nunmehr  als  Bildungsideal  allgemein 
hingestellt  wurde,  ist  eine  höchst  bemerkenswerte  Thatsache. 

Die  pädagogischen  Reformbestrebungen  der  deutschen  Humanisten 
folgen  im  ganzen  der  Richtung  der  Italiener;  sie  beschäftigen  sich 
aber  wesentlich  mit  der  Reform  des  gelehrten  Unterrichts  an  Schulen 
und  Universitäten,  entsprechend  der  Stellung  ihrer  Träger,  die  durch- 
weg Gelehrte  und  Professoren  waren.  Es  gab  in  Deutschland  noch 
keine  Höfe,  wie  zu  Ferrara,  Mantua,  Verona,  welche  sich  humanistische 
Oratoren  hielten  und  zu  Erziehern  ihrer  Söhne  machten;  vielleicht 
wäre  es  dazu  gekommen,  wenn  der  Humanismus  Zeit  gehabt  hätte, 
sich  einzuleben. 

Die  Zahl  der  humanistischen  Schriften  über  die  Studienreform  ist 
sehr  beträchtlich.  Es  giebt  wohl  kaum  einen  unter  den  namhafteren 
Humanisten,  der  nicht  Gelegenheit  genommen  hätte,  sein  Bildungsideal 
eines  Gelehrten  zu  beschreiben  und  den  Weg  zu  seiner  Verwirklichung 
anzuzeigen.  Besonders  forderten  akademische  Reden  bei  Übernahme 
einer  Professur  oder  des  Rektorats  dazu  auf;  es  wird  sich  im  Verlauf 
dieser  Darstellung  wiederholt  Veranlassung  finden,  auf  derartige  Reden 
einzugehen.  Hier  begnüge  ich  mich  die  beiden  bedeutendsten  Namen 
zu  nennen:  Wimpheling  und  Ebasmus. 

J.  Wimpheling  (1450 — 1528),  ein  Geistlicher,  der  dem  oberrhei- 
nischen Humanistenkreis  angehörte,  hat  in  mehreren  Schriften  Anleitung 
und  Hilfsmittel  für  die  Verbesserung  des  gelehrten  Unterrichts  gegeben.^ 
Eine  detaillierte  Anleitung  zur  Behandlung  des  lateinischen  Unterrichts 
wird  in  einem  kleinen  Büchlein  gegeben,  welches  1497  zum  ersten- 
mal  gedruckt  wurde:    es  führt  den   Titel    Isidoneus   Germanicus  (aus 

'  Über  ihn  handelt  P.  v.  Wiskowatopf,  J.  W.,  sein  Leben  und  seine 
Schriften  (1867).  Ein  Verzeichnis  seiner  Schriften  mit  Auszügen  bei  Ebhabd, 
I,  428  ff.  Die  pädagogischen  Schriften  jetzt  in  deutscher  Übersetzung  von 
Jos.  Freündoen,  Paderborn  1892. 


62  I,  3,    Der  Humanismibs  und  sein  Bildungsidtal, 


daoSoq  Uüd  vtoq  gebildet;  Wimpheling  war  des  Griechischen  unkundig, 
wie  er  Fol.  XV  bemerkt).  Er  geht  zuerst  den  grammatischen  Unter- 
richt durch;  er  setzt  die  Benutzung  des  Doctrinale,  die  er  billigt,  voraus, 
fordert  aber  die  wenigstens  vorläufige  Weglassung  mancher  genau  be- 
zeichneter Partien  und  vor  allem  die  Beseitigung  der  durch  allerlei 
spitzfindige  Quästionen  hin  und  wieder  ins  Maßlose  angewachsenen 
Kommentare.  So  habe  es  sein  verehrter  Lehrer  L.  Dkingenbebg  in 
der  Schlettstadter  Schule  gemacht:  das  Nötige  und  Nützliche  habe  er 
daraus  genommen,  aber  die  ganzen  durch  die  Industrie  der  Buchdrucker 
in  die  Welt  gesetzten  Glossen  und  Kommentare  ruhig  beiseite  ge- 
lassen (Fol.  VII).  Nach  einigen  Bemerkungen  aus  der  Stilistik  und 
über  schriftliche  Übungen,  geht  er  zu  der  sehr  lebhaft  ausgesprochenen 
Forderung  über,  daß  man  die  Schüler  zum  Lesen  der  Poeten  und 
Oratoren  führen  müsse,  wofür  er  eine  lange  Reihe  von  Zeugen  vom 
Apostel  Paulus  bis  herab  zum  Papst  Pius  II.  anführt  Die  Barbarei 
der  Deutschen,  wodurch  sie  den  Italienern  zum  Gespött  seien,  komme 
daher,  daß  sie,  statt  die  Poeten  und  Oratoren  zu  lesen,  bei  den  gram- 
matischen Kommentaren  hängen  blieben;  so  geschehe  es,  daß  einer 
nach  10-  oder  löjährigem  Studium  auf  die  Frage:  was  er  studiert  habe? 
nichts  zu  antworten  wisse  als:  die  beiden  partes  (des  Doctrinale).  Zur 
Lektüre  empfiehlt  er  unter  den  heidnischen  Poeten  Virgil,  Lucan,  Horaz, 
Terenz  und  Plautus,  doch  dringt  er  auf  die  Ausschließung  alles  Un- 
züchtigen, weshalb  Ovid.  Juvenal,  Martial  u.  a.  überhaupt  der  Jugend 
nicht  in  die  Hände  gegeben  werden  sollen;  unter  den  „Oratoren"  (Pro- 
saikern) nennt  er  Cicero  (Episteln,  de  amicitia,  de  senectute,  Officien, 
Tuskulanen),  Sallust,  Valerius  Maximus,  Seneca.  Unter  den  christlichen 
Prosaikern  empfiehlt  er  Ambrosius,  Hieronjmus,  Lactantius,  seinen 
Lieblingsschriftsteller  Fr.  Petrarcha,  L.  Aretinus,  Philelphus;  unter  den 
Dichtem  Prudentius  und  Sedulius,  zwei  römische  Dichter  des  4.  und 
5.  Jahrhunderts,  welche  Materien  aus  der  heiligen  Geschichte  und  der 
Theologie  poetisch  bearbeitet  haben,  sowie  den  Karmelitergeneral  Baptista 
Mantuanus  (gest  1516),  den  seine  Zeit  mit  dem  Namen  eines  zweiten 
Virgil  schmückte.  Wimpheling  nimmt  sich  dieser  christlichen  Dichter 
gegen  die  heidnischen  mit  großer  Entschiedenheit  an;  sie  ständen  diesen 
durchaus  nicht  nach;  aus  dem  Mantuanus  könne  der  Knabe  nunmehr 
lernen,  was  er  früher  aus  dem  Virgil  holen  mußte.  Er  bedauert  leb- 
haft, daß  auf  die  Erklärung  des  Martial  so  viel  Fleiß  verwendet  sei, 
auf  die  des  Prudentius  gar  keiner.  Es  sei  ihm  unbegreiflich,  wie  es 
geschehen  könne,  daß  unter  den  Italienern  so  bedeutende  Gelehrte 
mehr  Interesse  für  Fabeln  als  für  wahre  Geschichten,  für  das  Heiden- 
tum als  für  das  Christentum,  für  Namen  und  Thaten  der  Götter  und 


Die  htmuinistischs  Oymnastalpädofjogik,  63 


Göttinnen  als  Christi  und  der  heiligen  Jungfrau,  für  Unzucht  und 
Wollust  als  für  Heiligkeit  und  Barmherzigkeit  hätten  (Fol.  XIII). 
WiMPHELENG  erlebte  es  noch  wegen  dieser  Zaghaftigkeit  seines  Huma- 
nismus von  Jüngeren  als  überwundener  Standpunkt  behandelt  zu 
werden. 

Der  Zweck  der  Lektüre  ist  ihm  in  erster  Linie,  die  Sprache  zu 
lernen,  was  aus  der  Grammatik  nicht  möglich  sei:  Formenlehre,  Syntax, 
Prosodie,  Phraseologie  soll  an  den  Schriftstellern  eingeübt  werden;  in 
zweiter  Linie  soll  der  Schüler  aus  ihnen  Weisheit  und  Tugend  lernen. 
Von  dieser  doppelten  Absicht  wird  das  viel  genannte  und  zu  seiner 
Zeit  viel  gebrauchte  Schulbuch  beherrscht,  welches  Wimpheltng  dem 
Isidoneus  folgen  ließ:  die  Adolescentia,  zuerst  gedruckt  im  Jahre  1500. 
Man  könnte  es  den  Jugendfreunden  späterer  Zeit  vergleichen.  Es  ist 
ein  moralisches  Lehrbuch  in  lateinischer  Sprache,  das  in  der  kleineren 
ersten  Hälfte  Betrachtungen  über  die  moralische  Erziehung  enthält,  in 
der  größeren  zweiten  ein  Florilegium  von  Stellen  aus  älteren  und 
neueren  poetischen  und  prosaischen  Schriftstellern  über  Eloquenz,  Weis- 
heit und  Tugend,  mit  Proben  der  Interpretation  oder  Präparation.  — 
Erwähnt  mögen  noch  ein  paar  kleine  Schulschriften  Wimphelings 
werden:  Elegantiarum  Medulla  (um  1493)  und  Elegantiae  majores  (um 
1499),  worin  zum  Schreiben  eines  reineren  Lateins  Anleitung  gegeben 
wird;  sowie  de  arte  poetica,  eine  in  Versen  geschriebene  Unterweisung 
in  der  Verskunst. 

Wimpheltng  sieht  in  der  Verbesserung  des  gelehrten  Unterrichts 
das  große  Mittel  der  Reformation  des  Klerus.  Die  Unwissenheit  und 
Barbarei  erscheint  ihm  als  die  Hauptursache  jenes  von  ihm  überall  be- 
kämpften Krebsschadens  der  Kirche,  des  Konkubinats  der  Geistlichen. 
Weil  sie  weder  heilige  noch  profane  Schriften,  so  sagt  er  in  der  Dedi- 
kationsepistel  zum  Isidoneus,  lesen  oder  doch  nicht  verstehen  können, 
so  fehlen  ihnen  die  geistlichen  WafiFen  wider  den  Müssiggang  und  die 
Lüste  des  Fleisches  (vgl.  Wiskowatoff  S.  63,  126). 

Steht  WiMPHELiNG  noch  mit  einem  Fuß  im  Mittelalter,  so  ist  da- 
gegen Ebasmus  der  erste  große  Vertreter  und  Prediger  der  rein  huma- 
nistischen Bildung  in  Deutschland.  Auch  er  hat  sowohl  Reformpro- 
gramme als  Lehrbücher  für  den  verbesserten  Unterricht  geschrieben. 

Seine  allgemeinen  Anschauungen  über  die  Aufgabe  der  Erziehung, 
hat  er  in  der  Schrift  De  pueris  ad  virtutem  ac  literas  liberaliter  insti" 
tuendis  idque  protinus  a  natlvitate  (1529)  ausgeführt,  sie  ist  mit  den 
übrigen  auf  Erziehung  und  Unterricht  bezüglichen  Abhandlungen  im 
ersten  Bande  der  Leydener  Ausgabe  seiner  Werke  abgedruckt  Es 
sind  die  Grundsätze  des  Humanismus  darin  entwickelt;  die  ältere  Praxis, 


64  Ij  3.    Der  Hu/tnuais^nun  und  sein  BildungsideaL 

namentlich  die  mönchische  Erziehung  zur  Demut  mit  Schlägen,  wird 
mit  humanistischer  Rhetorik  und  allerlei  Anekdoten  der  Verachtung 
und  dem  Hohngelächter  preisgegeben.  —  Mehr  auf  den  Unterricht 
geht  eine  frühere  kleine  Schrift:  De  ratione  studii  (1512  erschienen, 
Opp.  I,  521 -—530).  Dieselbe  giebt  auf  wenigen  Seiten  die  Summe 
der  Gymnasialpädagogik  des  Erasmus,  ja  man  kann  sagen  des  deutschen 
Humanismus;  weshalb  ich  ihren  wesentlichen  Inhalt  in  der  Kürze  mit- 
teile. Man  kann  sie  als  das  Programm  ansehen,  an  dessen  Verwirk- 
lichung das  folgende  Jahrhundert  arbeitet. 

Zwei  Stücke,  so  beginnt  sie,  gehören  zur  Erkenntnis:  die  Sachen 
und  die  Wörter;  früher  ist  die  Erkenntnis  der  Wörter,  wichtiger  die 
der  Sachen.  Der  Unterricht  beginne  denmach  mit  der  Erlernung  der 
Sprachen,  und  zwar  beider,  der  lateinischen  und  der  griechischen,  denn 
80  eng  ist  die  Verwandtschaft  beider,  daß  sie  miteinander  schneller 
erlernt  werden,  als  jede  einzeln,  jedenfalls  als  Latein  ohne  Griechisch. 
Am  besten  föngt  man  die  Erlernung  mit  dem  lebendigen  Sprechen  an, 
lernen  doch  die  Knaben  die  Muttersprache  auf  diese  Weise  in  wenig 
Monaten.  Das  wird  am  leichtesten  durch  einen  Hauslehrer  geschehen, 
doch  muß  man  auch  in  der  Schule  lateinisch  reden,  wobei  man  sie 
unter  einander  sich  korrigieren  lassen,  auch  mit  kleinen  Belohnungen 
und  Bestrafungen  nachhelfen  kann.  Zugleich  giebt  man  einige  ganz 
kurz  gefaßte  grammatische  Regeln  und  schreitet  zur  Lektüre  eines 
Autors,  um  zu  den  Regeln  die  Beispiele  zu  haben.  Die  Lektüre  wird 
begleitet  von  Kompositionsübungen.  Ist  so  einige  Sprachfertigkeit  er- 
worben, dann  mag  man  eine  größere  Grammatik  nehmen;  Ebabmus 
empfiehlt  für  das  Griechische  in  erster  Linie  Th.  Gaza,  für  das  La- 
teinisch N.  Pebottüs.  Doch  bleibt  die  Hauptsache  Lektüre  und  Kom- 
positionsübung. Als  empfehlenswerte  Autoren,  durch  Reinheit  der  Rede 
und  Interesse  des  Inhalts,  werden  genannt  Lucian,  Demosthenes,  Hero- 
dot,  und  von  den  Poeten  Aristophanes,  Homer,  Euripides,  da  Menander 
leider  nicht  erhalten  sei.  Unter  den  Lateinern  sei  der  beste  Sprach- 
lehrer Terenz,  dem  man  ein  paar  von  Unzucht  freie  Komödien  des 
Plautus  hinzufügen  möge.  Virgil,  Horaz,  Cicero,  Caesar,  Sallust  kom- 
men hinzu.  Die  Erklärung  des  Lehrers  gebe  nur  das  zum  Verständnis 
der  Stelle  nötige,  schleppe  nicht,  wie  gegenwärtig  aus  falscher  Ambition 
geschehe,  alle  möglichen  Sachen  zusammen.  Sie  zeige  den  Zusammen- 
hang des  Sinnes  und  mache  auf  die  Schönheiten  und  Eigentümlich- 
keiten des  Ausdrucks  aufmerksam,  ziehe  auch  Ähnliches  herbei  und 
zeige  die  Quelle  an.  Zuletzt  ziehe  sie  die  moralische  Nutzanwendung 
aus  der  Fabel:  Orest  und  Pylades  zeigen  den  Nutzen  der  Freundschaft, 
Tantalus,  wie  schlimm  die  Begehrlichkeit.    Bemerkenswerte  Ausdrücke, 


Die  humaniatisdis  Oymnaftialpädagogik,  65 


fein  Gedachtes  und  Gesagtes,  ein  Sprichwort,  ein  Beispiel,  eine  Sentenz 
zeichne  der  Schüler  im  Text  mit  verschiedenen  Zeichen  an.  Auch 
mag  er  solche  auf  ein  Blatt  zusammenschreiben  und  dies  an  einen  Ort, 
wo  es  ihm  oft  vor  Augen  ist,  an  der  Wand  seiner  Stube,  auf  dem 
Deckel  seines  Buchs,  anbringen;  so  prägen  sich  die  Sachen  dem  Ge- 
dächtnis ein.  Daneben  wird  man  auch  kurz  gefaßte  Regeln  der  Rhe- 
torik, der  Poetik,  auch  der  Dialektik  geben.  Der  beste  Lehrmeister 
aber  der  Rede  bleibt  der  Schreibstift  Man  gebe  daher  häufig  Argu- 
mente zur  lateinischen  oder  griechischen  Bearbeitung,  einen  kleinen 
Brief,  eine  kleine  Erzählung,  eine  Argumentation,  ein  Lob,  einen  Tadel, 
ein  Gleichnis,  eine  Fabel  u.  s.  f.  Man  lasse  ein  Gedicht  in  Prosa  auf- 
lösen und  umgekehrt  Eine  vorzügliche  Übung  ist  die  Übertragung 
aus  dem  Griechischen  in  das  Lateinische.  Allmählich  überläßt  man 
ihnen  auch  mehr  und  mehr  die  Erfindung,  man  giebt  bloß  die  Auf- 
gabe: einen  Brief,  der  anmahnt,  abmahnt,  beglückwünscht  empfiehlt, 
tröstet;  eine  Rede,  Tadel  des  Cäsar,  Lob  des  Sokrates,  Reichtum  mache 
nicht  glücklich,  Uxorem  esse  ducendam  aut  non  ducendam,  M,  Horatium 
indignum  esse  supplicio  etc.  Doch  muß  man  den  Schülern  am  Anfang 
einige  Winke  geben  über  die  Ausführung. 

Eine  detaillierte  Anleitung  zur  Elo(j[uenz  giebt  Erasmus  in  der 
gleichzeitig  erschienenen  Schrift  De  duplici  copia  verborum  ac  rerum 
(Opp.  I,  3 — 110).  Die  copia  verborum  besteht  darin,  daß  man  syno- 
nyme, verwandte,  metaphorische  Ausdrücke  zu  finden,  die  copia  rerum 
darin,  daß  man  Argumente,  Beispiele,  Vergleichungen  u.  s.  f.  beizubringen 
und  auszuführen  versteht  Der  erste  Teil  geht  dann  die  einzelnen 
Formen  der  variatio  durch,  immer  mit  vielen  Beispielen:  die  variatio 
durch  Synonymie,  durch  Enallage,  dm-ch  Metapher,  durch  Allegorie, 
durch  Katachresis,  durch  Onomatopoeie,  durch  Metalepsis,  durch  Meto- 
nymie, durch  Synekdoche,  durch  AequipoUenz,  durch  Veränderung  der 
sprachlichen  Beziehung,  durch  Amplifikation,  durch  Hyperbel  etc.  Er 
zeigt  dann  die  Sache  an  einem  durchgeführten  Beispiel,  indem  er 
zwei  Sätze:  Taae  litter ae  me  nuigiwpere  delectarunt  und:  Semper  dum 
vioamy  tui  meminero,  jeden  in  mehr  als  150  verschiedenen  Wen- 
dungen wiedergiebt  Es  sind  die  beiden  Sätze,  auf  welche  Ebasmus 
durch  seinen  ausgedehnten  Briefwechsel  besonders  eingeübt  war,  aber 
allerdings  ist  der  Reichtum  und  die  Biegsamkeit  seiner  Sprache  eine 
ganz  erstaunliche.  Dann  folgen  in  langer  Reihe  formulae  statuendi, 
assentiendiy  dissentiendi,  precandi,  dubitandi  etc.,  Formeln,  welche  Not- 
wendigkeit, Möglichkeit,  Ziemlichkeit,  Nützlichkeit  etc.  ausdrücken, 
Formeln  und  Wendungen,  Komparativ  und  Superlativ  zu  variieren  etc. 
Der  zweite  Teil  lehrt  sodann  die  Dilatation  und  Locupletation,  welche 

Faulte n,  Unterr.   Zweite  Aufl.   I.  5 


66  Ij  3.    Der  Humanismus  und  sein  Bildungsideal, 


durch  Entwickelang,  Beschreibung,  Amplifikation,  loci  communes,  Bei- 
spiele, Gleichnisse  u.  s.  w.  geschieht 

Ein  spezielles  Gebiet  der  Eloquenz  behandelt  die  Schrift  De  ratione 
canscribendi  epistolas  (1520;  I,  345).  Es  ist  ein  humanistischer  Brief- 
steller, der  über  alle  beim  Briefschreiben  in  Betracht  kommenden 
Funkte  Auskunft  giebt  und  zugleich  Muster  eleganter  Ausführung  von 
Briefen  jeder  Gattung  darbietet.  Schon  früher  hatte  Erasmus  aus- 
gewählte Briefe  aus  seiner  wirklichen  Korrespondenz  zu  veröffentlichen 
begonnen.  In  den  Colloquia  familiaria,  welche  im  Jahre  1518  zum 
erstenmal  erschienen,  gab  er  ein  Schullesebuch,  dessen  Inhalt  Gespräche 
über  alle  möglichen  menschlichen  Angelegenheiten  bilden.  Über  den 
Zweck  desselben  hat  er  sich  in  einer  nachträglich  angehängten  Apologie 
ausgesprochen;  es  sei  ein  doppelter:  erst-ens,  spielend  ein  elegantes  Latein 
beizubringen,  zweitens,  zu  Lebensweisheit  und  guten  Sitten  anzuleiten. 
Da  aber  ein  gut  Teil  der  Lebensweisheit  darin  bestehe,  die  thörichten 
Begierden  und  die  unsinnigen  Meinungen  des  Haufens  zu  kennen,  so  habe 
er  Gelegenheit  geben  wollen,  diese  aus  seinem  Buch  kennen  zu  lernen, 
damit  man  nicht  der  Lehrerin  der  Thoren,  der  Erfahrung,  Lehrgeld 
zu  zahlen  nötig  habe.  Daß  das  Buch  dem  ersten  Zwecke  besser  an- 
gepaßt sei  als  dem  zweiten,  wird  Erasmus  freilich  vergeblich  bestreiten ; 
namentlich  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  geschlechtliche  Verhältnisse 
häufig  in  lasciver  Weise  behandelt  sind.  — 

Noch  füge  ich  über  die  Aufnahme  des  Griechischen  in  den 
Kreis  der  gelehrten  Studien  eine  Bemerkung  hinzu. 

Die  Kenntnis  der  griechischen  Sprache  war  im  Mittelalter  eine 
gelehrte  Seltenheit  Petrarcha  zählte  im  Jahre  1360  die  Italiener  zu- 
sammen, welche  des  Griechischen  kundig  seien:  in  Florenz  drei  oder 
vier,  einer  in  Bologna,  zwei  in  Verona,  einer  in  Sulmona,  einer  in 
Mantua,  keiner  in  Rom  (Voigt,  II,  107).  Noch  mehr  als  100  Jahre 
später  hätte  man  bei  einer  ähnlichen  Auszählung  in  Deutschland  nicht 
einmal  so  viele  zusammengebracht.  Die  älteren  Humanisten,  Celtis, 
WiMPHELTNG,  Bbbel,  verstanden  wenig  oder  gar  nicht  Griechisch. 
WiMPHEiiiNG  zählt  im  Isidoneus  (c.  25)  als  des  Griechischen  kundige 
Deutsche  auf:  R  Agricola,  J.  Dalbebg,  J.  Tbithemiüö,  J.  Capnion, 
C.  Celtis. 

Das  hat  nicht  gehindert,  daß  das  Mittelalter  sein  geistiges  Leben 
fast  ausschließlich  mit  den  Werken  griechischer  Denker  nährte.  Der 
Wissenschaftsbetrieb  an  einer  mittelalterlichen  Universität  bestand,  wie 
ein  Blick  in  die  Lektionsordnungen  zeigt,  fast  ausschließlich  in  der 
Erklärung  und  Aneignung  der  Schriften  griechischer  Philosophen, 
Mathematiker,   Astronomen,   Mediziner.     Man   las   sie   in  lateinischen 


DcL8  Stvdmm  des  GriecfiischefL  67 


Übersetzungen,  zum  Teil  recht  zweifelhafter  Art,  aber  wie  es  scheint  mit 
voller  Zufriedenheit  und  ohne  Verlangen  nach  dem  Original.  Das 
ist  vielleicht  nicht  so  befremdlich,  als  es  uns,  die  wir  durch  die  Schule 
gewöhnt  sind,  griechische  Autoren  viel  lieber  gar  nicht  als  in  Über- 
setzungen zu  lesen,  vorkommt  Das  Mittelalter  hatte  an  den  Schriften 
ein  auf  den  Inhalt  gehendes,  wissenschaftliches  Interesse;  es  wollte  aus 
ihnen  lernen  und  darum  genügte  ihm  die  den  begrifflichen  Inhalt 
wiedergebende  Übersetzung.  Für  die  ästhetische  Auffassung  wurde  da- 
gegen die  Form  und  damit  ^ die  Sprache  wichtig,  und  endlich  für  das 
philologisch-historische  Studium,  dem  die  Autoren  Objekt  und  nicht 
Subjekt  sind,  unentbehrlich. 

Die  beiden  großen  Propagatoren  der  griechischen  Sprache  in  Deutsch- 
land waren  Reüchltn  und  Ebasmus,  denen  als  Vorläufer  R.  Agricola 
hinzugefügt  werden  kann.  Sie  selbst  haben  die  Kenntnis  des  Griechischen 
noch  im  Ausland,  in  Italien,  Paris,  England  erworben;  als  Reüchlin 
1522  starb,  konnte  man  auf  jeder  deutschen  Universität  Griechisch 
lernen.  Von  dem  jung  gestorbenen  Agricola  sind  weitreichende  An- 
regungen in  das  nordwestliche  Deutschland,  namentlich  auch  durch 
Vermittelung  seines  Freundes ,  des  niederländischen  Schulmeisters 
Alexander  Hegiüs,  ausgegangen.^  Auch  Reuchlen  hat  weniger 
durch  Schriften,  als  durch  sein  einflußreiches  AVort  und  Beispiel  zur 
Ausbreitung  der  griechischen  Sprache,  „ohne  deren  Besitz  niemand  für 
ganz  gebildet  gelten  kann",  beigetragen.^  Am  Anfang  und  am  Ende 
seiner  Laufbahn  hat  er  auch  als  Universitätslehrer  in  Basel,  Ingolstadt 
und  Tübingen  Griechisch  gelehrt.  Den  bedeutendsten  Einfluß  hatERASMus 
geübt.  Durch  seine  litterarische  und  persönliche  Ubiquitüt  hat  er  zur 
Ausbreitung  des  Humanismus  überhaupt  und  der  Kenntnis  des  Griechi- 
schen im  besonderen  mehr  beigetragen  als  irgend  ein  anderer  Mann. 
Seine  Schriften  sind  fast  alle  direkte  oder  indirekte  Aufforderungen, 
Griechisch  zu  lernen.  Er  selbst  war  einige  Jahre  lang  Lehrer  der 
griechischen  Sprache  an  der  Universität  zu  Cambridge;  er  übersetzte 
dort  die  griechische  Grammatik  des  Theodorüs  Gaza  ins  Lateinische. 
Vor  allem  wichtig  war  aber  die  von  ihm  besorgte,  im  Jahre  1516  zu 


*  Ein  paar  Verse,  in  welchen  Heoius  die  Unentbehrliclikeit  der  Kenntnis 
dea  Griechischen  für  alle  wissenschaftlichen  Studien  ausspricht,  findet  man  in 
Pökels  Schriftstellerlexikon  S.  112.     Sie  schließen: 

Qui  Oraece  nescity  n^scit  quoque  dochis  haben. 
In  summa:    Qrajis  debentur  singula  doctis, 
'  Man  sehe  die  Dedikationsepistel,  womit  Reüchlin  dem  Kardinal  Adrian 
1518  eine  hebräische  Arbeit  widmete?  in  R.s  Briefwochsol ,   herausp^egeben  von 
Geiger,  S.  283. 

5* 


68  I,  8,   Der  Humanisnms  und  sein  Büdungsideah 


Basel  gedruckte  erste  Ausgabe  des  Neuen  Testaments  im  Originaltext, 
welcher  er  eine  eigene,  von  der  Vulgata  abweichende  lateinische  Über- 
setzung und  erklärende  Anmerkungen  hinzufügte.  Während  seinev«^ 
Lebens  erschienen  von  diesem  großen  Werk  noch  fünf  Ausgaben. 

Da  die  Ausbreitung  der  Kenntnis  der  griechischen  Sprache  ein 
besonders  geeigneter  MaSst^ab  für  die  Ausbreitung  des  Humanismus 
überhaupt  ist,  so  mögen  hier  einige  Mitteilungen  über  die  ersten  in 
Deutschland  gedruckten  Hilfsmittel  Platz  finden,  welche  ich  aus  Hora- 
wiTz'  griechischen  Studien  (Erstes  Stück,  Berlin  1884)  entnehme.  Eine 
ältere  Zusammenstellung  dieser  Litteratur  giebt  ein  Artikel  von  J.  Müller 
über  die  Zwickauer  Schulordnung  von  1523  in  den  Neuen  Jahrb.  für 
Philol.  und  Päd.  Bd.  120,  S.  476—486,  521—534. 

Die  Ijehrbücher  der  griechischen  Sprache  von  Lascaeis,  Chey- 
soLOBAs,  Th.  Gaza  waren  in  dem  letzten  Viertel  des  15.  Jahrhunderts 
in  Italien  wiederholt  gedruckt  worden.  Im  Jahre  1501  wurde  zu  Erfurt 
von  Wolfgang  Schenk  zum  erstenmal  in  Deutschland  mit  griechischen 
Lettern  gedruckt,  und  zwar  eine  Llaayfoyrj  nQoq  rcav  ygafAfAUTcav 
'EkXfjvcov  s*  Elementale  Introductorium  in  Ideoma  Graecanicnm,  und  Nie. 
Marschalks  Orthographia,  Die  beiden  kleinen  Schriftchen  geben  An- 
leitung zur  Kenntnis  der  griechischen  Buchstaben  und  vermittelst  dieser 
zum  Verständnis,  zur  Rechtsprechung  und  Rechtschreibung  der  zahl- 
reichen Eigennamen  und  Eunstausdrücke,  welche  aus  der  griechischen 
in  die  lateinische  Sprache  übergegangen  sind.  Die  Orthographia  ist 
1511  zu  Wittenberg  wieder  gedruckt  worden.  —  Zu  Tübingen 
erschien  1512  eine  Sammlung  von  G.  Simler,  dem  Schüler  Reüchlins, 
dem  Lehrer  Melanchthons,  verfaßter  Schriften  über  die  griechische 
Sprache,  darunter  das  wichtige  Isagogicon  s,  Introductorium  in  litteras 
Graecas,  die  erste  in  Deutschland  verfaßte  griechische  Sprachlehre;  sie 
ist  aus  den  eben  erwähnten  Grammatiken  der  Neugriechen  zusammen- 
gestellt und  mit  vielen  Beispielen  aus  den  Klassikern  ausgestattet.  — 
1514  kam  in  Straßburg  ein  kleines  Büchlein  heraus,  mit  dem  Titel: 
Elementale  Introductorium  in  Nominum  et  Verborum  declinationes  Graecas, 
Graecas  dictiones  cum  eorum  ckaracteribus,  accentibus  ac  vocum  moderamentis 
hie  insertas  offendas.  Item  Ilieronymi  Aleandri  Motten^is  tabulae  sane  utiles 
Graecarum  Musarum  adyta  compendio  ingredi  cupientibus,  Zector,  eme,  lege 
et  gaudebis,  1515  wurde  zu  Straßburg  die  Grammatik  des  Chrysoloras 
und  1516  zu  Basel  die  Grammatik  des  Th.  Gaza  abgedruckt.  In 
Leipzig  erschien  1516  von  R.  Crocüs  ein  Büchlein:  Tabulae  Graecas 
litteras  compendio  discere  cupientibus  sane  quam  utiles ,  dem  Rat  zu 
Leipzig  und  der  philosophischen  Fakultät  daselbst  gewidmet  und  von 
jenem  mit  einem  Privileg  gegen  Nachdruck  auf  vier  Jahre  versehen. 


Verhältnis  des  Humanismus  zur  Philosophie.  69 


In  demselben  Jahre  druckte  Fkoben  in  Basel  für  seinen  Sohn  eine 
griechische  Fibel:  Älphabetum  Graecum  mit  den  üblichen  Lesestücken: 
oratio  dominica,  Angelica  salutatio,  Symbolum  etc.  HoRAWiTZ  teilt  sodann 
noch  ein  üngedrucktes  griechisches  Gesprächbüchlein,  von  Reuchlin 
veri"aßt,  mit,  welches  eine  Anzahl  griechischer  Wöri;er  und  Wendungen 
mit  lateinischer  Übersetzung  enthält;  sowie  einen  kleinen  Traktat  über 
die  Dialekte.  —  Im  Jahre  1518  erschienen  zum  erstenmal  zu  Hagenau 
Melanchthon's  Institutiones  Graecae  grammaticae;  sie  folgen,  nach 
Müller,  wesentlich  der  Grammatik  Simlers.  Melanchthons  Lehr- 
buch wurde  das  hen*schende;  im  Corp.  Reform.  XX,  15 — 179,  wo  auch 
ein  Abdruck  sich  findet,  werden  44  Neudrucke  bis  zum  Jahre  1622 
aufgezählt.  Dasselbe  enthielt  übrigens,  ebenso  wie  die  vorhergehenden, 
zunächst  nur  die  Formenlehre.  Es  empfiehlt  sich  auf  dem  Titel  der 
ersten  Auflage  mit  den  Worten:  proderunt  haec  non  solum  Graeca  dis* 
centibus,  sed  iis  etiam,  qui  non  turpissime  Latina  tractare  conantur. 
Ich  schließe  hier  eine  allgemeine  Bemerkung  über  das  Verhältnis 
des  Humanismus  zur  Philosophie  und  den  Wissenschaften  an.  In 
gewissem  Sinne  steht  er  zu  ihnen  im  entschiedenen  Gegensatz.  Zu- 
nächst insofern,  als  er  die  herkömmliche  Universitätsphilosophie,  das 
heißt  aber  den  ganzen  Wissenschaftsbetrieb  der  Zeit  verachtet  und 
verabscheut:  Logik  und  Physik,  Metaphysik  und  Ethik,  wie  sie  aus 
den  aristotelischen  Texten  geschöpft  und  in  Vorlesungen  und  Dispu- 
tationen verarbeitet  werden,  sind  ihm  sinnloses  und  barbarisches  Ge- 
schwätz. Und  von  der  Jurisprudenz  und  Theologie  denkt  er  nicht 
viel  besser.  „Sophisten",  in  dem  verächtlichen  Sinne  des  Worts,  ist 
bei  den  Humanisten  die  ständige  Bezeichnung  der  Vertreter  des  über- 
lieferten Wissenschaftsbetriebs.  Wobei  denn  freilich  nicht  zweifelhaft 
ist,  daß  die  antiken  Sophisten  in  den  humanistischen  Poeten  und 
Oratoren  viel  eher  als  in  den  alten  Universitätsgelehrten  geistige  Ver- 
wandte erkannt  hätten:  die  humanistische  Prunkrede  gleicht  ihrer 
Kunst  viel  mehr,  als  die  schmucklose  BegriflFsentwickelung  der  alten 
Philosophen  und  Theologen.  ^ 


^  Hertzbero  giebt  in  der  Geschichte  Griechenlands  (1875),  III,  95  ff.  eine 
Beschreibung  der  Sophistik,  wie  sie  im  3.  Jahrhundert  zu  Athen  blühte  und 
die  Philosophie  mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund  drängte;  sie  paßt  ohne 
weiteres  auf  den  Humanismus  des  15.  und  16.  Jahrhunderts.  Was  das  Alter^ 
tum  bei  den  Sophisten  suchte  und  fand,  das  war  „formale  Bildung*^;  man  hatte 
seine  Freude  „an  der  kunstvollen  Deklamation,  an  den  großen  Paradestücken 
der  einheimischen  wie  der  wandernden  Sophisten,  die  durch  ihre  virtuose  Form, 
edle  Harmonie  der  Perioden,  rauschenden  Tonfall,  melodischen  Wohlklang, 
korrekten  Ausdruck  und  eingewebte  Worte  klassischer  Dichter,  seltener  dagegen 
durch  bedeutenden  Stoff  und  originelle  Gedanken  ausgezeichnet  waren^S    „Bei 


70  ly  3.    Der  Humanismus  und  sein  Bildungsideal. 


Aber  noch  in  einem  weiteren  Sinne  besteht  zwischen  dem  Humanis- 
mus und  der  Philosophie  und  Wissenschaft  ein  Gegensatz.  Wissen- 
schaftliches Denken  ist  durch  die  Richtung  auf  das  Objekt,  durch  die 
BinduDg  des  Gedankens  durch  den  Begriff  bestimmt.  Der  Humanismus 
empfindet  in  seinem  tiefsten  Innern  Abneigung  gegen  den  Begriff,  er 
will  nicht  die  Unterordnung  des  Subjekts  unter  die  Sache,  ihm  dient 
die  Sache  zur  Darstellung  des  Subjekts.  Er  ist  die  litterarisch-ästhetische 
Richtung,  im  Gegensatz  zur  philosophisch-wissenschaftlichen.  Man  kann 
die  ganze  Geschichte  unseres  geistigen  Lebens  durch  die  abwechselnde 
Vorherrschaft  dieser  beiden  Tendenzen  beschreiben.  Wie  in  einer 
Pendelbewegung  lösen  einander  philosophisch -wissenschaftliche  und 
litterarisch-poetische  Zeitalter  ab.  Die  zweite  Hälfte  des  Mittelalters, 
das  Zeitalter  der  Scholastik,  ist  durch  das  entschiedene  Übergewicht 
des  verstandesmäßigen,  schulgerechten  Denkens  gekennzeichnet;  es  folgt 
die  Renaissance  mit  ebenso  ausgesprochenem  Übergewicht  der  Phantasie- 
thätigkeit  im  künstlerischen  Schaffen  und  poetischer  Imagination,  die 
Humanisten  leben  in  ihrem  imaginierten  Altertum,  wie  in  einer  Traum- 
welt. Die  Reformation  leitet  den  neuen  Umschwung  ein;  die  theologische 
Arbeit  an  der  neuen  Dogmatik  führt  die  Scholastik  wieder  herauf;  zu- 
gleich beginnt  die  neue  mathematisch-naturwissenschaftliche  Forschung 
sich  zu  erheben,  aus  der  dann  die  neue  mathematisch  begründete  und 
in  mathematischer  Form  denkende  Philosophie  erwächst,  wie  sie  in  dem 
System  Spinozas  ihren  Höhepunkt,  in  dem  System  Che.  Woleps  ihre 
weiteste  Ausbreitung  erreicht.  Im  Zeitalter  der  Aufklärung  hat  die 
verstandesmäßige  Ansicht  aller  Dinge  das  absolute  Übergewicht  er- 
reicht. Aber  nun  kommt  wieder  der  Umschwung,  er  beginnt  mit 
Klopstock  und  Winckelmann,  Poesie  und  Kunst  erobern  wieder  die 
Herzen,  wirkliche  Poesie  und  Kunst,  nicht  jene  verstandesmäßige  Schul- 
poesie und  akademische  Kunst  des  späteren  Klassizismus;  in  dem  Neu- 
humanismus, in  Goethe  gipfelt  die  Welle,  in  der  Romantik  überstürzt 

aUen  amtlichen  Geschäften,  im  Reichs-  und  Gemeindedienst,  bei  allen  Prozessen, 
in  allem  freieren  geselligen,  im  beruflichen  und  litterarischen  Verkehr,  war 
wohlgeschulte  Wohlredenheit,  zierliche  Diktion  und  graziös-gewandte  Feder- 
führung** für  den  Gebildeten  eine  notwendige  Sache.  Die  Mittel,  diese  Dinge 
zu  lernen,  waren:  „das  Studium  der  Alten,  namentlich  der  großen  Historiker, 
Dichter,  Redner;  daran  sich  knüpfende  Übungen  und  Erörterungen  aller  Art, 
zuerst  philologisch-kritischer  Natur,  Pflege  der  Geschicklichkeit  aus  dem  Steg- 
reif zu  reden,  endlich  die  Anleitung  zu  selbständigen  größeren  Vorträgen,  die 
dann  von  dem  Professor  und  den  anderen  Zuhörern  geprüft  wurden;  die  Kjrone 
des  Unterrichts  waren  die  didaktischen  Vorträge  und  die  Paradestücke  des 
Professors«.**  Das  alles  paßt  auf  die  Oratoren  des  Humanismus,  als  ob  es  direkt 
über  sie  gesagt  wäre. 


Verhältnis  des  Humanismus  zur  Philosophie,  71 


sie  sich,  und  bringt  in  ScHELLma  und  Schopenhaueb  ihre  Philosophie 
hervor.  Der  Kückschwnng  des  Pendels  beginnt  mit  dem  neuen  Vor- 
dringen der  exakten  Forschung,  der  Verachtung  der  „Naturphilosophie", 
der  Entwickelung  der  Technik,  der  Zurückdrängung  der  idealistischen 
durch  eine  materialistische,  der  romantischen  durch  die  liberalistische 
Denkweise.  In  diesem  Sinne  also  kann  man  den  Humanismus  als 
eine  Evolution  der  „unwissenschaftlichen"  Richtung  des  Geistes  be- 
zeichnen. 

Andererseits  wäre  es  nun  freilich  thöricht  zu  sagen,  daß  dieses 
Zeitalter  für  die  Erkenntnis  der  Dinge  überhaupt  kein  Interesse  gehabt 
oder  nichts  geleistet  habe.  Mit  Recht  wird  von  den  Tagen  der 
Renaissance  das  „Wiederaufleben  der  Wissenschaften"  datiert;  die 
ganze  wissenschaftliche  Entwickelung  der  Neuzeit  hat  hier  ihre 
Wurzeln.  Das  gilt  unmittelbar  von  der  philologischen  und  historischen 
Forschung;  sie  ist  durch  den  Humanismus  zunächst  für  das  Altertum, 
dann  aber  auch  für  Christentum  und  Mittelalter  überhaupt  erst  er- 
öffnet worden.  Und  dieser  Arbeit,  die  freilich  nach  der  AuflFassung  des 
Mittelalters  und  des  Altertums  nicht  eigentlich  zur  Philosophie  und 
Wissenschaft  gehört,  als  welche  es  mit  dem  Allgemeinen  zu  thun  hat, 
verdankt  die  Neuzeit  das  helle  geschichtliche  Selbstbewußtsein,  wodurch 
sie  von  dem  in  unhistorischem  Bewußtsein  hindämmernden  Mittelalter  so 
bestimmt  geschieden  ist. 

Aber  auch  die  Philosophie  selbst  ist  nicht  leer  ausgegangen.  Zu- 
nächst wurde  sie  durch  den  Humanismus  vom  Joch  der  Autorität  be- 
freit; die  Herrschaft  des  Aristoteles  wurde  gebrochen,  und  mit  ihr 
zugleich  die  Herrschaft  der  Theologie  über  die  Philosophie.  In  der 
Erneuerung  der  platonischen  Philosophie  kommt  das  Streben  des 
modernen  Geistes  nach  selbständiger  Erfassung  der  Wirklichkeit  zu- 
erst zur  Erscheinung;  ein  zum  Poetisch -Phantastischen  neigender, 
naturalistischer  Pantheismus,  das  ist  die  Philosophie  der  Renaissance. 
Mit  Ablehnung  des  allzu  verständigen  Aristoteles,  mit  Anlehnung  an 
die  platonisch-neuplatonische  Spekulation,  wobei  denn  auch  manches 
Element  trüberer  Herkunft  Verwendung  findet,  sucht  man  eine  tiefere, 
in  das  Innerste  der  Dinge  reichende,  Makrokosmus  und  Mikrokosmus 
aufs  innigste  ineinander  schlingende  Erkenntnis  zu  gewinnen.  Diese 
Richtung  geht  durch  das  ganze  16.  Jahrhundert;  wir  finden  sie  schon 
bei  Cei/tis  und  Mütian,  bei  Reuchlin  und  Tbithemiüs,  bei  Agrippa 
VON  Nettesheim  und  Pabacelsus,  in  Giordano  Bruno  kommt  sie 
zum  bestimmtesten  Ausdruck.  Sie  bethätigt  sich  überall  darin,  daß 
sie  den  Mut  giebt,  neue  und  unerhörte  Ansichten  der  Dinge  zu  suchen. 
Auch  die  neue  kosmologische  Weltansicht,  die  kopemikanische,  steht 


72  I,  3,    Der  Humanismus  und  sein  Bildungsideal, 


damit  im  Zusammenhang.  Freilich  auch  all  die  okkultistisch-magischen 
Bestrebungen  dieses  faustischen  Zeitalters,  Astrologie,  Alchymie,  Magie, 
Mantik,  Spiritismus,  Zauber-  und  Hexenwesen;  es  ist  bemerkenswert, 
daß  die  Aufklärung  des  aufgeklärtesten  Humanisten  an  diesen  Dingen 
nirgends  Anstoß  nimmt;  ja  man  kann  sagen,  sie  hilft  dem  dämono- 
logischen  Spukglauben  durch  Erschütterung  des  Vorsehungsglaubens 
den  Weg  bahnen.  Aber  auch  hier  gilt,  daß  das  Staunen  der  Anfang  der 
Philosophie  ist.  Daß  man  sich  von  den  herkömmlichen  Meinungen 
über  die  Dinge  zu  den  Dingen  selbst  wendet,  das  ist  der  entscheidende 
Punkt;  und  hierauf  hat  ohne  Zweifel  der  Humanismus  hingewirkt 

Übrigens  hat  er  auch  dadurch  der  neuen  Wissenschaft  vor- 
gearbeitet, daß  er  die  wissenschaftliche  Arbeit  des  Altertums  in  ihrer 
ursprünglichen  Gestalt,  unabhängig  von  der  mittelalterlichen  Tradition, 
der  Zeit  wieder  zugänglich  machte.  Die  großen  Mathematiker  und 
Astronomen,  Peuebach,  Regiomontanüs,  Copebnicus,  waren  alle 
fleißige  Leser  und  zum  Teil  Bearbeiter  ihrer  griechischen  Vorgänger.  — 

Zum  Schluß  ein  Wort  über  das  Verhältnis  der  deutschen  Huma- 
nisten zum  Vaterland  und  zur  Kirche.  Es  ist  üblich,  ihren  Patrio- 
tismus zu  rühmen;  sie  selbst  hätten  ein  lebendiges  Gefühl  für  die 
Ehre  ihres  Volks  gehabt  und  dies  Gefühl  auch  breiteren  Kreisen  mit- 
geteilt —  Ohne  Zweifel  ist  es  wahr,  daß  bei  humanistischen  Schrift- 
stellern lebhafte  Äußerungen  derartiger  Gefühle  sich  häufig  finden, 
nicht  minder  auch  rhetorische  Deklamationen  über  das  Alter,  die  Vor- 
nehmheit und  Würde  des  deutschen  Volks.  Ich  meine  aber,  täuschen 
würde  sich,  wer  bei  ihnen  nun  volkstümliche  Denkweise  oder  auch  nur 
Verständnis  und  Empfindung  für  die  Eigenart  des  deutschen  Volkes 
suchen  wollte.  Sie  fehlen  nicht  allen,  bei  einem  Mann  wie  Wimphe- 
LiNG  oder  Beatüs  Rhenanüs  ist  wohl  etwas  davon  vorhanden,  bei 
den  Oberdeutschen  und  Schweizern,  wie  es  scheint,  häufiger  als  bei 
Mittel-  und  Niederdeutschen.  Dagegen  ist  bei  vielen,  oder,  man  muß 
doch  sagen,  bei  den  Humanisten  als  solchen  die  Geringschätzung  des 
Heimischen  ein  wesentlicher  Zug  in  der  geistigen  Physiognomie;  sie 
schämen  sich  der  Heimat  als  des  Landes  der  Barbarei.  Die  Sprache 
und  Dichtung  ihres  Volkes  ist  ihnen  ein  Gespött,  der  Reim  eine  Er- 
findung der  Goten  oder  Hunnen,  Baukunst  und  Bildnerei  ein  Erzeug- 
nis gotischer  Barbarei;  bis  ins  18.  Jahrhundert  bis  zu  den  Tagen,  da 
Goethen  die  Schönheit  des  Straßburger  Doms  aufging,  ist  „gotische"  Bau- 
kunst ein  Beiwort,  das  wegwerfendste  Verachtung  ausdrückt  Und  nicht 
anders  steht  es  mit  dem  heimischen  Recht  und  der  heimischen  Sitte: 
ein  AflFe  der  Franzosen  im  18.  Jahrhundert  war  dem  deutschen  Wesen 
nicht    mehr    entfremdet,    als   mancher  humanistische  Schwätzer  und 


Verhältnis  des  Humanismus  zu  Volkstum  und  Kirche.  73 


Schönredner.  Die  Abwerfung  des  heimischen  Nameps  ist  das  Symbol, 
daß  man  das  Land  der  Barbaren  hinter  sich  gelassen  und  in  dem  inter- 
nationalen Beich  der  Bildung  als  Burger  Aufnahme  gefunden  habe.  Daß 
in  diesem  Reich  der  Bildung  die  Italiener  die  erste  Rolle  spielen,  daß 
sie  die  deutschen  Ankömmlinge  nicht  als  gleichberechtigte  YoUbürger 
wollen  gelten  lassen,  der  Neid  und  Haß  hierüber  ist  es  eigentlich,  was 
den  humanistischen  „Patriotismus^'  aufstachelt  und  zu  zornigen  Dekla- 
mationen gegen  die  Welschen  begeistert.  Und  dieser  Patriotismus 
erhält  neue  Nahrung  durch  die  überall  sich  fühlbar  machende  Kon- 
kurrenz der  Italiener,  vor  allem  bei  der  Pfründenjagd,  und  über- 
haupt durch  die  Ausbeutung  Deutschlands  durch  die  römische  Kirchen- 
herrschafL  Abwerfung  dieser  Fremdherrschaft  und  Erzwingung  der 
Gleichstellung  in  der  Bildungsehre,  darauf  ist  der  humanistische  Patrio- 
tismus gerichtet.  Vom  Volksleben  dagegen  sind  sie  durch  ihren  sozial- 
aristokratischen Bildungshochmut  völlig  geschieden;  der  Gedanke,  das 
ganze  Volk  mit  der  neuen  Bildung  zu  durchdringen,  liegt  ihnen,  so 
viel  ich  sehe,  völlig  fern;  das  odi  profanum  vulgus  gehört  zum  Standes- 
charakter des  Humanismus  überhaupt.  Hoffartiger  hat  sich  schön- 
geistige Bildung  niemals  vom  Volk  losgelöst  als  in  den  Poeten  und 
Oratoren  der  Renaissance. 

Was  das  Verhältnis  des  Humanismus  zur  Kirche  anlangt,  so  ist 
neuerdings,  z.  B.  von  Hartfeldeb,  betont  worden,  daß  das  Verhältnis 
kein  feindseliges  gewesen  sei,  daß  viele  Humanisten  mit  der  Kirche 
in  gutem  Einvernehmen  gelebt  hätten.  Gewiß  ist  das  der  Fall;  mit 
Päpsten,  wie  Leo  X.,  mit  Bischöfen,  wie  Dalberg  und  Albrecht  von 
Mainz,  und  die  Zahl  der  Namen  könnte  sehr  vermehrt  werden,  lebten 
die  Oratoren  und  Poeten  auf  bestem  Fuß,  fanden  sie  doch  an  ihnen 
fireigebige  Gönner  und  Bewunderer.  Nur  wolle  man  die  Freundschaft 
weltlich  gesinnter  Kirchenfürsten  nicht  als  Zeugnis  für  christliche  Ge- 
sinnung auslegen.  Allerdings  giebt  es  unter  den  Humanisten  auch 
Leute,  die  zum  Christentum  ein  innerliches  Verhältnis  haben,  oder  um- 
gekehrt, Leute,  die  auf  dem  Boden  des  alten  kirchlichen  Christentums 
stehen  und  dabei  für  klassisches  Latein  und  auch  für  die  Weisheit 
und  Bildung  des  Altertums  Sinn  haben,  so  der  Straßburger  Kreis,  so 
später  Melanchthon  und  seine  Gesinnungsgenossen.  Dagegen  stehen 
die  Männer,  die  sich  selber  als  die  eigentlichen  Träger  des  neuen 
Geistes  vorkamen,  Ebasmus,  Mutian,  Hütten,  von  Celtis  und  den 
übrigen  fahrenden  Poeten  nicht  zu  reden,  dem  eigentlich  Christlichen 
gleichgültig  oder  feindselig  gegenüber.  Hierin  hat  Luther  sich  gewiß 
nicht  getäuscht.  Auch  fehlt  bei  ihnen  nicht  ein  Stück  Haß  gegen  die 
Kirche,  Haß  natürlich  nicht  gegen  die  Pfründen  verleihende,  in  glän- 


74  ly  4,    Die  humanistiscfie  Reformation  der  Universitäien, 


zendeD,  knnstliebenden  Höfen  sich  darstellende,  sondern  gegen  die  alte, 
christlich-volkstümliche  Kirche,  die  mit  ihren  Forderungen  und  Regeln 
den  humanistischen  Freigeistern  Leben  und  Glauben  beengte.  Der 
Haß  ist  die  Beaktion  gegen  den  Druck  klösterlich-kirchlicher  Disziplin, 
den  manche,  wie  Mcjtian  oder  Eeasmus,  selbst  erfuhren  oder  erfahren 
hatten.  So  leicht  die  Kirche  ihnen  das  Joch  machte,  so  blieb  doch  der 
Stachel  im  Herzen  und  sie  lassen  keine  Gelegenheit  vorüber,  von  den 
alten  kirchlichen  Ordnungen  mit  der  spöttischen  Miene  des  Libertinisten 
zu  reden.  Und  dasselbe  gilt  von  dem  Glauben  der  Kirche;  als  auf- 
geklärte Leute  fühlen  sie  sich  weit  darüber  erhaben.  Dabei  sind  Auf- 
klärung und  Libertinismus  durchaus  nicht  notwendig  ein  Hindernis 
für  die  äußerliche  Unterwerfung  unter  die  kirchlichen  Ordnungen;  die 
skeptische  Aufklärung  hat  zu  dieser  sich  allezeit  ohne  viel  Umstände 
bequemt,  wo  das  Bekenntnis  des  Unglaubens  mit  Nachteilen  verbunden 
war.  Von  einem  fahrenden  Poeten  wird  berichtet,  daß  er  auf  die 
Frage:  ob  er  an  die  Dreieinigkeit  glaube?  ohne  Besinnen  geantwortet 
habe:  lieber  als  brennen,  würde  ich  auch  an  die  Viereinigkeit  glauben. 


Viertes  Kapitel. 

Die  humanistisclie  Beformation  der  Universitäten. 

Ich  will  in  diesem  Kapitel  die  Umgestaltung,  welche  die  Univer- 
sitätsstudien  durch  die  humanistische  Bewegung  erfahren  haben,  an 
den  einzelnen  Universitäten  nachweisen.  Es  ist  dieser  Vorgang  bisher 
zu  wenig  beachtet  worden.  Über  dem  Widerstand,  den  einzelne  Ver- 
treter des  Humanismus  erfuhren  und,  als  sakrilegischen  Angriff  auf 
ihre  geheiligte  Person  und  Mission  beschrieen,  hat  man  übersehen, 
daß  die  Universitäten  in  sehr  erheblichem  Maß  dem  Geist  der  Zeit 
nachgegeben  hatten,  als  durch  den  Ausbruch  der  Kirchenrevolution 
die  weitere  Entwickelung  abgebrochen  wurde. 

Das  Verständnis  der  Kämpfe,  mit  welchen  die  deutschen  Univer- 
sitäten in  den  zwei  ersten  Jahrzehnten  des  16.  Jahrhunderts  erfüllt 
waren,  mag  eine  Skizze  von ^ 'dem  lieben  und  Treiben  einer  jener  Per- 
sönlichkeiten vorbereiten,  die  gleichsam  als  Pioniere  des  Humanismus 
der  geordneten  Ansiedelung  voraufgingen:  Petbus  Ludeb.^ 


'  Wattenbach  hat  in  Momes  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins, 
Bd.  XXn,  33—127,  XXIII,  21—89,  XXVII,  95—99  über  Luder  mit  dankens- 
werter Ausführlichkeit  gehandelt  und  eine  Anzahl  sehr  interessanter  Briefe  und 
Dokumente   aus  Handschriften   mitgeteilt    Die  Aufsätze  sind   auch  besonders 


Petnis  Luder,  75 


Ein  Pfälzer  von  Geburt,  hatte  Luder  auf  langer  Studienwander- 
sohaft  in  Italien  humanistische  Bildung  und  Lebensart  sich  angeeignet. 
Als  bejahrter  Mann  erschien  er  1456  wieder  im  Vaterlande.  Pfalzgraf 
Friedrich,  der  mäcenatische  Anwandlungen  spürte,  gab  ihm  einen  Ge- 
halt, wofür  er  in  Heidelberg  Poesie  und  Rhetorik  lehren  sollte.  Den 
Anschlag  und  die  Rede,  womit  Ludeb  der  Universität  sich  vorstellte, 
hat  Wattenbach  mitgeteilt.  In  jenem  wird  als  die  Mission,  welche 
der  Fürst  ihm  zugedacht  hab^  bezeichnet:  die  beinahe  gänzlich  in 
Barbarei  gesunkene  lateinisclNS^prache  an  der  Universität  wieder  her- 
zustellen, und  zwar  durch  Vorlesungen  über  die  Humanitätsstudien, 
das  ist  über  die  Bücher  der  Poeten,  Oratoren  und  Historiographen. 
Die  am  15.  Juli  1456  gehaltene  Antrittsrede,  so  viel  ich  weiß  die  erste 
derartige  Rede  an  einer  deutschen  Universität,  ihre  Nachfolgerinnen 
zählen  nach  Hunderten,  ist  eine  Lobrede  auf  eben  diese  Humanitäts- 
studien; besonders  ist  sie  bemüht  von  der  Poesie  den  Vorwurf  abzu- 
wenden, daß  dieselbe,  wie  ihre  Verfolger  sagen,  Buhlschafken  und 
Schandthaten  besinge.  Gewiß,  sagt  Ludeb,  das  ist  so;  aber  enthalten 
nicht  auch  die  heiligen  Schriften  solche  Din^?  „Wir  gewinnen  Rosen 
von  den  Domen  und  Gold  aus  dem  Kot."  -^  Die  Korporation  nahm 
den  Poeten  nicht  ohne  Mißtrauen  auf,  ob  es  sich  mehr  gegen  die 
Person  oder  gegen  die  Humanitätsstudien  richtete,  wird  nicht  ganz  aus- 
zumachen sein.  Aus  dem  bedeutenden  Ankauf  humanistischer  Bücher, 
welchen  die  Artistenfakultät  kurz  vorher  gemacht  hatte,  möchte  man 
auf  ersteres  schließen.  Daß  die  Persönlichkeit  Ludebs  einem  nicht 
ganz  Weitherzigen  einigen  Anstoß  geben  konnte,  geht  aus  den  von 
Wattenbach  mitgeteilten  Briefen  hervor:  die  chronische  Geldnot  und 
Borgsucht,  eine  spezifische  Poetenkrankheit,  wurde  den  Kollegen  nur 
zu  bald  bekannt  und  vielleicht  tröstete  nicht  jeden,  daß  die  Bitte  um 
ein  Darlehn,  meist  um  1  oder  2  fl.,  in  lateinischen  Versen  abgefaßt 
waröi/Auch  hinsichtlich  der  Buhlschaften  und  des  Zechens  hatten  die 
Bedenklichen  leider  nicht  unrecht  gehabt.  Nimmt  man  hinzu,  daß 
Ludeb,  der  schon  um  1430  in  Heidelberg  studiert  hatte,  noch  keinen 
akademischen  Grad  besaß,  so  scheint  es  in  der  That  nicht  notwendig, 
einen  Haß  gegen  die  Humanitätsstudien  bei  dem  würdigen  Professoren- 


gedruckt  (Karlsruhe  1860),  mit  einem  Anhang,  der  interessante  Stilübungen  aus 
einem  Kreis  von  Leipziger  Studierenden  enthält,  die  unter  humanistischen  Ein- 
flüssen standen;  man  sieht  daraus  namentlich  eins:  wie  sehr  galante  Abenteuer 
als  zur  eleganten  Latinität  gehörig  empfunden  wxirden;  auch  wer  sie  nicht  er- 
lebte, hielt  sich  doch,  als  ein  Mann,  der  nach  Bildung  strebt,  filr  verpflichtet,  sie 
zvL  erfinden,  um  Stoff  für  die  Darstellung  zu  haben.  Lüder  brauchte  übrigens 
nicht  zur  Erfindung  zu  greifen. 


76  /,  4.    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


koUegium  vorauszusetzen,  um  sein  Verhalten  gegen  den  Poeten  erklär- 
lich zu  finden,  der  mit  so  großem  Erheben  der  Stimme  sich  als  zu 
ihrer  Entbarbarisierung  gesendet  ankündigte.  Übrigens  widerfuhr  ihm 
nichts,  als  daß  er  1457  seine  Vorlesungen  in  das  Augustinerkloster 
zu  verlegen  sich  veranlaßt  sah,  was  er  in  einem  überaus  giftigen  An- 
schlag bekannt  machte  (Mone,  XXIII,  22).  Seine  Vorlesungen  scheinen 
jedoch  für  das  größere  Studentenpublikum  wenig  Anziehungskraft  ge- 
habt zu  haben.  Dagegen  gewann  er  unter  den  juristischen  und  theo- 
logischen Professoren  und  dem  hohen  Adel  einflußreiche  Gönner. 

Als  die  Universität  Heidelberg  des  Kriegs  halber  im  Jahre  1460 
sich  zerstreute,  zog  Luder  nach  Erfurt.  In  der  Matrikel  findet  er 
sich  als  Poet  {professus poesim)  eingeschrieben,  und  zwar  gratis,  aus 
Achtung.  Er  selbst  war  mit  der  Aufnahme,  die  er  fand,  außerordentlich 
zufrieden.  Hier,  so  schrieb  er  seinem  in  Heidelberg  zurückgebliebenen 
Freunde  Matthias  von  Kemnat,  Kaplan  des  Pfalzgrafen,  sei  er  bei 
gebildeten  Männern,  die  für  Wissenschaft  und  Litteratur  Verständnis 
hätten.  Mit  Freude  und  Stolz  habe  man  ihn  als  einen  vom  Himmel 
gesendeten  Mercurius  aufgenommen;  die  gesamte  Universität  habe  ihn 
durch  den  Rektor  bitten  lassen,  daß  er  ihr  die  Ehre  anthue,  ihr  Mit- 
glied zu  werden,  und  da  er  eingewilligt,  ihm  für  seine  Vorlesungen 
den  besten  Hörsaal  zur  Verfügung  gestellt.  Mehr  zu  sagen  verbiete 
ihm  die  Bescheidenheit.  Ofienbar  ist  das  mit  der  der  humanistischen 
Eloquenz  eigenen  Freiheit  in  der  Einkleidung  von  Thatsachen  erzählt, 
bei  anderen  Menschenkindern  würde  man  sagen:  aufgeschnitten.  Die 
Absicht  der  Aufischneiderei  ist  auch  ganz  durchsichtig;  er  fügt  mit 
naiver  und  man  möchte  sagen  liebenswürdiger  Oflenheit  gleich  hinzu: 
ohne  Zweifel  werde  er  hiernach  mit  großen  Ehren  und  vielem  Geld 
heimkehren;  darum  möge  Matthias  die  Gläubiger  vertrösten  und  seiner 
verlassenen  Thais  sich  annehmen. 

Trotz  des  Empressements  der  Erfurter  blieb  Lüdeb  nur  ein  Jahr. 
1462  taucht  er  in  Leipzig  auf  und  verkündet  hier  mit  derselben  Rede, 
die  er  schon  in  Heidelberg  gehalten  und  in  Erfurt  wiederholt  hatte, 
daß  das  Beich  der  Humanität  nahe  herbeigekommen  sei.  Und  am 
schwarzen  Brett  schlug  er  an:  wer  sich  dafür  interessiere,  eine  anstän- 
dige Ausdrucksweise  sich  anzuschaflen  und  die  abscheuliche  Barbarei 
abzuthun,  wer  nicht  länger  die  Ohren  der  Menschen  durch  sein  Küchen- 
latein beleidigen  wolle,  der  möge  seine  Vorlesungen  über  Terenz  an- 
nehmen, dreien  könne  man  umsonst  anwohnen.  Leider  begegnete  ihm 
in  demselben  Anschlag  ein  Grammatikaischnitzer,  und  so  groß  war  die 
Barbarei  der  Leipziger  nicht,  daß  sie  ihn  nicht  bemerkt  hätten,  mit 
Triumphgeschrei  stellten  sie  ihn  öffentlich  zur  Schau:  tres  lectionesinteresse! 


Conrad  CeUis.  77 


Ob  der  unglückliche  Accnsativ  oder  andere  Umstände  Ursache 
waren,  jedenfalls  blieb  Ludeb  nicht  lange  in  Leipzig.  1464  gaben  ihm 
die  Baseler  einen  Gehalt,  damit  er  an  ihrer  Universität  Poesie  und 
Rhetorik  lehre.  Zuletzt  erscheint  er  im  Dienst  Herzog  Sigismunds  von 
Österreich,  als  dessen  Bedner  er  unter  anderen  eine  Ansprache  an  den 
König  von  Frankreich  hielt.  ^ 

Es  hätte  kein  Interesse  gehabt  bei  Ludeb  zu  verweilen,  wenn  er 
nicht  eine  typische  Erscheinung  wäre.  AUe  die  Züge,  die  ihn  charak- 
terisieren, die  hochfahrende  Verachtung  der  alten  Wissenschaften  und 
ihrer  Vertreter,  die  renommistische  Anpreisung  der  neuen  Bildung,  die 
libertinistische  Zerfahrenheit  des  Lebens,  die  nicht  etwa  entschuldigt 
und  verborgen,  sondern  als  ein  Zeichen  der  Freiheit  des  Geistes  und 
einer  fortgeschrittenen  Bildung  in  Reden,  Briefen  und  Gedichten  auf- 
gezeigt wird:  alle  diese  Züge  bilden  den  Standescharakter  einer  ganzen 
Gruppe  fahrender  Humanisten,  welche  während  des  folgenden  halben 
Jahrhunderts  auf  den  deutschen  Universitäten  erscheinen. 

Auf  einer  höheren  Stufe,  geistig  und  gesellschaftlich,  stellt  Conrad 
Celtis,  ein  lebhafter  beweglicher  Gel^^t,  dem  es  weder  an  Blick  für 
die  Dinge  noch  an  poetischer  Begabung  fehlte,  doch  denselben  Typus 
dar.^  Eine  große  Meinung  von  der  eigenen  Begabung  und  seinem 
Beruf,  die  Menschen  zu  bessern  und  zu  bekehren,  nämlich  von  der 
Barbarei  zur  Bildung,  macht  die  Grundlage  eines  ungemein  gesteiger- 
ten Selbstbewußtseins  aus.  Der  Poet  fühlt  sich  als  den  göttlichen 
Seher,  dem  das  Gericht  aller  Dinge  übergeben  ist;  im  besonderen  ist 
er  der  Verwalter  des  Nachruhms.  Von  der  Höhe  seiner  Aufklärung 
blickt  er  mit  grenzenloser  Geringschätzung  auf  die  alte  Bildung  und 
ihre  Träger,  die  „Geschorenen",  die  Fakultätsinsassen,  den  Klerus  und 
die  Mönche,  herab;  für  sie  ist  ihm  keine  Beschimpfung  zu  grob.  Aber 
dieselbe  hochfahrende  Miene  zeigt  er,  wenn  er  meint  Grund  zur  Un- 
zufriedenheit zu  haben,  auch  seinen  Gönnern.    Als  der  Nürnberger  Bat 


*  Erwähnt  werden  mag  hier  auch  der  Name  eines  anderen  gleichzeitigen 
Apostels  der  Poesie,  welchen  Wattenbach  ans  Licht  gezogen  hat,  dem  fahrenden 
Bettelpoeten  allerdings  nicht  zur  Ehre:  Samuel  Karoch  von  Lichtenberg,  in 
MoNES  Zeitschrift  XXV,  38 — 50.  Er  taucht  in  Leipzig,  Erfurt,  Ingolstadt  und 
Heidelberg  auf. 

*  Eine  vortreffliche  Charakteristik  des  Mannes  giebt  F.  v.Bezold  in  v.  Sybels 
Histor.  Zeitschrift,  Bd.  IL.  Als  Konrad  Pickel  ist  er  zu  Wipfeld  in  Franken 
1459  geboren;  seinem  Vater,  einem  Weinbauern,  entlaufen,  machte  er  seine 
Stadien  seit  1477  zu  Köln,  später  kürzere  Zeit  zu  Heidelberg.  Nach  langen 
Wanderjahren,  die  ihn  durch  Italien,  Deutschland,  Polen  führten,  lehrte  er, 
seit  1487  der  erste  poeta  laureatus  Deutschlands,  kurze  Zeit  zu  Ingolstadt,  dann 
von  1497  bis  zu  seinem  Tode  1508  in  Wien. 


78  I,  4,    Die  kumanistviche  Reformalion  der  Universitäien. 


ihm  für  seine  Lobschrift  auf  die  Stadt  Nürnberg  mit  einem  Geschenk 
von  8  fl.  dankte,  machte  er  darauf  ein  Epigramm: 

Octonos  mihi  Noricus  senatus 
Magni  ponderis  aureos  dicavit, 
Quos  missos  merito  sed  ipse  sprevi. 

Später,  nach  Überarbeitung  der  Schrift,  geschickte  20  fl.  —  etwa 
dem  Jahresstipendium  eines  artistischen  Magisters  entsprechend  —  nahm 
er  wenigstens  an,  wenn  auch  nicht  mit  Dank.  Überhaupt  ist  er,  wie 
alle  Poeten,  mit  seiner  Zeit  und  Umgebung  sehr  unzufrieden;  die 
schlechten  Künste,  Juristeri  und  Medizin  und,  leider,  auch  Theologie, 
die  stehen  im  Ansehen  und  nähren  ihren  Mann;  die  Musen  müssen 
betteln  gehen  und  werden  mit  dürftiger  Gabe  abgefunden.  Den  Rat 
aber,  eine  nährende  Kunst  zu  lernen  und  zu  üben,  weist  er  weit  von 
sich;  als  Poet,  als  freies,  souveränes  Individuum  verachtet  er  alles,  was 
das  Leben  bindet,  Beruf  und  Familie,  Seßhaftigkeit  und  Sitte.  Einem 
Poeten  ziemt  ein  freies  Leben,  Wandern,  Weiber,  Wein  —  und  Schulden, 
sie  sind  das  Element,  wie  seiner  Dichtung,  so  seines  Lebens;  sie  sind 
auch  sein  Verhängnis  geworden,  wie  so  manches  andern  Poeten.^ 

Ich  erinnere  nochmals  daran,  daß  durchaus  nicht  alle  Träger  der 
neuen  Bildung  diesem  Bilde  gleichen.  Die  Agricola,  Reuchlin, 
Erasmüs,  Wimpheltng,  Melanchthon  sind  ehrbare  und  ernsthafte, 
der  Arbeit  mehr  als  dem  Lebensgenuß  zugewendete  Gelehrte;  und  sie 
sind  es  schließlich  gewesen,  denen  der  Humanismus  seine  Erfolge 
verdtinkt,  sowohl  die  nächsten,  das  Durchdringen  im  gelehrten  Unter- 
richt, als  die  entfernteren,  die  Umgestaltung  der  historischen  Welt- 
anschauung unter  dem  Einfluß  der  geschichtlichen  Erforschung  des 
Altertums  und  des  Christentums.     Aber  in  jener  Gestalt,   in    der  Er- 


*  An  H.  BüscHiüs,  einen  der  eifrigsten  Propagatoren  des  Humanismus, 
Strauss  nennt  ilm  sogar  den  Missionär  desselben  in  Norddcotschland ,  schrieb 
Trithemids  im  Jahre  1506  einen  Brief  nach  Leipzig,  worin  er  ihn  mit  freund- 
schaftlicher Eindringlichkeit  mahnt,  von  seiner  libertinistischen  Lebensweise 
abzulassen:  ,,flieh  alle  Seuchen  der  Seele,  vor  allem  den  Wein  und  die 
Weiber,  wer  mit  ihnen  zu  viel  sich  einläßt,  dem  geht  alle  Kraft  zu  Grunde, 
der  Sinn  wird  stumpf  und  Schande  folgt  Schone  deine  Augen,  welche  du 
durch  jene  beiden  Ursachen  mit  Wissen  und  Willen  ruiniert  hast,  so  daß 
sie  triefend  und  rot  sind;  schone  das  Vermögen,  welches  du  mit  Unterricht 
mühevoll  erwirbst,  daß  du  nicht  im  Alter  betteln  gelien  müssest.  Nimm  diese 
Ermahnung  nicht  übel,  denn  du  weißt,  daß  ich  dir  wohl  will.  —  Es  ziemt  sich 
nicht  für  einen  gebildeten  Mann,  und  wenn  er  auch  ein  Poet  ist  (etiamsi 
poeta  Sit),  in  Unzucht  und  Trunksucht,  in  Weichlichkeit  und  Üppigkeit  zu 
leben"  (Trithemii  opera  II,  48  ff.).  Das  etiamsi  sagt  soviel  als  eine  lange 
Statistik.  — 


Die  ühiversitäi  Erfurt.  79 


scheinung  fahrender  Poeten  und  Oratoren  hat  der  Humanismus  sich 
den  alten  Universitäten  zuerst  vorgestellt  und  mit  stürmischer  Forderung 
verlangt,  daß  ihm  die  alten  Studien  den  Platz  räumen  sollten.  Übrigens 
haben  sie  doch  auch  gemeinsame  Züge:  Verachtung  der  herrschenden 
Schulweisheit  und-  ihrer  Träger,  der  Universitätsgelehrten  und  Kloster- 
insassen, aristokratischer  Bildungshochmut  und  Verachtung  der  Masse 
und  ihrer  geistigen  Welt  sind  Erasmus  nicht  minder  eigen  als  Celtis 
und  BüscHiüs.  Wegwerfung  der  ganzen  alten  Bildung  zu  Gunsten 
einer  neuen,  aus  dem  Altertum  zu  schöpfenden  fordert  er  so  entschieden 
wie  sie.  Der  Sturm,  den  die  jungen  Poeten  im  zweiten  Jahrzehnt  an 
allen  Punkten  auf  die  Universitäten  eröffnen,  geschieht  unter  seinem 
und  Beüchlins  Namen.  — 

Der  Humanismus  ist  von  Süden  und  Westen  her  in  Deutschland 
eingedrungen;  die  alten  Universitäten  Wien  und  Heidelberg,  sowie  die 
in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  im  südwestlichen  Deutsch- 
land neubegründeten  Universitäten  sind  daher  zuerst  von  der  Bewegung 
ergriffen  worden.  Dennoch  will  ich  nicht  mit  ihnen,  sondern  mit  den  drei 
großen  mitteldeutschen  Universitäten,  Erfurt,  Leipzig  und  Wittenberg, 
die  folgende  Übersicht  beginnen.  Auf  ihnen  sind  die  großen  Schlachten 
zwischen  den  Poeten  und  den  Sophisten,  wie  von  jenen  die  Vertreter 
der  mittelalterlichen  Philosophie  und  Theologie  regelmäßig  genannt 
werden,  geschlagen  und  von  den  Poeten  gewonnen  worden. 

Erfurt  führt  den  Reigen.^  Die  Universität  war  um  die  Mitte 
des  15.  Jahrhundei'ts  eine  der  besuchtesten  und  bedeutendsten  unter 
den  deutschen  Universitäten,  wenn  auch  Luthers  bekanntes  Wort,  daß 
die  übrigen  zu  ihr  wie  Schützenschulen  sich  verhalten  hätten,  eine 
starke  Übertreibung  ist  W^ie  es  scheint,  war  ein  eigener  Geist,  der 
sich  freier  in  der  Theologie  und  Rechtswissenschaft  versuchte,  hier  ein- 
heimisch. Als  der  erste  einheimische  und  seßhafte  Magister,  *der  huma- 
nistische Bildung  besaß  und  nicht  ohne  bedeutende  Wirksamkeit  lehrte, 
tritt  uns  Maternus  Pistobis  entgegen,  ein  Elsässer,  Schüler  des 
J.  Tbutvettee,  der  auch  Luthers  Lehrer  war.  Im  Jahre  1494  war 
er  Magister  geworden  und  lehrte  seitdem  Poesie  und  Eloquenz,  vorzugs- 
weise römische  Dichter  erklärend.  Neben  ihm  ist  Nikolaus  Marschalk 
zu  nennen,  der  auch  des  Griechischen  kundig  war.  Um  Mateknus  sam- 
melte sich  allmählich  eine  kleine  Schar  von  Schülern,  unter  denen 
Cbotus  Rubeanüs,  Petkejüs  Ebebbach,  Eobanüs  Hessus  waren.  Wie 


^  Kampschultes  vortreffliches  Werk  über  die  Universität  Erfurt  in  ihrem 
Verhältnis  zu  dem  Humanismus  und  der  Reformation  giebt  eine  zuverlässige 
and  durchsichtige  Darstellung  dieser  Bewegungen. 


80  /,  •/.    Die  kunianistische  Reformation  der  Universitäten. 


ihr  Lehrer,  so  trieben  auch  sie  friedlich  neben  der  Poesie  die  Schul- 
philosophie. 

Das  wurde  anders,  seitdem  auf  den  Kreis  der  jungen  Poeten  ein 
Mann  Einfluß  gewann,  der  in  dem  benachbarten  Ootha  als  Kanoniker 
lebte:  Conrad  Muth,  genannt  Mütianus  Rüfus.  Dieser  Mann  hat, 
obwohl  er  als  Schriftsteller  sich  gar  nicht  hat  vernehmen  lassen,  für 
die  ganze  Bewegung  nicht  geringe  Bedeutung.  Sein  erst  vor  einigen 
Jahren  gedruckter  Briefwechsel  ist  ein  überaus  charakteristisches 
Denkmal  des  Denkens  und  Empfindens  eines  der  fortgeschrittensten 
unter  den  deutschen  Humanisten.  Er  tritt  uns  hier,  wo  er  sich  seinen 
jungen  Freunden  gegenüber  ganz  giebt,  wie  er  ist,  als  vollständiger 
Freidenker  entgegen.  Das  geistliche  Amt  ist  ihm  als  Versorgung  wert, 
es  bietet  dem  nach  langer  Wanderfahrt  Heimkehrenden  behagliche 
Muße;  Beata  Tranquillitds  schrieb  er  über  den  Eingang  seines  Wohn- 
hauses zu  Gotha.  Leider  sind  einige  lästige  Verpflichtungen  mit  dem 
Amt  verbunden,  die  sich  auf  die  Dauer  nicht  ganz  abwälzen  lassen; 
er  muß  die  Fastengebote  halten,  die  Messe  lesen  (freilich  hat  er  die 
erste  erst  zehn  Jahre  nach  dem  Antritt  des  Kanonikats  gelesen)  und 
zu  den  Gottesdiensten  im  Chor  erscheinen;  er  spricht  oft  mit  bitterer 
Indignation  davon,  daß  ein  gebildeter  Mann,  wie  er,  zu  so  gemeinen 
Leistungen  verurteilt  sei:  „Unter  all  den  stupiden  Tieren  werde  auch 
ich  zu  einem  trägen  und  stumpfen  Esel,  mein  Latein  und  die  Gabe 
gebildeter  Unterhaltung  ist  mir  in  dem  Geschrei  unter  den  Eseln,  mit 
denen  ich  zusammengejocht  bin,  abhanden  gekommen."  Selbstverständ- 
lich hindert  ihn  das  nicht,  nach  weiteren  Pfründen  fleißig  Umschau 
zu  halten.  Seine  Philosophie  ist  ein  naturalistischer  Pantheismus,  er 
hat  in  Italien  den  dortigen  synkretistischen  Renaissancepiatonismus 
eingesogen.  Gegen  die  Kirche,  ihre  Lehre  und  ihren  Kult,  nimmt  er 
sich  für  seine  Person  die  Freiheit  der  Geringschätzung  heraus.  Von 
der  Masse  allerdings  fordert  er  Respekt  für  dieselbe  Kirche  und  er 
tadelt  Reüchlin,  daß  er  öffentlich  allzu  frei  über  sie  geredet  habe: 
„Er  hätte",  so  heißt  es  in  einem  Brief  vom  Jahre  1513  (Krause  S.  353) 
„bescheidener  handeln  und  die  Rücksicht  auf  die  Meinung  der  Massen 
der  Rücksicht  auf  seine  eigene  Ehre  vorgehen  lassen  sollen.  Die 
Autorität  der  Kirche  angreifen,  und  gar  wenn  man  ihr  Glied  ist,  das 
verdient  Vorwürfe  und  ist  gegen  die  schuldige  Pietät,  auch  wenn  man 
Irrtümer  in  ihr  bemerkt    Wir  wissen,  daß  von  den  weisesten  Männern 


*  Und  zwar  gleich  zweimal:  zuerst  herausgegeben  von  C.  Krause,  18S5; 
sodann  von  K.  Gilbeut,  in  den  Gcschichtsquellen  der  Provinz  Sachsen, 
Bd.  XVIII,  1890. 


Die  Universität  Erfurt    Mutian,  81 


vieles  erdichtet  ist,  aber  wir  wissen  auch,  daß  es  für  das  Leben  besser 
ist,  wenn  die  Menschen  mit  religiösen  Täuschungen  hingehalten  werden. 
Anders  faßt  es  der  einfache  Leser,  anders  der  Gebildete.  Jener  nimmt 
mit  der  einfachen  Geschichte  vorlieb,  dieser  spürt  den  Geheimsinn,  die 
Allegorien,  die  bildlichen  Ausdrücke  auf.  Indessen  ist  es  auf  keine 
Weise  zulässig,  die  Mysterien  auszuplaudern  oder  die  gemeine  Meinung 
schwankend  zu  machen,  ohne  die  weder  der  Kaiser  sein  Reich,  noch 
der  Papst  die  Kirche  noch  wir  das  Unsere  lange  behalten  würden. 
Alles  würde  in  das  alte  Chaos  zurückrollen."^  Man  meint  Voltaiee 
zu  hören:  wenn  es  keinen  Gott  gäbe,  müßte  man  ihn  erfinden;  denn 
was  sollte  sonst  die  Bauern  abhalten,  uns  das  Unsere  zu  nehmen  oder 
sie  anhalten  dem  Grundherrn  den  Zins  zu  zahlen?  In  der  That,  es 
ist  völlig  dieselbe  Weisheit,  die  Weisheit  Voltaibes  und  seiner  Freunde 
und  Sie  der  italienischen  Renaissance:  Bildungshochmut  und  Verach- 
tung der  gemeinen  Masse,  Libertinismus  und  Freidenkerei  für  die 
eigene  Person  verbunden  mit  politischer  Schonung  der  Kirche  und  der 
Religion:  ihr  wißt,  wie  großen  Gewinn  uns  die  Fabel  von  dem  Christus 
gebracht  hat.  Und  hier  wie  dort  wird  diese  Weisheit  zu  Schanden; 
das  Volk,  dem  derselbe  Glaube,  der  den  „Gebildeten"  zum  Gespött  ist, 
gerade  gut  genug  sein  soll,  merkt  die  Sache  und  wirft  ihn  nun  auch 
als  altmodisch  beiseite,  aber  mit  ihm  auch  die  Bildung  und  die  Ge- 
bildeten, die  es  an  der  Nase  führen  zu  können  meinten. 

Indessen,  einstweilen  liegen  solche  Gedanken  der  Beata  Trau- 
quilitcLs  des  Gothaer  Kanonikers  noch  fem.  Er  freut  sich  der  Aus- 
breitung der  neuen  Bildung,  der  Schläge,  die  von  Reuchlin  und 
E&ASMus  dem  Obskurantentum  beigebracht  werden.  Der  Kreis  junger 
Leute,  die  sich  um  ihn  sammeln  und  gern  von  Erfurt  zu  den  Kon- 
vivien  des  gastlichen  Hauses  in  Gotha  hinüber  kommen,  vergrößert 
sich  von  Jahr  zu  Jahr;  zu  den  oben  genannten  Ceotüs,  Peteejus, 
EoBANUs  Hessus  gesellen  sich  nach  und  nach  Spalatinus,  Ulrich 
V.  Hütten,  Euricius  Cordus,  Jüstus  Menius,  Justüs  Jonas,  Joachim 
Gamebarius,  Joh.  Draco,  Joh.  Lang  u.  a.  Der  Briefwechsel  Mütians 
läßt  uns  unmittelbar  in  die  Gedankenwelt  dieses  Kreises  hineinblicken. 
Die  Unterhaltung  geht  auf  Altes  und  Neues;  die  Alten  werden  taglich 
gelesen  und  angeeignet,  antiquarische  und  sprachliche  Beobachtungen 
gemacht,  man  übt  sich  fleißig  in  der  Nachbildung,  Mutian  ist 
der  Richter,  dem  die  Verse  vorgelegt  werden.  Aber  auch  die  persön- 
lichen und  die  öffentlichen  Angelegenheiten  werden  verhandelt,  Pfrün- 
den-  und  Eheangelegenheiten    der  Freunde   kommen,   nicht  eben  in 


*  Ahnlich  Celtis;  s.  v.  Bezold  in  Sybels  Histor.  Zeitschr.  Bd.  IL,  S.  144  fr. 
Pftulsen,  Unterr.   Zweite  Aufl.    I.  6 


82  If  4.    Die  htmianistische  ReformaHon  der  Universitäten, 

zarter  Weise,  zur  Sprache,  vor  allem  aber  die  litterarischen  Händel; 
die  alten  Gelehrten  der  Erfurter  Universität,  die  Juristen,  Artisten  und 
Theologen,  werden  fleißig  durchgehechelt,  hier  sind  ihnen  die  Beinamen 
Sophisten,  Philosophaster,  Theologisten  stereotypiert  worden,  mit  denen 
sie  Jahrhunderte  lang  behaftet  blieben.  Daneben  fehlt  es  übrigens 
auch  nicht  an  Moralisationen,  an  gelegentlichen  Anwandlungen  von 
Frömmigkeit  und  Kirchlichkeit.  Die  Zerfahrenheit  des  Gemüts,  das 
keinen  inneren  Mittelpunkt  hat,  tritt  uns  in  Mütian  in  typischer 
Form  entgegen. 

Das  litterarische  Denkmal,  worin  dieser  Kreis,  der  ordo  Mutianiy 
sich  selber  verewigt  hat,  sind  die  Briefe  der  dunklen  Männer  an 
Ortuinus  Gratius  Sie  sind  hervorgerufen  durch  die  Händel  Keuch- 
lins mit  den  Kölnern,  die  im  Jahre  1509  wegen  der  Judenbücher 
ausbrachen.  Ein  zum  Christentum  übergetretener  Jude,  Johannes 
Pfefferkorn  aus  Köln,  hatte  auf  Befragen  des  Mainzer  Erzbischofs:  wo- 
her der  fanatische  Haß  der  Juden  gegen  das  Christentum  komme? 
auf  die  talmudischen  Bücher  hingewiesen,  die  von  den  Babbinem  zur 
Beschimpfung  des  Christenglaubens  verfaßt  seien.  Aus  diesen  Büchern 
unterrichteten  sie  von  frühester  Jugend  auf  ihre  Kinder,  so  daß  diese 
auch  erwachsen  von  der  Bosheit  nicht  zu  lassen  vermöchten  und  alles, 
was  sie  gegen  die  Kirche  und  das  Christentum  verübten,  für  recht  und 
Gott  wohlgefällig  hielten.^  Es  gelang,  einen  kaiserlichen  Befehl  zur 
vorläufigen  Beschlagnahme  dieser  Bücher  und  zur  Untersuchung  ihres 
Inhalts  zu  erwirken,  in  der  Absicht  das  Unerlaubte  von  dem  Erlaubten 
und  Guten  zu  scheiden,  und  jenes  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Da  aber 
trat  Reuchlin  für  die  Judenbücher  ein  und  er  setzte  es  durch,  die 
Sache  zuerst  hinzuhalten  und  zuletzt  ganz  zu  verhindern.  Die  litte- 
rarischen Kämpfe,  deren  Einzelheiten  man  in  Geioers  Reuchlin  nach- 
lesen mag,  erregten  eine  Reihe  von  Jahren  die  gelehrte  Welt  aufs 
tiefste;  alles  nahm  Partei,  entweder  für  Reuchlin,  oder  gegen  die  Juden- 
bücher and  ihre  Beschützer,  so  vor  allem  die  Kölner  und  Mainzer 
Theologen  und  Juristen.  Auf  der  Seite  Reuchlins  finden  sich  alle 
Poeten  und  Oratoren,  alles  was  zur  Fahne  der  neuen  Bildung  schwört, 
unter  ihnen  natürlich  Mutian  und  sein  Kreis. 

All  der  Haß  und  Abscheu  gegen  die  alte  Bildung  und  ihre  Ver- 
teidiger, gegen  die  Kölner  Theologen  und  ihren  Anhang  auf  den 
ftbiigen  Universitäten,  der  sich  bei  ihnen  im  Lauf  der  Jahre  ange- 
ÄDunelt  hatte,  ergoß  sich  endlich  in  vollen  Strömen  in  den  Epistolae 


LV 


*  So  berichtet  Pfefferkorn  selbst  über  den  Beginn  des  Handels  in  seiner 
^^^^^••»Ä»  gegen  die  DunkelmUnnerbriefe. 


Die  Dunkdmännerhriefe,  83 


obscurorum  virorum.  Der  erste  Teil  erschien  im  Herbst  1515,  ein 
zweiter  folgte  1517.  Die  Verfasser  haben  sich  nie  genannt,  vielmehr 
auf  das  sorgfaltigste  die  Autorschaft  verheimlicht.  Doch  ist  es  nicht 
zweifelhaft,  daß  in  erster  Linie  Cbotüs  beteiligt  war,  ihm  scheint  die 
Idee  des  Ganzen  und  wesentlich  auch  die  Ausfuhrung  des  ersten  Teils 
zu  gehören.  An  dem  zweiten  hat  Hütten  in  hervorragendem  Maße 
Anteil  gehabt.  In  naher  Beziehung  zu  dem  Unternehmen,  das  übrigens 
auch  dem  Mutian  ohne  Zweifel  bekannt  war  und  vermutlich  von  ihm 
auch  mit  Rat  und  Erfindung  unterstützt  wurde,  standen  noch  Eobanus, 
Petbejus,  Büschius,  Aesticampianüs.^ 

Die  Episiolae  obscurorum  virorum  geben  sich  durch  ihren  Titel  als 
das  Gegenstück  zu  den  Epistolae  clarorum  virorum,  die  im  Jahre  1514 
von  Reuchlin  veröfiFentlicht  worden  waren.  Sind  dies  wirkliche,  von 
allen  Humanisten  Deutschlands  an  Reuchlin  gerichtete  und  von  ihm 

^  Die  Briefe  haben  eine  sehr  sorgfältige  Bearbeitung  darch  Böckino,  den 
Herausgeber  der  Werke  Huttens  gefunden:  Hutteni  Operum  Supplementum, 
2  Bde.,  1869.  Leider  ist  der  Herausgeber  nicht  unparteiisch  genug  gewesen, 
um  unter  das  massenhafte  Material,  das  er  angesammelt  hat,  auch  die  Zeug- 
nisse zu  Gunsten  der  Angeklagten  aufzunehmen.  Über  die  Entstehung  der 
Briefe  ist  außer  Kampschulte  noch  Strauss'  Leben  Huttens  (I,  c.  8)  und  Krause, 
Eob.  Hessus  I,  160  ff.,  sowie  seine  Einleitung  zu  dem  Briefwechsel  Mutians 
S.  LVff.  zu  vergleichen.  Es  ist  erstaunlich,  mit  welcher  Sorgfalt  die  Spuren 
der  Autorschaft  verwischt  sind;  sie  geht  so  weit,  daß  die  Briefe  des  beteiligten 
Kreises  aus  diesen  Jahren  bis  auf  zuföllige  Reste  vernichtet  sind.  —  Es  pflegt 
noch  immer  als  besonders  pikantes  und  charakteristisches  Vorkommnis  erzählt 
zu  werden,  daß  die  in  den  Briefen  Verhöhnten  die  Sache  anfangs  nicht  ge- 
merkt, sondern  die  Briefe  wirklich  als  specimina  eruditionis  aus  ihrem  Kreise 
willkommen  geheißen  hätten.  So  nicht  nur  Burkhardt  oder  Schmidt  (im  Leben 
Melanchthons),  sondern  selbst  Böcking,  Strauss,  Geiger,  Bursian.  Die  Ge- 
schichte stammt  von  Erasmus;  er  erzählt  sie  in  einem  Briefe  vom  Jahre  1528 
(Huttens  Werke  II,  442).  Die  englischen  Franziskaner  und  Dominikaner  seien 
fiberzeugt  gewesen,  daß  das  Werk  zum  Schimpf  Reuchlins  und  zu  Gunsten  der 
Mönche  veröffentlicht  sei.  Als  einmal  jemand  mit  ihnen  den  Spaß  sich  machte, 
daß  er  nur  am  Stil  sich  ein  wenig  zu  stoßen  simulierte,  da  hätten  sie  ihn  ge- 
tröstet: man  müsse  nicht  auf  das  Äußere  der  Rede,  sondern  auf  den  Sinn  der 
Gedanken  sehen.  So  hätte  auch  ein  Benediktinerprior  in  Brabant  einen  Haufen 
Exemplare  gekauft,  um  damit  seinen  Oberen  eine  Verehrung  zu  machen.  Sie 
hätten  es  heute  noch  nicht  gemerkt,  meint  Erasmus,  wenn  nicht  in  einem  der 
Briefe  ausdrücklich  gesagt  wäre,  daß  es  eine  Satire  sei.  —  Um  diese  Anekdote 
für  eine  wahre  Geschichte  zu  halten,  ist  es  notwendig  zu  glauben,  daß  auf  den 
mittelalterlichen  Universitäten  und  Klöstern  der  gesunde  Menschenverstand  bis 
auf  den  allerletzten  Rest  ausgestorben  war;  um  sie  für  eine  Anekdote  zu  nehmen, 
ist  nichts  weiter  erforderlich,  als  nicht  zu  vergessen,  daß  Erasmus,  der  Huma- 
nist, der  Poet,  der  Verfasser  des  Lobes  der  Narrheit,  der  Colloquien  sie  erzählt. 
Die  Geschichte  ist  genau  so  wahr  als  die  Anekdoten,  welche  in  den  Dunkel- 
männerbriefen selbst  erzählt  werden. 

6* 


78  I,  4,    Die  hunianistiactie  Refortnation  der   Unir^rsitäten, 


ihm  für  seine  Lobschrift  auf  die  Stadt  Nürnberg  mit  einem  Geschenk 
von  8  fl.  dankte,  machte  er  darauf  ein  Epigramm: 

Octonos  mihi  Noricus  senatus 
Magni  ponderis  aureos  dicavit, 
Quos  viissos  merito  sed  ipse  sprevi. 

Später,  nach  Überarbeitung  der  Schrift,  geschickte  20  fl.  —  etwa 
dem  Jahresstipendium  eines  artistischen  Magisters  entsprechend  —  nahm 
er  wenigstens  an,  wenn  auch  nicht  mit  Dank.  Überhaupt  ist  er,  wie 
alle  Poeten,  mit  seiner  Zeit  und  Umgebung  sehr  unzufrieden;  die 
schlechten  Künste,  Juristen  und  Medizin  und,  leider,  auch  Theologie, 
die  stehen  im  Ansehen  und  nähren  ihren  Mann;  die  Musen  müssen 
betteln  gehen  und  werden  mit  dürftiger  Gabe  abgefunden.  Den  Rat 
aber,  eine  nährende  Kunst  zu  lernen  und  zu  üben,  weist  er  weit  von 
sich;  als  Poet,  als  freies,  souveränes  Individuum  verachtet  er  alles,  was 
das  Leben  bindet,  Beruf  und  Familie,  Seßhaftigkeit  und  Sitte.  Einem 
Poeten  ziemt  ein  freies  Leben,  Wandern,  Weiber,  Wein  —  und  Schulden, 
sie  sind  das  Element,  wie  seiner  Dichtung,  so  seines  Lebens;  sie  sind 
auch  sein  Verhängnis  geworden,  wie  so  manches  andern  Poeten.^ 

Ich  erinnere  nochmals  daran,  daß  durchaus  nicht  alle  Träger  der 
neuen  Bildung  diesem  Bilde  gleichen.  Die  Agricola,  Keuculin, 
Erasmüs,  Wimpheling,  Melanchthon  sind  ehrbare  und  ernsthafte, 
der  Arbeit  mehr  als  dem  Lebensgenuß  zugewendete  Gelehrte;  und  sie 
sind  es  schließlich  gewesen,  denen  der  Humanismus  seine  Erfolge 
verdankt,  sowohl  die  nächsten,  das  Durchdringen  im  gelehrten  Unter- 
richt, als  die  entfernteren,  die  Umgestaltung  der  historischen  Welt^ 
anschauung  unter  dem  Einfluß  der  geschichtlichen  Erforschung  des 
Altertums  und  des  Christentums.     Aber  in  jener  Gestalt,   in   der  Er- 


*  An  H.  BuscHius,  einen  der  eifrigsten  Propagatoren  des  Humanismus, 
Strauss  nennt  ihn  sogar  den  Missionär  desselben  in  Norddeutschland,  schrieb 
Tritu£MIus  im  Jahre  1506  einen  Brief  nach  Ijeipzig,  worin  er  ihn  mit  freund- 
schaftlicher Eindringlichkeit  mahnt,  von  seiner  libertinistischen  Lebensweise 
abzulassen:  „flieh  alle  Seuchen  der  Seele,  vor  allem  den  Wein  und  die 
Weiber,  wer  mit  ihnen  zu  viel  sich  einläßt,  dem  geht  alle  Kraft  zu  Grunde, 
der  Sinn  wird  stumpf  und  Schande  folgt  Schone  deine  Augen,  welche  du 
durch  jene  beiden  Ursachen  mit  Wissen  und  Willen  ruiniert  hast,  so  daß 
sie  triefend  und  rot  sind;  schone  das  Vermögen,  welches  du  mit  Unterricht 
mühevoll  erwirbst,  daß  du  nicht  im  Alter  betteln  gelien  müssest.  Nimm  diese 
Ermahnung  nicht  übel,  denn  du  weißt,  daß  ich  dir  wohl  will.  —  Es  ziemt  sich 
nicht  für  einen  gebildeten  Mann,  und  wenn  er  auch  ein  Poet  ist  (etiamsi 
poeta  s^itjf  in  Unzucht  und  Trunksucht,  in  Weichlichkeit  und  Üppigkeit  zu 
leben"  /'7W/Äcm*V  opern  TF,  48ftV).  Das  efinwsi  sagt  soviel  als  eine  lange 
Statistik.  — 


Die  UniversitcU  Erfurt.  79 


scheinung  fahrender  Poeten  und  Oratoren  hat  der  Humanismus  sich 
den  alten  Universitäten  zuerst  vorgestellt  und  mit  stürmischer  Forderung 
verlangt,  daß  ihm  die  alten  Studien  den  Platz  räumen  sollten.  Übrigens 
haben  sie  doch  auch  gemeinsame  Züge:  Verachtung  der  herrschenden 
Schulweisheit  und-  ihrer  Träger,  der  Universitätsgelehrten  und  Kloster- 
insassen, aristokratischer  Bildungshochmut  und  Verachtung  der  Masse 
und  ihrer  geistigen  Welt  sind  Erasmus  nicht  minder  eigen  als  Celtis 
und  BüscHiüs.  Wegwerfung  der  ganzen  alten  Bildung  zu  Gunsten 
einer  neuen,  aus  dem  Altertum  zu  schöpfenden  fordert  er  so  entschieden 
wie  sie.  Der  Sturm,  den  die  jungen  Poeten  im  zweiten  Jahrzehnt  an 
allen  Punkten  auf  die  Universitäten  eröffnen,  geschieht  unter  seinem 
und  Beüchlins  Namen.  — 

Der  Humanismus  ist  von  Süden  und  Westen  her  in  Deutschland 
eingedrungen;  die  alten  Universitäten  Wien  und  Heidelberg,  sowie  die 
in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  im  südwestlichen  Deutsch- 
land neubegründeten  Universitäten  sind  daher  zuerst  von  der  Bewegung 
ergriffen  worden.  Dennoch  will  ich  nicht  mit  ihnen,  sondern  mit  den  drei 
großen  mitteldeutschen  Universitäten,  Erfurt,  Leipzig  und  Wittenberg, 
die  folgende  Übersicht  beginnen.  Auf  ihnen  sind  die  großen  Schlachten 
zwischen  den  Poeten  und  den  Sophisten,  wie  von  jenen  die  Vertreter 
der  mittelalterlichen  Philosophie  und  Theologie  regelmäßig  genannt 
werden,  geschlagen  und  von  den  Poeten  gewonnen  worden. 

Erfurt  führt  den  Reigen.^  Die  Universität  war  um  die  Mitte 
des  15.  Jahrhundei'ts  eine  der  besuchtesten  und  bedeutendsten  unter 
den  deutschen  Universitäten,  wenn  auch  Luthers  bekanntes  Wort,  daß 
die  übrigen  zu  ihr  wie  Schützenschulen  sich  verhalten  hätten,  eine 
starke  Übertreibung  ist.  Wie  es  scheint,  war  ein  eigener  Geist,  der 
sich  freier  in  der  Theologie  und  Rechtswissenschaft  versuchte,  hier  ein- 
heimisch. Als  der  erste  einheimische  und  seßhafte  Magister,  *der  huma- 
nistische Bildung  besaß  und  nicht  ohne  bedeutende  Wirksamkeit  lehrte, 
tritt  uns  Maternüs  Pistokis  entgegen,  ein  Elsässer,  Schüler  des 
J.  Tbutvettee,  der  auch  Luthers  Lehrer  war.  Im  Jahre  1494  war 
er  Magister  geworden  und  lehrte  seitdem  Poesie  und  Eloquenz,  vorzugs- 
weise römische  Dichter  erklärend.  Neben  ihm  ist  Nikolaus  Marschalk 
zu  nennen,  der  auch  des  Griechischen  kundig  war.  Um  Mateknus  sam- 
melte sich  allmählich  eine  kleine  Schar  von  Schülern,  unter  denen 
Ckotüs  Rubeanüs,  Petkejus  Ebebbach,  Eobanus  Hessus  waren.  Wie 


*  Kampschultes  vortreffliches  Werk  über  die  Universität  Erfurt  in  ihrem 
Verhältnis  zu  dem  Humanismus  und  der  Reformation  giebt  eine  zuverlässige 
und  durchsichtige  Darstellung  dieser  Bewegungen. 


80  /,  4.   Die  humaimti^che  Reformatiofi  der  Universitäten, 


ihr  Lehrer,  so  trieben  auch  sie  friedlich  neben  der  Poesie  die  Schul- 
philosophie. 

Das  wurde  anders,  seitdem  auf  den  Kreis  der  jungen  Poeten  ein 
Mann  Einfluß  gewann,  der  in  dem  benachbarten  Ootha  als  Kanoniker 
lebte:  Conrad  Muth,  genannt  Mutianus  Rüfus.  Dieser  Mann  hat, 
obwohl  er  als  Schriftsteller  sich  gar  nicht  hat  vernehmen  lassen,  für 
die  ganze  Bewegung  nicht  geringe  Bedeutung.  Sein  erst  vor  einigen 
Jahren  gedruckter  Briefwechsel^  ist  ein  überaus  charakteristisches 
Denkmal  des  Denkens  und  Empfindens  eines  der  fortgeschrittensten 
unter  den  deutschen  Humanisten.  Er  tritt  uns  hier,  wo  er  sich  seinen 
jungen  Freunden  gegenüber  ganz  giebt,  wie  er  ist,  als  vollständiger 
Freidenker  entgegen.  Das  geistliche  Amt  ist  ihm  als  Vereorgung  wert, 
es  bietet  dem  nach  langer  Wanderfahrt  Heimkehrenden  behagliche 
Muße;  Beata  Tranquillitas  schrieb  er  über  den  Eingang  seines  Wohn- 
hauses zu  Gotha.  Leider  sind  einige  lästige  Verpflichtungen  mit  dem 
Amt  verbunden,  die  sich  auf  die  Dauer  nicht  ganz  abwälzen  la^en; 
er  muß  die  Fastengebote  halten,  die  Messe  lesen  (freilich  hat  er  die 
erste  erst  zehn  Jahre  nach  dem  Antritt  des  Kanonikats  gelesen)  und 
zu  den  Gottesdiensten  im  Chor  erscheinen;  er  spricht  oft  mit  bitterer 
Indignation  davon,  daß  ein  gebildeter  Mann,  wie  er,  zu  so  gemeinen 
Leistungen  verurteilt  sei:  „Unter  all  den  stupiden  Tieren  werde  auch 
ich  zu  einem  trägen  und  stumpfen  Esel,  mein  Latein  und  die  Gabe 
gebildeter  Unterhaltung  ist  mir  in  dem  Geschrei  unter  den  Eseln,  mit 
denen  ich  zusammengejocht  bin,  abhanden  gekommen.^'  Selbstverständ- 
lich hindert  ihn  das  nicht,  nach  weiteren  Pfründen  fleißig  Umschau 
zu  halten.  Seine  Philosophie  ist  ein  naturalistischer  Pantheismus,  er 
hat  in  Italien  den  dortigen  synkretistischen  Benaissanceplatonismus 
eingesogen.  Gegen  die  Kirche,  ihre  Lehre  und  ihren  Kult,  nimmt  er 
sich  für  seine  Person  die  Freiheit  der  Geringschätzung  heraus.  Von 
der  Masse  allerdings  fordert  er  Respekt  für  dieselbe  Kirche  und  er 
tadelt  Reuchlin,  daß  er  öfl'entlich  allzu  frei  über  sie  geredet  habe: 
„Er  hätte",  so  heißt  es  in  einem  Brief  vom  Jahre  1513  (Krause  S.  353) 
„bescheidener  handeln  und  die  Rücksicht  auf  die  Meinung  der  Massen 
der  Rücksicht  auf  seine  eigene  Ehre  vorgehen  lassen  sollen.  Die 
Autorität  der  Kirche  angreifen,  und  gar  wenn  man  ihr  Glied  ist,  das 
verdient  Vorwürfe  und  ist  gegen  die  schuldige  Pietät,  auch  wenn  man 
Irrtümer  in  ihr  bemerkt    Wir  wissen,  daß  von  den  weisesten  Männern 


*  Und  zwar  gleich  zweimal:  zuerst  herausgegeben  von  C.  Krause,  1885; 
sodann  von  K.  Gilbert,  in  den  Geschichtsquellen  der  Provinz  Sachsen, 
Bd.  XVIIl,  1890. 


Die  Dunkdmännerhriefe,  87 


geistlichkeit;  das  erzwungene  Cölibat  war  eine  fleischlich  gesinnten 
Menschen,  die  durch  Aussicht  auf  Versorgung  zu  den  Studien  und  ins 
Amt  gelockt  wurden,  durchaus  unangemessene  Lebensform  und  hat 
sicherlich  häßliche  Dinge  im  Gefolge  gehabt,  Dinge,  die  seitdem  in 
einigem  Maße  durch  die  Aufhebung  des  Cölibats  eingeschränkt  sein 
werden.  —  Ob  übrigens  die  gegenwärtige  akademische  Welt,  unsere 
Studenten  und  Kandidaten,  unsere  Referendare  und  jungen  Ärzte,  unsere 
jungen  Gelehrten  und  Beamten,  wenn  sie  vor  das  gleiche  Gericht  ge- 
stellt würden,  im  ganzen  ein  günstigeres  Urteil  erlangen  würden  ?  Ich 
wage  die  Frage  nicht  zu  entscheiden;  aber  diejenigen,  die  so  zuver- 
sichtlich von  der  gänzlichen  sittlichen  Verkommenheit  des  mittelalter- 
lichen Klerus  sprechen,  sollten  sie  sich  vorlegen.  Vielleicht  besteht 
der  Vorteil  derselben  Klassen  der  gegenwärtigen  Gesellschaft  wesentlich 
darin,  daß  von  ihnen  Heiligkeit  niemand  erwartet  oder  verlangt.^ 


'  Diese  Frage  hat  Entrüstung  hervorgerufen;  man  hat  eine  „ungeheuer- 
liche Insinuation*'  darin  gefunden.  Das  beweist  zunächst  nur,  daß  die  hier 
angedeutete  Ansicht  der  herkömmlichen  Meinung,  nicht  aber,  daß  sie  den  That- 
Sachen  nicht  entspricht  Ich  kann  nicht  beweisen,  daß  sie  richtiger  ist,  eine 
vergleichende  Statistik  über  diese  Dinge  giebt  es  nicht.  Aber  ich  meine,  wir 
haben  keine  Ursache,  uns  zu  erheben;  auch  wird  die  Gegenwart  nicht  besser 
dadurch,  daß  wir  das  Mittelalter  schlechter  machen.  —  C.  Kiuuse,  der  Heraus- 
geber des  Briefwechsels  Mütians  bemerkt  zu  dem  oben  (S.  85)  angeführten 
Brief:  er  sei  ein  Beweis,  wie  auch  die  Besten  von  der  mönchischen  Frivolität 
und  Scheinheiligkeit  angesteckt  waren.  Gewiß,  es  ist  niclit  eine  individuelle 
Erscheinung,  und  sicherlich  hängt  sie  mit  dem  erzwungenen  Cölibat  zusammen. 
Dennoch  würde  ich  sagen;  daß  wir  im  Kreise  Mütians  eben  „die  Besten"  vor 
uns  haben,  wird  ohne  Grund  vorausgesetzt  Es  waren  die  Gebildetsten,  ohne 
Zweifel,  sie  verstanden  besser  Latein  und  die  Alten  als  die  Masse;  aber  daß 
dies  auch  in  dem  fraglichen  Punkt  einen  günstigen  Einfluß  gehabt  habe,  daß 
durch  ihre  „Bildung"  die  Sinnlichkeit  diszipliniert  und  die  Phantasie  in  Zucht 
genommen  sei,  ist  ganz  und  gar  nicht  ausgemacht.  Im  Gegenteil,  die  Bücher 
italienischer  Humanisten,  ja  auch  viele  unter  den  Büchern  der  Alten,  die  da- 
mals fleißig  gelesen  und  imitiert  wurden,  mögen  zu  allem  tauglich  sein,  zu 
Lehrern  der  Reinheit  und  Zucht  des  geschlechtlichen  Lebens  sind  sie  gewiß 
nicht  tauglich.  Da  werden  die  alten  Mönchsbücher,  wie  die  Imitatio  Christiy 
doch  besser  gewesen  sein.  Und  ich  bin  überzeugt,  es  gab  im  Klerus  wie  in 
den  Klöstern  ein  gut  Teil  von  Männern,  die  den  Briefwechsel  Mütians,  wenn 
er  ihnen  in  die  Hände  gekommen  wäre,  mit  Schamröte  und  Entrüstung  weg- 
gelegt hätten;  gewiß  auch  andere,  die  ihn  mit  lüsternem  Schmunzeln  durch- 
stöbert hätten.  Ob  diese  die  Mehrheit  bildeten?  ob  ihr  Verhalten  im  Verkehr 
dieser  Kreise  tonangebend  war?  Ich  weiß  es  nicht;  mir  scheint  aber  dagegen 
zu  sprechen,  daß  Männer  wie  Staupitz  und  Luther  so  viele  Jahre  lang  in  dieser 
Umgebung  aushiclten.  Und  wir  haben  doch  auch  andere  Bilder.  Man  lese  das 
Wanderbüchlein  des  Johannes  Butzbach  (deutsch  von  D.  J.  Becker,  mit  Bei- 
lagen, is69j;    die  Züge  aus  dem  rheinischen  Klosterleben,  die   liebenswürdigen 


82  /,  4.    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten. 

zarter  Weise,  zur  Sprache,  vor  allem  aber  die  litterarischen  Händel; 
die  alten  Gelehrten  der  Erfurter  Universität,  die  Juristen,  Artisten  und 
Theologen,  werden  fleißig  durchgehechelt,  hier  sind  ihnen  die  Beinamen 
Sophisten,  Philosophaster,  Theologisten  stereotypiert  worden,  mit  denen 
sie  Jahrhunderte  lang  behaftet  blieben.  Daneben  fehlt  es  übrigens 
auch  nicht  an  Moralisationen ,  an  gelegentlichen  Anwandlungen  von 
Frömmigkeit  und  Kirchlichkeit.  Die  Zerfahrenheit  des  Gemüts,  das 
keinen  inneren  Mittelpunkt  hat,  tritt  uns  in  Mutian  in  typischer 
Form  entgegen. 

Das  litterarische  Denkmal,  worin  dieser  Kreis,  der  ordo  Mutiani, 
sich  selber  verewigt  hat,  sind  die  Briefe  der  dunklen  Männer  an 
OrtuinusQratius  Sie  sind  hervorgerufen  durch  die  Händel  lleuch- 
lins  mit  den  Kölnern,  die  im  Jahre  1509  wegen  der  Judenbücher 
ausbrachen.  Ein  zum  Christentum  übergetretener  Jude,  Johannes 
Pfefferkorn  aus  Köln,  hatte  auf  Befragen  des  Mainzer  Erzbischofs:  wo- 
her der  fanatische  Haß  der  Juden  gegen  das  Christentum  komme? 
auf  die  talmudischen  Bücher  hingewiesen,  die  von  den  Rabbinern  zur 
Beschimpfung  des  Christenglaubens  verfaßt  seien.  Aus  diesen  Büchern 
unterrichteten  sie  von  frühester  Jugend  auf  ihre  Kinder,  so  daß  diese 
auch  erwachsen  von  der  Bosheit  nicht  zu  lassen  vermöchten  und  alles, 
was  sie  gegen  die  Kirche  und  das  Christentum  venibten,  für  recht  und 
Gott  wohlgefällig  hielten.^  Es  gelang,  einen  kaiserlichen  Befehl  zur 
vorläufigen  Beschlagnahme  dieser  Bücher  und  zur  Untersuchung  ihres 
Inhalts  zu  erwirken,  in  der  Absicht  das  Unerlaubte  von  dem  Erlaubten 
und  Guten  zu  scheiden,  und  jenes  aas  der  Welt  zu  schaflen.  Da  aber 
trat  Reuchlin  für  die  Judenbücher  ein  und  er  setzte  es  durch,  die 
Sache  zuerst  hinzuhalten  und  zuletzt  ganz  zu  verhindern.  Die  litte- 
rarischen Kämpfe,  deren  Einzelheiten  man  in  Geigers  Reuchlin  nach- 
lesen mag,  erregten  eine  Reihe  von  Jahren  die  gelehrte  Welt  aufs 
tiefste;  alles  nahm  Partei,  entweder  für  Reuchlin,  oder  gegen  die  Juden- 
bücher und  ihre  Beschützer,  so  vor  allem  die  Kölner  und  Mainzer 
Theologen  und  Juristen.  Auf  der  Seite  Reuchlins  finden  sich  alle 
Poeten  und  Oratoren,  alles  was  zur  Fahne  der  neuen  Bildung  schwört, 
unter  ihnen  natürlich  Mutian  und  sein  Kreis. 

All  der  Haß  und  Abscheu  gegen  die  alte  Bildung  und  ihre  Ver- 
teidiger, gegen  die  Kölner  Theologen  und  ihren  Anhang  auf  den 
übrigen  Universitäten,  der  sich  bei  ihnen  im  Lauf  der  Jahre  ange- 
sammelt hatte,  ergoß  sich  endlich  in  vollen  Strömen  in  den  Epistnlac 


*  So  berichtet  Pfefferkork  selbst  über  den  Beginn  des  Handels  in  seiner 
Defensio  gegen  die  Dunkelmännerbriefc. 


Ulrich  V.  Hütten.  89 


noch  einmal  gedruckt  Dann  wurde  es  süIl;  von  1518 — 1556  ist  keine 
neue  Ausgabe  erschienen.  Die  Führer  des  Humanismus,  Reuceduin 
und  E&A8MUS,  sprachen  auf  das  entschiedenste  ihre  Mißbilligung  aus. 


er  lebt,  wie  dieser,  in  der  Welt  der  Bildung  und  sucht  Verbindungen  nach  oben, 

während  er  andererseits  den  Massen  die  Revolution  predigt;  wie  dieser,  ist  er  von 

dem  unbändigen  Drang  beseelt,  eine  Rolle  zu  spielen,  sei  es  im  Bunde  mit  den 

oberen  Göttern,  sei  es  mit  den  Gewalten  der  Unterwelt;   wie  diesem,  ist  ihm 

persönliche  und  öffentliche  Fehde  Herzensbedürfois,  und  in  der  Führung  des 

Kampfes  ist  beiden  jedes  Mittel,  das  Erfolg,  augenblicklichen  Erfolg  verspricht, 

recht;    beide   sind   dazu   theatralische  Deklamatoren   der  eigenen  Thaten  und 

Tugenden,  pathetische  Ankläger  fremder  und  doch  nicht  fremder  Laster;  beide 

sind    unerreichte  Muster   in   der  Beschimpfung   und  litterarischen  Vernichtung 

der  Gegner,   beide  sind  rücksichtslose  Prediger  und  Verüber  von  Gewaltthat; 

das  geht  bei  Hütten  so  weit,  daß  er  auch  Lebensbedrohung  und  Meuchelmord 

(unter  dem  Titel  der  Fehde)  nicht  für  unerlaubte  Kampfmittel  gegen  die  Feinde, 

die  Pfaffen,  ansieht   —  Hütten  hat  an  sich  selber  und  seinem  Leben  schwer 

genug  zu  tragen   gehabt;    sein  langes  Leiden  und  sein  einsamer  Tod   müßten 

das  Urteil  über  ihn  entwafinen,  wenn  nicht  immer  wieder  für  ihn  bewundernde 

Verehrung   wie  für  einen  Nationalhelden  gefordert  würde.     Zu  diesen  vermag 

ich  ihn  nicht  zu  zählen ;  und  ich  hielt  es  und  halte  es  noch  für  notwendig,  dies 

auszusprechen;  es  ist  für  ein  Volk  nicht  gut,  wenn  es  zu  falschen  Göttern  betet, 

falsche  Größen  verehrt.     „Hütten  war  bei  allem  litterarischen  Talent,  bei  allen 

schriftstellerischen  Leistungen  ein  Mann  ohne  Charakter^^ ;  so  faßt  Maukenbrecher 

sein  Urteil  über  den  Mann  zusammen  (Gesch.  der  kathol.  Reformation  I,  199). 

Das  Urteil   gilt   ebenso    von    dem  modernen  Ebenbild  Hdttens,  von  Lasalle. 

Was  beiden  fehlt,  das  ist  die  reine  und  volle  Hingebung  an  die  Sache.    Nicht 

die  Sache,  der  sie  dienten,  sie  mag  nun  die  rechte  sein  oder  nicht,    ist  ihnen 

zum  Vorwurf  zu  machen,  sondern   daß  sie  ihr  nicht  mit  reiner  Seele  dienten, 

die  Sache  sollte  zuletzt  der  persönlichen  Darstellung  dienen.     Eine  grenzenlose 

Sucht,  die  eigene  Person  zur  Darstellung,  Geltung  und  Herrschaft  zu  bringen, 

eine  verzehrende  Ichsucht  ist  der  Grundzug  der  beiden  Männer;    und  deshalb 

ist  kein  inneres  Maß  und  keine  Festigkeit  des  Weges  bei  ihnen:    Talent  ohne 

Charakter.     Mit  einigem  Recht  kann  man  aber  dies  als  Motto  über  die  ganze 

Greschichte  des  Humanismus  setzen:    viel  Talent,    wenig  Charakter.     Es 

fehlt  diesen  Männern  durchweg  an  Reinheit,  Ernst  und  Kraft  des  Willens.  Daher 

sind  sie  auch  von  der  Geschichte  weggeweht  worden.    Es  gilt  von  ihnen  ein 

Wort  Goethes: 

Wer  mit  dem  Leben  spielt. 

Kommt  nie  zurecht. 

Wer  sich  nicht  selbst  befiehlt. 

Bleibt  immer  Knecht 

Ziegler  äußert  an  demselben  Ort  (S.  414),  daß  ich,  im  Bunde  mit  Janssen  und 
Demifle,  unter  dem  Schein,  Fabeln  kritisch  zu  zerstören,  die  alte  katholische 
fable  convenue  wiederherstellen  wolle.  Von  diesem  Bestreben  weiß  ich  mich 
völlig  frei ;  ich  will  keine  Fabeln  herstellen  oder  zu  halten  suchen,  weder  katho- 
lische noch  protestantische,  sondern  suche,  soviel  ich  vermag,  die  Dinge  zu 
sehen,  wie  sie  sind.  Durch  dies  Bestreben  bin  ich  allerdings  zum  Zweifel  daran 
geführt  worden,    ob    die  Renaissance  und  ihre  Apostel  alle  die  Hochachtung, 


90  I,  4,   Die  humanistiscJie  Reformation  der  Universitäten, 


Freilich  hatte  REUCHiiiN  in  seiner  Befensio  contra  calumruatores  suos 
Colonienses  (1512)  denselben  Ton  angeschlagen,  man  sehe  den  Auszug 
in  Geigebs  Reuchlin  (S.  276),  und  auch  Eeasmüs  hatte  im  Lob  der 
Narrheit  (1509)  sein  Gespött  mit  denselben  Persönlichkeiten  getrieben. 
Aber  nun  wurde  ihnen  unheimlich  unter  den  Geistern,  die  sie  gerufen. 
Die  Episteln  der  dunkeln  Männer,  schreibt  Erasmus  an  Caesarius  in 
Köln  (16/8.  1517,  Opp.  III,  1622)  haben  mir  sehr  mißfallen.  Mir 
gefallt  ein  Scherz,  aber  er  darf  niemanden  beschimpfen.  Wie  schlimm 
beraten  jene  nicht  nur  sich  selber,  sondern  alle,  denen  die  schönen 
Wissenschaften  am  Herzen  liegen.  Er  bittet  dann  den  Caesarius  ein 
ähnliches  Produkt,  das,  wie  man  sage,  in  Köln  erscheinen  solle,  zurück- 
zuhalten. Bekannt  ist,  daß  auch  Luther,  dem  doch  eine  Beschimpfung 
der  Sophisten  und  ihrer  Gelehrsamkeit  kaum  zu  grob  sein  konnte,  die 
Briefe  mißbilligte.  — 

So  erfolgte  denn  in  dem  Erfurter  Kreise  eine  unerwartete  Wendung. 
Unter  den  Zurückgebliebenen  war  Eobanus  ohne  Widerrede  das  Haupt. 
Er  war  ein  Mann  mit  leichtem  und  fröhlichem  Herzen,  ein  großer 
Zecher,  beständig  in  der  dringendsten  Geldverlegenheit,  die  er  aber 
mit  der  heitersten  Miene  von  der  Welt  ertrug:  er  konnte  in  denselben 
lateinischen  Versen  einen  Freund  um  ein  Darlehen  von  1  fl.  ersuchen 
und  zu  Tisch  bitten.  Seine  ganze  Art  erinnert  an  die  wundervolle 
Charakterfigur  des  Mr.  Micawber  in  Dickens  Copperfield,  nur  daß  die 
Flunkereien  des  durstigen  Poeten  manchmal  etwas  weniger  harmlos  sind 
als  die  des  trefflichen  Micawber.  Sein  Talent  war,  lateinische  Verse  zu 
machen.  Er  hatte,  wie  schon  erwähnt,  durch  seine  christlichen  Heroiden 
sich  den  Namen  des  christlichen  Ovid  erworben.  Seit  dem  Jahre  1517 
erhielt  er  von  der  Stadt  eine  Besoldung;  er  war  der  gefeiertste  Lehrer, 


die  mittelalterliche  Bildung  und  ihre  Träger  alle  die  Verachtung  verdienen,  die 
ihnen  bis  auf  diesen  Tag  so  reichlich  entgegengebracht  wird.  —  Mit  einem 
Wort  J.  BüRCKHARDTS  (Kultur  der  Renaissance  I,  313)  über  die  Gruppe  der 
italienischen  Humanisten  mag  dieser  Exkurs  beschlossen  werden:  „Drei  Dinge 
erklären  und  vermindern  vielleicht  ihre  Schuld:  die  übermäßige,  glänzende  Ver- 
wöhnung, wenn  das  Glück  ihnen  günstig  war,  die  Garantielosigkeit  ihres  äußeren 
Daseins,  so  daß  Glanz  und  Elend  je  nach  Launen  der  Herren  und  nach  der 
Bosheit  der  Gegner  rasch  wechselten;  endlich  der  irremachende  Einfluß  des 
Altertums.  Dieses  störte  ihre  Sittlichkeit,  ohne  ihnen  die  seinige  mitzuteilen, 
und  auch  in  religiösen  Dingen  wirkte  es  auf  sie  wesentlich  von  seiner  skeptischen 
und  negativen  Seite,  da  von  einer  Annahme  des  positiven  Götterglaubens  doch 
nicht  die  Rede  sein  konnte.  Gerade  weil  sie  das  Altertum  dogmatisch,  d.  h.  als 
Vorbild  alles  Denkens  und  Handelns  auffaßten,  mußten  sie  hier  in  Nachteil 
geraten.  Daß  es  aber  ein  Jahrhundert  gab,  welches  mit  voller  Einseitigkeit 
die  alte  Welt  und  deren  Hervorbringungen  vergötterte,  das  war  nicht  mehr 
Schuld  Einzelner,  sondern  höhere  geschichtliche  Fügimg.^^ 


Beform  der  Universität  Erfurt,  91 


der  Kühm  der  ganzen  Universität.  Es  ist  begreiflich,  daß  ein  solcher 
Mann  mehr  den  Frieden  liebte  als  den  Krieg.  So  wurde  aus  dem 
streitbaren  ordo  Mutiani  das  friedliche  regnum  Eobani,^ 

Wie  für  den  ordo  Mutiani  Reüchlin,  der  kämpfende,  so  wurde  für 
das  regnum  Eobani  Ebasmus,  der  durch  ruhige  Überlegenheit  siegreiche, 
Heerführer  und  Idol.  Zu  ihm  wallfahrteten  nun  die  Erfurter  Poeten, 
um  ihre  Huldigung,  die  sich  in  geschmacklosen  Superlativen  nicht 
genug  thun  kann,  ihm  zu  Eüßen  zu  legen;  Ebasmus  hatte  Mühe  sich 
ihrer  zu  erwehren.  Er  mahnte  nun  entschieden  den  Weg  friedlicher 
Reform  zu  gehen.  Nicht  durch  Bekämpfung  der  Widersacher,  sondern 
durch  Anbau  der  schönen  Wissenschaften  werde  die  gute  Sache  gefordert. 
Nicht  als  Feinde,  die  alles  mit  Verwüstung  bedrohen,  sondern  als  Gast- 
freunde, die  sich  den  einheimischen  Sitten  bequemen,  müßten  die 
Humanitatsstudien  auf  den  Akademien  Eingang  zu  gewinnen  suchen 
(irrepere). 

Und  in  der  That,  die  friedliche  Eroberung  der  Erfurter  Universität 
gelang  vollständig.  Von  1517 — 1521,  wo  das  Pfaflfenstünnen  seinen 
Anfang  nahm,  stand  die  Erfurter  Universität  durchaus  unter  der  Herr- 
schaft des  Humanismus.  Im  Jahre  1519  kam  es  zu  einer  großen 
Reform  des  Studiums.  Jüstüs  Jonas  berichtet  darüber  einem  Freunde: 
zurückkehrend  von  einer  sechsmonatlichen  Reise  nach  Brabant  (der 
üblichen  Huldigungsreise  zu  Ehasmus)  habe  er  die  ganze  Universität 
erneuert  gefunden:  die  lernäische  Schlange  der  Scholastik,  die  den 
ganzen  Unterricht  auf  lauter  elende  dialektische  Spitzfindigkeiten  her- 
untergebracht und  alle  guten  Autoren  beseitigt  habe,  sei  vernichtet, 
ein  Komitee  von  acht  Männern  eingesetzt,  um  hier  ein  Studium  der 
drei  Sprachen,  der  wahren  Philosophie  und  der  echten  Theologie,  ein- 
zurichten und  hierfür  Professoren  anzunehmen.  „Unser  Universität" 
fügt  er  am  Schluß  auf  deutsch  hinzu,  „ist  in  hundert  Jahren  oder 
dieweil  sie  gestanden,  also  nicht  reformiert  gewest."  Über  den  Inhalt 
der  Reform,  die  doch  wohl  zu  neuen  Lektions-  und  Prüfungsordnungen 
geführt  hat,  sind  wir  nicht  unterrichtet.  In  der  Magistermatrikel 
werden  die  18  Magistrierten  des  Jahres  1519  als  „Jünger  der  latei- 
nischen und  der  eben  aufkeimenden  griechischen  und  hebräischen 
Sprache"  bezeichnet  (Krause  I,  310).  Daß  die  junge  humanistische 
Gruppe  wenigstens  in  der  artistischen  Fakultät  durchaus  die  Dinge  in 
der  Hand  hatte,  geht  auch  aus  der  Thatsache  hervor,  daß  in  den 
Jahren  1519 — 1521  der  Reihe  nach  vier  Rektoren  aus  diesem  Kreise 
hervorgingen:  J.  Jonas,  Cehatenus,  PijAtz,  Cbotüs.     Bemerkenswert 


Über  EoBAN  giebt  die  »orgfältige  Biographie  KuAUtjEä  jede  Auskauft. 


86  7,  4.    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


MuTiAN  die  Ehe;  über  die  Heirat  und  Hausehre  des  Eobanüs  spricht 
er  sich  gegen  diesen  selbst  mit  einer  Unfeinheit  aus,  daß  man  nicht 
weiß,  ob  es  häßlicher  ist,  solche  Briefe  zu  schreiben  oder  sich  gefallen 
zu  lassen.  Einem  andern  jungen  Freunde  redet  er,  der  Vierzigjährige, 
dringend  von  der  Ehe  ah,  er  möge  sich  doch  ohne  solche  Förmlichkeit 
behelfen.^  Daß  Hütten  eines  Beraters  in  dieser  Hinsicht  nicht  be- 
durfte, ist  bekannt.  —  Wie  es  endlich  mit  Verlumptheit,  Armut  und 
Bettelhaftigkeit  in  der  damaligen  Gelehrten  weit  stand,  darüber  kann 
man  wieder  aus  den  Schriften  und  Briefen  dieses  Kreises,  oder  aus  den 
Biographien  des  Hbssus  oder  Huttens  vielfaltige,  wenn  auch  nicht 
eben  erfreuliche  Belehrung  finden.  Befremdlich  bleibt  dabei,  wie 
Steauss  den  frankischen  Ritter,  der,  an  elender  Krankheit  dahinsiechend, 
allezeit  ohne  Geld  im  Beutel,  aber  voll  großartiger  Ansprüche  umher- 
zog und  mit  lateinischen  Versen  die  Liberalität  von  geistlichen  und 
weltlichen  Herren  stimulierte,  als  Vorkämpfer  deutscher  Freiheit  und 
Bildung  dem  deutschen  Volk  hinstellen  könnt«  (Vorrede  zur  2.  Aufl. 
S.  VIII).  —  Aber  er  hat  Rom  angegriffen.  —  Ich  denke  doch,  daß 
es  besserer  Waffen  und  besserer  Männer  im  Kampf  für  deutsche  Frei- 
heit und  Bildung  bedurfte  und  noch  alle  Tage  bedarf. 

Ob  die  Lebensfährung,  welche  in  den  Briefen  von  sachkundiger 
Hand  beschrieben  worden  ist,  in  der  damaligen  Universitätswelt  be- 
sonders verbreitet  war?  Es  dürfte  schwer  sein  die  Frage  zu  beantworten. 
Eine  moralische  Statistik,  welche  uns  über  die  Häufigkeit  der  ange- 
deuteten Vorkommnisse  unterrichtete,  giebt  es  nicht.  Die  Verfasser 
der  Satire  kann  man  doch  kaum  als  klassische  Zeugen  gelten  lassen. 
—  Aber  auch  kirchlich  gesinnte  Schriftsteller  und  Prediger,  wie 
WiMPHELiNG  und  Geileb,  ja  die  Kirchenbehörden  selbst  sagen  das- 
selbe. —  Mir  scheint,  daß  doch  auch  diese  Zeugnisse  mit  Vorsicht 
aufgenommen  sein  wollen.  Man  muß  nicht  vergessen,  daß  es  ein  be- 
sonderer Maßstab  ist,  den  diese  Männer  bei  ihrer  Beurteilung  anlegen, 
der  Maßstab  der  vita  religiom.  Die  Anlegung  dieses  Maßes  ertrug  die 
damalige  Gelehrtenwelt  ohne  Zweifel  so  wenig  als  die  Welt-  und  Kloster- 


*  Aus  des  JuHAKNEs  Secundus,  eines  neulateiniseben  Dichters  (gest.  1536), 
Elegieu  (I.  7)  finde  ich  im  Goethe-Jahrbucli  1892,  S.  205,  folgende  Verse  mit- 
geteilt, die  MüTiANs  Gedanken  zu  beleuchten  geeignet  sind: 

Qimm  hene  priscorwn  currebat  vita  parenfum^ 

Inge-nuae  veneris  Uhera  sacra  colens! 
Nandiwi  conjugii  fwrnen  servile  pafebai 

Nee  fiierat  Divis  adnumcraius  Hyttttm. 
Passim  comviu'nes  exercebanfur  antares 
Omnibus  et  proprii  nescius  orbis  erat. 


Die  Dunkelmännerbriefe.  87 


geistlichkeit;  das  erzwungene  Cölibat  war  eine  fleischlich  gesinnten 
Menschen,  die  durch  Aussicht  auf  Versorgung  zu  den  Studien  und  ins 
Amt  gelockt  wurden,  durchaus  unangemessene  Lebensform  und  hat 
sicherlich  häßliche  Dinge  im  Gefolge  gehabt,  Dinge,  die  seitdem  in 
einigem  Maße  durch  die  Aufhebung  des  Cölibats  eingeschränkt  sein 
werden.  —  Ob  übrigens  die  gegenwärtige  akademische  Welt,  unsere 
Studenten  und  Kandidaten,  unsere  Referendare  und  jungen  Ärzte,  unsere 
jungen  Gelehrten  und  Beamten,  wenn  sie  vor  das  gleiche  Gericht  ge- 
stellt würden,  im  ganzen  ein  günstigeres  Urteil  erlangen  würden  ?  Ich 
ws^e  die  Frage  nicht  zu  entscheiden;  aber  diejenigen,  die  so  zuver- 
sichtlich von  der  gänzlichen  sittlichen  Verkommenheit  des  mittelalter- 
lichen Klerus  sprechen,  sollten  sie  sich  vorlegen.  Vielleicht  besteht 
der  Vorteil  derselben  Klassen  der  gegenwärtigen  Gesellschaft  wesentlich 
darin,  daß  von  ihnen  Heiligkeit  niemand  erwartet  oder  verlangt.^ 


^  Diese  Frage  hat  Entrüstung  hervorgerufen;  man  hat  eine  y,ungeheucr- 
liehe  Insinuation'^  darin  gefunden.  Das  beweist  zunächst  nur,  daß  die  hier 
angedeutete  Ansicht  der  herkömmlichen  Meinung,  nicht  aber,  daß  sie  den  That- 
sachen  nicht  entspricht  Ich  kann  nicht  beweisen,  daß  sie  richtiger  ist,  eine 
vergleichende  Statistik  über  diese  Dinge  giebt  es  nicht  Aber  ich  meine,  wir 
haben  keine  Ursache,  uns  zu  erheben;  auch  wird  die  Gegenwart  nicht  besser 
dadurch,  daß  wir  das  Mittelalter  schlechter  machen.  —  C.  Krause,  der  Heraus- 
geber des  Briefwechsels  Mutians  bemerkt  zu  dem  oben  (S.  85)  angeführten 
Brief:  er  sei  ein  Beweis,  wie  auch  die  Besten  von  der  mönchischen  Frivolität 
und  Scheinheiligkeit  angesteckt  waren.  Gewiß,  es  ist  nicht  eine  individuelle 
Erscheinung,  und  sicherlich  hängt  sie  mit  dem  erzwungenen  Cölibat  zusammen. 
Dennoch  würde  ich  sagen;  daß  wir  im  Kreise  Mütians  eben  „die  Besten^'  vor 
uns  haben,  wird  ohne  Grund  vorausgesetzt.  Es  waren  die  Gebildetsten,  ohne 
Zweifel,  sie  verstanden  besser  Latein  und  die  Alten  als  die  Masse;  aber  daß 
dies  auch  in  dem  fraglichen  Punkt  einen  günstigen  Einfluß  gehabt  habe,  daß 
durch  ihre  „Bildung^^  die  Sinnlichkeit  diszipliniert  und  die  Phantasie  in  Zucht 
genommen  sei,  ist  ganz  und  gar  nicht  ausgemacht.  Im  Gegenteil,  die  Bücher 
italienischer  Humanisten,  ja  auch  viele  unter  den  Büchern  der  Alten,  die  da- 
mals fleißig  gelesen  und  imitiert  wurden,  mögen  zu  allem  tauglich  sein,  zu 
Lehrern  der  Reinheit  und  Zucht  des  geschlechtlichen  Lebens  sind  sie  gewiß 
nicht  tauglich.  Da  werden  die  alten  Mönchsbücher,  wie  die  Imltatio  Christi ^ 
doch  besser  gewesen  sein.  Und  ich  bin  überzeugt,  es  gab  im  Klerus  wie  in 
den  Klöstern  ein  gut  Teil  von  Männern,  die  den  Briefwechsel  Mutians,  wenn 
er  ihnen  in  die  Hände  gekommen  wäre,  mit  Schamröte  und  Entrüstung  weg- 
gelegt hätten;  gewiß  auch  andere,  die  ihn  mit  lüsternem  Schmunzeln  durch- 
stöbert hätten.  Ob  diese  die  Mehrheit  bildeten?  ob  ihr  Verhalten  im  Verkehr 
dieser  Kreise  tonangebend  war?  Ich  weiß  es  nicht;  mir  scheint  aber  dagegen 
zu  sprechen,  daß  Männer  wie  Staupitz  und  Luther  so  viele  Jahre  lang  in  dieser 
Umgebung  aushielten.  Und  wir  haben  doch  auch  andere  Bilder.  Man  lese  das 
Wanderbüchlein  des  Johannes  Butzbach  (deutsch  von  D.  J.  BErKER,  mit  Bei- 
lagen, lH69j;    die  Züge  aus  dem  rheinischen  Klosterleben,  die   liebenswürdigen 


88  I,  4.   Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


Doch  wenden  wir  uns  wieder  zu  dem  Verlauf  der  Dinge  in  Erfurt 

Im  ersten  Augenblick  machte  die  Satire  großes  Aufsehen.    Der 

erste  Teil  wurde  in  den  nächsten  Jahren  noch  zweimal,   der  zweite 


Charakteristiken  der  Konventsmitglieder  der  Abtei  Laach  geben  doch  ein  völlig 
anderes  Bild:  zwischen  Andachtsübungen ,  Studien,  Handwerks-  und  Haus- 
haltungsarbeit ist  das  Leben  der  Brüder  geteilt,  so  daß  der  Neigung  des  Ein- 
zelnen dabei  ein  angemessener  Spielraum  bleibt  Das  Bild  der  Klöster,  die 
hier  als  stille  Inseln  in  dem  unruhigen  Treiben  der  Zeit  erscheinen,  wird  idea- 
lisiert sein;  aber  warum  bloß  die  Karikaturen  betrachten?  Oder  man  nehme 
die  Aufzeichnungen  K.  Pellikans,  wie  sie  jetzt  in  trefflicher,  mit  den  nötigen 
Nachweisungen  versehener  Übersetzung  von  Th.  Vulpinüs  (die  Hauschronik 
K.  P.  von  Bufach,  1892)  vorliegen,  zur  Hand;  Pellikan  war,  fast  noch  ein 
Knabe,  in  den  Minoritenorden  getreten,  er  war  Guardian  in  mehreren  Klöstern 
(Pforzheim,  Rufach,  Basel)  und  machte  wiederholt  Visitationsreisen,  ehe  er  sich 
der  Beformation  anschloß.  Seine  Erinnerungen  aus  dem  klösterlichen  Leben 
enthalten  nichts  von  Bitterkeit  und  Widerwärtigkeit;  dagegen  findet  man  darin 
manch  rührenden  Zug  von  schlichter  Einfachheit,  doch  auch  von  lebhaftem 
Streben  nach  Erkenntnis  unter  engen  äußeren  Verhältnissen.  —  Auch  an  den 
obigen  Zeilen  über  Hütten  hat  man  Anstoß  genommen.  So  bemerkt  Th.  Zieoler 
in  seiner  Geschichte  der  christlichen  Ethik,  1,  429:  „Das  läuft  doch  im  Grunde 
auf  den  Vorwurf  hinaus,  daß  auch  dieser  größte  aller  Humanisten  —  Humanist 
geblieben  sei  und  an  den  Fehlem  des  Humanismus  partizipiert  habe,  und  wer 
hat  das  je  bestritten?  Daß  aber  Mangel  an  G«ld  zugleich  auch  Mangel  an 
Größe  sei,  das  glaubt  das  deutsche  Volk  dem  Verfasser  der  (beschichte  des  ge- 
lehrten Unterrichts  einstweilen  noch  nicht ^^  Sehen  wir  von  letzterem  ab,  so 
scheint  mir  die  Bemerkung,  daß  Hotten  eben  Humanist  gewesen  sei,  aus  ganz 
derselben  Ansicht  heraus  gesprochen,  der  auch  ich  zuneige:  daß  die  Renaissance 
in  gewissen  Köpfen  die  sittlichen  Begriffe  in  eine  bedenkliche  Verwirrung 
brachte.  Die  Liederlichkeit  ist  gewiß  nicht  erst  von  den  Humanisten  erfunden 
worden;  aber  sie  ist  von  ihnen  mit  einem  ästhetischen  Anstrich  versehen  und 
dadurch  doch  auch  ihnen  selbst  gefährlicher  geworden.  Auf  keinen  Fall 
scheinen  sie  mir  zu  deutschen  Nationalheiligen  oder  Nationalhelden  sich  zu 
eignen.  Die  Hütten  dazu  stempeln  wollen  —  und  man  kann  ihn  ja  auf  den 
Reformationsbildem  überall  als  Nebenfigur  neben  Luther  sehen  —  müssen 
wirklich  sein  Bild  nicht  gar  genau  betrachtet  haben;  oder  das  deutsche  Volk 
muß  an  Nationalhelden  große  Not  leiden.  —  Gewiß  war  Hütten  ein  Mann  von 
gewaltiger  Kraft  leidenschaftlich  erregter  und  erregender  Rede,  es  lodert  eine 
Glut  revolutionären  Feuers  in  seinen  Schriften,  wie  es  in  Deutschland  nicht 
wieder  gesehen  worden  ist  bis  auf  die  Tage  Ferdinand  Lasalles.  Es  ist  nicht 
zufällig,  daß  Lasalle  in  seinem  Schauspiel  „Franz  von  Sickingeu"  in  der  Figur 
Huttens  sich  selber  dramatisiert  oder  aus  ihm  „den  Spiegel  seiner  Seele  ge- 
macht^^  hat:  „ich  konnte  dies,''  äußert  er  in  einem  Brief,  „da  sein  Schicksal 
und  das  meinige  einander  vollkommen  gleich  und  von  überraschender  Ähnlich- 
keit sind"  (F.  Lasalles  Reden  und  Schriften,  herausgeg.  von  E.  Bernstein,  I,  34). 
Wenn  man  unter  dem  Schicksal  nach  dem  Wort  des  alten  Heraklit  den  inneren 
Dämon,  das  Ethos,  versteht,  so  ist  die  Sache  ganz  zutreffend,  obwohl  allerdings 
auch  in  den  äußeren  Schicksalen  eine  erstaunliche  Analogie  sich  findet.  Wie 
alle,  fühlt  sich  Hütten  „bewafihet  mit  der  ganzen  Bildung  des  Jahrhunderts" ; 


Ulrich  V.  HuUm.  89 


noch  einmal  gedruckt  Dann  wurde  es  still;  von  1518 — 1556  ist  keine 
neue  Ausgabe  erschienen.  Die  Führer  des  Humanismus,  Reüchlin 
und  Ebabmüs,  sprachen  auf  das  entschiedenste  ihre  Mißbilligung  aus. 


er  lebt,  wie  dieser,  in  der  Welt  der  Bildung  und  sucht  Verbindungen  nach  oben, 

während  er  andererseits  den  Massen  die  Revolution  predigt;  wie  dieser,  ist  er  von 

dem  unbändigen  Drang  beseelt,  eine  Rolle  zu  spielen,  sei  es  im  Bunde  mit  den 

oberen  Grottem,  sei  es  mit  den  Gewalten  der  Unterwelt;   wie  diesem,  ist  ihm 

persönliche  und  Öffentliche  Fehde  Herzensbedürfnis,  und  in  der  Führung  des 

Kampfes  ist  beiden  jedes  Mittel,  das  Erfolg,  augenblicklichen  Erfolg  verspricht, 

recht;    beide   sind   dazu   theatralische  Deklamatoren   der  eigenen  Thaten  und 

Tugenden,  pathetische  Ankläger  fremder  und  doch  nicht  fremder  Laster;  beide 

sind    unerreichte  Muster   in   der  Beschimpfung   und  Utterarischen  Vernichtung 

der  Gegner,   beide  sind  rücksichtslose  Prediger  und  Verüber  von  Gewaltthat; 

das  geht  bei  Hütten  so  weit,  daß  er  auch  Lebensbedrohung  und  Meuchelmord 

(unter  dem  Titel  der  Fehde)  nicht  f^r  unerlaubte  Kampfmittel  gegen  die  Feinde, 

die  Pfaffen,  ansieht  —  Hütten  hat  an  sich  selber  und  seinem  Leben  schwer 

genug  zu  tragen  gehabt;   sein  langes  Leiden  und  sein  einsamer  Tod   müßten 

das  Urteil  über  ihn  entwaffnen,  wenn  nicht  immer  wieder  für  ihn  bewundernde 

Verehrung   wie  für  einen  Nationalhelden  gefordert  würde.     Zu  diesen  vermag 

ich  ihn  nicht  zu  zählen ;  und  ich  hielt  es  und  halte  es  noch  für  notwendig,  dies 

auszusprechen;  es  ist  für  ein  Volk  nicht  gut,  wenn  es  zu  falschen  Göttern  betet, 

falsche  Größen  verehrt.     „Hütten  war  bei  allem  litterarischen  Talent,  bei  allen 

schriftstellerischen  Leistungen  ein  Mann  ohne  Charakter^* ;  so  faßt  Maurenbrecher 

sein  Urteil  über  den  Mann  zusammen  (Gesch.  der  kathol.  Reformation  I,  199). 

Das  Urteil   gilt   ebenso    von    dem  modernen  Ebenbild  Hüttens,  von  Lasalle. 

Was  beiden  fehlt,  das  ist  die  reine  und  volle  Hingebung  an  die  Sache.    Nicht 

die  Sache,  der  sie  dienten,  sie  mag  nun  die  rechte  sein  oder  nicht,   ist  ihnen 

zum  Vorwurf  zu  machen,  sondern   daß  sie  ihr  nicht  mit  reiner  Seele  dienten, 

die  Sache  sollte  zuletzt  der  persönlichen  Darstellung  dienen.    Eine  greuzenlose 

Sucht,  die  eigene  Person  zur  Darstellung,  Geltung  und  Herrschaft  zu  bringen, 

eine  verzehrende  Ichsucht  ist  der  Grundzug  der  beiden  Männer;    und  deshalb 

ist  kein  inneres  Maß  und  keine  Festigkeit  des  Weges  bei  ihnen:    Talent  ohne 

Charakter.     Mit  einigem  Recht  kann  man  aber  dies  als  Motto  über  die  ganze 

Geschichte  des  Humanismus  setzen:    viel  Talent,    wenig  Charakter.     Es 

fehlt  diesen  Männern  durchweg  an  Reiaiieit,  Ernst  und  Kraft  des  Willens.  Daher 

sind  sie  auch  von  der  Geschichte  weggeweht  worden.     Es  gilt  von  ihnen  ein 

Wort  Goethes: 

Wer  mit  dem  Leben  spielt. 

Kommt  nie  zurecht. 

Wer  sich  nicht  selbst  befiehlt, 

Bleibt  immer  Knecht 

Ziegler  äußert  an  demselben  Ort  (S.  414),  daß  ich,  im  Bunde  mit  Janssen  und 
Demifle,  unter  dem  Schein,  Fabeln  kritisch  zu  zerstören,  die  alte  katholische 
fahle  convenuf  wiederherstellen  wolle.  Von  diesem  Bestreben  weiß  ich  mich 
völlig  frei;  ich  will  keine  Fabeln  herstellen  oder  zu  halten  suchen,  weder  katho- 
lische noch  protestantische,  sondern  suche,  soviel  ich  vermag,  die  Dinge  zu 
sehen,  wie  sie  sind.  Durch  dies  Bestreben  bin  ich  allerdings  zum  Zweifel  daran 
geführt  worden,    ob    die  Renaissance  und  ihre  Apostel  alle  die  Hochachtung, 


90  /,  4.   Die  humanistisdis  Beformatioti  der  Universitäten. 

Freilich  hatte  Reuchun  in  seiner  iJefensio  contra  calumniatores  suos 
Colonienses  (1512)  denselben  Ton  angeschlagen,  man  sehe  den  Auszug 
in  Geigebs  Reuchlin  (S.  276),  und  auch  Eeasmus  hatte  im  Lob  der 
Narrheit  (1509)  sein  Gespött  mit  denselben  Persönlichkeiten  getrieben. 
Aber  nun  wurde  ihnen  unheimlich  unter  den  Geistern,  die  sie  gerufen. 
Die  Episteln  der  dunkeln  Männer,  schreibt  Erasmüs  an  Caesahius  in 
Köln  (16/8.  1517,  Opp.  III,  1622)  haben  mir  sehr  mißfallen.  Mir 
gefallt  ein  Scherz,  aber  er  darf  niemanden  beschimpfen.  Wie  schlimm 
beraten  jene  nicht  nur  sich  selber,  sondern  alle,  denen  die  schönen 
Wissenschaften  am  Herzen  liegen.  Er  bittet  dann  den  Caesaeius  ein 
ähnliches  Produkt,  das,  wie  man  sage,  in  Köln  erscheinen  solle,  zurück- 
zuhalten. Bekannt  ist,  daß  auch  Luther,  dem  doch  eine  Beschimpfung 
der  Sophisten  und  ihrer  Gelehrsamkeit  kaum  zu  grob  sein  konnte,  die 
Briefe  mißbilligte.  — 

So  erfolgte  denn  in  dem  Erfurter  Kreise  eine  unerwartete  Wendung. 
Unter  den  Zurückgebliebenen  war  Eobanus  ohne  Widerrede  das  Haupt. 
Er  war  ein  Mann  mit  leichtem  und  fröhlichem  Herzen,  ein  großer 
Zecher,  beständig  in  der  dringendsten  Geldverlegenheit,  die  er  aber 
mit  der  heitersten  Miene  von  der  Welt  ertrug:  er  konnte  in  denselben 
lateinischen  Versen  einen  Freund  um  ein  Darlehen  von  1  fl.  ersuchen 
und  zu  Tisch  bitten.  Seine  ganze  Art  erinnert  an  die  wundervolle 
Charakterfigur  des  Mr.  Micawber  in  Dickens  Copperfield,  nur  daß  die 
Flunkereien  des  durstigen  Poeten  manchmal  etwas  weniger  harmlos  sind 
als  die  des  treflflichen  Micawber.  Sein  Talent  war,  lateinische  Verse  zu 
machen.  Er  hatte,  wie  schon  erwähnt,  durch  seine  christlichen  Heroiden 
sich  den  Namen  des  christlichen  Ovid  erworben.  Seit  dem  Jahre  1517 
erhielt  er  von  der  Stadt  eine  Besoldung;  er  war  der  gefeiertste  Lehrer, 


die  mittelalterliche  Bildung  und  ihre  Träger  alle  die  Verachtung  verdienen,  die 
ihnen  bis  auf  diesen  Tag  so  reichlich  entgegengebracht  wird.  —  Mit  einem 
Wort  J.  BuRCKHARDTS  (Kultur  der  Renaissance  I,  813)  über  die  Gruppe  der 
italienischen  Humanisten  mag  dieser  Exkurs  beschlossen  werden:  „Drei  Dinge 
erklären  und  vermindern  vielleicht  ihre  Schuld:  die  übermäßige,  glänzende  Ver- 
wöhnung, wenn  das  Glück  ihnen  günstig  war,  die  Garantielosigkcit  ihres  äußeren 
Daseins,  so  daß  Glanz  und  Elend  je  nach  Launen  der  Herren  und  nach  der 
Bosheit  der  Gegner  rasch  wechselten;  endlich  der  irremachende  Einfluß  des 
Altertums.  Dieses  störte  ihre  Sittlichkeit,  ohne  ihnen  die  seinige  mitzuteilen, 
und  auch  in  religiösen  Dingen  wirkte  es  auf  sie  wesentlich  von  seiner  skeptischen 
und  negativen  Seite,  da  von  einer  Annahme  des  positiven  Göttcrglaubens  doch 
nicht  die  Eede  sein  koimte.  Gerade  weil  sie  das  Altertum  dogmatisch,  d  h.  als 
Vorbild  alles  Denkens  und  Handelns  auffaßten,  mußten  sie  hier  in  Nachteil 
geraten.  Daß  es  aber  ein  Jahrhundert  gab,  welches  mit  voller  Einseitigkeit 
die  alte  Welt  und  deren  Hervorbringungen  vergötterte,  das  war  nicht  mehr 
d  Einzelner,  sondern  höhere  geschichtliche  Fügimg.^^ 


Reform  der  Universität  Erfurt,  91 


der  Kühm  der  ganzen  Universität  Es  ist  begreiflich,  daß  ein  solcher 
Mann  mehr  den  Frieden  liebte  als  den  Krieg.  So  wurde  aus  dem 
streitbaren  ordo  Mutiani  das  friedliche  regnum  Eobani,^ 

Wie  für  den  ordo  Mutiani  Reüchlin,  der  kämpfende,  so  wurde  für 
das  regnum  Eobani  Eeasmus,  der  durch  ruhige  Überlegenheit  siegreiche, 
Heerführer  und  Idol.  Zu  ihm  wallfahrteten  nun  die  Erfurter  Poeten, 
um  ihre  Huldigung,  die  sich  in  geschmacklosen  Superlativen  nicht 
genug  thun  kann,  ihm  zu  Füßen  zu  legen;  Ebasmüs  hatte  Mühe  sich 
ihrer  zu  erwehren.  Er  mahnte  nun  entschieden  den  Weg  friedlicher 
Reform  zu  gehen.  Nicht  durch  Bekämpfung  der  Widersacher,  sondern 
durch  Anbau  der  schönen  Wissenschaften  werde  die  gute  Sache  gefördert. 
Nicht  als  Feinde,  die  alles  mit  Verwüstung  bedrohen,  sondern  als  Gast- 
freunde, die  sich  den  einheimischen  Sitten  bequemen,  müßten  die 
Humanitatsstudien  auf  den  Akademien  Eingang  zu  gewinnen  suchen 
(irrepere). 

Und  in  der  That,  die  friedliche  Eroberung  der  Erfurter  Universität 
gelang  vollständig.  Von  1517 — 1521,  wo  das  Pfaflfenstürmen  seinen 
Anfang  nahm,  stand  die  Erfurter  Universität  durchaus  unter  der  Herr- 
schaft des  Humanismus.  Im  Jahre  1519  kam  es  zu  einer  großen 
Reform  des  Studiums.  Justüs  Jonas  berichtet  darüber  einem  Freunde: 
zurückkehrend  von  einer  sechsmonatlichen  Reise  nach  Brabant  (der 
üblichen  Huldigungsreise  zu  Ebasmüs)  habe  er  die  ganze  Universität 
erneuert  gefunden:  die  lernäische  Schlange  der  Scholastik,  die  den 
ganzen  Unterricht  auf  lauter  elende  dialektische  Spitzfindigkeiten  her- 
untergebracht und  alle  guten  Autoren  beseitigt  habe,  sei  vernichtet, 
ein  Komitee  von  acht  Männern  eingesetzt,  um  hier  ein  Studium  der 
drei  Sprachen,  der  wahren  Philosophie  und  der  echten  Theologie,  ein- 
zurichten und  hierfür  Professoren  anzunehmen.  „Unser  Universität" 
fügt  er  am  Schluß  auf  deutsch  hinzu,  „i^^^t  i^  hundert  Jahren  oder 
dieweil  sie  gestanden,  also  nicht  reformiert  gewest."  Über  den  Inhalt 
der  Reform,  die  doch  wohl  zu  neuen  Lektions-  und  Prüfungsordnungen 
geführt  hat,  sind  wir  nicht  unterrichtet.  In  der  Magistermatrikel 
werden  die  18  Magistrierten  des  Jahres  1519  als  „Jünger  der  latei- 
nischen und  dpr  eben  aufkeimenden  griechischen  und  hebräischen 
Sprache"  bezeichnet  (Krause  I,  310).  Daß  die  junge  humanistische 
Gruppe  wenigstens  in  der  artistischen  Fakultät  durchaus  die  Uinge  in 
der  Hand  hatte,  geht  auch  aus  der  Thatsache  hervor,  daß  in  den 
Jahren  1519 — 1521  der  Reihe  nach  vier  Rektoren  aus  diesem  Kreise 
hervorgingen:  J.  Jonas,  Ceratinus,  PiiATz,  Crotus.     Bemerkenswert 


Über  EoBAN  giebt  die  sorgfältige  Biographie  Krauses  jede  Auskunft. 


92  I,  4,    Die  humanistische  Reformation  der   UniversiUUen, 


ist,  daß  die  Poeten  an  das  Studium  der  griechischen  Sprache,  besonders 
auch  des  neuen  Testaments  gehen.  Jon.  Lange  wurde  als  Professor 
der  griechischen  Sprache  angenommen,  J.  Jonas  lernte  unter  seiner 
Leitung  und  wendete  sich  bald  ganz  der  Theologie  zu.  —  Freilich  war 
der  Triumph  des  Humanismus  von  kurzer  Dauer;  nach  wenig  Jahren 
wurde  er  von  der  großen  kirchlichen  Revolution  verschlungen.^ 

Die  Universität  Leipzig  gelangte  in  den  beiden  ersten  Jahrzehnten 
des  16.  Jahrhunderts  zu  hoher  Blüte.  Die  Frequenz  erreichte  ihren 
Höhepunkt  um  1510,  die  Zahl  der  jährlichen  Immatrikulationen  betrug 
ungefähr  500,  die  Zahl  der  Promotionen  in  der  artistischen  Fakultät 
etwa  125  Baccalarien  und  16  Magister;  die  Gesamtfrequenz  kann  auf 
1000 — 1500  angeschlagen  werden.*  Herzog  Georg  (1471 — 1539,  regierte 
seit  1500),  ein  durch  Gesinnung  und  Bildung  ausgezeichneter  Fürst, 
nahm  an  dem  Gedeihen  der  Studien  lebhaften  Anteil.^  Er  selbst, 
ursprünglich  für  den  geistlichen  Stand  bestimmt,  hatte  in  Leipzig 
studiert;  er  sprach  und  schrieb  lateinisch,  in  der  Erasmischen  Korre- 
spondenz finden  sich  mehrere  Briefe  von  ihm.  Er  war  der  neuen 
wissenschaftlichen  Bildung  günstig  und  erleichterte  ihr  den  Eingang  in 
die  Universität.  „Unter  deinem  Schutz,"  schreibt  Ebasmus  im  Jahre  1520 
(Opp.  III,  567),  „durch  deine  Munifizenz  ist  die  Leipziger  Universität, 
an  welcher  die  alten  Studien  längst  blühten,  durch  das  Hinzutreten 
der  Sprachen  und  schönen  Wissenschaften  nunmehr  so  ausgestattet, 
daß  sie  kaum  irgend  einer  nachsteht" 

Die  ersten  Spuren  humanistischer  Anregung  reichen  auch  in  Leipzig, 
wie  in  dem  erwähnten  Aufsatz  von  Wattenbach  nachgewiesen  ist,  bis 
gegen  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  zurück.  Ich  will  aber  auf  Ludee 
und  andere  Poeten,  die  vorübergehend  auftauchten,  nicht  nochmals  ein- 
gehen. Zu  einer  öffentlich  autorisierten  Vertretung  kam  der  Humanis- 
mus im  ersten  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts  durch  die  Gunst  Herzog 
Georgs.  Es  sind  zwei  bekannte  Wanderpoeten,  welche  der  Herzog  nach 
einander  in  Dienst  nahm:  Hebmannüs  Buschius,  mit  dem  poetischen 


*  J.  Jonas'  Briefwechsel,  herausgeg.  von  Kawebaü  (1884),  I,  25.  Erwähnt 
wird  die  Reform  auch  in  den  Akten  der  Universität,  herausgeg.  von  Weissen- 
BORN,  II,  308;  ohne  daß  aus  den  Angaben  näheres  zu  ersehen  wäre;  hervor- 
gehoben wird,  daß  amplissimus  ordo  artistarum  quem  quis  merito  totius 
yijmnasii  proram  et  popptm  dixeritf  die  üblichen  Promotionsschmäuse  be- 
schränkt habe. 

'  S.  meinen  oben  erwähnten  Aufsatz  über  die  deutschen  Universitäten  in 
Sybels  Zeitschr.  Bd.  VL,  S.  293. 

^  J.  G.  BoEHME,  de  Utleratura  Lipsiensi  enthält  unter  anderen  Studien, 
welche  sich  auf  die  Rezeption  des  Humanismus  in  Leipzig  bezichen,  auch  eine 
Rede  auf  Herzog  Georg,  S.  37—52. 


Die  Universität  Leipzig,  9 


i 


Beinamen  Pasiphilus  (sonst  H.  v.  d.  Busche,  geb.  zu  Sassen  bürg  in 
Westfalen,  1468 — 1534)  und  Jon.  Rhagius  Aesticabipianus  (Back 
aus  Sommerfeld  in  der  Lausitz,  1457 — 1520).  Buschius  war  ein 
Schüler  des  Heoius;  seine  humanistische  Bildung  hatte  dann  durch 
einen  langen  Aufenthalt  in  Italien  ihre  Vollendung  erhalten.  Nach 
langer  Wanderung  durch  die  norddeutschen  Städte  wurde  er  1502  in 
Wittenberg  in  die  Matrikel  als  artis  oratoriae  atque  poeticae  lector  con- 
ducius  eingetragen.^  Aber  schon  im  folgenden  Jahr  siedelte  er,  mit 
einem  Stipendium  von  Herzog  Geoeg  versehen,  nach  Leipzig  über. 
Hofifentlich  ist  ihm  auch  ein  Lobgedicht  auf  Leipzig  nicht  unvergolten 
geblieben.^  Im  Jahre  1507  verließ  er  Leipzig,  wie  es  scheint  in  gänz- 
lich derangierten  Verhältnissen,  und  kam  nach  mancher  Irrfahrt  nach 
Köln  zurück,  wo  wir  ihm  wieder  begegnen  werden.  Zu  seiner  Charak- 
teristik kann  noch  folgender  Zug  dienen.  Als  ein  Freund  (der  Witten- 
berger Mellerstadt)  ihn  bat,  ihm  sein  Handexemplar  des  Silius  Italiens, 
über  den  er  in  Leipzig  gelesen  hatte,  um  der  eingetragenen  Noten  und 
Emendationen  willen  zu  borgen,  erwiderte  er:  „einen  S,  Italiens,  den 
ich  dir  schicken  könnte,  besitze  ich  nicht;  als  ich  über  ihn  Vorlesungen 


^  Liesseh,  de  H.  Buschii  vita  et  scripHs.  Bonn  1866.  H.  v.  d.  Busche,  sein 
Leben  und  seine  Schriften,  in  Progr.  des  Kölnischen  Wilhelmsgymn.  1884  u.  folg. 

*  LipsicOy  1504,  wozu  noch  ein  zweites  Lobgedicht  in  pueÜas  Lipaenses  kam. 
In  der  Dedikationsepistel  zählt  er  berühmte  Beispiele  von  großmütiger  Vergeltung 
litterarischer  Verherrlichungen  auf,  unter  anderen  dieses:  Alexander  d.  Gr.  habe 
einem  Poeten,  der  sonst  nicht  viel  wert  gewesen  sei  und  auch  den  König  keines- 
wegs, wie  er  verdiente,  besungen  habe,  dennoch  für  jeden  Vers  ein  Goldstück 
reichen  lassen.  Hierontmüs  Emser  geht  in  den  vorgedruckten  Begleitversen  von 
den  Exempeln  zur  direkten  adhortatio  über:  die  Stadt  möge  ihrem  Sänger  sich 
dankbar  erweisen,  da  sie  durch  ihn  nunmehr  der  Unsterblichkeit  gewiß  sei: 

Nam  tibi  perpeiuae  donarit  munera  vitae 
Buschius  Aonio  vota  probanfe  choro. 
Den  Inhalt  des  Gedichts  kennzeichnet  Geiger  (Eenaissance  472)  gut  mit  den 
Worten:  Wenn  das  häufig  wiederkehrende  Lips  und  das  einmal  vorkommende 
Plesa  (Pleiße)  nicht  wäre ,  paßte  es  auf  jede  Stadt  so  gut  als  auf  Leipzig.  Es 
wird  die  Fruchtbarkeit  der  Äckef  gerühmt,  sie  gleicht  der  sicilischen,  wie  ein 
benachbarter  See  dem  Bcnacus,  die  Schafherden  versetzen  den  Dichter  nach 
Arkadien,  die  Früchte  und  Blumen  in  die  Gärten  der  Hesperiden,  in  den 
Wäldern  haben  Dryaden  und  Nymphen  ihr  Wesen:  nirgends  ein  individueller 
Zog.  Es  sind  Tapeten,  die  man  an  jede  Wand  hängen  kann,  was  sich  denn  hei 
einem  Umzug  des  Dichters  in  der  That  als  sehr  nützlich  erweist.  In  einem 
Epigramm  (bei  Böhme,  51)  preist  er  Leipzig  als  das  moderne  Athen,  wo  alle 
Weisen  des  Altertums,  ja  die  Musen  selbst  Wohnung  genommen  hätten;  auch 
eine  viel  verwendete  Tapete.  In  der  Flora,  einem  Lobgedicht  auf  Köln  (1508), 
werden  alle  Heldengestalten  des  alten  Rom  und  einige  Griechen  dazu  nach 
Köln  aufgeboten,  um  im  Rat  zu  sitzen,  oder  also  den  biederen  Kölner  Rats- 
herren ihre  Maske  zu  borgen. 


94  ly  4,    Die  humanistische  Reformation  der   Universitäten. 


hielt,  borgte  ich  mir,  wie  ich  pflege,  ein  Exemplar.  Die  Verbesserungen, 
.welche  ich  gemacht  habe,  mußt  du  von  einem  der  Zuhörer  dir  erbitten, 
denn  ich  bewahre  solche  Sachen  niemals  auf."^  Und  dem  Poeten 
Engentinus  in  Freiburg,  als  dieser  sich  1521  ein  Haus  gekauft  hatte, 
machte  er  im  scherzhaften  Ernst  Vorwürfe  darüber:  ein  Poet  könne 
nicht  Hausbesitzer  sein;  sieh  dich  um  unter  allen  früheren  und  gegen- 
wärtigen Poeten,  du  wirst  keinen  finden,  der  ein  Haus  zu  eigen  be- 
sessen habe  (Liessem,  72).  Vermutlich  war  Büschius  in  Wahrheit 
dem  Besitz  dieser  Dinge  nicht  ganz  so  abgeneigt,  als  diese  Äußerungen 
sagen;  aber  so  liebte  er  es  zu  erscheinen:  ohne  Haus,  ohne  Buch,  ohne 
Stellung,  bloß  er  selbst,  die  freie,  souveräne,  allein  durch  ihren  Geist 
geltende  Persönlichkeit.  Bei  einem  andern  Poeten  war  buchstäbliche 
Wirklichkeit,  was  Buschiüs  affektiert:  als  Hütten  starb,  bestand  seine 
ganze  Hinterlassenschaft  in  einer  Feder;  so  berichtet  Zwingli,  der 
dem  Todkranken  das  letzte  Hospitium  gewährt  hatte,  das  ihm  von 
Erasmüs  war  verweigert  worden  (Strauss,  Hütten  534). 

Seit  1507  (nach  Böcking  II,  295,  sonst  wird  1508  angegeben) 
war  Aesticampianus  in  Leipzig.  Er  kam  mit  seinem  Schüler  Hütten 
von  Frankfurt  a.  0.,  wo  er  die  Universität  hatte  eröfihen  helfen.  Mit 
einem  Stipendium  vom  Herzog  und  der  Stadt  versehen,  blieb  er  bis 
zu  seiner  „Vertreibung"  durch  die  Sophisten  im  Jahre  1511.  Mit 
einer  in  mancher  Hinsicht  interessanten  Rede  nahm  er  von  der  Leipziger 
Universität  Abschied.^  Er  zählt  darin  mit  großem  Selbstbewußtsein 
die  Wohlthaten  auf,  welche  er  den  Leipzigern  erwiesen  und  die  sie 
ihm  mit  Undank  vergolten  hätten.  In  den  drei  Jahren  habe  er  die 
wichtigsten  lateinischen  Schriftsteller  erklärt:  Plinius,  Livius,  Plautus, 
Horaz,  Virgils  Aeneis  (in  qua  vita  et  activa  et  contemplativa  poetico  suh 
figmento  penitus  demersa  per  me  est  in  lucem  extracta),  Marcianus  Capella, 
Cicero,  Tacitus  {Germania),  Hieronymus;  andere,  die  er  schon  vorbereitet 
habe,  müßten  jetzt  unterbleiben.  Unerschöpfliche  Mühe  habe  er  darauf 
gewendet,  seine  Schüler  zu  gebildeten  und  tugendhaften  Männern  zu 
machen.  Um  sich  hierzu  zu  beföhigen,  habe  er  Länder  und  Meere 
durchzogen.  Tage  und  Nächte  durchwacht,  sein  Erbe  verzehrt,  die  Ge- 
sellschaft der  Menschen  gemieden.  Gefahren  des  Leibes  und  der  Seele  auf 

^  In  der  Vita  Buschii  (p.  192),  welche  Bubckhardt  seiner  Ausgabe  des 
Valium  humanitatis  vorausgeschickt  hat 

*  Die  Rede  ist,  mit  zahlreichen  Druckfehlem,  in  einer  Leipziger  Disser- 
tation von  Fidler  (1703)  abgedruckt.  Der  Anschlag,  womit  er  dazu  einlud,  ist 
ebendort  mitgeteilt:  J,  Ä,  hinc  emigraiurus  pro  more  suo  univerais  kujus 
gymnasii  magistratibus  et  suhjectis  supremum  vale  dicit.  Dignenttir  itaque  huc 
adesse  cunctiy  gut  non  tarn  hominetn  (Poefa  enim  est),  quam  veritaf^m,  quae  Deus 
est,  et  amant  et  venerantur. 


Die  Universität  Leipzig,    Aesticampiuntts,  95 

sich  genommen,  die  Vergnügungen  wie  die  Pest  geflohen.  Vier  Stunden 
taglich  habe  er  manchmal  gelesen,  weitere  Zeit  den  Übungen  und  Repeti- 
tionen  sowie  der  Abfassung  von  Kommentaren  und  Gedichten  gewidmet,  so 
daß  ihm  zur  Mahlzeit  und  zum  Schlaf  kaum  Zeit  geblieben.  Und  das  alles 
nicht  um  des  Geldes  oder  Ruhmes  willen,  sondern  bloß  aus  Eifer  für  die 
Schüler  und  das  Vaterland.  —  Und  einen  solehenMann  vertreibt  ihr! 

Die  Vertreibung  des  Poeten  spielt  in  der  Geschichte  des  Humanis- 
mus eine  gewisse  Rolle;  sie  pflegt  als  Beispiel  der  Mißhandlung  der 
Vertreter  der  schönen  Wissenschaften  durch  die  Universitäten  angeführt 
zu  werden,  so  bei  Böhme,  so  bei  Böcking,  so  noch  bei  Geigeb,  der 
sonst  durch  unbefangenes  und  billiges  Urteil  über  die  Humanisten  und 
ihre  Gegner  sich  auszeichnet:  er  nennt  den  A.  einen  wissenschaftlichen 
Märtyrer  des  Humanismus  (Renaissance,  431).  So  endlich  auch  noch 
bei  Haetfeldeb:  er  trägt  (in  Schmids  Gesch.  der  Erz.  II,  2,  92)  die 
Geschichte  noch  ganz  in  dem  üblichen  lamentabel-erbaulichen  Stil  vor. 
Daher  scheint  ein  etwas  ausführlicheres  Eingehen  auf  jenes  an  sich 
unerhebliche  Vorkommnis  am  Orte  zu  sein. 

Zunächst  ist  zu  bemerken,  daß  die  „Vertreibung"  erst  nach  jener  Rede 
und  infolge  ihrer  stattfand:  sie  gab  Veranlassung,  den  Poeten  auf  10  Jahre 
zu  relegieren.  In  der  Rede  selbst  sagt  er  noch,  daß  er  freiwillig,  freilich 
veranlaßt  durch  die  Bosheit  der  Magister,  gehe.  Worin  bestand  diese  Bosheit? 

Zunächst  eine  Bemerkung  darüber,  wie  der  Poet  selbst  sein  Ver- 
hältnis zu  den  artistischen  Magistern  ansah;  wir  sind  darüber  durch 
eine  allerdings  etwas  spätere  Darstellung  von  ihm  befreundeter  Hand 
aufs  beste  unterrichtet,  nämlich  durch  jenen  Bericht,  der  unter  dem 
Namen  des  Magisters  Hipp  in  den  Dunkelmännerbriefen  die  Geschichte 
der  Vertreibung  erzählt  (Vol.  I,  No.  17):  Fuit  hie  unus  poeta,  qui  vocatur 
J,  Esticampianus^  et  ipse  fuit  satis  pretensus,  et  parvipendet  sepe  magisiros 
artium  et  annihilavit  eos  in  sua  lectione,  et  dixit  quod  non  sunt  sufficientesj 
et  quod  unus  poeta  valet  decem  magistros ,  et  quod  poetae  in  processione 
deberent  precedere  magistros  et  licentiatos,  fit  ipse  legit  Plinium  et  alios 
poetas  et  dixit,  quod  magistri  artium  non  sunt  magistri  in  Septem  artibus 
liberalibus,  sed  potius  in  Septem  peccatis  mortalibus  etc.  Man  wird  an- 
nehmen dürfen,  daß  diese  Äußerungen  nicht  willkürliche  Erfindungen 
sind,  sie  stammen  ohne  Zweifel  aus  dc^s  A.  eigener  Erzählung;  ja  es 
hindert  nichts,  der  Ansicht  Burckhardts  {De  linguae  Lat,  fatis,  II,  443) 
beizutreten,  daß  Aesticampianus  selbst  den  Brief  verfaßt  habe;  sonst 
wird  man  annehmen  können,  daß  Hütten  die  Erzählung  redigiert 
habe.  Jedenfalls  ist  gewiß,  daß  der  Poet  so  dachte  und  es  ist  keine 
Ursache  zu  glauben,  daß  er  daraus  ein  Geheinmis  machte.  Für  die 
Humanisten  paßt  überhaupt  jede  Rolle  eher,  als  die  der  unschuldigen 


96  ly  4,   Die  humaniatisohe  Reformation  der  Universüäten, 


Lämmer,  welche  kein  Wasser  trüben  und  von  den  bösen  Wölfen,  den 
Sophisten,  angefallen  werden.  Sie  würden  sich  wenig  geschmeichelt 
gefühlt  haben  durch  solche  Darstellung.  Man  sehe,  wie  Hütten,  des 
Aesticampianüs  gelehriger  Schüler,  in  dem  kurz  vorangehenden  Brief 
(No.  14)  sein  eigenes  Auftreten  gegen  den  Wiener  Rektor,  den  magister 
noster  Heokmann,  schildert,  als  dieser  ihn  hindern  wollte  zu  lesen,  weil 
er  weder  promoviert  noch  auch  immatrikuliert  sei:  da  ging  der  Teufels- 
kerl zu  dem  Rektor,  und  sagte  ihm  viele  Schnödigkeiten,  ja  dutzte  ihn 
sogar  (nämlich  statt  ihn  magnificentia  vestra  anzureden). 

Daß  die  Leipziger  Magister  gegen  einen  Kollegen,  der  sich  so  zu 
ihnen  stellte,  freundschaftliche  Gesinnung  hätten  hegen  sollen,  wird 
niemand  so  unbillig  sein  zu  verlangen.  Sie  ärgerten  ihn  vielmehr 
wieder,  so  gut  sie  vermochten.  Wie  das  geschah,  darüber  giebt  nun 
jene  Valediktionsrede  des  Poeten  von  1511  einige  Auskunft.  In  dem 
letzten  Abschnitt  derselben  dankt  er  zuerst  dem  Fürsten  und  dem 
Leipziger  Rat  für  ihre  Wohlthaten;  dann  auch  denjenigen,  „welche 
mich  mit  Haß  und  Neid  niederträchtig  verfolgt  haben,  welche  mich 
weder  der  Stellung,  noch  des  Mahls,  noch  der  Anrede  würdig  erachtet 
haben,  welche  mir  die  öffentlichen  Hörsäle  verschlossen  und  ihre  Schüler 
abgehalten  haben  mich  zu  hören."  Wer  sind  diese?  Er  spezifiziert 
die  Anklage:  es  sind  die  Theologen,  welche  Zöllner  und  Sünder  zu 
ihren  Schmausen  laden,  aber  den  Poeten  nicht;  doch  lassen  wir  sie, 
denn  sie  haben  Macht  loszulassen  und  zu  kreuzigen.  Es  sind  die 
Juristen,  welche  den  Poeten  nicht  in  ihr  Auditorium  lassen,  noch  ein- 
laden; doch  lassen  wir  sie,  denn  sie  können  freisprechen  und  verurteilen. 
Es  sind  die  Mediziner,  sie  haben  den  Poeten  allerdings  eingeladen, 
aber  haben  ihn  untenangesetzt,  als  ob  unsere  göttliche  und  heilige 
Poesie  ihrer  schmutzigen  Medizinkocherei  nachstehe;  doch  lassen  wir 
sie,  denn  sie  können  den  Poeten  mit  ihren  Tränken  am  Leben  erhalten 
oder  zum  Teufel  schicken.  Noch  bleiben  die  Philosophen;  ein  Teil  von 
ihnen  hat  mich  mit  Wohlwollen  gehört,  ein  Teil  verachtet:  jener  Teil 
war  sehr  groß,  dieser  sehr  klein.  Dennoch  danke  ich  ihnen  allen, 
sowohl  dafür,  daß  sie  mich  einmal  zu  ihrem  Schmaus  eingeladen,  als 
dafür,  daß  sie  mich  durch  Neid  und  Mißgunst  angetrieben  haben,  ihnen 
öfter  gehörig  die  Wahrheit  zu  sagen.  Diejenigen  aber,  die  durch  Zu- 
neigung und  Leistung  Dank  verdient  haben,  Magister  und  Scholaren, 
erinnere  ich  daran,  daß  sie  durch  meine  Sorge  und  Mühe  so  ausge- 
bildet sind,  daß  sie  auch  anderen  eine  liberale  Bildung  zu  geben  im- 
stande sind;  und  ich  bitte  sie  überzeugt  zu  sein,  daß,  wo  immer  ich 
meine  Stätte  finden  möge,  meine  Sorge  und  Hilfe,  auch  mein  Ver- 
mögen immer  zu  ihren  Diensten  stehen  wird. 


Die  Universitäi  Leipzig,    AesHcampianus.  97 

Also  man  hatte  den  Poeten,  das  scheint  die  Summe  zu  sein,  nicht 
durchaus  als  Kollegen  behandelt,  worüber  er  im  Grunde  wenig  Recht 
hatte  sich  verdrießlich  zu  bezeigen;  man  hatte  ihm  ferner  die  Be- 
nutzung der  öffentlichen  Auditorien  beschränkt  oder  verweigert  Hierzu 
hatte  er,  wie  es  scheint,  selbst  die  Veranlassung  gegeben.  Die  mittel- 
alterliche Universität  hatte  einen  festen  Stundenplan,  wie  gegenwärtig 
ein  Gymnasium.  Während  der  öffentlichen  Lektionen,  die  in  Leipzig 
seit  der  Reformation  von  1502  gratis  gelesen  werden  mußten,  durfte 
kein  Magister  privatim  lesen.  Der  Poet  scheint  sich  in  seiner  groß- 
artigen Weise  über  diese  Ordnung  hinweggesetzt  zu  haben.  In  einem 
Bericht  eines  Ungenannten  über  den  Zustand  der  Universität  in  der 
Zeit  kurz  vor  der  Reform  vom  Jahre  1519  (im  Urkundenbuch  der 
Universität,  herausgegeben  von  Stübel,  No.  252,  S.  310  f.)  wird  gesagt: 
die  fremden  Poeten,  welche  nicht  Magister,  hätten,  als  der  Fakultät 
nicht  inkorporiert  und  unterworfen,  alle  Stunden  des  Tages,  welche  es 
ihnen  geliebt,  öffentlich  und  heimlich  resümiert,  und  dadurch  auch 
manche  Magister  dazu  verführt.  Aber  die  Fakultät  habe,  um  die 
ordentlichen  Kurse  nicht  ganz  in  Abgang  kommen  zu  lassen,  manche 
Magister  mit  guten  Worten,  einige  mit  Drohungen  davon  abgebracht; 
etliche  widersetzliche  aber  seien  auf  ihrem  Mutwillen  geblieben,  wider 
welche  cid  poenam  suspensionis  ab  emolumentis  und  auch  exchisionis  a 
facultate  prozediert  sei.  —  Den  Poeten,  der  vom  Herzog  und  der  Stadt 
Gehalt  erhielt  und  nicht  Mitglied  der  Fakultät  war,  konnte  man  so 
nicht  strafen;  so  versuchte  man  es  durch  Aussperrung  aus  den  öffent- 
lichen Lektorien. 

Wie  dem  immer  sei,  die  Maßregeln  hatten  die  Wirkung,  daß  der 
Poet  sich  entschloß  weiter  zu  ziehen.  Vorher  aber  wollte  er  den  Leuten 
noch  einmal  die  Wahrheit  sagen.  Dazu  diente  diese  ganze  Rede  und 
vor  allem  ihr  Schluß.  Er  verdient  ganz  mitgeteilt  zu  werden:  ,,So 
ziehe  ich  denn  hin,  wie  die  Schrift  sagt:  wenn  sie  euch  aus  einer 
Stadt  vertreiben,  fliehet  in  eine  andere.  Vertrieben  aber  werde  ich  nicht 
wegen  Unfähigkeit  oder  Unsittlichkeit  (welche  jene  Heuchler  allen 
Poeten  vorwerfen),  sondern  allein  durch  die  Bosheit  und  Niedertracht 
derer,  die  euch,  hochzuverehrende  Herren  Studierende  (o  nobilissimi 
tcholastici),  tyrannisieren  und  das  Geld  aus  der  Tasche  ziehen  und  euch 
mit  ihren  ungesalzenen  Reden  und  ihren  schwelgerischen  Schmausen 
von  der  wahren  Beredsamkeit  und  Tugend  ablocken  und  verführen**. 
Dann  redet  er  mit  Wendungen  aus  der  Apostelgeschichte  („denn  die 
versteht  ihr  ja  wohl  besser  als  mein  Latein")  die  vor  ihm  sitzenden 
Verfolger  also  an:  „Euch  mußte  zuerst  das  Wort  vom  Latein  [verbum 
laänitatis)  gesagt  werden ;  aber  da  ihr  es  verwerft  und  euch  selbst  der 

Paalten,  Unterr.    Zweite  Aufl.    T.  7 


98  I,  4,    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


römischen  Eloquenz  unwürdig  erachtet,  so  wende  ich  mich  zu  den  um- 
wohnenden Barbaren.  Ist  ein  Poet  und  Redner,  den  eure  Väter  nicht 
verfolgt  haben?  Habt  ihr  sie  nicht  zum  Gespött  gemacht,  die  vom 
Himmel  gesandt  waren,  euch  die  Bildung  zu  bringen?  Aus  vielen 
greife  ich  einige  heraus:  den  C.  Celtis  habt  ihr  beinahe  wie  einen 
Feind  verjagt,  den  H.  v.  d.  Büsche  habt  ihr  lange  gequält  und  dann 
hinausgeworfen;  den  J.  Aesticampianus  endlich  habt  ihr  mit  vielen 
Banken  lange  umlagert  und  endlich  gebrochen.  Glaubt  ihr,  daß  noch- 
mals ein  Poet  zu  euch  kommen  wird?  Wahrlich  keiner,  keiner  dem 
das  Gerücht  von  eurer  Tugend  zu  Ohren  gekommen  ist.  Ohne  Bildung 
und  ohne  Witz,  schmutzige  und  ruhmlose  Seelen,  werdet  ihr  leben, 
und  wenn  ihr  nicht  Buße  thut,  so  werdet  ihr  alle  zur  Hölle  fahren. 
—  Doch  das  wollte  ich  nicht  sagen,  gerechter  Schmerz  und  inbrünstige 
Wahrheitsliebe  rissen  mich  hin.  Haltet  es  mir  zu  gute,  deutsche 
Männer,  haltet  es  meinem  durchaus  gerechten  Schmerz  und  der  Wahr- 
heit zu  gute,  wie  euch  der  allmächtige  Gott  eure  Sünden  zu  gute 
halten  möge.    Amen." 

Die  Folge  dieser  Rede  und  ihrer,  nach  Böckings  Ausdruck,  „ein 
wenig  freimütigerer  Äußerungen"  war  die,  daß  die  Universität  den 
Poeten  auf  10  Jahre  relegierte  und  diesen  Beschluß  trotz  der  Inter- 
cession  des  eben  in  Leipzig  anwesenden  Herzogs  aufrecht  erhielt.  „Die 
Rachsucht  der  Scholastiker  wollte  ihr  Opfer  haben",  sagt  Haetfeldee. 
Aestioampian  mußte  weichen,  er  that  es,  wie  der  Brief  des  Mag.  Hipp 
sagt,  nicht  ohne  das  Versprechen,  diese  Beleidigung  rächen  zu  wollen. 
Es  mag  dahingestellt  sein,  ob  er  dabei  an  eine  poetische  Rache  dachte, 
wie  sie  in  den  Briefen  der  dunklen  Männer  bald  darauf  geübt  worden 
ist,  oder  an  die  freilich  mißlungene  juristische,  wovon  die  Akten  des 
Leipziger  Archivs  berichten.^ 

*  Ausführlichen  Bericht  über  diesen  Handel,  sowie  über  das  ganze  Vor- 
leben Aesticampians  findet  man  jetzt  in  einer  Abhandlung  von  Bauch  in  Schnorrs 
Archiv  für  Litteraturgeschichte  XII,  321  ff.,  XIII,  Iff.  Damach  wandte  sich  der 
ergrimmte  Poet,  nachdem  eine  Verwendung  des  Herzogs  und  eine  Appellation 
an  die  Nationen  vergeblich  gewesen,  nach  Rom  und  erwirkte  bei  der  Kurie  in 
persönlicher  Anwesenheit  eine  Wiederaufnahme  des  Verfahrens;  Henning  Goede 
von  Wittenberg  wurde  als  jtidex  ddeyaius  mit  der  Sache  befaßt.  Doch  scheint 
der  Prozeß  schließlich  im  Sande  verlaufen  zu  sein.  Ebendort  ist  noch  ein  zweiter 
Fall  mitgeteilt  Jon.  IIuTTiCHiua,  der  wie  Hütten  zur  Gefolgschaft  (cohorsj  des 
Aestioampian  gehörte  —  er  war  mit  ihm  aus  Frankfurt  gekommen,  wo  er  das 
Baccalariat  erworben  hatte,  was  er  freilich  nachher  verleugnete  —  hatte  ohne 
Befugnis  Vorlesungen  gehalten.  Als  die  Fakultät  dagegen  einschritt,  fülirte  auch 
er  beim  Herzog  Beschwerde,  worin  er  die  Magister,  ut  mos  est  gyrovagorum, 
beschimpfte.  Der  Herzog  trat  für  ihn  ein  und  ließ  den  „leichtsinnigen  Poetaster'* 
erst  fallen,  als  die  Universität  ihm  darlegte,  daß  in  Leipzig  ein  Überfluß  an 


Die  UniversUät  Leipzig.    AesHcampianus,  99 


Das  ist  die  Geschichte  yon  der  Yertreibang  des  Aestigampianus 
durch  die  Leipziger  Universität.  Wie  es  scheint,  haben  nicht  einmal 
die  gleichzeitig  lebenden  Humanisten,  wenigstens  nicht  alle,  darin  ein 
Martyrium  für  die  Wahrheit  erblickt.  Eichabd  Ceocub  und  P.  Mosel- 
liANus,  zwei  humanistische  Professoren  zu  Leipzig,  von  denen  gleich 
die  Rede  sein  wird,  scheinen  die  Sache  ziemlich  natärligh  gefunden  zu 
haben.  Jener  wendet  sich  in  einer  öffentlichen  Rede  (1515)  gegen  die 
humanistischen  Lästerer  Leipzigs:  es  gelte  von  ihnen,  was  Zeus  beim 
Homer  von  den  Sterblichen  sage:  sie  selbst  sind  durch  Übermut  Ur- 
heber ihres  Mißgeschicks,  nicht  Götter  und  Schicksal.  Er  habe  die 
Tollheit  dieser  Leute  auch  erfahren.  Und  Mosellanüs  sagt  in  einer 
Rektoratsrede  (1519):  es  giebt  nichts  Unverschämteres  als  so  einen, 
der  drei  oder  vier  lateinische  Elegantien  gelernt  oder  ein  paar  griechische 
Sprüchlein  aus  des  Ebasmus  Sammlung  eingesteckt  hat  und  nun  sich 
mit  seiner  Kenntnis  utriusque  litteratiirae  in  die  Brust  wirft;  ist  ihm 
gar  noch  ein  Verslein  gelungen,  so  will  er  nicht  mehr  für  einen 
Menschen,  sondern  für  einen  Gott  gelten.  Cicero  und  Demosthenes, 
Homer  und  Virgil  setzten  als  Fundament  der  Eloquenz  die  vollkom- 
mene Erkenntnis  der  Dinge.  Die  Eleganz  des  Ausdrucks  entspricht 
bei  ihnen  der  Bedeutung  der  Gedanken.  In  nobis  nee  res  verbis,  nee 
verba  rebus  respondent  Nicht  lange  vorher  hatte  Wimpheling  in  einer 
Schrift:  Contra  turpem  libellum  Philomosi  Befensio  theolagiae  scholastkae 
sich  über  die  Anmaßung  der  Poeten  aufs  bitterste  ausgesprochen.  So 
ein  Poet  nehme,  obwohl  ein  Verächter  aller  Wissenschaften,  ja  wohl 
aller  Wissenschaften  selber  völlig  unkundig,  den  Vorrang  vor  allen 
anderen  in  Anspruch,  er  fordere  die  erste  Stelle  bei  Tafel  und  bei 
Prozessionen,  er  beanspruche  Aufnahme  ins  Universitätskonzily  ohne 
überhaupt  einen  akademischen  Grad  erworben  zu  haben;  denn  der 
poetische  Lorbeer  sei  kein  Grad.  Überhaupt  sei  die  Poesie  keine  selb- 
ständige Wissenschaft,  sondern  ein  kleines  Teilchen  der  Wissenschaft, 
die  unter  allen  artes  die  unterste  Stelle  einnehme. 

So  urteilten  Männer,  die,  selbst  Förderer  der  humanistischen 
Studien,  den  Personen  und  Verhältnissen  nahe  genug  standen,  um  über 
die  sogenannten  „Poeten"  ein  sachkundiges  Urteil  zu  haben.  Es  zeigt 
die  seltsame  Dialektik  der  Geschichte,  der  man  freilich  an  allen  Punkten 
begegnet,  daß  heutzutage  die  Geschichten  von  der  „Vertreibung"  der 
Poeten  durch  die  bösen  Sophisten  bei  zopfigen  Gelehrten  und  hoch- 
würdigen Schulpotentaten  Mitleid  und  Entrüstung  erregen.     Welcher 

Magistern  sei,  welche  die  schönen  Wissenschiiften  zu  lehren  wünschten  und  ver- 
möchten. Wiederliolte  ähnliche  Vorkommnisse  veranlaßten  ein  allgemeines 
Statut  gegen  die  vagierenden  Lektoren  (Statutenbüclier  509 AT.). 

7* 


100         I,  4.   Die  humanistische  Reformation  der   Universitäten, 


Aufnahme  würden  wohl  bei  eben  diesen  Männern  Gestalten  wie  Aesti- 
CAMPiANus  und  BusoHius  oder  Huttek  und  Huttichius  sich  zu  ver- 
sehen haben,  wenn  sie  ihnen  heute,  in  die  Tracht  der  Gegenwart 
gekleidet,  etwa  als  jungdeutsche  Naturalisten  oder  Sozialdemokraten  be- 
gegneten? Und  ob  eine  Rede,  wie  die  des  Aesticampianüs,  mit  bloß 
zehnjähriger  Relegation  ihnen  hinlänglich  gebüßt  erscheinen  würde? 
So  entrüsten  sich  auch  über  die  Gegner  Luthers  am  meisten  diejenigen, 
die  wenn  sie  vierhundert  Jahre  früher  gelebt  hätten,  am  eifrigsten  ge- 
wesen wären,  den  frechen  Neuerer  zu  verdammen. 

Was  übrigens  das  Mitleid  angeht,  womit  man  die  Poeten  noch 
nachträglich  über  die  Verfolgungen  durch  die  Sophisten  tröstet,  so  ist 
es  an  ihnen  durchaus  verschwendet  Sie  beanspruchen  es  auch  nicht 
im  mindesten;  sie  kommen  sich  ganz  und  gar  nicht  wie  die  unter- 
drückten und  Gehetzten  vor,  vielmehr  als  unermeßlich  überlegen  und 
siegreich:  nicht  sie,  sondern  ihre  Feinde  kriegen  überall  Schläge.  Man 
lese  die  Dunkelmännerbriefe,  jedes  Blatt  sagt^  auf  weicher  Seite  Über- 
mut, Verhöhnung  und  Mißhandlung  zu  Hause  ist,  auf  welcher  Ge- 
drücktheit und  Angst;  man  sehe  nur  das  einzige  carmen  rithmicale 
des  M.  ScHLAUEAFP  nach:  wohin  der  Ärmste  kommt,  sowie  er  auf 
irgend  einer  Universität  sich  blicken  läßt,  wird  er  alsbald  von  einem 
Poeten  erkannt  und  mit  Schimpf  und  Schlägen  traktiert 

Die  humanistischen  Studien  hatten  übrigens  wirklich,  wie  die  Ar- 
tisten in  ihren  Eingaben  an  den  Herzog  sagten,  in  Leipzig  Wurzel  ge- 
faßt; eine  ganze  Reihe  einheimischer  und  seßhafter  Magister  beteiligten 
sich  an  der  Pflege  der  lateinischen  Poesie  und  Eloquenz:  so  Veit 
Werlee,  welcher  Plautinische  Komödien  herausgab  und  erklärte,^  Geoeg 
Helt,  den  Cameraeiüs  mit  großer  Anerkennung  als  seinen  Lehrer 
nennt,  Oreqorius  Aubanus,  Christoph  Hegendorphinus  u.  a.  Ich 
erwähne  nur  noch  einen  Mag.  Thomas  Penzelt,  der  zunächst  für  seine 
Pensionäre,  wie  die  Dedikation  sagt,  einen  modus  studendi  schrieb  und 
im  Jahre  1510  drucken  ließ.  Derselbe  ist,  trotz  des  barbarischen  Titels, 
in  humanistischem  Sinne  gehalten,  wie  z.  B.  aus  dem  Praeceptum  IV 
hervorgeht,  worin  das  Schlagen  als  serviles  Erziehungsmittel  verworfen 
und  auf  die  Erregung  der  Ehrbegierde  verwiesen  wird,  oder  aus  JPrae- 
ceptum  XVI,  worin  die  Kenntnis  des  Griechischen  als  notwendig  be- 
zeichnet wird;  freilich  sei  sie  aus  Mangel  an  Lehrern  schwer  zu  erlangen. 
Selbstverständlich  wird  auf  reines  Latein  Gewicht  gelegt.  Fast  zu  jedem 
Praeceptum  werden  Horazische  Verse  als  Zeugnis  beigebracht.  Übrigens 
werden  auch  die  hergebrachten  philosophischen  Studien  nicht  .verachtet 

^  Über  ihn  und  seine  Plautusausgaben  handelt  ausführlich  Ritschl,  Opusc. 
phil,  III,  75  ff.,  V,  40  ff. 


Die  Universiiäi  Leipzig.    JDas  Qriechische,  101 


Als  Symptom  der  Wandlung  mag  auch  erwähnt  werden,  daß  in 
Leipzig  nach  Bitschl's  sorgfaltigen  Ermittelungen  über  die  Leipziger 
Flautuseditionen  in  dem  zweiten  Jahraehnt  der  Übergang  vom  Druck 
mit  gotischen  Lettern  zur  Antiqua  stattfand.  Seit  1517  herrscht  die 
letztere  Form  ausschließlich. 

Ln  Jahre  1515  erhielt  Leipzig  den  ersten  Lehrer  der  griechischen 
Sprache  in  dem  Engländer  Bichabd  Cboous,  der  bei  H.  Albaner,  dem 
aus  Luthers  Geschichte  bekannten  Mann,  in  Paris  griechisch  gelernt 
hatte.  Die  Fakultät  bewilligte  ihm  auf  Begehren  des  Herzogs,  der  ihn 
empfohlen  hatte,  ein  Honorar  von  5fl.  für  je  eine  öffentliche  Vor- 
lesung über  griechische  Sprache  in  zwei  Semestern  (Boehme,  S.  187). 
Auch  der  Bat  der  Stadt  und  später,  wie  es  scheint,  der  Herzog  gaben 
ihm  ein  Gehalt.^  Der  Zudrang  zu  dem  griechischen  Unterricht  war, 
nach  den  Zeugnissen  seiner  Schüler  C.  Cbucigeb  und  Camebabius, 
sehr  groß;  als  einen  Gesandten  des  Himmels  hätten  ihn  alle  verehrt; 
die  alten  nichtigen  Studien  seien  verlassen,  die  neue  elegante  Bildung 
ergriffen  worden;  jeder  habe  sich  glücklich  geschätzt,  der  mit  Cbocus 
bekannt  geworden;  jedes  Honorar  für  den  Unterricht  sei  gezahlt  worden, 
jeder  Ort  und  jede  Stunde  recht  gewesen  (Boehme,  31).  Auch  Cbocus 
selbst  hat  in  einer  Bede  auf  die  Leipziger  Universität,  welche  er  bald  nach 
seiner  Ankunft  gehalten  zu  haben  scheint  (sie  ist  bei  Boehme 
S.  191 — 205  mitgeteilt),  das  Lob  der  Universität  in  den  üblichen 
Superlativen  und  mit  reichlichen  griechischen  Citaten  gesungen.  Er 
preist  den  Herzog,  den  Bat  der  Stadt,  die  Mediziner,  die  Juristen,  die 
Philosophen,  die  Theologen.  „Nirgend  findet  man  gelehrtere  und 
scharfsinnigere  Philosophen,  nirgend  der  schönen  Wissenschaft  mehr 
beflissene.  Hier  hört  man  Bedner  und  Dichter  von  Philosophen  glück- 
lich und  redlich  interpretieren,  eine  Menge  von  einer  Menge,  so  daß 
zu  hoffen  steht,  diese  Stadt  könne  mit  Athen  und  Bom  auf  eine  Linie, 
ja  ihnen  vorangestellt  werden."  „Die  Theologen  sind  so  ehrwürdig,  so 
ohne  jeden  Hochmut,  daß  sie  schon  hoch  in  Jahren  meine  Vorlesungen 
zu  besuchen  sich  nicht  abhalten  lassen,  nach  dem  Beispiel  des  Cato, 
der  als  Graukopf  noch  Griechisch  lernte."  Mit  viel  Gold,  so  wird 
erzählt,  sei  er  von  dannen  gezogen.* 


^  Ein  Gesuch  einer  Anzahl  Magister,  darunter  Helt  und  Werler,  an  den 
Herzog  um  ein  Gehalt  von  100  Gulden  für  Crocds  auf  wenigstens  noch  ein  Jahr, 
bis  die  griechischen  Studien  tiefere  Wurzeln  getrieben,  s.  bei  Stübel,  Urkunden- 
buch  der  Univ.  Leipzig,  S.  406. 

•  Unter  diesen  bejahrten  Professoren  der  Theologie,  welche  Crocus  hörten, 
war  auch  Hteronymu»  DcrNOERf^iiEiM  von  Ochsenfurt;  man  sehe  seinen  Brief  an 
Ebasmus,  welchen  er  dem  Ceocus  bei  dessen  Abreise  zur  Besorgung  mitgab,  in 


102         1,  4.    Die  hmumisHsche  Befortnation  der  Universitäten. 


Als  Cbocüs  1517  nach  England  zurückgerufen  wurde,  folgte  ihm 
in  der  griechischen  LekturPETBusMosELLANUS  (geb.  1493,  als  P.  Schade 
zu  Bruttig  an  der  Mosel).  Er  hatte  seine  Studien  in  Köln  gemacht, 
er  preist  J.  Caesabius  als  den  Lehrer,  dem  er  alles  verdanke.^  Wie 
groß  sein  Ansehen  war,  geht  daraus  hervor,  daß  er  als  ganz  junger 
Mann  zweimal  in  wenig  Jahren  (Sommersemester  1520  und  1523)  das 
Rektorat  führte.  Als  er  im  Jahre  1 524  starb,  trug  der  Rektor,  J.  Reusch, 
in  die  Rektoratsakten  die  Thatsache  ein  und  fügte  zu  dem  Namen  das 
Beiwort:  preter  etatem  in  utraque  lingua  peritissimus ,  gymnasii  nostri 
suprema  columna,^  Wie  er  selbst  die  Ehre  schätzte,  Mitglied  der  ge- 
lehrten Korporation  zu  sein,  oder  wenigstens  wie  er  in  Humanisten- 
kreisen darüber  zu  sprechen  gut  fand,  geht  aus  einer  brieflichen  Äuße- 
rung über  seine  Promotion  im  Jahre  1520  hervor:  er  habe  zugelassen, 
daß  man  ihm  den  bei  vielen  lächerlichen  Namen  eines  Magisters  bei- 
lege. Er  legte  sich  aber  dieses  Martyrium  auf,  um  Mitglied  des  großen 
Fürstenkollegs  (mit  Wohnung  und  Gehalt)  werden  zu  können.^  — 
Seine  Vorlesungen  in  Leipzig,  öffentliche  und  private,  behandelten 
außer  der  Grammatik  (nach  Theodobus  Gaza)  die  Schriftsteller,  die 
auch  später  die  gewöhnlichen  griechischen  Schulautoren  sind:  Isokrates, 

Ebasmüs'  Werken  III,  1594.  Derselbe  enthält  eine  Anfrage  wegen  einer  neu- 
testamentlichen  Stelle,  in  welcher  des  Erashus  Erklärung  dem  Dunqersheim 
nicht  genügte.  D.  war  über  50  Jahre  alt,  als  er  von  Crocus,  welchen  er  seinen 
venerabilis  praeeeptor  nennt,  Griechisch  lernte.  Er  gehörte  zu  der  Gruppe  der 
Vermittler  des  Alten  und  Neuen,  welche  in  den  Briefen  der  dunkeln  Männer 
beschimpft  wurden.  Auch  Luther  behandelt  ihn  als  lächerliche  Figur.  1514 
war  eine  Schrift  von  ihm  mit  Empfehlungsvcrsen  des  H.  Emser  und  des  Eobanus 
erschienen  (Krause  I,  119).  —  Crocus  nahm  bei  seiner  Abreise  außer  von  D. 
auch  von  Emser  und  Mosellanus,  sowie  von  Stromer  Briefe  an  Erasmus  mit^ 
welche  man  ebenfalls  in  dessen  Werken  findet 

*  Über  ihn  handelt  eine  kleine  Monographie  von  Oswald  Schmidt,  I^ipzig, 
1867.  Über  seine  Studien  in  Köln  Genaueres  bei  Krafpt,  Briefe  und  Dokumente 
S.  118 ff.  Hier  ist  auch  der  Dedikationsbrief  mitgeteilt,  mit  welchem  M.  dem 
Caesarius  seine  Ausgabe  des  Plautus  und  Aristophanes  (Hagenau  1517)  zueignete. 

*  Acta  Rectonim,  herausgegeben  von  Zarncke,  S.  5.  Auch  der  Herzog 
sprach  in  einem  Briefe  an  Erasmus  sein  lebhaftes  Bedauern  über  des  M.  frühen 
Tod  aus:  fuit  summum  Lipsiensis  Qy^ntiasii  deciis,  atque  utinam  Dens  ita 
comparassetj  ut  ille  diutiti^  nieain  liberab'tatem  experirt  potuisset  (EIrasmi  Opp. 
in,  801). 

*  Schmidt,  63 f.:  ridieulum  ilhid  (multis)  Magisterii  titulum  pa^siis  sum 
mihi  imjyoni.  In  einem  Briefe  an  Mutian  (Krapft,  Briefe  S.  148)  erwähnt  er 
ebenfalls  der  Erwerbung  der  Kollegiatur:  durch  Bewerbung  beim  Herzog  und 
beim  Rat  habe  er  sie  erlangt:  praebendam  illam  Princeps,  invitis  Sophistis 
o7nnibti8j  in  me  oonhdit,  cum  tarnen  ohstarent  mihi  et  rons^ietudo  et  scholat  hujus 
legcs.  Evici  tarnen  idqu€  partim  magnorum  hominum  farorCy  partim  exqitisifa 
quadam  a^te,    Ist  diese  List  eben  die  Erwerbung  des  Magisteriums? 


Die  Universität  Leipzig.    Reform  von  1519,  103 


Plutarch,  Plato,  Aristophanes,  Homer,  Demosthenes.  Seit  der  Leipziger 
Disputation  zwischen  Lutheb  und  Eck  (1519),  bei  welcher  er  die  Er- 
öffnungsrede im  Auftrag  des  Herzogs  hielt,  zog  er  auch  theologische 
Autoren  in  den  Kreis  seiner  Vorlesungen:  Augustinus  und  das  Neue 
Testament  Er  rühmt  in  Briefen  den  erstaunlichen  Beifall,  den  er  finde: 
über  Augustinus  hörten  ihn  (im  Sommer  1520)  mehr  als  200  lesen, 
darunter  mehr  als  12  Mönche  und  20  Magister  und  Baccalarien  der 
Theologie;  über  die  Paulinischen  Briefe  im  Winter  1520 — 1521  sogar 
gegen  300.  Welcher  Wechsel  der  Dinge,  fugt  er  hinzu  (der  Brief  ist 
an  Mutian);  sonst  kümmerte  sich  kein  Mensch  um  diese,  wie  man 
meinte,  unfruchtbaren  Studien,  jetzt  sind  sie  oben  auf  und  die  andern 
treten  in  den  Hintergrund.^ 

Im  Jahre  1519  (also  gleichzeitig  mit  der  Erfurter  Reformation)  kam 
eine  Reformation  der  Leipziger  Universität  im  humanistischen  Sinne 
zum  Abschluß.  Da  wir  über  dieselbe  besonders  gut  unterrichtet  sind, 
und  da  sie  anderen  Universitäten  als  Vorbild  gedient  zu  haben  scheint, 
80  will  ich  etwas  ausführlicher  darüber  berichten. 

Lange  Verhandlungen  zwischen  der  Regierung  und  den  Fakultäten 
waren  vorhergegangen.  Sie  fallen  in  dieselbe  Zeit,  in  welcher  die  Briefe 
der  Dunkelmänner  geschrieben  sind,  derselbe  Gegensatz  scheint  überall 
durch.  Das  Eindringen  der  Poeten  und  Oratoren  hatte  manche  Störung 
in  den  alten  Betrieb  gebracht.  Die  zur  Schau  getragene  Verachtung 
der  Humanisten  hatte  sich  augenscheinlich  weiten  Kreisen  der  Schüler 
mitgeteilt,  die  Geringschätzung  der  Grade  bewirkte  ein  Zurückgehen 
der  Nachfrage,  auch  die  Frequenz  nahm  ab.  Das  Konsilium  der 
Artistenfakultät  schob  in  Übereinstimmung  mit  den  Theologen  die 
Schuld  auf  die  Poeten:  sie  untergrüben  zugleich  den  Ernst  der  Studien 
und  die  Disziplin  und  Zucht,  daher  man  sie  einschränken  müsse,  um 
jene  Übel  zu  heilen.* 


*  Schmidt,  Mosellanus,  S.  63.  Daß  dieser  Beifall  die  alten  Professoren  der 
Theologie  verdroß,  ist  begi*eiflich;  sie  müssen  dem  unliebsamen  Konkurrenten 
irgendwelche  Schwierigkeiten  gemacht  haben,  wozu  ihnen  vermutlich  das  for- 
melle Becht  nicht  fehlte.  Mosellanus  wendete  sich  hierauf  mit  einer  großen 
Grefolgschaft  jüngerer  Magister  an  den  Rat  der  Stadt,  er  möge  dem  Fürsten 
klar  machen,  daß  an  seinen  Vorlesungen  der  Universität  und  Stadt  mehr  ge- 
legen sein  müsse,  als  an  denen  der  alten  Herren,  da  die  auditores  in  Leipzig, 
wie  auch  anderswo,  nur  um  der  jungen  Magister  willen  sich  aufhielten.  Welches 
Verfahren  den  Zorn  der  alten  Herren  erst  recht  erregte.  Man  sehe  die  Akten- 
stücke aus  dem  Jahre  1521  bei  Stübel,  Urkundenbuch  Nr.  321—326. 

•  Eine  große  Menge  von  interessanten  Aktenstücken  des  Dresdener 
Archivs  über  diese  Vorgänge  findet  man  in  dem  Urkundenbuch  der  Universität. 
Leider  ist  die  Benutzung  des  Materials  durch  den  Herausgeber  wenig  erleichtert-, 


104         I,  4,    Die  humanisiische  Reformation  der  Universitäten. 


Ein  Bericht  von  vier  verordneten  Magistern  aus  dem  Konsilium 
der  artistischen  Fakultät  läßt  sich  so  vernehmen:  „es  haben  in  kurzer 
Zeit  die  poetischen  Besumptionen  (Privatkurse  humanistischer  Dozenten) 
überhand  genommen ,  daß  die  artes  (die  philosophischen  Wissenschaften) 
sehr  untergedrückt  wurden;  denn  die  Poeten  und  Oratoren  sind  nicht 
schwer  zu  lernen,  aus  welchen  die  Jugend  in  weltlichen  Werken  und 
Händeln  unterwiesen  wird,  derhalben  sie  geneigt  ist,  die  zu  hören,  und 
die  jungen  Magister,  sie  zu  resümieren.  Aus  diesen  Besumptionen 
hören  die  jungen  Gesellen  streiten,  schlagen  und  hauen,  auch  Buhl- 
schaften und  Unzucht  lernen  sie  kennen,  welches  sie  dann  hernach 
aus  jugendlicher  Hitze  und  Neigung  üben  und  vollbringen.  Soll  die 
Fakultät  artium  und  nachfolgend  die  ganze  Universität  wohlstehen,  wie 
vor  langen  Jahren  gewesen,  so  müssen  der  resumptiones  in  poetica 
weniger  sein  und  müssen  die  jungen  magistri  zum  Gehorsam  gedrungen 
werden;  denn  ihre  habitus,  ihre  Worte  und  Werke  geben  den  Studenten 
Ärgernis.  Sie  lesen  zu  verbotenen  Stunden  und  während  der  Dispu- 
tation, womit  sie  die  beschworenen  Statuten  verachten;  sie  halten  nichts 
für  Kunst,  es  habe  denn  einen  auswendigen  Schwung  der  Worte.  Aber 
wie  E.  f.  Gn.  gnädiglich  betrachten  mag:  sdentiae  sunt  de  rebus  und 
nicht  de  vocabulis.  Wer  vocabula  weiß,  der  ist  ein  grammaticusy  er  ist 
aber  deshalb  nicht  gelehrt  oder  ein  Philosoph,  darauf  die  Universität 
gegründet,  denn  vocabula  zu  wissen  gehöret  Knaben  zu.  Deshalb 
müssen  solche  resumptiones,  wie  zu  Köln  und  Paris,  gemäßigt  und  ver- 
mindert werden.  Man  muß  auch  die  magistrandos  besser  examinieren 
und  steter  rejicieren,  damit  sie  verursacht  werden  artes  und  höhere 
Künste  zu  lernen.  Man  hat  bisher  multitudini  parciert  und  vielleicht 
die  neuen  Universitäten  (nämlich  Wittenberg  und  Frankfurt)  angesehen" 
(Urkundenbuch  290).  Hierzu  fügt  ein  sehr  ausführliches  Gutachten 
eines  nicht  genannten  Einzelnen  hinzu,  „daß  die  jungen  Magister  zu 
Kirchen  und  Straßen  und  allenthalben  zu  Tisch  und  auf  die  Buhl- 
schaft mit  den  Gesellen  gehen  und  nicht  anders  mit  ihnen  sich  ge- 
baren, als  wenn  es  ihresgleichen  und  Kameraden  wären"  (Urkunden- 
buch 317). 

Die  Poeten  fanden  natürlich  umgekehii;  die  Ursache  des  Bückgangs 
bei  den  Vertretern  des  alten  Unterrichtsgangs;  dieselben  böten  unzeit- 


nicht  einmal  eine  genauere  Datierung  ist  versucht,  so  leicht  sie  an  Ort  und 
Stelle  war;  auch  die  Namen  sind  nicht  selten  falsch  abgeschrieben.  Die  Akten- 
stücke bestehen  aus  Beschwerden,  Berichten,  Gutachten  der  Fakultäten  und  der 
Magister  außerhalb  der  artistischen  Fakult&t,  ferner  des  Rates  der  Stadt  und 
einzelner  Personen;  sodann  aus  Reformationsentwürfen  und  Bedenken  der 
Fakultäten. 


Die  Universität  Leipzig,    Beform  van  1519.  105 


gemäßen  Stoff  in  barbarischer  Form.  Die  Abnahme  der  Promotionen 
wird  in  einem  Bericht  der  jüngeren  Magister  außerhalb  der  Fakultät 
an  den  Herzog  (TJrkundenbuch  281  f.)  darauf  zurückgeführt,  „daß  die 
examina  nach  alter  Weise  aus  verworfenen  und  jetzt  zur  Zeit  gering- 
geachteten Autoren  geschehen,  die  examinatores  zum  Teil  geringgeschätzt 
und  nach  der  alten  Welt  sind,  daher  sich  viele  und  vor  allem  die  von 
Adel,  welche  etwa  auch  in  artibus  promoviert,  ihrem  Examen  zya  unter- 
werfen verachten;  auch  diejenigen,  welche  bei  den  Magistern  außerhalb 
der  Fakultät  in  der  jetzt  beliebten  Kunst  in  Unterweisung  sind,  unter- 
lassen gleichermaßen  das  Examen,  weil  ihre  praeceptores  nicht  von  der 
Fakultät  und  sie  daher  von  den  Fakultätsmitgliedern  Widerwillen  be- 
furchten. Wie  denn  auch  die  Fakultätsmitglieder  die  Promovenden 
andern  Magistern  abwendig  zu  machen  mit  Bedrohungen  sich  befleißen.^' 
Weiterhin  wird  auch  angeführt  als  Ursache  der  Verachtung  der  Philo- 
sophie -bei  den  Studenten,  „daß  die  alte  Übersetzung  des  Aristoteles, 
welche  bisher  gelesen  wird,  den  Schülern  um  ihres  unzierlichen  Lateins 
willen  ganz  unangenehm  und  zu  hören  verdrießlich  ist."  Unterschrieben 
ist  der  Bericht  von  sechs  Magistern,  darunter  Veit  Werler  an  der 
Spitze  steht. 

Femer  wird  allgemein  darüber  geklagt,  daß  die  Vorlesungen  nach- 
lässig gehalten  und  die  Prüfungen  nicht  ernst  genommen  würden:  mit 
Geld  könne  man  alle  Defekte  zudecken.^  Endlich  darüber,  daß  die 
Kollegiaturen  nach  Gunst  vergeben  würden,  nicht  nach  Würdigkeit:  die 
Theologen  und  die  Komplierenden  in  Theologie  hätten  sich  in  den 
Alleinbesitz  gesetzt. 

Die  Reformation  von  1519  giebt  im  wesentlichen  den  modernen 
Forderungen  nach.^    Vor  allem  der  Forderung,  die  alten  barbarischen 


*  So  der  Bericht  eines  Ungenannten  (Urkundenbuch  S.  314);  ebenfalls  ein 
Bericht  des  Bates  der  Stadt  (S.  864).  Eine  Eingabe  von  Studenten  an  den 
Herzog  hatte  diesen  Punkt  stark  betont,  wie  aus  der  Verantwortung  hervor- 
geht, welche  die  Universität  darüber  an  die  Regierung  schickte  (datiert  vom 
13.  April  1516;  Urkundenbuch  424  if.).  Es  wird  aus  der  Klage  der  Studenten 
angeführt:  „Wir  fleiß igten  uns,  wie  wir  von  den  Studenten  das  Geld  bringen 
mögen,  und  seien  gleich  als  die  Egel:  wie  dieselben  das  Blut  saugen,  also  saugen 
wir  ihnen  das  Geld  aus  dem  Beutel,  auch  zu  Zeiten  mit  Verletzung  der  Studenten 
Ehre  und  des  guten  Gerüchts."  (Vgl.  den  Brief  des  M.  Irüs  Perliäus.  Epp. 
Obs.  Vir.  II,  58).  Die  Universität  antwortete  übrigens  darauf  mit  Ernst  und 
Würde:  der  Vorwurf  sei  nicht  begründet,  die  Vorlesungen  würden  umsonst  ge- 
halten und  die  Promotionskosten  seien  die  hergebrachten. 

•  Die  reformierte  Lektionsordnung  ist  bei  Zabncke,  Statutenbücher  S.  34—42 
mitgeteilt  Sie  hat  die  Form  einer  Einladungsschrift,  welche  Rektor  und  Lehr- 
körper der  Universität  an  die  Studierenden  richten.  Im  blühenden  Humanisten- 
stil, mit  klajssischen  Citatea,  geschrieben,  hat  sie  augenscheinlich  die  Absicht, 


106         1,  4,    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


Übersetzungen  der  aristotelischen  Texte  durch  neue  und  elegante  zu 
ersetzen.  Die  von  den  griechisch-italienischen  Humanisten  Bessabion, 
Argyeopülus,  Augustinus  Niphus,  Hebmolaus  Babbabus,  L.  Valla, 
Theodobus  Gaza  gemachten  Übersetzungen  werden  durchweg  den  Vor- 
lesungen zu  Grunde  gelegt  Zugleich  werden  die  scholastischen  Kom- 
mentare beiseite  gelegt:  non  illius  (nämlich  des  Aristoteles)  interpretum 
somnia  aut  intricatas  quaestiones  interpretabimur ,  cum  miserrimi  sit 
ingeniij  ut  Seneca  ait,  ex  commentariis  tantum  sapere,  in  quibus,  neglecto 
Aristotelis  sensu  de  lana,  ut  ajunt,  caprina  contendunt  sophistae.  Da- 
gegen wird  der  alte  Interpret  Themistius,  in  des  Hebmolaus  Babbabus 
Übersetzung,  wieder  herangezogen,  und  ebenfalls  die  älteren  Kompendien 
der  Physik  von  Albebtus  Magnus,  der  Logik  von  Petbus  Hispanus 
in  Gebrauch  genommen,  ne  dialectices  tirones  perplexis  secundariarum 
et  primariarum  intentionum  quaestionibus  aut  plane  Ulis  Scoti  formali- 


das  Vorarteil  zu  zerstreuen,  daß  die  Leipziger  Universität  hinter  der  Zeit  zurück- 
geblieben sei,  welche  Meinung  ofiFenbar  in  der  studierenden  Welt  verbreitet  war, 
wie  aus  manchen  der  vorher  erwähnten  Bedenken  hervorgeht.  Ein  Konzept 
der  Reformation  in  deutscher  Sprache,  welches  dem  Herzog  vorgelegt  zu  werden 
besümmt  war,  ist  im  Urkundenbuch  (Nr.  279)  mitgeteilt.  Es  ist  nicht  unglaub- 
lich, daß  Hiebonthus  Emseb,  Kaplan  und  Sekretär  des  Herzogs,  der  Verfasser 
des  Konzepts  ist  und  dann  vermutlich  auch  des  vorhin  wiederholt  angezogenen 
namenlosen  Berichts  (im  Urkundenbuch  Nr.  252);  manche  kleinen  Züge  scheinen 
auf  die  Identität  des  Verfassers  beider  Stücke  zu  führen.  Die  neue  Lektions- 
ordnung folgt  in  den  wesentlichen  Stücken  dem  Konzept,  wenn  sie  auch  in  vielen 
Einzelheiten  abweicht.  Als  Verfasser  der  lateinischen  Lektionsordnung  scheint 
M.  Andreas  Epistates  (Propst)  von  Delitzsch,  der  im  Sommer  1519  Rektor  war, 
angesehen  werden  zu  müssen.  Er  gehörte  zu  jenen  Poeten  älteren  Schlages, 
welche,  wie  Ortuinus  Gratius,  den  Hohn  der  Dunkelmännerbriefe  in  erster 
Linie  zu  tragen  hatten.  Er  las  über  Ovid,  Cicero  und  andere  Poetenbücher. 
Als  cyclieanim  artium  professor  trug  er  sich  bei  Gelegenheit  seines  zweimaligen 
Eektorats  (1513, 1519)  in  die  Matrikel  ein.  Daß  Delitzsch  und  Emser  beide  die 
Entfernung  des  Aesticampla.nu8  betrieben  hatten  (Böcking  II,  331 ;  Epp.  Obs.  Vir. 
I,  Nr.  17)  würde  der  Rolle,  die  sie  bei  der  Reformation  der  Universität  spielten, 
nicht  entgegen  sein.  Den  Konziliationsbestrebungen  dieser  beiden  Männer 
konnte  nichts  mehr  hinderlich  sein,  als  die  heftige  und  herausfordernde  Art 
jenes  Poeten.  Daß  Ember  um  diese  Zeit  noch  durchaus  den  Humanisten  zu- 
gezählt wurde,  zeigt  eine  Dedikationsepistel  W.  Pirckhaimers  an  ihn  vom  Ende 
des  Jahres  1519  oder  Anfang  1520  (abgedruckt  in  Huttens  Werken,  ed.  Böckino, 
I,  317 ff.).  Emser  wird  hier  acerrimus  propugtiator  in  Reuchliiiiano  commilitio, 
praecipuus  hostis  der  Sophisten  genannt  Der  Brief  schließt  voll  Freude  über 
den  Sieg  der  guten  Sache:  rxultemus  nohisque  applaudamus  quod  in  hanc  foe- 
ii/rem  ificidimus  aetatcmj  qua  reteres  disciplinae  rev^iciscere  y  litter arum  studia 
florere  et  oinnes  honae  artea  in  lucem  prodire  inciptunt,  quibus  brevi  universi 
Uli  barbari  hostes  profligari  pelli  et  penitus  e  medio  tolli  possunt.  Die  beiden 
sächsischen  Herzöge  hätten  an  diesem  Sieg  hervorragenden  Anteil. 


IJie  Universität   Wittenberg.  107 


tatum  maeandris  a  (statt  aui)-  dialectica,  ingeniorum  cote  et  artium 
mcLgistra  (statt  magistri),  deterreantur. 

Neben  den  also  modernisierten  Kursen  in  der  aristotelischen  Philo- 
sophie wird  der  Unterricht  in  der  Rhetorik  und  Poetik  förmlich  in  den 
Kursus  aufgenommen:  (Pseudo)  Cicero  ad  Herenmumy  Cicero  de  oratore, 
und  Episteln,  Quintilian,  Virgil  finden  ihren  Ort  im  Stundenplan.  Auch 
wird  Griechisch  gelehrt:  die  Grammatik  des  Theodobus  Gaza  und 
Theokrit  wird  Ton  dem  Stipendiaten  des  Herzogs  (Mosellaküs)  vor- 
getragen. 

Man  sieht)  die  Beformation  ist  bestrebt,  das  Alte  und  das  Neue 
zu  versöhnen,  jenes  in  dieses  allmählich  überzuführen.  Im  Frühjahr 
1520  wurde  Mosellanus  zum  Rektor  gewählt.  Der  Sitte  gemäß  wurde 
er  mit  einer  Gratulationsrede  begrüßt;  sein  Freund,  der  humanistisch 
gebildete  Arzt  H.  Stbomeb  hielt  dieselbe;  unter  allem  Lob,  das  reich- 
lich gespendet  wird,  wird  eines  vorzüglich  hervorgehoben:  die  Friedens- 
liebe Perpetuum  pacis  et  concordiae  Studium).  Auf  diesen  Punkt 
richtet  sich  die  Erwiderung  des  Mosellanus;  sie  ist  überschrieben: 
de  concordia  litterarum  professoribus  tuenda,  und  besteht  aus  dringen- 
den Ermahnungen  zum  Frieden  an  Theologen  und  Juristen,  an  Philo- 
sophen und  Humanisten.  Die  Erwählung  des  Mosellanus  und  seine 
Rektoratsrede  sind  gleichsam  die  offizielle  Besiegelung  des  Friedens- 
werkes vom  Jahre  1519.^ 

Die  Universität  Wittenberg  zeigt  von  Anfang  an  den  Einfluß 
des  humanistischen  Zeitgeistes.  Ihr  Begründer  ist  der  als  Mäcen  der 
schönen  Wissenschaften  in  vielen  Gedichten  der  Humanisten  besungene 
Kurfürst  Friedrich,  der  Weise  genannt.  Die  Errichtungsurkunde,  vom 
Kaiser  Maximilian  ausgestellt  (1502),  ist  schon  als  solche  ein  Zeichen 
der  Zeit;  die  beginnende  Säkularisierung  der  Wissenschaften  tritt  darin 
hervor,  sonst  hatte  der  Papst  die  Errichtungsbullen  erteilt,  jetzt  wurde 
eine  solche  erst  nachträglich  gesucht.  Auch  der  Inhalt  ist  voll  huma- 
nistischer Anklänge,  in  der  Sprache  und  im  Inhalt:  die  Pflege  der 
Wissenschaften  und  der  schönen  Litteratur  wird  als  eine  Aufgabe  des 
Kaisers  oder  des  Staats  bezeichnet  und  als  ihr  Ziel,  für  das  weltliche 
Regiment  und  die  übrigen  Kulturaufgaben  geschickt  zu  machen.   Sonst 


*  Beide  Roden  abgedruckt  bei  Böhme,  Litt  Ups.,  S.  206—232.  Daß 
Mosellanus  an  der  Reformation  von  J519  beteiligt  war,  geht  aus  einem  Brief 
an  den  Erfurter  J.  Lanok  hervor,  welcher  mit  anderen  von  K.  Krause  im 
Zerbster  Programm  von  1883  veröffentlicht  ist:  Molimur,  schreibt  er  am 
22.  April  1519,  ilenuo  studiomm  naXiyy^veiTiav ,  scd  vereor  pythagoricafn  ^  quae 
in  Silentium  tandem  ahent.  IJttit  est,  erit  hie  gradus  a4  rneliora.  Saepe  mo- 
vendo  tandem  promovebimus. 


108         I,  4,    Die  humanistische  RefarmaHon  der  Universitäten, 


hatte  man  von  der  reinen  Lehre  und  ihrer  Ausbreitung  gesprochen 
und  die  Kirche  schien  an  der  Universität  und  ihrem  Gedeihen  in  erster 
Linie  interessiert.^ 

Im  Jahre  1507  veröffentlichte  Christoph  Scheukl,  der  eben  als 
Dr.  jur.  utriusque  mit  der  ganzen  modernen  Bildung  aus  Bologna  zu- 
rückgekehrt und  sogleich  zum  Rektor  der  Universität  gewählt  worden 
war,  ein  Verzeichnis  der  Lehrer  und  Lektionen,  in  der  Absicht,  für 
die  neue  Universität  Reklame  zu  machen:  in  ganz  Italien  sei  keine 
Universität,  nicht  Padua,  nicht  Bologna,  die  so  viele  ausgezeichnete 
Gelehrte  habe  (privatim  in  Briefen  sprach  er  übrigens  anders:  Witten- 
berg enttäuschte  den  von  Bologna  kommenden  in  jeder  Hinsicht  aufs 
äußerste).  In  der  theologischen  Fakultät  lasen  fünf  Doktoren,  darunter 
Staüpitz  und  M.  PoiiLiCHiüS  von  Mellerstat,  Dr.  med.  Lipsiensis  und 
Vizekanzler,  beide  an  der  Begründung  der  Universität  hervorragend 
beteiligt;  ferner  Jod.  Tbutvettek  von  Erfurt  In  der  artistischen 
Fakultät  lehrten  zehn  Magister  Philosophie,  und  zwar  in  Parallelkursen 
Thomisten  und  Skotisten.  Neben  diesen  lasen  drei  Lehrer  in  humanis 
litieris:  B.  Phacchus  die  Aeneis,  den  Valerius  Maximus  und  Sallust, 
der  Jurist  Dr.  Scheubl  den  Sueton,  G.  Sibutus,  poeta  et  orator  lau- 
reatus,  den  Silius  Italiens  und  sein  eigenes  Gedicht  auf  Wittenberg 
(Silvula  in  Albiorim).^  Die  Statuten  der  artistischen  Fakultät  vom 
Jahre  1508,  ebenfalls  von  Scheurl  verfaßt,  haben  die  öflFentlichen 
Lektionen,  philosophische  und  humanistische,  in  folgender  Weise  über 
den  Tag  verteilt:  5  Uhr  früh  Loyca  major  (d.  h.  die  Analytik  des 
Aristoteles);  7  Uhr  Physica,  de  anima,  parva  naturalia;  12  Uhr 
Loyca  minor  (d.  h.  Petrus  Hi^panus  Summula);  1  Uhr  Humanae  litter ae; 
2  Uhr  Ethica,  Metaphysica,  Mathematica;  3  Uhr  Grammatica;  4  und 
7  Uhr  Hum.  litt.  Allerdings  sind  die  humanistischen  Vorlesungen 
nicht  obligatorisch.  Für  die  Baccalariats-  und  Magisterprüfung  werden 
ganz  die  alten  Leistungen  vorgeschrieben:  man  muß  nachweisen  die 
Lektionen  über  Logik,  Physik,  £thik,  Metaphysik  und  Mathematik 
(letztere   wird   1508   durch  Fakultätsbeschluß   besonders   eingeschärft) 


*  Grohmann,  Annalen  der  Universität  zu  Wittenberg  1801,  I,  S.  6  ff.  Die 
später  zu  erwähnende  Begründung  einer  Poetenfakultät  in  Wien  durch  die 
staatliche  Autorität  ist  ebenfalls  ein  Anzeichen  der  großen  Wandlung,  die  sich 
seit  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  vollzog:  der  Staat  tritt  an  die  Stelle  der 
Kirche  als  Kulturträger.  Die  wirtschaftliche  Entwickelung  drängte  dahin  und 
die  Cäsarenreminiscenz  bot  die  Form. 

*  Grohmann,  II,  81.  Über  Sibütus  Böckino,  Opp.  Hutt.  Supplem.  II,  469, 
wo  auch  der  bei  Grohmann  ganz  korrupte  Titel  seines  Gedichts  auf  Witten- 
berg.     Über  Balthasar  vom  Vacha  ebendort  S.  369. 


Du  Universität  Wittenberg.    M.  Luther.  109 


gehört  und  30  Disputationen  im  Habit  (sonst  zählen  sie  nicht)  bei- 
gewohnt zu  haben.  ^ 

Es  hat  kein  Interesse,  die  Notizen,  welche  sich  über  Aufenthalt  und 
Lehrthätigkeit  einzelner  Humanisten  finden,  zusammenzustellen.  Daß 
BirscHius  schon  im  ersten  Jahr  des  Bestehens  der  Universität  als  be- 
soldeter Leklor  angenommen  worden  war,  ist  früher  erwähnt;  sonst 
werden  noch  Sbrülius  und  Otto  Beckmann  genannt.  Sehr  viel  wich- 
tiger sind  zwei  andere  Persönlichkeiten,  die,  wie  mehrere  andere  unter 
den  ersten  Wittenberger  Lehrern,  aus  Erfurt  kamen:  M.  Luthee  und 
G.  SpaiiAtinus  (1482 — 1545).  Den  letzteren,  der  seit  1511  Hofkaplan 
und  Sekretär  des  Herzogs  Friedrich  war,  zeigt  der  Briefwechsel  Luthers 
xmd  Melanchthons  als  den  allezeit  thätigen  Agenten  der  Universität 
am  Hofe.' 

Bruder  Martin  war  im  Jahre  1508  aus  dem  Erfurter  Augustiner- 
kloster von  seinem  Oberen  Staupitz  als  Lektor  der  Schulphilosophie 
in  das  Wittenberger  Kloster  des  Ordens  versetzt  worden.  Er  war  zwar 
vor  seiner  Mönchszeit  in  Erfurt,  wo  er  von  1501 — 1505  studiert  hatte, 
in  einige  Berührung  mit  dem  Humanismus  gekommen;  doch  war  das 
Verhältnis  ein  ziemlich  äußerliches  geblieben,  die  Schulphilosophie  und 
Rechtswissenschaft;  hatten  den  wesentlichen  Inhalt  seiner  Studien  aus- 
gemacht Im  Kloster  hatte  er  die  philosophischen  Studien  fortgesetzt, 
zugleich  aber  das  Bibelstudium  begonnen.  In  Wittenberg  vollzog  sich 
allmählich  die  Loslösung  von  der  Schulphilosophie;  seine  Briefe  geben 
darüber  Auskunft.  Anders  als  bei  den  Poeten  war  bei  Luther  der 
Vorgang:  war  jenen  in  der  Schulphilosophie  zu  viel  Christentum,  so 
diesem  zu  viel  Heidentum;  wollten  jene  die  Poesie  und  die  Eloquenz, 
die  heidnische  Bildung  und  die  reine,  naturalistische,  nicht  zur  Ver- 
träglichkeit mit  der  Kirchenlehre  zurecht  gemachte  Philosophie  der 
Griechen  an  die  Stelle  der  Schulphilosophie  setzen,  so  ging  Luther 
vielmehr  darauf  aus,  die  reine  supranaturalistische  und  antirationalistische 
Gläubigkeit  des  alten  Christentums  zu  erneuern.  Die  heidnische  Ver- 
nunft, so  erschien  ihm  die  Lage  der  Sache,  habe  den  Glauben  verderbt 
und  in  der  Schultheologie  ein  widriges  Mischlingsprodukt  hervorgebracht. 
Vor  allem  war  ihm  der  Gegensatz  der  heidnischen  und  der  christlichen 
Gerechtigkeit  in  seiner  vollen  Schärfe  klar  geworden:  die  Gerechtigkeit 
durch  Tugend  und  die  Gerechtigkeit  aus  Gnaden  erschienen  ihm  als 
ausschließende  Gegensätze,  und  daher  die  Vermengung   aristotelischer 

*  Die  Statuten  von  1508  hat  Müther  herausgegeben  in  einer  Jubiläums- 
schrift zur  Vereinigung  von  Wittenberg  und  Halle  1867. 

'  S.  den  sehr  eingehenden  Artikel  über  Sp.  in  der  A.  D.  Biogr.,  von 
G.  Müller. 


HO         I,  4.    Die  hwnamstisohs  ReformcUwn  der  Universitäten, 


Tagendlebre  mit  der  Lehre  von  der  Erlösung  aus  Gnaden  schlechthin 
unzulässig.  Die  Feindschaft  gegen  den  Aristoteles,  d.  h.  gegen  die 
scholastische  Philosophie,  die  die  Theologie,  ja  das  Christentum  selbst 
verderbe,  ist  während  der  nächsten  Jahre  der  hervorstechendste  Zug  in 
Luthers  geistiger  Physiognomie. 

Im  Jahre  1516,  demselben,  in  welchem  er  die  deutsche  Theo- 
logie, eines  der  schönsten  Erzeugnisse  mittelalterlicher  Mystik,  wieder 
herausgab,  schickte  er  an  seinen  Freund  Joh.  Lange,  den  er,  als 
STAUPiTzens  Vikar,  zum  Prior  des  Erfurter  Augustinerkonvents  gemacht 
hatte,  eine  Abhandlung  „gegen  die  Logik,  Philosophie  und  Theologie, 
d.  L  Schmähungen  und  Verfluchungen  gegen  Aristoteles,  Forphyrius 
und  die  Sententiarier,  diese  nichtswürdigen  Studien  unserer  Zeit'',  so 
wenigstens  würden  die  Magister  seine  Schrift  nennen;  er  bittet,  sie 
seinem  alten  Lehrer  Jodooüs  in  Eisenach  einzuhändigen.  In  dem  Be- 
gleitbrief (de  Wette,  Luthers  Briefwechsel  I,  15)  sagt  er:  „es  brennt 
mir  auf  der  Seele,  jenen  Gaukler,  der  mit  seiner  griechischen  Larve 
die  Kirche  äfit,  zu  demaskieren  und  in  seiner  Schande  allen  darzu- 
stellen; wenn  er  nicht  ein  Mensch  gewesen  wäre,  würde  ich  ihn  für 
den  Teufel  selbst  halten.  Das  ist  mein  größter  Schmerz,  daß  ich  sehen 
muß,  wie  unter  den  Brüdern  die  besten  Köpfe  in  jenem  Unflat  ihr 
Leben  hinbringen;  und  die  Universitäten  hören  nicht  auf  die  guten 
Bücher  zu  verbrennen  und  die  schlechten  fortzupflanzen."  Schon  im 
folgenden  Jahr  (18.  Mai  1517,  de  Wette  I,  57)  kann  er  demselben 
Lange  melden:  unsere  Theologie  und  der  heil.  Augustinus  gehen  vor- 
wärts und  herrschen  unter  Gottes  Beistand  auf  unserer  Universität; 
Aristoteles  ist  im  Sinken,  gebeugt  zum  baldigen  ewigen  Sturz.  Die 
Lektionen  über  die  Sentenzen  will  niemand  mehr  hören,  wer  Zuhörer 
haben  will,  muß  die  Bibel  und  den  heil.  Augustinus  oder  einen  anderen 
Kirchenlehrer  lesen." 

Noch  einmal  entlud  sich  sein  grimmiger  Haß  gegen  Aristoteles, 
die  Universitäten  und  die  Universitätsphilosophie  in  der  Schrift  an 
den  christlichen  Adel;  ich  komme  hierauf  in  anderem  Zusammenhang 
zurück.^ 


^  Sehr  präcis  hat  Luther  sein  Verhältnis  zum  Aristoteles  und  zu  welt- 
licher Philosophie  überhaupt  in  einigen  Thesen  gefaßt,  über  die  unter  seinem 
Vorsitz  im  Jahre  1517  zu  Wittenberg  disputiert  wurde.  Ich  setze  ein  paar 
Thesen  her:  43.  Error  eat  dicere:  sine  Äristoiele  non  fit  Theologus,  Contra 
dictum  commune,  44.  Imnio  Theologus  non  fity  nisi  id  fiat  sine  Ar i^ tötete, 
50.  Totti'S  Aristoteles  ad  Theologiam  est  tenebrae  ad  lueem.  Contra  schola^ticos, 
—  Und  in  der  Heidelberger  Disputation  im  Mai  1518  stellte  er  unter  andern 
die  Thesen  auf:    29.  Qui  sine  periindo  volet  in  Aristoiele  philosophari y  necesse 


Die  Uhiveraitäi   Wittenberg,    M,  Luther.  111 


Der  Haß  gegen  die  Universitätspliilosophie  war  es  nun  zunächst, 
der  LuTHEB  mit  den  Humanisten  verband.  Schon  in  dem  Handel 
Reüghuns  sympathisierte  er  mit  diesem.  Er  schreibt  an  Spalatin 
(1514,  DE  Wette  I,  13):  für  einen  Esel  habe  er  den  Kölnischen 
Poetaster  Obtuinus  schon  immer  gehalten;  jetzt  sehe  er,  daß  er  ein 
Hund,  ja  ein  reißender  Wolf  im  Schafskleid  sei,  oder  vielmehr  ein 
Krokodil,  wie  Spalatin  scharfsinnig  bemerkt  habe.  So  finden  wir  ihn 
denn  mit  Caelstadt,  welcher  der  drei  Sprachen  kundig  war,  Spalatin  u.a. 
thätig,  die  Ersetzung  der  philosophischen  Kurse  durch  poetischen  und 
rhetorischen  Unterricht  zu  fördern.  Ein  Brief  vom  11.  März  1518 
(de  Wette,  97)  ist  begleitet  von  einem  Entwurf  zur  Reformation  des 
Wittenberger  Studiums,  welchen  man  in  gemeinsamer  Beratung  bei 
Cablstadt  aufgesetzt  hatte,  „zur  Austreibung  der  gesamten  Barbarei". 
tTber  den  Inhalt  jenes  Entwurfs  giebt  der  folgende  Brief  an  Lange 
(21.  März)  Auskunft:  man  hoffe  demnächst  Vorlesungen  über  beide,  ja 
über  die  drei  Sprachen,  femer  über  Plinius,  Mathematik,  Quintilian  u.  a. 
zu  haben,  und  daß  jene  unsinnigen  Lektionen  über  P.  Hispanus,  Tar- 
taretus,  Aristoteles  abgeschafft  würden.  In  demselben  Brief  wird  be- 
richtet, daß  die  Studenten,  die  des  alt^n  Sophistenkrams  überdrüssig 
und  nach  der  Bibel  begierig  seien,  eine  Schrift  zu  Gunsten  Tetzels, 
nach  öffentlicher  Ankündigung,  auf  dem  Markt  verbrannt  hätten. 

Die  Hoffnung  wurde  noch  in  demselben  Jahr,  wenigstens  was  den 
positiven  Teil  der  Vorschläge  anlangt,  erfüllt.  Für  die  lectio  Pliniana 
(Naturgeschichte)  war  schon  im  Herbst  1517  Aesticampianus  mit  einer 


est  ut  aniea  bene  stultificetur  in  Christo.  30.  Sicut  libidinis  malo  non  utitur 
bene  nisi  conjugatus,  ita  nemo  phüosophatur  bene  nisi  stultus  (Luthers  Werke, 
Weim.  Ausg.,  I,  224,  353).  Eine  dankenswerte  Zusammenstellung  aller  Äuße- 
rungen Luthers  über  Aristoteles  giebt  Fr.  Nitzsch,  Luther  u.  Aristoteles  (1883). 
Als  der  große  Kampf  ausgekämpft,  als  die  Herrschaft  des  Papsttums  und  der 
scholastischen  Theologie  gebrochen  war,  wird  übrigens  Luthers  Urteil  über  den 
Aristoteles  billiger  und  sachlicher;  die  Schmähungen  gelten  dem  Kirchenlehrer 
Aristoteles,  den  heidnischen  Philosophen  kann  man  in  seiner  Sphäre  eher  gelten 
lassen.  IjUThebs  Urteil  ist  in  der  ersten  Zeit,  nachdem  ihm  über  den  CharaktMi 
der  aristotelischen  Philosophie  ein  Licht  aufgegangen  ist,  absolut  ungerecht, 
weil  unhistorisch :  er  legte  eben  an  Aristoteles  den  Maßstab  des  Kirchenlehrers. 
Er  folgte  aber  darin  nur  der  ebenso  unhistorischen  Auffassung  der  Schulphilo- 
sophie. Bei  F.  V.  Bezold  (Gesch.  der  deutscheu  Reformation,  1890,  S.  206)  findet 
man  einen  Holzschnitt  Holbeins  vom  Jahre  1527,  der  die  Ansicht  des  Luther 
von  1520  über  die  Philosophie  vortrefflich  veranschaulicht:  er  stellt  Christus 
als  das  wahre  Licht  dar,  zu  ihm  wenden  sich  von  links  her  die  gemeinen  Leute 
und  die  Bauern ;  sich  abwendend  von  dem  Licht  erscheint  rechts  ein  Haufe  von 
Klerikern,  Mönchen,  Gelehrten,  die,  den  Papst  an  der  Spitze,  hlindlings  dem 
eben  abstürzenden  Plato  und  Aristoteles  in  den  Abgrund  nachtaumeli^^ 


112  I,  4.    Die  humamstische  Eeformaiion  der  Universitäten, 


Besoldung  vom  Fürsten  berufen  worden.^  Am  30.  März  1518  schrieb 
der  Kurfürst  an  Reuchlin,  er  möge  ihm  einen  Gräcisten  und  einen 
Hebraisten  für  seine  Universität  empfehlen.  Im  Sommer  kamen  für 
die  hebräische  Lektur  Böschenstein,  für  die  griechische  der  Tübinger 
Magister  Philippüs  Melanchthon,  jener  ein  Schüler,  dieser  ein  Groß- 
neffe Reuchlins.* 

Melanchthon,  der  in  der  humanistischen  Atmosphäre  Reuchlins 
aufgewachsen  war,  besaß  in  diesem  Kreise  schon  bedeutenden  Ruf. 
Das  Carmen  rhythmicale  (Ep.  vir.  obs.  II,  9)  stellt  ihn  als  den  ent- 
schiedensten Repräsentanten  des  Humanismus  in  Tübingen  hin.  Der 
21jährige  Magister  begann  seine  Wittenberger  Laufbahn  mit  einer  be- 
merkenswerten Rede  über  die  Notwendigkeit  einer  Universitatsreform: 
de  corrigendis  adolescentium  studiis  (CR.  XI,  15 — 25).  In  aus- 
gesuchtem Latein  verfaßt,  mit  griechischen  und  sogar  hebräischen 
Citaten  geziert,  entwickelt  sie  das  humanistische  Reformprogramm. 
Mit  der  Zuversicht,  welche  allen  Humanisten  eigen  ist,  zeigt  er  den 
Hörern,  daß,  was  bisher  auf  den  Universitäten  gelehrt  wurde,  nichts- 
würdiger barbarischer  Unsinn  sei.  Es  sei  seine  Aufgabe,  die  Sache  der 
schönen  Wissenschaften  und  der  wiederauferstehenden  Musen  gegen 
diejenigen  zu  beschützen,  „welche,  selbst  Barbaren,  durch  barbarische 
Künste,   d.  h.  durch  Gewalt  und  List,   noch  überall  in  den  Schulen 


*  Phacchus,  der  im  Herbst  1517  Rektor  wurde,  trug  in  die  Matrikel  ein: 
B.  F.  PuAccHüs  ingenuarum  arcium  Magister^  Utrifisque  Humanitatis  Professor, 
A,  D.  1517  Jds,  Octobris  communi  siiffragatione  patrmn  creaius  est  Oymnasi- 
archa.  Stib  hujus  rectoratu  principali  dementia  et  munificentia  Maximi  Frideriei 
Principis  electoris  respublica  literaria  aitcta  est  Lectione  Pliniana,  Quintilianiy 
Prisciani  et  pedagogis  duobus  publieis,  ac  coepius  est  legi  texius  Aristotelis  in 
Physicis  et  Logicts  (Förstemann,  Album  S.  69). 

*  Der  Brief  des  Kurfürsten  in  Eeuchlins  Briefwechsel,  herausgeg.  von 
Geiqer,  289;  die  merkwürdige  Antwort  ebend.  294.  Der  Kurfürst  wird  als 
„neuer  Stifter  der  Menschlichkeit  in  deutscher  Nation"  des  ewigen  Nachruhms 
versichert;  lange  Jahre  sei  Deutschland  „für  ein  barbarisch,  viehisch  Land**  vor 
andern  Ländern  geschätzt  worden,  und  zwar  nicht  unbillig,  da  es  von  Sophisten 
mit  ihrem  unnützen  Geschwätz  sich  habe  am  Narrenseil  führen  lassen  und  zum 
Verständnis  der  alten  Weisen  aus  Mangel  der  Sprachen  nicht  gekommen  sei. 
Wenn  nicht  Reüchlin  gefragt  wäre,  dürfte  Mosellanus  von  Leipzig  berufen  worden 
sein;  er  bewarb  sich  in  Wittenberg  darum  (Luther  an  Spalatin  4.  Juni  1518). 
Es  wäre  eine  nicht  unwichtige  Entscheidung  gewesen ;  vermutlich  wäre  Melanch- 
thon dann  mit  Reüchlin  nach  Ingolstadt  gegangen  und  Humanist  geblieben; 
und  Mosellanus  in  Wittenberg  hätte  sich  vielleicht  nicht  ganz  so  sehr  Luther 
untergeordnet  als  der  erheblich  jüngere  Melanchthon.  —  Übrigens  hatte  man 
schon  früher  daran  gedacht,  Crocüs  für  Wittenberg  zu  gewinnen;  siehe  einen 
Brief  von  Spalatin  an  Lange  vom  Jahre  1515  bei  Kbafft,  Briefe  und  Doku- 
mente S.  135. 


Die  Universität   Wittenberg,    Melanehthon,  113 


Titel  und  Gehalt  von  Lehrern  sich  anmaßen  und  böswillig  die  Menschen 
in  ihrem  Netz  gefangen  halten."  Sie  suchen,  so  fahrt  er  fort,  die 
deutsche  Jugend  von  den  Studien  durch  allerlei  Beden  abzuhalten: 
mehr  schwierig  sei  das  Studium  der  schönen  Wissenschaften  als  nütz« 
lieh;  Griechisch  werde  von  einigen  müßigen  Köpfen  zur  Ostentation 
herbeigezogen;  das  Hebräische  sei  ungewiß;  indessen  gingen  die  Wissen- 
schaften zu  Grunde;  die  Philosophie  stehe  verlassen.  Mit  solchem  un- 
wissenden Volk  zu  kämpfen  sei  selbst  dem  Herakles  mehr  als  ein 
Theseus  nötig. 

Er  giebt  dann  einen  Umriß  der  Geschichte  der  wissenschaftlichen 
Kultur  im  Abendlande;  man  könnte  ihn  den  vulgären  Darstellungen 
noch  heute  als  Grundriß  unterlegen.  Vor  etwa  800  Jahren  sei  durch 
die  Goten  und  Langobarden  das  römische  Reich  zerstört  worden  und 
mit  ihm  die  römische  Litteratur  abgestorben.  Doch  sei  einiges  durch 
die  Kirche  gerettet,  in  Irland  seien  die  Studien  wieder  aufgegangen, 
von  Karl  dem  Großen  endlich  nach  dem  Kontinente  zurückgeführt 
worden.  Dann  kam  das  Unglück:  einige  Menschen  verfielen,  sei  es 
aus  Hochmut  oder  aus  Streitsucht,  auf  den  Aristoteles,  den  sie  in 
schlechten  und  unverständlichen  Übersetzungen  lasen.  Und  nun  ging 
alles  zu  Grunde,  das  Gute  wurde  aus  dem  Unterricht  durch  das  Schlechte 
verdrängt.  Dies  Zeitalter  gebar  die  Thomas,  Scotüs  und  die  übrigen. 
300  Jahre  lang  dauert  ihre  Herrschaft.  Sie  hat  das  Griechische  ver- 
achtet, die  Mathematik  vergessen,  die  Grammatik  mit  Kommentaren, 
die  Dialektik  mit  Distinktionen  und  Streitfragen  zu  Grunde  gerichtet; 
die  Folge  war,  daß  auch  die  Philosophie  und  die  Theologie,  ja  die 
Ejrche  selbst,  der  Gottesdienst  und  die  Sitten  zu  Grunde  gingen. 

Dann  folgt  ein  Umriß  der  Studien,  wie  sie  der  Redner  empfiehlt. 
Im  ganzen  bleibt  die  alte  Ordnung:  mit  der  Grammatik  und  dem 
notwendigsten  aus  der  Dialektik  und  Rhetorik  ist  der  Anfang  zu  machen; 
dann  folgt  die  Philosophie,  worunter  er  die  Naturwissenschaft,  die  Moral 
und  die  Geschichte  begreift;  so  vorbereitet  mag  man  an  die  Theologie 
sich  wagen.  Aber  für  alle  diese  Studien,  und  hierauf  kommt  es  wesent- 
lich an,  ist  die  Kenntnis  der  griechischen  Sprache  unentbehrlich. 
Durch  ihren  Untergang  sind  die  Wissenschaften,  ja  ist  die  Kultur  selbst 
untergegangen;  ihr  Aufgang  wird  ein  neues  goldenes  Zeitalter  bringen. 
„Lernet  Griechisch  zum  Lateinischen,  damit  ihr,  wenn  ihr  die  Philo- 
sophen, die  Theologen,  die  Geschichtsschreiber,  die  Redner,  die  Dichter 
leset,  bis  zur  Sache  selbst  vordringet,  nicht  ihren  Schatten  um- 
armet, wie  Ixion,  da  er  die  Juno  zu  umfangen  trachtete."  Ohne 
Griechisch  kein  Studium  der  Philosophie,  den  Aristoteles  kennt  nur, 
wer  ihn  im  Original  liest.   Daher  habe  er  die  Reinigung  des  Aristoteles 

Paalsen,  Unteir.   Zweite  Aufl.   I.  8 


114         I,  4,    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


von  der  Barbarei,  mit  seinem  iVeunde  Stadianüs,  sich  vorgesetzt. 
Ohne  Griechisch  auch  kein  Studium  der  Theologie;  die  Sprache  giebt 
das  Verständnis  und  erlöst  von  dem  Hin-  und  Herreden  der  Glossen 
und  Kommentare. 

Er  schließt  mit  der  exhortatio:  „Widmet  den  Griechen,  sei  es  auch 
nur  einige  Nebenstunden;  es  wird  meine  Sorge  sein,  daß  dieselben  nicht 
verloren  sind.  Die  Schwierigkeit  der  Grammatik  werde  ich  von  Anfang 
an  mildern  durch  die  Lektüre  der  besten  Schriftsteller,  damit  was  dort 
die  Regel,  hier  das  Beispiel  lehre.  Wir  werden  den  Homer  zur  Hand 
nehmen  und  ebenfalls  des  Paulus  Brief  an  Titus.  Ihr  werdet  dabei 
gewahr  werden,  wie  viel  das  Wortverständnis  der  Sprache  zum  Ver- 
ständnis der  heiligen  Wahrheiten  selbst  beiträgt,  was  für  ein  Unter- 
schied ist  zwischen  einem  Erklärer,  der  Griechisch  versteht  und  einem, 
der  es  nicht  versteht.  Habt  den  Mut  der  Einsicht  (Saper e  audete)\ 
Treibt  die  Lateiner,  legt  euch  auf  das  Griechische,  ohne  welches  Latein 
nicht  wirklich  getrieben  werden  kann.  Seit  einigen  Jahren  sind  Leute 
aufgestanden,  die  euch  zum  Beispiel  und  zur  Aufmunterung  sein  können. 
Schon  blühet  an  einigen  Orten  Deutschland  auf;  es  wird  in  Sitte  und 
Sinn  milder  und  gleichsam  zahm  (cicurahir)^  da  es  vordem,  durch  den 
barbarischen  Wissenschaftsbetrieb,  einem  wilden  Volke  glich." 

Melanchthons  Aufnahme  in  Wittenberg  war  sehr  günstig.  Luther 
war  von  der  Rede  entzückt,  er  verlange  keinen  anderen  Gracisten  als 
diesen,  schreibt  er  am  31.  Aug.  an  SpaijAtin;  und  am  5.  Sept.:  sein 
Hörsaal  ist  voll,  vor  allem  zieht  er  alle  Theologen,  von  dem  ersten  bis 
zum  letzten  zum  Studium  der  griechischen  Sprache.  Gegen  Ende  des 
Jahres  1520  war  Spalatin  in  Wittenberg,  um  sich  durch  den  Augen- 
schein von  der  Wirkung  der  päpstlichen  Exkommunikationsbulle  auf 
die  Universität  zu  unterrichten.  In  seinem  Bericht  an  den  Kurfürsten 
(bei  MüTHEB,  Aus  dem  Universitätsleben,  S.  429)  erzählt  er,  daß  er 
gestern  in  M.  Philipps  Lektion  bei  500 — 600  Auditores  und  bei  Lutuek 
nicht  viel  weniger  als  400  gefunden  habe.  Im  Sommer  1521  mußte 
die  Universität  ein  neues  Kollegium  bauen. 

Noch  war  die  Sorge  übrig,  die  alten  philosophischen  Lektionen  ab- 
zuschaffen. Schon  in  dem  oben  erwähnten  Briefe  an  Spalatin  regt 
Luther  die  Sache  an:  die  gutgesinnten  Studenten  finden,  es  sei  hart., 
daß  sie,  da  nun  durch  Gottes  Gnade  die  besten  Vorlesungen  geboten 
würden,  diese  wegen  der  alten  obligatorischen  Lektionen  in  Philosophie 
hintansetzen  oder  mit  beiden  sich  zu  sehr  belasten  müßten.  Sie  wünschen 
deshalb,  daß  die  Ethik  freigegeben  werde,  um  so  mehr,  als  sie  zur 
Theologie  wie  der  Bock  zum  Gärtner  passe.  Auch  sei  die  Frage  er- 
hoben worden,  wie  es  denn  hinsichtlich  der  neuen  Lektionen  künftig 


Die  Universität    Wittenberg.    Melanchthon,  115 


bei  den  Prüfungen  gehalten  werden  solle.  —  Am  9.  Dez.  schreibt  er 
an  Spalatin:  er  sei  mit  dem  Rektor  übereingekommen,  den  Thomisti- 
schen  Vortrag  der  Logik  und  Physik  fallen  zu  lassen,  an  Stelle  der 
Physik  würden  Ovids  Metamorphosen  gelesen.  HoflFentlich  würden  die 
ebenso  unnützen  Scotistischen  Vorlesungen  folgen  und  eine  reine  Philo- 
sophie und  Theologie  nebst  den  mathematischen  Wissenschaften  aus  den 
Quellen  geschöpft  werden.  Vor  allem  ist  ihm  die  Aristotelische  Physik 
zuwider:  das  ganze  Buch  sei  eine  Rednerei  über  gar  nichts;  aber  ebenso 
die  Metaphysik  und  Psychologie  (an  Spalatin,  19.  März  1519). 

Auch  dies  Ziel  wurde  erreicht,  mit  Hilfe  Melanchthons,  dem  nun 
mehr  und  mehr  das  Departement  der  Studienreform  von  Lütheb  über- 
lassen wurde.  Der  junge  Magister  tauschte  nicht  die  Hoffnungen, 
welche  in  ihn  gesetzt  waren,  er  entwickelte  eine  erstaunliche  Thätig- 
keit  Mit  außerordentlicher  Arbeitskraft  übernahm  er  bald  zu  den 
griechischen  Lektionen,  über  profane  und  heilige  Schriften,  vertretungs- 
weise auch  hebräische  und  lateinische.  Dazu  gab  er  griechische  Texte 
für  seine  Vorlesungen  heraus,  überarbeitete  seine  griechische  Grammatik 
(1520)  und  schrieb  ein  Kompendium  der  Rhetorik  (1519)  und  der 
Dialektik  (1520).  Er  vereinigte  seine  Bemühungen  mit  denen  Luthebs, 
die  alten  scholastischen  Studien  abzuthun;  es  wird  angenommen  werden 
dürfen,  daß  sie  mitsamt  den  Prüfungen  und  Graduierungen  unter 
diesen  Einflüssen  von  selbst  eingegangen  sind.  Im  Herbst  1523  über- 
nahm Melanchthon  das  Rektorat  Aus  diesem  Rektorat  scheint  ein 
kurzer  Abriß  einer  Studienordnung  zu  stammen,  welcher  von  Melanch- 
thon den  Studenten  publiziert  wurde.^  Es  findet  sich  darin  zwar  keine 
ausführliche  Ordnung  des  Kursus;  doch  läßt  sich  erkennen,  daß  an 
die  Stelle  der  alten  philosophischen  Lektionen  und  Disputationen  wesent- 
lich die  von  den  Humanisten  empfohlenen  Vorlesungen  und  Übungen 
getreten  sind.  Vor  allem  wird  angeordnet,  daß  die  jüngeren  Studenten 
sogleich  nach  ihrer  Ankunft,  nach  Ermessen  des  Rektors,  einem  der 


*  Zuerst  gedruckt  in  Krafpts  Briefen  und  Dokumenten,  S.  7 ff.;  jetzt  auch 
bei  Habtfeldek,  Mel.  Paed.  S.  82.  Ebendort  ein  paar  weitere  Schriftstücke  zur 
Studienreform  aus  dem  Anfang  der  20er  Jahre.  Ein  Entwurf  MELANCHTnr)N8 
von  1520  zählt  die  Lektüren  auf,  wie  er  sie  für  die  artistische  Fakultät  für  not- 
wendig hält:  Hebräisch,  Griechisch,  Dialektik  des  Aristoteles,  Aristoteles  „in 
philosophia  (doch  wohl  die  Physik)  und  bevor  de  aninialibtts^"  (oder  de  anima*i\ 
Rhetorik  des  Cicero,  Virgil,  Ciceros  Orator  und  Quintilian,  Historie,  lateinische 
Grammatik,  Plinius,  Mathematik.  Es  sind  im  ganzen  dieselben,  wie  sie  nach- 
her die  Studienreform  von  1536  aufweist.  Vermutlich  streckte  sich  der  Unter- 
richt doch  schon  in  den  20  er  Jahren  nach  diesem  Schema,  wenn  auch  die  ver- 
fügbaren Mittel  nicht  die  ganze  Erfüllung  möglich  machten.  Vgl.  Hartfelder, 
Mel.  als  Praec.  Germ.  S.  509  ff. 


116         I,  4.    Die  humanistische  EeformaHon  der  Universitäten. 


Magister  (paedagogi)  zugewiesen  werden,  der  ihnen  die  Vorlesungen 
vorschreibt  und  sie  in  der  Sprache  übt.  Übrigens  wird  auch  ein  Uni- 
versitatspädagogium  öfter  erwähnt.  Femer,  da  die  philosophischen 
Disputationen  in  Abgang  gekommen  seien,  so  sollen  an  deren  Stelle 
zweimal  im  Monat  Bedeübungen  (declamationes)  gehalten  werden,  und 
zwar  werden  abwechselnd  von  den  Professoren  (der  Eloquenz  und  der 
Grammatik)  und  von  den  Schülern  Beden  gehalten;  die  der  letzteren 
werden  von  dem  Professor  der  Eloquenz  korrigiert.  Schon  in  der  Dedi- 
kationsepistel  zu  seiner  Bhetorik  (1519,  C.  R  1, 63)  hatte  Melanchthon 
diese  Übungen  durch  das  Beispiel  der  Alten  empfohlen.  Endlich  soll 
von  den  Physikern  und  Mathematikern  einmal  im  Monat  disputiert 
werden.  In  einem  Briefe  vom  Jahre  1525  ladet  Lütheb  „im  Namen 
unseres  ganzen  poetischen  Königreichs"  den  Spalattn  zum  Auftreten 
der  jungen  Poeten  und  Bhetoren  ein,  wobei  sie  eine  Komödie  aufführen 
und  Gedichte  deklamieren  werden  (de  Wette,  Briefwechsel  II,  626). 

Es  geht  aus  dem  Vorstehenden  hervor,  daß  die  drei  großen  mittel- 
deutschen Universitäten,  die  im  ersten  Viertel  des  16.  Jahrhunderts 
die  Führerschaft  in  der  deutschen  Universitatswelt  hatten  oder  erwarben, 
im  ganzen  für  die  Tendenzen  des  Humanismus  gewonnen  waren.  Wohl 
mochten  noch  manche  widerstrebende  Elemente  vorhanden  sein  und 
freilich  waren  von  dem  alten  wissenschaftlichen  Kursus  noch  wesent- 
liche Stücke  übrig  geblieben;  dennoch  kann  man  sagen,  die  gleich- 
zeitigen Bektorate  des  Justüs  Jonas  in  Erfurt  und  des  Mosellanus 
in  Leipzig,  die  dauernde  Herrschaft  Luthers  und  Melanchthoks  zu 
Wittenberg  bedeuten  das  Ende  des  mittelalterlichen  Studienbetriebs, 
den  Sieg  des  Humanismus. 

Die  beiden  Ostseeuniversitaten  beeilten  sich  der  Bewegung  sich 
anzuschließen.  Es  hat  kein  Interesse  bei  dem  Detail  zu  verweilen, 
wie  auch  hier  die  fahrenden  Poeten  zuerst  auftauchen  (Buscmus, 
Hütten),  wie  die  Herzöge  von  Mecklenburg  und  Pommern  sich  modern 
gebildete  Juristen  zu  gewinnen  bemühen,  jene  den  Nie.  Marschalk 
aus  Erfurt,  diese  sogar  ein  paar  Italiener,  Vater  und  Sohn,  Petrus 
und  Vincentius  Bavennas  (1497);  wie  Herzog  Bogislav  auch  einen 
lateinischen  Poeten  für  seine  Universität  mietete  (Jon.  Hadüs,  1514): 
es  genügt  auf  die  reformierte  Lektionsordnung  zu  verweisen,  welche 
Bestock  1520,  Greifs wald  1521  veröflFentüchte. ^  Sie  zeigen  die 
gleichen  Charakterzüge  wie  die  Leipziger  vom  Jahre  1519:  die  neuen 
Übersetzungen  der  aristotelischen  Texte  werden  eingeführt,  eine  kurze 
und  klare  Erklärung  sine  vanis  commentis  versprochen,  Ciceros  rheto- 


^  S.  K&ABBE,  Rostock  319,  343  ff.    Koseqasten,  Greiüswald  I,  167,  171. 


Die  Universität  Frankfurt  a.  O.  117 


Tische  Schritten,  Virgil  und  Plautus  in  den  Kreis  der  Vorlesungen 
aufgenommen.  Ebenso  werden  im  Pädagogium,  das  zur  Universität 
gehört,  die  Rhetorik  und  Poetik  an  klassischen  Texten  gelehrt  So  in 
Rostock.  —  Für  Greifswald  ist  nur  eine  Eintragung  in  das  Dekanat- 
buch über  die  Bücher  klassischer  Autoren,  welche  im  Sommer  1521 
erklärt  wurden,  vorhanden  (Kosegaeten,  I,  171).  Ich  zweifle  nicht, 
daß  auch  diese  Universität  einen  vollständigen  reformierten  Lehrplan, 
wozu  also  auch  die  Kurse  in  aristotelischer  Philosophie  gehörten,  ver- 
öffentlicht hat.  Bemerkenswert  ist  aus  dem  Verzeichnis  Cicero  de  officüs, 
Sallust,  Erasmus'  epistolarum  conficiendarum  formula,  und  ein  elemen" 
tale  introductorium  in  litteras  Grecas. 

Die  Universität  zu  Frankfurt  a.  0.  wurde  1506  unter  dem  Beirat 
des  humanistischen  Edelmannes  Eitelwolf  vom  Stein  von  Kur- 
fürst Joachim  I.,  einem,  gelehrten  und  der  humanistischen  Bildung 
geneigten  Herrn,  von  Zeitgenossen  ist  er  der  Leo  X.  Brandenburgs 
genannt  worden,  mit  kaiserlichem  und  nachfolgendem  päpstlichen  Pri- 
vileg gegründet.^  Die  Fundationsurkunde  ist  im  überschwänglichsten 
Humanistenstil  geschrieben.  Von  der  Eloquenz  und  Wissenschaft  hängt 
darnach  nicht  nur  die  Glückseligkeit  und  Würde  dieses  Lebens,  sondern 
beinahe  auch  die  ewige  Seligkeit  ab.  Als  die  erste  Professur  an  der 
neuen  Universität  wird  die  der  Poesie  und  Eloquenz  bezeichnet;  ihr 
erster  Inhaber  war  Publius  VioUiANTius  Bacillabius  Axungia.  In 
seiner  schwulstigen  Antrittsrede  (mitgeteilt  samt  dem  Einladungs- 
anschlag bei  Beckmann,  Atictarium  Notit  S.  5)  behandelt  er  natürlich 
das  übliche  Thema,  den  unermeßlichen  Wert  der  schönen  Wissen- 
schaften, deren  Begleiterin  die  Tugend  ist.  Auch  die  bekannten  Wander- 
poeten Rhagius  und  Buschius,  mit  ersterem  Hütten,  hatten  sich  ein- 
gefunden, verschwanden  jedoch  bald  wieder;  Frankfurt  war  für  sie 
noch  kein  Boden,  wurde  doch  schon  von  Wittenberg  gesagt,  daß  es  au 
der  Grenze  der  Civilisation  liege.  Nach  Hütten  (Brief  an  Fuchs,  1515, 
Opp.  II,  40  flf.)  hat  Eitelwolf  bereut  zur  Gründung  der  Universität 
geraten  zu  haben,  da  er  sah,  daß  sie  von  gelehrten  Ignoranten,  nicht 
aber  von  klassisch  Gebildeten  beherrscht  werde. 

Als  Albrecht  von  Brandenburg  Erzbischof  von  Mainz  wurde 
(1513),  folgte  ihm  Eitelwolf  als  einflußreichster  Rat.  Hier  war 
besserer  Boden.  Albrecht,  den  man  den  deutschen  Leo  X.  in  Wahr- 
heit nennen  kann,  machte  seinen  Hof  zu  einem  Mittelpunkt  der  mo- 
dernen Bildung.    Er  sammelte  einen  humanistischen  Hofstaat  um  sich; 


*  Beckmann,  Notitia  univ.  Francof.,  Frankfurt  1706.  Vgl.  Strauss  Hütten,  38. 
Über  Eitelwolf  auch  Erhard,  III,  2800*. 


118         /,  4.    Die  humanistische  Deformation  der  Univers^itäten, 


Hütten  wurde  in  Dienst  genommen,  H.  Stromer  als  Leibarzt,  VV.  Capii'o 
als  Hofprediger  angestellt;  nach  Erasmus  streckte  er  mit  inbrünstiger 
Begierde,  aber  vergeblich,  die  Hand  aus*  Es  wurde  geplant,  die  Mainzer 
Universität  zu  einer  modernen  Bildungsanstalt  ersten  Ranges  zu  er- 
heben. MosELLANus  berichtet  von  einer  Reise  an  J.  Pflug  (6.  Dez. 
1519,  Opp.  Hutteni  I,  316):  Hütten  richte  zu  Mainz  auf  Kosten  des 
Erzbischofs  eine  dreisprachige  Akademie  ein;  so  habe  in  wenig  Jahren 
ganz  Deutschland  sich  auf  die  schönen  Wissenschaften  zu  legen  be- 
gonnen; Friedrich  von  Sachsen  gebühre  dabei  das  Verdienst  des  Vor- 
ganges. Es  scheint  aber,  daß  die  Sache  nicht  viel  weiter  als  bis  zum 
guten  Willen  gekommen  ist.  Eitblwoi^  war  schon  1515,  zu  bitterem 
Schmerze  seines  Schützlings  Hütten,  gestorben,  und  der  Kurfürst  er- 
hielt andere  und  schwerere  Sorgen,  welche  seine  Bildungsbestrebungen 
hinderten.  In  welchem  Gerücht  übrigens  die  Mainzer  Universität  stand, 
geht  aus  einem  Leipziger  Gutachten  aus  dieser  Zeit  (STtiBEL,  318)  hervor: 
so  jura  und  po'etica  sollten  in  Leipzig  die  Oberhand  haben,  würde  eine 
Mainzische  Universität  daraus;  es  seien  aber  dort  oft  kaum  100  siipposita. 

Wie  die  Zeitbewegungen  auf  die  Universität  Trier  gewirkt  haben, 
bin  ich  nicht  im  stände  nachzuweisen;  sie  hat  übrigens,  soviel  aus 
den  spärlichen  Mitteilungen  bei  Marx  (Geschichte  des  Erzstifts  Trier  II, 
457  flf.)  zu  entnehmen  ist,  niemals  eine  erhebliche  Bedeutung  gehabt, 
sie  kommt  auch  in  der  Gelehrtengeschichte  fast  nie  vor. 

Als  die  Hauptburg  des  Obskurantismus  gilt  herkömmlich  die 
Universität  Köln.^  In  der  That  erscheint  sie  als  die  konservativste. 
Die  großen  Erinnerungen  —  hier  hatten,  ehe  es  im  übrigen  Deutsch- 
land Universitäten  und  Wissenschaften  gab,  die  großen  Doktoren  Aii- 
BERTUS,  Thomas,  Scotüs  gelehrt  — ,  die  enge  Beziehung  zu  den  zahl- 
reichen Stiften  und  Klöstern,  die  Abwesenheit  einer  fürstlichen  Gewalt, 
welche  an  anderen  Orten  die  Reformation  der  ehrwürdigen  Körper- 
schaften in  die  Hand  nahm,  alle  diese  Dinge  wirkten  zusammen,  die 
kölnische  Universität  zur  Bewahrerin  des  Alten  zu  machen.  Dennoch 
hat  auch  sie  den  Forderungen  der  Zeit  sich  nicht  ganz  verschlossen. 

Daß  auch  hier  Poeten  und  Oratoren  auftraten,  konnte  sie  natür- 
lich überall  nicht  verhindern,  auch  wenn  sie  gewollt  hätte.*   Im  Jahre 


»  V.  BiAxco,  Die  alte  Universität  Köln,  Bd.  I,  1855.  Wertvolle  Beiträge 
zur  (Tescliichte  des  kölnischen  Studiums  in  dieser  Periode  bei  Krafpt,  Briefe 
und  Dokumente  aus  der  Zeit  der  Reformation  (1876);  sowie  in  C.  Kraffts  Mit- 
teilungen aus  der  niederrheinischen  Reformationsgeschichte  in  der  Zeitschr.  des 
Bergischen  (ilescliichtsvereins,  VI,  193—340  (18G9). 

*  Eine  lange  Reihe  solcher,  die  um  diese  Zeit  in  Köln  als  Lehrer  oder 
Sclüiler  humanistische  Studien  triehen,  hat  C.  Kkafft  aus  der  kölnischen  Matrikel 


Die  Universität  Köln.  119 


1484  wurde  ein  Italiener  Namens  Wilhblmus  RATiiUNDUS  Mithbi- 
TADES  eingeschrieben,  der  sich  nach  Ausweis  der  Matrikel  der  Kenntnis 
der  hebräischen,  arabischen,  chaldäischen,  griechischen  und  latei- 
nischen Sprache  rühmte.  1504 — 1508  erhielt  Andkeas  Canteb  von 
der  Stadt  eine  Besoldung  als  Poet,  doch  wohl  nicht  bloß  um  der  Stadt 
gelegentlich  mit  seiner  Eloquenz  zu  dienen,  wie  Ennen  meint,  sondern 
zugleich  um  Vorlesungen  zu  halten.  Die  bedeutendste  Wirksamkeit 
übte  JoH.  Cabsaeius  aus  Jülich  (1468 — 1551).  Nachdem  er  in 
Deventer  des  Hegiüs  und  in  Paris  des  Fabeb  Stapulensis  Schüler 
gewesen  war,  gehörte  er  seit  1491  der  kölnischen  Universität  an.  Zu 
seinen  Schülern  gehören  von  bekannteren  Humanisten,  außer  dem 
schon  erwähnten  Mosellanüs  (1512 — 1514  in  Köln),  Mubmelliüs, 
GixABEANTJS,  sowie  der  Graf  Hebmann  von  Neüenab.  Sein  Unterricht 
umfaßte  griechische  und  lateinische  Grammatik,  Rhetorik  und  Dialektik, 
welche  er  nach  eigenen,  sehr  verbreiteten  Lehrbüchern  vortrug,  und 
Erklärung  von  griechischen  und  römischen  Autoren,  unter  denen 
Homer,  Luciaii,  Virgil,  Plinius,  Gellius  erwähnt  werden.^  Neben  ihm 
wären  etwa  noch  als  einheimische  und  seßhafte  Magister,  die  der 
humanistischen  Richtung  angehörten,  Abnold  von  Wesel  (gest  1534), 
JoH.  Matth.  Phbissemius  (gest  1533  als  Kanzler  des  Erzstifts),  Jacob 
SoBius  (gest.  1528)  zu  nennen,  welche  Aufzählung  aus  Kbaffts  Mit- 
teilungen (S.  216)  erweitert  werden  könnte. 

Auch  die  uns  schon  hinlänglich  bekannten  Wanderpoeten  zog  es 
nach  Köln.  Im  Jahre  1507  kam  Büschics,  er  führte  sich  auch  hier 
durch  ein  Lobgedicht  auf  die  Stadt  und  ihre  Universität  ein  (Liessem, 
28  flF.).  Die  Aufnahme,  die  er  fand,  befriedigte  ihn  jedoch  nicht.  Man 
riet  ihm,  den  juristischen  Doktor  zu  machen  {bacc.  jur.  war  er  schon 
in  I^eipzig  geworden):  so  lange  er  die  unfruchtbaren  Musen  lieben 
würde,  werde  er  Hunger  leiden.  Der  Bat,  welchen  man  vom  Gesichts- 
punkte des  wirtschaftlichen  Prosperierens  nicht  verächtlich  nennen  kann, 
fand  bei  dem  Poeten  kein  Gehör,  sondern  erregte  nur  seinen  heftigen 
Zorn  über  die  Gemeinheit  der  Universitätsprofessoren,  welche  das  Geld 
mehr  liebten,  als  die  Poesie.  In  einer  öflFentlichen  Rede  über  dieses 
Thema  führte  er  ihnen  die  Niedrigkeit  ihrer  Gesinnung  zu  Gemüte. 

in  Hassels  Zeitscbr.  für  preußische  Geschichte,  Jahrg.  1868, 467 — 503,  zusammen- 
gestellt. Eine  große  Anzahl  Drucke  von  Klassikern  durch  kölnische  Firmen, 
besonders  Zell  und  Qüentel,  zählt  Pannen,  Gesch.  der  Stadt  Köhi,  IV,  62,  88  flF. 
auf.     Obtuinüs  war  dabei  als  Herausgeber  thätig. 

*  S.  die  Leichenrede,  welche  1525  auf  den  Mosellanch  sein  Schüler 
Mitmlkrus  hielt,  abgedruckt  bei  Krafft,  Briefe  luid  Dokumente,  118-127.  Da- 
selbst eine  Anzahl  ikiefe  des  Caesakius  an  seine  Schüler. 


120         I,  4,    Die  humanistische  RefomuUu/fi  der  Universitäten. 


Die  Magister  beleidigte  er  durch  eine  Empfehlung  seines  Commentarius 
in  artem  Donati:  sie  könnten  daraus  noch  viel  lernen.  Obtüinüs 
Gbatiüs  hielt  ihm  nicht  ohne  Recht  vor,  daß  er  mehr  Neigung  und 
Geschick  habe,  sich  Feinde  als  Freunde  zu  erwerben.  Doch  scheint 
ein  leidliches  Verhältnis  zwischen  ihm  und  den  „Obskuranten"  geblieben 
zu  sein.  Im  Jahre  1512  schrieb  BuscHins  zu  einer  Schrift  Arnolds 
VON  TuNGEBN,  des  Hauptobskuranten  neben  Hochstraten  und  Or- 
TuiNüs,  die  üblichen  Empfehlungsverse  ;^  wie  denn  auch  in  demselben 
Jahre  Ortuinus  zu  dem  Lobgedicht  auf  Maximilian,  womit  Glareanus 
sich  den  Poetenlorbeer  erwarb,  Begleitverse  dichtete. 

Auch  Aesticampianus  kam  nach  seinem  Leipziger  Mißgeschick 
um  1513  nach  Köln.  Er  kündigte  Vorlesungen  über  das  vierte  Buch 
von  Augustinus*  de  doctrina  Christiana  an,  welches  er  auch  zu  diesem 
Behufe  herausgab;  es  ist  dem  kölnischen  Weihbischof  D.  Castbr  ge- 
widmet, der,  mit  Erasmus  und  Agrippa  von  Nettesheim  ])efreundet, 
den  Humanisten  beigezählt  wurde.  Die  Vorlesungen  wurden  Jedoch, 
wie  es  heißt,  durch  die  Universität  verhindert;  sie  mochte  den  Aesti- 
campianus nicht  im  Besitz  einer  Autorisation,  über  theologische  Bücher 
zu  lesen,  finden  (Krafft,  Briefe,  S.  137  ff.)  Er  kehrte  nun  nach  dem 
Osten  zurück  und  versuchte  sein  Glück  als  Schulmeister;  in  Kottbus 
unternahm  er  eine  Schule  zu  gründen,  die  Schola  Latina  et  Christiana 
heißen  sollte,  „damit  ich  die  Manier  der  kläffenden  Hunde  stopfe", 
schreibt  er  an  Mutian.  Die  Kottbuser  scheinen  aber  für  die  Bildung 
noch  nicht  reif  gewesen  zu  sein;  denn  schon  1515  begegnen  wir  ihm 

*  Bei  Erhard,  III,  73.  Die  Verse  beschimpfen  den  Reuchum  als  Juden- 
frcnnd.  Ebendort  S.  79  ff.  findet  man  auch  einen  Auszug  aus  der  oben  erwähnten 
Ansprache  an  die  kölnischen  Professoren.  Daß  Arnold  von  Tunqern,  dessen 
Namen  die  Verfasser  der  Dunkelmännerbriefe  infamiert  haben,  den  humanistischen 
Studien  nicht  überhaupt  feindlich  war,  geht  auch  aus  seinem  Verhältnis  zu 
MuRMELLius  hervor,  welcher  in  den  90  er  Jahren  in  der  Laurentianerburse  sein 
Schüler  war.  Derselbe  widmete  dem  von  ihm  verehrten  Lehrer  1510,  als  er 
selbst  schon  zu  den  bekanntesten  Humanisten  Niedcrdeutschlands  gehörte,  eine 
Schrift  (DidascalifH  libri  duo)^  worin  er  die  humanistischen  Studien  empfahl. 
Dem  Schriftchen  ist  ein  Hexastichon  Ortuini  Oratii  Coloniae  poeticam  rheto- 
ricenque  publice  profUentis  zur  Einführung  mitgegeben.  S.  Reiculinq,  Murmellius 
S.  21,  146,  wo  auch  gezeigt  wird,  was  von  des  Murmellius  Vertreibung  aus  Köln 
durch  die  Barbaren  zu  halten  ist;  dieselbe  stammt,  wie  viele  ähnliche  Ge- 
schichten, von  Hamelmann  und  hat  gar  keine  andere  Bedeutung  als  die  einer 
rhetorischen  Floskel;  die  Erzählung  einer  ejectio  per  barharos  ist  Amplifikation 
des  Simpeln  Ausdrucks:  er  verließ  den  Ort.  In  seiner  Abhandlung  über  Buschius' 
Leben  (in  den  Opera  genealog,  historica,  240)  kommt  die  ejectio  per  barbaros 
so  oft  vor,  als  sein  Held  den  Ort  wechselt,  und  er  läßt  ihn  ungefähr  in  allen 
Städten  Norddeutjchlands  den  Hiunanismus  predigen. 


Die  Universität  Köln.  121 


in  Freiberg  ijS.,  mit  ähnlicher  UntemehmuDg  beschäftigt,  in  seiner 
Begleitung  Mosellanus;  er  lehrte  dort  die  Eloquenz  aas  Cicero  de 
oratore  und  Augustins  erwähntem  Buch  (Krappt,  Briefe,  S.  143  flf.). 

Besseres  Olück  hatte  in  Köln  R.  Cbocus,  der  sich  im  Sommer 
1515  dort  aufhielt.  In  der  früher  angeführten  Leipziger  Rede  (Böhme, 
193)  gedenkt  er  auch  seiner  Aufnahme  in  Köln  mit  Anerkennung. 
Es  sei  ihm  gestattet  worden  ubivis  scholarum,  occlusa  etiam  nisi  vier- 
cedem  porrigentibus  janua  praeUgere;  was  oflFenbar  bedeutet,  daß  die 
Universität  ihm  für  bezahlte  Privatvorlesungen  ihre  Hörsäle  überließ, 
während  die  Magister  in  den  öffentlichen  Lektorien  nur  öffentlich  und 
umsonst  lesen  durften.  Ich  bemerke  dies,  weil  Schmidt  (Mosellanus^  9) 
die  Worte  so  versteht:  Crocus  habe  nur  bei  verschlosseueu  Thüren 
lehren  dürfen.     So  werden  durch  das  Vorurteil  die  Augen  zugehalten. 

Später  wurde  die  Spannung  zwischen  den  Gegensätzen  schärfer. 
Buschius  trat,  nach  längerem  Zögern,  in  dem  REUCHLiNschen  Handel 
auf  die  feindliche  Seite.  Der  l^iumphus  Capnionut  und  die  Epistolae 
ohs,  vir.  erschienen.  Man  wird  es  begreiflich  finden,  wenn  die  in 
diesen  Pamphleten  in  einer  unerhörten  Weise  Geschändeten  die  Sache 
nicht  einfach  als  historische  Darlegung  eincM  unbestreitbaren  That- 
bestandes  hinnahmen,  wie  es  die  Geschichtsschreiber  des  Humanismus 
zu  thun  pflegen,  sondern  vielmehr  alle  Mittel,  die  ihnen  zu  Gebote 
standen,  zur  Abwehr  und  zum  Angriff  benutzten.  Von  welcher  Art 
diese  Mittel  waren,  kann  man  aus  des  Buschius  Verteidigungsschrift, 
dem  1518  erschienenen  Valium  humanitatis  ersehen.  Der  Verfasser 
bezeichnet  am  Eingang  als  nächste  Veranlassung  zur  Abfassung  der 
Schrift,  daß  er  am  Weihnachtstag  des  Jahres  1517  eine  Predigt  m 
einer  kölnischen  Kirche  gehört  habe,  worin  der  Prediger  alsbald  zu 
einer  Invektive  gegen  die  Poeti^n  übergegangen  sei.  Er  habe  die 
Humanitätsstudien  als  verkehrte,  eitle,  falsche  verklagt.  Die  Poeten 
und  Oratoren  strebten  m^hr  nach  dem  Schein  dös  Wissens,  als  nach 
dem  Wissen  selbst;  ihr  Ziel  sei  das  Schönreden;  darauf  allein  seien  sie 
bedacht,  daß  ihnen  nicht  einmal  ein  unciceronisches  Wort  entschlüpfe; 
viel  ängstlicher  sorgten  sie  darum,  wie  sie  jedes  Wörtlein  auf  das 
eloquenteste  ausdrückten,  als  wie  sie  heilig  lebten;  sie  quälten  sich 
darum,  ob  das  W^ort  amo  zu  aspirieren  sei  oder  nicht,  aber  aus  der 
Liebe  Gottes  und  des  Nächsten  und  wie  darin  zu  leben  sei,  machten 
sie  sich  nichts,  sondern  sie  seien  durchweg  Schweine. 

Wenn  man  von  dem  letzten  Ausdruck  absieht,  der  übrigens  der 
Kede  der  Humanisten  viel  geläufiger  ist  als  der  ihrer  Gegner,  viel- 
leicht darf  man  annehmen,  daß  Buschius  ihn  dem  Redner  aus 
der  Fülle  seiner  eigenen  Eloquenz  geliehen  hat,  so   wird   man   diese 


122         I,  4.    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten. 


Erwiderung  auf  die  AngrifiFe,  welche  die  Theologen  von  den  Poeten 
erfahren  hatten,  sehr  gemäßigt  und  die  Vorwurfe  nicht  ganz  unge- 
gründet finden.  Auch  das  Valium  humanitatis  ist  in  sehr  gelindem 
Tone  gehalten;  Ebasmus  hatte  den  Buschius,  von  seinem  Plan  in 
Kenntnis  gesetzt,  dringlichst  zur  Mäßigung  gemahnt.  Die  Widerlegung 
jener  AngrifiFe  auf  die  Humanitätsstudien  geschieht  durchaus  in  Form 
der  argumentatio  ad  hominem:  für  die  Theologen  sei  das  Studium  der 
Sprachen  nicht  zu  entbehren,  wie  von  ihren  eigenen  Autoritäten  an- 
erkannt werde;  das  Studium  der  Eloquenz  aber  könne  den  Predigern 
nur  nützlich  sein. 

Auch  zwischen  Caesarius  und  den  Magistern  müssen  um  diese 
Zeit  Irrungen  vorgefallen  sein,  wie  aus  einem  Briefe  des  Agrippa  von 
Nettesheim  an  ihn  vom  Jahre  1 520  hervorgeht  (bei  Böckino,  II,  335). 
Caesabius  verließ  später  Köln,  wir  finden  ihn  1527  mit  drei  jungen 
Grafen  Stolbebg,  die  schon  in  Köln  seine  Schüler  gewesen  waren, 
in  Leipzig.  Zu  dem  Haus  Stolberg  blieb  er  bis  zu  seinem  Tode  in 
Beziehung  (Kbafft,  Briefe,  154  flf.).^ 

Über  die  gravamina  der  Universität  gegen  die  humanistischen 
Magister  unterrichtet  uns  ein  Bedenken,  welches  dem  kölnischen  Rat 
im  Jahre  1525  von  der  Universität  übergeben  wurde  (abgedruckt  bei 
BiANCo,  I,  Anhang  S.  316—326).  Dem  Rat  wird  als  Versäumnis  vor- 
gehalten, „daß  man  in  Schulen  und  anderen  Plätzen  zugelassen  hat, 
Auswärtige  und  Heimische  ihre  Lektionen  zu  thun  zu  den  Stunden, 
die  den  wirklichen  Magistern  und  Ordinarien  gehören,  und  denselbigen 
Magistern  und  Ordinarien  ihre  Vorlesungen  zu  behindern,  ihre  Disci- 
pulen  abzuziehen  und  zu  sich  zu  rufen,  und  die  rechte  Kunst,  Bücher 
und  Lektionen  der  Magister  und  Ordinarien   zu   verachten,   und   ihre 


*  Von  AoRippA  VON  Nettesheim  findet  sich  in  seinen  Werken  (£dit.  Lugd. 
1600,  II,  360—374)  ein  Schreiben  an  den  Kölner  Rat  in  Sachen  des  von  der 
theologischen  Fakultät  beanstandeten  Druckes  seiner  Occulta  philosophia^  welches 
sich  über  die  Uni versitäts Verhältnisse  in  Köln  überhaupt  sehr  ausführlich  ver- 
breitet. Leider  ist  aber  aus  dem  langen  Schriftstück  fast  nichts  zu  entnehmen, 
als  was  wir  auch  sonst  wissen,  daß  Agripfa  seine  Gegner  von  Herzen  haßte. 
Er  nennt  die  Theologen  und  Artisten  in  unermüdlicher  Wiederholung  nur  mit 
der  variaiiOy  welche  die  Eloquenz  zum  Gesetz  machte,  Esel,  Schweine,  dreckige 
Säue  u.  s.  f.  —  Über  den  Aufenthalt  des  humanistischen  Juristen  P.  Ravennas 
in  Köln  (1506—8),  dessen  in  dem  Brief  gedacht  wird,  findet  man  ausführliche 
Mitteilungen  bei  Müther,  Universitätsleben,  96—128;  s.  auch  Liessem,  S.  54. 
Es  war  ihm  in  Köln  über  die  Maßen  gut  gegangen ;  man  drängte  sich  zu  seineu 
Vorlesungen;  er  preist  in  seiner  Absehiedsrcde  Stadt  und  Universität  aufs 
höchste.  Nur  mit  Hocustraten  war  er  in  eine  litterarische  Fehde  verwickelt 
worden,  in  welcher  Ortüinüs  Gratius  dem  Italiener  zur  Seite  stand.  Von  einer 
„Vertreibung",  wovon  Aorippa  fabelt,  ist  nicht  die  Rede. 


Die  Universität  Köhi,  123 

leichtfertigen  Dinge  den  Jungen  vorzulegen,  mit  Widerratung,  Ver- 
achtung aller  Promotion,  Ordnung,  Ehre  und  Stand  der  löblichen  Uni- 
versität, wider  Statuten,  Gesetz,  Recht  und  Gewohnheit  der  Universi- 
täten und  auch  zum  großen  Schaden  der  Bürgerschaft  und  der  ehrsamen 
Gemeinde,  behindert  ihre  Nahrung  und  Gewinn,  die  sie  aus  den  Pro- 
motionen und  Doktoressen  pflegen  zu  haben.^'  Man  sieht,  es  sind 
dieselben  Dinge,  wielche  der  Magister  Anbbeas  Delitzsch  in  Leipzig 
in  dem  Urteil  zusammenfaßt:  die  Poeten  seien  wie  das  fünfte  Rad  am 
Wagen,  sie  hemmten  die  anderen  Fakultäten ,  daß  ihre  Scholaren  nicht 
gut  zur  Promotion  kämen  (Epp.  Obs.  Vir.  I,  17,  womit  zu  ver- 
gleichen II,  46). 

Die  Abneigung  gegen  die  Humanisten  hinderte  übrigens  nicht, 
daß  auch  die  kölnische  Universität  dem  modernen  Geist  Einräumungen 
zu  machen  sich  entschließen  mußte.  Der  Einfluß  des  humanistischen 
Kurfürsten  Hermann  von  Wied  machte  sich  in  dieser  Richtung  gel- 
tend. Im  Jahre  1524  wurde  Hermann  von  Netjenar  Dompropst  und 
damit  Kanzler  der  Universität  (Krapft,  Mitteilungen,  S.  218).  Im 
Jahre  1522,  in  welchem  Phrissemius  Dekan  der  Artistenfakultät  war, 
fand  eine  Reform  der  Statuten  statt,  welche  diese  Bestrebungen  er- 
kennen läßt  (bei  BiANCo,  I,  Anhang,  288 — 316).  Zwar  wird  für  den 
philosophischen  Unterricht  das  humanistische  Latein  ausdrücklich  ver- 
boten: bei  der  Erklärung  der  Bücher  und  ebenso  bei  den  Disputationen 
und  Prüfungen  soll  man  sich  des  freien  und  gewöhnlichen  Lateins  l)e- 
dienen,  nicht  des  gesuchten  und  gedrechselten.  Aber  allerdings  soll 
anch  das  neue  Latein  gelehrt  werden:  die  Sprache,  deren  Grammatik 
nach  Alexander  vorgetragen  wird,  soll  an  Cicero  (Episteln,  Officien,  de 
amicitia,  de  senectute\  Virgil,  Philelphus  und  Mantuanus  geübt,  außer- 
dem Rhetorik  nach  Cicero  gelehrt  werden  (S.  298).  Grammatik  und 
Rhetorik  bilden  auch  einen  Teil  der  Baccalariatsprüfung  (304).  Da- 
gegen wird  verboten,  unzüchtige  Dichter  zu  lesen  und  zu  hören,  sowie 
solche  Poeten,  welche  die  Gemüter  berücken  und,  ohne  Gift  zu  geben, 
durch  die  Gewalt  ihrer  Zaubersprüche  die  Menschen  t(*)ten.  Im  Jahre 
1523  nahm  der  Rat  den  Magister  Jac.  Sobiüs  als  Orator  an  (Krafft, 
Mitteilungen,  234).  Er  zeigt  sich  überhaupt  humanistischen  Reformen 
geneigt.  In  den  folgenden  Jahren  fanden  wiederholt  Verhandlungen 
zwischen  der  Universität  und  dem  Rat  über  die  Mittel  zur  Hebung  des 
Studiums  statt,  wovon  mehrere  Aktenstücke  bei  Bianco  und  Krafft 
einige  Kunde  geben.  Die  Universität,  gedrängt  von  den  Scholaren, 
welche  in  etwas  tumultuarischem  Auftreten  die  Modernisierung  des 
Kursus  forderten,  schlug  in  einem  Gutachten  vom  Jahre  1525  (Rektor 
war  Arnold   vun  Tun(4kkn)  unter  anderem  aucli   den  Gebrauch  der 


124         I,  4.   Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


neuen  Übersetzungen  und  (irammatiken  vor  (Bianco,  408,  464  flf.,  An- 
lagen 316  ff.,  zu  vergl.  Ennen,  210  ff.,  Kbafft,  234  ff.).  Auch  wurde 
ein  Versuch  gemacht,  den  Erasmüs  für  die  Universität  zu  gewinnen. 
Wie  es  scheint,  ist  es  zu  tiefergreifenden  Maßregeln  nicht  gekommen; 
die  Reformationsunruhen  traten  dazwischen.  Doch  wurde  1528  Arnold 
VON  Wesel  ein  Kanonikat  verliehen  mit  der  Verpflichtung  der  griechi- 
schen und  hebräischen  Lektur  (Krafft,  190),  und  1529  ein  Humanist 
vom  Rat  mit  50  fl.  angenommen  (Ennen,  673). 

Bemerkt  sei  noch,  daß  die  kölnische  Universität  auch  an  der  alten 
Zucht  festhielt.  Daß  die  Jugend  mehr  geneigt  sei  zum  Bösen  als  zur 
Tugend,  ist  eine  in  den  Reformationsschriftstücken  wiederholt  vorkom- 
mende Wendung;  es  sei  daher  notwendig,  sie  mit  Ernst  im  Zaum  zu 
halten.  Das  letzte  Mittel  hierzu  bleibt  die  Rute.  Das  Statut  von  1522 
setzt  auf  dreimaliges  Fehlen  in  Übungen  drei  Pfennig  für  jedesmal  oder 
die  Rute,  und  die  Eingabe  an  den  Rat  ruft,  wenn  die  Rute  nicht  hel- 
fen sollte,  die  weltliche  Gewalt  zu  Hilfe  (Blaijco,  311,  325). 

Die  Universität  Löwen  wurde  gleichzeitig  von  denselben  Be- 
wegungen erschüttert.  Als  Erasmus  im  Jahre  1516  zu  dauerndem 
Aufenthalt  nach  den  Niederlanden  kam,  fand  er  seitens  der  Universität, 
auch  ihrer  Theologen,  freundliche  Aufnahme;  er  spricht  von  ihnen  in 
Briefen  an  die  Baseler  Freunde  mit  Achtung.^  Im  Jahre  1518  wurde 
eine  Stiftung  ins  Leben  gerufen,  an  welcher  Erasmus  Anteil  hatte: 
Hieronymus  BüSLiDiüs,  Rat  des  Königs  Karl,  Propst  zu  Aire,  hatte  testa- 
mentarisch sein  Vermögen  zur  Begründung  einer  humanistischen  Unter- 
richtsanstalt in  Löwen  bestimmt,  an  welcher  die  drei  Sprachen  öffentlich 
gelehrt  werden  sollten.  Die  im  Jahre  1518  eröffnete  Anstalt  unter- 
hielt drei  Lehrer,  je  einen  der  drei  Sprachen  und  zwölf  Stipendiaten; 
die  Vorlesungen  standen  aber  allen  Studierenden  offen.  Erasmus  er- 
wähnt in  einem  Briefe  vom  Jahre  1521,  daß  etwa  300  Zuhörer  in 
dem  Auditorium  des  Collegium  trilingue  sich  einzulinden  pflegen;  er 
giebt  die  Zahl  aller  Studierenden  in  Löwen  auf  3000  an,  welche  Zahlen 
ohne  Garantie  hier  wiedergegeben  sein  mögen. 

Im  Jahre  1519  kam  es  zu  Reibungen  zwischen  Erasmus  und  zwei 
oder  drei  Löwener  Theologen.  Erasmus'  freie  Äußerungen  über  Ehe- 
losigkeit des  Klerus  und  ähnliche  Dinge  gaben  den  Anlaß,  ihn  der 
Gemeinschaft  mit  Luther  zu  zeihen,  ein  Punkt,  an  welchem  Erasmus 
sehr  emptindlich  war.  Vielleicht  war  auch  das  Collegium  trilingue  den 
Professoren  nicht  ganz  nach  dem  Sinn:  es  war  augenscheinlich?  auch 


*  Steitz,  W.  Nesen,  Archiv  für  Frankfurts  Geschichte,  Bd.  VI,  S.  58  flf.  be- 
hauüelt  eingeheiiü  die  Lüwi;iier  Verhältnisse  in  dieser  Zeit. 


Die  Universüäi  Löwen,  125 


der  Absicht  nach,  eine  Art  von  Konkorrenzinstitnt  der  Universität.  Die 
üblichen  Yergleichungen  mit  Licht  und  Finsternis  haben  gewiß  auch 
hier  nicht  gefehlt  Es  wurden  ein  paar  Streitschriften  gewechselt. 
W.  Nesen,  welchem  von  selten  der  Universität  die  Absicht,  in  Löwen 
Vorlesungen  zu  halten,  durchkreuzt  worden  war,  sekundierte  seinem 
Gönner  Ebasmus  mit  ein  paar  Schmähschriften  gegen  die  Löwener 
Theologen,  welche  vielleicht  von  allen  humanistischen  Pasquillen  die 
wütendsten  sind;  namentlich  der  bei  Steitz  mitgeteilte  offene  Brief 
an  ZwiNGLi  möchte  in  Giftigkeit  persönlicher  und  namentlicher  An- 
griffe seinesgleichen  nicht  finden.  Im  Jahre  1520  folgte  der  große 
von  Ebasmüs  selbst  arrangierte  Feldzug  aller  Humanisten  und  Erasmus- 
yerehrer  gegen  den  Löwener  Gräcisten  E.  Lee,  welcher  gewagt  hatte, 
kritische  Anmerkungen  zu  Ebasmus'  Anmerkungen  zum  N.  T.  zu  machen. 
Die  bestellten  Schmähschriften,  welche  den  armen  Lee  wegen  seines 
Majestätsverbrechens  „Glied  für  Glied  zerstückten'',  wie  Ebasmus  sagt, 
liefen  bändeweis  ein;  „ein  Wurm,  der  in  der  Finsternis  hervorkriecht, 
ein  herrliches  Saatfeld  zu  benagen,''  heißt  Lee  in  einem  Briefe  des 
Zasius,  „ein  Mistkäfer,  der  sich  einen  Adler  zum  Kampf  ausgesucht" 
bei  BuscHius.  Ebasmus,  einer  der  wenigen  unter  den  Humanisten, 
den  der  gesunde  Menschenverstand  und  ein  Gefühl  für  das  Geziemende 
in  der  Behandlung  der  Gegner  nie  verließ,  suchte  die  Veröffentlichung 
der  Briefe  nun  zurückzuhalten,  vornehmlich  auch  darum,  schreibt  er 
an  J.  Jonas  in  Erfurt,  „damit  wir  ihm  nicht  eine  Partei  zusammen- 
bringen, da  auch  unsere  Gegner  nichts  von  ihm  wissen  wollen"  (Steitz, 
102).  Die  Universität  war  übrigens  keineswegs  auf  Seiten  der  Gegner. 
Vom  Papst  Hadrian  wurde  dem  Hauptfeinde  des  Ebasmus,  dem  Kar- 
meliter Nio.  Egmondanus,  das  Schreiben  gegen  Ebasmus  untersagt. 
Ebasmus  fahrt  fort,  von  der  Löwener  Universität  als  von  der  zweiten 
Universität  des  Abendlandes,  nach  Paris,  zu  sprechen. 

Ich  wende  mich  nun  dazu,  die  Ausbreitung  der  humanistischen  Be- 
wegung über  die  süddeutschen  Universitäten  in  kurzer  Übersicht 
nachzuweisen. 

Der  Mittelpunkt  der  Beziehungen  zwischen  Italien  und  Deutsch- 
land war  der  kaiserliche  Hof.  Die  ersten  Berührungen  mit  dem  neuen 
Lebensprinzip  hatten  schon  am  Hofe  Karls  lY.  stattgefunden.  Im 
Jahre  1356  war  Petbaboha  nach  Prag  gekommen.  Der  Kaiser  und 
seine  Umgebung  hatten  ihn  aufgenommen,  wie  es  dem  „Großgeist  der 
Zeit'*  zukam.  Der  Erzbischof  Arnest  von  Prag  wurde  nicht  müde  ihm 
sein  Bedauern  auszusprechen,  daß  er  „zu  Barbaren"  habe  kommen 
müssen.  Bischof  Johann  Ocko  von  Olmüz  versicherte  ihm,  nie  werde 
der  Name  seines  Franziscus  ihm  aus  dem  Busen  schwinden.    Bischof 


126         /,  4,    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


Johann  von  Leitomischl,  Kanzler  des  Kaisers,  der  eine  glühende  Yer- 
ehrong  für  den  Dichter  gefaßt  hatte,  blieb  mit  ihm  in  Briefwechsel; 
er  gab  sich  unsägliche  Mühe  schwungvoll  und  poetisch  zu  schreiben, 
überhob  sich  aber  des  Gelingens  so  wenig,  daß  er  sich  Fetbabcha 
gegenüber  einen  „schäbigen  Schulmeister**  nennt  und  mit  Scham  von 
der  angeborenen  Plumpheit  und  dem  Barbarentum  seiner  Nation  (der 
deutschen,  er  war  Schlesier)  spricht.  Nicht  minder  schämt  er  sich  auch 
des  Kanzleramtes,  in  dem  er  sich  wie  eine  schwatzende  Elster  vor- 
komme: er  wünsche  nur  von  den  Brosamen,  die  von  dem  reichen  Tisch 
des  heiligen  Sängers  fielen,  seinen  Hunger  zu  stillen  und  wolle  sich 
selig  preisen,  wenn  er,  mit  dem  Angesicht  auf  der  Erde,  die  Fußspuren 
eines  solchen  Redners  verehren  könnte.  —  Die  Briefe,  welche  der 
Kanzler  an  den  Dichter  schrieb,  wurden  ein  bedeutsames  Fortpflanzungs- 
mittel der  humanistischen  Eloquenz,  indem  sie  zu  einem  Briefbuch 
vereinigt  wurden,  das  als  „Handbuch  der  Kanzlei  Karls  IV."  weite 
Verbreitung  fand.  Auch  Kaiser  Sigmund  hatte  zu  italienischen  Huma- 
nisten Beziehung;  den  P.  Vebgerius,  welchen  er  auf  dem  Konzil  zu 
Konstanz  kennen  gelernt  hatte,  nahm  er  dauernd  in  seine  Dienste. 
Viel  wichtiger  wurde  Enea  Silvio  de'  Piccolomini,  welcher  1442  unter 
Friedrich  III.  in  die  Reichskanzlei  zu  Wien  trat.  Freilich  den  Kaiser 
gelang  es  nicht  für  Poesie  und  Eloquenz  zu  erwärmen,  und  auch 
Fürsten  und  Adel,  Klerus  und  Universität  verhielten  sich,  nach  Eneas 
oft  kund  gegebenem  Urteil,  schmählich  gleichgültig  gegen  die  schönen 
Wissenschaften.  Aber  unter  den  Genossen  der  Kanzlei  fanden  bald 
einige  Geschmack  an  den  pikanten  Briefen  und  Traktaten  des  Italieners, 
und  durch  sie  wurde  Stil  und  Geschmack  des  libertinistischen  Huma- 
nismus weiter  getragen.^ 

Es  ist  hiemach  nicht  auffallend,  daß  die  Wiener  Universität 
zuerst  unter  allen  deutschen  Universitäten  tiefgreifende  Einwirkungen 
von  der  neuen  Bewegung  erfuhr.  Schon  in  den  50  er  und  60  er  Jahren 
hatten  hier  Georg  von  Peüebach  (1423 — 1461)  und  Jon.  Regiomon- 
TANus  als  Magister  in  Poesie  und  Mathematik  gelesen,  beide  auch  des 
Griechischen  kundig.  Aus  dem  Jahre  1474  wird  der  Ankauf  der 
aristotelischen  Metaphysik  in  neuer  Übersetzung,  mit  dem  Kommentar 
des  Averroes,  und  einer  ganzen  Anzahl  klassischer  und  neuhumanisti- 
scher Schriften  durch  die  FakulUlt  der  Artisten  erwähnt,  ut  vel  sie 
paulum  ex  faecihus  ad  nitidus  philosophorum  fontes  rediremus,  fügt  der 
Dekan  hinzu  (Kink,  I,  182).    Seitdem  Maximilian  regierte  (1490),  übte 

*  Über  diese  ersten,  durch  die  politische,  Verbindung  mit  Italien  vermittelten 
humanistischen  Anregungen  wird  ausführlich  gehandelt  von  Voigt,  Wieder- 
belebung, II,  266  ff. 


Die  Universität   Wien.    PoetenfakuUäi.  127 


er  entsoheidenden  Einfloß  zu  Gunsten  der  humanistischen  Bestrebungen 
aus.  Es  wurde  (1493)  eine  standige  Lektur  für  Poesie  und  Eloquenz 
errichtet,  nachdem  schon  vorher  wiederholt  Gastrollen  von  fahrenden 
Poeten  waren  gegeben  worden.  Versuche  mit  importierten  italienischen 
Humanisten  hatten  keinen  rechten  Erfolg.  Die  Anpflanzung  der  Poesie 
geschah  durch  die  beiden  gekrönten  Poeten  J.  Cuspinianus  (Spieß- 
haimer  aus  Schweinfurt,  1473 — 1529)  und  Conrad  Celtis;  der  erstere 
war  seit  1490  in  Wien,  der  andere  wurde  1497  aus  Ingolstadt  be- 
rufen. Neben  ihnen  wären  etwa  zu  nennen  Angelus  Cospus  (t  1516), 
ein  Italiener,  der  vorzugsweise  Griechisch  lehrte,  der  Schweizer  Joach. 
Vadianus  (1484 — 1551),  als  Redner  und  Dichter  berühmt,  G.  Colli- 
MiTiüs  aus  Bayern  (1482 — 1535),  Mathematiker  und  Astronom. 

Im  Jahre  1499  kam  durch  Interzession  der  Regierung  eine  Refor- 
mation des  artistischen  Kursus  durch  Beschluß  der  Fakultät  zu  stände, 
welche  ein  sehr  bedeutsames  Nachgeben  gegen  den  eindringenden  Hu- 
manismus zeigt.  Es  wurden  gewisse  Kurse  in  arte  humanitatis  für  die 
Scholaren  obligatorisch  gemacht  (was  durch  Fakultätsbeschluß  von  1494 
noch  war  abgelehnt  worden):  zum  Baccalariat  sollen  Virgils  Bucolica 
und  ein  libeUus  de  arte  epistolandi  gehört  werden;  den  Baccalarien 
werden  sechs  Bücher  der  Aeneis  zur  Pflicht  gemacht;  außerdem  wird 
für  die  ordentlichen  öffentlichen  Lektionen  über  Grammatik  das  Doctri- 
nale  Alexanders  abgeschafft  und  statt  ihrer  die  Grammatik  des  N.  Pebottus 
eingeführt;  für  Privatkurse  behielt  Alexander  sein  Recht.  Schon  früher 
war  über  den  philosophischen  Unterricht  angeordnet,  daß  er  sich  mehr 
an  die  Texte  halte  und  überflüssige  Quüationen  und  Kommente  ab- 
schneide; was  1501  nochmals  eingeschärft  wurde:  den  schmutzigen, 
barbarischen,  unsinnigen  Kram  abzuthun  (Kink,  I,  194  ff.). 

Im  Jahre  1501  errichtete  Maximilian  bei  der  Universität  eine 
eigene  humanistische  Fakultät,  das  collegitim  poetarum,  mit  vier  Lehrern, 
zwei  in  Poesie  und  Beredsamkeit,  zwei  in  den  mathematischen  Wissen- 
schaften.^ Kink,  und  ihm  folgend  Aschbach,  bestreiten,  daß  das  collegium 
eine  fünfte  Fakultät  gebildet  habe  (I,  200).  Mir  scheint,  seine  Stellung 
ist  in  allem  Wesentlichen  der  einer  FakultHt  gleichartig.  Der  cursus  ist 
ein  in  sich  geschlossener  und  selbständiger,  und,  was  das  Wesen  einer 
Fakultät  ausmacht,  das  collegium  erhält  die  Berechtigung,  einen  akade- 
mischen Grad  zu  verleihen,  nämlich  den  Grad  eines  po'eta  laureaiux^ 


*  Die  Errichtungsurkunde  bei  Kink,  II,  305  f!*.:  decrevimus  collegium  poe- 
tarirni priscorum  imperatonim  antecessontfn  nostrontm  {nä.m\ich  der  alten  Cftsaren) 
more  erigerCj  abolitamque  prisci  saeculi  eloqucntiam  restituere, 

•  .  .  .  quicunque  in  prefata  nostra  Univ,  Wienn,  in  oratori^  et  poetica  stu- 
duerit  laureamque  coticupiverit :  is  in  praenominato  poetarum  coüegio  diligenter 


128         I,  4,    Die  hwnanistische  BeformaHon  der  UhiversUäten. 


Daß  dies  wirklich  als  ein  akademischer  Grad  anzusehen  ist,  geht  dar- 
aus hervor,  daß  er  das  Recht  giebt  an  allen  Universitäten  des  römi- 
schen Reichs  zu  lehren,  natürlich  die  Poesie  und  Eloquenz.  In  der 
ErrichtungBurkunde  ist  dies  zwar  nicht  ausdrücklich  gesagt,  sondern 
nur:  daß  die  von  dem  Vorsteher  der  Poetenfakultat  Oekrönten  aller 
Privilegien  teilhaft  dind,  der  die  vom  Kaiser  selbst  Grekrönten  genießen. 
Daß  aber  der  aus  der  Hand  des  Kaisers  empfangene  Kranz  und  Ring 
die  facultas  docendi  in  poesi  et  oratoria  erteilte,  kann  man  aus  dem 
Poetendiplom  Huttens  ersehen.^  Es  ist  ganz  augenscheinlich,  daß  die 
Ausdrücke  dieses  Diploms  ebenso  wie  die  Foimen  der  Poetenkreierung 
den  bei  den  Promotionen  in  den  alten  Fakultäten  üblichen  nachge- 
bildet sind.  Die  Laureaten  nannten  sich  auch  Doctor  philosophiae, 
nicht  aber  Magister  artium  (Aschbach,  66):  ein  Titel,  womit  sie  offen- 
bar sich  als  akademisch  Graduierte,  wenn  auch  nicht  in  einer  der 
vier  alten  Fakultäten,  zu  erkennen  geben  wollten.  Daß  der  Ausdruck 
facultas  poetarum  nicht  vorkommt,  kann  nicht  überraschen,  es  ist  ein 
barbarischer  Ausdruck,  der  bald  auch  von  den  übrigen  Fakultäten  gegen 
das  elegante  coüegium  vertauscht  wurde.  ^ 

Wie  es  scheint,  war  der  äußere  Erfolg  des  Poet^nkollegs  kein 
großer.  In  einer  Zeit,  wo  die  Universität  jährlich  mehr  als  600 
Scholaren  in  titulierte,  fanden  sich  nur  12  Schüler  in  demselben  ein 
(im  Jahre  1505,  s.  Aschbaoh,  249,  wo  die  Namen  derselben).  Nach  dem 
Tode   des   Celtis  (1508)   verschwindet  es  aus  der  Geschichte,  nach 

examtnaiuSf  si  idoneus  ad  id  munus  suseiptendum  habitus  ei  inventus  fuerit, 
per  Bonorabilem  fidelem  nobis  düeeium  Conradum  Gütern,  per  getnlorem  nosirum 
Friedericum  III  divae  memoriae  primum  inter  Oermanos  laureatum  po'etam  et 
modo  in  universitate  nostra  W,  poetices  et  oratoriae  Uctorem  ordinartum  ac 
deinde  per  succesaores  efus,  qui  pro  tempore  coÜegio  praefuerint,  lat$rea  eoronari 
possit  (KiNK,  II,  806). 

*  Abgedruckt  in  Opp.  Hutteni  ed.  Böcking,  I,  148:  .  .  te  autoritate  nostra 
Caesarea  Laurea  donavinuis  aureoqtte  insuper  annulo  jureque  et  usu  aurei  annuli 
decoravimus,  Laureatumque  et  Poetam  et  Vatem  et  Oratorem  disertum  pronun» 
ciavtmus;  dantes  et  concedentes  tibi  et  hoc  Caesareo  nostro  statuentes  edictOy 
quod  de  cetero  in  quibuscunque  stvdiis  generalibus  praecipue  tarn  in  arte 
poetica  quam  in  oratoria  legere  doeere  profiieri  et  interpretari  et  insuper  Omni- 
bus privilegiis  iwmunitatibus  ete.  frui  debeas  et  possie,  quibut  eeteri  poütae  a 
nobis  Laureati,  Man  vergleiche  die  Dichterkrönung  des  Aeneas  Sylvius  und 
Celtis  durch  Frietirich  III.  bei  Aschbach,  Wanderjahre  des  Celtes,  S.  93 ff.:  die 
Laureierung  ist  zugleich  Magistrierung.  Über  den  Ursprung  der  Dichterkrönuug, 
die  auf  die  römischen  Kaiser  zurückgeführt  wird,  s.  Burckharot,  Kultur  der 
Kenaissance,  I,  250. 

•  Die  Insignien  der  Poetenfakultät,  Kranz,  Ring,  Birret,  Siegel,  Szepter, 
abgebildet  bei  Geiqee,  Renaissance,  457. 


Die  Universüäten  Prag  und  Krakau.  129 


AscHBACu  ging  es  ganz  ein.  Vennutlioh  war  nicht  so  sehr  die 
Abneigung  gegen  das  poetische  Studium,  als  der  ^^Mangel  an  Be- 
rechtigungen'^ die  Ursache,  daß  ihm  so  wenige  sich  ganz  zu- 
wendeten. Für  ein  Kirchenamt,  und  das  war  es  doch,  nach  dem  die 
Studierenden  ausschauten,  war  der  Lorbeer  vielleicht  nicht  überall  eine 
Empfehlung  und  sich  mit  lateinischen  Versen  durchzubringen,  mochte 
es  immerhin  einigen  gelingen,  schien  doch  eine  prekäre  Sache.  Daß 
der  humanistische  Unterricht  an  der  Universität  nicht  überhaupt  auf- 
hörte, beweisen  die  zahlreichen  Drucke  klassischer  Schriftsteller,  welche 
im  zweiten  Jahrzehnt  in  Wien  erschienen  (Kink,  I,  214)  und  nicht 
minder  der  Fakultätsbeschluß  vom  Jahre  1523,  durch  welchen  eine 
griechische  Lektur  errichtet  wurde.  G.  Bithaimeb  war  ihr  erster  In- 
haber (Aschbach,  346). 

Von  der  Universität  Prag  ist  aus  diesem  Zeitalter  wenig  zu  be- 
richten; die  Kriegsstürme,  welche  durch  die  nationale  und  kirchliche 
Opposition  über  Böhmen  gebracht  worden  waren,  ließen  die  Studien 
nicht  gedeihen.  Vereinzelte  Gönner  und  Vertreter  des  Humanismus 
fanden  sich  natürlich  trotzdem  auch  hier,  vor  allen  wird  ein  Edel- 
mann, BoHUSLAUs  V.  LoBKowiTz,  Mäccu  und  Poet  in  einer  Person, 
genannt  (Tomek,  150). 

Größere  Bedeutung  hatte  in  dieser  Zeit  die  im  Jahre  1364  ge- 
gründete Univeratät  Krakau.  Im  15.  Jahrhundert  kann  sie  als 
zum  deutschen  Uuiversitätsgebiet  gehörig  angesehen  werden;  sie  erhielt 
aus  dem  ganzen  östlichen  Deutschland  Zuzug.  Als  die  ersten  Träger 
der  humanistischen  Bestrebungen  erscheinen  auch  hier  die  Kirchen- 
fursten.  Der  Kardinal  und  Bischof  von  Krakau,  Sbignew,  stand  mit 
Aeneas  Sylviijs,  der  damals  noch  ein  armer  Kanzlist  war,  in  Brief- 
wechsel und  erhielt  von  ihm  die  schmeichelhaftesten  Zeugnisse  über 
seinen  Stil,  welche  er  mit  Geschenken  erwidert«  (Voigt,  II,  330  flF.). 
Auch  an  der  Universität  fand  der  Humanismus  früh  Eingang.  In  den 
80er  Jahren  werden  eine  ganze  Reihe  von  Vorlesungen  über  die  la- 
teinischen Klassiker  erwähnt;  besonders  aber  wurden  die  mathematisch- 
astronomischen Studien  gepflegt.  1489  war  C.  Celtis  in  Krakau, 
lehrend  und  lernend:  Aesticampianus  und  Cobvinus  waren  hier  seine 
Schüler.  Als  König  Sigismund  von  Polen  im  Jahre  1518  mit  einer 
Italienerin  (Bona  Sforza)  sich  vermählte,  machten  nicht  weniger  als  sechs 
im  Osten  einheimische  Poeten  die  erforderlichen  carmina,^    Ein  Uni- 

*  G.  Bauch,  Laurentius  Corvinus,  Schles.  Zeitschr.,  Bd.  XVII,  8.  269. 
Über  einen  anderen  der  östlichen  Welt  augehörigen ,  übrigens  vom  Bodensee 
gebürtigen  Poeten,  Rud.  Aqricola  junior,  handelt  Bauch  im  Progr.  der  Breslauer 
höh.  Bürgerschule  II,  1892. 

Paulien,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  9 


130         I,  4.   Die  humanistische  Reformation  der  Unii)ersitäten. 


versitatsbeschluß  vom  Jahre  1538  läßt  erkenneD,  daß  schoD  vorher 
das  klassische  Latein  Gegenstand  des  Unterrichts  und  der  Prüfnngen 
war.  Es  heißt  in  demselben,  daß  an  Stelle  des  Donat  und  der  parva 
logicalia  des  P.  Hispanus,  der  modus  epistoiandi  des  Fb.  Niger  und 
die  Schrift  des  Erasmus  de  conscribendis  epistolis  auf  einige  Jahre  in 
den  ordentlichen  Lektionen  und  der  Baccalariatsprüfung  treten  sollen : 
die  Grammatik  des  Perottus  mit  dessen  modus  epistoiandi  und  ars 
metrica,  femer  die  Rhetorik  und  die  Briefe  des  Cicero,  endlich  die 
Dialektik  des  Caesartüs.^  Daneben  blieben  übrigens  natürlich  die 
aristotelischen  Lektionen. 

Den  Hof  und  die  Universität  Heidelberg  war  Kurfürst  Philipp 
(regierte  1476 — 1508)  bestrebt,  zu  einem  Mittelpunkt*  der  neuen 
Bildung  zu  machen.  In  enger  Beziehung  zum  Hof  standen  Jon. 
V.  Dalberg,  seit  1480  Domprobst,  dann  Bischof  von  Worms,  und  als 
solcher  Kanzler  der  Universität.  Sein  Haus  war  der  Ort,  wo  sich  alles, 
was  an  dem  neuen  Leben  teil  hatte,  begegnete.  Eine  Reihe  huma- 
nistischer Lehrer  waren  in  den  80er  und  90er  Jahren  in  Heidelberg 
thätig.  RüD.  Agricola(1443 — 1485)  hatte  seine  humanistischen  Studien 
in  Italien  gemacht ;  Erasmus  giebt  ihm  den  Preis,  er  sei  Graecissimus  und 
Latinissimusj  ein  vollkommener  Dichter  und  ein  vollkommener  Redner 
gewesen.  Er  lebte  und  lehrte,  ohne  zu  einem  verpflichtenden  Amt 
sich  entschließen  zu  können,  in  Heidelberg  von  1483  bis  zu  seinem 
frühen  Tode  1485.  Jacob  Wimpheling^  (1450 — 1528)  war  in  der 
Schule  zu  Schlettstadt  Dringenbergs  Schuler  gewesen;  auf  der  Uni- 
versität zu  Freiburg  trat  er  in  ein  enges,  das  Leben  hindurch  dauerndes 
Verhältnis  zu  J.  Geiler  von  Kaisersberg.  Seit  1469  gehörte  er  der 
Heidelberger  Universität  als  Studierender  und  dann  auch  als  Lehrer 
an,  1482  war  er  Rektor  und  hielt,  wie  es  scheint,  als  solcher  eine 
Rede  ad  Gymnosophista^  Heidelberg enses  ^  worin  er  die  Notwendigkeit 
darlegt,  das  Studium  der  Eloquenz  auf  den  Universitäten  zu  betreiben 
(WisKOWATOiT,  36);  er  stellt  es  als  eine  Forderung  der  nationalen 
Ehre  hin;  wenn  man  ihr  nicht  nachgebe,  werde  es  Deutschlands 
Fürsten  bald  an  Rednern  und  Historikern  fehlen.  Nachdem  er  von 
1484 — 1498  als  Prediger  in  Speier  thätig  gewesen  war,  kehrte  er  in 
dem  letzteren  Jahr  infolge  einer  Aufl'orderung  de?  Kurfürsten  nach 
Heidelberg  zurück,  und  las  hier  über  den  heil.  Hieronymus.  Er  verließ 
die  Universität  jedoch  schon  1501  wieder;  den  Rest  seines  Lebens 
widmete  er  litterarischer  und  geistlicher  Thätigkeit  in  Straßburg,  Basel 

'  Statuta  nee  non  liber  praniotiotiufn  phUos,  ord,  in  universitate  studiorum 
Jagellonica  1402—1849,  edidU  J.  Muczkowski  (1849),  S.  LVII. 

*  P.  V.  WiöKowATOFF,  J.  W.,  »eui  Leben  und  seine  Schriften,  1867. 


Die  Universität  Heidelberg.  131 


und  Schlettstadt.  —  Im  Jahre  1498  hielt  J.  Reughlin  sich  am 
Heidelberger  Hof  als  kurfürstlicher  Rat  und  ,,oberster  Zuchtmeister' 
der  Prinzen  auf.  Sein  Bruder  Dionysiüs  wurde  in  demselben  Jahre 
vom  Kurfürsten  als  Lektor  der  griechischen  Sprache  zugelassen, 
welchem  Vorhaben  die  artistische  Fakultät  allerdings,  wie  es  scheint, 
wenig  Neigung  entgegenbrachte  und  so  scheint  es  ohue  dauernde 
Folge  geblieben  zu  sein.^ 

Um  1520  dagegen  finden  wir  auch  die  Heidelberger  Fakultät  im 
Fahrwasser  der  humanistischen  Reform.  Schon  im  Jahre  1513  wird 
ihr  Wunsch  nach  einem  Professor  laut,  der  die  poUtiores  litterae  ordi- 
narie  et  publice  lese,  wie  das  anderen  Akademien  zu  Ruhm  und  Vorteil 
gereiche.  1518  wird  Lütheb  zur  Disputation  über  die  obenerwähnten 
höchst  ketzerischen  Thesen  zugelassen  und  ist  mit  der  Aufnahme  ganz 
zufrieden.  Die  Artisten  beginnen  sich  des  überlieferten  Betriebs  zu 
schämen.  1520  wird  der  Beschluß  gefaßt,  die  alte  Übersetzung  des 
aristotelischen  Textes  durch  die  neue  des  Abgybopulos  zu  ersetzen: 
„Alle  Universitäten  hätten  ihre  Studien  .zum  großen  Teil  verbessert 
und  die  jungen  Leute  zögen  dem  verbesserten  Betrieb  nach  und  ver- 
ließen den  alten.''  Die  Fakultät  beauftragt  eine  Kommission  mit  der 
Ausführung  des  Drucks,  der  dann  ihr  selber  zur  Revision  vorgelegt 
werden  soll.  Im  folgenden  Jahr  fordert  die  Fakultät,  unter  Hinweis 
auf  den  Rückgang  der  Frequenz  und  das  Aufblühen  anderer  Univer- 
sitäten, namentlich  Tübingens,  wo  man  Reughlin  angestellt  habe, 
die  Universität  auf,  sich  beim  Kurfürsten  um  den  Ehasmus  zu  be- 
mühen: er,  das  Licht  der  Welt,  werde  durch  sein  göttliches  Genie  die 
liberalen  Studien  wieder  zur  Blüte  bringen"  (Hautz,  I,  369).  Der 
Versuch  hatte  allerdings  keine  weiteren  Folgen,  Erasmus  wurde  nicht 
gerufen,  die  oberen  Fakultäten  scheinen  überhaupt  der  neuen  Strömung 
wenig  geneigt  gewesen  zu  sein;  die  Akten  der  Fakultät  bemerken,  man 
habe  auf  das  Schreiben  gar  keine  Antwort  erhalten,  womit  denn  der 
weitere  Rückgang  der  Frequenz  in  Zusammenhang  gebracht  wird:  alle 
verschmähten  den  hier  noch  festgehaltenen  alten  Weg,  ab  doctissimi 
hujus    nostri    saeculi  accuratius   restitiUis  yyvmdsiis  prorsus  alienum. 


*  Hautz,  Gesch.  der  Universität  Heidelberg,  I,  327.  Besser  als  durch  dieses 
unzulängliche  Werk  sind  wir  jetzt  unterrichtet  durch  die  aus  Anlaß  des  Jubi- 
läums erschienenen  Veröfifentlichungen:  £.  Wimkelmann,  Urkuudenbuch  der 
Univ.  Heidelberg,  2  Bde.  (1886),  der  zweite  Band  ein  vortrefiMiches  Regesten- 
werk; Thorbecke,  Statuten  und  Reformationen  (1891).  Desselben  Darstellung 
der  CJesch.  der  Heidelberger  Universität  ist  leider  noch  nicht  über  die  Anfiinge 
hinausgekoiäinen.  Vgl.  Hartfelder,  Melanchthon,  und  Morneweu,  J.  v.  Dal- 
berg  (1887). 

9* 


132         /,  4,    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten. 


Um  wenigstens  dem  öffentlichen  Gelächter  sich  nicht  auszusetzen,  wird 
bald  darauf  durch  Fakultätsbeschluß  die  Vorlesung  der  auf  die  Studien- 
ordnung bezüglichen  Statutenparagraphen  unterdrückt. 

Im  folgenden  Jahr  (1522)  kam  es  endlich  zur  Reformation  des 
Studiums.  Drei  eingehende,  sehr  interessante  Gutachten,  von  Jacob 
Stübm,  Jac.  Wimpheleno  und  Jag.  Spiegel  an  den  Kanzler  des  Kur- 
fürsten erstattet  (gedruckt  bei  Winkelmann,  I,  214  S,\  lassen  ungemein 
deutlich  die  Sichtung  der  von  der  gemäßigt  humanistischen  Beform- 
partei  erstrebten  Wandlung  hervortreten.  In  wesentlicher  Überein- 
stimmung verurteilen  sie  den  alten  Betrieb,  wie  sie  ihn  selbst  aus  ihrer 
üniversitätszeit  in  der  Erinnerung  hatten:  so  schlecht  sei  er  gewesen 
sagt  Sturm,  daß  er  ad  perdenda  ingenia  ac  male  locandas  bonos  horas 
ausdrücklich  ausgedacht  zu  sein  scheinen  könnte.  Vor  allem  scheint 
die  Vorlesung  über  die  aristotelische  Physik  in  üblem  Andenken  zu 
stehen:  so  schlecht  sei  die  ohne  Kenntnis  der  griechischen  wie  der 
lateinischen  Sprache  gemachte  Übersetzung  gewesen,  daß  weder  der 
Vorleser  noch  die  Hörer  sie  verstanden  hatten;  so  Sturm,  und  dasselbe 
bestätigt  Wimpheling:  die  physischen  Bücher  würden  ohne  alle  Frucht 
gehört^  Was  sie  an  die  Stelle  setzen  wollen,  ist  dies.  In  der  artisti- 
schen Fakultät  wird  es  sich  darum  handeln,  erstens  den  philosophischen 
Unterricht  auf  der  alten  Grundlage  besser  zu  organisieren.  Mit  einem 
guten,  kurzgefaßten  neueren  Lehrbuch  der  Dialektik  und  Physik  wird 
zweckmäßig  der  Anfang  gemacht  werden;  dann  mag  die  Lektüre  des 
aristotelischen  Textes,  aber  in  einer  guten  neuen  Übersetzung  folgen. 
Daneben  aber  muß  vor  allem  für  tüchtige  Lehrer  der  Sprachen  ge- 
sorgt werden:  nicht  nur  für  die  lateinischen  Dichter  und  Redner,  son- 
dern auch  für  Griechisch  und  Hebräisch.  Auch  der  bisher  vernach- 
lässigte mathematische  Unterricht  wird  betont  Und  in  der  Theologie 
ist  es  notwendig,  den  Scholastikern  den  Rucken  zu  kehren  und  statt 
ihrer  die  heiligen  Schriften  alten  und  neuen  Testaments  und  die  alt^n 
Väter  dem  Unterricht  zu  Grunde  zu  legen.  Widerstreben  dem  die 
Theologen,  schließt  Wimpheling,  „so  mögen  sie  acht  haben,  daß  sie 
nicht  Gott  beleidigen  und  der  Akademie,  ja  dem  Fürstentum,  und  dem 
Fürsten  eine  Schmach  authun,  da  die  jungen  Theologen  anderer  Uni- 
versitäten elegant  zu  reden  und  zu  predigen  verstehen,  sie  aber  bei 
ihrem  alten  Kram  verrotten,  ähnlich  wie  die  Kölner,  die  jenen  Mist 
in   die  Welt   gebracht   haben."    Man   kann  ja,   fügt  Spiegel   hinzu, 


*  Im  Manuale  Seolnrinm  (Zahncke,  Die  deutschen  Univ.,  S.  11,  30),  wo 
die  Heidelberger  Verhältnisse  um  1480  zu  Grunde  liegen,  werden  ebenfalls  die 
Vorlesungen  über  die  i^hysik  und  de  anima  als  unverständliche  genannt,  die 
man  aber  doch  wegen  des  complere  pro  yradu  hören  oder  bezahlen  müsse. 


Die  Universität  Heidelberg.  .    133 


Thomas  nnd  Scotus  den  Orden  überlassen,  sie  in  ihren  Stadienhäusem 
zu  treiben« 

Die  Beformation,  die  vom  Fürsten  noch  im  Jahre  1522  octroyiert 
wurde,  ist  nicht  erhalten.^  Sie  ist  aber  ohne  Zweifel  im  Sinne  dieser 
Gutachten  erfolgt  £s  geht  das  aus  den  Berufungen  humanistischer 
Professoren  hervor:  H.  Buschius  kam  1523  als  Lehrer  der  lateinischen 
Eloquenz  und  Poesie;  für  ein  Gehalt  von  80  fl.  sollte  er  taglich  zwei 
öffentliche  Vorlesungen  halten;  er  blieb  bis  1526.  Auch  für  die 
griechische  und  hebräische  Sprache  sind  Lehrstühle  errichtet  worden; 
jenen  hatte  Simon  Geynaeüs  inne  (1524 — 1529),  dem  später  (1533) 
Jag.  Micyllüs  folgte;  hebräisch  lehrte  Seb.  Münster  (1524 — 1527). 
Daß  die  Beformation  auch  das  Studium  der  Philosophie  im  Sinne  jener 
Batschläge  regelte,  erscheint  nicht  zweifelhaft.  Vielleicht  stammt  ein 
Bruchstück,  das  Haütz  (I,  418)  mitteilt  und  vom  Jahre  1545  datiert, 
aus  der  Beformation  von  1522;  jedenfalls  stimmt  es  ganz  zu  den 
obigen  Vorschlägen,  auch  hat  es  nicht  die  Form  eines  „Entwurfs", 
sondern  die  einer  octroyierten  Ordnung  des  Kurfürsten:  die  alten  Über- 
setzungen des  aristotelischen  Textes,  „die  zum  Teil  falsch,  barbare,  den 
discipuiis,  ja  auch  den  professoribus  unverstendig"  seien,  werden  abge- 
than,  mit  ihnen  die  „unfruchtbaren  disputationes  de  formalitatihus  Scoä, 
ITiomae"  u.  a.;  die  Lektoren  sollen  ohne  alle  unnützen  spitzigen 
Quastionen  und  Argutien  den  klaren  Text  an  der  Hand  guter  Ausleger 
vorlesen. 

Die  neuen  Universitäten,  welche  im  dritten  Viertel  des  15  Jahr- 
hunderts in  Südwestdeutschland  als  zeitlich  und  örtlich  benachbarte 
begründet  wurden,  verdanken  ihre  Entstehung  schon  dem  gesteigerten 
Bildungsbedürfnis,  dessen  Symptom  und  Erfüllung  zugleich  die  huma- 
nistische Bewegung  und  die  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  erfundene 
Buchdruckerkunst  sind.  Die  erste  Anregung  zu  ihrer  Begründung 
scheint  bei  mehreren  auf  Enea  Silvio  (seit  1458  Papst  Pius  II.)  zu- 
rückzuweisen, der,  auf  dem  Konzil  zu  Basel  anwesend,  den  Samen  des 
Humanismus  auch  in  Südwestdeutschland  ausstreute.^  Die  Errichtungs- 
bullen aus  dieser  Zeit  verdanken  vielleicht  seiner  Feder  die  bezeich- 
nende Eingangsformel:  unter  den  Gütern  dieses  Lebens  sei  nicht  unter 
den  geringsten  zu  achten,  daß  der  Mensch  durch  beharrliches  Studium 
„die  Perle  der  Wissenschaft  zu  erlangen  vermag,  welche  den  Weg  zum 
glückseligen  Leben  {bene  beateque  vivendi  viam)  weist,  und  durch  ihren 


^  Thorbecke,  Statut  u.  Reform.,  S.  II,  353. 

*  ViscnER,  Geschichte  der  Universität  Basel,  S.  ISflf.    Pbantl,  Geschichte 
der  Universität  Ingolstadt,  I,  10  ff. 


134    .     /,  4,    Die  humanistische  Beformation  der  Universiiäien, 


Wert  den,  der  sie  besitzt,  über  den,  der  sie  nicht  besitzt,  hoch  erhebt 
und  ihn  Gott  ähnlich  macht;  sie  leitet  zur  Erkenntnis  der  Geheim- 
nisse der  Welt;  sie  hilft  den  Ungelehrten  und  hebt  die  niedrigst  ge- 
borenen zu  den  Höchsten  empor/' ^ 

Die  neuen  Universitäten  sind  in  der  That  alle  mehr  oder  minder 
an  der  Ausbreitung  der  neuen  humanistischen  Anschauungsweise  be- 
teiligt. Die  Substanz  des  Unterrichts  bleibt  freilich  zunächst  der  her- 
kömmliche Kursus  in  der  Schulphilosophie,  aber  daneben  finden  sich 
überall  Lektüren  für  die  neuen  Disziplinen  der  Poesie  und  Eloquenz. 

In  Basel  hatte  neben  dem  Scholastizismus,  dessen  beide  Frak- 
tionen, die  Realisten  und  Nominalisten,  in  den  70  er  und  80  er  Jahren 
noch  erbitterte  Kämpfe  ausfochten,  so  daß  es  auch  hier  zur  Spaltung 
der  Artisten  in  zwei  getrennte  Fakultäten  mit  eigenen  Dekanen  und 
Promotionen  kam,  der  Humanismus  beinahe  von  Anfang  an  eine  Stätte.^ 
Im  Jahre  1463  wird  zum  erstenmal  eines  auf  ein  Jahr  angenomme- 
nen Poeten  erwähnt;  1464  las  P.  Ludeb  als  Stipendiat;  als  ständige 
Lektur  kommt  die  Poesie  zuerst  1474  vor,  indem  ein  Inhaber  eines 
der  inkorporierten  Kanonikate  mit  der  Lehre  der  Poesie  beauftragt 
wurde.  Eine  bedeutende  Wirksamkeit  übte  in  dieser  Stellung  Sebastian 
Brant;  in  den  80er  und  90er  Jahren  waren  Jag.  Loches,  H.  Bebel, 
HiERONYMUs  Gebwileb  seiue  Schüler.  In  den  70  er  Jahren  studierte 
Reüchlin  in  Basel,  er  lernte  hier  von  einem  Griechen,  Andronikos 
KoNTOBLAKAs,  Griechisch.  Daß  dieser,  wie  Vischeb  anzunehmen 
scheint  (S.  191),  hier  eine  Lektur  des  Griechischen  sollte  inne  gehabt 
haben,  ist  nicht  glaublich;  der  Unterricht  war  ohne  Zweifel  eine  rein 
private  Angelegenheit  Eine  neue  Epoche  in  der  Geschichte  des  Baseler 
Humanismus  beginnt  mit  Erasmus'  Aufenthalt  in  der  Stadt.  Er  war 
seit  1514  erst  wiederholt  zeitweilig  anwesend,  der  Druck  seiner  Schriften 
durch  die  Frobensche  Offizin,  besonders  des  N.  T.'s,  führte  ihn  her;  dann 
seit  1521  dauernd.  Seitdem  war  Basel  der  Vorort  des  Humanismus 
in  Süddeutschland.  Eine  ganze  Reihe  von  Schülern  und  Verehrern 
des  Erasmüs  sammelten  sich  hier:  B.  Rhenanus,  W.  Nesen,  J.  Oeko- 
LAMPADius,  W.  Capito,  der  letztere  Prediger  und  Lehrer  in  der  theologi- 
schen Fakultät.  In  die  philosophische  Fakultät  wurde  1514  der  laureierte 
Poet  Glareanüs  (Heinrich  Loriti  aus  Glarus,  1488—1563)  aufge- 
nommen. Außer  den  öffentlichen  Vorlesungen  erteilte  er  in  seiner 
Pensionsschule,  die  zeitweilig  30  Schüler  zählte,  humanistischen  Unter- 

*  Zuerst  in  der  Errichtungsbullc  fiir  Greifswald,  Koseoarten,  II,  14.  Dann 
auch  in  der  von  Basel,  Freiburg,  Ingolstadt. 

•  ViscHER,  Geschichte  der  Universität  Basel,  S.  181  fF.  S.  auch  Tn.  Bdrck- 
haädt-Biedkrmahn,  Gesch.  des  Gymnasiums  zu  Basel 


Die  Universität  Freiburg  i.  B.  135 


rieht.  Indessen  machte  er  sich  und  den  alten  Magistern  viel  Not  durch 
die  Versuche  seinen  Anspruch  durchzusetzen,  daß  er  als  Laureat  den 
Magistern  vorgehe,  ein  Anspruch,  dessen  Berechtigung  diese  nicht  ein- 
zusehen vermochten.  Das  Verhältnis  wurde  besser,  seitdem,  nach  dem 
Ausbruch  der  Barchenrevolution,  Glareanus  es  mit  dem  Bestehenden 
hielt:  er  wurde  1524  in  das  consilium  facultatis  aufgenommen  und 
1525  Dekan,  zugleich  der  letzte,  da  das  Studium  unter  den  folgenden 
Stürmen  vorerst  einging.  —  Erwähnung  verdient  noch  die  Notiz,  daß 
im  Jahre  1520  durch  Fakultätsbeschluß  der  Vortrag  der  scholastischen 
Logik  beschränkt  und  dafür  die  Geschichte  aufgenommen  sei  (Visgheb, 
198);  was  doch  wohl  nichts  heißt,  als  daß  ein  lateinischer  Historiker 
gelesen  wurde. 

Die  Universität  zu  Freiburg  hatte  schon  seit  1471  einen  Lehr- 
stuhl für  Poesie  und  Eloquenz.^  Um  1500  hatte  U.  Zasius,  später 
als  Jurist  berühmt,  ihn  inne;  ihm  folgte  (1503 — 1506)  Jacob  Locher, 
mit  seinem  Poetennamen  Philomusus  (1471 — 1528),  ein  Schwabe  von 
Geburt^  Unter  allen  rauflustigen  Poeten  war  Lochee,  wie  es  scheint, 
der  rauflustigste;  wohin  er  sich  wendete,  entbrannten  alsbald  giftige 
Händel,  in  denen  er,  wenigstens  was  Grobheit  im  Schimpfen  anlangt, 
stets  unbesiegt  blieb.  Mit  dem  Ingolstädter  Theologen  Zingel  begann 
er  um  1503  einen  Streit,  weil  dieser  die  christlichen  Poeten,  einen 
Pbüdentiüs  oder  Baptista  Mantuanus  für  geeigneter  zum  Jugend- 
unterricht, als  die  in  sittlicher  Hinsicht  bedenklichen  heidnischen  Poeten, 
Horaz,  Terenz,  Ovid,  erklärt  hatte.  Wimpheling,  welcher  derselben 
Ansicht  war  und  daraus  kein  Hehl  machte,  wurde  in  diesen  Krieg 
mit  hineingezogen.  Er  konnte  von  Glück  sagen,  daß  er  mit  Schmä- 
hungen davon  kam;  ärgeres   war   ihm  angedroht.^    Später,  um  1508, 


^  ScHBEiBER,  Geschichte  der  Universität  Freiburg,  I,  S.  67fif. 

'  Über  Locher  handelt  ausführlich  Hehle,  in  Programmabhandlungen  des 
Ehinger  Gymnasiums  von  1873,  74,  75.  Schon  1495 — 97  hatte  er  in  EVeiburg 
als  Begleiter  von  drei  badischen  Prinzen  sich  aufgehalten  und  gelehrt.  Mehrere 
Schriften  für  den  Schulgebrauch,  grammatische,  rhetorische  und  Schulausgaben 
von  Klassikern,  besonders  von  Horaz,  stammen  schon  aus  dieser  Zeit;  ebenso 
eine  Anzahl  von  Komödien  fiir  den  Schulgebrauch. 

'  WisKOWATOPP,  1 1 5  flf.  Locher  hatte  Schläge  angeboten,  was  Wimpheling 
zur  Klage  beim  Freiburger  Rektor  bestimmte  (1505).  Daß  Locher  nicht  Spaß 
machte,  hatte  er  kurz  zuvor  einem  anderen  litterarischen  Gegner  gegenüber  be- 
wiesen. Den  Poeten  Philesius,  einen  Schüler  Wimphelings,  der  durch  ihn  zu 
Spottversen  gereizt  war,  überfiel  er  mit  einer  Bande  von  Landsleutcn  auf  oflfener 
Straße:  8ub8ter7ie7ife.'i  cum  calvjis  ahstrnctis  denudatum  tenebant  magistro  Jacoho, 
qui  8olu8  cum  virgis  ad  naies  dcriier  illum  allisit  (Schreiber,  I,  70).  —  Der 
Höhepunkt  seines  Kriegs  mit  der  scholastischen  Theologie  wird  durch  die  im 
Jahre  1506  gedruckte  Mulae  ad  Musam  Comparatio  bezeichnet.    Den  Inhalt 


136         /,  4.    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten. 


lehrte  Jon.  Matb  von  Eck  in  Freiburg,  der  nachmalige  Gegner 
Luthers  war  damals  noch  entschiedener  Humanist.  Von  1516—1528 
war  Phil.  Engenttnus  lector  poeticesy  mit  dessen  nicht  ordnungsmäßigen 
Kleidern  und  Bart  die  Universität  Not  hatte.  Ihm  folgte  Glabeanus 
(1529 — 1563).  Auch  Eeasmus,  der  in  demselben  Jahr  mit  Glabeanus 
von  Basel  nach  Freiburg  übersiedelte,  ließ  sich  immatrikulieren,  ohne 
jedoch  zu  lesen. 

Als  erster  Lehrer  der  griechischen  Sprache  wurde  auf  eine 
Petition  einiger  adliger  Studierenden  des  Rechts  Conbab  Hebesbagh 
im  Jahre  1521  von  der  Universität,  zunächst  zur  Probe  auf  ein 
Vierteljahr  (um  15fl.),  angenommen  (Schbeibeb,  II,  193).^  In  seiner 
Antrittsrede  (de  laudibus  Graecarum  litterarum)  erzählt  er,  daß  er 
kürzlich  einen  Mönch  in  einer  Predigt  habe  sagen  hören:  „es  sei  jüngst 
eine  neue  Sprache  gefanden  worden,  die  griechische  werde  sie  genannt; 
vor  der  müsse  man  sich  in  acht  nehmen;  sie  sei  die  Mutter  aller 
Ketzereien;  und  ein  elendes  Buch  in  dieser  Sprache  zirkuliere,  das 
Neue  Testament  genannt,  es  sei  voll  Gestrüpp  und  Schlangen.  Auch 
eine  andere  Sprache  komme  auf,  die  hebräische  genannt,  wer  die  lerne, 
werde  ein  Jude."  Schbeibeb  (II,  6)  scheint  die  Worte  für  eine  histo- 
risch bezeugte  Thatsache  zu  nehmen.  Es  wird  wohl  unbedenklich  sein, 
darin  eine  humanistische  Redefigur  zu  erblicken,  welche  die  Abneigung 
der  Mönche  speziell  gegen  die  humanistische  Beschäftigung  mit  dem 
Text  der  heil.  Schriften  ausdrückt.  Ebasmus  erzählt  in  einem  Brief 
an  Mosellanüs  vom  Jahre  1519  eine  ganze  Menge  ähnlicher  Anek- 
doten, denen  übrigens  immerhin  etwas  Thatsächliches  zu  Grunde  liegen 
mag.  Daß  die  Sachen  auch  auf  den  Kanzeln  verhandelt  wurden,  ist 
gar  nicht  zweifelhaft 

Wie  es  scheint,  hat  übrigens  in  den  20  er  Jahren  auch  in  Frei- 
burg eine  allgemeine  Reform  des  Kursus  stattgefunden,  die  vermutlich 

illustrieren  zwei  Holzschnitte:  der  eine  zeigt  den  Poeten,  die  Harfe  in  den 
Händen  in  einem  Blumengarten  sitzend,  umgeben  von  den  Musen,  deren  eine 
ihm  einen  Kranz  aufs  Haupt  setzt.  Auf  dem  anderen  ist  ein  Maulesel  zu  sehen, 
auf  dessen  Rücken  eine  Elster  (pica  loquax)  sitzt;  ein  Mann  in  klerikalem  Ge- 
wand hält  der  Eselin  hinten  eine  Futterschwinge  unter  (Hehle,  H,  21). 

^  Auf  einem  Mißverständnis  beruht  die  Angabe  Zells  {de  studio  Qraee. 
Latinanimqus  Uiter,  saea.  XV  et  XVI  in  aead,  Frib.  1830),  die  auch  in  Janssen» 
Geschichte  übergegangen  ist,  daß  auf  der  Freiburger  Universität  seit  der 
Gründung  Griechisch  gelehrt  worden  sei.  Das  Mißverständnis  ist  durch  den 
Namen  eines  mittelalterlichen  Lehrbuches  der  lateinischen  Sprache  verursacht, 
welches  bei  der  Verteilung  der  Lektionen  im  Jahre  1461  erwähnt  wird:  des  Grä- 
cismus.  Dasselbe  hat  seinen  Namen  von  einem  Kapitel,  worin  über  griechische 
Namen  in  der  lateinischen  Sprache  gehandelt  wird  (Haase,  de  med.  aepi  sind, 
philoL  S.  8). 


Die   Universität  Tübingen.  137 


aach  in  veränderten  Statuten  zum  Ausdruck  gekommen  ist  Bei 
Schreibeb  findet  sich  davon  freilich  nichts.  Wenn  man  aber  die 
Lektionen  Verteilung  vom  Jahre  1511  (Schreiber,  II,  129)  mit  dem  Ver- 
zeichnis der  besoldeten  Lektüren  nach  dem  Universitatsbericht  von  1549 
(ScHREiREB,  II,  51)  vergleicht,  so  kann  man  darüber  nicht  in  Zweifel 
sein:  dort  noch  die  scholastischen  Kurse  in  beiden  Wegen,  hier  neben 
zwei  Lektüren  för  Hebräisch  und  Griechisch,  und  zwei  für  Poesie  und 
Rhetorik,  nur  zwei  für  Dialektik  und  zwei  für  Mathematik  und  Physik. 
Vielleicht  hat  die  Umwandlung  um  1525  stattgefunden,  in  welchem 
Jahre  die  gleich  zu  erwähnende  humanistische  Reformierung  des  Tübinger 
Studiums  zustande  kam.  Freiburg  stand  mit  Tübingen  zu  jener  Zeit 
unter  derselben,  nämlich  der  österreichischen  Regierung.  Erzherzog 
Ferdinand  war  1524  in  Freiburg  und  es  werden  Verhandlungen  mit 
der  Universität  erwähnt  (Schreiber,  II,  46).  Oder  schon  um  1521; 
wenigstens  wird  in  einem  Brief  Pellicans  an  Melanchthon  (30.  Nov. 
1521,  bei  Hartfelder,  Mel.  Paed.  S.  19)  berichtet,  daß  zu  Freiburg  die 
Theologen  beschlossen  hätten,  statt  der  vier  Bücher  des  Lombardus 
die  vier  Evangelien  zu  lesen,  zwei  vor  und  zwei  nach  dem  Baccalariat, 
wie  denn  auch  zu  Basel  Paulus  allein  gelesen  werde,  Scotus  gar  nicht 
Der  oflfene  Brief,  mit  welchem  Graf  Eberhard  von  Württemberg 
zum  Besuch  der  von  ihm  gegründeten  Universität  Tübingen  einlud 
(3.  Juli  1477),  zeigt  deutlich  humanistische  Tendenzen:  nichts  besseres, 
zur  Glückseligkeit  notwendigeres,  Gott  gefalligeres  könne  gedacht  werden, 
als  das  Studium  der  Wissenschaften  und  Künste.  Darum  habe  er 
lieber  hierfür  durch  Errichtung  einer  Schule  sorgen,  als  Kirchen  bauen 
und  Benefizien  stiften  wollen:  „denn  die  Ausstattung  der  Kirche  ist  in 
unserer  Zeit  hinlänglich  gewachsen  und  es  ist  ausgemacht,  daß  der 
einzige  Gott  wohlgefällige  Tempel  das  menschliche  Herz  ist,  und  daß 
die  andern  Kirchen  Gott  nur  dann  gefallen,  wenn  man  ein  reines  und 
keusches  Gemüt  hineinbringt,  welches  auf  keine  Weise  besser  und  auf 
keinem  Wege  kürzer  als  durch  wissenschaftliche  Bildung  erworben 
werden  kann."^  Die  in  dem  letzten  Satz  ausgesprochene  Ansicht,  daß 
Bildung  der  Weg  zur  Tugend  sei,  ist  die  Summe  der  humanistischen 
Lebensweisheit.  Sie  bildet  ebenfalls  das  Thema  der  Rede,  mit  welcher 
wenige  Jahre  zuvor  der  Rat  des  bayerischen  Herzogs  Wilhelm,  Martin 
Mair,  das  Ingolstädter  Studium  eröffnet  hatte:  ein  Weg  ist  übrig  zu 
besseren  Zeiten  zu  gelangen,  nämlich  den  Geist  besser  zu  bilden,  was 
ohne  Tugend  oder  Wissenschaft  (sine  virtute  seu  litteris)  nicht  ge- 
schehen kann  (Prantl,  II,  10). 


*  Urkunden  zur  Geschichte  der  Universität  Tübingen,  S.  28  f. 


138         /,  4.   Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


Eine  Lektur  für  Eloquenz  nnd  Poesie  kennt  zwar  der  obige  Brief 
noch  nicht,  er  nennt  nur  vier  besoldete  Artisten,  welche  die  Philo- 
sophie umsonst  lehren.  Aber  schon  die  Ordnung  der  Lektüren  vom 
Jahre  1481  verordnet  außer  Pfründen  für  jene  vier  KoUegiaten  auch 
einem,  der  in  Oratorie  lieset,  ein  Stipendium;  welche  Bestimmung  die 
Ordnung  von  1491  wiederholt:  einem,  der  „in  Oratoria,  moralibus  oder 
poetrif'  liest  20  fl.  (Urkunden,  S.  71,  85).  —  Seit  1497  hatte  H.  Bbbel 
(1472 — 1516)  die  Lektur  inne,  ein  Typus  des  jungen  Humanismus: 
emanzipiert,  leichtfertig,  zuversichtlich,  ruhmredig,  streitlustig  und 
unermüdlich  in  der  Verfolgung  der  gotischen  und  vandalischen  Barbarei. 
Er  giebt  sich  selbst  das  Zeugnis:  er  habe  die  Tübinger  Jugend  viel 
lateinischer  gemacht  und  die  schauderhafte  und  schmutzige  Barbarei 
abgeputzt.^  Seine  Schulbücher  sind  viel  benutzt  worden.  Von  dem 
modus  conficiendarum  epistolarum  zählt  Panzeb  neun  Ausgaben  zwischen 
1503  und  1513,  von  der  ars  versificandi  et  carminum  condendorum 
zehn  Ausgaben  zwischen  1506  und  1520  (Böcking,  II,  306).  Seit 
1512  finden  wir  auch  Melanchthon  in  Tübingen,  zuerst  als  Studie- 
renden, seit  1514  als  lesenden  Magister,  der  daneben  in  den  oberen 
Fakultäten  studierte.  Nach  dem  Tode  Bebels  trat  er  in  die  Lektur 
der  Beredsamkeit  ein;  doch  blieb  er  nur  noch  kurze  Zeit,  das  Jahr  1518 
führte  ihn  größeren  Geschicken  entgegen  nach  Wittenberg.  Sein  Lehrer 
und  Freund  Fbai^z  Stadianüs,  mit  dem  Melanchthon  die  Herausgabe 
des  griechischen  Aristoteles  plante,  war  1518/19  Rektor  der  Universität. 

Im  Jahre  1521  fand  auch  die  griechische  und  hebräische  Sprache 
offizielle  Vertretung:  Reuchlin,  durch  die  Pest  aus  Ingolstadt  ver- 
trieben, wurde  in  Tübingen  angenommen,  einen  Tag  um  den  andern 
Griechisch  und  Hebräisch  zu  lesen.  Er  las  den  Winter  1521/22.  Nach 
seinem  eigenen  brieflichen  Zeugnis  fand  er  auch  hier  überaus  bereit- 
willige Aufnahme.     Er  schreibt  an  Hummelbekgee  (20.  Febr.  1522):* 


*  Bender  in  Schmids  Encyklopädie  Art  Bebel,  I,  455 — 462.  Wie  dies  Ge- 
schäft des  Abputzens  der  Barbarei  von  der  eleganten  Jugend,  die  Bebel  ge- 
bildet hatte,  betrieben  wurde,  darüber  findet  man  interessantes  Detail  in  einem 
Artikel  von  Steiff:  Eine  Episode  aus  der  Tübinger  Humanistenzeit  im  Kor- 
respondenzblatt für  die  Gelehrten-  und  Realschulen  Württembergs  1882,  S.  351 
bis  366.  Die  Beispiele  in  des  Bbassicanus  lateinischer  Schulgrammatik  (er  war 
Schulmeister  in  Tübingen,  seine  Institutiones  gravimatic<ie  wurden  von  1508 
bis  1519  15 mal  gedruckt)  enthalten  Beschimpfungen  der  Sophisten,  im  be- 
sonderen eines  Tübinger  Theologen  Lemp.  Auf  Einschreiten  des  Herzogs  machte 
Brassicanus  die  Sache  wieder  gut  durch  eine  Lobrede  auf  die  Tübinger  Uni- 
versität, welche  nunmehr  der  Grammatik  vorgedruckt  wurde. 

'  HoRAwiTz,  in  den  Sitzungsberichten  der  Wiener  Akademie,  hist.-phil.  Kl. 
1877,  Bd.  LXXXVI,  S.  187. 


Die  Universität  Tübingen.  139 


er  möge  nach  Tübingen  und  in  sein  Auditorium  kommen;  er  werde 
unter  Doktoren  und  Professoren  der  Theologie  und  der  Jurisprudenz 
sitzen.  Die  Universität  habe  Geld  aufgenommen  und  dafür  100  Bibeln 
für  seine  Zuhörer  kommen  lassen.  Von  Xenophon  seien  150  Exemplare 
vorhanden  und  zu  billigen  Preisen  käuflich.  Im  Winter  habe  er  die 
Grammatik  gelesen,  im  März  werde  er  anfangen  die  auserlesensten 
Oratoren  der  beiden  Sprachen,  Xenophon  (Hiero  s.  tyrannicus)  und 
Salomon  zu  lesen,  als  welche  beide  zu  demselben  Ziel  schießen:  der 
eine  zeige,  daß  außer  Gott  alles  eitel,  der  andere,  daß  am  allereitelsten 
die  Begierde  zu  regieren.  Auch  in  den  beiden  Artistenbursen  sei  ein 
elementarer  Unterricht  in  beiden  Sprachen  eingeführt.  Die  Universität 
verbreitete  1522  eine  Bekanntmachung  in  lateinischer  und  deutscher 
Sprache,  worin  sie  außer  anderen  Vorteilen  besonders  hervorhob,  daß 
der  hechberühmte  und  vielen  Nationen  bekannte  Dr.  Reüchlin  umsonst 
die  beiden  Sprachen  lehre  (Urkunden,  S.  130  flf.).  Nach  Reuchlins 
baldigem  Tode  folgte  ihm  K.  Kurbeb,  ein  Schüler  Melanchthons 
(Urk.  166). 

Die  österreichische  Regierung,  unter  welcher  das  Land  seit  der 
Vertreibung  des  Herzogs  Ulrich  (1519)  stand,  ließ  sich  überhaupt  die 
Wiederherstellung  und  Reformation  der  unter  der  letzten  Verwaltung 
heruntergekommenen  Universität  angelegen  sein.  Diese  Bestrebungen 
kamen  in  der  interessanten  Lektionsordnung  König  Ferdinands 
vom  Jahre  1525  zum  Abschluß  (Urk.,  141—152).  Es  ist  die  huma- 
nistische Reform  des  Tübinger  Studiums.  Unter  den  Mitgliedern  der 
Kommission,  welche  sie  ausarbeitete,  waren  der  kaiserliche  Rat  Jacob 
Spiegel,  ein  Neffe  Wimphelings,  Schüler  des  Zasius,  und  der  Arzt 
des  Kaisers  Maximilian,  Paulus  Ricius,  ein  humanistisch  gebildeter, 
getaufter  Jude  (Böcking,  II,  476,  456).  Im  Eingang  der  Ordnung 
wird  der  Verfall  der  Universitäten  auf  die  herrschende  schlechte  Methode 
des  Unterrichts  zurückgeführt:  statt  der  sicheren  und  durchsichtigen 
Lehre  der  Wahrheit  seien  zerbrechliche  Spitzfindigkeiten,  statt  der 
göttlichen  Offenbarung  verworrene  Meinungen  der  Philosophen  gelehrt 
worden.  Daraus  sei  jene  Umsturzfreiheit  gekommen,  welche  jetzt 
Glauben  und  Religion  erschüttere.  Um  nunmehr  die  Ursachen  der 
Erschütterungen,  denen  dieses  unglückliche  Zeitalter  ausgesetzt  sei,  zu 
entfernen,  sei  eine  Reform  der  Universitäten  (literaria  gymnasia)  in 
den  einzelnen  Provinzen  in  Aussicht  genommen,  denn  es  sei  ohne 
Widerrede,  daß  jene  Erschütterungen  durch  die  verunreinigte  Unter- 
richtsweise entstanden  seien.  Mit  Tübingen  werde  der  Anfang  gemacht. 
Der  Inhalt  der  Ordnung  ist  nun,  soweit  er  hier  in  Betracht  kommt, 
wesentlich  folgender:  die  vier  Theologen  sollen  in  fünfjährigem  Kursus 


140         I,  4,   Die  humanistische  Beformation  der  .Universitäten. 


vor  allem  die  Schriften  des  A.  und  N.  T.  absolvieren,  daneben  den 
Petrus  Lombardus  erklären,  jeder  ein  Buch,  jedoch  kurz  und  bündig, 
„denn  durch  den  Glauben  werden  wir  Gottes  Kinder,  und  nicht  durch 
leere  und  frivole  Quästionen,  welche  von  dem  fleischlichen  Hochmut 
kommen  und  ins  ewige  Verderben  führen."  Die  Artisten  (hier  pro- 
fessores  philosophiae  genannt)  sollen  nur  solche  Schüler  zu  den  philo- 
sophischen Kursen  zulassen,  welche  ihren  sprachlichen  Kursus  gemacht 
haben  (qui  sint  grammatici).  Das  Sektenwesen,  als  ob  es  mehr  als 
einen  Weg  zur  Wahrheit  gebe,  soll  ganz  abgethan  werden.  Den  philo- 
sophischen Vorlesungen  soll  der  aristotelische  Text  der  Logik,  Physik 
und  Ethik  in  der  paraphrastischen  Übersetzung  des  Fabeb  Stapülensis 
zu  Grunde  gelegt  werden,'  die  barbarische  alte  Übersetzung  mache  den 
Zuhörern  Ekel.  Zur  Erklärung  mag  man  die  alten  arabischen,  griechi- 
schen und  lateinischen  Ausleger  beiziehen,  die  von  dem  unnötigen 
sophistischen  Kram  frei  sind.  Auf  alle  Weise  aber  soll  man  acht 
haben,  daß  die  Zuhörer  mehr  bei  dem  Text,  als  bei  den  Spitzfindig- 
keiten der  Glossen  und  Quästiönchen  verweilen,  damit  sie  nicht  ohne 
Witz,  ohne  Gelehrsamkeit  und  ohne  Eloquenz  nach  Hause  zurück- 
kehren. —  Über  den  Unterricht  in  den  Sprachen  hat  die  Ordnung 
keine  nähere  Bestimmung.  Die  vorhin  erwähnte  Bekanntmachung 
vom  Jahre  1522  spricht  von  zwei  Lehrern  in  Poesie  und  Oratorie. 
Eine  Übersicht  über  die  im  Jahre  1534  vorhandenen  Lehrer  (ürkunden- 
buch,  S.  167)  nennt  einen  Hebraisten,  einen  Gräcisten,  einen  Poeten, 
einen  Orator,  einen  Dialektiker,  einen  Physiker  (Jac.  Scheck),  einen 
Mathematiker  und  Astronomen. 

Auch  auf  der  bayerischen  Universität  zu  Ingolstadt  hatte  der 
Humanismus  Eingang  gefunden.^  C.  Celtis  wurde  1492  mit  einem 
herzoglichen  Stipendium  (50  fl.)  als  Lektor  der  Poesie  und  Eloquenz 
berufen.  Er  trat  die  Stellung  mit  einer  sehr  eleganten  Rede  an,  worin 

• 

er  die  Deutschen  auffordert,  die  alte  Barbarei  endlich  auszuziehen  und 
sich  der  Bildung  zu  befleißigen,  statt  wie  bisher  nur  für  Krieg  und 
Fehden ,  für  Pferde  und  Hunde  und  etwa  noch  für  barbarische  Philo- 
sophie Sinn  zu  haben.  Er  sucht  auf  die  nationale  Ambition  zu 
wirken:  da  wir  das  Kaisertum  den  Italienern  abgenommen  hätten, 
müßten  wir  nun  auch  in  der  Bildung  den  ersten  Rang  uns  erwerben, 
wie  die  Römer,  nachdem  sie  Griechenland  erobert.  Bildung  aber  sei 
Eloquenz,  wenigstens  komme  sie  darin  allein  zur  Erscheinung.  Darum 
seien  vor  allen  anderen  Studien  die  Poeten  und  Oratoren  fleißig  zu 
lesen.     „Jene   eleganten  Wendungen   und   Sentenzen,  welche  wie  die 


*  Pkantl,  Geschichte  der  Universität  Ingolstadt,  2  Bde.  (1872). 


Die  Universität  Ingolstadt.  141 


Sterne  in  der  Rede  glänzen,  das  sind  die  Dinge,  wodurch  der  Poet  und 
der  Bedner  wirken.  Die  müßt  ihr  von  ihnen  borgen  und  wie  es  die 
Gelegenheit  fordert,  eurer  Rede  einfügen."^ 

Die  Lehrthätigkeit  des  Celtis  blieb  unbedeutend.  Er  fand  sein 
Amt  unter  seiner  Würde,  er  spricht  mit  tiefster  Verachtung  von  den 
barbarischen,  rübenfressenden  Bayern.  Er  ging  und  kam,  wann  es  ihm 
gut  dünkte,  worüber  sich  die  Kollegen  schwer  ärgert.en;  sie  mochten 
nach  der  Antrittsrede,  worin  er  sie  nicht  anders  als  viri  generosi  und 
die  Studenten  als  adolescentes  nobiles  angeredet  hatte,  von  dem  Mann 
sich  eine  andere  Vorstellung  gemacht  haben.  Als  er  im  Jahre  1497 
abzog,  wird  die  Universität  ihm  nicht  nachgeweint  haben.^  Sein  Nach- 
folger war  der  uns  von  Freiburg  her  bekannte  Lochek  oder  vielmehr 
Philomusus,  Primarius  humanitatis  et  rhetorices  ecclesiastes  academiae 
Ingolstadiensis,  wie  er  sich  nennt.  Nachdem  er  in  Ingolstadt  sich 
allzu  unleidlich  gemacht  hatte,  kehrte  er  1503  nach  Freiburg  zurück. 
Doch  konnten  die  Bayern  seiner  nicht  entraten,  er  wurde  1506  vom 
Herzog  wieder  berufen  und  blieb  nun  bis  zu  seinem  Tode  (1528),  all- 
mählich wie  es  scheint  ein  stiller  Mann  werdend. 

Einen  bedeutenden  Einfluß  im  Sinne  der  Modernisierung  der 
Studien  an  der  bayerischen  Universität  übte  der  auf  Peutingers 
Empfehlung  von  Freiburg  berufene  Jon.  Eck;  er  war  Jahrzehnte 
hindurch  der  einflußreichste  Mann  in  Ingolstadt.  Die  Reform  des 
artistischen  Kursus  im  Jahre  1519  ist  wesentlich  sein  Werk.^  Der 
ganze  Unterricht  wurde  schulmäßiger  eingerichtet,  die  öffentlichen 
Lektionen  durch  Privatkurse  ersetzt.  Ein  sprachlich-rhetorischer  Kursus 
wurde    den  Jüngeren   vorgeschrieben,   an   Stelle  des  Doktrinale,   das 


*  Panegyris  ad  duces  Bavariae,  1492,  enthält  außer  der  Rede  noch  ein 
Lobgedicht  auf  die  bayerischen  Herzöge. 

*  In  einem  Brief,  den  seine  Hörer  an  ihn  richteten,  heißt  es:  Tu  nos 
dementiae  accitaa^  insimulasque  barbaros  stultoSf  ac  feros  esse  dicis,  quonim 
stipendio  stistineris;  qtwd  aliqwinto  majori  animo  ttäissemuSj  nisi  quibus  nos 
damnas  viciis  niaxirne  habundares.  Quid  enim?  cum  de  nobis  curiosus  sis,  ipse 
nimia  lieeniia  io-rpeas^  qui  pigro  capite  in  cubitum.  defleoco  tamquam  private 
loquaris  (Serapeum  XXXI,  259). 

*  Prantl,  I,  200;  die  neuen  Statuten  II,  IGOfF.  Eine  Biographie  Ecks  von 
WiEDEMANN.  EcK  war  als  Knabe  von  seinem  Oheim,  Pfarrer  in  Rottenburg,  in 
die  klassische  Lektüre  eingeführt  worden;  als  er  1498  als  14jfthriger  Knabe 
auf  die  Heidelberger  Universität  kam,  hatte  er  den  ganzen  Terenz,  sechs  Bücher 
der  Aeneis  und  anderes  gelesen.  Seine  Freiburger  Reden  sind  voll  humani- 
stischer Begeisterung.  Einer  seiner  dortigen  Schüler  war  Urbanus  Rhegius, 
der  spätere  Reformator  von  Braunschweig-Lüneburg.  Derselbe  folgte  ihm  von 
Freiburg  nach  Ingolstadt,  wo  er  1512  eine  Lektur  für  Poesie  erhielt  Uhlhorn, 
Urb.  Regius,  345. 


142         I,  4,    Die  humanistische  Reformation  der  Universitäten, 


ganzlich  verworfen  wird,  die  Grammatik  des  Aventinus  eingeführt, 
mit  Übungen  an  Terenz,  Cicero  oder  Briefen  des  Philelphus.  Auf  die 
Einübung  der  Grammatik  wird  großes  Gewicht  gelegt,  denn  sie  ist 
„der  Quell  und  Grund  aller  Wissenschaften",  sie  bildet  auch  einen 
Bestandteil  des  Baccalariatsexamens.  Die  philosophischen  Kurse  werden 
vereinfacht,  von  Eck  verfaßte  Lehrbücher  der  verschiedenen  Disziplinen 
für  die  Prüfungen  benutzt,  doch  ohne  Beschrankung  der  Lehrfreiheit; 
jedenfalls  sollen  die  alten  Übersetzungen  weggeworfen  und  neue,  z.  B. 
von  Abgyeopülos,  Aventinus,  benutzt  werden. 

Auch  das  Griechische  trat  in  den  Kreis  der  Lehrgegenstände. 
Nachdem  ein  Anschlag  auf  Erasmus  im  Jahre  1514  fehlgeschlagen 
war,  gelang  es  im  Frühjahr  1520  das  andere  große  Licht,  Beuchlin, 
zu  gewinnen.  Durch  den  Krieg  aus  Stuttgart  verscheucht,  war  er  nach 
Ingolstadt  gekommen,  wo  er  im  Hause  Ecks  wohnte;  er  wurde  vom 
Herzog  angenommen,  für  eine  ungewöhnlich  hohe  Besoldung  (200  fl.) 
taglich  eine  Stunde  Hebräisch  und  eine  Stunde  Griechisch  zu  lesen. 
Der  Humanist  J.  Gussübelius  stellte  ihn  der  Universität  mit  einer 
Rede  vor  ak  einen  Mann,  der  als  ein  in  sterblicher  Hülle  auftretender 
Gott  zu  ihnen  gesendet  sei,  um  sie  aus  Trägheit  zu  Fleiß,  aus  Bar- 
barei zu  Sittenreinheit,  aus  Finsternis  zum  Licht,  aus  Unwissenheit  zu 
wissenschaftlicher  Erkenntnis  zu  führen.  Sophistische  Verstocktheit 
und  Verkehrtheit  habe  bisher  verhindert,  auf  die  rechten  Wege  zu  ge- 
langen, aber  nun  sei  das  goldene  Zeitalter  nahe  (Geiger,  Beuchlin, 
S.  408).  In  der  That  scheint  der  Drang  nach  dem  Licht  groß  ge- 
wesen zu  sein;  Keüchlin  selbst  berichtet  in  Briefen  von  300 — 400 
Zuhörern,  denen  er  morgens  Hebräisch,  abends  Griechisch  vortrage. 
Ob  die  Angabe  auf  Zählung  beruht,  darf  bezweifelt  werden;  noch  mehr, 
ob,  wenn  wirklich  die  ganze  Ingolstädter  Studentenschaft  in  das  Kolleg 
kam,  sie  davon  einen  anderen  Vorteil  hatte  als  den,  einen  der  be- 
rühmtesten deutschen  Gelehrten  von  Angesicht  gesehen  zu  haben;  den 
Aristophanes  erklären  zu  hören,  war  sicherlich  niemand  vorbereitet; 
es  war  der  erste  griechische  Unterricht,  der  im  bayerischen  Lande 
überhaupt  stattfand.^     Übrigens   ging  Reuchlin   schon   im   folgenden 


'  In  einem  Brief  vom  12.  April  1520  sind  es  prope  qundrin(fent%  et  in  dies 
awjetur  nuttienm;  er  bittot  in  dem  Brief  einen  Freund,  den  Druck  von  ein 
paar  kleinen  Schriften  Xenophons  (Apologie,  Agesilaus,  Hiero)  in  Hagenau  zu 
überwachen.  Ein  Brief  an  Ptrkhaimkr  spricht  von  über  300  Zuhörern.  Reuchlins 
Briefwechsel,  herausgegeben  von  Geiger,  S.  323  ff.  Die  Gesamtzahl  der  Studenten- 
schaft Ingolstadts  betnig  schwerlich  viel  mehr  als  300;  Prantl,  1,  164.  Kurz 
vor  seiner  Anstellung  klagt  Reü<^hlin  in  einem  Brief  an  Hummelberger:  Ingol- 
stadt sei  eine  Wüste,  wo  kein  Mensch  Griechisch  oder  Hebräisch  lesen  könne; 


Desiderius  Bhrasmus,  143 


Frühjahr  nach  Tübingen.  Der  griechische  Unterricht  wurde  einem 
Einheimischen  (Joh.  Agbigola)  übertragen.  Er  erscheint  als  ein  Be- 
standteil des  Unterrichts  auch  in  der  nenen  Lektionsordnung,  welche 
1526  der  Universität  zur  Nachachtung  von  München  übersendet  wurde, 
freilich  nur  die  ersten  Elemente:  im  Pädagogium,  als  welches  der 
untere  artistische  Kursus  nunmehr  konstituiert  wurde,  werden  die  griechi- 
schen Buchstaben  gelernt.  Im  übrigen  blieb  der  Kursus  von  1519  so 
gut  wie  unverändert 


Ich  habe  an  den  Anfang  dieses  Kapitels  die  Figur  des  P.  Ludeb 
gestellt,  welche  den  Humanismus  im  Stande  seiner  Erniedrigung  zeigt. 
Zum  Beschluß  gebe  ich  als  Seitenstück  dazu  ein  paar  Stellen  aus 
Briefen  an  Ebasmus,  welche  dessen  Stellung  auf  dem  Höhepunkt 
seines  Ruhms,  zugleich  dem  Punkt  der  höchsten  Erhöhung  des  Huma- 
nismus, charakterisieren.  Es  giebt  zu  der  Stellung  des  Ebasmus  nur 
ein  Analogen,  das  ist  die  Stellung  Voltaires  im  18.  Jahrhundert. 
Was  dieser  im  Zeitalter  Friedrichs  des  Großen,  das  war  Ebasmus  im 
Zeitalter  Leos  X.:  der  anerkannt  höchste  Gesetzgeber  und  Richter  in 
Sachen  der  Bildungsbestrebungen  des  ganzen  civilisierten  Europas.  Um 
seine  universellen  Beziehungen  anzudeuten,  schicke  ich  folgende  An- 
gaben über  sein  Leben  voraus.  Von  Geburt  ein  Niederländer,  hatte 
er  in  seinen  Knabenjahren  in  der  Schule  zu  Deventer  die  ersten 
schwachen  Einflüsse  der  neuen  Bildung  erfahren.  Er  war  dann  wider 
Willen  Mönch  geworden  und  hatte  in  verschiedenen  Klöstern  der 
Niederlande,  zuletzt  in  einem  Pariser  Kolleg  mönchisches  Leben  und 
mönchische  Wissenschaft  in  der  Nähe  kennen  gelernt.  In  Oxford  hatte 
er  Griechisch  gelernt  In  den  beiden  ersten  Jahrzehnten  des  neuen 
Jahrhunderts  finden  wir  ihn  studierend,  lehrend,  schriftstellernd  bald 
in  England,  bald  in  Frankreich,  bald  in  Italien,  bald  in  den  Nieder- 
landen. Durch  eine  Reihe  von  bedeutenden  Werken  hatte  er  sich 
einen  wohlverdienten  Ruf  begründet.  1500  waren  die  Adagia  zum 
erstenmal  erschienen;  1509  das  Encomion  Moriae  und  das  Enchiridion 
militis  Christiani^  worin,  was  Ebasmus  als  pfäffische  Vorbildung  und 
Verkommenheit  und  auf  der  anderen  Seite  als  echt  christliche  Tugend 
und  Weisheit   ansah,   einander   gegenübergestellt   sind.     Die  wichtige 

und  bald  darauf  (14.  März):  es  gäbe  dort  kein  griechisches  oder  hebräisches 
Buch,  er  wäre  daher  genötigt,  das  tägliche  Pensum  für  seine  Vorlesung  auf 
Blätter  zu  schreiben,  bis  Exemplare  kämen.  Siehe  IIorawitz,  Rcuchlins  Brief- 
wechsel mit  M.  Hummelberger,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie,  hist.-phil. 
Klasse,  Bd.  LXXXVI,  S.  179ff. 


144         I,  4.   Die  humanistisctie  Reformation  der  Universitäten, 


Schulschrift  l)e  duplici  copia  war  1512  veröffentlicht,  ihr  folgten  1518 
die  Colloquia,  Im  Jahre  1516  kam  endlich  das  griechische  N.  T.  heraus 
mit  lateinischer  Übersetzung  und  Anmerkungen;  es  war  ein  littera- 
risches Ereignis  allerersten  Kanges. 

In  diesem  Jahr  berief  der  junge  König  Karl  den  berühmten 
Landsmann  an  den  Hof  zu  Brüssel.  Es  wurde  ihm  ein  fürstliches 
Jahrgeld  von  400  fl.  ausgesetzt,  ohne  eine  andere  Verpflichtung  als  die, 
den  Namen  eines  königlichen  Rates  zu  tragen.  Es  begannen  damit  die 
kurzen  Jahre  des  höchsten  Glanzes,  welche  dem  Erasmus  vom  Schicksal 
beschieden  waren.  Die  Fürsten  bewarben  sich  um  die  Ehre  ihn  zu 
bewirten,  die  vorzüglichsten  Gelehrten  des  Zeitalters  sahen  in  ihm  den 
vollendeten  Repräsentanten  der  höchsten  Bildung,  die  jüngeren  ehrten 
ihn  wie  einen  Gott,  ein  Brief,  eine  Erwähnung  von  ihm  war  das 
höchste  Ziel  ihres  Ehrgeizes.  Alle  Universitäten,  Ingolstadt,  Leipzig, 
Köln,  Heidelberg,  Wien,  umwarben  ihn,  ohne  HoflPnung,  aber  vielleicht 
wäre  es  doch  nicht  unmöglich.  Alle  Welt  sah  in  ihm  den  Mann,  der 
die  große  Reformation  aller  Dinge,  vor  w^elcher  zu  stehen  man  allge- 
mein empfand,  durchzuführen  berufen  sei.  Als  zweiten  Herkules,  der 
die  Welt  von  den  Ungeheuern,  welche  seit  800  Jahren  überall  auf- 
gekommen seien,  befreien  werde,  begrüßte  ihn  bald  nach  seiner  An- 
kunft J.  Caesarius  von  Köln  (3.  Dez.  1516,  Opp.  Erasmi  III,  1578). 
Als  den  zweiten  Paulus,  der  zur  Auferweckung  des  alten  Christentums 
(in  resurrectionem  veterls  Christianismi)  berufen  sei,  redete  ihn  H.  Emser 
in  einem  Briefe  vom  Jahre  1517  (Opp.  III,  1592)  an,  worin  er  die 
Bitte  wiederholte,  daß  P^rasmus  den  größten  Wunsch  des  Herzogs 
und  des  Adels  erfüllen  und  nach  Leipzig  kommen  möge. 

Am  Anfang  des  Jahres  1519  wendete  sich  P.  MosELiiANis  an 
Erasmus  mit  der  Bitte,  ihm  doch  einen  einzigen  Brief  zu  schreiben. 
Es  werde  nämlich  von  nichtswürdigen  Gegnern  seine  Stellung  als 
Lehrer  der  griechischen  Sprache  damit  angefochten,  daß  er  ja  noch 
nicht  einmal  einen  Brief  vom  Erasmiis  aufzuweisen  habe:  was  sei  von 
einem  solchen  Menschen  in  der  griechischen  Sprache  zu  erwarten? 
Darum  bitte  einen  Brief!  „Gewahre  ihn  meiner  Liebe  zu  Dir;  gewähre 
ihn  der  bejammernswürdigen  Dummheit  derer,  die  allen  Guten  übel- 
wollen. Du  wirst  nicht  g^^^n  mich  allein  nicht  Du  selbst  sein,  der 
Du  sonst  nach  dem  Beispiel  Deines  Paulus  allen  alles  bist"  (Opp.  III, 
404).  Erasmus  erhörte  die  Bitte  und  schrieb  ihm  jenen,  früher  er- 
wähnten langen  Brief  mit  Anekdoten  von  den  Mönchen,  welche  die 
griechische  Sprache  verabscheuten. 

Kurz  vorher  hatte  Albrecht  von  Mainz  einen  eigenhändigen  Brief 
au  Erasmus  geschrieben.  Er  habe  kürzlich  in  einem  Buche  des  Erasmus 


Desiderius  Erasmtis.  145 


gelesen;  da  sei  eine  unermeßliche  Sehnsucht  über  ihn  gekommen, 
den  Mann  zu  sehen,  dessen  göttliches  Genie,  dessen  allseitige  Gelehr- 
samkeit, dessen  die  Fassungsgabe  des  Jahrhunderts  fast  übersteigende 
Beredsamkeit  ihn  mit  Bewunderung  erfüllt  habe.  Nichts  halte  er  seiner 
fürstlichen  Stellung  für  mehr  angemessen,  als  dem  Fürsten  unter  den 
Männern  der  Wissenschaft  nicht  bloß  Deutschlands,  sondern  ganz 
Europas  ein  Freund  und  Gönner  zu  sein.  Wenn  er,  ohne  den  Ebas- 
Müs  gesehen  zu  haben,  das  Leben  verlassen  müsse,  dann  werde  zu 
seinem  Glück  so  viel  fehlen,  als  er  sonst  sich  glücklich  geschätzt  habe, 
zu  der  Zeit  geboren  zu  sein,  „wo  Du,  großer  Mann,  Deutschland  von 
dem  Vorwurf  der  scheußlichen  Barbarei  befreit  hast,  wo  Du  die  gött- 
liche Theologie,  welche  seit  einigen  Jahrhunderten  ihre  alte  und  echt« 
Gestalt  in  eine  neue  und  unreine  verwandelt  hatte,  in  der  alten  und 
glänzenden  Reinheit  wieder  herstellst."  Er  weist  dann  namentlich  auf 
die  Ausgabe  des  N.  T.  hin  und  schließt:  „Glückselig  wird  mir  der  Tag 
sein,  wo  diese  Augen  Deine  Gestalt  umfangen,  diese  Ohren  Deiner  aller- 
süßesten  Stimme  horchen,  wo  wir  ganz  an  Deinem  Munde  hangen 
werden«  (13.  Sept  1518,  Opp.  III,  350). 

Das  sind  ein  paar  Zeugnisse;  sie  könnten  ins  Unendliche  vermehrt 
werden.  Eeasmus  stand  in  brieflicher  Verbindung  mit  allem,  was  in 
dem  damaligen  Europa  durch  Stellung  oder  persönliche  Bedeutung 
hervorragte.  Er  empfing  Briefe  von  den  Päpsten  Leo  und  Adrian, 
von  Kaiser  Karl  und  König  Ferdinand,  von  Heinrich  VIII.  von  Eng- 
land und  Sigismund  von  Polen,  von  den  Herzögen  Friedrich  und  Georg 
von  Sachsen,  von  Kardinälen,  Erzbischöfen,  Bischöfen  ohne  Zahl,  aus 
Italien  und  Spanien,  aus  Frankreich  und  England,  aus  den  Nieder- 
landen und  Deutschland,  aus  Böhmen  und  Polen.  Er  stand  im  Ver- 
kehr mit  allen  bedeutenden  Gelehrten  seiner  Zeit,  mit  Bembus  und 
Sadoletüs,  mit  Büdaeus  und  Vives,  mit  Morvs  und  Coletus.  Unter 
den  Deutschen  dürfte  kaum  ein  namhafter  Mann  unter  denen,  die  der 
neuen  Bildung  zugethan  waren,  es  versäumt  haben,  ihm  brieflich  oder 
persönlich  sich  vorzustellen.  Selbst  Luther  konnte  nicht  umhin,  ihm 
seine  Huldigung  zu  bringen. 

Eeasmus  war  der  Mann,  den  Glanz  solcher  Stellung  zu  genießen. 
Seine  Briefe  aus  dieser  Zeit  sind  voll  Freude  und  Genugthuung;  er 
mahnt  überall  zur  Mäßigung  und  zum  Frieden;  der  Kampf  sei  zu 
Ende,  der  glorreiche  Sieg  des  Humanismus  entschieden. 


Paulsen.  Uoterr.    Zweite  Aufl.    I.  10 


146    /,  5.    Das  Eindringen  des  Humanismus  in  die  Partikiäarschulen. 


Fünftes  Kapitel. 

Das  Eindringen  des  Homanismns  in  die  Fartiknlarschalen. 

Der  ausfuhrlichen  Darstellung  der  Eroberung  der  Universitäten 
durch  den  Humanismus  lasse  ich  eine  kurze  Übersicht  des  gleichen 
Vorgangs  in  den  niederen  Schulen  folgen.  Er  ist  hier  weniger  reich 
an  aufregenden  Zwischenfallen;  die  Einführung  neuer  Schulmeister 
und  Lehrkurse  begegnete  hier  nicht  dem  Widerstand  fest  organisierter 
Korporationen.  Humanistisch  gesinnte  geistliche  und  weltliche  Fürsten, 
patrizische  Geschlechter,  welche  in  den  Städten  das  Begiment  in  Hän- 
den hatten,  führten  geräuschlos  ihre  Klienten  in  eine  Schule  ein, 
deren  Patron  sie  waren.  Aus  dieser  Ursache  ist  an  manchen  Schulen 
die  humanistische  Beform  früher  durchgedrungen  als  an  den  Uni- 
versitäten. 

Ich  will  im  folgenden  einige  Nachrichten  zusammenstellen,  die 
erkennen  lassen,  in  welchem  Umfang  die  humanistische  Beformbewegung 
auch  die  niederen  Schulen  ergriffen  hatte.  Es  ist  dabei  auf  Voll- 
ständigkeit nicht  abgesehen;  namentlich  aus  dem  ursprünglichen 
Quellenmaterial,  den  Batsakten  und  Schulbüchern,  dürften  sie  um  eine 
Menge  von  Namen  vermehrt  werden  können. 

Ich  beginne  die  Übersicht  mit  den  süddeutschen  Beichsstädten. 
Sie  waren  damals  neben  den  Universitätsstädten  und  den  Bischoüs- 
sitzen  die  Hauptherde  des  geistigen  Lebens,  wie  schon  aus  der  That- 
sache  hervorgeht,  daß  der  Buchdruck  und  Buchhandel  in  ihnen  seinen 
Sitz  hatte.  Die  Drucke  der  klassischen  Schriften  stammen  fast  durchaus 
aus  den  Offizinen  zu  Basel,  Hagenau,  Straßburg,  Frankfurt,  Mainz, 
Köln,  Nürnberg,  Augsburg,  wozu  etwas  später  Leipzig  und  Wittenberg 
kommen  (Buäsian,  254). 

Unter  allen  deutschen  Städten  nahm  Nürnberg,  was  Bildungs- 
bestrebungen anlangt,  wohl  die  erste  Stelle  ein.  Hier  hatte  Begio- 
MONTANüs  für  seine  mathematisch-astronomischen  Studien  Teilnahme 
und  Förderung  gefunden.  Unter  den  patrizischen  Geschlechtern  waren 
mehrere,  welche  die  poetisch-oratorischen  Studien  förderten  und  selbst 
trieben,  vor  allen  die  Pirckhaimer,  Vater  und  Sohn;  der  letztere, 
WiLiBALD  (1470 — 1530),  welcher  in  Italien  seine  humanistische  und 
juristische  Ausbildung  empfangen  hatte,  war  einer  der  ersten  Gräcisten 
Deutschlands.  Die  Entwickelung  des  Schulwesens  in  dieser  Stadt  hat 
daher  eine  besondere  Bedeutung.   Eine  Beihe  von  instruktiven  Arbeiten 


Die  Nürnberger  Schulen  um  1485.  147 


Heerwagens  (in  Programmen  der  Nürnberger  Studienanstalt  aus  den 
Jahren  1860 — 68)  gewährt  einen  Einblick  in  alle  Verhältnisse. 

Im  Jahre  1485,  in  welchem  der  Rat  zu  einer  Beformation  de^ 
Schulwesens  einen  Anlauf  nahm,  bestanden  in  Nürnberg  vier  Schulen, 
die  beiden  Pfarrschulen  zu  St  Sebald  und  St.  Lorenz,  die  Schule  beim 
neuen  Spital  und  die  Schule  im  Schottenkloster  zu  St.  Aegidien.  Ein 
paar  Aktenstücke  aus  dem  genannten  Jahr  weisen  folgenden  Bestand 
dieser  Schulen  auf.  St.  Sebald  hatte  außer  dem  Schulmeister  einen 
Kantor  und  drei  Baccalarien,  St.  Lorenz  dazu  noch  einen  Locatus,  die 
Spitalschule  nur  emen  Baccalarius  und  einen  Locatus,  St.  Aegidien  einen 
Locatus;  in  Summa  also  vier  Schulmeister  mit  zwölf  Gehilfen.  An 
Schülern  waren  in  den  beiden  Pfarrschulen  etwa  je  70,  in  den  beiden 
andern  60  und  45  Bürgerkinder  oder  Zahlende,  als  welche  für  die 
Aufteilung  allein  in  Betracht  kamen.  Dazu  kamen  Fremde  oder 
pauperes,  die  sich  des  Almosens  ernährten,  in  wechselnder  Zahl;  im 
Jahre  1522  beschränkte  der  Bat  ihre  Zahl  an  jeder  seiner  beiden 
Schulen  auf  40,  am  Spital  auf  30.  Die  Schulmeister  wurden  vom  Bat, 
im  Einverständnis  mit  dem  Pfarrer,  angenommen,  die  Gehilfen  vom 
Schulmeister.  Das  Einkommen  des  Schulmeisters  bestand,  außer  in 
freier  Wohnung  und  dem  Tisch  beim  Pfarrherrn,  im  Schulgeld  und 
einigen  Accidenzien:  die  Summe  betrug  bei  St.  Sebald  42  fl.  (davon 
ab  an  die  Gehilfen  13  fl.);  bei  St.  Lorenz  237^  fl.  (ab  17  fl.),  beim 
Spital  267^  (ab  87 J,  bei  St.  Aegidien  15  fl.  (ab  6  fl.).  Jetzt  wurde 
das  Schulgeld  auf  vierteljährlich  25  Pfennige  fiir  jeden  Zahlenden,  auf 
einen  Pfennig  wöchentlich  für  die  pauperes  festgesetzt  und  dafür  alle 
Accidenzien  beseitigt. 

Über  den  Unterricht,  wie  er  an  der  Spitiilschule  bis  zur  Beformation 
von  1485  bestand,  liegt  ein  Bericht  des  Schulmeisters  vor.  Von  sechs 
Schulstunden  kam  eine  Vor-  und  eine  Nachmittagsstunde  auf  den 
Kirchendienst.  Für  den  Unterricht  waren  die  Knaben  in  drei  Ab- 
teilungen geteilt,  welche  aber  in  einem  Baum  unterrichtet  wurden. 
'  Die  erste  Abteilung  lernte  lesen  und  schreiben;  die  zweite  begann  die 
Elemente  des  Lateinischen,  aus  dem  Donat  die  partes  oraüonls  und  aus 
dem  Alexander  die  decUnationes  zu  erlernen;  die  dritte  fuhr  hierin  fort, 
und  übte  die  grammatischen  Begeln  an  einem  Text  ein,  etwa  dem 
Evangelium  oder  dem  Cato  moralis  oder  einem  ähnlichen;  außerdem 
aber  wurden  mit  ihr  die  Elemente  der  Logik  des  P.  Hlspanus  getrieben 
und  an  Festtagen  das  Kvangelium  von  einem  der  Lehrer  ausgelegt. 
Natürlich  wurde  auch  Musik  und  Gesang  fleißig  getrieben;  die  Leistungen 
im  Chor,  ursprünglich  die  wesentlichen  Pflichten  der  Schule,  waren  auch 
jetzt  noch  die  nicht  am  wenigsten  wichtigen. 

10* 


148    /,  5.    Das  Eindringen  des  Humanismus  in  die  Partikiäarschulen. 


Die  Reform  von  1485  zeigt  die  ersten  Spuren  eines  humanistischen 
Einflusses.^  Sie  findet,  daß  bisher  die  Kinder  in  ihren  puerilibus  viel 
zu  lang  bekümmert,  auch  die  mehreren  Schüler  mit  etlichen  Lehren 
und  actibus,  die  ihnen  nicht  am  fruchtbarsten  gewesen,  verzogen  worden 
sind.  Doch  ändert  sie  weder  an  den  Lehrbüchern  noch  am  Schulbetrieb 
etwas  Erhebliches,  nur  schärft  sie  wiederholt  ein,  daß  der  Alexander 
auf  das  schlichteste  getrieben  werden  solle,  nicht  mit  dem  Komment, 
sondern  allein  Exponieren  und  Exempel  zu  lernen,  und  nicht  viel  Um- 
stände zu  gebrauchen,  sondern  von  statten  zu  prozedieren,  also  daß  sie 
allein  die  Verse  verstehen  und  richtig  anziehen  können.  Auch  die  Logik 
bleibt  In  der  letzten  Nachmittagsstunde  soll  man  mit  der  dritten  Ab- 
teilung eine  Lektion  halten,  „die  nicht  allein  nützlich,  sondern  auch 
lustig  und  lieblich  sei,  als  Aesopum  oder  Avianum  oder  Terentiam^^^ 
den  Text  ins  Deutsche  übersetzen  und  grammatische  Übungen  daran 
knüpfen.  „Aber  an  Sonntagen  früh  vor  der  Messe  und  unter  der  Früh- 
predigt soll  eine  Epistel  Aeneae  Sylviij  Gasparini  oder  andere  dergleichen 
mit  Kreide  an  eine  Tafel  geschrieben,  den  Knaben  im  andern  Zirkel 
eine  oder  zwei  Zeilen  daraus,  denen  im  dritten  Zirkel  ganz  exponiert 
und  verdeutscht  werden,"  mit  nachfolgender  Abfragung  am  nächsten 
Tag.  Femer,  wenn  einige  Schüler  geschickt  werden,  so  soll  ihnen  neben 
den  vier  Stunden  entweder  früh  oder  abends  „ein  besonderer  actus  in  arte 
humanitatis  oder  in  leichten  Jlpisteln,  als  Aeneae  Sylvii  oder  dergleichen 
gehalten  werden."  Für  die  dritte  und  zweite  Abteilung  wird  vorgeschrieben, 
daß  sie  Lateinisch  unter  einander  reden;  jede  Abteilung  hat  ihren  lupus  und 
asinus.  Der  Unterricht  beginnt  und  schließt  vormittags  und  nachmittags 
mit  Gesang;  für  den  Chorgesang  ist  ebenfalls  durch  Übung  zu  sorgen. 

Wenige  Jahre  später,  1496,  setzten  es  die  humanistischen  Patrizier- 
familien im  Rat  durch,  daß  auf  Kosten  der  Stadt  ein  „Poet,  der  hier 
in  poetice  lese"  um  100  fl.  angenommen  wurde;  die  Schüler  zahlten  ihm 
außerdem  ein  Lehrgeld  von  1  fl.  jährlich.  Schon  1491  hatte  man  mit 
C.  Celtls  über  eine  solche  Stellung  verhandelt;  jetzt  wurde  H.  Grte- 
NENGER  von  München  berufen.  Die  Sache  scheint  aber  doch  nicht  recht 
Bestand  gewonnen  zu  haben.^    Jedenfalls  wurde  1509  dem  Poeten  zu 

^  Mitgeteilt  bei  Heerwaoen  im  Progr.  von  1863.  Jetzt  auch  in  J.  Müllers 
Vorreform.  Schulordnungen,  S.  145  ff.  M.  setzt  die  Schulordnungen  später,  ums 
Jahr  1505,  m.  E.  ohne  zwingende  Gründe. 

^  Im  Sera])eum  XVI,  168  findet  sich  ein  Sendschreiben  dieses  Grieninoeu 
an  einen  Dominikaner,  der  von  der  Kanzel  geeifert  habe:  pueros  et  adolcscentes 
in  schola  poetarum  incompositos  et  corniptos  discere  mores  et  arietn  humani- 
tatis rsse  in  litt  lern  et  a  sacris  doctorihtis  penitns  abjectam.  Dem  gegenüber  be- 
hauptet der  Poet  und  beweist  mit  vielen  Zeugen,  poetieam  et  inyrnium  erudire 
rt  cofisiiium  aiiffcrc  et  ad  omate  dicendum  et  recte  virendum  pinrimurn  conferre. 


Reform  der  Schulen  in  Nürnberg^  Nördlingen.  149 


einer  Pfründe  verholfen  und  eine  andere  Einrichtung  für  den  huma- 
nistischen Unterricht  getroffen.  Auf  Betrieb  des  Wilibald  Pikck- 
WTTTMTCR  wurde  den  beiden  Pfarrschulmeistem  eine  Zulage  von  20  fl. 
gewährt,  wofür  sie  einer  selecta  in  einer  besonderen  Stube  täglich  eine 
Stunde  vormittags  und  nachmittags  ,4^^  der  neuen  regulierten  ^ram-- 
matica  und  poesis  oder  arte  oratoria^''  Unterricht  geben  sollten.  Pibck- 
HAiMER  wird  mit  der  Aufsicht  beauftragt  Im  folgenden  Jahr  wurde 
für  die  Lorenzerschule  der  Humanist  Joh.  Cochläus  (1479 — 1552)  als 
Schulmeister  angenommen. 

Cochläus  begann  seine  Thätigkeit  damit,  daß  er  die  alten  Lehr- 
bücher durch  neue  ersetzte,  welche  er  für  den  Gebrauch  seiner  Schüler 
selbst  schrieb.  Im  Jahre  1511  erschienen  sein  oft  wieder  gedrucktes 
Quadrivium  grammatices,  das  Tetrachordon  Musices  und  eine  kommen- 
tierte und  um  eine  Beschreibung  Deutschlands  vermehrte  Ausgabe  der 
Cosmographia  des  Pomponius  Mela,  welchen  1512  eine  kommentierte 
Ausgabe  der  Meteorologie  des  Aristoteles  in  Fabees  Übersetzung  folgte. 
Die  beiden  letzteren  Werke  fügte  er  besonders  auch  deshalb  dem  Unter- 
richt ein,  weil  sie  zum  Verständnis  der  Dichter  kaum  entbehrlich  seien. 
Über  seine  pädagogischen  Grundsätze  hat  er  sich  in  der  Vorrede  zur 
Meteorologie  ausgesprochen.  Er  warnt  darin  vor  der  hereinbrechenden 
Geringschätzung  .der  Philosophie:  die  Litteraturstudien  seien  nur  ein 
Schmuck  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis,  ohne  diese  aber  gefahrlich 
und  schädlich,  wie  die  liederliche  Leichtsinnigkeit  und  Nichtsnutzigkeit 
der  sogenannten  Poeten  zeige  (Otto,  Cochläus,  Gap.  3  und  4).  Cochläus 
blieb  nur  bis  1514;  er  ging  als  Führer  mit  drei  Neffen  Pirckhaimers 
nach  Italien,  wo  er  mit  diesen  Griechisch  lenite;  er  kehrte  nicht  nach 
Nürnberg  zurück.  Von  der  Schule  wird  seitdem  nicht  mehr  viel  ge- 
meldet. Dasselbe  gilt  von  der  Sebaldusschule.  Als  sie  im  Jahre  1521 
an  Joh.  Denk  endlich  einen  gelehrten,  der  drei  Sprachen  mächtigen 
Schulmeister  erhielt,  war  schon  die  Kirchenrevolution  in  Gang;  Denk 
wurde  1525  wegen  seiner  Neigung  zu  den  Wiedertäufern  des  Landes 
verwiesen  (Heerwagen,  I,  16). 

Die  benachbarte  Reichsstadt  Nördlingen  folgte  dem  Vorgang 
Nürnbergs.  Die  Schulordnung  von  1499  ordnet  den  Gebrauch  eines 
„Poeten  als  Boetius  oder  Terenäus  oder  der  gleychen"  für  die  oberste 
Abteilung  an.  Die  Ordnung  von  1512  schließt  sich  eng  an  die  Nürn- 
berger von  1485;  sie  empfiehlt  mehrere  lateinische  Autoren,  darunter 
Aeneas  Sylvius,  rät  aber  „die  hohen  Poeten  vermeiden  und  die  den 
hohen  Schulen  überlassen".  Bemerkenswert  ist  die  Forderung,  daß 
der  Magister  an  allen  Sonn-  und  Feiertagen  früh  eine  Stunde  „aus 
den  Episteln  Petri  cder  Pauli  oder  in  evangeliis  nach  Gelegenheit  und 


150    I,  5,    Das  Eindringen  des  Humanismus  in  die  PartiktUarscfiulen, 


sein  selbs  versteen  und  gutem  ansehen  exponiren  soll"  (Müller,  174). 
Die  Berücksichtigung  der  heiligen  Schrift  taucht  um  diese  Zeit  in 
mehreren  suddeutschen  Schulordnungen  auf,  so  in  Stuttgart  1501,  in 
Memmingen  1514,  während  ältere  Ordnungen  nichts  davon  wissen. 
Eine  Stelle  aus  der  gleich  zu  erwähnenden  Memminger  Schulordnung 
von  1514  weist  darauf  hin,  daß  in  dem  bischöflichen  examen  ordi- 
nandorum  die  Exposition  eines  Textes  verlangt  wird;  natürlich  handelt 
es  sich  um  den  lateinischen  Text  und  seine  grammatische  Auslegung. 
Eine  umfangreiche,  von  dem  Stadtechreiber  Georg  Mair  im  Jahre  1521 
verfaßte  Schulordnung  (Müller,  212 — 218)  dürfte  die  eingehendste 
unter  allen  vom  Humanismus  vor  der  Einwirkung  der  Reformation 
hervorgerufenen  Schulordnungen  sein.  Die  Schüler  sind  in  vier 
„Sessionen"  geteilt.  Die  unterste  (vierte)  lehrt  ein  Student  oder  wohl- 
lesender Schüler  lesen  und  schreiben,  Donat,  Pater  noster,  benedicite, 
gratias  und  einige  Wörter  aus  dem  promptuarium  vocabulorum  des 
JoH.  PiNiciANUS,  lateinisch  und  deutsch,  als:  Pater  noster,  Vater  unser, 
qui  esy  der  du  bist,  in  coelis,  in  den  Himmeln,  sanctificeturj  gehailigt  werd. 
nomen  tuum,  dein  nam,  adveniat,  zukom,  regnum  tuum,  dein  reich  et-c*.. 
Am  Abend  erhalten  die  Buchstabierenden  ein  paar  gereimte  lateinische 
Vokabeln,  die  Lesenden  ein  „kurczes  mainunglin  oder  halbs  verslin" 
von  etwa  drei  oder  vier  Wörtern  zu  lernen.  In  der  dritten  Session 
lehrt  „ein  halber  maister  oder  sonst  ein  wolberichter  student"  die  An- 
fangsgründe der  Grammatik,  aber  nicht  mehr  aus  dem  Doctrinale, 
sondern  aus  einem  von  Pinicianus  bearbeiteten  Donat,  und  übt  sie  am 
Cato  ein,  von  dem  täglich  zwei  Verse  vorgenommen  und  gelernt  werden, 
mit  Benutzung  von  Seb.  Brants  Übersetzung  und  Erasmus'  Auslegung; 
auch  werden  die  gewöhnlichsten  Redeformen  aus  einem  Büchlein  des- 
selben Pinicianus  gelernt.  Die  dritte  Klasse  fahrt  unter  dem  Bacca- 
laoreus  mit  dem  Donat  fort  und  lernt  ihn  in  beständigem  Repetieren 
ganz  auswendig;  sie  liest  dazu  Eklogen  des  Mantuanus  und  Briefe  des 
Philelphus,  übersetzend  und  konstruierend,  und  übt  sich  darin,  kleine 
Briefe,  nach  gegebenem  Argument,  zu  schreiben,  Avobei  des  Erasmus 
eoUoquia  nicht  zu  vergessen.  Die  erste  Klasse  hat  mit  der  zweiten 
zusammen  beim  Kantor  grammatischen  Unterricht;  der  Schulmeister 
liest  mit  ihnen  taglich  zwei  Stunden  Virgii  und  eine  Stunde  Terenz. 
Den  Virgii  soll  er  in  der  dritten  Nachmittagsstunde  nach  bestem  Fleiß 
und  Verstand  lesen,  auslegen  und  verdeutschen,  und  dann  immer  einen 
Knaben  einen  Vers  grammatisch  analysieren,  d.  h.  jedes  Wort  unter 
die  acht  Redeteile  des  Donat  einordnen  und  dann  sie  durchdeklinieren, 
konjugieren,  komparieren  lassen,  „das  wuuderbarlich  keck  und  geschickt 
macht'*.   In  der  ersten  Morgenstunde  Averden  die  Verse  von  den  Jungen 


Nördlingen.    Memmingen,  151 


repetiert,  d.  h.  aaswendig  hergesagt,  ausgelegt  und  grammatisch  ana- 
lysiert. Terenz  wird  in  der  ersten  Nachmittagsstunde  gelesen;  der 
Schulmeister  soll  nach  vorangegangener  Erklärung,  was  eine  Komödie 
und  Scene  sei,  den  Inhalt  deutlich  anzeigen  und  mit  ehrbarer  und 
zuchtiger  Auslegung  der  Wörter  und  Gedanken  den  Text  eigentlich 
übersetzen,  damit  sie  „nit  allein  die  worter  sonder  auch  den  Sin  unnd 
Sitten  der  Menschen  daraus  erlernen".  Endlich  soll  er  mit  ihnen  die 
Logik  des  P.  Hispantjs  vornehmen,  taglich  ein  halbe  Stunde,  und  ihnen 
den  Text  so  viel  als  möglich  „auf  teutschen  Verstand  mit  Exempeln 
taglicher  und  gebräuchlicher  Reden  erklären  und  zu  lernen  fürgeben; 
denn  jeder  Weg  der  Lemung  durch  Exempel  und  Ebenbild  ist  an- 
genehmer und  richtiger  als  der  durch  Vorschrift« 

Aus  derselben  Zeit  haben  wir  noch  aus  zwei  schwäbischen  Städten, 
aus  Ulm  und  Memmingen,  eingehendere  Nachrichten  über  das  Schul- 
wesen in  Gestalt  von  Berichten  und  Beschwerden  an  den  Rat,  aus 
Anlaß  von  Anklagen  gegen  die  Schule.  Beide  lassen  das  Eindringen 
des  Humanismus  deutlich  erkennen,  doch  besteht  daneben  der  schola- 
stische Betrieb  der  Grammatik  und  Logik  fort.  Über  die  Memminger 
Schule  zur  Zeit  des  Schulmeisters  Huser  um  1513  berichtet  die  ver- 
mutlich von  dem  Stadtschreiber  nach  Angaben  des  Schulmeisters  ab- 
gefaßte Verantwortung  folgendes.  Die  Schüler  werden  in  fünf  Ab- 
teilungen von  dem  Schulmeister  und  drei  Gehilfen  unterrichtet  Außer 
dem  Doctrinale  werden  ein  paar  neue  Lehrbücher  der  Grammatik  ge- 
braucht und  Lucanus,  Mantuanus  und  Philelphus  gelesen.  Im  Lucanus 
„glosiert  er  allwegen  in  die  Feder,  uflF  das  wenigest  drissig  vers.  Dar- 
nach exponiert  er  in  (ihnen)  die  selbigen  zu  tiutsch,  und  wann  das 
selbig  uß  ist,  so  lat  er  im  die  schuler  exponieren  und  vertiutschen  die 
vers,  so  er  in  den  tag  for  glosieret  und  vertiutschet  hat,  und  lert  sy 
dar  uß  orationes,  also  das  in  anderhalp  Stunden  uflF  das  wenigest  sechzig 
vers  glosiert  und  repetirt  werden".  Ferner  wird  die  Logik  desP.HisPANUs 
vorgetragen  und  erlernt,  und  am  Sonntagmorgen  eine  Epistel  oder 
Evangelium,  so  man  in  der  heiligen  Meß  pflegt  zu  singen  und  zu  lesen, 
exponiert  und  konstruiert;  dasselbe  läßt  der  Schulmeister  dann  nach 
der  Vesper  einen  Schüler  aus  der  ersten  Lektion  wieder  exponieren: 
da  muß  er  auf  das  Katheder  steigen  und  es  „im  Angesicht  aller  Schüler 
so  verdeutschen  und  konstruieren,  wie  er  solches  zu  Augsburg  oder 
Konstanz  in  dem  examine  gefragt  wird".  Huser  ist  überzeugt,  daß 
seine  Schule  anderen  nicht  allein  gleich,  sondern  mit  etwas  mehr  Fleiß 
gehalten  werde  und  fordert  zu  dem  Ende  vom  Rat,  daß  er  durch  einen 
kundigen  Priester  die  Schule  revidieren  lasse.  Gleichwohl  finden  wir 
bald  einen  neuen  Schulmeister  in  Memmingen,  Bartholomäus  Stich, 


152    I,  0.    Das  Eindringen  des  Hujfianismus  in  die  ParÜkularschukn, 


bisher  in  Schwäbisch-Hall.  Er  scheint  sich  durch  beträchtlich  weitere 
Fortschritte  im  Humanismus  empfohlen  zu  haben.  Sein  „Schoäcus  ordo^^, 
den  er  aus  Hall  einsendete  und  der  sich  mit  einer  commendatio  in 
Prosa  und  Versen  über  das  Thema:  daß  die  Wissenschaft  der  Weg  zur 
Tugend  ist,  einführt,  weist  außer  Terenz  und  Virgil  auch  Cicero  (de 
amic.,  de  senect,  de  offic,)  auf.^ 

Eine  sehr  besuchte  und  berühmte  Schule  war  zu  Ulm.  Ein  paar 
undatierte  interessante  Aktenstücke  aus  der  Zeit  nach  1500  lassen  in 
die  Verhältnisse  der  Schule  einen  Einblick  thun.  Der  Schulmeister 
rühmt,  daß  einmal  ein  Schüler  von  ihm  beim  Examen  zu  Konstanz 
für  einen  Magister  gehalten  worden  sei,  worauf  er  mit  Stolz  erwidert 
habe:  ich  bin  ein  Ulmer  Schüler.  Und  Ton  einem  andern  erzahlt  er, 
daß  er  einem  Magister,  der  ihn  nach  Heidelberg  auf  die  Universität 
ziehen  wollte,  geantwortet  habe:  loh  hab  hie  Lehre  als  genug  als  zu 
Heidelberg.  In  der  That  berichtet  er  in  der  „Ordnung  der  Lektion", 
daß  er  in  den  letzten  beiden  Jahren  seinen  Schülern  „libros  de  anima, 
physicorumj  de  generatione  et  comiptione  und  metheororum  gemacht** 
habe.  Jetzt  aber  hätten  sie  ihn  gebeten,  ihnen  in  grammatica  zu  machen. 
Auch  wird  im  Sommer  täglich  von  den  Logikern  in  Logik  und  Physik 
disputiert  und  arguiert,  von  den  andern  in  der  Grammatik.  Daneben 
aber  werden  auch  täglich  die  Poeten  gelesen,  Virgil,  Plautus,  Terenz, 
Boetius,  Sedulius;  auch  wird  die  grammatische  Exposition  in  den  kirch- 
lichen Gesäugen  und  den  Episteln  und  Evangelien  geübt,  was  zum 
Examen  gen  Konstanz  dient.  Im  grammatischen  Unterricht  wird 
übrigens  noch  das  Doctriuale  gebraucht.^ 

Noch  sei  Augsburg  erwähnt.  Hier  gab  es  am  Ende  des  Mittel- 
alters fünf  kirchliche  Schulen.  Bei  einer  Prozession  1503,  wobei  auch 
Kaiser  Maximilian  barfüßig  einherging,  wird  der  gesamte  Klerus  der 
Stadt  sichtbar.  Es  wurden  gezählt:  Kanoniker  und  Vikare  der  Dom- 
kirche mit  den  Schülern  110,  Kanoniker  und  Vikare  von  St.  Moritz 
mit  den  Schülern  138,  der  Konvent  von  St.  Ulrich  28  mit  78  Schülern, 
Kanoniker  von  St  Georg  mit  den  Schülern  G6,  Kanoniker  vom  heil. 
Kreuz  mit  den  Schülern  55.  Dazu  27  Dominikaner,  20  Minoriten  und 
21  Karmeliter.  —  Die  Augsburger  Bischöfe  hatten  längst  humanistische 
Neigungen.     Seit  1518  regierte  der  Bischof  Christoph  von  Stadion,  ein 


^  Reichenuart  in  den  Jahrb.  für  Phil.  u.  Pädag. ,  Bd.  CXXII,  S.  225  fF.; 
Müller,  Vorreform.  Schulordnungen.  180 ff.;  Erläuterungen  dazu  in  Kehr» 
Pädag.  Blätteni,  1885. 

^  Kapff,  Gesch.  des  Gymnasiums  zu  Ulm,  Progr.  von  1855.  Die  Akten- 
stücke bei  Veesenmeyeu,  T)c  schola  lat.  Ulmanüy  1818.  Die  Lektionsordnung 
auch  bei  Müller,  S.  125. 


Ulm,    Augsburg,    Frankfurt.  153 


großer  Bewunderer  des  Ebasmus.  Zum  Domprediger  wurde  1520  der 
Humanist  Ubbanus  Rhegius  als  Nachfolger  des  Oekolampadius  be- 
rufen. Dem  Schulwesen  der  Diözese  stand  als  Domscholastikus  vor  der 
humanistische  Kanoniker  Bebnhabd  Adelmank  von  Adelmannshausen, 
Mitglied  der  Feutingerschen  Humanistengesellschaft,  ein  Schüler  und 
Korrespondent  Reuchuns.  An  der  Klosterschule  zu  St.  Ulrich,  welche 
schon  seit  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  unter  dem  Einfluß  der  all- 
gemeinen Bestrebungen,  die  auf  die  Reformation  der  Klöster  gerichtet 
waren,  sich  gehoben  hatte,  lehrten  um  1520  der  Gräcist  Othmab 
LusciNiüs  und  Veit  Bild,  Mönch  des  Klosters  (1503 — 1529),  ein 
Schüler  Jacob  Lochebs,  Poet  und  Mathematiker,  mit  den  bedeutendsten 
Humanisten  in.  brieflichem  Verkehr,  des  Griechischen  und  Hebräischen 
nicht  unkundig.  Daneben  werden  humanistische  Privatlehret  erwähnt, 
darunter  sogar  ein  laureierter  Poet,  die  in  Grammatik  und  humanitatls 
arte  lehrten.  Die  patrizischen  Familien,  welche,  wie  das  Beispiel  des 
GossEMBBOT  uud  Peütingeb  zcigt,  auch  hier  in  dem  Streben  nach 
der  neuen  Bildung  voran  gingen,  gewährten  Unterkunft  und  Stellung. 
Auch  Schulkomödien  wurden  in  Augsburg  gedichtet  und  1497  gedruckt: 
Comoediae  utilissimae  omnem  Latinl  sermonis  elegantiam  conänentes; 
ihr  Inhalt  sind  die  üblichen,  langweiligen  und  nicht  immer  sauberen 
Gespräche.^ 

Humanistische  Schulmeister  oder  Lektionen  aus  den  beiden  ersten 
Jahrzehnten  werden  bei  Pfaff  noch  erwähnt  in  folgenden  schwäbischen 
Städten:  Eßlingen,  Hall,  Heilbronn,  Schorndorf,  Urach,  Rott- 
weil (wo  um  1510  zwei  Schweizer  0.  Myconius  und  Glabeanüs  bei 
einem  Schulmeister  M.  Rubellus  die  Elemente  der  Humanität  lernten, 
Hagenbach,  Myconius,  S.  319flF.),  Stuttgart  und  Tübingen,  in  dessen 
Bursen  und  Pädagogien  Bebels  Schüler  Heinbichmann  und  Bbassi- 
CANüs  das  neue  Latein  lehrten.  In  der  Vaterstadt  Keuchlens,  zu 
Pforzheim,  war  im  ersten  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts  G.  Simleb 
Lehrer,  bekannt  durch  seine  griechische  Grammatik  (1512).  Melanch- 
THON,  der  in  Pforzheim  und  dann  an  der  Universität  Tübingen  sein 
Schüler  war,  hat  ihm  ein  dankbares  Andenken  bewahrt. 

In  Frankfurt  a.  M.,  wo  während  des  Mittelalters  drei  Stifts- 
schulen den  Unterricht  der  Jugend  besorgt  hatten,  findet  sich  die 
erste  Spur  einer  Nachfrage  nach  humanistischem  Unterricht  im  Jahre  1 496, 
in  welchem  ein  Poet  erwähnt  wird,  der  vom  Rat  eine  Zulage  von  2  fl. 


'  Die  Angaben  Bind  entnommen  aus  J.  Hans,  Beiträge  zur  Geschichte  des 
Augsburger  Schulwesens,  8.-A.  aus  der  Zeitschr.  des  bist.  Vereins  für  Schwaben 
und  Neuburg,  II,  1.  Heft;  ergänzt  aus  Uhluorn,  Urb.  Rhegius,  21—45;  vergl. 
Bavaria,  II,  2,  942  ff. 


154    /,  5.    Das  Eindringen  des  Humanismus  in  die  Partikularschulen, 


monatlich  erhielt.^  In  größerem  Stil  wiederholte  sich  die  Sache  mit 
der  Annahme  des  Poeten  W.  Nesen  im  Jahre  1520.  Neben  hatte 
die  Söhne  eines  reichen  Frankfurter  Patriziers,  Claus  Stalbuko,  nach 
Paris  geführt  (1517 — 1519).  Auf  Betreiben  einiger  einflußreicher 
Familien  nahm  ihn  jetzt  der  Rat  auf  drei  Jahre  um  jährlich  50  fl. 
und  Wohnung  in  Dienst  „ihre  und  gemeiner  Stadt  Kinder  in  der- 
selben seiner  Kunst  im  Latein  zu  lernen,  so  viel  ihm  möglich,  um 
eine  ziemliche  Belohnung;  auch  allen  Tag  eine  Stunde  öflFentlich  zu 
lesen  in  seinem  Haus  oder  in  einem  Kloster."  Auch  verpflichtet  er 
sich  für  den  Rat  nach  Erfordern  zu  reden  und  zu  schreiben.  Die 
Schule  wurde  nachher  Schola  patriciorum,  Junkerschule,  genannt,  ohne 
Zweifel  mit  gutem  Grund:  gemeiner  Stadt  Kinder  hatten  natürlich 
weder  die  Poesie  nötig,  noch  die  Mittel  die  ziemliche  Belohnung  zu 
zahlen.  Nesen  blieb  nicht  lange,  er  ging  1523  nach  Wittenberg,  wo 
er  im  folgenden  Jahr  in  der  Elbe  ertrank.  Sein  Nachfolger  wurde 
Jacob  Micyllus  (1524 — 1533).  Über  den  Erfolg  des  Schulunter- 
nehmens sind  nur  dürftige  Nachrichten  vorhanden.  Nach  den  ersten 
Jahren  äußert  sich  in  Micyllus  Briefen  große  Mißstimmung,  die  Schule 
sei  leer,  nur  einige  Kinder  besuchten  sie  (Classen,  Micyllus,  78fiF.). 

In  die  oberrheinischen  Städte  war  die  pädagogische  Richtung  der 
Schule  von  Deventer  durch  den  Westphalen  Ludwig  Dringenberg 
verpflanzt  worden,  der  1441 — 1477  der  Schule  zu  Schlettstadt  vor- 
stand, die  unter  ihm  und  seinen  Nachfolgern,  Crato  Hofmann,  Gebwiler, 
Sapedus,  bedeutenden  Ruf  hatte.^  Eine  Reihe  von  bekannten  Männern, 
die  in  dieser  Schule  ihre  erste  Bildung  empfangen  haben,  unter  ihnen 
vor  allen  Wimpheling,  ferner  sein  NeflFe  Jag.  Spiegel,  Beatus  Rhena- 
Nus,  haben  ihr  Gedächtnis  erhalten.  Dringenberg  gehörte  noch  ganz 
der  älteren  Richtung  an,  er  lehrte  das  Doctrinale,  nur  daß  er  es  mit 
Auswahl  benutzte  und  die  langen  Kommentare  verwarf;  ebenso  lebt« 
er  auch  mit  scholastischer  Theologie  und  Philosophie  in  Frieden,  wo- 
gegen er  die  neumodische  Poesie  nicht  ohne  Mißtrauen  betrachtete: 
die  heilige  Schrift  und  die  Philosophie  lehre  gute  Sitten,  während  die 
Poesie  leicht  zu  einem  lockeren  Lebenswandel  verfahre  (so  in  einem 
Brief,  mitget.  bei  Mone,  Z.  f.  d.  Gesch.  des  Oberrh.,  XXV,  65).    Daß 


*  Helfenstein,  Schulwesen  in  Frankfurt,  S.  46.  Das  folgende  aus  Steitz' 
erwähntem  Aufsatz  über  Nesen.  Der  Vertrag  mit  Nesen  bei  J.  MtfLLER,  Vor- 
reform. Schulordnungen. 

•  Die  dürftigen  Nachrichten  über  diese  Schule  gehen  auf  einen  Aufsatz 
RöHBiGfi  in  Tloens  Zeitschr.  für  histor.  Theologie  (IV,  1834)  zurück;  sie  sind  in 
unfruchtbarer  Ausführlichkeit  wiederholt  nacherzählt,  zuletzt  von  Kämmel,  S.  232  ff. 
8.  auch  Knod,  J.  Spiegel,  im  Progr.  von  Schlettstadt  1884/86. 


Schlettstadi.    Siraßburg.    Basel.  155 


WiMPHELiNO  ebeuöo  dachte,  ist  schon  oben  (S.  61)  erwähnt  worden, 
und  auch  bei  den  jüngeren  Männern  dieses  Kreises  blieb  diese  An- 
schauung herrschend.  J.  Spiegel  und  B.  Bhenanus  kommentierten 
beide  christliche  Dichter  und  warnten  vor  den  heidnischen  Poeten. 
Freilich,  sagt.  Spiegel,  man  könne  behaupten:  et  sacrü  litteris  et 
christiams  poetis  parum  elegantiae  inesse  et  gotthicum  ac  barbarum 
nescio  quid  redolere;  aber  die  christliche  Lebensweisheit  wiege  diesen 
Mangel  auf  (Knod,  Progr.  Schlettstadt  1886,  S.  11).  Entschiedener 
wurde  der  Bruch  mit  dem  alten  Schulbetrieb  erst  durch  J.  Sapidus 
vollzogen,  der  ihr  1510—1525  vorstand.  Er  führte  anstatt  des  Alexan- 
der neue  Lehrbücher  ein,  und  scheint  auch  mit  dem  Unterricht  im 
Griechischen  einen  Anfang  gemacht  zu  haben. 

Straßburg,  lange  Zeit  der  Mittelpunkt  der  scholastischen  Studien 
am  Oberrhein,  wie  Köln  am  Niederrhein,  hatte  beim  Ausgang  des 
Mittelalters  vier  Stiftsschulen,  dazu  eine  Eeihe  von  Klosterschulen. ^ 
Am  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  finden  wir  hier  eine  Beihe  von  Männern, 
die,  auf  dem  Boden  der  christlich-kirchlichen  Lebensanschauung  stehend, 
doch  den  neuen  Bildungsbestrebungen  zugewendet  sind,  J.  Geiler 
als  Domprediger,  See.  Bbant  als  Stadtschreiber,  J.  Wimphbling  als 
Geistlicher  und  Schriftsteller  thätig.  Im  Jahre  1501  unterbreitete 
WiMPHELiNG  dem  Bat  in  seiner  Germania  den  Vorschlag,  eine  Ober- 
schule zu  errichten.  Ein  doppelter  Grund  wird  für  ihre  Notwendig- 
keit angeführt:  erstens  bedarf  man  einer  solchen  Anstalt,  um  die 
Jugend  für  die  Universität  besser  vorzubereiten:  jetzt  kommen  die 
Knaben  zu  früh  und  ohne  genügende  Sprachkenntnisse  auf  die  Uni- 
versität und  verlieren  hier  dann  die  Zeit  umsonst;  sodann  ist  auch  für 
die  Jugend,  die  nicht  dem  Studium  bestimmt  ist,  eine  längere  Schul- 
zeit, ein  weiter  geführter  Unterricht  von  nöten,  sie  verkommt  jetzt  in 
Müßiggang  und  Tändelei.  Der  Bat  konnte  sich  doch  nicht  entschließen, 
den  Vorschlag  auszuführen.  Indessen  kamen  vereinzelte  humanistische 
Lehrer.  Der  Poet  M.  Bingmann  (alias  Philesius)  hielt  zeitweilig 
(1505 — 1507)  eine  Privatschule.  1509  wurde  Gebwileb  von  Schlett- 
stadt als  Bektor  an  die  Domschule  berufen.  Seit  1514  lehrte  Ottmar 
LusciNius  (sonst  Nachtigall)  bei  St.  Thomas  und  amDomdie  griechische 
Sprache,  wofür  er  auch  Ijehrbücher  drucken  ließ.  Die  Beformation 
brachte  auch  hier  zunächst  eine  Unterbrechung  der  Entwickelung. 

In  der  Schweiz  war  Basel  der  Mittelpunkt  der  humanistischen 
Studien.  Außer  der  Domschule  gab  es  hier  noch  eine  Stifts-  und  vier 
Pfarrschulen.     Um  1515  wird  der  Humanist  0.  Myconiüs  als  Schul- 

^  S.  C.  Engel,  Das  Schulwesen  in  Straßburg  bis  1538  (Straßb.  1886). 


158    I,  5.    Das  Mndringefi  des  Humanismus  in  die  Partiktäarschulen. 


liehen  Wendungen  alle  Vorkommnisse  im  Schülerleben,  die  naturalia 
und  turpia  nicht  ausgenommen,  behandeln.  Auch  von  dieser  Arbeit 
werden  25  Drucke  zwischen  1503 — 1523  gezählt,  darunter  wieder 
11  Leipziger,  je  2  Kölner,  Nürnberger,  Augsburger  etc.  Außerdem 
verfaßte  er  Gedichte  mit  Absicht  auf  den  Schulgebrauch.  1503  wurde 
der  Schulmeister  Stadtschreiber,  in  welcher  Stellung  er  bis  zu  seinem 
Tode  1527  blieb.  Auch  seine  Nachfolger  gehörten  der  humanistischen 
Richtung  an.  Um  1520  betrieb  der  Rat  die  humanistische  Reform 
auch  der  übrigen  Schulen.  Die  Corpus-Christi-Schule  wurde  durch 
einen  Schüler  der  Herforder  Schule,  H.  Pauss,  im  Sinne  des  Hegius 
umgestaltet  An  der  Schule  zu  Maria  Magdalena  führte  gleichzeitig 
A.  MoiBANus  humanistische  Schulbücher  ein,  darunter  eine  von  ihm 
selbst  gemachte  kleine  Auswahl  ERASMusscher  Briefe.  £r  lehrte  auch 
zuerst  Griechisch  in  Breslau.  Auch  die  Elisabethschule  erhielt  1520 
einen  neuen  Rektor  an  J.  Tbogkr,  einen  Schüler  Melanchthons,  der 
griechischen  und  lateinischen  Sprache  kundig.  An  einer  andern  Schule 
lehrte  J.  Nigeb.  Der  Bischof  Jon.  Thubzo  war  ein  großer  Gönner  der 
humanistischen  Studien,  ebenso  sein  Schwager  Jon.  Mezleb,  der 
humanistische  Jurist,  Schüler  des  Cbocüs,  Freund  Melai^chthons  und 
MosEiiLANs.  Eine  große  Störung  brachte  das  Eindringen  der  Refor- 
mation. Die  Frädikanten  donnerten  gegen  die  unnütze  und  heidnische 
Gelehrsamkeit  und  die  genannten  Schulmeister  verließen  alle  die  Stadt. 
—  In  Goldberg  begründete  H.  Cingülabiüs  (Gübtleb)  um  1504 
mit  Unterstützung  des  Rats,  des  Herzogs  von  Liegnitz  und  J.  Thurzos 
eine  Schule  nach  den  neuen  Anschauungen.  Eine  Grammatik,  welche 
er  1506  drucken  ließ,  führte  die  neue  Methode,  freilich  noch  nicht 
mit  voller  Entschiedenheit,  durch;  er  arbeitete  sie  um  und  veröffent- 
lichte sie  1515  zum  zweitenmal  Alexandri  aliorumque  Grammatistarum 
hahicinationibus  omissis  (Bauch,  Ztschr.  f.  d.  Gesch.  Schles.  XXIX). 

In  Nordwestdeutschland  sind  Ausgangspunkt  weitverzweigter 
Wirkungen  die  Schulen  zu  Deventer  und  Zwo  11  e;  eine  Reihe  von 
Männern,  die  für  die  Entwickelung  des  Schulwesens  nicht  ohne  Be- 
deutung 'sind,  haben  hier  ihre  erste  Bildung  empfangen.  Die  Beziehung 
der  Schulen  und  mehrerer  ihrer  Leiter  zu  den  Brüdern  vom  ge- 
meinsamen Leben  (auch  Hieronymianer  genannt)  hat  zu  der  irrigen 
Vorstellung  Veranlassung  gegeben,  als  seien  die  Brüder  eine  Art 
Schulorden  gewesen,  und  Iv.  von  Raümeb  hat  sie  dann  zu  Vorläufern 
der  humanistischen  Schulreform  gemacht,  als  welche  sie  bislang  in  den 
Darstellungen  der  Schulgeschichte  umgingen.  Durch  die  Untersuchung 
K.  HiBsSCHES  (Hebzogs  Realencyklop.  der  prot.  Theol.  II,  699  ff.,  747  ff.) 
ist  dieser  Vorstellung,  der  auch  die  erste  Auflage  dieses  Buches  noch 


Baieni,    Öaterreich.    Böhmen.    SohUsien.  157 


AvENTiNTs  als  Lehrer;  einer  von  ihnen  studierte  seit  1515  in  Ingol- 
stadt unter  Jon.  Eck.  Freilich  fand  Albrechts  Streben  nach  Bildung 
bei  dem  bayrischen  Adel  wenig  Beifall.  Man  nannte  ihn  in  diesen 
Kreisen  spöttlich  den  Schüler  oder  Schreiber,  wofür  er  gelegentlich 
grimmige  Rache  nahm.^ 

Daß  auch  die  niederen  Schulen  der  österreichischen  Lander 
in  die  humanistische  Bewegung  hineingezogen  worden  sind,  ist  bei  der 
«ngen  Verbindung  zwischen  Schule  und  Universität  nicht  zweifelhaft; 
aber  die  österreichische  Schulgeschichtsschreibung  läßt  uns  für  die  Nach- 
weisung der  Ausbreitung  im  Stich.  Von  dem  Abt,  welcher  1518—1521 
dem  Kloster  bei  den  Schotten  vorstand,  Ben.  Cheltdonius,  wird  be- 
richtet, daß  er  unter  anderen  Versuchen  in  humanistischer  Poesie,  z.  B. 
einer  Darstellung  der  Passionsge^chichte,  auch  ein  lateinisches  Schul- 
drama habe  verfertigt  und  aufführen  lassen,  worin  der  Streit  der 
Wollust  und  Tugend  behandelt  wurde:  Venus,  Satan,  Cupido,  Epicurus 
und  auf  der  andern  Seite  Pallas  und  Herkules  traten  darin  als  han- 
delnde Personen  auf  (Horawitz,  Der  Humanismus  in  Wien,  im  Histo- 
rischen Taschenbuch,  1883,  S.  193). 

In  den  Ländern  der  böhmischen  Krone  findet  sich  in  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  ein  ziemlich  entwickeltes  humanistisch- 
protestantisches Schulwesen.  Es  ist  anzunehmen,  daß  seine  Anfange 
in  diese  Zeit  zurückreichen;  die  Nachrichten  darüber  sind  spärlich. 
Von  dem  Bischof  Thürzo  von  Olmütz  wird  berichtet,  daß  er  Mittel- 
punkt eines  Kreises  dortiger  Humanisten  gewesen  sei  und  auch  das 
Schulwesen  gefördert  habe  (Richter,  Kurze  Geschichte  der  Olmüzer 
Universität,  S.  10). 

Besser  sind  wir  über  Schlesien  unterrichtet.  Hier  war  der 
bischöfliche  Hof  von  Breslau  unter  Jon.  Thurzo,  einem  Bruder  des 
mährischen  Bischofs ,  Mittelpunkt  der  neuen  Bildungsbestrebungen. 
Schon  im  Jahre  1499  findet  sich  ein  humanistischer  Schulmeister  zu 
St.  Elisabeth,  Laurentius  Corvinus.^  Er  verfaßte  für  den  lateinischen 
Elementarunterricht  viel  gebrauchte  Schulbücher.  Der  hortulus  elegan- 
tiarum  stellt  einander  gegenüber  Muster  des  guten  und  Beispiele  des 
schlechten  Stils,  jene  vorzugsweise  aus  Cicero.  Von  1502 — 1520  sind 
25  Drucke  des  Werkes  bekannt,  darunter  12  Leipziger,  4  Krakauer, 
je  2  Speierer  und  Straßburger  etc.  Das  Latinum  idioma  ist  eine 
Sammlung  von  Schülergesprächen,  welche  in  reinen  oder   doch   leid-  ^ 

^  Fit.  Schmidt,  Geschichte  der  Erziehung  der  Wittelebacher,  S.  XXXV. 

'  Kine  Biographie  C.s  von  Bauch  in  der  Zeitschrift  für  Geschichte  und 
Altertum  Schlesiens,  XVII.  Bd.  (1883),  S.  230—302,  giebt  über  die  schlesischen 
Verhältnisse  jener  Zeit  erwünschte  Auskunft 


158    I,  5.    Das  Eindringen  des  Humanismus  in  die  PartikiUarschtUen. 


liehen  Wendungen  alle  Vorkommnisse  im  Schülerleben,  die  naturalia 
und  turpia  nicht  ausgenommen,  behandeln.  Auch  von  dieser  Arbeit 
werden  25  Drucke  zwischen  1503 — 1523  gezahlt,  darunter  wieder 
11  Leipziger,  je  2  Kölner,  Nürnberger,  Augsburger  etc.  Außerdem 
verfaßte  er  Gedichte  mit  Absicht  auf  den  Schulgebrauch.  1503  wurde 
der  Schulmeister  Stadtschreiber,  in  welcher  Stellung  er  bis  zu  seinem 
Tode  1527  blieb.  Auch  seine  Nachfolger  gehörten  der  humanistischen 
Richtung  an.  Um  1520  betrieb  der  Rat  die  humanistische  Reform 
auch  der  übrigen  Schulen.  Die  Corpus-Christi-Schule  wurde  durch 
einen  Schüler  der  Herforder  Schule,  H.  Pauss,  im  Sinne  des  Hegiüs 
umgestaltet  An  der  Schule  zu  Maria  Magdalena  führte  gleichzeitig 
A.  MoiBANus  humanistische  Schulbücher  ein,  darunter  eine  von  ihm 
selbst  gemachte  kleine  Auswahl  EBASMusscher  Briefe.  Er  lehrte  auch 
zuerst  Griechisch  in  Breslau.  Auch  die  Elisabethschule  erhielt  1520 
einen  neuen  Rektor  an  J.  Tboger,  einen  Schüler  Melanchthons,  der 
griechischen  und  lateinischen  Sprache  kundig.  An  einer  andern  Schule 
lehrte  J.  Niger.  Der  Bischof  Jon.  Thubzo  war  ein  großer  Gönner  der 
humanistischen  Studien,  ebenso  sein  Schwager  Jon.  Mezleb,  der 
humanistische  Jurist,  Schüler  des  Ckoous,  Freund  Melai^chthons  und 
MosELLANs.  Eine  große  Störung  brachte  das  Eindringen  der  Refor- 
mation. Die  Pradikanten  donnerten  gegen  die  unnütze  und  heidnische 
Gelehrsamkeit  und  die  genannten  Schulmeister  verließen  alle  die  Stadt. 
—  In  Goldberg  begründete  H.  Cingularius  (Gürtler)  um  1504 
mit  Unterstützung  des  Rats,  des  Herzogs  von  Liegnitz  und  J.  Thurzos 
eine  Schule  nach  den  neuen  Anschauungen.  Eine  Grammatik,  welche 
er  1506  drucken  ließ,  führte  die  neue  Methode,  freilich  noch  nicht 
mit  voller  Entschiedenheit,  durch;  er  arbeitete  sie  um  und  veröflFent- 
lichte  sie  1515  zum  zweitenmal  Älexandri  aliorumque  Grammatistarum 
halucinationibus  omissis  (Baüch,  Ztschr.  f.  d.  Gesch.  Schles.  XXIX). 

In  Nordwestdeutschland  sind  Ausgangspunkt  weitverzweigter 
Wirkungen  die  Schulen  zu  Deventer  und  Zwo  11  e;  eine  Reihe  von 
Männern,  die  für  die  Entwickelung  des  Schulwesens  nicht  ohne  Be- 
deutung sind,  haben  hier  ihre  erste  Bildung  empfangen.  Die  Beziehung 
der  Schulen  und  mehrerer  ihrer  Leiter  zu  den  Brüdern  vom  ge- 
meinsamen Leben  (auch  Hieronymianer  genannt)  hat  zu  der  irrigen 
Vorstellung  Veranlassung  gegeben,  als  seien  die  Brüder  eine  Art 
Schulorden  gewesen,  und  K.  von  Räumer  hat  sie  dann  zu  Vorläufern 
der  humanistischen  Schulreform  gemacht,  als  welche  sie  bislang  in  den 
Darstellungen  der  Schulgeschichte  umgingen.  Durch  die  Untersuchung 
K.  Hirsches  (Herzogs  Realencyklop.  der  prot.  Theol.  II,  699  flF.,  747  if.) 
ist  dieser  Vorstellung,  der  auch  die  erste  Auflage  dieses  Buches  noch 


Deventer,    ZwoUe.    Die  Brüder  voni  gemeinsamen  Leben,        159 


mehr  als  billig  nachgab,  der  Boden   entzogen   worden.^    Die  Frater- 
häuser    waren    nicht    Schulhäuser    und    die    Brüder    waren    nicht 
Lehrer,  wie  später  die  Jesuiten,  am  wenigsten  humanistisch  gesinnte 
Lehrer.      Dem   Humanismus   stehen   die  Brüder  völlig  fem;   Geebt 
Gboot,  Flobentiüs   Radewunssohn,    Thomas   von  Kempen  waren 
Asketen,  denen  Devotion  und  frommes  Leben  am  Herzen  lag,  nicht 
Eloquenz   und   weltliche  Wissenschaft.     „Es   giebt  viel  Wissen,"  sagt 
Thomas,  „das  wenig  oder  gar  nicht  zum  Seelenheil  dient    Und  der  ist 
ein  großer  Thor,  der  nach  irgend  etwas  anderem  strebt,  als  was  zum 
Heil  dient."  —  Die  Beziehung  zu  den  Schulen  der  Orte,  wo  sie  sich 
ansiedelten,  beruhte  vielmehr  darauf,   daß   sie  Schüler   bei  sich   auf- 
nahmen und  ihrer  Erziehung  und  besonders   ihres  religiösen  Lebens 
als  Seelsorger  sich  annahmen;  nur  von  einigen  Brüdern  ist  bekannt, 
daß  sie  selbst  an  der  Schule  als  Lehrer  wirkten.    Andererseits  waren 
unter  den  Leitern  jener  Schulen  Männer,  die  dem  Geist  der  Brüder 
innerlich   verwandt  waren,   wenn   sie  auch    der   Gemeinschaft    nicht 
äußerlich  angehörten.  Unter  ihnen  ist  Alexander  Hegiüs  (1433 — 1498) 
der  bekannteste.^    Auf  der  Schule   zu  ZwoUe   gebildet,   war  er  seit 
1474  Rektor  der  Schule  zu  Deventer.     P^rst  in  höherem  Alter  wurde 
er  durch  Freunde,  besonders  durch  B.  Agbicola,  für  das  Studium  der 
Alten  gewonnen.    Er  hat  dann   nicht  unerheblich  dazu   beigetragen, 
daß   diese  Studien  in  den   Schulen  des   nordwestlichen  Deutschlands 
Eingang  fanden.  tTbrigens  bleibt  er  den  Anschauungen  des  libertinisti- 
schen   Humanismus   fern :  perniciosa  litteratura  est,  quae  cum  jactura 
probitatis   discitur,   das  ist  sein   pädagogischer  Grundsatz.    Auch   am 
Doctrinale  hat  er  festgehalten  und  es  für  den  Schulgebrauch  kommen- 
tiert, ebenso  wie  ein  anderer   der  Lehrer   von  Deventer,  der  aus  den 
Episteln  der  dunkeln  Männer  bekannte  Synthis,  der  übrigens  zu  den 
Brüdern  gehörte.     Doch  führte  Hegius  die  lateinischen  Autoren  in  die 
Schule  ein  und  empfahl  sie  den  Schülern  als  die  Quelle  der  Sprache. 
Eine  lange  Reihe  von  Drucken  erschien  in  den   letzten   beiden  Jahr- 
zehnten  in  Deventer,   darunter  Stücke   von  Plautus,  Persius,  Cicero, 
Virgil,  ohne  Zweifel  zunächst  für  den  Schulgebrauch.     Die  Erlernung 
der  griechischen  Sprache  empfahl  Hegius,  wie  schon  erwähnt   wurde, 
seinen  Schülern  dringend:  die  Grammatik,  die  Dialektik,  die  Rhetorik, 
die  Mathematik,  die  heiligen  Schriften,  die  Jurisprudenz,  die  Philosophie, 


*  Hirsche  führt  die  Legendenbild iing  über  die  Schulen  der  Hieronymianer 
und  ihren  Humanismus  auf  eine  Stelle  des  uns  hinlänglich  bekannten  Hamelmann 
zurück)  die  er  einen  „bodenlosen  Abgrund,  gefüllt  mit  Unrichtigkeiten**  nennt. 

•  Über  Hegius  s.  Reichlino,  Murmellius,  S.  5—17,  und  Picks  Monatsschrift 
für  rhein.-westfälische  Altertumskunde,  III,  286  if. 


160    I,  5.   Das  Eindringen  des  Humanismus  in  die  Partihüarsehulen, 


die  Medizin,  die  Geschichte,  wer  sie  recht  lernen  wolle,  müsse  Griechisch 
lernen.  Die  Elemente  des  Griechischen  wurden  in  der  Schule  gelehrt; 
ein  kleines  Lehrbächlein,  die  conjugationes  verhorum  Graecorum,  ist 
nach  REiCHLiNa  schon  um  die  Mitte  der  80  er  Jahre  dort  gedruckt. 
Unter  des  Hegius  Schülern  waren  Buschius,  Mukmellius,  Horlenius, 
kurze  Zeit  auch  Eeasmus  und  Butzbach.  —  Noch  mag  die  Schule 
zu  Lüttich  erwähnt  werden,  der  J.  Stuem  1521 — 24  als  Schüler  an- 
gehörte und  an  der  allerdings  auch  der  Unterricht  in  den  Händen 
der  Brüder  gelegen  zu  haben  scheint,  wenigstens  spricht  er  von  dem 
collegium  Hieronymianum  zu  Lüttich.  Ich  komme  hierauf  später  zurück. 
Für  Westfalen  und  ganz  Norddeutschland  wurde  die  Bischofs- 
stadt Münster  ein  Sammelpunkt  humanistischer  Bestrebungen.^  In- 
mitten derselben  stand  der  Dompropst  Bfd.  v.  Langen  (1438 — 1519). 
Er  hatte,  nachdem  er  die  Schule  in  Deventer  besucht  und  in  Erfurt 
studiert  hatte,  in  Italien  (1466 — 1470)  die  Vollendung  seiner  huma- 
nistischen Bildung  erhalten.  Paemet  hat  in  einer  Lebensbeschreibung 
des  Mannes  eine  Sammlung  seiner  lateinischen  Dichtungen,  größten- 
teils religiösen. Inhalts  in  antiken  Versmaßen,  beigegeben.  Die  ersten 
Spuren  humanistischer  Einwirkung  auf  die  Münsterschen  Schulen  sind 
neuerdings  bis  ziemlich  weit  ins  15.  Jahrhundert  zurück  verfolgt 
worden;  Nordhoff  (Denkwürdigkeiten  aus  dem  Münsterschen  Humanis- 
mus, 1874,  S.  73  ff.)  teilt  den  Inhalt  einer  Schulkomödie  (Codrus)  mit, 
deren  Druck  spätestens  ins  Jahr  1485  zu  setzen  sei:  es  ist  eine  adhortatio 
zur  laänitas,  verfaßt  von  Jon.  Keekmeisteb,  gymnasiarcha  Monaste- 
riensis.  Um  1500  gelang  es  den  unausgesetzten  Bemühungen  Langens, 
der  Domschule  noch  entschiedener  den  Charakter  einer  humanistischen 
Pflanzschule  zu  geben.  Rektor  wurde  Timann  Kemner  (Camenerüs), 
neben  ihm  lehrte  an  der  Schule  bis  1508  einer  der  bedeutendsten 
unter  den  humanistischen  SchuUehrem,  Jon.  Mfrmelliüs  (1480 — 1517), 
der  Verfasser  zahlreicher  und  sehr  verbreiteter  Schulbücher.  Reich- 
ling zahlt  von  der  Pappa  pueromm,  einem  Elementarbuch  der  latei- 
nischen Sprache,  32  Drucke  zwischen  1513  und  1560  auf;  von  den 
Tabulae  in  artis  componendorum  versuum  rudimenta  werden  sogar 
63  Drucke   (1515 — 1658),   und   von   einer    poetischen   Chrestomathie 

(Ex  elegiis  IVbtilli,  Propertii  et  Otndii  selecti  versus)  11  Drucke 
(1504 — 1789)  nachgewiesen.  Die  Fappa  enthält  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Form  in  vier  Kapiteln  1.  ein  sachlich  geordnetes  Vokabular, 
2.  Gespräche,  3.  Sitten-  und  Anstandsregeln,  4.  eine  Sammlung  von 

*  Die  erste  mit  Kritik  unternommene,  sehr  gründlich  durchgefiihrt«  Unter- 
snchung  über  den  Münsterschen  Humanismns  ist  in  Reiohlikos  Biographie  des 
Mukmellius  (1880)  enthalten. 


Münster,    Emmerich,     Wesel.  161 


Sprichwörtern;  überall  ist  eine  niederdeutsche  Übersetzung  beigefügt 
(S.  93).  Das  Büchlein  dient  zunächst  der  Absicht,  den  Schüler  so 
bald  als  möglich  redefahig  zu  machen;  aus  dieser  Absicht  erklärt  sich  die 
Wahl  von  Sätzen,  wie  Joannes  calceos  meos  comminxit  oder  Cave^  ne 
tantum  potesj  ut  lectum  nostrum  convomas  und  ähnlicher.  Außer  diesen 
und  anderen  Sprachlehrbüchem  hat  Mubmellius  lateinische  Autoren, 
klassische  und  kirchliche,  mit  Kommentar  herausgegeben,  dazu  natür- 
lich eigene  Gedichte.  Sein  letztes  Werk  ist  der  Scoparius  in  barbariei 
propugnatores  et  osores  humanitatis  (1517),  ein  letzter  Ansturm  gegen 
den  mittelalterlichen  Schulbetrieb,  besonders  gegen  die  Grammatik  des 
Alexander  und  die  Logik  des  Petrus  Hispanus  mit  ihren  Verteidigern. 

Die  Erlernung  der  Fertigkeit,  Lateinisch  in  Prosa  und  Versen  zu 
schreiben,  bildete,  wie  sich  auch  aus  des  Mubmellius  litterarischer 
Thätigkeit  ergiebt,  den  ersten  und  wichtigsten  Unterrichtsgegenstand 
der  reformierten  Schule  zu  Münster.  Daneben  wurden  die  Elemente 
der  Philosophie  gelehrt;  von  Kemneb  werden  Kompendien  nicht  nur 
der  Etymologie,  der  Syntax  und  der  Rhetorik,  sondern  auch  der  Dia- 
lektik und  Physik  erwähnt  (Reichling,  74).  Auch  Mubmellius  hat 
eine  Einleitung  in  Aristoteles'  Schrift  über  die  Kategorien  verfaßt,  von 
welcher  30  Drucke  nachgewiesen  werden  (Reichling,  153).  Die  grie- 
chische Sprache  lehrte  im  Jahre  1512  vorübergehend  J.  Caesabius 
aus  Köln,  Lehrer  und  Schüler  hörten  ihn;  und  wenn  auch  Caesabius 
nicht  lange  blieb,  so  starb  doch  das  Griechische,  das  er  angepflanzt 
hatte,  nicht  wieder  aus  (R.  79). 

Der  Domschule  folgten  die  übrigen  drei  Stiftsschulen  in  Münster, 
der  einen,  der  Ludgerischule,  stand  Mubmellius  selbst  einige  Jahre 
als  Rektor  vor,  bis  er  1513  nach  Alkmaar  ging.  Schüler  der  Münster- 
schen  Schulen  breiteten  die  neue  Lehrart  über  die  westfälischen  und 
norddeutschen  Städte  aus;  ein  langes  Verzeichnis  solcher  in  Münster 
gebildeten  Schulmeister  hat  Pabmet  (88  ff.)  aus  dem  freilich  wenig 
zuverlässigen  Hamelmann  zusammengestellt. 

Durch  Mobitz  von  Spiegelbebg  erhielt  die  Stiftsschule  zu  Em- 
merich die  Richtung  auf  die  neuen  Studien.^  Mobitz  bewirkte  als 
Stiftspropst  die  Berufung  des  Antonius  Libeb,  aus  der  Schule  zu 
Deventer.  Was  es  mit  der  von  Hamelmann  erzählten  Vertreibung 
dieses  Mannes  durch  die  Barbaren  erst  aus  der  Emmericher  und  später 
aus  einer  ganzen  Reihe  niederländischer  Schulen  auf  sich  hat,  mag 
dahingestellt  bleiben;  Hamelmanns  Zeugnis  ist  hierin  von  gar  keiner 
Bedeutung.    Im  zweiten  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts  war  P.  Hom- 

*  DiLLENBUBOEB,  Gcschichte  des  Gymnasiums  zu  Emmerich ,  Progr.  1S46. 
PauUen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  11 


162     7,  5,    Das  Eindringen  des  Humanismus  in  die  Partikularschulen. 

PHAEU8,  ein  Schüler  des  Hegius,  Vorsteher  der  Schule.  Einen  Ein- 
blick in  den  Lehrgang  zu  dieser  Zeit  gewähren  die  Aufzeichnungen 
H.  BuLLiNGEBs,  der  von  1516 — 1519  die  Schule  besuchte  (bei  Keappt, 
Mitteilungen,  S.  201  ff.).  Die  Grammatik  wurde  aus  dem  Donat  und 
Aldus  Manutius  vorgetragen;  nebenher  gingen  Übungen,  in  der  Schule 
und  zu  Hause,  täglich  wurden  Aufgaben  zum  Deklinieren,  Komparieren, 
Konjugieren,  gestellt.  Gelesen  wurden  ausgewählte  Briefe  des  Plinius, 
Cicero  und  Hieronymus,  einige  Gedichte  des  Horaz,  Virgil  und  Baptista 
Mantuanus,  jede  Woche  wurde  ein  Brief  aufgegeben,  stets  Lateinisch 
gesprochen.  Auch  die  Elemente  des  Griechischen  wurden  gelernt  Die 
Disziplin  war  streng;  mit  der  Religion  wurde  es  sehr  ernst  genommen. 
BüLLiNGER  mußte,  auf  Verlangen  seines  Vaters,  die  ganze  Schulzeit 
hindurch  vor  den  Thüren  betteln,  nicht  weil  es  ihm  an  Mitteln  fehlte, 
„sondern  weil  er  wollte,  daß  ich  das  Elend  der  Armut  durch  Erfahrung 
kennen  lerne,  damit  ich  ihr  lebenslang  desto  mehr  zugethan  bliebe". 

Ebenso  waren  in  Osnabrück  sowohl  an  der  Domschule  als  an 
der  Stiftsschule  seit  dem  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  Schulmeister 
aus  der  Münsterscheu  Schule  thätig  (Hartmann  im  Osnabrücker  Progr. 
von  1861,  S.  10  ff.). 

Daß  der  Humanismus  auch  den  kölnischen  Stifts-  und  Kloster- 
schulen nicht  fremd  geblieben  war,  kann  man  aus  einzelnen  Erwäh- 
nungen humanistischer  Schulmeister  z.  B.  zu  St.  Maria  ad  Gradus,  im 
Antoniterkloster,  in  den  Augustinerkonventen  entnehmen  (Keaftts 
Mitteilungen,  216  ff,  252  ff). 

Der  Rat  von  Wesel  nahm  im  Jahre  1516  den  H.  Buscmus  zum 
Schulmeister  an,  um  50 fl.  und  10 fl.  Wohnungsentschädigung,  nach 
Ausweis  des  Ratsprotokolls;  bei  Abschluß  des  Kontrakts  erhielt  er  1  fl. 
als  Mietspfennig.  Er  faßte  als  Lehrbuch  für  die  unterste  Abteilung, 
welche  er  nominarii  nennt,  ab:  Dictata  quaedam  utilissima  ex  Proverbiis 
sacris  et  Ecclesiastico ;  für  die  oberste  Abteilung  ließ  er  eine  Auswahl 
von  Briefen  Ciceros  drucken.^  Er  blieb  aber  nur  P/g  Jahr.  Nach 
seinem  Abgange  suchte  der  Rat  vergeblich  Murmellius  zu  gewinnen, 
statt  seiner  wurde  Peringius  aus  der  Münsterscheu  Schule  angenommen. 

Um  das  Jahr  1510  schrieb  Butzbach:  früher  seien  in  Deventer, 
wie  er  oft  gehört  habe,  fast  nur  Alanus,  Cato  moralis,  Aesopus  und 
einige  ähnliche  gelesen  worden,  die  jetzt  von  den  Modernen  verachtet 
würden.  „Gegenwärtig  hört  man  auch  in  den  kleinsten  Schulen  die 
großartigen  und  mannigfaltigen  Werke  der  alten  und  neuen  Autoren 
in   Prosa   und   Versen";   freilich,   meint   Butzbach,   stellen   sich   die 

*  Heidemann,  Vorarbeiten  zu  einer  Geschichte  des  höheren  Schulwesens 
in  Wesel,  Progr.  1853. 


Sachsen.    Mecklenburg.    Pommern.  165 


alte  Testament  in  drei  Sprachen.  Der  ganze  Terenz,  einige  Stücke 
Yom  Plautus,  viel  aus  Horaz  und  Virgil  soll  auswendig  gelernt,  des 
Horaz  Oden  in  der  Schule  gesungen,  des  Terenz  Komödien  aufgeführt 
werden  u.  s.  f.  Der  Entwurf  des  windig-prahlerischen  Mannes,  in  ge- 
spreiztem Stil  geschrieben,  ist  offenbar  zum  Prunk  gemacht,  nicht  zur 
Ausführung.  Die  Schule  sank  schnell,  nicht  allein  durch  den  Rektor, 
dem  ein  Zeitgenosse  wohl  nicht  mit  Unrecht  Mangel  an  Judicium  vor- 
warf, sondern  vor  allem  infolge  der  Reformationsunruhen. ^ 

Auch  in  anderen  sachsischen  Städten  werden  humanistische  Schul- 
meister erwähnt:  in  Leipzig  an  der  Thomasschule  lehrte  1518 — 1522 
J.  PoLiANDEB  (Qraumann),  wolchcm  P.  MosEiiiiANus  seiu  Schulbüchlein, 
die  Paedologia,  widmete;  in  Meißen  an  der  Domschule  H.  Pollichius; 
im  Kurkreis  hatte  Torgau  eine  angesehene  Schule.  Überhaupt  war, 
wie  die  Protokolle  der  ersten  Visitation  ausweisen,  fast  in  jeder  Stadt 
eine  Schule;  allein  in  den  kursächsischen  Ländern  werden  bei  der 
Visitation  in  den  Jahren  1527—1529  70—80  Schulen  erwähnt.» 

In  Rostock  hatten  die  Hieronymianer  seit  1462  eine  Nieder- 
lassung; eine  darin  eingerichtete  Druckerei  machte  die  klassischen  Schrift- 
steller im  Norden  Deutschlands  zugänglicher.  Die  mit  der  Universität 
verbundene  Schule  (das  paedagogium  Porta  coeli,  nach  dem  Haus  ge- 
nannt) hatte  schon  vor  der  humanistischen  Universitätsreform  vom  Jahr 
1520  humanistische  Lehrer,  so  seit  1508  den  C.  Pegelius,  der  1516 
als  Prinzenerzieher  nach  Schwerin  berufen  wurde.  In  der  Lektions- 
ordnung des  Jahres  1520  finden  sich  Übungen  im  Briefschreiben,  wozu 
Briefe  des  Cicero  und  Plinius  gebraucht  werden,  femer  poetische 
Übungen,  in  diversis  generibus  carminum,  adhibitis  exemplis  probatorum 
poetarum,  Firgiliij  Iloratii,  Omdii,  Catulli,  Tibulli,  Silii  et  reliquorum  sine 
numero  priscorum  et  modernorum  (Kkabbe,  Univ.  Rostock,  168, 303, 352  ff.). 

Selbst  bis  Hinterpommern  war  die  neue  Bildung  schon  vor- 
gedrungen. JoH.  Bugenhagen,  in  Greifswald  durch  Buschius  zum 
neuen  Leben  erweckt,  war  von  dem  Abt  des  Klosters  Belbuck  bei 
Treptow  als  Schulmeister  angenommen;  er  leitete  die  Schule  von 
1505 — 1521  im  humanistischen  Sinne;  mit  den  Münsterschen  Huma- 
nisten stand  er  in  Beziehungen,  indem  er  ihnen  Gefordertere  unter 
seinen  Schülern  schickte  (Vogt,  Bugenhagen,  7). 


*  Herzog,  Geschichte  des  Zwickauer  Gymnasiums.  Die  Schulordnung  von 
1523  bei  Müller,  244  £P.  Ergänzungen  aus  dem  Ratsarchiv  in  Erlers  P.  Plateanus, 
Zwickauer  Progr.  1878. 

'  BuRCKHARDT,  Gcscbichtc  der  säclis.  Kirclien-  und  Schulvisitationen  in  den 
Jahren  1524—1545  (1879).     Art.  Sachsen   in  Sohmids  Encyklopädie,  VII,  436  ff., 

von   DlETSCH. 


164    /,  5.    Das  Eindringen  des  Humanismus  in  die  PartikularschtUen, 


brauch  der  Grammatik  von  Heinbichmann  durchfuhren,  sowie  auf  An- 
leitung zur  Verfertigung  lateinischer  Episteln  besser  als  bisher  halten 
wollten,  auch  darauf  achten,  daß  keine  unnützen  actus  und  autores 
femer  gehalten,  dagegen  die  Evangelien  und  die  Episteln  Pauli  den 
Kindern  eingeprägt  würden  (Förstemann,  Nachrichten  von  den  Schulen 
zu  Nordh.,  1830). 

Im  Ratsprotokoll  der  Stadt  Hannover,  welches  regelmäßig  Ein- 
tragungen über  die  jährliche  Annehmung  eines  Schulmeisters  hat  (mit- 
geteilt von  Ahbens  im  Progr.  des  Lyceums  1869),  findet  sich  zum 
Jahr  1515  die  Bemerkung,  daß  der  Schulmeister  ein  Regiment 
halten  wolle,  wie  zu  ZwoUe  und  Deventer  gehalten  wird.  Ein  neues 
Schulstatut  wurde  1521  verfaßt;  darnach  wurde  die  Zahl  der  aus- 
wärtigen (Bettel-)  Schüler  auf  100  beschränkt,  der  Schulmeister  ver- 
pflichtet vier  gute  Gesellen  zu  halten  und  die  Kinder  ihr  Latein 
sprechen  zu  lehren  in  forma  meliori;  die  bisher  gezahlte  Pacht  wurde 
ihm  erlassen. 

Auch  in  Sachsen  hatten  schon  vor  der  Reformation  die  neuen 
Studien  in  den  Schulen  Wurzel  gefaßt.  In  den  Bergstädten  Freiberg, 
Schneeberg,  Chemnitz,  Zwickau  hatte  der  aufblühende  Bergbau  Wohl- 
stand und  damit  das  Verlangen  nach  feinerer  Bildung  hervorgebracht 
In  Freiberg  entstand  um  1515  neben  der  alten  Domschule  eine  neue 
humanistische  Schule,  an  welcher  mit  einer  Besoldung  vom  Rat  zuerst 
Aesticampianus  und  Mosellanüs,  später,  da  beide  im  Jahre  1517 
die  Stadt  verließen,  Sobius  und  SBBULnjs  lehrten.^  In  Zwickau, 
dessen  Stadtschule  schon  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  in  großem 
Ansehen  stand,  war  seit  1517  der  humanistisch  gebildete  Stephan  Roth 
Rektor.  Sein  Baccalarius  G.  Agbicola  erhielt  im  Jahr  1518  vom  Rat 
eine  Besoldung,  um  Griechisch  zu  lehren;  er  wurde,  als  Roth  1520 
an  die  Schule  zu  Joachimsthal  ging,  dessen  Nachfolger;  neben  ihm 
lehrten  der  in  der  sächsischen  Schulgeschichte  später  hervortretende 
J.  Riviüs  und  der  Hebraist  J.  Forsteb.  Unter  dem  folgenden  Rektor 
Natteb  aus  Lauingen  wurde  1523  eine  großartige  Ankündigung  eines 
„Neuen  Studii  und  jetzt  aufgerichteten  CoUegii  in  forstlicher  Stadt 
Zwickau  auf  drei  Hauptsprachen,  Hebräisch,  Griechisch,  Lateinisch  ge- 
stellt" gedruckt  und  veröffentlicht  In  fünf  Klassen  wird  ein  Unter- 
richt, der  den  Kursus  der  philosophischen  Fakultät  in  der  dritten,  aller 
übrigen  Fakultäten  in  der  zweiten  Klasse  einschließt,  in  Aussicht  ge- 
stellt. Griechisch  soll  schon  in  der  zweiten  Klasse  von  unten  begonnen, 
in  der  obersten  Homer,  Euripides,  Aristoteles  gelesen  werden;  dazu  das 


*  Süss,  Geschichte  des  Gymnasiums  zu  Freiberg.     Progr.  1876/77. 


Sachsen.    Mecklenburg,    Pommern.  165 


alte  Testament  in  drei  Sprachen.  Der  ganze  Terenz,  einige  Stücke 
Yom  Flantns,  viel  aus  Horaz  und  Virgil  soll  auswendig  gelernt,  des 
Hora^  Oden  in  der  Schule  gesungen,  des  Terenz  Komödien  aufgeführt 
werden  u,  s.  t  Der  Entwurf  des  windig-prahlerischen  Mannes,  in  ge- 
spreiztem Stil  geschrieben,  ist  offenbar  zum  Prunk  gemacht,  nicht  zur 
Ausführung.  Die  Schule  sank  schnell,  nicht  allein  durch  den  ßektor, 
dem  ein  Zeitgenosse  wohl  nicht  mit  Unrecht  Mangel  an  Judicium  vor- 
warf, sondern  vor  allem  infolge  der  Reformationsunruhen.  ^ 

Auch  in  anderen  sächsischen  Städten  werden  humanistische  Schul- 
meister erwähnt:  in  Leipzig  an  der  Thomasschule  lehrte  1518 — 1522 
J.  PoLiANDBB  (Qraumann),  wclchcm  P.  MosETiTiANus  sciu  Schulbüchlciu, 
die  Paedohgia,  widmete;  in  Meißen  an  der  Domschule  H.  Pollichius; 
im  Kurkreis  hatte  Torgau  eine  angesehene  Schule.  Überhaupt  war, 
wie  die  Protokolle  der  ersten  Visitation  ausweisen,  fast  in  jeder  Stadt 
eine  Schule;  allein  in  den  kursächsischen  Ländern  werden  bei  der 
Visitation  in  den  Jahren  1527—1529  70—80  Schulen  erwähnt» 

In  Rostock  hatten  die  Hieronymianer  seit  1462  eine  Nieder- 
lassung; eine  darin  eingerichtete  Druckerei  machte  die  klassischen  Schrift- 
steller im  Norden  Deutschlands  zugänglicher.  Die  mit  der  Universität 
verbundene  Schule  (das  paedagogium  Porta  coeli,  nach  dem  Haus  ge- 
nannt) hatte  schon  vor  der  humanistischen  Universitätsreform  vom  Jahr 
1520  humanistische  Lehrer,  so  seit  1508  den  C.  Pegelius,  der  1516 
als  Prinzenerzieher  nach  Schwerin  berufen  wurde.  In  der  Lektions- 
ordnung des  Jahres  1520  finden  sich  Übungen  im  Briefschreiben,  wozu 
Briefe  des  Cicero  und  Plinius  gebraucht  werden,  femer  poetische 
Übungen,  in  diversis  generibus  carminum,  adhibitis  exemplis  probatorum 
poetarum,  Vtrgiliij  Horatii,  Ovidii,  Catulli,  Tibulli,  Silii  et  reliquorum  sine 
numero  priscorum  et  modemorum  (Kbabbe,  Univ.  Rostock,  1 68, 303, 352  flF.). 

Selbst  bis  Hinterpommern  war  die  neue  Bildung  schon  vor- 
gedrungen. JoH.  Bugenhagen,  in  Qreifswald  durch  Büschius  zum 
neuen  Leben  erweckt,  war  von  dem  Abt  des  Klosters  Belbuck  bei 
Treptow  als  Schulmeister  angenommen;  er  leitete  die  Schule  von 
1505 — 1521  im  humanistischen  Sinne;  mit  den  Münsterschen  Huma- 
nisten stand  er  in  Beziehungen,  indem  er  ihnen  Gefordertere  unter 
seinen  Schülern  schickte  (Vogt,  Bugenhagen,  7). 


'  Herzoo,  Geschichte  des  Zwickauer  Gymnasiums.  Die  Schulordnung  von 
1523  bei  Müller,  244  £P.  Ergänzungen  aus  dem  Ratsarchiv  in  Erlers  P.  Plateanus, 
Zwickauer  Progr.  1878. 

'  BuRCKHARDT,  Gcschichte  der  sächs.  Kirclien-  und  Schulvisitationen  in  den 
Jahren  1524—1545  (1879).     Art.  Sachsen   in  Schmids  Encyklopädie,  VII,  436  ff., 

von  DlBTSOH. 


166    /,  5,    Das  Eindringefti  des  Hwmanismus  in  die  Partikularschulen. 


Unter  allen  deutschen  Ländern  waren  die  Marken  vielleicht  am 
wenigsten  von  der  neuen  Bildung  berührt  Sie  waren  wirtschaftlich 
am  wenigsten  entwickelt  und  von  den  damaligen  Brennpunkten  des 
deutschen  Lebens  am  weitesten  entfernt,  oder,  gegenüber  den  Ostsee- 
küstenländem,  am  schwersten  zugänglich.  Sie  sparten  ihre  Kräfte  für 
die  Zukunft. 

Ziehen  wir  die  Summe.  Um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 
standen  die  deutschen  Universitäten  und  Schulen  noch  im  ungestörten 
Frieden;  auf  jenen  regierten  Thomas  und  Scotüs,  auf  diesen  Alexandek 
mit  unangefochtener  Autorität.  Höchstens  einige  Kunde  von  der  in 
Italien  entstandenen  neuen  Bildung  war  über  die  Alpen  gekommen, 
und  hie  und  da  versuchte  ein  Schreiber  die  künstlichen  Wendungen 
der  aus  Italien  in  der  Kanzlei  seines  Herrn  anlangenden  Briefe  nach- 
zubilden. In  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  wurde  der  Besuch 
italienischer  Universität-en  häufiger  und  gegen  Ende  desselben  galt  er 
für  unerläßlich  zur  Erlangung  einer  höheren  Bildung.  Auch  an  den 
deutschen  Universitäten  begannen  seit  den  fün&iger  Jahren  einzelne 
Magister  über  die  römischen  Poeten  und  Oratoren  zu  lesen  oder,  was 
gleichbedeutend  ist,  Poesie  und  Eloquenz  zu  lehren,  zum  Teil  fahrende 
Leute,  ohne  solide  Wissenschaft  und  ohne  Würde  oder  auch  nur  Ehr- 
barkeit des  Lebens.  Die  Universitäten  verhielten  sich  im  ganzen  nicht 
ablehnend,  wenn  sie  auch  zu  dem  Beginnen  und  der  Erscheinung  ein- 
zelner Apostel  der  Humanität  den  Kopf  schüttelten;  des  Wertes  ihrer 
eigenen  Wissenschaft  waren  sie  noch  völlig  sicher.  Allmählich  begannen 
die  geistlichen  und  weltlichen  Herren  und  die  patrizischen  Stadtregie- 
rungen für  die  Sache  der  neuen  Bildung  sich  zu  interessieren;  das 
neue  Latein  wurde  Mode,  die  päpstliche  und  kaiserliche  Kanzlei  gingen 
voran,  man  fing  an  sich  seiner  Barbarei  zu  schämen.  Die  Regierungen 
stellten  daher  an  den  Universitäten  Lehrer  der  Poesie  und  Eloquenz 
an,  um  das  elegante  Latein  auf  dem  eigenen  Boden  zu  ziehen.  Die 
Schulen  folgten,  sobald  die  Universitäten  Magister  lieferten,  welche  die 
neue  Sprache  lehren  konnten.  Hin  und  wieder  kamen  sie  auch  den 
Universitäten  zuvor;  wie  denn  Wattenbach  einen  humanistischen 
Lehrer,  einen  Italiener  Namens  Aebiginus,  entdeckt  hat,  der  schon  um 
1450  im  Dienst  der  Culmbacher  Markgrafen  auf  der  Plassenburg  die 
Eloquenz  lehrte. 

Mit  dem  neuen  Jahrhundert  wurde  das  Verhältnis  zwischen  den 
Poeten  und  den  Vertretern  der  alten  Schulphilosophie  und  -theologie 
gespannter.  Die  Poeten  wurden  aggressiver,  sie  waren  nicht  zufrieden, 
wie  bisher,  neben  den  Magistern  zu  lehren,  sie  verlangten  ihren  Unter- 


Der  Sieg  dtts  Humanismus.  167 


rieht  an  die  Stelle  des  alten  zu  setzen.  Zwar  über  das  Latein  der 
Schulphilosophie  hatte  sich  schon  Ludeb  wegwerfend  genng  aus- 
gesprochen; jetzt  aber  ging  es  an  die  Schulphilosophie  selbst.  Die  offi- 
ziellen Kurse  und  Promotionsprüfungen  waren  bisher  wesentlich  so 
geblieben,  wie  sie  beim  Entstehen  der  Universitäten  sich  entwickelt 
hatten.  Jetzt  eröffneten  die  Poeten  Philomusus,  Büschius,  Aesti- 
CAMPiANüs,  MüTiANus  uud  sciue  Schar,  Melanchthon  u.  a.  den  Kampf 
gegen  den  Bestand  jenes,  wie  sie  sagten,  unsinnigen  und  barbarischen 
Unterrichts  selbst.  Sie  drückten  überall  und  insbesondere  vor  ihren 
Schülern  ihre  Verachtung  jenes  Krams  auf  das  Unverhohlenste  aus. 
Die  Jugend,  wie  überall  rerum  novarum  studiosa,  lief  ihnen  zu;  sie  be- 
gann die  Schulphilosophie  zu  verachten  und  der  alten  akademischen 
Auszeichnungen  sich  zu  schämen;  Hütten  verleugnete  sein  Frankfurter 
Baccalariat  wie  eine  erlittene  Beschimpfung  und  Mosellanus  ließ  mit 
Achselzucken  sich  den  Titel  eines  Magisters  anhängen.  Auch  die  alten 
Lebensordnungen,  die  klösterliche  Zucht  in  den  Kollegien  und  Bursen, 
die  klerikale  Tracht,  wurden  von  der  eleganten  Jugend,  die  in  den 
Humanistenschulen  über  Mönche  und  Magister  lachen  gelernt  hatten, 
verhöhnt  und  verabscheut.  Die  beweglichen  Klagen  über  Auflösung 
aller  Disziplin  und  Zucht,  welche  die  Briefe  der  dunkeln  Miinner  den 
Leipziger  Magistern  Unckebunck  und  Jeus  Perlirüs  in  den  Mund 
legen,  waren  gewiß  nur  zu  berechtigt. 

Die  alten  Magister  und  Doktoren  versuchten  hin  und  wieder  dem 
Vordringen  jener  Menschen  entgegenzutreten.  Sie  ärgerten  uud  reizten 
dadurch  nur  die  reizbaren  Litteraten,  die  ihnen  mit  der  Feder  und 
dem  Worte  überlegen  waren.  Die  regierenden  Herren  waren  überall 
auf  der  Seite  des  Fortschritts;  sie  hatten  Humanisten  und  Verbündete 
der  Poeten  zu  Bäten,  Schreibern,  Kaplänen,  Hofpredigem.  So  wurden 
die  alten  ehrwürdigen  Korporationen  überall  genötigt  sich  selbst  zu 
modernisieren.  Fast  gleichzeitig  fanden  um  1520  an  allen  deutschen 
Universitäten  derartige  Reformversuche  statt:  es  wurden  neue  Statuten 
gegeben,  welche  den  Gebrauch  der  neuen  Übersetzungen  vorschrieben 
und  zugleich  die  alten  Kommentare  und  Quästionen  abzuthun  geboten. 
Die  Lektionen  der  Poeten  und  Oratoren  wurden  zum  Teil  in  den  obli- 
gatorischen Kursus  aufgenommen,  dazu  griechische  Lektüren  an  allen 
Universitäten  errichtet  Die  griechische  Sprache,  die  im  15.  Jahrhundert 
noch  regelmäßig  in  Italien  oder  Paris  gesucht  werden  mußte,  war  um 
1520  in  Deutschland  akklimatisiert,  Mosellanus  und  Melanchthon  sind 
die  ersten  bedeutenden  Gräcisten,  die  Deutschland  nie  verlassen  haben.  ^ 

^  Ein  sichtbares  Symptom  des  Sieges  der  neuen  Bildung  ist  auch  das 
völlige  Verschwinden    des  Doctrinale,    aus   dem    drei  Jahrhunderte   die  Gram- 


168  /,  5,    Der  Sieg  des  Humanistniis. 


Man  sieht,  der  Sieg  des  Humanismus  war  entschieden.  Nicht  Ver- 
treibung der  Humanisten  durch  die  „Barbaren'^,  sondern  Vertreibung 
der  Barbarei  durch  die  Humanisten  hatte  stattgefunden;  überall  er- 
blicken wir  die  Barbaren  im  Weichen.  Der  Siegesübermut  der  jungen 
Humanisten  kannte  keine  Grenzen.  Einen  litterariscben  Terrorismus, 
wie  er  gegen  die  Verteidiger  des  Alten,  gegen  die  Hochstbaten, 
Abnold  von  Tungebn,  Obtudots,  Lee  im  zweiten  Jahrzehnt  des 
16.  Jahrhunderts  geübt  worden  ist,  hat  es  vielleicht  zu  keiner  Zeit 
weder  vorher  noch  nachher  gegeben. 

Was  war  es  doch,  das  den  Humanismus  so  unwiderstehlich  machte? 
Die  VortreflFlichkeit  der  klassischen  Litteratur?  Das  ist  keine  Antwort. 
Das  13.  und  14.  Jahrhundert  war  von  der  Vortrefflichkeit  seiner 
philosophisch-wissenschaftlichen  Unternehmungen  nicht  minder  durch- 
drungen^  es  ließ  sich  davon  keineswegs  durch  die  ihm  nicht  unbekannte 
poetische  und  oratorische  Litteratur  der  Römer  abziehen. 

Als  letzten  und  tiefsten  Grund  wird  man,  wie  ich  glaube,  keinen 
anderen  finden,  als  den  zu  Anfang  angedeuteten:  im  Humanismus 
stellt  sich  das  Drängen  des  modernen  Geistes  nach  einer  ihm  gemäßen 
Erscheinungsform  dar.  Der  Lebenstrieb  der  abendländischen  Völker 
war  noch  unerschöpft,  er  strebte  der  Hülle  der  supranaturalistischen 
Religion  sich  zu  entledigen,  unter  welcher  verborgen  er  während  des 
Mittelalters  und  besonders  während  der  letzten  Hälfte  desselben  die 
ersten  Kulturtriebe  entwickelt  hatte;  er  fand  in  der  naturalistischen 
Bildung  des  vorchristlichen  Altertums  seine  Lebensempfindung  und 
Weltanschauung  ausgedrückt;  darum  bemächtigte  er  sich  ihrer  Formen. 

Die  Ursachen,  aus  welchen  dieser  Vorgang  eben  jetzt  eintrat,  lassen 
sich  vielleicht  noch  etwas  bestimmter  bezeichnen.  Das  15.  Jahrhundert 
hatte  das  deutsche  Volk  reich  gemacht;  der  Welthandel  seiner  Kauf- 
leute hatte  in  den  großen  Städten,  Nürnberg,  Augsburg,  Ulm, 
Frankfurt,  Köln,  Lübeck,  große,  im  Verhältnis  zur  früheren  Armut 
unermeßliche  Reichtümer  aufgehäuft.  Eine  große  Verfeinerung  des 
Lebens  war  die  Folge,  die  Häuser  der  Kaufherren,  die  Höfe  der  geist- 
lichen und  weltlichen  Fürsten  gaben  Zeugnis  davon.  Die  Erscheinung 
der  Menschen  selbst  wurde  eine  andere:  buntfarbige,  geschlitzte,  kurze 

matik  gelernt  hatten.  In  den  beiden  ersten  Jahrzehnten  des  16.  Jahrhunderts 
waren  die  partes  Alexandri  noch  ein  ständiger  Artikel  wie  des  Vortrags  in 
Universitäten  und  Schulen,  so  des  Buchdrucks;  in  Basel,  Straßburg,  Köln,  De- 
venter,  Leipzig,  Nürnberg  erschienen  Jahr  für  Jahr  Neudrucke  und  Kommentare. 
1520  hört  plötzlich  mit  der  Nachfrage  aucli  die  Herstellung  neuer  Auflagen  voll- 
ständig auf.  (Man  sehe  die  Aufzählung  der  Ausgaben  in  BEiCHLmros  Ausgaben 
des  Düctrinale;  Mon.  Paed.,  Bd.  XII,  S.  CCXCV.) 


Zusammenhang  mit  der  allgemeinen  KüUurlage,  169 


Hosen  und  Wämser  verdrängten  die  alte,  die  Körperform  dem  Auge 
entziehende  Tracht  Es  ist  wiederholt  bemerkt  worden,  wie  die 
üniversitätsordnungen  vergebens  dem  Eindringen  der  Mode  in  die 
klerikale  Welt  widerstrebten.  Es  ist  wohl  nicht  zußlllig,  daß  jene  neue 
Krankheit  mit  der  neuen  Mode  gleichzeitig  ihren  Einzug  hielt  Die 
Schriftsteller  um  1 500  sind  voll  von  der  großen  Veränderung.  Selbst  zum 
großen  Teil  aus  dem  Bauernstände  abstammend  (es  gab  noch  keine 
geistlichen  und  weltlichen  Beamten,  welche  ihre  Söhne  studieren  ließen), 
sahen  sie  mit  Erstaunen  die  Fracht  der  Wohnungen  und  Geräte,  die 
Kostbarkeit  der  Kleidung  und  des  Schmuckes,  die  Üppigkeit  des  Tisches 
und  der  Haushaltung  des  Herrenstandes:  aus  allen  Ländern  werde  das 
Köstlichste  zum  Genuß  und  Schmuck  des  Lebens  zusammengebracht 
Es  sind  diese  Dinge,  welche  den  Humanisten  den  StofiT  zu  rhetorischen 
Moralisationen  gegen  den  Luxus  gaben.  ^ 

Sie  sahen  nicht,  daß  die  Poesie  und  Eloquenz  selbst  zu  diesem 
Luxus  als  dessen  feinste  Blüte  gehörte.  Sie  preisen  in  einem  Atem 
die  Einfachheit,  die  Genügsamkeit,  die  Sitteneinfalt  der  Altvordern  und 
die  Kunstliebe  und  Freigebigkeit  ihrer  Gönner.  Sie  hätten  sich  von 
einem  der  von  ihnen  verachteten  altfränkischen  Theologen  über  diesen 
Widerspruch  aufklären  lassen  können.  In  den  von  Wattenbach  mit- 
geteilten, oben  (S.47)  erwähnten  Briefen  des  Wiener  Professors  K.Säldneb 
wird  der  Zusammenhang  zwischen  dem  Luxus  des  Herrenstandes  und 
der  neuen  humanistischen  Litteratur  deutlich  angezeigt  und  das  Bedenk- 
liche der  Sache  hervorgehoben:  in  den  honigsüßen  Poemen  und  Reden 
der  Humanisten  genössen  die  Fürsten  und  Kaufherren  den  Prunk  und 
die  Großartigkeit  ihrer  Hofhaltung  nochmals  in  einer  feineren,  gleich- 
sam spirituellen  Form.  Freilich,  an  den  Humanisten  würde  die  Auf- 
klärung verloren  gewesen  sein.  Sie  würden  weiter  über  die  Verachtung 
der  Welt  deklamiert  und  zugleich  soviel  als  möglich  von  ihren  Gütern 
zu  gewinnen  gestrebt  haben. 

Konnte  so  die  humanistische  Litteratur  erst  jetzt  entstehen,  weil 

^  Jan88EN8  Geschichte  des  deutschen  Volkes  giebt  im  I.  Band  von  der 
ganzen  mächtig  aufsteigenden  Kulturentwickelung  des  15.  Jahrhunderts  ein  an- 
ziehendes Bild;  über  den  Luxus  handelt  besonders  das  dritte  Kapitel  des  dritten 
Baches.  Von  dem  gleichen  Vorgang  bei  den  nördlichen  Nachbarvölkern,  wo  er 
aber  mit  etwa  einem  halben  Jahrhundert  Flutverspfttung  eintritt,  handelt  das 
interessante  Werk  von  Troels  Lund:  Das  tägliche  Leben  in  Skandinavien  während 
des  16.  Jahrhunderts  (Kopenhagen  1SS2).  Zahlreiche  Äußerungen  deutscher  Zeit- 
genosseil  der  Bewegung  hat  G.  Schmoller  in  einem  Aufsatz:  zur  Geschichte 
der  nationalökonomischen  Ansichten  in  Deutschland  während  der  Reformations- 
periode (Tübinger  Zeitschrift  für  Staatswissenschaft,  Bd.  XVI,  461—716)  zu- 
sammengestellt und  beleuchtet. 


170  I,  5,    Absterben  der  alten  Studien, 


erst  jetzt  Nachfrage  nach  ihr  war,  wie  auch  die  BuclidnickerkuTist  erst 
erfanden  werden  konnte,  seitdem  eine  ausreichende  wirksame  Nach- 
frage nach  Büchern  stattfand,  so  wurde  ihr  Durchdringen  erleichtert 
durch  einen  Umstand,  welcher  das  vorhandene  Alte  widerstandsunfähig 
machte:  die  Schulphilosophie  hatte  den  von  ihr  bestellten  Boden  er- 
schöpft. Die  Jugend  sah  sich  nach  einem  neuen  Arbeitsfeld  um;  auf 
dem  Gebiet  der  spekulativen  Philosophie  war,  mit  einem  vulgaren 
Ausdruck,  nichts  mehr  zu  machen.  Die  Albertus  und  Thomas  und 
ScoTus  hatten  schon  nicht  mehr  viel  zu  thun  übrig  gelassen,  als  zu 
lernen  und  etwa  zu  kommentieren,  d.  h.  den  Inhalt  in  ein  neues  Gefäß 
überzuschütten.  Die  menschliche  Natur  ertragt  dies  nicht  lange.  Es  ist 
eine  alte  immer  wiederkehrende  Klage,  daß  die  Jugend  nach  dem  Neuen 
begierig  sei.  Sie  will  nicht  lernen,  was  die  Alten  gedacht,  sondern 
sich  selbst  versuchen  mit  eigenen  Gedanken.  Daher  überall  das  schnelle 
Herzudrangen,  wo  ein  neues,  noch  unangebautes  Gebiet  sich  aufthut. 
So  hatte  man  sich  einst  in  Paris  zu  der  neuen  Philosophie  gedrangt. 
Die  Scholastik  war  auch  einmal  jung  gewesen  und  hatte  wie  jede  alier- 
neueste  Philosophie  mit  unerhörten  Schätzen  der  Einsicht  zu  bereichem 
versprochen  und  bei  der  Jugend  Glauben  gefunden.  Jetzt  verließ  eine 
neue  Jugend  den  viel  durchwühlten  Boden,  sie  glaubte  nicht  mehr, 
daß  Schätze  daraus  zu  bringen  seien;  schon  in  der  zweiten  Hälfte  des 
15.  Jahrhunderts  begegnet  man  vielfaltigen  Klagen:  unermeßliche  un- 
fruchtbare Kommentare  seien  durchzuarbeiten,  ehe  man  zu  den  Sachen 
komme,  eher  komme  man  wohl  zu  grauen  Haaren,  als  auf  diesem  Weg 
zur  Einsicht.  Eben  in  diesem  Augenblick  that  sich  wie  ein  neues,  un- 
erschöpftes Arbeitsfeld  das  Altertum  auf.  Der  Buchdruck  machte  die 
römische  Litteratur  allgemein  zugänglich  und  wie  durch  ein  providen- 
tielles  Zusammentreflfen  trat  gleichzeitig  die  alte  griechische  Litteratur 
in  den  Gesichtskreis  des  Abendlandes.  Hier  war  Arbeit,  die  reiche 
Ernte  verhieß;  was  war  unmittelbar  für  Sprache  und  Bildung  zu  ge- 
winnen! was  war  an  philologisch -historischer  Arbeit  erforderlich,  die 
Schätze  zu  heben!  So  strömte  die  Jugend  in  das  neu  entdeckte  Gold- 
land, den  alten  Schulacker  verschmähend.  —  Es  wird  die  Zeit  kommen, 
und  sie  ist  wohl  nicht  mehr  fem,  wo  auch  dieses  Feld  abgebaut  und 
verlassen  sein  wird.  Dann  werden  die  Bücher  der  Philologen  zur  Ruhe 
kommen,  wie  die  Bücher  der  alten  Schulphilosophen  vor  300  Jahren 
zur  Ruhe  gekommen  sind  und  neue  Goldländer  werden  die  Jugend 
locken. 


Zweites  Buch. 


Die  Begründung  des  protestantischen  und 

katholischen  Grelehrtenschulwesens  im  Zeitalter 

der  Reformation  und  Gegenrefonnation. 

1520—1600  (1648). 


Erstes  Kapitel. 

Der  Ansbrnch  der  kirchlichen  Beyolntion  nnd  ihre  Wirkung 

auf  die  Uniyersitäten  und  Schulen. 

Das  Jahr  1520  bildet  einen  der  entscheidenden  Wendepunkte  in 
der  deutschen  Geschichte.  Die  Universitatsrevolution  ging  über  in  die 
Eirchenrey  oiution . 

Vom  Jahre  1520  ab  war  Wittenberg  der  Herd  der  Revolutions- 
bewegung in  Deutschland.  An  Ebasmus'  Stelle  trat  Luther.  Hatte 
in  den  vorhergehenden  Jahren  Lütheb  sich  den  Häuptern  des  Huma- 
nismus genähert,  in  Briefen  an  Mütian  (1516),  REUCHiiiN  (1518), 
Ebasmus  (1519),  so  wendeten  sich  nun  die  Führer  der  Radikalen  unter 
den  Humanisten,  Cbotus  und  Hütten,  an  Lutheb  mit  dem  Anerbieten 
der  Bundesgenossenschaffc.  Sie  stellten  sich  dem  Mönch,  auf  dessen 
Schulgezänk  sie  noch  eben  zuvor  verächtlich  herabgeblickt  hatten,  zur 
Verfügung,  mit  ihm  zum  letzten  großen  Schlage  auszuholen.  Sie  be- 
gannen in  seiner  Tonart  zu  schreiben;  die  Citate  aus  den  Klassikern 
weichen  Schriftstellen;  die  evangelische  Freiheit  wird  ihr  Feldgeschrei 
an  Stelle  der  Bildung  und  Humanität. 

Lutheb  nahm  das  Bündnis  an.  Es  ist,  wie  zuerst  Kampschulte 
hervorgehoben  hat,  nicht  ohne  Einfluß  auf  seine  Haltung  geblieben. 
Erst  jetzt  wurde  die  lutherische  Sache,  die  in  der  That  als  „Mönchs- 
gezänk", d.  h.  als  Schulstreit  um  ein  Stück  der  kirchlichen  Praxis  und 
Lehre  angefangen  hatte  und  während  der  ersten  Jahre  auch  als  solcher 
ausgetragen  oder  gestillt  werden  zu  können  schien,  zu  jener  ungeheuren 
Revolutionsbewegung,  welche  die  Pforte  der  Kirche  aus  den  Angeln  hob.^ 


^  Man  bat  mir  den  Ausdruck  Kirchenrevolution  für  die  Reformation  übel 
genommen.  Ich  kann  mir  nicht  helfen,  ich  finde,  es  ist  der  wirklich  bezeich- 
nende Ausdruck  für  das  Ereignis;  wobei  es  natürlich  gar  nicht  auf  eine  Ver- 
orteilong  der  Sache  abgesehen  ist:  die  Begriffe  der  Geschichte  von  Recht  und 
Unrecht  sind  andere  als  die  der  Jurisprudenz.  Und  zwar  gilt  der  Ausdruck 
nicht   bloß  im  allgemeinen,   sondern  im  technisch-politischen  Sinne:    es  findet 


174         //,  /.    Der  Ausbruch  der  kirchlichen  Revolution  w.  .9.  w. 

Auf  das  Bündnis  mit  den  Humanisten  weist  vor  allem  die  in 
diesen  Jahren  bei  Luther  so  st^rk  hervorbrechende  nationale  Leiden- 
schaft, der  inbrünstige  Haß  gegen  die  Romanisten  hin,  wie  ihn  das 
Sendschreiben  an  den  christlichen  Adel  vom  Jahre  1520  atmet;  Hütten 
hatte  ihm  die  Augen  dafür  geöflfhet,  wie  das  allzu  gutgläubige  deutsche 
Volk  von  den  römischeii  Kurtisanen  ausgeplündert  und  an  der  Nase 
geführt  werde.  Nicht  als  ob  Luther  das  nicht  auch  selbst  gesehen 
und  empfunden  hätte,  aber  bei  ihm  war  dies  weltliche  Moment  ur- 
sprünglich ein  untergeordnetes,  erst  an  Huttens  glühender  Beredsam- 
keit entzündete  sich  auch  bei  ihm  die  Empfindung  zu  heller  Flanmie. 
An  die  Renaissance  erinnert  doch  auch  jener  Zusatz  von  derbem 
Naturalismus,  den  das  reine  Evangelium  im  Kampf  gegen  Cölibat  und 
Mönch  tum  erhält  und  der  Luther  zuweilen  reden  läßt,  als  ob  die 
Enthaltung  von  den  Werken  des  Fleisches  eine  Auflehnung  gegen 
Gottes  Willen  und  Gebot  sei  Freilich  ist  es  ein  anderes,  wenn  Luther 
so  spricht,  als  wenn  Mutian  es  thut.   Und  auch  der  Ton  ist  ein  anderer: 


ein  gewaltsamer  Brach  der  alten  Verfassung  statt.  Eine  Reformation  der  Kirche 
sachten  die  großen  Konzilien  des  15.  Jahrhunderts  zuwege  zu  bringen;  wie 
denn  das  Wort  Reformation  dem  15.  Jahrhundert  überhaupt  sehr  geläufig  ist; 
jede  Statutenänderung  einer  Universität  wird  reformatio  genannt.  Das  Werk 
Luthers  ist  nicht  Reformation ,  Umbildung  der  bestehenden  Kirche  durch  ihre 
eigenen  Organe,  sondern  Zerstörung  der  alten  Form,  ja  man  kann  sagen,  grund- 
sätzliche Verneinung  der  Kirche  überhaupt.  Er  weigert  sich,  irgend  eine  irdische 
Autorität  in  Glaubenssachen  anzuerkennen.  Und  nicht  anders  steht  es  mit  dem 
sittlichen  Grebiet:  er  stellt  prinzipiell  die  Sache  absolut  auf  das  Einzelgewissen, 
freilich  das  aus  Gottes  Wort  belehrte  Einzelgewissen.  Sich  in  sittlichen  Fragen 
auf  menschliche  Autoritäten  verlassen,  erscheint  ihm  nicht  viel  weniger  als 
gotteslästerlich.  Man  nehme  eine  Äußerung,  wie  die  in  der  Schrift  an  die 
Deutschherren,  worin  er  ihnen  rät,  weltlich  und  ehelich  zu  werden  (XII,  2.S7 
der  Weimar.  Ausg.):  „Obs  geschähe,  daß  ein,  zwei,  hundert,  tausend  Konzilien 
beschließen,  daß  Geistliche  möchten  ehelich  werden,  so  wollte  ich  eher  durch 
die  Finger  sehen  und  Gottes  Gnade  vertrauen  dem,  der  sein  Leben  lang  ein, 
zwei  oder  drei  Huren  hätte,  denn  dem,  der  ein  ehelich  Weib  nähme  nach 
solcher  Konzilien  Beschluß,  und  sonst  außer  solchem  Beschluß  keines  zu  nehmen 
wagte.  Und  wollte  auch  allen  an  Gottes  Statt  gebieten  und  raten,  daß  niemand 
aus  Macht  eines  solchen  Beschlusses  ein  Weib  nehme,  bei  Verlust  seiner  Seelen 
Seligkeit"  Also  in  Sachen  des  Glaubens  und  der  Sitte  auf  irgend  eine  mensch- 
liche Autorität  sich  verlassen,  zieht  die  ewige  Verdammnis  nach  sich;  ich  denke, 
härter  ist  das  Prinzip  der  iSelbstvcrantwortlichkeit  des  IndiWduums  nie  aus- 
gesprochen, schroffer  die  Möglichkeit  irgend  welcher  kirchlichen  AutoritÄt  nie 
verneint  worden.  —  Freilich  ist  das  nicht  der  ganze  Luther.  Es  wird  weiter 
unten  noch  zur  Sprache  kommen  müssen,  wie  derselbe  Luther,  der  hier  den 
kirchlichen  „Anarchismus"  vertritt,  später  gegen  diejenigen  auftrat,  deren  Ge- 
wissen aus  Gottes  Wort  eine  andere  Belelirung  gewann,  als  die  Wittenberger 
darin  fanden. 


Luthers   Verhältnis  zum  Humanismus,  175 

hier  pfaffisch-humanistische  Lüsternheit,  dort  Bauernderbheit  und  Zorn 
über  falsche  Heiligkeit. 

Und  freilich  bleibt  Luther  überhaupt,  trotz  des  Bündnisses  mit 
den  Humanisten,  das  der  Augenblick  herbeiführte,  innerlich  ein  ganz 
anderer  Mann  als  Hütten  und  Ebasmus.  Im  Grunde  sind  diese  einem 
Papst  aus  dem  Hause  Medici  und  seinen  Genossen  in  Italien  und 
Deutschland  doch  viel  näher  verwandt,  als  dem  Wittenberger  Mönch. 
LuTHEB  steht  innerlich  einem  Savonarola,  dem  großen  Hasser  der- 
Renaissance  mit  ihrer  Üppigkeit  und  Weltgesinntheit,  sehr  viel  näher 
als  dem  fränkischen  Ritter,  der  für  den  Mönch  von  San  Marco  wohl 
nicht  eine  Spur  von  Verständnis  oder  Sympathie  gehabt  hätte.  Luther 
ist  ein  tief  religiöses  Gemüt,  das  Verhältnis  zu  Gott  ist  der  Mittelpunkt 
seines  Lebens,  er  lebt  in  der  transcendenten  Welt.  Er  hatte  Ver- 
söhnung und  Frieden  mit  Gott  auf  dem  Wege  gesucht,  den  die  alte 
Kirche  wies,  indem  er  im  Kloster  mit  Fasten  und  Kasteien  die  Natur 
auszutreiben  bemüht  gewesen  war;  er  hatte  nicht  minder  als  gläubiger 
Sohn  der  Kirche  ihre  Lehre  aufgenommen,  und  die  Ketzer  gehaßt. 
Aber  der  gesuchte  Friede  war  ihm  nicht  geworden. 

Mit  diesem  Stachel  im  Herzen  war  er  nach  Wittenberg  gekommen. 
Und  hier  hatte  sich  nun  allmählich  die  innere  Loslösung  von  der  Kirche 
vollzogen.  Zunächst  von  der  Lehre;  die  philosophischen  und  theologischen 
Studien,  zu  denen  er  hier  durch  sein  Lehramt  gefuhrt  wurde,  brachten 
ihn  allmählich  zu  der  Überzeugung,  daß  die  Lehre  der  Kirche  mit  der 
Lehre  des  Evangeliums  nicht  zusammenfalle.  Er  entdeckte  darin  einen 
starken  Zusatz  von  Menschenlehre  und  fand,  daß  dieser  von  der  Ver- 
mischung mit  der  heidnischen  Philosophie  des  Aristoteles  herkomme, 
derselben  Philosophie,  die  er  als  Lektor  in  Wittenberg  zu  lehren  hatte. 
Aristoteles  ist  in  der  theoretischen  wie  in  der  praktischen  Philosophie 
naturalistisch,  das  Evangelium  ist  supranaturalistisch,  das  ist  die  große 
Einsicht,  die  ihm  in  den  Jahren  seiner  philosophischen  Lektur  aufgeht: 
mit  ihr  beginnt  seine  Loslösung  von  den  geltenden  Autoritäten,  zunächst 
den  Autoritäten  der  Schule,  endlich  der  Kirchenautorität  selbst.  Kein 
Kapitel,  ja  keine  Zeile,  so  sagt  er  mit  Selbstbewußtsein,  hätten  die  Doktoren 
der  Schule  von  ihrem  Meister  selbst,  dem  Aristoteles,  verstanden :  natürlich, 
was  sie  nicht  sehen,  das  ist  eben  der  Naturalismus,  das  Heidentum  seiner 
Philosophie;  nur  so  konnte  es  geschehen,  daß  sie  ihn  zum  „Nebenlicht" 
neben  dem  Evangelium  gemacht  haben.  Und  davon  ist  denn  das  Ver- 
derben ausgegangen :  in  der  geltenden  Kirchenlehre  ist  die  evangelische 
Heilslehre  überall  getrübt  durch  heidnisch -naturalistische  Philosophie: 
lehrt  doch  der  Meister  der  Schulen  in  der  Physik  die  Ewigkeit  der 
Welt  und  die  Sterblichkeit  der  Seele,  weiß  er  doch  in  der  Ethik  kein 


176  II,  1,    Der  Ausbruch  der  kirchlichen  Revolution  u.  s,  w. 


Wörtlein  von  Sünde  und  Gnade,   sondern  stellt  alles  auf  die  eigene 
Gerechtigkeit 

Und  nun  geht  ihm  ein  Licht  auf  über  seine  eigenen  inneren  Er- 
lebnisse: daß  er  im  Mönchtum  nicht  zum  Frieden  mit  Gott  kommen 
konnte,  liegt  daran,  daß  er  ihn  auf  dem  falschen  Wege  gesucht  hat, 
nämlich  dem  heidnischen  Wege  der  eigenen  Gerechtigkeit,  statt  auf 
dem  Wege  des  Evangeliums,  dem  Wege  des  Glaubens^ an  Gottes  barm- 
herzige Gnade,  die  in  Christo  erschienen  ist. 

Und  ebenso  geht  ihm  nun  auch  ein  Licht  auf  über  die  Verderbt- 
heit des  Klerus:  sie  stammt  auch  aus  der  Verweltlichung  der  Lehre, 
aus  dem  heidnischen  Wesen,  das  durch  Tugendwerke  Gott  gefallen  und 
durch  Philosophie  den  Glauben  stützen  und  wohl  auch  meistern  will. 
Und  daraus  ist  nun  die  weltliche  Gesinnung  gekommen,  die  zuletzt 
dahin  gefuhrt  hat,  daß  die  Kirche  Gottes  zur  Versorgungsanstalt  für 
große  Herren,  daß  die  kirchliche  Gewalt,  das  Amt  der  Schlüssel  und 
das  Sakrament  selbst,  zu  Mitteln  schändlichen  Gelderwerbs  geworden 
sind.  Das  alles  ist  in  dem  römischen  Papsttum  und  seinem  geistlichen 
Recht  systematisiert  und  kanonisiert,  und  so  ist  der  heilige  Stuhl  in 
Wahrheit  zum  Thron  des  Antichrists  auf  Erden  geworden. 

Und  ein  grimmiger  Zorn  ergreift  ihn,  daß  er  und  mit  ihm  das 
ganze  Christenvolk  bisher  so  betrogen  und  an  der  Nase  geführt  worden 
ist.  Mit  der  ungeheuren  Leidenschaftlichkeit  seiner  Seele  erfaßt  er 
als  seinen  Beruf,  dem  Christenvolk  ein  Befreier  von  Menschenjoch  und 
Erpressung,  von  dem  großen  Seelenfang,  zu  dem  das  Barchen wesen 
entartet  ist,  zu  werden.  Das  erste  aber  ist,  den  Pelagianismus  zu 
stürzen  und  die  Lehre  des  Evangeliums  aufzurichten:  der  Glaube  allein, 
dein  eigener  persönlicher  Glaube  an  Christi  Verdienst,  nicht  irgend  ein 
Kirchenwerk,  macht  gerecht  vor  Gott  Damit  stürzt  dann  das  ganze 
Gebäude  der  scholastischen  Theologie  und  der  römischen  Kirchen- 
herrschaft. 

So  hat  er  mit  dem  Humanismus  gemeinsame  nächste  Ziele:    ver- 

^haßt  ist  beiden  die  scholastische  Philosophie  und  Theologie;   verhaßt 

ist  beiden  das  kirchliche  System  mit  Mönchtum  und  Cölibat,  verhaßt 

ist  beiden  Rom  und  das  Erpressungssystem,  das  es  vor  allem  ungehindert 

in  Deutschland,  dem  Land  der  geistlichen  Herrschaften,  übt. 

Dabei  besteht,  wie  schon  gesagt,  ein  tiefer  innerer  Gegensatz. 
LüTHEBS  Welt-  und  Lebensanschauung  ist  der  des  Humanismus  viel 
femer,  als  die  herrschende  Kirchenlehre.  Man  kann  das  Verhältnis  so 
bezeichnen:  Lutheb  will  die  heidnische  Philosophie,  die  die  Kirchen- 
lehre in  sich  aufgenommen  hat,  ganz  ausscheiden,  der  Humanismus  da- 
gegen will  sie  rein  durchfuhren  und  das  eigentlich  Christliche  ausscheiden. 


LtUhers   Verhältnis  zum  Humanisrntis,  177 


Der  Humanismus  ist  seiner  innersten  Tendenz  nach,  wenn  er  auch,  vor 
allem  in  Deutschland,  noch  nicht  ein  deutliches  Bewußtsein  davon  hat, 
auf  eine  rein  immanente,  naturalistische  Weltanschauung  gerichtet;  die 
moderne  Naturwissenschaft,  die  das  Transcendente  aus  der  Betrachtung 
der  Wirklichkeit  eliminiert,  liegt  in  der  von  ihm  gewiesenen  und  be- 
schrittenen  Richtung.  Lüthee  dagegen  bleibt  in  der  Wunder-  und 
Dämonenwelt  des  Mittelalters,  er  teilt  allen  Bauemaberglauben  in  der 
derbsten  Gestalt;  die  naturwissenschaftliche  Betrachtungsweise  war  ihm 
frem^  und  die  Aufklärung  wäre  ihm  ein  Greuel  gewesen.  Und  nicht 
minder  tief  ist  der  Gegensatz  in  der  Lebensanschauung;  der  höfische 
Weltsinn  und  das  sinnliche  Genußleben  der  Humanisten  ist  ihm  ver- 
werfliches Epikuräertum,  und  ihre  Moraltheorie  mit  dem  stoischen 
Tugendheroismus  ist  ihm  nichts  als  unchristliche  Selbstgerechtigkeit; 
von  Sünde  und  Gnade  wissen  die  Humanisten  nichts,  also  wissen  sie 
vom  Evangelium  nichts. 

Dieser  tiefe  Gegensatz  ist  im  Augenblick  latent,  er  ist  beiden  ver- 
deckt durch  den  gemeinsamen  Haß;  Lütheb  und  die  Radikalen  unter 
den  Humanisten  finden  sich  zusammen  als  politische  Freunde.  Die 
Jahre  1520/21  bezeichnen  den  Höhepunkt  der  politischen  Freundschaft 
2¥rischen  den  Wittenbergern  und  den  Erfurtern.  Lütheb  und  Hütten 
werden  auf  Flugblättern  zusammen  dargestellt  als  die  beiden  Helden, 
die  Deutschland  mit  dem  Wort  und  mit  dem  Schwert  aus  der  römischen 
Knechtschaft  zu  befreien  unternommen  haben.  Als  Lütheb  im  Früh- 
ling des  Jahres  1521  nach  Worms  auf  den  Reichstag  zog  und  gegen 
Erfurt  kam,  da  empfing  ihn  an  der  Grenze  des  Stadtgebiets  die  ganze 
Universität,  ihren  Rektor  Cbotüs  an  der  Spitze,  der  ihn  mit  einer 
schwungvollen  Anrede  als  den  großen  Feind  aller  Niedertracht  begrüßte. 
Das  ecrasez  Vivfame^  das  Voltaibe  zwei  Jahrhunderte  später  gegen 
dieselbe  Kirche  schleuderte,  ist  nur  eine  Wiederholung  der  Rede  des 
Cbotüs.  Und  während  des  Wormser  Reichstags  lag  Hütten  auf  der 
nahen  Ebernburg  im  Hinterhalt,  die  Hand  am  Schwert,  um  den  An- 
hängern und  Sendungen  Roms  an  den  Hals  zu  gehen.  Bis  zu  welcher 
Siedehitze  die  Erregung  der  Gemüter  in  diesem  Kreis  gestiegen  war, 
mag  man  bei  Stbauss  im  Leben  Huttens  nachlesen. 

Es  kam  zu  nichts,  wenigstens  nicht  zu  einer  größeren  Aktion. 
Nicht  der  Ritter  mit  dem  Schwert,  sondern  der  Mönch  mit  dem  Wort 
gab  den  Ausschlag;  jener  zog  sich  in  die  Dunkelheit  zurück  zum 
Sterben  —  ein  Symbol  der  Sache,  der  er  gedient  hatte.  Lütheb  riß 
die  Führung  an  sich,  die  Theologie  verdrängte  die  schönen  Wissen- 
schaften wieder  aus  dem  Mittelpunkt  des  Interesses,  den  sie  eben  er- 
obert hatten :  in  dem  Augenblick,  wo  der  Sieg  erfochten  schien,  wurde 

pRul«ieu,   (Jnterr.    Zweite  Aufl.    1.  12 


178         //,  1,    Der  Aufbruch  der  kirchlichen  Revohäion  u.  s.  w. 


er  ihnen  entrissen.  In  den  folgenden  Jahren  sind  Luthers  Schriften 
die  großen  Ereignisse,  die  das  deutsche  Volk  im  Innersten  erschüttern; 
die  Bewegung  beschränkt  sich  nicht  mehr  auf  die  Gebildeten  und  die 
Universitäten,  sie  ergreift  das  ganze  Volk:  es  handelt  sich  nicht  mehr 
um  Spiel  und  Bildung,  sondern  um  Religion  und  Leben. 

Was  Luther  die  übermäßige  Gewalt  gab,  das  war  schüeßlich 
doch  dies,  daß  ihm  die  Sache  selber  ans  Leben  ging  und  daß  er  für 
sie  das  Leben  einsetzte.  Den  Humanisten  war  es  mit  ihrer  Sache, 
trotz  der  großen  oratorischen  Erhitzung,  doch  nicht  der  bittere  Ernst 
Wie  ihnen  die  Poesie  ein  Spiel  ist,  so  spielen  sie  auch  mit  dem  Ge- 
danken der  Reform  der  Kirche.  Nicht  als  ob  es  ihnen  nicht  wirklich 
darum  zu  thun  gewesen  wäre,  aber  um  andere  Dinge  war  es  ihnen 
doch  noch  mehr  zu  thun,  um  Ansehen  und  Ruhm,  um  Ruhe  und 
Wohlleben.  Luther  will  wirklich  ganz  und  allein  die  Sache,  und 
darum  glaubt  er  unbedingt  an  seine  Sache:  meine  Sache  ist  Gottes 
Sache.  Die  Formel  drückt  seine  absolute  Gewißheit  aus.  Man  hat  sie 
ihm  als  Hochmut  ausgelegt.  Gewiß,  Demut  vor  Menschen,  Respekt 
vor  Menschenweisheit  und  vor  Menschenordnungen  liegt  gar  nicht  in 
Luthers  Wesen,  es  fehlt  ihm  ganz  und  gar  an  jener  humilitas  gegen- 
über der  empirischen  Kirche,  die  für  den  großen  Vorgänger  Luthers 
in  der  Theologie,  den  heiligen  Augustinus,  so  charakteristisch  ist  Und 
je  mehr  Luther  im  Lauf  des  Lebens  aus  der  Stellung  des  „Ketzers" 
in  die  Stellung  des  Haupts  einer  neuen  Kirche  übergeht,  desto  mehr 
erhält  jene  Formel  einen  bitteren  Beigeschmack,  eine  Beimischung  von 
Halsstarrigkeit  und  Hochmut  Jetzt  spricht  sie  die  Entschiedenheit 
des  Mannes  aus,  der  die  Last  der  Unwahrheit,  die  ihm  die  Demut  zu 
tragen  rät,  nicht  mehr  zu  tragen  vermag  und  sie  um  jeden  Preis 
abzuwerfen  entschlossen  ist 

Bemerkenswert  ist  übrigens  das  Verhalten  der  alten  Führer 
des  Humanismus,  Reuchlin,  Mutian,  Erasmus.  Während  die 
jugendlichen  Stürmer  und  Dränger  mit  Luther  fröhlich  zum  Krieg 
aufs  Messer  gegen  die  römische  Kirche  auszogen,  entging  jenen  nicht, 
daß  die  lutherische  Bewegung  den  Studien  und  den  schönen  Wissen- 
schaften gefahrlich  werden  müsse.  Reuchlin  zog  sich  vor  Luther 
zurück  und  suchte  auch  Melanchthon  aus  der  Verbindung  zu  lösen. 
Da  dies  sich  als  unmöglich  erwies,  zertrennte  er  auch  die  Beziehungen 
zu  seinem  Verwandten  und  Schüler,  von  dem  er  wohl  gehoflft  hatte, 
er  solle  einmal  sein  Nachfolger  in  seiner  Stellung  werden.  Hütten 
schrieb  dem  alten  Führer  einen  groben  und  beschimpfenden  Abschieds- 
brief (22.  Februar  1521;  in  Reuchlins  Briefwechsel,  von  Geiger, 
S.  322,  327).    Ähnlich  erging  es  Mutian.    In  einem  Brief  an  J.  Lange, 


Reuchlins  und  Muiians   Verhältnis  xur  ReformaHon,  179 


den  Freund  Lüthees,  vom  1.  Juli  1520  (bei  Kbause,  Mutians  Brief- 
wechsel, 654  flf.),  ist  ihm  zwar  das  Lob  Lüthebs  und  Melanchthons, 
neben  dem  des  Erasmus  und  Reuchlin,  in  der  Exegesü  Germaniae 
des  Fb.  Ibenicüs,  Nektar  und  Ambrosia;  aber  doch  weiß  er  von  frommen 
und  gelehrten  Leuten,  daß  sie  Luthebs  zerfleischenden  Angriff  auf  die 
apostolische  Majestät  Leo's  für  einen  gottlosen  Frevel  halten.  Und, 
fugt  er  hinzu,  „ich  für  meine  Person  trete  keinem  Urheber  von  Zank, 
Streit  und  Geschimpf  bei.  Mögen  sie  an  Dinge  rühren,  die  besser  un- 
gerührt bleiben,  mögen  sie  die  kaum  eingeschläferten  Liedlein  der 
Böhmen  wieder  aufwecken  und  aus  Rache  die  Ehrfurcht  vor  dem 
römischen  Stuhl  ablegen:  ich  bin  ein  ruhiger  Mann,  mich  rührt  nicht, 
was  sie  sich  herausnehmen;  ich  kümmere  mich  um  meine  Sachen, 
nicht  um  die  draußen,  und  diese  Bescheidenheit  scheint  mir  ein  Zeichen 
eines  milderen,  vielleicht  auch  eines  klügeren  Sinnes."  Er  schließt, 
nachdem  er  über  die  Dekretalen  seine  wegwerfende  Meinung  gesagt: 
„Einst  las  ich  zu  Erfurt  die  Bücher  Occams;  er  ist  ein  Feind  der 
Kanonisten  und  der  römischen  Bischöfe.  Aber  nachdem  die  Erfahrung 
mich  eines  mehreren  belehrt  hat,  bin  ich  ein  guter  Schüler  des  Pytha- 
goras  geworden.  Ich  habe  schweigen  gelernt  und  das  Widerbellen 
verlernt;  ich  bin  geworden  als  ein  Stummer,  in  dessen  Munde  keine 
WideiTede  ist."  Immer  unfreundlicher  wird  das  Verhältnis  zu  den 
Anhängern  Luthebs,  die  ihn  drängen,  konsequent  zu  sein;  in  einem 
Brief  an  Ebasmus  vom  1.  März  1524  schüttet  er  sein  Herz  aus:  bei- 
nahe alle  seien  sie  abgefallen,  nur  den  Eobakus  habe  er  wieder  zu 
Verstände  gebracht:  „Mögen  sie  hingehen,  deren  Geschäft  es  ist 
Menschen  zu  verletzen;  ich  liebe  die  fanatischen  Steiniger  nicht.  Sie 
zerren  die  Nonnen  aus  dem  Kloster  und  wüten  wie  Rasende."  Mutianus 
fühlte  die  Wirkung  der  Unruhen  am  eigenen  Leibe;  er  kam  in  große 
Bedrängnis,  die  Einnahmen  seiner  Pfründen  gingen  nicht  mehr  ein, 
ringsumher  tobte  der  Aufruhr  der  Bauern;  im  Jahre  1526  erlöste  ihn 
der  Tod.  Es  war  keine  Zeit  mehr  für  die  Liebhaber  der  Beata 
Tranquillitas. 

Am  härtesten  hat  Ebasmus  den  Umschwung  gefühlt;  auch  er  wurde 
durch  die  Reformation  überholt  und  antiquiert;  die  humanistische  Jugend 
fiel  von  ihm  ab  und  dem  Bündnis  mit  Lutheb  zu.  In  diesem  ganzen 
Jahr,  schreibt  er  am  23.  August  1521  an  Babbibius  (Opp.  III,  653), 
hat  kein  einziger  von  allen  denen,  die  jetzt  mit  Lutheb  gemeinsame 
Sache  gemacht  haben,  ein  Wort  an  mich  geschrieben,  keiner  mich  be- 
sucht, während  sie  früher  mit  ihren  Liebenswürdigkeiten  mich  beinahe 
umbrachten.  Und  1523  klagt  er  dem  Papst  Hadrian  (Opp.  III,  746): 
vordem  lebte  ich  mit  allen  Gebildeten  in  der  erfreulichsten  Gemein- 

12* 


180         II,  1.    Der  Ausbruch  der  kirchlichen  Revolution  u,  s.  w. 

Schaft,  ich  war  glückselig  durch  diesen  Besitz;  nun  ist  das  alles  zer- 
stört und  sie  hassen  mich  auf  beiden  Seiten.  —  Erasmüs  hat  sich  an 
diesen  Haß  von  beiden  Seiten  gewöhnen  müssen  und  trägt  ihn  bis  auf 
diesen  Tag.  Seine  Meinung  war,  eine  strikte  Neutralitat  in  dem  Kampf 
der  Theologen  zu  bewahren,  alles  in  ihm  sträubte  sich  dagegen,  einer 
der  Parteien  sich  gefangen  zu  geben,  er  wollte  in  der  Rolle  des  Be- 
trachters bleiben.  Freilich  eine  unmögliche  Sache.  Er  stand  zu  sehr 
im  Vordergrund,  als  daß  er  nicht  beständig  zur  Beurteilung  und  Teil- 
nahme an  den  Ereignissen  hätte  herausgefordert  und  genötigt  werden 
müssen.  Von  beiden  Seiten  bedrängt,  wendete  er  sich  schließlich, 
seiner  geschichtlichen  Stellung  und  seiner  persönlichen  Neigung  ent- 
sprechend, immer  entschiedener  von  Lutheb  ab;  es  kam  zwischen  ihnen 
zu  erbitterten  Auseinandersetzungen.  Endlich  sah  sich  Erasmus  ge- 
nötigt, vor  der  auch  in  Basel  durchdringenden  Reformation  zu  weichen; 
er  zog  sich  nach  Freiburg  zurück,  wo  er  die  letzten  Jahre  einsam  seinen 
Studien  lebte.  Die  Rückkehr  nach  den  Niederlanden  vorbereitend,  starb 
er  1536  zu  Basel. 

Das  Leben  des  E&asmus  hat  in  der  That  einen  tragischen  Aus- 
gang. Er  hatte  sein  Leben  lang  an  einer  Reformation  der  Kirche  auf 
seine  Art  gearbeitet  In  der  Unwissenheit  und  Rohheit  des  Klerus  er- 
blickte er  die  Wurzel  aller  Übel,  an  dem  die  Kirche  und  die  Zeit  litt 
(s.  z.B.  Opp.  III,  405,  1101).  Eben  hatte  es  den  Anschein,  als  sei 
diese  Wurzel,  nicht  zum  wenigsten  durch  seine  fleißigen  Axtschläge, 
abgehauen;  die  Saat  feinerer  Kultur  und  wissenschaftlicher  Bildung 
begann  überall  aufzusprossen,  vor  allem  auch  in  Deutschland.  Da 
brach  jener  furchtbare  Sturm  herein,  der  das  angefangene  Werk  ganz 
zerstören  zu  sollen  schien.  Bald  konnte^man  entlaufene  Mönche  als 
evangelische  Prädikant^n  von  den  Kanzeln  verkündigen  hören,  daß  Ver- 
nunft und  Bildung  vom  Teufel  sei;  es  ist  bekannt  genug,  daß  auch 
Luthers  Beredsamkeit  diese  Formel  nicht  immer  gescheut  hat.  Und 
diese  Bewegung  breitete  sich  reißend  schnell  aus;  bald  kam  der  soziale 
Krieg  dazu,  Universitäten  und  Schulen  gingen  ein  und  das  Ende  aller 
Kultur  schien  herbeigekommen. 

Man  hat  von  Ebasmus  schon  damals  verlangt  und  bis  auf  diesen 
Tag  das  Verlangen  wiederholt,  er  hätte  sich  der  lutherischen  Refor- 
mation anschließen  sollen;  und  man  hat,  weil  er  es  nicht  that,  ihm  den 
Vorwurf  der  Zweideutigkeit  und  Feigheit  gemacht  und  auch  diesen  Vor- 
wurf bis  heute  wiederholt  Mir  kommt  vor,  dieser  Vorwurf  verrät  wenig 
psychologisches  Verständnis  und  große  Befangenheit  des  Urteils.  Es 
ist  schon  an  und  für  sich  kaum  billig,  von  einem  Mann,  der  eben  noch 
die  Führung  der  ganzen  gebildeten  Welt  in  der  Hand  hielt,  zu  ver- 


Erasmas'  Verhältnis  x/ur  Eeformation,  181 


langen,  daß  er  sich  einem  fast  20  Jahre  jüngeren  Manne  unterordne, 
dessen  Name  noch  vor  wenig  Jahren  nirgends  in  der  Welt,  außer  in 
dem  obskuren  Ort  an  der  Elbe  (in  termino  civilitatis),  gehört  worden 
war.  Es  ist  um  so  weniger  billig,  als  dieser  Mann  keineswegs  dahin 
führte,  wohin  Erasmus  wollte.  Vielleicht  hat  unter  allen  Menschen, 
die  jene  stürmische  Zeit  erlebt  haben,  keiner  sie  mit  objektiverem  und 
deutlicherem  Bewußtsein  erlebt  als  Ebasmus.  Er  sah  wohl  die  Fehler 
der  Kirche,  er  wollte  die  Beseitigung  der  Mißbrauche  in  der  Ver- 
waltung, er  wollte  vor  allem  die  Reform  des  Klerus,  er  hat  nie  auf- 
gehört darauf  zu  dringen,  auch  nicht  nach  dem  Bruch  mit  Luther. 
Insofern  ist  er  mit  Luther  einverstanden  und  wünscht  ihm  Erfolg. 
Aber  andererseits,  ganz  mit  Luther  zu  gehen  war  ihm  völlig  unmög- 
lich. ^Für  Ebasmus  war  der  erste  feste  Punkt  immer  gewesen:  Refor- 
mation in  der  Kirche;  die  römisch-katholische  Kirche  war  ihm  die  ge- 
gebene und  notwendige  Form  des  geschichtlichen  Lebens,  die  Trägerin 
aller  Bildung  und  Gesittung  im  Abendlande.  In  der  Zertrümmerung 
iet  Kirche  vermochte  er  kein  Heil  zu  sehen.  In  dem  eben  erwähnten 
Briefe  vom  Jahre  1521  spricht  er  sich  mit  voller  Klarheit  über  sein 
Verhältnis  zu  Luther  aus:  er  habe  an  dessen  Sache  von  Anfang  an 
nicht  teilnehmen  wollen,  denn  gleich,  schon  aus  den  ersten  Blättern, 
die  er  von  ihm  gelesen,  habe  er  gemerkt,  die  Sache  werde  in  einen 
Tumult  auslaufen;  ihm  sei  aber  die  Zwietracht  so  sehr  verhaßt,  daß  er 
auch  die  Wahrheit  nicht  möge,  wenn  sie  zum  Aufruhr  führe  (ut  veritas 
etiam  displiceat  seditiosa),^ 

Es  giebt  Menschen,  die  eine  andere  Konstitution  haben,  Männer, 
die  ganz  Wille  sind  und  denen  es  an  einer  Wahrheit  nicht  mißfällt, 
wenn  sie  etwas  seditiös  ist.  Zu  ihnen  gehören  fast  alle  diejenigen, 
deren  sich  die  Geschichte  bedient,  um  große  und  plötzliche  Wandlungen 
herbeizuführen.  Luther  gehört  zu  ihnen.  Sie  sind  aber  keineswegs 
so  häufig,  als  man  erwarten  müßte,  wenn  man  alle,  die  den  Erasmus 
der  Feigheit  zeihen,  für  Männer  von  dieser  Art  halten  wollte.  Man 
kann  vielleicht  auch  sagen:  das  sei  nicht  einmal  wünschenswert;  die 
regelmäßige  Arbeit  an  dem  Wachstum  der  Kultur  und  der  Wissen- 
schaft setze  jene  Eigenschaft  nicht  voraus.  Auf  jeden  Fall  war 
Erasmus  nicht  von  dieser  Art.  War  Luther  ganz  Wille,  so  war 
Erasmus  ganz  Intellekt,  wie  es  die  Natur  auf  die  beiden  Gesichter 

^  Es  ist  ganz  dieselbe  Gesinnung,  die  Jag.  Spiegel  in  einem  Briefe  aus- 
drückt: Eaienus  Luther ixOy  quatenus  intacta  manent  sacra  religionis.  Jmprobos 
mores,  luem  et  fastum  cleriy  fraticeÜorum  odium  in  banas  litteras  et  schola^ti- 
corum  quisquilias  priusqtiam  nomen  Lutheri  nasceretur ,.  proscidi  et  lingtm  et 
calamo  (Knod,  Progr.  Schlettstadt  1886,  S.  24). 


\ 


182  //,  7.    Der  Aushrudi  der  kirchlichen  lUvolution  w.  s.  w. 

mit  großer,  fast  mochte  man  sagen,  erschreckender  Deutlichkeit  ge- 
schrieben hat.^ 

Beide  Männer  hatten  von  dem  Gegensatz  ihres  Wesens  ein  deutliches 
Bewußtsein.  Lutheb  schreibt  einmal  von  Ebasmus  (an  Spalatin, 
9.  Sept  1521):  er  sei  von  der  Erkenntnis  der  Gnade  weit  entfernt; 
„Erasmus  hat  in  allen  seinen  Schriften  nicht  das  Kreuz,  sondern 
den  Frieden  im  Auge.  Daher  will  er  alles  fein  höflich  und  mit 
wohlwollender  Humanität  getrieben  haben.  Aber  um  diese  kümmert 
sich  Behemath  nicht  und  bessert  sich  dadurch  nicht  im  geringsten." 
Andererseits  sah  Ebasmus,  daß  seine  Rolle,  seitdem  Luther  die  Führung 
an  sich  gerissen  habe,  ausgespielt  sei.  Als  ihn  der  Papst  Hadrian  im 
Jahre  1523  bewegen  wollte,  als  Verteidiger  der  Kirche  nach  Rom  zu 
kommen,  antwortete  er  ablehnend:  bei  dieser  Tragödie  könne  er  nur 
Zuschauer,  nicht  Mitspieler  sein.  Er  sah,  daß  die  Entscheidung  nicht 
mehr  beim  Intellekt,  sondern  beim  Willen  und  zuletzt  bei  den  Waffen 
sei.  Der  Intellekt  zog  sich  vor  dem  Willen  zurück,  nicht  ohne  schmerz- 
liche Enttäuschung;  er  hatte  einen  Augenblick  den  Traum  geträumt, 
daß  sein  Reich  auf  Erden  angebrochen  sei.  —  Der  Wandel  in  der 
Stellung  beider  Männer  zu  einander  spiegelt  sich  in  Luthers  Briefen 
an  Erabmus:  in  dem  ersten  (1519)  redet  ihn  Luther  als  den  großen 
Mann  an,  zu  dem  er,  der  unbekannte  und  unbedeutende,  aufschaut; 
in  dem  letzten  (1524)  spricht  er  zu  ihm  mit  herablassender  und  fast 
beleidigender  Nachsicht:  da  ihm  die  Gabe  des  Mutes  nicht  verliehen 
sei,  so  thue  er  wohl  daran  sich  dem  Kriege  fem  zu  halten;  er  möge 
diese  Zurückhaltung  auch  ferner  bewahren,  dann  solle  ihm  kein  Leid 
geschehen. 

Es  ist  verstandlich,  daß  Luther  einen  Mann  von  dieser  Art  ge- 
ringschätzt, daß  er  die  von  jenem  prätendierte  Neutralität  in  dem 
großen  Kampf  ihm  als  schändliche  Gleichgültigkeit,  als  nihilistischen 

*  Wie  sehr  Luther  Wille  war,  spricht  sich  auch  in  einem  merkwürdigen 
Urteil  über  Aristoteles  ungemein  deutlich  aus.  „Cicero  übertriflft/*  heißt  es  in 
den  Tischreden  einmal,  „Aristotelem  weit  in  philosophia  und  mit  Lehren;  ofßeia 
Ciceronis  sind  viel  besser  denn  Ethica  Arif^totelis.  Nachdem  Cicero  in  großen 
Sorgen  im  Regiment  gesteckt  ist  und  große  Bürde,  Mühe  und  Arbeit  auf  ihm 
gehabt  hat,  so  ist  er  weit  überlegen  Aristoteli,  dem  müßigen  Esel,  der  Geld  und 
Gut  und  gute  faule  Tage  genug  hatte."  Luther  verachtet  den  theoretischen 
Menschen,  den  Denker,  man  könnte  auch  sagen,  den  Griechen  in  Aristoteles; 
der  Römer,  der  Staatsmaim  und  Redner  ist  ihm  eine  verwandtere  Natur.  Auch 
sein  Haß  gegen  Erasmus  hat  etwas  davon,  er  scheint  ihm  mit  den  Dingen  zu 
spielen,  wie  es  die  Art  der  Griechen  ist:  „Cicero,"  heißt  es  ein  andermal,  „hat 
sein  Ding  mit  Ernst  geschrieben,  non  iia  lusit  et  graecissavit  ut  Aristoteles 
et  Plato,'' 


Erasmus  v/nd  Luther,  183 

Skeptizismus  auslegt,  ebenso  wie  es  verständlich  ist,  daß  Hütten  sich 
mit  Haß  von  dem  Mann  abwendet,  der  für  den  alten  Verehrer  in 
seinem  Elend  nur  ein  kühles  Mitleid  hatte.  Dagegen  hat  es  etwas 
von  verletzendem  Pharisaismus,  wenn  sich  die  heutige  Gdehrtenwelt 
über  ihn  mit  hochmütiger  oder  herablassender  Miene  zu  Gericht  setzt 
Gewiß,  Erasmus  war  nicht  eine  Heldennatur  wie  Luther;  er  war  auch 
nicht  ein  Heiliger,  der  sein  Haus  zum  Asyl  für  Elende  und  Verfolgte 
macht.  Erasmus  war  ein  Gelehrter;  er  liebte  die  Studien  und  die 
Buhe,  auch  war  er  der  Ehre  und  dem  Behagen  nicht  Feind;  dabei 
aber  ein  Arbeiter  von  einer  Bastlosigkeit  und  Fruchtbarkeit,  wie  es 
nicht  viele  gegeben  hat,  und  der  Schmeichelei  doch  wohl  weniger  er- 
geben, als  die  meisten  seiner  humanistischen  Zeitgenossen;  er  sagte  den 
großen  Herren,  die  ihn  umwarben,  nicht  bloß  die  Dinge,  die  sie  zu 
hören  wünschten.  Wer  will,  in  unserer  Zeit,  einen  solchen  Mann 
schelten?  Wenn  ein  Bicht^r,  der  Herz  und  Nieren  prüfte,  die  heutigen 
Gelehrten  in  zwei  Gruppen  teilte,  eine  nach  dem  Typus  Luthers,  eine 
nach  dem  Typus  des  Erasmus,  ich  glaube  nicht,  daß  die  erste  Gruppe 
zahlreicher  ausfallen  würde.  Ja  würden  nicht  Viele  wenigstens  zu 
dem  intellektuellen  Habitus,  den  Luther  am  Erasmus  nicht  er- 
tragen kann,  mit  Stolz  sich  bekennen?  Luther  ist  ein  dogmatisch, 
Erasmus  ein  historisch  kritisch  denkender  Geist.  Sobald  Luther  sich 
überzeugt  hat,  daß  seine  Sache  in  der  Bibel  gegründet  ist,  ist  für  ihn 
alles  entschieden  und  er  fährt  zu,  ohne  mit  Fleisch  und  Blut,  d.  h. 
mit  der  Vernunft,  sich  zu  beraten.  Erasmus  ist  nicht  so  leicht  fertig, 
er  erwägt  mit  der  Vernunft  die  Gründe  und  die  Folgen  und  die  Be- 
denklichkeit des  rückwärts  und  vorwärts  schauenden  Blicks  hemmt 
seine  Schritte.  Gewiß  war  nur  ein  Geist  von  der  ersten  Art  im  Stande, 
die  römische  Herrschaft  zu  brechen.  Aber  ebenso  gewiß  ist,  daß  es 
derselbe  Geist  eines  subjektivistischen  Dogmatismus  war,  der  in  den 
öden  Lehrstreitigkeiten  der  neuen  Kirche  alsbald  sein  Wesen  zu  treiben 
begann,  und  daß  erst  durch  eine  starke  Beimischung  Erasmischen 
Geistes  das  Zeitalter  Kants  und  Goethes,  das  Zeitalter  des  freien  Ge- 
dankens und  der  Achtung  vor  Andersdenkenden,  möglich  wurde. 

Ja,  schließlich,  wäre  es  möglich,  den  zu  widerlegen,  der  behaupten 
wollte,  daß  wir  auch  ohne  den  Umweg  über  Reformation  und  Gegen- 
reformation, über  Landeskirchen  und  dreißigjährige  Kriege,  auf  dem 
Wege,  den  Erasmus  gehen  wollte,  direkt  zu  dieser^  Ziele  hätten  ge- 
langen können?  Hätte  nicht  die  Kirche  doch  vielleicht  von  innen 
heraus  reformiert  werden,  hätte  nicht  der  Humanismus  sich  innerlich 
^(ertiefen  und  die  neue  wissenschaftliche  und  philosophische  Forschung 
aus  sich  hervorbringen  können,  in  Frieden  mit  der  innerlich  erneuerten 


184  //,  /.    Der  Ausbruch  der  kirchlichen  Revolution  u,  s,  w. 


>/ 


Kirche?  So  dachte  Ebasmus.  Ich  behaupte  nicht,  daß  es  mög- 
lich war;  die  Geschichte  zeigt  eine  Neigung  zu  dem  Weg  durch  Re- 
volutionen. Dennoch,  wer  will  sföli  anmaßen  die  Unmöglichkeit  zu 
beweisen?  Das  wird  man  auf  jeden  Fall  sagen  dürfen:  wäre  Luthers 
stürmische  Gewalt  nicht  dazwischen  getreten,  die  Geschichte  wäre 
darum  nicht  zum  Stillstand  gekommen.  Wir  können  die  ungeschehene 
Geschichte  nicht  konstruieren  und  mit  der  wirklichen  vergleichen; 
aber  ebensowenig  kann  uns  jemand  darthun:  die  wirkliche  Geschichte 
war  die  einzig  gute  oder  doch  die  bestmögliche.  Das  kann  man  glauben, 
aber  man  kann  es  nicht  wissen  und  beweisen.  Das  dagegen  kann  man 
wissen  und  beweisen,  daß  die  furchtbare  Exacerbation  des  dogmatischen 
und  verfolgungssüchtigen  Geistes,  die  mit  der  Reformation  beginnt, 
auf  beiden  Seiten  beginnt,  mit  Luthers  Art  und  Auftreten  in  ge- 
schi(*.htlichem  Zusammenhang  steht.  Der  Geist  der  Kritik  und  der 
Duldsamkeit,  der  mit  dem  Humanismus  im  Aufsteigen  war,  ist  seit- 
dem auf  Jahrhunderte  verscheucht.  Freilich  hat  dieser  Geist  große 
Verwandtschaft  mit  libertinistischer  Weltgesinnung  und  skeptischer 
Gleichgültigkeit,  während  Luthers  Geist  zugleich  der  Geist  strengen 
Ernstes  und  subjektiver  Wahrhaftigkeit  ist.  Freidenker  und  Bekenner 
sind  sehr  verschiedene  Naturen. 

Ich  gehe  nun  auf  die  ersten  Wirkungen  der  Reformation  auf  das 
Studienwesen  kurz  ein;  sie  sind  zerstörender  Natur.  Die  Studien  lieben 
die  Stille  und  den  Frieden;  die  leidenschaftliche  Erregung,  welche 
Luthers  Schriften  ins  Volk  warfen,  entzog  der  Poesie  und  den  schönen 
Wissenschaften  rasch  die  Teilnahme;  die  bald  folgenden  furchtbaren 
Erschütterungen  des  sozialen  Kriegs  brachten  die  Universitäten  und 
Schulen  auch  äußerlich  zu  einem  beinahe  vollständigen  Stillstand. 

Auch  diesen  Vorgang  will  ich  im  folgenden  für  die  einzelnen 
Universitäten  kurz  nachweisen.  Ich  beginne  mit  Wittenberg,  von 
wo  die  Sache  anhob.  Am  6.  Juli  1520  hatte  Erasmus  an  Spalatin 
geschrieben:  durch  den  Kurfürsten  Friedrich  sei  die  vor  wenigen  Jahren 
kümmerliche  und  spärlich  besucht«  Universität  mit  Sprachen  und  Wissen- 
schaften auf  das  schönst«  ausgestattet  worden ;  so  habe  jener  die  neuen 
Studien  gefordert,  daß  auch  die  Vertreter  der  alten  zur  Klage  keine 
Ursach  gehabt  hätten.  Er  schließt:  „kürzlich  habe  ich  an  Melanch- 
thon  geschrieben,  aber  so,  daß  der  Brief  zugleich  für  Luther  war. 
Ich  bete,  daß  der  allmächtige  Gott  Luthers  Stil  und  Gemüt  so 
mäßige^  daß  er  der  evangelischen  Frömmigkeit  große  Frucht  schaffe, 
und  daß  er  einigen  Leuten  einen  besseren  Geist  gebe,  welche  mit 
der  Sehmach  ihren  Ruhm,  mit  seinem  Schaden  ihren  Gewinn  suchen. 


Die  Universität   Wittenberg.    Luther  und  die  Philosophie,        185 


Ich  wollte,  daß  Lutheb  jene  Händel  einmal  ließe  und  die  Sache  des 
EYangelioms  rein  und  ohne  Beimengung  von  Leidenschaft  triebe, 
Tielleicht  ginge  es  besser.  Jetzt  beladet  er  die  klassischen  Studien 
mit  Haß  und  Verdacht,  der  uns  verderblich,  ihm  nicht  forderlich  isf 

Ebasmüs  Wunsch  und  Bitte  ist  nicht  in  Erfüllung  gegangen,    gr 
war  LuTHEBN  ohne  Zweifel  unmöglich  eine  Sache   ohne  Leidenschaft 
zu  treiben. 

In  dem  Schreiben  Luthebs  an  den  christlichen  Adel  deutscher 
Nation  bildet  die  Universitatsreform  den  25.  Artikel  des  Programms; 
er  faßt  darin  seine  Ansicht  von  dem,  was  ist  und  von  dem,  was  sein 
sollte,  zusammen.    Wie  alles,  was  das  Papsttum  eingerichtet  habe,  nur    I 
darauf  gerichtet  sei,  Sünde  und  Irrtum  zu  mehren,  so  auch  die  Uni- 
versitäten;   der  böse  Geist  selbst  sei  es,  der  das  Studieren  hereinge- 
bracht habe,  da  regiere  allein  „der  blinde  heidnische  Meister  Aristoteles.^' 
Aus    den  Büchern  dieses   „verdammten,   hochmütigen,   schalkhaftigen 
Heiden"  werde  die  christliche  Jugend  unterrichtet    Dem  müsse  ein     , 
Ende   gemacht  werden;  „lehret  doch  der  elende  Mensch  in  seinem' 
besten  Buch,  de  anima,  daß  die  Seele  sterblich  sei  mit  dem  Körper 
desselben  gleichen  das  Buch  Eihica  ärger  denn  kein  Buch  der  Gnade 
Gottes  und  christlichen  Tugenden  entgegeu  ist.     0,  nur  stracks  weit 
weg  mit  solchen  Büchern  von  allen  Christen."    Also  die  ganze  Grund- 
lage   des    artistischen   Unterrichts   ist  als  Teufels  werk   zu   beseitigen,-- 
höchstens  die  allein  von  der  Form  handelnden  Schriften,   die  Logik, 
Rhetorik  und  Poetik,  mögen  bleiben,  aber  auch  diese  ohne  die  Eom-     ' 
mentationen  und  Quästionen. 

Die  Heftigkeit  des  Tones,  womit  Luther  auch  in  seinen  fol- 
genden Schriften  von  den  Universitäten  als  den  eigentlichen  Burgen 
des  Teufels  auf  Erden  spricht,  ist  vielleicht  von  keinem  Angriff  auf 
diese  Institute  weder  vorher  noch  nachher  erreicht  worden  (Stellen  bei 
Janssen,  II,  176,  195,  293).  In  der  Sache  gingen  die  b^dd  massen- 
haft auftretenden  Prediger  des  reinen  Evangeliums  zum  Teil  einen 
Schritt  weiter:  sie  verwarfen  nicht  nur  den  vorhandenen,  sondern  jeden 
gelehrten  Unterricht:  das  Wort  Gottißs  sei  allein  genug  und  zu  seinem 
Verständnis  sei  nicht  Gelehrsamkeit,  sondern  der  Geist  erforderlich; 
eine  Anschauung,  die  schriftmäßig  zu  widerlegen  allerdings  nicht  leicht 
sein  dürfte.  Daß  der  Geist  Gottes  nicht  nach  dem  Maß  der  Gelehr- 
samkeit mitgeteilt  wird,  vielmehr  denen  zumeist,  die  thöricht  sind 
vor  der  Welt,  die  göttlichen  Geheimnisse  offenbart,  bezeugen  Evangelisten 
und  Apostel  durch  Wort  und  Beispiel.  Hierüber  hat  sich  Kablstadt 
gewiß  nicht  getäuscht. 

Es  ist  überraschend  zu  sehen,  wie  Melanchthon  auf  Luthebs 


186  II,  1,    Der  Ausbruch  der  kirchlichen  RevohUion  u,  s,  w. 

Ton  einging.  Er  hatte  in  jener  erwähnten  Antrittsrede  noch  von  der 
Wiederherstellung  der  echten  aristotelischen  Philosophie  als  von  seiner 
großen  Aufgabe  gesprochen.  Aber  die  Sache  gedieh  nicht  in  der  neuen 
Umgebung.  Im  Sommer  1519  las  er  über  den  Römerbrief;  aus  dieser 
Vorlesung  ging  bald  die  erste  Dogmatik  der  neuen  Theologie  hervor, 
die  loci  iheologici,  1521  zum  erstenmal  gedruckt  Paulus  und  die 
neue  Theologie  verdrängten  völlig  den  Aristoteles,  ja  den  Humanismus 
selbst.  In  einer  Rede:  Ermahnung  zum  Studium  der  Paulinischen 
Lehre  (gedruckt  Febr.  1520,  C.  R.  XI,  34 — 41),  verwirft  er  nicht  mehr 
bloß  die  Schulphilosophie,  wie  auch  der  Humanist  that,  sondern  die 
Philosophie  überhaupt,  als  heidnischen  Greuel.  Die  Schuldoktoren 
haben  aus  der  Theologie  jenes  alte  Weib,  genannt  Philosophie,  ge- 
macht, welches  nach  Griechenland  stinkt  (Graeciae  hircissantem  anum, 
Fhilosophiam).  Paulus  ist  das  Gegengift,  ohne  Paulus  kein  Heil:  „alle 
übrigen  Wissenschaften  magst  du  verachten;  den  Paulus  vernach- 
lässigen, heißt  die  Hoffnung  der  Seligkeit  wegwerfen." 

Im  Jahre  1520  gab  er  die  Wolken  das  Aristophanes  heraus,  wider 
die  Philosophaster,  sagt  er  in  einem  Brief  an  Lange  (April  1520, 
C.  R.  I,  163),  nicht  die  Philosophen,  denn  diesen  bin  ich  sehr  geneigt, 
wenn  sie  nur  mit  Maß  und  Vorsicht  philosophieren.  Daß  die  grie- 
chischen Philosophen  zu  diesen  guten  Philosophen  nicht  gehören,  kann 
in  der  Dedikationsepistel  an  Amsdorf  (Dez.  1520,  S.  273  flf.)  nach- 
gesehen werden:  die  Wolken  würden  eben  zu  dem  Ende  zugänglich 
gemacht,  damit  die  Jugend  sehe,  was  das  Altertum  selbst  von  diesem 
Zeug  gehalten  habe. 

Ausführlicher  als  schon  hier  geschieht,  hat  er  dann  in  der  Ver- 
teidigung LuTHEES,  welche  er  unter  dem  Namen  Bidymus  Faventius 
gegen  H.  Emseb  schrieb  (Febr.  1521,  C.  R,  I,  286—358),  sein  Ver- 
werfungsurteil gegen  die  Philosophie,  im  besondern  gegen  die  aristo- 
telische, begründet.  Die  ganze  Physik  enthalte  nichts  als  Wortunge- 
heuer, wie  Materie,  Form,  Beraubtheit,  die  geschwätzigen  Menschen 
StofiF  zum  Schwatzen  gebe  und  die  Jugend  durch  Streiterei  um  alle 
Kraft  bringe.  Dazu  komme,  daß  sie  viele  Widersprüche  gegen  die 
heiL  Schrift  enthalte.  Das  gelte  doppelt  von  der  Metaphysik:  offen- 
bare Atheisten  seien  die  Stoiker  und  Epikureer,  aber  ein  Atheist  auch 
Aristoteles,  „unter  dessen  Führung,  o  titanische  Frechheit,  ihr  den 
Himmel  stürmet.  Ich  klage  jetzt  nicht  die  Barbarei  der  Theologaster 
an,  sondern  jene  Weisheit  selbst,  womit  ihr  die  Christen  von  der  Schrift 
zur  Vernunft  abgezogen  habt.  Geh  nun,  Bock  (so  wird  Emseb,  mit 
bekannter  Beziehung  auf  sein  Wappen,  in  dem  ganzen  Schriftstück  an- 
geredet), und  leugne,  daß  die  Schulphilosophie  Götzendienst  sei"    End- 


ühii^ersität   Wittenberg .    Melanchtkon  und  die  Philosophie,       187 

lieh  die  Ethik  ist  Christo  diametral  entgegen.  Er  zeigt  es,  indem  er 
die  Artikel  Gesetz,  Sünde,  Gnade  durchgeht;  in  allen  Stücken  lehre  die 
Philosophie  das  Gegenteil  der  Wahrheit,  die  scheußlichste  Pest  zähle 
sie  unter  den  ersten  Tugenden.  In  Summa,  prostituiert  sei  die  Kirche 
durch  die  Philosophie,  so  daß  man  mit  sodomitischen  Lüsten  zu 
kämpfen  habe.  „Ein  Christ  ist  nicht,  wer  den  Namen  eines  Philo- 
sophen in  Anspruch  nimmt."  Dann  kommt  er  auf  die  Universitäten: 
nie  sei  etwas  Verderblicheres,  Gottloseres  erfunden  worden,  nicht  die 
Päpste,  der  Teufel  selbst  sei  ihr  Urheber;  Wiclef  zuerst  habe  es  ge- 
sehen, daß  die  Universitäten  des  Teufels  Schulen  seien:  konnte  er  etwas 
Frömmeres  oder  Weiseres  sagen?  Die  Juden  opferten  Jünglinge  dem 
Moloch;  ein  Vorspiel  für  unsere  Universitäten,  wo  die  Jünglinge  heid- 
nischen Götzenbildern  geopfert  werden  (343). 

Es  mag  dahingestellt  sein,  ob  wirklich  religiöser  Glaube,  der  frei- 
lich nach  der  Vernunft  nicht  fragt,  oder  bloß  ins  Gegenteil  umge- 
schlagene humanistische  Eloquenz  aus  diesen  Worten  Melanchthons 
spricht.  Das  letztere  anzunehmen  rät  allerdings  sowohl  der  Stil  dieser 
Auslassungen  als  die  Thatsache,  daß  Melanchthon  sehr  bald  zu 
anderer  Sprache  zurückkehrte.  Seiner  Natur  ist  augenscheinlich  ein 
konziliatorischer  Rationalismus,  wie  die  scholastische  Philosophie  ihn 
darstellt  (man  vergleiche  das  Urteil  der  Pariser  theologischen  Fakultät 
über  LüTHEB,  C.  E.  I,  385  ff.),  gemäßer,  als  die  supranaturalistische, 
alle  Gemeinschaft  mit  der  Vernunft  ausschlagende  Gläubigkeit  des 
Mystizismus.  Die  Palinodie  zu  dieser  Schmährede  auf  die  Vernunft 
und  Philosophie  ist  denn  auch  nicht  ausgeblieben. 

Mit  dem  Jahre  1522  beginnen  in  Melanchthons  Briefen  und 
Reden  die  Klagen  über  den  Verfall  der  schönen  Wissenschaften,  die 
nun  bis  zu  seinem  Tode  nicht  mehr  verstummen.  Die  Theologie,  oder 
wie  er  sagt,  die  Pseudotheologen  haben  mit  ihrem  barbarischen  Gezänk 
die  Musen  vertrieben.  Es  sind  nicht  mehr  die  alten  scholastischen, 
sondern  die  neuen  Theologen  Wittenberger  Abkunft  gemeint.  Es  ist 
nur  allzu  wahr,  erwidert  er  Eobanus  Klagen  aus  Erfurt  (22.  Juli  1522), 
daß  die  Poesie  von  der  Jugend  vernachlässigt  wird;  das  bedeutet,  wenn 
mich  nicht  alles  täuscht,  den  bevorstehenden  Verfall  der  Litteratur 
und  Wissenschaft,  wir  werden  ein  Geschlecht  hinter  uns  lassen,  das 
weniger  weiß,  als  das  des  Scotus.  Guter  Gott,  ruft  er  in  dem  folgen- 
den Brief  an  denselben  (April  1523,  I,  613)  aus,  sind  das  Theologen, 
deren  Weisheit  in  der  Verachtung  der  Wissenschaften  besteht!  Muß 
daraus  nicht  eine  neue,  noch  dümmere  und  noch  gottlosere  Sophistik 
kommen?  Er  selbst  strebt  jetzt  aus  der  Beschäftigung  mit  theologi- 
schen Dingen  heraus  und  zu  den  klassischen  Studien  zurückzukehren. 


188         II,  h    Der  Ausbruch  der  kirchlichen  EevoltUion  u,  8.  w. 

Durch  Zufall,  schreibt  er  an  Spalatin  (März  1523,  I,  606),  sei  er  in 
die  theologischen  Vorlesungen  hineingekommen  und  sitze  nun  schon 
mehr  als  zwei  Jahre  auf  diesem  Riff  fest  Er  tauge  nicht  dazu  und 
wünsche  loszukommen.  Auch  sei  ein  so  großer  Haufe  von  Theologen 
da,  daß  die  Jugend  mit  Theologie  verschüttet  werde.  Seine  Aufgabe 
sei  die  Wiederherstellung  der  schönen  Wissenschaften,  deren  sich  so 
wenige  annehmen  (vgl.  I,  576,  604,  677).  Im  Jahre  1523  legt«  er 
die  Notwendigkeit  der  klassischen  Studien  den  Theologen  in  einer  Rede 
ans  Herz  (encomium  eloquentiae,  C.  R.  XI,  50  ff.):  Eloquenz  und  Ein- 
sicht seien  unzertrennlich,  und  diese  beiden  Dinge  seien  das  Beste,  was 
es  unter  der  Sonne  gebe.  Leider  gebe  es  gegenwärtig  Leute,  die  leug- 
nen, daß  die  Theologie  aus  den  sprachlichen  Studien  Nutzen  ziehen 
könne,  und  dieser  Irrtum,  wie  durch  Ansteckung  verbreitet,  habe  die 
meisten  jetzt  dahin  gebracht,  daß  sie  die  klassischen  Studien  verachten, 
um  nicht  ihr  Ansehen  unter  den  Theologen  zu  verlieren  (ne  non  valde 
theohgicari  videantur).  Die  Zungen  sollte  man,  sagt  er  bald  darauf 
in  einer  Vorrede  (C.  R.  I,  666),  denjenigen  ausschneiden,  welche  die 
Jugend  von  den  Studien  abmahnen. 

Melanchthon  fühlte  sich  fremd  unter  den  neuen  Theologen.  Ich 
habe  hier  fast  keinen  Umgang,  außer  dem  Geschäftsverkehr;  so  sitze 
ich  zu  Hause  wie  ein  lahmer  Schuster;  so  schreibt  er  an  seinen  huma- 
"  nistischen  Freund  Cameäarius  (1.  Nov.  1524,  I,  683).  Kurz  darauf 
erhielt  er  einen  Brief  von  Erasmus  (10.  Dez.):  er  hätte  gewünscht, 
daß  Melanchthon  in  den  Humanitätsstudien  geblieben  wäre,  für 
welche  er  durch  seine  Anlage  bestimmt  sei;  jener  Tragödie  hätte  es  an 
Schauspielern  nicht  gefehlt.  Melanchthon  empfand  selbst,  wenigstens 
zu  Zeiten  ähnlich.  Freilich,  er  konnte  von  Wittenberg  nicht  mehr  fort 
und  auch  aus  der  Verbindung  mit  der  Theologie  nicht  los.  So  blieb 
es  nun  seine  Lebensaufgabe,  hier  die  klassischen  Studien,  so  gut  es 
denn  gehen  wollte,  zu  erhalten.  Dankbar  war  die  Aufgabe  nicht  mehr. 
Die  Zeit,  wo  die  ganze  Universität  sich  zu  den  griechischen  Vorlesungen 
drängte,  war  vorüber.  Im  Jahre  1524  waren  es,  wie  wir  in  Melanch- 
TH0N8  Leichenrede  von  seinem  Schüler  Vrrus  Vinshemiüs  vernehmen, 
ihrer  vier,  welche  die  Vorlesung  über  Demosthenes  hörten  und  den 
Text  dazu  aus  Melanchthons  Exemplar  abschrieben;  Vinshemiüs  war 
einer  der  viere  (C.  R.  X,  193).  Die  Teilnahmlosigkeit  der  Studieren- 
den gegen  die  schönen  Wissenschaften  und  besonders  gegen  das  Grie- 
chische bildet  von  da  ab  einen  stehenden  Gegenstand  der  A^nklage 
in  Melanchthons  öffentlichen  Kundgebungen.  Die  Anschläge  zu 
seinen  Vorlesungen  über  griechische  Autoren  sind  voll  von  derartigen 
Äußerungen.    So  heißt  es  im  Jahre  1531:  ein  Bettler  soll  Homer  bei 


Die  üniversitäien  Leipzig,  Frankfurt,  Rostock,  Greif stmld,       191 

holten  schimpflichen  Bettelbriefen,  den  Sieg  Landgraf  Philipps  über 
Sickingen  mit  seinen  Poemen  zu  verherrlichen:  sie  seien  beinahe  schon 
fertig,  man  möge  sie  doch  um  Gottes  Wülen  bestellen.  Aber  es  er- 
folgte keine  Bestellung  (Kbause,  I,  344).  Im  Jahr  1525  strich  ihm 
der  Erfurter  Kat  seinen  Gehalt  Im  Jahre  1526  verließ  er  Erfurt; 
Melanchthon  hatte  ihn  nach  Nürnberg  an  die  eben  errichtete  Schule 
empfohlen.  Freilich  kehrte  er  noch  einmal  zurück  (1533),  aber  er 
erlebte  keine  i^eude  mehr  in  Erfurt.  Die  Universität  konnte  sich 
nicht  wieder  erholen,  sie  siechte  noch  fast  drei  Jahrhunderte  und  ging 
dann  ein. 

Auch  das  Leipziger  Studium  litt  sehr  unter  der  großen  Erisis. 
War  schon  gegen  Ende  des  zweiten  Jahrzehnt«  durch  den  Einfluß 
Wittenbergs  ein  Rückgang  im  Besuch  bemerkbar  gewesen,  so  sank  im 
Verlaufe  des  dritten  die  Frequenz  auf  etwa  ein  Viertel  der  früheren 
Ziffer.  Noch  starker  war  die  Abnahme  der  Promotionen.  Auch  die 
klassischen  Studien  gingen  zurück,  durch  die  lutherische  Bewegung 
wurden  sie  dem  Herzog  Georg,  von  dem  sie  bisher  entschieden  be- 
günstigt worden  waren,  verdächtig.  Als  im  Jahre  1524  Mosellanüs 
vor  der  Zeit  starb,  wurde  zwar  noch  ein  Nachfolger,  der  Niederländer 
Jag.  Ceeatinus  aus  Löwen,  auf  Ebasmus'  unbedingte  Empfehlung  für 
die  griechische  Lektur  berufen.  Doch  i|lieb  er  nur  kurze  Zeit;  der 
Herzog  glaubte  lutherische  Neigungen  bei  ihm  wahrzunehmen  (Böhme, 
33).  Allerdings  finden  sich  dnter  den  Lehrern  auch  noch  nachher  eine 
Anzahl  von  Freunden  humanistischer  Studien,  H.  Stbomer,  J.  Musleb,  k 
C.  Borneb,  W.  Meubeb;  doch  scheinen  die  Anhänger  des  Alten  jetzt 
entschieden  das  Übergewicht  gehabt  zu  haben.  Es  ist  auffallend,  daß^ 
in  der  Masse  der  Universitätsaufzeichnungen,  welche  in  den  von 
Zabncke  herausgegebenen  Acta  Rectorum  und  im  Urkundenbuch  vor- 
liegen, von  Reformationsbestrebungen,  wie  sie  das  zweite  Jahrzehnt 
-erfüllt  hatten,  fast  gar  nicht  mehr  die  Rede  ist  Es  standen  sich  jetzt 
Revolution  und  Reaktion  gegenüber. 

Die  brandenburgische  Universität  zu  Frankfurt  a.  0.,  welche, 
als  jenseits  der  Grenzen  der  Civilisation  gelegen,  wohl  von  Anfang  an 
nur  die  dürftigen.  Umrisse  einer  Universität  darstellte,  kam  im  dritten 
Jahrzehnt  durch  die  Reformation  zu  völligem  Stillstand,  wozu  auch  die 
wiederholt  auftretende  Pest  das  ihre  beitrug  (Beckmann,  273). 

Dasselbe  Schicksal  traf  die  beiden  Ostseeuniversitäten.  In  Rostock 
begann  das  schnelle  Sinken  der  Inskriptionen  1523;  im  Jahre  1529 
wurde  niemand  immatrikuliert;  von  1530 — 1536  führte  ununterbrochen 
ein  Mann  das  Rektorat.  Die  Universität  war  so  gut  wie  eingegangen. 
In  einem  Bericht  vom  Jahre  1530  bezeichnet  das  Universitätskonsilium 


190  //,  7.    Der  Ausbruch  der  kircJilichen  Revolutian  u,  s.  w. 

Die  Universität  Erfurt  war  die  einzige  unter  allen  deutschen 
Universitäten,  welche  der  Lehre  der  Wittenberger  zufiel;  sie  war  auch 
die  erste,  welche  daran  zu  Grunde  ging.^ 

Bei  jenem  oben  erwähnten  Einzug  Lltherö  in  Erfurt  (6.  April 
1521)  hatte  Eobanüs,  der  natürlich  mit  seinen  Versen  bei  diesem 
Anlaß  nicht  fehlen  durfte,  die  Musen  selbst  in  der  Begleitung  des 
Reformators  in  die  Stadt  einziehen  zu  sehen  geglaubt.  Die  Vision 
stellte  sich  bald  als  eine  täuschende  heraus.  Am  Tage  nach  Luthers 
Abreise  begann,  durch  einen  geringfügigen  Zufall  veranlaßt,  das  soge- 
nannte PfaflFenstürmen:  die  studentische  Jugend  vereinigte  sich  mit 
der  städtischen,  unter  Zulassung  des  Rates,  zur  Plünderung  und  Demo- 
lierung der  Häuser  der  Geistlichen.  Diese  Exzesse,  die  sich  im  Laufe 
der  nächsten  Jahre  öfter  wiederholten,  vertrieben  zwar  die  Kleriker, 
zu  EoBANUs'  großer  Genugthuung  (Keause,  I,  334);  aber  bald  folgten 
ihnen  die  Studenten,  deren  Eltern  an  diesem  Treiben  Anstoß  nahmen, 
und  auch  die  humanistischen  Lehrer,  denen  es  unheimlich  dabei  wurde, 
verließen  zum  großen  Teil  die  Stadt  Das  Feld  nahmen  in  Erfurt 
nunmehr  die  Prädikanten  ein,  aus  den  Klöstern  entlaufene  Mönche, 
auch  Lange,  Luthers  Freund,  war  unter  ihnen:  sie  predigten  das 
Evangelium  ohne  jegliche  Beimischung  menschlicher  Vernunft.  Gegen 
die  Sophisten  und  ihren  Meist"  Aristoteles,  gegen  die  Wissenschaften 
und  die  gelehrten  Grade  wurde  von  allen  Kanzeln  gedonnert.  Das 
hätte  die  Humanisten  nun  nicht  verdrcfesen,  wenn  ihnen  nicht  be- 
gegnet wäre,  von  den  Ultras  mit  zu  den  Sophisten  gerechnet  zu  werden. 
Seit  Ende  1522  erfüllten  sie  die  Welt  mit  bitteren  Klagen.  Eobanus, 
der  selber  erleben  mußt«,  von  Lange  als  Beschützer  der  Sophisten 
denunziert  zu  werden,  worauf  er  bald  mit  heftigen  Invektiven,  bald 
mit  würdelosen  Bitten  um  Schonung  antwortete,  wendete  sich  1523 
mit  verzweifelten  Klagen  an  die  Wittenberger:  eine  Barbarei  werde 
durch  die  neue  Theologie  über  Deutschland  kommen  ärger  als  die 
frühere.  Eine  Sammlung  von  einigen  Briefen,  welche  seine  Klagen 
ihm  einbrachten,  veröffentlichte  er  zum  Zeugnis  wider  die  Prädikanten 
unter  dem  Titel:  De  non  contemnendis  studiis  humanioribus  futuro 
Theologo  maxime  necessariis  aliquot  clarorum  virorum  ad  Eob,  Hessum 
Epistolae  (1523).  Auch  satirische  Dialoge  auf  die  neuen  Dunkelmänner 
verfaßte  und  veröffentlichte  er  (1524).  Aber  es  half  alles  nicht;  die 
Immatrikulationen  hörten  so  gut  wie  ganz  auf;  die  Universität  ging 
fast  ganz  ein.    Eobanus  hungerte;  er  erbot  sich  1522/23  in  wieder- 


*  Kampschulte,  Geschichte  der  Erfurter  Universität,  Bd.  II.    Manche  Er- 
gänzungen in  Krauses  £ob.  Hessus,  I,  330  ff. 


Die  Universitäten  Leipzig,  Frankfurt,  Rostock,  Oreifswald,       191 

holten  schimpflichen  Bettelbriefen,  den  Sieg  Landgraf  Philipps  über 
Sickingen  mit  seinen  Poemen  zu  verherrlichen:  sie  seien  beinahe  schon 
fertig,  man  möge  sie  doch  um  Gottes  Willen  bestellen.  Aber  es  er- 
folgte keine  Bestellung  (Krause,  I,  344).  Im  Jahr  1525  strich  ihm 
der  Erfurter  Bat  seinen  Gehalt  Im  Jahre  1526  verließ  er  Erfurt; 
Melanchthon  hatte  ihn  nach  Nürnberg  an  die  eben  errichtete  Schule 
empfohlen.  Freilich  kehrte  er  noch  einmal  zurück  (1533),  aber  er 
erlebte  keine  Freude  mehr  in  Erfurt.  Die  Universität  konnte  sich 
nicht  wieder  erholen,  sie  siechte  noch  fast  drei  Jahrhunderte  und  ging 
dann  ein. 

Auch  das  Leipziger  Studium  litt  sehr  unter  der  großen  Krisis. 
War  schon  gegen  Ende  des  zweiten  Jahrzehnts  durch  den  Einfluß 
Wittenbergs  ein  Bückgang  im  Besuch  bemerkbar  gewesen,  so  sank  im 
Verlaufe  des  dritten  die  Frequenz  auf  etwa  ein  Viertel  der  früheren 
ZiflFer.  Noch  starker  war  die  Abnahme  der  Promotionen.  Auch  die 
klassischen  Studien  gingen  zurück,  durch  die  lutherische  Bewegung 
wurden  sie  dem  Herzog  Georg,  von  dem  sie  bisher  entschieden  be- 
günstigt worden  waren,  verdächtig.  Als  im  Jahre  1524  Mosellanüs 
vor  der  Zeit  starb,  wurde  zwar  noch  ein  Nachfolger,  der  Niederländer 
Jag.  Ceratinus  aus  Löwen,  auf  Erasmus'  unbedingte  Empfehlung  für 
die  griechische  Lektur  berufen.  Doch  |lieb  er  nur  kurze  Zeit;  der 
Herzog  glaubte  lutherische  Neigungen  bei  ihm  wahrzunehmen  (Böhme, 
33).  Allerdings  finden  sich  unter  den  Lehrern  auch  noch  nachher  eine 
Anzahl  von  Freunden  humanistischer  Studien,  H.  Stbomer,  J.  Müsleb, 
C.  Bobner,  W.  Meurer;  doch  scheinen  die  Anhänger  des  Alten  jetzt 
entschieden  das  Übergewicht  gehabt  zu  haben.  Es  ist  auffallend,  daß 
in  der  Masse  der  Universitätsaufzeichnungen ,  welche  in  den  von ' 
Zarncke  herausgegebenen  Acta  Rectorum  und  im  Urkundenbuch  vor- 
liegen, von  Reformationsbestrebungen,  wie  sie  das  zweite  Jahrzehnt 
■erfüllt  hatten,  fast  gar  nicht  mehr  die  Rede  ist.  Es  standen  sich  jetzt 
Revolution  und  Reaktion  gegenüber. 

Die  brandenburgische  Universität  zu  Frankfurt  a.  0.,  welche, 
als  jenseit«  der  Grenzen  der  Civilisation  gelegen,  wohl  von  Anfang  an 
nur  die  dürftigen.  Umrisse  einer  Universität  darstellte,  kam  im  dritten 
Jahrzehnt  durch  die  Reformation  zu  völligem  Stillstand,  wozu  auch  die 
wiederholt  auftretende  Pest  das  ihre  beitrug  (Beckmann,  273). 

Dasselbe  Schicksal  traf  die  beiden  Ostseeuniversitäten.  In  Rostock 
begann  das  schnelle  Sinken  der  Inskriptionen  1523;  im  Jahre  1529 
wurde  niemand  immatrikuliert;  von  1530 — 1536  führte  ununterbrochen 
ein  Mann  das  Rektorat.  Die  Universität  war  so  gut  wie  eingegangen. 
In  einem  Bericht  vom  Jahre  1530  bezeichnet  das  Universitätskonsilium 


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192         //,  /.    Der  Äushrvcti  der  kirchlichen  JRevolution  u,  s,  w. 


die  Martinianische  Faktion  als  die  Ursache:  seitdem  würden  die  Kinder 
von  den  Universitäten  heimgerufen;  auch  sei  die  Aussicht  auf  Versorgung 
der  Lektoren  im  Alter  mit  geistlichen  Pfründen  gemindert,  der  Uni- 
versität seien  zwei  Kirchen  verloren  gegangen  (Krabbe,  361  flF.,  392). 
Ebenso  entschieden  als  Bostock  lehnte  Greifswald  den  Anschluß  an 
die  Reformation  ab.  Die  Universität,  Inskriptionen,  Vorlesungen,  Pro- 
motionen scheinen  auch  hier  während  der  Jahre  1525 — 1539  fast  ganz 
cessiert  zu  haben.  Die  Blätter  in  den  Universitätsbüchern,  welche  die 
Eintragungen  dieser  Jahre  enthielten,  sind  ausgerissen  worden,  sie 
mochten  wohl  noch  ärgeres  über  die  Martinianische  Faktion  enthalten, 
als  der  Rostocker  Bericht  (Kosegaeten,  I,  180,  186). 

Die  Kölner  Universität  war  ein  Hauptlager  der  Gegner  der  Re- 
formation. Die  theologische  Fakultät  verdammte,  mit  Löwen  und  Paris, 
LuTHEBS  Bücher  und  verbrannte  sie  im  Beisein  Karls  V.  (1520).  Sie 
hat  hervorragenden  Anteil  an  der  Erhaltung  des  Katholizismus  am 
Rhein;  der  Ruhm,  den  die  Verse  des  Hymnus,  welchen  man  am  Feste 
der  Schutzheiligen  Kölns  sang,  der  Stadt  beilegen: 

Postquam  fidem  stiscepisti,  civitas  praenobilis, 

Recidiva  non  fuisti,  sed  in  fide  stabilis, 
kommt  in  erster  Linie  der  Universität  zu  (Bianco,  444).  Sie  blieb 
fest  in  der  Anhänglichkeit  an  die  römische  Kirche  auch  gegenüber  den 
Reformationsneigungen  des  Erzbischofs  Hermann  von  Wied;  nur  eine 
kleine  Minorität,  worunter  der  Kanzler  H.  v.  Neuenab,  Phbissemiüs, 
Agbippa  V.  Nettesheim,  Obtüdois  Gbatiüs  genannt  werden  (Ennen, 
IV,  372),  neigte  zu  refarmatorischen  Ansichten.  Die  Studien  gerieten 
übrigens  auch  hier  in  tiefen  Verfall.  Die  Reformationsbestrebungen, 
welche  am  Anfang  der  zwanziger  Jahre  dem  Sinken  entgegenwirken 
sollten,  waren  erfolglos.  Die  Immatrikulationsziffem  bewegen  sich  in 
den  Jahren  1527—1543  zwischen  36  und  96  (Ennen,  667),  während 
sie  vorher  300 — 400  betragen  hatten.  Die  Ursache  des  Untergangs, 
sagt  die  Universität  in  einem  Bericht  an  die  städtischen  Provisoren  1534, 
sei  der  Lutheranismus  oder  die  Glaubensspaltung,  unter  dessen  Einfluß 
überall  die  gelehrten  Schulen  eingingen  (Kbappt,  Mitteilungen,  208). 
Noch  im  Jahre  1546  wiederholt  ein  Bericht  der  UniversitÄt,  die  Studien 
seien  schier  erloschen,  weshalb  die  Gegner  der  Kirche  jetzt  die  Augen 
auf  Köln  richteten  (Ennen,  668).  Im  Jahre  1557  hielten  die  Jesuiten 
ihren  Einzug. 

Die  Wiener  Universität,  welche  unter  der  Regierung  Maximilians 
und  unter  dem  Einfluß  der  von  ihm  begünstigten  modernen  Studien 
in  den  beiden  ersten  Jahrzehnten  des  16.  Jahrhunderts  vielleicht  unter 
allen  deutschen  Universitäten  die  größte  Frequenz  gehabt  hatte  (um 


Die  Universitäten  Wien,  Heidelberg,  Basel,  193 


1515  wurden  mehrere  Jahre  hindurch  mehr  als  600  jährlich  imma- 
trikuliert, EiKK,  I,  226),  begann  seit  1522  schnell  zu  sinken.  Gegen 
Ende  des  Jahrzehnts  war  sie  so  gut  wie  verlassen;  in  den  beiden  Jahren 
1527  und  1528  wurden  zusammen  20 — 30  immatrikuliert,  1530  wurden 
im  Ganzen  30  Scholaren  gezählt;  die  Übungen  waren  eingestellt;  in 
dem  Artistenkolleg  waren  nur  noch  zwei  bis  drei  Magister,  in  den  Bursen 
lagen  Handwerksburschen.  Als  Ursache  giebt  die  Universität  schon 
1522  an:  die  lutherische  ^ekte  mahne  von  den  Studien  und  der  Er- 
werbung der  Grade  ab  (Kink,  253  ff.).  Die  Universität  war  übrigens, 
von  der  theologischen  Fakultät  abgesehen,  der  Reformation  geneigt; 
sie  hatte  bereits  im  Humanistenzeitalter  ihren  kirchlichen  Charakter 
einigermaßen  abgestreift;  schon  1513  war  den  Studenten  die  klerikale 
Tracht,  infolge  ihres  höftigen  Sträubens.  erlassen  worden,  und  1511 
hatte  die  Universität  die  Einladung  zum  Konzil  in  Pisa  als  nicht 
mehr  zeitgemäß  dilatorisch  behandelt  (Kink,  226  flF.).  Sie  widerstrebte 
demgemäß  jedem  Andringen,  gegen  die  Ausbreitung  des  Luthertums 
einzuschreiten.  —  Erwähnt  mag  noch  werden,  daß  im  Jahre  1528  von 
Seiten  der  Regierung  de^  Königs  Ferdinand  ein  Verauch  gemacht 
wurde,  Eeasmüs  um  hohes  Gehalt  (400  fl.)  nach  Wien  zu  ziehen,  wie 
aus  dessen  ablehnender  Antwort  an  den  Rat  Jon.  Fabri  hervorgeht 
(Opp.  III,  1089,  1093).  Erasmus  bemerkt,  an  Professoren  fehle  es  dort 
nicht,  aber  an  Studenten. 

Das  Los  der  Wiener  Universität  teilten  Heidelberg  und  Basel. 
In  Heidelberg  kam  es,  wie  die  Universitätsannalen  erzählen,  dahin,  daß 
mehr  Professoren  als  Auditoren  vorhanden  waren;  die  lutherische  Lehre 
und  Empörung  der  Bauernschaft  wird  als  Ursache  angegeben.  An  der 
Universität  lehrten  übrigens  mehrere  lutherisch  Gesinnte,  obwohl  die 
Körperschaft  als  Gesamtheit  sich  ablehnend  verhielt  (Hautz,  I,  390). 
MiCYLLUs,  der  von  1533 — 1537  die  griechische  Lektur  inne  hatte,  klagte 
bitter  über  die  herrschende  Barbarei:  niemand  interessiere  sich  für  die 
Alten,  niemand  mache  sich  etwas  aus  Poesie;  griechische  und  lateinische 
Litteratur  lägen  in  gleicher  Verachtung  (Classen,  126). 

Lucrum  est,  quod  peätur,  magnique  salaria  census, 
Aureaque  ista  licet  secula  jure  voces. 
Das  Baseler  Studium  ging  ganz  ein.  Der  Besuch  war  seit  1522  ganz 
gering;  als  die  Stadt  im  Jahre  1529  die  Reformation  annahm,  zogen 
die  altgläubigen  Lehrer,  unter  ihnen  Glareanüs,  auch  Erasmus  schloß 
sich  an,  nach  Freiburg.  Die  Universität  wurde  suspendiert;  mit  einem 
Fluch  auf  den  Lippen  gegen  die  Reformation,  die  Seelenseuche  (pestis 
animonim),  verschied  sie  (Vischer,  258  flF.). 

Verhältnismäßig  leicht  scheinen  die  beiden  unter  österreichischer 

Paultsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  13 


194         //,  1,    Der  Ausbruch  der  kirchlichen  Revoluiion  u.  s.  w. 


Verwaltung  stehenden  Universitäten  zu  Freiburg  und  Tübingen  die 
Krisis  überstanden  zu  haben.  In  Freiburg  stiegen  nach  der  Depression 
der  Bauernkriege  die  Immatrikulationen  schon  seit  1529  wieder  auf 
die  alte  Höhe.  Die  Regierung  und  der  Rat  wirkten  eintrachtig  zusammen, 
die  Ansteckung  mit  der  neuen  Lehre  fem  zu  halten  (SoHBEiBEBy  U,  104). 

Am  wenigsten  Ton  allen  deutschen  Universitäten  scheint  Ingol- 
stadt von  der  Reformation  berührt  worden  zu  sein.  Mit  der  ent- 
schiedensten Eonsequenz  wurden  alle  Spuren  des  virus  Lutheranumj  das 
auch  hier  am  Anfang  der  zwanziger  Jahre  sich  einzuschleichen  begann, 
ausgerottet  Die  Universität,  unter  Führung  Ecks,  von  der  Regierung 
auch  mit  äußeren  Mitteln  kräftig  unterstützt,  kann  als  die  stärkste 
Vorkämpferin  in  dem  Kriege  mit  Wittenberg  angesehen  werden.  Der 
Besuch  der  Wittenberger  Universität,  ebenso  wie  der  Gebrauch  von 
Schriften  protestantischer  Abkunft  wurde  verboten  und  verfolgt  Im 
Jahre  1527  setzte  Eck  die  Verbrennung  eines  aus  Wittenberg  heim- 
gekehrten Klerikers  in  Schärding  durch.  Der  Besuch  der  Universität 
erlitt  zwar  auch  eine  Abnahme,  sie  war  aber  nicht  sehr  erheblich; 
der  Durchschnitt  der  Immatrikulationen  von  1518 — 1550  betrug  136, 
iiur  36  weniger  als  in  dem  vorausgegangenen  Zeitalter,  wohl  das  gün- 
stigste Verhältnis,  das  überhaupt  vorkommt  (Pbantl,  I,  Kap.  13). 

Im  Jahre  1538  schreibt  Justus  Jonas  in  dem  Widmungsbrief, 
womit  er  seine  lateinische  Übersetzung  des  Jesus  Sirach  dem  Fürsten 
von  Anhalt  dedizierte:  „Vor  wenigen  Jahren  gab  es  in  Deutschland 
zahlreiche  hohe  Schulen,  sie  waren,  während  die  Religionslehre  noch 
ganz  tot  dalag,  lebendig  wirksam  und  zahlreich  besucht;  dazu  gab  es 
zahllose  Klöster,  die  doch  auch  einigermaßen  Schulen  vorstellten.  Seit- 
dem das  Evangelium  seinen  Weg  durch  die  Welt  angetreten  hat,  sind 
viele  Universitäten  so  gut  wie  ausgestorben,  als  ob  das  Studium  jetzt, 
wo  die  wahre  Methode  Theologie  zu  lehren  und  zu  lernen  am  Tag  ist, 
ein  Verbrechen  und  ein  Schimpf  wäre.  Andere  nicht  zu  nennen,  so 
ist  von  Erfurt,  der  alma  mater  so  vieler  Gelehrten,  nicht  viel  mehr 
als  eine  dürftige  Spur,  eine  jammervolle  Ruine  übrig.  Ebenso  sind 
von  den  Akademien  in  Meißen,  Thüringen,  an  der  Donau  und  am 
Rhein  nichts  als  trübselige  Leichname  übrig."  Die  Ursache  lag  nicht 
fem:  der  Verfall  der  Studien  war  die  Folge  der  Verachtung  des  geist- 
lichen Amtij,  damals  noch  beinahe  des  einzigen  gelehrten  Berufs.  „So 
geringe  Achtung,"  heißt  es  kurz  vorher,  „wird  denen,  die  im  geist- 
lichen Amt  stehen,  gegenwärtig  gezollt,  daß  die  Leute  beinahe  noch 
Dank  erwarten,  wenn  sie  fromme  Prediger,  die  sie  längst  bitterlich 
hungern  lassen,  nicht  auch  noch  öflFentlich  anspeien  und  mit  Steinen 
werfen"  (J.  Jonas'  Briefwechsel,  I,  283). 


Erasmus  Über  den   Verfall  der  Studien.  195 


Derselbe  Verfall  trat  bei  den  niederen  Schulen  ein.  '  Es  scheint 
nicht  erforderlich,  diese  Thatsache  durch  Zusammenstellung  der  Nach- 
richten, die  sich  über  die  einzelnen  zufallig  erhalten  haben,  nachzu- 
weisen. Eine  lange  Reihe  von  Klagen  über  den  Untergang  des  Schul- 
wesens hat  DöLLiNGEB  und  ihm  folgend  Janssen  gesammelt;  es  wäre 
nicht  schwer,  sie  weiter  zu  vermehren.  Fast  alle  Schulordnungen  der 
neuen  Landeskirchen  nehmen  auf  die  Thatsache  Bezug,  am  lautesten  und 
heftigsten  hat  Lutheb  selbst  darüber  sich  ausgesprochen;  im  folgenden 
Kapitel  werden  ein  paar  Stellen  mitgeteilt  werden. 

Es  war  ein  ungeheuer  Unerwartetes,  was  sich  auf  dem  Gebiet  des 
Bildungs Wesens  in  diesem  Dezennium  zugetragen  hatte.  Am  Anfang 
war  der  Humanismus  des  Sieges  völlig  gewiß;  überall  drang  Licht  und 
Bildung  durch,  die  herrschenden  Oesellschaftsklassen  standen  durchaus 
auf  Seiten  der  guten  Sache.  Und  am  Ende  desselben  Jahrzehnts  schien 
alles  zerronnen.  ' 

Im  Jahre  1516  hatte  Erasmüs  an  Cafito  geschrieben:  ich  hange 
nicht  eben  sehr  am  Leben,  und  doch  möchte  ich  gegenwärtig  wohl  ein 
wenig  jünger  sein,  denn  es  scheint,  daß  ein  goldenes  Zeitalter  kommt 
und  vor  der  Thür  ist  So  hat  Gott  die  Herzen  der  Fürsten  gewendet, 
daß  sie  nur  nach  Frieden  und  Einigkeit  trachten.  Darum  hoffe  ich 
mit  Zuversicht,  daß  nicht  nur  gute  Sitten  und  Frömmigkeit,  sondern 
auch  die  schönen  Wissenschaften  wieder  aufleben  und  sich  immer 
glänzender  entfalten  werden.  Hierfür  bürgt  das  einmütige  Streben  des 
Papstes  Leo  X.,  des  Kardinals  von  Toledo  in  Spanien,  der  Könige 
Heinrich,  Karl  und  Franz,  endlich  des  Kaisers  Maximilian  (Opp.  III, 
186  ff.). 

Im  Jahre  1528  schrieb  derselbe  Ebasmus  an  einen  Freund  bei 
Erwähnung  von  Wimphelings  Tod:  er  wisse  nicht,  solle  er  klagen, 
oder  jenem  Glück  wünschen,  daß  er  einer  Zeit  entnojnmen  sei,  die  über 
jede  Vorstellung  verderbt  und  zuwider  sei  (IV,  1141).  Die  von  Lutheb 
erregte  Kirchenrevolution,  das  ist  Ebasmus'  oft  kund  gegebene  Ansicht, 
ist  an  dieser  unglücklichen  Veränderung  schuld.  „Wo  immer  das, 
Luthertum  herrscht,  da  sind  die  Wissenschaften  zu  Grunde  gegangen. 
Zwei  Dinge  suchen  sie,  eine  Stelle  und  ein  Weib,  dazu  giebt  ihnen  ' 
das  Evangelium  die  Freiheit,  nach  ihrer  Lust  zu  leben"  (an  Pibck- 
HEIMEB,  1528,  IV,  1139). 

Allerdings  das  letzte  Wort  der  Reformation  in  diesen  Dingen  war 
noch  nicht  gesprochen.^ 

^  Auch  die  Darstellung  dieses  Kapitels  hat  man  tendenziös  gescholten,  so 
KoLDE  in  seiner  Lutherbiographie.  Als  ob  ich  daran  schuld  wäre,  daß  in  der 
ßeformationsgeschichte   Thatsachen   vorkommen,   die    einem    eifrigen  Lather- 

13* 


196    //,  2,    Die  Anschauungen  der  Reformatoren  vom  gelehrten  UnterrlchL 


Zweites  Kapitel. 

Die  Anschauungen  der  Reformatoren  Yom  gelehrten 

Unterricht  und  seiner  Aufgabe. 

Zwei  Funkte  treten  als  herrschende  Gedanken  in  den  Anschauungen 
Luthers  und  Melanchthons  hervor:  1.  Die  Erhaltung  und  Ordnung 
des  Schulwesens  ist  Pflicht  und  Recht  der  weltlichen  Obrigkeit. 
2.  Der  gelehrte  Unterricht  ist  in  erster  Linie  auf  die  Sprachen  zu 
stellen;  dazu  ist  die  Philosophie  unentbehrlich.  Für  die  Unterweisung 
im  Glauben  treten  Katechismus  und  heilige  Schrift  hinzu. 

LüTHEBS  Progranmi  ist  schon  in  der  Schrift  an  den  christlichen 
Adel  deutscher  Nation  (1520)  angedeutet.  Die  negative  Seite,  die 
Verwerfung  der  alten  Schulphilosophie,  ist  schon  früher  (S.  llü)  be- 
rührt. Seine  positive  Ansicht  tritt  in  folgender  Stelle  im  Umriß  zu 
Tage:  „Das  möcht  ich  gern  leiden,  daß  Aristoteles'  Bücher  von  der 
Logica,  Rhetorica,  Poetica  behalten,  oder,  in  eine  andere  kurze 
Form  gebracht,  mit  Nutzen  gelesen  würden,  junge  Leute  zu  üben  wohl 
reden  und  predigen;  aber  die  Komment  und  Sekten  müßten  abgethan, 
und  gleichwie  Ciceros  lihetorica,  ohne  Komment  und  Sekten,  so  auch 
Aristoteles'  Logica  einförmig  ohne  solch  groß  Komment  gelesen  werden. 
Aber  jetzt  lehret  man  weder  reden  noch  predigen  daraus,  und  ist  ganz 
eine  Disputation  und  Muderei  daraus  worden.  Daneben  hätte  man  nun 
die  Sprachen,  Lateinisch,  Griechisch,  Hebmisch,  die  mathematischen 
Disziplinen,  Historien,  welches  ich  befehle  Verständigeren;  und  sich 
selbst  wohl  geben  würde,  so  man  mit  Ernst  nach  einer  Reformation 

trachtete. Vor  allen  Dingen   sollte  in  den  hohen  und  niedern 

Schulen  die  fürnehmste  und  gemeinste  Lektion  sein  die  heilige  Schrift 
und  den  jungen  Knaben  das  Evangelium.  Und  wollt  Gott,  eine  jeg- 
liche Stadt  hätte   auch   eine  Mädchenschule,   darinnen  des  Tags   die 


biographeu  unbequem  sein  mögen.  Oder  meint  man  etwa  die  Thatsachen  da- 
durch aus  der  Welt  zu  bringen,  daß  man  sie  in  der  Darstellung  übergeht? 
Was  man  in  Wirklichkeit  erreicht,  ist  allein  dies,  daß  die  katholische  Geschichts- 
schreibung nun  die  übergangenen  Dinge  ans  Licht  zieht,  in  den  Vordergrund 
stellt  und  damit  zugleich  die  Wahrhaftigkeit  protestantischer  Darstellungen 
überhaupt  dem  Leser  verdächtig  macht.  Jamssens  Geschichte  des  deutschen 
Volkes  hätte  nicht  den  großen  Eindruck  machen  können  —  auch  eine  un- 
bequeme Thatsache  für  manche  protestantische  Kreise  — ,  wenn  nicht  die 
protestantische  Geschichtsschreibung  der  Neigung,  die  imbequemen  Thatsachen 
zu  übergehen,  so  sehr  nachgegeben  hätte. 


\ 


LiUher:  An  die  Eais^ierren  deutscher  Städte  (1524),  197 


Mägdlein  eine  Stunde  das  Evangelium  liureten,  es  wäre  zu  deutsch 
oder  lateinisch."  — 

Ausfuhrlicher  hat  Luther  seine  Anschauung  dann  in  der  Schrift: 
,,An  die  Ratsherren  aller  Städte  deutschesLands,  daß  sie  christ- 
liche Schulen  aufrichten  und  halten  sollen"  (1524),  dargelegt 
Man  hat  die  Schrift  den  Stiftungsbrief  der  deutschen  Gelehrtenschulen 
genannt.  Sie  selbst  stellt  sich  dar  als  ein  Weckruf,  oder  vielmehr  als 
ein  Notschrei,  der  durch  die  Thatsache  des  plötzlichen  und  allgemeinen 
Niedergangs  des  Unterrichtswesens  seit  dem  Anfang  der  Kirchenrevo- 
lution ausgepreßt  wird.  Luther  fuhrt  die  Thatsache  auf  den  Teufel 
zurück,  der  dem  Plvangelium  damit  schaden  wolle.  Die  alten  Schulen 
habe  er  gar  wohl  leiden  mögen,  ja  er  selbst  habe  sie,  wie  die  Stifte 
und  Klöster,  seine  Nester,  gestiftet  und  erhalten,  um  darin  die  Jugend 
zu  seinem  Reich  zu  ziehen;  und  in  der  That  sei  ihm  das  gelungen: 
„es  war  nicht  möglich,  daß  ihm  ein  Knabe  hätte  entlaufen  sollen,  ohne 
sonderlich  Wunder  Gottes.  Nun  er  aber  siebet,  daß  diese  Stricke 
durch  Gottes  Wort  verraten  werden,  fahret  er  auf  die  andere  Seite 
und  will  nun  gar  nichts  lassen  lernen."  Und  daran  thue  er  abermal 
recht  und  weislich  für  die  Erhaltung  seines  Reiches.  —  Neben  dieser 
poetisch-rhetorischen  Darstellung  giebt  Luther  auch  eine  prosaisch- 
rationale:  „weil  der  fleischliche  Haufe  siebet,  daß  sie  ihre  Söhne,  Töchter 
und  Freunde  nicht  mehr  mögen  in  Klöster  und  Stifft  verstoßen  und 
aus  dem  Hause  und  Gut  weisen  und  auf  fremde  Güt«r  setzen,  so  will 
niemand  mehr  lassen  Kinder  lehren  noch  studieren.  Ja,  sagen  sie,  was 
soll  man  lernen  lassen,  so  nicht  PfaflFen,  Mönche  und  Nonnen  werden 
sollen?  Man  lasse  sie  lernen,  damit  sie  sich  ernähren."  —  Dazu 
komme  eine  andere  Rede;  die  Gelehrsamkeit,  wie  sie  zur  leiblichen 
Versorgung  nicht  mehr  tauglich,  so  sei  sie  auch  an  sieh  selber  nicht 
mehr  notwendig:  „Was  ist  uns  nütze,  Lateinische,  Griechische,  Ebräische 
Sprache  und  andere  freie  Kunst«  zu  lehren?  Könnten  wir  doch  wohl 
Deutsch  die  Bibel  und  Gottes  Wort  lernen,  die  uns  genugsam  ist  zur 
Seligkeit."  ^ 

Dem  gegenüber  zeigt  nun  Luther  die  Notwendigkeit  eines  ge- 
lehrten Unterrichts   sowohl   um   der  Religion   als   um   des  weltlichen 


^  Dieselben  beiden  Ursachen  nennt  Melanchthon  in  der  Eröffnungsrede 
der  Nürnberger  Schule  1526  (C.  R.  XI,  108):  durch  eine  Irrung  würden  die 
Schalen  verlassen;  einige  dumme  Frädikanten  zögen  von  den  Studien  ab  und 
die  Masse  greife  aus  Xahrungssorge  zu  einem  Gewerbe,  da  sie  auf  Pfründen 
sich  Ic^ne  Hoffnung  mehr  glaube  machen  zu  dürfen.  Es  ist  diese  melancho- 
lische Betrachtung,  die  von  da  ab  in  der  einschlägigen  Litteratur  unaufhörlich 
wiederkehrt. 


198    //,  2,    Die  Anschauutigen  der  Reformatoren  vom  gelehrten  UnterricfU. 


Uegiments  willen.  Anhebend  mit  einem  heiligen  Zoraaosbruch  gegen 
jene  Verächter  der  Wissenschaft:  „Ja  ich  weiß  leider  wohl,  daß  wir 
Deutschen  müssen  immer  Bestien  und  tolle  Tiere  sein  und  bleiben, 
wie  uns  denn  die  umliegenden  Länder  nennen  und  wir  auch  wohl  ver- 
dienen/^ führt  er  zunächst  aus,  daß  das  Evangelium  weder  ohne  die 
Sprachen  hätte  kommen  können  noch  werde  erhalten  bleiben:  „Wie 
wohl  das  Evangelium  allein  durch  den  heiligen  Geist  gekommen  ist 
und  täglich  kommt,  so  ist*s  doch  allein  durch  das  Mittel  der  Sprachen 
gekommen,  muß  auch  dadurch  erhalten  werden.  Denn  gleichwie  Gott, 
als  er  durch  die  Apostel  wollt  in  alle  Welt  das  Evangelium  lassen 
kommen,  die  Sprachen  dazu  gab,  und  auch  zuvor  durch  der  Römer 
Regiment  die  griechische  und  lateinische  Sprache  so  weit  in  alle  Lande 
ausgebreitet  hatte,  also  hat  er  auch  jetzt  gethan.  Niemand  hat  ge- 
wußt, warum  Gott  die  Sprachen  hervorkommen  ließ,  bis  daß  man  nun 
allererst  sieht,  daß  es  um  des  Evangelü  willen  geschehen  ist,  welches 
er  hernach  hat  wollen  offenbaren  und  dadurch  des  Antichrists  Regiment 
aufdecken  und  zerstören.  Darum  hat  er  auch  Griechenland  dem  Türken 
gegeben,  auf  daß  die  Griechen  verjagt  und  zerstreuet  die  griechische 
Sprache  ausbrächten  und  ein  Anfang  würden,  auch  andere  Sprachen 
mit  zu  lernen.  So  lieb  nun  als  uns  das  Evangelium  ist,  so  hart  laßt 
uns  über  den  Sprachen  halten.  Denn  Gott  hat  seine  Schrift  nicht  um- 
sonst allein  in  die  zwei  Sprachen  schreiben  lassen,  das  alte  Testament 
in  die  hebräische,  das  neue  in  die  griechische.  Welche  nun  Gott  nicht 
verachtet,  sondern  zu  seinem  Wort  erwählet  hat  vor  allen  andern,  die- 
selben sollen  auch  wir  vor  allen  andern  ehren."  „Und  das  laßt  uns 
gesagt  sein,  daß  wir  das  Evangelium  nicht  wohl  werden  erhalten  ohne 
die  Sprachen.  Die  Sprachen  sind  die  Scheiden,  darin  dies  Messer  des 
Geistes  steckt.    Sie   sind  der  Schrein,   darin  man  dies  Kleinod  trägt. 

Ja  wo  wir's  versehen,  daß  wir  (da  Gott  für  sei!)  die  Sprachen 

fahren  lassen,  so  werden  wir  nicht  allein  das  Evangelium  verlieren, 
sondern  wird  auch  endlich  dahin  geraten,  daß  wir  weder  lateinisch 
noch  deutsch  recht  reden  oder  schreiben  können.  Das  laßt  uns  das 
elend  greulich  Exempel  zur  Beweisung  und  Warnung  nehmen  in  den 
hohen  Schulen  und  Klöstern,  darin  man  nicht  allein  das  Evangelium 
verlernet,  sondern  auch  lateinische  und  deutsche  Sprache  verderbet  hat, 
daß  die  elenden  Leute  schier  zu  lauter  Bestien  worden  sind,  weder 
deutsch  noch  lateinisch  recht  reden  oder  schreiben  können;  und  beinahe 
auch  die  natürliche  Vernunft  verloren  haben." 

Also  Christentum  und  Bildung,  ja  der  gesunde  Menschenverstand 
selbst  hängt  an  den  Sprachen. 

Es  mag  dahingestellt  sein,  ob  der  heilige  Geist  jene  beiden  Sprachen 


Luther:  An  die  Ratsherren  deutscher  Städte  (1524).  199 


so  ausschließlich  zum  Organ  seiner  Offenbarung  gewählt  hat,  als  Lutheb 
hier  behauptet  und  gleich  hernach  ausführt:  nach  dem  Aufhören  der 
Sprachen  sei  alsbald  das  Christentum  selbst  untergegangen  unter  dem 
Papsttum.  Wer  so  sehr  wie  Lutheb  betont,  daß  nicht  menschlicher 
Wille,  Kunst  und  Gelehrsamkeit,  sondern  allein  der  Geist  den  Glauben 
wirkt,  hätte  vielleicht  Ursache  gehabt,  vorsichtiger  in  Behauptungen 
über  die  Mittel  dieser  Wirkungen  zu  sein.  Es  mag  auch  dahingestellt 
sein,  ob  die  natürliche  Vernunft;  und  die  Fähigkeit  menschlicher  Bede 
vor  dem  Aufgehen  der  Sprachen  in  Deutschland  so  ausgestorben  waren, 
als  Lutheb  annimmt;  seine  eigene  eminente  Begabung  mit  gesundem 
Menschenverstand  und  natürlicher  Beredsamkeit,  die  er  beide  nicht  den 
Sprachen  verdankte,  sondern  der  Natur  und,  soweit  der  Schule,  eher 
dem  Mittelalter,  scheinen  dagegen  zu  zeugen.  Aber  in  einem  Stück 
hat  Lutheb  ohne  Zweifel  recht:  das „Evangelium^^,  d.h.  die  Reformation, 
konnte,  wenn  sie  Dauer  und  Bestand  gewinnen  sollte,  der  Wissenschaft 
und  besonders  der  Sprachen  nicht  entbehren.  Das  Christentum  war 
allerdings  ohne  Philosophie  in  die  Welt  gekommen.  Aber  die  Dinge 
lagen  jetzt  anders  als  damals,  wo  die  alte  Welt,  der  Philosophie  und 
Kultur  satt,  die  Erlösung  suchte.  Ein  neues  Kirchenwesen  konnte  im 
16.  Jahrhundert  gegenüber  dem  alten  nicht  Baum  gewinnen,  ohne  die 
Gelehrsamkeit  auf  seiner  Seite  zu  haben.  Die  alte  Kirche  hatte  für  sich 
alle  Autorität,  welche  ehrwürdiges  Alter  dem  Glauben  und  Brauch  der 
Väter  verleiht,  alle  Macht,  welche  bestehenden  Institutionen  durch  die 
Verkettung  mit  Privatinteressen  zuwächst.  Die  Reformation  berief  sich 
dem  gegenüber  allein  auf  das  Wort  Gottes,  das  heißt  auf  das  richtig 
verstandene  Wort  Gottes,  denn  auch  die  alte  Kirche  leitete  ihre 
Lehre  und  Autorität  aus  Gottes  Wort  ab.  Für  das  richtige  Verständnis 
aber  berief  sie  sich  auf  die  „Sprachen^',  das  heißt  auf  die  jetzt  ermög- 
lichte grammatisch -philologische  Interpretation  des  Urtextes.  Damit 
kommt  die  letzte  Entscheidung  in  Sachen  der  Lehre  an  die  Sprach- 
wissenschaft;. Nicht  umsonst  pflegt  Lutheb  mit  einem  Buch  in  der 
Hand  abgebildet  zu  werden;  das  Symbol  zeigt,  daß  im  Protestantismus 
nicht,  wie  im  Papsttum,  die  Autorität  einer  Person  oder  einer  Ver- 
sammlung, sondern  die  Wissenschaft  die  entscheidende  Stimme  hat 
Wozu  denn  freilich  zu  bemerken  wäre,  daß  Lutheb  selbst  sich  keines- 
wegs an  den  Buchstaben  und  das  grammatische  Wortverständnis  des 
Schrifttextes  gebunden  hielt;  er  braucht  den  Buchstaben,  wo  er  für  ihn 
ist,  gegen  andere,  wie  gegen  die  Schweizer.  Wo  er  nicht  für  ihn  ist, 
da  ist  er  auch  ohnedem  seiner  Sache  sicher  und  weiß,  was  in  der 
Schrift  stehen  muß.  Es  ist  bekannt  genug,  wie  unbefangen  Lutheb 
die  einzelnen  Bücher  der  Schrift  seiner  Censur  unterwirft  und  ihren 


200    //,  2.    Die  Anschauungen  der  Reformatoren  vom  gelehrten  Unterricht. 


Wert  an  der  Zusammenstimmung  mit  seiner  Lehre  mißt,  ja  wie  er  auch 
dem  Text  ein  wenig  nachhilft,  wo  er  nicht  mit  der  nötigen  Entschieden- 
heit die  reine  Lehre  von  der  Rechtfertigung  durch  den  Glauben  „aliein" 
zu  bieten  scheint.  Für  die  Ermittelung  des  Wortsinnes,  sagt  Köstltn 
(Leben  Luthers,  II,  434),  hielt  Lütheb  die  Philologie  für  notwendig, 
aber  keineswegs  für  ausreichend  zum  Verständnis  der  Schrift;  hierzu 
gehöre  innere  Vertrautheit  mit  den  sittlich-religiösen  Vorgangen  und  den 
christlichen  Grundwahrheiten.  Das  heißt,  um  die  Schrift  zu  verstehen, 
muß  man  schon  wissen,  was  sie  lehrt;  die  Schrift  ist  das  Maß  der 
Lehre;  aber  auch  umgekehrt:  die  Lehre  ist  das  Maß  der  Schrift,  sie  ist 
ex  analogia  fidei  zu  interpretieren. 

Zu  dieser  ersten  Notwendigkeit  des  gelehrten  Unterrichts  kommt 
dann  die  zweite:  seine  ünentbehrlichkeit  für  den  weltlichen  Stand. 
„Wenn  nun  gleich  keine  Seele  wäre  und  man  der  Schulen  und  Sprachen 
gar  nicht  bedürfte  um  der  Schrift  und  Gottes  willen,  so  wäre  doch 
allein  diese  Ursache  genugsam,  die  allerbesten  Schulen  beide  für  Knaben 
und  Mädchen  an  allen  Orten  aufzurichten,  daß  die  Welt  auch  ihren 
weltlichen  Stand  äußerlich  zu  erhalten  doch  bedarf  feiner,  geschickter 
Männer  und  Frauen,  daß  die  Männer  wohl  regieren  könnten  Land  und 
Leute,  die  Frauen  wohl  ziehen  und  halten  könnten  Haus,  Kinder  und 
Gesinde."  „Wo  man  sie  lehrete  und  zöge  in  Schulen  oder  sonst,  da 
gelehrte  und  züchtige  Meister  und  Meisterinnen  wären  und  die  Sprachen 
und  andere  Künste  und  Historien  lehrten,  da  würden  sie  hören  die 
Geschichten  und  Sprüche  aller  Welt,  wie  es  dieser  Stadt,  diesem  Reich, 
diesem  Fürsten,  diesem  Mann,  diesem  Weibe  gegangen  wäre,  und 
könnten  also  in  kurzer  Zeit  gleich  der  ganzen  Welt  von  Anbeginn 
Wesen,  Leben,  Rat  und  Anschläge,  Gelingen  und  Ungelingen  für  sich 
fassen,  wie  in  einem  Spiegel,  daraus  sie  denn  ihren  Sinn  schicken  und 
sich  in  der  Welt  Lauf  richten  könnten  mit  Gottesfurcht,  dazu  witzig 
und  klug  werden  aus  denselben  Historien,  was  zu  suchen  und  zu 
meiden  wäre  in  diesem  äußerlichen  Leben,  und  andern  auch  darnach 
raten  und  regieren.  Die  Zucht  aber,  die  man  daheim  ohne  solche 
Schulen  vornimmt,  die  will  uns  weise  machen  durch  eigene  Erfahrung; 
ehe  das  geschieht,  so  sind  wir  hundertmal  tot,  und  haben  unser  Leben 
lang  alles  unbedächtig  gehandelt,  denn  zu  eigener  Erfahrung  gehört 
viel  Zeit." 

Die  Unterrichtsgegenstände  werden  nur  angedeutet:  „Wenn  ich 
Kinder  hätte  und  vermöcht's,  sie  müßten  mir  nicht  allein  die  Sprachen 
und  Historien  hören,  sondern  auch  singen  und  die  Musica  mit  der  ganzen 
Mathematica  lernen."  „Ja  wie  leid  ist  mir's  jetzt,  daß  ich  nicht  mehr 
Poeten  und  Historien  gelesen  habe  und  mich  auch  dieselben  niemand 


Luther:  An  dU  Ratsherren  deutscfier  Städte  (1524),  201 


gelehret.  Habe  dafür  müssen  lesen  des  Teufels  Dreck,  die  Philosophen 
und  Sophisten  mit  großen  Kosten,  Arbeit  und  Schaden,  daß  ich  genug 
habe  daran  auszufegen."  Für  alle  diese  Dinge,  hält  er,  sei  ein  Unter- 
rieht  von  ein  oder  zwei  Stunden  täglich  genug;  die  andere  Zeit  möchten 
die  Knaben  im  Hause  schaffen  oder  ein  Handwerk  lernen,  und  so  die 
Mägdlein. 

Dann  dringt  er  noch  auf  die  Errichtung  und  Unterhaltung  von 
guten  „Librareien  oder  Bücherhäusern."  Darin  sollte  sein,  nicht  die 
alte  nichtsnutzige  Universitätsgelehrsamkeit,  sondern  erstlich  die  heil. 
Schrift,  beide  auf  Lateinisch,  Griechisch,  Ebräisch  und  Deutsch  und 
ob  sie  noch  in  mehr  Sprachen  wäre.  Darnach  die  besten  Ausleger 
und  die  ältesten,  beide  Griechisch,  Ebräisch  und  Lateinisch.  Darnach 
solche  Bücher,  die  zu  den  Sprachen  zu  lernen  dienen,  als  die  Poeten 
und  Oratoren,  nicht  anzusehen,  ob  sie  Heiden  oder  Christen  wären, 
Griechisch  oder  Lateinisch,  denn  aus  solchen  muß  man  die  fframmatica 
lernen.  Darnach  sollten  sein  die  Bücher  von  den  freien  Künsten  und 
sonst  von  allen  andern  Künsten.  Zuletzt  auch  der  Recht  und  Arznei 
Bücher,  wiewohl  auch  hier  unter  den  Kommenten  einer  guten  Wahl 
not  ist.  Mit  den  fürnehmsten  aber  sollten  sein  die  Chroniken  und 
Historien,  waserlei  Sprachen  man  haben  könnte,  denn  dieselben 
wunder  nütz  sind,  der  Welt  Lauf  zu  erkennen  und  regieren,  ja  auch 
Gottes  Wunder  und  Werk  zu  sehen." 

Für  alle  diese  Dinge  zu  sorgen  macht  er  nun  den  weltlichen 
Obrigkeiten,  besonders  den  Räten  der  Städte  zur  Pflicht:  Die  Eltern 
sind  zwar  die  höchst  Verpflichteten,  aber  die  Aufgabe  geht  über  ihre 
Kräfte;  darum  muß  die  Obrigkeit  eintreten.  „Muß  man  jährlich  so 
viel  wenden  an  Büchsen,  Wege,  Stege,  Dämme  und  dergleichen,  damit 
eine  Stadt  zeitlich  Friede  und  Gemach  habe,  warum  sollt  man  nicht 
auch  so  viel  wenden  an  die  dürftige  arme  Jugend,  daß  man  einen 
geschickten  Mann  oder  zween  hielte  zu  Schulmeistern."  Auch  hier  liegt 
ein  öffentliches  Interesse,  eine  Gefahr  für  das  gemeine  Wesen  vor: 
„wie  will  Vernunft  und  sonderlich  christliche  Liebe  das  leiden,  daß  die 
Kinder  ungezogen  aufwachsen  und  den  andern 'Kindern  Gift  und  An- 
steckung seien,  damit  zuletzt  eine  ganze  Stadt  verderbe,  wie  es  denen 
zu  Sodom  und  Gomorrha  ergangen  ist."  ..Darum  will  hie  dem  Rat 
und  der  Obrigkeit  gebühren,  die  allergrößeste  Sorge  und  Fleiß  aufs 
junge  Volk  zu  haben.  Einer  Stadt  Gedeihen  liegt  nicht  allein  darin, 
daß  man  große  Schätze  sammele,  feste  Mauern,  schöne  Häuser,  viel 
Büchsen  und  Harnisch  zeuge,  ja  wo  des  viel  ist  und  tolle  Narren  darül)er 
kommen,  ist's  um  desto  ärger  und  desto  größrer  Schade  derselben 
Stadt.     Sondern    das   ist   einer  Stadt  Bestes   und   aller   reichstes  Ge- 


202    //,  2,  Die  Anschauungen  der  Reformatoi'en  vom  gelehrten  Unterricht, 


deihen,  Heil  und  Kraft,  daß  sie  viel  feiner,  gelehrter,  vernünftiger, 
ehrbarer,  wohl  gezogener  Bürger  bat,  die  könnten  darnach  wohl  Schätze 
und  alles  Gut  sammeln,  erhalten  und  recht  brauchen/' 

Diesem  ersten  Mahnruf  ließ  Luther  noch  einen  zweiten  folgen: 
im  Jahre  1530  ließ  er  den  Sermon,  daß  man  solle  Kinder  zur 
Schule  halten,  drucken.  Er  wiederholt  darin  mit  größerer  Heftigkeit- 
und  Bitterkeit  die  Klage,  daß  die  Studien  verachtet  würden,  daß  nie- 
mand etwas  für  die  Schule  thun,  auch  die  Eltern  ihre  Kinder  nicht 
zur  Schule  halten  wollten.  „Vorhin,  da  man  dem  Teufel  dienete  und 
Christi  Blut  schändete,  da  stunden  alle  Beutel  offen  und  war  des 
Gebens  zu  Kirchen,  Schulen  und  allen  Greueln  kein  Maß,  da  konnte 
man  Kinder  in  Klöster,  Stifte,  Kirchen,  Schulen  treiben,  stoßen,  zwingen 
mit  unsäglichen  Kosten,  das  alles  verloren  war.  Nun  man  aber  rechte 
Schulen  und  rechte  Kirchen  soll  stiften,  ja  nicht  stiften,  sondern  allein 
erhalten  im  Bau,  da  sind  alle  Beutel  mit  eisernen  Ketten  zugeschlossen.'* 
Er  sieht  daher  voraus,  daß  es  in  kurzem  in  Deutschland  an  gelehrten 
Leuten,  die  zum  Fredigtamt  und  weltlichem  Regiment  zu  gebrauchen, 
gänzlich  fehlen  und  große  Verwüstung  hereinbrechen  werde.  „Ja  es 
wäre  nicht  Wunder  daß  Gott  beide  Thür  und  Fenster  in  der  Höllen 
aufthät  und  ließe  unter  uns  eitel  Teufel  schneien  und  schlacken,  oder 
ließe  vom  Himmel  regnen  Schwefel  und  höllisches  Feuer  und  versenkte 
uns  allesamt  in  den  Abgrund  der  Höllen,  wie  Sodoma  und  Gomorrha; 
denn  hätte  Sodoma  und  Gomorrha  soviel  gehabt,  soviel  gehört  oder 
gesehen,  sie  stünden  freilich  noch  heutigestags,  denn  sie  sind  das 
zehend  Teil  nicht  so  böse  gewest,  als  jetzt  Deutschland  ist,  denn  sie 
haben  Gottes  Wort  und  Predigtamt  nicht  gehabt."  —  Die  Predigt 
läuft  aus  in  die  dringende  Forderung,  daß  die  Obrigkeit  ihre  Unter- 
thanen  zwinge,  die  Kinder  zur  Schule,  d.  h.  zum  Studium  zu 
schicken.  „Denn  sie  ist  wahrlich  schuldig,  die  obgesagten  Ämter  und 
Stände  zu  erhalten,  daß  Prediger,  Juristen,  Pfarrer,  Schreiber,  Ärzte, 
Schulmeister  und  dergleichen  bleiben,  denn  man  kann  ihrer  nicht  ent- 
behren. Kann  sie  die  Unterthanen  zwingen,  so  da  tüchtig  sind,  daß 
sie  müssen  Spieß  und-  Büchsen  tragen,  a^f  die  Mauern  laufen  und 
anderes  thun,  wenn  man  kriegen  soll,  wie  viel  mehr  kann  und  soll 
sie  hier  die  Unterthanen  zwingen,  daß  sie  ihre  Kinder  zur  Schule 
halten,  weil  hie  wohl  ein  ärgerer  Krieg  vorhanden  ist,  mit  dem  leidigen 
Teufel,  der  damit  umgehet,  daß  er  Städte  und  Fürstentum  will  so 
heimlich  aussaugen  und  von  tüchtigen  Personen,  bis  er  den  Kern  gar 
ausgebohret,  eine  ledige  Hülsen  da  lasse  stehen  von  eitel  unnützen 
Leuten,  da  er  mit  spielen  und  gaukeln  könne,  wie  er  will.  Das  heißet 
freilich  eine  Stadt  oder  Land  ausgehungert  und  ohne  Streit  in  sich  selbst 


Luifter:   Sermon,  daß  man  solle  Kinder  zur  Schule  hallen  (1530).     203 


verderbet,  ehe  man  sich   umsiehet    Thut  doch   der  Türke   wohl  ein 
anderes  und   nimmt  das  dritte  Kind  in  seinem  Reich  und  zeucht^ 
wozu  er  will.     Wie   viel  mehr  sollten   unsere  Herren    doch   etliche 
Knaben  nehmen  zur  Schulen.  —  Darum  wache  hie  wer  wachen  kann, 
die  Obrigkeit,  wo  sie  einen  tüchtigen  Knaben  siehet,  daß  sie  den  zur 
Schulen  halten  lasse.   Ist  der  Vater  arm,  so  helfe  man  mit  Kirchengütem 
dazu.     Hie  sollten  die  Reichen  ihre  Testament  zu  geben,  wie  denn  die 
gethan  haben,  die  etliche  Stipendia  gestiftet  haben.    Das  hieße  recht 
zur  Kirchen  dein  Geld  bescheiden."  —  Für  die  Eltern  hat  er  übrigens, 
nachdem  er  ihnen  erst  ins  Gewissen  geredet:  durch  ihre  Schuld  ginge 
geistlich  und  weltlich  Regiment  und   alle  Ordnung  unter,   auch   eine 
lockende  Gewinnrechnung:   die  Zahl  der  Schüler  in  Deutschland  sei 
gegenwärtig  überaus  gering,  vielleicht  nicht  4000  im  halben  deutschen 
Land,  da  allein  in  Sachsen' wohl  an  4000  gelehrter  Personen,  Kapläne, 
Schulmeister  und  Küster  eingerechnet,   gebraucht    würden.    „Darum 
halt  ich,  daß  nie  keine   bessere  Zeit  gewesen  sei  zu  studieren  denn 
jetzt,  nicht  allein  deshalb,  daß  die  Kunst  jetzt  so  reichlich  und  wohl- 
feil vorhanden  ist,  sondern  auch  daß  groß  Gut  und  Ehre  folgen  muß, 
und  die  so  zu  dieser  Zeit  studieren,  werden  teure  Leute  sein,  da  sich 
noch  um  einen  Gelehrten  zween  Fürsten  und  drei  Städte  reißen  werden." 
Man  muß,  um  für  Lüthebs  Schulschriften  das  rechte  Verständnis 
zu  gewinnen,  sich  die  furchtbare  Verlegenheit  gegenwärtig  halten,  in 
die  das  Eingehen  der  Studien  die  Reformatoren  versetzte.    Zahlreiche 
Pfarrstellen  wurden  durch  Tod  und  seit  den  Visitationen  auch  durch 
die  Entfernung  der  alten  Inhaber  wegen  Anhänglichkeit  an  die   alte 
Lehre  erledigt:  woher  den  Ersatz  nehmen?    Anfangs  konnte  man  die 
ausgetretenen  Mönche  verwenden.    Später  sah  man  sich  vielfach  ge- 
nötigt, auch  ganz  ungelehrte  Leute  zu  Pfarrern  zu  machen.    Rietschel 
(Luther  und   die   Ordination,  1889)   weist   nach,    wie   unter   den   zu 
Wittenberg  seit  1537  Ordinierten  sich  anfangs  sehr  zahlreiche  Leute 
finden,  bei  denen  von  gelehrter  Bildung  und  Universitätsbesuch  nicht 
die  Rede  war;  alle  Handwerke  sind  unter  ihnen  vertreten,  Schreiber, 
Drucker,  Tuchmacher,  Leineweber,  Schuster,  Schneider,  auch  ein  Bauer. 
Erst  seit  1544   verschwinden   die  Handwerker,   wogegen  Küster  und 
Schulmeister  auch  noch  in  der  Folge  vielfach  ins  Pfarramt  übergehen. 


Der  eigentliche  Begründer  des  protestantischen  Gelehrtenschul- 
wesens ist  Melanchthon  geworden.  Wir  werfen  zuerst  auf  seine 
grundlegenden  Anschauungen  und  seine  Thätigkeit  im  allgemeinen 
einen  Blick.    Vor  allem  ist  hier  zu  bemerken,  daß  er  zu  den  Sprachen 


204    //,  2,   Dis  Anschauungen  der  Reformatoren  vom  gelehrten  Unterricht. 


und  Wissenschaften  ein  näheres  und  innerlicheres  Verhältnis  hat  als 
Luther.  Lutheb  ist  vor  allem  Theolog,  die  Theologie  hat  ihn  zuüfi 
Gelehrten  gemacht  und  den  Sprachen  zugeführt  Dem  eigentlichen 
Humanismus  ist  er  innerlich  fremd  geblieben.  Er  schätzte  die  Sprachen 
zwar  nicht  bloß  als  unentbehrliche  Hilfsmittel  für  die  Beform  der 
Theologie,  er  hatte  auch  Sinn  für  die  alt^n  Schriftsteller,  besonders 
die  römischen,  die  er  fast  allein  kannte;  die  Menschenkenntnis  ihrer 
KomOdiendichter,  selbst  die  Lebensweisheit  ihrer  Philosophen  schien 
ihm  ein  schätzbares  Bildungsmittel.  Es  fehlte  ihm  auch  nicht  ganz 
der  Sinn  für  die  Eleganz  der  Form.  Aber  von  dem  Enthusiasmus  der 
Humanisten  ist  er  immer  fern  geblieben.^ 

Melanchthon  dagegen  war  ursprünglich  ganz  Humanist;  als  sol- 
cher war  er  nach  Wittenberg  gekommen  und  hatte  in  jener  Antritts- 
rede, wie  üblich,  das  Ende  der  Barbarei  und  den  Beginn  des  Beichs 
der  Humanität  verkündet.  Dann  war  er  durch  Luthers  übermächtige 
Persönlichkeit  zeitweilig  sich  selber  entfremdet  worden;  jene  oben  er- 
wähnten Schriften  geben  davon  Zeugnis.  Aber  er  kehrte  bald  wieder 
zu  sich  zurück;  wie  es  scheint,  wurde  ihm  durch  die  Konsequenz,  in 
welcher  die  Verachtung  der  menschlichen  \Veisheit  bei  den  „Schwarm- 
geistern" erschien,  deutlich,  daß  er  auf  dem  Wege  sei,  sich  selber  zu 
verlieren.  Freilich,  gethane  Schritte  lassen  sich  nicht  ungeschehen 
machen.  Melanchthon  konnte  von  der  Eeformation  sich  nicht  wieder 
losmachen,  wenn  er  es  auch  gewollt  hätte,  was  doch  nie  der  Fall  war. 
Aber  wunderlich  mag  ihm  manchmal  zu  Mute  gewesen  sein  bei  den 
Aufgaben,  welche  ihm  durch  die  einmal  übernommene  Bolle  gestellt 
wurden.  W^enn  er  nun  später  über  das  Verhältnis  des  Leibes  Christi 
zum  Brot  disputieren  mußte,  ob  es  wirklich  darin  sei,  wenn  auch  nicht 
localiter  et  quantitative,  ob  man  Buße  und  Werke  zwar  nicht  causa, 
aber  doch  conditio  sine  qua  non  der  Gerechtigkeit  und  Seligkeit  nennen 
dürfe:  da  mag  ihm  wohl  einmal  der  Gedanke  gekommen  sein,  ob  er 
denn  nicht  auf  seltsame  Weise  wieder  in  eben  jene  Irrgänge  der 
Scholastik  hineingeraten  sei,  aus  denen  die  Jugend  herauszuretten  er 
beim  Antritt  seines  Lehramts  als  seine  Aufgabe  angesehen  habe.  Die 
Sehnsucht,  aus  den  stürmischen  und  gefährlichen  Gewässern  der  theo- 
logischen Erörterungen  in  den  friedlichen  Hafen  der  klassischen  Studien 
sich  zurückzuziehen,  hat  ihn  nie  verlassen.     Auch  die  Sehnsucht  nach 

*  Ein  Schriftchen  von  0.  Schmidt,  Luthers  Bekanntschaft  mit  den  Klassikern 
(Leipzig  1883),  gicbt  fleißige  Nachweisuugen  über  Luthers  khissische  T^ktüre. 
Er  schätzte  besonders  Cicero,  Terenz  und  Virgil.  Die  griechischen  Autoren 
kannte  und  schätzte  er  weniger,  wie  er  denn  überhaupt  dem  Geist  des  prak- 
tischen Römertums  viel  näher  steht  als  dem  des  spekulativen  Griechentums. 


Melanohthon:    Verhältnis  zu  Humanismus  und  Refai'mation.      205 

dem  heimischen  deutschen  Süden  taucht  wohl  auf.  Als  ihn  Ottheinrich 
von  der  Pfalz  nach  Heidelberg  ziehen  wollte,  schrieb  er  an  Bbenz 
(1557,  C.  B.  IX,  144):  „Ich  lasse  mich  hier  in  diesem  Skythenland 
festhalten,  ich  weiß  nicht,  ist  es  mein  Schicksal  oder  meine  Ängstlich- 
keit. Ein  am  Kaukasus  angeschmiedeter  Prometheus,  so  hange  ich 
hier,  oder  eigentlich  ein  Epimetheus;  denn  längst,  schon  vor  20  Jahren 
hatte  ich  die  gewichtigsten  Ursachen  und  hab  sie  noch,  aus  diesem 
wütenden  WirrwaiT  der  Geister  fort  in  die  Ferne  zu  ziehen."  Schon 
sein  Verhältnis  zu  Lütheb  war  nicht  vertrauliche  Freundschaft;  es 
beruhte  von  seiten  Melanchthons  auf  der  Verehrung  der  Tapferkeit 
und  Wahrhaftigkeit  Lüthebs,  die  vielleicht  eine  kleine  Beimischung 
von  Furcht  hatte,  von  seiten  Lüthebs  auf  der  aufrichtigsten  Hoch- 
schätzung der  intellektuellen  Begabung  und  der  wissenschaftliehen 
Leistungen  Melanchthons,  von  deren  Unentbehrlichkeit  für  sein  Werk 
er  tief  durchdrungen  war.  Den  übrigen  Wittenberger  Theologen  da- 
gegen stand  Melanohthon  zum  Teil  ganz  fremd  gegenüber;  er  war 
ihnen  verdächtig  als  einer,  der  nicht  mit  dem  ganzen  Herzen  bei  der 
Sache  sei;  manche  konnten  sich  der  Furcht  nicht  erwehren,  daß  er 
im  Stande  sei,  um  des  Friedens  und  der  Wissenschaften  willen,  den 
reinen  Glauben  zu  verraten.  Seine  Freunde  sind  unter  den  Humanisten. 
Von  allen  am  nächsten  stand  ihm  Joachim  Camebabiüs.  Mit  wie 
zweifelndem  Gemüt  dieser  dem  Lauf  der  Dinge  gegenüberstand,  ist 
bekannt;  er  wollte  es  gar  nicht  Wort  haben,  von  der  alten  Kirche 
abgefallen  zu  sein  (Kampschulte,  II,  271).  Nicht  minder  blieb 
Melanohthon  mit  Ebasmüs  in  freundschaftlichem  Briefwechsel  bis  zu 
dessen  Tode.  Auch  zu  den  Fürsten  der  Gegenpartei  unterhielt  er 
friedliche  und  freundliche  Beziehungen.  Dem  König  Ferdinand  wid- 
mete er  1529  seine  Auslegung  des  Daniel,  dem  Kardinal  Albrecht 
von  Mainz  1532  seinen  Kommentar»  zum  ßömerbrief. 

Diesem  Mann  fiel  die  Aufgabe  zu,  das  gelehrte  Unterrichtswesen 
der  neuen  Kirche  zu  organisieren.  Er  hat  sie  mit  unermüdlichem 
Fleiß,  mit  großer  Beharrlichkeit  und  Treue  gelöst 

Man  kann  die  Verdienste  Melanchthons  um  das  protestantische 
Studienwesen  unter  drei  Gesichtspunkte  bringen. 

1.  Er  hat  die  Organisation  der  Universitäten  und  Gelehrten- 
schulen geleitet.  Die  wesentlich  von  ihm  geschaffenen  Einrichtungen 
der  Wittenberger  Universität  und  die  von  ihm  entworfene  kursächsische 
Schulordnung  vom  Jahre  1528  erlangten  vorbildliche  Bedeutung.  Auch 
hat  Melanchthon  durch  persönliche  Gegenwart  und  briefliche  Be- 
ratung bei  sehr  vielen  Neugründungen  und  Reorganisationen  von  Uni- 
versitäten und  Schulen  unmittelbar  mitgewirkt. 


206    //,  2.   Die  Anschauungen  der  Reformatoren  vom  gelehrten  Unterricht 


2.  Er  hat  den  protestantischen  Schulen  und  Universitäten 
ihre  Lehrer  gebildet.  Ein  sehr  großer  Teil  der  hervorragenderen 
Lehrer,  Professoren  und  Organisatoren  ist  aus  seiner  Schule  hervor- 
gegangen. Als  er  nach  zweiund vierzigjähriger  Wirksamkeit  starb,  da 
wird  es  nicht  viele  Städte  im  protestantischen  Deutschland  gegeben 
haben,  in  der  nicht  ein  Lehrer  oder  Pfarrer  den  Tod  seines  Lehrers, 
und  vielleicht  auch  seines  persönlichen  Beraters  und  Leiters  betrauerte. 
Denn  in  einem  wahrhaft  erstaunlichen  Umfang  hat  Melanchthon 
auch  in  den  persönlichen  Lebensweg  seiner  Schüler  eingegriffen.  Sein 
unermeßlich  umfangreicher  Briefwechsel,  der  noch  täglich  durch  neue 
Funde  vor  unsem  Augen  an  Ausdehnung  gewinnt,  zeigt  seine  wahr- 
haft einzige  Stellung.  Wo  immer  ein  Fürst  für  seine  Universität  einen 
Professor,  eine  Stadt  für  ihre  Schule  einen  Rektor  oder  Lehrer  suchte, 
da  war  ihr  erster  Gedanke,  Melanchthon  um  seinen  Bat  zu  bitten. 
Er  hat  diese  einzige  Stellung,  die  allein  auf  dem  Vertrauen  zu  seiner 
Person  beruhte,  mit  großer  Diskretion  und  Gewissenhaftigkeit  erfüllt 
Zu  einer  Zeit,  die  in  der  Ausbeutung  der  Gunst  der  Großen  zu  per- 
sönlichen Zwecken  sehr  unbedenklich  war  —  die  humanistische  Litte- 
ratur  besteht  zum  großen  Teil  aus  Anbohrungsversuchen  fürstlicher 
und  städtischer  Kassen  durch  das  Mittel  lateinischer  Reden  und  Verse 
—  hat  Melanchthon  seine  Hände  rein  erhalten.  Er  hat  wohl  für 
andere  die  fürstliche  Munificenz  angesprochen,  für  seine  Person  wehrte 
er  eher  ab,  auch  was  freiwillig  angetragen  wurde. 

3.  Er  hat  dem  gelehrten  Unterricht  die  Lehrbücher  ge- 
schrieben. Die  lange  Reihe  der  von  ihm  verfaßten  und  immer  wieder 
überarbeiteten  Lehrbücher  umfaßt  ungefähr  den  ganzen  gelehrten 
Unterricht:  lateinische  und  griechische  Grammatik,  Rhetorik  und  Dia- 
lektik, Psychologie  und  Physik,  Ethik  und  Geschichte,  und  dazu  die 
theologische  Dogmatik.  Alle  sind  aus  der  Praxis  des  Unterrichts  her- 
vorgewachsen. ^ 

*  Man  findet  diese  Schriften  jetzt  alle  im  Corpus  Reformatorum  ab- 
gedruckt, vor  jeder  alle  wünschenswerten  litterar-historischen  Nach  Weisungen. 
Ich  komme  später  (im  6.  Kapitel)  hierauf  zurück.  Eine  ausführliche,  zuver- 
lässige, aus  den  Quellen  geschöpfte  Darstellung  der  gesamten  Thätigkeit 
Melancuthons  als  Lehrer  und  Gelehrter  giebt  jetzt  das  Werk  Karl  Hart- 
FELDERS,  M.  als  ProeceptoT  Gemumiaej  1889  (Mon.  Germ.  Paed.  Bd.  VII). 
Analekten  bietet  derselbe  in  den  Melanchthoniana  Paedagogica  (1892),  denen 
auch  ein  guter  Lichtdruck  nach  einem  vortrefflichen  Porträt  von  Holbein  (jetzt 
in  Hannover)  beigegehen  ist;  es  stellt  den  Praeeeptor  Germania^  sehr  viel 
schlichter  und  menschlicher,  also  wohl  auch  wahrhafter  dar,  als  das  bekannte, 
etwas  theatralisch  zugestutzte  Bildnis  von  Dürer  mit  dem  wirren  Haar  und  den 
„geschreckten^*  Augen. 


Mdanchthon  über  Ziele  und  Mittel  des  gelehrten  Unterrichts.      207 


Über  Aufgabe  und  Ziel  des  gelehrten  Unterrichts  hat  sich  Me- 
iiANCHTHON  lii  einer  langen  Beihe  akademischer  Reden  (declamationes) 
ausgesprochen,  die  er  selbst  gehalten  oder  für  andere  geschrieben  hat. 
Das  Ziel  des  allgemein- wissenschaftlichen  Unterrichts,  in  den  sich  die 
Schulen  und  philosophischen  Fakultäten  teilen,  setzt  er  mit  dem  Huma- 
nismus in  die  Eloquenz,  d.  h.  die  Fähigkeit  des  sprachrichtigen, 
logisch  durchsichtigen  und  sachkundigen  Vortrags,  natürlich 
in  der  gelehrten  Sprache.  Sie  wird  erworben  durch  sprachlich-litte- 
rarischeu  und  philosophischen  Unterricht.  Jenen  giebt  der  grammatisch- 
rhetorische Kursus  der  Schulen ,  diesen  der  artistische  Kursus  der  Fakul- 
täten. Worte  und  Sachen,  Vortrag  und  Erkenntnis  sind  die  beiden 
Seiten  des  einen  Ziels;  auf  der  unteren  Stufe  steht  die  erste  Seite  im 
Vordergrund,  auf  der  oberen  tritt  die  letztere  mehr  hervor.  —  Auf 
diesem  Unterbau  allgemein-wissenschaftlich-formaler  Bildung  kann  dann 
die  wissenschaftliche  Fachbildung  der  oberen  Fakultäten  vor  allem  auch  die 
Theologie  sich  erheben.  Und  das  ist  nun  der  eigentliche  Mittelpunktseiner 
hodegetischen  Deklamationen :  eine  gründliche  theologische  Bildung  ist 
ohne  philologischen  und  philosophischen  Unterbau  unmögUch. 

Im  Jahre  1521  hatte  er  in  einer  Rede  das  theologische  Studium 
aufs  höchste  empfohlen:  wenn  nicht  die  Theologie  Anfang,  Mitte  und 
Ende  des  Lebens  sei,  hörten  wir  auf,  Menschen  zu  sein  und  fielen  ins 
Tierische  zurück  (C.  R.  XI,  44).  Alle  folgenden  Reden  dagegen  sagen, 
wenn  wir  nur  theologische  Studien  treiben,  fallen  wir  in  die  Barbarei 
zurück.  Das  Lob  der  Eloquenz  (1523)  wurde  schon  erwähnt,  es 
empfiehlt  die  artes  dicendi  als  die  ersten  und  schönsten  der  mensch- 
lichen Künste.  In  der  Rede  über  die  Dialektik  (1529)  stellt  er  als 
Prinzip  auf:  da  niemand  mehr  und  wichtigere  Dinge  wissen  muß  als 
der  Theologe,  so  darf  er  nicht  in  den  übrigen  Disziplinen  unwissend 
bleiben;  von  ihm  wird  Rat  in  den  wichtigsten  Angelegenheiten  ver- 
langt, er  hat  nicht  nur  über  das  Privatleben  der  übrigen,  sondern 
auch  über  die  Staatsgesetze  sein  Urteil  abzugeben  (XI,  162).  Aus 
diesem  Gesichtspunkt  wird  dann  in  zwei  späteren  Reden  (de  ordine 
discendi  1531,  und  de  philosophia  1526,  XI,  209  ff,  278  ff.)  die  Not- 
wendigkeit dargethah,  daß  der  Theolog,  wie  auch  die  anderen  Fakul- 
täten, den  ganzen  philosophischen  Kursus  durchlaufe.  Eine  ungebildete 
und  unwissenschaftliche  Theologie  gebiert  ein  Heer  von  tTbeln.  Gram- 
matik und  Dialektik  (worin  auch  die  Rhetorik  eingeschlossen  ist), 
Physik  mit  Psychologie,  Moral  und  Geschichte,  Mathematik  und  Astro- 
nomie, keine  dieser  Disziplinen  ist  entbehrlich;  auch  genügt  nicht  ein 
Kosten,  sondern  man  muß  die  ganze  Disziplin  gründlich  und  metho- 
disch  erlernen.     Freilich  nicht  die   alte  sophistische   Philosophie  ist 


208    //,  2.   Die  Anschauungen  der  Reformatoren  vofn  gelehrten  Unterricht. 

wieder  herzustellen,  sondern  eine  gebildete  Philosophie   thut   uns   not. 
Eine  solche  ist   die  aristotelische.    Die  übrigen  Schulen,  die  stoische 
und  die  epikureische  u.  s.  f.,  sind  alle  voll  von  Sophistik,  Aristoteles 
sucht  einfältig,  ohne  Streitsucht,  die  Wahrheit,  er  liebt  die  maßvollen 
Ansichten.     Aristoteles,   so   wird   in   einer   Kede   de  Äristotele   (1537, 
XI,  342;  variiert  1544,  XI,  647)  ausgeführt,  habe  vor  allem  das  Ver- 
dienst, daß  er  die  Disziplinen  in  ihrem  ganzen  Umfang  in  Lehrbüchern 
dargestellt  hat;  auch  fehle  es  ihm  keineswegs  an  Eloquenz.    In  dem 
letzteren  Stück  sei  ihm  Plato  allerdings  überlegen,  aber  diesem  gehe 
eben   der   methodische  Gang   der  Untersuchung   und   Darstellung  ab 
(de  Piatone  1538,  XI,  413).    So  kehrte  Melanchthon  zu  seiner  ersten 
Lebensaufgabe,  der  Wiederherstellung  des  aristotelischen  Studiums,  zurück. 
In  einer  seiner  letzten  Reden  kommt   er   auf  das  Thema  seiner 
Antrittsrede  zurück:  über  das  Studium   der   griechischen  Sprache 
(1549   von   seinem  Schüler   und  Kollegen  Vitus  Winshemius   vorge- 
tragen, XI,  855  flF.).    Er  legt  darin  den   einzigen  Wert  dieser  Sprache 
der  Universität  nochmals  dringend  ans  Herz:  ohne  sie  giebt  es  keine 
wahre  Gelehrsamkeit  und  vor  allem  keine  wahre  Theologie.    „Welche 
Glückseligkeit,  mit  dem  Sohne  Gottes,  den  Evangelisten  und  Aposteln, 
dem   divus   Paulus   ohne   Dolmetsch   sich   unterreden   können.^*     Wie 
eifrig  müßten  wir  sein  diese  Sprache  zu  lernen,  da  wir  selbst  barbarische 
Sprachen  lernen,  um  mit  einem  ausländischen  Fürsten  ohne  Dolmetsch 
reden  zu  können;  lassen  doch  um  schnöden  Gewinnes  willen  Kaufleute 
ihre  Kinder  fremde  Sprachen  lernen!    Wahrlich,  wenn  es  möglich  wäre, 
sollten  alle  Menschen  diese  Sprache  lernen,  wenigstens  aber  alle,  welche 
Gott  zum  Studium  der  Wissenschaften  und  der  Lehre  berufen  hat.  — 
Und  wie  freundliche  Lehrer  den  Knaben  Backwerk  geben,   sie   anzu- 
locken,  so   hat   auch   der   allmächtige  Gott   diese  Sprache  selbst  zur 
allersüßesten  gemacht,  keine  gleitet  mit  so  lieblichem  Klang  ins  Ohr. 
Und  er  hat  sie  gefüllt  mit  mannigfacher  Würze  der  schönsten  Künste. 
Sie   ist   die  Lehrerin   und  Quelle  aller  Teile   der  Philosophie,  heilige 
und  profane  Geschichte,  Ethik  und  Politik,  Mathematik  und  Astronomie, 
Physik  und  Medizin  fließen  aus  ihr.     Die  lateinische  Sprache  selbst, 
was  sie  an  Eleganz  und  Schönheit  hat,  das  hat  sie  aus  den  griechischen 
Quellen.    Ja,  ohne  Griechisch  ist  es  ganz  unmöglich,  die  lateinische 
Sprache  rechtschaffen  zu  treiben,  wie  die  Barbarei  des  Mittelalters  hin- 
länglich zeigt;  aus  welcher  Barbarei  wieder  das  Verderbnis  der  Religion 
und  der  Sitten  entsprang,  denn  schlechte  Sitten  sind  das  Gefolge  bar- 
barischer  Rede.     Darum,   wenn    wir   des   gegenwärtigen  liichts   über- 
drüssig sind  und  in  die  frühere  Finsternis  zurückwollen:  es  giebt  keinen 
kürzeren  Weg,  als  das  Aufgeben  des  Griechischen."  — 


II,  3,  Neubegründung  der  ühiversääten  in  den  proiestant,  Gebieten.     209 


Im  Jahre  1543  hatte  die  Stadt  Soest  sich  seinen  Bat  in  Sachen 
des  Schulwesens  erbeten.  Er  antwortete  mit  der  kleinen  Schrift  ,,von 
Anrichtung  der  Lateinischen  Schul''  (C.  B.  Y,  1 24).  Ihr  Inhalt  deckt 
sich  ganz  mit  Luthebs  Schrift  an  die  Batsherren:  Schulen  sind  not- 
wendig um  der  Erhaltung  der  reinen  Lehre  willen;  ohne  die  Bibel 
kein  Heil  und  ohne  die  Sprachen  kein  Verständnis  der  Bibel:  y,ohne 
Verstand  der  Sprachen  kann  man  das  alte  und  neue  Testament  nicht 
lesen,  dazu  bedarf  man  auch  allerlei  Historien,  Geographie,  Bechnung 
der  Zeit  und  ander  Künsten,  so  man  die  göttliche  Lelire  ordentlich 
und  verstandiglich  fassen  will;  und  sind  in  Summa  die  löblichen  Künste 
eine  große  Zier  der  Kirchen."  Und  darum  sind  die  Obrigkeiten 
schuldig  Schulen  zu  errichten  und  zu  erhalten. 


Drittes  Kapitel. 

Neubegründimg  der  Universitäten  in  den  protestantischen 

Gebieten, 

Nachdem  der  Versuch  der  Bauern,  die  Freiheit  von  dem  alten 
Kirchenregiment  zur  Befreiung  auch  von  anderen  unerträglichen  Lasten 
zu  benutzen,  in  Blut  und  Grauen  erstickt  war,  begannen  die  protestan- 
tischen Fürsten  in  ihrem  Gebiet  Sonderkirchen  unter  landesherrlichem 
Begiment  zu  errichten.  Schon  im  Herbst  1525  wurde  in  Sachsen  von 
dem  neuen  Kurfürsten  die  Messe,  mit  Luthers  Bat,  als  Götzendienst 
verboten,  freilich  eine  Einmischung  der  Obrigkeit  in  religiöse  Dinge, 
die  mit  der  Stellung,  die  ihr  Lutheb  in  der  Schrift  „von  weltlicher 
Obrigkeit**  (1523)  giebt,  schwer  vereinbar  ist;  verwirft  er  hier  doch 
jede  obrigkeitliche  Gewalt  in  Glaubenssachen  als  Eingriff  in  Gottes 
Begiment,  so  sehr,  daß  er  auch  die  von  den  katholischen  Landesherren 
gebotene  Auslieferung  des  neuen  Testaments  den  Unterthanen  „bei 
Verlust  der  Seligkeit"  untersagt:  „denn  wer  es  thut,  der  übergiebt 
Christum  dem  Herodes  in  die  Hände,  denn  sie  handeln  als  Christ- 
mörder, wie  Herodes".  Freilich,  das  waren  Gebote  „papistischer"  Obrig- 
keiten gewesen.  Und  vielleicht  muß  man  sagen,  es  war  ein  Standpunkt, 
der  sich  nicht  festhalten  ließ;  Indiflferenz  der  weltlichen  Gewalt  in 
Beligionssachen  war  im  16.  Jahrhundert  noch  unmöglich;  die  Sache 
stand  auf  entweder — oder,  es  galt  Hammer  oder  Amboß  zu  sein. 
Andererseits  ist  gewiß,  daß  der  Standpunkt  Luthebs  von  1523  zum 
Evangelium  besser  stimmt;   und  vielleicht  wäre  doch  auch  eine  Ent- 

Paulsen,  Untorr.    Zweite  Aufl.    I.  14 


210     //,  3,   Neilbegründung  der  Universitäte^i  in  den  Protestant.  Gebieten. 


\ 


Wickelung,  ja  eine  truchtbarere  Entwickelung  des  Protestantismus  unter 
Festhaltung  des  Prinzips  der  Nichteinmischung  der  weltlichen  Gewalt 
möglich  gewesen;  er  hätte  dann  auch  innerlich  freier  und  größer  sich 
entwickeln  müssen,  als  es  nun  in  den  Landeskirchen  bei  der  Um- 
klanunerung  mit  allerlei  politischen  Interessen  geschehen  konnte. 

Doch  es  ist  vergeblich,  diesen  Möglichkeiten  nachzuhangen.  Das 
„Evangelium"  —  und  Lutheb  ließ  es  geschehen  —  wurde  zu  einem 
neuen  Dogma  und  das  Dogma  wurde  zum  Eckstein,  auf  dem  sich  nun 
ein  neues  Kirchenregiment,  das  landesherrliche,  aufbaute.  In  den  Jahren 
1527 — 29  fanden,  nachdem  schon  früher  kleine  Anfange  gemacht  waren, 
in  den  sächsisch -thüringischen  Ländern  die  ersten  landesherrlichen 
Kirchen-  und  Schul  Visitationen  statt;  der  Kurfürst  bestallte  zu  Visita- 
toren Juristen  und  Theologen;  ihr  Auftrag  war,  die  neue  Lehre  durch- 
zuführen; die  Anhänger  des  Alten  wurden  belehrt,  verwarnt  und  im 
äußersten  Fall  beseitigt;  zugleich  war  man  bemüht,  die  kirchliche  Zucht 
der  Gemeinden  wieder  aufzurichten  und  die  Ausstattung  der  Pfarrstellen 
zu  ordnen.^  In  den  aus  geistlichen  und  weltlichen  Gliedern  zusammen- 
gesetzten Konsistorien  erlangte  die  neue  kursächsische  Landeskirche 
gegen  Ende  der  30  er  Jahre  endlich  ein  ständiges  Kirchenregiment,  das 
die  Aufsicht  über  Lehre  und  Leben  der  Geistlichen  und  Gemeinden  im 
Auftrag  des  Landesherm  handhabte. 

Nachdem  im  Nürnberger  Eeligionsfrieden  (1532)  die  Duldung  der 
Neuerungen  bis  auf  ein  Konzil  förmlich  ausgesprochen  war,  fielen  der 
Reformation,  die  sich  politisch  als  Schmalkaldischer  Bund  konstituierte, 
in  schneller  Folge  alle  größeren  weltlichen  Territorien,  ausgenommen 
Österreich  und  Bayern,  zu.  Das  deutsche  Ordensland  und  Ansbach- 
Baireuth  waren  schon  früher  reformiert;  es  folgten  Württemberg  und 
Pommern,  das  Albertinische  Sachsen  und  Brandenburg,  Mecklenburg 
und  Kurpfalz.  Die  großen  Städte,  Nürnberg,  Augsburg,  Ulm,  Straß- 
burg, Frankfurt,  Magdeburg,  Hamburg,  Lübeck,  Bremen  u.  a.  waren 
schon  vorangegangen.  Auch  Dänemark,  Schweden,  England  waren  von 
Rom  abgefallen.  Erst  mit  dem  Sieg  des  Kaisers  über  den  Herzog  von 
Kleve  (1543)  kam  die  Bewegung  zum  Stillstand.     Der  Übertritt  der 


^  In  C.  A.  BüBCKHARDTS  Geschichte  der  sächsischen  Kirchen-  und  Schul- 
visitationen  von  1524 — 1545  findet  man  eine  Fülle  von  Nachweisungen  über  die 
kirchlichen,  sittlichen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  dieser  Zeit  in  den 
sächsischen  Ländern;  die  Widerstände  und  Schwierigkeiten  aller  Art,  mit  denen 
die  neue  Lehre  und  die  Wiederaufrichtung  eines  Kirchenregiments  zu  kämpfen 
hatten,  treten  einem  hier  in  konkreter  Gestalt  vor  Augen.  Ein  interessantes 
Schema  der  Examinationsfragen  an  die  Geistlichen  und  die  Bauern  vom  Jahre 
1533  S.  142. 


Wittenberg.     Statuten  der  theol.  Fakultät  von  1533.  211 


großen  geistlichen  Fürstentümer  in  Westdeutschland,  der  vor  der  Thür 
stand,  kam  nicht  mehr  zur  Ausführung. 

Dem  Beitritt  zur  Reformation  folgte  alsbald  in  allen  Territorien  » 
die  Aufrichtung  eines  gelehrten  Unterrichtswesens  in  dem  Sinn 
und  meist  unter  dem  Beirat  Melanchthons.  Vor  allem  war  die  Refor- 
mation  der  vorhandenen  oder  die  Begründung  einer  neuen  Univer- 
sität eine  unabweisbare  Fordening.  Die  theologischen  Fakultäten  waren  ' 
ein  notwendiges  Komplement  des  neuen  weltlichen  Kirchenregiments. 
Ihnen  fiel  die  Feststellung  der  Lehre,  die  Vorbildung  und  die  Exami- 
nation  der  Prediger  der  neuen  Kirche  zu.  Die  Priester  der  alten  Kirche 
hatten  ihren  Charakter  durch  die  vom  Bischof  erteilte  Weihe  erhalten ; 
Wissenschaft  war  ein  nicht  durchaus  erforderliches  accidens.  Die  Kennt- 
nis der  lateinischen  Sprache  wurde  gefordert,  der  Besuch  einer  Universität 
war  erwünscht,  aber  durchaus  nicht  notwendig,  nur  für  die  höheren 
Würden  war  er  gewöhnliche  Voraussetzung,  wenigstens  da,  wo  nicht 
die  Geburt  den  Mangel  der  Wissenschaft  zudeckte.  Die  Absolvierung 
des  theologischen  Kursus  war  eine  Seltenheit^  Die  neue  Kirche  leugnete  n 
den  sakramentalen  Charakter  der  Weihe;  die  gelehrte  theologische  Vor- 
bildung erhielt  dadurch  die  Bedeutung  des  wesentlichen  Erfordernisses 
für  das  Predigeramt.  Auch  die  Funktion  des  geistlichen  Amts  erlitt 
eine  entsprechende  Veränderung;  der  Schwerpunkt  des  Gottesdienstes, 
welcher  bisher  in  der  Verwaltung  des  heiligen  Opfers  gelegen  hatte, 
wurde  jetzt  in  die  Predigt  gelegt.  Offenbar  hat  für  diese  Funktion 
wissenschaftliche  Bildung  viel  größere  Bedeutung  als  für  jene.  Die 
Prediger  der  neuen  Kirche  wirken  wesentlich  durch  ihre  Persönlichkeit, 
die  Priester  der  alten  wesentlich  als  Organe  der  Kirche. 

Ich  will  nun  in  diesem  Kapitel  über  die  einzelnen  protestantischen 
Universitäten  berichten,  um  dann  im  nächsten  eine  zusammenfassende 
Darstellung  des  Zuständlichen  zu  geben. 

Ich  beginne  mit  Wittenberg,  der  führenden  Universität,  weshalb 
hier  auch  eine  etwas  eingehendere  Behandlung  am  Ort  zu  sein  scheint. 

Die  Neugestaltung  der  Universität  vollzog  sich  in  den  30  er  Jahren.  \ 
1533  erhielt  die  Stadt  Wittenberg  ihre  Kirchen-  und  Schulordnung. 
In  demselben  Jahre  wurde  auch  die  theologische  Fakultät  mit  neuen 
Statuten  versehen  (abgedruckt  bei  Förstemann,  liber  Decanorum,  153fiF.). 
Es  kommt  darin  die  Umgestaltung  der  theologischen  Wissenschaft 
durch  die  Reformation  zum  Ausdruck.  An  die  Stelle  der  rationalen 
oder  philosophischen  Theologie  ist  die  schriftmäßige  oder  philologische 


*  Einige  Nachweisungen  hierüber  in  meinem  mehrfach  erwähnten  Au&atz 
in  Stbels  Zeitschrift,  1881. 

14* 


212     //,  3,   Neuhegründung  der  Universitären  in  den  Protestant.  Gebieten, 


getreten.  Drei  Professoren  sind  vorhanden;  dazu  kommt  der  Pfarrherr 
von  Wittenberg  als  vierter  Legent  Die  beiden  ersten  Professoren  sollen 
bestandig  viermal  wöchentlich  eine  Stunde,  der  erste  über  ein  Buch 
des  neuen,  der  andere  über  ein  Buch  des  alten  Testaments  lesen;  aus 
jenem  sind  die  Briefe  an  die  Römer  und  Galater  und  das  Johannes- 
evangelium, aus  dem  alten  Testament  die  Psalmen,  die  Genesis  und 
Jesaias  beständig  zu  behandeln,  dazu  bisweilen  Augustinus'  Buch  de 
spirihi  et  litera.  Der  dritte  Professor  soll  zweimal  wöchentlich  die 
übrigen  Briefe  Pauli,  die  Briefe  Petri  und  Johannis  lesen  und  zweimal 
predigen,  der  Pfarrherr  ebenfalls  zweimal  wöchentlich  eine  Stunde  das 
Matthäusevangelium,  das  Deuteronomiom  und  zuweilen  einen  kleinen 
Propheten  lesen.  Die  Sentenzen  des  P.  Lombardus,  das  alte  Kompen- 
dium der  dogmatischen  Theologie,  werden  ausdrücklich  abgeschafft 

Zur  kirchlichen  Behörde  wird  die  theologische  Fakultät  durch  zwei 
Bestimmungen.  Ein  oder  zweimal  im  Jahr  soll  der  Dekan  alle  Audi- 
toren der  Theologen  zusammenrufen  und  einige  prüfen  und  aufschreiben, 
damit  sie  den  benachbarten  Kirchen  auf  Verlangen  nachgewiesen  werden 
können.  Sodann  wird  der  Fakultät  die  Überwachung  der  Lehre  an- 
vertraut: wie  in  den  Kirchen  und  Schulen  unseres  Gebiets,  so  wollen 
wir  auch  auf  der  Universität,  welche  stets  die  Leitung  und  Censur  der 
Lehre  haben  muß,  die  reine  evangelische  Lehre  in  Übereinstimmung 
mit  dem  Bekenntnis,  welches  wir  1530  zu  Augsburg  dem  Kaiser  Carl 
übergeben  haben,  fromm  und  treulich  vorgetragen,  erhalten  und  fort- 
gepflanzt haben:  denn  diese  Lehre  ist,  wie  wir  gewißlich  feststellen,  der 
wahre  und  ewige  Ausdruck  (consensus)  des  Glaubens  der  allgemeinen 
Kirche  Gottes.  Wenn  eine  Meinungsverschiedenheit  sich  erhebt,  so  soll 
die  Sache  an  den  Rektor  und  das  Konsilium  der  Universität  gebracht 
werden;  und  wenn  die  Bedeutung  der  Sache  es  erfordert,  berichten 
diese  dem  Fürsten  und  bestellen  mit  ihm  gemeinsam,  sonst  aber  allein, 
tüchtige  Richter.  Diese  untersuchen  die  Angelegenheit  und  appro- 
bieren durch  ihr  Urteil  die  wahre  Ansicht  und  verdammen  die  falsche. 
„Die  falschen  Ansichten  dürfen  dann  nicht  verteidigt  werden;  wenn 
jemand  sie  hartnäckig  verteidigt,  soll  er  mit  solcher  Strenge  bestraft 
werden,  daß  er  die  schlechten  Meinungen  nicht  weiter  verbreiten  kann" 

(FÖBSTEMAHN,    154). 

Man  sieht,  die  revolutionäre  Ära  der  Reformation  liegt  hinter  ihr. 
Derselbe  Luther,  der  vor  zwölf  Jahren  es  für  unvereinbar  mit  seinem 
Gtewissen  erklärt  hatte,  der  auf  dem  Konzil  vereinigten  Christenheit 
die  Feststellung  der  Glaubensformeln  anheimzugeben,  nahm  jetzt  für 
die  Wittenberger  Fakultät,  denn  darauf  kommt  die  Sache  heraus, 
die  unwidersprechliche  Entscheidung  in  Glaubenssachen  in  Anspruch. 


Wittenberg,    Luthers  Stellung  zur  Lehre.  213 


Luther  war  von  1535  bis  zu  seinem  Tode  ohne  Unterbrechung  Vor- 
steher dieser  Fakultät.  —  Im  Jahre  1535  kam  der  päpstliche  Legat 
Vbeobbius  nach  Wittenberg.  Er  ließ  Lutheb  um  seinen  Besuch  bitten. 
Auf  dem  Wege  dahin  sagte  Luther  lachend  zu  dem  ihm  begleitenden 
Bugenhagen:  „da  fahren  der  deutsche  Papst  und  Kardinal  Pomeranus, 
Gottes  Werkzeuge".^ 

'  KösTLiN,  Lnther,  U,  880.  Von  einem  nicht  genannten  Referenten  in  der 
Evangelischen  Kirchenzeitong  ist  mir  auch  diese  SteUe  aufgemutzt  worden: 
natürlich  sei  die  Äußerung  als  Scherz  gemeint  Nun,  das  ist  auch  mir  nicht 
entgangen;  aber  der  Anonymus  scheint  nicht  zu  sehen,  daß  dieser  Scherz  — 
und  LuTHEB  spielt  öfter  mit  der  Vorstellung  —  nur  möglich  war  auf  dem  Hinter- 
grunde bitteren  Ernstes;  für  Luthers  Stellung,  wie  er  sie  noch  Jahrhunderte 
lang  nach  seinem  Tode  eingenommen  hat,  war  wirklich  keine  andere  Analogie 
zu  finden,  er  war  für  einen  Teil  Deutschlands  an  die  Stelle  des  Papstes  ge- 
treten. —  Es  ist  die  alte  Sache:  Brutus  soll  Cäsar  sein!  so  schreit  ein  be- 
geisterter Republikaner  bei  Shakespeare,  als  der  wirkliche  Cäsar  eben  durch 
Brutus*  Hand  gefaUen  ist.  Wie  damit  Brutus  ad  absurdum  geführt  wird,  so 
führt  durch  den  obigen  „Scherz*'  Luther  sich  selbst  ad  absurdum.  Das  Wort 
Gottes  genügt  nicht  als  regula  fideiy  es  ist  doch  wieder  eine  persönliche  Auto- 
rität notwendig,  die  in  Sachen  der  Lehre  entscheidet,  so  sagt  der  Luther  von 
1535  und  widerlegt  damit  den  Luther  von  1521,  der  sich  von  niemand  auf 
Erden  den  Glauben  will  weisen  lassen,  es  sei  denn,  daß  er  selbst  die  Richtig- 
keit aus  Gottes  Wort  erkenne.  Wäre  er  konsequent  in  der  Verwerfung  aller 
menschlichen  Autorität  geblieben,  so  hätte  er  sagen  müssen:  über  die  Auslegung 
der  Schrift  giebt  es  keine  entscheidende  Instanz;  jeder  glaubt  und  irrt  auf  seine 
eigene  Gefahr.  —  Freilich,  das  ist  nicht  die  Art  der  Menschen;  so  sehr  sie 
geneigt  sind,  fremde  Autorität  zu  verwerfen,  ebenso  sehr  sind  sie  bereit,  die 
eigene  aufzurichten.  Es  ist  eine  Wurzel,  aus  der  das  Verlangen  nach  Freiheit 
und  das  Verlangen  nach  Macht  aufwächst.  Am  wenigsten  ist  es  Luthers  Art, 
fremde  Überzeugungen  als  gleichberechtigt  zu  achten.  „Meine  Sache  ist  Gattes 
Sachets  ^^  i^^  ^^'  wider  mich  ist  in  der  T^ehre,  nicht  von  Grott,  sondern  vom 
Teufel,  wie  z.  K  Heinz  Wolfenbüttel;  diese  Schlußart,  die  Luther  im  Kampf 
mit  dem  Papsttum  geläufig  geworden  war,  wendet  er  dann  gegen  jedermann. 
So  in  der  Vorrede  zu  der  Schrift  „Wider  den  falsch  genannten  geistlichen  Stand 
des  Papsts  und  der  Bischöfe^*  (1522):  „Ich  will  mich  hören  lassen  und  meiner 
Lehre  Ursach  und  Grund  beweisen  vor  aller  Welt,  und  sie  ungerichtet  haben 
von  jedermann,  auch  von  allen  Engeln.  Denn  sintemal  ich  ihrer  gewiß  bin, 
will  ich  durch  sie  euer  und  auch  der  Engel  Richter  sein,  daß  wer 
meine  Lehre  nicht  annimmt,  daß  der  nicht  möge  selig  werden. 
Denn  sie  ist  Gottes  und  nicht  mein,  darum  ist  mein  Gericht  auch 
Gottes  und  nicht  mein.^'  Mein  Gericht  ist  Gottes  und  nicht  mein,  und  wer 
anders  lehrt,  ist  vom  Teufel,  so  spricht  der  Papst  und  so  spricht  Luther;  und 
wie  jener,  so  verlangt  auch  er  Gehorsam,  ist  bald  auch  bereit,  die  Unterstützung 
des  weltlichen  Arms  gegen  Ungehorsame,  wie  die  „Schwarmgeister^*  und  Täufer, 
in  Anspruch  zu  nehmen.  Begreiflich  und  menschlich:  worauf  sich  Luthbr  1521 
gegen  die  Päpstlichen  gesteift  hatte,  daß  er  nicht  aus  der  Schrift  widerlegt 
werden  könne,  das  erfuhr  er  nun  selbst  im  Kampf  mit  den  „Schwarmgeistern'*: 
man  konnte  sie  nicht  aus  der  Schrift  widerlegen;   wo  steht  denn  geschrieben, 


214     //,  .!/.    Neubegründung  der  Universitäten  in  den  Protestant,  Gebieten, 

Auch  die  theologischen  Promotionen   wurden   wieder  hergestellt. 
Sie  hatten  seit  1523  geruht.    Karlstadt  hatte  bei  der  letzten  Promotion, 

daß  man  Kinder  taufen  oder  nicht  mehr  als  ein  Weib  zur  Ehe  haben  boU?  Zur 
Widerlegung  der  Ketzer  braucht  man  eine  narma  fidei,  und  zwar  eine  lebendige, 
von  F'all  zu  Fall  entscheidende.  Der  Grundsatz  von  1521:  von  keiner  Autorität 
auf  Erden  sich  den  Glauben  vorschreiben  lassen,  ist  anarchistisch,  dabei  kann 
es  keine  „Kirche",  mit  examen  doctrinae  der  Kandidaten  und  Visitation  der 
(tcistlichcu,  geben.  Das  sahen  jetzt  auch  die  Reformatoren  und  so  blieb  ihnen, 
sollte  and(irs  eine  „Kirche"  sein,  nichts  übrig,  als  ihre  eigene  Autoritfit  an 
Stelle  der  Autorität  des  Papstes  und  der  Konzilien  aufzurichten.  Nur  sind  sie 
in  einem  ärgerlichen  Punkt  im  Nachteil:  gegen  den  späteren  Luther  kann  man 
sich  immer  auf  den  Luther  von  Worms  berufen.  Der  Ausgangspunkt  und  die 
Rechtfertigung  der  ganzen  Reformation  war  die  prinzipielle  Verwerfung  aller 
menschlichen  Autorität  in  Sachen  des  Glaubens.  Luther  als  Papst  —  es  bleibt 
doch  ein  unerfreulicher  Anblick.  Und  wer  einen  Papst  nötig  hat,  dem  wird 
doch  immer  zu  raten  sein,  sich  an  den  echten  Papst  zu  Rom  zu  halten.  —  Wer 
sich  aber  an  den  Luther  von  1521  hält,  der  wird  sagen:  können  die  Ketzer 
aus  der  Schrift  nicht  widerlegt  werden,  nun,  so  scheint  das  ein  Beweis  dafür 
zu  sein,  daß  Gott  an  der  Widerlegung  der  Ketzer  nicht  so  sehr  gelegen  ist. 
Sonst  würde  er  seine  Offenbarung,  statt  in  Evangelien  und  Episteln,  in  Pro- 
pheten und  Psalmen,  vielmehr  in  Katechismen  und  Paragraphen  verfaßt  haben. 
Ich  sage  das  alles  nicht,  um  gegen  Luther  vergebliche  Anschuldigungen  zu 
richten,  sondern  um  die  Situation  zu  kennzeichnen,  eine  Situation,  die  bis  auf 
diesen  Tag  dauert.  Der  Bruch  in  Luther  ist  heute  noch  als  Bruch  im  Prinzip 
der  protestantischen  Kirche.  Es  kann  keine  irdische  Autorität  in  Sachen  des 
Glaubens  geben,  imd:  es  muß  eine  solche  geben,  das  ist  die  Antinomie,  die  in 
ihren  Ursprung  gelegt  ist.  Die  Antinomie  ist  auch  nicht  zuföllig,  sie  liegt  in 
der  Natur  der  Sache,  der  Name  der  „protestantischen  Kirche"  selbst  drückt  sie 
aus.  Soll  eine  „Kirche"  sein,  so  muß  Einheit  des  Glaubens  sein,  so  muß  der 
Einzelne  sich  und  seinen  „Glauben"  unter  den  „Glauben"  der  Gemeinschaft 
unterordnen.  Und  das  zu  thun  ist  er  schuldig,  denn  Religion  kann  es  nur  in 
einer  Gemeinschaft,  einer  Kirche  geben,  der  Einzelne  als  solcher  hat  keine 
Religion.  So  die  eine  Seite.  Aber  dem  steht  die  andere  gegenüber:  soll  Glaube 
sein«  Glaube  im  protestantischen  Sinne,  so  muß  der  Einzelne  selbst  für  sich 
einstehen;  Glaube  ist  «las  persönliche  Verhältnis  des  Individuums  zu  Gott;  hier 
giebts  keine  Instanz,  die  für  es  eintreten  könnte;  der  Glaube  der  „Kirche*  hilft 
mir  nicht;  mir  hilft  nur  mein  Glaube,  und  stimmt  mein  Glaube  nicht  mit 
Glauben  und  Lehre  anderer,  so  kann  ich  doch  nicht  daraufhin  von  ihm  lassen, 
ohne  eben  meinen  „Glauben"  als  solchen  zu  verlieren.  So  sitzt  der  Widerspruch 
im  Wesen  der  „protestantischen  Kirche".  —  Vielleicht  muß  man  übrigens  sagen: 
ohne  diesen  Widerspruch  wäre  der  IVotestantismus  geschichtlich  nicht  möglich 
gewesen:  auf  Grund  des  „Glaubens"  riß  sich  Luther  von  der  römischen  Kirche 
los;  aber  ohne  die  Fassung  des  »Glaubens"  in  ein  durch  eine  Landeskirche  ge- 
■ehfitites  „Bekenntnis"  wäre  die  römische  Herrschaft  meder  hergestellt  worden: 
einen  undogiuatisehen,  kirchlich  nicht  geschlossenen  Protestantismus  hätte  im 
19.  Jahrhundert  die  Reaktion  nieder  überwältigt.  Das  sah  Luther  mit  der  Sicher- 
lieit  des  Instinkts  und  diesem  Instinkt  mußte  die  Logik  weichen.  Cbrigens  hat  es 
uiemiib  eine  Revolution  gegeben,  die  mit  der  Logik  zurecht  gekommen  wäre. 


Wittenberg,    BeformcUion  der  Universität  van  1536,  215 


die  er  vollzog,  Grewissensskrupel  gehabt  wegen  Matthäi  23,  10:  ihr 
sollt  euch  nicht  Meister  nennen  lassen.  Dazu  kam,  daß  die  Promotionen 
bisher  offenbar  im  Namen  und  Auftrag  der  höchsten  Kirchenbehörde, 
d.  h.  also  in  Lüthebs  Redeweise,  des  Teufels  geschahen;  und  femer, 
daß  der  Wittenberger  Universität,  nachdem  sie  in  jenem  Auftrag  nichts 
mehr  unternehmen  wollte,  eine  Autorität  zu  promovieren  nicht  bei- 
wohnte. Aber  die  Dinge  forderten  ihr  Becht;  und  so  ließ  man  sich 
denn  auch  zu  Wittenberg  durch  die  Einrede  des  Evangeliums,  so  un- 
zweideutig sie  lautet,  nicht  auf  die  Dauer  abhalten,  Magister  und  Dok- 
toren zu  machen;  es  erwiesen  sich  eben  Menschensatzungen  als  un- 
entbehrlich zur  Regelung  des  Lebens.  Und  über  die  mangelnde 
Autorität  tröstete  man  sich  mit  der  Autorität  der  weltlichen  Gewalt, 
die  ja  nun  auch  das  Eirchenregiment  inne  hatte.  In  diesem  Sinne 
spricht  sich  ein  Gutachten  Melanchthons  aus,  das  für  die  Tübinger 
Universität,  wo  die  Frage  besonders  lebhaft  erörtert  wurde,  verfaßt 
ist^  In  Wittenberg  wurden  1533  in  Anwesenheit  des  Kurfürsten  die 
ersten  drei  protestantischen  Doktoren  der  Theologie  kreiert  (Föbste- 
MANN,  lib.  Decan.,  p.  28). 

Die  Reformation  der  gesamten  Universität  erfolgte  im  Jahre  1536. 
Im  Album  wird  davon  als  von  einer  Neubegründung  gesprochen.*  Die 
juristische  Fakultät  soll  hiemach  vier  Professoren  haben,  von  denen 
jeder  eine  vierstündige  Vorlesung  halten  soll,  der  erste  aus  den  Pan- 
dekten, der  zweite  aus  den  Dekretalen,  der  dritte  aus  dem  Kodex,  der 
vierte  aus  den  Institutionen.  Auch  die  juristische  Fakultät  ist  nicht 
bloß  Unterrichtsanstalt,  sondern  zugleich  Spruchkollegium.  Die  medi- 
zinische Fakultät  soll  drei  Professoren  haben,  von  denen  der  erste 
über  Hippokrates  und  Galenus,  der  zweite  über  Rhazes  und  Avicenna, 
der  dritte  anatomicos  libros  lesen  soll.  Die  philosophische  Fakultät 
erhielt  10  ordentliche  Lektionen,  welche  von  ebenso  vielen  Professoren  an 
den  vier  Wochentagen  eine  Stunde  getrieben  wurden:  Hebräisch,  Griechisch, 
Poetik,  Grammatik  mit  Terenzlektüre,  zwei  Lektionen  in  Mathematik 
(eine  niedere  und  eine  höhere),  Dialektik,  Rhetorik,  Physik,  Moral.  Am 
Sonnabend  soll  abwechselnd  disputiert  und  deklamiert  werden;  dieDekla- 

*  Camerariüs,  Vita  Melanchthons  ed.  Strobel,  p.  163.  Wieder  kam  die 
Sache  zur  Erörterung  bei  der  Gründung  der  Universität  Königsberg,  und  auch 
hier  gaben  Melanchthon  und  Camerariüs  in  demselben  Sinn  ihr  Gutachten  ab 
(mitgeteilt  bei  Toppen,  307,  vgl.  111  ff.).  Auch  in  Basel  fanden  lebhafte  Kontro- 
versen über  die  Möglichkeit  protestantischer  Promotionen  statt. 

*  Förstemann,  Album,  p.  159:  7  Mai  Eleetor  publice  promtdgavtt  hujus 
aceatlemiae  fundationem,  donavit  certos  redfhis  et  omnium  facultatum  ae  hone- 
stamm  dlsctplinarum  perpertuas  lectiones  instituit  Die  Fundationsurkunde  ist 
in  den  Halleschen  Universitätsschriften  vom  Jahre  1S82  veröffentlicht 


\ 


216    //,  .!^.    Neubegründung  der  UmversUäten  in  den  Protestant.  Gebieten, 


mationen  liegen  den  Lektoren  der  Rhetorik,  des  Griechischen  und  des 
Terenz  ob;  einmal  im  Jahr  soll  jeder  Professor  deklamieren.  Die  Mit- 
wirkenden bei  Disputationen  und  Deklamationen  erhalten  Prasenzgelder. 

Die  Gehaltsbezüge  sind  in  folgender  Weise  festgestellt  Die  drei 
theologischen  Professuren  wurden  mit  je  200  fl.,  die  vier  juristischen 
mit  200,  180,  140,  100  fl.,  die  drei  medizinischen  mit  150,  130,  80  fl., 
die  artistischen  mit  je  80  fl.,  jedoch  die  hebräische  und  griechische 
mit  je  100  fl.  dotiert  Doch  gehen  die  Bezüge  einzelner  Lehrer  über 
das  Normalgehalt  der  Stelle  hinaus.  Melanchthon  bezog  300,  seit  1541 
400  fl.,  ebenso?iel  als  Luther,  ein  für  jene  Zeit  ganz  ungewöhnlich 
hohes  Professorengehalt 

Die  Ordnung  des  Unterrichts  der  philosophischen  Fakultät  ist 
offenbar  nach  den  Angaben  Melanghthons  gemacht,  dessen  auch  am 
Eingang  als  Tragers  der  sprachlichen  Studien  gedacht  wird.  Zu  den 
Vorlesungen,  auf  die  ich  zurückkomme,  treten  wie  auf  der  mittelalter- 
lichen Universität  Übungen  hinzu.  Melai^ghthon  hatte  seit  den 
20  er  Jahren  unablässig  die  Unentbehrlichkeit  der  Übungen  betont 
Dieser  Forderung  entspricht  die  obligatorische  Einführung  von  Dekla- 
mationen und  Disputationen. 

Die  Deklamationen,  welche  die  Scholaren  unter  Anleitung  der 
Professoren  zu  halten  haben,  gleichen  unseren  Schulaufsätzen,  nur  daß 
der  Vortrag  hinzukommt;  die  stiiistisch-oratorische  Form  ist  dabei  die 
Hauptsache;  die  Absicht  ist,  die  Schüler  anzuleiten,  über  ein  gegebenes 
Thema  in  korrektem  Latein  und  mit  angemessener  Disposition  schrift- 
lich und  mündlich  sich  auszusprechen.  Moralische  Gemeinplätze, 
historische  Laudationen,  loci  aus  der  Katechese  u.  s.  f.  bilden  den 
Gegenstand  der  Deklamationen. 

Die  Disputationen  standen  von  jeher  in  engstem  Zusammenhang 
mit  den  Promotionen.  Auch  ihre  Herstellung  hatte  sich  Melangh- 
THON  längst  angelegen  sein  lassen.  Schon  in  einer  Deklamation  von 
'  1525  {de  gradibus  discentium,  C.  R.  XI,  98  ff.)  betont  er  den  Wert  der 
Einrichtung;  sie  sei  jetzt  verfallen,  wie  denn  die  Menschen  zur  Ab- 
schaffung aller  alten  Sitten  und  aller  bürgerlichen  Ordnung  verschworen 
zu  sein  schienen.  Im  Jahre  1528  fand  wieder  eine  Magisterpromotion 
>  statt,  im  folgenden  auch  eine  Baccalariatspromotion,  wie  es  in  der  dabei 
gehaltenen  Rede  heißt,  nach  längerer  Unterbrechung  (XI,  181).  Die 
declamatio  de  ordine  discendi  (1531,  XI,  209  ff.)  entwickelt  die  Not- 
wendigkeit eines  geordneten,  stufenweis  fortschreitenden  Unterrichts- 
ganges, damit  der  Scholar  nicht  wie  es  seine  Neigung  sei  und  wie  die 
Eltern  es  zu  begünstigen  pflegten,  ad  superiora  properiere.  In  dieser 
Absicht  seien  die  Grade  eingeführt  und  beizubehalten.   Als  Gegenstande 


Wittenberg.    Reformation  der  Universität  von  1536,  217 


der  Baccalariatsprüfang  werden  die  alten  genannt,  Grammatik  nnd 
Dialektik,  dazu  aber  ein  neuer:  die  Elemente  der  Eirchenlehre;  bei 
welcher  Gelegenheit  zugleich  der  Samen  etwaiger  Irrtümer  ausgereutet 
wird  (188).  In  der  Prüfung  der  Magistranden  wurde  in  den  her- 
kömmlichen philosophischen  Disziplinen,  Mathematik,  Astronomie,  Physik, 
Ethik  geprüft.  Auch  die  Kenntnis  der  griechischen  Sprache  wurde 
von  den  Magistranden  gefordert,  wie  aus  einem  Anschlag  Melanchthons 
(C.  R.  X,  87)  hervorgeht.  Mit  der  Herstellung  der  Promotionen  kehrten 
nun  auch  die  philosophischen  Disputationen,  die  das  Gespött  der  Hu- 
manisten gewesen  waren,  wieder.  Melanchthon  a-pricht  sehr  ein- 
dringlich ihre  Notwendigkeit  aus;  in  der  Ankündigung,  womit  er  als 
Rektor  den  Beginn  der  ordentlichen  Disputationen  anzeigt  (17.  Nov.  1536, 
C.  R.  III,  189)  heißt  es:  eine  Schule  ohne  Disputationen  ist  kümmer- 
lich und  verdient  gar  nicht  den  Namen  einer  Akademie. 

Sodann  ist  das  Pädagogium  zu  erwähnen,  das  als  Vorschule  der 
philosophischen  Fakultät  eingerichtet  und  unter  die  Leitung  eines 
Magisters  gestellt  wurde.  Es  hat  die  Aufgabe,  jungen  Leuten,  die  für 
die  öflFentlichen  Vorlesungen  noch  nicht  die  Reife  haben,  vor  allem 
weil  sie  in  der  lateinischen  Sprache  noch  nicht  hinlängliche  Kenntnis 
besitzen,  schulmäßigen  Unterricht  zu  geben.  Auch  damit  wurde  einer 
alten  Forderung  Melakchthons  entsprochen.  Er  selbst  hatte  früher 
junge  Leute,  die  ihm  empfohlen  waren,  zu  sich  ins  Haus  genommen  und 
ihnen  den  notwendigen  Schulunterricht  erteilt.  Das  ist  die  sogenannte 
schola  privata  Melanchthons,  von  der  in  den  Briefen  aus  den  20  er 
Jahren  öfters  die  Rede  ist.  Die  anspruchslose  und  ohne  Zweifel  löb- 
liche Sache  ist  von  panegyrischen  Darstellungen  als  Beweis  seltener 
Aufopferungsfähigkeit  ausgemalt :  daß  sich  der  berühmte  Kirchenrefor- 
mator zum  Unterricht  von  kleinen  Knaben  herabgelassen  habe.  Es 
ist  dabei  übersehen,  daß  der  öflFentliche  Universitätsunterricht,  wie  ihn 
Melanchthon  erteilte,  wesentlich  auch  nichts  anderes  als  Schulunter- 
richt war,  und  daß  die  Aufnahme  von  Pensionären  ins  Haus  bis  ins 
18.  Jahrhundert  hinein  eine  ganz  gewöhnliche  Sache  blieb;  sie  brachte 
ohne  Zweifel  dem  jugendlichen  Magister  und  seinem  jungen  Haushalt 
einen  erwünschten  Zuwachs  zu  dem  anfangs  schmalen  Einkommen; 
hatte  er  doch,  wie  er  Ende  1524  an  Spalatin  schreibt,  seiner  Frau 
während  ihrer  vierjährigen  Ehe  noch  kein  neues  Kleid  kaufen  können 
(C.  R  I,  697). 

Endlich  ist  einer  wichtigen  Einrichtung  zu  gedenken:  der  Unter- 
haltung  von   Stipendiaten.^    Schon   seit   der  Fundation   von   1536 

^  Kius,  Das  Stipendiatenwesen  in  Wittenberg  und  Jena  im  16.  Jahrhundert, 
in  Ilqens  Zeitschrift  für  historische  Theologie,  XXXV.  Bd.,  1865. 


) 


218    II,  3,    Neubegründung  der  Universitäten  in  den  protestanL  Gebieten, 


f  waren  jährlich  Gelder  zur  Erhaltung  armer  Studierenden  zur  Verfugung  ge- 
stellt worden.  Nach  der  Sicherung  der  Erwerbung  der  Kirchengüter 
durch  den  Landesherrn  wurden  die  Einkünfte  der  Stifte  Altenburg, 
Gotha  und  Eisenach  im  Betrage  von  ca.  4000  fl.  für  diesen  Zweck  be- 
stimmt Die  Fundationsurkunde  vom  Jahre  1545  setzt  die  Verteilung 
auf  die  Landesteile  und  auf  die  Stande  fest.  Von  den  1 50  Stipendiaten 
sollen  36  von  Adel  je  30 fl.,  doch  ihrer  9  40 fl.  jährlich  beziehen; 
28  Pfarrers-  und  86  Bürgerssöhne  sollen  je  25  fl.  erhalten.  Auf  den 
Kurkreis  entfallen  28,  auf  Thüringen  53,  auf  Meißen  50,  auf  das 
Vogtland  19  Stipendien.  Die  namentlich  aufgeführten  Städte  erhalten 
das  Präsentationsrecht  für  eine  oder  mehrere  Stellen;  die  Dörfer  sind 
nicht  beteiligt.  Der  Aufnahme  geht  ein  Examen  in  Wittenberg  vor- 
her, worin  der  Kandidat  Sicherheit  in  der  Grammatik  nachzuweisen 
hat;  auch  muß  er  mindestens  14  Jahre  alt  sein;  die  Stipendien  wer- 
den halbjährlich  zu  Johannis  und  Neujahr,  nach  voraufgegangener 
Prüfung  ausgezahlt.  Zunächst  waren  übrigens  nicht  alle  Stipendien 
verfügbar.  Die  Statuten  von  1546  (C.  R.  X,  1013)  wissen  nur  von 
ungefähr  40  Stipendiaten.  Nach  einer  neuen  Fundation  von  Kurfürst 
August  von  1564  sollen  27  Stipendiaten  gehalten  werden,  davon  20 
Artisten,  um  18  Jahr  alt,  mit  je  40 fl.,  4  Theologen,  die  schon  den 
philosophischen  Magistergi*ad  haben,  mit  je  90 fl.,  endlich  1  Mediziner 
und  2  Juristen,  die  in  linffua  latina  und  studiis  eloquentiae  ziemlich 
geübt  sind,  mit  je  lOOfl.  Die  großen  Stipendien  sollen  auf  4  Jahre 
verliehen  werden,  die  Theologen  dürfen  nur  in  Wittenberg,  die  Juristen 
und  Mediziner  können  auch  2  Jahre  außerhalb  studieren.  Gleichzeitig 
gab  der  Kurfürst  der  Universität  das  Geld,  um  von  Luthehs  Erben 
das  Kloster  anzukaufen  und  zum  Kollegium  auszubauen.  Die  Zahl  der 
Stipendiaten  wurde  durch  eine  neue  Fundation  desselben  Kurfürsten 
vom  Jahre  1580  auf  150  gebracht,  ebensoviel  sollten  auf  der  andern 
kursächsischen  Universität  Leipzig  gehalten  werden.  Doch  scheinen 
auch  hier  die  Mittel  nicht  zugereicht  zu  haben.  Die  Zahl  wurde  1584 
auf  120  herabgesetzt,  bis  auf  wohlfeilere  Zeiten.  Die  Statuten  von 
1588  (FöRSTEMANN,  Über  Decan.,  167)  wissen  sogar  nur  von  75  Sti- 
pendiaten. —  Übrigens  scheint  außer  den  Stipendien  noch  ein  Zu- 
schuß in  Naturalien  zur  mensa  communis  im  collegio  geleistet  worden 
zu  sein,  damit  auch  andere  arme  Studenten  um  geringen  Preis  den 
Tisch  haben  mochten. 

Über  die  Ursache  dieser  Stiftungen  spricht  sich  die  Fundations- 
urkunde von  1564  aus:  die  Sprachen  und  Künste  würden  so  gering 
geachtet,  daß  viele  wohlhabende  ansehnliche  Leute  sich  schämten  oder 
beschwerten,  ihre   Kinder   hier   zu  halten,  so   daß  „fast  nur  armer 


Wittenberg,    Stipendiafenordnung.  219 


Leut  Kinder  zum  studio  sich  begeben,  welche,  ob  sie  gleich  von 
natürlichen  Gaben  ingenii  und  anderen  wohl  geschickt  seien  und  etwas 
löbliches  in  studio  ausrichten  könnten,  doch  Armut  halber  entweder 
gar  keine  Universität  besuchen  mögen,  oder  da  sie  dieselbe  gleich  ein 
wenig  angesehen,  aus  großer  Armut  nicht  lange  daselbst  verharren 
können  und  sich  allzu  zeitlich  zu  Dienste  begeben,  da  denn  viel  feiner 
ingenia  in  gar  geringen  Diensten  verliegen  und  verderben**  (Gboh- 
MANN,  I,  69). 

Die  Landeskirchen  hatten  keine  Prälaturen,  welche  vornehmer 
Leute  Kinder  hätten  anziehen  können.  Das  weltliche  Regiment  bildete 
in  den  protestantischen  Territorien  den  ersten  Stand,  die  Geistlichen 
waren  Beamte  zweiter  Klasse  geworden. 

Erwähnt,  mag  noch  werden,  daß  die  Universität  seit  den  30er 
Jahren  mit  disziplinarischen  Schwierigkeiten  in  wachsendem  Maße  zu 
kämpfen  hatte.  Die  Zuchtlosigkeit  der  Studenten  verbitterte  Luther 
und  Melanchthon  ihre  letzten  Lebensjahre.  Zahlreiche  Zeugnisse  hier- 
über kann,  wer  sie  sucht,  jetzt  bei  Janssen  (7,  185  flF.)  zusammen- 
gestellt finden.  Allzu  schlimm  wird  man  übrigens  die  Sache  sich 
nicht  vorstellen  dürfen.  Das  Zusammenströmen  von  Tausenden  junger 
Leute  aus  allen  Enden  der  Welt  auf  der  jungen  Universität  in  dem 
kleinen  Eibstädtchen,  die  beide  nicht  auf  ihre  Aufnahme  vorbereitet  waren 
—  oft  wird  über  Dürftigkeit,  Teuerung  und  Übervorteilung  durch  die 
Hauswirte  geklagt  —  mußte  an  sich  die  Disziplin  erschweren;  dazu 
kam  der  Einfluß  der  neuen  Vorstellungen  von  Freiheit  und  Menschen- 
würde, wie  sie  Humanismus  und  Beformation  in  den  Köpfen  hervor- 
riefen, sowie  das  Absterben  der  Lebensordnungen  der  mittelalterlichen 
Universitäten,  die  in  dem  klösterlichen  Leben  ihr  Urbild  gehabt 
hatten.  Auch  vergesse  man  nicht,  daß  Fleiß  und  Tugend  nicht  ebenso 
wie  allerlei  Delikte  Gegenstand  offizieller  Aufzeichnungen  wird. 

Eine  genauere  Einsicht  in  die  Ordnung  des  Lehrkiirsus  gewähren 
die  von  Melanchthon  zum  Behuf  der  öffentlichen  Vorlesung  beim 
Rektorats  Wechsel  im  Jahre  1545  abgefaßten  leges  academiae  und 
leges  collegii  facultatis  liberalium  arfium,  quas  philosophia  continet 
(C.  R.  X,  992—1024).  Das  Lekturenverzeichnis  stimmt  im  wesent- 
lichen mit  dem  der  Fundationsurkunde  überein,  nur  ist  eine  Lektur 
für  den  Vortrag  der  aristotelischen  Physik,  oflfenbar  im  Urtext,  hinzu- 
gekommen, dagegen  die  Lektur  der  Moral  mit  der  griechischen  vor- 
läufig vereinigt.  Auch  in  der  Moralphilosophie  soll  die  Ethik  des 
Aristoteles  im  Urtext  erklärt  werden.  Von  den  übrigen  griechischen 
Autoren  erklärt  der  Gräcist  Homer,  Hesiod,  Euripides,  Sophokles» 
Theokrit,  Demosthenes  und  einen  Historiker;  zuweilen  auch  einen  Brief 


220    //,  8,    Neubegründung  der  Univermiäten  in  den  Protestant,  QebUten, 


Pauli,  in  grammatisch-sprachlicher  Hinsicht,  damit  die  Schüler  sehen, 
daß  zum  Verständnis  der  Apostel  die  Sprachen  und  die  Philosophie 
von  Nutzen  seien  (S.  1010). 

Der  Unterrichtskursus,  wie  ihn  der  einzelne  Scholar  durch- 
macht, hat  hiernach  folgende  Gestalt.  Kommt  er,  was  zwar  nicht 
wünschenswert  ist,  aber  nicht  verhindert  werden  kann,  ohne  aus- 
reichende Kenntnis  der  lateinischen  Sprache  auf  die  Akademie,  so  zieht 
er  ins  Pädagogium  oder  zu  einem  Magister  als  seinem  Privat- 
präzeptor;  dieser  treibt  vor  allem  mit  ihm  Latein,  indem  er  ihm  die 
Regeln  der  Grammatik  fleißig  beibringt  und  im  Reden  und  Schreiben 
ihn  übt.  Daneben  läßt  er  ihn  etwa  auch  die  für  ihn  geeigneten 
öffentlichen  Vorlesungen ,  etwa  über  Dialektik  und  Rhetorik,^  besuchen. 
Nicht  minder  wird  er  dafür  Sorge  tragen,  daß  der  Knabe  die  Summe 
der  wahren  Lehre  erlerne;  er  wird  ihn  anhalten  die  Predigt  zu  be- 
suchen, nach  derselben  zu  Hause  ihn  die  Hauptstücke  des  Katechismus 
aufsagen  lassen,  auch  ihn  der  Ordnung  nach  darüber  examinieren,  was 
Sünde  und  Glaube  sei,  wie  die  Vergebung  der  Sünden  geschehe  u.  s.  w. 
(1016  ff.).  Übrigens  gilt  die  Verpflichtung  zum  Kirchenbesuch  für  alle 
Glieder  der  Universität:  wird  jemand  erfunden,  der  dieser  Pflicht  sich 
entzieht,  so  soll  er  mit  Karzer  oder  Relegation  bestraft  werden  (S.  996). 

Der  philosophische  Kursus,  der  nun  folgt,  umfaßt  den  ganzen 
Kreis  der  freien  Künste.  Es  scheint,  daß  in  Wittenberg  der  Kursus 
nicht  so  detailliert  vorgeschrieben  worden  ist,  als  auf  den  übrigen 
protestantischen  Universitäten;  die  Sache  ließ  sich  wohl  bei  der  großen 
Frequenz  nicht  durchführen.  Eine  ungefähre  Beschreibung  wird  in 
einem  von  Bretschneldeb  ins  Jahr  1532  gesetzten  Anschlag  (X,  86  ff.) 
gegeben,  und  ähnlich  in  den  Statute  (X,  993).  Die  erste  Abteilung 
bis  zum  Baccalariat  umfaßt  darnach  ein  eingehenderes  Studium  der 
Dialektik  und  Rhetorik  mit  Einschluß  der  Poetik,  wobei  als 
Autoren  vorzugsweise  Cicero  und  Quintilian  und  die  lateinischen 
Dichter  in  Betracht  kommen;  ferner  die  Elemente  der  Mathematik 
und  Physik.  Die  zweite  Abteilung,  der  Magistrandenkursus,  fügt 
hierzu  die  griechische  Sprache  und  ihre  Autoren,  die  aus  dem 
Original  geschöpfte  Kenntnis  der  aristotelischen  Physik  und 
Ethik,  sowie  ein  weiteres  Studium  der  Mathematik  und  Astro- 
nomie (Euklid  und  Ptolemäus). 

Dieser  sprachlich-litterarisch-philosophische  Kursus  ist  gedacht  als 
Unterbau  für  den  dann  folgenden  Fachkursus  in  den  oberen  Fakultäten. 
Doch  giebt  es  keinerlei  gesetzliche  Fixierung  der  Anforderungen  an  die 
Vorbildung  dessen,  der  sich  dem  theologischen  oder  juristischen  Studium 
zuwenden   will;   man    überließ  es  der  eigenen  Einsicht  und  der  Be- 


Wittenberg,    Der  Kursus  der  phüosoph,  Fahdiät.  221 

•  ratung  durch  die  Lehrer,  das  Notwendige  oder  Wünschenswerte  durch- 
zusetzen. Sehr  gewöhnlich  wird  es  gewesen  sein,  daß  man  sprachliche, 
philosophische  und  theologische  Studien  nebeneinander  trieb,  namentlich 
wenn  man  schon  in  vorgerückteren  Jahren  auf  die  Universität  kam. 
Wir  haben  einen  nicht  uninteressanten  Bericht  von  einem  Scho- 
laren über  den  Wittenberger  Studienbetrieb:  Matthesius  erzahlt  in 
seinem  Leben  Luthers  (7.  Predigt)  aus  seiner  Studienzeit.  Er  kam 
1529,  schon  25  Jahre  alt,  nach  Wittenberg.  Hier  hörte  er  Luther 
in  etwa  40  Wochen  die  22  letzten  Kapitel  des  Jesaias  auslegen.  „Vom 
Herrn  Philippus,  dem  treuen  und  fleißigen  Professor,  hab  ich  diese 
kurze  Zeit  gehört  ein  Stück  von  Ciceros  Orator  und  die  Rede  pro 
Archia  und  die  ganze  Dialektik,  die  er  uns  von  neuem  diktierte,  samt 
der  Rhetorik.  Vormittag  erklärte  dieser  große  Mann  die  Epistel  zun 
Römern,  am  Mittwoch  las  er  von  ehrbarer  Zucht  und  Tugend  aus 
Aristotelis  Ethik  oder  Zuchtbuch."  Ferner  berichtet  er:  Bugenhagen 
legte  den  Korintherbrief  aus,  D.  Jonas  etliche  Psalmen,  Auhogallus 
las  hebräische  Grammatik  und  den  119.  Psalm,  M.  Fbank  von  Weimar 
las  Griechisch,  Tulichiüs  officia  Ciceronüj  M.  Vach  Virgil,  M.  Volmab 
Theorie  der  Planeten,  M.  Milich  Sphaera,  Ceucigeb  las  den  jungen 
Studenten  im  Pädagogium  den  Terenz.  „So  waren  auch  die  Privat- 
schulen trefflich  bestellt.  M.  Winsheim,  M.  K.  Goldstein,  M.  Ammer- 
bach und  Ebasmüs  Reinhold  und  bald  hernach  M.  Marcellus, 
G.  Majob,  Ebeb  hielten  ihre  Schüler  in  guter  Zucht  und  lasen  fleißig." 
Schon  im  folgenden  Jahr  wurde  Matthesius  als  Schulmeister  nach 
Altenburg,  bald  als  Rektor  nach  Joachimsthal  berufen.  Er  kehrte 
aber  1540  nochmals  nach  Wittenberg  zurück,  um  seine  theologischen 
Studien  zu  vollenden;  diesmal  wurde  er  Lüthebs  Tischgenosse.  1542 
kehrte  er  als  Prediger  nach  Joachimsthal  zurück.  Auch  derartige 
Unterbrechung  und  Wiederaufnahme  der  Studien  war  damals  ge- 
wöhnlich. Nicht  minder  der  Durchgang  durch  das  Schulamt  zum 
geistlichen  Amt.  Lütheb  fand  diesen  Gang  sehr  empfehlenswert. 
Matthesius  berichtet  von  ihm  die  Äußerung:  „Wenn  ich  die  Ordnung 
zu  stellen  hätte,  ließ  ich  mir  gefallen,  daß  man  keinen  zum  Diakon 
oder  Pfarrer  wählte,  er  hätte  denn  zuvor  ein  Jahr  oder  drei  in  Schulen 
neben  guten  Künsten  den  Katechismus  die  Kinder  gelehrt  und  fleißig 
mit  ihnen  repetiert." 

Hier  mag  sich  gleich  noch  ein  Augenblicksbild  aus  etwas  späterer 
Zeit  anschließen,  worin  sich  die  sozialen  und  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse der  Wittenberger  Magister  und  damit  der  ganzen  damaligen 
Universitätswelt  sehr  deutlich  abspiegeln.  Im  Frühjahr  1563  kamen 
zwei  junge  Pommemherzöge  nach  Wittenberg.    Sie  nahmen  Wohnung 


« 

222     //,  S,    Neubegründung  der   Universifäteti  in  den  Protestant  Gebieten. 

in  dem  Hause  Luthers,  das  dessen  Sohn  Martin  damals  angehörte. 
Ihre  Begleitung  bestand  aus  einigen  Edelknaben,  einem  Hofmeister, 
einem  Magister,  einem  Küchenmeister,  einem  Koch,  einem  Barbier, 
der  zugleich  als  Kellerknecht  fungierte,  im  Ganzen  16  Personen.  Für 
die  ganze  Gesellschaft  waren,  nach  dem  Bericht  des  Hofmeisters,  folgende 
Wohnräume  gemietet:  „erstlich  eine  große  Eßstube,  darnach  eine  ge- 
täfelte Stube,  daran  zwei  Kammern,  worin  der  Magister,  die  Edelknaben 
und  Jungen  schlafen;  darnach  haben  ihre  fürstlichen  Gnaden  an  der- 
selben getäfelten  Stube  ein  klein  Stübelin  zu  zween  Tischen,  da  beide 
m.  gn.  Herren  alleine  inne  sind,  und  darbei  eine  Kammer  mit  drei 
Spannbetten,  da  i.  f.  Gn.  und  ich  schlafen.  Unten  im  Hause  ist  eine 
gute  Küche,  darin  ein  schöner  Brunnen.  So  ist  auch  sonst  für  i.  f.  Gn. 
ein  guter  Keller,  daß  i.  f.  Gn.  mit  Gemächern  ziemlich  versehen  sind." 
Aber  die  Wohnung  hatte  auch  ihre  Kehrseite.  Über  der  fürstlichen 
Wohnung  hausten  in  sieben  Stuben  allerlei  Studenten,  welche  ihren 
Ein-  und  Ausgang  vor  den  Stuben  der  Herzöge  her  hätten,  bei  Tag 
und  Nacht  aus-  und  einliefen  und  Tumult  machten.  Und  unter  den 
Fürsten  wohnte  der  Hauswirt  Martin  mit  seiner  Familie,  der  sehr 
heruntergekommen  sei,  „weder  zu  essen  noch  zu  trinken  hat,  sich  auch 
sonst  leichtfertig  hält  mit  Saufen  und  ander  viel  loses  Gesinde  an  sich 
hänget,"  welche  Nachbarschaft  fürstlicher  Küche  und  Keller  vermittelst 
doppelter  Schlüssel  gefährlich  werde. 

Die  beiden  jungen  Fürsten  waren  kaum  angekommen,  so  wurden 
sie  von  den  Professoren  aufgesucht  und  mit  Geschenken  bedacht. 
„Dr.  P.  Ebeb  hat  seine  Konfession  de  sacramento,  schön  in  Gold  ge- 
bunden, jedem  Herrn  ein  Exemplar  geschenkt.  Dr.  C.  Peucebus,  gener 
Philippiy  hat  m.  gn.  H.  Herzog  Babnim  annulum  astronomicum  aus  gutem 
Golde  geschenkt,  und  Herzog  Ebnst  einen  Sonnenzeiger  aus  Perl- 
mutter. Mag.  Sebastianüs  Fboschel  hat  seine  Predigt  von  den 
Engeln  und  Teufeln,  auch  seinen  Katechismum,  schön  in  Gold  ge- 
bunden, drei  Exemplare  m.  gn.  H.  verehret  und  soll  eines  m.  gn.  Frauen 
(der  Herzogin)  zugeschicket  werden.  Ich  habe  verbales  gratiarum 
actioms  gethan;  ob  man  ad  realia  weiter  gehen  soll,  steht  zu  E.  f. 
Gn.  gnädiger  Erklärung." 

Der  Pommemherzog  scheint  von  dem  Wert  dieser  Geschenke  nur 
eine  mäßige  Meinung  gehabt  zu  haben,  jedenfalls  hielt  sich  seine 
Munificenz  in  engen  Grenzen.  Er  antwortete:  „Betreffs  der  Professores, 
so  unsere  Herren  Brüder  mit  Büchern  und  anderem  verehret,  stellen 
wir  zu  deinem  Bedenken,  welches  du  uns  ferner  wirst  wissen  zu  ver- 
melden, ob  sie  wiederum  nach  Gelegenheit  irgends  mit  Ochsen  oder 
trockner  Fischware  nach  der  Zeit  etwa  dermaßen  zu  bedenken,  daß  es 


Wittenberg.     Angenhlickshüder,  223 


darnach  nit  bald  möchte  einen  Eingang  oder  Anderen  Anleitung,  der- 
gleichen zu  suchen  möchte  gewähren."  Mit  dem  Brief  langten,  wie 
der  Herzog  mitteilt,  gleichzeitig  an:  vier  Tonnen  frische  Butter,  und 
20  gute  Seiten  Specks,  eine  Tonne  Schinken,  eine  Tonne  Stör,  50  Pfund 
Bergerfisch,  eine  Tonne  trockne  Barsche,  ein  Schock  trockne  Hechte, 
200  Schollen,  zwei  Seiten  Bauch wildprett;  wovon  denn,  hoffen  wir, 
auch  den  Professoren  ihr  Teil  gereicht  worden  ist.^ 

Eine  Schilderung  der  Magisterpromotion  und  der  vorhergehenden 
Prüfung,  die  ich  dem  Tagebuch  eines  Wittenberger  Studenten,  Franz 
LuBECüs,  der  1553 — 1555  in  Wittenberg  studierte,  entnehme,  mag 
diese  Mitteilungen  beschließen.  Zweimal  im  Jahr,  einmal  um  Mit- 
sommer, einmal  nach  Weihnachten,  wurde  durch  Anschlag  des  Dekans 
zur  Meldung  zur  Promotion  aufgefordert.  Die  sich  Meldenden  wurden 
dann  je  zu  vieren  geprüft,  entweder  im  collegio  medicorum  oder  im 
auditorio  des  paedagogii.  Als  Examinatoren  fungieren  die  professores 
artium,  es  können  aber  sämtliche  magistri  philosophici,  welche  sich 
zwei  Jahre  nach  ihrer  Promotion  zu  Wittenberg  ehrlich  gehalten  haben, 
teilnehmen;  jederzeit  ist  M.  Philippüs  und  der  decanits  dabei.  Die 
Examinanden  zahlen  jeder  7  Thlr.,  welche  unter  den  Dekan  und  alle 
Examinatoren  geteilt  werden,  welches,  da  etwa  40  promovieren,  auf 
jeden  vielleicht  8  gute  fl.  macht.  Nach  diesem  Examen  wird  noch 
ein  publicum  examen  aller  Magistranden  zusammen  gehalten,  worin 
jedem  Magister  freisteht,  die  Examinanden  zu  fragen  und  mit  ihnen 
allen  in  Unguis  et  artibus  zu  disputieren  und  konferieren.  Hierauf 
folgt  nach  einigen  Tagen  die  feierliche  Promotion.  Da  werden  sie  mit  \ 
Pfeifen  und  Trommeln  aus  des  Dekans  Behausung  nach  dem  collegio  I 
geführet,  je  zwei  miteinander;  ein  jeder  hat  einen  feinen  Knaben  mit 
einer  Kerze  neben  sich.  Dort  hält  der  Dekan  eine  Rede,  dann  thut 
er  die  anderen  Ceremonien:  jeder  hat  ein  großes  Buch  vor  sich  liegen, 
das  thut  ihnen  der  Dekan  auf  und  legt's  offen  vor  sie  hin.  Zum 
andern  setzt  er  einem  jeden  das  Baret  (die  Kogel  oder  Hüllen)  auf 
und  steckt  ihm  den  Fingerring  an.  Dann  folgt  wieder  eine  Rede  und 
darauf  zwei  Tage  convivia.     Darnach  wird  Rechnung  gehalten.^ 


Melanchthon  war  die  Seele  der  Wittenberger  Universität.  Er 
hat  nicht  nur  ihre  Ordnungen  verfaßt,  er  hat  sie  auch  mit  seiner 
Thätigkeit  erfüllt.     Seine  Vorlesungen  umfaßten  den  ganzen  Umkreis 

*  v.  Medem,  Die  Universitätejahre  der  Herzöge  Ernst  Ludwig  und  Barnim 
von  Pommern.     Anclam  1867. 

'  Neue  antiquar.  Mitt  des  thttring.-sächs.  VereinS;  Bd.  XI,  112—121. 


HT 


224    //,  3,    Neubegründung  der  Univermtäten  in  den  Protestant  Oebisten. 

der  sprachlichen  und  philosophischen  Disziplinen,  üie  zahlreich  er- 
haltenen Anschläge  geben  einen  Einblick  in  seine  erstaunlich  umfang- 
reiche Lehrthätigkeit;  es  gehurte  dazu:  Rhetorik,  Dialektik,  Physik, 
Ethik,  Geschichte,  griechische  Grammatik,  Erklärung  griechischer  und 
lateinischer  Autoren,  heiliger  und  profaner,  unter  letzteren  Homer, 
Demosthenes,  Sophokles,  Euripides,  Thucydides,  endlich  auch  Hebräisch 
und  zahlreiche  Schriften  des  alten  Testaments.  Als  er  im  Jahre  1560 
starb,  übernahmen  die  Kollegen  seine  Vorlesungen  zur  Fortsetzung. 
Es  waren  ihrer  sechs,  mit  zusammen  neun  wöchentlichen  Stunden. 
Auf  die  griechische  Lektur  kamen  zwei  Vorlesungen:  eine  einstündige 
über  griechische  Grammatik  mit  Übungen  (an  der  Apostelgeschichte) 
für  Anfanger,  und  eine  zweistündige  Interpretationsvorlesung  über 
Euripides;  jene  Mittwoch  9 — 10,  diese  Donnerstag  und  Freitag  8 — 9  Uhr. 
Auf  die  theologische  Lektur,  welche  Melanchthon  neben  der  grie- 
chischen seit  1526  verwaltete,  kam  eine  zweistündige  Vorlesung  über 
den  Römerbrief  (Donnerstag  und  Freitag  9 — 10  Uhr).  Außerdem  hatte 
er  über  Dialektik  zweistündig  (Montag  und  Dienstag  9 — 10  Uhr),  über 
Ethik  einstündig  (Dienstag  2  Uhr)  und  über  Geschichte  einstündig 
(Sonnabend  9  Uhr)  gelesen.  Endlich  hielt  er  noch  eine  Sonntagsvor- 
lesung, besonders  für  Ausländer,  denen  die  deutsche  Predigt  nicht  ver- 
ständlich war,  bestehend  in  Schriftauslegung  und  Katechese.^ 

Kurz  vor  seinem  Tode  war  bei  Melanchthon  sein  alter  Freund 
Camerabius  zum  Besuch.  Ihr  Blick  wendete  sich  auf  die  Vergangen- 
heit und  ihre  lange  Freundschaft.  Da  sagt  Melanchthon:  „Wir 
haben  beide  ausgehalten  in  der  Niedrigkeit  des  Schullebens  und  an 
unserem  Orte  gethan,  was  wir  konnten.  Einigen  hat  doch  wohl  unsere 
Arbeit  genützt,  Schaden  hat  sie  gewiß,  das  darf  ich  hoffen,  niemanden 
gebracht"  (C.  E.  IX,  1102). 

Er  hatte  sein  Werk  gethan  und  schied  willig  aus  dem  Leben ,  das 

*  Das  Verteilungsschema  C.  R.  X,  206  fiF.  Die  Anschläge  verstreut  durch 
die  ersten  10  Bände  des  C.  K.;  nachgewiesen  X,  335.  Eine  Zusammenstellung 
der  Vorlesungen  Melanchthons  ,  die  aber  nicht  yollständig  ist,  bei  Habtfeldek, 
Melanchthon,  S.  555 ff.  Übrigens  wird  durch  diese  große  Zahl  gleichzeitiger 
Vorlesungen  auch  eine  Angabe  verständlich,  welche  Heerbrand,  ein  Schtller 
Melanciithons  ,  Gräcist  in  Tübingen ,  in  einer  dort  gehaltenen  Gedächtnisrede 
macht  (C.  K  X,  293),  daß  Melanchthon  gewöhnlich  etwa  2000  Schüler  und 
Zuhörer  gehabt  habe.  Man  wird  in  der  That  annehmen  dürfen,  daß  jeder 
Wittenberger  Student  irgend  eine  dieser  öffentlichen  Vorlesungen,  wenigstens 
ein  imd  das  andere  Mal  besuchte  und  insofern  als  Hörer  Melanchthons  be- 
zeichnet werden  konnte.  Falsch  würde  natürlich  die  Auffassung  sein,  daß  eine 
oder  alle  Vorlesungen  Melanchthons  von  2000  Hörern  besucht  worden  seien, 
schon  aus  dem  Grunde,  daß  es  in  Wittenberg,  vieUeicht  die  Kirche  ausgenommen, 
inen  Raum  gab,  der  so  viele  Personen  hätte  fassen  können. 


Wittenfjerg,    Lehrplan  von  1561,  225 


ihm  wenig  Freude,  viel  Kampf  und  Mühsal  gebracht  hatte.  Auf  seinem 
Tisch  fand  man  nach  seinem  Tode  ein  Blättchen  Papier,  worauf  er  den 
Gewinn,  den  er  vom  Abschied  verhoflPte,  in  zwei  Kolumnen  nebenein- 
ander gestellt  hatte.  Zur  Linken:  „Du  wirst  der  Sünde  abscheiden. 
Du  wirst  von  allem  Kummer  frei  werden  und  von  der  rasenden  Wut 
der  Theologen."  Zur  Rechten:  „Du  wirst  zum  Licht  kommen.  Du 
wirst  Gott  sehen.  Du  wirst  den  Sohn  Gottes  schauen.  Du  wirst  die 
wunderbaren  Geheimnisse  erfahren,  die  du  in  diesem  Leben  nicht  zu 
erkennen  vermochtest:  wanim  wir  so  geschaffen  sind?  von  welcher 
Art  die  Vereinigung  der  beiden  Naturen  in  Christo  ist?"  (C. .  R. 
IX,  1098). 

Im  Jahr  nach  dem  Tode  Melanchthons  fand  mit  herzoglicher 
Bestätigung  eine  neue  Feststellung  des  Lektionsplans  der  philosophischen 
Fakultät  statt  Sie  ist  einem  Anschlag  des  Rektors,  der  eine  Auf- 
forderung zur  Teilnahme  an  einer  Gedächtnisfeier  Luthebs  und  Me- 
lanchthons enthält,  beigegeben.^  Ordnen  wir  die  Vorlesungen  nach 
der  Zeit,  so  erhalten  wir  folgenden  Stundenplan: 

6  Uhr:  M.  A.  Lemeigeb,  Rhetorik,  vierstündig:  am  Montag  und 
Dienstag  praecepta  rhetorices;  Donnerstag  und  Freitag  Erklärung 
von  Ciceros  Briefen  und  Reden. 

7  Uhr:  M.  Sebastianüs,  Geometrie  und  Astronomie  nach  Euklid  es 
und  Ptolemäus,  vierstündig. 

8  Uhr:  Dr.  Virus  Winshemius,  griechische  Schriftsteller,  vier- 
stündig. 

9  Uhr:  M.  P.  Vincentiüs,  Dialektik,  am  Montag  und  Dienstag. 
Dr.  V.  Winshemius,  griechische  Grammatik,  Mittwochs. 

Dr.  C.  Peuceb,  Geschichte,  Sonnabends.    ' 
12  Uhr:  M.  B.  Schönbobn,  de  dimensione  terrae,  vierstündig;  dann 
Plinius,  Meteora  Pontani  und  ähnliches. 

1  Uhr:  M.  M.  Plochingeb,  Elementa  sphaerica  et  aritkmetica,  vier- 
stündig, für  die  Jüngeren. 

2  Uhr:  M.  Esbomus,  Physik,  vierstündig;  M.  E.  Menius,  lateinische 
Grammatik,  mit  Lektüre  des  Terenz,  Plautus,  Virgil,  Ovid,  vier- 
stündig.   M.  P.  Vincentiüs,  Ethik,  Mittwochs. 

3  Uhr:  Dr.  J.  Maiob,  Poetik,  mit  Erklärung  lateinischer  Dichter, 
vorzüglich  Virgil,  vierstündig. 

4  Uhr:  M.  P.  Vincentiüs,  Cicero  de  oratore,  ein  andermal  Livius 
oder  Homer,  am  Donnerstag  und  Freitag.  # 

*  Scripta  publice  proposita  a  professoritnis  in  academia  Witehergensi  ab 
anno  1540—1566.  6  fomi.  Das  Verzeichnis  in  Bd.  IV.  m  5 ;  auch  bei  Strobel, 
Neue  Beiträge,  I,  1,  132  ff. 

Paulien,   Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  15 


Neubegründi 


Die  hebräische  Lektur  war  der  theologischen  Fakultät  zageteilt 
worden.  Im  Jahre  1588  fiel  die  Lektor  der  lateinischen  Orammatik 
weg,  an  ihre  Stelle  trat  eine  professio  historiarum.  Ein  Lektionsver- 
zeichnis vom  Jahre  1614  (Gbohmann,  II,  87)  weist  folgenden  Bestand 
an  Professuren  und  Lektionen  auf:  1)  Hebräisch;  2)  Griechisch; 
3)  Poetik;  4)  Rhetorik;  5)  Logik,  kombiniert  mit  praktischer  Philosophie; 
6)  Physik;  7)  Mathematik;  die  zweit«  mathematische  Professur  wird 
von  dem  Gracisten  mit  verwaltet;  8)  Geschichte. 

Die  erste  neugegründete  protestantische  Universität  ist  Marburg.^ 

Landgraf  Philipp  von  Hessen  war  im  Jahre  1524  bei  einer  Be- 
gegnung mit  Melanchthon  für  die  kirchliche  Neuerung  eingenommen 
worden,  er  wurde  bald  der  eifrigste  unter  den  fürstlichen  Reformatoren. 
Schon  im  Jahre  1526  wurde  in  der  Homburger  Kirchenordnung  der 
Grundriß  zu  einem  neuen  landesherrlichen  Kirchenwesen  gezogen.  Auch 
eine  neue  Universität  wird  darin  vorgesehen,  die  auf  Grund  und  nach 
Maßgabe  des  reinen  Wortes  Gottes  alle  Wissenschaften  lehre:  Theologie, 
Jurisprudenz,  Medizin,  freie  Künste  (adhibito  in  omnibus,  praesertim  in 
mathematicisj  cen^ore  tutissimo,  nempe  sermone  Dei)  und  die  Sprachen. 
Als  Schlußformel  ist  hinzugefügt:  „Wer  etwas  gegen  das  Wort  Gottes 
lehrt,  der  sei  verflucht."  So  ängstlich  eilig  hatte  man  es  mit  der  Ab- 
wehr des  freien  Denkens  und  Forschens. 

Zur  Unterhaltung  der  neuen  Universität  wurde  ein  Teil  der  ein- 
gezogenen Klostergüter  verwendet,  wie  sie  denn  auch  mit  den  Ge- 
bäuden zweier  Klöster  in  Marburg  ausgestattet  wurde.  Eine  päpstliche 
Errichtungsbulle  wurde  natürlich  nicht  nachgesucht,  wohl  aber  in  der 
Fundationsurkunde  (1529)  eine  kaiserliche  Privilegierung  mit  dem 
I  Recht  der  Promotion  in  Aussicht  gestellt  Dieselbe  wurde  erst  1541 
erlangt;  doch  sind  Promotionen  auch  vorher  vorgenommen  worden; 
die  ersten  Magister  und  Baccalarien  wurden  im  Jahre  1530  promo- 
viert (DiLiCHius,  S.  10).  Es  sind  die  ersten  akademischen  Grade  aus 
bloß  landesherrlicher  Autorität,  wenn  man  von  Maximilians  Poeten- 
fakultät absieht. 

Die  Fundationsurkunde  und  die  gleichzeitig  (31.  Aug.  1529)  er- 
lassenen Statuten  der  Universität  enthalten  auch  die  Grundzüge  der 
Lektionsordnung.  Sie  gleicht  in  allen  wesentlichen  Stücken  der  Witten- 
berger Ordnung  von  1536.  Es  ist  wohl  kein  Zweifel,  daß  sie  unter 
Melanchthons   direktem   oder   indirektem  Einfluß  verfaßt   ist;   seine 

*  Hildebrand,  Urkundensammlung  der  Univ.  Marburg  (1848).  W.  Dilichius, 
De  urbe  et  acad,  Mirb,,  herausgeg.  von  J.  Caesar,  Marburger  Universit&ts- 
schriften,  1863/64.  Krause,  E.  Hessus,  II,  174fF.  Koch,  Gesch.  des  akadem. 
Pätlagogiums  (Progr.  d.  Gymn.  1868). 


T- 


Gründung  der  Universität  Marburg  (1527).  227 


Beteiligung  an  der  Gründung  der  Universität  geht  auch  aus  einem 
Brief  an  Caicerabius  (Sept  1526,  G.  S.  I,  817)  hervor.  Die  ersten 
Lehrer  der  Universität  waren  fast  alle  Wittenberger;  J.  Febbabiüs 
und  Adam  Gbato,  die  beiden  ersten  Rektoren,  waren  Melanghthoks 
Schüler  und  Freunde. 

Die  drei  oberen  Fakultäten  erhielten  zwei,  drei  und  eine  Professur, 
die  philosophische,  so  wie  die  Wittenberger,  zehn :  eine  hebräische,  eine 
griechische  (welcher  die  Grammatik  und  die  Autoren,  Homer,  Hesiod, 
Aristophanes,  Theokrit  befohlen  werden),  zwei  der  Eloquenz  (Cicero  und 
Quintilian  werden  als  Autoren  genannt),  eine  der  Dialektik,  eine  der 
Physik,  eine  der  Poesie  (Virgil,  Horaz,  Terenz,  Ovid),  eine  der  Ge- 
schichte (livius,  Caesar,  Sueton,  Tacitus  u.  a.),  eine  der  Mathematik 
und  Astronomie,  eine  der  Grammatik.  Ebenso  wurde  ein  Pädagogium 
unter  zwei  Magistern  konstituiert,  in  welchem  Grammatik,  Dialektik, 
Rhetorik  (beide  nach  Melanchthons  Lehrbüchern),  Musik  und  die 
Elemente  der  griechischen  und  hebräischen  Sprache  gelehrt  werden 
sollten.  Es  ist  drei  Jahrhunderte  hindurch  der  Universität  inkorporiert 
geblieben;  erst  1833  wurde  es  als  selbständiges  Gymnasium  konstituiert  / 
Nicht  minder  wurden  Deklamationen  und  Disputationen,  wie  zu  Witten- 
berg, vorgeschrieben.  Jeder  Scholar  soll  einen  unter  den  Professoren 
der  philosophischen  Fakultät  als  Privatpräzeptor  haben,  unter  dessen 
Aufsicht  er  studiert,  der  ihn  in  den  Sprachen  übt  und  mit  ihm  die 
Lektionen  repetiert.  Wenn  er  nicht  bei  diesem  seinem  Präzeptor 
wohnt,  soll  er  im  Kollegium  Wohnung  und  Kost  nehmen.  Es  sind 
die  mittelalterlichen  Einrichtungen,  welche  in  Wittenberg  durchzuführen 
Melanchthon  vergeblich  sich  bemühte. 

Unter  den  ersten  Lehrern  der  philosophischen  Fakultät  begegnen 
uns  aus  dem  alten  Humanistenkreise  die  beiden  Poeten  H.  Buschius 
und  EuB.  CoBDüs,  dieser  als  Professor  der  Medizin;  sie  sind  inzwischen 
älter  geworden  und  machen  nicht  mehr  viel  von  sich  reden.  Die  neuen 
Theologen,  Cbato,  J.  Dbaco.  Erfurter  Andenkens,  haben  die  Leitung 
der  Dinge.  Nach  Buschius'  Tode  (1534)  folgte  in  seiner  Professur 
der  Geschichte  Eobanus  Hessus.  Der  strebsame  Poet  hatte  schon 
lange  auf  Hessen  und  Marburg  sein  Augenmerk  gerichtet.  Längst 
hatte  er  sich  angelegen  sein  lassen,  durch  poetische  Lobhudeleien  des 
Landgrafen  Ruhm  auszubreiten  und  sich  Geschenke  und  eine  An- 
stellung zuzuwenden.  Endlich  gelang  es.  Nach  dem  Sieg  des  Land- 
grafen bei  Lauffen  fragte  er  wieder  an:  ob  man  nicht  ein  der  großen 
Sache  würdiges  carmen  wolle?  Jetzt  kam  die  Bestellung,  und  der 
Einsendung  des  Gedichts,  wodurch,  wie  die  Freunde  versicherten,  gleich- 
zeitig dem  Landgrafen  und  dem  Dichter  die  Unsterblichkeit  gewiß  sei, 

15* 


228    U,  3.    Neubegründung  der  Universitäten  in  den  Protestant.  Gebieten. 


folgte  alsbald  die  Anstellung  (1536),  wozu  übrigens  noch  Melanchthon 
und  Camebabius  durch  Empfehlungen  mitgewirkt  hatten  (Kbause, 
II,  176,  191).  Es  gelang  ihm  hier  noch  die  Homerübersetzung  und 
die  Erwerbung  fon  zwei  Pfründen  zu  seinem  Gehalt,  worunter  das 
Dekanat  in  St.  Goar  mit  50  fl.  und  zwei  Fudern  Wein  dem  Durstigen 
besonders  zu  statten  kam.  Im  Jahre  1540  machte  der  Tod  seinem 
Yersemachen  und  seiner  Geldnot  ein  Ende.  Eben  hatte  der  Landgraf 
ihm  ein  Haus  geschenkt;  er  sollte  es  nicht  mehr  bewohnen;  für  einen 
Poeten  zieme  es  sich  nicht,  so  hatte  einst  Buschius  gemeint,  ein  eigen 
Haus  zu  haben. 

DiLiCHius  sagt  über  die  Anfange  der  Marburger  Akademie:  so 
groß  sei  die  Würde,  Gelehrsamkeit  und  Heiligkeit  der  Professoren  ge- 
wesen, daß  man  lauter  Homere,  Cicerone,  Piatone,  Aristoteles,  Asku- 
lape,  Apollos  zu  erblicken  mit  einem  gewissen  Recht  behaupten  könnte. 
Wenn  Pythagoras,  Archytas,  Apollonius  heute  lebten,  brauchten  sie 
nicht  zu  den  Persem,  Kretern,  Ägyptern,  Indern  zu  reisen:  sie  könnten 
alles  Yiel  schneller  und  billiger  in  Marburg  haben. 

Eine  wichtige  Rolle  spielte  auf  der  neuen  Universität  von  der 
Gründung  an  das  Stipendiatenwesen.  Das  Eingehen  des  alten 
Schulwesens,  der  vorauszusehende  Mangel  an  tauglichen  Personen  zu 
weltlichem  und  geistlichem  Regiment  wird  im  Eingang  der  Fundations- 
urkunde  als  erster  Anlaß  zur  Begründung  des  neuen  Studiums  an- 
gegeben. LuTELBB  hatte  in  seinem  Schreiben  an  die  Ratsherren 
vorgeschlagen,  diesem  Mangel  abzuhelfen,  einerseits  durch  Angebot 
unentgeltlichen  Unterrichts  durch  Anstellung  besoldeter  Lehrer,  ander- 
seits, falls  es  nötig  sein  sollte,  durch  Studienzwang.  Der  unentgeltliche 
Unterricht  war  auf  den  Universitäten  seit  Anfang  des  Jahrhundert« 
schon  üblich,  Marburg  fügte  dazu,  statt  des  von  Lutheb  vorgeschlagenen 
zweiten  Mittels,  das  Angebot  freien  Unterhalts  für  eine  ansehnliche 
Anzahl  von  Studierenden.  Die  Kosten  des  Unterhalts  wurden  den  Ge- 
meinden, besonders  den  Städten  auferlegt,  denen  dafür  das  Präsentations- 
recht von  Stipendiaten  in  bestimmter  Zahl  zustand.  Die  Präsentanden 
sollen  durch  die  geistlichen  und  weltlichen  Behörden  der  Gemeinden 
aus  den  Schülern  der  Partikularschulen  gewählt,  darnach  in  Marburg 
von  dem  Vorsteher  des  Konvikt'S  geprüft  und  nach  Befinden  abgewiesen 
oder  in  eine  der  oberen  Klassen  des  Pädagogiums  oder  in  die  Universitäts- 
lektionen aufgenommen,  endlich  nach  Absolvierung  des  linguistisch- 
philosophisch-theologischen Kursus  zu  geistlichen  Ämtern  gebraucht 
werden. 

Die  Sache  begegnete,  wie  aus  den  häufigen  neuen  Ordnungen 
(1539,  1542,  1560)  hervorgeht,  vielen  Schwierigkeiten.    Die  Stipendien- 


Reformation  der  Tübinger  Universität  229 


gelder  von  den  Städten  gingen  unregelmäßig  Qder  gar  nicht  ein,   es 
wurden  untaugliche  Subjekte  oder  gar  keine  präsentiert,  die  Stipendiaten 
entzogen  sich  ihren  Verpflichtungen,  erst  des  Studierens,  sodann  des 
Dienens.    Für  alle  diese  Nöte  wurde  in  den  wiederholten  Stipendiaten- 
ordnungen  Abhilfe   gesucht.     Die    letzte    Ordnung   Philipps   (156QL 
giebt  dem  Stipendiatenwesen  folgende  0  estalt.  Es  sollen  60  Studenten  ( 
gehalten  werden,  50  mit  einem  kleineren  Stipendium  von  20  fl.,  10  mit  ! 
einem  größeren  von  40  fl.    Alle  haben  Wohnung  und  Kost  im  KoUegJ 
unter    Aufsicht  eines   älteren   Professors.     Die   minores  machen"""^^Ti 
sprachlich-philosophischen  Kursus  durch;  in  höchstens  zwei  Jahren  er- 
werben sie  das  Baccalariat,  in  ferneren  zwei  Jahren  das  Magisterium.  Il' 
Dann  werden  die  Geschicktesten  ausgewählt,  um  in  den  oberen  Fakul- 
täten zu  studieren,  wenigstens  je  einer  in  JurispVudenz  und  Medizin, 
die  übrigen  in  Theologie.   Diese  majores  sind  zugleich  Repetenten  und 
Sprachmeister  der  minores^  deren  je  fünf  einem  der  majores  zugeteilt 
werden.     Die   minores,   welche  nicht  sonderliches  versprechen,   gehen 
nach   Erwerbung   des   philosophischen    Magisteriums   sogleich   in   den 
Schul-  und  Kirchendienst  über;  theologische  Vorlesungen  haben  sie  schon 
in  den  beiden  letzten  Jahren  neben  den  philosophischen  gehört.  — 

Der  hessischen  Neugründung  folgte  die  protestantische  Reformation 
der  württembergischen  und  der  herzoglich  sächsischen  Universität.  An 
beiden  Orten  geschah  die  Umwandlung  unter  dem  bestimmenden  Ein- 
fluß Melanchthons.  Sein  nächster  Freund  und  Gesinnungsgenosse, 
J.  Camebabius,  hat  erst  in  Tübingen,  dann  in  Leipzig  das  artistische 
Studium  im  Sinne  Melanchthons  neugeordnet. 

Der  Sieg  bei  I^auffen  brachte  Herzog  Ulrich  ins  Land  zurück 
und  mit  ihm  die  Reformation.  Eine  der  ersten  Regierungssorgen  war 
die  Reformation  der  Universität  Tübingen.  Die  ersten  herzoglichen 
Kommissäre,  A.  Blabeb,  ein  Vermittelungstheolog  zwischen  Lutheb 
und  ZwiNGLi,  und  S.  Gbynaeüs,  eröffneten  noch  im  Herbst  1534  Ver- 
handlungen mit  der  Universität,  die  aber,  da  die  Körperschaft  der 
Neuerung  widerstrebte,  zu  keinem  Ziel  führten.  Es  wurde  daher  eine 
neue  Ordnung  oktroyiert  (30.  Januar  1535)  und  die  Widerstrebenden, 
namentlich  Theologen  und  Juristen,  entfernt.  Im  Sommer  1535  kam 
Camebabiüs  und  trat  mit  Jon.  Bbenz,  einem  ebenfalls  von  Melanch- 
THON  empfohlenen  Theologen,  an  die  Stelle  der  beiden  früheren  Re- 
formatoren der  Universität.  Im  Herbst  1536  war  Melanchthon  auf  - 
Ersuchen  des  Fürsten  ein  paar  Wochen  in  Tübingen,  um  sich  der  Univer- 
sitatsreform  anzunehmen;  wiederholte  dringende  Aufforderungen,  nach 
der  schwäbischen  Heimat  zurückzukehren,  lehnte  er  ab.  Gegen  Ende 
des  Jahres  erfolgte  eine  neue,  im  wesentlichen  mit  der  ersten  überein- 


228    U,  3.    Neubegründung  der  Universitäten  in  dein  Protestant.  Gebieten. 

folgte  alsbald  die  Anstellung  (1536),  wozu  übrigens  noch  Melanchthon 
und  Camebabius  durch  Empfehlungen  mitgewirkt  hatten  (Krause, 
Ily  176,  191).  Es  gelang  ihm  hier  noch  die  Homerübersetzung  und 
die  Erwerbung  fon  zwei  Pfründen  zu  seinem  Gehalt,  worunter  das 
Dekanat  in  St.  Goar  mit  50  fl.  und  zwei  Fudern  Wein  dem  Durstigen 
besonders  zu  statten  kam.  Im  Jahre  1540  machte  der  Tod  seinem 
Yersemachen  und  seiner  Geldnot  ein  Ende.  Eben  hatte  der  Landgraf 
ihm  ein  Haus  geschenkt;  er  sollte  es  nicht  mehr  bewohnen;  für  einen 
Poeten  zieme  es  sich  nicht,  so  hatte  einst  Busghius  gemeint,  ein  eigen 
Haus  zu  haben. 

DiLiCHiüs  sagt  über  die  Anfange  der  Marburger  Akademie:  so 
groß  sei  die  Würde,  Gelehrsamkeit  und  Heiligkeit  der  Professoren  ge- 
wesen, daß  man  lauter  Homere,  Cicerone,  Piatone,  Aristoteles,  Asku- 
lape,  Apollos  zu  erblicken  mit  einem  gewissen  Recht  behaupten  könnte. 
Wenn  Pythagoras,  Archytas,  Apollonius  heute  lebten,  brauchten  sie 
nicht  zu  den  Persem,  Kretern,  Ägyptern,  Indern  zu  reisen :  sie  könnten 
alles  Yiel  schneller  und  billiger  in  Marburg  haben. 

Eine  wichtige  Rolle  spielte  auf  der  neuen  Universität  von  der 
Gründung  an  das  Stipendiatenwesen.  Das  Eingehen  des  alten 
Schulwesens,  der  vorauszusehende  Mangel  an  tauglichen  Personen  zu 
weltlichem  und  geistlichem  Regiment  wird  im  Eingang  der  Fundations- 
urkunde  als  erster  Anlaß  zur  Begründung  des  neuen  Studiums  an- 
gegeben. Luther  hatte  in  seinem  Schreiben  an  die  Ratsherren 
vorgeschlagen,  diesem  Mangel  abzuhelfen,  einerseits  durch  Angebot 
unentgeltlichen  Unterrichts  durch  Anstellung  besoldeter  Lehrer,  ander- 
seits, falls  es  nötig  sein  sollte,  durch  Studienzwang.  Der  unentgeltliche 
Unterricht  war  auf  den  Universitäten  seit  Anfang  des  Jahrhunderts 
schon  üblich,  Marburg  fügte  dazu,  statt  des  von  Lutheb  vorgeschlagenen 
zweiten  Mittels,  das  Angebot  freien  Unterhalts  für  eine  ansehnliche 
Anzahl  von  Studierenden.  Die  Kosten  des  Unterhalts  wurden  den  Ge- 
meinden, besonders  den  Städten  auferlegt,  denen  dafür  das  Präsentations- 
recht von  Stipendiaten  in  bestimmter  Zahl  zustand.  Die  Präsentanden 
sollen  durch  die  geistlichen  und  weltlichen  Behörden  der  Gemeinden 
aus  den  Schülern  der  Partikularschulen  gewählt,  darnach  in  Marburg 
von  dem  Vorsteher  des  Konvikts  geprüft  und  nach  Befinden  abgewiesen 
oder  in  eine  der  oberen  Klassen  des  Pädagogiums  oder  in  die  Universitäts- 
lektionen aufgenommen,  endlich  nach  Absolvierung  des  linguistisch- 
philosophisch-theologischen Kursus  zu  geistlichen  Ämtern  gebraucht 
werden. 

Die  Sache  begegnete,  wie  aus  den  häufigen  neuen  Ordnungen 
(1539,  1542,  1560)  hervorgeht,  vielen  Schwierigkeiten.    Die  Stipendien- 


Reformation  der  Tübinger  Universität.  229 


gelder  von  den  Städten  gingen  unregelmäßig  pder  gar  nicht  ein,   es 
wurden  untaugliche  Subjekte  oder  gar  keine  präsentiert,  die  Stipendiaten 
entzogen  sich  ihren  Verpflichtungen,  erst  des  Studierens,  sodann  des 
Dienens.    Für  alle  diese  Nöte  wurde  in  den  wiederholten  Stipendiaten- 
ordnungen  Abhilfe   gesucht     Die    letzte    Ordnung    Philipps  (156ÖL 
giebt  dem  Stipendiatenwesen  folgende  Qestalt.  Es  sollen  60  Studenten  ) 
gehalten  werden,  50  mit  einem  kleineren  Stipendium  von  20  fl.,  10  mit  ' 
einem  größeren  von  40  fl.    Alle  haben  Wohnung  und  Kost  im  Kolleg  ' 
unter    Aufeicht  eines   älteren   Professors.     Die   minores  machen"*^6Ti 
sprachlich-philosophischen  Kursus  durch;  in  höchstens  zwei  Jahren  er- 
werben sie  das  Baccalariat,  in  ferneren  zwei  Jahren  das  Magist erium.  I( 
Dann  werden  die  Geschicktesten  ausgewählt,  um  in  den  oberen  Fakul- 
täten zu  studieren,  wenigstens  je  einer  in  JurispVudenz  und  Medizin, 
die  übrigen  in  Theologie.   Diese  majores  sind  zugleich  Repetenten  und 
Sprachmeister  der  minores^  deren  je  fünf  einem  der  majores  zugeteilt 
werden.     Die   minores^  welche  nicht  sonderliches  versprechen,   gehen 
nach   Erwerbung   des   philosophischen   Magisteriums   sogleich   in   den 
Schul-  und  Kirchendienst  über;  theologische  Vorlesungen  haben  sie  schon 
in  den  beiden  letzten  Jahren  neben  den  philosophischen  gehört.  — 

Der  hessischen  Neugründung  folgte  die  protestantische  Reformation 
der  württembergischen  und  der  herzoglich  sächsischen  Universität.  An 
beiden  Orten  geschah  die  Umwandlung  unter  dem  bestimmenden  Ein- 
fluß Melanchthons.  Sein  nächster  Freund  und  Gesinnungsgenosse, 
J.  Camebabiüs,  hat  erst  in  Tübingen,  dann  in  Leipzig  das  artistische 
Studium  im  Sinne  Melanchthons  neugeordnet^ 

Der  Sieg  bei  Laufen  brachte  Herzog  Ulrich  ins  Land  zurück 
und  mit  ihm  die  Reformation.  Eine  der  ersten  Regierungssorgen  war 
die  Reformation  der  Universität  Tübingen.  Die  ersten  herzoglichen 
Kommissäre,  A.  Blarer,  ein  Vermittelungstheolog  zwischen  Luther 
und  ZwiNGLi,  und  S.  Grynaeüs,  eröffneten  noch  im  Herbst  1534  Ver- 
handlungen mit  der  Universität,  die  aber,  da  die  Körperschaft  der 
Neuerung  widerstrebte,  zu  keinem  Ziel  führten.  Es  wurde  daher  eine 
neue  Ordnung  oktroyiert  (30.  Januar  1535)  und  die  Widerstrebenden, 
namentlich  Theologen  und  Juristen,  entfernt.  Im  Sommer  1535  kam 
Camerariüs  und  trat  mit  Jon.  Brenz,  einem  ebenfalls  von  Melangh- 
THON  empfohlenen  Theologen,  an  die  Stelle  der  beiden  früheren  Re- 
formatoren der  Universität.  Im  Herbst  1536  war  Melanchthon  auf 
Ersuchen  des  Fürsten  ein  paar  Wochen  in  Tübingen,  um  sich  der  Univer- 
sitätsreform anzunehmen;  wiederholte  dringende  Aufforderungen,  nach 
der  schwäbischen  Heimat  zurückzukehren,  lehnte  er  ab.  Gegen  Ende 
des  Jahres  erfolgte  eine  neue,  im  wesentlichen  mit  der  ersten  überein- 


230    //,  3,   Neubegründung  der  Universitäten  in  den  protestant.  Gebieten. 


> 


stimmende  Ordnang.  Cas^brakius  verfaßte  auf  Grund  derselben  neue 
Statuten  der  Universität  und  der  philosophischen  Fakultät.  ^  Sie  geben 
dem  Tübinger  Studium  eine  der  Wittenberger  und  Marburger  treu 
nachgebildete  Organisation:  dieselben  Lektionen,  dieselben  Übungen, 
dieselben  Einrichtungen,  ein  Pädagogium  und  ein  Kollegium  oder  Burse, 
contubemiam  genannt,  und  hauptsachlich  Stipendiaten  als  Insassen; 
ihre  Zahl  wird  in  einem  Brief  Melanchthons  an  Spalatin  vom 
Jahre  1537  auf  150  mit  je  25  fl.  angegeben  (C.  R.  ni,  391).  Das 
Pädagogium  nimmt  die  Jüngeren  auf,  welchen  schulmäßige  Unter- 
weisung in  der  lateinischen  Sprache  notthut,  das  Eontubemi^  die 
Älteren,  welche  den  philosophischen  Kursus  durchmachen  und  die  Grade 
erwerben  wollen.  Für  die  Kandidaten  des  Baccalariats  sind  obligatorisch 
die  Vorlesungen  üb^r  Dialektik,  Rhetorik,  Euklides,  aristotelische  Philo- 
sophie, über  die  lateinischen  und  griechischen  Autoren  und  die  heiligen 
Schriften.  Für  die  Kandidaten  des  Magisteriums  kommen  Physik  und 
Ethik  hinzu. 

Eine  bemerkenswerte  Eigentümlichkeit  der  Tübinger  und,  wie  sich 
zeigen  wird,  der  Leipziger  Reformation,  ist  die  starke  Betonung  des 
Griechischen;  Camebasius  war,  wie  auch  Melanchthon,  vorzugsweise 
Gräcist.  Schon  die  erste  herzogliche  Ordnung  will,  daß  sowohl  im 
Pädagogium  als  im  Kontubemium  auch  die  griechische  Sprache  gelernt 
werde.  Für  die  philosophischen  und  theologischen  Vorlesungen  werden 
zwar,  meint  sie,  zunächst  noch  lateinische  Texte  gebraucht  werden 
müssen.  Doch  soll  der  Lehrer  den  griechischen  Text  zur  Vergleichung 
heranziehen,  und  vielleicht  mag  mit  der  Zeit  die  Kenntnis  der  griechi- 
schen Sprache  so  zunehmen,  daß  man  jene  Disziplinen  „in  ihrer  eigenen 
Sprache^'  lesen  kann  (S.  178).  Die  Statuten  und  entsprechend  die 
zweite  Ordnung  vom  Jahre  1536  suchen  auf  andere  Weise  das  Ziel 
zu  erreichen,  daß  den  Studenten  die  Philosophie  in  ihrer  eigenen  Sprache 
bekannt  werde.  Es  wird  neben  den  Professuren  für  die  philosophischen 
Disziplinen  noch  eine  besondere  für  die  aristotelische  Philosophie  er- 
richtet und  der  Besuch  dieser  Lektion,  mit  der  keine  andere  kollidieren 
darf,  obligatorisch  gemacht  Zugleich  nehmen  die  Promotionsordnungen 
die  Bestinmiung  auf,  daß  sowohl  beim  Baccalariats-  als  beim  Magister- 
examen in  der  griechischen  Sprache  geprüft  wird. 

Daß  die  Durchführung  dieser  Ordnung  auf  Schwierigkeiten  stieß, 
geht  aus  den  wiederholten  herzoglichen  Reskripten  aus  den  vierziger 
Jahren  hervor.  Als  Professor  der  aristotelischen  Philosophie  war  ein 
Franzose  (Bigot)  angenommen  worden.  Er  verließ  Tübingen  schon  im 


^  Sämtliche  Aktenstücke  im  Urkundenbuch  No.  37  ff. 


Beformation  der  Leipziger  Universität,  281 


folgenden  Jahr;  seitdem  las  Dr.  Jac.  Scheok  über  die  Physik  des 
Aristoteles,  wie  es  scheint,  im  Original.  Camerabius  verließ  Tübingen 
1541,  um  nach  Leipzig  zu  gehen.  Der  von  Melanchthon  dringend 
empfohlene  Matthias  Gabbitius  versah  die  griechische  Lektur. 

Eine  neue  Ordnung  wurde  der  Universität  1557  gegeben.^  In  der 
theologischen  Fakultät  werden  hiemach,  wie  es  scheint,  die  Texte  in 
den  Ursprachen  gelesen.  Die  Professoren  werden  angewiesen  ein  Kapitel 
im  A.  oder  N.  Testament  zu  „interpretieren",  was  nicht  anders  ver- 
standen werden  kann,  als  zu  übersetzen,  denn  erklaren  heißt  enarrare; 
sodann  „den  atuätoribus  die  fümehmsten  locos  desselbigen  Kapitels  an- 
zuzeigen und  sie  jiixta  praecepta  docendi  zu  berichten,  wie  die  bemelten 
loci  in  den  Kirchen  zu  traktieren  und  den  Predigkindern  nützlich  für 
zu  halten  seien."  Dagegen  bleiben,  soviel  ersichtlich  ist,  die  Vorlesungen 
über  die  philosophischen  Disziplinen  bei  der  Gewohnheit,  auf  der  oberen 
Stufe  die  aristotelischen  Bücher  in  Übersetzungen,  auf  der  unteren 
Stufe  aber  moderne  Kompendien  zu  Grunde  zu  legen.  Nicht  anders 
liegt  die  Sache  in  den  Statuten  von  1601,  und  diese  sind  bis  1752 
wenigstens  formell  in  Geltung  geblieben.  Das  Pädagogium  erscheint 
in  der  Ordnung  von  1557  in  erweiterter  Gestalt:  vierklassig,  beim  Ab- 
gang wird  das  Baccalariat  erworben.  Der  griechische  Unterricht  geht 
durch  alle  vier  Klassen:  in  I  und  II  Grammatik  mit  Übungslektüre; 
die  Angehörigen  von  III  und  IV  besuchen  mit  den  übrigen  Studenten 
die  öffentlichen  Lektionen  des  Ordinarius  über  griechische  Autoren.  — 

Die  protestantische  Eeformierung  der  Universität  Leipzig  begann 
nach  dem  Tode  des  Herzogs  Georg  (1539).  Auch  hier  nahm  Melanch- 
thon thätigen  Anteil.  Schon  im  Mai  1539  faßte  er  ein  „Bedenken" 
für  Herzog  Heinrich  ab,  des  Inhalts:  „Alle  Obrigkeit  sind  vor  Gott 
schuldig  die  unrechte  Lehre  und  falsche  Gottesdienst  weg  zu  thun  und 
zu  verbieten.  Dieweil  denn  die  Mönche  und  Sophisten  in  der  Universität 
zu  Leipzig  noch  ihre  Lästerungen  treiben  und  nicht  nachlassen  wollen, 
machen  dazu  die  anderen  auch  halsstarrig,  so  ist  allweg  vonnöten, 
denselben  Mönchen  alles  Predigen,  Disputieren,  Lesen,  Sakrament- 
reichen  und  alle  ihre  Ceremonien  zu  verbieten.  Dieweil  sie  auch  zu 
den  Leuten  in  die  Häuser  schleichen,  wäre  gut,  daß  ihnen  ganz  weg 
geboten  würde,  so  sie  die  rechte  Lehre  nicht  annehmen  wollen.  Denn 
dieses  ist  ganz  öffentlich,  daß  die  christliche  Potestat  nicht  schuldig 
sind,  die  Lästerer  zu  schützen  und  zu  ernähren.  Ja  sie  sind  schuldig 
zu  verhüten,  daß  nicht  andere  verführt  und  vergiftet  werden.  Item 
sind  weiter  schuldig,  solche  mit  Ernst  zu  strafen."  An  Stelle  der  alten 


^  Reyscher,  Sammlung  der  württemb.  Gesetze,  XI,  8,  129. 


232    II,  S.    Neubegründung  der  Universitäten  in  den  Protestant,  Gebieten, 


Theolügen  empfiehlt  dann  Melanchthon  „zur  Aufrichtung  christlicher 
Lehr  in  Kirchen  und  Schulen"  Anhänger  der  neuen  Lehre.  An  jungen 
und  wohlgeschickten  Artisten  fehle  es  dagegen  der  Universität  nicht; 
nur  werde  es  vonnöten  sein,  von  dem  Überfluß  der  Prälaten  und 
Klöster  zu  nehmen,  um  Legenten  und  Studenten  zu  versorgen.  Die 
alten  Stipendien  für  lesende  Magister  in  Höhe  von  20  fl.  „reimen  sich 
ganz  nicht  zu  diesen  Zeiten,  da  die  Legenten  ehelich  werden  und 
kommen  nicht  zu  Präbenden  und  Stiften."  Vom  folgenden  Jahr  ist 
ein  detaillierter  Vorschlag  für  die  Neubegründung  des  Ijcipziger  Stu- 
diums: 3 — 4000  fl.  sollen  die  Klöster  zur  Unterhaltung  von  Magistern 
und  Studenten  hergeben:  dann  mögen  sie  hoffien,  mit  Glimpf  davon- 
zukommen (veniam  sperare)\  wie  ein  Dieb,  der  dem  Richter  vom  großen 
Raub  einen  kleinen  Teil  abgiebt,  wohl  durchkommt.^  Etwa  acht  Lehr- 
stühle seien  in  der  philosophischen  Fakultät  zu  unterhalten ;  dazu  möge 
man  als  gubemator  totins  philosophici  studii  den  J.  Camebarius  zu 
gewinnen  suchen. ^ 

Camerabiu«,  dem  in  Tübingen  manches  nicht  nach  dem  Sinn 
ging,  kam  im  Herbst  1541  und  war  bei  der  Reformation  der  Uni- 
versität thätig.  Im  Frühjahr  1542  erfolgte  die  verlangt«  Dotation  mit 
Klostergütern;  die  Universität  erhielt  zu  ihren  bisherigen  Einkünften 
2000  fl.  jährlich  aus  zwei  eingezogenen  Klöstern.  Auch  wurden  ihr 
die  Gebäude  des  Paulinerklosters  in  Leipzig  nebst  600  Scheffel  Korn 
ül^erwiesen  zur  Einrichtung  eines  Konvikts  (Urk.  bei  StCbel,  567). 
Von  den  2000  fl.  sollten  besoldet  werden:  ein  Professor  utriusque  linguae 
mit  300  fl.;  Camerarius  war  der  erste;  ein  philosophus  Graecus  mit 
150  fl.;  ein  Mathematiker  mit  100  fl.;  ein  Physiker,  ein  Moralist,  ein 
Poet,  ein  Orator  mit  je  50  fl.,  endlich  sechs  Lektoren  in  den  Anfangs- 
gründen der  Mathematik,  Physik,  Rhetorik,  Dialektik,  der  griechischen  und 
lateinischen  Grammatik  mit  je  30  fl.  (Urk.  bei  Stübel,  545  ff.).  Als 
griechischen  Philosophen  nahm  die  Universität  Wolfgang  Meurer  an. 
In  dem  Einladungsschreiben  (er  war  Leipziger  Magister,  aber  nach 
Italien  gereist)  wird  ihm  als  seine  Aufgabe  bezeichnet  die  aristot-elische 
Philosophie  secundnm  veritatem  scriplorum  illius,  quae  ut  omnibus  jam 
manifestum  est,  hie  autor  Greco  sermone  composuit  (Stübel,  561). 

*  Dasselbe  Thema  wird  um  dieselbe  Zeit  in  Melaxchthoxs  akademischen 
Reden  vielfach  behandelt.  Von  dem  Gut  des  reichen  Mannes,  heißt  es  in  der 
Qu€rel(i  Laxari  (1539,  C.  R.  XI,  425),  sollen  die  Fürsten  dem  armen  Lazarus, 
von  dem  Einkommen  der  Stifte  und  Klöster  und  ihrer  schwelgenden  Insassen 
armen  Lehrern  und  Schülern  etwas  verschaffen.  So  auch  in  der  Rede  de  resti- 
tupudis  ftcholiSf  1540^  de  conjiinctiojie  scholarut/i  cum  ininisterio  Erangelii  1543; 
und  in  der  Schrift:  von  Anrichtung  einer  Schule  (C.  R.  V,  124). 

«  Die  beiden  consilia  im  C.  R.  III,  712  ff.  und  1134  ff. 


BeformcUion  der  Baseler  Universität,  233 


Die  Ton  Camerakiüs  verfaßten  Statuten  der  philosophischen  Fakultät 
Tom  Jahre  1543  sind  nicht  mehr  vorhanden ,  wohl  aber  diejenigen, 
welche  er  im  Jahre  1558^  redigierte  (bei  Zabncke,  Statutenbücher, 
S.  517  ff.).  Der  philosophische  Kursus  hat  hiemach  folgende  Gestalt. 
Der  untere  Kursus  ist  P/, jährig.  Er  schließt  mit  dem  Baccalariat.  / 
Wer  den  Grad  erwerben  will,  muß  nachweisen,  daß  er  folgende 
öffentliche  Vorlesungen  mit  Erfolg  besucht  habe :  im  ersten  Semester 
griechische  und  lateinische  Grammatik,  Dialektik  und  Poetik;  im 
zweit-en  Semester  Fortsetzung  der  Grammatik  und  Dialektik,  dazu 
Rhetorik;  im  dritten  Semester  Fortsetzung  der  Poetik  und  Rhetorik 
und  dazu  die  Elemente  der  Physik  und  Mathematik.  Der  Kursus  der 
Magistranden  ist  zweijährig;  sie  hören  während  der  beiden  Jahre  ohne 
Unterlaß  den  philosophus  Graecus,  der  besonders  die  Schriften  des 
Organen  liest,  und  den  Professor  beider  Sprachen,  dazu  im  ersten  und 
zweiten  Semester  die  Physik  und  Ethik  des  Aristoteles,  im  dritten 
und  vierten  die  Mathematik  (S.  538).  Diese  Disziplinen  bilden  auch 
die  Examensgegenstände  (S.  525). 

Das  Professorenkollegium  zeigt  einige  Abweichungen  von  der  obigen 
Fundationsurkunde.  Es  sind  nur- neun  Professoren  statt  der  dreizehn; 
die  Moralphilosophie  hat  Cameeabius  noch  übernommen,  die  Physik, 
Rhetorik  und  die  beiden  Grammatiken  haben  nur  je  einen  Legenten. 
In  den  Elementarkursen  werden  Melanchthons  Lehrbücher  der  Gram- 
matik, Dialektik  und  Physik,  zum  Unterricht  in  der  Rhetorik  werden 
Cicero  und  Quintilian,  zum  Unterricht  in  der  Poesie  Virgil  und  Terenz 
gebraucht.  Der  Stundenplan  verteilt  die  Gegenstände  so:  6  Uhr  Physik, 
8  Uhr  Dialektik,  9  Uhr  Mathematik,  12  Uhr  Poetik,  1  Uhr  Rhetorik, 
2  Uhr  elementare  Mathematik,  3  Uhr  Interpretation  griechischer  und 
lateinischer  Schriftsteller,  4  Uhr  Erklärung  des  Aristoteles  und  grie- 
chische und  lateinische  Grammatik  (S.  521).  — 

Die  Universität  Basel  wurde  1532,  nach  dreijährigem  Cessieren, 
wieder  aufgerichtet,  am  Anfang  mit  acht  Dozenten.^  Ein  Konvikt  / 
wurde  im  Dominikanerkloster  errichtet  für  24  Stipendiaten.  Die  philo- 
sophische Fakultät  hat  später  die  üblichen  Professuren,  der  Eloquenz, 
Logik,  Physik,  Ethik,  Mathematik,  des  Hebräischen,  des  Griechischen 
und  des  aristotelischen  Organen.  Der  erste  Inhaber  der  griechischen 
Lektur  war  S.  Grynaeüs,  des  Organen  H.  Gemüsaeüs.  Von  letzterem 
wird  mit  Lob  gemeldet,  daß  er  vorher  als  Lektor  der  Physik  diese 
nicht  aus  den  Lachen  der  Lateiner,  noch  aus  den  Dreigroschen- 
kompendien, sondern  aus  den  Quellen  selbst,  nämlich  aus  dem  grie- 


LuTz,  Gescliichte  der  Universität  Basel,  S.  97  ff. 


234    //,  3.   Neuhegründung  der  Universitäten  in  den  Protestant,  Oehieten* 


chischen  Text  vorgetragen  habe.^  1659  wurde  die  Professur  des  Organen 
mit  der  der  Logik  vereinigt  und  an  ihrer  Stelle  eine  Professur  der 
Geschichte  begründet  (S.  397). 

Fast  gleichzeitig  wurden  die  beiden  Universitäten  des  Hauses 
Brandenburg,  Frankfurt  a/0.  und  die  1541 — 1544  neu  begründete 
Universität  zu  Königsberg  i.  Pr.  unter  Rat  und  Beistand  Melakch- 
THONS  und  seines  Schwiegersohnes  G.  Sabinus,  eines  geborenen  Branden- 
burgers, mit  reformierten  Ordnungen  versehen. 

Joachim  IL,  der  von  Anfang  seiner  Regierung  (1535)  an  mit  der 
Überführung  seiner  Lander  zur  Reformation  umging,  hatte  schon  1537 
Melanchthon  über  die  Restauration  der  Frankfurter  Universität 
zu  Rate  gezogen  (G.  R.  III,  373).  Melanchthon  scheint  keine  großen 
Erwartungen  von  Frankfurt  gehabt  zu  haben.  Den  Micyllüs,  welchen 
er  gern  nach  Wittenberg  als  Lehrer  der  Poesie  gezogen  hätte,  hielt  er 
für  die  geringe  Universität  zu  gut  (an  Cahebabius  14/7.  1537).  Statt 
seiner  nahm  der  Kurfürst  den  G.  Sabinus  in  Dienst,  einen  strebsamen 
Adulationspoeten,  der  sich  längst  das  Haus  Brandenburg  als  poetisches 
Arbeitsfeld  erwählt  hatte,  besonders  war  der  Kardinal  Albrecht  von 
Mainz  Gegenstand  und  Bezahler  seiner  Verse.*  Melanchthons  Schwieger- 
sohn zu  werden,  hatte  Sabinus  ebenfalls  für  eine  gute  Spekulation 
gehalten,  worin  er  sich  denn  auch  nicht  verrechnet  hat.  Melaütch- 
THON  hat  mit  viel  Kummer  und  Reue  dafür  gebüßt,  daß  er  dem 
hochfahrenden  und  unstaten  Mann  sein  14 jähriges  Töchterchen  an- 
vertraute (1536).  Er  hatte  ihn  als  Schüler  lange  zum  Hausgenossen 
gehabt  und  an  seinem  Talent  für  lateinische  Poesie  und  Eloquenz 
Freude  gehabt  Später  hatte  er  auch  von  seiner  wissenschaftlichen 
Tüchtigkeit  eine  geringe  Meinung.  Es  fehlte  ihm  an  philosophischer 
Bildung;  er  hatte  eben  nur  sein  stilistisches  Talent  gepflegt  (Toppen,  143). 
Als  Sabinus  1543  eine  Berufung  nach  Leipzig  ausschlug  und  nach 
Königsberg  ging,  urteilte  Melanchthon,  es  geschehe  aus  Furcht:  in 
dem  entlegenen  Winkel  hofl*e  er  mehr  als  in  Leipzig  zur  Geltung  zu 
kommen  (C.  R.  V,  316,  321). 

Im  Frühjahr  1538  trat  Sabinus  seine  Professur  der  Eloquenz  in 
Frankfurt  mit  einer  Rede  über  den  Nutzen  des  Studiums  der  Elo- 
quenz an.  Sie  hat  vermutlich  nicht  den  Melanchthon,  wie  Bbet- 
scHNEiDEB  annimmt,  der  sie  deshalb  auch  in  das  C.  R.  (XI,  364  fi*.) 
aufgenommen  hat,  sondern  Sabinus  selbst  zum  Verfasser;  wenigstens 


*  Aihenae  Rauricae,  S.  391. 

*  Über  Sabinus  handelt  die  gründliche  Arbeit  von  Toppen,  Die  Gründung 
der  Universitfit  Königsberg. 


Beformation  der  Frankfurter  und  Königsberger  UnivereitäL      235 


betont  sie  einen  Gesichtspunkt^  der  dem  großartigen  Sabinus  sehr  am 
Herzen  lag:  die  Wichtigkeit  eines  eleganten  Lateins  für  den  Staats- 
mann. Im  Jahre  1539  wurde  Sabinüs  Rektor  und  im  folgenden  kam 
eine  umfassende  Reformation  der  Universität  zustande,  die  als  Wieder- 
herstellung bezeichnet  wird.  Sie  wurde  mit  den  Einkünften  des  Kar- 
thäuserklosterSy  1551  auch  mit  den  Oütem  des  Stendaler  Domkapitels 
ausgestattet,  womit  ihr  auch  die  Landstandschaft  zufiel.  Die  Lehr- 
ordnung folgt  dem  Wittenberger  Muster  (Toppen,  50).  Der  index 
lectionum  für  das  Sommersemester  1591  (in  einem  Sammelband  der 
Berliner  Bibliothek)  hat  folgende  Lektionstabelle:  6  Uhr  Logik;  7  Uhr 
Physik,  Hebräisch;  8  Uhr  Griechisch  (Demosthenes,  dann  Aristoteles); 
12  Uhr  Lateinisch  (mit  Lektüre  des  Cicero  und  Terenz);  1  Uhr  Poesie, 
Mathematik;  2  Uhr  Rhetorik;  3  Uhr  Mathematik;  4  Uhr  Ethik. 

Das  deutsche  Ordensland,  durch  die  Reformation  zu  einem  welt- 
lichen Herzogtum  geworden,  lag  bisher  jenseits  der  Grenzen  der  CiTi- 
lisation.  Noch  im  Jahre  1539  ersuchte  der  Herzog  Melanchthon, 
ihm  einen  guten  Lateiner  aus  Wittenberg  zu  schicken,  da  Preußen 
keine  hervorbringe,  man  aber  im  diplomatischen  Verkehr,  besonders 
auch  mit  Polen,  einen  solchen  gebrauche  (Toppen,  71).  Denn  nicht 
nur  die  Italiener  und  Franzosen,  so  sagt  jene  eben  erwähnte  Rede  des 
Sabinus,  sondern  auch  die  Polen  und  Ungarn  hätten  die  alte  Barbarei 
ausgetrieben  und  führten  ihre  diplomatische  Korrespondenz  jetzt  in 
elegantem  Latein.  Um  nun  diesem  Bedürfnis  durch  einheimische  Pro- 
duktion abzuhelfen,  entschloß  sich  der  Herzog  zur  Begründung  eines 
gelehrten  Studiums.  Es  wurde  im  Jahre  1541  zunächst  als  Partikular- 
schule eröffnet;  zu  einer  Universität,  so  beriet  den  Herzog  ein  weiser 
Mann,  werde  es  in  Königsberg  vor  allem  an  Studenten  fehlen.  Die  Schule 
hielt  sich  nur  mit  großer  Mühe.  Aber  des  Herzogs  Sinn  stand  nach 
einer  Universität  und  hierfür  schien  eine  Celebrität  notwendig.  Da 
Melanchthon  und  Camebabius  nicht  zu  haben  waren,  so  kam  der 
Herzog  selbst  auf  Sabinus.  Seiner  Anfrage  begegnete  das  Bewerbungs- 
schreiben des  Sabinus  mit  allerdings  etwas  zurückhaltenden  Empfeh- 
lungen jener  beiden.  Sie  lobten  dem  Herzog  sein  Latein  und  da  hier- 
nach zunächst  Nachfrage  war,  so  machte  Sabinus  der  Empfehlung 
keine  Schande.  Am  17.  August  1544  fand  die  Einweihung  der  neuen 
Universität  statt.  Sabinus  sollte  ihr  als  rector  perpetuus  vorstehen. 
Außer  ihm  waren  am  Anfang  noch  neun  Professoren  vorhanden ,  davon 
einer  in  jeder  der  drei  oberen  Fakultäten.  Beinahe  200  Studenten 
wurden  immatrikuliert,  in  den  folgenden  Jahren  sank  die  Zahl  auf 
70—80  und  bald  tief  darunter  (Toppen,  110). 

Die  Organisation   der   Universität  folgte  in   allen  Stücken    dem 


236    //,  3.    Neubegründung  der  Universitäten  in  den  protestant,  OehieUn. 


Wittenberger  Muster.^  Melanchthon  wurde  von  dem  Herzog  gewisser- 
maßen als  oberster  Inspektor  seiner  Universität  angesehen.  Er  ersuchte 
ihn,  wenn  es  nötig  schien,  die  Professoren  zur  Eintracht  und  zum 
Fleiß  im  Lesen  und  Disputieren  zu  ermahnen  (Toppen,  229).  Es  wurde 
ein  Pädagogium  und  ein  Konvikt  für  Stipendiaten  errichtet,  auch  die 
Pflicht,  einen  bestimmten  Präzeptor  zu  haben,  übernommen  und  ebenso 
Deklamationen  und  Disputationen  eingeführt  Der  Unterricht  in  der 
neuen  Glaubenslehre  wurde  zu  einem  Bestandteil  des  Kursus,  die 
Studierenden  wurden  alle  zum  Eirchenbesuch  und  zum  Hören  einer 
theologischen  Vorlesung  angehalten.  Die  Lektüren  sind  die  üblichen: 
deir  Professor  der  Eloquenz  (Sabinus)  erklärt  die  Rhetorik  Melanch- 
thons,  Ciceros,  Quintilians  und  Erasmus'  de  duplici  copia;  verbunden 
ist  damit  die  Geschichte  (Erklärung  des  Livius  oder  Cäsar).  Der  Gräcist 
lehrt  griechische  Grammatik  mit  Erklärung  von  Schriftstellern,  als 
Homer,  Hesiod,  Euripides,  Sophokles,  Theokrit,  Demosthenes  und  einen 
Historiker;  zugleich  trägt  er  die  Ethik  des  Aristoteles  vor.  Die  übrigen 
Professuren  sind  die  der  Dialektik,  der  Poetik  (wozu  auch  die  Er- 
klärung der  Ciceronischen  Reden  gehört),  der  Mathematik,  des  Hebräischen, 
der  Phj^sik  (nämlich  der  aristotelischen)  des  Terenz  und  Plautus.  Der 
Theolog  soll  vormittags  eine  Stunde  im  N.  T..  nachmittags  im  A.  T. 
lesen.  Auch  die  Gehalte  zeigen  die  übliche  Skala:  Sabinus  steht 
außerhalb  der  Reihe  mit  37373  0.,  die  drei  Professoren  der  oberen 
Fakultäten  folgen  mit  200  fl.,  die  Artisten besoldung  beträgt  durchweg 
100  fl.,  das  der  letzten  50  fl.  und  darunter. 

Im  Baccalariatsexamen,  in  welchem  jeder  einzelne  an  zwei  Tagen 
je  zwei  Stunden  gefragt  werden  soll,  wird  Latein  (mit  Exposition  und 
Komposition),  Dialektik  und  Rhetorik,  die  Elemente  der  Physik  und 
doctrina  catechistica  verae  religionis  christianae ,  im  Magisterexamen 
Rhetorik,  Mathematik,  Physik,  theologische  Materien  und  die  Elemente 
der  griechischen  Sprache  geprüft.  In  den  zweiten  Statuten  ist  die 
Zahl  der  Lektüren  etwas  größer,  die  der  Professuren  in  den  oberen 
Fakultäten  verdoppelt.  Ein  in  die  Universitätsstatuten  aufgenommener 
Stundenplan  verteilt  die  öffentlichen  Vorlesungen  über  den  Tag  von 
6—10  und  von  12 — 5  Uhr,  doch  bleibt  die  Stunde  von  7 — 8  für  die 
Predigt  frei.  Privatvorlesungen,  so  ordnen  die  Statuten  der  facultas 
artium  s.  philosophiae  an,  dürfen  nur  nach  Übereinkunft  mit  dem 
Dekan  und  so,  daß  dadurch  die  öffentlichen  Vorlesungen  keine  Störung 


'  Arnoldt,  Geschichte  der  Königäbergischen  Universität  giebt  die  Uiiiver- 
sitätsstatuten  von  1546  und  1554  und  die  Fakultiitsstatuten  von  1544  und  1554 
in  den  Beilagen  No.  46 — 49. 


Reformation  der  Greifswaldei'  und  Rostocker  Universität.        237 


erleiden,  gehalten  werden.  Ferner  werden  hier  die  Elemente  des  Grie- 
chischen schon  im  Baccalariatsexamen  gefordert 

Die  Bemühung  um  ein  päpstliches  und  kaiserliches  Privileg  für 
die  neue  Universität  war  vergeblich;  als  Ersatz  verschaffte  man  sich 
eine  Konfirmation  von  selten  der  polnischen  Krone  (1560);  sie  ist 
ganz  in  den  Ausdrücken  der  kaiserlichen  Konfirmationsurkunden  ab- 
gefaßt, im  besondern  erteilt  sie  auch  die  Vollmacht  zu  promovieren 
(Abnoldt,  Beilage  X). 

Das  Gedeihen  der  Universität  wurde  schwer  geschädigt  durch  die 
nach  der  Berufung  des  Theologen  Osiandee  (1549)  ausbrechenden  er- 
bitterten Kämpfe  um  die  reine  liChre.  Als  Sabintjs  Königsberg  halb 
freiwillig  verließ  (1554),  war  von  dem  ersten  Lehrerkollegium  niemand 
mehr  dort,  Sabinüs  kehrte  nach  Frankfurt  zurück;  auch  ihm  gewährte 
das  Alter  in  Fülle,  was  er  in  der  Jugend  begehrte:  glänzende  Gesandt- 
schaften im  Auftrag  Joachims  nach  Polen  und  Italien,  lateinische  An- 
reden, goldene  Ringe,  Ketten  und  Becher  und  lateinische  Dankpoeme 
in  großer  Zahl.  — 

Auch  die  beiden  Nachbaruniversitäten  Greifswald  und  Rostock 
wurden  jetzt  auf  protestantischer  Grundlage  neu  errichtet 

Die  formliche  Wiedereröffnung  des  Studiums  in  Greifswald  fand 
im  Herbst  1539  statt  Joh.  Buoenhagen,  welcher  die  Organisation 
protestantischer  Landeskirchen  in  den  Ostseeländem  überhaupt  geleitet 
hat,  war  auch  nach  Pommern  zur  Einführung  der  neuen  Ordnung  be- 
rufen worden.  Seine  Kirchenordnung  von  1535  enthält  auch  einen 
Entwurf  für  die  Einrichtung  der  Universität  Mit  einem  geringen  An- 
fang rät  er  zu  beginnen,  besonders  sei  die  Errichtung  eines  Pädago- 
giums notwendig  (Kosegaeten,  I,  189).  So  geschah  es.  Bei  der  Er- 
öffnung waren  sechs  Dozenten  vorhanden,  je  einer  in  den  oberen 
Fakultäten  und  drei  Artisten;  etwa  40  Immatrikulationen  fanden  in 
der  nächsten  Zeit  jährlich  statt  Im  Jahre  1545  wurden  neue  Statuten 
erlassen  (abgedruckt  bei  Koch,  Preuß.  Universitäten,  I,  358— -393). 
Sie  handeln  von  dem  Kursus  der  artistischen  Fakultät  mit  ungewöhn- 
licher Ausführlichkeit,  weshalb  sie  in  methodologischer  Hinsicht  inter- 
essant sind.  Wittenberg  ist  das  Muster.  Melanchthon  wird  darin 
„unser  Aller  gemeinsamer,  mit  höchster  Treue  und  Hochachtung  zu 
verehrender  Lehrer"  genannt  Seine  Lehrbücher  sollen  überall  den 
Vorlesungen  zu  Grunde  gelegt  werden,  in  den  beiden  Grammatiken, 
der  Dialektik,  Rhetorik,  lüthik  und  Physik;  neben  ihnen  mögen  den 
Geübteren  auch  andere  Bücher  vorgelegt  werden.  Ein  Stundenplan 
ist  beigefügt,  acht  philosophische  Lektüren  wurden  vorgesehen,  jedoch 
erst  allmählich  besetzt    Im  Jahre  1571  lasen  sechs  Artisten,  die  Physik 


Neubegründi 


and  Psychologie  wurden  von  Mitgliedern  der  medizinischen  Fakultät 
nach  den  MELANCHTHONSchen  Lehrbüchern  gelesen.  Es  fehlen  in  jenen 
Statuten  nicht  die  üblichen  Vorschriften  über  Disputationen  und  Dekla- 
mationen, PriTatpräzeptoren  und  Wohnen  im  Kollegium;  es  wird  ver- 
boten abends  nach  9  Uhr  im  Winter,  nach  10  Uhr  im  Sommer  auf 
der  Straße  sich  sehen  zu  lassen.  Geboten  wird  allen  Professoren  und 
Studenten  am  Sonntag  und  an  den  Wochentagen,  besonders  am  Mitt- 
woch und  Sonnabend,  die  Predigt  zu  hören.  An  den  Festtagen  sollen 
die  Schüler  ihre  Lehrer  in  feierlichem  Zuge  zur  Kirche  und  wieder 
nach  Haus  geleiten.  In  den  60  er  Jahren  erhielt  die  Universität  eine 
Dotation  Von  1500  fl.,  nebst  Getreide  vom  Kloster  Eldena;  auch  ein 
Konvikt  wurde  eingerichtet,  „weil  jetzt  vermögender  Leute  Kinder 
selten  studieren'^;  Adelige  und  Städte  schenkten  betrachtliche  Summen 
zum  Unterhalt,  der  Herzog  gab  die  Gebäude  des  Dominikanerklosters 
dazu. 

Seitdem  die  Universität  Greifswald  wieder  aufgerichtet  war,  ging 
man  auch  an  die  Herstellung  von  Rostock.  Die  Stadt  war  schon 
1531,  den  großen  Hansestädten  folgend,  protestantisch  geworden.  Die 
Sorge  um  wissenschaftlich  gebildete  Prediger  bewog  am  Anfang  der 
40er  Jahre  die  Seestädte,  Hamburg^  Lübeck,  Lüneburg,  Bremen,  Riga, 
Reval,  dem  Rostocker  Rat  Beiträge  zur  Unterhaltung  von  Lehrern  zu 
geben.  Auch  die  Herzöge  besoldeten  eine  Anzahl  Dozenten  (Kkabbe, 
429  ff.).  1552  erhielt  Mecklenburg  die  erste  protestantische  Kirchen- 
ordnung. 1557  erfolgte  die  ökonomische  Fundation,  aus  den  einge- 
zogenen Kirchengütem  wurden  der  Universität  3500  fl.  zugewiesen, 
deren  Realisierung  freilich  ofb  nicht  ohne  beträchtlichen  Rest  gelang. 
1563  kam  es  zu  einer  Neuordnung  der  schwierigen  rechtlichen  Ver- 
hältnisse der  Universität,  die  halb  landesherrliche,  halb  städtische  An- 
stalt war.    Im  folgenden  Jahr  erhielt  sie  neue  Statuten.    Sie  gleichen 

,  in  allen  Stücken  der  Wittenberger  Ordnung.  Die  theologische  Fakultät 
verpflichtet  ihre  Lehrer  dfe  heiligen  Schriften  aus  dem  Urtext  in  dem 
Sinne  zu  erklären,  welcher  in  den  alten  Symbolen,  der  Augustana,  den 
Schmalkaldischen  Artikeln  und  den  Schriften  des  Gottesmannes  Luther 
(divini  Lutheri)  ausgedrückt  sei  (S.  594).  Übrigens  wird  einem  der 
vier  Professoren  die  Erklärung  der  loci  Melanchthons  oder  des  examen 
ordinandorum,  oder  der  Augsburgischen  Konfession  aufgetragen.  Die 
philosophische  Fakultät  erhielt  zehn  Professuren;  es  sind  die  üblichen, 

.    mit   dem    üblichen    Lehrauftrag;   Melanchthons  Lehrbücher   werden 
.alle  gebraucht.     Von  dem  Baccalarianden  wird   verlangt.,   daß   er   in 

'^  elementis  doctrinae  Christianae  et  Graecae  linffuae,  et  in  artihtis  dicendi, 
et  in  principiis  sphaericis,    von    dem  Magistranden,  daß   er   in  allen 


Reformation  der  Heidelberger  Universität.  239 


sieben  freien  Künsten  unterrichtet  sei  (603  ff.)-  Ebenfalls  wurde  gesorgt 
für  die  Wiederherstellung  des  alten  Pädagogiums,  sowie  für  Ausstattung 
mit  Stipendien.  Die  Rostocker  Universität  gelangte  in  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  zu  nicht  geringer  Bedeutung,  sie  konnte 
wohl  für  die  zweite  protestantische  Universität  gelten.  Eine  ganze 
Eeihe  von  tüchtigen  Schülern  Melanghthons  wirkten  hier:  die  beiden 
Gräcisten  J.  Posselius  und  J.  Caselitjs,  David  und  Nathan  Chyteaetjs 
u.  a.  Der  Besuch,  auch  aus  den  nördlichen  Ländern,  war  erheblich, 
die  Zahl  der  jährlichen  Immatrikulationen  betrug  gegen  200(8.472,744). 
Etwas  eingehender  handle  ich  von  Heidelberg,  wo  für  die  Uni- 
versitätsreform jetzt  viel  lehrreiches  Material  vorliegt.  Die  Verhand- 
lungen begannen  mit  dem  Begierungsantritt  Friedrichs  IL  (1544).  Man 
versuchte  Melanchthon  für  die  Heimat  wieder  zu  gewinnen,  er  konnte 
sich  aber  von  Wittenberg  nicht  mehr  trennen.  Eine  Reihe  von  Maß- 
regeln zur  Hebung  des  Studiums  gelangen.  Die  Bursen  wurden,  um 
den  alten  Widersachern,  den  Realisten  und  Nominalisten,  die  Wege 
abzuschneiden,  im  Jahre  1546  in  eine  Anstalt,  das  contuhemium  ge- 
nannt, zusammengezogen.  Ferner  wurde  in  demselben  Jahr  ein  drei-  \ 
klassiges  Pädagogium  unter  der  Leitung  der  Artistenfakultät  errichtet; 
später  (1556)  wurde  es  mit  der  alten  Stadtschule  (der  Neckarschule) 
vereinigt  und  zur  selbständigen  Anstalt  gemacht,  auch  mit  geistlichem 
Gut  und  einem  Alumnat  ausgestattet.  Endlich  wurde  1555  im  \ 
Augustinerkloster  ein  Konvikt  (CoUegium  sapientiae)  für  Studierende  \ 
der  philosophischen  Fakultät  errichtet,  das  aber  bald  seine  Bestimmung  \ 
dahin  änderte,  daß  es  Theologen  aufnahm.  Eine  Reform  der  ganzen  ; 
Universität  dagegen,  wie  sie  der  Kurfürst  erstrebte,  stieß  auf  den 
Widerstand  der  oberen  Fakultäten,  die  an  der  papistischen  Lehre  hingen. 
Nur  die  artistische  Fakultät  war  von  Anfang  an  der  Reform  geneigt. 
Sie  ließ  auch  durch  Micyllüs,  der  1547  als  Lehrer  des  Griechischen 
nach  Heidelberg  zurückkehrte,  eine  wenigstens  provisorische  Erneue- 
rung ihrer  Statuten  vornehmen  (1551):  zum  Baccalariat  wird  darin 
hinlängliche  Kenntnis  beider  Sprachen  und  der  Rhetorik  und  Dialektik, 
zum  Magisterium  Bekanntschaft  mit  den  alten  Autoren,  Physik  und 
Mathematik  gefordert.^ 


'  Haütz,  Gesch.  der  Univ.  Heidelberg,  I,  410  ff.;  und  Lyrei  Heidelb.  ori- 
ffhieSj  14  ff.  Von  Interesse  ist  aus  den  Verbandlungen  über  die  Reform  zwischen 
dem  Hof  und  der  Universität  besonders  der  Widerstand  der  Universität  gegen 
das  Pädagogium.  Der  Kurfürst  hatte  durch  Paul  FAoros,  Prediger  in  Straß- 
burg, einen  Entwurf  zur  Reform  der  ganzen  Universität  ausarbeiten  lassen  (1546). 
Darin  war  vor  allem  auch  eine  vierklassige  Gelehrtenschule  als  Vorbereitungs- 
anstalt für  die  Universität  gefordert  worden,  augenscheinlich  nach  dem  Vorbild 


240    //,  3.    Neubegründung  der  UniversücUen  in  den  Protestant.  Gebieten. 


t 


Erst  der  Regierungsantritt  Ottheinrichs  (1556)  der  allen  Freunden 
Heidelbergs  durch  den  Schloßbau  so  wohl  bekannt  ist,  brachte  die  Tolle 
Entscheidung  der  Pfalz  für  die  Reformation.  Die  entsprechende  Reform 
der  Universität  wurde  sogleich  in  Angriff  genommen;  Melanchthon 
kam  als  Berater  (Okt.  1557).  Im  Jahre  1558  erfolgte  der  Abschluß 
in  neuen,  den  ganzen  Bestand  umfassenden,  sehr  eingehenden  und  mit 
großer  Sorgfalt  ausgearbeiteten  Statuten  (jetzt  vollständig  veröffentlicht 
bei  Thobbecke,  Statuten,  S.  1 — 156).  Diese  Heidelberger  Verfassung, 
an  der  Micyllus  und  Melanchthon  wesentlichen  Anteil  gehabt  haben. 


der  berühmten  Straßbarger  Schule,  wovon  wir  später  hören  werden.  Die  Uni- 
versität, die  den  ganzen  Entwurf  ablehnte,  erklärte  sich  vor  allem  sehr  ent- 
schieden gegen  die  geplante  Schule.  Es  hat  ein  Interesse  ihre  Gründe  zu  hören, 
ein  Widerstand  der  Universitäten  gegen  die  neuen  Grelehrtenschuleu  kommt 
auch  sonst  vor,  so  in  Basel.  Auch  der  Widerstand  der  Universitäten  gegen  die 
Jesuitenkollegien  hat  wohl  hin  und  wieder  ähnliche  Gründe.  In  dem  Gutachten 
der  Universität  (jetzt  vollständig  bei  Winckelmann,  I,  234 ff.)  heißt  es:  Da  dies 
Pädagogium  in  seinen  vier  Klassen  (wie  insolito  nomine  gesagt  werde)  die 
auditores  so  lang  „bis  sie  omatum  et  summum  genus  dicendi  Latine  erlangten 
und  Griechisch  verstünden^'  festhalten  solle,  so  folge  daraus  klärlich.  „daß  den 
eontuhemiis  et  faciätnii  artium  ihre  auditores  entzogen,  auch  wider  ihre  und 
deren  Eltern  Willen  in  das  Pädagogium  und  Trivialschule  gedrungen  und  so 
viel  Jahr  darin  gehalten  würden,  daß  manchen  Armen  sein  väterlich  Erbe 
darauf  gehen  werde,  ehe  er  mocht  ctd  universitatem  et  facuitatern  artium 
kommen".  Femer  würden  die  Regenten  und  Präzeptoren  des  Pädagogiums  so 
mit  Arbeit  beladen,  „daß  ihnen  nicht  wohl  möglich,  neben  solchem  Ambt  einer 
oberen  Fakultät  anzuhangen  und  deren  lectiones  zu  visitieren,  wie  bisher  ge- 
schehen ;  dadurch  denn  die  oberen  Fakultäten  auch  in  Abgang  kommen  würden'^ 
Ferner:  Virgil,  Homer,  Hesiod,  Demosthenes,  Cicero,  Isokrates,  wie  sie  Fagius 
für  ni  und  lY  des  Pädagogiums  vorschlage,  seien  „nicht  allein  in  ein  Pädagog 
nicht  gehörig  (als  darin  prima  Juventus  in  primis  rudim^ntis  grammaticae  et 
dialeciicae  zu  instituieren),  sondern  auch  den  jungen  Studenten  zu  wichtig  und 
zu  schwer  und  würden  billig  vorbehalten  berühmten,  tapfem  professoribus 
publicis  Latinae  et  Qraecae  linguaej  wie  in  andexii  berühmten  universitatibus 
Oermaniae  geschieht^',  von  welchen  Professoribus  freilich  bei  Fagius  gar  nicht 
die  Rede  sei,  „vielleicht  der  Meinung,  aus  einer  gefreiten  Universität  eine 
Partikular-  und  Bacchantenschule  taciie  einzuführen'^  Ebenso  seien  des  Fagius 
Vorschläge  für  die  Lektionen  der  Baccalariats-  und  Magisterkurse  ganz  über- 
trieben: griechische  Autoren  wie  Aristoteles,  Plato,  Demosthenes,  Hermogenes, 
Euclides,  dazu  Biblia  Hebraica  seien  für  Baccalariatskandidaten  „viel  zu  wichtig 
und  über  ihren  Yerstaud^^  „Zudem  so  ist  auch  zu  bedenken,  ob  es  nutz  und 
gut,  daß  lingua  Oraeca  mehr  denn  lingua  Latina  in  facultate  artium  gelesen 
und  gepflegt  werde. ...  Es  ist  auch  nicht  ein  jeder  dazu  geschickt,  daß  er 
neben  der  lateinischen  Sprache  auch  die  griechische  oder  hebräische  perfecte 
lernen  und  begreifen  möge,  und  werden  mehrmals  die  ingenia  der  Jungen 
durch  viele  der  Sprachen  mehr  verhindert,  denn  gefördert,  also  daß  mancher, 
so  beide  anstehet  zu  lernen,  keine  recht  lernet  noch  begreift.*^ 


Befdrmation  der  Heidelberger  Universität  (1558),  241 


läßt  in  alle  Verhältnisse  einen  vorzüglich  deutlichen  Einblick  thun. 
Das  allgemeine  ist  folgendes.  Die  theologische  Fakultät  hat  drei 
Professoren.  Von  ihnen  liest  der  erste  über  das  neue  Testament  und 
zuweilen  über  die  großen  Propheten,  viermal  wöchentlich  (wie  überhaupt 
Regel,  Mittwochs  und  Sonnabends  wird  nicht  gelesen)  morgens  von 
8 — 9  (im  Sommer,  im  Winter  verschieben  sich  die  Stunden).  Der  zweite 
liest  hebräische  Grammatik  und  altes  Testament,  fünfmal,  früh  von 
6 — 7;  der  dritte  systematische  Theologie,  1 — 2  Uhr.  Die  Besoldung 
beträgt  250,  200,  160 fl.  und  freie  Wohnung.  Die  juristische  Fakul- 
tät hat  vier  Professoren;  sie  lesen  der  erste  in  codice,  früh  6 — 7,  der 
zweite  in  secundo  decretalium,  von  1 — 2,  der  dritte  Pandekten,  8 — 9, 
der  vierte  Institutionen  3 — 4  Uhr.  Die  Besoldung  beträgt  200  fl.  und 
freie  Wohnung,  nur  daß  der  Lektor  der  Institutionen,  der  auch  bloß 
Licentiat  zu  sein  braucht,  nur  160fl.  erhält.  In  der  Medizin  lesen 
drei  Professoren,  einer  Therapeutik,  von  8 — 9,  einer  Pathologie,  von 
1 — 2,  einer  Physiologie,  von  3 — 4  Uhr.  Die  Besoldung  beträgt  180, 
160,  140  fl.  und  freie  Wohnung. 

Die  Artisten-Fakultät  endlich,  die  der  Ordnung  nach  die  letzte, 
„ihres  Inhalts  und  Begriffs  halber  die  größeste  und  weitläufigste,  auch 
Nutz  und  Übung  halber  die  erste  und  notwendigste  unter  allen  ist, 
derhalben,  daß  ohne  diese  alle  andern  weder  verstanden,  noch  gelehrt, 
noch  recht  gebraucht  können  werden",  hat  fünf  öffentliche  Professuren,  /  !^  ^ 
daneben  aber  die  vier  Regenten  im  Contubemium.  Die  Professoren 
lesen  der  erst«  linguam  Graecam  von  2 — 3,  (die  besten  Autoren);  der 
zweite  Ethik,  von  1 — 2,  (Nikomach.  Ethik,  oder  Cicero);  der  dritte 
Physik,  von  8 — 9  (aus  dem  Aristotele  oder  denjenigen,  so  den  Aristo- 
t^lem  in  ein  Kompendium  gebracht,  z.  B.  Melanchthon);  der  vierte 
Mathematik,  von  3 — 4,  (Arithmetik,  Sphaera,  Euclidis  1.  I,  theoricas 
planetanim):  der  fünfte  poesin  und  historias,  früh  7 — 8  (die  besten 
und  fümehmsten  Poeten,  soll  „nicht  allein  die  Vokabel  und  Historien, 
sondern  auch  die  Traktation  und  sonderlich  was  die  Scansion  und  Pro- 
sodie  belangt,  fleißig  explizieren";  dazu  zu  Zeiten  Livius  und  Caesar; 
auch  eine  Fabel  des  Plautus,  „der  Verse  und  Scansion  halben,  und 
das  artificiumy  so  er  bei  dem  Aristotele  und  Horatio  hat  fürgeschrieben, 
darin  anzeigen)."  Die  drei  artes  sermocinales  werden  von  den  Regen- 
ten im  Contubemium  auf  schulmäßige  Weise,  mit  Abhörung  und  mit 
Übungen,  nach  modernen  Kompendien,  z.  B.  Melanchthons  oder  Sturms, 
gelehrt:  der  älteste  liest  Dialektik,  früh  von  6 — 7,  der  zweite  Rhetorik, 
von  12 — 1,  der  dritte  Grammatik,  von  4—5,  abwechselnd  Tag  um  Tag 
lateinische  und  griechische;  sind  aber,  wie  jetzt,  vier  Regenten  da,  so 
soll  die  griechische  früh  von  8 — 9  gelehrt  werden,  mit  fleißigem  Dekli- 

Paulsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  16 


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242    //,  3,    Neubegründung  der  Universitäten  in  den  protestant.  Gebieten, 

nieren  und  Konjugieren ,  auch  sollen  fabulae  Aesopi,  paraeneses  Isocratis 
um  mehrerer  Übung  und  Anreizung  willen  fürgenommen  werden.  — 
Die  Besoldungen  betragen  für  den  Graecus,  den  Mathematiker  und  den 
Poeten,  „weil  dieselben  gemeiniglich  beweibt,  dazu  ihre  Profession  weit- 
läufig und  derhalben  mehr  Obliegens  und  Studierens,  auch  vieler 
Bücher  und  anderer  Kosten  von  Nöten  haben",  120  fl.,  für  den  Ethiker 
und  Physiker  lOOfl.,  für  die  Begenten  50  fl. 

Die  Vorlesungen  sind  öffentlich  und  unentgeltlich.  Neben  diesen 
ordentlichen  Vorlesungen  ist  es  gestattet,  außerordentliche  Vorlesungen 
zu  halten,  in  den  öffentlichen  Lektorien  aber  nur  publice  und  umsonst, 
privatim  um  Geld  nach  Übereinkunft  darf  nur  zu  Hause  gelesen  werden. 
Das  gilt  für  die  Professoren,  wie  für  andere  Magister.  Neben  den 
Vorlesungen  finden  in  allen  Fakultäten  Übungen  statt,  in  der  artisti- 
schen am  Sonnabend  abwechselnd  Deklamationen  und  Disputationen, 
in  den  oberen  Fakultäten  nur  einige  Disputationen.  Für  die  Grade 
i  in  der  artistischen  Fakultät  gelten  folgende  Vorschriften:  der  Bacca- 
\  lariand  muß  14  Jahr  alt  sein  und  P/2  oder  mindestens  1  Jahr  den 
I  Vorlesungen  und  Übungen  beigewohnt  haben;  geprüft  wird  zuerst 
mündlich  eine  Stunde  in  beiden  Grammatiken  und  eine  Stunde  in  der 
Dialektik  und  Rhetorik,  dann  wird  eine  Klausurarbeit,  Brief  oder  Auf- 
satz über  ein  gegebenes  Argument,  gemacht.  Von  den  Magistranden 
wird  gefordert  ein  Alter  von  etwa  20  Jahren  und  ein  zweijähriger 
Besuch  der  Vorlesungen  und  Übungen;  die  Prüfung  dauert  drei  Stun- 
den, eine  in  Dialektik  und  Rhetorik,  die  zweite  in  Physik  und  Ethik, 
die  dritte  in  der  Mathematik. 

Mit  der  Regierung  Ottheinrichs  beginnt  eine  kurze  Blüt-ezeit 
der  Heidelberger  Universität,  sie  dauert  bis  zu  dem  „Gang  der  Pfalz 
nach  Böhmen"  (1620).  Trotz  der  nach  dem  frühen  Tode  des  Kur- 
fürsten beginnenden  theologischen  Verwirrungen,  dem  wiederholten 
Wechsel  zwischen  Calvinismus  und  Luthertum,  stiegen  die  Immatriku- 
lationsziffem  zu  beträchtlicher  Höhe,  sie  schwanken  um  200,  erreichen 
einmal  sogar  300. 

Eine  interessante  Ergänzung  erhält  die  obige  Darstellung  des  Lehr- 
betriebs nach  den  Statuten  durch  einen  Bericht,  den  die  Universität 
auf  Erfordern  der  Regierung  im  Jahre  1569  einreichte;  es  war  von 
den  einzelnen  Professoren  Auskunft  über  Gegenstand  und  Zeit  ihrer 
Vorlesungen,  sowie  über  die  Zahl  der  Zuhörer  gefordert  worden.  Die 
Angaben  haben  in  mehrfacher  Hinsicht  Interesse.  Sehr  deutlich  lassen 
sie  erkennen,  wie  unbestimmt  das  Verhältnis  des  Lehrers  in  den  öffent- 
lichen Vorlesungen  zu  seinen  Zuhörern  war;  es  fand  keine  Anmeldung 
für  die  Vorlesung  statt,  jede  stand  allen  ohne  weiteres  offen.    Von  den 


Lehrbetrieb  in  Heidelberg  (1569).  243 


Theologen  giebt  der  Professor  des  N.  T.  an,  den  Epheserbrief  vor  mut- 
maßlich ungefähr  45,  der  des  A.  T.,  das  Buch  Hiob  vor  30 — 34  Zu- 
hörern, wie  er  von  seinen  Hausgenossen  berichtet  werde,  zu  lesen.  Der 
dritte  ist  eben  auf  der  Messe  zu  Frankfurt  Von  den  Juristen  hat 
der  Eanonist  etwa  8,  der  Codicist  nach  Angabe  des  Famulus  ungefähr 
25 — 30;  er  fügt  hinzu,  es  würden  mehr  sein,  si  tot  hie  juris  stipen- 
diarii  alerentur,  quot,  laus  Deo,  theologiae  aluntur;  jetzt  aber,  da  die 
Hörer  sui  juris  seien,  schwinde  zu  Zeiten  das  Auditorium  instar 
lunae:  „crescit,  decrescit,  constans  consistere  nescit^'  Dasselbe  bestätigt 
der  Pandektist,  da  er  früh  um  7  Uhr  lese,  seien  der  Hörer  im  Sommer 
mehr,  im  Winter  weniger.  Der  Lehrer  der  Institutionen  giebt  10 — 15 
Zuhörer  an.  Von  den  Medizinern  hat  der  Senior  3 — 4  regelmäßige 
Zuhörer,  der  zweite  ist  auf  der  Messe,  der  dritte  (ein  Sohn  Melanch- 
thons,  Sigismund)  etwa  5.  —  Von  den  Philosophen  liest  V.  Stbioe- 
Liüs,  der  Ethiker,  um  2  Uhr  über  die  Nikomachische  Ethik,  er  steht 
eben  im  4.  Buch  in  titulo  de  veritate,  „Und  da  die  Lehren  und  Be- 
weisführungen der  Ethik  nicht  dargelegt  und  gelehrt  werden  können 
sine  exemplis  historiarum,  so  hab  ich  seit  Mai  vorigen  Jahres  mit  der 
Ethik  das  erste  Buch  der  Chronik  Melanchthons  verbunden,  mit  dessen 
Erklärung  und  Bepetition  ich  bis  zum  peloponnesischen  Krieg  und  zum 
sechsten  Perserkönig,  Darius  Nothus,  gekommen  bin.^'  Die  Zahl  derZuhörer 
sei  bald  größer  bald  kleiner,  ut  ferunt  tempora  et  occasiones.  Und  etwas 
trotzig  fügt  er  hinzu:  si  quid praeterea  desideratum  fuerit  in  meis  operibus 
scholasticis,  paratus  sunt  ad  referencUis  rationes  quocumque  tempore  et  loco, 
W.  Xylander,  des  Micyllus  Nachfolger,  liest  jussu  universitatis  über 
das  OrganoD,  früh  um  6  Uhr;  die  Zahl  der  Zuhörer  hat  er  nie  er- 
mittelt, hält  dies  auch  der  Würde  eines  professoris  puhlici  nicht  für 
angemessen.  Ein  guter  Lehrer  passe  seinen  Vortrag  nicht  der  Zahl, 
sondern  der  Sache  an  und  gehe  nicht  auf  viele  Zuhörer  aus,  sondern 
darauf,  diejenigen,  die  kommen,  rechtschaffen  und  mit  gutem  Gewissen 
zu  unterrichten.  Übrigens,  fügt  er  hinzu,  ut  res  sunt  et  temporoy  non 
hcUfeOj  ut  me  mei  poeniteat  auditorii,  H.  NiGEB,  med.  dr,,  physicae 
doctrinae  prof'.,  hat  bisher  gelesen  librum  de  auscultationibus  physicis, 
de  ortu  et  interitu,  de  coelo,  de  meteorisj  und  de  anima;  nach  Ostern 
wird  er  wieder  die  Physik  und  die  Psychologie  abwechselnd  pro  usu 
et  captu  auditorum  erklären.  Die  Zahl  der  Schüler  schätzt  er  auf 
etwa  25,  je  nachdem  die  Baccalarianden,  quibus  fere  haec  lectio  desig^ 
nata  est,  mehr  oder  minder  zahlreich  sind.  Der  Graecist  und  der 
Mathematiker  (S.  Gbynaeus)  sind  auf  der  Messe.  Der  Latinist  erklart 
Cicero,  gegenwärtig  einen  Tag  um  den  andern  den  Orator  et  secundum 
agrariam  in  Rullum.     Seine  Zuhörer  zahlt  er  nicht,  es  sind,  ut  fit  in 

16* 


244     //,  ■{.    XeKt-eiiiiintl'niff  tier    l'nnrrsiU'iU ti  in  •k»  pi-olealniit.  Oeiiülm. 

scholl*  publieis,  bald  mehr  Imld  weniger.   50   inai?   die  Dnrclisohnitts- 
ziffer  sein. 

Dem  Veriiriiß  über  die  Xaebl'rage,  der  stbon  aus  diesen  Antworten 
Tielfacb  liernusklingt ,  giebt  die  fnivi^itiit  noch  in  dem  Begleit- 
schreiben Aufdruck,  womit  die  .\ngaben  ein}:ereicht  werden:  man  halic 
den  Befehl  zu  solcbem  Bericht  ..mit  beschwertem  Gemüt  einzenommen 
und  vi'rstiindpn-',  indem  das  Hegehren  ..neu  und  bei  der  Universität 
ganz  unerhiirt,  noch  von  uns  udcr  unsorn  Vorfahren  dergleichen  nie 
begehrt  worden".  Besonders  veiwalirt  sich  die  Universität  noch  da- 
gegen, düB  man  aus  der  Zahl  der  Zuhrirer  den  Wert  der  Vorlesungen 
schätze;  die^e  hange  in  den  oberen  Fakultäten  namentlich  ab  von  der 
Zahl  der  Sti|iendiaten,  In  der  artistischen  Fabiltät  hätten  natür- 
lich die  Vorlesungen  über  Ethik,  Dialektik  und  Sprachen  mehr  Hürer 
als  ilii'  Mathematik  und  dergl.  Übriiren-;  schwankten  die  Ziffern  mit 
der  rrei|uenz  der  Universität. 

Man  sieht,  da«  landesherrliche  Begiment  beginnt  sich  der  Auf- 
sicht über  die  Universitäten  anzunehmen:  die  alte  korporative  Ver- 
fassung stirbt  ab.  Nicht  lange  darnach  tritt  uns  dasselbe  Kegimont 
in  einer  Verfügung  vom  Jahre  1580  (bei  WiycKELM.*NX  I,  313)  als 
Kirchenregiment  entgegen.  Der  neue  Kurfürst,  Ludwig  VI,  bestrebt 
das  lutherische  Bekenntnis  durchzuführen,  gebot  zunächst:  alle  Pro- 
fessoreD  sollen  oerae  Teligioni  ia  verbo  Ifei  traditae,  rt  in  .hifftistnna 
eonfeßtione,  Schmalkaldicif  orliiiiliii,  latechisnin  Lvtlieri.  ttostrarum^ttf 
eeeletianim  eorutitutitme  repetitae  anhangen  und  weder  öfi'enllich  noch 
prhaäm  andere  Ansichten  äußern.  Doch  läßt  ihnen  kurz  daniul 
kml  On.  „ihr  Gewissen  frei,  daß  sie  für  ihre  Penion  vom  Abendmahl 
-bei  ™h  mlhat  mö^pn  bflUpTi  und  glauben,  wie  sie  es  für  Gottfs  Eichter- 
I  zu  verantworten  hoffen;"  auch  sollen  sie  nicht  zum  Lutherischen 
tdmohl  zu  gehen  genöt^  sein,  freilich  darf  es  in  der  Pfalz  aui'h 
ikt  mi  Calvinisohe  Weise  geschehen.  Dagegen  sullen  sie  1^  regel- 
f  in  <lie  Kirche  gehen  und  das  Wort  flottes  hören,  '2)  ihre  Weiher, 
•  and  ijesinde  hinschicken,  besonders  auch  zur  Kinderlehre,  da- 
„mit  andom  den  Katechii-mus  lernen  und  sich  gefaßt  machen, 
t  werden,  demselben  gemäß  Kechenschaft  ihi-os  Glaubens 
'  Verhandlung  mit  den  Professoren  berief  sich  di;r 
L,^  hätte  Befehl,  nicht  allein  vermöge  der  andern 
loaoriohten,  sondern  auch,  vermöge  der  ersten  Tafel, 
l'Gottas  Erkenntnis  anzuführen.-- 
^Jsna  entstand  durch  Abzweigung  von  ^\■it^enberg.' 

(liDt  der  Univertitiit  .Icna  ilS'iSl. 


Gründung  der  Universität  Jena  {1558),  245 


Nach  der  Schlacht  bei  ilühlberg  und  dem  Verlust  der  Kurwürde  und 
der  Kurlande  mit  Einschluß  Wittenbergs  (1547)  suchte  Joh.  Friedrich 
zunächst  die  ganze  Universität  von  Wittenberg  nach  Jena  zu  ziehen. 
Die  Absicht  scheiterte  an  der  Weigerung  Melanchthons,  der  sich,  als 
Moritz  die  Universität  Wittenberg  zu  erhalten  sich  bereit  zeigte,  von 
dem  Ort  seiner  30jährigen  Wirksamkeit  nicht  trennen  mochte,  auch  zu 
dem  Gedeihen  einer  neuen  thüringischen  Universität  keine  rechte  Zu- 
versicht hatt«.  Es  wurde  daher  zunächst  im  Jahre  1 548  im  Pauliner- 
kloster eine  Schule  eröffnet,  an  der  zwei  Lehrer,  darunter  Jon.  Stigeliüs, 
ein  Lieblingsschüler  Melanchthons,  und  nach  des  letzteren  Zeugnis 
auch  ein  Liebling  Gottes  und  der  Musen,  artistische  und  theologische 
Vorlesungen  hielten.  Da  die  Sache  guten  Fortgang  nahm,  so  wurde 
1558  eine  vollständige  Universität  mit  kaiserlichem  Privileg  eröffnet 
Ein  Lektionsverzeichnis  vom  Jahre  15g4i,  ^^^  Stbobel  in  den  neuen 
Beiträgen  (Bd.  IV,  2.  Stück,  S.  65  flf.)  mitteilt,  läßt  die  Einrichtung 
derselben  erkennen.  Von  drei  Theologen  erklärt  der  erste  in  der  Kirche 
in  Predigten  die  Apostelgeschichte  und  den  Jesaias,  in  der  Schule  die 
kleinen  Propheten,  nachher  die  Genesis;  der  zweite  erklärt  grammatisch 
die  evangelische  Geschichte  und  die  Briefe  Pauli;  und  zwar  das  Matthäus- 
evangelium, da  es  ursprünglich  Hebräisch  geschrieben  sei,  in  hebräischer 
Sprache;  der  dritte  die  loci  Melanchthons.  In  der  Artistenfakultät 
(das  Siegel  der  Fakultät,  1558  angefertigt,  hat  die  Inschrift:  sigillum 
artium  facultatis  studii  Jenensis)  sind  sieben  Lektoren:  der  Pädagog 
lehrt  die  lateinische  Grammatik  mit  Übungen  an  Ciceros  Briefen  und 
Terenz;  der  Poet  und  Orator  leitet  zum  Lateinschreiben  in  Prosa  und 
Versen  an,  nach  Cäsar  und  Virgil;  ein  dritter  lehrt  die  griechische  und 
hebräische  Grammatik  mit  Übungen  an  einem  Text,  wozu  Interpretiitions- 
vorlesungen  über  griechische  und  hebräische  Autoren  durch  einen  Theo- 
logen und  einen  Gräcisten  kommen;  ein  Philosoph  liest  Dialektik,  Rhetorik, 
Ethik  mit  einem  Abriß  der  Geschichte;  ein  Mathematiker  Euklid  und 
Astronomie  (nach  Peükuach),  ein  anderer  die  Elemente;  der  Gricist  liest 
auch  über  die  Phvsik  Melanchthons  und  Aristoteles'. 

Auch  für  Stipendien  wurde  gesorgt.  Eine  Stiftungsurkunde  vom 
Jahre  1555  weist  für  47  Stipendiaten,  darunter  10  vom  Adel,  die 
übrigen  Priester-,  Bürger-  und  Bauernsöhne,  je  35  fl.  jährlich  an 
(Kius,  S.  126  flf.).  —  Bemerkenswert  sind  die  ebendort  berichteten 
Bestrebungen,  die  Studien  der  Stipendiaten  zu  regulieren:  der  Besuch 
der  Vorlesungen  wird  durch  den  Pedell  kontrolliert,  Abwesenheit  dem 
Rektor  angezeigt;  ferner  müssen  sie  allmonatlich  einem  Professor  der 
artistischen  Fakultät  ein  scriptum  zum  Emendieren  einreichen.  Im 
Jahre  1558  war  so^rar  ein  Versuch  gemacht  worden,  alle  Stipendiaten 


Neubegründi 


ohne  Rücksicht  auf  ihre  Fakultät  zu  nötigen,  die  Vorlesungen  des  eben 
damals  höchster  Gunst  sich  erfreuenden  Flaciüs  Illyricüs  zu  besuchen; 
etwaigen  Kollisionen  sollte  durch  Verlegung  der  anderen  Stunden  vor- 
gebeugt werden.  Doch  scheint  es  nicht  zur  Durchführung  des  Gebots 
gekommen  zu  sein.  Es  wurde  eingewendet:  die  Juristen,  Mediziner 
und  Artisten  hätten  ohnehin  schon  drei  ordentliche  lectiones  täglich, 
die  Juristen  zwei  in  jure,  eine  in  Ethik  und  Dialektik,  die  Mediziner 
zwei  in  Medizin  und  eine  de  anima  oder  Ethik  und  Dialektik,  die 
Artisten  noch  mehr,  indem  Latein  und  Griechisch  dazu  komme.  Dann 
aber  müsse  man  auf  jede  Vorlesung  zwei  Stunden  zum  Repetieren 
rechnen,  womit  täglich  schon  acht  Stunden  Arbeitszeit  gegeben  seien. 
Wie  auch  in  Jena  alsbald  giftige  Kriege  um  die  Formulierungen 
der  neuen  Theologie  zwischen  Flacianern  und  Philippisten  entstanden 
und  mit  erbitterten  Kolloquien  und  nachfolgenden  Einkerkerungen  und 
Vertreibungen  geführt  wurden,  mag  bei  J.  Güntheb  (Lebensskizzen  der 
Professoren  der  Universität  Jena  von  1558 — 1858)  nachgesehen  werden. 

Die  letzt«  große  protestantische  Universität,  deren  Begründung  in 
dieses  Zeitalter  fallt,  ist  Helmstedt.  Herzog  Julius  von  Braunschweig 
führt«  gleich  nach  seinem  Regierungsantritt  (1568)  die  Reformation 
in  seinem  Lande  nicht  ohne  Härte  durch.  Eine  umfassende  Schul- 
organisation, der  württembergischen  von  1559  nachgebildet,  fand  end- 
lich ihren  Abschluß  in  der  Begründung  einer  neuen  Universität  zu 
A   Helmstedt  im  Jahre  1576.^ 

Die  Statuten,  unter  der  wesentlichen  Mitwirkung  von  Melanchthons 
Schüler  David  Chytbaeus,  dem  Organisator  des  Rostocker  Studiums, 
entworfen,  folgen  im  ganzen  dem  Wittenberger  Cluster,  freilich  nicht 
ohne  merkliche  Abweichungen,  welche  die  neuen  Zeitläufte  ankündigen. 
Martin  Chemnitz,  an  der  Abfassung  der  Konkordienformel  hervorragend 
beteiligt,  hatte  auch  an  der  Abfassung  der  Helmstedter  Statuten  Anteil 
Die  Erhaltung  der  reinen,  in  der  herzoglichen  Kirchenordnung  ange- 
zeigten Lehre  ist  überall  die  Hauptsorge;  alle  Lehrer  aller  Fakultäten 
sollen  die  in  das  corpus  doctrinae  aufgenonmienen  Bekenntnisschriften 
beschwören.  Abweichungen  haben  Entfernung  zur  Folge;  der  Senat 
und  die  Kollegen  werden  dafür  verantwortlich  gemacht,  nicht  bemerken 
ist  strafbar.  Der  Herzog  selbst,  vielleicht  noch  mehr  im  Vollbewußtsein 
seiner  politisch-kirchlichen  Landesherrlichkeit,  als  in  theologischem  Eifer, 
forderte  schlechthinnige  Subjektion  von  seinen  Professoren.    „Wer  mit 


^  Über  die  änßeren  und  inneren  Verhältnisse  der  Universität  während 
ilirer  Blütezeit,  dem  ersten  Jahrhundert  ihres  Bestehens,  giebt  das  vortreffliche 
Werk  von  Henke,  Calixtus  und  seine  Zeit,  allseitige  Auskunft. 


Gründung  der  Universität  Helmstedt  (1576).  247 


seiner  Kirchenordnung  nicht  friedlich  sei,  solle  weder  in  Academia  Julia 
noch  sonst  geduldet  werden.  Es  sei  besser,  dieselben  führen  hin  zum 
Teufel,  als  daß  sie  seine  Kirchen  und  Schulen  verunreinten  und  befleckten"; 
mit  diesen  Worten  eröfihete  der  Herzog  1584  das  Generalkonsistorium 
(Hexke,  12).  —  Die  theologische  Fakultät  soll  vier  Professoren  haben, 
aber  nur  noch  die  Hälfte  der  16  wöchentlichen  Stunden  gehört  der 
Exegese,  die  andere  Hälfte  der  Dogmatik  mit  Dogmengeschichte,  der 
Kirchengeschichte  und  homiletischen  Übungen.  Jede  Stunde  soll  mit 
Gebet  begonnen  und  geschlossen  werden. 

Ausführlich  sind  die  Vorschriften  für  die  philosophische  Fakultät. 
Als  finis  Studiorum  erscheint  in  den  Statuten  jene  bezeichnende  Formel 
sapiens  atque  eloquens  pietas,  sie  drückt  durchaus  Melanchthons  An- 
schauung aus;  Mittel  dazu  sind  linguae  und  artes.  Es  werden  zehn 
Professoren  geordnet,  darunter  zwei  der  aristotelischen  Philosophie,  von 
welchen  einer  das  Organon  und  die  Ehetorik,  der  andere  die  Physik 
und  Ethik  lesen  soll.  Zwei  andere  halten  über  Melanchthons  Lehr- 
bücher Lektionen,  welche  für  jene  philosophischen  Vorlesungen  über 
den  Aristoteles  im  Urtext  vorbereiten.  Für  das  Studium  der  Ge- 
schichte wird  die  Bibel  empfohlen,  als  welche  die  wichtigsten  Thatsachen 
enthalte,  Providenz  und  Strafgerechtigkeit  erkennen  lasse  und  exempla 
praeceptorum  decalogi  liefere.  Auch  beim  Vortrag  der  Physik  empfehle 
es  sich,  biblische  Beispiele  zu  brauchen. 

Helmstedt  war  die  letzte  Universität  MELANCHTHONscher  Stiftung. 
Sie  blieb,  mit  einigen  Schwankungen,  während  des  ersten  Jahrhunderts 
ihres  Bestehens  die  bedeutendste  Vertreterin  seiner  Richtung.  Als  auf 
den  übrigen  protestantischen  Universitäten  die  humanistischen  Studien 
durch  die  Streittheologie  schon  fast  gänzlich  verdrängt  waren,  übte  in 
Helmstedt  ein  humanistischer  Philosoph  oder  philosophischer  Humanist 
den  bedeutendsten  Einfluß:  Jon.  Caseliüs  (1533 — 1613),  noch  ein 
Schüler  Melanchthons,  der  letzte  überlebende  aus  einer  vergangenen 
Zeit  Er  schrieb  in  beiden  Sprachen  in  Prosa  und  Versen,  „vor  allem 
war  ihm  die  gelällige  Umständlichkeit  eines  ciceronianischen  Briefstils 
wie  zur  Muttersprache  geworden"  (Henke,  51).  — 

Die  am  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  gestifteten  protestantischen 
Universitäten,  Gießen  (1607),  Einteln  (1621),  Straßburg  (1621), 
Altdorf  (1622)  will  ich  hier  nur  erwähnen;  sie  sind  aus  Gymnasien 
hervorgewachsen  und  werden  uns  daher  im  folgenden  Kapitel  noch- 
mals begegnen.     Ihre  Organisation  ist  im  wesentlichen  dieselbe. 

Eine  ganze  Reihe  von  protestantischen  Universitäten  entstanden  in 
diesem  Zeitalter  in  den  Niederlanden,  welche  das  ganze  17.  und 
18.  Jahrhundert  hindurch  von  großer  Bedeutung  für  Deutschland  waren, 


248    //,  4.    Gestalt  u,  Unterrichtsbetrieb  der  prot,  Universitäten  um  1580. 


insofern  sie  das  Mittelglied  zwischen  der  vorauseilenden  Kultur  der 
westlichen  Lander  und  der  deutschen  TJniversitatswelt  bildeten;  lange 
Zeit  hindurch  waren  dieselben,  wie  früher  die  italienischen  Universitäten, 
das  Ziel  der  akademischen  Studienreise.  Es  sind  Leyden  1575,  Franeker 
1585,  Groningen  1614,  Utrecht  1634,  Harderwyk  1648  (Tholuck,  11, 
204  ff.).  Ich  begnüge  mich  damit,  die  Organisation  von  Leyden  anzu- 
deuten. Der  erste  index  lectionum  vom  Jahre  1587,  von  Justus  Lipsius 
als  Kektor  in  Form  eines  Stundenplans  abgefaßt,  weist  vier  theologische, 
vier  juristische,  zwei  medizinische,  fünf  artistische  Professoren  auf. 
Unter  letzteren  sind  zwei  Linguisten,  welche  über  lateinische  und  grie- 
chische Autoren  (Florus,  Cicero,  Homer,  Aristoteles  de  mundo)  lesen, 
und  drei  Artisten,  welche  einer  abwechselnd  aristotelische  Logik  und 
Physik,  der  zweite  aristotelische  Politik,  der  dritte  Kosmographie  und 
Astronomie  vorträgt.^ 


Viertes  Kapitel. 

Äußere  Gestalt  und  Unterrichtsbetrieb  der  protestantischen 
Universitäten  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts. 

Der  im  vorhergehenden  Kapital  gegebenen  Übersicht  über  die  Ent- 
stehung und  Gestaltung  der  einzelnen  protestantischen  Universitäten 
lasse  ich  in  diesem  eine  allgemeine  Darstellung  folgen,  welche  die  Ver- 
hältnisse dieser  Anstalten,  soweit  sie  für  uns  in  Betracht  kommen,  in 
einem  Querschnitt  zeigt,  der  etwa  durch  das  Jahr  1580  gezogen 
sein  mag. 

Was  zunächst  die  äußeren  Verhältnisse  anlangt,  so  haben  die 
Universitäten  im  ganzen  das  Schema  ihrer  ursprünglichen  Struktur 
festgehalten.  Die  Gesamtverfassung  ist  geblieben:  die  Universität  ist 
«ine  privilegierte  Körperschaft  mit  einem  gewählten  Haupt,  dem  Rektor, 
und  einer  begrenzten  Selbstverwaltung  und  Rechtsprechung  über  ihre 
Glieder.  Geblieben  ist  ebenso  die  Gliederung  in  die  vier  Fakultäten, 
jede  mit  ihrem  gewählten  Vorsteher,  dem  Dekan. 

Auch  die  Aufgabe  der  Fakultäten  und  ihr  Verhältnis  zu  einander 
ist  im  wesentlichen  das  alte  geblieben.  Im  besonderen  hat  die  artistische 
oder,  wie  sie  jetzt  gewöhnlich  genannt  wird,  die  philosophische  Fakultät 
die  Stellung  einer  allgemein-wissenschaftlichen  Vorschule  für  die  oberen 
Fakultäten  behalten,  die  Aufgabe  der  letzteren  ist  die  fachwissenschaft- 


^  Maatschappij  der  Xederlandsche  Letferkunde,  1856,  S.  84  ff. 


VerstaaUiehung  und  Territorialisierung  der  Universitäten,        249 


liehe  Vorbildung  für  den  praktischen  Beruf.  Doch  vollziehen  sich  hier 
bemerkenswerte  Wandlungen.  Die  theologische  und  juristische 
Fakultät  haben  an  Bedeutung  und  an  ziffernmäßigem  Bestand  gewonnen. . 
In  dem  MaBe,  als  die  wissenschaftlich-theologische  Vorbildung  der  Oeist- 
lichen  zunächst  innerhalb  der  protestantischen ,  dann  auch  innerhalb 
der  katholischen  Welt  an  Wichtigkeit  gewinnt,  in  demselben  MaBe 
wächst  die  Zahl  derer,  die  einen  theologischen  Universitätskursus  durch- 
machten. Im  Mittelalter  setzte  die  Verwendung  im  geistlichen  Amt 
durchaus  nicht  ein  wissenschaftliches  Studium  der  Theologie  voraus; 
jetzt  wurde  die  Forderung  zur  Regel,  Das  Universitätszeugnis  trat  an 
die  Stelle  der  Prüfung  durch  den  Bischof  oder  seinen  Beauftragten. 
Ebenso  gewinnt  das  juristische  Studium  an  Wichtigkeit  und  Ausdehnung 
in  dem  Maße,  als  sich  die  Staatsthätigkeit  erweitert  und  die  Recht- 
sprechung in  die  Hände  gelehrter  Richter  übergeht.  Während  es  im 
Mittelalter  überwiegend  Kleriker  waren,  die  auf  deutschen  Universitäten 
in  der  juristischen  Fakultät  Kirchenrecht  studierten,  sind  es  jetzt  die 
Rate,  Beamten  und  Richter,  die  durch  das  Studium  des  römischen 
Rechts  die  wissenschaftliche  Fachbildung  sich  erwerben.  Ist  im 
1 6.  Jahrhundert  die  theologische  Fakultät  noch  die  erste  und  wichtigste, 
80  wird  seit  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  die  juristische  die  vor- 
nehmste und  allmählich  auch  die  stärkste.  Die  medizinische  Fakultät 
erreicht  erst  im  19.  Jahrhundert  rasch  steigende  Bedeutung. 

In  der  öffentlichen  Stellung  der  Universität  hat  sich  eine  Wand- 
lung vollzogen,  die  mit  der  gesamten  Entwickelung  der  Dinge  aufe 
engste  zusammenhängt:  die  Universitäten  werden  immer  entschiedener 
Staatsanstalten.  Im  Mittelalter  war  die  Kirche  die  allumfassende 
Form  des  geistigen  und  beinahe  des  gesamten  öffentlichen  Lebens;  der 
Staat  hatte  neben  ihr  die  bescheidene  Rolle  einer  Einrichtung  für  be- 
stimmte und  begrenzte  Zwecke,  besonders  die  Friedensbewahrung  im 
Innern  und  die  politisch-militärische  Selbsterhaltung  nach  außen.  Seit 
dem  Beginn  der  Neuzeit  kehrt  sich  dies  Verhältnis  mehr  und  mehr 
um.  Der  Staat  entwickelt  sich  zu  der  universellen,  alle  menschlichen 
Zwecke  umfassenden  Wohlfahrtsanstalt,  während  die  Kirche  auf  ein 
immer  engeres  Gebiet  zurückgedrängt  wird,  so  daß  ihr  zuletzt  nur  die 
Predigt  und  Sakramentsverwaltung  bleibt.  Im  besonderen  ist  das  öffent- 
liche Unterrichts-  und  Erziehungswesen,  das  im  Mittelalter  ganz  der 
Kirche  angehörte  —  wie  es  denn  der  Natur  der  Sache  eigentlich  an- 
gemessen ist:  Erziehung  ist  ein  Gebiet  der  Seelsorge  —  allmählich  in 
die  Verwaltung  des  Staats  übergegangen.  An  den  Universitäten  hat 
sich  dieser  Vorgang  zuerst  vollzogen;  die  päpstliche  Errichtungsbulle, 
der  kirchliche  Charakter  der  Promotionen,  die  Dotation  der  Professuren 


250    //,  4,    Oestalt  u.  Unterricktsheiritb  der  prot.  UniversUäten  um  1580, 


mit  kirchlichen  Pfründen  und  der  damit  gegebene  klerikale  Charakter 
des  Amts,  alles  das  kommt  in  Wegfall.  Zugleich  schwindet  damit  die 
körperschaftliche  Selbstregierung.  Die  landesherrliche  Regierung,  die 
übrigens  schon  in  der  zweiten  Haltte  des  15.  Jahrhunderts  im  Vor- 
dringen ist,  dehnt  ihre  Verordnungsgewalt  immer  mehr  aus;  sie  giebt 
Statuten  und  Ordnungen  für  die  Universität  und  die  Fakultäten,  für 
die  äußeren  Verhältnisse  und  den  inneren  Unterrichtsbetrieb.  Die 
Professoren  werden  Staatsbeamte,  die  im  Auftrag  und  unter  Aufsicht 
der  Landesregierung  lehren.  Die  Aufsicht  wird  durch  Visitationen 
geübt,  zu  denen  landesherrliche  Eommissarien  erscheinen  mit  dem  Auf- 
trag, Leben  und  Lehre  der  Professoren  und  Studenten  zu  erforschen. 
Auf  ihren  Bericht,  der  sich  auf  Aussagen  der  Beteiligten  und  Beobach- 
tungen stützt,  erfolgt  dann,  was  man  am  Hof  zu  verfügen  für  not- 
wendig hält  (Auszüge  aus  Berichten  und  Verfügungen  bei  Tholuck, 
I,  23  ff.).  Es  ist  der  Polizeistaat,  der  sich  hierin  ankündigt;  bald  giebt 
es  kein  Gebiet  der  Lebensbethätigung,  in  das  nicht  die  Regierung  mit 
Mandaten  eingriffe.  Auch  die  Studierenden  unterliegen  der  Aufsicht; 
sie  werden  als  künftige  Diener  des  Landesherrn,  im  weltlichen  oder 
im  geistlichen  Amt,  angesehen.  Vor  allem  gilt  das  von  den  Stipen- 
diaten, die  von  dem  Landesherrn  auf  der  Universität  erhalten  werden^ 
um  für  die  Civil-  und  Kirchen-  und  Schulbedienungen,  wie  man  später 
sagt,  einen  Stamm  von  brauchbaren  Subjekten  zu  haben. 

Hiermit  hängt  nun  ein  Weiteres  zusammen:  die  Territoriali- 
sierung der  Universitäten,  ja  man  kann  sagen,  der  Wissenschaft 
und  des  geistigen  Lebens  überhaupt  Vor  der  Reformation  bildete 
Deutschland,  ja  die  ganze  abendländische  Christenheit  ein  einheitliches 
Universitätsgebiet.  Man  denke  an  die  Ubiquität  der  scholastischen 
Philosophen  und  der  Humanisten.  Die  Universitäten  waren  als  Glieder 
der  internationalen  Kirche  selbst  Anstalten  internationalen  Charakters; 
ihre  Grade  galten  überall,  sie  gaben  das  Recht  überall  zu  lehren,  und 
da  alle  eine  Sprache  redeten,  die  Sprache  der  Kirche,  so  bildeten  die 
Landesgrenzen  auf  diesem  Gebiet  in  der  That  keine  Grenze.  —  Seit 
der  Errichtung  der  Landeskirchen  hörte  diese  Freizügigkeit  des  Gelehrten- 
tums  auf.  Protestantische  und  katholische  Universitäten  schlössen  sich 
streng  gegen  einander  ab,  vielfach,  bei  der  weiteren  Spaltung  in  der 
Lehre  auch  die  protestantischen  unter  einander,  mindestens  die  luthe- 
rischen gegen  die  reformierten.  Regelmäßig  findet  bei  der  Anstellung 
die  eidliche  Verpflichtung  auf  die  landeskirchlichen  Bekenntnisschriften 
statt;  auch  bei  der  Promotion  ist  die  Verpflichtung  auf  Schrift  und 
Symbole  gewöhnlich.  Bei  der  Aufnahme  fremder  Doktoren  sucht  man 
sich   auch  durch  ein  examen  doctrinae  gegen  die  Einschleppung  von 


Statistische  und  Ökonomische  Verhältnisse.  251 


Unkrautsamen  zu  schützen.  Auch  das  Studieren  auf  fremden  Uni- 
versitäten, wenigstens  auf  den  in  der  Lehre  nicht  reinen,  wurde  den 
Landeskindem  vielfach  untersagt,  bei  Verlust  der  Anstellungsfahigkeit. 
Übrigens  bestimmt«  hierzu,  außer  dem  glaubenspolizeilichen  Gesichts- 
punkt, auch  der  fiskalische:  wozu  unterhält  der  Fürst  eine  Landes- 
universität? So  wurde  z.  B.  den  brandenburgischen  Landeskindern 
1564  verboten,  auf  fremden  Universitäten  zu  studieren,  andererseits 
den  Magistraten  und  anderen  Patronen  geboten,  sich  von  der  Landes- 
universität  zu  Frankfurt  für  vakante  Bedienungen  Kandidaten  em- 
pfehlen zu  lassen,  eine  notwendige  Ergänzung  zum  Stipendiaten wesen: 
die  Prohibition  ist  die  Ergänzung  der  St^atsproduktion. 

Von  hieraus  ist  denn  auch  verständlich,  daß  nun  jedes  Territorium, 
auch  das  kleinste,  darnach  strebte,  seinen  Bedarf  an  Gelehrten  durch 
inländische  Produktion  zu  decken.  Daher  die  große  Menge  von  zum 
Teil  wenig  lebensfähigen  Neugründungen  aus  diesem  Zeitalter:  jedes 
Staatsgebiet  wollte  wenn  möglich  eine  eigene  vollständige  Universität 
haben;  reichten  die  Mittel  durchaus  nicht,  so  errichtete  man  wenigstens 
einstweilen  ein  sogenanntes  gymndsinm  academicum  oder  illustre,  eine 
Gelehrtenschule,  an  die  ein  philosophischer  und  etwa  noch  ein  theo- 
logischer Kursus  sich  anschloß.  Je  nach  Gelegenheit  ließ  sich  die 
Anstalt  dann  auch  zur  vollen  Universität  erweitem,  wie  es  z.  B.  mit 
den  Schulen  der  Reichsstädte  Straßburg  und  Nürnberg  geschah.  Auch 
zahlreiche  Jesuitenkollegien  haben  sich  so  zu  einer  halben  oder  ganzen 
Universität  entwickelt. 

Übrigens  vergesse  man  nicht,  daß  auch  eine  ganze  Universität  in 
diesem  Zeitalter  noch  ein  sehr  einfaches  Ding  ist,  verglichen  mit  dem 
unendlich  komplizierten  Apparat  unserer  Tage.  Die  Universität  besteht 
aus  dem  Lehrkörper  und  der  Studentenschaft,  beide  bewegen  sich  meist 
in  kleinen  ZiflFem,  15 — 20  Professoren  und  300 — 400  Studierende 
werden  schon  eine  gute  Mitteluniversität  ausmachen.  Institute  giebt 
es  nicht,  außer  einer  kleinen  Büchersammlung.  Die  Kosten  sind  gering, 
mit  wenigen  tausend  Gulden  für  Gehalt  und  Stipendien,  und  mit  ein 
paar  Gebäuden,  wozu  etwa  ein  leergewordenes  Kloster  benutzt  werden 
kann,  ist  der  ganze  Aufwand  bestritten.  Die  Kleinheit  und  Beweg- 
lichkeit der  Universität  kommt  sehr  sichtbar  zur  Darstellung  in  den 
nicht  seltenen  Auswanderungen;  trifft  eine  Pest  den  Ort,  so  wandert 
das  ganze  Studium  zeitweilig  nach  einer  benachbarten  Stadt  aus  und 
setzt  dort  seine  Übungen  fort.  Von  Tübingen,  Heidelberg,  Frankfurt, 
Jena,  selbst  Wittenberg  sind  mehrfacheÜbersiedelungen  dieser  Art  bekannt 

Was  die  ökonomischen  Verhältnisse  der  Professoren  an- 
langt, 80  wird  man  sie  sich  im  allgemeinen  recht  bescheiden  vorzu^ 


252    //,  4,    OestaU  u,  ünterrtohtshetrieb  der  proL  Universiiäten  um  1580. 


stellen  haben.  Das  Gehalt  in  der  artistischen  Fakultät  bewegt  sich 
etwa  zwischen  50 — 100,  in  der  juristischen  und  theologischen  Fakultät 
zwischen  100 — 200  Gulden.  Die  Bedeutung  einer  solchen  Summe 
ergiebt  sich  vielleicht  am  einfachsten  aus  der  Vergleichung  mit  dem, 
was  für  einen  eben  noch  ausreichenden  Studentenwechsel  galt.  Der 
Betrag  eines  Stipendiums  ftir  einen  Studenten,  das  bestimmt  war  den 
ganzen  unterhalt,  ohne  Zweifel  der  Grenze  möglicher  Lebenshaltung 
sehr  nahe,  und  zwar  für  ein  ganzes  Jahr,  nicht  bloß  wie  jetzt  für 
die  7  oder  8  Monate  der  beiden  Semester,  zu  bestreiten,  machte  in 
Wittenberg,  wie  oben  angegeben,  25  fl.  aus.  Als  bei  der  Errichtung 
der  Jenaer  Universität  die  Frage  der  Abmessung  der  Stipendien 
erwogen  wurde,  fand  man  die  Sunmie  durchaus  unzureichend  und 
erhöhte  sie  auf  35  fl.  Allein  für  den  Tisch,  so  versicherten  Sach- 
kundige,  gingen  18  fl.  jährlich  darauf  (7  Groschen  wöchentlich). 
Gleichzeitig  brachte  Melanchthon  als  Gehalt  für  die  artistischen 
Professoren  100  fl.  in  Vorschlag.  In  beiden  Fällen  kommt  also  auf 
die  artistische  Lektur  etwa  das  dreifache  des  niedrigsten  Studenten- 
wechsels; in  unsere  Verhältnisse  umgesetzt  würde  das,  wenn  wir 
1200  M.  als  eben  auskömmlichen  Studentenwechsel  rechnen,  3600  M. 
ausmachen,  für  die  oberen  Fakultäten  etwa  das  doppelte.  Wobei 
denn  in  Betracht  kommt  daß  die  artistische  Lektur  in  der  Hegel 
Ausgangspunkt  der  akademischen  Laufbahn  war,  aus  der  man  mit 
steigendem  Alter  in  eine  Professur  der  oberen  Fakultäten,  besonders 
der  theologischen,  oder  auch  in  ein  geistliches  Amt  überging. 

Allerdings  kamen  zum  Gehalt  meist  andere  Formen  des  Ein- 
kommens. Zunächst  wurden  vielfach  Naturalbezüge  gewährt,  Korn, 
Wein,  freie  Wohnung,  Holz;  bei  den  größeren  Professuren  wird  in  der 
Regel  wenigstens  einiges  davon  vorauszusetzen  sein.  Regelmäßige  Kol- 
legienhonorare wie  heute  gab  es  im  16.  und  17.  Jahrhundert  allerdings 
nicht;  für  das  Gehalt  mußten  eben  die  den  Kursus  ausmachenden  Vor- 
lesungen publice,  d.  h.  jedem  umsonst  zugänglich,  gelesen  werden.  Auch 
gab  es  keine  oder  kaum  in  Betracht  kommende  schriftstellerische  Honorare. 
Dafür  kamen  an  einer  etwas  besuchteren  Universität  die  Promotions- 
gebühren in  Betracht.  Und  dann  hinderte  nichts,  durch  Erteilung 
von  Privatunterricht,  besonders  auch  in  der  Form  von  Disputations- 
kursen und  durch  Abfassung  von  Dissertationen,  die  von  dem  Re- 
spondenten  honoriert  wurde,  sich  einen  Verdienst  zu  verschaffen.  Bei 
den  jüngeren  Magistern  darf  das  als  Regel  vorausgesetzt  werden. 
Endlich  nahm  man  auch  Studenten  als  Pensionäre  ins  Haus,  ein  Ver- 
hältnis, das  l)is  ins  18.  Jahrhundert  hinein  ganz  gewöhnlich  bleibt. 
Wie   CS  scheint    hat  unter  diesem  Einfluß  hin  und   wieder  ein  Pro- 


Lebmsordnungen  der  Professoren  und  Studenten,  253 


fessorenhaos  etwas  von  dem  Charakter  eines  Wirtshauses  angenommen. 
Auch  die  den  Professoren  regelmäßig  gewährte  Steuerfreiheit  mit  Ein- 
schluß der  Freiheit  vom  Aufschlag  auf  das  im  Haushalt  verzehrte  Ge- 
tränk mochte  hierauf  hinwirken.  Es  werden  wiederholt  Verordnungen 
erwähnt,  die  den  Wein-  und  Bierschank  der  Professoren  einschränken. 

Es  kann  nicht  überraschen,  daß  diese  Verhältnisse  vielfach  bittere 
Etagen  hervorriefen;  im  7.  Band  von  Janssens  Geschichte  des  deutschen 
Volkes  findet  man  ihrer  viele  gesammelt.  Um  billig  zu  urteilen,  darf 
man  nicht  vergessen,  daß  es  zwei  von  dem  Willen  der  Erhalter  der 
Universitäten  nicht  abhängige  Umstände  waren,  wodurch  die  an  sich 
engen  Verhältnisse  vielfach  zur  Notlage  wurden:  der  eine  ist  die  Auf- 
gebung der  klerikalen  Lebensformen  von  Seiten  der  Universitätslehrer, 
der  andere  das  Sinken  des  Geldwerts.  Die  herkömmliche  Dotation 
der  Lektüren  war,  wie  die  aller  geistlichen  Stellen,  auf  den  Cölibat  der 
Inhaber  zugeschnitten  und  also  natürlich  für  die  Erhaltung  einer 
Familie  nicht  ausreichend.  Es  ist  aber  begreiflich,  daß  sich  die  An- 
schauungen von  dem,  was  für  derartige  Stellen  erforderlich  und  an- 
gemessen sei,  nicht  so  schnell  als  das  Bedürfnis  veränderten,  ebenso, 
daß  die  Zufuhrung  neuer  Mittel  noch  längere  Zeit  brauchte.  Und 
dazu  kam  nun  noch  der  zweite  Umstand.  Der  Geldwert  oder  die 
Kaufkraft  der  Edelmetalle  ist  im  Verlauf  des  1 6,  Jahrhunderts  wohl 
auf  die  Hälfte  und  darunter  gesunken:  ein  sehr  schmerzlicher  Vorgang 
für  alle,  die  auf  festes  Geldgehalt  angewiesen  waren. 

Auch  die  Lebensordnungen,  wie  sie  die  mittelalterlichen  Uni- 
versitäten für  die  Scholaren  ausgebildet  hatten,  starben  im  .16.  Jahr- 
hundert ab.  Die  alte  Verpflichtung,  in  den  Kollegien  und  Bursen  zu 
wohnen,  ließ  sich  nicht  mehr  allgemein  festhalten,  sie  hatte  den  Cölibat 
der  Magister  und  überhaupt  das  Vorbild  des  klösterlichen  Lebens  zur 
Voraussetzung.  Auch  wirkte  das  Wachstum  der  oberen  Fakultäten, 
besonders  der  juristischen,  die  sich  aus  dem  Herrenstand  zu  rekrutieren 
begann,  im  Sinne  der  Emanzipation  der  Studierenden;  der  Bursenzwang 
hatte  immer  eigentlich  der  artistischen  Fakultät  gegolten.  Endlich 
wird  auch  das  durchschnittliche  Lebensalter  der  Studierenden  mit  der 
Steigerung  des  Schulkurses  gestiegen  sein.  So  entwickelt  sich  all- 
mählich aus  dem  Scholaren  des  Mittelalters,  dem  klerikalen  Semina- 
risten, der  akademische  Student  des  17.  Jahrhunderts,  der  den  Kavalier 
spielt.  Es  spiegelt  sich  hierin  die  Wandlung  der  Gesellschaft:  der 
geistliche  Stand  verschwindet  in  der  protestantischen  W^elt,  das  Bürger- 
tum tritt  zurück,  der  Adel  wird  der  sozial  und  politisch  herrschende 
Stand.  Alles  was  nach  sozialer  Auszeichnung  strebt,  sucht  nun  die 
Lebensformen  des  Adels  sich  anzueignen.    Ein  Zeichen  für  die  Wand- 


246    II,  3.    Neubegrütidung  der  Universiiäten  in  den  protestant,  Gebieten, 

ohne  Rücksicht  auf  ihre  Fakultät  zu  nötigen,  die  Vorlesungen  des  eben 
damals  höchster  Gunst  sich  erfreuenden  Flacius  Illyricus  zu  besuchen ; 
etwaigen  Kollisionen  sollte  durch  Verlegung  der  anderen  Stunden  vor- 
gebeugt werden.  Doch  scheint  es  nicht  zur  Durchführung  des  Gebots 
gekommen  zu  sein.  £s  wurde  eingewendet:  die  Juristen,  Mediziner 
und  Aiüsten  hätten  ohnehin  schon  drei  ordentliche  lectiones  täglich, 
die  Juristen  zwei  in  jure^  eine  in  Ethik  und  Dialektik,  die  Mediziner 
zwei  in  Medizin  und  eine  de  anima  oder  Ethik  und  Dialektik,  die 
Artisten  noch  mehr,  indem  Latein  und  Griechisch  dazu  komme.  Dann 
aber  müsse  man  auf  jede  Vorlesung  zwei  Stunden  zum  Repetieren 
rechnen,  womit  täglich  schon  acht  Stunden  Arbeitszeit  gegeben  seien. 
Wie  auch  in  Jena  alsbald  giftige  Kriege  um  die  Formulierungen 
der  neuen  Theologie  zwischen  Flacianern  und  Philippisten  entstanden 
und  mit  erbitterten  Kolloquien  und  nachfolgenden  Einkerkerungen  und 
Vertreibungen  geführt  wurden,  mag  bei  J.  Günther  (Lebensskizzen  der 
Professoren  der  Universität  Jena  von  1558 — 1858)  nachgesehen  werden. 

Die  letzt«  große  protestantische  Universität,  deren  Begründung  in 
dieses  Zeitalter  fallt,  ist  Helmstedt.  Herzog  Julius  von  Braunschweig 
führte  gleich  nach  seinem  Regierungsantritt  (1568)  die  Reformation 
in  seinem  Lande  nicht  ohne  Härte  durch.  Eine  umfassende  Schul- 
organisation, der  württembergischen  von  1559  nachgebildet,  fand  end- 
lich ihren  Abschluß  in  der  Begründung  einer  neuen  Universität  zu 
A   Helmstedt  im  Jahre  1576.^ 

Die  Statuten,  unter  der  wesentlichen  Mitwirkung  von  Melanchthons 
Schüler  David  Chytraeus,  dem  Organisator  des  Rostocker  Studiums, 
entworfen,  folgen  im  ganzen  dem  Wittenberger  Cluster,  freilich  nicht 
ohne  merkliche  Abweichungen,  welche  die  neuen  Zeitläufte  ankündigen. 
Martin  Chemnitz,  an  der  Abfassung  der  Konkordienformel  hervorragend 
beteiligt,  hatte  auch  an  der  Abfassung  der  Helmstedter  Statuten  Anteil. 
Die  Erhaltung  der  reinen,  in  der  herzoglichen  Kirchenordnung  ange- 
zeigten  Lehre  ist  überall  die  Hauptsorge;  alle  Lehrer  aller  Fakultäten 
sollen  die  in  das  corpus  doctrinae  aufgenommenen  Bekenntnisschriften 
beschwören.  Abweichungen  haben  Entfernung  zur  Folge;  der  Senat 
und  die  Kollegen  werden  dafür  verantwortlich  gemacht,  nicht  bemerken 
ist  strafbar.  Der  Herzog  selbst,  vielleicht  noch  mehr  im  Vollbewußtsein 
seiner  politisch-kirchlichen  Landesherrlichkeit,  als  in  theologischem  Eifer, 
forderte  schlechthinnige  Subjektion  von  seinen  Professoren.    „Wer  mit 


*  Über  die  äußeren  und  inneren  Verhältnisse  der  Universität  während 
ilirer  Blütezeit,  dem  ersten  Jahrhundert  ihres  Bestehens,  giebt  das  vortreftliche 
Werk  von  Henke,  Calixtus  und  seine  Zeit,  allseitige  Auskunft. 


Gründung  der  Universität  Helmstedt  (1576),  247 


seiner  Kirchenordnung  nicht  friedlich  sei,  solle  weder  in  Academia  Julia 
noch  sonst  geduldet  werden.  Es  sei  besser,  dieselben  führen  hin  zum 
Teufel,  als  daß  sie  seine  Kirchen  und  Schulen  verunreinten  und  befleckten" ; 
mit  diesen  Worten  eröffnete  der  Herzog  1584  das  Generalkonsistorium 
(Henke,  12).  —  Die  theologische  Fakultät  soll  vier  Professoren  haben, 
aber  nur  noch  die  Hälfte  der  16  wöchentlichen  Stunden  gehört  der 
Exegese,  die  andere  Hälfte  der  Dogmatik  mit  Dogmengeschichte,  der 
Kirchengeschichte  und  homiletischen  Übungen.  Jede  Stunde  soll  mit 
Gebet  begonnen  und  geschlossen  werden. 

Ausführlich  sind  die  Vorschriften  für  die  philosophische  Fakultät 
Als  finis  Studiorum  erscheint  in  den  Statuten  jene  bezeichnende  Formel 
sapiens  atque  eloquens  pietas,  sie  drückt  durchaus  Melanchthons  An- 
schauung aus;  Mittel  dazu  sind  linguae  und  artes.  Es  werden  zehn 
Professoren  geordnet,  darunter  zwei  der  aristotelischen  Philosophie,  von 
welchen  einer  das  Organen  und  die  Rhetorik,  der  andere  die  Physik 
und  Ethik  lesen  soll.  Zwei  andere  halten  über  Melanchthons  Lehr- 
bücher Lektionen,  welche  für  jene  philosophischen  Vorlesungen  über 
den  Aristoteles  im  Urtext  vorbereiten.  Für  das  Studium  der  Ge- 
schichte wird  die  Bibel  empfohlen,  als  welche  die  wichtigsten  Thatsachen 
enthalte,  Providenz  und  Strafgerechtigkeit  erkennen  lasse  und  exempla 
praeceptorum  decalogi  liefere.  Auch  beim  Vortrag  der  Physik  empfehle 
es  sich,  biblische  Beispiele  zu  brauchen. 

Helmstedt  war  die  letzte  Universität  MELANCHTHONScher  Stiftung. 
Sie  blieb,  mit  einigen  Schwankungen,  während  des  ersten  Jahrhunderts 
ihres  Bestehens  die  bedeutendste  Vertreterin  seiner  Richtung.  Als  auf 
den  übrigen  protestantischen  Universitäten  die  humanistischen  Studien 
durch  die  Streittheologie  schon  fast  gänzlich  verdrängt  waren,  übte  in 
Helmstedt  ein  humanistischer  Philosoph  oder  philosophischer  Humanist 
den  bedeutendsten  Einfluß:  Jon.  Caselius  (1533 — 1613),  noch  ein 
Schüler  Melanchthons,  der  letzte  überlebende  aus  einer  vergangenen 
Zeit.  Er  schrieb  in  beiden  Sprachen  in  Prosa  und  Versen,  „vor  allem 
war  ihm  die  gefällige  Umständlichkeit  eines  ciceronianischen  Briefstils 
wie  zur  Muttersprache  geworden"  (Henke,  51).  — 

Die  am  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  gestifteten  protestantischen 
Universitäten,  Gießen  (1607),  Rinteln  (1621),  Straßburg  (1621), 
Altdorf  (1622)  will  ich  hier  nur  erwähnen;  sie  sind  aus  Gymnasien 
hervorgewachsen  und  werden  uns  daher  im  folgenden  Kapitel  noch- 
mals begegnen.    Ihre  Organisation  ist  im  wesentlichen  dieselbe. 

Eine  ganze  Reihe  von  protestantischen  Universitäten  entstanden  in 
diesem  Zeitalter  in  den  Niederlanden,  welche  das  ganze  17.  und 
18.  Jahrhundert  hindurch  von  großer  Bedeutung  für  Deutschland  waren, 


258    11,  4.    Gestalt  u.  Unterriditshetrieh  der  2>fot,  Universitäten  um  1580, 


Was  den  Inhalt  des  philosophischen  Unterrichts  anlangt,  so  liegt 
er  uns  in  den  Lehrbüchern  Melanchthons,  die  alle  aus  Vorlesungen 
hervorgegangen  sind,  deutlich  ausgebreitet  vor  Augen.  Der  Einteilung 
der  Philosophie,  die  den  Inbegriff  der  Wissenschaften  darstellt,  liegt 
das  alte  dreigliedrige  Schema  zu  Grunde:  1)  die  Lehre  vom  Denken 
und  Reden,  die  artes  formales,  Dialektik  und  Rhetorik,  der  die  Gram- 
matik vorausgeht;  2)  die  Lehre  von  der  Wirklichkeit,  die  artes  reales, 
Physik,  Kosmologie,  Physiologie,  Psychologie;  3)  die  Lehre  von  den 
praktischen  Aufgaben  des  Lebens,  Ethik  und  Politik. 

Das  Hauptstück  des  ersten  Kursus  sind  die  Rhetorik  und  Dia- 
lektik, sie  zielen  gemeinsam  auf  die  Eloquenz,  die  am  Eingang  der 
Rhetorik  erklärt  wird  als  die  facultas  sapievter  et  omate  dicendi.  Den 
ornatus  lehrt  die  Rhetorik,  das  heißt  nicht  die  äußerlich  aufgeputzte 
Rede,  sondern  den  angemessenen,  wohl  geordneten,  nachdrücklichen 
und  wirksamen  Vortrag  der  Gedanken.  Melanchthons  Rhetorik  liegt 
in  drei  Überarbeitungen  vor:  de  rhetorica  1.  III  (1519),  Institutiones 
rhet  (1521),  Elementorum  rhetor.  1.  II,  (1531).  Die  letztere  handelt 
im  ersten  Buch  von  den  Art^n  der  Rede,  des  Vortrags  oder  der  Ab- 
handlung, das  geiius  didascalicum  als  neues,  viertes  genus  in  den  Vorder- 
grund stellend,  sodann  von  den  Teilen  der  Rede  und  der  Anordnung  der 
notwendigen  Stücke,  endlich  von  der  Unterstützung  der  inventio  durch 
die  Andeutung  der  loci,  wo  die  materia  dicendi  zu  suchen.  Der  Lehre 
vom  Aufbau  des  Ganzen  folgt  dann  im  2.  Buch  die  Lehre  vom  Stil, 
wo  besonders  auch  die  figurae  orationis  zur  Behandlung  kommen.  — 
Man  sieht,  die  Rhetorik  ist  wesentlich  dasselbe,  was  wir  heute  etwa 
in  einer  Theorie  des  Aufsatzes  behandeln,  nur  daß  dort  die  Beziehung 
zur  antiken  Rhetorik  mit  ihrer  Abzielung  auf  die  vorgetragene  Rede 
stärker  hervortritt     Bei  uns  hat  das  Schreiben  das  Reden  verdrängt. 

Die  Dialektik  liegt  ebenfalls  in  drei  Überarbeitungen  vor,  die 
erste  unter  dem  Titel:  compendiaria  dial  ratio  (1520),  die  letzte  unter 
dem  Titel:  Erotemata  dialectices  (1547);  es  sind  darin  die  Kapitel- 
überschriften in  die  Form  der  Frage  gefaßt.  Mit  der  Rhetorik  aufs 
engst«  verwandt,  wird  sie  erklärt  als  die  Kunst  der  richtigen,  geordne- 
ten und  durchsichtigen  Darstellung,  die  auf  richtigem  Definieren,  Iau- 
teilen  und  Argumentieren  beruht.  Sie  handelt  in  vier  Büchern  den 
herkömmlichen  Inhalt  der  Logik  ab,  nach  dem  Schema  der  aristote- 
lischen Schriften:  den  Begriff,  mit  Definition  und  Division,  das  Urt-eil, 
die  Syllogistik,  die  Topik,  die  Fehlschlüsse. 

Den  zweiten  Teil  der  Philosophie,  die  Lehre  von  der  Wirklichkeit, 
hat  Melanchthon  in  zwei  W^erken  behandelt,  dem  Commentarins  de 
anima  (1540)  und  den  Tnitia  doctrinae  physicae  (1549).     Die  Physik 


Melancfähons  Lehrbücher  der  philoa.   Wissenschaften»  259 


schließt  Metaphysik  und  Kosmologie  ein.  Sie  handelt  im  ersten 
Bach,  nach  einer  Einleitung  über  Wesen ,  Methode  und  Nutzen  der 
Naturwissenschaften,  von  Gott,  seinem  Dasein  und  Wesen,  von  der 
Welt  und  dem  kosmischen  System.  Das  zweite  Buch  behandelt  im 
wesentlichen  die  metaphysischen  Frinzipienfragen,  Materie  und  Form, 
die  Arten  der  Ursachen,  die  Bewegung  und  ihre  Arten,  Raum  und 
Zeit  u.  s.  f.  Im  dritten  Buch  erst  nähert  sie  sich  den  Dingen,  die 
gegenwärtig  in  der  Physik  und  Chemie  behandelt  werden.  —  Die 
Schrift  de  anima  enthält  die  Lehre  von  den  Lebewesen.  Zuerst  wird 
vom  Wesen  der  Seele,  mit  historisch-kritischen  Ausführungen,  gehandelt; 
es  folgt  ein  Abriß  der  physischen  Anthropologie;  dann  werden  die 
Seelen  vermögen  (potentiae  animae)  durchgegangen:  nutritiva,  gener  ativa^ 
sensitiva,  appetitiva  (wo  die  AflFektenlehre  abgehandelt  wird),  locomotiva, 
rationalis]  die  anima  rationalis  (mens)  hat  wieder  zwei  Seiten,  inteU 
lectus  und  voluntas,  deren  Wesen  und  Funktion  eingehend  dargelegt 
wird.  Auch  die  Kapitel  liberum  arbitrium  und  immartalitas  fehlen  , 
natürlich  nicht. 

Die  Ethik  endlich,  der  dritte  Teil  der  Philosophie,  liegt  in  zwei 
Bearbeitungen  vor:  als  philosophiae  moralis  epitome  (1538)  und  als 
Ethicae  doctrinae  elementa  (1550);  beide  zeigen  im  wesentlichen  das- 
selbe Schema.  Einer  Einleitung  über  Wesen  und  Nutzen  der  Disziplin, 
sowie  über  das  Verhältnis  der  Ethik  zur  geoflFenbarten  Lehre,  folgt  im 
ersten  Buch  die  Erörterung  der  Prinzipienfragen:  über  das  letzte  Ziel 
oder  höchste  Gut  des  Lebens  —  es  wird  bestimmt:  agnoscere  Beum 
et  ejus  gloriam  patefacere  —  mit  historisch-kritischen  Erörterungen 
über  die  Absichten  des  Aristoteles,  Epikurs  und  der  Stoa,  über  Wesen 
und  L^rsprung  der  Tugend,  über  Willensfreiheit,  über  die  Affekte.  Das 
zweit«  Buch  behandelt  die  Rechtsphilosophie,  mit  ausführlicher  Er- 
örterung einiger  damals  lebhaft  verhandelter  Zeit-  und  Streitfragen, 
z.  B.  ob  die  Fürsten  Gewalt  in  Religionssachen  haben?  was  bejaht 
wird:  sie  sind  schuldig,  „die  gottlosen  Kulte  abzuthun  und  darauf  zu 
halten,  daß  die  wahre  Lehre  in  der  Kirche  getrieben  und  rechter 
Gottesdienst  angerichtet  wird."  —  An  die  systematischen  Darstellungen 
schließen  sich  die  Kommentare  zur  aristotelischen  Ethik  und  Politik, 
und  zu  Ciceros  Pflichtenlehre. 

Man  wird  sagen  dürfen,  daß  dieser  philosophische  Unterricht  dem 
Bedürfnis  der  Zeit  wohl  angemessen  war:  es  sind  übersichtliche,  faß- 
liche, mit  Beispielen  gut  ausgestattete,  durch  Beziehung,  auf  alle  Zeit- 
fragen das  Interesse  der  Zeit  erregende  Darlegungen.  Daß  es  nicht 
voraussetzungslose  Untersuchungen  sind,  hat  Melanchthon  kein  Hehl: 
sie  sind  begrenzt  und  gebunden  durch  die  Kirchenlehre,  sie  giebt  die 

17* 


260    Ily  4,    Gestalt  u,  Unterrichtsbetrieb  der  prot.  Universitäten  um  1580. 


letzten  Entscheidungen  in  Metaphysik  und  Moral.  Hierin  unterscheidet 
sich  die  neue  Schulphilosophie  nicht  im  mindesten  Ton  der  alten. 
Ebenso  gleicht  sie  der  scholastischen  Philosophie  in  der  Anlehnung 
an  den  Aristoteles  in  den  Stücken,  wo  die  Vernunft  selbständig  ent- 
scheidet, sowie  in  der  Anschauung,  daß  die  Aufgabe  der  Philosophie 
ist:  der  Theologie  zu  dienen. 

Immerhin  bildete  der  philosophische  Kursus,  wie  er  hier  vorliegt, 
eine  unverachtliche  Schule  der  Philosophie  und  der  Wissenschaften, 
Es  fehlt  kein  wesentliches  Stück,  das  zur  Orientierung  in  den  Fragen 
der  Welt  und  des  Lebens  dienlich  ist.  Ohne  Zweifel  kann  unsere 
Zeit,  was  die  Vollständigkeit  des  allgemein- wissenschaftlichen  Vor- 
bereitunpunterrichts  anlangt,  mit  dem  hier  Gebotenen  sich  nicht 
messen;  Logik,  Metaphysik,  Ethik  bleiben  heutzutage  einer  sehr  großen 
Zahl  unserer  Studierenden  völlig  fremde  Dinge,  sie  kommen  weder  auf 
der  Schule  noch  auf  der  Universität  in  ihren  Gesichtskreis. 

Auch  in  der  Form  des  Unterrichts  hat  eine  wesentliche  Änderung 
nicht  stattgefunden.  Die  Vorlesungen  sind  geblieben,  die  Disputa- 
tionen wieder  hergestellt;  an  sie  schließen  sich  als  neue  Übung  die 
Deklamationen. 

Akademische  Vorlesungen  können  entweder  die  Form  des  systema- 
tischen Vortrags  einer  Wissenschaft  oder  die  Form  der  Erklärung  eines 
Textbuches  haben.  Wie  es  scheint,  war  zu  jener  Zeit  eine  Kombination 
beider  Verfahrungsweisen  das  gewöhnlichste.  Eegelmäßig  wurde  der 
Vorlesung  ein  Textbuch  zu  Grunde  gelegt,  den  philosophischen  ent- 
weder eines  der  modernen  Kompendien,  z.  B.  von  Melanchthon  oder 
Stukm,  so  namentlich  für  die  Anfänger,  oder  es  wurden  die  aristote- 
lischen Schriften  selbst  gebraucht,  und  zwar  diese  wieder  entweder  in 
einer  der  neueren  Übersetzungen  oder  Paraphrasen,  oder  im  griechi- 
schen Text;  das  letztere  wurde  wenigstens  für  die  Kurse  der  Magistranden 
wohl  als  Begel  festgehalten.  Doch  wird  auch  hier  die  Kenntnis  der 
griechischen  Sprache  bei  den  meisten  Hörern  schwerlich  zu  selbständigem 
Lesen  des  Textes  ausgereicht  haben;  der  Lehrer  gab  eine  Übersetzung 
oder  ging  überhaupt  nur  bei  einzelnen  Ausdrücken  und  Hauptstellen 
auf  den  Urtext  zurück.  Solche  Anlehnung  an  einen  Text  hinderte 
aber  nicht  dazwischen  den  zusammenhangenden  Vortrag.  Es  wurden 
die  einzelnen  loci  herausgehoben,  Erklärungen  und  Beweise  für  die 
Hauptsätze  gegeben,  Fragen  und  Einwendungen  erörtert:  es  handelte 
sich  eben  nicht  um  philologische  Auslegung  des  Textes,  sondern  um 
Darbietung  des  sachlichen  Inhalts.  Aus  J.  Schegks  Vorlesung  über 
die  erste  Analytik  —  sie  dauerte  mit  wöchentlich  vier  Stunden  vom 
26.  November    1565   bis   zum    10.  November    1567  —  hat   sich   die 


Die  Form  der  Vorlesungen,  261 


Nachschrift  eines  Hörers,  seines  Kollegen  M.  Crusius,  zu  Tübingen 
erhalten,  die  Wort  für  Wort  den  Vortrag  wiedergiebt,  so  daß  auch  das: 
dictaho,  scribite!  nicht  fehlt.  Sigwart  hat  daraus  eine  Probe  ver- 
öffentlicht.^ Er  charakterisiert  die  Lehrart  so:  „Die  Vorlesung  besteht 
in  einer  Erklärung  der  aristotelischen  Schrift  von  Satz  zu  Satz;  die 
Zuhörer  haben  den  griechischen  Text  vor  sich,  sie  sollen  ihn  verstehen 
lernen,  nicht  bloß  nach  dem  Wortsinn,  sondern  dadurch,  daß  die  Sätze 
durch  zahlreiche  Beispiele  erläutert  werden,  die  zum  größeren  Teil 
aus  Aristoteles  und  Piaton,  außerdem  aber  aus  den  verschiedensten 
Wissensgebieten,  besonders  der  Medizin,  herangezogen  werden.  Wo  es 
nötig  ist,  giebt  er  vorläufig  orientierende  Übersichten  über  die  zu 
lesenden  Kapitel;  bei  leichteren  Abschnitten  begnügt  er  sich  eine  zu- 
sammenfassende Eeproduktion  des  Inhalts  zu  diktieren  und  überläßt 
den  Zuhörern,  den  Text  für  sich  zu  lesen.  Dabei  werden  die  Zuhörer, 
besonders  die  Anfanger,  zu  fleißiger  Wiederholung  und  eigenen  Übungen 
in  logischen  Operationen  ermahnt"  Die  Erklärung  ist  breit,  in 
schlichtestem,  läßlichem  Latein,  oft  untermischt  mit  deutschen  Wen- 
dungen. Wiederholungen  sind  häufig,  sie  werden  schon  dadurch  not- 
wendig, daß  die  Vorlesung  zwei  Jahre  dauert  (das  ganze  Organen  ist 
in  vier  Jahren  noch  nicht  vollendet),  und  daher  beständig  neu  an- 
kommende Zuhörer  eintreten.  Daß  ein  Beldenmut  erforderlich  war, 
um  vier  oder  mehr  Jahre  in  einer  solchen  Vorlesung  auszuhalten,  wie 
der  Herausgeber  bemerkt,  das  wird  angesichts  dieses  Textes  heutzutage 
gewiß  die  allgemeine  Empfindung  sein. 

Einen  nicht  uninteressanten  Einblick  in  den  Vorlesungsbetrieb  läßt 
auch  eine  gleichzeitige  Verhandlung  thun,  die  zwischen  der  Regierung 
und  den  Professoren  der  eben  gegründeten  Universität  Jena  stattfand. 
Der  Kanzler  Brück  hält  in  einem  Schreiben  vom  Jahre  1556  (ab- 
gedruckt bei  Kius,  Stipendiatenordnung,  138)  ihnen  vor,  es  sei  not- 
wendig, „daß  die  Lektionsstunden  nicht  allein  mit  Diktieren,  sondern 
auch  ordentlichem  und   mündlichem  Explizieren,  zuvörderst  aber  mit 


*  Ein  Coüegium  logicum  im  16.  Jahrhundert  Tübinger  Universitftts- 
Schriften  1890.  —  In  einer  von  Prof.  Cellius  veröffentlichten  Sammlang:  Imagines 
Professorum  Tubing,  (1596),  die  Porträts  mit  Lebensläufen  in  lateinischen  Versen 
enthält,  kommen  auf  unsem  Schede  unter  andern  folgende  Verse  vor,  die  die 
Einheit  der  philosophischen  Bildung  in  jener  Zeit  umschreiben: 

Proh  quantus  Logicus?  qtmnhis  Metaphysictis?  idem 

HistoricuSf   Vates  Oraecus  et  Ausontus? 
Quam  boniM  Oratorj  quantusqtte  Geometra?  Quantus 

Schegkius  Ästronomus?  quantus  Arithmeiieus? 
Omnia  ceu  veteres  dixemnt  Schegkius  octo: 
Omne  opus  evolmtf  Philosophia^  tuu?n. 


262    //,  4,    Gestalt  u.  Unierrichtsbetrieb  der  prot.  Universitäten  um  1580. 


öflfentlichem  Examinieren  der  Stipendiaten  und  wie  ein  jeder  die 
nächsten  zuvor  abgehorten  lectiones  verstanden  habe,  zugebracht  werden. 
Ein  altes  Wort  sage:  Lectio  audita  et  non  repetita  est  quasi  nuUa,^^ 
Die  Professoren  erwidern  etwas  pikiert,  daß  sie  „den  Weg  zu  rechter 
Institution  im  göttlichen  Wort  und  zum  Anfang  der  Sprachen  und 
Künste  richtig  und  gründlich  weisen,  denselben  auch  dermaßen  ex- 
pliziert und  inculciert,  daß  wir  Zeugnis  unseres  Fleißes  aus  den  Anno- 
taten, welche  die  Scholares  von  uns  excipiert,  zu  erlangen  verhoflFen." 
Daß  aber  etliche  bloß  diktierten,  geschehe  „von  wegen  der  Materie 
und  auch  der  Zuhörer:  als  mancher  arme  Gesell  hört  seine  theologicas 
und  physicas  lectiones,  dem  besser  wäre,  er  hörte  etwas  Geringeres. 
Er  thut  es  aber  darum,  dieweil  er  lange  nicht  dabei  sein  kann,  sondern 
sich  zu  Kirchen-  oder  Schuldienst  begeben  muß,  daß  er  auch  einen 
Vorrat  habe,  daraus  er  außerhalb  der  öffentlichen  Schulen  lerne  seine 
Leute  zu  unterrichten."  Sie  bäten  deshalb  ihnen  diese  Weise,  welche 
auch  auf  anderen  Universitäten  gebräuchlich,  zu  lassen.  —  Was  end- 
lich das  Examinieren  vor  jeder  Stunde  anlange,  so  würde  das  dem 
Professor  die  Arbeit  erleichtem,  „sintemalen  auf  eine  Stunde  mit 
Lesen  und  Explizieren  mehr  gethan  wird,  denn  auf  drei  Stunden  mit 
Frag  und  Antwort"  Doch  fürchten  sie,  „daß  solch  Examen  dem 
ganzen  corpori  der  studierenden  Jugend  nicht  wolle  dienlich  sein". 
Denn  „dieweil  man  die  Zeit  mit  den  Stipendiatis  zubringen  müsse, 
würde  den  andern  Auditoren  die  Zeit  unfruchtbar  hinweggehen,  nicht 
ohne  Verdrieß  und  Widerwillen.  Femer  würde  daraus,  da  solche 
P^amina  auf  andern  Akademien  nicht  bräuchlich,  contempfus  dieser 
Schule  folgen.  Freilich  examiniere  Melanchthon  in  etlichen  Lektionen 
doch  nur,  wie  er  selbst  sage,  zu  Erholung  seiner  selbst,  wenn  er,  von 
andem  Geschäften  abgemattet,  sich  auf  die  Lektion  nicht  resolviert 
habe;  auch  thue  er  es  nicht  in  den  wichtigen  Lektionen,  sondern  nur 
in  den  exercitiis  rhetoricis  et  dialecticis.^  Derartige  Repetitionen 
müssen  Privatpräzeptoren  überlassen  werden,  oder  fromme  Wohnungs- 
gesellen möchten  mit  einander  repetieren".  Und  auf  wiederholtes 
Dringen  fügen  sie  hinzu:  ein  derartiges  Examinieren  werde  nicht  nur 
die  Zeit  für  die  Lektionen  um  die  Hälfte  verkürzen,  sondern  die  Uni- 
versität werde  auch  „als  Pädagogium  ausgeschrien  und  also  die  studie- 
rende Jugend  sich  anher  zu  begeben  abgehalten  werden;  wie  denn  vor 
etzlichen  Jahren  der  Universität  zu  Marburg  geschehen;  denn  sobald 


*  Denselben  Brauch  Melanciithons  erwähnt  auch  Camerariüs  in  der  Vita  M. 
S.  61.  In  den  Jesuitenkollegien  schließt  sich  an  die  Vorlesung  Colloquium  und 
Repetition. 


Äußere  Ordnung  der  Vorlesungen,  263 


das   examen  publicum   vor   die  Hand   genommen,   ist  die  Universität       ( 
dissipiert  worden.     Auch   sind  viele  Materien,   welche   in   quaestiones 
nicht  wohl  können  gefaßt  werden,  sondern  eine  perpetuitatem  sermonis 
erfordern," 

Über  die  äußere  Ordnung  der  Vorlesungen  füge  ich  noch  dies 
hinzu.  Die  angestellten  und  besoldeten  Professoren  sind  verpflichtet, 
jeder  sein  Fach  regelmäßig  in  öffentlichen  Vorlesungen  und  den  öffent- 
lichen Lektorien  zu  lehren,  meist  vier  Stunden  wöchentlich.  Diese 
öffentlichen  Vorlesungen  sind  allen  Studierenden  ohne  weiteres  zu- 
ganglich, es  findet  weder  Honorarzahlung  noch  auch  Inskription  dafär 
statt,  wie  aus  dem  oben  (S.  242)  angeführten  Bericht  der  Heidelberger 
hervorgeht.  Die  öffentlichen  Vorlesungen  bilden  andererseits  für  die 
Studierenden,  die  sich  die  Grade  erwerben  wollen,  einen  vorgeschriebe- 
nen Pflichtkursus.  Bei  den  Stipendiaten  wird  wohl  auch,  wie  aus  Jena 
berichtet  ist,  der  Besuch  kontrolliert.  Die  Dauer  der  Vorlesung  ist 
nicht,  wie  jetzt  üblich  ist,  auf  ein  Semester  beschränkt ,  die  ganze  Se- 
mestereinteilung ist  dem  16.  Jahrhundert  noch  fremd;  jeder  liest,  bis 
er  fertig  ist,  und  beginnt  dann  ein  neues  Kolleg  oder  fangt  von  vorne 
an.  Man  sehe  das  Vorlesungsverzeichnis  Melanchthons  und  nehme 
die  Anschläge,  mit  denen  er  sie  ankündigt,  hinzu;  die  Ankündigungen 
sind  aus  allen  Monaten  des  Jahres  datiert.  Neben  diesen  öffentlichen 
Vorlesungen  erteilen  die  Lehrer,  besonders  die  jüngeren,  nach  Gelegen- 
heit und  Bedarf  auch  Privatunterricht;  dieser  ist  dann  aber  reine 
Privatsache,  er  findet  nicht  in  den  öffentlichen  Lektorien,  sondern  in 
der  Wohnung  statt  und  wird  natürlich  von  denen,  die  ihn  nehmen, 
honoriert.  Das  Verhältnis  ist  ein  ähnliches,  wie  es  gegenwärtig  an 
unsern  Schulen  zwischen  den  Schulstunden  und  dem  Privatunterricht 
stattfindet.  Als  ein  Mittleres  zwischen  dem  öffentlichen  und  dem  Privat- 
unterricht findet  sich  daneben  gelegentlich,  daß  von  der  Universität 
oder  der  Regierung  eine  bestimmte  Vorlesung  über  ein  Fach  oder 
einen  Autor  einem  jüngeren  Magister  auf  bestimmte  Zeit  gegen  Ge- 
halt übertragen  wird.  Vermutlich  waren  die  Hörer  damit  von  der 
Zahlung  befreit. 

Eine  immer  wiederkehrende  Beschwerde  der  Aufsichtsbehörde  und 
nicht  selten  auch  der  Studierenden  ist,  daß  die  Professoren  so  geneigt 
seien,  die  öffentlichen  Vorlesungen  häufig  auszusetzen.  Vor  allem  wird 
über  die  Mediziner  und  auch  über  die  Juristen  viel  geklagt,  daß  sie 
der  Praxis  nachgingen  und  den  akademischen  Unterricht  vernach- 
lässigten. Doch  fehlt  die  Sache  ebensowenig  in  den  beiden  andern 
Fakultäten.  Dem  Prof.  Schegk  in  Tübingen  können  wir  an  der  Hand 
der  soeben  erwähnten  Nachschrift  seiner  Vorlesung  über  das  Organen 


264    II,  4,    QestaU  u.  Unterrkhtsbetrieb  der  prot,  Universitäten  um  1580. 


die  ausgefallenen  Stunden  noch  nachrechnen:  er  hat  das  vierstündige 
Kolleg  in  den  16  Wochen  von  November  bis  Ostern  1566  nur  in 
6  Wochen  wirklich  viermal  gelesen,  in  8  Wochen  dagegen  je  einmal, 
in  2  Wochen  zweimal  ausgesetzt  In  den  16  Wochen  des  Sommers  1566 
hat  er  nur  in  7  Wochen  viermal  gelesen,  dagegen  in  4  Wochen  ein- 
mal, in  3  Wochen  zweimal  und  in  2  sogar  dreimal  ausgesetzt.  Die 
Aussetzungen,  die  im  zweiten  Jahr  der  Vorlesung  noch  häufiger 
werden,  finden  ganz  unregelmäßig  und  ohne  allen  erkennbaren  Grund 
statt;  sie  scheinen  nicht  einmal  den  Hörern  vorher  mitgeteilt  worden 
zu  sein.  Und  doch  war  dies  Kolleg  offenbar  ein  sehr  geschätztes  und 
gut,  selbst  von  Kollegen,  besuchtes.  Man  sieht,  wie  stark  der  An- 
trieb, die  Professur  in  eine  Sinekure  zu  verwandeln,  doch  auch  damals 
gewesen  ist.  Es  ist  dies  die  Ursache,  daß  seit  dem  18.  Jahrhundert 
die  honorierten  Privatkollegien  die  Publica  so  sehr  zurückgedrängt 
haben:  auch  eine  Lehre  der  Geschichte,  die  bei  der  Frage  der  Honorar- 
zahlung nicht  außer  acht  gelassen   werden  sollte. 

Auch  die  Ferien  sind  aus  der  Na<5hschrift  ersichtlich :  sechsmal  im 
Jahr  findet  eine  größere  Unterbrechung  der  Vorlesungen  statt:  zu 
Weihnachten  etwa  272  Wochen,  Fastnacht  1,  Ostern  2,  Pfingsten  P/g, 
Hundstage  5,  Michaelis  4 — 5,  zusammen  16 — 17  Wochen. 

Das  zweite  Stück  der  akademischen  Lehrthätigkeit  sind  die  Dis- 
putationen; sie  sind  auch  an  den  protestantischen  Universitäten  fest- 
gehalten, oder  wo  sie  unter  der  Einwirkung  des  Humanismus  einge- 
gangen waren,  wiederhergestellt  worden.  Die  Bedeutung  der  Disputation 
ist  dieselbe,  wie  im  Mittelalter:  sie  dient  der  Einübung  der  Lehre 
und  der  Erprobung  der  Schüler  und  auch  der  Lehrer.  Die  Heidel- 
berger Statuten  von  1558  lassen  Absicht  und  Betrieb  besonders  deut- 
lich erkennen.  Der  Zweck  der  regelmäßigen  Disputationen,  die  in  der 
Artistenfakultät  alle  Samstag  gehalten  werden  sollen,  ist  nach  ihnen: 
das  was  durch  Lesen  und  Hören  dem  Verstand  und  Gedächtnis  ein- 
gebildet ist,  durch  Gebrauch  und  Übung  zu  befestigen.  Die  Form  ist 
folgende.  Der  Dekan  bestimmt  etwa  14  Tage  vorher  den  Magister, 
der  zu  präsidieren  hat.  Dieser  verfaßt  dann  aus  jeder  der  philo- 
sophischen Disziplinen,  Grammatik,  Dialektik,  Rhetorik,  Ethik,  Physik, 
Mathematik  „eine  Thesis  oder  Quästion,  die  da  disputabilis  sei,  und 
neben  denselben  auch  ein  gemein  problema  oder  Fragestück,  dergleichen 
bei  dem  Aristotele,  Plutarcho,  Alexandra  Aphrodisseo  und  andern  von 
allerlei  Materien  gefunden  werden,  in  kurze  verständliche  propositiones^^, 
und  übergiebt  sie,  nachdem  sie  dem  Dekan  vorgelegt  sind,  je  eine 
einem  besonderen  Respondenten,  die  ersten  drei  (aus  Grammatik,  Dia- 
lektik,  Rhetorik)   Baccalarianden,   die  letzten   drei   Magistranden,   bei 


Die  Disputationen.  265 


guter  Zeit,  ^^damit  sie  sich  darüber  zu  belesen  haben'^  Dann  werden 
sie  an  der  Thür  des  Artistenauditoriums  angeschlagen,  ,,damit  sie  ab- 
geschrieben werden  und  die  Argumentanten  sich  darauf  rüsten  mögen." 
Bei  der  Disputation  selbst  soll  dann  der  Präses  nach  altem  Brauch 
zuerst,  ehe  die  Argumentanten  da  sind,  „die  Thesis  für  sich  selber  in 
utramque  partem  deduzieren,  alle  objectiones  so  nach  seiner  Meinung 
dagegen  aufgebracht  werden  mögen,  präoccupieren  und  ablehnen,  auch 
mit  seinen  Respondenten  selber  disputieren."  In  der  dann  beginnen- 
den Disputation  sollen  „die  magistri  argumentantes  sich  aller  Zucht  und 
Mäßigkeit  gebrauchen,  ihre  Argumente,  die  rechtschaffen  und  gegrün- 
det sein  sollen,  mit  bescheidenen,  verständlichen  und  friedlichen  Wort.en 
vorbringen  und  nicht  zänkischer,  höhnischer  Weise,  wie  die  Badermägde, 
einer  den  andern  zu  Zorn  und  Unlust  verreizen,  sondern  dem  Zuhörer 
und  dessen  Nutzen  zu  dienen  sich  befleißen".  Die  Aufgabe  der  Respon- 
denten, die  der  Präses  sich  selber  mitbringt  —  nur  wenn  er  keine 
hat,  werden  sie  ihm  vom  Dekan  aus  denen,  die  zu  den  gradibus  kom- 
plieren,  gestellt  —  ist  nun  die,  „die  objectiones  zu  dissolvieren;"  nur 
wenn  er  selbst  damit  nicht  zustande  kommt,  tritt  der  Präses  für  ihn 
ein  und  giebt  ihm  freundliche  Anweisung  die  fürgebrachten  argumenta 
zu  widerlegen.  Über  die  Respondenten  führt  der  Dekan  ein  Register. 
Neben  diesen  öffentlichen  Disputationen  finden  für  die  jüngeren  be-l 
sondere  Übungen  (am  Mittwoch)  im  contubemium  statt.  (Thorbeoke, 
Stat.,  106  ff.). 

Auch  in  den  oberen  Fakultäten  finden  Disputationen  statt,  allerdings 
seltener.  Die  Theologen  sollen  in  jedem  halben  Jahr  eine  disputatio 
ordinaria  halten.  Der  Präses  soll  aus  seiner  Vorlesung  etliche  kurze 
proposiäones  fassen,  und  diese,  nach  Billigung  durch  Dekan  und  con- 
silium  facultatis,  einem  seiner  ältesten  Auditoren  befehlen,  sie  „gleich  als 
repetierender  Weise  zu  verantworten  und  verfechten."  Diese  ordentlichen 
Disputationen  werden  dem  Präses  mit  1  fl.  honoriert,  wogegen  dem  Respon- 
denten keine  Beschwerde  daraus  erwachsen  darf.  „Mit  den  andern  Dispu- 
tationen oder  Repetitionen  aber,  so  von  den  Promovenden  extraordinarie 
und  pro  gradu  gehalten  werden,  lassen  wir  es  bei  dem  alten  Brauch."  ^ 

^  Thorbecke,  Statuten,  44.  Man  vergleiche  auch  die  eingehenden  Be- 
stimmungen über  die  Disputation  in  dem  Entwurf  der  Ratio  Siudiorum  der 
Jesuiten  von  1586  (bei  Pachtler,  II,  100ff.)>  Vor  allem  wird  hier  auch  die 
Strenge  in  der  logischen  Form  gefordert:  aberrare  ab  argumentandi  forma 
eorum  esty  qui  ftigere  nialunty  quam  pugnare.  Interessante  Mitteilungen  aus 
dem  englischen  Universitätsunterricht  in  Schmus  Geschichte  der  Erziehung, 
III,  1,  275  ff.  Man  sieht  hier  gut,  wie  die  Vorlesung  die  Disputation  vorbereitet, 
indem  sie  den  Inhalt,  es  handelt  sich  um  die  nikomachische  Ethik,  in  Sätze 
faßt,  dann  argumenta  beibringt  und  solutionea  des  Respondenten  folgen  läßt  Ein 


266    //,  4,    Gestalt  u,  Untcrrichtshetrieh  der  prot.  Universitäten  um  1580. 


Man  sieht,  die  Disputationen  dienen  zur  Repetition  des  Stoffs  und 
zur  Übung  in  seiner  Anwendung  für  die  Hörer,  die  teils  aktiv  als 
Respondenten,  teils  passiv  als  Zuhörer  dabei  sind,  femer  zur  Prüfung 
der  Promo venden ,  die  dabei  ihre  Kenntnisse  und  ihr  Geschick  auf- 
zeigen können,  endlich  auch  zur  Kontrolle  für  die  Professoren ,  einmal 
insofern  sie  sehen,  wie  ihre  Schüler  das  Vorgetragene  verstanden  und 
verarbeitet  haben,  sodann  aber  auch  insofern,  als  sie  selber  als  Präsiden 
mit  ihren  Schülern  sich  den  Kollegen,  die  argumentieren  und  fragen^ 
vorstellen  und  ihnen  über  ihre  Lehre  Rede  stehen.  Ohne  Zweifel  sind 
derartige  Übungen,  so  lange  sie  möglich  und  lebendig  waren,  von  be- 
deutendem Wert  gewesen;  sie  mußten  eine  Sicherheit  und  Gegenwärtig- 
keit des  Wissens  und  eine  Schlagfertigkeit  in  der  Argumentation  her- 
vorbringen, wie  sie  heute,  wo  unser  Wissen  in  Büchern  und  Papier 
steckt,  selten  vorkommen  wird.  Daß  sie  ein  unbequemes  Stück  des 
Lehrauftrags  waren,  wird  nicht  minder  gewiß  sein.  Man  denke  sich, 
es  sollten  heutzutage  unsere  Theologen  und  Philosophen  vor  einer 
Corona  von  Kollegen  den  Inhalt  ihres  Vortrags  in  solcher  Weise  durch- 
disputieren. 

Wie  die  Disputationen  den  philosophischen  Unterricht  begleiten, 
so  begleiten  die  Deklamationen  den  grammatisch-rhetorischen  Unter- 
richt und  die  Lektüre  der  Schriftsteller.  Sie  sind  wie  die  Lektüre, 
eine  Neuerung  des  Humanismus,  oder,  so  kann  man  auch  sagen,  die 
Wiederaufnahme  der  Übungen  in  den  antiken  Rhetorenschulen.  In 
Wittenberg  hat  Melanchthon  sie  eingeführt;  es  wird  berichtet,  daß 
im  Jahre  1 524  er  mit  W.  Neben  den  Beginn  dieser  Übungen  gemacht 
habe  mit  einer  Rede  pro  juris  studio,  der  Nesen  am  folgenden  Tage 
mit  einer  Rede  contra  juris  Studium  antwortete  (Hartfelder,  MeL 
Paed.  128).  Nach  den  Statuten  von  1536  finden  dort  abwechselnd 
Woche  um  Woche  Disputationen  und  Deklamationen  statt  Die  Heidel- 
berger Statuten  von  1556  ordnen  Deklamationen  für  die  Baccalarien 
an,  sie  sollen  jeden  andern  Mittwoch  in  der  Burse  stattfinden.  Eine 
;  Vorübung   dafür  wird   den  jüngeren   vorgeschrieben:   ihnen   soll    der 


großes  Schaustück  einer  öffentlichen  Disputation  in  Gegenwart  und  z.  T.  unter 
dem  Präsidium  des  Königs  Jakob  I.  (im  Jahre  1605)  ebendort  S.  297  ff.  Theo- 
logische Thesen  waren:  Die  Heiligen  und  die  Engel  kennen  die  Gedanken  der 
Herzen  nicht.  Bei  einer  Pest  sind  die  Kirchenhirten  nicht  gehalten,  die 
Kranken  zu  besuchen.  Medizinische  Quästionen:  Nehmen  die  Kinder  mit  der 
Milch  auch  den  Charakter  der  Amme  an?  Ist  das  Rauchen  der  Kicotinpflanze 
zuträglich?  Der  König  entschied  mit  Nein,  mit  vielen  guten  Gründen.  Ebenso 
die  philosophische  Quästion:  Kann  man  Gold  künstlich  machen?  Vgl.  auch 
£.  UoKN,  Die  Disputationen  und  Promotionen,  Beihefte  zum  Ceutralbl.  für 
Bibliothekswesen,  XI  (1803). 


Die  Deklamationen.  267 


Regent,  der  der  Grammatik  vorsteht,  jede  andere  Woche  „ein  Argu- 
ment, beides  zu  Versificieren  und  in  soluta  aratione  zu  begreifen,  fur- 
geben".  Man  sieht  die  Bedeutung  der  Sache:  es  ist  die  Übung,  die 
zu  der  Kegel  und  dem  Beispiel  hinzutritt.  PrcLeceptum^  exemplum, 
imitatio,  das  sind  nach  dem  einstimmigen  Urteil  der  Zeit  die  drei 
Dinge,  die  im  Unterricht  zusammenwirken  müssen:  praecepta  dicendi 
geben  Grammatik  und  Rhetorik,  dazu  auch  die  Dialektik;  exempla 
bieten  die  alten  Schriftsteller;  imitatio  oder  exercitatio  ist  das  dritte, 
was  dazu  kommen  muß,  soll  der  Erfolg  des  Unterrichts  gesichert  wer- 
den, ihr  dient  die  schriftliche  Übung  in  Aufsatz  und  Versifikation, 
wozu  in  der  declamatio  noch  der  Vortrag  kommt.  —  Ich  komme 
hierauf  sowie  auf  die  Behandlung  der  Schriftsteller  im  Universitäts- 
Tortrag  später,  im  Zusammenhang  mit  der  Schullektüre,  zurück. 

Aus  allem,  was  über  den  Unterricht  in  der  philosophischen  Fakul- 
tät gesagt  ist,  geht  hervor,  wie  weit  er  von  dem  heutigen  Betrieb  in 
den  philologischen  und  wissenschaftlichen  Disziplinen  entfernt  ist.     Es 
handelt  sich  auf  keine  Weise  um  Anleitung  zu  wissenschaftlicher  For- 
schung, sondern  um  allgemeine  Schulung  des  Verstandes,  wie  wir  sie  jetzt 
dem  Gymnasium  als  Aufgabe  zuweisen.    Die  philosophische  Fakultät 
ist  im  16.  Jahrhundert  genau  noch  das,   was  sie  im  Mittelalter  war: 
das  mit   der  Universität   verbundene   Obergymnasium.    In   den   eng- 
lischen und  amerikanischen  Colleges  hat  sich  diese  Einrichtung  bis  auf! 
den  heutigen  Tag  erhalten;   in  Deutschland   hat   sich   allmählich   die  ^ 
Loslösung  der  allgemein-wissenschaftlichen  Studien  von  der  Universität,  / 
ihre   Verbindung   mit   der   Lateinschule    zum   Gymnasium   vollzogen  ;J 
vollendet  ist  diese  Umgestaltung   erst   im  19.  Jahrhundert,   wobei   es 
denn  geschehen  ist,  daß   die  philosophischen  Disziplinen    im   engeren 
Sinn,  Logik,  Psychologie,  Ethik,  überhaupt  aus  dem  Kursus  des  gelehr- 
ten Unterrichts  ausgefallen  sind. 

Der  Charakter  des  Unterrichts  kommt  auch  in  der  Geltung  der 
Lehrer  zur  Erscheinung.  Die  Professoren  der  philosophischen  Fakultät 
stehen  in  der  Schätzung  unten  an;  während  die  Professoren  der  oberen 
Fakultäten  neben  den  geistlichen  und  weltlichen  Ämtern  stehen,  mit 
denen  sie  sich  auch  kombiniert  finden,  sind  die  Artisten  nächst  ver- 
wandt mit  den  Schullehrern,  wie  denn  auch  der  Übergang  aus  der 
artistischen  Fakultät  an  die  Schule  häufig  ist,  man  denke  an  Eobanus, 
MiCYLLUs,  Frischlin,  Rhodomax,  die  alle  noch  in  höherem  Alter  von 
der  Universität  wieder  in  eine  besser  dotierte  Rektorstellung  übergehen; 
so  übernahm  Rhodoman  im  Alter  von  52  Jahren,  nachdem  er  7  Jahre 
Professor  der  griechischen  Sprache  und  Geschichte  zu  Jena,  auch  Rek- 
tor der  Universität  gewesen,  1598  das  Rektorat  der  Stralsunder  Schule. 


268  II,  5.  Die  Neuhegrüfidung  d.  Gdshrtenschulwesens  in  den  prot.  Gebieten. 


Die  Thätigkeit  an  beiden  Orten  gilt  als  gleich  mühselig,  desudare  in 
pulvere  scholastico  ist  herkömmlicher  Ausdruck.  Der  Freiburger  Pro- 
fessor J.  Härtung,  ein  nicht  unbedeutender  Gräcist,  der  1579  nach 
mehr  als  dreißigjährigem  Lehramt  starb,  schrieb  sich  selber  die  Grab- 
schrift, die  man  noch  heute  auf  seinem  Denkmal  im  Freiburger 
Dom  liest: 

IloXka  xaficjv  xai  noXka  nad-(ov  iv  TiaiSoSiSatrxetv 
'Evd-aSe  wv  xeifAai  trw  i)-eq)  ii(TvxiO<i^ 

Mblanchthon  empfindet  seine  Stellung  nicht  anders.  Er  spricht 
oft  von  der  Niedrigkeit  des  Schullebens,  worin  er  trotz  allem  ausge- 
halten habe.  Von  allen  Seiten  werde  diese  Arbeit  geringgeschätzt: 
„wir  erleiden  die  hochmütigste  Verachtung,  nicht  bloß  von  den  Un- 
kundigen, den  Kaufleuten,  den  Verächtern  aller  Bildung,  sondern  auch 
von  jenen  Halbgöttern,  die  an  den  Höfen   regieren"   (C.  R.  XI,  299). 


Fünftes  Kapitel. 

Die  Neubegründung  des  Gelehrtenschulwesens  in  den 

protestantischen  Gebieten. 

Ich  will  in  diesem  Kapitel  versuchen  eine  historisch-statistische 
Übersicht  über  die  Gründung  von  Gelehrtenschulen  im  Gebiet  des 
Protestantismus  zu  geben,  freilich  nur  einen  Überblick,  auf  Voll- 
ständigkeit wird  kein  Anspruch  gemacht,  und  statistisch  nur  in  dem 
Sinne,  daß  die  einzelnen  Hauptgebiete  erwähnt  werden. 

Es  ist  oben  (im  zweiten  Kapitel)  gezeigt  worden,  wie  Luther  die 
Errichtung  und  Erhaltung  von  Schulen  der  weltlichen  Obrigkeit  dringend 
zur  Pflicht  macht;  ja  wie  er  sogar  den  Schulzwang  fordert  und  einer 
Art  Aushebung  für  die  Studien  und  gelehrten  Berufe  das  Wort  redet 

In  der  That  sind  die  Dinge  diesen  Weg  gegangen.  Der  hervor- 
tretende Charakterzug  dieser  Epoche  ist  das  Eingreifen  der  Obrigkeit 
oder,  wie  wir  sagen,  des  Staates  in  das  Schulwesen.  Zuerst  sind 
es  einzelne  Städte,  die  Schulen  gründen  und  einrichten.  Seit  der 
Konsolidierung  der  protestantischen  Landeskirchen  beginnen  auch  die 
Landesherren  der  Sache  sich  anzunehmen;  es  werden  mit  und  in  den 
Kirchenordnungen  zugleich  Schulordnungen  für  das  Land  erlassen 


*  Dieselben  Verse  werden  übrigens   auch   M.  Neaxder  als  seine   selbst- 
gemachte Grabschrift  beigelegt,  Havkmann,  S.  44. 


Magdeburg  (1524),  Eislebm  (1525).  269 


und  endlich  auch  staatliche  Gelehrtenschulen  gegründet.  Die 
ersten  vom  Staate  gegründeten  und  unterhaltenen  Gelehrtenschulen 
sind  die  sächsischen  Fürstenschulen,  von  Kurfürst  Moritz  1543 
errichtet,  ein  Epoche  machendes  Datum  in  der  Schulgeschichte. 

Ich  verfolge  nun  den  Verlauf  im  einzelnen,  beginnend  mit  den 
von  Wittenberg  aus  angeregten  Gründungen. 

Vielleicht  die  erste  protestantische  Schulgründung  ist  die  durch 
Zusammenlegung  älterer  Parochialschulen  zu  Magdeburg  1524  er- 
richtete Stadtschule,  anfangs  in  der  Stephanskapelle,  dann  in  dem 
Augustiner-  und  später  im  Franziskanerkloster.  Melanchthon  war 
bei  der  Eröffnung  zugegen ;  ihre  ersten  Rektoren  waren  die  Wittenberger 
C.  Cbuoigeb  und  dessen  Nachfolger  G.  Majob.  (Neue  Jahrbücher  für 
Phil,  und  Pädag.  CXXX,  516  fif.)  —  Besser  als  über  ihre  Einrichtungen 
sind  wir  über  diejenigen  von  zwei  alsbald  folgenden  Neugründungen 
unterrichtet:  Eisleben  und  Nürnberg.  Die  Grafen  von  Mansfeld 
beriefen  im  Frühjahr  1 525  Lutheb  und  Melanchthon  zur  Begründung 
einer  Schule  in  ihrer  Stadt  Eisleben;  im  Herbst  wurde  sie  von 
J.  Agbioola  und  H.  Tulichius,  zwei  den  Reformatoren  befreundeten 
Männern,  eröffnet  Der  ohne  Zweifel  von  Melanohthon,  wenn  nicht 
verfaßte,  so  doch  entworfene  oder  wenigstens  gebilligte  Schulplan  ist 
die  älteste  gedruckte  Schulordnung  des  neuen  Kirchenwesens.  Er  hat 
folgende  Gestalt.^  Die  Schüler  werden  in  drei  Abteilungen  geteilt; 
sie  werden  classes  genannt,  welche  Benennung  jetzt  die  mittelalterliche 
Bezeichnung  für  die  Schülerabteilung,  locus,  verdrängt  Übrigens 
muß  man  sich  hüten,  die  Dinge  durch  die  gegenwärtigen  Einrichtungen 
sich  vorzustellen:  locus,  Haufen,  oder  also  jetzt  clcLsses  sind  lediglich  locker 
getrennte  Schülerabteilungen,  die  in  der  Regel  in  einem  Schulzimmer 
neben  einander  unterrichtet  werden,  eine  Einrichtung,  wie  wir  sie 
heute  noch  in  der  Dorfechule  haben.  Für  die  Lateinschule  ist  sie  bis 
ins  18.  Jahrhundert  hinein  häufig,  in  England  hat  sie  sich  bis  in  unser 
Jahrhundert  erhalten.  Die  erste  Abteilung  umfaßt  die  Elementarier, 
die  lesen  lernen;  als  Schulbücher  werden  einige  Spruchsammlungen, 
Mosellans  Pädologie,  Äsop,  Cato  genannt  In  der  zweiten  Kiasse 
bilden  die  grammaticae  praeceptiones  den  eigentlichen  Gegenstand  des 
Unterrichts;  Terenz  und  Virgil  bieten  Beispiele  und  bereichem  den 
Wortschatz  der  Knaben.  Auch  wird  mit  kleinen  Versuchen  in  Versen 
und  Prosa  begonnen.  Die  dritte  Klasse  wird  zur  Dialektik  und  Rhetorik 
angeführt;   Erasmus   de  duplici  copia  dient  als  Lehrbuch,  außerdem 

^  F.  L.  HoFMAMN,  Der  älteste  bis  jetzt  bekannte  Lehrplan  für  eine  deutsche 
Schule,  Hamburg  1865.  Jetzt  auch  bei  Habtfeldeb,  Melanchthoniana  Paeda- 
(/ogica,  S.  1  ff. 


270  /i,  5.  Die  Neubegründung  d,  GekhrtensvhHlwesens  in  den  prot  Gebieten. 


werden  Livius,  Sallust,  Virgril,  Horaz,  Ovid,  Cicero  gebraucht.  Im 
Schreiben  in  Prosa  und  Versen  wird  fleißig  fortgefahren.  Die  im 
Latein  leidlich  fest  sind,  machen  mit  dem  Griechischen  einen  Anfang; 
hierbei  wird  das  Elementale  iniroductorinm,  Oekolompads  Grammatik, 
Lucian,  Hesiod  und  Homer  gebraucht.  Auch  mit  dem  Hebräischen 
mag  von  einigen  ein  Anfang  gemacht  werden.  Wünschenswert  wäre 
es,  wenn  außer  den  artes  dicendi  auch  die  Mathematik  et  totus  orbis 
artium  gelehrt  werden  könnte,  doch  wird  das  wenigstens  fürs  erste 
nicht  möglich  sein.  Dagegen  soll  täglich  eine  Stunde  auf  musica  ge- 
wendet und  der  Sonntag  dem  Unterricht  in  der  Religion  gewidmet 
werden:  es  mag  ein  Evangelium  oder  ein  Brief  vorgelegt  und  außer 
dem  Glauben  und  Gebet  des  Herrn  einige  Psalmen  auswendig  gelernt 
werden. 

Man  sieht,  der  Schulplan  könnte  ganz  so  von  einem  Humanisten 
vor  der  Reformation  entworfen  sein.  Die  Erlernung  der  lateinischen 
Sprache  und  zwar  an  und  aus  den  klassischen  Schriftstellern  bis  zur 
Fertigkeit  des  Lateinschreibens  in  Prosa  und  Versen  ist  die  Substanz 
des  Unterrichts.  Die  Elemente  des  Griechischen  und  Hebräischen 
mögen,  soweit  es  möglich  ist,  hinzukommen.  Nur  in  dem  sonntäglichen 
Religionsunterricht  kann  man  den  Einfluß  der  Reformation  erkennen. 
Die  Betonung  der  Notwendigkeit,  die  Grammatik  nicht  bloß  durch 
den  Gebrauch,  sondern  auch  in  abstracto  zu  lernen,  sowie  in  Versen 
sich  zu  versuchen,  ist  ganz  melanchthonisch.  —  Welches  Gelingen  die 
Schule  hatte  und  wie  viel  von  dem  Plan  realisiert  wurde,  läßt  sich 
aus  den  erhaltenen  Nachrichten  nicht  feststellen.  Vermutlich  blieb  sie 
hinter  der  Erwartung  zurück.  Eisleben  war  schwerlich  der  Ort  und 
das  Zeitalter  der  Bauernkriege  nicht  die  Zeit,  um  dreisprachige  Schulen 
in  Flor  zu  bringen. 

Noch  im  Jahre  1524  war  zu  Nürnberg  von  zwei  Männern,  die 
mit  den  Reformatoren  auch  in  persönlichen  Beziehungen  standen, 
H.  Baumgäbtner  und  Ijaz.  Spengler,  im  Rat  der  Beschluß  durch- 
gesetzt worden,  eine  Schule  zu  gründen.  Am  23.  Mai  1526  wurde 
sie  von  Melanchthon  im  Ägidienkloster  eröffnet.  Die  dringend  wieder- 
holte Bitt«,  selbst  die  Leitung  zu  übernehmen,  hatt«  er  abgelehnt, 
dafür  aber  seine  Freunde  J.  Camerabius  und  M.  Roting  aus  Witten- 
berg, sowie  den  Eobanus  aus  Erfurt  empfohlen.  Zu  ihnen  kam  noch 
ein  Mathematiker,  J.  Schoner.  Camerabius  und  Eobanus  erhielten 
ein  für  Schulmeister  bisher  unerhörtes  Gehalt  von  150  fl.;  die  beiden 
anderen  100  11.  Der  Schulplan  vom  Jahre  1526  (bei  Heebwagen, 
I,  36,  zuerst  gedruckt)  weicht  in  keinem  wesentlichen  Stück  von  dem 
Eislebener  al);   nur  daß  Mathematik  zu  den  angebotenen  Unterrichts- 


Nürnberg  (1526).    Kursächs,  Scfiulordnung  (1528),  271 


gegenständen  gehört.  Vielleicht  war  übrigens  die  Benutzung  des  An- 
gebots freigestellt.  Die  wesentliche  Aufgabe  des  neuen  Instituts,  das 
als  obere  Schule  bezeichnet  wurde  und  dessen  Lehrer  Professoren 
hießen,  war  die,  den  Unterricht  der  alten  Pfarrschulen  durch  einen 
humanistischen  Kursus  zu  erganzen  und  so  ausreichender  als  bisher 
für  das  Fakultätsstudium  an  einer  Universität  vorzubereiten.  Came- 
BABius  lehrte  Griechisch,  Eobanus  Poesie,  Roting  Rhetorik  und 
Dialektik,  Schoneb  Mathematik.  Die  Schule  wollte  übrigens  nicht 
zu  Kräften  kommen;  der  Besuch  blieb  überaus  schwach,  obwohl  kein 
Schulgeld  gegeben  wurde.  Cameearius  führt  in  einem  Gutachten  für 
BaumgIbtnee  aus,  daß  nur  eines  helfen  werde:  die  Errichtung  eines 
Konvikts.  Der  Rat  ging  auch  hierauf  ein,  indem  er  1529  für  zwölf 
Knaben,  Söhne  armer  Bürger,  Stipendien  stiftete;  was  den  Hohn  des 
Erasmus  herausforderte:  nicht  nur  den  Professoren,  sondern  auch  den 
Schülern  müsse  man  bei  den  Lutherischen  Gehalte  geben  (Hbebwagen, 
Progr.  1867,  S.  15  fiF.).  Im  Jahre  1533  verließ  Eobanus,  1535  auch 
Camerarius  die  hoffnungslos  gewordene  Schule.  Sie  wurde  später  in 
Altdorf  wieder  aufgerichtet. 

Die  erste  allgemeine  und  gewissermaßen  offizielle  Anordnung  der 
Reformatoren  als  solcher  in  Schulsachen  ist  die  sogenannte  kur- 
sächsische Schulordnung,  d.  h.  der  Abschnitt  über  die  Schulen 
in  dem  „Unterricht  der  Visitatoren  im  Kurfürstentum  zu  Sachsen"  1528.^ 
Er  enthält  die  kurz  gefaßte  Summe  der  von  Luther  gebilligten  Ge- 
danken Melanchthons  über  die  zweckmäßige  und  durchführbare  Ein- 
richtung der  Lateinschulen  in  den  deutschen  Städten  von  mittleren 
Verhältnissen.  Im  ganzen  ist  es  derselbe  Plan,  nach  welchem  die 
Schule  zu  Eisleben  eingerichtet  worden  war;  nur  daß  in  dem  neuen 
Entwurf  der  Unterricht  ausdrücklich  auf  die  lateinische  Sprache 
eingeschränkt  wird.  Zum  ausdrücklichen  Ausschließen  des  Griechischen 
und  Hebräischen  haben  vielleicht  die  Erfahrungen  beigetragen,  welche 
inzwischen  in  Nürnberg  und  an  anderen  Orten  gemacht  worden  waren; 


*  Er  bildet  das  erste  Stück  in  der  im  Folgenden  sehr  häufig  benutzten, 
höchst  dankenswerten  Sammlung  evangelischer  Schulordnungen  von  R.  Vorm- 
BAUM.  3  Bde.  1860.  Seine  Bestimmungen  über  den  Unterricht  finden  sich  mit 
kleinen  Änderungen  in  vielen  folgenden  Schulordnungen,  zuletzt  in  der  mecklen- 
burgischen von  1552,  die  Melanchthon  selbst  revidiert  hat;  übernommen  in  die 
kurpfölzischc  Ordnung  von  1556.  Natürlich  sind  sie  selbst  nicht  ein  völlig 
Neues,  im  ganzen  fixieren  sie,  was  seit  dem  Eindringen  humanistischer  Ein- 
flüsse als  thatsächliche  Übung  in  den  kleineren  Lateinschulen  sich  durchgesetzt 
hatte.  Man  sehe  die  Mitteilungen  über  Bestand  und  Lektionsplan  der  kleinen 
Schulen,  wie  sie  sich  in  Burckhardts  Geschichte  der  säehs.  Kirchen-  und  Schul- 
visitation finden. 


/ 


272  //,  0,  Die  Neubegründung  d.  GeleJirtenschulwesens  in  den  proL  Gebieten. 


konnte  selbst  in  einer  der  ersten  Städte  Deutschlands  keine  drei- 
sprachige Schule  sich  halten,  so  war  es  augenscheinlich  geraten,  die 
kleinen  sachsischen  Städte  vor  hochfliegenden  Unternehmungen  zu  warnen. 
Auch  hier  werden  drei  Abteilungen  (Haufen  heißt  es  im  deutschen 
Text)  unterschieden  und  die  Pensa  ähnlich  wie  zu  Eisleben  verteilt 
Die  erste  lernt  zunächst  Lesen  und  Schreiben.  Hierzu  wird  ge- 
braucht „der  Kinder  Handbüchlein",  eine  lateinische  Fibel,  die  Mklanch- 
THON  unter  dem  Titel  Enchiridion  elementorum  puerilium  (Wittenberg, 
1524,  C.  R.  XX,  392 — 411)  zusammengestellt  hatte.  Sie  enthält  das 
Alphabet  und  dazu  lateinische  Lesestücke:  das  Pater  Noster,  Ave  Maria^ 
Symbolum  Apostolicum,  Psalm  66,  die  zehn  Gebote,  die  Bergpredigt^ 
femer  einige  Distichen,  Sprüche  der  Weisen  etc.  Nach  der  Fibel  wird 
Donat  und  Cato  vorgelegt,  jener  wird  schon  zur  Leseübung  benutzt, 
um  die  Kinder  zunächst  gleichsam  äußerlich  und  mechanisch  mit  der 
Grammatik  bekannt  zu  machen.  Die  Sprüche  des  sogenannten  Cato 
moralis  werden  mit  der  Übersetzung  auswendig  gelernt,  damit  ein  Haufe 
von  Worten  gelernt  und  so  ein  Vorrat  zu  reden  geschafft  werde;  dem- 
selben Zweck  dient  auch  die  alte  Übung,  abends  ein  paar  lateinische 
Wörter  mit  der  Übersetzung  aufzugeben  und  am  Morgen  aufsagen  zu 
lassen. 

Die  zweite  Abteilung  lernt  dann  die  Grammatik,  zuerst  die 
Formenlehre,  danach  die  Syntax  und  endlich  die  Prosodie  und  Metrik. 
Täglich  ist  für  das  Grammatikaufsagen  eine  Stunde,  die  letzte  des  Vor- 
mittags, angesetzt.  Es  wird  ernstlich  gemahnt,  hiervon  nicht  abzu- 
gehen: wo  den  Schulmeister  diese  Arbeit  verdrießt,  soll  man  ihn  laufen 
lassen,  „denn  kein  größer  Schade  allen  Künsten  mag  zugefüget  werden, 
denn  wo  die  Jugend  nicht  wohl  geübet  wird  in  der  Grammatica^^ 
Die  gelernten  Regeln  werden  eingeübt  an  Lesestücken:  in  der  zweiten 
Nachmittagstunde  werden  Äsops  Fabeln,  in  der  dritten  Mosellanus' 
Paedologia  hierzu  benutzt;  wenn  Äsop  aus  ist,  nehme  man  Terenz 
oder  Plautus  und  nach  dem  Mosellanus  die  colloquia  Urasmu  Es 
handelt  sich  eben  darum,  die  Knaben  baldmöglichst  zur  lateinischen 
Redefertigkeit  zu  bringen;  die  Rücksicht  auf  den  Inhalt  st^ht  in  zweiter 
Linie;  Melanchthün  schätzte  besonders  den  Terenz  als  bequemen 
Führer  zur  Latinität.  Die  Form  des  Unterrichts  ist  die,  daß  der 
Schulmeister  am  Nachmittag  vorexponiert  und  vorkonstruiert,  am 
folgenden  Vormittag  die  Kinder  wiederholen  und  dabei  deklinieren  und 
konjugieren  läßt;  wobei  sie  denn  den  Autor  auswendig  lernen.  — 
Die  dritte  Abteilung  hat  in  der  zweiten  Nachmittagstunde  Virgil,  da- 
nach Ovids  Metamorphosen,  in  der  dritten  Ciceros  Officien  oder  Episteln. 
Die  Grammatikstunde  kann  hier  für  Metrik,  und  wenn  die  Grammatik 


Lehrplan  der  Wittenberger  SohuU  (1533).  273 


fest  sitzt,  für  Dialektik  und  Rhetorik  verwendet  werden.  —  Die  beiden 
oberen  Abteilungen  liefern  wöchentlich  ein  scriptum,  eine  Epistel  oder 
Verse.  Die  erste  Nachmittagstunde  ist  allgemein  für  die  musica.  Ein 
Tag,  Mittwoch  oder  Sonnabend,  ist  für  den  Religionsunterricht:  das 
Vaterunser,  der  Glaube  und  die  Gebote  sollen  auswendig  gelernt  und 
einß,ltig  und  richtig  erklärt  werden;  einige  Psalmen  sollen  dazu  ge- 
lernt und  das  Matthäusevangelium  oder  die  Briefe  an  Timotheus  oder 
die  erste  Epistel  Johannis  oder  die  Sprüche  Salomonis  grammatisch 
exponiert  werden. 

Als  ein  Beispiel  der  Ausführung  dieser  Grundzüge  mag  die  Ord- 
nung der  Wittenberger  Schule  vom  Jahre  1533  erwähnt  werden.^ 
Die  Schule  hat  einen  Magister  und  drei  Koadjuvanten,  mpremus,  cantor, 
tertius  genannt.  Der  Unterricht  beginnt  im  Sommer  um  ^26?  ™ 
Winter  um  '^j^l  Uhr  mit  Gebet  und  Gesang  des  Vem  creator  spiritus. 
Sodann  wird  zwei  Stunden  lang  in  den  einzelnen  Abteilungen  ge- 
arbeitet; in  den  oberen  wird  Terenz  und  Plautus,  in  der  zweiten 
Cato  und  Aesop  am  ersten  Tage  exponiert,  am  andern  reposciert,  darauf 
constructiones  und  declinationes  verhört.  Hierauf  gehen  alle  in  die  Kirche, 
allwo  vormittags  täglich  gepredigt  und  gesungen  wird.  Nach  der  Kirche 
folgt  die  Grammatikstunde,  in  welcher  die  beiden  oberen  Abteilungen 
kombiniert  werden  und  die  Formenlehre  einüben.  10 — 12  Uhr  ist 
Mittagspause.  Der  Nachmittagsunterricht  beginnt  wiederum  mit  dem 
Veni  creator.  Die  erste  Stunde  gehört  der  Musik,  zu  welcher  jedoch 
allein  die  beiden  oberen  Klassen  gezogen  werden.  1 — 2  Uhr  sagt  die 
erste  Abteilung  an  zwei  Tagen  Syntax  auf,  an  den  beiden  andern 
werden  die  bucoUca  Virgils  oder  Mantuans  oder  die  Heroiden  Eobans 
gelesen.  Die  zweite  Abteilung  sagt  Donat  auf  und  liest  die  paedologia 
Mosellans,  2 — 3  Uhr  gehen  die  Schüler  heim.  Von  3 — 4  Uhr  werden 
die  beiden  oberen  Abteilungen  wieder  zusammengenommen;  es  wird 
ihnen  Erasmus*  Schrift  de  civilitate  morum  oder  die  colloquia,  oder 
Episteln  Ciceros  oder  Murmellius'  Sentenzensammlung  vorgelegt  und 
andern  Tags  daraus  konstruiert  und  dekliniert;  auch  dabei  die  Prosodie 
geübt.  Zum  Schluß  oratio  vespertina  und  Gesang  des  Hymnus  Jesu 
redemptor.  Mittwoch  Nachmittag  ist  frei,  vormittags  wird  ein  scriptum 
gemacht.  Sonnabends  wird  am  Vormittag  das  Evangelium  grammatisch 
exponiert,  am  Nachmittag  nach  der  Vesper  der  Cisioianus  (der  Fest- 
kalender in  Hexametern)  verhört.  Femer  wird  Freitags  früh  vor  der* 
Predigt  der  Katechismus  lateinisch  und  deutsch  getrieben  und  Gebete 

*  Abgedruckt  mit  der  Kircheuordnung  in  Förstemanns  Neuem  Urkundeu- 
buch  zur  Geschieht«  der  evang.  Kirchenreformation  (1842,  S.  390  ff.).  Die  Schul- 
ordnung auch  bei  Vormbaum,  I,  27. 

Paul  Ben,  Unteir.   Zweite  Aufl.    I.  18 


274  U,  5.  Die  Neuhegründwig  d,  Oelehrtenschulwesens  in  den  prot.  Gebieten, 


verhört.  Die  Schulsprache  ist  die  lateinische.  —  Die  täglichen  kirch- 
lichen Übungen  der  Schüler,  in  Gesang  und  lectio  vormittags  und 
nachmittags  bestehend,  sind  sehr  ausführlich  in  der  braunschweigischen 
Schulordnung  vom  Jahre  1543  behandelt  (Voembaum,  I,  46  fif.). 

Wie  man  sieht,  ist  die  Erlernung  der  lateinischen  Sprache  die 
Substanz  des  Unterrichts.  Deutsch  kommt  in  dieser  Schule  gar  nicht 
vor;  schon  die  Fibel  ist  lateinisch;  es  vrird  nicht  einmal  deutsch  lesen 
und  schreiben  gelernt  Und  zwar  wird  es  nicht  etwa  bloß  übergangen, 
sondern  ausdrücklich  ausgeschlossen.  Gleich  zu  Anfang  der  kursachsi- 
schen  Schulordnung  heißt  es:  „Nun  sind  viele  Mißbrauche  in  der  Schule; 
damit  nun  die  Jugend  recht  gelehret  werde,  haben  wir  diese  Form 
gestellet:  Erstlich  sollen  die  Schulmeister  Fleiß  ankehren,  daß  sie  die 
Kinder  allein  lateinisch  lehren,  nicht  deutsch  oder  grekisch  oder  ebräisch, 
wie  etliche  bisher  gethan,  die  armen  Kinder  mit  solcher  Mannig- 
faltigkeit beschweren,  die  nicht  allein  unfruchtbar,  sondern  auch  schäd- 
lich ist  Man  siehet  auch,  daß  solche  Schulmeister  nicht  der  Kinder 
Nutzen  bedenken,  sondern  um  ihres  Ruhmes  willen  so  viel  Sprachen 
vornehmen."  Geht  das  letztere  auf  die,  die  auch  griechisch  und 
hebräisch  lehren  wollen  (wie  etwa  der  Verfasser  des  oben  erwähnten 
Zwickauer  Lehrplans),  so  geht  der  Gesichtspunkt  der  Konzentration: 
„die  Kinder  nicht  mit  solcher  Mannigfaltigkeit  beschweren",  wohl  auch 
auf  das  Deutsche.  Latein  gleich  von  der  Fibel  an  als  das  Eine,  was  not 
thut  treiben,  daß  die  Kinder  in  den  Schulen  überhaupt  gar  nichts 
anderes  sehen :  das  wird  am  schnellsten  zu  dem  ersten  und  wichtigsten 
Schulziel  führen:  der  Fertigkeit,  die  Schulsprache  zu  verstehen  und  zu 
sprechen.  In  einem  gleichzeitigen  kleinen  Lehrbuch  der  Pädagogik 
von  JoH.  MüscHLEB,  Schulmeister  zu  öttingen:  Von  Schulzucht  (Nürn- 
berg 1529,  dem  Leipziger  Rat  gewidmet),  heißt  es:  „Es  ist  ein  ver- 
kehrter Weg  ohne  Grund,  daß  man  einen  Knaben,  der  in  der  Lemung 
verharren  und  aufwachsen  soll,  am  ersten  in  die  deutschen  Schulen 
schreiben  und  lesen  lernen  gehen  läßt.  Denn  ich  habs  aus  eigener, 
auch  anderer  Meister  Erfahrung,  daß  die,  so  am  ersten  im  Deutschen 
zu  lernen  haben  angefangen,  hernachmals  zum  Latein  und  anderen 
Zungen  ungeschickter  und  tölpischer  gewesen  sein;  und  es  ist  fast  zu 
wundern,  was  doch  die  Eltern  dazu  bewegt,  so  viel  Fleiß  auf  das  Deutsch 
zu  wenden,  daß  ihre  Kinder  vor  lateinischer  und  griechischer  Zunge 
das  Deutsch  zu  lernen  mit  solchen  Kosten  befohlen  werden,  .welches 
sie  von  Natur  und  ein  jeder  ungelehrter  Laie  von  sich  selber  mit  der 
Zeit  gewöhnen,  üben  und  reden  lernen." 

Eine  Reihe  von  norddeutschen  Ländern  und  Städten  erhielt  ihre 
Kirchen-  und   Schulordnung  durch  Jo'h.  Bugenhagen,  den  Pfarr- 


Bugenhagens  Schulordnungen.  .  275 


herrn  von  Wittenberg.  1528  war  er  in  Braunschweig  und  Hamburg, 
1530 — 1532  in  Lübeck,  1535  in  Pommern,  1536 — 1538  in  Kopenhagen, 
überall  das  neue  Kirchen-  und  Schulwesen  organisierend.  Er  besaß 
etwas  von  der  Kunst  zu  leben  und  leben  zu  lassen,  sie  wird  ihm  bei 
seiner  Organisationsthätigkeit  zu  statten  gekommen  sein.^ 

Die  Schulordnungen,  von  welchen  bei  Vobmbatjm  die  stadt-braun- 
schweigische  und  hamburgische  vom  Jahre  1528,  die  schleswig-hol- 
steinische vom  Jahre  1542,  die  land-braunschweigische  von  1543  mit- 
geteilt sind  —  die  lübeckische  findet  man  dem  Inhalt  nach  in  dem 
Programm  des  Katharineums  vom  Jahr  1843  —  folgen  der  knr- 
sächsischen,  auf  die  wiederholt  verwiesen  wird.  Der  Unterrichtsplan 
ist  wesentlich  derselbe,  nur  daß  bei  größeren  Schulen  auf  das  Grie- 
chische und  Hebräische  eine  Aussicht  eröffnet  wird.  Falls  später,  heißt 
es  in  der  braunschweigischen  Ordnung,  Schüler  vorhanden  sein  sollten, 
welche  im  Lateinischen  schon  fest  sind,  so  mag  man  sie  auch  die 
Elemente  der  griechischen  Sprache  und  die  hebräischen  Buchstaben 
lehren,  sovile  die  Rudimente  der  Mathematik.* 

^  VoQT,  J.  Bugenhagen  (1S67).  Man  hat  BuaEicHAOEir  den  Evangelisten 
Norddeutschlands  genannt.  Die  Bezeichnung  scheint  mir  nicht  geeignet,  eine  der 
Wirklichkeit  ganz  entsprechende  Vorstellung  von  der  Thätigkeit  des  Mannes  zu 
geben.  Vielleicht  erweist  man  der  Reformation  überhaupt  keinen  Dienst,  wenn 
man  ihre  Ausbreitimg  mit  der  ersten  Ausbreitung  des  Christentums  vergleicht 
Es  ging  dabei,  wie  niemandem  verborgen  ist,  der  den  Dingen  auch  nur  ein 
wenig  näher  trat,  sehr  viel  weltlicher  und  politischer  zu.  Zur  Reformation  des 
Hamburger  Kirchenwesens  wurde  Buqenhaoen  mit  Familie  und  Diener  von  zwei 
Bürgern  geholt,  zwei  vom  Rat  kamen  ihm  zum  Empfang  entgegen,  am  Abend 
wurde  er  von  drei  Bürgern  und  deren  Hausfrauen  opulent  bewirtet  Am  andern 
Morgen  kamen  drei  Bürgermeister  und  machten  ihm  im  Namen  der  Stadt  eine 
Verehrung  zu  Kost  und  Unterhalt.  Als  er  nach  etwa  achtmonatlichem  Aufent- 
halt die  Stadt  verließ,  erhielt  er  ein  Ehrengeschenk,  worüber  die  Kämmerei- 
rechnungen berichten:  „Nota  dem  Dr.  Bugenhagen  von  Wittenberg,  hier  das 
Evangelium  zu  predigen  mid  die  Ordnung  zu  machen  202  ^  8  |^  in  Rheinischen  fl., 
100  für  ihn  und  20  für  seine  Frau."  In  Lübeck  erhielt  er  für  dieselben 
Leistungen  auch  „eine  Schale  mit  vergoldetem  Marienbild  und  einen  Stop  mit 
einem  vergoldeten  St.  Johannes**,  vermutlich  aus  dem  nun  überflüssig  gewordenen 
Silbergerät  der  Kirchen  (Mitteilungen  des  Vereins  für  Hamburgische  Geschichte, 
V.  Jahrg.  1883,  S.  125  fr.,  137  fr.).  Die  Sache  fiel  doch  auch  damals  auf.  Ein 
Knecht  von  der  Begleitung  auf  der  Rückreise  von  Lübeck  nach  Wittenberg 
stellte  die  etwas  fürwitzige  Frage:  ob  die  Apostel  auch  so  eingeholt,  begleitet 
und  beschenkt  worden  seien?  Worauf  Buoenhagen  antwortete:  gewiß,  wenn  sie 
zu  so  guten  Leuten  kamen,  als  deine  Herren  sind;  wenn  aber  zu  so  bösen 
Buben,  als  du  bist,  freilich  nicht 

"  Für  Braunschweig,  Stadt  und  Land,  haben  wir  jetzt  die  vorzüglichen 
Arbeiten  von  F.  Koldewet,  ßraunschweigische  Schulordnungen  von  den  ältesten 
Zeiten  bis  1828,  mit  Einleitung,  Anmerkungen,  Glossar  und  Register.    Monum. 

Germ.  Paedag.,  Bd.  I  und  VIII. 

18* 


276  //,  5.  Die  Neubegründung  d,  OeUhrtenschulwesens  in  denprot.  Gebieten, 


In  Hamburg  und  Lübeck  wurden  von  Anfang  an  größere  Schulen 
in  Aussicht  genommen.  Die  kleinen  Lateinschulen ,  die  bisher  isoliert 
bei  jeder  Pfarrkirche  bestanden,  wurden  in  eine  große  Schule  zu- 
sammengefaßt, damit  diese,  so  motiviert  die  Lübecker  Ordnung  die 
Unterdrückung  der  kleinen  Pfarr-  und  Winkelschulen,  desto  besser 
mit  Gebäuden  und  gelehrten  Lehrern  versehen  werden  könne.  In 
Hamburg  wurde  die  große  Schule  im  Johanniskloster,  in  Lübeck  im 
Katharinenkloster  eingerichtet  Beide  sollen  fünf  Abteilungen  (fünf 
dtstmcta  locd)  und  sieben  Lehrer  haben:  außer  dem  Schulmeister,  der 
ein  gelehrter  Magister  sein  soll,  einen  subrector,  einen  cantor  und  vier 
paedagogi  (Eindermeister). 

An  die  Schule  schloß  sich  in  beiden  Städten  das  sogenannte 
Lektorium.  Am  ausgebildetsten  erscheint  es  in  Hamburg.  Es  waren 
hier,  wie  bei  manchen  großen  Kirchen,  zwei  theologische  Lektüren  vor- 
handen; sie  waren  am  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  durch  private 
Stiftung  entstanden,  in  der  Absicht,  dem  niederen  Klerus  den  ihm  etwa 
unmöglichen  Besuch  einer  Universität  zu  ersetzen;  in  Meyebs  Ge- 
schichte des  Hamburger  Schulwesens  im  Mittelalter  findet  man  darüber 
eingehende  Nachweisungen.  Dieses  Vorlesungsinstitut  wurde  jetzt  er- 
weitert: zwei  Juristen  und  ein  Mediziner  (zugleich  Stadtarzt)  sollten 
jeder  zur  Haltung  von  wöchentlich  drei  Vorlesungen  angenommen 
werden.  Die  theologischen  Vorlesungen  wurden  dem  Superintendenten 
und  seinem  Adjutor  übertragen;  sie  sollen  jeder  wöchentlich  vier 
Stunden  über  die  heilige  Schrift  im  lectorio  in  lateinischer  Sprache 
lesen.  Endlich  mögen  der  rector  und  subrector  der  Schule  ebenfalls 
am  lectorium  lesen.  —  Man  sieht,  es  ist  eine  kleine  Universität,  nur 
ohne  die  rechtliche  Stellung  einer  solchen,  besonders  ohne  das  Privi- 
legium, Grade  zu  erteilen.  Es  entstanden  in  der  Folge  eine  große 
Anzahl  ähnlicher  Institute  in  den  protestantischen  Territorien.  Seit 
der  Errichtung  von  Landeskirchen  mit  eigenem  Regiment  und  eigenem 
Bekenntnis  wurde  es  wünschenswert,  eine  theologische  Lehranstalt  im 
Lande  zu  haben,  um  der  landeskirchlichen  Kechtgläubigkeit  des  Unter- 
richts allezeit  versichert  sein  zu  können.  Hier  wirkte  allerdings  diese 
ßücksicht  noch  nicht  mit 

Auf  die  schleswig-holsteinische  Schulordnung  werden  wir  unten 
zurückkommen;  sie  ist  die  erste  eigentliche  Landesschulordnung. 

In  allen  diesen  Ordnungen  wird  den  Schulmeistern  eine  Besoldung 
von  der  Stadt  in  Aussicht  gestellt,  zugleich  aber  die  Erhebung  von 
Schulgeld  gestattet,  freilich  für  die  Beitreibung  desselben  auf  den  guten 
Willen  der  Eltern  verwiesen.  Auch  wird  überall  eine  Fürsorge  für 
gute  ingenia,  die  selbst  unvermögend  sind,  sich  beim  Studium  zu  er- 


Die  SchiUrefomuUion  in  Zürich.  277 

halten,  in  Aussicht  genommen ,  zuerst  auf  der  Schule,  dann  auf  der 
Universität.  Den  Schulmeistern  wird  die  Beurteilung  der  ingenia  zur 
Pflicht  gemacht;  die  zum  Studieren  nicht  taugen,  soll  er  bald  den 
Eltern  raten  zu  einem  andern  Beruf  zu  thun;  die  aber  vor  andern 
geschickt  seien,  soll  man,  heißt  es  in  der  Braunschweiger  Ordnung, 
„Gott  opfern,  daß  sie  andern  Leuten  dienen  im  geistlichen  oder  welt- 
lichen Regiment  Das  heißen  wir  aber  Gott  opfern,  daß  man  solche 
Leute  nicht  zum  Handwerk  oder  anderem  weltlichen  Handel  kommen 
lasse,  sondern  sie  zum  Studieren  sende,  so  lange  sie  des  bedürfen,  einen 
jeglichen  zu  der  Kunst,  wozu  er  geneigt  ist  Sind  sie  arm,  so  gebe 
man  ihnen  zu  Hilfe,  mit  solchem  Bescheid,  daß  sie  verbunden  sein 
sollen  uns  um  Sold  zu  dienen,  wenn  wir  sie  aus  dem  Studium  oder 
einem  andern  Dienst  zu  uns  fordern/' 

Bevor  wir  die  weitere  Entwickelung  des  Schulwesens  in  den  Lan- 
dern der  lutherischen  Beformation  verfolgen,  werfen  wir  auf  die  ent- 
sprechenden Vorgänge  in  den  Hauptorten  der  süddeutsch-schwei- 
zerischen Reformation  einen  Blick. 

In  Zürich  ist,  wie  die  Kirchen-  so  auch  die  Schulreformation  an 
den  Namen  Zwingus  (1484 — 1531)  geknüpft^  In  Basel  war  er  zuerst 
mit  dem  Humanismus  in  Berührung  gekommen,  hatte  dann  von  einer 
Romfahrt  mit  einem  schweizerischen  Söldnerheer  einige  Kunde  des 
Griechischen  mitgebracht  Lehrend  und  lernend  hatte  er  dieselbe  all- 
mählich erweitert,  zunächst  in  Absicht  auf  das  neue  Testament;  als 
Priester  in  Einsiedeln  schrieb  er  sich  des  Ebasmüs  Ausgabe  der  Pau- 
linischen  Briefe  ab.  Allmählich  wendete  sich  sein  Interesse  auch  den 
Klassikern,  Plato,  Aristophanes  und  vor  allem  Pindar  zu.  Seine  Nei- 
gung zu  ihnen  ging  so  weit,  daß  er  noch  als  Kirchenreformator  die 
tugendhaften  Heiden,  Hercules,  Theseus,  Sokrates,  Aristides,  Numa, 
Cato  u.  a.  auch  vom  Himmel  nicht  ausschließen  wollte;  worüber  be- 
kanntlich LuTHEBs  Zorn  aufbrauste:  „was  bedarf  man  der  Taufe,  Sakra- 
ment und  Christi,  des  Evangelii,  der  Propheten  und  heiligen  Schrift, 
wenn  solche  gottlose  Heiden,  Sokrates,  Aristides,  ja  der  gottlose  Numa, 
der  zu  Rom  alle  Abgötterei  erst  gestiftet  hat,  durchs  Teufels  Offen- 
barung, wie  St.  Augustinus  schreibt,  und  Scipio,  der  Epikureer,  selig 
und  heilig  sind  mit  den  Patriarchen  und  Aposteln  im  Himmel^ 

Im  Jahre  1518  wurde  Zwingu  von  den  humanistischen  Chor- 
herren des  Zürcher  Großmünsters  als  Prediger  berufen.    1523  begann 


*  Über  das  Zürcher  Schulwesen  im  16.  Jahrhundert  giebt  es  eine  gründliche 
Arbeit  von  U.  Ernst  (1879),  welche  vor  allem  auch  die  sozialen  und  statistischen 
Verhältnisse  ins  Auge  faßt;  über  Zwingu  als  Humanisten  und  Schulorganisator 
handelt  eingehend  H.  Mastüs  in  Schmids  Encyklopädie,  X,  759 — 796. 


278  II,  5.  Die  Neubegründung  d,  Oelehrtenschulwesens  in  denproL  Oehieten. 


die  Beform  des  Zürcher  Schulwesens.  Ein  kleiner  Traktat  Zwinous 
über  Erziehung^  bezeichnet  als  das  Ziel  des  gelehrten  Unterrichts  vor 
allem  die  Kenntnis  der  drei  Sprachen.  Am  wichtigsten  ist  die  grie- 
chische, wegen  des  neuen  Testaments:  in  den  lateinischen  Über«- 
Setzungen  werde  Yon  der  Lehre  Christi  minder  angemessen  (minus 
digne)  gehandelt,  daher  auf  die  Quelle  zurückgegangen  werden  müsse. 
Hebräisch  sei  für  das  Verständnis  des  alten  Testaments,  Lateinisch 
endlich  um  seiner  Notwendigkeit  für  den  gelehrten  Verkehr  willen  er- 
forderlich. Die  Leitung  der  beiden  Stiftsschulen  wurde  humanistisch  ge- 
bildeten Männern,  die  der  Reformation  sich  anschlössen,  Osw.  Myconiüs 
und  den  Oräcisten  Bibliandeb  und  Collinüs,  übergeben.  Femer 
wurden  am  Oroßmünster  lectiones  publicae,  öffentliche  und  unentgelt- 
liche Vorlesungen,  eingerichtet  und  hierfür  Cepobinus  als  Professor 
der  griechischen  und  hebräischen  Sprache  berufen.  Die  Absicht  war, 
den  Predigern  des  neuen  Kirchen wesens  die  notwendigste  gelehrte  und 
theologische  Bildung  zu  geben,  „daß  man  die  Jungen  nicht  auf  ihrer 
Väter  Kosten  an  fremde  Orte  zu  Schul  und  Lehre  schicken  müsse,^' 
also  anstatt  einer  Universität  zu  dienen.  „Jeden  Morgen,  Sonntag 
und  Freitag  ausgenommen,  versammelten  sich  um  8  Uhr  Weltgeist- 
liche, Mönche,  Chorherren  und  die  älteren  Studenten  aus  den  beiden 
lateinischen  Schulen  im  Chor  des  Großmünsters.  Die  Lektion  wurde 
mit  einem  Gebet  eröffnet  Dann  las  irgend  einer  der  Schüler  eine 
Stelle  aus  der  Vulgata  vor.  Cepobinus  las  hierauf  die  gleiche  Stelle 
aus  dem  hebräischen  Text  und  übersetzte  sie  ins  Griechische,  erläu- 
terte und  verglich  sie  mit  der  Septuaginta.  Hernach  erklärte  Zwikgli 
^ie  gleiche  Stelle  lateinisch.  Um  9  Uhr  kam  das  Volk.  Dieselbe 
Bibelstelle  wurde  nun  in  deutscher  Sprache  vorgelesen  und  erklärt" 
.(Ebnst,  S.  56).  Im  folgenden  Jahr  wurde  die  Einrichtung  vervoll- 
kommnet, es  wurden  vier  Lektüren  errichtet,  für  Griechisch  (Colltntjs), 
für  Hebräisch  (PEiiUCANus),  für  Dialektik,  Rhetorik,  Latein  (Ammiaiiüb), 
für  Theologie  (Zwingli).  Die  Lektüren  wurden  mit  Chorherrenpfründen 
versehen.  Auch  wurden  Stipendien  für  Studierende  aus  den  Einkünften 
von  Kaplaneien  gewährt.  —  Nicht  minder  wurden  ein  paar  Klöster 
im  Landgebiet  zu  Pädagogien  eingerichtet,  so  Kappel,  untrer  H.  Bül- 
MNGEES  Leitung.  —  Der  Eifer  für  die  Erlernung  der  Grundsprachen 
der  heiligen  Schriften  ergriff  auch  die  Landpfarrer;  aus  Platters 
Autobiographie  ist  zu  ersehen,  wie  er  von  einem  Pfarrer  zum  andern 
zog,  um  ihn  die  Elemente  des  Hebräischen,  die  er  eben  selbst  gelernt 


^  Quo  pcLcto    ingenui   adolescentes   formandi   sint,   in  Zwinglis  Werken, 
herausgegeben  von  Schuleb  und  Schulthess,  IV,  152  ff. 


Die  SchulreforrnaHon  in  Zürich.  279 


hatte,  zu  lehren.  —  Bemerkt  mag  übrigeus  noch  werden,  daß  die  neue  Lehre 
der  alten  auch  durch  Repression  sich  erwehrte.  Schon  1523  war  eine 
Zensurkommission  eingesetzt  worden,  bestehend  aus  dem  Bürgermeister 
und  ersten  Stadtpfarrer,  nebst  zwei  Baten;  ihre  Aufgabe  war,  zu  ver- 
hindern, daß  Bücher  gedruckt  würden,  die  Schmähungen  enthielten 
oder  gegen  die  rechte  Lehre  und  die  Sittlichkeit  verstießen.  Man 
sieht,  die  Zusammenstellung  der  im  kirchlichen  oder  politischen  Be- 
kenntnis nicht  korrekten  Schriften  mit  der  unsittlichen  Litteratur  ist 
nicht  erst  eine  Erfindung  unserer  Zeit  Sodann  wurden  im  Jahre  1525 
alle  Bücher  der  Stiftsbibliothek  von  einer  Kommission  geprüft,  und 
alles  was  man  als  „Sophisterey,  Scholasterey  oder  Fabelbücher*'  er- 
kannte, wurde  verschleudert  oder  vernichtet,  nur  wenige  behalten 
(Ebnst,  S.  61).  Nach  Zwingus  Tod  (1531)  trat  H.  Bullingeb  an 
dessen  Stelle,  als  !£farrer  und  Schulherr  des  Stifts. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  zeigt  das  Zürcher  Schul- 
wesen folgende  Gestalt.  Die  beiden  Lateinschulen  hatten  je  fünf  Ab- 
teilungen mit  fünf  Lehrern  (Schulmeister,  Provisor  und  drei  coHahora- 
tores).  Der  Lehrplan  war  folgender:  „der  unterste  Lehrer  lehrt  die 
Knaben  die  Buchstaben  kennen  und  lesen.  Der  andere  lehrt  schreiben, 
Donat  und  rudimenta.  Der  dritte  lehrt  sie  baß  konjugieren,  deklinieren 
und  exponieren.  Der  Provisor  unterrichtet  sie  voUkosoimener  in  ^am- 
matica.  Der  Schulmeister  übt  auch  die  fframmaticam,  liest  aber  auch 
autores  und  rüstet  sie  in  das  lectorium.  Weiter  unterrichten  sie  die 
beiden  auch  im  Anfang  der  griechischen  Sprache  und  Grammatik'* 
(Ebnst,  S.  99).  Natürlich  wurde  auch  Latein  geschrieben  und  ge- 
sprochen, zu  welchem  Zweck  weder  der  asinus,  noch  die  Aufführung 
von  Schulkomödien  fehlte.  Und  ebensowenig  fehlte  der  Unterricht 
in  den  Elementen  der  Theologie  (doctrina  christiana)  und  der  Dialektik.  ^^ 

Auf  den  Schulkursus,  der  im  Durchschnitt  etwa  7 — 8  Jahre  dauerte,    ' 
etwa  bis  zum  15.  oder  16.  Lebensjahre,  folgte  der  Kursus  der  lectiones    \ 
publicae.    Erst  in  den  sechziger  Jahren  wurden  diese  von  den  Schul-    ■ 
klassen  völlig  getrennt,  bis  dahin  hatten  die  oberen  Klassen  auch  die 
öflfentlichen  Lektionen  besucht.    Es  waren  7 — 10  Lektoren  vorhanden: 
zwei  des  alten  Testaments,  einer  des  neuen  Testaments,  ein  Hebraeus, 
ein  Graecus,   ein   lo^icus,   ein  physicus  (Ernst,  S.  105).  —  Die  Zahl 
der  Schüler  betrug,  nach  einer  von  Eenst  (S.  121)  aufgestellten  stati- 
stischen Tabelle,  von  1568 — 1593  durchschnittlich  in  der  Großmünster- 
schule 136,  in  der  Frauenmünsterschule  84,  im  lectorium  27.    Darunter 
waren  regelmäßig  auch  eine  nicht  ganz  geringe  Zahl  (10 — 20)  Fremde, 
auch    graflicher  und   fürstlicher  Geburt     Stipendiaten   wurden  etwa 
60 — 70  gehalten,   mit  einem  Aufwand   von   etwa  1800  fl.     Die  Be- 


280  II,  5,  Die  Neubegründung  d,  Gelehrtenschulwesens  in  den  prot  Gebieten. 


soldungen  der  Lehrer  betrugen  zusammen  etwa  1900  fl.,  alles  aus 
Kirchengut  (Ernst,  S.  132  ff.).  Die  Stipendiaten  wurden  übrigens  in 
der  Regel  auf  kürzere  oder  längere  Zeit  auf  auswärtige  Universitäten 
geschickt.  Eine  große  Kalamität  war,  daß  sie  häufig  vorzeitig  heirateten, 
was  gewöhnlich  ihre  „Beurlaubung^^  zur  Folge  hatte.  —  Ahnliche  Ein- 
richtungen wurden  von  Zürich  auch  nach  Bern  verpflanzt,  wie  man 
bei  Kummer,  Gesch.  des  Schulwesens  im  Kanton  Bern  nachsehen  mag. 
In  Basel  kam  es  1529  zu  einer  Reformationsordnung,  welche 
auch  die  Grundzüge  einer  Schulordnung  enthielt;  Oecolampadius  war 
ihr  Urheber.  Zu  den  drei  Lateinschulen,  jede  mit  drei  Abteilungen, 
unter  drei  humanistisch  -  reformierten  Schulmeistern,  J.  Oporinüs, 
J.  Sphyractus,  X.  Betülejus,  kam  1533  ein  Konvikt  im  Dominikaner- 
kloster. Nach  allerlei  Anläufen  und  Irrungen,  die  man  in  Burcehardt- 
BiEDERMANNS  Geschichtc  nachlesen  mag,  kam  es  endlich  dahin,  daß 
die  Schule  am  Münster  unter  der  Leitung  Th.  Platters  (1544 — 1578) 
zu  einer  vierklassigen  Oberschule  sich  entwickelte.  Platter,  der  vor- 
her nach  Straßburg  ging,  die  dortige  neue  Schule  Sturms  zu  sehen, 
richtete  den  Unterricht  nach  folgendem  Schema  ein  (der  Lehrplan  von 
1544,  als  Bericht  deutsch  verfaßt,  bei  Bürcehardt  S.  280  fEl).  Die 
vier  Klassen  haben  täglich  vier  Unterrichtsstunden,  um  7,  9,  1,  3  Uhr; 
in  der  jedesmaligen  Zwischenstunde  mögen  die  Schüler  in  der  Schule 
bleiben  und  für  sich  arbeiten.  Die  unterste  Klasse  lernt  Lesen  und 
Schreiben,  und  gelegentlich  lateinische  Wörter.  Die  zweite  beginnt 
die  lateinische  Grammatik  zu  lernen  und  an  Erasmus'  coUoquioy  Casta- 
lios  dialogi  scuri  und  Ciceros  ausgewählten  Briefen  einzuüben.  Wenn 
sie  den  Donat  auswendig  und  die  gemeinsten  Regeln  erlernt  haben, 
werden  sie  in  die  dritte  Klasse  gesetzt,  wo  Grammatica  Philippi 
Latina  auswendig  gelernt  und  aus  Cicero  de  senectute  formulae  lo- 
quendiy  proverbia  et  sententiae  gesammelt  werden.  Dazu  wird  Rhetorik 
und  Poetik  angefangen:  in  eclogis  zeigt  man  ihnen,  wie  auch  im  Cicero, 
die  leichtesten  figuras  po'etarum.  Die  vierte  Abteilung  setzt  diese 
Übungen  fort  und  fügt  dazu  die  Dialektik.  An  den  Metamorphosen 
Ovids  zeigt  man  tropos  und  Schemata  po'etarum  samt  anderem,  das  den 
Poeten  eigen  ist.  Im  Terenz  zeigt  man  phrases  an;  ebenso  in  den 
Briefen  Ciceros  das  artificium  dialecticum  et  rhetoricum,  formtdas  locU' 
tionum,  Schemata  etc.  Daneben  werden  Melanchthoks  Lehrbücher 
der  Rhetorik  und  Dialektik,  sowie  ein  paar  andere  grammatisch-rheto- 
rische Kompendien  gebraucht  Überall  wird  an  einem  Tage  vom 
Lehrer  exponiert,  am  andern  von  den  Schülern  reposciert  In  der 
dritten  Klasse  beginnt  man  Episteln  zu  machen,  nach  dem  deutschen 
Argument,  aus  dem  Cicero  gezogen;  in  der  vierten  machen  sie  Episteln, 


Die  Sohulreformation  in  Basel.  281 


ohne  vorgeschrieben  Argoment,  über  freigewählte  Themata,  etwa  aus 
den  Briefen  Ciceros  entnommen.  Griechisch  wird  in  III  begonnen, 
in  lY  die  Grammatik  Ceporini  gelernt  und  an  Lucians  Dialogen  ein- 
geübt, indem  von  Wort  zu  Wort  decUnatianes  nominum  et  verborum 
et  omräum  partium  orationis  examiniert  werden.  —  Musica  wird 
wöchentlich  eine  Stunde,  Religionsunterricht  täglich  die  erste  Stunde, 
Katechismus  und  heilige  Schrift,  getrieben.  „Wenn  sie  dann  wohl 
geübt  in  der  Grammatik  beider  Sprachen,  auch  einen  Anfang  haben 
in  Lialecticis  et  Rhetoricis,  item  so  viel  in  autoribus  versiert,  daß  sie 
nun  forthin  verstehen,  so  man  einen  autorem  nicht  mehr  deutsch, 
sondern  latina  expositiane  proponiert:  sollen  und  mögen  sie  dann  mit 
Nutzen  deponieren  und  sich  für  einen  Studenten  lassen  einschreiben.'^ 

Die  Universität  beschwerte  sich  im  Interesse  ihres  Pädagogiums 
lebhaft  über  diesen  Schulplan,  als  welcher  auf  ihr  Gebiet  übergreife. 
Momerus,  Virgilü  Aeneis,  Ovidii  Metamarphoses,  Oiceronis  orationes  und 
dergleichen  herrliche  antares  seien  alle  Zeit  bei  den  hohen  Schulen 
gelesen  worden;  was  solle  man  nach  solchen,  die  für  die  besten  ge- 
halten würden,  noch  bieten?  Auch  die  Dialektik  gehöre  auf  die  Uni- 
versität Nach  langen  Streitigkeiten  kam  eine  Einigung  zu  Stande,  worin 
die  Universität  ihr  Aufeich tsrecht  durchsetzte,  der  Schulplan  aber  im 
wesentlichen  blieb.  Die  Schüler  der  obersten  Dekane  sollen  der 
philosophischen  Fakultät  zur  Prüfung  vorgeführt  und  dann  an  die  Uni- 
versität übergehen,  doch  nur  mit  Einwilligung  des  Schulmeisters; 
nämlich  zu  verhüten,  daß  die  Universität  sie  der  Schule  zu  früh  ab- 
spenstig mache.  1588  fand  endlich  eine  Reorganisation  des  Basler 
Gelehrtenschulwesens  in  dem  Sinne  statt,  daß  die  kleinen  Schulen  zu 
einer  großen  sechsklassigen  Anstalt  zusammengelegt  wurden.  Der  Lehr- 
plan, den  die  Universität  dieser  Stadtschule  gab,  bezeichnet  als  Ziel 
des  Kursus:  die  Kenntnis  der  lateinischen  und  griechischen  Sprache, 
sowie  der  nützlichen  und  notwendigen  freien  Künste  der  Dialektik  und 
Rhetorik  (S.  285  ff.).  —  Bei  der  Spärlichkeit  sicherer  statistischer  Daten 
mögen  die  Zahlen  der  Schüler,  welche  sich  bei  der  Zusammenlegung 
in  den  einzelnen  fanden,  mitgeteilt  werden:  die  Schule  am  Münster 
zählte  206,  zu  St.  Peter  124,  zu  St  Theodor  24  Schüler.  Daneben 
gab  es  350  Knaben  in  den  deutschen,  und  75  Mädchen  in  der 
Martinsschule. 

In  Straßburg  begann,  nachdem  die  alten  Schulen  sich  verlaufen 
hatten,  um  die  Mitte  der  20er  Jahre  ein  protestantisches  Unterrichts- 
wesen aufzukommen.  Seit  1525  standen  J.  Sapidüs  (von  Schlettstadt 
her  uns  bekannt)  und  Otto  Bsunfels  (der  Schildträger  Huttens  in 
seiner  letzten  Fehde,  dem  Streit  mit  E&asmüs)  mit  Genehmigung  des 


282  Uy  5,  Die  Neubegründung  d.  Gekkrtenschulweaens  in  den  prot  Gebieten, 


Bats  zwei  Schulen,  im  Prediger-  und  im  Karmeliterkloster,  vor,  in 
denen  Lateinisch  und  Griechisch  gelehrt  wurde.  Dazu  wurden  von 
den  neuen  Predigern  theologische  Vorlesungen  gehalten:  Bützeb  und 
Capito  lasen  im  St  Thomasstift  über  das  neue  und  alte  Testament; 
endlich  fanden  in  dem  freigewordenen  Dominikanerkloster  Vorlesungen 
über  die  griechische  und  hebräische  Sprache,  in  der  Mathematik,  Poetik, 
Rhetorik  und  im  weltlichen  Hecht  statt,  die  Stadt  gab  den  Lektoren 
ein  Stipendium.  Im  Jahre  1528  wurde  vom  Bat  eine  Schulkom- 
mission von  drei  Scholarchen  errichtet,  denen  zwei  Prediger  als  Visi- 
tatoren beigegeben  waren.  Jac.  Sturm,  ein  Schüler  Wimphelikos, 
hatte  darin  die  führende  Stellung.  Vierteljährlich  erschienen  sämtliche 
Schulmeister,  auBer  den  lateinischen  auch  die  deutsehen  Lehrmeister, 
vor  den  Schulherren,  um  sich  gegen  Klagen  zu  rechtfertigen,  Ver- 
mahnungen zu  emp&ngen,  Wünsche  zu  äußern.  Die  Protokolle  dieser 
Sitzungen,  aus  denen  bei  Engel  (das  Schulwesen  Straßburgs  bis  1538) 
einiges  mitgeteilt  ist,  lassen  den  ganzen  Schulbestand  Straßburgs  um 
1585  erkennen.  In  der  Schule  des  Sapidüs,  über  dessen  Unfleiß  leider 
vielfach  zu  klagen  ist,  sind  140,  in  der  des  Dasypodius  (der  an  Bbun- 
FELs'  Stelle  getreten  war)  80  Schüler;  eine  dritte  Lateinschule  wird 
eben  errichtet,  sie  hat  bald  56  Schüler.  Dazu  werden  mehrere  latei- 
nische Privatschulen  erwähnt.  Femer  kommen  8  deutsche  Lehrmeister 
vor,  jeder  mit  etwa  50 — 100  Schülern;  auch  fehlt  es  nicht  an  Mädchen- 
schulen. 

Im  Jahre  1537  kam  Johannes  Stübm  nach  Straßburg,  der 
Mann,  dessen  Name  den  pädagogischen  Buf  Straßburgs  in  den  Schul* 
geschichten  begründet  hat^  Zu  Schieiden  in  der  Eifel  1507  geboren, 
hatte  er  die  Schule  zu  Lüttich  (1521 — 1524),  dann  die  Universität 
Löwen  besucht  und  seit  1529  an  der  Pariser  Universität  lernend  und 
lehrend  seine  Studien  fortgesetzt.  Er  wurde  jetzt  als  Professor  der 
Bhetorik  und  Dialektik  am  Kollegium  im  Dominikanerkloster  (mit 
140  fl.  Gehalt)  angestellt;  seine  Herrschaft  über  die  Sprache  und  seine 
Kenntnisse  übten  alsbald  ungewöhnliche  Anziehungskraft.  Noch  in 
demselben  Jahr  wurde  er  von  den  Schulherren  zur  Teilnahme  an  der 
Beratung  der  schwebenden  Organisationsfragen  herangezogen.   Er  faßte 

*  Über  Sturm  jetzt  außer  Ch.  Schmidts  Vie  de  St.  besonders  die  Schrift 
von  Veil,  Zum  Gedächtnis  J.  St.  (1888).  Eine  eingehende  Darstellung  und 
Würdigung  Sturms  von  G.  Scumid  jetzt  auch  in  der  Geschichte  der  Erziehung, 
II,  2,  302—388,  imd  in  Zi£oleks  Geschichte  der  Pädagogik,  sowie  in  dessen 
Artikel  in  der  Allg.  Deutschen  Biographie.  Noch  ist  zu  vergleichen  £.  Laas, 
Die  Pädagogik  des  J.  St  (1872);  K.  v.  Raümer  in  der  Geschichte  der  Pädagogik; 
BossLBR  in  ScnMTDs  Enoyklopädie. 


Joh.  Sturm  und  die  Straßburger  Schute.  283 

einen  Bericht  ab,  der  später  in  erweiterter  Überarbeitung  gedruckt 
wurde  (1538);  es  ist  die  berühmte  Abhandlung:  JDe  litterarum  ludis 
rede  aperiendis.  Der  Bericht  (bei  Engel  S.  67  ff.)  fand  den  Beifall  der 
Schulherren,  er  ist  die  Grundlage  der  neuen  Organisation  geworden, 
die  im  Jahre  1538  zur  Ausfuhrung  gebracht  wurde.  Der  Hauptpunkt 
ist:  Zusammenfassung  der  zerstreuten  kleinen  Anstalten  in  eine  ein- 
heitliche Studienanstalt  mit  acht  in  Jahreskursen  aufsteigen- 
den Klassen.  Das  Muster  bot  dem  Stubm  die  Lütticher  Schule. 
Der  Bericht  beschreibt  die  Einrichtung,  die  sich  dort  so  sehr  bewährt 
habe,  daß  man  von  einem  Anlauf  zur  Auflösung  der  Anstalt  in  ein- 
zelne Schulen  wieder  zurückgekommen  sei,  in  folgender  Weise:  Acht 
Klassen  waren  vorhanden;  die  drei  untersten  lernten  lesen  und  schrei- 
ben und  die  lateinische  Grammatik;  in  der  Quinta  begannen  Stil- 
übungen in  Prosa  und  Versen,  mit  Lektüre,  dazu  der  griechische 
Unterricht;  in  der  Quarta  und  Tertia  kamen  Rhetorik  und  Dialektik 
nebst  kleinen  Deklamationen  hinzu.  Von  den  beiden  Oberklassen 
trieben  die  Sekunda  aristotelische  Logik,  Flato,  Euklid,  Jura,  die  Prima 
Theologie,  mit  Disputationen.  Wie  es  scheint,  sind  in  diese  Darstel- 
lung Erinnerungen  an  Lüttich  und  Aussichten  für  Straßburg  in  ein 
Bild  zusammengeschmolzen,  ii^ie  denn  auch  die  Bede  zwischen  erzäh- 
lendem Imperfectum  und  forderndem  Präsens  wechselt.  Es  ist,  wie 
Veil  im  einzelnen  zeigt  (S.  24  ff.),  der  Lütticher  Plan  so  erweitert, 
daß  er  dem  in  Straßburg  Vorhandenen  und  dem  von  Stusm  Ge- 
wünschten sich  anpaßte,  um  den  Schulherren  die  Möglichkeit  des  Dar- 
gestellten durch  seine  geschichtliche  Wirklichkeit  zu  zeigen.^  Ebendort 
wird  darauf  hingewiesen  (S.  37),  wie  weite  Aussichten  den  Straßburgem 
und  ihrem  Berater  eben  damals  für  ihre  Studienanstalt  vorschwebten: 
eine  Gentraluniversität  für  die  ganze  protestantische  Welt,  in  der  Mitte 
zwischen  Deutschland  und  Frankreich,  zwischen  Süden  und  Norden, 
und  so  innerlich  zwischen  der  lutherischen  und  der  schweizerischen 
Reformation. 


^  Es  ist  mir  keine  Geschichte  des  Lütticher  Schulwesens  bekannt.  Mit 
den  8  Klassen,  Dekurionen  u.  s.  w.  wird  man  gut  thun,  es  nicht  allzu  großartig 
zu  nehmen.  Von  der  Schule  zu  Zwolle  wird  auch  bericlitet,  daß  sie  bei  großer 
Frequenz  unter  dem  Rektor  Cele  (f  1417)  ihre  Schüler  in  8  Klassen  geteilt 
habe:  den  obersten  beiden  Klassen  (toeis)  standen  zwei  Hilfslehrer  (tnagistri 
artium)  vor,  den  andern  6  Klassen  wurden  Schüler  der  ersten  Klasse  zu  Lehrern 
gesetzt:  primarios  de  primo  toco  tocis  inferioribus  in  lectionibtis  et  exnrnmatiO' 
nibus  praeesse  eonstituit  (s.  den  oben  erwähnten  Artikel  von  Hirsche  über  die 
Brüder  vom  gem.  Leben  in  Herzogs  Realencyklopädie  d.  prot.  Theol.  -^  Ein 
Schüler  der  Lütticher  Schule  ist  auch  P.  Plateanus,  Rektor  in  Zwickau  seit  1585. 
Über  ihn  Erler,  Zwickauer  Progr.  1878. 


284  //,  5,  Die  Neubegründung  d.  OeUlirtenschulweeens  in  den  proi.  Gebieten. 


j>  Noch  im  Jahre  15M  wurde,  wesentlich  auf  Betrieb  Jacob  Sturms, 
die  neue  kombinierteStudienanstalt  ins  Werk  gesetzt  und  Jon.  Sturm 
zu  ihrem  Rektor  bestellt  Das  Dominikanerkloster,  in  dem  die  philo- 
logischen und  philosophischen  Vorlesungen  bereits  ihren  Sitz  hatten, 
wurde  ausgebaut  um  auch  die  Lateinklassen  aufzunehmen.  Die  Lehrer 
und  Schüler  der  bisher  isolierten  drei  Lateinschulen  wurden  zu  einer 
achtklassigen  Anstalt  zusammengefaßt,  die  bald,  durch  Teilung  der 
untersten,  zu  einer  neun-,  später  zehnklassigen  erweitert  werden  mußte. 
Hieran  schließen  sich  dann  erst  die  lectionee  publicae,  für  deren  voll- 
ständige Absolvierung  fünf  Jahre  in  Aussicht  genommen  wurden.  Die 
Klassen  allein  zäMten  bei  der  Eröffiiung  336,  in  den  40er  Jahren  um 
600  Schüler,  unter  ihnen  zahlreiche  und  vornehme  Auswärtige.  Später 
litt  die  Anstalt  und  ihr  Rektor  unter  den  Drangsalen  der  Eriegsstürme 
und  der  rabies  theologorum. 

Betrachten  wir  nun  etwas  genauer  den  Inhalt  jener  Schulschrift 
de  litterarum  ludie  recte  aperiendis,  die  Sturm  als  Inaugurationsschrift 
der  neuen  Studienanstalt  veröffentlichte.  Sie  giebt  einen  genau  sche- 
matisierten Studiengang.  ^  Als  Ziel  des  ganzen  Unterrichts  wird  be- 
zeichnet sapiens  atque  eloquens  pietas.  Es  ist,  in  eine  glückliche 
Formel  gefaßt,  das  Ziel  der  neuen  protestantisch-humanistischen  Ge- 
lehrtenschulen überhaupt:  Sachkunde  und  Darstellungsgabe  im  Dienst 
des  neuen  evangelischen  Glaubens.  Den  Schulklassen  fallt  davon  als 
ihre  wesentliche  Aufgabe  die  Eloquenz  zu,  das  ist  die  Fähigkeit 
des  sprachlich  richtigen,  sachlich  angemessenen,  logisch 
durchsichtigen  und  rednerisch  wirksamen  Vortrags.  Diesem 
Zweck  dienen  zunächst  die  drei  formalen  Disziplinen,  die  artes  dicendij 
Grammatik,  Dialektik,  Rhetorik;  sie  beherrschen  den  ganzen  Schul- 
unterricht Auf  jeder  Stufe  des  Unterrichts  aber  wirken  wieder  drei 
Stücke  zusammen:  1)  die  Theorie  (praecepta  dicendi),  Gnunmatik  und 
Metrik  auf  der  Unter-  und  Mittelstufe,  Rhetorik  und  Dialektik  auf 
der  Oberstufe.  2)  Musterbeispiele  (exempla),  sie  sind  den  alten 
Schriftstellern,  und  zwar  nur  den  besten  zu  entnehmen,  im  Lateinischen 
vor  allem  Cicero  und  Virgil,  im  Griechischen  Demosthenes  und  Homer. 
3)  Übungen  in  der  Nachbildung  (imitatio),  zuerst  kleine  sprach- 
liche Übungen,  sodann  Versuche  in  der  Nachbildung  litterarischer 
Werke,  in  Prosa  und  Versen. 


^  Sie  ist  mitgeteilt  in  der  VoRMBAUMschen  Sammlung,  Bd.  I,  635 ff.; 
wo  auch  die  andern  wichtigen  Schulorganisationsschriften  Sturms  abgedruckt 
sind:  Classicarum  epistolarum  Hb,  III  (1565),  Academiearum  epistolarum  L  I 
(1569),  Scholae  Lauinganae  (1565).  Ein  vollständiges  Verzeichnis  von  Sturms 
Schriften  in  Schmidts  Biographie,  S.  314  ff. 


Joh,  Sturm  und  die  Straßbwrger  Schule.  285 


Stubm  giebt  dann  eine  bis  ins  einzelne  ausgeführte  Anweisung 
für  den  Unterricht  Ein  sorgföltig  ausgeführter  Klassenschematismus 
teilt  die  Schülerschaft  in  neun  Abteilungen  (ordines,  tribus,  curiae)^ 
jede  unter  einem  Lehrer,  der  den  ganzen  Unterricht  in  der  Hand  hat. 
Die  Abteilungen  sollen  in  ebenso  vielen  Jahren  durchlaufen  werden.  In 
die  unterste  oder  neunte  tritt  der  Schüler  etwa  nach  zurückgelegtem 
fünften  Jahr  ein  und  soll  hier  außer  lesen  und  schreiben  (deutsch  und 
lateinisch),  auch  mit  deklinieren  und  konjugieren  einen  Anfang  machen. 
In  der  folgenden  achten  Abteilung  wird  die  Formenlehre  gelernt  und 
an  Tirgils  Eklogen  und  Ciceros  ausgewählten  Briefen  eingeübt,  erst 
die  Flexion,  dann  die  Konstruktion.  Auch  fangen  sie  an  Latein  zu 
sprechen  und  Verse  zu  imitieren.  In  der  siebenten  Abteilung  sollen 
die  Knaben  Cicero  und  Virgil  lesen,  und  die  übrigen  Versarten  aus 
CatuU,  Tibull  und  Horaz  kennen  und  natürlich  imitieren  lernen.  In  der 
sechsten  Klasse  fahren  sie  fort  und  nehmen  Caesar  und  Terenz  hinzu. 
Am  Ende  dieser  vier  Kurse,  also  bei  vollendetem  neunten  Lebensjahr, 
meint  Stübm,  könne  es  nicht  fehlen,  daß  der  Knabe  des  Lateins 
einigermaßen  machtig  sei.  Daher  können  sie  in  der  fünften  das 
Griechische  beginnen,  taglich  eine  Stunde,  erst  Grammatik,  dann 
dazu  Übungen  am  Aesop  und  Demosthenes;  daneben  Cicero  und  Virgil. 
In  der  vierten  kann  gleichmäßig  Cicero  und  Demosthenes,  Virgil  und 
Homer,  auch  Sallust  und  Plautus  gelesen  werden.  Femer  werden  die 
Regeln  der  Rhetorik  gelernt  und  an  Beispielen  erläutert  und  ange- 
wendet. In  der  dritten  Klasse  kommt  die  Dialektik  hinzu;  die  Lek- 
türe von  Cicero  und  Demosthenes  giebt  die  Beispiele;  von  Historikern 
wird  Sallust,  Cäsar,  auch  Livius  gelesen.  Die  zweite  Klasse  treibt 
die  rhetorischen  und  dialektischen  Studien  weiter,  Ciceros  rhetorische 
Schriften  und  Demosthenes  werden  gelesen,  analysiert,  imitiert,  auch 
wohl  ein  platonischer  Dialog  vorgenommen.  Der  ersten  Klasse  wird 
Aristoteles  tibqI  iQ(ifjvuag  und  sein  Werk  de  mundo  vorgelegt,  gut  duo 
eodem  anno  una  aliqua  hora  quotidiana  facile  percipiuntur,  Tradenda 
etiam  Ärithmetica  sunt  et  excutiendus  Mela  et  proponendus  Proclus  et 
cognoscenda  sunt  Ästrologiae  elementa,  Demosthenes  adhuc  etiam  et 
Homerus  interpretabuntur  (sie),  quibus  Ciceronis  oratorios  libros  adjungo, 
Dandum  etiam  ocium  scripturae  et  stilo,  neque  deponenda  commentandi 
exercitatio.  Man  sieht  es  fehlt  der  Straßburger  Jugend,  sie  voll- 
endet nach  dem  Schema  das  14.  Lebensjahr  in  der  Prima,  nicht  an 
„hohen  Autoren."  —  Ist  die  Schule  absolviert,  hat  der  Knabe  die  artes 
dicendi  gründlich  inne,  so  folgen  die  lectiones  publicae;  erst  ein  philo- 
sophischer Kursus,  als  dessen  Hauptaufgabe  bezeichnet  wird:  zur  priva- 
ten Lektüre  anzuleiten;  daher  von  allen  Schriftstellern,  die  man  den 


286  //,  5,  Die  Neuhegründung  d,  öelehrtenschulwesens  in  den  proL  Gebieten, 


jungen  Leuten  nicht  ohne  weiteres  überlassen  kann,  Proben  vorgelegt 
werden  müssen.  Außer  den  Dichtern  (Euripides,  Sophokles,  Aeschylns, 
Aristophanes)  und  Historikern  (Thucydides,  Herodot,  Xenophon)  kommen 
vorzugsweise  die  Philosophen  in  Betracht,  unter  denen  die  drei  vornehmsten 
sind  und  bleiben  werden:  Aristoteles,  Plato,  Cicero.  Endlich  schließen  sich 
die  Vorlesungen  der  Theologen,  Juristen  und  Mediziner  an.  — 

Der  Schulplan  nimmt  sich  in  dem  eleganten  Vortrag  Stübms 
sehr  elegant  und  vornehm  aus.  Ob  Stubm  ein  ebenso  großer  Schul- 
meister, als  Klassen-  und  Stundenplankünstler  war,  ist  wohl  nicht 
unzweifelhaft.  Er  war  überhaupt  an  dem  Unterricht  in  den  Schul- 
klassen nicht  als  Lehrer,  sondern  nur  als  Rektor  beteiligt,  der  den 
Plan  entwarf,  die  Lehrer  instruierte,  die  Prüfungen  leitete.  Seine 
Stellung  zur  Schule  ist  nicht  unähnlich  der  eines  Studienpräfekten  in 
einem  Jesuitenkolleg.  Als  Lehrer  war  er  nur  in  den  öffentlichen 
Lektionen  als  Professor  der  Dialektik  und  Rhetorik  thätig.  Übrigens 
war  er  ein  Mann,  der  überall  nach  hohen  Dingen  trachtete;  er  hatte 
seine  Hände  in  der  großen  Politik,  er  unterhielt  Beziehungen  zu  zahl- 
reichen Höfen  und  bezog  von  vielen  Pensionen.  Durch  die  Politik 
wurde  er  auch  in  die  schweren  Kämpfe  und  Verwirrungen  hineinge- 
zogen, die  seine  letzten  Jahre  trübten  und  zuletzt  noch  zur  Entlassung 
aus  dem  Amt  führten  (1581).  Wie  viel  Kraft  dabei  für  die  Thätigkeit 
des  Rektors  übrig  blieb,  vermag  ich  nicht  zu  sagen.  Vielleicht  war 
es  mehr  der  Ruf  des  Professors  und  das  Ansehen  des  gelehrten  und 
eleganten  Schriftstellers,  als  die  Leistung  für  die  Schule,  wodurch  er 
für  die  Straßburger  Studienanstalt  wirkte.  Als  ihr  Repräsentant  nach 
außen  hat  er  gewiß  durch  seine  Eloquenz  und  durch  seine  ganze  Er- 
scheinung, wenn  wir  einem  der  Biographie  Schmidts  beigegebenen  Bild- 
nis glauben  dürfen,  auf  sehr  vollkommene  Weise  erfüllt.  Den  Zulauf  von 
vornehmen  jungen  Herren,  Grafen-  und  Fürstensöhnen,  von  dem  oft  die 
Rede  ist,  wird  die  Straßburger  Schule  wohl  vorzugsweise  ihrem  vor- 
nehmen Rektor  und  seinen  vielseitigen  Beziehungen  zu  danken  haben. 

Daß  der  wirkliche  Klassenunterricht  neben  dem  zur  Schau  auf- 
gestellten Studienplan  des  Rektors  seinen  eigenen  Weg,  den  Weg  des 
Möglichen  ging,  darüber  fehlt  es  uns  nicht  ganz  an  Mitteln,  uns  zu 
unterrichten.  Einer  der  Lehrer,  Dasypodius,  wie  es  scheint  der  be- 
deutendste unter  den  Mitarbeitern  Sturms,  hat  über  die  Straßburger 
Schule  einen  schlichten,  den  wirklichen  Lehrgang  einfach  beschreiben- 
den Bericht  verfaßt.^    Hiernach  wird  in  den  drei  unteren  Klassen  die 


^  Veröffentlicht  von  Hikzel  im  Anhang  zu  einem  Aufsatz  über  Dasypodius 
im  Neuen  Schweizerischen  Museum,  VI,  168fF.  Der  Bericht  ist  vom  Jahre  1556, 
an  einen  Rat  des  Grafen  von  Hanau  auf  dessen  Erfordern  abgefaßt. 


Joh.  Sturm  und  die  Straßbtdrger  Schule.  287 

lateinische  Formenlehre  gelernt  und  an  kleinen  Lesestücken  aus  Ciceros 
Briefen  eingeübt.  VI  und  V  lernen  die  Syntax  und  die  Elemente  des 
Griechischen,  wozu  in  der  IV  die  Prosodie  und  Metrik  kommt;  sie 
wird  an  ein  paar  Eklogen  Virgils  eingeübt  Dazu  werden  hier  ein 
paar  kleine  Schriften  Ciceros  (de  sen,  und  de  amic.)  gelesen  und  im 
Griechischen  ein  paar  kleine  Fabeln  Aesops.  Erst  in  III  beginnt  die 
eigentliche  Lektüre:  drei  Reden  Ciceros  und  Bach  I  und  II .  der 
Aeneide,  die  Besseren  versuchen  auch  einen  Vers  zu  machen.  Im  ' 
Griechischen  wird  Lucian  gelesen.  In  II  und  I  wird  die  Dialektik 
und  Rhetorik  nach  einem  Lehrbuch  Sturms  gelernt,  Cicero  und  De- 
mosthenes  bieten  die  Beispiele.  Daneben  wird  Virgil,  sowie  einmal  ein 
Buch  Homer  und  ein  Dialog  Flatons  gelesen. 

Übrigens  hat  Stubm  selbst  noch  einmal  einen  Lehrplan  für  die 
Straßburger  Schule  entworfen,  in  Gestalt  von  Briefen  an  die  einzelnen 
Klassenlehrer  (daher  Epistolae  classicae,  vom  Jahre  1565).  Es  wird 
darin  der  LTnterricht  und  das  Ziel  der  Klassen  beschrieben,  nicht  ohne 
betrachtliche  Nachgiebigkeit  gegen  die  Wirklichkeit.  Der  elementar- 
grammatische Kursus  ist  um  ein  Jahr  erweitert,  so  daß  nun  im  ganzen 
zehn  Jahreskurse  gezählt  werden.  Die  Beschreibung  der  lateinischen 
Übungen  läßt  sie  als  elementarer  gehalten  erscheinen.  Die  Sammlung 
von  gelesenen  Wörtern  und  Formeln  in  die  Diarien  ist  in  den  unteren 
Klassen,  die  Lektüre  der  Redner,  um  an  ihnen  die  Regeln  der  Rhe- 
torik zu  erläutern  und  zugleich  Muster  der  Imitation  zu  gewinnen,  ist 
in  den  oberen  Klassen  das  Hauptstück  des  Unterrichts.  Die  Poesie 
beginnt  mit  der  Prosodie  erst  im  fünften  Kurs,  statt  im  zweiten  oder 
dritten.  Ebenso  ist  die  Erlernung  der  griechischen  Grammatik  vom 
fünften  auf  den  sechsten  und  siebenten  Kurs  verschoben,  und  die 
Dialektik  den  beiden  obersten  Klassen  vorbehalten.  Von  der  Lektüre 
des  Aristoteles  ist  nicht  mehr  die  Rede.  Dagegen  werden  die  Briefe 
Pauli  in  den  oberen  fünf  Klassen  gelesen.  Der  Bericht  des  Dasypodius 
hat  dafür:  Sonntags  wird  die  Religion  gelernt,  in  den  unteren  Klassen 
aus  dem  Katechismus,  in  den  oberen  aus  den  Evangelien  und  Briefen. 

Bemerkt  seien  noch  ein  paar  Äußerlichkeiten  des  TJnterrichts- 
betriebs.  Das  Klassenlehrersystem  ist  streng  durchgeführt  Die  Klassen 
haben  Jahreskurse,  mit  Versetzungsprüfungen  am  Schluß;  doch  findet 
auch  wohl  Versetzung  nach  Y2  J**^^  s^*^-  Öffentliche  Aufführungen 
lateinischer  Stücke  dienen  der  Einübung  der  Sprache,  die  selbstver- 
ständlich allein  Schul-  und  Unterrichtssprache  ist  Deklamationen  und 
Disputationen  dienen  demselben  Zweck,  der  Einübung  der  Sprache  und 
der  Regeln,  zugleich  reizen  sie  den  Ehrtrieb,  ebenso  wie  die  Certationen 
und  Prämien.     Als  Helfer  dienen  dem  Lehrer  die  Dekurionen.    Allen 


288  II,  5.  Die  Neubegründung  d.  OelehrtenschtUwesens  in  den  prot  Gebieten* 


diesen  Dingen  werden  wir  in  den  Jesoitenschulen  wieder  begegnen. 
Sie  sind  dem  TJnterrichtswesen  des  16.  Jahrhunderts  nirgends  fremd. 
Im  Jahre  1566  wurde  ein  alter  Plan  Sturms  wenigstens  zum 
Teil  verwirklicht:  die  öffentlichen  Lektionen  wurden  als  privilegierte 
Akademie  konstituiert  und  diese  vom  Kaiser  mit  dem  Recht,  Bacoalarien 
und  Magister  in  der  Philosophie  zu  kreieren,  ausgestattet  Stubm  blieb 
Rector  perpetuus  der  Anstalt.  Seine  Absicht  war  auf  eine  vollständige 
Universität  gerichtet  gewesen,  doch  hatte  der  Rat,  in  verständiger  Er- 
wägung der  Mittel,  za  einem  so  weit  aussehenden  Unternehmen  nicht 
den  Mut  Die  Denkschrift,  worin  Stubm  dem  Rat  die  Bewerbung  um 
die  Privilegien  dringend  anriet,  ist  kürzlich  veröffentlicht  worden.^  Sie 
läßt  einen  Blick  in  die  Verhältnisse  der  Schule  thun,  der  ein  anderes 
Bild  als  die  traditionellen  Berichte  zeigt  Während  diese  von  dem 
ungeheuren  Zulauf,  von  Tausenden  von  Schülern  wissen,  heißt  es  dort, 
daß  sehr  wenige  Schüler  bis  zur  Absolvierung  der  beiden  obersten 
Klassen  oder  gar  der  öffentlichen  Lektionen  aushielten.  Die  beiden  obersten 
Klassen,  welche  wiederholt  als  die  besten  Klassen,  als  der  eigentliche 
Zweck  der  Anstalt  bezeichnet  werden,  stünden  halb  leer,  statt  60 — 70 
Schüler  seien  die  letzten  Jahre  nicht  mehr  als  neun  zum  Schluß- 
examen gekommen  und  publici  geworden.  Dadurch  seien  denn  auch 
die  öffentlichen  Akte,  Disputationen  und  Deklamationen  behindert  wor- 
den. Die  Ursache  sei  der  Mangel  an  Berechtigungen.  Wer  die  Schule 
durchgemacht,  gelte  damit  noch  nicht  für  einen  Studenten,  sondern  werde, 
wenn  er  auf  eine  Universität  komme,  erst  deponiert,  wie  jeder  andere 
Beanus.  Um  diesen  tTbelständen  abzuhelfen,  schlägt  die  Denkschrift 
vor,  nach  folgenden  Berechtigungen  zu  trachten:  erstens,  daß  die  Schüler, 
welche  die  acht  untersten  Klassen  durchlaufen  haben,  nach  bestande- 
nem Examen  für  deponierte  studiosi  gelten  und  nicht  mehr  unter  der 
'  Disziplin  der  Rute  stehen;  zweitens,  daß  durch  die  Vollendung  der 
beiden  obersten  Kurse  das  Baccalariat,  und  drittens,  daß  durch  Absol- 
/  vierung  der  öffentlichen  Lektionen  das  magisterium  erworben  werde. 
,  j  Die  Bewerbung  des  Rats  hatte  Erfolg  und  die  Anstalt  erhielt  die 

\'  gewünschten   Berechtigungen.     Über  ihren   Bestand   im  Jahre  1578 

giebt  ein  gleichzeitiges  Schriftstück,  welches  von  zwei  Lehrern  ver- 
öffentlicht wurde,  einige  Auskunft^  Der  Lektionsplan  der  Akademie 
weist  auf:  vier  Lektionen  in  Theologie,  drei  in  Jurisprudenz,  zwei  in 


^  Albbecbt,  Beiträge  zur  Straßburger  Schulgeschichte  (U),  1874. 

*  Actus  tres  Academiae  Reiptät,  Ärgent.  1)  da^aicorutny  2)  bciecaktureo- 
runif  3)  magistrorum,  ex  quibtM  et  promotionum  et  legum  et  diseiplinae  et 
leetionum  ctmi  publicarum  tum  classicarum  ratio  pro  hoc  tempore  tere  cognosci 
potest.  Ärgent,  1578. 


JoÄ.  Sturm  und  du  Straßhurger  Schule,  289 


Medizin,  acht  in  Philosophie.  In  letzterer  lesen  ein  historicus,  ein 
eihicuSy  ein  organicus  (Aristoteles'  Organon).  ein  mathematicus ,  ein 
HehraeuSy  ein  Gr accus,  ein  Lateiner;  der  rector  perpetuus,  an  erster 
Stelle  genannt,  liest  über  Cicero  de  senectute.  Wie  man  sieht,  ist  es 
thatsächlich  eine  Universität;  die  Zahl  der  Lektüren  ist  nicht  geringer 
als  an  manchen  Universitäten. 

Promoviert  wurden  in  dem  Jahr  zu  Baccalarien  11,  zu  Magistern  15.  ^  ^  .-^--P. 
Die  bei  dieser  Gelegenheit  produzierten  specimina  eloquentiae  sind  mit- 
geteilt: Reden  des  Dekans,  declamatiunculae  der  Kandidaten  über  ge- 
gebene Themata,  endlich  die  üblichen  Lobgedichte  auf  jeglichen. —  Der 
Lektionsplan  der  Schulklassen  hat  im  wesentlichen  die  oben  nach  den 
Epist  Classicae  angedeutete  Gestalt  Er  kommt  übrigens  in  doppelter 
Form  in  dem  Schriftstück  vor:  einmal  in  Form  eines  Stundenplans, 
dann  auch  in  Form  eines  Schulaktus:  die  Schüler  beschreiben  beim 
actus  puhlicus  die  Klassenpensa  in  Frage  und  Antwort  Baümeb 
hat  diese  letztere  Form  bei  seinem  Bericht  benutzt;  er  irrt  aber, 
wenn  er  darin  einen  mit  protokollarischer  Genauigkeit  abgefaßten 
Examensbericht  sieht.  Mit  einem  wirklichen  Examen  hat  der  Schulaktus 
wenig  Ähnlichkeit  — 

Der  Straßburger  Schulplan  ist  oft  als  ein  großer  Fortschritt  an- 
gesehen worden.  Wenn  man  den  einfachen  Thatbestand,  wie  er,  der 
rhetorischen  Darstellung  Stübms  entkleidet,  in  dem  Stundenplan  für 
den  Sommer  1578  sich  darstellt,  ins  Auge  faßt,  dann  wird  der  Unter- 
schied gegen  die  Schulordnungen,  welche  von  den  Wittenberger  Re- 
formatoren ausgingen,  nicht  allzu  groß  erscheinen.  Hätte  Melanch-  ' 
THON  den  Plan  für  die  Schule  einer  großen  Stadt  zu  entwerfen  gehabt, 
so  würde  er  ziemlich  ähnlich  ausgefallen  sein;  sein  Entwurf  in  dem 
Visitationsbüchlein  von  1528  hat  natürlich  die  Verhältnisse  kleiner 
sächsischer  Landstädte  vor  Augen.  Die  Grundbestandteile  des  Unter- 
richts sind  übrigens  hier  wie  dort  dieselben:  Grammatik,  Rhetorik, 
Dialektik,  dazu  Musik  und  Religion;  wo  das  Bedürfnis  und  die  Mittel 
für  eine  größere  Schule  ausreichten,  wie  zu  Nürnberg,  Hamburg,  Lübeck,  • 

da  kommen,  ebenso  wie  in  Straßburg,  das  Griechische  und  die  Mathe- 
mathik  hinzu.  Die  Zahl  der  Klassen,  auf  die  man  ein  ganz  ungebühr- 
liches Gewicht  gelegt  hat,  ist  natürlich  ein  durchaus  untergeordneter 
Punkt,  sie  ist  abhängig  von  der  Zahl  der  Schüler  und  der  verfügbaren 
Lehrer.  Der  Unterschied  der  Straßburger  Schule  von  den  übrigen 
liegt  mehr  in  der  Form  des  Berichts  als  in  der  Wirklichkeit:  dort  eine 
rhetorisch  zugestutzte  Darstellung  des  Erstrebten,  hier  kurze  geschäfts- 
mäßige Darstellung  des  Wirklichen  und  Möglichen.  —  Übrigens  braucht 
nach  allem,   was  oben  beigebracht  ist,   nicht  gesagt  zu  werden,   daß 

Paulsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  19 


290  //,  5.  Die  Neubegründung  d.  Qelehrtenschulwesens  in  den  prot  Oebieten, 


auch  die  Verbindung  der  Schulklassen  mit  philosophischen  und  theo- 
logischen Kursen  nicht  eine  unerhörte  Neuerung  ist,  wie  Raumeb 
anzunehmen  scheint,  dessen  Mangel  an  Einsicht  in  die  allgemeinen 
Verhältnisse  in  dem  Urteil  über  diesen  Punkt,  wie  in  dem  Urteil 
über  Stubms  Bestrebungen  denn  freilich  überall  zu  Tage  tritt.  Aller- 
dings standen  ihm,  verglichen  mit  heute,  noch  wenig  Quellen  zu 
Gebote. 

Mit  den  40  er  Jahren  beginnt  in  der  Entwickelung  des  protestan- 
tischen Schulwesens  ein  neuer  Abschnitt;  er  ist  bezeichnet  durch  das 
kräftigere  Eingreifen  der  landesherrlichen  Gewalt:  es  werden  die  ersten 
landesherrlichen  Gelehrtenschulen  errichtet  und  landesherr- 
liche Schulordnungen  erlassen. 

Die  Sache  hängt  augenscheinlich  einerseits  mit  der  wachsenden 
Ausbreitung  und  Macht  des  Protestantismus,  andererseits  mit  der  Kon- 
solidierung der  kirchlichen  Verhältnisse  in  den  Territorien  zusammen. 
Durch  den  Beitritt  des  albertinischen  Sachsens  und  des  Kurfürstentums 
Brandenburg  zur  Lehre  Luthers  (1539)  war  der  Sieg  der  Reformation  in 
Mittel-  und  Norddeutschland  definitiv  entschieden.  Zugleich  schien  die 
Verfügung  der  landesherrlichen  Gewalt  über  die  Güter  der  Stifte  und 
Klöster  nunmehr  gesichert.  Damit  wurden  die  Mittel  für  den  Aufbau 
eines  protestantischen  Landeskirchen-  und  Landesschulwesens  verfügbar. 
Hatten  bisher  nur  die  einzelnen  Städte  ihre  Schulen  reformiert  oder 
neue  gegründet,  so  sehen  wir  nun  die  Territorien  an  die  Errichtung 
von  Schulen  gehen,  nicht  für  den  örtlichen,  sondern  für  den  Landes- 
bedarf: es  sind  die  sogenannten  Fürsten-  oder  Landesschulen, 
deren  Entstehung  für  den  zweiten  Abschnitt  dieses  Zeitalters  charak- 
teristisch ist. 
.  Die  Fürstenschulen,   um  eine  allgemeine  Kennzeichnung  voraüs- 

I  zuschicken,  sind  staatliche  Gelehrtenschulen.  Aus  öffentlichen 
Mitteln,  nämlich  eingezogenen  kirchlichen  Gütern,  ausgestattet  und 
unter  staatlich -landeskirchlich  er  Aufsicht  stehend,  haben  sie  die  Be- 
stimmung, die  besten  Köpfe  zum  Dienst  des  Landes  in  weltlichem  und 
geistlichem  Regiment  zu  ziehen.  Sie  gewähren  den  mit  Rücksicht  auf 
Tüchtigkeit,  daneben  auch  auf  Bedürftigkeit  aus  der  Schuljugend  des 
*  Landes  ausgewählten  Alumnen  einen  etwa  sechsjährigen  freien  Unter- 
halt und  Unterricht,  um  sie  dann  an  die  Universität  abzugeben,  wo 
wieder  aus  öffentlichen  Mitteln  für  ihren  Unterhalt  gesorgt  wird. 
Dafür  haben  die  Stipendiaten  dann  die  Verpflichtung,  nach  Vollendung 
der  Studien  auf  Erfordern  in  den  Dienst  des  Landes  oder  der  Landes- 
kirche einzutreten.  —  Was  den    Unterricht   anlangt,   so  bilden  die 


Gründung  der  sädtsischen  FiirstmschtUen  (1543),  291 


Landesschulen  die  Zwischenstufe  zwischen  der  stadtischen  Lateinschule  i 
und  der  Universität.  Sie  erhalten  ihre  Schüler  im  Alter  von  11 — 15 
Jahren  aus  den  Lateinschulen;  indem  sie  eine  elementare  Kenntnis 
der  lateinischen  Sprache  voraussetzen,  geben  sie  selbst  den  eigentlichen 
Gelehrtenschulunterricht  in  Sprachen  und  Wissenschaften:  Lateinisch, 
<iriechisch,  Hebräisch,  Rhetorik  und  Dialektik,  Mathematik  und  Kosmo- 
logie. Eine  genaue  Abgrenzung  gegen  den  Kursus  der  artistischen  Fa- 
kultäten fand  dabei  nicht  statt  und  konnte  nicht  stattfinden,  weil  die 
Fakultäten  auch  noch  im  16.  und  17.  Jahrhundert  ihren  Unterricht  nach 
unten  nicht  abgrenzten;  sie  griffen  immer  noch  tiefin  das  ein,  was  wir  jetzt 
dem  Schulunterricht  zuweisen.  Die  reinliche  Trennung  von  Universität 
und  Schule  hat  sich  überhaupt  erst  im  19.  Jahrhundert  vollzogen;  sie  , 
hängt  wesentlich  mit  der  Durchführung  der  Abiturientenprüfung  zu-  / 
sammen;  erst  seitdem  können  die  Universitäten  eine  bestimmte  Schul- 
bildung voraussetzen  und  mit  Ausschluß  der  elementaren  Dinge  sich 
auf  den  eigentlich  wissenschaftlichen  Unterricht  zurückziehen,  eine  Sache, 
die  übrigens  nicht  bloß  erfreuliche  Folgen  hat. 

Zum  erstenmal  ist  der  Gedanke  eines  gelehrten  Landesschulwesens 
in  dem  albertinischen  Sachsen  verwirklicht  worden.  Herzog  Moritz 
entwand  den  Händen  der  Stände,  welche  sich  eben  in  den  Besitz  der 
Verlassenschaft  der  Kirche  zu  setzen  begonnen  hatten,  wenigstens  den 
größten  Teil  der  Beute  und  führte  ihn  einer  dem  Sinne  der  Stifter 
nicht  unangemessenen  Verwendung  zu.  Er  begründete  die  drei  großen 
Gelehrtenschulen  Sachsens,  welche  bis  in  dieses  Jahrhundert  hinein 
den  Bedarf  des  Landes  an  gelehrter  Vorbildung  zum  großen  Teil  ge- 
deckt haben:  zu  Pforta,  Meißen  und  Grimma;  welches  letztere  für 
das  ursprünglich  in  Aussicht  genommene  Merseburg  eintrat  (1550).  In 
dem  alten  Cisterzienserkloster  Pforta  sollen  nach  der  mit  den  Ständen 
vereinbarten  Laudesorduung  von  1543  100  Knaben  mit  fünf  Lehrern, 
in  dem  Kloster  St.  Alra  zu  Meißen  60  Knaben  mit  vier  Lehrern,  im 
Augustinerkloster  zu  Grimma  70  Knaben  mit  vier  Lehrern  gehalten 
werden.  Von  den  Knaben  sollen  100  von  den  Städten,  76  von  adligen 
Geschlechtem,  die  übrigen  vom  Fürsten  nominiert  werden.  Sie  sollen, 
ihre  Fähigkeit  vorausgesetzt,  etwa  sechs  Jahre  auf  der  Schule  gehalten, 
dann  auf  die  Landesuniversität  geschickt  werden.  Außerdem  werden  auch 
Pensionäre  (Kostknaben,  zu  12  fl.  jahrlich)  zugelassen.  Die  Lehrer- 
gehälter werden  festgesetzt  auf  150  fl.  für  den  Magister,  100  fl.  für 
Jeden  der  Baccalarien,  50  fl.  für  den  Kantor,  bei  freier  Station  ein 
recht  ansehnliches  Gehalt.^     An  der  Organisation  der  Anstalten   war, 

^  Th.  Flathe,  Sanct  Afra.    Geschichte  der  Fürsteiischule  zu  Meißen,  1879. 
K.  RoESSLER,  Geöchichte  der  Fürstenschule  zu  Grimma,  1891. 

19* 


292  //,  5.  Die  Nmbegründwig  d.  Gelehrtefischulwesens  in  den  prot  Gebieten. 


was  die  äußere  Einrichtung  anlangt,  der  Rat  G.  v.  Cümmeestadt  in 
erster  Linie  beteiligt.  Zum  ersten  Inspektor  der  Fürst^nschulen  wurde 
JoH.  Rivius  (1500 — 1553)  ernannt;  er  stammte  aus  Westfalen,  hatte 
in  Köln  unter  Phbissemiüs  seine  humanistischen  Studien  gemacht 
und  dann  in  den  sachsischen  Bergstadten  als  Lehrer  und  Organisator 
gewirkt.  Seine  Schüler  Adam  Siber  (1516 — 1584)  und  Georg  Fa- 
BBiciüs  (1516—1571),  waren  die  ersten  Rektoren  und  Instauratoren 
des  Unterrichts  in  Grimma  und  Meißen,  während  für  Pforta  J.  Ca- 
MERARiüs  die  ersten  Statuten  verfaßte;  die  Rektoren  wechselten  hier 
rasch,  der  erste  war  Jon.  Gigas. 

Da  die  sachsischen  Fürstenschulen  das  Vorbild  für  zahlreiche 
ähnliche  Anstalten  geworden  sind,  so  mögen  ein  paar  weitere  Angaben 
über  ihre  Einrichtungen  hier  Platz  finden.  Die  Lebensordnungen  für 
Lehrer  und  Schüler,  wie  sie  fast  unverändert  bis  in  den  Anfang  des 
19.  Jahrhunderts  bestanden  haben,  sind  im  wesentlichen  den  klöster- 
lichen nachgebildet.  Die  Knaben  tragen  klerikale  Tracht,  ein  langes 
Gewand  von  schwarzem  Tuch,  die  sogenannte  Schalaune  (scholana);  das 
Tuch  wurde  geliefert,  ebenso  die  Schuhe.  Sie  wohnen  in  den  von  den 
Mönchen  verlassenen,  unheizbaren  Klosterzellen;  je  zwei  oder  drei  zu- 
sammen, Ober-,  Mittel-  und  Untergesell  genannt,  haben  eine  Kammer 
und  eine  Schlafkammer;  für  Reinhaltung  und  Bedienung  sorgen  die 
Insassen  selbst.  Dem  gemeinsamen  Gebrauch  dienen  lectorium  und 
coenaculum.  Zum  Waschen  dient  der  Brunnen  auf  dem  Hofe;  eine 
Badstube  bietet  jedem  alle  vierzehn  Tage  ein  Bad.  Die  Verpflegung 
geschieht  durch  eigene  Verwaltung,  im  Kloster  wird  nicht  bloß  gekocht 
und  gebacken,  sondern  ebenso  gebraut  und  geschlachtet  Die  beiden 
Hauptmahlzeiten  werden  von  Lehrern  und  Schülern  gemeinsam  ein- 
genommen, an  Tischen  zu  zwölf  Plätzen,  die  Frühmahlzeit  (prandium) 
um  9,  die  Abendmahlzeit  (coena)  um  4  Uhr.  Zu  beiden  Mahlzeiten 
giebt  es  Fleisch;  dazu  giebt's  eine  Morgensuppe  um  7,  ein  Vesperbrot 
um  2,  und  abends  noch  einen  Schlaftrunk.  Über  Tisch  wird  Bier  gereicht 
und  Sonntags  (anfangs  sogar  viermal  die  Woche)  Wein,  dessen  Säure 
freilich  oft  Klagen  auspreßt.  Das  Tischgerät  ist  einfach,  ein  zinnerner 
Teller  genügt-,  erst  1798  wurde  in  St.  Afra  ein  zweiter  angeschafft; 
und  erst  1859  wird  in  Grimma  der  Ersatz  durch  Steingut  erwähnt. 
Die  Bedienung  bei  Tisch  hatten  Famuli.  Vor  und  nach  Tisch  wird 
das  lateinische  Benedicite  und  Gratias  gebetet,  auch  über  Tisch 
gelesen. 

Die  Tagesordnung  in  Grimma  war:  früh  um  5  Uhr  wurden  die 
Knaben  aufgeläutet,  verrichteten  ihr  Gebet,  machten  das  Bett,  kehrten 
die  Kammer  und  putzten  die  Schuhe,  YgÖ  waren  sie  zur  Mette  in  der 


Die  sächsischen  Fürstenschulen,  293 


Kirche,  6 — 9  waren  Lektionen,  9  Uhr  Mittagessen,  dann  frei  bis  11, 
11—12  Studieren,  12—1  Singen,  1 — 2  Lektion,  2  Uhr  Vesper  mit 
<iesang  und  Kollekte  in  der  Kirche,  dann  Vesperbrot,  3 — 4  Lektion, 
4  Abendessen,  dann  frei  bis  6,  6 — 8  Studieren,  8  Abendgebet  mit 
(lesang  und  Verlesung  eines  Kapitels  aus  der  Bibel,  dann  Zubettgehen, 
wo  der  Einzelne  noch  seinen  Abendsegen  und  Vaterunser  betet.  Das 
Vaterunser  wurde  auch  vor  jeder  Lektion  von  dem  Primus  der  Klasse 
lateinisch  oder  griechisch  gesprochen.  Sonntags  und  Mittwochs  wurde 
die  Predigt  gehurt,  auch»  nachher  abgefragt  und  vorher  der  Text  durch- 
gegangen. —  Ferien  und  freie  Tage  gab  es  fast  nicht;  erst  vom 
dritten  Jahre  ab  wird  dem  Schüler  ein  kurzer  Urlaub  gewährt. 

Auch  die  Disziplin  stammt  aus  dem  Kloster.  Das  Hauptzucht- 
mittel war  die  Rute.  Bei  großen  Vergehungen  wurden  die  Delinquen- 
ten vor  dem  Cötus  von  dem  ganzen  Lehrerkollegium,  einem  nach  dem 
andern,  kastigiert,  wie  der  Terminus  heißt.  In  Meißen  hatte  1636  ein 
Tumult  der  Schüler  stattgefunden,  weil  ihnen  ein  Spaziergang  abge- 
schlagen worden  war.  Der  Cötus  weigerte  sich  die  Rädelsführer  zu 
nennen;  es  wurden  daher  Ruten  verfertigt  und  in  das  Wasser  der 
Badstuben  gelegt,  um  vom  ersten  bis  zum  letzten  den  Cötus  durch- 
zukastigieren.  Als  die  Lehrer  zum  Werk  bereit  standen  und  mit  dem 
obersten  anfangen  wollten,  trat  das  Unerhörte  ein,  daß  die  Schüler 
sich  nicht  subjizieren  wollten,  sondern  lieber  gehen  zu  wollen  erklärten. 
Nach  längeren  Verhandlungen,  während  welcher  auch  von  Dresden 
Verhaltungsmaßregeln  anlangten,  bekannten  sich  endlich  die  Schuldi- 
gen und  erlitten  die  Kastigation  von  allen  vier  Präzeptoren.  Allmählich 
fingen  die  Lehrer  an,  diesen  Aktus  unter  ihrer  Würde  zu  finden.  1645 
verweigerte  der  Rektor  seine  Mitwirkung;  auf  eine  Klage  der  Kollegen, 
welche  nicht  allein  das  odium  tragen  wollten,  wurde  er  von  Dresden 
bei  Strafe  der  Remotion  zur  Erfüllung  seiner  Pflicht  angehalten.  1703 
l)etitionierte  das  ganze  Kollegium  um  Erlassung  dieser  Pflicht,  ohne 
damit  durchzudringen.  In  Grimma  wird  noch  1721  eine  Kastigation 
durch  sämtliche  Kollegen  erwähnt.  Außer  der  Rute  wurde  Karzer- 
strafe angewendet,  nicht  zum  Spaß,  wie  später  auf  den  Universitäten 
geschah,  um  eine  kleine  Abwechselung  in  die  tägliche  Lebensweise  zu 
bringen,  sondern  ganz  ernsthafte  Gefängnisstrafe  bei  Wasser  und  Brot. 

Der  Unterricht  hatte  in  den  Fürstenschulen,  wie  in  allen  großen 
Schulen,  wesentlich  die  drei  artes  dicendi  zum  Gegenstand:  Grammatik, 
Rhetorik,  Dialektik,  selbstverständlich  in  lateinischer  Sprache;  die  grie- 
chische Sprache  stand  in  zweiter  Linie;  anfangs  wurden  auch  die  ersten 
Elemente  des  Hebräischen  gelernt.  Zur  Einübung  der  Sprachen  und 
Künste  diente  die  Lektüre  der  Schriftsteller;  in  Meißen   wurden  um 


294  II,  5.  Die  Nenhegründung  d.  Oelehrtenscfiulwesefis  in  den  proL  Gebieten. 

154Ü  je  nach  Gelegenheit  gebraucht  Cicero,  Terenz,  Virgil,  statt  dessen 
zuweilen  Horaz  und  Ovid;  im  Griechischen  die  Schriften  von  Isokrat^s, 
Xenophon,  Plutarch,  Hesiod,  Theognis,  Phokylides.  Man  sieht,  die  Er- 
lernung der  Eloquenz  durch  Imitation  ist  das  SchulzieL  Fabsiciüs 
war  übrigens  mit  Stubm  von  Straßburg  persönlich  bekannt  und  be- 
freundet Ein  paar  Themata  zu  rhetorischen  Schuleierzitien  teilt 
Flathe  (S.  29)  mit:  Laviniam,  Latini  filiam^  noti  dandam  deneae; 
Epistola  horiatoria  ad  Tumum,  ut  pacem  faciat  cum  Aenea;  consolatio 
Creusae  ad  Aeneam  conjugem;  femer  Bitt-  und  Dankschreiben  an  die 
Kollatoren  von  Freistellen  und  Stipendien,  Gedichte,  meist  religiösen 
Inhalts:  paraphrasis  hymni  Annae,  matris  Samuelis,  ad  spiritum  sanc» 
tum;  historia  evangelica  de  vita,  miraculis  et  morte  Salvatoris  nostri; 
aber  auch  eine  Elegia  in  ohitum  Melanchthonis ,  Epithalamia  auf  die 
Hochzeit  angesehener  Männer  etc.  Den  Lehrplan  für  Grimma,  den 
A.  SiBER,  Melanchthons  Schüler,  tö)  \tm  xai  ratg  Movaaig  (ftXrccro^y 
wie  ihn  sein  Lehrer  einmal  nennt,  entworfen  hat,  zeigt  dieselben  Grund- 
züge. Drei  Klassen  werden  in  drei  Lektorien  von  ihren  drei  Lehrern, 
Rektor,  Konrektor,  Tertius,  wozu  als  Quartus  der  Kantor  kam,  unter- 
richtet. Lehraufgabe  waren  auch  hier  die  drei  artes  sermocinales, 
Melanchthons  Kompendien  in  Sibees  Überarbeitungen  wurden  dabei  zu 
Grunde  gelegt.  Cicero,  Virgil,  Horaz  sind  die  Autoren,  die  dazu  die 
Exempel  bieten.  Theognes,  Pythagoras  goldene  Sprüche,  das  1.  Buch 
der  Ilias,  Plutarch  über  Erziehung  bieten  die  griechische  Lektüre.  Das 
Hauptstück  ist  auch  hier  die  imitatio.  Sammlungen  von  Wörtern  und 
Redensarten  sind  dabei  zu  Grunde  zu  legen,  die  gemma  gemmaru?n 
SiBEKS  soll  den  Schülern  Tag  und  Nacht  nicht  aus  der  Hand  kommen. 
Ampliatio  und  variatio,  compoaitio  und  versificatio  wird  unablässig  geübt. 
An  jedem  Freitag  waren  die  beiden  Vormittagsstunden  der  Emendation 
gewidmet,  und  an  diesem  Tag  fanden  keine  weiteren  Lektionen  statt, 
eine  Stunde  Emendation  meint  Sibek,  bringe  mehr  Nutzen  als  drei 
Stunden  Exposition.  Selbstverständlich  gilt  das  Gebot  der  lateinischen 
Rede  innerhalb  dieser  Schulklöster;  auch  finden  dramatische  Auffüh- 
rungen in  lateinischer  Sprache  statt.  —  Außer  den  sprachlichen  Studien 
wird  noch  der  Unterricht  in  der  Glaubenslehre  und  in  der  Musik 
ernstlich  getrieben.  Realien  dagegen  kommen  nicht  vor,  außer  den 
Anfangsgründen  der  Arithmetik  und  der  mathematischen  Geographie 
(Sphaerica),  die  durch  die  Lehrordnung  von  1580  vorgeschrieben  wird. 
Mit  der  Inspektion  der  Fürstenschulen  wurden  Professoren  der 
philosophischen  und  der  theologischen  Fakultäten  von  Leipzig  und 
Wittenberg  beauftragt:  Melanchthon  und  Camerarius  begegnen  uns 
als  Inspektoren.     In  der  Regel   fand   einmal  im  Jahr  eine   Revision 


Kursächsische  Schulordnung  von  1580,  295 


statt  Zum  letztenmal  kam  im  Jahre  1700  eine  akademische  Prüfungs- 
kommission; „der  Kosten  wegen"  unterblieb  von  da  ab  die  Sache.  — 

Die  sächsischen  Fürstenschulen  nehmen  unter  den  deutschen  Ge- 
lehrtenschulen eine  hervorragende  Stellung  ein,  nach  ihrem  Muster 
sind  in  dem  folgenden  halben  Jahrhundert  durch  das  ganze  protestan- 
tische Deutschland  ähnliche  Anstalten  entstanden.  Sie  haben  mit  den 
beiden  Landesuniversitäten  wesentlich  dazu  beigetragen,  dem  kurfürst- 
lichen Sachsen  durch  zwei  Jahrhunderte  die  erste  Stelle  im  gelehrten 
Deutschland  zu  verschaflfen.  Ich  nenne  unter  ihren  Schülern  Pufbn- 
DOBF  (Grimma),  Klopstock  (Pforta),  Lessing  und  GeiiLeet  (Meißen); 
Thomastus  und  Leibniz  waren  Leipziger  Professorensöhne.  Leipzig 
war  die  erste  Pflegestätte  der  im  18.  Jahrhundert  neu  erwachenden 
philologischen  Studien;  Christ,  Gesner,  Ernesti,  Heyne,  Reiske, 
G.  Hermann  lernten  und  lehrten  hier.  Aus  den  Fürstenschulen,  be- 
sonders Pforta,  gingen  am  Anfang  dieses  Jahrhunderts  die  Restaura- 
toren des  humanistischen  Schulbetriebs  hervor:  Thiersch,  Dissen, 
DöDERLEiN,  NrrzscH,  Meineke,  Bontez  u.  a. 

Noch  einige  andere  größere  Schulen  Sachsens  mögen  genannt 
werden.  Die  Kreuzschule  zu  Dresden  und  die  Nicolai-  und  die  Thomas- 
schule zu  Leipzig  wurden  alsbald  nach  dem  Tode  des  Herzogs  Georg 
in  protestantische  Schulen  umgewandelt.  In  Chemnitz  war  A.  Siber 
der  erste  protestantische  Rektor;  sein  Lehrplan  für  die  Chemnitzer 
Schule  bildet  die  Grundlage  für  die  später  von  ihm  für  Grimma  ent- 
worfene Lehrordnung.  Zwickau  gewann  für  seine  Schule  im  Cister- 
zienserkloster  den  Niederländer  P.  Plateanus.  An  den  Schulen  zu 
Annaberg,  Schneeberg,  Marienberg,  Freiberg  wirkte  in  den 
30er  Jahren  Jon.  Rrvius.  Im  Kurkreis  hatten  Torgau  und  Witten- 
berg ansehnliche  Schulen;  Torgau  erhielt  für  seine  Schule  1557  das 
dortige  Franziskanerkloster. 

Eine  zusammenfassende  und  definitive  Regelung  des  kursächsischen 
Landesschulwesens  geschah  durch  die  der  Kirchenordnung  von  1580 
eingefügte  Schulordnung;  sie  ist  zwei  Jahrhunderte,  bis  zum  Erlaß  der 
neuen  Schulordnung  vom  Jahre  1773,  die  gesetzliche  Grundlage  ge- 
blieben. Der  Form  nach  ist  sie  größtenteils  aus  der  gleich  zu  er- 
wähnenden württembergischen  Kirchenordnung  vom  Jahre  1559  wört- 
lich übernommeQ,  was  aber  natürlich  nicht  bedeutet,  daß  das  wirkliche 
Schulwesen  Sachsens  nach  dem  württembergischen  Muster  organisiert 
worden  sei:  in  Wirklichkeit  ist  jenes  älter  als  dieses  und  älter  auch  als 
die  Schulordnung,  welche  nicht  Nichtseiendes  ins  Leben  rief,  sondern 
wesentlich  längst  Vorhandenes  beschrieb.  Nach  dieser  Ordnung  also 
war    in   jeder  Stadt    eine   Lateinschule,    welche   zugleich   allgemeine 


296  11,  5,  Die  Neuhegründwng  d,  GeleJirtenschulweseiis  in  den  prot,  Gebieten, 


Bürgerschule  und  elementare  Grelehrtenschule  war.  In  einigen  größeren 
Städten  wurde  der  gelehrte  Unterricht  so  weit  ausgedehnt,  daß  er  einen 
ausreichenden  Vorbereitungskursus  für  die  Universitätsstudien  bildete. 
Die  Fürstenschulen  waren  ausschließlich  für  den  gelehrten  Unterricht 
bestimmt;  ihnen  fehlte  die  Unterstufe  des  Unterrichts. 

Der  vollständige  gelehrte  Vorbereitungskursus  wird  von  der  Schul- 
ordnung in  fünf  Stufen  zerlegt,  welchen  in  der  Regel  fünf  Abteilungen 
oder  Klassen  der  Schülerschaft  entsprachen,  doch  hinderte  natürlich 
nichts,  die  Klassenzahl  nach  der  Größe  der  Schülerzahl  zu  vermehren 
oder  zu  vermindern.  In  den  kleinen  Lateinschulen  fand  außer  der 
untersten  Stufe,  welche  wesentlich  lesen  und  schreiben  lehrte,  nur  etwa 
noch  der  Unterricht  der  zweiten  und  dritten  Stufe  statt,  welcher  die 
lateinische  Grammatik  umfaßte.  Die  beiden  Oberstufen  fügen  die  Ele- 
mente der  griechischen  Grammatik  hinzu,  welche  an  einigen  kleinen 
Proben  griechischer  Prosa  und  Poesie  eingeübt  wird;  femer  geben  sie 
einen  Elementarkursus  in  der  Dialektik  und  den  mathematischen  Dis- 
ziplinen. Die  Substanz  des  Unterrichts  bleibt  auch  hier  die  lateinische 
Sprache,  das  Ziel  ist  die  Fertigkeit,  Latein  in  Prosa  und  Versen  zu 
schreiben.  Gesang-  und  Religionsunterricht  begleitet  den  Schüler  durch 
den  ganzen  Kursus.  — 

G.  Müller  hat  aus  den  Visitationsakten  ein  lehrreiches  Bild  des 
kursächsischen  Schulwesens,  wie  es  zur  Zeit  des  Erlasses  der  Schul- 
ordnung von  1580  bestand,  entworfen.  Hiemach  hatten  39  Städte  eine 
Schule  mit  1  Lehrer,  32  eine  Schule  mit  2  Lehrem,  14  mit  3,  10 
mit  4,  3  (Chemnitz,  Neustadt  a.  d.  Orla,  Sangerhausen)  mit  5,  4  (Anna- 
berg, Dresden,  Freiberg,  Zwickau)  mit  6,  1  (Leipzig)  mit  7  Lehrern. 
Als  Lehrertitel  kehren,  mit  allerlei  Variationen,  wieder:  Rektor,  Supremus, 
Kantor,  Tertius,  Quartus,  Infimus  oder  Baccalaureus,  Hypodidascalus, 
Auditor.  Wo  nur  ein  Lehrer  ist,  ist  dieser  in  der  Regel  zugleich  Kantor, 
Organist,  Stadtschreiber  und  Küster,  treibt  wohl  auch  ein  Handwerk 
daneben;  wo  zwei  Lehrer  sind,  hangen  dem  unteren  die  niederen 
Dienste  an.  An  den  ganz  kleinen  Schulen  werden  bloß  Katechismus 
und  Lesen  und  Schreiben  gelehrt;  an  den  größeren  treten  die  Elemente 
des  Lateinischen  hinzu.  Universitätsbildung  ist  nur  bei  den  Lehrern 
der  größeren  und  großen  Schulen  vorauszusetzen;  sonst  hatten  sie  meist 
eine  größere  Lateinschule,  manchmal  auch  nur  eine  kleine  Stadtschule 
besucht.  Der  Wechsel  der  Lehrer  war  im  ganzen  sehr  rasch;  viel- 
fach ist  die  Amtsdauer  nur  1,  2  Jahre;  das  ersehnte  Ziel  ist  für 
alle  das  Pfarramt. 

Nach  dem  Vorgang  Sachsens  entstanden  allmählich  im  ganzen  prote- 
stantischen Deutschland  ähnliche  Organisationen  des  Landesschulwesens. 


Schulgründungen  am  Harx  und  in  Thüringen,  297 


Einige  Nachweisungen  für  die  wichtigeren  Territorien  mögen  dem  Leser 
zur  Vergegenwärtigung  der  Dinge  dienen. 

Am  Harz  und  im  Thüringischen  folgten  alsbald  eine  ganze 
Reihe  von  Klosterschulen  oder  Schulklöstern,  die  in  verkleinertem  Maß- 
stabe die  sächsischen  Fürstenschulen  nachbilden.  So  wurde  das  Prä- 
monstratenserkloster  Ilfeld  in  der  Grafechaft  Stolberg  in  eine  Schule 
umgewandelt.  Der  letzte  Abt  hatte  schon  eine  kleine  Anzahl  Knaben 
gehalten  und  Michael  Neander  (1525 — 1595),  einen  Schüler  Melanch- 
THONS,  zum  Lehrer  gewonnen;  1550 — 1590  stand  dieser  als  Rektor 
und  einziger  Lehrer  dem  coetus  von  30  Schülern  vor;  erst  in  den  letzten 
Jahren  erhielt  er  einen  Konrektor.  Unter  harten  Kämpfen  mit  dem 
großen  und  kleinen  Adel,  der  nach  den  Klostergütem  die  räuberischen 
Hände  ausstreckte,  unter  Mühsal  und  Ungemach  aller  Art,  gelang  es 
dem  trefiflichen  Manne  doch,  die  Anstalt  nicht  nur  zu  erhalten,  sondern 
zu  einer  wichtigen  Pflanzschule  der  Humanitätsstudien  in  Mitteldeutsch- 
land zu  machen.  Man  kann  nicht  ohne  Rührung  den  von  ihm  selbst 
gegen  Ende  seines  Lebens  geschriebenen  Bericht  über  seine  Kämpfe 
lesen,  den  Bouterwek  im  Ilfelder  Progr.  von  1873  veröffentlicht  hat 
Zugleich  war  Neandeb  ein  sehr  fruchtbarer  Schriftsteller.^  Um  dieselbe 
Zeit  wurde  auch  das  Cisterzienserkloster  Michaelstein  in  der  Graf- 
schaft Blankenburg  zu  einer  protestantischen  Schule  umgewandelt. 
Etwas  später  folgten  die  Benediktinerabtei  Ilsenburg  und  das  Cister- 
zienserkloster Walkenried  (1557),  sowie  das  Benediktinerkloster  Berge 
bei  Magdeburg  (1565).  Ilfeld  hat  die  Stürme  der  Zeit  allein  über- 
dauert. Erhalten  sind  auch  die  beiden  in  säkularisierten  Nonnen- 
klöstern errichteten  Nachbarschulen  Roßleben  und  Donndorf,  jene 
1554,  diese  1561  eröffnet.^ 

Die  Reichsstädte  Nordhausen  und  Goslar,  die  bischöflichen  Städte 
Magdeburg,  Halberstadt,  Aschersleben  hatten  alle  schon  1524 
oder  bald  nachher  größere  protestantische  Schulen  begründet,  meist 
durch  Zusammenlegung  älterer  Pfarrschulen  in  verlassene  Klöster.  In 
Naumburg  wurde  1538  die  Domschule  reformiert;  in  Quedlinburg 
und  in  Zeitz  wurden  1540  und  1542  in  den  Franziskanerklöstem 
neue  Schulen  errichtet  und  mit  Klostergütem  dotiert  Der  Rat  der 
Reichsstadt  Mühlhausen  errichtete   1543   im  Franziskanerkloster  ein 


^vW.  Havemann,  Mitteilungen  aus  dem  Leben  M.  Neanders,  1841.  Das 
Verzeichnis  der  von  ihm  aufgenommenen  Schüler  im  Ilfelder  Programm  1886. 
^  Wiese,  Hist.  stat.  Darstellung,  II,  427.  Über  Walkenried  und  Michael- 
stein  VoLCKMAR,  Gesch.  der  BLlostersch.  zu  Walkenried.  Progr.  v.  Ilfeld  1857. 
Die  in  der  folgenden  Übersicht  gegebenen  Daten  sind,  soweit  nicht  eine  andere 
Quelle  genannt  ist,  aus  dem  großen  WiESESchen  Werk  entnommen. 


298  II,  5,  Die  Neuhegnindwig  d.  Oelefirtenschultcesens  in  den  proi.  Gebieten, 


Lyoeum.  Die  Grafen  von  Mansfeld  erweiterten  1546  ihre  Schule  zu 
Eisleben  durch  Zusammenlegung  mit  anderen  und  stifteten  dabei  ein 
Alumnat  In  Blankenburg  wurde  1538  im  Cisterzienserkloster  eine 
Schule  errichtet.  In  Wernigerode  wurde  durch  Privatstiftung  1550 
ein  Lyceum  begmndet  Halle  legte  1564  seine  drei  Pfarrschulen  zu- 
sammen und  brachte  die  neue  Schule  im  Franziskanerkloster  unter. 
In  Erfurt  wurde  1561  im  Augustinerkloster  und  aus  dessen  Gütern 
ein  Pädagogium  errichtet,  das  die  Oberstufe  zu  dem  Kursus  der  Pfarr- 
schulen bieten  sollte.  Merseburg  erhielt  1574  ein  mit  Klostergütern 
ausgestattetes  und  mit  einem  Alumnat  verbundenes  GymnasiuuL  Die 
Grafschaft  Henneberg  hatte  seit  1545  im  Minoritenkloster  inSchleusingen 
eine  Schule,  sie  wurde  1577  zur  Landesschule  erweitert  und  mit  einem 
Alunmat  für  30  Knaben  verbunden.  Für  das  Fürstentum  Anhalt  vnirde 
1582  eine  Landesschule  zu  Zerbst  begründet,  durch  Zusammenlegung 
zweier  älterer  Schulen,  von  denen  die  eine  1525  im  Johanniskloster 
unter  dem  humanistischen  Rektor  Stephan  Roth  errichtet  worden  war 
(SiNTBNis,  Progr.  1853).  Für  die  reußischen  Besitztümer  wurde  zu 
Gera  1608  ein  Gymnasium  errichtet. 

In  den  thüringischen  Herzogtümern,  welche  der  emestini- 
schen  Linie  geblieben  waren,  bestanden  größere  Schulen  in  Altenburg, 
Weimar,  Gotha,  Eisenach,  Koburg.  Besonders  Jon.  Casimib 
(1575 — 1633),  der  selbst  in  Leipzig  eine  gelehrte  Bildung  empfangen 
hatte,  ließ  sich  die  Förderung  des  Schulwesens  angelegen  sein.  Die 
Gothaer  Schule,  welche  1524  im  dortigen  Augustinerkloster  von 
Fb.  Myconius  eingerichtet,  1544  mit  einem  Konvikt  ausgestattet  war, 
erweiterte  er  zu  einem  sechsklassigeij  Gymnasium  (Schulze,  63  ff.).  In 
Koburg  gründete  er  1605  eine  Landesschule,  „gleichsam  ein  medium 
oder  Mittel  zwischen  anderen  gemeinen  Trivial-  und  hohen  Schulen", 
welche  seinen  Theologen  die  Universität  ersetzen  sollte.  Ein  Konvikto- 
rium  für  24  Landeskinder  wurde  eingerichtet.  Der  Unterricht  sollte 
alle  Fakultatswissenschaften  umfassen.  In  der  Theologie  wird  vor- 
geschrieben compendium  locorum  Hutteri,  wobei  auch  die  controversiae 
expliziert  und  der  adversariorum  sophismata.  quae  Auditores  et  novisse 
et  solvisse  fas  est,  logice  et  theologice  aufgelöst  werden  sollen.  Huic 
lectioni  ancilletiir  enarratio  alicujus  epistolae  Paulinae,  In  der  Juris- 
prudenz sollen  die  Institutionen  vorgetragen,  besonders  auch  doctrina 
de  gradibus  behandelt  werden,  als  welche  für  das  Verständnis  des  Titels 
de  nuptiis  unentbehrlich  sei.  Unter  der  Überschrift  Medizin  wird 
Mklanchthons  Büchlein  de  anima  vorgeschrieben,  das  eben  außer  der 
Psychologie  auch  das  Notwendigste  aus  der  Anatomie  und  Physio- 
logie enthält;  außerdem  Botanik.     In  der  Philosophie  sollen  Physik 


Die  hessischen  Schulen.  299 


ex  fontibus  Ärütotelicis  Graecis,  die  Anfangsgründe  der  Geometrie  und 
Astronomie,  Metaphysik,  Ethik,  Politik,  Ökonomik,  sepositis  diffusis 
commentariis,  vorgetragen  werden.  In  disciplinis  instrumentariis 
Dialektik,  Rhetorik,  Poetik,  mit  Beispielen  und  Imitationsübung.  Ge- 
schichte und  Geographie,  wesentlich  nach  Sleidanus'  de  quattuor 
Monarchiis.  Hebräisch  aus  der  Grammatik  und  der  Bibel,  Griechisch 
aus  dem  N.  T.  und  Nonnus,  Latein  aus  Cicero  und  Virgil.  Wöchent- 
lich finden  Disputationen  und  Deklamationen  statt,  letztere  in  Prosa 
und  in  Versen,  Hebräisch,  Griechisch,  Lateinisch.  Unter  den  all- 
gemeinen Vorschriften  kommt  auch  die  vor,  daß  die  Schüler  auch  im 
Vortrag  in  der  Muttersprache  geübt  werden  sollen,  nach  dem  Vorgang 
benachbarter  Völker,  welche  gebildeter  (politiares)  sind  und  die  heimische 
Sprache  pflegen  (Vobmbaum,  II,  IS.).  Der  Einfluß  einer  neuen  Zeit 
wird  hierin  sichtbar. 

Der  Graf  von  Schwarzburg  errichtete  1539  im  Franziskaner- 
kloster zu  Arnstadt  ein  Pädagogium,  mit  dem  später  (1589)  die  latei- 
nische Stadtschule  vereinigt  wurde  (Keoschel,  Progr.  1890/91). 

Im  Hessischen  wurde  gleichzeitig  mit  dem  Pädagogium,  das  als 
Landesschule  mit  der  Universität  in  Marburg  verbunden  war,  das 
Cyriakskloster  zu  Eschwege  in  eine  Schule  umgewandelt  (1527).  Auf 
Betreiben  des  Landgrafen  wurde  1539  in  Kassel  durch  Zusammen- 
legung der  drei  alten  Lateinschulen  eine  große  Stadtschule  eingerichtet; 
ihr  erster  Rektor  war  A.  Nigidius,  vorher  und  wieder  nachher  Rektor 
des  Marburger  Pädagogiums.  Die  Bürgerschaft  war  übrigens  mit  der 
Änderung  nicht  eben  sehr  zuMeden,  sie  beschwerte  sich  über  die  hohen 
Lektionen  (Webee,  Kasseler  Gelehrtenschule,  S.  20flf.).  1570  gründete 
der  Abt  von  Hersfeld  ein  Pädagogium  mit  Alumnat  für  20  Knaben. 
Die  Benediktinerabtei  Schlüchtern  war  schon  früher  in  eine  Kloster- 
schule verwandelt  worden.  Für  die  Grafschaft  Hanau  wurde  1607 
eine  Landesschule  zu  Hanau  mit  vier  Klassen  und  vier  Professuren  für 
die  Fakultätswissenschaften  errichtet.  Die  Teilung  der  hessischen  Länder 
führte  im  Jahre  1605  die  Begründung  eines  Pädagogiums  zu  Gießen 
durch  die  darmstädtische  Linie  herbei,  mit  der  Bestimmung,  eine  Pflanz- 
stätte des  reinen  Luthertums  gegenüber  dem  calvinisch  gewordenen 
Marburg  zu  sein.  Schon  nach  zwei  Jahren  erhielt  das  Pädagogium  die 
Universitätsprivilegien  (Tholuck,  II,  34 ff.).  1629  wurde  zu  Darm- 
stadt ein  Pädagogium,  und  1610  zu  Stadthagen  aus  den  Einkünften 
des  Cisterzienserklosters  zu  Rinteln  für  die  Grafschaft  Schaumburg 
ein  akademisches  Gymnasium  begründet,  welches  letztere  aber  1621 
nach  Rinteln  verlegt  und  zur  Universität  erhoben  wurde  (Tholuck, 
II,  95).  —  Eine  Landesschulordnung  für  Hessen-Kassel  erließ  Landgraf 


300  II,  5.  Die  Neubegründung  d,  Gelehrtensohulwesens  in  den  proi.  Gebieiefi* 


Moritz  im  Jahre  1618  (Vobmbaum,  II,  177).  Sie  trägt  schon  die 
Spuren  einer  neuen  Zeit,  insofern  sie  pädagogische  Grundsätze  des 
Ratichius  in  ihrer  Didaktik  verwertet.  Im  Jahre  1656  wurde  sie  er- 
neuert und  verbessert  herausgegeben.  Eine  im  Jahre  1655  abgehaltene 
Visitation  zeigt  den  statistischen  Bestand,  er  wird  auch  für  das  16.  Jahr- 
hundert im  ganzen  gelten.  Es  gab  im  ganzen  Niederhessen  30  Latein- 
schulen. Darunter  waren  fünf  größere  (Kassel,  Eschwege,  Hersfeld^ 
Ziegenhain,  Hofgeismar)  mit  fünf  und  mehr  Lateinklassen,  und  mit  drei 
oder  vier  Lehrern,  eine  (Kassel)  hat  sieben  Lehrer.  Von  den  übrigen 
hatten  zwei  je  drei  Lehrer,  elf  je  zwei  Lehrer,  zwölf  nur  einen.  Grie- 
chisch wurde,  so  viel  ersichtlich  ist,  gar  nicht  gelehrt  an  neun,  die 
ersten  Elemente  an  sechzehn,  in  etwas  weiterem  Umfang  an  den  fünf 
großen  Schulen.^ 

Ein  Landesgymnasium  für  die  Grafschaft  Waldeck  wurde  1579  zu 
Korbach  im  Franziskanerkloster  gegründet  und  mit  Klostergütem  dotiert 

Im  Nassauischen  wurde  1540  zu  Weilburg  aus  Stiftsgütern 
eine  Landesschule  errichtet  1543  folgte  W^iesbaden.  1596  wurde 
in  Idstein  mit  den  Gütern  von  zwei  säkularisierten  Klöstern  ein  Pä- 
dagogium fundiert  Ein  akademisches  Gymnasium  reformierter  Kon- 
fession wurde  in  Herborn  1584  begründet;  es  wurden  Fakultätsvor- 
lesungen von  acht  Professoren  gehalten  (Tholück,  II,  303).. —  In 
Saar  brück  gründeten  die  nassauischen  Grafen  um  1580  eine  Schule, 
die  1604  erweitert,  mit  Stiftsgütem  dotiert  und  zur  Landesschule  für 
die  Grafschaft  Saarbrück  erhoben  wurde.  Die  Grafen  von  Ysenburg 
errichteten  eine  Landesschule  zu  Büdingen  1601. 

Die  Reichsstadt  Frankfurt  berief,  nachdem  sie  nach  langem 
Zögern  dem  Schmalkaldischen  Bunde  beigetreten  war,  1537  denMiCYL- 
Lüs  zum  zweitenmal  als  Rektor;  1542  wurde  die  Schule  in  das  Fran- 
ziskanerkloster verlegt  Des  Micyllus  Plan  eines  fünfklassigen  Gym- 
nasiums scheint  erst  nach  und  nach  verwirklicht  worden  zu  sein 
(Glassen,  Micyllus,  C.  9).  Wetzlar  errichtete  1555  im  Franziskaner- 
kloster eine  große  Schule.  Worms  hatte  schon  seit  1527  eine  prote- 
stantische Schule,  Spei  er  errichtete  1538  ein  Gymnasium,  welches 
gegen  Ende  des  Jahrhunderts  zu  einem  akademischen  sich  erweiterte 
(Uavaria,  IV,  2,  515). 

In  Süddeutschland  waren  die  Reichsstädte  in  der  Begrün- 
dung evangelischer  Gelehrtenschulen  vorangegangen.  Der  Nürnber- 
gischen Poetenschule  von  1526  ist  schon  gedacht  worden.    An  ihrer 


*  Heppe,  Beiträge  zur  Gesch.  u.  Statistik  des  hess.  Schul w.  im  17.  Jahrb., 
Kassel  1850. 


Süddeutsche  Städte  und  Territorieti.  301 


Stelle  wurde  1575  eine  Landesschule  für  die  Stadt  und  ihr  ansehnliches 
Gebiet  zu  Altdorf  errichtet;  Camebabius  hatte  seinen  Rat  dazu  gegeben. 
Die  Schule  hatte  vier  Klassen  mit  ebenso  vielen  Klassenlehrern  und 
fünf  öffentliche  Lektüren.  Den  Elementarunterricht  setzte  sie  voraus, 
er  blieb  den  alten  Nürnberger  Pfarrschulen.  1578  erhielt  die  Anstalt 
durch  kaiserliches  Privileg  das  Recht,  Baccalarien  und  Magister  der 
Philosophie  zu  kreieren;  1622  wurde  sie  zur  Universität  erhoben,  er- 
hielt jedoch  erst  1696  das  Recht,  die  theologische  Doktorwürde  zu 
verleihen.  Das  Gvmnasium  aber  wurde  1633,  weil  es  neben  der  Uni- 
versität  nicht  gedieh,  wieder  nach  Nürnberg  in  das  Egidienkloster 
zurückverlegt  (Will,  Gesch.  der  Univ.  Altdorf,  1795.  Die  Statuten  bei 
VOBMBAUM,  I,  606  ff.). 

Augsburg  hatte  1531  im  St.  Annenkloster  eine  protestantische 
Gelehrtenschule  errichtet.  Auch  sie  hatte  mit  der  Ungunst  der  Zeiten 
zu  kämpfen.  Seit  1557  war  ihr  Rektor  der  berühmte  Gräcist  Hiebon. 
Wolf.  Ein  Lektionsplan  W'olfs  vom  Jahre  1576  zählt  neun  Klassen, 
an  welche  sich  ein  auditorium  publicum  anschloß.  Im  Jahre  1582 
wurde  aus  Privatmitteln  ein  Konvikt  für  32  Stipendiaten  eingerichtet, 
den  Anstoß  dazu  gab  die  1580  erfolgte  Begründung  eines  Jesuiten- 
gymnasiums (Bavaria,  II,  2,  945  ff.  Die  wichtigsten  Schulorganisations- 
schriften  Wolfs  bei  Vobmbaum,  I,  467). 

In  Ulm  wurde  die  dreisprachige  humanistische  Lehranstalt  im 
Jahre  1531  ins  Franziskanerkloster  verlegt;  die  Schulordnung  aus 
diesem  Jahr  bei  Pfaff,  49  ff.  Unter  den  fränkischen  und  schwäbischen 
Städten  hatten  femer  Rothenburg,  Windsheim,  Hall,  Heilbronn, 
Eßlingen,  Isny,  Kempten,  Memmingen  ansehnliche  humanistisch- 
protestantische Schulen,  meist  in  Franziskanerklöstern,  worüber  man 
genaueres  bei  Pfaff  und  in  der  Bavaria  nachsehen  mag.  Bemerkens- 
wert erscheint  noch  folgende  Stiftung.  Im  Jahre  1534  traten  die  vier 
Reichsstädte  Konstanz,  Lindau,  Biberach  und  Isny  einer  von  den 
Brüdern  Bufler  begründeten  Stipendienstiftung  bei,  jede  gab  30  fl. 
und  ebensoviel  die  Brüder  für  jede  Stadt  Hierfür  sollten  beständig 
zwei  Knaben  aus  jeder  Stadt  bei  der  Lehre  auf  einer  Schule  erhalten 
werden.  Noch  in  demselben  Jahre  wurden  die  ersten  Knaben  auf 
dem  Rhein  gen  Straßburg  gefertigt  (Lendeb,  Beiträge  zur  Gesch.  der 
Studien  in  Konstanz,  S.  37). 

Unter  den  süddeutschen  Territorien,  welche  die  Reformation  durch- 
führten, waren  Württemberg,  die  fränkischen  Fürstentümer  und  die 
Kur-  und  Ober})falz  die  bedeutendsten. 

In  Württemberg  kam  die  Begründung  eines  gelehrten  Landes- 
schulwesens durch  die  in  der  Kirchenordnung  Herzog  Christophs  vom 


302  II,  5.  Die  Neitbegründung  d,  Oelehrtenschulwesens  in  den  prot,  Gebieten. 

Jahre  1559  enthaltene  Schulordnung  zum  Abschluß.^  Auch  hier 
wurden  die  Klöster  in  Gelehrtenschulen  umgewandelt  Die  Verwand- 
lung geschah  übrigens  nicht  plötzlich,  sondern  durch  eine  Reihe  natür- 
licher Übergangsstufen.  Schon  Herzog  üliich  hatte  bei  Einführung  der 
Reformation  eine  Elosterordnung  erlassen:  ,,des  Gesangs  und  äußerlichen 
Gebets  sei  bisher  zu  viel  gewesen  und  der  Geist  damit  gar  überschüttet 
worden";  daher  ein  christlicher  und  gelehrter  Mann  bestellt  werden 
solle,  der  diese  Übungen  reformiere.  Das  Singen  soll  auf  dreimal  tag- 
lich zwei  bis  drei  Psalmen,  deutsch  oder  lateinisch,  beschränkt  werden, 
dafür  aber  jedesmal  eine  Predigt  oder  Lektion  aus  der  heil.  Schrift, 
vormittags  aus  dem  A.  T.,  nachmittags  aus  dem  N.  T.,  zwei  Kapitel 
aufs  wenigste,  und  zwar  der  Reihe  nach,  sich  anschließen.  Um  12  Uhr 
aber  sollen  die  Jungen  und  welche  Lust  dazu  haben  in  bonis  litteris 
und  anderen  freien  Künsten  unterrichtet  werden.  Außerdem  sollen 
alle  arbeiten,  was  sie  können,  schreiben,  Bücher  binden,  Körbe  oder 
Sessel  flechten  u.  s.  f.,  „damit  der  Teufel  sie  zu  ärgern  desto  minder 
vermag**.  Eine  neue  Klosterordnung,  von  Jon.  Brenz  1556  verfaßt, 
ließ  zwar  die  Klosterverfassung  und  -Verwaltung  im  wesentlichen  be- 
stehen, ordnete  aber  für  jedes  der  dreizehn  Mannsklöster,  zwei  Präzep- 
toren,  welche  die  Novizen,  die  übrigens  nicht  mehr  mit  Gelübden 
beschwert  werden  sollten,  in  der  doctrina  Chrütiana  und  den  guten 
Künsten  unterrichteten.  —  Vollendet  wurde  die  Verwandlung  in  Schulen 
durch  die  Kirchenordnung  von  1559.  Die  Aufgabe  der  Klöster  ist 
nunmehr,  junge  Leute,  die  zum  geistlichen  Stand  sich  eignen,  aufzu- 
nehmen und  zu  unterrichten,  bis  jedesmal  im  Tübinger  Stift  Stellen 
offen  werden. 

Das  gesamte  Landesschulwesen  stellt  sich  nach  dieser  Ordnung  in 
folgender  Weise  dar.  In  jeder  Stadt,  jedem  Flecken,  soll  eine  Latein- 
schule sein,  nach  Gelegenheit  des  Orts  mit  einem  oder  mehreren 
Lehrern;  gelehrt  wird  in  jeder  außer  den  elementaren  Fertigkeiten 
die  lateinische  Sprache.  Zwischen  den  Lateinschulen  und  der  Univer- 
sität stehen  das  Pädai^'ogium  zu  Stuttgart  und  die  Klosterschulen. 
Jenes  ist  ein  vollständiges  Gymnasium,  sein  Kursus  führt  durch  fünf 
Stufen  oder  Klassen  von  den  Anfingen  bis  zur  Universität.  Die 
Klosterschulen  setzen  den  Elementarunterricht  der  Lateinschule  voraus; 


*  Die  Schulordnung,  eine  der  wichtigsten  und  am  meisten  nachgebildeten 
des  16.  Jahrhunderts,  bei  Vormbaum,  I,  68 — 165.  Über  die  Klosterschulen 
Dorn  in  Siiimids  Encyklopädie,  TV,  71  ft'.,  auch  Pfaff,  Geschichte  des  gelehrten 
Unten*,  in  Württemberg,  S.  64t!'.  Die  Vorgeschichte  der  Klosterreform  bei 
Bäumlein  im  Progr.  von  Maulbronn  lb59.  Vgl.  Hartmann  u.  Jäger,  J.  Brenz, 
2  Bde.  (1842),  II,  21»9ft: 


Die  württembergischen  Klosierschiden.  303 


sie  können  natürlich  nicht  Kinder,  sondern  erst  Knaben,  etwa  im  Alter 
von  12 — 15  Jahren,  aufnehmen.  Eine  Prüfung  vor  der  Stuttgarter 
Kirchen-  und  Schulbehörde  (das  später  sogenannte  Landexamen)  ent- 
scheidet über  die  Aufnahme  der  Bewerber,  Mittellosigkeit  ist  regelmäßig 
Voraussetzung.  Die  Dauer  des  Aufenthalts  ist  nicht  fest  bestimmt, 
ebenso  wenig  die  Zahl  der  Novizen.  Unterschieden  werden  niedere  und 
höhere  Klosterschulen,  erstere  Grammatistenklöster  genannt  Die  Zahl 
der  Klosterschulen  wurde  übrigens  noch  im  Lauf  des  16.  Jahrhunderts 
auf  vier,  zwei  niedere  und  zwei  höhere,  herabgesetzt.  Auf  den  Kursus 
im  Kloster  folgt  dann  der  philosophisch -theologische  Kursus  auf  der 
Landesuniversität  und  endlich  die  Verwendung  im  Kirchen-  und  Schul- 
dienst. —  Die  Aufsicht  über  das  ganze  Schulwesen  führten  die  Päda- 
gogiarchen (Rektoren)  zu  Stuttgart  und  Tübingen. 

Man  sieht,  die  Organisation  gleicht  im  ganzen  durchaus  der 
sächsischen;  wie  hier  die  drei  Fürstenschulen,  so  haben  in  Württem- 
berg  neben  dem  Stuttgarter  Pädagogium  die  vier  Klosterschulen  (zu/ 
Adelberg,  später  zu  Hirsau  und  seit  1715  zu  Denkendorf,  Blaubeuren, 
Bebenhausen  und  Maulbronn)  bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
das  Bedürfnis  eines  gelehrten  Vorbereitungsunterrichts  größtenteils  be- 
stritten. Schullehrer  und  Geistliche  erhielten  zum  großen  Teil  in  den 
Klöstern,  die  übrigen  gelehrten  Berufe  in  dem  Pädagogium  ihre  Schul- 
bildung. Auch  Lebensordnungen  und  Disziplin  sind  ähnlich,  nur  noch 
etwas  klösterlicher;  vier  tägliche  Andachtsübungen  werden  vorgeschrieben 
und  die  Lehrer  zum  Cölibat  verpflichtet.  Es  hängt  das  damit  zusammen, 
daß  nur  solche  aufgenommen  wurden,  welche  Theologen  zu  werden 
sich  verpflichteten,  während  die  Fürstenschulen  auch  künftige  Juristen 
und  Mediziner  nicht  ausschlössen.  Die  Ursache  dieser  Verschiedenheit 
ist  übrigens  wohl  nicht  so  sehr  in  einer  Verschiedenheit  der  Ansichten 
zu  suchen,  als  in  dem  Umstand,  daß  die  Vergebung  der  Stellen  in  den 
Fürstenschulen  zum  großen  Teil  dem  Adel  und  den  Städten  hatte  über- 
lassen werden  müssen. 

Die  wesentlichen  Bestimmungen  über  den  Unterricht  sind  oben 
aus  der  kursächsischen  Ordnung,  welche  sie  aus  der  württembergischen 

* 

übernahm,  mitgeteilt  worden.  Hier  mögen  noch  ein  paar  statistische 
Daten,  welche  Pfapf  (68,  77)  mitteilt,  Platz  finden.  Im  Jahre  1604 
bestanden  im  Herzogtum  Württemberg  (mit  160  Quadratmeilen)  außer 
den  Klosterschulen  und  den  beiden  Pädagogien  in  Stuttgart  und  Tübingen 
47  lateinische  Schulen  mit  47  Präzeptoren  und  28  Kollaboratoren.  Um 
1590  wurden  in  denselben  ungefähr  2400  Schüler  gezählt.  Das  Stutt- 
garter Pädagogium  hatte  in  sechs  Klassen  etwa  300  Schüler  und  sieben 
Lehrer.     In  den   Klosterschulen   waren  im  Jahre  1570  219  Zöglinge, 


304  II,  5.  Die  Neuhegründung  d.  Oelehrten^ckulwesens  in  den  prot.  Gebieten. 


davon  82  in  den  oberen.  Davon  sollten,  nach  dem  Landtagsabschied 
von  1565,  jährlich  50  in  das  Stipendium  zu  Tübingen  befordert  werden. 
Wie  stabil  die  Verhältnisse  während  der  folgenden  zwei  Jahrhunderte 
blieben,  zeigt  eine  statistische  Notiz  bei  Klaiber  (S.  1 1 7),  nach  welcher 
am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  auf  demselben  Gebiet  55  lateinische 
Schulen  mit  99  Lehrern  und  2080  Schülern  gezählt  wurden.  Der  Be- 
stand der  höheren  Schulen  war  unverändert. 

Kurpfalz  errichtete,  wie  schon  oben  (S.  239)  erwähnt  ist,  ein 
Pädagogium  zu  Heidelberg,  mit  Alumnat  für  40  Knaben;  ein  säku- 
larisiertes Chorherrenstift  bot  die  Mittel  (Hautz,  Neckarschule,  S.  33 ff.; 
die  Ordnung  bei  Vormbaum,  I.  178  ff.).  —  Durch  einen  jüngeren  Bruder 
des  Kurfürsten  wurde  1578  in  Neustadt  a.  d.  Haardt  ein  Pädagogium 
begründet,  zunächst  in  der  Absicht,  dem  reformierten  Bekenntnis,  welches 
durch  den  lutherisch  gesinnten  Kurfürsten  in  Heidelberg  unterdrückt 
wurde,  eine  Zuflucht  zu  eröffnen ;  es  funktionierte  zuerst  auch  als  Hoch- 
schule, seitdem  die  Kurpfalz  zum  reformierten  Bekenntnis  zurückkehrte, 
als  Gymnasium  (Hautz,  Heidelberg,  II,  112ff.).  Für  das  Fürstentum 
Zweibrücken  wurde  1559  ein  Gymnasium  im  Kloster  Hornbach  mit 
KouTikt  für  48  Stipendiaten,  eröffnet;  1574  wurde  es  nach  dem  Muster 
der  Straßburger  Anstalt  erweitert  (Bavaria,  IV,  2,  514).  Auch  zu 
Trarbach  (1572)  und  Kreuznach  wurden  größere  Schulen  aus 
Kirchengütern  begründet  (Wiese,  1, 391  ff.).  In  der  Grafschaft  Leiningen 
wurde  das  Kloster  Hönin gen  zur  Klosterschule  für  30  Knaben  um- 
gestaltet. 

In  der  Oberpfalz  wurde  1555  zu  Amberg  im  Franziskaner- 
kloster ein  Gymnasium  errichtet,  mit  sieben  Lehrern;  die  Zahl  der 
fürstlichen  Stipendiaten  wurde  1566  auf  50  gebracht  (Rixner,  Gesch. 
der  Studien- Anstalt  zu  Amberg,  S.  3ft*.).  Für  Pfalz-Neuburg  wurde  die 
Schule  zu  Lauingen  im  Jahre  1565  zu  einem  akademischen  Gymnasium 
erweitert:  an  die  dreiklassige  Lateinschule  schloß  sich  das  vierklassige 
Gymnasium  und  endlich  das  auditorium  publicum  mit  Vorlesungen  aus 
allen  Fakultätswissenschaften.  Der  Straßburger  Rektor  Stürm  hatte 
den  Plan  entworfen  (Vormbaum,  I,  723 flF.).  Zwei  Klöster  nahmen  die 
neuen  Anstalten  und  das  zugehörige  Alumnat  auf.  Eine  ähnliche,  doch 
weniger  weitgehende  Anstalt,  mit  einem  Konvikt  für  24  Knaben,  be- 
stand seit  1556  zu  Neu  bürg  (Bavaria.  II,  2.  955). 

Den  Abschluß  der  Organisation  des  kurptalzischen  gelehrten  Schul- 
wesens bildet  die  Schulordnung  von  1615,  welche  bis  gegen  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  in  Geltung  blieb  (Vormbaum,  II,  135 — 177).  Sie 
enthält  sehr  sorgfaltig  ausgearbeitete  Schulpläne  für  die  drei  großen 
Schulen  der  Rheinpfalz  zu  Heidelberg,  Neustadt  und  Neuhausen  (bei 


Baden  und  Franken.  305 


Worms,  gestiftet  1565).  In  der  achtklassigen  Schule  zu  Heidelberg 
wird  Griechisch  in  den  fünf  obersten  Klassen  getrieben.  Bemerkens- 
wert ist,  daß  in  der  obersten  Klasse  hier  schon  neben  Homer  Nonnus, 
neben  Demosthenes  Basilius  als  Lektüre  genannt  wird. 

Die  Markgrafschaft  Baden,  die  schon  1536  eine  evangelische 
Schalordnung  erlassen  hatte  (Vobmbaüm,  I,  30  f.),  errichtete  1586  zu 
Dur  lach  eine  Landesschule  nach  dem  Lauinger  Muster,  mit  sich  an- 
schließendem philosophisch-theologischem  Kursus;  sie  ist  später  (1724) 
nach  Karlsruhe  verlegt  worden  (Vieeobdt,  Gesch.  des  Karlsr.  Gymn.). 
Eine  ansehnliche  Schule  war  auch  zu  PforzheinL 

In  den  fränkischen  Fürstentümern  wurde  eine  protestantische 
Schule  zu  Ansbach  im  St.  Gumbrechtstift  errichtet,  1529;  sie  hatte 
bald  sechs  Klassen  und  lehrte  Sprachen  und  Theologie;  auch  ein  con-- 
tubemium  pauperum  für  10,  bald  21  arme  Knaben,  auf  Klostereinkünfte 
fundiert,  wurde  damit  verbunden.  1737  wurde  sie  zum  Gymn.  illustre 
erhoben  (Schilleb,  Programme  1873,  1875,  1879).  Zu  Hof  wurde 
1543  ein  Gymnasium  im  Franziskanerkloster  eingerichtet  und  mit  Sti- 
pendien ausgestattet  Auch  zu  Baireu  th  bestand  eine  größere  Schule, 
die  später  (1664)  ebenfalls  zu  einem  Gymn,  illustre  erhoben  wurde 
(Feies,  Progr.  1863).  Endlich  ist  noch  die  Klosterschule  zu  Heilsbronn 
bemerkenswert.^  Schon  in  den  30er  Jahren  war  hier  vom  Abt  eine 
kleine  Schule  eingerichtet  worden.  Nachdem  das  Kloster,  das  lange  Zeit 
zwischen  der  alten  und  der  neuen  Lehre  lavierend  seine  Selbständigkeit 
gegen  die  Begehrlichkeit  der  Markgrafen  sich  erhalten  hatte,  endlich 
doch  an  Ansbach  gefallen  war,  errichtete  Georg  Friedrich  im  Jahre 
1582  darin  eine  Fürstenschule  mit  vier  Lehrern  und  100  Schülern. 
Die  letzteren  sollen  Landeskinder,  bei  der  Aufnahme  12 — 16  Jahre  alt 
sein,  ein  gutes  ingenium  und  einige  Kenntnisse  im  Lateinischen  besitzen. 
Vor  allem  sollen  Kinder  armer  Kirchen-  und  Schuldiener,  sowie  anderer 
um  die  Herrschaft  wohlverdienter  Leute  Aufnahme  finden.  Der  Lektions- 
plan zeigt  die  übliche  Anlage.  Die  unterste  Klasse  soll  der  vierten 
Klasse  der  Partikularschule  zu  Ansbach  entsprechen;  Grammatik,  Rhe- 
torik, Dialektik,  mit  Disputationen  und  Deklamationen,  und  die  Elemente 
des  Griechischen,  erfüllen  den  Kursus  der  drei  unteren  Klassen.  In 
der  obersten  soll  mit  dem  Studium  der  Theologie  und  des  Hebräischen 
ein  Anfang  gemacht  werden:  Melanchthons  loci  und  das  examen 
ordinandorum  machen  den  Beschluß,  „zur  Vorbereitung  auf  das  Schul- 
halten und  Predigen^^     Es   sollen   nämlich  die  Schüler  am  Ende  des 

*  G.  Muck,  Gesch.  des  Klosters  Heilsbrono.  3  Bde.  1879.  Ein  für  die 
Geschichte  des  10.  Jalirhundcrts  in  mancher  Hinsicht  lehrreiches  Werk.  Die 
Scholgeschichtc  im  3.  Bd. 

Paalsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  20 


306  U,  5.  Die  Neubegründung  d.  GelehrtenachiUwesens  in  den  prot.  Oebieien, 


Kursus  vor  die  dazu  verordneten  examinatores  beschieden  werden,  und 
wofern  sie  also  qualifiziert,  auch  des  Alters  befanden,  zu  erledigten 
Kirchen-  oder  Schuldiensten  gebraucht  werden.  Andere  aber,  die  dazu 
geschickt  und  tauglich  sind,  sollen  die  Examinatoren  auf  Universitäten 
deputieren.  Es  werden  hierfür  1000  fi.  ausgesetzt,  zu  20  Stipendien 
von  50  fl.,  unter  denen  10  auf  das  Studium  in  Jurisprudenz  und 
Medizin  kommen  mögen.  Wittenberg  ist  die  bevorzugte  Universität 
—  Die  Schule  wurde  1631  durch  den  Krieg  zerstreut,  und  erst  1655 
wieder  aufgerichtet,  aber  nur  mit  zwei  Klassen  und  48  Schülern.  1737 
wurde  sie  aufgehoben,  die  Schüler  wurden  in  Ansbach  und  Baireuth 
untergebracht 

Die  benachbarten  Grafen  von  Wertheim  machten  aus  dem  Cister- 
zienserkloster  Bronnbach  ein  Pädagogium  ßir  20  Knaben  (Wertheimer 
Progr.  1876).  — 

Die  Übersicht  über  die  Entwicklung  des  protestantischen  Gelehrten- 
sohulwesens  in  Mittel-  und  Süddeutschland  lasse  ich  Norddeutschland 
folgen,  vom  Westen  beginnend. 

Von  dem  Erzbischof  Hermann  v.  Wied  wurde  im  Jahre  1543  eine 
reformierte  Kirchenordnung  für  das  Erzstift  Köln  erlassen;  das  Schul- 
wesen sollte  seinen  Abschluß  in  einem  akademischen  Gymnasium  zu 
Bonn  finden.  Wenngleich  die  Sache  scheiterte,  so  hat  doch  der  Ent- 
wurf, an  dessen  Abfassung  Melanchthon  und  Bucee  beteiligt  waren, 
Interesse.  Es  sollen  sieben  Lektoren  sein,  darunter  zwei  Theologen, 
ein  Jurist,  vier  Artisten.  Unter  letzteren  soll  der  dialecticus  außer  der 
Dialektik  auch  Griechisch  lehren  und  gelegentlich  eine  logische  Schrift 
des  Aristoteles  griechisch  vorlegen;  der  rhetoricus  soll  die  praecepta 
rhetorica  lehren  und  Quintilian  und  Cicero  interpretieren,  daneben  die 
Moral  vortragen  und  hierzu  officia  Ciceronis  und  ethicorum  Aristotelis 
die  ersten  fünf  Bücher  griechisch  erklären.  Zu  diesen  kommen  noch 
ein  grammaäcus  und  ein  physicus  (Vobmbaum,  I,  408  flf.). 

In  den  Jülich -cleveschen  Ländern  finden  wir  größere  Gelehrten- 
schulen zu  Düsseldorf,  1545  von  dem  Herzog  Wilhelm  IV.  als 
Landesschule  für  das  Herzogtum  Berg  begründet  (1621,  nach  dem 
Aussterben  des  Fürstenhauses,  den  Jesuiten  übergeben),  und  zu  Duis- 
burg, 1559  als  gymnasium  linguarum  et  philosophiae  von  der  Stadt 
errichtet.  Aus  letzterem,  welches  übrigens  von  Anfang  an  auditores 
puhlici  von  den  Schülern  unterschied,  ging  1655  die  reformierte  Uni- 
versität hervor.  Über  die  Stellung  der  neuen  Schule  innerhalb  des 
gelehrten  Unterrichtswesens  überhaupt  spricht  sich  die  Einladungsschrift, 
welche  der  Bat  veröflfentlichte,  so  aus:  In  unserer  Zeit  giebt  es  drei 
Stufen  der  Studien;  die  erste  ist  die  Stufe  der  Grammatik,  welche  die 


Die  rheinischen  und  westfälischen  Oebieie,  307 


Grundlage  der  übrigen  Wissenschaften  bildet;  die  dritte  Stufe  umfaßt 
die  drei  hohen  Fakultäten,  in  welchen  das  Ziel  aller  Studien  beschlossen 
ist  Dazwischen  liegt  eine  mittlere  Stufe,  welche  einerseits  jene  gramma- 
tischen Studien  zur  Vollendung  bringt,  andererseits  für  die  Fakultäts- 
studien den  Weg  bereitet  Wir  haben  für  uns  diese  mittlere  Stufe 
gewählt,  auf  der  wir  teils  durch  genauere  Kenntnis  der  Sprachen, 
teils  durch  Behandlung  der  Teile  der  Philosophie,  als  Dialektik,  Rhe- 
torik, Topik,  Analytik,  Mathematik  oder  Geographie  den  Kursus  voll- 
enden werden  (Köhnen,  Gesch.  d,  D.  Gymn.  Progr.  1850,  S.  8).  In 
Dortmund  war  schon  1543,  vor  Durchführung  der  Reformation,  ein 
Gymnasium  errichtet  worden,  an  dem  ebenfalls  Theologie,  Jurisprudenz 
und  Philosophie,  außer  den  Schulwissenschaften,  gelehrt  wurden.  Es 
wurde  mit  der  Stadt  1562  protestantisch.^  Die  große  Schule  zu  Wesel, 
1545  mit  sieben  Klassen  eingerichtet,  wurde  1613  zu  einem  akademi- 
schen Gymnasium  mit  scholares  classici  und  auditores  publici  erweitert 
und  ihr  das  Beguinenhaus  mit  anderen  kirchlichen  Einkünften  über- 
wiesen. Eine  ansehnliche  Stadtschule  war  auch  zu  Emmerich,  wenn- 
gleich die  2000  Schüler  um  1550  wohl  zum  Teil  durch  die  humani- 
stische Beredsamkeit  erzeugt  sind.  Endlich  wurde  1571  zu  Jülich 
eine  Gelehrtenschule  gegründet  (Kühl,  Gesch.  des  früheren  Gymn.  zu 
Jülich,  1891). 

In  der  Reichsstadt  Soest  hatte  der  Rat  1534  eine  gelehrte  Schule 
errichtet,  für  welche  später  der  Name  Archigymnasium  üblich  wurde. 
Die  Grafschaft  Ravensberg  besaß  große  Schulen  zu  Herford  im 
Augustinerkloster  (seit  1540)  und  zu  Bielefeld.  Minden,  Osnabrück 
und  Münster  errichteten  ebenfalls  protestantische  Schulen;  Minden 
1530  im  Dominikanerkloster,  Osnabrück  1543  und  Münster  1533  in 
Franziskanerklöstem.  Die  letzteren  beiden  gingen  jedoch  bald  wieder 
ein;  doch  wurde  zu  Osnabrück  1595  wieder  ein  protestantisches  Rats- 
gymnasium eröffnet.  Im  Lippeschen  wurde  ein  städtisches  Gymnasium 
zu  Lemgo  1583,  eine  Landesschule  zu  Detmold  1602,  zu  Bücke- 
burg 1614  errichtet. 

Akademische  Gymnasien  nach  dem  Straßburger  Zuschnitt  für  das 
reformierte  Bekenntnis  entstanden  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  noch 
zu  Mors  1582  für  die  gleichnamige  Grafschaft,  zu  Burgsteinfurt 
1588  für  die  Grafschaften  Bentheim-Tecklenburg  und  zu  Bremen  1584. 
Hier  wurde  die  1528  im  Katharinenkloster  eingerichtete  Schule,  der 
EuBicius  CoRDUs,  nachdem  er  im  Unfrieden  von  Marburg  geschieden 

*  DöRiNQ,  J.  Lambach  und  das  Gymnaa.  zu  Dortmund  1543—1582  (1875); 
die  Schrift  enthält  auch  über  die  benachbarten  Schulen  manche  Nachrichten. 

20* 


308  11,  5.  Dk  Neuhegründuiig  d.  OelehrtenschiUwesens  in  den  proL  Qdneten. 


war,  kurze  Zeit  bis  zu  seinem  Tode  (1535)  vorgestanden  hatte,  so  ver- 
größert, daß  sie  einer  kleinen  Universität  nicht  nachstand  (Ritz,  Gesch. 
des  Bremer  Schulw.  1881).  In  Verden  wurde  1578  die  Domschule 
als  protestantische  Schule  mit  vier  Klassen  eingerichtet;  die  Schule  im 
Augustinerkloster  zu  Stade  war  schon  länger  umgewandelt.  Die  Graf- 
schaft Oldenburg  erhielt  1573  eine  Kirchen-  und  Schulordnung  und 
zu  Oldenburg  eine  größere  Schule  (Meinardus'  Festschr.  1878).  In 
der  Grafschaft  Ostfriesland  bestanden  größere  Schulen  zu  Emden 
und  Norden,  letztere  1567  von  den  Grafen  begründet  und  1631  als 
paedcLgogium  illustre  konstituiert  (Babucke,  Gesch.  der  Ulrichsschule  zu 
Norden,  1877). 

Im  braunschweig-wolfenbüttelschen  Lande  unternahm  Herzog 
Julius  bei  der  zweiten  Reformation  des  Gebiets  zugleich  die  Organisation 
eines  Landesschulwesens  nach  dem  Muster  seines  Vetters  Christoph  von 
Württemberg.  Seine  Kirchen-  und  Schulordnung  vom  Jahre  1569  ist 
der  württembergischen  nachgebildet.  Sechs  Klöster  (Marienthal,  Ame- 
lungsbom,  Ringelheim,  Riddagshausen,  Riechenberg  und  Grauhof  bei 
Goslar)  wurden  zu  Grammatistenschulen  eingerichtet  und  im  Franzis- 
kanerkloster zu  Gandersheim  ein  Pädagogium  begründet.  Letzteres 
wurde  1571  eröffnet,  aber  bald  nach  Helmstedt  verlegt,  wo  es  sich 
zur  Universität  erweiterte.  —  Große  Schulen  bestanden  außerdem  in 
Braunschweig  und  Wolfenbüttel.  ^ 

In  Göttingen  hatte  der  Rat  1542  im  Dominikanerkloster  ein 
Pädagogium  errichtet,  das  mit  Kalandsgütern  ausgestattet  wurde.  In- 
dessen ging  es  bald  unter  dem  Einfluß  theologischer  Streitigkeiten  zu 
Grunde  und  wurde  erst  1586  neu  eröfl&iet,  unter  Henr.  Petkeus, 
einem  Schüler  Neanders.  Nach  dem  Straßburger  Muster  wurde  auf 
die  Lateinschule  das  Pädagogium  mit  drei  Klassen  aufgebaut;  es  wurden 
darin,  außer  den  drei  Sprachen  imd  den  philosophischen  Wissenschaften, 
auch  theologische  und  juristische  Vorlesungen  gehalten,  nicht  minder 
finden  Deklamationen,  Disputationen  und  dramatische  Aufführungen 
statt.  Das  Ziel  der  Ausbildung  wird  von  dem  Pädagogiarchen  Petbeus 
so  bezeichnet:  öivafxiq  ioixtjvtvxtxi)  i,  e,  sermonis  emendati,  probabilis 
omati  facultas,  Gvvtaiq  (pvaix/j  Ttohzixtj  xai  &eoXoyixtjj  i.  e.  rerum 
physicarum  ethicarumque  et  divinarum  cognitio,  cum  religiosa  piefate 
vitaeque  honestate  ronjuncta  (Pannenborg,  Progr.  1886).  In  den  beiden 
anderen  weifischen  Herzogtümern  hatten  Hannover  und  Lüneburg 
große  Schulen ;  sie  waren  von  Urbanus  Rhegiüs,  welchen  Herzog  Ernst 

^  Über  die  Entwickelung  des  Schulwesens  im  Braunschweigischen  giebt 
jetzt  KoLDEWEY,  Br.  Schulordnungen  (Mon.  Paed.  I  u.  VIll)  eingehendste  Be- 
lehrung. 


Hannover,  Schleswig-Holstein.  309 


vom  Augsburger  Reichstag  als  Hofprediger  mitgebracht  hatte,  mit  Schul- 
ordnungen versehen  worden  (die  hannoversche  von  1536  bei  Vobmbaum, 
I,  32,  die  lüneburgische  im  Programm  des  dortigen  Johanneums,  1881). 
Beide  Schulen  hatten  um  1577  sieben  Lehrer. 

Für  die  Herzogtümer  Schleswig  und  Holstein  hatte  schon  die 
BüGENHAGENsche  Kircheu-  und  Schulordnung  vom  Jahre  1542  eine 
Landesschule  zu  Schleswig  in  Aussicht  genommen;  sie  sollte  die 
Oberstufe  zu  dem  Kursus  der  kleinen  Lateinschulen  bieten.  Die  Güter 
des  Domstifts  sollten  in  der  Art  für  ihre  Unterhaltung  verwendet 
werden,  daß  die  drei  ersten  Lehrer,  zwei  magistrt  artium  und  ein  ge- 
lehrter musicusy  Domherren  sein  sollten.  Mit  noch  vier  Unterlehrern 
(paedagogi)  sollten  dieselben  in  fünf  Abteilungen  (und  drei  Lektorien) 
einen  Unterricht,  wie  in  der  Hamburger  und  Lübecker  Schule,  erteilen. 
Die  Sache  blieb  aber  vorläufig  größtenteils  auf  dem  Papier,  Im  Jahre 
1566  wurde  ein  neuer  Anlauf  genommen.  Herzog  Adolf  gründete 
neben  der  Domschule  ein  paedagogium  publicum,  welches  den  Besuch 
auswärtiger  Universitäten  zu  ersetzen  bestimmt  war.  Nach  dem  Lek- 
tionsverzeichnis  von  1566  lasen  elf  Lehrer  15  Vorlesungen  über  alle 
Fakultätswissenschaften,  besonders  über  die  philosophischen  und  theo«» 
logischen  Disziplinen.  Aber  auch  diese  Anstalt  konnte  nicht  zu  Kräften 
kommen  und  ging  in  den  80  er  Jahren  wieder  ein  (Sach,  Schleswiger 
Progr.  1873).  Im  Jahre  1566  wurde  auch  zu  Flensburg  durch 
Privatstiftung  eines  ehemaligen  Franziskaners,  Lütje  Nommen,  ein 
ggmnasium  trilingue  fundiert:  3  Lektoren  sollten  in  dem  von  ihm  er- 
bauten Kollegium  mit  je  100  fl.  Einkonmien  unterhalten  werden  und 
jeder  wöchentlich  zwei  Stunden,  der  eine  hebräische  Grammatik  und 
A.  T.,  der  zweite  griechische  Grammatik  und  N.  T.,  der  dritte  Theo- 
logie, nach  der  Auslegung  der  Lehrer  der  allgemeinen  christlichen 
Kirche,  öffentlich  lesen.  Es  scheint  aber  hierzu  nicht  gekommen  zu 
sein,  die  Stadt  bemächtigte  sich  der  Stiftung  und  der  Einkünfte  noch 
bei  Lebzeiten  des  Fundators  und  unterhielt  davon  die  Lateinschule, 
nicht  zu  seiner  Freude.  Der  sechste  Rektor,  P.  Speiiling,  ein  Schüler 
Stuems  in  Straßburg,  organisierte  seit  1586  die  Schule,  die  bald  durch 
eine  neue  Privatstiftung  bedeutende  Mittel  erlangte,,  nach  dem  Straß- 
burger Vorbild,  mit  sechs  Klassen,  in  welcher  Gestalt  sie  bis  ins 
19.  Jahrhundert  bestanden  hat.^  Ebenfalls  im  Jahre  1566  wurde  das 
Kloster  Bordesholm  zum  Pädagogium  eingerichtet,  für  zwölf  arme 
Freischüler  und  16  Alumnen;  nach  Beendigung  des  Kursus  sollten 
dieselben  nach  Gutbefinden  drei  Jahre  auf  der  Universität  zu  Rostock 

*  0.  M.  Brasch,  Fiensborg  Latinskole  Historie. 


810  Uf  5,  Die  Neubegründung  d.  Oelehrtenscktäwesens  in  denproL  Qebieten, 


nnterhalten  werden.  Die  Schule  bestand  bis  zur  Gründung  der  Kieler 
Universität  (1665),  wozu  auch  ihre  Guter  verwendet  wurden  (Jessen, 
S.  136  ff.).  Protestantische  Gelehrtenschulen  waren  schon  früher  zu 
Husum  (1527)  und  zu  Meldorf  (1540)  als  Landesschulen  für  Nord- 
firiesland  und  Ditmarschen  gegründet.  Ältere  größere  Schulen  bestanden 
zu  Kiel,  Eutin,  Hadersleben. 

Die  mecklenburgischen  Lander  erhielten  1552  eine  von  Aubi- 
FABEB  verfaßte  und  von  Melanchthon  begutachtete  Kirchen-  und 
Schulordnung  (Vobmbaum,  I,  59  ff.).  Sie  betont,  „daß  nicht  allein 
Kinderschulen,  darin  man  die  lateinische  Grammatik  und  den  Kate- 
chismus lernt,  nötig  sind;  sondern  man  muß  auch  die  Sprachen, 
ebräische  und  griechische  erhalten,  item  für  die  Erwachsenen  der  Pro- 
pheten und  Apostel  Schrift  auslegen,  item  Historica  und  Mathematica 
zum  Kalender  wissen."  Für  diese  Zwecke  begründete  Herzog  Johann 
Albrecht,  ein  großer  Gönner  der  schönen  Wissenschaften,  der  mit  den 
namhaftesten  Humanisten  Deutschlands  lateinische  Briefe  wechselte, 
'80  daß  Schwerin  ein  zweites  Florenz  genannt  wurde,  zu  Schwerin  im 
Jahre  1553  eine  Fürstenschule  und  berief  für  sie  den  Dabebcusius 
aus  Meißen  (Wex,  Progr.  Schwerin  1853).  Femer  gelang  es  ihm 
in  Güstrow  und  Parchim  durch  Vereinigung  der  älteren  Schulen 
und  Ausstattung  mit  Kirchengütern  größere  Schulen  zu  Stande  zu 
bringen.  Wismar  hatte  1541  im  Franziskanerkloster  die  alten  Pfarr- 
schulen vereinigt,  Rostock  schon  1534,  doch  fand  die  definitive  Kon- 
stituierung der  großen  Stadtschule  erst  1580  statt.  Eine  größere  Stadt- 
schule bestand  auch  zu  Neubrandenburg  (Schulordnung  von  1553 
bei  Vobmbaum,  I,  431  ff.). ^ 

In  Pommern  drang  die  Reformation  seit  dem  Tode  Herzog  Georgs  L 
1531  durch.  1535  kam  die  von  Bugenhagen  verfaßte  Kirchenordnung 
zur  Annahme.  Zu  Stettin^  wurden  zwei  große  Schulen  errichtet:  die  alte 
Ratsschule  wurde  1540  in  dem  verlassenen  Karmeliterkloster  unter- 
gebracht, die  fünf  Klassen  erhielten  in  der  Kirche  durch  niedrige  Holz- 
verschläge getrennte  Plätze.  An  Stelle  der  alten  Domschule  wurde 
1543  eine  Landesschule  gegründet  und  mit  Einkünften  aus  den  beiden 
Stiften  versehen.  Zu  zwei  älteren  Stiftungen  für  je  24  arme  Knaben, 
die  zur  Schule  und  zum  Kirchendienst  gehalten  worden  waren,  kam  ein 
neues  Pädagogium,  worin  24  Knaben  vom  12.  Lebensjahre  ab,  die  schon 


*  Hartwig  in  Schmids  Encyklopädie,  IV,  884  ff.  Einige  Mitteilungen  über 
den  Schulbetrieb  der  mecklenb.  Lateinschulen  in  diesem  Zeitalter  im  Progr.  der 
Realschule  zu  Ludwigslust  1884  von  Kische. 

*  Lemcke,  Gresch.  der  Ratsschule,  Progr.  d.  Stadtgymn.  1893.  Wehrmann, 
Gesch.  des  Marienstiftsgymn.    Festschrift  1894.    Hasselbach,  Progr.  1844. 


Mecklenburg,  Pommern,  die  Marken,  311 


die  Elemente  des  Lateinischen  mitbringen,  Aufnahme  finden,  dazu 
zahlende  Pensionäre.  Die  Schule  wird  dazu  auch  von  Stadtschülem 
besucht.  Die  Gesamtzahl  blieb  doch  im  16.  Jahrhundert  unter  100. 
Die  Bestimmung  der  Anstalt  wird  in  den  revidierten  Statuten  von 
1565  so  ausgesprochen:  das  Pädagogium  sei  nicht  eine  gemeine  Schule 
für  Elementarschüler  (Abecedarii,  Sj/Uabarü,  JDonatistae),  sondern  dazu 
bestimmt,  „daß  in  ihm  die  Grundlage  der  freien  Künste  und  der 
Theologie  gelegt  werde,  damit  die  Ton  hier  abgehende  Jugend  den 
Studienkursus  auf  Universitäten  desto  rascher  absolvieren  und  sich 
gleich  zu  einer  bestimmten  Fakultät  wenden  könne,  Ärmere  aber,  die 
den  Aufwand  für  das  üniversitätsstudium  nicht  tragen  können,  gleich 
von  hieraus  den  gemeinen  Schulen  und  Dorfkirohen  vorgesetzt  werden 
können,  wie  auch  bisher  geschehen  ist  Denn  die  meisten  Schulen  und 
Kirchen  in  diesen  Gegenden  werden  von  unseren  Schülern  versehen." 
Gelehrt  wurden  außer  den  Sprachen  die  philosophischen  und  theo- 
logischen Wissenschaften,  auch  Instituäones  juris  werden  erwähnt,  und 
im  17.  Jahrhundert  kamen  medizinische  Vorlesungen  hinzu.  —  In 
Stralsund  legte  man  1560  die  drei  Pfarrschulen  in  eine  große  sieben- 
klassige  Schule  im  Dominikanerkloster  zusammen.^  Greifswald  folgte 
1561  mit  der  gleichen  Maßregel,  die  drei  Trivialschulen  wurden  im 
Franziskanerkloster  zur  Kats-  oder  Klosterschule  vereinigt.  Hinter- 
pommem  hatte  größere  Schulen  zu  Kolberg,  wo  die  alte  Domschule 
nach  der  Reformation  mit  Gütern  des  Stifts  neu  ausgestattet  worden 
war,  und  zu  Stargard,  wo  man  die  beiden  alten  Pfarrschulen  im 
Augustinerkloster  vereinigte.  Durch  eine  Stiftung  des  Bürgermeisters 
Gröning  wurde  1633  an  die  Schule  ein  Collegium  academicum  an- 
geschlossen, das  bis  in  den  Anfang  dieses  Jahrhunderts  bestand.  End- 
lich ist  das  von  der  Witwe  des  letzten  Herzogs  zu  Neustettin.  1640 
gegründete  Hedwigsgymnasium  zu  erwähnen.  —  Eine  allgemeine  Landes- 
schulordnung wurde  1563  gegeben.^ 

In  den  Marken  wurden  seit  Einführung  der  Reformation  (1539) 
auch  die  Schulen  reformiert.  Berlin  legte  1540  die  beiden  Rats- 
schulen (Nicolai-  und  Marien-)  zu  einer  größeren  Schule  zusammen, 
die  1574  im  Grauen  (Franziskaner-)  Kloster  in  bedeutend  erweiterter 
Gestalt  als  Landesgymnasium  konstituiert  wurde,  mit  sieben  (thatsäch- 
lich  fünf)  Klassen,  und  mit  theologischen  und  juristischen  Vorlesungen 
für  die  Schüler  der  ersten  Klasse,   „die  da  anfangen  zu  sein  artium^ 

*  E.  H.  Zober,  Urkundliche  Gesch.  des  Stralsunder  Gymnasiums  (1838/60). 

'  VoRMBAUM,  I,  165.  Manche  Mitteilungen  auch  in  v.  Bülows  Beiträgen 
zur  Geschichte  des  ponimcrschen  Schulwesens  im  16.  Jahrhundert.  Baltische 
Studien,  1880. 


312  //,  5.  Die  Neubegründung  d.  GelekrtenscJiulwesens  in  denproi,  Gebieten. 


philosophiae,  linguarum,  doctrinae  ecclesiae  Studiosi  oder  denen  gebühret 
zn  wissen  alles  das,  was  die  wohl  instituierten  Gesellen  wissen,  ehe  sie 
auf  eine  Universität  mit  Nutz  und  Aufnahme  geschickt  werden**.  Auch 
fehlt  nicht  ein  Alumnat  {Heidemann,  Gesch.  des  Grauen  Klosters). 
Daneben  bestand  die  Colinische  Stadtschule.  Größere  Schulen  waren 
noch  zu  Brandenburg,  wo  die  altstadtische  Schule,  seit  1589  als 
Saldria  (nach  einer  Frau  v.  Saldem  genannt,  die  ihr  eine  Stiftung  zu- 
wendete), zu  einer  bedeutenderen  Stellung  gelangte;^  ferner  zu  Spandau, 
Stendal,  Prenzlau,  Neu-Ruppin,  Frankfurt  a.  0.  Im  Jahre  1607 
kam  die  zu  Joachimsthal  in  der  Priegnitz  ToUig  neu  begründete  und 
im  großen  Stil  ausgestattete  brandenburgische  Fürstenschule  hinzu. 
120  einheimische  arme  Knaben,  darunter  10  vom  Adel,  10  Kinder 
armer  Hofdiener  und  20  Kinder  unvermögender  Pfarrer,  sollen,  nach- 
dem sie  in  einem  Examen  ihre  Fähigkeit  und  Kenntnisse  nachgewiesen, 
auf  vier  bis  fünf  Jahre  aufgenommen  und  sodann  auf  die  Universität 
befordert  werden.  Bei  der  Aufnahme  sollen  sie  zwölf  bis  dreizehn 
Jahr  alt  sein  und  die  imtia  grammatices  ziemlich  inne  haben.  Der 
Lektionsplan  für  die   oberste  der   drei  Klassen   hat  folgende  Gestalt 

(VOBMBAÜM,  I,  75): 


7. 


12. 

1. 
2. 


dieb.  Lun,  ei  Mariis.       d.  Merc.  et  Subbathi.         d.  Joris  et  Veneria. 


Sacra  a  pastore. 


8.  Dialectica   Philippi   a 
I       reeiore, 

9.  Linacer  a  Conreciore. 


Mus^ica  practica  a  Can- 
tore. 

Oratio  aliqua  Ciceronis 
a  Conr, 

d.  lAin,  Chronica  Phi- 
lippi; d.  Mart.  Ethi- 
ca  Philippi  a  Beet 


Ilebr,  Gramm.  Schind- 

leri  a  Conrectore, 
Vergilius  a  Rectore. 

Exercitia  styli  a  Rec- 
tore;   sed   d,    Sabb.  \ 
Sphaerica  a  Mathe- 
matico. 


Sacra    in    templo    vel 

schola  a  pastore. 
Rhetorica  Philippi   et 

Thalaei  a  Rectore. 
Graeca  Gramm.  Crusii 

a    Conrect.    d,    Vefi. 

Hesiodus  a  Conrect. 

Arithmetiea  a  Mathern. 

Physica  Velcurionis  a 

Conrectore. 
Orat.  alif/ua  Deniosthe- 

nis  a  Rect. 


Früher  als  in  den  Marken  hatte  in  Schlesien,  wie  der  Huma- 
nismus, so  auch  die  Reformation  Eingang  gefunden.  Schon  im  Jahre 
1528  gab  der  Breslauer  Rat  für  die  Schulen  zu  St.  Elisabeth  und 


^  TscHiBCH,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Saldria,  1889. 


Schlesien,  Breslauer  Schulordnung  von  1570,  313 


zu  St.  M.  Magdalena  eine  Schulordnung.  Daß  Griechisch  in  denselben 
getrieben  wurde,  geht  aus  dem  Druck  einer  griechischen  Schulgrammatik 
(von  JoH.  Metzler)  zu  Breslau  1529  hervor.  Eine  ausfuhrliche  Schul- 
ordnung erhielten  die  Breslauer  Schulen  im  Jahre  1570  (Vobmbaum, 
1, 184 ff.);  ihr  Verfasser  ist  der  Rektor  des  Elisabetanums,  P.  ViNCENTros, 
ein  Schüler  und  später  Kollege  Melanchthons.  Sie  teilt  die  Schule 
in  fünf  Klassen.  Der  obersten  Klasse  wird  die  Aufgabe  gestellt,  „das 
tirocinium  artis  pkilosophiae,  linguarum,  doctrinae  Ecclesiae  samt  allem 
dem,  was  ein  wohl  instituierter  junger  Gesell  wissen  soll,  ehe  dann  er 
in  eine  Universität  verschickt  werden  möge"  anzufangen  und  so  viel 
möglich  zu  vollbringen;  aber  auch  „vielen  Armen,  deren  ein  großer 
Haufe  ist,  die  entweder  gar  nicht  Armuts  halber  in  Universitäten  stu- 
dieren oder  ja  nicht  lange  sich  in  denselben  erhalten  können"  statt 
der  Universität  zu  dienen;  wie  denn  an  einzelnen  Lektionen  des  Bektors 
in  dieser  Klasse  auch  ältere  Kirchendiener,  Diaconi  und  sonst  etliche 
Vornehme  von  der  Bürgerschaft  gelegentlich  teilnehmen.  Der  Unter- 
richt dieser  Klasse  beruht  nun  einerseits  auf  dem  ständigen  Gebrauch 
einiger  Lehrbücher,  wir  proponieren  gewisse  ,jMethodicos  libellos  artium 
dicendi,  deren  Definitiones,  Abteilung  und  regulas  sie  auswendig  lernen, 
als  da  ist  Dialeciica,  Rhetorica  und  Graeca  Grammaäca,  und  setzen 
hierzu  auch  Arithmeticay  weil  man  derselben  in  allerlei  Studieren  viel- 
fältig haben  und  gebrauchen  muß".  Zur  Erklärung  und  Übung  aber 
der  Praecepta  dienen  die  besten  Antares,  unter  denen  man  wechselt: 
Ciceros  Episteln,  de  officüs,  de  oratore,  auserlesene  Orationes,  bisweilen 
auch  ein  Buch  Livius;  von  Poeten  aber  Virgil,  Ovid,  Plautus;  im  Grie- 
chischen Hesiod,  Homer,  Isokrates,  die  Evangelien  und  die  Episteln  Pauli, 
aber  auch  einmal  etwas  von  Demosthenes,  Theokrit,  oder  eine  Tragödie ; 
wozu  denn  nachher  die  Bestimmung  folgt:  daß  „niemand  gestattet  ist 
in  die  Länge  Graecum  authorem  zu  hören,  der  nicht  aufs  wenigste  die 
declinationes  et  conjugationes  graeca^  samt  den  regulis  de  formationUms 
temporum  wohl  gelernet  hat".  Zweimal  wöchentlich  sind  scripta  zu 
exhibieren,  Montags  Prosa,  Donnerstags  Poesie,  die  von  den  Lehrern 
übersehen  und  so  viel  als  möglich  fleißig  examiniert  und  emendiert 
werden  sollen.  Den  provectioribus  aber,  die  praecepta  Rhetorices  ge- 
lernt haben,  soll  man  bisweilen  materias  declamationum  geben,  die  sie, 
nachdem  die  Präzeptoren  sie  emendiert  haben,  coram  toto  coetu  publice 
rezitieren  sollen;  und  alle  Vierteljahr  etwa  mögen  die  Präzeptoren 
durch  eine  öflFentliche  Oration  ein  Exempel  geben.  Ebenso  soll  propter 
exercitium  familiaris  sermonis  bisweilen  eine  comoedia  Plauti  gelesen, 
gelernt  und  in  der  Schule  rezitiert  oder  auch  bisweilen  öffentlich  agiert 
werden.  —  Endlich  wird  der  Rektor,  wenn  sie  in  diesen  Studien  sich 


Neubegründung 


geübet,  auch  zu  guter  Gelegenheit  ^^initia  Phynces  oder  EtfUces  auch 
bisweilen  einen  Historicum  proponieren,  daraus  man  materias  nehme 
zu  deklamieren  und  disputieren.^' 

ViNCENTius  war  vorher  in  Görlitz  gewesen,  dessen  Schule  er 
wesentlich  nach  dem  gleichen  Zuschnitt  organisiert  hatte.  Die  Lausitz 
hatte  größere  Schulen  noch  zu  Bautzen  und  Zittau.  Zu  Brieg 
wurde  1569  ein  vom  Herzog  zu  Liegnitz  gegründetes  akademisches 
Gymnasium  eröfihet,  dem  ähnliche  Anstalten  zu  Ols  (1594)  und 
Beuthen  (1604)  folgten.  Die  Lehrpläne  für  Brieg  (1581)  und  Beuthen 
(1614)  bei  Yormbaum;  sie  folgen  im  allgemeinen  dem  Breslauer  Vor- 
bild. Die  Anstalt  zu  Beuthen,  vom  Freiherm  G.  v.  Schönaich  fundiert, 
bestand  aus  einem  Pädagogium  mit  sieben  Lehrern  und  48  Alumnen 
und  dem  akademischen  Gymnasium  mit  neun  Professoren  aller  Fakul- 
täten und  24  Alumnen.  Unter  den  letzteren  werden  in  der  Stiftungs- 
urkunde (von  1616,  in  den  Mitteil,  der  Ges.  für  deutsche  Schulgesch., 

III,  209  flf.)  an  erster  Stelle  genannt  der  professor  pietatis  und  der 
Professor  morum,  von  denen  jener  eine  praktische  Unterweisung  im 
Christentum,  dieser  in  der  Lebensweisheit  und  den  Standespflichten 
geben  soll:  „denn  die  Erfahrung  bezeugt,  daß  den  Gelehrten  unter  den 
Evangelischen,  so  niedrigen  Standes  sind,  sonderlich  den  Theologis, 
Pastoribus  et  Philosophis  an  ihrem  Aufnehmen  und  Fortkommen  oft- 
mals nichts  mehr  verhinderlich  ist,  denn  daß  sie  in  moribus  so  gar 
nicht  unterrichtet  und  sich  gar  nicht  gegen  den  Obern  und  in  das  ge- 
meine weltliche  Wesen  und  Zustand  zu  schicken  wissen;  gereicht  auch 
der  evangelischen  Kirchen  zu  nicht  geringer  Verachtung."  Die  Anstalt 
wurde  nach  kurzer  Blüte  durch  den  Krieg  vernichtet  Bedeutendere 
evangelische  Schulen  bestanden  noch  zu  Goldberg,  bekannt  durch 
seinen  Rektor  Tbozendobf  (1531 — 1556),  Liegnitz,  Bunzlau,Glogau, 
Grünberg,  Sagan.  Als  ein  Beispiel  der  Zusanmiensetzung  der  Schüler- 
schaft einer  dieser  größeren  Schulen  scheint  eine  statistische  Notiz  aus 
Brieg  vom  Jahre  1607  der  Mitteilung  nicht  unwert^  Die  Schule  hatte 
damals  in  fünf  Klassen  502  Schüler: 

I.     99,  in    8  Dekurien,  darunter  69  Schlesier,  8  aus  Brieg,  12  Adlige. 
IL     73,   „    8         „  ,,        68         „       22    „       „       19       ,, 

IIL     73,   „     4(?)     „  .,71         ,,       39    „       „       18      „ 

IV.  64,    „     6         ,,  M        61         „       38    „       .,       17       „ 
V.   194,    „19         „  „      190         „     155    „       „         8      „ 

In  Preußen  ist  eine  der  ersten  durch  die  Reformationsbewegung 
zu  Stande  gebrachten  Schulen  die  vom  Rat  zu  Elbing  im  Brigitten- 

*  Schön  WÄLDER  und  Güttmann,  Gesch.  d.  Gymn.  zu  Brieg  (1869),   S.  66  f. 


Schlesien,  Preußen.  315 


kloster  1536  errichtete,  welcher  der  aas  den  Niederlanden  stammende 
humanistische  Dichter  W.  Gnapheus  als  erster  Rektor  vorstand.  Sie 
hat  noch  vorwiegend  den  humanistischen  Charakter.  Im  Jahre  1540 
führten  die  Schüler  einen  Maskenumzug  durch  die  Stadt  auf:  Triam' 
phus  eloquenäae,  vom  Rektor  gedichtet.  „Barbaries,  ein  Mensch  in  einer 
greulichen  Maske,  mit  Ketten  belastet,  auf  einem  abgetriebenen  Pferde, 
jedoch  verkehrt,  sitzend^,  beklagt  in  Versen  das  Ende  des  heilsamen 
Reichs  der  Ignorantia;  worauf  Ehquentia  auf  einem  Triumphwagen  er- 
scheint und  in  400  Hexametern  Weisheit  und  Tugend  preist  Am 
Schlüsse  des  Zuges  kommen  die  Musen,  jede  von  einem  klassischen 
Autor  begleitet  Vor  ihnen  reitet  die  Poesie  mit  dem  Hom  der  Amal- 
thea,  das  zugleich  als  Trinkhom  gebraucht  wird.  Die  AuffUirung 
schließt  mit  einem  Chorlied,  dessen  letzter  Vers  lautet: 

Scholae  Juventus  hie  ovet, 

Plaudens  ovet  Borussia, 

Quod  MusictLS  migret  chorus 

Cum  Gtaäu  Aelbingiam,^ 
Dan  zig  errichtete  1558  ein  Gymnasium  im  i'ranziskanerkloster, 
das  sich  später  zu  einer  akademischen  Anstalt  mit  Vorlesungen  aus 
allen  Fakultatswissenschaften  erweiterte  und  im  17.  Jahrhundert  sich 
beträchtlichen  Ansehens  erfreute  (Hirsch,  Gesch.  des  akad.  Gymn.  zu 
Danzig,  1837). 

In  dem  alten  Ordensland  Preußen  gründete  sein  letzter  Hoch- 
meister und  erster  Herzog,  Albrecht  von  Brandenburg,  zu  Königsberg 
neben  der  Domschule  und  der  altstädtischen  Pfarrschule  im  Jahre  1541  ein 
Pädagogium,  aus  dem  sich  bald  die  Universität  Königsberg  entwickelte 
(1544).  Doch  blieb  das  Pädagogium  bestehen;  als  seinen  Rektor  finden  wir 
den  eben  genannten  Gnapheus,  bis  er  1547  wegen  Unzulänglichkeit 
seines  theologischen  Bekenntnisses  exkommuniziert  und  vertrieben  wurde. 
Das  Pädagogium  bestand,  trotz  des  heftigen  Widerspruchs  der  alten 
Schulen,  die  sich  dadurch  in  ihrem  Einkommen  geschmälert  sahen,  bis 
1619,  wo  es  aufgehoben  wurde,  „weil  es  ein  ziemlicher  Verderb  der 
Stadtschulen  sei,  indem  die  Jungen,  so  in  den  Partikularschulen  nicht 
sub  ferula  et  castigaüone  scholastica  sein  wollen,  spe  liberioris  vitae  ei 
impunitatis  dahin  fliehen"  (Mölleb,  Progr.  des  altstädt.  Gymn.  1847). 
1545  wurde  zu  Rastenburg  eine  Landesschule  errichtet,  und  1586 
erfolgte  die  Errichtung  von  drei  ferneren  Provinzial-  oder  Fürstenschulen 
durch  Markgraf  Georg  Friedrich  von  Ansbach:  Lyck,  Tilsit  und 
S  aal  fei  d  (je  eine  für  die  Polen,  Litauer,  Deutschen).    Die  Anstalten 

^  Keusch,  W.  Gnapheus,  im  Elbinger  Programm  1877. 


316  II,  5,  Die  Neubegründung  d.  Gelehrtenschulwesens  in  den  prot,  Oebieten, 


wurden  mit  Alumnaten  ausgestattet  und  aus  bischöflichen  Einkünften 
dotiert  Die  Aufsicht  wie  die  Prüfung  der  Lehrer  wurde  einem  Pro- 
fessor der  philosophischen  Fakultät  zu  Königsberg  als  Oberscholarchen 
übergeben.  Die  Verhältnisse  und  also  wohl  auch  die  Leistungen  der 
Anstalten  waren  dürftig.  Den  Lehrern,  die  ihre  Kost  bei  den  Bürgern 
in  Form  der  mensa  ambulatoria  haben,  wird  noch  in  einer  Schulord- 
nung von  1638  eingeschärft,  daß  sie  nach  der  Mahlzeit  gehen  und  den 
Bürgern  vor  allem  abends  nicht  durch  langes  Sitzen  sich  lästig  machen 
(Bebnpckee,  Gesch.  d.  Gymn.  zu  Lyck,  Festschr.  1887).  Eine  größere 
Schule  bestand  seit  1557  im  Franziskanerkloster  zu  Thorn,  sie  hatte 
ein  Alumnat  und  Anfange  akademischen  Unterrichts.  Auch  die  alte 
akademische  Anstalt  zu  Kulm  wurde  um  1550  zeitweilig  als  evange- 
lische Schule  hergestellt. 

Auch  in  denjenigen  deutschen  Territorien,  in  welchen  es  zur  Er- 
richtung protestantischer  Landeskirchen  nicht  kam,  die  aber  gleichwohl 
von  der  allgemeinen  Reformationsbewegung  erfaßt  wurden,  insbesondere 
in  den  Ländern  des  Hauses  Habsburg,  wurden  in  derselben  Zeit  ähn- 
liche Anstalten  von  den  Landschaften  und  den  Städten  gegründet.  Ich 
will,  um  die  Darstellung  nicht  zu  sehr  zu  zersplittern,  hier  von  den- 
selben nicht  handeln,  sondern  das  Notwendige  bei  Gelegenheit  der  Dar, 
Stellung  der  katholischen  Schulreformation  nachtragen.  Dagegen  sind 
zwei  Außenlande  der  protestantisch-deutschen  Kultur  hier  zu  erwähnen. 
Bei  den  siebenbürgischen  Sachsen  hatte  die  Reformation  früh  Ein- 
gang gefunden,  eine  lange  Reihe  von  siebenbürgischen  Studenten  findet 
sich  in  der  wittenbergischen  Matrikel;  von  1522 — 1560  werden 
140  Namen  gezählt.  In  den  40  er  Jahren  wurden  von  der  Nations- 
universität, der  politischen  Vertretung  des  Sachsenvolks,  das  Augs- 
bui^che  Bekenntnis  angenommen;  Jon.  Hontebus  ist  der  sieben- 
bürgische  Reformator,  ihr  „Lutheb  und  Melanchthon  in  einer  Person". 
Von  ihm  ist  die  Kirchenordnung  von  1543 — 1547  verfaßt,  die  auch 
die  Grundzüge  einer  Schulordnung  enthält:  es  sollen  überall  Schulen 
aus  öfifentlichen  Mitteln  erhalten  und  Lehrer  besoldet  werden,  „daß 
kein  Knab  seiner  Armut  halben  von  der  Schul  ausgeschlossen*^,  auf  daß 
nicht  einmal,  heißt  es  nachher,  „dies  Vaterland,  mitten  unter  den 
Feinden  von  Gott  also  herrlich  begnadet,  durch  Unfleiß  der  Obrigkeit, 
welche  darauf  zu  sorgen  geschworen  ist,  zu  einem  heidnischen  Wesen 
werde".  Protestantische  Gelehrtenschulen  wurden  zu  Kronstadt  und 
Hermannstadt  errichtet.  Die  Kronstadter  Schulordnung  von  1543, 
von  HoNTEBüs  abgefaßt,  der  auch  für  alle  Unterrichtsgegenstände  die 
Schulbücher  geschrieben  hat,  schreibt  vor:  Lateinisch,  Griechisch  (tag- 
lich eine  Stunde),  Dialektik,  abwechselnd  Woche  um  Woche.     Dispu- 


Siebenbürgen,  Ostseeprovinzen.  317 


tationen  und  Deklamationen,  zwei  Komödienaufführungen  im  Jahr;  auch 
Arithmetik  und  Geographie  wird  erwähnt.  Bemerkenswert  ist  noch  die 
sehr  detaillierte  Verordnung  über  die  von  den  Schülern  selbst  zu 
wählenden  magistratus:  rex,  censores,  aedilis,  orator, praeco  u.a.  werden 
erwähnt,  ihre  Wahl  und  ihr  Amt  genau  beschrieben:  ein  Spiegelbild, 
meint  Tbütsch,  der  siebenbürgisch -sächsischen  Volksverfassung.  Die 
Schule  zu  Hermannstadt,  an  der  schon  am  Anfang  des  16.  Jahrhunderts 
ein  humanistischer  Schulmeister  erwähnt  wird,  wurde  1555  erweitert 
und  zugleich  eine  Stipendienkasse  eingerichtet,  um  den  Besuch  deutscher 
UniTersi tuten  auch  unbemittelten  Studenten  zu  ermöglichen.^ 

Im  baltischen  Ordensland  hatten  die  Städte  Riga  und  Reval 
von  alters  her  Dom-  und  Stadtschulen.*  Als  die  Reformation  durch- 
drang erfolgte  die  entsprechende  Reformation  dieser  Anstalten«  Ein 
Lehrplan  der  Domschule  zu  Riga  vom  Jahre  1594  zeigt  ganz  den 
üblichen  Kursus  der  gleichzeitigen  protestantischen  Schulen.  Nachdem 
Livland  an  Schweden  gekommen  war,  wurde  die  Schule  1631  zu  einer 
akademischen  Lehranstalt  mit  philosophischen  und  theologischen  Kursen 
erweitert.  In  demselben  Jahre  wurde  zu  Reval  ein  Landschaftsgym- 
nasium im  Michaeliskloster  gegründet  Im  folgenden  Jahre  en(Uich 
erfolgte  die  Errichtung  einer  Universität  zu  Dorpat;  Gustav  Adolf 
unterzeichnete  die  Stiftungsurkunde  zu  Nürnberg.  Die  mannigfaltigen 
Schicksale,  welche  diese  Anstalten  auf  dem  exponierten  Boden  erlitten 
und  mit  zäher  Lebenskraft  glücklich  überstanden,  können  hier  nicht 
verfolgt  werden.  Nur  das  mag  noch  erwähnt  sein,  daß  die  Universität 
zunächst  nur  kurze  Lebensdauer  hatte;  1656  wurde  sie  von  den  Russen 
zerstört,  erstand  aber  1802  wieder  zum  Leben  und  zwar  jetzt  als  ganz 
deutsche  Anstalt,  während  sie  im  17.  Jahrhundert  halb  schwedisch 
gewesen  war.  (Die  deutsche  Universität  Dorpat,  2.  Aufl.  1882,  anonym.) 
Unserem  Zeitalter  eines  extremen  Nationalismus,  der  sich  vielfach 
bildungsfeindlich  erweist,  war  die  Zerstörung  der  deutschen  Bildungs- 
anstalten auf  dem  fremden  Boden  vorbehalten. 


'  Fb.  Teutsch,  Die  siebenbürg.-sächs.  Schiilordnuugen.  Mon.  Germ.  Paed.  VI. 
Geschichten  der  Gymn.  zu  Kronstadt  im  Progr.  1845  von  Duck,  zu  Hermann- 
stadt 1859  von  Schwarz. 

*  Ober  die  Geschichte  des  gelehrten  Schulwesens  in  den  russischen  Ostsee- 
provinzen handelt  eingehend  ein  Art.  in  Schmids  EncyklopftdiCi  XI,  393  ff. 


318    U,  6.    Gestalt  und  UfUerrichtshetrieb  der  protest.  Striaen  um  1580. 


Sechstes  Kapitel. 

Äußere  Gestalt  und  Unterrichtsbetrieb 
der  Gelehrtenschulen  in  den  protestantischen  Gebieten 

am  Ende  des  16.  Jahrhunderts. 

Wie  bei  den  Universitateiiy  so  lasse  ich  auch  hier  der  Übersicht 
über  die  geschichtliche  Entwickelung  eine  Schilderung  des  Zostand- 
lichen  folgen.  Auch  hier  mag  der  Querschnitt  etwa  um  das  Jahr 
1580  gezogen  sein.  Im  ganzen  und  großen  bleibt  das  protestantische 
Schulwesen  zwei  Jahrhunderte  lang  unverändert  in  diesem  Rahmen 
bestehen.  Ich  handle  zuerst  von  den  äußeren  Verhältnissen,  sodann 
Ton  der  Gestalt  des  Unterrichts. 

Zwei  Schulformen  bestehen,  wie  die  Übersicht  im  einzelnen  gezeigt 
hat,  in  fast  allen  größeren  protestantischen  Ländern  neben  einander: 

l  städtische  Lateinschulen  und  staatliche  Gelehrtenschulen. 
Die   letzteren  sind  die  charakteristische  Neubildung  dieses  Zeitalters; 

i  die  drei  sächsischen  Landesschulen  machen  den  Anfang.  Aus  öffent- 
lichen Mitteln,  d.  h.  aus  eingezogenen  geistlichen  Gütern  errichtet  und 
dotiert,  haben  sie  die  Bestimmung,  eine  ausreichende  Vorbildung  für 
das  Universitätsstudium  zu  geben  oder  auch  wohl  dieses  zu  ersetzen. 
Sie  nehmen  Landeskinder,  die  schon  die  Elemente,  namentlich  auch 
der  lateinischen  Sprache,  gelernt  haben,  etwa  im  Alter  von  12 — 14 
Jahren  als  Alumnen  auf  und  bereiten  sie  auf  öffentliche  Kosten  in 
etwa  sechsjährigem  Kursus  auf  das  wissenschaftliche  Studium  vor, 
wofür  diese  die  Verpflichtung  eingehen,  dem  Fürsten  nachher  im  welt- 
lichen oder  geistlichen  Amt  zu  dienen. 

Die  städtischen  Lateinschulen  —  sie  werden  in  der  württem- 
bergischen Schulordnung  von  1559  und  der  ihr  nachgebildeten  kur- 
sächsischen von  1580,  die  beide  den  ganzen  Schulschematismus  am 
deutlichsten  erkennen  lassen,  als  Partikularschulen  den  Landes- 
schulen gegenübergestellt  —  sind  Unternehmungen  nicht  des 
Staats,  sondern  der  Stadt;  der  Rat  errichtet  die  Schule  und  stellt 
die  Lehrer  an.  Sie  dient  auch  nicht  allein  dem  Unterricht  künftiger 
Studierender,  sondern  ist  zugleich  allgemeine  Stadtschule,  in  der  auch 
die  den  bürgerlichen  Berufen  bestimmten  Knaben  ihre  Unterweisung 
erhalten.  Winkelschulen  werden  regelmäßig  verboten,  weil  sie  zum 
Nachteil  der  Stadtschule  und  ihrer  Lehrer  gereichen.  Doch  wird 
Privatunterricht  zugelassen,  und  vielfach  bestehen  neben  der  Latein- 


FüratenschtUen  und  Stadtschulen,  319 


schule  auch  deutsche  Schulen.  Größe  und  Gestalt,  Schulziel  und 
Lehrerzahl  der  Lateinschule  richtet  sich  nach  den  örtlichen  Er- 
fordernissen und  Mitteln.  Für  mittlere  Städte  gilt  der  Typus  der 
kursächsischen  Schulordnung  von  1528:  drei  Klassen  mit  drei  Lehrern, 
rector,  cantar^  baccalariua  oder  socius.  In  ganz  kleinen  Städten  und 
Flecken  schrumpft  die  Schule  noch  weiter  zusammen;  sie  hat  hier 
bloß  zwei  oder  einen  Lehrer,  und  in  den  Dörfern  geht  sie  in  die 
deutsche  Küsterschule  über;  doch  fordern  die  württembergische  und 
sächsische  Schulordnung  auch  für  die  großen  Dörfer  elementaren 
Lateinunterricht.  In  größeren  Städten  dagegen  nimmt  mit  der  Schüler- 
zahl auch  die  Zahl  der  Klassen  und  der  Lehrer  zu,  die  letzteren  wachsen 
regelmäßig  mit  einander,  denn  das  Klassenlehrersystem  gilt  un- 
bedingt. In  den  großen  Städten  endlich,  namentlich  in  den  großen 
Reichsstädten,  wie  Nürnberg,  Straßburg,  Hamburg,  Lübeck  erweitert 
sich  die  Stadtschule  zur  eigentlichen  Gelehrtenschule,  mit  zahlreichen 
Klassen  und  Lehrern.  Nicht  selten  sind  auch  akademische  Vor- 
lesungen, besonders  der  philosophischen  und  theologischen  Fakultät 
angeschlossen,  wodurch  sie  in  den  Stand  gesetzt  sind,  auch  für  eine 
Universität  zu  Vikariieren  oder  wenigstens  eine  Verkürzung  des  aus- 
wärtigen Universitätsstudiums  zu  ermöglichen.  Übrigens  hindert  nichts, 
auch  von  einer  kleinen  Lateinschule  auf  die  Universität  zu  gehen  und 
hier  in  der  philosophischen  Fakultät  die  vorbereitenden,  allgemein- 
wissenschaftlichen Studien  zu  vollenden.  Die  Beweglichkeit  des  ganzen 
gelehrten  Unterrichtswesens,  die  dem  Mittelalter  eigen  war  —  sie  ist 
der  jungen  Kultur  überhaupt  eigen,  so  finden  wir  sie  heute  noch  in 
Nordamerika  —  ist  im  wesentlichen  bis  ins  1 8.  Jahrhundert  unverändert 
geblieben.  Erst  im  19.  Jahrhundert  ist  die  strenge  Gebundenheit 
der  Schularten  und  ihrer  Unterrichtskurse  durch  Gesetze  und  Ver- 
ordnungen durchgeführt  worden. 

Man  muß,  um  sich  das  Verständnis  dieser  Dinge  nicht  zu  ver- 
schließen, sich  deutlich  machen,  daß  die  Grenzbestimmung  zwischen 
Schule  und  Universität  damals  überhaupt  noch  eine  fließende  war: 
ein  fester  Unterschied  im  Unterricht  war  nicht  vorhanden;  der  einzige 
feste  Unterschied  war  die  rechtliche  Stellung:  eine  Anstalt,  die  das 
von  den  öffentlichen  Gewalten  anerkannte  Recht  hat,  die  akademischen 
Grade  zu  erteilen,  ist  eine  Universität;  eine  Anstalt,  die  das  Recht 
nicht  hat,  ihr  Unterricht  mag  sein,  welcher  er  will,  ist  keine  Uni- 
versität. 

Heutzutage  ist  der  Unterschied  zwischen  Universität  und  Schule 
ein  innerlicher  und  wesentlicher:  diese  giebt  einen  vorbereitenden,  jene 
den    eigentlich    wissenschaftlichen    Unterricht      Im   16.  Jahrhundert 


320    //,  6.    Öestalt  und  Unterrichtsbetrieb  der  protest.  Schulen  um  1580, 


bestand  zwischen  beiden  weder  in  den  Gegenstanden,  noch  in  der 
Behandlungsweise  und  in  der  Unterrichtsform  ein  fester  Unterschied. 
Im  Mittelalter  war  der  Unterschied  im  Prinzip  der:  die  Schule  lehrt 
die  gelehrte  Sprache,  die  Universität  lehrt  die  Wissenschaften,  in  der 
facultas  artium  die  allgemeinen,  in  den  oberen  Fakultäten  die  Fach- 
wissenschaften; wobei  denn  thatsächlich  von  beiden  Seiten  ÜbergriflFe 
stattfinden,  vor  allem  von  Seiten  der  Universität;  sie  bietet  auch 
Elementarnnterricht  in  der  lateinischen  Sprache;  und  auf  den  Schulen 
kommen  gelegentlich  auch  die  Elemente  der  philosophischen  Wissen- 
schaften vor.  Das  16.  Jahrhundert  verwischte  die  Grenze  noch  mehr, 
und  zwar  wesentlich  dadurch,  daß  der  Schulkursus  ausgedehnt  wurde: 
zum  bloßen  Unterricht  in  der  Sprache  kam  auf  den  großen  Schulen 
der  Unterricht  in  der  klassischen  Litteratur,  und  dazu  ein  elementarer 
Unterricht  in  den  Wissenschaften,  vor  allem  in  den  philosophischen 
Disziplinen,  Dialektik,  Physik,  Mathematik,  und  in  der  Theologie.  Aber 
andererseits  hörte  die  Universität  nicht  auf,  schulmäßigen  Unterricht 
in  den  Sprachen  und  Wissenschaften  zu  geben.  So  entstand  ein  breites 
Grenzgebiet  des  Unterrichts,  auf  dem  Schule  and  Universität  konkur- 
rierten. Es  ist  vor  allem  der  auf  allgemein-wissenschaftliche  Bildung 
abzielende  Unterricht,  der  in  diesem  Zeitalter  zwischen  Universität 
und  Schule  hin  und  her  schwankt  Ursprünglich  der  Universität 
angehörig,  begann  er  mit  dem  16.  Jahrhundert  in  breiterem  Umfang 
auf  die  Schule  überzugehen,  bis  er  im  19.  Jahrhundert  im  wesent- 
lichen auf  dem  Gymnasium  seinen  festen  Ort  gewann:  gegenwärtig 
geht  der  Abiturient  auf  die  Universität  mit  der  Meinung,  seine 
allgemein-wissenschaftliche  Bildung  im  ganzen  zum  Abschluß  gebracht 
zu  haben;  höchstens  daß  er  noch  ein  paar  philosophische  und  historische 
Vorlesungen  hört:  das  Studium  weitaus  der  meisten  gehört  von  Anfang 
an  fast  ausschließlich  den  Fachwissenschaften  an. 

Durch  diese  innere  Unabgeschlossenheit  wird  nun  auch  jene  Misch- 
form von  Universität  und  Schule  erklärlicher,  die  als  akademisches 
Gymnasium  mit  Lektionen  aus  der  philosophischen  und  wohl  auch 
aus  den  oberen  Fakultäten  im  16.  und  17.  Jahrhundert  uns  so  häufig 
begegnet.  Die  äußeren  Antriebe  zu  ihrer  Entstehung  sind  schon  oben 
1  (S.  251)  angedeutet:  die  Zersplitterung  Deutschlands  in  staatlich  und 
kirchlich  selbständige  Territorien,  die  mit  Eifersucht  ihre  Autarkie 
auch  auf  dem  Gebiet  des  Unterrichtswesens  erstrebten.  Diesem  Streben 
kam  nun  die  innere  Entwickelung  des  Schulwesens  entgegen;  hatte  man 
einmal  eine  große  Schule  mit  dem  vollen  humanistischen  und  einem 
elementaren  philosophischen  Unterricht,  so  schien  es  nur  noch  eines 
geringen  Aufwandes  zu  bedürfen,  um  einen  vollständigen  philosophischen 


Akademische  Gy^nnasien.  321 


und  einen  wenigstens  notdürftigen  fachwissenschaftlichen  Unterricht 
anzugliedern  und  dadurch  einen  zur  Not  genügenden  Abschluß  des 
Studiums  auf  der  heimischen  Anstalt  möglich  zu  machen.  Theologen 
hatte  man  schon,  nämlich  die  Ortsgeistlichen;  für  ein  kleines  Gehalt 
übernahmen  sie  auch  theologische  Vorlesungen.  Ebenso  konnte  der 
Hof-  oder  Stadtarzt  wohl  auch  ein  paar  naturwissenschaftliche  und 
medizinische  Lektionen  halten,  galt  doch  ohnehin  die  Auffassung:  wer 
eine  Kunst  versteht,  muß  auch  im  Stande  sein,  sie  zu  lehren;  und  ein 
Lehrer  der  Elemente  der  Rechtswissenschaft  war  auch  nicht  schwer  zu 
beschaffen.  So  war  ein  kleines  akademisches  Studium  fertig,  das  dann, 
wenn  die  Umstände  günstig  waren,  sich  auch  zu  einer  privilegierten 
Universität  auswachsen  mochte;  blieben  dagegen  die  Scholaren  aus,  so 
ließ  man  die  Lektüren  einfach  wieder  eingehen. 

Ja,  es  mag  auch  geschehen,  daß  ohne  alles  Weitere  die  Lehrer 
einer  einfachen  Lateinschule  propädeutische  Kurse  in  den  Fakultätswissen- 
schaften anbieten.  So  findet  sich  im  Lektionsplan  der  Saldernschen 
Schule  zu  Brandenburg  vom  Jahre  1591  folgende  Erklärung:  „Da 
sich  auf  unserer  Schule  arme  Schüler  finden,  die  in  den  Humanitäts- 
studien schon  un verächtliche  Fortschritte  gemacht  haben,  aber  bei 
ihrer  Mittellosigkeit  keine  Universitäten  (scholas  celebriores)  aufsuchen 
können,  so  lesen  wir  für  solche  in  außerordentlichen  Stunden  die 
Elemente  des  Hebräischen,  die  leichteren  Teile  der  Philosophie,  Ethik, 
Elemente  der  Physik  und  der  mathematischen  Geographie,  und  werden 
allmählich  auch  zu  einem  ganz  elementaren  Unterricht  in  der  Rechts- 
wissenschaft fortschreiten  (proponemus  prima  LL,  Cunabula,  ut  Phraseos 
etiam  forensis  declarationem  qualemcumque  habeant).  Alles  das  thun 
wir  nicht  um  Lohnes  und  Gewinnes  willen,  sondern  der  Jugend  zu 
Nutz  und  Förderung  in  den  Wissenschaften.  Auch  gehen  wir  mit 
diesen  überaus  nützlichen  Übungen  nicht  auf  unseren  Ruhm  aus, 
sondern  halten  uns  in  bescheidenen  Grenzen  und  bleiben  uns  unserer 
Unzulänglichkeit  bewußt;  wir  wollen  allein  dem  Ruf  unserer  Schule 
und  dem  Nutzen  unserer  Schüler  dienen"  (Progr.  der  Saldernschen 
Schule  1893).  —  Es  ist  ein  Ähnliches,  was  im  18.  Jahrhundert  in  der 
obersten  Klasse  der  Gelehrtenschule  unter  allerlei  Titeln  als  Propädeutik 
oder  Encyklopädie  des  akademischen  Studiums  vorzukommen  pflegt 

Die  ganze  Sache  war  wohl  nicht  so  thöricht,  als  die  im  19.  Jahr- 
hundert zur  Herrschaft  gelangten  Philologen  sie  hin  und  wieder  ge- 
macht haben,  wenigstens  mußte  sie  es  nicht  sein.  Der  starren  Unter- 
scheidung zwischen  Schule  und  Universität,  zwischen  schulmäßigem 
und  wissenschaftlichem  Unterricht,  wie  wir  ihn  in  diesem  Jahrhundert 
durchgeführt  haben,  entspricht  kein  Sprung  in  der  Natur  der  Dinge, 

Paulsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  21 


322    II,  6,    Gestalt  Ufid  Unterrichtshetri^  der  protest.  Schulen  wm  loSO, 


( 


in  der  Entwickelang  des  jugendlichen  Geistes.  Zwischen  dem  Alter 
des  Knaben  und  des  jungen  Mannes  liegt  ein  Übergangsalter,  das 
einen  Unterricht  braucht  etwas  akademischer,  als  unser  Gymnasial- 
unterricht, etwas  schulmäßiger,  als  unser  TJniversitatsunterricht.  Das 
war  es,  was  das  „akademische  Gymnasium"  im  16.  Jahrhundert  suchte 
und  geben  wollte.  Es  ist  dasselbe,  was  in  den  Landern  englischer 
Zunge  das  coUege  ist.  Freilich  hat  die  Sache  ihre  großen  und  eigen- 
tümlichen Schwierigkeiten,  und  es  scheint,  daß  den  deutschen  Anstalten 
ihre  Überwindung  nie  sonderlich  gelungen  ist:  die  auditores  publici 
der  akademischen  Gymnasien  (und  ebenso  die  der  späteren  Bitter- 
akademien und  der  süddeutschen  Lyceen)  waren  zu  jung  und  unerfahren, 
als  daß  man  ihnen  die  volle  akademische  Freiheit  hätte  geben  können, 
andererseits  aber  durch  die  leichteren  Mittel  der  Disziplin  nicht  zu 
regieren.  So  geschah  es  wohl  oft,  daß  sie  den  Schaden  der  Freiheit 
erfuhren,  die  Zügellosigkeit,  ohne  das  Heilmittel,  das  Gefühl  der  Selbst- 
verantwortlichkeit, zu  haben.  — 

Noch  füge  ich  über  die  Namen  der  Schularten  eine  Bemerkung 
hinzu.  Der  jetzt  übliche  Name  Gymnasium  ist  erst  im  19.  Jahr- 
hundert zur  offiziellen  und  ausschließlichen  Bezeichnung  für  die  auf 
das  Universitätsstudium  vorbereitende  Schule  geworden.  Im  16.  Jahr- 
hundert wird  Gymnasium,  neben  Academia,  Lyceumy  nicht  selten  auch 
von  der  Universität  gebraucht,  besonders  von  Humanisten,  die  sich 
scheuen,  die  alten  barbarischen  Bezeichnungen  Studium  generale y  um- 
versitas,  ZU  brauchen.  Doch  wird  ggmnasium  auch  jede  Schule  ge- 
nannt, die  einen  vollständigen  humanistischen  Kursus,  jedenfalls  in 
den  beiden  Sprachen,  giebt.  Diejenigen  Schulen,  die,  wie  die  Straß- 
burger, über  die  artes  dicendi  hinausgehen  und  auch  den  philo- 
sophischen Unterricht,  vielleicht  auch  die  Elemente  der  Fakultats- 
wissenschaften  hereinziehen,  erhalten  wohl  noch  ein  schmückendes 
Beiwort:  g,  academicum,  illustre  oder  ähnlich.  Fürsten-  oder  Landes- 
schulen heißen  Gelehrtenschulen,  sofern  sie  von  den  Landesherren 
für  Landeszwecke  errichtet  werden,  Klosterschulen  werden  dieselben 
Anstalten  (z.  B.  in  Württemberg)  genannt,  weil  sie  regelmäßig  in 
Klöstern  eingerichtet  und  mit  deren  Gut  dotiert  worden  sind.  Der 
Name  Faedagogium  bezeichnet  ebenfalls  eine  vollständige  Gelehrten- 
schule, in  der  Eegel  mit  Alumnat.  Die  geringeren  Schulen  behalten 
den  alten  Namen  schola  parficularis  (im  Gegensatz  zum  studhim 
generale  ursi)rünglich  genannt;  daher  in  Ostpreußen  die  Landesschulen 
auch  Partikularschulen  genannt  werden),  oder  trivialis  (vom  trivium). 
Da  sie  seit  der  Reformation  regelmäßig  unter  städtischer  Verwaltung 
stehen,   so   heißen   sie   auch   Stadt-   oder   Ratsschulen,   auch,    im 


Namen;  Schulregiment  und  SchtUaufsicht,  323 


Unterschied  von  den  allmählich  entstehenden  deutschen  Schulen, 
Lateinschulen,  große  Stadtschule  oder  ähnlich.  Allgemein  gül- 
tige Fixierung  der  Terminologie  hat  erst  mit  der  durchgeführten  Ver- 
staatlichung des  Schulwesens  im  19.  Jahrhundert  sich  durchgesetzt 

Das  Schulregiment  ist  in  den  protestantischen  Gebieten  mit 
dem  Kirchenregiment  selbst  an  die  weltliche  Obrigkeit  übergegangen; 
die  Konsistorien,  in  denen  der  weltlich-kirchliche  Charakter  der  Landes- 
regierung zum  Ausdruck  kommt,  sind  auch  Träger  des  Schulregiments. 
Unmittelbar  stehen  unter  der  Staatsverwaltung  allerdings  nur  die  Landes- 
schulen. Doch  übt  sie  auch  auf  die  städtischen  Lateinschulen  Einfluß. 
Zunächst  durch  die  allgemeinen  Schulordnungen,  die  in  der  Regel  als 
Teil  der  Kirchenordnung  erscheinen.  Freilich  muß  man  sich  hüten,  zu 
meinen,  daß  diese  Dinge  wie  heute  wirkten.  Die  Schulordnung  war 
doch  kaum  mehr  als  ein  allgemeines  Schema,  das  von  autoritativer 
Stelle  aufgestellt  wurde  und  nach  dem  sich  die  einzelnen  Städte  und 
Schulen  streckten,  so  gut  sie  konnten  und  so  viel  sie  mochten.  Die 
Lehrer  standen  im  Dienst  der  Stadt,  sie  wurden  vom  Rat  angestellt 
und  besoldet.  Nur  die  Lehrer  an  den  Landesschulen  hingen  natür- 
lich unmittelbar  von  der  Landesregierung  ab.  Der  wirksamste  Einfluß 
auf  die  niederen  Stadtschulen  dürfte  durch  die  Prüfungen  vermittelt 
worden  sein,  die  den  Eintritt  in  die  Landesschulen  öffneten,  wie  denn 
das  württembergische  „Landexamen^^  bis  in  den  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts der  Regulator  des  Schulbetriebs  in  den  kleinen  Latein- 
schulen des  Landes  war. 

Allerdings  hat  sich  in  dieser  Zeit  auch  die  Schulaufsicht  zu 
entwickeln  begonnen.  Im  Mittelalter  scheint  davon  überhaupt  kaum 
die  Rede  zu  sein.  Erste  Anfänge  beginnen  mit  dem  Eindringen  des 
Humanismus;  für  die  städtischen  „Poetenschulen"  findet  sich  die  An- 
ordnung einer  Aufsicht  durch  dazu  bestimmte  Ratsmitglieder.  Regel- 
mäßig ziehen  sodann  die  reformatorischen  Kirchenvisitationen  die  Schule 
in  ihren  Kreis,  hauptsächlich  in  Hinsicht  auf  die  Religionslehre.  Seit 
der  Konsolidierung  der  Verhältnisse  wird  für  regelmäßige  Aufsicht 
Sorge  getragen;  sie  bleibt  in  enger  Verbindung  mit  dem  Kirchen- 
regiment und  der  Kirchenvisitation.  Für  die  Landesschulen  erfolgt  die 
Ernennung  von  Superintendenten  und  Visitatoren  unmittelbar  durch 
die  Regierung,  in  der  Regel  werden  dazu  Mitglieder  der  Konsistorien 
und  der  Landesuniversität  bestimmt.  In  den  selbständigen  Städten 
besteht  die  Aufsichtsbehörde  in  der  Regel  aus  dem  Pfarrer  und  einigen 
Mitgliedern  des  Rats.  So  bestimmt  die  Ordnung  der  Stadt  Braun- 
schweig (Bugenhagen)  vom  Jahre  1528:  der  Superintendent  oder 
oberste  Prediger   mit   seinem  Helfer   nebst  fünf  Ratsmitgliedem   aus 

21* 


324    //,  6,    Gestalt  und  Unterrichtsbetrieb  der  protest.  Schulen  um  1580. 


den  fünf  Weichbilden  und  den  Schatzkastenherren  sollen  alle  halbe 
Jahre  die  beiden  Schulen  visitieren,  ob  es  in  allen  Dingen  nach  der  Ord- 
nung gehe;  auch  keine  Winkelschulen  dulden.  Für  die  Landstädte 
stellt  die  Regierung  die  Schulaufsicht  fest;  so  die  württembergische 
Schulordnung  von  1559:  in  allen  Städten  und  Flecken  sollen  der 
Pfarrer,  der  Amtmann  und  zwei  oder  drei  vom  Gericht  oder  Bat,  wo- 
möglich Studierte,  zu  Schulinspektoren  geordnet  werden;  der  Pfarrer 
soll  alle  Monat  einmal  die  Schule  besuchen;  alle  Vierteljahr  soll  die 
ganze  Kommission  die  Schule  visitieren,  ein  Examen  halten  und  die 
Versetzungen  kontrollieren;  Berichte  gehen  an  den  Spezial-  und  weiter 
an  den  Generalsuperintendenten.  Ebenso  die  kursachsische  Schul- 
ordnung von  1580,  nur  daß  sie  den  Amtmann  wegläßt  und  eine  sehr 
eingehende  Prüfungsvorschrift  hinzufügt.  Ähnlich  andere  Schulord- 
nungen, wie  man  sie  bei  Vormbaüm  nachsehen  mag. 

Die  Schulaufsicht  geht  auf  den  ganzen  Schulbetrieb,  die  äußeren 
und  inneren  Verhältnisse,  im  besonderen  aber  auf  die  reine  Lehre. 
Wie  die  Kirche,  so  wird  seit  der  Reformation  auch  in  der  Schule  die 
BekenntnLskontrolle  zu  einer  Sache  von  der  äußersten  Wichtigkeit;  sind 
doch  alle  Schulmeister  zugleich  oder  vielmehr  zuerst.  Religionslehrer, 
wie  sie  denn  auch  ihrer  Bildung  nach  Theologen  sind.  Scholae  sunt 
seminaria  ecclesiae,  das  ist  die  allgemeine  Anschauung  dieses  Zeitalters, 
wie  denn  auch  der  Antrieb  zu  ihrer  Gründung  wesentlich  von  der  Not- 
wendigkeit, für  die  Erhaltung  der  reinen  Lehre  zu  sorgen,  ausgegangen 
war.  Auf  diese  Weise  geschah  es  denn,  daß  die  öden  Kämpfe  um  die 
Bekenntnisformeln,  die  vor  allem  die  zweite  Hälfte  des  1 6.  Jahrhunderts 
erfüllen,  auch  in  die  Schulen  eindrangen,  mit  all  ihren  peinlichen 
Folgen,  Glaubenskontrolle,  Inquisition,  Vertreibungen,  Gewissensängsten. 
Bei  DöLLiNGEB  (I,  414  flF.)  sind  eine  Menge  Vorkommnisse  dieser 
Art  zusammengestellt,  sie  könnten  fast  aus  jeder  Universitäts-  und 
Schulgeschichte  vermehrt  werden.  Die  alte  Kirche  hatte  auch  die 
Bekenntniskontrolle  geübt,  aber  sie  wurde  läßlich  gehandhabt,  wer  mit  der 
Kirche  nicht  Händel  suchte,  wer  sie  im  ganzen  gelten  ließ,  den  ließ  sie 
auch  gelten,  nur  wer  darauf  Wert  legte,  abweichende  Lehren  zur  Geltung 
zu  bringen  und  trotz  der  Censur  festzuhalten,  verfiel  der  Strafe;  und  in 
der  Kritik  der  Personen  und  Einrichtungen  herrschte  große  lYeiheit. 
Mit  der  Kirchenspaltung  dagegen  war  der  Verdacht  der  Abweichung  stets 
und  überall  rege.  Bei  jedem  der  so  häufigen  Wechsel  der  Ansichten 
im  Landeskirchen regimeut  über  das  richtige  Bekenntnisformular  findet 
Nachforschung  und  Umfrage  bei  allen  Angestellten  statt,  ob  sie  den 
Wechsel  in  schuldigem  Gehorsam  mitgemacht  haben.  Vor  allem  war 
bekanntlich  die  Abendmahlslehre  der  Stein  des  Anstoßes  oder  also  der 


Bekenntniskonirolle,    Lehrerprüfung.  325 


Prüfstein  des  Gehorsams;  recht  als  ob  man  die  Sache  ad  absurdum 
führen  wollte,  nahm  man  aus  der  ^^Kommunion''  den  täglichen  Anlaß 
zum  Hader  und  Haß.  Für  freie  Köpfe  war  in  der  That  eine  schlimme 
Zeit  hereingebrochen;  man  denke  an  einen  Mann,  wie  Sebastian 
Franck,  den  großen  Idealisten,  der  seine  Gedanken  nicht  auf  die  vor- 
schriftsmäßigen Formeln  zu  stimmen  wußte;  wohin  er  kam,  wußten 
die  Prädikanten  alsbald  die  Obrigkeit  oder  die  Masse  wider  ihn  zu  er- 
regen und  ihn  zum  Weichen  zu  zwingen:  das  Deutschland  der  Be- 
formation  hatte  keine  Heimat  für  solche  Männer.  Dagegen  lernten 
die  neuen  Prediger  in  der  Censur  des  Lebens  und  der  Praxis  der 
Mächtigen  bald  behutsam  sein;  die  Machthaber  liebten  zu  keiner  Zeit 
derartige  Censur;  in  der  neuen  Kirche  wurde  sie  zur  Majestätsbeleidigung 
und  Lästerung  des  Kirchenregiments. 

Wie  über  die  Schulaufsicht,  so  stammen  auch  die  ersten  Anord- 
nungen über  die  Lehrerprüfung  aus  diesem  Zeitalter.  Die  ersten 
Schulordnungen,  die  über  die  gelehrte  Qualifikation  der  Lehrer  eine 
Bestimmung  enthalten,  sind  die  BuGENHAGENschen.  Sie  fordern  in 
Braunschweig  für  die  größere  Schule  zu  St.  Martin  einen  „gelehrten 
maff.  artium^^  zum  Rektor,  neben  dem  ein  „gelehrter  Helfer",  ein  cantor 
und  noch  ein  „Gesell  für  die  geringsten  Knaben"  angenommen  werden 
soll;  für  die  andere  Schule,  zu  St.  Catharinen,  fallt  der  mag.  arüum 
fort  Für  die  erste  Schule  hält  die  Ordnung  es  nötig  die  Forderung 
zu  rechtfertigen:  zwar  könne  es  scheinen,  daß  fürs  erste  kleine  Kinder 
nicht  großer  Meister  bedürften;  doch  werde  man  finden,  daß  gelehrte 
und  erfahrene  Meister  mit  besserer  Methode  (mit  beter  wise)  die  Kinder 
in  drei  Jahren  gelehrter  machen,  als  andere  in  zwanzig  Jahren.  Auch 
könne  er  in  Sachen  der  Lehre  (dat  Evangelien  andragende)  hilfreich 
sein,  und  zu  Zeiten  eine  lateinische  Lektion  aus  der  heiligen  Schrift 
lesen  für  Gelehrte.  Die  schleswig-holsteinische  Ordnung  von  1542 
fordert,  daß  bei  der  Domschule  zu  Schleswig,  der  die  Stellung  einer 
Landesschule  zugedacht  ist,  der  Rektor  (Ludimagister)  und  der  Sub- 
rektor  magister  artium  promotus  sei;  bei  dem  dritten,  dem  cantor,  läßt 
sie  es  dahingestellt;  die  letzten  vier  Lehrer  heißen  paedagogi  und  werden 
vom  Rektor  angenommen,  doch  vom  Kapitel  besoldet.  Eine  Prüfung 
fordert  die  mecklenburgische  Schulordnung  von  1552:  der  anzu- 
stellende Schulmeister  soll  zuvor  zu  Rostock  von  Personen,  die  dazu 
verordnet,  examiniert  werden,  daß  er  zu  solchem  Amt  tüchtig  sei;  in- 
sonderheit, fügt  die  kurpfälzische  Ordnung  hinzu,  ob  er  ein  guter 
grammaticus  sei.  Eingehendere  Bestimmungen  giebt  erst  die  württem- 
bergische Ordnung  von  1559,  ihr  folgt  die  braunschweigische  von 
1569  und  die  kursächsische  von  1580.    Der  von  dem  Schulpatron  dem 


326    II,  6*.    Gestalt  und  UnterricJUshetrieh  der  piotest.  Schulen  um  1580. 


Konsistorium  nominierte  und  präsentierte  Kandidat  soll,  nachdem  er 
zunächst  von  seinem  Herkommen,  Lehre,  Wesen  und  Leben  glaub- 
würdige testimonia  beigebracht,  „alsdann  in  unsrer  Schul  zu  Stuttgart 
vor  unsem  verordneten  Theologen,  zweien  oder  einem,  und  dann  der- 
selbigen  Schul  Pädagogarchen  eine  Lektion  oder  zwei  thun.  Wenn  er 
dann,  sonderlich  in  der  Grammatik  tauglich  erfunden,  so  soll  er  darauf 
von  unsem  Kirchenräten  ihrer  von  uns  habenden  Ordnung  nach  seiner 
Pietät  halber  auf  unsem  Katechismum,  in  unsem  Kirchenordnungen 
begriffen,  ordentlich  und  mit  sonderlichem  Fleiß  examiniert  werden". 
Die  pommersche  Ordnung  (1563)  weist  die  Prüfung  den  Superinten- 
denten und  in  kleinen  Städten  dem  Präpositus  zu.  Proben  von  Lehrer- 
zeugnissen aus  dem  Braunschweigischen  giebt  Koldewey  (Braunschw. 
Schulordn.,  II,  140).  Grammatik  und  „Pietät"  sind  auch  hier  die 
herrschenden  Gesichtspunkt«. 

Was  das  Einkommen  und  die  soziale  Stellung  der  Lehrer  an- 
langt, so  beschränke  ich  mich  auf  wenige  Bemerkungen.  Die  Lehrer 
an  den  Landesschulen  erhalten  außer  Wohnung  und  LTnterhalt  eine 
feste  Besoldung.  Die  von  den  Städten  für  ihre  Schulen  angenommenen 
Lehrer  gewinnen  ihr  Einkommen  regelmäßig  aus  mehreren  Quellen. 
Zuerst  erhalten  sie,  wenigstens  die  Gelehrten  unter  ihnen,  regelmäßig 
außer  freier  Wohnung  in  der  Schule  eine  Besoldung  vom  Rat;  sie  wird 
bei  der  Annahme  je  nach  den  Verhältnissen  festgestellt;  dama  Mann 
darna  Qtiast,  sagt  die  schleswig-holsteinische  Ordnung.  Hierzu  kommt 
das  Schulgeld,  das  vierteljährlich  von  den  Schülern  an  den  Lehrer  der 
Klasse,  der  sie  angehören,  entrichtet  wird;  doch  sind  die  Armen  frei 
Außer  dem  regelmäßigen  Schullohn  werden  dem  Lehrer  zu  Zeiten 
weitere  Leistungen  und  Verehrungen,  auch  in  Naturalien,  gemacht;  in 
kleinen  Städtchen  findet  sich  auch  die  mensa  ambulatoria.  Eine  weitere 
regelmäßige  und  nicht  unerhebliche  Einkommenquelle  ist  der  Leichen- 
kondukt; Lehrer  und  Schüler  der  Stadtschule  begleiten  mit  Gesang  die 
vornehmeren  Leichen  und  beziehen  dafür  eine  in  der  Regel  nach  Klassen 
festgestellte  Gebühr.^  Auch  die  Theateraufführungen  sind  für  Ijehrer 
und  Schüler   eine  Einnahme(iuelle;  jener   erhält   für  die  Verfertigung 

*  „So  oft  futiera  vorfalleu,  sollen  die  Ruaben  zu  rechter  Zeit  aus  der 
Schulen  gelassen,  die  reetores  und  conrectore^  hinten,  die  colleyae  aber  jeder  bei 
seinem  coeUi  auf  der  Seiten  hergehen  mit  einem  weißen  bctculo,^^  „Da  fast 
alle  Tage  ye/ieraita  oder  specialia  futiera  vorfallen,  und  dadurch  sehr  Wel 
guter  Stunden  vers.'iumt  werden,  sollen  bei  den  kleinen  Begräbnissen  im  Winter 
meistenteils  die  inferiores  currendarii  dazu  genommen,  im  Sommer  aber,  so  viel 
sich's  leiden  will,  allererst  nach  den  Schulstunden  die  funern  deduziert  werden." 
( Braunschweiger  Ordnimg  von  1 596  bei  Koldewey,  Brauuschweig.  Schulordu.  I, 
S.  137.) 


Einkommen  und  soziale  Stellung  der  Lehrer,  327 


des  Stücks  eine  Verehrung,  diese  für  die  Aufführung.  Endlich  tritt 
ergänzend  hinzu  das  Almosen;  die  Kurrende  zieht  beständig  unter  Be- 
gleitung eines  Lehrers  durch  die  Straßen;  und  zu  den  großen  Pesten 
findet  wohl  auch  Haussammlung  durch  die  Lehrer  und  für  die 
Lehrer  statt 

Man  sieht,  der  Beruf  des  Schulmeisters  ist  kein  vornehmer  Beruf. 
Er  gilt  als  Vorstufe  und  Anhang  des  geistlichen  Amts.  Wie 
das  Studium  der  Sprachen,  oder  wie  man  später  sagt,  der  humaniora, 
kein  selbständiges  Fachstudium  ist,  sondern  Vorschule  für  das  Studium 
in  den  oberen  Fakultäten,  besonders  der  Theologie,  so  wird  auch  das 
Lehramt  in  den  Schulen  regelmäßig  nicht  als  selbständiger  und  dauern- 
der Lebensberuf,  sondern  als  vorläufige  Versorgung  angesehen,  bis  ein 
Pfarramt  sich  aufthut,  oder  als  letzter  Notbehelf  für  solche,  die  im 
geistlichen  Amt  wegen  geringer  Fähigkeiten  oder  anderer  mangelhafter 
Qualitäten  nicht  Unterkunft  finden.  Nur  eine  geringe  Anzahl  von 
Schulämtem,  besonders  an  den  Landesschulen,  giebt  eine  soziale 
Stellung,  die  einem  dem  Beruf  innerlich  geneigten  Mann  auch  lebens- 
lang darin  zu  verharren  erträglich  macht.  Alle  übrigen  Lehrer  sehnen 
den  Tag  herbei,  der  ihnen  die  Erlösung  ex  pulvere  scholastico  und  den 
Eingang  in  ein  ruhiges  und  einträglicheres  Pfarramt  bringt. 

Ein  paar  Daten,  die  beliebig  vermehrt  werden  könnten,  illustrieren 
dieses  Verhältnis.  An  dem  ersten,  verhältnismäßig  gut  ausgestatteten 
Gymnasium  der  Stadt  Berlin,  dem  Grauen  Kloster,  ging  das  Rektorat 
während  des  ersten  Jahrhunderts  (1574 — 1668)  durch  20  Hände;  auf 
jeden  Rektor  kommen  noch  nicht  fünf  Jahre.  Von  diesen  20  gingen 
elf  in  ein  geistliches  Amt  über,  vier  in  ein  anderes  Rektorat,  einer  an 
die  Universität,  nur  drei  starben  im  Amt.  In  .den  folgenden  beiden 
Jahrhunderten  (1668 — 1867)  hatte  die  Schule  nur  zwölf  Rektoren,  die 
alle  bis  zu  ihrem  Tode  oder  dem  Übergang  in  den  Ruhestand  das  Amt' 
führten,  durchschnittlich  16^2  Jahr  (Heidemann,  Gesch.  des  Grauen 
Klosters).  —  Die  Schule  zu  Flensburg,  wohl  die  bestausgestattete  des 
Herzogtums  Schleswig,  hatte  von  1566  bis  1795  19  Rektoren,  durch- 
schnittlich leitete  also  jeder  die  Schule  zwölf  Jahre,  doch  so,  daß  die 
ersten  zwölf  zusammen  60  Jahre  (durchschnittlich  fünf),  die  letzten 
sieben  zusammen  168  Jahre  (durchschnittlich  24  Jahre)  fungierten. 
Das  bedeutet,  daß  bis  zur  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  auch  das  Amt 
des  Rektors  nur  als  Durchgangsstufe  zum  geistlichen  Amt  gilt,  seitdem 
aber  zum  Lebensberuf  wird.  Von  den  ersten  zwölf  sind  nachweislich 
sechs,  vermutlich  mehrere,  ins  geistliche  Amt,  z.  T.  auch  in  Dorf- 
pfarren, übergegangen,  von  den  letzten  sieben  nur  noch  einer.  Der 
letzte  (Möller,  gest.  1795)  war  sogar  vorher  Prof.  ord.  der  Litteratur- 


328    //,  6.    Gestalt  und  Unterri-ehtshetrisb  der  protest.  Schulen  um  1580, 


historie  an  der  Kopenhagener  Universität  gewesen  (s.  die  Tabelle  bei 
Bbasch,  Flensborg  Laänskole,  S.  183). 

Um  diese  Verhältnisse  ganz  zu  verstehen,  muß  man  sich  gegen- 
wärtig halten,  daß  im  16.  Jahrhundert  auch  der  Schuldienst  selbst 
Kirchendienst  ist,  nur  auf  der  niederen  Stufe.  Lehrer  und  Schüler 
haben  einerseits  die  regelmäßige  Mitwirkung  beim  Gottesdienst:  zu 
jedem  Gottesdienst  zieht  die  ganze  Schule  in  Prozession  in  die  Kirche 
und  wieder  in  die  Schule  zurück;  und  im  16.  Jahrhundert  ist  nicht 
bloß  am  Sonntag  Kirche,  sondern  anfangs  täglich,  mit  Gesang  und 
Predigt  oder  doch  Lesung  der  Schrift.  Es  sind  eben  die  Hören  aus 
den  alten  Klöstern  in  die  protestantischen  Schulklöster  mit  herüber- 
genommen, wie  man  aus  der  Wittenberger  und  den  übrigen  Bugen- 
HAGENSchen  Kirchen-  und  Schulordnungen  sieht:  sie  schicken  die  Knaben 
täglich  vormittags  um  9  Uhr  zur  Mette  und  nachmittags  um  4  Uhr 
zur  Vesper  zum  Singen  und  Lesen  in  die  Kirche.  Und  so  dient  die 
Schule  auch  beim  Gemeindegottesdienst,  vor  allem  mit  dem  Gesang, 
weshalb  auch  das  Singen  überall  ein  wichtigstes  Stück  des  Schulunter- 
richts ist.  Andererseits  gilt  die  Predigt  als  ein  wesentliches  Stück  des 
Schul-,  nämlich  des  Religionsunterrichts,  sie  wird  gewöhnlich  in  der 
Schule,  ebenso  wie  andere  Lektionen  repetiert.  Endlich  haben  auch  die 
andern  Schulstunden  den  Charakter  des  Gottesdienstes:  es  ist  ja  schließ- 
lich das  Wort  Gottes,  um  dessen  willen  auch  die  Sprachen  gelernt 
werden.  Und  dieser  Charakter  kommt  vielfach  auch  äußerlich  zum 
Ausdruck,  indem  die  Lektionen,  ja  wohl  auch  die  einzelnen  Stunden, 
mit  Gesang  und  Gebet  eröflEhet  werden.  Die  Schule  ist  eben  die  Vor- 
halle der  Kirche;  oder  sie  ist  die  Kirche  der  Kleinen,  wie  die  Kirche 
die  Schule  der  Großen  ist. 

Um  aber  auf  die  sozialen  Verhältnisse  noch  mit  einem  Wort  zurück- 
zukommen, so  muß  man  sich  klar  machen,  daß  auch  der  geistliche 
Stand  in  der  neuen  Kirche  seine  Vornehmheit  eingebüßt  hat.  Es 
hängt  damit  zusammen,  daß  der  Herrenstand  aus  dem  geistlichen  Amt 
ausscheidet  Im  Mittelalter  ergänzte  sich  der  hohe  Klerus  wesentlich 
aus  den  jüngeren  Söhnen  des  Adels  und  Fürstenstandes,  sie  hatten  auf 
die  Bistümer  und  Abteien  ein  anerkanntes  Anrecht,  während  der  niedere 
Klerus  sich  aus  dem  Handwerk  und  Bauernstand  reknitierte.  Da  mit 
jenen  Stellungen  der  hohe  Klerus  wegfiel,  so  verschwand  auch  der 
Herrenstand;  er  wendete  sich  dahin,  wo  die  Güter  und  Herrschaften 
geblieben  waren,  zu  Hofe,  und  suchte  im  Militiir-  und  Civildienst^  was 
früher  auch  im  Kirchendienst  zu  erreichen  gewesen  war:  Stellung  und 
Geld.  Es  blieb  nur  der  niedere  Klerus;  niederer  Herkunft  trieb  er 
ein  demütiges  Amt,  die  Predigt  des  Wort*?.     Und  dem  entspricht  die 


Soziale  Stellung  der  Lehrer.    Konvikte.  329 


soziale  Schätzung.  Vielleicht  giebt  es  keinen  sichereren  Gradmesser 
der  Vornehmheit  eines  Standes,  als  die  gesellschaftliche  Herkunft  und 
Stellung  der  Frau.  Die  Pfarrersfrau  des  16.  Jahrhunderts  stammt 
aber  durchweg  aus  den  unteren  bürgerlichen  oder  aus  den  dienenden 
Standen,  und  ihre  Stellung  wird  sich  zunächst  sehr  wenig  von  der 
Stellung  ihrer  Vorgängerin,  der  Haushälterin  des  geistlichen  Herrn, 
unterschieden  haben.  Aus  den  Visitationsberichten  bei  Bübgkhabdt 
geht  hervor,  wie  die  Verheiratung  des  lutherisch  gewordenen  Pfarrers 
mit  der  bisherigen  Haushälterin  fast  als  selbstverständlich  angesehen 
wurde.  Dasselbe  geht  aus  den  Biographien  hervor.  So  heiratete 
Pellicanus  zweimal  eine  Dienstmagd,  die  er  nicht  einmal  selbst  aus- 
suchte, sondern  von  guten  Freunden  sich  empfehlen  ließ.  Übrigens 
scheint  die  öffentliche  Meinung  sich  erst  sehr  allmählich  an  die  Priester- 
ehe gewöhnt  zu  haben;  das  alte  Urteil  über  Frauen,  die  mit  Pfaffen 
hausen,  wirkte  noch  lange  nach  (Janssen,  VII,  77). 

Ein  Beweis  dafür,  wie  wenig  sich  überhaupt  die  gelehrten  Berufe 
im  16.  Jahrhundert  noch  von  den  niederen  bürgerlichen  Berufen  los- 
gelöst hatten,  ist  auch  der  nicht  seltene  Übergang  vom  geistlichen  und 
Schulamt  zum  Handwerk  und  umgekehrt.  So  greift  Th.  Platteb  zur 
Seilerei,  Sebastian  Fkanck  zum  Seifensieden,  als  es  mit  dem  gelehrten 
Beruf  nicht  gehen  will.  Besonders  bildet  Buchdruck,  Buchhandel  und 
Korrektur  einen  wirtschaftlichen  Beruf,  der  mit  dem  gelehrten  häufig 
vereinigt  wird.^ 

Ich  schließe  hier  eine  Bemerkung  über  die  öffentliche  Fürsorge 
für  arme  Schüler  an,  deren  Erhaltung  bei  den  Studien  einen  überall 
wiederkehrenden  Punkt  in  den  Schulordnungen  der  Städte  und  Terri- 
torien des  16.  Jahrhunderts  bildet.  Die  Sache  hängt  augenscheinlich 
mit  dem  Eingehen  der  alten  Formen  des  kirchlichen  Lebens  zusammen. 
Wohlhabende  und  vornehme  Leute,  so  begegnet  uns  überall  die  Klage, 
wollen   ihre  Kinder  jetzt   nicht   studieren  lassen;   mit  den  Prälaturen 


*  Eine  kursächsische  Kirchenorduung  von  1557  setzt  die  Verbindung  des 
Kirchenamts  mit  dem  Handwerk  bei  den  Küstern  als  Regel  voraus:  „Es  soll 
aber  einem  Glöckner,  der  nicht  examiniert  und  ordiniert,  zu  predigen  nach- 
gelassen, da  sie  aber  examiniert  und  ordiniert  und  auch  das  Diakonat-Amt  mit 
zu  versorgen  berufen  wären,  soll  ihnen  auch  Beichthören  und  Sakramenthören 
nachgelassen  werden."  Da  aber  die  Glöckner  gemeiniglich  sehr  geringe  Be- 
soldung haben,  auch  die  Kircheukinder  und  Gemeinde  einen  Müssiggänger  auf 
solchen  Dienst  zu  erhalten  unvermögend  sind,  so  ist  es  gut  und  nötig,  daß 
Handwerksleute  dazu  berufen  werden,  denen  aber  nicht  gestattet  sein  soll,  außer- 
halb auf  Herrenhöfen ,  sondern  allein  daheim  in  ihren  Häusern  zu  arbeiten. 
(G.  Müller,  Das  kursächs.  Schulwesen  um  1580,  Progr.  des  Wettiner  Gymn., 
Dresden  1888.) 


330    //,  6,    Oestcüi  nnd  Unterrichtshetrief)  der  protest  Schulen  um  1580. 


war  die  Aussicht  auf  Einkommen  und  Stellung,  wie  sie  in  der  alt^n 
Kirche  durch  das  Studium  zu  erreichen  waren,  in  Wegfall  gekommen. 
Auch  die  Klöster,  die  bisher  armen  Knaben  die  Möglichkeit  des  Studiums 
geboten  hatten,  waren  beseitigt.  Endlich  drang  man  in  der  protestan- 
tischen Welt  überall  auf  die  Beseitigung  des  Bettels.  Hatt«  die  alte 
Kirche  den  Bettel  durch  die  Mönchsorden  gleichsam  geheiligt  und 
darum  auch  gar  keinen  Anstoß  daran  genommen,  arme  Schüler  auf 
diese  Form  des  Unterhalts  zu  verweisen,  so  daß  das  ostiatim  mendicare, 
mit  Gesang  und  ohne  Gesang,  eine  ganz  übliche  Lebensweise  der  mittel- 
alterlichen Scholaren  war,  so  ließ  man  sich  seit  der  Reformation  aus 
religiösen  Bedenken  wie  aus  ökonomischen  Gründen  die  Abschaffung 
der  Bettler  überhaupt  und  besonders  auch  der  Bett^lschüler  angelegen 
sein.  Durch  alle  diese  Dinge  und  durch  die  gleichzeitige  Unsicherheit 
aller  Verhältnisse  des  kirchlichen  und  staatlichen  Lebens  wurde  nun 
jene  Verödung  der  Schulen  bewirkt,  die  seit  den  20er  Jahren  alle 
Welt  beunruhigte. 

Dieser  Not  Abhilfe  zu  schaffen,  hatte  Lutheb,  wie  oben  (S.  201  ff.) 
erwähnt,  der  Obrigkeit  zur  Pflicht  gemacht,  eine  Art  Aushebung  für 
die  Studien  unter  der  Jugend  des  Landes  zu  veranstalten.  Auf  gewisse 
Weise  ist  dieser  Forderung  durch  die  Begründung  von  Konvikten  und 
Stipendien  zur  Erhaltung  tauglicher  armer  Knaben  bei  den  Studien 
entsprochen.  In  den  Schulordnungen  begegnet  die  Forderung  solcher 
Fürsorge  zuerst  in  der  braunschweigischen  vom  Jahre  1528  (s.  o.S.  277); 
sie  ist  von  hier  in  die  übrigen  von  Bugenhagen  verfaßten  Schulord- 
nungen übergegangen:  begabte  arme  Knaben  soll  man  Gott  opfern, 
nicht  wie  früher,  indem  man  sie  ins  Kloster  steckt,  sondern  indem  man 
sie  aus  öffentlichen  Mitteln  auf  der  Schule  hält  und  dann  aufs  Studium 
schickt;  vielleicht  finden  sich,  heißt  es  weiter,  unter  uns  auch  fromme 
reiche  Leute,  die  hierfür  Stipendien  stiften  (sondergen  sold  maken).  In 
der  Hamburger  Ordnung  werden  vier  Stipendien  zu  je  30  fl.  aus  ge- 
meiner Stadt  Kasten  ausgesetzt  wofür  die  vier  Kirchspiele  jedes  einen 
Studenten  auf  Universitäten  unterhalten  sollen.  In  großem  Stil  ist 
dieser  Forderung  dann  durch  die  Stiftung  der  Landes-  und  Kloster- 
schulen entsprochen.  Da  auch  die  Universitäten  regelmäßig  mit  Kon- 
vikten aus  öffentlichen  Mitteln,  die  oft  einer  ansehnlichen  Zahl  von 
Stipendiaten  Wohnung,  Kost  und  Unterricht  gewährten,  dazu  mit 
privaten  Stiftungen  ausgestattet  wurden,  so  war  hierin  Ersatz  für  die 
Klöster  und  Stifte  der  alten  Kirche  und  ihre  Studienhäuser  geschaffen. 

Dazu  blieb  übrigens  die  alte  aus  dem  Mittelalter  überkommene 
Gewohnheit,  daß  ältere  Schüler  und  auch  Studenten  in  den  Bürger- 
häusern als  „Pädagogen",  d.  h.  als  Helfer  der  Schulkinder,  dazu  auch 


Konvikte,    Hauslehrer.  331 


als  Diener  im  Haushalt  Unterkunft  fanden.  Für  die  fremden  Schüler 
wird  dies  Regel  sein.  So  wird  z.  B.  von  der  Schulordnung  des  Braun- 
schweiger Rats  von  1596  der  Rektor  angewiesen:  er  soll  die  fremden 
Scholaren  in  die  hospitia  einweisen,  und  zwar  je  nach  ihrer  Geschick- 
lichkeit in  die  besseren  oder  geringeren,  auch  die  hospitia  halbjährlich 
visitieren.  Untersagt  wird  ihm,  von  den  Schülern  eine  „Verehrung" 
dafür  zu  fordern.  Den  „Pädagogen"  wird  geboten:  „In  den  hospitiis 
sollen  sie  den  Herrn  und  die  Frau  ehren,  gehorchen  und  fürchten,  sich 
dienstfertig  erzeigen,  ohne  derselben  Wissen  und  Erlaubnis  nicht  aus 
dem  Hause  gehen,  viel  weniger  des  Nachts  außen  bleiben,  und  mit  der 
täglichen  Kost  und  Nachtlager,  wie  gering  es  auch  sei,  zufrieden  sein 
und  sich  drücken.  Gegen  die  Kinder  sollen  sie  freundlich  und  gelinde 
sein,  sie  zu  rechter  Zeit  aufwecken,  anziehen,  waschen,  kämmen  und 
beten  lassen,  in  die  Schulen  und  wieder  herausbringen,  den  Katechis- 
mus, feine  Psalmen  und  Gebetlein  lehren,  unterweisen,  wie  sie  ihre 
Schullektionen  verstehen  und  die  praecepta  und  phra^es  fframmaiicas 
in  den  täglichen  scriptis  brauchen  sollen,  zu  züchtigem  Essen,  wenigem 
Reden,  eingezogenem  Leben  und  feinen  Gebärden,  beide  mit  Worten 
und  ihren  eigenen  guten  Exempel  gewöhnen  und  ihre  Ungebärde  und 
Übertretung  gebührlich  strafen.  Und  weil  ihrer  etliche  in  der  Per- 
suasion  stehen,  wenn  man  in  der  Schule  Feierabend  habe,  dürfen  sie 
zu  Hause  auch  nichts  repetieren,  soll  ihnen  dasselbe  hinfüro  nicht  mehr 
gestattet  sein."  Es  wird  ihnen  dann  noch  das  Stehlen,  Klatschen, 
Streiten  mit  dem  Gesinde  untersagt  und  endlich  hinzugefügt:  was  von 
den  Schüler-Pädagogen  gesagt  sei,  „das  sollen  sich  die  collegae  scholae, 
denen  man  freie  Kost  giebt,  auch  gesagt  sein  lassen".^ 

Die  Pädagogen  sind  als  eine  ständige  Einrichtung  der  Latein- 
schulen anzusehen.  Die  Notwendigkeit  der  regelmäßigen  häuslichen 
Nachhilfe  ergab  sich  aus  der  Unterrichtsmethode:  die  Lektionen  waren 
nicht  so  sehr  Stunden  eigentlichen  Unterrichts  oder  gemeinsamer  Arbeit 
von  Lehrern  und  Schülern,  als  vielmehr  Aufgabe-  und  Abhörstunden. 
Dabei  wird  denn  natürlich  Hilfe  und  Vorkontrolle  außerhalb  der  Schul- 
stunden unentbehrlich.  Andererseits  war  das  dringende  Angebot  solches 
Hilfeunterrichts  vorhanden:  die  fremden  Scholaren,  denen  der  öfiFent- 
liche  Bettel  seit  der  Reformation  vielfach  verkürzt  war,  suchten  Brot 
und  Unterkunft  bei  den  Bürgern. 

Ich  schließe  diese  Darlegungen,  indem  ich  ein  Lebensbild  hier 
einfüge,  das  den  Lebensgang  und  die  soziale  Stellung  einer  durchschnitt- 


*  Leges  für  die  paedagogi  findet  man  in  ^^elen  Schulordnungen,  selir  aus- 
führlich noch  in  der  der  Stadt  Soest  vom  Jahre  1730  (Progr.  1890). 


832    //,  (j\    Gestalt  und  üntenrichtshetrieb  der  protest.  Schulen  um  1580. 


liehen  Schüler-,  Lehrer-  und  .Pfarrerexistenz  aus  dem  16.  Jahrhundert 
ungemein  anschaulich  vor  Augen  stellt;  es  ist  den  eigenhändigen  Auf- 
zeichnungen entnommen,  die  6.  Naübitzee  in  eins  seiner  Bücher  ein- 
getragen hat  (mitgeteilt  von  M.  Baltzee  im  Neuen  Archiv  für  sächs. 
Gesch.,  Bd.  VII,  1,  S.  111  fif.).  Unser  Georg  ist  als  das  vierte  von 
zwölf  Kindern  dem  Schulgehilfen  (baccalaureus)  zu  Mittweida  im 
Jahre  1560  geboren.  Sein  Vater  wurde,  so  berichtet  er,  nachdem  er 
18  Jahre  „in  pulvere  scholastico  desudieret,  und  dameben  in  seinem 
eigenen  erkauften  Häuslein  der  bürgerlichen  Nahrung  gepfleget",  im 
Jahre  1573  Diakonus  in  Mittweida;  seine  Mutter  hielt  bis  an  ihr 
Lebensende  (1599)  allda  die  Mägdleinschule  mit  großem  Lob,  Ruhm 
und  Nutz.  Aus  seinem  eigenen  Lebenslauf  hebe  ich  folgende  Daten 
heraus:  1572  zum  erstenmal  kommuniziert;  1574  vom  Schulmeister 
adhibieret  ad  personam  Sibyllae  uxoris  Danielis  projecti  in  speluncam 
leormmj  in  actione  Comoediae,  29.  September  1574  wird  er  nach 
Torgau  auf  die  Schule  geschickt;  er  blieb  hier  sechs  Jahre,  drei  in 
der  Sekunda,  drei  in  der  Prima.  Die  ganzen  sechs  Jahre  war  er 
paedagogus  bei  vier  unterschiedlichen  Herren,  „bei  welchen  ich  neben 
meiner  paedagogia  vielerlei  Hausarbeit  habe  müssen  tun.  also  daß  ich 
habe  müssen  mit  Jobst  Zuckermachern  etlichmal  zu  Märkten  ziehen 
und  gleichsam  sein  Kramknecht  sein.  Und  Schläge  dabei  ausstehen. 
Bei  Hans  Schuhknecht  dem  Lohgerber  habe  ich  oiftmals  müssen  ge- 
tretene Leder  in  Schubkarren  anheim  führen  und  im  Lohhause  treiben 
helfen.  Bei  Bartel  Fritzschen,  welcher  jährlich  ein  acht  oder  neun 
Gebräue  hier  getan,  habe  ich  müssen  ein  Mältzer  und  Bräugehilfe 
sein  und  manchen  Sonnabend  etliche  40  Zuber  Wasser  auf  der  Achsel 
zum  Bade  tragen,  darneben  auch  sonsten  oftmals  bis  in  die  sinkende 
Nacht  mit  Bier  und  Wein  holen  wie  ein  Hausknecht  aufwarten.  Bei 
Veiten  Weishansen  Wundtarzten  bin  ich  zwar  wohl  mit  Hausarbeiten 
an  meinen  studiis  nicht  verhindert  worden,  sondern  habe  meiner  Knaben 
mit  der  institutione  privata  in  peculiari  musaeo  fleißig  abwarten  und 
wenn  wir  oft  Gäste  gehabt,  viel  aufwarten  müssen  in  multam  noctem, 
habe  ihm  auch  gar  viel  Arzneikunststücke  bei  Nacht  ausschreiben  und 
ihn  auch,  wenn  er  entweder  auf  die  Trinkstube  oder  sonsten  zu  den 
Nachbarn  zum  Abendtrunk  gangen  und  gerne  lange  gesessen  hat,  heim 
holen  müssen.  Habe  mich  aber  allerseits  bei  ihnen  also  gehalten,  daß 
sie  mich  lieb  gehalten  und  nicht  gerne  von  sich  gelassen."  Auch  in 
Torgau  agierte  er  mehrmals  comoediam. 

Am  23.  Juli  1578  hatte  er  in  Wittenberg  cornua  beanismi  depo- 
niert und  sich  inskribieren  lassen;  er  blieb  aber  dann  ruhig  auf  der 
Schule   zu  Torgau   und   ging   erst  1580  wirklich   auf  die  Universität, 


Aus  dem  Leben  G,  Naubitzers,  333 


doch  nicht  nach  Wittenberg,  sondern  nach  Leipzig,  wo  ihm  eine  Stelle 
im  KoDvikt  in  Aussicht  stand.  Am  7.  Juli  traf  er  mit  einem  Zeugnis 
seines  Kektors  ein  und  wurde,  nachdem  er  von  dem  Lehrer  der  Kon- 
viktoristen  (alumni  Electorales)  geprüft,  am  1.  August  in  das  Konvikt 
aufgenommen.  Darauf  hielt  er  am  9.  August  in  Torgau  vor  der  ver- 
sammelten Schule  seine  Valediktionsrede  de  gratitudine.  Nachdem  er 
die  Heimat  besucht,  langte  er  am  19.  August  wieder  in  Leipzig  an, 
wurde  sogleich  inskribiert  und  um  10  Uhr  morgens  im  Speisesaal  des 
Konvikts  dem  fünften  Tisch  unter  dem  Senior  Jon.  Hipp  zugeteilt; 
zum  Stubengenossen  erhielt  er  einen  „gelehrten  und  friedfertigen  Jüng- 
ling^* und  bewohnte  mit  ihm  eine  Kammer  des  oberen  Stockwerks  des 
neuen  Paulinerkollegs.  Am  14.  Juli  1582  hielt  er  in  der  Pauliner- 
kirche um  12  Uhr  mittags  seine  erste  Predigt  1585  war  er  Korrektor 
in  einer  Druckerei  zu  Leipzig. 

Am  16.  September  1586  wurde  er  als  Schulmeister  und  Stadt- 
schreiber in  Sonnenwalde,  vom  Amtmann  des  Grafen  Solms,  an- 
genommen und  am  12.  Oktober  vom  kurfürstlichen  Stipendium  bona 
face  losgezählt  et  honesta  testimonio  dimittieret.  In  Sonnenwalde  nahm 
er  einige  Privatschüler  an  und  ging  loco  didactri  bei  den  Eltern  der- 
selben der  Reihe  nach  zu  Tisch.  Am  24.  Juli  1587  ließ  er  um  Kuni- 
gunde,  die  Tochter  der  Stadtschreiberswitwe  von  Sonnenwalde,  anhalten, 
verlobte  sich  mit  ihr  am  21.  August  und  am  24.  Oktober  war  Hoch- 
zeit. Am  27.  Dezember  hielt  er  die  erste  Predigt  zu  Sonnenwalde. 
Am  23.  Oktober  1590  „ist  mein  Weib  nauf  gen  Hofe  (dem  gräflichen) 
gezogen  zur  künftigen  Amme  des  Fräuleins  Annae  Ottiliens.  Am  23.  No- 
vember 1591  ist  sie  wieder  abgetreten  und  zu  mir  kommen  und  habe 
also  bei  Lebtagen  meines  lieben  Weibes  ein  ganz  Jahr  lang  und  ein 
Monat  müssen  ein  Witwer  sein".  Am  12.  Mai  1598  wurde  er  zum 
Diakonat  in  Sonnenwalde  vociert,  am  20.  Mai  in  Leipzig  examiniert 
und  am  21.  Mai  ordiniert  Am  5.  Juni  zum  ersten  Beicht  gesessen 
und  am  folgenden  das  Amt  gehalten.  „Anno  1594  wegen  meines 
Strafamts  über  das  siebente  Gebot  vom  Amtsschösser  Verfolgung  aus- 
gestanden." 18.  Oktober  1595  den  ersten  armen  Sünder  ad  locum 
supplicii  komitieret.  1600  Pfarrer  zu  Weisstropp  geworden  ist  er  dort 
nach  1634  gestorben. 

Wir  wenden  uns  zum  Unterricht.  Zuerst  ein  paar  Bemerkungen 
über  die  äußeren  Ordnungen.  Zahlreiche  Schulordnungen  geben 
darüber  oft  sehr  ins  einzelne  gehende  Anweisungen.  Über  ihre  Gleich- 
heit und  Verschiedenheit  hat  man  häufig  Betrachtungen  angestellt,  um 
daraus   Verwandtschaftsverhältnisse    der    Schulordnungen    zum   BehuJ 


*534     //,  fß,    n^j$Udi  und  KnUrrv:htH^/tirwj  der  proteti.  Sehiden  um  1580. 


|/rii(fiiiati)^;li<;r  ^lewchichteschreibung  abzuleiten.  Ich  halte  derartige  Ver- 
Miühii  nicht  für  nehr  fruchtbar.  Im  ganzen  sind  die  Abweichungen 
iri#Mfntlich  durch  die  Verschiedenheit  der  Verhaltnisse  bedingt,  die 
rfM;rein>':tirnniung  in  den  pädagogischen  Anschauungen  ist  sehr  groß. 
Zuerni  ein  Wort  über  die  Schulklassen.  Natürlich  ist  dieElassen- 
tijiluni^  nicht  erHt  eine  Erfindung  des  16.  Jahrhunderts,  sie  wird  so  alt 
Hüin,  uIh  der  Hchulunterricht  überhaupt.  Es  sind  oben  (S.  20)  Bei- 
Hpi<*le  nuttelulterlicher  Klassenteilung  gegeben.  Aber  allerdings  ist  erst 
im  l(J.  Jahrhundert  Stufengang  und  Gliederung  genauer  durchgeführt 
worden.  Drei  lluuptstufen  des  Unterrichts  sind  durch  die  Natur 
dor  l)iiig(i  HtdbHt  g(jgeben;  sie  trettm  in  dem  kursächsischen  Schulplan 
von  1528  uns  d(uitlich  entge^^en:  1.  Lesen  und  Schreiben,  2.  Elemente 
th«r  luleinischt^n  Sprache,  3.  Anfänge  des  humanistischen  und  philo- 
Mophisnlum  Unterrichts,  nobst  der  j^nriechischen  Sprache.  Durch  Zer- 
legung von  2.  und  IJ.  in  zwei  Abteilungen  erhalten  wir  die  seit  der 
KtMiMolidierung  tles  Schulwesens  übliche  Zahl  von  fünf  Klassen  für 
die  gri^Boron  Schulen;  sie  begegnet  uns  in  der  hamburgischen,  lübecki- 
holu^n,  Nolileswig-holsteinisühen,  braunschweigischen,  württembergischen, 
kursächsisolu'n  lijindosschulordnung.  Allerdings  sind  hierunter  zunächst 
nioht  sowohl  lesti«,  räumlich  getrennte  Schulklassen,  wie  heute,  zu  rer- 
Mtohen,  sondern  vielmehr  rnterrichtsstufen,  die  nun  nach  den  ört- 
liohon  Verhältnissen,  der  Zahl  der  Schüler  und  Lehrer,  zusammengelegt 
odt»r  uuoh  weiter  geteilt  werden  mögen.  So  heißt  es  in  der  württ^m- 
lH»rgisohon  Schulordnung  von  1559:  Es  sollen  fünf  Klassen  sein,  nach 
der  Knubeu  Verstand,  caphts,  und  rmdition;  doch  nicht  so,  ..daß  darum 
eine  jtnle  Sohule  alle  fünf  Klassen  haben  müsse,  sondern  daß  nach 
iielogtnihoit  der  FKvkeu  und  Knaben  eine,  zwei,  drei  oder  mehr  für- 
^nuuumon  wonleu",  Jtnie  Sohule  steigt  eben  diesen  Stufengang  hinan, 
si^weit  die  Kräfte  der  Schüler  und  Lehrer  reichen.  Alle  beginnen  ihn, 
eine  kleine  Au/ahl  vvdlendet  ihn.  TIht  die  Zahl  der  SohülerabteUungen 
iMUseheidet  die  Zahl  der  Si*hüler.  Da  der  untersten  Stufe  regelmäßig 
du*  weitaus  grvl^re  Anzahl  von  Schülern  an^rehort»  so  wird  diese  häufig 
iu  mehr\*r\»  l*uienibteiluui:ett  rerleirt:  woi^?i:eu  die  Schüler  der  oberen 
SmtVr.  derxni  Au;ahl  i^Tiuc  ist.  hAutiv:  tur  irewisse  UnterrichtÄfieher 
vsler  ulvrhAUpr  kouilnuiert  wervieit.  Eci  isr  das  um  s*>  leiohter  mOff- 
lieh,  .ils  lu  d'.T  K:vel,  wu»  Sk'hoii  friiher  ^.^m-rrkr  wori-e  S.  269\ 
^eiv^^rer  KÄum',-  aIs  K*.aS5?en  j-ier  AVteiluuii^^a  vorhviaden  w;in?n:  kleine 
Schu';*i^  Iwcceti  itu'Ls:  uur  t^iuen  ^e:cL::i^^n  Kiiim  iiir  Vertu^rac^:  für 
jccv'^'c^'   tüu-'k".;is;>;i:v  wv^i-Li     j^cT.  :.  B.  :■:  S:ur:^:irt.  S^ol-esvi^.   drei 


Klassenteilung,    Dekiirionen,  335 


than  wird,  ist  die  weitere  Gliederung  der  Klassen  in  Unterabteilungen, 
denen  Schüler  vorstehen  (decuriones);  ihre  Aufgabe  ist  namentlich  die 
Unterstützung  des  Lehrers  in  der  Aufrechterhaltung  der  Schulordnung, 
wozu  auch  der  Gebrauch  der  lateinischen  Sprache  nicht  bloß  im  Unter- 
richt, sondern  im  ganzen  Schulverkehr  gehört.  Aus  Ra^umees  Dar- 
stellung ist  die  Sache  besonders  in  ihrer  Ausbildung  in  der  Schule 
Täozendobfs  bekannt  geworden.  Die  Einrichtung  stammt  aus  den 
mittelalterlichen  Schulen.  Ohne  Zweifel  war  es  die  Not,  welche  dieses 
Auskunftsmittel  erfand.  Bei  dem  durch  zahlreiche  Nachrichten  be- 
zeugten ungemein  raschen  Wechsel  in  der  Frequenz  der  einzelnen  Schulen 
war  eine  ständige  Besetzung  einer  bestimmten  Anzahl  von  festen  Lehr- 
stellen, die  übrigens  auch  aus  anderen  Ursachen  nicht  stattfinden  konnte, 
unmöglich.  Da  war  es  denn  bei  schnell  wachsender  Anzahl  das  nächst- 
liegende, die  besten  und  zuverlässigsten  Schüler  heranzuziehen.  Das 
Mittelalter  kannte  überhaupt  nicht  den  festen  Unterschied  von  Lehrern 
und  Schülern.  Auf  der  Universität  war  derselbe  Mann,  der  als  Magister 
in  artibus  las,  regelmäßig  gleichzeitig  Student  in  einer  der  oberen 
Fakultäten;  auch  der  Baccalarius  hörte  nicht  bloß,  sondern  hielt  auch 
Vorlesungen,  natürlich  nicht  über  seine  eigene  Weisheit  In  der  Schule 
fand  dasselbe  statt;  die  Gesellen  (socii  oder  locati)  waren  nicht  bloß 
Gehilfen,  sondern  zugleich  Schüler  des  Lehrers.  In  jenen  Dekurien  ist 
nun  das  längst  herkömmliche  etwas  genauer  und  systematischer  durch- 
geführt worden.  Wie  es  scheint,  stammt  übrigens  die  Bestimmung  der 
württembergischen  und  sächsischen  Schulordnung  über  die  Dekurionen 
aus  der  Straßburger  Schule,  und  Stübm  hatte  damit  das  Lütticher 
Vorbild  nachgeahmt. 

Ebendaher  scheint  auch  die  Ordnung  der  öffentlichen  Pro- 
motionsprüfungen zu  stammen.  In  der  Straßburger  Schule  spielen 
die  actus  scholastici  eine  große  Rolle,  und  von  hier  sind  sie  in  die 
württembergische  und  sächsische  Schulordnung  übergegangen.  Übrigens 
haben  das  erste  Vorbild  natürlich  die  mittelalterlichen  Universitäten 
mit  ihren  Prüfungen  gegeben,  die  daran  sich  schließenden  Promotionen 
geschahen  herkömmlich  mit  öffentlicher  Feierlichkeit. 

Wir  wenden  uns  nun  zum  Unterricht  selbst.  Was  die  Gegen- 
stände anlangt,  so  können  wir  sie  unter  drei  Überschriften  bringen  :/?i>^aÄ, 
linffuacy  artes,  oder:  Glaubenslehre,  Sprachen,  Wissenschaften. 
Die  Glaubenslehre  wird  aus  dem  Katechismus  und  der  Schrift  geschöpft; 
die  Sprachen  werden  aus  der  Grammatik  und  den  alten  Schriftstellern 
gelernt,  daneben  werden  einige  neuere  benutzt;  dem  Unterricht  in  den 
Wissenschaften  endlich  dienen,  außer  den  Schriften  der  Alten,  eine  An- 
zahl neuerer  Lehrbücher. 


336    II j  6.    Gestalt  tind  Unterrichisheirieb  der  protest.  Schtäen  um  1580. 


Vergleicht  man  diesen  Unterricht  mit  dem  Unterricht  des  Mittel- 
alters, so  treten  folgende  Veränderungen  hervor. 

1.  Die  Glaubenslehre  ist  ein  neuer  Unterrichtsgegenst^nd.  Die 
mittelalterlichen  Schulen  kennen  ihn  nicht  Sie  lehrten  wohl  das  Sym- 
bolum  und  die  Gebete,  führten  auch  die  Kinder  in  die  Kirche,  aber 
sie  kennen  keine  Glaubenslehre  und  führen  nicht  zum  Lesen  der  Schrift. 
Apud  adversarios,  sagt  die  Apologie  der  Augsburgischen  Konfession, 
nuüa  prorsus  est  xaTijxrjfTi^  puerorum.  Bei  den  Protestanten  wird 
hierauf  von  vornherein  ein  sehr  starkes  Gewicht  gelegt;  die  Kinder  im 
Glauben  und  der  Schrift  zu  unterweisen  gilt  als  die  erste  Aufgabe 
aller  Schulen. 

2.  Was  die  Sprachen  anlangt,  so  liegen  hier  folgende  Wand- 
lungen vor. 

Erstens:  das  mittelalterliche  Latein  ist  abgeschafft,  an  seine  Stelle 
ist  das  klassische  Latein  getreten.  Die  lateinischen  Klassiker,  die 
auf  den  mittelalterlichen  Schulen  fast  gar  nicht  gebraucht  wurden, 
werden  jetzt  in  allen  Schulen  gelesen. 

Zweitens:  die  griechische  Sprache  ist  regelmäßiger  Unterrichts- 
gegenstand in  allen  eigentlichen  Gelehrtenschulen,  und  auch  auf  den 
kleineren  Schulen  werden  häufig  die  ersten  Elemente  gelehrt 

Drittens:  die  hebräische  Sprache  wird  in  den  ersten  Anfangen 
auf  den  großen  Schulen  gelehrt 

3.  Der  vorbereitende  Unterricht  in  den  philosophischen  Wissen- 
schaften (artes),  der  im  Mittelalter  fast  ausschließlich  den  Universi- 
täten, nämlich  der  artistischen  Fakultät  angehört  hatte,  geht  seit  dem 
16.  Jahrhundert  allmählich  auf  die  Gelehrtenschule  über;  mit  der  zu- 
nehmenden Ausdehnung  des  Kursus  nimmt  diese  einen  propädeutischen 
Unterricht  zunächst  in  der  Dialektik,  sodann  auch  in  der  Physik  und 
Kosmologie  oder  mathematischen  Geographie  und  in  der  Mathematik 
in  sich  auf.  Hierdurch  wird  die  Universität  allmählich  von  dem  ele- 
mentar-wissenschaftlichen Unterricht  entlastet,  die  philosophische  Fakultät 
hört  mehr  und  mehr  auf  Obergymnasium  zu  sein;  die  alte  artistische 
Fakultät  verschmilzt  mit  der  Lateinschule  zum  Gymnasium.  Dieser 
Vorgang,  der  im  19.  Jahrhundert  zum  Abschluß  gekommen  ist,  be- 
ginnt im  16.  Jahrhundert.  — 

Was  die  Methode  des  Unterrichts  anlangt,  so  wendet  er  sich,  wie 
im  Mittelalter,  zunächst  an  das  Gedächtnis.  Der  Katechismus  und 
die  Grammatik,  und  ebenso  die  Lehrbücher  der  Rhetorik  und  Dialektik 
werden  auswendig  gelernt;  „verhören"  bleibt  der  technische  Ausdruck 
für  die  Thätigkeit  des  Lehrers.  Ebenso  wendet  sich  die  Lektüre  zu- 
nächst an  das  Gedächtnis;    die  Schriitsteller  werden  vom  Lehrer  vor- 


Der  Unterricht,   Gegenstand  und  Methode.  337 


exponiert,  am  andern  Tage  vom  Schüler  „reposciert".  Dazu  kommt 
dann,  auf  der  Oberstufe  mehr  und  mehr  hervortretend,  die  Imitation; 
sie  fordert^  in  schriftlichen  Versuchen  der  Nachbildung  lateinischer  und 
griechischer  Prosa  und  Poesie  bestehend,  am  meisten  die  Selbstthätig- 
keit  des  Schülers  heraus. 

Hiermit  ist  das  allgemeine  Schema  des  Unterrichtsverfahrens  ge- 
geben; es  wird  durch  drei  Wörter  bezeichnet:  praeceptum^  exem- 
plum,  imitatio.  Auf  allen  Stufen  des  Unterrichts  gehen  diese  drei 
Dinge  neben  einander  her:  das  Lehrbuch  enthält  die  praecepta,  die 
Regeln;  auf  allen  Stufen  wird  das  Lehrbuch  der  Grammatik  gebraucht, 
auf  den  oberen  kommen  dazu  Lehrbücher  der  Poesie,  der  Rhetorik  und 
Dialektik.  Die  Lektüre  der  Autoren  bietet  exempla,  Musterbeispiele 
jeder  Art  schriftstellerischer  Darstellung;  der  Unterricht  zeigt  an  ihnen 
die  Bedeutung  der  Regeln,  der  grammatisch-stilistischen,  wie  der  poetisch- 
rhetorischen. Sie  dient  dem  Schüler  zugleich,  Wörter,  Wendungen  und 
Gedanken  auszuziehen,  die  er,  um  sie  zu  merken,  in  seine  Adversarien- 
bücher  einträgt.  Die  imitatio  endlich  ist  das  Ziel  des  ganzen  Unter- 
richts: der  Schüler  übt  sich,  an  der  Hand  der  Regeln  des  Lehrbuchs, 
mit  dem  Material,  das  ihm  die  Lektüre  zuführt,  ähnliche  Kunstwerke 
der  Rede  zu  komponieren,  als  die  klassischen  Autoren  sie  darbieten. 

Die  Erwerbung  der  Sachkenntnisse  geht  nebenher;  indem  man 
die  alten  Autoren,  die  Redner  und  Philosophen,  die  Dichter  und  Histo- 
riker liest,  gewinnt  man  aus  ihnen  zugleich  philosophisches,  historisches, 
antiquarisches,  geographisches,  naturwissenschaftliches  Wissen  (eruditio). 
Ein  besonderer  Unterricht  ist  hierfür  nicht  erforderlich.  Nur  etwa  die 
Arithmetik  und  Geometrie,  dann  auch  die  Physik  und  Kosmologie 
machen  eigenen  Unterricht  und  besondere  Lehrbücher  notwendig.  Und 
natürlich  die  Religion.  — 

Dieser  kurzen  Darlegung  des  Allgemeinen  lasse  ich  nun  eine  etwas 
eingehendere  Darstellung  des  klassischen  Unterrichts  folgen. 

Das  Gewicht,  welches  zu  allen  Zeiten  den  Schulbetrieb  in  Gang 
setzt  und  reguliert,  ist  der  künftige  Gebrauch  der  erworbenen 
Kenntnisse  und  Fertigkeiten.  Der  letzte  Gebrauch,  worauf  die  Erlernung 
der  alten  Sprachen  abzielte,  war  nach  der  humanistischen  Anschauung 
die  Hervorbringung  von  Litteraturwerken  in  jenen  Sprachen,  in  Poesie 
und  Prosa.  Den  Humanisten  handelte  es  sich  um  nichts  Geringeres, 
als  um  die  Wiederaufnahme  der  litterarischen  Produktion  des  Alter- 
tums, welche  ihnen  durch  die  Invasion  der  gotischen  Barbarei  nur  zu- 
fällig unterbrochen  zu  sein  schien.  Das  16.  Jahrhundert  steht  unter 
der  Herrschaft  dieser  Anschauungsweise.  Es  ist  völlig  ernst  gemeint, 
wenn  Celtis   der  Horaz,   Eobanus   der  Ovid   der  Deutschen  genannt 

Paulsen,   Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  -22 


838    //,  6,    Qestalt  und  Unlerrichtsbetrirb  der  protest.  Schulen  um  1580. 


wird ;  es  soll  damit  gesagt  sein,  daß  die  litterarischen  Erzeugnisse  dieser 
Dichter  sich  als  gleichartige  und  gleichwertige  an  diejenigen  der  ge- 
nannten Römer  anschließen.  Des  Eobanüs  Werke  sind  häufig  in  den 
Schulen  gebraucht  worden,  vor  allem  seine  Psalmenübersetzung. ^  Das 
war  nicht  unverständig;  was  konnte  den  Eifer  und  Mut  des  Schülers 
bei  seinen  poetischen  und  prosaischen  Schulübungen  mehr  beleben,  als 
die  Thatsache,  daß  ein  Zeitgenosse  durch  lateinische  Verse  ein  be- 
rühmter Mann,  ein  klassischer  Autor,  ja  sogar  ein  wohlbesoldeter  Pro- 
fessor geworden  war?  Konnte  man  ihn  hieran  zu  oft  erinnern?  Honos 
et  praemium  ahmt  artes,  daher  auch  noch  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Jahrhunderts  an  lateinischen  Poeten  keineswegs  Mangel  war.  Der  be- 
rühmteste unter  der  späteren  Humanistengeneration  war  wohl,  nicht 
minder  durch  seine  Kunst  als  durch  seine  Lebensschicksale,  der  Schwabe 
NicoDEMus  Feischlin  (1547 — 1590),  von  dem  D.  Yb,.  Stbauss  ein 
anziehendes  Lebensbild  gezeichnet  hat.  In  Oden  und  Elegien,  in  Epen 
und  Dramen  verherrlichte  und  ergötzte  der  Tübinger  Poet  und  Professor 
der  Poesie  seinen  hohen  Gönner,  den  Herzog  Ludwig,  und  dieser  lohnte 
mit  Geld  und  Naturalien,  schenkend  und  borgend.  Wie  diese  Poesie 
gemacht  und  welche  erstaunliche  Virtuosität  darin  erreicht  wurde,  zeigt 
Stbauss  an  vielen  Beispielen.  Fbischlins  letzte  große  Dichtung  ist 
die  Hebraeis,  eine  Darstellung  der  jüdischen  Geschichte  in  Hexametern; 
sie  folgt  in  Anordnung,  Motiven,  Darstellungsmitteln  genau  dem  Vor- 
bild der  Äeneis,  ganze  und  halbe  Verse  werden  ohne  Bedenken  dem 
Vorbild  entlehnt.  Die  Hebraeis  entstand  im  Kerker,  in  welchen 
Feischlin  durch  seine  lose  Zunge  gekommen  war;  unter  Krankheit 
und  Ungemach  aller  Art,  ohne  andere  Hilfsmittel  als  eine  deutsche 
Bibel,  verfertigte  der  Dichter  die  12500  Hexameter  (die  Äeneis  hat 
ca.  10  000)  in  weniger  als  vier  Monaten.  Nebenher  machte  er  noch 
zwei  biblische  Komödien. 

Allerdings  waren  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  die 
humanistischen  Tendenzen  nicht  mehr  die  herrschenden;  die  theologisch- 
kirchlichen Interessen  erlangten  allmählich  so  sehr  das  Übergewicht, 
daß  selbst  ein  MELA^XHTHONscher  Humanismus  verdächtig  wurde.  Unter 
den  Männern,  welche  die  Landesschulordnungen  verfaßten  und  durch- 
führten, hätten  schwerlich  viele  die  heute  beliebte  Formel  gebilligt,  daß 

*  Psalter iiim  Universum  carmine  eiegiaeo  reddituni  aique  explieatum  ac 
nuper  in  schola  Marpurgensi  editum^  1537.  Neue  Auflagen  sind  zahlreich  er- 
schienen, z.  B.  zu  Straßburg  1539,  42,  zu  Leipzig  1551,  57,  59,  71,  84.  Ein 
poeta  laureatus^  Cur.  Aülaeus,  gab  eine  Chrestomathie  aus  seinen  poetischen 
Werken  heraus:  IL  Eob.  IJessi,  Po'etae  Üermani,  Operum  ffores  ae  sententiae 
insigniores,  conimodo  studiosorum  selecti. 


Der  klassische  Unterricht;  sein  Zid:  Eloquenz,  339 


es  die  Aufgabe  der  Schule  sei,  die  Jugend  in  den  Geist  des  klassischen 
Altertums  einzuführen.  Sie  waren  nicht  so  blind  zu  verkennen,  daß 
das  Altertum  Heidentum  sei,  und  nicht  so  humanistisch,  um  zu  wollen, 
daß  die  christliche  Jugend  im  Heidentum  aufwachse.  Sie  hätten  auch 
kaum  mehr  die  Formel  gelten  lassen,  daß  es  sich  beim  Unterricht  um 
die  Erwerbung  der  Fähigkeit  handele,  die  antike  Litteratur  fortzusetzen. 
Aber  die  Nachwirkung  der  humanistischen  Bewegung  war  doch  stark 
genug,  um  den  thatsächlichen  Schulunterricht  so  zu  gestalten,  als  ob 
jenes  humanistische  Ziel  noch  in  voller  Geltung  gewesen  wäre.  Auch 
der  entschiedenste  Theologe  konnte  nicht  umhin,  die  Fertigkeit  in 
klassischem  Stil  und  ciceronischer  Sprache  sich  auszudrucken,  für  ein 
unbedingt  notwendiges  Erfordernis  jedes  Gelehrten  anzusehen.  Und 
fast  nicht  minder  notwendig  war  unter  dieser  Voraussetzung  die  Be- 
nutzung der  heidnischen  Schriftsteller  in  der  Schule;  gab  es  auch 
neuere  christliche  Schriftsteller,  wie  Eobancs,  Mantüanüs  u.  a.,  so  blieb 
doch  die  Thatsache,  daß  ihre  Werke  Nachahmungen  der  alten  Origi- 
nale waren;  und  wer  sollte  es  nicht  geraten  finden,  lieber  die  Originale 
als  auch  die  besten  Nachahmungen,  oder  wenigstens  neben  diesen  auch 
jene  nachzuahmen?  Also  Eloquenz,  und  zwar  zunächst  in  lateinischer 
Sprache,  ist  das  erste  Ziel  des  gelehrten  Unterrichts,  die  Nachahmung 
der  alten  Schriftsteller  das  wesentliche  Mittel. 

Zur  Eloquenz  gehören  zwei  Dinge:  Sachen  und  Worte.  Beide 
zu  verschaffen  ist  daher  die  erste  Sorge  des  ganzen  Unterrichts.  Bßer- 
über  sind  alle  gymnasialpädagogischen  Schriftsteller  des  Zeitalters  einig, 
Agkicola  und  Wimpheling,  Ebasmüs  und  Melanchthon,  Stüem  und 
Neander.  Anfang,  Mitte  und  Ende  aller  jener  Schriften  de  formando 
studio  ist:  res  et  verba. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  wird  Auswahl  und  Behandlung  der 
Lektüre  auf  Universitäten  und  Schulen  gleichmäßig  beherrscht  Das 
muß  man  sich  ein  für  allemal  klar  machen.  Alle  Lektüre  ist  durchaus 
auf  den  unmittelbaren  Gebrauch  gerichtet.  Es  handelt  sich  darum  aus 
dem  Schriftsteller  zu  lernen,  was  und  wie  man  reden  müsse.  Und  in 
demselben  Sinn  wird  alle  Erklärung,  auf  der  Universität  wie  auf  der 
Schule,  gegeben;  sie  hat  gar  nicht  die  Bedeutung  einer  frostig- wissen- 
schaftlichen, philologisch-historischen  Interpretation  des  Textes,  sondern 
sie  will  vor  allem  und  zuerst  den  Autor  nutzbar  machen. 

Ich  gebe  zunächst  für  den  klassischen  Unterricht  auf  den  Uni- 
versitäten ein  paar  Nachweisungen. 

Melanchthon  spricht  das  Prinzip,  dem  er  in  der  Auswahl  und 
Erklärung  der  Schriftsteller  folge,  in  der  Vorrede  zu  seiner  Ausgabe 
der  Werke  und  Tage  des  Hesiod  (C.  R.  XI,  112ff.;   1526)  aus:   „Ich 

22* 


340    //,  6.    Gestalt  und  UnterricJitshetrieb  der  protest.  Schulen  um  1580. 


bemühe  mich  stets  euch  solche  Schriftsteller  vorzulegen,  welche  zu- 
gleich die  Erkenntnis  der  Dinge  mehren  und  die  Rede  bereichem.  Denn 
diese  beiden  Stücke  gehören  zusammen,  so  daß  eins  nicht  sein  mag 
ohne  das  andere;  es  kann  niemand  gut  reden  ohne  Kenntnisse  und  die 
Erkenntnis  ist  lahm  ohne  das  Licht  der  Rede.  Wie  der  Schiffer  nach 
den  Sternen  seinen  Lauf  richtet,  so  sind  alle  unsere  Studien  nach  diesem 
Prinzip  zu  richten:  daß  wir  uns  einerseits  wissenschaftliche  Einsicht, 
in  den  Geisteswissenschaften  und  in  den  Naturwissenschaften,  anderer- 
seits wenigstens  ein  gewisses  Geschick,  über  ernste  Dinge  uns  auszu- 
drücken, verschaffen."  In  jeder  dieser  Absichten  sei  nun  Hesiods  Werk 
empfehlenswert.  Unter  den  gnomologischen  Schriftstellern  sei  er  ohne 
Widerrede  der  erste;  er  gebe  nicht  nackte  Vorschriften,  sondern  ver- 
weile bald  bei  dem  Lob  der  Tugend,  bald  bei  dem  Schimpf  des  Lasters 
und,  was  das  Wirksamste  sei,  er  lehre  ernst  und  gewissenhaft,  daß  die 
Guten  von  Gott  belohnt  und  die  Bösen  bestraft,  werden.  In  dem 
zweiten  Teil  des  Werks  werde  größtenteils  von  der  Natur  gehandelt^ 
über  die  Erde  und  ihre  Früchte,  die  Jahreszeiten,  die  Bewegungen  der 
Gestirne,  welche  Kenntnis  ebenso  angenehm  als  zur  Bildung  notwendig 
sei.  Endlich  gebe  er  zur  Erwerbung  der  Redekunst  manchen  schätz- 
baren Beitrag;  er  brauche  gewählte  Worte,  welche,  zur  rechten  Zeit 
verwendet,  der  Rede  Würde  und  der  Einsicht  Gewicht  geben;  so  nenne 
er  z.  B.  die  Könige  Dorophagen  oder  Abgabenfresser,  und  was  für  eine 
treffliche  Wortbildung  sei  nicht  Faustrechtler  {/ei()odtxai)?  Derartiges 
finde  sich  tausenderlei,  ebenso  auch  vortreffliche  Konstruktionen  und 
Figuren,  so  daß  kein  Zweifel  sei,  daß  man  aus  ihm  der  eigenen  Rede 
Reichtum  und  Fülle  zuführen  könne.  Eine  vorzügliche  Übung  sei  es, 
die  schönsten  Stellen  in  lateinischen  Versen  wiederzugeben;  dadurch 
werde  das  Urteil  geschärft,  die  Fülle  der  Rede  gemehrt  und  die  Inter- 
pretationskunst gebildet.  Aber,  möchte  jemand  sagen,  was  hilft  dieser 
ganze  Unterricht  zur  Religion?  „Unmittelbar  allerdings  nichts,  denn 
diese  ist  eine  Wirkung  des  heiligen  Geistes.  Aber  für  die  Kenntnis  der 
heiligen  Schrift  ist  die  griechische  Sprache  notwendig  und  für  Auslegung 
derselben  ist  ÜbuDg  in  allen  Künsten  erforderlich.  Eine  große  Kunst 
ist  die  Eloquenz  und,  wie  es  in  der  Tragödie  heißt,  Herrin  der  Dinge. 
Das  ist  die  Ursache,  weshalb  meines  Erachtens  auch  den  Theologen 
diese  Disziplinen  nützlich  sind". 

Aus  demselben  Gesichtspunkt  wird  in  einer  späteren  Vorrede  zum 
Homer  dieser  empfohlen  (1538,  C.  R.  XI,  397ff.).  Unter  aUen  Autoren, 
die  heiligen  selbstverständlich  ausgenommen,  erreiche  keiner  den  Homer, 
weder  in  der  Lehre  (doctrina),  noch  in  der  Schönheit  der  Form.  In 
der  Ilias  habe  er  die  Künste  des  Krieges,  in  der  Odyssee  die  Künste 


Der  klassische   Unterricht  auf  den   Universitäten,  341 


des  Friedens  beschrieben,  ohne  Zweifel  in  der  Absicht,  diejenigen,  welche 
zur  Eegierung  eines  Gemeinwesens  berufen  seien,  hierfür  zu  unter- 
richten und  vorzubereiten;  was  dann  an  beiden  Dichtungen  ausführlich 
dargelegt  wird.  —  Man  sieht,  wir  haben  es  nicht  mit  philologischen 
Vorlesungen  über  die  Autoren  zu  thun,  sondern  mit  Anleitungen,  aus 
ihnen  Sachen  und  Worte  zu  entnehmen. 

Als  besonders  charakteristisch  für  die  Behandlung  der  alten  Autoren 
im  üniversitatsunterricht  teile  ich  aus  einer  Sammlung  von  Rostocker 
Universitätsschriften  aus  den  Jahren  1560 — 1567  einiges  mit  Joh. 
PossELiüs  und  David  Chytbaeus,  beide  Schüler  Melanchthons,  ver- 
traten hier  die  griechischen  Studien.  Jener  ladet  zur  Vorlesung  des 
Sophokles  mit  folgender  laudatio  autoris  ein  (6.  Juni  1560).^  Zunächst 
heißt  es  in  allgemeiner  Wendung:  das  Ziel  unserer  Studien  sei,  ut  et 
scientiam  rede  de  rebus  divinis  ac  humanis  judicandi  et  facultatem  res 
bonos  et  utiles  propria  et  perspicua  orations  explicandi  nobis  paremus. 
Hierzu  könne  Sophokles  führen,  als  welcher  sei  omnibus  sapientiae  et 
eloquentiae  numeris  perfectuSy  et  intelligendi  et  dicendi  magister  optimus. 
Nach  den  heiligen  Schriften  gebe  es  keine  Bücher,  die  ernster  Moral 
und  Lebensweisheit  predigten,  als  die  Tragödien  des  Sophokles  und 
Euripides;  ihr  beständiges  Thema  sei:  e/ei  iheog  ixSixov  Öfifia.  An 
den  Beispielen  furchtbarer  Strafen  der  Frevler  zeigen  sie  Gottes  Ge- 
rechtigkeit und  unsere  Pflichten.  „Jede  einzelne  Tragödie  des  Sophokles 
enthält  einige  vorzügliche  Erörterungen  oder  locos  communes,  und  viele 
herrliche  und  wichtige  Sentenzen  und  Lebensregeln;  ich  werde  dieselben 
in  den  einzelnen  Tragödien  mit  Gottes  Hilfe  auf  die  gleichlautenden 
Vorschriften  der  zehn  Gebote,  als  auf  ihre  Quellen,  zurückführen.  Im 
Ajax  kann  das  Beispiel  des  bestraften  Hochmuts  und  Verachtung  des 
göttlichen  Beistandes  auf  das  erste,  das  Beispiel  der  Mäßigung  im  Glück 
und  in  der  Rache,  welches  Ulysses  giebt,  auf  das  fünfte  Gebot  zurück- 
geführt werden.  Die  Strafe  des  Ehebruchs  an  Klytemnestra  und  Aegistus 
in  der  Elektra,  des  Incests  im  König  Oedipus,  der  grauenvolle  Unter- 
gang des  Herakles  in  den  Trachinierinnen,  welcher  durch  zügellose 
Liebesleidenschaft  veranlaßt  wird,  kann  auf  das  sechste  Gebot  zurück- 
geführt werden.  In  der  Antigone,  welche  vor  allen  durch  Menge  und 
Wichtigkeit  der  schönsten  Sentenzen  sich  hervorthut,  steht  die  Erörterung 
in  Beziehung  zum  ersten  und  vierten  Gebot:  ob  man  Gott  mehr  als 
der  Obrigkeit  gehorchen  solle.    In  den  beiden  Oedipus  wird  die  Lehre 


*  Scripta  in  acad.  Rost.  pitbL  proposita  1563—1567.  Rost.  1567.  S.  46  ff. 
Die  Sammlung  ist  der  gleichnamigen  Wittenberger  nachgeahmt;  sie  enthält  An- 
schläge der  akad.  Behörden,  Eiuladangen  der  Professoren  zu  Vorlesungen,  öffent- 
liche Reden  und  Gedichte  u.  s.  f. 


342    II,  6.    Gestalt  und  UnterridUsbeirieb  der  protest.  Schulen  um  1580, 


des  vierten  Gebots  über  die  furchtbaren  Strafen  des  Vatermordes  und 
die  den  Eltern  schuldige  Pietät  und  die  Strafen  undankbarer  Kinder 
illustriert  Der  erste  Teil  des  Philoktetes  enthält  eine  Erörterung, 
welche  aus  den  Quellen  des  achten  Gebots  fließt:  ob  man  an  die  offene 
und  einfaltige  Wahrheit  in  Wort  und  That  jederzeit  sich  halten  müsse, 
oder  ob  es  einmal  erlaubt  sei,  um  des  gemeinen  Nutzens  willen  zu  lügen. 
Der  andere  Teil  stellt  die  Lehre  des  ersten  Gebots  vor:  ohne  Gottes 
Beistand  lasse  sich  nichts  Segensreiches  vollbringen.  Und  am  Schluß 
findet  sich  jene  fromme  und  schöne  Sentenz:  ri  yuQ  evaißBia  avp- 
&vi)(Txti  ßgoToTg,  xuv  i^Gjai  xav  d^dvfoaiv  ovx  ccTtöXXvrai.  Doch  auf 
die  schönen  Stellen  und  Sentenzen  werde  ich  bei  der  Behandlung  der 
einzelnen  Tragödien  aufmerksam  machen,  und  zugleich  darauf^  was  ans 
der  Lektüre  des  Sophokles  für  den  Stil  sich  gewinnen  lasse.  Denn 
unter  den  drei  großen  Tragikern  ist  des  Sophokles  Eloquenz  zu  allen 
Zeiten  von  den  Kundigsten  am  meisten  bewundert  worden:  durch  Glanz 
und  Wucht,  durch  Fülle  der  Sprache  und  Gedanken,  durch  Erhaben- 
heit und  Majestät  ist  er  den  andern  überlegen,  im  besonderen  auch 
dem  Euripides,  dessen  Rede  knapper  und  einfacher  ist  und  mehr  Fülle 
der  Gedanken  als  der  Sprache  zeigt. 

Da  zum  Markt  eine  Anzahl  Exemplare  angekommen  sind,  so  fordere 
ich  die  Studierenden  auf  zu  kaufen  und  die  Gelegenheit,  diesen  vortreff- 
lichen Autor  zu  hören,  nicht  zu  versäumen." 

Im  Oktober  macht  er  in  einem  neuen  Anschlag  den  Beginn  der 
Vorlesungen  mit  dem  Ajax  des  Sophokles  bekannt.  Er  zieht  vier  iocos 
insigniores  aus  demselben  heraus:  der  Hauptzweck  der  Tragödie  sei, 
wie  oben,  die  Strafe  des  Hochmuts  und  Verachtung  göttlichen  Bei- 
standes zu  zeigen,  in  Übereinstimmung  mit  dem  ersten  Gebot  Ein 
zweiter  locus  communis  sei  die  Vergleichung  der  kriegerischen  und 
staatsmännischen  Tüchtigkeit,  am  Beispiel  des  Kriegshelden  Ajax  und 
des  Ulysses,  der  sich  als  sapiens  Cojisiliarius  seu  Senator  et  homo  doctus 
erweist.  Der  dritte  die  von  Ulysses  bewiesene  Mäßigung.  Viertens: 
auch  andere  wichtige  loci  und  schöne  Sentenzen  über  die  Tugenden 
und  Pflichten  kommen  vor  und  werden  auf  die  zehn  Gebote  zurück- 
geführt werden :  z.  B. 

ovx  ccQ  Tcicf  k(TTt  zfjöe  f.ni  &efüv  fierd. 
Item 

Hie  gehören  ad  primam  tabvlam  u.  s.  w.  Mit  ähnlicher  Darlegung  der 
Vurtrefi"lichkeit  des  Stücks  ladet  er  zum  Hören  der  Elektra  am  19.  April, 
des  König  Oedipus  am  1.  Oktober  1561,  der  Antigene  im  April,  des 
Oedipus  Coloneus  im  Oktober  1562,  endlich  zum  Schluß,  der  Trachi- 


Der  klassische  Unterricht  auf  den   Universitäten,  343 


nierinnen  im  April  1563  ein.  1565  las  er  über  des  Pythagoras  aurea 
carmina  und  über  die  Odyssee. 

Chttkaeus  behandelte  Herodot  und  Thucydides,  ebenfalls 
beide  ganz,  jenen  von  1559  bis  April  1562,  diesen  vom  April  1562 
bis  Herbst  1565.  Zu  jedem  Buch  wird  durch  einen  Anschlag  ein- 
geladen, worin  alle  Dinge  aufgezählt  werden,  die  man  daraus  lernen 
könne.  Das  zweite  Buch  des  Herodot  z.  B.  bietet  vortreffliche  mora- 
lische Sentenzen;  wie  ein  Edelstein  glänzt  hier:  töv  fieyüXmv  dStxrj- 
fjuiroyv  fxeyä/Mt  elm  xai  ai  nfnagiat  naQcc  rov  &bov,  wofür  als  Beispiel 
die  Zerstörung  Trojas  um  des  Ehebruchs  des  Paris  willen  dient. 
Wichtig  ist  femer  im  zweiten  Buch  die  Beschreibung  Ägyptens  und 
der  Ägypter,  weil  darin  ein  heidnischer  Bericht  den  Bericht  der  heiligen 
Schrift  in  vielen  Punkten  bestätigt.  Auch  geht  aus  der  Darstellung 
des  Ursprungs  der  heidnischen  Religionen  hervor,  daß  die  christliche 
Religion  die  allerälteste  und  erste  und  darum  wahrste  ist:  die  ältesten 
Orakel  der  Welt  sind  nämlich,  nach  Herodot,  das  des  Jupiter  Ammon 
und  des  Zeus  zu  Dodona,  jenes  offenbar  auf  Ham,  den  Sohn  Noah, 
dieses  auf  Dodanim,  den  Sohn  Javan,  weisend:  beide  also  erst  nach 
der  Sündflut  begründet.  Die  griechische  Religion  ist  noch  viel  jünger, 
erst  um  das  Jahr  der  Welt  3100  von  Homer  und  Hesiod  zusammen- 
gefaßt, zu  den  Zeiten  der  Propheten  Jonas  und  Oseas,  da  die  Lehre 
der  wahren  Kirche  schon  3000  Jahre  in  der  Welt  war. 

Nicht  minder  erweist  sich  Thucydides  wichtig.  Zwei  Ziele  haben 
die  Studien:  yvxTfvai  xal  iofiijvevfrai  mit  dem  Ausdruck  des  Thuky- 
dides.  Zu  beiden  leitet  seine  Geschichte.  Die  politische  Einsicht  lehrt 
er  nicht  nur  in  sehr  inhaltreichen  Reden  und  Sentenzen,  sondern 
illustriert  sie  auch  mit  den  wichtigsten  Beispielen  von  Ratschlägen 
und  Erfolgen.  Die  Geschichte  ist  ein  Gemälde  und  Theater  des 
menschlichen  Lebens,  welches  auf  alle  Zeiten  paßt.  Wie  die  Natur 
des  Menschen  selbst,  so  bleiben  auch  die  Anlagen,  Sitten,  Geschäfte, 
Gelegenheiten,  Ratschläge,  Erfolge,  Irrtümer  und  Verbrechen  dieselben, 
nur  die  Schauspieler  wechseln.  Die  Geschichte  des  Thukydides  ist  ein 
schlagendes  Bild  der  gegenwärtigen  deutschen  Angelegenheiten:  Ent- 
schlüsse, Ratschläge,  Versuche,  Bündnisse,  Macht-  und  Rachebestrebungen 
unter  dem  Vorwand  der  Religion.  Sie  zeigt,  wie  Leichtsinn  und  Ehr- 
geiz in  politischen  Unternehmungen  sich  bestraft.  Er  zählt  nun  ein- 
zelne Fälle  zu  dieser  Maxime  aus  den  acht  Büchern  auf.  —  So  kann 
man  (tvvbgiv  noXtnxi^v  bei  Thukydides  lernen.  Aber  auch  für  die 
Eloquenz  läßt  sich  viel  profitieren.  Denn  wenngleich  die  Rede  des 
Demosthenes  der  des  Thukydides  unähnlich  ist,  so  hat  doch  jener  die 
Weisheit,  Gewalt,  Schärfe,  die  nervigte  und  gedrängte  Rede  des  Historikers 


344     //,  6'.    Gestaii  und  rnterrichtshetrieb  der  protesL  Schulen  um  15S0. 


SO  sehr  bewimdert,  daß  er  den  Thukvdides  achtmal  mit  eigener  Hand 
abschrieb. 

Chttbaeus  las  daneben  über  das  neue  Testament ,  ebenfalls  von 
Anfang  bis  Ende,  in  sechs  Jahren;  der  Sinn  der  Lektüre  ist  derselbe. 
Zum  ersten  Petrusbrief  z.  B.  ladet  er  ein  (Weihnacht  1560)  mit  der 
Bemerkung:  nach  gewohnter  Weise  werden  wir  anfiangs  eine  Inhalts- 
übersicht der  Epistel  geben,  und  sodann  die  Hauptstellen  für  Lehre  und 
Erbauung  herausheben,  welche  in  den  täglichen  Gedanken  an  Gott  und 
den  Gefahren  des  Lebens  Anwendung  haben. 

Als  ein  Beispiel  der  Durchführung  dieser  Behandlung  mag  noch 
des  Sabinus  Erklärung  der  Ovidischen  Metamorphosen  (Königs- 
berg 1554,  vgl.  bei  Töppex,  9,  263 flF.,  woselbst  noch  neun  Ausgaben 
des  Werks  erwähnt  sind)  angeführt  werden.  Das  Werk  wird,  so  sagt 
der  Erklarer,  zwar  in  erster  Linie  um  der  Sprache  und  der  Art  der 
Verse  willen  den  Jünglingen  vorgelegt.  Aber  auch  um  der  Sachen 
willen  verdient  es  gelesen  zu  werden.  ,.Das  Gedicht  enthält  die  er- 
lesensten Fabeln  aller  Dichter,  in  welchen  herrliche  Beispiele  der  gött- 
lichen Gnade  und  des  göttlichen  Zornes  vorgelegt  werden;  es  lehrt,  daß 
die  menschlichen  Geschicke  nicht  ein  Spiel  des  Zufalls  sind,  sondern 
von  göttlicher  Macht  regiert  werden ;  daß  ein  höheres  Wesen  ist>  welches 
frommen  und  guten  Handlungen  seinen  Beistand  schenkt,  Verbrechen 
dagegen  durch  alles  mögliche  Unglück  bestraft,  vor  allem  Verachtung 
der  Religion.  Außer  diesen  Beispielen  für  das  Leben  aber  enthält  das- 
selbe Gedicht  so  viel  Astronomisches,  so  viel  Physisches,  so  viel  Namen 
und  Beschreibungen  von  Gegenden,  Örtern,  Städten,  Bergen,  Flüssen,  daß 
man  aus  demselben,  hat  man  nur  einen  guten  Erklärer,  zum  großen 
Teil  die  Geographie,  die  Sphärik  und  die  Naturgeschichte  lernen  kann. 
Es  ist  also  kein  müßiges  und  possenhaftes  und  bloß  zum  Vergnügen 
bestimmtes  Gedicht,  wie  einige  thöricht  glauben,  sondern  ein  thesaums 
eruditionis.  Endlich  bringt  es  noch  den  Vorteil,  daß  es  den  der  Bered- 
samkeit Beflisseneu  mit  einem  vollständigen  oratorischen  Apparate  ver- 
sieht.    Deshalb  ist  dieses  AVerk  mit  Recht  allen  zu  empfehlen. 

In  dieser  Absicht  ist  nun  der  Kommentator  bemüht,  das^  Werk 
nutzl)ar  zu  machen.  Er  giebt  zu  den  Fabeln  die  Moral;  aus  der  Ge- 
schichte des  Phaethon  z.  B.  lassen  sich  folgende  zwei  loci  morales  ziehen: 
die  Gebote  und  Lehren  der  Eltern  nicht  zu  verachten,  und:  Versprechungen 
sind  nicht  zu  halten,  wenn  demjenigen,  der  das  Versprechen  erhalten 
hat,  nicht  damit  genützt  ist.  Aus  der  Fabel  der  Verwandlung  der 
Niobe  werden  drei  loci  gezogen:  man  muß  Gottes  Zorn  durch  Gebete 
besänftigen,  nicht  durch  Schmähung  mehren;  die  Bösen  werden  durch  das 
Leiden  verstockter;  die  Gebete  der  Verstockten  werden  nicht  erhört.  — 


Schätzung  der  Eloqiiem,  ihre  Ursachen.  345 


Nicht  minder  läßt  sich  Sabinus  die  rhetorisch -poetische  Applikation 
seines  Autors  angelegen  sein.  Er  giebt  Winke,  wie  man  die  poetischen 
Figuren  benutzen  kann:  der  Dichter  läßt  Rhodos  vom  Sol  geliebt  werden, 
so  kann  man  Preußen  vom  Boreas  geliebt  werden  lassen,  eo  quod  Boreas 
fere  perpetuo  in  hac  regiorte  spirat  Bei  Gelegenheit  der  cimmerischen 
Finsternis  bemerkt  er:  es  giebt  auch  andere  Cimmerier,  die  niemals 
das  Licht  sehen,  nempe  homines  ebriosij  quorum  hie  ad  septentrionem 
infirätus  est  numerus;  die  Urnen  der  Danaiden  kann  man  allegorisch 
deuten  auf  die  Kassen  der  Fürsten.  Ganze  Verse  werden  zu  sprich- 
wörtlicher Anfuhrung  empfohlen,  auch  Stellen  nachgewiesen,  wo  sie  so 
gebraucht  sind  u.  s.  f. 

So  wurden  die  klassischen  Autoren  auf  den  Universitäten  gelesen 
und  erklärt.  Die  Deklamationen  bildeten  das  Korrelat  zu  dieser  Lek- 
türe, sie  gaben  Übung  in  der  Anwendung  des  Gelernten.  Gelegenheit 
zur  epideiktischen  Verwertung  der  erworbenen  Fertigkeit  boten  sodann 
alle  Vorfalle  des  öffentlichen  und  privaten  Lebens,  welche  aus  dem  Ge- 
leise des  Alltäglichen  heraustraten :  jede  akademische  Feierlichkeit,  Pro- 
motionen, Rektoratswechsel,  Schulaktus,  Vermählungen,  Todesfalle,  Ge- 
burten, sie  forderten  alle,  um  mit  geziemender  Würde  vor  sich  gehen 
zu  können,  ihre  declamationes,  carmina  conffratulatoria,  epifhalamia, 
epicedia  etc.  Ein  ungeheurer  Konsum  von  lateinischen  Reden  und 
Versen  fand  statt,  er  dauerte  bis  ins  18.  Jahrhundert  hinein,  in 
welchem  er  allmählich  durch  französische  und  deutsche  Rede  und 
Poesie  verdrängt  wurde. 

Für  uns  hat  diese  absolute  Schätzung  der  Eloquenz  zunächst  etwas 
Befremdliches.  Unsere  Zeit  legt  auf  Kenntnisse  ein  sehr  großes,  auf 
ihren  Vortrag  nur  ein  mäßiges  Gewicht;  die  Prüfungen  haben  uns 
daran  gewöhnt,  auch  über  großen  Mangel  an  formaler  Darstellungs- 
gabe hinweg  zu  sehen,  wenn  nur  die  Sachkenntnis  vorhanden  ist.  Ver- 
suchen wir  uns  verständlich  zu  machen,  warum  das  16.  Jahrhundert 
anders  empfand  und  urteilte,  so  werden  wir  etwa  auf  folgende  Punkte 
uns  geführt  sehen. 

Die  Sache  hängt  erstens  mit  dem  Umstand  zusammen,  daß  die 
Sprache  aller  litterarischen  Darstellung  eine  fremde  war.  Es  liegt  in 
der  Natur  der  Sache,  daß  beim  Gebrauch  einer  fremden  Sprache  die 
Aufmerksamkeit  mehr  als  beim  Gebrauch  der  heimischen  auf  die  sprach- 
lich-stilistische Form,  und  um  so  viel  weniger  auf  den  Inhalt  gerichtet 
ist.  In  der  heimischen  Sprache  ist  die  Form  gegeben  und  selbstver- 
ständlich, in  der  fremden  ist  sie  mit  Mühe  erlernt  und  wird  nicht  ohne 
Mühe  erhalten;  der  Wert  der  Sache  wird  aber  hier  wie  überall  nach 
der  Anstrengung  bei  der  Erwerbimg  und  der  Seltenheit  des  Besitzes 


346    II,  6.    Gestalt  und   Unierrichtshetrieh  der  protest.  Schulen  um  1580, 


geschätzt.  Der  Gebrauch  einer  fremden  Sprache  hat  eben  darum  überall 
die  Gefahr  bei  sich,  zu  formaler  Virtuosität  bei  innerer  Hohlheit  zu 
führen;  er  hat  die  Tendenz,  die  Litteratur  und  die  Menschen  selbst  zu 
entseelen. 

Ein  zweiter  Umstand  ist  der,  daß  die  wissenschaftlich-philosophische 
Forschung  noch  in  den  Anfängen  war.  Im  ganzen  lebt  die  akademische 
Welt  des  16.  Jahrhunderts  noch  in  der  Vorstellung,  daß  Philosophie 
und  Wissenschaft  von  den  Alten  zum  Abschluß  gebracht  sei.  Der  Ge- 
danke, über  das  vom  Altertum  Erreichte  hinaus  zu  gehen,  lag  den 
meisten  humanistischen  Oratoren  und  Poeten  ungefähr  ebenso  fem, 
als  den  Schulphilosophen  des  Mittelalters.  Gegenwärtig  gilt  wissen- 
schaftliche Forschung  als  die  erste  Aufgabe  des  Universitätslehrers. 
Damals  galt  als  seine  eigentliche  Aufgabe:  aus  den  Schriften  der  Alten 
als  den  Quellen  der  Wissenschaft  mit  sicherem  Urteil  zu  schöpfen  und 
das  Gewonnene  mit  Geschmack  für  die  eigene  Bildung  und  für  den 
Vortrag  zu  verwerten.  Dabei  mußte  auf  den  Vortrag  das  Hauptgewicht 
fallen.  Heute  wird  die  Form  als  wenig  erheblich  angesehen;  wenn 
nur  die  Ergebnisse  neu  und  sachlich  richtig  sind,  läßt  man  sich  eine 
unbeholfene  Darstellung  leicht  gefallen.  Anders  urteilte  das  16.  Jahr- 
hundert. „Erkenntnis  der  Dinge,"  sagt  J.  Stüem,  „ohne  geschmackvolle 
Darstellung  ist  barbarisch  und  häßUch,  und  mit  dem  Verderbnis  der 
Form  beschleicht  die  Menschen  eine  ungesellige  Meinung  von  ihrer 
eigenen  Weisheit"  (Vormbaum,  I,  655).  So  urteilen  alle  Humanisten. 
Melanchthon  im  Encominm  eloquentiae  (C.  R,  XI,  50flF.,  1525)  meint: 
nicht  zu  sagen  sei,  wie  elend  jemand  ohne  die  artes  dicendi  alle  Wissen- 
schaften treiben  werde:  die  Einsicht  folge  der  Eloquenz,  wie  dem  Körper 
sein  Schatten.  Die  Formel  ist  ungemein  charakteristisch  für  den  Huma- 
nismus: wir  denken,  mit  der  Einsicht  konmit  die  Rede;  dem  Huma- 
nismus ist  es  ganz  ernst  mit  der  ümkehrung.  Mit  dem  Verlust  der 
Rede  hat  das  Mittelalter,  das  ist  die  unendlich  oft  vorgetragene  Ge- 
schichtsphilosophie des  Humanismus,  nicht  bloß  den  guten  Geschmack, 
sondern  auch  die  Wissenschalt,  die  Sittlichkeit  und  die  Religion  ein- 
gebüßt.1 

^  Eine  nicht  uninteressante  Probe  akademischer  Eloquenz  ist  kürzlich  in 
den  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  (Bd.  CXLVIII,  S.  152)  von  Wieseuahn  mitgeteilt 
worden:  eine  Rede  De  America,,  die  der  Prof,  Eloquentiae  Erasmüs  Schmidt  zu 
Wittenberg  1602  bei  der  Magisterpromotion  hielt.  Einer  umständlichen  laudatio 
der  Landesherren  und  des  allmächtigen  Gottes,  daß  sie  die  Universität  und  die 
Kirche  bisher  erhalten  haben,  und  einer  nicht  minder  umständlichen  Entschul- 
digung wegen  des  Mangels  an  Beredsamkeit  und  Rechtfertigung  der  Wahl  des 
Themas  folgt  dann  eine  sehr  kurze  und  magere  Beschreibung  Amerikas,  „das 
beinahe  größer  ist    als  die  übrigen  drei  Erdteile  zusammen".     Dann  eilt  der 


Schätxung  der  Eloquenz,  ihre  Ursachen,  347 


Als  ein  drittes  Moment  kommt  in  Betracht,  daß  im  16.  Jahr- 
hundert die  Rede  in  erheblich  weiterem  Umläng  als  heute  das  Mittel 
aller  geistigen  Wirkung  war.  Gegenwärtig  ist  das  gedruckte  Wort  das 
große  Mittel  der  Gedankenmitteilung.  Damals  begann  man  eben  erst 
zu  lesen;  das  gesprochene  Wort  beherrschte  noch  die  öffentliche  Ver- 
handlung, wie  den  Unterricht.  Die  Predigt,  die  öffentliche  Rede,  das 
Religionsgespräch,  die  mündliche  Verhandlung  im  Rat  und  auf  dem 
Reichstag,  das  waren  die  Formen  der  Wirkung,  neben  denen  denn 
freilich  in  eben  dieser  Zeit  die  Presse  Einfluß  zu  gewinnen  begann. 
Auch  der  Lernende  war  noch  wesentlich  auf  den  mündlichen  Vortrag 
angewiesen;  für  die  meisten  Studierenden  war,  außer  einigen  Text- 
büchern, die  Vorlesung  noch  die  Quelle  aller  Belehrung. 

Endlich  erwäge  man  noch  dies:  auf  den  Universitäten  des  16.  Jahr- 
hunderts war  die  theologische  Fakultät  mit  ihrer  Vorschule,  der  philo- 
sophischen, weitaus  die  wichtigste,  der  Bedeutung  und  der  Zahl  nach; 
neben  ihr  kommt  nur  noch  die  juristische  in  Betracht,   die  im  Auf- 


Redner, von  diesem  heiklen  Gegenstand  wegzukommen,  zu  einer  langen  Er- 
örterung der  Frage:    ob  Amerika  den  Alten  bekannt  gewesen  sei?    Er  bejaht 
die  Frage  und  vernimmt  als  ersteZeugen  dafür  sehr  ausführlich  —  Homer  und 
Virgil.    Dann  folgt  eine  Hin  Weisung  auf  ein  paar  Stellen  bei  Plato,  Aristoteles, 
Strabo  und  Plinius,  denen  sich  eine  breite  Behandlung  der  alttestamentÜchen 
Schiffart   nach  Ophir   anschließt.     Den  Schluß    macht    eine  umständliche  Er- 
örterung  der  Frage:   wie    die  Kenntnis    dieses  ungeheuren  Kontinents  wieder 
habe  verloren  gehen  können,    wobei  wieder  Stellen  aus  Plato  und  Aristoteles 
die  Hauptrolle  spielen.    Die  Rede  klingt  aus  in  ein  Gebet:  »^Möge  der  allgütige 
Gott  sein  lauteres  Wort  und  die  edleren  Künste  ewig  unter  uns  reden  lassen; 
möge  er  in  uns  nicht  so  sehr  einen  Eifer  wachrufen,    diesen  Erdkreis  kennen 
zu  lernen,    als  vielmehr  die  Sehnsucht  erwecken,    in  jene  himmlische  Heimat 
einzugehen,  wo  wir  alle  Bürgerrecht  haben*'.    —    Höchst  charakteristisch  tritt 
hier   die  Richtung   des    akademischen  Unterrichts  im   16.  Jahrhundert  hervor. 
Wenn  heute  jemand  einen  Vortrag  über  Amerika  ankündigt,  dann  würde  er  es 
für  seine  Aufgabe  halten,  zuerst  sich  selbst  möglichst  gut  zu  informieren,  Daten 
über  Land  und  I^ute  zu  sammeln,  um  dann  den  Hörern  eine  Vorstellung  von 
jenem  Stück  Wirklichkeit  und  unseren  Beziehungen  zu  ihm  zu  geben.    Der  aka- 
demische Redner    des    16.  Jahrhunderts   thut   nichts  von  alledem;    von   einem 
sachlichen  Interesse    an  jenen  Ländern,    die    denn  doch  schon  eine  gewaltige 
Rückwirkung   sowohl    auf  die    wirtschaftliche  Entwickelung   der  europäischen 
AVeit,  als  auf  die  Gestalt  unserer  Weltkenntnis  übten,  findet  sich  in  seiner  Rede 
kaum  eine  Spur:    sein  Interesse  an  dem  Gegenstand  ist  so  ziemlich  damit  er- 
schöpft,   daß    er    ihm    zur  Entfaltung  seiner  lateinischen  Eloquenz  und   seiner 
Kenntnis  antiker  Schriftsteller  dient.    Übrigens  wird  auch  die  historische  Frage, 
worauf  die  Sache    hinausläuft:    ob  Amerika    den  Alten  bekannt  gewesen  sei? 
nicht  bloß  ohne  alle  wissenschaftliche  Methode,  sondern  auch  ohne  sichtliches 
Interesse  an  einer  sachlichen  Aufklärung  behandelt:  ein  bloßes  Hin-  und  Her- 
wenden von  Stellen,  ohne  Drang  zur  Erkenntnis:  reine  Eloquenz. 


348    U,  6.    Gestalt  und  Unterrichtsbetrieb  der  protest.  Schulen  um  1580. 


steigen  ist.  Die  Zahl  der  Mediziner  war  schlechthin  geringfügig  und 
Naturforscher,  Chemiker,  Techniker  gab  es  überhaupt  nicht.  Für  Geist- 
liche und  Schulmänner,  daneben  auch  für  die  Juristen,  konnte  nun  in 
der  That  Eloquenz  als  das  Haupt^tück  der  Berufsübung  angesehen 
werden.  Vor  allem  gilt  dies  von  dem  protestantischen  Geistlichen,  dem 
„Prediger":  was  das  Amt  von  ihm  als  beinahe  tagliche  Leistung 
forderte,  das  war  eben  die  Rede.  Eloquenz  ist  also  seine  spezifische 
Tüchtigkeit. 

Hierauf  ist  denn  auch  der  theologische  Unterricht  ganz  und  gar  ge- 
richtet; seine  Aufgabe  ist,  den  Prediger  mit  dem  zu  versehen,  was  den 
Redner  macht:  res  et  verba,  die  wahre  Lehre  und  die  Fähigkeit,  sie 
darzulegen.  Der  exegetische  Unterricht,  den  die  Reformation  in  den 
Mittelpunkt  rückt,  ist  nicht  wissenschaftlicher,  sondern  rein  praktischer 
Natur.  Ganz  ebenso,  wie  der  eben  geschilderte  klassische  Unterricht 
die  römischen  und  griechischen  Autoren  in  Absicht  auf  Eloquenz  be- 
handelt, so  zeigt  der  theologische  Unterricht  dem  künftigen  Prediger, 
wie  er  die  Schriften  des  alten  und  neuen  Testaments  zur  Lehre  und 
Erbauung  brauchen  kann;  die  Schrift  wird  nicht  als  Objekt  philo- 
logischer und  historischer  Forschung,  sondern  lediglich  als  Quelle  der 
geistlichen  Eloquenz  behandelt.  Von  Luthers  Interpretationsvorlesungen 
sagt  KösTLiN  (Leben  II,  434):  „ihr  Wert  besteht  nicht  in  strenger 
Wortauslegung,  sondern  in  der  ungemeinen  Fülle  von  dogmatischen, 
ethischen  und  praktischen  Ausführungen  aller  Art,  welche  er  an  die 
Textauslegung  knüpft**.  Bis  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  blieb 
Form  und  Absicht  des  theologischen  Universitätsunterrichts  im  wesent- 
lichen dieselbe. 

Dem  entspricht,  daß  auch  geistliche  Rhetorik  auf  der  Universität 
gelehrt  wurde.  Im  Clausthaler  Programm  von  1883  hat  Wrampelmeter 
eine  handschriftlich  überlieferte  Anleitung  zur  theologischen  Beredsam- 
keit aus  dem  16.  Jahrhundert  veröffentlicht,  sie  wird  von  einer  späteren 
Hand  Melanchthon  zugeschrieben.  Die  Schrift  macht  den  Eindruck 
eines  Entwurfs  oder  einer  Nachschrift  nach  einer  Vorlesung.  Es  werden 
darin  praecepta  dicendi  für  den  Kanzelredner  gegeben  und  an  einem 
Beispiel  gezeigt,  wie  er  die  Schrift  zu  brauchen,  einen  locus  insignior 
zu  wählen,  ihn  aus  dem  Text  mit  definitio,  divisio  und  argumentatio 
zu  behandeln,  auch  dicta  probaritia,  exempla,  similitudines  aus  der 
Schrift  beizubringen,  auch  die  Legenden  heranziehen  imd  endlich  die 
rhetorischen  Darstellungsmittel,  Allegorie,  Prosopopöie,  mit  Bescheiden- 
heit verwenden  möge. 


Der  klassische  ühterricfä  auf  der  Schule,  die  drei  Stufen,       349 


Von  hier  aus  ist  nun  auch  der  Unterricht  der  Gelehrtenschule 
zu  verstehen.  Er  richtet  sich  natürlich  nach  dem  der  Universität ,  aus 
welchem  er  stammt  und  in  welchen  er  mündet,  wie  die  Flüsse  aus 
dem  Meer  ihr  Wasser  empfangen  und  es  ihm  wieder  zuführen.  Die 
Aufgabe  der  Gelehrtenschule  im  16.  Jahrhundert  konnte  keine  andere 
sein  als  die:  die  Erwerbung  der  Eloquenz ,  die  das  vornehmste  Ziel 
der  ganzen  gelehrten  Bildung  ist,  vorzubereiten,  vor  allem  durch  die 
Erlernung  der  Gelehrtensprache.  Alle  ihre  Übungen  zielen  hierauf  ab: 
Grammatik  mit  Rhetorik  und  Dialektik,  Lektüre  und  Komposition,  oder 
also,  mit  üblichen  Bezeichnungen:  praeceptunij  exemplum,  unitatio,  die 
drei  Seiten  des  Unterrichts,  verfolgen  den  einen  Zweck:  dem  Schüler  eine 
möglichst  große  Fertigkeit  im  sprachrichtigen,  gewandten,  logisch  dispo- 
nierten lateinischen  Vortrag  zu  geben. 

Durch  den  ganzen  Schulkursus  können  wir  dieses  Ziel  und  diese 
Mittel  verfolgen. 

In  drei  natürliche  Stufen  zerfällt,  wie  schon  oben  (S.  334)  be- 
merkt wurde,  der  Unterrichtsgang,  es  sind  die  drei  „Haufen"  der 
Schulordnung  Melanchthons  von  1528.  Durch  Teilung  der  zweiten 
und  dritten  Stufe  in  zwei  Abteilungen  kommen  wir  zu  der  normalen 
Zahl  von  fünf  Klassen. 

Die  erste  Stufe  ist  die  Vorstufe:  es  handelt  sich  um  die  Er- 
lernung der  notwendigen  Fertigkeit  des  Lesens  und  Schreibens, 
wozu  eine  lateinische  Fibel  mit  Lesestoff  für  die  ersten  Übungen 
dient.  Zugleich  wird  ein  kleiner  Vorrat  lateinischer  Wörter  ein- 
geprägt. 

Auf  der  zweiten  Stufe  tritt  die  Grammatik,  natürlich  die 
lateinische,  ein,  die  nun  die  treue  Begleiterin  des  Schülers  durch  den 
ganzen  Kursus  bleibt.  Die  erste  Abteilung  lernt  die  Formenlehre 
(etymologia)  und  übt  sie  an  einem  Lesestoff  ein,  wie  ihn  Catonis 
disticha  oder  Moselianus'  Paedologia^  Erasmus'  Colloquia  oder  Came- 
BABn  praecepta  morum  ac  vitaej  Castauonis  dialogi  sacri  u.  s.  w. 
darbieten.  Nach  der  württembergischen  Schulordnung  ist  dies  die  zweite 
Klasse;  als  ihr  Pensum  wird  bezeichnet:  „sie  fahen  an  aus  dem  i>ö7ia^ 
und  epitome  der  grammatica  die  partes  orationis  und  generales  regulcts 
totius  Eiymologiae  in-  und  auswendig  zu  lernen,  den  Cato  und  der- 
gleichen Bücher  zu  exponieren.  Diese  classis  ist  auch  gemein  allen 
Schulen,  doch  ma^  sie  in  den  Dörfern  und  kleinen  Städten,  wo  nur 
ein  Schulmeister  ist,  wohl  die  höchste  sein."  —  Die  zweite  Ab- 
teilung, die  dritte  Klasse  der  württembergischen  Schulordnung, 
„nimmt  vor  integram  Etymologiam  und  den  kleinen  (sie)  Syidaxim^ 
hören  auch  daneben  fabtUas  Aesopi  und  Selectiores  Kpistolas  Ciceronis,^* 


350    //,  6.    Gestalt  und  Unierricktabetrieb  der  protest.  Schulen  um  1580. 


Diese  Klasse  wird  die  höchste  sein,  wo  man  zwei  Lehrer  hat  —  Über 
die  Methode  des  Elementarunterrichts  giebt  die  Schulordnung  folgende 
Anweisung:  Nachdem  die  Formenlehre  auswendig  gelernt  ist,  beginnt 
das  Lesen;  der  Lehrer  soll  zuerst  den  Text  vorexponieren,  d.  h.  Wort 
für  Wort  vorübersetzen,  dann  läßt  er  sogleich  die  Schüler  nach- 
exponieren und  am  folgenden  Tage  repetieren.  Dazu  wird  jedes  Wort 
analysiert,  und  wenn  erforderlich,  durchdekliniert  oder  konjugiert  Mit 
dem  Fortschritt  im  grammatischen  Unterricht,  tritt  das  Konstruieren, 
d.  h.  das  Anzeigen  des  syntaktischen  Zusammenhanges  der  Wörter, 
hinzu.^  —  Die  Leseübungen  werden  begleitet  von  Übungen  im  Schreiben 
(exercitia  stylt).  Alle  Mittwoch,  schreibt  die  württembergische  Ord- 
nung vor,  soll  „ein  kurzes  leichtes  Argument  aus  den  nächst  gehörten 
Lektionen,  und  so  viel  möglich  ebendieselben  Worte,  doch  verdeutscht 
und  abgeändert,  den  Knaben  diktiert  und  angezeigt  werden,  an  welchem 
Ort  sie  solches  Argument  finden,  damit  sie  eine  Anleitung  haben  die 
Phrases  Autorum  aus  gehörten  lectionibvs  desto  leichter  zu  imitieren; 
doch  soll  der  praeceptor  die  genera,  Jiumeros,  personasy  casus,  modos 
und  tempora  ändern.  Am  nächsten  Freitag  darnach  sollen  die  Prae- 
ceptores  die  Schriften  von  allen  Knaben  exigieren  und  ihrer  jedem  die 
vitia  und  Mängel  freundlich  und  deutlich  anzeigen.  Darum  gehört 
hierher  Geduld,  die  weil  die  Knaben  oftmals  fehlen;  sonst  wo  man 
ungeduldig  mit  ihnen  ist,  besonders  in  exercitio  styli,  werden  sie  klein- 
mütig, verzagt  und  verdrossen". 

Auf  der  dritten  Stufe  beginnt  nun,  nachdem  die  Elementar- 
grammatik hinlänglich  eingeübt  ist,  der  eigentliche  humanistische 
Unterricht  Zunächst  wird  in  der  unteren  Abteilung  der  grammatische 
Unterricht  erweitert  und  vertiett,  besonders  nach  der  syntaktischen  und 


*  Eine  ältere  Beschreibung  des  Verfahrens  in  dem  früher  erwähnten 
Sehoh'cus  ordo  des  Memminger  Schuhneisters  B.  Stich  vom  Jahre  1515  (Neue 
Jahrb.  CXXII,  S.  233).  Die  Verse  des  Aesop  oder  Cato  werden  in  folgender 
Weise  gelesen:  Primo  sensunt,  hinc  structurae  ordinem  et  dictionum  enucleatio- 
neniy  declinationes^  conju^ationes,  casus,  genera,  modos^  derivationes  cum  regulis 
et  additioniMis  J.  Henrichynanni  (jramruaticae  et  Alexandri  in  Lat.  (?)  ab 
J,  Wimphelingio  admissi  dicant.  Am  andern  Morgen  gaben  die  Schüler  die 
Erklärung  wieder:  primus  cujus  partis  orationisj  secundus  ctijus  generis^  tertius 
dicat  üujiis  casus  et  sie  deiticeps;  tum  in  posiiivo  unus,  in  comparativo  aUer^ 
in  superlatiro  tertius  comparet;  similiter  verborum  habitis  aecideniibus  (?)  in 
presenii  unuSy  in  perfecto  alier  y  in  futuro  tertius  conjuget:  sicque  de  reliquis 
per  regularum  confirmntionem  cmisimiliter :  hoc  verbum  nominativum  ante  se 
posfulat,  dicat  unus;  alter  per  regulas  roborei;  iertlus^  quem,  casum  post  seeupiat, 
effetur;  quartus  reguh  nut  alacri  (?  zu  lesen  Alexandri)  versiculo  probet.  — 
Über  das  didaktische  Verfahren  der  früheren  Zeit  findet  sich  auch  manches  in 
Beyschlaos  Nördlinger  Schulgcschichte,  besonders  II,  SOflP. 


Der  klassische  ünterricßU  auf  der  SchtUe,  die  drei  Stufen,       351 


prosodischen  Seite  (integram  grammaticam  Etymologiae  et  Syntaxis  nebst 
den  principalia  Prosodiae  schreibt  die  württembergische  Schulordnung 
für  die  vierte  Klasse  vor).   In  der  oberen  Abteilung  (fünfte  Klasse)  wird 
der  grammatische  Unterricht  abgeschlossen  und  Rhetorik  und  Dialektik 
hinzugefügt.     Daneben  beginnt  in  der  vierten  Klasse  die  griechische 
Grammatik  und  wird  in  der  fünften  Klasse  zum  Abschluß  gebracht 
Auf  dieser  dritten  Stufe  wird  nun  mit  der  eigentlichen  Klassikerlektüre 
der  Anfang  gemacht    Cicero  und  Virgil  bilden  die  Substanz  der  Schul- 
lektüre, daneben  werden  von  Poeten  Terenz  und  Ovid,  wohl  auch  ein- 
mal Horaz  und  Catull  genannt,  von  Prosaikern  Caesar,  Livius,  Sallust, 
Tacitus;   doch   läßt   Cicero   die  übrigen  Prosaiker,  Virgil  die  Dichter 
nicht  recht  aufkommen.    Auch  hier  gehen  praeceptum,  exemplum  und 
imitatio  Hand   in   Hand.     An  Ciceros  Reden  wird  die  Rhetorik  und 
Dialektik  in   der  Anwendung  gezeigt.     „Dieweil  die  praecepta^^,  heißt 
es  in  der  württembergischen  Schulordnung,  „für  sich  selbst  bloß  sind 
und  keinen  Nutzen  schaffen,  wo  sie  nicht  exemplis  illustriert  werden, 
und  die  Knaben  den  usum  auch  sehen  mögen,  soll  auf  einen  jeden 
statum  oder  genus  causae  eine  oratio  Ciceronis  oder  iirii,  wie  solche 
G.  Maiob  in  seinen  Quaestionibus  (worin  er  die  Rhetorik  Melanch- 
THONs  redigiert)  gedruckt,  gelesen  werden;  dann  der  Präzeptor  fleißig 
das  argumentum,  die  partes  orationis,  den  statum^  die  argumenta  con- 
firmaäonis,  darnach  in  singulis  partibus  oraäonis,  wie  sie  omiert  und 
traktiert  werden,  anzeigen.     Und  soll  der  Präzeptor  erstlich  auf  die 
inventionem,    nachmals   disposition€m,    und    letztlich   elocutionem   acht 
haben  und  also  die  praecepta  auf  gehörige  Weise  demonstrieren".  — 
Und   über   die  entsprechenden  Übungen  in  der  Komposition  heißt 
es   ebendort:   „die   deutschen    Argumente   sollen   länger  und  schärfer 
gestellt  werden,  und  nicht  alle  auf  eine  Weise,  sondern  bald  eine  Epistel, 
bald  ein  exordium,    narratio,    locus    communis,    confirmatio,  peroratio, 
descriptio  alicujus  rei,  tractatio  faJbulae  oder  dergleichen  progymnasmata 
fürgegeben  und  die  adolescentes  also  abgerichtet  werden,   daß   ihnen 
nachmals  ganze  Deklamationen  zu  schreiben  minder  schwer  sei".    Bei 
der  Korrektur  ist  vor  allem  darauf  zu  achten,  daß  die  scripta  auf  die 
phrases  und  imiiationem  Ciceronis  gerichtet  werden,  sonst  coacervieren 
die  Knaben  viel  serUentias  aus  anderen  scriptorihus  ohne  Verstand  und 
Urteil  und  haben  nicht  acht  auf  puritatem  linguae} 


*  Die  fünf  lOassen  haben  in  dem  Schulplan,  den  Micyllus  für  die  Frank- 
furter Schule  1537  verfaßte,  folgende  Namen:  I.  Elemenfarii,  II.  Donatistaef 
III.  Grammatieiy  IV.  Meirici  vel  Poetastri,  V.  Wstorid  vel  Dialeetici.  1  lernt 
lesen  und  schreiben,  lateinisch  und  deutsch,  und  daneben  lateinische  Wörter 
aus  einem  Vokabular;    II  lernt  die  Formenlehre  aus  der  Elementargrammatik 


352    //,  f),    Gestalt  und  UnierricJitshetrieh  det'  protest,  Sc^itUen  um  1580. 


Der  tTbung  im  Schreiben  geht  von  unten  auf  die  Übung  im 
Sprechen  zur  Seite.  Auf  der  Oberstufe  ist^  ebenso  wie  auf  der  Uni- 
versität, die  lateinische  Sprache  Unterrichts-  und  Verkehrssprache  für 
Lehrer  und  Schüler.  Die  Universitäten  und  Gynmasien  sind  gleichsam 
durch  das  ganze  Land  verstreute  Enklaven  des  internationalen  Reiches 
der  Gelehrsamkeit,  in  denen  Latein  Landessprache  und  der  Gebrauch 
einer  anderen  bei  Strafe  verboten  ist.  In  allen  Schulordnungen  des 
16.  Jahrhunderts  findet  sich  das  Gesetz:  wer  auf  diesen  Sprachinseln 
in  der  Vulgärsprache  sich  vernehmen  läßt,  wird  bestraft;  Aufpasser 
(corycaei)  werden  bestellt,  die  den  Übertreter  notieren,  und  das  Ende  — 
poenaa  luet  natibus. 

Die  Vollendung  der  Eloquenz  ist  die  Poesie,  d.  h.  die  Fertigkeit 
der  Darstellung  in  gebundener  Rede.  Sie  ist  jedem  wirklichen  Ge- 
lehrten durchaus  unentbehrlich.  „Wer  nicht  die  Poesie  getrieben  hat", 
so  sagt  Melanchthon  in  einem  Brief  vom  Jahre  1526  an  MicyiiLUö, 
dessen  poetisches  Talent  er  sehr  schätzte  und  den  er  gern  nach  Witten- 
berg ziehen  wollte,  „der  hat  in  keinem  wissenschaftlichen  Fach  ein 
rechtes  Urteil,  und  auch  die  Prosa  derer,  welche  nicht  von  der  poeti- 
schen Kunst  einen  Geschmack  haben,  hat  keine  Kraft"  (C.  R.  I,  783). 
Melanchthons  Urteil,  das  seine  Briefe  und  Schriften  sehr  oft  wieder- 
holen, ist  der  Ausdruck  der  allgemeinen  Meinung  des  ganzen  Humanismus. 


auswendig  und  übt  sie  an  einigem  Lesestoff  ein ;  III  lernt  die  vollständige  latei- 
nische Grammatik  und  übt  sie  an  geeigneten  lateinischen  Autoren,  Cicero, 
Terenz,  Virgil,  ein;  in  IV  und  V,  dem  eigentlichen  Gymnasium,  sind  rhetorisch- 
poetische Übungen,  natürlich  an  entsprechende  Lektüre  angeknüpft,  das  Haupt- 
stück des  Unterrichts;  dazu  kommt  in  IV  der  Anfang  der  griechischen  Sprache 
und  in  V  die  Dialektik  (Vormbaum,  I,  631,  Classen,  Micyllus,  168  £f.).  —  Wie 
sehr  das  Lateinische  und  hier  wieder  der  grammatische  Unterricht  im  Vorder- 
grund des  ganzen  Schulbetricbs  stand,  dafür  mag  hier  noch  der  Bericht  des 
Rektors  der  Schule  zu  Mittweida  (in  Saclisen)  Zeugnis  geben  (bei  G.  Müller, 
Das  kursächs.  Schulwesen  um  1580).  Sobald  der  Schüler  in  der  untersten  der 
vier  KlaHseu  lesen  gelernt  hat,  beginnt  in  der  dritten  das  Lateinische  mit 
13  Stunden:  6  St.  Grammatik,  2  St.  Donat,  1  St.  Deklinieren  und  Konjugieren, 

1  St.  Vokabellcnien ;  dazu  kommen  5  St.  Religionsunterricht:  2  für  Kirchen- 
lieder, 2  für  den  deutschen  Katechismus,  1  für  das  Evangelium.  In  der  zweiten 
Klasse  kommen  19  Stunden  auf  das  Lateinische:  Syntax  3,  Grammatik  6,  Sen- 
tenzen 2,  Cato  1,  Vokabellemen  1,  Aesop  2,  Erasmus'  de  ficilitaU  moruni  3; 
daneben  4  Eelij^onsstunden:  3  für  den  deutschen,  1  für  den  lateinischen  Kate- 
chismus, und  1  St.  Arithmetik.  In  der  ersten  Klasse  gehören  wieder  19  Stunden 
dem  Lateinischen:  4  St.  Grammatik,  8  St.  Syntax,  3  St  Emendation  der  Scripta, 

2  St.  Memorierübuugen :  2  St.  Ciceros  Briefe,  2  St.  Terenz,  3  St.  Virgils  Buco- 
lica;    außerdem    4   St.   Religionsunterricht   (1  St.  Examen  theol.  Melauchthons, 

3  St.  Katechismus  und  Evangelien),  1  St.  Arithmetik,  1  St.  Griechisch.  —  Von 
12—1  Uhr  haben  die  drei  oberen  Klassen  Musikunterricht. 


Poetische  Übungen,  353 


Lateinische  Verse  sind  das  Meisterstück  •  der  Künste;  niemand  ist 
Meister,  der  die  poetische  Darstellung  nicht  in  der  Gewalt  hat;  daher 
die  Humanisten  auch  überall  Poeten  sich  selbst  nannten  und  ge- 
nannt wurden.  Die  Voraussetzung  dieser  Anschauung  ist  natürlich, 
daß  die  Poesie  eine  erlernbare  Kunst  sei,  welche  ebenso  wie  jede 
andere,  durch  Fleiß  und  Übung  von  jedermann  erworben  werden 
könne,  wenn  auch  die  Naturanlage  dafür  nicht  ganz  gleichmaßig  ver- 
teilt sei.  Es  ist  eine  der  Orundansichten  des  Humanismus,  sie  be- 
herrscht die  poetische  Produktion  bis  ins  18.  Jahrhundert,  bis  zur 
Sturm-  und  Drangepoche,  die  von  diesem  Gesichtspunkt  gesehen  sich 
darstellt  als  die  Empörung  gegen  die  ästhetische  Anschauung  des 
alten  Humanismus. 

Von  hier  aus  ist  nun  der  poetische  Schulbetrieb  zu  verstehen. 
Es  lag  dabei  nicht  die  Meinung  zu  Grunde,  daß  alle  Schüler  einmal 
als  Dichter  Erhebliches  leisten  würden,  aber  sie  müssen  einerseits  für 
den  Hausgebrauch  ihre  Distichen  machen  lernen,  und  dann  kommt 
die  Übung  auch  der  prosaischen  Darstellung  zu  gute,  wie  etwa  Springer 
zur  Übung  mit  Gewichten  sich  beschweren,  um  frei  desto  weiteren 
Schwung  zu  thun.  Die  poetischen  Schulübungen  beginnen  auf  der 
Oberstufe  (der  vierten  Erlasse)  mit  der  poetischen  Formenlehre,  der 
Prosodie  und  Metrik,  und  ihrer  Einübung  an  Musterstücken.  Die 
Breslauer  Schulordnung  des  P.  Vincentiub,  eines  Schülers  Tbozen* 
DORFS,  welche  überhaupt  von  diesen  Übungen  ausführlicher  handelt, 
schlägt  hierfür  .die  Bucolica  Virgüs  und  etwa  eine  gute,  reine  Elegie 
Ovids  vor,  als  wodurch  die  beste  Idea  eines  guten  carminis  der  Jugend 
von  Anfang  eingebildet  werde.  Eine  solche  Lektion,  „wenn  sie  von 
einem  wackeren  und  lustigen  Präzeptor  artig  fürgegeben  und  nicht 
allein  die  quantitas  syllabarum^  sondern  auch  die  phrases  und  figurae 
poeticae  und  die  artige  Versetzung  der  Wörter  und  der  lieblichen  und 
artigen  Epitheta  deutlich  angezeigt  werden,  ist  sehr  nütze  die  ingenia 
zu  ermuntern  und  den  rechten  Kern,  Nutz  und  rühmlichen  Gebrauch 
der  lateinischen  Sprache  in  sie  zu  pflanzen  und  befestigen.^^  Die 
Komposition  beginnt  mit  der  Herstellung  turbierter  Verse.  „Nach- 
mals weise  man  sie  in  phrases  poeäcas,  wie  sie  in  lectionibus  ob- 
servieret, oder  auch  wie  sie  vom  Fabricio  und  anderen  koUigieret  aus- 
gegangen, und  gebe  ihnen  kurze  materias  zu  zweien,  dreien  oder  vier 
versiculis.  Durch  solche  Anleitung  merken  die  Knaben  leicht,  daß  nicht 
so  schwer  ist  versus  zu  machen,  wie  sich  etliche  einbilden,  bis  sie 
endlich  durch  tagliche  lectiones,  mancherlei  Erinnerung  und  stete  Übung 
auch  aus  gemeinen  argumentis  lernen  gute  oder  doch  leidliche  Verse 
machen"  (Vormbaüm,  1,  197  ff.).  —    Bis   ins   19.  Jahrhundert  hinein 

Paalsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  23 


354    II,  G.    Gestalt  utul  UnterricJitsbetrieh  der  protest.  Schulen  um  1580. 


waren  lateinische  Verse  der  höchste  Stolz  mancher  Schule,  wenn  nicht 
etwa  griechische  ihnen  den  Rang  streitig  machten. 

Als  ein  sehr  wichtiges  Hilfsmittel  für  die  Erwerbung  der  poetischen 
und  prosaischen  Eloquenz  sah  man  Kollektaneenbücher  an,  in 
welche  die  Schüler  angeleitet  wurden,  einen  Schatz  von  Wörtern  und 
Sachen  zusammenzutragen,  um  sie  daraus  zu  jeweiligem  Gebrauch  zu 
entnehmen.  Die  Wichtigkeit  solcher  von  den  Schülern  selbst  gemachten 
Sammlungen  ist  besonders  von  Sturm  betont  worden.  Er  wird  nicht 
müde,  in  seinen  didaktischen  Schriften  Lehrern  und  Schülern  die  so- 
genannten Diarien  oder  Ephemeriden  ans  Herz  zu  legen.  Er  vergleicht 
sie  dem  Schatzkasten  des  klugen  Hausvaters,  in  dem  er  das  taglich 
Gewonnene  mit  Freuden  legt  und  aus  dem  er  wieder  zum  täglichen 
Bedarf  das  Notwendige  nimmt.  Sie  bilden  fast  durch  den  ganzen 
Schulkursus  den  Mittelpunkt  der  Schülerarbeit,  im  Griechischen  nicht 
minder  als  im  Lateinischen.  Alles  Bemerkenswerte,  alles  Brauchbare 
tragt  der  Schüler  hinein:  zuerst  Namen  der  Dinge,  nach  Ordnung  der 
Sachen;  sodann  die  Redewendungen,  in  welchen  von  ihnen  die  fremde 
Sprache  spricht,  die  einfachen  und  die  künstlichen  und  figürlichen  der 
Redner  und  Dichter;  endlich  Sentenzen,  Proverbien,  Gleichnisse,  in  Prosa 
und  Versen,  welche  sich  auf  die  Sachen  beziehen ;  auch  die  Einheimsung 
bemerkenswerter  Realien  ist  natürlich  nicht  zu  versäumen.  So  wächst 
von  Klasse  zu  Klasse  der  Schatz  an  „Sachen  und  Worten'*,  aus  welchem 
die  Imitation  ihre  Mittel  nimmt.  Auf  diese  Weise  wird  allmählich  die 
verloren  gegangene  Fertigkeit  der  Griechen  und  Römer  im  Reden  und 
Schreiben  wieder  erlangt.^ 

Eine  lehrreiche,  ins  Einzelne  gehende  Schilderung  des  sprachlichen 
Schulunterrichts  ist  enthalten  in  des  berühmten  Ilfelder  Rektors, 
M.  Neandeb,  „Bedenken,  an  einen  guten  Herrn  und  Freund  (den  Bürger- 
meister von  Nordhausen),  wie  ein  Knabe  zu  leiten  und  zu  unterweisen, 
daß  er  ohne  groß  jagen,  treiben  und  eilen,  mit  Lust  und  Liebe,  vom 
sechsten  Jahr  seines  Alters  an  bis  auf  das  18.,  wohl  und  fertig  lernen 
möge  pietatem,  liiupiam  Latlnam,  Graecam,  Hebraeamy  artes  und  endlich 
universam  philosophiam^^  (1582,  bei  Vormbaum,  I,  746  fiF.).  Die  ünter- 
richtsstufen  sind  über  das  Lebensalter  so  verteilt:  der  Unterricht  in 
den  Fertigkeiten  des  Lesens  und  Schreibens  beginnt  mit  dem  sechsten 
Jahr;  mit  dem  neunten  fangt  die  Grammatik  an;  mit  dem  zwölften 
der  Unterricht  in  der  Eloquenz,  Lesen  und  Imitieren  der  Autoren;  er 
dauert  bis  zum  17.;  daran  schließt  sich  dann  ein  zweijähriger  Kursus 
in  artihiis.    Hiermit  ist  eine  genügende  Vorbereitung  für  das  Studium 


*  De  litt,  ludis,  c,  XXIII;  und  in  den  Epp.  class.  u.  seh.  Lauing.  passim. 


KoUekianeenbücher,    Dramatische  Aufführungen,  355 


in  den  drei  oberen  Fakultäten  gegeben.  Neakdeb  behandelt  besonders 
den  Unterricht  der  Mittelstufe  ausfährlich.  Er  hat  eine  Reihe  von 
Unterrichtsbüchem  für  beide  Sprachen  geschrieben.  Was  er  vor  allem 
betont,  ist:  so  wenig  und  so  kurze  Regeln  als  möglich,  diese  lasse  man 
in  langsamem  Fortschreiten  auswendig  lernen.  Ebenso  lasse  man,  und  das 
ist  nicht  weniger  wichtig,  daneben  Wörter,  Phrasen  und  Sentenzen  aus- 
wendig lernen;  Neandeb  empfiehlt  seine  phraseologischen  Sammlungen 
hierfür,  dadurch  werde  die  Komposition  ermöglicht  Auf  der  dritten 
Stufe  mag  der  Knabe  dann  sich  selber  Kollektaneenbücher  anlegen.  So 
wollen  es  die  Ilfelder  lepes  von  1580  (abgedruckt  im  Ilfelder  Progr. 
von  1886):  „In  den  Lektionen  soll  der  Schüler  fleißig  auf  alle  Worte 
des  Praeceptoris  merken  und  was  notatu  dignum  fleißig  zeichnen  und 
nach  verbrachten  lectionibus  nicht  allein  zur  repetition  derselben  zu 
seiner  Zeit  kommen,  sondern  auch  in  ein  besonder  Buch  aus  allen 
lectionibus  alle  feine  dictaj  exempla,  historias,  Apophthegmata,  fabulas, 
schöne  versus  graecos  et  latinos  und  alle  andere  feine  Reden,  so  man 
in  omni  vita  brauchen,  auch  besonders  schöne  phrasesy  epit/ieta,  com- 
positiones  graecos,  vocabula  und  alle  significanter  dicta  schreiben,  die- 
selben oft  lesen,  repetieren,  ruminieren,  und  dasselbe  auch  vor  seinen 
thesaurum  halten  und  ihm  lieb  sein  lassen,  und  täglich  mit  neuen 
accessionibus  aus  den  lectionibus  und  obiter  dictis  seines  praeceptoris 
kompletieren  und  bessern".  — 

Den  Höhepunkt  dieses  ganzen  Schulbetriebs  bildeten  die  rheto- 
rischen Schulakte  und  die  dramatischen  Aufführungen.^  Sie 
gaben  dem  Schüler  einen  Vorgeschmack  der  Leistungen,  zu  denen  der 
Unterricht  ihn  vorbereitete:  der  öffentlichen  Rede  in  prosaischer  und 
metrischer  Sprache.  Sie  machten  die  Schulübungen  zugleich  zu  einem 
Stück  des  öffentlichen  Lebens  und  gaben  ihnen  dadurch  in  den  Augen 
der  Schüler  und  der  Lehrer  die  Wichtigkeit,  wovon  ihr  Gedeihen  in 
so  hohem  Maße  abhängig  ist 

Dramatische  Aufführungen  bilden  seit  der  humanistischen 
Schulreform  einen  wichtigen  Bestandteil  des  ganzen  Schulbetriebs.  Sie 
dienen  vor  allem  der  Einübung  der  Sprache,  der  Lösung  der  lateinischen 
Zunge;  zugleich  aber  gewöhnen  sie  zum  öffentlichen  Auftreten  und  Üben 
in  der  Aktion,  geben  dem  Redner  Zuversicht  und  gute  Manieren;  und 
endlich  bringt  er  dabei  noch  einen  Schatz  an  Moral  und  Lebensklugheit 

*  JüUDT,  Die  dramat.  Aufführungen  im  Gymnasium  zu  Straßburg,  Progr. 
des  prot.  Gymn.  1881.  0.  Francke,  Terenz  und  die  latein.  Schulkomödie  in 
Deutschland  (1877).  Janssen,  Deutsche  Geschichte,  7,  106  fF.  Ober  den  rheto- 
rischen Schulaktus  handelt  Möller,  Gesch.  des  altstädt.  Gymn.  zu  Königsberg, 
Progr.  1878/79. 

23* 


356    II,  6.    Gestalt  und  Unterrichtsbetrieb  der  proUsL  Schtden  um  1580. 


mit  davon,  für  den  der  spätere  Beruf  im  geistlichen  oder  weltlichen 
Amt  wieder  vielseitigste  Verwen<lung  hat. 

Deklamationen  klassischer  Komödien,  besonders  des  Terenz,  mit 
verteilten  Rollen  erwähnt  J.  Sturm  schon  bei  der  Lütticher  Schule  der 
Hieronymianer.  Auch  Melanchthon  ließ  seine  Pensionare  in  solchen 
Aufführungen  sich  üben;  Lutheb  sprach  sich  ausdrücklich  zu  Gunsten 
der  Sache  aus,  gegen  ängstliche  Gemüter:  „Komödien  spielen  soll  man 
um  der  Knaben  in  der  Schule  willen  nicht  wehren,  sondern  zulassen. 
erstlich  daß  sie  sich  üben  in  der  lateinischen  Sprache;  zum  andern, 
daß  in  Komödien  fein  künstlich  erdichtet,  abgemalet  und  fürgestellet 
werden  solche  Personen,  dadurch  die  Leute  unterrichtet  und  ein  jeg- 
lieber  seines  Amts  und  Standes  erinnert  und  vermahnet  werde/'  Es 
ist  damit  die  nächste  Absicht  der  Sache  genau  bezeichnet  In  diesem 
Sinn  ordnet  die  Breslauer  Schulordnung  von  1560  an,  „daß  die  Knaben 
der  zweiten  Klasse  den  Terenz,  als  ihren  fürnehmen  und  ganz  eigenen 
Autor  auswendig  lernen,  also  daß  man  die  Personas  der  Jugend  aas- 
teile und  sie  wöchentlich  nach  Tische  eine  Stunde  oder  zwei  rezitieren 
lasse,  und  sie  also  in  der  Pronunziation  und  Aktion  übe.^  Spater 
wurden  die  römischen  Komödien  hauptsächlich  aus  sittlichen  Bedenken 
durch  eigens  für  diesen  Zweck  angefertigte  Schuldramen  mehr  und 
mehr  verdrängt.  Schon  Reüchlin,  Lochek  und  Bebel  hatten  sich 
darin  versucht;  die  zweite  Hälfte  des  Jahrhunderts  hat  derartig« 
Erzeugnisse  in  großer  Zahl  hervorgebracht.  Es  wurde  eigentlich 
von  den  Schulmeistern  erwartet,  daß  sie,  wie  Reden,  so  auch  Dramen 
selbst  verfertigten;  Sturm  verwahrt  sich  und  seine  Kollegen  gelegent- 
lich gegen  den  Vorwurf  der  Trägheit,  weil  bei  ihnen  noch  immer 
terenzische  Komödien  aufgeführt  würden.  In  der  Regel  sind  diese 
Schuldramen  nichts  als  versifizierte  Eloquenz,  actus  oratorio-dramatici 
nennt  sie  der  Geraer  Rektor  Mittebnacht  (1646 — 1667),  von  dem  auch 
berichtet  wird,  daß  er  seine  Schüler  an  ihrer  Anfertigung  beteiligte 
(Progr.  Gera  1888).  Lob  der  Tugenden,  der  Weisheit,  der  Wissen- 
schaften, Schimpf  der  Laster,  der  L'nwissenheit  der  Barbarei,  das  sind 
die  immer  wiederkehrenden  loci  dieser  Dramatik.  Oft  werden  einfach 
diese  Abstrakta  selbst  in  dramatische  Masken  gesteckt;  oder  man  ent- 
nimmt Personen  und  Stoffe  dem  Altertum  oder  der  Geschichte,  der 
kirchlichen  und  der  profanen,  vor  allem  aber  der  BibeL  Besonders 
sind  es  die  Geschichten  des  alten  Testaments,  die  zu  Schulkomödien 
mit  moralisierender  Eloquenz  bearbeitet  werden.  Da  wird  durch  die 
Vorbilder  Davids  und  Josephs,  Abrahams  und  Lots  zur  Glaubenstreue 
und  zum  Ausharren  in  Verfolgungen,  zur  Frömmigkeit  und  Keusch- 
heit,  zur  Großmut   und  Nachgiebigkeit   ermahnt;   das   traurige   Ende 


SchiUdramen.  357 


Nabais  oder  Belsazars,  Ahas'  oder  Holophemes'  warnt  vor  den  ver- 
derblichen Folgen  der  Gottlosigkeit  oder  der  Begehrlichkeit  und  Aus- 
schweifung; die  Eltern  werden  durch  das  Schicksal  Eli's  vor  zu  großer 
Nachsicht  in  der  Erziehung  der  Kinder,  die  Frauen  durch  das  Miß- 
geschick der  Königin  Vasthi  vor  Ungehorsam  gegen  ihren  Eheherrn 
abgeschreckt;  an  Abrahams  und  Lots  Hirten  sieht  man,  wie  das  Gesinde 
die  Herrschaften  in  Zwietracht  zu  bringen  pflegt  u.  s.  w.  (Jundt,  S.  60). 
Unter  den  Verfassern  derartiger  Stücke  ragen  hervor  W.  Gnaphbus, 
G.  Macsopedius,  N.  Fbischlin,  Coen.  Schoenaeüs;  des  letzteren 
Termtius  Christianus  fand  große  Verbreitung  (Feancke,  70flF.).  Un- 
geheure Massen  von  Schulkomödien  sind  in  den  Jesuitenkollegien  an- 
gefertigt worden.  P.  Pachtlee,  der  Herausgeber  der  JRaäo  Stud.,  giebt 
an,  daß  allein  die  Themate  der  von  ihm  gesammelten  Stücke  ein  paar 
Bände  füllen  würden.^ 


*  Die  Dichtung  des  Gnapheus  (Willem  de  Volder,  geb.  im  Haag  1493), 
welche  die  Reihe  der  biblischen  Schulkomödien  eröffiiet,  ist  k&rzlich  von  Boltb 
in  den  Latein.  Litteraturdenkmälem  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  (Berlin,  1888fP.) 
wieder  herausgegeben  worden:  es  iat  der  Äeoktstus,  die  dramatisierte  Geschichte 
des  verlorenen  Sohnes.  Für  den  ungemeinen  BeifaU,  den  sie  fand,  spricht  die 
große  Verbreitung;  der  Herausgeber  weist  bis  zum  Jahre  1585  47  Neudrucke 
in  aller  Herren  Ländern  nach;  auch  ist  sie  wiederholt  ins  Deutsche  und  dazu 
ins  Englische  und  Französische  übersetzt.  Was  sie  empfahl,  war  oilenbar, 
außer  der  leichten,  dem  Terenz  nachgebildeten  Sprache,  ihr  Gehalt  an  Moral; 
es  werden  darin  zuerst  die  Laster,  die  der  Jugend  nachstellen,  mit  grellen 
Farben  gemalt,  dann  die  Strafen,  die  nachfolgen.  Übrigens  ist  die  Ausfuhning 
nicht  ohne  Kraft.  Das  Jubellied,  mit  dem  Acolastus,  als  er  mit  vollem  Beutel 
das  Vaterhaus  verläßt,  die  Freiheit  begrüßt,  ist  sehr  stimmungsvoll: 

Nunc  juvat  laute  Qenium  foverey 
Nunc  juvat  sacrae  Veneri  litare, 
Nunc  juvat  ludos  et  amoena  carni 

Qaudia  ferre. 
Exsulat  tergo  monitor  severus, 
Et  juißim  coUo  jaceaty  o,  remotum 
Libero  quoms  pede  jam  licehit 

Tendere  gressus. 

Und  seinem  Führer  und  Verführer  Philautus  gesteht  er  gleich  nachher: 

N Ullis  cessero,  ne  diis  quidem, 
Postquam  mens  Philautus  subjecit  mihi  boni  et  mali 
Rationes  omnes,  quas  ad  unguem  tenso. 

Man  sieht,  auf  die  „Umwertung  aller  Werte"  und  das  „Jenseits  von  Gut  und 
Böse"  hat  die  Welt  sich  auch  schon  vor  Nietzsche  verstanden.  Und  daß  der 
Teufel  sich  in  einen  Engel  des  Lichts  verkleidet,  ist  auch  nicht  neu.  —  Stücke 
verwandten  Inhalts  behandelt  £.  Scumidt,  Komödien  vom  Studentenleben  (1880). 
Es  werden  dort  Inhaltsangaben  von  Stymmels  Studentes  (Frankfurt  a.  0.  1545) 
und  Wychorevö  Cornelius  relegalus  (Rostock  1600)  gegeben,  die  an  Deutlichkeit 


358    U,  6.    Gestalt  und  Unterrichtsbetrieb  der  protest.  Schulen  Mm  1580. 


Ursprünglich  hielten  sich  die  Aufführungen  wesentlich  innerhalb 
der  Schulübung  und  des  Schulkreises.  Allmählich  aber  gingen  sie, 
namentlich  in  den  größeren  Schulen,  weit  darüber  hinaus,  sie  wurden 
zum  öffentlichen  Schauspiel.  So  z.  B.  in  Straßburg,  wo  auf  dem  Schul- 
hof eine  dauernde  Bühne  errichtet  war,  auf  der  vor  der  ganzen  Bürger- 
schaft, die  Frauen  mit  eingeschlossen,  mit  großer  Zurüstung  gespielt 
wurde.  Deutsche  Prologe  vor  den  Scenen  orientierten  auch  die  des 
Lateinischen  Unkundigen  über  den  Verlauf  der  Handlung.  Ähnliches 
wird  aus  zahlreichen  Städten  berichtet;  selbst  kleine  Städtchen,  wie 
Crossen  oder  Frankenhausen,  haben  ihre  öffentlich  aufgeführten  Schul- 
komödien, zu  denen  die  Schüler  die  Bürger  und  die  Honoratioren  aus 
der  Umgebung  einladen.  Wo  ein  Hof  ist,  und  welche  Stadt  Deutsch- 
lands erfreute  sich  im  17.  Jahrhundert  nicht  eines  Hofes?  da  gehören 
die  Schüleraufführungen  auch  zu  den  Lustbarkeiten  der  höfischen  Ge- 
sellschaft; fürstlichen  Besuchen  wird  mit  einer  Komödie  aufgewartet 
Vor  allem  verstanden  sich  die  Jesuiten  darauf,  sich  und  ihre  Schule 
durch  derartige  Unternehmungen  angenehm  und  unentbehrlich  zu 
machen.  In  München  z.  B.  gehörte  der  kurfürstliche  Hof  zu  den 
ständigen  Gästen  der  Aufführungen  im  Jesuiteng jmnasium. 

Im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  kam,  um  dies  gleich  hier  zu  be- 
merken, das  Schuldrama  in  Abgang.  Es  hängt  das  zusammen  einer- 
seits mit  dem  Absterben  der  humanistischen  Poesie  und  Eloquenz,  der 
höfischen  Gesellschaft  ging  das  Latein  aus,  andererseits  mit  der  Ent- 
Wickelung  des  modernen  Theaters  mit  dem  Berufsschauspielertum.  Und 
noch  ein  drittes  trug  dazu  bei,  der  mit  dem  18.  Jahrhundert  auf- 
kommende Geist  des  Pietismus  und  des  polizeimäßigen,  prosaischen 
Utilitarismus.  In  Preußen  untersagte  Friedrich  Wilhelm  I.  im  Jahre 
1718  den  Schulen  die  actus  dramaäci,  .,weil  sie  die  Gemüter  vereitelten 
und  nur  Unkosten  verursachten"  (Francke,  21,  84,  153).  An  Stelle 
der  Theateraufführungeu  drangen  die  Redeaktus  jetzt  vor. 

DieDeklamatiun,  d.h.  der  öffentliche  Vortrag  von  ausgearbeiteten 
Reden  war  ebenfalls  eine  Schulübung,  die  mit  dem  Durchdringen  des 
Humanismus  auf  allen  Universitäten  und  Schulen  ihren  Einzug  hielten. 
Es  ist  früher  erwrähnt  worden,  wie  Melanchthox  diese  Übung  schätzte; 
die  Professoren  hielten  Musterdeklamationen,  die  Studenten  übten  sich 
unter  Anleitung  ihrer  Lehrer  in  der  Ausarbeitung  und  im  Vortrag  von 
Reden.    Den  Universitäten  folgten  die  Schulen.    Gelegenheit  zu  öffent- 

in  der  Darstellung  des  Ekelhaften  und  Gemeinen  nichts  zu  wünscheu  lassen. 
Hoffentlich  beweisen  die  zahlreichen  Ausgaben,  daß  sie  ihrem  vorgegebenen 
Zweck,  der  Abschreckung,  vorzüglich  gedient  liuben.  Einiges  Zweifels  ist  es 
allerdings  nicht  leicht  sich  zu  erwehren. 


Deklamationen,  359 


liehen  Reden  boten  die  Schulfeste,  Introduktionen,  Jubiläen,  Valedik- 
tionen,  Prüfungen,  Begrüßungen  fürstlicher  Besuche,  sodann  aber  auch 
die  kirchlichen  Feste.  Die  Lehrer  waren  ja  zugleich  Kirchendiener, 
wie  sie  denn  auch  häufig  predigen.  Und  auch  hier  üben  die  Schüler, 
was  die  Lehrer  können  und  vormachen;  in  den  oberen  Klassen  der 
großen  Schulen  fanden  wohl  überall  Deklamationsübungen  statt,  die 
denn  auch  mehr  und  mehr  an  die  öflFentlichkeit  traten.  Auch  hier 
standen  die  Jesuitenschulen  wieder  voran,  wie  sie  denn  überhaupt  mit 
ungemeinem  Geschick  ihre  Schulen  in  Berührung  mit  der  ÖflFentlich- 
keit zu  bringen  wußten.  —  Den  Stoff  für  die  Schulberedsamkeit  bot 
anfangs  wohl  vor  allem  die  Beschäftigung  mit  dem  Altertum  und  mit 
der  Religion,  moralisierende  Behandlung  von  historischen,  moralischen 
und  theologischen  Fragen.  Im  1 7.  Jahrhundert  traten  die  Fragen  der 
Schulphilosophie  und  der  Dogmatik  daneben  hervor.  Die  Sprache  ist 
natürlich  die  lateinische,  gelegentlich  auch  wohl  einmal,  der  Epideixis 
halber,  die  griechische  oder  gar  die  hebräische.  Übrigens  werden  neben 
Erzeugnissen  der  eigenen  Eloquenz  auch  antike  Reden  deklamiert, 
ebenso  wie  man  antike  Dramen  aufführt.  Und  zwar  erweitert  sich  die 
Deklamation  dann  wohl  auch  zu  einer  Art  dramatischen  Aktion.  So 
wird  aus  dem  16.  Jahrhundert  von  der  Aufführung  ciceronischer  und 
demosthenischer  Reden  berichtet,  mit  allem  Apparat:  da  sind  Konsuln 
mit  Liktoren,  Prätoren,  Richter,  Patrone  und  Freunde  des  Angeklagten 
und  des  Redners,  so  daß  das  ganze  gerichtliche  Verfahren  der  Römer 
zur  Darstellung  kam.  So  erlitt  Cicero  mit  seiner  Rede  pro  Milone  zu 
Straßburg  im  Jahre  1575  noch  eine  nachträgliche  Niederlage  (Jundt,  22). 
Bekannt  ist  auch  aus  Raümebs  Darstellung,  daß  Tbozendobf  in  Gold- 
berg seine  Schüler  über  vorgekommene  Schulvergehen  in  Form  einer 
Gerichtsverhandlung  mit  Rede  und  Gegenrede  das  Urteil  finden  ließ, 
eine  Sache,  die  auch  sonst  erwähnt  wird.  In  Gottingen  wurde  1624 
ein  actus  oratorio-dramaticus  aufgeführt,  bei  dem  sechs  Schüler  das 
Urteil  Salomos  agieren:  zwei  sprechen  in  der  Person  der  rechten,  zwei 
in  der  der  falschen  Mutter,  zwei  in  der  Rolle  des  Königs.  Ein  ander- 
mal behandeln  zwei  Schüler  die  Frage  pro  et  contra:  ob  alle  Tier- 
arten in  der  Arche  Noä  Platz  gehabt  hätten?  (Pannenborg,  Gesch. 
des  Gott.  Gymn.) 

Man  sieht,  es  war  dem  Zeitalter  Ernst  um  die  Eloquenz,  und  es 
wußte:  wer  den  Zweck  will,  muß  die  Mittel  wollen.  Auch  scheint  mir 
im  allgemeinen  an  der  Zweckmäßigkeit  der  Mittel  nicht  gezweifelt 
werden  zu  können.  Sollten  die  Knaben  dahin  gebracht  werden,  mit 
16  oder  18  Jahren  Lateinisch  geläufig  zu  verstehen  und  zu  reden,  und 
das  war  ja  die  Voraussetzung  für  den  Besuch  der  Universität,  so  war 


360    //,  6*.    Gestallt  und  Unterrichtshetrkh  der  proteM.  Schulen  um  1580. 


es  gewiß  geraten,  auf  der  Schule  nicht  viel  Nebendinge  zu  treiben; 
und  sicher  war  es  nicht  unzweckmäßig,  taglich  mit  ihnen  Grammatik 
zu  treiben  und  sie  im  Schreiben  zu  üben,  sie  viel  auswendig  lernen 
und  hersagen  oder  agieren  zu  lassen,  endlich  auch  sie  bestandig  zum 
Lateinischreden  anzuhalten  und  die  deutsche  Sprache  in  der  Schule  zu 
untersagen.  Not  lehrt,  nach  dem  alten  Sprichwort,  beten,  Not  lehrt 
auch  reden,  wie  jeder  im  fremden  Lande  erfahrt.  Die  künstliche  Ex- 
patriierung der  Schüler  in  der  Schule  war  eine  Art  Ersatz  für  den 
Aufenthalt  in  einer  lateinisch  redenden  Stadt,  die  es  leider  nicht  gab 
und  die  sich  auch  nicht  machen  lassen  wollte,  so  viel  davon  die 
Rede  war  (s.  Morhof,  Polyh.  I,  2,  9,  22  flF.). 

Andererseits  ist  nun  freilich  kein  Zweifel  darüber,  daß  dieser  Latein- 
betrieb von  Lehrern  und  Schülern  in  gleicher  Weise  als  eine  schwere 
Last  empfunden  wurde.  Ich  glaube  nicht,  daß  es  möglich  ist,  auch 
nur  eine  Stimme  aus  dem  16.  und  17.  Jahrhundert  anzuführen,  die 
von  dem  Lateinlernen  anders  als  von  einer  harten  Notwendigkeit,  gleich 
hart  für  Schüler  und  Lehrer,  redete.  Wenn  wir  gewissen  neumodischen 
Gymnasialpädagogen  glauben  wollen,  dann  müssen  wir  uns  glücklich 
schätzen,  daß  wir  Latein  und  Griechisch  nicht  schon  zu  Hause  von 
der  Mutter  lernen,  sondern  durch  Unterricht  in  der  Schule  es  uns 
anzueignen  genötigt  sind:  es  entginge  uns  sonst  ja  das  vornehmste 
Mittel  der  „formalen  Bildung".  Hiervon  wußte  im  16.  Jahrhundert 
noch  niemand;  alle  sind  einmütig  der  Ansicht,  daß  die  Erlernung  der 
fremden  Sprachen  ein  überaus  schweres  und  bedauerliches  Hemmnis 
der  Jugendbildung  sei;  die  Erreichung  des  Ziels,  Weisheit,  Tugend 
und  Beredsamkeit,  werde  dadurch  mindestens  um  Jahre  hinausgeschoben. 
So  sagt  H.  Wolf  (in  dem  Schriftchen  de  expedita  utriusque  linguae 
vel  privato  studio  discendae  ratioiie,  bei  Vormbaum,  I,  457):  „glücklich 
seien  die  Lateiner  gewesen,  welche  nur  die  griechische  Sprache  lernten 
und  dies  nicht  so  sehr  durch  Regeln,  als  durch  Verkehr  mit  Griechen 
und  ohne  Mühe;  glücklicher  die  Griechen,  welche  an  ihrer  eigenen 
Sprache  genug  hatten,  und  sobald  sie  lesen  und  schreiben  konnten,  an 
das  Studium  der  Künste  und  der  Philosophie  gingen;  wir  aber,  denen 
ein  großes  Stück  Jugend  mit  der  Erlernung  der  fremden  Sprachen 
dahingehe,  und  denen  der  Weg  zur  Philosophie  durch  so  viele  Riegel 
und  Hindemisse  versperrt  werde  (denn  Latein  und  Griechisch  ist  nicht 
die  Bildung,  sondern  die  Thür  dazu),  hätten  Ursache,  uns  über  unser 
Los  zu  beklagen".  Freilich  zu  ändern  sei  es  nicht,  die  Einheit  von 
Sachen,  Gedanken  und  Wörtern  lasse  sich  nicht  zerreißen. 

Ganz  dasselbe  sagt  der  Wittenberger  P.  Eber  in  seiner  Ratio 
studendi  (Tmtit,  Uterat,  III,  203):  Die  Griechen  hätten  nur  ihre  eigene 


Mühsal  der  Lattinitätsdressur,  361 


Sprache,  die  Römer  dazu  auch  die  griechische  getrieben.  Wir  dagegen 
seien  genötigt  unsere  eigene  Sprache  liegen  zu  lassen  und  mit  großer 
Mühsal  zwei  oder  drei  fremde  zu  lernen;  was  ein  großer  Übels tand  sei, 
namentlich  für  diejenigen,  welche  einmal  als  Sachwalter  oder  Prediger 
auftreten  müßten.  Deshalb  habe  er  seinen  Schülern  immer  geraten, 
sie  möchten  doch  einige  Sorge  auch  der  Übung  in  der  Muttersprache 
zuwenden  und  den  Stil  der  Schriftsteller,  welche  eigentlich,  rein  und 
ohne  Affektation  in  deutscher  Sprache  sich  ausdrückten,  wie  Lutheb, 
Meniüs,  Pontanus,  beachten  und  nachbilden. 

Daß  die  Erlernung  der  lateinischen  Sprache,  namentlich  der  ersten 
Elemente  der  Grammatik,  den  Knaben  und  Lehrern  unermeßliche  Mühe 
und  viel  Verdruß  machte,  darüber  Ueßen  sich  unzählige  Äußerungen 
zusammenstellen.  Eine  lebhafte  Schilderung  der  jammervollen  Plackerei 
giebt  Melanchthon  in  einer  Eede  de  miserüs  paedagogorum  (1526, 
C.  R.  XI,  121  flF.).  Ein  paar  Stellen  daraus  mögen  hier  eingefügt 
werden.  Begründeter,  heißt  es,  als  die  Klage  des  Esels  beim  Aesop, 
daß  er  durch  tagliche  Mühsal  ums  Leben  gebracht  werde,  sei  die  des 
Schulmeisters.  Wenn  die  Eltern  mit  dem  Jungen  nicht  mehr  haus- 
halten könnten,  schickten  sie  ihn  zum  Schulmeister.  Dieser  spricht 
ihm  vor,  der  Junge  ist  geistesabwesend;  er  verhört  die  Aufgabe,  der 
Junge  freut  sich  den  Lehrer  durch  Fehler  zu  ärgern.  Es  vergeht  eine 
Ewigkeit,  bis  er  die  Buchstaben  kann.  Das  ist  das  Vorspiel;  nun  soll 
er  Latein  lernen.  Man  spricht  mit  ihm  Lateinisch,  er  scharrt  aus  der 
Muttersprache  seine  Antwort  zusammen.  Man  nötigt  ihn;  guter  Gott, 
was  für  ein  Schauspiel  bietet  er  dar?  Erst  steht  er  da,  stumm  wie 
eine  Bildsäule;  dann  nimmt  er  sich  zusammen,  er  sucht  nach  Worten, 
verdreht  dabei  die  Augen  und  reißt  den  Mund  auf,  wie  ein  Epileptischer. 
Endlich  bringt  er  einen  Ton  heraus;  aber  um  nicht  auf  einem  Fehler 
ertappt  zu  werden,  murmelt  er  unverständlich;  manche  bringen  es  zu 
einer  wahren  Virtuosität  im  Verschlucken  der  Endsilben.  Man  ruft: 
deutlicher!  er  wiederholt,  und  nun  hört  man  Wortungeheuer,  wider 
Granunatik  und  Latinität.  Es  ist  ein  Jammer!  Und  nun  gar  das 
Lateinschreiben!  Nichts  verabscheuen  sie  mehr;  jeden  Tag  muß  man 
mahnen,  mit  unermeßlicher  Mühe  bringt  man  es  dahin,  daß  sie  im 
Semester  ein  Brieflein  schreiben.  Will  man  gar  einen  Vers  haben,  so 
muß  man  sich  dazu  setzen,  das  Argument  diktieren,  die  Wörter  suppe- 
ditieren.  Widerwillig  wird  das  Diktat  nachgeschrieben.  Dahin  bringt 
man  fast  nie  einen,  daß  er  auf  eigne  Hand  sich  versucht.  Dann 
kommt  das  Korrigieren!  Man  verbessert  die  grammatischen  Fehler,  an 
die  Stelle  dunkler  und  zweideutiger  Ausdrücke  setzt  man  klare  und 
eigentliche,  man  glättet  das  Rohe,  belebt  die  Rede  mit  Figuren  und 


362    Z/,  6,    Gestalt  und  Unterrichtsbetrieb  der  proiest.  Schulen  um  1580. 


macht  sie  angenehmer  und  lieblicher.  Endlich  mnß  man  bei  den  fort- 
geschritteneren auch  auf  den  Inhalt  acht  geben  und  aof  die  Sitten. 
Einige  neigen  zum  Spott,  andere  zu  Eitelkeit  und  Anmaßung,  und  die 
Sitten  offenbaren  sich  im  Stil.  Zum  Schlagen,  sagt  ein  berühmter  Feld- 
herr, gehört  dreierlei:  daß  die  Soldaten  Lust  haben,  Ehrgefühl  zeigen 
und  gehorchen.  Der  Schulfeldherr  darf  bei  seinen  Soldaten  keins  von 
diesen  drei  Stücken  voraussetzen:  sie  haben  keine  Lust  zu  lernen,  kein 
Ehrgefühl,  keinen  Gehorsam.  Die  meisten  würden  lieber  graben  als 
Latein  lernen.  Wahrlich,  ein  Kamel  tanzen  oder  einen  Esel  das  Lauten- 
schlagen lehren,  wäre  ertraglichere  Mühe. 

Und  der  Erfolg?  200  Jahre  später  beschäftigt  sich  der  I^eipziger 
Ebnesti  mit  einem  Phänomen,  das  er  Stupor  paedagogicus  nennt,  Schul- 
dunmiheit:  es  entstehe  durch  das  Lateinlemen  und  bestehe  darin,  daß 
dem  Knaben  bei  lange  fortgesetzter  Jagd  auf  Wörter  die  Fähigkeit, 
Gedanken  aufzufassen,  verloren  gegangen  sei.  Ganz  dieselbe  Sache  hat 
schon  Melanchthon  beobachtet.  In  der  Rede  de  studiiis  adolescentium 
(1529,  XI,  183)  heißt  es:  die  philosophischen  Examina  seien  auch  darum 
nötig,  daß  die  Schüler  nicht  einer  planlosen  Leserei  mit  Absicht  auf 
Sentenzen,  Phrasen  und  Wörter  sich  überließen,  sondern  vielmehr  einen 
wissenschaftlichen  Zusammenhang  auffassen  lernten.  Jenes  Unwesen 
habe  sehr  überhand  genommen;  man  begegne  jetzt  vielen,  die  über 
jenem  Wörtersarameln  in  einer  schimpflichen  Unwissenheit  und  Dumm- 
heit verblieben  seien.  — 

Daß  unter  diesen  Umständen  das  Schulmeisteramt  ein  wenig  be- 
gehrtes war,  wird  nicht  weiterer  Nachweisung  bedürfen;  in  der  Eegel 
blieb  niemand  länger  darin,  als  ihn  die  Notwendigkeit  festhielt  Die 
schwere  Last  und  die  Undankbarkeit  der  Arbeit,  dazu  die  Gering- 
schätzung des  Amts  sind  oft  Gegenstand  bitter  unmutiger  Klagen.  Ich 
verzichte  darauf  solche  zusammenzustellen,  man  findet  vieles  in  dem 
7.  Band  von  Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  Nur  das  füge 
ich  noch  hinzu,  daß  es  hiermit  auf  der  katholischen  Seite  natürlich 
nicht  anders  stand,  als  auf  der  protestantischen.  Auch  im  Jesuiten- 
orden gilt  das  Schulmeisteramt  für  eine  überaus  beschwerliche  Last, 
der  sich  der  Einzelne  gern  so  viel  als  möglich  entzieht.  Ich  führe 
dafür  statt  vieler  nur  eine  Stelle  aus  einer  Verordnung  des  Generals 
Caraffa  vom  Jahre  1648  an,  die  einschärft,  daß  vom  Lehramt  in  den 
niederen  Schulen  niemand,  auch  die  Priester  und  Professen  nicht,  be- 
freit sein  sollen.  Es  heißt  dort:  gerade  der  Unterricht  in  den  niederen 
Schulen  sei  der  eigentliche  Dienst  der  Gesellschaft;  Beicht  hören, 
Predigt  und  höheren  Unterricht  trieben  auch  die  andern  Orden;  den 
Unterricht  des  frühem  Alters  und  die  niederen  Klassen  überlassen  sie  uns. 


Mühsal  des  LeJirerberufs.  363 


„Freilich,  ich  verkenne  nicht,  daß  es  ein  hartes  und  schwieriges  Ge- 
schäft ist;  aber  Gott  giebt  mir  Hoffnung,  daß,  da  so  viele  sich  wett- 
eifernd anbieten,  in  Indien  ihr  Blut  zu  vergießen,  doch  auch  solche 
nicht  fehlen  werden,  die  es  freiwillig  auf  sich  nehmen,  mit  ihrem 
Schweiß  den  Schulacker  zu  netzen,  um  so  durch  ein  andauerndes  Mar- 
tyrium sich  eine  Krone  zu  erwerben,  die  in  den  Augen  der  Menschen 
wohl  weniger  glänzt,  vielleicht  aber  in  den  Augen  der  Engel  nicht 
weniger  kostbar  ist."  Und  von  den  Vorgesetzten  verlangt  er  dann,  daß 
sie  den  Lehrern  nicht  nur  die  Arbeit  nach  Möglichkeit  erleichtem, 
sondern  sie  auch  von  anderen  Lasten  befreien  und  mit  besonderen  Er- 
quickungen bedenken,  „daran  denkend,  daß  vor  allem  um  ihretwillen 
die  Gesellschaft  von  der  weltlichen  Gewalt  begehrt  wird  und  daß 
von  ihrer  guten  oder  schlechten  Führung  die  Schätzung  des  ganzen 
Kollegs  vornehmlich  abhängt"  fJRatio  Stiid.  III,  Mon.  GemL  Paed.  IX, 
S.  63  ff.). 

Und  hier  mag  denn  noch  eine  charakteristische  Äußerung 
M.  Neanders,  des  Rektors  der  Ilfelder  Klosterschule,  Platz  finden,  die 
die  herrschenden  Zustande  und  zugleich  die  Gesinnung  des  trefflichen 
Mannes  charakterisiert:  „Da  ich  einst  zu  Dresden  die  Brüder  Jon.  und 
Caspab  Naevius  besuchte,  beide  Ärzte  beim  Kurfürsten,  und  diese  mich 
liebreich  fragten,  wie  lange  ich  schon  mit  Unterweisung  der  Jugend 
beschäftigt  und  ich  ihnen  eine  stattliche  Keihe  von  Jahren  nannte,  er- 
widerten sie:  „Du  bist  ein  glücklicher  Mensch,  daß  du  so  lange  ein 
gutes  Werk  treibst,  das  beschwerlichste,  wie  wir  meinen,  auf  der  Welt, 
und  auf  Erden,  wenn  auch  nicht  im  Himmel,  eben  nicht  in  Achtung 
stehend".  Zufallig  war  aber  ein  gelehrter  Mann  (Jon.  Gigas)  gegen- 
wärtig, der  als  Rektor  der  Schule  zu  Pforta  vorgestanden  hatte  und 
nun  auf  einer  Pfarre  sich  ausruht,  der  sprach:  „Mein  lieber  Neander, 
ihr  solltet  euch  lieber  einmal  haben  lebendig  schinden  lassen,  denn  so 
viel  lange  Jahre,  vornehmlich  mit  der  jetzigen  teuflischen  bösen  Jugend, 
umbgangen  haben".  —  Aber,  fährt  Neander  fort,  einen  frommen  und 
eifrigen  Lehrer  wirrt  dergleichen  nicht;  er  denkt  an  das,  was  der  Gottes- 
mann Luther  spricht:  Hast  du  einen  frommen  Unterthan,  Bürger 
oder  Pfarrkind,  oder  zweeen,  so  danke  Gott.  So  dir  ein  Nachbar,  ja 
ein  Kind  oder  Gesind  wohl  gerät,  so  laß  dir  genügen.  Kriegstu  solcher 
zween  oder  mehr,  so  hebe  die  Hände  auf  und  halts  für  große  Gnade. 
Denn  du  lebest  doch  hier  nicht  anders,  denn  in  des  Teufels  Mord- 
gruben und  als  unter  eitel  Drachen  und  Schlangen"  (Havemann,  Mit- 
teilungen aus  dem  Leben  M.  Neanders,  S.  25). 


364    //,  6,    Gestalt  und  Unterrichtshefrieb  der  protest,  Schaden  um  1580. 


Die  Stellung  und  Behandlung  der  griechischen  Sprache  im 
Unterricht  ist  für  das  Verhältnis  eines  Zeitalters  zu  den  klassischen 
Studien  besonders  charakteristisch;  daher  mögen  hierüber  noch  einige 
Nachweisungen  folgen. 

Daß  die  Kenntnis  der  griechischen  Sprache  zu  einer  vollkommenen 
wissenschaftlichen  Bildung  unentbehrlich  sei,  darüber  waren  Humanisten 
und  Protestanten  einig.  Jenen  war  nicht  verborgen,  daß  die  römische 
Litteratur  überall  aus  griechischen  Quellen  schöpfe;  sie  betonen  femer, 
daß  man  die  wissenschaftlichen  und  philosophischen  Schriften  der 
Griechen  aus  Übersetzungen  nicht  so  kennen  lernen  könne,  daß  man 
ein  selbständiges  urteil  habe;  jede  Kontroverse  mache  die  Herbeiziehung 
des  Originals  notwendig.  Wie  hatten  die  mittelalterlichen  Schulphilo- 
sophen in  der  Auslegimg  ihres  Aristoteles  im  Finstern  getappt.  Reuchlin 
nimmt  (in  einem  oben  schon  erwähnten  Brief  vom  Jahre  1518)  für  sich 
in  Anspruch,  daß  er  zuerst  die  Notwendigkeit  dargethan  habe,  auf  den 
Originaltext  der  aristotelischen  Philosophie  zurückzugehen.  Daher  der 
Zorn  der  Sophisten  und  Barbaren  gegen  ihn,  denn  alsbald  hätten  alle, 
die  nach  wirklicher  Erkenntnis  verlangten,  die  Possen  der  Schulen  ver- 
lassen. Es  ist  bekannt,  daß  dem  jugendlichen  Melanchthon  als  Lebens- 
aufgabe vorschwebte,  die  Deutschen  mit  dem  wirklichen  griechischen 
Aristoteles  bekannt  zu  machen,  welche  Aufgabe  er  denn  auch,  freilich 
unter  sehr  veränderten  Umständen,  einigermaßen  gelöst  hat.  Endlich 
schien  selbst  eine  sichere  Handhabung  der  lateinischen  Sprache  nicht 
möglich  ohne  einige  Kenntnis  der  griechischen.  Stammten  doch  fast 
alle  wissenschaftlichen  Kunstausdrücke  aus  dem  Griechischen;  dazu  eine 
unzählige  Menge  von  Eigennamen,  deren  die  humanistische  Eloquenz 
beständig  bedurfte.  Wie  kann  man  ohne  Gefahr  des  schimpflichsten 
Irrtums  diese  Wörter  brauchen,  abwandeln,  ja  auch  nur  schreiben,  wenn 
man  nicht  aus  der  griechischen  Sprache  Bedeutung  und  Schreibung 
kennt?  Welche  Ungeheuerlichkeiten  wies  in  dieser  Hinsicht  jedes  mittel- 
alterliche Lektionsverzeichnis  auf:  hijca^  methaurorum  ArestoHlis,  am- 
phorysmi  Hypocratis,  u.  s.  f.  Die  ersten  kleinen  Lehrbüchlein  der  grie- 
chischen Sprache  sind  wesentlich  geschrieben,  diesem  dringendsten 
Bedürfnis  der  lateinischen  Eloquenz  abzuhelfen. 

Es  ist  früher  im  einzelnen  dargelegt  worden,  wie  unter  dem  Ein- 
fluß des  Humanismus  im  Laufe  des  zweiten  Jahrzehnts  an  den  Uni- 
versitäten griechische  Lektüren  errichtet  und  die  ersten  Elementarlehr- 
bücher verfaßt  wurden;  zugleich  auch  hie  und  da  angedeutet,  wie  große 
Schwierigkeiten  zu  überwinden  waren.  Vor  allem  fehlte  es  an  Editionen; 
in  der  Kegel  mußte  der  Lehrer  den  Text  für  seine  Vorlesungen  erst 
drucken  lassen.    So  ließ  Reuchlin  für  seine  Vorlesungen  in  Ingolstadt 


Der  griediische  Unierricht.    Rezeption,  365 

und  Tübingen  kleine  Stücke  von  Xenophon  (1520),  Demosthenes  und 
Aeschines  (1522)  drucken.  Melanchthon  bewog  den  Buchdrucker 
MELcmofi  LoTTHEB  mit  griechischen  Typen  von  Leipzig  nach  Witten- 
berg zu  kommen.  Stbobel  (Neue  Beitrage,  II,  1,  213  ff.)  zahlt  aus 
den  ersten  Jahren  von  Melanchthons  Lehrthätigkeit  neun  solcher 
Drucke  meist  im  Umfang  von  ein  paar  Bogen  auf:  Aristophanes  Wolken 
(spUndidum  arffumentum,  quo  philosophastros  insectemur),  Galaterbriefe, 
Stücke  aus  Lucian,  Plutarch  etc.  Auch  wird  wiederholt  erwähnt,  daß 
die  Zuhörer  sich  den  Text  erst  abschrieben.  So  kündigt  Melanchthon 
noch  im  Jahre  1537  eine  Vorlesung  über  die  Eranzrede  des  Demosthenes 
mit  der  Bemerkung  an:  er  werde  bloß  einige  Zeilen  täglich  durchgehen, 
damit  solche,  die  keinen  Text  besäßen,  ihn  sich  abschreiben  könnten, 
was  er  übrigens  sehr  empfehle;  er  selbst  habe  den  Römerbrief  dreimal 
abgeschrieben  (C.  R.  III,  378).  Erst  durch  die  von  Melanchthon, 
Cameeabius,  Micyllus,  H.  Wolf,  Neandee  u.  a.  für  Unterrichts- 
zwecke  gemachten  Ausgaben  und  Chrestomathien  wurden  die  Texte  all- 
mählich zugänglicher.  Doch  blieb  es  bis  ins  18.  Jahrhundert  hinein 
gewöhnlich,  daß  griechische  Texte  für  die  Vorlesungen  besonders  ge- 
druckt wurden.  So  gab  Caseliüs  in  Helmstedt  eine  große  Menge  von 
Bruchstücken  griechischer  Autoren  zum  Behuf  seiner  Vorlesungen  heraus; 
BüBCKHABDT  {De  CaselU  praeclaris  erga  bonas  litter as  meritis,  1707)  zählt 
auf  vier  Quartseiten  die  Bruchstücke  auf,  sie  sind  aus  19  griechischen 
Autoren  entnonunen,  darunter  auch  Homer,  Aeschylos,  Aristoteles,  Plato, 
Xenophon  et<5.    Selbst  bei  J.  M.  Gesnee  kommt  noch  diese  Praxis-  vor. 

Die  Reformation,  die  sonst  die  Entwickelung  des  Humanismus  unter- 
brach, übernahm  in  diesem  »Stücke  dessen  Aufgabe.  An  den  protestan- 
tischen Universitäten  wurde  überall  das  Griechische  als  ein  notwendiger 
Bestandteil  der  gelehrten  Bildung  angesehen.  Allerdings  ließ  sich 
nicht  gleich  die  Forderung  durchsetzen,  daß  alle  Prediger  der  neuen 
Kirche  im  Besitz  der  Fertigkeit  seien,  die  heiligen  Schriften  in  der 
Ursprache  zu  lesen.  Ein  schlichter  Prediger,  sagt  Luther  in  dem 
Sendschreiben  an  die  BÄtsherren,  habe  so  viel  heller  Sprüche  und 
Texte  durch  Dolmetschen,  daß  er  Christum  verstehen,  lehren  und 
heiliglich  leben,  auch  anderen  predigen  könne.  Aber  die  Schrift  aus- 
zulegen, imd  zu  streiten  wider  die  irrigen  Einführer  der  Schrift,  das 
lasse  sich  ohne  die  Sprachen  nicht  thun.  Allmählich  im  Lauf  der 
zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  dürfte  es  doch  dahin  gekommen 
sein,  daß  es  nicht  leicht  protestantische  Prediger  gab,  die  nicht  einige 
Kenntnis  der  griechischen  Sprache,  sei  es  auch  hin  und  wieder  nicht 
viel  mehr  als  die  der  Buchstaben,  besaßen. 

Die  Schwierigkeiten,   welche  der  Einführung  des  Griechischen  in 


366    //,  6*.    Gestalt  und  Unterrichtsbeineb  der  proiesL  Schulen  um  1580, 


die  Schulen  entgegenstandeD,  waren  natürlich  erheblich  größer.     Erst 
nachdem  die  Universitäten  I^ehrer  vorgebildet  hatten,  konnte  auf  den 
großen   Schulen   dem   Griechischen   die   Stellung  eines  regelmäßigen 
XJnterrichtsgegenstandes  verschafft  werden.   Auf  den  Lateinschulen  der 
kleinen   Städte    hat    es    diese   nie    erlangt.      Auch    auf  den    großen 
Schulen  handelte  es  sich  wesentlich  um  einen  elementaren  Unterricht, 
durch   den   die  Schüler  befähigt  werden  sollten,  auf  der  Universität 
exegetische  Vorlesungen  über  die  heiligen  Schriften  und  vielleicht  noch 
über  ein  paar  Stücke  griechischer  Dichter  oder  Philosophen  zu  hören. 
Die   Bugenhagenschen    Schulordnungen    reden    nur    von    den   ersten 
Elementen,  Buchstaben  und  Formenlehre,  die  an  ein  paar  Lesestücken 
eingeprägt  werden   mögen.     Die  mecklenburgische  Schulordnung  vom 
Jahre    1552,   welche   Melanchthon   zur   Billigung  vorgelegt  worden 
war,    giebt    anheim,    in   der   obersten   Klasse   der   größeren    Schulen 
wöchentlich  zwei  Stunden  Griechisch  zu  treiben:  in  der  einen  mögen 
die  grammatischen  Regeln  eingeprägt,  in  der  andern  an  einigen  Versen 
oder    Prosastücken    (Phocylides,    Hesiodus,    Isocrates   ad  Demonictan 
werden    genannt)    eingeübt   werden.     Wörtlich    so   die   kurpfälzische 
Schulordnung  vom  Jahre  1556  (Vormbaum,  I,  65,  68).     Etwas  weiter 
geht  die   württembergische  Schulordnung  vom  Jahre  1559.     Auf  der 
Oberstufe  (vierte  und  fünfte  Klasse)  soll  Griechisch  an  den  vier  Nach- 
mittagen  von    3 — 4   Uhr   getrieben   werden.     In   IV   wird   mit  den 
Elementen  der  Grammatik  begonnen,  in  V  die  ganze  Grammatik  und 
eine  Lektion   aus  dem  Griechischen:   Aesop,   Isokrates  ad  Demonicum 
oder   die   Cyropädie   gegeben,   worin   der  Lehrer   „aufs   fleißigste    die 
Themata   den  Knaben  anzeigen  und  sie  ^selbst  formieren  lassen  soll, 
auch  sie  darzu  halten,  daß  sie  es  fleißig  kolligieren  und  aufschreiben". 
Die  neue  Ausgabe  der  Schulordnung  von   1582  ändert  hieran  nichts 
Erhebliches.     Sie  will  die  Sonntagsepistel  und  den  griechischen  Kate- 
chismus  (von  JoH.  Brenz)  '  und   auf  den   Klosterschulen   etwas   von 
Demosthenes  durchnehmen  lassen,  nicht  zu  wenig,  „damit  die  discipuli 
bald   einen    guten   thesaumm  optimamm  phrasium   daraus   kolligieren 
mögen".   Bei  der  Aufnahme  ins  Stift  wurden  rudimenia  Graecae  linpuae 
verlangt  (Vormbaum,  I,  85  ff.).    Ähnlich  lauten  die  Bestimmungen  der 
übrigen  Schulordnungen  des  16.  Jahrhunderts. 

Was  das  Ziel  und  die  Form  des  Schulunterrichts  in  der  griechi- 
schen Sprache  anlangt,  so  ist  allgemein  zu  bemerken,  daß  das  Grie- 
chische hierin  jederzeit  von  dem  wichtigeren  und  alteren  Latein  be- 
herrscht worden  ist.  Da  der  Lateinbetrieb  durch  die  Absicht  bestimmt 
wurde,  dem  Schüler  zur  lateinischen  Eloquenz  zu  verhelfen,  so  gestaltet« 
sich  der  griechische  Unterricht  wesentlich  so,  als  ob  es  das  Ziel  gewesen 


Form  und  Ziel  des  griechisctien  Unterrichts,  367 


wäre,  griechisch  reden  und  schreiben  zu  lehren.  Und  allerdings  galt 
auch  in  der  litterarischen  Welt  diese  Fertigkeit  als  der  eigentliche 
MaBstab  der  Kenntnis  des  Griechischen,  wie  denn  auch  der  gesunde 
Menschenverstand  jederzeit  die  Fertigkeit  im  Beden  als  die  entscheidende 
Probe  der  Kenntnis  einer  Sprache  ansehen  wird.  Eine  gewisse  Leichtig- 
keit des  Gebrauchs  war  auch  unter  den  späteren  Humanisten  nicht 
selten.  So  schrieb  z.  B.  Camebaeius  geläufig  griechisch,  seine  Briefe 
an  Melanchthon  sind  öfters  in  dieser  Sprache  verfaßt.  Da  dieser  nicht 
griechisch  antwortete,  entschuldigt  sich  Camebabiüs  einmal;  Melanch- 
thon aber  erwiderte:  „ich  lese  deine  griechischen  Briefe  mit  besonderem 
Genuß,  es  ist  mir,  als  wenn  ich  einen  der  Alten  lese.  Plinius  sagt 
von  Adrianus,  Athen  selbst  sei  nicht  so  attisch  als  er.  Das  will  ich 
nicht  sagen,  wohl  aber  das:  außer  den  Attikern  gefallt  mir  kein 
Griechisch  so  gut  als  deines.^  Warum  ich  nicht  griechisch  schreibe? 
Es  ist  derselbe  Grund,  der  den  Horaz  hinderte  griechisch  zu  dichten:  ich 
mag  nicht  Holz  in  den  Wald  tragen"  (5.  März  1528,  C.  R.  I,  943).  — 
Ebenso  hebt  Melanchthon  in  seinen  Empfehlungsbriefen  für  Schul- 
lehrer die  Fertigkeit  im  Gebrauch  der  griechischen  Sprache  öfter  hervor, 
z.  B.  in  dem  Schreiben,  womit  er  M.  Garbitiüs  der  Tübinger  Uni- 
versität als  Gräcisten  empfahl:  er  schreibe  sehr  leicht  griechisch  in 
Prosa  und  Versen  (C.  R.  III,  421,  11.  Okt  1537);  oder  in  dem  Brief, 
womit  er  den  Gottschalk  Schultze  dem  Rat  zu  Salzwedel  als  Schul- 
meister anzunehmen  riet:  er  habe  eine  ziemlich  gut«  Übung,  in  latei- 
nischer und  griechischer  Sprache  zu  schreiben  (C.  R.  V,  344).  Daß  nicht 
bloß  deutsche  Schulmeister  die  Dinge  so  ansahen,  geht  aus  einer 
Äußerung  des  L.  Vives  über  Budeus  in  einem  Brief  an  Erasmüs 
(Opp.  II,  161)  hervor:  „lateinisch  schreibt  und  spricht  er  so,  daß  er, 
selbst  wenn  er  zu  Ciceros  Zeiten  gelebt  hätte,  den  Namen  des  Großen 
verdient  haben  würde,  griechisch  aber  so,  daß  selbst  die  Griechen 
gestehen,  sie  könnten  von  ihm  ihre  Sprache  lernen".  In  Eeasmus' 
Korrespondenz  findet  man  eine  ganze  Anzahl  griechischer  Briefe  des 

BüDEÜS. 

Es  gab  sogar  Einzelne,  die  als  Dichter  in  griechischer  Sprache  sich 
anerkannten  litterarischen  Ruhm  erwarben.  Der  bekannteste  unter 
ihnen  ist  Laurentiüs  Rhodomanus  (1546 — 1606),  ein  Schüler 
des  Ilfelder  Rektors  Neandek,  dann  der  Rostocker  Gräcisten  Posselius 
und  Caselius;  er  war  Schulmeister  in  Lüneburg,  Walkenried  und 
Stralsund,  dazwischen  Professor  in  Jena,  zuletzt  in  Wittenberg.    Jos. 

^  Ein  andermal  sagt  er  auch  das:  cognitimient  et  usum  Oraecae  linguae 
tantum  habet  (Camerarius),  ut  non  Athetiae  veteres  tarn  eint  AtHcae,  qtMin 
8imt  ipsttis  scripta  (Declam,  de  Misftia,  1553,  C.  R.  XII,  42). 


868    II,  6.    Oeatalt  und  TJnterrichishetrieb  der  protest.  Schulen  um  1580. 


ScALiOEB,  der  auf  einer  Reise  durch  Norddeutschland  ihn  in  Stral- 
sund besucht  hatte,  veranlaßte  seine  Berufung  nach  Wittenberg.  Es 
wird  ein  Urteil  dieses  Philologen  über  Bhodomakus  als  griechischen 
Dichter  angeführt:  daß  er  mit  den  vorzüglichsten  unter  den  Griechen 
wetteifere,  viele  bei  weitem  übertreffe;  nur  Unwissenheit  oder  Bosheit 
könne  das  leugnen.^  Unter  seinen  griechischen  Dichtungen  wird  als 
die  bedeutendste  die  folgende  angesehen,  deren  Titel  zur  Probe  voll- 
standig  angeführt  werden  mag:  IJonjaig  ;^(>i<rT/ai'iy.  Uakai- 
(TTiVtjQ  ijTOi  uyiaq  iaroQiag  ßiß?.ia  ivvea.  Poesis  Christiana. 
Palaestinae  s.  hixtoriae  sacrae  libri  novem,  Ubi  ex  s.  Bibliis^ 
Josepho,  historia  ecclesiastica  et  aliunde  continua  serie  recitantur  prae- 
cipua  quae  in  Palaesti7ia  ab  ultima  inde  memoria  ad  hanc  ferme  aetatem 
Deus^  S.  patres,  judices,  reges,  prophetae^  ethnarchae,  pontificcs,  Ma- 
cedones,  Asmanaei,  Herodes,  Christas,  Apostoli,  Romani,  Agareni,  Turcae 
et  Argonautae  nostri  aliique  interim  gesserunt  Ad  usum  scholasticae 
juventutis  Graecolatina  poesi  ita  concinnaä,  ut  ab  omnibus  ubique 
Christianis  bonorum  artium  studiosis  cum  fructu  et  voluptate  legi  possint 
(Frankfurt  a.  M.,  1589). 

Dem  Gedicht  ist  vorausgeschickt  eine  Epistel  Neandees,  worin 
er  es  allen  Schulrcktoren  aufs  dringendste  empfiehlt:  sie  sollten  es, 
wenn  nicht  zur  Lektüre  in  der  Schule  benutzen,  doch  dem  Privatfleiß 
der  Schüler  anraten.  Ferner  ist  beigegeben  eine  lange  Dedikations- 
epistel  des  Verfassers,  welche  eine  in  mancher  Hinsicht  interessante 
Gymnasialpädagogik  enthält  Er  verteidigt  darin  seine  griechische 
Schriftstellerei  gegen  die  herrschend  werdende  Ansicht,  daß  Griechisch 
entweder  überhaupt  entbehrlich  oder  doch  das  Schreiben  in  griechischer 
Sprache  nicht  notwendig  sei:  sat  enim  doctrinae  in  monumentis  veterum 
nobis  r dictum.  Khodomanus  führt  dagegen  aus,  erstens,  daß  ohne 
Schreiben  man  auch  Lesen  nicht  lerne;  zweitens,  daß  ohne  Schreiben 
dem  Unterricht  das  eigentliche  Ziel  fehle:  er  sei  der  Überzeugung,  daß 
alle  weisen  und  fein  redenden  Autoren  dazu  da  seien,  ut  totos  quoad 
fieri  possit,  imiteris,  nee  tantum  intelligas  et  res  eorum  tibi  accommodes, 
sed  etiam  ipsos,  si  facultas  detiir^  quanti  sint  et  quales,  sensu  lingua  et 
calamo  ita  referas,  ut  dici  queat:  hie  alter  Homerus  est,  Firgilius,  De- 
mosthenes  etc.  aut  cerfe  non  infelix  eorum  discipulus  et  imitator.  Drittens 
führt  er  einen  praktischen  Gesichtspunkt  an:  wir  müßten  mit  allen 
Kräften  dahin  streben,  daß  mit  Gottes  Hilfe  die  Griechen  dem  deutschen 
Reich    inkorporiert   würden;    tum    certe   Graeca  enunciatione  cum  Ulis 

*  LizELius,  Historia  poetarum  Oraecorutn  Oennaniae  a  renatis  Htteri»  ad 
nosira  usque  tempora  (Frankf.  1730);  wo  noch  eine  große  Menge  weiterer  Zeug- 
nisse von  Einheimischen  und  Fremden  über  die  Vorzüglicbkeit  dieser  Gredichte. 


Der  Unterrichtsbetrieb  im  Griechischen.  369 


agendumj   nee  vulgär i  tantum  et  semibarbara,  sed  erudita,   ni  ludibrio 
et  contemtui  Ulis  exponi  velimus. 

Neben  Ehodomanus  wäre  etwa  noch  Mastin  Ceüsiüs  (1526 
bis  1607,  seit  1559  Professor  in  Tübingen)  als  griechischer  Autor  zu 
nennen.  Den  Inhalt  seiner  Germano-Graeda  (Basel,  1585),  eines  statt- 
lichen Foliobandes,  bilden  zwei  Bücher  Reden  des  Csusius,  lateinische 
und  griechische,  letztere  mit  lateinischer  Übersetzung,  ein  Buch  grie- 
chische Reden,  von  Doktoranden  der  Tübinger  Universität  gehalten; 
drei  Bücher  griechische  Gelegenheitsgedichte  von  Crusius,  denen  auch 
eine  poetische  Biographie  des  L.  Rhodomanus  beigegeben  ist  Crusius 
betrieb  das  Griechischschreiben  als  gelehrten  Sport.  Es  wird  von  ihm 
erzählt,  daß  er  6174  deutsche  Predigten  auf  dem  Knie  in  griechischer 
Sprache  nachgeschrieben  habe.  Glücklicherweise  hat  sich  kein  Verleger 
gefunden,  sie  drucken  zu  lassen. 

Auch  kleine  Schullesebücher  für  den  Anfangsunterricht  in  der 
griechischen  Sprache  entstanden  in  ziemlicher  Anzahl.  Sie  enthalten 
regelmäßig  kirchliche  Stoffe,  z.  B.  Camerarius  Capita  pietatis  et  reli- 
gionis  Christianae  versibus  Graecis  comprehensa  ad  institiitionem  pueri' 
lern,  cum  interpretatione  Latina  (Leipzig,  1546  u.  ö.)  Ähnliche  Büchlein 
von  PossELius,  der  die  Sonntagsepisteln  und  Evangelien  in  griechische 
Verse  faßte,  von  Stigelius,  Brentius  u.  a. 

Von  hier  aus  ist  nun  der  griechische  Schulbetrieb  zu  verstehen. 
Er  gleicht,  wie  gesagt,  dem  lateinischen.  Nach  Sturms  Straßburger 
Organisationsentwurf  soll  der  griechische  Unterricht  mit  dem  fünften 
Schuljahr  (etwa  im  elften  Lebensjahr)  beginnen.  Nachdem  etwa  in 
einem  halben  Jahr  das  Lesen  und  die  ersten  Elemente  der  Formen- 
lehre gelernt  sind,  giebt  man  den  Knaben  Texte  in  die  Hand,  im 
ersten  Vierteljahr  die  Fabeln  Aesops,  im  zweiten  Demosthenes'  olympische 
Reden.  Dieser  Autor  begleitet  die  Schüler  dann  durch  den  ganzen 
Schulkursus,  der  etwa  mit  dem  16.  Lebensjahr  sein  Ende  erreicht 
Außerdem  wird  Homer  und  Paulus  empfohlen.  In  den  späteren 
Klassenbriefen  wird  Demosthenes  für  die  drei  oberen  Klassen  in  Aus- 
sicht genommen,  daneben  gelegentlich  Aristophanes,  Euripides,  Thuky- 
dides;  Paulus'  Briefe  sollen  in  den  fünf  oberen  Klassen  sonntäglich 
gelesen  werden. 

Es  ist  einleuchtend,  daß  die  Benutzung  der  demosthenischen  Texte, 
wenn  anders  sie  jemals  in  diesem  Umfang  stattgefunden  hat,  hier  nicht 
in  der  Absicht  des  Lesens  gemeint  ist,  auch  nur  in  dem  Sinn,  wie  wir 
von  unseren  Primanern  sagen,  daß  sie  Demosthenes  lesen,  obwohl  lesen 
auch  hier  eine  Thätigkeit  bezeichnet,  welche  von  der  Bedeutung  des 
Worts  im  gemeinen  Sprachgebrauch  erheblich  sich  unterscheidet.     In 

PaalBen,  Unterr.   Zweite  Aafl.   I.  24 


370    U,  (L    Gestalt  und   Unterrichtabeirieb  der  protest.  Schulen  um  1580, 


der  Straßburger  Schule  diente  der  Text  lediglich,  um  an  ihm  zuerst 
deklinieren  und  konjugieren  zu  lernen,  sodann  aus  ihm  Wörter,  Wen- 
dungen und  Redefiguren  zu  sammeln,  ganz  ebenso,  wie  Stubm  für 
die  lateinische  Sprache  den  Cicero  von  klein  auf  brauchen  ließ.  Der 
Schriftsteller  steht  auf  der  Schule  zunächst  im  Dienst  der  Erlernung 
der  Sprache,  wie  Stl^rm  dies  in  dem  Lauinger  Organisationsplan  aus- 
drücklich ausspricht:  auch  in  der  ersten  Klasse  linguae  magis,  quam 
mentis  mar/istri  atque  doctores  esse  volumus  (VoRMBAUM,  I,  739).  Der 
Unterricht  in  den  Wissenschaften  gehört  auf  die  Universität. 

Aber  warum  Demosthenes  und  Paulus,  welche  den  Schülern  not- 
wendig unverständlich  bleiben  müssen,  zu  solchen  Sprachexerzitien 
benutzen?  Sturm  antwortet:  aus  derselben  Ursache,  aus  welcher  im 
Lateinischen  von  Anfang  an  Cicero  den  Knaben  in  die  Hände  gegeben 
wird:  wie  dieser  unter  den  Römern,  so  ist  unter  den  Griechen  De- 
mosthenes der  erste  Redner;  und  unter  den  heiligen  Schriftstellern 
nimmt  Paulus  dieselbe  Stellung  ein.^ 

Daß  die  Schüler  nicht  imstande  sind,  den  Sinn  der  Rede  zu 
fassen,  dagegen  ist  Stl-rm  ziemlich  gleichgültig.  Die  Menschenkinder, 
meint  er,  lernen  von  Natur  eher  reden  als  denken  und  urteilen.  Das 
ist  ein  Wink  der  Natur:  Erkenntnis  wird  man  erwerben,  wenn  der 
Verstand  kommt;  aber  richtig  und  rein  sprechen  lernen  muß  der  Knabe, 
dem  Erwachsenen  wird  es  schwerer  (de  litt  ludis  capp,  11,  X).  Daher 
muß  man  dem  Knaben  die  Schriften  der  besten  Stilisten  in  die  Hand 
geben  und  ihn  optima  ex  optimis  zusammentragen  lassen;  das  Ver- 
ständnis wird  nachkommen. 

Sturm  hat  auch  hierin  das  Urteil  seiner  Zeitgenossen  auf  seiner  Seite. 
H.  Wolf  in  Augsburg  legt,  sich  in  der  erwähnten  kleinen  Schrift  über 

*  Es  scheint  bemerkenswert,  daß  Stur^is  Urteil  hierin  mit  demjenigen 
Melanchthoxs  genau  zusammenfällt.  In  einer  Einladung  zu  Vorlesungen  über 
Demosthenes  153b  (C.  R.  III,  570)  heißt  es:  D.  verdiene  vor  allen  die  Teil- 
nahme; aus  ilim  lerne  man  nicht  nur  die  Sprache,  sondern  auch  Disposition,  Dar- 
stollungsfonn ,  Invention;  auch  ließen  seine  Ornamente  sich  nachahmen.  Wie 
sehr  die  Reformatoren  den  Paulus  schätzten,  ist  bekannt.  Bei  Paulus  allein, 
heißt  es  in  Melanchtiions  Rede  de  studio  doctrinae  Paulinae  (1520,  C.  R.  XI, 
34  ff.),  ist  methodische  Erörterung,  man  kommt  nicht  zu  den  Propheten  und 
Evangelien  als  durch  seine  Kommentare.  Und  nicht  bloß  als  Theolog,  sondern 
auch  als  Redner  ist  Paulus  bewunderungswürdig;  wie  würdig,  wie  durchsichtig, 
wie  elegant  ist  seine  Rede.  Es  ist  unsagbar,  wie  er  das  Gemüt  des  Lesers 
beugt,  bewegt,  hinreißt,  begeistert.  Paulus  kann  nicht  beiseite  lassen,  wer  nicht 
alle  Hoffnung  des  Heils  wegwirft.  —  Mit  ähnlicher  humanistischer  Überschwäng- 
lichkeit  wird  im  Encomium  eloquent iac  Homer  gepriesen:  des  Menschen  Geist 
hat  nichts  geboren,  w^as  dem  Homer  an  Weisheit  überlegen  wäre;  und  wie  durch 
Weisheit,  so  ist  er  durch  Eloquenz  vor  allen  Dichtem  ausgezeichnet. 


Der  Unteirkhtshetrieb  im  Griechischen,  371 


Sprachenlernen  (Vormbaüm,  I,  455  ff.)  die  Frage  vor:  ob  den  Schülern 
die  besten  Autoren  in  die  Hand  zu  geben  seien,  da  diese  meist  schwierige 
und  jenseits  der  Fassungskraft  der  Schüler  liegende  Dinge  behandeln? 
Ja,  antwortet  Wolf,  denn  die  Knaben  verstehen  ja  überall  nicht,  was 
sie  lesen.  Verstehen  sie  etwa  die  Fabeln,  welche  sie  von  Müttern  und 
Ammen  hören?  Nein,  denn  sie  merken  nichts  von  der  Bedeutung. 
Also  wenn  zu  ihnen  Plato,  Isokrates,  Cicero,  von  Gott,  Weisheit,  guten 
Sitten  sprechen,  so  verstehen  sie  das  ebenso  sehr  oder  ebenso  wenig, 
denn  gleichmäßig  ist  ihnen  alles  unbekannt  und  neu;  aber  sie  haben 
einen  Vorteil:  nämlich  daß  diese  in  der  gewähltesten  Sprache  reden. 
Und  was  das  Vergnügen  anlange,  das  die  Fabeln  Aesops  u.  a.  machen 
sollen,  so  glaube  er  nicht  daran:  ohne  Nötigung  würde  der  größte  Teil 
der  Knaben  jedes  Spiel  dem  ludus  litterarius  vorziehen.  „Denn  du 
darfst  machen,  was  du  willst,  die  W^urzeln  der  Erudition  sind  bitter 
und  die  Süßigkeit  der  Früchte  kann  erst  das  reifere  Alter  schmecken." 
Also  getrost  die  Schriftsteller  vornehmen,  welche  die  reinste  und  beste 
Sprache  reden,  ob  der  Inhalf  dem  Fassungsvermögen  der  Knaben  an- 
gemessen ist  oder  nicht.  Komme  noch  dazu,  daß  der  Inhalt  an  sich 
ein  würdiger  und  bedeutender,  wie  ja  denn  bei  der  engen  Verbindung 
von  Eloquenz  und  Weisheit  zu  erwarten,  so  sei  es  doppelt  gerecht- 
fertigt: denn  nicht  darauf  müsse  man  sehen,  wieviel  sie  jetzt  davon 
verständen,  sondern  darauf,  wie  großen  Nutzen  die  Dinge,  welche  sie 
vorläufig  bloß  ins  Gedächtnis  faßten,  bringen  würden,  wenn  sie  dereinst 
würden  verstanden  werden.  Und  für  den  Augenblick  könne  man  sich 
ja  mit  Übergehen  der  schwierigsten  Stellen  helfen;  darin  könne  er 
nicht  ein  Kapitalverbrechen  erblicken. 

Ganz  ähnlich  urteilt  auch  Mioyllus  in  dem  Frankfurter  Organisa- 
tionsentwurf (VoBMBAUM,  I,  631):  von  Anfang  an  müsse  man  solche 
Lesestücke  vortragen,  die  nicht  allein  die  Eloquenz,  sondern  auch  das 
Urteil  über  die  Dinge  bilden,  obwohl  die  Knaben  über  die  Dinge  mit 
Einsicht  und  Gründlichkeit  zu  urteilen  noch  nicht  im  Stande  seien. 
„Denn  wie  diejenigen,  welche  in  der  Sonne  wandeln,  Farbe  bekommen, 
obwohl  sie  nicht  deswegen  wandeln,  so  prägen  sich  den  Knabenseelen,, 
wiewohl  sie  der  Behandlung  ernster  und  großer  Dinge  noch  nicht 
ganz  zu  folgen  vermögen,  bei  der  Beschäftigung  mit  ihnen  bleibende 
Spuren  ein,  die  ihnen  später  nützlich  sein  werden.** 

Also,  das  Beste  nach  Inhalt  und  Form,  wenn  auch  der  Sinn  der 
Fassungskraft  der  Knaben  noch  nicht  erreichbar  ist;  das  ist  das  Prinzip, 
dem  die  Pädagogen  des  16.  Jahrhundert«  in  der  Auswahl  der  Lektüre 
überall  folgten.  Es  ist  dasselbe  Prinzip,  das  den  Katechismusunter- 
richt eingeführt  hat  und  bis  auf  diesen  Tag  in  den  Schulen  erhält. 

24* 


370    II,  6*.    Gestalt  und   Untern' cht. ibetrieh  der  protest.  SchuUn  um  löSO, 


der  Straßburger  Schule  diente  der  Text  lediglich,  um  an  ihm  zuerst 
deklinieren  und  konjugieren  zu  lernen,  sodann  aus  ihm  Wörter,  Wen- 
dungen und  Eedefiguren  zu  sammeln,  ganz  ehenso,  wie  Stubm  ITir 
die  lateinische  Sprache  den  Cicero  von  klein  auf  brauchen  ließ.  Der 
Schriftsteller  steht  auf  der  Schule  zunächst  im  Dienst  der  Erlernung 
der  Sprache,  wie  Sturm  dies  in  dem  Lauinger  Organisationsplan  aus- 
drücklich ausspricht:  auch  in  der  ersten  Klasse  Unguae  magis.  quam 
mentia  magistri  atque  doctores  esse  volumus  (VoBMBAUM,  I,  739).  Der 
Unterricht  in  den  Wissenschaften  gehört  auf  die  Universität. 

Aber  warum  Demosthenes  und  Paulus,  welche  den  Schülern  not- 
wendig unverständlich  bleiben  müssen,  zu  solchen  Sprachexerzitien 
benutzen?  Sturm  antwortet:  aus  derselben  Ursache,  aus  welcher  im 
Lateinischen  von  Anfang  an  Cicero  den  Knaben  in  die  Hände  gegeben 
wird:  wie  dieser  unter  den  Römern,  so  ist  unter  den  Griechen  De- 
mosthenes der  erste  Redner;  und  unter  den  heiligen  Schriftstellern 
nimmt  Paulus  dieselbe  Stellung  ein.^ 

Daß  die  Schüler  nicht  imstande  sind,  den  Sinn  der  Rede  zu 
fassen,  dagegen  ist  Sturm  ziemlich  gleichgültig.  Die  Menschenkinder, 
meint  er,  lernen  von  Natur  eher  reden  als  denken  und  urteilen.  Das 
ist  ein  Wink  der  Natur:  Erkenntnis  wird  man  erwerben,  wenn  der 
Verstand  kommt;  aber  richtig  und  rein  sprechen  lernen  muß  der  Knabe, 
dem  Erwachsenen  wird  es  schwerer  (de  litt  ludis  capp,  II,  X).  Daher 
muß  man  dem  Knaben  die  Schriften  der  besten  Stilisten  in  die  Hand 
geben  und  ihn  optima  ex  optimis  zusammentragen  lassen;  das  Ver- 
ständnis wird  nachkommen. 

Sturm  hat  auch  hierin  das  Urteil  seiner  Zeitgenossen  auf  seiner  Seite. 
H.  Wolf  in  Augsburg  legt-  sich  in  der  erwähnten  kleinen  Schrift  über 

*  Es  scheint  bcjmerkenswert,  daß  Sturms  Urteil  hierin  mit  demjenigen 
Melanchthons  genau  zusammenfallt.  In  einer  Einladung  zu  Vorlesungen  über 
Demosthenes  1538  (C.  R.  III,  570)  heißt  es:  D.  verdiene  vor  allen  die  Teil- 
nahme; aus  ihm  lerne  man  nicht  nur  die  Sprache,  sondern  aucli  Disposition,  Dar- 
stellungsfonn ,  Invention;  auch  ließen  seine  Ornamente  sich  nachahmen.  Wie 
sehr  die  Reformatoren  den  Paulus  schätzten,  ist  bekannt.  Bei  Paulus  allein, 
heißt  es  in  Melanchthons  Rede  de  studio  doctrinae  Paulinae  (1520,  C.  R.  XI, 
34  fiV),  ist  methodische  Erörterung,  man  kommt  nicht  zu  den  Propheten  und 
Evangelien  als  durch  seine  Kommcutare.  Und  nicht  bloß  als  Theolog,  sondern 
auch  als  Redner  ist  Paulus  bewunderungswürdig;  wie  würdig,  wie  durchsichtig, 
wie  elegsint  ist  seine  Rede.  Es  ist  unsagbar,  wie  er  das  Gemüt  des  Lesers 
beugt,  bewegt,  hinreißt,  begeistert.  Paulus  kann  nicht  beiseite  lassen,  wer  nicht 
alle  Hofthung  des  Heils  wegwirft.  —  Mit  ähnlicher  humanistischer  Cbcrschwäng- 
lichkeit  wird  im  Encomium  etoquentinc  Homer  gepriesen:  des  Menschen  Geist 
hat  nichts  geboren,  was  dem  Homer  an  Weisheit  überlegen  wäre;  und  wie  durch 
Weisheit,  so  ist  er  durch  Eloquenz  vor  allen  Dichtern  ausgezeichnet. 


Der  Unierrkhtshetrieb  im  Öriechischen,  371 


.Sprachenlernen  (Vormbaüm,  I,  455  fl.)  die  Frage  vor:  ob  den  Schülern 
die  besten  Autoren  in  die  Hand  zu  geben  seien,  da  diese  meist  schwierige 
und  jenseits  der  Fassungskraft  der  Schüler  liegende  Dinge  behandeln? 
Ja,  antwortet  Wolf,  denn  die  Knaben  verstehen  ja  überall  nicht,  was 
sie  lesen.  Verstehen  sie  etwa  die  Fabeln,  welche  sie  von  Müttern  und 
Ammen  hören?  Nein,  denn  sie  merken  nichts  von  der  Bedeutung. 
Also  wenn  zu  ihnen  Plato,  Isokrates,  Cicero,  von  Gott,  Weisheit,  guten 
Sitten  sprechen,  so  verstehen  sie  das  ebenso  sehr  oder  ebenso  wenig, 
denn  gleichmäßig  ist  ihnen  alles  unbekannt  und  neu;  aber  sie  haben 
einen  Vorteil:  nämlich  daß  diese  in  der  gewähltesten  Sprache  reden. 
Und  was  das  Vergnügen  anlange,  das  die  Fabeln  Aesops  u.  a.  machen 
sollen,  so  glaube  er  nicht  daran:  ohne  Nötigung  würde  der  größte  Teil 
der  Knaben  jedes  Spiel  dem  ludus  litter arius  vorziehen.  „Denn  du 
darfst  machen,  was  du  willst,  die  Wurzeln  der  Erudition  sind  bitter 
und  die  Süßigkeit  der  Früchte  kann  erst  das  reifere  Alter  schmecken." 
Also  getrost  die  Schriftsteller  vornehmen,  welche  die  reinste  und  beste 
Sprache  reden,  ob  der  Inhalf  dem  Fassungsvermögen  der  Knaben  an- 
gemessen ist  oder  nicht.  Komme  noch  dazu,  daß  der  Inhalt  an  sich 
ein  würdiger  und  bedeutender,  wie  ja  denn  bei  der  engen  Verbindung 
von  Eloquenz  und  Weisheit  zu  erwarten,  so  sei  es  doppelt  gerecht- 
fertigt: denn  nicht  darauf  müsse  man  sehen,  wieviel  sie  jetzt  davon 
verständen,  sondern  darauf,  wie  großen  Nutzen  die  Dinge,  welche  sie 
vorläufig  bloß  ins  Gedächtnis  faßten,  bringen  würden,  wenn  sie  dereinst 
würden  verstanden  werden.  Und  für  den  Augenblick  könne  man  sich 
ja  mit  Übergehen  der  schwierigsten  Stellen  helfen;  darin  könne  er 
nicht  ein  Kapitalverbrechen  erblicken. 

Ganz  ähnlich  urteilt  auch  Mioyllus  in  dem  Frankfurter  Organisa- 
tionsentwurf (Vormbaüm,  I,  631):  von  Anfang  au  müsse  man  solche 
Lesestücke  vortragen,  die  nicht  allein  die  Eloquenz,  sondern  auch  das 
Urteil  über  die  Dinge  bilden,  obwohl  die  Knaben  über  die  Dinge  mit 
Einsicht  und  Gründlichkeit  zu  urteilen  noch  nicht  im  Stande  seien. 
„Denn  wie  diejenigen,  welche  in  der  Sonne  wandeln,  Farbe  bekommen, 
obwohl  sie  nicht  deswegen  wandeln,  so  prägen  sich  den  Knabenseelen, 
wiewohl  sie  der  Behandlung  ernster  und  großer  Dinge  noch  nicht 
ganz  zu  folgen  vermögen,  bei  der  Beschäftigung  mit  ihnen  bleibende 
Spuren  ein,  die  ihnen  später  nützlich  sein  werden." 

Also,  das  Beste  nach  Inhalt  und  Form,  wenn  auch  der  Sinn  der 
Fassungskraft  der  Knaben  noch  nicht  erreichbar  ist;  das  ist  das  Prinzip, 
dem  die  Pädagogen  des  16.  Jahrhunderts  in  der  Auswahl  der  Lektüre 
überall  folgten.  Es  ist  dasselbe  Prinzip,  das  den  Katechismusunter- 
richt eingeführt  hat  und  bis  auf  diesen  Tag  in  den  Schulen  erhält. 

24* 


v72     //,  h.    hfju^/M  ^ßfA   l'ftr^rric^uMtr^J'j  wr  prrAeA.  SofailOT  Min   loSO. 


tß^*-.  '/j'jtf^h  ^S'^iirh*ii^,*iU  dßfk  Giaa>/eiiÄ.  /twohi  ae  Eindem  noch  nicht 
Ut^fiur  ttu4f  v^rfieri  auf  H'^fibong  zunkchst  dem  Gedichtnis  eingeprägt. 
khr  'iiH  fffofun^u  hnUßihfi  wird  das  Prinzip  jetzt  nicht  mehr  anerkannt 
V'/f  lU^r  ^fhü^M  ifkfisü(Oi^htin  Berolution  der  AnfkUrong  galt  es  auch 
tur  dji^;;  UiSin  luk,  wk  Wolf  ODterscheidet.  znnäclist  Mctra  Xi^iPj 
h\t'M  HunA  diävoiuv\  das  Sinnrerstandnis  mag  seiner  Zeit  nach- 
ktimini'U,  riirifreriH  hlieb  natürlich  der  Umfang  der  griechischen 
I/«'kl<iP{  iiuf  d<'r  H^;hule  un(>eiieutend.  Es  handelte  sich  überall  nur 
ntn  bt»i<$htück<',  DcmoMtbenes  wurde  doch  nicht  hänfig  benutzt;  da- 
l/i*K<*»  Hiidini  «ich  «ehr  gewohnlich  außer  Aesops  Fabeln  Pythagoras' 
iniri*ii  rartfiifitif   TlufOffniii,  l^ltocylideSf  laocrates  ad  Demanicumy  Plutarch 

nhiT  KnU*\\\u\\(f  X^nophonH  Cyropadie,  Hesiods  Werke  und  Tage,  Stücke 
iiUN  llon»i«r  odur  Luciun  und  natürlich  die  Schriften  des  neuen  Testa- 
mnrilH;  für  (li*n  ornton  Anfang  war  auch  durch  jene  griechische  Ka- 
IrrliiNitiPH  u.  H.  w.  ^'('Hor^'t. 

K.  V.  Kau  MICH  hat  diesen  Formalismus  in  der  Behandlung  der 
Auluron,  wi'IrlMT  in  dem  Autor  nicht  efnen  Selbstzweck,  sondern  nur 
v\\\  Mitu^l  IM  oinrm  Zwock  sieht,  namentlich  an  Stubm  hart  getadelt 
M.  La  AN  hat.  in  saohkundi^'or  Ausführung^  gezeigt,  wie  unbillig,  weil 
unhiMlorisoh.  »lios  Trtoil  ühor  Sturm  ist  Er  weist  nach,  wie  Stubms 
AulTuvsunK  in  \Wv  ^an/on  humanistischen  Anschauung  wurzelt  Anderer- 
soHn  \^\i\\M  dooh  aurh  Laas,  dati  Sturm  einseitiger  als  die  älteren 
Humaiustou,  MKuvNruriiox,  Krasmvs,  Agricx)la,  die  Form  auf  Kosten 
dt^s  Inhalts  Ivt^tono.  Pas  ma^r  der  Fall  sein:  mir  scheint  aber,  es  er- 
V\MX  Moh  aus  Sn  kms  Stollunc:  or  sv*hrieh  Anweisungen  für  den  Schul- 
\iutoviioh(«  tu  solohon  kvu\iito  or  otfenbar  nicht  umhin«  diesen  Gesichts- 
punkt \n  dio  \v»r\lorsto  Koiho  t\x  Stollen.  Daß  die  Erlemnnsr  der 
SpvÄoho  dio  aK^v^tut  orsto  Aut>:^lv  dor  Sohule  sei,  darüber  war  im 
ttv  J^hvhuiuWrt  ulyrhÄupt  j:»r  keiuo  Meiuune>Tersoh:edenheiL  Me- 
lANvwvuv^N  Uiu;  Kkvsmvs  vboh:on  hiorü^er  nicht  acders;  aber  sie 
iXNiOU'v.  vuul  svh:,^\*u  :ur  Srudeuio::  ai^*:  Gelehrte. 

l\c^,/.^.lv,^:s^:?Ji  >;  *vv.^  uivi-r^u:!::  ^Tilis?»:—  ü?  i:-e  ?r:sai<»:ä!e-  Daß 
«*!'  ,*  ;:><f,\\*>.v  »r'i.^rv:*;:  r-er:*:  ji.::"  -:t:  x-iil»?  ;rT«£*:ai  w.rifc  s«. 
..v,^.,  "      t ■■.•::-::  vc>    *v"..^    *:-oiu^lv>     -rM?.   w.-ri  jo/a   isiri?t*r  -ia^ch 


Der  Unierrkhtahetrieb  im  Chriechischen,  373 

Klassiker  nicht  unglücklich  nachgeahmt  worden  seien,  ebensowenig 
tauschen  lassen,  als  durch  die  Demostheneslektüre  in  Straßburg.  Es 
handelt  sich  natürlich  nur  um  Schuleierzitien,  welche  man  aus  koUi- 
gierten  Phrasen  zusammensetzt,  sei  es  selbstgefundenen,  sei  es  von 
anderen  gesammelten.  Der  Ilfelder  Rektor  hatte,  wie  für  die  latei- 
nischen, so  auch  für  die  griechischen  Übungen  in  Poesie  und  Prosa 
solche  Hilfsbücher  zusammengetragen.  Er  empfiehlt  sie  in  dem  er- 
wähnten Bedenken:  „Äd  scribendas  Graecas  epistolas  wollten  ihm  viel 
dienen  unsere  locutionum  Graecarum  exempla  et  formulae^  die  eben 
auf  den  Schlag,  wie  die  Latinae  phrases  aus  allen  veterum  eloquentium 
scriptis,  multorum  annorum  labore,  zusammengebracht  sein.  Griechische 
versus  zu  schreiben,  wollten  ihm  sehr  förderlich  sein  unsre  libri  de 
re  poetica  Graecorum,  da  nicht  allein  epitheta  Graeca  variarum  rerumj 
locorum  et  personarum,  sondern  auch  phrases  poeticae  Graecae  et  ele* 
gantiae  Graecae  und  andere  Dinge  mehr  hierzu  nötig  aus  vielen  alten 
Graecis  autoribus  zusammengetragen,  alles  fein  ordentlich  in  capita 
und  classes  ausgeteilet,  zu  finden^^  (Vobmbaüm,  I,  756).  Die  Aufgabe 
des  Schülers  bestand  also  darin,  diese  Steinchen  zu  einem  musivischen 
Bild  zusammenzusetzen,  eine  für  manchen  nicht  unerfreuliche  und  nicht 
nutzlose  Beschäftigung,  wenigstens  so  lange  als  der  Glaube  an  die 
Möglichkeit  vorhanden  war,  sich  einmal  als  griechischen  Poeten  be- 
rühmt zu  machen.  —  Die  Görlitzer  Schulordnung  von  1609  (Vobm- 
baüm, II,  1 00)  will  die  Schreibübungen  eng  an  die  Lektüre  anschließen : 
aus  dem  Autor,  der  gelesen  wird,  stellt  der  Lehrer  einige  Sätze,  mit 
Veränderung  der  Personen,  Zeiten  u.  s.  w.  zusammen  und  läßt  sie  ins 
Griechische  zurückübersetzen.  Es  ist  dasselbe  Verfahren,  welches  von 
einsichtigen  Schulmännern  auch  gegenwärtig  geübt  und  empfohlen 
wird.  Jene  Görlitzer  Schulordnung  fügt  hinzu:  so  machen  sie  durch 
bescheidenen  Diebstahl  (modesto  furto)  Fremdes  zu  Eigenem. 

In  Summa:  der  griechische  Unterricht  folgte  in  Ziel  und  Methode 
genau  dem  lateinischen,  nur  blieb  die  hierin  erreichte  Fertigkeit  durch- 
weg sehr  weit  zurück  hinter  der  Fertigkeit,  welche  im  Lateinischen 
erlangt  wurde.  Der  Umfang  der  Lektüre  blieb  meist  ganz  geringfügig, 
von  einer  Einführung  in  die  griechische  Litteratur  war,  wenigstens  auf 
der  Schule,  nicht  die  Rede,  sie  blieb  dem  Auditorium  publictim  oder 
der  Universität  vorbehalten.  In  der  Begel  wird  aber  auch  hier  die 
Lektüre,  wenigstens  der  profanen  Autoren,  keine  große  Ausdehnung  ge- 
wonnen haben.  Ja,  manche  werden  auch  noch  gegen  Ende  des  Jahr- 
hunderts ohne  Kenntnis  der  griechischen  Sprache  ins  Predigt-  und 
Schulamt  getreten  sein,  sich  Lüthebs  getröstend,  der  nur  von  den 
„Propheten  oder  Auslegern",  nicht  aber  von  den  schlichten  Predigern  die 


374    II,  6,    Gestalt  und  UnterriMsbetrieb  der  protest.  Schulen  um  1580. 


Sprachen  fordert.  Ks  hinderte  nichts  von  irgend  einer  kleinen  Latein- 
schule, deren  Schulmeister  selbst  nicht  Griechisch  verstand,  auf  die 
Universität  zu  gehen,  und  hier  nötigte  den,  der  es  nicht  selbst  für 
nötig  hielt,  nichts.  Griechisch  zu  lernen.  Der  Schulmeister  von  Labes 
in  Pommern  redet  in  einem  Bericht  vom  Jahre  1598  von  der  arti- 
metice  und  dem  cathegismusj  durch  die  Schreibung  genugsam  verratend, 
daß  er  des  Griechischen  gänzlich  unkundig  war  (v.  BClow,  Bei- 
träge, 62).  Vielleicht  war  er  nie  auf  einer  Universität  gewesen.  Es  gab 
keine  Vorschriften,  wodurch  Universitätsbesuch  oder  gar  Promotion 
zur  Bedingung  der  ■  Anstellung  gemacht  worden  wäre.  Die  von 
Labes  werden  auch  nicht  eben  für  notig  gehalten  haben,  für  ihre 
Knaben,  die  im  Sommer  „eines  Teils  die  Gusselen,  eines  Teils  die 
Schweine,  eines  Teils  die  Kälber,  eines  Teils  die  Kühe,  eines  Teils  die 
Ochsen  hüteten,  eines  Teils  den  Pflug  trieben",  einen  großen  Gelehrten 
zum  Schulmeister  zu  bestellen;  auch  wäre  ein  solcher  für  zehn  Gulden 
und  achtehalben  ScheflFel  Hafer  wohl  nicht  zu  haben  gewesen,  selbst 
nicht,  wenn  die  mensa  ambulatoria  bei  den  Bürgern,  über  deren  Fortfall 
der  Schulmeister  sich  beschwert,  wieder  hergestellt  und  dem  Almosen- 
korb, welchen  er  durch  Knaben  umtragen  ließ,  nicht  mehr  mit  „groben, 
spottlichen  Worten"  begegnet  worden  wäre.  —  Es  ist  nicht  zweifelhaft, 
daß  eine  Schulvisitation  in  sehr  vielen  deutschen  Städten  ähnliche 
Zustände  vorgefunden  hätte.  — 

Zum  Schluß  noch  eine  Bemerkung  über  die  Realien.  Im  ganzen 
gilt,  wie  bemerkt,  die  Auffassung:  die  Schule  lehrt  die  Sprachen,  die 
Universität  die  Wissenschaften.  Sofern  aber  die  klassischen  Schrift- 
steller zugleich  Sachwissen  vermitteln  und  andererseits  zum  Verständnis 
voraussetzen,  so  führt  der  Sprachunterricht  unmittelbar  auch  die  Realien 
mit  sich:  Geschichte  und  Geographie,  Mythologie  und  Archäologie, 
Staats-  und  Rechtskunde,  Kosmologie  und  Philosophie  kommen  bei  der 
Lektüre,  so  formalistisch  sie  ist,  notwendig  zur  Sprache:  die  Dinge 
stecken  nun  einmal  in  den  Wörtern  und  andererseits,  ohne  alle  Kenntnis 
der  Dinge  wäre  auch  das  hloße  Wort  Verständnis  nicht  erreichbar.  So 
mehrt  sich  der  Schatz  der  sachlichen,  besonders  der  antiquarischen 
Kenntnisse  (emditio),  ohne  daß  es  hierfür  besonderer  Vorkehrungen 
oder  Unterrichtsstunden  bedürfte. 

Etwas  anders  steht  es  mit  den  eigentlichen  ^Wissenschaften,  die  in 
logischem  Aufbau  fortschreiten.  Zwar  sind  auch  hier  die  Schriften  der 
Alten  die  Quellen,  Aristoteles,  Euklid,  Ptolemäus  u.  s.  w.,  aber  ihre 
Lektüre  fällt  nicht  in  den  Kreis  der  Schule;  auch  ist  sie  überhaupt 
nicht  für  Anfanger  geeignet.  Hier  wird  daher  zuerst  ein  besonderer 
Unterricht  notwendig.    Und  so  finden  sich  denn,  wie  für  Rhetorik  und 


DU  Realien,  375 


Dialektik,  so  auch  für  die  Elemente  der  Physik  und  der  Kosmologie 
(Sphaera)  auf  den  Lehrplänen  der  großen  Schulen  in  der  zweiten  Hälfte 
des  16.  Jahrhunderts  allmählich  besondere  Stunden  ein.  Großartig  wird 
man  sich  die  Sache  freilich  nicht  vorstellen  dürfen;  es  handelt  sich  um 
die  ersten  Elemente  und  Vorbegriffe,  wodurch  der  spätere  Universitäts- 
unterricht,  der  übrigens  auch  wieder  meist  ein  ganz  elementarer  bleibt, 
vorbereitet  wird.  —  Ebenso  wird  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts 
auch  für  einen  ganz  elementaren  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der 
Mathematik  Raum  gemacht.  Die  Schulordnungen  der  ersten  Hälfte, 
die  kursächsische  von  1528,  die  Bugenhagenschen,  die  große  württem- 
bergische von  1559  erwähnen  die  Sache  noch  gar  nicht.  So  viel  ich 
sehe,  wird  es  erst  im  letzten  Viertel  des  16.  Jahrhunderts  Regel,  daß 
an  den  großen  Schulen  für  die  Oberklassen  eine  Stunde  für  die  elementa 
mathematum  oder  initia  arithmetices  angesetzt  wird.  So  kommt  in  der 
Breslauer  Schulordnung  von  1570  eine  Stunde  Arithmetik  in  I  vor; 
die  Schulordnung  für  die  sächsischen  Fürstenschulen  von  1580  hat  in 
II  eine  Stunde  Arithmetik,  in  I  eine  Stunde  Sphaera,  Die  Stralsunder 
Ordnung  von  1591  zeigt  eine  Stunde  Arithmetik  für  die  beiden  oberen 
Klassen;  in  II  wird  tabula  multiplicationisy  das  Einmaleins,  auswendig 
gelernt.  Überhaupt,  je  schlichter  und  geringer  man  sich  die  Sache 
vorstellt,  desto  näher  wird  man  der  Wirklichkeit  bleiben.  Die  Nord- 
häuser Schulordnung  von  1583,  die  zu  M.  Neandee,  dem  Freunde  des 
Realunterrichts,  und  seinen  Traditionen  Beziehung  hat,  schreibt  einen 
Unterricht  in  der  Arithmetik  durch  alle  Klassen  vor.  Was  darunter 
verstanden  wird,  sagt  die  Spezifikation:  V  die  Zahlen  bis  100,  IV  das 
kleine  Einmaleins,  III  lateinisch  zählen  und  das  große  Einmaleins, 
II  griechisch  zählen  und  die  Spezies,  I  hebräische  Zahlzeichen,  auf 
lateinisch  die  Spezies  rechnen,  und  Brüche.  Etwas  weiter  führt  ein 
Straßburger  Lehrplan  von  1623:  das  Pensum  der  untersten  (zehnten) 
Klasse  ist:  die  Zahlen  bis  100,  deutsch  und  lateinisch;  der  neunten: 
bis  1000;  der  achten:  das  Einmaleins;  der  siebenten:  Addition  und 
Subtraktion;  der  sechsten:  Mutiplikation;  der  fünften:  Division;  der 
vierten:  die  regula  de  tri;  der  dritten:  Brüche.  Für  die  beiden  oberen 
Klassen  wird  die  Anweisung  vorbehalten,  bis  ein  Lehrbuch  vorhanden 
sein  wird  (s.  Bünger,  M.  Bemegger,  266). 

Erst  seit  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  beginnt,  unter 
veränderten  Zeitverhältnissen,  der  Unterricht  in  den  Wissenschaften  all- 
mählich sich  auszudehnen.  Im  16.  Jahrhundert  beherrscht  der  Sprach- 
unterricht den  Schulbetrieb  so  gut  wie  absolut. 


378    //,  f).    Gestalt  uiul  Utiterrichisbetrieb  der  protest.  Schulen  um  loSO, 


und  notwendig  sind,  damit  das  Räsonnement  endlich  zu  Ende  komme 
und  der  Wille  nun  sein  Werk  thun  könne.  Daß  er,  ein  solcher  Mann, 
zu  solchem  Ausgang  hatte  mitwirken  müssen,  das  ließ  ihn  zu  Zeit-en 
sein  Leben  als  ein  ganz  verfehltes  und  verkehrtes  empfinden. 

Allerdings,  MEiiANCHXHONS  Jugendträume  waren  nicht  in  Er- 
füllung gegangen.  Wohl  waren  die  alten  Sophisten  tot;  aber  was  er 
schon  in  den  20  er  Jahren  hatte  kommen  sehen,  das  war  eingetroflfen: 
eine  neue  Sophistik  war  emporgekommen,  hartnäckiger  vielleicht  und 
dümmer  als  die  alte.  Nicht  die  Sprachen  und  die  schönen  Wissen- 
schaften und  das  reine  Wort  Gottes,  ohne  zanksüchtige  Interpret^o, 
beherrschten  die  Litteratur  und  die  Studien,  sondern  überall  waren 
die  Gemüter  mit  theologischen  Kontroversen  erfüllt  Die  alten  So- 
phisten hatten  doch  ihr  Geschäft  in  leidlichem  Frieden  betrieben;  jetzt 
dagegen  überall,  in  Wittenberg  und  Jena,  in  Frankfurt  und  Königs- 
berg, in  Nürnberg  und  Straßburg,  Händel  und  Verfolgungen,  Inquisi- 
tionen und  Vertreibungen.  Und  die  Sache  der  humanistischen  Studien 
lag  oflFenbar  jetzt  um  vieles  weniger  hoffnungsreich  als  am  Anfang  des 
Jahrhunderts.  Damals  hatte  alles,  was  Bedeutung  und  Einfluß,  Kraft 
und  Mut  besaß,  den  neuen  Studien  sich  zugewendet,  die  Prälaten,  die 
Fürsten,  die  Städte  und  vor  allem  die  studierende  Jugend  selbst.  Jetzt 
war  alles  anders:  die  Kirche  mißtrauisch  gegen  die  Studien,  die  alte 
wie  die  neue,  die  Fürsten  und  Städte  habsüchtig  und  knauserig,  die 
Jugend  indolent.  Längst  war  die  Begeisterung,  mit  welcher  man  einst 
der  schwer  zu  erreichenden  Kenntnis  des  Griechischen,  der  noch  seltenen 
römischen  Eloquenz  na<5hgetracht«t  hatt(*,  dahin;  trage  Gleichgültigkeit 
gegen  den  jetzt  ungesucht  sich  anbietenden  Unterricht  war  an  die 
Stelle  getreten.  So  ertönen  unablässig  die  Klagen  der  alternden  Huma- 
nisten und  JIelanchthüns  zumeist. 

Es  hätte  doch  jemand  versuchen  mögen,  ihn  aufzurichten.  Manches 
sei  doch  besser  geworden,  als  es  damals  gewesen.  Die  barbarische 
Sprache  und  die  barbarische  Philosophie  seien  von  den  Schulen  und 
Universitäten  verschwunden;  selbst  von  den  Theologen  werde  ein 
reineres  Latein  geschrieben.  Die  griechische  Sprache  sei,  wesentlich 
durch  seine  und  seines  Freundes  Camerabius  Thätigkeit,  auf  den  Univer- 
sitäten und  Schulen  so  weit  eingewurzelt,  daß  ihr  Ausgehen  nicht  mehr 
zu  besorgen  sei.  Es  stehe  zu  hoffen,  daß  auf  dies  Zeitalter,  nachdem 
die  rabies  theologorum  sich  in  sich  selber  verzehrt  haben  werde,  ein 
milderes  folge;  dann  werde  auch  der  Same  der  schönen  Wissenschaften, 
der  in  den  neuen  Schulklöstem  und  Universitätsstiften  bis  auf  die 
bessere  Zukunft  aufgehoben  ruhe,  aufkeimen  und  gedeihen.  Und  daß 
die  Jugend  nach  den  humanistischen  Studien  nicht  mehr  so  begierig  sei. 


II,  7.   Die  Neubegründung  des  röm.-kathoL  Gekkrtenschulicesens.     379 


liege  einigermaßen  in  der  Natur  der  Dinge  selbst:  die  köstliche  Frucht 
verliere  mit  ihrer  Seltenheit  etwas  von  ihrem  Wert  Doch  hüre  sie 
darum  nicht  auf  zu  nähren  und  zu  erfrischen.  So  werde  auch  die 
griechische  Weisheit,  wenngleich  sie  nicht  mehr  mit  dem  romantischen 
Zauber  umgeben  sei,  seitdem  sie  in  allen  Schulen  gelehrt  werde,  nicht 
aufhören,  den  Verstand  zu  erhellen  und  das  Gemüt  zu  mildem,  derer 
wenigstens,  die  für  Bildung  überhaupt  empfänglich  seien. 


Siebentes  Kapitel. 

Die  Neubegründung  des  römisch-katholischen  Gelehrten- 
schulwesens durch  die  Gesellschaft  Jesu. 

Auch  die  katholische  Kirche  ist  aus  der  großen  Krisis  nicht  als 
dieselbe  hervorgegangen. 

Ranke  hat  in  der  Geschichte  der  Päpste  ausgeführt,  wie  das  Papst- 
tum seit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  ein  anderes  wurde.  Hatte 
es  sich  im  15.  Jahrhundert  zu  einem  weltlichen  italienischen  Fürsten- 
tum ausgebildet,  dessen  Inhaber  ihre  geistliche  Stellung  der  Erhaltung 
und  Vermehrung  ihrer  weltlichen  Macht  dienstbar  machten,  so  wurde 
das  Verhältnis  nun  umgekehrt:  die  erworbene  weltliche  Macht  und 
namentlich  das  daraus  fließende  Einkommen  wurde  der  geistlichen 
Weltherrschaft  dienstbar  gemacht. 

Auch  innerlich  war  die  Kirche  eine  andere  geworden.  Die  alte 
Kirche  war  wirklich  die  allgemeine  gewesen,  nicht  bloß  äußerlich;  sie 
hatte  die  Gegensätze,  die  nun  auseinander  traten,  in  ihrem  Wesen 
umfaßt.  Die  neue  katholische  Kirche  bildet  den  komplementären  Gegen- 
satz zu  den  protestantischen  Kirchenbildungen.  Gegenüber  der  Zer- 
splitterung in  Landeskirchen  und  dem  Streit  um  die  Lehre,  die  als  das 
Erbteil  der  Revolution  dem  Protestantismus  eigen  blieben,  bildete  der 
neue  Katholizismus  die  Einheit  und  Gleichheit  immer  strenger  aus,  bis 
zur  formlichen  Annahme  des  Prinzips  des  monarchischen  Absolutismus 
in  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit.  Der  protestantischen  Geringschätzung 
des  Äußerlichen,  im  Kult  und  in  der  Disziplin,  setzte  der  neue  Katho- 
lizismus die  aufs  höchste  getriebene  Ausbildung  des  äußerlichen  Wesens 
entgegen.  Hatte  jener  in  der  ersten  Leidenschaft  des  Kampfs  die 
heiligen  Symbole  des  Kults  bis  auf  einen  kleinen  Rest  beseitigt,  den 
Schmuck  der  Priester  und  Gotteshäuser  abgethan,  die  verdienstlichen 
Leistungen   und  Enthaltungen  aller  Art,   womit  in  der  alten  Kirche 


372    II,  6,    Oestalt  und  Unterrichtsbeirieb  der  protest,  Sdiulen  wn  1580. 


Die  großen  Wahrheiteu  des  Glaubens,  obwohl  sie  Kindern  noch  nicht 
faßbar  sind,  werden  auf  Hofihong  zunächst  dem  Gedächtnis  eingeprägt. 
Für  die  profanen  Autoren  wird  das  Prinzip  jetzt  nicht  mehr  anerkannt 
Vor  der  großen  pädagogischen  Revolution  der  Aufklärung  galt  es  auch 
für  diese;  man  las,  wie  Wolf  unterscheidet,  zunächst  xarä  ki^iPj 
nicht  xaror  Siüvoiav\  das  Sinnverständnis  mag  seiner  Zeit  nach- 
kommen. —  Übrigens  blieb  natürlich  der  Umfang  der  griechischen 
Lektüre  auf  der  Schule  unbedeutend.  Es  bandelte  sich  überall  nur 
um  Lesestücke.  Demosthenes  wurde  doch  nicht  hänfig  benutzt;  da- 
gegen finden  sich  sehr  gewöhnlich  außer  Aesops  Fabeln  Fythagoras' 
aurea  carmina,  Theognis,  Phocylides,  Isocrates  ad  Bemonicum^  Flutarch 
über  Erziehung,  Xenopbons  Cyropädie,  Hesiods  Werke  und  Tage,  Stücke 
aus  Homer  oder  Lucian  und  natürlich  die  Schriften  des  neuen  Testa- 
ments; für  den  ersten  Anfang  war  auch  durch  jene  griechische  Ea* 
techismen  u.  s.  w.  gesorgt. 

K.  V.  Baümeb  hat  diesen  Formalismus  in  der  Behandlung  der 
Autoren,  welcher  in  dem  Autor  nicht  efnen  Selbstzweck,  sondern  nur 
ein  Mittel  zu  einem  Zweck  sieht,  namentlich  an  Stubm  hart  getadelt 
K  Laas  hat  in  sachkundiger  Ausführung^  gezeigt,  wie  unbillig,  weil 
unhistorisch,  dies  urteil  über  Sturm  ist.  Er  weist  nach,  wie  Sturms 
Auffassung  in  der  ganzen  humanistischen  Anschauung  wurzelt  Anderer- 
seits glaubt  doch  auch  Laas,  daß  Sturm  einseitiger  als  die  älteren 
Humanisten,  Melanchthon,  Erasmus,  Agricola,  die  Form  auf  Kosten 
des  Inhalts  betone.  Das  mag  der  Fall  sein;  mir  scheint  aber,  es  er- 
klärt sich  aus  Sturms  Stellung:  er  schrieb  Anweisungen  für  den  Schul- 
unterricht In  solchen  konnte  er  offenbar  nicht  umhin,  diesen  Gesichts- 
punkt in  die  vorderste  Reihe  zu  stellen.  Daß  die  Erlernung  der 
Sprache  die  absolut  erste  Aufgabe  der  Schule  sei,  darüber  war  im 
16.  Jahrhundert  überhaupt  gar  keine  Meinungsverschiedenheit  Me- 
lanchthon und  Erasmus  dachten  hierüber  nicht  anders;  aber  sie 
redeten  und  schrieben  für  Studenten  oder  Gelehrte. 

Wie  die  lateinische,  so  wurde  nun  natürlich  auch  die  griechische 
Lektüre  von  der  Imitation  begleitet  Auch  hier  wurde  die  poetische 
Darstellungsform  so  wenig  unversucht  gelassen,  als  die  prosaische.  Daß 
eine  erhebliche  Fertigkeit  hierin  auf  der  Schule  erreicht  worden  sei, 
erscheint  allerdings  wenig  glaublich;  man  wird  sich  darüber  durch 
Ausdrücke  wie  die  der  Augsburger  Schulordnung:  wir  erreichen  et  in 
Graecis  et  Latinis  mediocrem  ex  tempore  et  scribendi  et  loquendi  facul- 
tatemj  oder  durch  eine  Wendung  wie  die,  daß  in  Ilfeld  die  griechischen 

^  Über  die  Pädagogik  des  Joh.  Sturm.    Berlin  1S72. 


Der  Unterrichtsbetrieb  im  Griechischen.  373 

Klassiker  nicht  unglücklich  nachgeahmt  worden  seien,  ebensowenig 
täuschen  lassen,  als  durch  die  Demostheneslektüre  in  Straßburg.  Es 
handelt  sich  natürlich  nur  um  Schulexerzitien,  welche  man  aus  koUi- 
gierten  Phrasen  zusammensetzt,  sei  es  selbstgefundenen,  sei  es  von 
anderen  gesammelten.  Der  Ilfelder  Rektor  hatte,  wie  für  die  latei- 
nischen, so  auch  für  die  griechischen  Übungen  in  Poesie  und  Prosa 
solche  Hilfsbücher  zusammengetragen.  Er  empfiehlt  sie  in  dem  er- 
wähnten Bedenken:  „Äd  scribendas  Graecas  epistolas  wollten  ihm  viel 
dienen  unsere  locutionum  Graecarum  exempla  et  formulae,  die  eben 
auf  den  Schlag,  wie  die  Latinae  phrases  aus  allen  veterum  eloguentium 
scriptisy  multorum  annorum  labore^  zusammengebracht  sein.  Griechische 
versiLs  zu  schreiben,  wollten  ihm  sehr  förderlich  sein  unsre  libri  de 
re  poetica  Graecorumj  da  nicht  allein  epitheta  Graeca  variarum  rerum, 
locorum  et  personarum,  sondern  auch  phrases  poeticae  Graecae  et  eU" 
gantiae  Graecae  und  andere  Dinge  mehr  hierzu  nötig  aus  vielen  alten 
Graecis  autoribus  zusammengetragen,  alles  fein  ordentlich  in  capita 
und  classes  ausgeteilet,  zu  finden"  (Vobmbaum,  I,  756).  Die  Aufgabe 
des  Schülers  bestand  also  darin,  diese  Steinchen  zu  einem  musivischen 
Bild  zusammenzusetzen,  eine  für  manchen  nicht  unerfreuliche  und  nicht 
nutzlose  Beschäftigung,  wenigstens  so  lange  als  der  Glaube  an  die 
Möglichkeit  vorhanden  war,  sich  einmal  als  griechischen  Poeten  be- 
rühmt zu  machen.  —  Die  Görlitzer  Schulordnung  von  1609  (Vobm- 
baum, II,  1 00)  will  die  Schreibübungen  eng  an  die  Lektüre  anschließen  : 
aus  dem  Autor,  der  gelesen  wird,  stellt  der  Lehrer  einige  Sätze,  mit 
Veränderung  der  Personen,  Zeiten  u.  s.  w.  zusammen  und  läßt  sie  ins 
Griechische  zurückübersetzen.  Es  ist  dasselbe  Verfahren,  welches  von 
einsichtigen  Schulmännern  auch  gegenwärtig  geübt  und  empfohlen 
wird.  Jene  Görlitzer  Schulordnung  fügt  hinzu:  so  machen  sie  durch 
bescheidenen  Diebstahl  (modesto  furto)  Fremdes  zu  Eigenem. 

In  Summa:  der  griechische  Unterricht  folgte  in  Ziel  und  Methode 
genau  dem  lateinischen,  nur  blieb  die  hierin  erreichte  Fertigkeit  durch- 
weg sehr  weit  zurück  hinter  der  Fertigkeit,  welche  im  Lateinischen 
erlangt  wurde.  Der  Umfang  der  Lektüre  blieb  meist  ganz  geringfügig, 
von  einer  Einführung  in  die  griechische  Litteratur  war,  wenigstens  auf 
der  Schule,  nicht  die  Rede,  sie  blieb  dem  Auditorium  publicum  oder 
der  Universität  vorbehalten.  In  der  Regel  wird  aber  auch  hier  die 
Lektüre,  wenigstens  der  profanen  Autoren,  keine  große  Ausdehnung  ge- 
wonnen haben.  Ja,  manche  werden  auch  noch  gegen  Ende  des  Jahr- 
hunderts ohne  Kenntnis  der  griechischen  Sprache  ins  Predigt-  und 
Schulamt  getreten  sein,  sich  Lutheks  getröstend,  der  nur  von  den 
„Propheten  oder  Auslegern",  nicht  aber  von  den  schlichten  Predigern  die 


380     //,  r.    Die  Neubegründung  des  röm.-kaÜioL  OelehrienscJiulwesens. 


auch  das  Alltagsleben  durchzogen  war,  als  ein  Gott  miBfalliges,  selbst- 
gerechtes Streben,  ebenso  wie  das  klösterliche  Leben,  yerdächtigt  und 
abgeschafft:  so  vermehrte  umgekehrt  der  neue  Katholizismus  den 
Schmuck  der  Kirchen  und  des  Gottesdienstes  bis  zum  Prunk  und 
Schaugepränge;  die  religiösen  Übungen  und  Leistungen,  Heiligenkult-e, 
Gebetsübungen,  Reliquienverehrung,  Wallfahrten,  Prozessionen,  An- 
dachtsmittel und  Aberglaubensartikel  aller  Art  wurden  zu  einem  un- 
ermeßlich komplizierten  kirchlichen  Mechanismus  ausgebildet,  als  ob 
die  neue  katholische  Kirche  einbringen  müsse,  was  auf  der  andern  Seite 
versäumt  wurde. 

Nur  auf  einem  Gebiet  tritt  der  Gegensatz  gegen  die  Ähnlichkeit 
der  Entwicklung  in  beiden  Kirchen  zurück,  es  ist  das  Gebiet  des  gelehrten 
Unterrichts.  Auch  die  katholische  Kirche  erhielt  in  diesem  Zeitalter 
ein  neues  Gelehrtenschulwesen;  es  hat  im  allgemeinen  dieselben  Züge, 
wie  das  protestantische.  Die  bewegende  Kraft  war  dieselbe:  das  schon 
vor  der  Kirchenspaltung  überall  gefühlte  und  jetzt  doppelt  dringliche 
Bedürfnis  einer  besseren  wissenschaftlichen  Bildung  des  Klerus. 

Die  Erfüllung  dieses  Bedürfnisses  war  wesentlich  das  Werk  der 
im  Jahre  1540  vom  Papst  bestätigten  Gesellschaft  Jesu. 

Die  Gesellschaft  Jesu  war  von  den  alten  Orden  ihrem  ganzen 
Wesen  nach  verschieden.  Sie  hatte  nicht  zur  Absicht,  ihre  Mitglieder 
aus  der  Welt  herauszuführen,  um  sie  durch  Askese  für  den  Himmel 
zu  bereiten;  sie  führte  sie  mitten  in  die  Welt  hinein,  um  die  aus  den 
Fugen  gehende  Welt  der  Kirche  wieder  unterthan  zu  machen.^  Vor 
allem  bot  der  neue  Orden  an,  was  eben  jetzt  der  Kirche  am  ersten  und 
meisten  notthat,  besseren  Unterricht  und  bessere  Erziehung  des  Klerus. 
Die  alten  Dom-  und  Stiftsschulen,  soviel  davon  nach  der  Kirchenrevo- 
lution noch  übrig  war,  genügten  in  keiner  Hinsicht  dem  Bedürfnis; 
die  Universitäten,  wenn  sie  auch  in  Hinsicht  der  Wissenschaft  aus- 
gereicht hätten,  boten  doch  im  16.  Jahrhundert  gar  keine  Garantie 
mehr  für  eine  sittlich-kirchliche  Erziehung  des  jungen  Klerikers;  alle, 
auch  die  der  katholischen  Territorien,  waren  von  dem  humanistischen 
Heidentum  und  von  dem  Gift  der  Ketzerei  mehr  oder  minder  angesteckt 


*  Finis  hnJHS  societatis  est  non  solum  aaluti  et  perfectioni  propriarum  ani- 
marum  cum  divina  gratiä  vacare,  sed  cum  eadem  nnpense  in  salufem  et  perfee- 
tionem  proximorum  incumbere.  So  heißt  es  gleich  am  Eingang  der  Konstitutionen 
(Institutum  Soc,  J.,  Prag  1757,  I,  340).  Der  auf  das  Unterrichtswesen  bezüg- 
liche vierte  Teil  auch  in  der  Ausgabe  der  Ratio  studiwum  von  G.  M.  Pachtler^ 
S.  J.,  I,  8  ff.  In  den  ^ier  Bänden  dieses  Werks  (Mon.  Genn.  Paed.,  II,  V,  IX, 
XVI)  liegt  jetzt  eine  Fülle  von  Material  flir  die  Geschichte  des  Schulwesens 
der  Gesellschaft  vor. 


Die  Oesellschafl  Jesu;  ihr  Zweck  und  ihre  Mittel.  381 

Diesen  für  den  Bestand  der  Kirche  äußerst  bedrohlichen  ÜLelstanden 
zu  begegnen,  hatte  sich  der  Jesuitenorden  von  Anfang  an  als  wesent- 
liche Aufgabe  gestellt.  Demgemäß  bilden  die  Vorschriften  für  die 
wissenschaftliche  Ausbildung  der  Mitglieder  der  Gesellschaft  und  für 
den  Unterricht,  den  diese  dann  zu  erteilen  haben  werden,  sehr  wichtige 
Bestandteile  der  Gesetzgebung  des  Ordens. 

Schon  die  Ordensverfassung,  die  vom  Stifter  verfaßten  Konsti- 
tutionen, enthalten  in  ihrem  längsten,  dem  vierten  Abschnitt,  eine  aus- 
führliche Studienordnung.  Der  Abschnitt  beginnt:  „Da  es  der  Zweck 
der  Gesellschaft  ist,  der  eigenen  Seele  und  der  der  Nächsten  zur  Er- 
reichung des  Endziels,  wozu  sie  geschaffen  sind,  zu  helfen,  und  da 
hierzu  außer  dem  vorbildlichen  Lebenswandel  die  Lehre  und  die  Lehr- 
kunst  (doctrina  et  modus  eam  proponendi)  nötig  sind,  so  muß  es  sich, 
sobald  bei  den  znr  Prüfung  (Probatio,  Noviziat)  Zugelassenen  eine  ge- 
nügende Grundlage  in  der  Selbstverleugnung  und  im  nötigen  Fortgang 
in  der  Tugend  ersichtlich  ist,  um  den  Aufbau  der  Wissenschaften  und 
ihre  Anwendung  zu  mehrerer  Erkenntnis  und  mehrerem  Dienst  Gottes, 
unseres  Schöpfers  und  Herrn,  handeln.  Zu  diesem  Ende  umfaßt  die 
Gesellschaft  Kollegien  und  hin  und  wieder  auch  Universitäten,  in 
denen  solche,  die  in  den  Probationshäusern  sich  bewährt,  aber  nicht 
die  für  unser  Institut  erforderliche  wissenschaftliche  Bildung  mitgebracht 
haben,  in  diesen  und  anderen  Dingen,  die  den  Seelen  zu  helfen  dien- 
lich sind,  Unterricht  empfangen."  Es  wird  sodann  der  Studiengang 
skizziert,  er  geht  auf  eine  vollständige  gelehrte  Bildung ;  zu  ihr  führen 
in  drei  Stufen  der  grammatisch-rhetorische,  der  philosophische  und  der 
theologische  Unterricht.  Als  Bestandteile  des  ganzen  Kursus  werden 
genannt:  Zitier ae  Humaniores  diversarum  linpnarum,  Logica,  naturalis 
ac  moralis  Philosophia^  Metaphysica  et  Theolopia,  tarn  quae  iScholastica 
quam  quae  Positiva  diciiur,  et  sacra  Scriptura  (Kap.  V). 

Dieser  Studiengang,  der  übrigens  im  wesentlichen  dem  in  den 
älteren  Orden,  vorzüglich  dem  der  Dominikaner,  herkömmlichen  Kursus 
nachgebildet  ist,  wird  zunächst  für  die  Mitglieder  der  Gesellschaft  ver- 
ordnet. Doch  sollen  die  Studienanstalten  der  Gesellschaft,  keineswegs 
bloß  Seminare  für  den  Nachwuchs  des  Ordens,  sondern  zugleich  öffent- 
liche, aller  Welt  zugängliche  Lehranstalten  sein.  Und  zwar  sollen  sie 
—  eine  für  die  Ausbreitung  wichtige  Bestimmung  —  ihren  Unterricht 
von  der  untersten  bis  zur  obersten  Stufe,  mitsamt  den  Prüfungen  und 
Graden,  unentgeltlich  darbieten,  nach  dem  Wort  des  Evangeliums: 
umsonst  habt  ihr  es  empfangen,  umsonst  gebet  es  auch. 

In  der  That  hat  die  Gesellschaft  Jesu  im  Verlaufe  des  folgenden 
Jahrhunderts  den  gesamten  gelehrten  Unterricht  in  den  katholischen 


382     II,  7.    Die  Neuhegründung  des  röm,'kathoL  OelehrtenscJiulwesens, 


Ländern  Europas,  doch  mit  Ausschluß  des  juristischen  und  medizinischen, 
beinahe  vollständig  in  die  Hände  genommen  und  bis  in  die  zweite 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  behalten.  Durch  zwei  Jahrhunderte  ist  der 
größte  Teil  der  Gymnasien  und  Universitäten,  d.  h.  der  theologischen 
und  philosophischen  Fakultäten,  von  ihnen  mitljehrern  versehen  worden. 
Man  kann  geradezu  sagen:  der  Orden  ist  in  diesen  liändern  die  Orga- 
nisation für  das  gesamte  gelehrte  Studien wesen;  nicht  der  Staat,  son- 
dern eine  private,  von  der  Kirche  privilegierte  Gesellschaft,  hat  hier 
die  Befriedigung  dieses  öffentlichen  Bedürfnisses  übernommen.  Die 
Mitglieder  des  Ordens  dienen,  die  Laienbrüder  ausgenommen,  beinahe 
alle  mindestens  eine  Zeitlang  als  Universitäts-  und  Gymnasial professoren; 
seine  Kollegien  sind  öflFentliche  Lehranstalten  und  zugleich  Seminare, 
in  denen  die  Mitglieder  zu  Professoren  ausgebildet  werden.  Allerdings 
haben  die  Ordensglieder  neben  dem  gelehrten  Unterricht  auch  andere 
Aufgaben;  sie  werden  zur  Predigt,  zur  Seelsorge,  zur  Krankenpflege, 
endlich  und  vor  allem  auch  zur  Mission  verwendet;  und  zuletzt  wollen  sie 
auch  mit  dem  Unterricht  dem  Heil  der  Seelen  und  der  Kirche  dienen; 
Wissenschaft  und  Bildung  sind  nicht  Selbstzweck.  Aber  so  sehr  über- 
wiegt in  der  Thätigkeit  des  Ordens  der  Unterricht,  daß  man  ihn  ge- 
radezu als  Studien-  oder  Schulorden  bezeichnen  kann. 

So  sieht  ihn  auch  die  Kirche  an.  Durch  mehrere  päpstliche  Privi- 
legien aus  den  ersten  Jahrzehnten  seines  Bestehens  wurden  die  Studien- 
anstalten des  Ordens  den  alten  Generalstudien  vollständig  gleichgestellt; 
dem  General  wurde  die  Befugnis  gegeben,  den  einzelnen  Anstalten  nach 
seinem  Ermessen  das  Recht  der  Prüfung  und  der  Erteilung  der  Grade 
in  den  von  ihnen  gelehrten  Fächern  beizulegen,  mit  derselben  Wirkung, 
wie  sie  den  von  den  alten  Universitäten  erteilten  Graden  beiwohnte. 
Nicht  minder  wurde  den  alten  Universitäten  zur  Pflicht  gemacht,  die 
an  Jesuitenkollegien  zugebrachten  Studienjahre  anzurechnen  (die  Bullen 
bei  Pachtler,  I,  Iff.). 

Ebenso  ist  das  Verhältnis  der  Kollegien  zur  weltlichen  Gewalt 
nicht  wesentlich  verschieden  von  dem  der  alten  Universitäten.  Wie  die 
mittelalterlichen  Doktorenkorporationen  von  den  Fürsten  und  Städten 
mit  Dotationen  und  Immunitäten  ausgestattet  wurden,  so  jetzt  die  neue 
Ordenskorporation.  Sehr  deutlich  tritt  die  Sache  gleich  bei  einer  der 
ersten  Gründungen,  in  dem  zwischen  dem  Herzog  von  Bayern  und  dem 
Ordensprovinzial  abgeschlossenen  Vertrage  über  die  Errichtung  des  Ingol- 
städter  Kollegiums  (1555)  hervor.  Der  Herzog  stattet  die  „zum  Zweck 
der  Ausbildung  guter  und  katholischer  Geistlichen**  errichtete  Anstah 
mit  den  nötigen  Gel)äuden  und  Einrichtungen  und  einer  Jahresdotation 
von  800  fl.  nebst  Naturalien  aus.    Die  Gesellschaft  übernimmt  die  An- 


Die  Kollegien j  ihr   Verhältnis  xur  weltlichen  Gewalt,  383 


stalt  mit  der  Verpflichtung,  darin  beständig  zwei  Doktoren  zu  unter- 
halten, die  öffentlich  an  der  Universität  Theologie  lehren,  und  femer 
eine  öfiFentliche  Schule  zu  halten,  die  alle  Knaben,  aus  der  Stadt  und 
von  auswärts,  frei  und  umsonst  besuchen  können.  Dagegen  hat  sie  das 
Eecht,  im  Kolleg  außer  jenen  Doktoren  und  Lehrern  so  viele  dem 
Orden  angehörige  Schüler  zu  halten,  als  es  die  Mittel  gestatten.  „Diese 
Benefizien  soll  die  Gesellschaft  genießen,  so  lange  sie  an  der  Ingol- 
städter  Akademie  ihr  Amt  treulich  und  genugsam  ausübt."  Es  ist  das 
der  regelmäßige  Hergang  bei  der  Errichtung  von  Kollegien:  der  Orden 
übernimmt  einen  bestimmten  Lehrauftrag  gegen  eine  ihm  zur  Ver- 
fügung gestellte  Dotation.  In  dem  Ingolstädter  Fall  wurde  das  Kollegium 
an  die  schon  vorhandene  Universität  angelehnt.  In  anderen  Fällen  ent- 
wickelte sich  die  Studienanstalt  der  Gesellschaft  selbst  zur  Universität; 
so  z.  B.  in  Graz  (Pachtleb,  I,  344  flf.). 

Von  hieraus  ergiebt  sich  übrigens  nun  auch  die  Bedeutung  der 
viel  berufenen  Unentgeltlichkeit  des  Unterrichts  in  den  Jesuitenkollegien. 
Natürlich  bedeutet  das  nicht,  daß  der  Unterricht  überhaupt  nichts 
kostete,  das  ist  ja  unmöglich,  die  Unterhaltung  von  Lehrern,  Schulen. 
Unterrichtsmitteln  fordert  natürlich  beträchtliche  Mittel;  sie  bedeutet 
auch  nicht,  daß  der  Orden  die  Mittel  dazu  hergab,  der  Orden  als  solcher 
hatte  kein  A^ermögen  und  durfte  es  nach  der  Regel  nicht  haben;  sie 
bedeutet  nur,  einerseits  daß  weder  der  Orden,  noch  der  einzelne  Lehrer 
den  UnteiTicht  zur  Einnahmequelle  für  sich  machte,  andererseits  daß 
dem  einzelnen  Schüler  kein  Geld  für  Unterricht,  Prüfung  und  Promotion 
abgefordert  wurde.  Die  Kosten  des  Unterrichts  wurden  eben  von  den 
Stiftern,  größtenteils  weltlichen  und  geistlichen  Fürsten,  doch  auch  von 
Städten  und  Privaten,  welche  die  Kollegien  fundierten,  getragen,  das 
heißt  also  zuletzt  von  dem  Lande,  das  sie  regieren.  Und  so  stehen 
also  die  Jesuiten kollegien  auch  in  dieser  Hinsicht  neben  den  protestan- 
tischen Landes-  oder  Fürstenschulen :  es  sind  Studienanstalten,  in  denen 
auf  ÖfiFentliche  Kosten  für  den  gelehrten  Unterricht  gesorgt  ist.  Wobei 
denn  der  wesentliche  Unterschied  bleibt,  daß  in  den  Landesschulen  die 
weltliche  Regierung  das  Schulregiment  übt,  während  die  Gesellschaft 
Jesu  Kollegien  nur  unter  der  Bedingung  übernahm,  daß  die  Regelung 
des  Unterrichtsbetriebs  ihr  vollständig  überlassen  werde. 

Nicht  minder  tritt  der  Charakter  der  Gesellschaft  als  Studien-  oder 
Professorenorden  auch  in  seiner  Innern  Verfassung  hervor.  Ich  deute  die 
Grundzüge,  soweit  sie  auf  das  Unterrichtswesen  Beziehung  haben,  kurz  an.^ 

*  Vgl.  auch  den  eingehenden  Artikel  Jesuiten  und  Jesuitenschulen  von 
Waoexmann  in  Schmids  Encyklopädie,  und  Cornova,  Die  Jesuiten  als  Gymnasial- 
lehrer (Prag  1804). 


384     IL  7.   Die  Neubegründung  des  röm.-kaihoL  OeUhrtenschulweaens. 


Die  Mitglieder  zerfallen  in  vier  Klassen:  Novizen,  Scholastiker, 
Koadjutoren,  Professen,  wozu  noch  Laienbrüder  (coadjutores  tempo^ 
rales  oder  saeculares)  kommen,  denen  die  häuslichen  Geschäfte  obliegen, 
für  die  übrigens  doch  kein  Ordensmitglied  sich  zu  vornehm  halten  darf. 
Die  Professen  (professi  quattuor  votorum;  sie  legen  außer  den  drei  üb- 
lichen noch  das  vierte  Gelübde  ab:  jedem  päpstlichen  Befehl,  zu  Gläu- 
bigen oder  Ungläubigen  in  diesem  oder  jenem  Weltteil  zu  gehen,  un- 
bedingt und  unverzüglich  Folge  zu  leisten)  bilden  den  engsten  Kreis 
der  meistverpflicht^ten,  dafür  auch  der  vollberechtigtsten  Mitglieder;  aus 
ihnen  wird  die  Generalkongregation  gebildet,  welche  die  gesetzgebende 
Gewalt  übt  und  den  General  (praepositus  generalis)  wählt  Sie  wohnen 
in  den  Profeßhäusem.  In  den  Kollegien  wohnen  die  Koadjutoren  und 
Scholastiker,  sie  bilden  vorzugsweise  das  lehrende  und  lernende  Per- 
sonal des  Ordens;  doch  sind  auch  Professen  besonders  als  Lehrer  der 
Theologie  in  den  Kollegien  thätig.  Die  Novizen  endlich  werden  zu- 
nächst in  besonderen  Probationshäusem  (oder  auch  in  einem  Kollegium) 
untergebracht,  wo  sie  durch  religiöse  Disziplin  und  Werke  der  Ab- 
tötung  geprüft  und  für  den  Orden  vorbereitet  werden. 

Die  Laufbahn  eines  Jesuiten,  der  etwa  im  Alter  von  16  oder 
18  Jahren  zum  Eintritt  in  den  Orden  sich  entschloß,  gestaltete  sich 
demnach  etwa  in  folgender  Weise.  Zuerst  ist  ein  zweijähriges  Noviziat 
zu  absolvieren,  während  welcher  Zeit  keine  wissenschaftlichen  Studien 
vorgenommen  werden.  Dann  wird  das  erste  Gelübde  abgelegt  und  der 
scholasticus  approhatus  beginnt  nun  den  Studienkursus  in  einem  Kol- 
legium. Erscheint  es-  erforderlich,  so  macht  er  zunächst  noch  die  obere 
Stufe  des  humanistischen  Schulkursus  durch.  Dann  folgt  der  dreijährige 
philosophische  Kursus,  Logik,  Physik,  Metaphysik  umfassend.  Auf  die 
Absolvierung  der  weltlichen  Studien  folgt  nun  regelmäßig  eine  mehr- 
jährige Verwendung  als  Lehrer  an  einem  Kolleg,  der  übrigens  eine 
Vorbereitung,  die  sogenannte  repetitio  humaniorum,  vorhergeht  In  der 
Schule  findet  gewohnlich  ein  Aufsteigen  durch  die  Klassen  mit  dem 
Cötus  statt  Hierauf  folgt  endlich  das  Studium  der  Theologie,  wofür 
ein  vierjähriger  Kursus  festgestellt  ist,  an  den  sich  noch  zwei  Jahre 
für  Repetition  und  Erwerbung  der  Grade  anschließen  mögen.  Minder 
fähige  können  auch  dauernd  in  der  Schule,  als  magistri  perpetuij  ver- 
wendet oder  durch  einen  abgekürzten  theologischen  Unterricht  für  den 
Beruf  des  Beichtigers  oder  Predigers  vorbereitet  werden.  Hierüber 
steht  die  Verfügung  überall  bei  den  Oberen.  Nach  dem  Empfang  der 
Priesterweihe  und  der  Ablegung  der  Gelübde,  entweder  als  coadjutor 
spiritualis  oder  als  professus,  wird  er  zur  Predigt,  zur  Seelsorge,  zur 
Mission,  oder  im  Unterricht,  sei  es  dem  humanistischen  oder  dem  philo- 


Die  Ausbildung  der  Ordensglieder.  385 


sophischen  oder  theologischen  verwendet,  je  nachdem  und  so  lange  es 
den  Oberen  im  Interesse  der  Gesellschaft  und  im  Interesse  der  Voll- 
endung des  Einzelnen  am  besten  scheint;  dieser  hat  im  Gebot  des 
Oberen  das  Gebot  Gottes  zu  erkennen  und  zu  gehorchen,  er  darf  nicht 
einmal  den  Wunsch,  zu  höheren  Studien  und  Leistungen  promoviert 
zu  werden,  aussprechen. 

Wie  das  gelehrte  Studium  das  Hauptstück  der  Ausbildung  der 
Ordensglieder  ausmacht,  so  ist  die  Geschicktheit  dazu  auch  schon  ein 
Hauptaugenmerk  bei  der  Auswahl  der  sich  anbietenden  Novizen.  Auf- 
genommen werden  sollen,  so  bestimmen  die  Konstitutionen,  nur  solche, 
„bei  denen  vernünftiger  Weise  Aussicht  ist,  daß  sie  tüchtige  Arbeiter 
im  Weinberg  Christi  durch  Beispiel  und  Lehre  werden.  Je  begabter, 
je  gesitteter  und  je  rüstiger  sie  auch  körperlich  sind,  die  Studienarbeit 
•  zu  ertragen,  desto  tauglicher  sind  sie  zur  Aufnahme".  Auch  wird 
regelmäßig  ein  Anfang  gelehrter  Schulbildung  vorausgesetzt.  Dem 
entspricht  die  Bestimmung,  daß  auch  noch  Scholastiker  wegen  TJnfleiß 
oder  Unfähigkeit  dimittiert  werden  können:  „Wenn  der  Rektor  be- 
merkt, daß  jemand  seine  Studienzeit  nutzlos  verbringt,  weil  er  Fort- 
schritte in  den  Wissenschaften  entweder  nicht  machen  will  oder  nicht 
kann,  so  ist  es  besser,  ihn  zu  entlassen  und  an  seiner  Stelle  einen 
anderen  anzunehmen,  welcher  der  in  den  Kollegien  vorgesetzten  Ab- 
sicht des  göttlichen  Dienstes  besser  entspricht."  Wozu  denn  die  De- 
klaration allerdings  hinzufügt:  wenn  er  zwar  nicht  zu  Studien,  wohl 
aber  zu  andern  Diensten  tüchtig  ist  (z.  B.  etwa  zum  Beichthören),  so 
mag  man  ihn  hierzu  verwenden;  ist  das  nicht-  der  Fall,  so  mag  er 
dimittiert  werden,  doch  ist  es  billig,  nach  reiflicher  Erwägung  erst  an 
den  Provinzial  oder  General  zu  berichten  (I,  32).  Endlich  entspricht 
dem,  daß  zum  Professus,  wie  durch  wiederholte  Beschlüsse  der  General- 
kongregation eingeschärft  wird,  nur  die  befördert  werden  (promoveri) 
sollen,  die  nach  Ausweis  strenger  Prüfung  ihren  philosophisch-theo- 
logischen Kursus  mit  solchem  Erfolg  durchgemacht  haben,  daß  sie 
Philosophie  und  Theologie  zu  lehren  tüchtig  sind;  doch  wird  als  Ersatz 
zugelassen  hervorragende  Leistung  in  den  Sprachen  oder  auch  in  der 
Predigt.  Man  sieht,  eigentlich  soll  niemand  Professus  werden,  als  wer 
zum  Professor  tauglich  ist. 

Wie  sehr  die  Aufgabe  des  gelehrten  Unterrichts  im  Mittelpunkt 
der  Thätigkeit  des  Ordens  steht,  wenigstens  in  den  europäischen 
Ländern,  denn  daneben  steht  freilich  als  zweites  großes  Thätigkeits- 
gebiet  die  Mission  in  den  außereuropäischen  Ländern,  das  tritt  auch 
in  der  Statistik  seiner  Niederlassungen  deutlich  hervor.  Nach  einer 
Tabelle  mit  Karte  (bei  Pachtlee,  III,  Anhang)  betrug  im  Jahre  1725, 

Paulson,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  25 


386     //,  r.    Die  Neuhegründung  des  röm.'kaihoL  Gelehrtensctmlwesen^, 


also  nicht  lange  vor  dem  beginnenden  Niedergang  des  Ordens,  die 
Zahl  seiner  Kollegien  allein  in  der  deutschen  Assistenz  (Deutschland 
mit  Österreich,  Polen,  den  Niederlanden)  209  mit  89  Seminaren,  wo- 
gegen die  Zahl  der  Profeßhäuser  ganz  gering  war  (6);  dazu  73  Resi- 
denzen oder  kleine  Niederlassungen.  — 

Betrachten  wir  nun  die  Kollegien  etwas  genauer.  Ihre  Größe, 
die  Zahl  ihrer  Bewohner  und  der  Umfang  der  darin  getriebenen 
Studien  ist  sehr  verschieden;  sie  hängt  ab  von  der  Größe  der  von  den 
Stiftern  zur  Verfügung  gestellten  Mittel.  Durch  wiederholte  Verord- 
nungen der  Generäle  ist  das  Minimum  der  Fundation  für  verschiedene 
Arten  von  Studienanstalten  festgestellt  worden.  Eine  Verordnung  des 
zweiten  Generals,  P.  Lainez,  um  das  Jahr  1564  fordert  für  das  kleinste 
Kollegium  die  Mittel  zur  Unterhaltung  von  wenigstens  20  Personen: 
drei  Lehrer  der  klassischen  Sprachen,  mit  einem  vierten  als  Stell- 
vertreter, drei  Priester,  von  denen  der  eine  Rektor  sein,  die  beiden 
andern  der  Seelsorge  sich  widmen  sollen,  ferner  sieben  Schüler  als 
Nachwuchs  und  sechs  Laienbrüder,  dazu  noch  ein  nicht  zur  Gesellschaft 
gehöriger  corrector^  der  die  castigatio  besorgt.  Für  ein  Kollegium  mit 
dem  vollständigen  humanistisch-rhetorischen  Kursus  sind  wenigstens  30, 
für  ein  Kollegium  mit  dem  philosophischen  Kursus  50,  kommt  auch 
der  theologische  Kursus  hinzu,  70  oder  mehr  ex  Mostris  notwendig. 
Wird  von  dem  Stifter  nicht  die  für  die  Erhaltung  dieses  Personals 
ausreichende  Dotation  zur  Verfügung  gestellt,  so  soll  die  Gesellschaft 
die  Verpflichtung  nicht  auf  sich  nehmen.  Eine  Verordnung  von  1 588 
läßt  die  erste  Art,  die  Lateinschule,  überhaupt  fallen  und  fordert  für 
die  drei  übrigen  Formen  als  Regel  50,  80,  1 20  Personen,  welche  Zahlen 
später  allerdings  wieder  herabgesetzt  werden  (Pachtler,  I,  334  flf.). 

An  diesen  Stamm  schließen  sich  dann  die  nicht  dem  Orden  an- 
gehörigen  Schüler,  und  es  hindert  nicht«,  daß  sich  auch  Kinder  Anders- 
gläubiger einfinden.  Der  Verkehr  der  Externen  mit  den  Internen  ist 
allerdings  ein  sehr  beschränkter,  auch  in  der  Schule  sind  für  beide 
eigene  Plätze.  Die  in  der  Stadt  heimischen  Schüler  kommen  bloß  zum 
Unterricht.  Für  Auswärtige  besteht  an  vielen  Kollegien  ein  Alumnat 
(convictus),  in  dem  arme  Schüler  umsonst  Aufnahme  finden.  Daneben 
findet  sich  vielfach  auch  ein  Pensionat  für  Knaben  der  höheren 
Stünde.  Au  den  bischöflichen  Sitzen  stehen  die  Klerikalseminare 
ebenfalls  gewöhnlich  unt^r  der  Leitung  der  Väter.  Endlich  sind  auch 
die  jihilosophischen  und  theologischen  Fakultäten  der  alten  Universitäten 
im  katholischen  Deutschland  meist  der  Gesellschaft  übergeben  worden, 
so  daß  sie  die  Lehrer  stellte  und  den  Unterricht  nach  ihrer  Regel  ordnete. 

Was  die  Verfassung  der  Kollegien  anlangt,  so  steht  an  der  Spitze 


Die  mnere  Verfassung  d^r  Kollegien,  387 


der  P.  Rektor.  Er  wird  vom  General  ernannt.  Seiner  Sorge  ist  das 
Gedeihen  der  ganzen  Anstalt  und  jedes  einzelnen  Gliedes  anbefohlen. 
,,Alle  Bewohner  des  Kollegs  sollen  ihn  achten  und  in  Ehren  halten 
als  den  Stellvertreter  Christi,  ihm  ihre  Person  und  ihre  Sachen  zu 
freier  Verfugung  mit  aufrichtigem  Gehorsam  anheimgeben,  nichts  vor 
ihm  verschlossen  halten,  nicht  einmal  das  eigene  Gewissen,  das  sie 
ihm  zu  festgesetzter  Zeit  und  öfter,  wenn  es  notthut,  eröflfhen  müssen, 
ihm  nicht  widerstehen,  nicht  widersprechen,  noch  ein  seinem  Urteil  ent- 
gegenstehendes eigenes  Urteil  zeigen"  (Konstit  IV,  10).  Ihm  zur  Seite 
steht,  vom  Provinzial  ernannt,  der  Studienpräfekt  (praefectus  stn- 
fliorum);  er  leitet  das  ganze  Studienwesen;  „ihm  sollen  alle  Professoren 
und  Scholastiker  des  Kollegs  mit  Einschluß  des  Konvikts  und  Alumnats, 
in  allen  Dingen,  die  sich  auf  die  Studien  beziehen,  in  Demut  gehorchen." 
Hat  das  Kolleg  sowohl  Gymnasial-  als  Universitatskurse,  so  soll  jeder 
Abteilung  ein  Studienpräfekt  vorstehen.  Die  Lehrer  der  einzelnen 
Fächer  bestimmt  der  Provinzial.  Es  wird  ihm  zur  Pflicht  gemacht, 
„schon  lange  vorher  sich  umzusehen,  welche  Professoren  er  für  jedes 
Studienfach  haben  könne,  indem  er  acht  giebt,  welche  hierzu  am  ge- 
schicktesten scheinen,  welche  gelehrt,  fleißig,  ausdauernd  und  auf  die 
Fortschritte  der  Studierenden  sowohl  in  den  Lektionen  als  in  den  andern 
wissenschaftlichen  Übungen  bedacht  sind"  (Rat.  Stud.,  Reg.  Praep.  Prov.). 
Endlich  seien  noch  die  Anordnungen  über  die  Vorbildung  der 
Lehrer  für  ihren  Beruf  erwähnt.  Schon  in  der  Rat.  Stud.  wird  hierauf 
Bedacht  genommen.  ,,Damit  die  Lehrer  der  Gymnasialklassen  nicht 
ganz  unerfahren  an  den  Unterricht  herantreten,  soll  der  Rektor  des 
Kollegs,  aus  dem  dieselben  genommen  zu  werden  pflegen,  einen  alten, 
sehr  erfahrenen  Lehrer  auswählen,  bei  dem  sich  gegen  Ende  ihrer 
Studien  die  demnächstigen  Lehrer  dreimal  wöchentlich  versammeln,  um 
sich  in  der  Erklärung  der  Autoren,  im  Abfassen  von  Argumenten,  im 
Schreiben,  Korrigieren  und  den  anderen  Aufgaben  eines  tüchtigen 
Lehrers  zu  üben  und  so  für  das  neue  Lehramt  vorzubilden"  (Rat.  St. 
Reg.  Rect.  9).  Ebendahin  gehört  die  folgende  Bestimmung:  „monat- 
lich oder  wenigstens  alle  zwei  Monate  soll  der  Rektor  im  Beisein  der 
Präfekten  eine  Konferenz  mit  allen  Lehrern  der  Gymnasialklassen 
halten,  in  denen  zuerst  etwas  aus  den  Regeln  für  die  Magister  vor- 
gelesen wird,  dann  fordere  er  auf,  auszusprechen,  wo  einem  eine 
Schwierigkeit  aufstößt,  oder  erinnere,  wo  etwas  nicht  beobachtet  wird". 
Eingehendere  Beschäftigung  mit  der  Frage  der  Heranbildung  tüchtiger 
Lehrer  folgte  im  17.  Jahrhundert.  Die  hierauf  abzielenden  Anord- 
nungen für  die  rheinische  Provinz  findet  man  im  IV.  Bd.  der  Rat.  Stud. 
(Mon.  Germ.  Paed.  XVI),  S.  175fiF.    Auf  einer  Versammlung  vom  Jahre 

25* 


388     II,  7,    Die  Neubegründung  des  röm,-kat?ioL   GeleJirienschxdioesens, 


1619  wurde  eine  Normalschule  als  Lehrerseminar  (zu  Schlettstadt)  in 
Aussicht  genommen;  ob  der  Beschluß  ausgeführt  ist,  ist  allerdings  nicht 
ersichtlich.  Dagegen  werden  sehr  eingehende  Instruktionen  (vom  Jahre 
1622)  für  die  Repetition  der  humanistischen  Studien  und  für  die  Leitung 
und  Beschäftigung  der  jungen  Lehrer  durch  den  Studienpräfekten  mit- 
geteilt. Das  Ziel  des  Repetitionskursus  ist  vor  allem,  „daß  sie  selber 
es  zu  einem  reinen  Latein  und  zur  wahren  Eloquenz  bringen,  sowie 
zur  Fähigkeit,  die  Schüler  hierzu  anzuleiten"  (S.  192).  Die  hierzu 
nötigen  Übungen  werden  genau  bezeichnet.  Dann  werden  ebenso  den 
Lehrern  der  einzelnen  Klassen  die  zu  ihrer  weiteren  Ausbildung  er- 
forderlichen Privatstudien  genau  vorgeschrieben.  Der  Studienpräfekt 
aber  soll  monatlich  an  den  Rektor,  dieser  halbjährlich  an  den  Provinzial 
berichten,  wie  die  Lehrer  diesen  Vorschriften  nachkommen  und  für 
welche  Klasse  sich  jeder  durch  sein  Privatstudium  qualifiziert. 

In  gewissem  Sinne  kann  man  hiemach  sagen,  daß  die  Kollegien 
zugleich  die  ersten  Gymnasialseminare  sind:  die  Tradition  der 
Methode  ist  ein  wichtiges  Stück. der  Obliegenheit  des  Studienpräfekten. 
Man  wird  annehmen  dürfen,  daß  die  vielgerühmte  Leistungsfähigkeit 
der  Jesuitenschulen  hiermit  zusammenhängt  In  den  protestantischen 
Ländern  ist  die  Fürsorge  für  die  Anleitung  der  Lehrer  erst  im  18.  Jahr- 
hundert als  eine  notwendige  Aufgabe  anerkannt  worden,  die  Errichtung 
der  philologischen  Seminare  geschah  in  dieser  Absicht. 


Ehe  ich  auf  die  Gestaltung  des  Unterricht«  in  den  Kollegien  ein- 
gehe, möchte  ich  hier  einen  kurzen  Bericht  über  ihre  Entstehung  und 
Ausbreitung  einlegen. 

Die  erste  Studienanstalt  des  Ordens  ist  das  vom  Stifter  im  Jahre 
1550  gegründete  Collegium  Romanum;  es  ist  die  philosophische  und 
theologische  Normalschule  für  den  Orden,  ja  für  die  katholische  Welt 
geworden.  Hieran  schloß  sich  bald  das  ebenfalls  vom  Ordensstifter  ge- 
gründete Collegium  Germaniaim  zu  Rom  (1552);  es  ist  das  Mutterhaus 
der  deutjschen  Jesuitenkollegien.  Als  die  Bestimmung  der  Anstalt,  die 
aus  Beiträgen  des  Papstes  und  der  Kardinäle  errichtet  und  unterhalten 
wurde,  bezeichnet  die  Errichtungsbulle:  eine  Anzahl  talentvoller,  gottes- 
fürchtiger  und  religionseifriger  deutscher  Jünglinge  zu  erziehen  und  zu 
unterrichten,  damit  sie  dereinst  als  unverzagte  Kämpfer  (athletae)  für 
den  Glauben  in  ihre  Heimat  geschickt  werden  könnten,  um  dort  durch 
Beispiel,  Predigt,  Unterricht  und  Seelsorge  Gottes  Ehre  zu  fordern, 
das  Gift  der  Ketzerei  zu  vernichten,  den  Glauben  zu  verteidigen  und 
aufs  neue  zu  pflanzen,  wo  er  ausgerottet  sei.  Zu  Ende  des  Jahres 
1552  kamen   22  junge  Leute   aus  Deutschland  an;   ihre  Zahl  mehrte 


k 


Die  Ausbreitung  des  Schulwesens  der  Jesuiten,  389 


sich  bald.  Nach  schwierigen  Übergangszeiten  wurde  das  Institut  von 
Gregor  XIII.  1573  neu  fundiert  und  definitiv  konstituiert:  100  etwa 
zwanzigjährige  Jünglinge  wurden  zu  zehnjährigem  Studium,  wovon  drei 
Jahre  der  Philosophie,  vier  der  scholastischen  und  drei  der  Moral- 
Theologie  zu  widmen,  aufgenommen,  um  sodann  als  Geistliche  in 
Deutschland  zu  wirken.^ 

Auch  der  Beschluß  des  Tridentinischen  Konzils  über  die  Er- 
richtung von  Bildungsanstalten  für  den  Klerus  geht  auf  jesuitische  An- 
regung zurück.  Zwei  mit  Loyola  befreundete  Männer,  der  englische 
Kardinal  Polus  und  Cabl  Bokromäus  veranlaßten  das  1563  in  der 
23.  Sitzung  erlassene  Dekret  über  die  Errichtung  von  Klerikalseminaren 
(mitgeteilt  bei  Theiner,  S.  466  ff.).  In  jeder  Diözese  soll  bei  der  Dom- 
kirche eine  Anzahl  Knaben  aus  der  Diözese  unterhalten  und  in  Gram- 
matik, Gesang,  Festrechnung  und  anderen  Wissenschaften,  ferner  in  der 
heiligen  Schrift,  den  Kirchenschriftstellem  und  Predigten,  endlich  in 
den  heiligen  Gebräuchen  und  im  Beichthören  unterwiesen  werden.  Bei 
der  Aufnahme  wird  ein  Alter  von  zwölf  Jahren  und  Besitz  der  Elementar- 
fertigkeiten verlangt.  Die  Knaben  erhalten  sogleich  die  Tonsur  und 
klerikale  Tracht,  wie  sie  denn  auch  täglich  der  Messe  beiwohnen  und 
wenigstens  monatlich  beichten.  Die  Unterhaltung  dieser  Anstalten  soll 
durch  Umlagen  unter  dem  ganzen  Diözesanklerus  bestritten  werden. 
Der  Unterricht  soll  von  den  zum  Unterricht  durch  ihr  Amt  verpflichteten 
Lektoren  oder  Scholastikern  der  Stifte,  oder  durch  taugliche  Stellvertreter 
erteilt  werden.  Thatsächlich  wurde  der  Unterricht  fast  überall  den  Jesuiten 
übergeben;  die  Seminare  wurden  in  der  Regel  mit  Jesuitenkollegien  ver- 
bunden. —  Die  Päpste,  besonders  Pius  IV.  und  Gregor  XIIL,  ließen  sich 
die  Erfüllung  dieser  Forderung,  welche  durch  Unvermögen  und  Trägheit 
der  Bischöfe  und  Domkapitel  vielfach  verzögert  wurde,  sehr  angelegen  sein. 

Ich  lasse  nun  eine  Übersicht  über  die  Ausbreitung  des  Unterrichts- 
wesens der  Gesellschaft  in  den  deutschen  Ländern  folgen,  und  füge 
dabei  nach  Gelegenheit  ein,  was  von  anderer  Seite  für  den  gelehrten 
Unterricht  in  den  katholischen  Territorien  inzwischen  geschehen  war. 
Die  große  Offensivbewegung  des  Katholizismus  in  dem  Jahrhundert, 
das  zwischen  dem  Passauer  Vertrag  und  dem  westfälischen  Frieden 
liegt,  wurde  durch  die  Jesuitenschulen  teils  vorbereitet,  teils  gesichert 
Aus  ihnen  sind  die  geistlichen  und  weltlichen  Fürsten  hervorgegangen, 
die  in  den  österreichischen  und  bayerischen  Ländern,  in  den  fränkischen 
und  rheinischen  Bistümern  den  Protestantismus  ausgerottet  haben.  Die 
meist   mit   Gewalt,    mit  Exekutionen    und   Vertreibungen   begonnene 

^  Theinek,  Geschichte  der  geistlichen  Bildungsanstalten,  S.  81  ff.;  die  Akten- 
stücke im  Anhang. 


390     //,  r.    Die  Netiheg^riindnfig  des  röm.-kathoL   GelelirtenscJuäwesefis. 


Wiedereroberung  wurde  dann  durch  die  stille  und  beharrliche  Thätigkeit 
der  Jesuiten  in  Kirche  und  Schule  vollendet  und  gesichert  In  der 
meisterhaften  Darstellung,  die  Ranke  in  der  Geschieht«  der  Päpste 
von  dieser  Bewegung  gegeben  hat,  ist  der  Zusammenhang  zwischen  der 
Ausbreitung  des  jesuitischen  Schulwesens  und  dem  Gang  der  großen 
Politik  überall  nachgewiesen. 

Ich  beginne  die  Übersicht  mit  Bayern,  das  die  eigentliche  Heimat 
der  Jesuiten  in  Deutschland  wurde.  Bayerische  Fürsten  und  Prinzen 
begegnen  uns  neben  den  Habsburgern  überall  als  die  Führer  der  Gegen- 
reformation. Ich  skizziere  zuerst  den  Zustand  des  Schulwesens,  den 
die  Jesuiten  vorfanden. 

Die  lateinischen  Schulen  im  katholischen  Süden  standen  um  die 
Mitte  des  16.  Jahrhunderts  noch  wesentlich  auf  dem  Punkt,  auf  den 
sie  die  humanistische  Bewegung  geführt  hatte.  Eine  bayerische  Schul- 
ordnung vom  Jahre  1548  (Janssen,  VII,  95)  zeigt  ganz  den  üblichen 
Betrieb:  lateinische  Grammatik  wird  gelernt,  klassische  Autoren  (doch 
mit  Behutsamkeit  gegen  „heidnische  Phantasei,  Götzendienst  und  Buhl- 
werk") werden  gelesen,  in  Absicht  auf  Eloquenz  und  Poesie;  auch 
Griechisch  und  Dialektik  wird  erwähnt.  Von  dem  Zustand  des  Schul- 
wesens in  München  zur  Zeit  der  Ankunft  der  Vater  können  wir  uns 
ein  ziemlich  deutliches  Bild  machen.^  Eine  Visitation,  die  im  Jahre 
1560,  demselben,  in  dem  das  Jesuitenkolleg  zu  München  eröflfhet  wurde, 
in  der  Freisinger  Diözese  stattfand,  zeigt  uns  zunächst  den  statistischen 
Bestand.  Es  gab  eine  „Poetenschule",  zwei  lateinische  Pfarrschulen 
(bei  U.  L.  Fr.  und  St  Peter)  und  19  deutsche  Schulmeister.  Die  Zahl 
der  Schüler  betrug  in  den  lateinischen  Schulen  60,  80,  150;  von  den 
deutschen  Schulmeistern  geben  15  ihre  Schülerzahl  an,  es  sind  zu- 
sammen 631,  Knaben  und  Mädchen.  Manche  klagen  darüber,  daß 
ihnen  durch  die  Jesuiten,  deren  Schule  eben  mit  300  Schülern  eröffnet 
worden  war,  Schüler  entzogen  worden  seien.  Die  drei  lateinischen 
Schulmeister  sind  graduierte  Magister,  von  den  deutschen  sind  drei  auf 
einer  Universität  gewesen,  einer  ist  baccalarius;  andere  geben  an,  daÖ 
sie  auf  einer  lateinischen  Schule  gewesen  sind,  noch  andere  haben  von 
einem  Meister  gelernt,  was  sie  können.  Der  Schulmeister  der  Poeten- 
schule, G.  Castnee,  ist  vom  Bat  mit  80  fl.  angestellt,  dazu  nimmt  er 
Schulgeld,  klagt  aber  bitter,  daß  ihm  na^jh  Abzug  der  Kosten  für  einen 
Kollaborator  mit  40  fl.  und  des  Hauszinses  mit  34  fl.  gar  wenig  übrig 
bleibe.  Die  beiden  Pfarrschulmeister  werden  vom  Kapitel  oder  dem 
Dekan  angenommen,  der  eine  erhält  den  Tisch,  der  andere  10  fl.,  sonst 

*  Mitt.  der  Ges.  für  deutsche  Schulgesch.,  T,  53  ff.  Westenrieder,  Beiträge 
zur  vaterl.  Historie,  Bd.  V,  214ff.  (1794). 


Jesuitenkoüegien  in  Bayern.  391 


ist  er  auf  Schulgeld  angewiesen.  Die  deutschen  Schulmeister  erhalten 
vom  Bat  die  Erlaubnis,  aber  kein  Gehalt.  Der  „Poet"  führt  seinen 
Namen  nicht  umsonst;  er  dient  dem  Rat  in  der  That  auch  als  Dichter, 
indem  er  jedes  Jahr  auf  dem  Rathaus  eine  von  ihm  gedichtete  „Comedi" 
mit  den  Schülern  aufführt,  wofür  er  eine  Verehrung  empfangt.  Die 
Stadtrechnungen  geben  vom  Jahre  1549 — 1618  über  Verfasser,  Gegen- 
stand, Sprache  des  Stücks  (lateinisch,  deutsch,  oder  deutsch  und  latei- 
nisch), sowie  über  die  Höhe  der  Verehrung  Auskunft.  Die  Meinung 
der  Poetenschule  war  offenbar  die  einer  höheren  Schule  neben  den  alter 
Pfarrschuleri.  Doch  klagt  der  Schulmeister,  daß  es  ihm  zur  Zeit  an 
geförderteren  Schülern  fehle.  Der  von  Westeneiedeb  mitgeteilte  Schul- 
plan vom  Jahre  1560  läßt  das  Schulziel  erkennen.  Fünf  Klassen 
gelten  als  normal,  doch  werden  zur  Zeit  nur  vier  in  Aussicht  genommen. 
Eloquenz  ist  das  Ziel,  Cicero  und  Virgil  die  Hauptautoren;  dazu  wird 
die  Dialektik  und  Rhetorik  vorgetragen  und  etwas  Griechisch  gelernt. 
Die  Pfarrschulen  strecken  sich  nach  demselben  Ziel,  nur  daß  sie  wohl 
noch  mehr  bei  dem  Elementaren  sich  festgehalten  sehen.  —  Das  Schema 
einer  kleinen  Stadtschule  giebt  die  Schulordnung  von  Wasserburg 
vom  Jahre  1562  (Klückhohn  in  Sybels  Ztschr.,  XXXI,  406 flF.);  sie 
gleicht  durchaus  dem  Plan,  den  Melanchthon  in  der  Schulordnung 
von  1528  für  die  kleinen  sächsischen  Städte  entworfen  hatte.  Auch 
seine  Lehrbücher  finden  wir  hier  im  Gebrauch.  Ähnliche  Schulen, 
größer  oder  kleiner,  wird  es  in  allen  Städten  gegeben  haben.  —  Übrigens 
wird  berichtet,  daß  auch  die  Klosterschulen,  besonders  der  Benediktiner, 
einen  neuen  Aufschwung  genommen  hatten,  so  in  Tegemsee,  Benedikt- 
beuren,  wo  ein  Lehrer  des  Griechischen  sich  hervorthat,  Wessobrunn, 
dessen  Schule  einen  laureierten  Poeten  zum  Vorsteher  hatte,  Scheyern, 
Niederalteich  u.  a.  — 

Auch  die  L^niversität  Ingolstadt  ging  noch  in  den  Wegen,  die  der 
Humanismus  gewiesen.  Der  führende  Mann  war  hier  mehrere  Jahr- 
zehnte hindurch  bis  zu  seinem  Tode  (1543)  Joh.  Eck.  Die  letzte  all- 
gemeine Lehrordnung  vom  Jahre  1539  (bei  Pbantl,  II,  183 flF.)  weicht 
von  der  humanistischen  Reformation  von  1519  (s.  o.  S.  141)  nicht 
wesentlich  ab.  In  der  artistischen  Fakultät  ist  die  Grammatik  des 
AvENTiNus  und  die  Dialektik  des  Caesariüs,  neben  der  aristotelischen 
Logik,  in  Gebrauch,  und  die  Jugend  wird  zur  Abfassung  von  Episteln 
und  zur  Abhaltung  von  Deklamationen  angeleitet. 

Im  Herbst  1549  kamen  die  ersten  Jesuiten  nach  Bayern.  Herzog 
Wilhelm,  der  bei  gelegentlicher  Begegnung  günstige  Eindrücke  von 
dem  Orden  erhalten  hatte  und  in  ihm  das  allein  leistungsfähige  Werk- 
zeug zur  Disziplinierung  und  Unterweisung  des  verwahrlosten  bayerischen 


392     //,  r.    Die  Neubegründwig  des  römA'athoL   Gelehrtenschulivesens, 


Klerus  erblickte,  hatte  durch  Vermittelung  des  Papstes  den  General 
um  Zusendung  von  Professoren  für  die  durch  mehrere  TodesföUe  fast 
verwaiste  theologische  Fakultät  in  Ingolstadt  ersuchen  lassen.  Loyola 
schickte  drei  seiner  Genossen,  unter  ihnen  den  Niederländer  Petrus 
Canisius.  Dieser  (geb.  1521  zu  Nymwegen,  gest.  1597  zu  Freiburg 
in  der  Schweiz)  ist  der  hervorragendste  Mann  unter  den  Begründern 
des  jesuitischen  Unterrichtswesens  auf  deutschem  Boden;  vor  allem  hat 
er  auch  durch  seinen  Katechismus  dem  Unterricht  in  der  Religions- 
lehre, womit  der  Katholizismus  jetzt  dem  protestantischen  Vorgang 
folgte,  die  Form  gegeben.  Am  29.  November  begannen  sie  die  Vor- 
lesungen, Römerbrief,  P.  Lombardus  und  Psalmen.  Die  Errichtung  eines 
Kollegiums,  das  sie  betrieben,  wurde  durch  den  Tod  des  Herzogs  einst- 
weilen gehindert,  die  Väter  verließen  sogar  Ingolstadt  wieder  und  gingen 
nach  Wien.  Aber  auch  der  Nachfolger,  Herzog  Albrecht  V.,  der  selbst 
in  Ingolstadt  seine  Studien  gemacht  hatte  (1537 — 1544),  überzeugte 
sich  bald,  daß  zur  Reform  der  Studien  und  des  Klerus  die  Mitwirkung 
der  Jesuiten  nicht  entbehrlich  sei.  Im  Jahre  1556  errichtete  er  das 
schon  erwähn t6  Kollegium  zu  Ingolstadt,  in  das  18  Mitglieder  ein- 
zogen. Bei  Pachtler  (I,  349)  findet  man  die  Liste  der  ersten  Mit- 
glieder mit  ihren  von  Rom  ihnen  mitgegebenen  Fakultäten  und  Prä- 
dikaten abgedruckt:  sechs  unt^r  ihnen  sind  in  Theologie  und  Philosophie 
vollständig  ausgebildet,  bei  dreien  wird  erwähnt,  daß  sie  auch  deutsch 
würden  predigen  können,  nach  einiger  Übung  im  oberdeutschen  Dialekt. 
Acht  werden  als  in  humanioribus  versati  bezeichnet,  die  in  der  Huma- 
nität oder  in  der  Grammatik  unterrichten  können.  Die  vier  letzten 
sind  linguae  Latinae  stiidiosi.  Der  Nationalität  nach  sind  unter  den 
sechs  ersten  fünf  Niederländer,  ein  Spanier,  die  acht  folgenden  sind  bis 
auf  einen  Franzosen  Deutsche,  unter  den  vier  letzten  sind  zwei  Italiener, 
ein  Spanier,  ein  Niederländer.  Sie  erhielten  von  Rom  eine  eingehende 
Instruktion  mit  (gedruckt  bei  Pachtleb,  III,  458 if.);  sie  zeigt,  mit  wie 
erstaunlicher  Sicherheit  die  Arbeit  und  die  Studien  der  Mitglieder  vom 
Mittelpunkt  her  bis  ins  einzelnste  geleitet  und  geregelt  wurde.  Das  an- 
fangs freundliche  Verhältnis  zur  Universität  wurde  später  sehr  unan- 
genehm. Bei  Peantl  (I,  219  flf.)  findet  man  einen  sehr  ausführlichen 
Bericht  über  den  erbitterten  Widerstand,  welchen  die  Universität  dem 
Eindringen  der  Konkurrenten  leistete.  Der  Kampf,  in  dem  die  Regie- 
rung sich  überall  den  Jesuiten  gunstig  erwies,  endigte  mit  der  im 
Jahre  1588  erfolgten,  vollständigen  Übergabe  der  philosophischen 
Fakultät  an  die  Gesellschaft  Jesu;  Siegel  und  Akten  wurden  ihr  aus- 
gehändigt Schon  firüher  war  den  Baj^em  der  Besuch  auswärtiger  Uni- 
versitäten, Jesuitenanstalten  ausgenommen,  verboten,  wie  denn  auch  in 


JesuitenkoUegien  in  Bayern  und  den  Nachbargebieten.  393 


Ingolstadt  Ketzern  der  Aufenthalt  nicht  gestattet  wurde ;  auch  das  Lehr- 
personal war  gereinigt  worden. 

In  München  wurde  vom  Herzog  Albrecht  im  Jahre  1559  ein 
Jesuitenkolleg  begründet,  mit  dem  seit  1591  auch  ein  philosophischer 
und  theologischer  Kursus  verbunden  war.  Auch  ein  Konvikt  für  Arme 
und  ein  Pensionat  für  Adlige  fehlt  nicht.  Die  Zahl  der  Schüler  stieg 
rasch,  sie  betrug  1595  bereits  665  (davon  60  in  der  Rhetorik,  110  in 
der  ungeteilten  Humanitas ,  151  in  der  ebenfalls  ungeteilten  SyntcLxis 
major).  Im  Jahre  1631  erreichte  die  Anstalt  die  Maximalfrequenz 
von  1464  Schülern  (mit  Einschluß  der  stud.  super,);  die  Ziffer  sank 
dann  allmählich,  blieb  aber  immer  noch  hoch  genug,  um  der  Regie- 
rung zu  oft  wiederholten  Mahnungen  Veranlassung  zu  geben,  durch 
schärfere  Prüfung  talent-  und  mittellose  Studenten  abzustoßen,  um  der 
Überfüllung  des  Landes  mit  unversorgten  Kandidaten  des  geistlichen 
Amts  zu  wehren.^ 

Weitere  Jesuitenkollegien  wurden  in  Bayern  gegründet  zu  Alt- 
ötting  (1592),  Landsberg  (1615),  Neumarkt  (1624),  Amberg(1626), 
Landshut  (1629),  Burghausen  (1629),  Straubing  (1631).  Ferner 
in  den  benachbarten  Bischofssitzen  Regensburg  (1589),  Passau  (1612), 
Eichstädt  (1614), 

Zwei  Jahrhunderte  lang  blieb  die  Leitung  des  bayerischen  Schul- 
wesens in  den  Händen  der  Gesellschaft  Jesu.  Auch  die  Erziehung  und 
der  Unterricht  der  Prinzen  war  regelmäßig  den  Vätern  anvertraut. 
Herzog  Maximilian,  der  im  dreißigjährigen  Krieg  eine  so  bedeutende 
Rolle  spielte  und  die  Kur  an  Bayern  brachte,  hatte  seine  Studien  mit 
seinem  Vetter,  Erzherzog  Ferdinand  von  Österreich,  in  Ingolstadt  ge- 
macht (1589 — 1591).  Regelmäßig  waren  die  Prinzen  Mitglieder  der 
Marianischen  Kongregation.  Der  Hof  beteiligte  sich  fleißig  an  den 
dramatischen  Aufführungen  und  Akten  des  Münchener  Gymnasiums.* 

Ein  wichtiger  Stützpunkt  der  Gesellschaft  wurde  auch  Dill  in  gen. 
Hier  als  in  seiner  gewohnlichen  Residenz  hatte  der  Bischof  von  Augs- 
burg, Kardinal  Otto  Truchseß  von  Waldburg,  1549  eine  Lehranstalt 
für  den  katholischen  Klerus  begründet,  die  bald  durch  päpstliche  und 
kaiserliche  Privilegien  zur  Universität  erhoben  wurde  (1554);  doch 
fehlten  die  juristische  und  medizinische  Fakultät.  1563  übergab  der 
Bischof  wider  den  Willen  des  Domkapitels  die  Anstalt  den  Jesuiten, 
die  sie  bis  zur  Aufhebung  des  Ordens  behielten.     Die  Universität  be- 


^  HuTTER,  Gesch.  des  alten  Gymnas.  München  1860.  Bauer,  Aus  dem 
Diarium  gymn,  S.  J.  Mon,  1878,  wo  man  manche  interessante  Daten  findet 

*  Fr.  Schmidt,  Gesch.  der  Erziehung  der  bayerischen  Witteisbacher,  giebt 
interessantes  Detail  über  die  Studien  der  Prinzen. 


394     II,  7.    Die  Neubegründung  des  röm.'kcUhol.  Gelehrtenschulweaens. 


stand  bis  1804;  sie  stand  zeitweilig  in  bedeutendem  Ansehen  und  hatte 
eine  beträchtliche  Frequenz,  am  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  um 
700  Studierende,  darunter  waren  etwa  250  Konviktoristen  in  ver- 
schiedenen Anstalten.  Auch  wurde  1584  von  Gregor  XTTT.  eine  päpst- 
liche Stiftung  für  die  oberdeutsche  Provinz  gemacht,  woraus  etwa 
20  junge  Leut«,  die  die  grammatischen  und  dialektischen  Studien  voll- 
endet hatten  und  sich  dem  geistlichen  Stande  widmen  wollten,  unter- 
halten wurden.^  Die  Blüte  der  Anstalt  wird  vorzüglich  der  strengen 
Ordnung  und  Zucht  zugeschrieben,  worin  die  Jesuiten  überall  ihre 
Schüler  hielten.  Die  Herzöge  von  Bayern  stellen  ihrer  unter  der  Zügel- 
losigkeit  und  Rohheit  der  Studierenden  und  der  Lässigkeit  der  Pro- 
fessoren leidenden  Landesuniversität  öfter  das  benachbarte  Dillingen  als 
Muster  vor  Augen  (Janssen,  VII,  150  if.).  Übrigens  darf  man  hierbei 
Eins  nicht  vergessen:  Dillingen  hatte  nur  Philosophen  und  Theologen, 
und  unter  diesen  sehr  zahlreiche  Konviktoristen;  die  Juristen  fehlten, 
erst  1625  wurden  ein  paar  juristische  Professoren  angestellt;  von  der 
juristischen  Fakultät  aber  gingen  in  Ingolstadt  vorzugsweise  die  Un- 
regelmäßigkeiten aus;  in  ihr  studierten  die  jungen  Herren  vom  Adel 
und  dergleichen  Leut,  „die  gern  eine  zimbliche  libertatem  haben".  So 
sagen  in  einem  Gutachten  vom  Jahre  1602  dem  Herzog  von  Bayern 
seine  Räte  und  meinen,  der  habitus  clericalis,  Ablegung  der  Wehr  und 
dergleichen  werde  sich  in  Ingolstadt  nicht  wohl  praktizieren  lassen,  auch 
würde  es  gegen  den  Willen  der  meisten  Eltern  sein  (Peantl,  11,  357). 

In  Augsburg,  wo  seit  1559  P.  Canisius  als  Domprediger  ge- 
wirkt hatte,  gelang  erst  1582,  nach  Überwindung  lang  andauernden 
Widerstandes  des  Domkapitels,  die  Errichtung  eines  von  den  Fuggern 
dotierten  Kollegiums.  Zu  den  studia  inferior a  kam  1589  ein  Lyceum 
mit  dem  philosophisch-theologischen  Kursus.  Als  Professor  der  Huma- 
nität und  Rhetorik  lehrte  am  Kollegium  lange  Zeit  Jacob  Pontanus, 
einer  der  bedeutendsten  Förderer  der  humanistischen  Studien  im  Orden. 
Seine  Schulbücher  und  Klassikerausgaben  sind  lange  im  Gebrauch  ge- 
blieben.2 

Es  folgten  Kollegien  zu  Ellwangen  (1611),  Mindelheim  (1618), 
Kaufbeuren  (1626),  Memmingen  (1630).    Das  protestantische  Gym- 

*  Eine  Geschichte  der  Dilliiiger  Studicuanstalt  von  Haut  (.1854),  des  päpst- 
lichen Ahimuats  von  M.  Hausjiann  (1S82).  Eine  detaillierte  Darlegung  der  Ver- 
hältnisse des  letzteren  in  einem  Aktenstück  aus  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts im  I.  Bd.  der  Rat.  Stud.  (Mon.  Germ.  Paed.  XVI),  S.  272  ff.  Der 
Gesamtaufwand  betrug  damals  1880  Scudi,  gleich  3036  fl.,  wovon  23  Alumnen 
unterhalten  wurden. 

*  P.  Braun,  Gesch.  des  Kollegiums  der  Jesuiten  in  Augsburg  (1822), 


Jesuitenkollegien  in  Franken  und  am  Rhein.  395 


nasium  zu  Neuburg  wurde  1616  von  dem  Konvertiten  Pfalzgraf 
Wolfgang  Wilhelm  den  Jesuiten  übergeben. 

Ebenso  legten  die  fränkischen  und  rheinischen  Bistümer  ihre 
Schulen  in  die  Hände  der  Gesellschaft  Jesu.  Bamberg  hatte  seit 
1586  eine  akademische  Studienanstalt  im  Karmeliterkloster;  1613  wurde 
ein  Jesuitenkolleg  errichtet.  1647  wurde  die  Anstalt  zur  Akademie 
mit  philosophischer  und  theologischer  Fakultät  erhoben,  endlich  im 
18.  Jahrhundert  zur  vollen  Universität  mit  allen  Fakultäten  ausgebildet. 
—  In  Würzburg  wurde  1567  ein  Kollegium  mit  Konvikt  gegründet, 
für  das  17  Väter  eintrafen.  Auch  an  der  neuen  Universität,  die  vom 
Fürstbischof  Julius  gegründet  und  1582  eröffnet  wurde,  übernahmen 
die  Väter  den  philosophischen  und  theologischen  Unterricht.  Außer 
einem  collegium  pauperum  für  40  Knaben  und  einem  EQerikalseminar 
errichtete  der  Fürstbischof  auch  ein  adliges  Seminar  mit  24  Stellen, 
dessen  Mitglieder  erst  humaniora^  dann  Theologie  oder  Rechte  studierten; 
auch  ritterliche  Übungen  sind  vorgesehen.^ 

In  Fulda  stiftete  der  Fürstabt  1572  ein  Kolleg  mit  Konvikt,  das 
er  den  Jesuiten  übergab.  Hieran  schloß  sich  ein  vom  Papst  Gregor  XIII. 
1584  errichtetes  und  mit  jährlich  1800  Goldscudi  unterhaltenes  päpst- 
liches Seminar,  worin  40  adlige  Knaben  aus  dem  nördlichen  Deutsch- 
land unterhalten  wurden;  dazu  kamen  noch  Stipendien  für  60  arme 
bürgerliche  Knaben,  die  nicht  im  Seminar  waren.  1734  errichtete  der 
Abt  eine  Universität,  der  die  Jesuiten  einverleibt  wurden,  was  zu 
manchen  Reibungen  mit  dem  Konvent  der  Benediktiner  führte.*  Sie 
bestand  bis  1804. 

Der  Bischof  zu  Straß  bürg  errichtete  1581  ein  Kollegium  zu 
Molsheim  (bei  Straßburg),  das  1617  vom  Papst  Universitätsprivilegien 
erhielt.  Ebenso  erhielten  Speier  (1570)  und  Worms  (1613)  Kollegien. 
In  Konstanz  bestand  ein  solches  seit  1604,  im  Elsaß  zu  Ensisheim 
und  Schlettstadt  seit  1615.  Nach  der  Niederwerfung  der  Pfalz 
wurden  1622  Kollegien  zu  Heidelberg,  Neustadt  a.  H.  und  Baden 
gegründet.  Die  Heidelberger  Universität  kam  nach  wechselnden  Schick- 
salen am  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  in  die  Hände  der  Väter.  — 
Ebenso  entstanden  zahlreiche  Kollegien  in  der  Schweiz  und  in  den 
kathoKschen  Niederlanden. 

Für  die  großen  geistlichen  Territorien  am  Rhein  und  im  Nord- 
westen Deutschlands  wurde  Köln  das  Hauptheerlager  des  jesuitischen 


*  Weoele,  Gesch.  der  Univ.  Würzburg,  1, 115  ff.  191  ff.  Vergl.  auch  C.  Braun, 
Gesch.  der  Heranbildung  des  Klerus  in  der  Diözese  Würzburg  (1889),  wo  man 
besonders  über  die  äußeren  Verhältnisse  sehr  eingehende  Nachweisungen  findet 

*  KoMP,  Die  zweite  Schule  Fuldas  und  das  päpstliche  Seminar  (1877). 


396     //,  r.    Die  Neuhegründutif/  des  röm.-kathoL  Oelehrtenschulwesens. 


Unterrichts  Wesens.^  Schon  in  den  vierziger  Jahren  hatten  die  ersten 
Väter  der  Gesellschaft,  an  ihrer  Spitze  P.  Faber,  einer  der  ersten  Gre- 
nossen  des  Ignatius,  mit  Schwierigkeiten  und  Widerwärtigkeiten  aller 
Art  kämpfend^  den  damals  drohenden  Abfall  des  Erzbistums  abwehren 
helfen.  Aber  erst  im  Jahre  1556  gelang  es  ihnen  festen  Fuß  zu  fassen: 
es  wurde  ihnen  die  Leitung  des  gymnasium  Tricoronatum  (ehemals  die 
aus  den  £pp.  obsc,  vir,  bekannte  bursa  Kuick  oder  domus  Cucana; 
der  neue  Name  stammte  von  dem  an  dem  neuen  Haus  angebrachten 
Stadtwappen)  von  der  Stadt  übertragen.  Den  nächsten  Anlaß  dazu 
bot,  daß  der  bisherige  Rektor  ketzerisch  war  und  sich  verheiratete,  wie 
denn  überhaupt  die  lutherische  Häresie  während  der  vierziger  Jahre 
in  den  kölnischen  Schulen  um  sich  gegriifen  hatte;  die  Provinzial- 
synode  im  Jahre  1549  bringt  den  Verfall  der  Universität  mit  dieser 
Thatsache  in  Zusammenhang  (Bianco,  S.  487).  Das  Jesuitengymnasium 
war  bald  außerordentlich  besucht;  schon  im  Jahre  1558  hatte  es  800 
und  später  oft  über  1000  Schüler.  Die  artistische  Fakultät  und  die 
zu  ihr  gehörigen  beiden  Bursen,  welche  thatsächlich  die  Stellung  von 
inkorporierten  Gymnasien,  ähnlich  den  Pädagogien  der  protestantischen 
Universitäten,  hatten,  das  Gymnasium  Laurentiamim  und  3fontanum, 
befehdeten  das  glückliche  Konkurrenzinstitut  auf  das  bitterste;  vor 
allem  beklagten  sie  sich  über  die  von  jenen  überall  festgehaltene  Un- 
entgeltlichkeit des  Unterrichts,  die  nur  auf  das  Verderben  der  übrigen 
Anstalten  abziele,  sowie  über  ihre  Gewohnheit,  gedruckte  Vorlesungs- 
verzeichnisse durch  alle  Welt  zu  versenden.  Wiederholt  wurde  den 
Jesuiten  der  Lehrplan  der  anderen  Anstalten  aufgenötigt.  Ein  solcher 
aufgenötigter  Lektionsplan  für  das  Jahr  1564  (bei  Bianco,  S.  908; 
ebendort  S.  322if.  sind  die  Lehrpläne  für  die  Jahre  1577  und  1578 
mitgeteilt)  zeigt  übrigens  nur  in  der  Anordnung,  nicht  in  der  Sub- 
stanz des  Unterrichts  erhebliche  Abweichungen  von  dem  Lehrplan  der 
Gesellschaft.  Er  zeigt  zugleich,  wie  vollständig  die  humanistische 
Unterrichtsreform  auch  an  der  kölnischen  Universität  inzwischen  durch- 
gedrungen war.  Es  sind  wesentlich  dieselben  Gegenstände,  welche  von 
den  protestantischen  Gymnasien  und  philosophischen  Fakultäten  be- 
handelt wurden.  Übrigens  kam  die  Universität  trotzdem  nicht  wieder 
recht  zu  Kräften;  Zeugnis  dafür  die  immerfort  sich  wiederholenden 
Reformverhandlungen  zwischen  dem  Bat,  der  Universität  und  dem 
heiligen  Stuhl,  über  welche  Bianco  viel  Material,  aber  in  wüster  Un- 
ordnung, beibringt. 


^  Eiue  Geschichte  der  Jesuiten  iu  Köhi  aus  den  Annalen  des  Ordens  bei 
Bianco,  S.  855—972. 


Jesuitenkollegien  am  Rhein  und  im  Nordwesten.  397 

Von  dem  kölnischen  Kollegium  ging  die  Errichtung  von  Jesuiten- 
gymnasien in  den  beiden  andern  rheinischen  Erzbistümern  aus.  In 
Mainz  wurde  1561  ein  Kollegium  der  Väter  begründet,  das  im  fol- 
genden Jahre  der  Universität  einverleibt  wurde.  Für  das  kurfürstlich 
mainzische  Eichsfeld  wurde  ein  Kollegium  zu  Heiligenstadt  (1575) 
begründet;  in  Erfurt  bestand  seit  1585  eine  Residenz,  seit  1621  ein 
Kolleg,  ebenso  zu  Aschaffenburg  (1620).  In  Trier  übernahmen  die 
Väter  1560  Vorlesungen  an  der  Universität  und  eröffneten  im  folgenden 
Jahre  ein  Gymnasium,  welchem  1580  ein  Gymnasium  zu  Koblenz 
folgte.  Das  triersche  Kollegium  erweiterte  sich  zur  Universität,  mit 
ihm  war  ein  Collegium  nobüium  und  ein  Seminarium  verbunden.  Auf 
kurkölnischem  Gebiet  entstanden  noch  Jesuitengymnasien  zu  Neuß 
(1615)  und  Bonn  (1673),  wo  schon  seit  1586  eine  Residenz  gewesen 
war;  die  Anstalt,  allmählich  erweitert,  wurde  1784  durch  kaiserliches 
Diplom  zur  Universität  erhoben,  als  solche  jedoch  schon  1794  von  den 
Franzosen  wieder  aufgehoben. 

In  den  nordwestlichen  Bistümern,  deren  Stellung  zur  Kirche, 
wie  die  Kölns,  lange  Zeit  eine  sehr  schwankende  war,  faßten  die  Jesuiten 
erst  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  festen  Fuß.  Zu  Paderborn  war 
1576  die  Domschule  im  Franziskanerkloster  wiederhergestellt  worden. 
Im  Jahre  1580  berief  der  Bischof  Jesuiten  aus  Heiligenstadt,  denen 
1585  das  ganze  Gymnasium  übergeben  wurde.  Dasselbe  wurde  all- 
mählich erweitert  und  1614  zur  Universität  erhoben,  doch  ohne  medi- 
zinische Fakultät.  Die  Domschule  zu  Münster  wurde  1588  den 
Jesuiten  übergeben  und  philosophische  und  theologische  Kurse  bei  ihr 
eingerichtet,  welche  später  auf  die  1780  vom  Kurfürsten  von  Köln  er- 
richtete Universität  übergingen.  Dazu  kam  1627  ein  Gymnasium  zu 
Coesfeld  und  1642  zu  Meppen.  An  die  Domschule  in  Osnabrück 
wurden  1 628  Jesuiten  berufen,  zugleich  philosophische  und  theologische 
Kurse  eröflfnet  und  die  Anstalt  1630  zur  Akademie  erhoben.  Die 
Domschule  zu  Hildesheim  ging  1595  an  die  Jesuiten  über,  allmählich 
wurde  bei  derselben  auch  eine  vollständige  philosophisch -theologische 
Lehranstalt  ausgebildet. 

Auch  die  benachbarten  weltlichen  Territorien  erhielten  Jesuiten- 
gymnasien: das  Herzogtum  Cleve  zu  Emmerich  (1593),  die  Herzog- 
tümer Jülich-Berg,  nachdem  sie  dem  zum  Katholizismus  über- 
getretenen Herzog  Wolfgang  Wilhelm  von  Pfalz- Neuburg  zugefallen 
waren  (1614),  zu  Düsseldorf  (1020),  Münstereifel  (1625),  Düren 
(1628),  Jülich  (1664).  Ebenso  gründete  der  Konvertit  Job.  Ludwig 
zu  Hadamar  (Nassau)  ein  Jesuitenkolleg  (1630).  Aachen  hatte  seit 
1603  ein  Kollegium  mit  philosophischen  und  theologischen  Kursen. 


398     //,  7.    Die  Neuhegrütidung  des  rötn.-küthoL  Oelekrtenschultaesens. 


Für  die  Länder  des  Hauses  Habsburg  wurden  Wien  und  Prag 
die  Hauptheerlager  der  Jesuiten.  Die  Wiedereroberung  war  hier  eine 
sehr  schwierige  und  langwierige  Aufgabe. 

Der  Bestand  der  katholischen  Kirche  in  den  österreichischen  Erb- 
landen war  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  ein  durchaus 
fraglicher.  Die  Masse  der  Bevölkerung  und  des  Adels  war  entweder 
protestantisch  oder  indiflFerent.  Drei  Ärzte,  so  berichten  die  Akten  der 
Wiener  theologischen  Fakultät  vom  Jahre  1584,  hätten  vor  ihrem  Ab- 
scheiden erklärt,  sie  gehörten  nicht  zu  einer  bestimmten  Konfession 
(nullius  esse  certae  religionis);  ein  vierter  habe  in  seinem  Testament  sich 
verbeten,  mit  Glockengeläut  und  Kerzen  bestattet  zu  werden,  eventuell 
möge  man  ihn  in  seinem  Garten  begraben,  da  wolle  er  einer  fröhlichen 
Auferstehung  entgegensehen.  Der  Rektor  der  Universität  im  Jahre 
1568,  ein  Mediziner,  radierte  aus  den  Statuten,  welche  das  Bekenntnis 
des  katholischen  Glaubens  von  den  Professoren  forderten,  das  Wort 
catholicae  (fidei)  aus  und  setzte  dafür  Christianae,  Die  Unterscheidung 
zwischen  katholisch  und  römisch-katholisch  war  allgemein  und  unter 
der  Regierung  Maximilians  IL  gewissermaßen  offiziell  anerkannt,  wo- 
durch es  auch  Protestanten  möglich  war,  sich  als  Mitglied  der  katho- 
lischen Kirche  zu  bekennen;  wie  denn  Cameeaeiüs  auch  keiner  andern 
als  der  allgemeinen  Kirche  angehören  wollte.  Im  Jahre  1568  wurde 
ausdrücklich  gestattet,  daß  auch  Angehörige  des  Augsburgischen  Be- 
kenntnisses zur  Erlangung  der  Doktorwürde  zugelassen  würden.  — 
Der  Klerus  war  in  voller  Auflösung.  Die  Klöster  standen  beinahe 
leer;  die  übrig  gebliebenen  Mönche  waren  Gegenstand  des  Gespöttes. 
In  den  Rechnungen  des  Klosters  St  Florian  war  ein  eigener  Posten: 
für  Studiosi  in  Wittenberg.  Der  Weltklerus,  so  sagt  der  Konvertit 
Staphylus  in  einem  Bericht  an  den  König  Ferdinand  vom  Jahre  1554, 
sei  völlig  verwildert:  so  viele  Pfarreien,  so  viele  Sekten.  Deutsche  Taufe, 
Abendmahl  in  beiden  Gestalten,  Weglassung  der  Ohrenbeichte  und  der 
Anrufung  der  Heiligen,  willkürliche  Veränderungen  der  Formeln  finde 
man  überall;  unter  100  Pfarrern  sei  kaum  einer,  der  nicht  wenigstens 
ein  Weib  genommen.  Ganz  ähnlich  lautet  ein  Bericht  des  Administrators 
des  Wiener  Bistums  vom  Jahre  1568.  Es  fehlte  offenbar  gar  nichts 
zur  Entstehung  einer  österreichischen  Landeskirche  als  die  Willens- 
erklärung der  Landesherrschaft.  Aber  sie  erfolgt«  nicht,  obwohl  das 
Verhältnis  zu  Rom  ein  gespanntes  war.  Nur  die  Erteilung  des  Abend- 
mahls unter  beiderlei  Gestalt  hatte  Ferdinand  I.  von  seinen  drei  For- 
derungen: Aufhebung  des  Cölibats,  der  Fastengebote  und  des  sub  una, 
beim  heiligen  Stuhl  durchzusetzen  vermocht  (Kink,  I,  308  flF.). 

Die  Landesunivei*sität  zu  Wien  war,  wie  früher  berichtet  worden 


•  ■  

Schulen  und  Univers,  in   Osterreich  vor  Eintritt  der  Jesuiten,     399 


ist,  durch  die  Kirchenrevolution  fast  ganz  zerstört  worden.  König 
Ferdinand  hatte  durch  wiederholte  Reformationen  ihr  aufzuhelfen  ge- 
sucht Schon  1533  war  die  ökonomische  Wiederherstellung  versucht 
und  1537  eine  gründliche  Reformation  der  Unterrichtsordnung  unter- 
nommen worden;  es  ist  ganz  dieselbe  Reform,  welche  im  Jahre  1525 
die  Tübinger  Universität,  damals  unter  österreichischer  Verwaltung 
stehend,  erfahren  hatte.  Die  letzte  und  definitive  Regelung  gaben  die 
neuen  Statuten,  welche  die  Universität  im  Jahre  1554  vom  König  er- 
hielt (bei  KiNK,  II,  373  5".).  Die  hier  vorgeschriebene  Organisation 
des  Unterrichts  weicht  in  keinem  irgend  erheblichen  Stücke  von  den 
gleichzeitigen  Lehrplänen  der  durch  Melanchthon  reformierten  prote- 
stantischen Universitäten  ab.  Vor  altem  gilt  das  auch  von  der  philo- 
sophischen oder  artistischen  Fakultät.  Es  erscheint  gerechtfertigt,  die 
Hauptpunkte  der  Ordnung  mitzuteilen.  Die  Vorlesungen '  sind  an 
13  Lektoren  verteilt,  die,  soweit  sie  nicht  verheiratet  sind,  was  der  Zeit 
nachgegeben  wird,  im  Kollegium  wohnen.  Der  vollständige  Kursus  ist 
vierjährig,  zwei  Jahre  bis  zum  Baccalariat,  zwei  bis  zum  Magisterium. 
Es  liest  für  die  Baccalarianden  im  ersten  Jahr: 

1)  der  grammaticus  um  6  Uhr  lateinische  Grammatik  (Linacer,  Pris- 
cian),  mit  einem  geeigneten  Autor  (z.  B.  Terenz); 

2)  der  dialecticus  um  8  Uhr  die  Dialektik  des  Caesarius,  R.  Agri- 
cola  oder  eines  andern; 

3)  der  rhetor  um  3  Uhr  Cic.  ad  Heren,,  partif  orat,  Quintilian, 
nebst  einer  Rede  Ciceros  zur  Illustration  der  praecepta; 

im  zweiten  Jahr: 

4)  der  physicus  primus  um  7  Uhr  die  vier  ersten  Bücher  der  aristot, 
Physik,  und  ein  Kompendium  de  anima; 

5)  der  mathematicus  primus  um  9  Uhr  Arithmetik,  Geometrie,  Astro- 
nomie (Sphaeram  Joh,  de  Sacrobusto);  auch  wird  er  nachts  die 
Sterne  am  Himmel  mit  Hilfe  eines  Globus  kennen  lehren; 

für  die  Magistranden: 

6)  der  professor  Organi  Aristotelici  um  9  Uhr  das  Organen,  in  zwei 
Jahren; 

7)  der  physicus  secundus  um  8  Uhr  die  physischen  Schriften  des 
Aristoteles,  in  zwei  Jahren; 

8)  der  mathematicus  sec.  um  3  Uhr  jährlich  die  fünf  ersten  Bücher 
des  Euklid,  dazu  die  Astronomie  in  zwei  Jahren,  zugleich  den 
Gebrauch  der  Tafeln  und  Instrumente  zeigend. 

Außerdem  sollen  lesen: 

9)  ein  berühmter  Astronom  oder  Mathematiker  um  1  Uhr  über 
höhere  Mathematik  und  Astronomie; 


400     II,  7.    Die  Neuhegnindung  des  rönu-kathol,  OelehrtenschtUtoesens. 


10)  ein  ethicus  um  3  Uhr  über  die  aristotelische  Ethik  und  Politik; 

11)  ein  prof,  litterarum  politicarum,  qui  kistoriarum  lectionem  cum 
poesi  conjungat:  er  soll  um  1  Uhr  über  Caesar,  Sallust,  IjIvIus, 
Virgil,  Horaz  u.  a.  lesen ; 

12)  ein  Hebraeus  um  7  Uhr,  Grammatik  und  Lektüre; 

13)  ein  Graecus  um  12  Uhr,  im  ersten  Jahr  Grammatik  mit  Lese- 
stücken aus  Lucian,  Aristophanes,  Demosthenes  etc.;  im  zweiten 
Homer,  Orpheus'  Argfmautica,  Epigrammata  aut  ejusmodi  aliquid. 

Die  Bursen,  deren  die  Reformation  von  1537  vier  erwähnt,  werden 
als  Pädagogien  für  diejenigen  konstituiert,  welche  noch  nicht  in  Be- 
sitz der  Schulkenntnisse  sind.  Es  soll  in  jeder  außer  dem  Rektor  ein 
Magister  sein,  der  die  elementare  Grammatik,  Rhetorik,  Dialektik  und 
die  Schulautoren,  Ciceros  Briefe,  de  offic,  de  amic,  de  senect,  Virgils 
Bukol.,  T?erenz,  Plautus,  Vallas  Elegantien,  Erasmus  de  copia  etc.  liest 
und  zugleich  die  Schüler  im  Schreiben  übt 

Erwähnenswert  scheint  noch,  daß  in  der  Theologie  drei  Professoren 
lesen  sollen,  einer  um  6  Uhr  über  das  alte  Testament,  der  zweite  um 
8  Uhr  über  das  neue  Testament,  der  dritte  um  12  Uhr  über  das 
System  des  Mag,  sententiarum  (P.  Lombardus).  Die  Lehrordnung  vom 
Jahre  1537  hatte  sogar  ausdrücklich  angeordnet,  nichts  anderes  als 
die  Bibel  oder  heil  Schrift  (zu  Latein  solida  theologia  genannt)  zu 
lesen,  wobei  die  besten  alten  Erklarer  Hieronymus.  Augustinus,  Am- 
brosius  u.  a.  zu  benutzen.  —  Erasmus  würde  keine  andere  Lehrordnung 
gegeben  haben. 

Nicht  minder  hatten  die  gelehrten  Schulen  den  Einfluß  der  Refor- 
mationsbewegung erfahren.  In  allen  habsburgischen  Territorien  waren 
durch  die  Landstände  und  die  großen  Städte  Gymnasien  errichtet 
worden. 

Für  die  alte  Wiener  Schule  zu  St.  Stephan,  die  von  alters  her 
mit  der  Universität  verbunden  war,  wurde  vom  Wiener  Rat  1558  eine 
neue  Schulordnung  entworfen,  worin  sie  ganz  die  Gestalt  der  huma- 
nistisch-protestantischen Schulen  erhielt.^  1595  war  zum  letztenmal 
der  Rektor  der  Schule  von  St.  Stephan  zugleich  Rektor  der  Universität 
Im  17.  Jahrhundert  verlor  die  Anstalt  den  Charakter  einer  gelehrten 
Schule,  sie  wurde  zur  deutschen  Schule.  —  Im  Jahre  1 546  begründeten 
die  Stimde  zu  Wien  eine  Landschaftsschule,  die  aber  nach  vielen  An- 
fechtungen wegen  der  Irrlehren  ihrer  Rektoren  1555  einging;  dafür 
wurde  1574  zu  Losdorf  in  Xiederösterreich  eine  protestantische  Land- 
schaftsschule  mit    einem  Konvikt   für   zwölf  arme   Knaben   errichtet; 

*  Die  Grundzüge  mitgeteilt  bei  Getsau,  rTCSch.  der  Stiftungen  in  Wien,  1803. 


Jesuitenkollegien  in  den  Österreichischen  Ländern.  401 

der  Lehrkursus  der  fünf  Klassen  ist  der  gewöhnliche  protestantischer 
Gymnasien.     Auch  diese  Schule  ging  im  Jahre  1619  ein.^ 

Im  Jahre  1550  errichtete  der  landstandische  Adel  von  Ober- 
österreich eine  Landschaftsschule  zu  Linz  und  dotierte  sie  mit  an- 
sehnlichen Gütern.  Stadtschulen  entstanden  femer  zu  Steier  (1559), 
Wels  (1593),  Braunau  (1597).  Auch  die  Klosterschulen  zu  Mondsee 
und  Kremsmünster  kamen  in  Aufnahme  (Gesch.  des  Gjmn.  zu  Linz, 
Progr.  1855,  von  Gaisbeäger).  —  Zu  Graz  wurde  1544  eine  Land- 
schaftsschule für  Steiermark  im  Landschaftshause  mit  fünf  Lehrern 
eröffnet  und  mit  einem  Konvikt  für  arme  einheimische  Adlige  aus- 
gestattet. Ein  Lehrplan  wurde  1569  von  D.  Chytraeus  erbeten  (Gesch. 
des  Gymn.  in  Graz,  PrQgr.  1869,  von  Peinlich).  Die  Stande  von 
Kärnten  errichteten  1563  zu  Klagenfurt  eine  Landscbaftsschule,  mit 
welcher  philosophische  und  theologische  Vorlesungen  verbunden  wurden. 
In  demselben  Jahre  wurde  auch  zu  Laib  ach  in  Krain  eine  Land- 
schaftsschule errichtet,  an  welche  1582  Nie.  Frischlin  als  Rektor  mit 
350  fl.  (ohne  Schulgeld,  aber  Wohnung  von  drei  Stuben)  berufen  wurde. 
Er  blieb  Jedoch  nur  etwa  ein  Jahr,  da  er  „als  ein  poeticum  ingenium 
seine  Affekte  nicht  jederzeit  zu  temperieren"  wußte;  so  hatte  ihn  der 
Herzog  von  AVürttemberg  den  Krainer  Ständen  auf  ihre  Anfrage  charak- 
terisiert (Progr.  des  Laibacher  Gymn.  1859).  Alle  diese  Anstalten 
gingen  allmählich  ein,  seitdem  die  Erzherzoge  entschieden  die  Wieder- 
herstellung der  katholischen  Kirche  betrieben.  Ihre  Güter  und  Häuser 
wurden  meist  den  Jesuiten  übergeben. 

Die  ersten  Jesuiten  waren  schon  1551  auf  König  Ferdinands 
Ersuchen  nach  Wien  gekommen;  es  waren  ihrer  12,  Italiener,  Spanier 
und  Niederländer;  im  folgenden  Jahre  kam  auch  P.  Canisiüs,  der  bei 
dem  König  bald  großen  Einfluß  gewann.  Sie  gründeten  alsbald  ein 
Kolleg,  und  begannen  an  der  Universität  theologische  Vorlesungen. 
Im  Jahre  1554  erschien  der  berühmte  Katechismus  des  Canisiüs  (^Äwmiwa 
doctrinae  Christianae) ,  der  seitdem  in  unzähligen  Auflagen,  Über- 
setzungen und  Bearbeitungen  das  wichtigste  Schulbuch  für  den  katho- 
lischen Religionsunterricht  geworden  ist.  Im  Jahre  1558  erhielt  der 
Orden  die  Ermächtigung,  in  allen  Erblanden  zu  lehren  und  zu  predigen, 
sowie  zwei  ständige  theologische  Lehrstühle  an  der  Universität,  1560 
auch  die  Leitung  einer  vom  König  gegründeten  adligen  Landschafts- 
schule zu  Wien.  So  lange  ihr  Unterricht  auf  den  sprachlichen  Kursus 
sich  einschränkte,  lebten  sie  in  gutem  Einvernehmen  mit  der  Universität; 


*  Darstellung    des   Herzogtums  Osterreich    unter   der  Enns   (Wien   1837), 
Bd.  VIII,  209. 

Paul  Ben,  Unterr.   Zweite  Aufl.    I.  26 


402     Ilj  7.    Die  Neubegründung  des  röm.'kaÜioL   Gelehrtenschulwesens. 


seitdem  sie  aber  die  Fakultätsdisziplinen  der  Artisten  in  ihren  Kreis 
hineinzuziehen  "begannen  (1570),  entbrannte  auch  hier  der  heftigste 
Konkurrenzkrieg.  Die  Universität  war  wohl  im  formellen  Rechte  nach 
ihrem  Privileg  sollte  kein  Schulunterricht  in  Wien  ohne  ihre  Zustim- 
mung und  Aufsicht  stattfinden;  sie  verbot  ihren  Angehörigen  den  Besuch 
der  Jesuiten  Vorlesungen,  sie  erkannte  die  von  den  Jesuiten  erteilten 
Grade  nicht  an.  Aber  die  Jesuiten  hatten  den  Erfolg  und  die  Macht 
auf  ihrer  Seite;  wenn  die  Zahl  ihrer  Schüler  sich  bald  auf  800 — 1000 
belief,  so  hatte  die  Universität  kaum  ^j^^ — Ys  davon  aufzuweisen.  Es 
ist  denmach  begreiflich,  daß  die  Landesherren,  obwohl  sie  durchaus 
nicht  alle  den  Jesuiten  geneigt  waren  (Maximilian  IL  hatte  ihnen  die 
Leitung  des  coUegium  nobilium  und  einen  theologischen  Lehrstuhl  wieder 
abgenommen),  sich  nicht  entschließen  konnten,  der  Aufforderung  der 
Universität  zur  Vertreibung  der  Jesuiten  nachzugeben.  Im  Jahre  1623 
wurde  endlich,  nach  mehrfachen  vergeblichen  Versuchen,  den  Frieden 
herzustellen,  auch  hier  zu  dem  radikalen  Heilmittel  geschritten,  das 
Jesuitenkolleg  der  Universität  zu  inkorporieren.  Der  Unterricht  der 
artistischen  Fakultät,  obwohl  in  ihr  auch  weltliche  Mitglieder  blieben, 
stand  seitdem  durchaus  unter  der  Leitung  der  Väter  (Kink,  1, 1, 322  AT.).  — 
Jesuitengj'mnasien  wurden  in  den  Erzherzogtümern  noch  zu  Linz (1608), 
Krems  (1616),  Steier  (1632)  und  zwei  weitere  zu  Wien  (1650  und 
1666)  begründet.  Die  Jesuitenschule  zu  Linz  erhielt  1623  die  Güter 
der  eingezogenen  landschaftlichen  Schule;  1669  wurde  sie  zur  Akademie 
erhoben;  sie  hatte  durchschnittlich  300 — 400  Schüler. 

Früher  und  leichter  hatten  die  Jesuiten  in  den  südlich  angrenzen- 
den Ländern  der  Habsburger  Eingang  gefunden.  In  Tirol,  welches 
mit  Bayern  allein  unter  allen  deutschen  Ländern  den  Ruhm  teilt.,  der 
Ketzerei  nie  Raum  gegeben  zu  haben,  war  schon  1562  von  König 
Ferdinand  ein  Jesuitenkolleg  zu  Innsbruck  fundiert  worden;  zu  den 
Humanitätskursen  kamen  1606  auch  philosophische  und  theologische 
Kurse,  und  1673  wurde  die  Anstalt  zur  Universität  erhoben  (Pkobst, 
Gesch.  d.  Univ.  zu  Innsbr.,  1869).  Gymnasien  wurden  von  der  Ge- 
sellschaft noch  zu  Hall  (1572)  und  Feldkirch  in  Vorarlberg  (1649). 
ferner  in  Trient  (1626)  begründet.  —  In  Steiermark  wurde  zu 
Graz  1573  ein  Kolleg  mit  einem  Seminar  errichtet  und  1585  zur 
Universität  erhoben,  die  bald  sehr  zahlreichen  Besuch  aufzuweisen  hatte. 
Gymnasien  waren  ferner  in  Leoben,  Judenburg,  Marburg,  Klagen- 
furt, Lail)ach,  Görz,  Triest,  Fiume. 

Aus  der  Geschichte  des  Grazer  Gvmnasiums  von  Peinlich  ent- 
nehme  ich  einige  statistische  Daten,  welche  in  das  Wachstum  und  den 
Bestand  des  Ordens  einen  Blick  thun  lassen.    Im  Jahre  1551  wurde 


JeauitenkoUegien  in  den  österreichischen  Ländern.  403 


das  erste  Kolleg  in  Wien  mit  13  Mitgliedern  gegründet.  1633  be- 
standen in  der  österreichischen  Provinz,  ohne  die  böhmischen  Länder, 
welche  eine  eigene  Provinz  bildeten,  15  Kollegien  mit  775  Mitgliedern; 
bis  1767  fand  ein  ganz  regelmäßiges  Anwachsen  bis  auf  1900  Mit- 
glieder in  38  Kollegien  und  25  Residenzen  und  ständigen  Missionen 
statt,  darunter  1066  Priester,  466  Scholastiker.  Im  Jahre  1633  hatte 
das  ProfeBhaus  zu  Wien  69,  das  dortige  akademische  Kolleg  80,  das 
Probationshaus  zu  St.  Anna  62  Mitglieder.  In  Graz  waren  augen- 
blicklich 180  Mitglieder,  darunter  viele  Flüchtlinge  vom  Rhein;  in 
Leoben  70,  in  Judenburg  23,  Klagenfurt  30,  Laibach  30,  Triest  12, 
Fiume  8,  Linz  26,  Krems  20,  Görz  18;  in  den  Residenzen  zu  Mellstadt, 
Traunkirchen,  Steier  je  fünf.  —  Interessant  ist  die  Nationalitätsstatistik 
des  Grazer  Kollegiums.  Unter  den  747  Vätern,  welche  ohne  die  übrigen 
Mitglieder  der  Gesellschaft  das  Grazer  Kolleg  von  1 572 — 1773  bewohnten, 
waren  189  Steierer  (darunter  121  Grazer),  228  Ober-  und  Unter- 
Österreicher  (darunter  122  Wiener),  70  Deutsche  aus  dem  Reich,  48 
Kärntner,  45  Krainer,  44  Ungarn,  36  Italiener  (meist  aus  Görz), 
29  Tiroler,  20  Kroaten,  12  Niederländer,  11  Böhmen,  6  Spanier, 
4  Polen,  2  Engländer,  1  Irländer,  1  Schotte,  1  Franzose.  Man  sieht, 
die  Gesellschaft  war  einheimisch  geworden;  die  Fremden  sind  meist 
unter  den  ersten  Mitgliedern.  — 

In  den  vorderösterreichischen  Ländern  hatte  die  Universität 
Freiburg  von  den  Revolutionsstürmen  leidlich  und  bald  sich  erholt 
Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  wurde  sie  von  dem  hohen  Klerus  und 
Adel  der  deutschen  und  französischen  Nachbarlande  zahlreich  besucht, 
was  auf  die  Disziplin  übrigens  höchst  ungünstig  einwirkte.  Schreibeb 
(Freiburg,  II,  104  0".)  teilt  aus  den  Akten  eine  Menge  von  Exzessen  mit, 
aus  deren  Behandlung  die  völlige  Hilflosigkeit  der  Universität  gegen- 
über der  Zuchtlosigkeit  der  jungen  Herren  hervorgeht.  Die  humanistische 
Reform  des  Lehrkursus  war  auch  hier  durchgeführt.  Eine  Liste  der 
besoldeten  Professuren  vom  Jahre  1549  (S.  51)  zählt  auf:  Hebräisch 
und  Griechisch,  Poesie,  Mathematik,  Rhetorik,  Physik,  zwei  der  Dia- 
lektik und  zwei  Rektoren  im  Pädagogium.  Inhaber  der  Professur  der 
Poesie  war  noch  der  alte  Humanist  Glareanus  (gest.  1563).  Für 
den  Lehrstuhl  der  griechischen  Sprache  war  1546  J.  Härtung,  ein  be- 
deutender Gräcist,  berufen  worden  (gest.  1579).  Ohne  Zweifel  auf 
seinen  Antrieb  legte  die  Fakultät  den  Studierenden  das  Studium  des 
Griechischen  wiederholt  ans  Herz,  so  z.  B.  1548:  alle  sollen  die  Elemente 
und  wer  es  kann,  auch  einen  Autor  hören.  Aus  dem  Jahre  1553  findet 
sich  die  Notiz,  daß  von  allen  Magistranden  nur  einer  ein  Zeugnis  von 
Härtung,  der  nicht  mehr  über  die  ersten  Elemente  las,  beizubringen 

26* 


404     //,  r.    Die  Neuhegründung  des  röm.'kathol,  Oelehrtensckuiiacsens. 


im  Stande  war.  Daher  wurde  1565  eine  neue  Examensordnung  be- 
schlossen: da  viele  auf  den  Akademien  zusammenströmten  ohne  alle 
Kenntnis  der  griechischen  Sprache  und  dadurch  in  addiscendis  liberalibus 
artibus  et  intelligendis  phüosophorum  et  poetarum  scriptis  sehr  behindert 
würden,  so  solle  eine  zweite  griechische  Lektur  für  die  Elemente  (Gram- 
matik mit  Lesestücken  aus  Lucian)  eingerichtet  und  zu  ihrem  Besuch 
die  Baccalarianden  verpflichtet  werden,  wie  zum  Besuch  derHARTUNGschen 
Vorlesungen  über  einen  Autor  die  Magistranden.  ^  Später  wurde  die 
griechische  Grammatik  mit  der  Poesie  und  Rhetorik  dem  1572  neu 
organisierten  Pädagogium,  dessen  lectiones  als  classicae  gegenüber  den 
publicae  in  der  Fakultät  bezeichnet  werden,  übertragen  (Schreibeb, 
II,  131). 

Im  Jahre  1577  wurde  von  der  Regierung  der  erste  Versuch  ge- 
macht, die  Universität  zur  Aufnahme  von  Jesuiten  zu  bewegen,  aber, 
da  er  auf  Widerstand  stieß,  aufgegeben.  Die  Universität  behauptete 
nicht  mit  Unrecht:  überall  wohin  die  Jesuiten  und  ihre  Schüler  kämen, 
entstehe  Streit;  sie  fügten  sich  nirgends  der  bestehenden  Ordnung  und 
durch  das  Statut  ihrer  Gesellschaft  seien  sie  verhindert  sich  der  Ge- 
richtsbarkeit der  Korporation  zu  unterwerfen.  Erst  1620  drang  die 
Regierung  durch;  die  philosophische  Fakultät  mitsamt  dem  Pädagogium 
wurde  der  Gesellschaft  Jesu  übergeben,  die  bisherigen  Lehrer  alle  ent- 
fernt und  anderweitig  versorgt  (Schreiber,  II,  309  0".,  403  flf.). 

In  den  Ländern  der  böhmischen  Krone  hatte  der  Abfall  von  der 
römischen  Kirche  sich  eher  und  vollständiger  vollzogen,  als  in  den 
österreichischen  Erblanden,  wenngleich  es  auch  hier  zu  konsolidierten 
kirchlichen  Neubildungen  bisher  nicht  gekommen  war.  Das  gelehrte 
Unterrichtswesen,  welches  übrigens  im  Zustand  dauernder  SJerrüttung 
lag,  hatte  im  ganzen  der  humanistisch -protestantischen  Reform  sich 
anzuschlieBen  versucht.  Die  Universität  Prag  hatt«  seit  den  hussitischen 
Wirren  sich  nicht  wieder  erholen  können.  In  der  ersten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  waren  wiederholt  humanistische  Reformationsversuche 
unternommen  worden,  aber  ohne  erheblichen  Erfolg.  Erst  1537  wurde 
durch  eine  Privatstiftung  eine  Lektur  für  die  griechische  Sprache,  be- 
sonders für  Homers  Ilias  gestiftet,  welche  nachher  geteilt  und  an  zwei 
Wittenberger  Magister  gegeben  wurde  (Tomek,  156,  197  flf.). 

Die  Partikularschulen  in  Böhmen  und  Mähren,  welche  nach  dem 
Privileg  der  Prager  Universität?  dieser  untergeben  waren,  empfingen 
von  ihr  Schulpläne  und  Lehrer.  Tomek  (S.  187)  zählt  unter  etwa  100 
aus   der   zweiten   Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  bekannten  Schulen  18 


1  "i 


Zell,  De  studio  Graecarum  Latinarumque  litterarum  saee,  XVL 


Jesuitenkollegien  in  Böhmen  und  Mähren.  405 


größere  auf,  unter  welchen  Prag,  Kuttenberg,  Königgrätz,  Saatz 
und  Leitmeritz  hervorragten.  Sie  hatten  die  üblichen  fünf  Klassen 
mit  den  gewöhnlichen  Lehrgegenständen:  Grammatik,  Rhetorik,  Dia- 
lektik, nebst  den  Anfangsgründen  der  mathematischen  Wissenschaften. 
Jährlich  brachten  sie  ihre  erwachsenen  Schüler  nach  Prag  zur  De- 
position und  Immatrikulation  bei  der  Universität,  in  den  60er  und 
70  er  Jahren  etwa  5 — 600  jährlich.  Doch  blieben  diese  auf  der  Uni- 
versität meist  nur  ganz  kurze  Zeit,  etwa  ein  halb  Jahr;  die  Frequenz 
dieser  war  daher  gering  und  der  ganze  Unterrichtsbetrieb  durch  viel- 
fache Heijmnisse  niedergedrückt  und  dürftig.  Im  Jahre  1586  gab  der 
Rektor  der  .Universität,  P.  Codicillus,  Prof.  der  Eloquenz,  den  Parti- 
kularschulen einen  allgemeinen  Lehrplan.  ^  Er  unterscheidet  sich  nirgends 
erheblich  von  den  gleichzeitigen  Lehrplänen  der  protestantischen  Gym- 
nasien in  Deutschland:  dieselben  Unterrichtsgegenstände,  dieselben  Lehr- 
bücher und  Autoren.  —  Mähren  hatte  Gymnasien  zu  Iglau,  Znaim, 
Groß-Meseritz.  Das  erstere  war  1562  als  dreisprachige  Schule  mit 
sechs  Lehrern  von  der  Stadt  gegründet;  eine  Stipendienstiftung  ermög- 
lichte den  Besuch  auswärtiger  Universitäten,  besonders  Wittenbergs;  1617 
wurde  ein  Konvikt  mit  36  Stellen  gestiftet  (Progr.  1881,  von  Wallneb). 
Letzteres  wurde  von  den  Ständen  als  Landschaftsschule  1577  begründet 
(C.  d'Elveet,  Gesch.  der  Studienanstalten  in  Mähren,  Brunn,  1857). 

Im  Jahre  1556  führte  König  Ferdinand  die  Jesuiten  nach  Prag. 
P.  Caxisiüs,  seit  kurzem  Provinzial,  richtete  im  Dominikanerkloster 
bei  St.  Clemens  ein  Kollegium  ein,  für  welches  zunächst  zwölf  Mit- 
glieder, sämtlich  Ausländer,  eintrafen.  Ausgestattet  wurde  es  mit  den 
Gütern  der  lausitzischen  Klöster  Oybin  und  Dobrilugk.  In  wenigen 
Jahren  waren  ein  Gymnasium,  nebst  einem  Konvikt  für  arme  Studenten 
und  einem  Pensionat  für  Adlige  (contubernium  nobilium),  eingerichtet. 
In  letzterem  fundiert«  1573  der  Papst  zwölf  Freistellen  für  einheimische 
arme  Adlige,  die  sich  dem  Dienst  der  Kirche  widmen  wollten.  Den 
humanistischen  Kursen  wurden  bald  philosophische  und  theologische 
hinzugefügt  und  das  Gymnasium  seitdem  Clementinische  Akademie 
genannt.  Die  ersten  Promotionen  fanden  1565  statt.  Gegen  Ende  des 
Jahrhunderts  hatte  dieselbe  etwa  700  Schüler,  darunter  gegen  100 
Philosophen.  Die  alte  Karolinische  Universität,  welche  größtenteils  aus 
Protestanten  und  einigen  alten  Utraquisten  bestand,  protestierte  ver- 
geblich gegen  die  Verletzung  ihrer  Privilegien.  Der  aufgesammelte 
Haß  entlud  sich,  als  1618  der  Krieg  der  Stände  gegen  den  König  zum 


^  Mitgeteilt  in  den  neueren  Abhandlungen  der  böhmischen  Gresellschaft 
der  Wissenschaften,  Bd.  III,  2,  186  ff.  (1798). 


406     11,  7.    Die  Neubegründwig  des  rönh-kathoL  OelehrtenschtUu-esens, 


Ausbruch  kam,  in  der  Vertreibung  der  Jesuiten  und  der  Übergabe 
ihrer  Güter  an  die  Universität.  Vier  Jahre  später  fand  der  umgekehrte 
Vorgang  statt:  am  20.  April  1622  fand  die  letzte  amgreyatio  magistro- 
rum  der  alten  Prager  Universität  statt;  ihre  Guter  und  Insignien 
wurden  den  Jesuiten  übergeben,  welche  ihre  Akademie  nunmehr  als 
Carl -Ferdinands -Universität  bezeichneten.  Der  jeweilige  Rektor  des 
Kollegiums  sollt«  zugleich  Rektor  der  Universität  sein  und  als  solcher 
die  Professoren  ernennen,  auch  das  Schulregiment  der  alten  Universität 
auf  ihn  übergehen.  Doch  erhob  sich  gegen  diese  exzessiven  Ansprüche 
der  Väter  so  starker  Widerspruch,  namentlich  von  selten  des  Erz- 
bischofs, daß  die  Sache  wieder  rückgängig  wurde;  die  Jesuiten  behielten 
die  philosophische  und  theologische  Fakultät.^ 

Von  Prag  aus  wurden  die  streitbaren  Kolonien  des  Ordens  über 
Böhmen,  Mähren,  Schlesien,  Polen,  Preußen  ausgebreitet.  Es  wurden 
Kollegien  gegründet  in  den  böhmischen  Städten  Krummau  (1588), 
Kommotau  (1592),  Neuhaus  (1594),  Jiöin  (1624),  Kuttenberg 
(1626),  Eger  (1629),  Prag  Kleinseite  (1630),  Prag-Neustadt  (1634), 
Königgrätz(1676),  in  den  mährischen  Städten  Olmütz  (1566),  Brunn 
(1578),  Iglau  (1625),  Znaim  (1627),  die  beiden  letzteren  vom  Grafen 
Althan  fundiert.  Das  Gymnasium  zu  Olmütz,  mit  Seminar  und  adligem 
Pensionat  verbunden,  wurde  1573  zur  Universität  erhoben.  Auch  hier 
fundierte  der  Papst  Gregor  XIII  50  Freistellen  für  adlige  Jünglinge  aus 
dem  Norden,  sie  zur  Ausbreitung  des  Glaubens  in  ihrer  abgefallenen 
Heimat  zu  erziehen. 

Die  Erfolge  der  kaiserlichen  Heere  im  dreißigjährigen  Krieg  öffneten 
den  Jesuiten  Schlesien.  In  der  Grafschaft  Glatz  hatten  sie  aller- 
dings schon  seit  1597  ein  Gymnasium.  Das  erste  Kollegium  und 
Gymnasium  in  Schlesien  wurde  zu  Neiße  1622  von  Erzherzog  Carl 
errichtet,  mit  Seminar  und  philosophischen  und  theologischen  Kursen. 
Es  folgten  Glogau  (1626),  zum  Teil  mit  den  Gütern  des  aufgehobenen 
akademischen  Gymnasiums  zu  Beuthen  dotiert,  Sagan  (1628),  von 
Wallenstein  reich  ausgestattet,  Schweidnitz  (1635),  Breslau  (1638). 
Oppeln  (1668),  Teschen  (1674).  Die  Breslauer  Anstalt  entwickelte 
sich  allmählich  zur  Universität,  als  welche  sie  1 702  privilegiert  wurde. 

Früher  als  in  Schlesien  hatten  die  Jesuiten  im  Polnischen  und 
Preußischen  Eingang  gefunden.  Für  das  Bistum  Ermland  stiftete 
der  Bischof  Stanislaus  Hosius  schon  1565  ein  Jesuitenkollegium  mit 
akademischen  Kursen  zu  Braunsberg   im  Franziskanerkloster,  wozu 


^  Eine  detaillierte,   interessante  Darstellung  dieser  Vorgänge  bei  Tomee. 
S.  161  ff. 


Jesmtenkolkgien  in  Schlesien  und  Polen,  407 


1631  das  Kollegium  zu  Bössei  im  Augustinerkloster  kam.  In  den 
Teilen  Polens,  welche  jetzt  zu  Preußen  gehören,  bestanden  Jesuiten- 
gymnasien zu  Posen  (1573)  mit  einem  coli  nobilium^  und  Philosophie 
und  Theologie,  Altschottland  bei  Danzig  (1575),  Thorn  (1593), 
Marienburg  (1618),  Konitz  (1620),  Bromberg  (1639),  Öraudenz 
(1647),  Deutsch-Krone  (1672).  Auch  die  polnische  Universität  zu 
Krakau  stand  seit  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  unter  dem 
Einfluß  der  Jesuiten.  — 

Die  Übersicht  zeigt,  wie  das  jesuitische  Gelehrtenschulwesen  un- 
widerstehlich vorwärts  dringt.  Die  Bildung  des  katholischen  Klerus 
lag  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts,  kaum  mehr  als  ein  halbes  Jahr- 
hundert nach  dem  so  unscheinbaren  Ursprung  des  Ordens,  fast  ganz  in 
seiner  Hand.  Mit  seinen  Kollegien  hatte  er  in  weitem  Bogen  von  den 
Mündungen  des  Rheins  bis  zu  den  Mündungen  der  Weichsel  den  Herd 
der  Ketzerei  wie  mit  einem  Gürtel  von  Belagerungswerken  umspannt. 
Er  hatte  den  humanistischen,  philosophischen  und  theologischen  Unter- 
richt den  alten  Universitäten  fast  ganz  aus  der  Hand  genommen,  sei 
es  durch  Eintritt  in  die  Fakultäten,  sei  es  durch  Konkurrenzinstitute. 
Die  alten  Körperschaften  zu  Ingolstadt,  Wien,  Prag,  Freiburg,  Köln 
widerstanden  nach  Kräften,  aber  vergeblich;  die  Jesuiten  waren  überall 
siegreich;  die  durch  die  Regierungen  erfolgende  Übergabe  der  Fakul- 
täten war  regelmäßig  nur  die  formelle  Anerkennung  der  Thatsache, 
daß  sie  den  wirklichen  Unterricht  an  sich  gezogen  hatten.  Es  ist  den  . 
Jesuiten  von  den  alten  possedierenden  Korporationen  oft  der  Vorwurf 
der  Herrschsucht  gemacht  worden,  und  manche  Historiker  dieser  An- 
stalten haben  ihn  mit  Leidenschaft  wiederholt.  Gewiß  nicht  ohne 
Grund.  Aber  man  muß  hinzufugen,  es  war  nicht  die  Herrschsucht 
nichtiger  Anmaßung,  die  sich  auf  äußere  Gewalt  oder  leere  Titel  stützt, 
sondern  die  Herrschsucht  der  Kraft,  welche  wirken  will,  weil  sie  wirken 
kann  und  muß.  Vielleicht  ist  manches  formelle  Recht  durch  sie  zer- 
brochen worden.  Aber  die  Geschichte  bekennt  sich  überall  zu  dem 
Satz:  Macht  giebt  Recht. 

Man  wird  sagen  können:  die  Erhaltung  der  katholischen  Kirche 
im  Südosten  und  Nordwesten  Deutschlands  ist  wesentlich  das  Werk  der 
Gesellschaft  Jesu.  Um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  stand  die  Sache 
des  Katholizismus  fast  aussichtslos.  Adel  und  Bevölkerung  der  öster- 
reichischen und  böhmischen  Länder  war  abgefallen,  kein  Klerus  war 
da,  der  es  wehrte.  Die  großen  geistlichen  Fürstentümer  am  Rhein 
standen  auf  dem  Sprung  sich  in  weltliche  Fürstentümer  zu  verwandeln. 
Die  Häuser  Witteisbach  und  Habsburg  hätten  mit  politischen  Mitteln 
allein  den  Zusammenbruch  nicht  aufgehalten.     So  standen  die  Dinge, 


408     //,  r.    Die  Neubegründung  des  räm.-kathoL  Oelefirtenscktdicesens, 


als  in  den  40  er  Jahren  die  ersten  Jesuiten  in  Deutschland  erschienen 
und  sich  Wilhelm  IV.  von  Bayern  und  König  Ferdinand  zur  Ver- 
fügung stellten.  In  wenig  Jahrzehnten  war  der  Fortschritt  des  Pro- 
testantismus zum  Stehen  gebracht  und  am  Anfang  des  17.  Jahrhunderts 
stand  der  Katholizismus  zur  Wiedereroberung  gerüstet  da.  Daß  auch 
diese  gelungen  wäre,  wenn  nicht  die  politischen  Interessön  Schwedens 
und  Frankreichs,  ja  des  heiligen  Stuhles  selbst  dazwischen  getreten 
wären,  scheint  nach  menschlichem  Ermessen  kaum  zweifelhaft. 

Worin  lag  das  Geheimnis  der  Kraft  dieser  Menschen?  Darin,  daß 
sie  „Männer  an  Bosheit"  waren,  wie  Raumee  sein  Urteil  formuliert? 
Daß  sie  schlauer  und  rücksichtsloser  als  alle  übrigen  die  Leichtgläubig- 
keit der  Massen,  die  politische  Rat-  und  Hilflosigkeit  der  Regierenden 
gegen  die  Revolution  ausbeuteten?  Mir  scheint,  das  heißt  der  Lüge 
und  Bosheit  mehr  zutrauen,  als  sie  ausrichten  können;  Bosheit  und 
Lüge  sind  nicht  Gemeinschaft  bildende  Kräfte,  und  wo  hätte  es  einen 
festeren  Verband  gegeben,  als  die  Gesellschaft  Jesu?  Bosheit  und 
Lüge  sind  auch  nicht  Mittel,  wodurch  dauernder  Einfluß  auf  Menschen 
erlangt  wird.  Nach  einem  alten  Wort  ist  der  stärkste  derjenige,  welcher 
sich  selber  überwindet.  Vielleicht  will  das  Wort  nicht  bloß  sagen, 
daß  die  größte  Kraft  hierzu  erforderlich  ist,  sondern  auch,  daß  die 
größte  Wirkung  von  denen  ausgeht,  die  die  größte  Kraft  der  Selbst- 
beherrschung haben.  Ich  glaube  nun,  daß  es  nie  eine  Gesellschaft 
von  Menschen  gegeben  hat,  die  in  der  Bändigung  der  natürlichen 
Triebe,  in  der  Zurückdrängung  der  individuellen  Neigungen  und  Be- 
gierden durchgängig  es  weiter  gebracht  hat,  als  die  Jesuiten.  Große 
Individualitaten  treten  in  der  Geschichte  des  Ordens  nicht  hervor,  der 
Poesie  bietet  er  wenig  Stoff;  aber  jederzeit  besaß  er  eine  große  Menge 
durchaus  zuverlässiger,  sicher  wirkender  Kräfte.  Es  ist  in  seiner 
Thätigkeit  etwas  von  der  stillen,  aber  unaufhaltsamen  Wirkungsweise 
der  Naturkräfte;  ohne  Leidenschaft  und  Kriegslärm,  ohne  Aufregung 
und  Überstürzung  dringt  er  Schritt  für  Schritt  vor,  fast  ohne  jemals 
einen  zuriickzuthun.  Sicherheit  und  Überlegenheit  charakterisieren  jede 
seiner  Bewegungen.  Freilich  sind  das  nicht  Eigenschaften,  die  liebens- 
würdig machen;  liebenswürdig  ist  niemand,  der  ohne  menschliche 
Schwäche  ist  Vollkommene  Leidenschaftslosigkeit  hat  eher  etwas 
Furchtbares  und  Unheimliches. 

Ich  kann  mir  nicht  versagen,  folgenden  Zug,  der  nach  jesuitischer 
Relation  in  der  Geschichte  des  Grazer  Gymnasiums  berichtet  wird,  hier 
mitzuteilen.  Als  in  den  70  er  Jahren  dort  Jesuitengymnasium  und 
Landschaftsschule  nebeneinander  bestanden,  kamen  die  Väter  manchmal 
hospitierend,  wie  es  unter  Gelehrten  Sitte  sei,  in  die  Lektionen  und 


Worauf  die  Kraft  des  Ordens  beruhte?  409 


Disputationen  der  ständischen  Schule.  Der  Rektor  dieser  letzteren  war 
darüber  keineswegs  erfreut;  einmal,  als  am  Schluß  der  Lektion  der 
Pater  eine  Frage  that,  brach  er  in  die  Worte  aus:  „sie  sollten  daheim 
in  ihrer  Universität  bleiben  und  ihn  nicht  perturbieren,  er  komme  auch 
nicht  zu  ihnen  hinauf."  Der  Jesuit  antwortete  mit  höflicher  Freund- 
lichkeit: utinam  veniasf  experieris  omnem  humanitatem.  Der  Rektor: 
„Man  kennt  euch  Jesuiten".  Der  Pater:  Sumus  amatores  veritatis. 
Der  Rektor:  amatores  mendaciu  Da  wandte  sich  der  Jesuit,  ohne  ein 
Wort  zu  erwidern  zum  Gehen.  —  Daß  die  Jesuiten  bis  auf  den  heutigen 
Tag  Meister  in  der  großen  Kunst  sind,  den  Zorn  zu  beherrschen  und 
dadurch  Meister  in  der  großen  Kunst,  die  Seelen  der  Menschen  zu 
beherrschen,  kann  der  Leser,  nebst  manchem  interessanten  Detail  aus 
der  Erziehungskunst  der  Jesuiten,  aus  einem  Buch  ersehen,  worin  ein 
Zögling  des  Jesuitenkollegs  zu  Freiburg  und  darnach  des  collegium 
Germaniatm  zu  Rom,  der  nachher  protestantischer  Pastor  geworden 
ist,  die  Eindrücke,  die  er  dort  empfangen,  lebhaft  und  wahrhaft  wieder- 
giebt:  es  ist  das  anonym  erschienene  Buch  von  Köhler,  Erinnerungen 
eines  ehemaligen  Jesuitenzöglings  (Leipzig,  1862). 

Woher  kam  dem  Orden  diese  Kraft?  Ich  glaube,  sie  kann  zuletzt 
nur  aus  einer  großen  Idee  kommen,  nicht  aus  selbstsüchtiger  Begierde; 
diese  löst  auf,  jene  allein  kann  dauernd  verbinden.  Die  Idee,  welche 
die  Glieder  des  Ordens  durchdrang  und  sie  nach  Auslöschung  aller 
individuellen  Begierden  mit  einem  großen  und  schwärmerischen  Ver- 
langen erfüllte,  war  die:  daß  der  Orden  das  auserwählte  Rüstzeug  zur 
Rettung  der  Kirche  Gottes  sei.  Seine  Mitglieder  stellten  sich  dem 
Haupt  der  Kirche  als  ritterliche  Vorkämpfer  und,  wenn  es  Gottes 
Wille  sei,  als  erste  Opfer  in  dem  großen  Kampf  mit  der  heidnischen 
und  häretischen  Welt  unbedingt  zur  Verfügung.  —  Daß  diese  Idee 
im  Stande  ist,  das  Gemüt  eines  Menschen  ganz  einzunehmen,  wird 
doch  auch  der  verstehen  können,  der  selber  auf  anderem  Boden  steht. 
Ich  halte  es  für  eine  glückliche  Fügung  des  Geschicks,  daß  der  Orden 
sein  Ziel  nicht  erreicht  hat;  ich  vermag  in  der  katholisch-kirchlichen 
Frömmigkeit,  so  sehr  ich  bereit  bin,  aufrichtige  Frömmigkeit  in  jeder 
Form  zu  ehren,  nicht  die  höchste  Form  menschlichen  Lebens  zu  er- 
blicken, geschweige  denn  die  einzige  zulässige,  an  der  das  diesseitige 
und  jenseitige  Heil  der  Seele  hange;  ich  bin  der  Überzeugung,  daß 
die  Zurückführung  aller  europäischen  Völker  unter  die  Botmäßigkeit 
des  römischen  Stuhls  zur  Verarmung  und  Verkümmerung  des  geistigen 
Lebens  im  Abendlande  geführt  hätte  und  daß  vor  allem  das  deutsche 
Volk  es  mit  Dank  zu  erkennen  hat,  daß  ihm  die  durch  Luther  er- 
kämpfte Freiheit  von  Rom,  die  denn  freilich  zunächst  noch  nicht  die 


410     II,  7.    Die  Neubegründufig  des  röm,-kathol,  Geldirtsnsckulwesens, 


Freiheit  des  Glaubens  und  Gewissens  für  den  Einzelnen  war,  erhalten 
geblieben  ist.  Aber  alles  dies  kann  nicht  hindern,  das  Große  und 
Bedeutende  auf  der  anderen  Seite  anzuerkennen.  Auch  wer  dem 
Jesuitenorden  und  seinen  Bestrebungen  als  Gegner  gegenübersteht, 
wird  darum  nicht  die  Gesellschaft  als  die  Verschwörung  der  Lüge  und 
Bosheit  oder  die  einzelnen  Glieder  als  abgefeimte  Schurken  ansehen 
müssen  oder  dürfen.  Das  wäre  thörichteste  Selbsttäuschung,  sich  ein- 
zureden, daß  durch  Beizung  selbstsüchtiger  Gelüste  die  Glieder  des 
Ordens  angelockt  oder  durch  ihre  Befriedigung  festgehalten  worden 
seien.  Wohlleben  des  sinnlichen  Menschen  kann  in  diesem  Orden  zu 
suchen  schwerlich  jemals  einer  in  Versuchung  gewesen  sein;  was  sich 
ihm  beim  Eintritt  in  Aussicht  stellte,  das  war  zunächst  demütiges 
Noviziat,  dann  ein  jahrelanges,  äußerlich  und  innerlich  eng  gebundenes 
Studium,  endlich  mühselige  Schularbeit  oder  aufopferungsvoller  Dienst 
in  der  Predigt  oder  der  Mission.  Den  Ehrgeiz  konnte  vielleicht  später 
die  Machtstellung  des  Ordens  reizen;  aber  wer  der  Sache  näher  trat> 
mußte  bald  merken :  für  den  Einzelnen,  für  jeden  Einzelnen  ohne  Aus- 
nahme, galt  es  nicht  herrschen,  sondern  gehorchen,  sein  Leben  lang 
gehorchen,  ohne  Murren  jeden  Platz  und  jede  Stellung  in  jedem  Augen- 
blick annehmen  oder  verlassen,  nach  dem  Wink  „der  Oberen".  Man 
lese  in  der  kleinen  Biographie  des  P.  Canisius  von  Drews  (1890)  nach, 
wie  das  Gesetz  des  unbedingten  Gehorsams  auch  gegen  einen  Mann 
von  der  Bedeutung  und  dem  Verdienst  des  ersten  deutschen  Provinzials 
rücksichtslos  geltend  gemacht  wurde.  Übrigens,  wäre  für  die  Be- 
friedigung von  Ehrgeiz  und  Herrschaftsgelüsten  oder  für  die  Neigung 
zum  Wohlleben  und  zur  Bequemlichkeit  im  Orden  etwas  zu  holen 
gewesen,  dann  würden  wir  mit  Sicherheit  erwarten  dürfen,  in  den 
Stellen  der  Generale  und  Provinziale,  ebenso  wie  in  den  Bistümern 
und  Abteien,  bald  große  Herren  und  nachgeborene  Prinzen  zu  finden. 
Man  wird  sie  vergebens  suchen.  Überhaupt  scheint  der  Orden  für  diese 
Gesellschaftsklassen  niemals  große  Anziehungskraft  gehabt  zu  haben, 
ein  zuverlässiges  Anzeichen  dafür,  daß  er  der  Selbstsucht  wenig  bot. 
Und  noch  ein  Anzeichen  hierfür;  der  Orden  wäre  niemals  verfolgt  und 
verboten  worden,  wenn  er  vor  allem  dem  Wohlleben  seiner  Glieder 
gedient  hätte:  Vereine  für  derartige  Zwecke  sind  niemals  für  gefahr- 
lich angesehen  worden ;  gefährlich  sind  immer  nur  Vereinigungen  für 
Ideen. 

Warum  ich  dies  hervorhebe?  Weil  es  mich  verdrießt,  immer 
wieder  huren  zu  müssen,  wie  Männer,  die  mit  Aufopferung  aller  persön- 
lichen Interessen  für  eine  Idee  lebten,  von  stumpfen  Philisterseelen, 
die   ihr  Leben    lang  ihr  sinnliches  Behagen   suchten,   oder   von  ehr- 


Worauf  die  Kraft  des  Ordens  beruhte?  411 


geizigen  Strebern,  die  nur  daran  denken,  wie  sie  den  Machthabern  des 
Staates  und  der  öffentlichen  Meinung  gefallen,  der  Selbstsucht  und  des 
Ehrgeizes  beschuldigt  werden.  — 

Dauernde  Wirksamkeit  auf  Erden  erlangt  eine  Idee  nicht  ohne 
Verkörperung  in  einer  äußeren  Ordnung.  Die  Ordnung  des  Jesuiten- 
ordens, von  der  Gesamtverfassung  bis  zum  kleinsten  Stuck  der  Disziplin 
herab,  ist  von  einer  bewunderungswürdigen  Angemessenheit  zu  ihrem 
Zweck.  Größte  Kraft  des  Einzelnen  und  sicherste  Einfügung  in  den 
Organismus  des  Ganzen,  spontane  Thätigkeit  und  willige  vollständige 
Unterordnung,  diese  schwer  zu  vereinigenden  Gegensätze  scheint  die 
Gesellschaft  in  einem  Maße  erreicht  zu  haben,  wie  vielleicht  niemals 
irgend  eine  andere  Korporation. 

Endlich  ist  noch  eines  hinzuzufügen.  Der  Orden  verstand  das 
Wort  Bacons:  natura  non  vincitur  nisi  parendo.  Wer  die  Welt  unter- 
werfen will,  muß  sich  versehen  mit  dem,  was  in  der  Welt  gilt.  Mochte 
früher  Einfalt  des  Herzens  und  asketische  Frömmigkeit  Macht  über 
die  Gemüter  verliehen  haben,  in  der  Gegenwart  reichten  diese  Dinge 
allein  nicht  aus.  In  der  modernen  Welt  hat  bisher  nur  Eines  auf  die 
Dauer  das  Übergewicht  gegeben:  überlegene  Bildung.  Durch  die 
Wissenschaft  hatte  der  Protestantismus  sich  durchgesetzt.  So  lange 
im  Abendlande  die  Kulturtendenz  herrschend  bleibt,  wird  es  nicht 
anders  sein.  Die  Jesuiten  waren  sich  hierüber  von  Anfang  an  klar. 
Sie  besaßen  zugleich  weltmännische  Bildung  und  fachmännische  Gelehr- 
samkeit. So  waren  sie  ausgerüstet,  die  Welt  durch  die  Welt  zu  über- 
winden. Daß  das  nicht  die  Weise  war,  wie  jener,  nach  dessen  Namen 
sie  sich  nannten,  die  Welt  überwunden  hatte,  ist  freilich  gewiß;  aber 
nicht  minder  gewiß,  daß  die  Welt  am  Anfang  der  Neuzeit  eine  andere 
war,  als  die  Welt  am  Ende  des  Altertums. 

Die  Herrschaft  des  Ordens  ging  zu  Ende,  als  neue  Wissenschaften, 
die  aufzunehmen  er  nicht  den  Willen  oder  das  Vermögen  gehabt  hatte, 
auf  die  Anschauungen  der  Menschen  bestimmenden  Einfluß  erlangten. 
Die  Bildungselemente  des  Humanismus  hatte  er  sich  angeeignet,  die 
Entwickelung  der  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Erkenntnis  ge- 
schah außerhalb  seiner  Kreise;  der  Neubildung  der  Philosophie  und 
Weltanschauung  auf  Grund  dieser  neuen  Voraussetzungen  sah  er  mit 
Mißtrauen  zu;  seine  Universitäten  hielten  streng  am  aristotelisch- 
thomistischen  Schulbetrieb  fest,  während  draußen  Galilei  und  Des- 
CARTES,  Newton  und  Locke,  Leibniz  und  Wolfe,  Voltaiee  und 
Rousseau  die  Geister  beschäftigten  oder  beherrschten.  So  in  die  Rolle 
des  mißvergnügten  Zuschauers  gedrängt,  verlor  er  sein  Ansehen.  Miß- 
achtung und  Feindschaft  wurden  zuletzt  in  den  katholischen  Ländern 


412     II,  7.    Die  Neubegründung  des  röm.-kaihoL  Oelehrtenschulwesens. 


so  allgemein,  daß  der  Papst  sich  endlich  genötigt  sah,  selber  den  Orden 
aufzuheben  (1773).     Volentem  ducunt  /ata,  nolentem  trakunt 


Wir  wenden  uns  nun  zur  Betrachtung  des  Unterrichts  in  den 
Studienanstalten  der  Gesellschaft.  Im  ganzen  und  großen  gleicht  er 
dem  im  vorigen  ausführlich  behandelten  Unterricht  in  den  protestan- 
tischen Schulen  und  Universitäten.  Auch  sein  Ziel  kann  man  mit  der 
Formel  Sturms  bezeichnen:  eloquens  et  sapiens  pietas;  und  er  sucht 
es  wesentlich  mit  denselben  Mitteln  zu  erreichen:  Eloquenz,  die  Fähig- 
keit der  Rede  in  klassischem  Latein,  in  Poesie  und  Prosa,  ihr  dient 
der  grammatisch-rhetorische  Kursus,  Sapienz,  die  wissenschaftliche  Er- 
kenntnis, ihr  dienen  außer  den  humanistischen  auch  die  philosophischen 
und  theologischen  Studien,  endlich  pietas^  Frömmigkeit  und  Recht- 
gläubigkeit, ihr  dient  die  Religionslehre  und  Religionsübung  auf  allen 
Stufen. 

Sturm  deutet  einmal  an,  die  Jesuiten  könnten  aus  seinen  Quellen 
geschöpft  haben.  Schwerlich  ist  hieran  zu  denken;  die  Zusammen- 
stimmung wird  wesentlich  auf  der  Gleichartigkeit  der  Zeitbedürfhisse 
beruhen;  die  bewegenden  Kräfte  der  Zeit  sind  das  Christentum  und 
das  klassische  Altertum:  der  Aufbau  eines  mit  Hilfe  der  Philologie 
aus  den  Quellen  abgeleiteten,  mit  Hilfe  der  Philosophie  gestützten 
Systems  der  Glaubenslehre,  das  erscheint  als  die  große  wissenschaft- 
liche Aufgabe  der  Zeit,  sowohl  auf  katholischer  wie  auf  protestantischer 
Seite.  Hierzu  auszurüsten  ist  die  Aufgabe  des  gelehrten  Unterrichts. 
tTbrigens  mag  auch  daran  erinnert  sein,  daß  Sturm  und  Ignatius 
beide  zu. Paris  studiert  haben;  sie  hätten  sich  begegnen  können:  Sturm 
lehrte  und  lernte  von  1529 — 1537,  Ignatius  studierte  von  1528 — 1534 
in  einem  Pariser  Kolleg.  Der  Stifter  der  Gesellschaft  bewahrte  der 
Universität  stets  ein  dankbares  Andenken;  daneben  stand  Löwen,  wo 
Stubm  ebenfalls  studiert  hatte,  bei  ihm  in  hohem  Ansehen.  Es  ist 
kein  Zweifel,  daß  der  ganze  äußere  Schematismus  der  Ordenskollegien 
diesen  Vorbildern  nachgebildet  ist.^ 

Die  abschließende  Feststellung  der  Studienordnung  erfolgte  erst 
im  Jahre  1599,  in  der  von  dem  vierten  Ordensgeneral,  P.  Gl.  Aquaviva, 
erlassenen  Ratio  atque  institutio  studiorum  S,  J,     Sie   giebt  eine 

»  ScHMiD,  Gesch.  der  Erziehung,  III,  1,  S.  7,  33ff.;  llSff.  Mit  Recht  sagt 
G.  Müller  (S.  35):  „Überhaupt  dürfte  die  erlebte  Praxis  für  die  Begründung 
und  Ausgestaltung  der  Pädagogik  des  Ordens  wichtiger  gewesen  sein,  als  die 
Benutzung  der  pädagogischen  Theoretiker".  —  Das  wird  nicht  bloß  hier  gelten; 
die  Geschichtsschreiber  der  Pädagogik  neigen  dazu,  den  Einfluß  der  Theoretiker 
zu  überschätzen. 


Der  Siiuiienkursus  der  Ratio  studiorum.  413 


bis  ins  kleinste  sich  erstreckende  Normierung  des  gesamten  gelehrten 
Unterrichts  von  der  Grammatik  bis  zur  Theologie:  die  äußeren  Ein- 
richtungen der  Anstalten,  das  Schulregiment,  der  Stufengang  des 
Unterrichts,  der  Lehrgehalt  und  die  Lehrbücher,  die  Stundenverteilung, 
die  häuslichen  Übungen,  die  Prüfungen  und  Promotionen,  das  Unter- 
richtsverfahren von  der  ersten  Grammatikstunde  bis  zur  letzten  theo- 
logischen Vorlesung,  alles  findet  kurze,  präzis  gefaßte  gesetzliche  Fest- 
stellung. Der  Neigung  und  Willkür  des  einzelnen  Lehrers  und  Schülers 
ist  nichts  überlassen:  auch  das  Lehren  und  Lernen  wird  in  der  Pflicht 
des  Gehorsams  geübt.  Natürlich  sind  die  Bestimmungen  der  Ver- 
fassung von  1599  inhaltlich  nicht  eine  Neuschöpfung;  schon  die  ersten 
Gründungen  zeigen  in  allem  Wesentlichen  dasselbe  Schema  und  den- 
selben Studiengang.  Was  sich  dann  in  der  fünfzigjährigen  Praxis  der 
Kollegien  bewährt  hatte,  was  in  langen  Kommissionsverhandlungen  der 
80er  Jahre,  aus  denen  der  umfassende,  an  interessantem  Material 
reiche  Entwurf  von  1586  hervorging,  was  in  den  Gutachten  der  Pro- 
vinzen über  diesen  Entwurf  an  pädagogischen  Einsichten  und  Er- 
fahrungen zu  Tage  kam,  das  ist  hier  in  ein  Gesetz  gefaßt.  In  Form 
von  Vorschriften  des  Generals  für  den  Provinzial,  den  Rektor,  den 
Studienpräfekten,  die  Professoren  der  theologischen  und  philosophischen 
Kurse,  die  Lehrer  der  Gymnasialklassen  bis  herab  zur  infima  grammatica 
wird  jedem  seine  Aufgabe  aufs  genaueste  bestimmt;  nirgends  ein 
Zweifel,  ein  Bedenken,  eine  Möglichkeit  des  andern :  es  ist  ein  System 
von  erstaunlich  festem  Gefüge.  Bis  zum  Jahre  1832  hat  es  alle 
Wandlungen  der  Zeiten  überdauert,  und  auch  die  neue  Studienordnung 
des  Generals  Roothaan  stellt  sich  nur  als  veränderte  Ausgabe  der 
alten  dar.^ 

Der  Studienkursus  der  großen  Kollegien  umfaßt,  wie  der  der  alten 
Pariser  und  Oxforder  Kollegien,  Gymnasial-  und  Universitätsstudien, 
siudia  inferiora  und  studia  superiora.  Auf  einen  sechsjährigen  Kursus, 
in  dem  die  Sprachen  den  Mittelpunkt  der  Studien  bilden,  folgt  ein 
dreijähriger  philosophischer,  d.  h.  allgemein  wissenschaftlicher  Vor- 
bereitungskursus. An  ihn  mag  sich  dann  das  fachwissenschaftliche 
Studium  in  einer  der  oberen  Fakultäten  schließen,  für  die  Glieder  der 
Gesellschaft  natürlich  in  der  Theologie. 

Der  Gymnasialkursus  hat,  wie  an  den  protestantischen  Landesschulen, 


*  Die  Ratio  studiorum  liegt  jetzt  mit  deutscher  Übersetzung  und  der 
Revision  von  1832  in  der  Ausgabe  von  P.  Pachtler  im  V.  Bd.  der  Mon.  Paed, 
vor;  auch  findet  man  dort  zum  erstenmal  veröffentlicht  den  Entwurf  von  1586. 
Eine  gute  Darstellung  des  Unterrichts  und  der  Erziehung  in  den  Kollegien  bei 
ScHMiD,  Gesch.  der  Erziehung,  III,  1,  1  —  109,  von  G.  Müller. 


414     //,  7.    Die  Neubegründung  des  röm.'katiiol.   Gelehrienscfiulwesens. 


fünf  Stufen;  sie  heißen  Grammatica  infima,  media,  suprema, 
Humanitas  oder  Poesis,  Rhetorica,  Namen,  die  in  den  französischen 
Klassenbenennungen  sich  bis  auf  diesen  Tag  erhalten  haben.  Voraus- 
gesetzt wird,  ebenso  wie  auf  den  Landesschulen,  die  Absolvierung  eines 
Elementarkursus;  das  Kolleg  will  nicht  Lateinschule,  sondern  gelehrte 
Studienanstalt  sein.  Die  genannten  fünf  Stufen  des  Unterrichts  sollen 
unter  allen  Umstanden  innegehalt-en  werden,  auch  da,  wo  die  Klassen- 
zahl großer  oder  kleiner  ist,  d.  h.  wo  wegen  großer  Frequenz  eine 
Zerlegung  in  Parallelklassen  oder  wegen  zu  geringer  Zahl  eine  Zu- 
sammenlegung stattfinden  muß.  Die  Klassen  haben  Jahreskurse,  doch 
sollen  „die  Unseren"  in  der  Rhetorik  regelmäßig  zwei  Jahre  zubringen; 
im  übrigen  läßt  sich  die  Zeit  des  Aufenthaltes  in  den  beiden  oberen 
Klassen  nicht  allgemein  festsetzen;  auch  die  infima  kann  nach  Lage 
der  Dinge  in  zwei  Jahreskurse  zerlegt  werden,  so  daß  wir  dann  sechs 
Klassen  haben.  Ihre  Insassen  heißen:  Budimentistae  oder  Parvistae, 
Principistae,  Grrammatistae,  Poetae,  Rhetores, 

Die  Aufgabe  der  Klassen  ist  folgende.  In  den  Grammatikklassen 
ist  die  Erlernung  und  Einübung  der  lateinischen  Grammatik  das 
Hauptziel.  In  den  Humanitätsklassen,  der  Poesie  und  Rhetorik  handelt 
es  sich  um  die  Eloquenz,  d.  h.  die  Ausbildung  der  Darstellungsform, 
sowohl  in  Poesie  als  in  Prosa.  Als  das  Ziel  der  letzten  Klasse  und 
somit  des  ganzen  Kursus  wird  bezeichnet:  perfecta  eloquentia,  quae 
duas  facultates  majnmas,  oratoriam  et  poeticam,  comprehendit  Unter 
ihnen  kommt  aber  der  Rhetorik,  die  nicht  bloß  dem  Nutzen  dient, 
sondern  auch  auf  Schönheit  der  Sprache  sieht,  die  erste  Stelle  zu;  ihr 
Wesen  machen  drei  Stücke  aus:  die  Regeln  der  Redekunst,  der  Stil 
und  das  gelehrte  Wissen  (praecepta  dicendi,  stilus  et  eruditio),  —  Es 
ist  dasselbe  Ziel,  das  der  Gymnasialunterricht  zu  allen  Zeiten  verfolgt: 
die  Fähigkeit,  Gedanken  in  richtigem  und  angemessenem  Vortrag  aus- 
zudrücken. Was  die  heutigen  Gymnasien  von  denen  des  16.  Jahr- 
hunderts unterscheidet,  das  ist,  daß  sie  nicht  mehr  die  Darstellung  in 
lateinischer,  sondern  in  deutscher  Sprache  fordern,  und  daß  sie  auf  das 
Wissen  größeren  Nachdruck  als  auf  den  Vortrag  legen. 

Für  die  einzelnen  Unterrichtsgegenstände  wird  folgendes  ange- 
ordnet. Die  lateinische  Sprache  wird  nach  der  Grammatik  des 
Spaniers  P.  Immanuel  Alvarez  {De  institutione  grammatica,  L  III, 
zuerst  Lissabon  1572  gedruckt)  gelehrt.  Ihr  Inhalt  wird  auf  die  drei 
Grammatikaiklassen  verteilt;  das  Pensum  der  untersten  Klasse  ist  die 
Formenlehre  und  das  Notwendigste  aus  der  Syntax,  das  der  mittleren 
die  ganze  Syntax  bis  zur  constructio  figurata,  das  der  oberen  Wieder- 
holung der  Syntax  nebst  der  constructio  figurata  und  Metrik.    Auf  der 


Der  Studienkursus  der  Ratio  studiorum.  415 


Oberstufe  tritt  für  die  Grammatik  die  Rhetorik,  nach  Cicero  und 
Aristoteles,  ein.  Auf  allen  Stufen  findet  tagliche  Übung  im  Lesen  und 
Schreiben  statt  Zur  Lektüre  dienen  in  erster  Linie  auf  allen  Stufen 
die  Schriften  Ciceros,  die  Reden,  die  Briefe  und  die  rhetorisch-philo- 
sophischen Abhandlungen.  Daneben  werden  auf  den  Oberstufen  die 
Historiker  Cäsar,  Sallust,  Livius,  Curtius  gelesen.  Die  poetische  Lektüre 
wird  aus  Ovid,  Virgil,  Horaz  entnommen,  wobei  die  Ausschließung  des 
Obscönen  streng  geboten  ist,  durch  Auswahl  und  gelegentlich  auch 
durch  Ausmerzung  einzelner  Stellen.  Die  Argumente  für  die  Stil- 
übungen sind  ebenfalls  wesentlich  aus  den  gelesenen  Autoren  zu  ent- 
nehmen, auf  den  Unterstufen  Diktate,  auf  den  Oberstufen  daneben 
freie  Arbeiten,  Briefe,  Erzählungen,  Reden,  Abhandlungen,  nach  den 
vorliegenden  Mustern  der  klassischen  Autoren. 

Das  Griechische  nimmt  auf  dem  Lehrplan  die  zweite  Stelle 
ein.  Der  Unterricht  beginnt  in  der  Orammatica  infima  mit  Y*  Stunde, 
die  in  den  folgenden  Klassen  auf  ^l^j  und  in  der  Rhetorik  auf  1  ganze 
Stunde,  jedesmal  am  Schluß  des  Nachmittagsunterrichts,  ausgedehnt 
wird.  Den  drei  unteren  Klassen  fallt  wesentlich  die  Einübung  der 
Formenlehre  zu,  in  den  beiden  oberen  kommt  dazu  die  Syntax  und 
Metrik,  sowie  eine  Belehrung  über  die  Dialekte.  Viel  gebrauchte  Lehr- 
bücher des  Griechischen  gab  der  Deutsche  P.  Jacob  Gbetseb  zu  Ingol- 
stadt in  den  90  er  Jahren  heraus.  Der  Lektüre  dienen  auf  der  Ober- 
stufe Demosthenes,  Isokrates,  Plato,  Thucydides,  Homer,  Hesiöd,  Pindar, 
Gregor  von  Nazianz,  Basilius,  Chrysostomus;  natürlich  handelt  es  sich 
nur  um  Bruchstücke  zur  Einübung  der  Sprache.  Auch  hier  gehen 
Übungen  im  Schreiben,  in  Prosa  und  Versen,  dem  grammatischen 
Unterricht  zur  Seite. 

Die  Anordnung  des  Unterrichts  folgt  durch  den  ganzen  Kursus 
im  wesentlichen  demselben  einfachen  Schema.  Vormittags  und  nach- 
mittags sind  2^/,  (in  der  Rhetorik  2)  Stunden  Unterricht.  In  der  ersten 
Stunde  wird  zuerst  das  Pensum  der  Grammatik  und  der  Cicerolektüre 
den  Dekurionen  aufgesagt;  der  Lehrer  korrigiert  inzwischen  schriftliche 
Arbeiten  und  giebt  den  Schülern  irgendwelche  Privatbeschäftigung  auf, 
z.  B.  Sätze  bilden,  Phrasen  sammeln,  aus  dem  Lateinischen  schriftlich 
übersetzen  oder  retrovertieren  u.  s.  f.  Die  zweite  Stunde  ist  die  eigent- 
liche Lektürestunde;  auch  wird  darin  das  Thema  für  eine  schriftliche 
Arbeit  diktiert  Die  letzte  halbe  Stunde  ist  der  Erklärung  und  Wieder- 
holung der  Grammatik,  in  der  Humanität  auch  der  Lektüre  des  Histo- 
rikers, gewidmet;  auch  mag  darin  certiert  werden.  Die  erste  Nach- 
mittagsstunde beginnt  wieder  mit  dem  Aufsagen  der  Grammatik  und 
des  poetischen  oder  griechischen  Autors  vor  den  Dekurionen;  der  Lehrer 


416     IL  7.    Die  Neubegründung  des  röm.-kaihoL  Gelehrtenschtäwesens. 


korrigiert  inzwischen  Skripta  und  giebt  dann  das  Thema  für  die  häus- 
liche Arbeit.  Die  zweite  Stunde  gehört  auf  den  Unterstufen  der  Er- 
klärung der  Grammatik,  auf  den  Oberstufen  dem  Dichter  und  dem 
Griechischen.  In  der  letzten  halben  Stunde  wird  certiert  oder  sonst 
eine  Übung  vorgenommen.  Der  Sonnabend  ist  der  Repetition  des 
Wochenpensums  gewidmet;  außerdem  wird  der  Katechismus  aufgesagt 
und  erklärt,  woran  sich  eine  fromme  Ermahnung  schließt  Auf  der 
Oberstufe  finden  auch  Deklamationen  der  Schüler  statt  —  Man  sieht, 
wie  sehr  die  Einübung  des  Formalen  der  Sprache  den  ganzen  Unter- 
richt beherrscht:  richtig  und  elegant  schreiben,  in  Prosa  und  Versen, 
das  ist  das  große  Ziel,  dem  ebenso  die  Lektüre,  wie  der  endlose  Gram- 
matikunterricht mit  den  zugehörigen  schriftlichen  Übungen  dient 

Dasselbe  geht  auch  aus  den  Anweisungen  über  die  Lektüre  hervor. 
Für  die  beiden  untersten  Klassen  wird  vorgeschrieben:  man  nehme  eine 
Stelle  aus  Cicero,  anfangs  nicht  mehr  als  vier  Zeilen;  zuerst  lese  der 
Lehrer  sie  vor  und  gebe  dann  kurz  den  Sinn  an.  Hierauf  übersetze 
er  sie  wörtlich  in  die  Vulgärsprache,  möglichst  mit  Beibehaltung  der 
Wortstellung,  also  gleichsam  in  Form  der  Interlinearversion.  Dann 
erkläre  er  die  Struktur,  löse  die  Periode  auf  und  zeige,  welche  Verba 
welche  Kasus  regieren,  führe  überhaupt  die  Formen  auf  die  gramma- 
tischen Segeln  zurück.  Dann  kann  er  noch  leichte  grammatische  Be- 
merkungen hinzufügen,  die  Metaphern  erklären,  in  der  media  auch  ein 
paar  Phrasen  daraus  diktieren.  Zum  Schluß  wiederholt  er  die  Über- 
setzung. In  der  dritten  Klasse  beginnt  neben  der  Übersetzung  die 
lateinische  Interpretation,  die  zuletzt  auf  der  Oberstufe  die  Übersetzung 
in  die  Vulgärsprache  ganz  überflüssig  macht;  sie  soll  hier  nicht  eine 
wörtliche  Paraphrase,  sondern  eine  Erklärung  des  Sinnes  sein.  Femer 
beginnt  hier  die  etymologische  Erklärung  der  Wörter  und  die  Beachtung 
der  Erudition,  des  mythologischen  und  historischen  Sachwissens,  doch 
so,  daß  die  Sprache  im  Mittelpunkt  der  Aufmerksamkeit  stehen  bleibt 
In  der  Rhetorik  hat  die  Lektüre  vor  allem  die  Aufgabe,  die  Kunstform 
der  Darstellung,  die  Erfindung,  Disposition  und  Darstellung  zu  zeigen, 
wie  geschickt  der  Redner  sich  einschmeichelt,  wie  angemessen  er  sich 
ausdrückt,  woher  er  seine  Argumente  nimmt,  u.  s.  w.  Daneben  bleibt 
die  sprachlich -sachliche  Erklärung,  natürlich  in  lateinischer  Sprache. 
Überhaupt  soll  so  bald  als  möglich  Latein  die  ausschließliche  Schul- 
sprache sein,  selbstverständlich  von  Seiten  des  Lehrers,  aber  auch  bei 
den  Schülern:  „von  Schulsachen  sollen  sie  niemals  in  der  heimischen 
Sprache  reden;  wer  das  Gebot  übertritt,  wird  aufgeschrieben". 

Die  schriftlichen  Übungen  beginnen  mit  der  Übersetzung  eines 
Diktats,  woran  die  grammatischen  und  syntaktischen  Regeln  eingeübt 


Der  lateinische  Unterricht,  417 


werden;  anfangs  von  etwa  vier  Zeilen.  In  der  dritten  Klasse  kann 
man  einen  kleinen  Brief  als  Argument  diktieren,  allmählich  auch  eine 
freie  Arbeit  im  Monat  anfertigen  lassen.  Auch  beginnt  man  die  Versi- 
fikation  mit  der  Herstellung  turbierter  Verse.  In  der  Humanität  läßt 
man  neben  den  täglichen  Aufgaben  wöchentlich  eine  freie  Arbeit  machen, 
die  nun  einen  mehr  selbständigen  Charakter  annehmen  muß;  für  die 
Poesie  giebt  man  ein  lateinisches  Argument.  In  der  Rhetorik  endlich 
läßt  man  größere  Reden  über  ein  gegebenes  Thema,  etwa  eine  im 
Monat,  ausarbeiten,  indem  man  darauf  hinweist,  woher  Stoff  und  Form 
zu  entnehmen  sind;  so  wird  auch  für  das  Gedicht  bloß  ein  Thema, 
eine  Sentenz,  ein  Gegenstand  gegeben.  Als  tägliche  Klassenübung  kann 
hier  aufgegeben  werden:  Imitation  einer  Stelle  aus  einem  Redner  oder 
Dichter,  Beschreibung  von  Gärten,  Tempeln,  eines  Gewitters,  Variation 
einer  Phrase,  Übersetzung  eines  griechischen  Autors  ins  Lateinische 
oder  umgekehrt;  Abfassung  von  Epigrammen,  Inschriften,  Epitaphien; 
Phrasen  und  Beweisstellen  excerpieren  u.  s.  w.^ 

^  Es  mögen  hier  noch  die  Fonneln  mitgeteilt  sein,  in  die  eine  Instruktion 
für  die  Repetenten  und  die  Lehrer  der  Humanitätsstudien  vom  Jahre  1622  die 
Vorschriften  für  die  Behandlung  des  lateinischen  Unterrichts  faßt:  „Die  Lektüre 
hat  zur  Absicht,  daß  die  Schüler  den  Cicero  in  Rede  und  Schrift  imitieren 
lernen.  Jede  Lektürestunde  (praelectio)  besteht  aus  zwei  Stücken:  der  Inter- 
pretation und  der  Observation  zum  Zweck  der  Imitation;  jene  ist  der  Leib, 
diese  die  Seele  der  Vorlesung.  Die  Interpretation  ist  von  doppelter  Art: 
metaphrastisch  oder  paraphrastisch;  die  erstere  giebt  Wort  für  Wort 
wieder,  sie  hat  ihren  Ort  in  den  Klassen  der  Grammatik;  die  andere  giebt  den 
Gedanken  in  faßlicherer  Form  wieder,  sie  gehört  der  Humanität  und  Rhetorik. 
Für  jene  gilt  die  Regel:  die  Wortstellung  zu  lassen,  daß  die  Knaben  sich  an 
den  Numerus  gewöhnen  and  den  Unterschied  der  lateinischen  und  der  Mutter- 
sprache auffassen;  für  diese:  keine  Metaphrase,  so  daß  jedes  Wort  durch  ein 
anderes  lateinisches  Wort  ersetzt  wird!  Das  wäre  ganz  gegen  unseren  Zweck, 
besonders  wenn  man  diese  Metaphrase  den  Knaben  in  die  Feder  diktierte; 
hierdurch  würden  sie  lediglich  von  der  Reinheit  der  ciceronischen  Sprache  zu 
dem  gemeinen  Spülichtlatein  hingeleitet.  —  Noch  gehören  zwei  Dinge  zur 
Interpretation,  nämlich  die  Heranziehung  der  Geschichte  und  der  Fabeln,  der 
Philosophie  und  der  Antiquitäten".  —  Die  Observation,  der  andere  Teil  der 
Prälektion,  ist  zur  Imitation  unentbehrlich  und  daher  vom  Lehrer  beständig 
zu  treiben  und  für  die  Imitation  fruchtbar  zu  machen,  mit  Vorlesen,  Wieder- 
holen, Reden,  Schreiben,  Diktieren.  Sie  besteht  in  der  Anziehung  alles  dessen, 
was  zur  Reinheit,  Eleganz  und  Fülle  des  lateinischen  Ausdrucks  und  zur  voll- 
kommenen Kenntnis  in  den  Humanitätsstudieu  gehört.  Die  Imitation  wird 
geteilt  in  die  Imitation  der  Wörter  und  der  Sachen,  und  jene  wieder  in  die 
des  Knaben  und  des  Mannes.  In  der  Schule  handelt  es  sich  hauptsächlich  um 
die  imitatiü  rerhorumy  und  zwar  hat  in  den  unteren  Klassen  die  imitatio  pue- 
rilis,  in  den  oberen  die  imitatio  virilis  ihren  Ort;  in  der  Rhetorik  beginnt  wenn 
möglich  auch  die  imitatio  verum  (Rat.  Stud.  IV,  Mon.  Germ.  Paed.  XVI,  S.  192 ff.). 
PaulseD,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  27 


418     lly  7.    Die  Neuhegründung  des  röm.'kathoi  GeMirtenschulwesens. 


Für  die  pädagogische  Behandlung  des  Unterrichts  ist  charakte- 
ristisch die  starke  Benutzung  des  Wetteifers  und  des  Ehrgeizes.  Von 
der  untersten  Stufe  an  begegnet  uns  das  Certieren  (concertatio)  als 
Beizmittel  des  £ifers:  jeder  Schüler  hat  einen  andern  zum  Eonkurrenten 
(aemuhis);  dieser  hat  die  Aufgabe,  auf  die  Fehler  des  Eonkurrenten 
zu  achten,  seine  Skripta  darauf  hin  durchzusehen,  falsche  Antworten  zu 
bemerken  und  zu  verbessern;  in  den  dazu  angesetzten  Stunden  stellen 
sie  sich  gegenseitig  Fragen:  man  giebt  dem  andern  auf  ein  Wort  zu 
deklinieren  oder  zu  konjugieren,  eine  gegebene  Form  zu  bilden,  oder  einen 
Satz  nach  einer  Regel  zu  formen,  eine  Phrase  zu  übersetzen,  eine  Ety- 
mologie anzugeben,  eine  antiquarische  lYage  zu  beantworten  u.  s.  w. 
Man  läßt  auch  zwei  Elassen  mit  einander  certieren  oder  zerlegt  eine 
Elasse  in  zwei  konkurrierende  Hälften,  jede  mit  ihrem  Dekurionen. 
Auf  der  Oberstufe  münden  derartige  Ringkämpfe  in  die  akademischen 
Disputationen  ein,  von  denen  sie  offenbar  ihren  Ursprung  haben. 

Ebendahin  zielen  die  Ehrenämter  (magistratus) ,  die  durch  die 
besten  Leistungen  in  den  monatlichen  freien  Arbeiten  in  Prosa  und 
Poesie  erworben  werden.  Die  Dekurionen  sind  zugleich  Gehilfen  des 
Lehrers,  ihnen  wird  die  Lektion  aufgesagt,  sie  sammeln  die  Hefte  ein, 
machen  sich  Notizen  und  übergeben  sie  dem  Lehrer.  Ein  Oberdekurio 
oder  Censor  in  jeder  Elasse  hat  über  Aufrechterhaltung  der  Ordnung 
in  der  Schule  und  auf  dem  Hofe  zu  wachen. 

Auch  das  öffentliche  Auftreten  ist  hier  zu  erwähnen.  Auf  den 
beiden  Oberstufen  findet  Deklamation  von  Prosa  und  Versen  in  der 
Aula  statt,  wozu  die  andere  Elasse,  und  bei  den  Rhetorikem  auch  die 
höheren  Studierenden  eingeladen  werden.  Eine  andere  Form  des  öffent- 
lichen Auftretens  bilden  die  dramatischen  Aufführungen.  Sie 
spielen  bei  manchen  Eollegieu,  namentlich  den  in  Residenzstädten,  wie 
München,  belegenen,  eine  wichtige  Rolle;  die  ganze  Schule,  ja  die  ganze 
Stadt  ist  dabei  beteiligt.  Die  Stücke  werden  von  den  Vätern  verfaßt, 
der  Inhalt  ist  religiös-moralisierende  Eloquenz.  Die  Stoffe  werden  vor- 
zugsweise der  Bibel  und  der  Heiligengeschichte  entnommen,  an  letzterer 
hat  die  alte  Eirche  sich  einen  poetischen  Schatz  bewahrt,  der  die 
Historien  des  A.  T.  au  dramatischer  Verwendbarkeit  und  an  Reinheit 
vielfach  übertrifft. 

Zu  den  öffentlichen  Akten  gehört  endlich  auch  die  Verleihung  der 
Prämien.  Von  der  ersten  bis  zur  letzten  Elasse  findet  jährlich  ein 
großer  Wettbewerb  um  die  von  Gönnern  der  Anstalt  ausgesetzten  Preise 
statt,  zuerst  mit  lateinischen  Exerzitien,  in  der  Rhetorik  mit  lateinischer 
und  griechischer  Prosa  und  Poesie,  die  an  vier  Tagen  über  ein  ge- 
gebenes Thema  geschrieben  wird.    Nachdem  das  Preisgericht,  dem  die 


•  • 

Öffentliche  Akte,    Religionsunterricht,    Philosophie.  419 


Arbeiten  mit  versiegeltem  Namen  eingereicht  sind,  entschieden  hat, 
wobei  allein  der  Stil  (orationis  forma)  den  Ausschlag  giebt,  findet 
öflFentliche  Preisausteilung  statt:  in  möglichst  festlichem,  vom  Publikum 
besuchten  Aktus  werden  die  Namen  der  Sieger  öflFentlich  verkündigt; 
jeder  einzelne  wird  vom  Herold  ausgerufen:  „Quod  felix  faustamque  sit 
rei  litterariae  omnibusque  nostri  gymnasii  alumnisl  Primum,  secundum 
praemium  solutae  orationis  latinae,  ffraecop.,  carminis  latini,  graeci, 
meritus  et  consecutus  est  iW*  Dann  übergiebt  er  den  Preis  mit 
einem  passenden  Vers,  der  dann  gleich  von  den  Sängern  wiederholt 
werden  mag. 

Das  Aufsteigen  von  einer  Stufe  zur  andern  (promotio)  findet  nach 
Bestehen  einer  Prüfung  st-att;  hierfür  werden  schriftliche  Klausur- 
arbeiten gemacht,  lateinische  Prosa  und  Poesie,  und  vielleicht  auch  ein 
griechisches  Skriptum,  wofür  das  Argument  zu  Beginn  diktiert  wird; 
sodann  mündliche  Prüfung  aus  der  Grammatik  und  aus  dem  gelesenen 
Schriftsteller.  Die  Prüfungskommission  besteht  aus  dem  Präfekten  und 
zwei  Mitgliedern,  die  wenn  möglich  nicht  Lehrer  sind. 

Auffallen  könnte  es,  daß  dem  Religionsunterricht  so  wenig  ein- 
geräumt ist.  „Die  Christenlehre  (doctrina  Christiana)  soll  besonders  in 
den  drei  unteren  Klassen,  wenn  nötig  auch  in  den  andern,  am  Freitag 
oder  Sonnabend  auswendig  gelernt  und  aufgesagt  werden.  Ebenso  soll 
dann  eine  halbe  Stunde  lang  eine  pia  cohortatio  oder  eine  Erklärung 
der  liehre  stattfinden."  Das  ist  alles.  Doch  wurde  der  oberdeutschen 
Provinz  auf  ihr  Ersuchen  gestattet,  nach  ihrer  Gewohnheit  dem  Kate- 
chismus am  Freitagvormittag  eine  ganze  Stunde,  und  am  Samstag- 
nachmittag der  Erklärung  des  Evangeliums,  griechisch  und  lateinisch, 
einige  Zeit  zu  widmen  (Pachtlee,  I,  312).  Die  Sache  hängt  ofi*enbar 
damit  zusammen,  daß  das  Hauptgewicht  auf  die  Religions Übung  ge- 
legt wird;  die  Schüler  sollen  täglich  die  Messe,  sonntäglich  die  Predigt 
besuchen,  und  monatlich  beichten,  worin  sie  kontrolliert  werden.  Nicht 
minder  wird  auf  fleißiges  Abhalten  der  Gebete  gedrungen.  Wichtig 
für  die  religiöse  Einwirkung  auf  die  Gemüter  sind  auch  die  religiösen 
Schülervereine,  die  Kongregationen. 

Auf  den  grammatisch-humanistischen  Kursus  der  sttidia  inferiora 
folgt  nun  ein  dreijähriger  Kursus  in  der  Philosophie  mit  täglich 
zwei  Stunden,  einer  vormittags  und  einer  nachmittags.  Im  ersten  Jahre 
bildet  die  Logik,  im  zweiten  die  Physik,  im  dritten  Metaphysik 
und  Ethik  den  Hauptgegenstand.  Neben  der  Physik  wird  im  zweiten 
Jahre  die  Mathematik  (täglich  dreiviertel  Stunden),  mit  Astronomie, 
Geographie  und  Meteorologie,  im  dritten  außer  der  Metaphysik  die 
Psychologie  und  Physiologie  vorgetragen.    Der  Unterricht  in  der  Philo- 

27* 


420     II,  7,   Die  Neubegründung  des  röm.'kaihoL  Gelehrtenschulwesens. 


Sophie  ist  notwendig,  „weil  die  freien  Künste  und  Naturwissenschaften 
den  Geist  zur  Theologie  vorbereiten  und  zu  ihrer  vollkommenen  Er- 
fassung und  Anwendung  dienen,  auch  an  sich  zu  demselben  Ziel  helfen^. 
Zu  Grunde  zu  legen  sind  dabei  die  Schriften  des  Aristoteles:  ,jaL  Dingen 
von  irgend  welchem  Gewicht  soll  der  Lehrer  vom  Aristoteles  nicht  ab- 
weichen, es  sei  denn  in  Punkten,  wo  er  der  allgemein  angenommenen 
Lehre  der  Universitäten  entgegen  ist,  oder  der  orthodoxen  Lehre  wider- 
streitet'^  Hier  ist  die  Aufgabe,  den  Philosophen  und  seine  Argumente 
bündig  zu  widerlegen.  Ebenso  soll  er  vor  den  ketzerischen  Auslegern, 
wie  AverroPs,  Alexander,  seine  Schüler  behüten,  „was  sie  etwa  Gutes 
haben,  ohne  Lob  bringen  und  wenn  möglich  zeigen,  daB  sie  es  anders- 
woher haben;  dagegen  ihre  Irrtümer  ans  Licht  stellen  und  ihr  An- 
sehen dabei  herabsetzen.  Hingegen  soll  er  vom  h.  Thomas  jederzeit 
ehrenvoll  reden,  ihm  wo  es  sich  gebührt,  gern  folgen  und  wo  er  ihn 
nicht  billigt,  mit  dem  Ausdruck  der  Hochachtung  und  des  Bedauerns 
von  ihm  abweichen". 

Was  die  Behandlung  des  Textes  anlangt,  so  wird  sie  bald  ein- 
gehender, bald  mehr  kursorisch  sein,  so  daß  nur  einige  Hauptstellen 
ausgewählt  werden,  um  an  ihnen  die  einschlägigen  Fragen  zu  behandeln. 
„Hauptsächlich  lasse  er  sich  angelegen  sein,  den  Text  gut  zu  erklären; 
er  verwende  darauf  nicht  weniger  Mühe  als  auf  die  Fragen  selbst,  und 
überzeuge  die  Hörer,  daß  ohne  eifriges  Textstudium  ihre  Philosophie 
sehr  kümmerlich  und  dürftig  bleiben  werde.  So  oft  er  auf  bekannte 
und  bei  Disputationen  oft  gebrauchte  Stellen  stößt,  muß  er  sie  genau 
erörtern,  indem  er  die  wichtigsten  Erklärungen  unter  einander  ver- 
gleicht und  die  Hörer  dahin  führt,  aus  dem  Zusammenhang,  oder  aus 
der  Bedeutung  des  griechischen  Ausdrucks,  oder  aus  der  Beachtung 
anderer  Stellen,  oder  aus  der  Autorität  der  besten  Erklärer  oder  end- 
lich aus  Gründen  der  Sache  zu  entscheiden,  welche  Auffassung  die 
beste  sei.  Dann  mag  er  allerlei  Bedenken  und  Meinungen  kurz  und 
mit  Auswahl  erörtern  und  auf  Fragen,  die  die  Sache  selbst  betreffen, 
eingehen. 

Was  die  Form  des  Vortrags  betrifft,  so  wird  als  wünschenswert 
bezeichnet,  daß  der  Lehrer  nicht  diktiere,  sondern  so  spreche,  daß  die 
Zuhörer  das,  was  zu  schreiben  ist,  mitschreiben  können.  Auf  keinen 
Fall  soll  er  Wort  für  Wort,  interposita  mora,  in  die  Feder  diktieren, 
sondern  den  ganzen  Satz  sagen  und  wenn  nötig  wiederholen;  auch  soll 
er  nicht  erst  die  ganze  Materie  diktieren  und  dann  erklären,  sondern 
zwischen  Diktat  und  Erklärung  wechseln.  Die  Forderungen  des  Ent- 
wurfs von  1586,  die  das  Diktieren  ganz  verwerfen,  scheinen  demnach 
nicht  ganz  durchführbar  gewesen  zu  sein.    Die  Auslassung  über  den 


Der  philosophische  Unterricht,  421 


Kathedervortrag  in  jenem  Entwurf  verdient  übrigens  auch  heute  noch 
Beachtung.  „Der  lebendige  Vortrag  (Viva  vox)  erregt,  bringt  zu 
kräftigem  Ausdruck,  prägt  ein,  belebt,  hebt  die  Aufmerksamkeit,  macht 
deutlich:  alles  das  fehlt  dem  toten  Diktieren.  Und  es  hilft  nichts,  wenn 
man  hinterher  eine  Erläuterung  folgen  läßt,  dann  ist  beides  verloren: 
so  lange  nämlich  diktiert  wird,  sind  die  Hörer  auf  das  Schreiben  mehr 
als  auf  das  Verstehen  erpicht;  meist  ist  der  Anfang  vergessen,  ehe  der 
Satz  zu  Ende  gebracht  ist;  und  folgt  dann  die  Erläuterung,  so  gehen 
sie,  weil  sie  ermüdet  sind,  oder  weil  sie  denken,  sie  hätten  die  Weis- 
heit auf  dem  Papier,  fort  oder  gähnen  oder  sehen  das  Geschriebene 
durch,  ob  nichts  fehlt.  Ebenso  meint  der  Lehrer  seine  Sache  gethan 
zu  haben,  wenn  das  Diktieren  fertig  ist;  die  Erläuterung  wird  schnell 
abgethan,  sie  kommt  ihm  mühevoll  vor,  denn  sie  fordert  Gedächtnis, 
Präsenz  des  Wissens,  Leichtigkeit  und  Fülle  des  Ausdrucks;  daher  sie 
denn  allmählich  ganz  verschwindet,  wie  es  auf  einigen  Universitäten 
schon  der  Fall  ist."  Freilich,  wird  hinzugefügt,  der  freie  Vortrag  hat 
einen  Übelstand:  daß  die  Schüler  mit  der  Feder  nicht  immer  folgen 
können  und  Irrtümer  und  Unsinn  nachschreiben  (scribunt  incomposite, 
inepte  et  aliquando  cum  erroribus).  Aber  es  wird  eben  Sache  der 
Lehrer  sein,  sich  zu  üben,  „bis  sie  eine  Vortragsweise  erlangen,  daß 
die  meisten  das  Notwendige  kurz  anmerken  können;  denn  wegen  ein 
paar  schwerfalliger  Leute  soll  man  nicht  das  ganze  Kolleg  schädigen" 
{Pachtlee,  R.  St.  II,  81). 

Nicht  ohne  Interesse  sind  auch  die  Vorschriften  der  Studienord- 
nung über  die  Aneignung  und  Einübung  des  Stoffs  durch  die  Hörer. 
Nach  Schluß  der  Vorlesung  sollen  sie  in  Gruppen  von  etwa  zehn  eine 
halbe  Stunde  lang  das  Gehörte  unter  sich  durchgehen,  indem  jeder 
Gruppe  einer  der  Mitschüler,  wenn  möglich  einer  von  „den  Unsem", 
vorsteht.  Auch  der  Professor  soll  mindestens  noch  eine  Viertelstunde 
bleiben,  um  auf  etwaige  Fragen  der  Hörer  zu  antworten  oder  auch 
Fragen  an  sie  zu  stellen.  Für  die  Ordensscholastiker  wird  täglich  eine 
Stunde  zur  häuslichen  Repetition  und  Disputation  angesetzt:  einer  oder 
zwei  sollen  die  Lektion  in  etwa  einer  Viertelstunde  aus  dem  Kopfe 
wiederholen ;  daran  schließt  sich  die  Disputation,  indem  einer  oder  zwei 
als  Opponenten  argumentieren  und  ebenso  viele  respondieren,  unter 
Leitung  des  Magisters.  Jeden  Sonnabend  ist  in  der  Schule  zweistündige 
Disputation  und  jeden  Monat  einmal  feierlichere  Disputation  am  Vor- 
mittag und  am  Nachmittag,  wobei  wenigstens  drei  Opponenten  auf- 
treten und  wozu  man  auch  andere  Gelehrte  und  Religiösen  einladen 
mag.  Die  Disputation  findet  in  streng  schulmäßiger  Form  statt:  der 
Opponent  erhebt  gegen  die  Thesen  seine  Einwendungen  in  Form  von 


422     //,  7.    Die  Xeubegründufig  des  röm,-kathol,  Gdehrtenschulwesen^. 


syllogißtisch  gefaßten  Argumenten.  Dann  wiederholt  der  Respondent 
die  ganze  Argumentation,  zuerst  ohne  etwas  hinzuzufügen;  dann  die 
einzelnen  Propositionen,  mit  der  Hinzufügung:  Nepo  oder  Concedo 
majorem,  minorem,  consequentiam;  zuweilen  mag  er  auch  distinguieren, 
dränge  aber  nicht  leicht  seine  Erläuterungen  oder  Gründe  Widerwilligen 
auf.  Der  Präses  halte  sich  so,  daß  er  beiden  gleichmäßig  beistehe;  er 
spende  Lob,  wo  etwas  Gutes  beigebracht  wird;  wird  eine  wichtigere 
Schwierigkeit  vorgebracht,  so  gebe  er  einen  Wink,  um  den  Respon- 
denten  zu  stützen  oder  dem  Opponenten  zurecht  zu  helfen.  Er  schweige 
nicht  zu  lange,  noch  rede  er  immer,  damit  die  Schüler  selber  mit  ihrem 
Wissen  herauskommen.  Was  vorgebracht  wird,  verbessere  oder  ver- 
feinere er;  er  steigere  das  Gewicht  der  Argumente  des  Opponenten 
oder  mache  andererseits  aufmerksam,  wenn  er  abschweift.  Ist  das 
Argument  gelöst  oder  kommt  der  Respondent  nicht  zum  Ziel,  so  mache 
er  ein  Ende,  indem  er  die  Sache  entscheidet  und  erklärt. 

Bemerkenswert  ist  noch  die  Einrichtung  von  wissenschaftlichen 
Vereinen  der  Studierenden  unter  dem  Namen  von  Akademien.  Die 
Ratio  Studiorum  giebt  dafür  ausführliche  Regeln.  Es  sollen  dazu  alle 
Mitglieder  der  Marianischen  Kongregation  und  alle  Religiösen,  dann 
aber  die  Schüler  gehören,  die  sich  durch  Fleiß,  Leistungen  und  Sitten 
auszeichnen.  Es  können  drei  solcher  Akademien  sein:  die  erste  der 
Grammatiker,  die  zweite  der  Rhetoriker  und  Humanisten,  die  dritte  der 
Theologen  und  Philosophen.  Mit  der  Leitung  beauftragt  der  Rektor 
des  Kollegs  einen  Lehrer,  im  übrigen  wählen  die  Mitglieder  ihre  Be- 
amten. Die  gemeinsamen  Übungen  beziehen  sich  auf  den  Umkreis  der 
Schuldisziplinen,  sie  bestehen  in  Repetitionen,  Deklamationen,  Disputa- 
tionen und  Vorträgen  (praelectiones),  die  bei  Gelegenheit  öffentlich 
stattfinden.^ 

Auf  den  philosophischen  Kursus  folgt  endlich  der  theologische, 
für  die  Scholastiker  allerdings  in  der  Regel  erst  nach  längerer  Unter- 
brechung des  Studiums  durch  die  Lehrthätigkeit  an  der  Schale ,  und 
zwar  nur  für  diejenigen,  die  den  philosophischen  Kursus  mit  gutem 
Erfolg  absolviert  haben.  Er  umfaßt  in  vier  Jahren  das  Studium  der 
heiligen  Schrift,  der  scholastischen  Theologie,  wo  der  h.  Thomas  Führer 
ist,  der  Kontroversen  und  der  Moraltheologie,  worauf  hier  nicht  weiter 
einzugehen  ist. 

Am  Ende  jedes  Jahres  findet,  wie  auf  den  Schulen,  so  auf  den 
Universitäten  eine  Prüfung  über  das  gehörte  Fach  statt;  nur  wer  die 


^  Ausführliche  lustruktionen  für  die  Akademien  aus  dem  18.  Jahrhondert 
im  IV.  Bd.  der  Rat.  Stud.  (Mon.  Genn.  Paed.  XVD,  S.  135  ff. 


Der  theologische   Unterricht,  423 

Mittelmäßigkeit  (mediocritas,  ut  niminim  quae  audivit  bene  intelligat 
et  rationem  Hierum  passet  r edder e)  erreicht,  darf  in  den  folgenden 
Jahreskursus  übertreten.  Am  Ende  des  theologischen  Kursus  findet 
große  Schlußprüfung  statt  und  niemand  soll  zur  Profession  der  Tier 
Gelübde  zugelassen  werden,  „der  nicht  die  wissenschaftliche  Ausbildung 
hat,  die  zum  tüchtigen  Vortrag  der  Philosophie  und  Theologie  erforder- 
lich ist,  es  sei  denn,  daß  er  eine  ganz  hervorragende  Gabe  zur  Predigt 
oder  zur  Regierung  besitzt,  und  dies  nach  dem  Urteil  des  Generals", 
oder  daß  er  in  den  klassischen  oder  orientalischen  Sprachen  sich  durch 
besondere  Leistungen  auszeichnet  (Dekret  der  Generalkongreg,  von 
1615/16,  bei  Pachtlek,  I,  87). 

Lektionspläne  einzelner  Anstalten  mitzuteilen  scheint  nicht  ei- 
forderlich,  sie  sind  überall  nichts  anderes  als  Ausführungen  der  all- 
gemein verbindlichen  Vorschriften  der  Rat.  St.,  die  für  Individualisierung 
überaus  geringen  Spielraum  läßt.  Daß  Einheit  in  der  Lehre  und  in 
der  IJnterrichtsform  herrschen  müsse,  darüber  ist  allgemeines  Einver- 
ständnis im  Orden. 

Dagegen  sei  eine  Bemerkung  über  den  Wert  dieses  ganzen  Unter- 
richtssjstems  gestattet.  Daß  die  Ratio  studiorum  mit  ungemeiner 
Sorgfalt  und  großem  Verstand  ausgearbeitet  ist,  darüber  wird  niemand 
in  Zweifel  sein.  Auch  darüber  nicht,  daß  der  Studienplan  den  For- 
derungen der  Zeit  im  ganzen  wohl  angepaßt  ist;  alles,  was  im  16.  Jahr- 
hundert in  der  wissenschaftlichen  Welt  Geltung  hatte,  ist  darin  be- 
rücksichtigt. Ich  zweifle  auch  nicht  daran,  daß  der  Orden  durch  sein 
Schulwesen  die  Ausbreitung  intellektueller  Kultur  und  besonders  die 
Kenntnis  der  klassischen  Sprachen  in  den  katholischen  Ländern  wirk- 
sam gefordert  hat.  Die  Jesuiten  waren  damals  gewiß  die  gelehrtesten 
und  eifrigsten  Lehrer,  die  in  den  katholischen  Ländern  zu  haben  waren. 
Und  daß  sie  nicht  ungeschickte  Lehrer  waren,  dafür  spricht  ihr  Erfolg. 
Einer  Gesellschaft,  die  auf  diesem  Gebiet  nichts  leistete,  hätten  die 
katholischen  Völker  in  einem  Zeitalter,  das  den  Wert  der  gelehrten 
Bildung  im  Kampf  ums  Dasein  so  wohl  zu  schätzen  wußte,  wie  das 
16.  und  17.  Jahrhundert,  ihr  Schulwesen  sicherlich  nicht  anvertraut. 
Im  besonderen  wird  von  den  Jesuitenschulen  berichtet,  daß  die  Knaben 
es  leicht  und  schnell  zur  Fertigkeit  in  der  lateinischen  Sprache  ge- 
bracht hätten.  Daß  dabei  die  Klassizität  des  Lateins  oft  ein  wenig 
Schaden  litt,  wie  ihnen  nicht  selten  vorgeworfen  wird,  dürfte  ohne 
weiteres  zuzugeben  sein:  Latein  war  für  den  internationalen  Orden  die 
lebende  Verkehrssprache;  dazu  kam,  daß  die  scholastische  Theologie 
und  Philosophie,  die  er  lehrte,  sich  überall  gegen  die  Sprache  Ciceros 
sträubt.    Und  vermutlich  ist  mit  der  wachsenden  Entfernung  vom  Zeit- 


424     II,  7.    Die  Neuhegründung  des  röm,-kathol.   Gelehrtenschultoesens. 

alter  des  Hamanismus  die  Sorglosigkeit  im  Ausdruck  größer  geworden« 
Baüeb  teilt  aus  dem  Diarium  des  Münchener  Kollegs  ergötzliche  Dinge 
mit.  Auch  das  wird  nicht  zu  leugnen  sein^  daß  das  Griechische  hinter 
dem  Lateinischen  sehr  weit  und  mit  der  Entfernung  Tom  16.  Jahr- 
hundert immer  weiter  zurückblieb.  Das  war  auch  in  den  protestan- 
tischen Schulen  nicht  anders.  Der  größte  Übelstand  war  wohl  der 
bestandige  Wechsel  des  Lehrpersonals;  er  war  in  allen  Stellen  empfind- 
lich ^  am  empfindlichsten  wohl  in  den  oberen  Klassen  und  in  der 
Leitung.  Baüeb  führt  an,  daß  am  Münchener  Kolleg,  also  dem 
wichtigsten  des  Landes,  in  den  Jahren  1595 — 1772  von  mehr  als 
70  Studienpräfekten,  deren  Stellung  der  unseres  Direktors  einigermaßen 

entspricht,  einer  1972»  ^^^^^  ^ '^j  ^^^^^  ^>  ^^®^  ^ — "^  Jahre  das  Amt  ver- 
walteten, alle  übrigen  waren  nur  Passanten.  Ganz  dasselbe  wird  von 
den  Lehrern  gelten;  sie  waren  und  betrachteten  sich  in  der  Schule  nur 
als  Passanten.  Vom  Gymnasium  in  Brunn  erfahren  wir,  daß  an  den 
sechs  Klassen  in  132  Jahren  509  Lehrer  thätig  waren,  also  jeder  im 
Durchschnitt  ly^  Jahre;  in  derselben  Zeit  finden  wir  69  Präfekten, 
im  Durchschnitt  verwaltete  jeder  das  Amt  kaum  zwei  Jahre  (Gesch. 
des  Gymn.  zu  Brunn,  1878).  Zahlreiche  Klagen  und  Verordnungen 
zeigen,  daß  man  gegen  das  Übel  nicht  blind  war,  aber  ebenso,  daß  es 
nicht  weichen  wollte:  der  Schuldienst  galt  zugleich  für  beschwerlieh 
und  wenig  ansehnlich;  jeder  suchte  sich  ihm  so  bald  als  möglich  zu 
entziehen.  Als  der  Orden  fest  im  Besitz  war  und  nicht  mehr  um 
seine  Anerkennung  zu  ringen  brauchte,  da  werden  diese  Verhältnisse 
die  in  der  Natur  der  Sache  liegenden  Wirkungen  gehabt  haben.  Wo 
nun  noch  dazu  überfüllte  Klassen  kamen,  wie  sie  bei  großer  Frequenz 
gewiß  nicht  selten  waren,  mußte  der  Unterricht  in  Schlendrian  und 
dürftige  Routine  verfallen.  Ein  junger  Lehrer,  der  ohne  Übung  in 
Unterricht  und  Disziplin  vor  eine  Klasse  von  100  Schülern  und 
darüber  sich  gestellt  sah,  der  konnte  sich  wohl  kaum  anders  als  durch 
mechanisches  Vorsagen  und  Abhören  helfen. 

Was  die  studia  superiora,  im  besonderen  den  philosophischen 
Unterricht  angeht,  durch  den  die  allgemein-wissenschaftliche  Ausbildung 
vollendet  wurde,  so  wird  man  ihn  im  allgemeinen  auch  angemessen 
und  zeitgemäß  nennen  müssen.  Er  gleicht  nach  Inhalt  und  Form  im 
wesentlichen  dem  entsprechenden  Unterricht  der  protestantischen  Fakul- 
täten. Die  aristotelisch-scholastische  Philosophie  bildet,  in  der  Form 
des  Systems,  die  ihr  Thomas  von  Aquino  gegeben,  die  Substanz  des 
Unterrichts.  Durch  Repetitionen,  Disputationen  und  Prüfungen  wird 
für  die  Aneignung  des  Stoffes  Sorge  getragen.  Man  wird  sagen  dürfen : 
ein  junprer  Mann,  der  etwa  mit  20  Jahren  den  ganzen  Kursus  absol- 


Der   Wert  des  jesuitiscfien  ünterrichtsaystem^,  425 


vierte,  hatte  einen  un verächtlichen  Fond  allgemeiner  Bildung.  Besaß 
er  an  positiven  Kenntnissen,  in  Mathematik  and  Naturwissenschaft,  in 
Geographie  und  Geschichte,  sehr  viel  weniger  als  unsere  Abiturienten, 
so  hatte  er  dafür  mit  der  philosophischen  Gedankenwelt,  die  seit  zwei 
Jahrtausenden  die  Grundlage  aller  Wissenschaft  nnd  Bildung  war,  eine 
Vertrautheit  gewonnen,  die  dadurch  nichts  an  Wert  verliert,  daß  sie  heute 
von  den  meisten  gering  geschätzt  wird.  Auch  an  formeller  Gewandtheit, 
diese  Gedanken  darzulegen  und  zu  behanpten,  werden  die  Schüler  der  Je- 
suiten den  Schülern  unserer  Gynmasien  vermutlich  überlegen  gewesen  sein. 
Auf  der  anderen  Seite  wird  nun  freilich  zugegeben  werden  müssen, 
daß  das  Studienwesen  der  Gesellschaft  für  die  Erweiterung  der  Wissen- 
schaft selbst  und  für  die  Entwickelung  der  Philosophie  wenig  geleistet 
hat  Es  liegt  das  im  Wesen  der  Gesellschaft,  in  der  Grundrichtung 
ihres  Unterrichts;  sie  ist  so  fern  davon,  zu  selbständigem  Denken  und 
Forschen  zu  ermutigen,  daß  sie  sich  vielmehr  angelegen  sein  läßt,  den 
Trieb  dazu  mit  allen  Mitteln  zu  unterdrücken.  Wissenschaftliche  und 
philosophische  Forschung  setzt  voraus,  daß  noch  über  wichtige  Dinge 
neue  Einsichten  zu  erwerben  seien.  Die  Bat.  Stud.  setzt  voraus,  daß 
die  Wahrheit,  in  philosophischen  nicht  minder  als  in  theologischen 
Dingen,  fertig  vorliegt;  sie  läßt  sich  überall  angelegen  sein,  den  Inhalt 
der  Lehre  und  die  Quelle,  woraus  sie  zu  schöpfen  ist,  möglichst  genau 
zu  bezeichnen.  Solche,  die  eigene  Wege  zu  gehen  geneigt  sind,  schließt 
sie  grundsätzlich  vom  Lehramt  aus.  „Selbst  in  den  Dingen,  wo  Glaube 
und  Frömmigkeit  nicht  Gefahr  laufen",  heißt  es  in  den  Kegeln  für  die 
Lehrer  der  studio  superiora,  „soll  niemand  bei  Dingen  von  irgend 
welcher  Erheblichkeit  neue  Quästionen  oder  eine  Ansicht  vorbringen, 
für  die  er  nicht  eine  tüchtige  Autorität  hat,  ohne  zuvor  mit  den  Vor- 
gesetzten zu  beraten.  Auch  soll  er  nichts  gegen  die  feststehenden 
Ansichten  der  Doktoren  oder  gegen  die  allgemeine  Auffassung  der 
Schulen  lehren.  Vielmehr  sollen  alle  insgesamt  den  am  meisten  an- 
erkannten Doktoren  und  den  in  den  katholischen  Akademien  vorzüg- 
lich rezipierten  Ansichten  folgen."  Dies  ist  auch  der  Gesichtspunkt 
bei  der  Auswahl  der  Philosophieprofessoren:  sie  müssen,  so  wird  dem 
Provinzial  vorgeschrieben,  „nicht  nur  den  Kursus  der  Theologie  absol- 
viert, sondern  auch  zwei  Jahre  repetiert  haben,  damit  ihr  Unterricht 
mehr  Sicherheit  darbiete  und  besser  der  Theologie  diene.  Sollten  aber 
einige  zu  Neuerungen  geneigt  oder  allzu  freien  Geistes  sein,  so  müssen 
sie  ohne  Zweifel  vom  Lehramt  entfernt  werden".  Und  von  dem  Lehrer 
der  Theologie  wird  verlangt,  daß  er  dem  h.  Thomas  anhange :  „wer  ihm 
abgeneigt  oder  auch  nur  weniger  zugethan  ist,  der  soll  vom  Lehramt 
zurückgewiesen  werden". 


426     llj  7,    DU  Neubeiiründung  des  röm.-kathoL  Qdehrtenschulwesens, 

Für  die  Durchführung  dieser  Vorschriften  wird  durch  beständige 
Kontrolle  gesorgt  Dem  Studienprafekten  wird  zur  Pflicht  gemacht, 
hin  und  wieder,  wenigstens  einmal  im  Monat,  den  Vorlesungen  bei- 
zuwohnen, auch  zuweilen  die  nachgeschriebenen  Hefte  der  Hörer  durch- 
zusehen. „Bemerkt  er  selbst  oder  hört  er  von  andern  auf  zuverlässige 
Weise  etwas,  das  zu  tadeln  ist,  so  soll  er  den  Lehrer  mit  aller  Gut« 
und  Freundlichkeit  ermahnen,  und  bringe,  wenn's  Not  thut,  die  ganze 
Angelegenheit  an  den  Rektor".^ 

Also,  ins  Lehramt  auf  Universitäten  und  Schulen  sollen  nur  Leute 
kommen,  die  entweder  zu  selbständigem  Denken  und  eigener  Er- 
forschung der  Wahrheit  überhaupt  keinen  Trieb  haben,  oder  die  bereit 
sind,  das  Denken  gefangen  zu  nehmen  unter  den  Gehorsam,  der  nicht 
bloß  mit  dem  Willen,  sondern  ebenso  auch  mit  dem  Verstände  zu 
leisten  ist.  Es  wird  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  Anstalten,  auf  denen 
dieser  Geist  herrscht,  den  Fortschritt  wissenschaftlicher  Erkenntnis  zu 
fördern  wenig  geeignet  sind.     Wo  Einförmigkeit  und  Stabilität  in  der 


*  Der  Entwurf  von  1586  hat  unter  dem  Titel  de  opiniofium  delecfu  die 
genauere  Anweisung:  ,,auch  soll  der  Präfekt  zwei  oder  drei  Zuhörer  aus  den 
Unsrigen,  die  zuverlässig  und  begabt  sind,  häufig  fragen,  was  der  Lehrer  in 
dieser  oder  jener  Frage  für  eine  Ansicht  habe,  doch  so,  daß  es  wie  zufällig 
herauskomme  und  so  viel  als  möglich  ohne  Verletzung  des  Ansehens  des 
Lehrers".  „Wird  etwas  Tadelnswertes  wahrgenommen  oder  berichtet,  so  sollen 
Rektor  und  Präfekt  die  Hefte  von  zwei  oder  drei  Hörern  prüfen.  Auch  sollen 
zwei  oder  drei  heimlich  befragt  werden,  doch  mit  Vorsicht,  daß  keine  Ver- 
leumdung mit  unterlaufe,  was  nicht  ungestraft  bleiben  soll,  zum  Schrecken  der 
andern.**  —  Troti  der  Vorsichtsmaßregeln  hatte  der  Orden  vielfach  mit  dem 
Übel  der  iiccntia  opinandi  zu  kämpfen,  namentlich  im  17.  Jahrhundert,  wie  aus 
wiederholten  Vorhandlungen  und  Beschlüssen  der  Generalversammlung  (mitgeteilt 
im  ni.  Bd.  der  Rat.  Stud.J  hervorgeht.  Zu  solchen  geföhrlichen  und  darum  ge- 
mißbilligten Neuerungen  gehören  auch  die  Sätze  der  „laxen  Moral",  die  dem 
Orden  so  üble  Nachrede  zugezogen  haben.  Übrigens  gewinnt  man  für  die 
Würdigung  dieser  Dinge  vielleicht  erst  von  hieraus  den  richtigen  Standort:  es 
waren  wohl  nicht  so  sehr  Lehren,  die  der  Orden  oder  seine  Mitglieder  ins 
Leben  einzuführen  bestrebt  waren,  als  vielmehr  gewagte  Behauptungen,  die  es 
einen  Lehrer  im  Hörsaal  aufzustellen  und  zu  verteidigen  reizte.  Man  wird  ver- 
stehen, wie  eine  Neigung  hierzu  gerade  da  entstehen  muß,  wo  dem  eigenen 
Ermessen  so  überaus  enge  Schranken  gezogen  sind.  Wie  es  unsere  Primaner 
reizt,  in  ihren  lateinischen  Übungen  einmal  gewagte  Konstruktionen  und  Wen- 
dungen zu  bringen  und  sie  dann,  wenn  auch  aus  weniger  probablen  Autoren 
zu  verteidigen,  so  mußte  es  einen  Lehrer  der  Philosophie,  der  bis  zum  Über- 
druß den  Kanon  feststehender  Lehren  eingepaukt  hatte,  reizen,  gelegentlich 
einmal  den  eigeuen  Scharfsinn  wenigstens  darin  zu  zeigen,  daß  er  verwegene 
und  an  der  äußersten  Grenze  des  Zulässigen  sich  bewegende  Sätze  als  mög- 
liche oder  noch  zu  verteidigende  Folgerungen  aus  approbierten  Ansichten  be- 
handelte. 


Der  Wert  des  jesuitischen  Unferrichtssysienis.  427 


Lehre  (uniformitas  et  soliditas  doctrinae)  das  erste  Erfordernis  des 
wissenschaftlichen  Unterrichts  ist,  da  kann  der  Trieb  zur  Untersuchung, 
der  Geist  der  Kritik  nicht  aufkommen.  Eruditio  mag  dabei  noch  ge- 
deihen, Philosophie  kann  dabei  nicht  aufkommen. 

Übrigens  hätte  es,  um  das  Aufkommen  selbständiger  Forschung 
in  den  Jesuitenkollegien  zu  verhindern,  dieser  Vorkehrungen  wohl  nicht 
einmal  bedurft.  Dies  zu  bewirken  wäre  vielleicht  die  Einrichtung 
allein  hinreichend  gewesen,  daß  der  philosophische  Unterricht  ebenso 
wie  der  voraufgehende  Unterricht  in  den  Sprachen  durchweg  in  den 
Händen  junger  Männer  lag,  die  darin  nicht  ihre  Lebensaufgabe  sahen, 
sondern  eher  ein  Stuck  ihres  eigenen  Lehrganges.  Man  absolvierte, 
aufsteigend  mit  seinem  Coetus,  das  dreijährige  Philosophieprofessorat, 
wie  man  das  Amt  des  Klassenlehrers  in  den  niederen  Schulen  absol- 
vierte. Es  ist  bemerkenswert,  daß  sich  in  der  Rat  Stud.,  die  für  den 
sprachlich-humanistischen  Unterricht  soviel  als  möglich  magistros  per* 
petuos,  Lehrer,  die  das  Amt  als  dauernden  Beruf  ansehen,  wenigstens 
als  wünschenswert  bezeichnet  (II,  260),  kein  entsprechendes  Verlangen 
für  die  Philosophieprofessoren  findet.  Hier  scheint  es  also  für  un- 
bedenklich gegolten  zu  haben,  daß  das  Lehramt  jährlich  in  neue 
Hände  überging;  man  trug  einmal  im  Leben  in  dreijährigem  Kursus 
die  Logik,  die  Physik,  die  Metaphysik  und  Moral  vor,  um  sich  dann 
höheren  oder  bequemeren  Aufgaben  zuzuwenden,  dem  theologischen 
Unterricht  oder  der  Praxis  in  Predigt  und  Beichtstuhl  oder  in  der 
Mission.  Für  die  Bildung  des  Professors  wird  es  nicht  unfruchtbar 
gewesen  sein,  den  philosophischen  Kursus,  den  er  früher  als  Schüler 
durchgemacht  hatte,  als  Lehrer  zu  wiederholen;  docendo  discimiis.  Aber 
für  die  Philosophie  konnte  dabei  schwerlich  etwas  herauskommen.  In 
der  Regel  wird  es  dabei  so  zugegangen  sein,  daß  der  Lehrer  seine 
alten  Schulhefte  hervorsuchte  und  sie  der  jüngeren  Generation  ohne 
viel  eigene  Zuthat  vorlas.  In  einem  Gutachten,  das  im  Jahre  1821 
der  Provinzial  der  deutschen  Provinz  dem  General  abstattete,  wird  auf 
die  besondere  Schwierigkeit  des  philosophischen  Unterrichts  hinge- 
wiesen :  einen  durchaus  empfehlenswerten  Autor  gebe  es  nicht,  so  bleibe 
nur  übrig,  daß  man  den  Lehrern  überlasse,  ihr  eigenes  Heft  vorzu- 
tragen (dictare),  wobei  denn  von  dem  Fleiß  und  der  Fähigkeit  der 
Professoren  alles  abhänge,  ob  es  gut  oder  schlecht  geschehe:  „häufig 
nämlich,  so  ist  es  auch  in  der  alten  Gesellschaft  beobachtet  worden, 
folgen  sie  sklavisch  dem  Heft  ihres  Vorgängers  oder  schreiben  sich  den 
ersten  besten  Autor  ohne  Auswahl  und  eigene  Ansicht  getreulich  ab; 
was  auch  bei  den  Theologieprofessoren,  auch  denen  der  Gesellschaft^ 
häufig  beobachtet  isV'  (Rat.  Stud.  IV,  M.  G.  P.  XVI,  S.  366). 


428     //,  7.    Die  Neuhegründung  des  röm.-kuthoL   Oelehrtenschtäwesens. 


Gewiß  war  dies  Verfahren  durchaus  geeignet,  die  gewünschte 
Stabilität  in  den  Ansichten  zu  erhalten.  Es  war  aber  zugleich  ge- 
eignet, theoretisches  Interesse  an  philosophischen  Fragen  und  selb- 
ständiger Forschung  aus  den  Kollegien  der  Väter  fernzuhalten.  Es  ist 
wahr,  auch  auf  den  protestantischen  Universitäten  wurde  das  Lehramt, 
besonders  in  der  philosophischen  Fakultät  nicht  als  dauernde  Lebens- 
aufgabe angesehen.  Nicht  nur  kommt  das  Aufeteigen  aus  einer  Professur 
in  die  andere  innerhalb  der  philosophischen  Fakultät  im  16.  und  17.  Jahr- 
hundert häufig  vor,  sondern  auch  der  Übergang  in  eine  theologische, 
juristische  oder  medizinische  Professur,  oder  auch  in  ein  praktisches 
Amt  ist  etwas  ganz  gewöhnliches.  Dennoch  wird  der  Wechsel  im 
ganzen  erheblich  seltener  gewesen  sein,  als  in  den  Jesuitenkollegien, 
und  Männer  wie  Melanchthon,  Stubm,  Caseliüs  finden  wir  lebens- 
länglich in  demselben  Lehramt.  Seit  dem  Ende  des  1 7.  Jahrhunderts 
wird  das  Regel,  Männer  wie  Wolff  und  Kant  sehen  von  Anfang  an 
den  akademischen  Unterricht  in  den  philosophischen  Wissenschaften 
als  ihre  Lebensaufgabe  an.  —  Ebenso  ist  ursprünglich  die  Ansicht  von 
der  Aufgabe  dieses  Unterrichts  auf  den  protestantischen  Universitäten 
keine  andere,  als  auf  den  katholischen:  das  Studium  navarum  opinionum 
wurde  auf  ihnen  grundsätzlich  ebenso  wenig  begünstigt  oder  auch  nur 
geduldet.  Aber  die  Zersplitterung  in  Landeskirchen,  die  Rivalität  der 
Universitäten,  der  individualistische  Geist  der  Religion  hat  hier  that- 
sächlich  die  Kontrolle  der  Lehre  von  Anfang  an  weniger  wirksam 
werden  lassen;  seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  fallt  sie  völlig 
dahin,  an  ihre  Stelle  tritt  das  Prinzip  der  freien  Forschung.  Ohne 
Zweifel  ist  es  hierdurch  mitbedingt,  daß  in  Deutschland  der  Fortschritt 
wissenschaftlicher  Erkenntnis  wesentlich  vom  protestantischen  Teil  der 
Bevölkerung  und,  soweit  überhaupt  von  den  Universitäten,  von  den 
protestantischen  ausgegangen  ist. 

Mit  einem  Wort  gehe  ich  noch  auf  die  jesuitische  Erziehung 
ein.  Sie  ist  auf  zwei  Prinzipien  gegründet:  Disziplin  und  Ehre. 
Es  sind  dieselben  Prinzipien,  worauf  die  Erziehung  des  modernen 
Oftiziercorps  gegründet  ist;  und  die  Ähnlichkeit  ist  nicht  zufallig:  der 
Stifter  des  Ordens  war  selber  aus  der  militärischen  Laufbahn  hervor- 
gegangen und  seine  Absicht  war,  der  Kirche  in  dem  neuen  Orden  ein 
Fähnlein  auserlesener  Krieger  oder  vielmehr  Offiziere  und  Anführer  in 
dem  großen  Kampf  mit  der  Welt  zuzuführen.  Innerhalb  des  Ordens 
gilt  unbedingter  Gehorsam,  wie  in  der  Armee;  der  Obere  ist  an  Gottes 
Statt,  sein  Befehl  ist  Gottes  Gebot,  jede  Leistung,  jede  Entsagung,  jeder 
Dienst  ist  ohne  Zögern  und  Murren  zu  übernehmen.  Die  Wurzeln 
des  Gehorsams  aber  sind  Selbstbeherrschung  und  Ehre.    Die  Kraft  der 


Erziehungsmittel  des  Ordens.  429 


Selbstbeherrschung  wird  gewonnen  durch  Selbstzucht,  Gewöhnung  zur 
Überwindung  der  natürlichen  Triebe.  Ehre  aber  bedeutet  nicht  die 
äußere  Ehre  vor  der  Welt  —  hier  gilt  für  den  Ordensmann  die 
Demut,  er  hat  kein  Eigentum  und  kein  Ansehen,  er  lebt  ohne  An- 
sprüche, seine  Erscheinung  und  sein  Auftreten  drückt  Unterordnung 
und  Dienstwilligkeit  gegen  jedermann  aus  und  kein  Dienst  ist  ihm  zu 
gering  —  sondern  die  Ehre  vor  Gott  und  die  Anerkennung  der  Oberen. 
Als  wichtigste  Mittel  dieser  inneren  Disziplinierung  erscheinen  die 
religiösen  Übungen.  Durch  häufige  Gewissenserforschung  und  Beichte 
wird  der  Einzelne  an  die  Beobachtung  seiner  selbst  und  an  die  Bloß- 
legung seines  Innern  vor  dem  Oberen  gewöhnt;  durch  die  geistlichen 
Exerzitien,  wie  sie  durch  den  h.  Ignatius  systematisiert  sind,  wird  das 
Gemüt  gezogen,  sich  nicht  den  natürlichen  Empfindungen  und  ihrem 
schweifenden  Lauf  zu  überlassen,  sondern  die  geziemenden  religiösen 
Gefühle  in  geordneter  Folge  in  sich  zu  erzeugen. 

Wie  für  die  Erziehung  der  eigenen  Mitglieder,  so  sind  auch  für 
die  Erziehung  der  ihnen  anvertrauten  Jugend  Disziplin  und  Ehre  die 
beiden  herrschenden  Prinzipien.  Disziplin  bedeutet  auch  hier  nicht 
äußere  Unterwerfung  durch  Strafe  und  Furcht;  in  der  Verwendung 
dieser  Mittel  waren  die  Jesuiten  zurückhaltender,  als  die  mittelalter- 
lichen und  die  protestantischen  Schulen,  die  von  der  Rute  taglich  aus- 
giebigsten Gebrauch  machten,  wogegen  die  Jesuitenpädagogik  die  körper- 
liche Züchtigung  als  ein  letztes  Hilfsmittel  der  Disziplin  in  Reserve  zu 
halten  rät  und  sie  dann  durch  einen  nicht  dem  Orden  angehörigen 
Angestellten  (den  corrector)  ausführen  läßt  —  eine  bemerkenswerte 
Vorsicht,  den  Lehrer  nicht  mit  dem  Schüler  handgemein  werden  zu 
lassen,  sondern  ihm  den  nötigen  Abstand  zu  wahren.^ 


*  Übrigens  scheinen  die  ältesten  deutschen  Schulordnungen  der  Jesuiten 
(bei  Pachtler,  I,  155 ff.;  er  legt  sie  dem  P.  Canisius  bei  und  setzt  sie  in  die 
Zeit  der  Gründung  der  ersten  deutschen  Kollegien  zu  Prag,  Ingolstadt  und 
Köln,  um  1556;  vergl.  Mainz,  I,  567, 1,  207)  diese  Vorsicht  noch  nicht  zu  kennen; 
sie  mahnen  nur,  daß  der  Lehrer  bei  der  ca^Hyatio  nwdestiam^  charitatem  ao 
praescriptam  plagarum  mensuram  inne  halte,  welches  Maß  den  verschiedenen 
Vergehen  entsprechend  auf  ein  bis  sechs  Schläge  festgestellt  wird.  Wenn  mög- 
lich soll  nicht  während  der  Lektion  gestraft  werden.  In  schwereren  Fällen  tritt, 
nach  Befragung  des  Präfekten,  correetio  ein,  d.  h.  der  Delinquent  wird  über- 
gelegt (in  scamni^  jubebunt  ab  aliis  pueris  teneri).  Ob  die  Scheu  vor  den 
Schlägen  bei  den  verschiedenen  Nationen  verschieden  war,  größer  bei  den 
romanischen  Völkern  als  bei  den  germanischen?  und  ob  von  dort  her  die  vor- 
nehme Zurückhaltung  des  Lehrers  in  den  Orden  gekommen  ist?  G.  Müller 
vermutet  es,  wohl  mit  Recht.  Es  wäre  eine  kulturhistorisch  und  völker- 
psychologisch  nicht  uninteressante  Untersuchung,  die  Geschichte  der  Rute  in 
der  Schule. 


430     //,  ".    Die  Neubegründung  des  röm.-kathoL   GelehrtefiscktUwesens, 


Statt  mit  diesen  äußerlichen  Mitteln  suchten  sie  mit  den  Mitteln 
innerer  Disziplin,  besonders  den  religiösen  Mitteln  der  Beichte  und  der 
Betrachtung  zu  wirken;  dem  Verhältnis  zur  Religion  Spontaneität  und 
inneres  Leben  zu  geben,  dienten  sodann  vorzüglich  die  Kongregationen, 
in  denen  die  Jugend  sich  als  Glied  einer  bis  ins  Jenseits  reichenden 
Genossenschaft  fühlen  lernt. 

Daneben  gilt  als  weltlicher  Antrieb  die  Ehre.  In  Übereinstim- 
mung mit  den  Forderungen  der  humanistischen  Pädagogik  machen  die 
Schulen  der  Gesellschaft  von  allen  Mitteln,  den  Ehrtrieb  und  wohl 
auch  den  Ehrgeiz  der  Schüler  ins  Spiel  zu  bringen,  ausgedehntsten 
Gebrauch:  öflfentliche  Aufführungen,  Deklamationen,  Prüfungen,  Loka- 
tionen, Prämien,  Censuren,  Certationen,  diese  zwischen  Einzelnen  und 
zwischen  ganzen  Klassen  und  Schulen,  alle  dienen  dem  Zweck,  zur  An- 
spannung der  Kräfte  anzutreiben;  sie  sind  in  den  katholischen  Ländern 
bis  ins  19.  Jahrhundert  in  ausgedehntem  Gebrauch  geblieben.  Von 
protestantischen  Geschichtsschreibern  sind  die  Jesuiten  oft  gescholten 
worden,  daß  sie  den  Ehrgeiz  stachelten  und  alles  auf  die  „Aemulation" 
stallten.  Vielleicht  ist  das  Übermaß  nicht  immer  vermieden  worden, 
und  eine  Ablenkung  des  Interesses  von  der  Sache  auf  die  äußerlichen 
Erfolge  ist  freilich  eine  gefahrliche  Nebenwirkung  aller  ostensiblen 
Auszeichnungen.  Andererseits  vergesse  man  nicht,  daß  der  Wetteifer 
in  der  Schule  unentbehrlich  ist;  freilich  ist  mit  der  guten  i^otg  die 
böse  nahe  verwandt;  aber  ohne  jene  ist  nie  eine  gute  Schule  gewesen. 
Und  so  hat  denn  die  Praxis  der  Schule  die  Mittel,  die  den  Wetteifer 
erregen,  nie  verschmäht,  auch  unsere  heutigen  Gymnasien  thun  es 
nicht.  Und  auch  das  vergesse  man  nicht,  daß  die  Jesuitenpädagogik 
es  in  erster  Linie  mit  Internaten  zu  thun  hatte,  in  denen  zum  guten 
Teil  die  vornehme  Jugend,  bis  hinauf  zu  den  Söhnen  der  regierenden 
Häuser,  ihre  Erziehung  empfing.  Dem  entsprechend  war  denn  auch 
die  äußere  Einrichtung  und  Lebenshaltung  in  den  Kollegien  vielfach 
eine  recht  stattliche,  die  von  der  Armut  der  protestantischen  Kloster- 
schulen merklich  absticht.  Hierzu  stimmt  auch,  daß  die  Jesuiten  bei 
ihren  Mitgliedern  auf  sicheres  und  weltgewandtes  Auftreten  entschieden 
Wert  legten ;  lauter  Dinge,  deren  Absehen  darauf  gerichtet  war,  Leuten 
von  Welt  diese  Erziehungsanstalten  zu  empfehlen.  Wo  von  diesen 
Dingen  gebandelt  wird,  da  pflegt  man  auch  von  der  „Klugheit"  der 
Väter  zu  reden,  die  jedes  Mittel  zum  Zweck  habe  zu  wenden  und  zu 
brauchen  gewußt.  Goethe  hat  einmal  über  diese  Klugheit  ein  feines 
und  billiges  Wort.  Auf  dem  Wege  nach  Italien,  so  berichtet  er  in 
der  italienischen  Reise,  besuchte  er  in  Regensburg  die  gerade  statt- 
findende Aufführung  im  Jesuitenkolleg.     Er  fand  sie  nicht  übel,  sie 


Das  katholische  und  das  protestantische  Erzieliungsprinzip,      431 


machten  es  nicht  schlimmer  als  eine  angehende  Liebhabertruppe  und 
waren  recht  schön,  fast  zu  prächtig  gekleidet.  Er  fügt  hinzu:  „Auch 
diese  öfifentliche  Darstellung  hat  mich  von  der  Klugheit  der  Jesuiten 
aufs  neue  überzeugt  Sie  verschmähten  nichts  was  irgend  wirken 
konnte,  und  wußten  es  mit  Liebe  und  Aufmerksamkeit  zu  behandeln. 
Hier  ist  nicht  Klugheit,  wie  man  sie  sich  in  abstracto  denkt; 
es  ist  eine  Freude  an  der  Sache  dabei,  ein  Mit- und  Selbstgenuß, 
wie  er  aus  dem  Gebrauch  des  Lebens  entspringt  Wie  diese  große 
geistliche  Gesellschaft  Orgelbauer,  Holzschnitzer  und  Vergolder  unter 
sich  hat,  so  sind  gewiß  auch  einige,  die  sich  des  Theaters  mit  Kenntnis 
und  Neigung  annehmen,  und  wie  durch  gefalligen  Prunk  sich  ihre 
Kirchen  auszeichnen,  so  bemächtigen  sich  die  einsichtigen  Männer  hier 
der  weltlichen  Sinnlichkeit  durch  ein  anständiges  Theater.'*  — 

Halten  wir  zum  Schluß  die  Schulen  der  Jesuiten  mit  denen  der 
Protestanten  zusammen,  so  tritt  bei  aller  Gleichförmigkeit,  wie  sie  in 
den  Zeitverhältnissen  begründet  ist,  auch  auf  diesem  Gebiet  der  Wesens- 
unterschied der  beiden  Konfessionen  sehr  deutlich  hervor.  Man  kann 
ihn  durch  die  Stichwörter  Disziplin  und  Freiheit,  Organisation 
und  Individualität  bezeichnen.  Auf  der  katholischen  Seite  liegt  das 
Schulwesen  in  der  Hand  einer  einzigen,  bald  den  Erdkreis  umspannen- 
den, streng  zentralisierten  Gesellschaft;  die  Lehrer  sind  jahrelang  durch 
die  auf  Auslöschung  der  Individualität  gerichtete  Disziplin  der  Ordens- 
erziehung hindurchgegangen  und  haben  die  Beziehung  zu  Familie, 
Gesellschaft,  Nationalität  abgelegt;  sie  erziehen  die  Jugend  nach  den 
detaillierten  Anweisungen  des  Ordensgesetzes  durch  streng  geregelte 
religiöse,  sittliche  und  intellektuelle  Disziplin  zu  gehorsamen  katho- 
lischen Christen.  —  Auf  der  anderen  Seite  haben  wir  größte  Zer- 
splitterung und  Freiheit  bis  zur  Willkür:  es  giebt  keine  allgemeine 
Schulordnung,  jedes  Territorium,  jede  Stadt  richtet  ihr  Schulwesen  ein, 
wie  sie  will  und  kann;  es  giebt  keine  wirksame  Aufsicht,  der  Lehrer 
ist  im  wesentlichen  der  eigenen  Einsicht  und  dem  eigenen  guten  Willen 
überlassen.  Und  dasselbe  gilt  endlich  in  einigem  Maße  auch  von  dem 
Schüler;  statt  der  Internate  mit  Tag  und  Nacht  gegenwärtiger  Auf- 
sicht haben  wir  Stadtschulen,  die  den  Schüler  bis  auf  die  paar  Schul- 
stunden sich  selber  überlassen.  Und  auf  den  protestantischen  Uni- 
versitäten bildet  sich  im  16.  und  17.  Jahrhundert  allmählich  jene 
akademische  Freiheit  aus,  wodurch  unsere  Universitäten  sich  heut^  von 
allen  übrigen  unterscheiden. 

Die  Geschichte  hat  nicht  zu  Gunsten  der  Disziplin,  sondern  der 
Freiheit  entschieden.  So  groß  die  nächsten  Erfolge  der  Gesellschaft 
Jesu  waren,  so  ist  darüber  doch  kein  Zweifel,  daß  die  Führung  in  der 


482  //,  S,    Scldußhetrachtung. 


geistigen  Welt  des  deutschen  Volkes  seit  der  Trennung  immer  ent- 
schiedener an  die  protestantische  Hälfte  gekommen  ist.  Und  auch 
unter  den  katholischen  Völkern  haben  nicht  die  bestdisziplinierten, 
nicht  Spanien  und  Italien  die  erste  Stelle  behalten ,  das  französische 
Volk  hat  sie  ihnen  abgewonnen ,  das  Volk,  das  am  wenigsten  unter 
die  Zucht  des  römisch-jesuitischen  Systems  sich  beugte,  das  am  meisten 
dem  Einflüsse  der  protestantischen  Nachbarvölker,  des  englischen  und 
deutschen,  sich  öfinete.  Eine  mit  größten  Buchstaben  geschriebene 
Lehre  der  Geschichte:  der  Freiheit  zu  vertrauen.  Sie  sollte  auch 
für  die  staatliche  Schulverwaltung  unserer  Tage  nicht  umsonst  ge- 
schrieben sein. 

Der  Jesuitenorden  ist  nicht  der  einzige  geblieben,  der  innerhalb 
der  katholischen  Kirche  des  gelehrten  Unterrichts  sich  annahm;  aber 
so  sehr  ist  er  nicht  nur  durch  die  Ausdehnung  seiner  Wirksamkeit, 
sondern  auch  durch  bestimmenden  Einfluß  auf  Inhalt  und  Form  des 
Unterrichts  allen  übrigen  überlegen,  daß  es  für  die  hier  verfolgten  Zwecke 
ausreicht,  an  die  Thätigkeit  der  letzteren  mit  einem  Wort  zu  erinnern. 
In  den  österreichischen  und  bayerischen  Ländern  war  es  vor- 
zugsweise der  Benediktinerorden,  der  getreu  seiner  alten  Tradition 
die  Pflege  gelehrter  Studien  im  16.  und  17.  Jahrhundert  lebhafter 
wieder  aufnahm.  Sogar  die  Begründung  einer  Universität  wurde  unter- 
nommen. Im  Jahre  1617  begannen  sechs  Benediktiner  aus  Ottenbeuren, 
nachdem  Verhandlungen  mit  den  Jesuiten  sich  zerschlagen  hatten,  zu 
Salzburg  im  Kloster  St.  Peter  humanistisch- philosophischen  Unter- 
richt zu  erteilen;  1623  erhielt  die  Anstalt  durch  päpstliche  BuUe  die 
Universitatsprivilegien  (Progr.  des  Salzb.  Gymn.  1851).  —  Im  Nord- 
westen Deutschlands,  besonders  im  Westfälischen,  sind  eine  ganze 
Reihe  noch  bestehender  Gymnasien  durch  die  Franziskaner  begründet 
worden,  meist  jedoch  erst  nach  dem  westfälischen  Frieden.  Im  Nord- 
osten, Böhmen,  Schlesien,  Polen,  war  besonders  ein  neuer  Orden 
thätig,  die  von  Gregor  XV.  im  Jahre  1621  bestätigten  Piaristen, 
welche  im  18.  Jahrhundert  den  Jesuiten  sehr  erfolgreich  Konkurrenz 
machten. 


Achtes  Kapitel. 

Schlußbetrachtimg. 

Wir  stehen  am  Ende  des  Jahrhunderts  der  Renaissance  und  der 
Reformation   und  blicken  rückwärts.     Im  gelehrten  Unterrichtswesen 


Schlußbetrachiung.  433 


hat  sich  eine  tiefgreifende  Wandlung  vollzogen ;  im  ganzen  ist  erreicht, 
was  man  am  Anfang  als  Ziel  ins  Auge  gefaßt  hatte.  Zwar  mit  seinen 
innersten  Tendenzen  ist  der  Renaissance -Humanismus  nicht  durch- 
gedrungen, der  Sieg,  der  schon  erreicht  schien,  wurde  ihm  durch  die 
mit  so  elementarer  Gewalt  hervorbrechende  religiös-kirchliche  Bewegung 
entrissen.  Aber  der  Schul-  und  Universitätsunterricht  hat  im  ganzen 
doch  eine  Gestalt  empfangen,  die  in  ihrer  Anlage  von  dem  Ideal,  das 
dem  Erasmus  oder  dem  jugendlichen  Melanchthon  vorschwebte,  sich 
nicht  weit  entfernt^  in  der  Durchführung  freilich  hinter  ihm  erheblich 
zurückbleibt.  Die  Schulen,  protestantische  und  katholische,  redeten  und 
lehrten  am  Ende  des  Jahrhunderts  nicht  nur  das  reine  Latein,  sondern 
gaben  dazu  auch  eine  elementare  Kenntnis  des  Griechischen,  die  Schrift- 
steller des  Altertums  wurden  fleißig  gelesen,  citiert  und  imitiert;  die 
Universitäten  trieben  das  Studium  einer  gereinigten  Philosophie  und 
einer  mehr  schriftmäßigen  Theologie,  nicht  bloß  die  protestantischen, 
sondern  in  einigem  Maße  auch  die  katholischen.  Nicht  minder  hatte 
in  Sachen  der  Kunst  und  des  Geschmacks  die  Renaissance  über  die 
„gotische  Barbarei"  einen  vollständigen  Sieg  errungen. 

Die  Geschichtsbetrachtung  der  siegreichen  Lebensform,  wie  sie 
durch  Humanismus  und  Aufklärung  bis  zum  Liberalismus  der  Gegen- 
wart sich  fortgepflanzt  hat,  pflegt  diese  Wandlung  als  einen  großen  und 
allgemeinen  Fortschritt  zu  besserer  und  höherer  Lebensgestaltung  zu 
preisen.  Ich  bin  weit  davon  entfernt,  die  Berechtigung  dieser  Be- 
trachtung überhaupt  zu  leugnen;  es  ist  in  der  That  nicht  zweifelhaft, 
daß  zu  denjenigen  Leistungen,  worauf  unsere  moderne  Kultur  stolz  ist,  in 
diesem  Zeitalter  die  Kräfte  und  Mittel  vorbereitet  sind.  Die  großartige 
Entwickelung  der  wissenschaftlichen  Forschung  beginnt  mit  der  im 
16.  Jahrhundert  geschehenen  Wiederanknüpfung  an  die  wissenschaft- 
liche Forschung  des  Altertums.  Mit  der  Aneignung  der  Resultate  der 
griechischen  Wissenschaft  hatte  das  Mittelalter  zwar  einen  sehr  acht- 
baren Anfang  gemacht;  aber  erst  der  Humanismus,  indem  er  die 
Litteratur  des  Altertums  zum  Gegenstand  philologisch -historischer 
Untersuchungen,  freilich  zunächst  in  der  Absicht  treuerer  und  tieferer 
Aneignung,  ja  vielfach  selbst  sklavischer  Nachahmung,  zu  machen  be- 
gann, gewann  ihr  gegenüber  eine  selbständige  Stellung.  Dem  Mittel- 
alter hatte  mit  der  historischen  Forschung  und  Auffassung  die  Fähig- 
keit gefehlt,  das  Altertum  sich  objektiv  gegenüber  zu  stellen  und  damit 
von  ihm  sich  frei  zu  machen.  Der  Humanismus  wurde  durch  die 
philologische  Beschäftigung,  welche  den  Text  als  Objekt  faßt,  zur 
kritischen  Beurteilung  und  damit  zur  Selbständigkeit  geführt.  Das  tritt 
vielleicht  in  der  Entwickelung  der  mathematischen,  astronomischen  und 

Pftulsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.   I.  28 


434  II,  8,    SchlußhetraclUwig. 


physikalischen  Forschung  am  frühesten  und  deutlichsten  hervor.  Auch 
sie  begann  mit  der  humanistisch-philologischen  Beschäftigung  mit  den 
Alten,  aber  sie  wurde  bald  frei  und  selbständig  und  schon  im  16.  Jahr- 
hundert, mit  CoPERNicus  und  Galilei,  fing  sie  an  eigene  Wege  zu 
gehen,  die  Wege,  die  über  die  Griechen  so  weit  hinausgeführt  haben. 
Es  ist  aber  nicht  minder  gewiß,  daß  erst  durch  die  bestimmte,  chrono- 
logisch gesicherte  Geschichte  der  Vergangenheit,  die  auf  den  philo- 
logischen Forschungen  beruht,  womit  der  Humanismus  begann,  jenes 
scharfe  und  klare  Welt-  und  Selbstbewußtsein  möglich  geworden  ist, 
wodurch  das  Leben  der  modernen  Menschheit  von  dem  unhistorischen, 
dämmerigen  Leben  des  Mittelalters  sich  so  eigentümlich  unterscheidet 
Also  das  scheint  mir  nicht  im  mindesten  zweifelhaft,  daß  zu  jenen 
großen  und  bedeutsamen  Fortschritten  der  Wissenschaften,  wodurch  die 
Gestalt  der  gesamten  modernen  Kultur  in  so  hohem  Maße  bestimmt 
worden  ist,  der  Humanismus  die  Bahn  gebrochen  hat 

Wenn  man  jedoch  eine  wertschätzende  Beurteilung  des  historischen 
Gangs  der  Dinge  überhaupt  für  zulässig  erachtet  und  also  die  au- 
gedeuteten Fortschritte  als  günstige  Wirkung  der  großen  Umgestaltung 
betrachtet,  dann  darf  man  nicht  übersehen,  daß  die  Sache  auch  eine 
Kehrseite  hat,  daß  dem  Licht  sein  Schatten  nicht  fehlt 

Zwischen  der  mittelalterlichen  und  der  modernen  Kultur  besteht 
ein  tiefgehender  Unterschied,  es  ist  der,  daß  jene  war,  was  diese  nicht 
ist:  volkstümlich.  Das  Wort  zwar  hatte  das  Mittelalter  nicht  es  ist 
erst  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  durch  Jahn  aufgebracht  worden, 
als  der  Mangel  der  Sache  zum  Bewußtsein  kam;  aber  seine  Kultur 
hatte  die  Gestaltung,  welche  durch  das  Wort  bezeichnet  wird:  das  ganze 
Volk  war  ihr  Träger;  Trager  der  modernen  Kultur  dagegen  sind  die 
Gelehrten,  d.  h.  die  Schicht  der  Bevölkerung,  die  eine  gelehrte  Schul- 
bildung empfangen  hat  Im  Mittelalter  hatten  alle  eine  Sprache,  eine 
Dichtung,  einen  Glauben,  eine  Kirche,  eine  Kunst;  seit  dem  15.  Jahr- 
hundert ist  eine  innere  Spaltung  des  Volkskörpers  in  Gelehrt«  und  ün- 
gelehrte,  oder  wie  man  gegenwärtig  sagt,  in  Gebildete  und  Ungebildete, 
eini^etreten,  die  neben  einander,  aber  nicht  mit  einander  und  auch 
nicht  dasselbe  Leben  leben.  Es  mag  dahingestellt  sein,  ob  die  Renais- 
sance die  letzte  Ursache  dieser  Veränderung  ist,  zweifellos  scheint  mir, 
daß  sie  ihre  nächste  Ursache,  oder  wenn  man  lieber  will,  ihre  erste 
Erscheinungsform  ist. 

In  der  Entwickelung  der  Sprache  spiegelt  sich  die  innere  Ent- 
wickeln g  eines  Volkes.  Seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters  ist  die  Ein- 
heit der  Sprache  unserem  Volksleben  abhanden  gekommen;  die  Gelehrten 
reden   seitdem    eine  andere  Sprache    als    die  an   der  Bildung  nicht 


Einfluß  des  Humanismus  auf  deutsche  Sprache  und  LitUratur,     435 


teilnehmende  Masse  der  Bevölkerung,  nämlich  lateinisch.  Zwar  auch 
im  Mittelalter  war  die  Sprache  der  Gelehrsamkeit  und  zum  Teil  auch 
des  öffentlichen  Lebens  eine  fremde.  Aber  das  mittelalterliche  Latein 
war  nicht  diß  Sprache  eines  fremden  Volkes,  es  war  auf  dem  Boden 
des  Eigenlebens  dieser  Zeit  erwachsen,  es  veränderte  nicht  den  Sinn 
und  die  Denkart  dessen,  der  es  gebrauchte;  es  war  nicht  Gegenstand 
des  Hochmuts  und  der  Aufizeigung,  sondern  ein  notwendiges  Werkzeug 
fdr  den  gelehrten  und  internationalen  Verkehr.  Sein  Besitz  entfremdete 
nicht  dem  Volksleben,  die  Kleriker,  die  es  verstanden  und  brauchten, 
blieben  auf  dem  Boden  der  Welt-  und  Lebensanschauung  des  ganzen 
Volkes.  —  Anders  das  humanistische  Latein;  es  ist  eine  wirklich  fremde 
Sprache,  ihre  Fremdheit  wird  empfunden  und  gewollt.  Die  Humanisten 
sonderten  sich  als  vornehmere  Sprachgenossenschaft  von  der  Masse  aus; 
mit  Verachtung  lehnten  sie  es  ab,  in  der  Volkssprache,  der  Vulgär- 
sprache, etwas  anderes  zu  sagen,  als  das  Gemeine,  was  auf  die  Alltags- 
bedürfhisse  sich  bezieht;  für  alles  Geistigere,  Tiefere,  Edlere  mochten 
sie  allein  die  Sprache  der  Alten  brauchen.  Büsghiüs  warf  einem  alt- 
modischen Rostocker  Magister  in  einem  Schmähgedicht  als  das  AUer- 
gravierendste  vor,  einmal,  daß  er  einen  falschen  Vokativ  (Buschie)  ge- 
bildet, sodann  aber,  daß  er  den  Terenz  „in  der  schmutzigen  Sprache 
der  Barbaren'^  seinen  Studenten  erklärt  habe:  ohne  Zweifel  in  den 
Augen  fast  aller  Humanisten  ein  vernichtender  Vorwurf!  In  hunderten 
von  Reden  und  offiziellen  Anordnungen  ist  seitdem  diese  Anschauung, 
daß  es  schimpflich  sei,  in  der  Sprache  des  Pöbels  von  geistigen  Dingen 
zu  reden,  ausgesprochen,  mit  tausend  Schlägen  den  Gelehrten  in  ihren 
Knabenjahren  eingeprägt  worden. 

Die  Folge  war,  daß  die  einheimische  Sprache,  wie  ein  nicht  ge- 
brauchtes Organ,  nicht  nur  nicht  weiter  gebildet  wurde,  sondern  schwand 
und  verarmte.  Am  Ende  des  16.  Jahrhunderts  konnte  niemand  mehr, 
wenn  er  einmal  über  nicht  ganz  alltägliche  Dinge  in  deutscher  Sprache 
zu  reden  genötigt  war,  ohne  Anlehen  beim  Latein  zu  machen,  sich  aus- 
drücken. Mochte  auch  zur  Einsetzung  einiger  lateinischer  lumina  die 
Neigung  mitwirken,  zu  zeigen,  daß  man  nicht  zum  Pöbel  gehöre,  so 
war  es  doch  gewiß  oft  auch  die  wirkliche  Verlegenheit  um  einen 
passenden  deutschen,  und  die  Nähe  des  lateinischen  Ausdrucks,  die  zu 
dessen  Verwendung  führte.  Man  kann  daran  zweifeln,  ob  es  für  den 
durchschnittlichen  Menschen  möglich  ist,  in  zwei  so  verschiedenen 
Sprachen,  als  Deutsch  und  antikes  Latein  sind,  zu  denken  und  zu 
reden.  —  Die  Verachtung  und  Verwilderung,  in  die  schon  im  Laufe 
des  16.  Jahrhunderts  die  deutsche  Sprache,  infolge  des  lateinischen 
Schulbetriebs,  gefallen  war,  hat  es  dann  möglich  gemacht,  daß  im  Laufe 

28* 


436  II,  8,    Schlußbeirachtung. 


des  1 7.  Jahrhunderts  die  französische  Sprache  die  ganze  vornehme  Ge- 
sellschaft eroberte.  Es  konnte  eine  Zeitlang  scheinen,  als  sei  die  deutsche 
Sprache  als  Kultursprache  definitiv  ausgestorben.  Als  sie  endlich  für 
den  litterarischen  Gebrauch  wieder  zubereitet  zu  werden  begann,  da 
war  die  Beziehung  zu  der  lebendigen,  gesprochenen  Sprache  fast  ver- 
schüttet; zum  Glück  hatte  Luthers  Bibelübersetzung  ein  gut  Teil  der 
mittelalterlichen  Volkssprache  auf  bessere  Zeiten  gerettet. 

So  ist  es  geschehen,  daß  in  Deutschland  langer  als  ein  Jahrhundert 
die  höchsten  Angelegenheiten  des  Volks  beinahe  gar  nicht  in  seiner 
eigenen  Sprache  behandelt  worden  sind,  womit  denn  gegeben  ist,  daß 
ebenso  lange  das  Volk  von  der  Teilnahme  an  diesen  Dingen  aus- 
geschlossen war:  sie  wurden  zwischen  Gelehrten  und  gleichsam  bei 
verschlossenen  Thüren  verhandelt  Die  Folge  war  auf  der  einen  Seite 
die  Verarmung  des  Lebens  der  Massen,  auf  der  andern  die  Verkümme- 
rung des  geistigen  Lebens  selbst,  tiefe  und  große  Gedanken  und  Em- 
pfindungen gedeihen  nicht  in  der  Stubenluft  der  Gelehrsamkeit  Die 
gesamte  Litteratur  der  beiden  folgenden  Jahrhunderte  hat  diesen 
Charakter.  Die  wissenschaftliche  Litteratur  hat  etwas  Eünmierliches 
und  Künstliches;  viel  kleinliche  und  giftige  Kontroverse,  aber  nichts 
von  großen  ins  Leben  greifenden  Kämpfen;  es  ist  die  Stickluft  ein- 
gesperrter Zunftgelehrsamkeit,  die  uns  daraus  entgegenweht  Aber 
ebenso  steht  es  auch  mit  der  schönen  Litteratur;  sie  hat  den  Charakter 
des  Künstlichen  und  Gemachten,  wie  alles,  was  nicht  im  Leben  des 
Volks  selbst  seine  Wurzeln  hat  Konventionelle  Phrasen,  nach  dem 
Schema  antiker  Metrik  oder  Rhetorik  angeordnet,  das  ist  die  Dichtung 
und  Beredsamkeit  der  Gebildeten,  wie  man  sie  auf  den  Schulen  und 
Universitäten  bei  Professoren  der  Poesie  und  Eloquenz  erlernte.  Mit 
der  natürlichen  Ausdrucksweise  ging  die  natürliche  Empfindung  selbst 
verloren;  die  gemachte,  gedunsene  Empfindung  sucht  mit  übertriebenen 
Ausdrücken  sich  selber  den  Glauben  an  ihre  eigene  Wirklichkeit  vor- 
zumachen. Der  Schwulst  und  die  Phrasenhaftigkeit,  die  uns  die  deutschen 
Dichter  und  Redner  des  17.  Jahrhunderts  so  lächerlich  und  unerträg- 
lich macht,  sind  nichts  als  die  ins  Deutsche  übersetzte  metrische  und 
unmetrische  Eloquenz  des  Humanismus;  in  der  beständigen  Beschäftigung 
mit  Phrasen  und  Tropen  hat  das  Ohr  das  Gehör  für  Naturlaute  voll- 
ständig eingebüßt;  das  Einfache  und  Wahre  klingt  ihm  dürftig  und 
schal,  gekünstelte  und  geschwollene  Phrasen  dagegen  machen  den  Ein- 
druck des  Vornehmen  und  Erhabenen.  Die  Perrücke,  in  der  die  2ieit 
endlich  die  ihr  gemäße  Form  des  äußeren  Menschen  entdeckte,  nämlich 
für  den  vornehmen  und  etwas  vorstellenden  Menschen,  ist  das  trefiendste 
Symbol  für  die  Verkünstelung  und  Unnatur  des  inneren  Menschen. 


Einfluß  des  Humanismus  auf  deutsche  Sprache  und  Ldtteratur,     437 


Auf  der  andern  Seite  steht  das  Volk,  die  Massen;  sie  sind  ver- 
armt, verroht,  verwildert  Der  „Grobianismus"  tritt  seit  der  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts  im  Volksleben  und  in  der  Volkslitteratur  die  Herr- 
schaft an;  er  hängt  zusammen  mit  derselben  Verrohung  des  Gefühls 
und  des  Denkens,  die  in  dem  fratzenhaften  Teufelsglauben  und  dem 
grauenvollen  Hexenunfug  zur  Erscheinung  kommt.  Das  Volkslied  ver- 
stummte. Als  im  Zeitalter  der  Aufklärung  die  Gebildeten  dem  Volk 
wieder  Beachtung  zuzuwenden  begannen,  da  fanden  sie  es  stumpfsinnig, 
trag,  voll  von  Unwissenheit  und  Aberglauben,  voll  von  Mißtrauen  und 
Haß  gegen  die  oberen  Klassen.  Kein  Wunder!  Zwei  Jahrhunderte 
lang  hatten  diese  Massen  ohne  Anteil  am  geistigen  Leben  in  dumpfer 
Absperrung  dahingelebt,  niemand  sprach  zu  ihnen,  als  der  Schulmeister, 
der  ihnen  den  unverstandenen  Katechismus  einbläute,  und  der  Pastor, 
der  ihnen  die  unverstandliche  Dogmatik  vorpredigte  und  wo  sich 
eigenes  religiöses  Leben  regte,  es  als  Konventikelwesen  verfolgte. 

Können  wir  uns  verhehlen,  daß  die  Folgen  dieser  Zustande  auch 
heute  noch  keineswegs  ganz  überwunden  sind  und  daß  unsere  Litteratur, 
im  besonderen  unsere  sogenannten  Klassiker,  zum  großen  Teil  unserem 
Volke  fremd  sind  und  fremd  bleiben  werden?  daß  die  Künste  einiger- 
maßen exotischen  Gewächsen  gleichen,  die  ohne  Wurzeln  im  heimischen 
Boden  in  Treibhäusern  gezogen  werden?  daß  Recht  und  Staat  gelehrte 
Kunstprodukte  und  nicht  volkstümliche  Bildungen  sind?  ja,  daß  auch 
Religion  und  kirchliches  Leben  einen  künstlichen,  halb  politischen  und 
halb  gelehrten  Charakter  haben?  Können  wir  leugnen,  daß  das  Mittel- 
alter in  diesem  Stück  glücklicher  konstituiert  war?  Damals  ruhte  das 
Leben  des  ganzen  Volks  auf  dem  Grunde  der  einen  und  allgemeinen 
Welt-  und  Lebensanschauung;  dieselben  Ideale  des  heldenhaften  und 
des  heiligen  Lebens  standen  allen  vor  der  Seele;  zu  allen  sprach  die 
Kunst,  indem  sie  den  Idealen,  die  in  jedem  Gemüt  lebten,  Gestalt  und 
Wirklichkeit  gab,  und  ebenso  setzte  das  kirchliche  Leben  mit  seinen 
heiligen  Handlungen  das  Leben  aller  in  Beziehung  auf  dieselbe  Ideen- 
welt.   Mit  der  Renaissance  beginnt  das  große  Schisma. 

Statt  selber  diese  Betrachtung  weiter  auszuführen,  setze  ich  ein 
paar  Zeugnisse  sachkundiger  Männer  hierher,  die  von  verschiedenen 
Standpunkten  ausgehend  auf  diese  Ansicht  geführt  worden  sind. 

Sehr  bestimmt  hebt  W.  Wackernagel  in  seiner  deutschen  Litteratur- 
geschichte  diesen  Punkt  hervor:  seit  dem  16.  Jahrhundert  habe  die 
deutsche  Litteratur  aufgehört  volkstümlich  zu  sein,  sie  sei  zu  einer 
Sache  der  Gelehrten  geworden,  die  Universitäten  seien  an  die  Stelle  der 
Höfe  und  der  Städte  getreten.  Die  Schuld  hieran  trügen  zumeist  die- 
jenigen, die  in  der  neuen  Bewegung  zuvorderst  gingen,  die  Gelehrten, 


438  //,  8.    SchlußbetrarJitung. 


die  Reformatoren  selbst  ,;Denn  eigentlich  ganz  deutsch  gesinnt  und 
gebildet  und  ganz  ein  Mann  des  Volkes  war  unter  diesen  einzig  Lutheb, 
alle  die  andern  waren  durch  die  Art  ihres  Wissens  der  Deutschheit, 
dem  Volke,  der  Sprache  und  der  litteratur  des  Volkes  fremd  geworden. 
So  notwendig  der  Reformation  die  Studien  des  klassischen  Altertums 
waren,  sie  waren  derselben  gleichwohl  schädlich,  insofern  sie  zunächst 
dem  deutschen  Volke  galt,  dies  in  seiner  Gesamtheit  und  zumal  in 
seinen  unteren  Schichten  heben  und  halten  sollte.  Die  klassischen 
Studien  waren  die  Ursache,  daß  einem  gesunden  Leben  aus  sich  selbst 
eins  nach  dem  andern  seiner  unentbehrlichsten  Bedingnisse  entzogen 
ward.  Die  Universitäten  und  Schulen  waren  ebenso  viele  Pflanzstätten 
nicht  bloß  des  Glaubens  und  der  Wissenschaft,  sondern  auch  jener  Ein- 
seitigkeit und  Beschränkung,  zu  welcher  nach  Anfangen  voll  von  Größe 
und  Freiheit  der  Humanismus  je  mehr  und  mehr  hinabsank,  und  der 
blinden  Geringschätzung  alles  dessen,  was  Deutschland  im  Gebiete  der 
Litteratur  an  eigenen  Leistungen  und  an  eigner  nur  noch  unbenutzter 
und  unentwickelter  Kraft  besaß."  So  kam  es,  daß  Dichtung  und  Prosa 
in  deutscher  Sprache  ausstarben.  „Wie  viel  der  schönsten  Kraft,  die 
der  Lyrik,  dem  Drama,  der  Geschichte  und  der  lehrenden  Prosa  hätte 
zu  gute  kommen  können,  ist  der  deutschen  Litteratur  entzogen  worden. 
Und  doch  vielleicht  ist  das  nicht  einmal  zu  beklagen.  Denn  falls  diese 
Lateiner  sich  einmal  herbeiließen  auch  Deutsch  zu  schreiben,  es  gelang 
ihnen  nicht:  ihnen  fehlte  selbst  das  deutsche  Denken  und  Empfinden.'^ 
Es  entstand  endlich  wieder  eine  deutsch  redende  Litteratur;  aber  „nicht 
mehr  aus  dem  frischen  Leben,  sondern  aus  einer  Gelehrsamkeit,  die  dem 
Leben  des  Volkes  meist  entfremdet  ist,  wuchs  die  neuhochdeutsche  Litteratur 
hervor.  Darum  hat  die  Epik  untergehen,  darum  selbst  in  der  Lyrik  das 
Singen  dem  Sagen,  ja  das  Sagen  überall  einem  taubstummen  Lesen,  dem 
Schreiben  und  dem  Drucken  weichen  müssen"  (S.  362,  385  flF.,  492  flF.). 
Derselbe  Wackeknagel  hat  in  einem  kleinen  Aufsatz  über  die 
Umdeutschung  fremder  Wörter  (Kleinere  Schriften,  III,  252)  ausgeführt, 
wie  im  Mittelalter  der  deutsche  Geist  die  Einflüsse  Roms  und  der 
romanischen  Völker  zwar  auch  aufnahm,  aber  sogleich  das  von  außen 
Gebotene  selbständig  umbildete,  aus  Undeutschem  Deutsches  machte. 
So  in  der  Poesie  und  Kunst,  der  Baukunst  und  Malerei;  wobei  denn 
das  geschichtliche  Kostüm  natürlich  vollständig  verloren  ging  und 
Alexander,  Cäsar  oder  Christus  ganz  wie  Helden  und  Könige  der 
eigenen  Zeit  dargestellt  wurden.  „Seitdem  sich  aber  diesem  unab- 
lässigen Fortleben  und  Fortwachsen  die  Renaissance  mit  plötzlicher 
Hemmung  in  den  Weg  gestellt,  von  dieser  in  Wissenschaft  und  Kunst 
und  allem  Leben  entscheidenden  Wendung  an  die  ganze  nachmittel- 


Einfluß  des  Hufnanismtis  auf  deutsche  Sprache  und  lÄUeratur,     439 


alterliche  Zeit  hindurch  verhält  sich  der  deutsche  Geist  nicht  mehr  so 
schöpferisch  gegen  das  Voi^zeitliche  und  Fremde:  an  die  Stelle  selbst- 
thätiger  Aneignung  ist  die  Nachahmung  getreten,  die  sich  des  Selbst 
und  seiner  Thätigkeit  möglichst  entäußert,  die  mit  gewissenhafter  Ob- 
jektivität in  fremde  Form,  fremde  Anschauung,  ja,  sogar  hier  auf  die 
Fortentwickelung  verzichtend,  zurück  in  die  eigene  Vorzeit  wie  in  ein 
Fremdes  sich  versetzt.  Die  Kunst,  die  dichtende  wie  die  bildende,  ist 
gelehrt  geworden;  die  Gelehrsamkeit  aber  in  ihrer  Entfremdung  von 
der  Kirche  steht  außerhalb  des  Volkes  und  wirkt  auf  dessen  Lebens- 
entwickelung öfter  störend  und  verfälschend  als  fordernd  ein."  Wacker- 
nagel weist  dann  an  der  Aufnahme  fremder  Wörter  in  die  deutsche 
Sprache  nach,  wie  frei  und  selbständig  das  Mittelalter,  wie  pedantisch 
und  ängstlich  die  neuere  Zeit  verfahrt;  ein  Kapitel,  welches  in  dem 
Aufsatz  über  die  deutsche  Pedanterei  (ebend.  417  fif.)  nochmals  berührt 
wird.  Das  Mittelalter  hat  zahlreiche  Wörter  aus  der  lateinischen 
Sprache  aufgenommen,  aber  es  machte  sie  gleich  zu  deutschen  Wörtern, 
indem  es  ihnen  Form,  Klang,  Geschlecht  solcher  gab.  Dem  Pfarrer 
und  Küster,  dem  Probst  oder  Bischof,  dem  Kloster  und  Münster,  dem 
Spiegel  und  dem  Ziegel,  der  Mauer  und  dem  Körper  sieht  niemand 
mehr  ihre  lateinische  Herkunft  an,  es  sind  nicht  mehr  fremde  Wörter, 
höchstens  darin,  daß  ihnen  der  Hintergrund  etymologischen  Verständ- 
nisses abgeht,  der  ja  übrigens  auch  für  zahllose  Wörter  der  eigenen 
Sprache  nicht  da  ist.  Seit  dem  16.  Jahrhundert  dagegen  hat  die 
deutsche  Sprache  die  Kraft  der  Aneignung  verloren.  Jetzt  werden 
Wörter  fremder  Sprache  als  fremde  der  Rede  eingefugt:  zuerst  latei- 
nische Wörter  und  Wendungen,  sie  herrschen  in  dem  Jahrhundert,  das 
zwischen  Luthers  Tod  und  dem  westfälischen  Frieden  liegt;  dann 
dringen  die  französischen  massenhaft  herein.  Und  bis  auf  diesen  Tag 
hat  sich  die  deutsche  Sprache  dieser  Eindringlinge  nicht  zu  erwehren 
vermocht,  oder  vielmehr:  bis  auf  diesen  Tag  hält  es  der  „gebildete" 
Deutsche  für  vornehm,  mit  den  Wörtern  der  fremden  Sprache  Staat 
zu  machen. 

Ähnlich  spricht  sich  ein  anderer  Germanist,  Fb.  Pfeiffeb,  in  der 
Vorrede  zu  seiner  Ausgabe  der  deutschen  Theologie  (1851)  über  die 
große  Störung,  welche  die  Entwickelung  der  deutschen  Sprache  durch 
die  Renaissance  erlitten  hat,  aus:  „Es  ist  bekannt,  mit  welcher  Ver- 
achtung die  Gelehrten  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  auf  die  Sprache 
des  13.  und  der  folgenden  als  Altväterdeutsch  herabgeblickt  haben. 
Die  Verständigen  wissen  heutzutage,  was  davon  zu  halten  und  wo  die 
Rohheit  zu  suchen  ist.  Im  Gegenteil,  wenn  man  die  Sprache  der  erst- 
genannten Jahrhunderte  vergleicht  mit  der  Einfachheit  und  Klarheit, 


440  //,  8,    SMußhetraMung, 


der  Lebendigkeit  und  selbst  Grazie  des  Ausdrucks ,  womit  Bruder 
David,  Eckhaet,  Tauleb,  Seuse  und  der  Verfasser  des  vorliegenden 
Büchleins  die  Sprache  gehandhabt  und  die  schwierigsten  spekulativen 
Fragen  behandelt  haben,  so  kann  man  nicht  im  Zweifel  sein,  daß 
letztere  auch  formell  unendlich  höher  stehen  und  man  muß  bedauern, 
daß  das  Studium  der  Klassiker  den  Einfluß,  den  die  mittelalterlichen 
deutschen  Prosaiker  auf  die  naturgemäße  Entwickelung  und  Weiter- 
bildung der  Sprache  auszuüben  geeignet  und  berufen  waren,  fast  völlig 
vernichtet  und  unmöglich  gemacht  hat" 

Es  giebt  auch  eine  andere  Betrachtung  und  ich  leugne  nicht,  daß 
die  Sache  sie  zuläßt.  Fb.  Kluge  führt  sie  in  seiner  sprachgeschicht- 
lichen Studie:  Von  Luther  bis  Lessing  (2.  Aufl.  1888)  aus:  Erst  mit 
der  Reformation  sei  das  Deutsche  die  Sprache  des  Gottesdienstes  und 
der  Erbauung  geworden,  erst  seit  der  Reformation  habe  sich  eine  ein- 
heitliche deutsche  Schrift-  und  Litteratursprache  gebildet,  deren  Grund- 
lage Luthers  Sprache  geworden  sei.  Es  ist  so.  Wenn  Kluge  dann 
aber  weiter  behauptet,  daß  seitdem  das  Lateinische  aus  seiner  fast 
tausendjährigen  Herrschaft  verdrängt  sei,  so  kann  das  nicht  ohne  starke 
Einschränkung  gelten:  auf  den  Schulen  und  Universitäten,  in  der  Wissen- 
schaft und  der  zünftigen  Litteratur  behielt  das  Lateinische  bis  gegen 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  die  Alleinherrschaft.  Und  zwar  bedeutete 
das  jetzt  mehr  als  im  Mittelalter:  damals  lernte  bloß  der  Klerilier 
Latein  und  zwar  als  Amtsspraclie;  jetzt  lernt  auch  der  Herrenstand 
Latein,  und  zwar  als  die  Sprache  des  gebildeten  Menschen.  Daß  man 
erst  durch  das  Latein  ein  gebildeter  Mensch  wird,  das  ist  der  neue 
Gesichtspunkt,  aus  dem  der  Humanismus  die  Sache  betrachtet.  Und 
wenn  Kluge  fortfährt:  „Der  Fluch  der  Barbarei,  mit  dem  noch  Luthers 
Zeitgenossen  die  deutsche  Sprache  brandmarken,  verstummt  seit  der 
Mitte  des  16.  Jahrhunderts;  waren  bis  dahin  deutsch  und  barbarisch 
(barbare)  als  Gegensatz  zum  Latein  gleichwertige  Begrifle,  so  tritt 
fortan  die  stolze  Benennung  der  deutschen  ,Haupt-  und  Heldensprache* 
auf",  so  wäre  hierzu  manches  zu  bemerken.  Vor  allem:  die  Zeit- 
genossen Luthers,  denen  deutsch  und  barbarisch  gleichbedeutend 
sind,  das  sind  eben  die  Humanisten;  ich  glaube  nicht,  daß  im  Mittel- 
alter jemand  die  deutsche  Sprache  barbarisch  genannt  hat.  Das 
kam  erst  mit  der  Renaissance  auf  und  verschwand  auch  keineswegs 
mit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts,  blieb  vielmehr  in  den  Kreisen 
der  Bildung  die  herrschende  Ansicht  bis  auf  die  Tage  Leasings  und 
Goethes:  bis  dahin  gilt  alles,  was  nicht  Latein,  die  Sprache  der 
Universitäten  und  Schulen,  oder  französisch,  die  Sprache  der  Höfe, 
spricht  und  schreibt,  für  Pöbel.    Und  die  Sache  steckt  uns  ja  noch  in 


Einfluß  des  Humanismtis  auf  deutsche  Sprache  und  Liiteratur,     441 


den  Gliedern:  wer  nicht  Latein  oder  Französisch  kann,  der  gilt  doch 
auch  heute  noch  mindestens  für  „ungebildet".  Woher  kommt  denn  bis 
auf  diesen  Tag  die  Begierde  des  Deutschen  nach  Fremdwörtern,  als 
daher,  daß  ihr  Gebrauch  vornehm  macht?  Durch  die  Fremdwörter  sagt 
man:  wenn  ich  reden  dürfte,  wie  ich  möchte  und  könnte,  nämUch 
lateinisch  oder  französisch,  dann  würde  ich  die  Dinge  viel  besser  und 
feiner  sagen  können.  Das  Mittelalter  spricht  nicht  mit  Fremdwörtern, 
weil  es  die  fremden  Sprachen  nicht  als  die  vornehmeren,  „gebildeteren" 
empfindet;  der  Herrenstand  spricht  im  Mittelalter  deutsch  und  nur 
deutsch;  der  mittelalterliche  Ritter  sieht  geringschätzig  auf  den  latein- 
lernenden Kleriker  als  scriba  oder  Scolaris  herab.  Und  was  die 
deutsche  „Haupt-  und  Heldensprache"  anlangt,  so  scheint  mir  gerade 
dies  krampfhafte  Großthun  mit  der  deutschen  Sprache  ein  sehr  zu- 
verlässiges Symptom  für  die  geringe  Geltung,  die  sie  in  Wirklichkeit 
hatte;  es  ist  das  reizbare  und  heftig  sich  ausdrückende  Selbstgefühl 
dessen,  der  weder  seiner  Schätzung  bei  anderen,  noch  seines  Wertes  in 
sich  selbst  sicher  ist.  Ob  wohl  ein  Franzose  oder  Engländer  des 
18.  Jahrhunderts  seine  Sprache  als  „Haupt-  und  Heldensprache"  be- 
zeichnet hat?  Und  seit  Lessing  und  Goethe  thut's  der  Deutsche  auch 
nicht  mehr,  es  sei  denn  ein  Untersekundaner,  dem  das  Latein  die  Brust 
beklemmt.  Übrigens  kann  darüber,  daß  die  beiden  Jahrhunderte,  die 
auf  Luther  folgen,  nicht  ein  aufsteigendes  Zeitalter  der  deutschen 
Sprache  ausmachen,  denn  doch  wohl  nirgend  ein  Zweifel  sein:  wen 
hätte  das  Deutschland  von  1546 — 1746  aufzuweisen,  der  als  Meister 
der  deutschen  Sprache  neben  Luther  und  Lessing  auch  nur  zu  nennen 
wäre?  In  gewisser  Weise  ist  Luther  ein  Anfang  einer  neuen  Ent- 
wickelungsepoche  der  Sprache;  in  anderer  kann  man  ihn  aber  mit 
ebenso  viel  Recht  das  Ende  der  mittelalterlichen  nennen:  er  sammelt 
die  ganze  Kraft  der  mittelalterlichen  Sprache  nochmals  zu  gewaltigster 
Wirkung.  Dann  folgt  ein  langes  Zeitalter  der  Ermattung  und  Unkraft, 
ja  der  Verachtung  der  deutschen  Sprache. 

So  viel  über  den  Einfluß  der  Renaissance  auf  die  deutsche  Sprache 
und  Litteratur.  Was  die  bildenden  Künste  anlangt,  so  haben  wir  hier 
dieselbe  Wandlung:  die  schöpferische  Kraft,  die  aus  dem  Eigenleben  des 
Volks  Inhalt  und  Formen  der  künstlerischen  Darstellung  hervorbringt, 
läßt  nach ;  mit  der  Bewunderung  der  Antike  zieht  die  Imitation,  und  mit 
der  Imitation  halten  bald  auch  Phrasentum  und  Schwulst  ihren  Einzug. 
Man  höre  hierüber  den  einen  Goethe.  Im  Leben  Winckelmanns 
(1805,  S.  204  ff.)  heißt  es:  „Wir  geben  es  zu,  die  Griechen  haben 
manche  Vorteile  genossen,  deren  die  Neueren  sich  nicht  erfreuen;  doch 
weniger  der  Schönheit  ihrer  mythologischen  Dichtungen,  ihren  Spielen 


442  II   ".     ^  •;*l^••fr^v*•-'w'^.^ 


r^Li  1-t/.^  &-•  irzi  rrlirl'srL  Ei-tT  Tini.  nrtin  demselben,  dem  patrio- 
tirrhrü.  >ier  ireLn  nun  i-ese^  Irtr-ere  mit  eiiiem  fferingeren  Kamen 
>-rlr2eTi  irilL  dem  allzriiirinr::  Vsr -r v-FJiTgyf5hl  and  der  Ruhmbegier 
:e*i*^  rinzeiten  «»rt?.  v:r  -irm  anieren  VorzüK-.  Merkwürdiekeiten  zu 
^-^iiz^n.  hatten  5:e  waLr?*?hrii:l:ch  den  Flor  ihrer  Kunst  in  danken; 
und  aTich  wir.  s*:-  sch^iL*  «,  ^iiid  dem  katholischen  Beligionseifer  des 
13^  14..  15.  Jahrhimder-  «üe  Grondnn?  nnd  das  Wachstum  der  bil- 
denden Künste  --rhaMig  geworden.  >>  lange  die  heiligen  Stiftnngen 
aller  An  ihnen  ein  weites  Feld,  wüplige  and  man  kann  hinzusetzen, 
zahllose  Gelegenheit  £ral:»en  sich  zn  zeisen.  so  lanee  stiegen  sie  rasch 
nnd  freudig  emp«:«r.  Düstre.  mCnchische  Ideen  scheinen  dem  Künstler 
wenig  hinderlich  zu  sein,  denn  er  bearbeitet,  erheitert  und  verschont 
dieselben.  Betrachte  man  nur  unl*efangen  von  allen  Seiten  die  schöne 
Stufe,  worauf  sich  alle  bildenden  Künste  zu  Ende  des  15.  und  Anfang 
des  16.  Jahrhunderts  l:»efanden  und  es  ist  keineswegs  schwer  zu  denken, 
daß  sie  auf  diesem  Wege  nii^ch  weiter  hätten  fortschreiten,  ja  sich, 
wiewohl  mit  eigentümlichem  Charakter,  bis  neben  die  Antike  erheben 
können:  aber  die  emporhebende  Kraft  war  schwächer  geworden  und 
hatte  ihnen  ihr  Ziel  gesetzt:  mächtige  Beschützer  fanden  sich  zwar  noch, 
aber  diese  konnten  das  Heilige  nicht  ersetzen.  Die  Künste  waren  Mode, 
sie  gefielen  vielleicht,  doch  man  bedunte  ihrer  nicht  mehr  notwendig. 
Rafael  bemalte  Hallen  und  Säle,  des  Michel  Angelos  hauptsächlichste 
Bildhauerarbeiten  sind  Grabmäler.  Wir  wollen  nicht  sagen,  daß  dieses 
unwürdige  Beschäftigungen  für  diese  großen  Meister  gewesen  seien,  allein 
es  bereitete  doch  schon  das  Abnehmen  der  Kunst  vor.  In  der  Stille  und 
Freiheit  der  Altäre  fand  sie  nicht  mehr  volle  Beschäftigung  und  mußte 
darum  der  Welt  dienen,  den  Launen  auf  mancherlei  Weise  schmeicheln. 
Ihre  Anwendung  wurde  ausgedehnter,  aber  auch  gemeiner;  die  mindere 
Würde  zog  Bestreben  nach  größerer  Fertigkeit,  das  Bedürfnis  schnell 
zu  arbeiten  die  Manier,  die  Manier  aber  das  Geistlose,  das  Handwerks- 
mäßige nach  sich.  Dieses  sind  die  Stufen,  über  welche  die  neuere 
Kunst  von  ihrer  Höhe  herabstieg,  und  wenig  anders  ist  es  auch  mit 
dem  Verfall  der  alten  beschaffen  gewesen." 

Über  die  große  Umgestaltung  des  Rechtslebens,  die  sich  seit 
dem  16.  Jahrhundert  unter  dem  Einfluß  der  Renaissance  durchgesetzt 
hat,  sj)richt  Stintzing  in  seiner  Geschichte  der  deutschen  Rechtswissen- 
schaft (1,  89  ff.)  in  folgender  Weise  sich  aus.  „Es  liegt  im  Wesen  des 
Schi'jffentums,  daß  als  letzte  Quelle  des  Rechts  nur  die  persönliche 
Oberzeugung  des  Urteilers  wirkt,  welche  sich  durch  keine  äußere  Auto- 
rität ^'cbunden  fühlt.  Der  Begriff  des  zwingenden  Gesetzes,  dem  die 
persrmliche  Meinung  sich  unbedingt  unterzuordnen  habe,  kommt  hier 


Einfluß  der  Renaissance  auf  Recht  und  Staat,  443 

zu  keiner  Geltung.  Die  Rechtsaufzeichnungen  aller  Art  sind  dem 
SchüflFen  nur  Hilfsmittel  der  Erkenntnis."  Die  Rezeption  des  römischen 
Rechts,  welche  das  Erlöschen  des  schöpferischen  Triebes,  der  Rechts- 
bildung im  SchöflFentum  zugleich  zur  Ursache  und  zur  Wirkung  hatte, 
bewirkte  nicht  nur,  „daß  neue  und  fremde  Rechtssätze  in  den  Ge- 
richten zur  Anwendung  gebracht  wurden,  sondern  auch,  daß  das  Wesen 
der  Rechtsprechung  selbst  eine  prinzipielle  Umgestaltung  erfuhr.  Äußer- 
lich manifestiert  sich  diese  durch  das  Eindringen  der  Gelehrten  in  die 
Gerichte;  der  Juristenstand  bildet  sich  und  tritt  an  die  Stelle  der 
SchöflFen.  Allein  das  innere  Wesen  dieses  Vorgangs  besteht  nicht  in 
dem  Wechsel  der  Personen;  sondern  das  Absterben  des  SchöflFen tums 
ist  das  Erlöschen  des  Prinzips  autonomer  Rechtsfindung.  An  die  Stelle 
des  nach  subjektiver  Überzeugung  gefundenen  Rechts  tritt  die  formale 
Autorität  des  geschriebenen  Rechts.  Der  gelehrte  Richter  unterscheidet 
sich  vom  SchöflFen  nicht  bloß  durch  das  Merkmal  akademischer  Bildung, 
sondern  dadurch,  daß  dieser  in  seinem  Urteil  das  Dasein  eines  Rechts- 
satzes bezeugt,  den  er  aus  eigenem  Bewußtsein  und  eigener  Erfahrung 
schöpft;  jener  dagegen  ein  Recht,  welches  außer  ihm  da  ist,  dessen 
Kenntnis  er  sich  von  außen  her  angeeignet  hat,  auf  den  einzelnen  Fall 
zur  Anwendung  bringt."  Aufs  schärfste  kommt  der  neue  Charakter 
des  Rechts  darin  zur  Erscheinung,  daß  die  juristischen  Fakultäten  zu- 
gleich zu  Spruchkollegien  werden,  denen  die  Gerichte  die  Akten  von 
Rechtshändeln  zur  letzten  Entscheidung  einsenden:  die  Rechtsprechung 
in  absentia  aus  Büchern  und  Papier  tritt  an  die  Rechtsfindung  aus  dem 
lebendigen  Rechtsbewußtsein  der  Volksgenossen. 

In  gewisser  Weise  gilt  etwas  Ähnliches  doch  auch  von  dem  reli- 
giös-kirchlichen Leben:  es  hat  an  Volkstümlichkeit  eingebüßt.  Zu- 
nächst freilich  stellt  sich  die  Sache  anders  dar;  erst  durch  die  Refor- 
mation, wird  man  sagen,  ist  die  Religion  Sache  des  Volks  geworden, 
während  sie  bisher  Sache  des  Klerus  war.  Gewiß,  es  ist  so;  und  es 
liegt  mir  fem  zu  leugnen,  daß  durch  die  Reformation  die  Religion 
tiefer  in  Gemüt  und  Leben  der  Einzelnen  eingedrungen  ist.  In  der 
alten  Barche  war  die  Beteiligung  der  Laien  am  religiösen  Leben  mehr 
passiv  als  aktiv;  indem  die  Reformation  den  sakramentalen  Charakter 
des  Priestertums  und  damit  den  Unterschied  zwischen  Laien  und 
Priestern  aufhob  und  das  allgemeine  Priestertum  lehrte,  machte  sie 
die  Religion  zur  eigensten  Angelegenheit  jedes  Einzelnen,  der  Idee 
nach,  hinter  der  denn  die  Wirklichkeit  auch  hier  erheblich  zurück- 
geblieben ist.  Doch  blieben  zwei  Stücke:  erstens,  die  heilige  Schrift  in 
jedermanns  Hand,  mit  der  Aufforderung,  selber  darin  zu  lernen  und  zu 
forschen;  sodann  die  Betonung  der  Notwendigkeit,  durch  persönlichen 


444  //,  8.    SMußhetrachtung. 


Glauben  das  Heil  anzueignen.  In  dem  Examen  ordinandorum  (C.  IL 
XXIII)  wird  der  Gegensatz  in  diesem  Stück  von  Melanohthon  so  ge- 
faßt: „die  Päpstlichen  sagen,  der  Priester  verdiene  Vergebung  der 
Sünden  mit  seinem  Opfern,  ihm  selber  und  andern ;  und  dazu  ex  opere 
operato,  wie  sie  reden".  Dagegen  sagt  die  neue  Kirche:  „Du  sollt 
wissen,  daß  nicht  des  Priesters  Werk  einem  andern  die  Gnade  appli- 
zieret, sondern  ein  jeder  muß  ihm  selber  durch  eigenen  Glauben  die 
Vergebung  und  Gnade  applizieren:  fide  proprio  fit  applicatio,  non 
propter  opus  alienum^^. 

Auf  der  andern  Seite  liegt  nun  aber  die  Sache  doch  so,  daß  die 
Religion  selbst  im  Mittelalter  eine  viel  volkstümlichere  Gestalt  hatte, 
als  da,  wo  die  Reformation  durchgedrungen  ist;  vor  allem:  diese  hat 
ihr  die  Bildlichkeit  genommen  und  dafür  die  Lehrhafbigkeit  gegeben. 
In  der  alten  Kirche  bestand  der  Glaube  für  das  Volk  wesentlich  in 
Bildern,  nicht  in  Lehrsätzen.  Wie  die  Kirchen  im  Mittelalter  mit 
Bildern  gefüllt  waren,  so  war  auch  innerlich  dem  Glauben  die  ganze 
jenseitige  Welt  in  Bildern  gegeben.  Die  Reformation  hat  die  Bilder  aus 
den  Kirchen  und  auch  aus  der  Vorstellung  beseitigt.  Die  Mutter  Gottes 
und  die  Heiligen,  die  Gegenstände  der  Kunst  und  Dichtung,  ver- 
schwinden, die  jenseitige  Welt  verliert  immer  mehr  an  Vorstellbarkeit^ 
zuletzt  ist,  im  Deismus  der  Aufklärung,  nichts  als  ein  abstrakter  Be- 
griff der  Vorsehung  und  der  Unsterblichkeit  der  Seele  übrig,  die  Reli- 
gion ist  eine  Sache  des  Denkens  und  Beweisens  geworden,  sie  ist  nicht 
mehr  eine  Sache  der  Anschauung  und  des  Glaubens. 

Es  scheint  mir  nicht  zweifelhaft,  daß  die  Reformation  im  Sinne 
dieser  Entwickelung  gewirkt  hat.  Sie  hat  den  Glauben  zum  Gegen- 
stand der  Untersuchung  und  der  Beweisführung  gemacht;  und  zwar 
nicht  bloß  auf  den  Universitätskathedem,  hier  gab  es  die  Sache  auch 
schon  im  Mittelalter,  sondern  auch  in  den  Schulen  und  auf  den  Kanzeln. 
Das  war  eigentlich  nicht  Luthers  Meinung,  im  Gegenteil,  er  wollte 
eigentlich  die  Philosophie  und  Vernunft  aus  dem  Glauben  herausbringen; 
aber  die  Dinge  haben  ihre  eigene  Natur  und  Wirkung,  thatsächlich 
hat  die  Reformation  doch  die  Predigt  von  der  erbaulichen  Paranese 
abgelenkt  und  ihr  die  Richtung  auf  dogmatische  Lehrhaftigkeit  ge- 
geben. Melanchthon  hat  dazu  hauptsächlich  beigetragen;  der  Ver- 
fasser der  ersten  protestantischen  Dogmatik  dringt  auch  darauf,  die 
neue  Dogmatik  von  den  Kanzeln  zu  predigen.  In  einer  bezeichnenden 
Stelle  der  Rhetorik  (C.  R.  XIII,  421)  heißt  es:  zu  unserer  Zeit  sei  die 
lehrhafte  Form  (das  gemis  didascalicum  dicendi,  das  er  in  die  Rhetorik 
eingeführt  hat,  s.  o.  S.  258),  auch  in  der  Kirche  von  größter  Wichtig- 
keit; erbauliche  Reden  (conciones  suasoriae)  genügten  jetzt  nicht,  sondern 


Einfluß  der  Renaissance  und  ReformaHon  auf  das  religiöse  Leben,     445 


viel  öfter  sei  es  nötig ,  ^i^  logischer  Form  die  Dogmen  der  Religion 
vorzutragen,  daß  die  Leute  sie  völlig  erkennen'^  (multo  saepius  homines 
dialecticorum  more  de  dogmatibus  religionis  docendi  sunt,  ut  ea  perfecte 
cognoscere  possint,^ 

Eben  zu  diesem  Zweck  wird  nun  die  wissenschaftliche  Bildung  der 
Geistlichen  der  neuen  Kirche  so  dringend  notwendig:  alle  Prediger 
müssen y  um  dies  leisten  zu  können,  die  Philosophie  und  die  Grund- 
sprachen der  Schrift  lernen,  dadurch  allein  werden  sie  in  den  Stand 
gesetzt,  die  Wahrheit  des  neuen  Bekenntnisses  wissenschaftlich  zu  be- 
weisen und  kunstgerecht,  dialecticorum  more,  darzulegen.  Für  den 
mittelalterlichen  Priester  war  die  Wissenschaft  nicht  ebenso  notwendig; 
wenn  er  die  Messe  zu  lesen  und  Beichte  zu  hören  verstand,  so  konnte 
er  dem  Amt  vorstehen.  Nicht  so  der  Prediger;  er  soll  vor  allem  lehren 
und  also  muß  er  Gelehrsamkeit  und  Dialektik  haben.  Sicherlich  hat 
die  Reformation  die  Geistlichen  gelehrter  und  gebildeter  gemacht,  aber 
eben  dies  hat  auch  die  Tendenz,  sie  vom  Volk  zu  trennen.  Es  ist  nicht 
zufallig  und  nicht  ohne  Folge,  daß  die  Häupter  der  Reformation  Uni- 
versitatsprofessoren  waren.  Der  Protestantismus  hat  bis  auf  diesen  Tag 
etwas  Professorenhaftes:  die  Richtung  auf  gelehrte  Behandlung  der 
Religion,  sei  es  die  dogmatisch-philosophische,  wie  im  17.  und  18.,  sei 
es  die  historisch-kritische,  wie  im  19.  Jahrhundert,  ist  ihm  eigen,  dazu 
vielfach  die  Scheu  vor  dem  Volke  und  die  Unfähigkeit  zu  volkstüm- 
licher Wirkung.  Auch  das  ist  doch  schon  in  Lutheb  angelegt.  So 
sehr  er  selbst  volkstümlicher  Rede  und  Wirkung  mächtig  war,  so  ist 
doch  der  Sinn  für  das  Leben  und  das  Bedür&is  der  Massen  bei  ihm 
nicht  sehr  entwickelt;  man  denke  an  seinen  Haß  und  seine  Verachtung 
gegen  alles,  was  er  „Schwarmgeister*^  nennt;  es  ist  darin  auch  etwas 
von  dem  Haß  des  zum  Besserwissen  berufenen  Professors  gegen  Leute, 
die  keine  Universitätsstudien  gemacht  und  keinen  Dr.  theol.  vorzuweisen 
haben.  Und  diese  Mißachtung  und  Verfolgung  volkstümlich-religiöser 
Regungen  hat  bis  in  unser  Jahrhundert  hinein  gedauert;  sie  vor  allem 
hat  immer  wieder  zur  Sektenbildung  getrieben ;  das  religiöse  Bedürfnis 
fand  eigentlich  nie  Sättigung  in  dem  Evangelium  von  der  Recht- 
fertigung durch  den  Glauben  allein  und  seiner  gelehrten  Auslegung. 


*  Bekannt  ist  Luthers  Vorliebe  für  Paulus,  den  Theologen  unter  den 
Aposteln.  Den  Auswähler  der  Perikopen,  besonders  der  Episteln,  schilt  er  einen 
sehr  uugelehrten  und  abergläubischen  Anhänger  der  Werke,  daß  er  so  wenig 
aus  den  Briefen  des  Paulus  bringe,  in  denen  der  Glaube  gelehrt  werde,  sondern 
viel  mehr  moralische  und  ermahnende  Stellen  {Formula  missae,  XII,  209,  Weim. 
Ausg.).  Glücklicherweise  ist  es  zu  einer  Reinigung  der  Perikopen  im  Sinne  der 
sola  fides  doch  nicht  gekommen. 


446  //,  S.    Schlußbetrachiung, 


Das  Evangelium  von  der  Nachfolge  Christi  hat  mehr  Kraft  die  Herzen 
zu  bewegen.  Aber  dies  Evangelium  hatte  für  den  Protestantismus 
einen  Beigeschmack  von  Werkgerechtigkeit  und  Heterodoxie. 

So  konnte  es  geschehen,  daß  die  große  Masse  in  der  protestan- 
tischen Welt  sich  bald  mehr  oder  minder  gleichgültig  in  die  Kirchen- 
und  Lehrordnungen  des  Landesherm  und  seiner  Hoftheologen  fügen 
lernte  und  sich  allmählich  gewöhnte,  das  Christentum  als  eine  Sache 
der  Obrigkeit  und  der  Gelehrten  anzusehen.  Eine  subjektivere  Frömmig- 
keit aber  führte  leicht  eine  Neigung  zur  Aussonderung  aus  der  Kirche 
und  zur  Abschließung  in  privaten  Konventikeln  mit  sich.  Daß  die 
katholische  Kirche  stärkere  Wurzeln  im  Volksleben  hat,  sie  mögen 
nun  sein,  welcher  Art  sie  wollen,  das  wird  heute  kaum  noch  jemand 
leugnen. 

Ich  schließe  hier  noch  eine  Bemerkung  über  den  Einfloß  der 
Renaissance  und  Reformation  auf  das  geschichtliche  Bewußtsein 
des  deut<schen  Volkes  an.  Daß  ein  eigentlich  geschichtliches  Selbst- 
bewußtsein erst  seit  dem  16.  Jahrhundert  sich  entwickelt  hat,  wurde 
schon  bemerkt:  erst  indem  man  sich  von  der  eigenen  Vergangenheit 
abhob  und  in  bewußtem  Gegensatz  zum  Mittelalter  sich  in  Beziehung 
zum  klassischen  und  christlichen  Altertum  setzte,  kam  es  zu  einem 
deutlichen  Bewußtsein  über  die  eigene  geschichtliche  Stellung.  Aber 
eben  damit  ist  gegeben :  Renaissance  und  Reformation  haben  dem  euro- 
päischen, vor  allem  dem  deutschen  Volke,  zunächst  nicht  ein  tieferes 
Verständnis  für  die  eigene  Vergangenheit  eröffnet,  sondern  vielmehr  sie 
ihm  entfremdet.  Das  Mittelalter,  so  leiten  beide  zu  glauben  an,  ist  ein 
Zeitalter  der  Finsternis  und  Barbarei,  ein  Glaube,  der  bekanntlich  bis 
auf  die  Tage  der  Romantik  ohne  Widerspruch  geherrscht  hat,  auch 
heute  noch  keineswegs  ganz  ausgestorben  ist;  herrscht  er  bei  den  Ge- 
schicht^kundigen  nicht  mehr,  so  erhält  er  sich  doch  sehr  zäh  bei  Philo- 
logen und  Theologen.  Wie  tief  den  Philologen  der  Glaube  an  die 
Barbarei  des  Mittelalters  im  Blute  liegt,  dafür  bringt  beinahe  jedes 
Blatt  dieses  Buches  einen  Beweis;  und  ein  Beweis  war  auch  die  Auf- 
nahme, die  es  bei  vielen  unter  ihnen  gefunden  hat  Hat  die  Renaissance 
das  geschichtliche  Bewußtsein  der  Philologen,  so  hat  die  Reformation 
das  der  Theologen  bestimmt.  Bei  Janssen  (VII,  278)  finde  ich  eine 
Stelle  aus  C.  A.  Menzels  Geschichte  der  Deutschen  mitgeteilt-^  die  das 
Verhältnis,  in  das  die  Reformation  unser  Volk  zu  seiner  eigenen  Ver- 
gangenheit gesetzt  hat,  sehr  gut  ausdrückt:  „Der  Haß,  mit  dem  das 
Papsttum  betrachtet  ward,  dehnte  sich  nach  und  nach  auf  alles  aus, 
was  mit  der  römischen  Kirche  verwandt  oder  aus  deren  Pflege  hervor- 
gegangen war.    Die  Geschichte  erschien  als  Mitschuldige  der  antichrist- 


Einfluß  der  Renaissance  auf  das  geschic^itliche  Selbstbewußtsein,     447 


liehen  Arglist,  die  ein  Jahrtausend  hindurch  Lug  und  Trug  für  Wahr- 
heit und  Recht  verkauft  haben  und  unablässig  daran  gearbeitet  haben 
sollte,  das  gesamte  Christenvolk,  Tomehmlich  aber  das  deutsche,  immer 
tiefer  in  die  Nacht  des  Irrtums  und  der  Sünde  zu  verstricken.  Eine 
solche  Ansicht  war  nicht  geeignet,  geschichtlichen  Sinn  zu  entwickeln 
und  die  Geister  zur  Freiheit  des  Urteils  zu  erziehen.  Die  Flur,  auf 
welcher  die  Saat  der  Jahrhunderte  geblüht  hatte,  verwandelte  sich 
durch  sie  in  eine  dürre  Steppe  voll  Disteln  und  Dornen,  und  anstatt 
das  eigentliche  Leben  der  Zeiten  zum  heitern  Verständnis  zu  bringen, 
anstatt  die  großen  Gestalten  der  Vergangenheit  dem  gegenwärtigen  Ge- 
schlecht näher  zu  führen,  war  die  Geschichtsforschung  ängstlich  bemüht, 
Beispiele  und  Belege  für  die  Behauptung  zu  sammeln,  daß  zwischen 
dem  5.  und  dem  16.  Jahrhundert  eine  tiefe  Finsternis  die  Völker  bedeckt 
habe  und  nur  bei  einigen  Zeugen  der  Wahrheit  ein  spärlicher  Funke 
des  Lichts  christlicher  Erkenntnis  aufbehalten  worden  sei." 

So  hat  das  16.  Jahrhundert  dem  deutschen  Volke  in  gewissem 
Sinne  einen  Bruch  des  geschichtlichen  Selbstbewußtseins  gebracht  und 
damit  auch  den  geschichtlichen  Sinn  getrübt.  Und  hier  mag  denn 
noch  eine  Bemerkung  L.  Bankes  über  humanistische  Geschichtsschreiber 
Platz  finden.  Er  schreibt  an  seinen  Bruder  Heinrich  aus  Frankfurt  a.  0. 
im  Jahre  1823:^  „Mich  kommen  jetzt  häufig  Zweifel  an,  ob  diese  Art 
der  Bildung  auch  nützlich,  ja  ob  sie  nur  nicht  verderblich  sei.  Näm- 
lich unter  den  Geschichtsschreibern  sind  einige,  die  das  Altertum  kennen 
und  nachahmen  und  diese  Bildung  haben,  die  wir  selbst  ausbreiten 
woUen,  und  andere,  die  es  nicht  kennen  und  nachahmen.  Fragst  du 
mich  nun,  in  welchen  ich  lieber  lese,  bei  welchen  ich  die  größere 
Wahrheit  und  oft  das  schärfere  Eindringen  in  das  Wesen  der  Dinge 
finde,  so  sind  es  die  letzteren.  Glaubst  du  wohl,  daß  mich  das  Chro- 
nicon  Bononiense  in  Mübatobi  über  Bologna  im  Grund  viel  besser 
unterrichtet  hat,  als  selbst  MACcmAVELL  über  Florenz?  Aber  so  ist's. 
Denn  das  Lateinschreiben  bringt  eine  gewisse  Vornehmheit  in  die  mensch- 
liche Sprache.  Zwischen  den  Gedanken  und  das  Wort  steDt  sich  noch 
ein  drittes,  das  beide  auseinander  hält.  Das  bleibt  nun  auch,  wenn 
wir  unsere  Muttersprache  reden  und  gilt  bei  allen  Schriftstellern,  und 
wer  wäre,  der  so  geredet,  wie  ihm  der  Schnabel  gewachsen  war?  Du 
merkst's  an  diesem  Brief,  ich  merk  es  auch,  und  mit  Abscheu.  So 
werden  wir  durch  die  Bildung  unsere  eigenen  Gefangenen  und  sind 
wir  in  diesen  beinah  Zauberkreis  eingetreten,  so  können  wir  nicht 
wieder  heraus." 


^  L.  V.  Kanke,  Zur  eigenen  Lebensgeschichte.     Heraosgefi^.  von  A.  Dove 
(1890),  S.  110. 


448  //,  8.    SMußbetrackhing. 


Nach  allem:  Das  Zeitalter,  das  auf  die  Renaissance  und  Beformation 
folgte,  war  für  das  deutsche  Volk  nicht  ein  Zeitalter  kraftiger  Erhebung, 
sondern  eher  der  Ermattung  und  Stagnation.  Die  Lebensgeister  des 
Volkes  scheinen  erschöpft.  Ist  das  die  Wirkung  jener  geistigen  Revo- 
lutionen? So  stellt  es  die  katholische  Geschichtsschreibung  dar,  während 
von  der  andern  Seite  diese  Auffassung  mit  Entrüstung  zurückgewiesen 
wird.  Ob  mit  Recht?  Sicherlich,  der  Niedergang  des  deutschen  Volks- 
lebens hat  noch  andere  Ursache:  das  Absterben  des  deutschen  Reichs, 
die  Zersplitterung  Deutschlands  in  Staatstrümmer,  die  zu  Trägem  eines 
wirklichen  Staatslebens  und  einer  internationalen  Politik  zu  schwach 
waren,  während  ringsum  die  modernen  Nationalstaaten  sich  konsoli- 
dierten; ferner  die  furchtbare  Niedertretung  des  Bauernstandes  seit  der 
großen  Revolution  der  zwanziger  Jahre  und  die  Herabdrückung  der 
Städte  zu  kümmerlichem  Spießbürgertum,  und  als  Kehrseite  das  Empor- 
kommen des  Fürsten-  und  Adelsregiments:  alles  das  Dinge,  die  mit 
Wandlungen  in  der  politischen  und  wirtschaftlichen  Weltlage  des 
deutschen  Volkes  zusammenhangen  und  die  vermutlich  auch  ohne 
Reformation  und  Renaissance  eingetreten  wären.  Andererseits,  scheint 
mir,  wird  man  vergebens  leugnen,  daß  auch  diese  zu  der  Depression 
mitgewirkt  haben.  Durch  die  Reformation  ist  das  deutsche  Volk  in 
zwei  sich  hassende  und  bekriegende  Hälften  gespalten  worden.  Man 
sagt:  das  ist  die  Schuld  der  Jesuiten  und  ihrer  Ränke,  durch  welche 
die  allgemeine  Durchführung  der  Reformation,  die  thatsächlich  fast  voll- 
endet war,  im  letzten  Augenblick  gehindert  wurde.  Aber  in  der  ge- 
schichtlichen Welt  ist  Schwäche  die  eigentliche  Schuld:  die  Refor- 
mation hatte  eben  seit  den  zwanziger  Jahren  die  Kraft,  das  Volk  zu 
ergreifen,  verloren,  sie  war  zur  Angelegenheit  der  Dynastien  und  der 
Universitäts-  und  Hoftheologen  herabgesunken.  Lutheb  hatte  schon  bei 
seinen  Lebzeiten  die  Fühlung  mit  dem  Volke  und  seinem  Denken  und 
Empfinden  verloren.  In  der  gelehrten  Welt  aber  machte  sich  immer 
stärker  ein  übles  Erbe  des  Reformators  geltend,  die  halsstarrige  Recht- 
haberei. LuTHEBs  Misologie  hat  durch  zwei  Jahrhunderte  unheilvoll 
nachgewirkt;  sein  Mangel  an  Achtung  vor  der  Vernunft  und  vor 
Gründen  —  bei  ihm  der  Fehler  seiner  Tugend:  der  Kraft  zu  glauben 
und  zu  wollen  —  wurde  bei  kleineren  Geistern  zur  ärgerlichsten  Zank- 
sucht; indem  sie  sein  Zetern  und  Toben  gegen  jeden  Widerspruch  nach- 
machten, glaubten  sie  sich  als  rechte  Lutheraner  zu  erweisen.  Der 
Humanismus  aber  bot  gegen  die  rabies  theologorum  keinen  Schutz;  er 
hatte  aufgehört  zu  sein,  was  er  in  Erasmüs  gewesen  war,  eine  selb- 
ständige geistige  Macht,  die  mit  kritischer  Besonnenheit  der  Überliefe- 
rung  und   dem  Dogma  gegenüberstand.    Es  war  zu  einem  formalen 


Notwendigkeit  der  Renaissance  und  BeformaHon.  449 


Hilfsmittel  herabgesetzt,  das  Protestanten  und  Jesuiten  in  gleicher  Weise 
handhabten.  Dagegen  wirkte  in  ihm  die  ursprüngliche  aristokratische 
Abneigung  gegen  das  ungebildete  Volk  noch  nach:  an  geistigen  Dingen 
haben  nur  diejenigen  Anteil,  hier  haben  nur  die  auf  Beachtung  An- 
spruch, die  klassisches  Latein  verstehen.  So  half  er  die  Reformation 
dem  Volksleben  entfremden.  Es  ist  doch  auch  bemerkenswert,  daß  für 
die  Volksschule  im  16.  Jahrhundert  so  überaus  wenig  geschehen  ist; 
ja  vielfach  zeigen  die  reformatorischen  Schulordnungen  eine  Neigung, 
die  „deutschen"  Schulen,  deren  es  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  in 
allen  größeren  Städten  gab,  als  „Winkelschulen"  zu  Gunsten  der  Latein- 
schulen zu  unterdrücken.  Daß  das  geistige  Leben  der  Massen  am  Ende 
des  16.  Jahrhunderts  tiefer  stand  als  am  Anfang,  daß  die  Reformations- 
bewegung im  Jahre  1617  nicht  einen  Resonanzboden  im  Volk  gefunden 
hätte,  wie  1517,  scheint  mir  zweifellos.^ 

Ich  wiederhole:  es  liegt  mir  völlig  fern,  der  Geschichte  gleich- 
sam nachträglich  das  Konzept  korrigieren  zu  wollen.  Man  wird  durch- 
aus sagen  müssen:  konnte  die  Kirche  gewisser  Dinge  nicht  Herr  werden, 
konnte  sie  sich  nicht  von  innen  heraus  reformieren,  so  war  es  besser, 
daß  sie  auf  jede  Gefahr  hin  gebrochen  wurde;  es  gilt  hier  das  Wort: 
was  hülfe  es  dem  Menschen,  wenn  er  die  ganze  Welt  gewönne  (oder 


^  Ich  mache  hier  noch  auf  die  Betrachtung  aufinerksam,  worin  G.  Körting 
in  seinem  Werke  über  die  Anfänge  der  Renaissancelitteratur  in  Italien  (1884, 
S.  170 ff.)  die  Wirkung  der  Renaissance  auf  das  Volksleben  kennzeichnet:  „Indem 
die  Renaissancekultur  ihrem  ganzen  Wesen  nach  auf  die  höheren  Stände  be- 
schränkt blieb,  so  hatte  sie  bei  den  Völkern,  bei  welchen  sie  zur  Herrschaft 
gelangte,  eine  Zweiteilung  der  Nation  zur  Folge:  die  litterarisch  gebildeten  Klassen 
schieden  sich  scharf  von  den  litterarisch  nicht  gebildeten. Aus  dieser  Spal- 
tung in  zwei  auf  verschiedener  Kulturstufe  stehenden  Schichten  ergaben  sich  die 
schwersten  Nachteile,  die  bis  in  die  Gegenwart  hinein  verderblich  fortwirken 

und  von  deren  Folgen  noch  die  Zukunft  arg  bedroht  sein  dürfte. Seit  der 

Renaissance  hört  die  Litteratur  auf  ein  Gesamtgut  der  Nation  zu  sein,  was  sie 
in  hohem  Grade  während  des  Mittelalters  gewesen  war.  Seitdem  bildete  sich 
auch  eine  eigene  Litteratur-  und  Büchersprache  aus,  welche,  wie  die  Litteratur 
selbst,  ein  Prärogativ  der  höheren  Stände  blieb.  Die  Folge  war,  daß  die  unteren 
Stände  litteraturlos  wurden.  —  Wäre  wenigstens  die  mündliche  Überlieferung 
und  der  Volksgesang  fortgepflanzt  worden !  Aber,  und  das  war  das  Schlimmste, 
das  Volk  begann  seiner  alten  Dichtung  sich  zu  schämen,  weil  die  Gebildeten 
sich  von  ihr  als  einer  bäuerischen  und  plumpen  mit  vornehmem  Ekel  abwendeten; 
und  so  verwilderte  und  verdarb  das  alte  Volkslied.  So  ward  auch  ein  Bruch 
mit  der  nationalen  Vergangenheit  herbeigeführt,  wie  er  unheilvoller  und  unheil- 
barer nicht  gedacht  werden  kann,  ein  Bruch,  der  nicht  bloß  in  der  Litteratur 
sehr  entwickelungsfähige  nationale  Dichtungsgattungen  (so  das  volkstümliche 
Drama)  ertötet,  sondern  auch  im  politischen  und  sozialen  Leben  zerrüttend  und 
zerstörend  gewirkt  hat." 

Paulsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    L  29 


450  //,  8.    Schlußbetrachiung, 


behielte),  und  nähme  doch  Schaden  an  seiner  Seele?  Und  wer  wollte 
die  Reformation  aus  dem  Leben  unseres  Volkes  ausstreichen?  Hat  sie 
ihm  bittere  Leiden  und  Nöte  gebracht,  so  hat  sie  ihm  doch  auch  einen 
Sinn  für  den  Ernst  der  Wahrheitsforschung  und  die  Innerlichkeit  des 
religiösen  Lebens  gebracht,  der  mehr  ist  als  die  formale  Einheit  des 
Glaubens  und  das  Ausruhen  in  der  unfehlbaren  Autorität  der  Kirche. 
Und  ebenso  wenig  kann  man  im  Ernst  wünschen,  Humanismus 
und  Renaissance  gleichsam  nachtraglich  aus  dem  deutschen  Geistesleben 
zu  eliminieren.  Deutschland  konnte  sich  natürlich  von  der  europäischen 
Kulturbewegung  nicht  ausschließen,  Isolierung  wäre  Versumpfung  ge- 
wesen. Aber,  schwerer  als  den  lateinischen  Völkern  ist  es  dem  deutschen 
geworden,  aus  der  Hingebung  an  das  Fremde  sich  selber  wieder  zu  ge- 
winnen und  das  in  jener  Schule  Gelernte  für  sein  eigenes  geistiges  Leben 
zu  verwerten.  Wenn  unter  den  großen  Völkern  Europas  das  deutsche 
in  der  modernen  Kulturentwickelung  am  letzten  die  Stellung  eine^ 
ebenbürtigen  erreicht  hat,  wenn  das  goldene  Zeitalter  der  deutschen 
Litteratur  um  ein  oder  mehrere  Jahrhunderte  später,  als  das  der  fran- 
zösischen, englischen,  italienischen  eingetreten  ist,  so  sind  zwar  die  Ur- 
sachen dieser  Verspätung  vielleicht  zuletzt  in  dem  lange  vorbereiteten 
Untergang  des  deutschen  Staatswesens  und  in  den  großen  merkantilen 
Verschiebungen  des  16.  Jahrhunderts  zu  suchen,  doch  hat  die  Renaissance 
in  dem  gleichen  Sinne  gewirkt.  Man  kann  dieselbe  als  eine  notwendige 
Durchgangsstufe  in  unserer  Bildung  ansehen,  die  aber  zunächst  als  eine 
empfindliche  Störung  der  Entwickelung  des  Eigenlebens  sich  darstellt 
Eine  eigene  deutsche  Litteratur  beginnt  erst  mit  der  entschlossenen  Ab- 
werfung des  Joches  der  lateinischen  Imitation,  welches  das  deutsche  Volk 
im  16.  Jahrhundert  auf  sich  genommen  hatte.  Klopstock  und  Herdeb, 
Goethe  und  ScHiLiiEB  sind,  was  sie  sind,  nicht  durch  das  tiefere  Ver- 
ständnis oder  gar  geschicktere  Nachahmung  des  Altertums,  wie  hin  und 
wieder,  aller  historischen  Wahrheit  zum  Trotz,  behauptet  wird,  sondern 
dadurch,  daß  sie  wieder  eigene  Gefühle  und  Gedanken  des  deutschen 
Gemüts  in  eigener  Form  und  Sprache  ausdrückten.  Durch  das  Zurück- 
gehen ins  eigene  Innere  ging  ihnen  dann  auch  der  Sinn  für  das  Alter- 
tum auf  und  sie  verstanden  es,  wie  es  Imitatoren  nie  verstehen  konnten. 
Auch  hierüber  hat  Goethe  ein  gutes  Wort:  „Über  Geschichte  kann  nie- 
mand urteilen,  als  wer  an  sich  selbst  Geschichte  erlebt  hat  Die  Deutschen 
können  über  Litteratur  erst  urteilen,  seitdem  sie  selbst  eine  Litteratur 
haben"  (Sprüche  in  Prosa,  herausgeg.  von  Löper,  No.  677). 


Drittes  Buch. 


Das  Zeitalter  der  französisch- höfischen  Bildnng. 
Beginnende  Modernisiemng  der  Universitäten  nnd 

Schnlen. 

1600(1648)  — 1740. 


Ratio  Tidt,  Yetustas  ceevit 

Raticbiüs. 
Compendiose,  jucunde,  lollde. 

Ck>MEMIUB. 

In  yerbis  daritatem,  in  rebuB  ubuui. 

Leibniz. 


29 


Erstes  Kapitel. 

Begmnendes  Erwachen  des  modernen  Geistes. 
Beaktion  gegen  den  hnmanistischen  Schnlbetrieb  im 

Übergangszeitalter  (1600—1648). 

In  den  beiden  ersten  Büchern  ist  die  Gestaltung  des  gelehrten 
Unterrichtswesens  dargelegt  worden,  die  es  im  Verlaufe  des  16.  Jahr- 
hunderts unter  dem  beherrschenden  Einfluß  des  Humanismus  und  der 
Reformation  annahm.  Beinahe  zwei  Jahrhunderte  blieb  es  im  Ganzen 
unverändert  im  Rahmen  dieser  Verfassung  bestehen.  Erst  gegen  Ende 
des  17.  Jahrhunderts  beginnt  eine  innere  Umbildung;  neue  geistige 
Strömungen,  der  aus  den  neuen  Wissenschaften  und  der  neuen  Philo- 
sophie hervorwachsende  Rationalismus,  der  in  die  Aufklärung  mündet, 
dann  seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  der  Neuhumanismus  machten 
ihren  Einfluß  geltend;  < zuerst  erreichte  er  die  protestantischen  Universi- 
täten, sodann  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  auch  die  Ge- 
lehrtenschulen. Die  durchgreifende  Neugestaltung  des  gesamten  ge- 
lehrten Unterrichts  in  den  protestantischen  und  in  den  katholischen 
Ländern  hat. sich  dann  in  dem  Zeitalter  der  großen  Revolution  voll- 
zogen, die  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  auch  in  Deutschland  zu 
einer  Umwandhmg  aller  öffentlichen  Verhältnisse  und  Einrichtungen 
führte. 

Will  man  den  Unterschied  des  heutigen  Gymnasiums  von  der 
Gelehrten  schule  des  16.  Jahrhunderts  mit  einer  Formel  ausdrücken^ 
so  kann  man  sagen:  in  dieser  beruhte  die  Bildung  auf  zwei  Stücken: 
dem  Christentum  und  dem  Altertum;  das  neue  Gymnasium  hat 
zwei  weitere  Stücke  aufgenommen:  die  Realien  und  das  Nationale. 
Dort  war  Festigkeit  im  Bekenntnis  und  in  der  Gelehrtensprache  das 
Schulziel;  hier  sind,  nicht  ohne  jene  ersten  Ziele  allmählich  zurückzu- 
drängen, Mathematik  und  Naturwissenschaften,  Geschichte  und  Geo- 
graphie, die  nationale  Sprache  und  Litteratur  hinzugekommen.  Die 
Ausbildung  dieser  neuen  Elemente,  die  Schöpfung  der  nationalen  Poesie, 


454     III,  1,    Beginnendes  Erwaclien  des  modenien  Geistes  u.  s.  w. 


der  modernen  Wissenschaften  und  der  auf  ihnen  ruhenden  modernen 
Philosophie  macht  den  eigentlichen  Inhalt  des  geistigen  Lebens  der 
abendländischen  Völker  in  den  beiden  nächsten  Jahrhunderten  aus. 

Es  ist  nun  im  Folgenden  zu  beschreiben,  wie  diese  neuen  Elemente, 
nachdem  sie  in  der  großen  Welt  ihre  Berechtigung  erkämpft  hatten, 
zuerst  in  die  pädagogische  Litteratur  eindrangen,  wo  sie  dem  Be- 
stehenden mit  bitterer  Kritik  und  mit  enthusiastischer  Verkündigung 
von  Reformen  entgegentraten,  und  wie  sie  endlich  auch  in  die  Unter- 
richtsanstalten, die  Universitäten  und  Schulen,  sich  Eingang  verschafften. 
Das  Verhältnis  der  vier  Elemente  zu  einander,  die  Spannung  und  Aus- 
gleichung zwischen  ihnen,  bildet  seit  dem  17.  Jahrhundert  das  eigent- 
liche Thema  der  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  im  Abendlande. 

Bei  der  großen  Neugestaltung  des  Schulwesens  im  16.  Jahrhundert 
hatte  der  Humanismus,  wenn  auch  ein  durch  das  Bekenntnis  gemäßigter 
und  gezähmter  Humanismus,  das  entscheidende  Wort  gesprochen;  Ziel 
und  Mittel  des  Schulbetriebs  entsprachen  im  Ganzen  seinen  Forderungen. 
Von  zwei  Seiten  beginnt  sich  mit  dem  1 7.  Jahrhundert  die  Opposition 
zu  regen,  von  Seiten  derer,  welche  die  Herrschaft  des  Altertums  zu 
Gunsten  des  Christentums  l)eschränken  wollen,  und  von  Seiten  derer, 
die  dem  sich  regenden  Eigenleben  der  modernen  Völker  auch  auf  die 
Schule  Einfluß  zu  verschaffen  wünschen.  Es  sind  die  beiden  Richtungen, 
die  bis  auf  diesen  Tag  dem  Klassizismus  die  Alleinherrschaft  in  der 
Schule  streitig  machen,  die  christlich-kirchliche  und  die  modern- 
nationale und  realistische. 

Was  die  erste  Richtung  anlangt,  so  hatte  die  protestantische  Theo- 
logie von  LuTHEB  als  einen  erblichen  Grundzug  ihres  Wesens  den 
Gegensatz  gegen  die  rationalistisch -naturalistische  Lebensanschauung. 
Die  absolute  Geringschätzung  der  Werke  und  die  absolute  Verwerfung 
des  Urteils  der  Vernunft  in  Sachen  des  Glaubens  sind  die  zusammen- 
gehörigen Äußerungen  des  lutherischen  Supranaturalismus  und  Anti- 
rationalismus.  Wenn  Amsdorf  erklärt,  daß  gute  Werke  schädlich  zur 
Seligkeit  seien,  oder  D.  Hofmann  in  Helmstedt,  daß  nach  dem  Satan 
die  Kirche  einen  ärgeren  Feind  nicht  gehabt  habe,  als  die  Vernunft 
und  die  Weisheit  des  Fleisches,  so  konnten  beide  auch  hierfür  sich  auf 
LuTHEB  berufen.  Andererseits  konnte  freilich  die  Reformation  ihren 
Ursprung  nicht  verleugnen.  Ihre  Theologie  war  entstanden  als  Ver- 
such, den  Abfall  von  der  Kirche  durch  Wissenschaft  zu  rechtfertigen, 
d.  h.  durch  verbesserte  philologische  Auslegung  und  durch  kritisches 
Geschichtsstudium  zu  zeigen,  daß  sie  das  echte  und  ursprüngliche 
Christentum  habe.  Der  Humanist  Melanchthon  hat  die  erste  prote- 
stantische Dogmatik  geschrieben. 


Theologische  Opposition  gegen  den  Humanismus.  455 


Zu  Lebzeiten  der  Reformatoren  war  dieser  Gegensatz  zwar  auch 
empfunden  worden,  doch  wurde  er  durch  die  persönlichen  Beziehungen 
und  durch  den  äußeren  Druck,  den  gemeinschaftliche  Feinde  übten, 
verhindert,  in  offenen  Krieg  auszubrechen.  Seit  Luthers  Tode  wurde 
das  Verhältnis  gespannter.  Seine  Nachfolger,  die  nicht  den  wunder- 
baren Instinkt  für  das  Mögliche  besaßen,  der  Luther  bei  allen  seinen 
Schritten  leitete,  begannen  die  prinzipiellen  Konsequenzen  zu  ziehen 
und  bildeten  so  allmählich  jene  intransigente  lutherische  Theologie  aus, 
(leren  grundlegende  Sätze  in  der  Konkordienformel  (1580)  festgestellt 
wurden.  Die  andere  Richtung  blieb  zwar  nicht  unyertreten,  ihr  gehörte 
vor  allem  die  Universität  des  braunschweig -wolfenbüttelschen  Hauses 
zu  Helmstedt  und  ihr  großer  Theologe  Calixtus  an.^  Doch  war  das 
Übergewicht  in  diesem  Zeitalter  unzweifelhaft  auf  Seite  der  streng 
lutherischen  Theologen,  vor  allem  beherrschten  sie  in  Sachsen  die  Uni- 
versitäten und  die  Kirche.  Wittenberg,  Tübingen,  Gießen  waren  Haupt- 
))urgen  des  strengen  Luthertums. 

Soweit  die  lutherische  Orthodoxie  auf  Universitäten  und  Schulen 
herrschte,  traten  die  humanistischen  und  philosophischen  Studien  in  den 
Hintergrund,  sie  mußten  sich  wenigstens  gefallen  lassen,  nur  als  dienende 
Werkzeuge  für  die  Theologie  Geltung  oder  Duldung  zu  haben.  Allerdings 
war  diese  Orthodoxie  nicht  in  dem  Sinne  antirationalistisch,  daß  sie,  wie 
tief  religiöse  Naturen,  vor  dem  Vemunftgebrauch  in  göttlichen  Dingen 
überhaupt  Scheu  getragen  hätte;  jede  Dogmatik  ist  natürlich  wenigstens 
der  Form  nach  rationalistisch.  Aber  die  Vernunft  sollte  nirgends  die 
materielle  Entscheidung  haben;  diese  blieb,  auch  in  historischen  und 
natürlichen  Dingen,  bei  der  Schrift  und  ihren  theologischen  Interpreten. 
Eigentlich  wissenschaftliche  Interessen  waren  darnach  mit  dieser  Theo- 
logie allerdings  unverträglich.  Es  ist  bekannt,  wie  Kepler  von  den 
heimischen  württembergischen  Theologen  sein  Fürwitz  verwiesen  wurde. 
—  Ebenso  stand  es  mit  den  klassischen  Studien.  Die  Sprachen  überhaupt 
für  überflüssig  zu  erklären,  konnte  einer  protestantischen  Theologie  natür- 
lich nicht  einfallen.  Aber  daß  sie  nicht  um  der  heidnischen  Weisheit 
willen,  wie  doch  auch  Melanchthon  und  seine  Schüler  noch  gemeint 
hatten,  getrieben  werden  sollten,  das  behaupteten  die  neuen  Theologen 
allerdings.  Der  Zweck  des  Unterrichts  in  den  Sprachen  geht  ihnen  darin 
auf,  dem  Schüler  Fertigkeit  im  Gebrauch  der  allgemeinen  Gelehrten- 
sprache und  die  Fähigkeit,  die  Schrift  im  Original  zu  lesen,  zu  geben. 


^  In  den  litterarischen  Kämpfen,  welche  zu  Helmstedt  zwischen  den  beiden 
Parteien  ausgefochten  wurden,  ist  (nach  Henke,  Calixtus,  I,  69)  fiir  die  Melanch- 
thonsche  Richtung  zuerst  der  Name  RationistaSj  Raiiocinistae  von  den  Gegnern 
aufgebracht  worden. 


456     111,  1.    Beginnendes  Erwachen  des  modernen  Geistes  u.  s.  w. 


Die  eigentlich  theoretischen  Interessen  lagen  hiemach  für  die 
herrschende  Richtung  ganz  und  gar  auf  dem  Gebiet  der  Theologie. 
Der  Verstand  fand,  wie  im  Mittelalter,  Beschäftigung  und  Befriedigung 
in  der  Ausbildung  und  Verteidigung  einer  scholastischen  Theologie. 
Über  das  Verhältnis  der  zwei  Naturen  in  Christo,  über  seine  Allgegen- 
wart auch  dem  Leibe  nach,  über  das  Verhältnis  von  göttlicher  Gnade 
und  menschlichem  Willen  u.  s.  w.  wurde  jetzt  mit  nicht  minderem  Ernst 
und  Scharfsinn,  und  mit  noch  mehr  Hart«  und  Rechthaberei  gestritten^ 
als  früher  über  die  Frage  der  unbefleckten  Empfängnis. 

Noch  weniger  als  für  die  orthodoxen  Theologen  waren  begreiflicher 
Weise  die  klassischen  Studien  für  fromme  Gemüter,  die  ohne  starken 
intellektuellen  Trieb  und  ohne  geistliche  Regierungssucht,  die  Erbauung 
mehr  als  die  Wissenschaft  und  das  innere  Leben  in  Gott  höher  als  die 
richtige  Dogmatik  achteten.  Wenn  diese  auch,  wie  etwa  Joh.  Abndt, 
Ton  den  Orthodoxen  angefeindet  wurden,  so  geschah  das  doch  keines- 
wegs um  etwaiger  rationalistisch-liberalistischer  Neigungen  willen;  eher 
könnte  man  sagen,  daß  ihnen  die  Orthodoxie,  welche  durch  dogmatische 
Wissenschaft  den  Verstand  zwingen  wollte,  doch  noch  allzu  rationa- 
listisch war.^ 

Ein  ganz  anderes  Verhältnis  zu  den  humanistischen  Studien  und 
den  weltlichen  Wissenschaften  hat  die  andere  Richtung,  die  modern - 
nationale.  Sie  steht  an  sich  nicht  in  feindseligem  Gegensatz  zum 
Humanismus,  sie  ist  vielmehr  aus  ihm  herrorgewachsen;  aber  eben 
damit  hat  sie  die  Tendenz,  ihn,  wie  der  Keim  das  Saatkorn,  zu  zerstören. 


*  Einige  Urteile  von  Theologen  über  die  ,,beidniscben''  Gelehrtenschuleu 
bei  Henke,  H,  1,  111  ff.  Statius  Büscher,  Prediger  in  Hannover,  schrieb  einen 
„christlichen  und  notwendigen  Unterricht,  wie  die  Studia  sollen  angerichtet 
werden"  (Rinteln  1625),  gegen  die  Helmstedter.  „Warum,**  heißt  es  darin, 
„sollte  ein  Knabe  nicht  sowohl  einen  griechischen  Vers  schreiben  lernen  aus 
dem  Nonno  oder  einen  lateinischen  aus  dem  Buchanano,  Eohano  und  dergleichen 
als  aus  dem  Homero,  ViryiliOy  Ovidio,  Haratio'f  Es  wäre  dann  Sache,  daß  man 
dieses  für  kein  gutes  cannen  wollte  halten,  wo  nicht  heidnische  Götzen,  Apollo, 
Mercurius,  Jupiter  und  dergleichen  Teufel  sich  mehr  darin  hören  und  sehen 
ließen."  Wie  kann  man  es  verantworten,  einem  Knaben,  der  noch  nicht  Gutes 
und  Böses  aus  Gottes  Wort  zu  unterscheiden  gelernt  hat,  der  Heiden  Bücher 
in  die  Hand  zu  geben?  Ist  es  doch  gar  schwer  zu  erkennen,  was  bei  den  heid- 
nischen Skribenten  dem  Christentum  entgegen  ist,  „dieweil  das  Gift  so  heim- 
lich darin  verborgen  steckt,  und  oftmals  einen  Schein  herrlicher  Tugenden  von 
sich  giebt;  und  wenn  darin  sonst  nichts  Böses  vorhanden  wfire,  so  ist  doch  das 
hochschädlichste  Gift  des  Ehrgeizes  durch  und  durch  mit  untergeschättet ,  sie 
sind  80  gar  damit  allenthalben  durchmachet,  wie  Lutherus  sagt,  daß  es  ganz 
fährlich  fiir  ungeübte  Christen  darin  lesen'*.  Vgl.  Tholück,  I,  ISOff.  Vogt, 
Ratichius,  III,  111  ff. 


Modemrnaiionale  Opposition  gegen  den  Humanismus,  457 


Die  Renaissancelitteratur  in  den  modernen  Sprachen  hat  überall  die 
Renaissancelitteratur  in  den  alten  Sprachen  verdrängt.  Seitdem  der 
Geschmack  an  italienischen,  spanischen,  französischen,  englischen  Versen, 
die  freilich  nach  dem  Muster  der  alten  gemacht  waren,  aufkam,  hörte 
die  Nachfrage  nach  neulateinischer  und  neugriechischer  Poesie  auf,  und 
mit  der  Nachfrage  schwand  allmählich  auch  die  Produktion.  Die  roma- 
nischen Völker  gingen  in  der  Hervorbringung  einer  Kunstpoesie  in 
der  eigenen  Sprache  voran,  sei  es  weil  sie  den  alten  Vorsprung  in 
der  Kulturentwickelung  voraus  hatten,  oder  weil  der  Übergang  vom 
Lateinischen  zu  der  modernen  Volkssprache  hier  leichter  war.  Die 
Renaissancelitteratur  in  deutscher  Sprache  bringt  es  im  17.  Jahrhundert 
erst  zu  kleinen  Anfangen. 

Ein  gewisser  litterarischer  Aufschwung  ist  allerdings  auch  in  Deutsch- 
land am  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  unverkennbar;  der  Meßkatalog 
weist,  wie  die  Übersicht  unter  den  Beilagen  zeigt,  eine  bedeutende 
Steigerung  des  Bücherkonsums  auf,  er  betragt  das  Doppelte  gegen  das 
letzte  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts;  die  Höhe  des  Jahrzehnts  1611 
bis  1620  wurde,  nach  der  Verwüstung  Deutschlands  durch  den  furcht- 
baren Krieg,  erst  in  den  Jahren  1771 — 1780  wieder  erreicht.  Der 
litterarische  Verkehr  mit  den  romanischen  Völkern  war  ein  lebhafter; 
Übersetzungen  aus  dem  Spanischen,  Italienischen  und  Französischen 
machten  die  Erzeugnisse  der  neuen  Poesie  zugänglich.  Die  Beziehungen 
zu  den  Italienern  und  Spaniern  wurden  besonders  durch  den  katho- 
lischen Süden,  die  Beziehungen  zu  Frankreich,  den  Niederlanden  und 
England  durch  den  protestantischen  Norden  vermittelt.  Die  Höfe  des 
reformierten  Bekenntnisses,  besonders  Heidelberg  und  Kassel,  standen 
schon  seit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  in  intimen  politischen  Be- 
ziehungen zu  Frankreich;  die  Fürsten  nahmen  französischen  Sold  und 
sprachen  französische  Sprache,  sie  schickten  ihre  Kinder  und  ihren 
Adel  auf  die  französischen  Universitäten,  von  wo  sie  nicht  bloß  römische 
Rechtswissenschaft,  sondern  auch  französische  Bildung  und  Sitten  heim- 
brachten. Landgraf  Moritz  war  der  erste  deutsche  Fürst,  der  in  seiner 
Residenz  eine  höfisch-moderne  Bildungsanstalt  errichtete,  das  coUegium 
adelphicum  Mauritianum  zu  Kassel  1618,  von  dem  später  noch  die 
Rede  sein  wird.  So  wurde  die  höfische  Welt  der  gelehrt-lateinischen 
Bildung,  die  im  16.  Jahrhundert  noch  die  einzige  gewesen  war,  all- 
mählich entfremdet  und  der  Übergang  zu  der  militärisch-französischen 
vorbereitet^ 


^  Vergl.  hierzu  und  zu  dem  Folgenden  Scherers  deutsche  Li tteraturgeschichte, 
8  31 5  ff.,  und  Bartuold,  Geschichte  der  fruchtbringenden  Gesellschaft. 


458     III,  L   Beginnendes  Erwaclien  des  modernen  Geistes  u.  s.  w. 


Die  Teilnahme  am  Fremden  begann  endlich  den  Wetteifer  zu  er- 
regen. Wie  man  einst  zur  Zeit  der  humanistischen  Bewegung  eifer- 
süchtig auf  die  Italiener  es  diesen  an  klassischer  Bildung  hatte  gleich 
thun  wollen,  so  fing  man  jetzt  an  auf  dem  Gebiet  der  nationalen 
Litteratur  zu  wetteifern.  Am  Stuttgarter  Hof  dichtete  um  1617 
E.  Weckheblin,  in  Heidelberg  lebte  W.  Zincgbef,  in  Frankfurt  a.  0. 
ließ  1618  ein  junger  Schlesier,  der  nachmals  berühmte  Maktin  Opitz, 
eine  Rede  Aristarchus,  sive  de  contemptu  linguae  teutonicae  drucken, 
worin  er  mit  leidenschaftlicher  Eloquenz  gegen  die  Selbstentfremdung 
des  deutschen  Volkes  eifert:  „Wir  unternehmen  gefahrvolle  und  kost- 
bare Reisen  ins  Ausland  und  ringen  mit  allen  Kräften  darnach,  uns 
und  dem  Vaterlande  nicht  mehr  ahnlich  zu  scheinen.  Während  wir 
mit  maßloser  Begier  die  fremde  Sprache  erlernen,  bringen  wir  die 
unsrige  in  Verachtung.  Eher  sollten  wir  streben,  gleich  wie  wir  von 
Franzosen  und  Italienern  Geist  und  Eleganz  erborgen,  auch  unsere 
Sprache  nach  ihrem  Vorbilde  zu  glätten  und  auszubilden;  aber  wir 
schämen  uns  unseres  Vaterlandes  und  trachten  darnach,  daß  wir  nichts 
weniger  als  die  deutsche  Sprache  zu  verstehen  scheinen.  Aus  dieser 
Quelle  strömt  das  Verderben  auf  Vaterland  und  Volk,  wir  verachten 
uns  selbst  und  werden  deshalb  verachtet.  So  verändert  sich  die  reinste 
und  vor  fremdem  Schmutz  bisher  bewahrte  Sprache  und  artet  in  einen 
wunderlichen  Jargon  aus.  Man  sollte  meinen,  unsere  Sprache  sei  eine 
Schlammgrube  geworden,  in  welche  der  Schmutz  der  übrigen  zusammen- 
flösse. Es  ist  fast  kein  Satz,  keine  Wortverbindung,  die  nicht  nach  dem 
Ausländischen  schmeckt"  (Barthold,  87).  So  schilt  Opiiz  mit  huma- 
nistischer Eloquenz  die  humanistische  Gewöhnung,  das  Heimische  zu 
verachten.  Es  ist  humanistischer  Patriotismus,  nicht  volkstümliche 
deutsche  Empfindung,  die  aus  ihm  spricht.  Opitz  wurde  der  Gesetz- 
geber der  Renaissancepoesie  in  deutscher  Sprache;  1624  erschien  sein 
Buch  von  der  deutschen  Poeterei  zum  erstenmal.  Die  Poesie,  welche 
er  lehrt,  gleicht  nach  Form  und  Stoflf  ganz  der  humanistischen  Poesie, 
nur  daß  sie  in  deutscher,  statt  in  lateinischer  Sprache  redet. 

Im  Jahre  1617  wurde  bei  einer  Zusammenkunft  anhaltischer  und 
weimarischer  Fürsten  die  fruchtbringende  Gesellschaft  gestift-et. 
Ihr  eigentlicher  Gründer  und  vieljähriges  Haupt  war  Fürst  Ludwig 
von  Anhalt.  Das  Vorbild  war  die  florentinische  Academia  della  crusca, 
deren  Mitglied  der  Fürst  bei  längerem  Aufenthalt  in  Italien  geworden 
war.  Als  ihren  vornehmsten  Zweck  bezeichnet  der  spätere  Bericht  des 
Gründers:  gute  und  reine  deutsche  Rede  zu  erhalten,  als  welche  an 
alten  schönen  und  zierlichen  Reden,  an  eigentlichen  und  wohl  bedeut- 
lichen Worten,  so  jede  Sache  besser  als  die  fremden  zu  verstehen  geben 


Mathematisch-natunv^issenschaftlicJie  Richtung,  459 


könnten,  einen  Überfluß  vor  anderen  besitze  (Barthold,  105).  Die 
Gesellschaft  bestand  ein  halbes  Jahrhundert  lang;  es  gehörten  ihr  eine 
lange  Reihe  von  Fürsten,  Adligen  und  Gelehrten  an ;  die  Rücksicht  auf 
Stand  und  religiöses  Bekenntnis  war  ausgeschlossen.  Theologen  haben 
der  Gesellschaft  gar  nicht  angehört.  Als  ein  eifriger  Calvinist,  mit  Be- 
tonung dieser  Eigenschaft,  aufgenommen  zu  werden  wünschte,  erwiderte 
Ludwig:  die  Gesellschaft  halte  nicht  auf  die  „rottischen"  Namen. 

Verwandt  mit  diesen  auf  die  Hervorbringung  einer  modernen  Litte- 
ratur  gerichteten  Bestrebungen  sind  die  in  diesem  Zeitalter  ebenfalls 
im  Aufsteigen  begriffenen  mathematisch-naturwissenschaftlichen 
Studien,  wodurch  die  wissenschaftliche  Emanzipation  der  Neuzeit  vom 
Altertum  angebahnt  wurde.  Wenngleich  Deutschland  auch  hierin  nicht 
an  der  Spitze  ging,  so  hatte  es  doch  bedeutende  Vertreter  dieser  Studien 
aufzuweisen,  es  genügt  Jon.  Kepler  (1571  — 1630)  und  Joachim 
JuNGius  (1587—1657)  zu  nennen.  Erwähnenswert  scheint  der  Ver- 
such, den  JuNGius  machte,  als  Professor  der  Mathematik  zu  Rostock 
im  Jahre  1619  eine  naturforschende  Gesellschaft  zu  begründen 
mit  dem  Zweck,  „die  Wahrheit  aus  der  Vernunft  und  Erfahrung  zu 
erforschen  und  alle  Künste  und  Wissenschaften,  welche  sich  auf  die 
Vernunft  und  die  Erfahrung  stützen,  von  der  Sophistik  zu  befreien,  zu 
einer  demonstrativen  Gewißhheit  zurückzuführen,  durch  eine  richtige 
Unterweisung  fortzupflanzen,  endlich  durch  glückliche  Erfindungen  zu 
vermehren".  Die  Gesellschaft,  die  übrigens  auch  einem  italienischen 
Vorbild,  der  zu  Rom  1603  gestifteten  Academia  dei  Lyn<:ei  nachgebildet 
ist,  hat  nach  Gühbaueb  (Jungius,  S.  71)  eine  Reihe  von  Jahren  be- 
standen; ihre  merkwürdigen  Gesetze  sind  ebendort  mitgeteilt.  Jungius' 
Streben  ging  überall  dahin,  die  scholastische  Philosophie,  die  an  den 
protestantischen  wie  an  den  katholischen  Universitäten  thatsächlich  nie 
aufgehört  hatte  den  Unterricht  zu  beherrschen,  abzustellen  und  in  dem 
Sinne  Bacons  und  Galileis  induktive  Forschung  zu  treiben  und  zu 
lehren.  In  dieser  Absicht  ist  seine  Rede  beim  Antritt  des  Rektorats 
des  Hamburger  Gymnasiums  im  Jahre  1629  über  den  propädeutischen 
Nutzen  der  Mathematik  bemerkenswert  (Guhbaueb,  9  7  ff.). 

Mit  dem  Humanismus  als  herrschender  Bildungsform  ging  es  seit 
dem  Ausgang  des  1 6.  Jahrhunderts  allmählich  zu  Ende.  Die  Männer, 
welche  noch  von  den  Strahlen  der  zum  Untergang  neigenden  huma- 
nistischen Sonne  waren  beschienen  worden,  starben  um  den  Anfang  des 
neuen  Jahrhunderts  aus:  in  Rostock  Posselius  (1591)  und  D.  Chytraeus 
(1600),  in  Helmstedt  Caselius(1613),  in  Wittenberg  Rhodomanus  (1606) 
und  Taubmannus  (1613),  in  Leipzig  Dresseeus  (1607),  in  Heidelberg 
Sylbuegius  (1596),  Melissus  (1602),  in  Tübingen  Fbischlin  (1590) 


460     ///.  i.    Beginnendes  Erwachen  des  modernen  Geistes  w.  s.  w. 


und  Cbusiüs  (1607).  Sie  hatten  keine  Nachfolger.  Es  wurden  zwar 
noch  lange  lateinische  und  griechische  Verse  und  Reden  gemacht,  sie 
gelangen  wohl  auch  einzelnen  vortrefflich,  wie  dem  bayerischen  Jesuiten 
Jac.  Bälde  (1603 — 1668);  aber  ihre  eigentliche  Zeit  war  vorüber, 
es  waren  Schulübungen,  die  in  der  großen  Welt  keine  Geltung  mehr 
hatten.  Man  verlangte  nicht  mehr  weder  lateinische  Hofyoeten  und 
Oratoren,  noch  elegante  Humanisten  als  Prinzenerzieher.  Ein  Symptom 
davon  ist  auch,  daß  die  Antikisier ung  der  Namen  aufhörte,  man  hängt 
höchstens  noch  die  lateinische  Endung  zum  Behuf  der  Flexion  an,  aber 
giebt  sich  nicht  mehr  die  Mühe,  aus  einem  Schubtzfleisch,  Mobhof, 
EoRTHOLT  u.  s.  f.  einen  wohlklingenden  Griechen  oder  Römer  zu  machen. 
Die  Welt  war  nüchtern  geworden,  das  Maskenkostüm  paßte  nicht  mehr 
zum  Grauen  des  neuen  Tags. 

Die  Beschäftigung  mit  dem  Altertum  hörte  allerdings  nicht  auf; 
aber  sie  nahm  einen  neuen  Charakter  an.  Das  Altertum  wurde  zur 
Raritätenkammer,  woraus  man  sich  nach  Gelegenheit  dies  oder  jenes 
zur  Betrachtung  in  einer  Dissertation  oder  einem  Programm  hervor- 
holte, sei  es  aus  der  litterarischen,  oder  aus  der  politisch -historischen 
Welt,  oder  aus  dem  täglichen  Leben.  Die  Münz-  und  Antiquitäten- 
kabinete  kamen  in  Mode.  Man  näherte  sich  dem  Zeitalter  der  Obser- 
vationen und  Thesauren,  der  Gbonoviüs  (1611 — 1671)  und  Graevius 
(1632—1703),  der  Conbing  (1606—1681)  und  Schubtzfleisch  (1641 
bis  1708),  der  Mobhop  (1639—1691)  und  Fabritius  (1668—1738). 
Das  Altertum  wurde  Museumsobjekt. 


Die  Veränderung  in  dem  geistigen  Leben  des  deutschen  Volkes 
spiegelt  sich  in  den  pädagogischen  Reformbestrebungen,  die  seit 
dem  zweiten  Jahrzehnt  des  17.  Jahrhunderts  lebhaftes  Interesse  in 
weiten  Kreisen  erregten.  Sie  knüpfen  sich  vorzugsweise  an  zwei  Namen, 
den  des  Holsteiners  Wolfgang  Ratichius  (1571 — 1635)  und  den 
des  Mähren  Joh.  Amos  Comenius  (1592 — 1671).^ 

Im  Jahre  1612  übergab  Ratichius  (oder  Ratke,  der  Name  ist  in 
der  Schreibart  Rathgen,   Ratjen   in  Holstein   häufig;   Ratich   ist   eine 

*  Es  kann  hier,  wo  es  sich  uin  die  Geschichte  des  gelehrten  ünterrichts- 
weseus,  nicht  der  pädagogischen  Theorien,  handelt,  über  Leben,  Schriften  nnd 
Ansichten  dieser  beiden  Männer  natürlich  nicht  ausführlich  berichtet  werden. 
Ich  kann  den  Leser  hierfür  jetzt  auf  die  sehr  eingehende  Darstellung  in  Scumids 
Geschichte  der  Erziehung  (III,  2)  von  A.  Israel  und  J.  Brüoel  verweiseu.  Über 
Ratichius  handelt  sehr  gründlich  auch  G.  Vogt  in  den  Programmen  des  Fride- 
ricianums  zu  Kassel  von  1876—1882. 


Wolfgang  BcUichitis.  461 


scheußliche  Verstümmelung  der  Latinisierung)  dem  deutschen  Reich  auf 
dem  Wahltag  zu  Frankfurt  ein  Memorial  folgenden  Inhalts: 

„Wolfgang  Ratichius  weiß  mit  göttlicher  Hilfe  zu  Dienst  und 
Wohlfahrt  der  ganzen  Christenheit  Anleitung  zu  geben: 

1.  Wie  die  ebräische,  griechische,  lateinische  und  andere  Sprachen 
mehr  in  gar  kurzer  Zeit,  so  wohl  bei  Alten  und  Jungen,  leichtlich  zu 
lernen  und  fortzupflanzen  sei. 

2.  Wie  nicht  allein  in  hochdeutschen,  sondern  auch  in  allen,  andern 
Sprachen  eine  Schule  anzurichten,  darinnen  alle  Künste  und  Fakultäten 
ausführlich  können  gelehrt  und  propagiert  werden. 

3.  Wie  im  ganzen  Reich  eine  eintrachtige  Sprache,  eine  einträch- 
tige Regierung  und  endlich  auch  eine  einträchtige  Religion  bequemlich 
einzuführen  und  friedlich  zu  erhalten  sei." 

Dieses  merkwürdige  Schriftstück,  von  einigen  erläuternden  Aus- 
führungen begleitet,  wanderte  nicht,  wie  einem  Anerbieten  ähnlichen 
Inhalts  heutzutage  ohne  Zweifel  widerfahren  würde,  in  den  Papierkorb 
des  deutschen  Reiches,  sondern  rief  ein  überaus  lebhaftes  Interesse  bei 
den  versammelten  Fürsten  und  Städten  hervor.  Ratichius  und  seine 
Reformprojekte  beschäftigten  das  folgende  Vierteljahrhundert  unausgesetzt 
deutsche  Regierungen  und  Universitäten.  Fürsten  und  Fürstinnen  des 
anhaltischen  und  herzoglich  sächsischen,  des  hessischen  und  pfalzischen, 
des  schwarzburgischen  und  waldeckschen  Hauses  nahmen  persönlich 
lebhaften  Anteil  an  seiner  Sache  und  brachten  ihr  zum  Teil  erhebliche 
Geldopfer.  Die  bedeutendsten  Städte,  Frankfurt,  Augsburg,  Magdeburg, 
interessierten  sich  für  die  neu  erfundene  Lehrmethode  und  wünschten, 
allerdings  ohne  Kosten,  davon  zu  profitieren.  Eine  große  Menge  von 
Gutachten  wurden  von  Professoren  und  Rektoren,  unter  welchen  der 
Mathematiker  Jüngius  und  der  Gräcist  Helvicüs,  beide  Gießener 
Professoren,  sowie  Hoescheliüs,  ebenfalls  ein  bekannter  Gräcist,  Rektor 
zu  St.  Anna  in  Augsburg,  gefordert  und  zu  Gunsten  der  Didaktik  ab- 
gegeben. Die  genannten  Männer  gaben  sich  sogar  bei  dem  Ratichius 
in  die  Lehre,  um  die  Didaktik  zu  lernen.  Die  ausgebreitete  und  an- 
haltende Bewegung  ist  ein  unzweideutiger  Beweis,  wenn  auch  noch 
nicht  für  den  Wert  des  RATiCHius'schen  Unternehmens,  so  doch  dafür, 
daß  der  Glaube  an  den  alten  Schulbetrieb  in  den  weitesten  Kreisen 
erschüttert  war. 

Auf  die  umfassenden  und  hochfliegenden  Pläne  des  enthusiastischen 
Didacticus,  dem  übrigens  ein  nicht  ganz  kleiner  Anflug  von  Charla- 
tanerie,  wie  so  manchen  pädagogischen  Weltverbesserern,  anhaftet,  kann 
hier  nicht  näher  eingegangen  werden.  Sie  beschränken  sich  übrigens 
keineswegs  auf  die  Reform  des  Unterrichts,  sondern  haben  eine  Reform 


462     III,  1,    Beginnefides  Erwaclien  des  modernen  Geisfes  u.  s,  w. 


aller  Wissenschaften,   ihre   definitive  Abschließung  in   systematischen 
Lehrbüchern  und  dadurch  zuletzt  eine  Wiederherstellung  des  ganzen 
gemeinen  Wesens  zum  Ziel.    Derselbe  Traum,  den  Comeniüs,  Leebniz. 
Basedow  träumten,  ist  schon  von  Ratichiüs  geträumt  worden.    Auch 
für  das  Detail  seiner  von  ihm  als  üniversalmittel  angepriesenen  und 
geheim   gehaltenen  [Jnterrichtskunst  ist  hier   kein  Raum.     Was    den 
Sprachunterricht  angeht,  so  treten  zwei  Grundprinzipien  hervor:  1.  nicht 
mit  der  Grammatik,  sondern  mit  der  Sprache  selbst  (dem  Autor,  für 
Latein  Terenz,  für  Hebräisch  und  Griechisch  die  heil.  Schrift)  beginnen 
erst  die  Sache,   dann  die  Regel    2.  Erste  Unterrichtssprache  ist  die 
Muttersprache,  auch  in  dem  Sinn,  daß  an  ihr  die  Grammatik  zuerst 
eingeübt  werden  muß,  darnach  an  den  fremden  Sprachen.    Auch  das 
Stichwort  aller  späteren  pädagogischen  Revolutionäre  fehlt  dem  Ratichiüs 
nicht:  das  sei  der  natürliche  Weg  der  Sprachenerlemung,  welchen  zu 
gehen  die  Vernunft,  trotz  der  hergebrachten  Schulpraxis,  rate,    üatio 
vicitj  vetustas  cessit,  steht  als  Motto  auf  den  „zur  Lehrart"  gehörigen 
Lehrbüchern.^ 

Noch  deute  ich  die  Beziehung  dieser  Bestrebungen  zu  den  beiden 
im  Vorigen  charakterisierten  Richtungen  der  Zeit  an,  der  christlichen 
und  der  modern-nationalen.  Seine  Freunde  und  Gönner  fand  Ratichiüs 
einerseits  unter  den  lutherischen  Theologen,  welche  an  dem  heidnischen 
Unterricht  der  Jugend  aus  den  griechischen  und  lateinischen  Poeten 
und  Philosophen  Anstoß  nahmen,  andererseits  in  den  fürstlichen 
Häusern,  welche  den  Bemühungen  um  die  Ausbildung  einer  deutschen 
Sprache  und  Litteratur  am  nächsten  standen,  Anhalt  und  Weimar. 
Fürst  Ludwig  von  Anhalt,  der  Begründer  der  fruchtbringenden  Ge- 
sellschaft,  ermöglichte   nicht   nur   durch   äußere  Mittel   den  Versuch 


^  Nur  das  bemerke  ich  noch,  daß  das  Wesentliche  dieser  Methode  nicht 
eine  neue  Erfindung  ist.  Die  mündliche  oder  schriftliche  Interlinearversion,  die 
Wiedergabe  eines  Textes  Wort  um  Wort,  ist  wohl  die  Form  des  Unterrichts 
in  einer  Buchsprache,  auf  die  der  gesunde  Menschenverstand  überall  von  selbst 
zuerst  verfallen  wird.  Sie  war  und  ist  noch  altherkömmlich  bei  den  Juden,  wo 
die  hebräische  Sprache  vom  frühesten  Knabenalter  ab  in  dieser  Weise  gelehrt 
wird,  daß  der  Lehrer  die  Schüler  einen  Vers  lesen  läßt,  ihn  dann  Wort  für 
Wort  übersetzt  und  sie  nun  so  lange  taktmäßig  nachsprechen  und  wiederholen 
läßt,  bis  es  sicher  geht.  So  wird  in  einem  Jahre  eine  Anzahl  Kapitel  durch- 
gebracht, und  die  Sprache  ohne  alle  Analyse  durch  eine  Art  mechanischer 
Gewohnheit  gelernt.  S.  Maoer,  Die  genetische  Methode,  S.  67  ff.,  wo  man  eine 
historische  Übersicht  über  die  Methode  des  Sprachlemeus  überhaupt  findet. 
Das  Werk  von  Güdemann,  Quellenschriften  zur  Greschichte  des  Unterrichts  und 
der  Erziehung  bei  den  Juden  (1891),  giebt  über  die  Methode  des  Sprachunter- 
richts wenig  Auskunft. 


Wolfgang  Baiichius,  463 


der  Verwirklichung  der  RATiCHius'schen  Pläne  in  Köthen,  sondern  be- 
teiligte sich  auch  durch  persönliche  Arbeit  an  dem  Werk.  Die  Ver- 
deutschung der  Wissenschaften  steht  schon  auf  dem  ursprünglichen 
Programm  des  Ratichius  vom  Jahre  1612.  Es  heißt  in  den  Erläute- 
rungen (Vogt,  I,  10):  „Hier  stehet  nun  ferner  zu  bedenken,  wie  die 
Künste  und  Fakultäten  an  keine  Sprachen  und  hiergegen  die  Sprachen 
an  keine  Künste  oder  Fakultäten  gebunden.  So  haben  auch  die  lieben 
Deut>schen  jetziger  Zeit,  Gott  sei  gelobt,  nicht  allein  das  Licht  der 
Natur,  sondern  auch  des  Evangelii,  und  die  wahre  Erkenntnis  Gottes: 
dazu  mangelts  auch  nicht  an  Büchern  und  gelehrten  Leuten  und  kann 
deshalb  eine  vollkommene  Schule  in  hochdeutscher  Sprache  sehr  wohl 
angerichtet  werden,  wodurch  die  deutsche  Sprache  und  Nation  merklich 
zu  bessern  und  zu  erheben  stehet  Kann  doch  ein  Philosoph  in  grie- 
chischer und  lateinischer  Sprache  seine  Philosophie  lehren  und  ver- 
teidigen, was  soll  ihm  dann  mangeln,  solches  in  hochdeutscher  Sprache 
zu  thun,  wenn  nur  die  vocahula  artium  in  derselben  erfunden,  die 
Künste  ordentlicher  Weise  darin  beschrieben  und  in  Gebrauch  sind. 
Es  können  auch  die  Rechtsgelehrten  in  allen  Ständen  in  deutscher 
Sprache  sehr  wohl  erkennen,  was  Recht  ist,  auch  in  derselbigen  ein 
corpus  juris,  welches  Gottes  Wort  konform,  verfertigen,  darin  alle  Un- 
gerechtigkeit abgeschafft,  auf  das  allein  die  Gerechtigkeit  im  Reich 
gepäeget  und  erhalten  werde.  Desgleichen  kann  ein  medicus  den  Leib 
wohl  auf  gut  Deutsch  kurieren  und  versorgen,  geschieht  es  doch  nicht 
auf  Griechisch  oder  Arabisch,  in  welchen  Sprachen  der  meiste  Teil 
unerfahren."  In  den  deutschen  Büchern  zur  JDidactica  ist  die  Ver- 
deutschung der  termini  streng  durchgeführt;  nomen  heißt  Nenn- 
wort, pronomen  Vomennwort,  verbum  Sprachwort,  Metaphysik  Wesen- 
kundigurig,  Logik  Verstandlehre  u.  s.  f.  Die  Gießener  Referenten  und 
Mitarbeiter  am  Werk,  Jüngiüs  und  Helvicüs,  sprechen  ganz  dieselbe 
Anschauung  aus. 

Allerdings  war  es  nicht  des  Ratichius  Meinung,  die  alten  Sprachen 
abzuschaffen;  im  Gegenteil,  er  hoffte  durch  die  neue  Lehrart  ihre 
Kenntnis  so  allgemein  zu  machen,  daß  jedermann  die  heil.  Schrift  in 
den  Ursprachen  zu  lesen  im  Stande  sei.  Er  fahrt  in  den  eben  citierten 
Erläuterungen  fort:  „Die  Theologen  werden  sich  auch  nicht  viel  zu 
zanken  haben,  wenn  Gottes  Wort  allein  aus  Gottes  W^ort  und  nicht 
aus  menschlicher  Opinion,  wie  jetzt  die  verkehrte  Welt  den  gottlosen 
und  verfluchten  Gebrauch  hat,  gelernt  wird;  denn  wenn  Alt  und  Jung, 
Frauen  und  Kinder  selber  mit  Gott  reden,  die  heil.  Schrift  in  ebräischer 
und  griechischer  Sprache  lesen  und  verstehen,  so  wird  niemand  leicht- 
lich  zu  verführen  sein;  ja  wenn   nur  die  Streitschriften  und  Glossen 


464     ///,  1.    Beginnendes  Erwachen  des  modemefi  Geistes  u.  s,  w. 


über  die  Bibel  aufgehoben,  alsdann  kann  die  uralte  katholische  und 
apostolische  Lehre  rein  und  allein  im  ganzen  Reich  unverfälscht  bleiben 
und  friedlich  erhalten  werden."  Unter  dieser  katholischen  Lehre  ist 
aber  nicht,  wie  man  etwa  erwarten  möchte,  ein  konfessionsloses  Christen- 
tum, sondern  vielmehr  das  unverfälschte  Luthertum  zu  verstehen.  Er 
sagt,  in  später  abgegebener  Erklärung:  „Wie  eine  einträchtige  Religion 
zu  gewarten,  hat  es  nicht  diese  abscheuliche  und  unchristliche  Meinung, 
als  wollte  ich  die  widerwärtigen  Religionen  vereinigen  und  vergleichen, 
wie  vordem  mit  dem  Interimsbuche  versucht,  sondern  daß  ich  Mittel 
an  die  Hand  geben  wolle,  kraft  deren  den  Papisten,  Calvinisten,  Schwenk- 
feldem  oder  wie  sie  und  andere  Ketzer  Namen  haben  mögen,  Abbruch 
geschehen  und  also  die  reine,  wahre,  apostolische  und  lutherische  Lehre 
könne  eingeführt,  fortgebracht  und  erhalten  werden." 

Man  sieht,  die  Sprachen  sollen  durchaus  dem  wahren  Christentum 
imd  ganz  und  gar  nicht  dem  humanistischen  Heidentum  dienen;  wie 
er  denn  auch  ausdrücklich  die  hohen  Schulen  von  dem  „ehrgeizigen 
und  zanksüchtigen  Heiden  Aristoteles"  befreien  will,  was  auch  die 
Meinung  des  Magdeburger  Rats  von  seinem  Vorhaben  war:  daß  er  die 
Schulen  von  jener  verkehrten  Richtung  zurückbringen  wolle,  welche  die 
Schüler  „an  die  heidnischen  traditiones  und  Profanitäten  so  stark  alligiere 
und  binde,  auch  darin  so  weit  vertiefe  und  verwickle,  daß  sie  aus  dem 
Christentum  ein  Wort-  und  Schulgezänk  machten". 

Vielleicht  kann  man  die  Summe  der  Bestrebungen  des  Ratichiüs 
so  formulieren:  er  will  den  langen  und  gefahrlichen  Umweg,  welchen 
seit  der  humanistischen  Reform  der  gelehrte  Unterricht  nimmt,  indem 
er  die  Jugend  durch  die  Schule  der  alten  römischen  und  griechischen 
Schriftsteller  zur  Eloquenz  und  Erkenntnis  führt,  abschneiden  und  ge- 
rades wegs  durch  kurze,  methodisch  abgefaßte  Anleitungen  zur  Fertig- 
keit in  den  Sprachen  und  sodann  ebenso  geradeswegs  zu  den  ebenfalls 
methodisch  abgefaßten  Wissenschaften  von  weltlichen  und  heiligen 
Dingen  führen.  —  Man  könnte  auch  sagen,  es  ist  ein  Versuch,  auf 
den  mittelalterlichen  Weg  des  gelehrten  Unterrichts  durch  Kompendien 
zurückzukommen.  Das  Ziel,  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  erscheint 
am  Anfang  der  Schullaufbahn  so  nahe,  wie  dem  Wanderer  ein  Berg- 
gipfel, von  dem  er  durch  einen  verdeckten  Thaleinschnitt  getrennt  ist. 
Diesen  Einschnitt  bilden  die  alten  Sprachen.  Die  humanistische  Ge- 
lehrtenschule führt  durch  ihn  in  mehr  als  zehnjähriger  mühevoller 
Wanderung  hindurch,  und  mancher  bleibt  in  dem  Gestrüpp  heidnischer 
Poesie  und  Eloquenz  hangen.  Kann  man  ihn  nicht  überbrücken?  Der 
Versuch,  eine  solche  Brücke  zu  konstruieren,  ist  während  der  nächsten 
anderthalb  Jahrhunderte  das  unausgesetzte  Bemühen  der  Reformpädagogen. 


J,  Arnos  Comenius,  465 


Seit  Basedows  Versuch  scheint  die  Sache  aufgegeben  zu  sein  und  man 
pflegt  sich  nunmehr  darüber  zu  trösten:  es  sei  gut,  daß  er  nicht  ge- 
lungen sei,  die  lange  Wanderung  kräftige  die  Glieder  der  Jugend,  daß 
sie  alsdann  mit  größerer  Aussicht  auf  Erfolg  an  die  Besteigung  des 
Gipfels  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  sich  wage. 

Dieselben  beiden  Gesichtspunkte,  welche  in  den  Reformbestrebungen 
des  Ratichius  uns  entgegentreten,  finden  sich  auch  bei  Comenius,  der 
übrigens  ein  viel  tieferer,  größerer  und  freierer  Geist  als  jener  war. 
Auch  er  will  die  Christenkinder  von  der  heidnischen  Schulherrschaffc 
befreien,  und  ebenso  der  deutschen  Sprache  in  Unterricht  und  Wissen- 
schaft ihr  Recht  verschaffen;  endlich  will  er,  und  das  ist  freilich  prak- 
tisch der  nächste  und  wichtigste  Zweck,  dem  ein  großer  Teil  seiner 
litterarischen  Arbeit  gewidmet  ist,  die  Erlernung  der  unentbehrlichen 
alten  Sprachen  durch  einen  methodischen  Kompendienlehrgang  ab- 
kürzen. 

Mit  der  ihm  eigentümlichen  wirksamen  und  leidenschaftlichen  Be- 
redsamkeit spricht  er  sich  in  dem  25.  Kapitel  seines  pädagogischen 
Hauptwerks,  der  Didactica  magna,  einem  an  tiefen  und  fruchtbaren 
Gedanken  reichen  Werk,  über  den  ersten  Punkt  aus.  Ich  setze  die 
Hauptstellen  her;  die  ünerträglichkeit  der  heidnischen  Lehrer  in  den 
christlichen  Schulen,  so  oft  dies  Kapitel  in  der  pädagogischen  Litte- 
ratur  wiederkehrt,  ist  vielleicht  von  niemand  lebhafter  empfunden  und 
stärker  ausgedrückt  worden,  als  von  dem  Prediger  und  letzten  Bischof 
der  Mährischen  Brüder.^  „Wollen  wir  wirklich  christliche  Schulen  haben, 
dann  müssen  wir  die  heidnischen  Lehrer  abthun.  Ich  kann  um  der 
Ehre  Gottes  und  des  Heils  der  Menschen  willen  hiervon  ohne  Eifer 
nicht  reden.  Die  Hauptschuleu  der  Christen  bekennen  nur  dem  Namen 
nach  Christum,  in  W^ahrheit  sind  die  Terenz,  Plautus,  Cicero,  Ovid, 
Catull,  TibuU,  Venus  und  die  Musen  ihr  Schatz  und  ihre  Liebe.  Daher 
kommt  es,  daß  wir  auf  die  Welt  uns  besser  als  auf  Christum  verstehen 
und  Christen  mitten  in  der  Christenheit  kaum  zu  finden  sind.  Unsere 
größten  Gelehrten,  selbst  unter  den  Theologen,  den  Verwaltern  der 
göttlichen  Weisheit,  haben  die  Larve  von  Christus,  Blut  und  Geist  von 
Aristoteles  und  dem  übrigen  heidnischen  SchwarnL"  Er  weist  dann 
aus  vielen  Schriftstellen  alten  und  neuen  Testaments  nach,  wie  wenig 
dieses  Verhalten  nach  Gottes  Willen  sei,  der  seinem  Volke  überall  ver- 
boten habe,  auf  die  Wege  der  Heiden  zu  sehen,  dagegen  auf  sein  Wort 
zu  hören  immer  und  immer  wieder  gefordert  habe.    Er  appelliert  an 


*  Comenü  Opera  didactica  omnia  (Amsterdam  1657,  vou  ihm  selbst  be- 
sorgt), I,  147  ff. 

Paalsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  30 


466      Uly  1.    Beginnendes  Erwachen  des  nwdertieti  Geistes  u,  s,  w. 


das  Ehrgefühl  der  Christen:  „Unsere  Herrlichkeit,  als  der  Kinder 
Gottes,  als  des  königlichen  Priestertums  und  Erben  des  Reichs,  läßt  es 
nicht  zu,  daß  wir  uns  und  unsere  Kinder  so  wegwerfen  und  prostituieren, 
daß  wir  uns  mit  den  gottlosen  Heiden  also  gemein  machen.  Würde 
auch  ein  König  seinen  Kindern  elende  Parasiten  und  Possenreißer  zu 
Erziehern  geben?  sondern  ernste  und  weise  und  fromme  Männer.  Und 
wir  schämen  uns  nicht,  den  Kindern  des  Königs  der  Könige,  den 
Brüdern  Christi,  den  Erben  der  Seligkeit,  den  Possendichter  Plaatus, 
den  Unzuchtpoeten  Catull,  den  unreinen  Ovid,  den  Spötter  Lucian,  den 
schmutzigen  Martial  zu  Lehrern  zu  geben?"  So  haben  wir  den  heid- 
nischen Götzendienst  in  die  Schulen  eingeführt.  Oder  sind  die  Bücher 
keine  Götzenbilder?  Schlinmier  sind  sie  als  Götzenbilder.  Denn  diese 
waren  Werke  der  Hände,  jene  sind  Werke  des  Geistes.  Bestachen  die 
Bilder  durch  den  Glanz  des  Goldes  und  Silbers  die  Augen,  so  ver- 
blenden die  Bücher  durch  den  Schein  einer  fleischlichen  Weisheit  den 
Geist.  Wer  hat  den  Kaiser  Julian,  wer  den  Papst  Leo  X.  verführt, 
daß  er  die  Geschichte  von  Christus  für  eine  Fabel  hielt?  durch  welchen 
Geist  getrieben  mahnte  Bembus  den  Sadoletus  von  der  Lesung  der 
Bibel  ab,  da  solche  kindische  Possen  für  einen  so  großen  Mann  nichts 
seien?  Was  ist  es,  das  heutzutage  so  viele  italienische  und  andere 
Denker  in  den  Atheismus  stürzt?  Daß  es  doch  selbst  in  der  gereinigten 
Kirche  Christi  nicht  solche  gebe,  welche  durch  den  todbringenden  Ge- 
ruch des  Cicero,  Plautus,  Ovid  von  der  Schrift  sich  abziehen  lassen. 
„Lasset  uns  nicht  ferner  das  Bild  Dagons  neben  die  Lade  des  Bundes 
stellen;  lasset  uns  nicht  mehr  die  Weisheit  von  oben  mit  der  irdischen, 
tierischen  und  teuflischen  vermischen  und  den  Zorn  Gottes  über  unsere 
Kinder  bringen." 

„Man  wird  sagen:  es  sei  viel  Weisheit  in  den  Büchern  der  Philo- 
sophen, Redner  und  Poeten.  Ich  antworte:  Finsternis  verdienen,  welche 
vom  Licht  die  Augen  abwenden.  Den  Nachtvögeln  kommt  der  erst« 
Dämmerschein  als  heller  Mittag  vor;  aber  anders  urteilen  die  Tiere 
des  Tags."  Überall,  in  der  Naturlehre  wie  in  der  Sittenlehre,  ist  die 
Schrift  die  klarste  Leuchte.  Die  wahre  Philosophie  ist  nichts  anderes 
als  die  wahre  Erkenntnis  Gottes  und  seiner  Werke,  und  diese  kann  überall 
nicht  wahrer,  als  aus  dem  Munde  Gottes  vernommen  werden. 

„Aber  um  des  Stils  willen  muß  man  Terenz,  Plautus  u.  a.  lesen.  — 
Ich  antworte:  Sollen  wir  darum  unsere  Kinder  in  die  Kneipen  und 
Hurenhäuser  führen,  damit  sie  sprechen  lernen?  Oder  führen  etwa 
Terenz,  Plautus,  Catull,  Ovid  die  Jugend  nicht  an  solche  Orte?"  — 
„Aber  nicht  alles  in  jenen  Autoren  ist  von  der  Art.  —  Ich  antworte: 
das  Schlechte  bleibt  kleben."  —  „Du  sagst:  nicht  alle  sind  schmutzig; 


J.  Arnos  Camsniiis,  467 


Cicero,  Virgil,  Horaz  u.  a.  sind  anständig  und  würdevoll.  —  Ich  ant- 
worte: auch  das  sind  blinde  Heiden,  die  vom  wahren  Gott  zu  Göttern 
und  Göttinnen  den  Sinn  der  Leser  lenken.  Gott  aber  hat  seinem  Volk 
gesagt:  Gedenket  nicht  des  Namens  fremder  Götter  und  lasset  ihn  nicht 
aus  eurem  Munde  gehen"  (Exod.  23,  13). 

Aber  in  Wahrheit,  ist  allein  bei  jenen  Heiden  Eleganz  der  Sprache? 
Der  Tollkommenste  Redner  ist,  der  die  Rede  geschaffen  hat,  der  Geist 
Gottes,  dessen  Worte  süßer  sind  als  Honig,  durchbohrender  als  ein 
zweischneidig  Schwert.  Sind  allein  bei  den  Heiden  merkwürdige  Ge- 
schichten? Die  Bibel  ist  voll  von  viel  merkwürdigeren  und  wahren. 
Sind  allein  bei  ihnen  Tropen,  Figuren,  Allegorien  etc.  zu  finden?  Nirgend 
mehr  und  schönere  als  bei  uns.  Nur  ein  Mann  mit  Triefaugen  kann 
den  Olymp,  Helicon,  Pamassus  schöner  finden  als  den  Sinai,  Zion, 
Hermon,  Tabor  und  ölberg.  —  Doch  geben  wir  zu,  daß  auch  bei  den 
Heiden  für  uns  brauchbare  Phrasen,  Sprichwörter,  Sentenzen  sich  finden, 
sollen  wir  deshalb  unsere  Söhne  zu  ihnen  schicken?  Warum  plündern 
wir  nicht  lieber  die  Ägypter  und  ziehen  ihnen  ihren  Schmuck  aus? 
Gott  hat  es  erlaubt,  ja  geboten.  —  Höchstens  mag  ein  Schriftsteller 
wie  Seneca,  Epictetus,  Plato  und  ähnliche  Lehrer  der  Tugend  und  Ehr- 
barkeit zugelassen  werden;  aber  auch  nicht,  bevor  die  Gemüter  im 
Christentum  befestigt  sind.  Und  zuvor  soll  man  jene  reinigen,  indem 
man  die  Namen  der  Götter  und  was  sonst  an  den  Aberglauben  er- 
innert, entfernt 

Er  schließt  mit  dem  Worte  Jesu:  Alle  Pflanzen,  die  mein  himm- 
lischer Vater  nicht  gepflanzet,  werden  ausgereutet  (Matth.  15,  13). 

Und  ebenso  wenig,  als  in  Hinsicht  der  sittlich-religiösen  Erziehung, 
genügen  die  humanistischen  Schulen  den  Forderungen  des  Comenius 
in  Hinsicht  auf  die  wissenschaftliche  und  intellektuelle  Bildung.  Er 
klagt  in  dem  18.  Kapitel  der  Didaktik,  welches  von  der  Solidität  im 
Unterricht  handelt,  als  die  aberratio  enormis  desselben  an.  „Sie  haben 
die  ingenia  nicht,  wie  die  jungen  Bäumchen,  aus  der  eigenen  Wurzel 
wachsen  lassen,  sondern  sie  gelehrt,  Zweiglein  überallher  abpflücken 
und  sich  damit  behangen  und  nach  Art  der  Aesopischen  Krähe  mit 
fremden  Federn  sich  schmücken.  Sie  haben  nicht  den  Quell  der  Ein- 
sicht, der  in  den  Kindern  verborgen  ist,  ans  Licht  zu  führen,  sondern 
mit  den  Wasserbächen  anderer  sie  zu  begießen  sich  bemüht,  sie  haben 
nicht  die  Dinge  gezeigt,  wie  sie  an  sich  sind,  sondern  was  über  dieses 
und  jenes  dieser  und  jener  und  ein  dritter  und  zehnter  meine  und  sage, 
so  daß  für  den  Gipfel  der  Erudition  gegolten  hat,  vieler  Menschen 
Meinungen  über  viele  Dinge  zu  wissen.  So  ist  es  geschehen,  daß  die 
meisten  nichts  trieben,   als  sich  durch  die  Autoren  durchzublättern, 

30* 


468      Ul,  1.    Beginnendes  Erwachen  des  modernen   Geistes  u.  s.  u\ 


Phrasen,  Sentenzen,  Opinionen  abpflückend,  und  Wissenschatt  wie  einen 
Rock  aus  tausend  Lappen  zusammenflickend.  Ihnen  gilt  das  Wort  des 
Horaz:  o  Imitatoren,  Sklavenvieh!  Wahrlich  Sklaven vieh,  das  nichts 
kann  als  Packträger  fremder  Dinge  sein.^< 

Aber  nicht  einmal  die  Sprache  haben  sie  gelernt  Ein  Küchen- 
junge oder  Troßbube  lernt  in  der  Kneipe  oder  im  Lager  eine,  ja  zwei 
und  drei  ihm  völlig  fremde  Sprachen,  eher  als  ein  Schüler  unserer  Ge- 
lehrtenschulen in  voller  Muße  und  mit  größter  Anstrengung  das  einzige 
Latein.  Jene  schwatzen  nach  ein  paar  Monaten  munter  ihre  Sachen, 
dieser  kann  kaum  nach  15  oder  20  Jahren  mit  Hilfe  von  Grammatik 
und  Wörterbuch  ein  wenig  Latein  stottern  (JDidact  m.  c.  11). 

Aus  diesen  labyrinthischen  Wegen  will  Comenius  die  Jugend  und 
die  Schulen  herausführen.  Vor  allem  hat  er  sich  die  Erfindung  eines 
geraden  und  kurzen  Weges  zur  Latinität  angelegen  sein  lassen.  Eine 
ganze  Eeihe  von  Schulbüchern,  die  Janua  linguarum  reserata,  das  J'esti- 
bulumj  der  Orbis  pictus  dienen  in  erster  Linie  diesem  Zweck;  sie  geben 
dem  Schüler  Form  und  Material  der  Sprache  mit  einander;  sie  wollen 
ihm  ersparen,  mit  unermeßlicher  Mühe  aus  den  Autoren  die  Sprache 
selbst  zusammenzutragen,  damit,  heißt  es  in  der  Vorrede  zu  der  Gesamt- 
ausgabe, „die  Erlernung  dieser  Sprachen  nicht  so  viel  Schweiß  und 
Mühe  koste  und  die  Jugend  eher  zu  den  Sachen,  in  deren  Erkenntnis 
die  Weisheit  besteht,  komme  und  in  der  Folge  besser  für  die  Aufgaben 
des  Lebens  vorbereitet  werden  könne." 

Auf  das  Detail  der  didaktischen  A])sichten  und  Versuche  des 
Comenius  gehe  ich  nicht  ein,  ich  verweise  auf  Baumeb  und  Schmid. 
In  den  pädagogischen  Grundanschauungen  berührt  er  sich  überall  mit 
Ratichius,  von  dem  er  die  erste  Anregung  empfangen  zu  haben  selbst 
bekennt  Wie  dieser,  will  er  den  Unterricht  nicht  mit  der  Grammatik, 
sondern  mit  der  Sprache  selbst  beginnen;  wie  dieser,  will  er  den  Unter- 
richt in  der  Muttersprache  dem  fremdsprachlichen  Unterricht  voraus- 
schicken; wie  dieser,  beschäftigt  er  sich  lebhaft  mit  der  Idee  methodisch 
entworfener  Kompendien  oder  Encyklopädien  der  Wissenschaften  (pan- 
Sophia);  wie  dieser,  sucht  er  den  Weg  der  Natur  in  der  Entwickelung 
des  Intellekts,  um  ihm  im  Unterricht  zu  folgen;  die  Analogie  des 
Pflanzen  Wachstums  ist  ihm  oft  Führerin  in  seinen  allgemeinen  didak- 
tischen Betrachtungen.  Stärker  als  Ratichius  betont  er  die  Notwendig- 
keit, Wort-  und  Sachunterricht  parallel  gehen  zu  Is^sen;  der  orbis  pictus, 
welcher  wenigstens  Abbildungen  der  Dinge  zu  ihren  lateinischen  Be- 
nennungen giebt,  ist  ein  Versuch,  die  Forderung  zu  erfüllen.  Comenius 
hatte  Einflüsse  von  den  neuen  naturwissenschaftlich -philosophischen 
Anschauungen    Campanellas   und  Bacons   erfahren.    Was   diese   mit 


Eühard  Liibinus,  469 


stärkstem  Nachdruck  aussprechen,  daß  es  in  den  Wissenschaften  keine 
Entscheidung  durch  Autorität,  auch  nicht  die  der  Alten,  sondern  nur 
durch  Vernunft  und  Erfahrung  gebe,  das  ist  die  Grundanschauung 
auch  des  Comeniüs;  er  folgert  daraus  für  den  Unterricht,  daß  seine 
eigentliche  letzte  Aufgabe  überall  keine  andere  sein  könne,  als  hierzu 
geschickt  machen.  Als  Gesetze  der  Solidität  des  Unterrichts  formu- 
liert er  folgende  drei:  1.  Omnia  e  principiis  rerum  immotis  deriventur, 
2.  Niltil  doceatur  per  autoritatem  nudam,  omnia  per  demonstrationem 
sensualem  et  rationalem,  3.  Nihil  methodo  analytica  sola,  synthetica 
potius  omnia  (I,  91). 

Noch  mag  das  Ideal  eines  ünterrichtswesens  und  Studienkursus, 
wie  es  Comeniüs  mit  einigen  Strichen  zeichnet,  Erwähnung  finden.  Er 
teilt  die  Jugend  in  vier  Sexennien.  Das  erste  gehört  dem  Haus  und 
der  Mutter,  das  zweite  der  öffentlichen  deutschen  Schule,  welche  jede 
Gemeinde  haben  und  durch  welche  jedes  Kind  gehen  muß,  das  dritte 
der  Lateinschule  (Gymnasium),  welche  in  jeder  Stadt,  das  vierte  der 
Akademie,  welche  in  jedem  Land  sein  muß,  und  endlich  den  Reisen. 
Das  Gymnasium  lehrt  die  Sprachen  und  die  Künste:  Lateinisch  bis 
zur  Fertigkeit  der  Eede,  Griechisch  und  Hebräisch  bis  zur  Fähigkeit, 
in  diesen  Sprachen  Geschriebenes  zu  lesen  (I,  164). 

Comeniüs,  durch  die  siegreiche  katholische  Reaktion  aus  seinem 
Vaterlande  vertrieben  (1627),  war  seitdem  heimatlos;  aber  überall,  wohin 
ihn  sein  Geschick  führte,  fand  er  für  seine  Schulreform  Teilnahme  und 
zuweilen  auch  Unterstützung:  in  Polen  und  Ungarn,  in  Schweden  und 
England,  bei  Privaten  und  Regierungen.  Die  letzten  Jahre  seines  Lebens 
hielt  er  sich  in  Amsterdam  auf;  er  hat  der  Stadt,  die  er  das  Auge  der 
Welt  nennt,  die  Gesamtausgabe  seiner  Werke  gewidmet.  — 

Die  beiden  Männer,  von  denen  im  Vorhergehenden  gehandelt  worden 
ist,  haben  natürlich  nicht  die  pädagogischen  Reformbestrebungen  erst 
in  die  Welt  gebracht;  jsie  haben  nur  die  vorhandenen  Stimmungen  und 
Mißstimmungen  am  stärksten  empfunden  und  ausgedrückt  und  die  ihrer 
Zeit  einleuchtendsten  Heilmittel  vorgeschlagen.  Dadurch  hat  sich  die 
ganze  Bewegung  an  ihren  Namen  geknüpft.  Der  genaueren  Nach- 
forschung würde  es  sicher  gelingen,  eine  ganze  Anzahl  von  Männern 
zusammenzubringen,  die  sich  gleichzeitig  und  zum  Teil  schon  vor  ihnen 
mit  ähnlichen  Gedanken  und  Plänen  beschäftigt  haben.  Ich  will 
wenigstens  einen  erwähnen,  Eilhabd  Lübinüs,  Professor  der  Poesie, 
später  der  Theologie  zu  Rostock  (1565 — 1621).  Im  Jahre  1614  erschien 
in  neuer  Auflage  sein  Novum  Testamentum  Graeco-Latino^Germanicum ; 
es  ist  ein  Schulbuch  zur  Erlernung  der  beiden  Sprachen:  unter  dem 
griechischen  Text  steht  eine  lateinische  und  darunter  wieder  eine  deutsche 


470     lU,  1.    Beginmndes  Erwachen  des  modenien  Geistes  u.  s.  w. 


Interlinearversion.  In  der  Epistola  praeliminarisj  qua  consilium  de 
Latina  lingua  compendiose  a  pueris  addiscenda  exponitur  (an  Herzog 
Philipp  von  Pommern),  wird  ausgeführt:  es  habe  den  Verfasser  schon 
lange  beunruhigt,  wie  ein  Knabe  eine  neuere  Sprache,  die  pohlische 
oder  französische,  so  schwer  sie  unserer  Zunge  falle,  doch  in  kurzer 
Zeit  und  ohne  große  Mühe  lerne,  dagegen  in  den  alten  Sprachen  trotz 
jahrelangen  Unterrichts  und  grausamer  Plage  des  Lehrers  und  Schülers 
es  kaum  dahin  bringe,  ein  wenig  Latein  zu  stammeln.  Die  Sache 
könne  nur  an  der  Methode  liegen;  er  glaube  den  Fehler  darin  gefanden 
zu  haben,  daß  man  die  Sprache  aus  der  Grammatik  lehren  wolle,  statt, 
wie  man  neuere  Sprachen  lerne,  durch  den  Gebrauch;  auch  das  sei  ein 
Fehler,  daß  man  mit  Übersetzen  aus  dem  Deutschen  ins  Lateinische, 
statt  mit  der  umgekehrten  Übung  beginne.  Schon  vor  20  Jahren  habe 
er  um  dem  abzuhelfen  einen  Plautus  mit  Interlinearversion  heraus- 
gegeben und  andere  ünterrichtsbücher  verfaßt.  —  Man  sieht,  Lübinus 
ist  ganz  auf  demselben  Wege,  auf  dem  später  Ratichiüs  wandelt.  Auch 
die  Idee,  Bilder  zum  Sprachunterricht  herbeizuziehen,  welche  von  Come- 
Niüs  später  ausgeführt  worden  ist,  findet  sich  schon  bei  Lübinus.  — 
Ob  übrigens  dem  Ratichiüs,  der  in  Rostock  studierte,  die  Versuche 
des  LüBiNüs  nicht  doch  eine  Anregung  gegeben  haben,  obwohl  er  es 
in  Abrede  stellt?  (Vogt,  I,  5). 

Unter  den  jüngeren  reformpädagogischen  Schriftstellern,  welche 
jenen  Führern  folgen,  mag  J.  Balthasar  Schupp,  ein  Schwiegersohn 
des  Gießener  Helvicus,  zuletzt  Prediger  in  Hamburg  (1610 — 1661) 
erwähnt  sein;  er  bildet  einen  Übergang  zu  dem  folgenden  Zeitalter, 
er  wird  schon  von  den  Ideen  bewegt,  denen  wir  bei  Leibniz  in  ihrer 
vollen  Entwickelung  wieder  l)egegnen  werden.^  Die  TJniversitätsgelehr- 
samkeit  wird  von  ihm  nicht  hoch  geschätzt,  er  stellt  sie  oft  als  Schul- 
fuchserei  der  Bildung  durch  das  Leben  gegenüber,  wie  sie  besonders 
an  den  Höfen  gewonnen  werde.  „Wer  nicht  ein  wenig  bei  Hofe  ge- 
wesen, der  kennet  die  Welt  nicht  recht;  ein  vornehmer  fürstlicher  oder 
gräflicher  Hof  ist  eine  Schule,  darinnen  man  große  Tugenden  und 
große  Laster  lernen  kann.  Und  wenn  auch  große  Herren  nicht  stu- 
dieret haben,  so  hat  ihnen  doch  die  Natur  gemeiniglich  etwas  sonderliches 
mitgeteilt,  und  die  Natur  thut  mehr  als  die  Kunst"  (Hentschel,  51). 
Er  schätzt  die  mathematisch-physikalischen  Studien  und  denkt  an  ihre 
praktische  Verwertung:  „Wenn  ich  Karls  d.  Gr.  Eeichtum  hätte,  wollt* 
ich  dem  Mathematico  3000  Reichsthaler  geben,  damit  er  diese  scientias 

*  Über  ihn  C.  Hentschel  im  Progr.  der  Realschule  zu  Döbeln,  1876. 
Th.  Bischoff,  J.  B.  Schupp,  in  der  Beilage  zum  Jahresbericht  des  Nürnberger 
Realgymn.,  1SS9. 


Balthasar  Schupp,  471 


also  excoliere  in  deutscher  Sprache,  daß  alle  Handwerksleute  dieselbe 
lernen  und  ihre  Handwerke  dadurch  perfektionieren  könnten.  Dem 
physico  wollte  ich  auch  3000  Thaler  geben,  daß  er  gedächte,  ich  will 
die  Physik  also  excolieren,  daß  die  Bauern  mehr  von  mir  lernen  können, 
als  die  Gelehrten  aus  des  Aristotelis  Physik  bisher  gelernt  haben"  (48). 
Auch  das  perpetuum  mobile  macht  ihm  zu  schaffen.  Auf  die  lateinische 
Eloquenz  giebt  er  wenig:  „Wem  unter  den  Deutschen  nützt  die  latei- 
nische Redefertigkeit,  wenn  er  nicht  im  Schulstaub  leben  und  sterben 
will  ?"  Der  Theolog,  der  Rechtsgelehrte  bedürfen  allerdings  der  Bered- 
samkeit, aber  immer  der  deutschen.  „Wenn  ich  meine  verlorne  Zeit 
einbringen  und  noch  einmal  professor  eloquentiae  auf  einer  Universität 
werden  könnte  (er  war  es  zu  Marburg  gewesen),  so  wollte  ich  mich 
bemühen,  daß  die  Jugend  in  der  Wohlredenheit  angeführt  würde  in 
ihrer  Muttersprache:  denn  in  ihrer  Muttersprache  könnten  sie  leichter 
zur  perfecäon  gebracht  werden,  als  in  einer  ftremden  Sprache."  Doch 
hat  Schupp  auch  eine  Methode  zur  Erlernung  der  lateinischen  Sprache 
erfunden.^  — 

Faßt  man  die  Bestrebungen  aller  dieser  Männer  in  Formeln,  so 
treten  als  gemeinsame  Punkte  etwa  folgende  vier  hervor: 

1.  Nicht  bloß  die  Sprachen,  sondern  auch  die  Sachen! 
Die  Schule  soll  nicht  bloß  Latein  lehren,  sondern  zum  Sachwissen  führen, 
in  Mathematik  und  Naturwissenschaft,  in  Geschichte  und  Erdkunde. 

^  Wie  Schupp  als  Vorläufer  LEiBxizens,  so  kann  Jon.  Val.  Andreae  (1586 
bis  1654),  ein  württembergischer  Theologe,  befreundet  mit  Job.  Arnd,  als  Vor- 
läufer Francees  in  seinen  pädagogischen  Bestrebungen  angesehen  werden.  Über 
ihn  Hüllemann,  Progr.  der  Leipziger  Thomasschule,  1884,.  und  ausfQhrlicher 
ScHHiD,  Gesch.  der  Erziehung,  III,  2,  147.  Ebendort  wird  auch  über  einen 
andern  pädagogischen  Reformer  der  Zeit,  Jon.  Heinr.  Alsted  (1588 — 1638),  ge- 
handelt, den  CoMENius  in  Herbom  gehört  hat.  Ein  jüngerer  Zeitgenosse  des 
CoMENiüs  ist  Johann  Baue  (über  ihn  Wohlrab  im  Progr.  Dresden-Neustadt  1886). 
Raue  (1610—1679),  ein  geborener  Berliner,  Professor  der  Eloquenz  und  Historie 
zu  Erfurt,  Rostock,  au  der  dänischen  Ritterakademie  zu  Sorö,  und  endlich  zu 
Danzig,  warf  sich,  von  Comeniüs  angeregt,  mit  Eifer  auf  die  Studienreform,  für 
die  er  zuerst  in  Kursachsen,  dann  in  den  thüringischen  Gebieten  Propaganda 
machte.  1654  kehrte  er  nach  Brandenburg  zurück  und  wurde  in  diesem  Jahre 
vom  großen  Kurfürsten  zum  „General -Inspektor  aller  Schulen  unserer  Chur-Mark*' 
und  zum  Professor  an  der  eben  nach  Berlin  verlegten  Landesschule  (Joachimsthal) 
ernannt.  Von  seiner  Thätigkeit  in  diesen  Stellungen  wird  freilich  wenig  gehört. 
1659  wurde  er  zum  Vorsteher  der  neu  errichteten  Bibliothek  zu  Berlin  ernannt. 
Seine  didaktischen  Prinzipien  entfernen  sich  nicht  weit  von  CoifSNius ;  Ziel  alles 
Unterrichts  ist  cognitio  rerum,  der  Weg  dazu  die  Anschauung.  In  Danzig  war 
Jon.  BuNO  Raues  Kollege,  derselbe,  der  in  zahlreichen  Lehrbüchern  die  Ver- 
anachaulichung  als  mnemotechnisches  Hilfsmittel  verwendet  hat;  besonders  seine 
historischen  Lehrbücher  sind  vielfach  gebraucht  worden. 


472     ///,  h    Beginnende  Erwachen  des  modernen   Geistes  u,  s.  w. 


2.  Die  Sprachen  recht  lehren!  Nicht  die  Sprache  aus  der 
Grammatik,  sondern  die  Grammatik  an  und  aus  der  Sprache. 

3.  Die  deutsche  Sprache  treiben!  Sie  ist  die  Sprache,  welche 
die  Kinder  mitbringen,  also  die  erste  Unterrichtssprache,  und  die  Sprache, 
in  der  Besinnung  auf  die  grammatischen  Kategorien  zuerst  stattfinden 
kann.  Auch  ist  sie  die  Sprache,  die  der  Theolog  und  Jurist  im  prak- 
tischen Leben  als  Redner  und  Schriftsteller  braucht;  daher  ist  Übung 
in  der  deutschen  Rede  notwendig. 

4.  Des  Zwangs  und  des  Prügeins  ledig  werden!  Der  Weg 
dazu  ist:  durch  vernünftige  Wahl  der  Unterrichtsgegenstande  und  durch 
vernünftige  Methode  das  Lernen  erleichtem  und  das  Interesse  gewinnen. 


Die  Reformbestrebungen  sind  an  der  Wirklichkeit  nicht  ganz  spur- 
los Torübergegangen.  Eine  Reihe  von  mitteldeutschen  Schulordnungen 
lassen  ihren  Einfluß  erkennen.  Zwar  der  Versuch  Ludwigs  von  Anhalt, 
die  Pläne  des  Ratichius  in  einer  zu  Köthen  dafür  gegründeten  Schul- 
anstalt zu  verwirklichen,  scheiterte  und  trug  dem  Didacticus  nicht  den 
erwarteten  Dank. und  Ruhm,  sondern  Schimpf  und  Gefängnis  ein.  Auch 
das  Vorkommen  RATicmas'scher  Grundsätze  in  der  landgräflich  hessi- 
schen Schulordnung  vom  Jahre  1618  dürfte  nicht  auf  tiefergehenden 
Einfluß  schließen  lassen.  Dagegen  scheinen  in  den  sächsischen  Herzog- 
tümern die  von  ihm  ausgegangenen  Anregungen  fruchtbarer  gewesen 
zu  sein,  sowohl  in  den  gelehrten  Schulen,  als  in  den  deutschen,  in 
deren  Organisierung  jene  Ländchen  vorangingen.  Für  Weimar  wurde 
1619  durch  den.  Superintendenten  Kromayer  eine  an  Ratichius' Ge- 
danken sich  anschließende  Schulordnung  gegeben ;  in  ihr  ist  auch  zum 
erstenmal  das  Prinzip  des  staatlichen  Schulzwangs  ausgesprochen.  Mit 
dem  lateinischen  Unterricht  beschäftigt  sie  sich,  weil  auch  in  einigen 
Dörfern  Unterricht  in  der  lateinischen  Grammatik  gegeben  werde;  sie 
folgt  hier  in  der  Methode  durchaus  dem  Ratichius  (Vormbaum,I1,  257). 
In  den  40  er  Jahren  folgten  Herzog  Ernsts  des  Frommen  von  Gotha 
gleichgerichtete  und  wirksamere  Bemühungen.  Sein  Berater  war 
S.  EvENius,  der  des  Ratichius  Methode  schätzte;  auf  dessen  Veran- 
lassung wurde  A.  Reyher  als  Rektor  an  das  Gothaer  Gymnasium  be- 
rufen. Reyheb  hat  sich  mit  der  Verbesserung  der  Unterrichtsmethode 
viel  Mühe  gegeben,  von  ihm  ist  der  berühmte  Gothaische  Schulmethodus 
entworfen,  der  die  erste  ausführliche  Ordnung  des  Volksschulunterrichts 
giebt  (VoRMBAUM,  II,  2950*.).  Reyhers  Verwaltung  des  Gymnasium?,  in 
dessen  Unterricht  er  des  Comenius  lateinische  Elementarbücher  einführte, 
wird  als  eine  vortreffliche  und  glückliche  bezeichnet  (Schulze,  124  ff.; 


Einfluß  der  Reformer  auf  die  Praxis,  473 


über  Reyhees  Leben  Heine,  Progr.  Holzminden  1882).  Auch  in 
anderen  Schulordnungen  des  17.  Jahrhunderts  kommen  die  lateinischen 
Schulbücher  des  Comeniüs  nicht  selten  vor,  so  in  der  hessischen  (1656), 
hanauischen  (1658)  und  der  Erzstift -magdeburgischen  (1658),  welch 
letztere  ganz  voll  ist  von  den  Grundsätzen  und  Anschauungen  des 
Comeniüs.  Auch  in  den  Lehrplänen  mancher  Städte,  Güstrow,  Soest, 
Mors,  Nürnberg,  Baireuth,  Eisleben,  Görlitz,  Danzig  u.  a.  werden  Schriften 
des  Comeniüs  erwähnt. 

Man  wird  sich  aber  hierdurch  nicht  darüber  täuschen  lassen,  daß 
im  ganzen  und  großen  wenig  geschah;  es  wurden  vielfach  neue  Schul- 
ordnungen verfaßt,  aber  zu  einer  umfassenden  Verbesserung  des  Schul- 
wesens kam  es  nirgends.  Zur  Schulreform  gehören  zwei  Dinge,  tüchtige 
Lehrer  und  Geld.  An  beiden  fehlte  es.  Hierüber  sind  alle  Reformer 
und  alle  Schulordnungen  der  Zeit  einig:  das  große  Übel,  an  dem  die 
Schulen  kranken,  ist  die  überaus  kümmerliche  Lage  des  Lehrerstandes; 
die  Folge  ist,  daß  kein  tüchtiger  Mann  in  der  Schule  bleiben  will.  Die 
Besoldungen,  sagt  B.  Schupp,  seien  im  besten  Falle  die  alten  geblieben, 
aber  die  Preise  seien  aufs  zwei-  und  dreifache  gestiegen.  ,,Daß  sich 
heute  kein  generöses  und  tugendreiches  ingenium  zum  Schulwesen  will 
gebrauchen  lassen,  rühret  daher,  daß  man  den  Schulbedienten  Zeisigen- 
futter giebt,  aber  Eselsarbeit  auferlegt"  (Bischoff,  69).  Überaus  deut- 
lich spricht  über  diesen  Punkt  die  braunschweigische  Schulordnung  von 
1651  (bei  Voembaüm,  II,  407).  Der  Mangel  der  Schule  komme  vor 
allem  daher,  daß  man  sehr  wenig  rechtschaflFen  qualifizierte  Lehrer  habe 
und  daß  diese  nicht  bei  der  Schule  bleiben  wollten;  und  das  komme 
wieder  daher:  erstens  „daß  die  praeceptores  so  viel  zu  ihrem  Sold  sich 
nicht  zu  erfreuen  gehabt,  davon  sie  notdürftiges  Essen  und  Trinken, 
zu  geschweigen  Kleider  und  andere  unentbehrliche  Notdurft  nehmen 
könnten";  zweitens  „daß  sie  keine  Ehre,  sondern  hingegen  lauter  Ver- 
achtung und  Beschimpfung  in  bürgerlichen  Konversationen  und  Zu- 
sammenkünften zu  erwarten  gehabt".  „Gerät  es  zu  ehrbaren  Zusammen- 
künften, Gelagen,  Prozessionen,  auf  Hochzeiten,  Kindtaufen,  da  ist 
niemand  auch  unter  den  gemeinen  Bürgern,  welcher  den  Prazeptoren 
zu  weichen  oder  die  Oberstelle  zu  lassen  gemeinet,  sondern  es  muß 
sich  der  arme  Präzeptor,  ob  er  schon  Rektor,  Konrektor  oder  Subrektor 
ist,  welchem  die  ganze  Stadt  die  Seelen  ihrer  Kinder  anvertraut,  von 
Hand  Werksleuten,  Schustern,  Schneidern,  Bäckern,  Brauern,  Krämern, 
ja  auch  denen,  so  wohl  gar  nichts  zum  gemeinen  Besten  thun,  sondern 
entweder  von  Finanz  und  Wucher  oder  von  demjenigen  leben,  was 
ihnen  ihre  Vorfahren  hinterlegt,  fruges  consumere  natis,  hinunterstoßen 
und  verachten  lassen."     Dem  Kuh-  und  Schweinehirten  werde  überall 


474     ///,  1,    Beginnendes  Erwachen  des  modernen  Geistes  u.  s,  w. 


gebührlich  gelohnt,  damit  das  unvernünftige  Vieh  wohl  in  acht  ge- 
nommen werde,  dagegen  lasset  sich,  welches  nicht  genug  mit  Thranen 
zu  beklagen  ist,  kein  Mensch  finden,  welcher  ernstlich  darauf  gedachte, 
zu  geschweigen  jährlich  oder  monatlich  ein  gewisses  hergeben  wollte 
zur  Unterhaltung  des  Präzeptors. 

Diese  Verhältnisse  sind  das  ganze  17.  und  18.  Jahrhundert  hin- 
durch im  wesentlichen  überall  die  gleichen  geblieben:  für  Lehrer  und 
Schulen  waren  keine  Mittel  vorhanden.  Die  Einkünfte  des  Fürsten 
verzehrten  der  Hof  und  das  Heer,  so  daß  auch  da,  wo  guter  Wille 
vorhanden  war,  nicht  viel  geschah,  und  was  geschah,  kam  noch  eher 
den  deutschen  Volksschulen  auf  dem  Lande,  als  den  lateinischen  Stadt- 
schulen zu  gute.  Die  Städte  aber,  durchweg  selbst  arm  und  kümmer- 
lich vegetierend,  hatten  ebenso  wenig  Mittel  für  die  Verbesserung  der 
Schulen  übrig.  Vielfach  fehlte  es  hier  auch  an  Einsicht  in  die  Wichtig- 
keit der  Sache;  ein  träger,  spießbürgerlicher  Konservatismus  ließ  e^ 
am  liebsten  in  allen  Stücken  beim  alten  und  erwehrte  sich  durch 
passiven  Widerstand  der  von  eifrigen  Lehrern  erstrebten  oder  von  oben 
gebotenen  Neuerungen. 

Und  damit  ist  ein  zweites  großes  Hemmnis  der  Schulreform  be- 
rührt: der  Mangel  an  einheitlicher  Organisation  und  einheitlichem  Schul- 
regiment Nur  die  Landesschulen  standen  unmittelbar  unter  staatlicher 
Verwaltung,  die  Stadtschulen  standen  unter  dem  Rat.  Zwar  erließ  die 
Landesregierung  allgemeine  Schulordnungen,  es  fanden  wohl  auch  Visi- 
tationen der  Schulen  im  landesherrlichen  Auftrag  statt;  aber  es  gab 
kein  Mittel,  widerwillige  Städte  zu  zwingen.  Und  wieder,  auch  der 
einzelnen  Schule  fehlte  es  an  einheitlicher  Organisation.  Bei  dem 
herrschenden  Elassensystem  war  im  Grunde  jeder  Lehrer  in  seiner 
Klasse  Alleinherrscher;  wenn  er  nicht  mochte,  kümmerte  er  sich  über- 
haupt gar  nicht  darum,  was  in  der  Klasse  über  oder  unter  ihm  ge- 
trieben wurde.  Da  das  Schulgeld  dem  einzelnen  Lehrer  von  den 
Schülern  seiner  Klasse  gezahlt  wurde,  so  gab  es  nicht  selten  ärgerlichste 
Verhältnisse  zwischen  den  Kollegen.  Auch  diesen  Punkt  berührt  die 
eben  erwähnte  Schulordnung:  ob  schon  der  eine  und  andere  Präzeptor 
es  ihm  mit  der  Institution  einen  rechten  Ernst  sein  lasse,  so  bringe 
das  keinen  rechten  Nutz,  da  so  viel  Schulen  (Klassen),  so  viel  Arten 
des  Unterrichts  sich  fönden;  wenn  dann  die  Jugend  aus  einer  niederen 
Schule  (Klasse)  in  die  andere  sich  begäbe,  müsse  sie  nicht  nur  von 
neuem  zu  lernen  anfangen,  sondern  was  sie  vorher  gelernt,  mit  großem 
Verlust  der  Zeit  wieder  abgewöhnen  und  ablernen.  — 

War  unter  solchen  Umständen  eine  große  und  durchgreifende 
Reform  des  Schulwesens  im  17.  Jahrhundert  von  vornherein  unmöglich, 


Versdii^bungen  im  ünterrichtshetrieb.  475 


so   vollzogen  sich  doch  allmählich   kleine  Verschiebungen   im  ünter- 
richtsbetrieb.    Man  kann  sie  unter  folgende  Gesichtspunkte  bringen. 

1.  Die  lateinische  Sprache  blieb  die  eigentliche  Substanz  des 
Unterrichts;  Eloquenz,  mündliche  und  schriftliche  Herrschaft  über  die 
Gelehrtensprache,  war  noch  das  erste  und  wichtigste  Schulziel.  Doch 
nahm  mit  der  zunehmenden  Entfernung  von  der  Renaissance,  mit  der 
abnehmenden  Geltung  der  neulateinischen  Litteratur  in  der  großen 
Welt,  allmählich  die  Schätzung  der  Klassizität  des  Ausdrucks  ab ;  man 
lernte  sich  mit  dem  Latein  der  philosophischen  und  theologischen  Lehr- 
bücher begnügen.  Auch  die  Lektüre  der  lateinischen  Klassiker  wird 
allmählich  zurückgegangen  sein. 

2.  Die  griechische  Sprache,  die  schon  im  16.  Jahrhundert  mit 
großem  Abstand  der  lateinischen  folgte,  blieb  in  diesem  Zeitalter  noch 
mehr  zurück.  Der  Betrieb  schränkte  sich  noch  enger  auf  die  für  den 
Theologen  erforderliche  Kenntnis  der  Sprache  ein.  Als  Schulautoren 
kommen  am  Anfang  noch,  außer  den  Spruchsammlungen,  Homer  und 
Demosthenes  vor;  aber  daneben  werden  Schriften  christlichen  Inhalts 
häufiger  gebraucht,  die  kurpßllzische  Schulordnung  von  1615  z.B.  nennt 
neben  jenen  Nonnus  und  Basilius.  Mehr  und  mehr  wurde  das  N.  T. 
das  Hauptunterrichtsbuch.  Der  Rückgang  der  griechischen  Studien 
wird  auch  im  üniversitätsunterricht  sichtbar.  Die  Benutzung  der 
griechischen  Texte  des  Aristoteles  wurde  seltener.  Schon  gegen  Ende 
des  16.  Jahrhunderts  wird  aus  Wittenberg  und  Leipzig  darüber  geklagt, 
daß  die  Kompendien  das  Quellenstudium  des  Aristoteles  verdrängt  hätten.^ 
Ebenso  trat  in  der  theologischen  Fakultät  die  Exegese,  die  Schrift,  hinter 
die  Dogmatik  wieder  mehr  und  mehr  zurück,  so  daß  endlich  gegen 
Ende  des  17.  Jahrhundert-s  erstere  an  manchen  Universitäten  fast  ganz 
fehlte  (Tholuck,  I,  104flF.).     Die  Scholastik  zog  auch  hier  wieder  ein. 

Ein  sehr  sicheres  Anzeichen  für  das  Zurückgehen  des  Griechischen 
im  gelehrten  Unterricht  ist  auch  der  Umstand,  daß  die  Herausgabe 
griechischer  Autoren  allmählich  fast  ganz  aufhörte;   die  Zeit  zwischen 

^  PoLYKARPUs  Ltser  sprlcht  um  1590  seine  Verwunderung  darüber  aus, 
daß  auf  der  Wittenberger  Universität,  die  doch  für  die  Mutteranstalt  der  übrigen 
deutschen  Akademien  gehalten  werde,  nur  über  moderne  Kompendien  der  Philo- 
sophie Vorlesungen  gehalten,  dagegen  die  Schriften  des  Aristoteles  selbst  gänz- 
lich vemachlftssigt  würden.  Er  sei  überzeugt,  daß  Melanchthok  seine  Kom- 
pendien bloß  für  die  Anfänger  geschrieben,  keineswegs  aber  die  Absicht  gehabt 
habe,  die  aristotelischen  Schriften  selbst  der  akademischen  Jugend  aus  der  Hand 
zu  nehmen  (Brücker,  Hist,  philosoph.,  IV,  248).  Ahnliche  Klagen  aus  Leipzig, 
aus  der  Zeit  des  Lebensendes  des  Camebabius,  findet  man  in  den  Schriften  eines 
oppositionellen  Magisters  bei  Thoxasius,  Annalen  der  Univers.  Leipzig  und 
Wittenberg  (Halle  1717),  S.  146. 


476     Uly  1,    Beginnendes  Erwachen  des  jnodernen  Geistes  u.  s.  u\ 


dem  Ende  des  16.  uud  dem  letzten  Viertel  des  18.  Jahrhunderts  stellt 
sich  in  dieser  Absicht  als  eine  große  Lücke  dar.  Aus  dem  Handbuch 
der  klassischen  Litteratur  von  Schweigeb  habe  ich  folgende  Daten 
zusammengestellt.  Es  erschienen  in  Deutschland  (die  deutsche  Schweiz 
eingeschlossen,  die  Niederlande  ausgeschlossen)  von  1525 — 1606  16  Ge- 
samtausgaben des  Homer,  von  da  bis  zur  ERXEsxischen  Ausgabe 
1759  nur  noch  eine;  von  Hesiod  zehn  Ausgaben  von.  1542 — 1598, 
dann  eine  bis  1730;  von  Demosthenes  fünf  Ausgaben  von  1532 — 1604, 
dann  keine  bis  zur  REiSKESchen  1770;  von  Isokrates  16  Ausgaben 
von  1533 — 1613,  dann  keine  bis  1803;  von  Sophokles  acht  Ausgaben 
von  1534 — 1608,  dann  keine  bis  1786;  von  Euripides  sechs  Ausgaben 
von  1537—1599,  dann  keine  bis  1778;  vom  Pindar  fünf  Ausgaben 
von  1526 — 1616,  dann  keine  bis  zur  HEYNBSchen  1773;  von  Lucian 
sechs  Ausgaben  von  1526 — 1619,  dann  keine  bis  1777;  von  Plato 
zwei  Ausgaben  von  1556 — 1602,  dann  keine  bis  zur  Bipontina  1781; 
vom  Aristoteles  vier  Ausgaben  von  1531 — 1587,  dann  keine  bis  zur 
Bipontina  1791;  von  Euklid  sieben  Ausgaben  von  1533 — 1577,  dann 
keine  bis  1824;  von  Herodot  drei  Ausgaben  von  1541 — 1608,  dann 
keine  bis  1778;  vom  Thukydides  zwei  Ausgaben  von  1540 — 1594, 
dann  keine  bis  1784;  vom  Xenophon  acht  Ausgaben  von  1540 — 1596, 
dann  keine  bis  1763;  vom  Herodian  elf  Ausgaben  von  1530 — 1662, 
dann  keine  bis  1782;  vom  Aesop  17  Ausgaben  von  1518 — 1610,  dann 
bis  1734  eine,  von  da  bis  1800  14;  von  den  carmina  des  Pytha- 
goras  und  Phokylides  elf  Ausgaben  von  1539 — 1622,  dann  keine 
bis  1720;  von  Epiktets  Handbüchlein  sieben  Ausgaben  von  1529 — 1595, 
dann  keine  bis  1756. 

Als  ein  symptomatisches  Vorkommnis  mag  auch  das  Folgende  hier 
Erwähnung  finden.  In  den  dreißiger  Jahren  brach  ein  Streit  über  die 
Graecität  des  neuen  Testaments  aus.  Die  nächste  Veranlassung 
dazu  gab  der  Rektor  des  Hamburger  Johanneums,  Joachim  Jungius. 
Er  verlangte,  daß  neben  dem  N.  T.  auf  der  Schule  auch  ein  Profan- 
schriftsteller gelesen  werde,  weil  das  N.  T.  nicht  reines  Griechisch  enthalte. 
Andere  Lehrer  waren  dagegen.  Die  Frage  wurde  bei  einer  Disputation 
verhandelt.  Die  These:  an  N.  T.  barharismis  scateat?  sei  eine  Frage, 
welche  nicht  zur  Theologie,  sondern  zur  Grammatik  gehöre,  gab  weiteren 
Kreisen  Anstoß.  Die  Hamburger  Geistlichkeit  erblickte  darin  ein  Ärger- 
nis, der  christlichen  Gemeinde  und  besonders  der  Jugend  gegeben;  sie 
censierte  den  Urheber  von  den  Kanzeln  und  forderte  den  Rat  zum  Ein- 
schreiten auf.  Auf  des  Jungius'  Verteidigung:  er  werfe  dem  N.  T.  nicht 
Barbarismen  vor,  sondern  behaupte  nur,  daß  seine  Sprache  nicht  rein 
Griechisch  sei,  wendete  sich  das  Ministerium  an  die  Wittenberger  theo- 


Abwelken  des  Griechisofien,    Rückkehr  der  scholasL  Philosophie,     477 


logische  und  philosophische  Fakultät  um  ein  Gutachten.  Es  fiel  folgender- 
maßen aus:  „Daß  Soloecismi,  Barbarismi  und  nicht  recht  Griechisch 
in  der  heil.  Aposteln  Reden  und  Schriften  zu  finden,  ist  dem  heil  Geist, 
der  durch  sie  geredet  und  geschrieben,  zu  nahe  gegriflfen  und  wer  die 
heil.  Schrift  einiger  Barbarismi  bezüchtiget,  wie  man  heutiges  Tages 
den  Barbarismus  zu  beschreiben  pfleget,  der  begehet  nicht  eine  geringe 
Gotteslästerung"  (Gühbaüeb,  Jungius,  112lf.).  Der  Streit  zwischen 
Puristen,  welche  die  reine  Graecität  des  N.  T.s  behaupteten,  und  Helle- 
nisten, welche  sie  leugneten,  zog  sich  ins  18.  Jahrhundert  hinein,  bis 
allmählich  die  erste  Partei  ausstarb  (Wineb,  Grammatik  des  neutesta- 
mentlichen  Sprachidioms,  S.  13flf.). 

3.  Der  Raum,  der  durch  die  Zurückdrängung  des  Griechischen  und 
Lateinischen  gewonnen  wurde,  kam  in  erster  Linie  dem  theologischen 
und  philosophischen  Unterricht,  daneben  allmählich  auch  der 
Mathematik  und  Physik,  der  Geschichte  und  Geographie  zu  gute.  An 
die  Stelle  der  Katechismen  des  16.  Jahrhunderts  traten  ausführlichere 
dogmatische  Kompendien  als  Lehrbücher;  in  den  Ländern  des  luthe- 
rischen Bekenntnisses  gewann  das  von  dem  Witt^nberger  Professor 
L.  Httttebus,  dem  großen  Feind  des  Calvinismus,  im  Auftrag  der  kur- 
sächsischen Regierung  für  die  Fürstenschulen  abgefaßte  Compendium 
locorum  theologiconim  (zuerst  1610  zu  Wittenberg)  auf  lange  Zeit  das 
größte  Ansehen  und  die  ausgedehnteste  Verbreitung.  Dem  theologischen 
Unterricht  diente  der  philosophische  als  Vorbereitung.  Logik  und 
Metaphysik  wurden  auf  den  Universitäten  wieder  mit  einem  Eifer  ge- 
lehrt und  gelernt,  als  ob  das  Mittelalter  selbst  zurückgekommen  wäre; 
mit  den  Vorlesungen  kehrten  auch  die  Disputationen  wieder,  die  zu 
Anfang  des  16.  Jahrhunderts  durch  Poesie  und  Eloquenz  waren  be- 
schränkt oder  verdrängt  worden.  Der  Vorgang  der  Universitäten  wirkte 
auch  auf  die  Schulen,  zumal  da  eine  feste  Grenze  im  Unterrichtsbetrieb 
überhaupt  nicht  vorhanden  war.  In  den  sogenannten  akademischen 
Gymnasien  wurden  theologische  und  philosophische  Vorlesungen  und 
Disputationen  gehalten,  wie  auf  den  Universitäten.  Von  dem  oben  er- 
wähnten A.  Reyheb,  der,  ehe  er  nach  Gotha  gerufen  wurde,  Rektor 
des  Gymnasiums  zu  Schleusingen  war,  das  zu  einer  akademischen  Lehr- 
anstalt sich  zu  erheben  wenigstens  trachtete,  wird  berichtet,  daß  er  in 
den  Jahren  seines  dortigen  Rektorats  von  1633 — 1637  mindestens 
41  öflFentliche  Disputationen  gehalten  habe,  in  denen  bald  Ethik,  Öko- 
nomik, Politik  und  Geschichte,  bald  Metaphysik,  Pneumatik,  Physik, 
Arithmetik,  Geometrie,  Geodäsie,  Statik,  Architektonik,  Sphärik,  Theorik, 
Astronomie,  Komputus,  Musik  und  Optik  (mit  der  Sache  kehren  auch 
die  mittelalterlichen  Namen  wieder)   behandelt   wurde.    In   denselben 


478     II J,  1,    Begimiendes  Erwaofien  des  modernen  Geistes  u.  s.  w- 


Jahren  hielt  außerdem  der  Konrektor  noch  zehn  Disputationen  de  rhe- 
torica,  de  affectionibtts  troporum  etc.  Zu  den  Disputationen,  bei  denen 
Schüler  opponierten  und  respondierten,  kamen  auch  die  benachbarten 
Pfarrer  und  Schulmeister,  sowie  etwaige  fremde  Gelehrte.^ 

^  G.  Weicker,  Geschichte  des  Gymnasiums  zu  Schleusingen  (Meiningen, 
1877).  Die  Heranziehung  der  Geistlichen  zu  den  Disputationen  wird  auch  sonst 
erwähnt,  z.  B.  in  Ellendts  Geschichte  des  Gymnasiums  zu  Eisleben,  wo  über 
den  Unterricht  in  diesem  Zeitraum  überhaupt  ausführlich  gehandelt  ist  Im 
Grauen  Kloster  zu  Berlin  kamen  die  Disputationen  über  philosophische  und 
theologische  Materien  unter  dem  Rektorat  G.  Gütkes  (1618—1634),  eines  Schülers 
der  Wittenberger  Universität,  in  Aufnahme;  er  nennt  sie  delieium  yneum  et 
laboris  levamen  (Heidemann,  141).  Als  Gregenstände  einer  Disputation  im  Jahre 
1654  werden  die  Fragen  angeführt:  An  aecidens  possit  esse  sine  stdjecto?  An 
gloriosa  corpora  (die  verklärten  Leiber)  penetrare  possint  non  gloriosa?  Man 
sieht,  wir  sind  ganz  im  Mittelalter.  Der  Göttinger  Pädagogiarch  Fabricius  ver- 
faßte einen  Thesaurus  philosophicus  (1624),  der  in  373  Tabellen  das  Ganze  der 
Philosophie  darstellt:  Logik,  Grammatik,  Rhetorik,  Poetik,  Disputierkunst, 
Analysis,  Genesis,  Metaphysik,  Physik,  Arithmetik,  Geometrie,  Musik,  Optik, 
Astronomie,  Geographie,  Ethik,  Politik,  Ökonomik,  Historie,  quem  etipsum,  so 
berichtet  er  schon  im  Jahre  1624,  divini  spiritus  auxilio^  hahitis  disputatio- 
nibus  136,  feliciter  dbsolvimus  (Pannenborg,  Gott  Progr.  1886.  S.  24>  Über 
ähnliche  Übungen  an  dem  Stettiner  Pädagogium  s.  Wehrmann,  S.  70:  sie  be- 
gannen unter  dem  Rektor  Büteuus  (1602—1606)  hervorzutreten,  es  sind  von 
ihm  gedruckte  Programme  für  48  Disputationen  aus  vier  Jahren  erhalten ;  sein 
Nachfolger  veranstaltete  in  dem  einen  Wintersemester  1606/7  20  Disputationen; 
den  Höhepunkt  erreichte  dieser  Betrieb  aber  erst  unter  dem  Rektor  Micraeliüs, 
der  z.  B.  1658  20  Disputationen  aus  Ciceros  Offizien  halten  ließ.  Die  Programme, 
mit  Thesen  und  Korollarien,  wurden  von  den  Lehrern  verfaßt  und  auf  Kosten 
der  Schüler  gedruckt,  die  sie  als  Respondenten  zu  verteidigen  hatten.  Daneben 
fanden  zahlreiche  Deklamationen  statt,  auch  in  der  Form  von  Gegenreden, 
wieder  mit  großer  Inanspruchnahme  von  Papier  und  Druckerschwärze.  —  Über 
den  gleichen  Betrieb  an  einer  süddeutschen  Schule,  zu  Durlach,  s.  Vierordt, 
S.  65  ff.  —  Noch  mag  eine  Probe  der  logischen  Behandlung  der  Schriftsteller 
aus  der  1648  gedruckten  Praxis  lo(fi<^a  des  Geraer  Rektors  Mitternacht,  eines 
Schulmannes  von  großem  Ruf,  hier  Platz  finden.  Horaz'  carm,  H,  16  wird 
durchgegangen.  Ad  vocem  Luna  (in  Vers  3)  heißt  es:  Quid  proprie  notet  Ijuna, 
liquidissinium  est.  Per  metonymiam  ponitur  pro  nocie,  eui  praeesL  Est  auteni 
individuum  (II,  2),  quamquam  non  ignoramus,  esse  qui  statuant  non  videri  ab- 
surdum, si  vel  fnaxume  Liinam  et  Solem  speciebus  adnumeremus.  Etsi  enim 
una  sattem  sit  Luna  numerOy  non  tarnen  simpliciter  repugnaty  esse  posse  plures. 
Estque  Luna  substantia  (IH,  5)  et  quidem  prima  (HI,  7),  qui^i  neque  in  sub- 
jecto  est,  neque  de  suhjecio  dieittir.  Inde  nihil  ipsi  est  contrarium  (III,  10), 
neque  recipit  magis  aut  minus,  etianisi  quoad  lumen  crescai  atque  deficiat.  Dis- 
paraium  est  Luna  respectu  Solls  et  aliarum  stellarum  (IV,  10).  Posterius  quid 
est  coelo  Luna,  et  quidem  tempore.  Coelum  enim  secundo,  Luna  rero  quarto  die 
rreata.  Simul  est  cum  Sole,  cum  quo  tarnen  dignitate  non  est  simul  (IV,  12). 
Die  Ziffern  verweisen  auf  Mitternachts  Medulla  manualis  logici  Scharfiani 
(Büttner,  Progr.  Gera  1888). 


Urteile  der  Hwmanisten,  479 


Die  letzten  Humauisten  urteilten  hart  über  diese  Bemühungen. 
In  einer  Rede  vom  Jahre  1619  (Henke,  I,  285)  leitet  Calixtüs  den 
Anfang  des  Verderbens  von  diesem  verfrühten  Betrieb  der  Philosophie 
und  Theologie  ab.  Statt  auf  den  Schulen  aus  den  Klassikern  Latein 
und  Griechisch  zu  treiben,  „läßt  man  die  Knaben  zu  den  höheren  und 
realen  Wissenschaften  übergehen  oder  vielmehr  überspringen.  Und  da 
bilden  sich  dann  solche  Schulmeister  was  rechtes  ein,  wenn  sie  lehren, 
was  sie  selbst  nicht  wissen  und  die  Schüler  nicht  verstehen;  die  guten 
Autoren,  welche  die  Vorzeit  als  Lehrer  der  Bildung  und  Rede  aner- 
kannte, nehmen  sie  der  Jugend  aus  der  Hand;  dafür  geben  sie  ihnen 
ihre  eigenen  Kompendien  und  disserieren  nun  mit  den  Knaben  über  die 
materia  prima,  über  ins  principium  individuationis,  über  die  Prädestination 
und  den  Antichrist.  Das  scheinen  ihnen  große  und  wichtige  Dinge  zu 
sein,  dagegen  klein  und  verächtlich  die  Arbeit,  welche  auf  die  Übung 
in  der  schönen  Litteratur  und  den  Sprachen  verwendet  wird." 

In  einer  kurz  vorher  (1605)  gehaltenen  Rede  beklagt  Casblius  den 
Untergang  der  schönen  Wissenschaften  und  prophezeit  die  Barbarei: 
die  griechische  Sprache,  welche  zu  lernen  die  Jugend  vor  100  Jahren 
vor  Begierde  gebrannt  habe,  finde  jetzt  selbst  auf  den  Universitäten 
kaum  noch  einige  Sorge;  auf  einigen  werde  sie  gar  nicht  getrieben, 
auf  anderen  ihre  Lehrer  vor  allen  vernachlässigt.  Ja  selbst  gegen  die 
lateinische  Sprache  werde  man  gleichgültiger.  Zwar  etwas  Latein  reden 
oder  stammeln  lernten  viele,  ausreichend  für  den  gemeinen  Gebrauch; 
aber  sobald  es  sich  um  größere  Dinge  handle,  fehle  es  ihnen,  wie  an 
Gedanken,  so  an  Worten,  und  gar  einen  alten  lateinischen  Autor  zu 
verstehen  oder  zu  erklären,  seien  sie  gar  nicht  fähig.  Ja,  es  gebe  sogar 
I^eute,  welche  die  klassischen  Autoren  als  unsittliche  Heiden  schmähten. 
Sollte  diese  Ansicht  sich  durchsetzen,  dann  werde  die  Barbarei  herein- 
brechen, Tugend  und  gute  Sitten  zu  Grunde  gehen,  von  großen  Thaten 
und  Verdiensten  um  das  Vaterland  nicht  mehr  die  Rede  sein.  Auch 
die  Frömmigkeit  werde  untergehen  und  der  Aberglaube  mit  allen  seinen 
Greueln  und  Verbrechen  und  der  scheußlichsten  Barbarei  allein  übrig 
bleiben.^ 

Caseliüö  war  einer  der  letzten  Humanisten ;  er  hatte  seine  Bildung 
noch  in  der  Schule  Melanchthons  empfangen,  in  Italien  vollendet; 
dann  war  er  erst  am  mecklenburgischen,  hierauf  am  braunschweigischen 
Hof  Prinzenerzieher  gewesen.     Diese  Zeit  war  dahin,   Caseliüs  hatte 

^  CoJwrtatio  ad  Latinum  sermonem  paullo  adcuratius  dUcendum,  ab- 
gedruckt  bei  Burckhardt,  De  fatis  lat.  lingu,  I,  576  ff.  Ahnliche  Klagen  von 
Jos.  ScALioER  aus  Leyden  in  einem  Briefe  an  Caseliüs  bei  Henke,  Calixtus, 
Ö.  217. 


480   HI,  2.  Das  Zeitalter  Ludwigs  XIV.  u.  d.  höfisch-moderne  Bildungsideal. 


sie  überlebt  und  empfand  mit  Bitterkeit,  daß  das  neue  Jahrhundert 
seine  Verdienste  und  Künste  nicht  mehr  nach  Gebühr  schätzte. 


Zwischen  den  Ausläufern  des  16.  Jahrhunderts  uud  dem  Beginn 
einer  neuen  Zeit  in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  liegt  die 
furchtbare  Zeit  des  30jährigen  Krieges,  der  in  Deutschland  alle  Kultur 
niedertrat  und  das  Land  um  mehr  als  ein  Jahrhundert  zurückwarf. 
Ich  verzichte  darauf,  das  Zerstörungswerk,  das  dieser  Krieg  auch  an 
den  Universitäten  und  Schulen  übte,  im  einzelnen  zu  verfolgen.  Ebenso 
verzichte  ich  darauf,  Schauerbilder  aus  dem  Universitätsleben,  wie  sie 
Meyfabt  und  andere  Sittenrichter  der  Zeit  bieten,  hier  nochmals  zur 
Schau  zu  stellen,  oder  die  Geschichte  des  Aufkommens  und  der  Unter- 
drückung des  Pennalismus  hier  auszuführen.  Wen  es  gelüstet,  in  die 
furchtbare  Verwilderung  der  Sitten  und  des  Geschmacks,  die  im  Ge- 
folge des  Kriegs  über  Deutschland  und  im  besonderen  auch  über  die 
akademische  Welt  kam,  einen  Blick  zu  thun,  der  versäume  nicht 
auch  eine  Schilderung  von  E.  G.  Happel,  Der  akademische  Roman 
(Ulm  1690)  zur  Hand  zu  nehmen.  Daß  nur  100  Jahre  später  bei 
diesem  selben  Volk  ein  Goethe  möglich  war,  ist  ein  erstaunliches 
Zeichen  für  die  Lebenskraft  des  deutschen  Volks. 


Zweites  Kapitel. 

Das  Zeitalter  Ludwigs  XIV.  und  das  höfisch  moderne 

Bildungsideal. 

Mit  dem  westfälischen  Frieden  beginnt  ein  neuer  Abschnitt  in  der 
Geschichte  Deutschlands.  Es  ist  ein  neuer  Anfang,  zwar  nicht  in  dem 
Sinne,  daß  große  neue  Ideen,  wie  beim  Beginn  des  16.  Jahrhunderts, 
auf  den  Plan  treten,  wohl  aber  in  dem  Sinne,  daß  nach  der  furcht- 
barsten Verwüstung,  die  vielleicht  jemals  ein  großes  Land  erlitten  hat, 
mit  der  allmählichen  Wiederanpflanzung  der  Kultur  begonnen  wird. 

Für  Form  und  Gehalt  der  Kultur  des  neuen  Zeitalters  ist  es  von 
entscheidender  Bedeutung,  daß  ihr  Träger  die  höfische  Welt,  der  neue 
Herrenstand  des  hohen  und  niederen  Adels  ist.  Es  hat  sich  seit 
dem  Ausgang  des  Mittelalters  eine  ungeheure  Wandlung  in  der  Gesell- 
schaft vollzogen.  Am  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  hatten  die  Städte 
und  das  Bürgertum  die  führende  Stellung  gehabt,  Humanismus  und 
Reformation  hatten  hier  ihre  stärksten  Wurzeln.    Aber  sie  hatten  sich 


SozicUe  Wandlung,  Aufsteigen  des  Adels.  481 


nicht  als  politische  Macht  zu  konstituieren  yermocht;  seit  der  Mitte 
des  16.  Jahrhunderts  waren  sie  auch  im  ökonomisch -sozialen  Nieder- 
gang; der  große  Krieg  drückte  sie  endlich  zur  Unbedeutendheit  herab. 
Als  herrschender  Stand  steht  in  den  auf  den  Krieg  folgenden  andert- 
halb Jahrhunderten  der  Adel  da;  der  hohe  Adel  erreichte  im  west- 
fälischen Frieden  die  formliche  Anerkennung  der  Souveränität;  der  niedere 
Adel  büßte  bei  dem  Übergang  aus  dem  alten  Feudalstaat  in  den  mo- 
dernen Fürstenstaat  zwar  seine  standischen  Rechte  vielfach  ein,  doch 
brachte  er,  als  Hof-  und  Dienstadel  im  Besitz  aller  höheren  Stellen  in 
der  nun  sich  entwickelnden  Militär-  und  Civilverwaltung,  an  Reichtum, 
Einfluß  und  Ansehen  den  Verlust  hundertfaltig  ein.  An  Stelle  des 
heruntergekommenen  und  verarmten  Rittertums  am  Ende  des  15.  Jahr- 
hunderts haben  wir  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  einen  Ökonomisch 
wohl  situierten  Landadel,  der  eben  zum  landwirt-schaftlichen  Großbetrieb 
übergeht,  und  zugleich  als  Umgebung  des  Fürsten  im  Mitbesitz  der 
neuen,  ungemein  gesteigerten  Staatsgewalt  ist  Bürger  und  Bauern 
sind  zur  Masse  herabgedrückt,  ihr  Beruf  ist:  Steuern  zahlen,  Fron- 
dienste leisten  und  das  Menschenmaterial  für  die  stehenden  Heere 
liefern.  Seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  ist,  um  das  gleich  zu 
bemerken,  das  Bürgertum  aufs  Neue  im  Aufsteigen;  und  im  19.  Jahr- 
hundert erreicht  es  wieder  das  Übergewicht.  Gleichzeitig  wird  die 
adlig-höfische  Bildung  durch  die  gelehrt-bürgerliche  des  Neuhumanis- 
mus zurückgedrängt;  wie  denn  Wandlungen  in  den  Bildungsidealen 
jederzeit  auf  soziale  Wandlungen  zurückweisen. 

Ein  sehr  charakteristisches  Anzeichen  für  das  Aufsteigen  des  Adels 
ist  der  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  aufkommende  Brauch,  hervor- 
ragende Bürgerliche,  besonders  Beamte  und  Gelehrte,  später  auch 
Finanzmänner,  zu  adeln.  Die  so  Ausgezeichneten  werden  dadurch  aus 
der  Masse  herausgenommen  und  in  die  Gemeinschaft  des  regierenden 
Standes  erhoben.  Im  16.  Jahrhundert  wäre  die  Adligmachung  eines 
Gelehrten  noch  absurd  gewesen,  man  stelle  sich  vor:  Freiherr  von 
MEiiANCHTHON  oder  Ritter  VON  LuTHEE !  Aber  Freiherr  vonLeibniz  oder 
VON  WoiiPF,  das  klingt  den  Zeitgenossen  ganz  vernünftig,  sie  vergessen 
nie  den  Zusatz  zum  Namen,  wenn  sie  von  ihnen  reden;  es  ist,  als 
fühlten  sie  sich  mit  geehrt,  daß  einer  von  ihnen  zu  solcher  Höhe 
emporgestiegen  ist.  Daß  aber  die  thatsächliche  Stellung  und  Geltung 
des  Simpeln  Dr.  Lutheb  oder  Mag.  Philippus  bei  seinem  Landesherm 
und  beim  deutschen  Volk  eine  sehr  viel  größere  war,  als  diejenige  des 
Freiherm  von  Leibniz  am  Hof  zu  Hannover,  daran  wird  niemand 
zweifeln.  Man  stelle  sich  vor,  ein  Hofprediger  hätte  um  1 700  zu  dem 
regierenden  Herrn  zu  reden  sich  herausgenommen,  wie  Lutheb  zu  und 

Paulsen,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  31 


482    ///,  2,  Das  Zeitalter  Ludwigs  XIV,  u.  d,  höfisdi-moderne  Biidungsideal, 


Ton  Fürsten  und  großen  Hansen  redet!  In  den  Humanisten  und  Belor- 
matoren  war  noch  etwas  von  dem  Selbstgefühl  des  alten  ersten  Standes. 

Auch  das  ist  ein  charakteristisches  Zeichen  der  Wandlung,  daß  die 
Gelehrten  in  der  äußeren  Erscheinung  dem  Ho&nann  es  nachthun.  Im 
16.  Jahrhundert  trug  der  Universitatsprofessor  durchweg  noch,  wie  im 
Mittelalter,  die  klerikale  Tracht;  in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  legte 
er  höfische  Tracht  an:  natürlich,  es  ist  die  einzige,  die  Auszeichnung 
verleiht,  die  klerikale  überlaßt  er  Theologen  und  Schulmeistern.  — 
Auch  der  Student  streckt  sich  nach  diesem  Ziel:  aus  dem  alten  Scholaren 
in  klerikaler  Tracht  ist  im  17.  Jahrhundert  der  kavaliermäßig  gekleidete 
und  auftretende  Student  geworden;  Stiefel  und  Sporen,  Koller  und  Degen, 
Federn  und  Abzeichen  kennzeichnen  den  nach  höheren  Dingen  strebenden. 
In  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  erscheint  das  Tragen  des 
Degens  und  der  zugehörigen  Kleidung  als  allgemeine  Standespfiicht  des 
Studenten.  Natürlich  gehören  auch  kavaliermäßige  Neigungen  dazu,  vor 
allem  Liebschaften  und  Ehrenhändel.  Duelle  und  Duellmandat«  be- 
ginnen seit  dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts.^ 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  in  diesem  Zeitalter  aller  Fortschritt 
von  den  Höfen  ausgeht.  Die  fürstlichen  Residenzen ,  Berlin,  Dresden, 
Hannover,  Braunschweig,  Kassel,  Heidelberg,  Stuttgart,  München,  Wien, 
sind  die  Mittelpunkte  der  Kulturbewegung;  die  alten  Bürgerstädte, 
Nürnberg,  Augsburg,  Ulm,  Straßburg,  Köln,  Erfurt,  Lübeck  u.  s.  w. 
werden  zu  stillen  Landstädten.  Von  bedeutenden  Fürsten  gehen  Im- 
pulse zu  Fortschritten  auf  jedem  Gebiet  aus,  ich  erinnere  an  Männer 
wie  Friedrich  Wilhelm  von  Brandenburg,  Ernst  den  Frommen  von 
Gotha,  August  den  Jüngeren  von  Braunschweig- Wolfenbüttel,  Joh.  Fried- 
rich von  Hannover,  Karl  Ludwig  von  der  Pfalz,  Joh.  Philipp  von  Mainz 
und  Würzburg.  Wir  finden  sie  bemüht,  ihrem  Lande  zuerst  und  vor 
allem  Rechtssicherheit  und  geordnete  Verwaltung,  die  ersten  Bedingungen 
jedes  Kulturfortschritts,  zu  geben ;  sodann  lassen  sie  sich  angelegen  sein, 
die  materielle  Wohlfahrt,  Handel  und  G^werbfleiß  zu  heben;  endlich 
liegt  ihnen  an,  auch  Kunst  und  Wissenschaft  in  ihrem  Lande  anzu- 
pflanzen: ist  die  Macht  des  Hauses  und  der  Glanz  des  Hofes  der  nächste 
Gesichtspunkt,  so  kommt  die  Sache  doch  auch  dem  Lande  zu  gute. 
Im  ganzen  darf  man  sagen:  von  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  bis 
zur  französischen  Revolution  marschiert  in  Deutschland  das  Fürstentum 
an  der  Spitze  der  Kulturbewegung.  So  viel  persönliche  Unzugänglich- 
keit, so  viel  Größenwahn  und  kraftvergeudende  Staat-  und  Souveränität- 


^  Michaelis,  Rädonnemeiitf  I,  15.    Siehe  über  diese  Dinge  auch  Keil,  Grescfa. 
des  Jenaischen  Studeutenlebens. 


Die  Höfe  und  der  moderne  Staat  als  Kulturträger.  483 


Spielerei,  so  viel  hohle  Fmnksacht  und  nichtswürdige  Mätressenwirtschaft 
mit  unterläuft  und  durch  Vergeudung  der  Mittel  des  Landes  die  öko- 
nomische und  kulturelle  Entwickelung  hemmt,  so  hat  das  Fürstentum 
im  ganzen  doch  seine  Aufgabe:  dem  deutschen  Volk  den  Anschluß  an 
die  Kulturbewegung  des  fortgeschritteneren  Westens  zu  vermitteln, 
gelöst. 

Es  ist  der  moderne  Staat  mit  seiner  YoUgewalt  über  das  Leben 
seiner  Bürger,  der  in  der  Qestalt  der  fürstlichen  Souveränität  sich  zuerst 
ankündigt  Ein  stehendes  Heer  ist  das  Bückgrat  der  neuen  Staats- 
gewalt, die  Eameral-  und  Steuerverwaltung  hat  die  äußeren  Mittel  zu 
schaffen ;  damit  entsteht  die  auf  die  Hebung  des  Wohlstandes  gerichtete 
Politik:  die  Macht  des  Fürsten  ruht  auf  der  Leistungsföhigkeit  der 
Unterthanen.  Hiermit  hängt  wieder  zusammen  die  Förderung  des 
Schulwesens  und  der  Wissenschaft:  Wissen  ist  Macht,  der  Satz 
Bacons  ist  die  Grundlage  der  Schulpolitik  des  modernen  Staats.  Be- 
sonders gilt  das  von  der  neuen  Wissenschaft,  der  die  Zeit  überall  das 
lebhafteste  Intere^e  zuwendet,  der  experimentellen  Naturwissenschaft 
und  ihrer  Gehilfin,  der  Mathematik.  Die  Mutter  der  Erfindungen,  wird 
sie  die  Grundlage  der  Naturbeherrschung.  Sie  hat  nicht  bloß  theore- 
tische Bedeutung,  wie  die  alte  philosophische  Physik,  sondern  sie  hat 
ein  sehr  praktisches  Interesse,  das  als  kameralistisches  den  Staat  un- 
mittelbar angeht.  Auch  die  neuen  Künste  des  Kriegs  beruhen  auf 
Mathematik  und  Naturwissenschaft.  So  drängt  sich  von  allen  Seiten 
her  dem  modernen  Staat  die  Fürsorge  für  den  Unterricht  in  den 
Wissenschaften  auf,  er  bedarf  ihrer  für  seine  Militär-  und  Civilbeamten. 
Aber  er  bedarf  auch  des  allgemeinen  Unterrichts:  er  kann  die  Unter- 
thanen,  deren  persönliche  und  ökonomische  Leistungsfähigkeit  er  schon 
im  Interesse  der  Steigerung  der  eigenen  Machtmittel  heben  will,  nicht 
erreichen  und  fassen,  wenn  sie  nicht  so  viel  Schulbildung  haben,  um 
Verordnung  und  Belehrung  aufnehmen  zu  können.  Daher  die  jetzt 
überall  beginnende  Fürsorge  der  Obrigkeit  für  die  Volksschule.  Es 
beginnt  das  Zeitalter  des  staatlichen  Schulzwangs.  In  wirksamer  Weise 
hat  sich  wohl  zuerst  Herzog  Ernst  der  Fromme  von  Gotha  der  Sache 
angenommen.  Sein  Schulmethodus  (bei  Vobmbaum,  II,  295  ff.),  der 
1642  zum  erstenmal  gedruckt  wurde,  bezeichnet  einen  wichtigen  Grenz- 
stein in  der  Geschichte  des  deutschen  Volksschulwesens.  Die  Pflanzung 
und  Erhaltung  christlicher  Lehre  und  Zucht  ist  der  eine,  die  An- 
pflanzung nützlicher  Fertigkeiten  und  notwendiger  Erkenntnis  von  natür- 
lichen und  politischen  Dingen  ist  der  andere  Gesichtspunkt,  den  der 
fürstliche  Oberschulmeister  des  Landes  im  Auge  hat.  —  Die  kleinen 
mitteldeutschen  Fürstentümer  schlössen  sich  alsbald  dem  Vorgang  an; 

31* 


484    III,  2,  Das  Zeitalter  Ludwigs  XIV,  u,  d,  höfisch-moderne  Bildungsideal, 


die  größeren  nord-  und  süddeutschen  Territorien  folgten  allmählich  im 
Verlaufe  des  1 8.  Jahrhunderts.  Für  Preußen  ist  die  Regierung  Fried- 
rich Wilhelms  I.  eine  Zeit  bedeutender  Thätigkeit. 

Die  Masse  der  Bevölkerung  ließ  diese  Bestrebungen  passiv  über 
sich  ergehen.  Sache  des  Fürsten  ist  das  Gebieten,  Sache  des  Unter- 
thanen  das  Gehorchen,  das  ist  die  politische  Anschauung  dieses  Zeit- 
alters. Der  Fürst,  der  jetzt  beide  Schwerter,  nach  alter  Redeweise,  in 
der  Hand  hält,  das  weltliche  und  das  geistliche,  ist  die  leitende  Ver- 
nunft des  Landes,  die  Bevölkerung  der  ausführende  Körper.  Alle 
Lebensbethätigung  erwartet  von  ihm  den  Anstoß  oder  steht  doch  unter 
seiner  Eontrolle.  Sehr  bestimmt  spricht  Herzog  August  der  Jüngere 
von  Braunschweig-Wolfenbüttel  am  Eingang  seiner  Schulordnung  vom 
Jahre  1651  dies  Prinzip  aus:  „Nun  diktieret  die  Vernunft  selbst,  daß 
zu  Erhaltung  solches  hochnützlichen  Zwecks,  aller  Menschen  zeitlicher 
und  ewiger  Glückseligkeit,  zweierlei  Hauptmittel  verordnet:  Erstlich 
daß  die  Jugend  fleißig,  mit  großer  Behutsamkeit  und  ziemlicher  Strenge 
erzogen,  vom  Bösen  abgehalten  und  hingegen  zu  allem  Guten  gewöhnet; 
zum  andern  daß  denjenigen,  so  ihre  Jahre  erreichet  und  nun  mehr  voll- 
ständige cives  rei  publicae  geworden  sind,  keineswegs  vergönnet 
werde,  ihres  eigenen  Willens  und  Gefallens  zu  leben,  sondern 
daß  auch  dieselben  durch  obbemelte  media  (Belohnungen  und  gebühr- 
liche Zwangsmittel)  gehalten  werden,  allen  Wandel,  Thun  und  Lassen 
dergestallt  im  ganzen  Leben  anzustellen,  wie  es  die  von  Gott  zu  dem 
End  verordnete  Obrigkeit  nach  der  Richtschnur  göttlichen  Worts  und 
der  Ehrbarkeit  gebeut'-  (Vobmbaüm,  II,  207). 

Man  sieht,  die  weltliche  Obrigkeit  hat  die  geistliche  Gewalt,  der 
Staat  hat  die  Kirche  ganz  in  sich  aufgenommen:  er  regiert  das  ganze 
Leben.  Sein  erster  und  wesentlicher  Gesichtspunkt  aber  ist:  diesseitige 
Wohlfahrt  Die  jenseitige  Glückseligkeit  steht  zwar  auch  auf  dem 
Plan,  aber  sie  tritt  in  die  zweite  Linie.  Damit  verlieren  die  Dinge, 
woran  sie  hängt,  der  richtige  Glaube  und  der  richtige  Kult,  an 
Wichtigkeit 

So  entspricht  dem  Umschwung  in  der  sozialen  und  politischen 
Welt  ein  Umschwung  in  der  geistigen  und  wissenschaftlichen  Welt 
Die  Theologie,  die  Wissenschaft  des  alten  ersten  Standes,  sinkt  mit 
diesem  im  Ansehen.  Mehr  und  mehr  wird  sie  auf  der  einen  Seite  von 
der  Naturwissenschaft,  der  Wissenschaft  von  der  diesseitigen  Welt^  auf 
der  andern  Seite  von  den  neuen  Staatswissenschaften,  der  Wissenschaft 
des  neuen  ersten  Standes,  zurückgedrängt.  ,  Den  Theologen  entgleit-et 
die  Führung  im  geistigen  Leben.  Theologische  Kontroversen,  die  im 
16.  Jahrhundert   die  Höfe   in   leidenschaftliche  Aufregung   versetzten, 


Die  konf,  Theologie  sinkt,  Natyr-  u.  Staatswissenschaften  im  Aufsteigen,    485 

begegnen  jetzt  sehr  kühler  Aufnahme,  meist  werden  sie  mit  der  An- 
weisung, Frieden  zu  halten,  abgefertigt;  allzu  eifrigen  Verteidigern  ihrer 
Ansichten  wird  wohl  auch  mit  ernsteren  Mitteln  beigebracht,  daß  Sere- 
nissimus das  Eetzermachen  nicht  liebe,  man  denke  an  den  großen 
Kurfürsten  und  Paul  Gebhabd.  Der  Herrenstand,  den  Angelegen- 
heiten dieser  Welt  zugewendet,  ist  der  Natur  der  Dinge  nach  nicht 
eben  geneigt,  gelehrten  Kontroversen  große  Bedeutung  beizumessen, 
mögen  Schulfüchse  darüber  streiten.  Auch  theologische  Streitfragen 
machen  davon  keine  Ausnahmen;  und  sie  werden  ärgerlich,  wenn  sie 
politischen  Interessen  zuwider  laufen.  Dazu  kommt,  daß  mit  zu- 
nehmender Bildung  in  diesen  Kreisen  sich  leicht  eine  Neigung  zum 
Spiel  mit  skeptischen  und  profanen  Ansichten  einstellt;  sie  hat  ihren 
Boden  in  elftem  Leben,  das  dem  Druck  der  Arbeit  und  Sorge  ent- 
nommen ist  und  dem  Spiel  und  Scherz  sich  hingiebt;  man  denke  an 
Montaigne  und  Heinrich  IV.  Auch  in  den  höfischen  Kreisen  Deutsch- 
lands tritt  mindestens  eine  gewisse  Gleichgültigkeit  gegen  die  konfessio- 
nellen Unterschiede  seit  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  überall 
hervor;  hielt  doch  Karl  Ludwig  von  der  Pfalz  es  für  möglich,  den 
Juden  Spinoza,  von  dem  er  freilich  wohl  wenig  wußte,  als  Lehrer  der 
Philosophie  an  seine  Universität  zu  berufen.  Glücklicherweise  war 
der  Philosoph  besonnener  als  der  Kurfürst  und  so  wurde  beiden  eine 
große  Enttäuschung  erspart.  Der  Lutheraner  Leibniz  stand  im  Dienst 
des  Erzbischofs  von  Mainz  und  des  Konvertiten  Boineburg,  dann  des 
Konvertiten  Johann  Friedrich  von  Hannover.  Aus  der  politischen 
Gleichgültigkeit  gegen  die  theologischen  Unterschiede  der  Konfessionen 
gingen  die  Bestrebungen,  die  auf  die  Reunion  der  Kirchen  gerichtet 
waren,  hervor  und  an  politischen  Gründen  scheiterten  sie.  Von  Leibniz, 
der  auch  hierbei  die  Hand  im  Spiele  hatte,  wird  erwähnt,  daß  er  als 
junger  Mann  sich  rühmte  ein  Gebet  erfunden  zu  haben,  das  nicht  nur 
jeder  Christ,  sondern  auch  ein  Jude  und  Muhammedaner  beten  könne 
(GüHRAüER,  Leibniz,  I,  18).  Wie  übrigens  in  bürgerlichen  Kreisen 
über  solche  Weitherzigkeit  damals  noch  gedacht  wurde,  kann  man  aus 
den  ängstlich  besorgten  Briefen  der  LEisNizschen  Geschwister  an  den 
politischen  und  höfischen  Bruder  ersehen  (Werke,  herausg.  von  Klopp, 
III,  XII  flF.). 

Als  die  anerkannten  Führer  im  geistigen  Leben  traten  an  die 
Stelle  der  Hoftheologen  mehr  und  mehr  die  Männer,  die  das  natürliche 
Weltbild  und  die  philosophische  Weltanschauung  neu  gestaltet  haben. 
Das  18.  Jahrhundert  erblickt  die  Väter  seines  Denkens  und  Glaubens 
in  KoPEENicus  und  Kepler,  in  Galilei  und  Descaetes,  in  Habvet 
und  BoYLE,  in  Newton  und  Hüyghbns,  in  Bacon  und  Hobbes.    In 


486   in,  2,  Das  Zeitalter  Ludivigs  XIV.  u.  d,  höfisch-moderne  BildungsideaL 


Deatschland  sind  unter  den  ersten  Trägem  der  neuen  Anschauungs- 
weise Leibniz  und  Pufekdobff  als  Führer  zu  nennen;  jener  pflanzte 
die  neue  theoretische  Philosophie,  dieser  die  moderne  Staatswissenschaft 
auf  deutschem  Boden  an.  Unter  den  Pflegern  der  jungen  Anpflanzung 
ragen  Che.  Thomasiüs  und  Che,  Wolff  hervor.  Man  vergleiche,  um 
des  Umschwungs  der  Zeiten  inne  zu  werden,  die  Stellung,  die  Kopeb- 
NICU8  und  Kepleb  unter  ihren  Zeitgenossen  einnahmen,  mit  der,  die 
Newton,  Leibniz,  Püfendokff,  Wolff  inne  hatten:  jene  unbekannt 
oder  verfolgt,  diese  die  vielbewunderten  und  vielgepriesenen  großen 
Leuchten  in  der  wissenschaftlichen  Welt.  Neben  ihnen  erscheinen  die 
Hofprediger  des  17.  und  18.  Jahrhunderts,  die  Nachfolger  der  Amsi>oef, 
Flaciüs,  Chemnitius  und  wie  die  Berühmtheiten  des  16.  Jahrhunderts 
heißen,  als  gar  kleine  Lichter. 

Im  Zusammenhang  mit  der  Wandlung  in  der  äußeren  Stellung 
der  Theologie  steht  eine  in  demselben  Zeitalter  sich  vollziehende  innere 
Wandlung:  das  Aufkommen  des  Pietismus.  Innere  Abwendung  von 
der  gelehrten  Theologie,  von  den  Systemen  der  orthodoxen  Dogmaük, 
Hinwendung  zum  Erbaulichen,  zum  praktischen  Christentum,  das  sind 
die  herrschenden  Züge  der  neuen  Richtung,  die  seit  dem  letzten  Viertel 
des  17.  Jahrhunderts  im  Vordringen  ist  Nicht  um  eine  neue,  von 
der  alten  abweichende  Lehre  handelt  es  sich  dabei,  sondern  um  eine 
andere  Wertung  der  Lehre:  das  Christentum  ist  nicht  bloß  und  nicht 
wesentlich  Lehrsystem,  sondern  vielmehr  Prinzip  eines  neuen  Lebens; 
die  Lebensemeuerung  ist  wichtiger  als  die  Korrektheit  in  allen  Punkten 
der  Lehre.  Begreiflich,  daß  die  alte  auf  den  Universitäten  herrschende 
Schultheologie  darin  einen  Angriff*  auf  ihre  Existenz  erkannte  und  den 
Pietismus  als  Heterodoxie,  als  Indifferentismus  brandmarkte:  wozu  hätte 
sie  dann  über  hundert  Jahre  lang  um  die  Reinheit  der  Lehre  gekämpft? 
Ja,  wozu  wäre  Lütheb  gewesen,  dem  die  reine  Lehre  über  alles  ging? 
Wogegen  freilich  der  Pietismus  auf  den  Luthee  von  1520,  den  großen 
Feind  der  Schultheologie,  den  gewaltigen  Prediger  der  fides  gegen  das 
autorisierte  credo  sich  berufen  konnte.  Und  bei  den  weltlichen  Ge- 
walten fand  die  neue  religiöse  Richtung  bald  Freunde  und  Gönner. 
Es  kamen  ihr  hier  entgegen  einerseits  die  wachsende  Abneigung  gegen 
die  Streittheologie  und  die  zunehmende  Gleichgültigkeit  gegen  die  dog- 
matische Fassung  der  Lehre,  andererseits  die  Richtung  auf  das  Prak- 
tische, auf  Verbesserung  der  Erziehung  und  der  Sitten.  Es  geht  ein 
tiefes  Gefühl  durch  die  Zeit,  daß  die  Reformation  auf  ein  falsches  Ge- 
leise gekommen  ist,  daß  es  sich  im  Grunde  doch  nicht  darum  gehandelt 
habe,  aus  dem  Wort  Gottes  ein  neues  theologisches  Lehrgebäude  zu  er- 
richten, sondern  Christi  Lehre  im  Leben  wirksam  zu  machen. 


Ansehen  des  Altertums  im  Sinken.  487 


So  arbeiteten  weltliche  und  geistliche,  wissenschaftliche  und  gefühls- 
mäßige Antriebe  zusammen ,  der  Herrschaft  der  alten  Schultheologie 
ein  Ende  zu  machen. 

Auch  das  andere  Element,  auf  dem  die  geistige  Welt  des  16.  Jahr- 
hunderts ruht,  das  Altertum  oder  der  klassische  Humanismus, 
verliert  an  Geltung.  Auch  ihm  wirken  die  beiden  führenden  Tendenzen 
der  Zeit,  die  rationalistisch-kulturelle  Richtung  der  höfischen  Welt  und 
die  pietistische  Richtung  der  kirchlich-religiösen  Kreise  entgegen.  Der 
Pietismus,  der  überhaupt  nicht  zur  Hochschätzung  des  Wissens  und  der 
Bildung  neigt,  darin  dem  Urchristentum  sich  verwandt  fühlend,  ist  der 
klassischen,  der  heidnisch-humanistischen  Bildung  der  Renaissance,  ihrer 
Selbstgerechtigkeit,  ihrem  Hochmut,  ihrer  diesseitigen  Weltlichkeit,  mit 
seinem  innersten  Wesen  entgegengesetzt  Die  rationalistisch-kulturelle 
Richtung  ist  an  sich  zwar  der  Welt-  und  Lebensanschauung  des  klassi- 
schen Altertums  verwandt.  Aber  dem  überlieferten  humanistischen 
Schulbetrieb  wird  sie  noch  mehr  als  der  Pietismus  gefahrlich,  sie  ist 
geneigt,  ihn  für  veraltet  und  überflüssig  anzusehen:  wir  können  vom 
Altertum  nichts  mehr  lernen,  wir  sind  ihnen  in  den  Wissenschaften 
überlegen.  Vor  allem  gilt  das  von  der  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaft; hierin  haben  wir  unzweifelhaft  die  Griechen  überholt;  damit 
aber  haben  wir  sie  auf  dem  grundlegenden  Gebiet  der  Philosophie 
überholt  Wir  können  von  ihnen  überhaupt  nichts  Wesentliches  lernen. 
Dem  Mittelalter  mochte  Aristoteles  ein  tauglicher  Lehrer  sein,  uns 
kann  er  es  nicht  mehr  sein. 

Schon  Fe.  Bacon  spricht,  vielleicht  ein  wenig  verfrüht,  diese  An- 
schauung überall  auf  das  lebhafteste  aus.  Unserer  Zeit,  meint  er  (Nov. 
Org.  I,  84),  kommt  das  höhere  Alter  zu,  nicht  den  sogenannten  Alten ; 
und  wie  wir  größere  Einsicht  in  menschliche  Angelegenheiten  und  ein 
reiferes  Urteil  von  einem  älteren  Mann  als  vom  Jüngling  erwarten,  um 
der  Erfahrung  und  der  Mannigfaltigkeit  und  Fülle  der  Dinge  willen, 
die  jener  sah  und  hörte  und  dachte,  so  muß  man  auch  billig  von 
unserer  Zeit  mehr  als  von  den  Alten  erwarten.  Und  wäre  es  nicht 
schimpflich,  wenn  wir,  die  wir  durch  Schififahrt  und  Reisen  unsere 
Kenntnis  der  äußeren  Welt  so  sehr  erweitert  haben,  in  der  intellektuellen 
Welt  uns  in  den  engen  Schranken  der  antiken  Vorstellungen  festhalten 
ließen?  —  Die  ganze  Physik  des  Aristoteles  will  Bacon  nicht  einmal 
für  einen  Anfang  der  wahren  Naturwissenschaft  gelten  lassen:  sie  tauge 
zum  Disputieren,  aber  nicht,  was  das  Kennzeichen  der  wirklichen  Er- 
kenntnis sei,  zur  Beherrschung  der  Dinge. 

Mehr  berechtigt  als  bei  Bacon  ist  das  Selbstgefühl,  womit  Descabtes 
es  ablehnt  ein  Schüler  der  Alten  zu  sein.  Er  hatte  sich  bekanntlich  in 


488    ///,  2.  Das  Zeitalter  Ludwigs  XIV.  u.  d.  höfisch-moderne  BUdungsideal, 

den  letzten  Jahren  seines  Lebens  überreden  lassen,  zu  dem  litterarisch- 
wissenschaftlichen  Hofstaat  za  gehören,  den  die  Königin  Christine  von 
Schweden  um  sich  versammelte.  Dazu  gehörte  auch  der  Philologe 
IsAAC  Vossius.  Als  die  Königin  von  diesem  sich  im  Griechischen 
Unterricht  geben  ließ,  bemerkte  Descartes:  „Ich  bin  erstaunt,  daß  Eure 
Majestät  an  diesen  Sächelchen  Gefallen  findet;  ich  bin  als  kleiner  Knabe 
in  der  Schule  auch  damit  vollgestopft  worden,  aber  seitdem  ich  zu 
meinen  vernünftigen  Jahren  gekommen  bin,  hab  ich  glücklicherweise 
das  alles  vergessen."  Griechisch  und  Lateinisch  zu  verstehen,  meint  er 
ein  andermal,  sei  für  einen  gebildeten  Mann  nicht  mehr  Pflicht  als 
Schweizerdeutsch  oder  Niederbretonisch,  und  die  Geschichte  des  deutschen 
oder  römischen  Reichs  gehe  ihn  nicht  mehr  an,  als  die  des  kleinsten 
Ländchens  in  Europa.  Auf  ein  Skelet  zeigend,  sagt  er:  das  sind  meine 
Bücher.^  Das  ganze  Selbstgefühl  des  modernen,  mathematisch -natur- 
wissenschaftlichen Forschers  spricht  aus  diesen  Worten.  Er  verachtet 
die  Bücher,  denn  er  glaubt  die  Dinge  selbst  aus  der  Vernunft  zu  er- 
kennen ;  er  verachtet  die  Historien,  denn  er  sucht  das  Allgemeine  und 
das  Gesetz;  er  verachtet  die  Alten,  denn  sie  hatten  noch  keine  Wissen- 
schaft. —  Wie  Bacon,  so  erwartet  auch  Descaetes  von  der  neuen 
Wissenschaft  die  größten  praktischen  Erfolge;  in  dem  letzten  Abschnitt 
seines  wissenschaftlichen  Programms,  des  Diskurses  von  der  Methode, 
entwickelt  er,  wie  jener  in  der  Nova  Atlantis,  in  einigen  Zügen  ein 
Zukunftsbild  der  vollkommenen  Kultur:  der  Mensch,  durch  Natur- 
wissenschaft Herr  der  Elemente  und  der  Kräfte,  durch  Medizin  im  Be- 
sitz der  vollkommenen  Gesundheit,  vielleicht  der  Altersschwäche  selbst 
sich  erwehrend,  erreicht  durch  Erziehung  und  Einsicht  auch  die  voll- 
kommene Tugend  und  die  vollkommene  Glückseligkeit 

Man  sieht,  das  Selbstbewußtsein  der  Menschheit  hat  eine  völlige 
Umkehrung  erfahren.  Bisher  war  der  Blick  rückwärts  gerichtet  Das 
Mittelalter  hat  die  Propheten  und  Apostel,  die  großen  Heiligen  und 
Lehrer  in  femer  Vergangenheit  erblickt  und  mit  demütiger  Ehrfurcht 
zu  den  Unerreichbaren  hinaufgesehen.  Den  humanistischen  Poeten  und 
Oratoren  fehlte  es  zwar  keineswegs  an  zuversichtlichem  Selbstgefühl, 
aber  den  Alten  sich  gleichzustellen  war  im  Ernst  doch  kaum  irgend 
einem  eingefallen:  sie  blieben  die  ewigen  und  unübertrefflichen  Muster. 
Dieses  PJpigonengefühl  begann  jetzt  einer  anderen  Lebensstimmung  zu 
weichen:  nicht  hinter  ihnen,  so  fühlten  Bacon  und  Descabtes  und 
mit  ihnen   die   folgenden  Geschlechter,  sondern  vor  ihnen  liege   das 


*  RiOAULT,   Histoire  de  la  querelle  des  and^ns  et  des  modernes,  p.  52  ff.; 
woselbst  eine  Reihe  älinlicber  Urteile  von  Cartesianeni. 


Ansehen  des  Alteiiums  im  Sinken,  489 


Vollkommene,  und  sie  selbst  seien  berufen,  zu  ihm  hin  zu  fuhren.  Das 
ganze  18.  Jahrhundert  ist  durchdrungen  von  dem  freudigen  Bewußt- 
sein des  eigenen  Vermögens,  von  dem  Stolz  auf  das  Erreichte,  von 
enthusiastischer  Hofihung  auf  das  Zukünftige.  Es  ehrt  die  Alten,  aber 
nicht  als  die  Vollender,  sondern  als  die  Anfanger;  er  will  sie  nicht 
mehr  nachahmen,  sondern  übertreffen. 

Die  Berliner  Akademie  stellte  für  das  Jahr  1797  die  Preisfrage: 
Welche  Vorteile  das  gegenwärtige  Zeitalter  aus  der  Kenntnis  und  histo- 
rischen Untersuchung  des  Zustandes  der  Wissenschaftien  bei  den  Alten 
ziehen  könne?  In  der  einen  der  beiden  gekrönten  Arbeiten,  von 
D.  Jenisgh,  einem  Schüler  Kants,  heißt  es  (S.  83):  „das  Ansehen  der 
Alten,  besonders  in  allem  was  Wissenschaft  betrifft,  sinkt  und  sinkt 
für  immer  —  zum  Heil  der  Wahrheit  und  der  Kultur!  Denn  mit 
mutigeren  Schritten  eilt  nun  das  vorurteilfreie  Genie  dem  glorreichen 
Ziel  der  Wahrheit  entgegen.  Die  Kepler,  Newton,  BoyiiE,  Leibniz 
strahlen  am  Horizont  Europas  herauf  und  der  Glanz  der  Namen  Plato, 
Aristoteles,  Epikur,  Plinius,  Seneca  und  vieler  anderer  erlischt  vor  ihnen, 
wie  Mond  und  Morgenstern  vor  der  Schöpferin  des  Tages".  —  Übrigens 
hindert  diese  Ansicht  Jenisch  so  wenig  als  den  Verfasser  der  anderen 
Preisschrift,  den  Marburger  Tiedemann,  die  Frage  nach  den  Vorteilen 
der  Kenntnis  der  Alten  positiv  zu  beantworten,  wobei  jener  die  schöne, 
dieser  die  wissenschaftliche  Litteratur  hervorhebt 

Diese  Stimmung  gegen  das  Altertum  fand  neue  Nahrung  in  der 
politischen  und  litterarischen  Entwickelung.  Das  französische 
Volk  übernahm  hierin  die  Führung.  Der  Staat,  in  der  Hand  eines 
starken  Königtums  zusammengefaßt,  entwickelte  sich  hier  zu  einer  Größe 
militärischer  und  ökonomischer  Macht,  zu  einer  Festigkeit  des  Baues, 
einer  Sicherheit  der  Regierung  und  Verwaltung,  einer  überschwäng- 
lichen  Herrlichkeit  der  äußeren  Erscheinung,  daß  dagegen  die  Stadt- 
staaten und  Bünde  der  Alten  als  unentwickelte  politische  Bildungen 
erschienen.  Gleichzeitig  erreichte  die  französische  Sprache  ihre  voll- 
endete Ausbildung;  es  entstand  eine  reiche  Litteratur  mit  feinster  und 
sorglich  gehüteter  Formentwickelung.  So  schien  das  Altertum  auch  in 
dieser  Hinsicht,  wenn  nicht  übertroffen,  so  doch  von  einer  ebenbürtigen 
modernen  Kultur  erreicht. 

La  belle  antiquite  fut  toujours  venirable, 

Mais  je  ne  crus  jamais  qv^elle  fut  adorable. 

Je  vois  les  Anciens,  sans  plier  les  genoux, 

Hs  sont  grandsj  il  est  vrai,  mais  hommes,  comme  nous. 

Et  Pon  peut  comparer,  sans  craindre  (fStre  injuste, 

Le  Siede  de  Louis  au  beau  Siecle  cP Auguste. 


490   ni,  2.  Das  Zeitalter  Ludioigs  XIV,  u,  d.  höfisch-moderne  Bildungsideal, 


So  Pereault,  der  Sänger  des  Siecle  de  Louis  le  Grand,  der  Ver- 
fasser der  Parallele  des  Änciens  et  des  Modernes, 

Für  die  humanistische  Poesie  war  hier  kein  Baum  mehr.  Jean 
LE  Clerc,  der  als  Herausgeber  der  Bibliothique  universelle  viele  Jahre 
lang  von  Amsterdam  aus  die  litterarische  Welt  richtete,  sprach  der 
neulateinischen  und  neugriechischen  Poesie  das  Urteil:  Viele  Moderne, 
die  lateinische  oder  griechische  Verse  gemacht  haben,  gleichen  den 
Alten,  wie  Affen  den  Menschen;  sie  treffen  ihre  Fehler,  aber  nicht  ihre 
Tugenden.  Anstatt  bedeutender  und  erhabener  Gedanken  bieten  sie 
platte  und  kriechende;  anstatt  eines  reinen  und  gedrängten  Stils  sind 
ihre  Verse  voll  verdächtiger  Wendungen  und  langweiliger  Wieder- 
holungen, voll  synonymer  Ausdrücke,  welche  von  den  Alten  entlehnt, 
aber  am  verkehrten  Ort  angebracht  sind.  Die  alten  Dichter  würden 
diese  Verse  lächerlich  finden  und  nicht  begreifen,  daß  es  Leute  giebt, 
welche  damit  ihre  Zeit  verderben.  Die  modernen  Poeten  sind  elende 
Nachahmer,  ohne  Originalität,  sie  sind  Dichter  nur  durch  Routine  und 
Imitation.  Um  sich  von  diesem  Knechtsgeist  der  Nachahmung  zu  be- 
freien, muß  man  in  seiner  eigenen  Spi*ache  schreiben.  Dann  denkt 
man  nicht  an  die  Ausdrücke  und  Sentenzen  der  Alten,  sondern,  da 
man  voll  ist  von  modernen  Wörtern  und  Ideen,  die  man  völlig  in  der 
Gewalt  hat,  wird  man  selbst  Original.^ 

Die  politische  Übermacht  Frankreichs  und  das  Übergewicht  seiner 
geistig-litterarischen  Bildung  war  während  des  auf  den  westfälischen 
Frieden  folgenden  Jahrhunderts  so  groß,  daß  das  zersplitterte,  zer- 
rissene, niedergetretene  Deutschland  in  vollständige  Abhängigkeit  geriet 
Die  vornehme  Welt  bezog  während  dieses  Zeitalters  ihre  Bildung  aus 
Frankreich,  und  die  gelehrte  und  bürgerliche  Welt  war  bemüht,  so  gut 
es  ging,  zu  folgen.  Die  französische  Sprache  wurde  die  Sprache  des 
Staats  und  der  Gesellschaft;  französische  Litteratur  und  Kunst,  fran- 
zösische Sitten  und  Anschauungen  gewannen  in  der  vornehmen  Welt 
ausschließliche  Geltung;  auch  die  französische  Staatseinrichtung  und 
Hofhaltung,  Civil-  und  Militärverwaltung  wurden  treulich  kopiert.    Ein 

^  £s  ist  charakteristifich  für  die  Kulturlage  Deutschlands,  daß  es  hier  noch 
Leute  gab,  die  durch  solche  Sprache  empört  wurden.  Lizelius,  dessen  Historia 
Poetarum  Oraecarum  Germaniae  (1730,  Proleg.  p.  4)  ich  diese  Stelle  aus 
Le  Clebcs  Parrhasiana  ou  Pensees  diverses  sur  des  mativres  de  eritique  efe, 
tom.  I,  p.  4ff.  (Amsterdam  1701)  entnehme,  meint,  das  Urteil  sei  sehr  ungerecht: 
priscos  Poctas,  si  e  mortuis  ad  fios  redirent,  muUos  e  modernis  ceu  fratres  et  in 
aniiqua  Graeeia  ceu  Latio  natos  agnituros  esse  valde  persttctsus  sum,  quemad- 
modum  etiam  credo  eosdetn  ymdtorum  Graecos  et  Latinos  versus  derisuros  esse. 
Er  verweist  dazu  auf  eine  eigene  Schrift  von  dem  berühmten  Kieler  Kortholt, 
worin  dieser  den  Ciericus  zurechtgewiesen. 


Das  neue  Bildungeideal:  der  vollkommene  Hofmann.  491 


Heer  von  deutschen  Reisenden  zog  jährlich  nach  Paris,  dort  die  Sprache 
und  die  Wissenschaften,  die  Künste  and  die  Kondnite  za  lernen.  Dafür 
kam  ein  Heer  von  französischen  Gesandten  und  Residenten,  Prinzen- 
erziehem  und  Gouverneurs,  Tanz-  und  Fecht-,  Sprach-  und  Stallmeistern, 
Köchen  und  BekleidungskünsÜem  nach  Deutschland,  und  bediente  und 
beherrschte  hier  den  hohen  Adel  und  das  verehrliche  Publikum.  Fürsten 
und  Adel,  Diplomaten  und  Gelehrte,  wie  Boinebübo  und  Cokbing, 
nahmen  von  Ludwig  XTV.  Pensionen  und  dienten  seinem  Interesse.  — 
So  niederträchtig  der  bewußte  Verrat  der  Interessen  des  eigenen  Volkes 
bei  Einzelnen,  so  ungeschickt  und  tölpelhaft  bei  Vielen  die  Versuche 
sind,  die  französische  Galanterie  zu  imitieren,  so  wäre  es  doch  thöricht 
zu  verkennen,  daß  die  Aufnahme  der  französischen  Bildung  für  das 
durch  den  Krieg  verwilderte  deutsche  Volk,  wenn  nicht  der  einzige, 
so  doch  der  nächste  Weg  zum  Anschluß  an  die  europäische  Kultur- 
bewegung war. 


Auf  diesem  sozialen  und  geistigen  Boden  ist  nun  das  neue 
Bildungsideal  erwachsen,  das  seit  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
die  Herrschaft  gewinnt.  Im  16.  Jahrhundert  war  es  der  höchste  Ehr- 
geiz eines  jungen  Mannes,  ein  vollkommener  Gelehrter  zu  werden, 
die  beiden  alten  Sprachen  zu  verstehen  und  untadelige  lateinische  Verse 
zu  machen,  auch  für  einen  Prinzen  gab  es  keine  vornehmere  Bildung. 
Dies  alte  Bildungsideal  wurde  jetzt  durch  ein  neues  gänzlich  in  den 
Schatten  gestellt:  das  Ideal  des  vollkommenen  Hofmannes.  Ein 
solcher  ist  vor  allem  an  der  vollkommenen  Herrschaft  über  die  Sprache 
der  neuen  Bildung,  die  französische,  erkennbar;  in  zweiter  Linie  steht 
die  italienische,  die  am  kaiserlichen  Hof  viel  gilt;  doch  gereicht  ihm 
auch  die  lateinische  zum  Nutzen  und  zur  Zierde.  Unter  den  Wissen- 
schaften sind  dem  vollkommenen  Hofmann,  der  als  Militär-  und  Civil- 
bedienter  gleich  verwendbar  ist,  vor  allem  Geschichte  und  Geographie, 
natürlich  moderne,  mit  Genealogie  und  Heraldik,  Statistik  und  Staaten- 
kunde, wichtig.  Daran  schließen  sich  die  Rechts-  und  Staatswissenschaften, 
mit  Moral  und  Naturrecht,  Politik  und  Reichshistorie.  Endlich  sind 
für  ihn  auch  die  mathematischen  Wissenschaften  mit  ihren  vornehmsten 
Anwendungen,  z.  B.  in  Architektur  und  Fortifikation,  sowie  die  neue 
Physik  und  Mechanik,  mit  ihren  Experimenten  und  Inventionen,  von 
Bedeutung.  Zu  den  Sprachen  und  Wissenschaften  kommen  sodann  die 
eigentlichen  Qualitäten  des  Kavaliers:  Reiten,  Fechten,  Tanzen,  Ball- 
spielen, auch  Jagen,  Tranchieren,  ferner  Zeichnen,  Malen,  Musik.  Und 
die  Krönung  der  Bildung  ist  die  conduite,  die  große  Wissenschaft  vom 


492    ///,  2,  Das  Zeitalter  Ludwigs  XIV.  u,  d.  höfiscfi-modeme  BüdungsideaL 


Komplimentieren  und  Diskurieren,  von  Visiten  und  Antichambrieren, 
von  Kleidern  und  Moden.  Sie  wird  durch  den  Verkehr  mit  Leuten 
von  Welt  erworben,  daher  die  Reise  als  das  letzte  große  Mittel  zur 
Vollendung  der  Bildung  in  dieser  Zeit  in  besonderer  Schätzung  steht; 
Frankreich  und  die  Niederlande,  dann  Italien  und  England  sind  das 
regelmäßige  Ziel  Ein  Mann,  der  alle  diese  Dinge  besitzt,  heißt  ein 
galarUhomme;  er  wird  nun  mit  guten  Aussichten  auf  Erfolg  sein  Glück 
bei  Hofe  suchen.  Auf  einen  Gelehrten  nach  dem  alten  Zuschnitt  blickt 
er  mit  souveräner  Verachtung  als  auf  einen  altmodischen  Pedanten  oder 
Schulfuchs  herab. 

Das  ist  das  Bildungsideal,  dem  während  des  folgenden  Jahrhunderts 
die  höfische  Welt  nachstrebt  Es  ist  zunächst  der  Adel,  der  sich  dar- 
nach formt  Aber  die  bürgerliche  Welt  folgt  dem  tonangebenden  Stande, 
wenigstens  von  ferne  und  mit  sehnsüchtigem  Verlangen.  Es  giebt 
für  sie  nichts  Höheres,  als  sich  zur  Aufnahme  in  den  Herrenstand  zu 
qualifizieren,  was  seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  immer  häufiger 
erreicht  wird. 

Selbstverständlich  kann  diese  Bildung  auf  den  alten  Lateinschulen 
nicht  gewonnen  werden.  Die  vornehme  Welt  verläßt  daher  die  alten 
in  Mißachtung  fallenden  Schulen.  An  die  Stelle  tritt  die  Erziehung 
im  Hause  durch  Hofmeister  und  Informatoren,  sie  gehören  in  diesem 
Zeitalter  zu  dem  regelmäßigen  Inventar  eines  großen  Hauses,  oder  die 
neue  Schule  höfischer  Bildung,  die  Ritterakademie,  wovon  im  folgenden 
Kapitel  zu  handeln  sein  wird.^ 


^  Vergl.  hierzu  den  Aufsati:  Die  Idealerziehang  im  Zeitalter  der  Perrücke, 
von  G.  Steimhausen  in  den  Mitteil,  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs- 
geschichte,  Jahrg.  IV,  S.  209  ff.  £Ls  ist  hier  vor  allem  die  umfangreiche  Hof- 
meisterlitteratur  benutzt.  FQr  eine  etwas  spätere  Zeit  bietet  manches  G.  Stephak, 
Die  häusliche  Erziehung  in  Deutschland  während  des  18.  Jahrhunderts  (1891). 
—  Sehr  klar  treten  die  großen  Wandlungen,  die  im  Verlauf  von  5  Jahrhunderten 
in  der  Erziehung  des  Herrenstandes  stattgefunden  haben,  in  Fb.  Schiudts  Gre- 
Bchichte  der  Erziehung  der  bayerischen  Witteisbacher  dem  Lehrer  vor  Augen. 
Im  Mittelalter,  um  mit  ein  paar  Umrißlinicu  die  Sache  zu  skizzieren,  giebt  es 
zwei  nebeneinander  hergehende  Formen  der  Erziehung  des  Herrenstandes:  die 
ritterliche  und  die  klerikale.  Die  letztere  allein,  die  vielfach  für  jüngere  Söhne 
gewählt  wird,  um  sie  für  die  geistlichen  Wahlfurstentümer  zu  habilitieren, 
schließt  schulmäßigen  Unterricht  ein;  wogegen  der  Mann  des  Schwerts  die  kleri- 
kalen Künste  geringschätzt  und  verschmäht.  Im  Zeitalter  des  Humanismus 
kommt  eine  erste  weltlich-litterarische  Bildung  neben  der  klerikalen  auf,  nach 
ihr  beginnt  auch  der  Herrenstand  die  Hand  auszustrecken,  zuerst  in  Italien, 
dann  auch  in  Deutschland.  Im  Reformationsjahrhundert  stellt  sich  dazu  das 
Bedürfnis  theologischer  und  juristischer  Kenntnisse  für  den  Herrenstand  ein. 
Alles  dies  nötigt  ihn  zur  schulmäßigen  Erwerbung  der  Elemente  der  Sprachen 


Leibnix  als  BepräserUent  der  höfischen  Biidungshestrebungen.     493 


Über  das  neue  höfische  Bildungsideal  können  wir  uns,  als  aus 
authentischer  Quelle,  Belehrung  von  dem  Manne  holen,  der  es  in 
Deutschland  zuerst  aufs  vollkommenste  verwirklicht  hat:  es  ist  Leibniz, 
der  Hofphilosoph  von  Hannover  und  Berlin.  Seine  Bedeutung  als  Denker 
und  Forscher  hat  patriotischer  Eifer  vielleicht  hin  und  wieder  über- 
schätzen lassen.  Er  besaß  ohne  Zweifel  eine  glänzende  Begabung,  aber 
die  Begierde,  etwas  damit  und  daraus  zu  machen,  ließ  sie  nicht  zu 
ruhiger  Entwickelung  und  zu  vollem  Fruchttragen  kommen.  Er  hat 
eine  unermeßliche  Kraft  im  Entwerfen  von  Plänen  aller  Art  und  in 
Versuchen,  sie  bei  Fürsten  und  Herren  anzubringen,  verbraucht;  unter 
allen  mit  ihm  lebenden  Menschen  war  er  hierin  ohne  Zweifel  der  größte, 
vermutlich  wird  er  auch  von  keinem  der  vor  und  nach  ihm  lebenden 
erreicht  Und  freilich  sind  seine  Pläne  nicht  leere  Phantasmen,  es  sind 
überall  Divinationen  dessen,  was  kommen  will.  Darum  ist  Leibniz  für 
eine  Geschichte  der  deutschen  Kultur  von  kaum  zu  überschätzender 
Bedeutung;  die  Bestrebungen  des  Jahrhunderts,  an  dessen  Anfang  er 
geboren  ist,  stellt  er  dar,  wie  in  Deutschland  kein  zweiter. 

Seine  Pläne  gehen  auf  nichts  geringeres  als  die  tiefgreifendste  und 
umfassendste  Reformierung  der  gesamten  geistigen  und  wirtschaftlichen 
Kultur  des  deutschen  Volkes  oder  vielmehr  der  ganzen  Menschheit.  Mit 
fieberhafter  Eile  wirft  er  immer  neue  Projekte  aufe  Papier,  zur  Orga- 
nisierung der  wissenschaftlichen  Forschung  durch  Gesellschaften,  zur 
Kodifizierung  aller  wissenschaftlichen  und  technischen  Erfindungen  in 
Encyklopädien,  zur  Erfindung  eines  einheitlichen  Zeichensystems  als 
Organ  des  internationalen  wissenschaftlichen  Verkehrs,  zur  Vereinigung 
der  gespaltenen  Religionsgemeinschaften,  zur  Organisation  des  Buch- 
handels, zur  Reformation  des  Unterrichts,  zur  politischen  Neukonsti- 
tuierung Deutschlands  und  Europas,  zur  Bekehrung  der  Heiden,  zur  Aus- 
führung technischer  Erfindungen,  zur  Verbesserung  des  Bergbaues  u.  s.  f. 
Es  ist  das  Zeitalter    der  Utopien    (ich    erinnere  an   Morus,    Baco, 

uud  Wissenschaften;  das  Universitätsstudium  wird  zur  Regel.  Im  17.  Jahr- 
hundert bricht  sodann  das  höfisch-französische  Bildungsideal  ein,  es  beherrscht 
seit  dem  westfälischen  Frieden  alle  deutschen  Höfe,  die  protestantischen  wie 
die  katholischen;  an  die  Stelle  der  schulmSßigen  Gelehrtenbildung  auf  Universi-' 
täten  tritt  nun  die  Erziehung  durch  Hofmeister,  militärische  und  civile,  und  den 
Abschluß  macht  die  Schule  in  der  Armee  und  in  der  Verwaltung.  Das  19.  Jahr- 
hundert bringt  eine  neue  Wandlung:  das  bürgerliche  deutsch -hellenistische 
Bildungsideal  drängt  das  höfisch -französische  zurück:  die  Könige  Ludwig  L 
und  Maximilian  II.  haben  wieder  von  humanistischen  Schulmeistern  eine  schul'> 
mäßig-gelehrte  Bildung  erhalten.  Alle  diese  Dinge  zeigt  das  genannte  W^erk 
am  Münchener  Hofe  wie  in  einem  Spiegelbild,  nur  daß  es  das  19.  Jahrhundert 
und  den  neuen  Umschwung  nicht  erreicht  hat. 


494   111,  2.  Das  Zeitalter  Ludwigs  XIV.  u.  (L  höfisch-moderne  Bildungsideal, 


Gampanella,  HARSiNaxoN),  in  welchem  Leibniz  lebt,  aber  ihm  sind 
seine  Entwürfe  gar  nicht  Utopien,  sondern  die  allerrealsten  und  aller- 
emsthaftesten  Dinge,  er  trägt  sie  vor  mit  der  brennendsten  Ungeduld, 
daB  über  dem  Vortragen  die  Zeit  vergeht  nnd  die  anderen  Nationen 
den  Deutschen  zuvorkommen.  Alle  diese  Dinge  könnte  ein  großer 
Fürst,  der  sich  der  Sache  annähme,  zu  Wege  bringen.  Leibniz  hat 
sein  Leben  lang  nach  diesem  Fürsten  gesucht,  er  hat  seine  Projekte 
beinahe  allen  mit  ihm  lebenden  großen  Herren  brieflich  oder  person- 
lich vorgetragen.  Zuletzt  glaubt-e  er  ihn  am  Ende  seines  Lebens  in 
Peter  d.  Or.  gefunden  zu  haben;  er  bietet  ihm  dringend  seine  Dienste 
an,  „denn  ich  nicht  von  denen  bin,  die  auf  ihr  Vaterland  oder  sonst 
eine  gewisse  Nation  erpicht  sein,  sondern  ich  gehe  auf  den  Nutzen  des 
ganzen  menschlichen  Geschlechts^'  (Hülsen,  Leibniz  als  Pädagog,  Progr. 
Charlottenburg  1874,  S.  28). 

In  allen  den  zahlreichen  Entwürfen  LEisNizens  tritt  als  der  herr- 
schende Gesichtspunkt  hervor:  durch  Verbesserung  der  Erkenntnis, 
durch  Organisierung  der  wissenschaftlichen  Forschung  das  Leben  reicher, 
besser,  glückseliger,  vollkommener  zu  machen.  Die  Sozietäten,  die  als 
Träger  der  wissenschaftlichen  Unternehmungen  zu  organisieren  er  sein 
Leben  lang  den  Fürsten  zugeredet  hat,  sollten  von  allen  bisherigen 
dadurch  sich  unterscheiden,  daß  sie  nicht  auf  curiosaj  sondern  auf  uiiUa, 
nicht  auf  das  Wissen  um  des  Wissens,  sondern  um  des  Nutzens 
willen  sich  richteten.  In  den  ältesten  Entwürfen  zur  Errichtung  einer 
Sozietät  aus  der  Zeit  um  1670  (Werke,  Ausg.  Klopp,  I,  111  fif.)  deduziert 
er  geschichtsphilosophisch  die  Notwendigkeit  dieser  Richtung  gerade  bei 
der  deutschen  Nation.  Die  Deutschen  hätten  sich  von  jeher  durch  Er- 
findungen in  den  mechanischen  Künsten  vor  allen  Völkern  hervorgethan; 
Niederländer  und  Engländer,  Franzosen  und  Italiener  seien  hierin  von 
jeher  die  Schüler  der  Deutschen  gewesen;  den  Nürnberger  und  Augs- 
burger Meistern  werde  fast  alles,  was  man  hierin  besitze,  verdankt 
„Will  ich  derowegen  den  Italienern  und  Franzosen,  Leoni  X.  und  Fran- 
cisco I.,  gern  die  restaurationem  cultiorum  Utterarum  gönnen,  wenn  sie 
nur  gestehen,  daß  realste  und  unentbehrlichste  Wissenschaften,  wenige 
ausgenommen,  erst  von  Deutschen  kommen."  „Der  Italiener  Künstler 
Werk  hat  fast  einzig  und  allein  in  Formierung  lebloser,  stillstehender 
und  nur  wohl  aussehender  Dinge  bestanden.  Die  Deutschen  hingegen 
allezeit  sich  beflissen,  bewegende  Werke  zu  verfertigen,  die  nicht  nur 
die  Augen  sättigten  und  großer  Herren  Kuriosität  büßeten,  sondern 
auch  etwas  verrichteten,  die  Natur  der  Kunst  zu  unterwerfen  und 
menschliche  Arbeit  leichter  zu  machen." 

Derselbe  Gesichtspunkt  kehrt  wieder  in  den  Denkschriften,  die  er 


Lmbnix'  Bemühungen  um  die  Organisierung  der  wiss,  Forschung.     495 


als  gereifter  Mann  im  Jahre  1700  über  die  Errichtung  der  Berliner 
Sozietat  dem  Kurfürsten  von  Brandenburg  vorl^te  (Deutsche  Schriften, 
herausgeg.  von  Guhbaüeb,  II,  267):  ^^solche  kurfürstliche  Sozietat 
müßte  nicht  auf  bloße  Kuriosität  oder  Wissensbegierde  und  unfrucht- 
bare Experimente  gerichtet  sein  oder  bei  der  bloßen  Erfindung  nützlicher 
Dinge  ohne  Applikation  und  Anbringung  beruhen,  wie  etwa  zu  Paris, 
London  und  Florenz  geschehen:  sondern  man  müßte  gleich  anfangs 
das  Werk  samt  der  Wissenschaft  auf  den  Nutzen  richten.  Wäre  dem- 
nach der  Zweck,  theoriam  cum  praxi  zu  vereinigen  und  nicht  allein  die 
Künste  und  Wissenschaften,  sondern  auch  Land  und  Leute,  Feldbau, 
Manufakturen  und  Kommerzien  und  mit  einem  Wort  die  Nahrungs- 
mittel zu  verbessern.'^  Ob  alle  Arbeit,  welche  die  Gesellschaft  während 
ihres  nun  fiäst  200jährigen  Bestehens  gethan  hat,  vor  den  Augen  ihres 
intellektuellen  Gründers  Gnade  finden  würde? 

Nochmals  kehrt  diese  Betrachtung  wieder  in  den  Entwürfen,  die 
er  für  Peter  d.  Gr.  zur  Bildung  Rußlands  machte.  Vor  allem  fordert 
er  hierzu  die  Einrichtung  eines  mit  großen  Vollmachten  ausgestatteten 
Kollegiums,  „das  in  des  Czars  Namen  die  Direktion  der  Studien,  Künste 
und  Wissenschaften  im  czarischen  Reich  haben  soll,  und  worin  ver- 
schiedene Nationen  Platz  finden  mögen.  Dieses  Kollegium  soll  die 
Au&icht  haben  über  alle  Schulen  und  Lehrende,  Druckereien,  das  ganze 
Buchwesen  und  den  Papierhandel,  auch  Arzneien  und  Apotheken,  des- 
gleichen die  Salz-  und  andere  Bergwerke,  und  endlich  über  die  In- 
ventionen  und  Manufakturen,  und  Introduktion  neuer  Kultur  der 
Yegetabilien,  neuer  Fabriken  und  neu  einzuführender  Konmierzien'' 
(Hülsen,  29).  Also  ein  Kollegium,  das  in  seiner  Hand  die  Leitung 
der  gesamten  Kulturbestrebungen  des  Staats,  sowohl  in  der  Organisie- 
rung der  Forschung  und  der  Studien,  als  in  der  Anleitung  zu  ihrer 
Anwendung  in  der  Technik,  vereinigen  soll.  Es  ist  Bacons  Collegvum 
domus  Salomonis  auf  der  Nova  Atlantis,  das  uns  hier  wieder  begegnet 

Wie  alle  Plänemacher,  die  es  auf  die  Glückseligkeit  des  mensch- 
lichen Geschlechts  abgesehen  haben,  beschäftigte  sich  Leibniz  auch  mit 
der  Reform  der  Erziehung.  Schon  dem  20jährigen  ließ  es  keine  Ruhe, 
zum  Besten  des  Menschengeschlechts  einen  Entwurf  zur  Neugestaltung 
des  höheren  Unterrichts,  mit  vorzüglicher  Rücksicht  auf  die  Bildung  von 
Staatsbeamten,  der  Öffentlichkeit  zu  übergeben.  Der  Titel  der  Schrift, 
worin  dies  geschah,  ist:  Nova  methodut  discendi  docendique  juris  (Werke, 
Ausg.  DüTENS,  IV,  3,  169 — 230).  Sie  hatte  zugleich  den  Zweck,  die 
Aufmerksamkeit  des  Kurfürsten  Joh.  Philipp  von  Mainz  auf  die  brach- 
liegende Kraft  aufmerksam  zu  machen,  welche  z.  B.  bei  der  beabsich- 
tigten Reform  der  Universität  Erfurt  gute  Dienste  leisten  könnte. 


496    ///,  2.  Das  Zeitalter  Ludungs  XIV,  u,  d.  höfisch-moderm  Bildungsideal. 


Der  erste  Teil  dieser  Schrift,  welcher  de  raäone  studiorum  in  uni' 
versum  handelt,  giebt  den  Entwurf  eines  Studienkursns,  dessen  Ziel  die 
vollkommene  Bildung  eines  zu  allen  Bedienungen  geschickten  Welt- 
und  Hofmannes  ist  (§§  40 — 44).  Er  teilt  das  Jugendalter  in  drei 
Abschnitte  von  je  sechs  Jahren.  In  dem  ersten  sexennium  ist  die 
Sprache  zu  lernen,  die  Muttersprache  und  die  lateinische,  diese  wie  jene 
per  usum:  man  läßt  den  Hofmeister  (paedagogus)  mit  den  Kindern  nur 
Latein  sprechen.  Vom  sechsten  Jahr  ab  schicke  man  den  Knaben  in 
die  öffentliche  Schule,  das  ist  für  seine  Charakterbildung  förderlicL 
Er  lerne  gewählt  schreiben  und  sprechen,  durch  Unterricht  und  Übung; 
femer  Greschichte  und  Mathematik,  mit  Einschluß  der  Optik,  Statik  und 
Astronomie;  sowie  etwas  aus  der  Naturgeschichte,  wozu  des  Comenius 
Orbis  pictus  (sed  diligentius  pingendtis  et  coloribus  convenientibus  iUu" 
strandus)  dienlich.  Vom  12. — 18.  Jahr  besuche  er  die  Akademie,  eine 
liberalere  Behandlung  trete  ein,  er  sei  nicht  wie  unter  Lehrern,  sondern 
wie  unter  Freunden.  Man  zeige  ihm  die  größeren  Geheimnisse  der 
Natur  und  der  Kunst,  sowie  die  Grundlagen  der  mechanischen  Künste, 
damit  er  wenigstens  mit  dem  Material,  dem  Handwerkszeug,  den  Haupt- 
regeln und  den  Preisen  bekannt  sei;  femer  mache  man  ihn  mit  den 
Handelsverhältnissen  bekannt,  damit  er  die  Waren  zu  unterscheiden 
vermöge,  die  Preise  und  die  Orte,  woher  man  sie  bezieht,  kenne. 
Femer  mag  er  die  Rudimente  der  Medizin  und  Pharmakologie  lernen; 
ebenso  die  Elemente  der  Jurisprudenz  und  Theologie,  die  Gesetze  seines 
Landes,  und  einigermaßen  auch  die  der  andern,  „auf  daß  er  desto 
besser  reisen  könne''.  Er  lerne  Französisch  und  Italienisch,  und  damit 
er  die  heil.  Schrift  selbst  verstehen  könne,  das  notwendige  Hebräisch 
and  Griechisch.  Er  übe  sich  femer  fleißig  in  der  Bede,  lateinisch  und 
deutsch.  Bücherkenntnis  wird  ihm  ziemlich  und  nutzlich  sein.  Er  ver- 
bringe diese  Zeit  nicht  in  der  Schule,  sondern  auf  der  Akademie  oder 
am  Hof^  wo  man  Gelegenheit  hat,  Bekanntschaften  und  Verbindungen 
mit  bedeutenden  Männem  anzuknüpfen;  so  muß  es  machen,  wer  heut- 
zutage es  zu  etwas  bringen  will.  Gegenwärtig  wird  nicht  leicht  jemand 
von  der  Akademie  ins  Amt  gerufen.  Früher  schrieb  man  an  eine  Uni- 
versität und  ließ  sich  von  ihr  einen  tüchtigen  jungen  Mann  empfehlen: 
jetzt  muß  man  durch  andere  Künste  sich  emporbringen. 

Dann  vom  18.  Jahr  ab,  oder  dem  20.,  wenn  er  langsamer  fort- 
schreitet, schicke  man  ihn  bis  zur  Beförderung  auf  Reisen.  Er  wird 
hier  für  seine  Gesundheit  sorgen,  er  wird  beachten  und  notieren,  welche 
Gelegenheiten  er  bei  jedem  Volk  findet,  was  Speise  und  Trank,  Häuser 
und  Kleidung,  Ackerbau  und  Handwerk  anlangt;  ebenso  Gesetze  und  Ge- 
wohnheiten.   Er  wird  sich  um  Verbindungen  mit  bedeutenden  Männem 


Leibnix'  Büdungsideal.  497 


bemühen,  zu  denen  Fremde  leichter  als  Einheimische  gelangen,  be- 
sonders mit  Staatssekretaren  und  Ministem.  Auch  merkwürdige  Ge- 
schichten, Kuriositäten  der  Natur  und  Kunst  wird  er  genau  notieren. 
Besonders  wird  er  achtgeben,  wenn  ein  Land  in  einer  Manufaktur  sich 
auszeichnet,  daß  er  die  Kunstgriffe  herausangele.  Das  sind,  so  schließt 
er,  einige  Oedanken  über  den  Studiengang,  wie  ich  sie  aus  meinen  alten 
Konzepten  auf  der  Beise  ohne  Bücher  in  Eile  hingeworfen  habe.  — 

Man  möchte  sagen,  es  wäre  nicht  schade  gewesen,  wenn  der  jugend- 
liche Verfasser  seine  alten  Konzepte  der  Welt  noch  eine  Weile  -  vorent- 
halten hätte.  Und  doch,  es  wäre  schade  gewesen.  In  unTergleichlicher 
Naivität  stellt  sich  in  diesem  Entwurf  dar,  wie  einem  jungen  Kopf^  der 
ganz  mit  den  modernen  Ideen  erfüllt  war,  im  Jahre  1667  die  Zukunfts- 
erziehung des  voUkonmienen  Menschen  sich  darstellte. 

Bestimmtere  praktische  Vorschlage  zu  Unterrichtsanstalten,  beson- 
ders für  den  deutschen  Adel,  macht  er  dann  in  den  oben  erwähnten, 
ersten  jugendlichen,  „bei  fliegender  Feder"  entworfenen  Plänen  zur 
Errichtung  einer  deutschen  gelehrten  Sozietät  Unter  den  vielen  und 
mannigfachen  Aufgaben  der  Gesellschaft  wird  als  eine  bezeichnet:  die 
Verbesserung  der  Schulen.  Es  werden  folgende  Andeutungen  dafür 
gegeben: 

darein  compendia,  Richtigkeit  und  Ordnung  einzuführen, 

die  Jugend  nicht  sowohl  auf  poeäcam,  logicam  et  phüosophiam 
scholasticam,  als  auf  realia:  histariam,  mathernaticamj  geographiam  und 
physicam  veram,  moralia  und  civilia  studia  zu  leiten, 

ganze  Kompagnien  Beisender,  wenn  sie  dazu  tüchtig  worden,  mit- 
einander auszuschicken  und  mit  probatis  directoribus  zu  versehen,  da- 
durch Kosten  zu  ersparen,  die  Jugend  vor  debauchen  zu  präservieren, 
und  doch  dabei  der  Sozietät  affairen  zu  thun, 

zu  Haus  gute  Sprach-  und  Exerzitienmeister  zu  halten, 

ja  rechte  Ritterschulen  aufzurichten  und  zu  verlegen,  damit  man 
nicht  solcher  Dinge  wegen,  so  man  zu  Haus  haben  könnte,  sein  halbes 
Patrimonium  in  der  Fremde  verzehren  und  mit  seinem  eigenen  Ver- 
derben zu  Verarmung  des  Vaterlandes  kooperieren  müsse, 

Kunst-  und  Raritäten-,  Schilderei-  und  Anatomiekammern,  anders 
bestellte  Apotheken,  hortos  medicos,  Tiergärten,  und  also  tkeatrum  na- 
turae  et  artisy  um  von  allen  Dingen  lebendige  impressiones  und  con- 
naissances  zu  bekommen,  anzurichten, 

zu  welchem  Ende  den  vornehmen  Herren,  Adligen  und  sonderlich 
wohl  bepfründeten  Geistlichen,  nach  der  Fremden  Exempel,  Appetit 
zur  Kuriosität  entweder  zu  machen  oder,  da  er  vorhanden,  solche 
mit  Lust  und  ohne  Mühe  auszuüben  Gelegenheit  zu  geben,  und  mit 

Paulsen,  Untorr.   Zweite  Aafl.   I.  32 


498   ///,  2.  Das  Zeitalter  Ludungs  XIV,  u.  d,  lüifisdi-moderne  Bildungsidecd. 


solchen  innoxüs,  ja  summe  utilibus  occupationibus  nicht  allein  Brutalität, 
Schwelgerei  und  Sünde  zu  verhüten,  sondern  auch  zu  verhindern,  daß 
mancher  aus  Geiz  oder  Faulheit  sein  Talent  und  habende  Mittel  nicht 
vergrabe. 

Bei  Hülsen  kann  man  nachsehen,  wie  Leibniz  als  Mentor  des 
jungen  Boinebubg  in  Paris  sein  Ideal  zu  verwirklichen  bemüht  war, 
freilich  auch,  wie  die  Natur  dieses  jungen  Mannes  den  Studien  und 
Visiten,  die  ihm  verordnet  wurden,  im  begreiflicherweise  widerstrebte. 
Ebendort  findet  man  das  Projet  de  Feducation  dun  Prince  mitgeteilt, 
welches  Leibniz  auf  Anfrage  eines  fürstlichen  Erziehers  1693  aufsetzte. 
Nach  Bratüscheck  (Die  Erziehung  Friedrichs  des  Großen,  1885)  ist 
dieser  Aufsatz  der  Königin  Sophie  Charlotte,  der  Freundin  LsiBNizens, 
in  die  Hände  gekommen  und  von  ihr  der  Instruktion  von  1695  für 
die  Erziehung  des  Kurprinzen,  des  späteren  Königs  Friedrich  Wilhelm  L 
zu  Grunde  gelegt,  derselben  Instruktion,  die  der  König  nachmals  mit 
eigenhändigen  Korrekturen  versah,  es  war  im  Jahre  1718,  und  als 
Vorschrift  für  die  Einziehung  seines  Sohnes  benutzte.  Die  Möglichkeit 
ist  da.  Andererseits  ist  Zusammenstimmung  in  den  Grundanschauungen 
kein  Beweis  für  Entlehnung;  auf  gleichem  Boden  wachsen  gleiche 
Früchte. 

Noch  mache  ich  auf  ein  Blatt  aufmerksam,  das  bei  Hülsen 
und  Leviseub  (Leibniz'  Beziehungen  zur  Pädagogik,  Progr.  des  Leibniz- 
gymn.  1882)  nicht  benutzt  ist;  es  findet  sich,  undatiert,  in  F£iiL£&s 
Otium  Ilannoveranum  (S.  147 — 150)  abgedruckt  Es  behandelt  die 
Frage:  Quaenam  discenda  ad  usum  vitae?  Ich  lasse,  da  es  eine  bessere 
Vorrede  zur  Geschichte  der  pädagogischen  Reformbestrebungen  des 
18.  Jahrhunderts  nicht  giebt,  den  Hauptinhalt  folgen:  „Wenn  es  bloß 
eine  Sprache  in  der  Welt  gäbe,  so  wäre  das  für  das  Menschengeschlecht 
der  Gewinn  von  einem  Drittel  des  Lebens,  welches  jetzt  auf  die  Sprachen 
gewendet  wird.  Dazu  giebt  es  viele  andere  Dinge,  welche  nicht  um 
ihres  wirklichen,  sondern  um  des  in  der  Meinung  bestehenden  Nutzens 
willen  gelernt  werden  müssen,  als  da  sind  die  positiven  Gesetze  und 
Zeremonien,  der  Stil  der  Höfe  und  ein  großer  Teil  der  philologischen 
Gelehrsamkeit,  von  deren  Folianten  kaum  der  hundertste  Teil  etwas 
für  das  Leben  Brauchbares  enthält.  Auch  die  Geschichte  hat  außer 
der  Ergötzung  keinen  Wert  als  den,  daß  mit  ihrer  Hilfe  die  Wahrheit 
der  christlichen  Religion  bewiesen  werden  kann,  was  sonst  nicht  mög- 
lich wäre.  Sonst  genügte  einem  Mann,  der  für  den  Gebrauch  des 
Lebens  Großes  leisten  könnte,  ein  ungefährer  Umriß  der  Universal- 
geschichte und  einige  merkwürdige  Geschichten,  die  sich  passend  im 
Gespräch  verwerten  lassen,   wohin  auch  Scherze  und  Witze  gehören. 


F.  L.  V.  Seckendorfs  Bildungsideal.  499 


Dagegen  ist  die  allergenaneste  Kenntnis  der  richtigen  Lugik  oder  der 
Basonnierkunst  and  ebenso  die  allergenaneste  Kenntnis  der  Segeln  des 
Gerechten  und  Nützlichen,  femer  eine  wirksame  Beredsamkeit  erforder- 
lich. Doch  das  sind  kleine  Vorbedingungen.  Hingegen  ist  es  nun 
notwendig,  die  ganze  Mathematik  und  Mechanik,  femer  die  ganze  prak- 
tische Physik,  soweit  sie  dem  Gebrauch  dient,  auf  das  Allergenaneste 
zu  verstehen.  Dazu  auch  die  Geographie.  Von  der  Geometrie  genügt 
weniges,  denn  zum  Gebrauch  des  Lebens  hilft  es  nicht  viel,  den  Zirkel 
quadrieren  können.^'  Dagegen  erscheint  Kenntnis  der  Medizin  und 
Naturgeschichte  wünschenswert,  womit  die  Völkerkunde  und  Statistik 
zusanmienhängt,  die  wieder  Gmndlage  der  Politik  ist;  ohne  sie  ist  es 
nicht  möglich  ein  Staatsideal  zu  entwerfen.  Dabei  muß  man  auf  die 
Fehler  achtgeben,  wie  durch  Störung  des  Verkehrs,  durch  Verabsaumung 
der  Gelegenheiten  des  Ortes  der  Vorteil  verloren  geht  Ferner  ist  es 
wichtig,  die  Gemütsart  und  die  Anschauangen  sowohl  der  Massen  und 
der  einzelnen  Stande,  als  auch  der  regierenden  Herren  und  derer,  die 
bei  ihnen  etwas  vermögen,  zu  kennen. 

So  viel  von  Leibniz  und  seinen  Gedanken  über  Erziehung  und 
Bildung.  Man  sieht,  seine  Schätzung  des  humanistischen  Schulbetriebs 
ist  aufs  äußerste  herabgestimmt;  und  offenbar  würde  er  über  den  Schul- 
humanismus des  19.  nicht  viel  anders  als  über  den  des  16.  Jahrhunderts 
geurteilt  haben. 

Neben  Leibniz  mag  noch  Veit  Ludw.  v.  Seckendoef  genannt 
sein.  In  seinem  Werk  über  den  deutschen  Fürstenstaat  (1656),  das  in 
höchst  lehrreicher  Weise  das  deutsche  Staatswesen  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts, jenes  seltsame  Mittelding  zwischen  privatrechtlicher  Herrschaft 
und  öffentlich-rechtlicher  Regierung  zur  Anschauung  bringt,  giebt  er 
auch  (S.  74  ff.)  eine  kurze  Anweisung  zur  Erziehung  der  Söhne  und 
Töchter  des  Herrenstandes.  Außer  dem  Notwendigen,  Unterweisung  in 
der  Religion,  Anleitung  zur  Tugend,  femer  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen 
(„denn  es  ein  großer  Übelstand  ist,  wenn  hierin  vomehme  Leute  ganz 
ungeübt  sein"),  empfiehlt  er  noch:  Naturkunde  („dadurch  des  Menschen 
Verstand  in  den  Dingen,  damit  er  täglich  umgehet,  erleuchtet,  Aber- 
glauben verhütet,  seine  Gesundheit  befördert,  und  sein  Gemüt  zum 
Lobe  Gottes  ermuntert  wird"),  Landeskunde  mit  Historie,  Haus- 
haltskunde, Briefschreiben.  Für  solche  aber,  die  zur  Regierung 
erzogen  werden,  kommt  hinzu:  Latein  („zum  wenigsten  so  weit,  daß 
sie  es  wohl  verstehen  und  zur  Notdurft  ihre  Meinung  darin  entdecken 
können,  denn  solche  Sprache  ist  ihnen  wegen  stattlicher  Bücher,  die 
darin  geschrieben,  vieler  Handlung,  die  im  Reich  mit  fremden  Nationen 
fürgehen,  auf  Reisen   und  im   geistlichen  Regiment  unentbehrlich"); 

32* 


500   ///,  2.  Das  Zeitalter  Ludteigs  XIV.  u,  d,  höfisdi-modeme  BUdungsideaL 

gründlichere  Landeskunde  und  Geschichte,  summarische  Unter- 
weisung dessen,  was  recht  und  billig  ist,  aus  göttlichen,  natürlichen 
und  Landrechten,  Eriegswissenschaft  Femer,  nach  Gelegenheit 
der  Fähigkeiten  und  Natur:  „aus  den  mathematischen  Wissenschaften, 
was  zum  Feldmessen,  Baukunst,  Festungsbau,  auch  zu  Torteilhaftiger 
Mechanik  und  Handgrififen  gehört^';  Welt-  und  Reichsgeschichte 
mit  Geographie  und  Chronologie;  Politik,  Beredsamkeit,  Sprachen, 
„deren  wir  Wohlstandes  und  um  der  Benachbarten  willen  gebrauchen, 
als  der  französischen,  italienischen,  spanischen  etc.'',  natürliche 
Wissenschaften,  Logik.  Mehr  zu  thun,  besonders  aus  den  philo- 
sophischen Wissenschaften  und  den  Sprachen,  könnte  zwar  nicht  schaden, 
ihn  auch  gelehrt,  ansehnlich  und  beliebt  machen,  aber  es  ist  dabei 
dahin  zu  sehen,  „daß  dadurch  das  Notwendige  nicht  verabsäumet,  auch 
der  Gesundheit  und  Gemüts  geschonet,  und  er  dadurch  nicht  zu  einem 
einsamen  Leben  und  steten  Bücherlesen  von  seiner  Berufsarbeit  ab- 
geleitet werde''.  Endlich  aber  sind  von  Wichtigkeit  noch  die  Leibes- 
übungen und  Exerzitien,  als  Tanzen,  Reiten,  Rennen,  Fechten;  sowie 
etliche  Künste,  etwas  von  der  Musik,  Malerei  und  Kunst  zu  reisen, 
und  allerlei  Ergezlichkeit  im  Spielen,  Jagd,  Beize,  Fischen  u.  s.  w. 

Zum  Schluß  erwähne  ich  noch  eines  neuen  Bildungsmittels,  das 
in  diesem  Zeitalter  aufkam:  der  gelehrten  Zeitungen.  Auch  in 
Deutschland  entstanden  nach  französischem  Vorbild  gegen  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  als  Organe  der  Mitteilung  und  Fortpflanzung  der 
neuen  weltmännischen  Bildung  die  ersten  Monatsschriften  in  deutscher 
Sprache.  Eine  der  ersten  giebt  auf  dem  Titelblatt  folgende  verlockende 
Ankündigung  des  Inhalts:  „Novellen  aus  der  gelehrten  und  kariösen 
Welt,  darinnen  die  Quintessence  mannigfaltiger  Gelehrsamkeit,  oder 
sonderbare  Sachen  in  Bistoria,  Chronologia^  Genealopia,  Geographia^ 
Notitia  Herum  pubL  et  Astronomia,  in  Jure  Nattiraliy  Civiti  et  Publica^ 
in  TheoLy  Polit,  Moral. ,  Phys.,  Medic,  Philosoph,  ^  Philologid* ,  in 
Militär,  et  Civilibus  enthalten,  viele  alte  und  neue  Bücher  und  Autores 
erzählet  und  beurteilet,  auch  nicht  wenig  Partikularitäten  von  hohen 
Standespersonen,  Staats-,  Kriegs-  und  gelehrten  Leuten  untermenget, 
viel  Mängel  und  Gebrechen  bei  allerhand  Ständen  voi^estellet,  gute 
Lehren  erteilet  ingleichen  Rat  und  Mittel  zu  vielen  Wissenschaften  an 
Händen  gegeben  werden;  auch  endlich  artige  Geschichten  und  lustige 
Scherze  mit  beigebracht  und  alles  kürzlich  abgehandelt  wird,  vermittelst 
öfterer  Zusammenkunft  einer  kuriosen  und  gelehrten  Gesellschaft  er- 
gangen und  zu  Erlangung  einer  galanten  Erudition  monatlich  kom- 
muniziert von  G(ottfried)  Z(enner)  J.  C.  Frankfurt  und  Gotha,  verlegts 
Aug.  Boetius.'*  Von  der  Zeitschrift  erschienen  sechs  Jahrgänge,  1692 — 97. 


in,  3.    Die  lätterakademien.  501 


Der  uns  so  befremdlich  klingende  Titel  spiegelt  getrenlich  die  Hast 
und  Begierde,  mit  welcher  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  das  deutsche 
Lesepublikum  y  der  unfruchtbaren  lateinischen  Poesie  und  Eloquenz, 
ebenso  wie  der  dürren  Schulphilosophie  und  der  theologischen  Kontro- 
verse überdrüssig,  über  die  im  Leben  und  in  der  Welt  wichtigen 
Dinge  sich  zu  orientieren  suchte.  Eine  andere,  die  Monatsschrift  des 
Chb.  Thomasius  von  (1688 — 90),  wird  uns  noch  später  b^egnen. 

Übrigens  dient  der  Befriedigung  desselben  Bedürfnisses,  dem  die 
neuen  Zeitschriften  dienen  wollen,  auch  ein  anderes  Studienmittel,  das 
um  diese  Zeit  auf  dem  Höhepunkt  seines  Ansehens  steht:  das  ist  die 
akademische  Reise,  die  der  Vollendung  des  Universitatsstudiums 
folgt  Vielseitige  Berührung  mit  Welt  und  Menschen,  um  zu  erfahren, 
wie  man  anderswo  denkt  und  lebt,  welche  Bücher  man  liest  und 
welche  Meinungen  man  von  gelehrten  Sachen  hegt,  das  ist  der  Gewinn, 
den  man  sich  davon  verspricht  Die  Lebensbeschreibung  des  Göttinger 
Chb.  A.  Heumanns  (von  Cassius,  1768)  enthält  einen  Auszug  aus  dem 
Tagebuch,  das  Heumann  auf  einer  Reise  im  Jahre  1705  durch  das 
westliche  Deutschland  und  die  Niederlande  führte;  es  tritt  darin  sehr 
deutlich  der  Betrieb  des  gelehrten  Interviewers  hervor:  die  Städte 
werden  besucht,  vor  allem  die  Universitätsstädte  und  in  ihnen  alles, 
was  in  der  gelehrten  Welt  einen  Namen  hat;  es  werden  die  Urteile 
über  Menschen,  Bücher,  Meinungen  notiert,  ebenso  werden  die  Bücher- 
sammlungen fleißig  aufgesucht,  rare  Bücher  notiert  und  auch  wohl 
excerpiert  Auf  Breite  der  Erudition  ist  der  Sinn  gerichtet;  die  Ver- 
tiefung tritt  dagegen  zurück. 


Drittes  Kapitel. 

Die  Bitterakademien. 

In  den  Ritterakademien,  die  in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  und 
am  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  in  größerer  Zahl  entstanden,  hat  das 
im  vorigen  Kapitel  skizzierte  Bildungsideal  die  ihm  gemäßen  Eraiehungs- 
anstalten  hervorgebracht  Es  sind  Anstalten,  in  denen  der  neue  Herren- 
stand seine  Söhne,  die  bestimmt  sind,  an  den  Höfen  ihr  Glück  zu 
machen  und  in  die  Militär-  und  Civilbedienungen  des  neuen  Staats 
einzutreten,  für  ihren  Beruf  ausbilden  läßt 

Im  16.  Jahrhundert  finden  wir  auch  die  Söhne  des  Adels  in  den 
Ijateinschulen :  so  in  den  Fürstenschulen,  wo  ihm  eine  Anzahl  von 
Stellen  vorbehalten  ist,  so  in  den  Schulen  Sturms  und  Trotzendobfs. 


502  ///,  ,9.    Die  Ritterakademien, 


Nach  den  Wandlungen  in  der  großen  Welt  wird  dies  als  unangemessen 
empfanden:  ist  es  nicht  absurd,  die  Söhne  des  regierenden  Standes  in 
die  alten  Schalklöster  zu  stecken  und  sie  hier  neben  armen  Bürger- 
und Baaemknaben  unter  der  Rute  aufwachsen  zu  lassen?  Das  paBt 
nicht  for  Leute,  die  durch  ihre  Geburt  zum  Regieren  bestinunt  sind. 
Und  wozu  ihnen  die  lateinische  Poesie  oder  die  Fechterkünst«  der  Dia- 
lektik beibringen?  Bei  Hofe  liest  man  keine  lateinischen  Verse  mehr 
und  die  alten  Disputationen  erscheinen  der  neuen  Bildung  als  lächer- 
liche Alfanzereien.  Durch  das  ganze  1 7.  Jahrhundert  gehen  die  Klagen 
darüber,  daß  es  an  geeigneten  Bildungsanstalten  für  junge  Leute  von 
Stande  fehle,  daß  das,  was  sie  brauchten,  auf  den  Schulen  und  Uni- 
versitäten nicht  zu  lernen  sei,  und  dagegen,  was  hier  gelernt  werde, 
im  Leben  nicht  zu  brauchen  sei.  Manche  dahinzielende  Äußerungen  von 
Zeitgenossen  findet  man  schon  in  einer  Art  Universitätshodegetik,  die  1621 
anter  dem  Titel:  Gymnasma  de  exercitiis  academicorum  zu  Straßburg  ohne 
Namen  erschien;  ihr  Verfasser  ist  G.  Gumpelzheimeb,  wie  aus  der  von 
MoscHEBOSGH  1651  besorgten  neuen  Ausgabe  des  Buchs  hervorgeht 

Sehr  lebhaft  spricht  der  schon  öfter  erwähnte  J.  B.  Schupp,  der 
sich  selbst  an  den  Höfen  und  in  der  großen  Welt  viel  bewegt  hatte 
und  für  das  pedantische  Gelehrtentum  der  Universitäten  voll  Miß- 
achtung war,  über  die  Unangemessenheit  der  weitabgewendeten,  „schul- 
füchsigen"  Erziehung  für  junge  Leute  von  Stande.  „Was  großer  Herren 
Kinder  für  ein  sonderliches  Unglück  haben,  daß  sie  gemeiniglich  Pe- 
danten zu  Präzeptoren  bekommen,  welche  sie  lehren  subtile  Game 
stricken,  welche  zu  nichts  anderem  nützlich  sind,  als  daß  man  latei- 
nische Hasen  und  Schulfüchse  damit  fange.  Ich  sehe,  daß  der  großen 
Herren  Kinder  nicht  recht  auferzogen  werden,  sondern  wachsen  auf 
entweder  im  Frauenzimmer,  inter  adulationes  et  delicias  muliebres,  oder 
unter  einem  Haufen  Schulfuchse,  welche  sie  anführen,  als  ob  sie  auch 
notwendig  müßten  magistri  werden  und  ihr  Land  und  Leute  mit  der 
Metaphysik  regieren."  Schupp  empfiehlt  die  Gründung  von  Bitter- 
akademien,  in  welchen  die  adlige  Jugend  „nicht  schulfüchsisch,  sondern 
königlich  und  fürstlich  und  ihrem  Stande  gemäß  auferzogen  werde,  so- 
wohl in  der  wahren  Gottesfurcht  als  auch  in  allerhand  guten  Künsten, 
Sprachen  und  ritterlichen  exercitiis,  von  Lehrern,  welche  Gott  und  die 
Welt  kennen"  (Hentschel,  S.  60).  Ebenso  legt  V.  L.  v.  Segkendokf 
in  einem  dem  Kurfürsten  von  der  Pfalz  in  Sachen  einer  zu  gründenden 
Ritterakademie  erstatteten  Gutachten  (1660)  das  gänzliche  Ungenügen 
der  bestehenden  Unterrichtsanstalten  für  die  Berufsbildung  des  regierenden 
Standes  dar:  sie  genügten  weder  nach  Seiten  der  Zucht  noch  des  Unter- 
richts (MoNE,  Ztschr.  für  die  Gesch.  des  Oberrheins,  II,  135  flf.). 


Tübinger  Coll^gium  illustre,  503 


Hier  mag  auch  eine  Eingabe  der  kursächischen  Ritterschaft  beim 
Dresdener  Hofe  vom  Jahre  1682  erwähnt  sein,  worin  sie  bittet,  die 
adlige  Jugend  von  der  bürgerlichen  auf  den  Fürstenschulen  in  der 
Art  zu  trennen,  daß  von  den  drei  Schulen  die  Meißnische  ausschließ- 
lich dem  Adel,  Grimma  und  Fforta  dagegen  ausschließlich  den  Bürger- 
lichen überwiesen  würden.  Es  sei  die  höchste  Notdurft,  so  heißt  es 
in  der  Eingabe,  daß  die  adlige  Jugend  eine  andere  Information  und 
Traktament  erhalte,  als  die  bürgerliche.  Zwar  so  viel  das  Fundament 
in  pietate  et  religione  und  lateinischen  stylum  angehe,  sei  kein  Unter- 
schied; dagegen  sei  die  gründliche  und  langwierige  Unterweisung  in 
der  griechischen  und  hebräischen  Sprache  für  die  Bürgerlichen  aller- 
dings vonnöten,  nicht  aber  für  die  Adligen.  „Sondern  vielmehr  diese 
kostbare  Zeit  auf  andere  ihre  Zwecke  erreichende  Dinge  und  studia  an- 
zuwenden sich  befleißigen  können;  zu  geschweigen,  wie  unter  adligen 
und  bürgerlichen  Standes  Jugend  stätige  Zänkereien,  Schalousien  und 
Emulationes,  denen  nicht  zu  steuern,  sich,  ereignen;  auch  dahero  jenen 
die  Adligen  um  so  viel  mehr  in  moribus  zurückgesetzet  und  durch  den 
gleichen  Zwang  dergestalt  schüchtern  gemacht  werden,  daß  nachgehends 
kontinuierlich  etwas  davon  ihnen  anhänget  und  nicht  zu  korrigieren 
ist"  (Flathe,  483  flF.).  Die  Städte  protestierten  und  die  Regierung  ging 
auf  die  Forderung  der  Ritterschaft  nicht  ein. 

Blieb  die  Forderung  des  sächsischen  Adels  unerfüllt,  so  war  in 
anderen  Territorien  mit  dem  Angebot  einer  besonderen  Information  für 
die  adelige  Jugend  längst  ein  Anfang  gemacht.  Eine  der  ersten  adeligen 
Bildungsanstalten  ist  das  schon  1589  zu  Tübingen  begründete 
CoUegium  illustre.  Hatte  Herzog  Christoph  Stipendien  für  einige 
Landeskinder  von  Adel  zum  Studium  an  der  Universität  und  zu  Reisen 
ins  Ausland  verordnet,  so  errichtete  sein  Nachfolger  dafür  das  genannte 
Kollegium:  es  war  nicht  bloß  dem  Landesadel,  sondern  dem  ganzen 
deutschen  Herrenstand  bestimmt.  1606  zählte  man  darin  neun  Fürsten, 
fünf  Grafen  und  51  Edelleute.  Die  Anstalt  war  in  Hinsicht  aller 
äußeren  Verhältnisse  selbständig,  in  Hinsicht  des  wissenschaftlichen 
Unterrichts  jedoch  mit  der  Universität  in  der  Art  vereinigt,  daß  die 
Kollegiaten  auch  die  Universitätsvorlesungen  besuchten,  und  andererseits 
Professoren  der  Universität  im  Kollegium  lehrten.  Als  den  Kollegiaten 
wichtige  Disziplinen  werden  römisches  Recht,  Staats-  und  Lehnrecht, 
Politik,  Geschichte  und  neuere  Sprachen  genannt  Großen  Spielraum 
nehmen  auch  die  ritterlichen  Übungen  ein.^ 


^  KlOpfel,   103  ff.     Statuten   vom  Jahre   1609   bei   Sattler,   Geschichte 
Württembergs,  VI,  Beil.  6.  —  Hautz  (Heidelberger  Univers.,  II,  109)  erwähnt 


504  III,  3.   Die  RUterakademien, 


Etwas  ausführlicher  gehe  ich  auf  die  Anstalt  ein,  die  Landgraf 
Moritz  von  Hessen  (reg.  1592 — 1627)  unter  dem  Namen  Collegium 
Mauritianum  am  Hof  zu  Kassel  1599  errichtete  und  1618  neu  kon- 
stituierte. Die  Aufgabe,  die  das  Mauritianum  erfüllen  sollte,  war  die: 
den  deutschen  und  zunächst  den  hessischen  Adel  aus  der  Bohheit  seines 
in  Jagd  und  Völlerei  zugebrachten  Lebens  herauszureißen  und  ihn  der 
feineren  Sitte  und  Bildung,  wodurch  der  französische  Adel  sich  aus- 
zeichnete, zuzuführen.  Moritz  selbst  war  einer  der  gebildetsten  Fürsten 
seiner  Zeit;  er  beherrschte  die  alten  und  neuen  Sprachen;  besonders  in 
der  lateinischen  und  französischen  bewegte  er  sich  mit  Toller  Freiheit, 
Ton  den  Zeitgenossen  wurde  er  als  lateinischer  Poet  gepriesen;  auch 
der  fruchtbringenden  Gesellschaft  gehörte  er  an.  Im  Jahre  1601  hatte 
er  am  Hofe  des  gleichgesinnt-en  Kurfürsten  von  der  Pfalz  einen  Orden 
der  Temperanz  für  deutsche  Fürsten  und  Herren  gestiftet,  der  in 
einer  Geschichte  der  deutschen  Bildungsbestrebungen  Erwähnung  ver- 
dient In  dem  ersten  Artikel  des  merkwürdigen  Statuts  (bei  Bommel, 
Neuere  Gesch.  von  Hessen,  II,  357  ff.,  abgedruckt),  verpflichten  sich  die 
Mitglieder  des  Ordens,  zunächst  auf  ein  Jahr  vom  Tage  der  Unter- 
schrift an  gerechnet,  sich  „alles  YoUsaufens,  in  was  Getränk  auch  das 
sein  möchte,  zu  enthalten'^  Der  zweite  Artikel  normiert  das  erlaubte 
Maß  auf  „sieben  Ordensbecher  Wein  auf  eine  Mahlzeit**,  und  der  dritte 
fügt  die  Bestimmung  hinzu,  daß  die  Mitglieder  nicht  mehr  als  zwei 
Mahlzeiten  innerhalb  24  Stunden  mit  Trunk  nehmen  wollen ;  „da  aber 
ja  einer  zur  (Morgen-)Suppe  Wein  trinken  müßte  oder  wollte,  sei  er 
doch  schuldig  sein,  dasjenige  so  er  an  Wein  getrunken,  von  den  sieben 
Morgenmahlzeitsbechem  abzukürzen,  also  und  dergestalt,  daß  nach 
verrichter  Morgenmahlzeit  die  sieben  Becher  nicht  überschritten  seien**. 
Man  sieht,  der  Frühschoppen  beschäftigt  schon  im  17.  Jahrhundert 
einen  um  die  geistige  Gesundheit  des  deutschen  Volkes  besoirgten 
Fürsten.  In  der  That,  die  Ablegung  der  Gewohnheit  des  viehischen 
Saufens,  welche  die  deutschen  Höfe  im  1 6.  Jahrhundert  schändete,  war 
die  erste  Bedingung  der  Annahme  feinerer  Bildung  und  Sitte. 

Das  Bitterkollegium  wurde  1618  durch  ein  „Fürstliches  Ausschreiben, 
wie  es  mit  unserm  zur  Beförderung  der  studierenden  Rittermaßigen 
Jugend  in  Künsten  und  Sprachen,  sodann  zur  anführung  in  allen 
Bitterlichen  Thugenden  und  Übungen  in  Unserer  Haubtstadt  und 
Vestung  Cassell  angeordnetem  Newen  Illustri  Collegio  gehalten  werden 


der  Stiftung  einer  Ritterschule  für  den  kurpfälzischen  Adel  im  Stift  Seltz,  1575: 
20  Stipendiaten  und  60  Pensionäre  sollten  darin  gehalten  werden.  Doch  ging 
die  Stiftung  bald  wieder  ein;  der  Adel  wurde  mit  10  Stellen  im  Heidelberger 
Kollegium  entschädigt 


Coüegium  Mauritianum  tm  Kassel.  505 


soll"  öffentlich  angekündigt.^  Der  Unterricht,  heißt  es,  soll  nicht  die 
Faknltätswissenschaften  umfassen,  sondern  sich  „in  den  Schranken  eines 
wol  bestellten  Gymnasii  halten  und  also  im  nächsten  Grad  und  gleich- 
sam der  ersten  Staffel  einer  rechtschaffenen  hohen  Schul  oder  Uni- 
versität bestehen  und  es  bei  der  philosophischen  Institution  und  Unter- 
richt in  freien  Künsten  und  deren  nutzbarlichem  Brauch  bewenden". 
Doch  mögen  denen,  die  schon  einen  Vorsprung  im  Studieren  haben, 
vier  lectiones  publicae  vorgetragen  werden;  1.  soll  durch  einen  gelehrten 
Theologum  eine  Synopsis  der  wahren  christlichen  Beligion  in  wöchent- 
lich vier  Stunden  in  einem  Jahr  beendet,  auch  alle  Monat  einmal 
disputiert  werden;  2.  soll  ein professor  ethices  et politices  bestellt  werden, 
welcher  eine  gewisse  üthicam  metkodice  conscriptam  in  einem  Jahr  zu 
Ende  bringen,  im  folgenden  aber  ein  Compendmm  Politices  et  Oecono^ 
mices  aus  dem  Aristoteles  oder  einem  andern  guten  Autor  proponieren 
und  alle  Monat  eine  Disputationem  Eihicam  halten  soll;  3.  soll  ein 
professor  pkysices  auf  dieselbe  Weise  jedes  Jahr  lectionem  compendii 
Fhysici  und  4.  ein  professor  logices  Bialecticam  und  Rhetoricam  mit 
monatlichen  Disputationen  und  Deklamationen  absolvieren. 

Den  eigentlichen  Schulunterricht  sollen  vier  professores  linguarum 
geben,  zwei  für  die  lateinische,  einer  für  die  griechische,  einer  für 
die  fremden  aus  der  lateinischen  entstandenen  Sprachen,  Französisch, 
Italienisch,  Spanisch.  Der  Unterricht  soll  dergestalt  gegeben  werden, 
,;daß  die  Jugend  in  jeder  Sprach  ganz  schleunig  hindurch  geführet 
werden  möge,  alles  nach  Art  und  Unterricht  der  in  unseren  Landen 
unlängst  publicirten  Schulordnung,  und  stellen  wir  in  keinen  Zweifel, 
es  werde  die  Institution  der  lateinischen  Sprache  durch  die  vier  Ciasses 
in  zweien  Jahren  ziemlicher  Maaßen  erfolgen,  der  discipulus  auch,  so 
er  nur  etwas  tieüsinnig  ist  und  Fleiß  ankehren  will,  sich  in  gedachter 
Zeit,  wo  nicht  ehe,  durch  die  vier  Ciasses  hindurcharbeiten  können.  So 
wird  man  auch,  wenn  die  Discipuli  die  lateinische  Sprache  erst  ge- 
fasset haben,  zu  dem  Zweck  in  der  griechischen  und  ausländischen 
Sprachen  noch  in  weit  geringerer  Zeit  gelangen".  —  Die  studio  astro- 
nomica  und  mathemcUica,  als  welche  „feinen,  freudigen  und  tapferen 
Gemüthern  nicht  allein  sehr  anmuthig  und  ergetzlich  sind,  sondern 
auch  rittermäßigen  Personen,  so  sich  mit  der  Zeit  in  Kriegssachen  üben 
und  gebrauchen  lassen  wollen,  merkliche  große  Anleitung  und  Urteil 
in  Belagerungen  befestigter  Plätze,  wie  auch  Anrichtung  und  Be- 
schützung derselben,  so  wie  zur  Anstellung  rechtschaffener  Schlacht-  und 
anderer  Ordnungen   gewähren",  sollen  ebenfalls  mit  Fleiß  getrieben 


*  Sammlung  hessischer  Landesordnungen  I,  601  £f.  (Kassel  1767). 


506  ///,  3,    Die  Ritterakademien. 


werden.  Doch  werden  nicht  besondere  Professoren  dafür  bestellt;  son- 
dern zwei  der  obigen  acht  Professoren  sollen  diese  Lektionen,  wie  auch 
die  Historien  vortragen. 

„Dieweil  aber  zu  notwendiger  Zier  und  Wolstand  rittermäßiger 
Personen  nicht  allein  studio  litter aria  erfordert  werden ,  sondern  die- 
selben auch  daneben  in  allerhand  löblichen  exercitOs,  so  heutiges  Tages 
sonderlich  beim  Hofwesen  und  dessen  Conversation  fast  notwendig,  an- 
geführet  werden  müssen;  überdies  auch  die  Abwechslung  und  Ver- 
änderung der  Studien  und  anderer  Ergötzlichkeiten  feine  wackere  ingenia 
zur  Verrichtung  ihres  Obliegens  um  so  viel  lustiger  und  unverdrossener 
macht:  so  haben  wir  bei  unserem  Adelichen  Collegio  auch  gebührliche 
Anordnung  verschaffet,  daß  die  angehende  Jugend  mit  und  beneben 
den  Studiis,  als  dem  Hauptwerk,  zugleich  auch  allerhand  gute  Exercitia 
beides  des  Leibes  und  Gemüths,  mit  Reiten,  Ritterspielen,  Fechten, 
Tanzen,  Roßspringen,  Ballspielen,  Übung  der  Waffen  und  Kriegsordnung, 
auch  allerhand  Instrumental-  und  Vocalmusik,  kunstbaren  Anschlägen 
sowohl  zum  Krieg  als  sonsten  zu  den  Gebäuden,  Abrissen  und  Malerei 
dienlich,  haben  und  treiben  kann  und  soll".  Hierfür  sind  vier  Per- 
sonen, ein  Bereiter,  ein  Fechter,  ein  Tanzmeister,  ein  £oßspringer  und 
ein  wohlgeübter  Kriegsmann  bestellt.  —  Vorsteher  der  Anstalt  sind 
ein  Adeliger  und  ein  Gelehrter:  jener  Oberhofmeister,  dieser  Dekan  oder 
Senior  genannt. 

Auch  diese  Bildungsanstalt  verschlang,  wie  so  viele  andere,  der 
Krieg.  ^ 

Mit  dem  Ende  des  Kriegs  beginnt  dann  die  eigentliche  Periode  der 
Ritterakademien.  Der  Charakter  dieser  Anstalten  ist  durch  das  über  das 
Mauritianum  Mitgeteilte  hinlänglich  gekennzeichnet  Bei  den  einzelnen 
und  ihren  Schicksalen  und  Eigentümlichkeiten  zu  verweilen,  ist  keine 
Ursache;  ich  begnüge  mich  sie  namhaft  zu  machen,  so  weit  sie  mir 
vorgekommen  sind.^ 

In  den  weifischen  Ländern  wurde  die  alte  Benediktinerabtei 
St.  Michaelis  zu  Lüneburg  1655  als  Ritterakademie  eingerichtet;  eine 
ebensolche  wurde  am  Hof  zu  Wolfenbüttel  mit  Unterstützung  der 

^  Erwähnt  werden  mag  hier,  daß  Wallenstein  zu  Gitschin  eine  Ritterschule 
auf  seine  Kosten  unterhielt:  zwölf  Edelknaben  erhielten  darin  Unterricht  in  den 
Wissenschaften  und  Sprachen  und  in  den  ritterlichen  Künsten;  in  jenen  waren 
Jesuiten  vom  Gymnasium  Lehrer.  Der  Feldherr  kümmerte  sich  mitten  im  Krieg 
um  die  kleinsten  Angelegenheiten  der  Schule,  aus  allen  Feldlagern  erließ  er 
Anordnungen  in  Sachen  derselben,  wie  man  in  einem  Artikel  der  Österreich. 
Milit-Zeitschrift,  III,  85  ff.  nachsehen  mag. 

'  Eine  Übersicht  über  diese  Anstalten  giebt  auch  ein  Artikel  von  £.  Köpke 
in  der  Encyklopädie,  VII,  171—203. 


Weitere  Oründungen,  507 


Landschaft  1687  gegründet.  Anch  im  Brandenburgischen  entstanden 
miteinander  eine  stiftische  und  eine  königliche  Bitterakademie ,  jene 
wurde  vom  Domkapitel  zu  Brandenburg  1704,  diese  zu  Berlin  1705 
errichtet.  Zu  Kassel  lebte  die  eingegangene  Ritterschule,  doch  mit 
etwas  verändertem  Charakter,  als  Collegium  Carolinum  1709  wieder  au£ 
Zu  Kolberg  in  Pommern  war  schon  1653  eine  militärische  Bildungs- 
anstalt für  den  pommerschen  Adel  errichtet  worden.  In  Sachsen  ist 
es  auffallender  Weise  zur  Gründung  einer  eigentlichen  Bitterakademie 
gar  nicht  gekommen,  vermutlich  deshalb  nicht,  weil  der  Adel  in  den 
Fürstenschulen  eine  erhebliche  Anzahl  Stellen  hatte.  Ein  gräflich 
Vitzthumsches  Geschlechtsgymnasium,  für  welches  schon  1638  eine  testa- 
mentarische Dotation  ausgeworfen  wurde,  kam  erst  im  19.  Jahrhundert 
unter  gänzlich  veränderten  Umständen  zur  Ausführung  (Hentsohel, 
Schupp,  61);  dagegen  wurde  1725  eine  Kadettenanstalt  in  Dresden 
errichtet.  In  den  thüringischen  Herzogtümern  wurde  eine  Bitter- 
akademie zu  Hildburghausen  1714  gegründet;  das  großartig  be- 
gonnene Unternehmen  bestand  jedoch  bei  bald  eintretendem  Mangel 
an  Mitteln  nur  wenige  Jahre  (bis  1729).  In  Erlangen  entstand  durch 
Frivatstiftung  1699  eine  Bitterakademie,  sie  bestand  mit  Unterstützung 
der  Markgrafen  von  Baireuth,  bis  sie  1743  in  die  Universität  um- 
gewandelt wurde  (Engelhabdt,  Gesch.  der  Univ.  Erlangen),  In  Bayern 
wurde  Kloster  Ettal  1711  zu  einer  Bitterakademie  eingerichtet  (EncykL 
II,  1083).  Die  niederösterreichischen  Landstände  gründeten  zu  Wien 
1682  eine  Bitterakademie,  die  übrigens  von  der  alten  1560  gestifteten, 
später  von  Jesuiten  geleiteten  Landschaftsschule  abstammt;  als  ihre 
Bestimmung  wird  angegeben  zum  Dienst  tarn  in  functionibus  publicis 
quam  militaribus  tauglich  zu  machen.  Die  Frofessoren  sollen  katholisch 
und  nicht  Franzosen  sein;  der  kaiserliche  Hof  suchte  überhaupt,  im 
Gegensatz  zu  den  protestantischen  Höfen,  der  französischen  Sprache 
und  Bildung  nach  Möglichkeit  sich  zu  erwehren,  1746  errichtete  die 
Kaiserin  das  Collegium  Theresianum  zu  Wien  für  den  Adel  der  ganzen, 
dem  Einheitsstaat  mehr  und  mehr  zustrebenden  österreichischen  Mon- 
archie.^ Zu  Liegnitz  hatte  Joseph  I.  im  Jahre  1708  eine  ältere 
landesherrliche  Stiftung  zu  Kirchen-  und  Schulzwecken  unter  dem  Beirat 
der  Jesuiten  zu  einer  Bitterakademie  für  den  schlesischen  Adel  um- 
geformt Ein  adeliger  Direktor,  drei  Frofessoren  (jurisy  Mstoriarum^ 
tuathematices),  ein  französischer  Sprachmeister,  ein  Bereiter,  ein  Fecht- 
und  ein  Tanzmeister  machen  den  Lehrkörper,   zwölf  Fundatisten  und 


^  Geusau,  Geschichte  der  Süftungen  zu  Wien.    Eine  Gesch.  des  Theresia- 
uiims  in  dem  Progr.  des  jetzigen  Gymn.  Theres.  von  1872. 


508  Uly  8.    Die  Rüierakadeniien. 


außerdem  zahlende  Pensionäre  die  Schülerschaft  aus,  die  in  der  Begel 
wenig  über  20  stark  war.^  Noch  mögen  hier  zwei  Anstalten  erwähnt 
sein,  die,  mit  Ritterakademien  verwandt,  doch  mehr  den  Charakter  einer 
dem  neuen  Fürstenstaat  und  seinen  Bedürfhissen  angepaßten  modernen 
Hochschule  haben:  das  CoUegium  Carolinum,  von  Herzog  Karl  im 
Jahre  1745  zu  Braunschweig,  und  die  von  Herzog  Karl  Eugen  von 
Württemberg  1778  errichtete  hohe  Karlsschule.  Ich  komme  später 
darauf  zurück  und  bemerke  hier  nur  noch,  daß  auch  die  neue  Uni- 
versität Halle  aus  einer  Bitterakademie  hervorgegangen  ist  — 

Die  Aufgabe  dieser  neuen  ünterrichtsanstalten  ist:  die  Jugend  des 
Herrenstandes  in  den  höfischen  Sitten  und  Künsten  und  in  den 
ihrem  Stande  nötigen  Wissenschaften  und  Sprachen  auszubilden. 
In  der  Regel  in  einer  fürstlichen  Besidenz  errichtet,  stehen  sie  zum 
Hofe  in  engster  Beziehung.  In  den  Einladungsschreiben  pflegt  der 
Verkehr  bei  Hofe  in  Aussicht  gestellt  zu  werden.  So  zählt  die  Akar 
demie  zu  Wolfenbüttel  unter  ihren  Vorzügen  auf:  „daß  die  Akadenüsten 
permission  haben,  den  fürstlichen  Hof  zu  frequentieren,  wie  sie  dann 
ordinarie  gewisse  Tage  in  der  Woche  bei  Hofe  konmien  und  denen 
angestellten  divertissementen,  Bällen  und  dergleichen  mit  beiwohnen 
und  von  der  daselbst  vorfallenden  honesten  conoersatlon  mit  profitiren 
können".  Spezielle  Fürsorge  ist  auch  für  die  Erlernung  des  Anti- 
chambrierens  getroffen:  wenn  ein  Prinz  in  der  Akademie  ist,  finden 
sie  sich  zeitig  in  dessen  Antichambre  oder  dem  Eßsaal  ein,  ihn  zu  Hofe 
oder  in  die  Kirche  zu  begleiten  (Vormbaum,  II,  733,  736).  Auch  den 
ritterlichen  Exerzitien  kommt  die  Besidenz  zu  gute:  der  fürstliche 
Marstall  stellt  Pferde  und  Beitbahn,  und  ebenso  finden  sich  hier  Be- 
reiter, Tanzmeister  u.  s.  f.  von  der  ersten  Qualität.  Unter  diesem  Ge- 
sichtspunkt empfiehlt  sich  z.  B.  besonders  die  Akademie,  welche  im 
Jahre  1714  zur  größeren  gloire  des  neuen  Hofes  zu  Hildburghausen 
errichtet  wurde.  „S.  Hochfurstl.  Durchlauchtigkeit  halten  zur  Bahn 
etliche  20  der  schönsten  jungen,  meist  Spanischen,  Englischen  und 
Türkischen  Pferde;  der  Herr  Oberbereiter  giebt  selbst  Lektion,  zu  dem 
geringen  pretium  von  3  Thlr.  monatlich.  Im  Fechten  und  Tanzen 
haben  S.  Hochfurstl.  Durchl.  nach  der  eigenen  Experienz  in  dergleichen 
exercitiis  solche  maitres  choisirt,  deren  capacite  und  dexterite  in  infor" 
matione  jeder  gute  Kenner  wird  approbiren  müssen"  (Grobe,  Progr. 
von  Hildburghausen,  1879,  S.  18). 

Das  andere  Stück  ist  die  Einführung  in  die  modernen  Sprachen 
und  Wissenschaften.    Die  lateinische  Sprache  bleibt  auf  dem  Lehr- 


^  Wendt,  Progr.  der  Ritterakademie  zu  Liegnitz,  1893. 


Unterrickt  und  BildungsideaL  509 


plan,  sie  ist  noch  jedem  Mann  in  bedeutender  Stellung  selbst  für  den 
praktischen  Gebrauch  unentbehrlich.  Dagegen  treten  für  Griechisch 
und  Hebräisch  die  neuen  Sprachen  ein,  in  erster  Linie  Französisch, 
daneben  Italienisch,  endlich  auch  Spanisch  und  Englisch.  Französisch 
lehrt  natürlich  regelmäßig  ein  Franzose.  Auch  Übungen  in  der  deutschen 
Sprache  werden  hin  und  wieder  empfohlen,  obwohl  kaum  wieder  mit 
dem  Nachdruck,  wie  in  der  Ordnung  für  das  CoUegium  Mauritianum 
vom  Jahre  1618;  das  deutsche  Volk  war  inzwischen  aus  der  Beihe  der 
gebildeten  Nationen,  deren  Sprache  zu  kennen  Pflicht  des  vornehmen 
Mannes  ist,  so  gut  wie  ausgeschieden. 

Mit  Nachdruck  werden  dagegen  überall  die  modernen  Wissen- 
schaften als  Gegenstände  des  Unterrichts  genannt,  auf  der  einen  Seite 
Mathematik  und  Naturwissenschaften,  auf  der  anderen  Seite  die  neuen 
Staats  Wissenschaften,  mit  Geschichte,  Genealogie,  Staatenkunde,  came- 
ralia  u.  s.  w.  Das  Interesse  an  den  Naturwissenschaften  war  seit  der 
Mitte  des  17.  Jahrhunderts  in  den  Kreisen  der  vornehmen  Welt  ein 
ungemein  lebhaftes;  man  sieht  es  z.  B.  aus  dem  Briefwechsel  von  Leibniz; 
er  ist,  wie  die  Briefwechsel  Desoaetes'  und  Spinozas,  erfüllt  mit  Mit- 
teilungen und  Anfragen  über  neue  Erfindungen  und  Experimente.  Aller- 
dings war  es  meist  nicht  rein  theoretische  Teilnahme,  sondern  zugleich 
die  HolBftiung  auf  überraschende  Unterhaltung  und  auf  Reichtum 
bringende  Erfindungen,  die  im  17.  und  18.  Jahrhundert  die  Gunst 
der  Fürsten  und  Herren  diesen  Forschungen  zuführte.  In  diesem  Sinn 
versprechen  die  Ritterakademien  Gelegenheit  zur  Erlangung  von  Kennt- 
nissen in  der  Physik  und  Chemie,  der  Anatomie  und  Botanik,  zu 
welchem  Behuf  die  fürstlichen  Raritätenkammern  und  Gärten  sich  den 
Akademikern  offnen;  so  wird  in  der  Hildburghausenschen  Ankündigung 
besonders  der  Luftpumpe  gedacht,  „deren  Gebrauch  zum  Nutzen  der 
studierenden  Jugend  Ihro  Durchl.  mit  besonderer  generosite  gnädigst 
erlaubet".  Nicht  minder  wird  die  Mathematik  mit  Absicht  auf  ihre 
Anwendungen  getrieben,  besonders  Feldmessen,  Baukunst  und  Forti- 
fikation:  „die  auditores^^,  heißt  es  ebendort,  „sollen  durch  reelle  demonr 
stratio  per  experimenta  und  praxin  sofort  den  usum  der  Sache  erlernen. 
Risse  machen  und  den  Übungen  im  freien  Felde  fleißig  beiwohnen". 
Die  Nützlichkeit  und  Notwendigkeit  der  politischen  und  historischen 
Studien  einleuchtender  zu  machen,  konnte,  wenn  es  anders  nötig  ge- 
wesen sein  sollte,  die  Lektüre  der  Zeitungen,  die  öfter  erwähnt  wird, 
dienlich  sein.  Endlich  wird  in  der  Regel  auch  zu  einem  Kursus  in  der 
Jurisprudenz  und  Theologie  Gelegenheit  geboten.  Die  Akademie  soll  den 
jungen  Herren  eben  zugleich  die  Universität  ersetzen.  Man  sehe  die 
Lektionsverzeichnisse  der Wolfenbütteler  Akademie  beiKoLDEWET,II,261ff. 


510  III,  S,    Die  Ritterakademien, 


Ebendort  (S.  205)  ist  der  Stundenplan  der  ersten  Ordnung  (vom 
Jahre  1687)  mitgeteilt:  Der  Tag  beginnt  an  den  vier  Wochentagen 
mit  Reiten  (2 — 3  Stunden,  im  Sommer  um  5,  im  Winter  um  7  Uhr). 
Hierauf  folgen  am  Mont.  und  Donn.  10 — 12  fundamenta  pieiatis  und 
historia  ecclesiastica ;  Nachm.  2  Stunden  MatheuL,  2  Stunden  Tanzen 
und  Fechten.  Dienst,  und  Freit.  10 — 12  fremde  Sprachen,  3 — 5  prin- 
cipia  ethices  et  politices,  abwechselnd  mit  jus  privatum  et  publicum. 
Mittw.  und  Sonn,  fallt  das  Beiten  aus,  dafür  Studium  genealogicum  cum 
historia  et  chronoloffia,  Nachm.  wie  Dienstags,  dazu  von  6 — 7  les  ex* 
ercices  du  mousquet  et  de  la  pique. 

Die  Zahl  der  Akademisten  darf  natürlich  nicht  groß  sein.  Zu 
Wolfenbüttel  waren  anfangs  etwa  20,  dann  bis  40  in  Aussicht  ge- 
nommen. Sie  wohnen  mit  den  Lehrern  und  Exerzitienmeistem  in  der 
Akademie.  Der  Preis  für  die  Pension  beträgt  für  den  Adeligen  (mit 
einem  Diener)  300,  für  den  Grafen  (mit  zwei  Dienern)  500,  für  den 
Prinzen  (mit  drei  Dienern)  600  Thlr.  im  Jahr.  Hofmeister  und  Infor- 
matoren, die  sie  mitbringen,  ebenso  viel,  falls  sie  in  der  Akademie 
wohnen.  —  Die  Kosten  der  Anstalt  waren  sehr  beträchtlich.  Der  jähr- 
liche Zuschuß,  außer  den  Zahlungen  der  Akademisten,  wird  auf  7000  Thlr. 
veranschlagt,  reichlich  so  viel,  als  eine  Universität  damals  erforderte; 
auch  die  Stände  wurden  dazu  mit  der  Hälfte  herangezogen,  „um  durch 
weiteres  respective  gnädigstes  und  unterthänigstes  Concert  das  institutum 
auf  einen  solchen  Fuß  zu  setzen,  daß  man  davon  eines  gedeihlichen 
successes  in  perpetuum  sich  würde  versichern  können".  Die  Hoffnung 
tauschte.  Die  Anstalt  sank,  nach  kurzem  Anlauf,  zur  Bedeutungslosig- 
keit und  wurde  von  den  Nachfolgern  1715  aufgehoben. 

Das  sind  die  Anstalten,  die  man  im  1 7.  und  1 8.  Jahrhundert  zur 
Erziehung  und  Unterweisung  des  Adels  begründete.  Daß  ein  Bedürfiiis 
dafür  vorhanden  war,  daran  ist  wohl  nicht  zu  zweifeln;  die  alten  Schul- 
klöster  mit  ihrer  lateinischen  Eloquenz  und  griechischen  und  hebräischen 
Granunatik  waren  in  der  That  keine  geeigneten  Schulen  für  den  regie- 
renden Stand.  Andererseits  scheint  freilich  nicht  eine  unter  diesen 
Anstalten  zu  eigentlichem  Gedeihen  gelangt  zu  sein;  sie  kosteten  viel 
und  leisteten  wenig.  Es  lag  doch  wesentlich  daran,  daß  sie  nicht  für 
Schüler,  sondern  für  junge  Herren  eingerichtet  und  zugeschnitten  waren. 
Man  sehe  das  trübselige  Bild,  das  Wekdt  von  der  Liegnitzer  Ritter- 
akademie entworfen  hat:  die  jungen  Leute  kommen  in  der  Regel  ohne 
gründliche  Vorbildung,  zum  Teil  so  gut  wie  ganz  ohne  Schulkennt- 
nisse auf  die  Anstalt;  dagegen  sind  sie  regelmäßig  mit  dem  ganzen 
junkerlichen  Hochmut  ausgestattet,  der  das  Lernen  für  eine  armen 
Teufeln  sehr  nötige,  dem  Herrenstand  aber  sehr  entbehrliche,  ja  ihn 


Erfolge  der  Ritterakademien.  511 


herabdrückende  Sache  ansieht;  und  in  dieser  Yerfassung  teilen  sie  nun 
ihre  Zeit  zwischen  Exerzitien,  Kollegienhören  und  allerlei  galanten  Not- 
wendigkeiten: man  kann  sich  denken,  was  dabei  für  eine  Bildung  ge- 
deiht Vielleicht  lagen  die  Dinge  in  Liegnitz  besonders  ungünstig;  aber 
im  ganzen  werden  Anstalten  mit  ähnlichem  exklusiven  Charakter  überall 
ähnliche  Mißstände  hervorgerufen  haben:  Junkerdünkel  und  Wissen- 
schaftsverachtung gedeihen  gar  leicht  in  einem  jungen  Hirn;  kommt 
die  Anstalt  dem  auch  nur  ein  wenig  entgegen,  so  werden  sie  bald 
üppig  ins  Kraut  schießen.  Mit  der  exemten  Stellung  des  Adels  in 
Staat  und  Gesellschaft  ist  auch  die  exemte  Erziehung  abgekommen, 
heute  schickt  der  Adel  seine  Söhne  wieder,  wie  im  16.  Jahrhundert,  in 
die  allgemeine  Gelehrtenschule,  gewiß  nicht  zu  ihrem  Schaden. 


Viertes  Kapitel. 

Die  Universitäten  nnter  dem  Einflnß  der  höfisch-modernen 
Bildung  und  des  Pietismus.    Die  neue  Universität  Halle. 

Thomasius.   Francke.   Wolf. 

Die  Bildungsbestrebungen  der  herrschenden  Gesellschaftsklasse  üben 
jederzeit  einen  bestimmenden  Einfluß  auf  die  der  unteren  Schichten; 
zu  dem  Reiz  der  Vornehmheit  kommt  die  Nützlichkeit  einer  modischen 
Bildung:  sie  empfiehlt  ihren  Träger  in  den  Augen  der  Herren,  die 
Gunst  und  Stellen  zu  vergeben  haben,  sei  es  auch  nur  die  eines  Dorf- 
pfarrers oder  Hofmeisters.  Nach  diesem  allgemeinen  Gesetz  finden  wir 
auch  in  diesem  Zeitalter  die  Universitäten  und  Schulen  überall  bemüht, 
sich  nach  dem  Vorbild  jener  für  den  Herrenstand  bestimmten  Bildungs- 
anstalten zu  formen.  Freilich  war  vom  Begehren  bis  zur  Durchführung 
ein  weiter  Weg. 

Der  gelehrte  Unterricht  und  die  litterarische  Produktion  der  deutschen 
Universitäten  standen  vielleicht  in  keiner  Periode  ihres  Bestehens  in  ge- 
ringerem Ansehen,  als  in  diesem  Zeitalter.  Die  Manner  des  Fortschritts 
und  der  neuen  höfischen  Bildung  sahen  auf  sie  als  auf  überlebte  An- 
stalten herab,  deren  Betrieb  ihnen  absurd  und  lächerlich  vorkam.  Was 
die  Schulphilosophen  vor  200  Jahren  von  den  Humanisten  erlitten 
hatten,  das  wurde  jetzt  von  den  Kindern  einer  neuen  Zeit  an  den  Nach- 
kommen jener  Humanisten  gerächt  Leebniz,  der  seine  litterarische 
und  wissenschaftliche  Bildung  in  der  höfischen  Gesellschaft  und  in  der 


512    lU,  4.  Die  Universitäten  unier  d.  Einfluß  d.  höfisch-modernen  Bildung. 


Metropole  der  Galanterie,  wie  er  Paris  einmal  nennt,  vollendet  hatte, 
spricht  oft  mit  unverhohlener  Geringschätzung  von  den  Universitäten. 
Er  nennt  sie  mönchische  Anstalten,  welche  sich  mit  leeren  Grillen  be- 
schäftigen ;  er  habe  sich  immer  gewundert,  warum  angesehene  Männer, 
wenn  sie  als  Schriftsteller  auftreten^  lieber  Proben  ihrer  Gelehrsamkeit 
als  ihrer  Erfahrung  und  ihres  Urteils  geben  wollten.  Was  ein  klein 
wenig  von  den  römischen  und  griechischen  Formeln  abweiche,  das 
wagten  sie  kaum  zu  nennen,  sie  trauten  sich  nichts  zu  sagen,  das  sie 
nicht  mit  dem  Namen  irgend  eines  Dichters  oder  Redners  decken 
könnten;  Beispiele  wählten  sie  nur  aus  der  alten  Geschichte.  Die  Folge 
sei,  daß  alle  praktischen  Männer  solche  Bücher  für  unnütz  ansahen  und 
verachteten.  In  einem  Buch  über  Landwirtschaft  oder  Schreinerkunst 
sei  oft  mehr  Wahres  und  Nützliches  als  in  einer  ganzen  Bibliothek; 
aus  einer  Zeitungssammluug  von  zehn  Jahren  lerne  man  mehr,  als  aus 
hundert  klassischen  Autoren  (Pfleiderer,  Leibniz,  604  flF.). 

In  einem  Briefe  vom  Jahre  1673  aus  Paris  erbietet  er  sich  für  den 
dänischen  Premierminister  Bücher,  deren  er  hier  eine  Unmasse  der  besten 
finde,  zu  besorgen:  die  meisten  Bibliotheken,  fügt  er  hinzu,  sind  fast 
durchaus  mit  wenig  brauchbaren  Büchern  angefüllt.  „Sollte  ich  eine 
nach  meiner  Ansicht  zusammenstellen,  so  ließe  ich  hauptsächlich  nur 
zwei  Arten  hinein,  erstens  solche,  die  Erfindungen,  Demonstrationen, 
Experimente,  zweitens  solche,  welche  politische  und  historische  Doku- 
mente hauptsächlich  aus  unserer  Zeit  und  Beschreibungen  der  Staaten 
enthielten.  Eine  solche  Bibliothek  würde  nicht  viel  kosten  und  uner- 
meßlich instruktiv  sein."  Er  selbst  habe  für  40  Thaler  die  Blüte  der 
englischen  Bücher  aus  London  mitgebracht  (Werke,  herausgeg.  von 
0.  Klopp,  IH,  229). 

Die  Wertlosigkeit  der  wissenschaftlichen  und  besonders  der  philo- 
sophischen Litteratur  der  Deutschen  scheint  LEiBNizen  in  Zusammen- 
hang mit  dem  Festhalten  an  der  lateinischen  Sprache  zu  stehen:  nur 
in  lateinischer  Sprache  sei  jene  Spielerei  mit  leeren  Wörtern  möglich, 
die  deutsche  Sprache  habe  nur  für  rechtschaffene  wirkliche  Dinge  Aus- 
drücke. Schon  in  einer  seiner  frühesten  Schriften  (de  stUo  philosophico 
Nizolüy  §  1 2,  Opp.  philos,  ed,  Ebdmann,  p.  62)  hat  er  darauf  aufioierk- 
sam  gemacht,  daß  die  Entwickelung  der  modernen  Philosophie  bei  den 
Franzosen  und  Engländern  mit  dem  litterarischen  Gebrauch  der  modernen 
Sprache  in  Wechselwirkung  stehe.  Er  hat  daher  wiederholt  für  die 
Verwendung  der  deutschen  Sprache  in  wissenschaftlicher  Darstellung 
sich  ausgesprochen,  auch  mit  Verdeutschung  der  wissenschaftlichen 
termini  hin  und  wieder  sich  Mühe  gegeben;  doch  hat  er  für  seine 
Person  sich  der  Lage  eines  damaligen  deutschen  Schriftstellers,  der  von 


Ghr,  Thomasius,  513 


der  gebildeten  oder  der  gelehrten  Gesellschaft  gelesen  werden  wollte, 
gefügt  und  durchweg  französisch  oder  lateinisch  geschrieben;  nur  in 
ein  paar  kleinen  Abhandlungen  hat  er  gezeigt,  daß  die  deutsche  Sprache 
zu  einer  reinen  und  durchsichtigen  Darstellung  nicht  ganz  unfähig  ge- 
worden war.  Übrigens  hat  er  noch  einen  Grund  gegen  die  Alleinherr- 
schaft des  Lateins:  die  Schulplackerei  mit  der  Erlernung  der  Sprache 
bringe  bei  manchen  einen  unauslöschlichen  Abscheu  gegen  Bücher  und 
Lesen  hervor,  was  die  Ausbreitung  der  Bildung  in  die  Kreise  der 
Nichtgelehrten  hemme. 

Leibniz  selbst  hat  sich  von  den  Universitäten  fern  gehalten,  er 
dachte  zu  groß  von  sich  und  seiner  Aufgabe,  als  daß  ihm  die  Stellung 
eines  Professors  hätte  genügen  können.  Sein  Ort  war  der  Hof,  von 
hier  aus  gelegentlich  neben  größeren  Dingen  auch  eine  Universitäts- 
reform zu  machen,  hat  er  sich  wiederholt,  jedoch  vergeblich,  als  Auf- 
gabe gewünscht.  So  fem  stand  er  dem  gemeinen  deutschen  Professoren- 
tum,  daß  er  weder  in  seinen  Gedanken  sich  mit  ihnen  auseinandersetzte, 
sondern  mit  Desoabtes  und  Spinoza,  mit  Bayle  und  Lookb,  noch 
seine  Schriften  an  sie  richtete,  sie  sind  an  Fürsten  und  hohe  Würden- 
träger adressiert. 

Der  Mann,  der  diese  Anschauungen  mitten  in  die  Universitätswelt 
hineingetragen  hat,  ist  Christian  Thomasius,  oder  wie  er  sich  auf 
seinen  deutschen  Schriften  nennt,  Thomas.  Neun  Jahre  jünger  als 
Leibniz,  ist  er  wie  dieser  der  Sohn  eines  Leipziger  Professors,  des 
Jacob  Thomasius,  der  auch  LEiBNizens  Lehrer  war.  Nachdem  er  zu- 
nächst auf  der  Leipziger  Universität  seine  Studien  gemacht  hatte,  ging 
er  nach  Frankfurt  a.  0.,  wo  er  unter  Stbyk  seine  juristischen  Studien 
beendete.  Wichtig  für  seine  Bildung  wurde  der  Einfluß  von  Pufen- 
DOBFF  und  Gbotius;  sie  lehrten  ihn  die  herkömmliche  scholastisch- 
theologische Begründung  des  Rechts  und  der  Moral  mit  der  rationalen 
Begründung  auf  die  Natur  des  Menschen  zu  vertauschen.  Die  Philo- 
sophie und  Jurisprudenz  der  Universitäten  erscheint  ihm  seitdem  als 
antiquierte  pedantische  Scholastik.  Er  hat  sein  Leben  lang  daran  ge- 
arbeitet, der  Vernunft-  und  zeitgemäßen,  „ohnpedantischen^^  Denk-  und 
Lehrweise  in  die  Wissenschaft  und  den  Universitätsbetrieb  Eingang  zu 
schaffen.  Der  Kampf  gegen  Pedanterei  und  Schulfuchserei,  gegen  Vor- 
urteil und  Aberglaube  aller  Art  ist  sein  Ruhm  und  seine  Freude.  Als 
Denker  ist  er  nicht  bedeutend;  aber  als  rastloser  Agitator  hat  er  auf 
die  Umgestaltung  des  deutschen  Universitätswesens  im  Sinne  der  mo- 
dernen Ideen  einen  sehr  erheblichen  Einfluß  geübt:  er  ist  der  Mann, 
der  wegweisend  am  Eingang  des  18.  Jahrhunderts  steht. 

Er   begann  seine  Laufbahn   als  Privatdozent   an   der  heimischen 

Paulsen,  Untcrr.   Zweite  Aufl.    I.  33 


514    Hl,  4,  Die  Universitäten  unter  d,  Einfluß  d.  hö/vtcßi-niodernen  Bildung. 

Universität.  Nachdem  er  schon  mehrere  Jahre  durch  ketzerischen  Vor- 
trag der  Jurisprudenz  und  durch  Disputationen  über  anstoßige  Thesen 
den  alten  Herren  Ärgernis  gegeben  und  sich  einen  Namen  gemacht 
hatte,  machte  er  das  Maß  voll  durch  eine  Reihe  von  Schritten,  die  er 
in  den  Jahren  1687—1688  that.  Im  Herbst  1687  kündigte  er  in 
deutscher  Sprache  deutsche  Vorlesungen  über  die  Schrift  eines 
spanischen  Jesuiten  über  Lebensklugheit,  in  französischer  Übersetzung, 
an:  es  waren  die  später  von  Schopenhaueb  unter  dem  Titel  „Hand- 
orakel der  Weltklugheit"  ins  Deutsche  übertragenen  feinen  und  scharf 
geschliffenen  Aphorismen  des  Baltahar  Gracian.  Das  deutsche  Pro- 
gramm, womit  er  zu  den  Vorlesungen  einlud,  behandelt  die  Frage: 
„in  welcher  Gestalt  man  denen  Franzosen  im  gemeinen  Leben  und 
Wandel  nachahmen  solle  ?"  Gleich  nach  diesem  „unerhörten  Greuel" 
reichte  er  den  ersten  Teil  seiner  Vernunftlehre,  ebenfalls  in  deutscher 
Sprache,  der  Fakultät  zur  vorschriftsmäßigen  Zensur  ein.  Nach  einigen 
Monaten,  so  erzählt  er  in  seiner  Ausgabe  des  Testaments  des  M.  v.  Osse 
(S.  252),  erhielt  er  sie  von  dem  Professor  des  „aristotelischen  Orgelwerks*^ 
mit  dem  Bemerken  zurück:  man  könne  nach  Beschluß  der  Fakultät 
keine  Schrift  zensieren,  darinnen  philosophische  Materien  in  deutscher 
Sprache  traktieret  würden.  Endlich  begann  er  zu  Anfang  1688  eine 
litterarische  Monatsschrift  erscheinen  zu  lassen,  es  ist  die  erste  in 
deutscher  Sprache:  „Scherz-  und  ernsthafte,  vernünftige  und  einfaltige 
Gedanken  über  allerhand  lustige  und  nützliche  Bücher  und  Fragen." 
Er  adressierte  sie  mit  einem  Vorwort  an  die  Herren  Tabtuffe  und 
Barbon,  welche  die  heuchlerische  Orthodoxie  und  die  geistlose  Pedanterie 
der  deutschen  Gelehrten  vorstellen.  Die  Bosheit  ist  gut  gemeint^  aber 
die  satirische  Kraft  ist  nicht  groß:  mit  der  der  Dunkelmännerbriefe  ist 
sie  nicht  zu  vergleichen.  Als  überlegener  Aufklärer,  der  aus  der  Höhe 
seiner  Vernünftigkeit  auf  die  tief  unter  ihm  noch  im  Schlamm  des 
Mittelalters  Watenden  herabblickt,  gießt  Thomasius  über  die  Koliken 
die  Schale  seines  nicht  immer  feinen  oder  scharfen  Witzes  und  seiner 
immer  platten  Moralphilosophie  aus.  In  der  vierten  Nummer  ergötzt 
er  sich  an  der  „weitläuftigen  Abbildung  eines  hochmütigen  und  ver- 
liebten Pedanten  unter  der  Person  des  Aristoteles(**. 

Bemerkenswert  ist  der  Inhalt  seines  Programms  von  der  Nach- 
ahmung der  Franzosen;  Thomasius  stellt  darin  das  neue,  modern-höfische 
Bildungsideal,  wie  er  es  in  die  Universitätswelt  einführen  will,  dem 
alten  Gelehrtenideal   gegenüber.^    Er  faßt  am  Schluß   die  Züge   zu- 

^  Abgedruckt  in  den  kleineu  Schriften,  Halle  1721.  Neuerdings  in  den 
Festdcliriftcn  zur  Jubelfeier  der  Univ.  Halle  (1894)  wieder  herausgegeben  von 
Opel,  mit  ausführlicher  Einleitung. 


Th(rtna»ius*  Bildungsideal.  515 


sammen:  „honnete  Gelehrsamkeit,  beatite  d'esprit,  un  bon  gout  und 
f/alanteriey  wenn  man  alle  diese  Stücke  zusammensetzt,  wird  endlich 
ein  parfait  komme  sage  oder  ein  vollkommener  weiser  Mann  daraus 
entstehen,  den  man  in  der  Welt  zu  klagen  und  wichtigen  Dingen 
brauchen  kann'^  Hierin  sind  uns  nun  die  Franzosen  ohne  Zweifel 
voraus,  und  da  der  vernünftige  Mann  das  Gute  nimmt,  wo  er  es  findet, 
warum  sollten  wir  von  ihnen  nicht  lernen?  Sie  kultivieren  die  höfische 
Bildung  und  moderne  Wissenschaft  in  ihrer  eigenen  Sprache,  warum 
sollten  wir  es  nicht  auch  thun?  Griechisch  und  Ijateinisch  ist  dazu 
wirklich  nicht  unentbehrlich.  Wenn  ein  Fürst  Französisch  und  Deutsch 
verstünde,  vom  Naturrecht  und  der  Historie,  von  politischen,  statistischen 
und  kameralistischen  Sachen  einen  guten  Begriff  hätte  und  von  allem 
dem  durch  eine  geschickte  Rede  nach  dem  Hof-stylo  seine  Gedanken 
eröffnen  oder  einen  netten  und  artigen  Brief  verfertigen  könnte,  auch 
dasjenige,  was  zum  Amt  eines  Fürsten  gehört,  auf  sich  und  seine 
Unterthanen  wohl  zu  applizieren  wüßte,  die  gemeine  Ruhe  und  Wohl- 
fahrt zu  befördern :  so  würde  man  einen  solchen  Herrn  mit  gutem  Fug 
für  einen  gelehrten  Fürsten  passieren  lassen  müssen;  und  wo  mir  recht 
ist,  so  hat  Flato  auf  einen  solchen  gezielet,  wenn  er  gesaget:  Daß  als- 
dann die  Republiquen  höchst  glückselig  sein  würden,  wenn  entweder 
die  Fürsten  philosophierten  oder  denen  Philosophis  die  Regimentslast 
aufgebürdet  würde.  Daß  wir  dergleichen  Proben  nicht  viel  aufweisen 
können,  liegt  nicht  an  den  Potentaten  selbst,  sondern  an  der  Art  selbige 
zu  unterweisen.  „Ich  bin  versichert,  daß,  wenn  man  einen  jungen 
Herrn  von  10 — 12  Jahren,  der  nur  sein  Teutsch  und  Französisch  ver- 
stünde, anfinge  taglich  zwei  bis  drei  Stunden  von  diesen  Materien  mit 
einem  von  Ernst  und  Scherz  gemengten  Discurs  zu  unterhalten  und 
darneben  mit  guter  Art  disponirte,  daß  er  noch  ein  paar  Stunden  mit 
Lust  auf  Lesung  guter  Historien,  auf  die  Geographie  und  Genealogien 
anwendete,  man  würde  ohne  ihm  einigen  Ekel  vor  dem  Studieren  noch 
Verdruß  für  denen  Gelehrten  zu  machen,  ingleichen  ohne  Beschwerung 
des  Gedächtnisses  mit  vielem  Auswendiglernen  und  Marter  des  Ver- 
standes, dasjenige  zu  glauben,  was  man  nicht  verstehet,  welches  zugleich 
denen  Menschen  einen  haupt-verdrießlichen  Eigensinn  einflößet;  ja  end- 
lich ohne  Beibringung  vieler  nichtswürdigen  Fragen,  welche  das  Gehirn 
verwirren  und  keinen  größeren  Nutzen  haben,  als  Ratten  und  Mäuse 
zu  tödten,  gleichsam  spielend  und  als  durch  den  angenehmsten  Zeit- 
vertreib noch  vor  dem  18.  oder  20.  Jahre  dieses  alles  zuwege  bringen 
können."  Und  auf  eben  dieselbe  Art  könnte  man  auch  eine  Privat- 
person zu  den  Geschäften  und  zur  Gesellschaft  erziehen:  „wenn  sie 
erstlich   die  Regeln   gründlich   zu   räsonnieren   wohl  inue  hätte,   ihre 

33* 


516    ///,*/.  Die  Universitäten  unter  d,  Einfluß  d.  höfisdi-modemen  Bildung. 


Gedanken  füglich  und  ordentlich  fürzubringen  wußte,  von  Anderer 
Schriften  ein  gut  Judicium  fallen,  auch  den  Ursprung  ihrer  irrigen 
Meinungen  mit  guter  Art  und  Freundlichkeit  darthun  könnte;  wenn 
sie  die  Bedekunst  so  weit  verstünde,  daß  sie  einen  wohl  gesetzten  Brief 
verfertigen  und  einen  geschickten  Discurs  formiren  könnte;  wenn  sie 
in  den  mathematischen  Wissenschaften  so  weit  bewandert  wäre,  daß 
sie  von  niemand  in  selbigen  verrathen  zu  werden  befürchten  dürfte; 
wenn  sie  von  denen  Geschöpfen  Gottes  und  deren  natürlichen  Eigen- 
schaften vernünftig  reden;  wenn  sie  von  der  menschlichen  Pflicht  so- 
wohl gegen  Gott  als  Menschen  in  allen  Standen  vernünftige  Nachricht 
geben  könnte'^  endlich  noch  in  der  Geschichte  der  menschlichen 
Meinungen  sich  umgethan  hätte,  ,,ich  dächt«,  wer  alles  dieses  prästierte, 
dürfte  noch  wohl  sich  unter  die  Gelehrten  machen".  Auf  Universitäten 
und  Schulen  dürfte  man  dergleichen  junge  Leute  nicht  leicht  finden; 
und  doch  wäre  es  durch  vernünftigen  Unterricht  so  leicht  zu  erreichen; 
selbst  beim  Frauenzimmer.  „Ich  getraue  mir  darzuthun,  daß  es  viel 
leichter  sei  und  mehr  Succeß  zu  hoffen,  ein  Frauenzimmer  von  einem 
guten  Verstände,  welche  kein  Lateinisch  verstehet,  auch  nichts  oder 
wenig  von  der  Gelehrsamkeit  weiß,  als  eine  auch  mit  gutem  Verstände 
begabte  Mannsperson,  die  aber  daneben  von  Jugend  auf  sich  mit  dem 
Latein  geplackt,  zu  unterrichten,  weil  durch  die  gewöhnliche  Lehr-Art 
viel  ungegründet  und  ohnnöthig  Zeug  nebst  dem  Iiatein  in  die  Ge- 
müther der  Lehrlinge  eingepräget  wird,  welches  hemachmals  so  fest 
klebet  und  merkliche  Verhinderungen  bringet,  daß  das  Tüchtige  und 
Gescheid  te  nicht  haften  will." 

Diesem  ersten  deutschen  Programm  zu  Vorlesungen  in  deutscher 
Sprache  ließ  er  andere  folgen,  man  findet  sie  ebenfalls  in  seinen  kleinen 
Schriften  gedruckt.  Zu  Ostern  1688  kündigte  er  zwei  Kollegien  über 
die  christliche  Sittenlehre  und  über  AdiS  jus  publicum  mit  einem  Biscour s 
von  den  Mängeln  der  aristotelischen  Ethik  an;  zum  Herbst  desselben 
Jahres  ein  Bisputatorium  über  seine  Logik,  welche  er  demnächst  unter 
dem  Titel:  Tntroductio  ad  philosophiam  aulicam  drucken  ließ,  mit  einem 
Biscours  von  den  Mängeln  der  heutigen  Akademien,  absonderlich  aber 
der  Jurisprudenz.  Endlich  im  Sommer  1689  eröffnete  er  der  studie- 
renden Jugend  einen  „Vorschlag,  wie  er  einen  jungen  Menschen,  der 
sich  fürgesetzt,  Gott  und  der  Welt  dermaleins  in  vita  civili  rechtschaffen 
zu  dienen  und  als  ein  honnete  und  galant  komme  zu  leben,  binnen  dreier 
Jahre  Frist  in  der  Philosophie  und  singulis  jurisprudentiae  partibus  zu 
informieren  gesonnen  sei". 

Der  philosophische  Kursus,  welcher  hier  angeboten  wird,  hat  nach 
der  Ausführung  im  Programm  folgende  Gestalt:  er  beginnt  mit  der  Logik, 


Thomasius'  philosophischer  Unterricht.  517 

einer  Anleitung  zu  rasonnieren  und  der  Säuberung  des  Kopfes  von 
Präjudizien;  es  folgt  die  Historie,  das  Auge  der  Wissenschaften,  sonder- 
lich die  Historie  der  Philosophie;  sodann  die  wichtigste  Disziplin,  die 
praktische  Philosophie  mit  ihren  drei  Teilen:  Ethik,  Politik,  Ökonomik. 
Die  Ethik  giebt  eine  sehr  praktische  und  detaillierte  Anweisung  zur 
Kunst  zu  leben;  die  Summe  ist  die  Demonstration,  „daß  ein  laster- 
hafter Mensch,  als  z.  E.  ein  Müssiggänger,  ein  Hurer,  ein  Spieler,  ein 
Säufer,  denn  diese  vier  Laster  stehen  einem  jungen  Menschen  am  meisten 
nach,  das  allerverdrießlichste  Leben  von  der  Welt  führe,  und  daß  ein 
tugendhafter  Mann  (durch  welchen  allerdings  nicht  einen  mürrischen 
Pedanten,  sondern  einen  vernünftigen  und  politen  Mann  verstehe)  das 
allerlustigste  Leben  zu  genießen  allein  fähig  sei''.  Die  Politik  handelt 
nicht  allein  von  Staatssachen,  sondern  lehrt  auch  ein  politisches  Ver- 
halten im  Privatverkehr  mit  Menschen,  eine  Disziplin,  auf  deren  syste- 
matische Ausbildung  auf  Grund  von  Psychologie  und  Physiognomik 
Thomasius  besonders  stolz  war.  Ebenso  lehrt  die  „Ökonomik''  1.  wie 
man  sich  ein  ehrlich  Vermögen  zuwege  bringen,  2.  wie  man  es  kon- 
servieren und  administrieren,  3.  wie  man  sich  in  Ausgebung  desselben 
verhalten  solle",  jedes  dieser  Stücke  wird  mit  sehr  detaillierten  Über- 
legungen ausgeführt.  Ein  Anhang  handelt  vom  decorum  oder  der  Ga- 
lanterie, welche  besteht  „in  der  Übereinstimmung  des  menschlichen 
Thuns  und  Lassens  mit  dem  Thun  und  Lassen  solcher  Personen,  die 
für  etwas  sonderliches  in  der  menschlichen  Gesellschaft  ästimieret 
werden."  —  Vor  dem  Übergang  zur  Jurisprudenz  werde  hier  dann  noch 
eine  kurze  Anleitung  zur  Oratorie  eingelegt  werden,  freilich  etwas  von 
dem,  was  sonst  auf  Akademien  unter  diesem  Titel  geboten  würde,  völlig 
Verschiedenes;  besonders  werde  darin  zur  deutschen  Redekunst  an- 
geführt werden. 

Thomasius  hat  auch  in  Halle  sein  Collegium  styli  fortgesetzt,  mit 
Lektionen  und  Übungen,  um  die  Studenten  zur  „Deutlichkeit  und  Artig- 
keit" der  Bede  in  deutscher  Sprache  zu  führen,  denn  von  den  Schulen 
brächten  sie  nichts  mit  als  etwas  Latein.  „Ich  kann,"  so  sagt  er  ein- 
mal in  einem  späteren  Programm,  „durch  zwölQährige  Erfahrung  be- 
zeugen, daß  die  meisten  unter  meinem  Auditoribus ,  auch  diejenigen, 
die  ihr  gut  Latein  von  Schulen  mitgebracht,  wenig  oder  gar  kein 
Teutsch  gekonnt,  das  ist,  daß  sie  gar  selten  capabel  gewesen,  einen 
deutlichen  artigen  Brief  zu  schreiben  oder  einen  kleinen  Satz  förmlich 
vorzubringen."  Daher  er  hierzu  Anleitung  geben  wolle,  zuerst  durch 
praecepta  und  lectiones,  dann  durch  Übungen,  indem  die  Zuhörer  nach 
Belieben  „einen  Brief,  eine  Hochzeit-  oder  Leichenrede,  oder  was  sonsten 
im  bürgerlichen  Leben,  bei  Antretung  eines  Amts  oder  bei  Niederlegung 


518    111,  4.  DU  Universitäten  unier  d.  Einfluß  d,  höfischrnwdemen  Bildung. 


desselbigen,  bei  Bewerbung  um  eine  Braut  u.  s.  w.  vorzugehen  pflegety 
oder  eine  kurze  Erzählung  aufsetzen.  Wenn  dieses  einige  Zeit  lang 
geschehen,  werde  ich  ihnen  selbsten  einen  Aufsatz  von  unterschiedenen 
Materien,  jedoch  ohne  einige  Disposition  geben,  daraus  zu  wählen  was 
ihnen  anstehet.  Ja  es  soll  auch  einem  jeden  freistehen,  außer  den 
vorgeschriebenen  Materien  eine  andere  zu  erkiesen,  wenn  er  sich  nur 
nicht  ertappen  läßt,  daß  es  dasjenige,  was  er  präsentiert,  aus  andern 
geschrieben  habe." 

Soviel  über  die  Anschauungen  und  Bestrebungen  des  Mannes,  der 
das  neue  höfische  Bildungsideal  zuerst  in  das  deutsche  Universitäts- 
wesen hineintrug.  Den  rechten  Boden  aber  für  diese  seine  Bestrebungen 
fand  er  an  der  neugegründeten  Universität  zu  Halle,  als  deren  plan- 
tator,  mit  dem  mittelalterlichen  Ausdruck,  man  den  Thomasius  be- 
zeichnen kann. 

Seit  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  begann  unter  den  deutschen 
Staaten  einer  hervorzutreten,  der  bisher  namentlich  in  Hinsicht  auf  die 
geistige  Kultur  eine  überaus  bescheidene  Bolle  gespielt  hatte:  es  ist 
der  brandenburgisch-preußische.  Wie  in  der  politisch-militärischen 
Welt,  so  errang  er  auch  in  der  geistigen  Welt  allmählich  die  Fährer- 
stellung. Eine  Reihe  von  bedeutenden  Regenten,  alle  mit  der  großen 
Herrscherkraft  ausgestattet,  das  Wirkliche  und  Lebenskräftige  von  dem 
Abgestorbenen  und  nur  noch  scheinbar  Lebenden  zu  unterscheiden, 
haben  dem  neuen  Staat  das  Übergewicht  und  zuletzt  die  Hegemonie 
in  Deutschland  verschafft.  Vor  allem  war  es  die  furchtlose  Anerkennung 
des  Neuen  und  Zukunftsreichen  in  der  geistigen  Welt,  wodurch  der 
preußische  Staat  die  hervorragendsten  Kräfte,  die  Träger  neuer  Ge- 
danken aus  ganz  Deutschland  an  sich  zu  ziehen  wußte. 

Der  erste  in  der  Reihe  großer  Fürsten  war  Friedrich  Wilhelm, 
der  große  Kurfürst.  Sein  beweglicher  Geist  hatte  auch  für  die  Wissen- 
schaften und  Künste  Sinn;  die  phantastischen  Hoffnungen,  womit  die 
Zeit  auf  Naturbeherrschung  durch  Naturwissenschaft  ausging,  waren 
ihm  nicht  fremd.  In  theologischer  Beziehung  gehörte  er  der  Richtung 
an,  die  sich  von  dem  zugespitzten  Konfessionalismus  abwendete  und 
einem  mehr  praktischen  Christentum  zuneigte;  Friede  zwischen  den 
Konfessionen  auf  Grund  der  Anerkennung  der  Parität  war  das  Ziel 
seiner  Kirchen politik.  Sie  entsprach  der  Stellung  der  reformierten 
Dynastie  im  lutherischen  Lande.  Nach  dem  Kriege  ließ  er  sich  die 
Wiederherstellung  der  alten  Landesuniversitäten  zu  Frankfurt  und 
Königsberg  angelegen  sein.  Ebenso  wurde  die  brandenburgische 
Landesschule  zu  Joachimsthal,  die  der  Krieg  zerstört  hatte,  zu  Berlin 
wieder  aufgerichtet  (1650,  anfangs  im  Schloß),  und  zu  Hamm  in  der 


Brandenlnirg  und  der  große  Kurfürst,  519 


Grafschaft  Mark  ein  Gymnasium  illustre,  mit  drei  Fakultätsprofessuren, 
auch  Fecht-,  Tanz-  und  Sprachmeistern,  eröffnet  (1657).  Eine  neue 
Umyersitat  für  seine  westlichen  Länder  begründete  er  zu  Duisburg 
1654.  Sie  war  zeitweilig  nicht  ohne  Bedeutung,  namentlich  dadurch, 
daß  sie  den  Einfluß  der  fortgeschritteneren  Bildung  der  Niederlande 
und  Frankreichs  vennitteln  half.  Ihr  Philosoph  und  Theolog  J.Claubekg 
war  ein  Anhänger  der  Cartesianischen  Philosophie  (Tholuck,  II,  246  flF.). 
In  Frankfurt  war  der  Physiker  Placentiüs  Cartesianer,  und  der  Philo- 
soph und  Psycholog  A.  Weöenfeld  ein  Anhänger  Bacons  (Gumposch, 
Philos.  Litteratur,  S.  130),  wie  denn  auch  die  Werke  Bacons  von  einem 
märkischen  Prediger  herausgegeben  und  einem  Sohne  des  großen  Kur- 
fürsten dediziert  worden  sind  (1694).  Als  die  Frankfurter  Fcakultat 
gegen  die  freiere  Richtung  zu  Gunsten  des  rezipierten  Aristotelismus 
einschritt,  reskribierte  der  Kurfürst:  er  könne  nicht  absehen,  „warum 
einem  philosopho  es  nicht  concedirt  werden  möchte,  pro  et  contra, 
ungeachtet  es  des  Äristotelis  placitis  zuwider  laufe,  zu  mehrerer  Er- 
läuterung der  philosophischen  Wahrheit  zu  lehren  und  zu  disputieren".^ 
Bemerkenswert  ist  noch,  daß  der  Kurfürst  den  ersten  großen  Vertreter 
des  Natur-  oder  Vernunftrechts  in  Deutschland,  den  von  den  Anhängern 
der  Schulphilosophie  so  viel  angefeindeten  Samuel  Pufendobff  als 
Historiographen  nach  Berlin  berief.  Es  ist  der  erste  Gelehrte  von  uni- 
versellem Ruf,  der  hier  sein  Leben  beschlossen  hat  (1694).  Auch  die 
Begründung  der  großen  Berliner  Bibliothek  ist  das  Werk  des  großen 
Kurfürsten. 

Noch  viel  weiter  aussehend  erscheint  ein  Entwurf,  der  freilich  auf 
dem  Papier  geblieben  ist,  aber  doch  einen  Einblick  in  die  Gedanken 
gestattet,  die  den  Fürsten  bewegten  oder  doch  bei  ihm  Anklang  fanden: 
es  ist  ein  1667  vom  Kurfürsten  unterzeichnetes  Gründungspatent  für 
eine  internationale  wissenschaftliche  Zentralanstalt  in  der  Mark  Branden- 
burg, die  zugleich  eine  universelle  Hochschule  sein  soll.  Die  Liebhaber 
der  Freiheit  und  der  Wissenschaften  aller  Länder  und  aller  christlichen 
Konfessionen  werden  in  dem  Patent  eingeladen,  sich  an  dem  Sitz  dieser 
Anstalt  (Tangermünde  wurde  dafür  in  Aussicht  genommen)  anzusiedeln; 
sie  werden  dort  Schutz,  Ehre,  wissenschaftlichen  Verkehr  und  Förderung 
aller  Art  finden.  Es  werden  einige  hervorragende  Gelehrte  (rarioris 
scientiae  et  politioris  litteraturae)  angestellt  werden,  die  täglich  öffent- 
liche Vorträge  halten,  nicht  für  die  Jugend  über  elementare  Dinge, 
sondern  für  höher  Gebildete  (non  erudiendae  juventuti  apta  sed  doctis 


*  Varrentrapp,  Der  große  Kurfürst  und  die  Universitäten  (1894,  Straß- 
burger Rektoratsrede). 


520    Uly  4,  Die  Unh^ersüätcn  unter  d,  Einfluß  d,  höfisdi'jnodemen  Bildung. 


auribus  et  optime  cultis  congrua  animaöus).  Auch  Juden  und  Arabern 
soll  diese  Anstalt  nicht  verschlossen  sein,  wenn  sie  durch  Wissenschaft 
sich  auszeichnen  und  ihre  religiösen  Ansichten  für  sich  behalten.^ 

Der  Entwurf  zu  dieser  Gründung  stammt  von  einem  schwedischen 
Flüchtling,  Benedict  Skytte.  Ein  von  ihm  gemachter  Anschlag  zur 
Ausführung  (ebenfalls  bei  Oelrichs  mitgeteilt)  bezeichnet  die  notwen- 
digen Institute  und  Angestellten.  Außer  den  notwendigen  Bepräsen- 
tations-,  Gebrauchs-  und  Okonomiegebäuden  finden  sich  darunter  eine 
Bibliothek,  eine  Dnickerei  für  alle  Sprachen,  eine  Apotheke,  ein  che- 
misches Laboratorium,  ein  physikalisch -technologisches  Institut,  ein 
Kranken-  und  Waisenhaus,  ein  zoologischer  und  botanischer  Garten, 
ein  Institut  für  Wasserkünste  und  Bäder,  ein  Haus  für  Maschinen  und 
Feuerspritze,  ein  Museum  (Raritatenkabinet),  ferner  Manufakturen,  öflFent- 
liche  Anlagen,  Alleen,  Säulengänge  u.  s.  f. 

Es  ist  kein  Zweifel,  daß  dieser  „erhabenste  Palast  des  Universums" 
nach  dem  Vorbild  jenes  naturwissenschaftlich-technologischen  Instituts 
gebaut  ist,  das  Bacon  als  die  Zentralanstalt  seiner  utopischen  Nova 
Atlantis  beschreibt.  Es  sind  Gedanken,  wie  sie  zu  jener  Zeit  alle  vor- 
geschrittensten Geister,  man  denke  an  Comenius  und  Letbniz,  be- 
schäftigten. Auch  der  große  Kurfürst  gehört  zu  ihnen.  Freilich  war 
er  Realpolitiker  genug,  um  auf  die  Vorstellungen  seiner  besonneneren 
Räte  von  dem  Versuch  einer  Verwirklichung  des  phantastischen  Planes 
abzustehen.  Das  Patent  scheint  nicht  einmal  veröfientlicht  zu  sein. 
In  der  That,  man  wird  annehmen  dürfen,  daß  die  Sache  nur  zu  einer 

^  Oelrichs,  Commentationes  histor,  litterariaej  1751.  S.  auch  Ebhan,  Sur 
le  projet  dune  ville  savante  dans  le  Brandenbourg  (1792).  Das  bei  Oelrichs  im 
Original  mitgeteilte  Plakat  hat  die  Überschrift:  Fundatio  novae  univerailatis 
Brandenhurgicae  Gentium  Seientiarum  Artium.  Die  Einladungsformel,  womit 
die  merkwürdige  Urkunde  beginnt,  hat  folgenden  Wortlaut:  Si  qui  sunt  ele- 
ganltorum  Musarum  cultoreSy  si  qui  sunt  indagatores  eximiarum  seientiarum, 
nohiliorum  artium  periti,  si  qui  sunt  impediti  Divinitatis  eultu  et  usu  sctero- 
rum,  si  qui  sunt  asperae  dominationis  pertaesi,  libertatis  amantes,  si  qui  sunt 
per  ostrar/ismum  pntria  pulsi  vel  ob  atium  qtmnieumque  modo  non  inhonestam 
causam  sedihus  exforres,  si  qui  suntj  qui  in  Soeietate  Litteratorum  et  in  erudita 
conrersatione  mundi  ponunt  delieias:  sciant  praedicti  et  omnes  viri  probi  ei 
honesti,  cujtis  etiam  sint  nationiSj  honestae  professionis  ei  fideiy  sciant  sese  in 
hac  U7iieersitate  reperturos  Pamassuvt,  Maecenatem,  Seientiarum  et  Artium 
honorem,  conscientiarum  et  omnium  rerum  decoram  liberiatem,  solamen  afflictis, 
ex/ilantibus  refugium  et  asylumy  sodalitium  bonorum  mentiuniy  cultioris  et  suprn 
vulgus  sapientis  generis  humani  delieias.  Das  Siegel  des  Instituts  soll  den  Kur- 
fürsten darstellen  auf  dem  Thron,  in  der  Rechten  das  Szepter,  mit  der  Linken 
den  Tempel  der  Weisheit  berührend;  Pallaä  und  Minerva  halten  Lorberzweige 
über  dem  Haupt  des  Fürsten. 


Gründung  der   Universität  Halle,  521 

großen  Enttäuschung  geführt  hätte.  Die  Mark  war  damals  nicht  das 
Land  und  Tangermünde  nicht  der  Ort,  um  eine  internationale  Gelehrten- 
kolonie anzuziehen. 

Die  Regierung  des  Nachfolgers,  des  ersten  preußischen  Königs, 
blieb,  was  die  Bildungspolitik  anlangt,  im  wesentlichen  in  denselben 
Spuren;  ihr  Ziel  war,  den  jungen  aufstrebenden  Staat  in  geistigen 
Dingen  an  der  Spitze  des  Fortschritts  zu  erhalten.  Draußen  verketzerte 
Vertreter  neuer  Richtungen  fanden  in  Brandenburg  bereite  Aufnahme. 
J.  Ph.  Speneb,  der  von  der  sächsischen  Theologie  verketzerte  Pietist, 
wurde  1691  als  Probst  nach  Berlin  berufen:  nicht  ein  unmoderner 
Mann,  er  war  vorher  Prinzenhofmeister  gewesen  und  ist  nicht  bloß 
Begründer  der  collegia  pietatis,  sondern  auch  ein  geschätzter  Bearbeiter 
der  höfischsten  aller  Wissenschaften,  der  Heraldik.  Nicht  minder  fand 
Gottfried  Abnold,  der  Verfasser  der  „Unparteiischen  Kirchen-  and 
Ketzerhistorie"  (einer  Darstellung,  wo  die  Ketzer  recht,  und  die  Kirche 
unrecht  hat),  als  er  vor  dem  Haß  der  Orthodoxie  aus  dem  Sächsischen 
weichen  mußte,  im  Brandenburgischen  Aufnahme;  jenes  Werk  ist 
Friedrich  I.  gewidmet  Auf  das  bestimmteste  gelangte  endlich  die 
Tendenz  des  neuen  Staatswesens  zum  Ausdruck  in  der  Begründung  von 
zwei  neuen  wissenschaftlichen  Anstalten,  die  in  der  Geschichte  der 
geistigen  Kultur  Deutschlands  eine  wichtige  Rolle  gespielt  haben: 
der  Universität  zu  Halle  (1694)  und  der  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  zu  Berlin  (1700).  Die  Namen  von  Thomasius  und 
Leibniz,  die  unlösbar  mit  diesen  beiden  Anstalten  verknüpft  sind,  be- 
zeichnen ihre  Richtung  und  Bedeutung.  Nach  dem  Urteil  Friedrichs 
des  Großen  haben  unter  allen  deutschen  Gelehrten  diese  beiden  dem 
Fortschritte  des  menschlichen  Geistes  die  größten  Dienste  erwiesen.  In 
gewissem  Sinne  kann  man  sagen:  was  der  große  Kurfürst  mit  dem 
großen,  aber  übereilten  Entwurf  einer  Zentralanstalt  für  wissenschaft- 
liche Forschung  und  wissenschaftlichen  Unterricht  gewollt  hatte,  das 
ist  durch  die  Hallische  Universität  und  die  Berliner  Akademie,  aller- 
dings nicht  in  Form  einer  einheitlichen  Anstalt,  ins  Werk  gesetzt 
worden. 

Halle  ist  die  erste  eigentlich  moderne  Universität.^  Schon  ihr  Ur- 
sprung weist  auf  diesen  Charakter  hin.  Sie  ist  als  Ersatz  für  einen 
Hof  und  mit  Benutzung  von  dessen  Hinterlassenschaft  begründet.    Im 

*  Über  die  Vorgänge  bei  der  Gründung  berichtet  ausfiihrlich  J.  P.  v.  Lude- 
wig ,  Historie  der  Hallischen  Universität  in  Cons,  Hall,  Jure  Cons.  tom.  II.  am 
Eingang.  Neben  den  älteren  Geschichten  der  Hallischen  Univ.  von  Förster 
und  HuFFBAUER  jetzt  das  zum  Jubiläum  erschienene  Werk  von  W.  Scbradek, 
Geschichte  der  Friedrichsuniv.  zu  Halle  (2  Bde.  1894). 


522    IlL  4,  Die  Unirersüäten  unter  d.  Einfluß  d,  höfisch-modernen  BiJdung. 


Jahre  1 680  fiel  das  Erzstift  Magdeburg  an  das  Haus  Brandenburg.  Die 
in  der  bisherigen  Residenz  leer  gewordenen  Häuser  und  hofischen  In- 
stitute, Keitbahn,  Ballhaus,  Fechtboden  etc.  mitsammt  dem  zugehörigen 
Personal  gaben  Veranlassung  zur  Begründung  einer  Hitterakademie; 
ein  französischer  Emigrant  und  ein  deutscher  Edelmann  spielten  dabei 
die  Hauptrolle;  außer  in  den  ritterlichen  Exerzitien  wurde  in  den 
modernen  Sprachen  und  Wissenschaften  unterrichtet.  Im  Jahre  1690 
kam  Thomasius  nach  Halle.  In  Leipzig  hatte  er  es  durch  fortwährende 
Beibungen  mit  der  am  Alten  hangenden  Universität  erreicht,  die  best- 
gehaßte Persönlichkeit  zu  sein.  Als  er  auch  dem  Dresdener  Hof  An- 
stoß gab  und  man  einen  Verhaftsbefehl  gegen  ihn  erwirkte,  wich  er 
aus  und  wandte  sich  dem  Nachbarlande  zu,  wo  er  mit  offenen  Armen 
aufgenommen  wurde.  Er  wurde  alsbald  zum  brandenburgischen  Ge- 
heimen Bat  ernannt  und  ihm  anheim  gegeben,  in  Halle  seine  Vor- 
lesungen zu  eröffnen.  Da  diese  eine  beträchtliche  Anzahl  von  Hörern 
anzogen,  so  wurde  nun  der  Plan,  dort  eine  Universität  zu  errichten 
(ein  Plan,  den  schon  der  Kardinal  Albrecht  von  Mainz  gehabt,  auch 
eine  päpstliche  Errichtungsbulle  dafür  erworben  hatte,  1531)  auf- 
genommen und  ausgeführt.  Es  wirkte  dabei  besonders  auch  die  Ab- 
sicht mit,  für  die  lutherischen  Theologen  des  Landes,  denen  der  Besuch 
der  beiden  sächsischen  Universitäten  untersagt  war,  eine  zuverlässige 
einheimische  Bildungsanstalt  herzustellen,  denn  Frankfurt  war  seit  dem 
Übertritt  des  regierenden  Hauses  reformiert  Zu  den  vorhandenen 
Kräften  wurde  eine  kleine  Anzahl  auswärtiger  berufen,  darunter  der 
berühmte  Jurist  Sam.  Stryk  von  Wittenberg,  die  Theologen  J.  Bbeit- 
HAUPT  und  A.  H.  Prancke  von  Erfurt,  der  Philosoph  J.  Fb.  Buddeüs 
vom  Koburger  Gymnasium  und  der  Philolog  Chb.  CELLARicrs  aus  dem 
Merseburger  Rektorat.  Der  Wittenberger  Philolog  Schuezfleisoh  und 
der  berühmte  Altdorfer  Physiker  J.  Chr.  Stürm  hatten  abgelehnt 
Dagegen  wurden  an  Fr.  Hoffmann  und  6.  E.  Stahl  zwei  bedeutende 
Mediziner  und  Naturforscher  gewonnen.  Als  Direktor  der  Universität 
wurde  V.  L.  v.  Seckendorf  berufen,  doch  starb  er  schon  im  Jahre 
1692.  Endlich  wurde  im  Jahre  1694  die  neue  Universität,  nachdem 
1693  ein  kaiserliches  Privileg  erworben  worden,  mit  großem  Pomp 
eingeweiht. 

Das  Lektionsverzeichnis  auf  das  Jahr  1695  weist  im  ganzen 
15  Lehrer  auf:  in  der  theologischen  Fakultüt  2,  in  der  juristischen  5 
(4  Ordinarien),  in  der  medizinischen  2,  in  der  philosophischen  7  (darunter 
Hoffmann,  der  auch  in  der  medizinischen  Fakultät  eine  Professur  hatte). 
In  der  theologischen  Fakultät  liest  Breithaupt  exegetische,  Anton 
dogmatische   Vorlesungen.     In   der   philosophischen   liest   CELiiAaius, 


Universität  Halle.     Thoifiasius  und  Francke.  523 


Eloqu.  et  Bistor.  P.  F.,  über  Philologie  und  Geschichte,  Fbanckb, 
Gr,  et  Or.  lingu.  P.  P,,  erklärt  philologisch  Bücher  des  alten  und  neuen 
Testaments,  Uoffmakn,  Philos,  Natur,  et  Experimentalis  (1694  statt 
dessen  Cartesianae)  P.  P.,  liest  über  Experimentalphysik;  Büddeus, 
Philos.  Mor.  ac.  Civ,  P,  P.,  über  Politik  und  Naturrecht;  J.  Speblettb, 
Philos.  P.  P.y  über  sein  System  der  Philosophie  (erbietet  sich  auch  die 
Cartesianische  Philosophie  zu  lehren,  sowie  Geographie  und  französische 
Sprache  vorzutragen);  Lüdewig,  PhiL  Ration.  P.  P.,  liest  über  Logik 
(mit  Disputationen)  und  Metaphysik,  ferner  über  Geschichte,  mit  Genea- 
logie, Heraldik  und  Geographie;  endlich  in  Poesi  erklärt  er  den  Prü- 
den tius;  OsTBOwsKi,  Äfat/i.  P.  P.  Extraord.j  liest  über  Mathematik. 

Der  Charakter  der  Universität  während  der  ersten  Dezennien  ihres 
Bestehens  wurde,  wenn  nicht  bestimmt,  so  doch  am  schärfsten  zum 
Ausdruck  gebracht  durch  Thomasiüs  und  Fbai^gke.  Die  beiden  kannten 
sich  schon  von  Leipzig  her;  wie  Thomasiüs  von  der  juristischen,  so 
war  Fbancke  von  der  dortigen  theologischen  Fakultät  als  revolutionäres 
Element  ausgeschieden  worden.^  Sie  begegneten  sich,  wie  einst  Lutheb 
und  die  Humanisten,  in  der  Verachtung  der  Schulphilosophie  samt 
scholastischer  Theologie  und  Jurisprudenz;  die  Richtung  auf  das  Prak- 
tische ist  beiden  eigen.  Sie  begegneten  sich  auch  in  der  Abneigung 
gegen  den  humanistischen  Schulbetrieb;  mißtraute  Fbancke  den  grie- 
chischen und  römischen  Klassikern  als  Heiden,  so  blickte  Thomasiüs 
auf  sie  als  auf  einen  überwundenen  Standpunkt;  beide  waren  bestrebt, 
die  modernen  Bildungselemente  für  den  Jugendunterricht  zu  verwerten; 
wie  in  Fbanckes  Pädagogium  dies  versucht  wurde,  davon  wird  noch 
später  zu  reden  sein. 

freilich  bestand  zugleich  zwischen  diesen  beiden  Männern  ein 
innerer  Gegensatz  von  derselben  Art,  wie  zwischen  Lütheb  und  den 
Humanisten.  Stand  Fbancke  den  weltlichen  Dingen,  den  profanen 
Wissenschaften,  der  ganzen  französisch -höfischen  Kulturbewegung  mit 
Scheu  gegenüber,  so  war  dagegen  Thomasiüs,  so  demütig-fromm  er  auch 
zuweilen  redet,  im  Grunde  seines  Herzens  durchaus  weltlich  gesinnt; 


*  Kbamer,  Franckes  Leben,  I,  46  fF.  Vor  allem  wurde  Fbancke  durch  den 
Erfolg  seiner  exegetischen  Vorlesungen  über  die  heiligen  Schriften  den  alten 
Professoren,  besonders  Cari>zow  und  Alberti,  die  auch  Thomasiüs*  und  Pupen- 
DORFPs  erbitterte  Gegner  waren,  unerträglich.  „Seit  die  sogenannten  Pietisten 
sich  lierfürgethan,"  heißt  es  in  einem  Bericht  der  Fakultät  nach  Dresden,  ,,hahen 
die  shidiosi  keine  andere  collegia,  weder  lectoria  noch  disputatoria  geachtet; 
ganze  collegia  systematica  in  libros  symbolicos  sind  eingegangen.  Redet  man 
von  collegiis  philosophieis,  logicis,  metaphysicis  u.  dergl.,  so  lächeln  sie  darüber, 
der  Meinung,  daß  sie  ihr  Studieren  leichter  hinauszuführen  wüßten." 


524    III,  4,  Die  Universitäten  unter  d,  Einfluß  d,  höfisch-modernen  Bildung, 


der  Pietismus  war  ihm  recht  als  Bundesgenosse  gegen  die  Orthodoxie, 
mit  welcher  er  auf  den  Tod  verfeindet  war;  er  liebte  es,  ebenso  wie 
Hütten,  seinen  Gegnern  gegenüber  sich  gelegentlich  nicht  nur  als  den 
gebildeteren,  sondern  auch  als  den  frömmeren  Mann  darzustellen.  In 
Halle  brach  später  der  innere  Gegensatz  in  offene  Feindschaft  aus. 
Sowohl  die  Lehre  als  das  Leben  des  Thomasius  gaben  Fbancken  An- 
stoß. Im  Jalire  1 702  sah  Fbancke  durch  sein  Gewissen  sich  genötigt, 
die  Frau  des  Thomasius  um  ihres  Kleiderluxus  willen  von  der  Kom- 
munion auszuschließen  (Ebameb,  II,  145  ff.).  Dem  Thomasius  selbst 
hatte  schon  ein  Leipziger  Gegner  vorgehalten,  daß  er  zur  Vorlesung 
und  Disputation  das  Katheder  im  bunten  Modekleid  mit  Degen  und 
zierlichem  goldenem  Gehänge  besteige. 

Die  Studentenschaft  folgte  den  beiden  repräsentativen  Männern. 
p]s  ging  bald  unter  den  Gegnern  ein  Spruch  um:  du  gehst  nach  Halle? 
du  wirst  als  Atheist  oder  als  Pietist  zurückkehren  (Halam  tendis  aut 
pietista  aut  atheista  reversurus).  Dem  Juristen  wird  in  Aussicht  ge- 
stellt, als  ungläubiger  Weltmann,  der  nicht  mehr  an  Hexen  und  Teufel, 
vielleicht  auch  noch  an  andere  Dinge,  glaubt,  aus  Halle  zurückzu- 
kommen; dem  Theologen  droht  der  Pietismus  oder  gar  der  Enthusias- 
mus, der  nicht  minder  der  „gesunden  Lehre"  feind  und  vor  allem  dem 
Kirchenregiment  verhaßt  ist:  indem  er  sich  auf  innere  Erleuchtung 
beruft,  entzieht  er  sich  der  Kontrolle  der  Lehraufsicht  Aber  die  Ent- 
rüstung der  Vertreter  des  Alten  hielt  den  Lauf  der  Dinge  nicht  auf. 
Mitten  zwischen  den  alten  sächsischen  Universitäten  gelegen,  machte 
sich  die  neue  brandenburgische  bald  Baum.  Während  des  ganzen 
18.  Jahrhunderts,  seit  der  Mitte  desselben  in  Konkurrenz  mit  der  neuen 
hannoverisch -englischen  Universität  Göttingen,  behauptete  Halle  die 
Führerschaft  unter  den  deutschen  Universitäten.  Die  Zahl  der  jähr- 
lichen Inskriptionen  stieg  schon  im  ersten  Jahrzehnt  auf  600.  Bis  1 724 
waren  6032  Theologen  und  8052  Juristen,  dazu  noch  zwei  Fürsten, 
76  Grafen,  103  Freiherren  und  1200  Adlige  immatrikuliert  worden 
(Hoffbauer,  32).  Aufklärung  und  Pietismus,  philosophischer,  politischer 
und  zuletzt  auch  theologischer  Rationalismus  haben  von  Halle  aus  ihren 
Siegeslauf  durch  Deutschland  angetreten. 

Thomasius  war  für  die  Ausbreitung  seiner  Denkweise  rastlos  thätig. 
In  Halle  hinderte  ihn  nichts  mehr,  seine  Gedanken  in  deutschen  Lehr- 
büchern mitzuteilen.  Gleich  im  Jahre  1691  erschien  die  Philosophia 
aulica  deutsch  als  ,,Einleitung  zu  der  Vernunftlehre,  worinnen  durch 
eine  leichte  und  allen  vernünftigen  Menschen,  waserlei  Standes  oder 
Geschlechtes  sie  seien,  verständliche  Manier  der  Weg  gezeigt  wird,  ohne 
die  SyllogisHca  das  Wahre,  Wahrscheinliche  und  Falsche  voneinander 


Universität  Halle,     Tfianiasius  und  Francke,  525 

zu  entscheiden  und  neue  Wahrheiten  zu  erfinden'^  Im  folgenden  Jahr 
erschien  das  zugehörige  Lehrbuch  der  Moral  unter  dem  Titel:  „Von 
der  Kunst  yemünfbig  und  tugendhaft  zu  lieben,  als  dem  einzigen  Mittel 
zu  einem  glückseligen,  galanten  und  vergnügten  Leben  zu  gelangen, 
oder  Einleitung  in  die  Sittenlehre."  Die  Schriften,  deren  „ohn pedan- 
tischer" Inhalt  dem  Titel  völlig  entspricht,  wurden  begierig  gelesen,  wie 
durch  eine  große  Menge  Auflagen  bewiesen  wird.  So  war  Thomasius 
bestrebt,  die  Halleschen  Studenten  von  dem  „Laster  der  Pedanterei" 
zu  befreien  und  moderne  Bildung  zu  verbreiten.  Das  persönliche  Bei- 
spiel unterstützte  die  litterarischen  Bemühungen.  Halle,  so  bezeugt  er 
1717  (in  seiner  Ausgabe  von  M.  v.  Osses  Testament,  S.  215),  „dürfe 
sich,  obwohl  von  der  ünhöflichkeit  noch  nicht  gänzlich  befreit,  doch 
gratulieren  an  einem  Ort  angelegt  zu  sein,  an  welchem  die  Herren 
Rate  bei  der  hochlöblichen  Regierung  als  Männer  von  höflichen  Sitten 
sowohl  die  Lehrer  als  die  Studierenden  durch  ihr  gutes  Exempel  an- 
trieben zu  folgen;  und  werden  wir  Professores  auch  nunmehro,  nachdem 
die  Regierung  nach  Magdeburg  transferieret  worden,  uns  angelegen  sein 
lassen,  den  desfalls  uns  anvertrauten  studiosis  noch  mit  dergleichen 
Beispiel  voranzugehen."  Es  folgt  ein  drei  Quartseiten  langer  Exkurs 
über  das  Hutabnehmen,  als  welches,  obwohl  mit  Maßen  zu  üben,  zur 
Höflichkeit  gehöre.  So  seltsam  uns  diese  Bestrebungen  anmuten,  so 
hatten  sie  zu  einer  Zeit,  wo  die  Universitäten  eben  aus  dem  Unwesen 
des  Pennalismus  aufzutauchen  begannen,  ihr  gutes  Recht.  Durch  die 
höfisch-französische  Bildung  ist  die  Barbarei  des  Saufens  und  Raufens, 
die  um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  in  der  akademischen  Welt  ihren 
Höhepunkt  erreicht  hatte,  allmählich  zurückgedrängt  worden.  Auch  in 
-dieser  Hinsicht  geht  die  Universität  Halle  voran.  Der  Pennalismus  hat 
hier  überhaupt  nicht  erst  Eingang  gefunden. 

Standen  die  Juristen  in  Halle  unter  solchen  Einflüssen,  so  em- 
pfingen die  Theologen  ihre  Bildung  und  Lebensrichtung  durch  Fbancke. 
So  groß  die  Spannung  zwischen  den  Vertretern  des  Pietismus  und  des 
Rationalismus  zeitweilig  wurde  —  die  große  Explosion,  wodurch  ganz 
Deutschland  in  Aufregung  gebracht  wurde,  die  Vertreibung  Wolfs 
durch  den  unter  pietistischen  Einflüssen  handelnden  König  Friedrich 
Wilhelm,  ist  bekannt  —  so  blieben  sie  doch  durch  den  gemeinsamen 
Gegensatz  gegen  die  überkommene  Schulgelehrsamkeit  verbunden:  wirken 
wollen  beide,  wirken  auf  dem  kürzesten  Wege,  denn  das  Größte  steht 
auf  dem  Spiel,  die  diesseitige  und  jenseitige  Glückseligkeit  des  Menschen- 
geschlechts. Hierfür  tragen,  das  ist  die  gemeinsame  Grundüberzeugung, 
lateinische  Poesie  und  Eontroversentheologie  beide  nichts  aus;  worum 
es  sich  jetzt  handelt,  das  ist  die  Reformation  des  ganzen  Lebens,  des 


526    III,  4,  Die  Universitäten,  unter  d.  Einfluß  <L  liöfisdi-modemen  Bildung, 


öffentlichen  wie  des  privaten ,  durch  die  nenen  Wissenschaften  und 
durch  ein  praktisches  Christentum. 

Hierin  ist  der  Pietismus  mit  dem  Bationalismus  ganz  einstimmig. 
Er  ist  sehr  fem  von  quietistischer  Beschaulichkeit  Y^laucke  hat  es 
nicht  minder  als  Leibniz  und  Wolf  auf  die  großartigste  und  all- 
gemeinste Erneuerung  und  Umgestaltung  aller  Dinge  abgesehen.  Um 
dieselbe  Zeit,  als  in  Berlin  LEiBNizens  Plan  zu  einer  allgemeinen  Ver- 
besserung des  menschlichen  Wesens  in  der  Akademie  der  Wissenschaften 
einen  ersten  Anfang  zur  Verwirklichung  erhielt,  entwarf  Fbancks  ein 
,,Projekt  zu  einem  seminario  untverscUi,  in  welchem  man  eine  reale 
Verbesserung  in  allen  Standen  in  und  außerhalb  Deutschlands,  ja  in 
Europa  und  allen  übrigen  Teilen  der  Welt  zu  gewarten  (1701,  bei 
Kbameb,  II,  489);  in  den  Waisenerziehungs-,  Armenversorgungs-  und 
Lehrerbildungsanstalten,  die  im  Werden  waren,  sah  er  den  Keim  zu 
jenem  Werk.  Wie  ernst  es  ihm  mit  der  großen  Idee  einer  „gründlichen 
realen  Verbesserung  des  allgemeinen  verderbten  Zustandes,  nicht  allein 
in  der  evangelischen  Kirche,  sondern  allenthalben  in  der  Welt"  war, 
zeigen  die  wiederholten  Bearbeitungen  dieses  Projektes.  Die  letzte,  im 
Jahre  1711  für  den  Kronprinzen  verfaßt,  zählt  neun  Hauptanstalten 
als  Teile  dieser  „Universaleinrichtung  zum  Nutzen  der  ganzen  Christen- 
heit^'  auf,  darunter  als  letztes  das  Seminarium  nationum,  eine  Erziehungs- 
anstalt für  Ausländer,  wie  denn  schon  zwei  tartarische  Kiiaben  ihre 
Erziehung  in  Halle  erhalten  hätten  (ebend.  500). 

Wer  von  solchen  Ideen  erfüllt  ist,  wird  für  die  Quisquilien  philo- 
logisch-kritischrhistorischer  Forschung  oder  die  Quästionen  scholastischer 
Systembildung  wenig  Geduld  haben.  Überall  dringt  Fbancke  darauf, 
daß  die  Studierenden  nicht  bei  unnötigen  Schwierigkeiten  sich  aufhalten ; 
er  warnt  vor  dem  pruritus  scientiae;  auf  die  innere  Aneignung  der 
Wahrheit  kommt  es  an.  Was  der  Student  an  Wissenschaft  bedarf,  das 
ist,  außer  der  Kenntnis  der  symbolischen  Schriften  und  der  Eirchen- 
geschichte,  die  genaue  Kenntnis  der  beiden  Grundsprachen,  aber  freilich 
nicht  um  zu  philologischer  Kritik,  sondern  um  zu  sicherem  und  ver- 
tieftem Verständnis  befähigt  zu  sein ;  die  Applikation  ist  die  Hauptsache 
(Kbameb,  II,  393  ff.).  A.  Benoel,  ein  Gesinnungsgenosse  Fbanckss, 
charakterisiert  seine  eigene  Bibelforschung  so:  „meine  ganze  Manier- 
lichkeit besteht  darin,  daß  ich  alle  unnötigen  Dinge,  Worte,  Umstände 
unterlasse.  Ein  Scepticus  biblicus  ist  wie  ein  Reisender,  der  über  keine 
Pfütze  schreiten  und  über  kein  Gräslein  setzen,  sondern  alles  vorher 
eben  gemacht  und  ausgefüllt  haben  will:  wer  wollte  solchen  für  klug 
halten?  Der  Glaube  hängt  sich  an  alles  an,  was  er  kriegt  und  macht 
wacker  fort,  der  Unglaube  ist  das  Gegenteil  davon^^  (Bengels  Leben  von 


UniversHäi  Halle,     Christian    Wolf.  527 


Wächter,  S.  6).  Damit  ist  auch  Feangkes  Stellung  zur  Forschung 
bezeichnet. 

Neben  Thomasius  und  Francke  trat  später  ein  etwas  jüngerer 
Mann  hervor,  der  Philosoph  Christian  Wolf.  Zu  Breslau  1679 
geboren,  wurde  er  1706  als  Lehrer  der  Mathematik  nach  Halle  berufen; 
er  dehnte  aber  seine  Vorlesungen  allmählich  auf  den  ganzen  Umkreis 
der  philosophischen  Wissenschaften  aus;  Mathematik,  Physik,  Astro- 
nomie, Mechanik,  Logik,  Metaphysik,  Natürliche  Theologie,  Psychologie, 
Ethik,  Politik,  Ökonomik,  Naturrecht,  alle  diese  Disziplinen  liegen  inner- 
halb seiner  akademischen  und  schriftstellerischen  Lehrthätigkeit.  Eine 
erstaunliche  Arbeitskraft,  ein  freier  Wahrheitssinn  und  ein  sicheres  Ge- 
fühl für  die  intellektuellen  und  praktischen  Tendenzen  der  Zeit  haben 
ihn  zu  einer  Wirksamkeit  emporgehoben,  wie  sie  seit  Melanchthon 
kein  deutscher  Universitätslehrer  geübt  hatte.  Man  kann  ihn  geradezu 
den  Nachfolger  Melanchthons  in  der  philosophischen  Schulherrschaft 
nennen.  Bis  gegen  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  hatte  auf  den 
deutschen  Universitäten  und  Gymnasien  die  Melanchthonsche  Schul- 
philosophie geherrscht;  sie  wird  im  Verlauf  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  durch  die  Philosophie  Wolfs  abgelöst.  Wolfs  System 
ist  die  erste  Form,  worin  die  moderne,  auf  den  neuen  mathematisch- 
naturwissenschaftlichen Forschungen  und  den  neuen  rechts-  und  st^ats- 
wissenschaftlichen  Anschauungen  beruhende  Philosophie  von  den  Lehr- 
stühlen der  Universitäten  Besitz  ergriflfen  hat  Zwar  hatte  schon  vorher 
die  Cartesianische  Philosophie  gelegentlich  Eingang  gefunden,  aber  die 
Wolfische  Philosqphie  ist  das  erste  zu  allgemeiner  Anerkennung  und 
Herrschaft  gelangte  moderne  Schulsystem.  Auf  seinen  Inhalt  und  sein 
Verhältnis  zu  Leibniz  einzugehen,  ist  hier  keine  Veranlassung.  Ich 
hebe  bloß  den  einen  Charakterzug  hervor,  wodurch  es  sich  so  bestimmt 
als  moderne  Philosophie  ankündigt  und  von  aller  älteren  Schulphilo- 
sophie unterscheidet:  die  Absage  an  allen  Autoritätsglauben.  Als 
„Vernünftige  Gedanken"  kündigen  sich  schon  auf  dem  Titel  die 
ersten,  in  deutscher  Sprache  geschriebenen  Lehrbücher  Wolfs  an;  das 
will  sagen ;  nicht  bloß  objektiv  vernünftige,  sondern  allein  auf  Vernunft 
beruhende  Gedanken.  Es  ist  das  Prinzip  des  Rationalismus,  zu  dem 
sich  die  Bücher  durch  ihren  Titel  bekennen:  als  wahr  wird' nur  aner- 
kannt, was  bei  freier  Prüfung  vor  der  Vernunft  besteht 

Wie  revolutionär  Wolfs  Rationalismus,  der  der  heutigen  Zeit  so 
zahm  vorkommt,  den  Zeitgenossen  erschien,  ist  bekannt  genug.  Francke 
sah  in  der  Vertreibung  Wolfs  aus  Halle  (1723)  eine  Erhörung  seiner 
Gebete  um  die  Erlösung  von  dieser  „großen  Macht  der  Finsternis". 
Andere    Universitäten    sekundierten     den    Hallischen    Vertretern    des 


528    ///,  4.  Die  Universitäten  unter  d,  Einfluß  d,  höfisch-modernen  Bildung, 


Antorität>sprinzips  im  Kampf  gegen  diesen  grundstürzenden  Rationalis- 
mus. Die  theologische  Fakultät  zu  Tübingen  erklärte  in  einem  geforderten 
Gutachten  die  Prinzipien  der  Wolfischen  Philosophie  für  völlig  unver- 
einbar mit  der  Theologie;  auch  gäben, ^die  dissentierenden  Professoren 
zu  unnöthigen  Controversien  Anlaß,  welche  den  akademischen  Statuten, 
kraft  deren  Übereinstimmung  in  der  Lehre  sein  solle,  schnurstracks  zu- 
wider seien'^  Ebenso  sprachen  sich  die  theologische  und  philosophische 
Fakultät  zu  Jena  gegen  die  Zulässigkeit  der  neuen  Philosophie  aus; 
nachdem  sie  ihre  Irrtümer  in  29  Punkten  ans  Licht  gebracht,  schließen 
sie  so:  „Wenn  dann  nun  notorisch,  daß  auf  der  hiesigen  Universität 
verschiedene  Dozenten  der  Wolfischen  Philosophie  anhangen  und  solche 
mit  nicht  geringem  Zugang  dociren,  gleichwohl  aber  die  Professores 
selbst  zur  Festhaltung  bewährter  und  sonderlich  in  die  Religion  ein- 
schlagender Prinzipien  auf  das  nachdrücklichste  mit  Eid  und  Pflicht 
angewiesen  und  verbunden  sind,  welches  ganz  vergeblich  sein  und  end- 
lich zu  der  Professoren  Spott  gereichen  würde,  wenn  denen  Magistern 
allerhand  ohne  Unterschied  zu  lehren  oder  wohl  gar  die  Professores 
zu  refutiren  nachgelassen  werden  sollte,  auch  die  Leibniziscben  und 
Wölfischen  principia  von  den  Gelehrten  als  schädlich  detestiret  werden, 
vornehmlich  aber,  wie  solche  von  Sr.  Kgl.  Maj.  in  Preußen  angesehen, 
weltbekannt  und  daher  unschwer  zu  ermessen  ist,  in  was  gefahrliche 
und  nachtheilige  Blame  die  Akademie  dadurch  gerathen  könnte:  als 
haben  wir  solches  nach  Erforderung  unserer  Pflicht  hierdurch  gebührend 
vorzustellen  keinen  Umgang  nehmen  wollen"  (Hettner,  Litteratur- 
geschichte  des  18.  Jahrhunderts,  III,  1,  239  0!.). 

Man  sieht,  es  handelt  sich  um  den  Kampf  zwischen  zwei  Prin- 
zipien: dem  Autoritätsprinzip,  das  bisher  den  gesamten  Universitats- 
unterricht  beherrscht  hatte,  und  dem  neuen  Prinzip  der  freien 
Forschung.  Nach  der  alten  Auffassung  ist  die  Aufgabe  des  akade- 
mischen Lehrers  die  Tradition  einer  kanonischen  Lehre,  nach  der  neuen 
Auffassung  ist  seine  Aufgabe:  durch  eigene  Forschung  die  Wahrheit 
suchen  und  hierzu  auch  die  Hörer  anleiten;  selbständiges  Denken  ist 
Recht  und  Pflicht  aller  Bürger  der  Universität. 

Der  Sieg,  den  das  alte  Prinzip  erfocht,  indem  es  Wolfs  Abgang 
aus  Halle  mit  Androhung  der  Strafe  des  Stranges  erzwang,  war  nicht 
ein  nachhaltiger  Erfolg.  Nicht  nur,  daß  Wolf  in  Marburg  sogleich 
einen  günstigen  Boden  für  seine  Wirksamkeit  wieder  gewann,  die  Ver- 
folgung führte  zu  rascher  Ausbreitung  der  Lehre.  Als  Wolf  1740 
mit  großen  Ehren  nach  Halle  zurückgerufen  wurde,  konnte  seine  Philo- 
sophie schon  für  die  herrschende  gelten.  Im  besonderen  tritt  das  auch 
darin  zu  Tage,  daß  die  Theologie  jetzt  unter  ihren  Einfluß  sich  stellt 


Univ.  Halle;  die  Theologen.  529 


Seit  den  30  er  Jahren  vollzog  sich  dieser  bemerkenswerte  Umschwung. 
Bisher  hatte  die  Philosophie  unter  der  Botmäßigkeit  der  Theologie  ge- 
standen; sie  war  ancilla  theoloffiae,  wenigstens  die  akademische.  Von 
jetzt  ab  änderte  sich,  wenigstens  im  Bereich  des  Protestantismus,  das 
Verhältnis  dahin,  daß  die  Theologie  unter  den  dominierenden  Einfluß 
der  Philosophie  trat:  nacheinander  haben  die  Wölfische,  die  Kantische, 
die  Uegelsche  Philosophie  auf  die  Gestaltung  der  Theologie  entscheidend 
eingewirkt. 

Auch  diese  Wandlung  hat  sich  zuerst  in  Halle  vollzogen;  ein- 
geleitet ist  sie  durch  den  Theologen  J.  S.  Baumgabten,  der  1734  bis 
1757  zu  Halle  mit  großem  Erfolg  lehrte;  er  war,  wie  sein  Bruder,. der 
Philosoph  Alex.  Baumgabten,  ein  Schüler  und  Anhänger  Wolfs.  Ihm 
folgte  als  führender  Theolog  sein  Schüler  J.  S.  Semleb  (lehrte  1752 
bis  1791),  der  dann  voranging,  die  Methode  historisch-kritischer  Unter- 
suchung auf  die  heiligen  Schriften  anzuwenden.  Mit  ihm  begann  die 
große  Wendung  im  theologischen  Unterricht  Bisher  hatte  er  wesent- 
lich einen  praktisch-homiletischen  Charakter  gehabt,  seine  Absicht  war, 
künftigen  Geistlichen  Anleitung  zur  Predigt  und  Lehre  zu  geben, 
Dogmatik  und  Exegese  dienten  diesem  Zweck.  In  Halle  hatte  der 
Pietismus  dem  Unterricht  seine  besondere  Färbung  gegeben;  Fbanckes 
paränetische  Vorlesungen  hatten  als  der  Mittelpunkt  des  theologischen 
Unterrichts  gegolten;  auch  Baumgabten  hatte  anfangs  noch  die  Er- 
klärung jedes  Kapitels  mit  Gebet  begonnen  und  geschlossen  (Sohbadeb, 
I,  277).  Jetzt  begann  der  theologische  Unterricht  einen  eigentlich 
wissenschaftlichen  Charakter  anzunehmen,  die  Religion  wird  Objekt 
wissenschaftlicher  Forschung.  Man  kann  die  Wendung  so  bezeichnen: 
die  bisherige  Theologie  war  der  Form  nach  dogmatisch,  sie  setzte  voraus, 
daß  die  eine  und  gleiche  Lehre  von  Anfang  an  in  den  heiligen  Schriften 
gegeben  sei  und  daß  es  sich  allein  um  die  sichere  Ermittelung  und 
Formulierung  handle,  um  sie  dann  zur  allgemeinen  Aneignung  in 
Predigt  und  Katechismus  zuzubereiten.  Die  neue,  von  Semleb  zuerst 
eingeführte  Betrachtungsweise  ist  historisch,  sie  machte  die  heiligen 
Schriften  zum  Objekt  der  Untersuchung;  sie  sah,  daß  jede  Zeit  ihren 
Inhalt  auf  ihre  Weise  angeeignet  und  entsprechend  dem  Locale  (milieu 
sagt  man  jetzt)  zum  Lehrsystem  verarbeitet  habe.  Sie  verwarf  diese 
letztere  Bemühung  nicht  geradezu,  aber  verlangte  daneben,  daß  man 
den  ursprünglichen  Gehalt  jener  Schriften,  ohne  Bücksicht  auf  die 
spätere  dogmatische  Auslegung  ermittele.  Von  dieser  Unterscheidung 
„der  historischen  Auslegung,  die  wirklich  in  jene  Zeiten  des  ersten 
Jahrhunderts  als  damaliger  Inhalt  und  Umfang  der  Vorstellungen  dieser 
Zeitgenossen  gehört,  und  der  jetzigen  Anwendung  zur  Belehrung  unserer 

Paalsen,  Unterr.    Zweit«  Anfl.   I.  84 


530   ///,  4,  Die  Universitäten  unter  <L  Einfluß  d,  höfisch-modernen  Bildung. 


Christen,  welche  der  Lehrer  nach  den  Umstanden  seiner  Zeit  und  seines 
Ortes  mit  jetziger  Lehrgeschicklichkeit  zu  fordern  hat'^,  behauptet  er, 
daß  sie  ihm  als  leitender  Gedanke  von  großem  Wert  gewesen  sei 
(Lebensbeschreibung,  I,  208).  Man  sieht,  mit  dem  alten  Prinzip  des 
Unterrichts,  Auslegung  inspirierter  Schriften,  ist  hier  grundsatzlich 
gebrochen. 

Hiermit  war  die  innere  Umformung  des  akademischen  Unterrichts 
vollendet:  nicht  Überlieferung  feststehender  Wahrheiten  ist  seine  Auf- 
gabe, sondern  Anleitung  zum  Selbstdenken  und  freier  wissenschaftlicher 
Forschung.  Halle  blieb  bis  tief  ins  19.  Jahrhundert  hinein  die  Burg 
des  theologischen  Rationalismus.  Als  ein  Hauptvertreter  desselben  wird 
uns  später  A.  H.  Niemeyeb,  ein  Enkel  A.  H.  Fbanckes,  begegnen. 

Es  ist  der  Stolz  und  der  Ruhm  der  Hallischen  Universität,  hierin 
vorangegangen  zu  sein.  Das  Prinzip  der  libertas  philosophandi^ 
welches  Spinoza  in  dem  tractatiis  theologico-politicusy  jenem  liber  hur- 
rendus  für  die  alten  Universitäten,  zuerst  empfohlen  hatte,  die  neue 
preußische  Universität  wagt«  zuerst  es  anzunehmen.  Im  Jahre  1711 
hielt  GuNDLiNG  am  Geburtstag  des  Königs  eine  bemerkenswerte  Kede 
(abgedruckt  in  J.  E.  Kapps  Sammlung:  Orationes  selectae,  Leipzig  1722, 
S.  803  flF.).  Sie  handelt  De  libertate  Fridericianae:  die  Friedrichs- 
universität das  atrivm  libertatis.  Was  ist  die  Aufgabe  der  Universität? 
GuNDiiiNG  antwortet:  zur  Weisheit  zu  führen,  d.  h.  zur  Fähigkeit,  das 
Wahre  und  Falsche  zu  unterscheiden;  das  aber  ist  unmöglich,  wenn 
der  Forschung  irgend  welche  Grenzen  gesetzt  sind.  Er  erörtert  dann 
die  Frage:  ob  ein  Mensch  das  Recht  habe;  einen  andern  durch  Straf- 
androhung zu  der  Meinung,  welche  er  selbst  für  wahr  hält,  zu  nötigen. 
Er  verneint  sie;  aus  naturrechtlichen  und  aus  Xützlichkeitsgründen  ist 
der  Zwang  zu  verwerfen;  es  giebt  nichts  Nützlicheres  als  Freiheit 
der  Lehre  und  der  Schrift,  durch  sie  werden"  alle  Geisteskräfte  hervor- 
gelockt, alle  Wissenschaften  kommen  zur  Blüte,  die  Künste,  der  Reich- 
tum und  die  Bevölkerung  wächst,  wie  dies  alles  das  Beispiel  der 
Niederlande  zeige.  —  Aber,  sagt  man,  libertas  sei  freilich  gut,  aber 
liceiitia  nicht  —  Ist  jemals,  erwidert  Gundling,  eine  Neuerung  ver- 
sucht worden,  ohne  daß  ihr  der  Vorwurf  des  Subjektivismus,  der  Zügel- 
losigkeit  gemacht  ward?  Sind  nicht  die  Verkünder  des  reinen  Evan- 
geliums von  den  PfaflFen,  sind  nicht  die  Begründer  der  neuen  Physik 
von  den  Freunden  der  verborgenen  Qualitäten  so  beschuldigt  worden? 
Also  Zwang  ist  in  diesen  Dingen  überall  vom  Übel:  belehre,  ermahne, 
bitte;  hören  sie,  ist  es  gut,  wenn  nicht,  lerne  es  ertragen.  Veritas 
adhuc  in  medio  posita  est:  qui  potest;  adscendat:  qui  audet,  rapiat:  et 
applaudemus. 


Univ.  Halle;  die  Philologie,  531 


Es  war  eine  unerhörte  Sprache.  Bisher  war  überall,  wenigstens 
in  der  theologischen  und  philosophischen  Fakultät,  der  Inhalt  der  Lehre 
vorgeschrieben  worden;  Neuerungen,  wie  den  Ramismus,  hatte  man 
unbedenklich  yerboten.  Noch  am  Ende  des  17.  Jahrhundert«  ver- 
pflichtete der  Magistereid  zu  Leipzig  und  Helmstedt  zur  Verteidigung 
und  Fortpflanzung  der  alten  und  wahren,  d.  h.  der  aristotelischen 
Philosophie.  Aber  das  neue  Prinzip  drang  durch.  Die  Hallische  Frei- 
heit und  Weisheit,  sagt  Heumaitn  in  seinem  1718  zum  erstenmal 
erschienenen  Conspectus  reip,  litter.  S.  52,  verbreitet  ihr  Licht  auch  zu 
den  andern  deutschen  Völkern  und  schon  schämen  sich  überall  die 
Professoren  manches  zu  glauben  und  zu  lehren,  was  zu  den  Zeiten 
unserer  Väter  noch  für  heilige  Pflicht  galt. 

Nur  ein  Studium  wollte  zu  Halle  nicht  gedeihen,  das  huma- 
nistisch-philologische. Es  lag  nicht  an  ihrem  Vertreter,  sondern 
an  dem  Geist,  der  die  neue  Universität  beherrschte.  Die  Professur  der 
Eloquenz,  womit  der  Vortrag  der  alten  und  neuen  Geschichte  verbunden 
war,  wurde  von  Christoph  CBiiLABius  (1638 — 1707),  einem  nicht  un- 
bedeutenden, tüchtigen  und  thätigen  Mann  als  erstem  Inhaber  ver- 
waltet. Er  war  der  neuen  Bildung  gar  nicht  feindlich;  er  war  nichts 
weniger  als  Verbalphilolog  oder  Imitationspoet.  Seine  litterarische 
Thätigkeit,  von  welcher  J.  Burokhabd  in  seiner  Epistola  de  obitu  C.  C. 
(1707)  eine  Übersicht  giebt,  umfaßt,  außer  zahlreichen  Editionen  latei- 
nischer Schriften  und  einer  Beihe  viel  gebrauchter  Lehrbücher  zur 
leichteren  Erlernung  der  lateinischen  Sprache,  auch  das  Gebiet  der 
Geschichte  und  Geographie;  seine  Lehrbücher  der  alten,  mittleren  und 
neueren  Geschichte,  sowie  der  alten  und  neuen  Geographie  (seit  1685), 
haben  diese  Gegenstände  in  den  gelehrten  Unterricht  eingeführt. 
Dennoch  fand  er  in  Halle  wenig  Anklang. 

Um  den  gänzlich  damiederliegenden  klassischen  Studien  aufzu- 
helfen, wurde  1697  ein  coUegium  elegantioris  litteraturae  errichtet;  es 
ist  das  erste  philologische  Seminar.  In  der  Eröffnungsrede  (de 
meliorum  litter arum  restitutione)  klagt  Cellabiub,  daß  er  in  seinen 
beiden  Lehrfachern  bisher  wenig  glücklich  gewesen  sei,  die  Zahl  der 
Zuhörer  sei  sehr  gering  geblieben.  Die  jungen  licute  eilten  sogleich 
zu  den  Studien  der  höheren  Fakultäten,  um  bald  ins  Amt  zu  kommen. 
Vor  lauter  Fachkollegien  und  Leibesübungen  kämen  sie  zur  Übung 
im  Reden  und  Schreiben  gar  nicht,  wovon  die  Folgen  in  der  Barbarei 
ihrer  Bede  leicht  zu  sehen.  Aber  nicht  nur  seine  philologischen,  son- 
dern auch  seine  historischen  Vorlesungen  würden  verschmäht,  man 
beschwere  sich  darüber,  daß  er  statt  über  die  neueste,  über  alte  Ge- 
schichte lese:  als  ob  dem  Juristen  die  römische  Geschichte  entbehrlich 

84* 


532    lU,  4.  Die  Universitäten  unter  d.  Einfluß  d,  liöfiach-modemen  Bildung, 


wäre!  Aber  freilich  sei  sie  schwieriger  als  die  Geschichte  der  Barbaren, 
welche  sie  bei  anderen  mit  großem  Zulauf  hörten,  wie  die  monströsen 
und  barbarischen  Namen  der  alten  Dänen  in  Großbritannien  oder  der 
ersten  spanischen  Könige.  —  Der  Rede  ist  ein  Einladungsprogramm 
des  Rektors  Hoffmann,  Professors  der  Physik  und  Medizin,  beigegeben, 
worin  noch  stärker  der  Verfall  des  klassischen  Studiums  ausgesprochen 
wird:  wer  kann  noch  reines  I^atein  schreiben,  ja  auch  nur  beurteilen? 
Die  Professoren  der  schönen  Wissenschaften  reden  vor  leeren  Bänken, 
in  ihren  Schulen  ist  grauenhafte  Ode.  Die  klassischen  Autoren  liegen 
unbekannt  und  verachtet  im  Staube,  man  weiß  kaum  noch  ihren  Namen. 
Diesem  Übel  solle  das  neugegründete  Institut  begegnen,  der  Vorsteher 
werde  sowohl  zur  Eloquenz  anleiten,  als  die  Antiquitäten,  sowie  Geschichte 
und  Geographie  vortragen.  Besonders  sei  es  für  solche  bestimmt^  die 
hernach  zu  Lehrern  an  den  Gymnasien  und  Schulen  gebraucht  werden 
könnten,  seinen  Mitgliedern  sollten  die  Bedienungen  in  den  branden- 
burgischen Staaten  vor  anderen  zu  Teil  werden. 

Cellabiub  hat  an  dem  Seminar  nicht  viel  Freude  gehabt;  Zeit 
und  Ort  waren  allzu  ungünstig.  Die  Hallische  Studentenschaft  bestand, 
wie  übrigens  jede  andere  zu  jener  Zeit,  aus  Juristen  und  Theologen; 
die  Zahl  der  Mediziner  war  ganz  gering,  und  die  philosophische 
Fakultät  war  bloß  allgemeine  Vorschule;  selbst  ihre  Professuren  waren 
in  der  Regel  Vorstufe  zu  einem  Lehramt  in  der  theologischen  oder 
juristischen  Fakultät;  im  Jahre  1738  befanden  sich  z.  B.  unter  den 
13  Professoren  der  philosophischen  Fakultät  je  drei,  die  auch  in  der 
theologischen  und  juristischen  und  zwei,  die  auch  in  der  medizinischen 
ein  Ordinariat  bekleideten  (Scumeizel,  181).  Eigene  Schüler  hatte  sie 
eigentlich  überhaupt  nicht;  sie  führte  bis  1802  gar  keine  eigenen 
Inskriptionslisten,  jeder  Student  wurde  sogleich  bei  der  Immatrikulaüon 
bei  einer  der  oberen  Fakultäten  eingeschrieben,  als  welche  allein  zn 
einem  Amt  und  Le])ens])eruf  führten ;  der  Lehrerberuf  wurde  nicht  als 
Lebensberuf,  sondern  als  Durchgangsstufe  zum  geistlichen  Amt  an- 
gesehen. Aber  weder  die  Theologen  noch  die  Juristen  fanden  in  Halle 
seitens  ihrer  Lehrer  große  Ermunterung  zu  den  klassischen  Studien. 
Die  Theologen,  wenn  sie  Bbeithaupts  und  I'eanckes  Rat  folgten, 
hörten  vor  allem  und  zuerst  die  theologischen  Vorlesungen,  nachher 
wenn  ihr  Sinn  gereinigt  und  befestigt  und  noch  Zeit  übrig  sei,  möchten 
sie  auch  philosophica  besuchen  (Hoffbauee,  S.  101  flF.).  Das  galt  zu- 
nächst von  den  eigentlich  philosophischen  Vorlesungen,  deren  Geföhrlich- 
keit  Feancke  so  oft  zu  beklagen  Ursache  hatte.  Auf  die  Sprachen 
hielt  er,  sowohl  auf  die  griechische  und  hebräische,  die  er  selbst  lehrte, 
als  auf  die  lateinische;   wie  er  denn   auch   ebenso  wie  die  übrigen 


ühiv,  Halle;  die  PhüoUxjie.  533 


Hallischen  Theologen  für  seine  wissenschaftlichen  Vorlesungen  an  der 
lateinischen  Sprache  festhielt  (Kbameb^  II,  385).  Aber  ein  mit  Hin- 
gebung betriebenes  Studium  der  Alten  seitens  seiner  Schüler  hätte 
Fbangke  nur  mit  größter  Besorgnis  gesehen.  Die  Sprachen  haben  für 
ihn  nur  die  Bedeutung  äußerlich  notwendiger  Hilfsmittel  für  die 
wissenschaftliche  Arbeit.  Übrigens  hat  er  für  den  schulmäßigen  Betrieb 
der  Sprachen  durch  die  Theologie  Studierenden  sehr  Bedeutendes  ge- 
leistet; sein  Waisenhaus  mit  den  Schulen  war  zugleich  ein  großes 
philologisch-pädagogisches  Seminar.   Ich  komme  hierauf  später  zurück. 

Den  Juristen  dieses  Zeitalters  lag  die  Schätzung  humanistischer 
Studien  wenn  möglich  noch  ferner.  Von  Stryk,  dem  gelehrten 
Kenner  des  römischen  Rechts,  wird  erzählt,  daß  er  seinen  Studenten 
eingeprägt  habe,  das  corpus  juris  für  das  Hauptessen,  die  philosophica 
aber  bloß  als  hors  (Toeuvre  anzusehen.  War  das  zunächst  wohl  ein 
Stich  gegen  Thomasius,  so  hatte  doch  auch  Cellabius,  wenn  er  ein- 
mal den  juristischen  Disputationen  in  eigengemachter  Sprache  anwohnte, 
Ursache  zu  dem  Ausruf:  jusy  jus,  et  nihil  plus!  Noch  weniger  fanden 
die  Studenten  bei  Thomasius  Ermunterung  zum  Studium  der  Alten. 
Wie  dieser  die  Alten  schätzte,  hat  er  in  einer  Anmerkung  zu  dem 
Testament  M.v.OssES  (S.  338 flf.)  unmißverständlich  ausgesprochen:  Me- 
LANCHTHON  sci  zwar  zu  loben,  daß  er  die  griechische  Sprache  ein- 
geführt, aber  das  sei  nicht  weislich  gethan,  „daß  er  die  Jugend  mit 
der  Thorheit  der  griechischen  Oratoren  und  Poeten,  ingleichen  mit  der 
unnützen  Philosophie  des  Aristoteles  aufgehalten  und  denen  studiosis 
nicht  klügere  Bücher  in  die  Hände  gegeben.  Warum  ließ  er  nicht 
in  Graecis,  statt  der  Poeten,  Euripides,  Sophokles,  Homer,  Aristoteles 
u.  s.  w.,  das  neue  Testament  oder  die  Bücher  des  alten  Testamentes  nach 
der  70  Dolmetscher  ihrer  Version  durch  die  professores  philosophiae 
erklären?"  Thomasius  findet,  der  einzige  denkbare  Grund  sei,  daß  man 
den  philosophischen  Magistern  die  Behandlung  der  Schrift  nicht  an- 
vertraut, sondern  den  Theologen  vorbehalten  hätte,  welcher  grobe  Brocken 
des  Papsttums  auch  auf  den  evangelischen  Universitäten  geblieben  sei. 
Hätte  man  aber  dann  doch  wenigstens  die  nicht  zum  Kanon  gehörigen 
Bücher  den  Philosophen  gelassen:  „Ich  sollte  vermeinen,  das  Buch  der 
Weisheit,  der  Judith,  der  Makkabäer  u.  s.  f.  wären  so  gut,  ja  noch 
besser  gewesen,  als  der  Narr  Homerus  und  die  übrigen  heidnischen 
Poeten  und  Oratores.  Ja,  ich  sollte  meinen,  aus  dem  einzigen  Jesus 
Sirach  mehr  gute  praecepta  loffica,  moralia  und  politica  in  eine  Ord- 
nung oder  in  formam  artis  zu  bringen,  als  aus  allem  Geschmiere  des 
heidnischen  Aristoteles." 

Es  ist  kein  Wunder,  daß  Cellabius  in  solcher  Umgebung  nicht 


534    III,  4.  Die  Universitäten  unter  d,  Einfluß  d.  höfisch-modernen  Bildung. 


durchdringen  konnte.  Sein  Schüler  J.  Burckhabd  sagt  in  dem  er- 
wähnten Nekrolog,  einem  Ort,  wo  doch  lieber  von  Erfolgen  als  Ent- 
täuschungen geredet  wird,  daß  seine  Wirksamkeit  ganz  geringfügig 
geblieben  sei;  namentlich  an  dem  Griechischen  habe  er  beinahe  ganz 
verzweifelt 

Die  nächsten  Nachfolger  des  Cellabius  in  der  Professur  der 
Eloquenz  und  Geschichte  gaben  sich  mit  der  Erhaltung  der  klassischen 
Studien,  die  ihnen  selbst  fem  lagen,  kaum  noch  Mühe.  Zunächst 
übernahm  der  Philosoph  und  Jurist  N.  H.  Gundling,  ein  Schüler  und 
Geistesgenosse  des  Thomasius,  das  Lehramt,  er  wurde  aber  bald  auch 
Ordinarius  in  der  Juristenfakultät;  sein  Interesse  gehörte  ganz  und 
gar  der  Historie  und  Philosophie,  sowie  den  Staats-  und  Eameral- 
wissenschaften.  Die  Vorlesungen,  die  er  als  prof,  eloquent,  anzeigt, 
haben  zu  der  klassischen  Litteratur  kaum  Beziehung,  höchstens  kommt 
gelegentlich  einmal  Tacitus  Germania  vor.^  Nach  Gündlings  Tode 
(1729)  kam  die  Professur,  nach  mehrjähriger  Vakanz,  an  den  Mediziner 
J.  H.  Schulze,  der  sie  1732 — 1744  neben  seinem  Ordinariat  in  der 
medizinischen  Fakultät  verwaltete;  er  las  über  römische  und  griechische 
Altertümer  und  hin  und  wieder  über  den  Sueton.  Ihm  folgte  Wiede- 
BüBG  (bis  1758),  der  ebenfalls  mehr  historische  als  philologische  Vor- 
lesungen hielt.  Hierauf  folgte  wieder  eine  fünQährige  Vakanz.  Außer 
den  Ordinarien  beteiligten  sich  an  dem  Unterricht  in  den  alten  Sprachen 
noch  der  Jurist  Heinegciüs,  der  lateinische  Stilübungen  zu  leiten  pflegte; 
ein  Extraordinarius  Begeb,  der  Anleitung  zur  Verfassung  deutscher 
und  lateinischer  Briefe  und  Gedichte  anbietet;  der  Theologe  J.  H. 
Michaelis  und  der  Orientalist  C.  B.  Michaelis,  die  beide  Griechisch 
lehrten,  mit  Vorlesungen  über  das  neue  Testament  Letzterer  kündigt 
auch  einmal  (1722)  eine  zweistündige  Vorlesung  über  des  Paeanius 
griechische  Paraphrase  des  Eutrop  an,  ad  hauriendam  inde  Graecitatem. 

Dieselbe  Ansicht  von  dem  Betrieb  der  humanistischen  Studien 
erhält  man,  wenn  man  die  Hodegetik  zu  Rate  zieht-,  die  ein  Hallischer 
Professor,  Ordinarius  in  der  juristischen  und  philosophischen  Fakultät, 
als  Grundriß  zu  Vorlesungen  herausgab:  M.  Scumeizel,  Rechtschaffener 
Academicus  (Halle  1738),  übrigens  ein  unsäglich  vernünftiges  und 
langweiliges  Buch.     Von  Schulen  muß  man  danach  mitbringen:  eine 


^  Die  hier  gegebenen  Data  sind  aus  den  Lektionsverzeichnissen  entnommen, 
welche  die  Universität  halbjährlich  veröffentlichte.  Über  Gundukqs  Thätig- 
keit  als  Gelehrter  und  Lehrer  geben  auch  die  Gundlingiana  Auskunft,  eine  in 
44  Stücken  von  1715 — 1728  erschienene  Sammlung  von  Abhandlungen,  „darinnen 
allerhand  zur  Jurisprudenz,  Philosophie,  Historie,  Kritik,  Litteratur  und  übrigen 
Gelehrsamkeit  gehörige  Sachen  abgehandelt  werden^^ 


Univ.  Halle;  Kostenaufivand,  535 


tüchtige  Kenntnis  der  deutschen  und  lateinischen  Sprache,  so  daß 
man  auch  letztere  fehlerfrei  sprechen  und  schreiben  kann;  Griechisch 
ist  Theologen,  Medizinern  und  Philosophen  unentbehrlich  und  auch 
einem  Juristen,  der  etwas  mehr  als  ein  gemeiner  Advokat  zu  werden 
verhoflFet,  wegen  der  Justinianischen  Novellen  wünschenswert.  Dem 
Juristen  ist  auch  die  Kenntnis  des  Französischen  und  dem  Mediziner 
außerdem  die  des  Englischen  wertvoll.  Femer  müssen  alle  mitbringen 
die  Elemente  der  Religionskenntnis,  der  Geographie  und  Universal- 
historie, besonders  der  Historie  der  Gelahrtheit,  endlich  der  Philosophie. 
Diese  Grundlage  einer  allgemeinen  Bildung  ist  dann  in  den  ersten 
Jahren  des  Universitatsstudiums  zu  vertiefen  und  zu  erweitern;  be- 
sonders hat  der  Student  Fleiß  zu  verwenden  auf  die  Historie  der  Ge- 
lahrtheit, auf  Geo^aphie  und  Historie,  besonders  auch  Kirchenhistorie 
und  Geschichte  der  neuesten  politischen  Welt,  auf  Philosophie,  ,  jedoch 
nicht  mehr  und  auch  nicht  weniger,  als  seiner  Partikularabsicht  ge- 
mäß", auf  Mathematik  und  Physik,  wo  dieselbe  tiefsinnige  Regel  gilt, 
auf  Politik  und  jus  naturacy  welche  zu  kennen  allen  vernünftigen 
Menschen  notwendig.  Endlich  ist  der  lateinische  Stil  fleißig  zu  üben. 
Man  sieht,  die  klassischen  Autoren  kommen  auf  diesem  Stundenplan 
gar  nicht  vor.  —  Eine  ganz  ähnliche  Anweisung  giebt  ein  zu  Jena 
1726  anonym  herausgekommenes  „Vernünftiges  Studentenleben",  das 
übrigens  manche  interessante  Details  aus  dem  damaligen  Universitats- 
leben  enthält.  — 

Das  ist  der  Studienbetrieb  an  der  neuen  führenden  Universität. 
Die  wissenschaftlichen  Bestrebungen,  die  hier  als  die  kräftigsten  sich 
erweisen,  die  neue  Theologie,  mit  ihrer  praktischen,  irenischen  und 
rationalen  Richtung,  im  Gegensatz  zur  alten  Orthodoxie,  die  neue  Juris- 
prudenz mit  ihrer  Richtung  auf  das  Naturrecht  und  den  modernen 
Staat  und  die  Reform  des  öffentlichen  Wesens  durch  beide,  die  neue, 
auf  Mathematik  und  Naturwissenschaft,  auf  Vernunft  und  Erfahrung 
cregründete  Philosophie,  im  Gegensatz  zur  alten  aus  dem  Aristoteles 
abgeleiteten  Schulphilosophie,  das  sind  die  Dinge,  die  allmählich  auch 
auf  den  übrigen  Universitäten  durchdringen  und  das  Alte  verdrängen. 
An  allen  wird  sich  die  Wandlung  nachweisen  lassen,  die  sich  übrigens, 
ähnlich  wie  vor  zwei  Jahrhunderten  die  Aufnahme  der  humanistischen 
Studien,  meist  unter  Begünstigung  oder  auf  Antrieb  der  Regierungen 
vollzog. 

Einer  Übersicht  über  diesen  Vorgang  schicke  ich  aber  noch  eine 
Bemerkung  über  die  äußere  Ausstattung  der  neuen  Universität  voraus. 
Sie  war  sehr  bescheiden.  Der  Besoldungsfonds  betrug  anfangs  5400  Thlr., 
wovon  auch  die  Beamten  und  Exerzitienmeister  unterhalten  wurden. 


536    lU,  4.  Die  Unirersiiäim  unter  d,  Einfluß  d.  höfisdh-modermen  BOdung. 


Nrich  1721  V>etni(r  die  Summe  der  Professorengehalte  nieht  mehr  als 
6000  Thir.  Der  Gesamtaufwand  ans  öffentlichen  Kassen  belief  sich 
auf  7000  ThIr.  Man  sieht,  die  Professoren  waren  hauptsächlich  aof 
ihren  privaten  Verdienst  angewiesen.  Hierfür  kamen,  neben  den  Ein- 
nahmen ans  der  Praxis  (geistlicher,  juristischer  und  medizinischer)  and 
den  Gebuhren  vor  allem  die  Vorlesungshonorare  in  Betracht  Die  Mehr- 
zahl der  Lehrer  war  wesentlich  auf  den  Ertrag  aus  dem  Privatunterricht 
und  aus  dem  Halten  von  Pensionären  angewiesen.  Es  hängt  hiermit 
zusammen,  daß  die  Zahl  der  Privatvorlesungen  vieläu^h  übermäßig 
groß  war,  und  daß  die  öffentlichen  Vorlesungen  hier  von  Anfirng  an 
zurücktreten.  Auch  im  übrigen  war  die  Ausstattung  dürftig.  Ein 
eigenes  Gebäude  besaß  die  Universität  überhaupt  nicht;  für  die  öffent- 
lichen Vorlesungen  wurden  vier  Zimmer  in  dem  Residenzgebände  an- 
gewiesen, Privatvorlesungen  wurden  zu  Hause  gehalten.  Aoßerdem 
war  ein  »Saal  im  stadtischen  Wagehaus  für  öffentliche  Akte  und  Dispu- 
tationen zur  Verfügung  gestellt;  Promotionen  fanden  in  der  Kirche 
statt  Die  Institute  beschränkten  sich  auf  eine  dürftig  ausgestattete 
Bibliothek,  die  noch  1709  in  drei  Zimmern  des  Wagehauses  Unter- 
kunft fand;  noch  1768  betrug  der  Anschaffungsfonds  kaum  100  Thlr. 
Außerdem  wurde  ein  hortus  medicus  und  eine  Anatomiekammer  in 
Aussicht  gestellt,  doch  glich  jener  noch  um  die  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts einer  Wüstenei  und  für  den  anatomischen  Unterricht  blieb 
einstweilen  den  Lehrern  selbst  überlassen,  sich  Raum  und  Material  zu 
verschaffen.  Endlich  ist  noch  der  Ausstattung  mit  Freitischen  zu  er- 
wähnen, etwa  150,  die  aus  Beiträgen  der  Landschaft  und  aus  den 
Flrträgen  einer  vierieljährlich  in  allen  königlichen  lianden  angestellten 
Kollekte  vor  den  Kirchthüren  unterhalten  wurden.  Erst  1787  wurden 
der  Universität  noch  7000  Thlr.  und  1803—4  wieder  15000  Thlr. 
zugelegt. 

Man  sieht,  der  ganze  Aufwand  für  die  junge  Universität  betrug 
weniger,  als  heutzutage  die  Kosten  eines  mäßig  ausgestatteten  Gymna- 
siums. Und  dennoch  war  sie  in  kurzem  die  erste  Universität  Deutsch- 
lands, ja  man  kann  wohl  ohne  Übertreibung  sagen,  die  erste  Universität 
der  Welt:  wenigstens  sind  bedeutendere  Antriebe  für  die  wissenschaft- 
liche Kultur  und  den  akademischen  Unterricht  von  keiner  gleichzeitigen 
Universität  ausgegangen.  Wahrend  die  auswärtigen  Universitäten  die 
Führung  im  geistigen  Leben  ihrer  Völker  immer  mehr  verloren  und 
zur  Unbedeutendheit  herabsanken,  stellte  sich  Halle  an  die  Spitze  aller 
aufstrebenden  Kräfte  und  brachte  es,  durch  sein  Beispiel  die  übrigen 
deutschen  Universitäten  mit  sich  fortreißend,  dahin,  daß  diese  Anstalten, 
die  noch  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  in  tiefer  Mißachtang  lagen, 


Univ.  Königsberg;  Lektionsordnung  von  1735.  537 


so  daß  ein  Mann  wie  Leibniz  ihnen  anzugehören  unter  seiner  Würde 
fand,  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  als  die  Trägerinnen  des  wissen- 
schaftlichen Lebens  und  des  geistigen  Fortschritts  der  Nation  dastanden. 
So  sehr  hängt  hier  alles  von  den  rechten  Personen,  so  wenig  von  den 
äußeren  Mitteln  ab.  Oxford  hatte  vielleicht  mehr  als  das  hundert- 
fache Einkonmien  von  Halle.  Und  doch,  was  ist  das  Oxford  des 
18.  Jahrhunderts  gegen  Halle? 


Ich  gebe  nun  eine  Übersicht  über  den  Zustand  einiger  der  be- 
deutenderen Universitäten  in  den  20er  und  30er  Jahren,  hauptsäch- 
lich in  der  Absicht,  die  Lage  der  klassischen  Studien  erkennen  zu 
lassen;  auf  Vollständigkeit  ist  es  dabei  nicht  abgesehen;  sie  wäre  auch 
nicht  ganz  leicht  zu  erreichen. 

Was  zunächst  die  alten  preußischen  Universitäten  anlangt,  so  er- 
hielt im  Jahre  1735  Königsberg  eine  neue  Lektionsordnung  (Arnold, 
I,  Beil.  54),  die  allerdings  wohl  mehr  eine  schematisierte  Darstellung 
des  Wünschenswerten,  als  eine  Beschreibung  des  Wirklichen  giebt;  sie 
hat  aber  auch  als  solche  Interesse.  Sehr  deutlich  tritt  darin  hervor, 
wie  ganz  schulmäßig  der  Unterricht  noch  war.  Ich  gebe  das  Schema 
des  Unterrichts  in  der  philosophischen  Fakultät  Es  sind  neun  Lehr- 
facher; jedes  soll  durch  einen  ordentlichen  und  einen  außerordentlichen 
Professor  als  Assistenten  vorgetragen  werden.  Jener  wird  verpflichtet, 
in  jedem  Jahr  den  ganzen  Umfang  seines  Fachs  in  öffentlichen  und  un- 
entgeltlichen Vorlesungen  zu  absolvieren,  in  vier  wöchentlichen  Stunden. 
Der  extraordinarius  unterstützt  ihn,  seine  Vorlesungen  vorbereitend  und 
ergänzend,  durch  zwei  öffentliche  Vorlesungen  in  der  Woche.  Einzelne 
schwierigere  Materien  sollen  beide  in  privatis  zu  behandeln  sich  erbieten. 
Die  Fächer  und  Vorlesungen  sind  folgende: 

1.  Der  prof.  ord,  der  griechischen  Sprache  soll  in  jedem  Jahr 
das  neue  Testament  in  kursorischer  Lektüre  beendigen,  jedes  Semester 
beginnend  mit  zwei  Evangelien.  —  Der  extraord.  lehrt  die  Grammatik 
mit  Übungen.  Die  Schüler  präparieren  sich  auf  alle  Vorlesungen  und 
werden  einer  nach  dem  andern  aufgefordert  zu  exponieren,  „weil  es, 
wie  die  Erfahrung  lehret,  zu  besonderer  Erweckung  des  Fleißes  bei  den 
Studiosis  dienet,  wenn  die  Professores  ihre  Auditores  selbst  exponieren 
lassen^^  Die  Professoren  sollen  darauf  achten,  daß  die  Studiosi  sich 
nicht  an  Codices  mit  nebenstehender  Version  gewöhnen.  Dasselbe  gilt 
von  den  Lektionen  im  Hebräischen. 

2.  Der  Professor  ord,  des  Hebräischen  vollendet  in  jedem  Jahr 
die  Lektüre  des  Pentateuch  im  Winter,   der  histor.  Bücher  des  alten 


538    III,  4.  Die  Universitäiefi  wüer  d,  Einfluß  d,  höfisch-modem&n  Bildung, 


Testaments    im   Sommer.   —    Der   extraord.   lehrt   Grammatik.      Die 
schwierigeren  Bücher  bleiben  für  Privatvorlesungen. 

3.  Der  Professor  ord,  der  Mathematik  absolviert  im  Jahres- 
kurs die  Arithmetik,  Geometrie,  Trigonometrie,  Astronomie.  —  Der 
extraord.  behandelt  einleitend  Arithmetik  und  Geometrie.  Beide  stellen 
Übungen  an. 

4.  Der  Professor  ord.  eloquentiae  hält  im  Winter  ein  vierstün- 
diges collegium  stili  Latini:  in  zwei  Stunden  läßt  er  einen  autorem 
probatum  exponieren  und  erklärt  ihn  mit  den  nötigen  Anmerkungen, 
so  zum  stilo  und  den  römischen  und  anderen  Altertümern  gehören; 
eine  Stunde  widmet  er  den  praeceptis  oratoriae  und  die  letzte  den  ela- 
borationibusy  welche  die  Studenten  wechselweise  in  deutscher  und  latei- 
nischer Sprache  exhibieren.  Im  Sommer  giebt  er  abwechselnd  eine 
gründliche  Einleitung  in  die  Universalhistorie  und  in  die  Geschichte 
nach  Christi  Geburt.  —  Der  extraord,  soll  dergleichen  traktieren;  er 
behandelt  auch  im  Sommer  die  Geographie. 

5.  Der  Professor  poeseos  soll  mit  seinem  extraord,  die  jungen 
Leute  in  siudiis  humanioribus  üben,  damit  an  guten  Schulleuten  kein 
Mangel  sei.  Zu  diesem  Ende  traktieren  sie  einen  poetam  Latinum,  nebst 
den  praeceptis  der  lateinischen  Poesie  und  der  Mythologie,  mit  prak- 
tischen Übungen  in  allerlei  generibus  carminum.  Die  deutsche  Poesie,  als 
wozu  nur  gewisse  ingenia  geschickt  sind,  muß  alle  zwei  Jahr  in  einem 
Semester  publice,  außerdem  aber  nur  privatim  traktiert  werden. 

6.  Der  Professor  ord,  logices  liest  in  den  beiden  Semestern  ab- 
wechselnd Logik  und  Metaphysik. 

7.  Der  Professor  moralium  ebenso  jus  naturae  und  Moral;  die 
entsprechenden  extraordinarii,  sowie 

8.  der  Professor  historiae  literariae  sollen  in  ihrer  science  ein 
jeder  gleichfalls  alle  halbe  Jahr  etwas  gewisses  dergestalt  tradieren  und 
zu  Ende  bringen,  daß  dadurch  die  studiosi  zu  denen  lectionibus  der 
professorum  ordinariorum  und  anderen  studiis  präparieret  werden. 

9.  Der  Professor  ord,  physices  bringt  jedes  Jahr  physicam  experi- 
mentalem  et  tkeoreticam  zu  Ende,  sei  es  neben  oder  nach  einander.  — 
Der  extraord,  kann  alle  halbe  Jahr  einen  Teil  der  physicae  sacrae  per- 
traktieren. 

Allen  aber  wird  empfohlen,  wenn  sie  mit  einer  Materie  zu  Ende 
sind,  daraus  Examina  anzustellen. 

Die  philosophische  Fakultät  zu  Frankfurt  hatte  (nach  Beckmann, 
S.  74)  am  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  sechs  Lehrstühle:  Philosophie, 
Physik,  Mathematik,  Geschieht«  und  Politik,  Orientalische  Sprachen, 
Eloquenz.  — 


Univ,  Leipzig  y/m  1740.  539 


Eursaohseii;  toh  dem  die  große  Revolution  des  16.  Jahrhunderts 
ihren  Ausgang  genommen  hatte ,  befolgte  seit  der  Etablierung  der 
lutherischen  Landeskirche  in  kirchlichen  und  politischen  Dingen  eine 
streng  konservative  Politik;  auch  seine  Universitäten  und  Schulen  waren 
Hüterinnen  des  Überlieferten:  nirgends  fand  das  echte  Luthertum  oder 
was  dafür  galt,  die  neue  Schultheologie  und  Philosophie  hartnäckigere 
Verteidiger,  als  in  Wittenberg  und  Leipzig,  nirgends  der  althumanistische 
Schulbetrieb  treuere  Pflege,  als  an  den  sächsischen  Furstenschulen. 
Allerdings,  die  Berührung  mit  dem  Neuen  blieb  nicht  aus;  Leipzig 
war  allmählich  der  Zentralpunkt  des  Buchhandels  und  überhaupt  des 
gelehrten  Verkehrs  in  Deutschland  geworden,  hier  erschienen  die  ersten 
wissenschaftlichen  Zeitschriften  und  es  ist  nicht  zufallig,  daß  Leibniz 
und  Thomasitjs  Leipziger  Professorensöhne  sind.  Der  Vater  des  letzteren, 
Jacob  Thomasius  (1622 — 1684)  gehörte  der  Übergangsbildung  an:  er 
leitete  seine  Schüler  zu  historisch -eklektischer  Beschäftigung  mit  den 
alten  und  neuen  Philosophen  an,  wie  aus  den  von  ihm  verfaßten  philo- 
sophischen Lehrbüchern  nicht  minder,  als  aus  Briefen  seines  Schülers 
Leibniz  hervorgeht.  Ein  Schwiegersohn  des  J.  Thomasius  war  Adam 
Rechenbebg  (1642—1721),  der  eine  Reihe  philosophischer  Professuren 
und  zuletzt  eine  theologische  verwaltete.  In  seiner  Hodegetik  (De  studiis 
academicisy  1691)  geht  er  die  neuen  Wissenschaften,  Mathematik  und 
Physik,  Historie  und  Geographie,  Politik  und  Naturrecht,  ausführlich 
durch  und  zeigt  ihre  Notwendigkeit  zu  einer  galanten  Bildung  und 
ihre  Nützlichkeit  für  die  Studien  der  oberen  Fakultäten.  Auch  zu  dem 
Pietismus  stand  er  in  freundschaftlichen  Beziehungen.  Im  Ganzen  aber 
hatten  das  ganze  17.  Jahrhundert  hindurch  die  Vertreter  des  Alten 
noch  entschieden  das  Übergewicht  an  der  Universität.  Wie  gegen  Ende 
des  16.  Jahrhunderts  von  dem  herrschenden  Aristotelismus  jede  hetero- 
doxe  Philosophie  war  femgehalten  worden,  so  daß  ein  zum  Bamismus 
neigender  Professor  abgesetzt  und  in  den  Magistereid  die  Verpflichtung 
auf  die  reine  aristotelische  Philosophie  aufgenommen  worden  war:^  so 
wurde  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  das  Eindringen  der  neuen  Philo- 
sophie mit  Erfolg  abgewehrt;  Püfbndobps  Schriften  wurden  verboten, 
Thomasius  und  Fbancke  vertrieben. 

Seit  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  begann  jedoch  der  Wider- 
stand zu  ermatten.  Val.  Albebti  und  B.  Cabpzow,  die  Vorkämpfer 
des  Alten,  starben  1697  und  1699.  Neue  Professuren  wurden  errichtet: 
für  Chemie  und  für  Reichsrecht  1710,  für  Naturrecht  und  für  Heraldik 
1711,  für  Arabisch  1724,  für  Philosophie  1725,  wozu  1721  auch  ein 


'   Elswich,  de  varia  Ärisiotelie  in  aekolie  Protestantium  fortunay  p.  47  £ 


540    III,  4,  Die  Universitäten  unter  d.  Einfluß  d,  höfisdi-modemen  Bikbtng. 


besoldeter  Bereiter  kam  (Schulze,  Leipziger  Universität  im  18.  Jahr- 
hundert, 77  ff.).  Seit  1724  lehrte  J.  C.  Gottsched  (1700—1766) 
zunächst  als  Privatdozent^  seit  1734  als  Professor  der  I^ogik  und  Meta- 
physik die  moderne,  d.  h.  die  Wolfische  Philosophie,  fast  ganz  unan- 
gefochten von  den  „Pedanten  und  Heuchlern",  welche  den  Thomasits 
noch  zum  Abzug  genötigt  hatten;  ein  kleiner  Versuch  ihn  zu  verdäch- 
tigen, der  freilich  Gottsched  in  große  Furcht  setzte,  fand  nunmehr 
in  dem  auch  fortschrittlich  gewordenen  Dresden  kaum  mehr  Gehör 
(Danzel,  Gottsched,  18 ff.).  Durch  Gottsched  wurde  auch  die  deutsche 
Poesie  in  die  Universitätskreise  mit  offizieller  Vertretung  eingeführt: 
seit  1730  war  er  Professor  extraord.  der  Poesie  und  lehrte  als  solcher 
öffentlich  die  Theorie  und  Praxis  der  deutschen  Dichtkunst  Beim  An- 
tritt des  Amts  schrieb  er  eine  Dissertation:  Musas  philosophiae  qiton- 
dam  obstetrices;  im  18.  Jahrhundert  leistete  die  Philosophie  den  Musen 
Gegendienste.  Gottscheds  Bemühungen  vorzüglich  verdankt  I^ipzig, 
daß  es  der  Geburtsort  der  neuen  Poesie,  des  neuen  Theaters,  des  neuen 
Geschmacks  wurde.  Gottscheds  zahlreiche  littcrarische  und  moralische 
Zeitschriften  beherrschten  lange  Zeit  die  deutsche  Bildung.  Seit  1744 
gehörte  auch  Gellebt  der  Universität  als  Lehrer  an. 

Den  Umfang  des  Unterrichts,  welchen  die  Leipziger  philosophische 
Fakultät  um  1740  anbot,  suche  ich  durch  eine  Zusammenstellung  aus 
den  Ijektionsverzeichnissen  der  Jahre  1739 — 1744  zu  vergegenwärtigen. 
¥j&  finden  sich  folgende  öffentliche  Vorlesungen  in  nachstehender 
Ordnung: ^ 

7  Uhr:  J.  C.  Gottsched,  Prof.  der  Logik  und  Metaphysik, 
extraord.  der  Poesie,  liest  1739  über  Melanchthons  Erotemata  diaiectica; 
1740  kündigt  er  an:    über  P.  Huötii  de  imbecillitate  iniellectus  hum.; 


*  Nützliche  Nachrichten  von  denen  Bemühungen  derer  Gelehrten  und 
anderen  Begebenheiten  in  Leipzig,  1739 — 1756.  Altere  Verzeichnisse  in  den 
Aetn  Lipsiensium  ncadem,,  welche  1723/24  erschienen.  —  Es  ist  ein  bemerkens- 
wertes Zeichen  der  Zeit,  daß  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  IS.  Jahrhunderts 
fast  alle  Universitäten  längere  oder  kürzere  Zeit  eine  eigene  wissenschaftliche 
Zeitschrift,  Acta,  Annales,  Novellen,  Nachrichten  oder  wie  immer  genannt, 
herausgaben,  so  Halle,  Leipzig,  Wittenberg,  Helmstedt,  Jena,  Gießen,  Altdorf, 
Rostock,  Tübingen.  Den  Inhalt  bilden  nicht,  wie  im  16.  Jahrhundert,  Dekla- 
mationen und  Poesien,  sondern  wissenschaftliche  Untersuchungen  über  natur- 
wisseuschaftliclie,  mathematische,  historische,  philologische  Dinge,  nebst  Bücher- 
anzeigen  und  Berichten  über  die  Lt^hrthfitigkeit  Auch  die  gelehrten  Gesell- 
schaften sind  bemerkenswert,  die  im  18.  Jahrhundert  überall  entstehen,  natur- 
wissenschaftliche, historische,  ökonomische,  litterarische  oder  deutsche.  Die 
geogrnphia  aeademica  von  Götz  (Nürnberg  1789)  zfihlt  im  ganzen  73  gelehrte 
Gesellschaften  auf,  fast  alle  in  Universitätsstädten  oder  Residenzen. 


üniv,  Leipzig  am.  1740,  541 


1741  über  Fr.  Sanchez  Tractatus  quod  nihil  scitur;   1742  über  Cicero 
de  fato  and  deutsche  Poetik;  1743  über  F.  Bamiis'  Dialektik. 

8  Uhr:  J.  F.  Chbist,  Prof.  der  Poesie  und  extraord,  der  Ge- 
schichte, liest  1739  über  Plautus,  dazu  um  3  Uhr  über  Suetonius; 
ferner  erbietet  er  sich  zu  Privatvorlesungen  über  Litteraturgeschichte 
und  Antiquitäten.  Ebenso  in  den  folgenden  Jahren;  1742  treten  dafür 
Horaz  und  Cornelius  ein, 

9  Uhr:  F.  Menz,  Prof.  der  Physik,  liest  Physik  mit  Experi- 
menten; in  fünQährigem  Kursus  geht  er  das  ganze  Gebiet  der  Natur- 
wissenschaften durch;  außerdem  liest  er  zweistündig  über  die  gelehrten 
Zeitungen. 

10  Uhr:  J.  E.  Kapp,  Prof.  der  EloquBnz,  liest  1739  zunächst 
über  ein  paar  Reden,  welche  zum  Leipziger  Reformationsjubiläum  im 
Jahre  1639  gehalten  worden  sind,  sodann  über  die  griechischen  und 
römischen  Rhetoren  und  Redner;  privatim  und  privaässime  giebt  er 
Anleitung  zum  lateinischen  Stil  (nach  Heineccius)  und  zum  Disputieren. 
Ähnlich  in  den  folgenden  Jahren;  1741  liest  ^x  privatim  über  Rechen- 
bergs Hodegetik;  1742  über  Mosheims  Kirchengeschichte. 

11  Uhr:  C.  A.  Hausen,  Prof.  der  Mathematik,  liest  1739  erste 
Elemente  der  Mathematik;  1740  Chronologie  und  Wolfs  Elemente, 
1741  Mechanik,  1742  Euklid  und  privatim  Wolfs  Elemente. 

1  Uhr:  A.  F.  Müller,  Prof.  Org.  Arist.,  Syllogistik,  mit  privaten 
Übungen,  in  regelmäßiger  Wiederkehr. 

2Uhr:  G.  F.  Richter,  Prof.  der  Moral  und  Politik  und  extraord. 
der  Mathematik,  über  Griebners  Prinzipien  der  Jurisprudenz;  1740  über 
Gundlings,  1741  über  Wolfs,  1742  über  Baumgartens  Moralphilosophie; 
daneben  privatim  einen  mathematischen  Kursus. 

3  Uhr:  G.  F.  Oleariüs,  Prof.  der  griechischen  und  lateinischen 
Litteratur,  liest  1739  über  die  Weissagungen  des  N.  T.  vom  Antichrist 
und  der  großen  Babel  (wegen  des  Reformationsjubiläums) ;  1740  römische 
und  griechische  Antiquitäten  mit  besonderer  Rücksicht  auf  das  N.  T.; 
sein  Nachfolger  J.  H.  Winkler  kündigt  an  für  das  Sommersemester 
1743  Hauptstücke  aus  der  griechischen  Litteratur,  für  den  Winter 
Piaton.  Dialoge,  worin  über  Gott,  Welt  und  Seele  gehandelt  wird;  1744 
griechische  Antiquitäten. 

4  Uhr:  C.  G.  Jüecher,  Prof.  der  Geschichte,  liest  1739  Kirchen- 
geschichte im  Mittelalter,  nach  Schmid;  privatim  Litteraturgeschichte 
nach  Heumann  und  Staatengeschichte  nach  Gebauer;  in  den  folgenden 
Jahren  wechseln  mit  diesen  Gegenständen  Universal-  und  deutsche 
Reichsgeschichte  (nach  Joh.  Clericüs  und  Struve),  auch  Geschichte 
der  Philosophie. 


542    in,  4.  DU  ünirerntälen  unter  (L  Einfluß  d.  hö/uek-modemen  Büdumg. 

5  Uhr:  C.  G.  Ludovici,  Prof.  der  Philosophie,  giebt  1739  einea 
KnuBOs  der  Philosophie  nach  eigenem  Entwurf:  1740  liest  er  pmeuma- 
ticam  mit  EinschluB  der  Psycholoerie.  Dämonologfie  und  natürliche 
Theologie;  fem^rr  Moral:  1743  liest  er  über  neoeste  Geschichte  (n'iiu 
fufdie  imperantium  hreoiter  enarratunuj. 

Das  Wittenberger  Lektionsrerzeichnis  für  den  Winter  1722/23 
weist  folgende  in  das  Gebiet  der  altsprachlichen  Studien  einschlagende 
Vorlegungen  auf:  der  Prof.  der  Eloquenz  erklärt  Taciims  Germania;  der 
Prof.  der  Poesie  liest  ul^er  dramatische  Poesie  und  besonders  über  die 
Komödie  und  wird  Mustergültiges  und  Fehlerhaftes  an  Beispielen  der 
Griechen  und  Römer  zeigen:  der  Prof.  der  griechischen  Sprache  wird 
die  Geheimnisse  der  griechischen  Sprache  aufschließen  und  ihre  Eleganz 
und  Reinheit  an  der  Sprache  des  N.  T.  aufzeigen.^  Die  Wittenberger 
Universität,  wie  sie  im  17.  Jahrhundert  als  Hüterin  der  cathedra 
I/ut/ieri  und  Bewahrerin  der  reinen  I^hre  sich  hervorgethan  hatte,  hielt 
sich  auch  das  18.  Jahrhundert  hindurch  den  neuen  Dingen  am  meisten 
fern;  die  Aussperrung  der  Wolfischen  Philosophie  gelang  bis  gegen  das 
Knde  des  Jahrhunderts. 

Kin  ähnliches  Bild  von  der  Lage  der  klassischen  Studien  giebt  das 
I^ktionsverzeichnis  der  dritten  sachsischen  Universität,  Jena,  für  das 
Sommersemester  1722.  Der  Prof.  der  Poesie  und  der  griechischen 
Sprache  liest  öfifentlich  Griechisch,  privatim  Poetik;  der  Prof.  der 
Elocjuenz  (J.  G.  Walch)  kündigt  Vorlesungen  über  die  Paolinische 
Eloquenz,  am  Romerbrief  gezeigt,  an;  außerdem  liest  er  über  lateinischen 
Stil  und  über  Philosophie.  Noch  von  zwei  anderen  Philosophen  werden 
Vorlesungen  über  griechische  Sprache  und  Paulinische  Briefe  angeboten. 
Ebenso  lesen  drei  Theologen  über  Stücke  des  N.  T.  Zu  den  hervor- 
ragendsten Persönlichkeiten  unter  den  Jenaischen  Lehrern  während 
dieses  Zeitalters  gehorte  J.  Fb.  Buddeüs,  der  von  1705 — 1729  die 
Theologie  im  Sinne  der  Vermittelung  zwischen  Pietismus  und  Ortho- 
doxie lehrte.  Seine  philosophischen  und  theologischen  Lehrbücher  waren 
sehr  verbreitet.  Der  Philolog  und  Theolog  J.  G.  WAXiCH  war  sein 
Schwiegersohn,  J.  M.  Gesnee  sein  Schüler.  —  Erwähnt  mag  noch 
werden,  daß  im  Jahre  1733  eine  Societas  Latina  Jenensis  begnründet 
wurde,  zuerst  als  rein  privater  Zirkel  von  Studierenden.  Allmählich 
erhielt  sie  eine  öfifentliche  Stellung  und  einen  Professor  zum  Direktor. 
Ihr  nächster  Zweck  waren  lateinische  Stilübungen,  von  welchen  seit 
1741  Proben  veröffentlicht  wurden.  Allmählich  richtete  sich  die  Thätig- 
keit  der  Gesellschaft   mehr  auf  gelehrte  philologische  Arbeiten    und 

*  Acta  academ,  Vitemb,  1724. 


Univ,  Wittenberg,  Jena,  Helmstedt.  543 


seit  dem  Anfang  dieses  Jahrhunderts  ging  sie  in  ein  philologisches 
Seminar  über.^ 

An  der  Helmstedter  Universität^  die  bis  zum  Aufkommen  Qtbt- 
tingens  eine  hervorragende  Stellung  einnahm,  waren  die  humanistischen 
Studien  durch  drei  Professuren  vertreten.  Nach  den  in  den  Annales 
Äcad.  Julian  (Helmstedt  1722  u.  f.)  mitgeteilten  indices  hielten  ihre 
Inhaber  folgende  Vorlesungen:  J.  Chr.  Böhmer,  Prof.  der  Eloquenz 
(zugleich  der  Theologie)  lehrte  im  Winter  1720/21  öffentlich  die  Rhetorik 
und  ihre  Anwendung  im  geistlichen  und  weltlichen  Amt  und  leitete 
dazu  privatim  Übungen  in  der  Abfassung  von  Reden  und  Briefen  in 
lateinischer  und  deutscher  Sprache;  im  Sommer  1721  handelte  er 
ofiTentlich  von  der  Abfassung  von  Briefen  in  beiden  Sprachen  und  den 
besten  Briefschriftstellem,  privatim  bot  er  denjenigen  Anleitung  an, 
„welche  auf  Stilübungen  Mühe  verwenden  mögen  und  bibliographische 
Kenntnisse  zu  erlangen  wünschen".  Der  Prof.  der  Poesie,  P.  Leyseb, 
erklärte  öfiFentlich  die  soeben  gedruckte  poetria  Galfridi  de  Vino  Salvoj 
privatim  die  Litteraturgeschichte.  Im  Sommer  1721  lehrte  er  öflFentlich 
die  deutsche  Dichtkunst,  privatim  die  Litteraturgeschichte.^  J.  Oldeb- 
MANN,  Prof.  der  griechischen  Sprache,  fuhr  im  Winter  1720/21  in 
der  philosophischen  Erklärung  der  Episteln  des  N.  T.  fort,  beendigte 
diese  im  Sommer  und  ging  zum  Evang.  Marci  über.  Privatim  las  er 
über  jüdische  Altertümer.  Vorlesungen  über  griechische  und  römische 
Schriftsteller  finden  sich  in  den  Lektionsverzeichnissen  dieser  Jahre  gar 
nicht;  auch  die  Geschichte  der  Alten  fehlt 

Erst  die  Nachfolger  lasen  gelegentlich  wieder  über  einen  klassi- 
schen Autor  und  über  die  Antiquitäten.  So  im  Winter  1724/25 
E.  Reüsch,  Prof.  der  Eloquenz,  über  römische  Antiquitäten  und  Tacitus 


^  Stbubberq,  diarium  Solanum  1722,  S.  115  ff.  Güldenapfbl,  Jenaischer 
Universitätsalmanach  (1816),  S.  271—292. 

*  Leysers  Antrittsprogramm  handelt:  de  poesi  diseiplinarum  principe:  der 
Poesie  dienen  alle  Wissenschaften,  Philologie,  Eloquenz,  Logik,  Geschichte, 
Physik,  Metaphysik,  Theologie,  Medizin,  Mathematik,  Musik,  Ethik,  Politik, 
Natur-  und  Völkerrecht,  Ann,  acad,  Jul,  I,  78.  Letser  ließ  sich  auf  einer 
akademischen  Rundreise  im  Jahre  1723  zu  Straßburg  nach  rite  bestandenem 
£xameu  zum  />r.  med.  et  jur.  utriustjue  promovieren  (a.  a.  0.  V,  66  ff.).  Be- 
merkenswert ist,  daß  er  für  das  Mittelalter  Interesse  hatte,  wie  auch  aus  der 
Vorlesung  über  die  Poetik  des  Galfridus  (aus  dem  12.  Jahrhundert)  sich  ergiebt 
In  seiner  JSistoria  poetarum  medii  aevi  (Halle  1721)  nahm  er  die  mittelalter- 
liche Bildung  gegen  die  Schmähreden  des  Humanismus  in  Schutz.  So  wies  er 
J.  BuRCKHARDT  zurccht,  der  in  seiner  Geschichte  der  latein.  Sprache  das  übliche 
Urteil  wiederholt  hatte.  B.  sucht  sich  darauf  im  zweiten  Teil  (S.  64  ff.)  durch 
Anführung  von  Zeugnissen  großer  Männer  zu  decken,  woran  es  denn  keines- 
wegs fehlte. 


544    lU,  4.  Die  UmveniiäUn  unter  ±  Einfluß  <L  kofitek-modernen  Bildung, 

Germania.  Gleichzeitig  handelte  G.  Lakemacheb,  Prof.  der  grie- 
chidchen  Sprache,  über  die  griechischen  Altertümer,  bis  der  Buch- 
händler die  besseren  griechischen  Autoren  zogänglich  mache.  Im 
folgenden  Sommer  erbietet  er  sich  auf  kürzestem  Wege  zur  Kenntnis 
der  griechischen  Sprache  zu  führen  und  Mnsäns"  Gedicht  Hero  und 
Leander  zu  erklären.  Im  Winter  1725,26  las  er  über  die  Sacral- 
altertümer  der  Griechen  und  erklärte  im  Anschluß  daran  Lucians 
Dialoge  über  die  syrische  Gr»ttin  und  über  Opfer,  sowie  Plutarchs  und 
Theophrasts  Bücher  über  die  Superstition,  die  zu  diesem  Ende  be- 
sonders gedruckt  wurden.  Im  Sommer  folgen  die  griechischen  Staatsi- 
altertümer  mit  Erklärung  ausgewählter  und  hierfür  besonders  ge- 
druckter Kapitel  aus  dem  Uerodot.  Außerdem  las  und  schrieb  er 
über  jüdische  Altertümer.  Keusch  erklärte  im  Winter  1725/26 
Ciceros  und  Plinius'  Episteln  und  las  über  die  Humanisten  des  15.  Jahr- 
hunderts öffentlich;  privaäm  interpretierte  er  Cicero  tie  oraiore  und 
die  römischen  ßechtsaltertümer  mit  Numismatik  und  Metronomie, 
Leyseb  las  wiederholt  über  Virgil,  im  Anschluß  an  die  Poetik.  — 
Außer  diesen  drei  Professuren  gab  es  noch  fünf  andere:  für  Hebräisch, 
Mathematik  und  Naturwissenschaft,  Logik  und  Metaphysik,  Moral  und 
Politik,  Geschichte.  —  Die  hervorragendste  Persönlichkeit  an  der  Uni- 
versität war  der  Theologe  J.  L.  Moshetm  (1723 — 1747  in  Helmstedt), 
der  Calixtus  des  18.  Jahrhunderts. 

Der  Charakter   der   neuen  Universität   des  Nordens,    die  Herzog 
Christian  Albrecht  im  Jahre  1665  zu  Kiel  begründete  und  aus  den 
Mitteln  des  Bordesholmer  Klosters  (mit  6000  Thlm.  jährlich)  dotierte, 
wird    bezeichnet    durch    den    Theologen   S.  Kortholt,    den    Juristen 
S.  Rachel,  der  als  einer  der  ersten  Vertreter  der  modernen  Disziplin 
des  jus  nat,  et  yentium  genannt  wird,  und  den  Inhaber  der  Professur 
der   Eloquenz   und  Poesie,   D.  G.  Mobhof.     Der  letztere   ist  bekannt 
durch  seinen  „Unterricht  von  der  deutschen  Sprache  und  Poesie"  1682, 
worin  zum  erstenmal  in  Deutschland  eine  Übersicht  über  die  moderne 
europaische  Litteratur  gegeben  wird  (Räumer,  III,  187),  und  noch  mehr 
durch  den  Polyhistor  literarius,  philosophicus  et  practicus  (Lübeck  1688 
u.  0.)  ein  umfassendes  Werk,  das  die  JSumme  der  zur    vollkommenen 
gelehrten  Bildung  damals  als  notwendig  angesehenen  Kenntnisse  ent- 
hält.     Außerdem   waren   anfangs   noch   folgende   Professuren    in    der 
philosophischen  Fakultiit:  Logik  und  Metaphysik,  Moral,  Politik,  Mathe- 
matik, Physik  und  Griechisch,  Geschichte,  moderne  Sprachen  (Ratjkn, 
Gesch.  der  Univ.  Kiel). 

Die  süddeutschen   Universitäten   mag   Tübingen    repräsentieren. 
Die  Modernisierung  hat  sich  hier  ebenfalls  in  der   ersten  Hälfte  des 


Die  Universitäten  Tübingen,  Straßburg,  545 


18.  Jahrhunderts  vollzogen.  In  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts 
bestand  im  Wesentlichen  noch  der  Unterrichtsbetrieb,  wie  er  durch  die 
Keformation  eingerichtet  worden  war;  auch  über  die  lateinischen  und 
griechischen  Autoren  wurde  noch  fleißig  gelesen  (Klüpfel,  152).  Seit 
Anfang  des  18.  Jahrhunderts  ist  das  Eindringen  des  Modernen  be- 
merkbar: Vorlesungen  über  Grotius,  Pupendoef  und  Thomasius,  über 
deutsche  Dichtkunst,  über  Antiquisaten  erscheinen  auf  dem  Plan.  Im 
Jahre  1720  hielt  der  Theologe  C.  M.  Pfafp  bei  Antritt  des  Kanzler- 
amts eine  Bede  cle  universitatibus  scholasticvt  emendandts  et  pedantismo 
literario  ex  iisdem  eliminandoy  die  wenigstens  als  Symptom  der  Stimmung 
in  den  oberen  fiegionen  Bedeutung  hat  In  die  theologische  Fakultät 
drang  der  Pietismus  ein,  in  die  philosophische  die  neue  Wolfische 
Philosophie;  BiLFmaEB,  bald  ein  sehr  angesehenes  Mitglied  der  Uni- 
versität, begann  sie  seit  1721  als  Privatdozent  vorzutragen,  nicht  ohne 
Widerspruch  der  Theologen.  Im  Jahre  1752  erhielt  die  Universität 
neue  Statuten  (bei  Beyscheb,  408  ff.).  Die  philosophische  Fakultät  soll 
darnach  fünf  Professuren  haben:  1)  Logik  und  Metaphysik,  2)  Moral 
und  Naturrecht^  3)  Physik  und  Mathematik,  4)  Oriechisch  und  Hebräisch, 
5)  allgemeine  und  deutsche  Geschichte.  Die  Eloquenz  und  Poesie  soll 
einem  unter  ihnen,  der  sich  mit  diesen  Dingen  am  meisten  abgegeben 
hat,  übertragen  und  jederzeit  darauf  geachtet  werden,  daß  die  klassischen 
Autoren,  die  Geschichte  der  Litteratur  und  Philosophie,  die  lateinische 
und  deutsche  Beredsamkeit  und  Poesie,  die  griechischen,  römischen  und 
deutschen  Altertümer  von  den  Professoren  oder  Magistern  gelehrt 
werden.  1752  wurde  die  Poesie  und  Eloquenz  dem  Professor  der  Moral 
übertragen ;  er  las  über  Bedekunst,  Sittenlehre,  Natur-  und  Völkerrecht, 
Altertümer,  Geschichte  der  Philosophie,  Handlungswissenschaft,  aber 
nicht  über  klassische  Autoren.  Ebenso  wenig  las  der  Gräcist  über 
griechische  Autoren.  Die  klassische  Philologie,  sagt  Klüpeel  (202), 
war  in  dieser  Zeit  so  gut  wie  gar  nicht  vertreten;  er  irrt  aber,  wenn 
er  hinzufügt,  daß  sie  damals  auf  anderen  Universitäten  als  Hauptfach 
angesehen  worden  sei. 

B'rüher  als  in  Tübingen  ist  in  dem  der  westlichen  Welt  zugewen- 
deten Straßburg,  das  1621  für  die  alte  Sturmsche  Akademie  die 
Universitätsprivilegien  erwarb,  die  moderne  Bichtung  durchgedrungen. 
In  dem  Leben  Matth.  Berneggers  (1582—1640)  von  Büngkr  (1893) 
kann  man  die  beginnende  Wandlung,  das  stärkere  Hervortreten  der 
mathematischen  und  historischen  Wissenschaften  auf  Kosten  der  Elo- 
quenz und  der  klassischen  Erudition  verfolgen.  Bebneggeb  war  in 
beiden  Fächern  der  Forschung,  dem  historischen  wie  dem  naturwissen- 
schaftlich-mathematischen, thätig. 

Paulson,  Unterr.   Zweite  Aafl.    I.  35 


546    ///,  4,  Die  Universitäten  unter  d.  Einfluß  cL  höfisch-modernen  Bildung. 


Noch  erwähne  ich  schon  hier  die  neue  protestantische  UniFersität, 
die  von  den  beiden  fränkischen  Fürstentümern  im  Jahre  1743  zu 
Erlangen  errichtet  wurde.  Bei  der  Gründung  spielte  eine  Hauptrolle 
ein  französischer  Befugie,  der  zu  Rotterdam  geborene  Leibarzt  der 
Markgräfin  Wilhelmine,  Daniel  de  Supebville.  Die  XJniYersität 
wurde  mit  der  Yerlassenschaft  der  schon  erwähnten  Ritterakademie  aus- 
gestattet Gleich  am  Anfang  hatte  sie  drei  Professoren  der  Theologie, 
die  alle  drei  zugleich  geistlichen  Ämtern  vorstanden;  fünf  Juristen,  von 
denen  drei  zugleich  in  der  philosophischen  Fakultät  lasen,  besonders 
historische  und  philosophische  Fächer,  und  fünf  Mediziner.  Die  philo- 
sophische Fakultät  erhielt  sieben  Professuren,  von  denen  aber  drei,  wie 
gesagt,  von  Juristen  verwaltet  wurden,  und  eine,  nämlich  die  der  Elo- 
quenz oder,  nach  unserm  Sprachgebrauch,  der  Philologie,  von  einem 
Theologen.  Die  philosophischen  Wissenschaften  wurden  von  Anfang  an 
nach  den  Wolfischen  Lehrbüchern  vorgetragen.  Für  Sprachen  und 
Exerzitien  war  besonders  gut  gesorgt  Die  neue  fränkische  Universität 
hat  als  vermittelndes  Glied  zwischen  Nord-  und  Süddeutschland  lange 
Zeit  eine  nicht  geringe  Bedeutung  gehabt  (Engelha&dt,  Die  Univ. 
Erlangen,  1843;  Sehleng,  D.  de  Superville,  1893). 

Auf  die  übrigen  Universitäten,  Altdorf,  Rostock,  Greifiswald,  Erfurt, 
Marburg,  Gießen  u.  s.  w.,  gehe  ich  nicht  ein;  ihre  Frequenz  ist  zum 
Teil  ganz  geringfügig,  sie  sinkt  zum  Teil  weit  unter  100.  Ebenso  über- 
gehe ich  die  katholischen  Universitäten,  sie  folgen  in  der  Umgestaltung 
erst  beträchtlich  später.  Über  die  neue  Universität  Göttingen  wird 
später  ausfuhrlicher  zu  handeln  sein. 

Dagegen  möchte  ich  hier  noch  ein  paar  Äußerungen  von  Philo- 
logen über  die  Stellung  der  klassischen  Studien  an  den  Universitäten 
während  dieses  Zeitalters  einfügen.  Die  Dekadence  dieser  Studien  ist 
das  Thema  der  stets  wiederholten  Klage  der  Professoren  der  Poesie 
und  Eloquenz;  bei  jeder  öfiFentlichen  Gelegenheit  kehrt  sie  wieder  und 
läuft  regelmäßig  in  die  Prophezeiung  aus,  daß  die  Barbarei  des  Mittel- 
alters nunmehr  vor  der  Thür  stehe. 

Schon  in  einer  1693  zu  Leiden  gehaltenen  Rede  (De  usu  atque 
utilitate  Graecae  Romanaeque  linguae)  führt  J.  PERizoiaus  bittere  Klage: 
in  Schimmel  und  Schmutz  lägen  die  Griechen  begraben;  es  sei  dem- 
nach an  der  Zeit,  daß  die  Barbarei  des  Mittelalters  wiederkehre.  Wenn 
jener  so  klagen  wolle,  meint  J.  Bubgkhabd  in  einem  Programm,  das 
er  als  Rektor  der  Hildburghäuser  Schule  1718  schrieb  (Quid  causae 
sity  cur  human itatis  studiis  majus  hodie  a  Batavis  quam  a  Germam* 
statuatur  pretiumf)  was  solle  denn  ein  Deutscher  sagen?  Den  Pebi- 
zoNiuis  habe  er  selbst  in  Leiden  vor  einem  großen  und  wohlgefüllten 


Klagen  der  Philologen,  547 


Auditorium  gegen  ein  bedeutendes  Honorar  den  Terenz  erklären  hören. 
In  Deutschland  brächte  der  berühmteste  Mann  auf  der  größten  Uni- 
versität nicht  so  viele  zusammen,  wenn  er  umsonst  läse.  Plato,  Aristoteles, 
Homer,  Thukjdides,  Euhpides  seien  den  Studenten  nicht  einmal  dem 
Namen  nach  bekannt  Cicero  bleibe  in  den  Händen  der  Knaben.  Cäsar 
und  Livius,  geschweige  denn  Virgil,  Horaz,  Terenz  lesen  sei  ein  Vorwurf: 
über  diese  Possen  seien  wir  hinaus:  für  den  Nutzen  der  Kirche  oder 
des  Staates  komme  dabei  nicht  mehr  heraus  als  beim  Spiel  mit  Nüssen. 
—  Die  Schuld  des  Verfalls  findet  Bubckhabd  bei  den  Schulmeistern, 
welche  ihre  Schüler  alsbald  zu  den  höheren,  den  Beal Wissenschaften 
führten,  nach  selbst  gemachten  Kompendien;  aber  auch  die  Universitäten 
hätten  daran  Teil,  sofern  sie  immer  mehr  die  deutsche  Sprache  statt 
der  lateinischen  zuließen.  Die  Folge  werde  sein,  daß  auch  die  Real- 
wissenschaften verfallen  und  die  Barbarei  wiederkehren  würde. 

In  einem  Programm  vom  Jahre  1709  bespricht  der  Helmstedter 
Prof.  der  Eloquenz,  J.  Chb.  Böhmer,  die  Angelegenheit  Er  sucht  die 
Ursachen  der  Vernachlässigung  der  klassischen  Studien  1)  in  dem 
schlechten  Unterricht  in  den  Lateinschulen,  wo  z.  B.  immer  noch  das 
methodisch  schlechterdings  unzulässige  Verfahren  herrsche,  aus  lateinisch 
geschriebenen  Grammatiken  Lateinisch  zu  lehren;  tüchtige  Leute  gingen 
nicht  in  die  Schule,  weil  das  Amt  gar  zu  unansehnlich  und  schlecht 
bezahlt  sei;  2)  in  der  Meinung  der  jungen  Leute,  man  könne  die  nötige 
wissenschaftliche  Vorbildung  für  ein  Amt  auch  ohne  fremde  Sprachen 
sich  verschafien;  sei  außer  dem  Deutschen  ja  noch  etwas  nötig,  so  helfe 
das  Französische  aus,  das  doch  jeder  Gebildete  lernen  müsse  und  in 
welches  die  Alten  jetzt  höchst  elegant  übersetzt  seien. 

Gegen  die  Wittenberger  beschwerte  sich  1728  das  sächsische 
Oberkonsistorium,  daß  viele  Kandidaten  des  Predigtamts  zum  Examen 
kämen,  die  einen  aufgegebenen  Text  kaum  lesen,  geschweige  denn  einen 
richtigen  Verstand  und  Vortrag  daraus  ziehen  könnten  (Gbohmann, 
III,  99). 

Der  Lehrer  der  Eloquenz  in  Kiel,  Mobhof,  beklagt  in  seinem 
Polyhistor  dieselbe  Thatsache:  schon  Jon.  Caselius  habe  über  die  Ver- 
nachlässigung der  Sprachen  Klage  geführt;  käme  er  jetzt  auf  eine 
deutsche  Universität,  so  würde  er  finden,  daß  die  griechische  Sprache 
überhaupt  verstummt  sei,  im  Lateinischen  ein  kindisches  Stammeln  ver- 
übt werde.  Die  Disputationen  über  logische  und  metaphysische  Quästionen 
hätten  alles  verschlungen  (Polyhistor  II,  9,  9 — 16). 

Ganz  ausdrücklich  wird  für  jene  Thatsache  den  Philosophen  die 
Schuld  beigemessen  in  der  Eede,  womit  J.  E.  Kapp  1731  die  Professur 
der  Eloquenz  zu  Leipzig  antrat.    Außer  der  Neigung  der  Schulmeister 

35* 


548    III,  4.  Die  Universitäten  unter  cL  Einfluß  d,  höfisch-modernen  Bildung. 


für  die  Folyhistorie  und  der  allzu  kurzen  Studienzeit  (trienmum  oder 
auch  diennium),  seien  vor  allem  die  schlechten  Philosophen  an  der  Ver- 
achtung der  klassischen  Studien  schuld;  es  sind  natürlich  die  modernen 
Hallischen  Philosophen  gemeint  Ohne  Kenntnis  der  alten  Philosophie, 
deren  Sprache  sie  nicht  verstanden,  und  ohne  Kenntnis  der  philosophischen 
Bemühungen  der  Neueren,  machten  sie  sich  eine  eigene  Philosophie 
und  gaben  diese  für  die  wahre  gelehrte  Bildung  aus.^  —  Noch  schärfer 
wird  diese  Anklage  von  J.  Ben.  Cabpzow  formuliert,  der  1748  ein 
Extraordinariat  der  £loquenz  in  Leipzig  mit  einer  Bede  antrat:  De 
damno,  quod  parit  philosophia  absque  litteris  humanioribus  et  arte  critica. 
In  den  stärksten  Ausdrücken  führt  er  aus,  daß  gegenwärtig  eine  neue 
Philosophie  aufkomme,  welche  die  Pfleger  der  Altertumsstadien  als 
Grammatiker  und  Kritiker  verächtlich  mache:  jam  omnes  omjuum  ordt- 
num  scriptores  peragravit.  Nicht  ausbleiben  werde  die  Barbarei^  —  doch 
ich  lasse  ihn  in  seiner  eigenen  Sprache  reden  —  barbaries  ac  scholasti- 
corum  tempora  sccibiosa,  si  philosopkiam  sequimur  unice,  Graecos  et 
Latinos  autores  rejicimus,  Lapporum  et  Finnorum  lingvuij  Gothico  et 
Longobardico  sermone  in  famelids  suis  et  nauseabundis  libellis  juridicis 
Stoice  t.  e,  incomte  et  inficete  philosophantur.  Ex  academica  cavea  anno 
secundo  vel  tertio  evolantes  juris  brevissimi  doctores  nihil  praeter  inanem 
ex  aliquo  jure  quod  Uli  naturae  vocant  latratrum  protrudunt  Auch  über 
Medizin  und  Theologie  verbreitet  sich  das  Übel:  divini  verbi  sanctissima 
placita  inquinant  stramineis  praeceptis,  suosque  sermones  tamquam  pig^ 
mentis  fucoque  allinunt  philosophia;  magna  demonstratorum  seges  in- 
horruit,  qui  Universum  Christianismum  philosophica  diphthera  involverunt 
et  obfuscarunt  —  Über  die  Adresse  dieser  Liebenswürdigkeiten  war 
wohl  niemand,  am  wenigsten  die  Empfanger  in  Halle,  in  Zweifel.  — 
Cabpzow  hatte  übrigens  in  demselben  Jahr  nochmals  Gelegenheit  zu 
einer  ähnlichen  Rede.  Er  wurde  nach  Helmstedt  berufen  und  sprach 
hier,  erheblich  zahmer,  de  philosophiae  absque  literis  Graecis  imper- 
fectione:  er  verachte  die  neue  Philosophie  nicht.  Aber  eine  Philosophie, 
welche  diserta,  elegans,  copiosa  sein  und  de  rebus  divinis  kumanisque 
suaviter,  venuste  et  amoene,  zugleich  aber  argute,  sublilitery  acute  disse* 
rieren  wolle,  könne  von  den  Griechen  viel  lernen.  Ohne  diese  degeneriere 
sie  in  jejunam  horridam  et  inpolitam  scientiam  s.  peritiamj  quae  ab  illa 
vulgarium  opificum  non  discrepat. 

Der  spätere  Hallische  Geheimrat  Klotz  bestätigt  diese  Ansicht  in 


*  Mehreres  über  Kapp,  im  besonderen  ein  nicht  uninteressantes  Gatachten 
über  die  Herstellung  der  philologischen  und  philosophischen  Stadien  vom  Jahre 
1728  giebt  G.  Müller  in  den  historischen  Untersuchungen,  von  der  histor.  G^s. 
zu  Dresden  E.  Förstemann  gewidmet  (1894). 


Klagen  der  Philologen,  549 


einer  Rede:  De  dignitate  jucunditate  et  utilitate  studiorum  humanionim 
(Jena  1761):  tot  quotidie  sordibus  ingenuam  pulcher.rimamque  philo- 
sophiae  faciem  corispurcant,  tot  verborum  monstra  evomunt,  ut  vix  ho- 
mines  loqui  putemus,  —  Genau  100  Jahre  früher  hatte  in  Basel  beim 
Antritt  des  Dekanats  Jon.  Zwingeb,  Prof.  der  griechischen  Sprache, 
über  dasselbe  Thema  geredet.^  Er  erzählt,  er  habe  einmal  in  einer 
Klosterbibliothek  in  den  vorhandenen  Büchern  geblättert:  horret  animus, 
haeret  lingua  totumque  corpus  contremiscit  j  quoties  vel  solarum  vocum 
barbariei  recordor,  ZwiNGER  gratuliert  noch  seiner  Zeit  zu  ihrer  Ver- 
menschlichung. Freilich  hat  diese  Vermenschlichung,  wenn  wir  den 
obigen  Anklägern  glauben  wollen,  nur  kurze  Zeit  vorgehalten;  der 
Rückfall  in  die  Barbarei  ist  schon  im  17.  und  vollends  im  18.  Jahr- 
hundert ein  vollständiger. 

Wenn  wir  jetzt  diese  hitzigen  Deklamationen  lesen,  kommen  sie 
uns  einigermaßen  seltsam  vor:  also  mit  dem  Zeitalter  Wolfs  und 
Kants,  Lessings  und  Klopstocks  soll  die  Vertierung  oder  die  so- 
genannte „Barbarei  des  Mittelalters"  wieder  über  uns  hereingebrochen 
sein?  Uns  stellt  sich  die  Sache  etwas  anders  dar;  nicht  die  Rückkehr 
zum  Mittelalter,  sondern  die  entschiedene  Loslösung  vom  Mittelalter  hat 
sich  in  dieser  Zeit  vollzogen.  Nicht  der  Verlust  der  Humanität,  sondern 
der  Beginn  neuer,  selbständiger,  schöpferischer  Teilnahme  des  deutschen 
Volkes  an  der  Bildung  der  Menschheit  datiert  für  uns  von  dieser 
Epoche.  Was  verloren  ging,  das  war  nicht  die  humane  und  nicht 
einmal  die  klassische  Bildung  (sie  ersteht  im  folgenden  Zeitalter  zu 
neuem  blühenden  Leben),  sondern  nichts  als  die  althumanistische  Elo- 
quenz und  Poesie,  oder  vielmehr  (denn  diese  waren  längst  tot)  die  darauf 
gerichteten  Schulübungen.  So  seltsam  werden  die  Augen  der  Zeit- 
genossen gehalten,  daß  sie  die  wahre  Bedeutung  der  Dinge  nicht  sehen. 
Es  läge  ein  Trost  darin  für  alle,  die  mit  unserer  Zeit  unzufrieden  sind. 
Wenn  sie  ihn  nur  zu  finden  vermochten!  — 

Versuchen  wir  zum  Schluß  die  Summe  der  Wandlungen  auszu- 
sprechen, die  sich  in  dem  Jahrhundert,  das  auf  den  westfälischen 
Frieden  folgt,  an  den  deutschen  Universitäten  vollzogen  haben,  so 
werden  wir  also  sagen  können:  auf  allen  Punkten  ist  der  tTbergang 
vom  Mittelalter  zur  Neuzeit,  der  Übergang  von  dem  gebundenen 
Schulbetrieb  zum  selbständigen  Denken,  zur  freien  wissen- 
schaftlichen Forschung  und  Lehre  angebahnt    Keine  Fakultät  ist 


^  De  barbarie  »uperiorum  aliquot  sectdorum  orta  ex  supina  linguae  Oraecae 
tgnoratiofiey  Basel  1661.  —  Von  derselben  immants  barbarieSy  ut  verbis  vix  ex- 
primi  possit,  redet  ein  Kollege  des  oben  erwähnten  Bubckhabd,  Laür.  Reinhard, 
in  einer  Rede  De  Qraecas  linguae  fatis  (1722). 


550        III,  5.    Die  Modernisierung  der  GeUhrienschiden  u.  s.  w. 


davon  ausgenommen.    Selbst  in  die  theologische  ist  das  Prinzip  der 
freien  Forschung  im  Begriff  seinen  Einzug  zu  halten,  in  Gestalt  der 
kritisch-historischen  Behandlung  der  heiligen  Schriften.     In  der  juri- 
stischen Fakultät  hat  das  Naturrecht,  d.  h.  die  rationale  oder  philo- 
sophische Behandlung  des  Rechts  schon  seit  den  Tagen  Püfkndobffs 
sich  durchgesetzt:  das  Recht  nicht  ein  absolut  gegebenes,  sondern  ein 
Ton  uns  durch  Vernunft  zu  machendes.   In  der  medizinischen  Fakultät 
ist  an  die  Stelle  der  Überlieferung  der  medizinischen  Wissenschaft  des 
Altertums,  der  Interpretation  des  Hippokrates  und  Galenus,  die  selb- 
ständige, mit  neuen  Mitteln  und  Werkzeugen  (darunter  das  Mikroskop) 
arbeitende  Forschung   getreten;    ffberall  beginnt   man  Anatomie   und 
Physiologie   zu   treiben,  botanische  Gärten  und  anatomische  Theater 
werden  eingerichtet,  und  die  neuen  Thatsachen  werden  in  schnell  ent- 
worfenen  neuen   biologischen    und   medizinischen   Systemen    gedeutet 
Am   größten   ist   die  Wandlung   in   der   philosophischen    Fakultät 
Man  halte  Chb.  Wolf  gegen  Melanchthon,   den  professor  universi 
generis  humanis  gegen  den  alten  praeceptor  Germaniae,    Melakghthon 
will  in  seinen  Lehrbüchern  der  Logik,  Physik  und  Ethik  nichts  als  das 
überlieferte  Wissen  für  den  Schulgebrauch  formulieren;   WoiiF  erhebt 
dagegen  durchaus   den  Anspruch,   eine  Philosophie  aus  dem  Eigenen 
geschaffen  zu  haben,  die  sich  nicht  auf  Autorität,  sondern  allein  auf 
Vernunft  und  Gründe  stützt;  sie  fordert  auf  nicht  zu  glauben,  sondern  zu 
zweifeln  und  zu  prüfen  und  so  von  ihrer  Notwendigkeit  sich  selbst  zu 
überzeugen.     Am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  hat  sich,  wie  wir  sehen 
werden,  diese  Wandlung  auf  allen  deutschen  TJniTersitäten,  die  katho- 
lischen nicht  ausgenommen,  vollständig  durchgesetzt 


Fünftes  Kapitel. 

Die  Modernisierung  der  Gelehrtenschulen  unter  dem  Einfluß 
der  höfischen  Bildung  und  des  Pietismus. 

Die  gelehrten  Schulen  formen  sich  naturgemäß  nach  den  Uni- 
versitäten, von  welchen  sie  ihre  Lehrer  empfangen  und  an  welche  sie 
ihre  Schüler  übergeben.  Wie  diese,  so  strebten  jene  im  18.  Jahrhundert 
nach  Teilnahme  an  der  höfischen  Bildung.  Wie  Halle  und  Göttingen 
und  ihnen  folgend  die  alten  Universitäten  ihren  Flor  an  der  Zahl  der 
hei  ihnen  immatrikulierten  Grafen  und  Barone  maßen  und  ihre  Wert- 
schätzung dieser  membra  praecipua  durch  allerlei  äußere  Auszeichnungen 


Aufnahme  der  neuen   Wissenschaften,  551 


sichtbar  machten,  so  strebten  auch  die  Gelehrtenschulen  darnach,  jungen 
Leuten  vom  Herrenstande  sich  nützlich  und  angenehm  zu  machen. 
Seit  dem  großen  Krieg  waren  die  Adeligen  auf  den  Gelehrtenschulen 
selten  geworden;  sie  erhielten  ihren  Unterricht  bis  zur  Universität  durch 
Informatoren  im  Hause;  auf  den  Schulen  blieb  die  Gesellschaft  zurück, 
der  die  Mittel  fehlten,  für  den  Unterricht  ihrer  Kinder  auf  andere 
Weise  zu  sorgen.  Die  Lehrer  konnten  hiergegen  nicht  gleichgültig  sein, 
ihre  soziale  Stellung  richtet  sich  nach  der  gesellschaftlichen  Herkunft 
ihrer  Schüler.  Gerade  die  tüchtigsten  und  strebsamsten  finden  wir 
daher  bemüht,  durch  persönliches  Entgegenkommen  und  durch  Angebot 
eines  Unterrichts  in  den  modernen  Bildungswissenschaften  die  Söhne 
der  höheren  Stände  ihrer  Schule  wieder  zuzuführen. 

Auf  diese  Weise  sind  die  „galanten"  Disziplinen,  Mathematik  und 
Physik  mit  Technologie  und  Raritätenkunde,  Geographie  und  Geschichte 
mit  Genealogie  und  Heraldik,  Moral  und  Politik  mit  Naturrecht  und 
Ökonomik,  französische  Sprache  und  deutsche  Oratorie  und  Poesie  zuerst 
in  den  Bjreis  der  alten  Lateinschulen  getreten.  Allerdings  sind  sie  in 
der  Regel  nicht  gleich  in  den  eigentlichen  Schulkursus  aufgenommen 
worden,  vielmehr  erscheinen  sie  zunächst  meist  in  Privatkursen,  welche 
die  einzelnen  Lehrer  den  Schülern  der  obersten  Klassen  gegen  beson- 
deres Honorar  geben.  Es  werden  sich  an  allen  größeren  Schulen  solche 
Privatkurse  neben  dem  eigentlichen  Schulkursus  in  diesem  Zeitalter  nach- 
weisen lassen.  Von  den  Schulgeschichtsschreibern  ist  diese  Einrichtung 
als  eine  wunderliche  und  unzulässige  verurteilt  worden ;  wie  mir  scheint, 
nicht  ganz  mit  Recht.  Zuerst  muß  man  sagen,  es  war  durchaus  billig, 
daß  den  Lehrern,  die  allein  für  die  alten  Disziplinen  angenommen 
waren,  Extraleistungen  besonders  bezahlt  wurden ;  es  war  für  viele  eine 
höchst  erwünschte  Gelegenheit,  das  bei  steigenden  Preisen  überall  un- 
genügende und  meist  überaus  dürftige  Einkommen  zu  ergänzen. 
Übrigens  folgten  die  Schulen  damit  nur  dem  Beispiel  der  Universitäten, 
an  denen  eben  im  18.  Jahrhundert  auch  die  Privatvorlesungen  neben 
den  öffentlichen  stark  hervorzutreten  begannen.  Femer  ist  zu  bedenken, 
daß  eine  allgemeine  Einordnung  der  neuen  Disziplinen  in  den  alten 
Kursus  überhaupt  nicht  stattfinden  konnte:  es  kam  eben,  ganz  ab- 
gesehen davon,  daß  damals  überhaupt  noch  keine  Staatslehrpläne  für 
die  Lateinschulen  gemacht  wurden  (nur  für  die  Landesschulen  wurde 
der  Lehrplan  von  der  Regierung  festgestellt),  darauf  an,  ob  gerade  ein 
Lehrer,  der  den  Unterricht  erteilen  könnt«,  und  Schüler,  die  ihn  be- 
gehrten,  vorhanden  waren.  Man  kann  vielleicht  auch  sagen:  gerade  die 
Freiwilligkeit  dieser  Arbeit  auf  beiden  Seiten  war  geeignet,  ihr  erhöhtes 
Interesse   zuzuführen.     Arme  Schüler,   die  das  Honorar  nicht  zahlen 


552         in,  5,    Die  Modernisierung  der  Oelekrtenachulen  u,  s,  w. 


konnten,  waren  freilich  ausgeschlossen;  man  wird  aber  annehmen  dürfen, 
daß,  wenn  befähigte  arme  Knaben  der  obersten  Klassen,  die  zum  Stu- 
dieren bestimmt  waren,  an  den  Kursen  teilzunehmen  begehrten,  hierfür 
sich  in  der  Regel  werden  Mittel  und  Wege  gefanden  haben. 

Im  Verlauf  des  18.  Jahrhunderts  sind  übrigens  mehr  und  mehr 
die  Privatkurse  in  den  Realien  in  den  Kreis  der  öffentlichen  Lektionen 
aufgenommen  worden,  zunächst  an  den  Landesgymnasien,  allmählich 
auch  an  den  großen  städtischen  Schulen.  Die  Notwendigkeit,  an  diesen 
Bildungszweigen  irgend  einen  Anteil  zu  haben,  wurde  immer  allgemeiner 
und  einleuchtender.  Nicht  bloß  der  Adelige  und  der  künftige  Beamte 
oder  Offizier,  sondern  auch  der  arme  studiosus  theologiae  bedurfte  ihrer. 
Der  Verfasser  des  früher  erwähnten  „Vernünftigen  Studentenlebens" 
rät  jedermann,  wenn  irgend  möglich,  schon  auf  der  Schule  die  An- 
fangsgründe der  galanten  Wissenschaften  zu  erlernen,  vor  allem  mit 
der  französischen  Sprache  einen  Anfang  zu  machen,  „weil  es  heutzu- 
tage solche  grande  mode  worden  und  bei  Frequentation  honneter  Kom- 
pagnien höchst  nötig,  und  ein  künftiger  studiosus  nicht  wissen  könne, 
ob  er  nicht  mit  der  Zeit  eine  Information  werde  suchen  müssen". 
Nicht  minder  sei  es  durchaus  zu  empfehlen,  wenigstens  einen  all- 
gemeinen Konzept  von  der  Geographie  und  Geschichte  und  einige  Be- 
kanntschaft mit  den  mathematischen  Disziplinen  von  der  Schule  mit- 
zubringen. 

Wichtig  und  folgenreich  war  es  vor  allem,  daß  auf  diese  Weise 
die  Mathematik,  besonders  die  Geometrie,  ihre  Aufnahme  unter  die 
unentbehrlichen  Unterrichtsgegenstände  der  höheren  Schulen  zu  fordern 
und  allmählich  durchzusetzen  begann.  In  den  Schulen  des  16.  Jahr- 
hunderts war  die  Stellung  der  Mathematik,  wie  oben  (II,  Kap.  6)  gezeigt 
ist,  noch  eine  ganz  unsichere;  die  Eloquenz  war  so  sehr  die  wichtigste 
Aufgabe,  daß  für  Dinge,  die  nicht  in  engem  Zusammenhang  damit  sich 
treiben  ließen,  kein  Raum  blieb.  Die  älteren  Schulordnungen  erwähnen 
den  mathematischen  Unterricht  überhaupt  nicht  oder  nur  im  Vorüber- 
gehen und  mit  frommen  Wünschen;  spätere  fordern  allerdings  einen 
Unterricht  in  der  Mathematik,  doch  erstreckt  er  sich  nur  auf  das  ge- 
meine Rechnen.  So  blieb  die  Lage  der  Dinge  bis  in  den  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts.  Seitdem  wird  an  den  neugegründeten  oder  den  dem 
Fortschritt  huldigenden  alten  Anstalten,  wenn  es  möglich  ist,  ein  eigener 
Mathematiklehrer  angestellt,  und  auf  ihren  Lehrplänen  beginnt  außer 
dem  Rechnen  die  Geometrie  zu  erscheinen,  regelmäßig  mit  ihren  An- 
wendungen in  der  Feldmeßkiinst,  der  Kriegs-  und  Civilbaukunst,  der 
Gnomonik  u.  s.  f.  In  diesem  saeailo  mathematico,  sag^  der  Nürnberger 
Pastor  und  Schulinspektor  Feuerlein  in  einer  zur  Eröflhung  des  neuen 


Aufnahme  der  neuen  Wissenschaften.  553 

Gymnasiums  1699  geschriebenen  Schrift,  wo  methodus  mathematica  in 
allen  Disziplinen,  auch  in  morihus  und  phüologicis  angewendet  werde, 
könne  niemand  mehr  titulum  eruditi  cum  laude  sustinieren,  der  in  der 
Äfatkesi  unerfahren  wäre;  daher  habe  der  Rat  den  Unterricht  in  der 
Mathematik  durch  alle  Klassen  des  neuen  Gymnasiums  mit  Zugrunde- 
legung von  Stüems  mathesis  juvenilis  angeordnet.^ 

Eine  Folge  des  Eindringens  neuer  XJnterrichtszweige  war,  daß  da- 
durch, wie  durch  junge  Nebentriebe,  dem  alten  Stamm  in  einigem 
Maß  die  Nahrung  entzogen  wurde.  Natürlich  konnte  am  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts  niemand  daran  denken,  den  Unterricht  in  den  alten 
Sprachen  fallen  zu  lassen;  Latein  nicht  bloß  verstehen,  sondern  auch 
schreiben  und  sprechen  war  offenbar  nach  wie  vor  das  erste  Erfordernis 
eines  jeden,  der  gelehrte  Studien  machen  wollte;  und  für  die  meisten 
blieb  auch  einige  Kenntnis  des  Griechischen  unentbehrlich.  Aber  man 
hatte  zu  diesen  Dingen  nicht  mehr  die  Geduld,  wie  im  16.  Jahr- 
hundert. Überall  mehren  sich  die  Klagen,  daß  die  Sprachen  so  viel 
Zeit  kosten;  überall  dauern  die  Versuche  fort,  ihre  Erlernung  zu  er- 
leichtem und  zu  beschleunigen.  Die  Editionen  der  Klassiker  mit  Noten 
ad  modum  Minellii  gehören  diesem  Zeitalter  an;  vielfach  versucht  man 
es  mit  Neulateinern;  es  kommen  durchweg  neue  grammatische  und 
lexikalische  Lehrmittel,  meist  in  deutscher  Sprache  verfaßt,  in  Ge- 
brauch. Halle  ist  der  Ort,  von,  dem  diese  Umgestaltung  der  Lehr- 
methoden und  Lehrmittel  ausgeht.  Cellabius'  Lehrbücher,  HErNECCius' 
Fundamenta  culäoris  stili,  Chr.  Wolfs  mathematische  Lehrbücher, 
dann  die  Grammatiken  und  Editionen,  die  aus  der  Druckerei  des 
Waisenhauses  hervorgehen,  erlangen  mit  ihren  Bearbeitungen  und  Nach- 
ahmungen die  Herrschaft  in  den  Schulen  wenigstens  des  protestanti- 
schen Deutschlands. 

Ich  will  im  Folgenden  einige  Nachweisungen  über  diesen  Prozeß 
der  Modernisierung  der  Gelehrtenschulen  geben.  Er  beginnt  im 
letzten  Viertel  des  17.  Jahrhunderts  und  dauert  das  ganze  18.  Jahr- 
hundert hindurch,  seit  der  Mitte  desselben  durch  jene  Bestrebungen 


*  Eine  Übersicht  über  die  Stellung  der  Mathematik  in  den  Schulen  während 
dieses  Zeitalters  giebt  Beier  im  Progr.  der  Realschule  zu  Krimmitschau  1879. 
Den  Inhalt  des  Sturmscheu  Lehrbuches  findet  man  bei  Raümer,  U,  162  an- 
gegeben; ein  anderes  vielgebrauchtes  Schulbuch  der  Mathematik  istB.  Hederichs 
(Rektors  zu  Großenhain)  Anleitung  zu  den  fürnehmsten  mathematischen  Wissen- 
schaften, benanntlich  der  Arühmetiea,  Oeometria,  Architectura  militaris  et  eivilia, 
der  Astronomia  und  Gnomonica,  1713  u.  ö. ;  eine  ausführliche  Inhaltsangabe 
davon  bei  Beier,  S.  31  ff.  Einige  Daten  aus  der  Geschichte  des  Rechen-  und 
des  Geometrieunterrichts  auch  in  der  Geschichte  der  Methodik  des  deutschen 
Volksschulunterrichts,  herausgeg.  von  0.  Kehr,  I,  280  ff. 


554         III,  5,   Die  Modernisierung  der  OdehrtenschtUen  u.  s,  w. 


modifiziert,  die  man  als  die  Anjfange  des  neuen  Humanismus  be- 
zeichnen kann.     Diese  bleiben  jedoch  hier  noch  außer  Betracht 

Die  Darstellung  mag  von  I'kanckbs  Pädagogium  in  Halle 
ihren  Ausgang  nehmen;  nicht  freilich,  als  ob  Feancke  diese  Be- 
strebungen überhaupt  erst  aufgebracht  hätte,  sie  erscheinen  schon  lange 
vorher  an  vielen  neugegründeten  und  alten  Schulen;  wohl  aber  kann 
man  sagen,  daß  sie  im  Hallischen  Pädagogium  mit  besonderer  Klar- 
heit sich  darstellen,  auch  von  hier,  als  einer  wichtigen  Pflanzstätte  der 
neuen  Pädagogik,  sich  ausgebreitet  haben.  Das  Pädagogium,  aus  ge- 
ringen Anfangen  erwachsen,  wurde  mehr  und  mehr  zu  einer  Muster- 
gelehrtenschule, die,  unbehindert  durch  historische  Tradition  oder 
hemmenden  Einspruch  fremder  Gewalten,  sich  ganz  nach  den  An- 
forderungen der  Zeit  gestaltete,  wie  sie  sich  in  der  repräsentativen 
Persönlichkeit  Franckes  spiegelten.  Im  Jahre  1702  erhielt  die  Anstalt 
öffentliche  Anerkennung  und  den  Namen  eines  PaedcLgogvum  regium, 
blieb  aber  durchaus  unter  der  Leitung  Fbanckes.  Die  ausführlichen 
Ordnungen  und  Lehrpläne  aus  den  Jahren  1702  und  1721,  die 
Francke  und  der  Inspektor  Freyer  verfaßt  haben  (mitgeteilt  in 
Kramers  Ausgabe  von  Franckes  pädagogischen  Schriften  277 — 436, 
auch  bei  Vormbaum,  IIL  53flF.,  214flF.)  lassen  Geist  und  Einrichtungen 
deutlich  erkennen.  Einen  detaillierten  Bericht  giebt  auch  KRAnogR  in 
seinem  Leben  Franckes  {II,  403  S,).  —  Das  Pädagogium  war  eine 
Pensionsanstalt  für  junge  Leute  aus  den  höheren  Gesellschaftsschichten, 
die  meist  zum  juristischen  Studium  bestimmt  waren.  Neben  ihm  be- 
stand die  Lateinschule  des  Waisenhauses,  die  außer  den  begabtesten 
Zöglingen  unter  den  Waisen  auch  Stadtkinder  zuließ,  sie  ist  im  Granzen 
nach  denselben  Prinzipien  eingerichtet. 

Vier  Stücke  bezeichnet  Francke  als  das  Ziel  der  Erziehung  im 
Pädagogium:  daß  die  Jugend  einen  guten  Grund  lege,  1)  in  der  wahren 
Gottseligkeit,  2)  in  den  nötigen  Wissenschaften,  3)  in  einer  geschickten 
Beredsamkeit,  4)  in  äußerlichen  wohlanständigen  Sitten.  Für  das  erste 
wird  durch  eine  unablässige,  den  Schüler  keinen  Augenblick  sich  selbst 
überlassende  Aufsicht  und  Zucht,  ferner  durch  ein  methodisch  durch- 
gebildetes System  religiöser  Übungen,  endlich  durch  einen  sehr  aus- 
gedehnten theologischen  Unterricht  gesorgt  In  jeder  Hinsicht  liegt 
Francke  die  Erreichung  dieses  Zieles  am  meL<»ten  am  Herzen. 

I'ür  unsere  Absicht  ist  das  zweite  Stück  wichtiger.  Unter  den 
Unterrichtsgegenständen  des  Pädagogiums  nahmen  die  alten  Sprachen, 
und  unter  diesen  die  lateinische  weitaus  den  ersten  Platz  ein;  ihr 
wurden,  nach  Freyers  Lehrplan,  durch  alle  Klassen  täglich  S^j  Stunde 
gewidmet,  jedoch  die  beiden  Bepetitionstage,  Mittwoch  und  Sonnabend, 


Das  Pädagogium  A.  H,  Franckes  zu  Halle,  555 


ausgenommen.  Das  Ziel  ist  eine  völlige  Herrschaft  über  die  Sprache 
in  schriftlichem  und  mündlichem  Gebrauch.  Deshalb  wird  auf  das 
Lateinreden  bei  Großen  und  Kleinen  gedrungen:  niemand  darf  im 
Unterricht  anders  als  Latein  sprechen,  es  wäre  denn,  daß  er  auf  Deutsch 
gefragt  worden;  zuwiderhandeln  wird  mit  Abzug  vom  Taschengeld  be- 
straft Dagegen  hatte  man,  und  das  ist  eine  bemerkenswerte  Neuerung 
des  Hallischen  Unterrichts,  die  lateinische  Grammatik  in  deutscher 
Sprache  abfassen  lassen,  denn  es  sei  eine  recht  verkehrte  Sache,  daß 
ein  Deutscher  die  lateinische  Sprache,  die  er  noch  nicht  verstehe,  ans 
lateinischen  und  mit  vielen  philosophischen  und  schweren  terminis  an- 
gefüllten Regeln  begreifen  solle.  Der  bekannte  Schüler  und  Kollege 
Fbanckes,  Joachim  Lange,  ist  der  Verfasser  der  Hallischen  lateinischen 
Grammatik,  die  seit  1707  in  unzähligen  Auflagen  erschienen  ist  Für 
die  ersten  Leseübungen  dienten  Fbeyers  Colloquia  Terentiana  (seit 
1714),  nämlich  Gespräche,  welche  den  Gebrauch  des  Terenz  überflüssig 
zu  machen  bestimmt  waren;  in  den  oberen  Klassen  wurde  C.  Nepos, 
Caesar  und  Cicero  (Briefe,  Officia  und  kleine  philosophische  Schriften) 
gelesen.  Für  die  poetische  Lektüre  war  durch  eine  von  Freteb  aus 
alten  und  neuen  Dichtem  zusammengestellte,  die  Formen  an  un- 
schuldigem Inhalt  aufzeigende  Chrestomathie  (Fasciculus  poem.  LaL) 
gesorgt. 

Im  Jahre  1698  hatte  eine  Bewegung  unter  den  Lehrern  statt- 
gefunden, welche  auf  die  Entfernung  aller  heidnischen  Autoren  ab- 
zielt«;  es  gelang  jedoch  Francke,  sie  von  der  Unbedenklichkeit  und 
Notwendigkeit  der  zugelassenen  Schriften  zu  überzeugen,  es  wird  nicht 
gesagt  mit  welchen  Gründen  (Fbanckes  pädag.  Schriften,  S.  287);  ver- 
mutlich waren  es  dieselben,  die  Lange  in  seiner  eigenen  Lebens- 
beschreibung (64flF.)  dafür  anfuhrt:  die  Gefahr  werde  durch  einen  ge- 
schickten Lehrer,  der  das  Unzulängliche  der  heidnischen  Sittlichkeit 
und  Religion  aufzeige,  leicht  beseitigt  (doch  müsse  man  Schmutziges 
ausmerzen);  und  nur  von  theologischen  Materien  handelnde  Schriften 
zu  lesen  sei  nicht  ratsam,  weil  solche  durch  tägliche  Behandlung  bei 
jungen  Gemütern,  die  man  dabei  nicht»  allezeit  in  ehrerbietiger  Be- 
trachtung erhalten  könne,  leicht  in  Geringschätzung  fielen. 

Selbstverständlich  fand  neben  der  Lektüre  fortlaufende  Einübung 
des  Wortschatzes  und  der  Phraseologie  sowie  Verwertung  des  An- 
geeigneten in  Exerzitien,  Extemporalien  (variierende  Rückübersetzung 
des  Gelesenen),  Briefen,  Reden  und  Gedichten  statt.  In  der  obersten 
Klasse  wurden  in  einer  Stunde  die  Leipziger  lateinischen  Zeitungen 
gelesen,  bei  welcher  Gelegenheit  denn  zugleich  hier  und  da  ein  Stück 
aus  der  Geographie,  Genealogie,  Historie  und  Heraldik  repetiert  wurde. 


556         III,  5.    Die  Modernisierung  der  Gelehrtenschulen  u,  s,  w. 


Griechisch  und  Hebräisch  standen  gegen  das  Lateinische  weit 
zurück.  Fbancke  hatte  hierin  der  Zeit  eine  Einräumung  gemacht; 
nach  dem  ursprünglichen  Entwurf  scheint  den  beiden  Sprachen,  in 
denen  die  heiligen  Schriften  abgefaßt  sind,  eine  bedeutendere  Rolle 
zugedacht  gewesen  zu  sein.  Unter  den  Zöglingen,  die  nur  zum  geringsten 
Teil  künftige  Theologen  waren,  blieb  jedoch  die  Nachfrage  nach  dem 
Unterricht  in  diesen  Sprachen  gering,  aufgenötigt  wurde  er  nicht 
Griechisch  wurde  in  drei  Stufen  oder  Klassen  gelehrt,  eine  Grammatik 
von  J.  Lange  (seit  1705  oft  gedruckt)  und  das  neue  Testament  waren 
fast  die  einzigen  Unterrichtsbücher.  Die  von  Feancke  entworfene 
Lehrordnung  giebt  eine  ausführliche  Anweisung  für  den  griechischen 
Unterricht,  die  als  Probe  der  Hallischen  Didaktik  mitgeteilt  werden  mag. 

„Sobald  sie  lesen  können,  fanget  man  an  das  Testament  selbst 
deutsch  zu  exponieren,  saget  ihnen  einen  Vers  von  Wort  zu  Wort  lang- 
sam vor  und  lasset  denselbigen  von  einem  jeglichen  nachexponiren; 
alsdann  gehet  man  weiter  und  wiederholet  fleißig  die  darinnen  vor- 
kommenden vocabula,  schreibet  ihnen  auch  wohl  täglich  etliche  an  die 
Tafel,  die  sie  abschreiben  und  des  folgenden  Tages  recitiren  müssen. 
Die  Mittwochs-  und  Sonnabendsstunden  werden  zur  Erlernung  der 
paradigmatum  aus  der  grammatica  angewendet,  da  man  ihnen  eins 
nach  dem  andern  an  die  Tafel  anschreibet  und  dann  langsam  vorsaget, 
bis  sie  e^  recht  gefasset  haben.  Bei  dem  verbo  TunroD  zeiget  man  die 
formationem  temporum  gleichfalls  an  der  Tafel  und  saget  ihnen  hernach 
ein  tempm  langsam  nach  dem  andern  vor.  Damit  aber  alsbald  die 
praxis  möge  dazu  kommen,  fanget  man  auch  zugleich  an  zu  analysiren: 
doch  lieset  man  nur  diejenigen  Wörter  aus,  welche  nach  dem,  was  sie 
gelernet,  müssen  formiret  werden.  Z.  E.  wann  sie  erstlich  nur  die 
artiados  gelemet,  suchet  mau  in  dem,  was  sie  im  neuen  Testament  ge- 
lesen, alle  articuhs  auf  und  fraget  sie  darvon.  Hernach,  wenn  sie  die 
nomina  primae  declinationis  gelernet,  suchet  man  alle  nomina  primae 
declinationis  in  dem,  was  abgehandelt  worden,  auf,  und  lasset  solche 
dekliniren.  Auf  diese  Weise  wird  auch  in  den  übrigen  verfahren. 
Wann  sie  die  paradigmata  wohl  gefasset  und  die  ersten  sieben  cajrita 
im  Mattheo  fertig  expliciren  können,  werden  sie  in  die  andere  Klasse 
translociret" 

Die  zweite  Abteilung  nimmt  das  neue  Testament  bis  zu  Ende  durch. 
Sie  übersetzt  aber  ins  Lateinische  und  zwar  zunächst  Wort  für  Wort, 
nach  Anleitung  einer  für  den  Unterricht  bestimmten  Chrestomathie 
des  Leusdeniüs,  in  welcher  898  Verse,  mit  lateinischer  Übersetzung,  zu- 
sammeiicrest^llt  sind,  die  alle  im  neuen  Testament  vorkommenden  Wörter 
enthalten,  dann  freier  mit  Beachtung  der  Latinitat,  wozu  die  Über- 


Dtis  Pädagogium  A.  H,  Franckes  zu  Haus,  557 


Setzung  Castauos  Anleitung  giebt  Ein  Schüler  übersetzt  vor,  nach 
der  späteren  Lehrordnung  ein  Lehrer,  damit  es  schneller  gehe;  jeder 
schreibt  in  seinem  Text,  der  ohne  Version  sein  muß,  über,  was  er 
nicht  weiß.  Zu  Anfang  und  zu  Ende  jeder  Stunde  wird  eine  Viertel- 
stunde repetiert,  in  folgender  Weise:  der  Lehrer  liest  aus  der  deutschen 
Übersetzung  irgend  ein  Kapitel  vor  und  läßt  die  Schüler  im  griechi- 
schen Text  nachlesen,  fragt  aber  bei  jedem  Vers  den  einen  nach  dem 
andern,  wie  dies  oder  jenes  Wort  gegeben  sei,  damit  er  sie  alle  in  der 
attention  erhalte.  Auf  solche  Weise  kann  das  neue  Testament  im  Jahr 
viermal  durchgebracht  werden,  einmal  in  der  Explikation  und  dreimal 
in  der  Eepetition.  Nebenher  geht  in  zwei  Stunden  wöchentlich  die 
Repetition  und  Ergänzung  der  Grammatik.  Die  verda  contractu  und 
in  fjLi  werden  gelernt,  die  übrigen  anomala  durch  fleißiges  Aufschlagen 
und  Lesen.  Zur  Übung  in  der  grammatischen  Analysis  wird  eine 
Sammlung  von  Sprüchen  (J.  Girberti  Syntagma  dictorum  scripturae  400y 
cum  definitionibus  tlieologicis)  benutzt  und  allmählich  auswendig  gelernt 

Hat  ein  Enabe  das  Neue  Testament  wohl  gefasset,  so  wird  er  in 
die  erste  Abteilung  versetzt.  Hier  werden  andere  autores  gelesen,  Maca- 
riusy  Bibliotheca  patrum  Ittigii,  libri  apociyphiy  Faeanii  Metapkrasis 
Jiutropiij  Upictetus,  Demosthenis  orationes,  Plutarchus  de  puerorum  in- 
stitutione,  Pythagorae  carmina  etc,  Ebameb  bemerkt  jedoch,  daß  in 
den  noch  vorhandenen  Klassenjournalen  diese  Schrifsteller  sehr  selten 
vorkommen.  Das  neue  Testament  ist  thatsächlich  die  fast  ausschließliche 
Lektüre.  Die  Lehrart  bleibt  dieselbe.  Auch  der  grammatische  Unter- 
richt wird  in  derselben  Weise  fortgesetzt,  sowie  das  Memorieren.  Und 
nach  wie  vor  wird  jede  Stunde  mit  der  repetitorischen  Lektüre  eines 
Kapitels  aus  dem  neuen  Testament  angefangen  und  geschlossen. 
Wöchentlich  wird  eine  Version  aus  dem  Lateinischen  ins  Griechische 
aufgegeben,  in  der  Eegel  ein  von  dem  Lehrer  aus  einem  griechischen 
Autor  übersetztes  Stück.  Bei  der  Zurückgabe  wird  das  griechische 
Original  vorgelegt,  damit  die  Schüler  die  Idiotismos  graecos  et  laänos 
und  auch  den  Unterschied  des  Stjls  und  der  Dialekte  daran  erkennen 
lernen.  Von  der  griechischen  Poesie  machet  man  ihnen  gleichfalls  so 
viel  bekannt,  als  nötig  ist  Fbeyebs  fasciculus  poem.  Graec.  gab  später 
hierzu  Gelegenheit 

Man  sieht,  die  Hallische  Didaktik  zeigt  die  Züge  der  Reform- 
pädagogen; die  Methode  der  Spracherlernung  ist  von  den  Vorschlägen 
des  Katichius  nicht  weit  entfernt  Fbancke  war  Schüler  des  Gothaer 
Gymnasiums  gewesen  (1673 — 1679),  welches  schon  unter  dem  Rektor 
A.  Keyheb  während  der  Regierung  des  Herzogs  Ernst  die  neue  Lehr- 
art angenommen  hatte  und  wegen  der  methodus  instituendi  in  großem 


558         lU,  5.    Die  Modernisierung  der  Gelehrtensehülen  u.  s.  w. 


Ruf  stand  (Schulze,  Gesch.  d.  Goth.  Gymn.,  119ff.).  Durch  die  Halli- 
schen Lehrbücher  und  die  an  dem  Waisenhausseminar  gebildeten 
Präzeptoren  haben  die  didaktischen  Neuerungen  der  Reformer  die 
wirksamste  Verbreitung  gefunden. 

Die  französische  Sprache  gewann  an  Bedeutung,  was  die  grie- 
chische verlor.  Für  die  Leseübungen  wurden  auch  hier,  neben  einigen 
anderen  Sachen,  das  Neue  Testament  und  französische  Zeitungen  ge- 
gebraucht Neben  dem  regelmäßigen  Unterricht  durch  deutsche  Lehrer 
finden  Sprechübungen  unter  Leitung  eines  französischen  mcdtre  statt: 
er  lieset  mit  lauter  Stimme  etwas  vor  und  parlieret  auch  mit  ihnen 
von  allerhand  nützlichen  Sachen. 

Die  Sprachen  nehmen  weitaus  den  größten  Raum  im  Unterricht 
des  Pädagogiums  ein;  den  sogenannten  Realien  oder  discipiinis  Ute- 
rariisy  wie  sie  in  Fretebs  Ijehrordnung  heißen,  ist  bloß  eine  tagliche 
Nachmittagsstunde  zugeteilt  Voran  stehen  Geographie  und  Ge- 
schichte; in  beiden  wird  vorzugsweise  Palästina  und  Deutschland  be- 
rücksichtigt In  der  Geographie  werden  Uübnebs  Lehrmittel,  die 
Fragen  und  Karten,  gebraucht;  für  die  Geschichte  empfiehlt  F&ancke 
die  Idea  historiae  universalis  des  J.  Büno,  Rektors  in  Lüneburg,  welche 
nach  der  Weise  des  Comenius  die  Einprägung  des  geschichtlichen 
Materials  durch  mnemotechnische  Bilder,  freilich  zum  Teil  von  selt- 
samer Art,  der  Jugend  zu  erleichtern  sucht 

Der  mathematische  Unterricht  beginnt  mit  Rechnen  und  geo- 
metrischer Anschauungslehre.  Für  Geometrie,  Trigonometrie  und  etwa 
auch  Algebra  werden  Che.  Wolfs  Grundrisse  gebraucht  „Die  Schüler 
werden  auch  zum  öfteren  auf  den  hierzu  im  horto  botanico  aptirten 
Platz  geführet  und  zur  Ausmessung  mancherlei  lünge.  Breite,  Höhe, 
körperlichen  Raumes  und  Dichte  angewiesen."  Auch  kann  nach  Ge- 
legenheit zu  anderen  Stücken  aus  der  mathesi  applicata^  als  der  Bau- 
kunst, Mechanik,  Gnomonik  etc.  geschritten  werden.  —  Eine  wesent- 
liche Absicht  beim  mathematischen  Unterricht  ist  die  Schärfnng  des 
Verstandes,  wozu  dieselbe  tauglicher,  als  wenn  man  die  Jugend  mit 
vielen  unnützen  Dingen  aus  der  Logik  plaget:  sie  lernen  dort  eins 
aus  dem  andern  vernünftig  schließen  und  eine  Wahrheit  aus  der  andern 
herleiten. 

Endlich  wird  stilus  Germanicus  exkoliert,  indem  nach  An- 
leitung oratorischer  Vorschriften  Reden,  Briefe  und  Gedichte  gemacht 
werden. 

Unter  dem  Titel  Rekreationsübungen  sind  zur  Befiriedigung  einer 
unschuldigen  Kuriosität  angeordnet:  Besuche  bei  Handwerkern  und 
Künstlern,    Unterricht    von    Thieren,    Kräutern,    Bäumen,    Metallen, 


Das  Pädagogium  Ä.  H.  Franckes  zu  Halle.  559 

Steinen  und  anderen  Mineralien,  Erde,  Wasser,  Luft,  Feuer  und 
mancherlei  meteoris,  von  den  Hauptstücken  der  Haushaltungskunst,  als 
Acker-,  Garten-  und  Weinbau,  Bierbrauen  u.  s.  f.,  von  der  materia 
medica^  von  der  Experimentalphysik  und  Astronomie,  von  der  Botanik 
und  Anatomie,  überall  soweit  möglich  mit  Demonstrationen.  So  wird 
unter  dem  Titel  Anatomie  auch  das  Tranchieren  geübt,  zuerst  am 
Phantom,  danach  auch  an  wirklichen  Speisen,  jedoch  also,  daß  daraus 
keine  Gasterei  entstehe  und  insonderheit  kein  Wein  dabei  gebraucht 
werde.  Auch  das  Serviettenbrechen  und  Apfelschälen  wird  nicht  über- 
gangen. Zur  Erwerbung  mechanischer  Fertigkeiten  bietet  das  Drechseln, 
die  Pappfabrik,  das  Glasschleifen  Gelegenheit;  nicht  minder  wird  Unter- 
richt im  Zeichnen  und  der  Musik  angeboten.  —  So  wird,  nach  wieder- 
holtem Ausdruck,  dulce  cum  utili  misciert 

Als  eine  wichtige  Neuerung  wird  noch  hervorgehoben,  daß  man 
das  alte  starre  Elassensystem  aufgegeben  habe;  statt  dessen  würden 
für  jedes  einzelne  Unterrichtsfach  Abteilungen  gebildet,  denen  die 
Zöglinge  nach  den  Fortschritten,  die  sie  in  dieser  Disziplin  gemacht 
hätten,  zugeteilt  würden;  eine  Einrichtung,  die  im  18.  Jahrhundert 
viele  Lobredner  und  Nachahmer  gefunden  hat  Sie  hängt  offenbar 
mit  der  Auftiahme  der  neuen  Unterrichtsfächer,  außerdem  freilich  auch 
mit  den  besonderen  Bedürftiissen  eines  Alumnats  zusammen,  das  sehr 
ungleich  vorbereitete  Zöglinge  aufnahm.  So  lange  Latein  der  einzige 
Unterrichtsgegenstand  war,  war  die  Einteilung  der  Schüler  in  feste 
Klassen  nach  dem  Maß  ihrer  Kenntnis  in  dieser  Sprache  das  Natür- 
liche. Es  schien  aber  nicht  zweckmäßig,  diese  Einteilung  beizubehalten, 
nachdem  so  heterogene  Fächer,  wie  Mathematik  oder  Französisch,  hinzu- 
gekommen waren:  jemand  der  als  guter  Lateiner  auf  die  Anstalt  kam, 
mochte  hierin  noch  nicht  die  ersten  Anfangsgründe  kennen.  Erst 
nachdem  im  19.  Jahrhundert  die  detaillierteste  Absteckung  des  Schul- 
kursus von  Staats  wegen  stattgefunden  hatte,  sodaß  auf  allen  Schulen 
des  Staates  der  gleiche  Stufengang  innegehalten  wurde,  schien  es 
möglich  und  vorteilhaft  zu  der  festeren  Gliederung  zurückzukehren. 

Erwähnung  verdient  endlich  die  Einrichtung  einer  Selecta,  das 
heißt  eines  zusammenfassenden  und  abschließenden  Jahreskursus,  der 
zur  speziellen  Vorbereitung  auf  das  Universitätsstudium  bestimmt  war. 
Vor  allem  wurde  Vervollkommnung  im  lateinischen  Stil,  auch  durch 
ausgedehntere  Lektüre  lateinischer  Autoren,  erstrebt,  außerdem  aber 
durch  einleitende  encyklopädische  Vorträge  über  alle  Fakultätswissen- 
schaften das  freiere  Studium  auf  der  Universität  vorbereitet.  In  der 
Philosophie  wird  im  ersten  Halbjahr  die  Geschichte  der  Philosophie, 
die  Logik   und   Physik,   im  andern  die   Ontologie,   Metaphysik  oder 


560        III,  5.    Die  Modernisierung  der  GeUhrtensckulen  u.  s.  w. 

doctrina  spirituum,  und  die  Moral  mit  Naturrecht  und  Politik  traktiert^ 
zumeist  nach  den  Lehrbüchern  des  Jenaischen  Professors  Buddeus. 
Ebenso  wird  allen  ^  sie  mögen  einmal  studieren ,  was  sie  wollen,  ein 
kurzer  Unterricht  in  jure  et  medicina,  und  zwar  durch  einen  geübten 
studiosum  erteilt  Wichtiger  ist  natürlich  die  Theologie;  der  Unter- 
richt der  Selecta  hat  besonders  die  Aufgabe^  die  Jugend  mit  den 
Waflfen  der  Apologetik  zu  versehen  gegen '„die  verführerischen  und 
heutzutage  sehr  überhand  nehmenden  Lehrsatze  der  Ätheorumj  Deis- 
iaruTf/ij  Naturalistarumj  Fanaticorum,  Indifferentistarum  und  anderer 
dergleichen  Freigeister,  damit  die  Scholaren,  welche  meistenteils  das 
Studium  juridicum  oder  medicum  zu  ergreifen  pflegen,  gegen  die  künftigen 
Versuchungen,  worin  sie  durch  Lesung  solcher  Bücher  oder  auch  in 
der  Konversation  mit  dergleichen  Leuten  auf  Eeisen,  an  Höfen  und  bei 
anderer  Gelegenheit  geraten  können,  in  etwas  gewappnet  werden."  — 
Von  großer  Wichtigkeit  für  die  Ausbreitung  der  pädagogischen 
und  didaktischen  Ideen  Feanckes  war  die  regelmäßige  Verwendung 
von  Studierenden  zum  Unterricht:  gegen  freien  Tisch  übernahmen 
arme  Theologen  an  den  sämtlichen  Schulen  des  Waisenhauses,  be- 
sonders auch  an  der  Lateinschule,  unter  Aufsicht  und  Anleitung  der 
Inspektoren  den  Unterricht.  Die  Einrichtung  hatte  von  Anfang  an 
zugleich  den  Zweck,  die  Studenten  für  einen  etwaigen  künftigen  Schul- 
dienst vorzubereiten.  In  dem  Anhang  zur  Idea  studiosi  theologiae 
heißt  es  darüber:  „Der  ganze  sogenannte  Ordinar-Tisch  des  Waisen- 
hauses, jetzo  bestehend  aus  134  Studiosisy  ist  eigentlich  das  seminarium 
praeceptorum  für  hiesige  Anstalten;  sie  alle  üben  sich  fleißig  in  den 
Dingen,  so  zum  Schulwesen  gehören,  damit  man  gleich  Leute  zur 
Hand  habe,  die  vakant  werdenden  Stellen  der  praeceptorum  zu  be- 
setzen." Dazu  kommen  noch  weit  über  100  Expektanten,  die  an  den 
extraordinären  Tischen  gespeist  werden.  Alle  werden  vom  Inspektor 
der  Lateinschule  zur  Information  der  Jugend  präpariert,  durch  Gram- 
matik, Lektüre  und  Imitation  der  beiden  Sprachen.  —  Aus  diesem 
allgemeinen  Seminar  wird  eine  kleinere  Zahl  für  das  semin.  seUctum 
praeceptorum  ausgewählt;  sie  erhalten  zwei  Jahre  lang  freien  Tisch 
und  Information,  dafür  verpflichten  sie  sich,  drei  Jahre  an  den  An- 
stalten zu  dienen;  dann  mögen  sie  auch  auswärts  gehen.  Dies  Seminar 
erhielt  1715  ein  eigenes  Haus  in  Verbindung  mit  dem  Seminaram 
ministerii  ecclesiastici.  Die  Mitglieder  sollten  in  den  ersten  Jahren 
vorzugsweise  selbst  Unterricht  erhalten,  indem  sie  neben  dem  theo- 
logischen Studium  die  Schulwissenschaften,  d.  h.  die  alten  Autoren, 
den  lateinischen  Stil,  Geschichte  und  Geographie,  Litterarhistorie  und 
Antiquitäten    trieben.      Die    letzten  Jahre    sollten  hauptsachlich  der 


Das  Pädagogium  Franckes  zu  Halle,  561 

praktischen  Einführung  in  den  Lehrerberuf  gewidmet  werden.  Die 
Leitung  hatte  zu  Anfang  Cbllarius,  nach  seinem  Tode  Feeyeb.  Wie 
es  scheint,  ist  das  früher  erwähnte  Collegium  eleg,  litter ahirae  darin 
aufgegangen  (Kramers  Leben  Franckes,  II,  11  ff.,  111;  Franckes  pädag. 
Schriften,  S.  498  ff.).  — 

Die  Franckesche  Pädagogik  entsprach  ganz  dem  Verlangen  der 
Zeit;  sie  verband  Frömmigkeit  und  Gemeinnützigkeit,  sie  erzog  für  den 
Himmel,  ohne  die  Erde  und  ihre  Bedürfnisse,  auch  weltliche  und 
höfische,  zu  vernachlässigen;  und  das  alles  nach  der  Maxime  des  utili- 
tarischen  Eationalismus:  auf  kürzestem  Wege  größte  Erfolge.  Ferien 
und  freie  Nachmittage  gab  es  im  Pädagogium  nicht,  jeder  Streifen  Zeit 
wurde  in  Kultur  genommen,  um  darauf  Frömmigkeit  und  nützliche 
Kenntnisse  oder  Fertigkeiten  anzubauen;  auf  dem  unkultivierten  Boden 
würde,  so  ist  Franckes  Meinung,  doch  nur  Unkraut  wachsen,  von 
welchem  dann  auch  das  bebaute  Feld  überwuchert  werden  möchte. 
Spiel  und  Scherz,  in  welcher  Gesalt  immer,  wurde  dem  Kreise  der 
Hallischen  Anstalten  gänglich  fem  gehalten;  es  sind  Arbeitshäuser, 
nicht  Häuser  der  Muße,  wie  es  auch  ihr  baulicher  Charakter  bestimmt 
genug  ausspricht  Was  sollten  in  diesen  Häusern  die  Werke  der 
Griechen,  die  in  der  Muße  und  für  die  Muße  geschaffen  sind?  Was 
gehen  die  Fabeln  ihrer  Dichter,  die  Spekulationen  ihrer  Philosophen,  die 
Reden,  mit  welchen  die  Eedner  das  müßige  Marktpublikum  zu  Athen 
unterhielten,  junge  Leute  an,  welche  zur  tTbernahme  weltlicher  oder  geist- 
licher Bedienungen  in  Preußen,  dem  Preußen  Friedrich  Wilhelms  L,  im 
1  S.Jahrhundert  geschickt  gemacht  werden  sollten?  Offenbar  gar  nichts!^ 

^  Einen  interessanten  Einblick  in  die  Zeit  und  die  Gedanken  und  Em- 
pfindungen, die  sie  bewegen,  giebt  ein  kürzlich  erschienenes  Buch :  Die  Jugend 
Zinzendorfs  von  G.  v.  Natzmkr  (Eisenach  1894).  Es  enthält  Briefe  und  Tage- 
bücher des  jungen  Grafen  aus  der  Zeit,  da  er  das  Franckesche  Pädagogium 
und  die  Universität  Wittenberg  besuchte  (1710—1718).  Wunderlich  genug  er- 
scheint darin  die  Mischung  von  Kavalier  und  Pietisten.  So  notiert  der  18jährige 
z.  B.  zum  28.  Februar  1718:  „diese  Woche  habe  ich  die  ganze  Stunde  von  6 — 7 
wie  des  Abends  von  8 — 9  und  von  ^/^  auf  10  zum  Gebet  zu  destiniereu  an- 
gefangen. Auch  will  ich  das  ju^  civile  mit  Eifer  treiben.  —  Examinatorium 
bei  Mencken.  Um  10  focht  ich.  Um  11  traktierte  ich  die  Pandekten.  Um  12 
speiste  ich.  Um  1  schlug  ich  die  volants  (Federball).  Um  2  zeichnete  ich. 
Um  3  hörte  ich  die  Reichshistorie.  Um  4  tanzte  ich.  Um  5  war  Bardin  (der 
Franzose)  da.  Um  6  traktierte  ich  das  jus  civile.  Um  7  speiste  ich,  um  8  betete 
ich,  um  9  Uhr  traktierte  ich  Hoppii  exanien.'^  —  Sehr  deutlich  tritt  darin  auch 
hervor,  wie  sehr  die  ganze  Bildung  noch  auf  Eloquenz  gerichtet  ist:  die  car- 
mina,  orationeSj  Briefe,  die  der  junge  Graf  in  deutscher,  französisclier,  latei- 
nischer, griechischer  Sprache  schreibt,  spielen,  neben  den  Disputationen,  eine 
sehr  wichtige  Rolle. 

Paulsen,  Unterr.    Zweito  Aufl.    1.  36 


5G2         ///,  5,    Die  Modernisierung  der  CreUhrtenschiüen  u.  s.  u\ 


Am  stärksten  und  unmittelbarsten  erfuhren  die  brandenburgisch- 
preußischen  Länder  den  Einfluß  Franckes.  Schon  unter  der  Re- 
gierung Friedrichs  I.  war  Francke  in  Berlin  bei  den  einflußreichen 
Männern  persona  grata;  wie  denn  auch  seine  Frömmigkeit  keineswegs 
alle  weltliche  Klugheit  ausschloß.  Einige  der  bedeutendsten  Schulen 
kamen  schon  unter  dieser  Regierung  unter  die  Leitung  von  Schülern 
und  Gesinnungsgenossen  des  Hallischen  Pädagogen.  Die  auf  dem 
Friedrichswerder  zu  Berlin  1681  neugegründete  Schule  erhielt  Joachim 
Lange  zum  Rektor  {1698 — 1709)  uud  wurde  durch  ihn  zu  Ansehen 
gebracht  (Mülleb,  Gesch.  des  Fr.  Werderschen  Gymn.,  S.  17  ff".). 
Die  1694  gegründete  Friedrichsschule  zu  Frankfurt  a.  0.  wurde  ?on 
P.  VoLCKMANN,  der  später  (1707  — 1721)  dem  Joachimsthalschen 
Gymnasium  in  Berlin  als  Rektor  vorstand,  das  1703  gestiftete  CoUegium 
Fridericianum  zu  Königsberg  von  H.  Lysius  ganz  nach  Hallischem 
Muster  eingerichtet  und  später  von  F.  A.  Schulz  im  Sinne  F&anckbs 
geleitet.  Die  übrigen  reformierten  Schulen  des  Landes  wurden  auf 
diese  als  Musteranstalten  verwiesen.^  Zu  bedeutendem  Ansehen  gelangte 
auch  die  Schule  zu  Kloster  Berge  bei  Magdeburg,  besonders  unter  dem 
Abt  Steinmetz  {1732 — 1762).  Sie  hatte  schon  gegen  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts den  Charakter  einer  Landesschule  angenommen  und  war  im 
18.  Jahrhundert  eine  der  bedeutendsten  Anstalten  in  den  preußischen 
Ländern  (Holstein,  Gesch.  der  Schule  zu  Kloster  Berge,  Neue  Jahrb. 
f.  Phil.  u.  Päd.  1885,  S.  86). 

Deutlich  läßt  sich  der  Einfluß  der  neuen  Zeit  auch  an  dem  Ber- 
linischen Gymnasium  im  Grauen  Kloster  verfolgen.  Schon  unter  dem 
Rektor  Heinzelmann  (1652 — 1658)  wird  mathematischer  und  physika- 
lischer Unterricht  in  Privatstunden  erwähnt  Sein  Nachfolger  führte 
den  Terentius  Christianus  an  Stelle  des  heidnischen  ein.  Unter  dem 
Rektorat  des  Polyhistors  Weber  (1668 — 1698)  umfaßte  der  Lehrplan 
Geschichte  nach  eigenen  Tabellen  des  Rektors,  Mathematik  nach 
Weigels  Pankosmos,  Physik  und  Geographie.  Der  Rektor  Bodenberg 
(1708 — 1726),  ein  Schuler  des  Cellarius,  ist  mit  anderen  Berliner 
Rektoren  und  Lehrern  Verfasser  der  Märkischen  Grammatiken  und  an- 
derer Lehrbücher,  welche  an  die  Hallische  Methode  sich  anlehnen  und 
bis  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  in  Gebrauch  blieben.  Die  lateinischen 
Deklamationen  wurden  durch  deutsche  Reden,  auch  historischen  und 
patriotischen  Inhalts  ersetzt,   nicht   minder  wird  Französisch    gelehrt 


*  Merleker,  Annaleii  des  Friedrichsgymn.,  Königsberg  1864.  Interessantes 
Detail  über  die  Kämpfe  bei  der  Einführung  des  Pietismus  in  Königsberg  bei 
J.  IIoRKEL,  der  Holzkämmerer  T.  Gebr  und  die  Anfänge  des  Friedrichskolleg., 
Königsberg  1855. 


Preußen:  Lehrordnung  von  17 IS.  563 


Auf  BoDENBEBG  folgte,  um  das  noch  zu  erwähnen,  als  Rektor  des  Grauen 
Klosters  Leonhard  Frisch,  der  deutsche  Sprachforscher,  auf  diesen, 
nach  kurzem  Zwischenregiment,  der  bekannte  Geograph  Büsching  (1766 
bis  1793).  Sein  Nachfolger  ist  Fr.  Gedike,  der  Verehrer  Basedows; 
von  ihm  wird  später  zu  handeln  sein  (Heidemann,  Gesch.  des  Grauen 
Klosters,  156  flF.). 

Seit  dem  Regierungsantritt  Friedrich  Wilhelms  I.  erlangte  die 
FRANCKEsche  Richtung  immer  entschiedener  die  Herrschaft  in  den 
preußischen  Kirchen  und  Schulen.  Der  König  schätzte  Francke  und 
sein  Werk;  Nützlichkeit  und  Frömmigkeit  hielt  er  wert,  für  theore- 
tisches Wissen  und  den  schönen  Schein  hatte  er  gar  kein  Verständnis.^ 
Er  ist  der  eigentliche  Begründer  der  Volksschule  in  Preußen;  die 
Waisenhauspädagogik  hat  ihr  im  Entstehen  Ziel  und  Gestalt  gegeben. 
Auch  der  gelehrte  Unterricht  erhielt,  soweit  die  Regierung  ihn  be- 
stimmte, diesen  Charakter. 

Eine  Verordnung  vom  30.  Sept.  1718  „wegen  der  studierenden 
Jugend  auf  Schulen  und  Universitäten,  wie  auch  der  candidatorum 
ministerü''  (bei  Rönne,  I,  61  flf.)  enthält  unter  anderem  folgende  charak- 
teristische Bestimmungen  über  das  Ziel  der  Schul-  und  der  Lehrer- 
bildung; „Auf  Schulen  und  Gymnasien  sollen  sonderlich  diejenigen, 
welche  Theologiam  zu  studieren  gedenken,  einen  guten  Grund  legen  im 
Catechismo,  in  Latinitate,  in  Dzsdplinis,  in  Historia  ecclesiastica  et  civili, 
und  Geographia;  das  Novum  Testamentum  sollen  sie  in  fontibus  aJbsque 
nUerprete  lesen  und  vertiren,  den  codicem  Hebraeum  guten  Teils  durch- 
gebracht haben,  in  der  Teutschen  Orthographie  und  Kalligraphie  wohl- 
geübet  sein,  auch  in  Teutscher  Sprache  einen  verständlichen  Vortrag 
thun."  —  Es  folgen  Bestimmungen  über  Universitätsstudium  und  Amts- 
prüfung der  Kandidaten  des  Kirchen-  und  Schulamts:  bei  der  Ankunft 
auf  der  Universität  (Landeskinder  sollen  allein  kgl.  preußische  besuchen) 
soll  der  Ankömmling,  der  übrigens  von  der  Schule  testimonia,  vom 
Beichtvater  und  sllen  praeceptoribus  unterschrieben,  mitbringt,  von  denen 
Decanis  wohl  examinieret  und  von  denen  Frofessoribus  angewiesen 
werden,  wie  er  seine  Collegia  vorzunehmen  habe;   besonders  an  einen 


^  Man  sehe  einen  Erlaß  an  den  Prof.  Baümqahten  in  Halle,  worin  er  ihn 
wohlmeinend  erinnert,  ,,daß  Ihr  sowohl  vor  Euer  Gewissen  wohl  thun,  als  auch 
Euch  hei  mir  rekommandieren  werdet,  wenn  Ihr  von  allen  dergleichen  unver- 
ständlichen philosophischen  Fratzen,  so  weder  bessern  noch  erbauen,  unschul- 
digen und  einfältigen  Gemütern  aber  nur  Gelegenheit  zu  Irrwegen  geben,  hin- 
führo  abstrahieret,  dagegen  bei  dem  Reellen  in  der  Theologie  bleibet  und  solche 
auf  gleiche  Art,  als  sie  von  den  seL  Breithaupt  und  Francken  dozieret  worden, 
lehret''  (Sch&adeb,  II,  463). 

36* 


5fi4         ///,  .7.    2>'V   M^jd^nijfiemng  der  GiUhriensehuUn   m.  «.  ir. 


dersell>en  soll  er  dch  näher  aDschließen,  demselben  seine  Umstände 
offenbaren  and  von  ihm  Bat  annehmen.  Beim  Abgang  kann  er  ein 
Ujtthnanium  vitae  et  studiarum  fordern.  Wenn  der  ttudiosug  dann  zn 
Hanse  anlanget  oder  sich  anderswohin  zor  informatUm  begiebt,  so  soll 
er  sich  bei  dem  praeposito  des  synodi  melden,  welcher  mit  seinen 
Kollegen  ihn  examiniert  und  ihm  darüber  ein  testimonium  erteilt. 
Damit  Ist  ücentia  condonandi  und  zugleich  docendi  gegeben. 

Vor  einer  eventuellen  Anstellung  als  Prediger  oder  Lehrer  ist  dann 
aber  noch  das  eigentliche  Amtsexamen  zn  bestehen.  Den  Patronen 
wird  zur  Pflicht  gemacht,  vor  Verleihung  der  Stelle  den  Kandidaten 
dem  Konsistorio  oder  dem  Generalsuperintendenten  zu  einem  Tentamen 
zu  sistieren.  „In  diesem  Tentamen  sollen  die  examinatores  ein  jeder 
priratüfsime  den  candidatum  nach  seinem  inwendigen  Zustande  prüfen: 
Ob  er  in  der  Buße  und  lebendigem  Glauben  stehe?  Was  er  hierin  vor 
Kennzeichen  von  sich  geben  könne?  Wie  er  sein  Leben  von  Jugend 
auf  geführet?  Wie  er  zu  Gott  bekehret  worden?  Welche  spedmina 
providentiae  dimnae  er  an  sich  erfahren?  Wie  er  zu  dem  Amt  komme? 
Ob  bei  ihm  oder  dem  patrono  unlautere  Absichten  unterlaufen?  Wie 
er  das  Amt  im  Predigen,  Katechisieren  und  übrigen  Verrichtungen  zu 
führen  gedenke?  Welche  Bücher  er  gelesen  und  zu  eigen  habe?  Ob 
er  einige  Mängel  in  Kirchen-  und  Schulsachen  angemerket  und  Mittel 
zur  Verbesserung  wisse?  Da  denn  auch  zu  attendieren,  wie  es  um  die 
shidia  und  übrige  Amtstüchtigkeit  stehe?"  Hierauf  folgt  ein  öffent- 
liches Examen  vor  der  Ordination,  entweder  im  Konsistorium  oder  in 
der  Sakristei,  in  Gegenwart  aller  Examinatoren  und  womöglich  auch 
eines  membri  politici  des  Konsistoriums.  Es  berührt  theologiam  theti- 
cam  et  poiemicamj  exegeticam ,  moralem,  casuisticam,  pastoralem  oder 
historiam  erdesiasticam.  Durch  dieses  Examen  wird  erkundet,  ob  der 
Kandidat  die  vornehmsten  Artikul  der  christlichen  Ijchre,  sonderlich 
au(;ii  von  denen  praktischen  matedis  die  thesin  recht  inne  habe,  ana- 
Im/imn  fiddy  auch  oeconomiam  und  ordinem  salutis  wohl  verstehe,  des- 
gleichen den  Unterschied  des  Gesetzes  und  Evangelii.  Cnndidatus  muß 
seine  thesin  durch  die  Hauptsprache  des  Grundtextes  beweisen,  den  in 
(i<T  Hau|)tsprache  liegenden  Nachdruck  eruieren,  einen  vorgegebenen 
Text  ex  tempore  analysieren,  disponieren,  notdürftig  erklären  und  die 
usus  herausziehen  können. 

Dius  theologische  Examen  ist  zugleich  Lehramtsprüfung.  Eüne 
Probelektion  in  der  zu  übernehmenden  Schulstelle  vervollständigte  oder 
vertrat  wohl  auch  jenes  Examen.  Die  Schulmeister  werden  auch  durch- 
aus als  Kandidaten  des  Pfarramts  angesehen.  Es  wird  von  ihnen 
erwartet,   daß   sie  den  Pfarrern  mit  Predigen  und  Katechisieren  zur 


Preußen:  Lehrordnung  von  1735.  565 

Hand  gehen.  Auch  sollen  die  Propst«  ihnen  theologische  Vorlesungen 
halten,  „wöchentlich  einmal  ein  collegium  publicum^  dazu  sich  die  studiosi 
vom  Lande  dann  und  wann  mit  einfinden«'. 

Über  das  Schulziel  giebt  noch  etwas  genauere  Bestimmungen 
eine  Verordnung  vom  25.  Okt.  1735  für  Preußen  (Aenoldt,  Gesch.  d. 
KOnigsb.  Universität,  I,  Beil.  54).  Ihr  Verfasser  ist  F.  A.  »Schulze.  Um 
zu  verhüten,  daß  nicht  unfähige  und  unwürdige  Subjekte  den  Genuß 
der  Benefizien  würdigen  und  begabten  vorwegnehmen,  wird  festgesetzt: 
niemand  soll  in  die  erste  Klasse  der  großen  Lateinschule  gelassen  werden, 
„der  nicht  einen  leichten  autorein  classicum^  als  den  Comelium  JVepotem, 
wo  man  ihm  demselben  aufschlägt,  fertig  exponiere  und  selten  einen 
Fehler  wider  die  Grammatik  begehe;  keiner  in  primam  Graecam,  der 
nicht  im  Griechischen  zum  mindesten  die  dedinationes  und  das  verbum 
reguläre  innehat  und  dabei  die  ersten  zehn  Kapitel  im  neuen  Testament 
ohne  Version  exponieren  und  ziemlich  analysieren  kann.  Insbesondere 
muß  niemand  ad  Academica  dimittiert  werden,  der  nicht  einen  etwas 
schweren  autorem,  als  Curtium  und  orationes  Ciceronü  selectas  ziemlich 
geläufig  exponieren  und  eine  kleine  Oration  absque  vitiis  grammaticis 
machen,  auch  was  Latein  geredet  wird,  notdürftig  verstehen  könne, 
dabei  aus  der  Logik  das  vornehmste  aus  der  doctrina  syllogistica  und 
das  allernotwendigste  aus  der  Geographie,  Historie  und  Epistolographie 
innehabe,  imgleichen  der  nicht  mindestens  zwei  Evangelisten  im  Grie- 
chischen, als  Matthäum  und  Johannem  und  die  30  ersten  Kapitel  des 
ersten  Buches  Mosis  im  Hebräischen  fertig  exponieren  und  beides  ziem- 
lich analysieren  könne."  Auch  die  Juristen  und  Mediziner  sollen  sich 
der  Erlernung  des  Hebräischen  nicht  entziehen,  denn  es  sei  besser  etwas 
an  sich  nicht  schädliches  mit  zu  lernen,  als  die  Zeit  mit  Müssiggang 
oder  gar  mit  Mutwillen  hinzubringen. 

Durch  eine  Aufnahmeprüfung  beim  Zugang  zur  Universität  soll  die 
Innehaltung  dieser  Vorschriften  gesichert  werden.  Die  sich  als  Theo- 
logen inskribieren  lassen  wollen,  werden  von  der  theologischen  Fakultät, 
die  übrigen,  d.  h.  Juristen  und  Mediziner,  von  dem  Dekan  der  philo- 
sophischen Fakultät  geprüft  Es  wird  ausdrücklich  festgesetzt,  daß 
jedermann  bei  einer  der  drei  oberen  Fakultäten  sich  alsbald  einschreiben 
lassen  soll;  weder  der  Einwand,  daß  man  noch  nicht  entschieden  sei, 
noch  der,  daß  man  sich  allein  auf  die  Philosophie  oder  einen  Teil  der- 
selben legen  wolle,  darf  hiervon  eine  Ausnahme  begründen. 

In  dem  Staat  Friedrich  Wilhelms  I.  werden  studiosi  artium  übe- 
ralium  nicht  gebraucht.  — 

Die  eigentliche  Heimat  der  pädagogischen  Keformbestrebungeu 
waren  seit  dem  Anfang  des  1 7.  Jahrhunderts  die  kleinen  mitteldeutsche! 


566         ///,  5,    Die  Modernisierung  der  OelehrtenschiUen  u,  8.  w. 


Territorien,  besonders  die  thüringischen  Herzogtümer.  Hier  hatten 
Ratichius  und  seine  Anhänger  Eingang  gefanden;  hier  zuerst  hatte 
fürstliche  Fürsorge  dem  allgemeinen  Unterricht  sich  zugewendet;  Emsts 
des  Frommen  Schulmethodus  führte  selbst  in  die  Dorfschulen  den  Unter- 
richt in  den  nützlichen,  natürlichen  und  politischen  Dingen  ein.  Auf 
dem  Gothaischen  Gymnasium  hatte  Fbanoke  als  Schüler  (1673 — 1679) 
die  neue  Lehrart  kennen  gelernt.  Was  als  allgemeiner  Grundsatz  bei 
der  Absteckung  des  Unterrichtsplanes  für  die  Gothaer  Schule  angeführt 
wird :  ^^daß  zwar  nächst  dem  exercitio  pietatU  das  fundamentum  studiomm 
die  lateinische  Sprache  sei,  daß  aber  außer  dieser  die  griechische  und 
hebräische  und,  zur  Erweckung  und  Schärfung  des  Nachdenkens,  sowie 
zur  Vorbereitung  auf  den  akademischen  Unterricht,  die  Geschichte, 
Mathematik,  Philosophie,  besonders  Logik  und  Rhetorik,  femer  die 
Grundsätze  der  Poesie,  Beredsamkeit  und  Musik  vorgetragen  werden 
müßten^':  das  kann  auch  als  Norm  der  Hallischen  Einrichtungen  gelten. 
Auch  die  Hallische  clcmsis  selecta  hatte  ihr  Vorbild  in  Gotha,  nicht 
minder  war  das  starre  Klassensystem  auch  hier  schon  durchbrochen. 
Im  Jahre  1694  trat  Vockebodt,  der  erste  pietistische  Rektor  in 
Gotha,  das  Amt  an.  1718  wurde  ein  Franzose  angenommen,  in  zwei 
Stunden  wöchentlich  seine  Sprache  zu  lehren  (Schulze,  Gesch.  des 
Goth.  Gymn.,  131  fiF.). 

Eine  höhere  Bildungsanstalt  mit  ganz  modernem  Charakter  wurde 
im  Jahre  1664  von  Herzog  August  von  Sachsen-Weißenfels,  demselben, 
der  als  Administrator  des  Erzstifts  Magdeburg  die  schon  erwähnte,  von 
Grundsätzen  des  Comenius  erfüllte  Schulordnung  vom  Jahre  1658  ge- 
geben hatte,  in  seiner  Residenz  Weißenfels  begründet  Die  Bestim- 
mung der  Anstalt  war,  dem  kleinen  Ländchen  als  akademisches  Gymnasium 
die  Universität,  wenigstens  zu  einem  Teil,  zu  ersetzen.  Außer  den 
Sprachen  und  der  Philosophie  standen  Mathematik  und  Physik,  Ge- 
schichte und  Politik,  sowie  die  Elemente  der  Fakultätswissenschaften 
auf  dem  Programm  der  Schule  (Rosalsky  im  Progr.  1873).  Unter 
den  ersten  Lehrern  finden  sich  Chr.  Cellariüs  und  Chb.  Weise.  Jener 
hat,  ehe  er  in  Halle  den  Ort  seiner  Bestimmung  fand,  noch  den  Schulen 
zu  Weimar,  Zeitz  und  Mei^seburg  vorgestanden.  Weise,  der  bekannte 
deutsche  Poet  und  Dramatiker,  sowie  Verfasser  von  allerlei  Lehrbüchern 
der  Politesse,  hat  später  (1678—  1 708)  als  Rektor  des  Zittauer  Gymnasiums 
auf  die  Modernisierung  der  lausitzischen  und  sächsischen  Schulen  nicht 
unerheblichen  Einfluß  gehabt  (vgl.  Gelbke,  Zittauer  Progr.  1881). 

Statt  mehr  oder  minder  unerhebliche  Notizen  über  die  Erlebnisse 
anderer  thüringischer  Schulen  in  diesem  Zeitalter  zusammenzustellen, 
will    ich    hier   eines   der   leidenschaltlichslen  Wortführer  der  Reform- 


ThüringiscJie  Staaten.    E.  Weigel.  567 


Pädagogik  erwähnen,  der  in  langer  Lehrthäügkeit  an  der  Universität 
Jena  manche  wirksame  Anregungen  gegeben  hat:  Ebhabd  Weigel 
(1625—1699,  seit  1654  Prof.  der  Mathematik  in  Jena).i  Weigel 
spricht  mit  der  herbsten  Verachtung  von  dem  Bestehenden:  die  Mathe- 
matik und  Sachwissenschaften  würden  gänzlich  vernachlässigt  und  „das 
zarte  Lehrfeld  mit  lauter  (lateinischen)  Wörterpflauzen  und  Sprachsamen 
besteckt  und  bestreuet,  zwischen  welcher  Wörtersaat  dann  sehr  viele 
Streit-  und  Zankdisteln  mit  aufwachsen";  denn  aus  dem  Wortwissen 
kommt  der  Hochmut  und  Zank,  aus  dem  Sachwissen  Bereitwilligkeit 
und  Friede.  Femer  sind  die  alten  Sprachen  und  Schriftsteller  ein 
Hemmnis  der  Gottesfurcht:  „sie  bringen  meistens  abscheuliche  Welt- 
händel, Fabeln  und  Figmente,  und  darunter  grausam  garstige  und 
verführerische  Vorstellungen,  ja  Lehren  und  Anreizungen  zur  Geilheit, 
zum  Betrug,  zur  Falschheit  und  allen  Lastern  vor.  Man  findet  in 
ihnen  zwar  den  und  jenen  feinen  Spruch,  aber  keinen,  der  nicht  auch 
aus  der  Natur  oder  der  täglichen  Erfahrung  bekannt  sein  sollte.  Und 
daneben  sind  soviel  abscheuliche  Schandpossen  und  Narrendeutungen, 
grobe  Zoten,  ärgerliche  Thaten,  alberne  Fabeln,  grausame  Dichtungen 
von  so  und  so  vielen  und  vielerlei  Göttern  und  Göttinnen,  unmensch- 
hche  Vermischungen  mit  dem  Vieh  in  ihnen  erzählet."  —  Freilich 
Latein  muß  gelernt  werden.  Aber  auf  andere  Weise  als  jetzt  geschieht; 
Weigel  giebt  dazu  Anleitung.  „Die  Grammatik  ist  nicht  für  Kinder, 
die  Sprachregeln  sind  ihnen  zuwider.  Den  Kindern  die  Sprache  durch 
Regeln  lehren  wollen  ist  ebenso,  als  ob  ein  Fuhrmann  seinen  an- 
ziehenden Pferden  durch  Einhemmen  helfen  wollte.**  Aus  lateinisch 
geschriebener  Grammatik  die  fremde  Sprache  lehren  sei  gleich,  „als 
wenn  man  Vögel  fangen  und  dieselben  Vögel  zu  Lockvögeln  ihrer  selbst 
gebrauchen  wollte".  Man  muß  Wörter,  Formen  und  Redensarten  aus- 
wendig lernen  lassen  und  dann  viel  Übung  im  Reden  geben:  wird 
falsch  gesprochen,  es  schadet  nicht,  die  Kinder  lernen  auch  eher  gehen 
als  tanzen.  Das  Memorieren  wird  erleichtert  durch  Chorsprechen  „auf 
des  Lehrers  Vorrufen  mit  Nachrufen  gesungen,  wobei  die  Kinder  auf 
einer  Schaukel  oder  Schulpferdchen  sitzen  oder  mit  dem  Ball  spielen, 
damit  das  verdrießliche  Memorieren  durch  eine  Nebenlust  versüßt 
werde".    Ein  Basedowianer  vor  Basedow! 

Derselbe  Prozeß  der  Modernisierung  im  Sinne  der  Nützlichkeit  für 
die  irdische  und  himmlische  Wohlfahrt  läßt  sich  auch  an  den  sächsi- 
schen Schulen  nachweisen.     Im  Jahre  1676  trat  Jacob  Thomasius, 

*  E.  SriEss,  E.  Weigel,  Leipzig  1881.  Über  s.  pädagogischen  Bestrebungen 
handelt  A.  Israel  im  Jahresbericht  des  Seminars  zu  Zschopau  1884,  sowie  ein 
Artikel  von  Bartholomai  in  den  Jahrb.  für  Philol.  u.  Päd.,  Bd.  XCVIII,  400  ff. 


508         ///,  o.    Die  Modernisierung  der  Geleitrtensehulen  u,  8.  w. 

der  schon  lange  neben  seiner  Universitätsprofessor  eine  Lehrerstelie  an 
der  Thomasschnle  in  Leipzig  rerwaltete,  das  Rektorat  dieser  Schule 
an.  Alsbald  legte  er  dem  Rat  einen  Reformplan  vor,  in  dem  folgende 
Punkte  vorkommen:  „ob  nicht  in  prima  classe  des  Dienstags  statt  des 
Isocratis  das  griechische  N.  T.  einzufuhren ,  weil  hiervon  sowohl  bei 
einem  jeden  im  Christentum,  als  auch  bei  denen  insonderheit«,  so  sich 
künftig  in  studio  academico  auf  theologiam  legen  möchten,  größerer 
Nutzen  zu  erwarten:  ob  nicht,  weil  der  Rat  angeordnet,  öfters  cu-tus 
oratorios  abzuhalten,  statt  der  officiorum  Ciceronis  dessen  orationes  oder 
Mureti,  Afajora(/ii  und  dergleichen  orationes  einzufuhren;  ob  nicht  eben 
zu  solchem  Ende,  damit  auch  secunda  classis  ad  Studium  eloquentiae 
allmählich  angeleitet,  selbige  ad  elaborationes  progymnasmatum  zu 
unterweisen,  und  zu  diesem  Ziel  Aphthonius  zu  erklären,  welches  dann 
füglich  in  der  Zeit,  wo  zeither  Epistolae  Ciceronis  erklart  worden,  ge- 
schehen könnte;  ob  nicht,  falls  es  bei  den  Epistolis  bleiben  sollte,  die 
des  Ciceronis  mit  denen  Afanutianis  zu  verwechseln ;  ob  nicht  bei  denen 
Frimanis  ratsam,  daß  loco  Äurei  Carminis  Pythagorae,  weil  zu  anderer 
Zeit  bereits  ein  carmen  Graecum,  nämlich  Fosselii  Evangelia  erklart 
werde,  ein  historicus  Latinus,  z.  E.  Justinus,  zu  introduzieren  sei;  ob 
nicht  poesis  Latina  mit  denen  Primanis  auch  vom  Rectore  zu  üben 
und  zu  solchem  Ende  Buchanani  Psalterium  oder  ein  anderes  christ- 
liches Po'ema  vorzunehmen;  ob  nicht  bei  denen  Seeundanis  die  Zeit, 
welche  zu  Terentii  Comoediis  bestimmet,  vieler  Ursachen  wegen  Schoenaei 
Terentius  Christianus  einzuführen;  ob  nicht  für  Tertia  die  colloquia 
Corderi  zu  gebrauchen?"  (Stallbaum,  42flf.).  Man  sieht,  es  sind  ganz 
die  Gesichtspunkte  der  Hallischen  Pädagogik,  aus  denen  auch  diese 
Vorschläge  schon  geflossen  sind.  Sie  hatten  übrigens  auch  den  Beifall 
der  Orthodoxie.  STAiiLBAUM  führt  aus  Caepzows  Leichenpredigt  auf 
Thomasiüs  folgendes  Lob  an:  ,,Bei  ihm  traf  das  Sprichwort  nicht  ein: 
je  gelehrter,  desto  verkehrter;  sondern  je  gelehrter  er  war,  jemehr  er- 
wies er  seine  Gottseligkeit,  und  stunken  ihm  der  heidnischen  Autoren 
Schriften,  die  er  früherhin  durchstankert  hatte,  einige  Jahre  her  gleich- 
sam an."  Auch  der  Leipziger  Rat  fand  diese  Vorschläge  sehr  zweck- 
mäßig. Die  neuen  Lehrbücher  wurden  eingeführt  und  J.  M.  Gbsnsb 
fand  sie  noch  im  Gebrauch,  als  er  1730  das  Rektorat  der  Thomas- 
schule übernahm.  Inzwischen  war,  unter  dem  nächsten  Nachfolger  des 
Thomasiüs,  J.  H.  Ernesti  (1684—1729),  der  auch  ebenso  wie  jener 
prof\  poiis.  an  der  Universität  war,  eine  neue  Schulordnung  eingeführt 
(1723),  welche  Übungen  in  der  deutschen  Oratorie  und  Unterricht  in 
Geschichte  und  Geographie  einschloß;  ein  Lehrer  der  Mathematik  wurde 
(»rst    1781,    zur   Zeit    von   Gesnkrs    Rektorat,   angestellt.    —    An    der 


Sachsen,  Lavsitx,  569 

Nikolaischule  wurde  1716  ein  neuer  Lehrplan  eingeführt,  der  als  neue 
Unterrichtsgegenstände  bietet:  je  1  Stunde  Geographie  und  Deutsch  für 
IV  und  in,  und  2  Stunden  Geschichte  (nach  Cellarius)  für  II  und  I. 
Arithmetik  1  Stunde  durch  alle  Klassen,  fakultativ  (Progr.  1893). 

Eines  bedeutenden  Rufes  erfreute  sich  seit  ihrer  Gründung  und 
Errichtung  durch  P.  Vincentius  die  Schule  zu  Görlitz.  Ihre  Mpder- 
nisierung  begann  unter  dem  Rektor  Chb.  Funcke  (1666 — 1695),  einem 
Mitglied  der  fruchtbringenden  Gesellschaft;  gegen  Ende  seines  Lebens 
kam  er  auch  in  das  Geschrei  des  Pietismus.  Ein  neuer  von  ihm  ent^ 
worfener  Lehrplan  vom  Jahre  1666  umfaßt,  außer  den  alten  Sprachen 
und  der  Logik  und  Metaphysik,  auch  philosophia  civilis  et  naturalis, 
Astronomie,  Geo^aphie  und  Geschichte.  Sein  Nachfolger  GroSvSer 
führte  das  Amt  in  gleichem  Sinn  (Knauth,  Gesch.  des  Görlitzer  Gym- 
nasiums, 1765). 

Die  Vollendung  der  Neugestaltung,  freilich  schon  mit  Anklängen 
an  die  Ideen,  welche  die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  bewegen, 
ist  das  Werk  Chr.  Baumeisters  (1736 — 1785),  eines  der  berühmtesten 
Rektoren  seiner  Zeit;  er  ist  ein  Nachkomme  Melanchthons,  ein  Schüler 
des  Gothaer  Gymnasiums  und  der  Jenaer  Universität.  In  einem  Pro- 
gramm vom  Jahre  1747  giebt  er  eine  Anzeige  von  der  vorteilhaften 
Einrichtung  des  Görlitzer  Gymnasiums,  aus  welcher  ich  die  wichtigsten 
Punkte  mitteile.  Unter  den  Sprachen  wird  zuerst  die  deutsche  genannt: 
es  sei  ein  schändliches  Vorurteil,  daß  sie  nicht  unter  die  gelehrten 
Sprachen  gehöre.  Man  treibe  sie  nach  Gottscheds  Regeln  der  deut- 
schen Beredsamkeit;  künftig  wolle  man  auch  drei-  bis  vierwöchentliche 
Privatlektionen  auf  das  Lesen  von  Schriftstellern,  die  rein  Deutsch  ge- 
schrieben hätten,  wenden:  „Warum  sollten  wir  nicht  ebenso  wohl  in 
unserer  Muttersprache  als  in  der  römischen  autores  classicos  aufweisen 
können?"  Latein  behält  seine  Stelle,  und  auch  die  alten  Autoren:  als 
Muster  der  historischen  Schreibart  werden  Cornelius,  Cäsar,  Sallustius, 
Justinus,  in  der  brieflichen  Cicero  und  Plinius,  in  der  oratorischen 
Cicero  und  Muretus,  in  der  poetischen  Virgil,  Claudian,  Ovid  gebraucht. 
„Bei  der  Erklärung  sehen  wir  nicht  allein  auf  die  eigentliche  und 
natürliche  Bedeutung  der  Wörter,  auf  die  Feinheit  des  Latein,  sondern 
wir  suchen  auch  die  Begriffe  und  Ordnung  der  Gedanken  nach  den 
Regeln  der  Vernunftlehre  zu  zergliedern  und  folglich  die  Urteilskraft 
und  den  Verstand  der  Zuhörer  zu  schärfen."  Unter  besonderen  Hand- 
griffen, von  denen  man  gute  Wirkung  verspüre,  wird  auch  der  genannt: 
„man  läßt  den  Schüler  auf  den  Lehrstuhl  treten;  man  legt  ihm  eine 
Stelle  aus  dem  C'icero  oder  Plinius  oder  einem  anderen  nicht  zu  schweren 
Skribenten  vur.     Diese   muß  er  seinen  Mitschülern  unter  Aufsicht  des 


570         ///,  5,    Die  Modernisierung  der  OelehrtenschtUen  u.  s.  w. 


Lehrers  erklaren.  Er  muß  seine  Anmerkungen  über  Wortfügung  und 
Redensarten  machen.  Er  muß  seinen  Lehrlingen  die  Schönheiten  zeigen, 
die  in  dieser  oder  jener  Periode  vorkommen".  Der  Nutzen  dieser 
Übungen  sei  ein  augenscheinlicher.  —  Griechisch  wird  aus  der  Halli- 
schen Grammatik  und  dem  N.  T.  gelernt,  auch  Plutarchs  Schrift  über 
Erziehung  gelesen;  denen,  die  weiter  gehen  wollen,  werde  in  Privat- 
stunden  Gegners  Chrestomathie  vorgelegt  Französisch  hoffe  man  bald 
auch  in  den  öffentlichen  Lehrstunden  zu  treiben.  Geschichte,  Geographie 
und  Antiquitäten  lehrt  der  Rektor  in  zwei  Stunden  wöchentlich;  in  der 
Geschichte  wird  die  neueste  besonders  berücksichtigt;  sie  wird  erst  in 
deutscher,  dann  in  lateinischer  Sprache  vorgetragen  und  von  den  Schülern 
lateinisch  nacherzählt  In  der  Philosophie  wird  Lbgik,  Naturrecht, 
mit  Exempeln  aus  der  neuesten  Geschichte,  und  natürliche  Theologie 
gelehrt.  Baumeister  ist  Woltianer,  er  hat  mehrere  philosophische 
Kompendien  verfaßt,  die  auch  bei  Universitatsvorlesungen  als  Leitfaden 
benutzt  wurden,  u.  a.  auch  von  Kant.  Mathematik  wird  nach  Wolfs 
Lehrbuchern  gelehrt  Die  Abiturienten  nimmt  der  Rektor  wöchent- 
lich zweimal  zu  zwanglosen  Besprechungen  auf  seine  Stube,  wo  einer 
eine  Frage,  einen  Satz  vorlegt,  über  welchen  man  sich  in  lateinischer 
Sprache  unterhält.  —  Ein  Schüler  Baumeisters  ist  der  spätere  Hallische 
Professor  Klotz.  Er  war  1756  der  Tyrannei  des  Meißener  Schulklosters 
entflohen  und  hatte  sich  nach  Görlitz  gewendet  Er  blieb  Baumeister 
mit  dankbarer  Verehrung  zugethan:  bei  ihm  habe  er  die  griechischen 
Dichter,  besonders  Homer,  kennen  und  lieben  gelernt  (Manoeüsdobf, 
Fita  et  memoria  Klotzii,  39). 

Den  Lesern  der  ßAUMEHSchen  Geschichte  der  Pädagogik  ist  Bac- 
MEisTEK  durch  folgende  Stelle  aus  dem  oben  benutzten  Progranun  be- 
kannt: „Wir  unterscheiden  adelige  und  vornehmer  Leute  Kinder  von 
andern,  so  niedriger  Geburt  sind,  auch  dadurch,  daß  wir  ihnen  teils 
einen  nähern,  liebreichern  und  vertrautern  Umgang  mit  den  Lehrern 
unter  Bezeigung  aller  anständigen  Höflichkeit  gestatten,  teils  auch  daß 
sie  von  gewissen  Verrichtungen  ausgenommen  sind,  denen  sich  andere 
unterziehen  müssen."  Die  Stelle  ist  allerdings  charakteristisch,  wenn 
auch  vielleicht  nicht  für  den  persönlichen  Servilismus  Baumeisters, 
welchen  Kaumeb  brandmarkt,  so  doch  für  die  soziale  Ordnung  des 
Jahrhunderts,  und  durch  die  naive  Aufrichtigkeit,  mit  welcher  die  hen- 
schende  Gesellschaftsordnung  anerkannt  wird.  Raumes  hätte  übrigens 
nicht  die  unmittelbar  vorhergehenden  und  nachfolgenden  Worte  weg- 
liLssen  sollen.  Der  Passus  wird  eingeleitet  durch  die  Worte:  „Ohner- 
aclitet  ein  jeder,  der  in  unser  Gymnasium  aufgenommen  werden  will, 
sich    die  Ordnung  und  Einrichtung,   in   welcher  wir  stehen,    gefallen 


Sachsen:  die  FüratensctiuUn,  571 


lassen  mnß,  so  setzen  wir  doch  niemals  bei  dem  Bezeigen  gegen  die 
uns  Untergebenen  diejenigen  Vorzüge  außer  Augen,  so  einigen  die  Ge- 
burt oder  der  Stand  der  Eltern  geziemet/'  Und  es  schließt  sich  un- 
mittelbar an  die  Bezeichnung  der  Funktionen,  von  denen  Adelige  aus- 
genommen sind:  ,,z.  £.  die  Leichenbegleitungen.  Doch  wollen  wir  diese 
Freiheit  nicht  bis  aufs  Degentragen  gedeutet  wissen'^,  obwohl  es  von 
den  Eltern  häufig  gewünscht  werde. 

Auch  durch  die  Elostermauem  der  Fürstenschulen  drang  der  Ein- 
fluß der  Zeit.  Ich  begnüge  mich  die  Modernisierung  an  der  Meißener 
Schule,  über  welche  wir  durch  Flathes  treflFliche  Darstellung  unter- 
richtet sind,  nachzuweisen.  Schon  1684  wurde  ein  Schülerverein  unter 
den  Afranem,  welcher  unter  dem  Namen  des  deutschen  Pflanzordens 
die  deutsche  Sprache  und  Reimkunst  zu  exkolieren  sich  vorgeset-zt  hatte, 
untersagt,  weil  dabei  allerlei  Mißbrauche  und  Versäumnis  der  ordent- 
lichen Studien  vorgefallen;  doch  mit  dem  Bemerken,  daß  man  die  Ver- 
suche in  deutscher  Poesie  an  sich  nicht  mißbilUge,  wer  dazu  Lust  und 
Zeit  habe,  möge  es  thun,  solle  aber  die  carmina  einem  Lehrer  zur 
Durchsehung  und  Verbesserung  vorweisen.  Im  Jahre  1 700  wurde  auf 
Erinnerung  der  Visitatoren  der  Unterricht  in  der  Universalgeschichte 
nach  BüNOS  Idea  und  in  der  Geographie  nach  Hübneb  oder  Cellabius 
eingeführt,  nach  welchem  sich  auch  bei  der  Jugend  großes  Verlangen 
zeigte.  1721  wurde  ein  besonderer  Lehrer  für  Geometrie  angenommen, 
trotz  einigen  Widerstrebens  des  Kollegiums,  das  es  bei  den  bisherigen 
Lektionen  in  Arithmetik  und  Sphärik  bewenden  lassen  wollte  und  von 
der  Einführung  der  Mathematik  eine  Versäumung  der  humaniora  be- 
sorgte. Kurz  vorher,  1718,  war  auch  ein  Franzose  als  Sprachmeister 
angenommen  worden,  mit  dem  man  übrigens  trübe  Erfahrungen  machte, 
indem  er  noch  zu  weiteren  Galanterien  anleitete;  ebenso  wurde  ein 
Tanz-  und  Fechtmeister  angenommen.  1726  erhielt  die  Schule  in  dem 
Rektor  Martius  einen  der  modernen  Bildung  ganz  geneigten  Vor- 
steher; in  einem  beim  Amtsantritt  abgefaßten  Gutachten  spricht  er 
unter  anderem  Zweifel  aus,  wie  weit  das  Griechische  heutzutage  zu 
poussieren,  besonders,  ob  man  nicht  die  elaborationes  in  prosa  et  ligata 
fallen  lassen  und  sich  auf  das  Lesenlemen  beschränken  solle,  welche 
Ansicht  von  den  adeligen  Schulinspektoren  geteilt  wird.  Die  letzteren 
sind  überhaupt  für  Beschränkung  der  Poesie  und  darum  auch  für  Er- 
setzung der  poetischen  Lektüre  durch  Prosaiker,  da  nur  der  kleinste 
Teil  der  ingenia  ad  poesin  inkliniere.  Der  Konrektor  Sillio  dagegen 
will  allerdings  einen  griechischen  Dichter  lesen,  aber  statt  des  „weit- 
leuftigen^'  vormals  eingeführten  Homer  einen  feinen  Moralpoeten, 
Hesiod  oder  Theognis  oder  Pos«elius  oder  Rhodomanus.     Auf  Grund 


572         III,  i").    Die  Modernisierung  der  GeUhrienschulen  u,  s,  w. 


der  Gutachten  der  Lehrer  und  Inspektoren  wurde  1727  eine  reformierte 
Unterrichtsordnung  gegeben,  worin  den  Forderungen  der  Zeit  entsprochen 
wurde:  auf  die  Kultur  der  deutschen  Sprache  wird  Gewicht  gelegt,  der 
Unterricht  in  der  Geschichte  erweitert.,  mit  besonderer  Betonung  der 
Genealogie  in  den  notabelsten  und  letzten  Perioden,  doctrina  morumj 
jus  naturae  und  Politik  aufgenommen,  im  Griechischen  das  neue  Testa- 
ment zur  besonderen  Beachtung  empfohlen,  die  Anlegung  eines  bota- 
nischen Gärtchens  angeordnet.  Endlich  werden  Schläge  als  Zuchtmitte] 
stillschweigend  beseitigt  und  die  häuslichen  Verrichtungen,  Reinmachen. 
Auftragen  u.  s.  w.  den  Alumnen  abgenommen  und  hierzu  angestellten 
Weibern  übertragen.  —  Ähnliches  wäre  aus  Grimma  (nach  Rössler) 
zu  berichten;  ein  Mathematiker  wurde  1726  angestellt,  Profangeschichte 
war  1718  auf  den  Lehrplan  gesetzt  worden. 

Im  Hessischen  wurden  nach  dem  großen  Krieg,  der  auch  hier 
verheerend  auf  das  Schulwesen  gewirkt  hatte,  die  alten  Bildungsbestre- 
bungen  wieder  aufgenommen.  Die  Schulordnung  des  Landgrafen  Moritz 
von  1618,  welche  Ratichianische  Anregungen  in  sich  aufgenommen  hatte, 
wurde,  mit  einigen  Veränderungen,  1656  erneuert;  unter  anderem  ist 
hier  für  die  I  ein  Unterricht  in  der  Universalgeschichte,  wöchentlich 
eine  Stunde  angeordnet;  auch  Astronomie  und  Geometrie  wird  als 
wünschenswerter,  aber  in  Privatstunden  zu  betreibender  Unterrichts- 
gegenstand genannt.  Im  Griechischen  werden  noch  poetische  Übungen 
festgehalten  (Vobmbaum,  II,  448  ft".).  Vom  Jahre  1710  findet  sich  ein- 
mal erwähnt,  daß  der  Kasseler  Rektor  die  Cartesianische  Philosophie 
lehre.  Von  17 18 — 1736  stand  ein  Rektor  aus  der  Franckeschen  Schule, 
Stephan  Veit,  vorher  Konrektor  am  Hallischen  Pädagogium,  der  Schule 
zu  Kassel  vor  und  führte  die  Hallischen  Reformen  durch.  Im  Ganzen 
!)lieb  der  Zustand  der  Kasseischen  Schule  bis  gegen  Ende  des  1 8.  Jahr- 
hunderts ein  ziemlich  kümmerlicher,  wozu  wesentlich  der  folgende  Um- 
stand beitrug.  Im  Jahre  1709  wurde  die  vom  Landgraf  Moritz  ge- 
gründete Ritterakademie  als  Collegium  CaroUnum  wieder  ins  Leben 
gerufen.  Die  Bestimmung  des  neuen  Instituts  war  wesentlich  die  alte: 
den  Söhnen  der  vornehmeren  Gesellschaftsklassen  teils  eine  höhere  all- 
gemeine Bildung,  teils  aber  einen  den  modernen  Anforderungen  ent- 
sprechenden Abschluß  des  Vorbereitungskursus  für  das  Universitats- 
studium  zu  geben.  Der  Landgraf  Carl,  nach  dessen  Namen  das  neue 
Kollegium,  auch  Athenaewn,  genannt  ist,  hatte  wahrgenommen,  ,,wie 
wenig  die  Notwendigkeit  und  Vortrefflichkeit  derer  physikalischen  und 
mathematischen  Wissenschaften  von  den  Mehrsten  erkannt  werde,  indem 
die  jungen  Leute,  sobald  sie  auf  den  Trivialschulen  eximirt  worden, 
anstatt  ihr  Gemüt  zuvörderst  in  diesen   Scientien  zu  excoliren,    gleich 


Hessen,  Braun  schweig- Lüneburg.  573 


ad  altiora  sich  zu  appliciren  gewöhnt  sind^^  Diesem  Mangel  sollte  das 
Kollegium  zunächst  abhelfen.  Bald  aber  \mrde,  „weil  es  der  Jugend 
insgemein  an  der  Latinität  zu  fehlen  pflegt",  auch  ein  professor  elo- 
guentiae  et  historiarunty  ferner  ein  Professor  der  Philosophie  und  Theo- 
logie angestellt  und  der  Besuch  der  Anstalt  zwischen  Lateinschule  und 
Universität  den  Landeskindern  zur  Pflicht  gemacht.  Später  wurde  der 
Unterricht  mehr  und  mehr  erweitert-,  namentlich  auch  ein  1738  er- 
richtetes Collegium  Medicum  mit  dem  Carolinum  verbunden.  Das  er- 
neuerte Statut  der  Anstalt  vom  Jahre  1766  hält  zwar  an  dem  Zweck 
einer  Ergänzung  der  Vorbereitung  für  die  Fakultätsstudien  durch  philo- 
sophische, physikalische,  mathematische,  philologische  und  historische 
Lektionen  fest,  erweitert  jedoch  den  Umkreis  der  Disziplinen  in  dem 
Sinne,  „daß  der  Hofmann,  Offizier,  Arzt  und  Wundarzt  sein  Studium 
auf  ihr  vollenden  und  Künstler  aller  Art,  Architekten,  Maler,  Bildhauer, 
Musiker  sich  auf  ihr  gehörig  vorbereiten  können".  Zugleich  wurden 
akademische  Formen  der  Verwaltung,  Dekane,  Matrikel,  Lektionsver- 
zeichnisse u.  s.  w.  eingeführt  Die  Gunst  des  Hofes  war  dem  neuen 
Institut  zugewendet  und  so  hatte  die  alte  Stadtschule  daneben  einen 
schweren  Stand.  Gegen  Ende  des  Jahrhunderts  wurde  jedoch  das  Ver- 
halten der  Regierung  ein  anderes,  die  Stadtschule  wurde  1779  zu  einem 
Lyceum  Fridericianum  umgestaltet,  eine  Reihe  von  Fachschulen  errichtet 
und  das  Carolinum  stillschweigend  aufgegeben,  indem  die  Professoren, 
soweit  sie  nicht  anderweite  Verwendung  fanden,  an  der  Marburger  Uni- 
versität angestellt  wurden  (Weber,  238  flF.).  Die  neue  Schulordnung 
von  1779  gehört  schon  dem  folgenden  Zeitalter  an.  —  Das  Marburger 
und  das  Darmstädter  Pädagogium  haben  die  alte  Ordnung  bis  in  die 
zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  festgehalten. 

Nicht  ohne  Literesse  ist  eine  gräflich  Waldecksche  Schulordnung 
vom  Jahre  1704  (Vormbaum,  111, 116):  sie  zeigt  die  Spuren  Franckescher 
Pädagogik  mit  besonderer  Deutlichkeit,  methodische  Anführung  zur 
Gottseligkeit  und  andererseits  Anleitung  zur  Weltkenntnis,  besonders 
zur  Kenntnis  der  gegenwartigen  durchlauchtigen  Welt  gehen  neben 
einander  her. 

Der  ilinfiuß  der  neuen  Zeit  auf  die  braunschweig-lüneburgi- 
schen  Schulen  tritt  in  den  Lehrordnungen  des  Hannoverschen 
Lyceums  und  der  Ilfelder  Klosterschule  vom  Jahre  1716  zu  Tage. 
In  beiden  sind  die  neuen  Hallischen  Sprachlehrmittel  in  Gebrauch,  in 
beiden  findet  sich  Unterricht  in  der  Geographie  und  Historie,  mit 
Genealogie  und  Heraldik,  in  Geometrie  und  Astronomie,  in  Philosophie 
und  Litteraturhistorie.  Dabei  bleibt  die  Erlernung  des  Lateinischen 
die  große  Hauptsorge,  prosaische  und  poetische  Imitationsübungen  bilden 


574         ///,  />.    Die.  Modernisierung  der  Gclehrtenschulen  u,  s.  w. 


die  eigentliche  Substanz  der  Schulübungen,  sehr  ins  Einzelne  gefahrte 
Beschreibungen  des  Verfahrens  zeigen,  wie  wichtig  die  Angelegenheit 
ist.^  Im  Jahre  1717  übernahm  der,  ebenso  wie  Kbibgk,  aus  der  Jenaer 
Schule  stammende  Litterarhistoriker  Chr.  Heümann  das  Rektorat  des 
Göttinger  Gymnasiums,  welches  er,  wie  man  aus  seinem  ausführlichen 
Bericht  in  seiner  Göttinger  Schulgeschichte  (S.  126  flf.)  sieht,  bis  zum 
Übergang  der  Anstalt  in  die  Universität  im  Sinne  der  modernen 
Bildungsbestrebungen  führte.  An  Stelle  der  lateinischen  Disputationen 
wurden  öffentliche  deutsche  Redeübungen  beliebt,  deren  kurieuse  oder 
gemeinnützige  Themata  vn»  freilich  vielfach  etwas  seltsam  anmuten.  — 
Eine  neue  Periode  beginnt  mit  der  stlMihlich  durchdringenden  Wirk- 
samkeit Gesners  in  Göttingen.  Die  von  ihm  vodaßte  berühmte  kur- 
braunschweigische  Schulordnung  vom  Jahre  1737  kann  man  als  das 
gymnasialpädagogische  Programm  der  zweiten  Hälfte  des  Jabztanderts 
bezeichnen;  ihre  Betrachtung  bleibt  daher  dem  folgenden  Absclnyltit 
vorbehalten. 

Unter  den  Landesschulordnungen,  welche  nach  der  Beendigung  des 
großen  Krieges  die  Wiederaufrichtung  des  Schulwesens  versuchten,  ist 
die  schon  öfter  erwähnte  braunschweig-wolfenbüttelsche  vom  Jahre  1651 
die  erste  (Vormbaum,  II,  407  ff.).  Die  braunschweigischen  Herzoge 
bewiesen  überhaupt  ein  lebhaftes  Interesse  für  geistige  Kultur,  Herzog 
August,  der  jene  Schulordnung  erließ,  war  selbst  ein  Gelehrter,  er  ist 
auch  der  Begründer  der  Wolfenbütteischen  Bibliothek.  Die  Schulordnung, 
die  wohl  den  Helmstedtischen  Professor  der  Eloquenz,  Chb.  Schbadbb, 
einen  Schüler  und  Freund  des  Calixtüs,  zum  Verfasser  hat  (übrigens 
scheint  in  manchen  Partien  der  Herzog  selber  zu  sprechen),  steht  im 
ganzen  durchaus  auf  dem  Boden  des  16.  Jahrhunderts;  doch  fehlt  es 
nicht  an  Spuren  der  neuen  Zeit  Das  Prinzip  des  allgemeinen,  wenn 
nötig  mit  obrigkeitlichem  Zwang  durchzuführenden  Unterrichts  wird, 
wie  in  den  Weimarischen  und  Gothaischen  Ordnungen,  ausgesprochen; 
auch  von  den  Dorfschulmeistern  wird  gefordert,  daß  sie  besonders  be- 
gabte Kinder  in  den  ersten  Elementen  der  lateinischen  Sprache  unter- 
richten. Der  Professor  Schrader  wird  zum  General- Inspektor  des 
ganzen  Landesschulwesens  bestellt  Als  solchem  wird  ihm  eine  be- 
sondere Prüfung  (außer  der  allgemeinen  vor  dem  Konsistorium)  derer, 
die  zu  einem  eigentlich  gelehrten  Schulamt  präsentiert  sind,  zur  Pflicht 
gemacht  Ebenso  wird  ihm  aufgetragen,  einmal  im  Jahr  die  drei  Ge- 
lehrtenschulen des  Landes  (Wolfenbuttel,  Helmstedt,  Gandersheim)  und 

*  Gbotkfend,  Gesch.  des  Lyceums  zu  Hannover  von  1733 — 1833  (Hui- 
nover  1889},  S.  6 ff.;  6.  Krieqk,  Con^tittUio  rei  seholasiicae  IlefMep$sis  (Nord- 
haasen  1716). 


hfc. 


Braunschweig  -  Wolfenhüttel.  575 


auch  die  kleineren  Lateinschulen  (es  sind  ihrer  sechs)  nach  Gelegenheit 
zu  visitieren;  bei  der  anzustellenden  Prüfung  soll  auch  „erwogen  und 
beschlossen  werden,  was  für  individua  auf  Akademien  zu  schicken  tüchtig, 
damit  nicht  jemand  zu  früh,  ehe  er  genugsam  fnndamenta  gelegt,  sich 
aus  der  Schulen  begebe,  auch  ein  fürsichtiger  selecius  ingeniorum  an- 
gestellet  werde".  —  Schbadee  legte  Wert  darauf,  daß  auch  die  Schüler 
der  gelehrten  Schulen  nicht  nur  in  der  lateinischen,  sondern  auch  in 
der  deutschen  Sprache  geübt  würden.  Er  veranlaßte,  da  er  bei  seinen 
Inspektionen  der  gelehrten  Schulen  wahrnahm,  daß  die  jungen  Leute 
in  ihren  schriftlichen  Arbeiten  fast  noch  mehr  Verstöße  gegen  die 
deutsche  als  gegen  die  lateinische  Sprache  machten,  seinen  Freund,  den 
bekannten  Germanisten  J.  G.  Schottelius,  der  einst  als  Prinicnerzieher 
von  dem  Herzog  August  an  den  Hof  gezogen  war  und  dort  in  hohem 
Amt  und  Ansehen  stand,  zur  Ausarbeitung  eines  kleinen  Lehrbuchs  der 
deutschen  Rechtschreibung  für  den  Schulgebrauch  (Räumer,  III,  184). 
Wie  groß  Sohradebs  Ansehen  in  der  Schulwelt  war,  geht  auch  daraus 
hervor,  daß  sein  Rat  auch  von  außerhalb  begehrt  wurde.  So  wendete 
sich  1672  das  Domkapitel  zu  Halberstadt  an  die  philosophische  Fakultät 
zu  Helmstedt  um  ein  Gutachten  über  die  neu  einzurichtende  Domschule, 
welchem  Gesuch  die  Fakultät  mit  einem  eingehenden  Entwurf,  der 
offenbar  von  Schrader  verfaßt  ist,  entsprach.  Die  Halberstadter  und 
später  auch  die  Magdeburger  Domschule  wurde  nach  diesem  Entwurf 
eingerichtet  (mitgeteilt  bei  A.  Richter,  Festschr.  des  Halberstädt.  Dom- 
gymn.,  1875). 

Bemerkenswert  ist  noch  die  gleichzeitige  Klosterordnung  von 
1655  (KoLDEWEY,  II,  168).  Die  nach  der  Reformation  in  den  Klöstern 
eingerichteten  Schulen  wurden  aufgehoben,  weil  „der  verhoffte  gute 
event  bei  weitem  nicht  erfolget,  sondern  viel  feine  in/^enia  in  solchen 
Klosterschulen  verdorben,  fürnehmlich  daher,  daß  die  Kloster-^ft/t/io^i 
Tag  und  Nacht  bei  einander  gewohnet,  der  Präzeptor  so  wenig  als  der 
Prälat  alle  Augenblicke  eine  Aufsicht  auf  sie  haben  können".  Statt 
dessen  soll  ein  Teil  der  Einkünfte  zur  Besoldung  der  Lehrer  und  zu 
Stipendien  für  Schüler  an  den  drei  großen  Schulen  verwendet  werden. 
Indessen  „damit  gleichwohl  die  qnotidianae  preces  et  laudes  in  den 
Klöstern  gehalten  werden  mögen,  soll  der  fünfte  conventualis  in  jedem 
Kloster  eine  Kinderschule  für  die  nächsten  Dörfer  halten",  in  der  auch 
die  Elemente  des  Lateinischen  gelehrt  werden  sollen.  Außerdem  sollen 
vier  arme  Kinder  in  jedem  Kloster  unterhalten  werden.  Diese  Schulen 
sollen  nun  die  horas  canoniccLs  täglich  abwarten,  mit  singen,  lesen  und 
beten,  um  6,  9  und  3  Uhr,  abwechselnd  lateinisch  und  deutsch.  Man 
sieht,  wie  zäh  sich  die  Überlieferungen  der  alten  Kirche  auch  nach 


576         ///,  />.    Die  Modernisierung  der  GeWirtenschuhn  u.  s,  u\ 


der  Reformation  noch  Erhalten  haben.  Übrigens  wurden  die  Kloster- 
schulen ihrer  alten  Bestimmung  bald  zurückgegeben  und  bestanden 
bis  ins  19.  Jahrhundert. 

Tiefer  greifende  Änderungen  erfuhren  die  braunschweigischen  Ge- 
lehrtenschulen gegen  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts.  Eine  Reihe  von 
Schulordnungen  einzelner  Anstalten  zeigen  den  Einfluß  der  Hallischen 
Pädagogik.  Die  beiden  alten  Klosterschulen  zu  Marienthal  und  Ame- 
lungsbom  gingen  ein;  die  letztere  wurde  nach  Holzminden  verlegt 
und  mit  der  dortigen  Stadtschule  zu  einem  Pädagogium  vereinigt;  die 
Einkünfte  der  ersteren  wurden  zur  Dotierung  einer  neuen  Anstalt,  des 
1745  zu  Braunschweig  errichteten  Collegium  Carolinum  verwendet 
(KoLDEWEY,  II,  c).  Das  Carolinum  kann  als  eine  Erneuerung  der 
eingegangenen  ßitterakademie  zu  Wolfenbüttel  auf  dem  Boden  des 
18.  Jahrhunderts  bezeichnet  werden.  Es  erhielt  seine  Gestalt  durch 
den  Hofprediger  Jerusalkm,  einen  Schüler  Gottscheds,  den  Herzog 
Karl  zur  Erziehung  seines  Sohnes  berufen  hatte  (1742).  Als  die  wesent- 
lichen Mängel  der  bisherigen  Erziehungs-  und  ünterrichtsart  der  ge- 
lehrten und  gebildeten  Stände  werden  von  dem  aufgeklärten  Theologen 
bezeichnet,  daß  die  jungen  Leute  in  entlegenen  Orten,  wie  jenen  Schul- 
klöstem,  keine  Gelegenheit  hätten  sich  feine  Sitten  anzueignen,  und 
daß  sie  gemeiniglich  „bloß  mit  einem  dürftigen  Vorrat  etlicher  latei- 
nischer Vokabeln  und  Regeln  auf  die  Universität  gingen,  ohne  den  ge- 
ringsten Geschmack  von  dem  zu  haben,  was  in  den  Wissenschaften, 
die  sie  erlernen  wollen,  oder  in  den  von  ihnen  schon  erworbenen  Kennt- 
nissen das  eigentlich  Schöne  und  das  Wesentliche  ist.  Vorläufige  Bildung 
ihres  Verstandes  und  Geschmacks  hingegen  und  ein  vorläufiger  all- 
gemeiner Begriff  von  den  Wissenschaften  würde  den  wohlthätigen  Er- 
folg haben,  daß  sie  die  hohen  Schulen  nützlicher,  kürzer  und  mit  ge- 
ringerem Geldaufwand  besuchen  könnten**.^ 

Es  ist  damit  die  Aufgabe  des  neuen  Instituts  bezeichnet  Den 
elementaren  Unterricht,  auch  in  den  Sprachen  voraussetzend,  will  es 
den  eigentlich  wissenschaftlichen  Unterricht  der  Universität  durch  ein- 
leitende encyklopädische  Vorträge  vorbereiten,  und  zugleich  eine  für 
die  Geschäfte  und  das  Leben  ausreichende  allgemeine  Bildung  geben. 
Es  rechnet  auf  Schüler  vom  15.  bis  20.  Lebensjahr,  natürlich  aus  der 
besseren  Gesellschaft;  von  Mosheims  Übernahme  der  Inspektion  wird 
die  Zuführung  Adeliger  erwartet  (die  auch  eintraf);  doch  sollen  begabte, 
aber  unbemittelte  Knaben  nicht  ausgeschlossen  sein,  „man  muß  allen- 
falls einen  kleinen  Aufwand  machen,  damit  sich  diese  in  Kleidung  und 

*  J.  J.  EsciiENBURo,  Entwurf  einer  Gesch.  des  Coli,  CaroL  (Berlin  1812),  S.  3. 


Braunschweig j  Mecklenburg,  577 


Wäsche  ebenso  reinlich  wie  die  übrigen  halten  können".  Alles  was  an 
Kloster,  Pädagogium,  Waisenhaus,  Armenschule  erinnern  könnte,  müsse 
sorgfältig  fern  gehalten  werden.  In  der  ersten  Ankündigung  werden 
die  Wissenschaften  und  Übungen  aufgezählt,  zu  denen  im  Kollegium 
Anleitung  gegeben  wird:  Theologie,  Weltweisheit,  Litterarhistorie,  Mathe- 
matik, Dicht-  und  Redekunst,  alte  und  neuere  Sprachen,  Zeichnen, 
Malen,  Musik,  Tanzen,  Fechten,  Reiten,  Drechseln,  Glasschleifen  (S.  17). 
Unterrichtssprache  ist  die  deutsche;  die  Übungen  in  den  Sprachen  sollen 
durch  gute  poetische  und  prosaische  Muster  die  jungen  Leute  dahin 
führen,  sich  rein  und  mit  Geschmack  auszudrücken.  Die  lateinische 
Sprache  ist  nicht  mehr  bloß  als  Sprache,  sondern  kritisch  (d.  h.  ästhe- 
tisch) zu  behandeln:  bei  der  Erklärung  der  Klassiker  ist  vorzüglich 
auf  den  Geist  und  Geschmack  der  Werke  zu  sehen.  Jerusalem  brachte 
dabei  die  französischen  Ausleger  und  Nachahmer  der  Alten  in  Vorschlag, 
da  es  in  Deutschland  an  geschmackvollen  Kommentaren  und  Über- 
setzungen noch  fehle.  Ebenso  sollte  die  Landesuniversität  zu  Helmstedt 
als  Universität  du  bon  sens  eingerichtet  werden,  um  geschickt  zu  sein, 
das  auf  dem  Carolinum  Begonnene  fortzuführen.  Die  Anstalt  fand 
Beifall  und  Nachahmung;  die  Inskriptionslisten  weisen  in  den  ersten 
Jahren  über  50  Namen  jährlich  auf,  darunter  viele  Adelige;  später 
sanken  sie  auf  die  Hälfte.     Sie  bestand  bis  1808. 

Im  Mecklenburgischen  treten  die  reformpädagogischen  An- 
schauungen in  ihren  ersten  Spuren  bei  der  Wiederherstellung  der  Dom- 
schule zu  Güstrow  (1662)  durch  Herzog  Gustav  Adolf,  der  sich  dabei 
auch  der  Beratung  des  Helmstedter  Schraders  bediente,  zu  Tage,  so- 
wohl in  der  Besorgnis  vor  der  Ansteckung  mit  dem  klassischen  Heiden- 
tum, als  in  der  Einführung  der  Elemente  der  neuen  Wissenschaften 
(Raspe,  Progr.  1853;  die  Schulordnung  bei  Vormbaum,  II,  584  ff.). 
Eine  tiefer  greifende  Veränderung  wurde  in  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  begonnen,  indem  neben  der  alten  Landesuniversität, 
wegen  der  Aufsässigkeit  Rostocks,  1760  eine  neue  zu  Bützow  errichtet 
und  hier  gleichzeitig  mit  der  Einrichtung  eines  Pädagogiums  nebst 
Realschule  und  Waisenhaus  vorgegangen  wurde.  Die  Namen  von 
Lehrern,  wie  Tetens  und  Biester,  deuten  den  Charakter  der  geplanten 
Reformen  an.  Doch  fand  die  ganze  Unternehmung,  welcher  der  Boden 
unter  den  Füßen  fehlte,  ein  baldiges  Ende  (Hölscher,  Progr.  von 
Bützow  1881).  Das  hinderte  nicht,  daß  allmählich  der  Einfluß  der 
neuen  Zeit  in  den  mecklenburgischen  Schulen  durchdrang;  bei  Rische 
(Progr.  von  Ludwigslust  1888)  findet  man  eine  Menge  Nachweisungen 
darüber,  wie  die  Unzufriedenheit  mit  veralteten  Lehrzielen  und  Lehr- 
methoden sich  auch  hier  in  vielen  Stimmen  äußert  und  Anfinge  der 

Paalseo,  Unterr.    Zweite  Aufl.    I.  37  ^| 


578         ///,  5,    Die  Modernisierung  der  Gelekrtenschulen  u.  s,  w. 


Modernisierung  zuerst  im  Sinne  der  Hallischen,  dann  der  Göttingisehen 
Anschauungen  durchsetzte. 

Die  alte  pommersche  Landesschule  zu  Stettin  wurde  als 
Gymnasium  academicum  Carolinum  1667  wieder  aufgerichtet.  Ein 
Visitationsrezeß  von  1703  (Wehrmann,  93)  läßt  in  den  Unterrichts- 
betrieb einen  Blick  thun.  Gelehrt  werden  außer  den  Sprachen  die 
philosophischen  Disziplinen  und  in  einleitenden  Kursen  alle  Fakultäts- 
wissenschaften. Latein  ist  das  Hauptstück,  vom  Griechischen  werden 
nur  die  Elemente,  und  die  zuweilen  nur  privatim^  gelehrt  Logik,  Meta- 
physik, Ethik,  Politik  wird  nach  modernen  Lehrbüchern,  frei  von  den 
„nichtswürdigen  Subtihtäten  und  unnützen  Disputationen"  der  Schola- 
stiker vorgetragen.  Mathematik  und  Naturwissenschaft  sind  mit  der 
medizinischen  Professur  verbunden;  die  Physik  soll  experimentell  be- 
handelt werden,  nicht  nach  Art  der  Scholastiker;  ein  botanischer  Garten 
und  eine  Anatomiekammer  wird  erwähnt,  doch  scheint  es  damit  nicht 
viel  geworden  zu  sein.  Für  die  Geschichte,  die  bisher  nach  dem  alten 
SiiEiDAN  war  behandelt  worden,  wird  Püfendorf  empfohlen :  „historia 
civilis  tarn  universalis  quam  particularis  wird  nach  Gelegenheit  der 
Zeit  und  der  Zuhörer  dergestalt  profitieret,  daß  nach  Absolvierung  der 
historia  universalis  sonderlich  absolvieret  werde,  was  in  den  beiden 
letzten  saeculis  sing\ilis  annis  in  singulis  rebus  publicut  meistens  circa 
regimina  sich  zugetragen  hat,  wie  die  regna  et  res  puhlicae  ihren  Ur- 
sprung und  Wachstum  genommen,  auch  wie  sie  in  Decadence  geraten, 
wobei  nicht  weniger  Genealogia,  Chronologia  und  Geographia  mit  allem 
Fleiß  zu  proponieren".  Der  Jurist  liest  meist  Institutionen,  doch  auch 
einmal  über  Püfendobf,  De  statu  imperii  Germaniae.  Disputationen 
finden  häufig  statt.  Auch  werden  die  modernen  Sprachen  gelernt  und 
bald  finden  sich  Exerzitienmeister  ein.  Man  sieht,  es  ist  das  Vorbild 
der  Ritterakademie,  nach  dem  sich  die  Anstalt  streckt  —  Ahnliches 
wird  auch  von  der  Anstalt  zu  Stargard,  die  1714  als  Gymnasium 
ilhistre  konstituiert  wird,  berichtet  (Falbe,  Gesch.  des  Gymn.  zu  Star- 
gard, 1831). 

Im  Holsteinischen  ging  die  alte  Klosterschule  zu  Bordesholm 
ein  (1665),  indem  ihre  Güter  an  die  neu  gegründete  Universität  Kiel 
gegeben  wurden.  Im  Jahre  1738  wurde  zu  Altena  ein  neues,  nach  den 
modernen  pädagogischen  Anschauungen  eingerichtetes  Gymnasium  aca- 
demicum und  Pädagogium  gegründet;  es  ist  das  noch  bestehende 
Christianeum.  Schon  im  Jahre  1725  hatte  die  Stadt  eine  große  Latein- 
schule, in  welcher  die  modernen  Disziplinen  von  Anfang  an  vertreten 
waren,  errichtet;  an  ihre  Stelle  trat  jene  königliche  Stiftung,  welche 
außer  einer  Lateinschule  und  einem  Pädagogium  zugleich  vorbereitende 


Pommern,  Holstein,  Oldenburg  u,  s,  w,  579 


akademische  Vorlesungen  in  allen  Fakultäten  und  dazu  ein  seminarium 
candidatorum  ministerii  ecclesiastici  et  scholastici  mit  fünf  Stipendien- 
plätzen umfaßte.  Das  letztere,  offenbar  nach  Hallischem  Muster  ein- 
gerichtet, hatte  die  Bestimmung,  Landeskindern,  die  in  Theologie  und 
Philosophie,  in  Sprachen  und  Mathematik  ihren  Kursus  vollendet  hätten, 
Gelegenheit  zur  theoretischen  Fortbildung  und  andererseits  zur  prak- 
tischen Übung  im  Predigen  und  Unterrichten  zu  geben;  doch  wurde 
es  schon  nach  wenigen  Jahren  aufgegeben,  wie  denn  überhaupt  die 
Anstalt  mit  vielen  Widerwärtigkeiten  zu  kämpfen  hatte,  bis  sie  gegen 
Ende  des  Jahrhunderts  zu  festerem  Bestand  kam  (Programme  von 
1844,  1888). 

Die  Schule  zu  Oldenburg,  welches  damals  ebenfalls  unter  däni- 
scher Eegierung  stand,  erhielt  1703  eine  neue  Lehrordnung,  worin  die 
neuen  ünterrichtsgegenstände,  außer  Deutsch,  Geschichte,  Geographie 
und  Mathematik  auch  Ethik  und  institutiones  juris ,  meist  mit  einer 
Stunde  wöchentlich,  genannt  werden.  Von  1733  — 1768  war  der 
Wolfianer  J.  M.  Herbabt,  der  Großvater  des  Philosophen,  Rektor;  ihm 
folgte  M.  Ehlebs,  der  zu  dem  Kreis  der  holsteinischen  Aufklärungs- 
pädagogen  gehörte,  1771  kam  er  nach  Altena,  1786  nach  Kiel,  wo  er 
als  Professor  an  der  Universität  und  als  fruchtbarer  Schriftsteller  für 
die  Verbreitung  der  Aufklärungspädagogik  wirkte  (Meinakdus,  84  ff.). 

In  auffallender  Weise  scheinen  die  Schulen  der  beiden  großen 
Nordseestädte,  Hamburg  und  Bremen,  hinter  der  Zeit  zurück- 
geblieben zu  sein;  ist  es,  weil  eine  höfische  Regierung  fehlte,  welche 
die  Modernisierung  betrieben  hätte?  oder  hinderten  die  akademischen 
Institute,  die  mit  ihnen  verbunden  waren,  oder  die  zahlreichen  Privat- 
schulen die  Entwickelung  der  Schulen?  Das  Hamburger  Johanneum 
hatte  von  1708 — 1711  den  berühmten  Litterarhistoriker  F.  A.  Fabeicius, 
dann  bis  1781  den  kaum  minder  bekannten  Verfasser  historischer  und 
geographischer  Schulbücher,  Joh.  Hübneb  aus  Zittau,  Che.  Weises 
Schüler,  zum  Rektor.  Eine  durchgreifende  Reform  des  Unterrichts  scheint 
aber  von  ihnen  nicht  versucht  oder  doch  nicht  durchgesetzt  worden  zu 
sein.  Die  Schulordnung  von  1732  betont  den  deutschen  Unterricht 
und  erst  die  Lehrordnung  von  1760  zeigt  die  Erweiterung  des  Lehr- 
plans, welche  an  vielen  Schulen  schon  am  Anfang  des  Jahrhunderts 
durchgeführt  war.^  Dagegen  hatte  das  Äcademicum  schon  1652  unter 
JuNGiüs  eine  neue  Ordnung  erhalten,  in  welcher  der  Unterricht  in 
Mathematik  und  Physik,  mit  Demonstrationen  und  Übungen,  hervortritt, 
unter  anderem  wird  die  Anschaflfung  eines  physikalischen  Apparats  mit 


^  Calmberq,  Gesch.  des  Johanneums,  194.    Hoche,  Beiträge,  118  £^ 

87* 


580         lU,  5.    Die  Modernisierung  der  Gelehrtenschtden  u,  s.  w. 


einem  besonderen  Schrank  dafür  angeordnet  (Voembaum,  II,  432).  — 
Das  Pädagogium  zu  Bremen,  mit  dem  das  Gymnasium  illustre  ver- 
bunden war,  erfuhr  im  Jahre  1765  die  erste  große  Reformation  seit 
seiner  Stiftung;  nachdem  es  bisher  bloß  die  Verbalwissenschaften  gelehrt 
und  also  nur  den  eigentlichen  Gelehrten  gedient  habe,  so  wolle  man 
es  nunmehr  gemeinnütziger  machen.  In  diesem  Sinne  wurde  der  Lehr- 
plan ergänzt.  Zugleich  trug  man  Sorge  für  eine  feinere  Bildung;  das 
Niedersächsischreden  wurde  gänzlich  abgestellt  und  der  „Anführung  der 
Jugend  zur  Tugend  und  Geschliffenheit*-  besondere  Aufoierksamkeit  ge- 
widmet, da  das  schädliche  Vorurteil  der  ehemaligen  Zeiten,  daß  einem 
Gelehrten,  wenn  er  nur  Kenntnisse  besitze,  das  Ungeschliffene  und 
Unanständige  nicht  zur  Mißzierde  gereiche,  in  diesen  aufgeklärten  Zeiten 
sich  glücklicherweise  verloren  habe  (Ritz,  63  ff.). 

In  den  fränkischen  Fürstentümern  wurde  1664  zu  Baireuth 
von  Christian  Ernst,  einem  Neffen  des  großen  Kurfürsten,  unter  dessen 
Leitung  er  auch  erzogen  worden  war,  an  Stelle  der  alten  Lateinschule 
ein  Gymnasium  illustre  mit  dem  üblichen  Apparat  eines  solchen  errichtet; 
außer  den  alten  Schuldisziplinen  wurden  Geschichte  und  Politik,  Mathe- 
matik und  Französich,  Reiten,  Fechten  und  Tanzen  gelehrt;  die  Zög- 
linge der  obersten  Klassen  trugen  Degen  und  duellierten  sich.  Mit 
Mühe  erhielt  sich  die  großartige  Anstalt  in  dem  kleinen  Lande.  Im 
Jahre  1737  wurde  die  alte  Landesschule  im  Kloster  Heilsbronn,  welche 
beiden  Fürstentümern  gemeinsam  gehorte,  aufgehoben,  die  Einkünfte  auf 
die  Schulen  zu  Baireuth  und  Ansbach  verteilt  und  nunmehr  auch  die 
alte  Ansbachsche  Lateinschule  zu  einem  Gymnasium  illustre  Carolinum 
erhoben.  Das  Baireuther  Gymnasium,  welches  dem  Hof  des  Markgrafen 
lYiedrich  noch  zu  wenig  lustre  zu  geben  schien,  wurde  1742  in  eine 
Akademie  verwandelt;  dieselbe  wurde  jedoch  schon  im  folgenden  Jahr 
als  Universität  nach  Erlangen  verlegt.^ 

Das  nürnbergische  Gymnasium,  welches  1633  von  Altdorf  nach 
der  Stadt  zurückverlegt  und  mit  einleitenden  akademischen  Vorlesungen 
ausgestattet  worden  war,  erhielt  bei  der  Wiederherstellung  nach  einem 
Brande  1699  eine  neue  Lehrordnung,  welche  in  allen  Stücken  die 
Modernisierungsbestrebungen  zum  Ausdruck  bringt.  Die  Lehrbücher  des 
CoMENius  und  Cellariüs  werden  gebraucht,  Universalgeschichte  und 
Mathematik  durch  alle  sechs  Klassen,  Geographie  in  der  obersten  gelehrt 
Vermutlich  hat  der  berühmte  Altdorfer  Mathematiker  J.  Chr.  Stükm, 
der  das  Lehrbuch  für  den  mathematischen  Unterricht  verfaßt  hat^  auf 

^  K.  Fries,  Gesch.  der  Studienanstalt  zu  Baireuth  (1864);  L.  Schiller, 
Das  Carolo-Alexandrinum  zu  Ansbach  (Progr.  1873,  75,  79);  Enqelhardt,  Die 
Univers.  Erlangen,  1843. 


Franken,   Württemberg.  581 


die  Neugestaltung  Einfluß  gehabt  Die  gleichzeitige  Ordnung  für  die 
deutschen  Schulen  nimmt  Bücksicht  auf  Frangkes  Waisenhauslehrord- 
nung (VoRMBAUM,  n,  7 55 ff.;  Raumer,  II,  161). 

Einen  Einblick  in  den  ünterrichtsbetrieb  zu  St.  Anna  in  Augs- 
burg gewährt  ein  nicht  uninteressantes  Tagebuch  eines  Alumnus,  der 
1719  valedizierte.  Im  Jahre  1718  erbaten  die  Schüler  vom  Rat,  daß 
der  Rektor  ihnen  geographische  Lektionen  geben  dürfe,  was  sie  auoh^ 
gegen  den  Willen  des  Ephorus,  erreichten.  Für  das  Französische  wurde 
in  demselben  Jahr  ein  Sprachmeister  angenommen  und  wieder  abgeschafft 
Philosophie  wurde  nach  dem  deutschen  Lehrbuch  des  Bdddeus  ge- 
lehrt; Geschichte  und  Mathematik  werden  kaum  erwähnt  Das  große 
Ereignis  während  des  Schullebens  des  Alumnus  war  die  Aufführung  einer 
vom  Rektor  verfaßten  deutschen  Komödie  historisch-politisch-patriotischen 
Inhalts;  nachdem  zwei  Monate  lang  TTbungen  und  Proben  stattgefunden 
hatten,  wurde  dieselbe  sechsmal,  fast  an  aufeinander  folgenden  Tagen, 
aufgeführt,  wozu  das  ganze  Honoratiorenpublikum  von  den  Schülern 
invitiert  wurde  (Augsb.  Progr.  1876). 

Im  Württembergischen  wurde  das  alte  Pädagogium  zu  Stutt- 
gart 1686  als  Gymnasium  illustre. neu  gegründet  Der  Lehrplan  vom 
Jahre  1687,  auf  dessen  Gestaltung  ein  Gutachten  des  Altdorfer  Mathe- 
matikers Stürm  vielleicht  Einfluß  gehabt  hat,  zeigt  folgende  Stunden- 
verteilung für  die  beiden  oberen  Klassen:  Latein  sechs  bis  sieben, 
Griechisch  und  Hebräisch  je  zwei,  Theologie  und  Philosophie  sechs, 
Mathematik  und  Physik  vier,  Geschichte  und  Geographie  drei  bis  vier 
wöchentliche  Stunden.  Im  Griechischen  wird  das  neue  Testament  ge-* 
lesen,  Nichttheologen  werden  dispensiert.  Französisch  und  Italienisch 
wird  privatim  gelehrt  (Lampabteb,  Progr.  1879).  In  die  Kloster- 
schulen drangen  die  neuen  Ideen  später  ein.  Au  einer  von  ihnen, 
Denkendorf,  war  der  Vertreter  des  württembergischen  Pietismus, 
J.  A.  Bengel,  Lehrer  (1713 — 1741),  und  brachte  den  Hallischen  ver- 
wandte Anschauungen  zur  Geltung  (Schmld,  Encyklop.,  I,  564).  Die 
neuen  Statuten  vom  Jahre  1757  nehmen  allgemein  die  ersten  Elemente 
der  modernen  Bildung  in  den  Kursus  auf  (Wundeblich,  32  ff.). 

Hier  mag  auch  gleich  die  hohe  Karlsschule  erwähnt  sein,  ob- 
wohl sie  einer  etwas  späteren  Zeit  angehört;  sie  ist  vielleicht  der  Idee 
einer  allgemeinen  Bildungsanstalt  nach  dem  Herzen  der  höfischen  Auf- 
klärung am  nächsten  gekommen,  wie  sie  denn  auch  von  den  Zeitgenossen 
viel  besucht  und  bewundert  wird.  Herzog  Karl  Eugen  begann  1770 
zuerst  auf  der  Solitude  eine  Schule  für  Hofbeamte  einzurichten;  sie 
wuchs  und  wandelte  sich  ihm  unter  der  Hand,  wurde  1775  nach 
Stuttgart  verlegt  und  erhielt  von  Joseph  IL,  der  sich  lebhaft  für  sie 


582         III,  5.    Die  Modernisierung  der  OelehrtenschtUen  u.  s.  w. 


interessierte,  1781  üniversitatspriTÜegien.  Sie  nahm  Eleven,  die  der 
Herzog  unterhielt,  Pensionäre  und  Stadtschüler  auf.  Ihre  Zahl  stieg 
bis  auf  über  500;  der  jährliche  Aufwand  wird  einmal  auf  60000  fl. 
angegeben.  Es  ist  eine  Bildungsanstalt  universellsten  und  eigentüm- 
lichsten Charakters.  Sie  umfaßt  alle  Unterrichtsstufen,  von  den  Ele- 
menten bis  zu  den  Fakultätswissenschaften;  sie  lehrt  alle  Sprachen, 
alle  Wissenschaften,  alle  Künste;  sie  bildet  Hof-,  Militär-  und  Civil- 
bediente  jeder  Art,  vom  Minister  und  General  abwärts:  sie  liefert  Bau- 
meister, Ärzte,  Gärtner,  Ballettänzer,  Perrückenmacher,  alles,  nur  keine 
Theologen.  Bürgerschule^  Realschule,  Gymnasium,  Handelsschule, 
Kriegsschule,  philosophische,  juristische,  medizinische,  staatswissenschaft- 
liche und  naturwissenschaftliche  Fakultät,  land-  und  forstwirtschaftliche 
Akademie,  Polytechnikum,  Kunstschule,  Musik-,  Theater-,  Balletschule: 
alles  ist  in  ihren  zahlreichen  Abteilungen  vereinigt.  Der  Herzog  selbst 
ist  der  Mittelpunkt;  er  ist  Oberschulmeister,  Oberpädagog,  Oberexami- 
nator, täglich  gegenwärtig,  antreibend,  prüfend,  strafend,  belohnend; 
er  selbst  wählt  Lehrer  und  Schüler.  Karl  Eugen  ist  der  Typus  des 
aufgeklärten  Despoten  oder  sogenannten  Landesvaters,  der  nach  dem 
eigenen  Bilde  die  Unterthanen  formen  will,  zunächst  den  ganzen 
Beamten-  und  Hofstaat  Das  formelle  Prinzip  ist  das  bien  raisonner 
seines  großen  Vorbildes,  Friedrichs  d.  Gr.:  selbständig  denken  lernen 
ist  der  Zweck  des  Unterrichts.  Hierzu  soll  vor  allem  der  philosophische 
Unterricht  führen,  dem  daher  auf  der  Mittelstufe  ein  ungemein  breiter 
Kaum  zugewiesen  ist.  Auf  der  Unter-  und  Mittelstufe  bilden  die 
Sprachen,  besonders  das  Lateinische,  dann  auch,  mit  der  Zeit  starker 
hervortretend,  das  Griechische,  daneben  die  modernen  Sprachen,  die 
Geschichte  und  Geographie  die  Substanz  des  Unterrichts.  Auf  der 
Oberstufe  tritt  der  fach  wissenschaftliche  Unterricht  in  den  Vordergrund. 
Bekanntlich  war  Schiller  von  1773—1780  Eleve  der  Karlsschule;  ihr 
Unterricht  ist  nicht  ohne  Spuren  in  seinem  Wesen  geblieben ;  das  uni- 
versal-wissenschaftliche und  philosophische  Interesse,  auch  die  Richtung 
auf  Eloquenz  und  ßäsonnement  weisen  darauf  hin.  —  Mit  dem  Tode 
des  Herzogs  (1793)  ging  auch  seine  Lieblingsschöpfung  ein,  oder  viel- 
mehr, sie  wurde  von  seinem  Nachfolger  sogleich  abgethan  (1794).  Die 
alte  Universität  Tübingen,  die  durch  das  Konkurrenzinstitut  auf  das 
theologische  Stift  reduziert  zu  werden  in  Gefahr  war,  wurde  dadurch 
gerettet  (Klüpfel,  196).^ 

^  Eine  kurze,  aber  lehrreiche  Darstellung  der  hohen  Karlsschule  giebt 
J.  Klaiber,  im  Progr.  des  Stuttgarter  Realgymnasiums,  1873.  Viel  Material  in 
Waqners  Gesch.  der  Karlsschuie.  3  Bde.  1856.  S.  auch  Weltrichs  Schiller- 
biographie. 


Hohe  KarlsscJvuU,    Karlsruhe,  583 


Noch  mag  bemerkt  sein,  daß  die  neologischen  Bestrebungen  den 
Widerspruch  der  Alten  hervorriefen.  Zum  Redeaktus  des  Stuttgarter 
Gymnasiums  bei  der  Schülerentlassung  1788  (Hegel  war  unter  den 
Abiturienten)  lud  der  prof,  eloquentiae  Haüg  mit  einem  Programm  ein: 
de  Galantismo  liiterario  eruditioni  periculoso.  Aus  der  Charybdis  des 
Pedantismus,  so  führt  er  aus,  seien  wir  in  die  Scylla  des  Galantismus 
verfallen,  jener  Bildung  für  Junkerlein,  deren  Philologie  ein  wenig 
Französisch,  deren  Arbeit  das  Zureiten  von  Pferden  nebst  Fechten  und 
Tanzen,  deren  Wissenschaft  etwas  Geschichte  und  Geographie  sei.  Er 
führt  die  Sache  auf  die  Weichlichkeit  der  Eltern,  den  Unverstand  der 
Regierungen  und  die  Leichtfertigkeit  der  Pädagogen  zurück  (Schanzen- 
bach, Festschrift  des  Stuttgarter  Gymn.,  1886). 

Die  alte  markgräflich  badische  Landesschule  wurde  1724  von 
Durlach  nach  der  neuen  Residenz  Karlsruhe  verlegt  und  seitdem  als 
Gymnasium  illustre  bezeichnet.  Bis  zur  Zerstörung  durch  die  Franzosen 
im  Jahre  1689  hatte  sie  mit  ihren  fünf  Klassen  und  den  lectiones 
publicae,  sowie  dem  mit  ihr  verbundenen  Theologenkonvikt,  den  badi- 
schen Theologen  ihre  ganze  gelehrte  Bildung  gegeben;  in  der  Regel 
besuchten  nur  Begabtere,  die  etwa  sich  zu  Professoren  an  der  Landes- 
schule zu  eignen  schienen,  auswärtige  Universitäten.  Die  Professoren 
waren  übrigens  zugleich  praktische  Geistliche,  wie  denn  auch  die  juristi- 
schen und  medizinischen  Kurse,  die  zu  den  lectiones  publicae  gehörten, 
von  praktischen  Juristen  und  Ärzten  gehalten  wurden.  Nach  1689 
wurde  der  Konvikt  nicht  wieder  hergestellt.  Die  Modernisierung  des 
Schulkursus  hatte  schon  in  Durlach  begonnen;  Mathematik  und  Natur- 
kunde, sowie  die  ritterlichen  Exerzitien  werden  schon  im  17.  Jahr- 
hundert, Geschichte  und  Geographie,  mit  Benutzung  der  Zeitungen,  seit 
1710  erwähnt.  In  Karlsruhe  gedieh  die  Anstalt  zuerst  nicht.  Erst 
unter  Karl  Friedrich  (1746—1811),  der  sie  in  der  Richtung  auf  die 
schönen  und  nützlichen  Wissenschaften  förderte,  hob  sie  sich.^ 

Im  Pfälzischen  wurde  anstatt  der  im  großen  Krieg  zu  Grunde 
gegangenen  Klosterschule  Hornbach  ein  Gymnasium  zu  Zweibrücken 
als  Landesschule  errichtet;  dasselbe  hatte  im  18.  Jahrhundert  nicht 
unbedeutendes  Ansehen.  Ein  Lehrplan  vom  Jahre  1720  hat  die  übliche 
Gestalt  der  modernisiei-ten  Gymnasien,  auch  an  privaten  philosophischen 
Lektionen  für  eine  Selekta  fehlte  es  nicht.    Die  Klosterschule  Höningen, 


*  ViERORDT,  Gesch.  des  Karlsruher  Gymnasiums  (1856)  und  Funk,  Gesch. 
der  alten  badischen  Fürstenschule,  Progr.  Karlsruhe  1881,  wo  man  eine  aus- 
fuhrliche Darstellung  des  Schulgangs  des  berühmten  Philologen  A.  Boeckh 
(1792—1803)  findet;  bemerkenswert  ist,  daß  dieser  auch  die  Kurse  der  mit  der 
Anstalt  verbundenen  Realschule  besuchte. 


584       ///,  ß.    Zustände  des  gelehrten  Unterrichtswesens  um  1700. 


welche  ebenfalls  dem  Krieg  zum  Opfer  gefallen  war,  erstand  wieder  in 
der  gräflich  Leiningenschen  Residenz  Grünstadt  1716.  In  der  Eurpfalz 
dagegen  lag  das  ganze  Unterrichtswesen  während  des  18.  Jahrhunderts 
infolge  der  Mißregierung,  welche  mit  den  katholischen  Kurfürsten  seit 
1685  begonnen  hatte,  heillos  darnieder  (Bavaria  IV,  2,  524  flF.). 


Sechstes  Kapitel. 

Zustände  des  gelehrten  Unterrichtswesens  am  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts  und  Urteile  darüber. 

Ich  will  in  diesem  Kapitel  nicht  eigentlich,  wie  im  sechsten  Kapitel 
des  ersten  und  wieder  im  sechsten  Kapitel  des  vierten  Buchs,  einen 
Querschnitt  durch  den  Bestand  des  Schulwesens  geben,  das  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  bildet  keinen  auch  nur  relativen  Abschluß;  ich  will 
bloß  mit  ein  paar  Bemerkungen  die  Gesamtlage  charakterisieren,  ein 
paar  Urteile  von  Zeitgenossen  hinzufügen  und  ein  paar  Lebensbilder 
einlegen. 

Im  ganzen  ist  die  Situation  dadurch  bezeichnet,  daß  neben  der 
alten  Gelehrtenbildung  eine  neue,  die  höfisch-französische  Bildung,  auf- 
gekommen ist  und  jene  in  den  Schatten  stellt  An  den  Höfen  und  in 
der  großen  Welt  gilt  die  französische  Sprache  und  Bildung;  sie  schließt 
die  moderne  Wissenschaft,  Naturwissenschaft  und  Mathematik,  Natur- 
recht und  Staatswissenschaften,  Geschichte  und  Geographie  ein.  Anderer- 
seits ist  doch  auch  die  alte  lateinische  Gelehrtenbildung  noch  da  und 
gilt  auf  Schulen  und  Universitäten  als  unentbehrlich.  Latein  ist  noch 
die  Sprache  der  Gelehrsamkeit  und  der  Universitäten;  die  Vorlesungen 
und  vor  allem  die  Disputationen  werden  in  lateinischer  Sprache  ge- 
halten. Auch  die  Universitätslitteratur  ist,  wie  man  aus  der  Beilage  I 
entnehmen  mag,  noch  ganz  überwiegend  lateinisch.  Auf  die  Universi- 
täten komme  ich  hier  nicht  zurück;  dagegen  versuche  ich,  das  Bild  der 
Schulen  mit  ein  paar  Umrißlinien  zu  zeichnen. 

Aus  der  gegebenen  Übersicht  geht  hervor,  daß  die  Zeit  der  alten 
Schulklöster  vorbei  war.  Viele  der  im  16.  Jahrhundert  gestifteten  An- 
stalten hatten  den  großen  Krieg  überhaupt  nicht  überlebt;  andere  waren 
aus  der  ländlichen  Abgeschiedenheit  in  die  Städte  verpflanzt,  das 
Joachimsthal  nach  Berlin,  Heilsbronn  nach  Ansbach  und  Baireuth, 
Bordesholm  nach  Kiel  u.  s.  w.;  dazu  waren  in  den  zahlreichen  großen 
und  kleinen  Residenzen  manche  neue  Schulen,  mit  dem  illustren  Namen 


Moderne  Wissenschaften  und  Beredsamkeit.  585 

des  illustren  Gründers  geziert,  entstanden.  Der  äußeren  Wandlung 
entsprechen  innere  Veränderungen.  Das  Ziel  der  Erziehung  und  des 
Unterrichts  ist  nicht  mehr,  demütige  Kleriker  oder  bescheidene  Gelehrte 
zu  bilden;  vielmehr  richtet  sich  der  Ehrgeiz  neumodischer  Schulmeister 
darauf,  gewandte  Weltleute  aus  der  Schule  zu  entlassen,  die  einmal  bei 
Hof  und  im  Rat,  oder  auch  auf  der  Kanzel  und  im  Konsistorium  sich 
zu  präsentieren  verstehen.  Und  dieses  stolze  Ziel  wirkt  natürlich  auf 
den  ganzen  Habitus  der  Schule  in  Disziplin  und  Unterricht  zurück. 

Es  steht  hiermit  in  Zusammenhang,  daß  die  Schule  in  diesem  Zeit- 
alter eine  starke  Neigung  zeigt,  sich  an  die  Öffentlichkeit  zu  drängen. 
Ihr  Glanz  hängt  davon  ab,  daß  sie  mit  zahlreichen  Rednern  unter 
Musik  und  Pomp  aller  Art  bei  öffentlichen  Gelegenheiten  hervortritt, 
worin  denn  übrigens  die  Jesuitenkollegien  voranleuchteten.  Natürlich 
gehörten  dazu  auch  gedruckte  Prunkleistungen;  der  Konsum  der  Schulen 
an  Papier  und  Druckerschwärze  für  Programme,  Reden  und  Gedichte 
in  lateinischer,  deutscher  und  französischer  Sprache  hat  seinen  Höhe- 
punkt in  dem  Jahrhundert  nach  dem  westfälischen  Frieden  erreicht. 
Es  hängt  das  übrigens  auch  damit  zusammen,  daß  der  Unterschied 
zwischen  Schulen  und  Universitäten  so  verwischt  war,  wie  zu  keiner 
anderen  Zeit;  jede  größere  Schule  meinte  sich  durch  Disputationen  und 
Deklamationen  zum  Gymnasium  academicum  aufzuschwingen.^ 

Im  Verlauf  des  18.  Jahrhunderts  drängt,  wie  schon  früher  bemerkt 
wurde,  der  öffentliche  Redeaktus  die  anderen  Akte,  Disputationen  und 
dramatische  Aufführungen,  mehr  und  mehr  zurück;  die  Schulkomödien 
verschwanden  ganz  und  die  Disputationen  wurden  obsolet,  ein  Vorgang, 
der  mit  dem  Absterben  der  alten  Schulphilosophie  und  Schultheologie 
zusammenhängt.  Dagegen  gedieh  die  öffentliche  Rede  oder  der  Vor- 
trag; sie  geht  mit  dem  Aufkommen  der  neuen  Philosophie  Hand  in 
Hand;  man  beginnt  von  den  Dingen,  die  die  Gegenwart  angehen,  mit 
philosophischen  Räsonnements  zu  handeln;  die  Popularphilosophie  ist 
ja  nichts  anderes.  Das  Aufkommen  der  Zeitschrift-en,  der  sogenannten 
moralischen  Wochenschriften,  geht  damit  parallel:  ihren  Inhalt  bilden 
gedruckte  Reden;  oder  umgekehrt:  die  öffentlichen  Reden  sind  ge- 
sprochene Wochenschriftenaufsätze.  Alle  Welt  beteiligt  sich  daran; 
mit  täglich  neuer  Freude  wird  nach  der  langen  Entbehrung  während 
der  Periode  des  Konfessionszwangs  und  der  Lateinherrschaft  über  alle 
Dinge  des  öffentlichen  und  des  privaten  Lebens  in  der  Muttersprache 
gehandelt.    Niemals  hat  man  sich  mehr  der  Publizität  und  der  Bered- 


^  Eine  große  Masse  Titel  von    derartigen  Scbulscbriften   aus   dieser  Zeit 
giebt  Zober  in  der  Gesch.  des  Stralsunder  Gymn.,  IV,  102  ff. 


586       Uly  6.    Zustände  des  gelehrten  Unierrichtswesens  um  1700, 


samkeit  erfreut,  als  in  Deutschland  zur  Zeit  der  Gottsched -Weisse- 
Gelleet  sehen  „Wasserfluth". 

An  dieser  allgemeinen  Redelust  beteiligen  sich  auch  die  Schulen. 
Bei  jeder  Gelegenheit,  Schulfesten,  Kirchenfesten,  Landesfesten  —  die 
Feier  des  landesherrlichen  Geburtstags,  wovon  das  16.  Jahrhundert  noch 
nichts  gewußt  hatte,  kommt  in  dieser  Zeit  auf  —  führt  die  Schule  ihre 
Redner  hervor;  in  allen  Sprachen,  die  in  der  Schule  getrieben  werden, 
wird  geredet,  vorzüglich  natürlich  in  der  lateinischen,  der  Sprache  der 
Eloquenz,  dann  der  deutschen;  aber  auch  französisch,  italienisch,  eng- 
lisch, griechisch  und  hebräisch  kommt  vor.  Für  die  Wahl  der  Themate 
ist  die  Wendung  zur  Gegenwart  bezeichnend.  Die  alten  Deklamationen 
entnahmen  ihren  StoflF  dem  Altertum  oder  der  Philosophie.  Die  neue 
Beredsamkeit  liebt  das  Moderne  und  Aktuelle.  Man  behandelt  patrio- 
tische und  politische  Ereignisse,  das  Lob  des  Landesvaters  ist  allein  ein 
unerschöpflicher  Gegenstand;  oder  es  wird  über  theologische  und  reli- 
giöse, litterarische,  litterar-historische,  philosophische  und  pädagogische 
Fragen  gehandelt,  nicht  selten  in  der  Form,  daß  in  utramque  partem 
disseriert  wird.  Je  mehr  Redner  die  Schule  stellen  kann,  desto  größer 
der  lustre.  In  Dortmund  traten  beim  Reformationsjubiläum  (1743) 
35  Redner  und  zwei  Disputanten  von  der  Schule  auf.  In  Königsberg 
stellte  bei  der  Jubelfeier  der  Augsburgischen  Konfession  (1730)  die 
altstädtische  Schule  21,  die  Löbeniehtsche  16,  die  kneiphöfische 
24  Redner.  1 


^  Zahlreiche  Angaben  bei  Möller,  Gesch.  des  altstädt  Gymnasiums  zn 
Königsberg,  IV,  6  ff.  Ich  teile  ein  paar  Proben  von  Redethematen  mit,  wozu 
denn  zu  bemerken  ist,  daß  die  von  den  Schülern  öffentlich  vorgetragenen  Reden 
für  gewöhnlich  als  Arbeiten  der  Lehrer  anzusehen  sind,  ebenso  wie  die  gedruckten 
Dissertationen  der  Universitäten;  auch  wurde  den  Schullehrem  dafür  ebenso 
wie  den  Professoren  ein  Honorar  gereicht  Erst  allmählich  zog  sich  die  Teil- 
nahme der  Lehrer  mehr  auf  Anleitung  und  Korrektur  zurück.  In  Listerburg 
redeten  1687  acht  Redner  über  das  Thema:  encomium  aanctorum  angdorum. 
Der  erste  verteidigte  die  Existenz  der  Engel  gegen  ihre  Leugner;  der  zweite 
zeigte,  daß  die  Engel  keine  Körper  haben;  der  dritte  zählt  die  Eigenschaften 
der  Engel  auf  und  pries  ihre  Vollkommenheit;  der  vierte  handelte  von  dem 
Dienst  der  Engel,  und  zwar  von  ihren  musikalischen  Leistungen,  der  fünfte  von 
ihrem  Botendienst,  der  sechste  von  dem  Schutz,  den  sie  den  Menschen  gegen 
die  bösen  Geister  erweisen,  der  siebente  zeigte,  daß  wir  durch  die  Hilfe  der 
Engel  vielen  Gefahren  entgangen  sind,  der  achte  faßte  das  Ganze  zusammen  und 
dankte  Gott,  daß  er  Engel  schickt.  —  Dasselbe  Thema  kehrt  1711  in  anderer 
Ausführung  unter  einem  andern  Rektor  wieder  (Möller,  S.  12).  —  Von  dem 
Güttinger  Rektor  Heümann  (1717—1734)  berichtet  Pannenbobq  (Progr.  1886), 
daß  er  86  Programme  zu  Redeakten  der  Schüler  verfaßt  habe,  wogegen  er  die 
Ausführungen  und  Disputationen  habe  eingehen  lassen.  Da  wird  geredet  über 
die  Wichtigkeit  des  Stadtregiments,  die  Heiligkeit  des  Predigtamts,  den  Nutzen 


Der  Laiinitätsbeirieb.  587 


Auch  im  Unterricht  ist  das  Streben  zur  Gegenwart  erkennbar. 
Ich  habe  in  der  Übersicht  überall  darauf  hingewiesen,  wie  die  modernen 
Disziplinen,  Französisch  und  Deutsch,  Geschichte  und  Geographie, 
Mathematik  und  Naturwissenschaft  in  die  alten  Lateinschulen  ein- 
dringen. In  den  großen  Schulen  hatten  sie  wohl  um  1740  überall 
Fuß  gefaßt,  wenn  auch  zunächst  nicht  im  Ordinarium,  so  doch  im 
Extraordinarium,  d.  h.  in  privaten  und  freiwilligen  Stunden,  wogegen 
in  den  kleinen  Lateinschulen  in  der  Regel  weder  die  Mittel  der  Lehrer 
noch  der  Schüler  dafür  ausreichend  gewesen  sein  werden. 

Aber,  und  das  ist  nun  der  entscheidende  Punkt,  trotz  dieser  mo- 
dernen ßildungsbestrebungen  hatten  die  alten  Sprachen  oder  vielmehr 
das  Lateinische  immer  noch  die  Stellung  des  den  ganzen  Schulbetrieb 
beherrschenden  ünterrichtsgegenstandes.  Und  im  ganzen  und  großen 
war  Form  und  Ziel  des  lateinischen  Unterrichts  noch  derselbe  wie  im 
16.  Jahrhundert.  Immer  noch  handelte  es  sich  in  erster  Linie  um 
lateinische  Eloquenz;  darauf  war  der  ganze  Betrieb  nicht  bloß  auf  den 
kleinen  Lateinschulen,  die  den  modernen  und  höfischen  Einflüssen 
weniger  zugänglich  waren,  sondern  auch  auf  den  großen  Schulen  und 
den  neuen  illustren  Gymnasien  gerichtet.  Diesem  Zweck  diente  der 
ganze  ausgedehnte  grammatische  Unterricht  und  die  beständige  Übung 
im  Lateinschreiben.  Und  ebenso  war  die  Lektüre  ihm  dienstbar.  Die 
alten  Schriftsteller  wurden  zunächst  und  wesentlich  um  der  Sprache 
willen  gelesen;  mochte  daneben  etwas  für  Erudition  in  Geschichte  und 
Antiquitliten,  in  Philosophie  und  Moral  abfallen;  die  Hauptsache  blieb, 
den  Schulsack  mit  Formeln  und  Phrasen,  mit  Sentenzen  und  Bildern 
zu  füllen,  um  daraus  lateinische  Reden  und  Gedichte  anzufertigen.  Die 
Imitation  war  Maß  und  Ziel  des  ganzen  Unterrichts.  Das  tritt  überall 
zu  Tage.     So  äußerten  bei  den  Verhandlungen   über  die  Unterrichts- 


einer ordentlichen  Miliz;  oder:  daß  man  jungen  Leuten  in  den  Schulen  die 
Freiheit  lassen  solle,  nach  Belieben  eine  Disziplin  zu  wählen,  daß  der  Grobia- 
nismus aus  den  Werkstätten  der  Gelehrsamkeit  allerdings  zu  verbannen.  Ein- 
mal redeten  vier  Schüler:  der  erste  ,,stellte  die  Schullehrer  vor  als  Leute,  die 
in  großem  Elende  leben,  der  zweite  als  höchst  glückselige  Leute,  der  dritte  be- 
hauptete mit  dem  Pöbel,  daß  der  Stand  der  Schullehrer  ein  sehr  geringer  und 
verachtungswürdiger  Stand,  der  letzte  aber  mit  den  Verständigen,  daß  es  ein 
vornehmer  und  ein  sehr  ehrsamer  Stand  sei".  —  In  Stuttgart  redeten  die  Abitu- 
rienten des  Gymnasiums  1790  über  das  Thema:  Xova  rerum  in  Oallia  revohttio; 
1791:  De  facie  rerum  politicarum  in  Polonia  feliciter  mutata;  1804:  De  com- 
mutatione  reipublicae  Franco-Oallicae  in  Imperium  hereditarium  ^  wobei  fünf 
Redner  das  Encomium  Napoleons  sangen.  So  eifrig  war  man  dort  bedacht, 
nicht  hinter  der  Zeit  zurückzubleiben  (Schanzenbach,  Festschr.  des  Stuttgarter 
Gymnasiums,  1886,  S.  40). 


588      ///,  6*.    Zubände  des  gelehrten  Unierrichtswesens  um  1700. 


reform  in  St.  Afra  im  Jahre  1726  die  adeligen  Schulinspektoren  sich 
über  die  Lektüre  griechischer  Dichter  in  folgender  bezeichnenden  Weise: 
„Nicht  weniger  wollten  wir  dafür  halten,  daß,  weil  doch  die  griechische 
Poesie  itziger  Zeiten  nach  in  dem  Flor  und  Hochachtung  nicht  mehr 
ist,  auch  der  etwa  davon  sich  zu  versprechende  Nutzen  in  Ansehung 
der  Schulleute  vor  die  samtlichen  Alumnen  etwas  allzu  specielles  sein 
möchte,  sich  größerer  Nutz  davon  zu  versprechen,  wenn  statt  des  vor- 
geschlagenen griechischen  Poeten  ein  anderer  Autor  in  Graecü  Irak- 
tiret  würde,  und  könnten  dann  unbeschadet,  dafem  sich  ingenia  fanden, 
so  zu  der  griechischen  Poesie  Lust  hätten,  denselben  die  Vorteile  zu 
solcher  privatim  gewiesen  werden"  (Flathe,  242).  Es  ist  diesen  Leuten 
augenscheinlich  ein  völlig  fremder  Gedanke,  daß  man  in  der  Schule 
einen  Schriftsteller  zu  einem  anderen  Zweck  in  die  Hand  nehmen  könne, 
als  um  ihn  imitieren  zu  lernen. 

Aus  derselben  Schule  liegt  ein  Bericht  über  eine  im  Jahre  1735 
stattgehabte  Probelektion  des  Tertius  Weise  vor.  Nach  gehaltener  latei- 
nischer Oration  erklärte  der  Kandidat  zuerst  ein  Pensum  aus  Hesiod, 
dann  aus  dem  Livius,  zuletzt  aus  dem  Horaz.  Ich  gebe  die  Behand- 
lung des  Livianischen  Textes  (1,  18),  welche  durch  folgende  zehn  Stücke 
vollendet  wurde:  1.  übersetzte  der  Kandidat  den  Text  secundum  senswn 
grammaticum  ins  Deutsche,  2.  eröfiiiete  er  mentem  autoris  kistorice, 
3.  explizierte  er  constructionem  irregulärem^  wie  auch  4.  die  figuras 
rhetoricasy  5.  berührte  er  materiam  de  transmigraiione  animarum,  disse- 
rierte  6.  de  ordine  inter  sacerdotes  ethnicos  Romanos  und  7.  über  die 
auspices  und  deren  Verrichtung,  sowie  8.  ihren  Ursprung  von  Eomulus; 
endlich  9.  gab  er  eine  deutsche  Imitation  des  Textes,  welche  er  10.  so- 
fort wieder  in  die  lateinische  Sprache  übersetzte.  —  Ganz  ähnlich  ist 
die  Behandlung  der  beiden  anderen  Autoren,  zum  Hesiod  wird  eine 
griechische,  zum  Horaz  eine  poetische  Imitation  gegeben  (Flathe,  259  flF.). 
Ähnlich  stellt  sich  die  Behandlung  der  klassischen  Texte  in  den  Prüfungs- 
zeugnissen dar,  die  Koldewey  (II,  541  ff.)  aus  Braunschweig  mitteilt 
So  wird  dem  Rektor  Fricke  zu  Wolfenbüttel  bescheinigt,  daß  er  in 
einer  im  Jahre  1710  gehaltenen  Probelektion  über  eine  Stelle  aus 
Cicero,  eine  Ode  des  Horaz  und  die  dies  Uesiodi  „nicht  allein  mit  guter 
Geschicklichkeit  den  scopum  und  argumentum  eines  jeden  thematis  evol- 
viret,  darauf  exponiret  und  dabei  die  historiam  iemporum  ziemlich  mit- 
genommen, hernach  post  analysin  logicam,  rhetoricam  und  grammaticam 
also  fort  aus  dem  ersten  eine  gute  Imitation,  und  bei  den  andern  eine 
wohlgesetzte  parodiam  hinzugethan,  sondern  auch  bei  dem  letzten  noch 
ein  mehreres  vorzubringen  bereit  war,  so  aber  mitzunehmen  damalige 
Zeit  nicht  gestattete". 


Der  Latinitätshctrieb.  589 


Handelt  es  sich  hier  mehr  um  epideiktische  Leistungen,  so  werden 
wir  durch  einen  Bericht  des  Rektors  Masius  in  Schwerin  (1687 — 1714) 
an  die  Regierung  ganz  in  den  alltaglichen  Schulbetrieb  hineinversetzt. 
Das  nächste  Ziel  der  Lektüre  ist  das  Verständnis  des  Textes.  Hierzu 
wird  vorausgesetzt,  daß  z.  B.  bei  der  Lesung  der  Ciceronischen  Briefe 
oder  Reden  alle  das  Argument  und  die  Disposition  gegenwärtig  haben. 
„Darauf  müssen  alle  auf  zwei-  oder  dreimalige  Explikation  (durch  den 
Lehrer)  Acht  geben,  weil  das  als  der  Grund  alles  studierens  nicht  zu 
viel  getrieben  werden  kann.  Bei  der  letzten  Explikation  wird  ein 
Periodus  nach  dem  andern  vorgenommen  und  bei  den  inferioribus 
nach  der  natürlichen  Construktion  explicirt  und  hernach  considerirt: 
1.  quoad  praecipua,  etymologice,  2.  Si/ntactice,  wie  der  contextus  natU" 
raliter  zusammenhangen  sollte,  dabei  denn  leicht  zu  observiren,  wie  die 
constructio  naturalis  in  elegantiorem  zu  verwandeln  sei,  3.  wird  der 
periodus  durchgefragt  quoad  vocabula  und  observirt,  was  tarn  quoad 
voceSj  quam  significationem  vocum  minus  notum  mag  gewesen  und  nun 
erst  gelernet  sein,  4.  werden  die  phrases  durchgefragt,  5.  dieselbigen 
flugs  mündlich  exerciret  ad  imitationem  und  durch  etliche  regulas  syn-- 
tacticas  geführt,  bevorab,  wenn  sie  von  der  indole  linguae  Germ,  ab- 
gehen, 6.  werden  sie  variirt  per  synonymas  phrases  oder  per  casus  von 
den  peritioribus,  welches  denn  ein  feines  und  ad  copiam  comparandam 
sehr  dienliches  exercitium  ist,  7.  wird  der  ganze  contextus  wieder  ge- 
fragt, auf  daß  die  rechte  Erklärung  desto  besser  härire,  8.  wenn  die 
structura  darnach  ist,  rhetorice  der  periodus  oder  die  dictio  oder  figura 
examinirt,  9.  wenn's  die  Zeit  leidet,  wird  derselbe  ganze  contextus 
eines  oder  andern  periodi  soviel  möglich  mit  andern  Worten  exprimirt. 
10.  Letztlich  werden  in  einer  andern  Stunde  die  besten  phrases  aus 
der  Lektion  notirt,  wiederum  variirt,  imitirt,  reassumirt,  was  irgend  in 
der  vorigen  Lektion  wegen  Kürtze  der  Zeit  nicht  mag  haben  berührt 
werden  künnen,  und  also  der  Autor  soviel  möglich  ist  gesucht  in  succum 
et  sanguinem  zu  convertiren.  Da  denn  ein  jeder  sieht,  was  inferiores 
sowohl  als  superioresj  wenn  alle  attendiren,  durch  Gottes  Gnade  zu 
repetiren  und  zu  lernen  haben"  (Rische  im  Progr.  der  Realschule  zu 
Ludwigslust  1884). 

Es  leuchtet  ein,  daß  bei  diesem  Verfahren  das  Fortschreiten  im 
Text  nur  ein  sehr  langsames  sein  konnte.  Der  Konrektor  Werenberg 
in  Eisleben  (1677 — 1679)  giebt  in  einer  Verteidigung  gegen  Vorwürfe, 
welche  ihm  wegen  seines  Verfahrens  vom  Rektor  gemacht  worden  waren, 
das  von  ihm  durchgegangene  griechische  Pensum  an:  vom  10.  Januar 
bis  Ostern  habe  er  im  Hesiod  außer  der  Einleitung  46  Verse  durch- 
genommen, notas,  phrases  et  imitationem  de  vitanda  super bia  beigefügt, 


590      III,  6,    Zustände  des  gelehrten   ünterriMswesens  um  1700. 


vier  Imitationen  von  den  Schülern  anfertigen  lassen  und  drei  Bogen 
diktiert.  Bei  Ciceros  Offizien  halte  er  sich  allerdings  etwas  länger  auf, 
des  schönen  moralischen  Inhalts  wegen,  zum  Teil  auch  bei  den  ver- 
schieden en  philosophischen  Meinungen,  bei  der  rhetorischen  Zerlegung 
der  Perioden,  der  philologischen  Betrachtung  der  Latinitat,  endlich 
wegen  der  praktischen  Nützlichkeit  der  loci  communes  und  Imitationen 
(Ellendt,  139). 

Ausführiich  wird  der  Lateinbetrieb  durch  alle  Klassen  in  der  ver- 
besserten „Stadt -Hannoverschen  Schulordnung"  vom  Jahre  1716  be- 
schrieben; sie  ist  vom  Rektor  Auqspübg  nach  den  Grundsätzen  der 
Hallischen  Pädagogik  entworfen.^  Ich  setze  die  Hauptpunkte  her.  Der 
Unterricht  beginnt  in  V  mit  Lektionen  aus  Cellarü  libro  Latinitatu 
memoriali  und  Langii  Grammatica,  IV  lernt  aus  Cellarü  l,  Lat  mem. 
außer  den  mit  dem  signo  crucis  bemerkten  Vokabeln  zugleich  diejenigen, 
vor  welchen  sich  ein  asteriscus  findet.  Die  Substantiva  werden  mit 
Hinzufügung  eines  Adjektivs  dekliniert,  die  verba  mit  Hinzufügung 
eines  Substantivs,  auch  die  verba  anomala  defectiva  und  Impersonalia 
mit  allen  pronominibus  gelernt,  ferner  die  Regeln  von  den  generibus 
nominum,  die  sieben  Hauptregeln  der  Syntax  und  der  Gebrauch  der 
Partikeln.  Man  soll  die  lateinische  Sprache  in  die  deutsche  und  kurze 
deutsche  Sätze  ins  Lateinische  übertragen.  In  III  lernt  man  im  Cellarius 
eine  ganze  Seite  von  Wort  zu  Wort  mit  den  deutschen  Synonymen; 
femer  die  lateinischen  praeterita  und  supina,  die  genera  nominum  und 
die  sieben  Hauptregeln  der  Syntax  mit  den  nötigsten  Ausnahmen.  Man 
soll  mehr  aus  dem  Deutschen  ins  Lateinische  übersetzen,  Phaedri  Fabeln 
lernen,  mit  Variationen  der  Syntax,  und  mit  einem  exercitio  syntactico 
zwei  imiiationes  wöchentlich  verbinden.  II  lernt  im  Cellarius  die  ano- 
malischen  praeterita  und  supina,  die  sgntaxis  figurata  et  omata  mit 
allen  Exzeptionen  der  Regeln  und  Langes  Grammatik.  Mit  denen 
Phrasen  aus  der  Anthologia  latinitatis  und  den  rhetorischen  Figuren 
werden  Exercitia  extemporalia  und  Lateinreden  verbunden.  Aber  auch 
für  die  Kultur  der  deutschen  Sprache  wird  Sorge  getragen:  bei  tTber- 
setzung  des  Cornelius  Nepos  nach  Cellarü  Ausgabe  und  Caselii  kürzesten 
und  leichtesten  Episteln  und  mit  dem  ersten  Kapitel  der  Prosodie  ist 
nicht  nur  die  scansio  versuum  zu  verbinden,  und  versus  dislocati  in 
Ordnung  zu  bringen,  sondern  auch  Anleitung  zur  deutschen  Poesie  zu 
geben.  In  I  werden  bei  fleißiger  Übung  der  Syntax  Ciceroms  orationes 
selectae   und    selectiores   Epistolae    Ciceronis,    abwechselnd    mit  Caselii 


*  Gbotefesd,    Geschichte   des   Lyceums   zu   Hannover   von    1733 — 1888. 
Hann.  1839.     S.  6  ff. 


Der  Latinitätsbetrieb.  591 


Epistolis  gelesen,  Vokabeln  und  Phrasen  fleißig  traktiert,  nebst  Tropo- 
logie  und  Schematologie,  der  numerus  orationis  und  constructiones 
ornatae.  Wöchentlich  wird  ein  exercitium  styli  ordinarium^  eine  latei- 
nisch zu  vertierende  imitaiio^  ein  kurzes  exercitium  extemporale  und  ein 
exercitium  poeticum  ausgearbeitet;  dann  und  wann  auch  lateinische  oder 
deutsche  Upistolae,  Chriae  und  Orationes  nach  Anleitung  des  M.  Uhsen 
in  seinem  Wohlinformierten  Eedner.  Alle  Jahr  soll  bei  den  mutatio- 
nibus  ein  actus  oratorius  gehalten  werden,  wobei  Eektor  und  Konrektor 
alternieren.  Kein  discipulus  soll  mit  seinem  condiscipulus  anders  als 
Latein  reden.  Wöchentlich  wird  etwas  in  genere  Heroico  et  elegiaco 
elaborieret;  wem  es  aber  an  der  vena  poetica  mangelt,  der  muß  das  in 
dem  autore  gehabte  pensum  in  rein  und  gut  Deutsch  übersetzen,  oder 
auch  in  deutsche  Verse.  Die  autores  sind:  aus  dem  Virgil  iibri  Aeneidos 
I — VIII,  ohne  IV  und  V;  aus  dem  Ovidius  bloß  die  Iibri  Tristium  und 
Epistolae  ex  ponto;  in  poesi  Lyrica  alle  vier  Wochen  Aurelii  Prudentii 
Carmina,  statt  des  Virgil.  Man  sieht,  wir  haben  es  noch  überall  mit 
dem  alten  Imitationsbetrieb  zu  thun. 

Endlich  mag  noch  der  schon  oben  erwähnte  Polyhistor  des  Kieler 
Professors  Mobhof  uns  das  Ziel  dieser  Übungen  auf  der  Akademie 
vergegenwärtigen.  In  dem  zweiten  Buch  dieses  vielgerühmten  Werkes 
wird  zu  prosaischen  und  poetischeü  Imitationen  Anleitung  gegeben. 
Kap.  14  giebt  exempla  imitationum;  es*  wird  z.  B.  eine  Ciceronische 
Periode  von  drei  Zeilen  durch  dilatatio  auf  neun  Perioden,  die  beinahe 
eine  Quartseite  füllen,  gebracht;  Kap.  15  enthält  eine  Brief beispiel- 
sammlung;  Kap.  16  handelt  von  den  Übungen  in  gebundener  Sprache. 
Die  neun  ersten  Kapitel  des  dritten  Buchs  beschreiben,  wie  man  zum 
Behuf  der  prosaischen  Darstellung  exzerpiert,  Phrasen,  Observationen, 
Antiquitäten,  Elegantien,  Enthjmeme  u.  s.  w.  sammelt;  die  folgenden 
zwei  geben  Anleitung,  für  die  Poesie  sich  einen  ähnlichen  Schatz  von 
Exzerpten  anzulegen;  Kap.  12,  überschrieben  Hyle  inventionum  poetica- 
rum,  zeigt  die  Benutzung.  Man  hat  ein  carmen  gratulatorium  zum 
Rektoratsantritt  zu  machen.  Der  alte  Vers  der  luven tionstecknik  beginnt 
mit  dem  quis.  Hier  ist  es  ein  homo  literatus,  der  ein  Regiment  über- 
nimmt. Man  gehe  also  aus  von  dem  Begriff  einer  Musenregierung,  daß 
sie  nicht  sei  tyrannisch,  sondern  jungfräulich  und  friedlich;  oder  von 
der  Anschauung  des  Apollo,  der  einst  am  Pamassus  Rinder  weidete; 
jetzt  aber  sei  die  Aufgabe,  auserlesene  Jünglinge  zu  weiden.  Ist  es  ein 
Theolog,  so  lasse  man  die  personifizierte  Pietas  seiner  Regierung  die 
Gesetze  vorschreiben,  man  nenne  sie  eine  Hierarchie,  aber  eine  unschäd- 
liche, welche  die  Gottesfeinde,  die  Giganten  bekämpft.  Ist  es  ein  Jurist, 
80  führe  man  die  Astraea,  das  Orakel  der  Themis  am  Helikon  ein,  ein 


592       ///,  6,    Zustände  des  gelehrten   ünterrichtswesens  um  1700, 

neues  Gericht  sei  zu  bestellen,  in  dem  nicht  Paris  der  Venus,  sondern 
Phöbus  der  Minerva  die  Palme  reicht.  Ist  es  ein  Mediziner,  so  sage 
man:  Apollo  sei  nicht  minder  der  Vorsteher  der  Sanitat,  als  der  Musen. 
In  dieser  Weise  geht  das  lange  Kapitel  die  Eeihe  aller  möglichen  Ge- 
legenheiten zu  Poesien  durch.  Vielleicht  darf  man  es  noch  heute  der 
Aufmerksamkeit  nicht  erfindungsreicher  Festredner  empfehlen. 

Nach  allem :  der  Betrieb  des  klassischen  Unterrichts  war  am  Ende 
dieser  Periode  noch  wesentlich  derselbe,  wie  er  im  16.  Jahrhundert  ein- 
geführt worden  war.  Nur  eines  war  anders  geworden:  der  Glaube  daran 
fehlte.  Zur  Zeit  des  Humanismus  war  alle  Welt  davon  überzeugt,  daß 
es  größere,  sublimere  Leistungen  des  menschlichen  Geistes  als  gute 
lateinische  Verse  und  Reden  nicht  geben  könne;  nicht  bloß  die  Poeten 
selbst,  sondern  auch  Fürsten,  Bischöfe  und  Kaufherren  glaubten  daran, 
wie  sie  dadurch  bewiesen,  daß  sie  den  Poeten  ihre  Erzeugnisse  mit 
Geld  und  Ehre  bezahlten.  Um  den  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  glaubte 
kein  Mann  von  Welt  mehr  an  die  lateinische  Poesie  und  Eloquenz, 
kaum  noch  der  Besitzer  der  Kunst.  Die  Höfe  und  der  Adel  hatten 
längst  aufgehört,  Abnehmer  solcher  litterarischen  Produkte  zu  sein,  sie 
lasen  französische  Autoren  und  einige  ermunterten  die  eben  hervor- 
sprießende deutsche  Litteratur.  Die  Verwendung  der  carmina  war  auf 
die  Anlässe  eingeschränkt,  welche  das  scholastische  und  akademische 
Leben  herbeiführte;  machte'  man  zu  einem  Friedensschluß,  zu  einem 
fürstlichen  Geburtstag  ein  lateinisches  Po^m,  so  geschah  es  gratis  et 
frustra,  Kanonikate  und  Professuren  wurden  damit  nicht  mehr  erworben. 
Ja  vielleicht  that  man  am  besten,  sich  gar  nicht  öffentlich  damit  sehen 
zu  lassen,  dann  brauchte  man  wenigstens  nicht  das  mitleidige  Lächeln 
eines  Mannes  von  moderner  Bildung  über  dies  Überlebsel  einer  längst- 
vergangenen Zeit  und  die  Pedanterie  seines  Verfassers  als  Dank  ein- 
zustecken. 

Wenn  in  den  Schulen  Lehrer  und  Schüler  angehalten  werden,  in 
täglicher  Mühsal  Dinge  zu  treiben,  denen  außerhalb  der  Schul  wände 
keine  Bedeutung  mehr  beigemessen  wird,  so  kann  die  Folge  keine  andere 
sein,  als  daß  sie  mit  Mißvergnügen  arbeiten.  Denn  so  abgesperrt  leben 
weder  die  Lehrer  noch  die  Schüler,  daß  sie  nicht  bemerkten,  was  in  der 
großen  Welt  gilt,  und  was  nicht;  vielleicht  haben  Schüler  eine  besonders 
feine  Witterung  für  das  Geltende  oder  Zeitgemäße;  wer  wüßte  nicht, 
daß  kein  Lebensalter  gegen  den  Vorwurf  de^  Altfränkischen  empfind- 
licher ist,  als  das  des  Primaners?  Ich  glaube,  daß  zu  keiner  Zeit  die 
Schularbeit  in  den  gelehrten  Schulen  mit  weniger  Freude  und  Frei- 
willigkeit von  Lehrern  und  Schülern  verrichtet  worden  ist,  als  am  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts. 


Geringes  Ansehen  des  Lehramts,  593 


Zu  der  Unfruchtbarkeit  und  Unzeitgemäßheit  der  Arbeit  kam  noch 
ein  anderes,  das  auf  die  Lehrer  und  indirekt  auf  die  Schüler  drückte, 
das  war  die  elende  äußere  Lage.  Das  Amt  war  schlecht  bezahlt  und 
verachtet;  es  war  unter  den  gelehrten  Berufen  zweifellos  der  letzte; 
selten  ging  jemand  freiwillig  hinein  und  noch  seltener  blieb  er  länger 
darin,  als  er  mußte.  Die  Masse  der  Lehrer  waren  Kandidaten  der 
Theologie,  die  in  der  Schule  Unterkunft  während  der  Wartezeit  suchten, 
um  so  bald  als  irgend  möglich  ins  geistliche  Amt  überzugehen.  An 
Schulwissenschaften  brachten  die  meisten  wohl  nichts  mit,  als  was  sie 
einst  selbst  aus  der  Schule  davongetragen  hatten,  auf  der  Universität 
hatten  sie  die  paar  Jahre  Philosophie  und  Theologie  getrieben.  Und 
für  die  Unterrichtspraxis  war  die  Erinnerung  an  die  eigene  Schul- 
zeit maßgebend.  Dauernd  blieb  niemand  in  der  Schule,  es  sei  denn 
in  ein  paar  Rektorstellen  in  großen  Städten;  sonst  waren  es  die  in  der 
Wissenschaft  oder  im  Glauben  oder  im  Leben  Unzulänglichen  oder  die 
bei  den  Wahlen  zum  Predigtamt  Verschmähten;  man  mag  sich  denken, 
welche  Atmosphäre  voj  Unzufriedenheit  sie  um  sich  verbreiteten.  In 
den  kleinen  Lateinschulen  fand  wohl  auch  geradezu  der  Abhub  verun- 
glückter Studenten  dauernd  Unterkunft. 

Man  versteht  von  hier  aus,  wie  noch  im  Jahre  1768  Michaelis 
(Räsonn.  I,  146)  es  als  erstaunliches  Beispiel  von  seltsamer  Richtung 
der  Neigungen  ansehen  kann,  daß  „seit  einiger  Zeit  einige,  die  den 
seltenen  rauhen  Vorsatz  auf  Universitäten  mitbringen,  dereinst  Schul- 
leute zu  werden,  sich  bloß  auf  Schulstudien  legen,  ohne  sich  mit  der 
Theologie  zu  beschäftigen".^ 

Wie  dürftig  es  um  die  Schulbildung  mancher  Lehrer  an  Latein- 
schulen noch  nach  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  bestellt  war,  das 
zeigen  mit  erschreckender  Deutlichkeit  ein  paar  von  den  bei  Koldewey 
(II,  541)  mitgeteilten  Probearbeiten;  man  sehe  die  geradezu  unglaub- 
lichen Leistungen  von  zwei  Bewerbern  um  die  Stelle  des  colkga  quartus 
zu  Wolfenbüttel  vom  Jahre  1761;  die  mit  Hilfe  von  Lexikon  und 
Grammatik  zusammengestoppelten  lateinischen  Exerzitien  wären  als 
Quartanerleistungen  mäßig.  Dabei  war  der  eine  von  ihnen,  mit 
Namen  Unvebzagt,  bisher  Rektor  der  Lateinschule  zu  Schöppen- 
stedt.     Derselbe   leitete   in   der   mündlichen   Prüfung  Sakrament  aus 

*  In  der  Geschichte  der  Lateinschule  zu  Oschatz  von  Fritzsche  (Bericht 
des  Lehrerseminars  zu  Oschatz,  1895)  findet  man  eine  Reihe  von  Mitteilungen 
aus  den  an  den  Rat  gerichteten  Bewerbungsschriften  um  die  Lehrerstellen  aus 
dem  17.  und  18.  Jahrhundert;  sie  zeigen  in  ihrer  Unterwürfigkeit  die  ganze 
Misere  des  Lehrerstandes.  Hin  vmd  wieder  ist  auch  von  Bestechungsversuchen 
bei  den  ehrbaren  Stadtvätem  die  Rede. 

Paulsen,  Untorr.   Zweite  Aufl.   I.  38 


594       ///,  6'.    Zustände  des  gel4Jirten   Unterrichtswesens  um  1700. 


dem  Griechischen  ab,  die  Transsubstantiationslehre  legte  er  den  Refor- 
mierten bei. 

Der  Bildung  der  Lehrer  wird  natürlich  die  der  Schüler  entsprt^chen. 
Bittere  Klagen  sind  häufig.  Man  höre  A.  H.  Fbancke  in  der  Idea 
Studiosi  theologiae  (Anhang  §  7):  ,,Die  meisten  Schulen  sind  so  übel 
bestellet,  daß  von  denselben  Leute  kommen,  die  wohl  zwanzig  Jahr  alt 
sind  und  darüber  und  dennoch  bedürfen,  daß  man  ihnen  in  den  funda- 
mentis  der  lateinischen,  geschweige  der  griechischen  und  ebräischen 
Sprache  besondere  Informationen  verschaffe,  wo  man  anders  will,  daß 
sie  die  collegia  mit  Nutzen  frequentiren  sollen.  Daß  dieses  wahr  sei^ 
lehret  die  tägliche  Erfahrung  und  ergehet  nicht  nur  unserer,  sondern 
auch  anderen  Universitäten  also,  daß  sie  viele  untüchtige  und  un- 
wissende Leute  überkommen,  aus  welchen  nichts  zu  machen."  „Des- 
gleichen bringet  selten  einer  auch  nur  qualemcumque  peritiam  der 
deutscheu  Orthographie  von  der  Schule  mit,  so  doch  bei  einem  Studie- 
renden nicht  nur  ein  ornament,  sondern  eine  notwendige  Sache  ist. 
Ingleichen  findet  sichs  selten,  daß  einer  eine  Wissenschaft  von  der 
Arithmetica  vulgari  mitbringet,  deren  Gebrauch  doch  im  täglichen  Leben 
immer  vorfallet." 

Ähnlich  lautet  ein  Urteil  des  Berliner  Propstes  Reinbeck,  eines 
Schülers  Franckes,  der  übrigens  für  den  Philosophen  Wolf  beim  König 
eintrat,  über  die  Schulen  um  das  Jahr  1740  (in  Biedeämanns  Acta 
scholast  I,  207):  „Die  meisten  Schulen  sind  so  eingerichtet,  daß  die 
allerwenigsten  Menschen  sich  derselben  mit  Nutzen  bedienen  können. 
Wer  nicht  auf  die  Wissenschaften  sich  allein  legen,  sondern  eine  Kunst 
oder  sonst  ein  gutes  Handwerk  oder  die  Kaufmannschaft  erlernen  will, 
findet  bei  den  Schulen  gar  schlecht  seine  Rechnung.  Es  wird  in  den- 
selben auf  die  Reinigkeit  und  Rechtschreibung  der  Muttersprache  wenig 
gesehen;  die  Rechenkunst  wird  sehr  sparsam  getrieben;  zur  Historie 
und  Geographie  werden  entweder  gar  keine  oder  die  Woche  über  nur 
aufs  höchste  ein  paar  Stunden  und  dieses  noch  wohl  dazu  privatim 
ausgesetzet.  Die  Weltweisheit,  insonderheit  die  Vemunftlehre,  wie  auch 
die  Meßkunst  sind  auf  den  allermeisten  Schulen  unbekannte  Sachen. 
Und  gleichwohl  sind  dieses  alles  solche  Sachen,  welche  allen  Schülern, 
wenn  sie  auch  gleich  nicht  beim  studieren  bleiben  wollten,  höchst  nötig 
wären.  Selbst  auch  diejenigen,  welche  sich  hauptsächlich  auf  die  Wissen- 
schaften zu  legen  gewillet  sind,  bekommen  hier  beim  Lernen  eine  Lücke, 
die  sie  hernach  nicht  so  leicht  oder  doch  nicht  ohne  schädlichen  Zeit- 
verlust ergänzen  können.  Überdem  sind  die  meisten  Schulen  so  ein- 
gerichtet, daß  wer  sich  nicht  vornehmlich  auf  die  Gottesgelahrtheit 
legen  will,  in  denselben  viel  Stunden  vergeblich  zubringen  muß.    Ein 


Urteile  über  den  SchvXbetrieb,  595 


solcher  kann  fast  nichts  anderes  als  ein  bischen  Latein,  und  dieses  noch 
wohl  dazu  schlecht  genug,  daraus  mitbringen.  Aber  auch  die  andern, 
welche  sich  der  Gottesgelahrtheit  gewidmet  haben,  finden  gar  selten 
die  richtige  Anweisung.  Latein  ist  ihr  vornehmstes  Werk;  die  deutsche 
Sprache  wird  gar  sehr  versäumt.  Und  gleichwohl  sollen  diese  Menschen 
ihren  Gemeinden  dermaleinst  nicht  Latein,  sondern  Deutsch  predigen. 
Daher  geschieht  es  denn  auch,  daß  sie  hernach  in  ihre  Predigten  einen 
Haufen  lateinische,  mit  deutschen  Endigungen  versehene  Wörter  ein- 
mischen und  kaum  glauben,  daß  sie  alles  mit  gutem  Deutsch  geben 
könnten,  wodurch  sie  dann  dem  gemeinen  Mann  unverstandlich  werden. 
Das  Griechische  wird  gemeiniglich  so  obenhin  getrieben.  Und  wenn 
jemand  auf  Schulen  ein  wenig  Hebräisch  herbuchstabieren  kann,  so  hält 
er  sich  für  geschickt  genug,  eine  hohe  Schule  zu  besuchen." 

Zum  Schluß  teile  ich  noch  ein  paar  Urteile  von  Schülern  über 
die  Schule  mit,  sind  sie  doch,  nach  einem  alten  Wort,  die  letzten 
Richter  ihrer  Lehrer.  Zuvor  aber  vergegenwärtigen  wir  uns  durch  ein 
paar  Namen  die  Generation,  die  am  Ende  dieses  Zeitalters  (um  1740) 
auf  den  Schulbänken  saß.  Im  Jahre  1734  verließ  Gellebt  St  Afra 
in  Meißen;  sieben  Jahre  später  zog  Lsssma  in  dieselben  Zellen  ein 
(1741—1746).  Fast  gleichzeitig  saß  Klopstock  in  Schulpforta  (1739 
bis  1745);  die  Brüder  J.  E.  und  J.  A.  Schlegel  verließen  dieselbe 
Anstalt  1739  und  1741.  1748—1749  finden  wir  Wieland  in  Kloster 
Berge.  1739  verließ  Gleim  die  Schule  zu  Wernigerode,  1743  Semlee 
die  zu  Saalfeld,  1748  Heyne  die  zu  Chemnitz.  Aus  der  Latein- 
schule des  Hallischen  Waisenhauses  ging  1732  Reiske  nach  Leipzig, 
1740  Ramler  nach  Halle,  1747  Nicolai  nach  Berlin,  um  dort  zunächst 
die  Realschule  Heckebs  zu  besuchen.  Einige  Jahre  vor  ihm  (1742) 
hatte  sich  ein  armer  Judenknabe  aus  Dessau  auf  denselben  Weg  ge- 
macht, Moses  Mendelssohn.  Winckelmann  verließ  1736  das  CöUnische 
Gynmasium  zu  Berlin,  wo  er  einen  Versuch  gemacht  hatte,  das  Grie- 
chische zu  erlernen.  Blicken  wir  aus  diesem  engen  und  belebten  mittel- 
deutschen Kreis  heraus,  so  finden  wir  im  Jahre  1740  im  Königsberger 
Friedericianum  Kant  und  Rühnken,  im  Osnabrucker  Gymnasium 
J.  Moser,  alle  drei  im  Begrifi"  den  Schulbänken  Lebewohl  zu  sagen. 
Man  sieht,  wären  die  Leistungen  einer  Generation  der  Schule  gut  zu 
schreiben,  die  sie  besuchte,  dann  dürfte  sich  die  Schule  auch  des  Zeit- 
alters, das  wir  eben  betrachteten,  neben  jeder  anderen  mit  Ehren 
sehen  lassen. 

Hören  wir  nun  die  Schüler  selbst  Zuerst  zwei  Hallenser.  Reiske 
erzählt  in  seiner  Selbstbiographie,  wie  er  im  Jahre  1728  als  zwölf- 
jähriger Knabe  auf  die  lateinische  Schule  des  Waisenhauses  gekommen 

38* 


596      III,  6.    Zustände  des  gelehrten  Unterrichiswesens  um  1700. 


und  vier  Jahre  dort  geblieben  sei.  „Von  dieser  Schule  brachte  ich 
einen  ganz  guten  Grund  im  Lateinischen  mit  weg,  sonst  aber  nicht 
viel  mehr.  An  zweien  Klippen  habe  ich  auf  dieser  Schule  angestoßen. 
Die  eine  ist  diese:  auf  allen  Schulen  sind  die  Lehrer  selten  recht  aus- 
gesucht; die  allerwenigsten  schicken  sich  zu  ihrem  Amte.  Und  zu 
Halle  bringt  es  die  Einrichtung  so  mit  sich,  daß  man  beinahe  alle 
Stunden  und  alle  halbe  Jahre  andere  und  neue  Praeceptores  hat.  Ich 
hatte  also  zu  Halle  das  Unglück,  meistenteils  unter  Lehrern  zu  stehen, 
die  keine  Litteratoren,  keine  wahren  Schulleute  waren.  Sie  konnten 
mir  den  Cicero  nicht  recht  ausschälen;  ich  bekam  also  einen  Ekel  an 
den  alten  lateinischen  Autoren,  die  ich  nicht  verstund.  Böse  Exempel 
verführten  mich  zum  Muretus,  Buchner,  Cunäus,  Cellarius.  Die  las 
ich  fleißig,  denn  das  konnte  ich  verstehen.  Das  war  ein  Unheil  für 
mich.  Zwar  hatte  ich  aus  den  neueren  Latinisten  eine  so  ziemliche 
Latinitat  geschöpfet,  daß  ich  fertig  Latein  reden  und  schreiben  konnte, 
selbst  so,  daß  Leute,  die  Kenner  der  guten  Latinitat  waren,  mein  Latein 
für  schön  hielten.  Aber  die  gute  Latinitat  der  alten  echten  Autoren 
habe  ich  erst  im  vierzigsten  Jahre  meines  Lebens  kennen  gelernt,  da 
es  zu  spät  war,  das  Verwahrloste  wieder  einzubringen.  —  Der  zweite 
Stein  des  Anstoßes,  über  welchen  ich  zu  Halle  fiel,  war:  In  meinem 
zwölften  Jahr  machten  mich  die  Betstunden  zum  Narren.  Ich  ward 
ein  Betnarr.  Allein  die  Hitze  verrauchte  bald;  ich  kam  in  die  Welt, 
kurz  ich  ward  nicht  viel  besser  als  ein  Naturalist.  Von  diesem  so 
weiten  Sprunge  über  eine  so  große  Kluft  habe  ich  mich  noch  nicht 
ganz  erholt."  Reiske  hatte  sein  Leben  lang  damit  zu  thun,  den  Ruf 
des  Atheismus  abzuwehren.  —  Von  Halle  ging  er  auf  die  Universität 
Leipzig.  Aus  dem  Bericht  über  seine  dortigen  Erlebnisse  mag  noch 
Folgendes  hier  Platz  finden:  „Ich  las  dort  einige  griechische  Schrift- 
steller; weil  ich  aber  keine  Lehrer  hatte,  noch  kannte  (denn  damals 
wurden  hier  keine  griechischen  Collegia  gelesen),  mit  dem  nötigen  Vorrat 
von  Hilfsmitteln  nicht  versehen  war,  die  Grammatik  so  wenig  verstand, 
als  ich  den  Wert  und  die  Notwendigkeit  derselben  einsah  und  schätzte, 
so  kam  ich  auch  hierin  nicht  weit.  Die  griechischen  Autoren,  ein 
Demosthenes,  ein  Theokritus,  waren  mir  zu  schwer.  Niemanden  hatte 
ich,  der  sie  mir  erklärt  hätte;  ich  war  ihrer  also  bald  überdrüssig  und 
legte  sie  weg.  Dagegen  bemächtigte  sich  meiner  Seele  eine  gewisse, 
ich  weiß  selbst  nicht  woher  entstandene,  unsägliche  und  unaufhaltbare 
Begierde  Arabisch  zu  lernen."  Diese  Leidenschaft  bestimmte  nun  zu- 
nächst seinen  Lebensweg. 

Etwas  später  war  Fkiedrich  Nicolai  (geb.  1733)  auf  derselben 
Schule.  Auch  er  hat  in  der  Schrift  „Über  meine  gelehrte  Bildung'*  (1 799) 


urteile  Über  den  SchtUbetrieb.  597 


über  die  Einwirkung  der  Schale  auf  seine  Entwickelung  berichtet  Es 
heißt  dort:  „Ich  lernte  nichts  als  lateinische  und  griechische  Wörter, 
wunderbar  zusammengeknetet  in  alle  Pradikamente  einer  pedantischen 
Grammatik.  Es  ward  dekliniert,  konjugiert,  exponiert.,  analysiert,  phra- 
seologisiert  und  wer  weiß  was  mehr;  auch  ward  uns  die  lateinische 
Prosodie  aufgegeben,  so  daß  wir  bald  wußten  lateinische  Verse  zu  skan- 
dieren und  nach  der  Elle  dergleichen  selbst  zu  verfertigen."  Dazu 
HüBNEBs  Fragen  aus  der  Geschichte  und  anderes.  „Außerdem  lernte 
ich  in  Halle  in  der  Schule  des  Waisenhauses  beten  und  würde  auch 
nach  damaliger  Stimmung  das  Heucheln  gelernt  haben,  wenn  ich  die 
geringste  natürliche  Anlage  dazu  gehabt  hätte.  Vor  allem  ward  in 
Berlin  (wo  er  vorher  war)  und  in  Halle  oft  wiederholt,  wer  nicht  gut 
Lateinisch  lerne,  sei  ein  deutscher  Michel."  Bei  dieser  Art  des  Unter- 
richts wurde  das  Lateinische,  gerade  den  hellsten  und  fähigsten  Köpfen 
zuerst,  sehr  widerlich.  Besser  ging  es  anfangs  mit  dem  Griechischen. 
Ein  verständiger  Lehrer  wußte  die  Sprache  am  N.  T.  sehr  wohl  einzuüben. 
Als  aber  dieser  die  Schule  verließ  und  „ein  heulender  pietistischer 
Pedant"  folgte,  gab  Nicolai  es  auf,  indem  er  erklärte,  daß  er  Jurist 
werden  wolle.  „Es  war  damals  in  Halle  unter  Lehrern  und  Schülern 
ein  Axiom:  ein  Theolog  müsse  Hebräisch  und  Griechisch,  ein  Medicus 
Griechisch,  ein  Jurist  nur  Lateinisch  lernen,  doch  könne  ihm  das 
Griechische  nicht  schaden."  Trotz  dem  Zureden  des  Inspektors  Fbei- 
LiNGHAüSEN,  der  die  Süßigkeit,  das  N.  T.  in  der  Grundsprache  zu 
lesen,  anpries,  setzte  N.  sein  Verlangen  durch,  dispensiert  zu  werden. 
Erst  kurz  vor  Abgang  von  der  Schule  lernte  er  bei  einem  Selektaner 
aus  Freyebs  fasciculus  poematum  graecorvm  etwas  vom  Homer  kennen 
und  meint:  er  wäre  gewiß  in  der  griechischen  Klasse  geblieben,  wenn 
ihm  statt  des  N.  T.s  dieser  fascicultis  wäre  empfohlen  worden.  Ab- 
geschreckt durch  den  Schul  betrieb  entschloß  sich  Nicolai,  nicht  zu 
studieren,  sondern  den  Buchhandel  zu  lernen.  Er  besuchte  noch  ein 
Jahr  lang  (1748)  die  eben  begründete  Berliner  Realschule,  die  er 
überaus  lobt:  selbst  Virgil  und  Horaz  habe  er  hier  erst  liebgewonnen. 
Als  Buchhändler  in  Berlin  etabliert,  las  er  später,  um  das  gleich  hier 
zu  erwähnen,  mit  M.  Mendelssohn  zusammen,  den  griechischen  Homer: 
„Die  erste  Lesung  der  Ilias  und  Odyssee  that  auf  mich  eine  wunderbare 
Wirkung,  ich  lebte  eine  Zeit  lang  in  Troja  und  Ithaka"  (S.  29  ff.).  Das 
war  1757.    Ein  neues  Zeitalter  war  heraufgekommen. 

Sehr  anschaulich  ist  in  Semlees  Selbstbiographie  das  Eindringen 
des  Pietismus  in  .  der  kleinen  Residenz  Saalfeld  geschildert,  das  Ein- 
schleichen bei  Hofe,  das  Durchdringen  in  Kirche  und  Schule,  die  Er- 
weck ungsstunden  im  Schloß  und  in  der  Schule,  mit  Herzensergießungen, 


598      lU,  6.    Zustände  des  gelehrten   Unterrichtswesens  um  1700, 


Offenbarungen  des  Seelenzustandes  und  umgehender  Gebetsübung.  Sehr 
deutlich  tritt  auch  die  Wirkung  dieses  aufgeregten  Treibens  auf  die 
Gemüter  zu  Tage:  wir  sehen  nebeneinander  die  ihrer  Versiegelung  Ge- 
wissen, die  Erweckten,  die  nicht  zur  Gewißheit  kommen  können  und  sich 
mit  Bußübungen  abmartern,  die  geschäftsmäßigen  Eonventikler,  die 
dabei  auch  allerlei  weltliche  Absichten  verfolgen.  Die  Geringschätzung 
der  Wissenschaft  ist  überall  ein  charakteristischer  Zug.  Der  junge 
Semler,  der  die  Zerrüttung,  die  durch  die  forcierten  Religionsübungen 
bewirkt  wurde,  in  nächster  Nähe  sah,  auch  vorübergehend  an  sich 
selber  erfuhr,  wurde  durch  seine  entschiedene  Neigung  für  die  Studien 
vor  dem  ungesunden  Wesen  bewahrt  Daß  es  ähnliche  Eindrücke 
waren,  welche  Kant  und  Rühnken  von  den  pietistischen  Religions- 
übungen auf  dem  Fridericianum  ins  Leben  mitbrachten,  ist  aus  gelegent- 
lichen Äußerungen  beider,  welche  bei  den  Biographen  Kants  berichtet 
werden,  zu  entnehmen;  wer  Kants  Urteile  über  äußerliche  Religions- 
übungen kennt,  wird  nicht  im  Zweifel  darüber  sein,  daß  lange  gehegte 
Bitterkeit  daraus  spricht. 

Noch  mögen  ein  paar  charakteristische  Äußerungen  Lessings  über 
Lehrer  und  Schule  zu  Meißen  Platz  finden.  An  seinen  Vater  schrieb 
er  als  Student:  „Ich  habe  es  schon  in  Meißen  geglaubt,  daß  man  vieles 
daselbst  lernen  muß,  was  man  in  der  Welt  gar  nicht  brauchen  kann, 
und  jetzo  sehe  ich  es  noch  viel  deutlicher  ein."  Und  über  den  Kon- 
rektor Höbe  ließ  er  sich  als  Alumnus  also  vernehmen:  „Ich  weiß 
wohl,  daß  seine  geringste  Sorge  ist,  aus  seinen  Untergebenen  ver- 
nünftige Leute  zu  machen,  wenn  er  nur  wackre  Fürstenschüler  aus 
ihnen  machen  kann,  d.  i.  Leute,  die  ihren  Lehrern  blindlings  glauben, 
ununtersucht,  ob  sie  nicht  Pedanten  sind."  .  Höbe  hatte  die  poetischen 
Übungen.  Lessings  Lieblingslehrer  war  der  Mathematiker.^  —  Daß 
Klotz  wenige  Jahre  später  aus  St.  Afra  davon  lief,  wurde  schon  früher 
erwähnt. 

Hebdeb  mag  die  Reihe  beschließen.  „Es  ist  für  mich  unbegreif- 
lich, wie  unser  Jahrhundert  so  tief  in  die  Schatten,  in  die  dunklen 
Werkstätten  des  Kunstmäßigen  sich  verlieren  kann,  ohne  auch  nicht 
einmal  das  weite  helle  Licht  der  uneingekerkerten  Natur  erkennen  zu 
wollen.  Aus  den  größten  Heldenthaten  des  menschlichen  Geistes,  die 
er  nur  im  Zusammenstoß  der  lebendigen  Welt  thun  und  äußern  konnte, 
sind  Schulübungen  im  Staube  unserer  Lehrkerker,  aus  den  Meister- 
stücken menschlicher  Dichtkunst  und  Beredsamkeit  Kindereien  ge- 
worden, an   welchen  greise  Kinder  und  junge  Kinder  Phrases  lernen 

»  Flathe,  253,  261.     Vgl.  Danzel,  Lessing,  I,  29  f. 


Lebensbilder:   Winckelmann.  599 


und  Regeln  klauben.  Wir  haschen  ihre  Formalitaten  und  haben  ihren 
Geist  yerloren;  wir  lernen  ihre  Sprache  und  fühlen  nicht  die  lebendige 
Welt  ihrer  Gedanken." 


Ich  lege  nun  noch  ein  paar  Lebensbilder  ein,  die  geeignet  sind, 
die  Zustande  im  gelehrten  ünterrichtswesen  dieser  Zeit  und  zugleich 
die  vorwärts  drängenden  Kräfte  erkennen  lassen. 

J.  J.  WiNCKELMANN  mag  die  Reihe  eröffnen.  Mit  ungemeiner 
Deutlichkeit  tritt  in  seinem  Leben  der  Gegensatz  der  ersten  und  der 
zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts,  der  Gegensatz  des  abgestorbenen  Alt- 
humanismus und  des  lebendig  aufstrebenden  Neuhumanismus  uns  ent- 
gegen. Ich  entnehme  die  Daten  aus  der  Biographie  von  C.  Jüsti, 
einer  der  lehrreichsten  und  nachdenklichsten  unter  allen  deutschen 
Lebensbeschreibungen.  Winckelmann  ist  1717  zu  Stendal  in  der  Alt- 
mark geboren,  sein  Vater  war  ein  armer  Schuhflicker,  der  einzige  Raum 
des  Hauses  Werkstatt,  Wohn-  und  Schlafstube  zugleich.  Der  Wissens- 
drang des  Knaben  setzte  die  Aufnahme  in  die  Lateinschule  durch;  er 
unterhielt  sich  durch  Freitische,  Nachhilfestunden  und  die  Kurrende, 
die  nach  altem  Herkommen  vor  den  Thüren  singend  Brot  und  Geld 
erbettelte;  später  war  er  Präfekt  des  Chors,  der  unter  dem  Kantor  beim 
Gottesdienst,  bei  Leichenfeiern  und  Hochzeiten  sang,  auch  dreimal  im 
Jahr  einen  Umgang  durch  die  Stadt  hielt.  Die  Schule  war  officina 
Laänitatis;  doch  wurden  auch  die  Elemente  des  Griechischen  gelernt, 
dazu  Logik  und  natürlich  Religion  oder  Theologie:  in  keiner  Stunde, 
wird  berichtet,  war  er  ein  unaufmerksamerer  Zuhörer  als  in  den  theo- 
logischen, wo  er  sich  gern  heimlich  mit  einem  alten  Schriftsteller  be- 
schäftigte. Auch  fehlten  nicht  Schulakte  mit  Reden,  lateinischen  und 
deutschen,  und  einer  Disputation  geschieht  Erwähnung,  wobei  der 
14Y2Jährige  Winckelmann  über  die  Frage  disputierte:  „ob  das  Eben- 
bild Gottes  anerschaflfen  oder  als  übernatürliche  Gabe  Gottes  hinzugethan 
sei".  Die  Kirche  wurde  Sonntags  zweimal  von  der  ganzen  Schule  in 
Prozession  besucht;  Montags  und  Donnerstags  fand  Katechese  in  der 
Kirche  statt.  Als  Amanuensis  des  Rektors  hatte  er  Zutritt  zu  dessen 
Büchern  und  verwaltete  auch  die  kleine  Büchersammlung  der  Schule. 
—  Im  Jahre  1735  machte  er  sich  nach  Berlin  auf  den  Weg,  um  am 
CöUnischen  Gymnasium  sein  Griechisch  zu  verbessern.  Hier  war  näm- 
lich der  Konrektor  Damm,  ein  eitriger  Liebhaber  des  Griechischen,  be- 
sonders des  Homer,  dessen  Kunst  und  Bildung  er  gegen  die  neumodischen 
Franzosen,  die  ihn  zu  einem  Bänkelsänger  machten,  verteidigte  und  den 
er  auch,  in  Prosa,  übersetzte.  Doch  leitete  er  die  Schüler  auch  zu 
deutscher  Wohlredenheit  an;  so  ließ  er  im  Dezember  1735  in  20  Reden 


600      ///,  6,    Zustände  des  gelehrten  Unierrichiswesens  wm  1700. 


die  Tugenden  des  Verstandes  beschreiben,  durch  das  folgende  Jahr  geht 
ein  Cyclus  von  Reden  über  den  Gelehrten:  von  den  Chimären  der  Ge- 
lehrten, von  gelehrten  Fürsten,  von  gelehrten  Schustern,  von  frühzeitigen, 
spätklugen,  sehr  alt  gewordenen  Gelehrten  u.  s.  w.  Später  machte  Damm 
sich  auch  als  Freigeist  und  Verbesserer  der  deutschen  Sprache  bekannt 
Auch  Mathematik  und  Physik,  vor  allem  aber  Geschichte  dienten  der 
Polymathie.  Mit  dem  griechischen  Unterricht  stand  es  übrigens  auch 
hier  bescheiden  genug,  in  I  las  man  zwei  Stunden  Homer,  den  Frosch- 
mäusekrieg und  Herodian.  Unterkunft  fand  Winckelmann  als  Pädagog 
beim  Rektor,  der  übrigens  beim  Abgang  zu  seinem  Namen  ins  Album 
die  Worte  setzte:  komo  vagiLs  et  inconstans.  Nach  etwa  einjährigem 
Aufenthalt  vertauschte  er  Berlin  mit  Salzwedel,  wo  ein  gelehrter,  aber 
wunderlicher  Pedant  das  Schulszepter  schwang:  über  der  Rektorwohnung 
stand  die  Inschrift:  fabrica  mentium.  Justi  wendet  auf  die  Lehrer 
die  Charakteristik  aus  Ruhnkens  Rede  de  doctore  umbratico  an:  „ob- 
wohl mit  der  Wissenschaft  umgehend,  welche  bestimmt  ist,  zu  liebens- 
würdiger Menschlichkeit  zu  erziehen,  bleiben  sie  jedes  Sinnes  hierfür 
bar;  ja  verlieren  den  gesunden  Menschenverstand:  sie  sind  weniger 
Menschen  als  Menschenscheuchen".  In  einer  Schlußbetrachtung  aber 
heißt  es:  „Und  so  hatte  Winckelmann  denn  bis  zu  seinem  19.  Jahr 
fast  überall  an  taubes  Gestein  angeschlagen,  die  Schalen  der  Gelehr- 
samkeit hatte  er  gefunden,  von  dem  Kerne  fast  nichts.  Doch  war  die 
Fahrt  durch  die  Steppen  solcher  Schulen  Köpfen,  wie  der  seine,  weit 
weniger  gefährlich,  als  die  spätere  Vollstopfung  mit  Stoffen,  welche  zu 
Zerstreuung  und  Sattheit  und  von  da  zu  stumpfer  Langeweile  führt, 
auf  welche  die  Lethargie  der  intellektuellen  Kräfte  folgt,  die  man 
Blasiertheit  nennt." 

Im  Frühjahr  1738  ging  er  endlich  nach  Halle  und  wurde  hier 
als  Studiosus  theologiae  inskribiert.  Er  hörte,  der  Vorschrift  folgend, 
philosophische  und  theologische  Vorlesungen,  doch  ohne  Verlangen, 
„die  akademische  Speise  blieb  ihm  zwischen  den  Zähnen  hängen".  Da- 
gegen las  er  fleißig  die  Alten,  in  geborgten  Büchern  und  in  den  Bücher- 
sälen der  Bibliothek  und  des  Waisenhauses.  Auch  zog  er  fleißig  die 
neuen  franzosischen  und  englischen  Skeptiker  und  Deisten  aus,  so  daß 
er  in  den  Geruch  eines  Gottesleugners  kam.  Sein  Abgangszeugnis  von 
der  Universität  (22.  Februar  1740)  drückt  sehr  zurückhaltend  gute 
Meinung  und  Hoffnung  von  ihm  aus:  „obwohl  uns  von  seinem  inneren 
Zustande  keine  hinlängliche  Kunde  geworden  ist,  so  hoffen  wir  doch, 
daß  er  aus  den  von  ihm,  wie  bezeugt  wird,  besuchten  Vorlesungen 
einigen  Nutzen  ziehen  wird".  Nachdem  er  ein  Jahr  in  einem  adligen 
Hause  der  Altmark  als  Informator  konditioniert  hatte,  ging  er  nochmals 


Lebensbilder:   Winckelmann,  601 


auf  die  Universität,  diesmal  nach  Jena,  wo  er  bei  Hambubgeb  mathe- 
matische und  medizinische  Studien  trieb,  übrigens  durch  Information 
seinen  Unterhalt  gewann.  Dann  ist  er  wieder  1^3  Jahre  Hauslehrer, 
diesmal  bei  einem  bürgerlichen  Oberamtmann,  nachdem  ein  Reiseplan 
gescheitert  war.  Endlich  lief  er,  schon  26jährig,  in  den  Hafen  eines 
Amts  ein:  er  wurde  1743  Konrektor  in  Seehausen  in  der  Altmark. 
Fünf  Jahre  hat  er  an  diesem  Orte  sich  mit  dem  Schulunterricht,  für 
den  er  nicht  geschaffen  war,  geplagt  In  seiner  Probelektion  handelte 
er  „in  der  Theologie  über  das  Dogma  von  der  Erlösung,  in  der  Philo- 
sophie über  die  Ideen,  mit  ziemlicher  Richtigkeit  und  Lebhaftigkeit", 
gab  auch  Proben  seiner  Kenntnis  in  den  drei  Sprachen.  Er  lehrte 
Hebräisch  und  Griechisch,  auch  Geometrie  und  Logik;  doch  hatte  er 
keine  Freude  daran,  die  Knaben  konnten  ihm  nicht  folgen  und  es  kam 
zu  ärgerlichen  Auftritten.  Auch  bei  den  Bürgern  war  er  nicht  beliebt, 
„weil  er  ein  Liebhaber  der  Einsamkeit  und  ein  Feind  des  andern  Ge- 
schlechts" war;  endlich  zerfiel  er  mit  dem  geistlichen  Herrn,  man  be- 
merkte, daß  er  unter  der  Predigt  den  Homer  las.  So  kam  es,  daß  er 
zum  Elementarunterricht  hinabgestoßen  wurde;  er  giebt  sich  selber 
später  das  Zeugnis:  „Ich  habe  den  Schulmeister  mit  großer  Treue  ge- 
macht, und  ließ  Kinder  mit  grindigen  Köpfen  das  ABC  lesen,  wenn 
ich  während  dieses  Zeitvertreibs  sehnlich  wünschte  zur  Kenntnis  des 
Schönen  zu  gelangen  und  Gleichnisse  aus  dem  Homer  betete".  Sein 
Einkommen  betrug  etwas  über  120  Thaler,  4372  ^^^  ^®^  Kirchenkasse, 
40  aus  Kollekten  (statt  der  mensa  ambulatoriaj  die  1709  abgeschafft 
war)  und  noch  etwa  40  für  Wohnung,  aus  Accidenzien  von  Leichen, 
Trauungen,  Neujahrsrekordationen  und  aus  Privatstunden.  Davon  er- 
hielt er  auch  noch  seinen  alten  Vater  im  Hospital.  Von  seiner  Tages- 
ordnung berichtet  ein  Bekannter:  „den  ganzen  Winter  kam  er  nicht 
ins  Bett,  sondern  saß  im  Lehnstuhl  in  einem  Winkel  vor  einem  Tisch, 
auf  beiden  Seiten  standen  zwei  Bücherrepositorien.  Wenn  er  den  Tag 
mit  Schulstunden  und  dem  Unterricht  seiner  Pensionäre  zugebracht 
hatte,  so  studierte  er  für  sich  bis  Mitternacht;  dann  löschte  er  seine 
Lampe  und  schlief  bis  4  Uhr  auf  dem  Stuhle.  Um  vier  zündete  er 
das  Licht  wieder  an  und  las  bis  6  Uhr,  wo  die  Information  seiner 
Junker  von  neuem  begann".  Massenhaft  noch  erhaltene  Auszüge  aus 
Büchern,  die  er  mit  unendlicher  Mühsal  sich  verschaffte,  von  seiner 
Armut  kaufend  und  von  Freunden  und  Bekannten,  willigen  und  un- 
willigen, borgend,  sind  die  Frucht  dieser  nächtlichen  Arbeit;  neben  den 
Griechen  ist  es  die  Geschichte,  Universal-,  Staaten  und  Gelehrten- 
geschichte, aus  der  er  rastlos,  mit  der  Geschäftigkeit  der  Ameise,  Stöße 
von  Exzerpten  zusammenschleppt.     Außer  dieser  Leidenschaft  hat  er 


602       Uly  6,    Z^stmide  des  gelehrten   Unterrichtswesens  um  1700. 


noch  eine  zweite,  eine  Leidenschaft  für  Freundschaft  mit  Jünglingen, 
die  bei  dem  auch  hierin  antik  empfindenden  etwas  von  einem  erotischen 
Charakter  an  sich  hatte;  aber  auch  sie  führte  für  den  Unverstandenen 
nur  Enttäuschungen  herbei.  —  Das  Jahr  1748  brachte  endlich  die 
sehnlich  erstrebte  Erlösung  vom  Schuldienst;  er  trat  als  Bibliothekar, 
Sekretär  und  Mitarbeiter  an  der  deutschen  Reichsgeschichte  in  den 
Dienst  des  Grafen  von  Bünau  bei  Dresden,  und  hier  knüpfte  er  die 
Verbindungen,  die  ihn  dann  in  neue  Bahnen  führten,  nach  Rom,  wo 
er  die  Griechen,  nach  denen  er  so  sehnliches  Verlangen  getragen  hatte, 
mit  Augen  schauen  sollte. 

Auf  WiNCKELMANN  mag  Heyne,  der  Göttinger,  folgen.  Er  ist 
1729  zu  Chemnitz  geboren,  sein  Vat^r  war  ein  armer  Leineweber.  Er 
erzählt  selbst  aus  seinen  Jugendjahren  (mitgeteilt  in  seiner  Lebens- 
beschreibung von  seinem  Schwiegersohn  Heeren,  1813).  „Ich  ward 
in  der  grOßt-en  Dürftigkeit  geboren  und  erzogen;  der  früheste  Gespiele 
meiner  Kindheit  war  der  Mangel,  und  die  ersten  Eindrücke  machten 
die  Thränen  meiner  Mutter,  die  für  ihre  Kinder  kein  Brot  wußte." 
Er  besuchte  eine  Kinderschule,  dann  durfte  er  an  einer  Privatstunde 
Latein  teilnehmen,  wofür  wöchentlich  ein  guter  Groschen  zu  entrichten 
war,  den  ein  Pate  auf  sein  inständigstes  Bitten  für  ihn  zahlte.  Ein 
anderer  Pate,  ein  Geistlicher,  ließ  ihn  von  seinem  zwölften  Jahr  ab 
die  Lateinschule  besuchen,  indem  er  den  Gulden  Quartalgeld  für  ihn 
bezahlte,  auch  ihm  das  notwendige  blaue  Mäntelchen  und  einige  Bücher 
schenkte.  Sieben  Jahre  besuchte  Heyne  nun  die  beiden  ersten  Klassen 
der  Lateinschule.  Daneben  gab  ihm  der  Pate,  ein  alter,  geiziger  Hage- 
stolz, einige  Lateinstuuden;  er  hatte  nämlich  „die  Eitelkeit,  ein  guter 
Lateiner  und,  was  noch  mehr  ist,  ein  lateinischer  Versmacher  und 
folglich  ein  Gelehrter  sein  zu  wollen".  „Kaum  war  Erasmus  de  civili- 
täte  morum  auf  die  Seite  gebracht,  so  ward  ich  zum  lateinischen  Verse- 
machen angeführt,  ehe  ich  noch  Schriftsteller  gelesen  oder  nur  einigen 
Wortvorrat  verschafft  hatte.  Hätte  er  nur  noch  einen  Klassiker  in 
die  Hände  genommen.  Aber  den  hatte  er  nicht,  sondern  bloß  einen 
Owen,  Fabricius,  ein  paar  Collectiones  epigrammatum^  und  einige  geist- 
liche Dichter,  aus  denen  er  mir  Verse  diktierte,  die  ich  verändern, 
paraphrasieren,  in  ein  anderes  metrum  übertragen  mußte.  Noch 
schlimmer  gings,  als  er  weiterhin  selbst  Verse  machte,  an  denen  ich 
die  Prosodie,  denn  das  war  gleichgeltend  bei  ihm  mit  Poesie,  lernen 
sollte."  Zum  Geburtstag  überrascht  ihn  der  Schüler  durch  eigen- 
gemachte  Verse:  „das  erstemal,  daß  seine  stolz  finstre  Miene  sich  zu 
einem  Lächeln  verzog.  Allein  ich  hatte  hierdurch  den  Grund  zu  den 
lästigsten  Anforderungen  gelegt,    denn   nun   erwartete  man   bei  jeder 


Lebensbilder:  Heyne.  603 


feierlichen  Gelegenheit  61  ückwünschungs- Carmens,  nicht  bloß  von  10 
bis  20  Versen,  nein;  das  geringste  war  einige  Hundert  und  zwar  in 
allerhand  Metren."  „Der  Unterricht  in  der  Schule  war  nicht  viel  besser; 
es  war  ganz  *der  ehemalige  Schlendrian :  lateinische  Vokabeln,  Exponieren, 
Exerzitien,  alles  ohne  Geist  und  Sinn.  Ich  wäre  auf  diesem  Wege  end- 
lich zur  völligen  Stupidität  fortgegangen."  Ein  glücklicher  Zufall  gab 
einen  neuen  Anstoß.  Bei  einem  Schulexamen  war  der  Superintendent 
zugegen.  Er  verlangte  ein  Anagramm  auf  Äustria;  keiner  wußte  was 
ein  Anagramm  sei.  Der  kleine  Heyne  begriff  die  Erklärung  zuerst  und 
bildete  Fastari,  was  ihm,  dem  InfimtiSy  lautes  Lob  von  dem  Scholarchen 
und  neidischen  Haß  bei  den  Kameraden  eintrug.  „Dieses  pedantische 
Abenteuer  gab  den  Anstoß  zur  Entwickelung  meiner  Kräfte,  und  ent- 
fernte mich  von  dem  Umgang  mit  den  Kommilitonen,  unter  denen, 
wie  es  bei  einer  Jugend  von  niedriger  Herkunft  und  schlechter  Er- 
ziehung nicht  anders  sein  kann,  die  äußerste  Ungezogenheit  und  Sitten- 
losigkeit  jeder  Art  herrschte."  „Was  mir  der  Schulunterricht  verschaffte, 
beschränkte  sich  fast  bloß  auf  Vokabeln  und  Phrasen.  Mit  dem  Grie- 
chischen ging  es  nicht  besser.  Das  N.  T.  und  Plutarch  von  der  Er- 
ziehung war  alles,  was  wir  von  griechischen  Büchern  kannten.  Ich 
mußte  mein  Pensum  abschreiben,  eine  Wellerische  Grammatik  entlehnen. 
Gleichwohl  arbeitete  ich  mich  in  das  Griechische  so  wacker  hinein,  daß 
ich  griechische  Elaborationen  verfertigte,  weiterhin  griechische  Verse, 
nachher  selbst  in  griechischer  Prosa,  endlich  in  griechischen  sowohl  als 
lateinischen  Versen  das  Extemporaneum  und  sogar  die  Predigten  nach- 
schrieb. In  prima  gelangte  ich  zur  Notiz  von  einigen  Klassikern. 
Unser  Rektor,  der  selbst  den  Homer  hat  abdrucken  lassen,  gab  noch 
Privatstunden  über  die  eine  und  andere  Rhapsodie.  Aber  es  fehlte 
ihm  überall  an  den  Elementen  selbst.  So  gewann  ich  daran  keinen 
Geschmack,  nicht  einmal  am  Homer,  las  keinen  einzigen  Schriftsteller 
aus,  war  also  beim  Abgehen  von  der  Schule  in  allem  ganz  fremd,  was 
auf  klassische  Gelehrsamkeit  Beziehung  hatte."  Erst  im  letzten  Schul- 
jahr (1748)  kam  ein  Schüler  Ernestis,  der  nachherige  Rektor  in  Grimma, 
Kbebs,  als  Konrektor  nach  Chemnitz  und  gab  doch  einigen  Vorschmack 
von  etwas  Besserem.  Er  gab  Heyne,  den  er  seiner  Aufmerksamkeit 
würdigte,  eine  griechische  Privatetunde,  worin  Sophokles'  Ajax  erklärt 
wurde.  Endlich  kam  auch  einige  Verbesserung  der  äußeren  Umstände: 
er  erhielt  Privatinformation  in  einem  guten  Hause;  „da  mir  diese 
Stunden  monatlich  einen  Gulden  brachten,  so  war  ich  nun  auch  gegen 
den  Unwillen  der  Meinigen  mehr  gesichert.  Bisher  hatte  ich  oft  noch 
Handarbeiten  geleistet,  um  nicht  hören  zu  müssen,  daß  ich  umsonst 
ihr  Brot  essen  wolle."    Auch  verschaffte  der  Umgang  mit  jener  Familie 


604      ///,  6.    Zustände  des  gelehrten  Unterrichtswesens  um  1700. 


dem  Schüchternen  und  Linkischen  einige  Bildung.  —  Bitterste  Zeit  des 
Mangels  und  Kummers  kam  dann  wieder,  als  Heyne,  mit  zwei  Gulden 
in  der  Tasche,  die  Universität  Leipzig  bezog.  „Das  meiste  wirkte  auf 
mich  der  Trotz  gegen  das  Schicksal,  überall  es  darauf  ankommen  zu 
lassen,  ob  ich  ganz  in  Staub  solle  und  müsse  liegen  bleiben.^'  Nach 
einem  Jahr  etwa  wurde  er  mit  Cheist  bekannt,  der  sich  freundlich 
gegen  den  armen,  durch  sein  Äußeres  nicht  eben  empfohlenen  Studenten 
erwies;  „er  erlaubte  mir  zu  ihm  zu  kommen,  reichte  mir  ein  Buch, 
ließ  mich  in  einem  Zimmer  sitzen,  unterhielt  sich  zuweilen  mit  mir, 
gab  mir  auch  wohl  einige  Lehren  über  das  Schickliche  und  Unschick- 
liche." Er  riet,  die  Alten  nach  dem  Beispiel  des  Scaliger  von  den 
Ältesten  ab  in  der  Folge  zu  lesen;  mit  dem  Herodot  ward  der  Anfang 
gemacht  „Ich  verfolgte  den  Rat  eine  gute  Zeit  so  weit  ich  die  nötigen 
Bücher  geborgt  erhalten  konnte.  So  unsinnig  war  mein  Eifer  im  Lesen, 
daß  ich  länger  als  ein  halbes  Jahr  die  Woche  nur  zwei  Nächte  schlief.** 
Nützlich  wurden  besonders  die  Vorlesungen  Eknestis.  Auch  ein  Priva- 
tissimum,  in  dem  die  Teilnehmer  selbst  interpretierten,  öffnete  sich  ihm, 
und  hier  bekam  er  die  ersten  Ideen  über  Methode,  wenigstens  der 
sprachlichen  Interpretation.  Dazu  begann  er,  um  doch  ein  Brotstudium 
zu  haben,  die  Rechtswissenschaften  zu  erlernen.  Die  äußere  Bedräng- 
nis dauerte  inzwischen  fort,  durch  Privatinformation  mußte  ein  kümmer- 
licher Unterhalt  verdient  werden.  Da  brachte  im  Jahre  1752  ein  Zufall 
eine  unerwartete  Wendung:  ein  lateinisches  carmen  von  Heyne  auf 
den  Tod  eines  Geistlichen  erregte,  mehr  durch  die  opulente  Ausstattung 
als  durch  den  Inhalt,  die  Aufmerksamkeit  des  allmächtigen  Ministers 
Brühl,  er  ließ  den  Wunsch  fallen,  den  Verfasser  kennen  zu  lernen. 
Heyne  macht  sich,  nachdem  er  sich  equipiert,  mit  geborgten  51  Thalem, 
nach  Dresden  auf  den  Weg.  Der  Minister  sah  ihn  mit  gnädigem 
Lächeln  an  und  —  speiste  ihn  mit  Versprechungen.  Nach  einem  halben 
Jahr  bittersten  Hungers  erhielt  er  endlich  eine  Stelle  als  Kopist  an 
Brühls  Bibliothek  mit  100  Thalern  Gehalt  Hier  lernte  er  die  neuen 
Schriften  der  Franzosen  und  Engländer  kennen;  gelegentlich  begegnete 
er  hier  auch  Winckelmann.  Die  Not  trieb,  durch  schrifstellerische 
Arbeiten  einen  Nebenverdienst  zu  suchen;  er  gab  den  Tibull  und 
Epiktet  heraus.  Dann  warf  der  Überfall  Dresdens  durch  die  Preußen 
(1756)  den  eben  ans  Ufer  strebenden  wieder  in  die  Flut  zurück;  er 
mußte  eine  Hofmeisterstelle  in  einem  adeligen  Hause  annehmen,  ging 
1759  mit  dem  Zögling  nach  Wittenberg  auf  die  Universität,  wo  be- 
sonders historische  Studien,  bei  Ritteb,  getrieben  wurden.  Nachdem 
der  Krieg  ihn  noch  ein  paar  Jahre  hin-  und  hergeworfen  und  ihm 
alles  genommen  hatte  —  bei  dem  Bombardement  von  Dresden  (1760) 


Lebensbilder:  Busch.  605 


verbrannte  seine  ganze  Habe,  auch  seine  Manuskripte  —  lief  er  end- 
lich im  Jahre  1763  unerwartet  in  den  Hafen  ein:  er  wurde  als  Nach- 
folger Gesnees  nach  Göttingen  berufen;  Ruhnken  hatte  auf  ihn  die 
Aufinerksamkeit  gelenkt 

Nicht  ohne  Interesse  ist  auch  die  kleine  Selbstbiographie  von 
J.  G.  BüscH,  dem  späteren  Begründer  der  Handlungsakademie  zu  Ham- 
burg: Über  den  Gang  meines  Geistes  und  meiner  Thätigkeit  (Ham- 
burg 1794).  Geboren  1728  als  Sohn  eines  Hamburgischen  Predigers, 
erhielt  er  den  ersten  Unterricht  durch  eine  Reihe  von  Hauslehrern, 
von  welcher  Gattung  von  Menschen  und  ihrem  Schicksal  er  eine  wenig 
günstige  Meinung  hat  Nach  dem  Tode  des  Vaters  kam  er,  15 jährig, 
auf  die  Gelehrtenschule  der  Stadt  Der  Unterricht  des  Konrektors  war 
überaus  elend.  „Lateinische  Schriftsteller  wurden  so  gelesen,  daß  der 
erste  in  der  Bank  eine  Periode  laut  übersetzte.  Dann  hieß  es:  repete^ 
bis  die  ganze  Bank  durchgenommen  war.  Dann  kauete  die  folgende 
Bank  eine  zweite  Periode  durch,  und  so  fortan,  ohne  ein  Wort  der  Er- 
läuterung. In  den  Privatstunden  wurden  wir  mit  Zusammenstoppelung 
verworfener  lateinischer  Verse  oder  mit  deutschen  Perioden  ex  argu- 
mentis  ab  utüi,  a  jucundo  u.  dergl.  gequält"  Pennalismus  und  andere 
widrige  Dinge  fehlten  nicht  Inzwischen  lernte  der  kleine  Busch  ohne 
Lehrer  und  ohne  Grammatik  Französisch  und  Englisch,  aus  geliehenen 
Autoren,  die  er  mit  Hilfe  eines  Lexikons  entziflferte.  Etwas  besser  war 
der  Unterricht  des  Rektors,  den  er  vom  17. — 19.  Jahr  genoß.  „Alles 
ging  auf  kursorische  Lektüre  hinaus;  wer  die  Perioden  des  Cicero  und 
Livius  ebenso  geschwind,  als  er  sie  lateinisch  hergelesen  hatte,  deutsch 
wiedergeben  konnte,  hatte  seinen  Beifall.  Aber  ebenso  kursorisch  wurden 
lateinische  wissenschaftliche  Bücher,  z.  B.  Baumeistees  Logik,  Ernestis 
Initia,  Nieupobts  Antiquitäten,  Vossii  Rhetorica,  ohne  Anmerkungen 
und  Exempel,  ohne  Rückfragen,  ob  und  was  wir  verstanden  oder  be- 
halten hatten,  nicht  gelesen,  sondern  durchgejagt  Und  das  hieß  Philo- 
sophie, Redekunst  und  Altertümer  treiben."  Auch  zu  den  Aufsätzen 
und  Reden,  die  gefordert  wurden,  gab  es  keine  Anleitung.  Ebenso 
wenig  zu  den  Disputierübungen,  die  in  lateinischer  Sprache  stattfanden. 
„Als  die  Reihe  an  mich  kam,  fiel  ihm  ein,  die  Authentizität  der  Schriften 
des  N.  T.  zum  Gegenstand  unserer  Disputation  zu  machen.  Ich  sollte 
opponieren,  der  ich  niemals  gehört  hatte,  daß  Zweifel  daran  statthätten. 
Ich  geriet  an  /.  Casauboju  Exercitationes  ad  Baronii  Annales,  in  deren 
ersten  Abschnitten  die  Authentizität  verteidigt  wird.  Nun  lernte  ich 
die  Gegenseite  einigermaßen  kennen,  bildete  Argumente  daraus,  oppo- 
nierte bis  in  die  dritte  Stunde  und  schied  aus  diesem  Kampf  mit  einer 
Ehre,  die  ich  damals  für  große  Geldbelohnung  nicht  vertauscht  haben 


606       III,  ()\    Zustände  des  gelehrten  Untenichiswesens  um  1700. 


möchte."  Man  sieht,  die  Schüler  wurden  ins  Wasser  geworfen,  nun 
hieß  es  schwimmen  können.  —  Mit  19  Jahren  kam  Busch  auf  das 
akademische  Gymnasium,  das  sich  an  das  Johanneum  anschloß  und 
machte  hier  den  zweijährigen  Kursus  in  der  Philosophie  und  den  Wissen- 
schaften durch;  er  hält  diese  zwei  Jahre  für  die  bestangewendeten  seines 
Lebens.  Besonders  erwies  sich  der  philosophische  Unterricht  des  älteren 
Reimabus  förderlich.  Daneben  wurde  Geschichte  und  Mathematik,  be- 
sonders angewendete,  fleißig  getrieben.  1748  ging  er  nach  Göttingen, 
mit  Stipendien,  und  studierte  hier  drei  Jahre  Theologie  (bei  Mosheim), 
Geschichte  und  Staatswissenschaften,  Mathematik  und  Physik,  vielfach 
ohne  Hilfe,  auf  der  Bibliothek.  Dann  folgen  die  Jahre  „traurigen 
Kandidatenstandes".  Als  Erzieher  und  Hauslehrer,  unter  demütigenden 
Verhältnissen  bis  zur  Erschöpfung  arbeitend,  rieb  er  die  Kraft«  auf,  bis 
sich  ihm  die  Stelle  eines  Mathematiklehrers  am  Johanneum  öffnete  und 
zugleich  den  Studien  die  Richtung  auf  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaft gab.  Endlich  gab  die  Teilnahme  an  der  Handlungsakademie 
seinen  Arbeiten  nochmals  eine  Wendung  auf  die  wirtschaftlichen  Dinge. 
Noch  füge  ich  hier  aus  der  für  die  Geschichte  des  Gelehrt^nw^ens 
im  18.  Jahrhundert  in  mancher  Hinsicht  interessanten  Selbstbiographie 
J.  St  PüTTEEs,  des  bekannten  Göttinger  Staatsrechtslehrers,  die  Um- 
risse seines  Bildungsganges  ein.  Geboren  1725  zu  Iserlohn  aus  guter 
bürgerlicher  Familie,  erhielt  er  den  ersten  Unterricht  mit  anderen 
Knaben  von  einem  Privatlehrer,  „denn  mit  den  damaligen  Lehrern  der 
ordentlichen  Stadtschule  war  man  nicht  zufrieden.  Einem  königlichen 
Befehl,  den  der  damalige  Rektor  dagegen  bewirkt  hatte,  wichen  wir 
damit  aus,  daß  unser  Herr  Kandidat  mit  allen  seinen  Schülern  sich  auf 
einige  Wochen  ins  Kölnische  gab."  Als  der  Kandidat  eine  anderweit« 
Versorgung  erhielt,  wurde  der  kleine  Ptittee  zu  einem  Prediger  gethan, 
bei  dem  er  mit  drei  oder  vier  anderen  Schülern  drei  Jahre  lang  Unter- 
richt im  Lateinischen,  Griechischen,  Hebräischen  und  Chaldäischen,  auch 
in  den  Anfangsgründen  der  Geographie  und  Geschieht«  hatte.  ÖflFent- 
licher  Vortrag  einer  lateinischen  Bede  und  eines  ebensolchen  Gedichtes 
auf  einen  Kometen  ragen  als  Ereignisse  noch  in  der  Erinnerung  des 
alten  Mannes  hervor.  Noch  nicht  13jährig  wird  er  1738  auf  die  Uni- 
versität Marburg  geschickt;  um  als  Student  gelten  zu  können,  muß  er 
trotz  seiner  Jugend  den  Degen  anlegen;  er  hört  bei  Wolf  Mathematik 
und  Metaphysik,  dessen  Vortrag  er  rühmt:  „er  las  nicht  ab  und  dik- 
tierte nicht,  deklamierte  auch  nicht,  sondern  sprach  ganz  frei  und  un- 
gezwungen natürlich".  Bei  einem  andern  hörte  er  Logik,  Univeral- 
historie  und  Keichsgeschichte,  endlich  Institutionen.  1789  ging  er  nach 
Halle,  wo  er  bei  dem  Theologen  Baumgarten  Dogmatik  (als  Konfir- 


Lebensbilder:  Pütter.  607 


mationsunterricht),  bei  dem  Philosophen  Baumgarten  Moral  und  all- 
gemeine Encyklopädie,  außerdem  juristische  und  staatswissenschaftliche 
Vorlesungen  hörte.  Ferner  begann  er  hier  Französisch,  Englisch,  Italie- 
nisch, Flöte  und  Tanzen.  Nach  zwei  Jahren  ging  er  nach  Jena,  auf 
Rat  eines  Freundes,  der  ihm  bei  Prof.  Estor  Logis  verschaflFte;  von  diesem 
erhielt  er  seine  Bücher  und  vor  allem  auch  die  Akten  zur  Benutzung. 
Außer  den  juristischen  Studien  trieb  er  hier  noch  angewandte  Mathe- 
matik und  setzte  das  Französische  und  Italienische  fort.  Auch  erhielt 
er  hier  zuerst  Gelegenheit  zum  Unterricht:  er  repetierte  mit  einem  im 
Hause  wohnenden  jungen  Edelmann  die  Institutionen.  1742  siedelte 
er  mit  Estor  nach  Marburg  über,  wo  er  hörend  und  lehrend  seine 
juristischen  Studien  fortsetzte,  1744  promovierte  und  sogleich  in  Estors 
Hörsaal  zu  lesen  begann,  und  zwar  über  deutsche  Reichs<ieschichte.  vor 
39  Zuhörern,  darunter  11  Adligen.  1746  wurde  er,  21  Jahre  alt,  von 
MüNCHHAUSEN  zuuächst  als  außerordentlicher  Professor  nach  GOttingen 
gezogen,  das  er,  trotz  zahlreicher  lockender  Anerbietungen  nicht  wieder 
verließ.  Beinahe  60  Jahre  lang  hat  er  hier  die  Rechts-  und  Staats- 
wissenschaften gelehrt,  vor  allem  das  deutsche  Staatsrecht;  mit  Genug- 
thuung  giebt  er  in  seiner  Biographie  zu  jedem  Jahr  die  Zahl  der  Hörer 
an  und  unterläßt  nicht  die  Herren  von  Stande  namentlich  aufzuführen; 
wie  denn  aus  dem  ganzen  Buch  jene  submisse  Devotion  gegen  den  hohen 
und  niederen  Adel  atmet,  die  die  Luft  des  18.  Jahrhunderts  erfüllt. 


Wir  sind  am  Ende  der  ersten  Hälfte  unserer  Darstellung.  Wir 
haben  die  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  unter  dem  Zeichen  des 
alten  Humanismus  bis  zu  seinem  Absterben  verfolgt.  Um  1740  sind 
die  Schulen  auf  den  tiefsten  Stand  in  der  öflFentlichen  Schätzung  ge- 
sunken, den  sie  überhaupt  erreicht  haben.  Was  sie  triöben,  galt  in  der 
Welt  draußen  nicht  mehr;  was  draußen  galt,  trieben  sie  noch  kaum. 
Der  althumanistische  Schulbetrieb  mit  samt  seinem  Ziel,  der  lateinischen 
Poesie  und  Eloquenz,  war  tot;  und  alle  Beredsamkeit  der  Professoren 
der  Eloquenz  und  alles  Klagen  und  Schelten  der  Gymnasialpädagogen 
konnte  ihn  nicht  wieder  zum  Leben  bringen.  — 

Eine  Probe  aus  dem  kastalischen  Quell,  den  die  Lehrer  und  Pro- 
fessoren der  Poesie  erschlossen,  mag  dem  Leser,  der  bisher  so  viel  Schul- 
staub geschluckt  hat,  zu  einer  Plrfrischung  und  Ergötzung  hier  am  Ende 
vorgesetzt  sein.  Ich  entnehme  sie  einem  von  dem  Witten])frger  pro- 
fessor  poeseos  C.  L.  Crkllius  „nojnine  academiae  elaborierten  in  zwei 
Bogen  auf  Atlas  gedruckten  carmen^%  das  August  dem  Starken  bei  seiner 
Anwesenheit  in  Wittenberg  im  Jahre  1728  vom  Rektor  und  Senat  über- 
reicht wurde.    Was  Übung,  Kunst  und  Imitation  in  der  Poesie  vermag. 


608       ///,  6,    Zustände  des  gMirten  ünterrichtswesens  um  1700, 


wird  der  Leser  mit  Nutzen  und  Vergnügen  aus  dieser  kleinen  Probe  ent- 
nehmen; zugleich  auch,  was  von  der  Rede  zu  halten  sei:  daß  die  deutsche 
Litteratur  allein  dem  treuen  Studium  und  der  Nachahmung  der  Alten 
ihren  Aufschwung  seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  zu  danken  habe. 
Die  ersten  vier  Verse  des  besagten,  auf  Atlas  gedruckten  Carmens  (wo- 
von ein  Abdruck  auf  der  kgl.  Bibliothek  ist)  lauten  also  folgendermaßen: 

August  ist  da!    Wie!    Fühlt  ihr  nicht 
Der  Gottheit  Strahl,  der  Regung  Kräfte? 
Bewegt  nicht  Ehrfurcht,  Freude,  Pflicht, 
Kunst,  Geister,  Herzen,  Mark  und  S&ft;e? 
Was  hemmt  des  Bluts  erhitzten  Lauf? 
Was  hält  euch,  edle  Musen,  auf? 
Was  stöhrt  der  frohen  Seele  Flammen? 
Dringt  durch,  reißt  Band  und  Damm  entzwej; 
Zeigt,  was  der  Liebe  WQrkung  sej. 
Setzt  Trieb,  Verstand  und  Geist  zusammen! 

August,  DU  bist  der  Hoffnung  Ziel, 
Wonach  uns  Lieb  und  Ehrfurclit  leitet: 
Und  wir  ein  lebend  Harffen- Spiel, 
Das  die  Natur  vor  DICH  bereitet. 
Mit  Adern,  als  mit  Sajten,  ziert. 
Die  t-äglich  Lieb  und  Treue  rührt 
Daß  wenn  das  Blut  mit  Freuden  wallet, 
Und  jedes  Tröpffchen,  so  sich  zeigt. 
Bald  ab-,  bald  wieder  aufwärts  steigt, 
Augustens  Nalim  und  Ruhm  erschallet 

Die  Heftigkeit  ist  ungeschickt. 
Der  Wünsche  Sehnsucht  zu  bezeugen. 
Die,  von  Begierd  und  Gluth  erstickt. 
Doch  häufig  aus  dem  Herzen  steigen. 
Ein  9^uf^[j^j>driiigt  dem  andern  vor, 
Cfe' Muiid  wiod  ein  verwirrter  Chor, 
VerÄeret  W^e,  Thon  und  {nieder; 
Die  Ohnmacht  strebt  und  greift  sich  an, 
Und  fällt,  iRadl  sie  nicht  weiter  kann. 
Gebückt  zu  Deinen  Füßen  nieder. 

Die  Jugend  hebt  das  Haupt  empor. 
Der  Säugling  wird  DIR  nachgetragen. 
Der  lahme  Greis  dringt  sich  hervor, 
Der  Kranke  fragt  und  läßt  sichs  sagen: 
Das  schwangre  Weib  kreucht  auf  das  Dach 
Umi^sieht  DIR  mit  Erstaunen  nach. 
Des  künftgen  armen  Erbens  willen: 
Die  Frucht,  die  sie  gefährlich  trägt. 
Mit  Liebe,  so  sie  vor  DICH  hegt, 
Noch  ungebohren  zu  erfüllen. 


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