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GESCHICHTE
DES
GELEHRTEN ÜITERßlCHTS
AUF DEN DEUTSCHEN SCHULEN UND UNIVERSITÄTEN
VOM AUSGANG
DES MITTELALTERS BIS ZUR GEGENWART.
HIT BESONDERER ROCKSICHT AUF DEN KLASSISCHEN UNTERRICHT.
VOK
Dr. FKIEDRICH PAÜLSEN.
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT ZU BERUN.
ZWEITE, UMGEARBEITETE UND SEHR ERWEITERTE AUFLAGE.
ERSTER BAND.
LEIPZIG,
VERLAG VON VEIT & COMP.
1896.
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Siehe, er gehet vor mir über,
ehe ichs gewahr werde,
und verwaudelt sich,
ehe ichs merke.
Hiob.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck TOD Metxger St Wittig in Leipzig.
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MEINEM FREUNDE
FRIEDRICH REUTER
IN ALTONA
AUFS NEUE ZUGEEIGNET.
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Siehe, er gehet vor mir über,
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und verwandelt sich,
ehe ichs merke.
Hiob.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von Metxger A Wittig in Leipzig.
MEINEM FREUNDE
FRIEDRICH REUTER
IN ALTONA
AUFS NEUE ZUGEEIGNET.
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Liebster Freund!
Dir schreibe ich dies Buch aufe neue zu. Du bist mir, mehr als
Du selber wissen kannst, Führer gewesen, als ich für das Gebiet der
Erziehung und des Unterrichts leitende Anschauungen und feste Grund-
satze suchte. Du hast mir gezeigt, was in der Jugendbildung allein
wesentlich und wahrhaftig wirkt: die lebendige Teilnahme des Lehrers
für die Sache und für die Schüler. Sie weckt lebendige Kräfte in den
Seelen. Der Lehrplan thut's nicht, und auch der Lehrstoff und die
Methode thut's nicht, die vollkommenste Methode und der schönste
„Gesinnungsstofi*^' ist tot an ihm selber. Noch weniger thun's AuMcht
und Eontrolle. Der Mensch thut's, der, selbst von der Sache erfüllt,
den der Menschenseele eingebomen Trieb zum Wahren und Guten und
Schönen zu wecken weiß.
Hierfür aber ist Freiheit die Bedingung. Freie Selbstthätigkeit
ist das Wesen des Geistes. Darum ist Freiheit die Lebensluft der
Schule; ohne sie kann Lehren und Lernen nicht gedeihen. Ein
«
mechanistischer Unterrichtsbetrieb, der mit den Mitteln der Aufeicht
und des Zwangs Lehrer und Schüler auf der hartgetretenen Straße
gebotener und kontrollierter Pensenarbeit vorwärts treibt, der tötet Lust
und Liebe und mit ihnen das Leben. Freilich, Jugend hat eine zähe
Lebenskraft; ist in der Schule kein Raum für Lebendiges, so sucht und
findet sie es außerhalb. Aber der Schule und dem Lehrer, der in ihr
seinen Lebensberuf hat, wird mit der Freiheit die Freude an der Arbeit,
die Freude am Leben genommen: denn was hat der Mensch vom Leben,
als daß er froh sei bei seiner Arbeit?
In dieser Gesinnung weiß ich mich eins mit Dir. Ich wollte, dies
Buch könnte ein wenig beitragen, sie auszubreiten, unter den Gebietern
der Schule, daß sie erkennen, was Ordnung und Aufsicht und äußere
VI Widmung,
Antriebe zu leisten vermögen, was nicht; unter den Lehrern, daß unter
ihnen der Wille zur Freiheit wieder lebendiger werde. Überall wird
heute über Mangel an Freiheit geseuM; aber man vergißt leicht, daß
die erste Ursache der Unfreiheit der Mangel an freier Gesinnung, der
Mangel an Willen zur Freiheit ist. —
Als ich vor zehn Jahren Dir, dem Lehrer an einem Gymnasium,
dies Buch widmete, da ahnte, ich nicht, ein wie zweifelhaftes Geschenk
ich Dir machte. Ein heftiges Zornwetter entlud sich über meinem
Haupt, fast fürchte ich, daß auch auf Dich etwas übergespritzt ist. —
Inzwischen ist eine andere Zeit heraufgekommen, schneller als ich er-
wartet hatte. Vielleicht konmit dies Buch, das bei seinem ersten
Erscheinen so revolutionär und ketzerisch befunden wurde, heute schon
manchem zaghaft und rückstandig vor. Es liegt nicht an dem Buch,
meine Anschauungen haben sich nicht wesentlich geändert. Geändert
hat sich die Zeit; die alte Gymnasialorthodoxie ist auf das Empfind-
lichste getroffen, für den lateinischen Aufsatz, der damals noch als
Fahne und Siegeszeichen des klassizistischen Humanismus hoch gehalten
wurde, rührt sich heute kaum noch eine Hand. Die alte Zuversicht
ist vielfach ratlosem Zweifel und Kleinmut gewichen. Vielleicht findet
unter solchen Umständen auch das Schlußwort jetzt geneigteres Gehör;
ich versuche darin zu zeigen, wie die letzten Ziele, in deren Be-
stimmung ich mit dem Humanismus einig bin, auch dann nicht auf-
gegeben zu werden brauchen, wenn wir die Mittel nicht auf die Dauer
festhalten können, mit denen der alte Humanismus im 16. Jahrhundert
und wieder der Neuhumanismus am Anfang des 19. Jahrhunderts sie
zu erreichen strebte.
F. P.
Vorwort zur ersten Auflage.
Es ist eine alte Frage, ob es möglich sei, aus der Geschichte zu
lernen, nicht bloß^ was war, sondern auch, was kommen wird. In der
Überzeugung, daß dies möglich sei, ist die vorliegende Untersuchung
unternommen worden; wenn das Leben eines Volkes nicht in einem
#
Nacheinander von Zufallen besteht, wenn in ihm^ wie in einem Einzel-
leben, Zusammenhang und Konsequenz ist^ so muß es möglich sein,
durch Beachtung der Richtung, in welcher die zurückgelegte Wegstrecke
verlief, auf die Richtung der Fortsetzung Folgerungen zu ziehen. Die
geschichtliche Entwickelung in den letzten drei Jahrhunderten läßt sich
als die allmähliche Loslösung einer selbständigen und eigentümlichen
modernen Kultur von der antiken Kultur beschreiben; wie die reifende
Frucht von dem Stamme sich löst, auf dem sie gewachsen ist, so ist die
geistige Bildung der abendländischen Völker in stetigem Fortschritt aus
dem Altertum hervor- und herausgewachsen. / Der gelehrte Unterricht
ist der allgemeinen Kulturentwickelung beständig, wenn auch in einigem
Abstand, gefolgt. Wenn diese Deutung der historischen Thatsachen
nicht gänzlich fehlgeht, so wäre hieraus für die Zukunft zu folgern,
daß der gelehrte Unterricht bei den modernen Völkern sich immer
mehr einem Zustand annähern wird, in welchem er aus den Mitteln
der eigenen Erkenntnis und Bildung dieser Völker bestritten werden
wird. Auf den Universitäten ist dieser Zustand schon erreicht; die
Alten sind nicht mehr, wie im 14. und 16. und noch im 18. Jahr-
hundert, die Lehrer der Wissenschaft und der Bildung, sie sind Objekte
der wissenschaftlichen Forschung. Die Gelehrtenschulen sind von diesem
Znstand noch etwas weiter entfernt; es ist aber niemandem verborgen,
und von den Anhängern des Alten wird es am meisten beklagt, daß
die „klassische Bildung**, welche sie früher gegeben hätten, nicht mehr
vin Vorwort zur ersten Auflage.
erreicht werde, seitdem sie, den Forderungen des Zeitgeistes nachgebend,
zu dem Alten eine Menge neuer und fremdartiger Unterrichtsgegen-
stande auf ihren Lehrplan gesetzt hätten. Ein Versuch der „klassischen
Bildung^' durch Zurückdrangung oder Ausscheidung jener fremdartigen
Elemente wieder Baum zu schaffen, ist in den fünfziger Jahren gemacht
worden; er ist an dem Widerstand der Wirklichkeit gescheitert und
wird schwerlich wiederholt werden. Es scheint demnach nur ein Weg
übrig zu bleiben, der, daß wir versuchen, die humanistische Bildung,
welche wir mit den Mitteln der alten Sprachen zu erreichen vergeblich
ringen, mit andern Mitteln zu gewinnen. Ich habe in dem Schluß-
kapitel angedeutet, mit welchen Mitteln etwa die zukünftige Gelehrten-
schule die alten Ziele der Sapienz und Eloquenz zu erreichen trachten
könnte.
Dem Geständnis, daß es zunächst das Interesse an der Zukuni't
unseres gelehrten Unterrichts gewesen ist, welches mich zur Beschäftigung
mit seiner Vergangenheit geführt hat, lasse ich eine Bitte an den Leser
folgen: er wolle nicht erwarten, daß im Folgenden ihm ein sehr in die
Länge gezogener historischer Leitartikel vorgelegt werde, eine Litteratur-
gattung, die ebenso unerquicklich als unfruchtbar ist Die Geschichte
kann nur den belehren, der ihr zuhört, nicht den, der ihr zuredet.
Ich hoffe, daß jede Seite dieses Buches von dem ernsthaften Bemühen,
zu hören, Zeugnis ablegt Mein Interesse an der Vergangenheit als
solcher ist im Fortgang der Arbeit beständig gewachsen. Vielleicht
giebt es kein Einzelgebiet historischer Forschung, welches in so engem
Zusammenhang mit der gesamten Eulturentwickelung unseres Volkes
steht, als die Geschichte des gelehrten Unterrichts. Die Geschichte des
geistigen Lebens, der Philosophie und der Wissenschaft, der religiösen
und der litterarischen Bewegungen, spiegelt sich darin, freilich mit
eigentümlicher Verkürzung. / Die Entwickelung der Gesellschaft stellt
sich schwerlich an einem Punkte greifbarer dar, als in der jedesmaligen
Stellung der gelehrten Schulen zu der Gliederung der Gesellschaft.
Endlich werden in der Organisation der Schulverwaltung die Wand-
lungen in den großen Formen des öffentlichen Lebens sichtbar: das
Wachstum des Staates auf Kosten der Kirche und der Gemeinde. Ich
habe versucht, soweit es mit meinem Hauptzweck verträglich schien,
diese Beziehungen anzudeuten. Was den Unterricht selbst anlangt, so
Vorwort x/ur ersten Auflage. ix
handelte es sich natürlich nicht darum, möglichst zahlreiche Data hier
zusammenzustellen; die Aufgabe war, aus dem mir zuganglichen
Material repräsentative Thatsachen und Äußerungen auszuwählen, aus-
reichend, um eine deutliche Vorstellung von seinem Bestand in jedem
Zeitalter zu geben. Es ist nicht wahrscheinlich, daß ich hierin immer
das richtige Maß und die richtige Wahl getroffen habe, und ich zweifle
nicht daran, daß mir manches, das Beachtung verdient hätte, überhaupt
entgangen ist. Für Mängel und Versehen von dieser Art hoffe ich bei
dem billigen Leser Nachsicht zu erlangen, um so leichter, wenn er er-
wägt, daß Vollständigkeit in der Benutzung des Materials für kultur-
historische Untersuchungen aus dem Gebiet der letzten vier Jahrhunderte
auch dem längsten Leben unerreichbar ist, und femer, daß hier zum
erstenmal der Versuch gemacht worden ist, das unermeßliche Material
für eine Geschichte des gelehrten Unterrichts zu einer zusammen-
hangenden Darstellung zu verwerten.
Denn eine Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland
war bis dahin noch nicht vorhanden. Das Werk, welches bisher die
SteUe eines solchen vertrat, ist die verdienstvolle Geschichte der Päda-
gogik von K. V. Raumeb. Wie der Titel sagt, bilden die pädagogischen
Theorien den eigentlichen Inhalt des Werkes; allerdings wird, nament-
lich für das 16. Jahrhundert, auch die wirkliche Gestaltung des Schul-
wesens und des Unterrichts in den Bereich der Darstellung gezogen;
doch ist selbst für die Zeit des Humanismus und der Reformation die
RAUMEBsche Geschichte entfernt nicht ausreichend, weder um von dem
Verlauf der Dinge in dem großen Revolutionszeitalter, noch von dem
Bestand des Schulwesens am Schluß desselben eine zutreffende Vor-
stellung zu geben. Für das 17. und 18. Jahrhundert giebt sie nur
Andeutungen und das 19. fehlt ganz. Außerdem fehlt die Berück-
sichtigung der Universitäten fast vollständig. Hierin folgt ihr auch
die von Schmid redigierte Encyklopädie des gesamten Erziehungs- und
Unterrichtswesens; die Artikel, in welchen über das Unterrichtswesen
der einzelnen deutschen Staaten berichtet wird, enthalten regelmäßig
auch eine Übersicht über die Schulgeschichte des Landes, aber mit
Ausschluß der Universitäten. Für die Gegenwart mag diese Trennung
angehen, für die ältere Zeit ist sie ganz unzulässig. Nicht nur während
des Mittelalters, sondern bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts
Vorwort imr ersten Auflage.
funktionierte die philosophische Fakultät, die facultas arthtm, als Ober-
gymnasium. Seitdem ist zwar das Gynmasium so erweitert , daß es
thatsachlich den Vorbereitungskursus für das Fachstudium zum Ab-
schluß bringt; aber die philosophischen Fakultäten sind schon dadurch
im engsten Zusammenhang mit den Gymnasien geblieben, daß sie fort-
fuhren, als Lehrerbildungsanstalten zu dienen. Endlich aber ist eine
Charakteristik der allgemeinen Bewegungen im Gebiet des Gelehrten-
schulwesens nicht möglich ohne Hineinziehung der Universitäten; den
Schulen ist ihr Anteil daran wenigstens in Deutschland stets durch die
Universitäten vermittelt worden.
Raümeb lehnt es in der Vorrede zu seinem Werk ausdrücklich ab
objektiv zu sein: er sei nicht frei von Liebe und Haß und wolle es
nicht sein, sondern nach bestem Wissen und Gewissen das Böse hassen
und dem Guten anhangen. Gewiß ein löblicher Vorsatz; nur, scheint
mir, hat eine Schulgeschichte es zunächst nicht mit dem Guten und
Bösen zu thun, sondern mit den verschiedenen Formen, in welchen
verschiedene Zeitalter ihr Unterrichts- und Bildungsbedürfnis zu be-
friedigen suchten. Es mag das von den verschiedenen Zeiten mit mehr
oder weniger Geschick geschehen sein, man wird aber annehmen
dürfen, daß jede, so gut sie es verstand, das Gute und Zweckmäßige
suchte, und vielleicht ist es eine dem Historiker ziemende Bescheidenheit,
seinem Urteil hierüber nicht mehr zu trauen, als dem Urteil der Zeit
selbst. Er mag über das für seine Zeit Geeignete ein Urteil sich zu-
trauen, über das, was dem 14. oder dem 16. oder dem 18. Jahrhundert
not that, ist es doch wohl am geratensten, das 14. oder das 16. und
18. Jahrhundert selbst urteilen zu lassen. Wer nur die Kategorien
gut und böse für die historischen Erscheinungen kennt, für den
Humanismus und die Reformation etwa das Prädikat gut, für Jesuiten
und Eealisten, für Aufklärung und Rationalismus das Prädikat böse,
oder umgekehrt, der wird den Dingen nirgends gerecht Nach meinem
Dafürhalten gilt für den Historiker im wesentlichen ebenso, wie für
den Arzt oder den Psychologen, jenes Spinozistische: neque ridere^
neque fUre, nee detestari, sed intelligere,
Berlin, 26. Sept. 1884.
Friedrich Panlsen.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die neue Auflage dieses Werkes ist eine neue Bearbeitung des
Gegenstandes. Geblieben ist das Grundschema und die Grund-
anschauung; dagegen ist die Ausfahrung im ganzen und im einzelnen
durchweg erneuert Dabei ist der umfang beinahe auf das Doppelte
gewachsen, aus einem Bande sind zwei geworden. Eine große Fülle
neuen Materials, das durch den Fleiß zahlreicher Herausgeber und
Bearbeiter in dem letzten Jahrzehnt zugänglich gemacht worden ist,
hat Verwertung gefunden. In den fortlaufenden Bericht sind an den
Ruhepunkten zusammenfassende Darstellungen des Zuständlichen ein-
gelegt worden. Die Universitäten und der üniversitätsunterricht haben
erheblich eingehendere Behandlung gefunden; denn es gilt für eine
Geschichte der deutschen Bildung ein Wort von H. Steffens: „Auf
den Universitäten muß man das Bewußtsein der nationalen Entwicke-
lung in seiner größten Klarheit suchen; es giebt keine Richtung, die
nicht von diesem Mittelpunkt der höheren Bildung aus erweckt, be-
gründet und befestigt wurde" (Über Deutschlands protest. Universitäten,
S. 20). Endlich ist die Darstellung bis auf die jüngste Wendung in
der Entwickelung unseres Gelehrtenschulwesens herabgeführt worden,
trotz der Beschränktheit des Materials für die Kenntnis der Vor-
gänge, die zum Erlaß der Schulordnung vom Jahre 1891 geführt
haben, und trotz jener nicht grundlosen Warnung an den Geschichts-
schreiber: den Dingen nicht allzu nahe auf den Fersen zu folgen, weil
sie gelegentlich hintenaus schlügen. — An manchen Orten habe ich
Gelegenheit genonmien, meine Auffassung gegen anders gerichtete zu
verteidigen; die dialogische Verhandlung ist vielleicht geeignet, Leben
und Frische der Darstellung zu erhöhen.
Es sei gestattet, gleich am Eingang eine Bemerkung über Inhalt,
Umfang und Grenzen der nachfolgenden Darstellung vorauszu-
xn Vorwort %wr zweiten Auflage.
schickeDy auch um irrigen Erwartungen vorzubeugen, wie sie hin und
wieder von Eritikem der ersten Auflage mitgebracht und als Maßstab
an sie gelegt worden sind.
Gegenstand dieses Werks ist die allgemeine Eildung des Ge-
lehrten in den Ländern deutscher Zunge während der letzten vier
Jahrhunderte. Ausgeschlossen ist auf der einen Seite der Elementar-
unterricht und die Volksschule , auf der andern Seite der fach wissen-
schaftliche Unterricht in den technischen Schulen und den oberen
Fakultäten. Dagegen gehört mit der Gelehrtenschule auch die philo-
sophische Fakultät zu dem hier abgesteckten Gebiet.
Ich bezeichne noch etwas genauer, was innerhalb dieses Bahmens
dieses Buch geben will, was nicht
Nicht erwarten wolle man eine Geschichte der einzelnen An-
stalten. Die einzelnen Schulen und Universitäten kommen hier nur
so weit vor, als es für die Auffassung und Beurteilung des allgemeinen
Entwickelungsganges notwendig oder forderlich ist. Wozu ich bemerke,
daß die einzelnen Anstalten um so mehr zurücktreten, je mehr in
jüngster Zeit die Individualität der Schulen durch allgemeine Vor-
schriften zurückgedrängt wird.
Ebenso wenig wolle man erwarten eine Geschichte einzelner
Personen, ihrer Thätigkeit oder ihrer Theorien, wie sie z. B.
K. V. Eaumee giebt. Die einzelnen Personen kommen wieder nur so
weit vor, als sie entweder auf die Gesamtentwickelung des Unter-
richtswesens eingewirkt haben, oder als typische Bepräsentanten der
Bildungsbestrebungen und der Lebensverhältnisse ihrer Zeit dienen.
Übrigens hat die neue Auflage den Lebensbildern namentlich in der
letzteren Absicht einen etwas breiteren Baum gewährt; die Schilde-
rung von Zuständen erhält sichtbare und greifbare Wirklichkeit erst
durch ihre Erscheinung im Leben einzelner Personen.
Endlich wolle man nicht erwarten eine Geschichte der einzelnen
Lehrfächer, ihrer Methodik und ihrer Litteratur. Auch sie kommen
nur so weit vor, als es für die Charakterisierung der Bildungs-
bestrebungen jedes Zeitalters erforderlich ist. Eingehender wird nur
die Geschichte des klassischen Unterrichts behandelt, da er bis auf die
jüngste Vergangenheit im Mittelpunkt der allgemeinen Gelehrtenbildung
stand. Doch hab ich auch hier nicht vorgehabt, das Technische des
Vonoort var zweiten Auflage. xm
Unterrichtsbetriebs im einzelnen darzustellen oder die gesamte Unter-
richts- und Lehrmittel-Litteratur in litterar-historischer Absicht zu be-
handeln. Hätte ich attoh nur zu jedem Buch und jedem Namen, die
hier vorkommen, einige Zeilen biographischen oder litterarhistorisch-
bibliographischen Inhalts hinzufügen wollen, so würde das nicht nur den
Umfang dieses Werkes sehr yermehrt, sondern auch seinen Charakter
yerwischt haben: es ist kein Nachschlagebuch und wollte es nicht sein.^
Was ich dagegen zu geben die Absicht habe, das ist vor allem
eine Geschichte der bewegenden Ideen im Gebiet der gelehrten
Bildung. Ich habe versucht, das Ideal der Gelehrtenbildung zu zeichnen,
wie es die auf einander folgenden Zeitalter in verschiedener Gestalt,
ihrem eigenen inneren Wesen entsprechend, hervorgebracht haben;
wobei ich so viel als möglich den schöpferischen oder repräsentativen
Personen das Wort gelassen habe. Ich habe mich sodann bemüht,
die Unterrichtsziele, die sich von hier aus ergaben, zu bezeichnen und
die Mittel, mit denen man sie zu erreichen strebte, darzulegen. Ich
habe femer die Institutionen, in denen diese Bestrebungen ihre In-
korporation fanden, zu beschreiben und durch Schilderung typischer
Anstalten zu illustrieren mir angelegen sein lassen, wobei ich, so weit
dies erforderlich und möglich schien, der Bewegung durch die einzelnen
Territorien gefolgt bin. Endlich habe ich die Beziehungen des Schul-
wesens zum Gesamtleben unseres Volkes, wie es in Wissenschaft und
Litteratur. in sozialen und politischen Bewegungen sich darstellt, nach
Möglichkeit verfolgt und aufgezeigt
Ich füge eine Bemerkung über die Quellen und die Quell en-
benutzung hinzu. Im Ganzen habe ich mich durchaus an das ge-
druckt vorliegende Material gehalten. Auf die handschriftlichen Quellen
zurückzugehen war im allgemeinen weder durchfuhrbar noch notwendig;
^ Wer biographische und litterar- historische Daten sucht, den kann ich
jetzt in erster Linie auf die nunmehr ihrem Abschluß nahe Allgemeine Deutsche
Biographie verweisen. Daneben sind ein paar kleine hilfreiche Bücher:
F. A. Eckstein, Nomenclator Philologorum (Leipzig 1871) und mehr noch
W. Pökel, Philologisches Schriftstellerlezikon (Leipzig (1882). Auch Goedbkes
Grmndriß der deutschen Litteratur, sowie einige Bände aus der Geschichte der
Wissenschaften in Deutschland, wie Bursians Geschichte der Philologie, wird,
wer auf diesem Gebiet arbeitet, mit Dank benützen. Anderes wird im Verlauf
der folgenden Darstellung erwähnt werden.
xrv Vorwort zur zweiten Auflage.
schon die Fülle des Gedruckten ist schier unübersehbar. Über eine
Ausnahme von der Kegel bei der preußischen Schulverwaltung im
1 9. Jahrhundert wird an seinem Ort berichtet werden. Von gedrucktem
Material kommen, neben den allgemeinen Darstellungen der verschie-
denen Seiten des geschichtlichen Lebens, Staatengeschichte, Kirchen-
geschichte, Kulturgeschichte, Geschichte der Gesellschaft, der Litteratur,
der Wissenschaften, der Erziehung, im besonderen folgende Arbeiten
in Betracht.
1. Geschichten der einzelnen Universitäten und Schulen, und Ge-
schichten des Schulwesens einzelner Städte und Länder. An letzteren
fehlt es noch sehr; Koldewey's Geschichte des Braunschweigischen
Schulwesens ist fast die einzige in größerem Stil durchgeführte Arbeit
von dieser Art. Es wäre sehr wünschenswert, wenn die Monumenta
Germaniae Paedagogica weitere ähnliche Darstellungen der Landes-
schulgeschichte brächten. Zum Teil enthält Schmids Encyklopädie des
gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens gute Artikel, wie Fickers
Abhandlung über Osterreich. Die Geschichten einzelner Anstalten sind
meist Gelegenheitsschriften, Programme, Festschriften zu Jubiläen, and
daher sehr verschiedenen Werts; nicht selten fehlt ihnen die all-
gemeine Orientierung und damit die Unterscheidung des Bedeutenden
und Unbedeutenden. Im ganzen sind sie doch eine sehr wichtige
Quelle, ohne die niemand auf diesem Gebiet erfolgreich arbeiten kann.
Ich bin für zahlreiche freundliche Zusendungen dieser Art den Ver-
fassern zu Dank verpflichtet und bitte mich auch in Zukunft als dank-
baren Empfanger derartiger Gaben betrachten zu wollen.
2. Lebensbeschreibungen von Lehrern und Schülern, vor allem
Biographien hervorragender Schulmänner, Rektoren, Schulräte, Organi-
satoren, Theoretiker der Erziehung und des Unterrichts. Besonders
sind Selbstbiographien, die häufig den Erinnerungen aus der Schul-
und Bildungszeit breiteren Baum geben, eine wichtige Quelle: sie zeigen
das Ist, während in den offiziellen Darstellungen meist das Soll die
Stelle des Ist vertritt.
3. Gesetze und Verordnungen über das Schulwesen, wie sie sich
in allen Gesetzsammlungen der einzelnen Staaten finden. Zu Hilfe
kommen hier die Sammelwerke, Vormbaum, Wiese u. a. ; auch unter den
bisher erschienenen Bänden der Mon. Germ. Paed, gehören viele hierher.
Vorwort xur zweiten Auflage. xv
4. Die gesamte Litterator der Pädagogik und der Schulorgani-
sation. Sie ist wichtig für die Erkenntnis der Ideale und Wünsche
der leitenden Personen , man denke an die Schriften Melanchthons,
Sturms, Camera ktus^, Basedows, Thierschs, Herbarts; zugleich aber
auch für die Erkenntnis des Bestehenden, das Bestehende bildet viel-
fach den kontrastierenden Hintergrund für das Ideal.
5. Lehr- und Lesebücher nebst methodologischen Anweisungen
für alle Lehrfacher. Sie lassen den Unterrichtsbetrieb am unmittel-
barsten erkennen. Hier wäre für Einzelarbeiten und für zusammen-
fassende geschichtliche Darstellungen noch ein fruchtbarer, beinahe
unabgebauter Boden.
6. Die Zeitschriftenlitteratur, pädagogischen und allgemeinen In-
halts, in unübersehbarer Fülle. Für die jüngste Vergangenheit, etwa
seit der Mitte des Jahrhunderts, ist diese Quelle von der allergrößten
Wichtigkeit
7. Endlich die allgemeinen Darstellungen der Geschichte der
Pädagogik, der Erziehung und des Unterrichts. Ich nenne Karl
T. Raumer, Geschichte der Pädagogik, in 4 Bänden, die dritte und
letzte von ihm selbst besorgte Auflage von 1857, der noch zwei Aus-
gaben gefolgt sind; Karl Schmidt, Geschichte der Pädagogik, 4 Bde.,
4. Aufl. 1888; Lorenz Stein, Verwaltungslehre, 2. Aufl., Bd. V, VI,
VIII (1884 ff.); K. A. Schmid, fortgeführt von Georg Schmid, Ge-
schichte der Erziehung von Anfang an bis auf unsere Zeit, bisher 3 Bde.
(1884 ff.); H. Schiller, Lehrbuch der Geschichte der Pädagogik,
2. Aufl. 1892; 0. Willmann, Didaktik als Bildungslehre, Bd. I,
2. Aufl. 1894; Theobald Ziegler, Geschichte der Pädagogik mit
besonderer Rücksicht auf das höhere Unterrichtswesen, 1895 (Bd. I
des Handbuchs der Erziehungs- und Unterrichtslehre für die höheren
Schulen, herausgegeben von A. Baumeister).
Ich darf mir das Zeugnis geben, daß ich fleißig aus allen diesen
Quellen geschöpft habe. Es sind Tausende von Bänden, die ich ge-
lesen oder durchblättert habe, um für das Allgemeine und für das
Einzelne Belehrung daraus zu schöpfen, mit Erfolg und ohne Erfolg.
Daß ich dabei von Vollständigkeit der Quellenbenutzung noch weit
entfernt geblieben bin, weiß niemand so gut, als ich selbst. Ich bin
geneigt, es mir zum Trost zu machen, daß sie auf diesem Gebiet über-
XVI Vorwort zur zweiten Auflage.
haupt nicht erreichbar ist Wer Geschichte der Neuzeit schreiben will,
mnB schwimmen lernen; mit den Füßen auf dem Boden watend kommt
hier niemand ans Ziel
Es giebt Leute^ die meinen: zu einer Gesamtdarstellung der Ge-
schichte des gelehrten Unterrichts sei es noch nicht Zeit; erst müßten
die Quellen in viel weiterem Umfang erschlossen und erforscht werden.
Mir ist jede Arbeit auf diesem Gebiet, die Wertvolles und Neues
bringt, erfireulich; und daß dabei neben vollen Garben auch leeres
Stroh eingebracht wird, ist wohl unvermeidlich. Einem Vorwurf aber,
der aus solcher Betrachtung gegen meine Arbeit erhoben werden
könnte, sei es gestattet mit einem Wort zu begegnen, das Goethe zu
Anfang der Einleitung in die Metamorphose der Pflanzen den Zer-
gliederem und Mikroskopieren! sagt: sicher sei Trennung und iso-
lierende Betrachtung der Teile ein Weg, der weit führe. „Aber diese
trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch
manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zer-
legt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und
beleben. Dieses gilt schon von vielen unorganischen, geschweige denn
von organischen Körpern.'' Man wird leicht hiervon die Anwendung'
auf die Geschichte machen. Ohne den bestandig nebenher gehenden
Versuch der Synthese, geht die Sammlung und Zergliederung ins
Leere. Ich zweifle gar nicht daran, daß es möglich ist, noch einige
hundert oder auch tausend Bände mit bisher ungedruckten Schulord-
nungen und Stundenplänen zu füllen; allein aus dem 19. Jahrhundert
müssen ja im Archiv jeder Schule ganze Stöße von Beratungen, Ent-
würfen, Plänen vorhanden sein; wohl aber zweifle ich daran, ob
dadurch das Geschäft eines künftigen Schulgeschichtsschreibers merk-
lich erleichtert und gesichert werden würde. Schließlich wird das Ge-
lingen hier wie überall bei der Geschichte des geistigen Lebens doch
davon abhangen, daß der Historiker den rechten Blick mitbringt, der
ihn wie durch eine Art Intuition das Wesentliche, das Bedeutende,
das Typische sehen und herausfinden läßt. Allzu viel Papier verdirbt
aber die Augen.
Was die Form der Darstellung anlangt, so habe ich so viel als
möglich die Quellen selbst reden lassen. Es ist neuerdings eine
andere Form üblich geworden: daß in Geschichtsdarstellungen allein
Vorwort ouwr woeiten Auflage. xvn
der Autor spricht; Citate und Anmerkuiigen sind jetzt alt&änkisch.
Ich verkenne die Vorteile dieses Verfahrens nicht, gestehe aber, daß
mir Geschichtswerke lieber sind, die mich nicht bloß lehren, wie es
war, sondern auch, woher wir wissen, daß es so war. Dazu ist ein
Quellenverzeichnifi am Schluß des Werkes oder jedes Buches weniger
dienlich, als die fortlaufende Einfahrung der Berichterstatter, wenn
möglich mit ihren eigenen Worten. Hierzu kommt ein anderer Vor-
teil: der Geruch der Zeit steigt aus der Rede in der ihr eigenen
Form auf. Und noch ein Vorteil: hat ein einziger Darsteller 500
oder 1000 Seiten hindurch das Wort, so läuft er Gefahr, die Leser zu
ermüden; man bleibt munter, wenn, wie bei einem Gespräch, bald
der, bald jener das Wort ergreift. Ich war demnach geneigt, so viel
als möglich, mein Geschäft darauf zu beschränken, den Leser mit den
leitenden Persönlichkeiten auf diesem Gebiet unmittelbar zusammen zu
bringen und diese ihre Sache selbst vor ihm führen zu lassen. Unter
dem Namen Theatrum mundi hatte man früher geographisch-historische
Bilderbücher; so möchte ich hier ein Theatrum scholarum errichten,
wo der Leser selbst sieht und hört, wie es früher zuging und wie
endlich die heutige Schule in Szene gegangen ist. — Dabei werde ich
mir allerdings die Freiheit nehmen, dazwischen als Interlokutor auf-
zutreten und meine Meinung über die Dinge zu sagen. Es ist gar
nicht meine Absicht, meine persönliche Auffassung zu verleugnen,
oder mich hinter jene Form zu verstecken. Hat man doch in der
ersten Auflage die Auffassung viel zu subjektiv und persönlich ge-
funden; denn das kann ja allein die Bedeutung des Vorwurfs sein: daß
meine Darstellung tendentiös sei. Hierüber zum Schluß noch ein Wort.
Daß diese ganze hier vorliegende Geschichtsdarstellung eine Ten-
denz habe, fallt mir nicht ein zu leugnen. Aber ich meine: es ist
die Tendenz der geschichtlichen Bewegung selbst, welche meine Dar-
stellung tendentiös oder, wenn man so will, zielstrebig macht Ich
bin mir bewußt, nicht von außen durch Willkür eine Tendenz in die
Geschichte hineingetragen zu haben, ich habe redlich die den Dingen
selbst innewohnende Tendenz zu finden und darzulegen gesucht, und
das ist ja doch wohl die eigentliche Aufgabe des Historikers. Daß ich
in ihrer Lösung nicht ganz unglücklich gewesen bin, dafür gab mir
bei der Bearbeitung dieser zweiten Auflage eine Beobachtung einige
Paulsen, Unterr. Zweite Aafl. L *
xvm Vorwort zur zweiten Auflage.
m
Gewähr, die man mir gestatte mit den Worten auszusprechen, welche
Goethe aus Rom an seine Freunde richtete: „So viel Neues ich finde,
finde ich doch nichts Unerwartetes, es paßt alles und schließt sich an,
weil ich kein System habe und nichts will als die Wahrheit um ihrer
selbst willen". Wenn nun die von mir gefundene Tendenz der Dinge
eine andere ist, als sie nach der Meinung der orthodoxen Gymnasial-
pädagogen sein sollte, so ist das ja zu bedauern, aber es ist nicht meine
Schuld. Ich kann ihnen nur raten, ihre Meinung der Tendenz der Dinge
anzupassen; denn diese wird sich auf die Dauer doch nicht ihren
Meinungen anpassen. Übrigens wird ihnen dies jetzt vielleicht schon
etwas leichter werden, als bei dem ersten Erscheinen dieses Buches.
Andererseits ist es mir vielleicht etwas leichter geworden, den Ton
ruhiger und unbefangener Darlegung zu bewahren ; denn es mag sein,
daß unter dem Eindruck einer starken, damals alleinherrschenden
Einseitigkeit auch meine Darstellung hin und wieder etwas von ent-
gegengesetzter Einseitigkeit angenommen hat.
Im übrigen, ich will es nur gestehen, war Korrektheit der An-
sichten nie meine starke Seite; sie wird es auch schwerlich mehr
werden. Sollte ich hierin von der Natur etwas mangelhaft ausgestattet
sein, so hat sie mich dafür einigermaßen entschädigt durch eine gute
Gabe der Harthörigkeit gegen üble Nachrede, mit der inkorrekte An-
sichten so reichlich bedacht zu werden pflegen, eine Gabe, die mir
schon manchmal im Leben zu statten gekommen ist
Da auch meine Haltung gegenüber den konfessionellen Gegen-
sätzen vielfach bemängelt worden ist und mir von protestantischer
Seite bitteren Tadel eingetragen hat, so mag noch hierüber ein Wort
gestattet sein. Ich bin nicht katholisch und habe nicht vor es zu
werden. Durch Geburt und Erziehung Protestant, stehe ich auch mit
meinen Überzeugungen auf dieser Seite; freilich nicht in dem Sinne,
daß ich die Bekenntnisformeln einer Landeskirche als Grenzen für
mein Denken und als Grund für meinen Glauben ansähe; Glaube
und Überzeugung, darin folge ich dem IjUthee von Worms, sind die
innerlichste und freieste Lebensbethätigung, die keiner menschlichen
Gewalt und Autorität untersteht. Dieser mein Protestantismus kann
mich aber nicht abhalten, das Gute und Tüchtige in der katholischen
Welt, im Mittelalter wie in der Neuzeit, zu sehen und als solches
Vorwort zur zweiten Auflage, ittt
anzuerkennen, und ebenso wenig dag Verfehlte auf der andern Seite
zu sehen und so zu nennen, selbst auf die Gefiahr hin, in der katho-
lischen Polemik als protestantischer Zeuge gegen den Protestantismus
zitiert zu werden. Es wäre unverantwortlich, wenn der Protestant
die Freiheit, die ihm die Reformation erkämpft hat, nicht brauchen
wollte, um auch die geschichtlichen Dinge ohne die Brille des Kon-
fessionalismus zu sehen. Oder meint man, daß der Protestantismus,
um im Kampf ums Dasein zu bestehen, an derselben engherzigen
Abstempelung aller geschichtlichen Dinge mit der Parteischablone
festhalten müsse, wie sie bei ultramontanen Schriftstellern und Ge-
schichtsschreibern nur allzu sehr üblich ist? Ich glaube nicht, daß
dem Protestantismus dies Verhalten Vorteil bringen könnte. Eine
siegreiche Macht ist er in unserem Volksleben nicht dann gewesen,
wenn er sich am meisten der Bekenntnistreue befliß oder in kirchen-
regimentlicher Disziplin der Gedanken mit dem Katholizismus wett-
eiferte, sondern da, wo er mit fröhlichem Glauben auf die innere
Macht der Wahrheit baute. Als Luthee am Anfang seiner Laufbahn
den Deutschen von der i'reiheit eines Christenmenschen zeugte, als
ICant und ScHiLLEE und Goethe ihrem Zeitalter von der Freiheit
des Geistes und Gewissens predigten, da war der Protestantismus eine
Macht im deutschen Lande. Der konfessionell gebundene Protestantismus
verkümmert; so zeigt es das 16. und 17. Jahrhundert; so hat es auch
das 19. Jahrhundert gezeigt; tiefer hat der Einfluß der protestantischen
Edrche wohl nie gestanden, als um die Mitte unseres Jahrhunderts.
Übrigens haben Selbstüberhebung und Unduldsamkeit es nie und
nirgends an sich gehabt, vor Gott und Menschen angenehm zu machen.
Wohl aber haben Selbstkritik und freie Anerkennung alles Guten und
Wahren diese Gabe. Vielleicht überzeugt sich hiervon auch der
Katholizismus noch einmal. Wenigstens wird er das bald wieder zu
lernen Gelegenheit haben, daß die eccUsia triumphans et insultans
weniger Freunde hat als die ecdesia pressa. —
Die hier vorliegende Geschichte der deutschen Gelehrtenschule ge-
hört nicht zu der Gattung der enkomiastischen Darstellungen, woran
dieses Litteraturgebiet so reich ist. Ich meine es nicht entschuldigen
zu müssen. Ich will mit dem oft wiederholten Wort Goethes, daß
das Beste an der Geschichte sei die Begeisterung, die sie errege, nicht
>Mt
XX Vorwort zur xweUen AuflagB,
rechten; an einer Geschichte einer einzelnen Institution wird doch das
Beste sein, daß sie zum Nachdenken über Ziele und Mittel der Insti-
tution erregt und anleitet Um aber einer falschen Vorstellung über
mein inneres Verhältnis zur Entwickelung des deutschen Gelehrten-
schulwesens entgegenzutreten, bemerke ich noch dies: die deutsche Ge-
lehrtenschule ist ein echtes und rechtes Kind des deutschen Geistes, in
allen ihren Entwickelungsstufen ist sie den Bildungsbestrebungen des
deutschen Volkes im ganzen getreulich gefolgt. Viel mehr als in Eng-
land und Frankreich standen und stehen in Deutschland die Universi-
täten und Schulen im Mittelpunkt des nationalen Lebens. In England
sind durch den starren Konservatismus sich isolierender Korporationen
die Bildungsanstalten lange Zeit hindurch dem wirklichen Leben des
Landes völlig entfremdet worden. In Frankreich folgte auf die Jesuiten-
schule die Revolution, die über alles Vorhandene einen Strich zog; und
auf die Revolution folgte der zentralistische Staatsabsolutismus mit
seinen immer fortgesetzten Versuchen, die Schule in den Dienst des
politischen Regiments zu stellen. In Deutschland hat sich das Unter-
richtswesen, von der Universität bis zur Volksschule, in beständiger
Wechselwirkung mit allen lebendigen Kräften des Volkslebens, mit
Staat und Kirche, mit Wissenschaft und allgemeiner Bildung entwickelt
Mannigfaltig und individuell gestaltet, spiegelt es den Reichtum des
deutschen Volkslebens in der Vielheit seiner Glieder. Ohne Erstarrung
und ohne gewaltsamen Bruch, hat es sich in kontinuierlicher Entwicke-
lung entfaltet, allen lebenskräftigen Antrieben der Zeit sich öffnend,
aber zugleich die Überlieferung ehrend, ohne die es kein geschicht-
liches Leben giebt
Möge auch in den kommenden Jahrhunderten den deutschen
Universitäten und Schulen dieser ihr geschichtlicher Charakter erhalten
bleiben: Mannigfeltigkeit und Beweglichkeit, geschichtlicher Sinn und
Trieb zum Fortschreiten. Die Wurzel aber dieses ihres Wesens ist die
Freiheit des Geistes, dieses Palladium des deutschen Volkes. Unfreiheit
des Geistes, Gefangenschaft in Formeln und Dogmen, sei es der Politik
oder der Religion, tötet beides, die Ehrfurcht vor der Vergangenheit
und die Kraft zur Zukunft
Steglitz bei Berlin, im August 1895.
Friedrich Panlsen.
DER GELEHRTE UNTERRICHT IM ZEICHEN
DES ALTEN HUMANISMUS.
1450—1740.
Wer alte Greschichten beschreiben will
Mit Wahrheit, erhält des Danks nicht viel,
Weil eines jeden sein Begehr,
Daß man ihn rühm von Adam her.
Wer solche Schmeichelei nicht kann,
TrSgt wenig Gnad und Dank davon;
£s ist dann alle Müh verlorn;
Des bin ich selbsten inne wom.
Aus Michael ScHWAiaERs
Bürgermeisters zu Amberg (um 1550)
Sprüchen und Denkreimen.
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
Erstes Bnch.
Das Zeitalter des Humanismus.
1450—1520.
Erstes Kapitel. Renaissance und Mittelalter 7
Zweites Kapitel. Das Unterrichtswesen des Mittelalters 13
Drittes Kapitel. Der Humanismus und sein Bildungsideal .... 49
Viertes Kapitel. Die humanistische Reformation der Universitäten . 74
Fünftes Kapitel. Das Eindringen des Humanismus in die Partikular-
schulen 146
Zweites Bnch.
Die Begründimg des protestantischen und katholischen
Gelehrtenschulwesens im Zeitalter der Reformation und Gegen-
reformation.
1520—1600(1648).
Erstes Kapitel. Der Ausbruch der kirchlichen Revolution und ihre
Wirkung auf die Universitäten und Schulen 173
Zweites Kapitel. Die Anschauungen der Reformatoren vom gelehrten
Unterricht und seiner Aufgabe 196
Drittes Kapitel. Neubegründung der Universitäten in den protestan-
tischen Gebieten 209
Viertes Kapitel. Äußere Gestalt und Unterrichtsbetrieb der protestan-
tischen Universitäten am Ende des 16. Jahrhunderts 248
Fünftes Kapitel. Die Neubegründung des Gelehrtenschulwesens in den
protestantischen Gebieten 268
Sechstes KapiteL Äußere Grestalt und Unterrichtsbetrieb der Gelehrten-
schulen in den protestantischen Gebieten am Ende des 16. Jahr-
hunderts 318
Siebentes Kapitel. Die Neubegründung des römisch-katholischen Ge-
lehrtenschulwesens durch die Gesellschaft Jesu 379
Achtes Kapitel. Schlußbetrachtung 432
xxiY InhaU.
Seit«
Drittes Buch.
Das Zeitalter der französiBch-höflschen Bildung.
Beg^innende Modernisiening der Universitäten und Schulen.
1600(1648) — 1740.
Erstes Kapitel. Beginnendes Erwachen des modernen Geistes. Reaktion
gegen den humanistischen Schulbetrieb im Übergangszeitalter (1600
bis 1648) 458
Zweites Kapitel. Das Zeitalter Ludwigs XIV. und das höfisch-moderne
Bildungsideal 480
Drittes Kapitel. Die Kitterakademien 501
Viertes Kapitel. Die Universitäten unter dem Einfluß der höfisch-
modernen Bildung und des Pietismus. Die neue Universität Halle.
Thomasius. Francke. Wolf 511
Fünftes Kapitel. Die Modernisierung der Gelehrtenschulen unter dem
Einfluß der höfischen Bildung und des Pietismus 550
Sechstes Kapitel. Zustände des gelehrten Unterrichtswesens am Anfang
des 18. Jahrhunderts und Urteile darüber 584
Einleitung.
Ich versuche den Leser auf einen Standpunkt zu stellen, von wo
er das Ganze der Bewegungen überblicken kann, die den Gegenstand
der folgenden Darstellung ausmachen.
In drei großen Flutwellen hat sich die geistige Kultur der alten
Welt, ihre Religion und Philosophie, ihre Sprache und Litteratur über
die Völkerwelt ergossen, die zur Trägerin des geschichtlichen Lebens
der Neuzeit bestimmt war.
Die erste befruchtende Überschwemmung, wenn man die Fest-
haltung des Bildes gestatten will, erfuhr die germanische Völkerwelt
mit ihrer Bekehrung zum Christentum. Es war nicht allein der
christliche Glaube, sondern mit ihm die ganze antike Kultur, soweit
sie sich an das Schiff der Kirche angesetzt hatte, die seit dem An-
schluß an die Kirche allmählich aufgenommen wurde. Vor allem wurde
die lateinische Sprache, als Sprache der Kirche, zur Sprache des geistigen
Lebens der neuen Weltj^ Die Zeit Karls des Großen, des Gründers dos
neurömischen Kaisertums, des Kaisertums deutscher Nation, ist der
erste Höhepunkt des Einflusses antiker Kultur und Litteratur auf die
neue Welt; man hat sie wohl als erste Renaissance bezeichnet. Dann
folgt im 12. und 13. Jahrhundert die Aufnahme der antiken Wissen-
schaft, vor allem der aristotelischen Philosophie; der Lehrbetrieb der
jetzt aufblühenden LTniversitäten, die Schulphilosophie, bedeutet den
Assimilationsprozeß, worin dieser neue Inhalt aufgenommen wird.
Die zweite große Flutwelle überströmte die abendländische Welt
im 15. und 16. Jahrhundert. Es ist die sogenannte Renaissance.
Sie bedeutet das Wiederaufleben des klassischen, d. h. des hcidnisclien
Altertums in Kunst und Litteratur, in Philosophie und Lebensstinimung.
Das Mittelalter hatte zunächst unter dem Einfluß des christlich go-
wordencA Altertums gestanden; jetzt war die Meinung, mit Auslrschung
dieses Zeitalters, als eines Interregnums der Barbarei, in dem a^^iatische
und gotische Bohheit sich zur Erstickung der Bildung die Hand ^v-
reicht hätten, das eigene Leben unmittelbar an die Zeit Ciceros und
Paalsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 1
Einleitung.
Yirgils aDzuschließen. Die Bewegung ging von Italien aus, wo das
römische Altertum in romantischem Schimmer als eigene Vorzeit er-
schien. Sie überflutete ganz Europa, wurde aber seit 1520 durch die
tiefere, von Deutschland ausgehende, volkstümlich -religiöse Bewegung
der Reformation verhindert, die innere Umformung der Denkart im
Sinne des klassischen Humanismus zu vollenden. — Als Niederschlag
blieb zurück: das klassische Latein und die Imitationslitteratur in der
gelehrten Welt, die Renaissancekunst und der Same der naturalistischea
Sinnesart in den oberen Gesellschaftsschichten.
Die dritte Flutwelle erhob sich, langsam ansteigend, im Laufe
des 18. Jahrhunderts; um seine Wende erreichte sie ihren höchsten
Stand. Es ist der Neuhumanismus, man könnte ihn zum Unter-
schied von dem italienisch-römischen Humanismus der Renaissance
auch den deutsch-griechischen Humanismus nennen. Diese neu-
humanistische Flutwelle war nicht in demselben Sinney wie die beiden
früheren, universell, ihr eigentliches Überschwemmungsgebiet ist das
protestantische Deutschland. Sie durchtränkte die ganze deutsche Litte-
ratur und Bildung mit hellenistischen Ideen und Anschauungen. —
Als Niederschlag hat diese jetzt ablaufende Welle zurückgelassen die
klassische deutsche Litteratur und den klassischen Unterricht auf
unseren Gymnasien. —
Innerhalb der Grenzen unserer Darstellung liegen die beiden
letzten Überflutungen; nicht die erste. Der erste Band wird die alt-
humanistische Überflutung von den Anfangen in der zweiten Hälfte
des 15. Jahrhunderts bis zum vollständigen Abebben um die Wende
des 17. und 18. Jahrhunderts darstellen. Der zweite Band hat den
Verlauf der neuhumanistischen Flutwelle zu verfolgen von den An-
fingen um die Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Abebben, das sich
eben vor unseren Augen vollzieht.
Jeder Band hat drei Bücher. Sie entsprechen einigermaßen den
drei Phasen der Flutwelle: Ansteigen, Hochwasser, Ablaufen. Im ersten
Band ist das Aufsteigen der humanistischen Flut Gegenstand des ersten
Buchs; ihre Stauung im Zeitalter der Reformation und ihr Niederschlag
im Schalwesen wird im zweiten, ihr, Abläufen im 17. Jahrhundert im
dritten Buch behandelt. Im zweiten Band handelt das erste Buch
von dem Aufsteigen des Neuhumanismus im Zeitalter der Aufklärung
das zweite von seinem Höhepunkt, im Zeitalter Goethes, seiner Stauung,
im Zeitalter der Romantik und Reaktion und seinem Niederschlag im
Schulwesen in den ersten vier Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, das
dritte von dem Abebben und den Versuchen der Politiker und Gymnasial-
pädagogen, gegen diese Strömung Dämme zu errichten.
Einleitung,
Über das Bildangsideal und die ihm entsprechende Gestaltung
des klassischen Unterrichts in den beiden großen Epochen bemerke
ich hier folgendes. Das Ziel des Schulunterrichts, wie er sich unter
dem Einfluß des Humanismus und der Reformation im 16. Jahrhundert
gestaltet hat, ist: litterarische Bildung und konfessionelle Becht-
gläubigkeit, oder, mit Jos. Sturms Formel: litterata pietas. Die
litterarische Bildung aber zeigt sich in der Eloquenz, d. h. der Fähig-
keit, klassisches Latein in Prosa und Versen zu schreiben. Und so ist
hierauf der althumanistische Unterricht gerichtet; Imitation der alten
Bedner und Dichter ist der Weg zur Eloquenz.
Die zweite Epoche, die Epoche des Neuhumanismus, ist zu-
nächst dadurch charakterisiert, daß sie dieses Ziel aufgiebt. Die latei-
nische Imitations -Eloquenz und Imitations -Poesie war im Verlauf des
17. Jahrhunderts obsolet geworden, an ihre Stelle trat zunächst die
französische und daneben die deutsche klassizistische Poesie und Elo-
quenz, sie selber Imitation der römischen Litteratur. Seit den Tagen
Elopstocks, Ijessings, Herders, Goethes erhob sich die selbständige
deutsche Litteratur, die Poesie der Originalgenies. Sie hat, sich be-
geisternd für die griechische Litteratur als die Originallitteratur gegen-
über der römischen, den deutsch-griechischen Humanismus auf die Bahn
gebracht. Unter seinem Einfluß ist nun die Beschäftigung mit der
griechischen Sprache und Litteratur zu einem Hauptstück, der Absicht
nach zu dem Hauptstück des Gymnasialunterrichts gemacht worden.
Die Absicht aber des klassischen Unterrichts wird damit eine andere:
das Ziel des neuhumanistischen Schulbetriebs ist nicht Imitation,
weder in griechischer Sprache, noch auch in deutscher, sondern
Bildung des Geistes und Geschmacks durch den Verkehr mit den
alten Schriftstellern in allen Litteraturgattungen.
Erstes Buch.
Das Zeitalter des Humanismus.
1450—1520.
^■•j
Erstes Kapitel.
Benaissance nnd Mittelalter.
Die große Bewegung im geistigen Leben der abendländischen
Yölkerwelt, die wir mit dem Namen dej Renaissance bezeichnen, ist
wie ein Vorspiel der Geschichte der Neuzeit. Es kommt in ihr die
Richtung des modernen Geistes, seine Tendenz zur Loslösung von der
supranaturalistisch- asketischen Welt- und Lebensanschauung des alten
Christentums in einem ersten Anlauf zur Erscheinung. £s ist der
Geist der heidnischen Antike, der Geist eines diesseitigen Naturalismus^,
eines kulturfreudigen Optimismus, der in der Renaissance seine Auf-
erstehung erlebt Der ebep yom Mittelalter sich losringende moderne
Geist, der bald in der Entdeckung und Eroberung der neuen Welt,
in der Erforschung der Erde und des Hinunels, in der Erkenntnis und
Ifnterwerfung der Gesetze und Kräfte der Natur, in der neuen rationalen
Philosophie und Wissenschaft seine Triumphe feiern ^te, empfand
mit der Sicherheit des Instinkts, der auch dem Yolkerleben nicht fremd
ist, seine innere Verwandtschaft mit dem antiken Geist. Und darum
rief er das Alt-ei^um in seinem Befreiungskampf gegen die ihm nicht
mehr ^einaäen Xebensformen der überlieferten kirchlichen Bildung
zu Hilfe.
Auf den ersten Blick erscheint die Renaissance als der volle Gegen-
satz gegen das Mittelalter und seine Bildung; und so fühlt sie sich
selbst Der tiefer Blickende wird indessen nicht verkennen, daß es im
Grande der Geist des Mittelalters selbst ist, der diese Wandlung aus
dem eigenen Wesen hervortreibt; wie sollte auch eine rein innere Um-
gestaltung des Lebens, wie die Renaissance ist, von außen über eine
Völkerwelt kommen? Man kann die Dinge so betrachten: die ger-
manischen Völker waren in der ersten Hälfte des Mittelalters in die
£ärche aufgenommen worden; sie waren aber nicht zum Christentum
bekehrt worden, wenn man unter Bekehrung jene innere Umwandlung
der ganzen Lebensstimmung und Lebensführung versteht, die im Evan-
gelium Wiedergeburt heißl. Die alten Völker hatten etwas derartiges
/, 1, Renaissance und Mittelalter,
erlebt; sie bekehrten sich zum Christentum, nachdem sie den Weg
der Civilisation und Kultur l)is zu Ende gegangen waren und am Ende
die Enttäuschung und den Überdruß gefunden hatten. Sie richteten
nun, sich abwendend von des Fleisches Lust und der Augen Lust,
ihre Sehnsucht auf ein übersinnliches Jenseits; sie kehrten um von
dem Wege, auf dem sie bisher der Befriedigung der Begierden durch
die Güter der Kultur nachgegangen waren, um nun durch Erlösün^l^
von der Begierde nicht Befriedigung und Glück, aber Ruhe und Frieden
zu linden.
Die Bekehrung der germanischen Völker ist ein Vorgang von ganz
anderer Art. P]ine ähnliche Umkehr konnte hier gar nicht stattfinden,
weil sie den Kulturweg noch kaum betreten hatten. Ihre Christiani-
sierung stellt sich vielmehr als der erste Schritt zu ihrer Kultivierung
dar. Die Kirche, nach ihrer ursprünglichen Idee das Reich, das nicht
von dieser Welt ist, auf Erden repräsentierend, erscheint im Mittelalter
als die Trägerin aller Kultur; von den Klöstern geht alle Bereicherung
und Verschönerung des Lebens aus. Allerdings ist der ursprüngliche
weitabgewendete Charakter des Christentums nicht ganz verschwunden.
Die Lehre der Kirche hat ihn nie verleugnet und auch in den^ebens-
formen, soweit sie unter dem Einfluß der Kirche stehen, begegnet man
überall seinen Spuren. Aber der wirkliche Lebensinhalt des Mittel-
alters ist mit seiner kirchlichen Form nicht in Übereinstimmung; in
Wahrheit ist es gar nicht weltmüde und lebenssatt, sondern voll freu-
digen Verlangens. Kampf und Eroberung, mit den Waffen, im Handel,
in der Kolonisation, ist sein Tagewerk, Macht und Reichtum sein Ziel,
Jagd und Kampfspiel seine Erholung. Der Inhalt seiner Lieder ist
Liebeslust und Liebesleid. Seine Heldendichtung preist Tapferkeit und
Solbstdurchsetzung. ') Nach den Wissenschaften, die das Evangelium
geringschätzt, streckt es die Hand aus, um sie aus den Händen der
Griechen, Juden und Araber ^lu nehmen. Die scholastische Philosophie,
was ist sie anders als ein erster Versuch, den Glauben mit der Vernunft
zu bewältigen? Das credo ut inteHigam ist ihr Prinzip, das Gegenteil
des crcdihile, quia ineptum, — Natürlich soll hiermit nicht gesagt sein,
daß dem Mittelalter echte Erlösungssehnsucht von der Welt überhaupt
fremd gewesen sei; mancher lateinische Kirchengesang giebt von ihrem
Voriiandensein zuverlässige Kunde. Nur das wird behauptet, daß in
solchen Stimmen nicht seine Grundstimmung zum Ausdruck kam.
Das Mittelalter ist, wenn man auf seine tiefste Wissensrichtung sieht,
der ersten, kultur- und weltfreudigen Hälfte der Lebensentwickelung
der alten Völker näher verwandt, als der zweiten,vder christlich -reli-
giösen. Dicht unter der Oberfläche, die ganz von dem supranatura-
Verhältnis des Mittelalters xum Altertum, 9
listisch-asketischen Christentum beherrscht erscheint, stöbt man überall
auf die starke Unterströmung einer mächtig aufstrebenden Kultur-
tendenz. ^
Man kann das Verhältnis des Mittelalters zum Altertum vielleicht
so bezeichnen. Das Mittelalter ist die Schulzeit der germanischen
Völker; das Altertum ist ihr Lehrer, aber nicht das jugendliche, heid-
nische, sondern das alt gewordene Altertum, das sich von der Welt
und ihrer Lust abgewendet und zum Christentum bekehrt hat Von
diesem Lehrer nehmen die jungen Völker zugleich mit den Elementen
der EuUur auch die Form seiner /Welt- und Lebensanschauung an.
Diese paBt eigentlich nicht für sie; die supranaturalistisch -asketische
Lebensanschauung ist dem Alter natürlich, dem Alter der Einzelnen
wie der Völker, nicht aber der thatkräfügen, lebensfreudigen, zur Kultur
aufstrebenden, nach Bildung verlangenden Jugend. Aber die Unan-
gemessenheit wurde nicht empfunden, so wenig als sie noch heute von
dem Knaben empfunden wird, der aus dem Katechismus die Lehre
von der Sünde und der Erlösung aus dem irdischen Jammerthal und
der Sehnsucht nach dem Jenseits lernt. Er nimmt die Worte an, ohne
viel darüber zu denken, daß sein wirkliches Empfinden nicht zu ihnen
stiomit So nahmen die Franken und Sachsen die alten heiligen
Formeln, die ihnen die Kirche vorsagte, als ihr Bekenntnis an^ ohne
daß ihre Lebensstimmung und ihr Wille in seiner Grundrichtung da-
durch umgewendet worden wäre. Das Mittelalter gleicht einer in die
Tracht des Alters gehüllten jugendlichen Gestalt.
Li der Renaissance kommt die Unangemessenheit zum Bewußt-
sein« Man entdeckt, daß die supranaturalistisch -asketische Religion des
Christentums die eigene Lebensstimmung gar nicht ausdrückt Und
gleichzeitig entdeckt man, daß der Lehrmeister, das Altertum, einmal
jung war und damals ganz anders empfand und dachte, als in seinem
Greisenalter. Man hatte davon eine abstrakte Kenntnis freilich auch
früher gehabt; aber jetzt erst ging das Verständnis dafür auf. Und
nun entstand unter den abendländischen Völkern ein wetteiferndes
Bemühen, die christlich-supranaturalistischen Formen, wie sie das Mittel-
alter in der Kunst, in der Litteratur, in der Wissenschatt getragen
hatte, abzuthun und dafür die altklassischen anzulegen. Mit jener eigen-
tümlichen Emjpfindung von Scham und Verachtung, welche die Träger
einer veraltet-en Mode überkommt, sobald sie dessen inne werden, wurde
die alte Sprache, die alte Dichtung, die alte 'Kunst, die alte Wisseö-
schaft eiligst beiseite geworfen und an ihrer Stelle klassisches Latein,
klassische Versmaße, klassische Formen in der Kunst angeschafi*t. Es
fehlte nicht viel, daß auch die alten Götter wieder wären angenommen
10 /, 7. Renaissance und Mittelalter.
worden, wenn nur die klassischen Schriftsteller selbst noch an sie ge-
glaubt hätten. So wurden denn wenigstens die alten Redewendungen^
die man als Erinnerung an einen ehemaligen Glauben bei Cicero und
Virgil fand, als besonderer Schmuck auch der imitiert-klassischen Rede'-
eingefugt. —
Die Renaissance begann, wie natürlich ist, in den oberen Schichten^,
der Gesellschaft; es ist eine aristokratische Bewegung. Die Aristokratiy
der Bildung und des Besitzes ist ihr Träger. An ihrer Spitze sehen
wir die geistlichen und weltlichen Fürsten, voran Papst und Kaiser^
ihnen folgend Kardinäle und Bischöfe, Könige und Kurfürsten. In
den Kirchen begannen humanistische Prunkreden die herbe Predigt
von der Ertötung des Fleisches zu verdrängen. Als in Florenz der
gewaltige Mönch von San Marco jene große demokratisch-puritanische
Reaktion gegen das neue Evangelium und seinen Protektor, das forst-
liche Kaufherrengeschlecht der Medici, erregte, da erhob er, in den
Adventspredigten 1493,^ die Klage ^: „Geh hin nach Rom und durch
die ganze Christenheit: in den Häusern der großen Prälaten und der
großen Herren treibt man nichts als Poesie und Rhetorik. Geh nur
hin und sieh nach: du wirst sie finden mit humanistischen Büchern
in der Hand, wie sie sich den Anschein geben, als wüßten sie mit
Virgil, Horaz und Cicero die Seelen zu leiten. Mit Aristoteles^
Plato, Virgil und Petrarcha speisen sie das Ohr und kümmern sich
nicht um das Heil der Seelen. Warum lehren sie nicht, statt so vieler
Bücher, das eine, in welchem das Gesetz und das Leben enthalten ist?"
Die Antwort ist: weil es zu ihrem Leben nicht mehr paßt. Die Eman-
zipation des Fleisches ist das Gesetz ihres Lebens; was soll ihnen das
Evangelium? Die Prälaten sind in Ehrgeiz, Unkeuschheit und Luxus
versunken. Bücher des Teufels nennt sie Savonakola, denn dieser
schreibe seine ganze Bosheit hinein. Nicht anders die Fürsten: ^hre
Paläste und Höfe sind der Zufluchtsort aller Tiere und Ungeheuer der
Erde, d. h. ein Asyl für alle Bösewichter und Verbrecher. Dieselben
strömen dahin, weil sie dort Gelegenheit und Anreizung finden, allen
ihren maßlosen Begierden und bösen Leidenschaften freien Tjauf zu
lassen. Dort finden vsich die schlechten Ratgeber, welche stets auf neue
Lasten und Steuern sinnen, um das Blut des Volkes auszusaugen. Dort
* P. ViLLARi, Savonarola, deutsch von Berdubchek, S. 128 ff.; ein aus-
gezeiclmetes Werk, das zwei andere ausgezeichnete Werke auf das glücklichste
ergänzt: J. Bcrckuardt's Kultur der KenaiHsance in Italien (3. Aufl. 1877) und
G. Vokjt's Wiederbelebung de» Altertums (2. Aufl. 1881). Vielleicht giebt es
keine Zeit, deren innerste Tendenzen deutlicher, als hier geschehen ist, dar-
gelegt worden sind.
Die italienische Renaissance, 11
leben die schmeichlerischen Philosophen und Dichter, die mit Fabeln
und Lügen aller Art den Stammbaum jener schlechten Fürsten von
den Göttern herleiten. Was aber das schlimmste ist, dort sieht man
auch Geistliche, welche in denselben Ton einstimmen. — Da habt ihr
die Stadt Babylon, die Stadt der Thoren und Gottlosen, die Stadt,
welche der Herr zerstören will."
So stellte sich dem Mönch die Renaissance dar. Sie rächte das
Urteil durch seinen Tod.^
Die Bewegung nahm ihren Ursprung in Italien. Hier hat sie
auch die ausgeprägteste Darstellung ihres innersten Wesens erreicht
In Italien war die wirtschaftliche Entwickelung am weitesten fort-
geschritten, hier waren zuerst moderne Großstädte als Vermittler des
Welthandels entstanden; in ihnen kam der moderne Geist zuerst zum
Bewußtsein seiner selbst Dazu kam ein anderes. Italien war das
JLand der Römer, tausend Spuren gaben dem lebenden Geschlecht
Zeugnis davon. Die Italiener waren die Nachkommen der Römer. Sie
hatten es vergessen. In seinem Werk De officio ministrorum sucht
der heilige Ambrosius nachzuweisen, daß die vier Kardinaltugenden
und besonders auch die Tapferkeit bei den Christen so gut zu finden
sei als bei den Heiden; zum Beweis führt er Josua und David, Eleazar
und die Makkabäer an; diese nennt er, der geborene Römer, seine Vor-
fahren (majores nostri). So groß war der Abfall von dem natürlichen
Bewußtsein menschlicher Beziehungen. Im 14. Jahrhundert begann
sich Italien zu besinnen: nicht die Juden sind unsere Vorfahren, sondern
die alten Römer. Und nun erschien es so, als sei dies Bewußtsein
nicht durch eine innere Wandlung, sondern durch die Invasion der
Barbaren getrübt worden: die Goten hätten das Römerreich zerstört,
die römische Kultur mit ihrem Barbarentum befleckt, die Sprache ver-
derbt, barbarisches Recht und barbarische Sitten eingeführt Diese
Befleckung gelte es nunmehr abzuwischen and das echte Römertum,
die römische Republik und die römische Beredsamkeit wieder herzu-
stellen. In Petrarcha ist diese Gesinnung lebendig. Er erwartete von
Cola Rienzi die Vertreibung der Barbaren, d. h. der von den Goten
abstammenden Nobili (Voigt I, 67, II, 364).
^ Eine eiDgehendere Darlegung des großen Gegensatzes der antiken und
der christlichen, der naturaliBtisch-optim istischen imd der supranaturalistisch-
asketischen Weltanschauung, sowie eine von hieraus orientierte Darstellung der
mittelalterlichen und der modernen Lebensauffassung findet der Leser im ersten
Bach meines Systems der Ethik (3. Aufl. 1894). Ich verweise auch auf Otto
WnuiAKN, Didaktik der Bildungslehre^ 1. Bd. (2. Aufl. 1894), und P. Nekrlicu,
Das Dogma vom klassischen Altertum (1894).
k
12 /, 7. Renaissance und Mittelalter,
Dem damals führenden Volk folgte mit den übrigen auch das
deutsche. Wie einst Ambrosius mit Verleugnung der natürlichen
Abstammung die christlichen Italiener zu Nachkommen Davids gemacht
hatte, so versuchten nun mit den Italienern auch die Deutschen aus
sich Nachkommen Ciceros zu machen. Sie fingen an ihrer gotischen
Herkunft sich zu schämen und deshalb streiften sie so viel als immer
möglich ab, was daran erinnerte. Mit den Namen der Dinge und ihren
eigenen Namen fingen sie an; aus einem Magister Krachenborger wurde
ein Gracchus Pierius, aus einem Mag. Walzemüller ein Hylacomylus,
aus einem Schlaginhaufen ein Turbicida oder Ochloplectes. Den Magister
und Baccalarius ließ man ganz weg; hatte auch irgend ein griechischer
oder römischer Philosoph mit so absurdem Titel sich auszuzeichnen ge-
trachtet? Aus dem Studium geiterale machte man eine academia oder
ein gymnasiuniy aus der faaiUas artivm ein collegium oder einen ardo
p/iilosophoriim, aus einer hursa ein contuberniujn , aus dem pedellus
einen viator u. s. f. Auch der alte Kalender, der nach den Hoiligen-
tagen rechnete, wurde durch die RecbnuYig nach Kalendeu und Iden
ersetzt. Nicht minder würde die Barbarei der gotischen Länder- und
Ortsnamen abgethan oder wenigstens verdeckt, indem man entweder
die alten römischen Namen wieder aufnahm oder, wo solche fehlten,
durch Antikisierung, wie bei den Personen, sich half. So wurde aus
Meißen Mysia, aus Wittenberg Albioreia. Mochte das Verständnis
darunter leiden, was schadete es, wenn nur das barbarische Ärgernis
aus der Rede entfernt wurde; allenfalls konnte man ja am Rand hin-
zufügen, mit welchem Namen der Ort unter den Barbaren genannt wurde.
So tief wie in Italien ist allerdings der Humanismus in Deutsch-
land nicht gedrungen. Die gotische Natur ließ sich nicht sogleich
mit dem Namen ablegen und sie fügte sich nie ganz in die antike
Anschauung. Die Religion wurzelte tiefer im Gemüt und ein gewisser
schwerfalliger flrnst, der sich mehr zur Arbeit als zu leichtem Lebens-
genuß und ästhetischem Spiel schickt, hielt von einer gleichen Hin-
gebung an das Altertum, an Schönheit und Sinnenlust zurück. Die
Renaissance blieb in Deutschland im Grunde immer ein exotisches
Gewächs. Nur die gelehrten Kreise wurden von ihr stärter bewegt;
und zu dem italienischen Evangelium von der Emanzipation des
Fleisches hat auch unter diesen sich nur ein Teil bekannt, wie die
Gruppe, welche in den Briefen der dunkeln Männer sich selber ein
Denkmal gesetzt hat. Die eigentlichen Führer des Humanismus in
Deutschland, Reuchlin und Ebasmüs, Hegius und Wtmpheling, Mosel-
LANus und Melanchthon, waren ehrbare Gelehrte und Professoren. Ihr
Humanismus bestand vor allem im lateinischen Stil. Freilich der Stil
Renaissance in Deutschland, 13
ist der Mensch. Die Bewunderung der Ciceronischen Sprache und die
Verachtung des kirchlichen Lateins führte unvermerkt zu einer ent-
sprechenden Schätzung des Inhalts.
So hat denn allerdings auch in Deutschland der Humanismus als
revolutionäres Prinzip gewirkt. Das Ziel der Revolution war freilich
nicht die römische Republik, es handelte sich zunächst nur um eine
Universitäts- un(J Schulrevolution. Diese aber hat sich wirklich voll-
zogen. Der Wissenschafts- und Unterrichtsbetrieb des Mittelalters, wie
er sich im 14. und 15. Jahrhundert ausgebildet hatte und noch am
Anfang des 16. an allen deutschen Universitäten und Schulen bestand,
ist in den zwei Jahrzehnten der humanistischen Invasion zerstört worden.
Schon vor dem Ausbruch der Kirchenrevolution hatte auf allen deutschen
Universitäten eine ziemlich tiefgreifende Umgestaltung des gelehrten
Unterrichts, besonders in der artistischen Fakultät stattgefunden. Über-
all waren Professuren der Eloquenz und der griechischen Sprache er-
richtet; überall waren die Lehr- und Promotionsordnungen reformiert,
als durch die Reformation die Entwickelung der Dinge unterbrochen
wurde.
Ehe ich aber diese Umgestaltung darstellen kann, ist das Be-
stehende kurz zu charakterisieren.
Zweites Kapitel.
'Das ünterrichtewesen des Mittelalters/
Da die Kirche nach der mittelalterlichen Auffassung Inhaberin
aller Wahrheit ist, so geht von ihr alle Lehre und aller Unterricht
* Eine Geschichte des geeamten mittelalterlichen üntemchtswesens ist
noch nicht vorhanden. Eine vo^reflTliehe Darstellung der ersten Hälfte giobt
F. A. Specht, Geschichte des Unteirichtswesens in Deutschland bis zur Mitte
des 13. Jahrhunderts, 1885. In Schmids Geschichte der Erziehung (11, 1) be-
handelt MAsnis die ältere Zeit und die allgemeinen Verhältnisse recht gut. Die
Schalgeschichte vom 13. Jahrhundert ab fehlt aber auch hier. H. Kämmel, Ge-
schichte des deutschen Schulwesens im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit
(1882), hat die zahlreichen Monographien fleißig benutzt, doch fehlt ihm die
Yertraatheit mit den allgemeinen Verhältnissen. Dem Werk von Lok. v. Stein,
Das Bildungswesen des Mittelalters (im V.Teil der Ver^altungslehre, 2. Aufl. 1883),
fehlt es an gründlichem Quellenstudium, wofür die breiten allgemeinen Er-
wägongen nicht entschädigen. Sehr wertvoll ist Jon. Müller, Vor- und früh-
reformatorische Schulordnungen und Schulverträge (1885); dazu desselben
Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachlichen Unterrichts bis zur
Mitte des 16. Jahrhunderts (in Kehrs Geschichte der Methodik des deutschen
/-
14 I, 2. Das Unterrichtswesen des Mittelalters.
aus. Der Klerus ist sein Träger. An zwei kirchliche Institute haben
sich zuerst die ünterrichtsanstalten angelehnt: das Kloster und das
Bistum. Das Bedürfnis, das zunächst zur Einrichtung von Schulen
trieb, war bei beiden das gleiche. Das Kloster mußte die neu ein-
tretenden Mitglieder mit den für die gottesdienstlichen Verrichtungen
nötigen Kenntnissen und Fertigkeiten ausstatten; dem Bischof lag die
Sorge für den Nachwuchs des Diözesanklerus ob. So entstanden Kloster-
und Domschulen, an die sich weiterhin die Stifts- und Pfarr-
schulen anschlössen. Die nächste Aufgabe ist überall dieselbe: Unter-
weisung in allen den Kenntnissen und Fertigkeiten, die der klerikale
Beruf notwendig macht In erster Linie stehen : Singen, Lesen, Schreiben,
sowie die Kenntnis der Kirchensprache (grammatica) und der Fest-
rechnung (computus). Dies sind daher die ersten Gegenstande des
Schulunterrichte; sie werden in den Verordnungen Karls des Großen den
Kloster- und Domschulen vorgeschrieben. Da dem Klerus außer den
gottesdienstlichen Übungen immer mehr die Leitung des gesamten
geistigen Lebens, cura et regimen animarum, als Berufsaufgabe zufiel,
80 wurde der Umfang der notwendigen Künste und Wissenschaften
immer größer; vor allem treten Rhetorik und Dialektik, die Gabe der
Darstellung und der Beweisführung, in den Vorbildungskursus des
Klerikers ein. Und auch die Realwissenschaften erwiesen sich als un-
entbehrlich, schon für die Auslegung der Schrift So kommen zu den
drei formalen Disziplinen (den artes sermocinales, wie sie auch genannt
werden: Grammatik, Rhetorik, Dialektik), die vier artes reales hinzu:
Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik. Das ist der Umkreis der
Septem artes liberales. Auf ihnen baut sich die höchste der Wissen-
schaften, die Theologie, auf. So hat schon Alkwin, der Lehrbücher
aller sieben Künste verfaßt hat (die des trivium sind erhalten, abge-
druckt bei MiGNE, Patrologia, Bd. CI) die Sache dargestellt: „die gött-
liche Weisheit", heißt es in dem einleitenden Dialog, „wird getragen
von den Säulen der sieben freien Künste und niemand kommt zur
vollkommenen Erkenntnis, der nicht auf diesen sieben Säulen oder
Volksschulunterrichts, Bd. IV, 1882). Eine lehrreiche Geschichte des Unterrichta
in den artes reaks giebt S. Günther, Greschichte des mathematischen Unter-
richts im deutschen Mittelalter bis 1525 (Mon. Germ. Paed. III, 1887). Unter
den Darstellungen des Schulwesens für begrenzte Gebiete nenne ich ein paar
der bedeutenderen: Koldewey, Braunschweigische Schulordnungen (Mon.'G^rm.
Paed. I u. VIII); F. Nettesheim, Geschichte der Schulen im alten Herzogtum
Geldern (1881); E. Meyer, Geschichte des hamburgischen Schul- und Erziehungs-
wesens im Mittelalter (1843); Fb. Gramer, Geschichte der Erziehung in den Nieder-
landen während des Mittelalters (1843). Noch sei erwähnt G. Kbuffel, Historia
originis (ic progressus scholarum inter Christianos (Helmstedt 1743).
Kloster- und Domschtden. 15
Stufen sich erhebt. — Durch sie haben die Philosophen Muße und
Geschäfte erfüllt; durch sie sind auch die heiligen und katholischen
Lehrer und Verteidiger unseres Glaubens allen Häresiarchen in öffent-
lichen Disputen stets überlegen gewesen."^
Ausführlich ist dieser Bildungsgang entwickelt und seine Not-
wendigkeit begründet in dem Werk, das ein Schüler Alkwins, der be-
rühmte Vorsteher der ersten berühmten Bildungsstätte Deutschlands,
der Klosterschule zu Fulda, Rhabanus Maübus, über die Vorbildung
der Kleriker verfaßt hat. Ich kann darauf hier nicht eingehen, mag
mir aber doch nicht die Mitteilung der Formel versagen, in die jener erste
Praeceptar Germaniae seine Anforderungen an die Bildung eines Kleri-
kers zusammenfaßt; er muß haben: scientiae plenitudinem, vitae rectitU'
dinem et eruditioms perfectionem, die Fülle der Weisheit (der göttlichen),
ein rechtschaffenes Leben und eine gründliche Gelehrsamkeit. Die
Idee des Klerus, trage er priesterliches Gewand oder nicht, kann
nicht bündiger ausgedrückt werden.
Kloster- und Domschulen sind nun während der ersten Hälfte
des Mittelalters die eigentlichen Sitze der gelehrten Studien; in ihnen
findet die Erhaltung und Fortpflanzung wie der theologischen Wissen-
schaften, so auch der Kenntnis der Sprache und Litteratur des klas-
sischen Altertums statt. Die größeren Klöster lassen zum Unterricht
neben den Novizen auch Auswärtige zu, die dem klösterlichen Leben
nicht bestimmt sind, doch in einer von der Mönchsschule, auch räum-
lich gesonderten äußeren Schule. Ebenso findet sich bei den Dom-
* Die Vergleichung der Wissenschaften mit einem Bauwerk ist dem ganzen
Blittelalter geläufig. Ein Holzschnitt, welcher dem letzten berühmten mittelalter-
lichen Kompendium der Wissenschaften: der Margarita philosophica des Frei*
burger Professors Gregor Beisch (1503 zum erstenmal gedruckt) beigegeben ist,
zeigt das Lehrgebäude der Wissenschaften in Gestalt eines Turmes mit sechs
Ge«cho8sen. In den beiden untersten mühen sich Knaben unter Assistenz eines
Baccalarius mit dem Donatus und Priscianus; die Rute in der Hand des Lehrers
Eeigt, daß die Wurzel der Wissenschaften, die Grammatik, bitter ist. Das dritte
und vierte Geschoß nehmen die Logik, die Rhetorik und Poesie, die Arithmetik,
die Musik, die Greometrie, die Astronomie ein; das fünfte philosophia physica
und moraiis. Jede Disziplin ist repräsentiert durch ihren kanonischen Lehrer;
in obiger Folge sind es: Aristoteles, Cicero, BoCtius, Pythagoras, Euclides,
Ptolemäus, Plinius, Seneca. Auf der Spitze steht P. T^ombardus, seine Wissen-
schaft ist Theologia s. Metaphysica. Eine Nachbildung des Holzschnittes findet
man in Geigers Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland,
S. 499. Man sieht übrigens, daß hier das alte System der sieben Künste er-
weitert ist durch die scholastische Philosophie, welche Physik und Moral aus
dem Aristoteles hinzufügte. Bemerkt sei noch, daß diese Anschauung sich an-
lehnt an ein Wort in den Sprüchen Salomonis 9, 1: Die Weisheit bauete ihr
HauB und hieb sieben Säulen.
16 ly 2, Das Unierrichtswesen des Mittelalters.
und Stiftsschulen der Unterschied einer inneren Schule für die jungen
Kanoniker und einer äußeren, öffentlichen Schule, die namentlich auch
arme Knaben aufnimmt, um sie zum Weltpriesterdienst zu erziehen. Eine
Anzahl solcher erhält auch Unterkunft und Verpflegung, gegen die
Verpflichtung zum Chordienst. Ist die Zahl der Schüler groß, so werden
auch mehrere Lehrer angenommen. Die Leitung des Schulwesens
eines Dom- oder KoUegiatstifts liegt immer in der Hand eines hierzu
tauglichen Mitglieds des Kapitels, das den Titel magüter scholarum
fuhrt; später wird der Name scholasticus üblich. Seit dem zwölften
Jahrhundert erscheint der Scholastikus als einer der Hauptwürden-
trager des Stifts, in der Regel verwaltet er zugleich das Amt des Kanzlers,
der den diplomatischen Verkehr des Stifts mit der Außenwelt führt,
daher in Frankreich dieser Name für die Würde üblich ist-. Als großer
und vielbeschäftigter Herr zieht er sich nun von dem Schnlmeistertum
auf die allgemeine Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens zu-
rück; für den Unterricht stellt er einen rector scholarum oder scholarium
an. Der Scholastikus eines Domstifts nimmt dazu die Aufsicht über
die Schulen in der ganzen Diözese in Anspruch, besonders die Ertei-
lung der licenüa docendi s, scholas regendi, welcher Anspruch dann, seit-
dem das Unterrichtsbedürfnis stieg, zu häufigen Konflikten führte, wo«
von gleich die Rede sein wird.
Das Kirchenregiment ließ sich im ganzen überall die Förderung des
Unterrichtswesens angelegen sein; Konzilien und Synoden schärfen über-
all die Unterrichtspflicbt dem Klerus und den Klöstern ein; die Lehre^
dies Bewußtsein ist der Kirche nie fremd geworden, ist neben der Seelsorge
die zweite große Aufgabe des Klerus. Seit der Entwickelung der Städte
wird namentlich den Dom- und KoUegiatstiften die Pflicht, Schulen zu
unterhalten, wiederholt eingeschärft. Theologische Lektüren, denen der
Vortrag der Philosophie und Theologie in öffentlichen Vorlesungen obliegt»
begegnen uns seit dem 13. Jahrhundert häufig. Ebenso wird der Univer-
sitätsbesuch dem Klerus durch allgemeine und besondere Bestimmungen
erleichtert, namentlich durch Dispens von der Residenzpflicht. Endlich
breitet sich das neue Ordenswesen der Dominikaner, Franziskaner, Augus-
tiner im 13. Jahrhundert rasch über ganz Deutschland aus; alle diese
neuen Orden haben an dem wissenschaftlichen Studium der Zeit, an der
mit dem 1 1. Jahrhundert aufgekommenen scholastischen Philosophie regen
Anteil genommen, wir finden sie zahlreich auf allen Universitäten. —
Seit dem 13. Jahrhundert führte das mit dem städtischen Leben
rasch und stetig anwachsende Unterrichtsbedürfnis zur Entstehung von
zwei neuen Schularten, den Stadtschulen für den niederen Unter-
richt und den Universitäten für die höheren Studien.
Die Stadtschulen, 17
In den Städten entstanden neben den Kloster- und Stiftsschulen
überall sogenannte Stadt- oder Ratsschulen, das heißt Schulen, die
unter der Stadtobrigkeit stehen. Sie sind der Ausgangspunkt eines
weltlichen Schulwesens neben dem kirchlichen; aus ihnen sind die
städtischen Lateinschulen des 16. Jahrhunderts hervorgegangen. Aller-
dings muß man sich vor einem Mißverständnis hüten. Man hat in
den Stadtschulen den Anfang eines der Kirche entfremdeten, ihr feind-
lichen säkularen Schulwesens erblicken wollen. Das ist eine Sinnes-
täuschung, hervorgerufen durch das Vorurteil, daß auch im Mittelalter
die Kirche als eine feindliche Macht widerstrebenden liberalen Bürger-
schaften gegenüber gestanden habe. So etwas kommt heute vor; im
Mittelalter war dagegen die Kirche die allgemein anerkannte Form des
geistigen Lebens, und darum war es selbstverständlich, daß sie Herrin
der Lehre sei und daß alle Schulen in Hinsicht der Lehre der Kirche
unterstehen. Den Stadtschulen fehlt auch keineswegs der kirchliche
Charakter überhaupt. Sie gehören regelmäßig zu einer Pfarrkirche;
der Lehrer erscheint mit der ganzen Schule zu jedem Gottesdienst,
sie gehen zu Chor. Man wird annehmen dürfen, daß in der Regel die
an der Pfarrkirche gehaltenen Chorschüler den Krystallisationskem für
die Entstehung einer Stadtschule geboten haben. Ursprünglich wird
die Sorge für den Unterricht der Chorschüler dem Pfarrheirn obgelegen
haben, sei es daß er ihn selbst erteilte oder einen der niederen Kirchen-
diener dazu anhielt. Wurde die Zahl der Bürgerkinder, die an dem
Unterricht teil nahm, größer, so daß die Bestellung eines besonderen
Schulmeisters erforderlich wurde, so suchte der Rat auf die Schule
Einfluß zu gewinnen. Wo er das Kirchenpatronat hatte, machte sich
die Sache von selbst; wo das nicht der Fall war, suchte er das Schul-
patronat in seine Hände zu bringen. So finden wir nicht selten, daß
er es vom Landesherm, der es etwa als Patron der Kirche besaß, er-
warb. Die Grundlage des Rechts waren hier, wie bei dem Patronat
überhaupt, Leistungen für die Schule, etwa die Erbauung des Schul-
hauses, die Zahlung eines Gehalts an den Lehrer. Im 14. Jahrhundert
erscheint das Verhältnis in der Regel so, daß der Rat der wirkliche
Schulherr ist; er nimmt den Schullehrer in seinen Dienst, in der Regel
auf ein Jahr; in den Schulverträgen wird häufig festgesetzt, daß der
Schulmeister allein bei der Stadt Recht nimmt, d. h. nicht das geist-
liche Recht gegen die Stadt anrufen will; ebenso wird im Vertrag das
Schulgeld nebst den andern Leistungen der Schüler festgestellt. Am
Ausgang des Mittelalters giebt der Rat wohl auch eine Schulordnung,
worin die innere Ordnung und der ganze Unterrichtsbetrieb festgestellt
wird, und übt durch Beauftragte die Schulaufsicht. Der Unterricht
PaalieD, Unterr. Zweite Aufl. I. 2
18 /, 2. Das Unierrichiswesen des Mittelalters.
in den Stadtschulen unterschied sich übrigens nicht von dem der
kirchlichen Schulen, außer etwa dadurch, daß er vielfach mehr auf das
Elementare beschrankt blieb; den Dom- und Stiftsschulen wird hin
und wieder ausdrücklich der höhere Unterricht vorbehalten.
Es kann nicht auffallen , daß gegen die Entstehung eines solchen
unabhängigen stadtischen Schulwesens von den alten Inhabern der
Schulgewalt Widerstand geleistet wurde und daß es darüber zwischen
ihnen und der Stadt gelegentlich zum Kampf kam. Es sind die Akten
solcher Händel mehrfach erhalten, so aus Hamburg, Lübeck, Stettin,
Stendal, Leipzig, Nordhausen: der Dom- oder Stiftsscholaster verteidigte
sein Schulmonopol, die Stadt suchte sich unabhängig zu machen. Die
Bedeutung dieser Kämpfe, die in langwierigen Prozessen vor den kirch-
lichen Oberen, bis nach Kom, gefuhrt wurden, ist aber eine rein äußer-
liche und lokale; es handelt sich dabei nicht um einen Widerstand
der Kirche gegen die Ent Wickelung des Schulwesens, sondern lediglich
um die lokalen Interessengegensätze. Den Anlaß zum Schulkrieg
mochte die Unzulänglichkeit eines von dem Scholaster angesetzten
Schulmeisters oder die Höhe des Schulgelds geben; der Scholastikus
betrachtete etwa die Schule als Einnahmequelle, indem er das Schul-
amt an den Mindestfordemden vergab und den Überschuß des Schul-
gelds einsteckte. Oder die Erweiterung der Stadt und die weite Ent-
fernung der Stiftsschule machte die Errichtung einer neuen Schule im
neuen Stadtteil wünschenswert. Übrigens scheint in allen Fällen zu-
letzt die Stadt ihren Willen durchgesetzt zu haben.
Noch ist zu erwähnen, daß gegen Ausgang des 15. Jahrhunderts in
manchen Städten, besonders in den großen niederdeutschen und nieder-
ländischen, reine Frivatschulen vorkommen, in denen deutsch lesen
und schreiben, jenachdem auch rechnen gelernt wird; das Bedürfnis
des bürgerlichen Lebens trieb sie mit Notwendigkeit hervor. (Über
Kechenmeister und ßechenschüler zu Nürnberg s. Günther, Gesch. des
math. Unt. S. 293 flf.).
So darf man annehmen, daß am Ausgang des Mittelalters jede
nicht ganz geringe Stadt eins oder mehrere Schulen hatte. ^ In
^ Auf dem Gebiet des jetzigen Herzogtums Braunschweig (67 Quadratmeilen)
weifit KoLDEWEY 25 Stifte und Klöster nach, also auf 2,68 Quadratmeilen je eins.
Jede dieser Stiftungen ist aber zugleich etwas wie eine Studienanstalt, es findet
wenigstens Unterweisung der Novizen statt Eine statistische Übersicht des
sfichsischen Schulwesens im 14. Jahrhundert giebt J. Müller, Neues Archiv fUr
sfichsische Geschichte VIII, 1 — 40, 243—271, Es sind im Gebiet des jetzigen
Königreichs Sachsen bis 1400 23 Schulen nachweisbar. Um 1500 ist die Zahl
ohne Zweifel außerordentlich viel größer.
Die Stadtschulen. 19
größeren Städten £üiden wir oft eine ganze Anzahl, kirchliche und
städtische nebeneinander; an den alten Bischofssitzen, wie Köln, Worms,
Hildesheim, sind Dom-, Stifts- und Elosterschnlen, in den neuen großen
Handelsstädten Nürnberg, Hamburg, Lübeck sind die Batsschulen im
tTbergewicht Über die städtischen Schulen sind wir besser unterrichtet,
Verträge mit dem Schulmeister, neue Schulordnungen des Bats gaben
zu Aufzeichnungen Veranlassung, die in alle Verhältnisse einen Einblick
gewähren. Der Vorsteher der Schule (Schulmeister, ludimagister, rector
scholarum) ist wenigstens in größeren Städten regelmäßig ein Mann,
der auf einer Universität studirt und einen Grad erworben hat, den
moffister artium. Er erhält von der Stadt einen Gehalt, wofür er denn
regelmäßig ihr auch zum Dienst mit der Feder verpflichtet ist, wenn
sie etwas aufzusetzen hat Daneben bildet das Schulgeld einen wich-
tigen Bestandteil des Einkommens, es wird vom Bat festgestellt; Ver-
ehrungen zu den Festtagen, Accidenzen bei Hochzeiten, Leichen, Seel-
messen u. s. w. kommen hinzu. Endlich hat er regelmäßig freie
Wohnung, in der Begel ein paar Bäume im Schulhaus. Daneben wird
öfter freier Tisch erwähnt, beim Pfarrer oder auch bei den Bürgern;
der Schulmeister ist natürlich unbeweibt. Unter sich hat er einen
oder mehrere Gehilfen {socii); sie führen die Namen provisor, cantor,
baccalaureus, locatus. Der cantor wird wohl von der Gemeinde an-
genommen, die Provisoren und Lokaten dagegen vom Schulmeister;
sie erhalten Anteil am Schulgeld. Als provisor mag auch einmal ein
baccalarius einer Universität vorkommen; die Lokaten sind regelmäßig
ältere Schüler, die selbst beim Bektor in die Schule gehen, anderer-
seits die Jungen in den Elementen unterrichten. Sie werden auch
Pädagogen oder Schreiber genannt^
^ Den Namen locatus hat man von locarCy mieten, abgeleitet: der Schul-
meister dinge seine Gehilfen. Wenn das auch auf gewisse Weise der FaU ist,
80 wäre es doch kein bezeichnender Name. Das Wort ist ohne Zweifel von
locus gebildet, ganz ebenso, wie das mittelalterliche Latein von colle^ium col-
legiaius, von cura curatus bildet und so den Inhaber einer cura, einer Stelle
im coüegium bezeichnet Ebenso ist locatus der Inhaber eines locus; locus aber
(Plor. loca) bedeutet in der mittelalterlichen Schulsprache eine Schülerabteilung,
dasselbe was nachher, seit dem Durchdringen des humanistischen Sprach-
gebrauchs, dassis oder ordo heißt. Locus ist natürlich zunächst der besondere
Platz, den eine Abteilung in dem allgemeinen Schulraum inne hat; der Luxus
eines eigenen Zimmers für jede Abteilung ist dem Mittelalter noch unbekannt.
Für diese Deutung spricht auch die gelegentlich vorkommende Nebenform
hcator, die jedenfalls den Mietling ausschließt ; sie wird nach (falscher) Analogie
von rector, signator gebildet sein. Denkbar wäre noch, daß der locatus seinen
Namen von der locatio hätte, in der bei der Promotion zum baccalarius die
Kandidaten geordnet wurden, es wäre dann gleichbedeutend mit baccalarius.
20 /. 2. Das Unterriclitsivesen des Mittelalters.
Die Schüler zerfallen regelmäßig in zwei Gruppen: Bürgerkinder
und Armenschüler (pauperes, mendicantes). Jene besuchen den Unter-
richt, um einige Übung in den ^^klerikalen^' Künsten, Lesen, Schreiben
und Latein, zu gewinnen. Die Armenschüler haben als fahrende Leute
vielfach ihre Behausung in der Schule ; sie „ernähren sich des Almosens,**
d. h. sie ziehen singend und bett^elnd durch die Straßen der Stadt;
vielfach hat auch die Schule kleine Stiftungen. Der günstigste Fall
ist, wenn sie als „Pädagogen'^ bei einem Bürger Aufnahme finden,
dem sie die Kinder zur Schule führen und zu Hause verhören, auch
sich sonst im Haushalt nützlich machen. Bekanntlich- war auch Luther
in Magdeburg und Eisenach ein solcher Armenschüler oder, wie er
sagt, Partekenhengst. Das Wort Partekenhengst oder Pdrtekenfresser
ist ein übliches Schimpfwort für die Armenschüler; Pärteken ist das
deutsch gebildete Diminutiv von pars^ dem Anteil an dem erbettelten
Almosen, das regelmäßig nach der Schule unter die „Partemisten'^ aus-
geteilt wird. Einen höchst belehrenden Einblick in das Leben dieser
Armenschüler, die für die Schulen des 15. und 16. Jahrhunderts die
regelmäßige Staffage bilden, giebt die Selbstbiographie Thomas Plattebs,
dem wir noch später wieder begegnen werden.
Für den Unterricht sind die Schüler in Abteilungen (Cirkel,
Letzgen = lectiones, auch Haufen genannt) geteilt, deren jede, wie er-
wähnt, im allgemeinen Schulraum ihren bestimmten Platz (locus)
inne hat. Die Zahl der Abteilungen richtet sich natürlich nach der
Zahl und dem Wissen der Kinder. Als allgemeines Grundschema
kann man drei Abteilungen annehmen: die erste umfaßt die Kinder,
Doch sind die locafi regelmäßig bloß ältere Schüler, übrigens ist das Wort
locus noch in dem der Studentensprache bekannten ad locaf erhalten; es ist der
alte Kuf , mit dem in der jnittelalterlichen Lateinschule den Schülern geboten
wurde, sich in ihre Abteilungen zu verteilen, wenn sie etwa aus dem Chor in
die Schule zurückkamen. Wer übrigens über die Natur und Stellung eines
Lokaten noch Näheres erfahren will, der sehe eine Bittschrift nach, welche die
Lokaten der Leipziger Thomasschulc im Jahre 1581 an den Rat richteten,
und die leges, die ihnen bald darauf zugefertigt wurden (Eckstein, Progr. der
Thomasschule 1880). — Und nun mag hier noch einer weiteren Vermutung
Raum gegeben sein. Der „Schütz" (wovon unser ABC-Schtitz), der mit seinem
Bachauten als Bettelschüler im Lande umherzieht^ wie aus Platters Selbstbio-
graphie bekannt ist, hat seinen Namen doch wohl nicht vom „Schießen" ( = Stehlen)
der Hühner und Gänse. In einem auf der Berliner Bibliothek befindlichen,
Oaudium shtdenticum betitelten, 1593 s. 1. erschienenen Scherz- und Schmutz-
po^m findet sich einmal die Form „Hosenschützius". Wie, wenn das die volle
Form für jenen Schütz wäre? Ein bekannter studentischer Ausdruck für einen
angehenden Studenten (Seh . . . fuchs) bietet sich als Erklärung zugleich und
als Hinweisung auf die Region, wo man nach Etymologien sich umzusehen hat.
I>ie Stadtschulen, 21
die lesen und schreiben lernen, die zweite die, welche die Antangs-
gTünde der Grammatik lernen, die dritte die Geforderteren, die schon
ein wenig Latein lesen und schreiben können. Die drei Abteilungen
werden gelegentlich nach ihren Lehrbüchern Tabulistae, Donatistae,
Alexandristae genannt Das Lehrbuch der ersten ist die „Tafel", eine
Fibel mit den Buchstaben und einigem lateinischen Lesestoff, Glaube,
Vaterunser, Gebete, die dann, sowie die Kinder lesen können, Wort
for Wort übersetzt und auswendig gelernt werden. Der Mittelstufe
gehören der Donat und der Cato nebst dem Aesop und Avian an,
jenes der Name für die kleine, in Frage und Antwort abgefaßte
lateinische Elementargrammatik, diese Bezeichnungen für kleine
Elementarlesebücher, die Sprüche und Fabeln in kurzen lateinischen
Versen zum Lesen und Auswendiglernen enthalten. Luther lobt ein-
mal in den Tischreden diese Lesebüchlein, sie seien durch eine sonder-
liche Gnade Gottes in den Schulen erhalten geblieben. Das Lehrbuch
für die Größeren endlich ist das sogenannte Docirinale, eine lateinische
Grammatik in leoninischen Hexametern, von dem französischen Kleriker
AiiEXANDEB DE ViLLA Dei in der Normandie um 1200 verfaßt; es
dient zugleich als grammatisches Lehrbuch und als Lesestoff. Die
alten lateinischen Schriftsteller sind der Schule so gut wie ganz fremd.
Dagegen werden kleine Gesprächbücher gebraucht, die den notwendigen
Sprachstoff in handlicher Form enthalten, ähnlich wie unsere kleinen
Beisekonversationsbücher. Auch fehlt es nicht an Wörterbüchern, die
sprachliche, und sachliche Belehrung in lexikalischer Form anbieten.
Ich komme auf diese Litteratur und ihren Wert weiter unten zurück.
Die Grundform des Unterrichts ist das Auswendiglernen; die Auf-
gabe des Lehrers besteht wesentlich im Aufgeben und „Behören" der
Lektion. Das Auswendiglernen mußte naturgemäß in einer Zeit, wo
Bücher eine Seltenheit waren, eine große Rolle spielen: das Gedächt-
nis mußte aufnehmen, was wir heute in Hilfs- und Nachschlagebüchem
für wenig Groschen kaufen. So wird die Grammatik auswendig gelernt,
welchem Zweck das Doctrinale durch seine gereimten Verse entgegen-
kommt; doch wird sie natürlich auch erklärt und eingeübt^ Ebenso
werden die Verse des Lesebuchs auswendig gelernt. Gleich von An-
fang des Schulbesuchs an ist es üblich, den Kindern abends vor dem
Nachhausegehen ein paar Wörter, ein Verslein oder ein paar zum
Lernen mit auf den Weg zu geben. Es handelt sich darum, dem
Kinde möglichst bald einen kleinen Wort- und Sprachschatz zu sichern;
denn die Schulsprache ist das Latein, und nicht bloß die Sprache des
Unterrichts, auch unter einander dürfen die Schüler wenigstens der
oberen Abteilungen nur Latein sprechen. Die Durchführung des Ge-
/
22 /, 2, Das Unterrichtswesen des Mittelalters,
bots zu erzwingen steht überall Strafe auf dem Deutschreden. Über-
all kehrt hierfür die Einrichtung des lupus und asinus wieder, wodurch
die Schuldigen der Strafe zugeführt werden. Daß dies manchmal er-
staunliches Latein geben mußte , entging natürlich auch dem Mittel-
alter nicht, vermutlich half man sich in der Not vielfach damit, daß
man deutsche Wörter durch Anhängung der lateinischen Endungen
straflos zu machen suchte: die sogenannten maccaronischcn Yerse
stammen wohl daher. Aber, sagte man damals, melius malum latinum
quam bonum teutonicum; mit dem bonum latinum nahm man es ohne-
hin nicht so genau, und dann mochte man denken: ist nur die Zunge
gelöst und das Ohr an den Klang gewöhnt, so wird die Bichtigkeit
wohl allmählich nachkommen. Und vielleicht hätte man hierfür mit
mehr Recht auf „naturgemäße Methode'^ sich berufen mögen, als
manche Späteren, die das Wort im Munde führen. Kinder sprechen
ja auch zuerst ihr eigenes Deutsch, und kommen doch zuletzt zum
allgemeinen.^
* Über die Natur des lupus und asinus, welche beiden Geschöpfe in
allen älteren Schulordnungen eine Rolle spielen, kann man sich jetzt aus der
MüLLERSchen Sammlung yorreformatorischer Schulordnungen bequem unter-
richten, besonders aus der Memminger von 1513 und der Nördlinger von 1512
und 1521. Der Memminger asinua, von Holz gefertigt, hängt an einem Seil
in der Schule; am Morgen muß ihn der jedesmalige ultimus sich anhängen;
sowie er einen „tiutsch reden** hört, giebt er ihn an den weiter, und der hängt
ihn seinem Nachfolger in dem gleichen Vergehen an : „welcher ihn über Nacht
behält, wird geschlagen, und welcher ihn über Tags hat, dem giebt man eine
Tolle; auch wird der gestrichen, der ihn morgens als tUiimus anninmit*^ Lupus
heißt ein Schüler, der die Rolle des heimlichen Aufpassers hat; er notiert alle,
die Unziemliches thun, vor allem fluchen, schwören oder deutsch reden; und
zwar schreibt er sich auf „von wort zu wort, das er ayn yeden hert tiutsch
reden". Dies Verzeichnis übergiebt er dem Lehrer, der dann alle Wochen
einmal den lupus durchnimmt „und schwingt die schuler um das selbig tiutsch
reden; von einem puncte gchertte ain straich; doch rieht er nach gestalt der
sach, ob der schuler schlechtiglich tiutsch geredt oder geschworen hat". Auch
wird in Memmingen den großen Schülern nachgelassen, die Schläge abzukaufen,
drei Punkte um einen Heller. Das Geld sammelt der Schulmeister und giebt
es ihnen zu vertrinken, „wann sy uff dem dicken riss in den rutten sind", das
heißt wenn sie aus dem Busch die Weiden oder Birkenruten holen, mit denen
sonst der Lohn für die Vergehen haar beglichen wird. Man sieht, es ist der
mittelalterlichen Schule über dem fleißigen Grebrauch der Rute der Humor nicht
ausgegangen. Der Memminger Schulmeister stellt allerdings diese Umwandlung
der wohlverdienten „Schillinge" in Heller und endlich in Wein als seine be-
sondere Großmut dar, denn eigentlich gehörten jene Heller „von lupus Ger
rechtigkeit in allen Schulen einem Schulmeister". Doch dürfen wir hoffen, daß
auch andere Schulmeister Spaß verstanden. Wenigstens wird uns aus Nörd-
lingen berichtet, daß auch hier ein ehrbarer Rat das virgatum gehen, allerdings
Aus Burckhardt Zenggs Leben, 23
Zum Schluß ein Bild aus dem mittelalterlichen Schülerleben; ich
entnehme es der Selbstbiographie Bueckhabdt Zengös.^ Freilich
kann es sich an Beichtum und Farbenfälle mit der bekannten Selbst-
biographie Thomas Platteks nicht messen; dafür ist es 100 Jahre
älter. Zengö ist 1396 zu Memmingen geboren. Nachdem er vier
Jahre lang die heimatliche Schule besucht hatte , wurde er als elf-
jähriger Knabe nach Krain zu einem Vaterbruder geschickt, der in
einem Dorf Pfarrer war. Dieser nahm sich seiner an und schickte ihn
in die Schule im Marktflecken Reisnitz. Sieben Jahre blieb der Knabe
dort. Dann zog er heim, das Erbe seiner Mutter, die schon vor seiner
Abreise gestorben war, anzutreten. Sein Vater aber hatte sich in-
zwischen wieder verheiratet und über das Erbe verfügt, da er jenen
im Osten versorgt meinte. Burckhard wendete sich nun wieder nach
Krain zurück; aber inzwischen war sein Oheim gestorben. Er kehrte
daher nach Memmingen zurück. „Da war,'< erzählt er, „niemand mein
froh, alle mein Freund achteten mein nicht Also kam ich zu einem
Biedermann, der war aus einem Dorf in die Stadt gezogen. Dem führt
ich zwei Knaben in die Schul, und bei dem blieb ich ein Jahr und
lernt ihm die Knaben. Da ward ich einem Töchterlein hold und ging
je länger je ungemer in die Schul." Er entschloß sich also ein Hand-
werk zu lernen und kam zu einem Kürschner in die Lehre. „Aber
nach 14 Tagen hatte ich deß genug, hub mich auf, nahm mein Schul-
buch und kam gen Biberbach. Da kam ich von Stund an zu einem
jörommen Mann, war gar reich und ein Schuhmacher gewesen, aber
trieb das Handwerk nicht. Der wollt mich um Gotteswillen behalten
ein Jahr und länger, daß ich in die Schul ginge. Doch sollt ich das
Brot selbst schaffen. Also ging ich da in die Schul bei 1 4 Tagen. Ich
schämte mich aber zu betteln und wenn ich von der Schul ging, so
kauft ich einen Laib Brot um 1 Pfg. und schnitt Stücken daraus;
und wenn ich heim kam, fragte mich mein Herr, ob ich in der Stadt
gewesen sei nach Brot; ich sagte: ja. Da sagte er: man giebt hier
gar gern den armen Schülern. Ich mochte aber nicht betteln. Und
es sagte mir einer der Schüler, daß eine gar gute Schule zu Ehingen
wäre. Da ging ich mit ihm nach Ehingen. Da waren große Bac-
chanten, die liefen alle in die Stadt nach Brot Da ich das sah, daß
höchstens yiermal im Jahr, gestattet und dabei ,,ain zimlichen trunck biers oder
weins zu einer ergeczUchkeit^S doch mit guter Mäßigkeit, dulden will; wohin-
g^en er verbietet, „in den wurczheusem zu ligen, auch weder trumen noch
pfeiffen mitzunehmen*^ Statt dessen ermuntert er „die kurezweil des parr-
laufens und der gleichen unnachtailige leibs Übung zu geprauchen*^
* OsFFfiLius, Rerum Boiearum Scriptoreä I, 245 flf.
24 ly 2, Das Unterrichtswesen des Mittelalters.
die alten und großen Schüler nach Brot liefen und sungen, da lief
ich mit ihnen und schämte mich nicht mehr und gewann mir genug,
ich wollte mir selbviert genug gebettelt haben.
Als ich ein halb Jahr zu Ehingen in die Schul gegangen war,
da kam ein großer Student zu mir und sprach: ob ich mit ihm wollt
ziehen gen Balingen, da wäre eine gar gute Schule; und er wollte mir
zu einem guten Dienst helfen. Und er bracht mich mit seinen guten
Worten mit sich nach Balingen. Da blieben wir wohl ein Jahr und
ich ging in die Schule. Und mein Gesell verließ mich, that mir
weder Rat noch Hilfe. Also kam ich zu einem armen Mann, der war
ein Schmied, genannt Spilbenz, bei dem war ich eine Zeit und führt
ihm einen Knaben in die Schule. Damach kam ich zu einem Gast-
geber, der gab mir die ganze Kost, daß ich des Betteins nicht bedurfte.
Damach zog ich von dannen und kam gen Ulm, da blieb ich ein
Jahr und war bei einem Pfeiffer, der war der Stadt-PfeifiFer, genannt
Henslin von Bibrach, der thät mir gütlich. Ich führt ihm einen
Knaben in die Schul, ist seither auch ein Pfeiffer geworden. Ich
bettelte das Brot."
Dann kam er, auf Zureden eines Schwagers, nach Augsburg, sich
die niederen Weihen geben zu lassen. Er fand aber hier einen Dienst
bei einem Kaufmann und ließ nunmehr ganz von der Schule und zog
mit seinem Herrn auf die Märkte, wobei ihm denn auch seine Schul-
wissenschaft sich als nützlich erwiesen haben mag. Später wurde sie ihm
wieder in anderer Weise nützlich. Nachdem er einige Jahre mehreren
Herren in Augsburg und Nürnberg gedient hatte, nahm er ein Weib.
Darob erzürnte sich sein Herr und entließ ihn, und es war große Not,
„also daß ich nit wüßt, was ich anfahen sollt. Doch war mir das Weib
lieb und war gern bei ihr. Und bedacht mich mit meiner Hausfrauen,
die war mir auch hold. Die tröstete mich und sprach: mein Burck-
hart, gehab dich wohl und verzag nicht, laß uns einander helfen, wir
wollen wohl auskommen; ich will spinnen und will alle Wochen wohl
4 ß Wolle verspinnen, das ist 32 Pf. Und da die Frau so trostvoll
war, da gewann ich auch Mut und gedacht: ich kann ein wenig
schreiben; ich will besehen, ob ich mög einen Pfaffen haben, der mir
zu schreiben gieb; wie wenig du verdienst, so gewinnt dein Weib
32 Pf.; und es ist wohlfeil, vielleicht giebt Gott zu, daß wir wohl
auskommen." Und er fand einen Pfarrer, der gab ihm ein Buch, ge-
nannt compendium S. Thomae abzuschreiben; und er schrieb in der-
selben Woche 4 Sextem des großen Papiers karia regal und erhielt
4 Groschen von einem Sextem. „Also schrieb ich ihm bei 50 Sextem
und gewann Gelds genug und mein Weib und ich saßen zusammen
Die ühiversitäien, 25
und ich schrieb und mein Weib spann und gewannen oft 3 Pfund
Pfennige in einer Wochen. Doch sind wir oft bei einander gesessen
die ganze Nacht und ging uns ganz wohl.'^
Im folgenden Jahr war er als Söldner der Stadt Augsburg bei
der Einnahme der Burg Zollem, wo ihm die Schreibkunst wieder einen
guten Posten TerschaSte, also daß er 30 fl. heimbrachte. Dann diente
er der Stadt als Bote an König Sigismund in Ungarn und gewann
endlich im Kaufmannsdienst (nach Venedig) Vermögen und Ansehen.
In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden neben den
alten Schulen in Deutschland die ersten Universitäten. Die übrigen
Länder, vor allem Frankreich und Italien, waren vorangegangen. Schon
lange waren die ausländischen Studien auch von Deutschen besucht
worden; jetzt ging man endlich daran, ebensolche Anstalten auch auf
dem heimischen Boden zu begründen.
Als die Aufgabe der Universitäten und damit zugleich als die
Ursache ihrer Entstehung kann man bezeichnen: zu leisten, was die
Dom- und Stifbsschulen nicht mehr vermochten, nämlich den Klerus
die Wissenschaften zu lehren. Es waren seit der Entstehung jener
Schulen auf dem Gebiete der Wissenschaften gewaltige Veränderungen
vor sich gegangen; vor allem war die Wissenschaft und Philosophie
der Griechen, wie sie im System des Aristoteles beschlossen war,
wieder zugänglich geworden. Eine neue Philosophie war entstanden,
weitschichtig, schwer zu fassen, ein komplizierter logischer Apparat ihr
Werkzeug. Die Theologie selbst hatte die Gestalt eines philosophischen
Lehrgebäudes angenommen. Auch das Recht war zum Gegenstand
einer Wissenschaft geworden. Die neue Philosophie und Theologie er-
fanden zu haben war der unsterbliche Ruhm von Paris, während
Bologna die Rechtswissenschaft in Anspruch nahm und Salerno im
südlichen Italien, wo die christliche Welt an die mohammedanische
grenzte, die Medizin.
Die Lehrkräfte der kleinen isolierten Dom- und Stiftsschulen reichten
nicht mehr zu, den Umkreis der neuen Wissenschaften zu umspannen.
Seit dem 13. Jahrhundert war es daher gebräuchlich geworden, daß
höher Strebende nach Frankreich und Italien zogen, um dort die neuen
W^issenschaften an der Quelle zu schöpfen. Endlich, nachdem man
längere Zeii damit sich zu helfen gesucht hatte, daß man Pariser Dok-
toren als Lektoren an den großen Stiftsschulen angestellt hatte, wurde
der Versuch gemacht, die Wissenschaften in ähnlichen Organisationen
auf dem deutschen Boden anzusiedeln. Im Jahre 1348 wurde am Sitz
26 /, 2, Das ünterrichiswesen des Mittelalters,
des kaiserlichen Hofes zu Prag die erste Universität im Reich errichtet.
Es folgten bald Wien (1365) 1384, Heidelberg 1386, Köln 1388,
Erfurt 1392, (Würzburg 1402), denen sich nach kurzem Zwischen-
raum noch Leipzig 1409 und Rostock 1419 anschlössen. Damit war
das Bedürfnis vorläufig gedeckt Eine zweite Gründungsepoche begann,
nicht ohne Zusammenhang mit der humanistischen Bewegung, um die
Mitte des 15. Jahrhunderts; sie fügte zu den sieben alten Gründungen, die
sich als lebensfähig erwiesen hatten, achtneue: Greifswald 1456, Frei-
burg 1457, (Trier 1457), Basel 1459, Ingolstadt 1472, Tübingen
1477, Mainz 1477, Wittenberg 1502, Frankfurt 1506.i
Auch die Universitäten waren kirchliche Lehranstalten. Sie wurden
vom Papst formell errichtet, d. h. mit der Befugnis zu lehren und die
akademischen Grade, d. h. Zeugnisse der Lehrbefähigung zu erteilen,
ausgestattet. Die B[irchengüter wurden überall für die Dotation in An-
spruch genommen, regelmäßig in der Form, daß eine Anzahl Pfründen,
meist an einer Stiftskirche der Stadt, doch auch an auswärtigen Kirchen^
an ältere Lehrer der Universität, besonders Theologen und Juristen,
verliehen wurden; was natürlich die kirchliche Qualifikation derselben
zur Voraussetzung hatte. Man kann sagen, die mittelalterlichen Uni-
versitäten Deutschlands waren vielfach ihrem Ursprung und ihrer
Stellung nach eigentlich nichts anderes als freier konstruierte EoUegiat-
stifte, welchen von den beiden Aufgaben solcher Institute, dem Gottes-
dienst und dem Unterricht, wesentlich nur die letztere oblag; von der
ersteren waren sie dispensiert, um der anderen ganz sich widmen zu
können. Lehrer und Schüler derselben waren Kleriker und dem ent-
sprechend die Lebensordnungen in allen Stücken den klerikalen nach-
gebildet Für die Lehrer war der Cölibat selbstverständliche Forderung;
sie wohnten in den Kollegien nach Art regulierter Kleriker beisammen.
^ Eine ausführliche Greschichte der deutschen Universitäten im Mittelalter
giebt es noch nicht G. Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitfiten,
Bd. I (1888), behandelt die außerdeutschen Vorbilder; H. Denifle, Die Ent-
stehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400 (1885), giebt nur für die
ältesten deutschen Universitäten die Entstehungsgeschichte. Eine gute Über-
sicht bietet Otto Kämmel in Schmidts Greschichte der Erziehung 11, 1. Über die
Gründung und Fundation der deutschen Universitäten im Mittelalter, sowie über
ihre öffentliche Stellung und ihre Lebensordnungen habe ich ausführlich in
einem Aufsatz in v. Stbel's Histor. Zeitschrift, Bd. 45 (Jahrg. 1881), S. 251 — 811,
385 — 440 gehandelt Hier mag auch der Umriß einer Geschichte der deutschen
Universitäten erwähnt sein, den ich in dem von der preußischen Unterrichts-
verwaltung veranlaßten, von Lexis herausgegebenen Werk: Die deutschen Uni-
versitäten (1893) gegeben habe in der Eingangsabhandlung: Wesen und Ge-
schichte der deutschen Universitäten.
Die Universitäien, 27
Erst seitdem die humanistischen Emanzipationsbestrebangen eindrangen^
wurde diese Ordnung aUmählich durchlöchert. Bis dahin wurden auch
die Scholaren der deutschen Universitäten in den Kollegien und Bursen
in klösterlicher Zucht zusammengehalten. —
Es ist gewöhnlich, von dem Verfall des kirchlichen Schulwesens
am Ausgang des Mittelalters zu reden. So viel ich sehe, geben die
Thatsachen hierzu keine Veranlassung. Man weist darauf hin, daß die
zweite Hälfte des Mittelalters nicht, wie die erste, von berühmten
Kloster- und Domschulen zu berichten habe, und findet die Ursache
darin, daß Weltklerus und Klostergeistlichkeit miteinander in Trägheit
und Wohlleben versunken seien; Wissenschaft und Religion sei seit dem
13. Jahrhundert den Stiftern und Klöstern mehr und mehr fremd ge-
worden und Laster und Barbarei hätten ihren Einzug gehalten. Was
die wissenschaftliche Kultur des Klerus anlangt, so sagt diese Bede im
allgemeinen gewiß das Gegenteil der Wahrheit. Gerade im 14. und
15. Jahrhundert ist die Kultur der eigentlichen Wissenschaften in
Deutschland einheimisch geworden; es waren Kleriker, welche sie aus
der Fremde holten und in der Heimat anpflanzten und pflegten.
Freilich nun nicht mehr in den alten klösterlichen Pflegestätten; ^ie
abgelegenen Benediktiner- und Cisterzienserklöster waren im 15. Jahr-
hundert nicht mehr, wie im 10. oder 12., Mittelpunkte des Kulturlebens;
Universitäten konnten natürlich nur in Städten errichtet werden. Es
geschah, wie bemerkt, in der Regel in Anlehnung an vorhandene
kirchliche Unterrichtsorganisationen in Dom- und Kollegiatstiften. Die
Bischöfe erwiesen sich überall als eifrige Förderer der Universitäten;
die Kapitel hielten, hierin den Anordnungen der Synoden und kirch-
lichen Oberen folgend, ihre Mitglieder an, auf den Universitäten sich
wissenschaftliche Bildung zu erwerben. Nicht minder trafen die Orden,
namentlich seitdem die Reformationsbewegungen der großen Konzilien
des 15. Jahrhunderts durchdrangen, Veranstaltungen, ihren Mitgliedern
die neue wissenschaftliche Bilduag zugänglich zu machen. Bei vielen
Universitäten finden sich Studienhäuser der verschiedenen Orden, in
welchen die studierenden Mitglieder Unterkunft und wohl auch Unter-
richt empfingen. In allen Inskriptionslisten mittelalterlicher Universi-
täten konmien zahlreiche Namen von Ordensbrüdern vor. Nicht minder
stellen sie zu den Lehrkörperschaften, besonders der theologischen und
philosophischen Fakultäten, ein sehr bedeutendes Kontingent. Die
Bückwirkung auf das Leben in den Klöstern selbst konnte natürlich
nicht ausbleiben. Die Neigung zu wissenschaftlichen Studien, zum
Anfertigen und Sammeln von Handschriften, ist im 15. Jahrhundert
wieder im Zunehmen, gelehrte Äbte werden häufiger. Auch der Schul-
28 I, 2. Das Unterrichtswesen des Mittelalters.
Unterricht in den Klöstern wird unter solchen Einflüssen sich gehoben
haben. Freilich es war eine stille und wenig beachtete Thätigkeit
Die Auftnerksamkeit der gelehrten Welt war nicht mehr auf die Klöster,
sondern auf die Universitäten gerichtet Hier hatte der höchste wissen-
schaftliche Unterricht definitiv seine Statte gefunden. Die alten Schulen
waren den Universitäten gegenüber ein für allemal in die Stellung von
Vorbereitungsschulen herabgesunken.^ —
^ Nachweisungen zu dem oben Gesagten findet man in allen Universitftts-
geschichten; ferner in den Ordensgeschichten, z.B. Winter, Die Cisterzienser
des nordöstlichen Deutschlands (III, 55 ff.), Kolde, Die deutsche Augustiner-
kongregation, S. 166. Für die bayrischen Klöster manches bei Günthmer, Ge-
schichte der litterarischen Anstalten in Bayern (8 Bde. IBlOff.); auch die Artikel
des großen Sammelwerkes Bavaria über Geschichte der Volksbildung enthalten
manche hierher gehörige Mitteilung. Über österreichische Klöster und den
Aufschwung der Studien in ihnen um diese Zeit findet man einiges bei Czerkt,
Die Klosterschule zu St. Florian und in einem Progr. von Linz 1854. Eine
Ordnung vom Dominikanergeneral für das vom Pfalzgraf Friedrich zu Heidel-
berg im Dominikanerkloster gestiftete Studium der theologiae et bonarum artiu?n
vom Jahre 1501 findet man im Auszug in den historisch-politischen Blättern,
Bd. 78, S. 925. Die „fratres studentes generales*^ die aus den verschiedenen
Klöstern der Provinz zusammenkommen, sollen (außer an den geistlichen Übungen,
soweit es ohne Vernachlässigung der Studien geschehen kann), sich regelmäßig
an den Vorlesungen, die im Hause gehalten werden, beteiligen. Der Konvent
soll einen tüchtigen Doktor und einen ebensolchen Baccalaureus anstellen (de
bono ae honesto sufßciente doctore regente studii und femer de aliquo bono ac
docto baccalaureo, qui senfentias aitidentibtis legat, provideai). Ebenso sollen
einen Tag um den anderen Disputationen in der Theologie stattfinden, wobei die
studentes respondieren. Sie können auch den Disputationen und Sermonen an
der Universität beiwohnen, und ebenso mögen die Studenten an der Universität
Sermonen halten, auf Erfordern des Kegens, der das Thema giebt und sie vorher
durchsieht — Ein in mehrerer Beziehung interessantes Aktenstück, welches
J. Frey im Progr. von Rössel 1880 veröffentlicht hat, kann ich mir nicht ver-
sagen, nach seinem wesentlichen Inhalt hier mitzuteilen. Es ist ein Vertrag,
welchen acht märkische, pommersche und preußische Augustinerkonvente im
Jahre 1415 zur Begründung eines wandernden Studiums, als Notbehelf statt
des Universitätsstudiums, miteinander schlössen. Das Studium soll nach fest-
gestellter Ordnung bei den acht Klöstern immer auf ein Jahr unterhalten werden :
jedes Kloster schickt einen Bruder; die Provinz, in welcher es sich befindet,
bestellt den Rektor, der von allen gemeinsam besoldet wird. Als Gegenstände
des Unterrichts werden Grammatik, Logik, Philosophie und Theologie genannt.
Die Dauer der Vorlesungen wird festgestellt, wie in den Universitätsordnungeu;
Alle Tage soll gelesen werden, diebtis iUegibilibtis dumtaxat excepHs, und es
werden dann diese Vorlesungen Lehrern und Hörern als Universitätsvorlesungen
angerechnet (pro forma computabitur), nämlich offenbar bei einem etwaigen
späteren Besuch einer Universität behufs der Promotion. Pro formxt. lesen und
hören heißt die zur Erlangung eines gradus durch die Statuten vorgeschriebenen
Vorlesungen lesen und hören; daher lectiones formales y baccalarius formatus;
Die Universitäten, 29
Was nun die Gestaltung der mittelalterlichen Universitäten anlangt,
so geht uns hier nur die philosophische Fakultät, facultas artium
(sc. liberaUum) genannt, näher an. Sie nimmt regelmäßig den neu an-
ziehenden Scholaren zuerst auf. Ihre Aufgabe ist, den Kursus der
Lateinschule, der auf die Sprache geht, durch einen allgemein- wissen-
schaftlichen Kursus zu ergänzen. In ihrer Stellung und in ihrem Unter-
richtsbetrieb hat sie allerdings mehr Ähnlichkeit mit dem Obergym-
nasium unserer Zeit, als mit der gegenwärtigen philosophischen Fakultät:
sie giebt Schulunterricht in schulmäßiger Form, wie es auch zum Alter
ihrer Scholaren stimmt, das durchweg etwa zwischen dem 15. und
20. Lebensjahr liegen mag. Dem Rang nach die letzte Fakultät, ist sie
für den Bestand der Universität weitaus die wichtigste; die große
Mehrzahl der Lehrer und Studierenden gehört ihr an.^ Zu bemerken
ist übrigens, daß eine feste Abgrenzung des Universitätsunterrichts
gegen den der Lateinschule überhaupt nicht stattfindet Rechtlich sind
die Anstalten scharf geschieden, das Studium generale, wie der offizielle
Name der Universität als Lehranstalt lautet — universitär, zu ergänzen:
mcLffistrorum et scolarium, z. B. stfidii Fiennensis, bezeichnet die Ge-
auch das eoglische Wort form für Schülerabteilung, Klasse, hat wohl hierin
seinen Ursprung; es ist dasselbe, was lectio im mittelalterlichen Sprachgebrauch
der deutschen Schulen. Ahnliche Bestimmungen finden sich auch noch in den
Konstitntionen des Augustinerordens, die 1504 auf dem von Staupitz veran-
laßten Konvent zu Nürnberg geschlossen wurden: die studia generalia sollen
eifrigst betrieben werden. Der Vikar sagt an, in welchem Kloster jedesmal
Studium generale oder particulare stattfinden soll; kein Kloster darf mehr als
zwei Brüder dazu schicken; wo das Studium generale stattfindet, sollen alle
Brüder daran teilnehmen. Gewisse Erleichterungen von Chorverpflichtungen
treten für Lehrende und Lernende ein (Jürgens, Luther I, 567). Man sieht, die
Klöster sind zugleich Studienanstalten. So sagt auch Luther in der Schrift an
den christlichen Adel: „Denn was sind Stifit und Klöster anders gewesen, denn
christliche Schulen, darinnen man lehret Schrift und Zucht nach christlicher
Weise, und Leute auferzog, zu regieren und zu predigen/* Daß auch an den
Dom- und Kollegiatstiften die Aufgabe des wissenschaftlichen Unterrichts im
15. Jahrhundert in Aufnahme kam, dafür mag als ein symptomatisches Anzeichen
erwähnt sein, daß unter dem Einfluß des Schleswiger Bischofs Nie. Wulf am
Schleswiger und am Haderslebener Kapitel Lektüren errichtet und fundiert wurden
(1458 und 1465), in denen graduierte Magister Unterricht in den Fakultätswisseu-
Bchaften erteilen sollen (Jessen, Progr. von Hadcrsleben 1867).
* Für Köln haben wir in der Matrikel (herausgegeben von Keussen 1892)
die Verteilung auf die Fakultäten; es bekennen sich um die Mitte des 15. Jahr-
hunderts zur theologischen 4,5, zur juristischen 16, zur medizinischen 0,6, zur
artistischen Fakultät 67 ^/q der Immatrikulierten, für den Rest fehlt die Angabe.
Die Juristen sind übrigens natürlich auch Kleriker, die das geistliche Recht
studieren.
30 I, 2, Das ünterrichtswesen des Mittelalters.
samtheit der Glieder als rechtliche Körperschaft — hat durch päpst-
liche und kaiserliche Privilegien (daher auch Studium privileffiaium,
gefreite Schul) das Recht , die akademischen Grade zu verleihen, mit
der Wirkung, daß diese Grade in der ganzen Christenheit gleiche
Geltung und Rechte geben, während das Studium particulare, wie die
Stadtschulen im Gegensatz zu den Universitäten heißen, keine Rechte
und Grade zu verleihen hat. Aber im ünterrichtsbetrieb findet viel-
faches Uebergreifen statt. Es hindert den Schulmeister einer Stadt-
schule nichts, wenn er es für angemessen hält, die Logik und selbst
die physikalischen Bücher des Aristoteles mit seinen großen Schülern
zu behandeln; es folgen dafür später ein paar Beispiele. Andererseits
schließt die Universität keinen Unterricht von ihrem Kursus überhaupt
aus. Es war allerdings Regel, daß die Scholaren einige Kenntnis der
gelehrten Sprache mitbrachten. Doch war es nicht Bedingung der
Aufnahme; vielfach wurden auch junge Knaben, die etwa mit einem
Pädagogen ankamen oder in der Stadt wohnten, immatrikuliert; ja ganze
Schulen waren als solche der Universität inkorporiert, so waren Lehrer und
Schüler der Stephansschule zu Wien als solche Mitglieder der Universität.
Dem entsprechen die Einrichtungen. Von akademischer Freiheit
war noch nicht die Rede. Die Scholaren der Artisten wohnen mit
den Magistern in den Häusern der Universität, den Kollegien und
Bursen, wo sie auch die Kost haben, in klösterlicher Zucht beisammen.
Das Ausserhalbwohnen (stare oder stantiam habere extra loaim pro-
batum) ist regelmäßig verboten ; nur unter besonderen Umständen, wird
es, vorzugsweise den Angehörigen der oberen Fakultäten, gestattet Für
ganz ungenügend vorbereitete Knaben hatten übrigens die meisten
Universitäten eine eigene Schule (paedagogium)\ Magister der Fakultät
erteilen den Unterricht. Die Zucht ist auch in den Kollegien eine
ganz schulmäßige. Selbst die Rute fehlt nicht; aus Köln wird ein-
mal berichtet, wie ein Delinquent von sämtlichen Magistern der Fakultät,
anhebend vom Dekan, durchkastigiert wird. Die Sprache ist natürlich
Latein; deutsch sprechen ist hier wie in den Schulen untersagt Auch
der Lupus kehrt wieder, wie uns das Manuale Scolarium (Zakncke,
Die deutschen Universitäten, S. 28) belehrt, wo überhaupt mancher
interessante Einblick in die Verhältnisse sich bietet Man sieht, der
Unterschied einer mittelalterlichen Universität von einer modernen
ist ein durchgreifender; am nächsten dürften ihr unter den bestehen-
den Schulformen die alten Fürstenschulen, wie Pforta, kommen; in
anderer Hinsicht ist ihr ein Schullehrerseminar mit Internat vielleicht
noch mehr verwandt, durch klösterlich-kirchlichen Zuschnitt und durch
encyklopädischen Charakter des Unterrichts.
i
Die Universitäten. 31
Die eigentliche Substanz des Unterrichts der artistischen Fakultät
bildete die Philosophie: Logik, Physik, woran sich Naturkunde und
Psychologie, und fernerhin auch die Metaphysik schließt, endlich Ethik
und Politik. Zu Grunde liegen dem Unterricht überall die aristote-
lischen Bücher in lateinischer Übersetzung; doch werden daneben
auch lehrbuchartige Bearbeitungen, wie z. B. die mmmulae logicdles des
Petbüs Hispanus gebraucht. Ebenso werden für die kosmologischen
und mathematischen Disziplinen außer den Alten auch moderne Hand-
bücher gebraucht.
Das Studium der artistischen Fakultät zerfallt in zwei Kurse, für
deren jeden ein Mindestmaß von Dauer, ly^ — 2 Jahre, vorgeschrieben
ist. Der erste Kursus führt zum ersten Grad, dem Baccalariat Er
umfaßt wesentlich das Studium der vorgeschriebenen logischen Schriften
und die Bücher der Physik. Wer sich zur Prüfung meldet, muß nach-
weisen, daß er diese Bücher gehört und die zugehörigen Übungen,
Besumptionen und Disputationen, mitgemacht hat Die zweite Hälfte
des Kursus umfaßt die übrigen Disziplinen, die Statuten schreiben die
Bücher vor: debet audivisse. Das vorschriftsmäßige Abhören der Vor-
lesungen und Übungen heißt complere pro gradu. Übrigens ist es
durchaus nicht Begel, daß die Studierenden, wie es heute regelmäßig
der Fall ist, den ganzen Kursus durchlaufen; sehr viele verlassen die
Universität als baccalarü oder ohne Grad überhaupt. Heute ist der
Zugang zu allen Ämtern durch gesetzliche Vorschrift an die Vollen-
dung des akademischen Kursus und das Bestehen der Prüfungen ge-
knüpft Das war im Mittelalter keineswegs der Fall, das Studium und
der Grad waren mehr eine Empfehlung, als eine Notwendigkeit, wenig-
stens für weitaus die meisten Stellungen. Nach einer Zusammen-
stellung, die ich in dem oben erwähnten Aufsatz gemacht habe, kann
man annehmen, daß etwa der vierte Teil der Immatrikulierten das
Baccalariat, und von diesen wieder nur etwa ein Viertel das Magiste-
rium erreichte. — Nur für eine Laufbahn, die akademische, ist die
Vollendung des Kursus und die Erwerbung der Grade Vorbedingung.
Wobei denn zu bemerken, daß die Beteiligung am akademischen Unter-
richt in viel weiterem Umfange stattfand, ja ursprünglich von denen,
die die Grade erwarben, als Pflichtleistung gefordert wurde: der Ma-
gistereid enthielt ursprünglich vielfach die Pflicht, nach Erlangung des
Grades zwei Jahre lang die artes, zu deren Meister man gemacht
wird, zu lehren (biennium complere); eine Regel, die einen doppelten
Zweck hatte: erstens das Studium zu erhalten; das obligatorische zwei-
jährige Privatdozententum diente als Ersatz für ständige besoldet« Lek-
türen, wofür die Mittel nicht reichten; zweitens die Ausbildung des
32 I, 2. Das Unterrichtswesen des Mittelalters.
jungen Magisters selbst zu vollenden; docendo discimus. Wir werden
derselben Einrichtung bei der Gesellschaft Jesu wieder begegnen.
Auf die oberen Fakultäten gehe ich nicht weiter ein. Sie bleiben,
was die Zahl der Lehrer und Studierenden anlangt, regelmäßig weit
hinter der artistischen zurück. In der Regel trat man in den Kursus
der oberen Fakultät erst ein, nachdem man den allgemein- wissenschaft-
lichen Yorbereitungskursus der artistischen durchlaufen hatte. Sehr
gewohnlich war es, daneben in artibus zu lesen, etwa sein biennium
zu komplieren und daneben in theohgia oder in jure die vorge-
schriebenen Vorlesungen zu hören, um dann nach Erlangung der Grade
in sie überzutreten. Der Unterricht hat hier übrigens ganz denselben
Charakter wie bei den Artisten: es werden kanonische Bücher, die den
Bestand der Lehre enthalten, vorgelegt und erklärt; das gilt nicht
minder von der medizinischen Fakultät, wo Hippokrates und Galenus
gelesen werden, als von der theologischen, für die in der heiligen Schrift
und in den scholastischen Lehrsystemen, oder von der juristischen,
für die in kanonischen Rechtsbüchem der Stoflf der Wissenschaft ge-
geben ist. —
Dieser Charakter des Unterrichts entspricht durchaus der Lage
der wissenschaftlichen Kultur im Mittelalter. Es handelt sich um
Lernen und Aneignen, nicht um Hervorbringung der Wissenschaft. Das
gilt besonders auch von der artistischen Fakultät: die Philosophie, d. h.
der ganze Umkreis der theoretischen Wissenschaften, im Unterschied
von den technischen der oberen Fakultäten, ist fertig vorhanden; in
den Schriften des philosophus, wie Aristoteles oft citiert wird, liegt sie
vor. Die Aufgabe ist, sie von ihm zu lernen. Die Vorstellung, durch
eigene Forschung die Wissenschaft erst hervorbringen zu müssen, der
Ehrgeiz, von dem heute auch der jüngste Privatdozent beseelt ist,
neue Wahrheiten zu finden und solche im Vortrag mitzuteilen, das
Verlangen, die Schüler zur Mitarbeit heranzuziehen, sie in die Forschung
selbst einzuführen, alles das lag dem alten „Meister der freien Künste"
ganz fem. Er hatte das Handwerk gelernt und war Meister geworden;
jetzt sollte er, was er empfangen, wieder lehren, lehren in derselben
streng gebundenen Form, in der er gelehrt worden war. Darum konnte
jeder die ganze Philosophie lehren; es ist anfangs gewöhnlich, daß die
kanonischen Texte unter sämtliche magistri legentes (oder regentesj
sc, scholas) durchs Loos verteilt werden, nämlich damit niemand an
der Nahrung verkürzt werde, die verschiedenen Bücher sind nicht gleich
einträglich. Der Gedanke, über den Aristoteles hinauszugehen, liegt
allen gleich fem. Übrigens findet diese Unterordnung unter eine ge^
gebene philosophische Wahrheit natürlich ihre Anlehnung an die gleiche,
Der UniversüätsunterriclU. 33
allgemein als notwendig anerkannte Unterordnung unter die theologische
Wahrheit.!
^ In dem Werk des Dominikaners Jon. Nidbs, der in der ersten Hälfte
des 15. Jahrhunderts an der Wiener Universität lehrte (f 1438): „Die vier und
zwanzig goldenen Harfen", gieht das vierzehnte Stück (die vierzehilte Harfe)
eine schematische Darstellung des mittelalterlichen Wissenschafts- und Unter-
richtsbetriehes. In vier ^^Unterschieden'' (Fakultäten) sind fünfzehn Schulen
(Klassen), deren jede ihren Meister hat Das System wird dargestellt im
Bilde eines Bauwerks. Der sei. Bruder Seuse, heißt es, ward einmal gezogen
in ein Gesicht, daß er die fünfzehn Künste sah in dem kaiserlichen Palast In
dem ersten „Unterscheid" sah er sieben Schulen, darin lernet man die
sieben freien Künste. In der ersten Schule lernet man grammatfcam ; da
flitzt ein Meister, der heißet Donatus, der lernet die Kinder das ABC, dar-
nach die Tafeln, darnach den Donat, und die Kegel, daß sie die Wörter recht
zusammensetzen, und recht latein reden; wo sie dann fehlen, da giebt man den
Knaben den tMinuiUy das sind Schläge. In der andern Schul lernt man
die Kunst rhetaricam; Tullius und andere Meister sind hier die Lehrer. Sie
lehrt fünf Stück: das erst, daß er einen guten, weisen Anfang hab; das ander,
daß er sein Sach könne erzählen; das dritte, daß er Zeugnis dazu habe; das
vierte, daß er das Obel an den Tag leg, das er gegen einen andern hat; das
fOnft: er soll sein £nde beschließen mit einem Gebet In der dritten Schul
ein Meister, heißt Aristoteles, der lert die Kunst logicamj die lert, wie man wiß,
was Lüge oder Wahrheit oder Falschheit sei. Der Kunst ist so Not, denn
niemand leicht zu den andern Künsten mag kommen, er lerne denn zuvor
hgicam, ohne die kann niemand wohl zu dem ewigen Leben kommen. Die
Kunst in der vierten Schul heißt die Messerin; da lert man messen, wie hoch,
wie weit, und breit das Erdreich ist und andere leibliche Dinge. Ohne die
Kunst kann keiner nimmer kein guter Meister werden. Die Kunst in der fünften
Schul heißt Aristmetrica(!), die Zählerin; ohne die Kunst kann nimmer keiner
das Jahr ausrechnen, noch die Stern sehen noch erkennen. Die Kunst in der
sechsten Schule heißt Musika, die Singerin, darinnen lernet man singen und
Ssdtenspiel. Die siebente und letzte Schule, darin lernt man Stern sehen und
erkennen und die Dinge, die auf dem Erdreich geschehen und auch die Natur
der Sonne. — Die Kunst in der achten Schul ist Wundarznei, die lert den
Leib kennen, imd wie man Wunden heilt; in der neunten Schule die Buch-
arznei, da lernet man kennen die Komplexion, d. i. die Natur des Menschen
und die ELraffc der Kräuter und wie man den Menschen gesuud macht. In der
zehnten Schul lernt man natürliche Kunst, alles was im Himmel und auf Erden
ist, so viel als menschliche Vernunft begreifen mag. Die Kunst der elften
Schule heißt metaphysica , die ist die edelste Kunst unter den vorgenannten
Künsten und heißet die erste Weisheit, darin lernt man erkennen, wie alle
Dinge im Himmel und auf Erden so gar ordentlich beschaffen sind, zum andern
wer alle geschaffene Ding regiert, zum dritten wie alle Ding in einem Gut be-
schlossen sind. Die Kunst in der zwölften Schul heißt ethira, darin lernt man
Tugend üben. Die Kunst in der dreizehnten Schul sind die kaiserlichen Rechte,
in der vierzehnten die geistlichen Rechte. Die fünfzehnte und letzte Schule ist
die der ewigen Weisheit, darin ist Christus der Lehrer, die heilige Schrift
das Buch.
Paulseii, Unterr. Zweite Aufl. I. 3
34 I, 2, Das ünterrichtswesen des MittelaUers.
Was die Form der Lehrthätigkeit anlangt, so bestand sie in zwei
Stücken: der lectio und der disputatio. Legere bedeutet nicht den Text
diktieren (diktieren heißt pronunäare), sondern den Text nach Inhalt
und Form erläutern. Der Besitz eines Textes wurde Torausgesetzt, in
den Statuten wird häufig ausdrücklich gefordert: mindestens je drei
Zuhörer sollen einen Text zusammen haben. Ein Vorlesen des Textes
durch den Dozenten kann allerdings auch stattfinden, nämlich in der
Absicht, daß der Schüler seinen Text darnach korrigiere und inter-
pungiere.^ Die Erläuterung bestand in der Wort- und Sacherklärung,
wozu denn auch Zusammenfassung des Inhalts, Eingehen auf streitige
Fragen [quaestianes) gehörte. In der Jurisprudenz hatte sich ein festes
Schema für die Textinterpretation gebildet; da die Form der Behand-
lung in allen Wissenschaften wesentlich gleichartig war, so scheint es
nicht unangemessen, dies Schema hier einzufügen. Es hat in folgen-
dem Distichon seine mnemonische Formel erhalten:
PtaemittOj sdndo, summOj casumque figuroy
Perlego, do causas, connoto objicio.
Praemittere bezeichnet eine einleitende Charakteristik der Materie
der Textstelle, in welcher zugleich die termini definiert werden. Scindere
bedeutet die Zerlegung in Teile (partitio). Sodann wird der Inhalt in
eine summarische Formel gefaßt. Es folgt die Au&tellung eines casus,
eines fingierten oder wirklichen, woran die faktischen Voraussetzungen
des Rechtssatzes der Stelle dargelegt werden. Nunmehr folgt die Vor-
^ In Geiger^s Geschichte der Renaissance findet man einen Holzschnitt,
auf welchem eine aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts stammende Abbildung
eines Universitätsauditoriums reproduziert ist Die Hörer haben meist einen
Text vor sich, ebenso wie der Lehrer; nicht einer (oder einer?) schreibt. In
den Gesichtern ist höchst lebendig ausgedrückt, wie sie das Gehörte innerlich
verarbeiten. Eine ähnliche Darstellung in Lacroix, Science et Lettres au Moyen-
Äge (Paris 1877), S. 25. Seit der Erfindung des Buchdrucks ist es üblich, daß
der Dozent den Text, über den er liest, für die Hörer drucken läßt; wohl auch
gleich in einer Form, daß sie Erklärungen bequem eintragen können. So be-
richtet JoH. Oldecop (Chronik, herausgegeben von K. Euling, 1891), daß Luther,
den er im Jahre 1515 hörte, für seine Hörer den Römerbrief hatte drucken
lassen, die Zeilen weit von einander „umme gloserens willen". In dem Entwurf
für die Ratio studiorum, die der Jesuitenorden durch eine internationale
Kommission Hausarbeiten ließ (gedruckt 1586, jetzt Mon. Germ. Paed. V, 81)
findet sich eine Betrachtung über den akademischen Vortrag, in der das Dik-
tieren als ein neumodischer Mißbrauch bezeichnet und entschieden verworfen
wird: vor etwa 40 Jahren, also wohl zu der Zeit, wo die Verfasser studierten,
sei dieser Brauch unerhört gewesen. — Vielleicht hängt sein Eindringen mit
dem Umstand zusammen, daß die Vorlesungen allmählich einen andern Cha-
rakter annahmen, statt Glossicrung eines Textes Darstellung eines wissenschaft-
lichen Systems; das Hecht ging darin voran.
Der Univeraitätsunterricht, 35
lesiing der Stelle selbst, wobei auf abweichende Lesarten aufmerksam
gemacht wird. Dann folgen^ nachdem die eigentliche Interpretation
vollendet ist, additionelle Bemerkungen. Unter causae werden die
rationellen Gründe der Entscheidung und des gefundenen Bechtssatzes
verstanden, etwa nach dem Schema der vier Aristotelischen Ursachen.
Unter dem Namen der Connotationes werden allerlei Erläuterungen der
Materie durch angrenzende Bechtssätze und allgemeine Axiome (loci
communes) eingeführt. Die objectiones endlich führen in das Gebiet
der Kontroversen.^
In die Vorlesungen eines Artisten läßt eine Stelle in dem Chroniken
PFT.TjyANS (deutsch von Th. Vulpinüs, S. 69) einen lehrreichen Blick
thun. Er erzählt von seinem Oheim, Jodocus Gallus, wie er um 1480
als junger Magister an der Heidelberger Universität über aristotelische
Logik und Physik las: „Vor der Vorlesung schrieb er sich alles, was
er sagen wollte, für jede Stunde mit wenigen Worten und Bemerkungen
auf einen Zettel, den er nach der Vorlesung sorgföltig wie einen Gold-
schätz aufhob, um nach ein oder zwei Jahren, für den Fall, daß er
den Schriftsteller wieder behandeln wollte, all seine Aufzeichnungen
wohl geordnet zur Hand zu haben. Wenn er über einen Dichter zu
lesen hatte, schrieb er das Nötige an den Band, damit die einmal recht
verstandene Stelle auch künftighin klar erscheine. Beim Beginn seiner
Vorlesung fragte er stets zuerst nach dem, was er in der vorigen
Stunde vorgetragen und erklärt hatte ; aber keiner wußte, von wem er
Rechenschaft fordern werde, ein Verfahren, durch das er alle in ge-
spannter Aufmerksamkeit erhielt. Fand er einen offenbar nachlässigen,
namentlich unter den armen Schülern, so schritt er rücksichtslos ein;
gegen Dreistigkeit oder Zerstreutheit wurde er mitunter sogar hand-
greiflich. Auf diese Weise kam er mit seinen Schülern sehr weit, die
Saumseligen und Nachlässigen zitterten vor ihm."
Die disputatio war die notwendige Ergänzung zur lectio. Wenn
diese den wissenschaftlichen StoflF überlieferte, so sollte jene in seiner
Anwendung üben. Die Anwendung aber der Wissenschaft bestand im
Lehren und Überzeugen und in der Entscheidung von streitigen Fragen,
welches letztere man als die Form der produktiven wissenschaftlichen
Thätigkeit des Mittelalters ansehen kann. Es handelte sich darum, auf
Grund gewisser und anerkannter Wahrheiten noch unentschiedene Dinge
zur Entscheidung zu bringen. In den Disputationen, für welche ein
Tag in der Woche ausgesetzt war, trat die Fakultät als Körperschaft
auf. Die Gesamtheit der Lehrer und Schüler versammelte sich im
* SriMTziNa, G^sch. d. deutsch. Rechtswiss., 106 ff.
8*
36 I, 2, Das Unierrichtswesen des Mittelalters,
großen Hörsaal. Ein Magister hielt einen Vortrag und proponierte im
Anschluß daran Thesen , über welche nnn unter seinem Präsidium
disputiert wurde. Die Magister opponierten der Reihe nach, mit Argu-
menten in syllogistischer Form (arguere)\ sodann lösten Baccalarien
unter Leitung des Präses die Argumente auf, wieder in streng syllo-
gistischer Form (respandere). Außerdem fanden Disputationen der
Scholaren zur Übung statt, bei denen Baccalarien präsidierten und
opponierten; wie denn die Baccalarien auch unter Kontrolle eines
Magisters Vorlesungen hielten. — Die Disputationen galten für beschwer-
liche, aber überaus wichtige Übungen; die Statuten enthalten regelmäßig
sehr genaue Vorschriften darüber und Strafandrohungen gegen Säumige.^
Über den Wert dieses ünterrichtsbetriebes ist es schwer unbefangen
zu urteilen. Die Humanisten sprechen darüber nie ohne alle Ausdrücke
von Verachtung zu erschöpfen, an welchen ihr Latein reich ist; ihr
Urteil ist bis auf diesen Tag meist als historisches Zeugnis unbesehens
angenommen worden. Man könnte ebenso gut das Urteil der Romantik
über die Aufklärung oder der Sozialdemokratie über die heutige Ge-
sellschaft ohne weiteres als authentische Auskunft über Bestand und
Wert dieser Dinge annehmen. Es ist das Schicksal jeder historischen
Gestaltung, von der nachdrängenden Lebensform mit Haß und Ver-
achtung beseitigt zu werden. Die Aufgabe der Geschichte ist, das
Vergangene aus dem zu verstehen, was es für sich selber war, eine
Aufgabe, die meist gleichbedeutend sein wird mit der, es zu retten
gegen das Urteil des Nächstfolgenden. Ich muß diese Rettung jemand
überlassen, der in der scholastischen Philosophie und ihrem Unt^r-
richtsbetrieb mehr zu Hause ist, als ich es bin. Der gute Wille, mich
hineinzuarbeiten, ist immer wieder erlahmt in dem Gefühl der Er-
müdung, das den, der nicht in seiner Jugend an diese Denkweise ge-
wöhnt ist, alsbald überkommt, wenn er sich in diese uns nach Inhalt
und Form fremdartige Litteratur hinein verirrt; eine hoflFnungslose
Stimmung überkommt einen bald: es sei auf dem Wege überhaupt nicht
klüger zu werden. Aber widerföhrt das allein der mittelalterlichen
Schulphilosophie? Geht es heutzutage Hegel oder Fichte anders? werden
sie nicht von den meisten derer, die sie überhaupt in die Hand nehmen,
mit ähnlichen Empfindungen gelesen und wieder weggelegt? Geht es
Chb. Wolf und Bilfingeb und Thümmig und wie sie alle hießen,
' Es giebt noch keine Darstellung des Unterrichtsbetriebes der mittel-
alterlichen Universit&t Es wäre eine lohnende Arbeit, wofür reichliches
Material vorliegt
Wert der Schulphüosophie. 37
die als Haupter der Schulphilosophie im vorigen Jahrhundert geehrt
wurden, anders? Geht es den Humanisten selbst, einem Ebasmus,
einem Eobanus anders, die für die Ewigkeit zu schreiben so fest über-
zeugt waren? Sind nicht ihre humanistischen Erbauungsschriften, ihre
Gedichte und Deklamationen ebenso im Staub begraben, wie dieQuästionen
und Distinktionen der Scholastiker? Und ob nicht am Ende eine Zeit
kommen wird, der die unendlichen philosophischen und historischen,
erkenntnistheoretischen und psychophysischen Untersuchungen der Gegen-
wart ebenso trostlos öde vorkommen werden, als uns scholastische imd
spekulative Philosophie, humanistische Schönrednerei und mühselige
Polyhistorie des 17. Jahrhunderts? Ich sage das nicht, um daraus zu
folgern, daß alle wissenschaftlichen Bemühungen eitel seien, sondern
daß ihr Wort in dem liegt, was sie ihrer Zeit leisten. Es ist unrecht,
den Wert wissenschaftlicher Bestrebungen nur danach zu messen, wie
viel davon eine spatere Zeit aufbehalten hat und wie viel davon wir
etwa noch uns anzueignen vermögen. Haben sie diejenigen, die sie
anstellten und daran teil hatten, einsichtiger und weiser gemacht, so
haben sie ihre Aufgabe erfüllt So thöricht eine Ethik ist, die ver-
langt, daß jeder Mensch nur um der Andern willen lebe, so thöricht
ist eine Geschichtsphilosophie, die jedes Zeitalter nur um der Zukunft
willen leben läßt oder seine Leistungen bloß an ihrem Wert für die
Gegenwart mißt.
Das Mittelalter selbst legte seinen wissenschaftlichen Leistungen
und ihren Trägem, den Universitäten, überaus großen Wert bei. Ein
alier Spruch reiht die Universität den Weltmächten des Mittelalters
an: Italien habe das Papsttum, Deutschland das Kaisertum, Paris das
Studium. Es scheint billig, daß man dem Mittelalter nicht bestreite,
über den Wert, den seine Einrichtungen für es selbst hatten, aus
seiner eigenen Lebensempfindung zu urteilen. Man müßte denn sagen,
daß es sich überhaupt unfähig erwiesen habe, über das ihm Zuträgliche
zu urteilen und daher noch nachträglich gleichsam unter Kuratel ge-
stellt werden müsse; eine Ansicht, die allerdings lange geherrscht hat
und noch nicht ganz ausgestorben zu sein scheint. Daß die Universi-
täten sich wesentlich rezeptiv verhielten, daß sie meinten, die Wissen-
schaft nicht erst selbst hervorbringen zu müssen, sondern sie aus dem
Aristoteles und einigen Anderen lernen zu können, verdient nicht Tadel.
Der ist freilich, nach dem Spruch des alten Hesiodus, der erste, der
selber jegliches wahrninmit; doch ist trefflich auch der, welcher von
einem Meister zu lernen weiß. Vielleicht hätten auch heutzutage die
Scholaren nicht unter allen Umständen es zu beklagen, wenn ihnen
vom Katheder herab, statt des Angebots eigengemachter Weisheit^ ein
38 /, 2. Das Unterrichiswesen des Mittelalters.
gutes Lehrbuch erklärt würde; wobei es mir denn fem liegt, die Rück*
kehr zu diesem System im allgemeinen empfehlen zu wollen. — tTbrigens
könnte man diejenigen, die geneigt sind, mit den Humanisten die Namen
von Thomas und Scotus als Bezeichnungen für verrückten Unsinn zu
gebrauchen, darauf hinweisen, daß es doch auch heute noch Leute
giebt, die ähnlich denken, ja die den heiligen Thomas auch heute noch
für den Gipfel der Philosophie' ansehen und deshalb den ganzen
philosophischen Unterricht auf ihn gründen. Und zwar sind das Leute,
denen die Verächter der Scholastik sonst ein großes Maß, wenn nicht
von Weisheit^ so doch eine ausbündige Klugheit und Weltkenntnis zu-
zutrauen pflegen, nämlich die Jesuiten. Hat doch der römische Stuhl
den heil. Thomas, den Philosophen, den die Gesellschaft Jesu sich er-
wählt hat, als den Philosophen der Kirche restituiert und seinen
Gebrauch in allen Lehranstalten empfohlen. Etwa zum Zwecke der
Yerdummung des Klerus? Das kann wohl nicht die Meinung derer
sein, die durch den Klerus die Welt beherrschen wollen.
Und was die Disputationen anlangt, so dürfte das Mittelalter über
ihren Wert sich schwerlich in einer Täuschung befunden haben. Sie
waren ohne Zweifel geeignet, eine große Präsenz des Wissens und eine
erstaunliche Geübtheit im Auffassen von Argumentationen hervorzu-
bringen. Von DuNS ScoTüS wird (bei Bülaeus, Eist univers. Par.IV, 70)
folgendes berichtet. Er kam im Jahre 1304 von Oxford nach Paris
und verteidigte dort in einer großen Disputation das Theorem der
Franziskaner von der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria
gegen die Dominikaner, welche es bestritten. „Groß war das Gewicht
der Argumente, mit denen er angegriffen wurde, es waren ihrer an
Zahl bei 200. Ohne Unterbrechung hörte er dieselben mit ruhigem
Gemüt aufmerksam an; dann wiederholte er alle mit staunenswertem
Gedächtnis in ihrer Ordnung, löste die verzwicktesten Schwierigkeiten
und die verknotetsten Syllogismen mit einer Leichtigkeit, wie Samson
der Delila Stricke zerriß. Er fügte danach viele vortreffliche Gründe
an, wodurch er bewies, daß die heil. Jung&au ohne Befleckung mit
der Erbsünde empfangen sei." Die Universität war hingerissen von
der Kraft der Beweisführung und zierte aus Dankbarkeit den Scotüs
mit dem Namen des doctor subtilis. — Ob unsere Einsicht in die Natur
der Dinge durch derartige Erörterungen gefordert worden ist, wird man
mit Recht bezweifeln; dagegen scheint es mir nicht zweifelhaft, daß
sie geeignet waren, die Kräfte des Verstandes, besonders die formalen
Fertigkeiten des Auffassens, Analysierens und Argumentierens zu üben
und zu entwickeln. Daß die führenden mittelalterlichen Philosophen
es zu einem großen Maß von Scharfsinn und Virtuosität in der Fassung
Wert der SchtUphüosophie. 39
und Auflösung von dialektischen und metaphysischen Problemen ge-
bracht haben, wird niemand in Abrede stellen, der sich irgendwie mit
ihnen beschäftigt hat. Was ihnen fehlt, wenn wir sie an dem heutigen
Wissenschaftsbetrieb messen, das ist die Richtung auf anschaulich-
sachliche Erkenntnis; die Aufmerksamkeit ist auf die Begriffe des
Systems und ihre Zusammenstimmung untereinander gerichtet, nicht
auf die Zusammenstimmung mit der Wirklichkeit, womit denn die
Neigung zu verbohrter Spitzfindigkeit und haarspaltender Dialektik
gegeben ist Es ist eine Richtung des Denkens, die keineswegs mit
den alten Scholastikern ausgestorben ist; wenn wir mit dem Namen
des scholastischen Denkens ein Denken bezeichnen, dem die Begriffe
des eigenen Systems wichtiger sind als die Dinge, so kommt es zu
allen Zeiten vor und von Zeit zu Zeit wird es epidemisch: man denke
an das Zeitalter der spekulativen Philosophie; Fichte und Hegel,
ScHLEiEBMACHER uud Kbause, ja auch ein so realistisch angelegter
Kopf wie Herbart, sie alle haben den scholastischen Tic, der denn
freilich mit der Richtung auf das systematische Denken selbst eng
zusammenhängt. Eben diese modernen Philosophen machen uns nun
auch die Gewalt verständlich, die solche fein ausgesponnenen Systeme
über eine Schule erlangen können. Ebenso zeigen sie auch, wie diese
Schulherrschaft verloren geht: nachdem die Begriffe in der Schule eine
Zeit lang immer feiner ausgearbeitet, in immer neue Beziehungen ge*
setzt, zur Lösung immer neuer Quästionen verwendet sind, verlieren
sie auf einmal die Kraft, die Jugend anzuziehen und gefangen zu
nehmen. Sie wendet sich von dem „Scholastizismus" ab, und heraus-
tretend aus dem Zauberbann des Systems auf die grüne AVeide der
Thatsachen, begreift sie gar nicht, wie man sich so lange hat im Kreise
dieser Spekulationen drehen können. Ganz das ist es, was um die
Wende des 15. und 16. Jahrhunderts die Jugend erlebte: die Weis-
heit der Schulsysteme, ihre feinen Quästionen und Solutionen, sie
kommen dem neuen Geschlecht plötzlich unglaublich abgeschmackt
vor: seid ihr nicht, nachdem ihr Jahrhunderte lang diese Dinge ge-
wälzt habt, genau so klug als wie zuvor? Der Durst nach Thatsachen
kommt am Ende des 15. Jahrhunderts mit Macht über die Welt, wie
er über das Geschlecht kam, das auf das Zeitalter der spekulativen
Philosophie in Deutschland folgte. Das 19. Jahrhundert wendete sich
vor allem, nicht allein, den Thatsachen der Natur zu, das 15. und
16. Jahrhundert wurde vor allem von den Thatsachen der Geschichte,
von dem eben in so erstaunlicher Fülle eindringenden Altertum und
seiner unendlichen LebepsfüUe angezogen; nicht allein von diesen: man
vergesse nicht die gleichzeitigen großen Entdeckungen auf der Erde.
40 ly 2. Das UrUerrichistoesen des Mittelalters.
und am Himmel. Diese neoeti Dinge will die Jugend miterleben,
und darum wendet sie sich von den altersgrauen Begriffssystemen der
Philosophie ab.
Übrigens hatte der scholastische Unterricht, wie er sich am Aus-
gang des Mittelalters thatsachlich gestaltete, ohne Zweifel seine be-
sonderen Schwächen. Gewisse Schwierigkeiten lagen schon in den
Einrichtungen an sich. Die Schüler waren wohl durchweg etwas zu
jung für den philosophischen Unterricht; die aristotelische Logik und
Physik paßt nicht für Knaben Ton 15, 16 Jahren, wie sie zahlreich
in den Lektorien der Artisten saßen. Die Beschäftigung mit dem
Konkreten oder mit den durchsichtigen Begriffen der Mathematik ist
diesem Lebensalter gewiß angemessener. Dazu kommt ein anderes:
auch die Lehrer werden vielfach der Sache nicht Herr gewesen sein.
Im ganzen galt die artistische Lektur als Durchgangsstufe, man betrieb
daneben das Studium in einer oberen Fakultät, die Lektur war der
Broterwerb. Die Folge war, daß man sich nicht in das Gebiet ein-
lebte, mancher wird sich darauf beschränkt haben, den Stoff, wie er
ihm überliefert worden war, weiter zu überliefern. Dabei wird sich
denn leicht die Neigung geltend gemacht haben, durch yiel Detail
von Quästionen und Opinionen, oder durch Behandlung spitzfindiger
und dunkler Kontroversen seine tiefgründige Gelehrsamkeit zu zeigen.
Je mehr ein Lehrer der Sache Herr ist, um so einfacher sein Unter-
richt. Es scheint, daß jenes Übel am Ende des 15. Jahrhunderts sich
sehr entwickelt und ausgebreitet hatte, so daß bei den Schülern das
Gefühl entstand: vor lauter gelehrtem Apparat gar nicht mehr zur
Sache zu kommen. Und alle diese Übel zu steigern trug dann der
Umstand bei, daß das eigentliche Gebiet der Anwendung dieser Künste
das Religiöse war; die dialektische Verarbeitung, die gerade hier leicht
zur Übung frivolen Witzes führt, konnte dann dem religiösen Leben
selbst gefahrlich werden. Der Haß, mit dem Luther von der Schul-
philosophie redet, wird nicht zuletzt hierin seine Wurzel haben.
Übrigens hat auch in diesem Stücke eine Zeit, in der eben der große
Kampf um das „geboren von der Jungfrau" geführt wird, nicht viel
Ursache zur Überhebung. —
Ich füge diesen Betrachtungen noch eine Bemerkung über die
Gelehrtensprache des Mittelalters und sein Verhältnis zu den
klassischen Schriftstellern hinzu.
Auch im Mittelalter war es niemand zweifelhaft, daß die Schriften
der römischen Autoren Muster der lateinischen Sprache und der littera-
rischen Form seien. Man hat auch niemals vollständig aufgehört die
Verse Virgils, die historische, philosophische und rhetorische Prosa
Lkis mütelaUerliche Latein. 41
Ciceros, Livius' a. & nachzuahmen. Aber die mittelalterlichen Gelehrten
hatten für litterarische und sprachliche Form wenig Sinn, ihr Interesse
an Schriftwerken war wesentlich ein materiales, auf den Inhalt und seine
Wahrheit gerichtetes. Dem entspricht der Charakter der Schriften,
welche es vorzugsweise schätzte und las. Die heiligen Schriften lehnten,
als Mitteilungen Gottes^ jede Auffassung und Beurteilung unter dem
litterarisch-formalen Gesichtspunkt von vornherein ab. Es stand nicht
viel anders um die Werke des Aristoteles, die in der zweiten Hälfte
des Mittelalters beinahe die Geltung einer subsidiarischen naturwissen-
schaftlich-philosophischen Offenbarung erlangten. Die Form oder viel-
mehr Formlosigkeit dieser Schriften machte auch hier ein anderes
Interesse als ein materiales fast ganz unmöglich. Es kann kaum
Schriften geben, die weniger auf das Wie, ausschließlicher auf das
Was des Gesagten selbst gerichtet wären und die Auftnerksamkeit des
Lesers richteten.
Das waren die Schriften, welche dem Verlangen des späteren Mittel-
alters nach Wahrheit und Belehrung zusagten. Es hatte kein Bedürf-
nis nach anderen. Was sollten ihm die Fabeln heidnischer Dichter,
oder die Reden der römischen Advokaten? Betrafen sie doch nicht
das Ewige und Bleibende, wie Theologie und Philosophie, sondern Ver-
gängliches oder ganz Nichtiges. Auch daß ihnen ein gewisses Vermögen
innewohne, angenehme Eindrücke auf die Sinnlichkeit und die Phantasie
zu machen, entging ihnen nicht; aber es schien nicht ungefährlich,
diesem Spiel sich hinzugeben: das Schöne ist mit dem Sinnlichen, dem
Profanen, dem Heidnischen allzu nahe verwandt, als daß dem Christen,
der den Ernst dieses Lebens kennt, und gar dem Kleriker die Beschäf-
tigung damit ziemte. Algttintjs, welchen man in dem Kreise des Königs
Karl einst Flaccus genannt hatte, und welcher seine Schüler früher selbst
zum Studium und zur Nachahmung der heidnischen Dichter angeleitet,
wehrte, ab er älter geworden war, den jungen Mönchen in der
Schale zu Tours: sie sollten sich an den heiligen Dichtern genügen
lassen und sich nicht mit der üppigen Beredsamkeit Virgils beflecken.
Sein Schüler Hbabanus will in der schon erwähnten Schrift über den
Unterricht der Kleriker den Gebrauch der heidnischen Autoren aller-
dings nicht ausschließen; die Gedichte und Schriften der Heiden möge
man propter florem eloguentiae wohl lesen; aber mit der Vorsicht, welche
dem Juden hinsichtlich kriegsgefangener Weiber durch das Gesetz des
Herrn vorgeschrieben sei: er schere ihr die Haare ab und die Nägel,
dann, wenn sie rein gemacht ist, mag er sie zum Weibe nehmen. Das
spätere Mittelalter war nicht ängstlicher, aber gleichgültiger gegen die
Poeten und Redner; es war ganz und gar mit den neuen AVissen-
42 I, 2, Das Unterrichtswesen des Mittelalters.
Schäften beschäftigt Auf den Universitäten kommen in dem offiziellen
Kursus bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts die Klassiker gar nicht vor,
sie wurden ohne Zweifel auch so gut wie gar nicht gelesen. Einige
Gitate aus ihnen wandern aus einem Buch in das andere, wie gegen-
wärtig dieselben exotischen Pflanzen als Schaustücke von einem Fest-
essen zum andern wandern.
Aber waren für die Erlernung der Sprache die Schriftsteller nicht
unentbehrlich? — Im früheren Mittelalter galten sie einigermaßen dafür^
im späteren nicht ebenso sehr. Nicht ohne Grund. Die Sprache der
Wissenschaften, die im 14. und 15. Jahrhundert auf den Uniyersitäten
gesprochen wurde, konnte man aus den römischen Schriftstellern gar
nicht lernen. Sie war durchaus ein einheimisches Produkt Die alte-
lateinische Sprache hatte dafür allerdings das Material größtenteils
geliefert, sowohl Formen als Wörter, aber das Mittelalter hatte aus dem
Material eine neue Sprache gemacht Es machte damit natürlich nur
von dem ersten allgemeinen Menschenrecht Gebrauch, die Dinge mit
den Namen zu nennen, die zu ihrer Bezeichnung ihm geeignet schienen.
Die Sprache Ciceros taugte ohne Zweifel wenig für deutsche Scholaren
und Magister, die etwa am Tisch der Burse ihre persönlichen Erleb-
nisse besprachen oder im Hörsaal über die Yorzüglichkeit des Tho-
mistischen oder Scotistischen Systems yerhandelten. Wollten sie nicht
gänzlich darauf verzichten von ihren eigenen Angelegenheiten zu
sprechen, so mußten sie sich eine eigene Sprache machen. Den bis zum
Überdruß wiederholten Vorwurf alter und neuer Humanisten, daß CScera
diese Sprache nicht verstanden hätte, würden sie als einen ganz albernen
zurückgewiesen haben: sie sprächen ja auch nicht zu Cicero, sondern zu
ihren Kameraden und von denen würden sie verstanden, das einzige,
was sie beabsichtigten. Ja sie hätten hinzufügen mögen: die armselige
Sprache des Cicero hätten sie mit gutem Bedacht aufgegeben, als welche
für ihre feinen Untersuchungen über die Beziehungen von Begriffen zu
einander schlechterdings nicht zureiche; um die Sachen herumzureden
möge sie mit ihrem quasi quidam taugen, aber sie scharf und präzise
zu fassen, sei sie ganz und gar ungeschickt
Also diese Sprache, worin die mittelalterlichen Gelehrten und
Kleriker ebenso wie die wissenschaftlichen und kirchlichen, auch ihre
Alltagsangelegenheiten besprachen, konnten sie überhaupt nicht aus
den römischen Schriftstellern lemen. Man lernte sie nicht viel anders
als eine lebende Sprache wesentlich durch den Gebrauch. Latein war
in allen Schulen die Unterrichts- und Verkehrasprache. Die Elemente
lernte man aus den kleinen Lehr- und Lesebüchern, Donat, Cato,
Aesop; kleine Gesprächbücher, wie das Manuale scolariwn, erweiterten
Die SpracfUehrbücher. 43
die Sprachfertigkeit. Sodann gab es ausführlichere Lehrbücher der Gram-
matik; weitaus das meist gebrauchte war das schon genannte Doctrinale
des Alexander DE YiLiiADEi; es ist in unzähligen Drucken, mit und
ohne Kommentar, yerbreitet gewesen; pars prima, secunda bedeutet in
der Schulsprache ohne weiteres die betreflfenden Teile des Doctrinale^
wie Priarum, Posteriorum (sc, libri) ohne weiteren Zusatz die Analytiken
des Aristoteles bezeichnet. Die Teile des Doctrinale behandeln übrigens
I. die Formenlehre, II. die Syntax, III. Quantität, Accent, Figuren.^
^ Über Schulbücher und Unterrichtsmethode des Mittelalters belehrt jetzt
am besten J. Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachlichen
Unterrichts, S. 198 ff. Vgl. Voigt in den Mitteil, der Gesellsch. f. deutsche
Schnlgesch. I, 42 ff. Eine Zusammenstellung von Namen aus der Schulbuch-
litteratur des Mittelalters findet man auch in der Kompilation, die F. A. Eckstein
in dem Art Latein. Unterricht in Schmids Encyklopftdie gegeben hat. In die
Form einer Buchausgabe hat H. Hetden diesen Artikel gebracht imd aus
Ecksteins handschriftlichen Sammlungen einen Abschnitt über den griechischen
Unterricht hinzugefugt: F. A. Eckstein, Latein, u. griech. Unterr., mit einem
Vorwort von Schrader (Leipzig 1887). Indessen ist weder für die Geschichte
der Lehrbuchlitteratur noch für die Entwickelung des Unterrichtsverfahrens aus
diesem Buch viel zu gewinnen. Die ars Donati findet man im 4. Bd. von
H. Keils Orammatiei Latini. Eine sehr sorgfältige, mit Nachweisungen aller
Art versehene Ausgabe des Doctrinale hat D. Beichlinq im XU. Bd. der Mon.
Grerm. Paed, geliefert. Um dem Leser eine Probe von der Behandlungsweise
des Stoffes zu geben, setze ich die Verse hierher, die den Singular der ersten
Deklination enthalten:
Reetis as es a tibi dat declinatio prima,
Atque per am propria quaedam ponuntur Hebraea.
Dans ae diphthongum genitivus atque dativus
Am servat quartus; tamen an aut en reperimuSf
Cum rectus fit in as vel in es vel cum dat a Oraeeus,
Reetus in a Oraeci faeit an quarto breviari.
Quintus in a dabitur, post es tamen e reperitur.
Ä sextus; tamen es quandoque per e dare debes.
Am reeti repetes quinto, sextum sociando.
Man sieht, daß ein Kommentar zu diesen Versen allerdings nicht überflüssig ist.
Eine Baseler Ausgabe vom Jahre 1481 giebt zu jedem Vers ein paar Zeilen
Kommentar mit Beispielen. Proben aus sehr viel umfangreicheren Kommentaren
giebt Zarncke im Kommentar zu Seb. Brants Narrenschiff S. 346 ff. Wenn ein
tmverständiger Lehrer, um seine Gelehrsamkeit an den Tag zu legen, solche
Kommentare den Elementarschülcm diktierte, so mag es wohl vorgekommen
sein, daß ein Schüler trotz eines zehn- oder zwanzigjährigen Unterrichts in der
Grammatik noch kein Latein verstand, wie Wihphelinq oder Luther, im Unmut
übertreibend, es als alltägliches Vorkommnis hinstellen. Daß solcher Unverstand
nicht Regel war, kann derjenige, dem es um die Erkenntnis der Wirklichkeit
und nicht um oratorische Phrasen zum Behuf historischer Leitartikel zu thun
ist, aus der Thatsache entnehmen, daß die mittelalterlichen Gelehrten zum Teil
44 I, 2, Das Unierrichtswesen des Mittelalters.
Über den didaktischen Wert dieser Bücher ist es nicht leicht sich ein
Urteil zu bilden. Vor allem ist es schwierig, sich eine deutliche Vor-
stellung davon zu machen, wie sich der Unterricht mit ihrer Hilfe in
der Praxis gestaltete und davon hängt doch das Urteil über ihre Brauch-
barkeit zuletzt ab. Daß man sich nicht rein darauf beschrankte, die
lateinisch geschriebenen Lehrbücher auswendig lernen zu lassen, wird
zwar, wer dem Mittelalter auch nur eine Spur von gesundem Menschen-
verstand zutraut, a priori annehmen; nunmehr kann man inj. Mülleb's
Quellenschriften auch eine Menge Nachweisungen dafür finden, daß man
sich wenigstens beim ersten Unterricht der deutschen Sprache bediente,
wie es übrigens auch Alexandeb selbst gleich am Anfang des Doctrinale
als selbstverständlich voraussetzt Auch kann man bei Mülleb sehen,
wie schon das 15. Jahrhundert zahlreiche Versuche, den nächsten und
bequemsten Weg zur Erlernung der lateinischen Sprache zu entdecken,
gemacht hat Das Exercitium perorum grammaticale per dietas (in
Tagespensen) distributum aus den 80 er Jahren (auf der kgL Bibl. zu
Berlin ist eine Ausgabe von Deventeb 1489) zeigt, daß man sich auch
schon ein wenig auf Reklame verstand : wer dieses Buches sich bedient,
heißt es am Schluß, es sei Mann oder Weib, Kleriker oder Kaufmann,
kann es ohne Lehrer und ohne viel Mühe zur Vollkommenheit in der
Grammatik bringen.
Was speziell das Doctrinale anlangt, so ist es für die richtige
AVürdigung dieses Buches, aus dem drei Jahrhunderte hindurch das
ganze Abendland sein Lateinisch gelernt hat — ßEiCHLiNa weist nicht
weniger als 228 Handschriften und 279 Drucke nach — vor allem
wichtig sich klar zu machen, erstens, daß es nicht ein Gedicht, auch
nicht ein didaktisches Gedicht, sondern lediglich ein technisches Hilfs-
mittel für den grammatischen Unterricht ist und sein will, eine Samm-
lung von Memorirversen; zweitens daß es nicht für den ersten Unter-
richt, sondern für die Geforderteren bestimmt ist, ihnen die Ausnahmen
der Formenlehre und die Syntax einzuprägen. Überhaupt ist das Doc-
trinale nur ein Teil, der allein erhaltene, aus einem großen Unternehmen,
worin sein Verfasser das gesamte einem Kleriker notwendige Schul-
Behr frQh auf die Universität gingen und zu schreiben begannen, und hierbei
eine große Leichtigkeit im Gebrauch ihres Lateins zeigen. Obrigens verwerfen
die älteren Freunde humanistischer Bildung, Heqius, Drinoenberq, Wimphelinq,
Spiegel, den Alexander nicht überhaupt; mit Verstand gebraucht, scheint er
ihnen ein nützliches Hilfsmittel für den Unterricht zu sein. — Das Manuale
Scholarium qui stttdentium universitates aygredi etpoatea in tisproficere inatituuni
hat Zarncke herausgegeben: Die deutschen Universitäten im Mittelalter (1857).
Catomis Diatieha de moribus sind von Hauthal ediert (1870).
Die Sprachlehrbücher, 45
wissen zunächst in Prosa kompiliert hatte. Man kann das Unter-
nehmen dem berühmten „Elementarwerk'' vergleichen, worin 600 Jahre
später Basedow die Summe des Schulwissens verfaßte und aus dem
diddrtischen Gesichtspunkt bearbeitete. Das Verdienst selbständiger
wissenschaftlicher Arbeit nimmt jenes so wenig als dieses in Anspruch.
Das Doctrinale im besondem ist, wie Reichung aus handschriftlichen
Notizen mitteilt^ aus dem Unterricht heryorgewachseu , ganz ebenso wie
Basedow's neue Sprachlehrmethode. Alexandeb unterrichtete die Enkel
des Bischofs von Dol uud gab ihnen die grammatischen Regeln in
Versen, die sie auswendig lernten und dem Großvater hersagten. Dieser
foad die Sache sehr nützlich, und auf seine Bitte stellte der Lehrer
nun die ganze Grammatik in Hexametern zusammen:
Auxilioque metri levnts poterit retineri.
Ob das eine nützliche Arbeit war, darüber kann natürlich allein
die Zeit urteilen, für die sie gethan ist; und sie hat geurteilt, die oben
angeführten Ziffern über seine Verbreitung sprechen die deutlichste
Sprache. Daß die Verse einem heutigen Leser befremdlich vorkommen,
daß der Gedanke, sie auswendig lernen zu müssen, uns entsetzlich wäre,
beweist nichts: das Mittelalter hatte andere Vorstellungen vom Wissen,
seiner Erwerbung und seinem Besitz, als wir. Freilich, leicht wird die
Sache der Jugend auch damals nicht eingegangen sein; aber das pflegt
die lateinische Grammatik bis auf diesen Tag nicht zu thun. Und
heutzutage fehlt es ja nicht an Leuten, die meinen, daß das sehr gut
sei: die Jugend erfahre so gleich am Anfang, daß das Studieren ent-
sagungsvolle Arbeit und Pflichterfüllung fordere. Das werden die jungen
Kleriker denn auch damals am Alexander gemerkt haben, so sehr seine
Absicht darauf ging, die Sache leicht und erfreulich zu machen.
Was den wissenschaftlichen Wert dieser Bücher anlangt, so
können die Humanisten in Ausdrücken des Absehens vor ihrem Bar-
barentum sich nicht genug thun, und es ist bis auf diesen Tag üblich
geblieben, den Lesern von Geschichten der Pädagogik einen Schauder
vor der Barbarei des Mittelalters durch die Namen seiner gramma-
tischen und lexikalischen Hilfsmittel beizubringen. Man schreibt irgend
woher die Namen Doctrinale, Graecismus, Florista, Mammotrepius,
(Jatholican, Gemma Gemmarum, Vocabularius ex quo, Vocabularius brevi-
hquus zusammen und erwartet wohl nicht mit Unrecht, daß der Leser
finde, die Namen sagten schon genug. Ohne Zweifel sind diese Bücher
für den Gebrauch unserer Gelehrten oder Schüler, die mit der Si)rache
und Litteratur des römischen Altertums sich beschäftigen, ohne Wert.
Damit ist aber natürlich nicht bewiesen, daß sie für die Sprache und
Litteratur des Mittelalters ohne Wert waren. So viel ich sehe, ist
46 I, 2, Dcts Unterrichiswesen des Mittelalters. *
z. B. die Gemma Gemmarum, die in unzähligen Ausgaben verbreitet
gewesen sein muß, für jene Sprache ungefähr ebensoviel oder so
wenig wert als die Taschenwörterbücher der neueren Sprachen, welche
buchhändlerische Industrie gegenwärtig hervorbringt Die größeren
geben auch sachliche Belehrungen, vertreten also zugleich die Stelle
von Reallexicis.
Über den wissenschaftlichen Wert der mittelalterlichen Gramma-
tiker hat Fb. Haase in einem beachtenswerten Schriftchen De medii
€ievi studiis philologicis ein Urteil gefällt, das mitgeteilt zu werden ver-
dient Er findet sie zwar „voll von Fehlern und Irrtümern, wo es
auf historische Forschung ankommt^', also in der Formenlehre und im
Lexikalischen; dagegen zeigten sie da, wo es auf philosophischen Scharf-
sinn ankomme, ihre ganze geistige Kraft und leisteten höchst Aner-
kennenswertes. Das gelte besonders von der Syntax. Diese sei von
den mittelalterlichen Grammatikern, Ebbabd Bethünensis, in seinem
Graecismus genannten Lehrbuch und Alexandeb im Doctrinale, wesent-
lich selbständig zustande gebracht und zwar mit solchem Erfolg, daß
noch die heutige Syntax, freilich ohne es zu wissen, auf den Arbeiten
jener beruhe. Die Valla, Pebottüs, Linaoeb, Heinbichmann u. a,
hätten besser gethan jenen zu folgen, als im Anschluß an die Alten
Neuerungen zu versuchen. Aber damals sei der Abscheu vor allem
aus dem Mittelalter kommenden so groß gewesen, daß man es unbe-
sehens weggeworfen habe. Und als man im 18. Jahrhundert auf die
mittelalterliche Syntax zurückgegangen sei, habe man es heimlich ge-
than, aus Furcht vor der Schande, vom Mittelalter etwas zu lernen.
So sei es gekommen, daß heute fast niemand es wisse, daß die Form,
in welcher Cellabius, Lange, Zumpt die lateinische Syntax darstelle,
den Gbaeoista, Alexandeb, Flobista, Modista verdankt werde; und
doch sei hieran gar kein Zweifel Zur Bearbeitung aber der Syntax
sei das Mittelalter durch seine philosophischen Studien geführt und
befähigt worden; wie denn auch die philosophische Grammatik oder
Metagrammatik keineswegs erst eine Erfindung des 18., sondern viel-
mehr des 13. und 14. Jahrhunderts sei; der liber de modis significandiy
als dessen Autor bald Thomas, bald Scotüs, bald ein anderer Scholas-
tiker genannt werde, enthalte das erste vollständige System der philo-
sophischen Grammatik. Mit Recht, urteilt Haase, möge im 16. Jahr-
hundert diese Disziplin aus den Schulen beseitigt sein, aber sie selbst
habe die Verachtung der Vergessenheit nicht verdient, sie sei auch
heute noch der Kenntnisnahme durchaus wert
Über das mittelalterliche Latein endlich mag noch das Urteil eines
ebenso kompetenten als unverdächtigen Zeugen Platz finden. In einem
Das mittelalterliche Latein, 47
An&atz in Monbs Zeitschrift für die Gesch. des Oberrheins, Bd. XXY,
36 — 69 teilt Wattenbach Auszüge aus Briefen mit, die der Wiener
Theologe K Säldneb um 1460 an den Augsburger Patrizier und Kauf-
herm S. Gossembbot schrieb, um ihn zu überzeugen, daß für ihn Er-
bauungsschriften eine passendere Lektüre seien, als die Produkte der
modernen humanistischen Poeten. Säldneb war kein Bewunderer
der letzteren, weder von ihrer Gelehrsamkeit, noch von ihrem Charakter
hielt er viel und auch ihr Stil sagte ihm nicht zu. Über den Stil
dieser Briefe sagt Wattenbach: er sei freilich von klassischer Latinitat
weit entfernt, aber frisch und lebendig, eine Schreibweise, welche sich
durch langen Gebrauch den behandelten Gegenstanden entsprechend
ausgebildet habe. „Ich kann", fügt Wattenbach hinzu, ,4hm vollkommen
nachfühlen, wie ihm diese moderne, gezierte und gespreizte Weise
vfiderstand, wo der Dünkel aus jeder Zeile hervorblickt, und auch die
Schmeichelei gegen vornehme und reiche Gönner, welche Säldneb so
zuwider war. Ich begreife, wie er das Wesen dessen, was man Poesie
nannte, in gesuchten Ausdrücken und ungewöhnlicher Wortstellung sah".
Vielleicht kann man von der mittelalterlichen Schriftsprache über-
haupt sagen, was hier von Säldnebs Schreibweise gesagt wird: daß
sie durch langen Gebrauch den behandelten Gegenstanden entsprechend
sich ausgebildet habe. Wenn barbarisch reden bedeutet: anders reden
als die Bömer zu Ciceros Zeiten redeten, dann ist das mittelalterliche
Latein ohne allen Zweifel barbarisch, nicht viel weniger als Französisch
und Italienisch. Wenn man dagegen unter barbarisch reden nicht diese
zuSllige Abweichung verstünde, sondern allgemein: unangemessen zum
Inhalt, ohne Sprachgefühl, mit überallher zusammengerafften, an diesem
Ort unpassenden und sinnlosen Phrasen reden, dann dürfte der Vor-
wurf der barbarischen Rede den Humanisten häufiger zu machen sein,
als den mittelalterlichen Philosophen und Theologen. Für die wissen-
schaftlichen Untersuchungen der letzteren ist ihre Sprache vielleicht
nicht weniger passend und notwendig, als der aristotelische Stil für
seine Philosophie. Alle die neugebildeten abstrakten Ausdrücke, die
substantia, essentia, existentia , quantitas, qualitas, identitas, causalitas,
finalitas, guidditas, haecceitas, wie sie von humanistischen Schwätzern
den Gaffern als monstra und portenta vorgeführt zu werden pflegen,
waren ein augenscheinliches Bedürfnis jener be^ifflichen Untersuchungen.
Die meisten sind in unmittelbarer Anlehnung an die aristotelischen termim
gebildet; und daß sie nicht überflüssige oder sinnlose Bildungen sind,
wird am besten dadurch bewiesen, daß sie trotz aller Anstrengungen
der Humanisten sich erhalten haben, indem sie direkt oder in der
tl)ersetzung in die modernen Sprachen übergingen. Lotze sagt ein-
48 I, 2, Das Unterrichtstüesen des Mittelalters,
mal, einer Sprache müßten in etwas die Glieder gebrochen, die Bänder
erweitert werden, damit sie ganz schmiegsam werde, dem Gedanken
sich anzupassen. Diesen Prozeß hat das Latein im Mittelalter durch-
gemacht; es war völlig geeignet zu sein, was es war: die Universal-
sprache der Wissenschaft.
Aber diese selbe Sprache war auch der Erregung des Gemütes
und Willens nicht durchaus unfähig, ja gewisser Wirkungen vielleicht
mehr als jede andere mächtig. Die lateinischen Kirchengesänge werden
auch heute noch ihre Wirkung selbst auf solche, die ganz außerhalb
der Anschauuugswelt stehen, aus der sie gedichtet sind, schwerlich
verfehlen. Die Majestät des Dies irae, die Innigkeit des Salve regina^
die weltverachtende Großartigkeit des Chtr mundtis militcU, sind sie in
irgend einer Sprache erreicht worden? Oder man nehme die Prosa
der Imitatio Christi\ es kann kein angemesseneres sprachliches Gewftnd
für diese Betrachtungen und Gebete geben. Schopenhauer citiert
die heilige Schrift regelmäßig in lateinischer Sprache; er verstand sich
auf stilistische Wirkungen. Und daß diesem selben Instrument auch
noch andere Töne sich entlocken ließen, zeigen die Vagantenlieder. ^
* Ich kann mir nicht versagen, hier eine Stilprobe von einem der berüchtigtsten
Dunkelmänner, von Jacob von Hochstraten, einzulegen. Er veröffentlichte 1521
eine Moralphilosophie. Das Vorwort an den Leser enthält eine Antwort auf die
Beschimpfungen der Epistolae obsc, vir. NoH^ heißt es hier, noli obseero inviäa-
rum sequi catervam, qui invectivia et turpitudinibus suis conienti plurimumque
ghriantes non me solum verum et optimos viros vere etiam eruditos ac eoratn
deo sineeros et justos persequi non verentur; diciiones quoque et syUabas puero-
rum more arroganter notantes, quae apud priscos oratores et po'itas non in-
veniuntur; ac si sacrae litterae et doctrina moralis phiiosophine ethnicis subjectae
forent ac picturae indigerent verhortim. Quis enim sanae mentis hämo non
pluris faciai materiam quam verha? Noa stylo utimur scholastico atque fami-
liari et in scholia vehiH in drculis consueto; quem si praeterire velimus, non
ab Omnibus intelligeremur. Tu igiturf lector carissime, modestia potius utere ac
sapientia, animoque accipias grato, quod nostris tibi vigiliis humiliter dedicamus;
tibique vero vertue perauade sacram iheologiam ipsamque etiam moralem philo-
sophiam non indigere orationis fuco aut verborum pompa, illarumque profesaores
non convinci aut etiam concuti invidetitium contumeliis atque invectivis, nee
maledicentibus respondere consuetos, quin potii^s sapientia duee Ulis parcere
atque ignoscere, quum teste sacra ecriptura deus reddat abundanter facientibus
superbi'nm. — Ich wüßte keine verständigere und würdigere Antwort auf jene
unsagbaren Beschimpfungen. Und wenn man den Inhidt dieses Buchs heute
in deutscher Sprache läse, würde man ihn in vielen Stücken über alle Erwartung
modern finden, viel modemer als die Deklamationen der humanistischen Oratoren
und Poeten. Rein Wunder: steht uns doch auch Aristoteles, der Moralphilosoph,
sehr viel näher, als Cicero, der Moralredner. — Übrigens will ich doch noch
dies hinzufügen: ich zweifle natürlich nicht im mindesten daran, daß in den
Bürden und hin und wieder wohl auch auf den Kathedern unter dem Namen
/, 3, Der Humanismus und sein Bildungsideal. 49
Drittes Kapitel.
Der Hnmanismns nnd sein Bildungsideal.
Das Zeitalter, in dem das deutsche Volk von den Ideen des
Humanismus lebhaft bewegt wurde, liegt zwischen den Jahren 1450
und 1520. Die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ist die Zeit seines
allmählichen Eindringens, in den beiden ersten Jahrzehnten des 1 6. Jahr-
hunderts gewinnt er in den gebildeten Kreisen die Herrschaft Seit
dem Anfang der zwanziger Jahre entzieht ihm der Ausbruch der großen
kirchlichen Bewegung rasch die Teilnahme.
Das 15. Jahrhundert ist eine Zeit gewaltig vorwärts drängender Ent-
wickelung. Die Ausbildung des internationalen Verkehrs führte zu raschem
Wachstum des städtischen Lebens; mit der Fülle neuen Beichtums und
der Zunahme materieller Kulturgüter aller Art entstanden verfeinerte
Bedürfnisse und gesteigerte Bildungsbestrebungen; schnelle Erweiterung
des Gesichtskreises durch intensive Berührung mit der östlichen, bald
auch einer neuen westlichen Welt, beschleunigte den Gedankenumlauf;
die Erfindung des Buchdrucks wurde notwendig, um den gesteigerten
Ansprüchen breiterer Bevölkerungskreise auf Teilnahme am geistigen
Leben durch Zuführung von Bildungsmitteln zu genügen. Der ge-
steigerten Thätigkeit entspricht das gesteigerte Selbstbewußtsein der
Zeit Die Menschen des ausgehenden 15. Jahrhunderts fühlen sich
nicht^ wie es im früheren Mittelalter der Fall war, als Epigonen einer
großen Vergangenheit, der Zeit der großen Heiligen und Väter der
Kirche, sondern als Bahnbrecher einer neuen Weltepoche. Alle Stände,
die Fürsten, die Ritter, die Bürger, selbst die Bauern sind von der
machtigen Bewegung ergriflfen; der Wille zur Macht, mit modernem
Schlagwort, regt sich in allen, als Wille zur Freiheit bei den Unteren,
als Wille zur Herrschaft bei den Oberen. Die alten Christentugenden,
Demut, Entsagung, Gehorsam, Glaube, Pietät, verlieren in den Augen
des neuen Geschlechts ihren alten Glanz. Ungebundenes Genießen und
freies Denken, stolzer Sinn und trotzige Unabhängigkeit, die keinen
Herrn duldet, Kühnheit und Kraft, die nach der Macht zu greifen
von Latein wirklich ein greulicher, barbarischer Schuljargon gesprochen worden
ist. Das wird überall unvermeidlich sein, wo eine fremde Sprache Lehrern und
Schülern als Unterrichts- und Umgangssprache aufgenötigt wird. Auch im 16.
nnd 18. Jahrhundert würde man manch wunderliches Latein in der Schule und
wohl auch in der Universität zu hören Gelegenheit gehabt haben.
Paalsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 4
50 /, 3, Der Hutnanisnius und nein Bildung sideal.
wagt, dcos sind die Bilder des Vollkommenen, wie sie den vorgeschritten-
sten Geistern der neuen Zeit vorschweben.
Es wird eine Zeit harter Kämpfe sein, in der solche Ideen die
Gemüter bewegen. Der Kampf um den Reichtum und die Herrschaft
dieser Welt wird zwischen den Fürsten und Völkern entbrennen; und
innerhalb der Völker wird der Freiheitsdrang der Massen und das
Machtverlangen der oberen Stande, wird das freie Denken und der ge-
steigerte Geltungsanspruch der Autoritäten aufeinander stoßen. Das
ganze 16. Jahrhundert ist erfüllt mit solchen Kämpfen, Erhebungen
der Bauern gegen die Obrigkeit, der Ritter gegen die Fürsten, der
Fürsten gegen den Kaiser, der Laien gegen den Klerus, der Kleriker
gegen das Kirchenregiment. In allen hat schließlich, um das gleich
zu bemerken, zunächst die Macht über die Freiheit gesiegt, nur daß
dem Kaiser das Reich aus der Hand glitt und das Gebiet der päpst-
lichen Herrschaft um die Hälfte verkürzt wurde; dafür befestigte sie
sich in der anderen Hälfte mit einem bisher unerhörten Absolutismus,
und ebenso wurde in den abgefallenen Gebieten der Absolutismus des
landesherrlichen Regiments in weltlichen und geistlichen Dingen er-
richtet
Es ist begreiflich, daß eine solche Zeit im Evangelium nicht den
Ausdruck ihrer Lebensstimmung finden kann ; das Dulden und Dienen,
das untenan sitzen und gering von sich denken, die Verachtung der
Welt und ihrer Lust und das Streben nach dem, was droben ist, das
alles ist gar nicht nach ihrem Sinn. Vielmehr sagt ihr zu, was die
Philosophen und Redner, die Historiker und Dichter der alten Römer
und Griechen rühmen: der Hochsinn und das groß von sich denken,
der Bürgerstolz, der sich die Freiheit im Kampf erhält, die Herrscher-
kraft, die Widerstrebende niederwirft, auch die Kraft des Denkens,
die die Wirklichkeit bewältigt, die Bildung und der freie Lebensgenuß,
der sich alle Dinge dienstbar zu machen weiß: das ist der Würde des
Menschen gemäß, das ist der Inhalt wahrhaft menschlichen Lebens.
In diesem „Humanismus", in der Richtung auf das irdische Leben und
seine Güter, im Gegensatz zu dem altchristlichen Supranaturalismus,
begegnet sich die Lebensstimmung der angehenden Neuzeit mit dem
klassischen, d. h. dem heidnischen Altertum.
Große Wandlungen im Völkerleben pflegen sich in ümstimmungen
der ästhetischen Empfindungsweise anzukündigen. So sehen wir es im
18. Jahrhundert, Rousseau geht der Revolution vorher. Ebenso kündigt
sich der große Umschwung, womit die Neuzeit anhebt, mit einer Um-
wälzung in der Kunst und Litteratur an; die Renaissancekunst ver-
drängt die Gotik, die humanistische Poesie die scholastische Philosophie.
Allgemmner Charakter der humanistischen Liiteratur. 51
Ein Versuch die neue Litteratur zu charakterisieren, wird etwa auf
folgende Punkte führen. Der zuerst in die Augen fallende Zug, durch
den sie sich von der voraufgehenden Litteratur unterscheidet, ist die
Richtung auf die Darstellung des eigenen Selbst. Das gesteigerte
Selbstgefühl drangt den Schriftsteller von sich zu reden; seine persön-
lichen Erlebnisse und Gefühle erscheinen ihm wichtig genug, die öflfent-
liche Aufmerksamkeit dafür in Anspruch zu nehmen. Damit hängt
zusammen, daß die Form, der Stil, eine Wichtigkeit erhält, die er bis-
her nicht hatte. Wer nicht an sich, sondern an die Sache denkt, dem
kommt es weniger auf das Wie, als auf das Was des Gesagten an.
Wer sich zeigen will, dem wird die Form wichtig, er will nicht so
sehr auf den Verstand, als auf die Phantasie wirken, er will nicht
so sehr Zustimmung in der Sache, als Beifall für seine Person ge-
winnen. In der Universitatslitteratur des Mittelalters begegnet uns viel-
fach vollständige Gleichgültigkeit gegen die stilistische Form, nur die
logische gilt. In manchen Erzeugnissen der humanistischen Litteratur
haben wir den komplementären Gegensatz: der Stil ist alles, Inhalt
und Logik sind gleichgültig, an dem Gegenstand liegt gar nichts, er
ist nur der Ständer, woran der elegante Anzug zur Schau gestellt wird.
Ein anderer hervorstechender Zug der neuen Litteratur ist die Ab-
wendung von dem Heimischen und Volkstümlichen. Er hängt auch
mit dem gesteigerten Selbstgefühl zusammen. Der Einzelne will etwas
Besonderes, Apartes sein; es ist distinguiert, anders zu denken und zu
reden als die Masse; in den allgemeinen Formen und Gedanken sich
bewegen ist vulgär. Dieses Streben nach Distinktion, das bei jedem
Modewechsel, auch dem litterarischen und ästhetischen, wesentlich mit-
wirkt, erhält bei den Humanisten nun seinen eigentümlichen Charakter
dadurch, daß sie die Denk- und Ausdrucksweise einer fremden Kultur-
welt sich aneignen und als allermodernste zur Schau tragen. Indem
man den inneren und soweit es gehen will auch den äußeren Menschen
und seine Umgebung antik drapiert, kommt es zur Aufführung einer
Art großen, welthistorischen Maskenspiels. Man geriert sich wie ein
antiker Redner, Philosoph, Dichter, man phantasiert sich in die Rolle
hinein, man spricht seine Umgebung auf die angenommene oder, unter-
gelegte Rolle hin an, die Kaiser als Cäsaren, die biederen Ratsherren
deutscher Städte als römische Senatoren, die Kollegen in der Poesie
und Eloquenz als weltberühmte und die Ewigkeit in der Tasche
tragende Cicerone und Virgile. Die litterarischen Gesellschaften, die
überall aus der Erde schießen, gehören wesentlich mit zum Apparat
dieser Maskerade. Freilich, allzu oft widerspricht die Wirklichkeit
dieser Traumwelt; um so erhitzter wird die Beredsamkeit, um durch
52 /, 3, Der Humanismtis und sein Büdungsideai.
superlativische Ausdrücke die Wahrheit der Empfindung und den
Glauben zu ersetzen. Die Beredsamkeit liebt den Superlativ, vor allem
die römische; so viel ist er nie gebraucht und mißbraucht worden, als
von den Oratoren und Poeten des Humanismus. Ob sie Bewunderung
oder Abscheu und Entrüstung ausdrücken, und eins von beiden fließt
immer aus ihrer Feder, ob sie Erasmus und Reuchlin preisen, oder
einen altmodischen Gelehrten, der nicht mitthun will oder kann,
schmähen, immer geschieht es in Ausdrücken des bis zur Siedehitze
gesteigerten rhetorischen Pathos.
Hiermit hängt ein weiterer Zug in der Physiognomie des Humanis-
mus zusammen: Schauspielerei und Ehetorik sind mit Unwahrheit nahe
verwandt; ein Zug von Un Wahrhaftigkeit geht durch die humanistische
Litteratur. Zunächst unwillkürlich aus dem Schauspielerwesen hervor-
wachsend, steigert er sich nicht selten zur bewußten Löge, zur ge-
wollten Fertigkeit, die Dinge nicht zu sehen, wie sie sind. Erst als
die Reformation hereinbricht und der großen Maskerade ein Ende
macht, schwindet dieser Zug; die Menschen beginnen die Dinge wieder
ernsthaft und eigentlich zu nehmen.
Endlich hängt noch ein Zug hiermit zusammen: der Mangel an
Humor. Der Humor gedeiht nur auf dem Grunde volkstumlicher
Empfindung, das Mittelalter ist voll davon, seine Religion, seine Rechte,
seine Dichtung, seine Schwanke; man getraut sich das Ehrwürdige und
Ernste einmal von der lächerlichen Seite zu nehmen, weil man seines
wesentlichen Verhältnisses zu ihm gewiß ist; der „Schimpf" kränkt
nicht; was seiner selbst sicher ist, ist nicht empfindlich gegen die
Scherzrede. Der humanistischen Litteratur ist der Humor ganz fremd.
Witz und Stachelrede ist ihr geläufig, aber das fröhliche Lachen des
Humors ist ihr fremd. Sie ist pathetisch-rhetorisch. Aus dem Gefühl
der eigenen Erhabenheit blickt sie von oben herab auf die Masse und
ihre Thorheit; deklamatorische Moralpredigt, epideiktische Ausstaffierung
eines theatralisch-heroischen Tugendideals, pomphafte Lobpreisung der
Gönner und Freunde als Helden und Weise, oder andererseits boshafte
Invektive und Satire, frivoler und spöttischer Witz auf Kosten persön-
licher oder litterarischer Gegner, das alles sind Formen humanistischer
Eloquenz. Aber die Töne des Humors fehlen ganz. Man lacht über
alle Dinge, über göttliche und menschliche, nur über eines vermag
man nicht zu lachen: über sich selbst.
Das Prototyp der humanistischen Bildung ist Petrarcha. Sein
Bild hat G. Voigt in der Geschichte der Wiederbelebung des Altertums
mit Meisterhand gezeichnet Der Wohllaut und Rhythmus der klassischen
Sprache, Ciceros Perioden und Virgils Verse hatten Petrarchas Herz
Allgemeiner Oharafäer der humanistischen Litterattir, 58
zuerst den Alten gewonnen. Er verließ die barbarische Jurisprudenz,
um ganz mit und in jenen zu leben. Eine unbedingte Verachtung
derer, „mit denen ein ungünstiger Stern zu leben ihm beschieden",
war die Kehrseite seiner unbedingten Verehrung der Heroen des
Altertums. Vor allem verachtete er, was seine Zeitgenossen ihre
Wissenschaft und Philosophie nannten: die Theologie, die Philosophie,
die Jurisprudenz, die Medizin, die Astrologie. Ganz nichtig und in-
haltlos erschienen ihm diese Dinge und unwürdig der Teilnahme eines
Mannes, der zu höherem Leben geboren sei; für Knaben und Sophisten
mögen die Schulwissenschaften taugen, jenen zur Übung, diesen zum
Nahrungserwerb und Hochmut. Und was ist denn des Strebens eines
Mannes würdig? Petrarcha antwortet: die Weisheit und die Tugend
und dazu als drittes die Beredsamkeit, durch welche die Weish(iit sich
darstellt und zur Tugend führt. Cicero und Plato besaßen sie, nicht
Aristoteles, wenigstens nicht die Beredsamkeit, wenn anders die Über-
setzungen (Petrarcha verstand nicht Griechisch) nicht ganz irre führen.
Eines von diesen drei Dingen hat Petrarcha ohne Zweifel erlangt:
die Beredsamkeit. Von der Weisheit und Tugend verstand er zum
Entzücken zu reden, aber sie blieben in seiner Bede, in sein Leben
wollten sie, so begehrenswert sie ihm erschienen, nicht kommen. Er
pries die Einsamkeit, er schrieb über die Verachtung der Welt, er
wußte das einfache Leben unter friedlichen Landleuten, ohne Begierden,
ohne Furcht, ohne Täuschungen, die Ruhe und Freiheit eines sich
selber genügenden Lebens mit der Natur und den befreundeten Büchern,
zu schildern und zu preisen, wie niemand, seitdem die Sprache Virgils
und Horazens verstummt. Und er lebte an dem Hof von Avignon,
stets bedacht, durch alle geeigneten Mittel seine reichen Pfründen zu
mehren; er diente dann dem Visconti in Mailand als Schaustück und
Prunkredner. Er schalt, wie ein Moralprediger und Prophet, die Kleriker
um ihrer Üppigkeit und Unenthaltsamkeit willen; er selbst war Priester
und hatte Konkubinen und Kinder, für die er aufs neue auf die
Pfründenjagd ging. Er schalt den Wissenshochmut der Philosophen,
und stellte ihm die sokratische Weisheit des Nichtwissens gegenüber; aber
es erging ihm wie dem Diogenes: durch die Löcher seines Philosophen-
mantels blickt überall die Eitelkeit und Selbstgefälligkeit
Petrarcha ist ein durch und durch epideiktischer Mann. Von sicli
selber, seinen Empfindungen und Stimmungen, seinen Neigungen und
Abneigungen, seinen inneren und äußeren Kämpfen zu reden ist ihm
unwiderstehliches Bedürfnis. Die mittelalterlichen Philosophen sind
von der Sache beherrscht, ihr Denken und Argumentieren ist ein un-
persönliches; es ist fast zufallig, daß wir ihre Namen wissen. Bei
54 i, 3, Der Hufnanismus und sein BüdungaideaL
Fetrarcha ist die Sache der Persönlichkeit untergeordnet; sie ist oft
nur Vorwand von sich zu reden und reden zu machen. Nirgends viel-
leicht tritt dies deutlicher hervor als in seiner Beteiligung an der
Politik. Er hatte sich eine historische Dichtung von einer heroischen
römischen Republik zurechtgemacht Ihre Wiederherstellung war sein
luftiges Ideal, Cola Bienzi sein Held. Als dieser gefallen war, rührte
er nicht einen Finger für ihn und seine Sache; daß Worte zu Thaten
verpflichten, war ein ihm völlig fremder Gedanke. Er suchte sich
einen neuen Helden, an den er die Erzeugnisse seiner republikanischen
Beredsamkeit adressierte; er fand Kaiser Karl lY. dazu geeignet; der
nahm die Reden für das, was sie waren: Worte. Die hochfiiegenden
Träume, sagt Voigt, waren mehr das Produkt seiner Feder als seines
Herzens.^
Dem Bilde des Erzvaters des Humanismus, wie Petrarcha bei Voigt
einmal genannt wird, gleichen die Nachkommen. Auch sie reden viel
von Weisheit und Tugend, auch sie verachten die Wissenschaft der
Fakultäten als nichtsnutziges Schulgeschwatz. Sie lieben es, den Zeit-
genossen, besonders dem Klerus, die Sünden vorzuhalten, die sie selbst
reichlich und täglich begehen; Hütten stellt die Unzuchtsünden der
Leipziger und Kölner Magister an den Pranger, sein Freund Eobaijüs
schreibt gegen die Trunksucht In ihren Schriften tragen sie gern
den Philosophenmantel, sie deklamieren gegen Üppigkeit und Eitelkeit,
gegen Luxus und Wohlleben, das Leben findet sie an den Höfen der
Fürsten und Prälaten, wo sie durch litterarische Dienste und Adulations-
poesie ihr Brot verdienen. In der That, sie können an keinem andern
Ort leben; es ist der einzige, der zur Ausübung ihrer Kunst Gelegen-
heit giebt. Ihre Kunst aber ist Poesie und Eloquenz: sie können, so
werden sie nicht müde zu versichern, durch ihre Poesie und Eloquenz
Ruhm und Unsterblichkeit verschaflfen, wem sie wohlwollen, oder Übel-
gesinnte in Schmach und Schande verstoßen. Die Italiener sind das
Vorbild, und hier hat die Sache, begünstigt durch das Naturell des
* Als Cola Rienzi, der klassische Tribuii, die römischen Nobili als Feinde
der römischen Freiheit auszurotten begann, ermunterte ihn Petrarcha durch
seinen Zuruf in diesem Werk fortzufahren. Gleichzeitig schrieb er an einen
dieser Nobili, den Kardinal Colonna: „Wenn das Haus auch einige Säulen ver-
loren hat, was schadet es? Bleibt doch mit Dir eine feste Grundlage; Julius
Caesar war allein und genug". Villari, Macchiavelli , I, 82. Der Verfasser,
fügt Villari hinzu, bemerkte diesen Widerspruch kaum, seine Schriften waren
litterarische Übungsstücke. War der Gegenstand gegeben, so lief die Feder
hurtig dahin in den Spuren Ciceros, eifrig bedacht auf die harmonische Kadenz
der Perioden.
Allgemeiner Charakier der humanistischen Ldtteratur, 55
Volkes und durch die öffentlichen Verhältnisse einen großen Zug.^
Die deutsche Imitation ist meist langweilig und oft wird sie plump;
es fehlt dem deutschen Poeten die scharfe Zunge des Italieners , es
fehlt dem Lob- wie dem Schmähgedicht an einem aufhorchenden Volk,
es fehlt ihm endlich an jenen gewaltigen Persönlichkeiten, wie die
italienischen Höfe und die römische Kurie sie boten. Der ehrsame
Rat einer deutschen Stadt, ein hausbackener, vierschrötiger Fürst oder
Bischof, der sich auf einen guten Trunk sehr viel besser als auf
lateinische Verse verstand, sie sind wirklich ein undankbares Objekt
für humanistische Eloquenz und Poesie. Um so plumper und härter
tritt denn die Absicht zu Tage.
Es ist selbstverständlich, daß diese Richtung nicht auf der indivi-
duellen Neigung der Einzelnen beruht, die uns als litterarische Träger
des Humanismus bekannt sind. Die ganze humanistische Litteratur
war natürlich nicht möglich, wenn sie nicht einem Bedürfnis der Zeit
entgegenkam; die Litteraten schufen nicht das Bedürfnis, sondern sie
empfanden es nur zuerst und halfen es in den andern durch das An-
gebot der Befriedigung wecken. Eine leidenschaftliche Freude an
der epideiktischen Rede wurde damals in der Gesellschaft allgemein.
„Lateinische Reden", sagt Villari (Macchiavelli I, 103), „waren da-
mals so sehr in Mode, daß man sie bei Friedensschlüssen, Gesandt-
schaften und allen öffentlichen und privaten Feierlichkeiten niemals
entbehren wollte. Jeder Hof, jede Regierung, bisweilen auch die reichen
Familien, hatten ihren offiziellen Redner. Und wie man heute selten
ein Fest ohne Musik begeht, so war damals eine lateinische Rede in
Poesie oder Prosa die beste Unterhaltung einer gebildeten Gesellschaft.
Viele davon sind gedruckt worden, aber es ist nur der kleine Teil.
Die italienischen Bibliotheken enthalten noch Hunderte unedierter. Und
doch finden sich in all diesem Überfluß niemals Beispiele wirklicher
Beredsamkeit, mit Ausnahme einiger Reden Pius' IL, welcher nicht
nur um der Übung willen sprach." — Bei einer Fürstenversammlung
zu Wien im Jahre 1515 wurden an 22 anwesende Fürstlichkeiten von
17 Mitgliedern der Universität 22 lateinische Begrüßungsreden gehalten
(Aschbach, Wiener Humanisten, 136).
Es ist das lange aufgestaute Bedürüiis, das sich in dem Strome
dieser neulateinischen Beredsamkeit Luft macht. Im Mittelalter hatte
man das Schweigen und die Betrachtung empfohlen, das Reden stand
nicht in großer Schätzung. Der h. Benedict hatte im vierten Kapitel
* Man sehe in Bürckhardts Kultur der Kcnaissancc den zweiten Abschnitt
des ersten Buchs.
56 I, 3, Der Humanismus und sem Büdungsideal.
der Regel den Brüdern unter den Werkzeugen der guten Werke auch
diese genannt: vieles reden nicht lieben, und eitle Worte oder die
zum lachen sind, nicht reden. In diesem Sinne hatte er angeordnet,
daß über Tisch vorgelesen werde, damit kein Kaum zu müßiger Unter-
haltung bleibe, und daß nach dem Eompletorium niemand mehr ein
Wort rede, bei schwerer Züchtigung. Die Statuten der deutschen
Universitäten schrieben das Lesen über Tisch in den Kollegien und
Bursen in derselben Absicht vor. Die persönliche Mitteilung sollte
zurückgedrängt, die Aufmerksamkeit auf dea großen und wichtigen
Gemeinschaftsbesitz in Wissenschaft und Glauben konzentriert werden.
Im Humanismus erfolgt die Reaktion. Die persönliche Mitteilung und
Aufzeigung wird zu einer ungemein wichtigen Angelegenheit, die Ent-
wickelung des Briefschreibens in dieser Zeit ist ein Zeugnis dafür.
Auch das Nichtpersönliche versucht man auf individuelle Weise zu
sagen; die Form ist es, die der Einzelne hinzuthut: darum wird sie
so unermeßlich wichtig. —
Über die litterarischen Erzeugnisse des deutschen Humanis-
mus im Zusammenhang zu handeln, bleibt der Litteraturgeschichte
überlassen; ich verweise auf die älteren Werke von Erhaed und Eülgen,
femer auf Geigers Geschichte der Renaissance, Bürsians Geschichte
der Philologie, Goedekbs Grundriß der deutschen Litteratur. Ich ver-
suche nur eine allgemeine Charakteristik.
Man kann die humanistischen Litteraturprodukte in zwei Gruppen
teilen: 1) Werke der Redekunst, 2) Anleitungen und Hilfs-
mittel zu ihrer Hervorbringung.
Zu der ersten Art gehören vor allem die Prunkreden; sie sind,
wie gesagt, in diesem Zeitalter bei allen öffentlichen Feierlichkeiten
unerläßlich: bei der Einholung und Begrüßung hoher Personen, beim
Empfang von Gesandtschaften, beim Übernehmen des Rektorats, beim
Antritt eines Lehramts, bei einer Promotion, überall sind Reden er-
forderlich, die das Ereignis und die Personen verherrlichen. Ebenfalls
gehören hierher politische Deklamationen und Exhortationen, morali-
sierende Ansprachen, Reden de formando studio u. s. w. Auch historisch-
patriotische Darstellungen mit epideiktischer Tendenz mag man hierher
rechnen. Endlich sind auch die Briefe zum Teil rhetorische Schau-
stücke, von vornherein für den Druck geschrieben. Die Bedeutung dieser
Werke der Redekunst ist überall in erster Linie die Selbstdarstellung
des Redners, er zeigt seine Kunst, seinen Geschmack, sein Wissen.
Dazu kommt meist ein besonderer Zweck; er will sich an einflußreicher
Stelle empfehlen, für sich Stimmung machen, um irgend eine Absicht
zu erreichen, ein Amt, eine Pfründe, ein Geschenk oder auch bloß ein
Die liUerarischen Erzeugnisse des HuTnanismus. 57
Gregenlob. Der Gegenstand der Rede hat eigentlich bloß die Bedeutung,
den Sammelplatz für die eleganten Wendungen und guten Einfalle zu
bieten. So wird die Beredsamkeit der italienischen Humanisten von
BuKCKHABDT (I, 272flf.) Charakterisiert: „Viele benutzten den Anlaß nur,
um neben einigen Schmeicheleien für vornehme Zuhörer eine wüste
Masse von Worten und Sachen aus dem Altertum vorzubringen.
FiLELro's meiste Orationen sind ein abscheuliches Durcheinander von
klassischen und biblischen Citaten, aufgereiht an einer Schnur von Ge-
meinplätzen; dazwischen werden die Persönlichkeiten der zu rühmenden
Großen nach irgend einem Schema, z. B. der Kardinaltugenden, ge-
priesen, und nur mit großer Mühe entdeckt man bei ihm und anderen
die wenigen zeitgeschichtlichen Elemente von Wert, die wirklich darin
sind.** Von den Briefen heißt es: der Zweck des Briefschreibens ist
selten die persönliche Mitteilung, „man betrachtete es vielmehr als eine
litterarische Arbeit und betrieb es, teils um seine Bildung zu erweisen,
teils um bei den Adressaten Ruhm zu erwerben. Zuerst vertrat der
Brief die Stelle der gelehrten Abhandlung, — — später wurden die
Briefe zu Sammelplätzen eleganter Wendungen, durch welche man die
Untergebenen zu erheben oder zu demütigen, Kollegen zu beweih-
räuchern oder anzufeinden, Höherstehende zu preisen oder anzubetteln
versucht«." ^
Die zweite Form der Eloquenz ist die Poesie, sie ist Beredsam-
keit in metrischer Form. Auch sie dient Absichten und Zwecken; der
ostensible Zweck ist, zum moralischen Leben zu ermuntern, indem sie
die Tugend preist und das Laster in seiner Abscheulichkeit darstellt;
der wirkliche Zweck ist auch hier, wie bei der Rede in Prosa, die
Selbstdarstellung des Dichters, vielfach auch die Förderung persönlicher
Absichten. Wie die Eloquenz, so gilt auch die Poesie für eine erlern-
bare Kunst; und das bleibt die Voraussetzung des humanistischen Schul-
betriebs, wie es bis ins 18. Jahrhundert dauert: durch fleißiges Lernen,
Sammeln und Üben kann jedermann ein Dichter werden.
Was die Erzeugnisse dieser Technik anlangt, so giebt es Poesien
in allen Formen und Metren, lyrische, didaktische, beschreibende, er-
zählende, epische, dramatische. Eine hervorragende Stelle nimmt das
Lobgedicht ein; man macht Lobgedichte auf Fürsten, geistliche Herren,
Gelehrte, Frauen, auf Städte und Universitäten, auf Kriegsthaten und
litterarische Erzeugnisse; wie kein Buch in die Welt geht ohne Wid-
mung, so auch keines ohne einige von Freunden beigesteuerte Verse,
* Vgl. auch die vortreflniche Charakteristik der humanistischen Litteratur
bei Voigt II, 368 ff.
58 ly 3, Der Humanis^nus und sein BUdungsideal.
die an der Spitze den Verfasser und sein Werk preisen. Das Gegen-
stück zum Lobgedicht ist die Satire und das boshafte Epigramm; es
ist dies die Gattung, in der die humanistische Poesie wohl ihre wirk-
samsten und dauerndsten Erzeugnisse hervorgebracht hat. Mehr der
Schul Übung gehören die beschreibenden und erzählenden Dichtungen
au, besonders ist die poetische Reisebeschreibung beliebt. Vielfach
werden auch religiöse Stoflfe bearbeitet, in lyrischer, epischer und drama-
tischer Form. Die dramatische Dichtung gewinnt großen Umfang, seit-
dem die Schäleraufführungen in Aufnahme kommen; es wird zur An-
standspflicht des Lehrers, selber das Stück für die Aufführung zu machen;
der Stoflf wird aus dem Altertum oder aus der biblischen Geschichte
entnommen; die Form ist in den römischen Vorbildern gegeben, der
Inhalt ist meist moralisierende Rhetorik.
Um doch einige Namen zu nennen, so ragt unter der älteren
Generation der humanistischen Poeten Deutschlands viel bewundert hervor
CoNBAD Celtis, Vorfassor von Oden, Elegien und Epigrammen. Unter
den jüngeren wird hochgepriesen Eobanüs Hessus, dessen leichte und
glückliche Versifikation Ebasmus nicht genug zu rühmen vermag.
Seine christlichen Herolden, in welchen er die Heiligen mitsamt der
Jungfrau und Gott Vater und Sohn selbst sich in poetischen Briefen
unterhalten läßt, trugen ihm den Namen des christlichen Ovid ein,
wie Celtis mit dem Namen des deutschen Horaz geehrt wurde. Später
wurde Eobanüs der Schuldichter des Protestantismus, seine poetischen
Übersetzungen der Psalmen wurden in den Schulen gebraucht Sein
Landsmann Eukiciüs Cobdus erlangte durch Epigramme einen Namen.
Hebmannüs Buschiüs war fruchtbar in Lobgedichten auf Personen
und Städte, die übrigens auch dem Eobanüs gelangen. Ulbich
V. Hütten, wie alle bisher genannten aus dem fränkisch-hessischen Ge-
biet stammend, wurde durch Neigung und Talent zur Satire und In-
vektive geführt; in ihm war Kraft und Energie mit bedeutender
Fähigkeit der Gestaltung verbunden. Im Drama versuchten sich
J. Reüchlin und Jag. Locheb, doch blieb dasselbe wesentlich inner-
halb der Schul Übung. Eine glückliche Gabe im Versemachen hatte
auch Jag. Micyllüs, er hat sie besondei*s in beschreibenden Gedichten
geübt Unter der letzten Generation der Humanisten hatten als Dichter
einen Namen G. Sabinüs, ein strebsamer Hofpoet, und der fruchtbarste
von allen Nicodemüs Fbischlin, der Dramen und Epen in großer
Zahl gedichtet hat
Diese ganz umfangreiche neulateinische Litteratur in Gedichten,
Reden und epideiktischen Darstellungen ist so gut wie ganz unter-
gegangen. Der im Bewußtsein des Volkes lebenden Litteratur gehört
Die lilterariscfien Erzeugnisse des Humanismus. 59
von all den bewanderten und gepriesenen Poeten, die sich und ihre
Gönner des ewigen Nachruhms zu versichern nicht müde.werden, keiner
mehr an, es sei denn Hütten und die anonyme Satire der Dunkel-
männerbriefe. Der Rest führt in den Litteraturgeschichten ein un-
gewisses Schattendasein. Woher kommt es, daß^die Lebenskraft dieser
Poesien so gering war? Zunächst offenbar darui^, daß sie ihre Wurzeln
nicht im Volksleben hatten. In fremder Sprache^ geschrieben, sind sie
von vornherein verurteilt, innerhalb des Schulkreises zu-bleiben; aus
einer Welt fremder Gedanken und Anschauungen stammend, welken
sie wie ein exotisches Gewächs, das in dem neuen Klima und der
fremden Erde nicht gedeihen kann. Dazu kommt aber ein Weiteres.
Diese Poesie ist keine wirkliche Dichtung, sie ist nicht Natur-, sondern
Kunstprodukt, sie kommt nicht aus dem Herzen, sondern aus dem Kopf;
nicht der Drang zur Offenbarung des innerlich Erlebten und Geschauten,
sondern das Verlangen, seine Virtuosität zu zeigen, und allerlei zufallige
Absichten treiben zu ihrer Hervorbringung. Dauerndes Leben hat aber
allein die Dichtung, die frei und absichtslos aus dem inneren Erleben
hervorbricht.
Von größerer Dauer und Bedeutung sind die Arbeiten der zweiten
Art, die Hilfsmittel der Eloquenz, obwohl sie von jener Zeit eigent-
lich nur als Mittel zum Zweck, nämlich der Hervorbringung von eigenen
poetischen und oratorischen Produkten angesehen wurden. Das meiste,
was an wissenschaftlichen Leistungen aus der Werkstatte des Humanis-
mus hervorgegangen ist, gehört hierher. In erster Linie stehen die
Ausgaben, Kommentare, Übersetzungen der griechischen und römischen
Klassiker. Erst durch diese Arbeit ist das Altertum und auch die
christliche Entwickelung geschichtlich bekannt, erst damit ist überhaupt
ein wirkliches geschichtliches Bewußtsein der Menschheit von ihrem
eigenen Leben möglich geworden. Fast alle Humanisten haben Anteil
hieran, allen voran Desidebius Ebasmus; das lange Vei*zeichnis der
von ihm besorgten Ausgaben heiliger und profaner Schriftsteller findet
man bei Ebhaed II, 615 ff. Unter den jüngeren Humanisten haben
Melanchthon, Camebakiüs, Wolf u. a. durch Ausgaben und Er-
klärungen namentlich auch griechischer Schriftsteller sich Verdienste
erworben. Unter den Übersetzern griechischer Autoren ins Lateinische
mögen noch W. Pibckheimer und Eobanüs genannt werden.
Eine zweite Gattung von Arbeiten, woran fast alle Humanisten
sich beteiligten, sind die Anleitungen zur Erzeugung von Werken der
Eloquenz: Lehrbücher der Rhetorik, Poetik, Epistolographie.
Celtis, Aesticampianüs, Hütten, Erasmus, Wimpheling, Bebel,
Mubmellius u. a. sind Verfasser derartiger Schriften. — Grammatische
60 /, 3. Der Humanismus und sein ßiläungsideal.
Lehrbücher und Monographien haben Bebel und seine Schüler Bbassi-
CANUs und Heinbichmann, Büschiüs, Caesabiüs, Kemneb, Cobvinüs,
Melanchthon u. a. in großer Zahl geschrieben. Lehrbücher der Sti-
listik sind, nach dem Vorgang der Elegantiae des Valla, von Ebasmüs,
WiMPHELiNa, Bebel, Mübmelliüs u. a. bearbeitet worden, auch in
der Form von Antibarbaris. Ebenfalls für den Schulgebrauch sind die
zahlreichen Gesprächbüchlein bestimmt, unter denen des Ebasmus
CoUoquia weitaus die größte Bedeutung und auch Verbreitung hatten;
viel benutzt wurden auch die kleinen Sammlungen des Mosellanus
und Mübmelliüs. Endlich gehören hierher die Sammlungen von
Materialien für Werke der Eloquenz, als da sind Sprichwörter, Sen-
tenzen, Anekdoten u. s. f. Auch hier hat der unermüdliche Ebasmüs
weitaus das bedeutendste geleistet: seine große Sammlung von griechischen
und römischen Sprichwörtern ist in der That eine erstaunliche Leistung
und eine unerschöpfliche Fundgrube für den, der nach der römischen
und griechischen Eloquenz strebt. Bebels Facetien repräsentieren in
der Litteratur des deutschen Humanigdnus die in Italien sehr beliebte
Gattung von Erzählungen und Anekdoten, welche miteinander feine
Latinität und elegante Obscönität lehrten und so zum guten Gesell-
schafter bildeten.
Als ein fernerer neuer Litteraturzweig, der für uns besonderes
Literesse hat, entstand in diesem Zeitalter die Gymnasialpädagogik.
Es erschien eine überaus große Menge von Schriften, die sich als Rat-
geber in Sachen der Reform der gelehrten Bildung anboten, eine Er-
scheinung, die als Symptom jede große Wandlung im Kulturleben der
modernen Völker begleitet: die zahllosen Schriften unserei* Tage zur
Gymnasialreform entsprechen den Traktaten, Reden, Briefendes 16. Jahr-
hunderts de formando studio. Das Thema aller dieser Schriften ist:
daß der Mangel an Eloquenz Schuld sei an allen Übeln in der Bildung
und den Sitten des Klerus, über welche auf allen Konzilien und Reichs-
tagen geklagt werde; mit der Eloquenz würden auch Weisheit und Tugend,
die mit jener unzertrennlich verbunden seien, ihren Einzug halten.
Auch hierin waren die Italiener vorangegangen. An den kleinen
oberitalienischen Höfen ist die humanistische Pädagogik, mit der Praxis
die Theorie, zuerst ausgebildet worden; an den Söhnen der dortigen
Dynasten und reichen Familien sind ihre Grundsätze zuerst versucht
worden. Ich kann auf die Schriften und das Verfahren der Vebgeriüs,
Vegiüs, ViCTORiNus, GüARiNüS, die alle in der ersten Hälfte des 15. Jahr-
hunderts lebten und wirkten, nicht weiter eingehen.^ Gemeinsame Züge
* Man sehe Schmid, Gesch. der Erziehung TT, 2, 14 ff.; oder die Artikel
in ScuMiDS Encyklopädie.
Die hvmanwtische Oymnasicdpädagogik, 61
sind, daß ihnen allen als die erste Aufgabe des Unterrichts erscheint,
durch das Lesen und Nachahmen der Alten die Fähigkeit der Rede
zu entwickeln; hinsichtlich der Zucht sind sie darin einverstanden, daß
sie von Strenge und Schlägen abmahnen, dagegen den Ehrtrieb und
die Begierde sich auszuzeichnen zu pflegen und benutzen raten; wozu
denn die Wertschätzung körperlicher Übungen und höfischer Sitte
kommt Man sieht, wie bestimmt der Gegensatz gegen das Mittelalter
hervortritt, welches Schweigen und Demut und Abtötung des Fleisches,
wenn auch nicht überall übte, so doch als Grundsatz für die Erziehung
festhielt Allerdings handelte es sich für jene Italiener nicht um die
Erziehung von Mönchen und Klerikern, sondern von Fürsten und Herren;
aber daß die Bildung der letzteren nunmehr als Bildungsideal allgemein
hingestellt wurde, ist eine höchst bemerkenswerte Thatsache.
Die pädagogischen Reformbestrebungen der deutschen Humanisten
folgen im ganzen der Richtung der Italiener; sie beschäftigen sich
aber wesentlich mit der Reform des gelehrten Unterrichts an Schulen
und Universitäten, entsprechend der Stellung ihrer Träger, die durch-
weg Gelehrte und Professoren waren. Es gab in Deutschland noch
keine Höfe, wie zu Ferrara, Mantua, Verona, welche sich humanistische
Oratoren hielten und zu Erziehern ihrer Söhne machten; vielleicht
wäre es dazu gekommen, wenn der Humanismus Zeit gehabt hätte,
sich einzuleben.
Die Zahl der humanistischen Schriften über die Studienreform ist
sehr beträchtlich. Es giebt wohl kaum einen unter den namhafteren
Humanisten, der nicht Gelegenheit genommen hätte, sein Bildungsideal
eines Gelehrten zu beschreiben und den Weg zu seiner Verwirklichung
anzuzeigen. Besonders forderten akademische Reden bei Übernahme
einer Professur oder des Rektorats dazu auf; es wird sich im Verlauf
dieser Darstellung wiederholt Veranlassung finden, auf derartige Reden
einzugehen. Hier begnüge ich mich die beiden bedeutendsten Namen
zu nennen: Wimpheling und Ebasmus.
J. Wimpheling (1450 — 1528), ein Geistlicher, der dem oberrhei-
nischen Humanistenkreis angehörte, hat in mehreren Schriften Anleitung
und Hilfsmittel für die Verbesserung des gelehrten Unterrichts gegeben.^
Eine detaillierte Anleitung zur Behandlung des lateinischen Unterrichts
wird in einem kleinen Büchlein gegeben, welches 1497 zum ersten-
mal gedruckt wurde: es führt den Titel Isidoneus Germanicus (aus
' Über ihn handelt P. v. Wiskowatopf, J. W., sein Leben und seine
Schriften (1867). Ein Verzeichnis seiner Schriften mit Auszügen bei Ebhabd,
I, 428 ff. Die pädagogischen Schriften jetzt in deutscher Übersetzung von
Jos. Freündoen, Paderborn 1892.
62 I, 3, Der Humanismibs und sein Bildungsidtal,
daoSoq Uüd vtoq gebildet; Wimpheling war des Griechischen unkundig,
wie er Fol. XV bemerkt). Er geht zuerst den grammatischen Unter-
richt durch; er setzt die Benutzung des Doctrinale, die er billigt, voraus,
fordert aber die wenigstens vorläufige Weglassung mancher genau be-
zeichneter Partien und vor allem die Beseitigung der durch allerlei
spitzfindige Quästionen hin und wieder ins Maßlose angewachsenen
Kommentare. So habe es sein verehrter Lehrer L. Dkingenbebg in
der Schlettstadter Schule gemacht: das Nötige und Nützliche habe er
daraus genommen, aber die ganzen durch die Industrie der Buchdrucker
in die Welt gesetzten Glossen und Kommentare ruhig beiseite ge-
lassen (Fol. VII). Nach einigen Bemerkungen aus der Stilistik und
über schriftliche Übungen, geht er zu der sehr lebhaft ausgesprochenen
Forderung über, daß man die Schüler zum Lesen der Poeten und
Oratoren führen müsse, wofür er eine lange Reihe von Zeugen vom
Apostel Paulus bis herab zum Papst Pius II. anführt Die Barbarei
der Deutschen, wodurch sie den Italienern zum Gespött seien, komme
daher, daß sie, statt die Poeten und Oratoren zu lesen, bei den gram-
matischen Kommentaren hängen blieben; so geschehe es, daß einer
nach 10- oder löjährigem Studium auf die Frage: was er studiert habe?
nichts zu antworten wisse als: die beiden partes (des Doctrinale). Zur
Lektüre empfiehlt er unter den heidnischen Poeten Virgil, Lucan, Horaz,
Terenz und Plautus, doch dringt er auf die Ausschließung alles Un-
züchtigen, weshalb Ovid. Juvenal, Martial u. a. überhaupt der Jugend
nicht in die Hände gegeben werden sollen; unter den „Oratoren" (Pro-
saikern) nennt er Cicero (Episteln, de amicitia, de senectute, Officien,
Tuskulanen), Sallust, Valerius Maximus, Seneca. Unter den christlichen
Prosaikern empfiehlt er Ambrosius, Hieronjmus, Lactantius, seinen
Lieblingsschriftsteller Fr. Petrarcha, L. Aretinus, Philelphus; unter den
Dichtem Prudentius und Sedulius, zwei römische Dichter des 4. und
5. Jahrhunderts, welche Materien aus der heiligen Geschichte und der
Theologie poetisch bearbeitet haben, sowie den Karmelitergeneral Baptista
Mantuanus (gest 1516), den seine Zeit mit dem Namen eines zweiten
Virgil schmückte. Wimpheling nimmt sich dieser christlichen Dichter
gegen die heidnischen mit großer Entschiedenheit an; sie ständen diesen
durchaus nicht nach; aus dem Mantuanus könne der Knabe nunmehr
lernen, was er früher aus dem Virgil holen mußte. Er bedauert leb-
haft, daß auf die Erklärung des Martial so viel Fleiß verwendet sei,
auf die des Prudentius gar keiner. Es sei ihm unbegreiflich, wie es
geschehen könne, daß unter den Italienern so bedeutende Gelehrte
mehr Interesse für Fabeln als für wahre Geschichten, für das Heiden-
tum als für das Christentum, für Namen und Thaten der Götter und
Die htmuinistischs Oymnastalpädofjogik, 63
Göttinnen als Christi und der heiligen Jungfrau, für Unzucht und
Wollust als für Heiligkeit und Barmherzigkeit hätten (Fol. XIII).
WiMPHELENG erlebte es noch wegen dieser Zaghaftigkeit seines Huma-
nismus von Jüngeren als überwundener Standpunkt behandelt zu
werden.
Der Zweck der Lektüre ist ihm in erster Linie, die Sprache zu
lernen, was aus der Grammatik nicht möglich sei: Formenlehre, Syntax,
Prosodie, Phraseologie soll an den Schriftstellern eingeübt werden; in
zweiter Linie soll der Schüler aus ihnen Weisheit und Tugend lernen.
Von dieser doppelten Absicht wird das viel genannte und zu seiner
Zeit viel gebrauchte Schulbuch beherrscht, welches Wimpheltng dem
Isidoneus folgen ließ: die Adolescentia, zuerst gedruckt im Jahre 1500.
Man könnte es den Jugendfreunden späterer Zeit vergleichen. Es ist
ein moralisches Lehrbuch in lateinischer Sprache, das in der kleineren
ersten Hälfte Betrachtungen über die moralische Erziehung enthält, in
der größeren zweiten ein Florilegium von Stellen aus älteren und
neueren poetischen und prosaischen Schriftstellern über Eloquenz, Weis-
heit und Tugend, mit Proben der Interpretation oder Präparation. —
Erwähnt mögen noch ein paar kleine Schulschriften Wimphelings
werden: Elegantiarum Medulla (um 1493) und Elegantiae majores (um
1499), worin zum Schreiben eines reineren Lateins Anleitung gegeben
wird; sowie de arte poetica, eine in Versen geschriebene Unterweisung
in der Verskunst.
Wimpheltng sieht in der Verbesserung des gelehrten Unterrichts
das große Mittel der Reformation des Klerus. Die Unwissenheit und
Barbarei erscheint ihm als die Hauptursache jenes von ihm überall be-
kämpften Krebsschadens der Kirche, des Konkubinats der Geistlichen.
Weil sie weder heilige noch profane Schriften, so sagt er in der Dedi-
kationsepistel zum Isidoneus, lesen oder doch nicht verstehen können,
so fehlen ihnen die geistlichen WafiFen wider den Müssiggang und die
Lüste des Fleisches (vgl. Wiskowatoff S. 63, 126).
Steht WiMPHELiNG noch mit einem Fuß im Mittelalter, so ist da-
gegen Ebasmus der erste große Vertreter und Prediger der rein huma-
nistischen Bildung in Deutschland. Auch er hat sowohl Reformpro-
gramme als Lehrbücher für den verbesserten Unterricht geschrieben.
Seine allgemeinen Anschauungen über die Aufgabe der Erziehung,
hat er in der Schrift De pueris ad virtutem ac literas liberaliter insti"
tuendis idque protinus a natlvitate (1529) ausgeführt, sie ist mit den
übrigen auf Erziehung und Unterricht bezüglichen Abhandlungen im
ersten Bande der Leydener Ausgabe seiner Werke abgedruckt Es
sind die Grundsätze des Humanismus darin entwickelt; die ältere Praxis,
64 Ij 3. Der Hu/tnuais^nun und sein BildungsideaL
namentlich die mönchische Erziehung zur Demut mit Schlägen, wird
mit humanistischer Rhetorik und allerlei Anekdoten der Verachtung
und dem Hohngelächter preisgegeben. — Mehr auf den Unterricht
geht eine frühere kleine Schrift: De ratione studii (1512 erschienen,
Opp. I, 521 -—530). Dieselbe giebt auf wenigen Seiten die Summe
der Gymnasialpädagogik des Erasmus, ja man kann sagen des deutschen
Humanismus; weshalb ich ihren wesentlichen Inhalt in der Kürze mit-
teile. Man kann sie als das Programm ansehen, an dessen Verwirk-
lichung das folgende Jahrhundert arbeitet.
Zwei Stücke, so beginnt sie, gehören zur Erkenntnis: die Sachen
und die Wörter; früher ist die Erkenntnis der Wörter, wichtiger die
der Sachen. Der Unterricht beginne denmach mit der Erlernung der
Sprachen, und zwar beider, der lateinischen und der griechischen, denn
80 eng ist die Verwandtschaft beider, daß sie miteinander schneller
erlernt werden, als jede einzeln, jedenfalls als Latein ohne Griechisch.
Am besten föngt man die Erlernung mit dem lebendigen Sprechen an,
lernen doch die Knaben die Muttersprache auf diese Weise in wenig
Monaten. Das wird am leichtesten durch einen Hauslehrer geschehen,
doch muß man auch in der Schule lateinisch reden, wobei man sie
unter einander sich korrigieren lassen, auch mit kleinen Belohnungen
und Bestrafungen nachhelfen kann. Zugleich giebt man einige ganz
kurz gefaßte grammatische Regeln und schreitet zur Lektüre eines
Autors, um zu den Regeln die Beispiele zu haben. Die Lektüre wird
begleitet von Kompositionsübungen. Ist so einige Sprachfertigkeit er-
worben, dann mag man eine größere Grammatik nehmen; Ebabmus
empfiehlt für das Griechische in erster Linie Th. Gaza, für das La-
teinisch N. Pebottüs. Doch bleibt die Hauptsache Lektüre und Kom-
positionsübung. Als empfehlenswerte Autoren, durch Reinheit der Rede
und Interesse des Inhalts, werden genannt Lucian, Demosthenes, Hero-
dot, und von den Poeten Aristophanes, Homer, Euripides, da Menander
leider nicht erhalten sei. Unter den Lateinern sei der beste Sprach-
lehrer Terenz, dem man ein paar von Unzucht freie Komödien des
Plautus hinzufügen möge. Virgil, Horaz, Cicero, Caesar, Sallust kom-
men hinzu. Die Erklärung des Lehrers gebe nur das zum Verständnis
der Stelle nötige, schleppe nicht, wie gegenwärtig aus falscher Ambition
geschehe, alle möglichen Sachen zusammen. Sie zeige den Zusammen-
hang des Sinnes und mache auf die Schönheiten und Eigentümlich-
keiten des Ausdrucks aufmerksam, ziehe auch Ähnliches herbei und
zeige die Quelle an. Zuletzt ziehe sie die moralische Nutzanwendung
aus der Fabel: Orest und Pylades zeigen den Nutzen der Freundschaft,
Tantalus, wie schlimm die Begehrlichkeit. Bemerkenswerte Ausdrücke,
Die humaniatisdis Oymnaftialpädagogik, 65
fein Gedachtes und Gesagtes, ein Sprichwort, ein Beispiel, eine Sentenz
zeichne der Schüler im Text mit verschiedenen Zeichen an. Auch
mag er solche auf ein Blatt zusammenschreiben und dies an einen Ort,
wo es ihm oft vor Augen ist, an der Wand seiner Stube, auf dem
Deckel seines Buchs, anbringen; so prägen sich die Sachen dem Ge-
dächtnis ein. Daneben wird man auch kurz gefaßte Regeln der Rhe-
torik, der Poetik, auch der Dialektik geben. Der beste Lehrmeister
aber der Rede bleibt der Schreibstift Man gebe daher häufig Argu-
mente zur lateinischen oder griechischen Bearbeitung, einen kleinen
Brief, eine kleine Erzählung, eine Argumentation, ein Lob, einen Tadel,
ein Gleichnis, eine Fabel u. s. f. Man lasse ein Gedicht in Prosa auf-
lösen und umgekehrt Eine vorzügliche Übung ist die Übertragung
aus dem Griechischen in das Lateinische. Allmählich überläßt man
ihnen auch mehr und mehr die Erfindung, man giebt bloß die Auf-
gabe: einen Brief, der anmahnt, abmahnt, beglückwünscht empfiehlt,
tröstet; eine Rede, Tadel des Cäsar, Lob des Sokrates, Reichtum mache
nicht glücklich, Uxorem esse ducendam aut non ducendam, M, Horatium
indignum esse supplicio etc. Doch muß man den Schülern am Anfang
einige Winke geben über die Ausführung.
Eine detaillierte Anleitung zur Elo(j[uenz giebt Erasmus in der
gleichzeitig erschienenen Schrift De duplici copia verborum ac rerum
(Opp. I, 3 — 110). Die copia verborum besteht darin, daß man syno-
nyme, verwandte, metaphorische Ausdrücke zu finden, die copia rerum
darin, daß man Argumente, Beispiele, Vergleichungen u. s. f. beizubringen
und auszuführen versteht Der erste Teil geht dann die einzelnen
Formen der variatio durch, immer mit vielen Beispielen: die variatio
durch Synonymie, durch Enallage, dm-ch Metapher, durch Allegorie,
durch Katachresis, durch Onomatopoeie, durch Metalepsis, durch Meto-
nymie, durch Synekdoche, durch AequipoUenz, durch Veränderung der
sprachlichen Beziehung, durch Amplifikation, durch Hyperbel etc. Er
zeigt dann die Sache an einem durchgeführten Beispiel, indem er
zwei Sätze: Taae litter ae me nuigiwpere delectarunt und: Semper dum
vioamy tui meminero, jeden in mehr als 150 verschiedenen Wen-
dungen wiedergiebt Es sind die beiden Sätze, auf welche Ebasmus
durch seinen ausgedehnten Briefwechsel besonders eingeübt war, aber
allerdings ist der Reichtum und die Biegsamkeit seiner Sprache eine
ganz erstaunliche. Dann folgen in langer Reihe formulae statuendi,
assentiendiy dissentiendi, precandi, dubitandi etc., Formeln, welche Not-
wendigkeit, Möglichkeit, Ziemlichkeit, Nützlichkeit etc. ausdrücken,
Formeln und Wendungen, Komparativ und Superlativ zu variieren etc.
Der zweite Teil lehrt sodann die Dilatation und Locupletation, welche
Faulte n, Unterr. Zweite Aufl. I. 5
66 Ij 3. Der Humanismus und sein Bildungsideal,
durch Entwickelang, Beschreibung, Amplifikation, loci communes, Bei-
spiele, Gleichnisse u. s. w. geschieht
Ein spezielles Gebiet der Eloquenz behandelt die Schrift De ratione
canscribendi epistolas (1520; I, 345). Es ist ein humanistischer Brief-
steller, der über alle beim Briefschreiben in Betracht kommenden
Funkte Auskunft giebt und zugleich Muster eleganter Ausführung von
Briefen jeder Gattung darbietet. Schon früher hatte Erasmus aus-
gewählte Briefe aus seiner wirklichen Korrespondenz zu veröffentlichen
begonnen. In den Colloquia familiaria, welche im Jahre 1518 zum
erstenmal erschienen, gab er ein Schullesebuch, dessen Inhalt Gespräche
über alle möglichen menschlichen Angelegenheiten bilden. Über den
Zweck desselben hat er sich in einer nachträglich angehängten Apologie
ausgesprochen; es sei ein doppelter: erst-ens, spielend ein elegantes Latein
beizubringen, zweitens, zu Lebensweisheit und guten Sitten anzuleiten.
Da aber ein gut Teil der Lebensweisheit darin bestehe, die thörichten
Begierden und die unsinnigen Meinungen des Haufens zu kennen, so habe
er Gelegenheit geben wollen, diese aus seinem Buch kennen zu lernen,
damit man nicht der Lehrerin der Thoren, der Erfahrung, Lehrgeld
zu zahlen nötig habe. Daß das Buch dem ersten Zwecke besser an-
gepaßt sei als dem zweiten, wird Erasmus freilich vergeblich bestreiten ;
namentlich läßt sich nicht leugnen, daß geschlechtliche Verhältnisse
häufig in lasciver Weise behandelt sind. —
Noch füge ich über die Aufnahme des Griechischen in den
Kreis der gelehrten Studien eine Bemerkung hinzu.
Die Kenntnis der griechischen Sprache war im Mittelalter eine
gelehrte Seltenheit Petrarcha zählte im Jahre 1360 die Italiener zu-
sammen, welche des Griechischen kundig seien: in Florenz drei oder
vier, einer in Bologna, zwei in Verona, einer in Sulmona, einer in
Mantua, keiner in Rom (Voigt, II, 107). Noch mehr als 100 Jahre
später hätte man bei einer ähnlichen Auszählung in Deutschland nicht
einmal so viele zusammengebracht. Die älteren Humanisten, Celtis,
WiMPHELTNG, Bbbel, verstanden wenig oder gar nicht Griechisch.
WiMPHEiiiNG zählt im Isidoneus (c. 25) als des Griechischen kundige
Deutsche auf: R Agricola, J. Dalbebg, J. Tbithemiüö, J. Capnion,
C. Celtis.
Das hat nicht gehindert, daß das Mittelalter sein geistiges Leben
fast ausschließlich mit den Werken griechischer Denker nährte. Der
Wissenschaftsbetrieb an einer mittelalterlichen Universität bestand, wie
ein Blick in die Lektionsordnungen zeigt, fast ausschließlich in der
Erklärung und Aneignung der Schriften griechischer Philosophen,
Mathematiker, Astronomen, Mediziner. Man las sie in lateinischen
DcL8 Stvdmm des GriecfiischefL 67
Übersetzungen, zum Teil recht zweifelhafter Art, aber wie es scheint mit
voller Zufriedenheit und ohne Verlangen nach dem Original. Das
ist vielleicht nicht so befremdlich, als es uns, die wir durch die Schule
gewöhnt sind, griechische Autoren viel lieber gar nicht als in Über-
setzungen zu lesen, vorkommt Das Mittelalter hatte an den Schriften
ein auf den Inhalt gehendes, wissenschaftliches Interesse; es wollte aus
ihnen lernen und darum genügte ihm die den begrifflichen Inhalt
wiedergebende Übersetzung. Für die ästhetische Auffassung wurde da-
gegen die Form und damit ^ die Sprache wichtig, und endlich für das
philologisch-historische Studium, dem die Autoren Objekt und nicht
Subjekt sind, unentbehrlich.
Die beiden großen Propagatoren der griechischen Sprache in Deutsch-
land waren Reüchltn und Ebasmus, denen als Vorläufer R. Agricola
hinzugefügt werden kann. Sie selbst haben die Kenntnis des Griechischen
noch im Ausland, in Italien, Paris, England erworben; als Reüchlin
1522 starb, konnte man auf jeder deutschen Universität Griechisch
lernen. Von dem jung gestorbenen Agricola sind weitreichende An-
regungen in das nordwestliche Deutschland, namentlich auch durch
Vermittelung seines Freundes , des niederländischen Schulmeisters
Alexander Hegiüs, ausgegangen.^ Auch Reuchlen hat weniger
durch Schriften, als durch sein einflußreiches AVort und Beispiel zur
Ausbreitung der griechischen Sprache, „ohne deren Besitz niemand für
ganz gebildet gelten kann", beigetragen.^ Am Anfang und am Ende
seiner Laufbahn hat er auch als Universitätslehrer in Basel, Ingolstadt
und Tübingen Griechisch gelehrt. Den bedeutendsten Einfluß hatERASMus
geübt. Durch seine litterarische und persönliche Ubiquitüt hat er zur
Ausbreitung des Humanismus überhaupt und der Kenntnis des Griechi-
schen im besonderen mehr beigetragen als irgend ein anderer Mann.
Seine Schriften sind fast alle direkte oder indirekte Aufforderungen,
Griechisch zu lernen. Er selbst war einige Jahre lang Lehrer der
griechischen Sprache an der Universität zu Cambridge; er übersetzte
dort die griechische Grammatik des Theodorüs Gaza ins Lateinische.
Vor allem wichtig war aber die von ihm besorgte, im Jahre 1516 zu
* Ein paar Verse, in welchen Heoius die Unentbehrliclikeit der Kenntnis
dea Griechischen für alle wissenschaftlichen Studien ausspricht, findet man in
Pökels Schriftstellerlexikon S. 112. Sie schließen:
Qui Oraece nescity n^scit quoque dochis haben.
In summa: Qrajis debentur singula doctis,
' Man sehe die Dedikationsepistel, womit Reüchlin dem Kardinal Adrian
1518 eine hebräische Arbeit widmete? in R.s Briefwochsol , herausp^egeben von
Geiger, S. 283.
5*
68 I, 8, Der Humanisnms und sein Büdungsideah
Basel gedruckte erste Ausgabe des Neuen Testaments im Originaltext,
welcher er eine eigene, von der Vulgata abweichende lateinische Über-
setzung und erklärende Anmerkungen hinzufügte. Während seinev«^
Lebens erschienen von diesem großen Werk noch fünf Ausgaben.
Da die Ausbreitung der Kenntnis der griechischen Sprache ein
besonders geeigneter MaSst^ab für die Ausbreitung des Humanismus
überhaupt ist, so mögen hier einige Mitteilungen über die ersten in
Deutschland gedruckten Hilfsmittel Platz finden, welche ich aus Hora-
wiTz' griechischen Studien (Erstes Stück, Berlin 1884) entnehme. Eine
ältere Zusammenstellung dieser Litteratur giebt ein Artikel von J. Müller
über die Zwickauer Schulordnung von 1523 in den Neuen Jahrb. für
Philol. und Päd. Bd. 120, S. 476—486, 521—534.
Die Ijehrbücher der griechischen Sprache von Lascaeis, Chey-
soLOBAs, Th. Gaza waren in dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts
in Italien wiederholt gedruckt worden. Im Jahre 1501 wurde zu Erfurt
von Wolfgang Schenk zum erstenmal in Deutschland mit griechischen
Lettern gedruckt, und zwar eine Llaayfoyrj nQoq rcav ygafAfAUTcav
'EkXfjvcov s* Elementale Introductorium in Ideoma Graecanicnm, und Nie.
Marschalks Orthographia, Die beiden kleinen Schriftchen geben An-
leitung zur Kenntnis der griechischen Buchstaben und vermittelst dieser
zum Verständnis, zur Rechtsprechung und Rechtschreibung der zahl-
reichen Eigennamen und Eunstausdrücke, welche aus der griechischen
in die lateinische Sprache übergegangen sind. Die Orthographia ist
1511 zu Wittenberg wieder gedruckt worden. — Zu Tübingen
erschien 1512 eine Sammlung von G. Simler, dem Schüler Reüchlins,
dem Lehrer Melanchthons, verfaßter Schriften über die griechische
Sprache, darunter das wichtige Isagogicon s, Introductorium in litteras
Graecas, die erste in Deutschland verfaßte griechische Sprachlehre; sie
ist aus den eben erwähnten Grammatiken der Neugriechen zusammen-
gestellt und mit vielen Beispielen aus den Klassikern ausgestattet. —
1514 kam in Straßburg ein kleines Büchlein heraus, mit dem Titel:
Elementale Introductorium in Nominum et Verborum declinationes Graecas,
Graecas dictiones cum eorum ckaracteribus, accentibus ac vocum moderamentis
hie insertas offendas. Item Ilieronymi Aleandri Motten^is tabulae sane utiles
Graecarum Musarum adyta compendio ingredi cupientibus, Zector, eme, lege
et gaudebis, 1515 wurde zu Straßburg die Grammatik des Chrysoloras
und 1516 zu Basel die Grammatik des Th. Gaza abgedruckt. In
Leipzig erschien 1516 von R. Crocüs ein Büchlein: Tabulae Graecas
litteras compendio discere cupientibus sane quam utiles , dem Rat zu
Leipzig und der philosophischen Fakultät daselbst gewidmet und von
jenem mit einem Privileg gegen Nachdruck auf vier Jahre versehen.
Verhältnis des Humanismus zur Philosophie. 69
In demselben Jahre druckte Fkoben in Basel für seinen Sohn eine
griechische Fibel: Älphabetum Graecum mit den üblichen Lesestücken:
oratio dominica, Angelica salutatio, Symbolum etc. HoRAWiTZ teilt sodann
noch ein üngedrucktes griechisches Gesprächbüchlein, von Reuchlin
veri"aßt, mit, welches eine Anzahl griechischer Wöri;er und Wendungen
mit lateinischer Übersetzung enthält; sowie einen kleinen Traktat über
die Dialekte. — Im Jahre 1518 erschienen zum erstenmal zu Hagenau
Melanchthon's Institutiones Graecae grammaticae; sie folgen, nach
Müller, wesentlich der Grammatik Simlers. Melanchthons Lehr-
buch wurde das hen*schende; im Corp. Reform. XX, 15 — 179, wo auch
ein Abdruck sich findet, werden 44 Neudrucke bis zum Jahre 1622
aufgezählt. Dasselbe enthielt übrigens, ebenso wie die vorhergehenden,
zunächst nur die Formenlehre. Es empfiehlt sich auf dem Titel der
ersten Auflage mit den Worten: proderunt haec non solum Graeca dis*
centibus, sed iis etiam, qui non turpissime Latina tractare conantur.
Ich schließe hier eine allgemeine Bemerkung über das Verhältnis
des Humanismus zur Philosophie und den Wissenschaften an. In
gewissem Sinne steht er zu ihnen im entschiedenen Gegensatz. Zu-
nächst insofern, als er die herkömmliche Universitätsphilosophie, das
heißt aber den ganzen Wissenschaftsbetrieb der Zeit verachtet und
verabscheut: Logik und Physik, Metaphysik und Ethik, wie sie aus
den aristotelischen Texten geschöpft und in Vorlesungen und Dispu-
tationen verarbeitet werden, sind ihm sinnloses und barbarisches Ge-
schwätz. Und von der Jurisprudenz und Theologie denkt er nicht
viel besser. „Sophisten", in dem verächtlichen Sinne des Worts, ist
bei den Humanisten die ständige Bezeichnung der Vertreter des über-
lieferten Wissenschaftsbetriebs. Wobei denn freilich nicht zweifelhaft
ist, daß die antiken Sophisten in den humanistischen Poeten und
Oratoren viel eher als in den alten Universitätsgelehrten geistige Ver-
wandte erkannt hätten: die humanistische Prunkrede gleicht ihrer
Kunst viel mehr, als die schmucklose BegriflFsentwickelung der alten
Philosophen und Theologen. ^
^ Hertzbero giebt in der Geschichte Griechenlands (1875), III, 95 ff. eine
Beschreibung der Sophistik, wie sie im 3. Jahrhundert zu Athen blühte und
die Philosophie mehr und mehr in den Hintergrund drängte; sie paßt ohne
weiteres auf den Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts. Was das Alter^
tum bei den Sophisten suchte und fand, das war „formale Bildung*^; man hatte
seine Freude „an der kunstvollen Deklamation, an den großen Paradestücken
der einheimischen wie der wandernden Sophisten, die durch ihre virtuose Form,
edle Harmonie der Perioden, rauschenden Tonfall, melodischen Wohlklang,
korrekten Ausdruck und eingewebte Worte klassischer Dichter, seltener dagegen
durch bedeutenden Stoff und originelle Gedanken ausgezeichnet waren^S „Bei
70 ly 3. Der Humanismus und sein Bildungsideal.
Aber noch in einem weiteren Sinne besteht zwischen dem Humanis-
mus und der Philosophie und Wissenschaft ein Gegensatz. Wissen-
schaftliches Denken ist durch die Richtung auf das Objekt, durch die
BinduDg des Gedankens durch den Begriff bestimmt. Der Humanismus
empfindet in seinem tiefsten Innern Abneigung gegen den Begriff, er
will nicht die Unterordnung des Subjekts unter die Sache, ihm dient
die Sache zur Darstellung des Subjekts. Er ist die litterarisch-ästhetische
Richtung, im Gegensatz zur philosophisch-wissenschaftlichen. Man kann
die ganze Geschichte unseres geistigen Lebens durch die abwechselnde
Vorherrschaft dieser beiden Tendenzen beschreiben. Wie in einer
Pendelbewegung lösen einander philosophisch -wissenschaftliche und
litterarisch-poetische Zeitalter ab. Die zweite Hälfte des Mittelalters,
das Zeitalter der Scholastik, ist durch das entschiedene Übergewicht
des verstandesmäßigen, schulgerechten Denkens gekennzeichnet; es folgt
die Renaissance mit ebenso ausgesprochenem Übergewicht der Phantasie-
thätigkeit im künstlerischen Schaffen und poetischer Imagination, die
Humanisten leben in ihrem imaginierten Altertum, wie in einer Traum-
welt. Die Reformation leitet den neuen Umschwung ein; die theologische
Arbeit an der neuen Dogmatik führt die Scholastik wieder herauf; zu-
gleich beginnt die neue mathematisch-naturwissenschaftliche Forschung
sich zu erheben, aus der dann die neue mathematisch begründete und
in mathematischer Form denkende Philosophie erwächst, wie sie in dem
System Spinozas ihren Höhepunkt, in dem System Che. Woleps ihre
weiteste Ausbreitung erreicht. Im Zeitalter der Aufklärung hat die
verstandesmäßige Ansicht aller Dinge das absolute Übergewicht er-
reicht. Aber nun kommt wieder der Umschwung, er beginnt mit
Klopstock und Winckelmann, Poesie und Kunst erobern wieder die
Herzen, wirkliche Poesie und Kunst, nicht jene verstandesmäßige Schul-
poesie und akademische Kunst des späteren Klassizismus; in dem Neu-
humanismus, in Goethe gipfelt die Welle, in der Romantik überstürzt
aUen amtlichen Geschäften, im Reichs- und Gemeindedienst, bei allen Prozessen,
in allem freieren geselligen, im beruflichen und litterarischen Verkehr, war
wohlgeschulte Wohlredenheit, zierliche Diktion und graziös-gewandte Feder-
führung** für den Gebildeten eine notwendige Sache. Die Mittel, diese Dinge
zu lernen, waren: „das Studium der Alten, namentlich der großen Historiker,
Dichter, Redner; daran sich knüpfende Übungen und Erörterungen aller Art,
zuerst philologisch-kritischer Natur, Pflege der Geschicklichkeit aus dem Steg-
reif zu reden, endlich die Anleitung zu selbständigen größeren Vorträgen, die
dann von dem Professor und den anderen Zuhörern geprüft wurden; die Kjrone
des Unterrichts waren die didaktischen Vorträge und die Paradestücke des
Professors«.** Das alles paßt auf die Oratoren des Humanismus, als ob es direkt
über sie gesagt wäre.
Verhältnis des Humanismus zur Philosophie, 71
sie sich, und bringt in ScHELLma und Schopenhaueb ihre Philosophie
hervor. Der Kückschwnng des Pendels beginnt mit dem neuen Vor-
dringen der exakten Forschung, der Verachtung der „Naturphilosophie",
der Entwickelung der Technik, der Zurückdrängung der idealistischen
durch eine materialistische, der romantischen durch die liberalistische
Denkweise. In diesem Sinne also kann man den Humanismus als
eine Evolution der „unwissenschaftlichen" Richtung des Geistes be-
zeichnen.
Andererseits wäre es nun freilich thöricht zu sagen, daß dieses
Zeitalter für die Erkenntnis der Dinge überhaupt kein Interesse gehabt
oder nichts geleistet habe. Mit Recht wird von den Tagen der
Renaissance das „Wiederaufleben der Wissenschaften" datiert; die
ganze wissenschaftliche Entwickelung der Neuzeit hat hier ihre
Wurzeln. Das gilt unmittelbar von der philologischen und historischen
Forschung; sie ist durch den Humanismus zunächst für das Altertum,
dann aber auch für Christentum und Mittelalter überhaupt erst er-
öffnet worden. Und dieser Arbeit, die freilich nach der AuflFassung des
Mittelalters und des Altertums nicht eigentlich zur Philosophie und
Wissenschaft gehört, als welche es mit dem Allgemeinen zu thun hat,
verdankt die Neuzeit das helle geschichtliche Selbstbewußtsein, wodurch
sie von dem in unhistorischem Bewußtsein hindämmernden Mittelalter so
bestimmt geschieden ist.
Aber auch die Philosophie selbst ist nicht leer ausgegangen. Zu-
nächst wurde sie durch den Humanismus vom Joch der Autorität be-
freit; die Herrschaft des Aristoteles wurde gebrochen, und mit ihr
zugleich die Herrschaft der Theologie über die Philosophie. In der
Erneuerung der platonischen Philosophie kommt das Streben des
modernen Geistes nach selbständiger Erfassung der Wirklichkeit zu-
erst zur Erscheinung; ein zum Poetisch -Phantastischen neigender,
naturalistischer Pantheismus, das ist die Philosophie der Renaissance.
Mit Ablehnung des allzu verständigen Aristoteles, mit Anlehnung an
die platonisch-neuplatonische Spekulation, wobei denn auch manches
Element trüberer Herkunft Verwendung findet, sucht man eine tiefere,
in das Innerste der Dinge reichende, Makrokosmus und Mikrokosmus
aufs innigste ineinander schlingende Erkenntnis zu gewinnen. Diese
Richtung geht durch das ganze 16. Jahrhundert; wir finden sie schon
bei Cei/tis und Mütian, bei Reuchlin und Tbithemiüs, bei Agrippa
VON Nettesheim und Pabacelsus, in Giordano Bruno kommt sie
zum bestimmtesten Ausdruck. Sie bethätigt sich überall darin, daß
sie den Mut giebt, neue und unerhörte Ansichten der Dinge zu suchen.
Auch die neue kosmologische Weltansicht, die kopemikanische, steht
72 I, 3, Der Humanismus und sein Bildungsideal,
damit im Zusammenhang. Freilich auch all die okkultistisch-magischen
Bestrebungen dieses faustischen Zeitalters, Astrologie, Alchymie, Magie,
Mantik, Spiritismus, Zauber- und Hexenwesen; es ist bemerkenswert,
daß die Aufklärung des aufgeklärtesten Humanisten an diesen Dingen
nirgends Anstoß nimmt; ja man kann sagen, sie hilft dem dämono-
logischen Spukglauben durch Erschütterung des Vorsehungsglaubens
den Weg bahnen. Aber auch hier gilt, daß das Staunen der Anfang der
Philosophie ist. Daß man sich von den herkömmlichen Meinungen
über die Dinge zu den Dingen selbst wendet, das ist der entscheidende
Punkt; und hierauf hat ohne Zweifel der Humanismus hingewirkt
Übrigens hat er auch dadurch der neuen Wissenschaft vor-
gearbeitet, daß er die wissenschaftliche Arbeit des Altertums in ihrer
ursprünglichen Gestalt, unabhängig von der mittelalterlichen Tradition,
der Zeit wieder zugänglich machte. Die großen Mathematiker und
Astronomen, Peuebach, Regiomontanüs, Copebnicus, waren alle
fleißige Leser und zum Teil Bearbeiter ihrer griechischen Vorgänger. —
Zum Schluß ein Wort über das Verhältnis der deutschen Huma-
nisten zum Vaterland und zur Kirche. Es ist üblich, ihren Patrio-
tismus zu rühmen; sie selbst hätten ein lebendiges Gefühl für die
Ehre ihres Volks gehabt und dies Gefühl auch breiteren Kreisen mit-
geteilt — Ohne Zweifel ist es wahr, daß bei humanistischen Schrift-
stellern lebhafte Äußerungen derartiger Gefühle sich häufig finden,
nicht minder auch rhetorische Deklamationen über das Alter, die Vor-
nehmheit und Würde des deutschen Volks. Ich meine aber, täuschen
würde sich, wer bei ihnen nun volkstümliche Denkweise oder auch nur
Verständnis und Empfindung für die Eigenart des deutschen Volkes
suchen wollte. Sie fehlen nicht allen, bei einem Mann wie Wimphe-
LiNG oder Beatüs Rhenanüs ist wohl etwas davon vorhanden, bei
den Oberdeutschen und Schweizern, wie es scheint, häufiger als bei
Mittel- und Niederdeutschen. Dagegen ist bei vielen, oder, man muß
doch sagen, bei den Humanisten als solchen die Geringschätzung des
Heimischen ein wesentlicher Zug in der geistigen Physiognomie; sie
schämen sich der Heimat als des Landes der Barbarei. Die Sprache
und Dichtung ihres Volkes ist ihnen ein Gespött, der Reim eine Er-
findung der Goten oder Hunnen, Baukunst und Bildnerei ein Erzeug-
nis gotischer Barbarei; bis ins 18. Jahrhundert bis zu den Tagen, da
Goethen die Schönheit des Straßburger Doms aufging, ist „gotische" Bau-
kunst ein Beiwort, das wegwerfendste Verachtung ausdrückt Und nicht
anders steht es mit dem heimischen Recht und der heimischen Sitte:
ein AflFe der Franzosen im 18. Jahrhundert war dem deutschen Wesen
nicht mehr entfremdet, als mancher humanistische Schwätzer und
Verhältnis des Humanismus zu Volkstum und Kirche. 73
Schönredner. Die Abwerfung des heimischen Nameps ist das Symbol,
daß man das Land der Barbaren hinter sich gelassen und in dem inter-
nationalen Beich der Bildung als Burger Aufnahme gefunden habe. Daß
in diesem Reich der Bildung die Italiener die erste Rolle spielen, daß
sie die deutschen Ankömmlinge nicht als gleichberechtigte YoUbürger
wollen gelten lassen, der Neid und Haß hierüber ist es eigentlich, was
den humanistischen „Patriotismus^' aufstachelt und zu zornigen Dekla-
mationen gegen die Welschen begeistert. Und dieser Patriotismus
erhält neue Nahrung durch die überall sich fühlbar machende Kon-
kurrenz der Italiener, vor allem bei der Pfründenjagd, und über-
haupt durch die Ausbeutung Deutschlands durch die römische Kirchen-
herrschafL Abwerfung dieser Fremdherrschaft und Erzwingung der
Gleichstellung in der Bildungsehre, darauf ist der humanistische Patrio-
tismus gerichtet. Vom Volksleben dagegen sind sie durch ihren sozial-
aristokratischen Bildungshochmut völlig geschieden; der Gedanke, das
ganze Volk mit der neuen Bildung zu durchdringen, liegt ihnen, so
viel ich sehe, völlig fern; das odi profanum vulgus gehört zum Standes-
charakter des Humanismus überhaupt. Hoffartiger hat sich schön-
geistige Bildung niemals vom Volk losgelöst als in den Poeten und
Oratoren der Renaissance.
Was das Verhältnis des Humanismus zur Kirche anlangt, so ist
neuerdings, z. B. von Hartfeldeb, betont worden, daß das Verhältnis
kein feindseliges gewesen sei, daß viele Humanisten mit der Kirche
in gutem Einvernehmen gelebt hätten. Gewiß ist das der Fall; mit
Päpsten, wie Leo X., mit Bischöfen, wie Dalberg und Albrecht von
Mainz, und die Zahl der Namen könnte sehr vermehrt werden, lebten
die Oratoren und Poeten auf bestem Fuß, fanden sie doch an ihnen
fireigebige Gönner und Bewunderer. Nur wolle man die Freundschaft
weltlich gesinnter Kirchenfürsten nicht als Zeugnis für christliche Ge-
sinnung auslegen. Allerdings giebt es unter den Humanisten auch
Leute, die zum Christentum ein innerliches Verhältnis haben, oder um-
gekehrt, Leute, die auf dem Boden des alten kirchlichen Christentums
stehen und dabei für klassisches Latein und auch für die Weisheit
und Bildung des Altertums Sinn haben, so der Straßburger Kreis, so
später Melanchthon und seine Gesinnungsgenossen. Dagegen stehen
die Männer, die sich selber als die eigentlichen Träger des neuen
Geistes vorkamen, Ebasmus, Mutian, Hütten, von Celtis und den
übrigen fahrenden Poeten nicht zu reden, dem eigentlich Christlichen
gleichgültig oder feindselig gegenüber. Hierin hat Luther sich gewiß
nicht getäuscht. Auch fehlt bei ihnen nicht ein Stück Haß gegen die
Kirche, Haß natürlich nicht gegen die Pfründen verleihende, in glän-
74 ly 4, Die humanistiscfie Reformation der Universitäien,
zendeD, knnstliebenden Höfen sich darstellende, sondern gegen die alte,
christlich-volkstümliche Kirche, die mit ihren Forderungen und Regeln
den humanistischen Freigeistern Leben und Glauben beengte. Der
Haß ist die Beaktion gegen den Druck klösterlich-kirchlicher Disziplin,
den manche, wie Mcjtian oder Eeasmus, selbst erfuhren oder erfahren
hatten. So leicht die Kirche ihnen das Joch machte, so blieb doch der
Stachel im Herzen und sie lassen keine Gelegenheit vorüber, von den
alten kirchlichen Ordnungen mit der spöttischen Miene des Libertinisten
zu reden. Und dasselbe gilt von dem Glauben der Kirche; als auf-
geklärte Leute fühlen sie sich weit darüber erhaben. Dabei sind Auf-
klärung und Libertinismus durchaus nicht notwendig ein Hindernis
für die äußerliche Unterwerfung unter die kirchlichen Ordnungen; die
skeptische Aufklärung hat zu dieser sich allezeit ohne viel Umstände
bequemt, wo das Bekenntnis des Unglaubens mit Nachteilen verbunden
war. Von einem fahrenden Poeten wird berichtet, daß er auf die
Frage: ob er an die Dreieinigkeit glaube? ohne Besinnen geantwortet
habe: lieber als brennen, würde ich auch an die Viereinigkeit glauben.
Viertes Kapitel.
Die humanistisclie Beformation der Universitäten.
Ich will in diesem Kapitel die Umgestaltung, welche die Univer-
sitätsstudien durch die humanistische Bewegung erfahren haben, an
den einzelnen Universitäten nachweisen. Es ist dieser Vorgang bisher
zu wenig beachtet worden. Über dem Widerstand, den einzelne Ver-
treter des Humanismus erfuhren und, als sakrilegischen Angriff auf
ihre geheiligte Person und Mission beschrieen, hat man übersehen,
daß die Universitäten in sehr erheblichem Maß dem Geist der Zeit
nachgegeben hatten, als durch den Ausbruch der Kirchenrevolution
die weitere Entwickelung abgebrochen wurde.
Das Verständnis der Kämpfe, mit welchen die deutschen Univer-
sitäten in den zwei ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts erfüllt
waren, mag eine Skizze von ^ 'dem lieben und Treiben einer jener Per-
sönlichkeiten vorbereiten, die gleichsam als Pioniere des Humanismus
der geordneten Ansiedelung voraufgingen: Petbus Ludeb.^
' Wattenbach hat in Momes Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins,
Bd. XXn, 33—127, XXIII, 21—89, XXVII, 95—99 über Luder mit dankens-
werter Ausführlichkeit gehandelt und eine Anzahl sehr interessanter Briefe und
Dokumente aus Handschriften mitgeteilt Die Aufsätze sind auch besonders
Petnis Luder, 75
Ein Pfälzer von Geburt, hatte Luder auf langer Studienwander-
sohaft in Italien humanistische Bildung und Lebensart sich angeeignet.
Als bejahrter Mann erschien er 1456 wieder im Vaterlande. Pfalzgraf
Friedrich, der mäcenatische Anwandlungen spürte, gab ihm einen Ge-
halt, wofür er in Heidelberg Poesie und Rhetorik lehren sollte. Den
Anschlag und die Rede, womit Ludeb der Universität sich vorstellte,
hat Wattenbach mitgeteilt. In jenem wird als die Mission, welche
der Fürst ihm zugedacht hab^ bezeichnet: die beinahe gänzlich in
Barbarei gesunkene lateinisclNS^prache an der Universität wieder her-
zustellen, und zwar durch Vorlesungen über die Humanitätsstudien,
das ist über die Bücher der Poeten, Oratoren und Historiographen.
Die am 15. Juli 1456 gehaltene Antrittsrede, so viel ich weiß die erste
derartige Rede an einer deutschen Universität, ihre Nachfolgerinnen
zählen nach Hunderten, ist eine Lobrede auf eben diese Humanitäts-
studien; besonders ist sie bemüht von der Poesie den Vorwurf abzu-
wenden, daß dieselbe, wie ihre Verfolger sagen, Buhlschafken und
Schandthaten besinge. Gewiß, sagt Ludeb, das ist so; aber enthalten
nicht auch die heiligen Schriften solche Din^? „Wir gewinnen Rosen
von den Domen und Gold aus dem Kot." -^ Die Korporation nahm
den Poeten nicht ohne Mißtrauen auf, ob es sich mehr gegen die
Person oder gegen die Humanitätsstudien richtete, wird nicht ganz aus-
zumachen sein. Aus dem bedeutenden Ankauf humanistischer Bücher,
welchen die Artistenfakultät kurz vorher gemacht hatte, möchte man
auf ersteres schließen. Daß die Persönlichkeit Ludebs einem nicht
ganz Weitherzigen einigen Anstoß geben konnte, geht aus den von
Wattenbach mitgeteilten Briefen hervor: die chronische Geldnot und
Borgsucht, eine spezifische Poetenkrankheit, wurde den Kollegen nur
zu bald bekannt und vielleicht tröstete nicht jeden, daß die Bitte um
ein Darlehn, meist um 1 oder 2 fl., in lateinischen Versen abgefaßt
waröi/Auch hinsichtlich der Buhlschaften und des Zechens hatten die
Bedenklichen leider nicht unrecht gehabt. Nimmt man hinzu, daß
Ludeb, der schon um 1430 in Heidelberg studiert hatte, noch keinen
akademischen Grad besaß, so scheint es in der That nicht notwendig,
einen Haß gegen die Humanitätsstudien bei dem würdigen Professoren-
gedruckt (Karlsruhe 1860), mit einem Anhang, der interessante Stilübungen aus
einem Kreis von Leipziger Studierenden enthält, die unter humanistischen Ein-
flüssen standen; man sieht daraus namentlich eins: wie sehr galante Abenteuer
als zur eleganten Latinität gehörig empfunden wxirden; auch wer sie nicht er-
lebte, hielt sich doch, als ein Mann, der nach Bildung strebt, filr verpflichtet, sie
zvL erfinden, um Stoff für die Darstellung zu haben. Lüder brauchte übrigens
nicht zur Erfindung zu greifen.
76 /, 4. Die humanistische Reformation der Universitäten,
koUegium vorauszusetzen, um sein Verhalten gegen den Poeten erklär-
lich zu finden, der mit so großem Erheben der Stimme sich als zu
ihrer Entbarbarisierung gesendet ankündigte. Übrigens widerfuhr ihm
nichts, als daß er 1457 seine Vorlesungen in das Augustinerkloster
zu verlegen sich veranlaßt sah, was er in einem überaus giftigen An-
schlag bekannt machte (Mone, XXIII, 22). Seine Vorlesungen scheinen
jedoch für das größere Studentenpublikum wenig Anziehungskraft ge-
habt zu haben. Dagegen gewann er unter den juristischen und theo-
logischen Professoren und dem hohen Adel einflußreiche Gönner.
Als die Universität Heidelberg des Kriegs halber im Jahre 1460
sich zerstreute, zog Luder nach Erfurt. In der Matrikel findet er
sich als Poet {professus poesim) eingeschrieben, und zwar gratis, aus
Achtung. Er selbst war mit der Aufnahme, die er fand, außerordentlich
zufrieden. Hier, so schrieb er seinem in Heidelberg zurückgebliebenen
Freunde Matthias von Kemnat, Kaplan des Pfalzgrafen, sei er bei
gebildeten Männern, die für Wissenschaft und Litteratur Verständnis
hätten. Mit Freude und Stolz habe man ihn als einen vom Himmel
gesendeten Mercurius aufgenommen; die gesamte Universität habe ihn
durch den Rektor bitten lassen, daß er ihr die Ehre anthue, ihr Mit-
glied zu werden, und da er eingewilligt, ihm für seine Vorlesungen
den besten Hörsaal zur Verfügung gestellt. Mehr zu sagen verbiete
ihm die Bescheidenheit. Ofienbar ist das mit der der humanistischen
Eloquenz eigenen Freiheit in der Einkleidung von Thatsachen erzählt,
bei anderen Menschenkindern würde man sagen: aufgeschnitten. Die
Absicht der Aufischneiderei ist auch ganz durchsichtig; er fügt mit
naiver und man möchte sagen liebenswürdiger Oflenheit gleich hinzu:
ohne Zweifel werde er hiernach mit großen Ehren und vielem Geld
heimkehren; darum möge Matthias die Gläubiger vertrösten und seiner
verlassenen Thais sich annehmen.
Trotz des Empressements der Erfurter blieb Lüdeb nur ein Jahr.
1462 taucht er in Leipzig auf und verkündet hier mit derselben Rede,
die er schon in Heidelberg gehalten und in Erfurt wiederholt hatte,
daß das Beich der Humanität nahe herbeigekommen sei. Und am
schwarzen Brett schlug er an: wer sich dafür interessiere, eine anstän-
dige Ausdrucksweise sich anzuschaflen und die abscheuliche Barbarei
abzuthun, wer nicht länger die Ohren der Menschen durch sein Küchen-
latein beleidigen wolle, der möge seine Vorlesungen über Terenz an-
nehmen, dreien könne man umsonst anwohnen. Leider begegnete ihm
in demselben Anschlag ein Grammatikaischnitzer, und so groß war die
Barbarei der Leipziger nicht, daß sie ihn nicht bemerkt hätten, mit
Triumphgeschrei stellten sie ihn öffentlich zur Schau: tres lectionesinteresse!
Conrad CeUis. 77
Ob der unglückliche Accnsativ oder andere Umstände Ursache
waren, jedenfalls blieb Ludeb nicht lange in Leipzig. 1464 gaben ihm
die Baseler einen Gehalt, damit er an ihrer Universität Poesie und
Rhetorik lehre. Zuletzt erscheint er im Dienst Herzog Sigismunds von
Österreich, als dessen Bedner er unter anderen eine Ansprache an den
König von Frankreich hielt. ^
Es hätte kein Interesse gehabt bei Ludeb zu verweilen, wenn er
nicht eine typische Erscheinung wäre. AUe die Züge, die ihn charak-
terisieren, die hochfahrende Verachtung der alten Wissenschaften und
ihrer Vertreter, die renommistische Anpreisung der neuen Bildung, die
libertinistische Zerfahrenheit des Lebens, die nicht etwa entschuldigt
und verborgen, sondern als ein Zeichen der Freiheit des Geistes und
einer fortgeschrittenen Bildung in Reden, Briefen und Gedichten auf-
gezeigt wird: alle diese Züge bilden den Standescharakter einer ganzen
Gruppe fahrender Humanisten, welche während des folgenden halben
Jahrhunderts auf den deutschen Universitäten erscheinen.
Auf einer höheren Stufe, geistig und gesellschaftlich, stellt Conrad
Celtis, ein lebhafter beweglicher Gel^^t, dem es weder an Blick für
die Dinge noch an poetischer Begabung fehlte, doch denselben Typus
dar.^ Eine große Meinung von der eigenen Begabung und seinem
Beruf, die Menschen zu bessern und zu bekehren, nämlich von der
Barbarei zur Bildung, macht die Grundlage eines ungemein gesteiger-
ten Selbstbewußtseins aus. Der Poet fühlt sich als den göttlichen
Seher, dem das Gericht aller Dinge übergeben ist; im besonderen ist
er der Verwalter des Nachruhms. Von der Höhe seiner Aufklärung
blickt er mit grenzenloser Geringschätzung auf die alte Bildung und
ihre Träger, die „Geschorenen", die Fakultätsinsassen, den Klerus und
die Mönche, herab; für sie ist ihm keine Beschimpfung zu grob. Aber
dieselbe hochfahrende Miene zeigt er, wenn er meint Grund zur Un-
zufriedenheit zu haben, auch seinen Gönnern. Als der Nürnberger Bat
* Erwähnt werden mag hier auch der Name eines anderen gleichzeitigen
Apostels der Poesie, welchen Wattenbach ans Licht gezogen hat, dem fahrenden
Bettelpoeten allerdings nicht zur Ehre: Samuel Karoch von Lichtenberg, in
MoNES Zeitschrift XXV, 38 — 50. Er taucht in Leipzig, Erfurt, Ingolstadt und
Heidelberg auf.
* Eine vortreffliche Charakteristik des Mannes giebt F. v.Bezold in v. Sybels
Histor. Zeitschrift, Bd. IL. Als Konrad Pickel ist er zu Wipfeld in Franken
1459 geboren; seinem Vater, einem Weinbauern, entlaufen, machte er seine
Stadien seit 1477 zu Köln, später kürzere Zeit zu Heidelberg. Nach langen
Wanderjahren, die ihn durch Italien, Deutschland, Polen führten, lehrte er,
seit 1487 der erste poeta laureatus Deutschlands, kurze Zeit zu Ingolstadt, dann
von 1497 bis zu seinem Tode 1508 in Wien.
78 I, 4, Die kumanistviche Reformalion der Universitäien.
ihm für seine Lobschrift auf die Stadt Nürnberg mit einem Geschenk
von 8 fl. dankte, machte er darauf ein Epigramm:
Octonos mihi Noricus senatus
Magni ponderis aureos dicavit,
Quos missos merito sed ipse sprevi.
Später, nach Überarbeitung der Schrift, geschickte 20 fl. — etwa
dem Jahresstipendium eines artistischen Magisters entsprechend — nahm
er wenigstens an, wenn auch nicht mit Dank. Überhaupt ist er, wie
alle Poeten, mit seiner Zeit und Umgebung sehr unzufrieden; die
schlechten Künste, Juristeri und Medizin und, leider, auch Theologie,
die stehen im Ansehen und nähren ihren Mann; die Musen müssen
betteln gehen und werden mit dürftiger Gabe abgefunden. Den Rat
aber, eine nährende Kunst zu lernen und zu üben, weist er weit von
sich; als Poet, als freies, souveränes Individuum verachtet er alles, was
das Leben bindet, Beruf und Familie, Seßhaftigkeit und Sitte. Einem
Poeten ziemt ein freies Leben, Wandern, Weiber, Wein — und Schulden,
sie sind das Element, wie seiner Dichtung, so seines Lebens; sie sind
auch sein Verhängnis geworden, wie so manches andern Poeten.^
Ich erinnere nochmals daran, daß durchaus nicht alle Träger der
neuen Bildung diesem Bilde gleichen. Die Agricola, Reuchlin,
Erasmüs, Wimpheltng, Melanchthon sind ehrbare und ernsthafte,
der Arbeit mehr als dem Lebensgenuß zugewendete Gelehrte; und sie
sind es schließlich gewesen, denen der Humanismus seine Erfolge
verdtinkt, sowohl die nächsten, das Durchdringen im gelehrten Unter-
richt, als die entfernteren, die Umgestaltung der historischen Welt-
anschauung unter dem Einfluß der geschichtlichen Erforschung des
Altertums und des Christentums. Aber in jener Gestalt, in der Er-
* An H. BüscHiüs, einen der eifrigsten Propagatoren des Humanismus,
Strauss nennt ilm sogar den Missionär desselben in Norddcotschland , schrieb
Trithemids im Jahre 1506 einen Brief nach Leipzig, worin er ihn mit freund-
schaftlicher Eindringlichkeit mahnt, von seiner libertinistischen Lebensweise
abzulassen: ,,flieh alle Seuchen der Seele, vor allem den Wein und die
Weiber, wer mit ihnen zu viel sich einläßt, dem geht alle Kraft zu Grunde,
der Sinn wird stumpf und Schande folgt Schone deine Augen, welche du
durch jene beiden Ursachen mit Wissen und Willen ruiniert hast, so daß
sie triefend und rot sind; schone das Vermögen, welches du mit Unterricht
mühevoll erwirbst, daß du nicht im Alter betteln gelien müssest. Nimm diese
Ermahnung nicht übel, denn du weißt, daß ich dir wohl will. — Es ziemt sich
nicht für einen gebildeten Mann, und wenn er auch ein Poet ist (etiamsi
poeta Sit), in Unzucht und Trunksucht, in Weichlichkeit und Üppigkeit zu
leben" (Trithemii opera II, 48 ff.). Das etiamsi sagt soviel als eine lange
Statistik. —
Die ühiversitäi Erfurt. 79
scheinung fahrender Poeten und Oratoren hat der Humanismus sich
den alten Universitäten zuerst vorgestellt und mit stürmischer Forderung
verlangt, daß ihm die alten Studien den Platz räumen sollten. Übrigens
haben sie doch auch gemeinsame Züge: Verachtung der herrschenden
Schulweisheit und- ihrer Träger, der Universitätsgelehrten und Kloster-
insassen, aristokratischer Bildungshochmut und Verachtung der Masse
und ihrer geistigen Welt sind Erasmus nicht minder eigen als Celtis
und BüscHiüs. Wegwerfung der ganzen alten Bildung zu Gunsten
einer neuen, aus dem Altertum zu schöpfenden fordert er so entschieden
wie sie. Der Sturm, den die jungen Poeten im zweiten Jahrzehnt an
allen Punkten auf die Universitäten eröffnen, geschieht unter seinem
und Beüchlins Namen. —
Der Humanismus ist von Süden und Westen her in Deutschland
eingedrungen; die alten Universitäten Wien und Heidelberg, sowie die
in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im südwestlichen Deutsch-
land neubegründeten Universitäten sind daher zuerst von der Bewegung
ergriffen worden. Dennoch will ich nicht mit ihnen, sondern mit den drei
großen mitteldeutschen Universitäten, Erfurt, Leipzig und Wittenberg,
die folgende Übersicht beginnen. Auf ihnen sind die großen Schlachten
zwischen den Poeten und den Sophisten, wie von jenen die Vertreter
der mittelalterlichen Philosophie und Theologie regelmäßig genannt
werden, geschlagen und von den Poeten gewonnen worden.
Erfurt führt den Reigen.^ Die Universität war um die Mitte
des 15. Jahrhundei'ts eine der besuchtesten und bedeutendsten unter
den deutschen Universitäten, wenn auch Luthers bekanntes Wort, daß
die übrigen zu ihr wie Schützenschulen sich verhalten hätten, eine
starke Übertreibung ist W^ie es scheint, war ein eigener Geist, der
sich freier in der Theologie und Rechtswissenschaft versuchte, hier ein-
heimisch. Als der erste einheimische und seßhafte Magister, *der huma-
nistische Bildung besaß und nicht ohne bedeutende Wirksamkeit lehrte,
tritt uns Maternus Pistobis entgegen, ein Elsässer, Schüler des
J. Tbutvettee, der auch Luthers Lehrer war. Im Jahre 1494 war
er Magister geworden und lehrte seitdem Poesie und Eloquenz, vorzugs-
weise römische Dichter erklärend. Neben ihm ist Nikolaus Marschalk
zu nennen, der auch des Griechischen kundig war. Um Mateknus sam-
melte sich allmählich eine kleine Schar von Schülern, unter denen
Cbotus Rubeanüs, Petkejüs Ebebbach, Eobanüs Hessus waren. Wie
^ Kampschultes vortreffliches Werk über die Universität Erfurt in ihrem
Verhältnis zu dem Humanismus und der Reformation giebt eine zuverlässige
and durchsichtige Darstellung dieser Bewegungen.
80 /, •/. Die kunianistische Reformation der Universitäten.
ihr Lehrer, so trieben auch sie friedlich neben der Poesie die Schul-
philosophie.
Das wurde anders, seitdem auf den Kreis der jungen Poeten ein
Mann Einfluß gewann, der in dem benachbarten Ootha als Kanoniker
lebte: Conrad Muth, genannt Mütianus Rüfus. Dieser Mann hat,
obwohl er als Schriftsteller sich gar nicht hat vernehmen lassen, für
die ganze Bewegung nicht geringe Bedeutung. Sein erst vor einigen
Jahren gedruckter Briefwechsel ist ein überaus charakteristisches
Denkmal des Denkens und Empfindens eines der fortgeschrittensten
unter den deutschen Humanisten. Er tritt uns hier, wo er sich seinen
jungen Freunden gegenüber ganz giebt, wie er ist, als vollständiger
Freidenker entgegen. Das geistliche Amt ist ihm als Versorgung wert,
es bietet dem nach langer Wanderfahrt Heimkehrenden behagliche
Muße; Beata Tranquillitds schrieb er über den Eingang seines Wohn-
hauses zu Gotha. Leider sind einige lästige Verpflichtungen mit dem
Amt verbunden, die sich auf die Dauer nicht ganz abwälzen lassen;
er muß die Fastengebote halten, die Messe lesen (freilich hat er die
erste erst zehn Jahre nach dem Antritt des Kanonikats gelesen) und
zu den Gottesdiensten im Chor erscheinen; er spricht oft mit bitterer
Indignation davon, daß ein gebildeter Mann, wie er, zu so gemeinen
Leistungen verurteilt sei: „Unter all den stupiden Tieren werde auch
ich zu einem trägen und stumpfen Esel, mein Latein und die Gabe
gebildeter Unterhaltung ist mir in dem Geschrei unter den Eseln, mit
denen ich zusammengejocht bin, abhanden gekommen." Selbstverständ-
lich hindert ihn das nicht, nach weiteren Pfründen fleißig Umschau
zu halten. Seine Philosophie ist ein naturalistischer Pantheismus, er
hat in Italien den dortigen synkretistischen Renaissancepiatonismus
eingesogen. Gegen die Kirche, ihre Lehre und ihren Kult, nimmt er
sich für seine Person die Freiheit der Geringschätzung heraus. Von
der Masse allerdings fordert er Respekt für dieselbe Kirche und er
tadelt Reüchlin, daß er öffentlich allzu frei über sie geredet habe:
„Er hätte", so heißt es in einem Brief vom Jahre 1513 (Krause S. 353)
„bescheidener handeln und die Rücksicht auf die Meinung der Massen
der Rücksicht auf seine eigene Ehre vorgehen lassen sollen. Die
Autorität der Kirche angreifen, und gar wenn man ihr Glied ist, das
verdient Vorwürfe und ist gegen die schuldige Pietät, auch wenn man
Irrtümer in ihr bemerkt Wir wissen, daß von den weisesten Männern
* Und zwar gleich zweimal: zuerst herausgegeben von C. Krause, 18S5;
sodann von K. Gilbeut, in den Gcschichtsquellen der Provinz Sachsen,
Bd. XVIII, 1890.
Die Universität Erfurt Mutian, 81
vieles erdichtet ist, aber wir wissen auch, daß es für das Leben besser
ist, wenn die Menschen mit religiösen Täuschungen hingehalten werden.
Anders faßt es der einfache Leser, anders der Gebildete. Jener nimmt
mit der einfachen Geschichte vorlieb, dieser spürt den Geheimsinn, die
Allegorien, die bildlichen Ausdrücke auf. Indessen ist es auf keine
Weise zulässig, die Mysterien auszuplaudern oder die gemeine Meinung
schwankend zu machen, ohne die weder der Kaiser sein Reich, noch
der Papst die Kirche noch wir das Unsere lange behalten würden.
Alles würde in das alte Chaos zurückrollen."^ Man meint Voltaiee
zu hören: wenn es keinen Gott gäbe, müßte man ihn erfinden; denn
was sollte sonst die Bauern abhalten, uns das Unsere zu nehmen oder
sie anhalten dem Grundherrn den Zins zu zahlen? In der That, es
ist völlig dieselbe Weisheit, die Weisheit Voltaibes und seiner Freunde
und Sie der italienischen Renaissance: Bildungshochmut und Verach-
tung der gemeinen Masse, Libertinismus und Freidenkerei für die
eigene Person verbunden mit politischer Schonung der Kirche und der
Religion: ihr wißt, wie großen Gewinn uns die Fabel von dem Christus
gebracht hat. Und hier wie dort wird diese Weisheit zu Schanden;
das Volk, dem derselbe Glaube, der den „Gebildeten" zum Gespött ist,
gerade gut genug sein soll, merkt die Sache und wirft ihn nun auch
als altmodisch beiseite, aber mit ihm auch die Bildung und die Ge-
bildeten, die es an der Nase führen zu können meinten.
Indessen, einstweilen liegen solche Gedanken der Beata Trau-
quilitcLs des Gothaer Kanonikers noch fem. Er freut sich der Aus-
breitung der neuen Bildung, der Schläge, die von Reuchlin und
E&ASMus dem Obskurantentum beigebracht werden. Der Kreis junger
Leute, die sich um ihn sammeln und gern von Erfurt zu den Kon-
vivien des gastlichen Hauses in Gotha hinüber kommen, vergrößert
sich von Jahr zu Jahr; zu den oben genannten Ceotüs, Peteejus,
EoBANUs Hessus gesellen sich nach und nach Spalatinus, Ulrich
V. Hütten, Euricius Cordus, Jüstus Menius, Justüs Jonas, Joachim
Gamebarius, Joh. Draco, Joh. Lang u. a. Der Briefwechsel Mütians
läßt uns unmittelbar in die Gedankenwelt dieses Kreises hineinblicken.
Die Unterhaltung geht auf Altes und Neues; die Alten werden taglich
gelesen und angeeignet, antiquarische und sprachliche Beobachtungen
gemacht, man übt sich fleißig in der Nachbildung, Mutian ist
der Richter, dem die Verse vorgelegt werden. Aber auch die persön-
lichen und die öffentlichen Angelegenheiten werden verhandelt, Pfrün-
den- und Eheangelegenheiten der Freunde kommen, nicht eben in
* Ahnlich Celtis; s. v. Bezold in Sybels Histor. Zeitschr. Bd. IL, S. 144 fr.
Pftulsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 6
82 If 4. Die htmianistische ReformaHon der Universitäten,
zarter Weise, zur Sprache, vor allem aber die litterarischen Händel;
die alten Gelehrten der Erfurter Universität, die Juristen, Artisten und
Theologen, werden fleißig durchgehechelt, hier sind ihnen die Beinamen
Sophisten, Philosophaster, Theologisten stereotypiert worden, mit denen
sie Jahrhunderte lang behaftet blieben. Daneben fehlt es übrigens
auch nicht an Moralisationen, an gelegentlichen Anwandlungen von
Frömmigkeit und Kirchlichkeit. Die Zerfahrenheit des Gemüts, das
keinen inneren Mittelpunkt hat, tritt uns in Mütian in typischer
Form entgegen.
Das litterarische Denkmal, worin dieser Kreis, der ordo Mutianiy
sich selber verewigt hat, sind die Briefe der dunklen Männer an
Ortuinus Gratius Sie sind hervorgerufen durch die Händel Keuch-
lins mit den Kölnern, die im Jahre 1509 wegen der Judenbücher
ausbrachen. Ein zum Christentum übergetretener Jude, Johannes
Pfefferkorn aus Köln, hatte auf Befragen des Mainzer Erzbischofs: wo-
her der fanatische Haß der Juden gegen das Christentum komme?
auf die talmudischen Bücher hingewiesen, die von den Babbinem zur
Beschimpfung des Christenglaubens verfaßt seien. Aus diesen Büchern
unterrichteten sie von frühester Jugend auf ihre Kinder, so daß diese
auch erwachsen von der Bosheit nicht zu lassen vermöchten und alles,
was sie gegen die Kirche und das Christentum verübten, für recht und
Gott wohlgefällig hielten.^ Es gelang, einen kaiserlichen Befehl zur
vorläufigen Beschlagnahme dieser Bücher und zur Untersuchung ihres
Inhalts zu erwirken, in der Absicht das Unerlaubte von dem Erlaubten
und Guten zu scheiden, und jenes aus der Welt zu schaffen. Da aber
trat Reuchlin für die Judenbücher ein und er setzte es durch, die
Sache zuerst hinzuhalten und zuletzt ganz zu verhindern. Die litte-
rarischen Kämpfe, deren Einzelheiten man in Geioers Reuchlin nach-
lesen mag, erregten eine Reihe von Jahren die gelehrte Welt aufs
tiefste; alles nahm Partei, entweder für Reuchlin, oder gegen die Juden-
bücher and ihre Beschützer, so vor allem die Kölner und Mainzer
Theologen und Juristen. Auf der Seite Reuchlins finden sich alle
Poeten und Oratoren, alles was zur Fahne der neuen Bildung schwört,
unter ihnen natürlich Mutian und sein Kreis.
All der Haß und Abscheu gegen die alte Bildung und ihre Ver-
teidiger, gegen die Kölner Theologen und ihren Anhang auf den
ftbiigen Universitäten, der sich bei ihnen im Lauf der Jahre ange-
ÄDunelt hatte, ergoß sich endlich in vollen Strömen in den Epistolae
LV
* So berichtet Pfefferkorn selbst über den Beginn des Handels in seiner
^^^^^••»Ä» gegen die DunkelmUnnerbriefe.
Die Dunkdmännerhriefe, 83
obscurorum virorum. Der erste Teil erschien im Herbst 1515, ein
zweiter folgte 1517. Die Verfasser haben sich nie genannt, vielmehr
auf das sorgfaltigste die Autorschaft verheimlicht. Doch ist es nicht
zweifelhaft, daß in erster Linie Cbotüs beteiligt war, ihm scheint die
Idee des Ganzen und wesentlich auch die Ausfuhrung des ersten Teils
zu gehören. An dem zweiten hat Hütten in hervorragendem Maße
Anteil gehabt. In naher Beziehung zu dem Unternehmen, das übrigens
auch dem Mutian ohne Zweifel bekannt war und vermutlich von ihm
auch mit Rat und Erfindung unterstützt wurde, standen noch Eobanus,
Petbejus, Büschius, Aesticampianüs.^
Die Episiolae obscurorum virorum geben sich durch ihren Titel als
das Gegenstück zu den Epistolae clarorum virorum, die im Jahre 1514
von Reuchlin veröfiFentlicht worden waren. Sind dies wirkliche, von
allen Humanisten Deutschlands an Reuchlin gerichtete und von ihm
^ Die Briefe haben eine sehr sorgfältige Bearbeitung darch Böckino, den
Herausgeber der Werke Huttens gefunden: Hutteni Operum Supplementum,
2 Bde., 1869. Leider ist der Herausgeber nicht unparteiisch genug gewesen,
um unter das massenhafte Material, das er angesammelt hat, auch die Zeug-
nisse zu Gunsten der Angeklagten aufzunehmen. Über die Entstehung der
Briefe ist außer Kampschulte noch Strauss' Leben Huttens (I, c. 8) und Krause,
Eob. Hessus I, 160 ff., sowie seine Einleitung zu dem Briefwechsel Mutians
S. LVff. zu vergleichen. Es ist erstaunlich, mit welcher Sorgfalt die Spuren
der Autorschaft verwischt sind; sie geht so weit, daß die Briefe des beteiligten
Kreises aus diesen Jahren bis auf zuföllige Reste vernichtet sind. — Es pflegt
noch immer als besonders pikantes und charakteristisches Vorkommnis erzählt
zu werden, daß die in den Briefen Verhöhnten die Sache anfangs nicht ge-
merkt, sondern die Briefe wirklich als specimina eruditionis aus ihrem Kreise
willkommen geheißen hätten. So nicht nur Burkhardt oder Schmidt (im Leben
Melanchthons), sondern selbst Böcking, Strauss, Geiger, Bursian. Die Ge-
schichte stammt von Erasmus; er erzählt sie in einem Briefe vom Jahre 1528
(Huttens Werke II, 442). Die englischen Franziskaner und Dominikaner seien
fiberzeugt gewesen, daß das Werk zum Schimpf Reuchlins und zu Gunsten der
Mönche veröffentlicht sei. Als einmal jemand mit ihnen den Spaß sich machte,
daß er nur am Stil sich ein wenig zu stoßen simulierte, da hätten sie ihn ge-
tröstet: man müsse nicht auf das Äußere der Rede, sondern auf den Sinn der
Gedanken sehen. So hätte auch ein Benediktinerprior in Brabant einen Haufen
Exemplare gekauft, um damit seinen Oberen eine Verehrung zu machen. Sie
hätten es heute noch nicht gemerkt, meint Erasmus, wenn nicht in einem der
Briefe ausdrücklich gesagt wäre, daß es eine Satire sei. — Um diese Anekdote
für eine wahre Geschichte zu halten, ist es notwendig zu glauben, daß auf den
mittelalterlichen Universitäten und Klöstern der gesunde Menschenverstand bis
auf den allerletzten Rest ausgestorben war; um sie für eine Anekdote zu nehmen,
ist nichts weiter erforderlich, als nicht zu vergessen, daß Erasmus, der Huma-
nist, der Poet, der Verfasser des Lobes der Narrheit, der Colloquien sie erzählt.
Die Geschichte ist genau so wahr als die Anekdoten, welche in den Dunkel-
männerbriefen selbst erzählt werden.
6*
78 I, 4, Die hunianistiactie Refortnation der Unir^rsitäten,
ihm für seine Lobschrift auf die Stadt Nürnberg mit einem Geschenk
von 8 fl. dankte, machte er darauf ein Epigramm:
Octonos mihi Noricus senatus
Magni ponderis aureos dicavit,
Quos viissos merito sed ipse sprevi.
Später, nach Überarbeitung der Schrift, geschickte 20 fl. — etwa
dem Jahresstipendium eines artistischen Magisters entsprechend — nahm
er wenigstens an, wenn auch nicht mit Dank. Überhaupt ist er, wie
alle Poeten, mit seiner Zeit und Umgebung sehr unzufrieden; die
schlechten Künste, Juristen und Medizin und, leider, auch Theologie,
die stehen im Ansehen und nähren ihren Mann; die Musen müssen
betteln gehen und werden mit dürftiger Gabe abgefunden. Den Rat
aber, eine nährende Kunst zu lernen und zu üben, weist er weit von
sich; als Poet, als freies, souveränes Individuum verachtet er alles, was
das Leben bindet, Beruf und Familie, Seßhaftigkeit und Sitte. Einem
Poeten ziemt ein freies Leben, Wandern, Weiber, Wein — und Schulden,
sie sind das Element, wie seiner Dichtung, so seines Lebens; sie sind
auch sein Verhängnis geworden, wie so manches andern Poeten.^
Ich erinnere nochmals daran, daß durchaus nicht alle Träger der
neuen Bildung diesem Bilde gleichen. Die Agricola, Keuculin,
Erasmüs, Wimpheling, Melanchthon sind ehrbare und ernsthafte,
der Arbeit mehr als dem Lebensgenuß zugewendete Gelehrte; und sie
sind es schließlich gewesen, denen der Humanismus seine Erfolge
verdankt, sowohl die nächsten, das Durchdringen im gelehrten Unter-
richt, als die entfernteren, die Umgestaltung der historischen Welt^
anschauung unter dem Einfluß der geschichtlichen Erforschung des
Altertums und des Christentums. Aber in jener Gestalt, in der Er-
* An H. BuscHius, einen der eifrigsten Propagatoren des Humanismus,
Strauss nennt ihn sogar den Missionär desselben in Norddeutschland, schrieb
Tritu£MIus im Jahre 1506 einen Brief nach Ijeipzig, worin er ihn mit freund-
schaftlicher Eindringlichkeit mahnt, von seiner libertinistischen Lebensweise
abzulassen: „flieh alle Seuchen der Seele, vor allem den Wein und die
Weiber, wer mit ihnen zu viel sich einläßt, dem geht alle Kraft zu Grunde,
der Sinn wird stumpf und Schande folgt Schone deine Augen, welche du
durch jene beiden Ursachen mit Wissen und Willen ruiniert hast, so daß
sie triefend und rot sind; schone das Vermögen, welches du mit Unterricht
mühevoll erwirbst, daß du nicht im Alter betteln gelien müssest. Nimm diese
Ermahnung nicht übel, denn du weißt, daß ich dir wohl will. — Es ziemt sich
nicht für einen gebildeten Mann, und wenn er auch ein Poet ist (etiamsi
poeta s^itjf in Unzucht und Trunksucht, in Weichlichkeit und Üppigkeit zu
leben" /'7W/Äcm*V opern TF, 48ftV). Das efinwsi sagt soviel als eine lange
Statistik. —
Die UniversitcU Erfurt. 79
scheinung fahrender Poeten und Oratoren hat der Humanismus sich
den alten Universitäten zuerst vorgestellt und mit stürmischer Forderung
verlangt, daß ihm die alten Studien den Platz räumen sollten. Übrigens
haben sie doch auch gemeinsame Züge: Verachtung der herrschenden
Schulweisheit und- ihrer Träger, der Universitätsgelehrten und Kloster-
insassen, aristokratischer Bildungshochmut und Verachtung der Masse
und ihrer geistigen Welt sind Erasmus nicht minder eigen als Celtis
und BüscHiüs. Wegwerfung der ganzen alten Bildung zu Gunsten
einer neuen, aus dem Altertum zu schöpfenden fordert er so entschieden
wie sie. Der Sturm, den die jungen Poeten im zweiten Jahrzehnt an
allen Punkten auf die Universitäten eröffnen, geschieht unter seinem
und Beüchlins Namen. —
Der Humanismus ist von Süden und Westen her in Deutschland
eingedrungen; die alten Universitäten Wien und Heidelberg, sowie die
in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im südwestlichen Deutsch-
land neubegründeten Universitäten sind daher zuerst von der Bewegung
ergriffen worden. Dennoch will ich nicht mit ihnen, sondern mit den drei
großen mitteldeutschen Universitäten, Erfurt, Leipzig und Wittenberg,
die folgende Übersicht beginnen. Auf ihnen sind die großen Schlachten
zwischen den Poeten und den Sophisten, wie von jenen die Vertreter
der mittelalterlichen Philosophie und Theologie regelmäßig genannt
werden, geschlagen und von den Poeten gewonnen worden.
Erfurt führt den Reigen.^ Die Universität war um die Mitte
des 15. Jahrhundei'ts eine der besuchtesten und bedeutendsten unter
den deutschen Universitäten, wenn auch Luthers bekanntes Wort, daß
die übrigen zu ihr wie Schützenschulen sich verhalten hätten, eine
starke Übertreibung ist. Wie es scheint, war ein eigener Geist, der
sich freier in der Theologie und Rechtswissenschaft versuchte, hier ein-
heimisch. Als der erste einheimische und seßhafte Magister, *der huma-
nistische Bildung besaß und nicht ohne bedeutende Wirksamkeit lehrte,
tritt uns Maternüs Pistokis entgegen, ein Elsässer, Schüler des
J. Tbutvettee, der auch Luthers Lehrer war. Im Jahre 1494 war
er Magister geworden und lehrte seitdem Poesie und Eloquenz, vorzugs-
weise römische Dichter erklärend. Neben ihm ist Nikolaus Marschalk
zu nennen, der auch des Griechischen kundig war. Um Mateknus sam-
melte sich allmählich eine kleine Schar von Schülern, unter denen
Ckotüs Rubeanüs, Petkejus Ebebbach, Eobanus Hessus waren. Wie
* Kampschultes vortreffliches Werk über die Universität Erfurt in ihrem
Verhältnis zu dem Humanismus und der Reformation giebt eine zuverlässige
und durchsichtige Darstellung dieser Bewegungen.
80 /, 4. Die humaimti^che Reformatiofi der Universitäten,
ihr Lehrer, so trieben auch sie friedlich neben der Poesie die Schul-
philosophie.
Das wurde anders, seitdem auf den Kreis der jungen Poeten ein
Mann Einfluß gewann, der in dem benachbarten Ootha als Kanoniker
lebte: Conrad Muth, genannt Mutianus Rüfus. Dieser Mann hat,
obwohl er als Schriftsteller sich gar nicht hat vernehmen lassen, für
die ganze Bewegung nicht geringe Bedeutung. Sein erst vor einigen
Jahren gedruckter Briefwechsel^ ist ein überaus charakteristisches
Denkmal des Denkens und Empfindens eines der fortgeschrittensten
unter den deutschen Humanisten. Er tritt uns hier, wo er sich seinen
jungen Freunden gegenüber ganz giebt, wie er ist, als vollständiger
Freidenker entgegen. Das geistliche Amt ist ihm als Vereorgung wert,
es bietet dem nach langer Wanderfahrt Heimkehrenden behagliche
Muße; Beata Tranquillitas schrieb er über den Eingang seines Wohn-
hauses zu Gotha. Leider sind einige lästige Verpflichtungen mit dem
Amt verbunden, die sich auf die Dauer nicht ganz abwälzen la^en;
er muß die Fastengebote halten, die Messe lesen (freilich hat er die
erste erst zehn Jahre nach dem Antritt des Kanonikats gelesen) und
zu den Gottesdiensten im Chor erscheinen; er spricht oft mit bitterer
Indignation davon, daß ein gebildeter Mann, wie er, zu so gemeinen
Leistungen verurteilt sei: „Unter all den stupiden Tieren werde auch
ich zu einem trägen und stumpfen Esel, mein Latein und die Gabe
gebildeter Unterhaltung ist mir in dem Geschrei unter den Eseln, mit
denen ich zusammengejocht bin, abhanden gekommen.^' Selbstverständ-
lich hindert ihn das nicht, nach weiteren Pfründen fleißig Umschau
zu halten. Seine Philosophie ist ein naturalistischer Pantheismus, er
hat in Italien den dortigen synkretistischen Benaissanceplatonismus
eingesogen. Gegen die Kirche, ihre Lehre und ihren Kult, nimmt er
sich für seine Person die Freiheit der Geringschätzung heraus. Von
der Masse allerdings fordert er Respekt für dieselbe Kirche und er
tadelt Reuchlin, daß er öfl'entlich allzu frei über sie geredet habe:
„Er hätte", so heißt es in einem Brief vom Jahre 1513 (Krause S. 353)
„bescheidener handeln und die Rücksicht auf die Meinung der Massen
der Rücksicht auf seine eigene Ehre vorgehen lassen sollen. Die
Autorität der Kirche angreifen, und gar wenn man ihr Glied ist, das
verdient Vorwürfe und ist gegen die schuldige Pietät, auch wenn man
Irrtümer in ihr bemerkt Wir wissen, daß von den weisesten Männern
* Und zwar gleich zweimal: zuerst herausgegeben von C. Krause, 1885;
sodann von K. Gilbert, in den Geschichtsquellen der Provinz Sachsen,
Bd. XVIIl, 1890.
Die Dunkdmännerhriefe, 87
geistlichkeit; das erzwungene Cölibat war eine fleischlich gesinnten
Menschen, die durch Aussicht auf Versorgung zu den Studien und ins
Amt gelockt wurden, durchaus unangemessene Lebensform und hat
sicherlich häßliche Dinge im Gefolge gehabt, Dinge, die seitdem in
einigem Maße durch die Aufhebung des Cölibats eingeschränkt sein
werden. — Ob übrigens die gegenwärtige akademische Welt, unsere
Studenten und Kandidaten, unsere Referendare und jungen Ärzte, unsere
jungen Gelehrten und Beamten, wenn sie vor das gleiche Gericht ge-
stellt würden, im ganzen ein günstigeres Urteil erlangen würden ? Ich
wage die Frage nicht zu entscheiden; aber diejenigen, die so zuver-
sichtlich von der gänzlichen sittlichen Verkommenheit des mittelalter-
lichen Klerus sprechen, sollten sie sich vorlegen. Vielleicht besteht
der Vorteil derselben Klassen der gegenwärtigen Gesellschaft wesentlich
darin, daß von ihnen Heiligkeit niemand erwartet oder verlangt.^
' Diese Frage hat Entrüstung hervorgerufen; man hat eine „ungeheuer-
liche Insinuation*' darin gefunden. Das beweist zunächst nur, daß die hier
angedeutete Ansicht der herkömmlichen Meinung, nicht aber, daß sie den That-
Sachen nicht entspricht Ich kann nicht beweisen, daß sie richtiger ist, eine
vergleichende Statistik über diese Dinge giebt es nicht. Aber ich meine, wir
haben keine Ursache, uns zu erheben; auch wird die Gegenwart nicht besser
dadurch, daß wir das Mittelalter schlechter machen. — C. Kiuuse, der Heraus-
geber des Briefwechsels Mütians bemerkt zu dem oben (S. 85) angeführten
Brief: er sei ein Beweis, wie auch die Besten von der mönchischen Frivolität
und Scheinheiligkeit angesteckt waren. Gewiß, es ist niclit eine individuelle
Erscheinung, und sicherlich hängt sie mit dem erzwungenen Cölibat zusammen.
Dennoch würde ich sagen; daß wir im Kreise Mütians eben „die Besten" vor
uns haben, wird ohne Grund vorausgesetzt Es waren die Gebildetsten, ohne
Zweifel, sie verstanden besser Latein und die Alten als die Masse; aber daß
dies auch in dem fraglichen Punkt einen günstigen Einfluß gehabt habe, daß
durch ihre „Bildung" die Sinnlichkeit diszipliniert und die Phantasie in Zucht
genommen sei, ist ganz und gar nicht ausgemacht. Im Gegenteil, die Bücher
italienischer Humanisten, ja auch viele unter den Büchern der Alten, die da-
mals fleißig gelesen und imitiert wurden, mögen zu allem tauglich sein, zu
Lehrern der Reinheit und Zucht des geschlechtlichen Lebens sind sie gewiß
nicht tauglich. Da werden die alten Mönchsbücher, wie die Imitatio Christiy
doch besser gewesen sein. Und ich bin überzeugt, es gab im Klerus wie in
den Klöstern ein gut Teil von Männern, die den Briefwechsel Mütians, wenn
er ihnen in die Hände gekommen wäre, mit Schamröte und Entrüstung weg-
gelegt hätten; gewiß auch andere, die ihn mit lüsternem Schmunzeln durch-
stöbert hätten. Ob diese die Mehrheit bildeten? ob ihr Verhalten im Verkehr
dieser Kreise tonangebend war? Ich weiß es nicht; mir scheint aber dagegen
zu sprechen, daß Männer wie Staupitz und Luther so viele Jahre lang in dieser
Umgebung aushiclten. Und wir haben doch auch andere Bilder. Man lese das
Wanderbüchlein des Johannes Butzbach (deutsch von D. J. Becker, mit Bei-
lagen, is69j; die Züge aus dem rheinischen Klosterleben, die liebenswürdigen
82 /, 4. Die humanistische Reformation der Universitäten.
zarter Weise, zur Sprache, vor allem aber die litterarischen Händel;
die alten Gelehrten der Erfurter Universität, die Juristen, Artisten und
Theologen, werden fleißig durchgehechelt, hier sind ihnen die Beinamen
Sophisten, Philosophaster, Theologisten stereotypiert worden, mit denen
sie Jahrhunderte lang behaftet blieben. Daneben fehlt es übrigens
auch nicht an Moralisationen , an gelegentlichen Anwandlungen von
Frömmigkeit und Kirchlichkeit. Die Zerfahrenheit des Gemüts, das
keinen inneren Mittelpunkt hat, tritt uns in Mutian in typischer
Form entgegen.
Das litterarische Denkmal, worin dieser Kreis, der ordo Mutiani,
sich selber verewigt hat, sind die Briefe der dunklen Männer an
OrtuinusQratius Sie sind hervorgerufen durch die Händel lleuch-
lins mit den Kölnern, die im Jahre 1509 wegen der Judenbücher
ausbrachen. Ein zum Christentum übergetretener Jude, Johannes
Pfefferkorn aus Köln, hatte auf Befragen des Mainzer Erzbischofs: wo-
her der fanatische Haß der Juden gegen das Christentum komme?
auf die talmudischen Bücher hingewiesen, die von den Rabbinern zur
Beschimpfung des Christenglaubens verfaßt seien. Aus diesen Büchern
unterrichteten sie von frühester Jugend auf ihre Kinder, so daß diese
auch erwachsen von der Bosheit nicht zu lassen vermöchten und alles,
was sie gegen die Kirche und das Christentum venibten, für recht und
Gott wohlgefällig hielten.^ Es gelang, einen kaiserlichen Befehl zur
vorläufigen Beschlagnahme dieser Bücher und zur Untersuchung ihres
Inhalts zu erwirken, in der Absicht das Unerlaubte von dem Erlaubten
und Guten zu scheiden, und jenes aas der Welt zu schaflen. Da aber
trat Reuchlin für die Judenbücher ein und er setzte es durch, die
Sache zuerst hinzuhalten und zuletzt ganz zu verhindern. Die litte-
rarischen Kämpfe, deren Einzelheiten man in Geigers Reuchlin nach-
lesen mag, erregten eine Reihe von Jahren die gelehrte Welt aufs
tiefste; alles nahm Partei, entweder für Reuchlin, oder gegen die Juden-
bücher und ihre Beschützer, so vor allem die Kölner und Mainzer
Theologen und Juristen. Auf der Seite Reuchlins finden sich alle
Poeten und Oratoren, alles was zur Fahne der neuen Bildung schwört,
unter ihnen natürlich Mutian und sein Kreis.
All der Haß und Abscheu gegen die alte Bildung und ihre Ver-
teidiger, gegen die Kölner Theologen und ihren Anhang auf den
übrigen Universitäten, der sich bei ihnen im Lauf der Jahre ange-
sammelt hatte, ergoß sich endlich in vollen Strömen in den Epistnlac
* So berichtet Pfefferkork selbst über den Beginn des Handels in seiner
Defensio gegen die Dunkelmännerbriefc.
Ulrich V. Hütten. 89
noch einmal gedruckt Dann wurde es süIl; von 1518 — 1556 ist keine
neue Ausgabe erschienen. Die Führer des Humanismus, Reuceduin
und E&A8MUS, sprachen auf das entschiedenste ihre Mißbilligung aus.
er lebt, wie dieser, in der Welt der Bildung und sucht Verbindungen nach oben,
während er andererseits den Massen die Revolution predigt; wie dieser, ist er von
dem unbändigen Drang beseelt, eine Rolle zu spielen, sei es im Bunde mit den
oberen Göttern, sei es mit den Gewalten der Unterwelt; wie diesem, ist ihm
persönliche und öffentliche Fehde Herzensbedürfois, und in der Führung des
Kampfes ist beiden jedes Mittel, das Erfolg, augenblicklichen Erfolg verspricht,
recht; beide sind dazu theatralische Deklamatoren der eigenen Thaten und
Tugenden, pathetische Ankläger fremder und doch nicht fremder Laster; beide
sind unerreichte Muster in der Beschimpfung und litterarischen Vernichtung
der Gegner, beide sind rücksichtslose Prediger und Verüber von Gewaltthat;
das geht bei Hütten so weit, daß er auch Lebensbedrohung und Meuchelmord
(unter dem Titel der Fehde) nicht für unerlaubte Kampfmittel gegen die Feinde,
die Pfaffen, ansieht — Hütten hat an sich selber und seinem Leben schwer
genug zu tragen gehabt; sein langes Leiden und sein einsamer Tod müßten
das Urteil über ihn entwafinen, wenn nicht immer wieder für ihn bewundernde
Verehrung wie für einen Nationalhelden gefordert würde. Zu diesen vermag
ich ihn nicht zu zählen ; und ich hielt es und halte es noch für notwendig, dies
auszusprechen; es ist für ein Volk nicht gut, wenn es zu falschen Göttern betet,
falsche Größen verehrt. „Hütten war bei allem litterarischen Talent, bei allen
schriftstellerischen Leistungen ein Mann ohne Charakter^^ ; so faßt Maukenbrecher
sein Urteil über den Mann zusammen (Gesch. der kathol. Reformation I, 199).
Das Urteil gilt ebenso von dem modernen Ebenbild Hdttens, von Lasalle.
Was beiden fehlt, das ist die reine und volle Hingebung an die Sache. Nicht
die Sache, der sie dienten, sie mag nun die rechte sein oder nicht, ist ihnen
zum Vorwurf zu machen, sondern daß sie ihr nicht mit reiner Seele dienten,
die Sache sollte zuletzt der persönlichen Darstellung dienen. Eine grenzenlose
Sucht, die eigene Person zur Darstellung, Geltung und Herrschaft zu bringen,
eine verzehrende Ichsucht ist der Grundzug der beiden Männer; und deshalb
ist kein inneres Maß und keine Festigkeit des Weges bei ihnen: Talent ohne
Charakter. Mit einigem Recht kann man aber dies als Motto über die ganze
Greschichte des Humanismus setzen: viel Talent, wenig Charakter. Es
fehlt diesen Männern durchweg an Reinheit, Ernst und Kraft des Willens. Daher
sind sie auch von der Geschichte weggeweht worden. Es gilt von ihnen ein
Wort Goethes:
Wer mit dem Leben spielt.
Kommt nie zurecht.
Wer sich nicht selbst befiehlt.
Bleibt immer Knecht
Ziegler äußert an demselben Ort (S. 414), daß ich, im Bunde mit Janssen und
Demifle, unter dem Schein, Fabeln kritisch zu zerstören, die alte katholische
fable convenue wiederherstellen wolle. Von diesem Bestreben weiß ich mich
völlig frei ; ich will keine Fabeln herstellen oder zu halten suchen, weder katho-
lische noch protestantische, sondern suche, soviel ich vermag, die Dinge zu
sehen, wie sie sind. Durch dies Bestreben bin ich allerdings zum Zweifel daran
geführt worden, ob die Renaissance und ihre Apostel alle die Hochachtung,
90 I, 4, Die humanistiscJie Reformation der Universitäten,
Freilich hatte REUCHiiiN in seiner Befensio contra calumruatores suos
Colonienses (1512) denselben Ton angeschlagen, man sehe den Auszug
in Geigebs Reuchlin (S. 276), und auch Eeasmüs hatte im Lob der
Narrheit (1509) sein Gespött mit denselben Persönlichkeiten getrieben.
Aber nun wurde ihnen unheimlich unter den Geistern, die sie gerufen.
Die Episteln der dunkeln Männer, schreibt Erasmus an Caesarius in
Köln (16/8. 1517, Opp. III, 1622) haben mir sehr mißfallen. Mir
gefallt ein Scherz, aber er darf niemanden beschimpfen. Wie schlimm
beraten jene nicht nur sich selber, sondern alle, denen die schönen
Wissenschaften am Herzen liegen. Er bittet dann den Caesarius ein
ähnliches Produkt, das, wie man sage, in Köln erscheinen solle, zurück-
zuhalten. Bekannt ist, daß auch Luther, dem doch eine Beschimpfung
der Sophisten und ihrer Gelehrsamkeit kaum zu grob sein konnte, die
Briefe mißbilligte. —
So erfolgte denn in dem Erfurter Kreise eine unerwartete Wendung.
Unter den Zurückgebliebenen war Eobanus ohne Widerrede das Haupt.
Er war ein Mann mit leichtem und fröhlichem Herzen, ein großer
Zecher, beständig in der dringendsten Geldverlegenheit, die er aber
mit der heitersten Miene von der Welt ertrug: er konnte in denselben
lateinischen Versen einen Freund um ein Darlehen von 1 fl. ersuchen
und zu Tisch bitten. Seine ganze Art erinnert an die wundervolle
Charakterfigur des Mr. Micawber in Dickens Copperfield, nur daß die
Flunkereien des durstigen Poeten manchmal etwas weniger harmlos sind
als die des trefflichen Micawber. Sein Talent war, lateinische Verse zu
machen. Er hatte, wie schon erwähnt, durch seine christlichen Heroiden
sich den Namen des christlichen Ovid erworben. Seit dem Jahre 1517
erhielt er von der Stadt eine Besoldung; er war der gefeiertste Lehrer,
die mittelalterliche Bildung und ihre Träger alle die Verachtung verdienen, die
ihnen bis auf diesen Tag so reichlich entgegengebracht wird. — Mit einem
Wort J. BüRCKHARDTS (Kultur der Renaissance I, 313) über die Gruppe der
italienischen Humanisten mag dieser Exkurs beschlossen werden: „Drei Dinge
erklären und vermindern vielleicht ihre Schuld: die übermäßige, glänzende Ver-
wöhnung, wenn das Glück ihnen günstig war, die Garantielosigkeit ihres äußeren
Daseins, so daß Glanz und Elend je nach Launen der Herren und nach der
Bosheit der Gegner rasch wechselten; endlich der irremachende Einfluß des
Altertums. Dieses störte ihre Sittlichkeit, ohne ihnen die seinige mitzuteilen,
und auch in religiösen Dingen wirkte es auf sie wesentlich von seiner skeptischen
und negativen Seite, da von einer Annahme des positiven Götterglaubens doch
nicht die Rede sein konnte. Gerade weil sie das Altertum dogmatisch, d. h. als
Vorbild alles Denkens und Handelns auffaßten, mußten sie hier in Nachteil
geraten. Daß es aber ein Jahrhundert gab, welches mit voller Einseitigkeit
die alte Welt und deren Hervorbringungen vergötterte, das war nicht mehr
Schuld Einzelner, sondern höhere geschichtliche Fügimg.^^
Beform der Universität Erfurt, 91
der Kühm der ganzen Universität. Es ist begreiflich, daß ein solcher
Mann mehr den Frieden liebte als den Krieg. So wurde aus dem
streitbaren ordo Mutiani das friedliche regnum Eobani,^
Wie für den ordo Mutiani Reüchlin, der kämpfende, so wurde für
das regnum Eobani Ebasmus, der durch ruhige Überlegenheit siegreiche,
Heerführer und Idol. Zu ihm wallfahrteten nun die Erfurter Poeten,
um ihre Huldigung, die sich in geschmacklosen Superlativen nicht
genug thun kann, ihm zu Eüßen zu legen; Ebasmus hatte Mühe sich
ihrer zu erwehren. Er mahnte nun entschieden den Weg friedlicher
Reform zu gehen. Nicht durch Bekämpfung der Widersacher, sondern
durch Anbau der schönen Wissenschaften werde die gute Sache gefordert.
Nicht als Feinde, die alles mit Verwüstung bedrohen, sondern als Gast-
freunde, die sich den einheimischen Sitten bequemen, müßten die
Humanitatsstudien auf den Akademien Eingang zu gewinnen suchen
(irrepere).
Und in der That, die friedliche Eroberung der Erfurter Universität
gelang vollständig. Von 1517 — 1521, wo das Pfaflfenstünnen seinen
Anfang nahm, stand die Erfurter Universität durchaus unter der Herr-
schaft des Humanismus. Im Jahre 1519 kam es zu einer großen
Reform des Studiums. Jüstüs Jonas berichtet darüber einem Freunde:
zurückkehrend von einer sechsmonatlichen Reise nach Brabant (der
üblichen Huldigungsreise zu Ehasmus) habe er die ganze Universität
erneuert gefunden: die lernäische Schlange der Scholastik, die den
ganzen Unterricht auf lauter elende dialektische Spitzfindigkeiten her-
untergebracht und alle guten Autoren beseitigt habe, sei vernichtet,
ein Komitee von acht Männern eingesetzt, um hier ein Studium der
drei Sprachen, der wahren Philosophie und der echten Theologie, ein-
zurichten und hierfür Professoren anzunehmen. „Unser Universität"
fügt er am Schluß auf deutsch hinzu, „ist in hundert Jahren oder
dieweil sie gestanden, also nicht reformiert gewest." Über den Inhalt
der Reform, die doch wohl zu neuen Lektions- und Prüfungsordnungen
geführt hat, sind wir nicht unterrichtet. In der Magistermatrikel
werden die 18 Magistrierten des Jahres 1519 als „Jünger der latei-
nischen und der eben aufkeimenden griechischen und hebräischen
Sprache" bezeichnet (Krause I, 310). Daß die junge humanistische
Gruppe wenigstens in der artistischen Fakultät durchaus die Dinge in
der Hand hatte, geht auch aus der Thatsache hervor, daß in den
Jahren 1519 — 1521 der Reihe nach vier Rektoren aus diesem Kreise
hervorgingen: J. Jonas, Cehatenus, PijAtz, Cbotüs. Bemerkenswert
Über EoBAN giebt die »orgfältige Biographie KuAUtjEä jede Auskauft.
86 7, 4. Die humanistische Reformation der Universitäten,
MuTiAN die Ehe; über die Heirat und Hausehre des Eobanüs spricht
er sich gegen diesen selbst mit einer Unfeinheit aus, daß man nicht
weiß, ob es häßlicher ist, solche Briefe zu schreiben oder sich gefallen
zu lassen. Einem andern jungen Freunde redet er, der Vierzigjährige,
dringend von der Ehe ah, er möge sich doch ohne solche Förmlichkeit
behelfen.^ Daß Hütten eines Beraters in dieser Hinsicht nicht be-
durfte, ist bekannt. — Wie es endlich mit Verlumptheit, Armut und
Bettelhaftigkeit in der damaligen Gelehrten weit stand, darüber kann
man wieder aus den Schriften und Briefen dieses Kreises, oder aus den
Biographien des Hbssus oder Huttens vielfaltige, wenn auch nicht
eben erfreuliche Belehrung finden. Befremdlich bleibt dabei, wie
Steauss den frankischen Ritter, der, an elender Krankheit dahinsiechend,
allezeit ohne Geld im Beutel, aber voll großartiger Ansprüche umher-
zog und mit lateinischen Versen die Liberalität von geistlichen und
weltlichen Herren stimulierte, als Vorkämpfer deutscher Freiheit und
Bildung dem deutschen Volk hinstellen könnt« (Vorrede zur 2. Aufl.
S. VIII). — Aber er hat Rom angegriffen. — Ich denke doch, daß
es besserer Waffen und besserer Männer im Kampf für deutsche Frei-
heit und Bildung bedurfte und noch alle Tage bedarf.
Ob die Lebensfährung, welche in den Briefen von sachkundiger
Hand beschrieben worden ist, in der damaligen Universitätswelt be-
sonders verbreitet war? Es dürfte schwer sein die Frage zu beantworten.
Eine moralische Statistik, welche uns über die Häufigkeit der ange-
deuteten Vorkommnisse unterrichtete, giebt es nicht. Die Verfasser
der Satire kann man doch kaum als klassische Zeugen gelten lassen.
— Aber auch kirchlich gesinnte Schriftsteller und Prediger, wie
WiMPHELiNG und Geileb, ja die Kirchenbehörden selbst sagen das-
selbe. — Mir scheint, daß doch auch diese Zeugnisse mit Vorsicht
aufgenommen sein wollen. Man muß nicht vergessen, daß es ein be-
sonderer Maßstab ist, den diese Männer bei ihrer Beurteilung anlegen,
der Maßstab der vita religiom. Die Anlegung dieses Maßes ertrug die
damalige Gelehrtenwelt ohne Zweifel so wenig als die Welt- und Kloster-
* Aus des JuHAKNEs Secundus, eines neulateiniseben Dichters (gest. 1536),
Elegieu (I. 7) finde ich im Goethe-Jahrbucli 1892, S. 205, folgende Verse mit-
geteilt, die MüTiANs Gedanken zu beleuchten geeignet sind:
Qimm hene priscorwn currebat vita parenfum^
Inge-nuae veneris Uhera sacra colens!
Nandiwi conjugii fwrnen servile pafebai
Nee fiierat Divis adnumcraius Hyttttm.
Passim comviu'nes exercebanfur antares
Omnibus et proprii nescius orbis erat.
Die Dunkelmännerbriefe. 87
geistlichkeit; das erzwungene Cölibat war eine fleischlich gesinnten
Menschen, die durch Aussicht auf Versorgung zu den Studien und ins
Amt gelockt wurden, durchaus unangemessene Lebensform und hat
sicherlich häßliche Dinge im Gefolge gehabt, Dinge, die seitdem in
einigem Maße durch die Aufhebung des Cölibats eingeschränkt sein
werden. — Ob übrigens die gegenwärtige akademische Welt, unsere
Studenten und Kandidaten, unsere Referendare und jungen Ärzte, unsere
jungen Gelehrten und Beamten, wenn sie vor das gleiche Gericht ge-
stellt würden, im ganzen ein günstigeres Urteil erlangen würden ? Ich
ws^e die Frage nicht zu entscheiden; aber diejenigen, die so zuver-
sichtlich von der gänzlichen sittlichen Verkommenheit des mittelalter-
lichen Klerus sprechen, sollten sie sich vorlegen. Vielleicht besteht
der Vorteil derselben Klassen der gegenwärtigen Gesellschaft wesentlich
darin, daß von ihnen Heiligkeit niemand erwartet oder verlangt.^
^ Diese Frage hat Entrüstung hervorgerufen; man hat eine y,ungeheucr-
liehe Insinuation'^ darin gefunden. Das beweist zunächst nur, daß die hier
angedeutete Ansicht der herkömmlichen Meinung, nicht aber, daß sie den That-
sachen nicht entspricht Ich kann nicht beweisen, daß sie richtiger ist, eine
vergleichende Statistik über diese Dinge giebt es nicht Aber ich meine, wir
haben keine Ursache, uns zu erheben; auch wird die Gegenwart nicht besser
dadurch, daß wir das Mittelalter schlechter machen. — C. Krause, der Heraus-
geber des Briefwechsels Mutians bemerkt zu dem oben (S. 85) angeführten
Brief: er sei ein Beweis, wie auch die Besten von der mönchischen Frivolität
und Scheinheiligkeit angesteckt waren. Gewiß, es ist nicht eine individuelle
Erscheinung, und sicherlich hängt sie mit dem erzwungenen Cölibat zusammen.
Dennoch würde ich sagen; daß wir im Kreise Mütians eben „die Besten^' vor
uns haben, wird ohne Grund vorausgesetzt. Es waren die Gebildetsten, ohne
Zweifel, sie verstanden besser Latein und die Alten als die Masse; aber daß
dies auch in dem fraglichen Punkt einen günstigen Einfluß gehabt habe, daß
durch ihre „Bildung^^ die Sinnlichkeit diszipliniert und die Phantasie in Zucht
genommen sei, ist ganz und gar nicht ausgemacht. Im Gegenteil, die Bücher
italienischer Humanisten, ja auch viele unter den Büchern der Alten, die da-
mals fleißig gelesen und imitiert wurden, mögen zu allem tauglich sein, zu
Lehrern der Reinheit und Zucht des geschlechtlichen Lebens sind sie gewiß
nicht tauglich. Da werden die alten Mönchsbücher, wie die Imltatio Christi ^
doch besser gewesen sein. Und ich bin überzeugt, es gab im Klerus wie in
den Klöstern ein gut Teil von Männern, die den Briefwechsel Mutians, wenn
er ihnen in die Hände gekommen wäre, mit Schamröte und Entrüstung weg-
gelegt hätten; gewiß auch andere, die ihn mit lüsternem Schmunzeln durch-
stöbert hätten. Ob diese die Mehrheit bildeten? ob ihr Verhalten im Verkehr
dieser Kreise tonangebend war? Ich weiß es nicht; mir scheint aber dagegen
zu sprechen, daß Männer wie Staupitz und Luther so viele Jahre lang in dieser
Umgebung aushielten. Und wir haben doch auch andere Bilder. Man lese das
Wanderbüchlein des Johannes Butzbach (deutsch von D. J. BErKER, mit Bei-
lagen, lH69j; die Züge aus dem rheinischen Klosterleben, die liebenswürdigen
88 I, 4. Die humanistische Reformation der Universitäten,
Doch wenden wir uns wieder zu dem Verlauf der Dinge in Erfurt
Im ersten Augenblick machte die Satire großes Aufsehen. Der
erste Teil wurde in den nächsten Jahren noch zweimal, der zweite
Charakteristiken der Konventsmitglieder der Abtei Laach geben doch ein völlig
anderes Bild: zwischen Andachtsübungen , Studien, Handwerks- und Haus-
haltungsarbeit ist das Leben der Brüder geteilt, so daß der Neigung des Ein-
zelnen dabei ein angemessener Spielraum bleibt Das Bild der Klöster, die
hier als stille Inseln in dem unruhigen Treiben der Zeit erscheinen, wird idea-
lisiert sein; aber warum bloß die Karikaturen betrachten? Oder man nehme
die Aufzeichnungen K. Pellikans, wie sie jetzt in trefflicher, mit den nötigen
Nachweisungen versehener Übersetzung von Th. Vulpinüs (die Hauschronik
K. P. von Bufach, 1892) vorliegen, zur Hand; Pellikan war, fast noch ein
Knabe, in den Minoritenorden getreten, er war Guardian in mehreren Klöstern
(Pforzheim, Rufach, Basel) und machte wiederholt Visitationsreisen, ehe er sich
der Beformation anschloß. Seine Erinnerungen aus dem klösterlichen Leben
enthalten nichts von Bitterkeit und Widerwärtigkeit; dagegen findet man darin
manch rührenden Zug von schlichter Einfachheit, doch auch von lebhaftem
Streben nach Erkenntnis unter engen äußeren Verhältnissen. — Auch an den
obigen Zeilen über Hütten hat man Anstoß genommen. So bemerkt Th. Zieoler
in seiner Geschichte der christlichen Ethik, 1, 429: „Das läuft doch im Grunde
auf den Vorwurf hinaus, daß auch dieser größte aller Humanisten — Humanist
geblieben sei und an den Fehlem des Humanismus partizipiert habe, und wer
hat das je bestritten? Daß aber Mangel an G«ld zugleich auch Mangel an
Größe sei, das glaubt das deutsche Volk dem Verfasser der (beschichte des ge-
lehrten Unterrichts einstweilen noch nicht ^^ Sehen wir von letzterem ab, so
scheint mir die Bemerkung, daß Hotten eben Humanist gewesen sei, aus ganz
derselben Ansicht heraus gesprochen, der auch ich zuneige: daß die Renaissance
in gewissen Köpfen die sittlichen Begriffe in eine bedenkliche Verwirrung
brachte. Die Liederlichkeit ist gewiß nicht erst von den Humanisten erfunden
worden; aber sie ist von ihnen mit einem ästhetischen Anstrich versehen und
dadurch doch auch ihnen selbst gefährlicher geworden. Auf keinen Fall
scheinen sie mir zu deutschen Nationalheiligen oder Nationalhelden sich zu
eignen. Die Hütten dazu stempeln wollen — und man kann ihn ja auf den
Reformationsbildem überall als Nebenfigur neben Luther sehen — müssen
wirklich sein Bild nicht gar genau betrachtet haben; oder das deutsche Volk
muß an Nationalhelden große Not leiden. — Gewiß war Hütten ein Mann von
gewaltiger Kraft leidenschaftlich erregter und erregender Rede, es lodert eine
Glut revolutionären Feuers in seinen Schriften, wie es in Deutschland nicht
wieder gesehen worden ist bis auf die Tage Ferdinand Lasalles. Es ist nicht
zufällig, daß Lasalle in seinem Schauspiel „Franz von Sickingeu" in der Figur
Huttens sich selber dramatisiert oder aus ihm „den Spiegel seiner Seele ge-
macht^^ hat: „ich konnte dies,'' äußert er in einem Brief, „da sein Schicksal
und das meinige einander vollkommen gleich und von überraschender Ähnlich-
keit sind" (F. Lasalles Reden und Schriften, herausgeg. von E. Bernstein, I, 34).
Wenn man unter dem Schicksal nach dem Wort des alten Heraklit den inneren
Dämon, das Ethos, versteht, so ist die Sache ganz zutreffend, obwohl allerdings
auch in den äußeren Schicksalen eine erstaunliche Analogie sich findet. Wie
alle, fühlt sich Hütten „bewafihet mit der ganzen Bildung des Jahrhunderts" ;
Ulrich V. HuUm. 89
noch einmal gedruckt Dann wurde es still; von 1518 — 1556 ist keine
neue Ausgabe erschienen. Die Führer des Humanismus, Reüchlin
und Ebabmüs, sprachen auf das entschiedenste ihre Mißbilligung aus.
er lebt, wie dieser, in der Welt der Bildung und sucht Verbindungen nach oben,
während er andererseits den Massen die Revolution predigt; wie dieser, ist er von
dem unbändigen Drang beseelt, eine Rolle zu spielen, sei es im Bunde mit den
oberen Grottem, sei es mit den Gewalten der Unterwelt; wie diesem, ist ihm
persönliche und Öffentliche Fehde Herzensbedürfnis, und in der Führung des
Kampfes ist beiden jedes Mittel, das Erfolg, augenblicklichen Erfolg verspricht,
recht; beide sind dazu theatralische Deklamatoren der eigenen Thaten und
Tugenden, pathetische Ankläger fremder und doch nicht fremder Laster; beide
sind unerreichte Muster in der Beschimpfung und Utterarischen Vernichtung
der Gegner, beide sind rücksichtslose Prediger und Verüber von Gewaltthat;
das geht bei Hütten so weit, daß er auch Lebensbedrohung und Meuchelmord
(unter dem Titel der Fehde) nicht f^r unerlaubte Kampfmittel gegen die Feinde,
die Pfaffen, ansieht — Hütten hat an sich selber und seinem Leben schwer
genug zu tragen gehabt; sein langes Leiden und sein einsamer Tod müßten
das Urteil über ihn entwaffnen, wenn nicht immer wieder für ihn bewundernde
Verehrung wie für einen Nationalhelden gefordert würde. Zu diesen vermag
ich ihn nicht zu zählen ; und ich hielt es und halte es noch für notwendig, dies
auszusprechen; es ist für ein Volk nicht gut, wenn es zu falschen Göttern betet,
falsche Größen verehrt. „Hütten war bei allem litterarischen Talent, bei allen
schriftstellerischen Leistungen ein Mann ohne Charakter^* ; so faßt Maurenbrecher
sein Urteil über den Mann zusammen (Gesch. der kathol. Reformation I, 199).
Das Urteil gilt ebenso von dem modernen Ebenbild Hüttens, von Lasalle.
Was beiden fehlt, das ist die reine und volle Hingebung an die Sache. Nicht
die Sache, der sie dienten, sie mag nun die rechte sein oder nicht, ist ihnen
zum Vorwurf zu machen, sondern daß sie ihr nicht mit reiner Seele dienten,
die Sache sollte zuletzt der persönlichen Darstellung dienen. Eine greuzenlose
Sucht, die eigene Person zur Darstellung, Geltung und Herrschaft zu bringen,
eine verzehrende Ichsucht ist der Grundzug der beiden Männer; und deshalb
ist kein inneres Maß und keine Festigkeit des Weges bei ihnen: Talent ohne
Charakter. Mit einigem Recht kann man aber dies als Motto über die ganze
Geschichte des Humanismus setzen: viel Talent, wenig Charakter. Es
fehlt diesen Männern durchweg an Reiaiieit, Ernst und Kraft des Willens. Daher
sind sie auch von der Geschichte weggeweht worden. Es gilt von ihnen ein
Wort Goethes:
Wer mit dem Leben spielt.
Kommt nie zurecht.
Wer sich nicht selbst befiehlt,
Bleibt immer Knecht
Ziegler äußert an demselben Ort (S. 414), daß ich, im Bunde mit Janssen und
Demifle, unter dem Schein, Fabeln kritisch zu zerstören, die alte katholische
fahle convenuf wiederherstellen wolle. Von diesem Bestreben weiß ich mich
völlig frei; ich will keine Fabeln herstellen oder zu halten suchen, weder katho-
lische noch protestantische, sondern suche, soviel ich vermag, die Dinge zu
sehen, wie sie sind. Durch dies Bestreben bin ich allerdings zum Zweifel daran
geführt worden, ob die Renaissance und ihre Apostel alle die Hochachtung,
90 /, 4. Die humanistisdis Beformatioti der Universitäten.
Freilich hatte Reuchun in seiner iJefensio contra calumniatores suos
Colonienses (1512) denselben Ton angeschlagen, man sehe den Auszug
in Geigebs Reuchlin (S. 276), und auch Eeasmus hatte im Lob der
Narrheit (1509) sein Gespött mit denselben Persönlichkeiten getrieben.
Aber nun wurde ihnen unheimlich unter den Geistern, die sie gerufen.
Die Episteln der dunkeln Männer, schreibt Erasmüs an Caesahius in
Köln (16/8. 1517, Opp. III, 1622) haben mir sehr mißfallen. Mir
gefallt ein Scherz, aber er darf niemanden beschimpfen. Wie schlimm
beraten jene nicht nur sich selber, sondern alle, denen die schönen
Wissenschaften am Herzen liegen. Er bittet dann den Caesaeius ein
ähnliches Produkt, das, wie man sage, in Köln erscheinen solle, zurück-
zuhalten. Bekannt ist, daß auch Luther, dem doch eine Beschimpfung
der Sophisten und ihrer Gelehrsamkeit kaum zu grob sein konnte, die
Briefe mißbilligte. —
So erfolgte denn in dem Erfurter Kreise eine unerwartete Wendung.
Unter den Zurückgebliebenen war Eobanus ohne Widerrede das Haupt.
Er war ein Mann mit leichtem und fröhlichem Herzen, ein großer
Zecher, beständig in der dringendsten Geldverlegenheit, die er aber
mit der heitersten Miene von der Welt ertrug: er konnte in denselben
lateinischen Versen einen Freund um ein Darlehen von 1 fl. ersuchen
und zu Tisch bitten. Seine ganze Art erinnert an die wundervolle
Charakterfigur des Mr. Micawber in Dickens Copperfield, nur daß die
Flunkereien des durstigen Poeten manchmal etwas weniger harmlos sind
als die des treflflichen Micawber. Sein Talent war, lateinische Verse zu
machen. Er hatte, wie schon erwähnt, durch seine christlichen Heroiden
sich den Namen des christlichen Ovid erworben. Seit dem Jahre 1517
erhielt er von der Stadt eine Besoldung; er war der gefeiertste Lehrer,
die mittelalterliche Bildung und ihre Träger alle die Verachtung verdienen, die
ihnen bis auf diesen Tag so reichlich entgegengebracht wird. — Mit einem
Wort J. BuRCKHARDTS (Kultur der Renaissance I, 813) über die Gruppe der
italienischen Humanisten mag dieser Exkurs beschlossen werden: „Drei Dinge
erklären und vermindern vielleicht ihre Schuld: die übermäßige, glänzende Ver-
wöhnung, wenn das Glück ihnen günstig war, die Garantielosigkcit ihres äußeren
Daseins, so daß Glanz und Elend je nach Launen der Herren und nach der
Bosheit der Gegner rasch wechselten; endlich der irremachende Einfluß des
Altertums. Dieses störte ihre Sittlichkeit, ohne ihnen die seinige mitzuteilen,
und auch in religiösen Dingen wirkte es auf sie wesentlich von seiner skeptischen
und negativen Seite, da von einer Annahme des positiven Göttcrglaubens doch
nicht die Eede sein koimte. Gerade weil sie das Altertum dogmatisch, d h. als
Vorbild alles Denkens und Handelns auffaßten, mußten sie hier in Nachteil
geraten. Daß es aber ein Jahrhundert gab, welches mit voller Einseitigkeit
die alte Welt und deren Hervorbringungen vergötterte, das war nicht mehr
d Einzelner, sondern höhere geschichtliche Fügimg.^^
Reform der Universität Erfurt, 91
der Kühm der ganzen Universität Es ist begreiflich, daß ein solcher
Mann mehr den Frieden liebte als den Krieg. So wurde aus dem
streitbaren ordo Mutiani das friedliche regnum Eobani,^
Wie für den ordo Mutiani Reüchlin, der kämpfende, so wurde für
das regnum Eobani Eeasmus, der durch ruhige Überlegenheit siegreiche,
Heerführer und Idol. Zu ihm wallfahrteten nun die Erfurter Poeten,
um ihre Huldigung, die sich in geschmacklosen Superlativen nicht
genug thun kann, ihm zu Füßen zu legen; Ebasmüs hatte Mühe sich
ihrer zu erwehren. Er mahnte nun entschieden den Weg friedlicher
Reform zu gehen. Nicht durch Bekämpfung der Widersacher, sondern
durch Anbau der schönen Wissenschaften werde die gute Sache gefördert.
Nicht als Feinde, die alles mit Verwüstung bedrohen, sondern als Gast-
freunde, die sich den einheimischen Sitten bequemen, müßten die
Humanitatsstudien auf den Akademien Eingang zu gewinnen suchen
(irrepere).
Und in der That, die friedliche Eroberung der Erfurter Universität
gelang vollständig. Von 1517 — 1521, wo das Pfaflfenstürmen seinen
Anfang nahm, stand die Erfurter Universität durchaus unter der Herr-
schaft des Humanismus. Im Jahre 1519 kam es zu einer großen
Reform des Studiums. Justüs Jonas berichtet darüber einem Freunde:
zurückkehrend von einer sechsmonatlichen Reise nach Brabant (der
üblichen Huldigungsreise zu Ebasmüs) habe er die ganze Universität
erneuert gefunden: die lernäische Schlange der Scholastik, die den
ganzen Unterricht auf lauter elende dialektische Spitzfindigkeiten her-
untergebracht und alle guten Autoren beseitigt habe, sei vernichtet,
ein Komitee von acht Männern eingesetzt, um hier ein Studium der
drei Sprachen, der wahren Philosophie und der echten Theologie, ein-
zurichten und hierfür Professoren anzunehmen. „Unser Universität"
fügt er am Schluß auf deutsch hinzu, „i^^^t i^ hundert Jahren oder
dieweil sie gestanden, also nicht reformiert gewest." Über den Inhalt
der Reform, die doch wohl zu neuen Lektions- und Prüfungsordnungen
geführt hat, sind wir nicht unterrichtet. In der Magistermatrikel
werden die 18 Magistrierten des Jahres 1519 als „Jünger der latei-
nischen und dpr eben aufkeimenden griechischen und hebräischen
Sprache" bezeichnet (Krause I, 310). Daß die junge humanistische
Gruppe wenigstens in der artistischen Fakultät durchaus die Uinge in
der Hand hatte, geht auch aus der Thatsache hervor, daß in den
Jahren 1519 — 1521 der Reihe nach vier Rektoren aus diesem Kreise
hervorgingen: J. Jonas, Ceratinus, PiiATz, Crotus. Bemerkenswert
Über EoBAN giebt die sorgfältige Biographie Krauses jede Auskunft.
92 I, 4, Die humanistische Reformation der UniversiUUen,
ist, daß die Poeten an das Studium der griechischen Sprache, besonders
auch des neuen Testaments gehen. Jon. Lange wurde als Professor
der griechischen Sprache angenommen, J. Jonas lernte unter seiner
Leitung und wendete sich bald ganz der Theologie zu. — Freilich war
der Triumph des Humanismus von kurzer Dauer; nach wenig Jahren
wurde er von der großen kirchlichen Revolution verschlungen.^
Die Universität Leipzig gelangte in den beiden ersten Jahrzehnten
des 16. Jahrhunderts zu hoher Blüte. Die Frequenz erreichte ihren
Höhepunkt um 1510, die Zahl der jährlichen Immatrikulationen betrug
ungefähr 500, die Zahl der Promotionen in der artistischen Fakultät
etwa 125 Baccalarien und 16 Magister; die Gesamtfrequenz kann auf
1000 — 1500 angeschlagen werden.* Herzog Georg (1471 — 1539, regierte
seit 1500), ein durch Gesinnung und Bildung ausgezeichneter Fürst,
nahm an dem Gedeihen der Studien lebhaften Anteil.^ Er selbst,
ursprünglich für den geistlichen Stand bestimmt, hatte in Leipzig
studiert; er sprach und schrieb lateinisch, in der Erasmischen Korre-
spondenz finden sich mehrere Briefe von ihm. Er war der neuen
wissenschaftlichen Bildung günstig und erleichterte ihr den Eingang in
die Universität. „Unter deinem Schutz," schreibt Ebasmus im Jahre 1520
(Opp. III, 567), „durch deine Munifizenz ist die Leipziger Universität,
an welcher die alten Studien längst blühten, durch das Hinzutreten
der Sprachen und schönen Wissenschaften nunmehr so ausgestattet,
daß sie kaum irgend einer nachsteht"
Die ersten Spuren humanistischer Anregung reichen auch in Leipzig,
wie in dem erwähnten Aufsatz von Wattenbach nachgewiesen ist, bis
gegen die Mitte des 15. Jahrhunderts zurück. Ich will aber auf Ludee
und andere Poeten, die vorübergehend auftauchten, nicht nochmals ein-
gehen. Zu einer öffentlich autorisierten Vertretung kam der Humanis-
mus im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts durch die Gunst Herzog
Georgs. Es sind zwei bekannte Wanderpoeten, welche der Herzog nach
einander in Dienst nahm: Hebmannüs Buschius, mit dem poetischen
* J. Jonas' Briefwechsel, herausgeg. von Kawebaü (1884), I, 25. Erwähnt
wird die Reform auch in den Akten der Universität, herausgeg. von Weissen-
BORN, II, 308; ohne daß aus den Angaben näheres zu ersehen wäre; hervor-
gehoben wird, daß amplissimus ordo artistarum quem quis merito totius
yijmnasii proram et popptm dixeritf die üblichen Promotionsschmäuse be-
schränkt habe.
' S. meinen oben erwähnten Aufsatz über die deutschen Universitäten in
Sybels Zeitschr. Bd. VL, S. 293.
^ J. G. BoEHME, de Utleratura Lipsiensi enthält unter anderen Studien,
welche sich auf die Rezeption des Humanismus in Leipzig bezichen, auch eine
Rede auf Herzog Georg, S. 37—52.
Die Universität Leipzig, 9
i
Beinamen Pasiphilus (sonst H. v. d. Busche, geb. zu Sassen bürg in
Westfalen, 1468 — 1534) und Jon. Rhagius Aesticabipianus (Back
aus Sommerfeld in der Lausitz, 1457 — 1520). Buschius war ein
Schüler des Heoius; seine humanistische Bildung hatte dann durch
einen langen Aufenthalt in Italien ihre Vollendung erhalten. Nach
langer Wanderung durch die norddeutschen Städte wurde er 1502 in
Wittenberg in die Matrikel als artis oratoriae atque poeticae lector con-
ducius eingetragen.^ Aber schon im folgenden Jahr siedelte er, mit
einem Stipendium von Herzog Geoeg versehen, nach Leipzig über.
Hofifentlich ist ihm auch ein Lobgedicht auf Leipzig nicht unvergolten
geblieben.^ Im Jahre 1507 verließ er Leipzig, wie es scheint in gänz-
lich derangierten Verhältnissen, und kam nach mancher Irrfahrt nach
Köln zurück, wo wir ihm wieder begegnen werden. Zu seiner Charak-
teristik kann noch folgender Zug dienen. Als ein Freund (der Witten-
berger Mellerstadt) ihn bat, ihm sein Handexemplar des Silius Italiens,
über den er in Leipzig gelesen hatte, um der eingetragenen Noten und
Emendationen willen zu borgen, erwiderte er: „einen S, Italiens, den
ich dir schicken könnte, besitze ich nicht; als ich über ihn Vorlesungen
^ Liesseh, de H. Buschii vita et scripHs. Bonn 1866. H. v. d. Busche, sein
Leben und seine Schriften, in Progr. des Kölnischen Wilhelmsgymn. 1884 u. folg.
* LipsicOy 1504, wozu noch ein zweites Lobgedicht in pueÜas Lipaenses kam.
In der Dedikationsepistel zählt er berühmte Beispiele von großmütiger Vergeltung
litterarischer Verherrlichungen auf, unter anderen dieses: Alexander d. Gr. habe
einem Poeten, der sonst nicht viel wert gewesen sei und auch den König keines-
wegs, wie er verdiente, besungen habe, dennoch für jeden Vers ein Goldstück
reichen lassen. Hierontmüs Emser geht in den vorgedruckten Begleitversen von
den Exempeln zur direkten adhortatio über: die Stadt möge ihrem Sänger sich
dankbar erweisen, da sie durch ihn nunmehr der Unsterblichkeit gewiß sei:
Nam tibi perpeiuae donarit munera vitae
Buschius Aonio vota probanfe choro.
Den Inhalt des Gedichts kennzeichnet Geiger (Eenaissance 472) gut mit den
Worten: Wenn das häufig wiederkehrende Lips und das einmal vorkommende
Plesa (Pleiße) nicht wäre , paßte es auf jede Stadt so gut als auf Leipzig. Es
wird die Fruchtbarkeit der Äckef gerühmt, sie gleicht der sicilischen, wie ein
benachbarter See dem Bcnacus, die Schafherden versetzen den Dichter nach
Arkadien, die Früchte und Blumen in die Gärten der Hesperiden, in den
Wäldern haben Dryaden und Nymphen ihr Wesen: nirgends ein individueller
Zog. Es sind Tapeten, die man an jede Wand hängen kann, was sich denn hei
einem Umzug des Dichters in der That als sehr nützlich erweist. In einem
Epigramm (bei Böhme, 51) preist er Leipzig als das moderne Athen, wo alle
Weisen des Altertums, ja die Musen selbst Wohnung genommen hätten; auch
eine viel verwendete Tapete. In der Flora, einem Lobgedicht auf Köln (1508),
werden alle Heldengestalten des alten Rom und einige Griechen dazu nach
Köln aufgeboten, um im Rat zu sitzen, oder also den biederen Kölner Rats-
herren ihre Maske zu borgen.
94 ly 4, Die humanistische Reformation der Universitäten.
hielt, borgte ich mir, wie ich pflege, ein Exemplar. Die Verbesserungen,
.welche ich gemacht habe, mußt du von einem der Zuhörer dir erbitten,
denn ich bewahre solche Sachen niemals auf."^ Und dem Poeten
Engentinus in Freiburg, als dieser sich 1521 ein Haus gekauft hatte,
machte er im scherzhaften Ernst Vorwürfe darüber: ein Poet könne
nicht Hausbesitzer sein; sieh dich um unter allen früheren und gegen-
wärtigen Poeten, du wirst keinen finden, der ein Haus zu eigen be-
sessen habe (Liessem, 72). Vermutlich war Büschius in Wahrheit
dem Besitz dieser Dinge nicht ganz so abgeneigt, als diese Äußerungen
sagen; aber so liebte er es zu erscheinen: ohne Haus, ohne Buch, ohne
Stellung, bloß er selbst, die freie, souveräne, allein durch ihren Geist
geltende Persönlichkeit. Bei einem andern Poeten war buchstäbliche
Wirklichkeit, was Buschiüs affektiert: als Hütten starb, bestand seine
ganze Hinterlassenschaft in einer Feder; so berichtet Zwingli, der
dem Todkranken das letzte Hospitium gewährt hatte, das ihm von
Erasmüs war verweigert worden (Strauss, Hütten 534).
Seit 1507 (nach Böcking II, 295, sonst wird 1508 angegeben)
war Aesticampianus in Leipzig. Er kam mit seinem Schüler Hütten
von Frankfurt a. 0., wo er die Universität hatte eröfihen helfen. Mit
einem Stipendium vom Herzog und der Stadt versehen, blieb er bis
zu seiner „Vertreibung" durch die Sophisten im Jahre 1511. Mit
einer in mancher Hinsicht interessanten Rede nahm er von der Leipziger
Universität Abschied.^ Er zählt darin mit großem Selbstbewußtsein
die Wohlthaten auf, welche er den Leipzigern erwiesen und die sie
ihm mit Undank vergolten hätten. In den drei Jahren habe er die
wichtigsten lateinischen Schriftsteller erklärt: Plinius, Livius, Plautus,
Horaz, Virgils Aeneis (in qua vita et activa et contemplativa poetico suh
figmento penitus demersa per me est in lucem extracta), Marcianus Capella,
Cicero, Tacitus {Germania), Hieronymus; andere, die er schon vorbereitet
habe, müßten jetzt unterbleiben. Unerschöpfliche Mühe habe er darauf
gewendet, seine Schüler zu gebildeten und tugendhaften Männern zu
machen. Um sich hierzu zu beföhigen, habe er Länder und Meere
durchzogen. Tage und Nächte durchwacht, sein Erbe verzehrt, die Ge-
sellschaft der Menschen gemieden. Gefahren des Leibes und der Seele auf
^ In der Vita Buschii (p. 192), welche Bubckhardt seiner Ausgabe des
Valium humanitatis vorausgeschickt hat
* Die Rede ist, mit zahlreichen Druckfehlem, in einer Leipziger Disser-
tation von Fidler (1703) abgedruckt. Der Anschlag, womit er dazu einlud, ist
ebendort mitgeteilt: J, Ä, hinc emigraiurus pro more suo univerais kujus
gymnasii magistratibus et suhjectis supremum vale dicit. Dignenttir itaque huc
adesse cunctiy gut non tarn hominetn (Poefa enim est), quam veritaf^m, quae Deus
est, et amant et venerantur.
Die Universität Leipzig, Aesticampiuntts, 95
sich genommen, die Vergnügungen wie die Pest geflohen. Vier Stunden
taglich habe er manchmal gelesen, weitere Zeit den Übungen und Repeti-
tionen sowie der Abfassung von Kommentaren und Gedichten gewidmet, so
daß ihm zur Mahlzeit und zum Schlaf kaum Zeit geblieben. Und das alles
nicht um des Geldes oder Ruhmes willen, sondern bloß aus Eifer für die
Schüler und das Vaterland. — Und einen solehenMann vertreibt ihr!
Die Vertreibung des Poeten spielt in der Geschichte des Humanis-
mus eine gewisse Rolle; sie pflegt als Beispiel der Mißhandlung der
Vertreter der schönen Wissenschaften durch die Universitäten angeführt
zu werden, so bei Böhme, so bei Böcking, so noch bei Geigeb, der
sonst durch unbefangenes und billiges Urteil über die Humanisten und
ihre Gegner sich auszeichnet: er nennt den A. einen wissenschaftlichen
Märtyrer des Humanismus (Renaissance, 431). So endlich auch noch
bei Haetfeldeb: er trägt (in Schmids Gesch. der Erz. II, 2, 92) die
Geschichte noch ganz in dem üblichen lamentabel-erbaulichen Stil vor.
Daher scheint ein etwas ausführlicheres Eingehen auf jenes an sich
unerhebliche Vorkommnis am Orte zu sein.
Zunächst ist zu bemerken, daß die „Vertreibung" erst nach jener Rede
und infolge ihrer stattfand: sie gab Veranlassung, den Poeten auf 10 Jahre
zu relegieren. In der Rede selbst sagt er noch, daß er freiwillig, freilich
veranlaßt durch die Bosheit der Magister, gehe. Worin bestand diese Bosheit?
Zunächst eine Bemerkung darüber, wie der Poet selbst sein Ver-
hältnis zu den artistischen Magistern ansah; wir sind darüber durch
eine allerdings etwas spätere Darstellung von ihm befreundeter Hand
aufs beste unterrichtet, nämlich durch jenen Bericht, der unter dem
Namen des Magisters Hipp in den Dunkelmännerbriefen die Geschichte
der Vertreibung erzählt (Vol. I, No. 17): Fuit hie unus poeta, qui vocatur
J, Esticampianus^ et ipse fuit satis pretensus, et parvipendet sepe magisiros
artium et annihilavit eos in sua lectione, et dixit quod non sunt sufficientesj
et quod unus poeta valet decem magistros , et quod poetae in processione
deberent precedere magistros et licentiatos, fit ipse legit Plinium et alios
poetas et dixit, quod magistri artium non sunt magistri in Septem artibus
liberalibus, sed potius in Septem peccatis mortalibus etc. Man wird an-
nehmen dürfen, daß diese Äußerungen nicht willkürliche Erfindungen
sind, sie stammen ohne Zweifel aus dc^s A. eigener Erzählung; ja es
hindert nichts, der Ansicht Burckhardts {De linguae Lat, fatis, II, 443)
beizutreten, daß Aesticampianus selbst den Brief verfaßt habe; sonst
wird man annehmen können, daß Hütten die Erzählung redigiert
habe. Jedenfalls ist gewiß, daß der Poet so dachte und es ist keine
Ursache zu glauben, daß er daraus ein Geheinmis machte. Für die
Humanisten paßt überhaupt jede Rolle eher, als die der unschuldigen
96 ly 4, Die humaniatisohe Reformation der Universüäten,
Lämmer, welche kein Wasser trüben und von den bösen Wölfen, den
Sophisten, angefallen werden. Sie würden sich wenig geschmeichelt
gefühlt haben durch solche Darstellung. Man sehe, wie Hütten, des
Aesticampianüs gelehriger Schüler, in dem kurz vorangehenden Brief
(No. 14) sein eigenes Auftreten gegen den Wiener Rektor, den magister
noster Heokmann, schildert, als dieser ihn hindern wollte zu lesen, weil
er weder promoviert noch auch immatrikuliert sei: da ging der Teufels-
kerl zu dem Rektor, und sagte ihm viele Schnödigkeiten, ja dutzte ihn
sogar (nämlich statt ihn magnificentia vestra anzureden).
Daß die Leipziger Magister gegen einen Kollegen, der sich so zu
ihnen stellte, freundschaftliche Gesinnung hätten hegen sollen, wird
niemand so unbillig sein zu verlangen. Sie ärgerten ihn vielmehr
wieder, so gut sie vermochten. Wie das geschah, darüber giebt nun
jene Valediktionsrede des Poeten von 1511 einige Auskunft. In dem
letzten Abschnitt derselben dankt er zuerst dem Fürsten und dem
Leipziger Rat für ihre Wohlthaten; dann auch denjenigen, „welche
mich mit Haß und Neid niederträchtig verfolgt haben, welche mich
weder der Stellung, noch des Mahls, noch der Anrede würdig erachtet
haben, welche mir die öffentlichen Hörsäle verschlossen und ihre Schüler
abgehalten haben mich zu hören." Wer sind diese? Er spezifiziert
die Anklage: es sind die Theologen, welche Zöllner und Sünder zu
ihren Schmausen laden, aber den Poeten nicht; doch lassen wir sie,
denn sie haben Macht loszulassen und zu kreuzigen. Es sind die
Juristen, welche den Poeten nicht in ihr Auditorium lassen, noch ein-
laden; doch lassen wir sie, denn sie können freisprechen und verurteilen.
Es sind die Mediziner, sie haben den Poeten allerdings eingeladen,
aber haben ihn untenangesetzt, als ob unsere göttliche und heilige
Poesie ihrer schmutzigen Medizinkocherei nachstehe; doch lassen wir
sie, denn sie können den Poeten mit ihren Tränken am Leben erhalten
oder zum Teufel schicken. Noch bleiben die Philosophen; ein Teil von
ihnen hat mich mit Wohlwollen gehört, ein Teil verachtet: jener Teil
war sehr groß, dieser sehr klein. Dennoch danke ich ihnen allen,
sowohl dafür, daß sie mich einmal zu ihrem Schmaus eingeladen, als
dafür, daß sie mich durch Neid und Mißgunst angetrieben haben, ihnen
öfter gehörig die Wahrheit zu sagen. Diejenigen aber, die durch Zu-
neigung und Leistung Dank verdient haben, Magister und Scholaren,
erinnere ich daran, daß sie durch meine Sorge und Mühe so ausge-
bildet sind, daß sie auch anderen eine liberale Bildung zu geben im-
stande sind; und ich bitte sie überzeugt zu sein, daß, wo immer ich
meine Stätte finden möge, meine Sorge und Hilfe, auch mein Ver-
mögen immer zu ihren Diensten stehen wird.
Die Universitäi Leipzig, AesHcampianus. 97
Also man hatte den Poeten, das scheint die Summe zu sein, nicht
durchaus als Kollegen behandelt, worüber er im Grunde wenig Recht
hatte sich verdrießlich zu bezeigen; man hatte ihm ferner die Be-
nutzung der öffentlichen Auditorien beschränkt oder verweigert Hierzu
hatte er, wie es scheint, selbst die Veranlassung gegeben. Die mittel-
alterliche Universität hatte einen festen Stundenplan, wie gegenwärtig
ein Gymnasium. Während der öffentlichen Lektionen, die in Leipzig
seit der Reformation von 1502 gratis gelesen werden mußten, durfte
kein Magister privatim lesen. Der Poet scheint sich in seiner groß-
artigen Weise über diese Ordnung hinweggesetzt zu haben. In einem
Bericht eines Ungenannten über den Zustand der Universität in der
Zeit kurz vor der Reform vom Jahre 1519 (im Urkundenbuch der
Universität, herausgegeben von Stübel, No. 252, S. 310 f.) wird gesagt:
die fremden Poeten, welche nicht Magister, hätten, als der Fakultät
nicht inkorporiert und unterworfen, alle Stunden des Tages, welche es
ihnen geliebt, öffentlich und heimlich resümiert, und dadurch auch
manche Magister dazu verführt. Aber die Fakultät habe, um die
ordentlichen Kurse nicht ganz in Abgang kommen zu lassen, manche
Magister mit guten Worten, einige mit Drohungen davon abgebracht;
etliche widersetzliche aber seien auf ihrem Mutwillen geblieben, wider
welche cid poenam suspensionis ab emolumentis und auch exchisionis a
facultate prozediert sei. — Den Poeten, der vom Herzog und der Stadt
Gehalt erhielt und nicht Mitglied der Fakultät war, konnte man so
nicht strafen; so versuchte man es durch Aussperrung aus den öffent-
lichen Lektorien.
Wie dem immer sei, die Maßregeln hatten die Wirkung, daß der
Poet sich entschloß weiter zu ziehen. Vorher aber wollte er den Leuten
noch einmal die Wahrheit sagen. Dazu diente diese ganze Rede und
vor allem ihr Schluß. Er verdient ganz mitgeteilt zu werden: ,,So
ziehe ich denn hin, wie die Schrift sagt: wenn sie euch aus einer
Stadt vertreiben, fliehet in eine andere. Vertrieben aber werde ich nicht
wegen Unfähigkeit oder Unsittlichkeit (welche jene Heuchler allen
Poeten vorwerfen), sondern allein durch die Bosheit und Niedertracht
derer, die euch, hochzuverehrende Herren Studierende (o nobilissimi
tcholastici), tyrannisieren und das Geld aus der Tasche ziehen und euch
mit ihren ungesalzenen Reden und ihren schwelgerischen Schmausen
von der wahren Beredsamkeit und Tugend ablocken und verführen**.
Dann redet er mit Wendungen aus der Apostelgeschichte („denn die
versteht ihr ja wohl besser als mein Latein") die vor ihm sitzenden
Verfolger also an: „Euch mußte zuerst das Wort vom Latein [verbum
laänitatis) gesagt werden ; aber da ihr es verwerft und euch selbst der
Paalten, Unterr. Zweite Aufl. T. 7
98 I, 4, Die humanistische Reformation der Universitäten,
römischen Eloquenz unwürdig erachtet, so wende ich mich zu den um-
wohnenden Barbaren. Ist ein Poet und Redner, den eure Väter nicht
verfolgt haben? Habt ihr sie nicht zum Gespött gemacht, die vom
Himmel gesandt waren, euch die Bildung zu bringen? Aus vielen
greife ich einige heraus: den C. Celtis habt ihr beinahe wie einen
Feind verjagt, den H. v. d. Büsche habt ihr lange gequält und dann
hinausgeworfen; den J. Aesticampianus endlich habt ihr mit vielen
Banken lange umlagert und endlich gebrochen. Glaubt ihr, daß noch-
mals ein Poet zu euch kommen wird? Wahrlich keiner, keiner dem
das Gerücht von eurer Tugend zu Ohren gekommen ist. Ohne Bildung
und ohne Witz, schmutzige und ruhmlose Seelen, werdet ihr leben,
und wenn ihr nicht Buße thut, so werdet ihr alle zur Hölle fahren.
— Doch das wollte ich nicht sagen, gerechter Schmerz und inbrünstige
Wahrheitsliebe rissen mich hin. Haltet es mir zu gute, deutsche
Männer, haltet es meinem durchaus gerechten Schmerz und der Wahr-
heit zu gute, wie euch der allmächtige Gott eure Sünden zu gute
halten möge. Amen."
Die Folge dieser Rede und ihrer, nach Böckings Ausdruck, „ein
wenig freimütigerer Äußerungen" war die, daß die Universität den
Poeten auf 10 Jahre relegierte und diesen Beschluß trotz der Inter-
cession des eben in Leipzig anwesenden Herzogs aufrecht erhielt. „Die
Rachsucht der Scholastiker wollte ihr Opfer haben", sagt Haetfeldee.
Aestioampian mußte weichen, er that es, wie der Brief des Mag. Hipp
sagt, nicht ohne das Versprechen, diese Beleidigung rächen zu wollen.
Es mag dahingestellt sein, ob er dabei an eine poetische Rache dachte,
wie sie in den Briefen der dunklen Männer bald darauf geübt worden
ist, oder an die freilich mißlungene juristische, wovon die Akten des
Leipziger Archivs berichten.^
* Ausführlichen Bericht über diesen Handel, sowie über das ganze Vor-
leben Aesticampians findet man jetzt in einer Abhandlung von Bauch in Schnorrs
Archiv für Litteraturgeschichte XII, 321 ff., XIII, Iff. Damach wandte sich der
ergrimmte Poet, nachdem eine Verwendung des Herzogs und eine Appellation
an die Nationen vergeblich gewesen, nach Rom und erwirkte bei der Kurie in
persönlicher Anwesenheit eine Wiederaufnahme des Verfahrens; Henning Goede
von Wittenberg wurde als jtidex ddeyaius mit der Sache befaßt. Doch scheint
der Prozeß schließlich im Sande verlaufen zu sein. Ebendort ist noch ein zweiter
Fall mitgeteilt Jon. IIuTTiCHiua, der wie Hütten zur Gefolgschaft (cohorsj des
Aestioampian gehörte — er war mit ihm aus Frankfurt gekommen, wo er das
Baccalariat erworben hatte, was er freilich nachher verleugnete — hatte ohne
Befugnis Vorlesungen gehalten. Als die Fakultät dagegen einschritt, fülirte auch
er beim Herzog Beschwerde, worin er die Magister, ut mos est gyrovagorum,
beschimpfte. Der Herzog trat für ihn ein und ließ den „leichtsinnigen Poetaster'*
erst fallen, als die Universität ihm darlegte, daß in Leipzig ein Überfluß an
Die UniversUät Leipzig. AesHcampianus, 99
Das ist die Geschichte yon der Yertreibang des Aestigampianus
durch die Leipziger Universität. Wie es scheint, haben nicht einmal
die gleichzeitig lebenden Humanisten, wenigstens nicht alle, darin ein
Martyrium für die Wahrheit erblickt. Eichabd Ceocub und P. Mosel-
liANus, zwei humanistische Professoren zu Leipzig, von denen gleich
die Rede sein wird, scheinen die Sache ziemlich natärligh gefunden zu
haben. Jener wendet sich in einer öffentlichen Rede (1515) gegen die
humanistischen Lästerer Leipzigs: es gelte von ihnen, was Zeus beim
Homer von den Sterblichen sage: sie selbst sind durch Übermut Ur-
heber ihres Mißgeschicks, nicht Götter und Schicksal. Er habe die
Tollheit dieser Leute auch erfahren. Und Mosellanüs sagt in einer
Rektoratsrede (1519): es giebt nichts Unverschämteres als so einen,
der drei oder vier lateinische Elegantien gelernt oder ein paar griechische
Sprüchlein aus des Ebasmus Sammlung eingesteckt hat und nun sich
mit seiner Kenntnis utriusque litteratiirae in die Brust wirft; ist ihm
gar noch ein Verslein gelungen, so will er nicht mehr für einen
Menschen, sondern für einen Gott gelten. Cicero und Demosthenes,
Homer und Virgil setzten als Fundament der Eloquenz die vollkom-
mene Erkenntnis der Dinge. Die Eleganz des Ausdrucks entspricht
bei ihnen der Bedeutung der Gedanken. In nobis nee res verbis, nee
verba rebus respondent Nicht lange vorher hatte Wimpheling in einer
Schrift: Contra turpem libellum Philomosi Befensio theolagiae scholastkae
sich über die Anmaßung der Poeten aufs bitterste ausgesprochen. So
ein Poet nehme, obwohl ein Verächter aller Wissenschaften, ja wohl
aller Wissenschaften selber völlig unkundig, den Vorrang vor allen
anderen in Anspruch, er fordere die erste Stelle bei Tafel und bei
Prozessionen, er beanspruche Aufnahme ins Universitätskonzily ohne
überhaupt einen akademischen Grad erworben zu haben; denn der
poetische Lorbeer sei kein Grad. Überhaupt sei die Poesie keine selb-
ständige Wissenschaft, sondern ein kleines Teilchen der Wissenschaft,
die unter allen artes die unterste Stelle einnehme.
So urteilten Männer, die, selbst Förderer der humanistischen
Studien, den Personen und Verhältnissen nahe genug standen, um über
die sogenannten „Poeten" ein sachkundiges Urteil zu haben. Es zeigt
die seltsame Dialektik der Geschichte, der man freilich an allen Punkten
begegnet, daß heutzutage die Geschichten von der „Vertreibung" der
Poeten durch die bösen Sophisten bei zopfigen Gelehrten und hoch-
würdigen Schulpotentaten Mitleid und Entrüstung erregen. Welcher
Magistern sei, welche die schönen Wissenschiiften zu lehren wünschten und ver-
möchten. Wiederliolte ähnliche Vorkommnisse veranlaßten ein allgemeines
Statut gegen die vagierenden Lektoren (Statutenbüclier 509 AT.).
7*
100 I, 4. Die humanistische Reformation der Universitäten,
Aufnahme würden wohl bei eben diesen Männern Gestalten wie Aesti-
CAMPiANus und BusoHius oder Huttek und Huttichius sich zu ver-
sehen haben, wenn sie ihnen heute, in die Tracht der Gegenwart
gekleidet, etwa als jungdeutsche Naturalisten oder Sozialdemokraten be-
gegneten? Und ob eine Rede, wie die des Aesticampianüs, mit bloß
zehnjähriger Relegation ihnen hinlänglich gebüßt erscheinen würde?
So entrüsten sich auch über die Gegner Luthers am meisten diejenigen,
die wenn sie vierhundert Jahre früher gelebt hätten, am eifrigsten ge-
wesen wären, den frechen Neuerer zu verdammen.
Was übrigens das Mitleid angeht, womit man die Poeten noch
nachträglich über die Verfolgungen durch die Sophisten tröstet, so ist
es an ihnen durchaus verschwendet Sie beanspruchen es auch nicht
im mindesten; sie kommen sich ganz und gar nicht wie die unter-
drückten und Gehetzten vor, vielmehr als unermeßlich überlegen und
siegreich: nicht sie, sondern ihre Feinde kriegen überall Schläge. Man
lese die Dunkelmännerbriefe, jedes Blatt sagt^ auf weicher Seite Über-
mut, Verhöhnung und Mißhandlung zu Hause ist, auf welcher Ge-
drücktheit und Angst; man sehe nur das einzige carmen rithmicale
des M. ScHLAUEAFP nach: wohin der Ärmste kommt, sowie er auf
irgend einer Universität sich blicken läßt, wird er alsbald von einem
Poeten erkannt und mit Schimpf und Schlägen traktiert
Die humanistischen Studien hatten übrigens wirklich, wie die Ar-
tisten in ihren Eingaben an den Herzog sagten, in Leipzig Wurzel ge-
faßt; eine ganze Reihe einheimischer und seßhafter Magister beteiligten
sich an der Pflege der lateinischen Poesie und Eloquenz: so Veit
Werlee, welcher Plautinische Komödien herausgab und erklärte,^ Geoeg
Helt, den Cameraeiüs mit großer Anerkennung als seinen Lehrer
nennt, Oreqorius Aubanus, Christoph Hegendorphinus u. a. Ich
erwähne nur noch einen Mag. Thomas Penzelt, der zunächst für seine
Pensionäre, wie die Dedikation sagt, einen modus studendi schrieb und
im Jahre 1510 drucken ließ. Derselbe ist, trotz des barbarischen Titels,
in humanistischem Sinne gehalten, wie z. B. aus dem Praeceptum IV
hervorgeht, worin das Schlagen als serviles Erziehungsmittel verworfen
und auf die Erregung der Ehrbegierde verwiesen wird, oder aus JPrae-
ceptum XVI, worin die Kenntnis des Griechischen als notwendig be-
zeichnet wird; freilich sei sie aus Mangel an Lehrern schwer zu erlangen.
Selbstverständlich wird auf reines Latein Gewicht gelegt. Fast zu jedem
Praeceptum werden Horazische Verse als Zeugnis beigebracht. Übrigens
werden auch die hergebrachten philosophischen Studien nicht .verachtet
^ Über ihn und seine Plautusausgaben handelt ausführlich Ritschl, Opusc.
phil, III, 75 ff., V, 40 ff.
Die Universiiäi Leipzig. JDas Qriechische, 101
Als Symptom der Wandlung mag auch erwähnt werden, daß in
Leipzig nach Bitschl's sorgfaltigen Ermittelungen über die Leipziger
Flautuseditionen in dem zweiten Jahraehnt der Übergang vom Druck
mit gotischen Lettern zur Antiqua stattfand. Seit 1517 herrscht die
letztere Form ausschließlich.
Ln Jahre 1515 erhielt Leipzig den ersten Lehrer der griechischen
Sprache in dem Engländer Bichabd Cboous, der bei H. Albaner, dem
aus Luthers Geschichte bekannten Mann, in Paris griechisch gelernt
hatte. Die Fakultät bewilligte ihm auf Begehren des Herzogs, der ihn
empfohlen hatte, ein Honorar von 5fl. für je eine öffentliche Vor-
lesung über griechische Sprache in zwei Semestern (Boehme, S. 187).
Auch der Bat der Stadt und später, wie es scheint, der Herzog gaben
ihm ein Gehalt.^ Der Zudrang zu dem griechischen Unterricht war,
nach den Zeugnissen seiner Schüler C. Cbucigeb und Camebabius,
sehr groß; als einen Gesandten des Himmels hätten ihn alle verehrt;
die alten nichtigen Studien seien verlassen, die neue elegante Bildung
ergriffen worden; jeder habe sich glücklich geschätzt, der mit Cbocus
bekannt geworden; jedes Honorar für den Unterricht sei gezahlt worden,
jeder Ort und jede Stunde recht gewesen (Boehme, 31). Auch Cbocus
selbst hat in einer Bede auf die Leipziger Universität, welche er bald nach
seiner Ankunft gehalten zu haben scheint (sie ist bei Boehme
S. 191 — 205 mitgeteilt), das Lob der Universität in den üblichen
Superlativen und mit reichlichen griechischen Citaten gesungen. Er
preist den Herzog, den Bat der Stadt, die Mediziner, die Juristen, die
Philosophen, die Theologen. „Nirgend findet man gelehrtere und
scharfsinnigere Philosophen, nirgend der schönen Wissenschaft mehr
beflissene. Hier hört man Bedner und Dichter von Philosophen glück-
lich und redlich interpretieren, eine Menge von einer Menge, so daß
zu hoffen steht, diese Stadt könne mit Athen und Bom auf eine Linie,
ja ihnen vorangestellt werden." „Die Theologen sind so ehrwürdig, so
ohne jeden Hochmut, daß sie schon hoch in Jahren meine Vorlesungen
zu besuchen sich nicht abhalten lassen, nach dem Beispiel des Cato,
der als Graukopf noch Griechisch lernte." Mit viel Gold, so wird
erzählt, sei er von dannen gezogen.*
^ Ein Gesuch einer Anzahl Magister, darunter Helt und Werler, an den
Herzog um ein Gehalt von 100 Gulden für Crocds auf wenigstens noch ein Jahr,
bis die griechischen Studien tiefere Wurzeln getrieben, s. bei Stübel, Urkunden-
buch der Univ. Leipzig, S. 406.
• Unter diesen bejahrten Professoren der Theologie, welche Crocus hörten,
war auch Hteronymu» DcrNOERf^iiEiM von Ochsenfurt; man sehe seinen Brief an
Ebasmus, welchen er dem Ceocus bei dessen Abreise zur Besorgung mitgab, in
102 1, 4. Die hmumisHsche Befortnation der Universitäten.
Als Cbocüs 1517 nach England zurückgerufen wurde, folgte ihm
in der griechischen LekturPETBusMosELLANUS (geb. 1493, als P. Schade
zu Bruttig an der Mosel). Er hatte seine Studien in Köln gemacht,
er preist J. Caesabius als den Lehrer, dem er alles verdanke.^ Wie
groß sein Ansehen war, geht daraus hervor, daß er als ganz junger
Mann zweimal in wenig Jahren (Sommersemester 1520 und 1523) das
Rektorat führte. Als er im Jahre 1 524 starb, trug der Rektor, J. Reusch,
in die Rektoratsakten die Thatsache ein und fügte zu dem Namen das
Beiwort: preter etatem in utraque lingua peritissimus , gymnasii nostri
suprema columna,^ Wie er selbst die Ehre schätzte, Mitglied der ge-
lehrten Korporation zu sein, oder wenigstens wie er in Humanisten-
kreisen darüber zu sprechen gut fand, geht aus einer brieflichen Äuße-
rung über seine Promotion im Jahre 1520 hervor: er habe zugelassen,
daß man ihm den bei vielen lächerlichen Namen eines Magisters bei-
lege. Er legte sich aber dieses Martyrium auf, um Mitglied des großen
Fürstenkollegs (mit Wohnung und Gehalt) werden zu können.^ —
Seine Vorlesungen in Leipzig, öffentliche und private, behandelten
außer der Grammatik (nach Theodobus Gaza) die Schriftsteller, die
auch später die gewöhnlichen griechischen Schulautoren sind: Isokrates,
Ebasmüs' Werken III, 1594. Derselbe enthält eine Anfrage wegen einer neu-
testamentlichen Stelle, in welcher des Erashus Erklärung dem Dunqersheim
nicht genügte. D. war über 50 Jahre alt, als er von Crocus, welchen er seinen
venerabilis praeeeptor nennt, Griechisch lernte. Er gehörte zu der Gruppe der
Vermittler des Alten und Neuen, welche in den Briefen der dunkeln Männer
beschimpft wurden. Auch Luther behandelt ihn als lächerliche Figur. 1514
war eine Schrift von ihm mit Empfehlungsvcrsen des H. Emser und des Eobanus
erschienen (Krause I, 119). — Crocus nahm bei seiner Abreise außer von D.
auch von Emser und Mosellanus, sowie von Stromer Briefe an Erasmus mit^
welche man ebenfalls in dessen Werken findet
* Über ihn handelt eine kleine Monographie von Oswald Schmidt, I^ipzig,
1867. Über seine Studien in Köln Genaueres bei Krafpt, Briefe und Dokumente
S. 118 ff. Hier ist auch der Dedikationsbrief mitgeteilt, mit welchem M. dem
Caesarius seine Ausgabe des Plautus und Aristophanes (Hagenau 1517) zueignete.
* Acta Rectonim, herausgegeben von Zarncke, S. 5. Auch der Herzog
sprach in einem Briefe an Erasmus sein lebhaftes Bedauern über des M. frühen
Tod aus: fuit summum Lipsiensis Qy^ntiasii deciis, atque utinam Dens ita
comparassetj ut ille diutiti^ nieain liberab'tatem experirt potuisset (EIrasmi Opp.
in, 801).
* Schmidt, 63 f.: ridieulum ilhid (multis) Magisterii titulum pa^siis sum
mihi imjyoni. In einem Briefe an Mutian (Krapft, Briefe S. 148) erwähnt er
ebenfalls der Erwerbung der Kollegiatur: durch Bewerbung beim Herzog und
beim Rat habe er sie erlangt: praebendam illam Princeps, invitis Sophistis
o7nnibti8j in me oonhdit, cum tarnen ohstarent mihi et rons^ietudo et scholat hujus
legcs. Evici tarnen idqu€ partim magnorum hominum farorCy partim exqitisifa
quadam a^te, Ist diese List eben die Erwerbung des Magisteriums?
Die Universität Leipzig. Reform von 1519, 103
Plutarch, Plato, Aristophanes, Homer, Demosthenes. Seit der Leipziger
Disputation zwischen Lutheb und Eck (1519), bei welcher er die Er-
öffnungsrede im Auftrag des Herzogs hielt, zog er auch theologische
Autoren in den Kreis seiner Vorlesungen: Augustinus und das Neue
Testament Er rühmt in Briefen den erstaunlichen Beifall, den er finde:
über Augustinus hörten ihn (im Sommer 1520) mehr als 200 lesen,
darunter mehr als 12 Mönche und 20 Magister und Baccalarien der
Theologie; über die Paulinischen Briefe im Winter 1520 — 1521 sogar
gegen 300. Welcher Wechsel der Dinge, fugt er hinzu (der Brief ist
an Mutian); sonst kümmerte sich kein Mensch um diese, wie man
meinte, unfruchtbaren Studien, jetzt sind sie oben auf und die andern
treten in den Hintergrund.^
Im Jahre 1519 (also gleichzeitig mit der Erfurter Reformation) kam
eine Reformation der Leipziger Universität im humanistischen Sinne
zum Abschluß. Da wir über dieselbe besonders gut unterrichtet sind,
und da sie anderen Universitäten als Vorbild gedient zu haben scheint,
80 will ich etwas ausführlicher darüber berichten.
Lange Verhandlungen zwischen der Regierung und den Fakultäten
waren vorhergegangen. Sie fallen in dieselbe Zeit, in welcher die Briefe
der Dunkelmänner geschrieben sind, derselbe Gegensatz scheint überall
durch. Das Eindringen der Poeten und Oratoren hatte manche Störung
in den alten Betrieb gebracht. Die zur Schau getragene Verachtung
der Humanisten hatte sich augenscheinlich weiten Kreisen der Schüler
mitgeteilt, die Geringschätzung der Grade bewirkte ein Zurückgehen
der Nachfrage, auch die Frequenz nahm ab. Das Konsilium der
Artistenfakultät schob in Übereinstimmung mit den Theologen die
Schuld auf die Poeten: sie untergrüben zugleich den Ernst der Studien
und die Disziplin und Zucht, daher man sie einschränken müsse, um
jene Übel zu heilen.*
* Schmidt, Mosellanus, S. 63. Daß dieser Beifall die alten Professoren der
Theologie verdroß, ist begi*eiflich; sie müssen dem unliebsamen Konkurrenten
irgendwelche Schwierigkeiten gemacht haben, wozu ihnen vermutlich das for-
melle Becht nicht fehlte. Mosellanus wendete sich hierauf mit einer großen
Grefolgschaft jüngerer Magister an den Rat der Stadt, er möge dem Fürsten
klar machen, daß an seinen Vorlesungen der Universität und Stadt mehr ge-
legen sein müsse, als an denen der alten Herren, da die auditores in Leipzig,
wie auch anderswo, nur um der jungen Magister willen sich aufhielten. Welches
Verfahren den Zorn der alten Herren erst recht erregte. Man sehe die Akten-
stücke aus dem Jahre 1521 bei Stübel, Urkundenbuch Nr. 321—326.
• Eine große Menge von interessanten Aktenstücken des Dresdener
Archivs über diese Vorgänge findet man in dem Urkundenbuch der Universität.
Leider ist die Benutzung des Materials durch den Herausgeber wenig erleichtert-,
104 I, 4, Die humanisiische Reformation der Universitäten.
Ein Bericht von vier verordneten Magistern aus dem Konsilium
der artistischen Fakultät läßt sich so vernehmen: „es haben in kurzer
Zeit die poetischen Besumptionen (Privatkurse humanistischer Dozenten)
überhand genommen , daß die artes (die philosophischen Wissenschaften)
sehr untergedrückt wurden; denn die Poeten und Oratoren sind nicht
schwer zu lernen, aus welchen die Jugend in weltlichen Werken und
Händeln unterwiesen wird, derhalben sie geneigt ist, die zu hören, und
die jungen Magister, sie zu resümieren. Aus diesen Besumptionen
hören die jungen Gesellen streiten, schlagen und hauen, auch Buhl-
schaften und Unzucht lernen sie kennen, welches sie dann hernach
aus jugendlicher Hitze und Neigung üben und vollbringen. Soll die
Fakultät artium und nachfolgend die ganze Universität wohlstehen, wie
vor langen Jahren gewesen, so müssen der resumptiones in poetica
weniger sein und müssen die jungen magistri zum Gehorsam gedrungen
werden; denn ihre habitus, ihre Worte und Werke geben den Studenten
Ärgernis. Sie lesen zu verbotenen Stunden und während der Dispu-
tation, womit sie die beschworenen Statuten verachten; sie halten nichts
für Kunst, es habe denn einen auswendigen Schwung der Worte. Aber
wie E. f. Gn. gnädiglich betrachten mag: sdentiae sunt de rebus und
nicht de vocabulis. Wer vocabula weiß, der ist ein grammaticusy er ist
aber deshalb nicht gelehrt oder ein Philosoph, darauf die Universität
gegründet, denn vocabula zu wissen gehöret Knaben zu. Deshalb
müssen solche resumptiones, wie zu Köln und Paris, gemäßigt und ver-
mindert werden. Man muß auch die magistrandos besser examinieren
und steter rejicieren, damit sie verursacht werden artes und höhere
Künste zu lernen. Man hat bisher multitudini parciert und vielleicht
die neuen Universitäten (nämlich Wittenberg und Frankfurt) angesehen"
(Urkundenbuch 290). Hierzu fügt ein sehr ausführliches Gutachten
eines nicht genannten Einzelnen hinzu, „daß die jungen Magister zu
Kirchen und Straßen und allenthalben zu Tisch und auf die Buhl-
schaft mit den Gesellen gehen und nicht anders mit ihnen sich ge-
baren, als wenn es ihresgleichen und Kameraden wären" (Urkunden-
buch 317).
Die Poeten fanden natürlich umgekehii; die Ursache des Bückgangs
bei den Vertretern des alten Unterrichtsgangs; dieselben böten unzeit-
nicht einmal eine genauere Datierung ist versucht, so leicht sie an Ort und
Stelle war; auch die Namen sind nicht selten falsch abgeschrieben. Die Akten-
stücke bestehen aus Beschwerden, Berichten, Gutachten der Fakultäten und der
Magister außerhalb der artistischen Fakult&t, ferner des Rates der Stadt und
einzelner Personen; sodann aus Reformationsentwürfen und Bedenken der
Fakultäten.
Die Universität Leipzig, Beform van 1519. 105
gemäßen Stoff in barbarischer Form. Die Abnahme der Promotionen
wird in einem Bericht der jüngeren Magister außerhalb der Fakultät
an den Herzog (TJrkundenbuch 281 f.) darauf zurückgeführt, „daß die
examina nach alter Weise aus verworfenen und jetzt zur Zeit gering-
geachteten Autoren geschehen, die examinatores zum Teil geringgeschätzt
und nach der alten Welt sind, daher sich viele und vor allem die von
Adel, welche etwa auch in artibus promoviert, ihrem Examen zya unter-
werfen verachten; auch diejenigen, welche bei den Magistern außerhalb
der Fakultät in der jetzt beliebten Kunst in Unterweisung sind, unter-
lassen gleichermaßen das Examen, weil ihre praeceptores nicht von der
Fakultät und sie daher von den Fakultätsmitgliedern Widerwillen be-
furchten. Wie denn auch die Fakultätsmitglieder die Promovenden
andern Magistern abwendig zu machen mit Bedrohungen sich befleißen.^'
Weiterhin wird auch angeführt als Ursache der Verachtung der Philo-
sophie -bei den Studenten, „daß die alte Übersetzung des Aristoteles,
welche bisher gelesen wird, den Schülern um ihres unzierlichen Lateins
willen ganz unangenehm und zu hören verdrießlich ist." Unterschrieben
ist der Bericht von sechs Magistern, darunter Veit Werler an der
Spitze steht.
Femer wird allgemein darüber geklagt, daß die Vorlesungen nach-
lässig gehalten und die Prüfungen nicht ernst genommen würden: mit
Geld könne man alle Defekte zudecken.^ Endlich darüber, daß die
Kollegiaturen nach Gunst vergeben würden, nicht nach Würdigkeit: die
Theologen und die Komplierenden in Theologie hätten sich in den
Alleinbesitz gesetzt.
Die Reformation von 1519 giebt im wesentlichen den modernen
Forderungen nach.^ Vor allem der Forderung, die alten barbarischen
* So der Bericht eines Ungenannten (Urkundenbuch S. 314); ebenfalls ein
Bericht des Bates der Stadt (S. 864). Eine Eingabe von Studenten an den
Herzog hatte diesen Punkt stark betont, wie aus der Verantwortung hervor-
geht, welche die Universität darüber an die Regierung schickte (datiert vom
13. April 1516; Urkundenbuch 424 if.). Es wird aus der Klage der Studenten
angeführt: „Wir fleiß igten uns, wie wir von den Studenten das Geld bringen
mögen, und seien gleich als die Egel: wie dieselben das Blut saugen, also saugen
wir ihnen das Geld aus dem Beutel, auch zu Zeiten mit Verletzung der Studenten
Ehre und des guten Gerüchts." (Vgl. den Brief des M. Irüs Perliäus. Epp.
Obs. Vir. II, 58). Die Universität antwortete übrigens darauf mit Ernst und
Würde: der Vorwurf sei nicht begründet, die Vorlesungen würden umsonst ge-
halten und die Promotionskosten seien die hergebrachten.
• Die reformierte Lektionsordnung ist bei Zabncke, Statutenbücher S. 34—42
mitgeteilt Sie hat die Form einer Einladungsschrift, welche Rektor und Lehr-
körper der Universität an die Studierenden richten. Im blühenden Humanisten-
stil, mit klajssischen Citatea, geschrieben, hat sie augenscheinlich die Absicht,
106 1, 4, Die humanistische Reformation der Universitäten,
Übersetzungen der aristotelischen Texte durch neue und elegante zu
ersetzen. Die von den griechisch-italienischen Humanisten Bessabion,
Argyeopülus, Augustinus Niphus, Hebmolaus Babbabus, L. Valla,
Theodobus Gaza gemachten Übersetzungen werden durchweg den Vor-
lesungen zu Grunde gelegt Zugleich werden die scholastischen Kom-
mentare beiseite gelegt: non illius (nämlich des Aristoteles) interpretum
somnia aut intricatas quaestiones interpretabimur , cum miserrimi sit
ingeniij ut Seneca ait, ex commentariis tantum sapere, in quibus, neglecto
Aristotelis sensu de lana, ut ajunt, caprina contendunt sophistae. Da-
gegen wird der alte Interpret Themistius, in des Hebmolaus Babbabus
Übersetzung, wieder herangezogen, und ebenfalls die älteren Kompendien
der Physik von Albebtus Magnus, der Logik von Petbus Hispanus
in Gebrauch genommen, ne dialectices tirones perplexis secundariarum
et primariarum intentionum quaestionibus aut plane Ulis Scoti formali-
das Vorarteil zu zerstreuen, daß die Leipziger Universität hinter der Zeit zurück-
geblieben sei, welche Meinung ofiFenbar in der studierenden Welt verbreitet war,
wie aus manchen der vorher erwähnten Bedenken hervorgeht. Ein Konzept
der Reformation in deutscher Sprache, welches dem Herzog vorgelegt zu werden
besümmt war, ist im Urkundenbuch (Nr. 279) mitgeteilt. Es ist nicht unglaub-
lich, daß Hiebonthus Emseb, Kaplan und Sekretär des Herzogs, der Verfasser
des Konzepts ist und dann vermutlich auch des vorhin wiederholt angezogenen
namenlosen Berichts (im Urkundenbuch Nr. 252); manche kleinen Züge scheinen
auf die Identität des Verfassers beider Stücke zu führen. Die neue Lektions-
ordnung folgt in den wesentlichen Stücken dem Konzept, wenn sie auch in vielen
Einzelheiten abweicht. Als Verfasser der lateinischen Lektionsordnung scheint
M. Andreas Epistates (Propst) von Delitzsch, der im Sommer 1519 Rektor war,
angesehen werden zu müssen. Er gehörte zu jenen Poeten älteren Schlages,
welche, wie Ortuinus Gratius, den Hohn der Dunkelmännerbriefe in erster
Linie zu tragen hatten. Er las über Ovid, Cicero und andere Poetenbücher.
Als cyclieanim artium professor trug er sich bei Gelegenheit seines zweimaligen
Eektorats (1513, 1519) in die Matrikel ein. Daß Delitzsch und Emser beide die
Entfernung des Aesticampla.nu8 betrieben hatten (Böcking II, 331 ; Epp. Obs. Vir.
I, Nr. 17) würde der Rolle, die sie bei der Reformation der Universität spielten,
nicht entgegen sein. Den Konziliationsbestrebungen dieser beiden Männer
konnte nichts mehr hinderlich sein, als die heftige und herausfordernde Art
jenes Poeten. Daß Ember um diese Zeit noch durchaus den Humanisten zu-
gezählt wurde, zeigt eine Dedikationsepistel W. Pirckhaimers an ihn vom Ende
des Jahres 1519 oder Anfang 1520 (abgedruckt in Huttens Werken, ed. Böckino,
I, 317 ff.). Emser wird hier acerrimus propugtiator in Reuchliiiiano commilitio,
praecipuus hostis der Sophisten genannt Der Brief schließt voll Freude über
den Sieg der guten Sache: rxultemus nohisque applaudamus quod in hanc foe-
ii/rem ificidimus aetatcmj qua reteres disciplinae rev^iciscere y litter arum studia
florere et oinnes honae artea in lucem prodire inciptunt, quibus brevi universi
Uli barbari hostes profligari pelli et penitus e medio tolli possunt. Die beiden
sächsischen Herzöge hätten an diesem Sieg hervorragenden Anteil.
IJie Universität Wittenberg. 107
tatum maeandris a (statt aui)- dialectica, ingeniorum cote et artium
mcLgistra (statt magistri), deterreantur.
Neben den also modernisierten Kursen in der aristotelischen Philo-
sophie wird der Unterricht in der Rhetorik und Poetik förmlich in den
Kursus aufgenommen: (Pseudo) Cicero ad Herenmumy Cicero de oratore,
und Episteln, Quintilian, Virgil finden ihren Ort im Stundenplan. Auch
wird Griechisch gelehrt: die Grammatik des Theodobus Gaza und
Theokrit wird Ton dem Stipendiaten des Herzogs (Mosellaküs) vor-
getragen.
Man sieht) die Beformation ist bestrebt, das Alte und das Neue
zu versöhnen, jenes in dieses allmählich überzuführen. Im Frühjahr
1520 wurde Mosellanus zum Rektor gewählt. Der Sitte gemäß wurde
er mit einer Gratulationsrede begrüßt; sein Freund, der humanistisch
gebildete Arzt H. Stbomeb hielt dieselbe; unter allem Lob, das reich-
lich gespendet wird, wird eines vorzüglich hervorgehoben: die Friedens-
liebe Perpetuum pacis et concordiae Studium). Auf diesen Punkt
richtet sich die Erwiderung des Mosellanus; sie ist überschrieben:
de concordia litterarum professoribus tuenda, und besteht aus dringen-
den Ermahnungen zum Frieden an Theologen und Juristen, an Philo-
sophen und Humanisten. Die Erwählung des Mosellanus und seine
Rektoratsrede sind gleichsam die offizielle Besiegelung des Friedens-
werkes vom Jahre 1519.^
Die Universität Wittenberg zeigt von Anfang an den Einfluß
des humanistischen Zeitgeistes. Ihr Begründer ist der als Mäcen der
schönen Wissenschaften in vielen Gedichten der Humanisten besungene
Kurfürst Friedrich, der Weise genannt. Die Errichtungsurkunde, vom
Kaiser Maximilian ausgestellt (1502), ist schon als solche ein Zeichen
der Zeit; die beginnende Säkularisierung der Wissenschaften tritt darin
hervor, sonst hatte der Papst die Errichtungsbullen erteilt, jetzt wurde
eine solche erst nachträglich gesucht. Auch der Inhalt ist voll huma-
nistischer Anklänge, in der Sprache und im Inhalt: die Pflege der
Wissenschaften und der schönen Litteratur wird als eine Aufgabe des
Kaisers oder des Staats bezeichnet und als ihr Ziel, für das weltliche
Regiment und die übrigen Kulturaufgaben geschickt zu machen. Sonst
* Beide Roden abgedruckt bei Böhme, Litt Ups., S. 206—232. Daß
Mosellanus an der Reformation von J519 beteiligt war, geht aus einem Brief
an den Erfurter J. Lanok hervor, welcher mit anderen von K. Krause im
Zerbster Programm von 1883 veröffentlicht ist: Molimur, schreibt er am
22. April 1519, ilenuo studiomm naXiyy^veiTiav , scd vereor pythagoricafn ^ quae
in Silentium tandem ahent. IJttit est, erit hie gradus a4 rneliora. Saepe mo-
vendo tandem promovebimus.
108 I, 4, Die humanistische RefarmaHon der Universitäten,
hatte man von der reinen Lehre und ihrer Ausbreitung gesprochen
und die Kirche schien an der Universität und ihrem Gedeihen in erster
Linie interessiert.^
Im Jahre 1507 veröffentlichte Christoph Scheukl, der eben als
Dr. jur. utriusque mit der ganzen modernen Bildung aus Bologna zu-
rückgekehrt und sogleich zum Rektor der Universität gewählt worden
war, ein Verzeichnis der Lehrer und Lektionen, in der Absicht, für
die neue Universität Reklame zu machen: in ganz Italien sei keine
Universität, nicht Padua, nicht Bologna, die so viele ausgezeichnete
Gelehrte habe (privatim in Briefen sprach er übrigens anders: Witten-
berg enttäuschte den von Bologna kommenden in jeder Hinsicht aufs
äußerste). In der theologischen Fakultät lasen fünf Doktoren, darunter
Staüpitz und M. PoiiLiCHiüS von Mellerstat, Dr. med. Lipsiensis und
Vizekanzler, beide an der Begründung der Universität hervorragend
beteiligt; ferner Jod. Tbutvettek von Erfurt In der artistischen
Fakultät lehrten zehn Magister Philosophie, und zwar in Parallelkursen
Thomisten und Skotisten. Neben diesen lasen drei Lehrer in humanis
litieris: B. Phacchus die Aeneis, den Valerius Maximus und Sallust,
der Jurist Dr. Scheubl den Sueton, G. Sibutus, poeta et orator lau-
reatus, den Silius Italiens und sein eigenes Gedicht auf Wittenberg
(Silvula in Albiorim).^ Die Statuten der artistischen Fakultät vom
Jahre 1508, ebenfalls von Scheurl verfaßt, haben die öflFentlichen
Lektionen, philosophische und humanistische, in folgender Weise über
den Tag verteilt: 5 Uhr früh Loyca major (d. h. die Analytik des
Aristoteles); 7 Uhr Physica, de anima, parva naturalia; 12 Uhr
Loyca minor (d. h. Petrus Hi^panus Summula); 1 Uhr Humanae litter ae;
2 Uhr Ethica, Metaphysica, Mathematica; 3 Uhr Grammatica; 4 und
7 Uhr Hum. litt. Allerdings sind die humanistischen Vorlesungen
nicht obligatorisch. Für die Baccalariats- und Magisterprüfung werden
ganz die alten Leistungen vorgeschrieben: man muß nachweisen die
Lektionen über Logik, Physik, £thik, Metaphysik und Mathematik
(letztere wird 1508 durch Fakultätsbeschluß besonders eingeschärft)
* Grohmann, Annalen der Universität zu Wittenberg 1801, I, S. 6 ff. Die
später zu erwähnende Begründung einer Poetenfakultät in Wien durch die
staatliche Autorität ist ebenfalls ein Anzeichen der großen Wandlung, die sich
seit der Mitte des 15. Jahrhunderts vollzog: der Staat tritt an die Stelle der
Kirche als Kulturträger. Die wirtschaftliche Entwickelung drängte dahin und
die Cäsarenreminiscenz bot die Form.
* Grohmann, II, 81. Über Sibütus Böckino, Opp. Hutt. Supplem. II, 469,
wo auch der bei Grohmann ganz korrupte Titel seines Gedichts auf Witten-
berg. Über Balthasar vom Vacha ebendort S. 369.
Du Universität Wittenberg. M. Luther. 109
gehört und 30 Disputationen im Habit (sonst zählen sie nicht) bei-
gewohnt zu haben. ^
Es hat kein Interesse, die Notizen, welche sich über Aufenthalt und
Lehrthätigkeit einzelner Humanisten finden, zusammenzustellen. Daß
BirscHius schon im ersten Jahr des Bestehens der Universität als be-
soldeter Leklor angenommen worden war, ist früher erwähnt; sonst
werden noch Sbrülius und Otto Beckmann genannt. Sehr viel wich-
tiger sind zwei andere Persönlichkeiten, die, wie mehrere andere unter
den ersten Wittenberger Lehrern, aus Erfurt kamen: M. Luthee und
G. SpaiiAtinus (1482 — 1545). Den letzteren, der seit 1511 Hofkaplan
und Sekretär des Herzogs Friedrich war, zeigt der Briefwechsel Luthers
xmd Melanchthons als den allezeit thätigen Agenten der Universität
am Hofe.'
Bruder Martin war im Jahre 1508 aus dem Erfurter Augustiner-
kloster von seinem Oberen Staupitz als Lektor der Schulphilosophie
in das Wittenberger Kloster des Ordens versetzt worden. Er war zwar
vor seiner Mönchszeit in Erfurt, wo er von 1501 — 1505 studiert hatte,
in einige Berührung mit dem Humanismus gekommen; doch war das
Verhältnis ein ziemlich äußerliches geblieben, die Schulphilosophie und
Rechtswissenschaft; hatten den wesentlichen Inhalt seiner Studien aus-
gemacht Im Kloster hatte er die philosophischen Studien fortgesetzt,
zugleich aber das Bibelstudium begonnen. In Wittenberg vollzog sich
allmählich die Loslösung von der Schulphilosophie; seine Briefe geben
darüber Auskunft. Anders als bei den Poeten war bei Luther der
Vorgang: war jenen in der Schulphilosophie zu viel Christentum, so
diesem zu viel Heidentum; wollten jene die Poesie und die Eloquenz,
die heidnische Bildung und die reine, naturalistische, nicht zur Ver-
träglichkeit mit der Kirchenlehre zurecht gemachte Philosophie der
Griechen an die Stelle der Schulphilosophie setzen, so ging Luther
vielmehr darauf aus, die reine supranaturalistische und antirationalistische
Gläubigkeit des alten Christentums zu erneuern. Die heidnische Ver-
nunft, so erschien ihm die Lage der Sache, habe den Glauben verderbt
und in der Schultheologie ein widriges Mischlingsprodukt hervorgebracht.
Vor allem war ihm der Gegensatz der heidnischen und der christlichen
Gerechtigkeit in seiner vollen Schärfe klar geworden: die Gerechtigkeit
durch Tugend und die Gerechtigkeit aus Gnaden erschienen ihm als
ausschließende Gegensätze, und daher die Vermengung aristotelischer
* Die Statuten von 1508 hat Müther herausgegeben in einer Jubiläums-
schrift zur Vereinigung von Wittenberg und Halle 1867.
' S. den sehr eingehenden Artikel über Sp. in der A. D. Biogr., von
G. Müller.
HO I, 4. Die hwnamstisohs ReformcUwn der Universitäten,
Tagendlebre mit der Lehre von der Erlösung aus Gnaden schlechthin
unzulässig. Die Feindschaft gegen den Aristoteles, d. h. gegen die
scholastische Philosophie, die die Theologie, ja das Christentum selbst
verderbe, ist während der nächsten Jahre der hervorstechendste Zug in
Luthers geistiger Physiognomie.
Im Jahre 1516, demselben, in welchem er die deutsche Theo-
logie, eines der schönsten Erzeugnisse mittelalterlicher Mystik, wieder
herausgab, schickte er an seinen Freund Joh. Lange, den er, als
STAUPiTzens Vikar, zum Prior des Erfurter Augustinerkonvents gemacht
hatte, eine Abhandlung „gegen die Logik, Philosophie und Theologie,
d. L Schmähungen und Verfluchungen gegen Aristoteles, Forphyrius
und die Sententiarier, diese nichtswürdigen Studien unserer Zeit'', so
wenigstens würden die Magister seine Schrift nennen; er bittet, sie
seinem alten Lehrer Jodooüs in Eisenach einzuhändigen. In dem Be-
gleitbrief (de Wette, Luthers Briefwechsel I, 15) sagt er: „es brennt
mir auf der Seele, jenen Gaukler, der mit seiner griechischen Larve
die Kirche äfit, zu demaskieren und in seiner Schande allen darzu-
stellen; wenn er nicht ein Mensch gewesen wäre, würde ich ihn für
den Teufel selbst halten. Das ist mein größter Schmerz, daß ich sehen
muß, wie unter den Brüdern die besten Köpfe in jenem Unflat ihr
Leben hinbringen; und die Universitäten hören nicht auf die guten
Bücher zu verbrennen und die schlechten fortzupflanzen." Schon im
folgenden Jahr (18. Mai 1517, de Wette I, 57) kann er demselben
Lange melden: unsere Theologie und der heil. Augustinus gehen vor-
wärts und herrschen unter Gottes Beistand auf unserer Universität;
Aristoteles ist im Sinken, gebeugt zum baldigen ewigen Sturz. Die
Lektionen über die Sentenzen will niemand mehr hören, wer Zuhörer
haben will, muß die Bibel und den heil. Augustinus oder einen anderen
Kirchenlehrer lesen."
Noch einmal entlud sich sein grimmiger Haß gegen Aristoteles,
die Universitäten und die Universitätsphilosophie in der Schrift an
den christlichen Adel; ich komme hierauf in anderem Zusammenhang
zurück.^
^ Sehr präcis hat Luther sein Verhältnis zum Aristoteles und zu welt-
licher Philosophie überhaupt in einigen Thesen gefaßt, über die unter seinem
Vorsitz im Jahre 1517 zu Wittenberg disputiert wurde. Ich setze ein paar
Thesen her: 43. Error eat dicere: sine Äristoiele non fit Theologus, Contra
dictum commune, 44. Imnio Theologus non fity nisi id fiat sine Ar i^ tötete,
50. Totti'S Aristoteles ad Theologiam est tenebrae ad lueem. Contra schola^ticos,
— Und in der Heidelberger Disputation im Mai 1518 stellte er unter andern
die Thesen auf: 29. Qui sine periindo volet in Aristoiele philosophari y necesse
Die Uhiveraitäi Wittenberg, M, Luther. 111
Der Haß gegen die Universitätspliilosophie war es nun zunächst,
der LuTHEB mit den Humanisten verband. Schon in dem Handel
Reüghuns sympathisierte er mit diesem. Er schreibt an Spalatin
(1514, DE Wette I, 13): für einen Esel habe er den Kölnischen
Poetaster Obtuinus schon immer gehalten; jetzt sehe er, daß er ein
Hund, ja ein reißender Wolf im Schafskleid sei, oder vielmehr ein
Krokodil, wie Spalatin scharfsinnig bemerkt habe. So finden wir ihn
denn mit Caelstadt, welcher der drei Sprachen kundig war, Spalatin u.a.
thätig, die Ersetzung der philosophischen Kurse durch poetischen und
rhetorischen Unterricht zu fördern. Ein Brief vom 11. März 1518
(de Wette, 97) ist begleitet von einem Entwurf zur Reformation des
Wittenberger Studiums, welchen man in gemeinsamer Beratung bei
Cablstadt aufgesetzt hatte, „zur Austreibung der gesamten Barbarei".
tTber den Inhalt jenes Entwurfs giebt der folgende Brief an Lange
(21. März) Auskunft: man hoffe demnächst Vorlesungen über beide, ja
über die drei Sprachen, femer über Plinius, Mathematik, Quintilian u. a.
zu haben, und daß jene unsinnigen Lektionen über P. Hispanus, Tar-
taretus, Aristoteles abgeschafft würden. In demselben Brief wird be-
richtet, daß die Studenten, die des alt^n Sophistenkrams überdrüssig
und nach der Bibel begierig seien, eine Schrift zu Gunsten Tetzels,
nach öffentlicher Ankündigung, auf dem Markt verbrannt hätten.
Die Hoffnung wurde noch in demselben Jahr, wenigstens was den
positiven Teil der Vorschläge anlangt, erfüllt. Für die lectio Pliniana
(Naturgeschichte) war schon im Herbst 1517 Aesticampianus mit einer
est ut aniea bene stultificetur in Christo. 30. Sicut libidinis malo non utitur
bene nisi conjugatus, ita nemo phüosophatur bene nisi stultus (Luthers Werke,
Weim. Ausg., I, 224, 353). Eine dankenswerte Zusammenstellung aller Äuße-
rungen Luthers über Aristoteles giebt Fr. Nitzsch, Luther u. Aristoteles (1883).
Als der große Kampf ausgekämpft, als die Herrschaft des Papsttums und der
scholastischen Theologie gebrochen war, wird übrigens Luthers Urteil über den
Aristoteles billiger und sachlicher; die Schmähungen gelten dem Kirchenlehrer
Aristoteles, den heidnischen Philosophen kann man in seiner Sphäre eher gelten
lassen. IjUThebs Urteil ist in der ersten Zeit, nachdem ihm über den CharaktMi
der aristotelischen Philosophie ein Licht aufgegangen ist, absolut ungerecht,
weil unhistorisch : er legte eben an Aristoteles den Maßstab des Kirchenlehrers.
Er folgte aber darin nur der ebenso unhistorischen Auffassung der Schulphilo-
sophie. Bei F. V. Bezold (Gesch. der deutscheu Reformation, 1890, S. 206) findet
man einen Holzschnitt Holbeins vom Jahre 1527, der die Ansicht des Luther
von 1520 über die Philosophie vortrefflich veranschaulicht: er stellt Christus
als das wahre Licht dar, zu ihm wenden sich von links her die gemeinen Leute
und die Bauern ; sich abwendend von dem Licht erscheint rechts ein Haufe von
Klerikern, Mönchen, Gelehrten, die, den Papst an der Spitze, hlindlings dem
eben abstürzenden Plato und Aristoteles in den Abgrund nachtaumeli^^
112 I, 4. Die humamstische Eeformaiion der Universitäten,
Besoldung vom Fürsten berufen worden.^ Am 30. März 1518 schrieb
der Kurfürst an Reuchlin, er möge ihm einen Gräcisten und einen
Hebraisten für seine Universität empfehlen. Im Sommer kamen für
die hebräische Lektur Böschenstein, für die griechische der Tübinger
Magister Philippüs Melanchthon, jener ein Schüler, dieser ein Groß-
neffe Reuchlins.*
Melanchthon, der in der humanistischen Atmosphäre Reuchlins
aufgewachsen war, besaß in diesem Kreise schon bedeutenden Ruf.
Das Carmen rhythmicale (Ep. vir. obs. II, 9) stellt ihn als den ent-
schiedensten Repräsentanten des Humanismus in Tübingen hin. Der
21jährige Magister begann seine Wittenberger Laufbahn mit einer be-
merkenswerten Rede über die Notwendigkeit einer Universitatsreform:
de corrigendis adolescentium studiis (CR. XI, 15 — 25). In aus-
gesuchtem Latein verfaßt, mit griechischen und sogar hebräischen
Citaten geziert, entwickelt sie das humanistische Reformprogramm.
Mit der Zuversicht, welche allen Humanisten eigen ist, zeigt er den
Hörern, daß, was bisher auf den Universitäten gelehrt wurde, nichts-
würdiger barbarischer Unsinn sei. Es sei seine Aufgabe, die Sache der
schönen Wissenschaften und der wiederauferstehenden Musen gegen
diejenigen zu beschützen, „welche, selbst Barbaren, durch barbarische
Künste, d. h. durch Gewalt und List, noch überall in den Schulen
* Phacchus, der im Herbst 1517 Rektor wurde, trug in die Matrikel ein:
B. F. PuAccHüs ingenuarum arcium Magister^ Utrifisque Humanitatis Professor,
A, D. 1517 Jds, Octobris communi siiffragatione patrmn creaius est Oymnasi-
archa. Stib hujus rectoratu principali dementia et munificentia Maximi Frideriei
Principis electoris respublica literaria aitcta est Lectione Pliniana, Quintilianiy
Prisciani et pedagogis duobus publieis, ac coepius est legi texius Aristotelis in
Physicis et Logicts (Förstemann, Album S. 69).
* Der Brief des Kurfürsten in Eeuchlins Briefwechsel, herausgeg. von
Geiqer, 289; die merkwürdige Antwort ebend. 294. Der Kurfürst wird als
„neuer Stifter der Menschlichkeit in deutscher Nation" des ewigen Nachruhms
versichert; lange Jahre sei Deutschland „für ein barbarisch, viehisch Land** vor
andern Ländern geschätzt worden, und zwar nicht unbillig, da es von Sophisten
mit ihrem unnützen Geschwätz sich habe am Narrenseil führen lassen und zum
Verständnis der alten Weisen aus Mangel der Sprachen nicht gekommen sei.
Wenn nicht Reüchlin gefragt wäre, dürfte Mosellanus von Leipzig berufen worden
sein; er bewarb sich in Wittenberg darum (Luther an Spalatin 4. Juni 1518).
Es wäre eine nicht unwichtige Entscheidung gewesen ; vermutlich wäre Melanch-
thon dann mit Reüchlin nach Ingolstadt gegangen und Humanist geblieben;
und Mosellanus in Wittenberg hätte sich vielleicht nicht ganz so sehr Luther
untergeordnet als der erheblich jüngere Melanchthon. — Übrigens hatte man
schon früher daran gedacht, Crocüs für Wittenberg zu gewinnen; siehe einen
Brief von Spalatin an Lange vom Jahre 1515 bei Kbafft, Briefe und Doku-
mente S. 135.
Die Universität Wittenberg, Melanehthon, 113
Titel und Gehalt von Lehrern sich anmaßen und böswillig die Menschen
in ihrem Netz gefangen halten." Sie suchen, so fahrt er fort, die
deutsche Jugend von den Studien durch allerlei Beden abzuhalten:
mehr schwierig sei das Studium der schönen Wissenschaften als nütz«
lieh; Griechisch werde von einigen müßigen Köpfen zur Ostentation
herbeigezogen; das Hebräische sei ungewiß; indessen gingen die Wissen-
schaften zu Grunde; die Philosophie stehe verlassen. Mit solchem un-
wissenden Volk zu kämpfen sei selbst dem Herakles mehr als ein
Theseus nötig.
Er giebt dann einen Umriß der Geschichte der wissenschaftlichen
Kultur im Abendlande; man könnte ihn den vulgären Darstellungen
noch heute als Grundriß unterlegen. Vor etwa 800 Jahren sei durch
die Goten und Langobarden das römische Reich zerstört worden und
mit ihm die römische Litteratur abgestorben. Doch sei einiges durch
die Kirche gerettet, in Irland seien die Studien wieder aufgegangen,
von Karl dem Großen endlich nach dem Kontinente zurückgeführt
worden. Dann kam das Unglück: einige Menschen verfielen, sei es
aus Hochmut oder aus Streitsucht, auf den Aristoteles, den sie in
schlechten und unverständlichen Übersetzungen lasen. Und nun ging
alles zu Grunde, das Gute wurde aus dem Unterricht durch das Schlechte
verdrängt. Dies Zeitalter gebar die Thomas, Scotüs und die übrigen.
300 Jahre lang dauert ihre Herrschaft. Sie hat das Griechische ver-
achtet, die Mathematik vergessen, die Grammatik mit Kommentaren,
die Dialektik mit Distinktionen und Streitfragen zu Grunde gerichtet;
die Folge war, daß auch die Philosophie und die Theologie, ja die
Ejrche selbst, der Gottesdienst und die Sitten zu Grunde gingen.
Dann folgt ein Umriß der Studien, wie sie der Redner empfiehlt.
Im ganzen bleibt die alte Ordnung: mit der Grammatik und dem
notwendigsten aus der Dialektik und Rhetorik ist der Anfang zu machen;
dann folgt die Philosophie, worunter er die Naturwissenschaft, die Moral
und die Geschichte begreift; so vorbereitet mag man an die Theologie
sich wagen. Aber für alle diese Studien, und hierauf kommt es wesent-
lich an, ist die Kenntnis der griechischen Sprache unentbehrlich.
Durch ihren Untergang sind die Wissenschaften, ja ist die Kultur selbst
untergegangen; ihr Aufgang wird ein neues goldenes Zeitalter bringen.
„Lernet Griechisch zum Lateinischen, damit ihr, wenn ihr die Philo-
sophen, die Theologen, die Geschichtsschreiber, die Redner, die Dichter
leset, bis zur Sache selbst vordringet, nicht ihren Schatten um-
armet, wie Ixion, da er die Juno zu umfangen trachtete." Ohne
Griechisch kein Studium der Philosophie, den Aristoteles kennt nur,
wer ihn im Original liest. Daher habe er die Reinigung des Aristoteles
Paalsen, Unteir. Zweite Aufl. I. 8
114 I, 4, Die humanistische Reformation der Universitäten,
von der Barbarei, mit seinem iVeunde Stadianüs, sich vorgesetzt.
Ohne Griechisch auch kein Studium der Theologie; die Sprache giebt
das Verständnis und erlöst von dem Hin- und Herreden der Glossen
und Kommentare.
Er schließt mit der exhortatio: „Widmet den Griechen, sei es auch
nur einige Nebenstunden; es wird meine Sorge sein, daß dieselben nicht
verloren sind. Die Schwierigkeit der Grammatik werde ich von Anfang
an mildern durch die Lektüre der besten Schriftsteller, damit was dort
die Regel, hier das Beispiel lehre. Wir werden den Homer zur Hand
nehmen und ebenfalls des Paulus Brief an Titus. Ihr werdet dabei
gewahr werden, wie viel das Wortverständnis der Sprache zum Ver-
ständnis der heiligen Wahrheiten selbst beiträgt, was für ein Unter-
schied ist zwischen einem Erklärer, der Griechisch versteht und einem,
der es nicht versteht. Habt den Mut der Einsicht (Saper e audete)\
Treibt die Lateiner, legt euch auf das Griechische, ohne welches Latein
nicht wirklich getrieben werden kann. Seit einigen Jahren sind Leute
aufgestanden, die euch zum Beispiel und zur Aufmunterung sein können.
Schon blühet an einigen Orten Deutschland auf; es wird in Sitte und
Sinn milder und gleichsam zahm (cicurahir)^ da es vordem, durch den
barbarischen Wissenschaftsbetrieb, einem wilden Volke glich."
Melanchthons Aufnahme in Wittenberg war sehr günstig. Luther
war von der Rede entzückt, er verlange keinen anderen Gracisten als
diesen, schreibt er am 31. Aug. an SpaijAtin; und am 5. Sept.: sein
Hörsaal ist voll, vor allem zieht er alle Theologen, von dem ersten bis
zum letzten zum Studium der griechischen Sprache. Gegen Ende des
Jahres 1520 war Spalatin in Wittenberg, um sich durch den Augen-
schein von der Wirkung der päpstlichen Exkommunikationsbulle auf
die Universität zu unterrichten. In seinem Bericht an den Kurfürsten
(bei MüTHEB, Aus dem Universitätsleben, S. 429) erzählt er, daß er
gestern in M. Philipps Lektion bei 500 — 600 Auditores und bei Lutuek
nicht viel weniger als 400 gefunden habe. Im Sommer 1521 mußte
die Universität ein neues Kollegium bauen.
Noch war die Sorge übrig, die alten philosophischen Lektionen ab-
zuschaffen. Schon in dem oben erwähnten Briefe an Spalatin regt
Luther die Sache an: die gutgesinnten Studenten finden, es sei hart.,
daß sie, da nun durch Gottes Gnade die besten Vorlesungen geboten
würden, diese wegen der alten obligatorischen Lektionen in Philosophie
hintansetzen oder mit beiden sich zu sehr belasten müßten. Sie wünschen
deshalb, daß die Ethik freigegeben werde, um so mehr, als sie zur
Theologie wie der Bock zum Gärtner passe. Auch sei die Frage er-
hoben worden, wie es denn hinsichtlich der neuen Lektionen künftig
Die Universität Wittenberg. Melanchthon, 115
bei den Prüfungen gehalten werden solle. — Am 9. Dez. schreibt er
an Spalatin: er sei mit dem Rektor übereingekommen, den Thomisti-
schen Vortrag der Logik und Physik fallen zu lassen, an Stelle der
Physik würden Ovids Metamorphosen gelesen. HoflFentlich würden die
ebenso unnützen Scotistischen Vorlesungen folgen und eine reine Philo-
sophie und Theologie nebst den mathematischen Wissenschaften aus den
Quellen geschöpft werden. Vor allem ist ihm die Aristotelische Physik
zuwider: das ganze Buch sei eine Rednerei über gar nichts; aber ebenso
die Metaphysik und Psychologie (an Spalatin, 19. März 1519).
Auch dies Ziel wurde erreicht, mit Hilfe Melanchthons, dem nun
mehr und mehr das Departement der Studienreform von Lütheb über-
lassen wurde. Der junge Magister tauschte nicht die Hoffnungen,
welche in ihn gesetzt waren, er entwickelte eine erstaunliche Thätig-
keit Mit außerordentlicher Arbeitskraft übernahm er bald zu den
griechischen Lektionen, über profane und heilige Schriften, vertretungs-
weise auch hebräische und lateinische. Dazu gab er griechische Texte
für seine Vorlesungen heraus, überarbeitete seine griechische Grammatik
(1520) und schrieb ein Kompendium der Rhetorik (1519) und der
Dialektik (1520). Er vereinigte seine Bemühungen mit denen Luthebs,
die alten scholastischen Studien abzuthun; es wird angenommen werden
dürfen, daß sie mitsamt den Prüfungen und Graduierungen unter
diesen Einflüssen von selbst eingegangen sind. Im Herbst 1523 über-
nahm Melanchthon das Rektorat Aus diesem Rektorat scheint ein
kurzer Abriß einer Studienordnung zu stammen, welcher von Melanch-
thon den Studenten publiziert wurde.^ Es findet sich darin zwar keine
ausführliche Ordnung des Kursus; doch läßt sich erkennen, daß an
die Stelle der alten philosophischen Lektionen und Disputationen wesent-
lich die von den Humanisten empfohlenen Vorlesungen und Übungen
getreten sind. Vor allem wird angeordnet, daß die jüngeren Studenten
sogleich nach ihrer Ankunft, nach Ermessen des Rektors, einem der
* Zuerst gedruckt in Krafpts Briefen und Dokumenten, S. 7 ff.; jetzt auch
bei Habtfeldek, Mel. Paed. S. 82. Ebendort ein paar weitere Schriftstücke zur
Studienreform aus dem Anfang der 20er Jahre. Ein Entwurf MELANCHTnr)N8
von 1520 zählt die Lektüren auf, wie er sie für die artistische Fakultät für not-
wendig hält: Hebräisch, Griechisch, Dialektik des Aristoteles, Aristoteles „in
philosophia (doch wohl die Physik) und bevor de aninialibtts^" (oder de anima*i\
Rhetorik des Cicero, Virgil, Ciceros Orator und Quintilian, Historie, lateinische
Grammatik, Plinius, Mathematik. Es sind im ganzen dieselben, wie sie nach-
her die Studienreform von 1536 aufweist. Vermutlich streckte sich der Unter-
richt doch schon in den 20 er Jahren nach diesem Schema, wenn auch die ver-
fügbaren Mittel nicht die ganze Erfüllung möglich machten. Vgl. Hartfelder,
Mel. als Praec. Germ. S. 509 ff.
116 I, 4. Die humanistische EeformaHon der Universitäten.
Magister (paedagogi) zugewiesen werden, der ihnen die Vorlesungen
vorschreibt und sie in der Sprache übt. Übrigens wird auch ein Uni-
versitatspädagogium öfter erwähnt. Femer, da die philosophischen
Disputationen in Abgang gekommen seien, so sollen an deren Stelle
zweimal im Monat Bedeübungen (declamationes) gehalten werden, und
zwar werden abwechselnd von den Professoren (der Eloquenz und der
Grammatik) und von den Schülern Beden gehalten; die der letzteren
werden von dem Professor der Eloquenz korrigiert. Schon in der Dedi-
kationsepistel zu seiner Bhetorik (1519, C. R 1, 63) hatte Melanchthon
diese Übungen durch das Beispiel der Alten empfohlen. Endlich soll
von den Physikern und Mathematikern einmal im Monat disputiert
werden. In einem Briefe vom Jahre 1525 ladet Lütheb „im Namen
unseres ganzen poetischen Königreichs" den Spalattn zum Auftreten
der jungen Poeten und Bhetoren ein, wobei sie eine Komödie aufführen
und Gedichte deklamieren werden (de Wette, Briefwechsel II, 626).
Es geht aus dem Vorstehenden hervor, daß die drei großen mittel-
deutschen Universitäten, die im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts
die Führerschaft in der deutschen Universitatswelt hatten oder erwarben,
im ganzen für die Tendenzen des Humanismus gewonnen waren. Wohl
mochten noch manche widerstrebende Elemente vorhanden sein und
freilich waren von dem alten wissenschaftlichen Kursus noch wesent-
liche Stücke übrig geblieben; dennoch kann man sagen, die gleich-
zeitigen Bektorate des Justüs Jonas in Erfurt und des Mosellanus
in Leipzig, die dauernde Herrschaft Luthers und Melanchthoks zu
Wittenberg bedeuten das Ende des mittelalterlichen Studienbetriebs,
den Sieg des Humanismus.
Die beiden Ostseeuniversitaten beeilten sich der Bewegung sich
anzuschließen. Es hat kein Interesse bei dem Detail zu verweilen,
wie auch hier die fahrenden Poeten zuerst auftauchen (Buscmus,
Hütten), wie die Herzöge von Mecklenburg und Pommern sich modern
gebildete Juristen zu gewinnen bemühen, jene den Nie. Marschalk
aus Erfurt, diese sogar ein paar Italiener, Vater und Sohn, Petrus
und Vincentius Bavennas (1497); wie Herzog Bogislav auch einen
lateinischen Poeten für seine Universität mietete (Jon. Hadüs, 1514):
es genügt auf die reformierte Lektionsordnung zu verweisen, welche
Bestock 1520, Greifs wald 1521 veröflFentüchte. ^ Sie zeigen die
gleichen Charakterzüge wie die Leipziger vom Jahre 1519: die neuen
Übersetzungen der aristotelischen Texte werden eingeführt, eine kurze
und klare Erklärung sine vanis commentis versprochen, Ciceros rheto-
^ S. K&ABBE, Rostock 319, 343 ff. Koseqasten, Greiüswald I, 167, 171.
Die Universität Frankfurt a. O. 117
Tische Schritten, Virgil und Plautus in den Kreis der Vorlesungen
aufgenommen. Ebenso werden im Pädagogium, das zur Universität
gehört, die Rhetorik und Poetik an klassischen Texten gelehrt So in
Rostock. — Für Greifswald ist nur eine Eintragung in das Dekanat-
buch über die Bücher klassischer Autoren, welche im Sommer 1521
erklärt wurden, vorhanden (Kosegaeten, I, 171). Ich zweifle nicht,
daß auch diese Universität einen vollständigen reformierten Lehrplan,
wozu also auch die Kurse in aristotelischer Philosophie gehörten, ver-
öffentlicht hat. Bemerkenswert ist aus dem Verzeichnis Cicero de officüs,
Sallust, Erasmus' epistolarum conficiendarum formula, und ein elemen"
tale introductorium in litteras Grecas.
Die Universität zu Frankfurt a. 0. wurde 1506 unter dem Beirat
des humanistischen Edelmannes Eitelwolf vom Stein von Kur-
fürst Joachim I., einem, gelehrten und der humanistischen Bildung
geneigten Herrn, von Zeitgenossen ist er der Leo X. Brandenburgs
genannt worden, mit kaiserlichem und nachfolgendem päpstlichen Pri-
vileg gegründet.^ Die Fundationsurkunde ist im überschwänglichsten
Humanistenstil geschrieben. Von der Eloquenz und Wissenschaft hängt
darnach nicht nur die Glückseligkeit und Würde dieses Lebens, sondern
beinahe auch die ewige Seligkeit ab. Als die erste Professur an der
neuen Universität wird die der Poesie und Eloquenz bezeichnet; ihr
erster Inhaber war Publius VioUiANTius Bacillabius Axungia. In
seiner schwulstigen Antrittsrede (mitgeteilt samt dem Einladungs-
anschlag bei Beckmann, Atictarium Notit S. 5) behandelt er natürlich
das übliche Thema, den unermeßlichen Wert der schönen Wissen-
schaften, deren Begleiterin die Tugend ist. Auch die bekannten Wander-
poeten Rhagius und Buschius, mit ersterem Hütten, hatten sich ein-
gefunden, verschwanden jedoch bald wieder; Frankfurt war für sie
noch kein Boden, wurde doch schon von Wittenberg gesagt, daß es au
der Grenze der Civilisation liege. Nach Hütten (Brief an Fuchs, 1515,
Opp. II, 40 flf.) hat Eitelwolf bereut zur Gründung der Universität
geraten zu haben, da er sah, daß sie von gelehrten Ignoranten, nicht
aber von klassisch Gebildeten beherrscht werde.
Als Albrecht von Brandenburg Erzbischof von Mainz wurde
(1513), folgte ihm Eitelwolf als einflußreichster Rat. Hier war
besserer Boden. Albrecht, den man den deutschen Leo X. in Wahr-
heit nennen kann, machte seinen Hof zu einem Mittelpunkt der mo-
dernen Bildung. Er sammelte einen humanistischen Hofstaat um sich;
* Beckmann, Notitia univ. Francof., Frankfurt 1706. Vgl. Strauss Hütten, 38.
Über Eitelwolf auch Erhard, III, 2800*.
118 /, 4. Die humanistische Deformation der Univers^itäten,
Hütten wurde in Dienst genommen, H. Stromer als Leibarzt, VV. Capii'o
als Hofprediger angestellt; nach Erasmus streckte er mit inbrünstiger
Begierde, aber vergeblich, die Hand aus* Es wurde geplant, die Mainzer
Universität zu einer modernen Bildungsanstalt ersten Ranges zu er-
heben. MosELLANus berichtet von einer Reise an J. Pflug (6. Dez.
1519, Opp. Hutteni I, 316): Hütten richte zu Mainz auf Kosten des
Erzbischofs eine dreisprachige Akademie ein; so habe in wenig Jahren
ganz Deutschland sich auf die schönen Wissenschaften zu legen be-
gonnen; Friedrich von Sachsen gebühre dabei das Verdienst des Vor-
ganges. Es scheint aber, daß die Sache nicht viel weiter als bis zum
guten Willen gekommen ist. Eitblwoi^ war schon 1515, zu bitterem
Schmerze seines Schützlings Hütten, gestorben, und der Kurfürst er-
hielt andere und schwerere Sorgen, welche seine Bildungsbestrebungen
hinderten. In welchem Gerücht übrigens die Mainzer Universität stand,
geht aus einem Leipziger Gutachten aus dieser Zeit (STtiBEL, 318) hervor:
so jura und po'etica sollten in Leipzig die Oberhand haben, würde eine
Mainzische Universität daraus; es seien aber dort oft kaum 100 siipposita.
Wie die Zeitbewegungen auf die Universität Trier gewirkt haben,
bin ich nicht im stände nachzuweisen; sie hat übrigens, soviel aus
den spärlichen Mitteilungen bei Marx (Geschichte des Erzstifts Trier II,
457 flf.) zu entnehmen ist, niemals eine erhebliche Bedeutung gehabt,
sie kommt auch in der Gelehrtengeschichte fast nie vor.
Als die Hauptburg des Obskurantismus gilt herkömmlich die
Universität Köln.^ In der That erscheint sie als die konservativste.
Die großen Erinnerungen — hier hatten, ehe es im übrigen Deutsch-
land Universitäten und Wissenschaften gab, die großen Doktoren Aii-
BERTUS, Thomas, Scotüs gelehrt — , die enge Beziehung zu den zahl-
reichen Stiften und Klöstern, die Abwesenheit einer fürstlichen Gewalt,
welche an anderen Orten die Reformation der ehrwürdigen Körper-
schaften in die Hand nahm, alle diese Dinge wirkten zusammen, die
kölnische Universität zur Bewahrerin des Alten zu machen. Dennoch
hat auch sie den Forderungen der Zeit sich nicht ganz verschlossen.
Daß auch hier Poeten und Oratoren auftraten, konnte sie natür-
lich überall nicht verhindern, auch wenn sie gewollt hätte.* Im Jahre
» V. BiAxco, Die alte Universität Köln, Bd. I, 1855. Wertvolle Beiträge
zur (Tescliichte des kölnischen Studiums in dieser Periode bei Krafpt, Briefe
und Dokumente aus der Zeit der Reformation (1876); sowie in C. Kraffts Mit-
teilungen aus der niederrheinischen Reformationsgeschichte in der Zeitschr. des
Bergischen (ilescliichtsvereins, VI, 193—340 (18G9).
* Eine lange Reihe solcher, die um diese Zeit in Köln als Lehrer oder
Sclüiler humanistische Studien triehen, hat C. Kkafft aus der kölnischen Matrikel
Die Universität Köln. 119
1484 wurde ein Italiener Namens Wilhblmus RATiiUNDUS Mithbi-
TADES eingeschrieben, der sich nach Ausweis der Matrikel der Kenntnis
der hebräischen, arabischen, chaldäischen, griechischen und latei-
nischen Sprache rühmte. 1504 — 1508 erhielt Andkeas Canteb von
der Stadt eine Besoldung als Poet, doch wohl nicht bloß um der Stadt
gelegentlich mit seiner Eloquenz zu dienen, wie Ennen meint, sondern
zugleich um Vorlesungen zu halten. Die bedeutendste Wirksamkeit
übte JoH. Cabsaeius aus Jülich (1468 — 1551). Nachdem er in
Deventer des Hegiüs und in Paris des Fabeb Stapulensis Schüler
gewesen war, gehörte er seit 1491 der kölnischen Universität an. Zu
seinen Schülern gehören von bekannteren Humanisten, außer dem
schon erwähnten Mosellanüs (1512 — 1514 in Köln), Mubmelliüs,
GixABEANTJS, sowie der Graf Hebmann von Neüenab. Sein Unterricht
umfaßte griechische und lateinische Grammatik, Rhetorik und Dialektik,
welche er nach eigenen, sehr verbreiteten Lehrbüchern vortrug, und
Erklärung von griechischen und römischen Autoren, unter denen
Homer, Luciaii, Virgil, Plinius, Gellius erwähnt werden.^ Neben ihm
wären etwa noch als einheimische und seßhafte Magister, die der
humanistischen Richtung angehörten, Abnold von Wesel (gest 1534),
JoH. Matth. Phbissemius (gest 1533 als Kanzler des Erzstifts), Jacob
SoBius (gest. 1528) zu nennen, welche Aufzählung aus Kbaffts Mit-
teilungen (S. 216) erweitert werden könnte.
Auch die uns schon hinlänglich bekannten Wanderpoeten zog es
nach Köln. Im Jahre 1507 kam Büschics, er führte sich auch hier
durch ein Lobgedicht auf die Stadt und ihre Universität ein (Liessem,
28 flF.). Die Aufnahme, die er fand, befriedigte ihn jedoch nicht. Man
riet ihm, den juristischen Doktor zu machen {bacc. jur. war er schon
in I^eipzig geworden): so lange er die unfruchtbaren Musen lieben
würde, werde er Hunger leiden. Der Bat, welchen man vom Gesichts-
punkte des wirtschaftlichen Prosperierens nicht verächtlich nennen kann,
fand bei dem Poeten kein Gehör, sondern erregte nur seinen heftigen
Zorn über die Gemeinheit der Universitätsprofessoren, welche das Geld
mehr liebten, als die Poesie. In einer öflFentlichen Rede über dieses
Thema führte er ihnen die Niedrigkeit ihrer Gesinnung zu Gemüte.
in Hassels Zeitscbr. für preußische Geschichte, Jahrg. 1868, 467 — 503, zusammen-
gestellt. Eine große Anzahl Drucke von Klassikern durch kölnische Firmen,
besonders Zell und Qüentel, zählt Pannen, Gesch. der Stadt Köhi, IV, 62, 88 flF.
auf. Obtuinüs war dabei als Herausgeber thätig.
* S. die Leichenrede, welche 1525 auf den Mosellanch sein Schüler
Mitmlkrus hielt, abgedruckt bei Krafft, Briefe luid Dokumente, 118-127. Da-
selbst eine Anzahl ikiefe des Caesakius an seine Schüler.
120 I, 4, Die humanistische RefomuUu/fi der Universitäten.
Die Magister beleidigte er durch eine Empfehlung seines Commentarius
in artem Donati: sie könnten daraus noch viel lernen. Obtüinüs
Gbatiüs hielt ihm nicht ohne Recht vor, daß er mehr Neigung und
Geschick habe, sich Feinde als Freunde zu erwerben. Doch scheint
ein leidliches Verhältnis zwischen ihm und den „Obskuranten" geblieben
zu sein. Im Jahre 1512 schrieb BuscHins zu einer Schrift Arnolds
VON TuNGEBN, des Hauptobskuranten neben Hochstraten und Or-
TuiNüs, die üblichen Empfehlungsverse ;^ wie denn auch in demselben
Jahre Ortuinus zu dem Lobgedicht auf Maximilian, womit Glareanus
sich den Poetenlorbeer erwarb, Begleitverse dichtete.
Auch Aesticampianus kam nach seinem Leipziger Mißgeschick
um 1513 nach Köln. Er kündigte Vorlesungen über das vierte Buch
von Augustinus* de doctrina Christiana an, welches er auch zu diesem
Behufe herausgab; es ist dem kölnischen Weihbischof D. Castbr ge-
widmet, der, mit Erasmus und Agrippa von Nettesheim ])efreundet,
den Humanisten beigezählt wurde. Die Vorlesungen wurden Jedoch,
wie es heißt, durch die Universität verhindert; sie mochte den Aesti-
campianus nicht im Besitz einer Autorisation, über theologische Bücher
zu lesen, finden (Krafft, Briefe, S. 137 ff.) Er kehrte nun nach dem
Osten zurück und versuchte sein Glück als Schulmeister; in Kottbus
unternahm er eine Schule zu gründen, die Schola Latina et Christiana
heißen sollte, „damit ich die Manier der kläffenden Hunde stopfe",
schreibt er an Mutian. Die Kottbuser scheinen aber für die Bildung
noch nicht reif gewesen zu sein; denn schon 1515 begegnen wir ihm
* Bei Erhard, III, 73. Die Verse beschimpfen den Reuchum als Juden-
frcnnd. Ebendort S. 79 ff. findet man auch einen Auszug aus der oben erwähnten
Ansprache an die kölnischen Professoren. Daß Arnold von Tunqern, dessen
Namen die Verfasser der Dunkelmännerbriefe infamiert haben, den humanistischen
Studien nicht überhaupt feindlich war, geht auch aus seinem Verhältnis zu
MuRMELLius hervor, welcher in den 90 er Jahren in der Laurentianerburse sein
Schüler war. Derselbe widmete dem von ihm verehrten Lehrer 1510, als er
selbst schon zu den bekanntesten Humanisten Niedcrdeutschlands gehörte, eine
Schrift (DidascalifH libri duo)^ worin er die humanistischen Studien empfahl.
Dem Schriftchen ist ein Hexastichon Ortuini Oratii Coloniae poeticam rheto-
ricenque publice profUentis zur Einführung mitgegeben. S. Reiculinq, Murmellius
S. 21, 146, wo auch gezeigt wird, was von des Murmellius Vertreibung aus Köln
durch die Barbaren zu halten ist; dieselbe stammt, wie viele ähnliche Ge-
schichten, von Hamelmann und hat gar keine andere Bedeutung als die einer
rhetorischen Floskel; die Erzählung einer ejectio per barharos ist Amplifikation
des Simpeln Ausdrucks: er verließ den Ort. In seiner Abhandlung über Buschius'
Leben (in den Opera genealog, historica, 240) kommt die ejectio per barbaros
so oft vor, als sein Held den Ort wechselt, und er läßt ihn ungefähr in allen
Städten Norddeutjchlands den Hiunanismus predigen.
Die Universität Köln. 121
in Freiberg ijS., mit ähnlicher UntemehmuDg beschäftigt, in seiner
Begleitung Mosellanus; er lehrte dort die Eloquenz aas Cicero de
oratore und Augustins erwähntem Buch (Krappt, Briefe, S. 143 flf.).
Besseres Olück hatte in Köln R. Cbocus, der sich im Sommer
1515 dort aufhielt. In der früher angeführten Leipziger Rede (Böhme,
193) gedenkt er auch seiner Aufnahme in Köln mit Anerkennung.
Es sei ihm gestattet worden ubivis scholarum, occlusa etiam nisi vier-
cedem porrigentibus janua praeUgere; was oflFenbar bedeutet, daß die
Universität ihm für bezahlte Privatvorlesungen ihre Hörsäle überließ,
während die Magister in den öffentlichen Lektorien nur öffentlich und
umsonst lesen durften. Ich bemerke dies, weil Schmidt (Mosellanus^ 9)
die Worte so versteht: Crocus habe nur bei verschlosseueu Thüren
lehren dürfen. So werden durch das Vorurteil die Augen zugehalten.
Später wurde die Spannung zwischen den Gegensätzen schärfer.
Buschius trat, nach längerem Zögern, in dem REUCHLiNschen Handel
auf die feindliche Seite. Der l^iumphus Capnionut und die Epistolae
ohs, vir. erschienen. Man wird es begreiflich finden, wenn die in
diesen Pamphleten in einer unerhörten Weise Geschändeten die Sache
nicht einfach als historische Darlegung eincM unbestreitbaren That-
bestandes hinnahmen, wie es die Geschichtsschreiber des Humanismus
zu thun pflegen, sondern vielmehr alle Mittel, die ihnen zu Gebote
standen, zur Abwehr und zum Angriff benutzten. Von welcher Art
diese Mittel waren, kann man aus des Buschius Verteidigungsschrift,
dem 1518 erschienenen Valium humanitatis ersehen. Der Verfasser
bezeichnet am Eingang als nächste Veranlassung zur Abfassung der
Schrift, daß er am Weihnachtstag des Jahres 1517 eine Predigt m
einer kölnischen Kirche gehört habe, worin der Prediger alsbald zu
einer Invektive gegen die Poeti^n übergegangen sei. Er habe die
Humanitätsstudien als verkehrte, eitle, falsche verklagt. Die Poeten
und Oratoren strebten m^hr nach dem Schein dös Wissens, als nach
dem Wissen selbst; ihr Ziel sei das Schönreden; darauf allein seien sie
bedacht, daß ihnen nicht einmal ein unciceronisches Wort entschlüpfe;
viel ängstlicher sorgten sie darum, wie sie jedes Wörtlein auf das
eloquenteste ausdrückten, als wie sie heilig lebten; sie quälten sich
darum, ob das W^ort amo zu aspirieren sei oder nicht, aber aus der
Liebe Gottes und des Nächsten und wie darin zu leben sei, machten
sie sich nichts, sondern sie seien durchweg Schweine.
Wenn man von dem letzten Ausdruck absieht, der übrigens der
Kede der Humanisten viel geläufiger ist als der ihrer Gegner, viel-
leicht darf man annehmen, daß Buschius ihn dem Redner aus
der Fülle seiner eigenen Eloquenz geliehen hat, so wird man diese
122 I, 4. Die humanistische Reformation der Universitäten.
Erwiderung auf die AngrifiFe, welche die Theologen von den Poeten
erfahren hatten, sehr gemäßigt und die Vorwurfe nicht ganz unge-
gründet finden. Auch das Valium humanitatis ist in sehr gelindem
Tone gehalten; Ebasmus hatte den Buschius, von seinem Plan in
Kenntnis gesetzt, dringlichst zur Mäßigung gemahnt. Die Widerlegung
jener AngrifiFe auf die Humanitätsstudien geschieht durchaus in Form
der argumentatio ad hominem: für die Theologen sei das Studium der
Sprachen nicht zu entbehren, wie von ihren eigenen Autoritäten an-
erkannt werde; das Studium der Eloquenz aber könne den Predigern
nur nützlich sein.
Auch zwischen Caesarius und den Magistern müssen um diese
Zeit Irrungen vorgefallen sein, wie aus einem Briefe des Agrippa von
Nettesheim an ihn vom Jahre 1 520 hervorgeht (bei Böckino, II, 335).
Caesabius verließ später Köln, wir finden ihn 1527 mit drei jungen
Grafen Stolbebg, die schon in Köln seine Schüler gewesen waren,
in Leipzig. Zu dem Haus Stolberg blieb er bis zu seinem Tode in
Beziehung (Kbafft, Briefe, 154 flf.).^
Über die gravamina der Universität gegen die humanistischen
Magister unterrichtet uns ein Bedenken, welches dem kölnischen Rat
im Jahre 1525 von der Universität übergeben wurde (abgedruckt bei
BiANCo, I, Anhang S. 316—326). Dem Rat wird als Versäumnis vor-
gehalten, „daß man in Schulen und anderen Plätzen zugelassen hat,
Auswärtige und Heimische ihre Lektionen zu thun zu den Stunden,
die den wirklichen Magistern und Ordinarien gehören, und denselbigen
Magistern und Ordinarien ihre Vorlesungen zu behindern, ihre Disci-
pulen abzuziehen und zu sich zu rufen, und die rechte Kunst, Bücher
und Lektionen der Magister und Ordinarien zu verachten, und ihre
* Von AoRippA VON Nettesheim findet sich in seinen Werken (£dit. Lugd.
1600, II, 360—374) ein Schreiben an den Kölner Rat in Sachen des von der
theologischen Fakultät beanstandeten Druckes seiner Occulta philosophia^ welches
sich über die Uni versitäts Verhältnisse in Köln überhaupt sehr ausführlich ver-
breitet. Leider ist aber aus dem langen Schriftstück fast nichts zu entnehmen,
als was wir auch sonst wissen, daß Agripfa seine Gegner von Herzen haßte.
Er nennt die Theologen und Artisten in unermüdlicher Wiederholung nur mit
der variaiiOy welche die Eloquenz zum Gesetz machte, Esel, Schweine, dreckige
Säue u. s. f. — Über den Aufenthalt des humanistischen Juristen P. Ravennas
in Köln (1506—8), dessen in dem Brief gedacht wird, findet man ausführliche
Mitteilungen bei Müther, Universitätsleben, 96—128; s. auch Liessem, S. 54.
Es war ihm in Köln über die Maßen gut gegangen ; man drängte sich zu seineu
Vorlesungen; er preist in seiner Absehiedsrcde Stadt und Universität aufs
höchste. Nur mit Hocustraten war er in eine litterarische Fehde verwickelt
worden, in welcher Ortüinüs Gratius dem Italiener zur Seite stand. Von einer
„Vertreibung", wovon Aorippa fabelt, ist nicht die Rede.
Die Universität Köhi, 123
leichtfertigen Dinge den Jungen vorzulegen, mit Widerratung, Ver-
achtung aller Promotion, Ordnung, Ehre und Stand der löblichen Uni-
versität, wider Statuten, Gesetz, Recht und Gewohnheit der Universi-
täten und auch zum großen Schaden der Bürgerschaft und der ehrsamen
Gemeinde, behindert ihre Nahrung und Gewinn, die sie aus den Pro-
motionen und Doktoressen pflegen zu haben.^' Man sieht, es sind
dieselben Dinge, wielche der Magister Anbbeas Delitzsch in Leipzig
in dem Urteil zusammenfaßt: die Poeten seien wie das fünfte Rad am
Wagen, sie hemmten die anderen Fakultäten , daß ihre Scholaren nicht
gut zur Promotion kämen (Epp. Obs. Vir. I, 17, womit zu ver-
gleichen II, 46).
Die Abneigung gegen die Humanisten hinderte übrigens nicht,
daß auch die kölnische Universität dem modernen Geist Einräumungen
zu machen sich entschließen mußte. Der Einfluß des humanistischen
Kurfürsten Hermann von Wied machte sich in dieser Richtung gel-
tend. Im Jahre 1524 wurde Hermann von Netjenar Dompropst und
damit Kanzler der Universität (Krapft, Mitteilungen, S. 218). Im
Jahre 1522, in welchem Phrissemius Dekan der Artistenfakultät war,
fand eine Reform der Statuten statt, welche diese Bestrebungen er-
kennen läßt (bei BiANCo, I, Anhang, 288 — 316). Zwar wird für den
philosophischen Unterricht das humanistische Latein ausdrücklich ver-
boten: bei der Erklärung der Bücher und ebenso bei den Disputationen
und Prüfungen soll man sich des freien und gewöhnlichen Lateins l)e-
dienen, nicht des gesuchten und gedrechselten. Aber allerdings soll
anch das neue Latein gelehrt werden: die Sprache, deren Grammatik
nach Alexander vorgetragen wird, soll an Cicero (Episteln, Officien, de
amicitia, de senectute\ Virgil, Philelphus und Mantuanus geübt, außer-
dem Rhetorik nach Cicero gelehrt werden (S. 298). Grammatik und
Rhetorik bilden auch einen Teil der Baccalariatsprüfung (304). Da-
gegen wird verboten, unzüchtige Dichter zu lesen und zu hören, sowie
solche Poeten, welche die Gemüter berücken und, ohne Gift zu geben,
durch die Gewalt ihrer Zaubersprüche die Menschen t(*)ten. Im Jahre
1523 nahm der Rat den Magister Jac. Sobiüs als Orator an (Krafft,
Mitteilungen, 234). Er zeigt sich überhaupt humanistischen Reformen
geneigt. In den folgenden Jahren fanden wiederholt Verhandlungen
zwischen der Universität und dem Rat über die Mittel zur Hebung des
Studiums statt, wovon mehrere Aktenstücke bei Bianco und Krafft
einige Kunde geben. Die Universität, gedrängt von den Scholaren,
welche in etwas tumultuarischem Auftreten die Modernisierung des
Kursus forderten, schlug in einem Gutachten vom Jahre 1525 (Rektor
war Arnold vun Tun(4kkn) unter anderem aucli den Gebrauch der
124 I, 4. Die humanistische Reformation der Universitäten,
neuen Übersetzungen und (irammatiken vor (Bianco, 408, 464 flf., An-
lagen 316 ff., zu vergl. Ennen, 210 ff., Kbafft, 234 ff.). Auch wurde
ein Versuch gemacht, den Erasmüs für die Universität zu gewinnen.
Wie es scheint, ist es zu tiefergreifenden Maßregeln nicht gekommen;
die Reformationsunruhen traten dazwischen. Doch wurde 1528 Arnold
VON Wesel ein Kanonikat verliehen mit der Verpflichtung der griechi-
schen und hebräischen Lektur (Krafft, 190), und 1529 ein Humanist
vom Rat mit 50 fl. angenommen (Ennen, 673).
Bemerkt sei noch, daß die kölnische Universität auch an der alten
Zucht festhielt. Daß die Jugend mehr geneigt sei zum Bösen als zur
Tugend, ist eine in den Reformationsschriftstücken wiederholt vorkom-
mende Wendung; es sei daher notwendig, sie mit Ernst im Zaum zu
halten. Das letzte Mittel hierzu bleibt die Rute. Das Statut von 1522
setzt auf dreimaliges Fehlen in Übungen drei Pfennig für jedesmal oder
die Rute, und die Eingabe an den Rat ruft, wenn die Rute nicht hel-
fen sollte, die weltliche Gewalt zu Hilfe (Blaijco, 311, 325).
Die Universität Löwen wurde gleichzeitig von denselben Be-
wegungen erschüttert. Als Erasmus im Jahre 1516 zu dauerndem
Aufenthalt nach den Niederlanden kam, fand er seitens der Universität,
auch ihrer Theologen, freundliche Aufnahme; er spricht von ihnen in
Briefen an die Baseler Freunde mit Achtung.^ Im Jahre 1518 wurde
eine Stiftung ins Leben gerufen, an welcher Erasmus Anteil hatte:
Hieronymus BüSLiDiüs, Rat des Königs Karl, Propst zu Aire, hatte testa-
mentarisch sein Vermögen zur Begründung einer humanistischen Unter-
richtsanstalt in Löwen bestimmt, an welcher die drei Sprachen öffentlich
gelehrt werden sollten. Die im Jahre 1518 eröffnete Anstalt unter-
hielt drei Lehrer, je einen der drei Sprachen und zwölf Stipendiaten;
die Vorlesungen standen aber allen Studierenden offen. Erasmus er-
wähnt in einem Briefe vom Jahre 1521, daß etwa 300 Zuhörer in
dem Auditorium des Collegium trilingue sich einzulinden pflegen; er
giebt die Zahl aller Studierenden in Löwen auf 3000 an, welche Zahlen
ohne Garantie hier wiedergegeben sein mögen.
Im Jahre 1519 kam es zu Reibungen zwischen Erasmus und zwei
oder drei Löwener Theologen. Erasmus' freie Äußerungen über Ehe-
losigkeit des Klerus und ähnliche Dinge gaben den Anlaß, ihn der
Gemeinschaft mit Luther zu zeihen, ein Punkt, an welchem Erasmus
sehr emptindlich war. Vielleicht war auch das Collegium trilingue den
Professoren nicht ganz nach dem Sinn: es war augenscheinlich? auch
* Steitz, W. Nesen, Archiv für Frankfurts Geschichte, Bd. VI, S. 58 flf. be-
hauüelt eingeheiiü die Lüwi;iier Verhältnisse in dieser Zeit.
Die Universüäi Löwen, 125
der Absicht nach, eine Art von Konkorrenzinstitnt der Universität. Die
üblichen Yergleichungen mit Licht und Finsternis haben gewiß auch
hier nicht gefehlt Es wurden ein paar Streitschriften gewechselt.
W. Nesen, welchem von selten der Universität die Absicht, in Löwen
Vorlesungen zu halten, durchkreuzt worden war, sekundierte seinem
Gönner Ebasmus mit ein paar Schmähschriften gegen die Löwener
Theologen, welche vielleicht von allen humanistischen Pasquillen die
wütendsten sind; namentlich der bei Steitz mitgeteilte offene Brief
an ZwiNGLi möchte in Giftigkeit persönlicher und namentlicher An-
griffe seinesgleichen nicht finden. Im Jahre 1520 folgte der große
von Ebasmüs selbst arrangierte Feldzug aller Humanisten und Erasmus-
yerehrer gegen den Löwener Gräcisten E. Lee, welcher gewagt hatte,
kritische Anmerkungen zu Ebasmus' Anmerkungen zum N. T. zu machen.
Die bestellten Schmähschriften, welche den armen Lee wegen seines
Majestätsverbrechens „Glied für Glied zerstückten'', wie Ebasmus sagt,
liefen bändeweis ein; „ein Wurm, der in der Finsternis hervorkriecht,
ein herrliches Saatfeld zu benagen,'' heißt Lee in einem Briefe des
Zasius, „ein Mistkäfer, der sich einen Adler zum Kampf ausgesucht"
bei BuscHius. Ebasmus, einer der wenigen unter den Humanisten,
den der gesunde Menschenverstand und ein Gefühl für das Geziemende
in der Behandlung der Gegner nie verließ, suchte die Veröffentlichung
der Briefe nun zurückzuhalten, vornehmlich auch darum, schreibt er
an J. Jonas in Erfurt, „damit wir ihm nicht eine Partei zusammen-
bringen, da auch unsere Gegner nichts von ihm wissen wollen" (Steitz,
102). Die Universität war übrigens keineswegs auf Seiten der Gegner.
Vom Papst Hadrian wurde dem Hauptfeinde des Ebasmus, dem Kar-
meliter Nio. Egmondanus, das Schreiben gegen Ebasmus untersagt.
Ebasmus fahrt fort, von der Löwener Universität als von der zweiten
Universität des Abendlandes, nach Paris, zu sprechen.
Ich wende mich nun dazu, die Ausbreitung der humanistischen Be-
wegung über die süddeutschen Universitäten in kurzer Übersicht
nachzuweisen.
Der Mittelpunkt der Beziehungen zwischen Italien und Deutsch-
land war der kaiserliche Hof. Die ersten Berührungen mit dem neuen
Lebensprinzip hatten schon am Hofe Karls lY. stattgefunden. Im
Jahre 1356 war Petbaboha nach Prag gekommen. Der Kaiser und
seine Umgebung hatten ihn aufgenommen, wie es dem „Großgeist der
Zeit'* zukam. Der Erzbischof Arnest von Prag wurde nicht müde ihm
sein Bedauern auszusprechen, daß er „zu Barbaren" habe kommen
müssen. Bischof Johann Ocko von Olmüz versicherte ihm, nie werde
der Name seines Franziscus ihm aus dem Busen schwinden. Bischof
126 /, 4, Die humanistische Reformation der Universitäten,
Johann von Leitomischl, Kanzler des Kaisers, der eine glühende Yer-
ehrong für den Dichter gefaßt hatte, blieb mit ihm in Briefwechsel;
er gab sich unsägliche Mühe schwungvoll und poetisch zu schreiben,
überhob sich aber des Gelingens so wenig, daß er sich Fetbabcha
gegenüber einen „schäbigen Schulmeister** nennt und mit Scham von
der angeborenen Plumpheit und dem Barbarentum seiner Nation (der
deutschen, er war Schlesier) spricht. Nicht minder schämt er sich auch
des Kanzleramtes, in dem er sich wie eine schwatzende Elster vor-
komme: er wünsche nur von den Brosamen, die von dem reichen Tisch
des heiligen Sängers fielen, seinen Hunger zu stillen und wolle sich
selig preisen, wenn er, mit dem Angesicht auf der Erde, die Fußspuren
eines solchen Redners verehren könnte. — Die Briefe, welche der
Kanzler an den Dichter schrieb, wurden ein bedeutsames Fortpflanzungs-
mittel der humanistischen Eloquenz, indem sie zu einem Briefbuch
vereinigt wurden, das als „Handbuch der Kanzlei Karls IV." weite
Verbreitung fand. Auch Kaiser Sigmund hatte zu italienischen Huma-
nisten Beziehung; den P. Vebgerius, welchen er auf dem Konzil zu
Konstanz kennen gelernt hatte, nahm er dauernd in seine Dienste.
Viel wichtiger wurde Enea Silvio de' Piccolomini, welcher 1442 unter
Friedrich III. in die Reichskanzlei zu Wien trat. Freilich den Kaiser
gelang es nicht für Poesie und Eloquenz zu erwärmen, und auch
Fürsten und Adel, Klerus und Universität verhielten sich, nach Eneas
oft kund gegebenem Urteil, schmählich gleichgültig gegen die schönen
Wissenschaften. Aber unter den Genossen der Kanzlei fanden bald
einige Geschmack an den pikanten Briefen und Traktaten des Italieners,
und durch sie wurde Stil und Geschmack des libertinistischen Huma-
nismus weiter getragen.^
Es ist hiemach nicht auffallend, daß die Wiener Universität
zuerst unter allen deutschen Universitäten tiefgreifende Einwirkungen
von der neuen Bewegung erfuhr. Schon in den 50 er und 60 er Jahren
hatten hier Georg von Peüebach (1423 — 1461) und Jon. Regiomon-
TANus als Magister in Poesie und Mathematik gelesen, beide auch des
Griechischen kundig. Aus dem Jahre 1474 wird der Ankauf der
aristotelischen Metaphysik in neuer Übersetzung, mit dem Kommentar
des Averroes, und einer ganzen Anzahl klassischer und neuhumanisti-
scher Schriften durch die FakulUlt der Artisten erwähnt, ut vel sie
paulum ex faecihus ad nitidus philosophorum fontes rediremus, fügt der
Dekan hinzu (Kink, I, 182). Seitdem Maximilian regierte (1490), übte
* Über diese ersten, durch die politische, Verbindung mit Italien vermittelten
humanistischen Anregungen wird ausführlich gehandelt von Voigt, Wieder-
belebung, II, 266 ff.
Die Universität Wien. PoetenfakuUäi. 127
er entsoheidenden Einfloß zu Gunsten der humanistischen Bestrebungen
aus. Es wurde (1493) eine standige Lektur für Poesie und Eloquenz
errichtet, nachdem schon vorher wiederholt Gastrollen von fahrenden
Poeten waren gegeben worden. Versuche mit importierten italienischen
Humanisten hatten keinen rechten Erfolg. Die Anpflanzung der Poesie
geschah durch die beiden gekrönten Poeten J. Cuspinianus (Spieß-
haimer aus Schweinfurt, 1473 — 1529) und Conrad Celtis; der erstere
war seit 1490 in Wien, der andere wurde 1497 aus Ingolstadt be-
rufen. Neben ihnen wären etwa zu nennen Angelus Cospus (t 1516),
ein Italiener, der vorzugsweise Griechisch lehrte, der Schweizer Joach.
Vadianus (1484 — 1551), als Redner und Dichter berühmt, G. Colli-
MiTiüs aus Bayern (1482 — 1535), Mathematiker und Astronom.
Im Jahre 1499 kam durch Interzession der Regierung eine Refor-
mation des artistischen Kursus durch Beschluß der Fakultät zu stände,
welche ein sehr bedeutsames Nachgeben gegen den eindringenden Hu-
manismus zeigt. Es wurden gewisse Kurse in arte humanitatis für die
Scholaren obligatorisch gemacht (was durch Fakultätsbeschluß von 1494
noch war abgelehnt worden): zum Baccalariat sollen Virgils Bucolica
und ein libeUus de arte epistolandi gehört werden; den Baccalarien
werden sechs Bücher der Aeneis zur Pflicht gemacht; außerdem wird
für die ordentlichen öffentlichen Lektionen über Grammatik das Doctri-
nale Alexanders abgeschafft und statt ihrer die Grammatik des N. Pebottus
eingeführt; für Privatkurse behielt Alexander sein Recht. Schon früher
war über den philosophischen Unterricht angeordnet, daß er sich mehr
an die Texte halte und überflüssige Quüationen und Kommente ab-
schneide; was 1501 nochmals eingeschärft wurde: den schmutzigen,
barbarischen, unsinnigen Kram abzuthun (Kink, I, 194 ff.).
Im Jahre 1501 errichtete Maximilian bei der Universität eine
eigene humanistische Fakultät, das collegitim poetarum, mit vier Lehrern,
zwei in Poesie und Beredsamkeit, zwei in den mathematischen Wissen-
schaften.^ Kink, und ihm folgend Aschbach, bestreiten, daß das collegium
eine fünfte Fakultät gebildet habe (I, 200). Mir scheint, seine Stellung
ist in allem Wesentlichen der einer FakultHt gleichartig. Der cursus ist
ein in sich geschlossener und selbständiger, und, was das Wesen einer
Fakultät ausmacht, das collegium erhält die Berechtigung, einen akade-
mischen Grad zu verleihen, nämlich den Grad eines po'eta laureaiux^
* Die Errichtungsurkunde bei Kink, II, 305 f!*.: decrevimus collegium poe-
tarirni priscorum imperatonim antecessontfn nostrontm {nä.m\ich der alten Cftsaren)
more erigerCj abolitamque prisci saeculi eloqucntiam restituere,
• . . . quicunque in prefata nostra Univ, Wienn, in oratori^ et poetica stu-
duerit laureamque coticupiverit : is in praenominato poetarum coüegio diligenter
128 I, 4, Die hwnanistische BeformaHon der UhiversUäten.
Daß dies wirklich als ein akademischer Grad anzusehen ist, geht dar-
aus hervor, daß er das Recht giebt an allen Universitäten des römi-
schen Reichs zu lehren, natürlich die Poesie und Eloquenz. In der
ErrichtungBurkunde ist dies zwar nicht ausdrücklich gesagt, sondern
nur: daß die von dem Vorsteher der Poetenfakultat Oekrönten aller
Privilegien teilhaft dind, der die vom Kaiser selbst Grekrönten genießen.
Daß aber der aus der Hand des Kaisers empfangene Kranz und Ring
die facultas docendi in poesi et oratoria erteilte, kann man aus dem
Poetendiplom Huttens ersehen.^ Es ist ganz augenscheinlich, daß die
Ausdrücke dieses Diploms ebenso wie die Foimen der Poetenkreierung
den bei den Promotionen in den alten Fakultäten üblichen nachge-
bildet sind. Die Laureaten nannten sich auch Doctor philosophiae,
nicht aber Magister artium (Aschbach, 66): ein Titel, womit sie offen-
bar sich als akademisch Graduierte, wenn auch nicht in einer der
vier alten Fakultäten, zu erkennen geben wollten. Daß der Ausdruck
facultas poetarum nicht vorkommt, kann nicht überraschen, es ist ein
barbarischer Ausdruck, der bald auch von den übrigen Fakultäten gegen
das elegante coüegium vertauscht wurde. ^
Wie es scheint, war der äußere Erfolg des Poet^nkollegs kein
großer. In einer Zeit, wo die Universität jährlich mehr als 600
Scholaren in titulierte, fanden sich nur 12 Schüler in demselben ein
(im Jahre 1505, s. Aschbaoh, 249, wo die Namen derselben). Nach dem
Tode des Celtis (1508) verschwindet es aus der Geschichte, nach
examtnaiuSf si idoneus ad id munus suseiptendum habitus ei inventus fuerit,
per Bonorabilem fidelem nobis düeeium Conradum Gütern, per getnlorem nosirum
Friedericum III divae memoriae primum inter Oermanos laureatum po'etam et
modo in universitate nostra W, poetices et oratoriae Uctorem ordinartum ac
deinde per succesaores efus, qui pro tempore coÜegio praefuerint, lat$rea eoronari
possit (KiNK, II, 806).
* Abgedruckt in Opp. Hutteni ed. Böcking, I, 148: . . te autoritate nostra
Caesarea Laurea donavinuis aureoqtte insuper annulo jureque et usu aurei annuli
decoravimus, Laureatumque et Poetam et Vatem et Oratorem disertum pronun»
ciavtmus; dantes et concedentes tibi et hoc Caesareo nostro statuentes edictOy
quod de cetero in quibuscunque stvdiis generalibus praecipue tarn in arte
poetica quam in oratoria legere doeere profiieri et interpretari et insuper Omni-
bus privilegiis iwmunitatibus ete. frui debeas et possie, quibut eeteri poütae a
nobis Laureati, Man vergleiche die Dichterkrönung des Aeneas Sylvius und
Celtis durch Frietirich III. bei Aschbach, Wanderjahre des Celtes, S. 93 ff.: die
Laureierung ist zugleich Magistrierung. Über den Ursprung der Dichterkrönuug,
die auf die römischen Kaiser zurückgeführt wird, s. Burckharot, Kultur der
Kenaissance, I, 250.
• Die Insignien der Poetenfakultät, Kranz, Ring, Birret, Siegel, Szepter,
abgebildet bei Geiqee, Renaissance, 457.
Die Universüäten Prag und Krakau. 129
AscHBACu ging es ganz ein. Vennutlioh war nicht so sehr die
Abneigung gegen das poetische Studium, als der ^^Mangel an Be-
rechtigungen'^ die Ursache, daß ihm so wenige sich ganz zu-
wendeten. Für ein Kirchenamt, und das war es doch, nach dem die
Studierenden ausschauten, war der Lorbeer vielleicht nicht überall eine
Empfehlung und sich mit lateinischen Versen durchzubringen, mochte
es immerhin einigen gelingen, schien doch eine prekäre Sache. Daß
der humanistische Unterricht an der Universität nicht überhaupt auf-
hörte, beweisen die zahlreichen Drucke klassischer Schriftsteller, welche
im zweiten Jahrzehnt in Wien erschienen (Kink, I, 214) und nicht
minder der Fakultätsbeschluß vom Jahre 1523, durch welchen eine
griechische Lektur errichtet wurde. G. Bithaimeb war ihr erster In-
haber (Aschbach, 346).
Von der Universität Prag ist aus diesem Zeitalter wenig zu be-
richten; die Kriegsstürme, welche durch die nationale und kirchliche
Opposition über Böhmen gebracht worden waren, ließen die Studien
nicht gedeihen. Vereinzelte Gönner und Vertreter des Humanismus
fanden sich natürlich trotzdem auch hier, vor allen wird ein Edel-
mann, BoHUSLAUs V. LoBKowiTz, Mäccu und Poet in einer Person,
genannt (Tomek, 150).
Größere Bedeutung hatte in dieser Zeit die im Jahre 1364 ge-
gründete Univeratät Krakau. Im 15. Jahrhundert kann sie als
zum deutschen Uuiversitätsgebiet gehörig angesehen werden; sie erhielt
aus dem ganzen östlichen Deutschland Zuzug. Als die ersten Träger
der humanistischen Bestrebungen erscheinen auch hier die Kirchen-
fursten. Der Kardinal und Bischof von Krakau, Sbignew, stand mit
Aeneas Sylviijs, der damals noch ein armer Kanzlist war, in Brief-
wechsel und erhielt von ihm die schmeichelhaftesten Zeugnisse über
seinen Stil, welche er mit Geschenken erwidert« (Voigt, II, 330 flF.).
Auch an der Universität fand der Humanismus früh Eingang. In den
80er Jahren werden eine ganze Reihe von Vorlesungen über die la-
teinischen Klassiker erwähnt; besonders aber wurden die mathematisch-
astronomischen Studien gepflegt. 1489 war C. Celtis in Krakau,
lehrend und lernend: Aesticampianus und Cobvinus waren hier seine
Schüler. Als König Sigismund von Polen im Jahre 1518 mit einer
Italienerin (Bona Sforza) sich vermählte, machten nicht weniger als sechs
im Osten einheimische Poeten die erforderlichen carmina,^ Ein Uni-
* G. Bauch, Laurentius Corvinus, Schles. Zeitschr., Bd. XVII, 8. 269.
Über einen anderen der östlichen Welt augehörigen , übrigens vom Bodensee
gebürtigen Poeten, Rud. Aqricola junior, handelt Bauch im Progr. der Breslauer
höh. Bürgerschule II, 1892.
Paulien, Unterr. Zweite Aufl. I. 9
130 I, 4. Die humanistische Reformation der Unii)ersitäten.
versitatsbeschluß vom Jahre 1538 läßt erkenneD, daß schoD vorher
das klassische Latein Gegenstand des Unterrichts und der Prüfnngen
war. Es heißt in demselben, daß an Stelle des Donat und der parva
logicalia des P. Hispanus, der modus epistoiandi des Fb. Niger und
die Schrift des Erasmus de conscribendis epistolis auf einige Jahre in
den ordentlichen Lektionen und der Baccalariatsprüfung treten sollen :
die Grammatik des Perottus mit dessen modus epistoiandi und ars
metrica, femer die Rhetorik und die Briefe des Cicero, endlich die
Dialektik des Caesartüs.^ Daneben blieben übrigens natürlich die
aristotelischen Lektionen.
Den Hof und die Universität Heidelberg war Kurfürst Philipp
(regierte 1476 — 1508) bestrebt, zu einem Mittelpunkt* der neuen
Bildung zu machen. In enger Beziehung zum Hof standen Jon.
V. Dalberg, seit 1480 Domprobst, dann Bischof von Worms, und als
solcher Kanzler der Universität. Sein Haus war der Ort, wo sich alles,
was an dem neuen Leben teil hatte, begegnete. Eine Reihe huma-
nistischer Lehrer waren in den 80er und 90er Jahren in Heidelberg
thätig. RüD. Agricola(1443 — 1485) hatte seine humanistischen Studien
in Italien gemacht ; Erasmus giebt ihm den Preis, er sei Graecissimus und
Latinissimusj ein vollkommener Dichter und ein vollkommener Redner
gewesen. Er lebte und lehrte, ohne zu einem verpflichtenden Amt
sich entschließen zu können, in Heidelberg von 1483 bis zu seinem
frühen Tode 1485. Jacob Wimpheling^ (1450 — 1528) war in der
Schule zu Schlettstadt Dringenbergs Schuler gewesen; auf der Uni-
versität zu Freiburg trat er in ein enges, das Leben hindurch dauerndes
Verhältnis zu J. Geiler von Kaisersberg. Seit 1469 gehörte er der
Heidelberger Universität als Studierender und dann auch als Lehrer
an, 1482 war er Rektor und hielt, wie es scheint, als solcher eine
Rede ad Gymnosophista^ Heidelberg enses ^ worin er die Notwendigkeit
darlegt, das Studium der Eloquenz auf den Universitäten zu betreiben
(WisKOWATOiT, 36); er stellt es als eine Forderung der nationalen
Ehre hin; wenn man ihr nicht nachgebe, werde es Deutschlands
Fürsten bald an Rednern und Historikern fehlen. Nachdem er von
1484 — 1498 als Prediger in Speier thätig gewesen war, kehrte er in
dem letzteren Jahr infolge einer Aufl'orderung de? Kurfürsten nach
Heidelberg zurück, und las hier über den heil. Hieronymus. Er verließ
die Universität jedoch schon 1501 wieder; den Rest seines Lebens
widmete er litterarischer und geistlicher Thätigkeit in Straßburg, Basel
' Statuta nee non liber praniotiotiufn phUos, ord, in universitate studiorum
Jagellonica 1402—1849, edidU J. Muczkowski (1849), S. LVII.
* P. V. WiöKowATOFF, J. W., »eui Leben und seine Schriften, 1867.
Die Universität Heidelberg. 131
und Schlettstadt. — Im Jahre 1498 hielt J. Reughlin sich am
Heidelberger Hof als kurfürstlicher Rat und ,,oberster Zuchtmeister'
der Prinzen auf. Sein Bruder Dionysiüs wurde in demselben Jahre
vom Kurfürsten als Lektor der griechischen Sprache zugelassen,
welchem Vorhaben die artistische Fakultät allerdings, wie es scheint,
wenig Neigung entgegenbrachte und so scheint es ohue dauernde
Folge geblieben zu sein.^
Um 1520 dagegen finden wir auch die Heidelberger Fakultät im
Fahrwasser der humanistischen Reform. Schon im Jahre 1513 wird
ihr Wunsch nach einem Professor laut, der die poUtiores litterae ordi-
narie et publice lese, wie das anderen Akademien zu Ruhm und Vorteil
gereiche. 1518 wird Lütheb zur Disputation über die obenerwähnten
höchst ketzerischen Thesen zugelassen und ist mit der Aufnahme ganz
zufrieden. Die Artisten beginnen sich des überlieferten Betriebs zu
schämen. 1520 wird der Beschluß gefaßt, die alte Übersetzung des
aristotelischen Textes durch die neue des Abgybopulos zu ersetzen:
„Alle Universitäten hätten ihre Studien .zum großen Teil verbessert
und die jungen Leute zögen dem verbesserten Betrieb nach und ver-
ließen den alten.'' Die Fakultät beauftragt eine Kommission mit der
Ausführung des Drucks, der dann ihr selber zur Revision vorgelegt
werden soll. Im folgenden Jahr fordert die Fakultät, unter Hinweis
auf den Rückgang der Frequenz und das Aufblühen anderer Univer-
sitäten, namentlich Tübingens, wo man Reughlin angestellt habe,
die Universität auf, sich beim Kurfürsten um den Ehasmus zu be-
mühen: er, das Licht der Welt, werde durch sein göttliches Genie die
liberalen Studien wieder zur Blüte bringen" (Hautz, I, 369). Der
Versuch hatte allerdings keine weiteren Folgen, Erasmus wurde nicht
gerufen, die oberen Fakultäten scheinen überhaupt der neuen Strömung
wenig geneigt gewesen zu sein; die Akten der Fakultät bemerken, man
habe auf das Schreiben gar keine Antwort erhalten, womit denn der
weitere Rückgang der Frequenz in Zusammenhang gebracht wird: alle
verschmähten den hier noch festgehaltenen alten Weg, ab doctissimi
hujus nostri saeculi accuratius restitiUis yyvmdsiis prorsus alienum.
* Hautz, Gesch. der Universität Heidelberg, I, 327. Besser als durch dieses
unzulängliche Werk sind wir jetzt unterrichtet durch die aus Anlaß des Jubi-
läums erschienenen Veröfifentlichungen: £. Wimkelmann, Urkuudenbuch der
Univ. Heidelberg, 2 Bde. (1886), der zweite Band ein vortrefiMiches Regesten-
werk; Thorbecke, Statuten und Reformationen (1891). Desselben Darstellung
der CJesch. der Heidelberger Universität ist leider noch nicht über die Anfiinge
hinausgekoiäinen. Vgl. Hartfelder, Melanchthon, und Morneweu, J. v. Dal-
berg (1887).
9*
132 /, 4, Die humanistische Reformation der Universitäten.
Um wenigstens dem öffentlichen Gelächter sich nicht auszusetzen, wird
bald darauf durch Fakultätsbeschluß die Vorlesung der auf die Studien-
ordnung bezüglichen Statutenparagraphen unterdrückt.
Im folgenden Jahr (1522) kam es endlich zur Reformation des
Studiums. Drei eingehende, sehr interessante Gutachten, von Jacob
Stübm, Jac. Wimpheleno und Jag. Spiegel an den Kanzler des Kur-
fürsten erstattet (gedruckt bei Winkelmann, I, 214 S,\ lassen ungemein
deutlich die Sichtung der von der gemäßigt humanistischen Beform-
partei erstrebten Wandlung hervortreten. In wesentlicher Überein-
stimmung verurteilen sie den alten Betrieb, wie sie ihn selbst aus ihrer
üniversitätszeit in der Erinnerung hatten: so schlecht sei er gewesen
sagt Sturm, daß er ad perdenda ingenia ac male locandas bonos horas
ausdrücklich ausgedacht zu sein scheinen könnte. Vor allem scheint
die Vorlesung über die aristotelische Physik in üblem Andenken zu
stehen: so schlecht sei die ohne Kenntnis der griechischen wie der
lateinischen Sprache gemachte Übersetzung gewesen, daß weder der
Vorleser noch die Hörer sie verstanden hatten; so Sturm, und dasselbe
bestätigt Wimpheling: die physischen Bücher würden ohne alle Frucht
gehört^ Was sie an die Stelle setzen wollen, ist dies. In der artisti-
schen Fakultät wird es sich darum handeln, erstens den philosophischen
Unterricht auf der alten Grundlage besser zu organisieren. Mit einem
guten, kurzgefaßten neueren Lehrbuch der Dialektik und Physik wird
zweckmäßig der Anfang gemacht werden; dann mag die Lektüre des
aristotelischen Textes, aber in einer guten neuen Übersetzung folgen.
Daneben aber muß vor allem für tüchtige Lehrer der Sprachen ge-
sorgt werden: nicht nur für die lateinischen Dichter und Redner, son-
dern auch für Griechisch und Hebräisch. Auch der bisher vernach-
lässigte mathematische Unterricht wird betont Und in der Theologie
ist es notwendig, den Scholastikern den Rucken zu kehren und statt
ihrer die heiligen Schriften alten und neuen Testaments und die alt^n
Väter dem Unterricht zu Grunde zu legen. Widerstreben dem die
Theologen, schließt Wimpheling, „so mögen sie acht haben, daß sie
nicht Gott beleidigen und der Akademie, ja dem Fürstentum, und dem
Fürsten eine Schmach authun, da die jungen Theologen anderer Uni-
versitäten elegant zu reden und zu predigen verstehen, sie aber bei
ihrem alten Kram verrotten, ähnlich wie die Kölner, die jenen Mist
in die Welt gebracht haben." Man kann ja, fügt Spiegel hinzu,
* Im Manuale Seolnrinm (Zahncke, Die deutschen Univ., S. 11, 30), wo
die Heidelberger Verhältnisse um 1480 zu Grunde liegen, werden ebenfalls die
Vorlesungen über die i^hysik und de anima als unverständliche genannt, die
man aber doch wegen des complere pro yradu hören oder bezahlen müsse.
Die Universität Heidelberg. . 133
Thomas nnd Scotus den Orden überlassen, sie in ihren Stadienhäusem
zu treiben«
Die Beformation, die vom Fürsten noch im Jahre 1522 octroyiert
wurde, ist nicht erhalten.^ Sie ist aber ohne Zweifel im Sinne dieser
Gutachten erfolgt £s geht das aus den Berufungen humanistischer
Professoren hervor: H. Buschius kam 1523 als Lehrer der lateinischen
Eloquenz und Poesie; für ein Gehalt von 80 fl. sollte er taglich zwei
öffentliche Vorlesungen halten; er blieb bis 1526. Auch für die
griechische und hebräische Sprache sind Lehrstühle errichtet worden;
jenen hatte Simon Geynaeüs inne (1524 — 1529), dem später (1533)
Jag. Micyllüs folgte; hebräisch lehrte Seb. Münster (1524 — 1527).
Daß die Beformation auch das Studium der Philosophie im Sinne jener
Batschläge regelte, erscheint nicht zweifelhaft. Vielleicht stammt ein
Bruchstück, das Haütz (I, 418) mitteilt und vom Jahre 1545 datiert,
aus der Beformation von 1522; jedenfalls stimmt es ganz zu den
obigen Vorschlägen, auch hat es nicht die Form eines „Entwurfs",
sondern die einer octroyierten Ordnung des Kurfürsten: die alten Über-
setzungen des aristotelischen Textes, „die zum Teil falsch, barbare, den
discipuiis, ja auch den professoribus unverstendig" seien, werden abge-
than, mit ihnen die „unfruchtbaren disputationes de formalitatihus Scoä,
ITiomae" u. a.; die Lektoren sollen ohne alle unnützen spitzigen
Quastionen und Argutien den klaren Text an der Hand guter Ausleger
vorlesen.
Die neuen Universitäten, welche im dritten Viertel des 15 Jahr-
hunderts in Südwestdeutschland als zeitlich und örtlich benachbarte
begründet wurden, verdanken ihre Entstehung schon dem gesteigerten
Bildungsbedürfnis, dessen Symptom und Erfüllung zugleich die huma-
nistische Bewegung und die um die Mitte des Jahrhunderts erfundene
Buchdruckerkunst sind. Die erste Anregung zu ihrer Begründung
scheint bei mehreren auf Enea Silvio (seit 1458 Papst Pius II.) zu-
rückzuweisen, der, auf dem Konzil zu Basel anwesend, den Samen des
Humanismus auch in Südwestdeutschland ausstreute.^ Die Errichtungs-
bullen aus dieser Zeit verdanken vielleicht seiner Feder die bezeich-
nende Eingangsformel: unter den Gütern dieses Lebens sei nicht unter
den geringsten zu achten, daß der Mensch durch beharrliches Studium
„die Perle der Wissenschaft zu erlangen vermag, welche den Weg zum
glückseligen Leben {bene beateque vivendi viam) weist, und durch ihren
^ Thorbecke, Statut u. Reform., S. II, 353.
* ViscnER, Geschichte der Universität Basel, S. ISflf. Pbantl, Geschichte
der Universität Ingolstadt, I, 10 ff.
134 . /, 4, Die humanistische Beformation der Universiiäien,
Wert den, der sie besitzt, über den, der sie nicht besitzt, hoch erhebt
und ihn Gott ähnlich macht; sie leitet zur Erkenntnis der Geheim-
nisse der Welt; sie hilft den Ungelehrten und hebt die niedrigst ge-
borenen zu den Höchsten empor/' ^
Die neuen Universitäten sind in der That alle mehr oder minder
an der Ausbreitung der neuen humanistischen Anschauungsweise be-
teiligt. Die Substanz des Unterrichts bleibt freilich zunächst der her-
kömmliche Kursus in der Schulphilosophie, aber daneben finden sich
überall Lektüren für die neuen Disziplinen der Poesie und Eloquenz.
In Basel hatte neben dem Scholastizismus, dessen beide Frak-
tionen, die Realisten und Nominalisten, in den 70 er und 80 er Jahren
noch erbitterte Kämpfe ausfochten, so daß es auch hier zur Spaltung
der Artisten in zwei getrennte Fakultäten mit eigenen Dekanen und
Promotionen kam, der Humanismus beinahe von Anfang an eine Stätte.^
Im Jahre 1463 wird zum erstenmal eines auf ein Jahr angenomme-
nen Poeten erwähnt; 1464 las P. Ludeb als Stipendiat; als ständige
Lektur kommt die Poesie zuerst 1474 vor, indem ein Inhaber eines
der inkorporierten Kanonikate mit der Lehre der Poesie beauftragt
wurde. Eine bedeutende Wirksamkeit übte in dieser Stellung Sebastian
Brant; in den 80er und 90er Jahren waren Jag. Loches, H. Bebel,
HiERONYMUs Gebwileb seiue Schüler. In den 70 er Jahren studierte
Reüchlin in Basel, er lernte hier von einem Griechen, Andronikos
KoNTOBLAKAs, Griechisch. Daß dieser, wie Vischeb anzunehmen
scheint (S. 191), hier eine Lektur des Griechischen sollte inne gehabt
haben, ist nicht glaublich; der Unterricht war ohne Zweifel eine rein
private Angelegenheit Eine neue Epoche in der Geschichte des Baseler
Humanismus beginnt mit Erasmus' Aufenthalt in der Stadt. Er war
seit 1514 erst wiederholt zeitweilig anwesend, der Druck seiner Schriften
durch die Frobensche Offizin, besonders des N. T.'s, führte ihn her; dann
seit 1521 dauernd. Seitdem war Basel der Vorort des Humanismus
in Süddeutschland. Eine ganze Reihe von Schülern und Verehrern
des Erasmüs sammelten sich hier: B. Rhenanus, W. Nesen, J. Oeko-
LAMPADius, W. Capito, der letztere Prediger und Lehrer in der theologi-
schen Fakultät. In die philosophische Fakultät wurde 1514 der laureierte
Poet Glareanüs (Heinrich Loriti aus Glarus, 1488—1563) aufge-
nommen. Außer den öffentlichen Vorlesungen erteilte er in seiner
Pensionsschule, die zeitweilig 30 Schüler zählte, humanistischen Unter-
* Zuerst in der Errichtungsbullc fiir Greifswald, Koseoarten, II, 14. Dann
auch in der von Basel, Freiburg, Ingolstadt.
• ViscHER, Geschichte der Universität Basel, S. 181 fF. S. auch Tn. Bdrck-
haädt-Biedkrmahn, Gesch. des Gymnasiums zu Basel
Die Universität Freiburg i. B. 135
rieht. Indessen machte er sich und den alten Magistern viel Not durch
die Versuche seinen Anspruch durchzusetzen, daß er als Laureat den
Magistern vorgehe, ein Anspruch, dessen Berechtigung diese nicht ein-
zusehen vermochten. Das Verhältnis wurde besser, seitdem, nach dem
Ausbruch der Barchenrevolution, Glareanus es mit dem Bestehenden
hielt: er wurde 1524 in das consilium facultatis aufgenommen und
1525 Dekan, zugleich der letzte, da das Studium unter den folgenden
Stürmen vorerst einging. — Erwähnung verdient noch die Notiz, daß
im Jahre 1520 durch Fakultätsbeschluß der Vortrag der scholastischen
Logik beschränkt und dafür die Geschichte aufgenommen sei (Visgheb,
198); was doch wohl nichts heißt, als daß ein lateinischer Historiker
gelesen wurde.
Die Universität zu Freiburg hatte schon seit 1471 einen Lehr-
stuhl für Poesie und Eloquenz.^ Um 1500 hatte U. Zasius, später
als Jurist berühmt, ihn inne; ihm folgte (1503 — 1506) Jacob Locher,
mit seinem Poetennamen Philomusus (1471 — 1528), ein Schwabe von
Geburt^ Unter allen rauflustigen Poeten war Lochee, wie es scheint,
der rauflustigste; wohin er sich wendete, entbrannten alsbald giftige
Händel, in denen er, wenigstens was Grobheit im Schimpfen anlangt,
stets unbesiegt blieb. Mit dem Ingolstädter Theologen Zingel begann
er um 1503 einen Streit, weil dieser die christlichen Poeten, einen
Pbüdentiüs oder Baptista Mantuanus für geeigneter zum Jugend-
unterricht, als die in sittlicher Hinsicht bedenklichen heidnischen Poeten,
Horaz, Terenz, Ovid, erklärt hatte. Wimpheling, welcher derselben
Ansicht war und daraus kein Hehl machte, wurde in diesen Krieg
mit hineingezogen. Er konnte von Glück sagen, daß er mit Schmä-
hungen davon kam; ärgeres war ihm angedroht.^ Später, um 1508,
^ ScHBEiBER, Geschichte der Universität Freiburg, I, S. 67fif.
' Über Locher handelt ausführlich Hehle, in Programmabhandlungen des
Ehinger Gymnasiums von 1873, 74, 75. Schon 1495 — 97 hatte er in EVeiburg
als Begleiter von drei badischen Prinzen sich aufgehalten und gelehrt. Mehrere
Schriften für den Schulgebrauch, grammatische, rhetorische und Schulausgaben
von Klassikern, besonders von Horaz, stammen schon aus dieser Zeit; ebenso
eine Anzahl von Komödien fiir den Schulgebrauch.
' WisKOWATOPP, 1 1 5 flf. Locher hatte Schläge angeboten, was Wimpheling
zur Klage beim Freiburger Rektor bestimmte (1505). Daß Locher nicht Spaß
machte, hatte er kurz zuvor einem anderen litterarischen Gegner gegenüber be-
wiesen. Den Poeten Philesius, einen Schüler Wimphelings, der durch ihn zu
Spottversen gereizt war, überfiel er mit einer Bande von Landsleutcn auf oflfener
Straße: 8ub8ter7ie7ife.'i cum calvjis ahstrnctis denudatum tenebant magistro Jacoho,
qui 8olu8 cum virgis ad naies dcriier illum allisit (Schreiber, I, 70). — Der
Höhepunkt seines Kriegs mit der scholastischen Theologie wird durch die im
Jahre 1506 gedruckte Mulae ad Musam Comparatio bezeichnet. Den Inhalt
136 /, 4. Die humanistische Reformation der Universitäten.
lehrte Jon. Matb von Eck in Freiburg, der nachmalige Gegner
Luthers war damals noch entschiedener Humanist. Von 1516—1528
war Phil. Engenttnus lector poeticesy mit dessen nicht ordnungsmäßigen
Kleidern und Bart die Universität Not hatte. Ihm folgte Glabeanus
(1529 — 1563). Auch Eeasmus, der in demselben Jahr mit Glabeanus
von Basel nach Freiburg übersiedelte, ließ sich immatrikulieren, ohne
jedoch zu lesen.
Als erster Lehrer der griechischen Sprache wurde auf eine
Petition einiger adliger Studierenden des Rechts Conbab Hebesbagh
im Jahre 1521 von der Universität, zunächst zur Probe auf ein
Vierteljahr (um 15fl.), angenommen (Schbeibeb, II, 193).^ In seiner
Antrittsrede (de laudibus Graecarum litterarum) erzählt er, daß er
kürzlich einen Mönch in einer Predigt habe sagen hören: „es sei jüngst
eine neue Sprache gefanden worden, die griechische werde sie genannt;
vor der müsse man sich in acht nehmen; sie sei die Mutter aller
Ketzereien; und ein elendes Buch in dieser Sprache zirkuliere, das
Neue Testament genannt, es sei voll Gestrüpp und Schlangen. Auch
eine andere Sprache komme auf, die hebräische genannt, wer die lerne,
werde ein Jude." Schbeibeb (II, 6) scheint die Worte für eine histo-
risch bezeugte Thatsache zu nehmen. Es wird wohl unbedenklich sein,
darin eine humanistische Redefigur zu erblicken, welche die Abneigung
der Mönche speziell gegen die humanistische Beschäftigung mit dem
Text der heil. Schriften ausdrückt. Ebasmus erzählt in einem Brief
an Mosellanüs vom Jahre 1519 eine ganze Menge ähnlicher Anek-
doten, denen übrigens immerhin etwas Thatsächliches zu Grunde liegen
mag. Daß die Sachen auch auf den Kanzeln verhandelt wurden, ist
gar nicht zweifelhaft
Wie es scheint, hat übrigens in den 20 er Jahren auch in Frei-
burg eine allgemeine Reform des Kursus stattgefunden, die vermutlich
illustrieren zwei Holzschnitte: der eine zeigt den Poeten, die Harfe in den
Händen in einem Blumengarten sitzend, umgeben von den Musen, deren eine
ihm einen Kranz aufs Haupt setzt. Auf dem anderen ist ein Maulesel zu sehen,
auf dessen Rücken eine Elster (pica loquax) sitzt; ein Mann in klerikalem Ge-
wand hält der Eselin hinten eine Futterschwinge unter (Hehle, H, 21).
^ Auf einem Mißverständnis beruht die Angabe Zells {de studio Qraee.
Latinanimqus Uiter, saea. XV et XVI in aead, Frib. 1830), die auch in Janssen»
Geschichte übergegangen ist, daß auf der Freiburger Universität seit der
Gründung Griechisch gelehrt worden sei. Das Mißverständnis ist durch den
Namen eines mittelalterlichen Lehrbuches der lateinischen Sprache verursacht,
welches bei der Verteilung der Lektionen im Jahre 1461 erwähnt wird: des Grä-
cismus. Dasselbe hat seinen Namen von einem Kapitel, worin über griechische
Namen in der lateinischen Sprache gehandelt wird (Haase, de med. aepi sind,
philoL S. 8).
Die Universität Tübingen. 137
aach in veränderten Statuten zum Ausdruck gekommen ist Bei
Schreibeb findet sich davon freilich nichts. Wenn man aber die
Lektionen Verteilung vom Jahre 1511 (Schreiber, II, 129) mit dem Ver-
zeichnis der besoldeten Lektüren nach dem Universitatsbericht von 1549
(ScHREiREB, II, 51) vergleicht, so kann man darüber nicht in Zweifel
sein: dort noch die scholastischen Kurse in beiden Wegen, hier neben
zwei Lektüren för Hebräisch und Griechisch, und zwei für Poesie und
Rhetorik, nur zwei für Dialektik und zwei für Mathematik und Physik.
Vielleicht hat die Umwandlung um 1525 stattgefunden, in welchem
Jahre die gleich zu erwähnende humanistische Reformierung des Tübinger
Studiums zustande kam. Freiburg stand mit Tübingen zu jener Zeit
unter derselben, nämlich der österreichischen Regierung. Erzherzog
Ferdinand war 1524 in Freiburg und es werden Verhandlungen mit
der Universität erwähnt (Schreiber, II, 46). Oder schon um 1521;
wenigstens wird in einem Brief Pellicans an Melanchthon (30. Nov.
1521, bei Hartfelder, Mel. Paed. S. 19) berichtet, daß zu Freiburg die
Theologen beschlossen hätten, statt der vier Bücher des Lombardus
die vier Evangelien zu lesen, zwei vor und zwei nach dem Baccalariat,
wie denn auch zu Basel Paulus allein gelesen werde, Scotus gar nicht
Der oflfene Brief, mit welchem Graf Eberhard von Württemberg
zum Besuch der von ihm gegründeten Universität Tübingen einlud
(3. Juli 1477), zeigt deutlich humanistische Tendenzen: nichts besseres,
zur Glückseligkeit notwendigeres, Gott gefalligeres könne gedacht werden,
als das Studium der Wissenschaften und Künste. Darum habe er
lieber hierfür durch Errichtung einer Schule sorgen, als Kirchen bauen
und Benefizien stiften wollen: „denn die Ausstattung der Kirche ist in
unserer Zeit hinlänglich gewachsen und es ist ausgemacht, daß der
einzige Gott wohlgefällige Tempel das menschliche Herz ist, und daß
die andern Kirchen Gott nur dann gefallen, wenn man ein reines und
keusches Gemüt hineinbringt, welches auf keine Weise besser und auf
keinem Wege kürzer als durch wissenschaftliche Bildung erworben
werden kann."^ Die in dem letzten Satz ausgesprochene Ansicht, daß
Bildung der Weg zur Tugend sei, ist die Summe der humanistischen
Lebensweisheit. Sie bildet ebenfalls das Thema der Rede, mit welcher
wenige Jahre zuvor der Rat des bayerischen Herzogs Wilhelm, Martin
Mair, das Ingolstädter Studium eröffnet hatte: ein Weg ist übrig zu
besseren Zeiten zu gelangen, nämlich den Geist besser zu bilden, was
ohne Tugend oder Wissenschaft (sine virtute seu litteris) nicht ge-
schehen kann (Prantl, II, 10).
* Urkunden zur Geschichte der Universität Tübingen, S. 28 f.
138 /, 4. Die humanistische Reformation der Universitäten,
Eine Lektur für Eloquenz nnd Poesie kennt zwar der obige Brief
noch nicht, er nennt nur vier besoldete Artisten, welche die Philo-
sophie umsonst lehren. Aber schon die Ordnung der Lektüren vom
Jahre 1481 verordnet außer Pfründen für jene vier KoUegiaten auch
einem, der in Oratorie lieset, ein Stipendium; welche Bestimmung die
Ordnung von 1491 wiederholt: einem, der „in Oratoria, moralibus oder
poetrif' liest 20 fl. (Urkunden, S. 71, 85). — Seit 1497 hatte H. Bbbel
(1472 — 1516) die Lektur inne, ein Typus des jungen Humanismus:
emanzipiert, leichtfertig, zuversichtlich, ruhmredig, streitlustig und
unermüdlich in der Verfolgung der gotischen und vandalischen Barbarei.
Er giebt sich selbst das Zeugnis: er habe die Tübinger Jugend viel
lateinischer gemacht und die schauderhafte und schmutzige Barbarei
abgeputzt.^ Seine Schulbücher sind viel benutzt worden. Von dem
modus conficiendarum epistolarum zählt Panzeb neun Ausgaben zwischen
1503 und 1513, von der ars versificandi et carminum condendorum
zehn Ausgaben zwischen 1506 und 1520 (Böcking, II, 306). Seit
1512 finden wir auch Melanchthon in Tübingen, zuerst als Studie-
renden, seit 1514 als lesenden Magister, der daneben in den oberen
Fakultäten studierte. Nach dem Tode Bebels trat er in die Lektur
der Beredsamkeit ein; doch blieb er nur noch kurze Zeit, das Jahr 1518
führte ihn größeren Geschicken entgegen nach Wittenberg. Sein Lehrer
und Freund Fbai^z Stadianüs, mit dem Melanchthon die Herausgabe
des griechischen Aristoteles plante, war 1518/19 Rektor der Universität.
Im Jahre 1521 fand auch die griechische und hebräische Sprache
offizielle Vertretung: Reuchlin, durch die Pest aus Ingolstadt ver-
trieben, wurde in Tübingen angenommen, einen Tag um den andern
Griechisch und Hebräisch zu lesen. Er las den Winter 1521/22. Nach
seinem eigenen brieflichen Zeugnis fand er auch hier überaus bereit-
willige Aufnahme. Er schreibt an Hummelbekgee (20. Febr. 1522):*
* Bender in Schmids Encyklopädie Art Bebel, I, 455 — 462. Wie dies Ge-
schäft des Abputzens der Barbarei von der eleganten Jugend, die Bebel ge-
bildet hatte, betrieben wurde, darüber findet man interessantes Detail in einem
Artikel von Steiff: Eine Episode aus der Tübinger Humanistenzeit im Kor-
respondenzblatt für die Gelehrten- und Realschulen Württembergs 1882, S. 351
bis 366. Die Beispiele in des Bbassicanus lateinischer Schulgrammatik (er war
Schulmeister in Tübingen, seine Institutiones gravimatic<ie wurden von 1508
bis 1519 15 mal gedruckt) enthalten Beschimpfungen der Sophisten, im be-
sonderen eines Tübinger Theologen Lemp. Auf Einschreiten des Herzogs machte
Brassicanus die Sache wieder gut durch eine Lobrede auf die Tübinger Uni-
versität, welche nunmehr der Grammatik vorgedruckt wurde.
' HoRAwiTz, in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie, hist.-phil. Kl.
1877, Bd. LXXXVI, S. 187.
Die Universität Tübingen. 139
er möge nach Tübingen und in sein Auditorium kommen; er werde
unter Doktoren und Professoren der Theologie und der Jurisprudenz
sitzen. Die Universität habe Geld aufgenommen und dafür 100 Bibeln
für seine Zuhörer kommen lassen. Von Xenophon seien 150 Exemplare
vorhanden und zu billigen Preisen käuflich. Im Winter habe er die
Grammatik gelesen, im März werde er anfangen die auserlesensten
Oratoren der beiden Sprachen, Xenophon (Hiero s. tyrannicus) und
Salomon zu lesen, als welche beide zu demselben Ziel schießen: der
eine zeige, daß außer Gott alles eitel, der andere, daß am allereitelsten
die Begierde zu regieren. Auch in den beiden Artistenbursen sei ein
elementarer Unterricht in beiden Sprachen eingeführt. Die Universität
verbreitete 1522 eine Bekanntmachung in lateinischer und deutscher
Sprache, worin sie außer anderen Vorteilen besonders hervorhob, daß
der hechberühmte und vielen Nationen bekannte Dr. Reüchlin umsonst
die beiden Sprachen lehre (Urkunden, S. 130 flf.). Nach Reuchlins
baldigem Tode folgte ihm K. Kurbeb, ein Schüler Melanchthons
(Urk. 166).
Die österreichische Regierung, unter welcher das Land seit der
Vertreibung des Herzogs Ulrich (1519) stand, ließ sich überhaupt die
Wiederherstellung und Reformation der unter der letzten Verwaltung
heruntergekommenen Universität angelegen sein. Diese Bestrebungen
kamen in der interessanten Lektionsordnung König Ferdinands
vom Jahre 1525 zum Abschluß (Urk., 141—152). Es ist die huma-
nistische Reform des Tübinger Studiums. Unter den Mitgliedern der
Kommission, welche sie ausarbeitete, waren der kaiserliche Rat Jacob
Spiegel, ein Neffe Wimphelings, Schüler des Zasius, und der Arzt
des Kaisers Maximilian, Paulus Ricius, ein humanistisch gebildeter,
getaufter Jude (Böcking, II, 476, 456). Im Eingang der Ordnung
wird der Verfall der Universitäten auf die herrschende schlechte Methode
des Unterrichts zurückgeführt: statt der sicheren und durchsichtigen
Lehre der Wahrheit seien zerbrechliche Spitzfindigkeiten, statt der
göttlichen Offenbarung verworrene Meinungen der Philosophen gelehrt
worden. Daraus sei jene Umsturzfreiheit gekommen, welche jetzt
Glauben und Religion erschüttere. Um nunmehr die Ursachen der
Erschütterungen, denen dieses unglückliche Zeitalter ausgesetzt sei, zu
entfernen, sei eine Reform der Universitäten (literaria gymnasia) in
den einzelnen Provinzen in Aussicht genommen, denn es sei ohne
Widerrede, daß jene Erschütterungen durch die verunreinigte Unter-
richtsweise entstanden seien. Mit Tübingen werde der Anfang gemacht.
Der Inhalt der Ordnung ist nun, soweit er hier in Betracht kommt,
wesentlich folgender: die vier Theologen sollen in fünfjährigem Kursus
140 I, 4, Die humanistische Beformation der .Universitäten.
vor allem die Schriften des A. und N. T. absolvieren, daneben den
Petrus Lombardus erklären, jeder ein Buch, jedoch kurz und bündig,
„denn durch den Glauben werden wir Gottes Kinder, und nicht durch
leere und frivole Quästionen, welche von dem fleischlichen Hochmut
kommen und ins ewige Verderben führen." Die Artisten (hier pro-
fessores philosophiae genannt) sollen nur solche Schüler zu den philo-
sophischen Kursen zulassen, welche ihren sprachlichen Kursus gemacht
haben (qui sint grammatici). Das Sektenwesen, als ob es mehr als
einen Weg zur Wahrheit gebe, soll ganz abgethan werden. Den philo-
sophischen Vorlesungen soll der aristotelische Text der Logik, Physik
und Ethik in der paraphrastischen Übersetzung des Fabeb Stapülensis
zu Grunde gelegt werden,' die barbarische alte Übersetzung mache den
Zuhörern Ekel. Zur Erklärung mag man die alten arabischen, griechi-
schen und lateinischen Ausleger beiziehen, die von dem unnötigen
sophistischen Kram frei sind. Auf alle Weise aber soll man acht
haben, daß die Zuhörer mehr bei dem Text, als bei den Spitzfindig-
keiten der Glossen und Quästiönchen verweilen, damit sie nicht ohne
Witz, ohne Gelehrsamkeit und ohne Eloquenz nach Hause zurück-
kehren. — Über den Unterricht in den Sprachen hat die Ordnung
keine nähere Bestimmung. Die vorhin erwähnte Bekanntmachung
vom Jahre 1522 spricht von zwei Lehrern in Poesie und Oratorie.
Eine Übersicht über die im Jahre 1534 vorhandenen Lehrer (ürkunden-
buch, S. 167) nennt einen Hebraisten, einen Gräcisten, einen Poeten,
einen Orator, einen Dialektiker, einen Physiker (Jac. Scheck), einen
Mathematiker und Astronomen.
Auch auf der bayerischen Universität zu Ingolstadt hatte der
Humanismus Eingang gefunden.^ C. Celtis wurde 1492 mit einem
herzoglichen Stipendium (50 fl.) als Lektor der Poesie und Eloquenz
berufen. Er trat die Stellung mit einer sehr eleganten Rede an, worin
•
er die Deutschen auffordert, die alte Barbarei endlich auszuziehen und
sich der Bildung zu befleißigen, statt wie bisher nur für Krieg und
Fehden , für Pferde und Hunde und etwa noch für barbarische Philo-
sophie Sinn zu haben. Er sucht auf die nationale Ambition zu
wirken: da wir das Kaisertum den Italienern abgenommen hätten,
müßten wir nun auch in der Bildung den ersten Rang uns erwerben,
wie die Römer, nachdem sie Griechenland erobert. Bildung aber sei
Eloquenz, wenigstens komme sie darin allein zur Erscheinung. Darum
seien vor allen anderen Studien die Poeten und Oratoren fleißig zu
lesen. „Jene eleganten Wendungen und Sentenzen, welche wie die
* Pkantl, Geschichte der Universität Ingolstadt, 2 Bde. (1872).
Die Universität Ingolstadt. 141
Sterne in der Rede glänzen, das sind die Dinge, wodurch der Poet und
der Bedner wirken. Die müßt ihr von ihnen borgen und wie es die
Gelegenheit fordert, eurer Rede einfügen."^
Die Lehrthätigkeit des Celtis blieb unbedeutend. Er fand sein
Amt unter seiner Würde, er spricht mit tiefster Verachtung von den
barbarischen, rübenfressenden Bayern. Er ging und kam, wann es ihm
gut dünkte, worüber sich die Kollegen schwer ärgert.en; sie mochten
nach der Antrittsrede, worin er sie nicht anders als viri generosi und
die Studenten als adolescentes nobiles angeredet hatte, von dem Mann
sich eine andere Vorstellung gemacht haben. Als er im Jahre 1497
abzog, wird die Universität ihm nicht nachgeweint haben.^ Sein Nach-
folger war der uns von Freiburg her bekannte Lochek oder vielmehr
Philomusus, Primarius humanitatis et rhetorices ecclesiastes academiae
Ingolstadiensis, wie er sich nennt. Nachdem er in Ingolstadt sich
allzu unleidlich gemacht hatte, kehrte er 1503 nach Freiburg zurück.
Doch konnten die Bayern seiner nicht entraten, er wurde 1506 vom
Herzog wieder berufen und blieb nun bis zu seinem Tode (1528), all-
mählich wie es scheint ein stiller Mann werdend.
Einen bedeutenden Einfluß im Sinne der Modernisierung der
Studien an der bayerischen Universität übte der auf Peutingers
Empfehlung von Freiburg berufene Jon. Eck; er war Jahrzehnte
hindurch der einflußreichste Mann in Ingolstadt. Die Reform des
artistischen Kursus im Jahre 1519 ist wesentlich sein Werk.^ Der
ganze Unterricht wurde schulmäßiger eingerichtet, die öffentlichen
Lektionen durch Privatkurse ersetzt. Ein sprachlich-rhetorischer Kursus
wurde den Jüngeren vorgeschrieben, an Stelle des Doktrinale, das
* Panegyris ad duces Bavariae, 1492, enthält außer der Rede noch ein
Lobgedicht auf die bayerischen Herzöge.
* In einem Brief, den seine Hörer an ihn richteten, heißt es: Tu nos
dementiae accitaa^ insimulasque barbaros stultoSf ac feros esse dicis, quonim
stipendio stistineris; qtwd aliqwinto majori animo ttäissemuSj nisi quibus nos
damnas viciis niaxirne habundares. Quid enim? cum de nobis curiosus sis, ipse
nimia lieeniia io-rpeas^ qui pigro capite in cubitum. defleoco tamquam private
loquaris (Serapeum XXXI, 259).
* Prantl, I, 200; die neuen Statuten II, IGOfF. Eine Biographie Ecks von
WiEDEMANN. EcK war als Knabe von seinem Oheim, Pfarrer in Rottenburg, in
die klassische Lektüre eingeführt worden; als er 1498 als 14jfthriger Knabe
auf die Heidelberger Universität kam, hatte er den ganzen Terenz, sechs Bücher
der Aeneis und anderes gelesen. Seine Freiburger Reden sind voll humani-
stischer Begeisterung. Einer seiner dortigen Schüler war Urbanus Rhegius,
der spätere Reformator von Braunschweig-Lüneburg. Derselbe folgte ihm von
Freiburg nach Ingolstadt, wo er 1512 eine Lektur für Poesie erhielt Uhlhorn,
Urb. Regius, 345.
142 I, 4, Die humanistische Reformation der Universitäten,
ganzlich verworfen wird, die Grammatik des Aventinus eingeführt,
mit Übungen an Terenz, Cicero oder Briefen des Philelphus. Auf die
Einübung der Grammatik wird großes Gewicht gelegt, denn sie ist
„der Quell und Grund aller Wissenschaften", sie bildet auch einen
Bestandteil des Baccalariatsexamens. Die philosophischen Kurse werden
vereinfacht, von Eck verfaßte Lehrbücher der verschiedenen Disziplinen
für die Prüfungen benutzt, doch ohne Beschrankung der Lehrfreiheit;
jedenfalls sollen die alten Übersetzungen weggeworfen und neue, z. B.
von Abgyeopülos, Aventinus, benutzt werden.
Auch das Griechische trat in den Kreis der Lehrgegenstände.
Nachdem ein Anschlag auf Erasmus im Jahre 1514 fehlgeschlagen
war, gelang es im Frühjahr 1520 das andere große Licht, Beuchlin,
zu gewinnen. Durch den Krieg aus Stuttgart verscheucht, war er nach
Ingolstadt gekommen, wo er im Hause Ecks wohnte; er wurde vom
Herzog angenommen, für eine ungewöhnlich hohe Besoldung (200 fl.)
taglich eine Stunde Hebräisch und eine Stunde Griechisch zu lesen.
Der Humanist J. Gussübelius stellte ihn der Universität mit einer
Rede vor ak einen Mann, der als ein in sterblicher Hülle auftretender
Gott zu ihnen gesendet sei, um sie aus Trägheit zu Fleiß, aus Bar-
barei zu Sittenreinheit, aus Finsternis zum Licht, aus Unwissenheit zu
wissenschaftlicher Erkenntnis zu führen. Sophistische Verstocktheit
und Verkehrtheit habe bisher verhindert, auf die rechten Wege zu ge-
langen, aber nun sei das goldene Zeitalter nahe (Geiger, Beuchlin,
S. 408). In der That scheint der Drang nach dem Licht groß ge-
wesen zu sein; Keüchlin selbst berichtet in Briefen von 300 — 400
Zuhörern, denen er morgens Hebräisch, abends Griechisch vortrage.
Ob die Angabe auf Zählung beruht, darf bezweifelt werden; noch mehr,
ob, wenn wirklich die ganze Ingolstädter Studentenschaft in das Kolleg
kam, sie davon einen anderen Vorteil hatte als den, einen der be-
rühmtesten deutschen Gelehrten von Angesicht gesehen zu haben; den
Aristophanes erklären zu hören, war sicherlich niemand vorbereitet;
es war der erste griechische Unterricht, der im bayerischen Lande
überhaupt stattfand.^ Übrigens ging Reuchlin schon im folgenden
' In einem Brief vom 12. April 1520 sind es prope qundrin(fent% et in dies
awjetur nuttienm; er bittot in dem Brief einen Freund, den Druck von ein
paar kleinen Schriften Xenophons (Apologie, Agesilaus, Hiero) in Hagenau zu
überwachen. Ein Brief an Ptrkhaimkr spricht von über 300 Zuhörern. Reuchlins
Briefwechsel, herausgegeben von Geiger, S. 323 ff. Die Gesamtzahl der Studenten-
schaft Ingolstadts betnig schwerlich viel mehr als 300; Prantl, 1, 164. Kurz
vor seiner Anstellung klagt Reü<^hlin in einem Brief an Hummelberger: Ingol-
stadt sei eine Wüste, wo kein Mensch Griechisch oder Hebräisch lesen könne;
Desiderius Bhrasmus, 143
Frühjahr nach Tübingen. Der griechische Unterricht wurde einem
Einheimischen (Joh. Agbigola) übertragen. Er erscheint als ein Be-
standteil des Unterrichts auch in der nenen Lektionsordnung, welche
1526 der Universität zur Nachachtung von München übersendet wurde,
freilich nur die ersten Elemente: im Pädagogium, als welches der
untere artistische Kursus nunmehr konstituiert wurde, werden die griechi-
schen Buchstaben gelernt. Im übrigen blieb der Kursus von 1519 so
gut wie unverändert
Ich habe an den Anfang dieses Kapitels die Figur des P. Ludeb
gestellt, welche den Humanismus im Stande seiner Erniedrigung zeigt.
Zum Beschluß gebe ich als Seitenstück dazu ein paar Stellen aus
Briefen an Ebasmus, welche dessen Stellung auf dem Höhepunkt
seines Ruhms, zugleich dem Punkt der höchsten Erhöhung des Huma-
nismus, charakterisieren. Es giebt zu der Stellung des Ebasmus nur
ein Analogen, das ist die Stellung Voltaires im 18. Jahrhundert.
Was dieser im Zeitalter Friedrichs des Großen, das war Ebasmus im
Zeitalter Leos X.: der anerkannt höchste Gesetzgeber und Richter in
Sachen der Bildungsbestrebungen des ganzen civilisierten Europas. Um
seine universellen Beziehungen anzudeuten, schicke ich folgende An-
gaben über sein Leben voraus. Von Geburt ein Niederländer, hatte
er in seinen Knabenjahren in der Schule zu Deventer die ersten
schwachen Einflüsse der neuen Bildung erfahren. Er war dann wider
Willen Mönch geworden und hatte in verschiedenen Klöstern der
Niederlande, zuletzt in einem Pariser Kolleg mönchisches Leben und
mönchische Wissenschaft in der Nähe kennen gelernt. In Oxford hatte
er Griechisch gelernt In den beiden ersten Jahrzehnten des neuen
Jahrhunderts finden wir ihn studierend, lehrend, schriftstellernd bald
in England, bald in Frankreich, bald in Italien, bald in den Nieder-
landen. Durch eine Reihe von bedeutenden Werken hatte er sich
einen wohlverdienten Ruf begründet. 1500 waren die Adagia zum
erstenmal erschienen; 1509 das Encomion Moriae und das Enchiridion
militis Christiani^ worin, was Ebasmus als pfäffische Vorbildung und
Verkommenheit und auf der anderen Seite als echt christliche Tugend
und Weisheit ansah, einander gegenübergestellt sind. Die wichtige
und bald darauf (14. März): es gäbe dort kein griechisches oder hebräisches
Buch, er wäre daher genötigt, das tägliche Pensum für seine Vorlesung auf
Blätter zu schreiben, bis Exemplare kämen. Siehe IIorawitz, Rcuchlins Brief-
wechsel mit M. Hummelberger, Sitzungsberichte der Wiener Akademie, hist.-phil.
Klasse, Bd. LXXXVI, S. 179ff.
144 I, 4. Die humanistisctie Reformation der Universitäten,
Schulschrift l)e duplici copia war 1512 veröffentlicht, ihr folgten 1518
die Colloquia, Im Jahre 1516 kam endlich das griechische N. T. heraus
mit lateinischer Übersetzung und Anmerkungen; es war ein littera-
risches Ereignis allerersten Kanges.
In diesem Jahr berief der junge König Karl den berühmten
Landsmann an den Hof zu Brüssel. Es wurde ihm ein fürstliches
Jahrgeld von 400 fl. ausgesetzt, ohne eine andere Verpflichtung als die,
den Namen eines königlichen Rates zu tragen. Es begannen damit die
kurzen Jahre des höchsten Glanzes, welche dem Erasmus vom Schicksal
beschieden waren. Die Fürsten bewarben sich um die Ehre ihn zu
bewirten, die vorzüglichsten Gelehrten des Zeitalters sahen in ihm den
vollendeten Repräsentanten der höchsten Bildung, die jüngeren ehrten
ihn wie einen Gott, ein Brief, eine Erwähnung von ihm war das
höchste Ziel ihres Ehrgeizes. Alle Universitäten, Ingolstadt, Leipzig,
Köln, Heidelberg, Wien, umwarben ihn, ohne HoflPnung, aber vielleicht
wäre es doch nicht unmöglich. Alle Welt sah in ihm den Mann, der
die große Reformation aller Dinge, vor w^elcher zu stehen man allge-
mein empfand, durchzuführen berufen sei. Als zweiten Herkules, der
die Welt von den Ungeheuern, welche seit 800 Jahren überall auf-
gekommen seien, befreien werde, begrüßte ihn bald nach seiner An-
kunft J. Caesarius von Köln (3. Dez. 1516, Opp. Erasmi III, 1578).
Als den zweiten Paulus, der zur Auferweckung des alten Christentums
(in resurrectionem veterls Christianismi) berufen sei, redete ihn H. Emser
in einem Briefe vom Jahre 1517 (Opp. III, 1592) an, worin er die
Bitte wiederholte, daß P^rasmus den größten Wunsch des Herzogs
und des Adels erfüllen und nach Leipzig kommen möge.
Am Anfang des Jahres 1519 wendete sich P. MosELiiANis an
Erasmus mit der Bitte, ihm doch einen einzigen Brief zu schreiben.
Es werde nämlich von nichtswürdigen Gegnern seine Stellung als
Lehrer der griechischen Sprache damit angefochten, daß er ja noch
nicht einmal einen Brief vom Erasmiis aufzuweisen habe: was sei von
einem solchen Menschen in der griechischen Sprache zu erwarten?
Darum bitte einen Brief! „Gewahre ihn meiner Liebe zu Dir; gewähre
ihn der bejammernswürdigen Dummheit derer, die allen Guten übel-
wollen. Du wirst nicht g^^^n mich allein nicht Du selbst sein, der
Du sonst nach dem Beispiel Deines Paulus allen alles bist" (Opp. III,
404). Erasmus erhörte die Bitte und schrieb ihm jenen, früher er-
wähnten langen Brief mit Anekdoten von den Mönchen, welche die
griechische Sprache verabscheuten.
Kurz vorher hatte Albrecht von Mainz einen eigenhändigen Brief
au Erasmus geschrieben. Er habe kürzlich in einem Buche des Erasmus
Desiderius Erasmtis. 145
gelesen; da sei eine unermeßliche Sehnsucht über ihn gekommen,
den Mann zu sehen, dessen göttliches Genie, dessen allseitige Gelehr-
samkeit, dessen die Fassungsgabe des Jahrhunderts fast übersteigende
Beredsamkeit ihn mit Bewunderung erfüllt habe. Nichts halte er seiner
fürstlichen Stellung für mehr angemessen, als dem Fürsten unter den
Männern der Wissenschaft nicht bloß Deutschlands, sondern ganz
Europas ein Freund und Gönner zu sein. Wenn er, ohne den Ebas-
Müs gesehen zu haben, das Leben verlassen müsse, dann werde zu
seinem Glück so viel fehlen, als er sonst sich glücklich geschätzt habe,
zu der Zeit geboren zu sein, „wo Du, großer Mann, Deutschland von
dem Vorwurf der scheußlichen Barbarei befreit hast, wo Du die gött-
liche Theologie, welche seit einigen Jahrhunderten ihre alte und echt«
Gestalt in eine neue und unreine verwandelt hatte, in der alten und
glänzenden Reinheit wieder herstellst." Er weist dann namentlich auf
die Ausgabe des N. T. hin und schließt: „Glückselig wird mir der Tag
sein, wo diese Augen Deine Gestalt umfangen, diese Ohren Deiner aller-
süßesten Stimme horchen, wo wir ganz an Deinem Munde hangen
werden« (13. Sept 1518, Opp. III, 350).
Das sind ein paar Zeugnisse; sie könnten ins Unendliche vermehrt
werden. Eeasmus stand in brieflicher Verbindung mit allem, was in
dem damaligen Europa durch Stellung oder persönliche Bedeutung
hervorragte. Er empfing Briefe von den Päpsten Leo und Adrian,
von Kaiser Karl und König Ferdinand, von Heinrich VIII. von Eng-
land und Sigismund von Polen, von den Herzögen Friedrich und Georg
von Sachsen, von Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen ohne Zahl, aus
Italien und Spanien, aus Frankreich und England, aus den Nieder-
landen und Deutschland, aus Böhmen und Polen. Er stand im Ver-
kehr mit allen bedeutenden Gelehrten seiner Zeit, mit Bembus und
Sadoletüs, mit Büdaeus und Vives, mit Morvs und Coletus. Unter
den Deutschen dürfte kaum ein namhafter Mann unter denen, die der
neuen Bildung zugethan waren, es versäumt haben, ihm brieflich oder
persönlich sich vorzustellen. Selbst Luther konnte nicht umhin, ihm
seine Huldigung zu bringen.
Eeasmus war der Mann, den Glanz solcher Stellung zu genießen.
Seine Briefe aus dieser Zeit sind voll Freude und Genugthuung; er
mahnt überall zur Mäßigung und zum Frieden; der Kampf sei zu
Ende, der glorreiche Sieg des Humanismus entschieden.
Paulsen. Uoterr. Zweite Aufl. I. 10
146 /, 5. Das Eindringen des Humanismus in die Partikiäarschulen.
Fünftes Kapitel.
Das Eindringen des Homanismns in die Fartiknlarschalen.
Der ausfuhrlichen Darstellung der Eroberung der Universitäten
durch den Humanismus lasse ich eine kurze Übersicht des gleichen
Vorgangs in den niederen Schulen folgen. Er ist hier weniger reich
an aufregenden Zwischenfallen; die Einführung neuer Schulmeister
und Lehrkurse begegnete hier nicht dem Widerstand fest organisierter
Korporationen. Humanistisch gesinnte geistliche und weltliche Fürsten,
patrizische Geschlechter, welche in den Städten das Begiment in Hän-
den hatten, führten geräuschlos ihre Klienten in eine Schule ein,
deren Patron sie waren. Aus dieser Ursache ist an manchen Schulen
die humanistische Beform früher durchgedrungen als an den Uni-
versitäten.
Ich will im folgenden einige Nachrichten zusammenstellen, die
erkennen lassen, in welchem Umfang die humanistische Beformbewegung
auch die niederen Schulen ergriffen hatte. Es ist dabei auf Voll-
ständigkeit nicht abgesehen; namentlich aus dem ursprünglichen
Quellenmaterial, den Batsakten und Schulbüchern, dürften sie um eine
Menge von Namen vermehrt werden können.
Ich beginne die Übersicht mit den süddeutschen Beichsstädten.
Sie waren damals neben den Universitätsstädten und den Bischoüs-
sitzen die Hauptherde des geistigen Lebens, wie schon aus der That-
sache hervorgeht, daß der Buchdruck und Buchhandel in ihnen seinen
Sitz hatte. Die Drucke der klassischen Schriften stammen fast durchaus
aus den Offizinen zu Basel, Hagenau, Straßburg, Frankfurt, Mainz,
Köln, Nürnberg, Augsburg, wozu etwas später Leipzig und Wittenberg
kommen (Buäsian, 254).
Unter allen deutschen Städten nahm Nürnberg, was Bildungs-
bestrebungen anlangt, wohl die erste Stelle ein. Hier hatte Begio-
MONTANüs für seine mathematisch-astronomischen Studien Teilnahme
und Förderung gefunden. Unter den patrizischen Geschlechtern waren
mehrere, welche die poetisch-oratorischen Studien förderten und selbst
trieben, vor allen die Pirckhaimer, Vater und Sohn; der letztere,
WiLiBALD (1470 — 1530), welcher in Italien seine humanistische und
juristische Ausbildung empfangen hatte, war einer der ersten Gräcisten
Deutschlands. Die Entwickelung des Schulwesens in dieser Stadt hat
daher eine besondere Bedeutung. Eine Beihe von instruktiven Arbeiten
Die Nürnberger Schulen um 1485. 147
Heerwagens (in Programmen der Nürnberger Studienanstalt aus den
Jahren 1860 — 68) gewährt einen Einblick in alle Verhältnisse.
Im Jahre 1485, in welchem der Rat zu einer Beformation de^
Schulwesens einen Anlauf nahm, bestanden in Nürnberg vier Schulen,
die beiden Pfarrschulen zu St Sebald und St. Lorenz, die Schule beim
neuen Spital und die Schule im Schottenkloster zu St. Aegidien. Ein
paar Aktenstücke aus dem genannten Jahr weisen folgenden Bestand
dieser Schulen auf. St. Sebald hatte außer dem Schulmeister einen
Kantor und drei Baccalarien, St. Lorenz dazu noch einen Locatus, die
Spitalschule nur emen Baccalarius und einen Locatus, St. Aegidien einen
Locatus; in Summa also vier Schulmeister mit zwölf Gehilfen. An
Schülern waren in den beiden Pfarrschulen etwa je 70, in den beiden
andern 60 und 45 Bürgerkinder oder Zahlende, als welche für die
Aufteilung allein in Betracht kamen. Dazu kamen Fremde oder
pauperes, die sich des Almosens ernährten, in wechselnder Zahl; im
Jahre 1522 beschränkte der Bat ihre Zahl an jeder seiner beiden
Schulen auf 40, am Spital auf 30. Die Schulmeister wurden vom Bat,
im Einverständnis mit dem Pfarrer, angenommen, die Gehilfen vom
Schulmeister. Das Einkommen des Schulmeisters bestand, außer in
freier Wohnung und dem Tisch beim Pfarrherrn, im Schulgeld und
einigen Accidenzien: die Summe betrug bei St. Sebald 42 fl. (davon
ab an die Gehilfen 13 fl.); bei St. Lorenz 237^ fl. (ab 17 fl.), beim
Spital 267^ (ab 87 J, bei St. Aegidien 15 fl. (ab 6 fl.). Jetzt wurde
das Schulgeld auf vierteljährlich 25 Pfennige fiir jeden Zahlenden, auf
einen Pfennig wöchentlich für die pauperes festgesetzt und dafür alle
Accidenzien beseitigt.
Über den Unterricht, wie er an der Spitiilschule bis zur Beformation
von 1485 bestand, liegt ein Bericht des Schulmeisters vor. Von sechs
Schulstunden kam eine Vor- und eine Nachmittagsstunde auf den
Kirchendienst. Für den Unterricht waren die Knaben in drei Ab-
teilungen geteilt, welche aber in einem Baum unterrichtet wurden.
' Die erste Abteilung lernte lesen und schreiben; die zweite begann die
Elemente des Lateinischen, aus dem Donat die partes oraüonls und aus
dem Alexander die decUnationes zu erlernen; die dritte fuhr hierin fort,
und übte die grammatischen Begeln an einem Text ein, etwa dem
Evangelium oder dem Cato moralis oder einem ähnlichen; außerdem
aber wurden mit ihr die Elemente der Logik des P. Hlspanus getrieben
und an Festtagen das Kvangelium von einem der Lehrer ausgelegt.
Natürlich wurde auch Musik und Gesang fleißig getrieben; die Leistungen
im Chor, ursprünglich die wesentlichen Pflichten der Schule, waren auch
jetzt noch die nicht am wenigsten wichtigen.
10*
148 /, 5. Das Eindringen des Humanismus in die Partikiäarschulen.
Die Reform von 1485 zeigt die ersten Spuren eines humanistischen
Einflusses.^ Sie findet, daß bisher die Kinder in ihren puerilibus viel
zu lang bekümmert, auch die mehreren Schüler mit etlichen Lehren
und actibus, die ihnen nicht am fruchtbarsten gewesen, verzogen worden
sind. Doch ändert sie weder an den Lehrbüchern noch am Schulbetrieb
etwas Erhebliches, nur schärft sie wiederholt ein, daß der Alexander
auf das schlichteste getrieben werden solle, nicht mit dem Komment,
sondern allein Exponieren und Exempel zu lernen, und nicht viel Um-
stände zu gebrauchen, sondern von statten zu prozedieren, also daß sie
allein die Verse verstehen und richtig anziehen können. Auch die Logik
bleibt In der letzten Nachmittagsstunde soll man mit der dritten Ab-
teilung eine Lektion halten, „die nicht allein nützlich, sondern auch
lustig und lieblich sei, als Aesopum oder Avianum oder Terentiam^^^
den Text ins Deutsche übersetzen und grammatische Übungen daran
knüpfen. „Aber an Sonntagen früh vor der Messe und unter der Früh-
predigt soll eine Epistel Aeneae Sylviij Gasparini oder andere dergleichen
mit Kreide an eine Tafel geschrieben, den Knaben im andern Zirkel
eine oder zwei Zeilen daraus, denen im dritten Zirkel ganz exponiert
und verdeutscht werden," mit nachfolgender Abfragung am nächsten
Tag. Femer, wenn einige Schüler geschickt werden, so soll ihnen neben
den vier Stunden entweder früh oder abends „ein besonderer actus in arte
humanitatis oder in leichten Jlpisteln, als Aeneae Sylvii oder dergleichen
gehalten werden." Für die dritte und zweite Abteilung wird vorgeschrieben,
daß sie Lateinisch unter einander reden; jede Abteilung hat ihren lupus und
asinus. Der Unterricht beginnt und schließt vormittags und nachmittags
mit Gesang; für den Chorgesang ist ebenfalls durch Übung zu sorgen.
Wenige Jahre später, 1496, setzten es die humanistischen Patrizier-
familien im Rat durch, daß auf Kosten der Stadt ein „Poet, der hier
in poetice lese" um 100 fl. angenommen wurde; die Schüler zahlten ihm
außerdem ein Lehrgeld von 1 fl. jährlich. Schon 1491 hatte man mit
C. Celtls über eine solche Stellung verhandelt; jetzt wurde H. Grte-
NENGER von München berufen. Die Sache scheint aber doch nicht recht
Bestand gewonnen zu haben.^ Jedenfalls wurde 1509 dem Poeten zu
^ Mitgeteilt bei Heerwaoen im Progr. von 1863. Jetzt auch in J. Müllers
Vorreform. Schulordnungen, S. 145 ff. M. setzt die Schulordnungen später, ums
Jahr 1505, m. E. ohne zwingende Gründe.
^ Im Sera])eum XVI, 168 findet sich ein Sendschreiben dieses Grieninoeu
an einen Dominikaner, der von der Kanzel geeifert habe: pueros et adolcscentes
in schola poetarum incompositos et corniptos discere mores et arietn humani-
tatis rsse in litt lern et a sacris doctorihtis penitns abjectam. Dem gegenüber be-
hauptet der Poet und beweist mit vielen Zeugen, poetieam et inyrnium erudire
rt cofisiiium aiiffcrc et ad omate dicendum et recte virendum pinrimurn conferre.
Reform der Schulen in Nürnberg^ Nördlingen. 149
einer Pfründe verholfen und eine andere Einrichtung für den huma-
nistischen Unterricht getroffen. Auf Betrieb des Wilibald Pikck-
WTTTMTCR wurde den beiden Pfarrschulmeistem eine Zulage von 20 fl.
gewährt, wofür sie einer selecta in einer besonderen Stube täglich eine
Stunde vormittags und nachmittags ,4^^ der neuen regulierten ^ram--
matica und poesis oder arte oratoria^'' Unterricht geben sollten. Pibck-
HAiMER wird mit der Aufsicht beauftragt Im folgenden Jahr wurde
für die Lorenzerschule der Humanist Joh. Cochläus (1479 — 1552) als
Schulmeister angenommen.
Cochläus begann seine Thätigkeit damit, daß er die alten Lehr-
bücher durch neue ersetzte, welche er für den Gebrauch seiner Schüler
selbst schrieb. Im Jahre 1511 erschienen sein oft wieder gedrucktes
Quadrivium grammatices, das Tetrachordon Musices und eine kommen-
tierte und um eine Beschreibung Deutschlands vermehrte Ausgabe der
Cosmographia des Pomponius Mela, welchen 1512 eine kommentierte
Ausgabe der Meteorologie des Aristoteles in Fabees Übersetzung folgte.
Die beiden letzteren Werke fügte er besonders auch deshalb dem Unter-
richt ein, weil sie zum Verständnis der Dichter kaum entbehrlich seien.
Über seine pädagogischen Grundsätze hat er sich in der Vorrede zur
Meteorologie ausgesprochen. Er warnt darin vor der hereinbrechenden
Geringschätzung .der Philosophie: die Litteraturstudien seien nur ein
Schmuck der wissenschaftlichen Erkenntnis, ohne diese aber gefahrlich
und schädlich, wie die liederliche Leichtsinnigkeit und Nichtsnutzigkeit
der sogenannten Poeten zeige (Otto, Cochläus, Gap. 3 und 4). Cochläus
blieb nur bis 1514; er ging als Führer mit drei Neffen Pirckhaimers
nach Italien, wo er mit diesen Griechisch lenite; er kehrte nicht nach
Nürnberg zurück. Von der Schule wird seitdem nicht mehr viel ge-
meldet. Dasselbe gilt von der Sebaldusschule. Als sie im Jahre 1521
an Joh. Denk endlich einen gelehrten, der drei Sprachen mächtigen
Schulmeister erhielt, war schon die Kirchenrevolution in Gang; Denk
wurde 1525 wegen seiner Neigung zu den Wiedertäufern des Landes
verwiesen (Heerwagen, I, 16).
Die benachbarte Reichsstadt Nördlingen folgte dem Vorgang
Nürnbergs. Die Schulordnung von 1499 ordnet den Gebrauch eines
„Poeten als Boetius oder Terenäus oder der gleychen" für die oberste
Abteilung an. Die Ordnung von 1512 schließt sich eng an die Nürn-
berger von 1485; sie empfiehlt mehrere lateinische Autoren, darunter
Aeneas Sylvius, rät aber „die hohen Poeten vermeiden und die den
hohen Schulen überlassen". Bemerkenswert ist die Forderung, daß
der Magister an allen Sonn- und Feiertagen früh eine Stunde „aus
den Episteln Petri cder Pauli oder in evangeliis nach Gelegenheit und
150 I, 5, Das Eindringen des Humanismus in die PartiktUarscfiulen,
sein selbs versteen und gutem ansehen exponiren soll" (Müller, 174).
Die Berücksichtigung der heiligen Schrift taucht um diese Zeit in
mehreren suddeutschen Schulordnungen auf, so in Stuttgart 1501, in
Memmingen 1514, während ältere Ordnungen nichts davon wissen.
Eine Stelle aus der gleich zu erwähnenden Memminger Schulordnung
von 1514 weist darauf hin, daß in dem bischöflichen examen ordi-
nandorum die Exposition eines Textes verlangt wird; natürlich handelt
es sich um den lateinischen Text und seine grammatische Auslegung.
Eine umfangreiche, von dem Stadtechreiber Georg Mair im Jahre 1521
verfaßte Schulordnung (Müller, 212 — 218) dürfte die eingehendste
unter allen vom Humanismus vor der Einwirkung der Reformation
hervorgerufenen Schulordnungen sein. Die Schüler sind in vier
„Sessionen" geteilt. Die unterste (vierte) lehrt ein Student oder wohl-
lesender Schüler lesen und schreiben, Donat, Pater noster, benedicite,
gratias und einige Wörter aus dem promptuarium vocabulorum des
JoH. PiNiciANUS, lateinisch und deutsch, als: Pater noster, Vater unser,
qui esy der du bist, in coelis, in den Himmeln, sanctificeturj gehailigt werd.
nomen tuum, dein nam, adveniat, zukom, regnum tuum, dein reich et-c*..
Am Abend erhalten die Buchstabierenden ein paar gereimte lateinische
Vokabeln, die Lesenden ein „kurczes mainunglin oder halbs verslin"
von etwa drei oder vier Wörtern zu lernen. In der dritten Session
lehrt „ein halber maister oder sonst ein wolberichter student" die An-
fangsgründe der Grammatik, aber nicht mehr aus dem Doctrinale,
sondern aus einem von Pinicianus bearbeiteten Donat, und übt sie am
Cato ein, von dem täglich zwei Verse vorgenommen und gelernt werden,
mit Benutzung von Seb. Brants Übersetzung und Erasmus' Auslegung;
auch werden die gewöhnlichsten Redeformen aus einem Büchlein des-
selben Pinicianus gelernt. Die dritte Klasse fahrt unter dem Bacca-
laoreus mit dem Donat fort und lernt ihn in beständigem Repetieren
ganz auswendig; sie liest dazu Eklogen des Mantuanus und Briefe des
Philelphus, übersetzend und konstruierend, und übt sich darin, kleine
Briefe, nach gegebenem Argument, zu schreiben, Avobei des Erasmus
eoUoquia nicht zu vergessen. Die erste Klasse hat mit der zweiten
zusammen beim Kantor grammatischen Unterricht; der Schulmeister
liest mit ihnen taglich zwei Stunden Virgii und eine Stunde Terenz.
Den Virgii soll er in der dritten Nachmittagsstunde nach bestem Fleiß
und Verstand lesen, auslegen und verdeutschen, und dann immer einen
Knaben einen Vers grammatisch analysieren, d. h. jedes Wort unter
die acht Redeteile des Donat einordnen und dann sie durchdeklinieren,
konjugieren, komparieren lassen, „das wuuderbarlich keck und geschickt
macht'*. In der ersten Morgenstunde Averden die Verse von den Jungen
Nördlingen. Memmingen, 151
repetiert, d. h. aaswendig hergesagt, ausgelegt und grammatisch ana-
lysiert. Terenz wird in der ersten Nachmittagsstunde gelesen; der
Schulmeister soll nach vorangegangener Erklärung, was eine Komödie
und Scene sei, den Inhalt deutlich anzeigen und mit ehrbarer und
zuchtiger Auslegung der Wörter und Gedanken den Text eigentlich
übersetzen, damit sie „nit allein die worter sonder auch den Sin unnd
Sitten der Menschen daraus erlernen". Endlich soll er mit ihnen die
Logik des P. Hispantjs vornehmen, taglich ein halbe Stunde, und ihnen
den Text so viel als möglich „auf teutschen Verstand mit Exempeln
taglicher und gebräuchlicher Reden erklären und zu lernen fürgeben;
denn jeder Weg der Lemung durch Exempel und Ebenbild ist an-
genehmer und richtiger als der durch Vorschrift«
Aus derselben Zeit haben wir noch aus zwei schwäbischen Städten,
aus Ulm und Memmingen, eingehendere Nachrichten über das Schul-
wesen in Gestalt von Berichten und Beschwerden an den Rat, aus
Anlaß von Anklagen gegen die Schule. Beide lassen das Eindringen
des Humanismus deutlich erkennen, doch besteht daneben der schola-
stische Betrieb der Grammatik und Logik fort. Über die Memminger
Schule zur Zeit des Schulmeisters Huser um 1513 berichtet die ver-
mutlich von dem Stadtschreiber nach Angaben des Schulmeisters ab-
gefaßte Verantwortung folgendes. Die Schüler werden in fünf Ab-
teilungen von dem Schulmeister und drei Gehilfen unterrichtet Außer
dem Doctrinale werden ein paar neue Lehrbücher der Grammatik ge-
braucht und Lucanus, Mantuanus und Philelphus gelesen. Im Lucanus
„glosiert er allwegen in die Feder, uflF das wenigest drissig vers. Dar-
nach exponiert er in (ihnen) die selbigen zu tiutsch, und wann das
selbig uß ist, so lat er im die schuler exponieren und vertiutschen die
vers, so er in den tag for glosieret und vertiutschet hat, und lert sy
dar uß orationes, also das in anderhalp Stunden uflF das wenigest sechzig
vers glosiert und repetirt werden". Ferner wird die Logik desP.HisPANUs
vorgetragen und erlernt, und am Sonntagmorgen eine Epistel oder
Evangelium, so man in der heiligen Meß pflegt zu singen und zu lesen,
exponiert und konstruiert; dasselbe läßt der Schulmeister dann nach
der Vesper einen Schüler aus der ersten Lektion wieder exponieren:
da muß er auf das Katheder steigen und es „im Angesicht aller Schüler
so verdeutschen und konstruieren, wie er solches zu Augsburg oder
Konstanz in dem examine gefragt wird". Huser ist überzeugt, daß
seine Schule anderen nicht allein gleich, sondern mit etwas mehr Fleiß
gehalten werde und fordert zu dem Ende vom Rat, daß er durch einen
kundigen Priester die Schule revidieren lasse. Gleichwohl finden wir
bald einen neuen Schulmeister in Memmingen, Bartholomäus Stich,
152 I, 0. Das Eindringen des Hujfianismus in die ParÜkularschukn,
bisher in Schwäbisch-Hall. Er scheint sich durch beträchtlich weitere
Fortschritte im Humanismus empfohlen zu haben. Sein „Schoäcus ordo^^,
den er aus Hall einsendete und der sich mit einer commendatio in
Prosa und Versen über das Thema: daß die Wissenschaft der Weg zur
Tugend ist, einführt, weist außer Terenz und Virgil auch Cicero (de
amic., de senect, de offic,) auf.^
Eine sehr besuchte und berühmte Schule war zu Ulm. Ein paar
undatierte interessante Aktenstücke aus der Zeit nach 1500 lassen in
die Verhältnisse der Schule einen Einblick thun. Der Schulmeister
rühmt, daß einmal ein Schüler von ihm beim Examen zu Konstanz
für einen Magister gehalten worden sei, worauf er mit Stolz erwidert
habe: ich bin ein Ulmer Schüler. Und Ton einem andern erzahlt er,
daß er einem Magister, der ihn nach Heidelberg auf die Universität
ziehen wollte, geantwortet habe: loh hab hie Lehre als genug als zu
Heidelberg. In der That berichtet er in der „Ordnung der Lektion",
daß er in den letzten beiden Jahren seinen Schülern „libros de anima,
physicorumj de generatione et comiptione und metheororum gemacht**
habe. Jetzt aber hätten sie ihn gebeten, ihnen in grammatica zu machen.
Auch wird im Sommer täglich von den Logikern in Logik und Physik
disputiert und arguiert, von den andern in der Grammatik. Daneben
aber werden auch täglich die Poeten gelesen, Virgil, Plautus, Terenz,
Boetius, Sedulius; auch wird die grammatische Exposition in den kirch-
lichen Gesäugen und den Episteln und Evangelien geübt, was zum
Examen gen Konstanz dient. Im grammatischen Unterricht wird
übrigens noch das Doctriuale gebraucht.^
Noch sei Augsburg erwähnt. Hier gab es am Ende des Mittel-
alters fünf kirchliche Schulen. Bei einer Prozession 1503, wobei auch
Kaiser Maximilian barfüßig einherging, wird der gesamte Klerus der
Stadt sichtbar. Es wurden gezählt: Kanoniker und Vikare der Dom-
kirche mit den Schülern 110, Kanoniker und Vikare von St. Moritz
mit den Schülern 138, der Konvent von St. Ulrich 28 mit 78 Schülern,
Kanoniker von St Georg mit den Schülern G6, Kanoniker vom heil.
Kreuz mit den Schülern 55. Dazu 27 Dominikaner, 20 Minoriten und
21 Karmeliter. — Die Augsburger Bischöfe hatten längst humanistische
Neigungen. Seit 1518 regierte der Bischof Christoph von Stadion, ein
^ Reichenuart in den Jahrb. für Phil. u. Pädag. , Bd. CXXII, S. 225 fF.;
Müller, Vorreform. Schulordnungen. 180 ff.; Erläuterungen dazu in Kehr»
Pädag. Blätteni, 1885.
^ Kapff, Gesch. des Gymnasiums zu Ulm, Progr. von 1855. Die Akten-
stücke bei Veesenmeyeu, T)c schola lat. Ulmanüy 1818. Die Lektionsordnung
auch bei Müller, S. 125.
Ulm, Augsburg, Frankfurt. 153
großer Bewunderer des Ebasmus. Zum Domprediger wurde 1520 der
Humanist Ubbanus Rhegius als Nachfolger des Oekolampadius be-
rufen. Dem Schulwesen der Diözese stand als Domscholastikus vor der
humanistische Kanoniker Bebnhabd Adelmank von Adelmannshausen,
Mitglied der Feutingerschen Humanistengesellschaft, ein Schüler und
Korrespondent Reuchuns. An der Klosterschule zu St. Ulrich, welche
schon seit der Mitte des 15. Jahrhunderts unter dem Einfluß der all-
gemeinen Bestrebungen, die auf die Reformation der Klöster gerichtet
waren, sich gehoben hatte, lehrten um 1520 der Gräcist Othmab
LusciNiüs und Veit Bild, Mönch des Klosters (1503 — 1529), ein
Schüler Jacob Lochebs, Poet und Mathematiker, mit den bedeutendsten
Humanisten in. brieflichem Verkehr, des Griechischen und Hebräischen
nicht unkundig. Daneben werden humanistische Privatlehret erwähnt,
darunter sogar ein laureierter Poet, die in Grammatik und humanitatls
arte lehrten. Die patrizischen Familien, welche, wie das Beispiel des
GossEMBBOT uud Peütingeb zcigt, auch hier in dem Streben nach
der neuen Bildung voran gingen, gewährten Unterkunft und Stellung.
Auch Schulkomödien wurden in Augsburg gedichtet und 1497 gedruckt:
Comoediae utilissimae omnem Latinl sermonis elegantiam conänentes;
ihr Inhalt sind die üblichen, langweiligen und nicht immer sauberen
Gespräche.^
Humanistische Schulmeister oder Lektionen aus den beiden ersten
Jahrzehnten werden bei Pfaff noch erwähnt in folgenden schwäbischen
Städten: Eßlingen, Hall, Heilbronn, Schorndorf, Urach, Rott-
weil (wo um 1510 zwei Schweizer 0. Myconius und Glabeanüs bei
einem Schulmeister M. Rubellus die Elemente der Humanität lernten,
Hagenbach, Myconius, S. 319flF.), Stuttgart und Tübingen, in dessen
Bursen und Pädagogien Bebels Schüler Heinbichmann und Bbassi-
CANüs das neue Latein lehrten. In der Vaterstadt Keuchlens, zu
Pforzheim, war im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts G. Simleb
Lehrer, bekannt durch seine griechische Grammatik (1512). Melanch-
THON, der in Pforzheim und dann an der Universität Tübingen sein
Schüler war, hat ihm ein dankbares Andenken bewahrt.
In Frankfurt a. M., wo während des Mittelalters drei Stifts-
schulen den Unterricht der Jugend besorgt hatten, findet sich die
erste Spur einer Nachfrage nach humanistischem Unterricht im Jahre 1 496,
in welchem ein Poet erwähnt wird, der vom Rat eine Zulage von 2 fl.
' Die Angaben Bind entnommen aus J. Hans, Beiträge zur Geschichte des
Augsburger Schulwesens, 8.-A. aus der Zeitschr. des bist. Vereins für Schwaben
und Neuburg, II, 1. Heft; ergänzt aus Uhluorn, Urb. Rhegius, 21—45; vergl.
Bavaria, II, 2, 942 ff.
154 /, 5. Das Eindringen des Humanismus in die Partikularschulen,
monatlich erhielt.^ In größerem Stil wiederholte sich die Sache mit
der Annahme des Poeten W. Nesen im Jahre 1520. Neben hatte
die Söhne eines reichen Frankfurter Patriziers, Claus Stalbuko, nach
Paris geführt (1517 — 1519). Auf Betreiben einiger einflußreicher
Familien nahm ihn jetzt der Rat auf drei Jahre um jährlich 50 fl.
und Wohnung in Dienst „ihre und gemeiner Stadt Kinder in der-
selben seiner Kunst im Latein zu lernen, so viel ihm möglich, um
eine ziemliche Belohnung; auch allen Tag eine Stunde öflFentlich zu
lesen in seinem Haus oder in einem Kloster." Auch verpflichtet er
sich für den Rat nach Erfordern zu reden und zu schreiben. Die
Schule wurde nachher Schola patriciorum, Junkerschule, genannt, ohne
Zweifel mit gutem Grund: gemeiner Stadt Kinder hatten natürlich
weder die Poesie nötig, noch die Mittel die ziemliche Belohnung zu
zahlen. Nesen blieb nicht lange, er ging 1523 nach Wittenberg, wo
er im folgenden Jahr in der Elbe ertrank. Sein Nachfolger wurde
Jacob Micyllus (1524 — 1533). Über den Erfolg des Schulunter-
nehmens sind nur dürftige Nachrichten vorhanden. Nach den ersten
Jahren äußert sich in Micyllus Briefen große Mißstimmung, die Schule
sei leer, nur einige Kinder besuchten sie (Classen, Micyllus, 78fiF.).
In die oberrheinischen Städte war die pädagogische Richtung der
Schule von Deventer durch den Westphalen Ludwig Dringenberg
verpflanzt worden, der 1441 — 1477 der Schule zu Schlettstadt vor-
stand, die unter ihm und seinen Nachfolgern, Crato Hofmann, Gebwiler,
Sapedus, bedeutenden Ruf hatte.^ Eine Reihe von bekannten Männern,
die in dieser Schule ihre erste Bildung empfangen haben, unter ihnen
vor allen Wimpheling, ferner sein NeflFe Jag. Spiegel, Beatus Rhena-
Nus, haben ihr Gedächtnis erhalten. Dringenberg gehörte noch ganz
der älteren Richtung an, er lehrte das Doctrinale, nur daß er es mit
Auswahl benutzte und die langen Kommentare verwarf; ebenso lebt«
er auch mit scholastischer Theologie und Philosophie in Frieden, wo-
gegen er die neumodische Poesie nicht ohne Mißtrauen betrachtete:
die heilige Schrift und die Philosophie lehre gute Sitten, während die
Poesie leicht zu einem lockeren Lebenswandel verfahre (so in einem
Brief, mitget. bei Mone, Z. f. d. Gesch. des Oberrh., XXV, 65). Daß
* Helfenstein, Schulwesen in Frankfurt, S. 46. Das folgende aus Steitz'
erwähntem Aufsatz über Nesen. Der Vertrag mit Nesen bei J. MtfLLER, Vor-
reform. Schulordnungen.
• Die dürftigen Nachrichten über diese Schule gehen auf einen Aufsatz
RöHBiGfi in Tloens Zeitschr. für histor. Theologie (IV, 1834) zurück; sie sind in
unfruchtbarer Ausführlichkeit wiederholt nacherzählt, zuletzt von Kämmel, S. 232 ff.
8. auch Knod, J. Spiegel, im Progr. von Schlettstadt 1884/86.
Schlettstadi. Siraßburg. Basel. 155
WiMPHELiNO ebeuöo dachte, ist schon oben (S. 61) erwähnt worden,
und auch bei den jüngeren Männern dieses Kreises blieb diese An-
schauung herrschend. J. Spiegel und B. Bhenanus kommentierten
beide christliche Dichter und warnten vor den heidnischen Poeten.
Freilich, sagt. Spiegel, man könne behaupten: et sacrü litteris et
christiams poetis parum elegantiae inesse et gotthicum ac barbarum
nescio quid redolere; aber die christliche Lebensweisheit wiege diesen
Mangel auf (Knod, Progr. Schlettstadt 1886, S. 11). Entschiedener
wurde der Bruch mit dem alten Schulbetrieb erst durch J. Sapidus
vollzogen, der ihr 1510—1525 vorstand. Er führte anstatt des Alexan-
der neue Lehrbücher ein, und scheint auch mit dem Unterricht im
Griechischen einen Anfang gemacht zu haben.
Straßburg, lange Zeit der Mittelpunkt der scholastischen Studien
am Oberrhein, wie Köln am Niederrhein, hatte beim Ausgang des
Mittelalters vier Stiftsschulen, dazu eine Eeihe von Klosterschulen. ^
Am Anfang des 16. Jahrhunderts finden wir hier eine Beihe von Männern,
die, auf dem Boden der christlich-kirchlichen Lebensanschauung stehend,
doch den neuen Bildungsbestrebungen zugewendet sind, J. Geiler
als Domprediger, See. Bbant als Stadtschreiber, J. Wimphbling als
Geistlicher und Schriftsteller thätig. Im Jahre 1501 unterbreitete
WiMPHELiNG dem Bat in seiner Germania den Vorschlag, eine Ober-
schule zu errichten. Ein doppelter Grund wird für ihre Notwendig-
keit angeführt: erstens bedarf man einer solchen Anstalt, um die
Jugend für die Universität besser vorzubereiten: jetzt kommen die
Knaben zu früh und ohne genügende Sprachkenntnisse auf die Uni-
versität und verlieren hier dann die Zeit umsonst; sodann ist auch für
die Jugend, die nicht dem Studium bestimmt ist, eine längere Schul-
zeit, ein weiter geführter Unterricht von nöten, sie verkommt jetzt in
Müßiggang und Tändelei. Der Bat konnte sich doch nicht entschließen,
den Vorschlag auszuführen. Indessen kamen vereinzelte humanistische
Lehrer. Der Poet M. Bingmann (alias Philesius) hielt zeitweilig
(1505 — 1507) eine Privatschule. 1509 wurde Gebwileb von Schlett-
stadt als Bektor an die Domschule berufen. Seit 1514 lehrte Ottmar
LusciNius (sonst Nachtigall) bei St. Thomas und amDomdie griechische
Sprache, wofür er auch Ijehrbücher drucken ließ. Die Beformation
brachte auch hier zunächst eine Unterbrechung der Entwickelung.
In der Schweiz war Basel der Mittelpunkt der humanistischen
Studien. Außer der Domschule gab es hier noch eine Stifts- und vier
Pfarrschulen. Um 1515 wird der Humanist 0. Myconiüs als Schul-
^ S. C. Engel, Das Schulwesen in Straßburg bis 1538 (Straßb. 1886).
158 I, 5. Das Mndringefi des Humanismus in die Partiktäarschulen.
liehen Wendungen alle Vorkommnisse im Schülerleben, die naturalia
und turpia nicht ausgenommen, behandeln. Auch von dieser Arbeit
werden 25 Drucke zwischen 1503 — 1523 gezählt, darunter wieder
11 Leipziger, je 2 Kölner, Nürnberger, Augsburger etc. Außerdem
verfaßte er Gedichte mit Absicht auf den Schulgebrauch. 1503 wurde
der Schulmeister Stadtschreiber, in welcher Stellung er bis zu seinem
Tode 1527 blieb. Auch seine Nachfolger gehörten der humanistischen
Richtung an. Um 1520 betrieb der Rat die humanistische Reform
auch der übrigen Schulen. Die Corpus-Christi-Schule wurde durch
einen Schüler der Herforder Schule, H. Pauss, im Sinne des Hegius
umgestaltet An der Schule zu Maria Magdalena führte gleichzeitig
A. MoiBANus humanistische Schulbücher ein, darunter eine von ihm
selbst gemachte kleine Auswahl ERASMusscher Briefe. £r lehrte auch
zuerst Griechisch in Breslau. Auch die Elisabethschule erhielt 1520
einen neuen Rektor an J. Tbogkr, einen Schüler Melanchthons, der
griechischen und lateinischen Sprache kundig. An einer andern Schule
lehrte J. Nigeb. Der Bischof Jon. Thubzo war ein großer Gönner der
humanistischen Studien, ebenso sein Schwager Jon. Mezleb, der
humanistische Jurist, Schüler des Cbocüs, Freund Melai^chthons und
MosEiiLANs. Eine große Störung brachte das Eindringen der Refor-
mation. Die Frädikanten donnerten gegen die unnütze und heidnische
Gelehrsamkeit und die genannten Schulmeister verließen alle die Stadt.
— In Goldberg begründete H. Cingülabiüs (Gübtleb) um 1504
mit Unterstützung des Rats, des Herzogs von Liegnitz und J. Thurzos
eine Schule nach den neuen Anschauungen. Eine Grammatik, welche
er 1506 drucken ließ, führte die neue Methode, freilich noch nicht
mit voller Entschiedenheit, durch; er arbeitete sie um und veröffent-
lichte sie 1515 zum zweitenmal Alexandri aliorumque Grammatistarum
hahicinationibus omissis (Bauch, Ztschr. f. d. Gesch. Schles. XXIX).
In Nordwestdeutschland sind Ausgangspunkt weitverzweigter
Wirkungen die Schulen zu Deventer und Zwo 11 e; eine Reihe von
Männern, die für die Entwickelung des Schulwesens nicht ohne Be-
deutung 'sind, haben hier ihre erste Bildung empfangen. Die Beziehung
der Schulen und mehrerer ihrer Leiter zu den Brüdern vom ge-
meinsamen Leben (auch Hieronymianer genannt) hat zu der irrigen
Vorstellung Veranlassung gegeben, als seien die Brüder eine Art
Schulorden gewesen, und Iv. von Raümeb hat sie dann zu Vorläufern
der humanistischen Schulreform gemacht, als welche sie bislang in den
Darstellungen der Schulgeschichte umgingen. Durch die Untersuchung
K. HiBsSCHES (Hebzogs Realencyklop. der prot. Theol. II, 699 ff., 747 ff.)
ist dieser Vorstellung, der auch die erste Auflage dieses Buches noch
Baieni, Öaterreich. Böhmen. SohUsien. 157
AvENTiNTs als Lehrer; einer von ihnen studierte seit 1515 in Ingol-
stadt unter Jon. Eck. Freilich fand Albrechts Streben nach Bildung
bei dem bayrischen Adel wenig Beifall. Man nannte ihn in diesen
Kreisen spöttlich den Schüler oder Schreiber, wofür er gelegentlich
grimmige Rache nahm.^
Daß auch die niederen Schulen der österreichischen Lander
in die humanistische Bewegung hineingezogen worden sind, ist bei der
«ngen Verbindung zwischen Schule und Universität nicht zweifelhaft;
aber die österreichische Schulgeschichtsschreibung läßt uns für die Nach-
weisung der Ausbreitung im Stich. Von dem Abt, welcher 1518—1521
dem Kloster bei den Schotten vorstand, Ben. Cheltdonius, wird be-
richtet, daß er unter anderen Versuchen in humanistischer Poesie, z. B.
einer Darstellung der Passionsge^chichte, auch ein lateinisches Schul-
drama habe verfertigt und aufführen lassen, worin der Streit der
Wollust und Tugend behandelt wurde: Venus, Satan, Cupido, Epicurus
und auf der andern Seite Pallas und Herkules traten darin als han-
delnde Personen auf (Horawitz, Der Humanismus in Wien, im Histo-
rischen Taschenbuch, 1883, S. 193).
In den Ländern der böhmischen Krone findet sich in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts ein ziemlich entwickeltes humanistisch-
protestantisches Schulwesen. Es ist anzunehmen, daß seine Anfange
in diese Zeit zurückreichen; die Nachrichten darüber sind spärlich.
Von dem Bischof Thürzo von Olmütz wird berichtet, daß er Mittel-
punkt eines Kreises dortiger Humanisten gewesen sei und auch das
Schulwesen gefördert habe (Richter, Kurze Geschichte der Olmüzer
Universität, S. 10).
Besser sind wir über Schlesien unterrichtet. Hier war der
bischöfliche Hof von Breslau unter Jon. Thurzo, einem Bruder des
mährischen Bischofs , Mittelpunkt der neuen Bildungsbestrebungen.
Schon im Jahre 1499 findet sich ein humanistischer Schulmeister zu
St. Elisabeth, Laurentius Corvinus.^ Er verfaßte für den lateinischen
Elementarunterricht viel gebrauchte Schulbücher. Der hortulus elegan-
tiarum stellt einander gegenüber Muster des guten und Beispiele des
schlechten Stils, jene vorzugsweise aus Cicero. Von 1502 — 1520 sind
25 Drucke des Werkes bekannt, darunter 12 Leipziger, 4 Krakauer,
je 2 Speierer und Straßburger etc. Das Latinum idioma ist eine
Sammlung von Schülergesprächen, welche in reinen oder doch leid- ^
^ Fit. Schmidt, Geschichte der Erziehung der Wittelebacher, S. XXXV.
' Kine Biographie C.s von Bauch in der Zeitschrift für Geschichte und
Altertum Schlesiens, XVII. Bd. (1883), S. 230—302, giebt über die schlesischen
Verhältnisse jener Zeit erwünschte Auskunft
158 I, 5. Das Eindringen des Humanismus in die PartikiUarschtUen.
liehen Wendungen alle Vorkommnisse im Schülerleben, die naturalia
und turpia nicht ausgenommen, behandeln. Auch von dieser Arbeit
werden 25 Drucke zwischen 1503 — 1523 gezahlt, darunter wieder
11 Leipziger, je 2 Kölner, Nürnberger, Augsburger etc. Außerdem
verfaßte er Gedichte mit Absicht auf den Schulgebrauch. 1503 wurde
der Schulmeister Stadtschreiber, in welcher Stellung er bis zu seinem
Tode 1527 blieb. Auch seine Nachfolger gehörten der humanistischen
Richtung an. Um 1520 betrieb der Rat die humanistische Reform
auch der übrigen Schulen. Die Corpus-Christi-Schule wurde durch
einen Schüler der Herforder Schule, H. Pauss, im Sinne des Hegiüs
umgestaltet An der Schule zu Maria Magdalena führte gleichzeitig
A. MoiBANus humanistische Schulbücher ein, darunter eine von ihm
selbst gemachte kleine Auswahl EBASMusscher Briefe. Er lehrte auch
zuerst Griechisch in Breslau. Auch die Elisabethschule erhielt 1520
einen neuen Rektor an J. Tboger, einen Schüler Melanchthons, der
griechischen und lateinischen Sprache kundig. An einer andern Schule
lehrte J. Niger. Der Bischof Jon. Thubzo war ein großer Gönner der
humanistischen Studien, ebenso sein Schwager Jon. Mezleb, der
humanistische Jurist, Schüler des Ckoous, Freund Melai^chthons und
MosELLANs. Eine große Störung brachte das Eindringen der Refor-
mation. Die Pradikanten donnerten gegen die unnütze und heidnische
Gelehrsamkeit und die genannten Schulmeister verließen alle die Stadt.
— In Goldberg begründete H. Cingularius (Gürtler) um 1504
mit Unterstützung des Rats, des Herzogs von Liegnitz und J. Thurzos
eine Schule nach den neuen Anschauungen. Eine Grammatik, welche
er 1506 drucken ließ, führte die neue Methode, freilich noch nicht
mit voller Entschiedenheit, durch; er arbeitete sie um und veröflFent-
lichte sie 1515 zum zweitenmal Älexandri aliorumque Grammatistarum
halucinationibus omissis (Baüch, Ztschr. f. d. Gesch. Schles. XXIX).
In Nordwestdeutschland sind Ausgangspunkt weitverzweigter
Wirkungen die Schulen zu Deventer und Zwo 11 e; eine Reihe von
Männern, die für die Entwickelung des Schulwesens nicht ohne Be-
deutung sind, haben hier ihre erste Bildung empfangen. Die Beziehung
der Schulen und mehrerer ihrer Leiter zu den Brüdern vom ge-
meinsamen Leben (auch Hieronymianer genannt) hat zu der irrigen
Vorstellung Veranlassung gegeben, als seien die Brüder eine Art
Schulorden gewesen, und K. von Räumer hat sie dann zu Vorläufern
der humanistischen Schulreform gemacht, als welche sie bislang in den
Darstellungen der Schulgeschichte umgingen. Durch die Untersuchung
K. Hirsches (Herzogs Realencyklop. der prot. Theol. II, 699 flF., 747 if.)
ist dieser Vorstellung, der auch die erste Auflage dieses Buches noch
Deventer, ZwoUe. Die Brüder voni gemeinsamen Leben, 159
mehr als billig nachgab, der Boden entzogen worden.^ Die Frater-
häuser waren nicht Schulhäuser und die Brüder waren nicht
Lehrer, wie später die Jesuiten, am wenigsten humanistisch gesinnte
Lehrer. Dem Humanismus stehen die Brüder völlig fem; Geebt
Gboot, Flobentiüs Radewunssohn, Thomas von Kempen waren
Asketen, denen Devotion und frommes Leben am Herzen lag, nicht
Eloquenz und weltliche Wissenschaft. „Es giebt viel Wissen," sagt
Thomas, „das wenig oder gar nicht zum Seelenheil dient Und der ist
ein großer Thor, der nach irgend etwas anderem strebt, als was zum
Heil dient." — Die Beziehung zu den Schulen der Orte, wo sie sich
ansiedelten, beruhte vielmehr darauf, daß sie Schüler bei sich auf-
nahmen und ihrer Erziehung und besonders ihres religiösen Lebens
als Seelsorger sich annahmen; nur von einigen Brüdern ist bekannt,
daß sie selbst an der Schule als Lehrer wirkten. Andererseits waren
unter den Leitern jener Schulen Männer, die dem Geist der Brüder
innerlich verwandt waren, wenn sie auch der Gemeinschaft nicht
äußerlich angehörten. Unter ihnen ist Alexander Hegiüs (1433 — 1498)
der bekannteste.^ Auf der Schule zu ZwoUe gebildet, war er seit
1474 Rektor der Schule zu Deventer. P^rst in höherem Alter wurde
er durch Freunde, besonders durch B. Agbicola, für das Studium der
Alten gewonnen. Er hat dann nicht unerheblich dazu beigetragen,
daß diese Studien in den Schulen des nordwestlichen Deutschlands
Eingang fanden. tTbrigens bleibt er den Anschauungen des libertinisti-
schen Humanismus fern : perniciosa litteratura est, quae cum jactura
probitatis discitur, das ist sein pädagogischer Grundsatz. Auch am
Doctrinale hat er festgehalten und es für den Schulgebrauch kommen-
tiert, ebenso wie ein anderer der Lehrer von Deventer, der aus den
Episteln der dunkeln Männer bekannte Synthis, der übrigens zu den
Brüdern gehörte. Doch führte Hegius die lateinischen Autoren in die
Schule ein und empfahl sie den Schülern als die Quelle der Sprache.
Eine lange Reihe von Drucken erschien in den letzten beiden Jahr-
zehnten in Deventer, darunter Stücke von Plautus, Persius, Cicero,
Virgil, ohne Zweifel zunächst für den Schulgebrauch. Die Erlernung
der griechischen Sprache empfahl Hegius, wie schon erwähnt wurde,
seinen Schülern dringend: die Grammatik, die Dialektik, die Rhetorik,
die Mathematik, die heiligen Schriften, die Jurisprudenz, die Philosophie,
* Hirsche führt die Legendenbild iing über die Schulen der Hieronymianer
und ihren Humanismus auf eine Stelle des uns hinlänglich bekannten Hamelmann
zurück) die er einen „bodenlosen Abgrund, gefüllt mit Unrichtigkeiten** nennt.
• Über Hegius s. Reichlino, Murmellius, S. 5—17, und Picks Monatsschrift
für rhein.-westfälische Altertumskunde, III, 286 if.
160 I, 5. Das Eindringen des Humanismus in die Partihüarsehulen,
die Medizin, die Geschichte, wer sie recht lernen wolle, müsse Griechisch
lernen. Die Elemente des Griechischen wurden in der Schule gelehrt;
ein kleines Lehrbächlein, die conjugationes verhorum Graecorum, ist
nach REiCHLiNa schon um die Mitte der 80 er Jahre dort gedruckt.
Unter des Hegius Schülern waren Buschius, Mukmellius, Horlenius,
kurze Zeit auch Eeasmus und Butzbach. — Noch mag die Schule
zu Lüttich erwähnt werden, der J. Stuem 1521 — 24 als Schüler an-
gehörte und an der allerdings auch der Unterricht in den Händen
der Brüder gelegen zu haben scheint, wenigstens spricht er von dem
collegium Hieronymianum zu Lüttich. Ich komme hierauf später zurück.
Für Westfalen und ganz Norddeutschland wurde die Bischofs-
stadt Münster ein Sammelpunkt humanistischer Bestrebungen.^ In-
mitten derselben stand der Dompropst Bfd. v. Langen (1438 — 1519).
Er hatte, nachdem er die Schule in Deventer besucht und in Erfurt
studiert hatte, in Italien (1466 — 1470) die Vollendung seiner huma-
nistischen Bildung erhalten. Paemet hat in einer Lebensbeschreibung
des Mannes eine Sammlung seiner lateinischen Dichtungen, größten-
teils religiösen. Inhalts in antiken Versmaßen, beigegeben. Die ersten
Spuren humanistischer Einwirkung auf die Münsterschen Schulen sind
neuerdings bis ziemlich weit ins 15. Jahrhundert zurück verfolgt
worden; Nordhoff (Denkwürdigkeiten aus dem Münsterschen Humanis-
mus, 1874, S. 73 ff.) teilt den Inhalt einer Schulkomödie (Codrus) mit,
deren Druck spätestens ins Jahr 1485 zu setzen sei: es ist eine adhortatio
zur laänitas, verfaßt von Jon. Keekmeisteb, gymnasiarcha Monaste-
riensis. Um 1500 gelang es den unausgesetzten Bemühungen Langens,
der Domschule noch entschiedener den Charakter einer humanistischen
Pflanzschule zu geben. Rektor wurde Timann Kemner (Camenerüs),
neben ihm lehrte an der Schule bis 1508 einer der bedeutendsten
unter den humanistischen SchuUehrem, Jon. Mfrmelliüs (1480 — 1517),
der Verfasser zahlreicher und sehr verbreiteter Schulbücher. Reich-
ling zahlt von der Pappa pueromm, einem Elementarbuch der latei-
nischen Sprache, 32 Drucke zwischen 1513 und 1560 auf; von den
Tabulae in artis componendorum versuum rudimenta werden sogar
63 Drucke (1515 — 1658), und von einer poetischen Chrestomathie
(Ex elegiis IVbtilli, Propertii et Otndii selecti versus) 11 Drucke
(1504 — 1789) nachgewiesen. Die Fappa enthält in ihrer ursprüng-
lichen Form in vier Kapiteln 1. ein sachlich geordnetes Vokabular,
2. Gespräche, 3. Sitten- und Anstandsregeln, 4. eine Sammlung von
* Die erste mit Kritik unternommene, sehr gründlich durchgefiihrt« Unter-
snchung über den Münsterschen Humanismns ist in Reiohlikos Biographie des
Mukmellius (1880) enthalten.
Münster, Emmerich, Wesel. 161
Sprichwörtern; überall ist eine niederdeutsche Übersetzung beigefügt
(S. 93). Das Büchlein dient zunächst der Absicht, den Schüler so
bald als möglich redefahig zu machen; aus dieser Absicht erklärt sich die
Wahl von Sätzen, wie Joannes calceos meos comminxit oder Cave^ ne
tantum potesj ut lectum nostrum convomas und ähnlicher. Außer diesen
und anderen Sprachlehrbüchem hat Mubmellius lateinische Autoren,
klassische und kirchliche, mit Kommentar herausgegeben, dazu natür-
lich eigene Gedichte. Sein letztes Werk ist der Scoparius in barbariei
propugnatores et osores humanitatis (1517), ein letzter Ansturm gegen
den mittelalterlichen Schulbetrieb, besonders gegen die Grammatik des
Alexander und die Logik des Petrus Hispanus mit ihren Verteidigern.
Die Erlernung der Fertigkeit, Lateinisch in Prosa und Versen zu
schreiben, bildete, wie sich auch aus des Mubmellius litterarischer
Thätigkeit ergiebt, den ersten und wichtigsten Unterrichtsgegenstand
der reformierten Schule zu Münster. Daneben wurden die Elemente
der Philosophie gelehrt; von Kemneb werden Kompendien nicht nur
der Etymologie, der Syntax und der Rhetorik, sondern auch der Dia-
lektik und Physik erwähnt (Reichling, 74). Auch Mubmellius hat
eine Einleitung in Aristoteles' Schrift über die Kategorien verfaßt, von
welcher 30 Drucke nachgewiesen werden (Reichling, 153). Die grie-
chische Sprache lehrte im Jahre 1512 vorübergehend J. Caesabius
aus Köln, Lehrer und Schüler hörten ihn; und wenn auch Caesabius
nicht lange blieb, so starb doch das Griechische, das er angepflanzt
hatte, nicht wieder aus (R. 79).
Der Domschule folgten die übrigen drei Stiftsschulen in Münster,
der einen, der Ludgerischule, stand Mubmellius selbst einige Jahre
als Rektor vor, bis er 1513 nach Alkmaar ging. Schüler der Münster-
schen Schulen breiteten die neue Lehrart über die westfälischen und
norddeutschen Städte aus; ein langes Verzeichnis solcher in Münster
gebildeten Schulmeister hat Pabmet (88 ff.) aus dem freilich wenig
zuverlässigen Hamelmann zusammengestellt.
Durch Mobitz von Spiegelbebg erhielt die Stiftsschule zu Em-
merich die Richtung auf die neuen Studien.^ Mobitz bewirkte als
Stiftspropst die Berufung des Antonius Libeb, aus der Schule zu
Deventer. Was es mit der von Hamelmann erzählten Vertreibung
dieses Mannes durch die Barbaren erst aus der Emmericher und später
aus einer ganzen Reihe niederländischer Schulen auf sich hat, mag
dahingestellt bleiben; Hamelmanns Zeugnis ist hierin von gar keiner
Bedeutung. Im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts war P. Hom-
* DiLLENBUBOEB, Gcschichte des Gymnasiums zu Emmerich , Progr. 1S46.
PauUen, Unterr. Zweite Aufl. I. 11
162 7, 5, Das Eindringen des Humanismus in die Partikularschulen.
PHAEU8, ein Schüler des Hegius, Vorsteher der Schule. Einen Ein-
blick in den Lehrgang zu dieser Zeit gewähren die Aufzeichnungen
H. BuLLiNGEBs, der von 1516 — 1519 die Schule besuchte (bei Keappt,
Mitteilungen, S. 201 ff.). Die Grammatik wurde aus dem Donat und
Aldus Manutius vorgetragen; nebenher gingen Übungen, in der Schule
und zu Hause, täglich wurden Aufgaben zum Deklinieren, Komparieren,
Konjugieren, gestellt. Gelesen wurden ausgewählte Briefe des Plinius,
Cicero und Hieronymus, einige Gedichte des Horaz, Virgil und Baptista
Mantuanus, jede Woche wurde ein Brief aufgegeben, stets Lateinisch
gesprochen. Auch die Elemente des Griechischen wurden gelernt Die
Disziplin war streng; mit der Religion wurde es sehr ernst genommen.
BüLLiNGER mußte, auf Verlangen seines Vaters, die ganze Schulzeit
hindurch vor den Thüren betteln, nicht weil es ihm an Mitteln fehlte,
„sondern weil er wollte, daß ich das Elend der Armut durch Erfahrung
kennen lerne, damit ich ihr lebenslang desto mehr zugethan bliebe".
Ebenso waren in Osnabrück sowohl an der Domschule als an
der Stiftsschule seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts Schulmeister
aus der Münsterscheu Schule thätig (Hartmann im Osnabrücker Progr.
von 1861, S. 10 ff.).
Daß der Humanismus auch den kölnischen Stifts- und Kloster-
schulen nicht fremd geblieben war, kann man aus einzelnen Erwäh-
nungen humanistischer Schulmeister z. B. zu St. Maria ad Gradus, im
Antoniterkloster, in den Augustinerkonventen entnehmen (Keaftts
Mitteilungen, 216 ff, 252 ff).
Der Rat von Wesel nahm im Jahre 1516 den H. Buscmus zum
Schulmeister an, um 50 fl. und 10 fl. Wohnungsentschädigung, nach
Ausweis des Ratsprotokolls; bei Abschluß des Kontrakts erhielt er 1 fl.
als Mietspfennig. Er faßte als Lehrbuch für die unterste Abteilung,
welche er nominarii nennt, ab: Dictata quaedam utilissima ex Proverbiis
sacris et Ecclesiastico ; für die oberste Abteilung ließ er eine Auswahl
von Briefen Ciceros drucken.^ Er blieb aber nur P/g Jahr. Nach
seinem Abgange suchte der Rat vergeblich Murmellius zu gewinnen,
statt seiner wurde Peringius aus der Münsterscheu Schule angenommen.
Um das Jahr 1510 schrieb Butzbach: früher seien in Deventer,
wie er oft gehört habe, fast nur Alanus, Cato moralis, Aesopus und
einige ähnliche gelesen worden, die jetzt von den Modernen verachtet
würden. „Gegenwärtig hört man auch in den kleinsten Schulen die
großartigen und mannigfaltigen Werke der alten und neuen Autoren
in Prosa und Versen"; freilich, meint Butzbach, stellen sich die
* Heidemann, Vorarbeiten zu einer Geschichte des höheren Schulwesens
in Wesel, Progr. 1853.
Sachsen. Mecklenburg. Pommern. 165
alte Testament in drei Sprachen. Der ganze Terenz, einige Stücke
Yom Plautus, viel aus Horaz und Virgil soll auswendig gelernt, des
Horaz Oden in der Schule gesungen, des Terenz Komödien aufgeführt
werden u. s. f. Der Entwurf des windig-prahlerischen Mannes, in ge-
spreiztem Stil geschrieben, ist offenbar zum Prunk gemacht, nicht zur
Ausführung. Die Schule sank schnell, nicht allein durch den Rektor,
dem ein Zeitgenosse wohl nicht mit Unrecht Mangel an Judicium vor-
warf, sondern vor allem infolge der Reformationsunruhen. ^
Auch in anderen sachsischen Städten werden humanistische Schul-
meister erwähnt: in Leipzig an der Thomasschule lehrte 1518 — 1522
J. PoLiANDEB (Qraumann), wolchcm P. MosEiiiiANus seiu Schulbüchlein,
die Paedologia, widmete; in Meißen an der Domschule H. Pollichius;
im Kurkreis hatte Torgau eine angesehene Schule. Überhaupt war,
wie die Protokolle der ersten Visitation ausweisen, fast in jeder Stadt
eine Schule; allein in den kursächsischen Ländern werden bei der
Visitation in den Jahren 1527—1529 70—80 Schulen erwähnt.»
In Rostock hatten die Hieronymianer seit 1462 eine Nieder-
lassung; eine darin eingerichtete Druckerei machte die klassischen Schrift-
steller im Norden Deutschlands zugänglicher. Die mit der Universität
verbundene Schule (das paedagogium Porta coeli, nach dem Haus ge-
nannt) hatte schon vor der humanistischen Universitätsreform vom Jahr
1520 humanistische Lehrer, so seit 1508 den C. Pegelius, der 1516
als Prinzenerzieher nach Schwerin berufen wurde. In der Lektions-
ordnung des Jahres 1520 finden sich Übungen im Briefschreiben, wozu
Briefe des Cicero und Plinius gebraucht werden, femer poetische
Übungen, in diversis generibus carminum, adhibitis exemplis probatorum
poetarum, Firgiliij Iloratii, Omdii, Catulli, Tibulli, Silii et reliquorum sine
numero priscorum et modernorum (Kkabbe, Univ. Rostock, 168, 303, 352 ff.).
Selbst bis Hinterpommern war die neue Bildung schon vor-
gedrungen. JoH. Bugenhagen, in Greifswald durch Buschius zum
neuen Leben erweckt, war von dem Abt des Klosters Belbuck bei
Treptow als Schulmeister angenommen; er leitete die Schule von
1505 — 1521 im humanistischen Sinne; mit den Münsterschen Huma-
nisten stand er in Beziehungen, indem er ihnen Gefordertere unter
seinen Schülern schickte (Vogt, Bugenhagen, 7).
* Herzog, Geschichte des Zwickauer Gymnasiums. Die Schulordnung von
1523 bei Müller, 244 £P. Ergänzungen aus dem Ratsarchiv in Erlers P. Plateanus,
Zwickauer Progr. 1878.
' BuRCKHARDT, Gcscbichtc der säclis. Kirclien- und Schulvisitationen in den
Jahren 1524—1545 (1879). Art. Sachsen in Sohmids Encyklopädie, VII, 436 ff.,
von DlETSCH.
164 /, 5. Das Eindringen des Humanismus in die PartikularschtUen,
brauch der Grammatik von Heinbichmann durchfuhren, sowie auf An-
leitung zur Verfertigung lateinischer Episteln besser als bisher halten
wollten, auch darauf achten, daß keine unnützen actus und autores
femer gehalten, dagegen die Evangelien und die Episteln Pauli den
Kindern eingeprägt würden (Förstemann, Nachrichten von den Schulen
zu Nordh., 1830).
Im Ratsprotokoll der Stadt Hannover, welches regelmäßig Ein-
tragungen über die jährliche Annehmung eines Schulmeisters hat (mit-
geteilt von Ahbens im Progr. des Lyceums 1869), findet sich zum
Jahr 1515 die Bemerkung, daß der Schulmeister ein Regiment
halten wolle, wie zu ZwoUe und Deventer gehalten wird. Ein neues
Schulstatut wurde 1521 verfaßt; darnach wurde die Zahl der aus-
wärtigen (Bettel-) Schüler auf 100 beschränkt, der Schulmeister ver-
pflichtet vier gute Gesellen zu halten und die Kinder ihr Latein
sprechen zu lehren in forma meliori; die bisher gezahlte Pacht wurde
ihm erlassen.
Auch in Sachsen hatten schon vor der Reformation die neuen
Studien in den Schulen Wurzel gefaßt. In den Bergstädten Freiberg,
Schneeberg, Chemnitz, Zwickau hatte der aufblühende Bergbau Wohl-
stand und damit das Verlangen nach feinerer Bildung hervorgebracht
In Freiberg entstand um 1515 neben der alten Domschule eine neue
humanistische Schule, an welcher mit einer Besoldung vom Rat zuerst
Aesticampianus und Mosellanüs, später, da beide im Jahre 1517
die Stadt verließen, Sobius und SBBULnjs lehrten.^ In Zwickau,
dessen Stadtschule schon am Ende des 15. Jahrhunderts in großem
Ansehen stand, war seit 1517 der humanistisch gebildete Stephan Roth
Rektor. Sein Baccalarius G. Agbicola erhielt im Jahr 1518 vom Rat
eine Besoldung, um Griechisch zu lehren; er wurde, als Roth 1520
an die Schule zu Joachimsthal ging, dessen Nachfolger; neben ihm
lehrten der in der sächsischen Schulgeschichte später hervortretende
J. Riviüs und der Hebraist J. Forsteb. Unter dem folgenden Rektor
Natteb aus Lauingen wurde 1523 eine großartige Ankündigung eines
„Neuen Studii und jetzt aufgerichteten CoUegii in forstlicher Stadt
Zwickau auf drei Hauptsprachen, Hebräisch, Griechisch, Lateinisch ge-
stellt" gedruckt und veröffentlicht In fünf Klassen wird ein Unter-
richt, der den Kursus der philosophischen Fakultät in der dritten, aller
übrigen Fakultäten in der zweiten Klasse einschließt, in Aussicht ge-
stellt. Griechisch soll schon in der zweiten Klasse von unten begonnen,
in der obersten Homer, Euripides, Aristoteles gelesen werden; dazu das
* Süss, Geschichte des Gymnasiums zu Freiberg. Progr. 1876/77.
Sachsen. Mecklenburg, Pommern. 165
alte Testament in drei Sprachen. Der ganze Terenz, einige Stücke
Yom Flantns, viel aus Horaz und Virgil soll auswendig gelernt, des
Hora^ Oden in der Schule gesungen, des Terenz Komödien aufgeführt
werden u, s. t Der Entwurf des windig-prahlerischen Mannes, in ge-
spreiztem Stil geschrieben, ist offenbar zum Prunk gemacht, nicht zur
Ausführung. Die Schule sank schnell, nicht allein durch den ßektor,
dem ein Zeitgenosse wohl nicht mit Unrecht Mangel an Judicium vor-
warf, sondern vor allem infolge der Reformationsunruhen. ^
Auch in anderen sächsischen Städten werden humanistische Schul-
meister erwähnt: in Leipzig an der Thomasschule lehrte 1518 — 1522
J. PoLiANDBB (Qraumann), wclchcm P. MosETiTiANus sciu Schulbüchlciu,
die Paedohgia, widmete; in Meißen an der Domschule H. Pollichius;
im Kurkreis hatte Torgau eine angesehene Schule. Überhaupt war,
wie die Protokolle der ersten Visitation ausweisen, fast in jeder Stadt
eine Schule; allein in den kursächsischen Ländern werden bei der
Visitation in den Jahren 1527—1529 70—80 Schulen erwähnt»
In Rostock hatten die Hieronymianer seit 1462 eine Nieder-
lassung; eine darin eingerichtete Druckerei machte die klassischen Schrift-
steller im Norden Deutschlands zugänglicher. Die mit der Universität
verbundene Schule (das paedagogium Porta coeli, nach dem Haus ge-
nannt) hatte schon vor der humanistischen Universitätsreform vom Jahr
1520 humanistische Lehrer, so seit 1508 den C. Pegelius, der 1516
als Prinzenerzieher nach Schwerin berufen wurde. In der Lektions-
ordnung des Jahres 1520 finden sich Übungen im Briefschreiben, wozu
Briefe des Cicero und Plinius gebraucht werden, femer poetische
Übungen, in diversis generibus carminum, adhibitis exemplis probatorum
poetarum, Vtrgiliij Horatii, Ovidii, Catulli, Tibulli, Silii et reliquorum sine
numero priscorum et modemorum (Kbabbe, Univ. Rostock, 1 68, 303, 352 flF.).
Selbst bis Hinterpommern war die neue Bildung schon vor-
gedrungen. JoH. Bugenhagen, in Qreifswald durch Büschius zum
neuen Leben erweckt, war von dem Abt des Klosters Belbuck bei
Treptow als Schulmeister angenommen; er leitete die Schule von
1505 — 1521 im humanistischen Sinne; mit den Münsterschen Huma-
nisten stand er in Beziehungen, indem er ihnen Gefordertere unter
seinen Schülern schickte (Vogt, Bugenhagen, 7).
' Herzoo, Geschichte des Zwickauer Gymnasiums. Die Schulordnung von
1523 bei Müller, 244 £P. Ergänzungen aus dem Ratsarchiv in Erlers P. Plateanus,
Zwickauer Progr. 1878.
' BuRCKHARDT, Gcschichte der sächs. Kirclien- und Schulvisitationen in den
Jahren 1524—1545 (1879). Art. Sachsen in Schmids Encyklopädie, VII, 436 ff.,
von DlBTSOH.
166 /, 5, Das Eindringefti des Hwmanismus in die Partikularschulen.
Unter allen deutschen Ländern waren die Marken vielleicht am
wenigsten von der neuen Bildung berührt Sie waren wirtschaftlich
am wenigsten entwickelt und von den damaligen Brennpunkten des
deutschen Lebens am weitesten entfernt, oder, gegenüber den Ostsee-
küstenländem, am schwersten zugänglich. Sie sparten ihre Kräfte für
die Zukunft.
Ziehen wir die Summe. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts
standen die deutschen Universitäten und Schulen noch im ungestörten
Frieden; auf jenen regierten Thomas und Scotüs, auf diesen Alexandek
mit unangefochtener Autorität. Höchstens einige Kunde von der in
Italien entstandenen neuen Bildung war über die Alpen gekommen,
und hie und da versuchte ein Schreiber die künstlichen Wendungen
der aus Italien in der Kanzlei seines Herrn anlangenden Briefe nach-
zubilden. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde der Besuch
italienischer Universität-en häufiger und gegen Ende desselben galt er
für unerläßlich zur Erlangung einer höheren Bildung. Auch an den
deutschen Universitäten begannen seit den fün&iger Jahren einzelne
Magister über die römischen Poeten und Oratoren zu lesen oder, was
gleichbedeutend ist, Poesie und Eloquenz zu lehren, zum Teil fahrende
Leute, ohne solide Wissenschaft und ohne Würde oder auch nur Ehr-
barkeit des Lebens. Die Universitäten verhielten sich im ganzen nicht
ablehnend, wenn sie auch zu dem Beginnen und der Erscheinung ein-
zelner Apostel der Humanität den Kopf schüttelten; des Wertes ihrer
eigenen Wissenschaft waren sie noch völlig sicher. Allmählich begannen
die geistlichen und weltlichen Herren und die patrizischen Stadtregie-
rungen für die Sache der neuen Bildung sich zu interessieren; das
neue Latein wurde Mode, die päpstliche und kaiserliche Kanzlei gingen
voran, man fing an sich seiner Barbarei zu schämen. Die Regierungen
stellten daher an den Universitäten Lehrer der Poesie und Eloquenz
an, um das elegante Latein auf dem eigenen Boden zu ziehen. Die
Schulen folgten, sobald die Universitäten Magister lieferten, welche die
neue Sprache lehren konnten. Hin und wieder kamen sie auch den
Universitäten zuvor; wie denn Wattenbach einen humanistischen
Lehrer, einen Italiener Namens Aebiginus, entdeckt hat, der schon um
1450 im Dienst der Culmbacher Markgrafen auf der Plassenburg die
Eloquenz lehrte.
Mit dem neuen Jahrhundert wurde das Verhältnis zwischen den
Poeten und den Vertretern der alten Schulphilosophie und -theologie
gespannter. Die Poeten wurden aggressiver, sie waren nicht zufrieden,
wie bisher, neben den Magistern zu lehren, sie verlangten ihren Unter-
Der Sieg dtts Humanismus. 167
rieht an die Stelle des alten zu setzen. Zwar über das Latein der
Schulphilosophie hatte sich schon Ludeb wegwerfend genng aus-
gesprochen; jetzt aber ging es an die Schulphilosophie selbst. Die offi-
ziellen Kurse und Promotionsprüfungen waren bisher wesentlich so
geblieben, wie sie beim Entstehen der Universitäten sich entwickelt
hatten. Jetzt eröffneten die Poeten Philomusus, Büschius, Aesti-
CAMPiANüs, MüTiANus uud sciue Schar, Melanchthon u. a. den Kampf
gegen den Bestand jenes, wie sie sagten, unsinnigen und barbarischen
Unterrichts selbst. Sie drückten überall und insbesondere vor ihren
Schülern ihre Verachtung jenes Krams auf das Unverhohlenste aus.
Die Jugend, wie überall rerum novarum studiosa, lief ihnen zu; sie be-
gann die Schulphilosophie zu verachten und der alten akademischen
Auszeichnungen sich zu schämen; Hütten verleugnete sein Frankfurter
Baccalariat wie eine erlittene Beschimpfung und Mosellanus ließ mit
Achselzucken sich den Titel eines Magisters anhängen. Auch die alten
Lebensordnungen, die klösterliche Zucht in den Kollegien und Bursen,
die klerikale Tracht, wurden von der eleganten Jugend, die in den
Humanistenschulen über Mönche und Magister lachen gelernt hatten,
verhöhnt und verabscheut. Die beweglichen Klagen über Auflösung
aller Disziplin und Zucht, welche die Briefe der dunkeln Miinner den
Leipziger Magistern Unckebunck und Jeus Perlirüs in den Mund
legen, waren gewiß nur zu berechtigt.
Die alten Magister und Doktoren versuchten hin und wieder dem
Vordringen jener Menschen entgegenzutreten. Sie ärgerten uud reizten
dadurch nur die reizbaren Litteraten, die ihnen mit der Feder und
dem Worte überlegen waren. Die regierenden Herren waren überall
auf der Seite des Fortschritts; sie hatten Humanisten und Verbündete
der Poeten zu Bäten, Schreibern, Kaplänen, Hofpredigem. So wurden
die alten ehrwürdigen Korporationen überall genötigt sich selbst zu
modernisieren. Fast gleichzeitig fanden um 1520 an allen deutschen
Universitäten derartige Reformversuche statt: es wurden neue Statuten
gegeben, welche den Gebrauch der neuen Übersetzungen vorschrieben
und zugleich die alten Kommentare und Quästionen abzuthun geboten.
Die Lektionen der Poeten und Oratoren wurden zum Teil in den obli-
gatorischen Kursus aufgenommen, dazu griechische Lektüren an allen
Universitäten errichtet Die griechische Sprache, die im 15. Jahrhundert
noch regelmäßig in Italien oder Paris gesucht werden mußte, war um
1520 in Deutschland akklimatisiert, Mosellanus und Melanchthon sind
die ersten bedeutenden Gräcisten, die Deutschland nie verlassen haben. ^
^ Ein sichtbares Symptom des Sieges der neuen Bildung ist auch das
völlige Verschwinden des Doctrinale, aus dem drei Jahrhunderte die Gram-
168 /, 5, Der Sieg des Humanistniis.
Man sieht, der Sieg des Humanismus war entschieden. Nicht Ver-
treibung der Humanisten durch die „Barbaren'^, sondern Vertreibung
der Barbarei durch die Humanisten hatte stattgefunden; überall er-
blicken wir die Barbaren im Weichen. Der Siegesübermut der jungen
Humanisten kannte keine Grenzen. Einen litterariscben Terrorismus,
wie er gegen die Verteidiger des Alten, gegen die Hochstbaten,
Abnold von Tungebn, Obtudots, Lee im zweiten Jahrzehnt des
16. Jahrhunderts geübt worden ist, hat es vielleicht zu keiner Zeit
weder vorher noch nachher gegeben.
Was war es doch, das den Humanismus so unwiderstehlich machte?
Die VortreflFlichkeit der klassischen Litteratur? Das ist keine Antwort.
Das 13. und 14. Jahrhundert war von der Vortrefflichkeit seiner
philosophisch-wissenschaftlichen Unternehmungen nicht minder durch-
drungen^ es ließ sich davon keineswegs durch die ihm nicht unbekannte
poetische und oratorische Litteratur der Römer abziehen.
Als letzten und tiefsten Grund wird man, wie ich glaube, keinen
anderen finden, als den zu Anfang angedeuteten: im Humanismus
stellt sich das Drängen des modernen Geistes nach einer ihm gemäßen
Erscheinungsform dar. Der Lebenstrieb der abendländischen Völker
war noch unerschöpft, er strebte der Hülle der supranaturalistischen
Religion sich zu entledigen, unter welcher verborgen er während des
Mittelalters und besonders während der letzten Hälfte desselben die
ersten Kulturtriebe entwickelt hatte; er fand in der naturalistischen
Bildung des vorchristlichen Altertums seine Lebensempfindung und
Weltanschauung ausgedrückt; darum bemächtigte er sich ihrer Formen.
Die Ursachen, aus welchen dieser Vorgang eben jetzt eintrat, lassen
sich vielleicht noch etwas bestimmter bezeichnen. Das 15. Jahrhundert
hatte das deutsche Volk reich gemacht; der Welthandel seiner Kauf-
leute hatte in den großen Städten, Nürnberg, Augsburg, Ulm,
Frankfurt, Köln, Lübeck, große, im Verhältnis zur früheren Armut
unermeßliche Reichtümer aufgehäuft. Eine große Verfeinerung des
Lebens war die Folge, die Häuser der Kaufherren, die Höfe der geist-
lichen und weltlichen Fürsten gaben Zeugnis davon. Die Erscheinung
der Menschen selbst wurde eine andere: buntfarbige, geschlitzte, kurze
matik gelernt hatten. In den beiden ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts
waren die partes Alexandri noch ein ständiger Artikel wie des Vortrags in
Universitäten und Schulen, so des Buchdrucks; in Basel, Straßburg, Köln, De-
venter, Leipzig, Nürnberg erschienen Jahr für Jahr Neudrucke und Kommentare.
1520 hört plötzlich mit der Nachfrage aucli die Herstellung neuer Auflagen voll-
ständig auf. (Man sehe die Aufzählung der Ausgaben in BEiCHLmros Ausgaben
des Düctrinale; Mon. Paed., Bd. XII, S. CCXCV.)
Zusammenhang mit der allgemeinen KüUurlage, 169
Hosen und Wämser verdrängten die alte, die Körperform dem Auge
entziehende Tracht Es ist wiederholt bemerkt worden, wie die
üniversitätsordnungen vergebens dem Eindringen der Mode in die
klerikale Welt widerstrebten. Es ist wohl nicht zußlllig, daß jene neue
Krankheit mit der neuen Mode gleichzeitig ihren Einzug hielt Die
Schriftsteller um 1 500 sind voll von der großen Veränderung. Selbst zum
großen Teil aus dem Bauernstände abstammend (es gab noch keine
geistlichen und weltlichen Beamten, welche ihre Söhne studieren ließen),
sahen sie mit Erstaunen die Fracht der Wohnungen und Geräte, die
Kostbarkeit der Kleidung und des Schmuckes, die Üppigkeit des Tisches
und der Haushaltung des Herrenstandes: aus allen Ländern werde das
Köstlichste zum Genuß und Schmuck des Lebens zusammengebracht
Es sind diese Dinge, welche den Humanisten den StofiT zu rhetorischen
Moralisationen gegen den Luxus gaben. ^
Sie sahen nicht, daß die Poesie und Eloquenz selbst zu diesem
Luxus als dessen feinste Blüte gehörte. Sie preisen in einem Atem
die Einfachheit, die Genügsamkeit, die Sitteneinfalt der Altvordern und
die Kunstliebe und Freigebigkeit ihrer Gönner. Sie hätten sich von
einem der von ihnen verachteten altfränkischen Theologen über diesen
Widerspruch aufklären lassen können. In den von Wattenbach mit-
geteilten, oben (S.47) erwähnten Briefen des Wiener Professors K.Säldneb
wird der Zusammenhang zwischen dem Luxus des Herrenstandes und
der neuen humanistischen Litteratur deutlich angezeigt und das Bedenk-
liche der Sache hervorgehoben: in den honigsüßen Poemen und Reden
der Humanisten genössen die Fürsten und Kaufherren den Prunk und
die Großartigkeit ihrer Hofhaltung nochmals in einer feineren, gleich-
sam spirituellen Form. Freilich, an den Humanisten würde die Auf-
klärung verloren gewesen sein. Sie würden weiter über die Verachtung
der Welt deklamiert und zugleich soviel als möglich von ihren Gütern
zu gewinnen gestrebt haben.
Konnte so die humanistische Litteratur erst jetzt entstehen, weil
^ Jan88EN8 Geschichte des deutschen Volkes giebt im I. Band von der
ganzen mächtig aufsteigenden Kulturentwickelung des 15. Jahrhunderts ein an-
ziehendes Bild; über den Luxus handelt besonders das dritte Kapitel des dritten
Baches. Von dem gleichen Vorgang bei den nördlichen Nachbarvölkern, wo er
aber mit etwa einem halben Jahrhundert Flutverspfttung eintritt, handelt das
interessante Werk von Troels Lund: Das tägliche Leben in Skandinavien während
des 16. Jahrhunderts (Kopenhagen 1SS2). Zahlreiche Äußerungen deutscher Zeit-
genosseil der Bewegung hat G. Schmoller in einem Aufsatz: zur Geschichte
der nationalökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformations-
periode (Tübinger Zeitschrift für Staatswissenschaft, Bd. XVI, 461—716) zu-
sammengestellt und beleuchtet.
170 I, 5, Absterben der alten Studien,
erst jetzt Nachfrage nach ihr war, wie auch die BuclidnickerkuTist erst
erfanden werden konnte, seitdem eine ausreichende wirksame Nach-
frage nach Büchern stattfand, so wurde ihr Durchdringen erleichtert
durch einen Umstand, welcher das vorhandene Alte widerstandsunfähig
machte: die Schulphilosophie hatte den von ihr bestellten Boden er-
schöpft. Die Jugend sah sich nach einem neuen Arbeitsfeld um; auf
dem Gebiet der spekulativen Philosophie war, mit einem vulgaren
Ausdruck, nichts mehr zu machen. Die Albertus und Thomas und
ScoTus hatten schon nicht mehr viel zu thun übrig gelassen, als zu
lernen und etwa zu kommentieren, d. h. den Inhalt in ein neues Gefäß
überzuschütten. Die menschliche Natur ertragt dies nicht lange. Es ist
eine alte immer wiederkehrende Klage, daß die Jugend nach dem Neuen
begierig sei. Sie will nicht lernen, was die Alten gedacht, sondern
sich selbst versuchen mit eigenen Gedanken. Daher überall das schnelle
Herzudrangen, wo ein neues, noch unangebautes Gebiet sich aufthut.
So hatte man sich einst in Paris zu der neuen Philosophie gedrangt.
Die Scholastik war auch einmal jung gewesen und hatte wie jede alier-
neueste Philosophie mit unerhörten Schätzen der Einsicht zu bereichem
versprochen und bei der Jugend Glauben gefunden. Jetzt verließ eine
neue Jugend den viel durchwühlten Boden, sie glaubte nicht mehr,
daß Schätze daraus zu bringen seien; schon in der zweiten Hälfte des
15. Jahrhunderts begegnet man vielfaltigen Klagen: unermeßliche un-
fruchtbare Kommentare seien durchzuarbeiten, ehe man zu den Sachen
komme, eher komme man wohl zu grauen Haaren, als auf diesem Weg
zur Einsicht. Eben in diesem Augenblick that sich wie ein neues, un-
erschöpftes Arbeitsfeld das Altertum auf. Der Buchdruck machte die
römische Litteratur allgemein zugänglich und wie durch ein providen-
tielles Zusammentreflfen trat gleichzeitig die alte griechische Litteratur
in den Gesichtskreis des Abendlandes. Hier war Arbeit, die reiche
Ernte verhieß; was war unmittelbar für Sprache und Bildung zu ge-
winnen! was war an philologisch -historischer Arbeit erforderlich, die
Schätze zu heben! So strömte die Jugend in das neu entdeckte Gold-
land, den alten Schulacker verschmähend. — Es wird die Zeit kommen,
und sie ist wohl nicht mehr fem, wo auch dieses Feld abgebaut und
verlassen sein wird. Dann werden die Bücher der Philologen zur Ruhe
kommen, wie die Bücher der alten Schulphilosophen vor 300 Jahren
zur Ruhe gekommen sind und neue Goldländer werden die Jugend
locken.
Zweites Buch.
Die Begründung des protestantischen und
katholischen Grelehrtenschulwesens im Zeitalter
der Reformation und Gegenrefonnation.
1520—1600 (1648).
Erstes Kapitel.
Der Ansbrnch der kirchlichen Beyolntion nnd ihre Wirkung
auf die Uniyersitäten und Schulen.
Das Jahr 1520 bildet einen der entscheidenden Wendepunkte in
der deutschen Geschichte. Die Universitatsrevolution ging über in die
Eirchenrey oiution .
Vom Jahre 1520 ab war Wittenberg der Herd der Revolutions-
bewegung in Deutschland. An Ebasmus' Stelle trat Luther. Hatte
in den vorhergehenden Jahren Lütheb sich den Häuptern des Huma-
nismus genähert, in Briefen an Mütian (1516), REUCHiiiN (1518),
Ebasmus (1519), so wendeten sich nun die Führer der Radikalen unter
den Humanisten, Cbotus und Hütten, an Lutheb mit dem Anerbieten
der Bundesgenossenschaffc. Sie stellten sich dem Mönch, auf dessen
Schulgezänk sie noch eben zuvor verächtlich herabgeblickt hatten, zur
Verfügung, mit ihm zum letzten großen Schlage auszuholen. Sie be-
gannen in seiner Tonart zu schreiben; die Citate aus den Klassikern
weichen Schriftstellen; die evangelische Freiheit wird ihr Feldgeschrei
an Stelle der Bildung und Humanität.
Lutheb nahm das Bündnis an. Es ist, wie zuerst Kampschulte
hervorgehoben hat, nicht ohne Einfluß auf seine Haltung geblieben.
Erst jetzt wurde die lutherische Sache, die in der That als „Mönchs-
gezänk", d. h. als Schulstreit um ein Stück der kirchlichen Praxis und
Lehre angefangen hatte und während der ersten Jahre auch als solcher
ausgetragen oder gestillt werden zu können schien, zu jener ungeheuren
Revolutionsbewegung, welche die Pforte der Kirche aus den Angeln hob.^
^ Man bat mir den Ausdruck Kirchenrevolution für die Reformation übel
genommen. Ich kann mir nicht helfen, ich finde, es ist der wirklich bezeich-
nende Ausdruck für das Ereignis; wobei es natürlich gar nicht auf eine Ver-
orteilong der Sache abgesehen ist: die Begriffe der Geschichte von Recht und
Unrecht sind andere als die der Jurisprudenz. Und zwar gilt der Ausdruck
nicht bloß im allgemeinen, sondern im technisch-politischen Sinne: es findet
174 //, /. Der Ausbruch der kirchlichen Revolution w. .9. w.
Auf das Bündnis mit den Humanisten weist vor allem die in
diesen Jahren bei Luther so st^rk hervorbrechende nationale Leiden-
schaft, der inbrünstige Haß gegen die Romanisten hin, wie ihn das
Sendschreiben an den christlichen Adel vom Jahre 1520 atmet; Hütten
hatte ihm die Augen dafür geöflfhet, wie das allzu gutgläubige deutsche
Volk von den römischeii Kurtisanen ausgeplündert und an der Nase
geführt werde. Nicht als ob Luther das nicht auch selbst gesehen
und empfunden hätte, aber bei ihm war dies weltliche Moment ur-
sprünglich ein untergeordnetes, erst an Huttens glühender Beredsam-
keit entzündete sich auch bei ihm die Empfindung zu heller Flanmie.
An die Renaissance erinnert doch auch jener Zusatz von derbem
Naturalismus, den das reine Evangelium im Kampf gegen Cölibat und
Mönch tum erhält und der Luther zuweilen reden läßt, als ob die
Enthaltung von den Werken des Fleisches eine Auflehnung gegen
Gottes Willen und Gebot sei Freilich ist es ein anderes, wenn Luther
so spricht, als wenn Mutian es thut. Und auch der Ton ist ein anderer:
ein gewaltsamer Brach der alten Verfassung statt. Eine Reformation der Kirche
sachten die großen Konzilien des 15. Jahrhunderts zuwege zu bringen; wie
denn das Wort Reformation dem 15. Jahrhundert überhaupt sehr geläufig ist;
jede Statutenänderung einer Universität wird reformatio genannt. Das Werk
Luthers ist nicht Reformation , Umbildung der bestehenden Kirche durch ihre
eigenen Organe, sondern Zerstörung der alten Form, ja man kann sagen, grund-
sätzliche Verneinung der Kirche überhaupt. Er weigert sich, irgend eine irdische
Autorität in Glaubenssachen anzuerkennen. Und nicht anders steht es mit dem
sittlichen Grebiet: er stellt prinzipiell die Sache absolut auf das Einzelgewissen,
freilich das aus Gottes Wort belehrte Einzelgewissen. Sich in sittlichen Fragen
auf menschliche Autoritäten verlassen, erscheint ihm nicht viel weniger als
gotteslästerlich. Man nehme eine Äußerung, wie die in der Schrift an die
Deutschherren, worin er ihnen rät, weltlich und ehelich zu werden (XII, 2.S7
der Weimar. Ausg.): „Obs geschähe, daß ein, zwei, hundert, tausend Konzilien
beschließen, daß Geistliche möchten ehelich werden, so wollte ich eher durch
die Finger sehen und Gottes Gnade vertrauen dem, der sein Leben lang ein,
zwei oder drei Huren hätte, denn dem, der ein ehelich Weib nähme nach
solcher Konzilien Beschluß, und sonst außer solchem Beschluß keines zu nehmen
wagte. Und wollte auch allen an Gottes Statt gebieten und raten, daß niemand
aus Macht eines solchen Beschlusses ein Weib nehme, bei Verlust seiner Seelen
Seligkeit" Also in Sachen des Glaubens und der Sitte auf irgend eine mensch-
liche Autorität sich verlassen, zieht die ewige Verdammnis nach sich; ich denke,
härter ist das Prinzip der iSelbstvcrantwortlichkeit des IndiWduums nie aus-
gesprochen, schroffer die Möglichkeit irgend welcher kirchlichen AutoritÄt nie
verneint worden. — Freilich ist das nicht der ganze Luther. Es wird weiter
unten noch zur Sprache kommen müssen, wie derselbe Luther, der hier den
kirchlichen „Anarchismus" vertritt, später gegen diejenigen auftrat, deren Ge-
wissen aus Gottes Wort eine andere Belelirung gewann, als die Wittenberger
darin fanden.
Luthers Verhältnis zum Humanismus, 175
hier pfaffisch-humanistische Lüsternheit, dort Bauernderbheit und Zorn
über falsche Heiligkeit.
Und freilich bleibt Luther überhaupt, trotz des Bündnisses mit
den Humanisten, das der Augenblick herbeiführte, innerlich ein ganz
anderer Mann als Hütten und Ebasmus. Im Grunde sind diese einem
Papst aus dem Hause Medici und seinen Genossen in Italien und
Deutschland doch viel näher verwandt, als dem Wittenberger Mönch.
LuTHEB steht innerlich einem Savonarola, dem großen Hasser der-
Renaissance mit ihrer Üppigkeit und Weltgesinntheit, sehr viel näher
als dem fränkischen Ritter, der für den Mönch von San Marco wohl
nicht eine Spur von Verständnis oder Sympathie gehabt hätte. Luther
ist ein tief religiöses Gemüt, das Verhältnis zu Gott ist der Mittelpunkt
seines Lebens, er lebt in der transcendenten Welt. Er hatte Ver-
söhnung und Frieden mit Gott auf dem Wege gesucht, den die alte
Kirche wies, indem er im Kloster mit Fasten und Kasteien die Natur
auszutreiben bemüht gewesen war; er hatte nicht minder als gläubiger
Sohn der Kirche ihre Lehre aufgenommen, und die Ketzer gehaßt.
Aber der gesuchte Friede war ihm nicht geworden.
Mit diesem Stachel im Herzen war er nach Wittenberg gekommen.
Und hier hatte sich nun allmählich die innere Loslösung von der Kirche
vollzogen. Zunächst von der Lehre; die philosophischen und theologischen
Studien, zu denen er hier durch sein Lehramt gefuhrt wurde, brachten
ihn allmählich zu der Überzeugung, daß die Lehre der Kirche mit der
Lehre des Evangeliums nicht zusammenfalle. Er entdeckte darin einen
starken Zusatz von Menschenlehre und fand, daß dieser von der Ver-
mischung mit der heidnischen Philosophie des Aristoteles herkomme,
derselben Philosophie, die er als Lektor in Wittenberg zu lehren hatte.
Aristoteles ist in der theoretischen wie in der praktischen Philosophie
naturalistisch, das Evangelium ist supranaturalistisch, das ist die große
Einsicht, die ihm in den Jahren seiner philosophischen Lektur aufgeht:
mit ihr beginnt seine Loslösung von den geltenden Autoritäten, zunächst
den Autoritäten der Schule, endlich der Kirchenautorität selbst. Kein
Kapitel, ja keine Zeile, so sagt er mit Selbstbewußtsein, hätten die Doktoren
der Schule von ihrem Meister selbst, dem Aristoteles, verstanden : natürlich,
was sie nicht sehen, das ist eben der Naturalismus, das Heidentum seiner
Philosophie; nur so konnte es geschehen, daß sie ihn zum „Nebenlicht"
neben dem Evangelium gemacht haben. Und davon ist denn das Ver-
derben ausgegangen : in der geltenden Kirchenlehre ist die evangelische
Heilslehre überall getrübt durch heidnisch -naturalistische Philosophie:
lehrt doch der Meister der Schulen in der Physik die Ewigkeit der
Welt und die Sterblichkeit der Seele, weiß er doch in der Ethik kein
176 II, 1, Der Ausbruch der kirchlichen Revolution u. s, w.
Wörtlein von Sünde und Gnade, sondern stellt alles auf die eigene
Gerechtigkeit
Und nun geht ihm ein Licht auf über seine eigenen inneren Er-
lebnisse: daß er im Mönchtum nicht zum Frieden mit Gott kommen
konnte, liegt daran, daß er ihn auf dem falschen Wege gesucht hat,
nämlich dem heidnischen Wege der eigenen Gerechtigkeit, statt auf
dem Wege des Evangeliums, dem Wege des Glaubens^ an Gottes barm-
herzige Gnade, die in Christo erschienen ist.
Und ebenso geht ihm nun auch ein Licht auf über die Verderbt-
heit des Klerus: sie stammt auch aus der Verweltlichung der Lehre,
aus dem heidnischen Wesen, das durch Tugendwerke Gott gefallen und
durch Philosophie den Glauben stützen und wohl auch meistern will.
Und daraus ist nun die weltliche Gesinnung gekommen, die zuletzt
dahin gefuhrt hat, daß die Kirche Gottes zur Versorgungsanstalt für
große Herren, daß die kirchliche Gewalt, das Amt der Schlüssel und
das Sakrament selbst, zu Mitteln schändlichen Gelderwerbs geworden
sind. Das alles ist in dem römischen Papsttum und seinem geistlichen
Recht systematisiert und kanonisiert, und so ist der heilige Stuhl in
Wahrheit zum Thron des Antichrists auf Erden geworden.
Und ein grimmiger Zorn ergreift ihn, daß er und mit ihm das
ganze Christenvolk bisher so betrogen und an der Nase geführt worden
ist. Mit der ungeheuren Leidenschaftlichkeit seiner Seele erfaßt er
als seinen Beruf, dem Christenvolk ein Befreier von Menschenjoch und
Erpressung, von dem großen Seelenfang, zu dem das Barchen wesen
entartet ist, zu werden. Das erste aber ist, den Pelagianismus zu
stürzen und die Lehre des Evangeliums aufzurichten: der Glaube allein,
dein eigener persönlicher Glaube an Christi Verdienst, nicht irgend ein
Kirchenwerk, macht gerecht vor Gott Damit stürzt dann das ganze
Gebäude der scholastischen Theologie und der römischen Kirchen-
herrschaft.
So hat er mit dem Humanismus gemeinsame nächste Ziele: ver-
^haßt ist beiden die scholastische Philosophie und Theologie; verhaßt
ist beiden das kirchliche System mit Mönchtum und Cölibat, verhaßt
ist beiden Rom und das Erpressungssystem, das es vor allem ungehindert
in Deutschland, dem Land der geistlichen Herrschaften, übt.
Dabei besteht, wie schon gesagt, ein tiefer innerer Gegensatz.
LüTHEBS Welt- und Lebensanschauung ist der des Humanismus viel
femer, als die herrschende Kirchenlehre. Man kann das Verhältnis so
bezeichnen: Lutheb will die heidnische Philosophie, die die Kirchen-
lehre in sich aufgenommen hat, ganz ausscheiden, der Humanismus da-
gegen will sie rein durchfuhren und das eigentlich Christliche ausscheiden.
LtUhers Verhältnis zum Humanisrntis, 177
Der Humanismus ist seiner innersten Tendenz nach, wenn er auch, vor
allem in Deutschland, noch nicht ein deutliches Bewußtsein davon hat,
auf eine rein immanente, naturalistische Weltanschauung gerichtet; die
moderne Naturwissenschaft, die das Transcendente aus der Betrachtung
der Wirklichkeit eliminiert, liegt in der von ihm gewiesenen und be-
schrittenen Richtung. Lüthee dagegen bleibt in der Wunder- und
Dämonenwelt des Mittelalters, er teilt allen Bauemaberglauben in der
derbsten Gestalt; die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise war ihm
frem^ und die Aufklärung wäre ihm ein Greuel gewesen. Und nicht
minder tief ist der Gegensatz in der Lebensanschauung; der höfische
Weltsinn und das sinnliche Genußleben der Humanisten ist ihm ver-
werfliches Epikuräertum, und ihre Moraltheorie mit dem stoischen
Tugendheroismus ist ihm nichts als unchristliche Selbstgerechtigkeit;
von Sünde und Gnade wissen die Humanisten nichts, also wissen sie
vom Evangelium nichts.
Dieser tiefe Gegensatz ist im Augenblick latent, er ist beiden ver-
deckt durch den gemeinsamen Haß; Lütheb und die Radikalen unter
den Humanisten finden sich zusammen als politische Freunde. Die
Jahre 1520/21 bezeichnen den Höhepunkt der politischen Freundschaft
2¥rischen den Wittenbergern und den Erfurtern. Lütheb und Hütten
werden auf Flugblättern zusammen dargestellt als die beiden Helden,
die Deutschland mit dem Wort und mit dem Schwert aus der römischen
Knechtschaft zu befreien unternommen haben. Als Lütheb im Früh-
ling des Jahres 1521 nach Worms auf den Reichstag zog und gegen
Erfurt kam, da empfing ihn an der Grenze des Stadtgebiets die ganze
Universität, ihren Rektor Cbotüs an der Spitze, der ihn mit einer
schwungvollen Anrede als den großen Feind aller Niedertracht begrüßte.
Das ecrasez Vivfame^ das Voltaibe zwei Jahrhunderte später gegen
dieselbe Kirche schleuderte, ist nur eine Wiederholung der Rede des
Cbotüs. Und während des Wormser Reichstags lag Hütten auf der
nahen Ebernburg im Hinterhalt, die Hand am Schwert, um den An-
hängern und Sendungen Roms an den Hals zu gehen. Bis zu welcher
Siedehitze die Erregung der Gemüter in diesem Kreis gestiegen war,
mag man bei Stbauss im Leben Huttens nachlesen.
Es kam zu nichts, wenigstens nicht zu einer größeren Aktion.
Nicht der Ritter mit dem Schwert, sondern der Mönch mit dem Wort
gab den Ausschlag; jener zog sich in die Dunkelheit zurück zum
Sterben — ein Symbol der Sache, der er gedient hatte. Lütheb riß
die Führung an sich, die Theologie verdrängte die schönen Wissen-
schaften wieder aus dem Mittelpunkt des Interesses, den sie eben er-
obert hatten : in dem Augenblick, wo der Sieg erfochten schien, wurde
pRul«ieu, (Jnterr. Zweite Aufl. 1. 12
178 //, 1, Der Aufbruch der kirchlichen Revohäion u. s. w.
er ihnen entrissen. In den folgenden Jahren sind Luthers Schriften
die großen Ereignisse, die das deutsche Volk im Innersten erschüttern;
die Bewegung beschränkt sich nicht mehr auf die Gebildeten und die
Universitäten, sie ergreift das ganze Volk: es handelt sich nicht mehr
um Spiel und Bildung, sondern um Religion und Leben.
Was Luther die übermäßige Gewalt gab, das war schüeßlich
doch dies, daß ihm die Sache selber ans Leben ging und daß er für
sie das Leben einsetzte. Den Humanisten war es mit ihrer Sache,
trotz der großen oratorischen Erhitzung, doch nicht der bittere Ernst
Wie ihnen die Poesie ein Spiel ist, so spielen sie auch mit dem Ge-
danken der Reform der Kirche. Nicht als ob es ihnen nicht wirklich
darum zu thun gewesen wäre, aber um andere Dinge war es ihnen
doch noch mehr zu thun, um Ansehen und Ruhm, um Ruhe und
Wohlleben. Luther will wirklich ganz und allein die Sache, und
darum glaubt er unbedingt an seine Sache: meine Sache ist Gottes
Sache. Die Formel drückt seine absolute Gewißheit aus. Man hat sie
ihm als Hochmut ausgelegt. Gewiß, Demut vor Menschen, Respekt
vor Menschenweisheit und vor Menschenordnungen liegt gar nicht in
Luthers Wesen, es fehlt ihm ganz und gar an jener humilitas gegen-
über der empirischen Kirche, die für den großen Vorgänger Luthers
in der Theologie, den heiligen Augustinus, so charakteristisch ist Und
je mehr Luther im Lauf des Lebens aus der Stellung des „Ketzers"
in die Stellung des Haupts einer neuen Kirche übergeht, desto mehr
erhält jene Formel einen bitteren Beigeschmack, eine Beimischung von
Halsstarrigkeit und Hochmut Jetzt spricht sie die Entschiedenheit
des Mannes aus, der die Last der Unwahrheit, die ihm die Demut zu
tragen rät, nicht mehr zu tragen vermag und sie um jeden Preis
abzuwerfen entschlossen ist
Bemerkenswert ist übrigens das Verhalten der alten Führer
des Humanismus, Reuchlin, Mutian, Erasmus. Während die
jugendlichen Stürmer und Dränger mit Luther fröhlich zum Krieg
aufs Messer gegen die römische Kirche auszogen, entging jenen nicht,
daß die lutherische Bewegung den Studien und den schönen Wissen-
schaften gefahrlich werden müsse. Reuchlin zog sich vor Luther
zurück und suchte auch Melanchthon aus der Verbindung zu lösen.
Da dies sich als unmöglich erwies, zertrennte er auch die Beziehungen
zu seinem Verwandten und Schüler, von dem er wohl gehoflft hatte,
er solle einmal sein Nachfolger in seiner Stellung werden. Hütten
schrieb dem alten Führer einen groben und beschimpfenden Abschieds-
brief (22. Februar 1521; in Reuchlins Briefwechsel, von Geiger,
S. 322, 327). Ähnlich erging es Mutian. In einem Brief an J. Lange,
Reuchlins und Muiians Verhältnis xur ReformaHon, 179
den Freund Lüthees, vom 1. Juli 1520 (bei Kbause, Mutians Brief-
wechsel, 654 flf.), ist ihm zwar das Lob Lüthebs und Melanchthons,
neben dem des Erasmus und Reuchlin, in der Exegesü Germaniae
des Fb. Ibenicüs, Nektar und Ambrosia; aber doch weiß er von frommen
und gelehrten Leuten, daß sie Luthebs zerfleischenden Angriff auf die
apostolische Majestät Leo's für einen gottlosen Frevel halten. Und,
fugt er hinzu, „ich für meine Person trete keinem Urheber von Zank,
Streit und Geschimpf bei. Mögen sie an Dinge rühren, die besser un-
gerührt bleiben, mögen sie die kaum eingeschläferten Liedlein der
Böhmen wieder aufwecken und aus Rache die Ehrfurcht vor dem
römischen Stuhl ablegen: ich bin ein ruhiger Mann, mich rührt nicht,
was sie sich herausnehmen; ich kümmere mich um meine Sachen,
nicht um die draußen, und diese Bescheidenheit scheint mir ein Zeichen
eines milderen, vielleicht auch eines klügeren Sinnes." Er schließt,
nachdem er über die Dekretalen seine wegwerfende Meinung gesagt:
„Einst las ich zu Erfurt die Bücher Occams; er ist ein Feind der
Kanonisten und der römischen Bischöfe. Aber nachdem die Erfahrung
mich eines mehreren belehrt hat, bin ich ein guter Schüler des Pytha-
goras geworden. Ich habe schweigen gelernt und das Widerbellen
verlernt; ich bin geworden als ein Stummer, in dessen Munde keine
WideiTede ist." Immer unfreundlicher wird das Verhältnis zu den
Anhängern Luthebs, die ihn drängen, konsequent zu sein; in einem
Brief an Ebasmus vom 1. März 1524 schüttet er sein Herz aus: bei-
nahe alle seien sie abgefallen, nur den Eobakus habe er wieder zu
Verstände gebracht: „Mögen sie hingehen, deren Geschäft es ist
Menschen zu verletzen; ich liebe die fanatischen Steiniger nicht. Sie
zerren die Nonnen aus dem Kloster und wüten wie Rasende." Mutianus
fühlte die Wirkung der Unruhen am eigenen Leibe; er kam in große
Bedrängnis, die Einnahmen seiner Pfründen gingen nicht mehr ein,
ringsumher tobte der Aufruhr der Bauern; im Jahre 1526 erlöste ihn
der Tod. Es war keine Zeit mehr für die Liebhaber der Beata
Tranquillitas.
Am härtesten hat Ebasmus den Umschwung gefühlt; auch er wurde
durch die Reformation überholt und antiquiert; die humanistische Jugend
fiel von ihm ab und dem Bündnis mit Lutheb zu. In diesem ganzen
Jahr, schreibt er am 23. August 1521 an Babbibius (Opp. III, 653),
hat kein einziger von allen denen, die jetzt mit Lutheb gemeinsame
Sache gemacht haben, ein Wort an mich geschrieben, keiner mich be-
sucht, während sie früher mit ihren Liebenswürdigkeiten mich beinahe
umbrachten. Und 1523 klagt er dem Papst Hadrian (Opp. III, 746):
vordem lebte ich mit allen Gebildeten in der erfreulichsten Gemein-
12*
180 II, 1. Der Ausbruch der kirchlichen Revolution u, s. w.
Schaft, ich war glückselig durch diesen Besitz; nun ist das alles zer-
stört und sie hassen mich auf beiden Seiten. — Erasmüs hat sich an
diesen Haß von beiden Seiten gewöhnen müssen und trägt ihn bis auf
diesen Tag. Seine Meinung war, eine strikte Neutralitat in dem Kampf
der Theologen zu bewahren, alles in ihm sträubte sich dagegen, einer
der Parteien sich gefangen zu geben, er wollte in der Rolle des Be-
trachters bleiben. Freilich eine unmögliche Sache. Er stand zu sehr
im Vordergrund, als daß er nicht beständig zur Beurteilung und Teil-
nahme an den Ereignissen hätte herausgefordert und genötigt werden
müssen. Von beiden Seiten bedrängt, wendete er sich schließlich,
seiner geschichtlichen Stellung und seiner persönlichen Neigung ent-
sprechend, immer entschiedener von Lutheb ab; es kam zwischen ihnen
zu erbitterten Auseinandersetzungen. Endlich sah sich Erasmus ge-
nötigt, vor der auch in Basel durchdringenden Reformation zu weichen;
er zog sich nach Freiburg zurück, wo er die letzten Jahre einsam seinen
Studien lebte. Die Rückkehr nach den Niederlanden vorbereitend, starb
er 1536 zu Basel.
Das Leben des E&asmus hat in der That einen tragischen Aus-
gang. Er hatte sein Leben lang an einer Reformation der Kirche auf
seine Art gearbeitet In der Unwissenheit und Rohheit des Klerus er-
blickte er die Wurzel aller Übel, an dem die Kirche und die Zeit litt
(s. z.B. Opp. III, 405, 1101). Eben hatte es den Anschein, als sei
diese Wurzel, nicht zum wenigsten durch seine fleißigen Axtschläge,
abgehauen; die Saat feinerer Kultur und wissenschaftlicher Bildung
begann überall aufzusprossen, vor allem auch in Deutschland. Da
brach jener furchtbare Sturm herein, der das angefangene Werk ganz
zerstören zu sollen schien. Bald konnte^man entlaufene Mönche als
evangelische Prädikant^n von den Kanzeln verkündigen hören, daß Ver-
nunft und Bildung vom Teufel sei; es ist bekannt genug, daß auch
Luthers Beredsamkeit diese Formel nicht immer gescheut hat. Und
diese Bewegung breitete sich reißend schnell aus; bald kam der soziale
Krieg dazu, Universitäten und Schulen gingen ein und das Ende aller
Kultur schien herbeigekommen.
Man hat von Ebasmus schon damals verlangt und bis auf diesen
Tag das Verlangen wiederholt, er hätte sich der lutherischen Refor-
mation anschließen sollen; und man hat, weil er es nicht that, ihm den
Vorwurf der Zweideutigkeit und Feigheit gemacht und auch diesen Vor-
wurf bis heute wiederholt Mir kommt vor, dieser Vorwurf verrät wenig
psychologisches Verständnis und große Befangenheit des Urteils. Es
ist schon an und für sich kaum billig, von einem Mann, der eben noch
die Führung der ganzen gebildeten Welt in der Hand hielt, zu ver-
Erasmas' Verhältnis x/ur Eeformation, 181
langen, daß er sich einem fast 20 Jahre jüngeren Manne unterordne,
dessen Name noch vor wenig Jahren nirgends in der Welt, außer in
dem obskuren Ort an der Elbe (in termino civilitatis), gehört worden
war. Es ist um so weniger billig, als dieser Mann keineswegs dahin
führte, wohin Erasmus wollte. Vielleicht hat unter allen Menschen,
die jene stürmische Zeit erlebt haben, keiner sie mit objektiverem und
deutlicherem Bewußtsein erlebt als Ebasmus. Er sah wohl die Fehler
der Kirche, er wollte die Beseitigung der Mißbrauche in der Ver-
waltung, er wollte vor allem die Reform des Klerus, er hat nie auf-
gehört darauf zu dringen, auch nicht nach dem Bruch mit Luther.
Insofern ist er mit Luther einverstanden und wünscht ihm Erfolg.
Aber andererseits, ganz mit Luther zu gehen war ihm völlig unmög-
lich. ^Für Ebasmus war der erste feste Punkt immer gewesen: Refor-
mation in der Kirche; die römisch-katholische Kirche war ihm die ge-
gebene und notwendige Form des geschichtlichen Lebens, die Trägerin
aller Bildung und Gesittung im Abendlande. In der Zertrümmerung
iet Kirche vermochte er kein Heil zu sehen. In dem eben erwähnten
Briefe vom Jahre 1521 spricht er sich mit voller Klarheit über sein
Verhältnis zu Luther aus: er habe an dessen Sache von Anfang an
nicht teilnehmen wollen, denn gleich, schon aus den ersten Blättern,
die er von ihm gelesen, habe er gemerkt, die Sache werde in einen
Tumult auslaufen; ihm sei aber die Zwietracht so sehr verhaßt, daß er
auch die Wahrheit nicht möge, wenn sie zum Aufruhr führe (ut veritas
etiam displiceat seditiosa),^
Es giebt Menschen, die eine andere Konstitution haben, Männer,
die ganz Wille sind und denen es an einer Wahrheit nicht mißfällt,
wenn sie etwas seditiös ist. Zu ihnen gehören fast alle diejenigen,
deren sich die Geschichte bedient, um große und plötzliche Wandlungen
herbeizuführen. Luther gehört zu ihnen. Sie sind aber keineswegs
so häufig, als man erwarten müßte, wenn man alle, die den Erasmus
der Feigheit zeihen, für Männer von dieser Art halten wollte. Man
kann vielleicht auch sagen: das sei nicht einmal wünschenswert; die
regelmäßige Arbeit an dem Wachstum der Kultur und der Wissen-
schaft setze jene Eigenschaft nicht voraus. Auf jeden Fall war
Erasmus nicht von dieser Art. War Luther ganz Wille, so war
Erasmus ganz Intellekt, wie es die Natur auf die beiden Gesichter
^ Es ist ganz dieselbe Gesinnung, die Jag. Spiegel in einem Briefe aus-
drückt: Eaienus Luther ixOy quatenus intacta manent sacra religionis. Jmprobos
mores, luem et fastum cleriy fraticeÜorum odium in banas litteras et schola^ti-
corum quisquilias priusqtiam nomen Lutheri nasceretur ,. proscidi et lingtm et
calamo (Knod, Progr. Schlettstadt 1886, S. 24).
\
182 //, 7. Der Aushrudi der kirchlichen lUvolution w. s. w.
mit großer, fast mochte man sagen, erschreckender Deutlichkeit ge-
schrieben hat.^
Beide Männer hatten von dem Gegensatz ihres Wesens ein deutliches
Bewußtsein. Lutheb schreibt einmal von Ebasmus (an Spalatin,
9. Sept 1521): er sei von der Erkenntnis der Gnade weit entfernt;
„Erasmus hat in allen seinen Schriften nicht das Kreuz, sondern
den Frieden im Auge. Daher will er alles fein höflich und mit
wohlwollender Humanität getrieben haben. Aber um diese kümmert
sich Behemath nicht und bessert sich dadurch nicht im geringsten."
Andererseits sah Ebasmus, daß seine Rolle, seitdem Luther die Führung
an sich gerissen habe, ausgespielt sei. Als ihn der Papst Hadrian im
Jahre 1523 bewegen wollte, als Verteidiger der Kirche nach Rom zu
kommen, antwortete er ablehnend: bei dieser Tragödie könne er nur
Zuschauer, nicht Mitspieler sein. Er sah, daß die Entscheidung nicht
mehr beim Intellekt, sondern beim Willen und zuletzt bei den Waffen
sei. Der Intellekt zog sich vor dem Willen zurück, nicht ohne schmerz-
liche Enttäuschung; er hatte einen Augenblick den Traum geträumt,
daß sein Reich auf Erden angebrochen sei. — Der Wandel in der
Stellung beider Männer zu einander spiegelt sich in Luthers Briefen
an Erabmus: in dem ersten (1519) redet ihn Luther als den großen
Mann an, zu dem er, der unbekannte und unbedeutende, aufschaut;
in dem letzten (1524) spricht er zu ihm mit herablassender und fast
beleidigender Nachsicht: da ihm die Gabe des Mutes nicht verliehen
sei, so thue er wohl daran sich dem Kriege fem zu halten; er möge
diese Zurückhaltung auch ferner bewahren, dann solle ihm kein Leid
geschehen.
Es ist verstandlich, daß Luther einen Mann von dieser Art ge-
ringschätzt, daß er die von jenem prätendierte Neutralität in dem
großen Kampf ihm als schändliche Gleichgültigkeit, als nihilistischen
* Wie sehr Luther Wille war, spricht sich auch in einem merkwürdigen
Urteil über Aristoteles ungemein deutlich aus. „Cicero übertriflft/* heißt es in
den Tischreden einmal, „Aristotelem weit in philosophia und mit Lehren; ofßeia
Ciceronis sind viel besser denn Ethica Arif^totelis. Nachdem Cicero in großen
Sorgen im Regiment gesteckt ist und große Bürde, Mühe und Arbeit auf ihm
gehabt hat, so ist er weit überlegen Aristoteli, dem müßigen Esel, der Geld und
Gut und gute faule Tage genug hatte." Luther verachtet den theoretischen
Menschen, den Denker, man könnte auch sagen, den Griechen in Aristoteles;
der Römer, der Staatsmaim und Redner ist ihm eine verwandtere Natur. Auch
sein Haß gegen Erasmus hat etwas davon, er scheint ihm mit den Dingen zu
spielen, wie es die Art der Griechen ist: „Cicero," heißt es ein andermal, „hat
sein Ding mit Ernst geschrieben, non iia lusit et graecissavit ut Aristoteles
et Plato,''
Erasmus v/nd Luther, 183
Skeptizismus auslegt, ebenso wie es verständlich ist, daß Hütten sich
mit Haß von dem Mann abwendet, der für den alten Verehrer in
seinem Elend nur ein kühles Mitleid hatte. Dagegen hat es etwas
von verletzendem Pharisaismus, wenn sich die heutige Gdehrtenwelt
über ihn mit hochmütiger oder herablassender Miene zu Gericht setzt
Gewiß, Erasmus war nicht eine Heldennatur wie Luther; er war auch
nicht ein Heiliger, der sein Haus zum Asyl für Elende und Verfolgte
macht. Erasmus war ein Gelehrter; er liebte die Studien und die
Buhe, auch war er der Ehre und dem Behagen nicht Feind; dabei
aber ein Arbeiter von einer Bastlosigkeit und Fruchtbarkeit, wie es
nicht viele gegeben hat, und der Schmeichelei doch wohl weniger er-
geben, als die meisten seiner humanistischen Zeitgenossen; er sagte den
großen Herren, die ihn umwarben, nicht bloß die Dinge, die sie zu
hören wünschten. Wer will, in unserer Zeit, einen solchen Mann
schelten? Wenn ein Bicht^r, der Herz und Nieren prüfte, die heutigen
Gelehrten in zwei Gruppen teilte, eine nach dem Typus Luthers, eine
nach dem Typus des Erasmus, ich glaube nicht, daß die erste Gruppe
zahlreicher ausfallen würde. Ja würden nicht Viele wenigstens zu
dem intellektuellen Habitus, den Luther am Erasmus nicht er-
tragen kann, mit Stolz sich bekennen? Luther ist ein dogmatisch,
Erasmus ein historisch kritisch denkender Geist. Sobald Luther sich
überzeugt hat, daß seine Sache in der Bibel gegründet ist, ist für ihn
alles entschieden und er fährt zu, ohne mit Fleisch und Blut, d. h.
mit der Vernunft, sich zu beraten. Erasmus ist nicht so leicht fertig,
er erwägt mit der Vernunft die Gründe und die Folgen und die Be-
denklichkeit des rückwärts und vorwärts schauenden Blicks hemmt
seine Schritte. Gewiß war nur ein Geist von der ersten Art im Stande,
die römische Herrschaft zu brechen. Aber ebenso gewiß ist, daß es
derselbe Geist eines subjektivistischen Dogmatismus war, der in den
öden Lehrstreitigkeiten der neuen Kirche alsbald sein Wesen zu treiben
begann, und daß erst durch eine starke Beimischung Erasmischen
Geistes das Zeitalter Kants und Goethes, das Zeitalter des freien Ge-
dankens und der Achtung vor Andersdenkenden, möglich wurde.
Ja, schließlich, wäre es möglich, den zu widerlegen, der behaupten
wollte, daß wir auch ohne den Umweg über Reformation und Gegen-
reformation, über Landeskirchen und dreißigjährige Kriege, auf dem
Wege, den Erasmus gehen wollte, direkt zu dieser^ Ziele hätten ge-
langen können? Hätte nicht die Kirche doch vielleicht von innen
heraus reformiert werden, hätte nicht der Humanismus sich innerlich
^(ertiefen und die neue wissenschaftliche und philosophische Forschung
aus sich hervorbringen können, in Frieden mit der innerlich erneuerten
184 //, /. Der Ausbruch der kirchlichen Revolution u, s, w.
>/
Kirche? So dachte Ebasmus. Ich behaupte nicht, daß es mög-
lich war; die Geschichte zeigt eine Neigung zu dem Weg durch Re-
volutionen. Dennoch, wer will sföli anmaßen die Unmöglichkeit zu
beweisen? Das wird man auf jeden Fall sagen dürfen: wäre Luthers
stürmische Gewalt nicht dazwischen getreten, die Geschichte wäre
darum nicht zum Stillstand gekommen. Wir können die ungeschehene
Geschichte nicht konstruieren und mit der wirklichen vergleichen;
aber ebensowenig kann uns jemand darthun: die wirkliche Geschichte
war die einzig gute oder doch die bestmögliche. Das kann man glauben,
aber man kann es nicht wissen und beweisen. Das dagegen kann man
wissen und beweisen, daß die furchtbare Exacerbation des dogmatischen
und verfolgungssüchtigen Geistes, die mit der Reformation beginnt,
auf beiden Seiten beginnt, mit Luthers Art und Auftreten in ge-
schi(*.htlichem Zusammenhang steht. Der Geist der Kritik und der
Duldsamkeit, der mit dem Humanismus im Aufsteigen war, ist seit-
dem auf Jahrhunderte verscheucht. Freilich hat dieser Geist große
Verwandtschaft mit libertinistischer Weltgesinnung und skeptischer
Gleichgültigkeit, während Luthers Geist zugleich der Geist strengen
Ernstes und subjektiver Wahrhaftigkeit ist. Freidenker und Bekenner
sind sehr verschiedene Naturen.
Ich gehe nun auf die ersten Wirkungen der Reformation auf das
Studienwesen kurz ein; sie sind zerstörender Natur. Die Studien lieben
die Stille und den Frieden; die leidenschaftliche Erregung, welche
Luthers Schriften ins Volk warfen, entzog der Poesie und den schönen
Wissenschaften rasch die Teilnahme; die bald folgenden furchtbaren
Erschütterungen des sozialen Kriegs brachten die Universitäten und
Schulen auch äußerlich zu einem beinahe vollständigen Stillstand.
Auch diesen Vorgang will ich im folgenden für die einzelnen
Universitäten kurz nachweisen. Ich beginne mit Wittenberg, von
wo die Sache anhob. Am 6. Juli 1520 hatte Erasmus an Spalatin
geschrieben: durch den Kurfürsten Friedrich sei die vor wenigen Jahren
kümmerliche und spärlich besucht« Universität mit Sprachen und Wissen-
schaften auf das schönst« ausgestattet worden ; so habe jener die neuen
Studien gefordert, daß auch die Vertreter der alten zur Klage keine
Ursach gehabt hätten. Er schließt: „kürzlich habe ich an Melanch-
thon geschrieben, aber so, daß der Brief zugleich für Luther war.
Ich bete, daß der allmächtige Gott Luthers Stil und Gemüt so
mäßige^ daß er der evangelischen Frömmigkeit große Frucht schaffe,
und daß er einigen Leuten einen besseren Geist gebe, welche mit
der Sehmach ihren Ruhm, mit seinem Schaden ihren Gewinn suchen.
Die Universität Wittenberg. Luther und die Philosophie, 185
Ich wollte, daß Lutheb jene Händel einmal ließe und die Sache des
EYangelioms rein und ohne Beimengung von Leidenschaft triebe,
Tielleicht ginge es besser. Jetzt beladet er die klassischen Studien
mit Haß und Verdacht, der uns verderblich, ihm nicht forderlich isf
Ebasmüs Wunsch und Bitte ist nicht in Erfüllung gegangen, gr
war LuTHEBN ohne Zweifel unmöglich eine Sache ohne Leidenschaft
zu treiben.
In dem Schreiben Luthebs an den christlichen Adel deutscher
Nation bildet die Universitatsreform den 25. Artikel des Programms;
er faßt darin seine Ansicht von dem, was ist und von dem, was sein
sollte, zusammen. Wie alles, was das Papsttum eingerichtet habe, nur I
darauf gerichtet sei, Sünde und Irrtum zu mehren, so auch die Uni-
versitäten; der böse Geist selbst sei es, der das Studieren hereinge-
bracht habe, da regiere allein „der blinde heidnische Meister Aristoteles.^'
Aus den Büchern dieses „verdammten, hochmütigen, schalkhaftigen
Heiden" werde die christliche Jugend unterrichtet Dem müsse ein ,
Ende gemacht werden; „lehret doch der elende Mensch in seinem'
besten Buch, de anima, daß die Seele sterblich sei mit dem Körper
desselben gleichen das Buch Eihica ärger denn kein Buch der Gnade
Gottes und christlichen Tugenden entgegeu ist. 0, nur stracks weit
weg mit solchen Büchern von allen Christen." Also die ganze Grund-
lage des artistischen Unterrichts ist als Teufels werk zu beseitigen,--
höchstens die allein von der Form handelnden Schriften, die Logik,
Rhetorik und Poetik, mögen bleiben, aber auch diese ohne die Eom- '
mentationen und Quästionen.
Die Heftigkeit des Tones, womit Luther auch in seinen fol-
genden Schriften von den Universitäten als den eigentlichen Burgen
des Teufels auf Erden spricht, ist vielleicht von keinem Angriff auf
diese Institute weder vorher noch nachher erreicht worden (Stellen bei
Janssen, II, 176, 195, 293). In der Sache gingen die b^dd massen-
haft auftretenden Prediger des reinen Evangeliums zum Teil einen
Schritt weiter: sie verwarfen nicht nur den vorhandenen, sondern jeden
gelehrten Unterricht: das Wort Gottißs sei allein genug und zu seinem
Verständnis sei nicht Gelehrsamkeit, sondern der Geist erforderlich;
eine Anschauung, die schriftmäßig zu widerlegen allerdings nicht leicht
sein dürfte. Daß der Geist Gottes nicht nach dem Maß der Gelehr-
samkeit mitgeteilt wird, vielmehr denen zumeist, die thöricht sind
vor der Welt, die göttlichen Geheimnisse offenbart, bezeugen Evangelisten
und Apostel durch Wort und Beispiel. Hierüber hat sich Kablstadt
gewiß nicht getäuscht.
Es ist überraschend zu sehen, wie Melanchthon auf Luthebs
186 II, 1, Der Ausbruch der kirchlichen RevohUion u, s, w.
Ton einging. Er hatte in jener erwähnten Antrittsrede noch von der
Wiederherstellung der echten aristotelischen Philosophie als von seiner
großen Aufgabe gesprochen. Aber die Sache gedieh nicht in der neuen
Umgebung. Im Sommer 1519 las er über den Römerbrief; aus dieser
Vorlesung ging bald die erste Dogmatik der neuen Theologie hervor,
die loci iheologici, 1521 zum erstenmal gedruckt Paulus und die
neue Theologie verdrängten völlig den Aristoteles, ja den Humanismus
selbst. In einer Rede: Ermahnung zum Studium der Paulinischen
Lehre (gedruckt Febr. 1520, C. R. XI, 34 — 41), verwirft er nicht mehr
bloß die Schulphilosophie, wie auch der Humanist that, sondern die
Philosophie überhaupt, als heidnischen Greuel. Die Schuldoktoren
haben aus der Theologie jenes alte Weib, genannt Philosophie, ge-
macht, welches nach Griechenland stinkt (Graeciae hircissantem anum,
Fhilosophiam). Paulus ist das Gegengift, ohne Paulus kein Heil: „alle
übrigen Wissenschaften magst du verachten; den Paulus vernach-
lässigen, heißt die Hoffnung der Seligkeit wegwerfen."
Im Jahre 1520 gab er die Wolken das Aristophanes heraus, wider
die Philosophaster, sagt er in einem Brief an Lange (April 1520,
C. R. I, 163), nicht die Philosophen, denn diesen bin ich sehr geneigt,
wenn sie nur mit Maß und Vorsicht philosophieren. Daß die grie-
chischen Philosophen zu diesen guten Philosophen nicht gehören, kann
in der Dedikationsepistel an Amsdorf (Dez. 1520, S. 273 flf.) nach-
gesehen werden: die Wolken würden eben zu dem Ende zugänglich
gemacht, damit die Jugend sehe, was das Altertum selbst von diesem
Zeug gehalten habe.
Ausführlicher als schon hier geschieht, hat er dann in der Ver-
teidigung LuTHEES, welche er unter dem Namen Bidymus Faventius
gegen H. Emseb schrieb (Febr. 1521, C. R, I, 286—358), sein Ver-
werfungsurteil gegen die Philosophie, im besondern gegen die aristo-
telische, begründet. Die ganze Physik enthalte nichts als Wortunge-
heuer, wie Materie, Form, Beraubtheit, die geschwätzigen Menschen
StofiF zum Schwatzen gebe und die Jugend durch Streiterei um alle
Kraft bringe. Dazu komme, daß sie viele Widersprüche gegen die
heiL Schrift enthalte. Das gelte doppelt von der Metaphysik: offen-
bare Atheisten seien die Stoiker und Epikureer, aber ein Atheist auch
Aristoteles, „unter dessen Führung, o titanische Frechheit, ihr den
Himmel stürmet. Ich klage jetzt nicht die Barbarei der Theologaster
an, sondern jene Weisheit selbst, womit ihr die Christen von der Schrift
zur Vernunft abgezogen habt. Geh nun, Bock (so wird Emseb, mit
bekannter Beziehung auf sein Wappen, in dem ganzen Schriftstück an-
geredet), und leugne, daß die Schulphilosophie Götzendienst sei" End-
ühii^ersität Wittenberg . Melanchtkon und die Philosophie, 187
lieh die Ethik ist Christo diametral entgegen. Er zeigt es, indem er
die Artikel Gesetz, Sünde, Gnade durchgeht; in allen Stücken lehre die
Philosophie das Gegenteil der Wahrheit, die scheußlichste Pest zähle
sie unter den ersten Tugenden. In Summa, prostituiert sei die Kirche
durch die Philosophie, so daß man mit sodomitischen Lüsten zu
kämpfen habe. „Ein Christ ist nicht, wer den Namen eines Philo-
sophen in Anspruch nimmt." Dann kommt er auf die Universitäten:
nie sei etwas Verderblicheres, Gottloseres erfunden worden, nicht die
Päpste, der Teufel selbst sei ihr Urheber; Wiclef zuerst habe es ge-
sehen, daß die Universitäten des Teufels Schulen seien: konnte er etwas
Frömmeres oder Weiseres sagen? Die Juden opferten Jünglinge dem
Moloch; ein Vorspiel für unsere Universitäten, wo die Jünglinge heid-
nischen Götzenbildern geopfert werden (343).
Es mag dahingestellt sein, ob wirklich religiöser Glaube, der frei-
lich nach der Vernunft nicht fragt, oder bloß ins Gegenteil umge-
schlagene humanistische Eloquenz aus diesen Worten Melanchthons
spricht. Das letztere anzunehmen rät allerdings sowohl der Stil dieser
Auslassungen als die Thatsache, daß Melanchthon sehr bald zu
anderer Sprache zurückkehrte. Seiner Natur ist augenscheinlich ein
konziliatorischer Rationalismus, wie die scholastische Philosophie ihn
darstellt (man vergleiche das Urteil der Pariser theologischen Fakultät
über LüTHEB, C. E. I, 385 ff.), gemäßer, als die supranaturalistische,
alle Gemeinschaft mit der Vernunft ausschlagende Gläubigkeit des
Mystizismus. Die Palinodie zu dieser Schmährede auf die Vernunft
und Philosophie ist denn auch nicht ausgeblieben.
Mit dem Jahre 1522 beginnen in Melanchthons Briefen und
Reden die Klagen über den Verfall der schönen Wissenschaften, die
nun bis zu seinem Tode nicht mehr verstummen. Die Theologie, oder
wie er sagt, die Pseudotheologen haben mit ihrem barbarischen Gezänk
die Musen vertrieben. Es sind nicht mehr die alten scholastischen,
sondern die neuen Theologen Wittenberger Abkunft gemeint. Es ist
nur allzu wahr, erwidert er Eobanus Klagen aus Erfurt (22. Juli 1522),
daß die Poesie von der Jugend vernachlässigt wird; das bedeutet, wenn
mich nicht alles täuscht, den bevorstehenden Verfall der Litteratur
und Wissenschaft, wir werden ein Geschlecht hinter uns lassen, das
weniger weiß, als das des Scotus. Guter Gott, ruft er in dem folgen-
den Brief an denselben (April 1523, I, 613) aus, sind das Theologen,
deren Weisheit in der Verachtung der Wissenschaften besteht! Muß
daraus nicht eine neue, noch dümmere und noch gottlosere Sophistik
kommen? Er selbst strebt jetzt aus der Beschäftigung mit theologi-
schen Dingen heraus und zu den klassischen Studien zurückzukehren.
188 II, h Der Ausbruch der kirchlichen EevoltUion u, 8. w.
Durch Zufall, schreibt er an Spalatin (März 1523, I, 606), sei er in
die theologischen Vorlesungen hineingekommen und sitze nun schon
mehr als zwei Jahre auf diesem Riff fest Er tauge nicht dazu und
wünsche loszukommen. Auch sei ein so großer Haufe von Theologen
da, daß die Jugend mit Theologie verschüttet werde. Seine Aufgabe
sei die Wiederherstellung der schönen Wissenschaften, deren sich so
wenige annehmen (vgl. I, 576, 604, 677). Im Jahre 1523 legt« er
die Notwendigkeit der klassischen Studien den Theologen in einer Rede
ans Herz (encomium eloquentiae, C. R. XI, 50 ff.): Eloquenz und Ein-
sicht seien unzertrennlich, und diese beiden Dinge seien das Beste, was
es unter der Sonne gebe. Leider gebe es gegenwärtig Leute, die leug-
nen, daß die Theologie aus den sprachlichen Studien Nutzen ziehen
könne, und dieser Irrtum, wie durch Ansteckung verbreitet, habe die
meisten jetzt dahin gebracht, daß sie die klassischen Studien verachten,
um nicht ihr Ansehen unter den Theologen zu verlieren (ne non valde
theohgicari videantur). Die Zungen sollte man, sagt er bald darauf
in einer Vorrede (C. R. I, 666), denjenigen ausschneiden, welche die
Jugend von den Studien abmahnen.
Melanchthon fühlte sich fremd unter den neuen Theologen. Ich
habe hier fast keinen Umgang, außer dem Geschäftsverkehr; so sitze
ich zu Hause wie ein lahmer Schuster; so schreibt er an seinen huma-
" nistischen Freund Cameäarius (1. Nov. 1524, I, 683). Kurz darauf
erhielt er einen Brief von Erasmus (10. Dez.): er hätte gewünscht,
daß Melanchthon in den Humanitätsstudien geblieben wäre, für
welche er durch seine Anlage bestimmt sei; jener Tragödie hätte es an
Schauspielern nicht gefehlt. Melanchthon empfand selbst, wenigstens
zu Zeiten ähnlich. Freilich, er konnte von Wittenberg nicht mehr fort
und auch aus der Verbindung mit der Theologie nicht los. So blieb
es nun seine Lebensaufgabe, hier die klassischen Studien, so gut es
denn gehen wollte, zu erhalten. Dankbar war die Aufgabe nicht mehr.
Die Zeit, wo die ganze Universität sich zu den griechischen Vorlesungen
drängte, war vorüber. Im Jahre 1524 waren es, wie wir in Melanch-
TH0N8 Leichenrede von seinem Schüler Vrrus Vinshemiüs vernehmen,
ihrer vier, welche die Vorlesung über Demosthenes hörten und den
Text dazu aus Melanchthons Exemplar abschrieben; Vinshemiüs war
einer der viere (C. R. X, 193). Die Teilnahmlosigkeit der Studieren-
den gegen die schönen Wissenschaften und besonders gegen das Grie-
chische bildet von da ab einen stehenden Gegenstand der A^nklage
in Melanchthons öffentlichen Kundgebungen. Die Anschläge zu
seinen Vorlesungen über griechische Autoren sind voll von derartigen
Äußerungen. So heißt es im Jahre 1531: ein Bettler soll Homer bei
Die üniversitäien Leipzig, Frankfurt, Rostock, Greif stmld, 191
holten schimpflichen Bettelbriefen, den Sieg Landgraf Philipps über
Sickingen mit seinen Poemen zu verherrlichen: sie seien beinahe schon
fertig, man möge sie doch um Gottes Wülen bestellen. Aber es er-
folgte keine Bestellung (Kbause, I, 344). Im Jahr 1525 strich ihm
der Erfurter Kat seinen Gehalt Im Jahre 1526 verließ er Erfurt;
Melanchthon hatte ihn nach Nürnberg an die eben errichtete Schule
empfohlen. Freilich kehrte er noch einmal zurück (1533), aber er
erlebte keine i^eude mehr in Erfurt. Die Universität konnte sich
nicht wieder erholen, sie siechte noch fast drei Jahrhunderte und ging
dann ein.
Auch das Leipziger Studium litt sehr unter der großen Erisis.
War schon gegen Ende des zweiten Jahrzehnt« durch den Einfluß
Wittenbergs ein Rückgang im Besuch bemerkbar gewesen, so sank im
Verlaufe des dritten die Frequenz auf etwa ein Viertel der früheren
Ziffer. Noch starker war die Abnahme der Promotionen. Auch die
klassischen Studien gingen zurück, durch die lutherische Bewegung
wurden sie dem Herzog Georg, von dem sie bisher entschieden be-
günstigt worden waren, verdächtig. Als im Jahre 1524 Mosellanüs
vor der Zeit starb, wurde zwar noch ein Nachfolger, der Niederländer
Jag. Ceeatinus aus Löwen, auf Ebasmus' unbedingte Empfehlung für
die griechische Lektur berufen. Doch i|lieb er nur kurze Zeit; der
Herzog glaubte lutherische Neigungen bei ihm wahrzunehmen (Böhme,
33). Allerdings finden sich dnter den Lehrern auch noch nachher eine
Anzahl von Freunden humanistischer Studien, H. Stbomer, J. Musleb, k
C. Borneb, W. Meubeb; doch scheinen die Anhänger des Alten jetzt
entschieden das Übergewicht gehabt zu haben. Es ist auffallend, daß^
in der Masse der Universitätsaufzeichnungen, welche in den von
Zabncke herausgegebenen Acta Rectorum und im Urkundenbuch vor-
liegen, von Reformationsbestrebungen, wie sie das zweite Jahrzehnt
-erfüllt hatten, fast gar nicht mehr die Rede ist Es standen sich jetzt
Revolution und Reaktion gegenüber.
Die brandenburgische Universität zu Frankfurt a. 0., welche,
als jenseits der Grenzen der Civilisation gelegen, wohl von Anfang an
nur die dürftigen. Umrisse einer Universität darstellte, kam im dritten
Jahrzehnt durch die Reformation zu völligem Stillstand, wozu auch die
wiederholt auftretende Pest das ihre beitrug (Beckmann, 273).
Dasselbe Schicksal traf die beiden Ostseeuniversitäten. In Rostock
begann das schnelle Sinken der Inskriptionen 1523; im Jahre 1529
wurde niemand immatrikuliert; von 1530 — 1536 führte ununterbrochen
ein Mann das Rektorat. Die Universität war so gut wie eingegangen.
In einem Bericht vom Jahre 1530 bezeichnet das Universitätskonsilium
190 //, 7. Der Ausbruch der kircJilichen Revolutian u, s. w.
Die Universität Erfurt war die einzige unter allen deutschen
Universitäten, welche der Lehre der Wittenberger zufiel; sie war auch
die erste, welche daran zu Grunde ging.^
Bei jenem oben erwähnten Einzug Lltherö in Erfurt (6. April
1521) hatte Eobanüs, der natürlich mit seinen Versen bei diesem
Anlaß nicht fehlen durfte, die Musen selbst in der Begleitung des
Reformators in die Stadt einziehen zu sehen geglaubt. Die Vision
stellte sich bald als eine täuschende heraus. Am Tage nach Luthers
Abreise begann, durch einen geringfügigen Zufall veranlaßt, das soge-
nannte PfaflFenstürmen: die studentische Jugend vereinigte sich mit
der städtischen, unter Zulassung des Rates, zur Plünderung und Demo-
lierung der Häuser der Geistlichen. Diese Exzesse, die sich im Laufe
der nächsten Jahre öfter wiederholten, vertrieben zwar die Kleriker,
zu EoBANUs' großer Genugthuung (Keause, I, 334); aber bald folgten
ihnen die Studenten, deren Eltern an diesem Treiben Anstoß nahmen,
und auch die humanistischen Lehrer, denen es unheimlich dabei wurde,
verließen zum großen Teil die Stadt Das Feld nahmen in Erfurt
nunmehr die Prädikanten ein, aus den Klöstern entlaufene Mönche,
auch Lange, Luthers Freund, war unter ihnen: sie predigten das
Evangelium ohne jegliche Beimischung menschlicher Vernunft. Gegen
die Sophisten und ihren Meist" Aristoteles, gegen die Wissenschaften
und die gelehrten Grade wurde von allen Kanzeln gedonnert. Das
hätte die Humanisten nun nicht verdrcfesen, wenn ihnen nicht be-
gegnet wäre, von den Ultras mit zu den Sophisten gerechnet zu werden.
Seit Ende 1522 erfüllten sie die Welt mit bitteren Klagen. Eobanus,
der selber erleben mußt«, von Lange als Beschützer der Sophisten
denunziert zu werden, worauf er bald mit heftigen Invektiven, bald
mit würdelosen Bitten um Schonung antwortete, wendete sich 1523
mit verzweifelten Klagen an die Wittenberger: eine Barbarei werde
durch die neue Theologie über Deutschland kommen ärger als die
frühere. Eine Sammlung von einigen Briefen, welche seine Klagen
ihm einbrachten, veröffentlichte er zum Zeugnis wider die Prädikanten
unter dem Titel: De non contemnendis studiis humanioribus futuro
Theologo maxime necessariis aliquot clarorum virorum ad Eob, Hessum
Epistolae (1523). Auch satirische Dialoge auf die neuen Dunkelmänner
verfaßte und veröffentlichte er (1524). Aber es half alles nicht; die
Immatrikulationen hörten so gut wie ganz auf; die Universität ging
fast ganz ein. Eobanus hungerte; er erbot sich 1522/23 in wieder-
* Kampschulte, Geschichte der Erfurter Universität, Bd. II. Manche Er-
gänzungen in Krauses £ob. Hessus, I, 330 ff.
Die Universitäten Leipzig, Frankfurt, Rostock, Oreifswald, 191
holten schimpflichen Bettelbriefen, den Sieg Landgraf Philipps über
Sickingen mit seinen Poemen zu verherrlichen: sie seien beinahe schon
fertig, man möge sie doch um Gottes Willen bestellen. Aber es er-
folgte keine Bestellung (Krause, I, 344). Im Jahr 1525 strich ihm
der Erfurter Bat seinen Gehalt Im Jahre 1526 verließ er Erfurt;
Melanchthon hatte ihn nach Nürnberg an die eben errichtete Schule
empfohlen. Freilich kehrte er noch einmal zurück (1533), aber er
erlebte keine Freude mehr in Erfurt. Die Universität konnte sich
nicht wieder erholen, sie siechte noch fast drei Jahrhunderte und ging
dann ein.
Auch das Leipziger Studium litt sehr unter der großen Krisis.
War schon gegen Ende des zweiten Jahrzehnts durch den Einfluß
Wittenbergs ein Bückgang im Besuch bemerkbar gewesen, so sank im
Verlaufe des dritten die Frequenz auf etwa ein Viertel der früheren
ZiflFer. Noch starker war die Abnahme der Promotionen. Auch die
klassischen Studien gingen zurück, durch die lutherische Bewegung
wurden sie dem Herzog Georg, von dem sie bisher entschieden be-
günstigt worden waren, verdächtig. Als im Jahre 1524 Mosellanüs
vor der Zeit starb, wurde zwar noch ein Nachfolger, der Niederländer
Jag. Ceratinus aus Löwen, auf Erasmus' unbedingte Empfehlung für
die griechische Lektur berufen. Doch |lieb er nur kurze Zeit; der
Herzog glaubte lutherische Neigungen bei ihm wahrzunehmen (Böhme,
33). Allerdings finden sich unter den Lehrern auch noch nachher eine
Anzahl von Freunden humanistischer Studien, H. Stbomer, J. Müsleb,
C. Bobner, W. Meurer; doch scheinen die Anhänger des Alten jetzt
entschieden das Übergewicht gehabt zu haben. Es ist auffallend, daß
in der Masse der Universitätsaufzeichnungen , welche in den von '
Zarncke herausgegebenen Acta Rectorum und im Urkundenbuch vor-
liegen, von Reformationsbestrebungen, wie sie das zweite Jahrzehnt
■erfüllt hatten, fast gar nicht mehr die Rede ist. Es standen sich jetzt
Revolution und Reaktion gegenüber.
Die brandenburgische Universität zu Frankfurt a. 0., welche,
als jenseit« der Grenzen der Civilisation gelegen, wohl von Anfang an
nur die dürftigen. Umrisse einer Universität darstellte, kam im dritten
Jahrzehnt durch die Reformation zu völligem Stillstand, wozu auch die
wiederholt auftretende Pest das ihre beitrug (Beckmann, 273).
Dasselbe Schicksal traf die beiden Ostseeuniversitäten. In Rostock
begann das schnelle Sinken der Inskriptionen 1523; im Jahre 1529
wurde niemand immatrikuliert; von 1530 — 1536 führte ununterbrochen
ein Mann das Rektorat. Die Universität war so gut wie eingegangen.
In einem Bericht vom Jahre 1530 bezeichnet das Universitätskonsilium
\
192 //, /. Der Äushrvcti der kirchlichen JRevolution u, s, w.
die Martinianische Faktion als die Ursache: seitdem würden die Kinder
von den Universitäten heimgerufen; auch sei die Aussicht auf Versorgung
der Lektoren im Alter mit geistlichen Pfründen gemindert, der Uni-
versität seien zwei Kirchen verloren gegangen (Krabbe, 361 flF., 392).
Ebenso entschieden als Bostock lehnte Greifswald den Anschluß an
die Reformation ab. Die Universität, Inskriptionen, Vorlesungen, Pro-
motionen scheinen auch hier während der Jahre 1525 — 1539 fast ganz
cessiert zu haben. Die Blätter in den Universitätsbüchern, welche die
Eintragungen dieser Jahre enthielten, sind ausgerissen worden, sie
mochten wohl noch ärgeres über die Martinianische Faktion enthalten,
als der Rostocker Bericht (Kosegaeten, I, 180, 186).
Die Kölner Universität war ein Hauptlager der Gegner der Re-
formation. Die theologische Fakultät verdammte, mit Löwen und Paris,
LuTHEBS Bücher und verbrannte sie im Beisein Karls V. (1520). Sie
hat hervorragenden Anteil an der Erhaltung des Katholizismus am
Rhein; der Ruhm, den die Verse des Hymnus, welchen man am Feste
der Schutzheiligen Kölns sang, der Stadt beilegen:
Postquam fidem stiscepisti, civitas praenobilis,
Recidiva non fuisti, sed in fide stabilis,
kommt in erster Linie der Universität zu (Bianco, 444). Sie blieb
fest in der Anhänglichkeit an die römische Kirche auch gegenüber den
Reformationsneigungen des Erzbischofs Hermann von Wied; nur eine
kleine Minorität, worunter der Kanzler H. v. Neuenab, Phbissemiüs,
Agbippa V. Nettesheim, Obtüdois Gbatiüs genannt werden (Ennen,
IV, 372), neigte zu refarmatorischen Ansichten. Die Studien gerieten
übrigens auch hier in tiefen Verfall. Die Reformationsbestrebungen,
welche am Anfang der zwanziger Jahre dem Sinken entgegenwirken
sollten, waren erfolglos. Die Immatrikulationsziffem bewegen sich in
den Jahren 1527—1543 zwischen 36 und 96 (Ennen, 667), während
sie vorher 300 — 400 betragen hatten. Die Ursache des Untergangs,
sagt die Universität in einem Bericht an die städtischen Provisoren 1534,
sei der Lutheranismus oder die Glaubensspaltung, unter dessen Einfluß
überall die gelehrten Schulen eingingen (Kbappt, Mitteilungen, 208).
Noch im Jahre 1546 wiederholt ein Bericht der UniversitÄt, die Studien
seien schier erloschen, weshalb die Gegner der Kirche jetzt die Augen
auf Köln richteten (Ennen, 668). Im Jahre 1557 hielten die Jesuiten
ihren Einzug.
Die Wiener Universität, welche unter der Regierung Maximilians
und unter dem Einfluß der von ihm begünstigten modernen Studien
in den beiden ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts vielleicht unter
allen deutschen Universitäten die größte Frequenz gehabt hatte (um
Die Universitäten Wien, Heidelberg, Basel, 193
1515 wurden mehrere Jahre hindurch mehr als 600 jährlich imma-
trikuliert, EiKK, I, 226), begann seit 1522 schnell zu sinken. Gegen
Ende des Jahrzehnts war sie so gut wie verlassen; in den beiden Jahren
1527 und 1528 wurden zusammen 20 — 30 immatrikuliert, 1530 wurden
im Ganzen 30 Scholaren gezählt; die Übungen waren eingestellt; in
dem Artistenkolleg waren nur noch zwei bis drei Magister, in den Bursen
lagen Handwerksburschen. Als Ursache giebt die Universität schon
1522 an: die lutherische ^ekte mahne von den Studien und der Er-
werbung der Grade ab (Kink, 253 ff.). Die Universität war übrigens,
von der theologischen Fakultät abgesehen, der Reformation geneigt;
sie hatte bereits im Humanistenzeitalter ihren kirchlichen Charakter
einigermaßen abgestreift; schon 1513 war den Studenten die klerikale
Tracht, infolge ihres höftigen Sträubens. erlassen worden, und 1511
hatte die Universität die Einladung zum Konzil in Pisa als nicht
mehr zeitgemäß dilatorisch behandelt (Kink, 226 flF.). Sie widerstrebte
demgemäß jedem Andringen, gegen die Ausbreitung des Luthertums
einzuschreiten. — Erwähnt mag noch werden, daß im Jahre 1528 von
Seiten der Regierung de^ Königs Ferdinand ein Verauch gemacht
wurde, Eeasmüs um hohes Gehalt (400 fl.) nach Wien zu ziehen, wie
aus dessen ablehnender Antwort an den Rat Jon. Fabri hervorgeht
(Opp. III, 1089, 1093). Erasmus bemerkt, an Professoren fehle es dort
nicht, aber an Studenten.
Das Los der Wiener Universität teilten Heidelberg und Basel.
In Heidelberg kam es, wie die Universitätsannalen erzählen, dahin, daß
mehr Professoren als Auditoren vorhanden waren; die lutherische Lehre
und Empörung der Bauernschaft wird als Ursache angegeben. An der
Universität lehrten übrigens mehrere lutherisch Gesinnte, obwohl die
Körperschaft als Gesamtheit sich ablehnend verhielt (Hautz, I, 390).
MiCYLLUs, der von 1533 — 1537 die griechische Lektur inne hatte, klagte
bitter über die herrschende Barbarei: niemand interessiere sich für die
Alten, niemand mache sich etwas aus Poesie; griechische und lateinische
Litteratur lägen in gleicher Verachtung (Classen, 126).
Lucrum est, quod peätur, magnique salaria census,
Aureaque ista licet secula jure voces.
Das Baseler Studium ging ganz ein. Der Besuch war seit 1522 ganz
gering; als die Stadt im Jahre 1529 die Reformation annahm, zogen
die altgläubigen Lehrer, unter ihnen Glareanüs, auch Erasmus schloß
sich an, nach Freiburg. Die Universität wurde suspendiert; mit einem
Fluch auf den Lippen gegen die Reformation, die Seelenseuche (pestis
animonim), verschied sie (Vischer, 258 flF.).
Verhältnismäßig leicht scheinen die beiden unter österreichischer
Paultsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 13
194 //, 1, Der Ausbruch der kirchlichen Revoluiion u. s. w.
Verwaltung stehenden Universitäten zu Freiburg und Tübingen die
Krisis überstanden zu haben. In Freiburg stiegen nach der Depression
der Bauernkriege die Immatrikulationen schon seit 1529 wieder auf
die alte Höhe. Die Regierung und der Rat wirkten eintrachtig zusammen,
die Ansteckung mit der neuen Lehre fem zu halten (SoHBEiBEBy U, 104).
Am wenigsten Ton allen deutschen Universitäten scheint Ingol-
stadt von der Reformation berührt worden zu sein. Mit der ent-
schiedensten Eonsequenz wurden alle Spuren des virus Lutheranumj das
auch hier am Anfang der zwanziger Jahre sich einzuschleichen begann,
ausgerottet Die Universität, unter Führung Ecks, von der Regierung
auch mit äußeren Mitteln kräftig unterstützt, kann als die stärkste
Vorkämpferin in dem Kriege mit Wittenberg angesehen werden. Der
Besuch der Wittenberger Universität, ebenso wie der Gebrauch von
Schriften protestantischer Abkunft wurde verboten und verfolgt Im
Jahre 1527 setzte Eck die Verbrennung eines aus Wittenberg heim-
gekehrten Klerikers in Schärding durch. Der Besuch der Universität
erlitt zwar auch eine Abnahme, sie war aber nicht sehr erheblich;
der Durchschnitt der Immatrikulationen von 1518 — 1550 betrug 136,
iiur 36 weniger als in dem vorausgegangenen Zeitalter, wohl das gün-
stigste Verhältnis, das überhaupt vorkommt (Pbantl, I, Kap. 13).
Im Jahre 1538 schreibt Justus Jonas in dem Widmungsbrief,
womit er seine lateinische Übersetzung des Jesus Sirach dem Fürsten
von Anhalt dedizierte: „Vor wenigen Jahren gab es in Deutschland
zahlreiche hohe Schulen, sie waren, während die Religionslehre noch
ganz tot dalag, lebendig wirksam und zahlreich besucht; dazu gab es
zahllose Klöster, die doch auch einigermaßen Schulen vorstellten. Seit-
dem das Evangelium seinen Weg durch die Welt angetreten hat, sind
viele Universitäten so gut wie ausgestorben, als ob das Studium jetzt,
wo die wahre Methode Theologie zu lehren und zu lernen am Tag ist,
ein Verbrechen und ein Schimpf wäre. Andere nicht zu nennen, so
ist von Erfurt, der alma mater so vieler Gelehrten, nicht viel mehr
als eine dürftige Spur, eine jammervolle Ruine übrig. Ebenso sind
von den Akademien in Meißen, Thüringen, an der Donau und am
Rhein nichts als trübselige Leichname übrig." Die Ursache lag nicht
fem: der Verfall der Studien war die Folge der Verachtung des geist-
lichen Amtij, damals noch beinahe des einzigen gelehrten Berufs. „So
geringe Achtung," heißt es kurz vorher, „wird denen, die im geist-
lichen Amt stehen, gegenwärtig gezollt, daß die Leute beinahe noch
Dank erwarten, wenn sie fromme Prediger, die sie längst bitterlich
hungern lassen, nicht auch noch öflFentlich anspeien und mit Steinen
werfen" (J. Jonas' Briefwechsel, I, 283).
Erasmus Über den Verfall der Studien. 195
Derselbe Verfall trat bei den niederen Schulen ein. ' Es scheint
nicht erforderlich, diese Thatsache durch Zusammenstellung der Nach-
richten, die sich über die einzelnen zufallig erhalten haben, nachzu-
weisen. Eine lange Reihe von Klagen über den Untergang des Schul-
wesens hat DöLLiNGEB und ihm folgend Janssen gesammelt; es wäre
nicht schwer, sie weiter zu vermehren. Fast alle Schulordnungen der
neuen Landeskirchen nehmen auf die Thatsache Bezug, am lautesten und
heftigsten hat Lutheb selbst darüber sich ausgesprochen; im folgenden
Kapitel werden ein paar Stellen mitgeteilt werden.
Es war ein ungeheuer Unerwartetes, was sich auf dem Gebiet des
Bildungs Wesens in diesem Dezennium zugetragen hatte. Am Anfang
war der Humanismus des Sieges völlig gewiß; überall drang Licht und
Bildung durch, die herrschenden Oesellschaftsklassen standen durchaus
auf Seiten der guten Sache. Und am Ende desselben Jahrzehnts schien
alles zerronnen. '
Im Jahre 1516 hatte Erasmüs an Cafito geschrieben: ich hange
nicht eben sehr am Leben, und doch möchte ich gegenwärtig wohl ein
wenig jünger sein, denn es scheint, daß ein goldenes Zeitalter kommt
und vor der Thür ist So hat Gott die Herzen der Fürsten gewendet,
daß sie nur nach Frieden und Einigkeit trachten. Darum hoffe ich
mit Zuversicht, daß nicht nur gute Sitten und Frömmigkeit, sondern
auch die schönen Wissenschaften wieder aufleben und sich immer
glänzender entfalten werden. Hierfür bürgt das einmütige Streben des
Papstes Leo X., des Kardinals von Toledo in Spanien, der Könige
Heinrich, Karl und Franz, endlich des Kaisers Maximilian (Opp. III,
186 ff.).
Im Jahre 1528 schrieb derselbe Ebasmus an einen Freund bei
Erwähnung von Wimphelings Tod: er wisse nicht, solle er klagen,
oder jenem Glück wünschen, daß er einer Zeit entnojnmen sei, die über
jede Vorstellung verderbt und zuwider sei (IV, 1141). Die von Lutheb
erregte Kirchenrevolution, das ist Ebasmus' oft kund gegebene Ansicht,
ist an dieser unglücklichen Veränderung schuld. „Wo immer das,
Luthertum herrscht, da sind die Wissenschaften zu Grunde gegangen.
Zwei Dinge suchen sie, eine Stelle und ein Weib, dazu giebt ihnen '
das Evangelium die Freiheit, nach ihrer Lust zu leben" (an Pibck-
HEIMEB, 1528, IV, 1139).
Allerdings das letzte Wort der Reformation in diesen Dingen war
noch nicht gesprochen.^
^ Auch die Darstellung dieses Kapitels hat man tendenziös gescholten, so
KoLDE in seiner Lutherbiographie. Als ob ich daran schuld wäre, daß in der
ßeformationsgeschichte Thatsachen vorkommen, die einem eifrigen Lather-
13*
196 //, 2, Die Anschauungen der Reformatoren vom gelehrten UnterrlchL
Zweites Kapitel.
Die Anschauungen der Reformatoren Yom gelehrten
Unterricht und seiner Aufgabe.
Zwei Funkte treten als herrschende Gedanken in den Anschauungen
Luthers und Melanchthons hervor: 1. Die Erhaltung und Ordnung
des Schulwesens ist Pflicht und Recht der weltlichen Obrigkeit.
2. Der gelehrte Unterricht ist in erster Linie auf die Sprachen zu
stellen; dazu ist die Philosophie unentbehrlich. Für die Unterweisung
im Glauben treten Katechismus und heilige Schrift hinzu.
LüTHEBS Progranmi ist schon in der Schrift an den christlichen
Adel deutscher Nation (1520) angedeutet. Die negative Seite, die
Verwerfung der alten Schulphilosophie, ist schon früher (S. llü) be-
rührt. Seine positive Ansicht tritt in folgender Stelle im Umriß zu
Tage: „Das möcht ich gern leiden, daß Aristoteles' Bücher von der
Logica, Rhetorica, Poetica behalten, oder, in eine andere kurze
Form gebracht, mit Nutzen gelesen würden, junge Leute zu üben wohl
reden und predigen; aber die Komment und Sekten müßten abgethan,
und gleichwie Ciceros lihetorica, ohne Komment und Sekten, so auch
Aristoteles' Logica einförmig ohne solch groß Komment gelesen werden.
Aber jetzt lehret man weder reden noch predigen daraus, und ist ganz
eine Disputation und Muderei daraus worden. Daneben hätte man nun
die Sprachen, Lateinisch, Griechisch, Hebmisch, die mathematischen
Disziplinen, Historien, welches ich befehle Verständigeren; und sich
selbst wohl geben würde, so man mit Ernst nach einer Reformation
trachtete. Vor allen Dingen sollte in den hohen und niedern
Schulen die fürnehmste und gemeinste Lektion sein die heilige Schrift
und den jungen Knaben das Evangelium. Und wollt Gott, eine jeg-
liche Stadt hätte auch eine Mädchenschule, darinnen des Tags die
biographeu unbequem sein mögen. Oder meint man etwa die Thatsachen da-
durch aus der Welt zu bringen, daß man sie in der Darstellung übergeht?
Was man in Wirklichkeit erreicht, ist allein dies, daß die katholische Geschichts-
schreibung nun die übergangenen Dinge ans Licht zieht, in den Vordergrund
stellt und damit zugleich die Wahrhaftigkeit protestantischer Darstellungen
überhaupt dem Leser verdächtig macht. Jamssens Geschichte des deutschen
Volkes hätte nicht den großen Eindruck machen können — auch eine un-
bequeme Thatsache für manche protestantische Kreise — , wenn nicht die
protestantische Geschichtsschreibung der Neigung, die imbequemen Thatsachen
zu übergehen, so sehr nachgegeben hätte.
\
LiUher: An die Eais^ierren deutscher Städte (1524), 197
Mägdlein eine Stunde das Evangelium liureten, es wäre zu deutsch
oder lateinisch." —
Ausfuhrlicher hat Luther seine Anschauung dann in der Schrift:
,,An die Ratsherren aller Städte deutschesLands, daß sie christ-
liche Schulen aufrichten und halten sollen" (1524), dargelegt
Man hat die Schrift den Stiftungsbrief der deutschen Gelehrtenschulen
genannt. Sie selbst stellt sich dar als ein Weckruf, oder vielmehr als
ein Notschrei, der durch die Thatsache des plötzlichen und allgemeinen
Niedergangs des Unterrichtswesens seit dem Anfang der Kirchenrevo-
lution ausgepreßt wird. Luther fuhrt die Thatsache auf den Teufel
zurück, der dem Plvangelium damit schaden wolle. Die alten Schulen
habe er gar wohl leiden mögen, ja er selbst habe sie, wie die Stifte
und Klöster, seine Nester, gestiftet und erhalten, um darin die Jugend
zu seinem Reich zu ziehen; und in der That sei ihm das gelungen:
„es war nicht möglich, daß ihm ein Knabe hätte entlaufen sollen, ohne
sonderlich Wunder Gottes. Nun er aber siebet, daß diese Stricke
durch Gottes Wort verraten werden, fahret er auf die andere Seite
und will nun gar nichts lassen lernen." Und daran thue er abermal
recht und weislich für die Erhaltung seines Reiches. — Neben dieser
poetisch-rhetorischen Darstellung giebt Luther auch eine prosaisch-
rationale: „weil der fleischliche Haufe siebet, daß sie ihre Söhne, Töchter
und Freunde nicht mehr mögen in Klöster und Stifft verstoßen und
aus dem Hause und Gut weisen und auf fremde Güt«r setzen, so will
niemand mehr lassen Kinder lehren noch studieren. Ja, sagen sie, was
soll man lernen lassen, so nicht PfaflFen, Mönche und Nonnen werden
sollen? Man lasse sie lernen, damit sie sich ernähren." — Dazu
komme eine andere Rede; die Gelehrsamkeit, wie sie zur leiblichen
Versorgung nicht mehr tauglich, so sei sie auch an sieh selber nicht
mehr notwendig: „Was ist uns nütze, Lateinische, Griechische, Ebräische
Sprache und andere freie Kunst« zu lehren? Könnten wir doch wohl
Deutsch die Bibel und Gottes Wort lernen, die uns genugsam ist zur
Seligkeit." ^
Dem gegenüber zeigt nun Luther die Notwendigkeit eines ge-
lehrten Unterrichts sowohl um der Religion als um des weltlichen
^ Dieselben beiden Ursachen nennt Melanchthon in der Eröffnungsrede
der Nürnberger Schule 1526 (C. R. XI, 108): durch eine Irrung würden die
Schalen verlassen; einige dumme Frädikanten zögen von den Studien ab und
die Masse greife aus Xahrungssorge zu einem Gewerbe, da sie auf Pfründen
sich Ic^ne Hoffnung mehr glaube machen zu dürfen. Es ist diese melancho-
lische Betrachtung, die von da ab in der einschlägigen Litteratur unaufhörlich
wiederkehrt.
198 //, 2, Die Anschauutigen der Reformatoren vom gelehrten UnterricfU.
Uegiments willen. Anhebend mit einem heiligen Zoraaosbruch gegen
jene Verächter der Wissenschaft: „Ja ich weiß leider wohl, daß wir
Deutschen müssen immer Bestien und tolle Tiere sein und bleiben,
wie uns denn die umliegenden Länder nennen und wir auch wohl ver-
dienen/^ führt er zunächst aus, daß das Evangelium weder ohne die
Sprachen hätte kommen können noch werde erhalten bleiben: „Wie
wohl das Evangelium allein durch den heiligen Geist gekommen ist
und täglich kommt, so ist*s doch allein durch das Mittel der Sprachen
gekommen, muß auch dadurch erhalten werden. Denn gleichwie Gott,
als er durch die Apostel wollt in alle Welt das Evangelium lassen
kommen, die Sprachen dazu gab, und auch zuvor durch der Römer
Regiment die griechische und lateinische Sprache so weit in alle Lande
ausgebreitet hatte, also hat er auch jetzt gethan. Niemand hat ge-
wußt, warum Gott die Sprachen hervorkommen ließ, bis daß man nun
allererst sieht, daß es um des Evangelü willen geschehen ist, welches
er hernach hat wollen offenbaren und dadurch des Antichrists Regiment
aufdecken und zerstören. Darum hat er auch Griechenland dem Türken
gegeben, auf daß die Griechen verjagt und zerstreuet die griechische
Sprache ausbrächten und ein Anfang würden, auch andere Sprachen
mit zu lernen. So lieb nun als uns das Evangelium ist, so hart laßt
uns über den Sprachen halten. Denn Gott hat seine Schrift nicht um-
sonst allein in die zwei Sprachen schreiben lassen, das alte Testament
in die hebräische, das neue in die griechische. Welche nun Gott nicht
verachtet, sondern zu seinem Wort erwählet hat vor allen andern, die-
selben sollen auch wir vor allen andern ehren." „Und das laßt uns
gesagt sein, daß wir das Evangelium nicht wohl werden erhalten ohne
die Sprachen. Die Sprachen sind die Scheiden, darin dies Messer des
Geistes steckt. Sie sind der Schrein, darin man dies Kleinod trägt.
Ja wo wir's versehen, daß wir (da Gott für sei!) die Sprachen
fahren lassen, so werden wir nicht allein das Evangelium verlieren,
sondern wird auch endlich dahin geraten, daß wir weder lateinisch
noch deutsch recht reden oder schreiben können. Das laßt uns das
elend greulich Exempel zur Beweisung und Warnung nehmen in den
hohen Schulen und Klöstern, darin man nicht allein das Evangelium
verlernet, sondern auch lateinische und deutsche Sprache verderbet hat,
daß die elenden Leute schier zu lauter Bestien worden sind, weder
deutsch noch lateinisch recht reden oder schreiben können; und beinahe
auch die natürliche Vernunft verloren haben."
Also Christentum und Bildung, ja der gesunde Menschenverstand
selbst hängt an den Sprachen.
Es mag dahingestellt sein, ob der heilige Geist jene beiden Sprachen
Luther: An die Ratsherren deutscher Städte (1524). 199
so ausschließlich zum Organ seiner Offenbarung gewählt hat, als Lutheb
hier behauptet und gleich hernach ausführt: nach dem Aufhören der
Sprachen sei alsbald das Christentum selbst untergegangen unter dem
Papsttum. Wer so sehr wie Lutheb betont, daß nicht menschlicher
Wille, Kunst und Gelehrsamkeit, sondern allein der Geist den Glauben
wirkt, hätte vielleicht Ursache gehabt, vorsichtiger in Behauptungen
über die Mittel dieser Wirkungen zu sein. Es mag auch dahingestellt
sein, ob die natürliche Vernunft; und die Fähigkeit menschlicher Bede
vor dem Aufgehen der Sprachen in Deutschland so ausgestorben waren,
als Lutheb annimmt; seine eigene eminente Begabung mit gesundem
Menschenverstand und natürlicher Beredsamkeit, die er beide nicht den
Sprachen verdankte, sondern der Natur und, soweit der Schule, eher
dem Mittelalter, scheinen dagegen zu zeugen. Aber in einem Stück
hat Lutheb ohne Zweifel recht: das „Evangelium^^, d.h. die Reformation,
konnte, wenn sie Dauer und Bestand gewinnen sollte, der Wissenschaft
und besonders der Sprachen nicht entbehren. Das Christentum war
allerdings ohne Philosophie in die Welt gekommen. Aber die Dinge
lagen jetzt anders als damals, wo die alte Welt, der Philosophie und
Kultur satt, die Erlösung suchte. Ein neues Kirchenwesen konnte im
16. Jahrhundert gegenüber dem alten nicht Baum gewinnen, ohne die
Gelehrsamkeit auf seiner Seite zu haben. Die alte Kirche hatte für sich
alle Autorität, welche ehrwürdiges Alter dem Glauben und Brauch der
Väter verleiht, alle Macht, welche bestehenden Institutionen durch die
Verkettung mit Privatinteressen zuwächst. Die Reformation berief sich
dem gegenüber allein auf das Wort Gottes, das heißt auf das richtig
verstandene Wort Gottes, denn auch die alte Kirche leitete ihre
Lehre und Autorität aus Gottes Wort ab. Für das richtige Verständnis
aber berief sie sich auf die „Sprachen^', das heißt auf die jetzt ermög-
lichte grammatisch -philologische Interpretation des Urtextes. Damit
kommt die letzte Entscheidung in Sachen der Lehre an die Sprach-
wissenschaft;. Nicht umsonst pflegt Lutheb mit einem Buch in der
Hand abgebildet zu werden; das Symbol zeigt, daß im Protestantismus
nicht, wie im Papsttum, die Autorität einer Person oder einer Ver-
sammlung, sondern die Wissenschaft die entscheidende Stimme hat
Wozu denn freilich zu bemerken wäre, daß Lutheb selbst sich keines-
wegs an den Buchstaben und das grammatische Wortverständnis des
Schrifttextes gebunden hielt; er braucht den Buchstaben, wo er für ihn
ist, gegen andere, wie gegen die Schweizer. Wo er nicht für ihn ist,
da ist er auch ohnedem seiner Sache sicher und weiß, was in der
Schrift stehen muß. Es ist bekannt genug, wie unbefangen Lutheb
die einzelnen Bücher der Schrift seiner Censur unterwirft und ihren
200 //, 2. Die Anschauungen der Reformatoren vom gelehrten Unterricht.
Wert an der Zusammenstimmung mit seiner Lehre mißt, ja wie er auch
dem Text ein wenig nachhilft, wo er nicht mit der nötigen Entschieden-
heit die reine Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben „aliein"
zu bieten scheint. Für die Ermittelung des Wortsinnes, sagt Köstltn
(Leben Luthers, II, 434), hielt Lütheb die Philologie für notwendig,
aber keineswegs für ausreichend zum Verständnis der Schrift; hierzu
gehöre innere Vertrautheit mit den sittlich-religiösen Vorgangen und den
christlichen Grundwahrheiten. Das heißt, um die Schrift zu verstehen,
muß man schon wissen, was sie lehrt; die Schrift ist das Maß der
Lehre; aber auch umgekehrt: die Lehre ist das Maß der Schrift, sie ist
ex analogia fidei zu interpretieren.
Zu dieser ersten Notwendigkeit des gelehrten Unterrichts kommt
dann die zweite: seine ünentbehrlichkeit für den weltlichen Stand.
„Wenn nun gleich keine Seele wäre und man der Schulen und Sprachen
gar nicht bedürfte um der Schrift und Gottes willen, so wäre doch
allein diese Ursache genugsam, die allerbesten Schulen beide für Knaben
und Mädchen an allen Orten aufzurichten, daß die Welt auch ihren
weltlichen Stand äußerlich zu erhalten doch bedarf feiner, geschickter
Männer und Frauen, daß die Männer wohl regieren könnten Land und
Leute, die Frauen wohl ziehen und halten könnten Haus, Kinder und
Gesinde." „Wo man sie lehrete und zöge in Schulen oder sonst, da
gelehrte und züchtige Meister und Meisterinnen wären und die Sprachen
und andere Künste und Historien lehrten, da würden sie hören die
Geschichten und Sprüche aller Welt, wie es dieser Stadt, diesem Reich,
diesem Fürsten, diesem Mann, diesem Weibe gegangen wäre, und
könnten also in kurzer Zeit gleich der ganzen Welt von Anbeginn
Wesen, Leben, Rat und Anschläge, Gelingen und Ungelingen für sich
fassen, wie in einem Spiegel, daraus sie denn ihren Sinn schicken und
sich in der Welt Lauf richten könnten mit Gottesfurcht, dazu witzig
und klug werden aus denselben Historien, was zu suchen und zu
meiden wäre in diesem äußerlichen Leben, und andern auch darnach
raten und regieren. Die Zucht aber, die man daheim ohne solche
Schulen vornimmt, die will uns weise machen durch eigene Erfahrung;
ehe das geschieht, so sind wir hundertmal tot, und haben unser Leben
lang alles unbedächtig gehandelt, denn zu eigener Erfahrung gehört
viel Zeit."
Die Unterrichtsgegenstände werden nur angedeutet: „Wenn ich
Kinder hätte und vermöcht's, sie müßten mir nicht allein die Sprachen
und Historien hören, sondern auch singen und die Musica mit der ganzen
Mathematica lernen." „Ja wie leid ist mir's jetzt, daß ich nicht mehr
Poeten und Historien gelesen habe und mich auch dieselben niemand
Luther: An dU Ratsherren deutscfier Städte (1524), 201
gelehret. Habe dafür müssen lesen des Teufels Dreck, die Philosophen
und Sophisten mit großen Kosten, Arbeit und Schaden, daß ich genug
habe daran auszufegen." Für alle diese Dinge, hält er, sei ein Unter-
rieht von ein oder zwei Stunden täglich genug; die andere Zeit möchten
die Knaben im Hause schaffen oder ein Handwerk lernen, und so die
Mägdlein.
Dann dringt er noch auf die Errichtung und Unterhaltung von
guten „Librareien oder Bücherhäusern." Darin sollte sein, nicht die
alte nichtsnutzige Universitätsgelehrsamkeit, sondern erstlich die heil.
Schrift, beide auf Lateinisch, Griechisch, Ebräisch und Deutsch und
ob sie noch in mehr Sprachen wäre. Darnach die besten Ausleger
und die ältesten, beide Griechisch, Ebräisch und Lateinisch. Darnach
solche Bücher, die zu den Sprachen zu lernen dienen, als die Poeten
und Oratoren, nicht anzusehen, ob sie Heiden oder Christen wären,
Griechisch oder Lateinisch, denn aus solchen muß man die fframmatica
lernen. Darnach sollten sein die Bücher von den freien Künsten und
sonst von allen andern Künsten. Zuletzt auch der Recht und Arznei
Bücher, wiewohl auch hier unter den Kommenten einer guten Wahl
not ist. Mit den fürnehmsten aber sollten sein die Chroniken und
Historien, waserlei Sprachen man haben könnte, denn dieselben
wunder nütz sind, der Welt Lauf zu erkennen und regieren, ja auch
Gottes Wunder und Werk zu sehen."
Für alle diese Dinge zu sorgen macht er nun den weltlichen
Obrigkeiten, besonders den Räten der Städte zur Pflicht: Die Eltern
sind zwar die höchst Verpflichteten, aber die Aufgabe geht über ihre
Kräfte; darum muß die Obrigkeit eintreten. „Muß man jährlich so
viel wenden an Büchsen, Wege, Stege, Dämme und dergleichen, damit
eine Stadt zeitlich Friede und Gemach habe, warum sollt man nicht
auch so viel wenden an die dürftige arme Jugend, daß man einen
geschickten Mann oder zween hielte zu Schulmeistern." Auch hier liegt
ein öffentliches Interesse, eine Gefahr für das gemeine Wesen vor:
„wie will Vernunft und sonderlich christliche Liebe das leiden, daß die
Kinder ungezogen aufwachsen und den andern 'Kindern Gift und An-
steckung seien, damit zuletzt eine ganze Stadt verderbe, wie es denen
zu Sodom und Gomorrha ergangen ist." ..Darum will hie dem Rat
und der Obrigkeit gebühren, die allergrößeste Sorge und Fleiß aufs
junge Volk zu haben. Einer Stadt Gedeihen liegt nicht allein darin,
daß man große Schätze sammele, feste Mauern, schöne Häuser, viel
Büchsen und Harnisch zeuge, ja wo des viel ist und tolle Narren darül)er
kommen, ist's um desto ärger und desto größrer Schade derselben
Stadt. Sondern das ist einer Stadt Bestes und aller reichstes Ge-
202 //, 2, Die Anschauungen der Reformatoi'en vom gelehrten Unterricht,
deihen, Heil und Kraft, daß sie viel feiner, gelehrter, vernünftiger,
ehrbarer, wohl gezogener Bürger bat, die könnten darnach wohl Schätze
und alles Gut sammeln, erhalten und recht brauchen/'
Diesem ersten Mahnruf ließ Luther noch einen zweiten folgen:
im Jahre 1530 ließ er den Sermon, daß man solle Kinder zur
Schule halten, drucken. Er wiederholt darin mit größerer Heftigkeit-
und Bitterkeit die Klage, daß die Studien verachtet würden, daß nie-
mand etwas für die Schule thun, auch die Eltern ihre Kinder nicht
zur Schule halten wollten. „Vorhin, da man dem Teufel dienete und
Christi Blut schändete, da stunden alle Beutel offen und war des
Gebens zu Kirchen, Schulen und allen Greueln kein Maß, da konnte
man Kinder in Klöster, Stifte, Kirchen, Schulen treiben, stoßen, zwingen
mit unsäglichen Kosten, das alles verloren war. Nun man aber rechte
Schulen und rechte Kirchen soll stiften, ja nicht stiften, sondern allein
erhalten im Bau, da sind alle Beutel mit eisernen Ketten zugeschlossen.'*
Er sieht daher voraus, daß es in kurzem in Deutschland an gelehrten
Leuten, die zum Fredigtamt und weltlichem Regiment zu gebrauchen,
gänzlich fehlen und große Verwüstung hereinbrechen werde. „Ja es
wäre nicht Wunder daß Gott beide Thür und Fenster in der Höllen
aufthät und ließe unter uns eitel Teufel schneien und schlacken, oder
ließe vom Himmel regnen Schwefel und höllisches Feuer und versenkte
uns allesamt in den Abgrund der Höllen, wie Sodoma und Gomorrha;
denn hätte Sodoma und Gomorrha soviel gehabt, soviel gehört oder
gesehen, sie stünden freilich noch heutigestags, denn sie sind das
zehend Teil nicht so böse gewest, als jetzt Deutschland ist, denn sie
haben Gottes Wort und Predigtamt nicht gehabt." — Die Predigt
läuft aus in die dringende Forderung, daß die Obrigkeit ihre Unter-
thanen zwinge, die Kinder zur Schule, d. h. zum Studium zu
schicken. „Denn sie ist wahrlich schuldig, die obgesagten Ämter und
Stände zu erhalten, daß Prediger, Juristen, Pfarrer, Schreiber, Ärzte,
Schulmeister und dergleichen bleiben, denn man kann ihrer nicht ent-
behren. Kann sie die Unterthanen zwingen, so da tüchtig sind, daß
sie müssen Spieß und- Büchsen tragen, a^f die Mauern laufen und
anderes thun, wenn man kriegen soll, wie viel mehr kann und soll
sie hier die Unterthanen zwingen, daß sie ihre Kinder zur Schule
halten, weil hie wohl ein ärgerer Krieg vorhanden ist, mit dem leidigen
Teufel, der damit umgehet, daß er Städte und Fürstentum will so
heimlich aussaugen und von tüchtigen Personen, bis er den Kern gar
ausgebohret, eine ledige Hülsen da lasse stehen von eitel unnützen
Leuten, da er mit spielen und gaukeln könne, wie er will. Das heißet
freilich eine Stadt oder Land ausgehungert und ohne Streit in sich selbst
Luifter: Sermon, daß man solle Kinder zur Schule hallen (1530). 203
verderbet, ehe man sich umsiehet Thut doch der Türke wohl ein
anderes und nimmt das dritte Kind in seinem Reich und zeucht^
wozu er will. Wie viel mehr sollten unsere Herren doch etliche
Knaben nehmen zur Schulen. — Darum wache hie wer wachen kann,
die Obrigkeit, wo sie einen tüchtigen Knaben siehet, daß sie den zur
Schulen halten lasse. Ist der Vater arm, so helfe man mit Kirchengütem
dazu. Hie sollten die Reichen ihre Testament zu geben, wie denn die
gethan haben, die etliche Stipendia gestiftet haben. Das hieße recht
zur Kirchen dein Geld bescheiden." — Für die Eltern hat er übrigens,
nachdem er ihnen erst ins Gewissen geredet: durch ihre Schuld ginge
geistlich und weltlich Regiment und alle Ordnung unter, auch eine
lockende Gewinnrechnung: die Zahl der Schüler in Deutschland sei
gegenwärtig überaus gering, vielleicht nicht 4000 im halben deutschen
Land, da allein in Sachsen' wohl an 4000 gelehrter Personen, Kapläne,
Schulmeister und Küster eingerechnet, gebraucht würden. „Darum
halt ich, daß nie keine bessere Zeit gewesen sei zu studieren denn
jetzt, nicht allein deshalb, daß die Kunst jetzt so reichlich und wohl-
feil vorhanden ist, sondern auch daß groß Gut und Ehre folgen muß,
und die so zu dieser Zeit studieren, werden teure Leute sein, da sich
noch um einen Gelehrten zween Fürsten und drei Städte reißen werden."
Man muß, um für Lüthebs Schulschriften das rechte Verständnis
zu gewinnen, sich die furchtbare Verlegenheit gegenwärtig halten, in
die das Eingehen der Studien die Reformatoren versetzte. Zahlreiche
Pfarrstellen wurden durch Tod und seit den Visitationen auch durch
die Entfernung der alten Inhaber wegen Anhänglichkeit an die alte
Lehre erledigt: woher den Ersatz nehmen? Anfangs konnte man die
ausgetretenen Mönche verwenden. Später sah man sich vielfach ge-
nötigt, auch ganz ungelehrte Leute zu Pfarrern zu machen. Rietschel
(Luther und die Ordination, 1889) weist nach, wie unter den zu
Wittenberg seit 1537 Ordinierten sich anfangs sehr zahlreiche Leute
finden, bei denen von gelehrter Bildung und Universitätsbesuch nicht
die Rede war; alle Handwerke sind unter ihnen vertreten, Schreiber,
Drucker, Tuchmacher, Leineweber, Schuster, Schneider, auch ein Bauer.
Erst seit 1544 verschwinden die Handwerker, wogegen Küster und
Schulmeister auch noch in der Folge vielfach ins Pfarramt übergehen.
Der eigentliche Begründer des protestantischen Gelehrtenschul-
wesens ist Melanchthon geworden. Wir werfen zuerst auf seine
grundlegenden Anschauungen und seine Thätigkeit im allgemeinen
einen Blick. Vor allem ist hier zu bemerken, daß er zu den Sprachen
204 //, 2, Dis Anschauungen der Reformatoren vom gelehrten Unterricht.
und Wissenschaften ein näheres und innerlicheres Verhältnis hat als
Luther. Lutheb ist vor allem Theolog, die Theologie hat ihn zuüfi
Gelehrten gemacht und den Sprachen zugeführt Dem eigentlichen
Humanismus ist er innerlich fremd geblieben. Er schätzte die Sprachen
zwar nicht bloß als unentbehrliche Hilfsmittel für die Beform der
Theologie, er hatte auch Sinn für die alt^n Schriftsteller, besonders
die römischen, die er fast allein kannte; die Menschenkenntnis ihrer
KomOdiendichter, selbst die Lebensweisheit ihrer Philosophen schien
ihm ein schätzbares Bildungsmittel. Es fehlte ihm auch nicht ganz
der Sinn für die Eleganz der Form. Aber von dem Enthusiasmus der
Humanisten ist er immer fern geblieben.^
Melanchthon dagegen war ursprünglich ganz Humanist; als sol-
cher war er nach Wittenberg gekommen und hatte in jener Antritts-
rede, wie üblich, das Ende der Barbarei und den Beginn des Beichs
der Humanität verkündet. Dann war er durch Luthers übermächtige
Persönlichkeit zeitweilig sich selber entfremdet worden; jene oben er-
wähnten Schriften geben davon Zeugnis. Aber er kehrte bald wieder
zu sich zurück; wie es scheint, wurde ihm durch die Konsequenz, in
welcher die Verachtung der menschlichen \Veisheit bei den „Schwarm-
geistern" erschien, deutlich, daß er auf dem Wege sei, sich selber zu
verlieren. Freilich, gethane Schritte lassen sich nicht ungeschehen
machen. Melanchthon konnte von der Eeformation sich nicht wieder
losmachen, wenn er es auch gewollt hätte, was doch nie der Fall war.
Aber wunderlich mag ihm manchmal zu Mute gewesen sein bei den
Aufgaben, welche ihm durch die einmal übernommene Bolle gestellt
wurden. W^enn er nun später über das Verhältnis des Leibes Christi
zum Brot disputieren mußte, ob es wirklich darin sei, wenn auch nicht
localiter et quantitative, ob man Buße und Werke zwar nicht causa,
aber doch conditio sine qua non der Gerechtigkeit und Seligkeit nennen
dürfe: da mag ihm wohl einmal der Gedanke gekommen sein, ob er
denn nicht auf seltsame Weise wieder in eben jene Irrgänge der
Scholastik hineingeraten sei, aus denen die Jugend herauszuretten er
beim Antritt seines Lehramts als seine Aufgabe angesehen habe. Die
Sehnsucht, aus den stürmischen und gefährlichen Gewässern der theo-
logischen Erörterungen in den friedlichen Hafen der klassischen Studien
sich zurückzuziehen, hat ihn nie verlassen. Auch die Sehnsucht nach
* Ein Schriftchen von 0. Schmidt, Luthers Bekanntschaft mit den Klassikern
(Leipzig 1883), gicbt fleißige Nachweisuugen über Luthers khissische T^ktüre.
Er schätzte besonders Cicero, Terenz und Virgil. Die griechischen Autoren
kannte und schätzte er weniger, wie er denn überhaupt dem Geist des prak-
tischen Römertums viel näher steht als dem des spekulativen Griechentums.
Melanohthon: Verhältnis zu Humanismus und Refai'mation. 205
dem heimischen deutschen Süden taucht wohl auf. Als ihn Ottheinrich
von der Pfalz nach Heidelberg ziehen wollte, schrieb er an Bbenz
(1557, C. B. IX, 144): „Ich lasse mich hier in diesem Skythenland
festhalten, ich weiß nicht, ist es mein Schicksal oder meine Ängstlich-
keit. Ein am Kaukasus angeschmiedeter Prometheus, so hange ich
hier, oder eigentlich ein Epimetheus; denn längst, schon vor 20 Jahren
hatte ich die gewichtigsten Ursachen und hab sie noch, aus diesem
wütenden WirrwaiT der Geister fort in die Ferne zu ziehen." Schon
sein Verhältnis zu Lütheb war nicht vertrauliche Freundschaft; es
beruhte von seiten Melanchthons auf der Verehrung der Tapferkeit
und Wahrhaftigkeit Lüthebs, die vielleicht eine kleine Beimischung
von Furcht hatte, von seiten Lüthebs auf der aufrichtigsten Hoch-
schätzung der intellektuellen Begabung und der wissenschaftliehen
Leistungen Melanchthons, von deren Unentbehrlichkeit für sein Werk
er tief durchdrungen war. Den übrigen Wittenberger Theologen da-
gegen stand Melanohthon zum Teil ganz fremd gegenüber; er war
ihnen verdächtig als einer, der nicht mit dem ganzen Herzen bei der
Sache sei; manche konnten sich der Furcht nicht erwehren, daß er
im Stande sei, um des Friedens und der Wissenschaften willen, den
reinen Glauben zu verraten. Seine Freunde sind unter den Humanisten.
Von allen am nächsten stand ihm Joachim Camebabiüs. Mit wie
zweifelndem Gemüt dieser dem Lauf der Dinge gegenüberstand, ist
bekannt; er wollte es gar nicht Wort haben, von der alten Kirche
abgefallen zu sein (Kampschulte, II, 271). Nicht minder blieb
Melanohthon mit Ebasmüs in freundschaftlichem Briefwechsel bis zu
dessen Tode. Auch zu den Fürsten der Gegenpartei unterhielt er
friedliche und freundliche Beziehungen. Dem König Ferdinand wid-
mete er 1529 seine Auslegung des Daniel, dem Kardinal Albrecht
von Mainz 1532 seinen Kommentar» zum ßömerbrief.
Diesem Mann fiel die Aufgabe zu, das gelehrte Unterrichtswesen
der neuen Kirche zu organisieren. Er hat sie mit unermüdlichem
Fleiß, mit großer Beharrlichkeit und Treue gelöst
Man kann die Verdienste Melanchthons um das protestantische
Studienwesen unter drei Gesichtspunkte bringen.
1. Er hat die Organisation der Universitäten und Gelehrten-
schulen geleitet. Die wesentlich von ihm geschaffenen Einrichtungen
der Wittenberger Universität und die von ihm entworfene kursächsische
Schulordnung vom Jahre 1528 erlangten vorbildliche Bedeutung. Auch
hat Melanchthon durch persönliche Gegenwart und briefliche Be-
ratung bei sehr vielen Neugründungen und Reorganisationen von Uni-
versitäten und Schulen unmittelbar mitgewirkt.
206 //, 2. Die Anschauungen der Reformatoren vom gelehrten Unterricht
2. Er hat den protestantischen Schulen und Universitäten
ihre Lehrer gebildet. Ein sehr großer Teil der hervorragenderen
Lehrer, Professoren und Organisatoren ist aus seiner Schule hervor-
gegangen. Als er nach zweiund vierzigjähriger Wirksamkeit starb, da
wird es nicht viele Städte im protestantischen Deutschland gegeben
haben, in der nicht ein Lehrer oder Pfarrer den Tod seines Lehrers,
und vielleicht auch seines persönlichen Beraters und Leiters betrauerte.
Denn in einem wahrhaft erstaunlichen Umfang hat Melanchthon
auch in den persönlichen Lebensweg seiner Schüler eingegriffen. Sein
unermeßlich umfangreicher Briefwechsel, der noch täglich durch neue
Funde vor unsem Augen an Ausdehnung gewinnt, zeigt seine wahr-
haft einzige Stellung. Wo immer ein Fürst für seine Universität einen
Professor, eine Stadt für ihre Schule einen Rektor oder Lehrer suchte,
da war ihr erster Gedanke, Melanchthon um seinen Bat zu bitten.
Er hat diese einzige Stellung, die allein auf dem Vertrauen zu seiner
Person beruhte, mit großer Diskretion und Gewissenhaftigkeit erfüllt
Zu einer Zeit, die in der Ausbeutung der Gunst der Großen zu per-
sönlichen Zwecken sehr unbedenklich war — die humanistische Litte-
ratur besteht zum großen Teil aus Anbohrungsversuchen fürstlicher
und städtischer Kassen durch das Mittel lateinischer Reden und Verse
— hat Melanchthon seine Hände rein erhalten. Er hat wohl für
andere die fürstliche Munificenz angesprochen, für seine Person wehrte
er eher ab, auch was freiwillig angetragen wurde.
3. Er hat dem gelehrten Unterricht die Lehrbücher ge-
schrieben. Die lange Reihe der von ihm verfaßten und immer wieder
überarbeiteten Lehrbücher umfaßt ungefähr den ganzen gelehrten
Unterricht: lateinische und griechische Grammatik, Rhetorik und Dia-
lektik, Psychologie und Physik, Ethik und Geschichte, und dazu die
theologische Dogmatik. Alle sind aus der Praxis des Unterrichts her-
vorgewachsen. ^
* Man findet diese Schriften jetzt alle im Corpus Reformatorum ab-
gedruckt, vor jeder alle wünschenswerten litterar-historischen Nach Weisungen.
Ich komme später (im 6. Kapitel) hierauf zurück. Eine ausführliche, zuver-
lässige, aus den Quellen geschöpfte Darstellung der gesamten Thätigkeit
Melancuthons als Lehrer und Gelehrter giebt jetzt das Werk Karl Hart-
FELDERS, M. als ProeceptoT Gemumiaej 1889 (Mon. Germ. Paed. Bd. VII).
Analekten bietet derselbe in den Melanchthoniana Paedagogica (1892), denen
auch ein guter Lichtdruck nach einem vortrefflichen Porträt von Holbein (jetzt
in Hannover) beigegehen ist; es stellt den Praeeeptor Germania^ sehr viel
schlichter und menschlicher, also wohl auch wahrhafter dar, als das bekannte,
etwas theatralisch zugestutzte Bildnis von Dürer mit dem wirren Haar und den
„geschreckten^* Augen.
Mdanchthon über Ziele und Mittel des gelehrten Unterrichts. 207
Über Aufgabe und Ziel des gelehrten Unterrichts hat sich Me-
iiANCHTHON lii einer langen Beihe akademischer Reden (declamationes)
ausgesprochen, die er selbst gehalten oder für andere geschrieben hat.
Das Ziel des allgemein- wissenschaftlichen Unterrichts, in den sich die
Schulen und philosophischen Fakultäten teilen, setzt er mit dem Huma-
nismus in die Eloquenz, d. h. die Fähigkeit des sprachrichtigen,
logisch durchsichtigen und sachkundigen Vortrags, natürlich
in der gelehrten Sprache. Sie wird erworben durch sprachlich-litte-
rarischeu und philosophischen Unterricht. Jenen giebt der grammatisch-
rhetorische Kursus der Schulen , diesen der artistische Kursus der Fakul-
täten. Worte und Sachen, Vortrag und Erkenntnis sind die beiden
Seiten des einen Ziels; auf der unteren Stufe steht die erste Seite im
Vordergrund, auf der oberen tritt die letztere mehr hervor. — Auf
diesem Unterbau allgemein-wissenschaftlich-formaler Bildung kann dann
die wissenschaftliche Fachbildung der oberen Fakultäten vor allem auch die
Theologie sich erheben. Und das ist nun der eigentliche Mittelpunktseiner
hodegetischen Deklamationen : eine gründliche theologische Bildung ist
ohne philologischen und philosophischen Unterbau unmögUch.
Im Jahre 1521 hatte er in einer Rede das theologische Studium
aufs höchste empfohlen: wenn nicht die Theologie Anfang, Mitte und
Ende des Lebens sei, hörten wir auf, Menschen zu sein und fielen ins
Tierische zurück (C. R. XI, 44). Alle folgenden Reden dagegen sagen,
wenn wir nur theologische Studien treiben, fallen wir in die Barbarei
zurück. Das Lob der Eloquenz (1523) wurde schon erwähnt, es
empfiehlt die artes dicendi als die ersten und schönsten der mensch-
lichen Künste. In der Rede über die Dialektik (1529) stellt er als
Prinzip auf: da niemand mehr und wichtigere Dinge wissen muß als
der Theologe, so darf er nicht in den übrigen Disziplinen unwissend
bleiben; von ihm wird Rat in den wichtigsten Angelegenheiten ver-
langt, er hat nicht nur über das Privatleben der übrigen, sondern
auch über die Staatsgesetze sein Urteil abzugeben (XI, 162). Aus
diesem Gesichtspunkt wird dann in zwei späteren Reden (de ordine
discendi 1531, und de philosophia 1526, XI, 209 ff, 278 ff.) die Not-
wendigkeit dargethah, daß der Theolog, wie auch die anderen Fakul-
täten, den ganzen philosophischen Kursus durchlaufe. Eine ungebildete
und unwissenschaftliche Theologie gebiert ein Heer von tTbeln. Gram-
matik und Dialektik (worin auch die Rhetorik eingeschlossen ist),
Physik mit Psychologie, Moral und Geschichte, Mathematik und Astro-
nomie, keine dieser Disziplinen ist entbehrlich; auch genügt nicht ein
Kosten, sondern man muß die ganze Disziplin gründlich und metho-
disch erlernen. Freilich nicht die alte sophistische Philosophie ist
208 //, 2. Die Anschauungen der Reformatoren vofn gelehrten Unterricht.
wieder herzustellen, sondern eine gebildete Philosophie thut uns not.
Eine solche ist die aristotelische. Die übrigen Schulen, die stoische
und die epikureische u. s. f., sind alle voll von Sophistik, Aristoteles
sucht einfältig, ohne Streitsucht, die Wahrheit, er liebt die maßvollen
Ansichten. Aristoteles, so wird in einer Kede de Äristotele (1537,
XI, 342; variiert 1544, XI, 647) ausgeführt, habe vor allem das Ver-
dienst, daß er die Disziplinen in ihrem ganzen Umfang in Lehrbüchern
dargestellt hat; auch fehle es ihm keineswegs an Eloquenz. In dem
letzteren Stück sei ihm Plato allerdings überlegen, aber diesem gehe
eben der methodische Gang der Untersuchung und Darstellung ab
(de Piatone 1538, XI, 413). So kehrte Melanchthon zu seiner ersten
Lebensaufgabe, der Wiederherstellung des aristotelischen Studiums, zurück.
In einer seiner letzten Reden kommt er auf das Thema seiner
Antrittsrede zurück: über das Studium der griechischen Sprache
(1549 von seinem Schüler und Kollegen Vitus Winshemius vorge-
tragen, XI, 855 flF.). Er legt darin den einzigen Wert dieser Sprache
der Universität nochmals dringend ans Herz: ohne sie giebt es keine
wahre Gelehrsamkeit und vor allem keine wahre Theologie. „Welche
Glückseligkeit, mit dem Sohne Gottes, den Evangelisten und Aposteln,
dem divus Paulus ohne Dolmetsch sich unterreden können.^* Wie
eifrig müßten wir sein diese Sprache zu lernen, da wir selbst barbarische
Sprachen lernen, um mit einem ausländischen Fürsten ohne Dolmetsch
reden zu können; lassen doch um schnöden Gewinnes willen Kaufleute
ihre Kinder fremde Sprachen lernen! Wahrlich, wenn es möglich wäre,
sollten alle Menschen diese Sprache lernen, wenigstens aber alle, welche
Gott zum Studium der Wissenschaften und der Lehre berufen hat. —
Und wie freundliche Lehrer den Knaben Backwerk geben, sie anzu-
locken, so hat auch der allmächtige Gott diese Sprache selbst zur
allersüßesten gemacht, keine gleitet mit so lieblichem Klang ins Ohr.
Und er hat sie gefüllt mit mannigfacher Würze der schönsten Künste.
Sie ist die Lehrerin und Quelle aller Teile der Philosophie, heilige
und profane Geschichte, Ethik und Politik, Mathematik und Astronomie,
Physik und Medizin fließen aus ihr. Die lateinische Sprache selbst,
was sie an Eleganz und Schönheit hat, das hat sie aus den griechischen
Quellen. Ja, ohne Griechisch ist es ganz unmöglich, die lateinische
Sprache rechtschaffen zu treiben, wie die Barbarei des Mittelalters hin-
länglich zeigt; aus welcher Barbarei wieder das Verderbnis der Religion
und der Sitten entsprang, denn schlechte Sitten sind das Gefolge bar-
barischer Rede. Darum, wenn wir des gegenwärtigen liichts über-
drüssig sind und in die frühere Finsternis zurückwollen: es giebt keinen
kürzeren Weg, als das Aufgeben des Griechischen." —
II, 3, Neubegründung der ühiversääten in den proiestant, Gebieten. 209
Im Jahre 1543 hatte die Stadt Soest sich seinen Bat in Sachen
des Schulwesens erbeten. Er antwortete mit der kleinen Schrift ,,von
Anrichtung der Lateinischen Schul'' (C. B. Y, 1 24). Ihr Inhalt deckt
sich ganz mit Luthebs Schrift an die Batsherren: Schulen sind not-
wendig um der Erhaltung der reinen Lehre willen; ohne die Bibel
kein Heil und ohne die Sprachen kein Verständnis der Bibel: y,ohne
Verstand der Sprachen kann man das alte und neue Testament nicht
lesen, dazu bedarf man auch allerlei Historien, Geographie, Bechnung
der Zeit und ander Künsten, so man die göttliche Lelire ordentlich
und verstandiglich fassen will; und sind in Summa die löblichen Künste
eine große Zier der Kirchen." Und darum sind die Obrigkeiten
schuldig Schulen zu errichten und zu erhalten.
Drittes Kapitel.
Neubegründimg der Universitäten in den protestantischen
Gebieten,
Nachdem der Versuch der Bauern, die Freiheit von dem alten
Kirchenregiment zur Befreiung auch von anderen unerträglichen Lasten
zu benutzen, in Blut und Grauen erstickt war, begannen die protestan-
tischen Fürsten in ihrem Gebiet Sonderkirchen unter landesherrlichem
Begiment zu errichten. Schon im Herbst 1525 wurde in Sachsen von
dem neuen Kurfürsten die Messe, mit Luthers Bat, als Götzendienst
verboten, freilich eine Einmischung der Obrigkeit in religiöse Dinge,
die mit der Stellung, die ihr Lutheb in der Schrift „von weltlicher
Obrigkeit** (1523) giebt, schwer vereinbar ist; verwirft er hier doch
jede obrigkeitliche Gewalt in Glaubenssachen als Eingriff in Gottes
Begiment, so sehr, daß er auch die von den katholischen Landesherren
gebotene Auslieferung des neuen Testaments den Unterthanen „bei
Verlust der Seligkeit" untersagt: „denn wer es thut, der übergiebt
Christum dem Herodes in die Hände, denn sie handeln als Christ-
mörder, wie Herodes". Freilich, das waren Gebote „papistischer" Obrig-
keiten gewesen. Und vielleicht muß man sagen, es war ein Standpunkt,
der sich nicht festhalten ließ; Indiflferenz der weltlichen Gewalt in
Beligionssachen war im 16. Jahrhundert noch unmöglich; die Sache
stand auf entweder — oder, es galt Hammer oder Amboß zu sein.
Andererseits ist gewiß, daß der Standpunkt Luthebs von 1523 zum
Evangelium besser stimmt; und vielleicht wäre doch auch eine Ent-
Paulsen, Untorr. Zweite Aufl. I. 14
210 //, 3, Neilbegründung der Universitäte^i in den Protestant. Gebieten.
\
Wickelung, ja eine truchtbarere Entwickelung des Protestantismus unter
Festhaltung des Prinzips der Nichteinmischung der weltlichen Gewalt
möglich gewesen; er hätte dann auch innerlich freier und größer sich
entwickeln müssen, als es nun in den Landeskirchen bei der Um-
klanunerung mit allerlei politischen Interessen geschehen konnte.
Doch es ist vergeblich, diesen Möglichkeiten nachzuhangen. Das
„Evangelium" — und Lutheb ließ es geschehen — wurde zu einem
neuen Dogma und das Dogma wurde zum Eckstein, auf dem sich nun
ein neues Kirchenregiment, das landesherrliche, aufbaute. In den Jahren
1527 — 29 fanden, nachdem schon früher kleine Anfange gemacht waren,
in den sächsisch -thüringischen Ländern die ersten landesherrlichen
Kirchen- und Schul Visitationen statt; der Kurfürst bestallte zu Visita-
toren Juristen und Theologen; ihr Auftrag war, die neue Lehre durch-
zuführen; die Anhänger des Alten wurden belehrt, verwarnt und im
äußersten Fall beseitigt; zugleich war man bemüht, die kirchliche Zucht
der Gemeinden wieder aufzurichten und die Ausstattung der Pfarrstellen
zu ordnen.^ In den aus geistlichen und weltlichen Gliedern zusammen-
gesetzten Konsistorien erlangte die neue kursächsische Landeskirche
gegen Ende der 30 er Jahre endlich ein ständiges Kirchenregiment, das
die Aufsicht über Lehre und Leben der Geistlichen und Gemeinden im
Auftrag des Landesherm handhabte.
Nachdem im Nürnberger Eeligionsfrieden (1532) die Duldung der
Neuerungen bis auf ein Konzil förmlich ausgesprochen war, fielen der
Reformation, die sich politisch als Schmalkaldischer Bund konstituierte,
in schneller Folge alle größeren weltlichen Territorien, ausgenommen
Österreich und Bayern, zu. Das deutsche Ordensland und Ansbach-
Baireuth waren schon früher reformiert; es folgten Württemberg und
Pommern, das Albertinische Sachsen und Brandenburg, Mecklenburg
und Kurpfalz. Die großen Städte, Nürnberg, Augsburg, Ulm, Straß-
burg, Frankfurt, Magdeburg, Hamburg, Lübeck, Bremen u. a. waren
schon vorangegangen. Auch Dänemark, Schweden, England waren von
Rom abgefallen. Erst mit dem Sieg des Kaisers über den Herzog von
Kleve (1543) kam die Bewegung zum Stillstand. Der Übertritt der
^ In C. A. BüBCKHARDTS Geschichte der sächsischen Kirchen- und Schul-
visitationen von 1524 — 1545 findet man eine Fülle von Nachweisungen über die
kirchlichen, sittlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit in den
sächsischen Ländern; die Widerstände und Schwierigkeiten aller Art, mit denen
die neue Lehre und die Wiederaufrichtung eines Kirchenregiments zu kämpfen
hatten, treten einem hier in konkreter Gestalt vor Augen. Ein interessantes
Schema der Examinationsfragen an die Geistlichen und die Bauern vom Jahre
1533 S. 142.
Wittenberg. Statuten der theol. Fakultät von 1533. 211
großen geistlichen Fürstentümer in Westdeutschland, der vor der Thür
stand, kam nicht mehr zur Ausführung.
Dem Beitritt zur Reformation folgte alsbald in allen Territorien »
die Aufrichtung eines gelehrten Unterrichtswesens in dem Sinn
und meist unter dem Beirat Melanchthons. Vor allem war die Refor-
mation der vorhandenen oder die Begründung einer neuen Univer-
sität eine unabweisbare Fordening. Die theologischen Fakultäten waren '
ein notwendiges Komplement des neuen weltlichen Kirchenregiments.
Ihnen fiel die Feststellung der Lehre, die Vorbildung und die Exami-
nation der Prediger der neuen Kirche zu. Die Priester der alten Kirche
hatten ihren Charakter durch die vom Bischof erteilte Weihe erhalten ;
Wissenschaft war ein nicht durchaus erforderliches accidens. Die Kennt-
nis der lateinischen Sprache wurde gefordert, der Besuch einer Universität
war erwünscht, aber durchaus nicht notwendig, nur für die höheren
Würden war er gewöhnliche Voraussetzung, wenigstens da, wo nicht
die Geburt den Mangel der Wissenschaft zudeckte. Die Absolvierung
des theologischen Kursus war eine Seltenheit^ Die neue Kirche leugnete n
den sakramentalen Charakter der Weihe; die gelehrte theologische Vor-
bildung erhielt dadurch die Bedeutung des wesentlichen Erfordernisses
für das Predigeramt. Auch die Funktion des geistlichen Amts erlitt
eine entsprechende Veränderung; der Schwerpunkt des Gottesdienstes,
welcher bisher in der Verwaltung des heiligen Opfers gelegen hatte,
wurde jetzt in die Predigt gelegt. Offenbar hat für diese Funktion
wissenschaftliche Bildung viel größere Bedeutung als für jene. Die
Prediger der neuen Kirche wirken wesentlich durch ihre Persönlichkeit,
die Priester der alten wesentlich als Organe der Kirche.
Ich will nun in diesem Kapitel über die einzelnen protestantischen
Universitäten berichten, um dann im nächsten eine zusammenfassende
Darstellung des Zuständlichen zu geben.
Ich beginne mit Wittenberg, der führenden Universität, weshalb
hier auch eine etwas eingehendere Behandlung am Ort zu sein scheint.
Die Neugestaltung der Universität vollzog sich in den 30 er Jahren. \
1533 erhielt die Stadt Wittenberg ihre Kirchen- und Schulordnung.
In demselben Jahre wurde auch die theologische Fakultät mit neuen
Statuten versehen (abgedruckt bei Förstemann, liber Decanorum, 153fiF.).
Es kommt darin die Umgestaltung der theologischen Wissenschaft
durch die Reformation zum Ausdruck. An die Stelle der rationalen
oder philosophischen Theologie ist die schriftmäßige oder philologische
* Einige Nachweisungen hierüber in meinem mehrfach erwähnten Au&atz
in Stbels Zeitschrift, 1881.
14*
212 //, 3, Neuhegründung der Universitären in den Protestant. Gebieten,
getreten. Drei Professoren sind vorhanden; dazu kommt der Pfarrherr
von Wittenberg als vierter Legent Die beiden ersten Professoren sollen
bestandig viermal wöchentlich eine Stunde, der erste über ein Buch
des neuen, der andere über ein Buch des alten Testaments lesen; aus
jenem sind die Briefe an die Römer und Galater und das Johannes-
evangelium, aus dem alten Testament die Psalmen, die Genesis und
Jesaias beständig zu behandeln, dazu bisweilen Augustinus' Buch de
spirihi et litera. Der dritte Professor soll zweimal wöchentlich die
übrigen Briefe Pauli, die Briefe Petri und Johannis lesen und zweimal
predigen, der Pfarrherr ebenfalls zweimal wöchentlich eine Stunde das
Matthäusevangelium, das Deuteronomiom und zuweilen einen kleinen
Propheten lesen. Die Sentenzen des P. Lombardus, das alte Kompen-
dium der dogmatischen Theologie, werden ausdrücklich abgeschafft
Zur kirchlichen Behörde wird die theologische Fakultät durch zwei
Bestimmungen. Ein oder zweimal im Jahr soll der Dekan alle Audi-
toren der Theologen zusammenrufen und einige prüfen und aufschreiben,
damit sie den benachbarten Kirchen auf Verlangen nachgewiesen werden
können. Sodann wird der Fakultät die Überwachung der Lehre an-
vertraut: wie in den Kirchen und Schulen unseres Gebiets, so wollen
wir auch auf der Universität, welche stets die Leitung und Censur der
Lehre haben muß, die reine evangelische Lehre in Übereinstimmung
mit dem Bekenntnis, welches wir 1530 zu Augsburg dem Kaiser Carl
übergeben haben, fromm und treulich vorgetragen, erhalten und fort-
gepflanzt haben: denn diese Lehre ist, wie wir gewißlich feststellen, der
wahre und ewige Ausdruck (consensus) des Glaubens der allgemeinen
Kirche Gottes. Wenn eine Meinungsverschiedenheit sich erhebt, so soll
die Sache an den Rektor und das Konsilium der Universität gebracht
werden; und wenn die Bedeutung der Sache es erfordert, berichten
diese dem Fürsten und bestellen mit ihm gemeinsam, sonst aber allein,
tüchtige Richter. Diese untersuchen die Angelegenheit und appro-
bieren durch ihr Urteil die wahre Ansicht und verdammen die falsche.
„Die falschen Ansichten dürfen dann nicht verteidigt werden; wenn
jemand sie hartnäckig verteidigt, soll er mit solcher Strenge bestraft
werden, daß er die schlechten Meinungen nicht weiter verbreiten kann"
(FÖBSTEMAHN, 154).
Man sieht, die revolutionäre Ära der Reformation liegt hinter ihr.
Derselbe Luther, der vor zwölf Jahren es für unvereinbar mit seinem
Gtewissen erklärt hatte, der auf dem Konzil vereinigten Christenheit
die Feststellung der Glaubensformeln anheimzugeben, nahm jetzt für
die Wittenberger Fakultät, denn darauf kommt die Sache heraus,
die unwidersprechliche Entscheidung in Glaubenssachen in Anspruch.
Wittenberg, Luthers Stellung zur Lehre. 213
Luther war von 1535 bis zu seinem Tode ohne Unterbrechung Vor-
steher dieser Fakultät. — Im Jahre 1535 kam der päpstliche Legat
Vbeobbius nach Wittenberg. Er ließ Lutheb um seinen Besuch bitten.
Auf dem Wege dahin sagte Luther lachend zu dem ihm begleitenden
Bugenhagen: „da fahren der deutsche Papst und Kardinal Pomeranus,
Gottes Werkzeuge".^
' KösTLiN, Lnther, U, 880. Von einem nicht genannten Referenten in der
Evangelischen Kirchenzeitong ist mir auch diese SteUe aufgemutzt worden:
natürlich sei die Äußerung als Scherz gemeint Nun, das ist auch mir nicht
entgangen; aber der Anonymus scheint nicht zu sehen, daß dieser Scherz —
und LuTHEB spielt öfter mit der Vorstellung — nur möglich war auf dem Hinter-
grunde bitteren Ernstes; für Luthers Stellung, wie er sie noch Jahrhunderte
lang nach seinem Tode eingenommen hat, war wirklich keine andere Analogie
zu finden, er war für einen Teil Deutschlands an die Stelle des Papstes ge-
treten. — Es ist die alte Sache: Brutus soll Cäsar sein! so schreit ein be-
geisterter Republikaner bei Shakespeare, als der wirkliche Cäsar eben durch
Brutus* Hand gefaUen ist. Wie damit Brutus ad absurdum geführt wird, so
führt durch den obigen „Scherz*' Luther sich selbst ad absurdum. Das Wort
Gottes genügt nicht als regula fideiy es ist doch wieder eine persönliche Auto-
rität notwendig, die in Sachen der Lehre entscheidet, so sagt der Luther von
1535 und widerlegt damit den Luther von 1521, der sich von niemand auf
Erden den Glauben will weisen lassen, es sei denn, daß er selbst die Richtig-
keit aus Gottes Wort erkenne. Wäre er konsequent in der Verwerfung aller
menschlichen Autorität geblieben, so hätte er sagen müssen: über die Auslegung
der Schrift giebt es keine entscheidende Instanz; jeder glaubt und irrt auf seine
eigene Gefahr. — Freilich, das ist nicht die Art der Menschen; so sehr sie
geneigt sind, fremde Autorität zu verwerfen, ebenso sehr sind sie bereit, die
eigene aufzurichten. Es ist eine Wurzel, aus der das Verlangen nach Freiheit
und das Verlangen nach Macht aufwächst. Am wenigsten ist es Luthers Art,
fremde Überzeugungen als gleichberechtigt zu achten. „Meine Sache ist Gattes
Sachets ^^ i^^ ^^' wider mich ist in der T^ehre, nicht von Grott, sondern vom
Teufel, wie z. K Heinz Wolfenbüttel; diese Schlußart, die Luther im Kampf
mit dem Papsttum geläufig geworden war, wendet er dann gegen jedermann.
So in der Vorrede zu der Schrift „Wider den falsch genannten geistlichen Stand
des Papsts und der Bischöfe^* (1522): „Ich will mich hören lassen und meiner
Lehre Ursach und Grund beweisen vor aller Welt, und sie ungerichtet haben
von jedermann, auch von allen Engeln. Denn sintemal ich ihrer gewiß bin,
will ich durch sie euer und auch der Engel Richter sein, daß wer
meine Lehre nicht annimmt, daß der nicht möge selig werden.
Denn sie ist Gottes und nicht mein, darum ist mein Gericht auch
Gottes und nicht mein.^' Mein Gericht ist Gottes und nicht mein, und wer
anders lehrt, ist vom Teufel, so spricht der Papst und so spricht Luther; und
wie jener, so verlangt auch er Gehorsam, ist bald auch bereit, die Unterstützung
des weltlichen Arms gegen Ungehorsame, wie die „Schwarmgeister^* und Täufer,
in Anspruch zu nehmen. Begreiflich und menschlich: worauf sich Luthbr 1521
gegen die Päpstlichen gesteift hatte, daß er nicht aus der Schrift widerlegt
werden könne, das erfuhr er nun selbst im Kampf mit den „Schwarmgeistern'*:
man konnte sie nicht aus der Schrift widerlegen; wo steht denn geschrieben,
214 //, .!/. Neubegründung der Universitäten in den Protestant, Gebieten,
Auch die theologischen Promotionen wurden wieder hergestellt.
Sie hatten seit 1523 geruht. Karlstadt hatte bei der letzten Promotion,
daß man Kinder taufen oder nicht mehr als ein Weib zur Ehe haben boU? Zur
Widerlegung der Ketzer braucht man eine narma fidei, und zwar eine lebendige,
von F'all zu Fall entscheidende. Der Grundsatz von 1521: von keiner Autorität
auf Erden sich den Glauben vorschreiben lassen, ist anarchistisch, dabei kann
es keine „Kirche", mit examen doctrinae der Kandidaten und Visitation der
(tcistlichcu, geben. Das sahen jetzt auch die Reformatoren und so blieb ihnen,
sollte and(irs eine „Kirche" sein, nichts übrig, als ihre eigene Autoritfit an
Stelle der Autorität des Papstes und der Konzilien aufzurichten. Nur sind sie
in einem ärgerlichen Punkt im Nachteil: gegen den späteren Luther kann man
sich immer auf den Luther von Worms berufen. Der Ausgangspunkt und die
Rechtfertigung der ganzen Reformation war die prinzipielle Verwerfung aller
menschlichen Autorität in Sachen des Glaubens. Luther als Papst — es bleibt
doch ein unerfreulicher Anblick. Und wer einen Papst nötig hat, dem wird
doch immer zu raten sein, sich an den echten Papst zu Rom zu halten. — Wer
sich aber an den Luther von 1521 hält, der wird sagen: können die Ketzer
aus der Schrift nicht widerlegt werden, nun, so scheint das ein Beweis dafür
zu sein, daß Gott an der Widerlegung der Ketzer nicht so sehr gelegen ist.
Sonst würde er seine Offenbarung, statt in Evangelien und Episteln, in Pro-
pheten und Psalmen, vielmehr in Katechismen und Paragraphen verfaßt haben.
Ich sage das alles nicht, um gegen Luther vergebliche Anschuldigungen zu
richten, sondern um die Situation zu kennzeichnen, eine Situation, die bis auf
diesen Tag dauert. Der Bruch in Luther ist heute noch als Bruch im Prinzip
der protestantischen Kirche. Es kann keine irdische Autorität in Sachen des
Glaubens geben, imd: es muß eine solche geben, das ist die Antinomie, die in
ihren Ursprung gelegt ist. Die Antinomie ist auch nicht zuföllig, sie liegt in
der Natur der Sache, der Name der „protestantischen Kirche" selbst drückt sie
aus. Soll eine „Kirche" sein, so muß Einheit des Glaubens sein, so muß der
Einzelne sich und seinen „Glauben" unter den „Glauben" der Gemeinschaft
unterordnen. Und das zu thun ist er schuldig, denn Religion kann es nur in
einer Gemeinschaft, einer Kirche geben, der Einzelne als solcher hat keine
Religion. So die eine Seite. Aber dem steht die andere gegenüber: soll Glaube
sein« Glaube im protestantischen Sinne, so muß der Einzelne selbst für sich
einstehen; Glaube ist «las persönliche Verhältnis des Individuums zu Gott; hier
giebts keine Instanz, die für es eintreten könnte; der Glaube der „Kirche* hilft
mir nicht; mir hilft nur mein Glaube, und stimmt mein Glaube nicht mit
Glauben und Lehre anderer, so kann ich doch nicht daraufhin von ihm lassen,
ohne eben meinen „Glauben" als solchen zu verlieren. So sitzt der Widerspruch
im Wesen der „protestantischen Kirche". — Vielleicht muß man übrigens sagen:
ohne diesen Widerspruch wäre der IVotestantismus geschichtlich nicht möglich
gewesen: auf Grund des „Glaubens" riß sich Luther von der römischen Kirche
los; aber ohne die Fassung des »Glaubens" in ein durch eine Landeskirche ge-
■ehfitites „Bekenntnis" wäre die römische Herrschaft meder hergestellt worden:
einen undogiuatisehen, kirchlich nicht geschlossenen Protestantismus hätte im
19. Jahrhundert die Reaktion nieder überwältigt. Das sah Luther mit der Sicher-
lieit des Instinkts und diesem Instinkt mußte die Logik weichen. Cbrigens hat es
uiemiib eine Revolution gegeben, die mit der Logik zurecht gekommen wäre.
Wittenberg, BeformcUion der Universität van 1536, 215
die er vollzog, Grewissensskrupel gehabt wegen Matthäi 23, 10: ihr
sollt euch nicht Meister nennen lassen. Dazu kam, daß die Promotionen
bisher offenbar im Namen und Auftrag der höchsten Kirchenbehörde,
d. h. also in Lüthebs Redeweise, des Teufels geschahen; und femer,
daß der Wittenberger Universität, nachdem sie in jenem Auftrag nichts
mehr unternehmen wollte, eine Autorität zu promovieren nicht bei-
wohnte. Aber die Dinge forderten ihr Becht; und so ließ man sich
denn auch zu Wittenberg durch die Einrede des Evangeliums, so un-
zweideutig sie lautet, nicht auf die Dauer abhalten, Magister und Dok-
toren zu machen; es erwiesen sich eben Menschensatzungen als un-
entbehrlich zur Regelung des Lebens. Und über die mangelnde
Autorität tröstete man sich mit der Autorität der weltlichen Gewalt,
die ja nun auch das Eirchenregiment inne hatte. In diesem Sinne
spricht sich ein Gutachten Melanchthons aus, das für die Tübinger
Universität, wo die Frage besonders lebhaft erörtert wurde, verfaßt
ist^ In Wittenberg wurden 1533 in Anwesenheit des Kurfürsten die
ersten drei protestantischen Doktoren der Theologie kreiert (Föbste-
MANN, lib. Decan., p. 28).
Die Reformation der gesamten Universität erfolgte im Jahre 1536.
Im Album wird davon als von einer Neubegründung gesprochen.* Die
juristische Fakultät soll hiemach vier Professoren haben, von denen
jeder eine vierstündige Vorlesung halten soll, der erste aus den Pan-
dekten, der zweite aus den Dekretalen, der dritte aus dem Kodex, der
vierte aus den Institutionen. Auch die juristische Fakultät ist nicht
bloß Unterrichtsanstalt, sondern zugleich Spruchkollegium. Die medi-
zinische Fakultät soll drei Professoren haben, von denen der erste
über Hippokrates und Galenus, der zweite über Rhazes und Avicenna,
der dritte anatomicos libros lesen soll. Die philosophische Fakultät
erhielt 10 ordentliche Lektionen, welche von ebenso vielen Professoren an
den vier Wochentagen eine Stunde getrieben wurden: Hebräisch, Griechisch,
Poetik, Grammatik mit Terenzlektüre, zwei Lektionen in Mathematik
(eine niedere und eine höhere), Dialektik, Rhetorik, Physik, Moral. Am
Sonnabend soll abwechselnd disputiert und deklamiert werden; dieDekla-
* Camerariüs, Vita Melanchthons ed. Strobel, p. 163. Wieder kam die
Sache zur Erörterung bei der Gründung der Universität Königsberg, und auch
hier gaben Melanchthon und Camerariüs in demselben Sinn ihr Gutachten ab
(mitgeteilt bei Toppen, 307, vgl. 111 ff.). Auch in Basel fanden lebhafte Kontro-
versen über die Möglichkeit protestantischer Promotionen statt.
* Förstemann, Album, p. 159: 7 Mai Eleetor publice promtdgavtt hujus
aceatlemiae fundationem, donavit certos redfhis et omnium facultatum ae hone-
stamm dlsctplinarum perpertuas lectiones instituit Die Fundationsurkunde ist
in den Halleschen Universitätsschriften vom Jahre 1S82 veröffentlicht
\
216 //, .!^. Neubegründung der UmversUäten in den Protestant. Gebieten,
mationen liegen den Lektoren der Rhetorik, des Griechischen und des
Terenz ob; einmal im Jahr soll jeder Professor deklamieren. Die Mit-
wirkenden bei Disputationen und Deklamationen erhalten Prasenzgelder.
Die Gehaltsbezüge sind in folgender Weise festgestellt Die drei
theologischen Professuren wurden mit je 200 fl., die vier juristischen
mit 200, 180, 140, 100 fl., die drei medizinischen mit 150, 130, 80 fl.,
die artistischen mit je 80 fl., jedoch die hebräische und griechische
mit je 100 fl. dotiert Doch gehen die Bezüge einzelner Lehrer über
das Normalgehalt der Stelle hinaus. Melanchthon bezog 300, seit 1541
400 fl., ebenso?iel als Luther, ein für jene Zeit ganz ungewöhnlich
hohes Professorengehalt
Die Ordnung des Unterrichts der philosophischen Fakultät ist
offenbar nach den Angaben Melanghthons gemacht, dessen auch am
Eingang als Tragers der sprachlichen Studien gedacht wird. Zu den
Vorlesungen, auf die ich zurückkomme, treten wie auf der mittelalter-
lichen Universität Übungen hinzu. Melai^ghthon hatte seit den
20 er Jahren unablässig die Unentbehrlichkeit der Übungen betont
Dieser Forderung entspricht die obligatorische Einführung von Dekla-
mationen und Disputationen.
Die Deklamationen, welche die Scholaren unter Anleitung der
Professoren zu halten haben, gleichen unseren Schulaufsätzen, nur daß
der Vortrag hinzukommt; die stiiistisch-oratorische Form ist dabei die
Hauptsache; die Absicht ist, die Schüler anzuleiten, über ein gegebenes
Thema in korrektem Latein und mit angemessener Disposition schrift-
lich und mündlich sich auszusprechen. Moralische Gemeinplätze,
historische Laudationen, loci aus der Katechese u. s. f. bilden den
Gegenstand der Deklamationen.
Die Disputationen standen von jeher in engstem Zusammenhang
mit den Promotionen. Auch ihre Herstellung hatte sich Melangh-
THON längst angelegen sein lassen. Schon in einer Deklamation von
' 1525 {de gradibus discentium, C. R. XI, 98 ff.) betont er den Wert der
Einrichtung; sie sei jetzt verfallen, wie denn die Menschen zur Ab-
schaffung aller alten Sitten und aller bürgerlichen Ordnung verschworen
zu sein schienen. Im Jahre 1528 fand wieder eine Magisterpromotion
> statt, im folgenden auch eine Baccalariatspromotion, wie es in der dabei
gehaltenen Rede heißt, nach längerer Unterbrechung (XI, 181). Die
declamatio de ordine discendi (1531, XI, 209 ff.) entwickelt die Not-
wendigkeit eines geordneten, stufenweis fortschreitenden Unterrichts-
ganges, damit der Scholar nicht wie es seine Neigung sei und wie die
Eltern es zu begünstigen pflegten, ad superiora properiere. In dieser
Absicht seien die Grade eingeführt und beizubehalten. Als Gegenstande
Wittenberg. Reformation der Universität von 1536, 217
der Baccalariatsprüfang werden die alten genannt, Grammatik nnd
Dialektik, dazu aber ein neuer: die Elemente der Eirchenlehre; bei
welcher Gelegenheit zugleich der Samen etwaiger Irrtümer ausgereutet
wird (188). In der Prüfung der Magistranden wurde in den her-
kömmlichen philosophischen Disziplinen, Mathematik, Astronomie, Physik,
Ethik geprüft. Auch die Kenntnis der griechischen Sprache wurde
von den Magistranden gefordert, wie aus einem Anschlag Melanchthons
(C. R. X, 87) hervorgeht. Mit der Herstellung der Promotionen kehrten
nun auch die philosophischen Disputationen, die das Gespött der Hu-
manisten gewesen waren, wieder. Melanchthon a-pricht sehr ein-
dringlich ihre Notwendigkeit aus; in der Ankündigung, womit er als
Rektor den Beginn der ordentlichen Disputationen anzeigt (17. Nov. 1536,
C. R. III, 189) heißt es: eine Schule ohne Disputationen ist kümmer-
lich und verdient gar nicht den Namen einer Akademie.
Sodann ist das Pädagogium zu erwähnen, das als Vorschule der
philosophischen Fakultät eingerichtet und unter die Leitung eines
Magisters gestellt wurde. Es hat die Aufgabe, jungen Leuten, die für
die öflFentlichen Vorlesungen noch nicht die Reife haben, vor allem
weil sie in der lateinischen Sprache noch nicht hinlängliche Kenntnis
besitzen, schulmäßigen Unterricht zu geben. Auch damit wurde einer
alten Forderung Melakchthons entsprochen. Er selbst hatte früher
junge Leute, die ihm empfohlen waren, zu sich ins Haus genommen und
ihnen den notwendigen Schulunterricht erteilt. Das ist die sogenannte
schola privata Melanchthons, von der in den Briefen aus den 20 er
Jahren öfters die Rede ist. Die anspruchslose und ohne Zweifel löb-
liche Sache ist von panegyrischen Darstellungen als Beweis seltener
Aufopferungsfähigkeit ausgemalt : daß sich der berühmte Kirchenrefor-
mator zum Unterricht von kleinen Knaben herabgelassen habe. Es
ist dabei übersehen, daß der öflFentliche Universitätsunterricht, wie ihn
Melanchthon erteilte, wesentlich auch nichts anderes als Schulunter-
richt war, und daß die Aufnahme von Pensionären ins Haus bis ins
18. Jahrhundert hinein eine ganz gewöhnliche Sache blieb; sie brachte
ohne Zweifel dem jugendlichen Magister und seinem jungen Haushalt
einen erwünschten Zuwachs zu dem anfangs schmalen Einkommen;
hatte er doch, wie er Ende 1524 an Spalatin schreibt, seiner Frau
während ihrer vierjährigen Ehe noch kein neues Kleid kaufen können
(C. R I, 697).
Endlich ist einer wichtigen Einrichtung zu gedenken: der Unter-
haltung von Stipendiaten.^ Schon seit der Fundation von 1536
^ Kius, Das Stipendiatenwesen in Wittenberg und Jena im 16. Jahrhundert,
in Ilqens Zeitschrift für historische Theologie, XXXV. Bd., 1865.
)
218 II, 3, Neubegründung der Universitäten in den protestanL Gebieten,
f waren jährlich Gelder zur Erhaltung armer Studierenden zur Verfugung ge-
stellt worden. Nach der Sicherung der Erwerbung der Kirchengüter
durch den Landesherrn wurden die Einkünfte der Stifte Altenburg,
Gotha und Eisenach im Betrage von ca. 4000 fl. für diesen Zweck be-
stimmt Die Fundationsurkunde vom Jahre 1545 setzt die Verteilung
auf die Landesteile und auf die Stande fest. Von den 1 50 Stipendiaten
sollen 36 von Adel je 30 fl., doch ihrer 9 40 fl. jährlich beziehen;
28 Pfarrers- und 86 Bürgerssöhne sollen je 25 fl. erhalten. Auf den
Kurkreis entfallen 28, auf Thüringen 53, auf Meißen 50, auf das
Vogtland 19 Stipendien. Die namentlich aufgeführten Städte erhalten
das Präsentationsrecht für eine oder mehrere Stellen; die Dörfer sind
nicht beteiligt. Der Aufnahme geht ein Examen in Wittenberg vor-
her, worin der Kandidat Sicherheit in der Grammatik nachzuweisen
hat; auch muß er mindestens 14 Jahre alt sein; die Stipendien wer-
den halbjährlich zu Johannis und Neujahr, nach voraufgegangener
Prüfung ausgezahlt. Zunächst waren übrigens nicht alle Stipendien
verfügbar. Die Statuten von 1546 (C. R. X, 1013) wissen nur von
ungefähr 40 Stipendiaten. Nach einer neuen Fundation von Kurfürst
August von 1564 sollen 27 Stipendiaten gehalten werden, davon 20
Artisten, um 18 Jahr alt, mit je 40 fl., 4 Theologen, die schon den
philosophischen Magistergi*ad haben, mit je 90 fl., endlich 1 Mediziner
und 2 Juristen, die in linffua latina und studiis eloquentiae ziemlich
geübt sind, mit je lOOfl. Die großen Stipendien sollen auf 4 Jahre
verliehen werden, die Theologen dürfen nur in Wittenberg, die Juristen
und Mediziner können auch 2 Jahre außerhalb studieren. Gleichzeitig
gab der Kurfürst der Universität das Geld, um von Luthehs Erben
das Kloster anzukaufen und zum Kollegium auszubauen. Die Zahl der
Stipendiaten wurde durch eine neue Fundation desselben Kurfürsten
vom Jahre 1580 auf 150 gebracht, ebensoviel sollten auf der andern
kursächsischen Universität Leipzig gehalten werden. Doch scheinen
auch hier die Mittel nicht zugereicht zu haben. Die Zahl wurde 1584
auf 120 herabgesetzt, bis auf wohlfeilere Zeiten. Die Statuten von
1588 (FöRSTEMANN, Über Decan., 167) wissen sogar nur von 75 Sti-
pendiaten. — Übrigens scheint außer den Stipendien noch ein Zu-
schuß in Naturalien zur mensa communis im collegio geleistet worden
zu sein, damit auch andere arme Studenten um geringen Preis den
Tisch haben mochten.
Über die Ursache dieser Stiftungen spricht sich die Fundations-
urkunde von 1564 aus: die Sprachen und Künste würden so gering
geachtet, daß viele wohlhabende ansehnliche Leute sich schämten oder
beschwerten, ihre Kinder hier zu halten, so daß „fast nur armer
Wittenberg, Stipendiafenordnung. 219
Leut Kinder zum studio sich begeben, welche, ob sie gleich von
natürlichen Gaben ingenii und anderen wohl geschickt seien und etwas
löbliches in studio ausrichten könnten, doch Armut halber entweder
gar keine Universität besuchen mögen, oder da sie dieselbe gleich ein
wenig angesehen, aus großer Armut nicht lange daselbst verharren
können und sich allzu zeitlich zu Dienste begeben, da denn viel feiner
ingenia in gar geringen Diensten verliegen und verderben** (Gboh-
MANN, I, 69).
Die Landeskirchen hatten keine Prälaturen, welche vornehmer
Leute Kinder hätten anziehen können. Das weltliche Regiment bildete
in den protestantischen Territorien den ersten Stand, die Geistlichen
waren Beamte zweiter Klasse geworden.
Erwähnt, mag noch werden, daß die Universität seit den 30er
Jahren mit disziplinarischen Schwierigkeiten in wachsendem Maße zu
kämpfen hatte. Die Zuchtlosigkeit der Studenten verbitterte Luther
und Melanchthon ihre letzten Lebensjahre. Zahlreiche Zeugnisse hier-
über kann, wer sie sucht, jetzt bei Janssen (7, 185 flF.) zusammen-
gestellt finden. Allzu schlimm wird man übrigens die Sache sich
nicht vorstellen dürfen. Das Zusammenströmen von Tausenden junger
Leute aus allen Enden der Welt auf der jungen Universität in dem
kleinen Eibstädtchen, die beide nicht auf ihre Aufnahme vorbereitet waren
— oft wird über Dürftigkeit, Teuerung und Übervorteilung durch die
Hauswirte geklagt — mußte an sich die Disziplin erschweren; dazu
kam der Einfluß der neuen Vorstellungen von Freiheit und Menschen-
würde, wie sie Humanismus und Beformation in den Köpfen hervor-
riefen, sowie das Absterben der Lebensordnungen der mittelalterlichen
Universitäten, die in dem klösterlichen Leben ihr Urbild gehabt
hatten. Auch vergesse man nicht, daß Fleiß und Tugend nicht ebenso
wie allerlei Delikte Gegenstand offizieller Aufzeichnungen wird.
Eine genauere Einsicht in die Ordnung des Lehrkiirsus gewähren
die von Melanchthon zum Behuf der öffentlichen Vorlesung beim
Rektorats Wechsel im Jahre 1545 abgefaßten leges academiae und
leges collegii facultatis liberalium arfium, quas philosophia continet
(C. R. X, 992—1024). Das Lekturenverzeichnis stimmt im wesent-
lichen mit dem der Fundationsurkunde überein, nur ist eine Lektur
für den Vortrag der aristotelischen Physik, oflfenbar im Urtext, hinzu-
gekommen, dagegen die Lektur der Moral mit der griechischen vor-
läufig vereinigt. Auch in der Moralphilosophie soll die Ethik des
Aristoteles im Urtext erklärt werden. Von den übrigen griechischen
Autoren erklärt der Gräcist Homer, Hesiod, Euripides, Sophokles»
Theokrit, Demosthenes und einen Historiker; zuweilen auch einen Brief
220 //, 8, Neubegründung der Univermiäten in den Protestant, QebUten,
Pauli, in grammatisch-sprachlicher Hinsicht, damit die Schüler sehen,
daß zum Verständnis der Apostel die Sprachen und die Philosophie
von Nutzen seien (S. 1010).
Der Unterrichtskursus, wie ihn der einzelne Scholar durch-
macht, hat hiernach folgende Gestalt. Kommt er, was zwar nicht
wünschenswert ist, aber nicht verhindert werden kann, ohne aus-
reichende Kenntnis der lateinischen Sprache auf die Akademie, so zieht
er ins Pädagogium oder zu einem Magister als seinem Privat-
präzeptor; dieser treibt vor allem mit ihm Latein, indem er ihm die
Regeln der Grammatik fleißig beibringt und im Reden und Schreiben
ihn übt. Daneben läßt er ihn etwa auch die für ihn geeigneten
öffentlichen Vorlesungen , etwa über Dialektik und Rhetorik,^ besuchen.
Nicht minder wird er dafür Sorge tragen, daß der Knabe die Summe
der wahren Lehre erlerne; er wird ihn anhalten die Predigt zu be-
suchen, nach derselben zu Hause ihn die Hauptstücke des Katechismus
aufsagen lassen, auch ihn der Ordnung nach darüber examinieren, was
Sünde und Glaube sei, wie die Vergebung der Sünden geschehe u. s. w.
(1016 ff.). Übrigens gilt die Verpflichtung zum Kirchenbesuch für alle
Glieder der Universität: wird jemand erfunden, der dieser Pflicht sich
entzieht, so soll er mit Karzer oder Relegation bestraft werden (S. 996).
Der philosophische Kursus, der nun folgt, umfaßt den ganzen
Kreis der freien Künste. Es scheint, daß in Wittenberg der Kursus
nicht so detailliert vorgeschrieben worden ist, als auf den übrigen
protestantischen Universitäten; die Sache ließ sich wohl bei der großen
Frequenz nicht durchführen. Eine ungefähre Beschreibung wird in
einem von Bretschneldeb ins Jahr 1532 gesetzten Anschlag (X, 86 ff.)
gegeben, und ähnlich in den Statute (X, 993). Die erste Abteilung
bis zum Baccalariat umfaßt darnach ein eingehenderes Studium der
Dialektik und Rhetorik mit Einschluß der Poetik, wobei als
Autoren vorzugsweise Cicero und Quintilian und die lateinischen
Dichter in Betracht kommen; ferner die Elemente der Mathematik
und Physik. Die zweite Abteilung, der Magistrandenkursus, fügt
hierzu die griechische Sprache und ihre Autoren, die aus dem
Original geschöpfte Kenntnis der aristotelischen Physik und
Ethik, sowie ein weiteres Studium der Mathematik und Astro-
nomie (Euklid und Ptolemäus).
Dieser sprachlich-litterarisch-philosophische Kursus ist gedacht als
Unterbau für den dann folgenden Fachkursus in den oberen Fakultäten.
Doch giebt es keinerlei gesetzliche Fixierung der Anforderungen an die
Vorbildung dessen, der sich dem theologischen oder juristischen Studium
zuwenden will; man überließ es der eigenen Einsicht und der Be-
Wittenberg, Der Kursus der phüosoph, Fahdiät. 221
• ratung durch die Lehrer, das Notwendige oder Wünschenswerte durch-
zusetzen. Sehr gewöhnlich wird es gewesen sein, daß man sprachliche,
philosophische und theologische Studien nebeneinander trieb, namentlich
wenn man schon in vorgerückteren Jahren auf die Universität kam.
Wir haben einen nicht uninteressanten Bericht von einem Scho-
laren über den Wittenberger Studienbetrieb: Matthesius erzahlt in
seinem Leben Luthers (7. Predigt) aus seiner Studienzeit. Er kam
1529, schon 25 Jahre alt, nach Wittenberg. Hier hörte er Luther
in etwa 40 Wochen die 22 letzten Kapitel des Jesaias auslegen. „Vom
Herrn Philippus, dem treuen und fleißigen Professor, hab ich diese
kurze Zeit gehört ein Stück von Ciceros Orator und die Rede pro
Archia und die ganze Dialektik, die er uns von neuem diktierte, samt
der Rhetorik. Vormittag erklärte dieser große Mann die Epistel zun
Römern, am Mittwoch las er von ehrbarer Zucht und Tugend aus
Aristotelis Ethik oder Zuchtbuch." Ferner berichtet er: Bugenhagen
legte den Korintherbrief aus, D. Jonas etliche Psalmen, Auhogallus
las hebräische Grammatik und den 119. Psalm, M. Fbank von Weimar
las Griechisch, Tulichiüs officia Ciceronüj M. Vach Virgil, M. Volmab
Theorie der Planeten, M. Milich Sphaera, Ceucigeb las den jungen
Studenten im Pädagogium den Terenz. „So waren auch die Privat-
schulen trefflich bestellt. M. Winsheim, M. K. Goldstein, M. Ammer-
bach und Ebasmüs Reinhold und bald hernach M. Marcellus,
G. Majob, Ebeb hielten ihre Schüler in guter Zucht und lasen fleißig."
Schon im folgenden Jahr wurde Matthesius als Schulmeister nach
Altenburg, bald als Rektor nach Joachimsthal berufen. Er kehrte
aber 1540 nochmals nach Wittenberg zurück, um seine theologischen
Studien zu vollenden; diesmal wurde er Lüthebs Tischgenosse. 1542
kehrte er als Prediger nach Joachimsthal zurück. Auch derartige
Unterbrechung und Wiederaufnahme der Studien war damals ge-
wöhnlich. Nicht minder der Durchgang durch das Schulamt zum
geistlichen Amt. Lütheb fand diesen Gang sehr empfehlenswert.
Matthesius berichtet von ihm die Äußerung: „Wenn ich die Ordnung
zu stellen hätte, ließ ich mir gefallen, daß man keinen zum Diakon
oder Pfarrer wählte, er hätte denn zuvor ein Jahr oder drei in Schulen
neben guten Künsten den Katechismus die Kinder gelehrt und fleißig
mit ihnen repetiert."
Hier mag sich gleich noch ein Augenblicksbild aus etwas späterer
Zeit anschließen, worin sich die sozialen und wirtschaftlichen Ver-
hältnisse der Wittenberger Magister und damit der ganzen damaligen
Universitätswelt sehr deutlich abspiegeln. Im Frühjahr 1563 kamen
zwei junge Pommemherzöge nach Wittenberg. Sie nahmen Wohnung
«
222 //, S, Neubegründung der Universifäteti in den Protestant Gebieten.
in dem Hause Luthers, das dessen Sohn Martin damals angehörte.
Ihre Begleitung bestand aus einigen Edelknaben, einem Hofmeister,
einem Magister, einem Küchenmeister, einem Koch, einem Barbier,
der zugleich als Kellerknecht fungierte, im Ganzen 16 Personen. Für
die ganze Gesellschaft waren, nach dem Bericht des Hofmeisters, folgende
Wohnräume gemietet: „erstlich eine große Eßstube, darnach eine ge-
täfelte Stube, daran zwei Kammern, worin der Magister, die Edelknaben
und Jungen schlafen; darnach haben ihre fürstlichen Gnaden an der-
selben getäfelten Stube ein klein Stübelin zu zween Tischen, da beide
m. gn. Herren alleine inne sind, und darbei eine Kammer mit drei
Spannbetten, da i. f. Gn. und ich schlafen. Unten im Hause ist eine
gute Küche, darin ein schöner Brunnen. So ist auch sonst für i. f. Gn.
ein guter Keller, daß i. f. Gn. mit Gemächern ziemlich versehen sind."
Aber die Wohnung hatte auch ihre Kehrseite. Über der fürstlichen
Wohnung hausten in sieben Stuben allerlei Studenten, welche ihren
Ein- und Ausgang vor den Stuben der Herzöge her hätten, bei Tag
und Nacht aus- und einliefen und Tumult machten. Und unter den
Fürsten wohnte der Hauswirt Martin mit seiner Familie, der sehr
heruntergekommen sei, „weder zu essen noch zu trinken hat, sich auch
sonst leichtfertig hält mit Saufen und ander viel loses Gesinde an sich
hänget," welche Nachbarschaft fürstlicher Küche und Keller vermittelst
doppelter Schlüssel gefährlich werde.
Die beiden jungen Fürsten waren kaum angekommen, so wurden
sie von den Professoren aufgesucht und mit Geschenken bedacht.
„Dr. P. Ebeb hat seine Konfession de sacramento, schön in Gold ge-
bunden, jedem Herrn ein Exemplar geschenkt. Dr. C. Peucebus, gener
Philippiy hat m. gn. H. Herzog Babnim annulum astronomicum aus gutem
Golde geschenkt, und Herzog Ebnst einen Sonnenzeiger aus Perl-
mutter. Mag. Sebastianüs Fboschel hat seine Predigt von den
Engeln und Teufeln, auch seinen Katechismum, schön in Gold ge-
bunden, drei Exemplare m. gn. H. verehret und soll eines m. gn. Frauen
(der Herzogin) zugeschicket werden. Ich habe verbales gratiarum
actioms gethan; ob man ad realia weiter gehen soll, steht zu E. f.
Gn. gnädiger Erklärung."
Der Pommemherzog scheint von dem Wert dieser Geschenke nur
eine mäßige Meinung gehabt zu haben, jedenfalls hielt sich seine
Munificenz in engen Grenzen. Er antwortete: „Betreffs der Professores,
so unsere Herren Brüder mit Büchern und anderem verehret, stellen
wir zu deinem Bedenken, welches du uns ferner wirst wissen zu ver-
melden, ob sie wiederum nach Gelegenheit irgends mit Ochsen oder
trockner Fischware nach der Zeit etwa dermaßen zu bedenken, daß es
Wittenberg. Angenhlickshüder, 223
darnach nit bald möchte einen Eingang oder Anderen Anleitung, der-
gleichen zu suchen möchte gewähren." Mit dem Brief langten, wie
der Herzog mitteilt, gleichzeitig an: vier Tonnen frische Butter, und
20 gute Seiten Specks, eine Tonne Schinken, eine Tonne Stör, 50 Pfund
Bergerfisch, eine Tonne trockne Barsche, ein Schock trockne Hechte,
200 Schollen, zwei Seiten Bauch wildprett; wovon denn, hoffen wir,
auch den Professoren ihr Teil gereicht worden ist.^
Eine Schilderung der Magisterpromotion und der vorhergehenden
Prüfung, die ich dem Tagebuch eines Wittenberger Studenten, Franz
LuBECüs, der 1553 — 1555 in Wittenberg studierte, entnehme, mag
diese Mitteilungen beschließen. Zweimal im Jahr, einmal um Mit-
sommer, einmal nach Weihnachten, wurde durch Anschlag des Dekans
zur Meldung zur Promotion aufgefordert. Die sich Meldenden wurden
dann je zu vieren geprüft, entweder im collegio medicorum oder im
auditorio des paedagogii. Als Examinatoren fungieren die professores
artium, es können aber sämtliche magistri philosophici, welche sich
zwei Jahre nach ihrer Promotion zu Wittenberg ehrlich gehalten haben,
teilnehmen; jederzeit ist M. Philippüs und der decanits dabei. Die
Examinanden zahlen jeder 7 Thlr., welche unter den Dekan und alle
Examinatoren geteilt werden, welches, da etwa 40 promovieren, auf
jeden vielleicht 8 gute fl. macht. Nach diesem Examen wird noch
ein publicum examen aller Magistranden zusammen gehalten, worin
jedem Magister freisteht, die Examinanden zu fragen und mit ihnen
allen in Unguis et artibus zu disputieren und konferieren. Hierauf
folgt nach einigen Tagen die feierliche Promotion. Da werden sie mit \
Pfeifen und Trommeln aus des Dekans Behausung nach dem collegio I
geführet, je zwei miteinander; ein jeder hat einen feinen Knaben mit
einer Kerze neben sich. Dort hält der Dekan eine Rede, dann thut
er die anderen Ceremonien: jeder hat ein großes Buch vor sich liegen,
das thut ihnen der Dekan auf und legt's offen vor sie hin. Zum
andern setzt er einem jeden das Baret (die Kogel oder Hüllen) auf
und steckt ihm den Fingerring an. Dann folgt wieder eine Rede und
darauf zwei Tage convivia. Darnach wird Rechnung gehalten.^
Melanchthon war die Seele der Wittenberger Universität. Er
hat nicht nur ihre Ordnungen verfaßt, er hat sie auch mit seiner
Thätigkeit erfüllt. Seine Vorlesungen umfaßten den ganzen Umkreis
* v. Medem, Die Universitätejahre der Herzöge Ernst Ludwig und Barnim
von Pommern. Anclam 1867.
' Neue antiquar. Mitt des thttring.-sächs. VereinS; Bd. XI, 112—121.
HT
224 //, 3, Neubegründung der Univermtäten in den Protestant Oebisten.
der sprachlichen und philosophischen Disziplinen, üie zahlreich er-
haltenen Anschläge geben einen Einblick in seine erstaunlich umfang-
reiche Lehrthätigkeit; es gehurte dazu: Rhetorik, Dialektik, Physik,
Ethik, Geschichte, griechische Grammatik, Erklärung griechischer und
lateinischer Autoren, heiliger und profaner, unter letzteren Homer,
Demosthenes, Sophokles, Euripides, Thucydides, endlich auch Hebräisch
und zahlreiche Schriften des alten Testaments. Als er im Jahre 1560
starb, übernahmen die Kollegen seine Vorlesungen zur Fortsetzung.
Es waren ihrer sechs, mit zusammen neun wöchentlichen Stunden.
Auf die griechische Lektur kamen zwei Vorlesungen: eine einstündige
über griechische Grammatik mit Übungen (an der Apostelgeschichte)
für Anfanger, und eine zweistündige Interpretationsvorlesung über
Euripides; jene Mittwoch 9 — 10, diese Donnerstag und Freitag 8 — 9 Uhr.
Auf die theologische Lektur, welche Melanchthon neben der grie-
chischen seit 1526 verwaltete, kam eine zweistündige Vorlesung über
den Römerbrief (Donnerstag und Freitag 9 — 10 Uhr). Außerdem hatte
er über Dialektik zweistündig (Montag und Dienstag 9 — 10 Uhr), über
Ethik einstündig (Dienstag 2 Uhr) und über Geschichte einstündig
(Sonnabend 9 Uhr) gelesen. Endlich hielt er noch eine Sonntagsvor-
lesung, besonders für Ausländer, denen die deutsche Predigt nicht ver-
ständlich war, bestehend in Schriftauslegung und Katechese.^
Kurz vor seinem Tode war bei Melanchthon sein alter Freund
Camerabius zum Besuch. Ihr Blick wendete sich auf die Vergangen-
heit und ihre lange Freundschaft. Da sagt Melanchthon: „Wir
haben beide ausgehalten in der Niedrigkeit des Schullebens und an
unserem Orte gethan, was wir konnten. Einigen hat doch wohl unsere
Arbeit genützt, Schaden hat sie gewiß, das darf ich hoffen, niemanden
gebracht" (C. E. IX, 1102).
Er hatte sein Werk gethan und schied willig aus dem Leben , das
* Das Verteilungsschema C. R. X, 206 fiF. Die Anschläge verstreut durch
die ersten 10 Bände des C. K.; nachgewiesen X, 335. Eine Zusammenstellung
der Vorlesungen Melanchthons , die aber nicht yollständig ist, bei Habtfeldek,
Melanchthon, S. 555 ff. Übrigens wird durch diese große Zahl gleichzeitiger
Vorlesungen auch eine Angabe verständlich, welche Heerbrand, ein Schtller
Melanciithons , Gräcist in Tübingen , in einer dort gehaltenen Gedächtnisrede
macht (C. K X, 293), daß Melanchthon gewöhnlich etwa 2000 Schüler und
Zuhörer gehabt habe. Man wird in der That annehmen dürfen, daß jeder
Wittenberger Student irgend eine dieser öffentlichen Vorlesungen, wenigstens
ein imd das andere Mal besuchte und insofern als Hörer Melanchthons be-
zeichnet werden konnte. Falsch würde natürlich die Auffassung sein, daß eine
oder alle Vorlesungen Melanchthons von 2000 Hörern besucht worden seien,
schon aus dem Grunde, daß es in Wittenberg, vieUeicht die Kirche ausgenommen,
inen Raum gab, der so viele Personen hätte fassen können.
Wittenfjerg, Lehrplan von 1561, 225
ihm wenig Freude, viel Kampf und Mühsal gebracht hatte. Auf seinem
Tisch fand man nach seinem Tode ein Blättchen Papier, worauf er den
Gewinn, den er vom Abschied verhoflPte, in zwei Kolumnen nebenein-
ander gestellt hatte. Zur Linken: „Du wirst der Sünde abscheiden.
Du wirst von allem Kummer frei werden und von der rasenden Wut
der Theologen." Zur Rechten: „Du wirst zum Licht kommen. Du
wirst Gott sehen. Du wirst den Sohn Gottes schauen. Du wirst die
wunderbaren Geheimnisse erfahren, die du in diesem Leben nicht zu
erkennen vermochtest: wanim wir so geschaffen sind? von welcher
Art die Vereinigung der beiden Naturen in Christo ist?" (C. . R.
IX, 1098).
Im Jahr nach dem Tode Melanchthons fand mit herzoglicher
Bestätigung eine neue Feststellung des Lektionsplans der philosophischen
Fakultät statt Sie ist einem Anschlag des Rektors, der eine Auf-
forderung zur Teilnahme an einer Gedächtnisfeier Luthebs und Me-
lanchthons enthält, beigegeben.^ Ordnen wir die Vorlesungen nach
der Zeit, so erhalten wir folgenden Stundenplan:
6 Uhr: M. A. Lemeigeb, Rhetorik, vierstündig: am Montag und
Dienstag praecepta rhetorices; Donnerstag und Freitag Erklärung
von Ciceros Briefen und Reden.
7 Uhr: M. Sebastianüs, Geometrie und Astronomie nach Euklid es
und Ptolemäus, vierstündig.
8 Uhr: Dr. Virus Winshemius, griechische Schriftsteller, vier-
stündig.
9 Uhr: M. P. Vincentiüs, Dialektik, am Montag und Dienstag.
Dr. V. Winshemius, griechische Grammatik, Mittwochs.
Dr. C. Peuceb, Geschichte, Sonnabends. '
12 Uhr: M. B. Schönbobn, de dimensione terrae, vierstündig; dann
Plinius, Meteora Pontani und ähnliches.
1 Uhr: M. M. Plochingeb, Elementa sphaerica et aritkmetica, vier-
stündig, für die Jüngeren.
2 Uhr: M. Esbomus, Physik, vierstündig; M. E. Menius, lateinische
Grammatik, mit Lektüre des Terenz, Plautus, Virgil, Ovid, vier-
stündig. M. P. Vincentiüs, Ethik, Mittwochs.
3 Uhr: Dr. J. Maiob, Poetik, mit Erklärung lateinischer Dichter,
vorzüglich Virgil, vierstündig.
4 Uhr: M. P. Vincentiüs, Cicero de oratore, ein andermal Livius
oder Homer, am Donnerstag und Freitag. #
* Scripta publice proposita a professoritnis in academia Witehergensi ab
anno 1540—1566. 6 fomi. Das Verzeichnis in Bd. IV. m 5 ; auch bei Strobel,
Neue Beiträge, I, 1, 132 ff.
Paulien, Unterr. Zweite Aufl. I. 15
Neubegründi
Die hebräische Lektur war der theologischen Fakultät zageteilt
worden. Im Jahre 1588 fiel die Lektor der lateinischen Orammatik
weg, an ihre Stelle trat eine professio historiarum. Ein Lektionsver-
zeichnis vom Jahre 1614 (Gbohmann, II, 87) weist folgenden Bestand
an Professuren und Lektionen auf: 1) Hebräisch; 2) Griechisch;
3) Poetik; 4) Rhetorik; 5) Logik, kombiniert mit praktischer Philosophie;
6) Physik; 7) Mathematik; die zweit« mathematische Professur wird
von dem Gracisten mit verwaltet; 8) Geschichte.
Die erste neugegründete protestantische Universität ist Marburg.^
Landgraf Philipp von Hessen war im Jahre 1524 bei einer Be-
gegnung mit Melanchthon für die kirchliche Neuerung eingenommen
worden, er wurde bald der eifrigste unter den fürstlichen Reformatoren.
Schon im Jahre 1526 wurde in der Homburger Kirchenordnung der
Grundriß zu einem neuen landesherrlichen Kirchenwesen gezogen. Auch
eine neue Universität wird darin vorgesehen, die auf Grund und nach
Maßgabe des reinen Wortes Gottes alle Wissenschaften lehre: Theologie,
Jurisprudenz, Medizin, freie Künste (adhibito in omnibus, praesertim in
mathematicisj cen^ore tutissimo, nempe sermone Dei) und die Sprachen.
Als Schlußformel ist hinzugefügt: „Wer etwas gegen das Wort Gottes
lehrt, der sei verflucht." So ängstlich eilig hatte man es mit der Ab-
wehr des freien Denkens und Forschens.
Zur Unterhaltung der neuen Universität wurde ein Teil der ein-
gezogenen Klostergüter verwendet, wie sie denn auch mit den Ge-
bäuden zweier Klöster in Marburg ausgestattet wurde. Eine päpstliche
Errichtungsbulle wurde natürlich nicht nachgesucht, wohl aber in der
Fundationsurkunde (1529) eine kaiserliche Privilegierung mit dem
I Recht der Promotion in Aussicht gestellt Dieselbe wurde erst 1541
erlangt; doch sind Promotionen auch vorher vorgenommen worden;
die ersten Magister und Baccalarien wurden im Jahre 1530 promo-
viert (DiLiCHius, S. 10). Es sind die ersten akademischen Grade aus
bloß landesherrlicher Autorität, wenn man von Maximilians Poeten-
fakultät absieht.
Die Fundationsurkunde und die gleichzeitig (31. Aug. 1529) er-
lassenen Statuten der Universität enthalten auch die Grundzüge der
Lektionsordnung. Sie gleicht in allen wesentlichen Stücken der Witten-
berger Ordnung von 1536. Es ist wohl kein Zweifel, daß sie unter
Melanchthons direktem oder indirektem Einfluß verfaßt ist; seine
* Hildebrand, Urkundensammlung der Univ. Marburg (1848). W. Dilichius,
De urbe et acad, Mirb,, herausgeg. von J. Caesar, Marburger Universit&ts-
schriften, 1863/64. Krause, E. Hessus, II, 174fF. Koch, Gesch. des akadem.
Pätlagogiums (Progr. d. Gymn. 1868).
T-
Gründung der Universität Marburg (1527). 227
Beteiligung an der Gründung der Universität geht auch aus einem
Brief an Caicerabius (Sept 1526, G. S. I, 817) hervor. Die ersten
Lehrer der Universität waren fast alle Wittenberger; J. Febbabiüs
und Adam Gbato, die beiden ersten Rektoren, waren Melanghthoks
Schüler und Freunde.
Die drei oberen Fakultäten erhielten zwei, drei und eine Professur,
die philosophische, so wie die Wittenberger, zehn : eine hebräische, eine
griechische (welcher die Grammatik und die Autoren, Homer, Hesiod,
Aristophanes, Theokrit befohlen werden), zwei der Eloquenz (Cicero und
Quintilian werden als Autoren genannt), eine der Dialektik, eine der
Physik, eine der Poesie (Virgil, Horaz, Terenz, Ovid), eine der Ge-
schichte (livius, Caesar, Sueton, Tacitus u. a.), eine der Mathematik
und Astronomie, eine der Grammatik. Ebenso wurde ein Pädagogium
unter zwei Magistern konstituiert, in welchem Grammatik, Dialektik,
Rhetorik (beide nach Melanchthons Lehrbüchern), Musik und die
Elemente der griechischen und hebräischen Sprache gelehrt werden
sollten. Es ist drei Jahrhunderte hindurch der Universität inkorporiert
geblieben; erst 1833 wurde es als selbständiges Gymnasium konstituiert /
Nicht minder wurden Deklamationen und Disputationen, wie zu Witten-
berg, vorgeschrieben. Jeder Scholar soll einen unter den Professoren
der philosophischen Fakultät als Privatpräzeptor haben, unter dessen
Aufsicht er studiert, der ihn in den Sprachen übt und mit ihm die
Lektionen repetiert. Wenn er nicht bei diesem seinem Präzeptor
wohnt, soll er im Kollegium Wohnung und Kost nehmen. Es sind
die mittelalterlichen Einrichtungen, welche in Wittenberg durchzuführen
Melanchthon vergeblich sich bemühte.
Unter den ersten Lehrern der philosophischen Fakultät begegnen
uns aus dem alten Humanistenkreise die beiden Poeten H. Buschius
und EuB. CoBDüs, dieser als Professor der Medizin; sie sind inzwischen
älter geworden und machen nicht mehr viel von sich reden. Die neuen
Theologen, Cbato, J. Dbaco. Erfurter Andenkens, haben die Leitung
der Dinge. Nach Buschius' Tode (1534) folgte in seiner Professur
der Geschichte Eobanus Hessus. Der strebsame Poet hatte schon
lange auf Hessen und Marburg sein Augenmerk gerichtet. Längst
hatte er sich angelegen sein lassen, durch poetische Lobhudeleien des
Landgrafen Ruhm auszubreiten und sich Geschenke und eine An-
stellung zuzuwenden. Endlich gelang es. Nach dem Sieg des Land-
grafen bei Lauffen fragte er wieder an: ob man nicht ein der großen
Sache würdiges carmen wolle? Jetzt kam die Bestellung, und der
Einsendung des Gedichts, wodurch, wie die Freunde versicherten, gleich-
zeitig dem Landgrafen und dem Dichter die Unsterblichkeit gewiß sei,
15*
228 U, 3. Neubegründung der Universitäten in den Protestant. Gebieten.
folgte alsbald die Anstellung (1536), wozu übrigens noch Melanchthon
und Camebabius durch Empfehlungen mitgewirkt hatten (Kbause,
II, 176, 191). Es gelang ihm hier noch die Homerübersetzung und
die Erwerbung fon zwei Pfründen zu seinem Gehalt, worunter das
Dekanat in St. Goar mit 50 fl. und zwei Fudern Wein dem Durstigen
besonders zu statten kam. Im Jahre 1540 machte der Tod seinem
Yersemachen und seiner Geldnot ein Ende. Eben hatte der Landgraf
ihm ein Haus geschenkt; er sollte es nicht mehr bewohnen; für einen
Poeten zieme es sich nicht, so hatte einst Buschius gemeint, ein eigen
Haus zu haben.
DiLiCHius sagt über die Anfange der Marburger Akademie: so
groß sei die Würde, Gelehrsamkeit und Heiligkeit der Professoren ge-
wesen, daß man lauter Homere, Cicerone, Piatone, Aristoteles, Asku-
lape, Apollos zu erblicken mit einem gewissen Recht behaupten könnte.
Wenn Pythagoras, Archytas, Apollonius heute lebten, brauchten sie
nicht zu den Persem, Kretern, Ägyptern, Indern zu reisen: sie könnten
alles Yiel schneller und billiger in Marburg haben.
Eine wichtige Rolle spielte auf der neuen Universität von der
Gründung an das Stipendiatenwesen. Das Eingehen des alten
Schulwesens, der vorauszusehende Mangel an tauglichen Personen zu
weltlichem und geistlichem Regiment wird im Eingang der Fundations-
urkunde als erster Anlaß zur Begründung des neuen Studiums an-
gegeben. LuTELBB hatte in seinem Schreiben an die Ratsherren
vorgeschlagen, diesem Mangel abzuhelfen, einerseits durch Angebot
unentgeltlichen Unterrichts durch Anstellung besoldeter Lehrer, ander-
seits, falls es nötig sein sollte, durch Studienzwang. Der unentgeltliche
Unterricht war auf den Universitäten seit Anfang des Jahrhundert«
schon üblich, Marburg fügte dazu, statt des von Lutheb vorgeschlagenen
zweiten Mittels, das Angebot freien Unterhalts für eine ansehnliche
Anzahl von Studierenden. Die Kosten des Unterhalts wurden den Ge-
meinden, besonders den Städten auferlegt, denen dafür das Präsentations-
recht von Stipendiaten in bestimmter Zahl zustand. Die Präsentanden
sollen durch die geistlichen und weltlichen Behörden der Gemeinden
aus den Schülern der Partikularschulen gewählt, darnach in Marburg
von dem Vorsteher des Konvikt'S geprüft und nach Befinden abgewiesen
oder in eine der oberen Klassen des Pädagogiums oder in die Universitäts-
lektionen aufgenommen, endlich nach Absolvierung des linguistisch-
philosophisch-theologischen Kursus zu geistlichen Ämtern gebraucht
werden.
Die Sache begegnete, wie aus den häufigen neuen Ordnungen
(1539, 1542, 1560) hervorgeht, vielen Schwierigkeiten. Die Stipendien-
Reformation der Tübinger Universität 229
gelder von den Städten gingen unregelmäßig Qder gar nicht ein, es
wurden untaugliche Subjekte oder gar keine präsentiert, die Stipendiaten
entzogen sich ihren Verpflichtungen, erst des Studierens, sodann des
Dienens. Für alle diese Nöte wurde in den wiederholten Stipendiaten-
ordnungen Abhilfe gesucht. Die letzte Ordnung Philipps (156QL
giebt dem Stipendiatenwesen folgende 0 estalt. Es sollen 60 Studenten (
gehalten werden, 50 mit einem kleineren Stipendium von 20 fl., 10 mit !
einem größeren von 40 fl. Alle haben Wohnung und Kost im KoUegJ
unter Aufsicht eines älteren Professors. Die minores machen"""^^Ti
sprachlich-philosophischen Kursus durch; in höchstens zwei Jahren er-
werben sie das Baccalariat, in ferneren zwei Jahren das Magisterium. Il'
Dann werden die Geschicktesten ausgewählt, um in den oberen Fakul-
täten zu studieren, wenigstens je einer in JurispVudenz und Medizin,
die übrigen in Theologie. Diese majores sind zugleich Repetenten und
Sprachmeister der minores^ deren je fünf einem der majores zugeteilt
werden. Die minores, welche nicht sonderliches versprechen, gehen
nach Erwerbung des philosophischen Magisteriums sogleich in den
Schul- und Kirchendienst über; theologische Vorlesungen haben sie schon
in den beiden letzten Jahren neben den philosophischen gehört. —
Der hessischen Neugründung folgte die protestantische Reformation
der württembergischen und der herzoglich sächsischen Universität. An
beiden Orten geschah die Umwandlung unter dem bestimmenden Ein-
fluß Melanchthons. Sein nächster Freund und Gesinnungsgenosse,
J. Camebabius, hat erst in Tübingen, dann in Leipzig das artistische
Studium im Sinne Melanchthons neugeordnet.
Der Sieg bei I^auffen brachte Herzog Ulrich ins Land zurück
und mit ihm die Reformation. Eine der ersten Regierungssorgen war
die Reformation der Universität Tübingen. Die ersten herzoglichen
Kommissäre, A. Blabeb, ein Vermittelungstheolog zwischen Lutheb
und ZwiNGLi, und S. Gbynaeüs, eröffneten noch im Herbst 1534 Ver-
handlungen mit der Universität, die aber, da die Körperschaft der
Neuerung widerstrebte, zu keinem Ziel führten. Es wurde daher eine
neue Ordnung oktroyiert (30. Januar 1535) und die Widerstrebenden,
namentlich Theologen und Juristen, entfernt. Im Sommer 1535 kam
Camebabiüs und trat mit Jon. Bbenz, einem ebenfalls von Melanch-
THON empfohlenen Theologen, an die Stelle der beiden früheren Re-
formatoren der Universität. Im Herbst 1536 war Melanchthon auf -
Ersuchen des Fürsten ein paar Wochen in Tübingen, um sich der Univer-
sitatsreform anzunehmen; wiederholte dringende Aufforderungen, nach
der schwäbischen Heimat zurückzukehren, lehnte er ab. Gegen Ende
des Jahres erfolgte eine neue, im wesentlichen mit der ersten überein-
228 U, 3. Neubegründung der Universitäten in dein Protestant. Gebieten.
folgte alsbald die Anstellung (1536), wozu übrigens noch Melanchthon
und Camebabius durch Empfehlungen mitgewirkt hatten (Krause,
Ily 176, 191). Es gelang ihm hier noch die Homerübersetzung und
die Erwerbung fon zwei Pfründen zu seinem Gehalt, worunter das
Dekanat in St. Goar mit 50 fl. und zwei Fudern Wein dem Durstigen
besonders zu statten kam. Im Jahre 1540 machte der Tod seinem
Yersemachen und seiner Geldnot ein Ende. Eben hatte der Landgraf
ihm ein Haus geschenkt; er sollte es nicht mehr bewohnen; für einen
Poeten zieme es sich nicht, so hatte einst Busghius gemeint, ein eigen
Haus zu haben.
DiLiCHiüs sagt über die Anfange der Marburger Akademie: so
groß sei die Würde, Gelehrsamkeit und Heiligkeit der Professoren ge-
wesen, daß man lauter Homere, Cicerone, Piatone, Aristoteles, Asku-
lape, Apollos zu erblicken mit einem gewissen Recht behaupten könnte.
Wenn Pythagoras, Archytas, Apollonius heute lebten, brauchten sie
nicht zu den Persem, Kretern, Ägyptern, Indern zu reisen : sie könnten
alles Yiel schneller und billiger in Marburg haben.
Eine wichtige Rolle spielte auf der neuen Universität von der
Gründung an das Stipendiatenwesen. Das Eingehen des alten
Schulwesens, der vorauszusehende Mangel an tauglichen Personen zu
weltlichem und geistlichem Regiment wird im Eingang der Fundations-
urkunde als erster Anlaß zur Begründung des neuen Studiums an-
gegeben. Luther hatte in seinem Schreiben an die Ratsherren
vorgeschlagen, diesem Mangel abzuhelfen, einerseits durch Angebot
unentgeltlichen Unterrichts durch Anstellung besoldeter Lehrer, ander-
seits, falls es nötig sein sollte, durch Studienzwang. Der unentgeltliche
Unterricht war auf den Universitäten seit Anfang des Jahrhunderts
schon üblich, Marburg fügte dazu, statt des von Lutheb vorgeschlagenen
zweiten Mittels, das Angebot freien Unterhalts für eine ansehnliche
Anzahl von Studierenden. Die Kosten des Unterhalts wurden den Ge-
meinden, besonders den Städten auferlegt, denen dafür das Präsentations-
recht von Stipendiaten in bestimmter Zahl zustand. Die Präsentanden
sollen durch die geistlichen und weltlichen Behörden der Gemeinden
aus den Schülern der Partikularschulen gewählt, darnach in Marburg
von dem Vorsteher des Konvikts geprüft und nach Befinden abgewiesen
oder in eine der oberen Klassen des Pädagogiums oder in die Universitäts-
lektionen aufgenommen, endlich nach Absolvierung des linguistisch-
philosophisch-theologischen Kursus zu geistlichen Ämtern gebraucht
werden.
Die Sache begegnete, wie aus den häufigen neuen Ordnungen
(1539, 1542, 1560) hervorgeht, vielen Schwierigkeiten. Die Stipendien-
Reformation der Tübinger Universität. 229
gelder von den Städten gingen unregelmäßig pder gar nicht ein, es
wurden untaugliche Subjekte oder gar keine präsentiert, die Stipendiaten
entzogen sich ihren Verpflichtungen, erst des Studierens, sodann des
Dienens. Für alle diese Nöte wurde in den wiederholten Stipendiaten-
ordnungen Abhilfe gesucht Die letzte Ordnung Philipps (156ÖL
giebt dem Stipendiatenwesen folgende Qestalt. Es sollen 60 Studenten )
gehalten werden, 50 mit einem kleineren Stipendium von 20 fl., 10 mit '
einem größeren von 40 fl. Alle haben Wohnung und Kost im Kolleg '
unter Aufeicht eines älteren Professors. Die minores machen"*^6Ti
sprachlich-philosophischen Kursus durch; in höchstens zwei Jahren er-
werben sie das Baccalariat, in ferneren zwei Jahren das Magist erium. I(
Dann werden die Geschicktesten ausgewählt, um in den oberen Fakul-
täten zu studieren, wenigstens je einer in JurispVudenz und Medizin,
die übrigen in Theologie. Diese majores sind zugleich Repetenten und
Sprachmeister der minores^ deren je fünf einem der majores zugeteilt
werden. Die minores^ welche nicht sonderliches versprechen, gehen
nach Erwerbung des philosophischen Magisteriums sogleich in den
Schul- und Kirchendienst über; theologische Vorlesungen haben sie schon
in den beiden letzten Jahren neben den philosophischen gehört. —
Der hessischen Neugründung folgte die protestantische Reformation
der württembergischen und der herzoglich sächsischen Universität. An
beiden Orten geschah die Umwandlung unter dem bestimmenden Ein-
fluß Melanchthons. Sein nächster Freund und Gesinnungsgenosse,
J. Camebabiüs, hat erst in Tübingen, dann in Leipzig das artistische
Studium im Sinne Melanchthons neugeordnet^
Der Sieg bei Laufen brachte Herzog Ulrich ins Land zurück
und mit ihm die Reformation. Eine der ersten Regierungssorgen war
die Reformation der Universität Tübingen. Die ersten herzoglichen
Kommissäre, A. Blarer, ein Vermittelungstheolog zwischen Luther
und ZwiNGLi, und S. Grynaeüs, eröffneten noch im Herbst 1534 Ver-
handlungen mit der Universität, die aber, da die Körperschaft der
Neuerung widerstrebte, zu keinem Ziel führten. Es wurde daher eine
neue Ordnung oktroyiert (30. Januar 1535) und die Widerstrebenden,
namentlich Theologen und Juristen, entfernt. Im Sommer 1535 kam
Camerariüs und trat mit Jon. Brenz, einem ebenfalls von Melangh-
THON empfohlenen Theologen, an die Stelle der beiden früheren Re-
formatoren der Universität. Im Herbst 1536 war Melanchthon auf
Ersuchen des Fürsten ein paar Wochen in Tübingen, um sich der Univer-
sitätsreform anzunehmen; wiederholte dringende Aufforderungen, nach
der schwäbischen Heimat zurückzukehren, lehnte er ab. Gegen Ende
des Jahres erfolgte eine neue, im wesentlichen mit der ersten überein-
230 //, 3, Neubegründung der Universitäten in den protestant. Gebieten.
>
stimmende Ordnang. Cas^brakius verfaßte auf Grund derselben neue
Statuten der Universität und der philosophischen Fakultät. ^ Sie geben
dem Tübinger Studium eine der Wittenberger und Marburger treu
nachgebildete Organisation: dieselben Lektionen, dieselben Übungen,
dieselben Einrichtungen, ein Pädagogium und ein Kollegium oder Burse,
contubemiam genannt, und hauptsachlich Stipendiaten als Insassen;
ihre Zahl wird in einem Brief Melanchthons an Spalatin vom
Jahre 1537 auf 150 mit je 25 fl. angegeben (C. R. ni, 391). Das
Pädagogium nimmt die Jüngeren auf, welchen schulmäßige Unter-
weisung in der lateinischen Sprache notthut, das Eontubemi^ die
Älteren, welche den philosophischen Kursus durchmachen und die Grade
erwerben wollen. Für die Kandidaten des Baccalariats sind obligatorisch
die Vorlesungen üb^r Dialektik, Rhetorik, Euklides, aristotelische Philo-
sophie, über die lateinischen und griechischen Autoren und die heiligen
Schriften. Für die Kandidaten des Magisteriums kommen Physik und
Ethik hinzu.
Eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit der Tübinger und, wie sich
zeigen wird, der Leipziger Reformation, ist die starke Betonung des
Griechischen; Camebasius war, wie auch Melanchthon, vorzugsweise
Gräcist. Schon die erste herzogliche Ordnung will, daß sowohl im
Pädagogium als im Kontubemium auch die griechische Sprache gelernt
werde. Für die philosophischen und theologischen Vorlesungen werden
zwar, meint sie, zunächst noch lateinische Texte gebraucht werden
müssen. Doch soll der Lehrer den griechischen Text zur Vergleichung
heranziehen, und vielleicht mag mit der Zeit die Kenntnis der griechi-
schen Sprache so zunehmen, daß man jene Disziplinen „in ihrer eigenen
Sprache^' lesen kann (S. 178). Die Statuten und entsprechend die
zweite Ordnung vom Jahre 1536 suchen auf andere Weise das Ziel
zu erreichen, daß den Studenten die Philosophie in ihrer eigenen Sprache
bekannt werde. Es wird neben den Professuren für die philosophischen
Disziplinen noch eine besondere für die aristotelische Philosophie er-
richtet und der Besuch dieser Lektion, mit der keine andere kollidieren
darf, obligatorisch gemacht Zugleich nehmen die Promotionsordnungen
die Bestinmiung auf, daß sowohl beim Baccalariats- als beim Magister-
examen in der griechischen Sprache geprüft wird.
Daß die Durchführung dieser Ordnung auf Schwierigkeiten stieß,
geht aus den wiederholten herzoglichen Reskripten aus den vierziger
Jahren hervor. Als Professor der aristotelischen Philosophie war ein
Franzose (Bigot) angenommen worden. Er verließ Tübingen schon im
^ Sämtliche Aktenstücke im Urkundenbuch No. 37 ff.
Beformation der Leipziger Universität, 281
folgenden Jahr; seitdem las Dr. Jac. Scheok über die Physik des
Aristoteles, wie es scheint, im Original. Camerabius verließ Tübingen
1541, um nach Leipzig zu gehen. Der von Melanchthon dringend
empfohlene Matthias Gabbitius versah die griechische Lektur.
Eine neue Ordnung wurde der Universität 1557 gegeben.^ In der
theologischen Fakultät werden hiemach, wie es scheint, die Texte in
den Ursprachen gelesen. Die Professoren werden angewiesen ein Kapitel
im A. oder N. Testament zu „interpretieren", was nicht anders ver-
standen werden kann, als zu übersetzen, denn erklaren heißt enarrare;
sodann „den atuätoribus die fümehmsten locos desselbigen Kapitels an-
zuzeigen und sie jiixta praecepta docendi zu berichten, wie die bemelten
loci in den Kirchen zu traktieren und den Predigkindern nützlich für
zu halten seien." Dagegen bleiben, soviel ersichtlich ist, die Vorlesungen
über die philosophischen Disziplinen bei der Gewohnheit, auf der oberen
Stufe die aristotelischen Bücher in Übersetzungen, auf der unteren
Stufe aber moderne Kompendien zu Grunde zu legen. Nicht anders
liegt die Sache in den Statuten von 1601, und diese sind bis 1752
wenigstens formell in Geltung geblieben. Das Pädagogium erscheint
in der Ordnung von 1557 in erweiterter Gestalt: vierklassig, beim Ab-
gang wird das Baccalariat erworben. Der griechische Unterricht geht
durch alle vier Klassen: in I und II Grammatik mit Übungslektüre;
die Angehörigen von III und IV besuchen mit den übrigen Studenten
die öffentlichen Lektionen des Ordinarius über griechische Autoren. —
Die protestantische Eeformierung der Universität Leipzig begann
nach dem Tode des Herzogs Georg (1539). Auch hier nahm Melanch-
thon thätigen Anteil. Schon im Mai 1539 faßte er ein „Bedenken"
für Herzog Heinrich ab, des Inhalts: „Alle Obrigkeit sind vor Gott
schuldig die unrechte Lehre und falsche Gottesdienst weg zu thun und
zu verbieten. Dieweil denn die Mönche und Sophisten in der Universität
zu Leipzig noch ihre Lästerungen treiben und nicht nachlassen wollen,
machen dazu die anderen auch halsstarrig, so ist allweg vonnöten,
denselben Mönchen alles Predigen, Disputieren, Lesen, Sakrament-
reichen und alle ihre Ceremonien zu verbieten. Dieweil sie auch zu
den Leuten in die Häuser schleichen, wäre gut, daß ihnen ganz weg
geboten würde, so sie die rechte Lehre nicht annehmen wollen. Denn
dieses ist ganz öffentlich, daß die christliche Potestat nicht schuldig
sind, die Lästerer zu schützen und zu ernähren. Ja sie sind schuldig
zu verhüten, daß nicht andere verführt und vergiftet werden. Item
sind weiter schuldig, solche mit Ernst zu strafen." An Stelle der alten
^ Reyscher, Sammlung der württemb. Gesetze, XI, 8, 129.
232 II, S. Neubegründung der Universitäten in den Protestant, Gebieten,
Theolügen empfiehlt dann Melanchthon „zur Aufrichtung christlicher
Lehr in Kirchen und Schulen" Anhänger der neuen Lehre. An jungen
und wohlgeschickten Artisten fehle es dagegen der Universität nicht;
nur werde es vonnöten sein, von dem Überfluß der Prälaten und
Klöster zu nehmen, um Legenten und Studenten zu versorgen. Die
alten Stipendien für lesende Magister in Höhe von 20 fl. „reimen sich
ganz nicht zu diesen Zeiten, da die Legenten ehelich werden und
kommen nicht zu Präbenden und Stiften." Vom folgenden Jahr ist
ein detaillierter Vorschlag für die Neubegründung des Ijcipziger Stu-
diums: 3 — 4000 fl. sollen die Klöster zur Unterhaltung von Magistern
und Studenten hergeben: dann mögen sie hoffien, mit Glimpf davon-
zukommen (veniam sperare)\ wie ein Dieb, der dem Richter vom großen
Raub einen kleinen Teil abgiebt, wohl durchkommt.^ Etwa acht Lehr-
stühle seien in der philosophischen Fakultät zu unterhalten ; dazu möge
man als gubemator totins philosophici studii den J. Camebarius zu
gewinnen suchen. ^
Camerabiu«, dem in Tübingen manches nicht nach dem Sinn
ging, kam im Herbst 1541 und war bei der Reformation der Uni-
versität thätig. Im Frühjahr 1542 erfolgte die verlangt« Dotation mit
Klostergütern; die Universität erhielt zu ihren bisherigen Einkünften
2000 fl. jährlich aus zwei eingezogenen Klöstern. Auch wurden ihr
die Gebäude des Paulinerklosters in Leipzig nebst 600 Scheffel Korn
ül^erwiesen zur Einrichtung eines Konvikts (Urk. bei StCbel, 567).
Von den 2000 fl. sollten besoldet werden: ein Professor utriusque linguae
mit 300 fl.; Camerarius war der erste; ein philosophus Graecus mit
150 fl.; ein Mathematiker mit 100 fl.; ein Physiker, ein Moralist, ein
Poet, ein Orator mit je 50 fl., endlich sechs Lektoren in den Anfangs-
gründen der Mathematik, Physik, Rhetorik, Dialektik, der griechischen und
lateinischen Grammatik mit je 30 fl. (Urk. bei Stübel, 545 ff.). Als
griechischen Philosophen nahm die Universität Wolfgang Meurer an.
In dem Einladungsschreiben (er war Leipziger Magister, aber nach
Italien gereist) wird ihm als seine Aufgabe bezeichnet die aristot-elische
Philosophie secundnm veritatem scriplorum illius, quae ut omnibus jam
manifestum est, hie autor Greco sermone composuit (Stübel, 561).
* Dasselbe Thema wird um dieselbe Zeit in Melaxchthoxs akademischen
Reden vielfach behandelt. Von dem Gut des reichen Mannes, heißt es in der
Qu€rel(i Laxari (1539, C. R. XI, 425), sollen die Fürsten dem armen Lazarus,
von dem Einkommen der Stifte und Klöster und ihrer schwelgenden Insassen
armen Lehrern und Schülern etwas verschaffen. So auch in der Rede de resti-
tupudis ftcholiSf 1540^ de conjiinctiojie scholarut/i cum ininisterio Erangelii 1543;
und in der Schrift: von Anrichtung einer Schule (C. R. V, 124).
« Die beiden consilia im C. R. III, 712 ff. und 1134 ff.
BeformcUion der Baseler Universität, 233
Die Ton Camerakiüs verfaßten Statuten der philosophischen Fakultät
Tom Jahre 1543 sind nicht mehr vorhanden , wohl aber diejenigen,
welche er im Jahre 1558^ redigierte (bei Zabncke, Statutenbücher,
S. 517 ff.). Der philosophische Kursus hat hiemach folgende Gestalt.
Der untere Kursus ist P/, jährig. Er schließt mit dem Baccalariat. /
Wer den Grad erwerben will, muß nachweisen, daß er folgende
öffentliche Vorlesungen mit Erfolg besucht habe : im ersten Semester
griechische und lateinische Grammatik, Dialektik und Poetik; im
zweit-en Semester Fortsetzung der Grammatik und Dialektik, dazu
Rhetorik; im dritten Semester Fortsetzung der Poetik und Rhetorik
und dazu die Elemente der Physik und Mathematik. Der Kursus der
Magistranden ist zweijährig; sie hören während der beiden Jahre ohne
Unterlaß den philosophus Graecus, der besonders die Schriften des
Organen liest, und den Professor beider Sprachen, dazu im ersten und
zweiten Semester die Physik und Ethik des Aristoteles, im dritten
und vierten die Mathematik (S. 538). Diese Disziplinen bilden auch
die Examensgegenstände (S. 525).
Das Professorenkollegium zeigt einige Abweichungen von der obigen
Fundationsurkunde. Es sind nur- neun Professoren statt der dreizehn;
die Moralphilosophie hat Cameeabius noch übernommen, die Physik,
Rhetorik und die beiden Grammatiken haben nur je einen Legenten.
In den Elementarkursen werden Melanchthons Lehrbücher der Gram-
matik, Dialektik und Physik, zum Unterricht in der Rhetorik werden
Cicero und Quintilian, zum Unterricht in der Poesie Virgil und Terenz
gebraucht. Der Stundenplan verteilt die Gegenstände so: 6 Uhr Physik,
8 Uhr Dialektik, 9 Uhr Mathematik, 12 Uhr Poetik, 1 Uhr Rhetorik,
2 Uhr elementare Mathematik, 3 Uhr Interpretation griechischer und
lateinischer Schriftsteller, 4 Uhr Erklärung des Aristoteles und grie-
chische und lateinische Grammatik (S. 521). —
Die Universität Basel wurde 1532, nach dreijährigem Cessieren,
wieder aufgerichtet, am Anfang mit acht Dozenten.^ Ein Konvikt /
wurde im Dominikanerkloster errichtet für 24 Stipendiaten. Die philo-
sophische Fakultät hat später die üblichen Professuren, der Eloquenz,
Logik, Physik, Ethik, Mathematik, des Hebräischen, des Griechischen
und des aristotelischen Organen. Der erste Inhaber der griechischen
Lektur war S. Grynaeüs, des Organen H. Gemüsaeüs. Von letzterem
wird mit Lob gemeldet, daß er vorher als Lektor der Physik diese
nicht aus den Lachen der Lateiner, noch aus den Dreigroschen-
kompendien, sondern aus den Quellen selbst, nämlich aus dem grie-
LuTz, Gescliichte der Universität Basel, S. 97 ff.
234 //, 3. Neuhegründung der Universitäten in den Protestant, Oehieten*
chischen Text vorgetragen habe.^ 1659 wurde die Professur des Organen
mit der der Logik vereinigt und an ihrer Stelle eine Professur der
Geschichte begründet (S. 397).
Fast gleichzeitig wurden die beiden Universitäten des Hauses
Brandenburg, Frankfurt a/0. und die 1541 — 1544 neu begründete
Universität zu Königsberg i. Pr. unter Rat und Beistand Melakch-
THONS und seines Schwiegersohnes G. Sabinus, eines geborenen Branden-
burgers, mit reformierten Ordnungen versehen.
Joachim IL, der von Anfang seiner Regierung (1535) an mit der
Überführung seiner Lander zur Reformation umging, hatte schon 1537
Melanchthon über die Restauration der Frankfurter Universität
zu Rate gezogen (G. R. III, 373). Melanchthon scheint keine großen
Erwartungen von Frankfurt gehabt zu haben. Den Micyllüs, welchen
er gern nach Wittenberg als Lehrer der Poesie gezogen hätte, hielt er
für die geringe Universität zu gut (an Cahebabius 14/7. 1537). Statt
seiner nahm der Kurfürst den G. Sabinus in Dienst, einen strebsamen
Adulationspoeten, der sich längst das Haus Brandenburg als poetisches
Arbeitsfeld erwählt hatte, besonders war der Kardinal Albrecht von
Mainz Gegenstand und Bezahler seiner Verse.* Melanchthons Schwieger-
sohn zu werden, hatte Sabinus ebenfalls für eine gute Spekulation
gehalten, worin er sich denn auch nicht verrechnet hat. Melaütch-
THON hat mit viel Kummer und Reue dafür gebüßt, daß er dem
hochfahrenden und unstaten Mann sein 14 jähriges Töchterchen an-
vertraute (1536). Er hatte ihn als Schüler lange zum Hausgenossen
gehabt und an seinem Talent für lateinische Poesie und Eloquenz
Freude gehabt Später hatte er auch von seiner wissenschaftlichen
Tüchtigkeit eine geringe Meinung. Es fehlte ihm an philosophischer
Bildung; er hatte eben nur sein stilistisches Talent gepflegt (Toppen, 143).
Als Sabinus 1543 eine Berufung nach Leipzig ausschlug und nach
Königsberg ging, urteilte Melanchthon, es geschehe aus Furcht: in
dem entlegenen Winkel hofl*e er mehr als in Leipzig zur Geltung zu
kommen (C. R. V, 316, 321).
Im Frühjahr 1538 trat Sabinus seine Professur der Eloquenz in
Frankfurt mit einer Rede über den Nutzen des Studiums der Elo-
quenz an. Sie hat vermutlich nicht den Melanchthon, wie Bbet-
scHNEiDEB annimmt, der sie deshalb auch in das C. R. (XI, 364 fi*.)
aufgenommen hat, sondern Sabinus selbst zum Verfasser; wenigstens
* Aihenae Rauricae, S. 391.
* Über Sabinus handelt die gründliche Arbeit von Toppen, Die Gründung
der Universitfit Königsberg.
Beformation der Frankfurter und Königsberger UnivereitäL 235
betont sie einen Gesichtspunkt^ der dem großartigen Sabinus sehr am
Herzen lag: die Wichtigkeit eines eleganten Lateins für den Staats-
mann. Im Jahre 1539 wurde Sabinüs Rektor und im folgenden kam
eine umfassende Reformation der Universität zustande, die als Wieder-
herstellung bezeichnet wird. Sie wurde mit den Einkünften des Kar-
thäuserklosterSy 1551 auch mit den Oütem des Stendaler Domkapitels
ausgestattet, womit ihr auch die Landstandschaft zufiel. Die Lehr-
ordnung folgt dem Wittenberger Muster (Toppen, 50). Der index
lectionum für das Sommersemester 1591 (in einem Sammelband der
Berliner Bibliothek) hat folgende Lektionstabelle: 6 Uhr Logik; 7 Uhr
Physik, Hebräisch; 8 Uhr Griechisch (Demosthenes, dann Aristoteles);
12 Uhr Lateinisch (mit Lektüre des Cicero und Terenz); 1 Uhr Poesie,
Mathematik; 2 Uhr Rhetorik; 3 Uhr Mathematik; 4 Uhr Ethik.
Das deutsche Ordensland, durch die Reformation zu einem welt-
lichen Herzogtum geworden, lag bisher jenseits der Grenzen der CiTi-
lisation. Noch im Jahre 1539 ersuchte der Herzog Melanchthon,
ihm einen guten Lateiner aus Wittenberg zu schicken, da Preußen
keine hervorbringe, man aber im diplomatischen Verkehr, besonders
auch mit Polen, einen solchen gebrauche (Toppen, 71). Denn nicht
nur die Italiener und Franzosen, so sagt jene eben erwähnte Rede des
Sabinus, sondern auch die Polen und Ungarn hätten die alte Barbarei
ausgetrieben und führten ihre diplomatische Korrespondenz jetzt in
elegantem Latein. Um nun diesem Bedürfnis durch einheimische Pro-
duktion abzuhelfen, entschloß sich der Herzog zur Begründung eines
gelehrten Studiums. Es wurde im Jahre 1541 zunächst als Partikular-
schule eröffnet; zu einer Universität, so beriet den Herzog ein weiser
Mann, werde es in Königsberg vor allem an Studenten fehlen. Die Schule
hielt sich nur mit großer Mühe. Aber des Herzogs Sinn stand nach
einer Universität und hierfür schien eine Celebrität notwendig. Da
Melanchthon und Camebabius nicht zu haben waren, so kam der
Herzog selbst auf Sabinus. Seiner Anfrage begegnete das Bewerbungs-
schreiben des Sabinus mit allerdings etwas zurückhaltenden Empfeh-
lungen jener beiden. Sie lobten dem Herzog sein Latein und da hier-
nach zunächst Nachfrage war, so machte Sabinus der Empfehlung
keine Schande. Am 17. August 1544 fand die Einweihung der neuen
Universität statt. Sabinus sollte ihr als rector perpetuus vorstehen.
Außer ihm waren am Anfang noch neun Professoren vorhanden , davon
einer in jeder der drei oberen Fakultäten. Beinahe 200 Studenten
wurden immatrikuliert, in den folgenden Jahren sank die Zahl auf
70—80 und bald tief darunter (Toppen, 110).
Die Organisation der Universität folgte in allen Stücken dem
236 //, 3. Neubegründung der Universitäten in den protestant, OehieUn.
Wittenberger Muster.^ Melanchthon wurde von dem Herzog gewisser-
maßen als oberster Inspektor seiner Universität angesehen. Er ersuchte
ihn, wenn es nötig schien, die Professoren zur Eintracht und zum
Fleiß im Lesen und Disputieren zu ermahnen (Toppen, 229). Es wurde
ein Pädagogium und ein Konvikt für Stipendiaten errichtet, auch die
Pflicht, einen bestimmten Präzeptor zu haben, übernommen und ebenso
Deklamationen und Disputationen eingeführt Der Unterricht in der
neuen Glaubenslehre wurde zu einem Bestandteil des Kursus, die
Studierenden wurden alle zum Eirchenbesuch und zum Hören einer
theologischen Vorlesung angehalten. Die Lektüren sind die üblichen:
deir Professor der Eloquenz (Sabinus) erklärt die Rhetorik Melanch-
thons, Ciceros, Quintilians und Erasmus' de duplici copia; verbunden
ist damit die Geschichte (Erklärung des Livius oder Cäsar). Der Gräcist
lehrt griechische Grammatik mit Erklärung von Schriftstellern, als
Homer, Hesiod, Euripides, Sophokles, Theokrit, Demosthenes und einen
Historiker; zugleich trägt er die Ethik des Aristoteles vor. Die übrigen
Professuren sind die der Dialektik, der Poetik (wozu auch die Er-
klärung der Ciceronischen Reden gehört), der Mathematik, des Hebräischen,
der Phj^sik (nämlich der aristotelischen) des Terenz und Plautus. Der
Theolog soll vormittags eine Stunde im N. T.. nachmittags im A. T.
lesen. Auch die Gehalte zeigen die übliche Skala: Sabinus steht
außerhalb der Reihe mit 37373 0., die drei Professoren der oberen
Fakultäten folgen mit 200 fl., die Artisten besoldung beträgt durchweg
100 fl., das der letzten 50 fl. und darunter.
Im Baccalariatsexamen, in welchem jeder einzelne an zwei Tagen
je zwei Stunden gefragt werden soll, wird Latein (mit Exposition und
Komposition), Dialektik und Rhetorik, die Elemente der Physik und
doctrina catechistica verae religionis christianae , im Magisterexamen
Rhetorik, Mathematik, Physik, theologische Materien und die Elemente
der griechischen Sprache geprüft. In den zweiten Statuten ist die
Zahl der Lektüren etwas größer, die der Professuren in den oberen
Fakultäten verdoppelt. Ein in die Universitätsstatuten aufgenommener
Stundenplan verteilt die öffentlichen Vorlesungen über den Tag von
6—10 und von 12 — 5 Uhr, doch bleibt die Stunde von 7 — 8 für die
Predigt frei. Privatvorlesungen, so ordnen die Statuten der facultas
artium s. philosophiae an, dürfen nur nach Übereinkunft mit dem
Dekan und so, daß dadurch die öffentlichen Vorlesungen keine Störung
' Arnoldt, Geschichte der Königäbergischen Universität giebt die Uiiiver-
sitätsstatuten von 1546 und 1554 und die Fakultiitsstatuten von 1544 und 1554
in den Beilagen No. 46 — 49.
Reformation der Greifswaldei' und Rostocker Universität. 237
erleiden, gehalten werden. Ferner werden hier die Elemente des Grie-
chischen schon im Baccalariatsexamen gefordert
Die Bemühung um ein päpstliches und kaiserliches Privileg für
die neue Universität war vergeblich; als Ersatz verschaffte man sich
eine Konfirmation von selten der polnischen Krone (1560); sie ist
ganz in den Ausdrücken der kaiserlichen Konfirmationsurkunden ab-
gefaßt, im besondern erteilt sie auch die Vollmacht zu promovieren
(Abnoldt, Beilage X).
Das Gedeihen der Universität wurde schwer geschädigt durch die
nach der Berufung des Theologen Osiandee (1549) ausbrechenden er-
bitterten Kämpfe um die reine liChre. Als Sabintjs Königsberg halb
freiwillig verließ (1554), war von dem ersten Lehrerkollegium niemand
mehr dort, Sabinüs kehrte nach Frankfurt zurück; auch ihm gewährte
das Alter in Fülle, was er in der Jugend begehrte: glänzende Gesandt-
schaften im Auftrag Joachims nach Polen und Italien, lateinische An-
reden, goldene Ringe, Ketten und Becher und lateinische Dankpoeme
in großer Zahl. —
Auch die beiden Nachbaruniversitäten Greifswald und Rostock
wurden jetzt auf protestantischer Grundlage neu errichtet
Die formliche Wiedereröffnung des Studiums in Greifswald fand
im Herbst 1539 statt Joh. Buoenhagen, welcher die Organisation
protestantischer Landeskirchen in den Ostseeländem überhaupt geleitet
hat, war auch nach Pommern zur Einführung der neuen Ordnung be-
rufen worden. Seine Kirchenordnung von 1535 enthält auch einen
Entwurf für die Einrichtung der Universität Mit einem geringen An-
fang rät er zu beginnen, besonders sei die Errichtung eines Pädago-
giums notwendig (Kosegaeten, I, 189). So geschah es. Bei der Er-
öffnung waren sechs Dozenten vorhanden, je einer in den oberen
Fakultäten und drei Artisten; etwa 40 Immatrikulationen fanden in
der nächsten Zeit jährlich statt Im Jahre 1545 wurden neue Statuten
erlassen (abgedruckt bei Koch, Preuß. Universitäten, I, 358— -393).
Sie handeln von dem Kursus der artistischen Fakultät mit ungewöhn-
licher Ausführlichkeit, weshalb sie in methodologischer Hinsicht inter-
essant sind. Wittenberg ist das Muster. Melanchthon wird darin
„unser Aller gemeinsamer, mit höchster Treue und Hochachtung zu
verehrender Lehrer" genannt Seine Lehrbücher sollen überall den
Vorlesungen zu Grunde gelegt werden, in den beiden Grammatiken,
der Dialektik, Rhetorik, lüthik und Physik; neben ihnen mögen den
Geübteren auch andere Bücher vorgelegt werden. Ein Stundenplan
ist beigefügt, acht philosophische Lektüren wurden vorgesehen, jedoch
erst allmählich besetzt Im Jahre 1571 lasen sechs Artisten, die Physik
Neubegründi
and Psychologie wurden von Mitgliedern der medizinischen Fakultät
nach den MELANCHTHONSchen Lehrbüchern gelesen. Es fehlen in jenen
Statuten nicht die üblichen Vorschriften über Disputationen und Dekla-
mationen, PriTatpräzeptoren und Wohnen im Kollegium; es wird ver-
boten abends nach 9 Uhr im Winter, nach 10 Uhr im Sommer auf
der Straße sich sehen zu lassen. Geboten wird allen Professoren und
Studenten am Sonntag und an den Wochentagen, besonders am Mitt-
woch und Sonnabend, die Predigt zu hören. An den Festtagen sollen
die Schüler ihre Lehrer in feierlichem Zuge zur Kirche und wieder
nach Haus geleiten. In den 60 er Jahren erhielt die Universität eine
Dotation Von 1500 fl., nebst Getreide vom Kloster Eldena; auch ein
Konvikt wurde eingerichtet, „weil jetzt vermögender Leute Kinder
selten studieren'^; Adelige und Städte schenkten betrachtliche Summen
zum Unterhalt, der Herzog gab die Gebäude des Dominikanerklosters
dazu.
Seitdem die Universität Greifswald wieder aufgerichtet war, ging
man auch an die Herstellung von Rostock. Die Stadt war schon
1531, den großen Hansestädten folgend, protestantisch geworden. Die
Sorge um wissenschaftlich gebildete Prediger bewog am Anfang der
40er Jahre die Seestädte, Hamburg^ Lübeck, Lüneburg, Bremen, Riga,
Reval, dem Rostocker Rat Beiträge zur Unterhaltung von Lehrern zu
geben. Auch die Herzöge besoldeten eine Anzahl Dozenten (Kkabbe,
429 ff.). 1552 erhielt Mecklenburg die erste protestantische Kirchen-
ordnung. 1557 erfolgte die ökonomische Fundation, aus den einge-
zogenen Kirchengütem wurden der Universität 3500 fl. zugewiesen,
deren Realisierung freilich ofb nicht ohne beträchtlichen Rest gelang.
1563 kam es zu einer Neuordnung der schwierigen rechtlichen Ver-
hältnisse der Universität, die halb landesherrliche, halb städtische An-
stalt war. Im folgenden Jahr erhielt sie neue Statuten. Sie gleichen
, in allen Stücken der Wittenberger Ordnung. Die theologische Fakultät
verpflichtet ihre Lehrer dfe heiligen Schriften aus dem Urtext in dem
Sinne zu erklären, welcher in den alten Symbolen, der Augustana, den
Schmalkaldischen Artikeln und den Schriften des Gottesmannes Luther
(divini Lutheri) ausgedrückt sei (S. 594). Übrigens wird einem der
vier Professoren die Erklärung der loci Melanchthons oder des examen
ordinandorum, oder der Augsburgischen Konfession aufgetragen. Die
philosophische Fakultät erhielt zehn Professuren; es sind die üblichen,
. mit dem üblichen Lehrauftrag; Melanchthons Lehrbücher werden
.alle gebraucht. Von dem Baccalarianden wird verlangt., daß er in
'^ elementis doctrinae Christianae et Graecae linffuae, et in artihtis dicendi,
et in principiis sphaericis, von dem Magistranden, daß er in allen
Reformation der Heidelberger Universität. 239
sieben freien Künsten unterrichtet sei (603 ff.)- Ebenfalls wurde gesorgt
für die Wiederherstellung des alten Pädagogiums, sowie für Ausstattung
mit Stipendien. Die Rostocker Universität gelangte in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts zu nicht geringer Bedeutung, sie konnte
wohl für die zweite protestantische Universität gelten. Eine ganze
Eeihe von tüchtigen Schülern Melanghthons wirkten hier: die beiden
Gräcisten J. Posselius und J. Caselitjs, David und Nathan Chyteaetjs
u. a. Der Besuch, auch aus den nördlichen Ländern, war erheblich,
die Zahl der jährlichen Immatrikulationen betrug gegen 200(8.472,744).
Etwas eingehender handle ich von Heidelberg, wo für die Uni-
versitätsreform jetzt viel lehrreiches Material vorliegt. Die Verhand-
lungen begannen mit dem Begierungsantritt Friedrichs IL (1544). Man
versuchte Melanchthon für die Heimat wieder zu gewinnen, er konnte
sich aber von Wittenberg nicht mehr trennen. Eine Reihe von Maß-
regeln zur Hebung des Studiums gelangen. Die Bursen wurden, um
den alten Widersachern, den Realisten und Nominalisten, die Wege
abzuschneiden, im Jahre 1546 in eine Anstalt, das contuhemium ge-
nannt, zusammengezogen. Ferner wurde in demselben Jahr ein drei- \
klassiges Pädagogium unter der Leitung der Artistenfakultät errichtet;
später (1556) wurde es mit der alten Stadtschule (der Neckarschule)
vereinigt und zur selbständigen Anstalt gemacht, auch mit geistlichem
Gut und einem Alumnat ausgestattet. Endlich wurde 1555 im \
Augustinerkloster ein Konvikt (CoUegium sapientiae) für Studierende \
der philosophischen Fakultät errichtet, das aber bald seine Bestimmung \
dahin änderte, daß es Theologen aufnahm. Eine Reform der ganzen ;
Universität dagegen, wie sie der Kurfürst erstrebte, stieß auf den
Widerstand der oberen Fakultäten, die an der papistischen Lehre hingen.
Nur die artistische Fakultät war von Anfang an der Reform geneigt.
Sie ließ auch durch Micyllüs, der 1547 als Lehrer des Griechischen
nach Heidelberg zurückkehrte, eine wenigstens provisorische Erneue-
rung ihrer Statuten vornehmen (1551): zum Baccalariat wird darin
hinlängliche Kenntnis beider Sprachen und der Rhetorik und Dialektik,
zum Magisterium Bekanntschaft mit den alten Autoren, Physik und
Mathematik gefordert.^
' Haütz, Gesch. der Univ. Heidelberg, I, 410 ff.; und Lyrei Heidelb. ori-
ffhieSj 14 ff. Von Interesse ist aus den Verbandlungen über die Reform zwischen
dem Hof und der Universität besonders der Widerstand der Universität gegen
das Pädagogium. Der Kurfürst hatte durch Paul FAoros, Prediger in Straß-
burg, einen Entwurf zur Reform der ganzen Universität ausarbeiten lassen (1546).
Darin war vor allem auch eine vierklassige Gelehrtenschule als Vorbereitungs-
anstalt für die Universität gefordert worden, augenscheinlich nach dem Vorbild
240 //, 3. Neubegründung der UniversücUen in den Protestant. Gebieten.
t
Erst der Regierungsantritt Ottheinrichs (1556) der allen Freunden
Heidelbergs durch den Schloßbau so wohl bekannt ist, brachte die Tolle
Entscheidung der Pfalz für die Reformation. Die entsprechende Reform
der Universität wurde sogleich in Angriff genommen; Melanchthon
kam als Berater (Okt. 1557). Im Jahre 1558 erfolgte der Abschluß
in neuen, den ganzen Bestand umfassenden, sehr eingehenden und mit
großer Sorgfalt ausgearbeiteten Statuten (jetzt vollständig veröffentlicht
bei Thobbecke, Statuten, S. 1 — 156). Diese Heidelberger Verfassung,
an der Micyllus und Melanchthon wesentlichen Anteil gehabt haben.
der berühmten Straßbarger Schule, wovon wir später hören werden. Die Uni-
versität, die den ganzen Entwurf ablehnte, erklärte sich vor allem sehr ent-
schieden gegen die geplante Schule. Es hat ein Interesse ihre Gründe zu hören,
ein Widerstand der Universitäten gegen die neuen Grelehrtenschuleu kommt
auch sonst vor, so in Basel. Auch der Widerstand der Universitäten gegen die
Jesuitenkollegien hat wohl hin und wieder ähnliche Gründe. In dem Gutachten
der Universität (jetzt vollständig bei Winckelmann, I, 234 ff.) heißt es: Da dies
Pädagogium in seinen vier Klassen (wie insolito nomine gesagt werde) die
auditores so lang „bis sie omatum et summum genus dicendi Latine erlangten
und Griechisch verstünden^' festhalten solle, so folge daraus klärlich. „daß den
eontuhemiis et faciätnii artium ihre auditores entzogen, auch wider ihre und
deren Eltern Willen in das Pädagogium und Trivialschule gedrungen und so
viel Jahr darin gehalten würden, daß manchen Armen sein väterlich Erbe
darauf gehen werde, ehe er mocht ctd universitatem et facuitatern artium
kommen". Femer würden die Regenten und Präzeptoren des Pädagogiums so
mit Arbeit beladen, „daß ihnen nicht wohl möglich, neben solchem Ambt einer
oberen Fakultät anzuhangen und deren lectiones zu visitieren, wie bisher ge-
schehen ; dadurch denn die oberen Fakultäten auch in Abgang kommen würden'^
Ferner: Virgil, Homer, Hesiod, Demosthenes, Cicero, Isokrates, wie sie Fagius
für ni und lY des Pädagogiums vorschlage, seien „nicht allein in ein Pädagog
nicht gehörig (als darin prima Juventus in primis rudim^ntis grammaticae et
dialeciicae zu instituieren), sondern auch den jungen Studenten zu wichtig und
zu schwer und würden billig vorbehalten berühmten, tapfem professoribus
publicis Latinae et Qraecae linguaej wie in andexii berühmten universitatibus
Oermaniae geschieht^', von welchen Professoribus freilich bei Fagius gar nicht
die Rede sei, „vielleicht der Meinung, aus einer gefreiten Universität eine
Partikular- und Bacchantenschule taciie einzuführen'^ Ebenso seien des Fagius
Vorschläge für die Lektionen der Baccalariats- und Magisterkurse ganz über-
trieben: griechische Autoren wie Aristoteles, Plato, Demosthenes, Hermogenes,
Euclides, dazu Biblia Hebraica seien für Baccalariatskandidaten „viel zu wichtig
und über ihren Yerstaud^^ „Zudem so ist auch zu bedenken, ob es nutz und
gut, daß lingua Oraeca mehr denn lingua Latina in facultate artium gelesen
und gepflegt werde. ... Es ist auch nicht ein jeder dazu geschickt, daß er
neben der lateinischen Sprache auch die griechische oder hebräische perfecte
lernen und begreifen möge, und werden mehrmals die ingenia der Jungen
durch viele der Sprachen mehr verhindert, denn gefördert, also daß mancher,
so beide anstehet zu lernen, keine recht lernet noch begreift.*^
Befdrmation der Heidelberger Universität (1558), 241
läßt in alle Verhältnisse einen vorzüglich deutlichen Einblick thun.
Das allgemeine ist folgendes. Die theologische Fakultät hat drei
Professoren. Von ihnen liest der erste über das neue Testament und
zuweilen über die großen Propheten, viermal wöchentlich (wie überhaupt
Regel, Mittwochs und Sonnabends wird nicht gelesen) morgens von
8 — 9 (im Sommer, im Winter verschieben sich die Stunden). Der zweite
liest hebräische Grammatik und altes Testament, fünfmal, früh von
6 — 7; der dritte systematische Theologie, 1 — 2 Uhr. Die Besoldung
beträgt 250, 200, 160 fl. und freie Wohnung. Die juristische Fakul-
tät hat vier Professoren; sie lesen der erste in codice, früh 6 — 7, der
zweite in secundo decretalium, von 1 — 2, der dritte Pandekten, 8 — 9,
der vierte Institutionen 3 — 4 Uhr. Die Besoldung beträgt 200 fl. und
freie Wohnung, nur daß der Lektor der Institutionen, der auch bloß
Licentiat zu sein braucht, nur 160fl. erhält. In der Medizin lesen
drei Professoren, einer Therapeutik, von 8 — 9, einer Pathologie, von
1 — 2, einer Physiologie, von 3 — 4 Uhr. Die Besoldung beträgt 180,
160, 140 fl. und freie Wohnung.
Die Artisten-Fakultät endlich, die der Ordnung nach die letzte,
„ihres Inhalts und Begriffs halber die größeste und weitläufigste, auch
Nutz und Übung halber die erste und notwendigste unter allen ist,
derhalben, daß ohne diese alle andern weder verstanden, noch gelehrt,
noch recht gebraucht können werden", hat fünf öffentliche Professuren, / !^ ^
daneben aber die vier Regenten im Contubemium. Die Professoren
lesen der erst« linguam Graecam von 2 — 3, (die besten Autoren); der
zweite Ethik, von 1 — 2, (Nikomach. Ethik, oder Cicero); der dritte
Physik, von 8 — 9 (aus dem Aristotele oder denjenigen, so den Aristo-
t^lem in ein Kompendium gebracht, z. B. Melanchthon); der vierte
Mathematik, von 3 — 4, (Arithmetik, Sphaera, Euclidis 1. I, theoricas
planetanim): der fünfte poesin und historias, früh 7 — 8 (die besten
und fümehmsten Poeten, soll „nicht allein die Vokabel und Historien,
sondern auch die Traktation und sonderlich was die Scansion und Pro-
sodie belangt, fleißig explizieren"; dazu zu Zeiten Livius und Caesar;
auch eine Fabel des Plautus, „der Verse und Scansion halben, und
das artificiumy so er bei dem Aristotele und Horatio hat fürgeschrieben,
darin anzeigen)." Die drei artes sermocinales werden von den Regen-
ten im Contubemium auf schulmäßige Weise, mit Abhörung und mit
Übungen, nach modernen Kompendien, z. B. Melanchthons oder Sturms,
gelehrt: der älteste liest Dialektik, früh von 6 — 7, der zweite Rhetorik,
von 12 — 1, der dritte Grammatik, von 4—5, abwechselnd Tag um Tag
lateinische und griechische; sind aber, wie jetzt, vier Regenten da, so
soll die griechische früh von 8 — 9 gelehrt werden, mit fleißigem Dekli-
Paulsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 16
/
/
242 //, 3, Neubegründung der Universitäten in den protestant. Gebieten,
nieren und Konjugieren , auch sollen fabulae Aesopi, paraeneses Isocratis
um mehrerer Übung und Anreizung willen fürgenommen werden. —
Die Besoldungen betragen für den Graecus, den Mathematiker und den
Poeten, „weil dieselben gemeiniglich beweibt, dazu ihre Profession weit-
läufig und derhalben mehr Obliegens und Studierens, auch vieler
Bücher und anderer Kosten von Nöten haben", 120 fl., für den Ethiker
und Physiker lOOfl., für die Begenten 50 fl.
Die Vorlesungen sind öffentlich und unentgeltlich. Neben diesen
ordentlichen Vorlesungen ist es gestattet, außerordentliche Vorlesungen
zu halten, in den öffentlichen Lektorien aber nur publice und umsonst,
privatim um Geld nach Übereinkunft darf nur zu Hause gelesen werden.
Das gilt für die Professoren, wie für andere Magister. Neben den
Vorlesungen finden in allen Fakultäten Übungen statt, in der artisti-
schen am Sonnabend abwechselnd Deklamationen und Disputationen,
in den oberen Fakultäten nur einige Disputationen. Für die Grade
i in der artistischen Fakultät gelten folgende Vorschriften: der Bacca-
\ lariand muß 14 Jahr alt sein und P/2 oder mindestens 1 Jahr den
I Vorlesungen und Übungen beigewohnt haben; geprüft wird zuerst
mündlich eine Stunde in beiden Grammatiken und eine Stunde in der
Dialektik und Rhetorik, dann wird eine Klausurarbeit, Brief oder Auf-
satz über ein gegebenes Argument, gemacht. Von den Magistranden
wird gefordert ein Alter von etwa 20 Jahren und ein zweijähriger
Besuch der Vorlesungen und Übungen; die Prüfung dauert drei Stun-
den, eine in Dialektik und Rhetorik, die zweite in Physik und Ethik,
die dritte in der Mathematik.
Mit der Regierung Ottheinrichs beginnt eine kurze Blüt-ezeit
der Heidelberger Universität, sie dauert bis zu dem „Gang der Pfalz
nach Böhmen" (1620). Trotz der nach dem frühen Tode des Kur-
fürsten beginnenden theologischen Verwirrungen, dem wiederholten
Wechsel zwischen Calvinismus und Luthertum, stiegen die Immatriku-
lationsziffem zu beträchtlicher Höhe, sie schwanken um 200, erreichen
einmal sogar 300.
Eine interessante Ergänzung erhält die obige Darstellung des Lehr-
betriebs nach den Statuten durch einen Bericht, den die Universität
auf Erfordern der Regierung im Jahre 1569 einreichte; es war von
den einzelnen Professoren Auskunft über Gegenstand und Zeit ihrer
Vorlesungen, sowie über die Zahl der Zuhörer gefordert worden. Die
Angaben haben in mehrfacher Hinsicht Interesse. Sehr deutlich lassen
sie erkennen, wie unbestimmt das Verhältnis des Lehrers in den öffent-
lichen Vorlesungen zu seinen Zuhörern war; es fand keine Anmeldung
für die Vorlesung statt, jede stand allen ohne weiteres offen. Von den
Lehrbetrieb in Heidelberg (1569). 243
Theologen giebt der Professor des N. T. an, den Epheserbrief vor mut-
maßlich ungefähr 45, der des A. T., das Buch Hiob vor 30 — 34 Zu-
hörern, wie er von seinen Hausgenossen berichtet werde, zu lesen. Der
dritte ist eben auf der Messe zu Frankfurt Von den Juristen hat
der Eanonist etwa 8, der Codicist nach Angabe des Famulus ungefähr
25 — 30; er fügt hinzu, es würden mehr sein, si tot hie juris stipen-
diarii alerentur, quot, laus Deo, theologiae aluntur; jetzt aber, da die
Hörer sui juris seien, schwinde zu Zeiten das Auditorium instar
lunae: „crescit, decrescit, constans consistere nescit^' Dasselbe bestätigt
der Pandektist, da er früh um 7 Uhr lese, seien der Hörer im Sommer
mehr, im Winter weniger. Der Lehrer der Institutionen giebt 10 — 15
Zuhörer an. Von den Medizinern hat der Senior 3 — 4 regelmäßige
Zuhörer, der zweite ist auf der Messe, der dritte (ein Sohn Melanch-
thons, Sigismund) etwa 5. — Von den Philosophen liest V. Stbioe-
Liüs, der Ethiker, um 2 Uhr über die Nikomachische Ethik, er steht
eben im 4. Buch in titulo de veritate, „Und da die Lehren und Be-
weisführungen der Ethik nicht dargelegt und gelehrt werden können
sine exemplis historiarum, so hab ich seit Mai vorigen Jahres mit der
Ethik das erste Buch der Chronik Melanchthons verbunden, mit dessen
Erklärung und Bepetition ich bis zum peloponnesischen Krieg und zum
sechsten Perserkönig, Darius Nothus, gekommen bin.^' Die Zahl derZuhörer
sei bald größer bald kleiner, ut ferunt tempora et occasiones. Und etwas
trotzig fügt er hinzu: si quid praeterea desideratum fuerit in meis operibus
scholasticis, paratus sunt ad referencUis rationes quocumque tempore et loco,
W. Xylander, des Micyllus Nachfolger, liest jussu universitatis über
das OrganoD, früh um 6 Uhr; die Zahl der Zuhörer hat er nie er-
mittelt, hält dies auch der Würde eines professoris puhlici nicht für
angemessen. Ein guter Lehrer passe seinen Vortrag nicht der Zahl,
sondern der Sache an und gehe nicht auf viele Zuhörer aus, sondern
darauf, diejenigen, die kommen, rechtschaffen und mit gutem Gewissen
zu unterrichten. Übrigens, fügt er hinzu, ut res sunt et temporoy non
hcUfeOj ut me mei poeniteat auditorii, H. NiGEB, med. dr,, physicae
doctrinae prof'., hat bisher gelesen librum de auscultationibus physicis,
de ortu et interitu, de coelo, de meteorisj und de anima; nach Ostern
wird er wieder die Physik und die Psychologie abwechselnd pro usu
et captu auditorum erklären. Die Zahl der Schüler schätzt er auf
etwa 25, je nachdem die Baccalarianden, quibus fere haec lectio desig^
nata est, mehr oder minder zahlreich sind. Der Graecist und der
Mathematiker (S. Gbynaeus) sind auf der Messe. Der Latinist erklart
Cicero, gegenwärtig einen Tag um den andern den Orator et secundum
agrariam in Rullum. Seine Zuhörer zahlt er nicht, es sind, ut fit in
16*
244 //, ■{. XeKt-eiiiiintl'niff tier l'nnrrsiU'iU ti in •k» pi-olealniit. Oeiiülm.
scholl* publieis, bald mehr Imld weniger. 50 inai? die Dnrclisohnitts-
ziffer sein.
Dem Veriiriiß über die Xaebl'rage, der stbon aus diesen Antworten
Tielfacb liernusklingt , giebt die fnivi^itiit noch in dem Begleit-
schreiben Aufdruck, womit die .\ngaben ein}:ereicht werden: man halic
den Befehl zu solcbem Bericht ..mit beschwertem Gemüt einzenommen
und vi'rstiindpn-', indem das Hegehren ..neu und bei der Universität
ganz unerhiirt, noch von uns udcr unsorn Vorfahren dergleichen nie
begehrt worden". Besonders veiwalirt sich die Universität noch da-
gegen, düB man aus der Zahl der Zuhrirer den Wert der Vorlesungen
schätze; die^e hange in den oberen Fakultäten namentlich ab von der
Zahl der Sti|iendiaten, In der artistischen Fabiltät hätten natür-
lich die Vorlesungen über Ethik, Dialektik und Sprachen mehr Hürer
als ilii' Mathematik und dergl. Übriiren-; schwankten die Ziffern mit
der rrei|uenz der Universität.
Man sieht, da« landesherrliche Begiment beginnt sich der Auf-
sicht über die Universitäten anzunehmen: die alte korporative Ver-
fassung stirbt ab. Nicht lange darnach tritt uns dasselbe Kegimont
in einer Verfügung vom Jahre 1580 (bei WiycKELM.*NX I, 313) als
Kirchenregiment entgegen. Der neue Kurfürst, Ludwig VI, bestrebt
das lutherische Bekenntnis durchzuführen, gebot zunächst: alle Pro-
fessoreD sollen oerae Teligioni ia verbo Ifei traditae, rt in .hifftistnna
eonfeßtione, Schmalkaldicif orliiiiliii, latechisnin Lvtlieri. ttostrarum^ttf
eeeletianim eorutitutitme repetitae anhangen und weder öfi'enllich noch
prhaäm andere Ansichten äußern. Doch läßt ihnen kurz daniul
kml On. „ihr Gewissen frei, daß sie für ihre Penion vom Abendmahl
-bei ™h mlhat mö^pn bflUpTi und glauben, wie sie es für Gottfs Eichter-
I zu verantworten hoffen;" auch sollen sie nicht zum Lutherischen
tdmohl zu gehen genöt^ sein, freilich darf es in der Pfalz aui'h
ikt mi Calvinisohe Weise geschehen. Dagegen sullen sie 1^ regel-
f in <lie Kirche gehen und das Wort flottes hören, '2) ihre Weiher,
• and ijesinde hinschicken, besonders auch zur Kinderlehre, da-
„mit andom den Katechii-mus lernen und sich gefaßt machen,
t werden, demselben gemäß Kechenschaft ihi-os Glaubens
' Verhandlung mit den Professoren berief sich di;r
L,^ hätte Befehl, nicht allein vermöge der andern
loaoriohten, sondern auch, vermöge der ersten Tafel,
l'Gottas Erkenntnis anzuführen.--
^Jsna entstand durch Abzweigung von ^\■it^enberg.'
(liDt der Univertitiit .Icna ilS'iSl.
Gründung der Universität Jena {1558), 245
Nach der Schlacht bei ilühlberg und dem Verlust der Kurwürde und
der Kurlande mit Einschluß Wittenbergs (1547) suchte Joh. Friedrich
zunächst die ganze Universität von Wittenberg nach Jena zu ziehen.
Die Absicht scheiterte an der Weigerung Melanchthons, der sich, als
Moritz die Universität Wittenberg zu erhalten sich bereit zeigte, von
dem Ort seiner 30jährigen Wirksamkeit nicht trennen mochte, auch zu
dem Gedeihen einer neuen thüringischen Universität keine rechte Zu-
versicht hatt«. Es wurde daher zunächst im Jahre 1 548 im Pauliner-
kloster eine Schule eröffnet, an der zwei Lehrer, darunter Jon. Stigeliüs,
ein Lieblingsschüler Melanchthons, und nach des letzteren Zeugnis
auch ein Liebling Gottes und der Musen, artistische und theologische
Vorlesungen hielten. Da die Sache guten Fortgang nahm, so wurde
1558 eine vollständige Universität mit kaiserlichem Privileg eröffnet
Ein Lektionsverzeichnis vom Jahre 15g4i, ^^^ Stbobel in den neuen
Beiträgen (Bd. IV, 2. Stück, S. 65 flf.) mitteilt, läßt die Einrichtung
derselben erkennen. Von drei Theologen erklärt der erste in der Kirche
in Predigten die Apostelgeschichte und den Jesaias, in der Schule die
kleinen Propheten, nachher die Genesis; der zweite erklärt grammatisch
die evangelische Geschichte und die Briefe Pauli; und zwar das Matthäus-
evangelium, da es ursprünglich Hebräisch geschrieben sei, in hebräischer
Sprache; der dritte die loci Melanchthons. In der Artistenfakultät
(das Siegel der Fakultät, 1558 angefertigt, hat die Inschrift: sigillum
artium facultatis studii Jenensis) sind sieben Lektoren: der Pädagog
lehrt die lateinische Grammatik mit Übungen an Ciceros Briefen und
Terenz; der Poet und Orator leitet zum Lateinschreiben in Prosa und
Versen an, nach Cäsar und Virgil; ein dritter lehrt die griechische und
hebräische Grammatik mit Übungen an einem Text, wozu Interpretiitions-
vorlesungen über griechische und hebräische Autoren durch einen Theo-
logen und einen Gräcisten kommen; ein Philosoph liest Dialektik, Rhetorik,
Ethik mit einem Abriß der Geschichte; ein Mathematiker Euklid und
Astronomie (nach Peükuach), ein anderer die Elemente; der Gricist liest
auch über die Phvsik Melanchthons und Aristoteles'.
Auch für Stipendien wurde gesorgt. Eine Stiftungsurkunde vom
Jahre 1555 weist für 47 Stipendiaten, darunter 10 vom Adel, die
übrigen Priester-, Bürger- und Bauernsöhne, je 35 fl. jährlich an
(Kius, S. 126 flf.). — Bemerkenswert sind die ebendort berichteten
Bestrebungen, die Studien der Stipendiaten zu regulieren: der Besuch
der Vorlesungen wird durch den Pedell kontrolliert, Abwesenheit dem
Rektor angezeigt; ferner müssen sie allmonatlich einem Professor der
artistischen Fakultät ein scriptum zum Emendieren einreichen. Im
Jahre 1558 war so^rar ein Versuch gemacht worden, alle Stipendiaten
Neubegründi
ohne Rücksicht auf ihre Fakultät zu nötigen, die Vorlesungen des eben
damals höchster Gunst sich erfreuenden Flaciüs Illyricüs zu besuchen;
etwaigen Kollisionen sollte durch Verlegung der anderen Stunden vor-
gebeugt werden. Doch scheint es nicht zur Durchführung des Gebots
gekommen zu sein. Es wurde eingewendet: die Juristen, Mediziner
und Artisten hätten ohnehin schon drei ordentliche lectiones täglich,
die Juristen zwei in jure, eine in Ethik und Dialektik, die Mediziner
zwei in Medizin und eine de anima oder Ethik und Dialektik, die
Artisten noch mehr, indem Latein und Griechisch dazu komme. Dann
aber müsse man auf jede Vorlesung zwei Stunden zum Repetieren
rechnen, womit täglich schon acht Stunden Arbeitszeit gegeben seien.
Wie auch in Jena alsbald giftige Kriege um die Formulierungen
der neuen Theologie zwischen Flacianern und Philippisten entstanden
und mit erbitterten Kolloquien und nachfolgenden Einkerkerungen und
Vertreibungen geführt wurden, mag bei J. Güntheb (Lebensskizzen der
Professoren der Universität Jena von 1558 — 1858) nachgesehen werden.
Die letzt« große protestantische Universität, deren Begründung in
dieses Zeitalter fallt, ist Helmstedt. Herzog Julius von Braunschweig
führt« gleich nach seinem Regierungsantritt (1568) die Reformation
in seinem Lande nicht ohne Härte durch. Eine umfassende Schul-
organisation, der württembergischen von 1559 nachgebildet, fand end-
lich ihren Abschluß in der Begründung einer neuen Universität zu
A Helmstedt im Jahre 1576.^
Die Statuten, unter der wesentlichen Mitwirkung von Melanchthons
Schüler David Chytbaeus, dem Organisator des Rostocker Studiums,
entworfen, folgen im ganzen dem Wittenberger Cluster, freilich nicht
ohne merkliche Abweichungen, welche die neuen Zeitläufte ankündigen.
Martin Chemnitz, an der Abfassung der Konkordienformel hervorragend
beteiligt, hatte auch an der Abfassung der Helmstedter Statuten Anteil
Die Erhaltung der reinen, in der herzoglichen Kirchenordnung ange-
zeigten Lehre ist überall die Hauptsorge; alle Lehrer aller Fakultäten
sollen die in das corpus doctrinae aufgenonmienen Bekenntnisschriften
beschwören. Abweichungen haben Entfernung zur Folge; der Senat
und die Kollegen werden dafür verantwortlich gemacht, nicht bemerken
ist strafbar. Der Herzog selbst, vielleicht noch mehr im Vollbewußtsein
seiner politisch-kirchlichen Landesherrlichkeit, als in theologischem Eifer,
forderte schlechthinnige Subjektion von seinen Professoren. „Wer mit
^ Über die änßeren und inneren Verhältnisse der Universität während
ilirer Blütezeit, dem ersten Jahrhundert ihres Bestehens, giebt das vortreffliche
Werk von Henke, Calixtus und seine Zeit, allseitige Auskunft.
Gründung der Universität Helmstedt (1576). 247
seiner Kirchenordnung nicht friedlich sei, solle weder in Academia Julia
noch sonst geduldet werden. Es sei besser, dieselben führen hin zum
Teufel, als daß sie seine Kirchen und Schulen verunreinten und befleckten";
mit diesen Worten eröfihete der Herzog 1584 das Generalkonsistorium
(Hexke, 12). — Die theologische Fakultät soll vier Professoren haben,
aber nur noch die Hälfte der 16 wöchentlichen Stunden gehört der
Exegese, die andere Hälfte der Dogmatik mit Dogmengeschichte, der
Kirchengeschichte und homiletischen Übungen. Jede Stunde soll mit
Gebet begonnen und geschlossen werden.
Ausführlich sind die Vorschriften für die philosophische Fakultät.
Als finis Studiorum erscheint in den Statuten jene bezeichnende Formel
sapiens atque eloquens pietas, sie drückt durchaus Melanchthons An-
schauung aus; Mittel dazu sind linguae und artes. Es werden zehn
Professoren geordnet, darunter zwei der aristotelischen Philosophie, von
welchen einer das Organon und die Ehetorik, der andere die Physik
und Ethik lesen soll. Zwei andere halten über Melanchthons Lehr-
bücher Lektionen, welche für jene philosophischen Vorlesungen über
den Aristoteles im Urtext vorbereiten. Für das Studium der Ge-
schichte wird die Bibel empfohlen, als welche die wichtigsten Thatsachen
enthalte, Providenz und Strafgerechtigkeit erkennen lasse und exempla
praeceptorum decalogi liefere. Auch beim Vortrag der Physik empfehle
es sich, biblische Beispiele zu brauchen.
Helmstedt war die letzte Universität MELANCHTHONscher Stiftung.
Sie blieb, mit einigen Schwankungen, während des ersten Jahrhunderts
ihres Bestehens die bedeutendste Vertreterin seiner Richtung. Als auf
den übrigen protestantischen Universitäten die humanistischen Studien
durch die Streittheologie schon fast gänzlich verdrängt waren, übte in
Helmstedt ein humanistischer Philosoph oder philosophischer Humanist
den bedeutendsten Einfluß: Jon. Caseliüs (1533 — 1613), noch ein
Schüler Melanchthons, der letzte überlebende aus einer vergangenen
Zeit Er schrieb in beiden Sprachen in Prosa und Versen, „vor allem
war ihm die gelällige Umständlichkeit eines ciceronianischen Briefstils
wie zur Muttersprache geworden" (Henke, 51). —
Die am Anfang des 17. Jahrhunderts gestifteten protestantischen
Universitäten, Gießen (1607), Einteln (1621), Straßburg (1621),
Altdorf (1622) will ich hier nur erwähnen; sie sind aus Gymnasien
hervorgewachsen und werden uns daher im folgenden Kapitel noch-
mals begegnen. Ihre Organisation ist im wesentlichen dieselbe.
Eine ganze Reihe von protestantischen Universitäten entstanden in
diesem Zeitalter in den Niederlanden, welche das ganze 17. und
18. Jahrhundert hindurch von großer Bedeutung für Deutschland waren,
248 //, 4. Gestalt u, Unterrichtsbetrieb der prot, Universitäten um 1580.
insofern sie das Mittelglied zwischen der vorauseilenden Kultur der
westlichen Lander und der deutschen TJniversitatswelt bildeten; lange
Zeit hindurch waren dieselben, wie früher die italienischen Universitäten,
das Ziel der akademischen Studienreise. Es sind Leyden 1575, Franeker
1585, Groningen 1614, Utrecht 1634, Harderwyk 1648 (Tholuck, 11,
204 ff.). Ich begnüge mich damit, die Organisation von Leyden anzu-
deuten. Der erste index lectionum vom Jahre 1587, von Justus Lipsius
als Kektor in Form eines Stundenplans abgefaßt, weist vier theologische,
vier juristische, zwei medizinische, fünf artistische Professoren auf.
Unter letzteren sind zwei Linguisten, welche über lateinische und grie-
chische Autoren (Florus, Cicero, Homer, Aristoteles de mundo) lesen,
und drei Artisten, welche einer abwechselnd aristotelische Logik und
Physik, der zweite aristotelische Politik, der dritte Kosmographie und
Astronomie vorträgt.^
Viertes Kapitel.
Äußere Gestalt und Unterrichtsbetrieb der protestantischen
Universitäten am Ende des 16. Jahrhunderts.
Der im vorhergehenden Kapital gegebenen Übersicht über die Ent-
stehung und Gestaltung der einzelnen protestantischen Universitäten
lasse ich in diesem eine allgemeine Darstellung folgen, welche die Ver-
hältnisse dieser Anstalten, soweit sie für uns in Betracht kommen, in
einem Querschnitt zeigt, der etwa durch das Jahr 1580 gezogen
sein mag.
Was zunächst die äußeren Verhältnisse anlangt, so haben die
Universitäten im ganzen das Schema ihrer ursprünglichen Struktur
festgehalten. Die Gesamtverfassung ist geblieben: die Universität ist
«ine privilegierte Körperschaft mit einem gewählten Haupt, dem Rektor,
und einer begrenzten Selbstverwaltung und Rechtsprechung über ihre
Glieder. Geblieben ist ebenso die Gliederung in die vier Fakultäten,
jede mit ihrem gewählten Vorsteher, dem Dekan.
Auch die Aufgabe der Fakultäten und ihr Verhältnis zu einander
ist im wesentlichen das alte geblieben. Im besonderen hat die artistische
oder, wie sie jetzt gewöhnlich genannt wird, die philosophische Fakultät
die Stellung einer allgemein-wissenschaftlichen Vorschule für die oberen
Fakultäten behalten, die Aufgabe der letzteren ist die fachwissenschaft-
^ Maatschappij der Xederlandsche Letferkunde, 1856, S. 84 ff.
VerstaaUiehung und Territorialisierung der Universitäten, 249
liehe Vorbildung für den praktischen Beruf. Doch vollziehen sich hier
bemerkenswerte Wandlungen. Die theologische und juristische
Fakultät haben an Bedeutung und an ziffernmäßigem Bestand gewonnen. .
In dem MaBe, als die wissenschaftlich-theologische Vorbildung der Oeist-
lichen zunächst innerhalb der protestantischen , dann auch innerhalb
der katholischen Welt an Wichtigkeit gewinnt, in demselben MaBe
wächst die Zahl derer, die einen theologischen Universitätskursus durch-
machten. Im Mittelalter setzte die Verwendung im geistlichen Amt
durchaus nicht ein wissenschaftliches Studium der Theologie voraus;
jetzt wurde die Forderung zur Regel, Das Universitätszeugnis trat an
die Stelle der Prüfung durch den Bischof oder seinen Beauftragten.
Ebenso gewinnt das juristische Studium an Wichtigkeit und Ausdehnung
in dem Maße, als sich die Staatsthätigkeit erweitert und die Recht-
sprechung in die Hände gelehrter Richter übergeht. Während es im
Mittelalter überwiegend Kleriker waren, die auf deutschen Universitäten
in der juristischen Fakultät Kirchenrecht studierten, sind es jetzt die
Rate, Beamten und Richter, die durch das Studium des römischen
Rechts die wissenschaftliche Fachbildung sich erwerben. Ist im
1 6. Jahrhundert die theologische Fakultät noch die erste und wichtigste,
80 wird seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die juristische die vor-
nehmste und allmählich auch die stärkste. Die medizinische Fakultät
erreicht erst im 19. Jahrhundert rasch steigende Bedeutung.
In der öffentlichen Stellung der Universität hat sich eine Wand-
lung vollzogen, die mit der gesamten Entwickelung der Dinge aufe
engste zusammenhängt: die Universitäten werden immer entschiedener
Staatsanstalten. Im Mittelalter war die Kirche die allumfassende
Form des geistigen und beinahe des gesamten öffentlichen Lebens; der
Staat hatte neben ihr die bescheidene Rolle einer Einrichtung für be-
stimmte und begrenzte Zwecke, besonders die Friedensbewahrung im
Innern und die politisch-militärische Selbsterhaltung nach außen. Seit
dem Beginn der Neuzeit kehrt sich dies Verhältnis mehr und mehr
um. Der Staat entwickelt sich zu der universellen, alle menschlichen
Zwecke umfassenden Wohlfahrtsanstalt, während die Kirche auf ein
immer engeres Gebiet zurückgedrängt wird, so daß ihr zuletzt nur die
Predigt und Sakramentsverwaltung bleibt. Im besonderen ist das öffent-
liche Unterrichts- und Erziehungswesen, das im Mittelalter ganz der
Kirche angehörte — wie es denn der Natur der Sache eigentlich an-
gemessen ist: Erziehung ist ein Gebiet der Seelsorge — allmählich in
die Verwaltung des Staats übergegangen. An den Universitäten hat
sich dieser Vorgang zuerst vollzogen; die päpstliche Errichtungsbulle,
der kirchliche Charakter der Promotionen, die Dotation der Professuren
250 //, 4, Oestalt u. Unterricktsheiritb der prot. UniversUäten um 1580,
mit kirchlichen Pfründen und der damit gegebene klerikale Charakter
des Amts, alles das kommt in Wegfall. Zugleich schwindet damit die
körperschaftliche Selbstregierung. Die landesherrliche Regierung, die
übrigens schon in der zweiten Haltte des 15. Jahrhunderts im Vor-
dringen ist, dehnt ihre Verordnungsgewalt immer mehr aus; sie giebt
Statuten und Ordnungen für die Universität und die Fakultäten, für
die äußeren Verhältnisse und den inneren Unterrichtsbetrieb. Die
Professoren werden Staatsbeamte, die im Auftrag und unter Aufsicht
der Landesregierung lehren. Die Aufsicht wird durch Visitationen
geübt, zu denen landesherrliche Eommissarien erscheinen mit dem Auf-
trag, Leben und Lehre der Professoren und Studenten zu erforschen.
Auf ihren Bericht, der sich auf Aussagen der Beteiligten und Beobach-
tungen stützt, erfolgt dann, was man am Hof zu verfügen für not-
wendig hält (Auszüge aus Berichten und Verfügungen bei Tholuck,
I, 23 ff.). Es ist der Polizeistaat, der sich hierin ankündigt; bald giebt
es kein Gebiet der Lebensbethätigung, in das nicht die Regierung mit
Mandaten eingriffe. Auch die Studierenden unterliegen der Aufsicht;
sie werden als künftige Diener des Landesherrn, im weltlichen oder
im geistlichen Amt, angesehen. Vor allem gilt das von den Stipen-
diaten, die von dem Landesherrn auf der Universität erhalten werden^
um für die Civil- und Kirchen- und Schulbedienungen, wie man später
sagt, einen Stamm von brauchbaren Subjekten zu haben.
Hiermit hängt nun ein Weiteres zusammen: die Territoriali-
sierung der Universitäten, ja man kann sagen, der Wissenschaft
und des geistigen Lebens überhaupt Vor der Reformation bildete
Deutschland, ja die ganze abendländische Christenheit ein einheitliches
Universitätsgebiet. Man denke an die Ubiquität der scholastischen
Philosophen und der Humanisten. Die Universitäten waren als Glieder
der internationalen Kirche selbst Anstalten internationalen Charakters;
ihre Grade galten überall, sie gaben das Recht überall zu lehren, und
da alle eine Sprache redeten, die Sprache der Kirche, so bildeten die
Landesgrenzen auf diesem Gebiet in der That keine Grenze. — Seit
der Errichtung der Landeskirchen hörte diese Freizügigkeit des Gelehrten-
tums auf. Protestantische und katholische Universitäten schlössen sich
streng gegen einander ab, vielfach, bei der weiteren Spaltung in der
Lehre auch die protestantischen unter einander, mindestens die luthe-
rischen gegen die reformierten. Regelmäßig findet bei der Anstellung
die eidliche Verpflichtung auf die landeskirchlichen Bekenntnisschriften
statt; auch bei der Promotion ist die Verpflichtung auf Schrift und
Symbole gewöhnlich. Bei der Aufnahme fremder Doktoren sucht man
sich auch durch ein examen doctrinae gegen die Einschleppung von
Statistische und Ökonomische Verhältnisse. 251
Unkrautsamen zu schützen. Auch das Studieren auf fremden Uni-
versitäten, wenigstens auf den in der Lehre nicht reinen, wurde den
Landeskindem vielfach untersagt, bei Verlust der Anstellungsfahigkeit.
Übrigens bestimmt« hierzu, außer dem glaubenspolizeilichen Gesichts-
punkt, auch der fiskalische: wozu unterhält der Fürst eine Landes-
universität? So wurde z. B. den brandenburgischen Landeskindern
1564 verboten, auf fremden Universitäten zu studieren, andererseits
den Magistraten und anderen Patronen geboten, sich von der Landes-
universität zu Frankfurt für vakante Bedienungen Kandidaten em-
pfehlen zu lassen, eine notwendige Ergänzung zum Stipendiaten wesen:
die Prohibition ist die Ergänzung der St^atsproduktion.
Von hieraus ist denn auch verständlich, daß nun jedes Territorium,
auch das kleinste, darnach strebte, seinen Bedarf an Gelehrten durch
inländische Produktion zu decken. Daher die große Menge von zum
Teil wenig lebensfähigen Neugründungen aus diesem Zeitalter: jedes
Staatsgebiet wollte wenn möglich eine eigene vollständige Universität
haben; reichten die Mittel durchaus nicht, so errichtete man wenigstens
einstweilen ein sogenanntes gymndsinm academicum oder illustre, eine
Gelehrtenschule, an die ein philosophischer und etwa noch ein theo-
logischer Kursus sich anschloß. Je nach Gelegenheit ließ sich die
Anstalt dann auch zur vollen Universität erweitem, wie es z. B. mit
den Schulen der Reichsstädte Straßburg und Nürnberg geschah. Auch
zahlreiche Jesuitenkollegien haben sich so zu einer halben oder ganzen
Universität entwickelt.
Übrigens vergesse man nicht, daß auch eine ganze Universität in
diesem Zeitalter noch ein sehr einfaches Ding ist, verglichen mit dem
unendlich komplizierten Apparat unserer Tage. Die Universität besteht
aus dem Lehrkörper und der Studentenschaft, beide bewegen sich meist
in kleinen ZiflFem, 15 — 20 Professoren und 300 — 400 Studierende
werden schon eine gute Mitteluniversität ausmachen. Institute giebt
es nicht, außer einer kleinen Büchersammlung. Die Kosten sind gering,
mit wenigen tausend Gulden für Gehalt und Stipendien, und mit ein
paar Gebäuden, wozu etwa ein leergewordenes Kloster benutzt werden
kann, ist der ganze Aufwand bestritten. Die Kleinheit und Beweg-
lichkeit der Universität kommt sehr sichtbar zur Darstellung in den
nicht seltenen Auswanderungen; trifft eine Pest den Ort, so wandert
das ganze Studium zeitweilig nach einer benachbarten Stadt aus und
setzt dort seine Übungen fort. Von Tübingen, Heidelberg, Frankfurt,
Jena, selbst Wittenberg sind mehrfacheÜbersiedelungen dieser Art bekannt
Was die ökonomischen Verhältnisse der Professoren an-
langt, 80 wird man sie sich im allgemeinen recht bescheiden vorzu^
252 //, 4, OestaU u, ünterrtohtshetrieb der proL Universiiäten um 1580.
stellen haben. Das Gehalt in der artistischen Fakultät bewegt sich
etwa zwischen 50 — 100, in der juristischen und theologischen Fakultät
zwischen 100 — 200 Gulden. Die Bedeutung einer solchen Summe
ergiebt sich vielleicht am einfachsten aus der Vergleichung mit dem,
was für einen eben noch ausreichenden Studentenwechsel galt. Der
Betrag eines Stipendiums ftir einen Studenten, das bestimmt war den
ganzen unterhalt, ohne Zweifel der Grenze möglicher Lebenshaltung
sehr nahe, und zwar für ein ganzes Jahr, nicht bloß wie jetzt für
die 7 oder 8 Monate der beiden Semester, zu bestreiten, machte in
Wittenberg, wie oben angegeben, 25 fl. aus. Als bei der Errichtung
der Jenaer Universität die Frage der Abmessung der Stipendien
erwogen wurde, fand man die Sunmie durchaus unzureichend und
erhöhte sie auf 35 fl. Allein für den Tisch, so versicherten Sach-
kundige, gingen 18 fl. jährlich darauf (7 Groschen wöchentlich).
Gleichzeitig brachte Melanchthon als Gehalt für die artistischen
Professoren 100 fl. in Vorschlag. In beiden Fällen kommt also auf
die artistische Lektur etwa das dreifache des niedrigsten Studenten-
wechsels; in unsere Verhältnisse umgesetzt würde das, wenn wir
1200 M. als eben auskömmlichen Studentenwechsel rechnen, 3600 M.
ausmachen, für die oberen Fakultäten etwa das doppelte. Wobei
denn in Betracht kommt daß die artistische Lektur in der Hegel
Ausgangspunkt der akademischen Laufbahn war, aus der man mit
steigendem Alter in eine Professur der oberen Fakultäten, besonders
der theologischen, oder auch in ein geistliches Amt überging.
Allerdings kamen zum Gehalt meist andere Formen des Ein-
kommens. Zunächst wurden vielfach Naturalbezüge gewährt, Korn,
Wein, freie Wohnung, Holz; bei den größeren Professuren wird in der
Regel wenigstens einiges davon vorauszusetzen sein. Regelmäßige Kol-
legienhonorare wie heute gab es im 16. und 17. Jahrhundert allerdings
nicht; für das Gehalt mußten eben die den Kursus ausmachenden Vor-
lesungen publice, d. h. jedem umsonst zugänglich, gelesen werden. Auch
gab es keine oder kaum in Betracht kommende schriftstellerische Honorare.
Dafür kamen an einer etwas besuchteren Universität die Promotions-
gebühren in Betracht. Und dann hinderte nichts, durch Erteilung
von Privatunterricht, besonders auch in der Form von Disputations-
kursen und durch Abfassung von Dissertationen, die von dem Re-
spondenten honoriert wurde, sich einen Verdienst zu verschaffen. Bei
den jüngeren Magistern darf das als Regel vorausgesetzt werden.
Endlich nahm man auch Studenten als Pensionäre ins Haus, ein Ver-
hältnis, das l)is ins 18. Jahrhundert hinein ganz gewöhnlich bleibt.
Wie CS scheint hat unter diesem Einfluß hin und wieder ein Pro-
Lebmsordnungen der Professoren und Studenten, 253
fessorenhaos etwas von dem Charakter eines Wirtshauses angenommen.
Auch die den Professoren regelmäßig gewährte Steuerfreiheit mit Ein-
schluß der Freiheit vom Aufschlag auf das im Haushalt verzehrte Ge-
tränk mochte hierauf hinwirken. Es werden wiederholt Verordnungen
erwähnt, die den Wein- und Bierschank der Professoren einschränken.
Es kann nicht überraschen, daß diese Verhältnisse vielfach bittere
Etagen hervorriefen; im 7. Band von Janssens Geschichte des deutschen
Volkes findet man ihrer viele gesammelt. Um billig zu urteilen, darf
man nicht vergessen, daß es zwei von dem Willen der Erhalter der
Universitäten nicht abhängige Umstände waren, wodurch die an sich
engen Verhältnisse vielfach zur Notlage wurden: der eine ist die Auf-
gebung der klerikalen Lebensformen von Seiten der Universitätslehrer,
der andere das Sinken des Geldwerts. Die herkömmliche Dotation
der Lektüren war, wie die aller geistlichen Stellen, auf den Cölibat der
Inhaber zugeschnitten und also natürlich für die Erhaltung einer
Familie nicht ausreichend. Es ist aber begreiflich, daß sich die An-
schauungen von dem, was für derartige Stellen erforderlich und an-
gemessen sei, nicht so schnell als das Bedürfnis veränderten, ebenso,
daß die Zufuhrung neuer Mittel noch längere Zeit brauchte. Und
dazu kam nun noch der zweite Umstand. Der Geldwert oder die
Kaufkraft der Edelmetalle ist im Verlauf des 1 6, Jahrhunderts wohl
auf die Hälfte und darunter gesunken: ein sehr schmerzlicher Vorgang
für alle, die auf festes Geldgehalt angewiesen waren.
Auch die Lebensordnungen, wie sie die mittelalterlichen Uni-
versitäten für die Scholaren ausgebildet hatten, starben im .16. Jahr-
hundert ab. Die alte Verpflichtung, in den Kollegien und Bursen zu
wohnen, ließ sich nicht mehr allgemein festhalten, sie hatte den Cölibat
der Magister und überhaupt das Vorbild des klösterlichen Lebens zur
Voraussetzung. Auch wirkte das Wachstum der oberen Fakultäten,
besonders der juristischen, die sich aus dem Herrenstand zu rekrutieren
begann, im Sinne der Emanzipation der Studierenden; der Bursenzwang
hatte immer eigentlich der artistischen Fakultät gegolten. Endlich
wird auch das durchschnittliche Lebensalter der Studierenden mit der
Steigerung des Schulkurses gestiegen sein. So entwickelt sich all-
mählich aus dem Scholaren des Mittelalters, dem klerikalen Semina-
risten, der akademische Student des 17. Jahrhunderts, der den Kavalier
spielt. Es spiegelt sich hierin die Wandlung der Gesellschaft: der
geistliche Stand verschwindet in der protestantischen W^elt, das Bürger-
tum tritt zurück, der Adel wird der sozial und politisch herrschende
Stand. Alles was nach sozialer Auszeichnung strebt, sucht nun die
Lebensformen des Adels sich anzueignen. Ein Zeichen für die Wand-
246 II, 3. Neubegrütidung der Universiiäten in den protestant, Gebieten,
ohne Rücksicht auf ihre Fakultät zu nötigen, die Vorlesungen des eben
damals höchster Gunst sich erfreuenden Flacius Illyricus zu besuchen ;
etwaigen Kollisionen sollte durch Verlegung der anderen Stunden vor-
gebeugt werden. Doch scheint es nicht zur Durchführung des Gebots
gekommen zu sein. £s wurde eingewendet: die Juristen, Mediziner
und Aiüsten hätten ohnehin schon drei ordentliche lectiones täglich,
die Juristen zwei in jure^ eine in Ethik und Dialektik, die Mediziner
zwei in Medizin und eine de anima oder Ethik und Dialektik, die
Artisten noch mehr, indem Latein und Griechisch dazu komme. Dann
aber müsse man auf jede Vorlesung zwei Stunden zum Repetieren
rechnen, womit täglich schon acht Stunden Arbeitszeit gegeben seien.
Wie auch in Jena alsbald giftige Kriege um die Formulierungen
der neuen Theologie zwischen Flacianern und Philippisten entstanden
und mit erbitterten Kolloquien und nachfolgenden Einkerkerungen und
Vertreibungen geführt wurden, mag bei J. Günther (Lebensskizzen der
Professoren der Universität Jena von 1558 — 1858) nachgesehen werden.
Die letzt« große protestantische Universität, deren Begründung in
dieses Zeitalter fallt, ist Helmstedt. Herzog Julius von Braunschweig
führte gleich nach seinem Regierungsantritt (1568) die Reformation
in seinem Lande nicht ohne Härte durch. Eine umfassende Schul-
organisation, der württembergischen von 1559 nachgebildet, fand end-
lich ihren Abschluß in der Begründung einer neuen Universität zu
A Helmstedt im Jahre 1576.^
Die Statuten, unter der wesentlichen Mitwirkung von Melanchthons
Schüler David Chytraeus, dem Organisator des Rostocker Studiums,
entworfen, folgen im ganzen dem Wittenberger Cluster, freilich nicht
ohne merkliche Abweichungen, welche die neuen Zeitläufte ankündigen.
Martin Chemnitz, an der Abfassung der Konkordienformel hervorragend
beteiligt, hatte auch an der Abfassung der Helmstedter Statuten Anteil.
Die Erhaltung der reinen, in der herzoglichen Kirchenordnung ange-
zeigten Lehre ist überall die Hauptsorge; alle Lehrer aller Fakultäten
sollen die in das corpus doctrinae aufgenommenen Bekenntnisschriften
beschwören. Abweichungen haben Entfernung zur Folge; der Senat
und die Kollegen werden dafür verantwortlich gemacht, nicht bemerken
ist strafbar. Der Herzog selbst, vielleicht noch mehr im Vollbewußtsein
seiner politisch-kirchlichen Landesherrlichkeit, als in theologischem Eifer,
forderte schlechthinnige Subjektion von seinen Professoren. „Wer mit
* Über die äußeren und inneren Verhältnisse der Universität während
ilirer Blütezeit, dem ersten Jahrhundert ihres Bestehens, giebt das vortreftliche
Werk von Henke, Calixtus und seine Zeit, allseitige Auskunft.
Gründung der Universität Helmstedt (1576), 247
seiner Kirchenordnung nicht friedlich sei, solle weder in Academia Julia
noch sonst geduldet werden. Es sei besser, dieselben führen hin zum
Teufel, als daß sie seine Kirchen und Schulen verunreinten und befleckten" ;
mit diesen Worten eröffnete der Herzog 1584 das Generalkonsistorium
(Henke, 12). — Die theologische Fakultät soll vier Professoren haben,
aber nur noch die Hälfte der 16 wöchentlichen Stunden gehört der
Exegese, die andere Hälfte der Dogmatik mit Dogmengeschichte, der
Kirchengeschichte und homiletischen Übungen. Jede Stunde soll mit
Gebet begonnen und geschlossen werden.
Ausführlich sind die Vorschriften für die philosophische Fakultät
Als finis Studiorum erscheint in den Statuten jene bezeichnende Formel
sapiens atque eloquens pietas, sie drückt durchaus Melanchthons An-
schauung aus; Mittel dazu sind linguae und artes. Es werden zehn
Professoren geordnet, darunter zwei der aristotelischen Philosophie, von
welchen einer das Organen und die Rhetorik, der andere die Physik
und Ethik lesen soll. Zwei andere halten über Melanchthons Lehr-
bücher Lektionen, welche für jene philosophischen Vorlesungen über
den Aristoteles im Urtext vorbereiten. Für das Studium der Ge-
schichte wird die Bibel empfohlen, als welche die wichtigsten Thatsachen
enthalte, Providenz und Strafgerechtigkeit erkennen lasse und exempla
praeceptorum decalogi liefere. Auch beim Vortrag der Physik empfehle
es sich, biblische Beispiele zu brauchen.
Helmstedt war die letzte Universität MELANCHTHONScher Stiftung.
Sie blieb, mit einigen Schwankungen, während des ersten Jahrhunderts
ihres Bestehens die bedeutendste Vertreterin seiner Richtung. Als auf
den übrigen protestantischen Universitäten die humanistischen Studien
durch die Streittheologie schon fast gänzlich verdrängt waren, übte in
Helmstedt ein humanistischer Philosoph oder philosophischer Humanist
den bedeutendsten Einfluß: Jon. Caselius (1533 — 1613), noch ein
Schüler Melanchthons, der letzte überlebende aus einer vergangenen
Zeit. Er schrieb in beiden Sprachen in Prosa und Versen, „vor allem
war ihm die gefällige Umständlichkeit eines ciceronianischen Briefstils
wie zur Muttersprache geworden" (Henke, 51). —
Die am Anfang des 17. Jahrhunderts gestifteten protestantischen
Universitäten, Gießen (1607), Rinteln (1621), Straßburg (1621),
Altdorf (1622) will ich hier nur erwähnen; sie sind aus Gymnasien
hervorgewachsen und werden uns daher im folgenden Kapitel noch-
mals begegnen. Ihre Organisation ist im wesentlichen dieselbe.
Eine ganze Reihe von protestantischen Universitäten entstanden in
diesem Zeitalter in den Niederlanden, welche das ganze 17. und
18. Jahrhundert hindurch von großer Bedeutung für Deutschland waren,
258 11, 4. Gestalt u. Unterriditshetrieh der 2>fot, Universitäten um 1580,
Was den Inhalt des philosophischen Unterrichts anlangt, so liegt
er uns in den Lehrbüchern Melanchthons, die alle aus Vorlesungen
hervorgegangen sind, deutlich ausgebreitet vor Augen. Der Einteilung
der Philosophie, die den Inbegriff der Wissenschaften darstellt, liegt
das alte dreigliedrige Schema zu Grunde: 1) die Lehre vom Denken
und Reden, die artes formales, Dialektik und Rhetorik, der die Gram-
matik vorausgeht; 2) die Lehre von der Wirklichkeit, die artes reales,
Physik, Kosmologie, Physiologie, Psychologie; 3) die Lehre von den
praktischen Aufgaben des Lebens, Ethik und Politik.
Das Hauptstück des ersten Kursus sind die Rhetorik und Dia-
lektik, sie zielen gemeinsam auf die Eloquenz, die am Eingang der
Rhetorik erklärt wird als die facultas sapievter et omate dicendi. Den
ornatus lehrt die Rhetorik, das heißt nicht die äußerlich aufgeputzte
Rede, sondern den angemessenen, wohl geordneten, nachdrücklichen
und wirksamen Vortrag der Gedanken. Melanchthons Rhetorik liegt
in drei Überarbeitungen vor: de rhetorica 1. III (1519), Institutiones
rhet (1521), Elementorum rhetor. 1. II, (1531). Die letztere handelt
im ersten Buch von den Art^n der Rede, des Vortrags oder der Ab-
handlung, das geiius didascalicum als neues, viertes genus in den Vorder-
grund stellend, sodann von den Teilen der Rede und der Anordnung der
notwendigen Stücke, endlich von der Unterstützung der inventio durch
die Andeutung der loci, wo die materia dicendi zu suchen. Der Lehre
vom Aufbau des Ganzen folgt dann im 2. Buch die Lehre vom Stil,
wo besonders auch die figurae orationis zur Behandlung kommen. —
Man sieht, die Rhetorik ist wesentlich dasselbe, was wir heute etwa
in einer Theorie des Aufsatzes behandeln, nur daß dort die Beziehung
zur antiken Rhetorik mit ihrer Abzielung auf die vorgetragene Rede
stärker hervortritt Bei uns hat das Schreiben das Reden verdrängt.
Die Dialektik liegt ebenfalls in drei Überarbeitungen vor, die
erste unter dem Titel: compendiaria dial ratio (1520), die letzte unter
dem Titel: Erotemata dialectices (1547); es sind darin die Kapitel-
überschriften in die Form der Frage gefaßt. Mit der Rhetorik aufs
engst« verwandt, wird sie erklärt als die Kunst der richtigen, geordne-
ten und durchsichtigen Darstellung, die auf richtigem Definieren, Iau-
teilen und Argumentieren beruht. Sie handelt in vier Büchern den
herkömmlichen Inhalt der Logik ab, nach dem Schema der aristote-
lischen Schriften: den Begriff, mit Definition und Division, das Urt-eil,
die Syllogistik, die Topik, die Fehlschlüsse.
Den zweiten Teil der Philosophie, die Lehre von der Wirklichkeit,
hat Melanchthon in zwei W^erken behandelt, dem Commentarins de
anima (1540) und den Tnitia doctrinae physicae (1549). Die Physik
Melancfähons Lehrbücher der philoa. Wissenschaften» 259
schließt Metaphysik und Kosmologie ein. Sie handelt im ersten
Bach, nach einer Einleitung über Wesen , Methode und Nutzen der
Naturwissenschaften, von Gott, seinem Dasein und Wesen, von der
Welt und dem kosmischen System. Das zweite Buch behandelt im
wesentlichen die metaphysischen Frinzipienfragen, Materie und Form,
die Arten der Ursachen, die Bewegung und ihre Arten, Raum und
Zeit u. s. f. Im dritten Buch erst nähert sie sich den Dingen, die
gegenwärtig in der Physik und Chemie behandelt werden. — Die
Schrift de anima enthält die Lehre von den Lebewesen. Zuerst wird
vom Wesen der Seele, mit historisch-kritischen Ausführungen, gehandelt;
es folgt ein Abriß der physischen Anthropologie; dann werden die
Seelen vermögen (potentiae animae) durchgegangen: nutritiva, gener ativa^
sensitiva, appetitiva (wo die AflFektenlehre abgehandelt wird), locomotiva,
rationalis] die anima rationalis (mens) hat wieder zwei Seiten, inteU
lectus und voluntas, deren Wesen und Funktion eingehend dargelegt
wird. Auch die Kapitel liberum arbitrium und immartalitas fehlen ,
natürlich nicht.
Die Ethik endlich, der dritte Teil der Philosophie, liegt in zwei
Bearbeitungen vor: als philosophiae moralis epitome (1538) und als
Ethicae doctrinae elementa (1550); beide zeigen im wesentlichen das-
selbe Schema. Einer Einleitung über Wesen und Nutzen der Disziplin,
sowie über das Verhältnis der Ethik zur geoflFenbarten Lehre, folgt im
ersten Buch die Erörterung der Prinzipienfragen: über das letzte Ziel
oder höchste Gut des Lebens — es wird bestimmt: agnoscere Beum
et ejus gloriam patefacere — mit historisch-kritischen Erörterungen
über die Absichten des Aristoteles, Epikurs und der Stoa, über Wesen
und L^rsprung der Tugend, über Willensfreiheit, über die Affekte. Das
zweit« Buch behandelt die Rechtsphilosophie, mit ausführlicher Er-
örterung einiger damals lebhaft verhandelter Zeit- und Streitfragen,
z. B. ob die Fürsten Gewalt in Religionssachen haben? was bejaht
wird: sie sind schuldig, „die gottlosen Kulte abzuthun und darauf zu
halten, daß die wahre Lehre in der Kirche getrieben und rechter
Gottesdienst angerichtet wird." — An die systematischen Darstellungen
schließen sich die Kommentare zur aristotelischen Ethik und Politik,
und zu Ciceros Pflichtenlehre.
Man wird sagen dürfen, daß dieser philosophische Unterricht dem
Bedürfnis der Zeit wohl angemessen war: es sind übersichtliche, faß-
liche, mit Beispielen gut ausgestattete, durch Beziehung, auf alle Zeit-
fragen das Interesse der Zeit erregende Darlegungen. Daß es nicht
voraussetzungslose Untersuchungen sind, hat Melanchthon kein Hehl:
sie sind begrenzt und gebunden durch die Kirchenlehre, sie giebt die
17*
260 Ily 4, Gestalt u, Unterrichtsbetrieb der prot. Universitäten um 1580.
letzten Entscheidungen in Metaphysik und Moral. Hierin unterscheidet
sich die neue Schulphilosophie nicht im mindesten Ton der alten.
Ebenso gleicht sie der scholastischen Philosophie in der Anlehnung
an den Aristoteles in den Stücken, wo die Vernunft selbständig ent-
scheidet, sowie in der Anschauung, daß die Aufgabe der Philosophie
ist: der Theologie zu dienen.
Immerhin bildete der philosophische Kursus, wie er hier vorliegt,
eine unverachtliche Schule der Philosophie und der Wissenschaften,
Es fehlt kein wesentliches Stück, das zur Orientierung in den Fragen
der Welt und des Lebens dienlich ist. Ohne Zweifel kann unsere
Zeit, was die Vollständigkeit des allgemein- wissenschaftlichen Vor-
bereitunpunterrichts anlangt, mit dem hier Gebotenen sich nicht
messen; Logik, Metaphysik, Ethik bleiben heutzutage einer sehr großen
Zahl unserer Studierenden völlig fremde Dinge, sie kommen weder auf
der Schule noch auf der Universität in ihren Gesichtskreis.
Auch in der Form des Unterrichts hat eine wesentliche Änderung
nicht stattgefunden. Die Vorlesungen sind geblieben, die Disputa-
tionen wieder hergestellt; an sie schließen sich als neue Übung die
Deklamationen.
Akademische Vorlesungen können entweder die Form des systema-
tischen Vortrags einer Wissenschaft oder die Form der Erklärung eines
Textbuches haben. Wie es scheint, war zu jener Zeit eine Kombination
beider Verfahrungsweisen das gewöhnlichste. Eegelmäßig wurde der
Vorlesung ein Textbuch zu Grunde gelegt, den philosophischen ent-
weder eines der modernen Kompendien, z. B. von Melanchthon oder
Stukm, so namentlich für die Anfänger, oder es wurden die aristote-
lischen Schriften selbst gebraucht, und zwar diese wieder entweder in
einer der neueren Übersetzungen oder Paraphrasen, oder im griechi-
schen Text; das letztere wurde wenigstens für die Kurse der Magistranden
wohl als Begel festgehalten. Doch wird auch hier die Kenntnis der
griechischen Sprache bei den meisten Hörern schwerlich zu selbständigem
Lesen des Textes ausgereicht haben; der Lehrer gab eine Übersetzung
oder ging überhaupt nur bei einzelnen Ausdrücken und Hauptstellen
auf den Urtext zurück. Solche Anlehnung an einen Text hinderte
aber nicht dazwischen den zusammenhangenden Vortrag. Es wurden
die einzelnen loci herausgehoben, Erklärungen und Beweise für die
Hauptsätze gegeben, Fragen und Einwendungen erörtert: es handelte
sich eben nicht um philologische Auslegung des Textes, sondern um
Darbietung des sachlichen Inhalts. Aus J. Schegks Vorlesung über
die erste Analytik — sie dauerte mit wöchentlich vier Stunden vom
26. November 1565 bis zum 10. November 1567 — hat sich die
Die Form der Vorlesungen, 261
Nachschrift eines Hörers, seines Kollegen M. Crusius, zu Tübingen
erhalten, die Wort für Wort den Vortrag wiedergiebt, so daß auch das:
dictaho, scribite! nicht fehlt. Sigwart hat daraus eine Probe ver-
öffentlicht.^ Er charakterisiert die Lehrart so: „Die Vorlesung besteht
in einer Erklärung der aristotelischen Schrift von Satz zu Satz; die
Zuhörer haben den griechischen Text vor sich, sie sollen ihn verstehen
lernen, nicht bloß nach dem Wortsinn, sondern dadurch, daß die Sätze
durch zahlreiche Beispiele erläutert werden, die zum größeren Teil
aus Aristoteles und Piaton, außerdem aber aus den verschiedensten
Wissensgebieten, besonders der Medizin, herangezogen werden. Wo es
nötig ist, giebt er vorläufig orientierende Übersichten über die zu
lesenden Kapitel; bei leichteren Abschnitten begnügt er sich eine zu-
sammenfassende Eeproduktion des Inhalts zu diktieren und überläßt
den Zuhörern, den Text für sich zu lesen. Dabei werden die Zuhörer,
besonders die Anfanger, zu fleißiger Wiederholung und eigenen Übungen
in logischen Operationen ermahnt" Die Erklärung ist breit, in
schlichtestem, läßlichem Latein, oft untermischt mit deutschen Wen-
dungen. Wiederholungen sind häufig, sie werden schon dadurch not-
wendig, daß die Vorlesung zwei Jahre dauert (das ganze Organen ist
in vier Jahren noch nicht vollendet), und daher beständig neu an-
kommende Zuhörer eintreten. Daß ein Beldenmut erforderlich war,
um vier oder mehr Jahre in einer solchen Vorlesung auszuhalten, wie
der Herausgeber bemerkt, das wird angesichts dieses Textes heutzutage
gewiß die allgemeine Empfindung sein.
Einen nicht uninteressanten Einblick in den Vorlesungsbetrieb läßt
auch eine gleichzeitige Verhandlung thun, die zwischen der Regierung
und den Professoren der eben gegründeten Universität Jena stattfand.
Der Kanzler Brück hält in einem Schreiben vom Jahre 1556 (ab-
gedruckt bei Kius, Stipendiatenordnung, 138) ihnen vor, es sei not-
wendig, „daß die Lektionsstunden nicht allein mit Diktieren, sondern
auch ordentlichem und mündlichem Explizieren, zuvörderst aber mit
* Ein Coüegium logicum im 16. Jahrhundert Tübinger Universitftts-
Schriften 1890. — In einer von Prof. Cellius veröffentlichten Sammlang: Imagines
Professorum Tubing, (1596), die Porträts mit Lebensläufen in lateinischen Versen
enthält, kommen auf unsem Schede unter andern folgende Verse vor, die die
Einheit der philosophischen Bildung in jener Zeit umschreiben:
Proh quantus Logicus? qtmnhis Metaphysictis? idem
HistoricuSf Vates Oraecus et Ausontus?
Quam boniM Oratorj quantusqtte Geometra? Quantus
Schegkius Ästronomus? quantus Arithmeiieus?
Omnia ceu veteres dixemnt Schegkius octo:
Omne opus evolmtf Philosophia^ tuu?n.
262 //, 4, Gestalt u. Unierrichtsbetrieb der prot. Universitäten um 1580.
öflfentlichem Examinieren der Stipendiaten und wie ein jeder die
nächsten zuvor abgehorten lectiones verstanden habe, zugebracht werden.
Ein altes Wort sage: Lectio audita et non repetita est quasi nuUa,^^
Die Professoren erwidern etwas pikiert, daß sie „den Weg zu rechter
Institution im göttlichen Wort und zum Anfang der Sprachen und
Künste richtig und gründlich weisen, denselben auch dermaßen ex-
pliziert und inculciert, daß wir Zeugnis unseres Fleißes aus den Anno-
taten, welche die Scholares von uns excipiert, zu erlangen verhoflFen."
Daß aber etliche bloß diktierten, geschehe „von wegen der Materie
und auch der Zuhörer: als mancher arme Gesell hört seine theologicas
und physicas lectiones, dem besser wäre, er hörte etwas Geringeres.
Er thut es aber darum, dieweil er lange nicht dabei sein kann, sondern
sich zu Kirchen- oder Schuldienst begeben muß, daß er auch einen
Vorrat habe, daraus er außerhalb der öffentlichen Schulen lerne seine
Leute zu unterrichten." Sie bäten deshalb ihnen diese Weise, welche
auch auf anderen Universitäten gebräuchlich, zu lassen. — Was end-
lich das Examinieren vor jeder Stunde anlange, so würde das dem
Professor die Arbeit erleichtem, „sintemalen auf eine Stunde mit
Lesen und Explizieren mehr gethan wird, denn auf drei Stunden mit
Frag und Antwort" Doch fürchten sie, „daß solch Examen dem
ganzen corpori der studierenden Jugend nicht wolle dienlich sein".
Denn „dieweil man die Zeit mit den Stipendiatis zubringen müsse,
würde den andern Auditoren die Zeit unfruchtbar hinweggehen, nicht
ohne Verdrieß und Widerwillen. Femer würde daraus, da solche
P^amina auf andern Akademien nicht bräuchlich, contempfus dieser
Schule folgen. Freilich examiniere Melanchthon in etlichen Lektionen
doch nur, wie er selbst sage, zu Erholung seiner selbst, wenn er, von
andem Geschäften abgemattet, sich auf die Lektion nicht resolviert
habe; auch thue er es nicht in den wichtigen Lektionen, sondern nur
in den exercitiis rhetoricis et dialecticis.^ Derartige Repetitionen
müssen Privatpräzeptoren überlassen werden, oder fromme Wohnungs-
gesellen möchten mit einander repetieren". Und auf wiederholtes
Dringen fügen sie hinzu: ein derartiges Examinieren werde nicht nur
die Zeit für die Lektionen um die Hälfte verkürzen, sondern die Uni-
versität werde auch „als Pädagogium ausgeschrien und also die studie-
rende Jugend sich anher zu begeben abgehalten werden; wie denn vor
etzlichen Jahren der Universität zu Marburg geschehen; denn sobald
* Denselben Brauch Melanciithons erwähnt auch Camerariüs in der Vita M.
S. 61. In den Jesuitenkollegien schließt sich an die Vorlesung Colloquium und
Repetition.
Äußere Ordnung der Vorlesungen, 263
das examen publicum vor die Hand genommen, ist die Universität (
dissipiert worden. Auch sind viele Materien, welche in quaestiones
nicht wohl können gefaßt werden, sondern eine perpetuitatem sermonis
erfordern,"
Über die äußere Ordnung der Vorlesungen füge ich noch dies
hinzu. Die angestellten und besoldeten Professoren sind verpflichtet,
jeder sein Fach regelmäßig in öffentlichen Vorlesungen und den öffent-
lichen Lektorien zu lehren, meist vier Stunden wöchentlich. Diese
öffentlichen Vorlesungen sind allen Studierenden ohne weiteres zu-
ganglich, es findet weder Honorarzahlung noch auch Inskription dafär
statt, wie aus dem oben (S. 242) angeführten Bericht der Heidelberger
hervorgeht. Die öffentlichen Vorlesungen bilden andererseits für die
Studierenden, die sich die Grade erwerben wollen, einen vorgeschriebe-
nen Pflichtkursus. Bei den Stipendiaten wird wohl auch, wie aus Jena
berichtet ist, der Besuch kontrolliert. Die Dauer der Vorlesung ist
nicht, wie jetzt üblich ist, auf ein Semester beschränkt , die ganze Se-
mestereinteilung ist dem 16. Jahrhundert noch fremd; jeder liest, bis
er fertig ist, und beginnt dann ein neues Kolleg oder fangt von vorne
an. Man sehe das Vorlesungsverzeichnis Melanchthons und nehme
die Anschläge, mit denen er sie ankündigt, hinzu; die Ankündigungen
sind aus allen Monaten des Jahres datiert. Neben diesen öffentlichen
Vorlesungen erteilen die Lehrer, besonders die jüngeren, nach Gelegen-
heit und Bedarf auch Privatunterricht; dieser ist dann aber reine
Privatsache, er findet nicht in den öffentlichen Lektorien, sondern in
der Wohnung statt und wird natürlich von denen, die ihn nehmen,
honoriert. Das Verhältnis ist ein ähnliches, wie es gegenwärtig an
unsern Schulen zwischen den Schulstunden und dem Privatunterricht
stattfindet. Als ein Mittleres zwischen dem öffentlichen und dem Privat-
unterricht findet sich daneben gelegentlich, daß von der Universität
oder der Regierung eine bestimmte Vorlesung über ein Fach oder
einen Autor einem jüngeren Magister auf bestimmte Zeit gegen Ge-
halt übertragen wird. Vermutlich waren die Hörer damit von der
Zahlung befreit.
Eine immer wiederkehrende Beschwerde der Aufsichtsbehörde und
nicht selten auch der Studierenden ist, daß die Professoren so geneigt
seien, die öffentlichen Vorlesungen häufig auszusetzen. Vor allem wird
über die Mediziner und auch über die Juristen viel geklagt, daß sie
der Praxis nachgingen und den akademischen Unterricht vernach-
lässigten. Doch fehlt die Sache ebensowenig in den beiden andern
Fakultäten. Dem Prof. Schegk in Tübingen können wir an der Hand
der soeben erwähnten Nachschrift seiner Vorlesung über das Organen
264 II, 4, QestaU u. Unterrkhtsbetrieb der prot, Universitäten um 1580.
die ausgefallenen Stunden noch nachrechnen: er hat das vierstündige
Kolleg in den 16 Wochen von November bis Ostern 1566 nur in
6 Wochen wirklich viermal gelesen, in 8 Wochen dagegen je einmal,
in 2 Wochen zweimal ausgesetzt In den 16 Wochen des Sommers 1566
hat er nur in 7 Wochen viermal gelesen, dagegen in 4 Wochen ein-
mal, in 3 Wochen zweimal und in 2 sogar dreimal ausgesetzt. Die
Aussetzungen, die im zweiten Jahr der Vorlesung noch häufiger
werden, finden ganz unregelmäßig und ohne allen erkennbaren Grund
statt; sie scheinen nicht einmal den Hörern vorher mitgeteilt worden
zu sein. Und doch war dies Kolleg offenbar ein sehr geschätztes und
gut, selbst von Kollegen, besuchtes. Man sieht, wie stark der An-
trieb, die Professur in eine Sinekure zu verwandeln, doch auch damals
gewesen ist. Es ist dies die Ursache, daß seit dem 18. Jahrhundert
die honorierten Privatkollegien die Publica so sehr zurückgedrängt
haben: auch eine Lehre der Geschichte, die bei der Frage der Honorar-
zahlung nicht außer acht gelassen werden sollte.
Auch die Ferien sind aus der Na<5hschrift ersichtlich : sechsmal im
Jahr findet eine größere Unterbrechung der Vorlesungen statt: zu
Weihnachten etwa 272 Wochen, Fastnacht 1, Ostern 2, Pfingsten P/g,
Hundstage 5, Michaelis 4 — 5, zusammen 16 — 17 Wochen.
Das zweite Stück der akademischen Lehrthätigkeit sind die Dis-
putationen; sie sind auch an den protestantischen Universitäten fest-
gehalten, oder wo sie unter der Einwirkung des Humanismus einge-
gangen waren, wiederhergestellt worden. Die Bedeutung der Disputation
ist dieselbe, wie im Mittelalter: sie dient der Einübung der Lehre
und der Erprobung der Schüler und auch der Lehrer. Die Heidel-
berger Statuten von 1558 lassen Absicht und Betrieb besonders deut-
lich erkennen. Der Zweck der regelmäßigen Disputationen, die in der
Artistenfakultät alle Samstag gehalten werden sollen, ist nach ihnen:
das was durch Lesen und Hören dem Verstand und Gedächtnis ein-
gebildet ist, durch Gebrauch und Übung zu befestigen. Die Form ist
folgende. Der Dekan bestimmt etwa 14 Tage vorher den Magister,
der zu präsidieren hat. Dieser verfaßt dann aus jeder der philo-
sophischen Disziplinen, Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Ethik, Physik,
Mathematik „eine Thesis oder Quästion, die da disputabilis sei, und
neben denselben auch ein gemein problema oder Fragestück, dergleichen
bei dem Aristotele, Plutarcho, Alexandra Aphrodisseo und andern von
allerlei Materien gefunden werden, in kurze verständliche propositiones^^,
und übergiebt sie, nachdem sie dem Dekan vorgelegt sind, je eine
einem besonderen Respondenten, die ersten drei (aus Grammatik, Dia-
lektik, Rhetorik) Baccalarianden, die letzten drei Magistranden, bei
Die Disputationen. 265
guter Zeit, ^^damit sie sich darüber zu belesen haben'^ Dann werden
sie an der Thür des Artistenauditoriums angeschlagen, ,,damit sie ab-
geschrieben werden und die Argumentanten sich darauf rüsten mögen."
Bei der Disputation selbst soll dann der Präses nach altem Brauch
zuerst, ehe die Argumentanten da sind, „die Thesis für sich selber in
utramque partem deduzieren, alle objectiones so nach seiner Meinung
dagegen aufgebracht werden mögen, präoccupieren und ablehnen, auch
mit seinen Respondenten selber disputieren." In der dann beginnen-
den Disputation sollen „die magistri argumentantes sich aller Zucht und
Mäßigkeit gebrauchen, ihre Argumente, die rechtschaffen und gegrün-
det sein sollen, mit bescheidenen, verständlichen und friedlichen Wort.en
vorbringen und nicht zänkischer, höhnischer Weise, wie die Badermägde,
einer den andern zu Zorn und Unlust verreizen, sondern dem Zuhörer
und dessen Nutzen zu dienen sich befleißen". Die Aufgabe der Respon-
denten, die der Präses sich selber mitbringt — nur wenn er keine
hat, werden sie ihm vom Dekan aus denen, die zu den gradibus kom-
plieren, gestellt — ist nun die, „die objectiones zu dissolvieren;" nur
wenn er selbst damit nicht zustande kommt, tritt der Präses für ihn
ein und giebt ihm freundliche Anweisung die fürgebrachten argumenta
zu widerlegen. Über die Respondenten führt der Dekan ein Register.
Neben diesen öffentlichen Disputationen finden für die jüngeren be-l
sondere Übungen (am Mittwoch) im contubemium statt. (Thorbeoke,
Stat., 106 ff.).
Auch in den oberen Fakultäten finden Disputationen statt, allerdings
seltener. Die Theologen sollen in jedem halben Jahr eine disputatio
ordinaria halten. Der Präses soll aus seiner Vorlesung etliche kurze
proposiäones fassen, und diese, nach Billigung durch Dekan und con-
silium facultatis, einem seiner ältesten Auditoren befehlen, sie „gleich als
repetierender Weise zu verantworten und verfechten." Diese ordentlichen
Disputationen werden dem Präses mit 1 fl. honoriert, wogegen dem Respon-
denten keine Beschwerde daraus erwachsen darf. „Mit den andern Dispu-
tationen oder Repetitionen aber, so von den Promovenden extraordinarie
und pro gradu gehalten werden, lassen wir es bei dem alten Brauch." ^
^ Thorbecke, Statuten, 44. Man vergleiche auch die eingehenden Be-
stimmungen über die Disputation in dem Entwurf der Ratio Siudiorum der
Jesuiten von 1586 (bei Pachtler, II, 100ff.)> Vor allem wird hier auch die
Strenge in der logischen Form gefordert: aberrare ab argumentandi forma
eorum esty qui ftigere nialunty quam pugnare. Interessante Mitteilungen aus
dem englischen Universitätsunterricht in Schmus Geschichte der Erziehung,
III, 1, 275 ff. Man sieht hier gut, wie die Vorlesung die Disputation vorbereitet,
indem sie den Inhalt, es handelt sich um die nikomachische Ethik, in Sätze
faßt, dann argumenta beibringt und solutionea des Respondenten folgen läßt Ein
266 //, 4, Gestalt u, Untcrrichtshetrieh der prot. Universitäten um 1580.
Man sieht, die Disputationen dienen zur Repetition des Stoffs und
zur Übung in seiner Anwendung für die Hörer, die teils aktiv als
Respondenten, teils passiv als Zuhörer dabei sind, femer zur Prüfung
der Promo venden , die dabei ihre Kenntnisse und ihr Geschick auf-
zeigen können, endlich auch zur Kontrolle für die Professoren , einmal
insofern sie sehen, wie ihre Schüler das Vorgetragene verstanden und
verarbeitet haben, sodann aber auch insofern, als sie selber als Präsiden
mit ihren Schülern sich den Kollegen, die argumentieren und fragen^
vorstellen und ihnen über ihre Lehre Rede stehen. Ohne Zweifel sind
derartige Übungen, so lange sie möglich und lebendig waren, von be-
deutendem Wert gewesen; sie mußten eine Sicherheit und Gegenwärtig-
keit des Wissens und eine Schlagfertigkeit in der Argumentation her-
vorbringen, wie sie heute, wo unser Wissen in Büchern und Papier
steckt, selten vorkommen wird. Daß sie ein unbequemes Stück des
Lehrauftrags waren, wird nicht minder gewiß sein. Man denke sich,
es sollten heutzutage unsere Theologen und Philosophen vor einer
Corona von Kollegen den Inhalt ihres Vortrags in solcher Weise durch-
disputieren.
Wie die Disputationen den philosophischen Unterricht begleiten,
so begleiten die Deklamationen den grammatisch-rhetorischen Unter-
richt und die Lektüre der Schriftsteller. Sie sind wie die Lektüre,
eine Neuerung des Humanismus, oder, so kann man auch sagen, die
Wiederaufnahme der Übungen in den antiken Rhetorenschulen. In
Wittenberg hat Melanchthon sie eingeführt; es wird berichtet, daß
im Jahre 1 524 er mit W. Neben den Beginn dieser Übungen gemacht
habe mit einer Rede pro juris studio, der Nesen am folgenden Tage
mit einer Rede contra juris Studium antwortete (Hartfelder, MeL
Paed. 128). Nach den Statuten von 1536 finden dort abwechselnd
Woche um Woche Disputationen und Deklamationen statt Die Heidel-
berger Statuten von 1556 ordnen Deklamationen für die Baccalarien
an, sie sollen jeden andern Mittwoch in der Burse stattfinden. Eine
; Vorübung dafür wird den jüngeren vorgeschrieben: ihnen soll der
großes Schaustück einer öffentlichen Disputation in Gegenwart und z. T. unter
dem Präsidium des Königs Jakob I. (im Jahre 1605) ebendort S. 297 ff. Theo-
logische Thesen waren: Die Heiligen und die Engel kennen die Gedanken der
Herzen nicht. Bei einer Pest sind die Kirchenhirten nicht gehalten, die
Kranken zu besuchen. Medizinische Quästionen: Nehmen die Kinder mit der
Milch auch den Charakter der Amme an? Ist das Rauchen der Kicotinpflanze
zuträglich? Der König entschied mit Nein, mit vielen guten Gründen. Ebenso
die philosophische Quästion: Kann man Gold künstlich machen? Vgl. auch
£. UoKN, Die Disputationen und Promotionen, Beihefte zum Ceutralbl. für
Bibliothekswesen, XI (1803).
Die Deklamationen. 267
Regent, der der Grammatik vorsteht, jede andere Woche „ein Argu-
ment, beides zu Versificieren und in soluta aratione zu begreifen, fur-
geben". Man sieht die Bedeutung der Sache: es ist die Übung, die
zu der Kegel und dem Beispiel hinzutritt. PrcLeceptum^ exemplum,
imitatio, das sind nach dem einstimmigen Urteil der Zeit die drei
Dinge, die im Unterricht zusammenwirken müssen: praecepta dicendi
geben Grammatik und Rhetorik, dazu auch die Dialektik; exempla
bieten die alten Schriftsteller; imitatio oder exercitatio ist das dritte,
was dazu kommen muß, soll der Erfolg des Unterrichts gesichert wer-
den, ihr dient die schriftliche Übung in Aufsatz und Versifikation,
wozu in der declamatio noch der Vortrag kommt. — Ich komme
hierauf sowie auf die Behandlung der Schriftsteller im Universitäts-
Tortrag später, im Zusammenhang mit der Schullektüre, zurück.
Aus allem, was über den Unterricht in der philosophischen Fakul-
tät gesagt ist, geht hervor, wie weit er von dem heutigen Betrieb in
den philologischen und wissenschaftlichen Disziplinen entfernt ist. Es
handelt sich auf keine Weise um Anleitung zu wissenschaftlicher For-
schung, sondern um allgemeine Schulung des Verstandes, wie wir sie jetzt
dem Gymnasium als Aufgabe zuweisen. Die philosophische Fakultät
ist im 16. Jahrhundert genau noch das, was sie im Mittelalter war:
das mit der Universität verbundene Obergymnasium. In den eng-
lischen und amerikanischen Colleges hat sich diese Einrichtung bis auf!
den heutigen Tag erhalten; in Deutschland hat sich allmählich die ^
Loslösung der allgemein-wissenschaftlichen Studien von der Universität, /
ihre Verbindung mit der Lateinschule zum Gymnasium vollzogen ;J
vollendet ist diese Umgestaltung erst im 19. Jahrhundert, wobei es
denn geschehen ist, daß die philosophischen Disziplinen im engeren
Sinn, Logik, Psychologie, Ethik, überhaupt aus dem Kursus des gelehr-
ten Unterrichts ausgefallen sind.
Der Charakter des Unterrichts kommt auch in der Geltung der
Lehrer zur Erscheinung. Die Professoren der philosophischen Fakultät
stehen in der Schätzung unten an; während die Professoren der oberen
Fakultäten neben den geistlichen und weltlichen Ämtern stehen, mit
denen sie sich auch kombiniert finden, sind die Artisten nächst ver-
wandt mit den Schullehrern, wie denn auch der Übergang aus der
artistischen Fakultät an die Schule häufig ist, man denke an Eobanus,
MiCYLLUs, Frischlin, Rhodomax, die alle noch in höherem Alter von
der Universität wieder in eine besser dotierte Rektorstellung übergehen;
so übernahm Rhodoman im Alter von 52 Jahren, nachdem er 7 Jahre
Professor der griechischen Sprache und Geschichte zu Jena, auch Rek-
tor der Universität gewesen, 1598 das Rektorat der Stralsunder Schule.
268 II, 5. Die Neuhegrüfidung d. Gdshrtenschulwesens in den prot. Gebieten.
Die Thätigkeit an beiden Orten gilt als gleich mühselig, desudare in
pulvere scholastico ist herkömmlicher Ausdruck. Der Freiburger Pro-
fessor J. Härtung, ein nicht unbedeutender Gräcist, der 1579 nach
mehr als dreißigjährigem Lehramt starb, schrieb sich selber die Grab-
schrift, die man noch heute auf seinem Denkmal im Freiburger
Dom liest:
IloXka xaficjv xai noXka nad-(ov iv TiaiSoSiSatrxetv
'Evd-aSe wv xeifAai trw i)-eq) ii(TvxiO<i^
Mblanchthon empfindet seine Stellung nicht anders. Er spricht
oft von der Niedrigkeit des Schullebens, worin er trotz allem ausge-
halten habe. Von allen Seiten werde diese Arbeit geringgeschätzt:
„wir erleiden die hochmütigste Verachtung, nicht bloß von den Un-
kundigen, den Kaufleuten, den Verächtern aller Bildung, sondern auch
von jenen Halbgöttern, die an den Höfen regieren" (C. R. XI, 299).
Fünftes Kapitel.
Die Neubegründung des Gelehrtenschulwesens in den
protestantischen Gebieten.
Ich will in diesem Kapitel versuchen eine historisch-statistische
Übersicht über die Gründung von Gelehrtenschulen im Gebiet des
Protestantismus zu geben, freilich nur einen Überblick, auf Voll-
ständigkeit wird kein Anspruch gemacht, und statistisch nur in dem
Sinne, daß die einzelnen Hauptgebiete erwähnt werden.
Es ist oben (im zweiten Kapitel) gezeigt worden, wie Luther die
Errichtung und Erhaltung von Schulen der weltlichen Obrigkeit dringend
zur Pflicht macht; ja wie er sogar den Schulzwang fordert und einer
Art Aushebung für die Studien und gelehrten Berufe das Wort redet
In der That sind die Dinge diesen Weg gegangen. Der hervor-
tretende Charakterzug dieser Epoche ist das Eingreifen der Obrigkeit
oder, wie wir sagen, des Staates in das Schulwesen. Zuerst sind
es einzelne Städte, die Schulen gründen und einrichten. Seit der
Konsolidierung der protestantischen Landeskirchen beginnen auch die
Landesherren der Sache sich anzunehmen; es werden mit und in den
Kirchenordnungen zugleich Schulordnungen für das Land erlassen
* Dieselben Verse werden übrigens auch M. Neaxder als seine selbst-
gemachte Grabschrift beigelegt, Havkmann, S. 44.
Magdeburg (1524), Eislebm (1525). 269
und endlich auch staatliche Gelehrtenschulen gegründet. Die
ersten vom Staate gegründeten und unterhaltenen Gelehrtenschulen
sind die sächsischen Fürstenschulen, von Kurfürst Moritz 1543
errichtet, ein Epoche machendes Datum in der Schulgeschichte.
Ich verfolge nun den Verlauf im einzelnen, beginnend mit den
von Wittenberg aus angeregten Gründungen.
Vielleicht die erste protestantische Schulgründung ist die durch
Zusammenlegung älterer Parochialschulen zu Magdeburg 1524 er-
richtete Stadtschule, anfangs in der Stephanskapelle, dann in dem
Augustiner- und später im Franziskanerkloster. Melanchthon war
bei der Eröffnung zugegen ; ihre ersten Rektoren waren die Wittenberger
C. Cbuoigeb und dessen Nachfolger G. Majob. (Neue Jahrbücher für
Phil, und Pädag. CXXX, 516 fif.) — Besser als über ihre Einrichtungen
sind wir über diejenigen von zwei alsbald folgenden Neugründungen
unterrichtet: Eisleben und Nürnberg. Die Grafen von Mansfeld
beriefen im Frühjahr 1 525 Lutheb und Melanchthon zur Begründung
einer Schule in ihrer Stadt Eisleben; im Herbst wurde sie von
J. Agbioola und H. Tulichius, zwei den Reformatoren befreundeten
Männern, eröffnet Der ohne Zweifel von Melanohthon, wenn nicht
verfaßte, so doch entworfene oder wenigstens gebilligte Schulplan ist
die älteste gedruckte Schulordnung des neuen Kirchenwesens. Er hat
folgende Gestalt.^ Die Schüler werden in drei Abteilungen geteilt;
sie werden classes genannt, welche Benennung jetzt die mittelalterliche
Bezeichnung für die Schülerabteilung, locus, verdrängt Übrigens
muß man sich hüten, die Dinge durch die gegenwärtigen Einrichtungen
sich vorzustellen: locus, Haufen, oder also jetzt clcLsses sind lediglich locker
getrennte Schülerabteilungen, die in der Regel in einem Schulzimmer
neben einander unterrichtet werden, eine Einrichtung, wie wir sie
heute noch in der Dorfechule haben. Für die Lateinschule ist sie bis
ins 18. Jahrhundert hinein häufig, in England hat sie sich bis in unser
Jahrhundert erhalten. Die erste Abteilung umfaßt die Elementarier,
die lesen lernen; als Schulbücher werden einige Spruchsammlungen,
Mosellans Pädologie, Äsop, Cato genannt In der zweiten Kiasse
bilden die grammaticae praeceptiones den eigentlichen Gegenstand des
Unterrichts; Terenz und Virgil bieten Beispiele und bereichem den
Wortschatz der Knaben. Auch wird mit kleinen Versuchen in Versen
und Prosa begonnen. Die dritte Klasse wird zur Dialektik und Rhetorik
angeführt; Erasmus de duplici copia dient als Lehrbuch, außerdem
^ F. L. HoFMAMN, Der älteste bis jetzt bekannte Lehrplan für eine deutsche
Schule, Hamburg 1865. Jetzt auch bei Habtfeldeb, Melanchthoniana Paeda-
(/ogica, S. 1 ff.
270 /i, 5. Die Neubegründung d, GekhrtensvhHlwesens in den prot Gebieten.
werden Livius, Sallust, Virgril, Horaz, Ovid, Cicero gebraucht. Im
Schreiben in Prosa und Versen wird fleißig fortgefahren. Die im
Latein leidlich fest sind, machen mit dem Griechischen einen Anfang;
hierbei wird das Elementale iniroductorinm, Oekolompads Grammatik,
Lucian, Hesiod und Homer gebraucht. Auch mit dem Hebräischen
mag von einigen ein Anfang gemacht werden. Wünschenswert wäre
es, wenn außer den artes dicendi auch die Mathematik et totus orbis
artium gelehrt werden könnte, doch wird das wenigstens fürs erste
nicht möglich sein. Dagegen soll täglich eine Stunde auf musica ge-
wendet und der Sonntag dem Unterricht in der Religion gewidmet
werden: es mag ein Evangelium oder ein Brief vorgelegt und außer
dem Glauben und Gebet des Herrn einige Psalmen auswendig gelernt
werden.
Man sieht, der Schulplan könnte ganz so von einem Humanisten
vor der Reformation entworfen sein. Die Erlernung der lateinischen
Sprache und zwar an und aus den klassischen Schriftstellern bis zur
Fertigkeit des Lateinschreibens in Prosa und Versen ist die Substanz
des Unterrichts. Die Elemente des Griechischen und Hebräischen
mögen, soweit es möglich ist, hinzukommen. Nur in dem sonntäglichen
Religionsunterricht kann man den Einfluß der Reformation erkennen.
Die Betonung der Notwendigkeit, die Grammatik nicht bloß durch
den Gebrauch, sondern auch in abstracto zu lernen, sowie in Versen
sich zu versuchen, ist ganz melanchthonisch. — Welches Gelingen die
Schule hatte und wie viel von dem Plan realisiert wurde, läßt sich
aus den erhaltenen Nachrichten nicht feststellen. Vermutlich blieb sie
hinter der Erwartung zurück. Eisleben war schwerlich der Ort und
das Zeitalter der Bauernkriege nicht die Zeit, um dreisprachige Schulen
in Flor zu bringen.
Noch im Jahre 1524 war zu Nürnberg von zwei Männern, die
mit den Reformatoren auch in persönlichen Beziehungen standen,
H. Baumgäbtner und Ijaz. Spengler, im Rat der Beschluß durch-
gesetzt worden, eine Schule zu gründen. Am 23. Mai 1526 wurde
sie von Melanchthon im Ägidienkloster eröffnet. Die dringend wieder-
holte Bitt«, selbst die Leitung zu übernehmen, hatt« er abgelehnt,
dafür aber seine Freunde J. Camerabius und M. Roting aus Witten-
berg, sowie den Eobanus aus Erfurt empfohlen. Zu ihnen kam noch
ein Mathematiker, J. Schoner. Camerabius und Eobanus erhielten
ein für Schulmeister bisher unerhörtes Gehalt von 150 fl.; die beiden
anderen 100 11. Der Schulplan vom Jahre 1526 (bei Heebwagen,
I, 36, zuerst gedruckt) weicht in keinem wesentlichen Stück von dem
Eislebener al); nur daß Mathematik zu den angebotenen Unterrichts-
Nürnberg (1526). Kursächs, Scfiulordnung (1528), 271
gegenständen gehört. Vielleicht war übrigens die Benutzung des An-
gebots freigestellt. Die wesentliche Aufgabe des neuen Instituts, das
als obere Schule bezeichnet wurde und dessen Lehrer Professoren
hießen, war die, den Unterricht der alten Pfarrschulen durch einen
humanistischen Kursus zu erganzen und so ausreichender als bisher
für das Fakultätsstudium an einer Universität vorzubereiten. Came-
BABius lehrte Griechisch, Eobanus Poesie, Roting Rhetorik und
Dialektik, Schoneb Mathematik. Die Schule wollte übrigens nicht
zu Kräften kommen; der Besuch blieb überaus schwach, obwohl kein
Schulgeld gegeben wurde. Cameearius führt in einem Gutachten für
BaumgIbtnee aus, daß nur eines helfen werde: die Errichtung eines
Konvikts. Der Rat ging auch hierauf ein, indem er 1529 für zwölf
Knaben, Söhne armer Bürger, Stipendien stiftete; was den Hohn des
Erasmus herausforderte: nicht nur den Professoren, sondern auch den
Schülern müsse man bei den Lutherischen Gehalte geben (Hbebwagen,
Progr. 1867, S. 15 fiF.). Im Jahre 1533 verließ Eobanus, 1535 auch
Camerarius die hoffnungslos gewordene Schule. Sie wurde später in
Altdorf wieder aufgerichtet.
Die erste allgemeine und gewissermaßen offizielle Anordnung der
Reformatoren als solcher in Schulsachen ist die sogenannte kur-
sächsische Schulordnung, d. h. der Abschnitt über die Schulen
in dem „Unterricht der Visitatoren im Kurfürstentum zu Sachsen" 1528.^
Er enthält die kurz gefaßte Summe der von Luther gebilligten Ge-
danken Melanchthons über die zweckmäßige und durchführbare Ein-
richtung der Lateinschulen in den deutschen Städten von mittleren
Verhältnissen. Im ganzen ist es derselbe Plan, nach welchem die
Schule zu Eisleben eingerichtet worden war; nur daß in dem neuen
Entwurf der Unterricht ausdrücklich auf die lateinische Sprache
eingeschränkt wird. Zum ausdrücklichen Ausschließen des Griechischen
und Hebräischen haben vielleicht die Erfahrungen beigetragen, welche
inzwischen in Nürnberg und an anderen Orten gemacht worden waren;
* Er bildet das erste Stück in der im Folgenden sehr häufig benutzten,
höchst dankenswerten Sammlung evangelischer Schulordnungen von R. Vorm-
BAUM. 3 Bde. 1860. Seine Bestimmungen über den Unterricht finden sich mit
kleinen Änderungen in vielen folgenden Schulordnungen, zuletzt in der mecklen-
burgischen von 1552, die Melanchthon selbst revidiert hat; übernommen in die
kurpfölzischc Ordnung von 1556. Natürlich sind sie selbst nicht ein völlig
Neues, im ganzen fixieren sie, was seit dem Eindringen humanistischer Ein-
flüsse als thatsächliche Übung in den kleineren Lateinschulen sich durchgesetzt
hatte. Man sehe die Mitteilungen über Bestand und Lektionsplan der kleinen
Schulen, wie sie sich in Burckhardts Geschichte der säehs. Kirchen- und Schul-
visitation finden.
/
272 //, 0, Die Neubegründung d. GeleJirtenschulwesens in den proL Gebieten.
konnte selbst in einer der ersten Städte Deutschlands keine drei-
sprachige Schule sich halten, so war es augenscheinlich geraten, die
kleinen sachsischen Städte vor hochfliegenden Unternehmungen zu warnen.
Auch hier werden drei Abteilungen (Haufen heißt es im deutschen
Text) unterschieden und die Pensa ähnlich wie zu Eisleben verteilt
Die erste lernt zunächst Lesen und Schreiben. Hierzu wird ge-
braucht „der Kinder Handbüchlein", eine lateinische Fibel, die Mklanch-
THON unter dem Titel Enchiridion elementorum puerilium (Wittenberg,
1524, C. R. XX, 392 — 411) zusammengestellt hatte. Sie enthält das
Alphabet und dazu lateinische Lesestücke: das Pater Noster, Ave Maria^
Symbolum Apostolicum, Psalm 66, die zehn Gebote, die Bergpredigt^
femer einige Distichen, Sprüche der Weisen etc. Nach der Fibel wird
Donat und Cato vorgelegt, jener wird schon zur Leseübung benutzt,
um die Kinder zunächst gleichsam äußerlich und mechanisch mit der
Grammatik bekannt zu machen. Die Sprüche des sogenannten Cato
moralis werden mit der Übersetzung auswendig gelernt, damit ein Haufe
von Worten gelernt und so ein Vorrat zu reden geschafft werde; dem-
selben Zweck dient auch die alte Übung, abends ein paar lateinische
Wörter mit der Übersetzung aufzugeben und am Morgen aufsagen zu
lassen.
Die zweite Abteilung lernt dann die Grammatik, zuerst die
Formenlehre, danach die Syntax und endlich die Prosodie und Metrik.
Täglich ist für das Grammatikaufsagen eine Stunde, die letzte des Vor-
mittags, angesetzt. Es wird ernstlich gemahnt, hiervon nicht abzu-
gehen: wo den Schulmeister diese Arbeit verdrießt, soll man ihn laufen
lassen, „denn kein größer Schade allen Künsten mag zugefüget werden,
denn wo die Jugend nicht wohl geübet wird in der Grammatica^^
Die gelernten Regeln werden eingeübt an Lesestücken: in der zweiten
Nachmittagstunde werden Äsops Fabeln, in der dritten Mosellanus'
Paedologia hierzu benutzt; wenn Äsop aus ist, nehme man Terenz
oder Plautus und nach dem Mosellanus die colloquia Urasmu Es
handelt sich eben darum, die Knaben baldmöglichst zur lateinischen
Redefertigkeit zu bringen; die Rücksicht auf den Inhalt st^ht in zweiter
Linie; Melanchthün schätzte besonders den Terenz als bequemen
Führer zur Latinität. Die Form des Unterrichts ist die, daß der
Schulmeister am Nachmittag vorexponiert und vorkonstruiert, am
folgenden Vormittag die Kinder wiederholen und dabei deklinieren und
konjugieren läßt; wobei sie denn den Autor auswendig lernen. —
Die dritte Abteilung hat in der zweiten Nachmittagstunde Virgil, da-
nach Ovids Metamorphosen, in der dritten Ciceros Officien oder Episteln.
Die Grammatikstunde kann hier für Metrik, und wenn die Grammatik
Lehrplan der Wittenberger SohuU (1533). 273
fest sitzt, für Dialektik und Rhetorik verwendet werden. — Die beiden
oberen Abteilungen liefern wöchentlich ein scriptum, eine Epistel oder
Verse. Die erste Nachmittagstunde ist allgemein für die musica. Ein
Tag, Mittwoch oder Sonnabend, ist für den Religionsunterricht: das
Vaterunser, der Glaube und die Gebote sollen auswendig gelernt und
einß,ltig und richtig erklärt werden; einige Psalmen sollen dazu ge-
lernt und das Matthäusevangelium oder die Briefe an Timotheus oder
die erste Epistel Johannis oder die Sprüche Salomonis grammatisch
exponiert werden.
Als ein Beispiel der Ausführung dieser Grundzüge mag die Ord-
nung der Wittenberger Schule vom Jahre 1533 erwähnt werden.^
Die Schule hat einen Magister und drei Koadjuvanten, mpremus, cantor,
tertius genannt. Der Unterricht beginnt im Sommer um ^26? ™
Winter um '^j^l Uhr mit Gebet und Gesang des Vem creator spiritus.
Sodann wird zwei Stunden lang in den einzelnen Abteilungen ge-
arbeitet; in den oberen wird Terenz und Plautus, in der zweiten
Cato und Aesop am ersten Tage exponiert, am andern reposciert, darauf
constructiones und declinationes verhört. Hierauf gehen alle in die Kirche,
allwo vormittags täglich gepredigt und gesungen wird. Nach der Kirche
folgt die Grammatikstunde, in welcher die beiden oberen Abteilungen
kombiniert werden und die Formenlehre einüben. 10 — 12 Uhr ist
Mittagspause. Der Nachmittagsunterricht beginnt wiederum mit dem
Veni creator. Die erste Stunde gehört der Musik, zu welcher jedoch
allein die beiden oberen Klassen gezogen werden. 1 — 2 Uhr sagt die
erste Abteilung an zwei Tagen Syntax auf, an den beiden andern
werden die bucoUca Virgils oder Mantuans oder die Heroiden Eobans
gelesen. Die zweite Abteilung sagt Donat auf und liest die paedologia
Mosellans, 2 — 3 Uhr gehen die Schüler heim. Von 3 — 4 Uhr werden
die beiden oberen Abteilungen wieder zusammengenommen; es wird
ihnen Erasmus* Schrift de civilitate morum oder die colloquia, oder
Episteln Ciceros oder Murmellius' Sentenzensammlung vorgelegt und
andern Tags daraus konstruiert und dekliniert; auch dabei die Prosodie
geübt. Zum Schluß oratio vespertina und Gesang des Hymnus Jesu
redemptor. Mittwoch Nachmittag ist frei, vormittags wird ein scriptum
gemacht. Sonnabends wird am Vormittag das Evangelium grammatisch
exponiert, am Nachmittag nach der Vesper der Cisioianus (der Fest-
kalender in Hexametern) verhört. Femer wird Freitags früh vor der*
Predigt der Katechismus lateinisch und deutsch getrieben und Gebete
* Abgedruckt mit der Kircheuordnung in Förstemanns Neuem Urkundeu-
buch zur Geschieht« der evang. Kirchenreformation (1842, S. 390 ff.). Die Schul-
ordnung auch bei Vormbaum, I, 27.
Paul Ben, Unteir. Zweite Aufl. I. 18
274 U, 5. Die Neuhegründwig d, Oelehrtenschulwesens in den prot. Gebieten,
verhört. Die Schulsprache ist die lateinische. — Die täglichen kirch-
lichen Übungen der Schüler, in Gesang und lectio vormittags und
nachmittags bestehend, sind sehr ausführlich in der braunschweigischen
Schulordnung vom Jahre 1543 behandelt (Voembaum, I, 46 fif.).
Wie man sieht, ist die Erlernung der lateinischen Sprache die
Substanz des Unterrichts. Deutsch kommt in dieser Schule gar nicht
vor; schon die Fibel ist lateinisch; es vrird nicht einmal deutsch lesen
und schreiben gelernt Und zwar wird es nicht etwa bloß übergangen,
sondern ausdrücklich ausgeschlossen. Gleich zu Anfang der kursachsi-
schen Schulordnung heißt es: „Nun sind viele Mißbrauche in der Schule;
damit nun die Jugend recht gelehret werde, haben wir diese Form
gestellet: Erstlich sollen die Schulmeister Fleiß ankehren, daß sie die
Kinder allein lateinisch lehren, nicht deutsch oder grekisch oder ebräisch,
wie etliche bisher gethan, die armen Kinder mit solcher Mannig-
faltigkeit beschweren, die nicht allein unfruchtbar, sondern auch schäd-
lich ist Man siehet auch, daß solche Schulmeister nicht der Kinder
Nutzen bedenken, sondern um ihres Ruhmes willen so viel Sprachen
vornehmen." Geht das letztere auf die, die auch griechisch und
hebräisch lehren wollen (wie etwa der Verfasser des oben erwähnten
Zwickauer Lehrplans), so geht der Gesichtspunkt der Konzentration:
„die Kinder nicht mit solcher Mannigfaltigkeit beschweren", wohl auch
auf das Deutsche. Latein gleich von der Fibel an als das Eine, was not
thut treiben, daß die Kinder in den Schulen überhaupt gar nichts
anderes sehen : das wird am schnellsten zu dem ersten und wichtigsten
Schulziel führen: der Fertigkeit, die Schulsprache zu verstehen und zu
sprechen. In einem gleichzeitigen kleinen Lehrbuch der Pädagogik
von JoH. MüscHLEB, Schulmeister zu öttingen: Von Schulzucht (Nürn-
berg 1529, dem Leipziger Rat gewidmet), heißt es: „Es ist ein ver-
kehrter Weg ohne Grund, daß man einen Knaben, der in der Lemung
verharren und aufwachsen soll, am ersten in die deutschen Schulen
schreiben und lesen lernen gehen läßt. Denn ich habs aus eigener,
auch anderer Meister Erfahrung, daß die, so am ersten im Deutschen
zu lernen haben angefangen, hernachmals zum Latein und anderen
Zungen ungeschickter und tölpischer gewesen sein; und es ist fast zu
wundern, was doch die Eltern dazu bewegt, so viel Fleiß auf das Deutsch
zu wenden, daß ihre Kinder vor lateinischer und griechischer Zunge
das Deutsch zu lernen mit solchen Kosten befohlen werden, .welches
sie von Natur und ein jeder ungelehrter Laie von sich selber mit der
Zeit gewöhnen, üben und reden lernen."
Eine Reihe von norddeutschen Ländern und Städten erhielt ihre
Kirchen- und Schulordnung durch Jo'h. Bugenhagen, den Pfarr-
Bugenhagens Schulordnungen. . 275
herrn von Wittenberg. 1528 war er in Braunschweig und Hamburg,
1530 — 1532 in Lübeck, 1535 in Pommern, 1536 — 1538 in Kopenhagen,
überall das neue Kirchen- und Schulwesen organisierend. Er besaß
etwas von der Kunst zu leben und leben zu lassen, sie wird ihm bei
seiner Organisationsthätigkeit zu statten gekommen sein.^
Die Schulordnungen, von welchen bei Vobmbatjm die stadt-braun-
schweigische und hamburgische vom Jahre 1528, die schleswig-hol-
steinische vom Jahre 1542, die land-braunschweigische von 1543 mit-
geteilt sind — die lübeckische findet man dem Inhalt nach in dem
Programm des Katharineums vom Jahr 1843 — folgen der knr-
sächsischen, auf die wiederholt verwiesen wird. Der Unterrichtsplan
ist wesentlich derselbe, nur daß bei größeren Schulen auf das Grie-
chische und Hebräische eine Aussicht eröffnet wird. Falls später, heißt
es in der braunschweigischen Ordnung, Schüler vorhanden sein sollten,
welche im Lateinischen schon fest sind, so mag man sie auch die
Elemente der griechischen Sprache und die hebräischen Buchstaben
lehren, sovile die Rudimente der Mathematik.*
^ VoQT, J. Bugenhagen (1S67). Man hat BuaEicHAOEir den Evangelisten
Norddeutschlands genannt. Die Bezeichnung scheint mir nicht geeignet, eine der
Wirklichkeit ganz entsprechende Vorstellung von der Thätigkeit des Mannes zu
geben. Vielleicht erweist man der Reformation überhaupt keinen Dienst, wenn
man ihre Ausbreitimg mit der ersten Ausbreitung des Christentums vergleicht
Es ging dabei, wie niemandem verborgen ist, der den Dingen auch nur ein
wenig näher trat, sehr viel weltlicher und politischer zu. Zur Reformation des
Hamburger Kirchenwesens wurde Buqenhaoen mit Familie und Diener von zwei
Bürgern geholt, zwei vom Rat kamen ihm zum Empfang entgegen, am Abend
wurde er von drei Bürgern und deren Hausfrauen opulent bewirtet Am andern
Morgen kamen drei Bürgermeister und machten ihm im Namen der Stadt eine
Verehrung zu Kost und Unterhalt. Als er nach etwa achtmonatlichem Aufent-
halt die Stadt verließ, erhielt er ein Ehrengeschenk, worüber die Kämmerei-
rechnungen berichten: „Nota dem Dr. Bugenhagen von Wittenberg, hier das
Evangelium zu predigen mid die Ordnung zu machen 202 ^ 8 |^ in Rheinischen fl.,
100 für ihn und 20 für seine Frau." In Lübeck erhielt er für dieselben
Leistungen auch „eine Schale mit vergoldetem Marienbild und einen Stop mit
einem vergoldeten St. Johannes**, vermutlich aus dem nun überflüssig gewordenen
Silbergerät der Kirchen (Mitteilungen des Vereins für Hamburgische Geschichte,
V. Jahrg. 1883, S. 125 fr., 137 fr.). Die Sache fiel doch auch damals auf. Ein
Knecht von der Begleitung auf der Rückreise von Lübeck nach Wittenberg
stellte die etwas fürwitzige Frage: ob die Apostel auch so eingeholt, begleitet
und beschenkt worden seien? Worauf Buoenhagen antwortete: gewiß, wenn sie
zu so guten Leuten kamen, als deine Herren sind; wenn aber zu so bösen
Buben, als du bist, freilich nicht
" Für Braunschweig, Stadt und Land, haben wir jetzt die vorzüglichen
Arbeiten von F. Koldewet, ßraunschweigische Schulordnungen von den ältesten
Zeiten bis 1828, mit Einleitung, Anmerkungen, Glossar und Register. Monum.
Germ. Paedag., Bd. I und VIII.
18*
276 //, 5. Die Neubegründung d, OeUhrtenschulwesens in denprot. Gebieten,
In Hamburg und Lübeck wurden von Anfang an größere Schulen
in Aussicht genommen. Die kleinen Lateinschulen , die bisher isoliert
bei jeder Pfarrkirche bestanden, wurden in eine große Schule zu-
sammengefaßt, damit diese, so motiviert die Lübecker Ordnung die
Unterdrückung der kleinen Pfarr- und Winkelschulen, desto besser
mit Gebäuden und gelehrten Lehrern versehen werden könne. In
Hamburg wurde die große Schule im Johanniskloster, in Lübeck im
Katharinenkloster eingerichtet Beide sollen fünf Abteilungen (fünf
dtstmcta locd) und sieben Lehrer haben: außer dem Schulmeister, der
ein gelehrter Magister sein soll, einen subrector, einen cantor und vier
paedagogi (Eindermeister).
An die Schule schloß sich in beiden Städten das sogenannte
Lektorium. Am ausgebildetsten erscheint es in Hamburg. Es waren
hier, wie bei manchen großen Kirchen, zwei theologische Lektüren vor-
handen; sie waren am Anfang des 15. Jahrhunderts durch private
Stiftung entstanden, in der Absicht, dem niederen Klerus den ihm etwa
unmöglichen Besuch einer Universität zu ersetzen; in Meyebs Ge-
schichte des Hamburger Schulwesens im Mittelalter findet man darüber
eingehende Nachweisungen. Dieses Vorlesungsinstitut wurde jetzt er-
weitert: zwei Juristen und ein Mediziner (zugleich Stadtarzt) sollten
jeder zur Haltung von wöchentlich drei Vorlesungen angenommen
werden. Die theologischen Vorlesungen wurden dem Superintendenten
und seinem Adjutor übertragen; sie sollen jeder wöchentlich vier
Stunden über die heilige Schrift im lectorio in lateinischer Sprache
lesen. Endlich mögen der rector und subrector der Schule ebenfalls
am lectorium lesen. — Man sieht, es ist eine kleine Universität, nur
ohne die rechtliche Stellung einer solchen, besonders ohne das Privi-
legium, Grade zu erteilen. Es entstanden in der Folge eine große
Anzahl ähnlicher Institute in den protestantischen Territorien. Seit
der Errichtung von Landeskirchen mit eigenem Regiment und eigenem
Bekenntnis wurde es wünschenswert, eine theologische Lehranstalt im
Lande zu haben, um der landeskirchlichen Kechtgläubigkeit des Unter-
richts allezeit versichert sein zu können. Hier wirkte allerdings diese
ßücksicht noch nicht mit
Auf die schleswig-holsteinische Schulordnung werden wir unten
zurückkommen; sie ist die erste eigentliche Landesschulordnung.
In allen diesen Ordnungen wird den Schulmeistern eine Besoldung
von der Stadt in Aussicht gestellt, zugleich aber die Erhebung von
Schulgeld gestattet, freilich für die Beitreibung desselben auf den guten
Willen der Eltern verwiesen. Auch wird überall eine Fürsorge für
gute ingenia, die selbst unvermögend sind, sich beim Studium zu er-
Die SchiUrefomuUion in Zürich. 277
halten, in Aussicht genommen , zuerst auf der Schule, dann auf der
Universität. Den Schulmeistern wird die Beurteilung der ingenia zur
Pflicht gemacht; die zum Studieren nicht taugen, soll er bald den
Eltern raten zu einem andern Beruf zu thun; die aber vor andern
geschickt seien, soll man, heißt es in der Braunschweiger Ordnung,
„Gott opfern, daß sie andern Leuten dienen im geistlichen oder welt-
lichen Regiment Das heißen wir aber Gott opfern, daß man solche
Leute nicht zum Handwerk oder anderem weltlichen Handel kommen
lasse, sondern sie zum Studieren sende, so lange sie des bedürfen, einen
jeglichen zu der Kunst, wozu er geneigt ist Sind sie arm, so gebe
man ihnen zu Hilfe, mit solchem Bescheid, daß sie verbunden sein
sollen uns um Sold zu dienen, wenn wir sie aus dem Studium oder
einem andern Dienst zu uns fordern/'
Bevor wir die weitere Entwickelung des Schulwesens in den Lan-
dern der lutherischen Beformation verfolgen, werfen wir auf die ent-
sprechenden Vorgänge in den Hauptorten der süddeutsch-schwei-
zerischen Reformation einen Blick.
In Zürich ist, wie die Kirchen- so auch die Schulreformation an
den Namen Zwingus (1484 — 1531) geknüpft^ In Basel war er zuerst
mit dem Humanismus in Berührung gekommen, hatte dann von einer
Romfahrt mit einem schweizerischen Söldnerheer einige Kunde des
Griechischen mitgebracht Lehrend und lernend hatte er dieselbe all-
mählich erweitert, zunächst in Absicht auf das neue Testament; als
Priester in Einsiedeln schrieb er sich des Ebasmüs Ausgabe der Pau-
linischen Briefe ab. Allmählich wendete sich sein Interesse auch den
Klassikern, Plato, Aristophanes und vor allem Pindar zu. Seine Nei-
gung zu ihnen ging so weit, daß er noch als Kirchenreformator die
tugendhaften Heiden, Hercules, Theseus, Sokrates, Aristides, Numa,
Cato u. a. auch vom Himmel nicht ausschließen wollte; worüber be-
kanntlich LuTHEBs Zorn aufbrauste: „was bedarf man der Taufe, Sakra-
ment und Christi, des Evangelii, der Propheten und heiligen Schrift,
wenn solche gottlose Heiden, Sokrates, Aristides, ja der gottlose Numa,
der zu Rom alle Abgötterei erst gestiftet hat, durchs Teufels Offen-
barung, wie St. Augustinus schreibt, und Scipio, der Epikureer, selig
und heilig sind mit den Patriarchen und Aposteln im Himmel^
Im Jahre 1518 wurde Zwingu von den humanistischen Chor-
herren des Zürcher Großmünsters als Prediger berufen. 1523 begann
* Über das Zürcher Schulwesen im 16. Jahrhundert giebt es eine gründliche
Arbeit von U. Ernst (1879), welche vor allem auch die sozialen und statistischen
Verhältnisse ins Auge faßt; über Zwingu als Humanisten und Schulorganisator
handelt eingehend H. Mastüs in Schmids Encyklopädie, X, 759 — 796.
278 II, 5. Die Neubegründung d, Oelehrtenschulwesens in denproL Oehieten.
die Beform des Zürcher Schulwesens. Ein kleiner Traktat Zwinous
über Erziehung^ bezeichnet als das Ziel des gelehrten Unterrichts vor
allem die Kenntnis der drei Sprachen. Am wichtigsten ist die grie-
chische, wegen des neuen Testaments: in den lateinischen Über«-
Setzungen werde Yon der Lehre Christi minder angemessen (minus
digne) gehandelt, daher auf die Quelle zurückgegangen werden müsse.
Hebräisch sei für das Verständnis des alten Testaments, Lateinisch
endlich um seiner Notwendigkeit für den gelehrten Verkehr willen er-
forderlich. Die Leitung der beiden Stiftsschulen wurde humanistisch ge-
bildeten Männern, die der Reformation sich anschlössen, Osw. Myconiüs
und den Oräcisten Bibliandeb und Collinüs, übergeben. Femer
wurden am Oroßmünster lectiones publicae, öffentliche und unentgelt-
liche Vorlesungen, eingerichtet und hierfür Cepobinus als Professor
der griechischen und hebräischen Sprache berufen. Die Absicht war,
den Predigern des neuen Kirchen wesens die notwendigste gelehrte und
theologische Bildung zu geben, „daß man die Jungen nicht auf ihrer
Väter Kosten an fremde Orte zu Schul und Lehre schicken müsse,^'
also anstatt einer Universität zu dienen. „Jeden Morgen, Sonntag
und Freitag ausgenommen, versammelten sich um 8 Uhr Weltgeist-
liche, Mönche, Chorherren und die älteren Studenten aus den beiden
lateinischen Schulen im Chor des Großmünsters. Die Lektion wurde
mit einem Gebet eröffnet Dann las irgend einer der Schüler eine
Stelle aus der Vulgata vor. Cepobinus las hierauf die gleiche Stelle
aus dem hebräischen Text und übersetzte sie ins Griechische, erläu-
terte und verglich sie mit der Septuaginta. Hernach erklärte Zwikgli
^ie gleiche Stelle lateinisch. Um 9 Uhr kam das Volk. Dieselbe
Bibelstelle wurde nun in deutscher Sprache vorgelesen und erklärt"
.(Ebnst, S. 56). Im folgenden Jahr wurde die Einrichtung vervoll-
kommnet, es wurden vier Lektüren errichtet, für Griechisch (Colltntjs),
für Hebräisch (PEiiUCANus), für Dialektik, Rhetorik, Latein (Ammiaiiüb),
für Theologie (Zwingli). Die Lektüren wurden mit Chorherrenpfründen
versehen. Auch wurden Stipendien für Studierende aus den Einkünften
von Kaplaneien gewährt. — Nicht minder wurden ein paar Klöster
im Landgebiet zu Pädagogien eingerichtet, so Kappel, untrer H. Bül-
MNGEES Leitung. — Der Eifer für die Erlernung der Grundsprachen
der heiligen Schriften ergriff auch die Landpfarrer; aus Platters
Autobiographie ist zu ersehen, wie er von einem Pfarrer zum andern
zog, um ihn die Elemente des Hebräischen, die er eben selbst gelernt
^ Quo pcLcto ingenui adolescentes formandi sint, in Zwinglis Werken,
herausgegeben von Schuleb und Schulthess, IV, 152 ff.
Die SchulreforrnaHon in Zürich. 279
hatte, zu lehren. — Bemerkt mag übrigeus noch werden, daß die neue Lehre
der alten auch durch Repression sich erwehrte. Schon 1523 war eine
Zensurkommission eingesetzt worden, bestehend aus dem Bürgermeister
und ersten Stadtpfarrer, nebst zwei Baten; ihre Aufgabe war, zu ver-
hindern, daß Bücher gedruckt würden, die Schmähungen enthielten
oder gegen die rechte Lehre und die Sittlichkeit verstießen. Man
sieht, die Zusammenstellung der im kirchlichen oder politischen Be-
kenntnis nicht korrekten Schriften mit der unsittlichen Litteratur ist
nicht erst eine Erfindung unserer Zeit Sodann wurden im Jahre 1525
alle Bücher der Stiftsbibliothek von einer Kommission geprüft, und
alles was man als „Sophisterey, Scholasterey oder Fabelbücher*' er-
kannte, wurde verschleudert oder vernichtet, nur wenige behalten
(Ebnst, S. 61). Nach Zwingus Tod (1531) trat H. Bullingeb an
dessen Stelle, als !£farrer und Schulherr des Stifts.
In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zeigt das Zürcher Schul-
wesen folgende Gestalt. Die beiden Lateinschulen hatten je fünf Ab-
teilungen mit fünf Lehrern (Schulmeister, Provisor und drei coHahora-
tores). Der Lehrplan war folgender: „der unterste Lehrer lehrt die
Knaben die Buchstaben kennen und lesen. Der andere lehrt schreiben,
Donat und rudimenta. Der dritte lehrt sie baß konjugieren, deklinieren
und exponieren. Der Provisor unterrichtet sie voUkosoimener in ^am-
matica. Der Schulmeister übt auch die fframmaticam, liest aber auch
autores und rüstet sie in das lectorium. Weiter unterrichten sie die
beiden auch im Anfang der griechischen Sprache und Grammatik'*
(Ebnst, S. 99). Natürlich wurde auch Latein geschrieben und ge-
sprochen, zu welchem Zweck weder der asinus, noch die Aufführung
von Schulkomödien fehlte. Und ebensowenig fehlte der Unterricht
in den Elementen der Theologie (doctrina christiana) und der Dialektik. ^^
Auf den Schulkursus, der im Durchschnitt etwa 7 — 8 Jahre dauerte, '
etwa bis zum 15. oder 16. Lebensjahre, folgte der Kursus der lectiones \
publicae. Erst in den sechziger Jahren wurden diese von den Schul- ■
klassen völlig getrennt, bis dahin hatten die oberen Klassen auch die
öflfentlichen Lektionen besucht. Es waren 7 — 10 Lektoren vorhanden:
zwei des alten Testaments, einer des neuen Testaments, ein Hebraeus,
ein Graecus, ein lo^icus, ein physicus (Ernst, S. 105). — Die Zahl
der Schüler betrug, nach einer von Eenst (S. 121) aufgestellten stati-
stischen Tabelle, von 1568 — 1593 durchschnittlich in der Großmünster-
schule 136, in der Frauenmünsterschule 84, im lectorium 27. Darunter
waren regelmäßig auch eine nicht ganz geringe Zahl (10 — 20) Fremde,
auch graflicher und fürstlicher Geburt Stipendiaten wurden etwa
60 — 70 gehalten, mit einem Aufwand von etwa 1800 fl. Die Be-
280 II, 5, Die Neubegründung d, Gelehrtenschulwesens in den prot Gebieten.
soldungen der Lehrer betrugen zusammen etwa 1900 fl., alles aus
Kirchengut (Ernst, S. 132 ff.). Die Stipendiaten wurden übrigens in
der Regel auf kürzere oder längere Zeit auf auswärtige Universitäten
geschickt. Eine große Kalamität war, daß sie häufig vorzeitig heirateten,
was gewöhnlich ihre „Beurlaubung^^ zur Folge hatte. — Ahnliche Ein-
richtungen wurden von Zürich auch nach Bern verpflanzt, wie man
bei Kummer, Gesch. des Schulwesens im Kanton Bern nachsehen mag.
In Basel kam es 1529 zu einer Reformationsordnung, welche
auch die Grundzüge einer Schulordnung enthielt; Oecolampadius war
ihr Urheber. Zu den drei Lateinschulen, jede mit drei Abteilungen,
unter drei humanistisch - reformierten Schulmeistern, J. Oporinüs,
J. Sphyractus, X. Betülejus, kam 1533 ein Konvikt im Dominikaner-
kloster. Nach allerlei Anläufen und Irrungen, die man in Burcehardt-
BiEDERMANNS Geschichtc nachlesen mag, kam es endlich dahin, daß
die Schule am Münster unter der Leitung Th. Platters (1544 — 1578)
zu einer vierklassigen Oberschule sich entwickelte. Platter, der vor-
her nach Straßburg ging, die dortige neue Schule Sturms zu sehen,
richtete den Unterricht nach folgendem Schema ein (der Lehrplan von
1544, als Bericht deutsch verfaßt, bei Bürcehardt S. 280 fEl). Die
vier Klassen haben täglich vier Unterrichtsstunden, um 7, 9, 1, 3 Uhr;
in der jedesmaligen Zwischenstunde mögen die Schüler in der Schule
bleiben und für sich arbeiten. Die unterste Klasse lernt Lesen und
Schreiben, und gelegentlich lateinische Wörter. Die zweite beginnt
die lateinische Grammatik zu lernen und an Erasmus' coUoquioy Casta-
lios dialogi scuri und Ciceros ausgewählten Briefen einzuüben. Wenn
sie den Donat auswendig und die gemeinsten Regeln erlernt haben,
werden sie in die dritte Klasse gesetzt, wo Grammatica Philippi
Latina auswendig gelernt und aus Cicero de senectute formulae lo-
quendiy proverbia et sententiae gesammelt werden. Dazu wird Rhetorik
und Poetik angefangen: in eclogis zeigt man ihnen, wie auch im Cicero,
die leichtesten figuras po'etarum. Die vierte Abteilung setzt diese
Übungen fort und fügt dazu die Dialektik. An den Metamorphosen
Ovids zeigt man tropos und Schemata po'etarum samt anderem, das den
Poeten eigen ist. Im Terenz zeigt man phrases an; ebenso in den
Briefen Ciceros das artificium dialecticum et rhetoricum, formtdas locU'
tionum, Schemata etc. Daneben werden Melanchthoks Lehrbücher
der Rhetorik und Dialektik, sowie ein paar andere grammatisch-rheto-
rische Kompendien gebraucht Überall wird an einem Tage vom
Lehrer exponiert, am andern von den Schülern reposciert In der
dritten Klasse beginnt man Episteln zu machen, nach dem deutschen
Argument, aus dem Cicero gezogen; in der vierten machen sie Episteln,
Die Sohulreformation in Basel. 281
ohne vorgeschrieben Argoment, über freigewählte Themata, etwa aus
den Briefen Ciceros entnommen. Griechisch wird in III begonnen,
in lY die Grammatik Ceporini gelernt und an Lucians Dialogen ein-
geübt, indem von Wort zu Wort decUnatianes nominum et verborum
et omräum partium orationis examiniert werden. — Musica wird
wöchentlich eine Stunde, Religionsunterricht täglich die erste Stunde,
Katechismus und heilige Schrift, getrieben. „Wenn sie dann wohl
geübt in der Grammatik beider Sprachen, auch einen Anfang haben
in Lialecticis et Rhetoricis, item so viel in autoribus versiert, daß sie
nun forthin verstehen, so man einen autorem nicht mehr deutsch,
sondern latina expositiane proponiert: sollen und mögen sie dann mit
Nutzen deponieren und sich für einen Studenten lassen einschreiben.'^
Die Universität beschwerte sich im Interesse ihres Pädagogiums
lebhaft über diesen Schulplan, als welcher auf ihr Gebiet übergreife.
Momerus, Virgilü Aeneis, Ovidii Metamarphoses, Oiceronis orationes und
dergleichen herrliche antares seien alle Zeit bei den hohen Schulen
gelesen worden; was solle man nach solchen, die für die besten ge-
halten würden, noch bieten? Auch die Dialektik gehöre auf die Uni-
versität Nach langen Streitigkeiten kam eine Einigung zu Stande, worin
die Universität ihr Aufeich tsrecht durchsetzte, der Schulplan aber im
wesentlichen blieb. Die Schüler der obersten Dekane sollen der
philosophischen Fakultät zur Prüfung vorgeführt und dann an die Uni-
versität übergehen, doch nur mit Einwilligung des Schulmeisters;
nämlich zu verhüten, daß die Universität sie der Schule zu früh ab-
spenstig mache. 1588 fand endlich eine Reorganisation des Basler
Gelehrtenschulwesens in dem Sinne statt, daß die kleinen Schulen zu
einer großen sechsklassigen Anstalt zusammengelegt wurden. Der Lehr-
plan, den die Universität dieser Stadtschule gab, bezeichnet als Ziel
des Kursus: die Kenntnis der lateinischen und griechischen Sprache,
sowie der nützlichen und notwendigen freien Künste der Dialektik und
Rhetorik (S. 285 ff.). — Bei der Spärlichkeit sicherer statistischer Daten
mögen die Zahlen der Schüler, welche sich bei der Zusammenlegung
in den einzelnen fanden, mitgeteilt werden: die Schule am Münster
zählte 206, zu St. Peter 124, zu St Theodor 24 Schüler. Daneben
gab es 350 Knaben in den deutschen, und 75 Mädchen in der
Martinsschule.
In Straßburg begann, nachdem die alten Schulen sich verlaufen
hatten, um die Mitte der 20er Jahre ein protestantisches Unterrichts-
wesen aufzukommen. Seit 1525 standen J. Sapidüs (von Schlettstadt
her uns bekannt) und Otto Bsunfels (der Schildträger Huttens in
seiner letzten Fehde, dem Streit mit E&asmüs) mit Genehmigung des
282 Uy 5, Die Neubegründung d. Gekkrtenschulweaens in den prot Gebieten,
Bats zwei Schulen, im Prediger- und im Karmeliterkloster, vor, in
denen Lateinisch und Griechisch gelehrt wurde. Dazu wurden von
den neuen Predigern theologische Vorlesungen gehalten: Bützeb und
Capito lasen im St Thomasstift über das neue und alte Testament;
endlich fanden in dem freigewordenen Dominikanerkloster Vorlesungen
über die griechische und hebräische Sprache, in der Mathematik, Poetik,
Rhetorik und im weltlichen Hecht statt, die Stadt gab den Lektoren
ein Stipendium. Im Jahre 1528 wurde vom Bat eine Schulkom-
mission von drei Scholarchen errichtet, denen zwei Prediger als Visi-
tatoren beigegeben waren. Jac. Sturm, ein Schüler Wimphelikos,
hatte darin die führende Stellung. Vierteljährlich erschienen sämtliche
Schulmeister, auBer den lateinischen auch die deutsehen Lehrmeister,
vor den Schulherren, um sich gegen Klagen zu rechtfertigen, Ver-
mahnungen zu emp&ngen, Wünsche zu äußern. Die Protokolle dieser
Sitzungen, aus denen bei Engel (das Schulwesen Straßburgs bis 1538)
einiges mitgeteilt ist, lassen den ganzen Schulbestand Straßburgs um
1585 erkennen. In der Schule des Sapidüs, über dessen Unfleiß leider
vielfach zu klagen ist, sind 140, in der des Dasypodius (der an Bbun-
FELs' Stelle getreten war) 80 Schüler; eine dritte Lateinschule wird
eben errichtet, sie hat bald 56 Schüler. Dazu werden mehrere latei-
nische Privatschulen erwähnt. Femer kommen 8 deutsche Lehrmeister
vor, jeder mit etwa 50 — 100 Schülern; auch fehlt es nicht an Mädchen-
schulen.
Im Jahre 1537 kam Johannes Stübm nach Straßburg, der
Mann, dessen Name den pädagogischen Buf Straßburgs in den Schul*
geschichten begründet hat^ Zu Schieiden in der Eifel 1507 geboren,
hatte er die Schule zu Lüttich (1521 — 1524), dann die Universität
Löwen besucht und seit 1529 an der Pariser Universität lernend und
lehrend seine Studien fortgesetzt. Er wurde jetzt als Professor der
Bhetorik und Dialektik am Kollegium im Dominikanerkloster (mit
140 fl. Gehalt) angestellt; seine Herrschaft über die Sprache und seine
Kenntnisse übten alsbald ungewöhnliche Anziehungskraft. Noch in
demselben Jahr wurde er von den Schulherren zur Teilnahme an der
Beratung der schwebenden Organisationsfragen herangezogen. Er faßte
* Über Sturm jetzt außer Ch. Schmidts Vie de St. besonders die Schrift
von Veil, Zum Gedächtnis J. St. (1888). Eine eingehende Darstellung und
Würdigung Sturms von G. Scumid jetzt auch in der Geschichte der Erziehung,
II, 2, 302—388, imd in Zi£oleks Geschichte der Pädagogik, sowie in dessen
Artikel in der Allg. Deutschen Biographie. Noch ist zu vergleichen £. Laas,
Die Pädagogik des J. St (1872); K. v. Raümer in der Geschichte der Pädagogik;
BossLBR in ScnMTDs Enoyklopädie.
Joh. Sturm und die Straßburger Schute. 283
einen Bericht ab, der später in erweiterter Überarbeitung gedruckt
wurde (1538); es ist die berühmte Abhandlung: JDe litterarum ludis
rede aperiendis. Der Bericht (bei Engel S. 67 ff.) fand den Beifall der
Schulherren, er ist die Grundlage der neuen Organisation geworden,
die im Jahre 1538 zur Ausfuhrung gebracht wurde. Der Hauptpunkt
ist: Zusammenfassung der zerstreuten kleinen Anstalten in eine ein-
heitliche Studienanstalt mit acht in Jahreskursen aufsteigen-
den Klassen. Das Muster bot dem Stubm die Lütticher Schule.
Der Bericht beschreibt die Einrichtung, die sich dort so sehr bewährt
habe, daß man von einem Anlauf zur Auflösung der Anstalt in ein-
zelne Schulen wieder zurückgekommen sei, in folgender Weise: Acht
Klassen waren vorhanden; die drei untersten lernten lesen und schrei-
ben und die lateinische Grammatik; in der Quinta begannen Stil-
übungen in Prosa und Versen, mit Lektüre, dazu der griechische
Unterricht; in der Quarta und Tertia kamen Rhetorik und Dialektik
nebst kleinen Deklamationen hinzu. Von den beiden Oberklassen
trieben die Sekunda aristotelische Logik, Flato, Euklid, Jura, die Prima
Theologie, mit Disputationen. Wie es scheint, sind in diese Darstel-
lung Erinnerungen an Lüttich und Aussichten für Straßburg in ein
Bild zusammengeschmolzen, ii^ie denn auch die Bede zwischen erzäh-
lendem Imperfectum und forderndem Präsens wechselt. Es ist, wie
Veil im einzelnen zeigt (S. 24 ff.), der Lütticher Plan so erweitert,
daß er dem in Straßburg Vorhandenen und dem von Stusm Ge-
wünschten sich anpaßte, um den Schulherren die Möglichkeit des Dar-
gestellten durch seine geschichtliche Wirklichkeit zu zeigen.^ Ebendort
wird darauf hingewiesen (S. 37), wie weite Aussichten den Straßburgem
und ihrem Berater eben damals für ihre Studienanstalt vorschwebten:
eine Gentraluniversität für die ganze protestantische Welt, in der Mitte
zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Süden und Norden,
und so innerlich zwischen der lutherischen und der schweizerischen
Reformation.
^ Es ist mir keine Geschichte des Lütticher Schulwesens bekannt. Mit
den 8 Klassen, Dekurionen u. s. w. wird man gut thun, es nicht allzu großartig
zu nehmen. Von der Schule zu Zwolle wird auch bericlitet, daß sie bei großer
Frequenz unter dem Rektor Cele (f 1417) ihre Schüler in 8 Klassen geteilt
habe: den obersten beiden Klassen (toeis) standen zwei Hilfslehrer (tnagistri
artium) vor, den andern 6 Klassen wurden Schüler der ersten Klasse zu Lehrern
gesetzt: primarios de primo toco tocis inferioribus in lectionibtis et exnrnmatiO'
nibus praeesse eonstituit (s. den oben erwähnten Artikel von Hirsche über die
Brüder vom gem. Leben in Herzogs Realencyklopädie d. prot. Theol. -^ Ein
Schüler der Lütticher Schule ist auch P. Plateanus, Rektor in Zwickau seit 1585.
Über ihn Erler, Zwickauer Progr. 1878.
284 //, 5, Die Neubegründung d. OeUlirtenschulweeens in den proi. Gebieten.
j> Noch im Jahre 15M wurde, wesentlich auf Betrieb Jacob Sturms,
die neue kombinierteStudienanstalt ins Werk gesetzt und Jon. Sturm
zu ihrem Rektor bestellt Das Dominikanerkloster, in dem die philo-
logischen und philosophischen Vorlesungen bereits ihren Sitz hatten,
wurde ausgebaut um auch die Lateinklassen aufzunehmen. Die Lehrer
und Schüler der bisher isolierten drei Lateinschulen wurden zu einer
achtklassigen Anstalt zusammengefaßt, die bald, durch Teilung der
untersten, zu einer neun-, später zehnklassigen erweitert werden mußte.
Hieran schließen sich dann erst die lectionee publicae, für deren voll-
ständige Absolvierung fünf Jahre in Aussicht genommen wurden. Die
Klassen allein zäMten bei der Eröffiiung 336, in den 40er Jahren um
600 Schüler, unter ihnen zahlreiche und vornehme Auswärtige. Später
litt die Anstalt und ihr Rektor unter den Drangsalen der Eriegsstürme
und der rabies theologorum.
Betrachten wir nun etwas genauer den Inhalt jener Schulschrift
de litterarum ludie recte aperiendis, die Sturm als Inaugurationsschrift
der neuen Studienanstalt veröffentlichte. Sie giebt einen genau sche-
matisierten Studiengang. ^ Als Ziel des ganzen Unterrichts wird be-
zeichnet sapiens atque eloquens pietas. Es ist, in eine glückliche
Formel gefaßt, das Ziel der neuen protestantisch-humanistischen Ge-
lehrtenschulen überhaupt: Sachkunde und Darstellungsgabe im Dienst
des neuen evangelischen Glaubens. Den Schulklassen fallt davon als
ihre wesentliche Aufgabe die Eloquenz zu, das ist die Fähigkeit
des sprachlich richtigen, sachlich angemessenen, logisch
durchsichtigen und rednerisch wirksamen Vortrags. Diesem
Zweck dienen zunächst die drei formalen Disziplinen, die artes dicendij
Grammatik, Dialektik, Rhetorik; sie beherrschen den ganzen Schul-
unterricht Auf jeder Stufe des Unterrichts aber wirken wieder drei
Stücke zusammen: 1) die Theorie (praecepta dicendi), Gnunmatik und
Metrik auf der Unter- und Mittelstufe, Rhetorik und Dialektik auf
der Oberstufe. 2) Musterbeispiele (exempla), sie sind den alten
Schriftstellern, und zwar nur den besten zu entnehmen, im Lateinischen
vor allem Cicero und Virgil, im Griechischen Demosthenes und Homer.
3) Übungen in der Nachbildung (imitatio), zuerst kleine sprach-
liche Übungen, sodann Versuche in der Nachbildung litterarischer
Werke, in Prosa und Versen.
^ Sie ist mitgeteilt in der VoRMBAUMschen Sammlung, Bd. I, 635 ff.;
wo auch die andern wichtigen Schulorganisationsschriften Sturms abgedruckt
sind: Classicarum epistolarum Hb, III (1565), Academiearum epistolarum L I
(1569), Scholae Lauinganae (1565). Ein vollständiges Verzeichnis von Sturms
Schriften in Schmidts Biographie, S. 314 ff.
Joh, Sturm und die Straßbwrger Schule. 285
Stubm giebt dann eine bis ins einzelne ausgeführte Anweisung
für den Unterricht Ein sorgföltig ausgeführter Klassenschematismus
teilt die Schülerschaft in neun Abteilungen (ordines, tribus, curiae)^
jede unter einem Lehrer, der den ganzen Unterricht in der Hand hat.
Die Abteilungen sollen in ebenso vielen Jahren durchlaufen werden. In
die unterste oder neunte tritt der Schüler etwa nach zurückgelegtem
fünften Jahr ein und soll hier außer lesen und schreiben (deutsch und
lateinisch), auch mit deklinieren und konjugieren einen Anfang machen.
In der folgenden achten Abteilung wird die Formenlehre gelernt und
an Tirgils Eklogen und Ciceros ausgewählten Briefen eingeübt, erst
die Flexion, dann die Konstruktion. Auch fangen sie an Latein zu
sprechen und Verse zu imitieren. In der siebenten Abteilung sollen
die Knaben Cicero und Virgil lesen, und die übrigen Versarten aus
CatuU, Tibull und Horaz kennen und natürlich imitieren lernen. In der
sechsten Klasse fahren sie fort und nehmen Caesar und Terenz hinzu.
Am Ende dieser vier Kurse, also bei vollendetem neunten Lebensjahr,
meint Stübm, könne es nicht fehlen, daß der Knabe des Lateins
einigermaßen machtig sei. Daher können sie in der fünften das
Griechische beginnen, taglich eine Stunde, erst Grammatik, dann
dazu Übungen am Aesop und Demosthenes; daneben Cicero und Virgil.
In der vierten kann gleichmäßig Cicero und Demosthenes, Virgil und
Homer, auch Sallust und Plautus gelesen werden. Femer werden die
Regeln der Rhetorik gelernt und an Beispielen erläutert und ange-
wendet. In der dritten Klasse kommt die Dialektik hinzu; die Lek-
türe von Cicero und Demosthenes giebt die Beispiele; von Historikern
wird Sallust, Cäsar, auch Livius gelesen. Die zweite Klasse treibt
die rhetorischen und dialektischen Studien weiter, Ciceros rhetorische
Schriften und Demosthenes werden gelesen, analysiert, imitiert, auch
wohl ein platonischer Dialog vorgenommen. Der ersten Klasse wird
Aristoteles tibqI iQ(ifjvuag und sein Werk de mundo vorgelegt, gut duo
eodem anno una aliqua hora quotidiana facile percipiuntur, Tradenda
etiam Ärithmetica sunt et excutiendus Mela et proponendus Proclus et
cognoscenda sunt Ästrologiae elementa, Demosthenes adhuc etiam et
Homerus interpretabuntur (sie), quibus Ciceronis oratorios libros adjungo,
Dandum etiam ocium scripturae et stilo, neque deponenda commentandi
exercitatio. Man sieht es fehlt der Straßburger Jugend, sie voll-
endet nach dem Schema das 14. Lebensjahr in der Prima, nicht an
„hohen Autoren." — Ist die Schule absolviert, hat der Knabe die artes
dicendi gründlich inne, so folgen die lectiones publicae; erst ein philo-
sophischer Kursus, als dessen Hauptaufgabe bezeichnet wird: zur priva-
ten Lektüre anzuleiten; daher von allen Schriftstellern, die man den
286 //, 5, Die Neuhegründung d, öelehrtenschulwesens in den proL Gebieten,
jungen Leuten nicht ohne weiteres überlassen kann, Proben vorgelegt
werden müssen. Außer den Dichtern (Euripides, Sophokles, Aeschylns,
Aristophanes) und Historikern (Thucydides, Herodot, Xenophon) kommen
vorzugsweise die Philosophen in Betracht, unter denen die drei vornehmsten
sind und bleiben werden: Aristoteles, Plato, Cicero. Endlich schließen sich
die Vorlesungen der Theologen, Juristen und Mediziner an. —
Der Schulplan nimmt sich in dem eleganten Vortrag Stübms
sehr elegant und vornehm aus. Ob Stubm ein ebenso großer Schul-
meister, als Klassen- und Stundenplankünstler war, ist wohl nicht
unzweifelhaft. Er war überhaupt an dem Unterricht in den Schul-
klassen nicht als Lehrer, sondern nur als Rektor beteiligt, der den
Plan entwarf, die Lehrer instruierte, die Prüfungen leitete. Seine
Stellung zur Schule ist nicht unähnlich der eines Studienpräfekten in
einem Jesuitenkolleg. Als Lehrer war er nur in den öffentlichen
Lektionen als Professor der Dialektik und Rhetorik thätig. Übrigens
war er ein Mann, der überall nach hohen Dingen trachtete; er hatte
seine Hände in der großen Politik, er unterhielt Beziehungen zu zahl-
reichen Höfen und bezog von vielen Pensionen. Durch die Politik
wurde er auch in die schweren Kämpfe und Verwirrungen hineinge-
zogen, die seine letzten Jahre trübten und zuletzt noch zur Entlassung
aus dem Amt führten (1581). Wie viel Kraft dabei für die Thätigkeit
des Rektors übrig blieb, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht war
es mehr der Ruf des Professors und das Ansehen des gelehrten und
eleganten Schriftstellers, als die Leistung für die Schule, wodurch er
für die Straßburger Studienanstalt wirkte. Als ihr Repräsentant nach
außen hat er gewiß durch seine Eloquenz und durch seine ganze Er-
scheinung, wenn wir einem der Biographie Schmidts beigegebenen Bild-
nis glauben dürfen, auf sehr vollkommene Weise erfüllt. Den Zulauf von
vornehmen jungen Herren, Grafen- und Fürstensöhnen, von dem oft die
Rede ist, wird die Straßburger Schule wohl vorzugsweise ihrem vor-
nehmen Rektor und seinen vielseitigen Beziehungen zu danken haben.
Daß der wirkliche Klassenunterricht neben dem zur Schau auf-
gestellten Studienplan des Rektors seinen eigenen Weg, den Weg des
Möglichen ging, darüber fehlt es uns nicht ganz an Mitteln, uns zu
unterrichten. Einer der Lehrer, Dasypodius, wie es scheint der be-
deutendste unter den Mitarbeitern Sturms, hat über die Straßburger
Schule einen schlichten, den wirklichen Lehrgang einfach beschreiben-
den Bericht verfaßt.^ Hiernach wird in den drei unteren Klassen die
^ Veröffentlicht von Hikzel im Anhang zu einem Aufsatz über Dasypodius
im Neuen Schweizerischen Museum, VI, 168fF. Der Bericht ist vom Jahre 1556,
an einen Rat des Grafen von Hanau auf dessen Erfordern abgefaßt.
Joh. Sturm und die Straßbtdrger Schule. 287
lateinische Formenlehre gelernt und an kleinen Lesestücken aus Ciceros
Briefen eingeübt. VI und V lernen die Syntax und die Elemente des
Griechischen, wozu in der IV die Prosodie und Metrik kommt; sie
wird an ein paar Eklogen Virgils eingeübt Dazu werden hier ein
paar kleine Schriften Ciceros (de sen, und de amic.) gelesen und im
Griechischen ein paar kleine Fabeln Aesops. Erst in III beginnt die
eigentliche Lektüre: drei Reden Ciceros und Bach I und II . der
Aeneide, die Besseren versuchen auch einen Vers zu machen. Im '
Griechischen wird Lucian gelesen. In II und I wird die Dialektik
und Rhetorik nach einem Lehrbuch Sturms gelernt, Cicero und De-
mosthenes bieten die Beispiele. Daneben wird Virgil, sowie einmal ein
Buch Homer und ein Dialog Flatons gelesen.
Übrigens hat Stubm selbst noch einmal einen Lehrplan für die
Straßburger Schule entworfen, in Gestalt von Briefen an die einzelnen
Klassenlehrer (daher Epistolae classicae, vom Jahre 1565). Es wird
darin der LTnterricht und das Ziel der Klassen beschrieben, nicht ohne
betrachtliche Nachgiebigkeit gegen die Wirklichkeit. Der elementar-
grammatische Kursus ist um ein Jahr erweitert, so daß nun im ganzen
zehn Jahreskurse gezählt werden. Die Beschreibung der lateinischen
Übungen läßt sie als elementarer gehalten erscheinen. Die Sammlung
von gelesenen Wörtern und Formeln in die Diarien ist in den unteren
Klassen, die Lektüre der Redner, um an ihnen die Regeln der Rhe-
torik zu erläutern und zugleich Muster der Imitation zu gewinnen, ist
in den oberen Klassen das Hauptstück des Unterrichts. Die Poesie
beginnt mit der Prosodie erst im fünften Kurs, statt im zweiten oder
dritten. Ebenso ist die Erlernung der griechischen Grammatik vom
fünften auf den sechsten und siebenten Kurs verschoben, und die
Dialektik den beiden obersten Klassen vorbehalten. Von der Lektüre
des Aristoteles ist nicht mehr die Rede. Dagegen werden die Briefe
Pauli in den oberen fünf Klassen gelesen. Der Bericht des Dasypodius
hat dafür: Sonntags wird die Religion gelernt, in den unteren Klassen
aus dem Katechismus, in den oberen aus den Evangelien und Briefen.
Bemerkt seien noch ein paar Äußerlichkeiten des TJnterrichts-
betriebs. Das Klassenlehrersystem ist streng durchgeführt Die Klassen
haben Jahreskurse, mit Versetzungsprüfungen am Schluß; doch findet
auch wohl Versetzung nach Y2 J**^^ s^*^- Öffentliche Aufführungen
lateinischer Stücke dienen der Einübung der Sprache, die selbstver-
ständlich allein Schul- und Unterrichtssprache ist Deklamationen und
Disputationen dienen demselben Zweck, der Einübung der Sprache und
der Regeln, zugleich reizen sie den Ehrtrieb, ebenso wie die Certationen
und Prämien. Als Helfer dienen dem Lehrer die Dekurionen. Allen
288 II, 5. Die Neubegründung d. OelehrtenschtUwesens in den prot Gebieten*
diesen Dingen werden wir in den Jesoitenschulen wieder begegnen.
Sie sind dem TJnterrichtswesen des 16. Jahrhunderts nirgends fremd.
Im Jahre 1566 wurde ein alter Plan Sturms wenigstens zum
Teil verwirklicht: die öffentlichen Lektionen wurden als privilegierte
Akademie konstituiert und diese vom Kaiser mit dem Recht, Bacoalarien
und Magister in der Philosophie zu kreieren, ausgestattet Stubm blieb
Rector perpetuus der Anstalt. Seine Absicht war auf eine vollständige
Universität gerichtet gewesen, doch hatte der Rat, in verständiger Er-
wägung der Mittel, za einem so weit aussehenden Unternehmen nicht
den Mut Die Denkschrift, worin Stubm dem Rat die Bewerbung um
die Privilegien dringend anriet, ist kürzlich veröffentlicht worden.^ Sie
läßt einen Blick in die Verhältnisse der Schule thun, der ein anderes
Bild als die traditionellen Berichte zeigt Während diese von dem
ungeheuren Zulauf, von Tausenden von Schülern wissen, heißt es dort,
daß sehr wenige Schüler bis zur Absolvierung der beiden obersten
Klassen oder gar der öffentlichen Lektionen aushielten. Die beiden obersten
Klassen, welche wiederholt als die besten Klassen, als der eigentliche
Zweck der Anstalt bezeichnet werden, stünden halb leer, statt 60 — 70
Schüler seien die letzten Jahre nicht mehr als neun zum Schluß-
examen gekommen und publici geworden. Dadurch seien denn auch
die öffentlichen Akte, Disputationen und Deklamationen behindert wor-
den. Die Ursache sei der Mangel an Berechtigungen. Wer die Schule
durchgemacht, gelte damit noch nicht für einen Studenten, sondern werde,
wenn er auf eine Universität komme, erst deponiert, wie jeder andere
Beanus. Um diesen tTbelständen abzuhelfen, schlägt die Denkschrift
vor, nach folgenden Berechtigungen zu trachten: erstens, daß die Schüler,
welche die acht untersten Klassen durchlaufen haben, nach bestande-
nem Examen für deponierte studiosi gelten und nicht mehr unter der
' Disziplin der Rute stehen; zweitens, daß durch die Vollendung der
beiden obersten Kurse das Baccalariat, und drittens, daß durch Absol-
/ vierung der öffentlichen Lektionen das magisterium erworben werde.
, j Die Bewerbung des Rats hatte Erfolg und die Anstalt erhielt die
\' gewünschten Berechtigungen. Über ihren Bestand im Jahre 1578
giebt ein gleichzeitiges Schriftstück, welches von zwei Lehrern ver-
öffentlicht wurde, einige Auskunft^ Der Lektionsplan der Akademie
weist auf: vier Lektionen in Theologie, drei in Jurisprudenz, zwei in
^ Albbecbt, Beiträge zur Straßburger Schulgeschichte (U), 1874.
* Actus tres Academiae Reiptät, Ärgent. 1) da^aicorutny 2) bciecaktureo-
runif 3) magistrorum, ex quibtM et promotionum et legum et diseiplinae et
leetionum ctmi publicarum tum classicarum ratio pro hoc tempore tere cognosci
potest. Ärgent, 1578.
JoÄ. Sturm und du Straßhurger Schule, 289
Medizin, acht in Philosophie. In letzterer lesen ein historicus, ein
eihicuSy ein organicus (Aristoteles' Organon). ein mathematicus , ein
HehraeuSy ein Gr accus, ein Lateiner; der rector perpetuus, an erster
Stelle genannt, liest über Cicero de senectute. Wie man sieht, ist es
thatsächlich eine Universität; die Zahl der Lektüren ist nicht geringer
als an manchen Universitäten.
Promoviert wurden in dem Jahr zu Baccalarien 11, zu Magistern 15. ^ ^ .-^--P.
Die bei dieser Gelegenheit produzierten specimina eloquentiae sind mit-
geteilt: Reden des Dekans, declamatiunculae der Kandidaten über ge-
gebene Themata, endlich die üblichen Lobgedichte auf jeglichen. — Der
Lektionsplan der Schulklassen hat im wesentlichen die oben nach den
Epist Classicae angedeutete Gestalt Er kommt übrigens in doppelter
Form in dem Schriftstück vor: einmal in Form eines Stundenplans,
dann auch in Form eines Schulaktus: die Schüler beschreiben beim
actus puhlicus die Klassenpensa in Frage und Antwort Baümeb
hat diese letztere Form bei seinem Bericht benutzt; er irrt aber,
wenn er darin einen mit protokollarischer Genauigkeit abgefaßten
Examensbericht sieht. Mit einem wirklichen Examen hat der Schulaktus
wenig Ähnlichkeit —
Der Straßburger Schulplan ist oft als ein großer Fortschritt an-
gesehen worden. Wenn man den einfachen Thatbestand, wie er, der
rhetorischen Darstellung Stübms entkleidet, in dem Stundenplan für
den Sommer 1578 sich darstellt, ins Auge faßt, dann wird der Unter-
schied gegen die Schulordnungen, welche von den Wittenberger Re-
formatoren ausgingen, nicht allzu groß erscheinen. Hätte Melanch- '
THON den Plan für die Schule einer großen Stadt zu entwerfen gehabt,
so würde er ziemlich ähnlich ausgefallen sein; sein Entwurf in dem
Visitationsbüchlein von 1528 hat natürlich die Verhältnisse kleiner
sächsischer Landstädte vor Augen. Die Grundbestandteile des Unter-
richts sind übrigens hier wie dort dieselben: Grammatik, Rhetorik,
Dialektik, dazu Musik und Religion; wo das Bedürfnis und die Mittel
für eine größere Schule ausreichten, wie zu Nürnberg, Hamburg, Lübeck, •
da kommen, ebenso wie in Straßburg, das Griechische und die Mathe-
mathik hinzu. Die Zahl der Klassen, auf die man ein ganz ungebühr-
liches Gewicht gelegt hat, ist natürlich ein durchaus untergeordneter
Punkt, sie ist abhängig von der Zahl der Schüler und der verfügbaren
Lehrer. Der Unterschied der Straßburger Schule von den übrigen
liegt mehr in der Form des Berichts als in der Wirklichkeit: dort eine
rhetorisch zugestutzte Darstellung des Erstrebten, hier kurze geschäfts-
mäßige Darstellung des Wirklichen und Möglichen. — Übrigens braucht
nach allem, was oben beigebracht ist, nicht gesagt zu werden, daß
Paulsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 19
290 //, 5. Die Neubegründung d. Qelehrtenschulwesens in den prot Oebieten,
auch die Verbindung der Schulklassen mit philosophischen und theo-
logischen Kursen nicht eine unerhörte Neuerung ist, wie Raumeb
anzunehmen scheint, dessen Mangel an Einsicht in die allgemeinen
Verhältnisse in dem Urteil über diesen Punkt, wie in dem Urteil
über Stubms Bestrebungen denn freilich überall zu Tage tritt. Aller-
dings standen ihm, verglichen mit heute, noch wenig Quellen zu
Gebote.
Mit den 40 er Jahren beginnt in der Entwickelung des protestan-
tischen Schulwesens ein neuer Abschnitt; er ist bezeichnet durch das
kräftigere Eingreifen der landesherrlichen Gewalt: es werden die ersten
landesherrlichen Gelehrtenschulen errichtet und landesherr-
liche Schulordnungen erlassen.
Die Sache hängt augenscheinlich einerseits mit der wachsenden
Ausbreitung und Macht des Protestantismus, andererseits mit der Kon-
solidierung der kirchlichen Verhältnisse in den Territorien zusammen.
Durch den Beitritt des albertinischen Sachsens und des Kurfürstentums
Brandenburg zur Lehre Luthers (1539) war der Sieg der Reformation in
Mittel- und Norddeutschland definitiv entschieden. Zugleich schien die
Verfügung der landesherrlichen Gewalt über die Güter der Stifte und
Klöster nunmehr gesichert. Damit wurden die Mittel für den Aufbau
eines protestantischen Landeskirchen- und Landesschulwesens verfügbar.
Hatten bisher nur die einzelnen Städte ihre Schulen reformiert oder
neue gegründet, so sehen wir nun die Territorien an die Errichtung
von Schulen gehen, nicht für den örtlichen, sondern für den Landes-
bedarf: es sind die sogenannten Fürsten- oder Landesschulen,
deren Entstehung für den zweiten Abschnitt dieses Zeitalters charak-
teristisch ist.
. Die Fürstenschulen, um eine allgemeine Kennzeichnung voraüs-
I zuschicken, sind staatliche Gelehrtenschulen. Aus öffentlichen
Mitteln, nämlich eingezogenen kirchlichen Gütern, ausgestattet und
unter staatlich -landeskirchlich er Aufsicht stehend, haben sie die Be-
stimmung, die besten Köpfe zum Dienst des Landes in weltlichem und
geistlichem Regiment zu ziehen. Sie gewähren den mit Rücksicht auf
Tüchtigkeit, daneben auch auf Bedürftigkeit aus der Schuljugend des
* Landes ausgewählten Alumnen einen etwa sechsjährigen freien Unter-
halt und Unterricht, um sie dann an die Universität abzugeben, wo
wieder aus öffentlichen Mitteln für ihren Unterhalt gesorgt wird.
Dafür haben die Stipendiaten dann die Verpflichtung, nach Vollendung
der Studien auf Erfordern in den Dienst des Landes oder der Landes-
kirche einzutreten. — Was den Unterricht anlangt, so bilden die
Gründung der sädtsischen FiirstmschtUen (1543), 291
Landesschulen die Zwischenstufe zwischen der stadtischen Lateinschule i
und der Universität. Sie erhalten ihre Schüler im Alter von 11 — 15
Jahren aus den Lateinschulen; indem sie eine elementare Kenntnis
der lateinischen Sprache voraussetzen, geben sie selbst den eigentlichen
Gelehrtenschulunterricht in Sprachen und Wissenschaften: Lateinisch,
<iriechisch, Hebräisch, Rhetorik und Dialektik, Mathematik und Kosmo-
logie. Eine genaue Abgrenzung gegen den Kursus der artistischen Fa-
kultäten fand dabei nicht statt und konnte nicht stattfinden, weil die
Fakultäten auch noch im 16. und 17. Jahrhundert ihren Unterricht nach
unten nicht abgrenzten; sie griffen immer noch tiefin das ein, was wir jetzt
dem Schulunterricht zuweisen. Die reinliche Trennung von Universität
und Schule hat sich überhaupt erst im 19. Jahrhundert vollzogen; sie ,
hängt wesentlich mit der Durchführung der Abiturientenprüfung zu- /
sammen; erst seitdem können die Universitäten eine bestimmte Schul-
bildung voraussetzen und mit Ausschluß der elementaren Dinge sich
auf den eigentlich wissenschaftlichen Unterricht zurückziehen, eine Sache,
die übrigens nicht bloß erfreuliche Folgen hat.
Zum erstenmal ist der Gedanke eines gelehrten Landesschulwesens
in dem albertinischen Sachsen verwirklicht worden. Herzog Moritz
entwand den Händen der Stände, welche sich eben in den Besitz der
Verlassenschaft der Kirche zu setzen begonnen hatten, wenigstens den
größten Teil der Beute und führte ihn einer dem Sinne der Stifter
nicht unangemessenen Verwendung zu. Er begründete die drei großen
Gelehrtenschulen Sachsens, welche bis in dieses Jahrhundert hinein
den Bedarf des Landes an gelehrter Vorbildung zum großen Teil ge-
deckt haben: zu Pforta, Meißen und Grimma; welches letztere für
das ursprünglich in Aussicht genommene Merseburg eintrat (1550). In
dem alten Cisterzienserkloster Pforta sollen nach der mit den Ständen
vereinbarten Laudesorduung von 1543 100 Knaben mit fünf Lehrern,
in dem Kloster St. Alra zu Meißen 60 Knaben mit vier Lehrern, im
Augustinerkloster zu Grimma 70 Knaben mit vier Lehrern gehalten
werden. Von den Knaben sollen 100 von den Städten, 76 von adligen
Geschlechtem, die übrigen vom Fürsten nominiert werden. Sie sollen,
ihre Fähigkeit vorausgesetzt, etwa sechs Jahre auf der Schule gehalten,
dann auf die Landesuniversität geschickt werden. Außerdem werden auch
Pensionäre (Kostknaben, zu 12 fl. jahrlich) zugelassen. Die Lehrer-
gehälter werden festgesetzt auf 150 fl. für den Magister, 100 fl. für
Jeden der Baccalarien, 50 fl. für den Kantor, bei freier Station ein
recht ansehnliches Gehalt.^ An der Organisation der Anstalten war,
^ Th. Flathe, Sanct Afra. Geschichte der Fürsteiischule zu Meißen, 1879.
K. RoESSLER, Geöchichte der Fürstenschule zu Grimma, 1891.
19*
292 //, 5. Die Nmbegründwig d. Gelehrtefischulwesens in den prot Gebieten.
was die äußere Einrichtung anlangt, der Rat G. v. Cümmeestadt in
erster Linie beteiligt. Zum ersten Inspektor der Fürst^nschulen wurde
JoH. Rivius (1500 — 1553) ernannt; er stammte aus Westfalen, hatte
in Köln unter Phbissemiüs seine humanistischen Studien gemacht
und dann in den sachsischen Bergstadten als Lehrer und Organisator
gewirkt. Seine Schüler Adam Siber (1516 — 1584) und Georg Fa-
BBiciüs (1516—1571), waren die ersten Rektoren und Instauratoren
des Unterrichts in Grimma und Meißen, während für Pforta J. Ca-
MERARiüs die ersten Statuten verfaßte; die Rektoren wechselten hier
rasch, der erste war Jon. Gigas.
Da die sachsischen Fürstenschulen das Vorbild für zahlreiche
ähnliche Anstalten geworden sind, so mögen ein paar weitere Angaben
über ihre Einrichtungen hier Platz finden. Die Lebensordnungen für
Lehrer und Schüler, wie sie fast unverändert bis in den Anfang des
19. Jahrhunderts bestanden haben, sind im wesentlichen den klöster-
lichen nachgebildet. Die Knaben tragen klerikale Tracht, ein langes
Gewand von schwarzem Tuch, die sogenannte Schalaune (scholana); das
Tuch wurde geliefert, ebenso die Schuhe. Sie wohnen in den von den
Mönchen verlassenen, unheizbaren Klosterzellen; je zwei oder drei zu-
sammen, Ober-, Mittel- und Untergesell genannt, haben eine Kammer
und eine Schlafkammer; für Reinhaltung und Bedienung sorgen die
Insassen selbst. Dem gemeinsamen Gebrauch dienen lectorium und
coenaculum. Zum Waschen dient der Brunnen auf dem Hofe; eine
Badstube bietet jedem alle vierzehn Tage ein Bad. Die Verpflegung
geschieht durch eigene Verwaltung, im Kloster wird nicht bloß gekocht
und gebacken, sondern ebenso gebraut und geschlachtet Die beiden
Hauptmahlzeiten werden von Lehrern und Schülern gemeinsam ein-
genommen, an Tischen zu zwölf Plätzen, die Frühmahlzeit (prandium)
um 9, die Abendmahlzeit (coena) um 4 Uhr. Zu beiden Mahlzeiten
giebt es Fleisch; dazu giebt's eine Morgensuppe um 7, ein Vesperbrot
um 2, und abends noch einen Schlaftrunk. Über Tisch wird Bier gereicht
und Sonntags (anfangs sogar viermal die Woche) Wein, dessen Säure
freilich oft Klagen auspreßt. Das Tischgerät ist einfach, ein zinnerner
Teller genügt-, erst 1798 wurde in St. Afra ein zweiter angeschafft;
und erst 1859 wird in Grimma der Ersatz durch Steingut erwähnt.
Die Bedienung bei Tisch hatten Famuli. Vor und nach Tisch wird
das lateinische Benedicite und Gratias gebetet, auch über Tisch
gelesen.
Die Tagesordnung in Grimma war: früh um 5 Uhr wurden die
Knaben aufgeläutet, verrichteten ihr Gebet, machten das Bett, kehrten
die Kammer und putzten die Schuhe, YgÖ waren sie zur Mette in der
Die sächsischen Fürstenschulen, 293
Kirche, 6 — 9 waren Lektionen, 9 Uhr Mittagessen, dann frei bis 11,
11—12 Studieren, 12—1 Singen, 1 — 2 Lektion, 2 Uhr Vesper mit
<iesang und Kollekte in der Kirche, dann Vesperbrot, 3 — 4 Lektion,
4 Abendessen, dann frei bis 6, 6 — 8 Studieren, 8 Abendgebet mit
(lesang und Verlesung eines Kapitels aus der Bibel, dann Zubettgehen,
wo der Einzelne noch seinen Abendsegen und Vaterunser betet. Das
Vaterunser wurde auch vor jeder Lektion von dem Primus der Klasse
lateinisch oder griechisch gesprochen. Sonntags und Mittwochs wurde
die Predigt gehurt, auch» nachher abgefragt und vorher der Text durch-
gegangen. — Ferien und freie Tage gab es fast nicht; erst vom
dritten Jahre ab wird dem Schüler ein kurzer Urlaub gewährt.
Auch die Disziplin stammt aus dem Kloster. Das Hauptzucht-
mittel war die Rute. Bei großen Vergehungen wurden die Delinquen-
ten vor dem Cötus von dem ganzen Lehrerkollegium, einem nach dem
andern, kastigiert, wie der Terminus heißt. In Meißen hatte 1636 ein
Tumult der Schüler stattgefunden, weil ihnen ein Spaziergang abge-
schlagen worden war. Der Cötus weigerte sich die Rädelsführer zu
nennen; es wurden daher Ruten verfertigt und in das Wasser der
Badstuben gelegt, um vom ersten bis zum letzten den Cötus durch-
zukastigieren. Als die Lehrer zum Werk bereit standen und mit dem
obersten anfangen wollten, trat das Unerhörte ein, daß die Schüler
sich nicht subjizieren wollten, sondern lieber gehen zu wollen erklärten.
Nach längeren Verhandlungen, während welcher auch von Dresden
Verhaltungsmaßregeln anlangten, bekannten sich endlich die Schuldi-
gen und erlitten die Kastigation von allen vier Präzeptoren. Allmählich
fingen die Lehrer an, diesen Aktus unter ihrer Würde zu finden. 1645
verweigerte der Rektor seine Mitwirkung; auf eine Klage der Kollegen,
welche nicht allein das odium tragen wollten, wurde er von Dresden
bei Strafe der Remotion zur Erfüllung seiner Pflicht angehalten. 1703
l)etitionierte das ganze Kollegium um Erlassung dieser Pflicht, ohne
damit durchzudringen. In Grimma wird noch 1721 eine Kastigation
durch sämtliche Kollegen erwähnt. Außer der Rute wurde Karzer-
strafe angewendet, nicht zum Spaß, wie später auf den Universitäten
geschah, um eine kleine Abwechselung in die tägliche Lebensweise zu
bringen, sondern ganz ernsthafte Gefängnisstrafe bei Wasser und Brot.
Der Unterricht hatte in den Fürstenschulen, wie in allen großen
Schulen, wesentlich die drei artes dicendi zum Gegenstand: Grammatik,
Rhetorik, Dialektik, selbstverständlich in lateinischer Sprache; die grie-
chische Sprache stand in zweiter Linie; anfangs wurden auch die ersten
Elemente des Hebräischen gelernt. Zur Einübung der Sprachen und
Künste diente die Lektüre der Schriftsteller; in Meißen wurden um
294 II, 5. Die Nenhegründung d. Oelehrtenscfiulwesefis in den proL Gebieten.
154Ü je nach Gelegenheit gebraucht Cicero, Terenz, Virgil, statt dessen
zuweilen Horaz und Ovid; im Griechischen die Schriften von Isokrat^s,
Xenophon, Plutarch, Hesiod, Theognis, Phokylides. Man sieht, die Er-
lernung der Eloquenz durch Imitation ist das SchulzieL Fabsiciüs
war übrigens mit Stubm von Straßburg persönlich bekannt und be-
freundet Ein paar Themata zu rhetorischen Schuleierzitien teilt
Flathe (S. 29) mit: Laviniam, Latini filiam^ noti dandam deneae;
Epistola horiatoria ad Tumum, ut pacem faciat cum Aenea; consolatio
Creusae ad Aeneam conjugem; femer Bitt- und Dankschreiben an die
Kollatoren von Freistellen und Stipendien, Gedichte, meist religiösen
Inhalts: paraphrasis hymni Annae, matris Samuelis, ad spiritum sanc»
tum; historia evangelica de vita, miraculis et morte Salvatoris nostri;
aber auch eine Elegia in ohitum Melanchthonis , Epithalamia auf die
Hochzeit angesehener Männer etc. Den Lehrplan für Grimma, den
A. SiBER, Melanchthons Schüler, tö) \tm xai ratg Movaaig (ftXrccro^y
wie ihn sein Lehrer einmal nennt, entworfen hat, zeigt dieselben Grund-
züge. Drei Klassen werden in drei Lektorien von ihren drei Lehrern,
Rektor, Konrektor, Tertius, wozu als Quartus der Kantor kam, unter-
richtet. Lehraufgabe waren auch hier die drei artes sermocinales,
Melanchthons Kompendien in Sibees Überarbeitungen wurden dabei zu
Grunde gelegt. Cicero, Virgil, Horaz sind die Autoren, die dazu die
Exempel bieten. Theognes, Pythagoras goldene Sprüche, das 1. Buch
der Ilias, Plutarch über Erziehung bieten die griechische Lektüre. Das
Hauptstück ist auch hier die imitatio. Sammlungen von Wörtern und
Redensarten sind dabei zu Grunde zu legen, die gemma gemmaru?n
SiBEKS soll den Schülern Tag und Nacht nicht aus der Hand kommen.
Ampliatio und variatio, compoaitio und versificatio wird unablässig geübt.
An jedem Freitag waren die beiden Vormittagsstunden der Emendation
gewidmet, und an diesem Tag fanden keine weiteren Lektionen statt,
eine Stunde Emendation meint Sibek, bringe mehr Nutzen als drei
Stunden Exposition. Selbstverständlich gilt das Gebot der lateinischen
Rede innerhalb dieser Schulklöster; auch finden dramatische Auffüh-
rungen in lateinischer Sprache statt. — Außer den sprachlichen Studien
wird noch der Unterricht in der Glaubenslehre und in der Musik
ernstlich getrieben. Realien dagegen kommen nicht vor, außer den
Anfangsgründen der Arithmetik und der mathematischen Geographie
(Sphaerica), die durch die Lehrordnung von 1580 vorgeschrieben wird.
Mit der Inspektion der Fürstenschulen wurden Professoren der
philosophischen und der theologischen Fakultäten von Leipzig und
Wittenberg beauftragt: Melanchthon und Camerarius begegnen uns
als Inspektoren. In der Regel fand einmal im Jahr eine Revision
Kursächsische Schulordnung von 1580, 295
statt Zum letztenmal kam im Jahre 1700 eine akademische Prüfungs-
kommission; „der Kosten wegen" unterblieb von da ab die Sache. —
Die sächsischen Fürstenschulen nehmen unter den deutschen Ge-
lehrtenschulen eine hervorragende Stellung ein, nach ihrem Muster
sind in dem folgenden halben Jahrhundert durch das ganze protestan-
tische Deutschland ähnliche Anstalten entstanden. Sie haben mit den
beiden Landesuniversitäten wesentlich dazu beigetragen, dem kurfürst-
lichen Sachsen durch zwei Jahrhunderte die erste Stelle im gelehrten
Deutschland zu verschaflfen. Ich nenne unter ihren Schülern Pufbn-
DOBF (Grimma), Klopstock (Pforta), Lessing und GeiiLeet (Meißen);
Thomastus und Leibniz waren Leipziger Professorensöhne. Leipzig
war die erste Pflegestätte der im 18. Jahrhundert neu erwachenden
philologischen Studien; Christ, Gesner, Ernesti, Heyne, Reiske,
G. Hermann lernten und lehrten hier. Aus den Fürstenschulen, be-
sonders Pforta, gingen am Anfang dieses Jahrhunderts die Restaura-
toren des humanistischen Schulbetriebs hervor: Thiersch, Dissen,
DöDERLEiN, NrrzscH, Meineke, Bontez u. a.
Noch einige andere größere Schulen Sachsens mögen genannt
werden. Die Kreuzschule zu Dresden und die Nicolai- und die Thomas-
schule zu Leipzig wurden alsbald nach dem Tode des Herzogs Georg
in protestantische Schulen umgewandelt. In Chemnitz war A. Siber
der erste protestantische Rektor; sein Lehrplan für die Chemnitzer
Schule bildet die Grundlage für die später von ihm für Grimma ent-
worfene Lehrordnung. Zwickau gewann für seine Schule im Cister-
zienserkloster den Niederländer P. Plateanus. An den Schulen zu
Annaberg, Schneeberg, Marienberg, Freiberg wirkte in den
30er Jahren Jon. Rrvius. Im Kurkreis hatten Torgau und Witten-
berg ansehnliche Schulen; Torgau erhielt für seine Schule 1557 das
dortige Franziskanerkloster.
Eine zusammenfassende und definitive Regelung des kursächsischen
Landesschulwesens geschah durch die der Kirchenordnung von 1580
eingefügte Schulordnung; sie ist zwei Jahrhunderte, bis zum Erlaß der
neuen Schulordnung vom Jahre 1773, die gesetzliche Grundlage ge-
blieben. Der Form nach ist sie größtenteils aus der gleich zu er-
wähnenden württembergischen Kirchenordnung vom Jahre 1559 wört-
lich übernommeQ, was aber natürlich nicht bedeutet, daß das wirkliche
Schulwesen Sachsens nach dem württembergischen Muster organisiert
worden sei: in Wirklichkeit ist jenes älter als dieses und älter auch als
die Schulordnung, welche nicht Nichtseiendes ins Leben rief, sondern
wesentlich längst Vorhandenes beschrieb. Nach dieser Ordnung also
war in jeder Stadt eine Lateinschule, welche zugleich allgemeine
296 11, 5, Die Neuhegründwng d, GeleJirtenschulweseiis in den prot, Gebieten,
Bürgerschule und elementare Grelehrtenschule war. In einigen größeren
Städten wurde der gelehrte Unterricht so weit ausgedehnt, daß er einen
ausreichenden Vorbereitungskursus für die Universitätsstudien bildete.
Die Fürstenschulen waren ausschließlich für den gelehrten Unterricht
bestimmt; ihnen fehlte die Unterstufe des Unterrichts.
Der vollständige gelehrte Vorbereitungskursus wird von der Schul-
ordnung in fünf Stufen zerlegt, welchen in der Regel fünf Abteilungen
oder Klassen der Schülerschaft entsprachen, doch hinderte natürlich
nichts, die Klassenzahl nach der Größe der Schülerzahl zu vermehren
oder zu vermindern. In den kleinen Lateinschulen fand außer der
untersten Stufe, welche wesentlich lesen und schreiben lehrte, nur etwa
noch der Unterricht der zweiten und dritten Stufe statt, welcher die
lateinische Grammatik umfaßte. Die beiden Oberstufen fügen die Ele-
mente der griechischen Grammatik hinzu, welche an einigen kleinen
Proben griechischer Prosa und Poesie eingeübt wird; femer geben sie
einen Elementarkursus in der Dialektik und den mathematischen Dis-
ziplinen. Die Substanz des Unterrichts bleibt auch hier die lateinische
Sprache, das Ziel ist die Fertigkeit, Latein in Prosa und Versen zu
schreiben. Gesang- und Religionsunterricht begleitet den Schüler durch
den ganzen Kursus. —
G. Müller hat aus den Visitationsakten ein lehrreiches Bild des
kursächsischen Schulwesens, wie es zur Zeit des Erlasses der Schul-
ordnung von 1580 bestand, entworfen. Hiemach hatten 39 Städte eine
Schule mit 1 Lehrer, 32 eine Schule mit 2 Lehrem, 14 mit 3, 10
mit 4, 3 (Chemnitz, Neustadt a. d. Orla, Sangerhausen) mit 5, 4 (Anna-
berg, Dresden, Freiberg, Zwickau) mit 6, 1 (Leipzig) mit 7 Lehrern.
Als Lehrertitel kehren, mit allerlei Variationen, wieder: Rektor, Supremus,
Kantor, Tertius, Quartus, Infimus oder Baccalaureus, Hypodidascalus,
Auditor. Wo nur ein Lehrer ist, ist dieser in der Regel zugleich Kantor,
Organist, Stadtschreiber und Küster, treibt wohl auch ein Handwerk
daneben; wo zwei Lehrer sind, hangen dem unteren die niederen
Dienste an. An den ganz kleinen Schulen werden bloß Katechismus
und Lesen und Schreiben gelehrt; an den größeren treten die Elemente
des Lateinischen hinzu. Universitätsbildung ist nur bei den Lehrern
der größeren und großen Schulen vorauszusetzen; sonst hatten sie meist
eine größere Lateinschule, manchmal auch nur eine kleine Stadtschule
besucht. Der Wechsel der Lehrer war im ganzen sehr rasch; viel-
fach ist die Amtsdauer nur 1, 2 Jahre; das ersehnte Ziel ist für
alle das Pfarramt.
Nach dem Vorgang Sachsens entstanden allmählich im ganzen prote-
stantischen Deutschland ähnliche Organisationen des Landesschulwesens.
Schulgründungen am Harx und in Thüringen, 297
Einige Nachweisungen für die wichtigeren Territorien mögen dem Leser
zur Vergegenwärtigung der Dinge dienen.
Am Harz und im Thüringischen folgten alsbald eine ganze
Reihe von Klosterschulen oder Schulklöstern, die in verkleinertem Maß-
stabe die sächsischen Fürstenschulen nachbilden. So wurde das Prä-
monstratenserkloster Ilfeld in der Grafechaft Stolberg in eine Schule
umgewandelt. Der letzte Abt hatte schon eine kleine Anzahl Knaben
gehalten und Michael Neander (1525 — 1595), einen Schüler Melanch-
THONS, zum Lehrer gewonnen; 1550 — 1590 stand dieser als Rektor
und einziger Lehrer dem coetus von 30 Schülern vor; erst in den letzten
Jahren erhielt er einen Konrektor. Unter harten Kämpfen mit dem
großen und kleinen Adel, der nach den Klostergütem die räuberischen
Hände ausstreckte, unter Mühsal und Ungemach aller Art, gelang es
dem trefiflichen Manne doch, die Anstalt nicht nur zu erhalten, sondern
zu einer wichtigen Pflanzschule der Humanitätsstudien in Mitteldeutsch-
land zu machen. Man kann nicht ohne Rührung den von ihm selbst
gegen Ende seines Lebens geschriebenen Bericht über seine Kämpfe
lesen, den Bouterwek im Ilfelder Progr. von 1873 veröffentlicht hat
Zugleich war Neandeb ein sehr fruchtbarer Schriftsteller.^ Um dieselbe
Zeit wurde auch das Cisterzienserkloster Michaelstein in der Graf-
schaft Blankenburg zu einer protestantischen Schule umgewandelt.
Etwas später folgten die Benediktinerabtei Ilsenburg und das Cister-
zienserkloster Walkenried (1557), sowie das Benediktinerkloster Berge
bei Magdeburg (1565). Ilfeld hat die Stürme der Zeit allein über-
dauert. Erhalten sind auch die beiden in säkularisierten Nonnen-
klöstern errichteten Nachbarschulen Roßleben und Donndorf, jene
1554, diese 1561 eröffnet.^
Die Reichsstädte Nordhausen und Goslar, die bischöflichen Städte
Magdeburg, Halberstadt, Aschersleben hatten alle schon 1524
oder bald nachher größere protestantische Schulen begründet, meist
durch Zusammenlegung älterer Pfarrschulen in verlassene Klöster. In
Naumburg wurde 1538 die Domschule reformiert; in Quedlinburg
und in Zeitz wurden 1540 und 1542 in den Franziskanerklöstem
neue Schulen errichtet und mit Klostergütem dotiert Der Rat der
Reichsstadt Mühlhausen errichtete 1543 im Franziskanerkloster ein
^vW. Havemann, Mitteilungen aus dem Leben M. Neanders, 1841. Das
Verzeichnis der von ihm aufgenommenen Schüler im Ilfelder Programm 1886.
^ Wiese, Hist. stat. Darstellung, II, 427. Über Walkenried und Michael-
stein VoLCKMAR, Gesch. der BLlostersch. zu Walkenried. Progr. v. Ilfeld 1857.
Die in der folgenden Übersicht gegebenen Daten sind, soweit nicht eine andere
Quelle genannt ist, aus dem großen WiESESchen Werk entnommen.
298 II, 5, Die Neuhegnindwig d. Oelefirtenschultcesens in den proi. Gebieten,
Lyoeum. Die Grafen von Mansfeld erweiterten 1546 ihre Schule zu
Eisleben durch Zusammenlegung mit anderen und stifteten dabei ein
Alumnat In Blankenburg wurde 1538 im Cisterzienserkloster eine
Schule errichtet. In Wernigerode wurde durch Privatstiftung 1550
ein Lyceum begmndet Halle legte 1564 seine drei Pfarrschulen zu-
sammen und brachte die neue Schule im Franziskanerkloster unter.
In Erfurt wurde 1561 im Augustinerkloster und aus dessen Gütern
ein Pädagogium errichtet, das die Oberstufe zu dem Kursus der Pfarr-
schulen bieten sollte. Merseburg erhielt 1574 ein mit Klostergütern
ausgestattetes und mit einem Alumnat verbundenes GymnasiuuL Die
Grafschaft Henneberg hatte seit 1545 im Minoritenkloster inSchleusingen
eine Schule, sie wurde 1577 zur Landesschule erweitert und mit einem
Alunmat für 30 Knaben verbunden. Für das Fürstentum Anhalt vnirde
1582 eine Landesschule zu Zerbst begründet, durch Zusammenlegung
zweier älterer Schulen, von denen die eine 1525 im Johanniskloster
unter dem humanistischen Rektor Stephan Roth errichtet worden war
(SiNTBNis, Progr. 1853). Für die reußischen Besitztümer wurde zu
Gera 1608 ein Gymnasium errichtet.
In den thüringischen Herzogtümern, welche der emestini-
schen Linie geblieben waren, bestanden größere Schulen in Altenburg,
Weimar, Gotha, Eisenach, Koburg. Besonders Jon. Casimib
(1575 — 1633), der selbst in Leipzig eine gelehrte Bildung empfangen
hatte, ließ sich die Förderung des Schulwesens angelegen sein. Die
Gothaer Schule, welche 1524 im dortigen Augustinerkloster von
Fb. Myconius eingerichtet, 1544 mit einem Konvikt ausgestattet war,
erweiterte er zu einem sechsklassigeij Gymnasium (Schulze, 63 ff.). In
Koburg gründete er 1605 eine Landesschule, „gleichsam ein medium
oder Mittel zwischen anderen gemeinen Trivial- und hohen Schulen",
welche seinen Theologen die Universität ersetzen sollte. Ein Konvikto-
rium für 24 Landeskinder wurde eingerichtet. Der Unterricht sollte
alle Fakultatswissenschaften umfassen. In der Theologie wird vor-
geschrieben compendium locorum Hutteri, wobei auch die controversiae
expliziert und der adversariorum sophismata. quae Auditores et novisse
et solvisse fas est, logice et theologice aufgelöst werden sollen. Huic
lectioni ancilletiir enarratio alicujus epistolae Paulinae, In der Juris-
prudenz sollen die Institutionen vorgetragen, besonders auch doctrina
de gradibus behandelt werden, als welche für das Verständnis des Titels
de nuptiis unentbehrlich sei. Unter der Überschrift Medizin wird
Mklanchthons Büchlein de anima vorgeschrieben, das eben außer der
Psychologie auch das Notwendigste aus der Anatomie und Physio-
logie enthält; außerdem Botanik. In der Philosophie sollen Physik
Die hessischen Schulen. 299
ex fontibus Ärütotelicis Graecis, die Anfangsgründe der Geometrie und
Astronomie, Metaphysik, Ethik, Politik, Ökonomik, sepositis diffusis
commentariis, vorgetragen werden. In disciplinis instrumentariis
Dialektik, Rhetorik, Poetik, mit Beispielen und Imitationsübung. Ge-
schichte und Geographie, wesentlich nach Sleidanus' de quattuor
Monarchiis. Hebräisch aus der Grammatik und der Bibel, Griechisch
aus dem N. T. und Nonnus, Latein aus Cicero und Virgil. Wöchent-
lich finden Disputationen und Deklamationen statt, letztere in Prosa
und in Versen, Hebräisch, Griechisch, Lateinisch. Unter den all-
gemeinen Vorschriften kommt auch die vor, daß die Schüler auch im
Vortrag in der Muttersprache geübt werden sollen, nach dem Vorgang
benachbarter Völker, welche gebildeter (politiares) sind und die heimische
Sprache pflegen (Vobmbaum, II, IS.). Der Einfluß einer neuen Zeit
wird hierin sichtbar.
Der Graf von Schwarzburg errichtete 1539 im Franziskaner-
kloster zu Arnstadt ein Pädagogium, mit dem später (1589) die latei-
nische Stadtschule vereinigt wurde (Keoschel, Progr. 1890/91).
Im Hessischen wurde gleichzeitig mit dem Pädagogium, das als
Landesschule mit der Universität in Marburg verbunden war, das
Cyriakskloster zu Eschwege in eine Schule umgewandelt (1527). Auf
Betreiben des Landgrafen wurde 1539 in Kassel durch Zusammen-
legung der drei alten Lateinschulen eine große Stadtschule eingerichtet;
ihr erster Rektor war A. Nigidius, vorher und wieder nachher Rektor
des Marburger Pädagogiums. Die Bürgerschaft war übrigens mit der
Änderung nicht eben sehr zuMeden, sie beschwerte sich über die hohen
Lektionen (Webee, Kasseler Gelehrtenschule, S. 20flf.). 1570 gründete
der Abt von Hersfeld ein Pädagogium mit Alumnat für 20 Knaben.
Die Benediktinerabtei Schlüchtern war schon früher in eine Kloster-
schule verwandelt worden. Für die Grafschaft Hanau wurde 1607
eine Landesschule zu Hanau mit vier Klassen und vier Professuren für
die Fakultätswissenschaften errichtet. Die Teilung der hessischen Länder
führte im Jahre 1605 die Begründung eines Pädagogiums zu Gießen
durch die darmstädtische Linie herbei, mit der Bestimmung, eine Pflanz-
stätte des reinen Luthertums gegenüber dem calvinisch gewordenen
Marburg zu sein. Schon nach zwei Jahren erhielt das Pädagogium die
Universitätsprivilegien (Tholuck, II, 34 ff.). 1629 wurde zu Darm-
stadt ein Pädagogium, und 1610 zu Stadthagen aus den Einkünften
des Cisterzienserklosters zu Rinteln für die Grafschaft Schaumburg
ein akademisches Gymnasium begründet, welches letztere aber 1621
nach Rinteln verlegt und zur Universität erhoben wurde (Tholuck,
II, 95). — Eine Landesschulordnung für Hessen-Kassel erließ Landgraf
300 II, 5. Die Neubegründung d, Gelehrtensohulwesens in den proi. Gebieiefi*
Moritz im Jahre 1618 (Vobmbaum, II, 177). Sie trägt schon die
Spuren einer neuen Zeit, insofern sie pädagogische Grundsätze des
Ratichius in ihrer Didaktik verwertet. Im Jahre 1656 wurde sie er-
neuert und verbessert herausgegeben. Eine im Jahre 1655 abgehaltene
Visitation zeigt den statistischen Bestand, er wird auch für das 16. Jahr-
hundert im ganzen gelten. Es gab im ganzen Niederhessen 30 Latein-
schulen. Darunter waren fünf größere (Kassel, Eschwege, Hersfeld^
Ziegenhain, Hofgeismar) mit fünf und mehr Lateinklassen, und mit drei
oder vier Lehrern, eine (Kassel) hat sieben Lehrer. Von den übrigen
hatten zwei je drei Lehrer, elf je zwei Lehrer, zwölf nur einen. Grie-
chisch wurde, so viel ersichtlich ist, gar nicht gelehrt an neun, die
ersten Elemente an sechzehn, in etwas weiterem Umfang an den fünf
großen Schulen.^
Ein Landesgymnasium für die Grafschaft Waldeck wurde 1579 zu
Korbach im Franziskanerkloster gegründet und mit Klostergütem dotiert
Im Nassauischen wurde 1540 zu Weilburg aus Stiftsgütern
eine Landesschule errichtet 1543 folgte W^iesbaden. 1596 wurde
in Idstein mit den Gütern von zwei säkularisierten Klöstern ein Pä-
dagogium fundiert Ein akademisches Gymnasium reformierter Kon-
fession wurde in Herborn 1584 begründet; es wurden Fakultätsvor-
lesungen von acht Professoren gehalten (Tholück, II, 303).. — In
Saar brück gründeten die nassauischen Grafen um 1580 eine Schule,
die 1604 erweitert, mit Stiftsgütem dotiert und zur Landesschule für
die Grafschaft Saarbrück erhoben wurde. Die Grafen von Ysenburg
errichteten eine Landesschule zu Büdingen 1601.
Die Reichsstadt Frankfurt berief, nachdem sie nach langem
Zögern dem Schmalkaldischen Bunde beigetreten war, 1537 denMiCYL-
Lüs zum zweitenmal als Rektor; 1542 wurde die Schule in das Fran-
ziskanerkloster verlegt Des Micyllus Plan eines fünfklassigen Gym-
nasiums scheint erst nach und nach verwirklicht worden zu sein
(Glassen, Micyllus, C. 9). Wetzlar errichtete 1555 im Franziskaner-
kloster eine große Schule. Worms hatte schon seit 1527 eine prote-
stantische Schule, Spei er errichtete 1538 ein Gymnasium, welches
gegen Ende des Jahrhunderts zu einem akademischen sich erweiterte
(Uavaria, IV, 2, 515).
In Süddeutschland waren die Reichsstädte in der Begrün-
dung evangelischer Gelehrtenschulen vorangegangen. Der Nürnber-
gischen Poetenschule von 1526 ist schon gedacht worden. An ihrer
* Heppe, Beiträge zur Gesch. u. Statistik des hess. Schul w. im 17. Jahrb.,
Kassel 1850.
Süddeutsche Städte und Territorieti. 301
Stelle wurde 1575 eine Landesschule für die Stadt und ihr ansehnliches
Gebiet zu Altdorf errichtet; Camebabius hatte seinen Rat dazu gegeben.
Die Schule hatte vier Klassen mit ebenso vielen Klassenlehrern und
fünf öffentliche Lektüren. Den Elementarunterricht setzte sie voraus,
er blieb den alten Nürnberger Pfarrschulen. 1578 erhielt die Anstalt
durch kaiserliches Privileg das Recht, Baccalarien und Magister der
Philosophie zu kreieren; 1622 wurde sie zur Universität erhoben, er-
hielt jedoch erst 1696 das Recht, die theologische Doktorwürde zu
verleihen. Das Gvmnasium aber wurde 1633, weil es neben der Uni-
versität nicht gedieh, wieder nach Nürnberg in das Egidienkloster
zurückverlegt (Will, Gesch. der Univ. Altdorf, 1795. Die Statuten bei
VOBMBAUM, I, 606 ff.).
Augsburg hatte 1531 im St. Annenkloster eine protestantische
Gelehrtenschule errichtet. Auch sie hatte mit der Ungunst der Zeiten
zu kämpfen. Seit 1557 war ihr Rektor der berühmte Gräcist Hiebon.
Wolf. Ein Lektionsplan W'olfs vom Jahre 1576 zählt neun Klassen,
an welche sich ein auditorium publicum anschloß. Im Jahre 1582
wurde aus Privatmitteln ein Konvikt für 32 Stipendiaten eingerichtet,
den Anstoß dazu gab die 1580 erfolgte Begründung eines Jesuiten-
gymnasiums (Bavaria, II, 2, 945 ff. Die wichtigsten Schulorganisations-
schriften Wolfs bei Vobmbaum, I, 467).
In Ulm wurde die dreisprachige humanistische Lehranstalt im
Jahre 1531 ins Franziskanerkloster verlegt; die Schulordnung aus
diesem Jahr bei Pfaff, 49 ff. Unter den fränkischen und schwäbischen
Städten hatten femer Rothenburg, Windsheim, Hall, Heilbronn,
Eßlingen, Isny, Kempten, Memmingen ansehnliche humanistisch-
protestantische Schulen, meist in Franziskanerklöstern, worüber man
genaueres bei Pfaff und in der Bavaria nachsehen mag. Bemerkens-
wert erscheint noch folgende Stiftung. Im Jahre 1534 traten die vier
Reichsstädte Konstanz, Lindau, Biberach und Isny einer von den
Brüdern Bufler begründeten Stipendienstiftung bei, jede gab 30 fl.
und ebensoviel die Brüder für jede Stadt Hierfür sollten beständig
zwei Knaben aus jeder Stadt bei der Lehre auf einer Schule erhalten
werden. Noch in demselben Jahre wurden die ersten Knaben auf
dem Rhein gen Straßburg gefertigt (Lendeb, Beiträge zur Gesch. der
Studien in Konstanz, S. 37).
Unter den süddeutschen Territorien, welche die Reformation durch-
führten, waren Württemberg, die fränkischen Fürstentümer und die
Kur- und Ober})falz die bedeutendsten.
In Württemberg kam die Begründung eines gelehrten Landes-
schulwesens durch die in der Kirchenordnung Herzog Christophs vom
302 II, 5. Die Neitbegründung d, Oelehrtenschulwesens in den prot, Gebieten.
Jahre 1559 enthaltene Schulordnung zum Abschluß.^ Auch hier
wurden die Klöster in Gelehrtenschulen umgewandelt Die Verwand-
lung geschah übrigens nicht plötzlich, sondern durch eine Reihe natür-
licher Übergangsstufen. Schon Herzog üliich hatte bei Einführung der
Reformation eine Elosterordnung erlassen: ,,des Gesangs und äußerlichen
Gebets sei bisher zu viel gewesen und der Geist damit gar überschüttet
worden"; daher ein christlicher und gelehrter Mann bestellt werden
solle, der diese Übungen reformiere. Das Singen soll auf dreimal tag-
lich zwei bis drei Psalmen, deutsch oder lateinisch, beschränkt werden,
dafür aber jedesmal eine Predigt oder Lektion aus der heil. Schrift,
vormittags aus dem A. T., nachmittags aus dem N. T., zwei Kapitel
aufs wenigste, und zwar der Reihe nach, sich anschließen. Um 12 Uhr
aber sollen die Jungen und welche Lust dazu haben in bonis litteris
und anderen freien Künsten unterrichtet werden. Außerdem sollen
alle arbeiten, was sie können, schreiben, Bücher binden, Körbe oder
Sessel flechten u. s. f., „damit der Teufel sie zu ärgern desto minder
vermag**. Eine neue Klosterordnung, von Jon. Brenz 1556 verfaßt,
ließ zwar die Klosterverfassung und -Verwaltung im wesentlichen be-
stehen, ordnete aber für jedes der dreizehn Mannsklöster, zwei Präzep-
toren, welche die Novizen, die übrigens nicht mehr mit Gelübden
beschwert werden sollten, in der doctrina Chrütiana und den guten
Künsten unterrichteten. — Vollendet wurde die Verwandlung in Schulen
durch die Kirchenordnung von 1559. Die Aufgabe der Klöster ist
nunmehr, junge Leute, die zum geistlichen Stand sich eignen, aufzu-
nehmen und zu unterrichten, bis jedesmal im Tübinger Stift Stellen
offen werden.
Das gesamte Landesschulwesen stellt sich nach dieser Ordnung in
folgender Weise dar. In jeder Stadt, jedem Flecken, soll eine Latein-
schule sein, nach Gelegenheit des Orts mit einem oder mehreren
Lehrern; gelehrt wird in jeder außer den elementaren Fertigkeiten
die lateinische Sprache. Zwischen den Lateinschulen und der Univer-
sität stehen das Pädai^'ogium zu Stuttgart und die Klosterschulen.
Jenes ist ein vollständiges Gymnasium, sein Kursus führt durch fünf
Stufen oder Klassen von den Anfingen bis zur Universität. Die
Klosterschulen setzen den Elementarunterricht der Lateinschule voraus;
* Die Schulordnung, eine der wichtigsten und am meisten nachgebildeten
des 16. Jahrhunderts, bei Vormbaum, I, 68 — 165. Über die Klosterschulen
Dorn in Siiimids Encyklopädie, TV, 71 ft'., auch Pfaff, Geschichte des gelehrten
Unten*, in Württemberg, S. 64t!'. Die Vorgeschichte der Klosterreform bei
Bäumlein im Progr. von Maulbronn lb59. Vgl. Hartmann u. Jäger, J. Brenz,
2 Bde. (1842), II, 21»9ft:
Die württembergischen Klosierschiden. 303
sie können natürlich nicht Kinder, sondern erst Knaben, etwa im Alter
von 12 — 15 Jahren, aufnehmen. Eine Prüfung vor der Stuttgarter
Kirchen- und Schulbehörde (das später sogenannte Landexamen) ent-
scheidet über die Aufnahme der Bewerber, Mittellosigkeit ist regelmäßig
Voraussetzung. Die Dauer des Aufenthalts ist nicht fest bestimmt,
ebenso wenig die Zahl der Novizen. Unterschieden werden niedere und
höhere Klosterschulen, erstere Grammatistenklöster genannt Die Zahl
der Klosterschulen wurde übrigens noch im Lauf des 16. Jahrhunderts
auf vier, zwei niedere und zwei höhere, herabgesetzt. Auf den Kursus
im Kloster folgt dann der philosophisch -theologische Kursus auf der
Landesuniversität und endlich die Verwendung im Kirchen- und Schul-
dienst. — Die Aufsicht über das ganze Schulwesen führten die Päda-
gogiarchen (Rektoren) zu Stuttgart und Tübingen.
Man sieht, die Organisation gleicht im ganzen durchaus der
sächsischen; wie hier die drei Fürstenschulen, so haben in Württem-
berg neben dem Stuttgarter Pädagogium die vier Klosterschulen (zu/
Adelberg, später zu Hirsau und seit 1715 zu Denkendorf, Blaubeuren,
Bebenhausen und Maulbronn) bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts
das Bedürfnis eines gelehrten Vorbereitungsunterrichts größtenteils be-
stritten. Schullehrer und Geistliche erhielten zum großen Teil in den
Klöstern, die übrigen gelehrten Berufe in dem Pädagogium ihre Schul-
bildung. Auch Lebensordnungen und Disziplin sind ähnlich, nur noch
etwas klösterlicher; vier tägliche Andachtsübungen werden vorgeschrieben
und die Lehrer zum Cölibat verpflichtet. Es hängt das damit zusammen,
daß nur solche aufgenommen wurden, welche Theologen zu werden
sich verpflichteten, während die Fürstenschulen auch künftige Juristen
und Mediziner nicht ausschlössen. Die Ursache dieser Verschiedenheit
ist übrigens wohl nicht so sehr in einer Verschiedenheit der Ansichten
zu suchen, als in dem Umstand, daß die Vergebung der Stellen in den
Fürstenschulen zum großen Teil dem Adel und den Städten hatte über-
lassen werden müssen.
Die wesentlichen Bestimmungen über den Unterricht sind oben
aus der kursächsischen Ordnung, welche sie aus der württembergischen
*
übernahm, mitgeteilt worden. Hier mögen noch ein paar statistische
Daten, welche Pfapf (68, 77) mitteilt, Platz finden. Im Jahre 1604
bestanden im Herzogtum Württemberg (mit 160 Quadratmeilen) außer
den Klosterschulen und den beiden Pädagogien in Stuttgart und Tübingen
47 lateinische Schulen mit 47 Präzeptoren und 28 Kollaboratoren. Um
1590 wurden in denselben ungefähr 2400 Schüler gezählt. Das Stutt-
garter Pädagogium hatte in sechs Klassen etwa 300 Schüler und sieben
Lehrer. In den Klosterschulen waren im Jahre 1570 219 Zöglinge,
304 II, 5. Die Neuhegründung d. Oelehrten^ckulwesens in den prot. Gebieten.
davon 82 in den oberen. Davon sollten, nach dem Landtagsabschied
von 1565, jährlich 50 in das Stipendium zu Tübingen befordert werden.
Wie stabil die Verhältnisse während der folgenden zwei Jahrhunderte
blieben, zeigt eine statistische Notiz bei Klaiber (S. 1 1 7), nach welcher
am Ende des 18. Jahrhunderts auf demselben Gebiet 55 lateinische
Schulen mit 99 Lehrern und 2080 Schülern gezählt wurden. Der Be-
stand der höheren Schulen war unverändert.
Kurpfalz errichtete, wie schon oben (S. 239) erwähnt ist, ein
Pädagogium zu Heidelberg, mit Alumnat für 40 Knaben; ein säku-
larisiertes Chorherrenstift bot die Mittel (Hautz, Neckarschule, S. 33 ff.;
die Ordnung bei Vormbaum, I. 178 ff.). — Durch einen jüngeren Bruder
des Kurfürsten wurde 1578 in Neustadt a. d. Haardt ein Pädagogium
begründet, zunächst in der Absicht, dem reformierten Bekenntnis, welches
durch den lutherisch gesinnten Kurfürsten in Heidelberg unterdrückt
wurde, eine Zuflucht zu eröffnen ; es funktionierte zuerst auch als Hoch-
schule, seitdem die Kurpfalz zum reformierten Bekenntnis zurückkehrte,
als Gymnasium (Hautz, Heidelberg, II, 112ff.). Für das Fürstentum
Zweibrücken wurde 1559 ein Gymnasium im Kloster Hornbach mit
KouTikt für 48 Stipendiaten, eröffnet; 1574 wurde es nach dem Muster
der Straßburger Anstalt erweitert (Bavaria, IV, 2, 514). Auch zu
Trarbach (1572) und Kreuznach wurden größere Schulen aus
Kirchengütern begründet (Wiese, 1, 391 ff.). In der Grafschaft Leiningen
wurde das Kloster Hönin gen zur Klosterschule für 30 Knaben um-
gestaltet.
In der Oberpfalz wurde 1555 zu Amberg im Franziskaner-
kloster ein Gymnasium errichtet, mit sieben Lehrern; die Zahl der
fürstlichen Stipendiaten wurde 1566 auf 50 gebracht (Rixner, Gesch.
der Studien- Anstalt zu Amberg, S. 3ft*.). Für Pfalz-Neuburg wurde die
Schule zu Lauingen im Jahre 1565 zu einem akademischen Gymnasium
erweitert: an die dreiklassige Lateinschule schloß sich das vierklassige
Gymnasium und endlich das auditorium publicum mit Vorlesungen aus
allen Fakultätswissenschaften. Der Straßburger Rektor Stürm hatte
den Plan entworfen (Vormbaum, I, 723 flF.). Zwei Klöster nahmen die
neuen Anstalten und das zugehörige Alumnat auf. Eine ähnliche, doch
weniger weitgehende Anstalt, mit einem Konvikt für 24 Knaben, be-
stand seit 1556 zu Neu bürg (Bavaria. II, 2. 955).
Den Abschluß der Organisation des kurptalzischen gelehrten Schul-
wesens bildet die Schulordnung von 1615, welche bis gegen Ende des
18. Jahrhunderts in Geltung blieb (Vormbaum, II, 135 — 177). Sie
enthält sehr sorgfaltig ausgearbeitete Schulpläne für die drei großen
Schulen der Rheinpfalz zu Heidelberg, Neustadt und Neuhausen (bei
Baden und Franken. 305
Worms, gestiftet 1565). In der achtklassigen Schule zu Heidelberg
wird Griechisch in den fünf obersten Klassen getrieben. Bemerkens-
wert ist, daß in der obersten Klasse hier schon neben Homer Nonnus,
neben Demosthenes Basilius als Lektüre genannt wird.
Die Markgrafschaft Baden, die schon 1536 eine evangelische
Schalordnung erlassen hatte (Vobmbaüm, I, 30 f.), errichtete 1586 zu
Dur lach eine Landesschule nach dem Lauinger Muster, mit sich an-
schließendem philosophisch-theologischem Kursus; sie ist später (1724)
nach Karlsruhe verlegt worden (Vieeobdt, Gesch. des Karlsr. Gymn.).
Eine ansehnliche Schule war auch zu PforzheinL
In den fränkischen Fürstentümern wurde eine protestantische
Schule zu Ansbach im St. Gumbrechtstift errichtet, 1529; sie hatte
bald sechs Klassen und lehrte Sprachen und Theologie; auch ein con--
tubemium pauperum für 10, bald 21 arme Knaben, auf Klostereinkünfte
fundiert, wurde damit verbunden. 1737 wurde sie zum Gymn. illustre
erhoben (Schilleb, Programme 1873, 1875, 1879). Zu Hof wurde
1543 ein Gymnasium im Franziskanerkloster eingerichtet und mit Sti-
pendien ausgestattet Auch zu Baireu th bestand eine größere Schule,
die später (1664) ebenfalls zu einem Gymn, illustre erhoben wurde
(Feies, Progr. 1863). Endlich ist noch die Klosterschule zu Heilsbronn
bemerkenswert.^ Schon in den 30er Jahren war hier vom Abt eine
kleine Schule eingerichtet worden. Nachdem das Kloster, das lange Zeit
zwischen der alten und der neuen Lehre lavierend seine Selbständigkeit
gegen die Begehrlichkeit der Markgrafen sich erhalten hatte, endlich
doch an Ansbach gefallen war, errichtete Georg Friedrich im Jahre
1582 darin eine Fürstenschule mit vier Lehrern und 100 Schülern.
Die letzteren sollen Landeskinder, bei der Aufnahme 12 — 16 Jahre alt
sein, ein gutes ingenium und einige Kenntnisse im Lateinischen besitzen.
Vor allem sollen Kinder armer Kirchen- und Schuldiener, sowie anderer
um die Herrschaft wohlverdienter Leute Aufnahme finden. Der Lektions-
plan zeigt die übliche Anlage. Die unterste Klasse soll der vierten
Klasse der Partikularschule zu Ansbach entsprechen; Grammatik, Rhe-
torik, Dialektik, mit Disputationen und Deklamationen, und die Elemente
des Griechischen, erfüllen den Kursus der drei unteren Klassen. In
der obersten soll mit dem Studium der Theologie und des Hebräischen
ein Anfang gemacht werden: Melanchthons loci und das examen
ordinandorum machen den Beschluß, „zur Vorbereitung auf das Schul-
halten und Predigen^^ Es sollen nämlich die Schüler am Ende des
* G. Muck, Gesch. des Klosters Heilsbrono. 3 Bde. 1879. Ein für die
Geschichte des 10. Jalirhundcrts in mancher Hinsicht lehrreiches Werk. Die
Scholgeschichtc im 3. Bd.
Paalsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 20
306 U, 5. Die Neubegründung d. GelehrtenachiUwesens in den prot. Oebieien,
Kursus vor die dazu verordneten examinatores beschieden werden, und
wofern sie also qualifiziert, auch des Alters befanden, zu erledigten
Kirchen- oder Schuldiensten gebraucht werden. Andere aber, die dazu
geschickt und tauglich sind, sollen die Examinatoren auf Universitäten
deputieren. Es werden hierfür 1000 fi. ausgesetzt, zu 20 Stipendien
von 50 fl., unter denen 10 auf das Studium in Jurisprudenz und
Medizin kommen mögen. Wittenberg ist die bevorzugte Universität
— Die Schule wurde 1631 durch den Krieg zerstreut, und erst 1655
wieder aufgerichtet, aber nur mit zwei Klassen und 48 Schülern. 1737
wurde sie aufgehoben, die Schüler wurden in Ansbach und Baireuth
untergebracht
Die benachbarten Grafen von Wertheim machten aus dem Cister-
zienserkloster Bronnbach ein Pädagogium ßir 20 Knaben (Wertheimer
Progr. 1876). —
Die Übersicht über die Entwicklung des protestantischen Gelehrten-
sohulwesens in Mittel- und Süddeutschland lasse ich Norddeutschland
folgen, vom Westen beginnend.
Von dem Erzbischof Hermann v. Wied wurde im Jahre 1543 eine
reformierte Kirchenordnung für das Erzstift Köln erlassen; das Schul-
wesen sollte seinen Abschluß in einem akademischen Gymnasium zu
Bonn finden. Wenngleich die Sache scheiterte, so hat doch der Ent-
wurf, an dessen Abfassung Melanchthon und Bucee beteiligt waren,
Interesse. Es sollen sieben Lektoren sein, darunter zwei Theologen,
ein Jurist, vier Artisten. Unter letzteren soll der dialecticus außer der
Dialektik auch Griechisch lehren und gelegentlich eine logische Schrift
des Aristoteles griechisch vorlegen; der rhetoricus soll die praecepta
rhetorica lehren und Quintilian und Cicero interpretieren, daneben die
Moral vortragen und hierzu officia Ciceronis und ethicorum Aristotelis
die ersten fünf Bücher griechisch erklären. Zu diesen kommen noch
ein grammaäcus und ein physicus (Vobmbaum, I, 408 flf.).
In den Jülich -cleveschen Ländern finden wir größere Gelehrten-
schulen zu Düsseldorf, 1545 von dem Herzog Wilhelm IV. als
Landesschule für das Herzogtum Berg begründet (1621, nach dem
Aussterben des Fürstenhauses, den Jesuiten übergeben), und zu Duis-
burg, 1559 als gymnasium linguarum et philosophiae von der Stadt
errichtet. Aus letzterem, welches übrigens von Anfang an auditores
puhlici von den Schülern unterschied, ging 1655 die reformierte Uni-
versität hervor. Über die Stellung der neuen Schule innerhalb des
gelehrten Unterrichtswesens überhaupt spricht sich die Einladungsschrift,
welche der Bat veröflfentlichte, so aus: In unserer Zeit giebt es drei
Stufen der Studien; die erste ist die Stufe der Grammatik, welche die
Die rheinischen und westfälischen Oebieie, 307
Grundlage der übrigen Wissenschaften bildet; die dritte Stufe umfaßt
die drei hohen Fakultäten, in welchen das Ziel aller Studien beschlossen
ist Dazwischen liegt eine mittlere Stufe, welche einerseits jene gramma-
tischen Studien zur Vollendung bringt, andererseits für die Fakultäts-
studien den Weg bereitet Wir haben für uns diese mittlere Stufe
gewählt, auf der wir teils durch genauere Kenntnis der Sprachen,
teils durch Behandlung der Teile der Philosophie, als Dialektik, Rhe-
torik, Topik, Analytik, Mathematik oder Geographie den Kursus voll-
enden werden (Köhnen, Gesch. d, D. Gymn. Progr. 1850, S. 8). In
Dortmund war schon 1543, vor Durchführung der Reformation, ein
Gymnasium errichtet worden, an dem ebenfalls Theologie, Jurisprudenz
und Philosophie, außer den Schulwissenschaften, gelehrt wurden. Es
wurde mit der Stadt 1562 protestantisch.^ Die große Schule zu Wesel,
1545 mit sieben Klassen eingerichtet, wurde 1613 zu einem akademi-
schen Gymnasium mit scholares classici und auditores publici erweitert
und ihr das Beguinenhaus mit anderen kirchlichen Einkünften über-
wiesen. Eine ansehnliche Stadtschule war auch zu Emmerich, wenn-
gleich die 2000 Schüler um 1550 wohl zum Teil durch die humani-
stische Beredsamkeit erzeugt sind. Endlich wurde 1571 zu Jülich
eine Gelehrtenschule gegründet (Kühl, Gesch. des früheren Gymn. zu
Jülich, 1891).
In der Reichsstadt Soest hatte der Rat 1534 eine gelehrte Schule
errichtet, für welche später der Name Archigymnasium üblich wurde.
Die Grafschaft Ravensberg besaß große Schulen zu Herford im
Augustinerkloster (seit 1540) und zu Bielefeld. Minden, Osnabrück
und Münster errichteten ebenfalls protestantische Schulen; Minden
1530 im Dominikanerkloster, Osnabrück 1543 und Münster 1533 in
Franziskanerklöstem. Die letzteren beiden gingen jedoch bald wieder
ein; doch wurde zu Osnabrück 1595 wieder ein protestantisches Rats-
gymnasium eröffnet. Im Lippeschen wurde ein städtisches Gymnasium
zu Lemgo 1583, eine Landesschule zu Detmold 1602, zu Bücke-
burg 1614 errichtet.
Akademische Gymnasien nach dem Straßburger Zuschnitt für das
reformierte Bekenntnis entstanden gegen Ende des Jahrhunderts noch
zu Mors 1582 für die gleichnamige Grafschaft, zu Burgsteinfurt
1588 für die Grafschaften Bentheim-Tecklenburg und zu Bremen 1584.
Hier wurde die 1528 im Katharinenkloster eingerichtete Schule, der
EuBicius CoRDUs, nachdem er im Unfrieden von Marburg geschieden
* DöRiNQ, J. Lambach und das Gymnaa. zu Dortmund 1543—1582 (1875);
die Schrift enthält auch über die benachbarten Schulen manche Nachrichten.
20*
308 11, 5. Dk Neuhegründuiig d. OelehrtenschiUwesens in den proL Qdneten.
war, kurze Zeit bis zu seinem Tode (1535) vorgestanden hatte, so ver-
größert, daß sie einer kleinen Universität nicht nachstand (Ritz, Gesch.
des Bremer Schulw. 1881). In Verden wurde 1578 die Domschule
als protestantische Schule mit vier Klassen eingerichtet; die Schule im
Augustinerkloster zu Stade war schon länger umgewandelt. Die Graf-
schaft Oldenburg erhielt 1573 eine Kirchen- und Schulordnung und
zu Oldenburg eine größere Schule (Meinardus' Festschr. 1878). In
der Grafschaft Ostfriesland bestanden größere Schulen zu Emden
und Norden, letztere 1567 von den Grafen begründet und 1631 als
paedcLgogium illustre konstituiert (Babucke, Gesch. der Ulrichsschule zu
Norden, 1877).
Im braunschweig-wolfenbüttelschen Lande unternahm Herzog
Julius bei der zweiten Reformation des Gebiets zugleich die Organisation
eines Landesschulwesens nach dem Muster seines Vetters Christoph von
Württemberg. Seine Kirchen- und Schulordnung vom Jahre 1569 ist
der württembergischen nachgebildet. Sechs Klöster (Marienthal, Ame-
lungsbom, Ringelheim, Riddagshausen, Riechenberg und Grauhof bei
Goslar) wurden zu Grammatistenschulen eingerichtet und im Franzis-
kanerkloster zu Gandersheim ein Pädagogium begründet. Letzteres
wurde 1571 eröffnet, aber bald nach Helmstedt verlegt, wo es sich
zur Universität erweiterte. — Große Schulen bestanden außerdem in
Braunschweig und Wolfenbüttel. ^
In Göttingen hatte der Rat 1542 im Dominikanerkloster ein
Pädagogium errichtet, das mit Kalandsgütern ausgestattet wurde. In-
dessen ging es bald unter dem Einfluß theologischer Streitigkeiten zu
Grunde und wurde erst 1586 neu eröfl&iet, unter Henr. Petkeus,
einem Schüler Neanders. Nach dem Straßburger Muster wurde auf
die Lateinschule das Pädagogium mit drei Klassen aufgebaut; es wurden
darin, außer den drei Sprachen imd den philosophischen Wissenschaften,
auch theologische und juristische Vorlesungen gehalten, nicht minder
finden Deklamationen, Disputationen und dramatische Aufführungen
statt. Das Ziel der Ausbildung wird von dem Pädagogiarchen Petbeus
so bezeichnet: öivafxiq ioixtjvtvxtxi) i, e, sermonis emendati, probabilis
omati facultas, Gvvtaiq (pvaix/j Ttohzixtj xai &eoXoyixtjj i. e. rerum
physicarum ethicarumque et divinarum cognitio, cum religiosa piefate
vitaeque honestate ronjuncta (Pannenborg, Progr. 1886). In den beiden
anderen weifischen Herzogtümern hatten Hannover und Lüneburg
große Schulen ; sie waren von Urbanus Rhegiüs, welchen Herzog Ernst
^ Über die Entwickelung des Schulwesens im Braunschweigischen giebt
jetzt KoLDEWEY, Br. Schulordnungen (Mon. Paed. I u. VIll) eingehendste Be-
lehrung.
Hannover, Schleswig-Holstein. 309
vom Augsburger Reichstag als Hofprediger mitgebracht hatte, mit Schul-
ordnungen versehen worden (die hannoversche von 1536 bei Vobmbaum,
I, 32, die lüneburgische im Programm des dortigen Johanneums, 1881).
Beide Schulen hatten um 1577 sieben Lehrer.
Für die Herzogtümer Schleswig und Holstein hatte schon die
BüGENHAGENsche Kircheu- und Schulordnung vom Jahre 1542 eine
Landesschule zu Schleswig in Aussicht genommen; sie sollte die
Oberstufe zu dem Kursus der kleinen Lateinschulen bieten. Die Güter
des Domstifts sollten in der Art für ihre Unterhaltung verwendet
werden, daß die drei ersten Lehrer, zwei magistrt artium und ein ge-
lehrter musicusy Domherren sein sollten. Mit noch vier Unterlehrern
(paedagogi) sollten dieselben in fünf Abteilungen (und drei Lektorien)
einen Unterricht, wie in der Hamburger und Lübecker Schule, erteilen.
Die Sache blieb aber vorläufig größtenteils auf dem Papier, Im Jahre
1566 wurde ein neuer Anlauf genommen. Herzog Adolf gründete
neben der Domschule ein paedagogium publicum, welches den Besuch
auswärtiger Universitäten zu ersetzen bestimmt war. Nach dem Lek-
tionsverzeichnis von 1566 lasen elf Lehrer 15 Vorlesungen über alle
Fakultätswissenschaften, besonders über die philosophischen und theo«»
logischen Disziplinen. Aber auch diese Anstalt konnte nicht zu Kräften
kommen und ging in den 80 er Jahren wieder ein (Sach, Schleswiger
Progr. 1873). Im Jahre 1566 wurde auch zu Flensburg durch
Privatstiftung eines ehemaligen Franziskaners, Lütje Nommen, ein
ggmnasium trilingue fundiert: 3 Lektoren sollten in dem von ihm er-
bauten Kollegium mit je 100 fl. Einkonmien unterhalten werden und
jeder wöchentlich zwei Stunden, der eine hebräische Grammatik und
A. T., der zweite griechische Grammatik und N. T., der dritte Theo-
logie, nach der Auslegung der Lehrer der allgemeinen christlichen
Kirche, öffentlich lesen. Es scheint aber hierzu nicht gekommen zu
sein, die Stadt bemächtigte sich der Stiftung und der Einkünfte noch
bei Lebzeiten des Fundators und unterhielt davon die Lateinschule,
nicht zu seiner Freude. Der sechste Rektor, P. Speiiling, ein Schüler
Stuems in Straßburg, organisierte seit 1586 die Schule, die bald durch
eine neue Privatstiftung bedeutende Mittel erlangte,, nach dem Straß-
burger Vorbild, mit sechs Klassen, in welcher Gestalt sie bis ins
19. Jahrhundert bestanden hat.^ Ebenfalls im Jahre 1566 wurde das
Kloster Bordesholm zum Pädagogium eingerichtet, für zwölf arme
Freischüler und 16 Alumnen; nach Beendigung des Kursus sollten
dieselben nach Gutbefinden drei Jahre auf der Universität zu Rostock
* 0. M. Brasch, Fiensborg Latinskole Historie.
810 Uf 5, Die Neubegründung d. Oelehrtenscktäwesens in denproL Qebieten,
nnterhalten werden. Die Schule bestand bis zur Gründung der Kieler
Universität (1665), wozu auch ihre Guter verwendet wurden (Jessen,
S. 136 ff.). Protestantische Gelehrtenschulen waren schon früher zu
Husum (1527) und zu Meldorf (1540) als Landesschulen für Nord-
firiesland und Ditmarschen gegründet. Ältere größere Schulen bestanden
zu Kiel, Eutin, Hadersleben.
Die mecklenburgischen Lander erhielten 1552 eine von Aubi-
FABEB verfaßte und von Melanchthon begutachtete Kirchen- und
Schulordnung (Vobmbaum, I, 59 ff.). Sie betont, „daß nicht allein
Kinderschulen, darin man die lateinische Grammatik und den Kate-
chismus lernt, nötig sind; sondern man muß auch die Sprachen,
ebräische und griechische erhalten, item für die Erwachsenen der Pro-
pheten und Apostel Schrift auslegen, item Historica und Mathematica
zum Kalender wissen." Für diese Zwecke begründete Herzog Johann
Albrecht, ein großer Gönner der schönen Wissenschaften, der mit den
namhaftesten Humanisten Deutschlands lateinische Briefe wechselte,
'80 daß Schwerin ein zweites Florenz genannt wurde, zu Schwerin im
Jahre 1553 eine Fürstenschule und berief für sie den Dabebcusius
aus Meißen (Wex, Progr. Schwerin 1853). Femer gelang es ihm
in Güstrow und Parchim durch Vereinigung der älteren Schulen
und Ausstattung mit Kirchengütern größere Schulen zu Stande zu
bringen. Wismar hatte 1541 im Franziskanerkloster die alten Pfarr-
schulen vereinigt, Rostock schon 1534, doch fand die definitive Kon-
stituierung der großen Stadtschule erst 1580 statt. Eine größere Stadt-
schule bestand auch zu Neubrandenburg (Schulordnung von 1553
bei Vobmbaum, I, 431 ff.). ^
In Pommern drang die Reformation seit dem Tode Herzog Georgs L
1531 durch. 1535 kam die von Bugenhagen verfaßte Kirchenordnung
zur Annahme. Zu Stettin^ wurden zwei große Schulen errichtet: die alte
Ratsschule wurde 1540 in dem verlassenen Karmeliterkloster unter-
gebracht, die fünf Klassen erhielten in der Kirche durch niedrige Holz-
verschläge getrennte Plätze. An Stelle der alten Domschule wurde
1543 eine Landesschule gegründet und mit Einkünften aus den beiden
Stiften versehen. Zu zwei älteren Stiftungen für je 24 arme Knaben,
die zur Schule und zum Kirchendienst gehalten worden waren, kam ein
neues Pädagogium, worin 24 Knaben vom 12. Lebensjahre ab, die schon
* Hartwig in Schmids Encyklopädie, IV, 884 ff. Einige Mitteilungen über
den Schulbetrieb der mecklenb. Lateinschulen in diesem Zeitalter im Progr. der
Realschule zu Ludwigslust 1884 von Kische.
* Lemcke, Gresch. der Ratsschule, Progr. d. Stadtgymn. 1893. Wehrmann,
Gesch. des Marienstiftsgymn. Festschrift 1894. Hasselbach, Progr. 1844.
Mecklenburg, Pommern, die Marken, 311
die Elemente des Lateinischen mitbringen, Aufnahme finden, dazu
zahlende Pensionäre. Die Schule wird dazu auch von Stadtschülem
besucht. Die Gesamtzahl blieb doch im 16. Jahrhundert unter 100.
Die Bestimmung der Anstalt wird in den revidierten Statuten von
1565 so ausgesprochen: das Pädagogium sei nicht eine gemeine Schule
für Elementarschüler (Abecedarii, Sj/Uabarü, JDonatistae), sondern dazu
bestimmt, „daß in ihm die Grundlage der freien Künste und der
Theologie gelegt werde, damit die Ton hier abgehende Jugend den
Studienkursus auf Universitäten desto rascher absolvieren und sich
gleich zu einer bestimmten Fakultät wenden könne, Ärmere aber, die
den Aufwand für das üniversitätsstudium nicht tragen können, gleich
von hieraus den gemeinen Schulen und Dorfkirohen vorgesetzt werden
können, wie auch bisher geschehen ist Denn die meisten Schulen und
Kirchen in diesen Gegenden werden von unseren Schülern versehen."
Gelehrt wurden außer den Sprachen die philosophischen und theo-
logischen Wissenschaften, auch Instituäones juris werden erwähnt, und
im 17. Jahrhundert kamen medizinische Vorlesungen hinzu. — In
Stralsund legte man 1560 die drei Pfarrschulen in eine große sieben-
klassige Schule im Dominikanerkloster zusammen.^ Greifswald folgte
1561 mit der gleichen Maßregel, die drei Trivialschulen wurden im
Franziskanerkloster zur Kats- oder Klosterschule vereinigt. Hinter-
pommem hatte größere Schulen zu Kolberg, wo die alte Domschule
nach der Reformation mit Gütern des Stifts neu ausgestattet worden
war, und zu Stargard, wo man die beiden alten Pfarrschulen im
Augustinerkloster vereinigte. Durch eine Stiftung des Bürgermeisters
Gröning wurde 1633 an die Schule ein Collegium academicum an-
geschlossen, das bis in den Anfang dieses Jahrhunderts bestand. End-
lich ist das von der Witwe des letzten Herzogs zu Neustettin. 1640
gegründete Hedwigsgymnasium zu erwähnen. — Eine allgemeine Landes-
schulordnung wurde 1563 gegeben.^
In den Marken wurden seit Einführung der Reformation (1539)
auch die Schulen reformiert. Berlin legte 1540 die beiden Rats-
schulen (Nicolai- und Marien-) zu einer größeren Schule zusammen,
die 1574 im Grauen (Franziskaner-) Kloster in bedeutend erweiterter
Gestalt als Landesgymnasium konstituiert wurde, mit sieben (thatsäch-
lich fünf) Klassen, und mit theologischen und juristischen Vorlesungen
für die Schüler der ersten Klasse, „die da anfangen zu sein artium^
* E. H. Zober, Urkundliche Gesch. des Stralsunder Gymnasiums (1838/60).
' VoRMBAUM, I, 165. Manche Mitteilungen auch in v. Bülows Beiträgen
zur Geschichte des ponimcrschen Schulwesens im 16. Jahrhundert. Baltische
Studien, 1880.
312 //, 5. Die Neubegründung d. GelekrtenscJiulwesens in denproi, Gebieten.
philosophiae, linguarum, doctrinae ecclesiae Studiosi oder denen gebühret
zn wissen alles das, was die wohl instituierten Gesellen wissen, ehe sie
auf eine Universität mit Nutz und Aufnahme geschickt werden**. Auch
fehlt nicht ein Alumnat {Heidemann, Gesch. des Grauen Klosters).
Daneben bestand die Colinische Stadtschule. Größere Schulen waren
noch zu Brandenburg, wo die altstadtische Schule, seit 1589 als
Saldria (nach einer Frau v. Saldem genannt, die ihr eine Stiftung zu-
wendete), zu einer bedeutenderen Stellung gelangte;^ ferner zu Spandau,
Stendal, Prenzlau, Neu-Ruppin, Frankfurt a. 0. Im Jahre 1607
kam die zu Joachimsthal in der Priegnitz ToUig neu begründete und
im großen Stil ausgestattete brandenburgische Fürstenschule hinzu.
120 einheimische arme Knaben, darunter 10 vom Adel, 10 Kinder
armer Hofdiener und 20 Kinder unvermögender Pfarrer, sollen, nach-
dem sie in einem Examen ihre Fähigkeit und Kenntnisse nachgewiesen,
auf vier bis fünf Jahre aufgenommen und sodann auf die Universität
befordert werden. Bei der Aufnahme sollen sie zwölf bis dreizehn
Jahr alt sein und die imtia grammatices ziemlich inne haben. Der
Lektionsplan für die oberste der drei Klassen hat folgende Gestalt
(VOBMBAÜM, I, 75):
7.
12.
1.
2.
dieb. Lun, ei Mariis. d. Merc. et Subbathi. d. Joris et Veneria.
Sacra a pastore.
8. Dialectica Philippi a
I reeiore,
9. Linacer a Conreciore.
Mus^ica practica a Can-
tore.
Oratio aliqua Ciceronis
a Conr,
d. lAin, Chronica Phi-
lippi; d. Mart. Ethi-
ca Philippi a Beet
Ilebr, Gramm. Schind-
leri a Conrectore,
Vergilius a Rectore.
Exercitia styli a Rec-
tore; sed d, Sabb. \
Sphaerica a Mathe-
matico.
Sacra in templo vel
schola a pastore.
Rhetorica Philippi et
Thalaei a Rectore.
Graeca Gramm. Crusii
a Conrect. d, Vefi.
Hesiodus a Conrect.
Arithmetiea a Mathern.
Physica Velcurionis a
Conrectore.
Orat. alif/ua Deniosthe-
nis a Rect.
Früher als in den Marken hatte in Schlesien, wie der Huma-
nismus, so auch die Reformation Eingang gefunden. Schon im Jahre
1528 gab der Breslauer Rat für die Schulen zu St. Elisabeth und
^ TscHiBCH, Beiträge zur Geschichte der Saldria, 1889.
Schlesien, Breslauer Schulordnung von 1570, 313
zu St. M. Magdalena eine Schulordnung. Daß Griechisch in denselben
getrieben wurde, geht aus dem Druck einer griechischen Schulgrammatik
(von JoH. Metzler) zu Breslau 1529 hervor. Eine ausfuhrliche Schul-
ordnung erhielten die Breslauer Schulen im Jahre 1570 (Vobmbaum,
1, 184 ff.); ihr Verfasser ist der Rektor des Elisabetanums, P. ViNCENTros,
ein Schüler und später Kollege Melanchthons. Sie teilt die Schule
in fünf Klassen. Der obersten Klasse wird die Aufgabe gestellt, „das
tirocinium artis pkilosophiae, linguarum, doctrinae Ecclesiae samt allem
dem, was ein wohl instituierter junger Gesell wissen soll, ehe dann er
in eine Universität verschickt werden möge" anzufangen und so viel
möglich zu vollbringen; aber auch „vielen Armen, deren ein großer
Haufe ist, die entweder gar nicht Armuts halber in Universitäten stu-
dieren oder ja nicht lange sich in denselben erhalten können" statt
der Universität zu dienen; wie denn an einzelnen Lektionen des Bektors
in dieser Klasse auch ältere Kirchendiener, Diaconi und sonst etliche
Vornehme von der Bürgerschaft gelegentlich teilnehmen. Der Unter-
richt dieser Klasse beruht nun einerseits auf dem ständigen Gebrauch
einiger Lehrbücher, wir proponieren gewisse ,jMethodicos libellos artium
dicendi, deren Definitiones, Abteilung und regulas sie auswendig lernen,
als da ist Dialeciica, Rhetorica und Graeca Grammaäca, und setzen
hierzu auch Arithmeticay weil man derselben in allerlei Studieren viel-
fältig haben und gebrauchen muß". Zur Erklärung und Übung aber
der Praecepta dienen die besten Antares, unter denen man wechselt:
Ciceros Episteln, de officüs, de oratore, auserlesene Orationes, bisweilen
auch ein Buch Livius; von Poeten aber Virgil, Ovid, Plautus; im Grie-
chischen Hesiod, Homer, Isokrates, die Evangelien und die Episteln Pauli,
aber auch einmal etwas von Demosthenes, Theokrit, oder eine Tragödie ;
wozu denn nachher die Bestimmung folgt: daß „niemand gestattet ist
in die Länge Graecum authorem zu hören, der nicht aufs wenigste die
declinationes et conjugationes graeca^ samt den regulis de formationUms
temporum wohl gelernet hat". Zweimal wöchentlich sind scripta zu
exhibieren, Montags Prosa, Donnerstags Poesie, die von den Lehrern
übersehen und so viel als möglich fleißig examiniert und emendiert
werden sollen. Den provectioribus aber, die praecepta Rhetorices ge-
lernt haben, soll man bisweilen materias declamationum geben, die sie,
nachdem die Präzeptoren sie emendiert haben, coram toto coetu publice
rezitieren sollen; und alle Vierteljahr etwa mögen die Präzeptoren
durch eine öflFentliche Oration ein Exempel geben. Ebenso soll propter
exercitium familiaris sermonis bisweilen eine comoedia Plauti gelesen,
gelernt und in der Schule rezitiert oder auch bisweilen öffentlich agiert
werden. — Endlich wird der Rektor, wenn sie in diesen Studien sich
Neubegründung
geübet, auch zu guter Gelegenheit ^^initia Phynces oder EtfUces auch
bisweilen einen Historicum proponieren, daraus man materias nehme
zu deklamieren und disputieren.^'
ViNCENTius war vorher in Görlitz gewesen, dessen Schule er
wesentlich nach dem gleichen Zuschnitt organisiert hatte. Die Lausitz
hatte größere Schulen noch zu Bautzen und Zittau. Zu Brieg
wurde 1569 ein vom Herzog zu Liegnitz gegründetes akademisches
Gymnasium eröfihet, dem ähnliche Anstalten zu Ols (1594) und
Beuthen (1604) folgten. Die Lehrpläne für Brieg (1581) und Beuthen
(1614) bei Yormbaum; sie folgen im allgemeinen dem Breslauer Vor-
bild. Die Anstalt zu Beuthen, vom Freiherm G. v. Schönaich fundiert,
bestand aus einem Pädagogium mit sieben Lehrern und 48 Alumnen
und dem akademischen Gymnasium mit neun Professoren aller Fakul-
täten und 24 Alumnen. Unter den letzteren werden in der Stiftungs-
urkunde (von 1616, in den Mitteil, der Ges. für deutsche Schulgesch.,
III, 209 flf.) an erster Stelle genannt der professor pietatis und der
Professor morum, von denen jener eine praktische Unterweisung im
Christentum, dieser in der Lebensweisheit und den Standespflichten
geben soll: „denn die Erfahrung bezeugt, daß den Gelehrten unter den
Evangelischen, so niedrigen Standes sind, sonderlich den Theologis,
Pastoribus et Philosophis an ihrem Aufnehmen und Fortkommen oft-
mals nichts mehr verhinderlich ist, denn daß sie in moribus so gar
nicht unterrichtet und sich gar nicht gegen den Obern und in das ge-
meine weltliche Wesen und Zustand zu schicken wissen; gereicht auch
der evangelischen Kirchen zu nicht geringer Verachtung." Die Anstalt
wurde nach kurzer Blüte durch den Krieg vernichtet Bedeutendere
evangelische Schulen bestanden noch zu Goldberg, bekannt durch
seinen Rektor Tbozendobf (1531 — 1556), Liegnitz, Bunzlau,Glogau,
Grünberg, Sagan. Als ein Beispiel der Zusanmiensetzung der Schüler-
schaft einer dieser größeren Schulen scheint eine statistische Notiz aus
Brieg vom Jahre 1607 der Mitteilung nicht unwert^ Die Schule hatte
damals in fünf Klassen 502 Schüler:
I. 99, in 8 Dekurien, darunter 69 Schlesier, 8 aus Brieg, 12 Adlige.
IL 73, „ 8 „ ,, 68 „ 22 „ „ 19 ,,
IIL 73, „ 4(?) „ .,71 ,, 39 „ „ 18 „
IV. 64, „ 6 ,, M 61 „ 38 „ ., 17 „
V. 194, „19 „ „ 190 „ 155 „ „ 8 „
In Preußen ist eine der ersten durch die Reformationsbewegung
zu Stande gebrachten Schulen die vom Rat zu Elbing im Brigitten-
* Schön WÄLDER und Güttmann, Gesch. d. Gymn. zu Brieg (1869), S. 66 f.
Schlesien, Preußen. 315
kloster 1536 errichtete, welcher der aas den Niederlanden stammende
humanistische Dichter W. Gnapheus als erster Rektor vorstand. Sie
hat noch vorwiegend den humanistischen Charakter. Im Jahre 1540
führten die Schüler einen Maskenumzug durch die Stadt auf: Triam'
phus eloquenäae, vom Rektor gedichtet. „Barbaries, ein Mensch in einer
greulichen Maske, mit Ketten belastet, auf einem abgetriebenen Pferde,
jedoch verkehrt, sitzend^, beklagt in Versen das Ende des heilsamen
Reichs der Ignorantia; worauf Ehquentia auf einem Triumphwagen er-
scheint und in 400 Hexametern Weisheit und Tugend preist Am
Schlüsse des Zuges kommen die Musen, jede von einem klassischen
Autor begleitet Vor ihnen reitet die Poesie mit dem Hom der Amal-
thea, das zugleich als Trinkhom gebraucht wird. Die AuffUirung
schließt mit einem Chorlied, dessen letzter Vers lautet:
Scholae Juventus hie ovet,
Plaudens ovet Borussia,
Quod MusictLS migret chorus
Cum Gtaäu Aelbingiam,^
Dan zig errichtete 1558 ein Gymnasium im i'ranziskanerkloster,
das sich später zu einer akademischen Anstalt mit Vorlesungen aus
allen Fakultatswissenschaften erweiterte und im 17. Jahrhundert sich
beträchtlichen Ansehens erfreute (Hirsch, Gesch. des akad. Gymn. zu
Danzig, 1837).
In dem alten Ordensland Preußen gründete sein letzter Hoch-
meister und erster Herzog, Albrecht von Brandenburg, zu Königsberg
neben der Domschule und der altstädtischen Pfarrschule im Jahre 1541 ein
Pädagogium, aus dem sich bald die Universität Königsberg entwickelte
(1544). Doch blieb das Pädagogium bestehen; als seinen Rektor finden wir
den eben genannten Gnapheus, bis er 1547 wegen Unzulänglichkeit
seines theologischen Bekenntnisses exkommuniziert und vertrieben wurde.
Das Pädagogium bestand, trotz des heftigen Widerspruchs der alten
Schulen, die sich dadurch in ihrem Einkommen geschmälert sahen, bis
1619, wo es aufgehoben wurde, „weil es ein ziemlicher Verderb der
Stadtschulen sei, indem die Jungen, so in den Partikularschulen nicht
sub ferula et castigaüone scholastica sein wollen, spe liberioris vitae ei
impunitatis dahin fliehen" (Mölleb, Progr. des altstädt. Gymn. 1847).
1545 wurde zu Rastenburg eine Landesschule errichtet, und 1586
erfolgte die Errichtung von drei ferneren Provinzial- oder Fürstenschulen
durch Markgraf Georg Friedrich von Ansbach: Lyck, Tilsit und
S aal fei d (je eine für die Polen, Litauer, Deutschen). Die Anstalten
^ Keusch, W. Gnapheus, im Elbinger Programm 1877.
316 II, 5, Die Neubegründung d. Gelehrtenschulwesens in den prot, Oebieten,
wurden mit Alumnaten ausgestattet und aus bischöflichen Einkünften
dotiert Die Aufsicht wie die Prüfung der Lehrer wurde einem Pro-
fessor der philosophischen Fakultät zu Königsberg als Oberscholarchen
übergeben. Die Verhältnisse und also wohl auch die Leistungen der
Anstalten waren dürftig. Den Lehrern, die ihre Kost bei den Bürgern
in Form der mensa ambulatoria haben, wird noch in einer Schulord-
nung von 1638 eingeschärft, daß sie nach der Mahlzeit gehen und den
Bürgern vor allem abends nicht durch langes Sitzen sich lästig machen
(Bebnpckee, Gesch. d. Gymn. zu Lyck, Festschr. 1887). Eine größere
Schule bestand seit 1557 im Franziskanerkloster zu Thorn, sie hatte
ein Alumnat und Anfange akademischen Unterrichts. Auch die alte
akademische Anstalt zu Kulm wurde um 1550 zeitweilig als evange-
lische Schule hergestellt.
Auch in denjenigen deutschen Territorien, in welchen es zur Er-
richtung protestantischer Landeskirchen nicht kam, die aber gleichwohl
von der allgemeinen Reformationsbewegung erfaßt wurden, insbesondere
in den Ländern des Hauses Habsburg, wurden in derselben Zeit ähn-
liche Anstalten von den Landschaften und den Städten gegründet. Ich
will, um die Darstellung nicht zu sehr zu zersplittern, hier von den-
selben nicht handeln, sondern das Notwendige bei Gelegenheit der Dar,
Stellung der katholischen Schulreformation nachtragen. Dagegen sind
zwei Außenlande der protestantisch-deutschen Kultur hier zu erwähnen.
Bei den siebenbürgischen Sachsen hatte die Reformation früh Ein-
gang gefunden, eine lange Reihe von siebenbürgischen Studenten findet
sich in der wittenbergischen Matrikel; von 1522 — 1560 werden
140 Namen gezählt. In den 40 er Jahren wurden von der Nations-
universität, der politischen Vertretung des Sachsenvolks, das Augs-
bui^che Bekenntnis angenommen; Jon. Hontebus ist der sieben-
bürgische Reformator, ihr „Lutheb und Melanchthon in einer Person".
Von ihm ist die Kirchenordnung von 1543 — 1547 verfaßt, die auch
die Grundzüge einer Schulordnung enthält: es sollen überall Schulen
aus öfifentlichen Mitteln erhalten und Lehrer besoldet werden, „daß
kein Knab seiner Armut halben von der Schul ausgeschlossen*^, auf daß
nicht einmal, heißt es nachher, „dies Vaterland, mitten unter den
Feinden von Gott also herrlich begnadet, durch Unfleiß der Obrigkeit,
welche darauf zu sorgen geschworen ist, zu einem heidnischen Wesen
werde". Protestantische Gelehrtenschulen wurden zu Kronstadt und
Hermannstadt errichtet. Die Kronstadter Schulordnung von 1543,
von HoNTEBüs abgefaßt, der auch für alle Unterrichtsgegenstände die
Schulbücher geschrieben hat, schreibt vor: Lateinisch, Griechisch (tag-
lich eine Stunde), Dialektik, abwechselnd Woche um Woche. Dispu-
Siebenbürgen, Ostseeprovinzen. 317
tationen und Deklamationen, zwei Komödienaufführungen im Jahr; auch
Arithmetik und Geographie wird erwähnt. Bemerkenswert ist noch die
sehr detaillierte Verordnung über die von den Schülern selbst zu
wählenden magistratus: rex, censores, aedilis, orator, praeco u.a. werden
erwähnt, ihre Wahl und ihr Amt genau beschrieben: ein Spiegelbild,
meint Tbütsch, der siebenbürgisch -sächsischen Volksverfassung. Die
Schule zu Hermannstadt, an der schon am Anfang des 16. Jahrhunderts
ein humanistischer Schulmeister erwähnt wird, wurde 1555 erweitert
und zugleich eine Stipendienkasse eingerichtet, um den Besuch deutscher
UniTersi tuten auch unbemittelten Studenten zu ermöglichen.^
Im baltischen Ordensland hatten die Städte Riga und Reval
von alters her Dom- und Stadtschulen.* Als die Reformation durch-
drang erfolgte die entsprechende Reformation dieser Anstalten« Ein
Lehrplan der Domschule zu Riga vom Jahre 1594 zeigt ganz den
üblichen Kursus der gleichzeitigen protestantischen Schulen. Nachdem
Livland an Schweden gekommen war, wurde die Schule 1631 zu einer
akademischen Lehranstalt mit philosophischen und theologischen Kursen
erweitert. In demselben Jahre wurde zu Reval ein Landschaftsgym-
nasium im Michaeliskloster gegründet Im folgenden Jahre en(Uich
erfolgte die Errichtung einer Universität zu Dorpat; Gustav Adolf
unterzeichnete die Stiftungsurkunde zu Nürnberg. Die mannigfaltigen
Schicksale, welche diese Anstalten auf dem exponierten Boden erlitten
und mit zäher Lebenskraft glücklich überstanden, können hier nicht
verfolgt werden. Nur das mag noch erwähnt sein, daß die Universität
zunächst nur kurze Lebensdauer hatte; 1656 wurde sie von den Russen
zerstört, erstand aber 1802 wieder zum Leben und zwar jetzt als ganz
deutsche Anstalt, während sie im 17. Jahrhundert halb schwedisch
gewesen war. (Die deutsche Universität Dorpat, 2. Aufl. 1882, anonym.)
Unserem Zeitalter eines extremen Nationalismus, der sich vielfach
bildungsfeindlich erweist, war die Zerstörung der deutschen Bildungs-
anstalten auf dem fremden Boden vorbehalten.
' Fb. Teutsch, Die siebenbürg.-sächs. Schiilordnuugen. Mon. Germ. Paed. VI.
Geschichten der Gymn. zu Kronstadt im Progr. 1845 von Duck, zu Hermann-
stadt 1859 von Schwarz.
* Ober die Geschichte des gelehrten Schulwesens in den russischen Ostsee-
provinzen handelt eingehend ein Art. in Schmids EncyklopftdiCi XI, 393 ff.
318 U, 6. Gestalt und UfUerrichtshetrieb der protest. Striaen um 1580.
Sechstes Kapitel.
Äußere Gestalt und Unterrichtsbetrieb
der Gelehrtenschulen in den protestantischen Gebieten
am Ende des 16. Jahrhunderts.
Wie bei den Universitateiiy so lasse ich auch hier der Übersicht
über die geschichtliche Entwickelung eine Schilderung des Zostand-
lichen folgen. Auch hier mag der Querschnitt etwa um das Jahr
1580 gezogen sein. Im ganzen und großen bleibt das protestantische
Schulwesen zwei Jahrhunderte lang unverändert in diesem Rahmen
bestehen. Ich handle zuerst von den äußeren Verhältnissen, sodann
Ton der Gestalt des Unterrichts.
Zwei Schulformen bestehen, wie die Übersicht im einzelnen gezeigt
hat, in fast allen größeren protestantischen Ländern neben einander:
l städtische Lateinschulen und staatliche Gelehrtenschulen.
Die letzteren sind die charakteristische Neubildung dieses Zeitalters;
i die drei sächsischen Landesschulen machen den Anfang. Aus öffent-
lichen Mitteln, d. h. aus eingezogenen geistlichen Gütern errichtet und
dotiert, haben sie die Bestimmung, eine ausreichende Vorbildung für
das Universitätsstudium zu geben oder auch wohl dieses zu ersetzen.
Sie nehmen Landeskinder, die schon die Elemente, namentlich auch
der lateinischen Sprache, gelernt haben, etwa im Alter von 12 — 14
Jahren als Alumnen auf und bereiten sie auf öffentliche Kosten in
etwa sechsjährigem Kursus auf das wissenschaftliche Studium vor,
wofür diese die Verpflichtung eingehen, dem Fürsten nachher im welt-
lichen oder geistlichen Amt zu dienen.
Die städtischen Lateinschulen — sie werden in der württem-
bergischen Schulordnung von 1559 und der ihr nachgebildeten kur-
sächsischen von 1580, die beide den ganzen Schulschematismus am
deutlichsten erkennen lassen, als Partikularschulen den Landes-
schulen gegenübergestellt — sind Unternehmungen nicht des
Staats, sondern der Stadt; der Rat errichtet die Schule und stellt
die Lehrer an. Sie dient auch nicht allein dem Unterricht künftiger
Studierender, sondern ist zugleich allgemeine Stadtschule, in der auch
die den bürgerlichen Berufen bestimmten Knaben ihre Unterweisung
erhalten. Winkelschulen werden regelmäßig verboten, weil sie zum
Nachteil der Stadtschule und ihrer Lehrer gereichen. Doch wird
Privatunterricht zugelassen, und vielfach bestehen neben der Latein-
FüratenschtUen und Stadtschulen, 319
schule auch deutsche Schulen. Größe und Gestalt, Schulziel und
Lehrerzahl der Lateinschule richtet sich nach den örtlichen Er-
fordernissen und Mitteln. Für mittlere Städte gilt der Typus der
kursächsischen Schulordnung von 1528: drei Klassen mit drei Lehrern,
rector, cantar^ baccalariua oder socius. In ganz kleinen Städten und
Flecken schrumpft die Schule noch weiter zusammen; sie hat hier
bloß zwei oder einen Lehrer, und in den Dörfern geht sie in die
deutsche Küsterschule über; doch fordern die württembergische und
sächsische Schulordnung auch für die großen Dörfer elementaren
Lateinunterricht. In größeren Städten dagegen nimmt mit der Schüler-
zahl auch die Zahl der Klassen und der Lehrer zu, die letzteren wachsen
regelmäßig mit einander, denn das Klassenlehrersystem gilt un-
bedingt. In den großen Städten endlich, namentlich in den großen
Reichsstädten, wie Nürnberg, Straßburg, Hamburg, Lübeck erweitert
sich die Stadtschule zur eigentlichen Gelehrtenschule, mit zahlreichen
Klassen und Lehrern. Nicht selten sind auch akademische Vor-
lesungen, besonders der philosophischen und theologischen Fakultät
angeschlossen, wodurch sie in den Stand gesetzt sind, auch für eine
Universität zu Vikariieren oder wenigstens eine Verkürzung des aus-
wärtigen Universitätsstudiums zu ermöglichen. Übrigens hindert nichts,
auch von einer kleinen Lateinschule auf die Universität zu gehen und
hier in der philosophischen Fakultät die vorbereitenden, allgemein-
wissenschaftlichen Studien zu vollenden. Die Beweglichkeit des ganzen
gelehrten Unterrichtswesens, die dem Mittelalter eigen war — sie ist
der jungen Kultur überhaupt eigen, so finden wir sie heute noch in
Nordamerika — ist im wesentlichen bis ins 1 8. Jahrhundert unverändert
geblieben. Erst im 19. Jahrhundert ist die strenge Gebundenheit
der Schularten und ihrer Unterrichtskurse durch Gesetze und Ver-
ordnungen durchgeführt worden.
Man muß, um sich das Verständnis dieser Dinge nicht zu ver-
schließen, sich deutlich machen, daß die Grenzbestimmung zwischen
Schule und Universität damals überhaupt noch eine fließende war:
ein fester Unterschied im Unterricht war nicht vorhanden; der einzige
feste Unterschied war die rechtliche Stellung: eine Anstalt, die das
von den öffentlichen Gewalten anerkannte Recht hat, die akademischen
Grade zu erteilen, ist eine Universität; eine Anstalt, die das Recht
nicht hat, ihr Unterricht mag sein, welcher er will, ist keine Uni-
versität.
Heutzutage ist der Unterschied zwischen Universität und Schule
ein innerlicher und wesentlicher: diese giebt einen vorbereitenden, jene
den eigentlich wissenschaftlichen Unterricht Im 16. Jahrhundert
320 //, 6. Öestalt und Unterrichtsbetrieb der protest. Schulen um 1580,
bestand zwischen beiden weder in den Gegenstanden, noch in der
Behandlungsweise und in der Unterrichtsform ein fester Unterschied.
Im Mittelalter war der Unterschied im Prinzip der: die Schule lehrt
die gelehrte Sprache, die Universität lehrt die Wissenschaften, in der
facultas artium die allgemeinen, in den oberen Fakultäten die Fach-
wissenschaften; wobei denn thatsächlich von beiden Seiten ÜbergriflFe
stattfinden, vor allem von Seiten der Universität; sie bietet auch
Elementarnnterricht in der lateinischen Sprache; und auf den Schulen
kommen gelegentlich auch die Elemente der philosophischen Wissen-
schaften vor. Das 16. Jahrhundert verwischte die Grenze noch mehr,
und zwar wesentlich dadurch, daß der Schulkursus ausgedehnt wurde:
zum bloßen Unterricht in der Sprache kam auf den großen Schulen
der Unterricht in der klassischen Litteratur, und dazu ein elementarer
Unterricht in den Wissenschaften, vor allem in den philosophischen
Disziplinen, Dialektik, Physik, Mathematik, und in der Theologie. Aber
andererseits hörte die Universität nicht auf, schulmäßigen Unterricht
in den Sprachen und Wissenschaften zu geben. So entstand ein breites
Grenzgebiet des Unterrichts, auf dem Schule and Universität konkur-
rierten. Es ist vor allem der auf allgemein-wissenschaftliche Bildung
abzielende Unterricht, der in diesem Zeitalter zwischen Universität
und Schule hin und her schwankt Ursprünglich der Universität
angehörig, begann er mit dem 16. Jahrhundert in breiterem Umfang
auf die Schule überzugehen, bis er im 19. Jahrhundert im wesent-
lichen auf dem Gymnasium seinen festen Ort gewann: gegenwärtig
geht der Abiturient auf die Universität mit der Meinung, seine
allgemein-wissenschaftliche Bildung im ganzen zum Abschluß gebracht
zu haben; höchstens daß er noch ein paar philosophische und historische
Vorlesungen hört: das Studium weitaus der meisten gehört von Anfang
an fast ausschließlich den Fachwissenschaften an.
Durch diese innere Unabgeschlossenheit wird nun auch jene Misch-
form von Universität und Schule erklärlicher, die als akademisches
Gymnasium mit Lektionen aus der philosophischen und wohl auch
aus den oberen Fakultäten im 16. und 17. Jahrhundert uns so häufig
begegnet. Die äußeren Antriebe zu ihrer Entstehung sind schon oben
1 (S. 251) angedeutet: die Zersplitterung Deutschlands in staatlich und
kirchlich selbständige Territorien, die mit Eifersucht ihre Autarkie
auch auf dem Gebiet des Unterrichtswesens erstrebten. Diesem Streben
kam nun die innere Entwickelung des Schulwesens entgegen; hatte man
einmal eine große Schule mit dem vollen humanistischen und einem
elementaren philosophischen Unterricht, so schien es nur noch eines
geringen Aufwandes zu bedürfen, um einen vollständigen philosophischen
Akademische Gy^nnasien. 321
und einen wenigstens notdürftigen fachwissenschaftlichen Unterricht
anzugliedern und dadurch einen zur Not genügenden Abschluß des
Studiums auf der heimischen Anstalt möglich zu machen. Theologen
hatte man schon, nämlich die Ortsgeistlichen; für ein kleines Gehalt
übernahmen sie auch theologische Vorlesungen. Ebenso konnte der
Hof- oder Stadtarzt wohl auch ein paar naturwissenschaftliche und
medizinische Lektionen halten, galt doch ohnehin die Auffassung: wer
eine Kunst versteht, muß auch im Stande sein, sie zu lehren; und ein
Lehrer der Elemente der Rechtswissenschaft war auch nicht schwer zu
beschaffen. So war ein kleines akademisches Studium fertig, das dann,
wenn die Umstände günstig waren, sich auch zu einer privilegierten
Universität auswachsen mochte; blieben dagegen die Scholaren aus, so
ließ man die Lektüren einfach wieder eingehen.
Ja, es mag auch geschehen, daß ohne alles Weitere die Lehrer
einer einfachen Lateinschule propädeutische Kurse in den Fakultätswissen-
schaften anbieten. So findet sich im Lektionsplan der Saldernschen
Schule zu Brandenburg vom Jahre 1591 folgende Erklärung: „Da
sich auf unserer Schule arme Schüler finden, die in den Humanitäts-
studien schon un verächtliche Fortschritte gemacht haben, aber bei
ihrer Mittellosigkeit keine Universitäten (scholas celebriores) aufsuchen
können, so lesen wir für solche in außerordentlichen Stunden die
Elemente des Hebräischen, die leichteren Teile der Philosophie, Ethik,
Elemente der Physik und der mathematischen Geographie, und werden
allmählich auch zu einem ganz elementaren Unterricht in der Rechts-
wissenschaft fortschreiten (proponemus prima LL, Cunabula, ut Phraseos
etiam forensis declarationem qualemcumque habeant). Alles das thun
wir nicht um Lohnes und Gewinnes willen, sondern der Jugend zu
Nutz und Förderung in den Wissenschaften. Auch gehen wir mit
diesen überaus nützlichen Übungen nicht auf unseren Ruhm aus,
sondern halten uns in bescheidenen Grenzen und bleiben uns unserer
Unzulänglichkeit bewußt; wir wollen allein dem Ruf unserer Schule
und dem Nutzen unserer Schüler dienen" (Progr. der Saldernschen
Schule 1893). — Es ist ein Ähnliches, was im 18. Jahrhundert in der
obersten Klasse der Gelehrtenschule unter allerlei Titeln als Propädeutik
oder Encyklopädie des akademischen Studiums vorzukommen pflegt
Die ganze Sache war wohl nicht so thöricht, als die im 19. Jahr-
hundert zur Herrschaft gelangten Philologen sie hin und wieder ge-
macht haben, wenigstens mußte sie es nicht sein. Der starren Unter-
scheidung zwischen Schule und Universität, zwischen schulmäßigem
und wissenschaftlichem Unterricht, wie wir ihn in diesem Jahrhundert
durchgeführt haben, entspricht kein Sprung in der Natur der Dinge,
Paulsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 21
322 II, 6, Gestalt Ufid Unterrichtshetri^ der protest. Schulen wm loSO,
(
in der Entwickelang des jugendlichen Geistes. Zwischen dem Alter
des Knaben und des jungen Mannes liegt ein Übergangsalter, das
einen Unterricht braucht etwas akademischer, als unser Gymnasial-
unterricht, etwas schulmäßiger, als unser TJniversitatsunterricht. Das
war es, was das „akademische Gymnasium" im 16. Jahrhundert suchte
und geben wollte. Es ist dasselbe, was in den Landern englischer
Zunge das coUege ist. Freilich hat die Sache ihre großen und eigen-
tümlichen Schwierigkeiten, und es scheint, daß den deutschen Anstalten
ihre Überwindung nie sonderlich gelungen ist: die auditores publici
der akademischen Gymnasien (und ebenso die der späteren Bitter-
akademien und der süddeutschen Lyceen) waren zu jung und unerfahren,
als daß man ihnen die volle akademische Freiheit hätte geben können,
andererseits aber durch die leichteren Mittel der Disziplin nicht zu
regieren. So geschah es wohl oft, daß sie den Schaden der Freiheit
erfuhren, die Zügellosigkeit, ohne das Heilmittel, das Gefühl der Selbst-
verantwortlichkeit, zu haben. —
Noch füge ich über die Namen der Schularten eine Bemerkung
hinzu. Der jetzt übliche Name Gymnasium ist erst im 19. Jahr-
hundert zur offiziellen und ausschließlichen Bezeichnung für die auf
das Universitätsstudium vorbereitende Schule geworden. Im 16. Jahr-
hundert wird Gymnasium, neben Academia, Lyceumy nicht selten auch
von der Universität gebraucht, besonders von Humanisten, die sich
scheuen, die alten barbarischen Bezeichnungen Studium generale y um-
versitas, ZU brauchen. Doch wird ggmnasium auch jede Schule ge-
nannt, die einen vollständigen humanistischen Kursus, jedenfalls in
den beiden Sprachen, giebt. Diejenigen Schulen, die, wie die Straß-
burger, über die artes dicendi hinausgehen und auch den philo-
sophischen Unterricht, vielleicht auch die Elemente der Fakultats-
wissenschaften hereinziehen, erhalten wohl noch ein schmückendes
Beiwort: g, academicum, illustre oder ähnlich. Fürsten- oder Landes-
schulen heißen Gelehrtenschulen, sofern sie von den Landesherren
für Landeszwecke errichtet werden, Klosterschulen werden dieselben
Anstalten (z. B. in Württemberg) genannt, weil sie regelmäßig in
Klöstern eingerichtet und mit deren Gut dotiert worden sind. Der
Name Faedagogium bezeichnet ebenfalls eine vollständige Gelehrten-
schule, in der Eegel mit Alumnat. Die geringeren Schulen behalten
den alten Namen schola parficularis (im Gegensatz zum studhim
generale ursi)rünglich genannt; daher in Ostpreußen die Landesschulen
auch Partikularschulen genannt werden), oder trivialis (vom trivium).
Da sie seit der Reformation regelmäßig unter städtischer Verwaltung
stehen, so heißen sie auch Stadt- oder Ratsschulen, auch, im
Namen; Schulregiment und SchtUaufsicht, 323
Unterschied von den allmählich entstehenden deutschen Schulen,
Lateinschulen, große Stadtschule oder ähnlich. Allgemein gül-
tige Fixierung der Terminologie hat erst mit der durchgeführten Ver-
staatlichung des Schulwesens im 19. Jahrhundert sich durchgesetzt
Das Schulregiment ist in den protestantischen Gebieten mit
dem Kirchenregiment selbst an die weltliche Obrigkeit übergegangen;
die Konsistorien, in denen der weltlich-kirchliche Charakter der Landes-
regierung zum Ausdruck kommt, sind auch Träger des Schulregiments.
Unmittelbar stehen unter der Staatsverwaltung allerdings nur die Landes-
schulen. Doch übt sie auch auf die städtischen Lateinschulen Einfluß.
Zunächst durch die allgemeinen Schulordnungen, die in der Regel als
Teil der Kirchenordnung erscheinen. Freilich muß man sich hüten, zu
meinen, daß diese Dinge wie heute wirkten. Die Schulordnung war
doch kaum mehr als ein allgemeines Schema, das von autoritativer
Stelle aufgestellt wurde und nach dem sich die einzelnen Städte und
Schulen streckten, so gut sie konnten und so viel sie mochten. Die
Lehrer standen im Dienst der Stadt, sie wurden vom Rat angestellt
und besoldet. Nur die Lehrer an den Landesschulen hingen natür-
lich unmittelbar von der Landesregierung ab. Der wirksamste Einfluß
auf die niederen Stadtschulen dürfte durch die Prüfungen vermittelt
worden sein, die den Eintritt in die Landesschulen öffneten, wie denn
das württembergische „Landexamen^^ bis in den Anfang des 19. Jahr-
hunderts der Regulator des Schulbetriebs in den kleinen Latein-
schulen des Landes war.
Allerdings hat sich in dieser Zeit auch die Schulaufsicht zu
entwickeln begonnen. Im Mittelalter scheint davon überhaupt kaum
die Rede zu sein. Erste Anfänge beginnen mit dem Eindringen des
Humanismus; für die städtischen „Poetenschulen" findet sich die An-
ordnung einer Aufsicht durch dazu bestimmte Ratsmitglieder. Regel-
mäßig ziehen sodann die reformatorischen Kirchenvisitationen die Schule
in ihren Kreis, hauptsächlich in Hinsicht auf die Religionslehre. Seit
der Konsolidierung der Verhältnisse wird für regelmäßige Aufsicht
Sorge getragen; sie bleibt in enger Verbindung mit dem Kirchen-
regiment und der Kirchenvisitation. Für die Landesschulen erfolgt die
Ernennung von Superintendenten und Visitatoren unmittelbar durch
die Regierung, in der Regel werden dazu Mitglieder der Konsistorien
und der Landesuniversität bestimmt. In den selbständigen Städten
besteht die Aufsichtsbehörde in der Regel aus dem Pfarrer und einigen
Mitgliedern des Rats. So bestimmt die Ordnung der Stadt Braun-
schweig (Bugenhagen) vom Jahre 1528: der Superintendent oder
oberste Prediger mit seinem Helfer nebst fünf Ratsmitgliedem aus
21*
324 //, 6, Gestalt und Unterrichtsbetrieb der protest. Schulen um 1580.
den fünf Weichbilden und den Schatzkastenherren sollen alle halbe
Jahre die beiden Schulen visitieren, ob es in allen Dingen nach der Ord-
nung gehe; auch keine Winkelschulen dulden. Für die Landstädte
stellt die Regierung die Schulaufsicht fest; so die württembergische
Schulordnung von 1559: in allen Städten und Flecken sollen der
Pfarrer, der Amtmann und zwei oder drei vom Gericht oder Bat, wo-
möglich Studierte, zu Schulinspektoren geordnet werden; der Pfarrer
soll alle Monat einmal die Schule besuchen; alle Vierteljahr soll die
ganze Kommission die Schule visitieren, ein Examen halten und die
Versetzungen kontrollieren; Berichte gehen an den Spezial- und weiter
an den Generalsuperintendenten. Ebenso die kursachsische Schul-
ordnung von 1580, nur daß sie den Amtmann wegläßt und eine sehr
eingehende Prüfungsvorschrift hinzufügt. Ähnlich andere Schulord-
nungen, wie man sie bei Vormbaüm nachsehen mag.
Die Schulaufsicht geht auf den ganzen Schulbetrieb, die äußeren
und inneren Verhältnisse, im besonderen aber auf die reine Lehre.
Wie die Kirche, so wird seit der Reformation auch in der Schule die
BekenntnLskontrolle zu einer Sache von der äußersten Wichtigkeit; sind
doch alle Schulmeister zugleich oder vielmehr zuerst. Religionslehrer,
wie sie denn auch ihrer Bildung nach Theologen sind. Scholae sunt
seminaria ecclesiae, das ist die allgemeine Anschauung dieses Zeitalters,
wie denn auch der Antrieb zu ihrer Gründung wesentlich von der Not-
wendigkeit, für die Erhaltung der reinen Lehre zu sorgen, ausgegangen
war. Auf diese Weise geschah es denn, daß die öden Kämpfe um die
Bekenntnisformeln, die vor allem die zweite Hälfte des 1 6. Jahrhunderts
erfüllen, auch in die Schulen eindrangen, mit all ihren peinlichen
Folgen, Glaubenskontrolle, Inquisition, Vertreibungen, Gewissensängsten.
Bei DöLLiNGEB (I, 414 flF.) sind eine Menge Vorkommnisse dieser
Art zusammengestellt, sie könnten fast aus jeder Universitäts- und
Schulgeschichte vermehrt werden. Die alte Kirche hatte auch die
Bekenntniskontrolle geübt, aber sie wurde läßlich gehandhabt, wer mit der
Kirche nicht Händel suchte, wer sie im ganzen gelten ließ, den ließ sie
auch gelten, nur wer darauf Wert legte, abweichende Lehren zur Geltung
zu bringen und trotz der Censur festzuhalten, verfiel der Strafe; und in
der Kritik der Personen und Einrichtungen herrschte große lYeiheit.
Mit der Kirchenspaltung dagegen war der Verdacht der Abweichung stets
und überall rege. Bei jedem der so häufigen Wechsel der Ansichten
im Landeskirchen regimeut über das richtige Bekenntnisformular findet
Nachforschung und Umfrage bei allen Angestellten statt, ob sie den
Wechsel in schuldigem Gehorsam mitgemacht haben. Vor allem war
bekanntlich die Abendmahlslehre der Stein des Anstoßes oder also der
Bekenntniskonirolle, Lehrerprüfung. 325
Prüfstein des Gehorsams; recht als ob man die Sache ad absurdum
führen wollte, nahm man aus der ^^Kommunion'' den täglichen Anlaß
zum Hader und Haß. Für freie Köpfe war in der That eine schlimme
Zeit hereingebrochen; man denke an einen Mann, wie Sebastian
Franck, den großen Idealisten, der seine Gedanken nicht auf die vor-
schriftsmäßigen Formeln zu stimmen wußte; wohin er kam, wußten
die Prädikanten alsbald die Obrigkeit oder die Masse wider ihn zu er-
regen und ihn zum Weichen zu zwingen: das Deutschland der Be-
formation hatte keine Heimat für solche Männer. Dagegen lernten
die neuen Prediger in der Censur des Lebens und der Praxis der
Mächtigen bald behutsam sein; die Machthaber liebten zu keiner Zeit
derartige Censur; in der neuen Kirche wurde sie zur Majestätsbeleidigung
und Lästerung des Kirchenregiments.
Wie über die Schulaufsicht, so stammen auch die ersten Anord-
nungen über die Lehrerprüfung aus diesem Zeitalter. Die ersten
Schulordnungen, die über die gelehrte Qualifikation der Lehrer eine
Bestimmung enthalten, sind die BuGENHAGENschen. Sie fordern in
Braunschweig für die größere Schule zu St. Martin einen „gelehrten
maff. artium^^ zum Rektor, neben dem ein „gelehrter Helfer", ein cantor
und noch ein „Gesell für die geringsten Knaben" angenommen werden
soll; für die andere Schule, zu St. Catharinen, fallt der mag. arüum
fort Für die erste Schule hält die Ordnung es nötig die Forderung
zu rechtfertigen: zwar könne es scheinen, daß fürs erste kleine Kinder
nicht großer Meister bedürften; doch werde man finden, daß gelehrte
und erfahrene Meister mit besserer Methode (mit beter wise) die Kinder
in drei Jahren gelehrter machen, als andere in zwanzig Jahren. Auch
könne er in Sachen der Lehre (dat Evangelien andragende) hilfreich
sein, und zu Zeiten eine lateinische Lektion aus der heiligen Schrift
lesen für Gelehrte. Die schleswig-holsteinische Ordnung von 1542
fordert, daß bei der Domschule zu Schleswig, der die Stellung einer
Landesschule zugedacht ist, der Rektor (Ludimagister) und der Sub-
rektor magister artium promotus sei; bei dem dritten, dem cantor, läßt
sie es dahingestellt; die letzten vier Lehrer heißen paedagogi und werden
vom Rektor angenommen, doch vom Kapitel besoldet. Eine Prüfung
fordert die mecklenburgische Schulordnung von 1552: der anzu-
stellende Schulmeister soll zuvor zu Rostock von Personen, die dazu
verordnet, examiniert werden, daß er zu solchem Amt tüchtig sei; in-
sonderheit, fügt die kurpfälzische Ordnung hinzu, ob er ein guter
grammaticus sei. Eingehendere Bestimmungen giebt erst die württem-
bergische Ordnung von 1559, ihr folgt die braunschweigische von
1569 und die kursächsische von 1580. Der von dem Schulpatron dem
326 II, 6*. Gestalt und UnterricJUshetrieh der piotest. Schulen um 1580.
Konsistorium nominierte und präsentierte Kandidat soll, nachdem er
zunächst von seinem Herkommen, Lehre, Wesen und Leben glaub-
würdige testimonia beigebracht, „alsdann in unsrer Schul zu Stuttgart
vor unsem verordneten Theologen, zweien oder einem, und dann der-
selbigen Schul Pädagogarchen eine Lektion oder zwei thun. Wenn er
dann, sonderlich in der Grammatik tauglich erfunden, so soll er darauf
von unsem Kirchenräten ihrer von uns habenden Ordnung nach seiner
Pietät halber auf unsem Katechismum, in unsem Kirchenordnungen
begriffen, ordentlich und mit sonderlichem Fleiß examiniert werden".
Die pommersche Ordnung (1563) weist die Prüfung den Superinten-
denten und in kleinen Städten dem Präpositus zu. Proben von Lehrer-
zeugnissen aus dem Braunschweigischen giebt Koldewey (Braunschw.
Schulordn., II, 140). Grammatik und „Pietät" sind auch hier die
herrschenden Gesichtspunkt«.
Was das Einkommen und die soziale Stellung der Lehrer an-
langt, so beschränke ich mich auf wenige Bemerkungen. Die Lehrer
an den Landesschulen erhalten außer Wohnung und LTnterhalt eine
feste Besoldung. Die von den Städten für ihre Schulen angenommenen
Lehrer gewinnen ihr Einkommen regelmäßig aus mehreren Quellen.
Zuerst erhalten sie, wenigstens die Gelehrten unter ihnen, regelmäßig
außer freier Wohnung in der Schule eine Besoldung vom Rat; sie wird
bei der Annahme je nach den Verhältnissen festgestellt; dama Mann
darna Qtiast, sagt die schleswig-holsteinische Ordnung. Hierzu kommt
das Schulgeld, das vierteljährlich von den Schülern an den Lehrer der
Klasse, der sie angehören, entrichtet wird; doch sind die Armen frei
Außer dem regelmäßigen Schullohn werden dem Lehrer zu Zeiten
weitere Leistungen und Verehrungen, auch in Naturalien, gemacht; in
kleinen Städtchen findet sich auch die mensa ambulatoria. Eine weitere
regelmäßige und nicht unerhebliche Einkommenquelle ist der Leichen-
kondukt; Lehrer und Schüler der Stadtschule begleiten mit Gesang die
vornehmeren Leichen und beziehen dafür eine in der Regel nach Klassen
festgestellte Gebühr.^ Auch die Theateraufführungen sind für Ijehrer
und Schüler eine Einnahme(iuelle; jener erhält für die Verfertigung
* „So oft futiera vorfalleu, sollen die Ruaben zu rechter Zeit aus der
Schulen gelassen, die reetores und conrectore^ hinten, die colleyae aber jeder bei
seinem coeUi auf der Seiten hergehen mit einem weißen bctculo,^^ „Da fast
alle Tage ye/ieraita oder specialia futiera vorfallen, und dadurch sehr Wel
guter Stunden vers.'iumt werden, sollen bei den kleinen Begräbnissen im Winter
meistenteils die inferiores currendarii dazu genommen, im Sommer aber, so viel
sich's leiden will, allererst nach den Schulstunden die funern deduziert werden."
( Braunschweiger Ordnimg von 1 596 bei Koldewey, Brauuschweig. Schulordu. I,
S. 137.)
Einkommen und soziale Stellung der Lehrer, 327
des Stücks eine Verehrung, diese für die Aufführung. Endlich tritt
ergänzend hinzu das Almosen; die Kurrende zieht beständig unter Be-
gleitung eines Lehrers durch die Straßen; und zu den großen Pesten
findet wohl auch Haussammlung durch die Lehrer und für die
Lehrer statt
Man sieht, der Beruf des Schulmeisters ist kein vornehmer Beruf.
Er gilt als Vorstufe und Anhang des geistlichen Amts. Wie
das Studium der Sprachen, oder wie man später sagt, der humaniora,
kein selbständiges Fachstudium ist, sondern Vorschule für das Studium
in den oberen Fakultäten, besonders der Theologie, so wird auch das
Lehramt in den Schulen regelmäßig nicht als selbständiger und dauern-
der Lebensberuf, sondern als vorläufige Versorgung angesehen, bis ein
Pfarramt sich aufthut, oder als letzter Notbehelf für solche, die im
geistlichen Amt wegen geringer Fähigkeiten oder anderer mangelhafter
Qualitäten nicht Unterkunft finden. Nur eine geringe Anzahl von
Schulämtem, besonders an den Landesschulen, giebt eine soziale
Stellung, die einem dem Beruf innerlich geneigten Mann auch lebens-
lang darin zu verharren erträglich macht. Alle übrigen Lehrer sehnen
den Tag herbei, der ihnen die Erlösung ex pulvere scholastico und den
Eingang in ein ruhiges und einträglicheres Pfarramt bringt.
Ein paar Daten, die beliebig vermehrt werden könnten, illustrieren
dieses Verhältnis. An dem ersten, verhältnismäßig gut ausgestatteten
Gymnasium der Stadt Berlin, dem Grauen Kloster, ging das Rektorat
während des ersten Jahrhunderts (1574 — 1668) durch 20 Hände; auf
jeden Rektor kommen noch nicht fünf Jahre. Von diesen 20 gingen
elf in ein geistliches Amt über, vier in ein anderes Rektorat, einer an
die Universität, nur drei starben im Amt. In .den folgenden beiden
Jahrhunderten (1668 — 1867) hatte die Schule nur zwölf Rektoren, die
alle bis zu ihrem Tode oder dem Übergang in den Ruhestand das Amt'
führten, durchschnittlich 16^2 Jahr (Heidemann, Gesch. des Grauen
Klosters). — Die Schule zu Flensburg, wohl die bestausgestattete des
Herzogtums Schleswig, hatte von 1566 bis 1795 19 Rektoren, durch-
schnittlich leitete also jeder die Schule zwölf Jahre, doch so, daß die
ersten zwölf zusammen 60 Jahre (durchschnittlich fünf), die letzten
sieben zusammen 168 Jahre (durchschnittlich 24 Jahre) fungierten.
Das bedeutet, daß bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts auch das Amt
des Rektors nur als Durchgangsstufe zum geistlichen Amt gilt, seitdem
aber zum Lebensberuf wird. Von den ersten zwölf sind nachweislich
sechs, vermutlich mehrere, ins geistliche Amt, z. T. auch in Dorf-
pfarren, übergegangen, von den letzten sieben nur noch einer. Der
letzte (Möller, gest. 1795) war sogar vorher Prof. ord. der Litteratur-
328 //, 6. Gestalt und Unterri-ehtshetrisb der protest. Schulen um 1580,
historie an der Kopenhagener Universität gewesen (s. die Tabelle bei
Bbasch, Flensborg Laänskole, S. 183).
Um diese Verhältnisse ganz zu verstehen, muß man sich gegen-
wärtig halten, daß im 16. Jahrhundert auch der Schuldienst selbst
Kirchendienst ist, nur auf der niederen Stufe. Lehrer und Schüler
haben einerseits die regelmäßige Mitwirkung beim Gottesdienst: zu
jedem Gottesdienst zieht die ganze Schule in Prozession in die Kirche
und wieder in die Schule zurück; und im 16. Jahrhundert ist nicht
bloß am Sonntag Kirche, sondern anfangs täglich, mit Gesang und
Predigt oder doch Lesung der Schrift. Es sind eben die Hören aus
den alten Klöstern in die protestantischen Schulklöster mit herüber-
genommen, wie man aus der Wittenberger und den übrigen Bugen-
HAGENSchen Kirchen- und Schulordnungen sieht: sie schicken die Knaben
täglich vormittags um 9 Uhr zur Mette und nachmittags um 4 Uhr
zur Vesper zum Singen und Lesen in die Kirche. Und so dient die
Schule auch beim Gemeindegottesdienst, vor allem mit dem Gesang,
weshalb auch das Singen überall ein wichtigstes Stück des Schulunter-
richts ist. Andererseits gilt die Predigt als ein wesentliches Stück des
Schul-, nämlich des Religionsunterrichts, sie wird gewöhnlich in der
Schule, ebenso wie andere Lektionen repetiert. Endlich haben auch die
andern Schulstunden den Charakter des Gottesdienstes: es ist ja schließ-
lich das Wort Gottes, um dessen willen auch die Sprachen gelernt
werden. Und dieser Charakter kommt vielfach auch äußerlich zum
Ausdruck, indem die Lektionen, ja wohl auch die einzelnen Stunden,
mit Gesang und Gebet eröflEhet werden. Die Schule ist eben die Vor-
halle der Kirche; oder sie ist die Kirche der Kleinen, wie die Kirche
die Schule der Großen ist.
Um aber auf die sozialen Verhältnisse noch mit einem Wort zurück-
zukommen, so muß man sich klar machen, daß auch der geistliche
Stand in der neuen Kirche seine Vornehmheit eingebüßt hat. Es
hängt damit zusammen, daß der Herrenstand aus dem geistlichen Amt
ausscheidet Im Mittelalter ergänzte sich der hohe Klerus wesentlich
aus den jüngeren Söhnen des Adels und Fürstenstandes, sie hatten auf
die Bistümer und Abteien ein anerkanntes Anrecht, während der niedere
Klerus sich aus dem Handwerk und Bauernstand reknitierte. Da mit
jenen Stellungen der hohe Klerus wegfiel, so verschwand auch der
Herrenstand; er wendete sich dahin, wo die Güter und Herrschaften
geblieben waren, zu Hofe, und suchte im Militiir- und Civildienst^ was
früher auch im Kirchendienst zu erreichen gewesen war: Stellung und
Geld. Es blieb nur der niedere Klerus; niederer Herkunft trieb er
ein demütiges Amt, die Predigt des Wort*?. Und dem entspricht die
Soziale Stellung der Lehrer. Konvikte. 329
soziale Schätzung. Vielleicht giebt es keinen sichereren Gradmesser
der Vornehmheit eines Standes, als die gesellschaftliche Herkunft und
Stellung der Frau. Die Pfarrersfrau des 16. Jahrhunderts stammt
aber durchweg aus den unteren bürgerlichen oder aus den dienenden
Standen, und ihre Stellung wird sich zunächst sehr wenig von der
Stellung ihrer Vorgängerin, der Haushälterin des geistlichen Herrn,
unterschieden haben. Aus den Visitationsberichten bei Bübgkhabdt
geht hervor, wie die Verheiratung des lutherisch gewordenen Pfarrers
mit der bisherigen Haushälterin fast als selbstverständlich angesehen
wurde. Dasselbe geht aus den Biographien hervor. So heiratete
Pellicanus zweimal eine Dienstmagd, die er nicht einmal selbst aus-
suchte, sondern von guten Freunden sich empfehlen ließ. Übrigens
scheint die öffentliche Meinung sich erst sehr allmählich an die Priester-
ehe gewöhnt zu haben; das alte Urteil über Frauen, die mit Pfaffen
hausen, wirkte noch lange nach (Janssen, VII, 77).
Ein Beweis dafür, wie wenig sich überhaupt die gelehrten Berufe
im 16. Jahrhundert noch von den niederen bürgerlichen Berufen los-
gelöst hatten, ist auch der nicht seltene Übergang vom geistlichen und
Schulamt zum Handwerk und umgekehrt. So greift Th. Platteb zur
Seilerei, Sebastian Fkanck zum Seifensieden, als es mit dem gelehrten
Beruf nicht gehen will. Besonders bildet Buchdruck, Buchhandel und
Korrektur einen wirtschaftlichen Beruf, der mit dem gelehrten häufig
vereinigt wird.^
Ich schließe hier eine Bemerkung über die öffentliche Fürsorge
für arme Schüler an, deren Erhaltung bei den Studien einen überall
wiederkehrenden Punkt in den Schulordnungen der Städte und Terri-
torien des 16. Jahrhunderts bildet. Die Sache hängt augenscheinlich
mit dem Eingehen der alten Formen des kirchlichen Lebens zusammen.
Wohlhabende und vornehme Leute, so begegnet uns überall die Klage,
wollen ihre Kinder jetzt nicht studieren lassen; mit den Prälaturen
* Eine kursächsische Kirchenorduung von 1557 setzt die Verbindung des
Kirchenamts mit dem Handwerk bei den Küstern als Regel voraus: „Es soll
aber einem Glöckner, der nicht examiniert und ordiniert, zu predigen nach-
gelassen, da sie aber examiniert und ordiniert und auch das Diakonat-Amt mit
zu versorgen berufen wären, soll ihnen auch Beichthören und Sakramenthören
nachgelassen werden." Da aber die Glöckner gemeiniglich sehr geringe Be-
soldung haben, auch die Kircheukinder und Gemeinde einen Müssiggänger auf
solchen Dienst zu erhalten unvermögend sind, so ist es gut und nötig, daß
Handwerksleute dazu berufen werden, denen aber nicht gestattet sein soll, außer-
halb auf Herrenhöfen , sondern allein daheim in ihren Häusern zu arbeiten.
(G. Müller, Das kursächs. Schulwesen um 1580, Progr. des Wettiner Gymn.,
Dresden 1888.)
330 //, 6, Oestcüi nnd Unterrichtshetrief) der protest Schulen um 1580.
war die Aussicht auf Einkommen und Stellung, wie sie in der alt^n
Kirche durch das Studium zu erreichen waren, in Wegfall gekommen.
Auch die Klöster, die bisher armen Knaben die Möglichkeit des Studiums
geboten hatten, waren beseitigt. Endlich drang man in der protestan-
tischen Welt überall auf die Beseitigung des Bettels. Hatt« die alte
Kirche den Bettel durch die Mönchsorden gleichsam geheiligt und
darum auch gar keinen Anstoß daran genommen, arme Schüler auf
diese Form des Unterhalts zu verweisen, so daß das ostiatim mendicare,
mit Gesang und ohne Gesang, eine ganz übliche Lebensweise der mittel-
alterlichen Scholaren war, so ließ man sich seit der Reformation aus
religiösen Bedenken wie aus ökonomischen Gründen die Abschaffung
der Bettler überhaupt und besonders auch der Bett^lschüler angelegen
sein. Durch alle diese Dinge und durch die gleichzeitige Unsicherheit
aller Verhältnisse des kirchlichen und staatlichen Lebens wurde nun
jene Verödung der Schulen bewirkt, die seit den 20er Jahren alle
Welt beunruhigte.
Dieser Not Abhilfe zu schaffen, hatte Lutheb, wie oben (S. 201 ff.)
erwähnt, der Obrigkeit zur Pflicht gemacht, eine Art Aushebung für
die Studien unter der Jugend des Landes zu veranstalten. Auf gewisse
Weise ist dieser Forderung durch die Begründung von Konvikten und
Stipendien zur Erhaltung tauglicher armer Knaben bei den Studien
entsprochen. In den Schulordnungen begegnet die Forderung solcher
Fürsorge zuerst in der braunschweigischen vom Jahre 1528 (s. o.S. 277);
sie ist von hier in die übrigen von Bugenhagen verfaßten Schulord-
nungen übergegangen: begabte arme Knaben soll man Gott opfern,
nicht wie früher, indem man sie ins Kloster steckt, sondern indem man
sie aus öffentlichen Mitteln auf der Schule hält und dann aufs Studium
schickt; vielleicht finden sich, heißt es weiter, unter uns auch fromme
reiche Leute, die hierfür Stipendien stiften (sondergen sold maken). In
der Hamburger Ordnung werden vier Stipendien zu je 30 fl. aus ge-
meiner Stadt Kasten ausgesetzt wofür die vier Kirchspiele jedes einen
Studenten auf Universitäten unterhalten sollen. In großem Stil ist
dieser Forderung dann durch die Stiftung der Landes- und Kloster-
schulen entsprochen. Da auch die Universitäten regelmäßig mit Kon-
vikten aus öffentlichen Mitteln, die oft einer ansehnlichen Zahl von
Stipendiaten Wohnung, Kost und Unterricht gewährten, dazu mit
privaten Stiftungen ausgestattet wurden, so war hierin Ersatz für die
Klöster und Stifte der alten Kirche und ihre Studienhäuser geschaffen.
Dazu blieb übrigens die alte aus dem Mittelalter überkommene
Gewohnheit, daß ältere Schüler und auch Studenten in den Bürger-
häusern als „Pädagogen", d. h. als Helfer der Schulkinder, dazu auch
Konvikte, Hauslehrer. 331
als Diener im Haushalt Unterkunft fanden. Für die fremden Schüler
wird dies Regel sein. So wird z. B. von der Schulordnung des Braun-
schweiger Rats von 1596 der Rektor angewiesen: er soll die fremden
Scholaren in die hospitia einweisen, und zwar je nach ihrer Geschick-
lichkeit in die besseren oder geringeren, auch die hospitia halbjährlich
visitieren. Untersagt wird ihm, von den Schülern eine „Verehrung"
dafür zu fordern. Den „Pädagogen" wird geboten: „In den hospitiis
sollen sie den Herrn und die Frau ehren, gehorchen und fürchten, sich
dienstfertig erzeigen, ohne derselben Wissen und Erlaubnis nicht aus
dem Hause gehen, viel weniger des Nachts außen bleiben, und mit der
täglichen Kost und Nachtlager, wie gering es auch sei, zufrieden sein
und sich drücken. Gegen die Kinder sollen sie freundlich und gelinde
sein, sie zu rechter Zeit aufwecken, anziehen, waschen, kämmen und
beten lassen, in die Schulen und wieder herausbringen, den Katechis-
mus, feine Psalmen und Gebetlein lehren, unterweisen, wie sie ihre
Schullektionen verstehen und die praecepta und phra^es fframmaiicas
in den täglichen scriptis brauchen sollen, zu züchtigem Essen, wenigem
Reden, eingezogenem Leben und feinen Gebärden, beide mit Worten
und ihren eigenen guten Exempel gewöhnen und ihre Ungebärde und
Übertretung gebührlich strafen. Und weil ihrer etliche in der Per-
suasion stehen, wenn man in der Schule Feierabend habe, dürfen sie
zu Hause auch nichts repetieren, soll ihnen dasselbe hinfüro nicht mehr
gestattet sein." Es wird ihnen dann noch das Stehlen, Klatschen,
Streiten mit dem Gesinde untersagt und endlich hinzugefügt: was von
den Schüler-Pädagogen gesagt sei, „das sollen sich die collegae scholae,
denen man freie Kost giebt, auch gesagt sein lassen".^
Die Pädagogen sind als eine ständige Einrichtung der Latein-
schulen anzusehen. Die Notwendigkeit der regelmäßigen häuslichen
Nachhilfe ergab sich aus der Unterrichtsmethode: die Lektionen waren
nicht so sehr Stunden eigentlichen Unterrichts oder gemeinsamer Arbeit
von Lehrern und Schülern, als vielmehr Aufgabe- und Abhörstunden.
Dabei wird denn natürlich Hilfe und Vorkontrolle außerhalb der Schul-
stunden unentbehrlich. Andererseits war das dringende Angebot solches
Hilfeunterrichts vorhanden: die fremden Scholaren, denen der öfiFent-
liche Bettel seit der Reformation vielfach verkürzt war, suchten Brot
und Unterkunft bei den Bürgern.
Ich schließe diese Darlegungen, indem ich ein Lebensbild hier
einfüge, das den Lebensgang und die soziale Stellung einer durchschnitt-
* Leges für die paedagogi findet man in ^^elen Schulordnungen, selir aus-
führlich noch in der der Stadt Soest vom Jahre 1730 (Progr. 1890).
832 //, (j\ Gestalt und üntenrichtshetrieb der protest. Schulen um 1580.
liehen Schüler-, Lehrer- und .Pfarrerexistenz aus dem 16. Jahrhundert
ungemein anschaulich vor Augen stellt; es ist den eigenhändigen Auf-
zeichnungen entnommen, die 6. Naübitzee in eins seiner Bücher ein-
getragen hat (mitgeteilt von M. Baltzee im Neuen Archiv für sächs.
Gesch., Bd. VII, 1, S. 111 fif.). Unser Georg ist als das vierte von
zwölf Kindern dem Schulgehilfen (baccalaureus) zu Mittweida im
Jahre 1560 geboren. Sein Vater wurde, so berichtet er, nachdem er
18 Jahre „in pulvere scholastico desudieret, und dameben in seinem
eigenen erkauften Häuslein der bürgerlichen Nahrung gepfleget", im
Jahre 1573 Diakonus in Mittweida; seine Mutter hielt bis an ihr
Lebensende (1599) allda die Mägdleinschule mit großem Lob, Ruhm
und Nutz. Aus seinem eigenen Lebenslauf hebe ich folgende Daten
heraus: 1572 zum erstenmal kommuniziert; 1574 vom Schulmeister
adhibieret ad personam Sibyllae uxoris Danielis projecti in speluncam
leormmj in actione Comoediae, 29. September 1574 wird er nach
Torgau auf die Schule geschickt; er blieb hier sechs Jahre, drei in
der Sekunda, drei in der Prima. Die ganzen sechs Jahre war er
paedagogus bei vier unterschiedlichen Herren, „bei welchen ich neben
meiner paedagogia vielerlei Hausarbeit habe müssen tun. also daß ich
habe müssen mit Jobst Zuckermachern etlichmal zu Märkten ziehen
und gleichsam sein Kramknecht sein. Und Schläge dabei ausstehen.
Bei Hans Schuhknecht dem Lohgerber habe ich oiftmals müssen ge-
tretene Leder in Schubkarren anheim führen und im Lohhause treiben
helfen. Bei Bartel Fritzschen, welcher jährlich ein acht oder neun
Gebräue hier getan, habe ich müssen ein Mältzer und Bräugehilfe
sein und manchen Sonnabend etliche 40 Zuber Wasser auf der Achsel
zum Bade tragen, darneben auch sonsten oftmals bis in die sinkende
Nacht mit Bier und Wein holen wie ein Hausknecht aufwarten. Bei
Veiten Weishansen Wundtarzten bin ich zwar wohl mit Hausarbeiten
an meinen studiis nicht verhindert worden, sondern habe meiner Knaben
mit der institutione privata in peculiari musaeo fleißig abwarten und
wenn wir oft Gäste gehabt, viel aufwarten müssen in multam noctem,
habe ihm auch gar viel Arzneikunststücke bei Nacht ausschreiben und
ihn auch, wenn er entweder auf die Trinkstube oder sonsten zu den
Nachbarn zum Abendtrunk gangen und gerne lange gesessen hat, heim
holen müssen. Habe mich aber allerseits bei ihnen also gehalten, daß
sie mich lieb gehalten und nicht gerne von sich gelassen." Auch in
Torgau agierte er mehrmals comoediam.
Am 23. Juli 1578 hatte er in Wittenberg cornua beanismi depo-
niert und sich inskribieren lassen; er blieb aber dann ruhig auf der
Schule zu Torgau und ging erst 1580 wirklich auf die Universität,
Aus dem Leben G, Naubitzers, 333
doch nicht nach Wittenberg, sondern nach Leipzig, wo ihm eine Stelle
im KoDvikt in Aussicht stand. Am 7. Juli traf er mit einem Zeugnis
seines Kektors ein und wurde, nachdem er von dem Lehrer der Kon-
viktoristen (alumni Electorales) geprüft, am 1. August in das Konvikt
aufgenommen. Darauf hielt er am 9. August in Torgau vor der ver-
sammelten Schule seine Valediktionsrede de gratitudine. Nachdem er
die Heimat besucht, langte er am 19. August wieder in Leipzig an,
wurde sogleich inskribiert und um 10 Uhr morgens im Speisesaal des
Konvikts dem fünften Tisch unter dem Senior Jon. Hipp zugeteilt;
zum Stubengenossen erhielt er einen „gelehrten und friedfertigen Jüng-
ling^* und bewohnte mit ihm eine Kammer des oberen Stockwerks des
neuen Paulinerkollegs. Am 14. Juli 1582 hielt er in der Pauliner-
kirche um 12 Uhr mittags seine erste Predigt 1585 war er Korrektor
in einer Druckerei zu Leipzig.
Am 16. September 1586 wurde er als Schulmeister und Stadt-
schreiber in Sonnenwalde, vom Amtmann des Grafen Solms, an-
genommen und am 12. Oktober vom kurfürstlichen Stipendium bona
face losgezählt et honesta testimonio dimittieret. In Sonnenwalde nahm
er einige Privatschüler an und ging loco didactri bei den Eltern der-
selben der Reihe nach zu Tisch. Am 24. Juli 1587 ließ er um Kuni-
gunde, die Tochter der Stadtschreiberswitwe von Sonnenwalde, anhalten,
verlobte sich mit ihr am 21. August und am 24. Oktober war Hoch-
zeit. Am 27. Dezember hielt er die erste Predigt zu Sonnenwalde.
Am 23. Oktober 1590 „ist mein Weib nauf gen Hofe (dem gräflichen)
gezogen zur künftigen Amme des Fräuleins Annae Ottiliens. Am 23. No-
vember 1591 ist sie wieder abgetreten und zu mir kommen und habe
also bei Lebtagen meines lieben Weibes ein ganz Jahr lang und ein
Monat müssen ein Witwer sein". Am 12. Mai 1598 wurde er zum
Diakonat in Sonnenwalde vociert, am 20. Mai in Leipzig examiniert
und am 21. Mai ordiniert Am 5. Juni zum ersten Beicht gesessen
und am folgenden das Amt gehalten. „Anno 1594 wegen meines
Strafamts über das siebente Gebot vom Amtsschösser Verfolgung aus-
gestanden." 18. Oktober 1595 den ersten armen Sünder ad locum
supplicii komitieret. 1600 Pfarrer zu Weisstropp geworden ist er dort
nach 1634 gestorben.
Wir wenden uns zum Unterricht. Zuerst ein paar Bemerkungen
über die äußeren Ordnungen. Zahlreiche Schulordnungen geben
darüber oft sehr ins einzelne gehende Anweisungen. Über ihre Gleich-
heit und Verschiedenheit hat man häufig Betrachtungen angestellt, um
daraus Verwandtschaftsverhältnisse der Schulordnungen zum BehuJ
*534 //, fß, n^j$Udi und KnUrrv:htH^/tirwj der proteti. Sehiden um 1580.
|/rii(fiiiati)^;li<;r ^lewchichteschreibung abzuleiten. Ich halte derartige Ver-
Miühii nicht für nehr fruchtbar. Im ganzen sind die Abweichungen
iri#Mfntlich durch die Verschiedenheit der Verhaltnisse bedingt, die
rfM;rein>':tirnniung in den pädagogischen Anschauungen ist sehr groß.
Zuerni ein Wort über die Schulklassen. Natürlich ist dieElassen-
tijiluni^ nicht erHt eine Erfindung des 16. Jahrhunderts, sie wird so alt
Hüin, uIh der Hchulunterricht überhaupt. Es sind oben (S. 20) Bei-
Hpi<*le nuttelulterlicher Klassenteilung gegeben. Aber allerdings ist erst
im l(J. Jahrhundert Stufengang und Gliederung genauer durchgeführt
worden. Drei lluuptstufen des Unterrichts sind durch die Natur
dor l)iiig(i HtdbHt g(jgeben; sie trettm in dem kursächsischen Schulplan
von 1528 uns d(uitlich entge^^en: 1. Lesen und Schreiben, 2. Elemente
th«r luleinischt^n Sprache, 3. Anfänge des humanistischen und philo-
Mophisnlum Unterrichts, nobst der j^nriechischen Sprache. Durch Zer-
legung von 2. und IJ. in zwei Abteilungen erhalten wir die seit der
KtMiMolidierung tles Schulwesens übliche Zahl von fünf Klassen für
die gri^Boron Schulen; sie begegnet uns in der hamburgischen, lübecki-
holu^n, Nolileswig-holsteinisühen, braunschweigischen, württembergischen,
kursächsisolu'n lijindosschulordnung. Allerdings sind hierunter zunächst
nioht sowohl lesti«, räumlich getrennte Schulklassen, wie heute, zu rer-
Mtohen, sondern vielmehr rnterrichtsstufen, die nun nach den ört-
liohon Verhältnissen, der Zahl der Schüler und Lehrer, zusammengelegt
odt»r uuoh weiter geteilt werden mögen. So heißt es in der württ^m-
lH»rgisohon Schulordnung von 1559: Es sollen fünf Klassen sein, nach
der Knubeu Verstand, caphts, und rmdition; doch nicht so, ..daß darum
eine jtnle Sohule alle fünf Klassen haben müsse, sondern daß nach
iielogtnihoit der FKvkeu und Knaben eine, zwei, drei oder mehr für-
^nuuumon wonleu", Jtnie Sohule steigt eben diesen Stufengang hinan,
si^weit die Kräfte der Schüler und Lehrer reichen. Alle beginnen ihn,
eine kleine Au/ahl vvdlendet ihn. TIht die Zahl der SohülerabteUungen
iMUseheidet die Zahl der Si*hüler. Da der untersten Stufe regelmäßig
du* weitaus grvl^re Anzahl von Schülern an^rehort» so wird diese häufig
iu mehr\*r\» l*uienibteiluui:ett rerleirt: woi^?i:eu die Schüler der oberen
SmtVr. derxni Au;ahl i^Tiuc ist. hAutiv: tur irewisse UnterrichtÄfieher
vsler ulvrhAUpr kouilnuiert wervieit. Eci isr das um s*> leiohter mOff-
lieh, .ils lu d'.T K:vel, wu» Sk'hoii friiher ^.^m-rrkr wori-e S. 269\
^eiv^^rer KÄum',- aIs K*.aS5?en j-ier AVteiluuii^^a vorhviaden w;in?n: kleine
Schu';*i^ Iwcceti itu'Ls: uur t^iuen ^e:cL::i^^n Kiiim iiir Vertu^rac^: für
jccv'^'c^' tüu-'k".;is;>;i:v wv^i-Li j^cT. :. B. :■: S:ur:^:irt. S^ol-esvi^. drei
Klassenteilung, Dekiirionen, 335
than wird, ist die weitere Gliederung der Klassen in Unterabteilungen,
denen Schüler vorstehen (decuriones); ihre Aufgabe ist namentlich die
Unterstützung des Lehrers in der Aufrechterhaltung der Schulordnung,
wozu auch der Gebrauch der lateinischen Sprache nicht bloß im Unter-
richt, sondern im ganzen Schulverkehr gehört. Aus Ra^umees Dar-
stellung ist die Sache besonders in ihrer Ausbildung in der Schule
Täozendobfs bekannt geworden. Die Einrichtung stammt aus den
mittelalterlichen Schulen. Ohne Zweifel war es die Not, welche dieses
Auskunftsmittel erfand. Bei dem durch zahlreiche Nachrichten be-
zeugten ungemein raschen Wechsel in der Frequenz der einzelnen Schulen
war eine ständige Besetzung einer bestimmten Anzahl von festen Lehr-
stellen, die übrigens auch aus anderen Ursachen nicht stattfinden konnte,
unmöglich. Da war es denn bei schnell wachsender Anzahl das nächst-
liegende, die besten und zuverlässigsten Schüler heranzuziehen. Das
Mittelalter kannte überhaupt nicht den festen Unterschied von Lehrern
und Schülern. Auf der Universität war derselbe Mann, der als Magister
in artibus las, regelmäßig gleichzeitig Student in einer der oberen
Fakultäten; auch der Baccalarius hörte nicht bloß, sondern hielt auch
Vorlesungen, natürlich nicht über seine eigene Weisheit In der Schule
fand dasselbe statt; die Gesellen (socii oder locati) waren nicht bloß
Gehilfen, sondern zugleich Schüler des Lehrers. In jenen Dekurien ist
nun das längst herkömmliche etwas genauer und systematischer durch-
geführt worden. Wie es scheint, stammt übrigens die Bestimmung der
württembergischen und sächsischen Schulordnung über die Dekurionen
aus der Straßburger Schule, und Stübm hatte damit das Lütticher
Vorbild nachgeahmt.
Ebendaher scheint auch die Ordnung der öffentlichen Pro-
motionsprüfungen zu stammen. In der Straßburger Schule spielen
die actus scholastici eine große Rolle, und von hier sind sie in die
württembergische und sächsische Schulordnung übergegangen. Übrigens
haben das erste Vorbild natürlich die mittelalterlichen Universitäten
mit ihren Prüfungen gegeben, die daran sich schließenden Promotionen
geschahen herkömmlich mit öffentlicher Feierlichkeit.
Wir wenden uns nun zum Unterricht selbst. Was die Gegen-
stände anlangt, so können wir sie unter drei Überschriften bringen :/?i>^aÄ,
linffuacy artes, oder: Glaubenslehre, Sprachen, Wissenschaften.
Die Glaubenslehre wird aus dem Katechismus und der Schrift geschöpft;
die Sprachen werden aus der Grammatik und den alten Schriftstellern
gelernt, daneben werden einige neuere benutzt; dem Unterricht in den
Wissenschaften endlich dienen, außer den Schriften der Alten, eine An-
zahl neuerer Lehrbücher.
336 II j 6. Gestalt tind Unterrichisheirieb der protest. Schtäen um 1580.
Vergleicht man diesen Unterricht mit dem Unterricht des Mittel-
alters, so treten folgende Veränderungen hervor.
1. Die Glaubenslehre ist ein neuer Unterrichtsgegenst^nd. Die
mittelalterlichen Schulen kennen ihn nicht Sie lehrten wohl das Sym-
bolum und die Gebete, führten auch die Kinder in die Kirche, aber
sie kennen keine Glaubenslehre und führen nicht zum Lesen der Schrift.
Apud adversarios, sagt die Apologie der Augsburgischen Konfession,
nuüa prorsus est xaTijxrjfTi^ puerorum. Bei den Protestanten wird
hierauf von vornherein ein sehr starkes Gewicht gelegt; die Kinder im
Glauben und der Schrift zu unterweisen gilt als die erste Aufgabe
aller Schulen.
2. Was die Sprachen anlangt, so liegen hier folgende Wand-
lungen vor.
Erstens: das mittelalterliche Latein ist abgeschafft, an seine Stelle
ist das klassische Latein getreten. Die lateinischen Klassiker, die
auf den mittelalterlichen Schulen fast gar nicht gebraucht wurden,
werden jetzt in allen Schulen gelesen.
Zweitens: die griechische Sprache ist regelmäßiger Unterrichts-
gegenstand in allen eigentlichen Gelehrtenschulen, und auch auf den
kleineren Schulen werden häufig die ersten Elemente gelehrt
Drittens: die hebräische Sprache wird in den ersten Anfangen
auf den großen Schulen gelehrt
3. Der vorbereitende Unterricht in den philosophischen Wissen-
schaften (artes), der im Mittelalter fast ausschließlich den Universi-
täten, nämlich der artistischen Fakultät angehört hatte, geht seit dem
16. Jahrhundert allmählich auf die Gelehrtenschule über; mit der zu-
nehmenden Ausdehnung des Kursus nimmt diese einen propädeutischen
Unterricht zunächst in der Dialektik, sodann auch in der Physik und
Kosmologie oder mathematischen Geographie und in der Mathematik
in sich auf. Hierdurch wird die Universität allmählich von dem ele-
mentar-wissenschaftlichen Unterricht entlastet, die philosophische Fakultät
hört mehr und mehr auf Obergymnasium zu sein; die alte artistische
Fakultät verschmilzt mit der Lateinschule zum Gymnasium. Dieser
Vorgang, der im 19. Jahrhundert zum Abschluß gekommen ist, be-
ginnt im 16. Jahrhundert. —
Was die Methode des Unterrichts anlangt, so wendet er sich, wie
im Mittelalter, zunächst an das Gedächtnis. Der Katechismus und
die Grammatik, und ebenso die Lehrbücher der Rhetorik und Dialektik
werden auswendig gelernt; „verhören" bleibt der technische Ausdruck
für die Thätigkeit des Lehrers. Ebenso wendet sich die Lektüre zu-
nächst an das Gedächtnis; die Schriitsteller werden vom Lehrer vor-
Der Unterricht, Gegenstand und Methode. 337
exponiert, am andern Tage vom Schüler „reposciert". Dazu kommt
dann, auf der Oberstufe mehr und mehr hervortretend, die Imitation;
sie fordert^ in schriftlichen Versuchen der Nachbildung lateinischer und
griechischer Prosa und Poesie bestehend, am meisten die Selbstthätig-
keit des Schülers heraus.
Hiermit ist das allgemeine Schema des Unterrichtsverfahrens ge-
geben; es wird durch drei Wörter bezeichnet: praeceptum^ exem-
plum, imitatio. Auf allen Stufen des Unterrichts gehen diese drei
Dinge neben einander her: das Lehrbuch enthält die praecepta, die
Regeln; auf allen Stufen wird das Lehrbuch der Grammatik gebraucht,
auf den oberen kommen dazu Lehrbücher der Poesie, der Rhetorik und
Dialektik. Die Lektüre der Autoren bietet exempla, Musterbeispiele
jeder Art schriftstellerischer Darstellung; der Unterricht zeigt an ihnen
die Bedeutung der Regeln, der grammatisch-stilistischen, wie der poetisch-
rhetorischen. Sie dient dem Schüler zugleich, Wörter, Wendungen und
Gedanken auszuziehen, die er, um sie zu merken, in seine Adversarien-
bücher einträgt. Die imitatio endlich ist das Ziel des ganzen Unter-
richts: der Schüler übt sich, an der Hand der Regeln des Lehrbuchs,
mit dem Material, das ihm die Lektüre zuführt, ähnliche Kunstwerke
der Rede zu komponieren, als die klassischen Autoren sie darbieten.
Die Erwerbung der Sachkenntnisse geht nebenher; indem man
die alten Autoren, die Redner und Philosophen, die Dichter und Histo-
riker liest, gewinnt man aus ihnen zugleich philosophisches, historisches,
antiquarisches, geographisches, naturwissenschaftliches Wissen (eruditio).
Ein besonderer Unterricht ist hierfür nicht erforderlich. Nur etwa die
Arithmetik und Geometrie, dann auch die Physik und Kosmologie
machen eigenen Unterricht und besondere Lehrbücher notwendig. Und
natürlich die Religion. —
Dieser kurzen Darlegung des Allgemeinen lasse ich nun eine etwas
eingehendere Darstellung des klassischen Unterrichts folgen.
Das Gewicht, welches zu allen Zeiten den Schulbetrieb in Gang
setzt und reguliert, ist der künftige Gebrauch der erworbenen
Kenntnisse und Fertigkeiten. Der letzte Gebrauch, worauf die Erlernung
der alten Sprachen abzielte, war nach der humanistischen Anschauung
die Hervorbringung von Litteraturwerken in jenen Sprachen, in Poesie
und Prosa. Den Humanisten handelte es sich um nichts Geringeres,
als um die Wiederaufnahme der litterarischen Produktion des Alter-
tums, welche ihnen durch die Invasion der gotischen Barbarei nur zu-
fällig unterbrochen zu sein schien. Das 16. Jahrhundert steht unter
der Herrschaft dieser Anschauungsweise. Es ist völlig ernst gemeint,
wenn Celtis der Horaz, Eobanus der Ovid der Deutschen genannt
Paulsen, Unterr. Zweite Aufl. I. -22
838 //, 6, Qestalt und Unlerrichtsbetrirb der protest. Schulen um 1580.
wird ; es soll damit gesagt sein, daß die litterarischen Erzeugnisse dieser
Dichter sich als gleichartige und gleichwertige an diejenigen der ge-
nannten Römer anschließen. Des Eobanüs Werke sind häufig in den
Schulen gebraucht worden, vor allem seine Psalmenübersetzung. ^ Das
war nicht unverständig; was konnte den Eifer und Mut des Schülers
bei seinen poetischen und prosaischen Schulübungen mehr beleben, als
die Thatsache, daß ein Zeitgenosse durch lateinische Verse ein be-
rühmter Mann, ein klassischer Autor, ja sogar ein wohlbesoldeter Pro-
fessor geworden war? Konnte man ihn hieran zu oft erinnern? Honos
et praemium ahmt artes, daher auch noch in der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts an lateinischen Poeten keineswegs Mangel war. Der be-
rühmteste unter der späteren Humanistengeneration war wohl, nicht
minder durch seine Kunst als durch seine Lebensschicksale, der Schwabe
NicoDEMus Feischlin (1547 — 1590), von dem D. Yb,. Stbauss ein
anziehendes Lebensbild gezeichnet hat. In Oden und Elegien, in Epen
und Dramen verherrlichte und ergötzte der Tübinger Poet und Professor
der Poesie seinen hohen Gönner, den Herzog Ludwig, und dieser lohnte
mit Geld und Naturalien, schenkend und borgend. Wie diese Poesie
gemacht und welche erstaunliche Virtuosität darin erreicht wurde, zeigt
Stbauss an vielen Beispielen. Fbischlins letzte große Dichtung ist
die Hebraeis, eine Darstellung der jüdischen Geschichte in Hexametern;
sie folgt in Anordnung, Motiven, Darstellungsmitteln genau dem Vor-
bild der Äeneis, ganze und halbe Verse werden ohne Bedenken dem
Vorbild entlehnt. Die Hebraeis entstand im Kerker, in welchen
Feischlin durch seine lose Zunge gekommen war; unter Krankheit
und Ungemach aller Art, ohne andere Hilfsmittel als eine deutsche
Bibel, verfertigte der Dichter die 12500 Hexameter (die Äeneis hat
ca. 10 000) in weniger als vier Monaten. Nebenher machte er noch
zwei biblische Komödien.
Allerdings waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die
humanistischen Tendenzen nicht mehr die herrschenden; die theologisch-
kirchlichen Interessen erlangten allmählich so sehr das Übergewicht,
daß selbst ein MELA^XHTHONscher Humanismus verdächtig wurde. Unter
den Männern, welche die Landesschulordnungen verfaßten und durch-
führten, hätten schwerlich viele die heute beliebte Formel gebilligt, daß
* Psalter iiim Universum carmine eiegiaeo reddituni aique explieatum ac
nuper in schola Marpurgensi editum^ 1537. Neue Auflagen sind zahlreich er-
schienen, z. B. zu Straßburg 1539, 42, zu Leipzig 1551, 57, 59, 71, 84. Ein
poeta laureatus^ Cur. Aülaeus, gab eine Chrestomathie aus seinen poetischen
Werken heraus: IL Eob. IJessi, Po'etae Üermani, Operum ffores ae sententiae
insigniores, conimodo studiosorum selecti.
Der klassische Unterricht; sein Zid: Eloquenz, 339
es die Aufgabe der Schule sei, die Jugend in den Geist des klassischen
Altertums einzuführen. Sie waren nicht so blind zu verkennen, daß
das Altertum Heidentum sei, und nicht so humanistisch, um zu wollen,
daß die christliche Jugend im Heidentum aufwachse. Sie hätten auch
kaum mehr die Formel gelten lassen, daß es sich beim Unterricht um
die Erwerbung der Fähigkeit handele, die antike Litteratur fortzusetzen.
Aber die Nachwirkung der humanistischen Bewegung war doch stark
genug, um den thatsächlichen Schulunterricht so zu gestalten, als ob
jenes humanistische Ziel noch in voller Geltung gewesen wäre. Auch
der entschiedenste Theologe konnte nicht umhin, die Fertigkeit in
klassischem Stil und ciceronischer Sprache sich auszudrucken, für ein
unbedingt notwendiges Erfordernis jedes Gelehrten anzusehen. Und
fast nicht minder notwendig war unter dieser Voraussetzung die Be-
nutzung der heidnischen Schriftsteller in der Schule; gab es auch
neuere christliche Schriftsteller, wie Eobancs, Mantüanüs u. a., so blieb
doch die Thatsache, daß ihre Werke Nachahmungen der alten Origi-
nale waren; und wer sollte es nicht geraten finden, lieber die Originale
als auch die besten Nachahmungen, oder wenigstens neben diesen auch
jene nachzuahmen? Also Eloquenz, und zwar zunächst in lateinischer
Sprache, ist das erste Ziel des gelehrten Unterrichts, die Nachahmung
der alten Schriftsteller das wesentliche Mittel.
Zur Eloquenz gehören zwei Dinge: Sachen und Worte. Beide
zu verschaffen ist daher die erste Sorge des ganzen Unterrichts. Bßer-
über sind alle gymnasialpädagogischen Schriftsteller des Zeitalters einig,
Agkicola und Wimpheling, Ebasmüs und Melanchthon, Stüem und
Neander. Anfang, Mitte und Ende aller jener Schriften de formando
studio ist: res et verba.
Von diesem Gesichtspunkt wird Auswahl und Behandlung der
Lektüre auf Universitäten und Schulen gleichmäßig beherrscht Das
muß man sich ein für allemal klar machen. Alle Lektüre ist durchaus
auf den unmittelbaren Gebrauch gerichtet. Es handelt sich darum aus
dem Schriftsteller zu lernen, was und wie man reden müsse. Und in
demselben Sinn wird alle Erklärung, auf der Universität wie auf der
Schule, gegeben; sie hat gar nicht die Bedeutung einer frostig- wissen-
schaftlichen, philologisch-historischen Interpretation des Textes, sondern
sie will vor allem und zuerst den Autor nutzbar machen.
Ich gebe zunächst für den klassischen Unterricht auf den Uni-
versitäten ein paar Nachweisungen.
Melanchthon spricht das Prinzip, dem er in der Auswahl und
Erklärung der Schriftsteller folge, in der Vorrede zu seiner Ausgabe
der Werke und Tage des Hesiod (C. R. XI, 112ff.; 1526) aus: „Ich
22*
340 //, 6. Gestalt und UnterricJitshetrieb der protest. Schulen um 1580.
bemühe mich stets euch solche Schriftsteller vorzulegen, welche zu-
gleich die Erkenntnis der Dinge mehren und die Rede bereichem. Denn
diese beiden Stücke gehören zusammen, so daß eins nicht sein mag
ohne das andere; es kann niemand gut reden ohne Kenntnisse und die
Erkenntnis ist lahm ohne das Licht der Rede. Wie der Schiffer nach
den Sternen seinen Lauf richtet, so sind alle unsere Studien nach diesem
Prinzip zu richten: daß wir uns einerseits wissenschaftliche Einsicht,
in den Geisteswissenschaften und in den Naturwissenschaften, anderer-
seits wenigstens ein gewisses Geschick, über ernste Dinge uns auszu-
drücken, verschaffen." In jeder dieser Absichten sei nun Hesiods Werk
empfehlenswert. Unter den gnomologischen Schriftstellern sei er ohne
Widerrede der erste; er gebe nicht nackte Vorschriften, sondern ver-
weile bald bei dem Lob der Tugend, bald bei dem Schimpf des Lasters
und, was das Wirksamste sei, er lehre ernst und gewissenhaft, daß die
Guten von Gott belohnt und die Bösen bestraft, werden. In dem
zweiten Teil des Werks werde größtenteils von der Natur gehandelt^
über die Erde und ihre Früchte, die Jahreszeiten, die Bewegungen der
Gestirne, welche Kenntnis ebenso angenehm als zur Bildung notwendig
sei. Endlich gebe er zur Erwerbung der Redekunst manchen schätz-
baren Beitrag; er brauche gewählte Worte, welche, zur rechten Zeit
verwendet, der Rede Würde und der Einsicht Gewicht geben; so nenne
er z. B. die Könige Dorophagen oder Abgabenfresser, und was für eine
treffliche Wortbildung sei nicht Faustrechtler {/ei()odtxai)? Derartiges
finde sich tausenderlei, ebenso auch vortreffliche Konstruktionen und
Figuren, so daß kein Zweifel sei, daß man aus ihm der eigenen Rede
Reichtum und Fülle zuführen könne. Eine vorzügliche Übung sei es,
die schönsten Stellen in lateinischen Versen wiederzugeben; dadurch
werde das Urteil geschärft, die Fülle der Rede gemehrt und die Inter-
pretationskunst gebildet. Aber, möchte jemand sagen, was hilft dieser
ganze Unterricht zur Religion? „Unmittelbar allerdings nichts, denn
diese ist eine Wirkung des heiligen Geistes. Aber für die Kenntnis der
heiligen Schrift ist die griechische Sprache notwendig und für Auslegung
derselben ist ÜbuDg in allen Künsten erforderlich. Eine große Kunst
ist die Eloquenz und, wie es in der Tragödie heißt, Herrin der Dinge.
Das ist die Ursache, weshalb meines Erachtens auch den Theologen
diese Disziplinen nützlich sind".
Aus demselben Gesichtspunkt wird in einer späteren Vorrede zum
Homer dieser empfohlen (1538, C. R. XI, 397ff.). Unter aUen Autoren,
die heiligen selbstverständlich ausgenommen, erreiche keiner den Homer,
weder in der Lehre (doctrina), noch in der Schönheit der Form. In
der Ilias habe er die Künste des Krieges, in der Odyssee die Künste
Der klassische Unterricht auf den Universitäten, 341
des Friedens beschrieben, ohne Zweifel in der Absicht, diejenigen, welche
zur Eegierung eines Gemeinwesens berufen seien, hierfür zu unter-
richten und vorzubereiten; was dann an beiden Dichtungen ausführlich
dargelegt wird. — Man sieht, wir haben es nicht mit philologischen
Vorlesungen über die Autoren zu thun, sondern mit Anleitungen, aus
ihnen Sachen und Worte zu entnehmen.
Als besonders charakteristisch für die Behandlung der alten Autoren
im üniversitatsunterricht teile ich aus einer Sammlung von Rostocker
Universitätsschriften aus den Jahren 1560 — 1567 einiges mit Joh.
PossELiüs und David Chytbaeus, beide Schüler Melanchthons, ver-
traten hier die griechischen Studien. Jener ladet zur Vorlesung des
Sophokles mit folgender laudatio autoris ein (6. Juni 1560).^ Zunächst
heißt es in allgemeiner Wendung: das Ziel unserer Studien sei, ut et
scientiam rede de rebus divinis ac humanis judicandi et facultatem res
bonos et utiles propria et perspicua orations explicandi nobis paremus.
Hierzu könne Sophokles führen, als welcher sei omnibus sapientiae et
eloquentiae numeris perfectuSy et intelligendi et dicendi magister optimus.
Nach den heiligen Schriften gebe es keine Bücher, die ernster Moral
und Lebensweisheit predigten, als die Tragödien des Sophokles und
Euripides; ihr beständiges Thema sei: e/ei iheog ixSixov Öfifia. An
den Beispielen furchtbarer Strafen der Frevler zeigen sie Gottes Ge-
rechtigkeit und unsere Pflichten. „Jede einzelne Tragödie des Sophokles
enthält einige vorzügliche Erörterungen oder locos communes, und viele
herrliche und wichtige Sentenzen und Lebensregeln; ich werde dieselben
in den einzelnen Tragödien mit Gottes Hilfe auf die gleichlautenden
Vorschriften der zehn Gebote, als auf ihre Quellen, zurückführen. Im
Ajax kann das Beispiel des bestraften Hochmuts und Verachtung des
göttlichen Beistandes auf das erste, das Beispiel der Mäßigung im Glück
und in der Rache, welches Ulysses giebt, auf das fünfte Gebot zurück-
geführt werden. Die Strafe des Ehebruchs an Klytemnestra und Aegistus
in der Elektra, des Incests im König Oedipus, der grauenvolle Unter-
gang des Herakles in den Trachinierinnen, welcher durch zügellose
Liebesleidenschaft veranlaßt wird, kann auf das sechste Gebot zurück-
geführt werden. In der Antigone, welche vor allen durch Menge und
Wichtigkeit der schönsten Sentenzen sich hervorthut, steht die Erörterung
in Beziehung zum ersten und vierten Gebot: ob man Gott mehr als
der Obrigkeit gehorchen solle. In den beiden Oedipus wird die Lehre
* Scripta in acad. Rost. pitbL proposita 1563—1567. Rost. 1567. S. 46 ff.
Die Sammlung ist der gleichnamigen Wittenberger nachgeahmt; sie enthält An-
schläge der akad. Behörden, Eiuladangen der Professoren zu Vorlesungen, öffent-
liche Reden und Gedichte u. s. f.
342 II, 6. Gestalt und UnterridUsbeirieb der protest. Schulen um 1580,
des vierten Gebots über die furchtbaren Strafen des Vatermordes und
die den Eltern schuldige Pietät und die Strafen undankbarer Kinder
illustriert Der erste Teil des Philoktetes enthält eine Erörterung,
welche aus den Quellen des achten Gebots fließt: ob man an die offene
und einfaltige Wahrheit in Wort und That jederzeit sich halten müsse,
oder ob es einmal erlaubt sei, um des gemeinen Nutzens willen zu lügen.
Der andere Teil stellt die Lehre des ersten Gebots vor: ohne Gottes
Beistand lasse sich nichts Segensreiches vollbringen. Und am Schluß
findet sich jene fromme und schöne Sentenz: ri yuQ evaißBia avp-
&vi)(Txti ßgoToTg, xuv i^Gjai xav d^dvfoaiv ovx ccTtöXXvrai. Doch auf
die schönen Stellen und Sentenzen werde ich bei der Behandlung der
einzelnen Tragödien aufmerksam machen, und zugleich darauf^ was ans
der Lektüre des Sophokles für den Stil sich gewinnen lasse. Denn
unter den drei großen Tragikern ist des Sophokles Eloquenz zu allen
Zeiten von den Kundigsten am meisten bewundert worden: durch Glanz
und Wucht, durch Fülle der Sprache und Gedanken, durch Erhaben-
heit und Majestät ist er den andern überlegen, im besonderen auch
dem Euripides, dessen Rede knapper und einfacher ist und mehr Fülle
der Gedanken als der Sprache zeigt.
Da zum Markt eine Anzahl Exemplare angekommen sind, so fordere
ich die Studierenden auf zu kaufen und die Gelegenheit, diesen vortreff-
lichen Autor zu hören, nicht zu versäumen."
Im Oktober macht er in einem neuen Anschlag den Beginn der
Vorlesungen mit dem Ajax des Sophokles bekannt. Er zieht vier iocos
insigniores aus demselben heraus: der Hauptzweck der Tragödie sei,
wie oben, die Strafe des Hochmuts und Verachtung göttlichen Bei-
standes zu zeigen, in Übereinstimmung mit dem ersten Gebot Ein
zweiter locus communis sei die Vergleichung der kriegerischen und
staatsmännischen Tüchtigkeit, am Beispiel des Kriegshelden Ajax und
des Ulysses, der sich als sapiens Cojisiliarius seu Senator et homo doctus
erweist. Der dritte die von Ulysses bewiesene Mäßigung. Viertens:
auch andere wichtige loci und schöne Sentenzen über die Tugenden
und Pflichten kommen vor und werden auf die zehn Gebote zurück-
geführt werden : z. B.
ovx ccQ Tcicf k(TTt zfjöe f.ni &efüv fierd.
Item
Hie gehören ad primam tabvlam u. s. w. Mit ähnlicher Darlegung der
Vurtrefi"lichkeit des Stücks ladet er zum Hören der Elektra am 19. April,
des König Oedipus am 1. Oktober 1561, der Antigene im April, des
Oedipus Coloneus im Oktober 1562, endlich zum Schluß, der Trachi-
Der klassische Unterricht auf den Universitäten, 343
nierinnen im April 1563 ein. 1565 las er über des Pythagoras aurea
carmina und über die Odyssee.
Chttkaeus behandelte Herodot und Thucydides, ebenfalls
beide ganz, jenen von 1559 bis April 1562, diesen vom April 1562
bis Herbst 1565. Zu jedem Buch wird durch einen Anschlag ein-
geladen, worin alle Dinge aufgezählt werden, die man daraus lernen
könne. Das zweite Buch des Herodot z. B. bietet vortreffliche mora-
lische Sentenzen; wie ein Edelstein glänzt hier: töv fieyüXmv dStxrj-
fjuiroyv fxeyä/Mt elm xai ai nfnagiat naQcc rov &bov, wofür als Beispiel
die Zerstörung Trojas um des Ehebruchs des Paris willen dient.
Wichtig ist femer im zweiten Buch die Beschreibung Ägyptens und
der Ägypter, weil darin ein heidnischer Bericht den Bericht der heiligen
Schrift in vielen Punkten bestätigt. Auch geht aus der Darstellung
des Ursprungs der heidnischen Religionen hervor, daß die christliche
Religion die allerälteste und erste und darum wahrste ist: die ältesten
Orakel der Welt sind nämlich, nach Herodot, das des Jupiter Ammon
und des Zeus zu Dodona, jenes offenbar auf Ham, den Sohn Noah,
dieses auf Dodanim, den Sohn Javan, weisend: beide also erst nach
der Sündflut begründet. Die griechische Religion ist noch viel jünger,
erst um das Jahr der Welt 3100 von Homer und Hesiod zusammen-
gefaßt, zu den Zeiten der Propheten Jonas und Oseas, da die Lehre
der wahren Kirche schon 3000 Jahre in der Welt war.
Nicht minder erweist sich Thucydides wichtig. Zwei Ziele haben
die Studien: yvxTfvai xal iofiijvevfrai mit dem Ausdruck des Thuky-
dides. Zu beiden leitet seine Geschichte. Die politische Einsicht lehrt
er nicht nur in sehr inhaltreichen Reden und Sentenzen, sondern
illustriert sie auch mit den wichtigsten Beispielen von Ratschlägen
und Erfolgen. Die Geschichte ist ein Gemälde und Theater des
menschlichen Lebens, welches auf alle Zeiten paßt. Wie die Natur
des Menschen selbst, so bleiben auch die Anlagen, Sitten, Geschäfte,
Gelegenheiten, Ratschläge, Erfolge, Irrtümer und Verbrechen dieselben,
nur die Schauspieler wechseln. Die Geschichte des Thukydides ist ein
schlagendes Bild der gegenwärtigen deutschen Angelegenheiten: Ent-
schlüsse, Ratschläge, Versuche, Bündnisse, Macht- und Rachebestrebungen
unter dem Vorwand der Religion. Sie zeigt, wie Leichtsinn und Ehr-
geiz in politischen Unternehmungen sich bestraft. Er zählt nun ein-
zelne Fälle zu dieser Maxime aus den acht Büchern auf. — So kann
man (tvvbgiv noXtnxi^v bei Thukydides lernen. Aber auch für die
Eloquenz läßt sich viel profitieren. Denn wenngleich die Rede des
Demosthenes der des Thukydides unähnlich ist, so hat doch jener die
Weisheit, Gewalt, Schärfe, die nervigte und gedrängte Rede des Historikers
344 //, 6'. Gestaii und rnterrichtshetrieb der protesL Schulen um 15S0.
SO sehr bewimdert, daß er den Thukvdides achtmal mit eigener Hand
abschrieb.
Chttbaeus las daneben über das neue Testament , ebenfalls von
Anfang bis Ende, in sechs Jahren; der Sinn der Lektüre ist derselbe.
Zum ersten Petrusbrief z. B. ladet er ein (Weihnacht 1560) mit der
Bemerkung: nach gewohnter Weise werden wir anfiangs eine Inhalts-
übersicht der Epistel geben, und sodann die Hauptstellen für Lehre und
Erbauung herausheben, welche in den täglichen Gedanken an Gott und
den Gefahren des Lebens Anwendung haben.
Als ein Beispiel der Durchführung dieser Behandlung mag noch
des Sabinus Erklärung der Ovidischen Metamorphosen (Königs-
berg 1554, vgl. bei Töppex, 9, 263 flF., woselbst noch neun Ausgaben
des Werks erwähnt sind) angeführt werden. Das Werk wird, so sagt
der Erklarer, zwar in erster Linie um der Sprache und der Art der
Verse willen den Jünglingen vorgelegt. Aber auch um der Sachen
willen verdient es gelesen zu werden. ,.Das Gedicht enthält die er-
lesensten Fabeln aller Dichter, in welchen herrliche Beispiele der gött-
lichen Gnade und des göttlichen Zornes vorgelegt werden; es lehrt, daß
die menschlichen Geschicke nicht ein Spiel des Zufalls sind, sondern
von göttlicher Macht regiert werden ; daß ein höheres Wesen ist> welches
frommen und guten Handlungen seinen Beistand schenkt, Verbrechen
dagegen durch alles mögliche Unglück bestraft, vor allem Verachtung
der Religion. Außer diesen Beispielen für das Leben aber enthält das-
selbe Gedicht so viel Astronomisches, so viel Physisches, so viel Namen
und Beschreibungen von Gegenden, Örtern, Städten, Bergen, Flüssen, daß
man aus demselben, hat man nur einen guten Erklärer, zum großen
Teil die Geographie, die Sphärik und die Naturgeschichte lernen kann.
Es ist also kein müßiges und possenhaftes und bloß zum Vergnügen
bestimmtes Gedicht, wie einige thöricht glauben, sondern ein thesaums
eruditionis. Endlich bringt es noch den Vorteil, daß es den der Bered-
samkeit Beflisseneu mit einem vollständigen oratorischen Apparate ver-
sieht. Deshalb ist dieses AVerk mit Recht allen zu empfehlen.
In dieser Absicht ist nun der Kommentator bemüht, das^ Werk
nutzl)ar zu machen. Er giebt zu den Fabeln die Moral; aus der Ge-
schichte des Phaethon z. B. lassen sich folgende zwei loci morales ziehen:
die Gebote und Lehren der Eltern nicht zu verachten, und: Versprechungen
sind nicht zu halten, wenn demjenigen, der das Versprechen erhalten
hat, nicht damit genützt ist. Aus der Fabel der Verwandlung der
Niobe werden drei loci gezogen: man muß Gottes Zorn durch Gebete
besänftigen, nicht durch Schmähung mehren; die Bösen werden durch das
Leiden verstockter; die Gebete der Verstockten werden nicht erhört. —
Schätzung der Eloqiiem, ihre Ursachen. 345
Nicht minder läßt sich Sabinus die rhetorisch -poetische Applikation
seines Autors angelegen sein. Er giebt Winke, wie man die poetischen
Figuren benutzen kann: der Dichter läßt Rhodos vom Sol geliebt werden,
so kann man Preußen vom Boreas geliebt werden lassen, eo quod Boreas
fere perpetuo in hac regiorte spirat Bei Gelegenheit der cimmerischen
Finsternis bemerkt er: es giebt auch andere Cimmerier, die niemals
das Licht sehen, nempe homines ebriosij quorum hie ad septentrionem
infirätus est numerus; die Urnen der Danaiden kann man allegorisch
deuten auf die Kassen der Fürsten. Ganze Verse werden zu sprich-
wörtlicher Anfuhrung empfohlen, auch Stellen nachgewiesen, wo sie so
gebraucht sind u. s. f.
So wurden die klassischen Autoren auf den Universitäten gelesen
und erklärt. Die Deklamationen bildeten das Korrelat zu dieser Lek-
türe, sie gaben Übung in der Anwendung des Gelernten. Gelegenheit
zur epideiktischen Verwertung der erworbenen Fertigkeit boten sodann
alle Vorfalle des öffentlichen und privaten Lebens, welche aus dem Ge-
leise des Alltäglichen heraustraten : jede akademische Feierlichkeit, Pro-
motionen, Rektoratswechsel, Schulaktus, Vermählungen, Todesfalle, Ge-
burten, sie forderten alle, um mit geziemender Würde vor sich gehen
zu können, ihre declamationes, carmina conffratulatoria, epifhalamia,
epicedia etc. Ein ungeheurer Konsum von lateinischen Reden und
Versen fand statt, er dauerte bis ins 18. Jahrhundert hinein, in
welchem er allmählich durch französische und deutsche Rede und
Poesie verdrängt wurde.
Für uns hat diese absolute Schätzung der Eloquenz zunächst etwas
Befremdliches. Unsere Zeit legt auf Kenntnisse ein sehr großes, auf
ihren Vortrag nur ein mäßiges Gewicht; die Prüfungen haben uns
daran gewöhnt, auch über großen Mangel an formaler Darstellungs-
gabe hinweg zu sehen, wenn nur die Sachkenntnis vorhanden ist. Ver-
suchen wir uns verständlich zu machen, warum das 16. Jahrhundert
anders empfand und urteilte, so werden wir etwa auf folgende Punkte
uns geführt sehen.
Die Sache hängt erstens mit dem Umstand zusammen, daß die
Sprache aller litterarischen Darstellung eine fremde war. Es liegt in
der Natur der Sache, daß beim Gebrauch einer fremden Sprache die
Aufmerksamkeit mehr als beim Gebrauch der heimischen auf die sprach-
lich-stilistische Form, und um so viel weniger auf den Inhalt gerichtet
ist. In der heimischen Sprache ist die Form gegeben und selbstver-
ständlich, in der fremden ist sie mit Mühe erlernt und wird nicht ohne
Mühe erhalten; der Wert der Sache wird aber hier wie überall nach
der Anstrengung bei der Erwerbimg und der Seltenheit des Besitzes
346 II, 6. Gestalt und Unierrichtshetrieh der protest. Schulen um 1580,
geschätzt. Der Gebrauch einer fremden Sprache hat eben darum überall
die Gefahr bei sich, zu formaler Virtuosität bei innerer Hohlheit zu
führen; er hat die Tendenz, die Litteratur und die Menschen selbst zu
entseelen.
Ein zweiter Umstand ist der, daß die wissenschaftlich-philosophische
Forschung noch in den Anfängen war. Im ganzen lebt die akademische
Welt des 16. Jahrhunderts noch in der Vorstellung, daß Philosophie
und Wissenschaft von den Alten zum Abschluß gebracht sei. Der Ge-
danke, über das vom Altertum Erreichte hinaus zu gehen, lag den
meisten humanistischen Oratoren und Poeten ungefähr ebenso fem,
als den Schulphilosophen des Mittelalters. Gegenwärtig gilt wissen-
schaftliche Forschung als die erste Aufgabe des Universitätslehrers.
Damals galt als seine eigentliche Aufgabe: aus den Schriften der Alten
als den Quellen der Wissenschaft mit sicherem Urteil zu schöpfen und
das Gewonnene mit Geschmack für die eigene Bildung und für den
Vortrag zu verwerten. Dabei mußte auf den Vortrag das Hauptgewicht
fallen. Heute wird die Form als wenig erheblich angesehen; wenn
nur die Ergebnisse neu und sachlich richtig sind, läßt man sich eine
unbeholfene Darstellung leicht gefallen. Anders urteilte das 16. Jahr-
hundert. „Erkenntnis der Dinge," sagt J. Stüem, „ohne geschmackvolle
Darstellung ist barbarisch und häßUch, und mit dem Verderbnis der
Form beschleicht die Menschen eine ungesellige Meinung von ihrer
eigenen Weisheit" (Vormbaum, I, 655). So urteilen alle Humanisten.
Melanchthon im Encominm eloquentiae (C. R, XI, 50flF., 1525) meint:
nicht zu sagen sei, wie elend jemand ohne die artes dicendi alle Wissen-
schaften treiben werde: die Einsicht folge der Eloquenz, wie dem Körper
sein Schatten. Die Formel ist ungemein charakteristisch für den Huma-
nismus: wir denken, mit der Einsicht konmit die Rede; dem Huma-
nismus ist es ganz ernst mit der ümkehrung. Mit dem Verlust der
Rede hat das Mittelalter, das ist die unendlich oft vorgetragene Ge-
schichtsphilosophie des Humanismus, nicht bloß den guten Geschmack,
sondern auch die Wissenschalt, die Sittlichkeit und die Religion ein-
gebüßt.1
^ Eine nicht uninteressante Probe akademischer Eloquenz ist kürzlich in
den Jahrb. f. Phil. u. Päd. (Bd. CXLVIII, S. 152) von Wieseuahn mitgeteilt
worden: eine Rede De America,, die der Prof, Eloquentiae Erasmüs Schmidt zu
Wittenberg 1602 bei der Magisterpromotion hielt. Einer umständlichen laudatio
der Landesherren und des allmächtigen Gottes, daß sie die Universität und die
Kirche bisher erhalten haben, und einer nicht minder umständlichen Entschul-
digung wegen des Mangels an Beredsamkeit und Rechtfertigung der Wahl des
Themas folgt dann eine sehr kurze und magere Beschreibung Amerikas, „das
beinahe größer ist als die übrigen drei Erdteile zusammen". Dann eilt der
Schätxung der Eloquenz, ihre Ursachen, 347
Als ein drittes Moment kommt in Betracht, daß im 16. Jahr-
hundert die Rede in erheblich weiterem Umläng als heute das Mittel
aller geistigen Wirkung war. Gegenwärtig ist das gedruckte Wort das
große Mittel der Gedankenmitteilung. Damals begann man eben erst
zu lesen; das gesprochene Wort beherrschte noch die öffentliche Ver-
handlung, wie den Unterricht. Die Predigt, die öffentliche Rede, das
Religionsgespräch, die mündliche Verhandlung im Rat und auf dem
Reichstag, das waren die Formen der Wirkung, neben denen denn
freilich in eben dieser Zeit die Presse Einfluß zu gewinnen begann.
Auch der Lernende war noch wesentlich auf den mündlichen Vortrag
angewiesen; für die meisten Studierenden war, außer einigen Text-
büchern, die Vorlesung noch die Quelle aller Belehrung.
Endlich erwäge man noch dies: auf den Universitäten des 16. Jahr-
hunderts war die theologische Fakultät mit ihrer Vorschule, der philo-
sophischen, weitaus die wichtigste, der Bedeutung und der Zahl nach;
neben ihr kommt nur noch die juristische in Betracht, die im Auf-
Redner, von diesem heiklen Gegenstand wegzukommen, zu einer langen Er-
örterung der Frage: ob Amerika den Alten bekannt gewesen sei? Er bejaht
die Frage und vernimmt als ersteZeugen dafür sehr ausführlich — Homer und
Virgil. Dann folgt eine Hin Weisung auf ein paar Stellen bei Plato, Aristoteles,
Strabo und Plinius, denen sich eine breite Behandlung der alttestamentÜchen
Schiffart nach Ophir anschließt. Den Schluß macht eine umständliche Er-
örterung der Frage: wie die Kenntnis dieses ungeheuren Kontinents wieder
habe verloren gehen können, wobei wieder Stellen aus Plato und Aristoteles
die Hauptrolle spielen. Die Rede klingt aus in ein Gebet: »^Möge der allgütige
Gott sein lauteres Wort und die edleren Künste ewig unter uns reden lassen;
möge er in uns nicht so sehr einen Eifer wachrufen, diesen Erdkreis kennen
zu lernen, als vielmehr die Sehnsucht erwecken, in jene himmlische Heimat
einzugehen, wo wir alle Bürgerrecht haben*'. — Höchst charakteristisch tritt
hier die Richtung des akademischen Unterrichts im 16. Jahrhundert hervor.
Wenn heute jemand einen Vortrag über Amerika ankündigt, dann würde er es
für seine Aufgabe halten, zuerst sich selbst möglichst gut zu informieren, Daten
über Land und I^ute zu sammeln, um dann den Hörern eine Vorstellung von
jenem Stück Wirklichkeit und unseren Beziehungen zu ihm zu geben. Der aka-
demische Redner des 16. Jahrhunderts thut nichts von alledem; von einem
sachlichen Interesse an jenen Ländern, die denn doch schon eine gewaltige
Rückwirkung sowohl auf die wirtschaftliche Entwickelung der europäischen
AVeit, als auf die Gestalt unserer Weltkenntnis übten, findet sich in seiner Rede
kaum eine Spur: sein Interesse an dem Gegenstand ist so ziemlich damit er-
schöpft, daß er ihm zur Entfaltung seiner lateinischen Eloquenz und seiner
Kenntnis antiker Schriftsteller dient. Übrigens wird auch die historische Frage,
worauf die Sache hinausläuft: ob Amerika den Alten bekannt gewesen sei?
nicht bloß ohne alle wissenschaftliche Methode, sondern auch ohne sichtliches
Interesse an einer sachlichen Aufklärung behandelt: ein bloßes Hin- und Her-
wenden von Stellen, ohne Drang zur Erkenntnis: reine Eloquenz.
348 U, 6. Gestalt und Unterrichtsbetrieb der protest. Schulen um 1580.
steigen ist. Die Zahl der Mediziner war schlechthin geringfügig und
Naturforscher, Chemiker, Techniker gab es überhaupt nicht. Für Geist-
liche und Schulmänner, daneben auch für die Juristen, konnte nun in
der That Eloquenz als das Haupt^tück der Berufsübung angesehen
werden. Vor allem gilt dies von dem protestantischen Geistlichen, dem
„Prediger": was das Amt von ihm als beinahe tagliche Leistung
forderte, das war eben die Rede. Eloquenz ist also seine spezifische
Tüchtigkeit.
Hierauf ist denn auch der theologische Unterricht ganz und gar ge-
richtet; seine Aufgabe ist, den Prediger mit dem zu versehen, was den
Redner macht: res et verba, die wahre Lehre und die Fähigkeit, sie
darzulegen. Der exegetische Unterricht, den die Reformation in den
Mittelpunkt rückt, ist nicht wissenschaftlicher, sondern rein praktischer
Natur. Ganz ebenso, wie der eben geschilderte klassische Unterricht
die römischen und griechischen Autoren in Absicht auf Eloquenz be-
handelt, so zeigt der theologische Unterricht dem künftigen Prediger,
wie er die Schriften des alten und neuen Testaments zur Lehre und
Erbauung brauchen kann; die Schrift wird nicht als Objekt philo-
logischer und historischer Forschung, sondern lediglich als Quelle der
geistlichen Eloquenz behandelt. Von Luthers Interpretationsvorlesungen
sagt KösTLiN (Leben II, 434): „ihr Wert besteht nicht in strenger
Wortauslegung, sondern in der ungemeinen Fülle von dogmatischen,
ethischen und praktischen Ausführungen aller Art, welche er an die
Textauslegung knüpft**. Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts blieb
Form und Absicht des theologischen Universitätsunterrichts im wesent-
lichen dieselbe.
Dem entspricht, daß auch geistliche Rhetorik auf der Universität
gelehrt wurde. Im Clausthaler Programm von 1883 hat Wrampelmeter
eine handschriftlich überlieferte Anleitung zur theologischen Beredsam-
keit aus dem 16. Jahrhundert veröffentlicht, sie wird von einer späteren
Hand Melanchthon zugeschrieben. Die Schrift macht den Eindruck
eines Entwurfs oder einer Nachschrift nach einer Vorlesung. Es werden
darin praecepta dicendi für den Kanzelredner gegeben und an einem
Beispiel gezeigt, wie er die Schrift zu brauchen, einen locus insignior
zu wählen, ihn aus dem Text mit definitio, divisio und argumentatio
zu behandeln, auch dicta probaritia, exempla, similitudines aus der
Schrift beizubringen, auch die Legenden heranziehen imd endlich die
rhetorischen Darstellungsmittel, Allegorie, Prosopopöie, mit Bescheiden-
heit verwenden möge.
Der klassische ühterricfä auf der Schule, die drei Stufen, 349
Von hier aus ist nun auch der Unterricht der Gelehrtenschule
zu verstehen. Er richtet sich natürlich nach dem der Universität , aus
welchem er stammt und in welchen er mündet, wie die Flüsse aus
dem Meer ihr Wasser empfangen und es ihm wieder zuführen. Die
Aufgabe der Gelehrtenschule im 16. Jahrhundert konnte keine andere
sein als die: die Erwerbung der Eloquenz , die das vornehmste Ziel
der ganzen gelehrten Bildung ist, vorzubereiten, vor allem durch die
Erlernung der Gelehrtensprache. Alle ihre Übungen zielen hierauf ab:
Grammatik mit Rhetorik und Dialektik, Lektüre und Komposition, oder
also, mit üblichen Bezeichnungen: praeceptunij exemplum, unitatio, die
drei Seiten des Unterrichts, verfolgen den einen Zweck: dem Schüler eine
möglichst große Fertigkeit im sprachrichtigen, gewandten, logisch dispo-
nierten lateinischen Vortrag zu geben.
Durch den ganzen Schulkursus können wir dieses Ziel und diese
Mittel verfolgen.
In drei natürliche Stufen zerfällt, wie schon oben (S. 334) be-
merkt wurde, der Unterrichtsgang, es sind die drei „Haufen" der
Schulordnung Melanchthons von 1528. Durch Teilung der zweiten
und dritten Stufe in zwei Abteilungen kommen wir zu der normalen
Zahl von fünf Klassen.
Die erste Stufe ist die Vorstufe: es handelt sich um die Er-
lernung der notwendigen Fertigkeit des Lesens und Schreibens,
wozu eine lateinische Fibel mit Lesestoff für die ersten Übungen
dient. Zugleich wird ein kleiner Vorrat lateinischer Wörter ein-
geprägt.
Auf der zweiten Stufe tritt die Grammatik, natürlich die
lateinische, ein, die nun die treue Begleiterin des Schülers durch den
ganzen Kursus bleibt. Die erste Abteilung lernt die Formenlehre
(etymologia) und übt sie an einem Lesestoff ein, wie ihn Catonis
disticha oder Moselianus' Paedologia^ Erasmus' Colloquia oder Came-
BABn praecepta morum ac vitaej Castauonis dialogi sacri u. s. w.
darbieten. Nach der württembergischen Schulordnung ist dies die zweite
Klasse; als ihr Pensum wird bezeichnet: „sie fahen an aus dem i>ö7ia^
und epitome der grammatica die partes orationis und generales regulcts
totius Eiymologiae in- und auswendig zu lernen, den Cato und der-
gleichen Bücher zu exponieren. Diese classis ist auch gemein allen
Schulen, doch ma^ sie in den Dörfern und kleinen Städten, wo nur
ein Schulmeister ist, wohl die höchste sein." — Die zweite Ab-
teilung, die dritte Klasse der württembergischen Schulordnung,
„nimmt vor integram Etymologiam und den kleinen (sie) Syidaxim^
hören auch daneben fabtUas Aesopi und Selectiores Kpistolas Ciceronis,^*
350 //, 6. Gestalt und Unierricktabetrieb der protest. Schulen um 1580.
Diese Klasse wird die höchste sein, wo man zwei Lehrer hat — Über
die Methode des Elementarunterrichts giebt die Schulordnung folgende
Anweisung: Nachdem die Formenlehre auswendig gelernt ist, beginnt
das Lesen; der Lehrer soll zuerst den Text vorexponieren, d. h. Wort
für Wort vorübersetzen, dann läßt er sogleich die Schüler nach-
exponieren und am folgenden Tage repetieren. Dazu wird jedes Wort
analysiert, und wenn erforderlich, durchdekliniert oder konjugiert Mit
dem Fortschritt im grammatischen Unterricht, tritt das Konstruieren,
d. h. das Anzeigen des syntaktischen Zusammenhanges der Wörter,
hinzu.^ — Die Leseübungen werden begleitet von Übungen im Schreiben
(exercitia stylt). Alle Mittwoch, schreibt die württembergische Ord-
nung vor, soll „ein kurzes leichtes Argument aus den nächst gehörten
Lektionen, und so viel möglich ebendieselben Worte, doch verdeutscht
und abgeändert, den Knaben diktiert und angezeigt werden, an welchem
Ort sie solches Argument finden, damit sie eine Anleitung haben die
Phrases Autorum aus gehörten lectionibvs desto leichter zu imitieren;
doch soll der praeceptor die genera, Jiumeros, personasy casus, modos
und tempora ändern. Am nächsten Freitag darnach sollen die Prae-
ceptores die Schriften von allen Knaben exigieren und ihrer jedem die
vitia und Mängel freundlich und deutlich anzeigen. Darum gehört
hierher Geduld, die weil die Knaben oftmals fehlen; sonst wo man
ungeduldig mit ihnen ist, besonders in exercitio styli, werden sie klein-
mütig, verzagt und verdrossen".
Auf der dritten Stufe beginnt nun, nachdem die Elementar-
grammatik hinlänglich eingeübt ist, der eigentliche humanistische
Unterricht Zunächst wird in der unteren Abteilung der grammatische
Unterricht erweitert und vertiett, besonders nach der syntaktischen und
* Eine ältere Beschreibung des Verfahrens in dem früher erwähnten
Sehoh'cus ordo des Memminger Schuhneisters B. Stich vom Jahre 1515 (Neue
Jahrb. CXXII, S. 233). Die Verse des Aesop oder Cato werden in folgender
Weise gelesen: Primo sensunt, hinc structurae ordinem et dictionum enucleatio-
neniy declinationes^ conju^ationes, casus, genera, modos^ derivationes cum regulis
et additioniMis J. Henrichynanni (jramruaticae et Alexandri in Lat. (?) ab
J, Wimphelingio admissi dicant. Am andern Morgen gaben die Schüler die
Erklärung wieder: primus cujus partis orationisj secundus ctijus generis^ tertius
dicat üujiis casus et sie deiticeps; tum in posiiivo unus, in comparativo aUer^
in superlatiro tertius comparet; similiter verborum habitis aecideniibus (?) in
presenii unuSy in perfecto alier y in futuro tertius conjuget: sicque de reliquis
per regularum confirmntionem cmisimiliter : hoc verbum nominativum ante se
posfulat, dicat unus; alter per regulas roborei; iertlus^ quem, casum post seeupiat,
effetur; quartus reguh nut alacri (? zu lesen Alexandri) versiculo probet. —
Über das didaktische Verfahren der früheren Zeit findet sich auch manches in
Beyschlaos Nördlinger Schulgcschichte, besonders II, SOflP.
Der klassische ünterricßU auf der SchtUe, die drei Stufen, 351
prosodischen Seite (integram grammaticam Etymologiae et Syntaxis nebst
den principalia Prosodiae schreibt die württembergische Schulordnung
für die vierte Klasse vor). In der oberen Abteilung (fünfte Klasse) wird
der grammatische Unterricht abgeschlossen und Rhetorik und Dialektik
hinzugefügt. Daneben beginnt in der vierten Klasse die griechische
Grammatik und wird in der fünften Klasse zum Abschluß gebracht
Auf dieser dritten Stufe wird nun mit der eigentlichen Klassikerlektüre
der Anfang gemacht Cicero und Virgil bilden die Substanz der Schul-
lektüre, daneben werden von Poeten Terenz und Ovid, wohl auch ein-
mal Horaz und Catull genannt, von Prosaikern Caesar, Livius, Sallust,
Tacitus; doch läßt Cicero die übrigen Prosaiker, Virgil die Dichter
nicht recht aufkommen. Auch hier gehen praeceptum, exemplum und
imitatio Hand in Hand. An Ciceros Reden wird die Rhetorik und
Dialektik in der Anwendung gezeigt. „Dieweil die praecepta^^, heißt
es in der württembergischen Schulordnung, „für sich selbst bloß sind
und keinen Nutzen schaffen, wo sie nicht exemplis illustriert werden,
und die Knaben den usum auch sehen mögen, soll auf einen jeden
statum oder genus causae eine oratio Ciceronis oder iirii, wie solche
G. Maiob in seinen Quaestionibus (worin er die Rhetorik Melanch-
THONs redigiert) gedruckt, gelesen werden; dann der Präzeptor fleißig
das argumentum, die partes orationis, den statum^ die argumenta con-
firmaäonis, darnach in singulis partibus oraäonis, wie sie omiert und
traktiert werden, anzeigen. Und soll der Präzeptor erstlich auf die
inventionem, nachmals disposition€m, und letztlich elocutionem acht
haben und also die praecepta auf gehörige Weise demonstrieren". —
Und über die entsprechenden Übungen in der Komposition heißt
es ebendort: „die deutschen Argumente sollen länger und schärfer
gestellt werden, und nicht alle auf eine Weise, sondern bald eine Epistel,
bald ein exordium, narratio, locus communis, confirmatio, peroratio,
descriptio alicujus rei, tractatio faJbulae oder dergleichen progymnasmata
fürgegeben und die adolescentes also abgerichtet werden, daß ihnen
nachmals ganze Deklamationen zu schreiben minder schwer sei". Bei
der Korrektur ist vor allem darauf zu achten, daß die scripta auf die
phrases und imiiationem Ciceronis gerichtet werden, sonst coacervieren
die Knaben viel serUentias aus anderen scriptorihus ohne Verstand und
Urteil und haben nicht acht auf puritatem linguae}
* Die fünf lOassen haben in dem Schulplan, den Micyllus für die Frank-
furter Schule 1537 verfaßte, folgende Namen: I. Elemenfarii, II. Donatistaef
III. Grammatieiy IV. Meirici vel Poetastri, V. Wstorid vel Dialeetici. 1 lernt
lesen und schreiben, lateinisch und deutsch, und daneben lateinische Wörter
aus einem Vokabular; II lernt die Formenlehre aus der Elementargrammatik
352 //, f), Gestalt und UnierricJitshetrieh det' protest, Sc^itUen um 1580.
Der tTbung im Schreiben geht von unten auf die Übung im
Sprechen zur Seite. Auf der Oberstufe ist^ ebenso wie auf der Uni-
versität, die lateinische Sprache Unterrichts- und Verkehrssprache für
Lehrer und Schüler. Die Universitäten und Gynmasien sind gleichsam
durch das ganze Land verstreute Enklaven des internationalen Reiches
der Gelehrsamkeit, in denen Latein Landessprache und der Gebrauch
einer anderen bei Strafe verboten ist. In allen Schulordnungen des
16. Jahrhunderts findet sich das Gesetz: wer auf diesen Sprachinseln
in der Vulgärsprache sich vernehmen läßt, wird bestraft; Aufpasser
(corycaei) werden bestellt, die den Übertreter notieren, und das Ende —
poenaa luet natibus.
Die Vollendung der Eloquenz ist die Poesie, d. h. die Fertigkeit
der Darstellung in gebundener Rede. Sie ist jedem wirklichen Ge-
lehrten durchaus unentbehrlich. „Wer nicht die Poesie getrieben hat",
so sagt Melanchthon in einem Brief vom Jahre 1526 an MicyiiLUö,
dessen poetisches Talent er sehr schätzte und den er gern nach Witten-
berg ziehen wollte, „der hat in keinem wissenschaftlichen Fach ein
rechtes Urteil, und auch die Prosa derer, welche nicht von der poeti-
schen Kunst einen Geschmack haben, hat keine Kraft" (C. R. I, 783).
Melanchthons Urteil, das seine Briefe und Schriften sehr oft wieder-
holen, ist der Ausdruck der allgemeinen Meinung des ganzen Humanismus.
auswendig und übt sie an einigem Lesestoff ein ; III lernt die vollständige latei-
nische Grammatik und übt sie an geeigneten lateinischen Autoren, Cicero,
Terenz, Virgil, ein; in IV und V, dem eigentlichen Gymnasium, sind rhetorisch-
poetische Übungen, natürlich an entsprechende Lektüre angeknüpft, das Haupt-
stück des Unterrichts; dazu kommt in IV der Anfang der griechischen Sprache
und in V die Dialektik (Vormbaum, I, 631, Classen, Micyllus, 168 £f.). — Wie
sehr das Lateinische und hier wieder der grammatische Unterricht im Vorder-
grund des ganzen Schulbetricbs stand, dafür mag hier noch der Bericht des
Rektors der Schule zu Mittweida (in Saclisen) Zeugnis geben (bei G. Müller,
Das kursächs. Schulwesen um 1580). Sobald der Schüler in der untersten der
vier KlaHseu lesen gelernt hat, beginnt in der dritten das Lateinische mit
13 Stunden: 6 St. Grammatik, 2 St. Donat, 1 St. Deklinieren und Konjugieren,
1 St. Vokabellcnien ; dazu kommen 5 St. Religionsunterricht: 2 für Kirchen-
lieder, 2 für den deutschen Katechismus, 1 für das Evangelium. In der zweiten
Klasse kommen 19 Stunden auf das Lateinische: Syntax 3, Grammatik 6, Sen-
tenzen 2, Cato 1, Vokabellemen 1, Aesop 2, Erasmus' de ficilitaU moruni 3;
daneben 4 Eelij^onsstunden: 3 für den deutschen, 1 für den lateinischen Kate-
chismus, und 1 St. Arithmetik. In der ersten Klasse gehören wieder 19 Stunden
dem Lateinischen: 4 St. Grammatik, 8 St. Syntax, 3 St Emendation der Scripta,
2 St. Memorierübuugen : 2 St. Ciceros Briefe, 2 St. Terenz, 3 St. Virgils Buco-
lica; außerdem 4 St. Religionsunterricht (1 St. Examen theol. Melauchthons,
3 St. Katechismus und Evangelien), 1 St. Arithmetik, 1 St. Griechisch. — Von
12—1 Uhr haben die drei oberen Klassen Musikunterricht.
Poetische Übungen, 353
Lateinische Verse sind das Meisterstück • der Künste; niemand ist
Meister, der die poetische Darstellung nicht in der Gewalt hat; daher
die Humanisten auch überall Poeten sich selbst nannten und ge-
nannt wurden. Die Voraussetzung dieser Anschauung ist natürlich,
daß die Poesie eine erlernbare Kunst sei, welche ebenso wie jede
andere, durch Fleiß und Übung von jedermann erworben werden
könne, wenn auch die Naturanlage dafür nicht ganz gleichmaßig ver-
teilt sei. Es ist eine der Orundansichten des Humanismus, sie be-
herrscht die poetische Produktion bis ins 18. Jahrhundert, bis zur
Sturm- und Drangepoche, die von diesem Gesichtspunkt gesehen sich
darstellt als die Empörung gegen die ästhetische Anschauung des
alten Humanismus.
Von hier aus ist nun der poetische Schulbetrieb zu verstehen.
Es lag dabei nicht die Meinung zu Grunde, daß alle Schüler einmal
als Dichter Erhebliches leisten würden, aber sie müssen einerseits für
den Hausgebrauch ihre Distichen machen lernen, und dann kommt
die Übung auch der prosaischen Darstellung zu gute, wie etwa Springer
zur Übung mit Gewichten sich beschweren, um frei desto weiteren
Schwung zu thun. Die poetischen Schulübungen beginnen auf der
Oberstufe (der vierten Erlasse) mit der poetischen Formenlehre, der
Prosodie und Metrik, und ihrer Einübung an Musterstücken. Die
Breslauer Schulordnung des P. Vincentiub, eines Schülers Tbozen*
DORFS, welche überhaupt von diesen Übungen ausführlicher handelt,
schlägt hierfür .die Bucolica Virgüs und etwa eine gute, reine Elegie
Ovids vor, als wodurch die beste Idea eines guten carminis der Jugend
von Anfang eingebildet werde. Eine solche Lektion, „wenn sie von
einem wackeren und lustigen Präzeptor artig fürgegeben und nicht
allein die quantitas syllabarum^ sondern auch die phrases und figurae
poeticae und die artige Versetzung der Wörter und der lieblichen und
artigen Epitheta deutlich angezeigt werden, ist sehr nütze die ingenia
zu ermuntern und den rechten Kern, Nutz und rühmlichen Gebrauch
der lateinischen Sprache in sie zu pflanzen und befestigen.^^ Die
Komposition beginnt mit der Herstellung turbierter Verse. „Nach-
mals weise man sie in phrases poeäcas, wie sie in lectionibus ob-
servieret, oder auch wie sie vom Fabricio und anderen koUigieret aus-
gegangen, und gebe ihnen kurze materias zu zweien, dreien oder vier
versiculis. Durch solche Anleitung merken die Knaben leicht, daß nicht
so schwer ist versus zu machen, wie sich etliche einbilden, bis sie
endlich durch tagliche lectiones, mancherlei Erinnerung und stete Übung
auch aus gemeinen argumentis lernen gute oder doch leidliche Verse
machen" (Vormbaüm, 1, 197 ff.). — Bis ins 19. Jahrhundert hinein
Paalsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 23
354 II, G. Gestalt utul UnterricJitsbetrieh der protest. Schulen um 1580.
waren lateinische Verse der höchste Stolz mancher Schule, wenn nicht
etwa griechische ihnen den Rang streitig machten.
Als ein sehr wichtiges Hilfsmittel für die Erwerbung der poetischen
und prosaischen Eloquenz sah man Kollektaneenbücher an, in
welche die Schüler angeleitet wurden, einen Schatz von Wörtern und
Sachen zusammenzutragen, um sie daraus zu jeweiligem Gebrauch zu
entnehmen. Die Wichtigkeit solcher von den Schülern selbst gemachten
Sammlungen ist besonders von Sturm betont worden. Er wird nicht
müde, in seinen didaktischen Schriften Lehrern und Schülern die so-
genannten Diarien oder Ephemeriden ans Herz zu legen. Er vergleicht
sie dem Schatzkasten des klugen Hausvaters, in dem er das taglich
Gewonnene mit Freuden legt und aus dem er wieder zum täglichen
Bedarf das Notwendige nimmt. Sie bilden fast durch den ganzen
Schulkursus den Mittelpunkt der Schülerarbeit, im Griechischen nicht
minder als im Lateinischen. Alles Bemerkenswerte, alles Brauchbare
tragt der Schüler hinein: zuerst Namen der Dinge, nach Ordnung der
Sachen; sodann die Redewendungen, in welchen von ihnen die fremde
Sprache spricht, die einfachen und die künstlichen und figürlichen der
Redner und Dichter; endlich Sentenzen, Proverbien, Gleichnisse, in Prosa
und Versen, welche sich auf die Sachen beziehen ; auch die Einheimsung
bemerkenswerter Realien ist natürlich nicht zu versäumen. So wächst
von Klasse zu Klasse der Schatz an „Sachen und Worten'*, aus welchem
die Imitation ihre Mittel nimmt. Auf diese Weise wird allmählich die
verloren gegangene Fertigkeit der Griechen und Römer im Reden und
Schreiben wieder erlangt.^
Eine lehrreiche, ins Einzelne gehende Schilderung des sprachlichen
Schulunterrichts ist enthalten in des berühmten Ilfelder Rektors,
M. Neandeb, „Bedenken, an einen guten Herrn und Freund (den Bürger-
meister von Nordhausen), wie ein Knabe zu leiten und zu unterweisen,
daß er ohne groß jagen, treiben und eilen, mit Lust und Liebe, vom
sechsten Jahr seines Alters an bis auf das 18., wohl und fertig lernen
möge pietatem, liiupiam Latlnam, Graecam, Hebraeamy artes und endlich
universam philosophiam^^ (1582, bei Vormbaum, I, 746 fiF.). Die ünter-
richtsstufen sind über das Lebensalter so verteilt: der Unterricht in
den Fertigkeiten des Lesens und Schreibens beginnt mit dem sechsten
Jahr; mit dem neunten fangt die Grammatik an; mit dem zwölften
der Unterricht in der Eloquenz, Lesen und Imitieren der Autoren; er
dauert bis zum 17.; daran schließt sich dann ein zweijähriger Kursus
in artihiis. Hiermit ist eine genügende Vorbereitung für das Studium
* De litt, ludis, c, XXIII; und in den Epp. class. u. seh. Lauing. passim.
KoUekianeenbücher, Dramatische Aufführungen, 355
in den drei oberen Fakultäten gegeben. Neakdeb behandelt besonders
den Unterricht der Mittelstufe ausfährlich. Er hat eine Reihe von
Unterrichtsbüchem für beide Sprachen geschrieben. Was er vor allem
betont, ist: so wenig und so kurze Regeln als möglich, diese lasse man
in langsamem Fortschreiten auswendig lernen. Ebenso lasse man, und das
ist nicht weniger wichtig, daneben Wörter, Phrasen und Sentenzen aus-
wendig lernen; Neandeb empfiehlt seine phraseologischen Sammlungen
hierfür, dadurch werde die Komposition ermöglicht Auf der dritten
Stufe mag der Knabe dann sich selber Kollektaneenbücher anlegen. So
wollen es die Ilfelder lepes von 1580 (abgedruckt im Ilfelder Progr.
von 1886): „In den Lektionen soll der Schüler fleißig auf alle Worte
des Praeceptoris merken und was notatu dignum fleißig zeichnen und
nach verbrachten lectionibus nicht allein zur repetition derselben zu
seiner Zeit kommen, sondern auch in ein besonder Buch aus allen
lectionibus alle feine dictaj exempla, historias, Apophthegmata, fabulas,
schöne versus graecos et latinos und alle andere feine Reden, so man
in omni vita brauchen, auch besonders schöne phrasesy epit/ieta, com-
positiones graecos, vocabula und alle significanter dicta schreiben, die-
selben oft lesen, repetieren, ruminieren, und dasselbe auch vor seinen
thesaurum halten und ihm lieb sein lassen, und täglich mit neuen
accessionibus aus den lectionibus und obiter dictis seines praeceptoris
kompletieren und bessern". —
Den Höhepunkt dieses ganzen Schulbetriebs bildeten die rheto-
rischen Schulakte und die dramatischen Aufführungen.^ Sie
gaben dem Schüler einen Vorgeschmack der Leistungen, zu denen der
Unterricht ihn vorbereitete: der öffentlichen Rede in prosaischer und
metrischer Sprache. Sie machten die Schulübungen zugleich zu einem
Stück des öffentlichen Lebens und gaben ihnen dadurch in den Augen
der Schüler und der Lehrer die Wichtigkeit, wovon ihr Gedeihen in
so hohem Maße abhängig ist
Dramatische Aufführungen bilden seit der humanistischen
Schulreform einen wichtigen Bestandteil des ganzen Schulbetriebs. Sie
dienen vor allem der Einübung der Sprache, der Lösung der lateinischen
Zunge; zugleich aber gewöhnen sie zum öffentlichen Auftreten und Üben
in der Aktion, geben dem Redner Zuversicht und gute Manieren; und
endlich bringt er dabei noch einen Schatz an Moral und Lebensklugheit
* JüUDT, Die dramat. Aufführungen im Gymnasium zu Straßburg, Progr.
des prot. Gymn. 1881. 0. Francke, Terenz und die latein. Schulkomödie in
Deutschland (1877). Janssen, Deutsche Geschichte, 7, 106 fF. Ober den rheto-
rischen Schulaktus handelt Möller, Gesch. des altstädt. Gymn. zu Königsberg,
Progr. 1878/79.
23*
356 II, 6. Gestalt und Unterrichtsbetrieb der proUsL Schtden um 1580.
mit davon, für den der spätere Beruf im geistlichen oder weltlichen
Amt wieder vielseitigste Verwen<lung hat.
Deklamationen klassischer Komödien, besonders des Terenz, mit
verteilten Rollen erwähnt J. Sturm schon bei der Lütticher Schule der
Hieronymianer. Auch Melanchthon ließ seine Pensionare in solchen
Aufführungen sich üben; Lutheb sprach sich ausdrücklich zu Gunsten
der Sache aus, gegen ängstliche Gemüter: „Komödien spielen soll man
um der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern zulassen.
erstlich daß sie sich üben in der lateinischen Sprache; zum andern,
daß in Komödien fein künstlich erdichtet, abgemalet und fürgestellet
werden solche Personen, dadurch die Leute unterrichtet und ein jeg-
lieber seines Amts und Standes erinnert und vermahnet werde/' Es
ist damit die nächste Absicht der Sache genau bezeichnet In diesem
Sinn ordnet die Breslauer Schulordnung von 1560 an, „daß die Knaben
der zweiten Klasse den Terenz, als ihren fürnehmen und ganz eigenen
Autor auswendig lernen, also daß man die Personas der Jugend aas-
teile und sie wöchentlich nach Tische eine Stunde oder zwei rezitieren
lasse, und sie also in der Pronunziation und Aktion übe.^ Spater
wurden die römischen Komödien hauptsächlich aus sittlichen Bedenken
durch eigens für diesen Zweck angefertigte Schuldramen mehr und
mehr verdrängt. Schon Reüchlin, Lochek und Bebel hatten sich
darin versucht; die zweite Hälfte des Jahrhunderts hat derartig«
Erzeugnisse in großer Zahl hervorgebracht. Es wurde eigentlich
von den Schulmeistern erwartet, daß sie, wie Reden, so auch Dramen
selbst verfertigten; Sturm verwahrt sich und seine Kollegen gelegent-
lich gegen den Vorwurf der Trägheit, weil bei ihnen noch immer
terenzische Komödien aufgeführt würden. In der Regel sind diese
Schuldramen nichts als versifizierte Eloquenz, actus oratorio-dramatici
nennt sie der Geraer Rektor Mittebnacht (1646 — 1667), von dem auch
berichtet wird, daß er seine Schüler an ihrer Anfertigung beteiligte
(Progr. Gera 1888). Lob der Tugenden, der Weisheit, der Wissen-
schaften, Schimpf der Laster, der L'nwissenheit der Barbarei, das sind
die immer wiederkehrenden loci dieser Dramatik. Oft werden einfach
diese Abstrakta selbst in dramatische Masken gesteckt; oder man ent-
nimmt Personen und Stoffe dem Altertum oder der Geschichte, der
kirchlichen und der profanen, vor allem aber der BibeL Besonders
sind es die Geschichten des alten Testaments, die zu Schulkomödien
mit moralisierender Eloquenz bearbeitet werden. Da wird durch die
Vorbilder Davids und Josephs, Abrahams und Lots zur Glaubenstreue
und zum Ausharren in Verfolgungen, zur Frömmigkeit und Keusch-
heit, zur Großmut und Nachgiebigkeit ermahnt; das traurige Ende
SchiUdramen. 357
Nabais oder Belsazars, Ahas' oder Holophemes' warnt vor den ver-
derblichen Folgen der Gottlosigkeit oder der Begehrlichkeit und Aus-
schweifung; die Eltern werden durch das Schicksal Eli's vor zu großer
Nachsicht in der Erziehung der Kinder, die Frauen durch das Miß-
geschick der Königin Vasthi vor Ungehorsam gegen ihren Eheherrn
abgeschreckt; an Abrahams und Lots Hirten sieht man, wie das Gesinde
die Herrschaften in Zwietracht zu bringen pflegt u. s. w. (Jundt, S. 60).
Unter den Verfassern derartiger Stücke ragen hervor W. Gnaphbus,
G. Macsopedius, N. Fbischlin, Coen. Schoenaeüs; des letzteren
Termtius Christianus fand große Verbreitung (Feancke, 70flF.). Un-
geheure Massen von Schulkomödien sind in den Jesuitenkollegien an-
gefertigt worden. P. Pachtlee, der Herausgeber der JRaäo Stud., giebt
an, daß allein die Themate der von ihm gesammelten Stücke ein paar
Bände füllen würden.^
* Die Dichtung des Gnapheus (Willem de Volder, geb. im Haag 1493),
welche die Reihe der biblischen Schulkomödien eröffiiet, ist k&rzlich von Boltb
in den Latein. Litteraturdenkmälem des 15. und 16. Jahrhunderts (Berlin, 1888fP.)
wieder herausgegeben worden: es iat der Äeoktstus, die dramatisierte Geschichte
des verlorenen Sohnes. Für den ungemeinen BeifaU, den sie fand, spricht die
große Verbreitung; der Herausgeber weist bis zum Jahre 1585 47 Neudrucke
in aller Herren Ländern nach; auch ist sie wiederholt ins Deutsche und dazu
ins Englische und Französische übersetzt. Was sie empfahl, war oilenbar,
außer der leichten, dem Terenz nachgebildeten Sprache, ihr Gehalt an Moral;
es werden darin zuerst die Laster, die der Jugend nachstellen, mit grellen
Farben gemalt, dann die Strafen, die nachfolgen. Übrigens ist die Ausfuhning
nicht ohne Kraft. Das Jubellied, mit dem Acolastus, als er mit vollem Beutel
das Vaterhaus verläßt, die Freiheit begrüßt, ist sehr stimmungsvoll:
Nunc juvat laute Qenium foverey
Nunc juvat sacrae Veneri litare,
Nunc juvat ludos et amoena carni
Qaudia ferre.
Exsulat tergo monitor severus,
Et juißim coUo jaceaty o, remotum
Libero quoms pede jam licehit
Tendere gressus.
Und seinem Führer und Verführer Philautus gesteht er gleich nachher:
N Ullis cessero, ne diis quidem,
Postquam mens Philautus subjecit mihi boni et mali
Rationes omnes, quas ad unguem tenso.
Man sieht, auf die „Umwertung aller Werte" und das „Jenseits von Gut und
Böse" hat die Welt sich auch schon vor Nietzsche verstanden. Und daß der
Teufel sich in einen Engel des Lichts verkleidet, ist auch nicht neu. — Stücke
verwandten Inhalts behandelt £. Scumidt, Komödien vom Studentenleben (1880).
Es werden dort Inhaltsangaben von Stymmels Studentes (Frankfurt a. 0. 1545)
und Wychorevö Cornelius relegalus (Rostock 1600) gegeben, die an Deutlichkeit
358 U, 6. Gestalt und Unterrichtsbetrieb der protest. Schulen Mm 1580.
Ursprünglich hielten sich die Aufführungen wesentlich innerhalb
der Schulübung und des Schulkreises. Allmählich aber gingen sie,
namentlich in den größeren Schulen, weit darüber hinaus, sie wurden
zum öffentlichen Schauspiel. So z. B. in Straßburg, wo auf dem Schul-
hof eine dauernde Bühne errichtet war, auf der vor der ganzen Bürger-
schaft, die Frauen mit eingeschlossen, mit großer Zurüstung gespielt
wurde. Deutsche Prologe vor den Scenen orientierten auch die des
Lateinischen Unkundigen über den Verlauf der Handlung. Ähnliches
wird aus zahlreichen Städten berichtet; selbst kleine Städtchen, wie
Crossen oder Frankenhausen, haben ihre öffentlich aufgeführten Schul-
komödien, zu denen die Schüler die Bürger und die Honoratioren aus
der Umgebung einladen. Wo ein Hof ist, und welche Stadt Deutsch-
lands erfreute sich im 17. Jahrhundert nicht eines Hofes? da gehören
die Schüleraufführungen auch zu den Lustbarkeiten der höfischen Ge-
sellschaft; fürstlichen Besuchen wird mit einer Komödie aufgewartet
Vor allem verstanden sich die Jesuiten darauf, sich und ihre Schule
durch derartige Unternehmungen angenehm und unentbehrlich zu
machen. In München z. B. gehörte der kurfürstliche Hof zu den
ständigen Gästen der Aufführungen im Jesuiteng jmnasium.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts kam, um dies gleich hier zu be-
merken, das Schuldrama in Abgang. Es hängt das zusammen einer-
seits mit dem Absterben der humanistischen Poesie und Eloquenz, der
höfischen Gesellschaft ging das Latein aus, andererseits mit der Ent-
Wickelung des modernen Theaters mit dem Berufsschauspielertum. Und
noch ein drittes trug dazu bei, der mit dem 18. Jahrhundert auf-
kommende Geist des Pietismus und des polizeimäßigen, prosaischen
Utilitarismus. In Preußen untersagte Friedrich Wilhelm I. im Jahre
1718 den Schulen die actus dramaäci, .,weil sie die Gemüter vereitelten
und nur Unkosten verursachten" (Francke, 21, 84, 153). An Stelle
der Theateraufführungeu drangen die Redeaktus jetzt vor.
DieDeklamatiun, d.h. der öffentliche Vortrag von ausgearbeiteten
Reden war ebenfalls eine Schulübung, die mit dem Durchdringen des
Humanismus auf allen Universitäten und Schulen ihren Einzug hielten.
Es ist früher erwrähnt worden, wie Melanchthox diese Übung schätzte;
die Professoren hielten Musterdeklamationen, die Studenten übten sich
unter Anleitung ihrer Lehrer in der Ausarbeitung und im Vortrag von
Reden. Den Universitäten folgten die Schulen. Gelegenheit zu öffent-
in der Darstellung des Ekelhaften und Gemeinen nichts zu wünscheu lassen.
Hoffentlich beweisen die zahlreichen Ausgaben, daß sie ihrem vorgegebenen
Zweck, der Abschreckung, vorzüglich gedient liuben. Einiges Zweifels ist es
allerdings nicht leicht sich zu erwehren.
Deklamationen, 359
liehen Reden boten die Schulfeste, Introduktionen, Jubiläen, Valedik-
tionen, Prüfungen, Begrüßungen fürstlicher Besuche, sodann aber auch
die kirchlichen Feste. Die Lehrer waren ja zugleich Kirchendiener,
wie sie denn auch häufig predigen. Und auch hier üben die Schüler,
was die Lehrer können und vormachen; in den oberen Klassen der
großen Schulen fanden wohl überall Deklamationsübungen statt, die
denn auch mehr und mehr an die öflFentlichkeit traten. Auch hier
standen die Jesuitenschulen wieder voran, wie sie denn überhaupt mit
ungemeinem Geschick ihre Schulen in Berührung mit der ÖflFentlich-
keit zu bringen wußten. — Den Stoff für die Schulberedsamkeit bot
anfangs wohl vor allem die Beschäftigung mit dem Altertum und mit
der Religion, moralisierende Behandlung von historischen, moralischen
und theologischen Fragen. Im 1 7. Jahrhundert traten die Fragen der
Schulphilosophie und der Dogmatik daneben hervor. Die Sprache ist
natürlich die lateinische, gelegentlich auch wohl einmal, der Epideixis
halber, die griechische oder gar die hebräische. Übrigens werden neben
Erzeugnissen der eigenen Eloquenz auch antike Reden deklamiert,
ebenso wie man antike Dramen aufführt. Und zwar erweitert sich die
Deklamation dann wohl auch zu einer Art dramatischen Aktion. So
wird aus dem 16. Jahrhundert von der Aufführung ciceronischer und
demosthenischer Reden berichtet, mit allem Apparat: da sind Konsuln
mit Liktoren, Prätoren, Richter, Patrone und Freunde des Angeklagten
und des Redners, so daß das ganze gerichtliche Verfahren der Römer
zur Darstellung kam. So erlitt Cicero mit seiner Rede pro Milone zu
Straßburg im Jahre 1575 noch eine nachträgliche Niederlage (Jundt, 22).
Bekannt ist auch aus Raümebs Darstellung, daß Tbozendobf in Gold-
berg seine Schüler über vorgekommene Schulvergehen in Form einer
Gerichtsverhandlung mit Rede und Gegenrede das Urteil finden ließ,
eine Sache, die auch sonst erwähnt wird. In Gottingen wurde 1624
ein actus oratorio-dramaticus aufgeführt, bei dem sechs Schüler das
Urteil Salomos agieren: zwei sprechen in der Person der rechten, zwei
in der der falschen Mutter, zwei in der Rolle des Königs. Ein ander-
mal behandeln zwei Schüler die Frage pro et contra: ob alle Tier-
arten in der Arche Noä Platz gehabt hätten? (Pannenborg, Gesch.
des Gott. Gymn.)
Man sieht, es war dem Zeitalter Ernst um die Eloquenz, und es
wußte: wer den Zweck will, muß die Mittel wollen. Auch scheint mir
im allgemeinen an der Zweckmäßigkeit der Mittel nicht gezweifelt
werden zu können. Sollten die Knaben dahin gebracht werden, mit
16 oder 18 Jahren Lateinisch geläufig zu verstehen und zu reden, und
das war ja die Voraussetzung für den Besuch der Universität, so war
360 //, 6*. Gestallt und Unterrichtshetrkh der proteM. Schulen um 1580.
es gewiß geraten, auf der Schule nicht viel Nebendinge zu treiben;
und sicher war es nicht unzweckmäßig, taglich mit ihnen Grammatik
zu treiben und sie im Schreiben zu üben, sie viel auswendig lernen
und hersagen oder agieren zu lassen, endlich auch sie bestandig zum
Lateinischreden anzuhalten und die deutsche Sprache in der Schule zu
untersagen. Not lehrt, nach dem alten Sprichwort, beten, Not lehrt
auch reden, wie jeder im fremden Lande erfahrt. Die künstliche Ex-
patriierung der Schüler in der Schule war eine Art Ersatz für den
Aufenthalt in einer lateinisch redenden Stadt, die es leider nicht gab
und die sich auch nicht machen lassen wollte, so viel davon die
Rede war (s. Morhof, Polyh. I, 2, 9, 22 flF.).
Andererseits ist nun freilich kein Zweifel darüber, daß dieser Latein-
betrieb von Lehrern und Schülern in gleicher Weise als eine schwere
Last empfunden wurde. Ich glaube nicht, daß es möglich ist, auch
nur eine Stimme aus dem 16. und 17. Jahrhundert anzuführen, die
von dem Lateinlernen anders als von einer harten Notwendigkeit, gleich
hart für Schüler und Lehrer, redete. Wenn wir gewissen neumodischen
Gymnasialpädagogen glauben wollen, dann müssen wir uns glücklich
schätzen, daß wir Latein und Griechisch nicht schon zu Hause von
der Mutter lernen, sondern durch Unterricht in der Schule es uns
anzueignen genötigt sind: es entginge uns sonst ja das vornehmste
Mittel der „formalen Bildung". Hiervon wußte im 16. Jahrhundert
noch niemand; alle sind einmütig der Ansicht, daß die Erlernung der
fremden Sprachen ein überaus schweres und bedauerliches Hemmnis
der Jugendbildung sei; die Erreichung des Ziels, Weisheit, Tugend
und Beredsamkeit, werde dadurch mindestens um Jahre hinausgeschoben.
So sagt H. Wolf (in dem Schriftchen de expedita utriusque linguae
vel privato studio discendae ratioiie, bei Vormbaum, I, 457): „glücklich
seien die Lateiner gewesen, welche nur die griechische Sprache lernten
und dies nicht so sehr durch Regeln, als durch Verkehr mit Griechen
und ohne Mühe; glücklicher die Griechen, welche an ihrer eigenen
Sprache genug hatten, und sobald sie lesen und schreiben konnten, an
das Studium der Künste und der Philosophie gingen; wir aber, denen
ein großes Stück Jugend mit der Erlernung der fremden Sprachen
dahingehe, und denen der Weg zur Philosophie durch so viele Riegel
und Hindemisse versperrt werde (denn Latein und Griechisch ist nicht
die Bildung, sondern die Thür dazu), hätten Ursache, uns über unser
Los zu beklagen". Freilich zu ändern sei es nicht, die Einheit von
Sachen, Gedanken und Wörtern lasse sich nicht zerreißen.
Ganz dasselbe sagt der Wittenberger P. Eber in seiner Ratio
studendi (Tmtit, Uterat, III, 203): Die Griechen hätten nur ihre eigene
Mühsal der Lattinitätsdressur, 361
Sprache, die Römer dazu auch die griechische getrieben. Wir dagegen
seien genötigt unsere eigene Sprache liegen zu lassen und mit großer
Mühsal zwei oder drei fremde zu lernen; was ein großer Übels tand sei,
namentlich für diejenigen, welche einmal als Sachwalter oder Prediger
auftreten müßten. Deshalb habe er seinen Schülern immer geraten,
sie möchten doch einige Sorge auch der Übung in der Muttersprache
zuwenden und den Stil der Schriftsteller, welche eigentlich, rein und
ohne Affektation in deutscher Sprache sich ausdrückten, wie Lutheb,
Meniüs, Pontanus, beachten und nachbilden.
Daß die Erlernung der lateinischen Sprache, namentlich der ersten
Elemente der Grammatik, den Knaben und Lehrern unermeßliche Mühe
und viel Verdruß machte, darüber Ueßen sich unzählige Äußerungen
zusammenstellen. Eine lebhafte Schilderung der jammervollen Plackerei
giebt Melanchthon in einer Eede de miserüs paedagogorum (1526,
C. R. XI, 121 flF.). Ein paar Stellen daraus mögen hier eingefügt
werden. Begründeter, heißt es, als die Klage des Esels beim Aesop,
daß er durch tagliche Mühsal ums Leben gebracht werde, sei die des
Schulmeisters. Wenn die Eltern mit dem Jungen nicht mehr haus-
halten könnten, schickten sie ihn zum Schulmeister. Dieser spricht
ihm vor, der Junge ist geistesabwesend; er verhört die Aufgabe, der
Junge freut sich den Lehrer durch Fehler zu ärgern. Es vergeht eine
Ewigkeit, bis er die Buchstaben kann. Das ist das Vorspiel; nun soll
er Latein lernen. Man spricht mit ihm Lateinisch, er scharrt aus der
Muttersprache seine Antwort zusammen. Man nötigt ihn; guter Gott,
was für ein Schauspiel bietet er dar? Erst steht er da, stumm wie
eine Bildsäule; dann nimmt er sich zusammen, er sucht nach Worten,
verdreht dabei die Augen und reißt den Mund auf, wie ein Epileptischer.
Endlich bringt er einen Ton heraus; aber um nicht auf einem Fehler
ertappt zu werden, murmelt er unverständlich; manche bringen es zu
einer wahren Virtuosität im Verschlucken der Endsilben. Man ruft:
deutlicher! er wiederholt, und nun hört man Wortungeheuer, wider
Granunatik und Latinität. Es ist ein Jammer! Und nun gar das
Lateinschreiben! Nichts verabscheuen sie mehr; jeden Tag muß man
mahnen, mit unermeßlicher Mühe bringt man es dahin, daß sie im
Semester ein Brieflein schreiben. Will man gar einen Vers haben, so
muß man sich dazu setzen, das Argument diktieren, die Wörter suppe-
ditieren. Widerwillig wird das Diktat nachgeschrieben. Dahin bringt
man fast nie einen, daß er auf eigne Hand sich versucht. Dann
kommt das Korrigieren! Man verbessert die grammatischen Fehler, an
die Stelle dunkler und zweideutiger Ausdrücke setzt man klare und
eigentliche, man glättet das Rohe, belebt die Rede mit Figuren und
362 Z/, 6, Gestalt und Unterrichtsbetrieb der proiest. Schulen um 1580.
macht sie angenehmer und lieblicher. Endlich mnß man bei den fort-
geschritteneren auch auf den Inhalt acht geben und aof die Sitten.
Einige neigen zum Spott, andere zu Eitelkeit und Anmaßung, und die
Sitten offenbaren sich im Stil. Zum Schlagen, sagt ein berühmter Feld-
herr, gehört dreierlei: daß die Soldaten Lust haben, Ehrgefühl zeigen
und gehorchen. Der Schulfeldherr darf bei seinen Soldaten keins von
diesen drei Stücken voraussetzen: sie haben keine Lust zu lernen, kein
Ehrgefühl, keinen Gehorsam. Die meisten würden lieber graben als
Latein lernen. Wahrlich, ein Kamel tanzen oder einen Esel das Lauten-
schlagen lehren, wäre ertraglichere Mühe.
Und der Erfolg? 200 Jahre später beschäftigt sich der I^eipziger
Ebnesti mit einem Phänomen, das er Stupor paedagogicus nennt, Schul-
dunmiheit: es entstehe durch das Lateinlemen und bestehe darin, daß
dem Knaben bei lange fortgesetzter Jagd auf Wörter die Fähigkeit,
Gedanken aufzufassen, verloren gegangen sei. Ganz dieselbe Sache hat
schon Melanchthon beobachtet. In der Rede de studiiis adolescentium
(1529, XI, 183) heißt es: die philosophischen Examina seien auch darum
nötig, daß die Schüler nicht einer planlosen Leserei mit Absicht auf
Sentenzen, Phrasen und Wörter sich überließen, sondern vielmehr einen
wissenschaftlichen Zusammenhang auffassen lernten. Jenes Unwesen
habe sehr überhand genommen; man begegne jetzt vielen, die über
jenem Wörtersarameln in einer schimpflichen Unwissenheit und Dumm-
heit verblieben seien. —
Daß unter diesen Umständen das Schulmeisteramt ein wenig be-
gehrtes war, wird nicht weiterer Nachweisung bedürfen; in der Eegel
blieb niemand länger darin, als ihn die Notwendigkeit festhielt Die
schwere Last und die Undankbarkeit der Arbeit, dazu die Gering-
schätzung des Amts sind oft Gegenstand bitter unmutiger Klagen. Ich
verzichte darauf solche zusammenzustellen, man findet vieles in dem
7. Band von Janssens Geschichte des deutschen Volkes. Nur das füge
ich noch hinzu, daß es hiermit auf der katholischen Seite natürlich
nicht anders stand, als auf der protestantischen. Auch im Jesuiten-
orden gilt das Schulmeisteramt für eine überaus beschwerliche Last,
der sich der Einzelne gern so viel als möglich entzieht. Ich führe
dafür statt vieler nur eine Stelle aus einer Verordnung des Generals
Caraffa vom Jahre 1648 an, die einschärft, daß vom Lehramt in den
niederen Schulen niemand, auch die Priester und Professen nicht, be-
freit sein sollen. Es heißt dort: gerade der Unterricht in den niederen
Schulen sei der eigentliche Dienst der Gesellschaft; Beicht hören,
Predigt und höheren Unterricht trieben auch die andern Orden; den
Unterricht des frühem Alters und die niederen Klassen überlassen sie uns.
Mühsal des LeJirerberufs. 363
„Freilich, ich verkenne nicht, daß es ein hartes und schwieriges Ge-
schäft ist; aber Gott giebt mir Hoffnung, daß, da so viele sich wett-
eifernd anbieten, in Indien ihr Blut zu vergießen, doch auch solche
nicht fehlen werden, die es freiwillig auf sich nehmen, mit ihrem
Schweiß den Schulacker zu netzen, um so durch ein andauerndes Mar-
tyrium sich eine Krone zu erwerben, die in den Augen der Menschen
wohl weniger glänzt, vielleicht aber in den Augen der Engel nicht
weniger kostbar ist." Und von den Vorgesetzten verlangt er dann, daß
sie den Lehrern nicht nur die Arbeit nach Möglichkeit erleichtem,
sondern sie auch von anderen Lasten befreien und mit besonderen Er-
quickungen bedenken, „daran denkend, daß vor allem um ihretwillen
die Gesellschaft von der weltlichen Gewalt begehrt wird und daß
von ihrer guten oder schlechten Führung die Schätzung des ganzen
Kollegs vornehmlich abhängt" fJRatio Stiid. III, Mon. GemL Paed. IX,
S. 63 ff.).
Und hier mag denn noch eine charakteristische Äußerung
M. Neanders, des Rektors der Ilfelder Klosterschule, Platz finden, die
die herrschenden Zustande und zugleich die Gesinnung des trefflichen
Mannes charakterisiert: „Da ich einst zu Dresden die Brüder Jon. und
Caspab Naevius besuchte, beide Ärzte beim Kurfürsten, und diese mich
liebreich fragten, wie lange ich schon mit Unterweisung der Jugend
beschäftigt und ich ihnen eine stattliche Keihe von Jahren nannte, er-
widerten sie: „Du bist ein glücklicher Mensch, daß du so lange ein
gutes Werk treibst, das beschwerlichste, wie wir meinen, auf der Welt,
und auf Erden, wenn auch nicht im Himmel, eben nicht in Achtung
stehend". Zufallig war aber ein gelehrter Mann (Jon. Gigas) gegen-
wärtig, der als Rektor der Schule zu Pforta vorgestanden hatte und
nun auf einer Pfarre sich ausruht, der sprach: „Mein lieber Neander,
ihr solltet euch lieber einmal haben lebendig schinden lassen, denn so
viel lange Jahre, vornehmlich mit der jetzigen teuflischen bösen Jugend,
umbgangen haben". — Aber, fährt Neander fort, einen frommen und
eifrigen Lehrer wirrt dergleichen nicht; er denkt an das, was der Gottes-
mann Luther spricht: Hast du einen frommen Unterthan, Bürger
oder Pfarrkind, oder zweeen, so danke Gott. So dir ein Nachbar, ja
ein Kind oder Gesind wohl gerät, so laß dir genügen. Kriegstu solcher
zween oder mehr, so hebe die Hände auf und halts für große Gnade.
Denn du lebest doch hier nicht anders, denn in des Teufels Mord-
gruben und als unter eitel Drachen und Schlangen" (Havemann, Mit-
teilungen aus dem Leben M. Neanders, S. 25).
364 //, 6, Gestalt und Unterrichtshefrieb der protest, Schaden um 1580.
Die Stellung und Behandlung der griechischen Sprache im
Unterricht ist für das Verhältnis eines Zeitalters zu den klassischen
Studien besonders charakteristisch; daher mögen hierüber noch einige
Nachweisungen folgen.
Daß die Kenntnis der griechischen Sprache zu einer vollkommenen
wissenschaftlichen Bildung unentbehrlich sei, darüber waren Humanisten
und Protestanten einig. Jenen war nicht verborgen, daß die römische
Litteratur überall aus griechischen Quellen schöpfe; sie betonen femer,
daß man die wissenschaftlichen und philosophischen Schriften der
Griechen aus Übersetzungen nicht so kennen lernen könne, daß man
ein selbständiges urteil habe; jede Kontroverse mache die Herbeiziehung
des Originals notwendig. Wie hatten die mittelalterlichen Schulphilo-
sophen in der Auslegimg ihres Aristoteles im Finstern getappt. Reuchlin
nimmt (in einem oben schon erwähnten Brief vom Jahre 1518) für sich
in Anspruch, daß er zuerst die Notwendigkeit dargethan habe, auf den
Originaltext der aristotelischen Philosophie zurückzugehen. Daher der
Zorn der Sophisten und Barbaren gegen ihn, denn alsbald hätten alle,
die nach wirklicher Erkenntnis verlangten, die Possen der Schulen ver-
lassen. Es ist bekannt, daß dem jugendlichen Melanchthon als Lebens-
aufgabe vorschwebte, die Deutschen mit dem wirklichen griechischen
Aristoteles bekannt zu machen, welche Aufgabe er denn auch, freilich
unter sehr veränderten Umständen, einigermaßen gelöst hat. Endlich
schien selbst eine sichere Handhabung der lateinischen Sprache nicht
möglich ohne einige Kenntnis der griechischen. Stammten doch fast
alle wissenschaftlichen Kunstausdrücke aus dem Griechischen; dazu eine
unzählige Menge von Eigennamen, deren die humanistische Eloquenz
beständig bedurfte. Wie kann man ohne Gefahr des schimpflichsten
Irrtums diese Wörter brauchen, abwandeln, ja auch nur schreiben, wenn
man nicht aus der griechischen Sprache Bedeutung und Schreibung
kennt? Welche Ungeheuerlichkeiten wies in dieser Hinsicht jedes mittel-
alterliche Lektionsverzeichnis auf: hijca^ methaurorum ArestoHlis, am-
phorysmi Hypocratis, u. s. f. Die ersten kleinen Lehrbüchlein der grie-
chischen Sprache sind wesentlich geschrieben, diesem dringendsten
Bedürfnis der lateinischen Eloquenz abzuhelfen.
Es ist früher im einzelnen dargelegt worden, wie unter dem Ein-
fluß des Humanismus im Laufe des zweiten Jahrzehnts an den Uni-
versitäten griechische Lektüren errichtet und die ersten Elementarlehr-
bücher verfaßt wurden; zugleich auch hie und da angedeutet, wie große
Schwierigkeiten zu überwinden waren. Vor allem fehlte es an Editionen;
in der Kegel mußte der Lehrer den Text für seine Vorlesungen erst
drucken lassen. So ließ Reuchlin für seine Vorlesungen in Ingolstadt
Der griediische Unierricht. Rezeption, 365
und Tübingen kleine Stücke von Xenophon (1520), Demosthenes und
Aeschines (1522) drucken. Melanchthon bewog den Buchdrucker
MELcmofi LoTTHEB mit griechischen Typen von Leipzig nach Witten-
berg zu kommen. Stbobel (Neue Beitrage, II, 1, 213 ff.) zahlt aus
den ersten Jahren von Melanchthons Lehrthätigkeit neun solcher
Drucke meist im Umfang von ein paar Bogen auf: Aristophanes Wolken
(spUndidum arffumentum, quo philosophastros insectemur), Galaterbriefe,
Stücke aus Lucian, Plutarch etc. Auch wird wiederholt erwähnt, daß
die Zuhörer sich den Text erst abschrieben. So kündigt Melanchthon
noch im Jahre 1537 eine Vorlesung über die Eranzrede des Demosthenes
mit der Bemerkung an: er werde bloß einige Zeilen täglich durchgehen,
damit solche, die keinen Text besäßen, ihn sich abschreiben könnten,
was er übrigens sehr empfehle; er selbst habe den Römerbrief dreimal
abgeschrieben (C. R. III, 378). Erst durch die von Melanchthon,
Cameeabius, Micyllus, H. Wolf, Neandee u. a. für Unterrichts-
zwecke gemachten Ausgaben und Chrestomathien wurden die Texte all-
mählich zugänglicher. Doch blieb es bis ins 18. Jahrhundert hinein
gewöhnlich, daß griechische Texte für die Vorlesungen besonders ge-
druckt wurden. So gab Caseliüs in Helmstedt eine große Menge von
Bruchstücken griechischer Autoren zum Behuf seiner Vorlesungen heraus;
BüBCKHABDT {De CaselU praeclaris erga bonas litter as meritis, 1707) zählt
auf vier Quartseiten die Bruchstücke auf, sie sind aus 19 griechischen
Autoren entnonunen, darunter auch Homer, Aeschylos, Aristoteles, Plato,
Xenophon et<5. Selbst bei J. M. Gesnee kommt noch diese Praxis- vor.
Die Reformation, die sonst die Entwickelung des Humanismus unter-
brach, übernahm in diesem »Stücke dessen Aufgabe. An den protestan-
tischen Universitäten wurde überall das Griechische als ein notwendiger
Bestandteil der gelehrten Bildung angesehen. Allerdings ließ sich
nicht gleich die Forderung durchsetzen, daß alle Prediger der neuen
Kirche im Besitz der Fertigkeit seien, die heiligen Schriften in der
Ursprache zu lesen. Ein schlichter Prediger, sagt Luther in dem
Sendschreiben an die BÄtsherren, habe so viel heller Sprüche und
Texte durch Dolmetschen, daß er Christum verstehen, lehren und
heiliglich leben, auch anderen predigen könne. Aber die Schrift aus-
zulegen, imd zu streiten wider die irrigen Einführer der Schrift, das
lasse sich ohne die Sprachen nicht thun. Allmählich im Lauf der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dürfte es doch dahin gekommen
sein, daß es nicht leicht protestantische Prediger gab, die nicht einige
Kenntnis der griechischen Sprache, sei es auch hin und wieder nicht
viel mehr als die der Buchstaben, besaßen.
Die Schwierigkeiten, welche der Einführung des Griechischen in
366 //, 6*. Gestalt und Unterrichtsbeineb der proiesL Schulen um 1580,
die Schulen entgegenstandeD, waren natürlich erheblich größer. Erst
nachdem die Universitäten I^ehrer vorgebildet hatten, konnte auf den
großen Schulen dem Griechischen die Stellung eines regelmäßigen
XJnterrichtsgegenstandes verschafft werden. Auf den Lateinschulen der
kleinen Städte hat es diese nie erlangt. Auch auf den großen
Schulen handelte es sich wesentlich um einen elementaren Unterricht,
durch den die Schüler befähigt werden sollten, auf der Universität
exegetische Vorlesungen über die heiligen Schriften und vielleicht noch
über ein paar Stücke griechischer Dichter oder Philosophen zu hören.
Die Bugenhagenschen Schulordnungen reden nur von den ersten
Elementen, Buchstaben und Formenlehre, die an ein paar Lesestücken
eingeprägt werden mögen. Die mecklenburgische Schulordnung vom
Jahre 1552, welche Melanchthon zur Billigung vorgelegt worden
war, giebt anheim, in der obersten Klasse der größeren Schulen
wöchentlich zwei Stunden Griechisch zu treiben: in der einen mögen
die grammatischen Regeln eingeprägt, in der andern an einigen Versen
oder Prosastücken (Phocylides, Hesiodus, Isocrates ad Demonictan
werden genannt) eingeübt werden. Wörtlich so die kurpfälzische
Schulordnung vom Jahre 1556 (Vormbaum, I, 65, 68). Etwas weiter
geht die württembergische Schulordnung vom Jahre 1559. Auf der
Oberstufe (vierte und fünfte Klasse) soll Griechisch an den vier Nach-
mittagen von 3 — 4 Uhr getrieben werden. In IV wird mit den
Elementen der Grammatik begonnen, in V die ganze Grammatik und
eine Lektion aus dem Griechischen: Aesop, Isokrates ad Demonicum
oder die Cyropädie gegeben, worin der Lehrer „aufs fleißigste die
Themata den Knaben anzeigen und sie ^selbst formieren lassen soll,
auch sie darzu halten, daß sie es fleißig kolligieren und aufschreiben".
Die neue Ausgabe der Schulordnung von 1582 ändert hieran nichts
Erhebliches. Sie will die Sonntagsepistel und den griechischen Kate-
chismus (von JoH. Brenz) ' und auf den Klosterschulen etwas von
Demosthenes durchnehmen lassen, nicht zu wenig, „damit die discipuli
bald einen guten thesaumm optimamm phrasium daraus kolligieren
mögen". Bei der Aufnahme ins Stift wurden rudimenia Graecae linpuae
verlangt (Vormbaum, I, 85 ff.). Ähnlich lauten die Bestimmungen der
übrigen Schulordnungen des 16. Jahrhunderts.
Was das Ziel und die Form des Schulunterrichts in der griechi-
schen Sprache anlangt, so ist allgemein zu bemerken, daß das Grie-
chische hierin jederzeit von dem wichtigeren und alteren Latein be-
herrscht worden ist. Da der Lateinbetrieb durch die Absicht bestimmt
wurde, dem Schüler zur lateinischen Eloquenz zu verhelfen, so gestaltet«
sich der griechische Unterricht wesentlich so, als ob es das Ziel gewesen
Form und Ziel des griechisctien Unterrichts, 367
wäre, griechisch reden und schreiben zu lehren. Und allerdings galt
auch in der litterarischen Welt diese Fertigkeit als der eigentliche
MaBstab der Kenntnis des Griechischen, wie denn auch der gesunde
Menschenverstand jederzeit die Fertigkeit im Beden als die entscheidende
Probe der Kenntnis einer Sprache ansehen wird. Eine gewisse Leichtig-
keit des Gebrauchs war auch unter den späteren Humanisten nicht
selten. So schrieb z. B. Camebaeius geläufig griechisch, seine Briefe
an Melanchthon sind öfters in dieser Sprache verfaßt. Da dieser nicht
griechisch antwortete, entschuldigt sich Camebabiüs einmal; Melanch-
thon aber erwiderte: „ich lese deine griechischen Briefe mit besonderem
Genuß, es ist mir, als wenn ich einen der Alten lese. Plinius sagt
von Adrianus, Athen selbst sei nicht so attisch als er. Das will ich
nicht sagen, wohl aber das: außer den Attikern gefallt mir kein
Griechisch so gut als deines.^ Warum ich nicht griechisch schreibe?
Es ist derselbe Grund, der den Horaz hinderte griechisch zu dichten: ich
mag nicht Holz in den Wald tragen" (5. März 1528, C. R. I, 943). —
Ebenso hebt Melanchthon in seinen Empfehlungsbriefen für Schul-
lehrer die Fertigkeit im Gebrauch der griechischen Sprache öfter hervor,
z. B. in dem Schreiben, womit er M. Garbitiüs der Tübinger Uni-
versität als Gräcisten empfahl: er schreibe sehr leicht griechisch in
Prosa und Versen (C. R. III, 421, 11. Okt 1537); oder in dem Brief,
womit er den Gottschalk Schultze dem Rat zu Salzwedel als Schul-
meister anzunehmen riet: er habe eine ziemlich gut« Übung, in latei-
nischer und griechischer Sprache zu schreiben (C. R. V, 344). Daß nicht
bloß deutsche Schulmeister die Dinge so ansahen, geht aus einer
Äußerung des L. Vives über Budeus in einem Brief an Erasmüs
(Opp. II, 161) hervor: „lateinisch schreibt und spricht er so, daß er,
selbst wenn er zu Ciceros Zeiten gelebt hätte, den Namen des Großen
verdient haben würde, griechisch aber so, daß selbst die Griechen
gestehen, sie könnten von ihm ihre Sprache lernen". In Eeasmus'
Korrespondenz findet man eine ganze Anzahl griechischer Briefe des
BüDEÜS.
Es gab sogar Einzelne, die als Dichter in griechischer Sprache sich
anerkannten litterarischen Ruhm erwarben. Der bekannteste unter
ihnen ist Laurentiüs Rhodomanus (1546 — 1606), ein Schüler
des Ilfelder Rektors Neandek, dann der Rostocker Gräcisten Posselius
und Caselius; er war Schulmeister in Lüneburg, Walkenried und
Stralsund, dazwischen Professor in Jena, zuletzt in Wittenberg. Jos.
^ Ein andermal sagt er auch das: cognitimient et usum Oraecae linguae
tantum habet (Camerarius), ut non Athetiae veteres tarn eint AtHcae, qtMin
8imt ipsttis scripta (Declam, de Misftia, 1553, C. R. XII, 42).
868 II, 6. Oeatalt und TJnterrichishetrieb der protest. Schulen um 1580.
ScALiOEB, der auf einer Reise durch Norddeutschland ihn in Stral-
sund besucht hatte, veranlaßte seine Berufung nach Wittenberg. Es
wird ein Urteil dieses Philologen über Bhodomakus als griechischen
Dichter angeführt: daß er mit den vorzüglichsten unter den Griechen
wetteifere, viele bei weitem übertreffe; nur Unwissenheit oder Bosheit
könne das leugnen.^ Unter seinen griechischen Dichtungen wird als
die bedeutendste die folgende angesehen, deren Titel zur Probe voll-
standig angeführt werden mag: IJonjaig ;^(>i<rT/ai'iy. Uakai-
(TTiVtjQ ijTOi uyiaq iaroQiag ßiß?.ia ivvea. Poesis Christiana.
Palaestinae s. hixtoriae sacrae libri novem, Ubi ex s. Bibliis^
Josepho, historia ecclesiastica et aliunde continua serie recitantur prae-
cipua quae in Palaesti7ia ab ultima inde memoria ad hanc ferme aetatem
Deus^ S. patres, judices, reges, prophetae^ ethnarchae, pontificcs, Ma-
cedones, Asmanaei, Herodes, Christas, Apostoli, Romani, Agareni, Turcae
et Argonautae nostri aliique interim gesserunt Ad usum scholasticae
juventutis Graecolatina poesi ita concinnaä, ut ab omnibus ubique
Christianis bonorum artium studiosis cum fructu et voluptate legi possint
(Frankfurt a. M., 1589).
Dem Gedicht ist vorausgeschickt eine Epistel Neandees, worin
er es allen Schulrcktoren aufs dringendste empfiehlt: sie sollten es,
wenn nicht zur Lektüre in der Schule benutzen, doch dem Privatfleiß
der Schüler anraten. Ferner ist beigegeben eine lange Dedikations-
epistel des Verfassers, welche eine in mancher Hinsicht interessante
Gymnasialpädagogik enthält Er verteidigt darin seine griechische
Schriftstellerei gegen die herrschend werdende Ansicht, daß Griechisch
entweder überhaupt entbehrlich oder doch das Schreiben in griechischer
Sprache nicht notwendig sei: sat enim doctrinae in monumentis veterum
nobis r dictum. Khodomanus führt dagegen aus, erstens, daß ohne
Schreiben man auch Lesen nicht lerne; zweitens, daß ohne Schreiben
dem Unterricht das eigentliche Ziel fehle: er sei der Überzeugung, daß
alle weisen und fein redenden Autoren dazu da seien, ut totos quoad
fieri possit, imiteris, nee tantum intelligas et res eorum tibi accommodes,
sed etiam ipsos, si facultas detiir^ quanti sint et quales, sensu lingua et
calamo ita referas, ut dici queat: hie alter Homerus est, Firgilius, De-
mosthenes etc. aut cerfe non infelix eorum discipulus et imitator. Drittens
führt er einen praktischen Gesichtspunkt an: wir müßten mit allen
Kräften dahin streben, daß mit Gottes Hilfe die Griechen dem deutschen
Reich inkorporiert würden; tum certe Graeca enunciatione cum Ulis
* LizELius, Historia poetarum Oraecorutn Oennaniae a renatis Htteri» ad
nosira usque tempora (Frankf. 1730); wo noch eine große Menge weiterer Zeug-
nisse von Einheimischen und Fremden über die Vorzüglicbkeit dieser Gredichte.
Der Unterrichtsbetrieb im Griechischen. 369
agendumj nee vulgär i tantum et semibarbara, sed erudita, ni ludibrio
et contemtui Ulis exponi velimus.
Neben Ehodomanus wäre etwa noch Mastin Ceüsiüs (1526
bis 1607, seit 1559 Professor in Tübingen) als griechischer Autor zu
nennen. Den Inhalt seiner Germano-Graeda (Basel, 1585), eines statt-
lichen Foliobandes, bilden zwei Bücher Reden des Csusius, lateinische
und griechische, letztere mit lateinischer Übersetzung, ein Buch grie-
chische Reden, von Doktoranden der Tübinger Universität gehalten;
drei Bücher griechische Gelegenheitsgedichte von Crusius, denen auch
eine poetische Biographie des L. Rhodomanus beigegeben ist Crusius
betrieb das Griechischschreiben als gelehrten Sport. Es wird von ihm
erzählt, daß er 6174 deutsche Predigten auf dem Knie in griechischer
Sprache nachgeschrieben habe. Glücklicherweise hat sich kein Verleger
gefunden, sie drucken zu lassen.
Auch kleine Schullesebücher für den Anfangsunterricht in der
griechischen Sprache entstanden in ziemlicher Anzahl. Sie enthalten
regelmäßig kirchliche Stoffe, z. B. Camerarius Capita pietatis et reli-
gionis Christianae versibus Graecis comprehensa ad institiitionem pueri'
lern, cum interpretatione Latina (Leipzig, 1546 u. ö.) Ähnliche Büchlein
von PossELius, der die Sonntagsepisteln und Evangelien in griechische
Verse faßte, von Stigelius, Brentius u. a.
Von hier aus ist nun der griechische Schulbetrieb zu verstehen.
Er gleicht, wie gesagt, dem lateinischen. Nach Sturms Straßburger
Organisationsentwurf soll der griechische Unterricht mit dem fünften
Schuljahr (etwa im elften Lebensjahr) beginnen. Nachdem etwa in
einem halben Jahr das Lesen und die ersten Elemente der Formen-
lehre gelernt sind, giebt man den Knaben Texte in die Hand, im
ersten Vierteljahr die Fabeln Aesops, im zweiten Demosthenes' olympische
Reden. Dieser Autor begleitet die Schüler dann durch den ganzen
Schulkursus, der etwa mit dem 16. Lebensjahr sein Ende erreicht
Außerdem wird Homer und Paulus empfohlen. In den späteren
Klassenbriefen wird Demosthenes für die drei oberen Klassen in Aus-
sicht genommen, daneben gelegentlich Aristophanes, Euripides, Thuky-
dides; Paulus' Briefe sollen in den fünf oberen Klassen sonntäglich
gelesen werden.
Es ist einleuchtend, daß die Benutzung der demosthenischen Texte,
wenn anders sie jemals in diesem Umfang stattgefunden hat, hier nicht
in der Absicht des Lesens gemeint ist, auch nur in dem Sinn, wie wir
von unseren Primanern sagen, daß sie Demosthenes lesen, obwohl lesen
auch hier eine Thätigkeit bezeichnet, welche von der Bedeutung des
Worts im gemeinen Sprachgebrauch erheblich sich unterscheidet. In
PaalBen, Unterr. Zweite Aafl. I. 24
370 U, (L Gestalt und Unterrichtabeirieb der protest. Schulen um 1580,
der Straßburger Schule diente der Text lediglich, um an ihm zuerst
deklinieren und konjugieren zu lernen, sodann aus ihm Wörter, Wen-
dungen und Redefiguren zu sammeln, ganz ebenso, wie Stubm für
die lateinische Sprache den Cicero von klein auf brauchen ließ. Der
Schriftsteller steht auf der Schule zunächst im Dienst der Erlernung
der Sprache, wie Stl^rm dies in dem Lauinger Organisationsplan aus-
drücklich ausspricht: auch in der ersten Klasse linguae magis, quam
mentis mar/istri atque doctores esse volumus (VoRMBAUM, I, 739). Der
Unterricht in den Wissenschaften gehört auf die Universität.
Aber warum Demosthenes und Paulus, welche den Schülern not-
wendig unverständlich bleiben müssen, zu solchen Sprachexerzitien
benutzen? Sturm antwortet: aus derselben Ursache, aus welcher im
Lateinischen von Anfang an Cicero den Knaben in die Hände gegeben
wird: wie dieser unter den Römern, so ist unter den Griechen De-
mosthenes der erste Redner; und unter den heiligen Schriftstellern
nimmt Paulus dieselbe Stellung ein.^
Daß die Schüler nicht imstande sind, den Sinn der Rede zu
fassen, dagegen ist Stl-rm ziemlich gleichgültig. Die Menschenkinder,
meint er, lernen von Natur eher reden als denken und urteilen. Das
ist ein Wink der Natur: Erkenntnis wird man erwerben, wenn der
Verstand kommt; aber richtig und rein sprechen lernen muß der Knabe,
dem Erwachsenen wird es schwerer (de litt ludis capp, 11, X). Daher
muß man dem Knaben die Schriften der besten Stilisten in die Hand
geben und ihn optima ex optimis zusammentragen lassen; das Ver-
ständnis wird nachkommen.
Sturm hat auch hierin das Urteil seiner Zeitgenossen auf seiner Seite.
H. Wolf in Augsburg legt, sich in der erwähnten kleinen Schrift über
* Es scheint bemerkenswert, daß Stur^is Urteil hierin mit demjenigen
Melanchthoxs genau zusammenfällt. In einer Einladung zu Vorlesungen über
Demosthenes 153b (C. R. III, 570) heißt es: D. verdiene vor allen die Teil-
nahme; aus ilim lerne man nicht nur die Sprache, sondern auch Disposition, Dar-
stollungsfonn , Invention; auch ließen seine Ornamente sich nachahmen. Wie
sehr die Reformatoren den Paulus schätzten, ist bekannt. Bei Paulus allein,
heißt es in Melanchtiions Rede de studio doctrinae Paulinae (1520, C. R. XI,
34 ff.), ist methodische Erörterung, man kommt nicht zu den Propheten und
Evangelien als durch seine Kommentare. Und nicht bloß als Theolog, sondern
auch als Redner ist Paulus bewunderungswürdig; wie würdig, wie durchsichtig,
wie elegant ist seine Rede. Es ist unsagbar, wie er das Gemüt des Lesers
beugt, bewegt, hinreißt, begeistert. Paulus kann nicht beiseite lassen, wer nicht
alle Hoffnung des Heils wegwirft. — Mit ähnlicher humanistischer Überschwäng-
lichkeit wird im Encomium eloquent iac Homer gepriesen: des Menschen Geist
hat nichts geboren, w^as dem Homer an Weisheit überlegen wäre; und wie durch
Weisheit, so ist er durch Eloquenz vor allen Dichtem ausgezeichnet.
Der Unteirkhtshetrieb im Griechischen, 371
Sprachenlernen (Vormbaüm, I, 455 ff.) die Frage vor: ob den Schülern
die besten Autoren in die Hand zu geben seien, da diese meist schwierige
und jenseits der Fassungskraft der Schüler liegende Dinge behandeln?
Ja, antwortet Wolf, denn die Knaben verstehen ja überall nicht, was
sie lesen. Verstehen sie etwa die Fabeln, welche sie von Müttern und
Ammen hören? Nein, denn sie merken nichts von der Bedeutung.
Also wenn zu ihnen Plato, Isokrates, Cicero, von Gott, Weisheit, guten
Sitten sprechen, so verstehen sie das ebenso sehr oder ebenso wenig,
denn gleichmäßig ist ihnen alles unbekannt und neu; aber sie haben
einen Vorteil: nämlich daß diese in der gewähltesten Sprache reden.
Und was das Vergnügen anlange, das die Fabeln Aesops u. a. machen
sollen, so glaube er nicht daran: ohne Nötigung würde der größte Teil
der Knaben jedes Spiel dem ludus litterarius vorziehen. „Denn du
darfst machen, was du willst, die W^urzeln der Erudition sind bitter
und die Süßigkeit der Früchte kann erst das reifere Alter schmecken."
Also getrost die Schriftsteller vornehmen, welche die reinste und beste
Sprache reden, ob der Inhalf dem Fassungsvermögen der Knaben an-
gemessen ist oder nicht. Komme noch dazu, daß der Inhalt an sich
ein würdiger und bedeutender, wie ja denn bei der engen Verbindung
von Eloquenz und Weisheit zu erwarten, so sei es doppelt gerecht-
fertigt: denn nicht darauf müsse man sehen, wieviel sie jetzt davon
verständen, sondern darauf, wie großen Nutzen die Dinge, welche sie
vorläufig bloß ins Gedächtnis faßten, bringen würden, wenn sie dereinst
würden verstanden werden. Und für den Augenblick könne man sich
ja mit Übergehen der schwierigsten Stellen helfen; darin könne er
nicht ein Kapitalverbrechen erblicken.
Ganz ähnlich urteilt auch Mioyllus in dem Frankfurter Organisa-
tionsentwurf (VoBMBAUM, I, 631): von Anfang an müsse man solche
Lesestücke vortragen, die nicht allein die Eloquenz, sondern auch das
Urteil über die Dinge bilden, obwohl die Knaben über die Dinge mit
Einsicht und Gründlichkeit zu urteilen noch nicht im Stande seien.
„Denn wie diejenigen, welche in der Sonne wandeln, Farbe bekommen,
obwohl sie nicht deswegen wandeln, so prägen sich den Knabenseelen,,
wiewohl sie der Behandlung ernster und großer Dinge noch nicht
ganz zu folgen vermögen, bei der Beschäftigung mit ihnen bleibende
Spuren ein, die ihnen später nützlich sein werden.**
Also, das Beste nach Inhalt und Form, wenn auch der Sinn der
Fassungskraft der Knaben noch nicht erreichbar ist; das ist das Prinzip,
dem die Pädagogen des 16. Jahrhundert« in der Auswahl der Lektüre
überall folgten. Es ist dasselbe Prinzip, das den Katechismusunter-
richt eingeführt hat und bis auf diesen Tag in den Schulen erhält.
24*
370 II, 6*. Gestalt und Untern' cht. ibetrieh der protest. SchuUn um löSO,
der Straßburger Schule diente der Text lediglich, um an ihm zuerst
deklinieren und konjugieren zu lernen, sodann aus ihm Wörter, Wen-
dungen und Eedefiguren zu sammeln, ganz ehenso, wie Stubm ITir
die lateinische Sprache den Cicero von klein auf brauchen ließ. Der
Schriftsteller steht auf der Schule zunächst im Dienst der Erlernung
der Sprache, wie Sturm dies in dem Lauinger Organisationsplan aus-
drücklich ausspricht: auch in der ersten Klasse Unguae magis. quam
mentia magistri atque doctores esse volumus (VoBMBAUM, I, 739). Der
Unterricht in den Wissenschaften gehört auf die Universität.
Aber warum Demosthenes und Paulus, welche den Schülern not-
wendig unverständlich bleiben müssen, zu solchen Sprachexerzitien
benutzen? Sturm antwortet: aus derselben Ursache, aus welcher im
Lateinischen von Anfang an Cicero den Knaben in die Hände gegeben
wird: wie dieser unter den Römern, so ist unter den Griechen De-
mosthenes der erste Redner; und unter den heiligen Schriftstellern
nimmt Paulus dieselbe Stellung ein.^
Daß die Schüler nicht imstande sind, den Sinn der Rede zu
fassen, dagegen ist Sturm ziemlich gleichgültig. Die Menschenkinder,
meint er, lernen von Natur eher reden als denken und urteilen. Das
ist ein Wink der Natur: Erkenntnis wird man erwerben, wenn der
Verstand kommt; aber richtig und rein sprechen lernen muß der Knabe,
dem Erwachsenen wird es schwerer (de litt ludis capp, II, X). Daher
muß man dem Knaben die Schriften der besten Stilisten in die Hand
geben und ihn optima ex optimis zusammentragen lassen; das Ver-
ständnis wird nachkommen.
Sturm hat auch hierin das Urteil seiner Zeitgenossen auf seiner Seite.
H. Wolf in Augsburg legt- sich in der erwähnten kleinen Schrift über
* Es scheint bcjmerkenswert, daß Sturms Urteil hierin mit demjenigen
Melanchthons genau zusammenfallt. In einer Einladung zu Vorlesungen über
Demosthenes 1538 (C. R. III, 570) heißt es: D. verdiene vor allen die Teil-
nahme; aus ihm lerne man nicht nur die Sprache, sondern aucli Disposition, Dar-
stellungsfonn , Invention; auch ließen seine Ornamente sich nachahmen. Wie
sehr die Reformatoren den Paulus schätzten, ist bekannt. Bei Paulus allein,
heißt es in Melanchthons Rede de studio doctrinae Paulinae (1520, C. R. XI,
34 fiV), ist methodische Erörterung, man kommt nicht zu den Propheten und
Evangelien als durch seine Kommcutare. Und nicht bloß als Theolog, sondern
auch als Redner ist Paulus bewunderungswürdig; wie würdig, wie durchsichtig,
wie elegsint ist seine Rede. Es ist unsagbar, wie er das Gemüt des Lesers
beugt, bewegt, hinreißt, begeistert. Paulus kann nicht beiseite lassen, wer nicht
alle Hofthung des Heils wegwirft. — Mit ähnlicher humanistischer Cbcrschwäng-
lichkeit wird im Encomium etoquentinc Homer gepriesen: des Menschen Geist
hat nichts geboren, was dem Homer an Weisheit überlegen wäre; und wie durch
Weisheit, so ist er durch Eloquenz vor allen Dichtern ausgezeichnet.
Der Unierrkhtshetrieb im Öriechischen, 371
.Sprachenlernen (Vormbaüm, I, 455 fl.) die Frage vor: ob den Schülern
die besten Autoren in die Hand zu geben seien, da diese meist schwierige
und jenseits der Fassungskraft der Schüler liegende Dinge behandeln?
Ja, antwortet Wolf, denn die Knaben verstehen ja überall nicht, was
sie lesen. Verstehen sie etwa die Fabeln, welche sie von Müttern und
Ammen hören? Nein, denn sie merken nichts von der Bedeutung.
Also wenn zu ihnen Plato, Isokrates, Cicero, von Gott, Weisheit, guten
Sitten sprechen, so verstehen sie das ebenso sehr oder ebenso wenig,
denn gleichmäßig ist ihnen alles unbekannt und neu; aber sie haben
einen Vorteil: nämlich daß diese in der gewähltesten Sprache reden.
Und was das Vergnügen anlange, das die Fabeln Aesops u. a. machen
sollen, so glaube er nicht daran: ohne Nötigung würde der größte Teil
der Knaben jedes Spiel dem ludus litter arius vorziehen. „Denn du
darfst machen, was du willst, die Wurzeln der Erudition sind bitter
und die Süßigkeit der Früchte kann erst das reifere Alter schmecken."
Also getrost die Schriftsteller vornehmen, welche die reinste und beste
Sprache reden, ob der Inhalf dem Fassungsvermögen der Knaben an-
gemessen ist oder nicht. Komme noch dazu, daß der Inhalt an sich
ein würdiger und bedeutender, wie ja denn bei der engen Verbindung
von Eloquenz und Weisheit zu erwarten, so sei es doppelt gerecht-
fertigt: denn nicht darauf müsse man sehen, wieviel sie jetzt davon
verständen, sondern darauf, wie großen Nutzen die Dinge, welche sie
vorläufig bloß ins Gedächtnis faßten, bringen würden, wenn sie dereinst
würden verstanden werden. Und für den Augenblick könne man sich
ja mit Übergehen der schwierigsten Stellen helfen; darin könne er
nicht ein Kapitalverbrechen erblicken.
Ganz ähnlich urteilt auch Mioyllus in dem Frankfurter Organisa-
tionsentwurf (Vormbaüm, I, 631): von Anfang au müsse man solche
Lesestücke vortragen, die nicht allein die Eloquenz, sondern auch das
Urteil über die Dinge bilden, obwohl die Knaben über die Dinge mit
Einsicht und Gründlichkeit zu urteilen noch nicht im Stande seien.
„Denn wie diejenigen, welche in der Sonne wandeln, Farbe bekommen,
obwohl sie nicht deswegen wandeln, so prägen sich den Knabenseelen,
wiewohl sie der Behandlung ernster und großer Dinge noch nicht
ganz zu folgen vermögen, bei der Beschäftigung mit ihnen bleibende
Spuren ein, die ihnen später nützlich sein werden."
Also, das Beste nach Inhalt und Form, wenn auch der Sinn der
Fassungskraft der Knaben noch nicht erreichbar ist; das ist das Prinzip,
dem die Pädagogen des 16. Jahrhunderts in der Auswahl der Lektüre
überall folgten. Es ist dasselbe Prinzip, das den Katechismusunter-
richt eingeführt hat und bis auf diesen Tag in den Schulen erhält.
24*
v72 //, h. hfju^/M ^ßfA l'ftr^rric^uMtr^J'j wr prrAeA. SofailOT Min loSO.
tß^*-. '/j'jtf^h ^S'^iirh*ii^,*iU dßfk Giaa>/eiiÄ. /twohi ae Eindem noch nicht
Ut^fiur ttu4f v^rfieri auf H'^fibong zunkchst dem Gedichtnis eingeprägt.
khr 'iiH fffofun^u hnUßihfi wird das Prinzip jetzt nicht mehr anerkannt
V'/f lU^r ^fhü^M ifkfisü(Oi^htin Berolution der AnfkUrong galt es auch
tur dji^;; UiSin luk, wk Wolf ODterscheidet. znnäclist Mctra Xi^iPj
h\t'M HunA diävoiuv\ das Sinnrerstandnis mag seiner Zeit nach-
ktimini'U, riirifreriH hlieb natürlich der Umfang der griechischen
I/«'kl<iP{ iiuf d<'r H^;hule un(>eiieutend. Es handelte sich überall nur
ntn bt»i<$htück<', DcmoMtbenes wurde doch nicht hänfig benutzt; da-
l/i*K<*» Hiidini «ich «ehr gewohnlich außer Aesops Fabeln Pythagoras'
iniri*ii rartfiifitif TlufOffniii, l^ltocylideSf laocrates ad Demanicumy Plutarch
nhiT KnU*\\\u\\(f X^nophonH Cyropadie, Hesiods Werke und Tage, Stücke
iiUN llon»i«r odur Luciun und natürlich die Schriften des neuen Testa-
mnrilH; für (li*n ornton Anfang war auch durch jene griechische Ka-
IrrliiNitiPH u. H. w. ^'('Hor^'t.
K. V. Kau MICH hat diesen Formalismus in der Behandlung der
Auluron, wi'IrlMT in dem Autor nicht efnen Selbstzweck, sondern nur
v\\\ Mitu^l IM oinrm Zwock sieht, namentlich an Stubm hart getadelt
M. La AN hat. in saohkundi^'or Ausführung^ gezeigt, wie unbillig, weil
unhiMlorisoh. »lios Trtoil ühor Sturm ist Er weist nach, wie Stubms
AulTuvsunK in \Wv ^an/on humanistischen Anschauung wurzelt Anderer-
soHn \^\i\\M dooh aurh Laas, dati Sturm einseitiger als die älteren
Humaiustou, MKuvNruriiox, Krasmvs, Agricx)la, die Form auf Kosten
dt^s Inhalts Ivt^tono. Pas ma^r der Fall sein: mir scheint aber, es er-
V\MX Moh aus Sn kms Stollunc: or sv*hrieh Anweisungen für den Schul-
\iutoviioh(« tu solohon kvu\iito or otfenbar nicht umhin« diesen Gesichts-
punkt \n dio \v»r\lorsto Koiho t\x Stollen. Daß die Erlemnnsr der
SpvÄoho dio aK^v^tut orsto Aut>:^lv dor Sohule sei, darüber war im
ttv J^hvhuiuWrt ulyrhÄupt j:»r keiuo Meiuune>Tersoh:edenheiL Me-
lANvwvuv^N Uiu; Kkvsmvs vboh:on hiorü^er nicht acders; aber sie
iXNiOU'v. vuul svh:,^\*u :ur Srudeuio:: ai^*: Gelehrte.
l\c^,/.^.lv,^:s^:?Ji >; *vv.^ uivi-r^u:!:: ^Tilis?»:— ü? i:-e ?r:sai<»:ä!e- Daß
«*!' ,* ;:><f,\\*>.v »r'i.^rv:*;: r-er:*: ji.::" -:t: x-iil»? ;rT«£*:ai w.rifc s«.
..v,^., " t ■■.•::-:: vc> *v"..^ *:-oiu^lv> -rM?. w.-ri jo/a isiri?t*r -ia^ch
Der Unierrkhtahetrieb im Chriechischen, 373
Klassiker nicht unglücklich nachgeahmt worden seien, ebensowenig
tauschen lassen, als durch die Demostheneslektüre in Straßburg. Es
handelt sich natürlich nur um Schuleierzitien, welche man aus koUi-
gierten Phrasen zusammensetzt, sei es selbstgefundenen, sei es von
anderen gesammelten. Der Ilfelder Rektor hatte, wie für die latei-
nischen, so auch für die griechischen Übungen in Poesie und Prosa
solche Hilfsbücher zusammengetragen. Er empfiehlt sie in dem er-
wähnten Bedenken: „Äd scribendas Graecas epistolas wollten ihm viel
dienen unsere locutionum Graecarum exempla et formulae^ die eben
auf den Schlag, wie die Latinae phrases aus allen veterum eloquentium
scriptis, multorum annorum labore, zusammengebracht sein. Griechische
versus zu schreiben, wollten ihm sehr förderlich sein unsre libri de
re poetica Graecorum, da nicht allein epitheta Graeca variarum rerumj
locorum et personarum, sondern auch phrases poeticae Graecae et ele*
gantiae Graecae und andere Dinge mehr hierzu nötig aus vielen alten
Graecis autoribus zusammengetragen, alles fein ordentlich in capita
und classes ausgeteilet, zu finden^^ (Vobmbaüm, I, 756). Die Aufgabe
des Schülers bestand also darin, diese Steinchen zu einem musivischen
Bild zusammenzusetzen, eine für manchen nicht unerfreuliche und nicht
nutzlose Beschäftigung, wenigstens so lange als der Glaube an die
Möglichkeit vorhanden war, sich einmal als griechischen Poeten be-
rühmt zu machen. — Die Görlitzer Schulordnung von 1609 (Vobm-
baüm, II, 1 00) will die Schreibübungen eng an die Lektüre anschließen :
aus dem Autor, der gelesen wird, stellt der Lehrer einige Sätze, mit
Veränderung der Personen, Zeiten u. s. w. zusammen und läßt sie ins
Griechische zurückübersetzen. Es ist dasselbe Verfahren, welches von
einsichtigen Schulmännern auch gegenwärtig geübt und empfohlen
wird. Jene Görlitzer Schulordnung fügt hinzu: so machen sie durch
bescheidenen Diebstahl (modesto furto) Fremdes zu Eigenem.
In Summa: der griechische Unterricht folgte in Ziel und Methode
genau dem lateinischen, nur blieb die hierin erreichte Fertigkeit durch-
weg sehr weit zurück hinter der Fertigkeit, welche im Lateinischen
erlangt wurde. Der Umfang der Lektüre blieb meist ganz geringfügig,
von einer Einführung in die griechische Litteratur war, wenigstens auf
der Schule, nicht die Rede, sie blieb dem Auditorium publictim oder
der Universität vorbehalten. In der Begel wird aber auch hier die
Lektüre, wenigstens der profanen Autoren, keine große Ausdehnung ge-
wonnen haben. Ja, manche werden auch noch gegen Ende des Jahr-
hunderts ohne Kenntnis der griechischen Sprache ins Predigt- und
Schulamt getreten sein, sich Lüthebs getröstend, der nur von den
„Propheten oder Auslegern", nicht aber von den schlichten Predigern die
374 II, 6, Gestalt und UnterriMsbetrieb der protest. Schulen um 1580.
Sprachen fordert. Ks hinderte nichts von irgend einer kleinen Latein-
schule, deren Schulmeister selbst nicht Griechisch verstand, auf die
Universität zu gehen, und hier nötigte den, der es nicht selbst für
nötig hielt, nichts. Griechisch zu lernen. Der Schulmeister von Labes
in Pommern redet in einem Bericht vom Jahre 1598 von der arti-
metice und dem cathegismusj durch die Schreibung genugsam verratend,
daß er des Griechischen gänzlich unkundig war (v. BClow, Bei-
träge, 62). Vielleicht war er nie auf einer Universität gewesen. Es gab
keine Vorschriften, wodurch Universitätsbesuch oder gar Promotion
zur Bedingung der ■ Anstellung gemacht worden wäre. Die von
Labes werden auch nicht eben für notig gehalten haben, für ihre
Knaben, die im Sommer „eines Teils die Gusselen, eines Teils die
Schweine, eines Teils die Kälber, eines Teils die Kühe, eines Teils die
Ochsen hüteten, eines Teils den Pflug trieben", einen großen Gelehrten
zum Schulmeister zu bestellen; auch wäre ein solcher für zehn Gulden
und achtehalben ScheflFel Hafer wohl nicht zu haben gewesen, selbst
nicht, wenn die mensa ambulatoria bei den Bürgern, über deren Fortfall
der Schulmeister sich beschwert, wieder hergestellt und dem Almosen-
korb, welchen er durch Knaben umtragen ließ, nicht mehr mit „groben,
spottlichen Worten" begegnet worden wäre. — Es ist nicht zweifelhaft,
daß eine Schulvisitation in sehr vielen deutschen Städten ähnliche
Zustände vorgefunden hätte. —
Zum Schluß noch eine Bemerkung über die Realien. Im ganzen
gilt, wie bemerkt, die Auffassung: die Schule lehrt die Sprachen, die
Universität die Wissenschaften. Sofern aber die klassischen Schrift-
steller zugleich Sachwissen vermitteln und andererseits zum Verständnis
voraussetzen, so führt der Sprachunterricht unmittelbar auch die Realien
mit sich: Geschichte und Geographie, Mythologie und Archäologie,
Staats- und Rechtskunde, Kosmologie und Philosophie kommen bei der
Lektüre, so formalistisch sie ist, notwendig zur Sprache: die Dinge
stecken nun einmal in den Wörtern und andererseits, ohne alle Kenntnis
der Dinge wäre auch das hloße Wort Verständnis nicht erreichbar. So
mehrt sich der Schatz der sachlichen, besonders der antiquarischen
Kenntnisse (emditio), ohne daß es hierfür besonderer Vorkehrungen
oder Unterrichtsstunden bedürfte.
Etwas anders steht es mit den eigentlichen ^Wissenschaften, die in
logischem Aufbau fortschreiten. Zwar sind auch hier die Schriften der
Alten die Quellen, Aristoteles, Euklid, Ptolemäus u. s. w., aber ihre
Lektüre fällt nicht in den Kreis der Schule; auch ist sie überhaupt
nicht für Anfanger geeignet. Hier wird daher zuerst ein besonderer
Unterricht notwendig. Und so finden sich denn, wie für Rhetorik und
DU Realien, 375
Dialektik, so auch für die Elemente der Physik und der Kosmologie
(Sphaera) auf den Lehrplänen der großen Schulen in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts allmählich besondere Stunden ein. Großartig wird
man sich die Sache freilich nicht vorstellen dürfen; es handelt sich um
die ersten Elemente und Vorbegriffe, wodurch der spätere Universitäts-
unterricht, der übrigens auch wieder meist ein ganz elementarer bleibt,
vorbereitet wird. — Ebenso wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
auch für einen ganz elementaren Unterricht im Rechnen und in der
Mathematik Raum gemacht. Die Schulordnungen der ersten Hälfte,
die kursächsische von 1528, die Bugenhagenschen, die große württem-
bergische von 1559 erwähnen die Sache noch gar nicht. So viel ich
sehe, wird es erst im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts Regel, daß
an den großen Schulen für die Oberklassen eine Stunde für die elementa
mathematum oder initia arithmetices angesetzt wird. So kommt in der
Breslauer Schulordnung von 1570 eine Stunde Arithmetik in I vor;
die Schulordnung für die sächsischen Fürstenschulen von 1580 hat in
II eine Stunde Arithmetik, in I eine Stunde Sphaera, Die Stralsunder
Ordnung von 1591 zeigt eine Stunde Arithmetik für die beiden oberen
Klassen; in II wird tabula multiplicationisy das Einmaleins, auswendig
gelernt. Überhaupt, je schlichter und geringer man sich die Sache
vorstellt, desto näher wird man der Wirklichkeit bleiben. Die Nord-
häuser Schulordnung von 1583, die zu M. Neandee, dem Freunde des
Realunterrichts, und seinen Traditionen Beziehung hat, schreibt einen
Unterricht in der Arithmetik durch alle Klassen vor. Was darunter
verstanden wird, sagt die Spezifikation: V die Zahlen bis 100, IV das
kleine Einmaleins, III lateinisch zählen und das große Einmaleins,
II griechisch zählen und die Spezies, I hebräische Zahlzeichen, auf
lateinisch die Spezies rechnen, und Brüche. Etwas weiter führt ein
Straßburger Lehrplan von 1623: das Pensum der untersten (zehnten)
Klasse ist: die Zahlen bis 100, deutsch und lateinisch; der neunten:
bis 1000; der achten: das Einmaleins; der siebenten: Addition und
Subtraktion; der sechsten: Mutiplikation; der fünften: Division; der
vierten: die regula de tri; der dritten: Brüche. Für die beiden oberen
Klassen wird die Anweisung vorbehalten, bis ein Lehrbuch vorhanden
sein wird (s. Bünger, M. Bemegger, 266).
Erst seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beginnt, unter
veränderten Zeitverhältnissen, der Unterricht in den Wissenschaften all-
mählich sich auszudehnen. Im 16. Jahrhundert beherrscht der Sprach-
unterricht den Schulbetrieb so gut wie absolut.
378 //, f). Gestalt uiul Utiterrichisbetrieb der protest. Schulen um loSO,
und notwendig sind, damit das Räsonnement endlich zu Ende komme
und der Wille nun sein Werk thun könne. Daß er, ein solcher Mann,
zu solchem Ausgang hatte mitwirken müssen, das ließ ihn zu Zeit-en
sein Leben als ein ganz verfehltes und verkehrtes empfinden.
Allerdings, MEiiANCHXHONS Jugendträume waren nicht in Er-
füllung gegangen. Wohl waren die alten Sophisten tot; aber was er
schon in den 20 er Jahren hatte kommen sehen, das war eingetroflfen:
eine neue Sophistik war emporgekommen, hartnäckiger vielleicht und
dümmer als die alte. Nicht die Sprachen und die schönen Wissen-
schaften und das reine Wort Gottes, ohne zanksüchtige Interpret^o,
beherrschten die Litteratur und die Studien, sondern überall waren
die Gemüter mit theologischen Kontroversen erfüllt Die alten So-
phisten hatten doch ihr Geschäft in leidlichem Frieden betrieben; jetzt
dagegen überall, in Wittenberg und Jena, in Frankfurt und Königs-
berg, in Nürnberg und Straßburg, Händel und Verfolgungen, Inquisi-
tionen und Vertreibungen. Und die Sache der humanistischen Studien
lag oflFenbar jetzt um vieles weniger hoffnungsreich als am Anfang des
Jahrhunderts. Damals hatte alles, was Bedeutung und Einfluß, Kraft
und Mut besaß, den neuen Studien sich zugewendet, die Prälaten, die
Fürsten, die Städte und vor allem die studierende Jugend selbst. Jetzt
war alles anders: die Kirche mißtrauisch gegen die Studien, die alte
wie die neue, die Fürsten und Städte habsüchtig und knauserig, die
Jugend indolent. Längst war die Begeisterung, mit welcher man einst
der schwer zu erreichenden Kenntnis des Griechischen, der noch seltenen
römischen Eloquenz na<5hgetracht«t hatt(*, dahin; trage Gleichgültigkeit
gegen den jetzt ungesucht sich anbietenden Unterricht war an die
Stelle getreten. So ertönen unablässig die Klagen der alternden Huma-
nisten und JIelanchthüns zumeist.
Es hätte doch jemand versuchen mögen, ihn aufzurichten. Manches
sei doch besser geworden, als es damals gewesen. Die barbarische
Sprache und die barbarische Philosophie seien von den Schulen und
Universitäten verschwunden; selbst von den Theologen werde ein
reineres Latein geschrieben. Die griechische Sprache sei, wesentlich
durch seine und seines Freundes Camerabius Thätigkeit, auf den Univer-
sitäten und Schulen so weit eingewurzelt, daß ihr Ausgehen nicht mehr
zu besorgen sei. Es stehe zu hoffen, daß auf dies Zeitalter, nachdem
die rabies theologorum sich in sich selber verzehrt haben werde, ein
milderes folge; dann werde auch der Same der schönen Wissenschaften,
der in den neuen Schulklöstem und Universitätsstiften bis auf die
bessere Zukunft aufgehoben ruhe, aufkeimen und gedeihen. Und daß
die Jugend nach den humanistischen Studien nicht mehr so begierig sei.
II, 7. Die Neubegründung des röm.-kathoL Gekkrtenschulicesens. 379
liege einigermaßen in der Natur der Dinge selbst: die köstliche Frucht
verliere mit ihrer Seltenheit etwas von ihrem Wert Doch hüre sie
darum nicht auf zu nähren und zu erfrischen. So werde auch die
griechische Weisheit, wenngleich sie nicht mehr mit dem romantischen
Zauber umgeben sei, seitdem sie in allen Schulen gelehrt werde, nicht
aufhören, den Verstand zu erhellen und das Gemüt zu mildem, derer
wenigstens, die für Bildung überhaupt empfänglich seien.
Siebentes Kapitel.
Die Neubegründung des römisch-katholischen Gelehrten-
schulwesens durch die Gesellschaft Jesu.
Auch die katholische Kirche ist aus der großen Krisis nicht als
dieselbe hervorgegangen.
Ranke hat in der Geschichte der Päpste ausgeführt, wie das Papst-
tum seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ein anderes wurde. Hatte
es sich im 15. Jahrhundert zu einem weltlichen italienischen Fürsten-
tum ausgebildet, dessen Inhaber ihre geistliche Stellung der Erhaltung
und Vermehrung ihrer weltlichen Macht dienstbar machten, so wurde
das Verhältnis nun umgekehrt: die erworbene weltliche Macht und
namentlich das daraus fließende Einkommen wurde der geistlichen
Weltherrschaft dienstbar gemacht.
Auch innerlich war die Kirche eine andere geworden. Die alte
Kirche war wirklich die allgemeine gewesen, nicht bloß äußerlich; sie
hatte die Gegensätze, die nun auseinander traten, in ihrem Wesen
umfaßt. Die neue katholische Kirche bildet den komplementären Gegen-
satz zu den protestantischen Kirchenbildungen. Gegenüber der Zer-
splitterung in Landeskirchen und dem Streit um die Lehre, die als das
Erbteil der Revolution dem Protestantismus eigen blieben, bildete der
neue Katholizismus die Einheit und Gleichheit immer strenger aus, bis
zur formlichen Annahme des Prinzips des monarchischen Absolutismus
in der päpstlichen Unfehlbarkeit. Der protestantischen Geringschätzung
des Äußerlichen, im Kult und in der Disziplin, setzte der neue Katho-
lizismus die aufs höchste getriebene Ausbildung des äußerlichen Wesens
entgegen. Hatte jener in der ersten Leidenschaft des Kampfs die
heiligen Symbole des Kults bis auf einen kleinen Rest beseitigt, den
Schmuck der Priester und Gotteshäuser abgethan, die verdienstlichen
Leistungen und Enthaltungen aller Art, womit in der alten Kirche
372 II, 6, Oestalt und Unterrichtsbeirieb der protest, Sdiulen wn 1580.
Die großen Wahrheiteu des Glaubens, obwohl sie Kindern noch nicht
faßbar sind, werden auf Hofihong zunächst dem Gedächtnis eingeprägt.
Für die profanen Autoren wird das Prinzip jetzt nicht mehr anerkannt
Vor der großen pädagogischen Revolution der Aufklärung galt es auch
für diese; man las, wie Wolf unterscheidet, zunächst xarä ki^iPj
nicht xaror Siüvoiav\ das Sinnverständnis mag seiner Zeit nach-
kommen. — Übrigens blieb natürlich der Umfang der griechischen
Lektüre auf der Schule unbedeutend. Es bandelte sich überall nur
um Lesestücke. Demosthenes wurde doch nicht hänfig benutzt; da-
gegen finden sich sehr gewöhnlich außer Aesops Fabeln Fythagoras'
aurea carmina, Theognis, Phocylides, Isocrates ad Bemonicum^ Flutarch
über Erziehung, Xenopbons Cyropädie, Hesiods Werke und Tage, Stücke
aus Homer oder Lucian und natürlich die Schriften des neuen Testa-
ments; für den ersten Anfang war auch durch jene griechische Ea*
techismen u. s. w. gesorgt.
K. V. Baümeb hat diesen Formalismus in der Behandlung der
Autoren, welcher in dem Autor nicht efnen Selbstzweck, sondern nur
ein Mittel zu einem Zweck sieht, namentlich an Stubm hart getadelt
K Laas hat in sachkundiger Ausführung^ gezeigt, wie unbillig, weil
unhistorisch, dies urteil über Sturm ist. Er weist nach, wie Sturms
Auffassung in der ganzen humanistischen Anschauung wurzelt Anderer-
seits glaubt doch auch Laas, daß Sturm einseitiger als die älteren
Humanisten, Melanchthon, Erasmus, Agricola, die Form auf Kosten
des Inhalts betone. Das mag der Fall sein; mir scheint aber, es er-
klärt sich aus Sturms Stellung: er schrieb Anweisungen für den Schul-
unterricht In solchen konnte er offenbar nicht umhin, diesen Gesichts-
punkt in die vorderste Reihe zu stellen. Daß die Erlernung der
Sprache die absolut erste Aufgabe der Schule sei, darüber war im
16. Jahrhundert überhaupt gar keine Meinungsverschiedenheit Me-
lanchthon und Erasmus dachten hierüber nicht anders; aber sie
redeten und schrieben für Studenten oder Gelehrte.
Wie die lateinische, so wurde nun natürlich auch die griechische
Lektüre von der Imitation begleitet Auch hier wurde die poetische
Darstellungsform so wenig unversucht gelassen, als die prosaische. Daß
eine erhebliche Fertigkeit hierin auf der Schule erreicht worden sei,
erscheint allerdings wenig glaublich; man wird sich darüber durch
Ausdrücke wie die der Augsburger Schulordnung: wir erreichen et in
Graecis et Latinis mediocrem ex tempore et scribendi et loquendi facul-
tatemj oder durch eine Wendung wie die, daß in Ilfeld die griechischen
^ Über die Pädagogik des Joh. Sturm. Berlin 1S72.
Der Unterrichtsbetrieb im Griechischen. 373
Klassiker nicht unglücklich nachgeahmt worden seien, ebensowenig
täuschen lassen, als durch die Demostheneslektüre in Straßburg. Es
handelt sich natürlich nur um Schulexerzitien, welche man aus koUi-
gierten Phrasen zusammensetzt, sei es selbstgefundenen, sei es von
anderen gesammelten. Der Ilfelder Rektor hatte, wie für die latei-
nischen, so auch für die griechischen Übungen in Poesie und Prosa
solche Hilfsbücher zusammengetragen. Er empfiehlt sie in dem er-
wähnten Bedenken: „Äd scribendas Graecas epistolas wollten ihm viel
dienen unsere locutionum Graecarum exempla et formulae, die eben
auf den Schlag, wie die Latinae phrases aus allen veterum eloguentium
scriptisy multorum annorum labore^ zusammengebracht sein. Griechische
versiLs zu schreiben, wollten ihm sehr förderlich sein unsre libri de
re poetica Graecorumj da nicht allein epitheta Graeca variarum rerum,
locorum et personarum, sondern auch phrases poeticae Graecae et eU"
gantiae Graecae und andere Dinge mehr hierzu nötig aus vielen alten
Graecis autoribus zusammengetragen, alles fein ordentlich in capita
und classes ausgeteilet, zu finden" (Vobmbaum, I, 756). Die Aufgabe
des Schülers bestand also darin, diese Steinchen zu einem musivischen
Bild zusammenzusetzen, eine für manchen nicht unerfreuliche und nicht
nutzlose Beschäftigung, wenigstens so lange als der Glaube an die
Möglichkeit vorhanden war, sich einmal als griechischen Poeten be-
rühmt zu machen. — Die Görlitzer Schulordnung von 1609 (Vobm-
baum, II, 1 00) will die Schreibübungen eng an die Lektüre anschließen :
aus dem Autor, der gelesen wird, stellt der Lehrer einige Sätze, mit
Veränderung der Personen, Zeiten u. s. w. zusammen und läßt sie ins
Griechische zurückübersetzen. Es ist dasselbe Verfahren, welches von
einsichtigen Schulmännern auch gegenwärtig geübt und empfohlen
wird. Jene Görlitzer Schulordnung fügt hinzu: so machen sie durch
bescheidenen Diebstahl (modesto furto) Fremdes zu Eigenem.
In Summa: der griechische Unterricht folgte in Ziel und Methode
genau dem lateinischen, nur blieb die hierin erreichte Fertigkeit durch-
weg sehr weit zurück hinter der Fertigkeit, welche im Lateinischen
erlangt wurde. Der Umfang der Lektüre blieb meist ganz geringfügig,
von einer Einführung in die griechische Litteratur war, wenigstens auf
der Schule, nicht die Rede, sie blieb dem Auditorium publicum oder
der Universität vorbehalten. In der Regel wird aber auch hier die
Lektüre, wenigstens der profanen Autoren, keine große Ausdehnung ge-
wonnen haben. Ja, manche werden auch noch gegen Ende des Jahr-
hunderts ohne Kenntnis der griechischen Sprache ins Predigt- und
Schulamt getreten sein, sich Lutheks getröstend, der nur von den
„Propheten oder Auslegern", nicht aber von den schlichten Predigern die
380 //, r. Die Neubegründung des röm.-kaÜioL OelehrienscJiulwesens.
auch das Alltagsleben durchzogen war, als ein Gott miBfalliges, selbst-
gerechtes Streben, ebenso wie das klösterliche Leben, yerdächtigt und
abgeschafft: so vermehrte umgekehrt der neue Katholizismus den
Schmuck der Kirchen und des Gottesdienstes bis zum Prunk und
Schaugepränge; die religiösen Übungen und Leistungen, Heiligenkult-e,
Gebetsübungen, Reliquienverehrung, Wallfahrten, Prozessionen, An-
dachtsmittel und Aberglaubensartikel aller Art wurden zu einem un-
ermeßlich komplizierten kirchlichen Mechanismus ausgebildet, als ob
die neue katholische Kirche einbringen müsse, was auf der andern Seite
versäumt wurde.
Nur auf einem Gebiet tritt der Gegensatz gegen die Ähnlichkeit
der Entwicklung in beiden Kirchen zurück, es ist das Gebiet des gelehrten
Unterrichts. Auch die katholische Kirche erhielt in diesem Zeitalter
ein neues Gelehrtenschulwesen; es hat im allgemeinen dieselben Züge,
wie das protestantische. Die bewegende Kraft war dieselbe: das schon
vor der Kirchenspaltung überall gefühlte und jetzt doppelt dringliche
Bedürfnis einer besseren wissenschaftlichen Bildung des Klerus.
Die Erfüllung dieses Bedürfnisses war wesentlich das Werk der
im Jahre 1540 vom Papst bestätigten Gesellschaft Jesu.
Die Gesellschaft Jesu war von den alten Orden ihrem ganzen
Wesen nach verschieden. Sie hatte nicht zur Absicht, ihre Mitglieder
aus der Welt herauszuführen, um sie durch Askese für den Himmel
zu bereiten; sie führte sie mitten in die Welt hinein, um die aus den
Fugen gehende Welt der Kirche wieder unterthan zu machen.^ Vor
allem bot der neue Orden an, was eben jetzt der Kirche am ersten und
meisten notthat, besseren Unterricht und bessere Erziehung des Klerus.
Die alten Dom- und Stiftsschulen, soviel davon nach der Kirchenrevo-
lution noch übrig war, genügten in keiner Hinsicht dem Bedürfnis;
die Universitäten, wenn sie auch in Hinsicht der Wissenschaft aus-
gereicht hätten, boten doch im 16. Jahrhundert gar keine Garantie
mehr für eine sittlich-kirchliche Erziehung des jungen Klerikers; alle,
auch die der katholischen Territorien, waren von dem humanistischen
Heidentum und von dem Gift der Ketzerei mehr oder minder angesteckt
* Finis hnJHS societatis est non solum aaluti et perfectioni propriarum ani-
marum cum divina gratiä vacare, sed cum eadem nnpense in salufem et perfee-
tionem proximorum incumbere. So heißt es gleich am Eingang der Konstitutionen
(Institutum Soc, J., Prag 1757, I, 340). Der auf das Unterrichtswesen bezüg-
liche vierte Teil auch in der Ausgabe der Ratio studiwum von G. M. Pachtler^
S. J., I, 8 ff. In den ^ier Bänden dieses Werks (Mon. Genn. Paed., II, V, IX,
XVI) liegt jetzt eine Fülle von Material flir die Geschichte des Schulwesens
der Gesellschaft vor.
Die Oesellschafl Jesu; ihr Zweck und ihre Mittel. 381
Diesen für den Bestand der Kirche äußerst bedrohlichen ÜLelstanden
zu begegnen, hatte sich der Jesuitenorden von Anfang an als wesent-
liche Aufgabe gestellt. Demgemäß bilden die Vorschriften für die
wissenschaftliche Ausbildung der Mitglieder der Gesellschaft und für
den Unterricht, den diese dann zu erteilen haben werden, sehr wichtige
Bestandteile der Gesetzgebung des Ordens.
Schon die Ordensverfassung, die vom Stifter verfaßten Konsti-
tutionen, enthalten in ihrem längsten, dem vierten Abschnitt, eine aus-
führliche Studienordnung. Der Abschnitt beginnt: „Da es der Zweck
der Gesellschaft ist, der eigenen Seele und der der Nächsten zur Er-
reichung des Endziels, wozu sie geschaffen sind, zu helfen, und da
hierzu außer dem vorbildlichen Lebenswandel die Lehre und die Lehr-
kunst (doctrina et modus eam proponendi) nötig sind, so muß es sich,
sobald bei den znr Prüfung (Probatio, Noviziat) Zugelassenen eine ge-
nügende Grundlage in der Selbstverleugnung und im nötigen Fortgang
in der Tugend ersichtlich ist, um den Aufbau der Wissenschaften und
ihre Anwendung zu mehrerer Erkenntnis und mehrerem Dienst Gottes,
unseres Schöpfers und Herrn, handeln. Zu diesem Ende umfaßt die
Gesellschaft Kollegien und hin und wieder auch Universitäten, in
denen solche, die in den Probationshäusern sich bewährt, aber nicht
die für unser Institut erforderliche wissenschaftliche Bildung mitgebracht
haben, in diesen und anderen Dingen, die den Seelen zu helfen dien-
lich sind, Unterricht empfangen." Es wird sodann der Studiengang
skizziert, er geht auf eine vollständige gelehrte Bildung ; zu ihr führen
in drei Stufen der grammatisch-rhetorische, der philosophische und der
theologische Unterricht. Als Bestandteile des ganzen Kursus werden
genannt: Zitier ae Humaniores diversarum linpnarum, Logica, naturalis
ac moralis Philosophia^ Metaphysica et Theolopia, tarn quae iScholastica
quam quae Positiva diciiur, et sacra Scriptura (Kap. V).
Dieser Studiengang, der übrigens im wesentlichen dem in den
älteren Orden, vorzüglich dem der Dominikaner, herkömmlichen Kursus
nachgebildet ist, wird zunächst für die Mitglieder der Gesellschaft ver-
ordnet. Doch sollen die Studienanstalten der Gesellschaft, keineswegs
bloß Seminare für den Nachwuchs des Ordens, sondern zugleich öffent-
liche, aller Welt zugängliche Lehranstalten sein. Und zwar sollen sie
— eine für die Ausbreitung wichtige Bestimmung — ihren Unterricht
von der untersten bis zur obersten Stufe, mitsamt den Prüfungen und
Graden, unentgeltlich darbieten, nach dem Wort des Evangeliums:
umsonst habt ihr es empfangen, umsonst gebet es auch.
In der That hat die Gesellschaft Jesu im Verlaufe des folgenden
Jahrhunderts den gesamten gelehrten Unterricht in den katholischen
382 II, 7. Die Neuhegründung des röm,'kathoL OelehrtenscJiulwesens,
Ländern Europas, doch mit Ausschluß des juristischen und medizinischen,
beinahe vollständig in die Hände genommen und bis in die zweite
Hälfte des 18. Jahrhunderts behalten. Durch zwei Jahrhunderte ist der
größte Teil der Gymnasien und Universitäten, d. h. der theologischen
und philosophischen Fakultäten, von ihnen mitljehrern versehen worden.
Man kann geradezu sagen: der Orden ist in diesen liändern die Orga-
nisation für das gesamte gelehrte Studien wesen; nicht der Staat, son-
dern eine private, von der Kirche privilegierte Gesellschaft, hat hier
die Befriedigung dieses öffentlichen Bedürfnisses übernommen. Die
Mitglieder des Ordens dienen, die Laienbrüder ausgenommen, beinahe
alle mindestens eine Zeitlang als Universitäts- und Gymnasial professoren;
seine Kollegien sind öflFentliche Lehranstalten und zugleich Seminare,
in denen die Mitglieder zu Professoren ausgebildet werden. Allerdings
haben die Ordensglieder neben dem gelehrten Unterricht auch andere
Aufgaben; sie werden zur Predigt, zur Seelsorge, zur Krankenpflege,
endlich und vor allem auch zur Mission verwendet; und zuletzt wollen sie
auch mit dem Unterricht dem Heil der Seelen und der Kirche dienen;
Wissenschaft und Bildung sind nicht Selbstzweck. Aber so sehr über-
wiegt in der Thätigkeit des Ordens der Unterricht, daß man ihn ge-
radezu als Studien- oder Schulorden bezeichnen kann.
So sieht ihn auch die Kirche an. Durch mehrere päpstliche Privi-
legien aus den ersten Jahrzehnten seines Bestehens wurden die Studien-
anstalten des Ordens den alten Generalstudien vollständig gleichgestellt;
dem General wurde die Befugnis gegeben, den einzelnen Anstalten nach
seinem Ermessen das Recht der Prüfung und der Erteilung der Grade
in den von ihnen gelehrten Fächern beizulegen, mit derselben Wirkung,
wie sie den von den alten Universitäten erteilten Graden beiwohnte.
Nicht minder wurde den alten Universitäten zur Pflicht gemacht, die
an Jesuitenkollegien zugebrachten Studienjahre anzurechnen (die Bullen
bei Pachtler, I, Iff.).
Ebenso ist das Verhältnis der Kollegien zur weltlichen Gewalt
nicht wesentlich verschieden von dem der alten Universitäten. Wie die
mittelalterlichen Doktorenkorporationen von den Fürsten und Städten
mit Dotationen und Immunitäten ausgestattet wurden, so jetzt die neue
Ordenskorporation. Sehr deutlich tritt die Sache gleich bei einer der
ersten Gründungen, in dem zwischen dem Herzog von Bayern und dem
Ordensprovinzial abgeschlossenen Vertrage über die Errichtung des Ingol-
städter Kollegiums (1555) hervor. Der Herzog stattet die „zum Zweck
der Ausbildung guter und katholischer Geistlichen** errichtete Anstah
mit den nötigen Gel)äuden und Einrichtungen und einer Jahresdotation
von 800 fl. nebst Naturalien aus. Die Gesellschaft übernimmt die An-
Die Kollegien j ihr Verhältnis xur weltlichen Gewalt, 383
stalt mit der Verpflichtung, darin beständig zwei Doktoren zu unter-
halten, die öffentlich an der Universität Theologie lehren, und femer
eine öfiFentliche Schule zu halten, die alle Knaben, aus der Stadt und
von auswärts, frei und umsonst besuchen können. Dagegen hat sie das
Eecht, im Kolleg außer jenen Doktoren und Lehrern so viele dem
Orden angehörige Schüler zu halten, als es die Mittel gestatten. „Diese
Benefizien soll die Gesellschaft genießen, so lange sie an der Ingol-
städter Akademie ihr Amt treulich und genugsam ausübt." Es ist das
der regelmäßige Hergang bei der Errichtung von Kollegien: der Orden
übernimmt einen bestimmten Lehrauftrag gegen eine ihm zur Ver-
fügung gestellte Dotation. In dem Ingolstädter Fall wurde das Kollegium
an die schon vorhandene Universität angelehnt. In anderen Fällen ent-
wickelte sich die Studienanstalt der Gesellschaft selbst zur Universität;
so z. B. in Graz (Pachtleb, I, 344 flf.).
Von hieraus ergiebt sich übrigens nun auch die Bedeutung der
viel berufenen Unentgeltlichkeit des Unterrichts in den Jesuitenkollegien.
Natürlich bedeutet das nicht, daß der Unterricht überhaupt nichts
kostete, das ist ja unmöglich, die Unterhaltung von Lehrern, Schulen.
Unterrichtsmitteln fordert natürlich beträchtliche Mittel; sie bedeutet
auch nicht, daß der Orden die Mittel dazu hergab, der Orden als solcher
hatte kein A^ermögen und durfte es nach der Regel nicht haben; sie
bedeutet nur, einerseits daß weder der Orden, noch der einzelne Lehrer
den UnteiTicht zur Einnahmequelle für sich machte, andererseits daß
dem einzelnen Schüler kein Geld für Unterricht, Prüfung und Promotion
abgefordert wurde. Die Kosten des Unterrichts wurden eben von den
Stiftern, größtenteils weltlichen und geistlichen Fürsten, doch auch von
Städten und Privaten, welche die Kollegien fundierten, getragen, das
heißt also zuletzt von dem Lande, das sie regieren. Und so stehen
also die Jesuiten kollegien auch in dieser Hinsicht neben den protestan-
tischen Landes- oder Fürstenschulen : es sind Studienanstalten, in denen
auf ÖfiFentliche Kosten für den gelehrten Unterricht gesorgt ist. Wobei
denn der wesentliche Unterschied bleibt, daß in den Landesschulen die
weltliche Regierung das Schulregiment übt, während die Gesellschaft
Jesu Kollegien nur unter der Bedingung übernahm, daß die Regelung
des Unterrichtsbetriebs ihr vollständig überlassen werde.
Nicht minder tritt der Charakter der Gesellschaft als Studien- oder
Professorenorden auch in seiner Innern Verfassung hervor. Ich deute die
Grundzüge, soweit sie auf das Unterrichtswesen Beziehung haben, kurz an.^
* Vgl. auch den eingehenden Artikel Jesuiten und Jesuitenschulen von
Waoexmann in Schmids Encyklopädie, und Cornova, Die Jesuiten als Gymnasial-
lehrer (Prag 1804).
384 IL 7. Die Neubegründung des röm.-kaihoL OeUhrtenschulweaens.
Die Mitglieder zerfallen in vier Klassen: Novizen, Scholastiker,
Koadjutoren, Professen, wozu noch Laienbrüder (coadjutores tempo^
rales oder saeculares) kommen, denen die häuslichen Geschäfte obliegen,
für die übrigens doch kein Ordensmitglied sich zu vornehm halten darf.
Die Professen (professi quattuor votorum; sie legen außer den drei üb-
lichen noch das vierte Gelübde ab: jedem päpstlichen Befehl, zu Gläu-
bigen oder Ungläubigen in diesem oder jenem Weltteil zu gehen, un-
bedingt und unverzüglich Folge zu leisten) bilden den engsten Kreis
der meistverpflicht^ten, dafür auch der vollberechtigtsten Mitglieder; aus
ihnen wird die Generalkongregation gebildet, welche die gesetzgebende
Gewalt übt und den General (praepositus generalis) wählt Sie wohnen
in den Profeßhäusem. In den Kollegien wohnen die Koadjutoren und
Scholastiker, sie bilden vorzugsweise das lehrende und lernende Per-
sonal des Ordens; doch sind auch Professen besonders als Lehrer der
Theologie in den Kollegien thätig. Die Novizen endlich werden zu-
nächst in besonderen Probationshäusem (oder auch in einem Kollegium)
untergebracht, wo sie durch religiöse Disziplin und Werke der Ab-
tötung geprüft und für den Orden vorbereitet werden.
Die Laufbahn eines Jesuiten, der etwa im Alter von 16 oder
18 Jahren zum Eintritt in den Orden sich entschloß, gestaltete sich
demnach etwa in folgender Weise. Zuerst ist ein zweijähriges Noviziat
zu absolvieren, während welcher Zeit keine wissenschaftlichen Studien
vorgenommen werden. Dann wird das erste Gelübde abgelegt und der
scholasticus approhatus beginnt nun den Studienkursus in einem Kol-
legium. Erscheint es- erforderlich, so macht er zunächst noch die obere
Stufe des humanistischen Schulkursus durch. Dann folgt der dreijährige
philosophische Kursus, Logik, Physik, Metaphysik umfassend. Auf die
Absolvierung der weltlichen Studien folgt nun regelmäßig eine mehr-
jährige Verwendung als Lehrer an einem Kolleg, der übrigens eine
Vorbereitung, die sogenannte repetitio humaniorum, vorhergeht In der
Schule findet gewohnlich ein Aufsteigen durch die Klassen mit dem
Cötus statt Hierauf folgt endlich das Studium der Theologie, wofür
ein vierjähriger Kursus festgestellt ist, an den sich noch zwei Jahre
für Repetition und Erwerbung der Grade anschließen mögen. Minder
fähige können auch dauernd in der Schule, als magistri perpetuij ver-
wendet oder durch einen abgekürzten theologischen Unterricht für den
Beruf des Beichtigers oder Predigers vorbereitet werden. Hierüber
steht die Verfügung überall bei den Oberen. Nach dem Empfang der
Priesterweihe und der Ablegung der Gelübde, entweder als coadjutor
spiritualis oder als professus, wird er zur Predigt, zur Seelsorge, zur
Mission, oder im Unterricht, sei es dem humanistischen oder dem philo-
Die Ausbildung der Ordensglieder. 385
sophischen oder theologischen verwendet, je nachdem und so lange es
den Oberen im Interesse der Gesellschaft und im Interesse der Voll-
endung des Einzelnen am besten scheint; dieser hat im Gebot des
Oberen das Gebot Gottes zu erkennen und zu gehorchen, er darf nicht
einmal den Wunsch, zu höheren Studien und Leistungen promoviert
zu werden, aussprechen.
Wie das gelehrte Studium das Hauptstück der Ausbildung der
Ordensglieder ausmacht, so ist die Geschicktheit dazu auch schon ein
Hauptaugenmerk bei der Auswahl der sich anbietenden Novizen. Auf-
genommen werden sollen, so bestimmen die Konstitutionen, nur solche,
„bei denen vernünftiger Weise Aussicht ist, daß sie tüchtige Arbeiter
im Weinberg Christi durch Beispiel und Lehre werden. Je begabter,
je gesitteter und je rüstiger sie auch körperlich sind, die Studienarbeit
• zu ertragen, desto tauglicher sind sie zur Aufnahme". Auch wird
regelmäßig ein Anfang gelehrter Schulbildung vorausgesetzt. Dem
entspricht die Bestimmung, daß auch noch Scholastiker wegen TJnfleiß
oder Unfähigkeit dimittiert werden können: „Wenn der Rektor be-
merkt, daß jemand seine Studienzeit nutzlos verbringt, weil er Fort-
schritte in den Wissenschaften entweder nicht machen will oder nicht
kann, so ist es besser, ihn zu entlassen und an seiner Stelle einen
anderen anzunehmen, welcher der in den Kollegien vorgesetzten Ab-
sicht des göttlichen Dienstes besser entspricht." Wozu denn die De-
klaration allerdings hinzufügt: wenn er zwar nicht zu Studien, wohl
aber zu andern Diensten tüchtig ist (z. B. etwa zum Beichthören), so
mag man ihn hierzu verwenden; ist das nicht- der Fall, so mag er
dimittiert werden, doch ist es billig, nach reiflicher Erwägung erst an
den Provinzial oder General zu berichten (I, 32). Endlich entspricht
dem, daß zum Professus, wie durch wiederholte Beschlüsse der General-
kongregation eingeschärft wird, nur die befördert werden (promoveri)
sollen, die nach Ausweis strenger Prüfung ihren philosophisch-theo-
logischen Kursus mit solchem Erfolg durchgemacht haben, daß sie
Philosophie und Theologie zu lehren tüchtig sind; doch wird als Ersatz
zugelassen hervorragende Leistung in den Sprachen oder auch in der
Predigt. Man sieht, eigentlich soll niemand Professus werden, als wer
zum Professor tauglich ist.
Wie sehr die Aufgabe des gelehrten Unterrichts im Mittelpunkt
der Thätigkeit des Ordens steht, wenigstens in den europäischen
Ländern, denn daneben steht freilich als zweites großes Thätigkeits-
gebiet die Mission in den außereuropäischen Ländern, das tritt auch
in der Statistik seiner Niederlassungen deutlich hervor. Nach einer
Tabelle mit Karte (bei Pachtlee, III, Anhang) betrug im Jahre 1725,
Paulson, Unterr. Zweite Aufl. I. 25
386 //, r. Die Neuhegründung des röm.'kaihoL Gelehrtensctmlwesen^,
also nicht lange vor dem beginnenden Niedergang des Ordens, die
Zahl seiner Kollegien allein in der deutschen Assistenz (Deutschland
mit Österreich, Polen, den Niederlanden) 209 mit 89 Seminaren, wo-
gegen die Zahl der Profeßhäuser ganz gering war (6); dazu 73 Resi-
denzen oder kleine Niederlassungen. —
Betrachten wir nun die Kollegien etwas genauer. Ihre Größe,
die Zahl ihrer Bewohner und der Umfang der darin getriebenen
Studien ist sehr verschieden; sie hängt ab von der Größe der von den
Stiftern zur Verfügung gestellten Mittel. Durch wiederholte Verord-
nungen der Generäle ist das Minimum der Fundation für verschiedene
Arten von Studienanstalten festgestellt worden. Eine Verordnung des
zweiten Generals, P. Lainez, um das Jahr 1564 fordert für das kleinste
Kollegium die Mittel zur Unterhaltung von wenigstens 20 Personen:
drei Lehrer der klassischen Sprachen, mit einem vierten als Stell-
vertreter, drei Priester, von denen der eine Rektor sein, die beiden
andern der Seelsorge sich widmen sollen, ferner sieben Schüler als
Nachwuchs und sechs Laienbrüder, dazu noch ein nicht zur Gesellschaft
gehöriger corrector^ der die castigatio besorgt. Für ein Kollegium mit
dem vollständigen humanistisch-rhetorischen Kursus sind wenigstens 30,
für ein Kollegium mit dem philosophischen Kursus 50, kommt auch
der theologische Kursus hinzu, 70 oder mehr ex Mostris notwendig.
Wird von dem Stifter nicht die für die Erhaltung dieses Personals
ausreichende Dotation zur Verfügung gestellt, so soll die Gesellschaft
die Verpflichtung nicht auf sich nehmen. Eine Verordnung von 1 588
läßt die erste Art, die Lateinschule, überhaupt fallen und fordert für
die drei übrigen Formen als Regel 50, 80, 1 20 Personen, welche Zahlen
später allerdings wieder herabgesetzt werden (Pachtler, I, 334 flf.).
An diesen Stamm schließen sich dann die nicht dem Orden an-
gehörigen Schüler, und es hindert nicht«, daß sich auch Kinder Anders-
gläubiger einfinden. Der Verkehr der Externen mit den Internen ist
allerdings ein sehr beschränkter, auch in der Schule sind für beide
eigene Plätze. Die in der Stadt heimischen Schüler kommen bloß zum
Unterricht. Für Auswärtige besteht an vielen Kollegien ein Alumnat
(convictus), in dem arme Schüler umsonst Aufnahme finden. Daneben
findet sich vielfach auch ein Pensionat für Knaben der höheren
Stünde. Au den bischöflichen Sitzen stehen die Klerikalseminare
ebenfalls gewöhnlich unt^r der Leitung der Väter. Endlich sind auch
die jihilosophischen und theologischen Fakultäten der alten Universitäten
im katholischen Deutschland meist der Gesellschaft übergeben worden,
so daß sie die Lehrer stellte und den Unterricht nach ihrer Regel ordnete.
Was die Verfassung der Kollegien anlangt, so steht an der Spitze
Die mnere Verfassung d^r Kollegien, 387
der P. Rektor. Er wird vom General ernannt. Seiner Sorge ist das
Gedeihen der ganzen Anstalt und jedes einzelnen Gliedes anbefohlen.
,,Alle Bewohner des Kollegs sollen ihn achten und in Ehren halten
als den Stellvertreter Christi, ihm ihre Person und ihre Sachen zu
freier Verfugung mit aufrichtigem Gehorsam anheimgeben, nichts vor
ihm verschlossen halten, nicht einmal das eigene Gewissen, das sie
ihm zu festgesetzter Zeit und öfter, wenn es notthut, eröflfhen müssen,
ihm nicht widerstehen, nicht widersprechen, noch ein seinem Urteil ent-
gegenstehendes eigenes Urteil zeigen" (Konstit IV, 10). Ihm zur Seite
steht, vom Provinzial ernannt, der Studienpräfekt (praefectus stn-
fliorum); er leitet das ganze Studienwesen; „ihm sollen alle Professoren
und Scholastiker des Kollegs mit Einschluß des Konvikts und Alumnats,
in allen Dingen, die sich auf die Studien beziehen, in Demut gehorchen."
Hat das Kolleg sowohl Gymnasial- als Universitatskurse, so soll jeder
Abteilung ein Studienpräfekt vorstehen. Die Lehrer der einzelnen
Fächer bestimmt der Provinzial. Es wird ihm zur Pflicht gemacht,
„schon lange vorher sich umzusehen, welche Professoren er für jedes
Studienfach haben könne, indem er acht giebt, welche hierzu am ge-
schicktesten scheinen, welche gelehrt, fleißig, ausdauernd und auf die
Fortschritte der Studierenden sowohl in den Lektionen als in den andern
wissenschaftlichen Übungen bedacht sind" (Rat. Stud., Reg. Praep. Prov.).
Endlich seien noch die Anordnungen über die Vorbildung der
Lehrer für ihren Beruf erwähnt. Schon in der Rat. Stud. wird hierauf
Bedacht genommen. ,,Damit die Lehrer der Gymnasialklassen nicht
ganz unerfahren an den Unterricht herantreten, soll der Rektor des
Kollegs, aus dem dieselben genommen zu werden pflegen, einen alten,
sehr erfahrenen Lehrer auswählen, bei dem sich gegen Ende ihrer
Studien die demnächstigen Lehrer dreimal wöchentlich versammeln, um
sich in der Erklärung der Autoren, im Abfassen von Argumenten, im
Schreiben, Korrigieren und den anderen Aufgaben eines tüchtigen
Lehrers zu üben und so für das neue Lehramt vorzubilden" (Rat. St.
Reg. Rect. 9). Ebendahin gehört die folgende Bestimmung: „monat-
lich oder wenigstens alle zwei Monate soll der Rektor im Beisein der
Präfekten eine Konferenz mit allen Lehrern der Gymnasialklassen
halten, in denen zuerst etwas aus den Regeln für die Magister vor-
gelesen wird, dann fordere er auf, auszusprechen, wo einem eine
Schwierigkeit aufstößt, oder erinnere, wo etwas nicht beobachtet wird".
Eingehendere Beschäftigung mit der Frage der Heranbildung tüchtiger
Lehrer folgte im 17. Jahrhundert. Die hierauf abzielenden Anord-
nungen für die rheinische Provinz findet man im IV. Bd. der Rat. Stud.
(Mon. Germ. Paed. XVI), S. 175fiF. Auf einer Versammlung vom Jahre
25*
388 II, 7, Die Neubegründung des röm,-kat?ioL GeleJirienschxdioesens,
1619 wurde eine Normalschule als Lehrerseminar (zu Schlettstadt) in
Aussicht genommen; ob der Beschluß ausgeführt ist, ist allerdings nicht
ersichtlich. Dagegen werden sehr eingehende Instruktionen (vom Jahre
1622) für die Repetition der humanistischen Studien und für die Leitung
und Beschäftigung der jungen Lehrer durch den Studienpräfekten mit-
geteilt. Das Ziel des Repetitionskursus ist vor allem, „daß sie selber
es zu einem reinen Latein und zur wahren Eloquenz bringen, sowie
zur Fähigkeit, die Schüler hierzu anzuleiten" (S. 192). Die hierzu
nötigen Übungen werden genau bezeichnet. Dann werden ebenso den
Lehrern der einzelnen Klassen die zu ihrer weiteren Ausbildung er-
forderlichen Privatstudien genau vorgeschrieben. Der Studienpräfekt
aber soll monatlich an den Rektor, dieser halbjährlich an den Provinzial
berichten, wie die Lehrer diesen Vorschriften nachkommen und für
welche Klasse sich jeder durch sein Privatstudium qualifiziert.
In gewissem Sinne kann man hiemach sagen, daß die Kollegien
zugleich die ersten Gymnasialseminare sind: die Tradition der
Methode ist ein wichtiges Stück. der Obliegenheit des Studienpräfekten.
Man wird annehmen dürfen, daß die vielgerühmte Leistungsfähigkeit
der Jesuitenschulen hiermit zusammenhängt In den protestantischen
Ländern ist die Fürsorge für die Anleitung der Lehrer erst im 18. Jahr-
hundert als eine notwendige Aufgabe anerkannt worden, die Errichtung
der philologischen Seminare geschah in dieser Absicht.
Ehe ich auf die Gestaltung des Unterricht« in den Kollegien ein-
gehe, möchte ich hier einen kurzen Bericht über ihre Entstehung und
Ausbreitung einlegen.
Die erste Studienanstalt des Ordens ist das vom Stifter im Jahre
1550 gegründete Collegium Romanum; es ist die philosophische und
theologische Normalschule für den Orden, ja für die katholische Welt
geworden. Hieran schloß sich bald das ebenfalls vom Ordensstifter ge-
gründete Collegium Germaniaim zu Rom (1552); es ist das Mutterhaus
der deutjschen Jesuitenkollegien. Als die Bestimmung der Anstalt, die
aus Beiträgen des Papstes und der Kardinäle errichtet und unterhalten
wurde, bezeichnet die Errichtungsbulle: eine Anzahl talentvoller, gottes-
fürchtiger und religionseifriger deutscher Jünglinge zu erziehen und zu
unterrichten, damit sie dereinst als unverzagte Kämpfer (athletae) für
den Glauben in ihre Heimat geschickt werden könnten, um dort durch
Beispiel, Predigt, Unterricht und Seelsorge Gottes Ehre zu fordern,
das Gift der Ketzerei zu vernichten, den Glauben zu verteidigen und
aufs neue zu pflanzen, wo er ausgerottet sei. Zu Ende des Jahres
1552 kamen 22 junge Leute aus Deutschland an; ihre Zahl mehrte
k
Die Ausbreitung des Schulwesens der Jesuiten, 389
sich bald. Nach schwierigen Übergangszeiten wurde das Institut von
Gregor XIII. 1573 neu fundiert und definitiv konstituiert: 100 etwa
zwanzigjährige Jünglinge wurden zu zehnjährigem Studium, wovon drei
Jahre der Philosophie, vier der scholastischen und drei der Moral-
Theologie zu widmen, aufgenommen, um sodann als Geistliche in
Deutschland zu wirken.^
Auch der Beschluß des Tridentinischen Konzils über die Er-
richtung von Bildungsanstalten für den Klerus geht auf jesuitische An-
regung zurück. Zwei mit Loyola befreundete Männer, der englische
Kardinal Polus und Cabl Bokromäus veranlaßten das 1563 in der
23. Sitzung erlassene Dekret über die Errichtung von Klerikalseminaren
(mitgeteilt bei Theiner, S. 466 ff.). In jeder Diözese soll bei der Dom-
kirche eine Anzahl Knaben aus der Diözese unterhalten und in Gram-
matik, Gesang, Festrechnung und anderen Wissenschaften, ferner in der
heiligen Schrift, den Kirchenschriftstellem und Predigten, endlich in
den heiligen Gebräuchen und im Beichthören unterwiesen werden. Bei
der Aufnahme wird ein Alter von zwölf Jahren und Besitz der Elementar-
fertigkeiten verlangt. Die Knaben erhalten sogleich die Tonsur und
klerikale Tracht, wie sie denn auch täglich der Messe beiwohnen und
wenigstens monatlich beichten. Die Unterhaltung dieser Anstalten soll
durch Umlagen unter dem ganzen Diözesanklerus bestritten werden.
Der Unterricht soll von den zum Unterricht durch ihr Amt verpflichteten
Lektoren oder Scholastikern der Stifte, oder durch taugliche Stellvertreter
erteilt werden. Thatsächlich wurde der Unterricht fast überall den Jesuiten
übergeben; die Seminare wurden in der Regel mit Jesuitenkollegien ver-
bunden. — Die Päpste, besonders Pius IV. und Gregor XIIL, ließen sich
die Erfüllung dieser Forderung, welche durch Unvermögen und Trägheit
der Bischöfe und Domkapitel vielfach verzögert wurde, sehr angelegen sein.
Ich lasse nun eine Übersicht über die Ausbreitung des Unterrichts-
wesens der Gesellschaft in den deutschen Ländern folgen, und füge
dabei nach Gelegenheit ein, was von anderer Seite für den gelehrten
Unterricht in den katholischen Territorien inzwischen geschehen war.
Die große Offensivbewegung des Katholizismus in dem Jahrhundert,
das zwischen dem Passauer Vertrag und dem westfälischen Frieden
liegt, wurde durch die Jesuitenschulen teils vorbereitet, teils gesichert
Aus ihnen sind die geistlichen und weltlichen Fürsten hervorgegangen,
die in den österreichischen und bayerischen Ländern, in den fränkischen
und rheinischen Bistümern den Protestantismus ausgerottet haben. Die
meist mit Gewalt, mit Exekutionen und Vertreibungen begonnene
^ Theinek, Geschichte der geistlichen Bildungsanstalten, S. 81 ff.; die Akten-
stücke im Anhang.
390 //, r. Die Netiheg^riindnfig des röm.-kathoL GelelirtenscJuäwesefis.
Wiedereroberung wurde dann durch die stille und beharrliche Thätigkeit
der Jesuiten in Kirche und Schule vollendet und gesichert In der
meisterhaften Darstellung, die Ranke in der Geschieht« der Päpste
von dieser Bewegung gegeben hat, ist der Zusammenhang zwischen der
Ausbreitung des jesuitischen Schulwesens und dem Gang der großen
Politik überall nachgewiesen.
Ich beginne die Übersicht mit Bayern, das die eigentliche Heimat
der Jesuiten in Deutschland wurde. Bayerische Fürsten und Prinzen
begegnen uns neben den Habsburgern überall als die Führer der Gegen-
reformation. Ich skizziere zuerst den Zustand des Schulwesens, den
die Jesuiten vorfanden.
Die lateinischen Schulen im katholischen Süden standen um die
Mitte des 16. Jahrhunderts noch wesentlich auf dem Punkt, auf den
sie die humanistische Bewegung geführt hatte. Eine bayerische Schul-
ordnung vom Jahre 1548 (Janssen, VII, 95) zeigt ganz den üblichen
Betrieb: lateinische Grammatik wird gelernt, klassische Autoren (doch
mit Behutsamkeit gegen „heidnische Phantasei, Götzendienst und Buhl-
werk") werden gelesen, in Absicht auf Eloquenz und Poesie; auch
Griechisch und Dialektik wird erwähnt. Von dem Zustand des Schul-
wesens in München zur Zeit der Ankunft der Vater können wir uns
ein ziemlich deutliches Bild machen.^ Eine Visitation, die im Jahre
1560, demselben, in dem das Jesuitenkolleg zu München eröflfhet wurde,
in der Freisinger Diözese stattfand, zeigt uns zunächst den statistischen
Bestand. Es gab eine „Poetenschule", zwei lateinische Pfarrschulen
(bei U. L. Fr. und St Peter) und 19 deutsche Schulmeister. Die Zahl
der Schüler betrug in den lateinischen Schulen 60, 80, 150; von den
deutschen Schulmeistern geben 15 ihre Schülerzahl an, es sind zu-
sammen 631, Knaben und Mädchen. Manche klagen darüber, daß
ihnen durch die Jesuiten, deren Schule eben mit 300 Schülern eröffnet
worden war, Schüler entzogen worden seien. Die drei lateinischen
Schulmeister sind graduierte Magister, von den deutschen sind drei auf
einer Universität gewesen, einer ist baccalarius; andere geben an, daÖ
sie auf einer lateinischen Schule gewesen sind, noch andere haben von
einem Meister gelernt, was sie können. Der Schulmeister der Poeten-
schule, G. Castnee, ist vom Bat mit 80 fl. angestellt, dazu nimmt er
Schulgeld, klagt aber bitter, daß ihm na^jh Abzug der Kosten für einen
Kollaborator mit 40 fl. und des Hauszinses mit 34 fl. gar wenig übrig
bleibe. Die beiden Pfarrschulmeister werden vom Kapitel oder dem
Dekan angenommen, der eine erhält den Tisch, der andere 10 fl., sonst
* Mitt. der Ges. für deutsche Schulgesch., T, 53 ff. Westenrieder, Beiträge
zur vaterl. Historie, Bd. V, 214ff. (1794).
Jesuitenkoüegien in Bayern. 391
ist er auf Schulgeld angewiesen. Die deutschen Schulmeister erhalten
vom Bat die Erlaubnis, aber kein Gehalt. Der „Poet" führt seinen
Namen nicht umsonst; er dient dem Rat in der That auch als Dichter,
indem er jedes Jahr auf dem Rathaus eine von ihm gedichtete „Comedi"
mit den Schülern aufführt, wofür er eine Verehrung empfangt. Die
Stadtrechnungen geben vom Jahre 1549 — 1618 über Verfasser, Gegen-
stand, Sprache des Stücks (lateinisch, deutsch, oder deutsch und latei-
nisch), sowie über die Höhe der Verehrung Auskunft. Die Meinung
der Poetenschule war offenbar die einer höheren Schule neben den alter
Pfarrschuleri. Doch klagt der Schulmeister, daß es ihm zur Zeit an
geförderteren Schülern fehle. Der von Westeneiedeb mitgeteilte Schul-
plan vom Jahre 1560 läßt das Schulziel erkennen. Fünf Klassen
gelten als normal, doch werden zur Zeit nur vier in Aussicht genommen.
Eloquenz ist das Ziel, Cicero und Virgil die Hauptautoren; dazu wird
die Dialektik und Rhetorik vorgetragen und etwas Griechisch gelernt.
Die Pfarrschulen strecken sich nach demselben Ziel, nur daß sie wohl
noch mehr bei dem Elementaren sich festgehalten sehen. — Das Schema
einer kleinen Stadtschule giebt die Schulordnung von Wasserburg
vom Jahre 1562 (Klückhohn in Sybels Ztschr., XXXI, 406 flF.); sie
gleicht durchaus dem Plan, den Melanchthon in der Schulordnung
von 1528 für die kleinen sächsischen Städte entworfen hatte. Auch
seine Lehrbücher finden wir hier im Gebrauch. Ähnliche Schulen,
größer oder kleiner, wird es in allen Städten gegeben haben. — Übrigens
wird berichtet, daß auch die Klosterschulen, besonders der Benediktiner,
einen neuen Aufschwung genommen hatten, so in Tegemsee, Benedikt-
beuren, wo ein Lehrer des Griechischen sich hervorthat, Wessobrunn,
dessen Schule einen laureierten Poeten zum Vorsteher hatte, Scheyern,
Niederalteich u. a. —
Auch die L^niversität Ingolstadt ging noch in den Wegen, die der
Humanismus gewiesen. Der führende Mann war hier mehrere Jahr-
zehnte hindurch bis zu seinem Tode (1543) Joh. Eck. Die letzte all-
gemeine Lehrordnung vom Jahre 1539 (bei Pbantl, II, 183 flF.) weicht
von der humanistischen Reformation von 1519 (s. o. S. 141) nicht
wesentlich ab. In der artistischen Fakultät ist die Grammatik des
AvENTiNus und die Dialektik des Caesariüs, neben der aristotelischen
Logik, in Gebrauch, und die Jugend wird zur Abfassung von Episteln
und zur Abhaltung von Deklamationen angeleitet.
Im Herbst 1549 kamen die ersten Jesuiten nach Bayern. Herzog
Wilhelm, der bei gelegentlicher Begegnung günstige Eindrücke von
dem Orden erhalten hatte und in ihm das allein leistungsfähige Werk-
zeug zur Disziplinierung und Unterweisung des verwahrlosten bayerischen
392 //, r. Die Neubegründwig des römA'athoL Gelehrtenschulivesens,
Klerus erblickte, hatte durch Vermittelung des Papstes den General
um Zusendung von Professoren für die durch mehrere TodesföUe fast
verwaiste theologische Fakultät in Ingolstadt ersuchen lassen. Loyola
schickte drei seiner Genossen, unter ihnen den Niederländer Petrus
Canisius. Dieser (geb. 1521 zu Nymwegen, gest. 1597 zu Freiburg
in der Schweiz) ist der hervorragendste Mann unter den Begründern
des jesuitischen Unterrichtswesens auf deutschem Boden; vor allem hat
er auch durch seinen Katechismus dem Unterricht in der Religions-
lehre, womit der Katholizismus jetzt dem protestantischen Vorgang
folgte, die Form gegeben. Am 29. November begannen sie die Vor-
lesungen, Römerbrief, P. Lombardus und Psalmen. Die Errichtung eines
Kollegiums, das sie betrieben, wurde durch den Tod des Herzogs einst-
weilen gehindert, die Väter verließen sogar Ingolstadt wieder und gingen
nach Wien. Aber auch der Nachfolger, Herzog Albrecht V., der selbst
in Ingolstadt seine Studien gemacht hatte (1537 — 1544), überzeugte
sich bald, daß zur Reform der Studien und des Klerus die Mitwirkung
der Jesuiten nicht entbehrlich sei. Im Jahre 1556 errichtete er das
schon erwähn t6 Kollegium zu Ingolstadt, in das 18 Mitglieder ein-
zogen. Bei Pachtler (I, 349) findet man die Liste der ersten Mit-
glieder mit ihren von Rom ihnen mitgegebenen Fakultäten und Prä-
dikaten abgedruckt: sechs unt^r ihnen sind in Theologie und Philosophie
vollständig ausgebildet, bei dreien wird erwähnt, daß sie auch deutsch
würden predigen können, nach einiger Übung im oberdeutschen Dialekt.
Acht werden als in humanioribus versati bezeichnet, die in der Huma-
nität oder in der Grammatik unterrichten können. Die vier letzten
sind linguae Latinae stiidiosi. Der Nationalität nach sind unter den
sechs ersten fünf Niederländer, ein Spanier, die acht folgenden sind bis
auf einen Franzosen Deutsche, unter den vier letzten sind zwei Italiener,
ein Spanier, ein Niederländer. Sie erhielten von Rom eine eingehende
Instruktion mit (gedruckt bei Pachtleb, III, 458 if.); sie zeigt, mit wie
erstaunlicher Sicherheit die Arbeit und die Studien der Mitglieder vom
Mittelpunkt her bis ins einzelnste geleitet und geregelt wurde. Das an-
fangs freundliche Verhältnis zur Universität wurde später sehr unan-
genehm. Bei Peantl (I, 219 flf.) findet man einen sehr ausführlichen
Bericht über den erbitterten Widerstand, welchen die Universität dem
Eindringen der Konkurrenten leistete. Der Kampf, in dem die Regie-
rung sich überall den Jesuiten gunstig erwies, endigte mit der im
Jahre 1588 erfolgten, vollständigen Übergabe der philosophischen
Fakultät an die Gesellschaft Jesu; Siegel und Akten wurden ihr aus-
gehändigt Schon firüher war den Baj^em der Besuch auswärtiger Uni-
versitäten, Jesuitenanstalten ausgenommen, verboten, wie denn auch in
JesuitenkoUegien in Bayern und den Nachbargebieten. 393
Ingolstadt Ketzern der Aufenthalt nicht gestattet wurde ; auch das Lehr-
personal war gereinigt worden.
In München wurde vom Herzog Albrecht im Jahre 1559 ein
Jesuitenkolleg begründet, mit dem seit 1591 auch ein philosophischer
und theologischer Kursus verbunden war. Auch ein Konvikt für Arme
und ein Pensionat für Adlige fehlt nicht. Die Zahl der Schüler stieg
rasch, sie betrug 1595 bereits 665 (davon 60 in der Rhetorik, 110 in
der ungeteilten Humanitas , 151 in der ebenfalls ungeteilten SyntcLxis
major). Im Jahre 1631 erreichte die Anstalt die Maximalfrequenz
von 1464 Schülern (mit Einschluß der stud. super,); die Ziffer sank
dann allmählich, blieb aber immer noch hoch genug, um der Regie-
rung zu oft wiederholten Mahnungen Veranlassung zu geben, durch
schärfere Prüfung talent- und mittellose Studenten abzustoßen, um der
Überfüllung des Landes mit unversorgten Kandidaten des geistlichen
Amts zu wehren.^
Weitere Jesuitenkollegien wurden in Bayern gegründet zu Alt-
ötting (1592), Landsberg (1615), Neumarkt (1624), Amberg(1626),
Landshut (1629), Burghausen (1629), Straubing (1631). Ferner
in den benachbarten Bischofssitzen Regensburg (1589), Passau (1612),
Eichstädt (1614),
Zwei Jahrhunderte lang blieb die Leitung des bayerischen Schul-
wesens in den Händen der Gesellschaft Jesu. Auch die Erziehung und
der Unterricht der Prinzen war regelmäßig den Vätern anvertraut.
Herzog Maximilian, der im dreißigjährigen Krieg eine so bedeutende
Rolle spielte und die Kur an Bayern brachte, hatte seine Studien mit
seinem Vetter, Erzherzog Ferdinand von Österreich, in Ingolstadt ge-
macht (1589 — 1591). Regelmäßig waren die Prinzen Mitglieder der
Marianischen Kongregation. Der Hof beteiligte sich fleißig an den
dramatischen Aufführungen und Akten des Münchener Gymnasiums.*
Ein wichtiger Stützpunkt der Gesellschaft wurde auch Dill in gen.
Hier als in seiner gewohnlichen Residenz hatte der Bischof von Augs-
burg, Kardinal Otto Truchseß von Waldburg, 1549 eine Lehranstalt
für den katholischen Klerus begründet, die bald durch päpstliche und
kaiserliche Privilegien zur Universität erhoben wurde (1554); doch
fehlten die juristische und medizinische Fakultät. 1563 übergab der
Bischof wider den Willen des Domkapitels die Anstalt den Jesuiten,
die sie bis zur Aufhebung des Ordens behielten. Die Universität be-
^ HuTTER, Gesch. des alten Gymnas. München 1860. Bauer, Aus dem
Diarium gymn, S. J. Mon, 1878, wo man manche interessante Daten findet
* Fr. Schmidt, Gesch. der Erziehung der bayerischen Witteisbacher, giebt
interessantes Detail über die Studien der Prinzen.
394 II, 7. Die Neubegründung des röm.'kcUhol. Gelehrtenschulweaens.
stand bis 1804; sie stand zeitweilig in bedeutendem Ansehen und hatte
eine beträchtliche Frequenz, am Anfang des 17. Jahrhunderts um
700 Studierende, darunter waren etwa 250 Konviktoristen in ver-
schiedenen Anstalten. Auch wurde 1584 von Gregor XTTT. eine päpst-
liche Stiftung für die oberdeutsche Provinz gemacht, woraus etwa
20 junge Leut«, die die grammatischen und dialektischen Studien voll-
endet hatten und sich dem geistlichen Stande widmen wollten, unter-
halten wurden.^ Die Blüte der Anstalt wird vorzüglich der strengen
Ordnung und Zucht zugeschrieben, worin die Jesuiten überall ihre
Schüler hielten. Die Herzöge von Bayern stellen ihrer unter der Zügel-
losigkeit und Rohheit der Studierenden und der Lässigkeit der Pro-
fessoren leidenden Landesuniversität öfter das benachbarte Dillingen als
Muster vor Augen (Janssen, VII, 150 if.). Übrigens darf man hierbei
Eins nicht vergessen: Dillingen hatte nur Philosophen und Theologen,
und unter diesen sehr zahlreiche Konviktoristen; die Juristen fehlten,
erst 1625 wurden ein paar juristische Professoren angestellt; von der
juristischen Fakultät aber gingen in Ingolstadt vorzugsweise die Un-
regelmäßigkeiten aus; in ihr studierten die jungen Herren vom Adel
und dergleichen Leut, „die gern eine zimbliche libertatem haben". So
sagen in einem Gutachten vom Jahre 1602 dem Herzog von Bayern
seine Räte und meinen, der habitus clericalis, Ablegung der Wehr und
dergleichen werde sich in Ingolstadt nicht wohl praktizieren lassen, auch
würde es gegen den Willen der meisten Eltern sein (Peantl, 11, 357).
In Augsburg, wo seit 1559 P. Canisius als Domprediger ge-
wirkt hatte, gelang erst 1582, nach Überwindung lang andauernden
Widerstandes des Domkapitels, die Errichtung eines von den Fuggern
dotierten Kollegiums. Zu den studia inferior a kam 1589 ein Lyceum
mit dem philosophisch-theologischen Kursus. Als Professor der Huma-
nität und Rhetorik lehrte am Kollegium lange Zeit Jacob Pontanus,
einer der bedeutendsten Förderer der humanistischen Studien im Orden.
Seine Schulbücher und Klassikerausgaben sind lange im Gebrauch ge-
blieben.2
Es folgten Kollegien zu Ellwangen (1611), Mindelheim (1618),
Kaufbeuren (1626), Memmingen (1630). Das protestantische Gym-
* Eine Geschichte der Dilliiiger Studicuanstalt von Haut (.1854), des päpst-
lichen Ahimuats von M. Hausjiann (1S82). Eine detaillierte Darlegung der Ver-
hältnisse des letzteren in einem Aktenstück aus der zweiten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts im I. Bd. der Rat. Stud. (Mon. Germ. Paed. XVI), S. 272 ff. Der
Gesamtaufwand betrug damals 1880 Scudi, gleich 3036 fl., wovon 23 Alumnen
unterhalten wurden.
* P. Braun, Gesch. des Kollegiums der Jesuiten in Augsburg (1822),
Jesuitenkollegien in Franken und am Rhein. 395
nasium zu Neuburg wurde 1616 von dem Konvertiten Pfalzgraf
Wolfgang Wilhelm den Jesuiten übergeben.
Ebenso legten die fränkischen und rheinischen Bistümer ihre
Schulen in die Hände der Gesellschaft Jesu. Bamberg hatte seit
1586 eine akademische Studienanstalt im Karmeliterkloster; 1613 wurde
ein Jesuitenkolleg errichtet. 1647 wurde die Anstalt zur Akademie
mit philosophischer und theologischer Fakultät erhoben, endlich im
18. Jahrhundert zur vollen Universität mit allen Fakultäten ausgebildet.
— In Würzburg wurde 1567 ein Kollegium mit Konvikt gegründet,
für das 17 Väter eintrafen. Auch an der neuen Universität, die vom
Fürstbischof Julius gegründet und 1582 eröffnet wurde, übernahmen
die Väter den philosophischen und theologischen Unterricht. Außer
einem collegium pauperum für 40 Knaben und einem EQerikalseminar
errichtete der Fürstbischof auch ein adliges Seminar mit 24 Stellen,
dessen Mitglieder erst humaniora^ dann Theologie oder Rechte studierten;
auch ritterliche Übungen sind vorgesehen.^
In Fulda stiftete der Fürstabt 1572 ein Kolleg mit Konvikt, das
er den Jesuiten übergab. Hieran schloß sich ein vom Papst Gregor XIII.
1584 errichtetes und mit jährlich 1800 Goldscudi unterhaltenes päpst-
liches Seminar, worin 40 adlige Knaben aus dem nördlichen Deutsch-
land unterhalten wurden; dazu kamen noch Stipendien für 60 arme
bürgerliche Knaben, die nicht im Seminar waren. 1734 errichtete der
Abt eine Universität, der die Jesuiten einverleibt wurden, was zu
manchen Reibungen mit dem Konvent der Benediktiner führte.* Sie
bestand bis 1804.
Der Bischof zu Straß bürg errichtete 1581 ein Kollegium zu
Molsheim (bei Straßburg), das 1617 vom Papst Universitätsprivilegien
erhielt. Ebenso erhielten Speier (1570) und Worms (1613) Kollegien.
In Konstanz bestand ein solches seit 1604, im Elsaß zu Ensisheim
und Schlettstadt seit 1615. Nach der Niederwerfung der Pfalz
wurden 1622 Kollegien zu Heidelberg, Neustadt a. H. und Baden
gegründet. Die Heidelberger Universität kam nach wechselnden Schick-
salen am Anfang des 18. Jahrhunderts in die Hände der Väter. —
Ebenso entstanden zahlreiche Kollegien in der Schweiz und in den
kathoKschen Niederlanden.
Für die großen geistlichen Territorien am Rhein und im Nord-
westen Deutschlands wurde Köln das Hauptheerlager des jesuitischen
* Weoele, Gesch. der Univ. Würzburg, 1, 115 ff. 191 ff. Vergl. auch C. Braun,
Gesch. der Heranbildung des Klerus in der Diözese Würzburg (1889), wo man
besonders über die äußeren Verhältnisse sehr eingehende Nachweisungen findet
* KoMP, Die zweite Schule Fuldas und das päpstliche Seminar (1877).
396 //, r. Die Neuhegründutif/ des röm.-kathoL Oelehrtenschulwesens.
Unterrichts Wesens.^ Schon in den vierziger Jahren hatten die ersten
Väter der Gesellschaft, an ihrer Spitze P. Faber, einer der ersten Gre-
nossen des Ignatius, mit Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten aller
Art kämpfend^ den damals drohenden Abfall des Erzbistums abwehren
helfen. Aber erst im Jahre 1556 gelang es ihnen festen Fuß zu fassen:
es wurde ihnen die Leitung des gymnasium Tricoronatum (ehemals die
aus den £pp. obsc, vir, bekannte bursa Kuick oder domus Cucana;
der neue Name stammte von dem an dem neuen Haus angebrachten
Stadtwappen) von der Stadt übertragen. Den nächsten Anlaß dazu
bot, daß der bisherige Rektor ketzerisch war und sich verheiratete, wie
denn überhaupt die lutherische Häresie während der vierziger Jahre
in den kölnischen Schulen um sich gegriifen hatte; die Provinzial-
synode im Jahre 1549 bringt den Verfall der Universität mit dieser
Thatsache in Zusammenhang (Bianco, S. 487). Das Jesuitengymnasium
war bald außerordentlich besucht; schon im Jahre 1558 hatte es 800
und später oft über 1000 Schüler. Die artistische Fakultät und die
zu ihr gehörigen beiden Bursen, welche thatsächlich die Stellung von
inkorporierten Gymnasien, ähnlich den Pädagogien der protestantischen
Universitäten, hatten, das Gymnasium Laurentiamim und 3fontanum,
befehdeten das glückliche Konkurrenzinstitut auf das bitterste; vor
allem beklagten sie sich über die von jenen überall festgehaltene Un-
entgeltlichkeit des Unterrichts, die nur auf das Verderben der übrigen
Anstalten abziele, sowie über ihre Gewohnheit, gedruckte Vorlesungs-
verzeichnisse durch alle Welt zu versenden. Wiederholt wurde den
Jesuiten der Lehrplan der anderen Anstalten aufgenötigt. Ein solcher
aufgenötigter Lektionsplan für das Jahr 1564 (bei Bianco, S. 908;
ebendort S. 322if. sind die Lehrpläne für die Jahre 1577 und 1578
mitgeteilt) zeigt übrigens nur in der Anordnung, nicht in der Sub-
stanz des Unterrichts erhebliche Abweichungen von dem Lehrplan der
Gesellschaft. Er zeigt zugleich, wie vollständig die humanistische
Unterrichtsreform auch an der kölnischen Universität inzwischen durch-
gedrungen war. Es sind wesentlich dieselben Gegenstände, welche von
den protestantischen Gymnasien und philosophischen Fakultäten be-
handelt wurden. Übrigens kam die Universität trotzdem nicht wieder
recht zu Kräften; Zeugnis dafür die immerfort sich wiederholenden
Reformverhandlungen zwischen dem Bat, der Universität und dem
heiligen Stuhl, über welche Bianco viel Material, aber in wüster Un-
ordnung, beibringt.
^ Eiue Geschichte der Jesuiten iu Köhi aus den Annalen des Ordens bei
Bianco, S. 855—972.
Jesuitenkollegien am Rhein und im Nordwesten. 397
Von dem kölnischen Kollegium ging die Errichtung von Jesuiten-
gymnasien in den beiden andern rheinischen Erzbistümern aus. In
Mainz wurde 1561 ein Kollegium der Väter begründet, das im fol-
genden Jahre der Universität einverleibt wurde. Für das kurfürstlich
mainzische Eichsfeld wurde ein Kollegium zu Heiligenstadt (1575)
begründet; in Erfurt bestand seit 1585 eine Residenz, seit 1621 ein
Kolleg, ebenso zu Aschaffenburg (1620). In Trier übernahmen die
Väter 1560 Vorlesungen an der Universität und eröffneten im folgenden
Jahre ein Gymnasium, welchem 1580 ein Gymnasium zu Koblenz
folgte. Das triersche Kollegium erweiterte sich zur Universität, mit
ihm war ein Collegium nobüium und ein Seminarium verbunden. Auf
kurkölnischem Gebiet entstanden noch Jesuitengymnasien zu Neuß
(1615) und Bonn (1673), wo schon seit 1586 eine Residenz gewesen
war; die Anstalt, allmählich erweitert, wurde 1784 durch kaiserliches
Diplom zur Universität erhoben, als solche jedoch schon 1794 von den
Franzosen wieder aufgehoben.
In den nordwestlichen Bistümern, deren Stellung zur Kirche,
wie die Kölns, lange Zeit eine sehr schwankende war, faßten die Jesuiten
erst gegen Ende des Jahrhunderts festen Fuß. Zu Paderborn war
1576 die Domschule im Franziskanerkloster wiederhergestellt worden.
Im Jahre 1580 berief der Bischof Jesuiten aus Heiligenstadt, denen
1585 das ganze Gymnasium übergeben wurde. Dasselbe wurde all-
mählich erweitert und 1614 zur Universität erhoben, doch ohne medi-
zinische Fakultät. Die Domschule zu Münster wurde 1588 den
Jesuiten übergeben und philosophische und theologische Kurse bei ihr
eingerichtet, welche später auf die 1780 vom Kurfürsten von Köln er-
richtete Universität übergingen. Dazu kam 1627 ein Gymnasium zu
Coesfeld und 1642 zu Meppen. An die Domschule in Osnabrück
wurden 1 628 Jesuiten berufen, zugleich philosophische und theologische
Kurse eröflfnet und die Anstalt 1630 zur Akademie erhoben. Die
Domschule zu Hildesheim ging 1595 an die Jesuiten über, allmählich
wurde bei derselben auch eine vollständige philosophisch -theologische
Lehranstalt ausgebildet.
Auch die benachbarten weltlichen Territorien erhielten Jesuiten-
gymnasien: das Herzogtum Cleve zu Emmerich (1593), die Herzog-
tümer Jülich-Berg, nachdem sie dem zum Katholizismus über-
getretenen Herzog Wolfgang Wilhelm von Pfalz- Neuburg zugefallen
waren (1614), zu Düsseldorf (1020), Münstereifel (1625), Düren
(1628), Jülich (1664). Ebenso gründete der Konvertit Job. Ludwig
zu Hadamar (Nassau) ein Jesuitenkolleg (1630). Aachen hatte seit
1603 ein Kollegium mit philosophischen und theologischen Kursen.
398 //, 7. Die Neuhegrütidung des rötn.-küthoL Oelekrtenschultaesens.
Für die Länder des Hauses Habsburg wurden Wien und Prag
die Hauptheerlager der Jesuiten. Die Wiedereroberung war hier eine
sehr schwierige und langwierige Aufgabe.
Der Bestand der katholischen Kirche in den österreichischen Erb-
landen war in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein durchaus
fraglicher. Die Masse der Bevölkerung und des Adels war entweder
protestantisch oder indiflFerent. Drei Ärzte, so berichten die Akten der
Wiener theologischen Fakultät vom Jahre 1584, hätten vor ihrem Ab-
scheiden erklärt, sie gehörten nicht zu einer bestimmten Konfession
(nullius esse certae religionis); ein vierter habe in seinem Testament sich
verbeten, mit Glockengeläut und Kerzen bestattet zu werden, eventuell
möge man ihn in seinem Garten begraben, da wolle er einer fröhlichen
Auferstehung entgegensehen. Der Rektor der Universität im Jahre
1568, ein Mediziner, radierte aus den Statuten, welche das Bekenntnis
des katholischen Glaubens von den Professoren forderten, das Wort
catholicae (fidei) aus und setzte dafür Christianae, Die Unterscheidung
zwischen katholisch und römisch-katholisch war allgemein und unter
der Regierung Maximilians IL gewissermaßen offiziell anerkannt, wo-
durch es auch Protestanten möglich war, sich als Mitglied der katho-
lischen Kirche zu bekennen; wie denn Cameeaeiüs auch keiner andern
als der allgemeinen Kirche angehören wollte. Im Jahre 1568 wurde
ausdrücklich gestattet, daß auch Angehörige des Augsburgischen Be-
kenntnisses zur Erlangung der Doktorwürde zugelassen würden. —
Der Klerus war in voller Auflösung. Die Klöster standen beinahe
leer; die übrig gebliebenen Mönche waren Gegenstand des Gespöttes.
In den Rechnungen des Klosters St Florian war ein eigener Posten:
für Studiosi in Wittenberg. Der Weltklerus, so sagt der Konvertit
Staphylus in einem Bericht an den König Ferdinand vom Jahre 1554,
sei völlig verwildert: so viele Pfarreien, so viele Sekten. Deutsche Taufe,
Abendmahl in beiden Gestalten, Weglassung der Ohrenbeichte und der
Anrufung der Heiligen, willkürliche Veränderungen der Formeln finde
man überall; unter 100 Pfarrern sei kaum einer, der nicht wenigstens
ein Weib genommen. Ganz ähnlich lautet ein Bericht des Administrators
des Wiener Bistums vom Jahre 1568. Es fehlte offenbar gar nichts
zur Entstehung einer österreichischen Landeskirche als die Willens-
erklärung der Landesherrschaft. Aber sie erfolgt« nicht, obwohl das
Verhältnis zu Rom ein gespanntes war. Nur die Erteilung des Abend-
mahls unter beiderlei Gestalt hatte Ferdinand I. von seinen drei For-
derungen: Aufhebung des Cölibats, der Fastengebote und des sub una,
beim heiligen Stuhl durchzusetzen vermocht (Kink, I, 308 flF.).
Die Landesunivei*sität zu Wien war, wie früher berichtet worden
• ■
Schulen und Univers, in Osterreich vor Eintritt der Jesuiten, 399
ist, durch die Kirchenrevolution fast ganz zerstört worden. König
Ferdinand hatte durch wiederholte Reformationen ihr aufzuhelfen ge-
sucht Schon 1533 war die ökonomische Wiederherstellung versucht
und 1537 eine gründliche Reformation der Unterrichtsordnung unter-
nommen worden; es ist ganz dieselbe Reform, welche im Jahre 1525
die Tübinger Universität, damals unter österreichischer Verwaltung
stehend, erfahren hatte. Die letzte und definitive Regelung gaben die
neuen Statuten, welche die Universität im Jahre 1554 vom König er-
hielt (bei KiNK, II, 373 5".). Die hier vorgeschriebene Organisation
des Unterrichts weicht in keinem irgend erheblichen Stücke von den
gleichzeitigen Lehrplänen der durch Melanchthon reformierten prote-
stantischen Universitäten ab. Vor altem gilt das auch von der philo-
sophischen oder artistischen Fakultät. Es erscheint gerechtfertigt, die
Hauptpunkte der Ordnung mitzuteilen. Die Vorlesungen ' sind an
13 Lektoren verteilt, die, soweit sie nicht verheiratet sind, was der Zeit
nachgegeben wird, im Kollegium wohnen. Der vollständige Kursus ist
vierjährig, zwei Jahre bis zum Baccalariat, zwei bis zum Magisterium.
Es liest für die Baccalarianden im ersten Jahr:
1) der grammaticus um 6 Uhr lateinische Grammatik (Linacer, Pris-
cian), mit einem geeigneten Autor (z. B. Terenz);
2) der dialecticus um 8 Uhr die Dialektik des Caesarius, R. Agri-
cola oder eines andern;
3) der rhetor um 3 Uhr Cic. ad Heren,, partif orat, Quintilian,
nebst einer Rede Ciceros zur Illustration der praecepta;
im zweiten Jahr:
4) der physicus primus um 7 Uhr die vier ersten Bücher der aristot,
Physik, und ein Kompendium de anima;
5) der mathematicus primus um 9 Uhr Arithmetik, Geometrie, Astro-
nomie (Sphaeram Joh, de Sacrobusto); auch wird er nachts die
Sterne am Himmel mit Hilfe eines Globus kennen lehren;
für die Magistranden:
6) der professor Organi Aristotelici um 9 Uhr das Organen, in zwei
Jahren;
7) der physicus secundus um 8 Uhr die physischen Schriften des
Aristoteles, in zwei Jahren;
8) der mathematicus sec. um 3 Uhr jährlich die fünf ersten Bücher
des Euklid, dazu die Astronomie in zwei Jahren, zugleich den
Gebrauch der Tafeln und Instrumente zeigend.
Außerdem sollen lesen:
9) ein berühmter Astronom oder Mathematiker um 1 Uhr über
höhere Mathematik und Astronomie;
400 II, 7. Die Neuhegnindung des rönu-kathol, OelehrtenschtUtoesens.
10) ein ethicus um 3 Uhr über die aristotelische Ethik und Politik;
11) ein prof, litterarum politicarum, qui kistoriarum lectionem cum
poesi conjungat: er soll um 1 Uhr über Caesar, Sallust, IjIvIus,
Virgil, Horaz u. a. lesen ;
12) ein Hebraeus um 7 Uhr, Grammatik und Lektüre;
13) ein Graecus um 12 Uhr, im ersten Jahr Grammatik mit Lese-
stücken aus Lucian, Aristophanes, Demosthenes etc.; im zweiten
Homer, Orpheus' Argfmautica, Epigrammata aut ejusmodi aliquid.
Die Bursen, deren die Reformation von 1537 vier erwähnt, werden
als Pädagogien für diejenigen konstituiert, welche noch nicht in Be-
sitz der Schulkenntnisse sind. Es soll in jeder außer dem Rektor ein
Magister sein, der die elementare Grammatik, Rhetorik, Dialektik und
die Schulautoren, Ciceros Briefe, de offic, de amic, de senect, Virgils
Bukol., T?erenz, Plautus, Vallas Elegantien, Erasmus de copia etc. liest
und zugleich die Schüler im Schreiben übt
Erwähnenswert scheint noch, daß in der Theologie drei Professoren
lesen sollen, einer um 6 Uhr über das alte Testament, der zweite um
8 Uhr über das neue Testament, der dritte um 12 Uhr über das
System des Mag, sententiarum (P. Lombardus). Die Lehrordnung vom
Jahre 1537 hatte sogar ausdrücklich angeordnet, nichts anderes als
die Bibel oder heil Schrift (zu Latein solida theologia genannt) zu
lesen, wobei die besten alten Erklarer Hieronymus. Augustinus, Am-
brosius u. a. zu benutzen. — Erasmus würde keine andere Lehrordnung
gegeben haben.
Nicht minder hatten die gelehrten Schulen den Einfluß der Refor-
mationsbewegung erfahren. In allen habsburgischen Territorien waren
durch die Landstände und die großen Städte Gymnasien errichtet
worden.
Für die alte Wiener Schule zu St. Stephan, die von alters her
mit der Universität verbunden war, wurde vom Wiener Rat 1558 eine
neue Schulordnung entworfen, worin sie ganz die Gestalt der huma-
nistisch-protestantischen Schulen erhielt.^ 1595 war zum letztenmal
der Rektor der Schule von St. Stephan zugleich Rektor der Universität
Im 17. Jahrhundert verlor die Anstalt den Charakter einer gelehrten
Schule, sie wurde zur deutschen Schule. — Im Jahre 1 546 begründeten
die Stimde zu Wien eine Landschaftsschule, die aber nach vielen An-
fechtungen wegen der Irrlehren ihrer Rektoren 1555 einging; dafür
wurde 1574 zu Losdorf in Xiederösterreich eine protestantische Land-
schaftsschule mit einem Konvikt für zwölf arme Knaben errichtet;
* Die Grundzüge mitgeteilt bei Getsau, rTCSch. der Stiftungen in Wien, 1803.
Jesuitenkollegien in den Österreichischen Ländern. 401
der Lehrkursus der fünf Klassen ist der gewöhnliche protestantischer
Gymnasien. Auch diese Schule ging im Jahre 1619 ein.^
Im Jahre 1550 errichtete der landstandische Adel von Ober-
österreich eine Landschaftsschule zu Linz und dotierte sie mit an-
sehnlichen Gütern. Stadtschulen entstanden femer zu Steier (1559),
Wels (1593), Braunau (1597). Auch die Klosterschulen zu Mondsee
und Kremsmünster kamen in Aufnahme (Gesch. des Gjmn. zu Linz,
Progr. 1855, von Gaisbeäger). — Zu Graz wurde 1544 eine Land-
schaftsschule für Steiermark im Landschaftshause mit fünf Lehrern
eröffnet und mit einem Konvikt für arme einheimische Adlige aus-
gestattet. Ein Lehrplan wurde 1569 von D. Chytraeus erbeten (Gesch.
des Gymn. in Graz, PrQgr. 1869, von Peinlich). Die Stande von
Kärnten errichteten 1563 zu Klagenfurt eine Landscbaftsschule, mit
welcher philosophische und theologische Vorlesungen verbunden wurden.
In demselben Jahre wurde auch zu Laib ach in Krain eine Land-
schaftsschule errichtet, an welche 1582 Nie. Frischlin als Rektor mit
350 fl. (ohne Schulgeld, aber Wohnung von drei Stuben) berufen wurde.
Er blieb Jedoch nur etwa ein Jahr, da er „als ein poeticum ingenium
seine Affekte nicht jederzeit zu temperieren" wußte; so hatte ihn der
Herzog von AVürttemberg den Krainer Ständen auf ihre Anfrage charak-
terisiert (Progr. des Laibacher Gymn. 1859). Alle diese Anstalten
gingen allmählich ein, seitdem die Erzherzoge entschieden die Wieder-
herstellung der katholischen Kirche betrieben. Ihre Güter und Häuser
wurden meist den Jesuiten übergeben.
Die ersten Jesuiten waren schon 1551 auf König Ferdinands
Ersuchen nach Wien gekommen; es waren ihrer 12, Italiener, Spanier
und Niederländer; im folgenden Jahre kam auch P. Canisiüs, der bei
dem König bald großen Einfluß gewann. Sie gründeten alsbald ein
Kolleg, und begannen an der Universität theologische Vorlesungen.
Im Jahre 1554 erschien der berühmte Katechismus des Canisiüs (^Äwmiwa
doctrinae Christianae) , der seitdem in unzähligen Auflagen, Über-
setzungen und Bearbeitungen das wichtigste Schulbuch für den katho-
lischen Religionsunterricht geworden ist. Im Jahre 1558 erhielt der
Orden die Ermächtigung, in allen Erblanden zu lehren und zu predigen,
sowie zwei ständige theologische Lehrstühle an der Universität, 1560
auch die Leitung einer vom König gegründeten adligen Landschafts-
schule zu Wien. So lange ihr Unterricht auf den sprachlichen Kursus
sich einschränkte, lebten sie in gutem Einvernehmen mit der Universität;
* Darstellung des Herzogtums Osterreich unter der Enns (Wien 1837),
Bd. VIII, 209.
Paul Ben, Unterr. Zweite Aufl. I. 26
402 Ilj 7. Die Neubegründung des röm.'kaÜioL Gelehrtenschulwesens.
seitdem sie aber die Fakultätsdisziplinen der Artisten in ihren Kreis
hineinzuziehen "begannen (1570), entbrannte auch hier der heftigste
Konkurrenzkrieg. Die Universität war wohl im formellen Rechte nach
ihrem Privileg sollte kein Schulunterricht in Wien ohne ihre Zustim-
mung und Aufsicht stattfinden; sie verbot ihren Angehörigen den Besuch
der Jesuiten Vorlesungen, sie erkannte die von den Jesuiten erteilten
Grade nicht an. Aber die Jesuiten hatten den Erfolg und die Macht
auf ihrer Seite; wenn die Zahl ihrer Schüler sich bald auf 800 — 1000
belief, so hatte die Universität kaum ^j^^ — Ys davon aufzuweisen. Es
ist denmach begreiflich, daß die Landesherren, obwohl sie durchaus
nicht alle den Jesuiten geneigt waren (Maximilian IL hatte ihnen die
Leitung des coUegium nobilium und einen theologischen Lehrstuhl wieder
abgenommen), sich nicht entschließen konnten, der Aufforderung der
Universität zur Vertreibung der Jesuiten nachzugeben. Im Jahre 1623
wurde endlich, nach mehrfachen vergeblichen Versuchen, den Frieden
herzustellen, auch hier zu dem radikalen Heilmittel geschritten, das
Jesuitenkolleg der Universität zu inkorporieren. Der Unterricht der
artistischen Fakultät, obwohl in ihr auch weltliche Mitglieder blieben,
stand seitdem durchaus unter der Leitung der Väter (Kink, 1, 1, 322 AT.). —
Jesuitengj'mnasien wurden in den Erzherzogtümern noch zu Linz (1608),
Krems (1616), Steier (1632) und zwei weitere zu Wien (1650 und
1666) begründet. Die Jesuitenschule zu Linz erhielt 1623 die Güter
der eingezogenen landschaftlichen Schule; 1669 wurde sie zur Akademie
erhoben; sie hatte durchschnittlich 300 — 400 Schüler.
Früher und leichter hatten die Jesuiten in den südlich angrenzen-
den Ländern der Habsburger Eingang gefunden. In Tirol, welches
mit Bayern allein unter allen deutschen Ländern den Ruhm teilt., der
Ketzerei nie Raum gegeben zu haben, war schon 1562 von König
Ferdinand ein Jesuitenkolleg zu Innsbruck fundiert worden; zu den
Humanitätskursen kamen 1606 auch philosophische und theologische
Kurse, und 1673 wurde die Anstalt zur Universität erhoben (Pkobst,
Gesch. d. Univ. zu Innsbr., 1869). Gymnasien wurden von der Ge-
sellschaft noch zu Hall (1572) und Feldkirch in Vorarlberg (1649).
ferner in Trient (1626) begründet. — In Steiermark wurde zu
Graz 1573 ein Kolleg mit einem Seminar errichtet und 1585 zur
Universität erhoben, die bald sehr zahlreichen Besuch aufzuweisen hatte.
Gymnasien waren ferner in Leoben, Judenburg, Marburg, Klagen-
furt, Lail)ach, Görz, Triest, Fiume.
Aus der Geschichte des Grazer Gvmnasiums von Peinlich ent-
nehme ich einige statistische Daten, welche in das Wachstum und den
Bestand des Ordens einen Blick thun lassen. Im Jahre 1551 wurde
JeauitenkoUegien in den österreichischen Ländern. 403
das erste Kolleg in Wien mit 13 Mitgliedern gegründet. 1633 be-
standen in der österreichischen Provinz, ohne die böhmischen Länder,
welche eine eigene Provinz bildeten, 15 Kollegien mit 775 Mitgliedern;
bis 1767 fand ein ganz regelmäßiges Anwachsen bis auf 1900 Mit-
glieder in 38 Kollegien und 25 Residenzen und ständigen Missionen
statt, darunter 1066 Priester, 466 Scholastiker. Im Jahre 1633 hatte
das ProfeBhaus zu Wien 69, das dortige akademische Kolleg 80, das
Probationshaus zu St. Anna 62 Mitglieder. In Graz waren augen-
blicklich 180 Mitglieder, darunter viele Flüchtlinge vom Rhein; in
Leoben 70, in Judenburg 23, Klagenfurt 30, Laibach 30, Triest 12,
Fiume 8, Linz 26, Krems 20, Görz 18; in den Residenzen zu Mellstadt,
Traunkirchen, Steier je fünf. — Interessant ist die Nationalitätsstatistik
des Grazer Kollegiums. Unter den 747 Vätern, welche ohne die übrigen
Mitglieder der Gesellschaft das Grazer Kolleg von 1 572 — 1773 bewohnten,
waren 189 Steierer (darunter 121 Grazer), 228 Ober- und Unter-
Österreicher (darunter 122 Wiener), 70 Deutsche aus dem Reich, 48
Kärntner, 45 Krainer, 44 Ungarn, 36 Italiener (meist aus Görz),
29 Tiroler, 20 Kroaten, 12 Niederländer, 11 Böhmen, 6 Spanier,
4 Polen, 2 Engländer, 1 Irländer, 1 Schotte, 1 Franzose. Man sieht,
die Gesellschaft war einheimisch geworden; die Fremden sind meist
unter den ersten Mitgliedern. —
In den vorderösterreichischen Ländern hatte die Universität
Freiburg von den Revolutionsstürmen leidlich und bald sich erholt
Um die Mitte des Jahrhunderts wurde sie von dem hohen Klerus und
Adel der deutschen und französischen Nachbarlande zahlreich besucht,
was auf die Disziplin übrigens höchst ungünstig einwirkte. Schreibeb
(Freiburg, II, 104 0".) teilt aus den Akten eine Menge von Exzessen mit,
aus deren Behandlung die völlige Hilflosigkeit der Universität gegen-
über der Zuchtlosigkeit der jungen Herren hervorgeht. Die humanistische
Reform des Lehrkursus war auch hier durchgeführt. Eine Liste der
besoldeten Professuren vom Jahre 1549 (S. 51) zählt auf: Hebräisch
und Griechisch, Poesie, Mathematik, Rhetorik, Physik, zwei der Dia-
lektik und zwei Rektoren im Pädagogium. Inhaber der Professur der
Poesie war noch der alte Humanist Glareanus (gest. 1563). Für
den Lehrstuhl der griechischen Sprache war 1546 J. Härtung, ein be-
deutender Gräcist, berufen worden (gest. 1579). Ohne Zweifel auf
seinen Antrieb legte die Fakultät den Studierenden das Studium des
Griechischen wiederholt ans Herz, so z. B. 1548: alle sollen die Elemente
und wer es kann, auch einen Autor hören. Aus dem Jahre 1553 findet
sich die Notiz, daß von allen Magistranden nur einer ein Zeugnis von
Härtung, der nicht mehr über die ersten Elemente las, beizubringen
26*
404 //, r. Die Neuhegründung des röm.'kathol, Oelehrtensckuiiacsens.
im Stande war. Daher wurde 1565 eine neue Examensordnung be-
schlossen: da viele auf den Akademien zusammenströmten ohne alle
Kenntnis der griechischen Sprache und dadurch in addiscendis liberalibus
artibus et intelligendis phüosophorum et poetarum scriptis sehr behindert
würden, so solle eine zweite griechische Lektur für die Elemente (Gram-
matik mit Lesestücken aus Lucian) eingerichtet und zu ihrem Besuch
die Baccalarianden verpflichtet werden, wie zum Besuch derHARTUNGschen
Vorlesungen über einen Autor die Magistranden. ^ Später wurde die
griechische Grammatik mit der Poesie und Rhetorik dem 1572 neu
organisierten Pädagogium, dessen lectiones als classicae gegenüber den
publicae in der Fakultät bezeichnet werden, übertragen (Schreibeb,
II, 131).
Im Jahre 1577 wurde von der Regierung der erste Versuch ge-
macht, die Universität zur Aufnahme von Jesuiten zu bewegen, aber,
da er auf Widerstand stieß, aufgegeben. Die Universität behauptete
nicht mit Unrecht: überall wohin die Jesuiten und ihre Schüler kämen,
entstehe Streit; sie fügten sich nirgends der bestehenden Ordnung und
durch das Statut ihrer Gesellschaft seien sie verhindert sich der Ge-
richtsbarkeit der Korporation zu unterwerfen. Erst 1620 drang die
Regierung durch; die philosophische Fakultät mitsamt dem Pädagogium
wurde der Gesellschaft Jesu übergeben, die bisherigen Lehrer alle ent-
fernt und anderweitig versorgt (Schreiber, II, 309 0"., 403 flf.).
In den Ländern der böhmischen Krone hatte der Abfall von der
römischen Kirche sich eher und vollständiger vollzogen, als in den
österreichischen Erblanden, wenngleich es auch hier zu konsolidierten
kirchlichen Neubildungen bisher nicht gekommen war. Das gelehrte
Unterrichtswesen, welches übrigens im Zustand dauernder SJerrüttung
lag, hatte im ganzen der humanistisch -protestantischen Reform sich
anzuschlieBen versucht. Die Universität Prag hatt« seit den hussitischen
Wirren sich nicht wieder erholen können. In der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts waren wiederholt humanistische Reformationsversuche
unternommen worden, aber ohne erheblichen Erfolg. Erst 1537 wurde
durch eine Privatstiftung eine Lektur für die griechische Sprache, be-
sonders für Homers Ilias gestiftet, welche nachher geteilt und an zwei
Wittenberger Magister gegeben wurde (Tomek, 156, 197 flf.).
Die Partikularschulen in Böhmen und Mähren, welche nach dem
Privileg der Prager Universität? dieser untergeben waren, empfingen
von ihr Schulpläne und Lehrer. Tomek (S. 187) zählt unter etwa 100
aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bekannten Schulen 18
1 "i
Zell, De studio Graecarum Latinarumque litterarum saee, XVL
Jesuitenkollegien in Böhmen und Mähren. 405
größere auf, unter welchen Prag, Kuttenberg, Königgrätz, Saatz
und Leitmeritz hervorragten. Sie hatten die üblichen fünf Klassen
mit den gewöhnlichen Lehrgegenständen: Grammatik, Rhetorik, Dia-
lektik, nebst den Anfangsgründen der mathematischen Wissenschaften.
Jährlich brachten sie ihre erwachsenen Schüler nach Prag zur De-
position und Immatrikulation bei der Universität, in den 60er und
70 er Jahren etwa 5 — 600 jährlich. Doch blieben diese auf der Uni-
versität meist nur ganz kurze Zeit, etwa ein halb Jahr; die Frequenz
dieser war daher gering und der ganze Unterrichtsbetrieb durch viel-
fache Heijmnisse niedergedrückt und dürftig. Im Jahre 1586 gab der
Rektor der .Universität, P. Codicillus, Prof. der Eloquenz, den Parti-
kularschulen einen allgemeinen Lehrplan. ^ Er unterscheidet sich nirgends
erheblich von den gleichzeitigen Lehrplänen der protestantischen Gym-
nasien in Deutschland: dieselben Unterrichtsgegenstände, dieselben Lehr-
bücher und Autoren. — Mähren hatte Gymnasien zu Iglau, Znaim,
Groß-Meseritz. Das erstere war 1562 als dreisprachige Schule mit
sechs Lehrern von der Stadt gegründet; eine Stipendienstiftung ermög-
lichte den Besuch auswärtiger Universitäten, besonders Wittenbergs; 1617
wurde ein Konvikt mit 36 Stellen gestiftet (Progr. 1881, von Wallneb).
Letzteres wurde von den Ständen als Landschaftsschule 1577 begründet
(C. d'Elveet, Gesch. der Studienanstalten in Mähren, Brunn, 1857).
Im Jahre 1556 führte König Ferdinand die Jesuiten nach Prag.
P. Caxisiüs, seit kurzem Provinzial, richtete im Dominikanerkloster
bei St. Clemens ein Kollegium ein, für welches zunächst zwölf Mit-
glieder, sämtlich Ausländer, eintrafen. Ausgestattet wurde es mit den
Gütern der lausitzischen Klöster Oybin und Dobrilugk. In wenigen
Jahren waren ein Gymnasium, nebst einem Konvikt für arme Studenten
und einem Pensionat für Adlige (contubernium nobilium), eingerichtet.
In letzterem fundiert« 1573 der Papst zwölf Freistellen für einheimische
arme Adlige, die sich dem Dienst der Kirche widmen wollten. Den
humanistischen Kursen wurden bald philosophische und theologische
hinzugefügt und das Gymnasium seitdem Clementinische Akademie
genannt. Die ersten Promotionen fanden 1565 statt. Gegen Ende des
Jahrhunderts hatte dieselbe etwa 700 Schüler, darunter gegen 100
Philosophen. Die alte Karolinische Universität, welche größtenteils aus
Protestanten und einigen alten Utraquisten bestand, protestierte ver-
geblich gegen die Verletzung ihrer Privilegien. Der aufgesammelte
Haß entlud sich, als 1618 der Krieg der Stände gegen den König zum
^ Mitgeteilt in den neueren Abhandlungen der böhmischen Gresellschaft
der Wissenschaften, Bd. III, 2, 186 ff. (1798).
406 11, 7. Die Neubegründwig des rönh-kathoL OelehrtenschtUu-esens,
Ausbruch kam, in der Vertreibung der Jesuiten und der Übergabe
ihrer Güter an die Universität. Vier Jahre später fand der umgekehrte
Vorgang statt: am 20. April 1622 fand die letzte amgreyatio magistro-
rum der alten Prager Universität statt; ihre Guter und Insignien
wurden den Jesuiten übergeben, welche ihre Akademie nunmehr als
Carl -Ferdinands -Universität bezeichneten. Der jeweilige Rektor des
Kollegiums sollt« zugleich Rektor der Universität sein und als solcher
die Professoren ernennen, auch das Schulregiment der alten Universität
auf ihn übergehen. Doch erhob sich gegen diese exzessiven Ansprüche
der Väter so starker Widerspruch, namentlich von selten des Erz-
bischofs, daß die Sache wieder rückgängig wurde; die Jesuiten behielten
die philosophische und theologische Fakultät.^
Von Prag aus wurden die streitbaren Kolonien des Ordens über
Böhmen, Mähren, Schlesien, Polen, Preußen ausgebreitet. Es wurden
Kollegien gegründet in den böhmischen Städten Krummau (1588),
Kommotau (1592), Neuhaus (1594), Jiöin (1624), Kuttenberg
(1626), Eger (1629), Prag Kleinseite (1630), Prag-Neustadt (1634),
Königgrätz(1676), in den mährischen Städten Olmütz (1566), Brunn
(1578), Iglau (1625), Znaim (1627), die beiden letzteren vom Grafen
Althan fundiert. Das Gymnasium zu Olmütz, mit Seminar und adligem
Pensionat verbunden, wurde 1573 zur Universität erhoben. Auch hier
fundierte der Papst Gregor XIII 50 Freistellen für adlige Jünglinge aus
dem Norden, sie zur Ausbreitung des Glaubens in ihrer abgefallenen
Heimat zu erziehen.
Die Erfolge der kaiserlichen Heere im dreißigjährigen Krieg öffneten
den Jesuiten Schlesien. In der Grafschaft Glatz hatten sie aller-
dings schon seit 1597 ein Gymnasium. Das erste Kollegium und
Gymnasium in Schlesien wurde zu Neiße 1622 von Erzherzog Carl
errichtet, mit Seminar und philosophischen und theologischen Kursen.
Es folgten Glogau (1626), zum Teil mit den Gütern des aufgehobenen
akademischen Gymnasiums zu Beuthen dotiert, Sagan (1628), von
Wallenstein reich ausgestattet, Schweidnitz (1635), Breslau (1638).
Oppeln (1668), Teschen (1674). Die Breslauer Anstalt entwickelte
sich allmählich zur Universität, als welche sie 1 702 privilegiert wurde.
Früher als in Schlesien hatten die Jesuiten im Polnischen und
Preußischen Eingang gefunden. Für das Bistum Ermland stiftete
der Bischof Stanislaus Hosius schon 1565 ein Jesuitenkollegium mit
akademischen Kursen zu Braunsberg im Franziskanerkloster, wozu
^ Eine detaillierte, interessante Darstellung dieser Vorgänge bei Tomee.
S. 161 ff.
Jesmtenkolkgien in Schlesien und Polen, 407
1631 das Kollegium zu Bössei im Augustinerkloster kam. In den
Teilen Polens, welche jetzt zu Preußen gehören, bestanden Jesuiten-
gymnasien zu Posen (1573) mit einem coli nobilium^ und Philosophie
und Theologie, Altschottland bei Danzig (1575), Thorn (1593),
Marienburg (1618), Konitz (1620), Bromberg (1639), Öraudenz
(1647), Deutsch-Krone (1672). Auch die polnische Universität zu
Krakau stand seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unter dem
Einfluß der Jesuiten. —
Die Übersicht zeigt, wie das jesuitische Gelehrtenschulwesen un-
widerstehlich vorwärts dringt. Die Bildung des katholischen Klerus
lag am Ende des 16. Jahrhunderts, kaum mehr als ein halbes Jahr-
hundert nach dem so unscheinbaren Ursprung des Ordens, fast ganz in
seiner Hand. Mit seinen Kollegien hatte er in weitem Bogen von den
Mündungen des Rheins bis zu den Mündungen der Weichsel den Herd
der Ketzerei wie mit einem Gürtel von Belagerungswerken umspannt.
Er hatte den humanistischen, philosophischen und theologischen Unter-
richt den alten Universitäten fast ganz aus der Hand genommen, sei
es durch Eintritt in die Fakultäten, sei es durch Konkurrenzinstitute.
Die alten Körperschaften zu Ingolstadt, Wien, Prag, Freiburg, Köln
widerstanden nach Kräften, aber vergeblich; die Jesuiten waren überall
siegreich; die durch die Regierungen erfolgende Übergabe der Fakul-
täten war regelmäßig nur die formelle Anerkennung der Thatsache,
daß sie den wirklichen Unterricht an sich gezogen hatten. Es ist den .
Jesuiten von den alten possedierenden Korporationen oft der Vorwurf
der Herrschsucht gemacht worden, und manche Historiker dieser An-
stalten haben ihn mit Leidenschaft wiederholt. Gewiß nicht ohne
Grund. Aber man muß hinzufugen, es war nicht die Herrschsucht
nichtiger Anmaßung, die sich auf äußere Gewalt oder leere Titel stützt,
sondern die Herrschsucht der Kraft, welche wirken will, weil sie wirken
kann und muß. Vielleicht ist manches formelle Recht durch sie zer-
brochen worden. Aber die Geschichte bekennt sich überall zu dem
Satz: Macht giebt Recht.
Man wird sagen können: die Erhaltung der katholischen Kirche
im Südosten und Nordwesten Deutschlands ist wesentlich das Werk der
Gesellschaft Jesu. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts stand die Sache
des Katholizismus fast aussichtslos. Adel und Bevölkerung der öster-
reichischen und böhmischen Länder war abgefallen, kein Klerus war
da, der es wehrte. Die großen geistlichen Fürstentümer am Rhein
standen auf dem Sprung sich in weltliche Fürstentümer zu verwandeln.
Die Häuser Witteisbach und Habsburg hätten mit politischen Mitteln
allein den Zusammenbruch nicht aufgehalten. So standen die Dinge,
408 //, r. Die Neubegründung des räm.-kathoL Oelefirtenscktdicesens,
als in den 40 er Jahren die ersten Jesuiten in Deutschland erschienen
und sich Wilhelm IV. von Bayern und König Ferdinand zur Ver-
fügung stellten. In wenig Jahrzehnten war der Fortschritt des Pro-
testantismus zum Stehen gebracht und am Anfang des 17. Jahrhunderts
stand der Katholizismus zur Wiedereroberung gerüstet da. Daß auch
diese gelungen wäre, wenn nicht die politischen Interessön Schwedens
und Frankreichs, ja des heiligen Stuhles selbst dazwischen getreten
wären, scheint nach menschlichem Ermessen kaum zweifelhaft.
Worin lag das Geheimnis der Kraft dieser Menschen? Darin, daß
sie „Männer an Bosheit" waren, wie Raumee sein Urteil formuliert?
Daß sie schlauer und rücksichtsloser als alle übrigen die Leichtgläubig-
keit der Massen, die politische Rat- und Hilflosigkeit der Regierenden
gegen die Revolution ausbeuteten? Mir scheint, das heißt der Lüge
und Bosheit mehr zutrauen, als sie ausrichten können; Bosheit und
Lüge sind nicht Gemeinschaft bildende Kräfte, und wo hätte es einen
festeren Verband gegeben, als die Gesellschaft Jesu? Bosheit und
Lüge sind auch nicht Mittel, wodurch dauernder Einfluß auf Menschen
erlangt wird. Nach einem alten Wort ist der stärkste derjenige, welcher
sich selber überwindet. Vielleicht will das Wort nicht bloß sagen,
daß die größte Kraft hierzu erforderlich ist, sondern auch, daß die
größte Wirkung von denen ausgeht, die die größte Kraft der Selbst-
beherrschung haben. Ich glaube nun, daß es nie eine Gesellschaft
von Menschen gegeben hat, die in der Bändigung der natürlichen
Triebe, in der Zurückdrängung der individuellen Neigungen und Be-
gierden durchgängig es weiter gebracht hat, als die Jesuiten. Große
Individualitaten treten in der Geschichte des Ordens nicht hervor, der
Poesie bietet er wenig Stoff; aber jederzeit besaß er eine große Menge
durchaus zuverlässiger, sicher wirkender Kräfte. Es ist in seiner
Thätigkeit etwas von der stillen, aber unaufhaltsamen Wirkungsweise
der Naturkräfte; ohne Leidenschaft und Kriegslärm, ohne Aufregung
und Überstürzung dringt er Schritt für Schritt vor, fast ohne jemals
einen zuriickzuthun. Sicherheit und Überlegenheit charakterisieren jede
seiner Bewegungen. Freilich sind das nicht Eigenschaften, die liebens-
würdig machen; liebenswürdig ist niemand, der ohne menschliche
Schwäche ist Vollkommene Leidenschaftslosigkeit hat eher etwas
Furchtbares und Unheimliches.
Ich kann mir nicht versagen, folgenden Zug, der nach jesuitischer
Relation in der Geschichte des Grazer Gymnasiums berichtet wird, hier
mitzuteilen. Als in den 70 er Jahren dort Jesuitengymnasium und
Landschaftsschule nebeneinander bestanden, kamen die Väter manchmal
hospitierend, wie es unter Gelehrten Sitte sei, in die Lektionen und
Worauf die Kraft des Ordens beruhte? 409
Disputationen der ständischen Schule. Der Rektor dieser letzteren war
darüber keineswegs erfreut; einmal, als am Schluß der Lektion der
Pater eine Frage that, brach er in die Worte aus: „sie sollten daheim
in ihrer Universität bleiben und ihn nicht perturbieren, er komme auch
nicht zu ihnen hinauf." Der Jesuit antwortete mit höflicher Freund-
lichkeit: utinam veniasf experieris omnem humanitatem. Der Rektor:
„Man kennt euch Jesuiten". Der Pater: Sumus amatores veritatis.
Der Rektor: amatores mendaciu Da wandte sich der Jesuit, ohne ein
Wort zu erwidern zum Gehen. — Daß die Jesuiten bis auf den heutigen
Tag Meister in der großen Kunst sind, den Zorn zu beherrschen und
dadurch Meister in der großen Kunst, die Seelen der Menschen zu
beherrschen, kann der Leser, nebst manchem interessanten Detail aus
der Erziehungskunst der Jesuiten, aus einem Buch ersehen, worin ein
Zögling des Jesuitenkollegs zu Freiburg und darnach des collegium
Germaniatm zu Rom, der nachher protestantischer Pastor geworden
ist, die Eindrücke, die er dort empfangen, lebhaft und wahrhaft wieder-
giebt: es ist das anonym erschienene Buch von Köhler, Erinnerungen
eines ehemaligen Jesuitenzöglings (Leipzig, 1862).
Woher kam dem Orden diese Kraft? Ich glaube, sie kann zuletzt
nur aus einer großen Idee kommen, nicht aus selbstsüchtiger Begierde;
diese löst auf, jene allein kann dauernd verbinden. Die Idee, welche
die Glieder des Ordens durchdrang und sie nach Auslöschung aller
individuellen Begierden mit einem großen und schwärmerischen Ver-
langen erfüllte, war die: daß der Orden das auserwählte Rüstzeug zur
Rettung der Kirche Gottes sei. Seine Mitglieder stellten sich dem
Haupt der Kirche als ritterliche Vorkämpfer und, wenn es Gottes
Wille sei, als erste Opfer in dem großen Kampf mit der heidnischen
und häretischen Welt unbedingt zur Verfügung. — Daß diese Idee
im Stande ist, das Gemüt eines Menschen ganz einzunehmen, wird
doch auch der verstehen können, der selber auf anderem Boden steht.
Ich halte es für eine glückliche Fügung des Geschicks, daß der Orden
sein Ziel nicht erreicht hat; ich vermag in der katholisch-kirchlichen
Frömmigkeit, so sehr ich bereit bin, aufrichtige Frömmigkeit in jeder
Form zu ehren, nicht die höchste Form menschlichen Lebens zu er-
blicken, geschweige denn die einzige zulässige, an der das diesseitige
und jenseitige Heil der Seele hange; ich bin der Überzeugung, daß
die Zurückführung aller europäischen Völker unter die Botmäßigkeit
des römischen Stuhls zur Verarmung und Verkümmerung des geistigen
Lebens im Abendlande geführt hätte und daß vor allem das deutsche
Volk es mit Dank zu erkennen hat, daß ihm die durch Luther er-
kämpfte Freiheit von Rom, die denn freilich zunächst noch nicht die
410 II, 7. Die Neubegründufig des röm,-kathol, Geldirtsnsckulwesens,
Freiheit des Glaubens und Gewissens für den Einzelnen war, erhalten
geblieben ist. Aber alles dies kann nicht hindern, das Große und
Bedeutende auf der anderen Seite anzuerkennen. Auch wer dem
Jesuitenorden und seinen Bestrebungen als Gegner gegenübersteht,
wird darum nicht die Gesellschaft als die Verschwörung der Lüge und
Bosheit oder die einzelnen Glieder als abgefeimte Schurken ansehen
müssen oder dürfen. Das wäre thörichteste Selbsttäuschung, sich ein-
zureden, daß durch Beizung selbstsüchtiger Gelüste die Glieder des
Ordens angelockt oder durch ihre Befriedigung festgehalten worden
seien. Wohlleben des sinnlichen Menschen kann in diesem Orden zu
suchen schwerlich jemals einer in Versuchung gewesen sein; was sich
ihm beim Eintritt in Aussicht stellte, das war zunächst demütiges
Noviziat, dann ein jahrelanges, äußerlich und innerlich eng gebundenes
Studium, endlich mühselige Schularbeit oder aufopferungsvoller Dienst
in der Predigt oder der Mission. Den Ehrgeiz konnte vielleicht später
die Machtstellung des Ordens reizen; aber wer der Sache näher trat>
mußte bald merken : für den Einzelnen, für jeden Einzelnen ohne Aus-
nahme, galt es nicht herrschen, sondern gehorchen, sein Leben lang
gehorchen, ohne Murren jeden Platz und jede Stellung in jedem Augen-
blick annehmen oder verlassen, nach dem Wink „der Oberen". Man
lese in der kleinen Biographie des P. Canisius von Drews (1890) nach,
wie das Gesetz des unbedingten Gehorsams auch gegen einen Mann
von der Bedeutung und dem Verdienst des ersten deutschen Provinzials
rücksichtslos geltend gemacht wurde. Übrigens, wäre für die Be-
friedigung von Ehrgeiz und Herrschaftsgelüsten oder für die Neigung
zum Wohlleben und zur Bequemlichkeit im Orden etwas zu holen
gewesen, dann würden wir mit Sicherheit erwarten dürfen, in den
Stellen der Generale und Provinziale, ebenso wie in den Bistümern
und Abteien, bald große Herren und nachgeborene Prinzen zu finden.
Man wird sie vergebens suchen. Überhaupt scheint der Orden für diese
Gesellschaftsklassen niemals große Anziehungskraft gehabt zu haben,
ein zuverlässiges Anzeichen dafür, daß er der Selbstsucht wenig bot.
Und noch ein Anzeichen hierfür; der Orden wäre niemals verfolgt und
verboten worden, wenn er vor allem dem Wohlleben seiner Glieder
gedient hätte: Vereine für derartige Zwecke sind niemals für gefahr-
lich angesehen worden ; gefährlich sind immer nur Vereinigungen für
Ideen.
Warum ich dies hervorhebe? Weil es mich verdrießt, immer
wieder huren zu müssen, wie Männer, die mit Aufopferung aller persön-
lichen Interessen für eine Idee lebten, von stumpfen Philisterseelen,
die ihr Leben lang ihr sinnliches Behagen suchten, oder von ehr-
Worauf die Kraft des Ordens beruhte? 411
geizigen Strebern, die nur daran denken, wie sie den Machthabern des
Staates und der öffentlichen Meinung gefallen, der Selbstsucht und des
Ehrgeizes beschuldigt werden. —
Dauernde Wirksamkeit auf Erden erlangt eine Idee nicht ohne
Verkörperung in einer äußeren Ordnung. Die Ordnung des Jesuiten-
ordens, von der Gesamtverfassung bis zum kleinsten Stuck der Disziplin
herab, ist von einer bewunderungswürdigen Angemessenheit zu ihrem
Zweck. Größte Kraft des Einzelnen und sicherste Einfügung in den
Organismus des Ganzen, spontane Thätigkeit und willige vollständige
Unterordnung, diese schwer zu vereinigenden Gegensätze scheint die
Gesellschaft in einem Maße erreicht zu haben, wie vielleicht niemals
irgend eine andere Korporation.
Endlich ist noch eines hinzuzufügen. Der Orden verstand das
Wort Bacons: natura non vincitur nisi parendo. Wer die Welt unter-
werfen will, muß sich versehen mit dem, was in der Welt gilt. Mochte
früher Einfalt des Herzens und asketische Frömmigkeit Macht über
die Gemüter verliehen haben, in der Gegenwart reichten diese Dinge
allein nicht aus. In der modernen Welt hat bisher nur Eines auf die
Dauer das Übergewicht gegeben: überlegene Bildung. Durch die
Wissenschaft hatte der Protestantismus sich durchgesetzt. So lange
im Abendlande die Kulturtendenz herrschend bleibt, wird es nicht
anders sein. Die Jesuiten waren sich hierüber von Anfang an klar.
Sie besaßen zugleich weltmännische Bildung und fachmännische Gelehr-
samkeit. So waren sie ausgerüstet, die Welt durch die Welt zu über-
winden. Daß das nicht die Weise war, wie jener, nach dessen Namen
sie sich nannten, die Welt überwunden hatte, ist freilich gewiß; aber
nicht minder gewiß, daß die Welt am Anfang der Neuzeit eine andere
war, als die Welt am Ende des Altertums.
Die Herrschaft des Ordens ging zu Ende, als neue Wissenschaften,
die aufzunehmen er nicht den Willen oder das Vermögen gehabt hatte,
auf die Anschauungen der Menschen bestimmenden Einfluß erlangten.
Die Bildungselemente des Humanismus hatte er sich angeeignet, die
Entwickelung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis ge-
schah außerhalb seiner Kreise; der Neubildung der Philosophie und
Weltanschauung auf Grund dieser neuen Voraussetzungen sah er mit
Mißtrauen zu; seine Universitäten hielten streng am aristotelisch-
thomistischen Schulbetrieb fest, während draußen Galilei und Des-
CARTES, Newton und Locke, Leibniz und Wolfe, Voltaiee und
Rousseau die Geister beschäftigten oder beherrschten. So in die Rolle
des mißvergnügten Zuschauers gedrängt, verlor er sein Ansehen. Miß-
achtung und Feindschaft wurden zuletzt in den katholischen Ländern
412 II, 7. Die Neubegründung des röm.-kaihoL Oelehrtenschulwesens.
so allgemein, daß der Papst sich endlich genötigt sah, selber den Orden
aufzuheben (1773). Volentem ducunt /ata, nolentem trakunt
Wir wenden uns nun zur Betrachtung des Unterrichts in den
Studienanstalten der Gesellschaft. Im ganzen und großen gleicht er
dem im vorigen ausführlich behandelten Unterricht in den protestan-
tischen Schulen und Universitäten. Auch sein Ziel kann man mit der
Formel Sturms bezeichnen: eloquens et sapiens pietas; und er sucht
es wesentlich mit denselben Mitteln zu erreichen: Eloquenz, die Fähig-
keit der Rede in klassischem Latein, in Poesie und Prosa, ihr dient
der grammatisch-rhetorische Kursus, Sapienz, die wissenschaftliche Er-
kenntnis, ihr dienen außer den humanistischen auch die philosophischen
und theologischen Studien, endlich pietas^ Frömmigkeit und Recht-
gläubigkeit, ihr dient die Religionslehre und Religionsübung auf allen
Stufen.
Sturm deutet einmal an, die Jesuiten könnten aus seinen Quellen
geschöpft haben. Schwerlich ist hieran zu denken; die Zusammen-
stimmung wird wesentlich auf der Gleichartigkeit der Zeitbedürfhisse
beruhen; die bewegenden Kräfte der Zeit sind das Christentum und
das klassische Altertum: der Aufbau eines mit Hilfe der Philologie
aus den Quellen abgeleiteten, mit Hilfe der Philosophie gestützten
Systems der Glaubenslehre, das erscheint als die große wissenschaft-
liche Aufgabe der Zeit, sowohl auf katholischer wie auf protestantischer
Seite. Hierzu auszurüsten ist die Aufgabe des gelehrten Unterrichts.
tTbrigens mag auch daran erinnert sein, daß Sturm und Ignatius
beide zu. Paris studiert haben; sie hätten sich begegnen können: Sturm
lehrte und lernte von 1529 — 1537, Ignatius studierte von 1528 — 1534
in einem Pariser Kolleg. Der Stifter der Gesellschaft bewahrte der
Universität stets ein dankbares Andenken; daneben stand Löwen, wo
Stubm ebenfalls studiert hatte, bei ihm in hohem Ansehen. Es ist
kein Zweifel, daß der ganze äußere Schematismus der Ordenskollegien
diesen Vorbildern nachgebildet ist.^
Die abschließende Feststellung der Studienordnung erfolgte erst
im Jahre 1599, in der von dem vierten Ordensgeneral, P. Gl. Aquaviva,
erlassenen Ratio atque institutio studiorum S, J, Sie giebt eine
» ScHMiD, Gesch. der Erziehung, III, 1, S. 7, 33ff.; llSff. Mit Recht sagt
G. Müller (S. 35): „Überhaupt dürfte die erlebte Praxis für die Begründung
und Ausgestaltung der Pädagogik des Ordens wichtiger gewesen sein, als die
Benutzung der pädagogischen Theoretiker". — Das wird nicht bloß hier gelten;
die Geschichtsschreiber der Pädagogik neigen dazu, den Einfluß der Theoretiker
zu überschätzen.
Der Siiuiienkursus der Ratio studiorum. 413
bis ins kleinste sich erstreckende Normierung des gesamten gelehrten
Unterrichts von der Grammatik bis zur Theologie: die äußeren Ein-
richtungen der Anstalten, das Schulregiment, der Stufengang des
Unterrichts, der Lehrgehalt und die Lehrbücher, die Stundenverteilung,
die häuslichen Übungen, die Prüfungen und Promotionen, das Unter-
richtsverfahren von der ersten Grammatikstunde bis zur letzten theo-
logischen Vorlesung, alles findet kurze, präzis gefaßte gesetzliche Fest-
stellung. Der Neigung und Willkür des einzelnen Lehrers und Schülers
ist nichts überlassen: auch das Lehren und Lernen wird in der Pflicht
des Gehorsams geübt. Natürlich sind die Bestimmungen der Ver-
fassung von 1599 inhaltlich nicht eine Neuschöpfung; schon die ersten
Gründungen zeigen in allem Wesentlichen dasselbe Schema und den-
selben Studiengang. Was sich dann in der fünfzigjährigen Praxis der
Kollegien bewährt hatte, was in langen Kommissionsverhandlungen der
80er Jahre, aus denen der umfassende, an interessantem Material
reiche Entwurf von 1586 hervorging, was in den Gutachten der Pro-
vinzen über diesen Entwurf an pädagogischen Einsichten und Er-
fahrungen zu Tage kam, das ist hier in ein Gesetz gefaßt. In Form
von Vorschriften des Generals für den Provinzial, den Rektor, den
Studienpräfekten, die Professoren der theologischen und philosophischen
Kurse, die Lehrer der Gymnasialklassen bis herab zur infima grammatica
wird jedem seine Aufgabe aufs genaueste bestimmt; nirgends ein
Zweifel, ein Bedenken, eine Möglichkeit des andern : es ist ein System
von erstaunlich festem Gefüge. Bis zum Jahre 1832 hat es alle
Wandlungen der Zeiten überdauert, und auch die neue Studienordnung
des Generals Roothaan stellt sich nur als veränderte Ausgabe der
alten dar.^
Der Studienkursus der großen Kollegien umfaßt, wie der der alten
Pariser und Oxforder Kollegien, Gymnasial- und Universitätsstudien,
siudia inferiora und studia superiora. Auf einen sechsjährigen Kursus,
in dem die Sprachen den Mittelpunkt der Studien bilden, folgt ein
dreijähriger philosophischer, d. h. allgemein wissenschaftlicher Vor-
bereitungskursus. An ihn mag sich dann das fachwissenschaftliche
Studium in einer der oberen Fakultäten schließen, für die Glieder der
Gesellschaft natürlich in der Theologie.
Der Gymnasialkursus hat, wie an den protestantischen Landesschulen,
* Die Ratio studiorum liegt jetzt mit deutscher Übersetzung und der
Revision von 1832 in der Ausgabe von P. Pachtler im V. Bd. der Mon. Paed,
vor; auch findet man dort zum erstenmal veröffentlicht den Entwurf von 1586.
Eine gute Darstellung des Unterrichts und der Erziehung in den Kollegien bei
ScHMiD, Gesch. der Erziehung, III, 1, 1 — 109, von G. Müller.
414 //, 7. Die Neubegründung des röm.'katiiol. Gelehrienscfiulwesens.
fünf Stufen; sie heißen Grammatica infima, media, suprema,
Humanitas oder Poesis, Rhetorica, Namen, die in den französischen
Klassenbenennungen sich bis auf diesen Tag erhalten haben. Voraus-
gesetzt wird, ebenso wie auf den Landesschulen, die Absolvierung eines
Elementarkursus; das Kolleg will nicht Lateinschule, sondern gelehrte
Studienanstalt sein. Die genannten fünf Stufen des Unterrichts sollen
unter allen Umstanden innegehalt-en werden, auch da, wo die Klassen-
zahl großer oder kleiner ist, d. h. wo wegen großer Frequenz eine
Zerlegung in Parallelklassen oder wegen zu geringer Zahl eine Zu-
sammenlegung stattfinden muß. Die Klassen haben Jahreskurse, doch
sollen „die Unseren" in der Rhetorik regelmäßig zwei Jahre zubringen;
im übrigen läßt sich die Zeit des Aufenthaltes in den beiden oberen
Klassen nicht allgemein festsetzen; auch die infima kann nach Lage
der Dinge in zwei Jahreskurse zerlegt werden, so daß wir dann sechs
Klassen haben. Ihre Insassen heißen: Budimentistae oder Parvistae,
Principistae, Grrammatistae, Poetae, Rhetores,
Die Aufgabe der Klassen ist folgende. In den Grammatikklassen
ist die Erlernung und Einübung der lateinischen Grammatik das
Hauptziel. In den Humanitätsklassen, der Poesie und Rhetorik handelt
es sich um die Eloquenz, d. h. die Ausbildung der Darstellungsform,
sowohl in Poesie als in Prosa. Als das Ziel der letzten Klasse und
somit des ganzen Kursus wird bezeichnet: perfecta eloquentia, quae
duas facultates majnmas, oratoriam et poeticam, comprehendit Unter
ihnen kommt aber der Rhetorik, die nicht bloß dem Nutzen dient,
sondern auch auf Schönheit der Sprache sieht, die erste Stelle zu; ihr
Wesen machen drei Stücke aus: die Regeln der Redekunst, der Stil
und das gelehrte Wissen (praecepta dicendi, stilus et eruditio), — Es
ist dasselbe Ziel, das der Gymnasialunterricht zu allen Zeiten verfolgt:
die Fähigkeit, Gedanken in richtigem und angemessenem Vortrag aus-
zudrücken. Was die heutigen Gymnasien von denen des 16. Jahr-
hunderts unterscheidet, das ist, daß sie nicht mehr die Darstellung in
lateinischer, sondern in deutscher Sprache fordern, und daß sie auf das
Wissen größeren Nachdruck als auf den Vortrag legen.
Für die einzelnen Unterrichtsgegenstände wird folgendes ange-
ordnet. Die lateinische Sprache wird nach der Grammatik des
Spaniers P. Immanuel Alvarez {De institutione grammatica, L III,
zuerst Lissabon 1572 gedruckt) gelehrt. Ihr Inhalt wird auf die drei
Grammatikaiklassen verteilt; das Pensum der untersten Klasse ist die
Formenlehre und das Notwendigste aus der Syntax, das der mittleren
die ganze Syntax bis zur constructio figurata, das der oberen Wieder-
holung der Syntax nebst der constructio figurata und Metrik. Auf der
Der Studienkursus der Ratio studiorum. 415
Oberstufe tritt für die Grammatik die Rhetorik, nach Cicero und
Aristoteles, ein. Auf allen Stufen findet tagliche Übung im Lesen und
Schreiben statt Zur Lektüre dienen in erster Linie auf allen Stufen
die Schriften Ciceros, die Reden, die Briefe und die rhetorisch-philo-
sophischen Abhandlungen. Daneben werden auf den Oberstufen die
Historiker Cäsar, Sallust, Livius, Curtius gelesen. Die poetische Lektüre
wird aus Ovid, Virgil, Horaz entnommen, wobei die Ausschließung des
Obscönen streng geboten ist, durch Auswahl und gelegentlich auch
durch Ausmerzung einzelner Stellen. Die Argumente für die Stil-
übungen sind ebenfalls wesentlich aus den gelesenen Autoren zu ent-
nehmen, auf den Unterstufen Diktate, auf den Oberstufen daneben
freie Arbeiten, Briefe, Erzählungen, Reden, Abhandlungen, nach den
vorliegenden Mustern der klassischen Autoren.
Das Griechische nimmt auf dem Lehrplan die zweite Stelle
ein. Der Unterricht beginnt in der Orammatica infima mit Y* Stunde,
die in den folgenden Klassen auf ^l^j und in der Rhetorik auf 1 ganze
Stunde, jedesmal am Schluß des Nachmittagsunterrichts, ausgedehnt
wird. Den drei unteren Klassen fallt wesentlich die Einübung der
Formenlehre zu, in den beiden oberen kommt dazu die Syntax und
Metrik, sowie eine Belehrung über die Dialekte. Viel gebrauchte Lehr-
bücher des Griechischen gab der Deutsche P. Jacob Gbetseb zu Ingol-
stadt in den 90 er Jahren heraus. Der Lektüre dienen auf der Ober-
stufe Demosthenes, Isokrates, Plato, Thucydides, Homer, Hesiöd, Pindar,
Gregor von Nazianz, Basilius, Chrysostomus; natürlich handelt es sich
nur um Bruchstücke zur Einübung der Sprache. Auch hier gehen
Übungen im Schreiben, in Prosa und Versen, dem grammatischen
Unterricht zur Seite.
Die Anordnung des Unterrichts folgt durch den ganzen Kursus
im wesentlichen demselben einfachen Schema. Vormittags und nach-
mittags sind 2^/, (in der Rhetorik 2) Stunden Unterricht. In der ersten
Stunde wird zuerst das Pensum der Grammatik und der Cicerolektüre
den Dekurionen aufgesagt; der Lehrer korrigiert inzwischen schriftliche
Arbeiten und giebt den Schülern irgendwelche Privatbeschäftigung auf,
z. B. Sätze bilden, Phrasen sammeln, aus dem Lateinischen schriftlich
übersetzen oder retrovertieren u. s. f. Die zweite Stunde ist die eigent-
liche Lektürestunde; auch wird darin das Thema für eine schriftliche
Arbeit diktiert Die letzte halbe Stunde ist der Erklärung und Wieder-
holung der Grammatik, in der Humanität auch der Lektüre des Histo-
rikers, gewidmet; auch mag darin certiert werden. Die erste Nach-
mittagsstunde beginnt wieder mit dem Aufsagen der Grammatik und
des poetischen oder griechischen Autors vor den Dekurionen; der Lehrer
416 IL 7. Die Neubegründung des röm.-kaihoL Gelehrtenschtäwesens.
korrigiert inzwischen Skripta und giebt dann das Thema für die häus-
liche Arbeit. Die zweite Stunde gehört auf den Unterstufen der Er-
klärung der Grammatik, auf den Oberstufen dem Dichter und dem
Griechischen. In der letzten halben Stunde wird certiert oder sonst
eine Übung vorgenommen. Der Sonnabend ist der Repetition des
Wochenpensums gewidmet; außerdem wird der Katechismus aufgesagt
und erklärt, woran sich eine fromme Ermahnung schließt Auf der
Oberstufe finden auch Deklamationen der Schüler statt — Man sieht,
wie sehr die Einübung des Formalen der Sprache den ganzen Unter-
richt beherrscht: richtig und elegant schreiben, in Prosa und Versen,
das ist das große Ziel, dem ebenso die Lektüre, wie der endlose Gram-
matikunterricht mit den zugehörigen schriftlichen Übungen dient
Dasselbe geht auch aus den Anweisungen über die Lektüre hervor.
Für die beiden untersten Klassen wird vorgeschrieben: man nehme eine
Stelle aus Cicero, anfangs nicht mehr als vier Zeilen; zuerst lese der
Lehrer sie vor und gebe dann kurz den Sinn an. Hierauf übersetze
er sie wörtlich in die Vulgärsprache, möglichst mit Beibehaltung der
Wortstellung, also gleichsam in Form der Interlinearversion. Dann
erkläre er die Struktur, löse die Periode auf und zeige, welche Verba
welche Kasus regieren, führe überhaupt die Formen auf die gramma-
tischen Segeln zurück. Dann kann er noch leichte grammatische Be-
merkungen hinzufügen, die Metaphern erklären, in der media auch ein
paar Phrasen daraus diktieren. Zum Schluß wiederholt er die Über-
setzung. In der dritten Klasse beginnt neben der Übersetzung die
lateinische Interpretation, die zuletzt auf der Oberstufe die Übersetzung
in die Vulgärsprache ganz überflüssig macht; sie soll hier nicht eine
wörtliche Paraphrase, sondern eine Erklärung des Sinnes sein. Femer
beginnt hier die etymologische Erklärung der Wörter und die Beachtung
der Erudition, des mythologischen und historischen Sachwissens, doch
so, daß die Sprache im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen bleibt
In der Rhetorik hat die Lektüre vor allem die Aufgabe, die Kunstform
der Darstellung, die Erfindung, Disposition und Darstellung zu zeigen,
wie geschickt der Redner sich einschmeichelt, wie angemessen er sich
ausdrückt, woher er seine Argumente nimmt, u. s. w. Daneben bleibt
die sprachlich -sachliche Erklärung, natürlich in lateinischer Sprache.
Überhaupt soll so bald als möglich Latein die ausschließliche Schul-
sprache sein, selbstverständlich von Seiten des Lehrers, aber auch bei
den Schülern: „von Schulsachen sollen sie niemals in der heimischen
Sprache reden; wer das Gebot übertritt, wird aufgeschrieben".
Die schriftlichen Übungen beginnen mit der Übersetzung eines
Diktats, woran die grammatischen und syntaktischen Regeln eingeübt
Der lateinische Unterricht, 417
werden; anfangs von etwa vier Zeilen. In der dritten Klasse kann
man einen kleinen Brief als Argument diktieren, allmählich auch eine
freie Arbeit im Monat anfertigen lassen. Auch beginnt man die Versi-
fikation mit der Herstellung turbierter Verse. In der Humanität läßt
man neben den täglichen Aufgaben wöchentlich eine freie Arbeit machen,
die nun einen mehr selbständigen Charakter annehmen muß; für die
Poesie giebt man ein lateinisches Argument. In der Rhetorik endlich
läßt man größere Reden über ein gegebenes Thema, etwa eine im
Monat, ausarbeiten, indem man darauf hinweist, woher Stoff und Form
zu entnehmen sind; so wird auch für das Gedicht bloß ein Thema,
eine Sentenz, ein Gegenstand gegeben. Als tägliche Klassenübung kann
hier aufgegeben werden: Imitation einer Stelle aus einem Redner oder
Dichter, Beschreibung von Gärten, Tempeln, eines Gewitters, Variation
einer Phrase, Übersetzung eines griechischen Autors ins Lateinische
oder umgekehrt; Abfassung von Epigrammen, Inschriften, Epitaphien;
Phrasen und Beweisstellen excerpieren u. s. w.^
^ Es mögen hier noch die Fonneln mitgeteilt sein, in die eine Instruktion
für die Repetenten und die Lehrer der Humanitätsstudien vom Jahre 1622 die
Vorschriften für die Behandlung des lateinischen Unterrichts faßt: „Die Lektüre
hat zur Absicht, daß die Schüler den Cicero in Rede und Schrift imitieren
lernen. Jede Lektürestunde (praelectio) besteht aus zwei Stücken: der Inter-
pretation und der Observation zum Zweck der Imitation; jene ist der Leib,
diese die Seele der Vorlesung. Die Interpretation ist von doppelter Art:
metaphrastisch oder paraphrastisch; die erstere giebt Wort für Wort
wieder, sie hat ihren Ort in den Klassen der Grammatik; die andere giebt den
Gedanken in faßlicherer Form wieder, sie gehört der Humanität und Rhetorik.
Für jene gilt die Regel: die Wortstellung zu lassen, daß die Knaben sich an
den Numerus gewöhnen and den Unterschied der lateinischen und der Mutter-
sprache auffassen; für diese: keine Metaphrase, so daß jedes Wort durch ein
anderes lateinisches Wort ersetzt wird! Das wäre ganz gegen unseren Zweck,
besonders wenn man diese Metaphrase den Knaben in die Feder diktierte;
hierdurch würden sie lediglich von der Reinheit der ciceronischen Sprache zu
dem gemeinen Spülichtlatein hingeleitet. — Noch gehören zwei Dinge zur
Interpretation, nämlich die Heranziehung der Geschichte und der Fabeln, der
Philosophie und der Antiquitäten". — Die Observation, der andere Teil der
Prälektion, ist zur Imitation unentbehrlich und daher vom Lehrer beständig
zu treiben und für die Imitation fruchtbar zu machen, mit Vorlesen, Wieder-
holen, Reden, Schreiben, Diktieren. Sie besteht in der Anziehung alles dessen,
was zur Reinheit, Eleganz und Fülle des lateinischen Ausdrucks und zur voll-
kommenen Kenntnis in den Humanitätsstudieu gehört. Die Imitation wird
geteilt in die Imitation der Wörter und der Sachen, und jene wieder in die
des Knaben und des Mannes. In der Schule handelt es sich hauptsächlich um
die imitatiü rerhorumy und zwar hat in den unteren Klassen die imitatio pue-
rilis, in den oberen die imitatio virilis ihren Ort; in der Rhetorik beginnt wenn
möglich auch die imitatio verum (Rat. Stud. IV, Mon. Germ. Paed. XVI, S. 192 ff.).
PaulseD, Unterr. Zweite Aufl. I. 27
418 lly 7. Die Neuhegründung des röm.'kathoi GeMirtenschulwesens.
Für die pädagogische Behandlung des Unterrichts ist charakte-
ristisch die starke Benutzung des Wetteifers und des Ehrgeizes. Von
der untersten Stufe an begegnet uns das Certieren (concertatio) als
Beizmittel des £ifers: jeder Schüler hat einen andern zum Eonkurrenten
(aemuhis); dieser hat die Aufgabe, auf die Fehler des Eonkurrenten
zu achten, seine Skripta darauf hin durchzusehen, falsche Antworten zu
bemerken und zu verbessern; in den dazu angesetzten Stunden stellen
sie sich gegenseitig Fragen: man giebt dem andern auf ein Wort zu
deklinieren oder zu konjugieren, eine gegebene Form zu bilden, oder einen
Satz nach einer Regel zu formen, eine Phrase zu übersetzen, eine Ety-
mologie anzugeben, eine antiquarische lYage zu beantworten u. s. w.
Man läßt auch zwei Elassen mit einander certieren oder zerlegt eine
Elasse in zwei konkurrierende Hälften, jede mit ihrem Dekurionen.
Auf der Oberstufe münden derartige Ringkämpfe in die akademischen
Disputationen ein, von denen sie offenbar ihren Ursprung haben.
Ebendahin zielen die Ehrenämter (magistratus) , die durch die
besten Leistungen in den monatlichen freien Arbeiten in Prosa und
Poesie erworben werden. Die Dekurionen sind zugleich Gehilfen des
Lehrers, ihnen wird die Lektion aufgesagt, sie sammeln die Hefte ein,
machen sich Notizen und übergeben sie dem Lehrer. Ein Oberdekurio
oder Censor in jeder Elasse hat über Aufrechterhaltung der Ordnung
in der Schule und auf dem Hofe zu wachen.
Auch das öffentliche Auftreten ist hier zu erwähnen. Auf den
beiden Oberstufen findet Deklamation von Prosa und Versen in der
Aula statt, wozu die andere Elasse, und bei den Rhetorikem auch die
höheren Studierenden eingeladen werden. Eine andere Form des öffent-
lichen Auftretens bilden die dramatischen Aufführungen. Sie
spielen bei manchen Eollegieu, namentlich den in Residenzstädten, wie
München, belegenen, eine wichtige Rolle; die ganze Schule, ja die ganze
Stadt ist dabei beteiligt. Die Stücke werden von den Vätern verfaßt,
der Inhalt ist religiös-moralisierende Eloquenz. Die Stoffe werden vor-
zugsweise der Bibel und der Heiligengeschichte entnommen, an letzterer
hat die alte Eirche sich einen poetischen Schatz bewahrt, der die
Historien des A. T. au dramatischer Verwendbarkeit und an Reinheit
vielfach übertrifft.
Zu den öffentlichen Akten gehört endlich auch die Verleihung der
Prämien. Von der ersten bis zur letzten Elasse findet jährlich ein
großer Wettbewerb um die von Gönnern der Anstalt ausgesetzten Preise
statt, zuerst mit lateinischen Exerzitien, in der Rhetorik mit lateinischer
und griechischer Prosa und Poesie, die an vier Tagen über ein ge-
gebenes Thema geschrieben wird. Nachdem das Preisgericht, dem die
• •
Öffentliche Akte, Religionsunterricht, Philosophie. 419
Arbeiten mit versiegeltem Namen eingereicht sind, entschieden hat,
wobei allein der Stil (orationis forma) den Ausschlag giebt, findet
öflFentliche Preisausteilung statt: in möglichst festlichem, vom Publikum
besuchten Aktus werden die Namen der Sieger öflFentlich verkündigt;
jeder einzelne wird vom Herold ausgerufen: „Quod felix faustamque sit
rei litterariae omnibusque nostri gymnasii alumnisl Primum, secundum
praemium solutae orationis latinae, ffraecop., carminis latini, graeci,
meritus et consecutus est iW* Dann übergiebt er den Preis mit
einem passenden Vers, der dann gleich von den Sängern wiederholt
werden mag.
Das Aufsteigen von einer Stufe zur andern (promotio) findet nach
Bestehen einer Prüfung st-att; hierfür werden schriftliche Klausur-
arbeiten gemacht, lateinische Prosa und Poesie, und vielleicht auch ein
griechisches Skriptum, wofür das Argument zu Beginn diktiert wird;
sodann mündliche Prüfung aus der Grammatik und aus dem gelesenen
Schriftsteller. Die Prüfungskommission besteht aus dem Präfekten und
zwei Mitgliedern, die wenn möglich nicht Lehrer sind.
Auffallen könnte es, daß dem Religionsunterricht so wenig ein-
geräumt ist. „Die Christenlehre (doctrina Christiana) soll besonders in
den drei unteren Klassen, wenn nötig auch in den andern, am Freitag
oder Sonnabend auswendig gelernt und aufgesagt werden. Ebenso soll
dann eine halbe Stunde lang eine pia cohortatio oder eine Erklärung
der liehre stattfinden." Das ist alles. Doch wurde der oberdeutschen
Provinz auf ihr Ersuchen gestattet, nach ihrer Gewohnheit dem Kate-
chismus am Freitagvormittag eine ganze Stunde, und am Samstag-
nachmittag der Erklärung des Evangeliums, griechisch und lateinisch,
einige Zeit zu widmen (Pachtlee, I, 312). Die Sache hängt ofi*enbar
damit zusammen, daß das Hauptgewicht auf die Religions Übung ge-
legt wird; die Schüler sollen täglich die Messe, sonntäglich die Predigt
besuchen, und monatlich beichten, worin sie kontrolliert werden. Nicht
minder wird auf fleißiges Abhalten der Gebete gedrungen. Wichtig
für die religiöse Einwirkung auf die Gemüter sind auch die religiösen
Schülervereine, die Kongregationen.
Auf den grammatisch-humanistischen Kursus der sttidia inferiora
folgt nun ein dreijähriger Kursus in der Philosophie mit täglich
zwei Stunden, einer vormittags und einer nachmittags. Im ersten Jahre
bildet die Logik, im zweiten die Physik, im dritten Metaphysik
und Ethik den Hauptgegenstand. Neben der Physik wird im zweiten
Jahre die Mathematik (täglich dreiviertel Stunden), mit Astronomie,
Geographie und Meteorologie, im dritten außer der Metaphysik die
Psychologie und Physiologie vorgetragen. Der Unterricht in der Philo-
27*
420 II, 7, Die Neubegründung des röm.'kaihoL Gelehrtenschulwesens.
Sophie ist notwendig, „weil die freien Künste und Naturwissenschaften
den Geist zur Theologie vorbereiten und zu ihrer vollkommenen Er-
fassung und Anwendung dienen, auch an sich zu demselben Ziel helfen^.
Zu Grunde zu legen sind dabei die Schriften des Aristoteles: ,jaL Dingen
von irgend welchem Gewicht soll der Lehrer vom Aristoteles nicht ab-
weichen, es sei denn in Punkten, wo er der allgemein angenommenen
Lehre der Universitäten entgegen ist, oder der orthodoxen Lehre wider-
streitet'^ Hier ist die Aufgabe, den Philosophen und seine Argumente
bündig zu widerlegen. Ebenso soll er vor den ketzerischen Auslegern,
wie AverroPs, Alexander, seine Schüler behüten, „was sie etwa Gutes
haben, ohne Lob bringen und wenn möglich zeigen, daB sie es anders-
woher haben; dagegen ihre Irrtümer ans Licht stellen und ihr An-
sehen dabei herabsetzen. Hingegen soll er vom h. Thomas jederzeit
ehrenvoll reden, ihm wo es sich gebührt, gern folgen und wo er ihn
nicht billigt, mit dem Ausdruck der Hochachtung und des Bedauerns
von ihm abweichen".
Was die Behandlung des Textes anlangt, so wird sie bald ein-
gehender, bald mehr kursorisch sein, so daß nur einige Hauptstellen
ausgewählt werden, um an ihnen die einschlägigen Fragen zu behandeln.
„Hauptsächlich lasse er sich angelegen sein, den Text gut zu erklären;
er verwende darauf nicht weniger Mühe als auf die Fragen selbst, und
überzeuge die Hörer, daß ohne eifriges Textstudium ihre Philosophie
sehr kümmerlich und dürftig bleiben werde. So oft er auf bekannte
und bei Disputationen oft gebrauchte Stellen stößt, muß er sie genau
erörtern, indem er die wichtigsten Erklärungen unter einander ver-
gleicht und die Hörer dahin führt, aus dem Zusammenhang, oder aus
der Bedeutung des griechischen Ausdrucks, oder aus der Beachtung
anderer Stellen, oder aus der Autorität der besten Erklärer oder end-
lich aus Gründen der Sache zu entscheiden, welche Auffassung die
beste sei. Dann mag er allerlei Bedenken und Meinungen kurz und
mit Auswahl erörtern und auf Fragen, die die Sache selbst betreffen,
eingehen.
Was die Form des Vortrags betrifft, so wird als wünschenswert
bezeichnet, daß der Lehrer nicht diktiere, sondern so spreche, daß die
Zuhörer das, was zu schreiben ist, mitschreiben können. Auf keinen
Fall soll er Wort für Wort, interposita mora, in die Feder diktieren,
sondern den ganzen Satz sagen und wenn nötig wiederholen; auch soll
er nicht erst die ganze Materie diktieren und dann erklären, sondern
zwischen Diktat und Erklärung wechseln. Die Forderungen des Ent-
wurfs von 1586, die das Diktieren ganz verwerfen, scheinen demnach
nicht ganz durchführbar gewesen zu sein. Die Auslassung über den
Der philosophische Unterricht, 421
Kathedervortrag in jenem Entwurf verdient übrigens auch heute noch
Beachtung. „Der lebendige Vortrag (Viva vox) erregt, bringt zu
kräftigem Ausdruck, prägt ein, belebt, hebt die Aufmerksamkeit, macht
deutlich: alles das fehlt dem toten Diktieren. Und es hilft nichts, wenn
man hinterher eine Erläuterung folgen läßt, dann ist beides verloren:
so lange nämlich diktiert wird, sind die Hörer auf das Schreiben mehr
als auf das Verstehen erpicht; meist ist der Anfang vergessen, ehe der
Satz zu Ende gebracht ist; und folgt dann die Erläuterung, so gehen
sie, weil sie ermüdet sind, oder weil sie denken, sie hätten die Weis-
heit auf dem Papier, fort oder gähnen oder sehen das Geschriebene
durch, ob nichts fehlt. Ebenso meint der Lehrer seine Sache gethan
zu haben, wenn das Diktieren fertig ist; die Erläuterung wird schnell
abgethan, sie kommt ihm mühevoll vor, denn sie fordert Gedächtnis,
Präsenz des Wissens, Leichtigkeit und Fülle des Ausdrucks; daher sie
denn allmählich ganz verschwindet, wie es auf einigen Universitäten
schon der Fall ist." Freilich, wird hinzugefügt, der freie Vortrag hat
einen Übelstand: daß die Schüler mit der Feder nicht immer folgen
können und Irrtümer und Unsinn nachschreiben (scribunt incomposite,
inepte et aliquando cum erroribus). Aber es wird eben Sache der
Lehrer sein, sich zu üben, „bis sie eine Vortragsweise erlangen, daß
die meisten das Notwendige kurz anmerken können; denn wegen ein
paar schwerfalliger Leute soll man nicht das ganze Kolleg schädigen"
{Pachtlee, R. St. II, 81).
Nicht ohne Interesse sind auch die Vorschriften der Studienord-
nung über die Aneignung und Einübung des Stoffs durch die Hörer.
Nach Schluß der Vorlesung sollen sie in Gruppen von etwa zehn eine
halbe Stunde lang das Gehörte unter sich durchgehen, indem jeder
Gruppe einer der Mitschüler, wenn möglich einer von „den Unsem",
vorsteht. Auch der Professor soll mindestens noch eine Viertelstunde
bleiben, um auf etwaige Fragen der Hörer zu antworten oder auch
Fragen an sie zu stellen. Für die Ordensscholastiker wird täglich eine
Stunde zur häuslichen Repetition und Disputation angesetzt: einer oder
zwei sollen die Lektion in etwa einer Viertelstunde aus dem Kopfe
wiederholen ; daran schließt sich die Disputation, indem einer oder zwei
als Opponenten argumentieren und ebenso viele respondieren, unter
Leitung des Magisters. Jeden Sonnabend ist in der Schule zweistündige
Disputation und jeden Monat einmal feierlichere Disputation am Vor-
mittag und am Nachmittag, wobei wenigstens drei Opponenten auf-
treten und wozu man auch andere Gelehrte und Religiösen einladen
mag. Die Disputation findet in streng schulmäßiger Form statt: der
Opponent erhebt gegen die Thesen seine Einwendungen in Form von
422 //, 7. Die Xeubegründufig des röm,-kathol, Gdehrtenschulwesen^.
syllogißtisch gefaßten Argumenten. Dann wiederholt der Respondent
die ganze Argumentation, zuerst ohne etwas hinzuzufügen; dann die
einzelnen Propositionen, mit der Hinzufügung: Nepo oder Concedo
majorem, minorem, consequentiam; zuweilen mag er auch distinguieren,
dränge aber nicht leicht seine Erläuterungen oder Gründe Widerwilligen
auf. Der Präses halte sich so, daß er beiden gleichmäßig beistehe; er
spende Lob, wo etwas Gutes beigebracht wird; wird eine wichtigere
Schwierigkeit vorgebracht, so gebe er einen Wink, um den Respon-
denten zu stützen oder dem Opponenten zurecht zu helfen. Er schweige
nicht zu lange, noch rede er immer, damit die Schüler selber mit ihrem
Wissen herauskommen. Was vorgebracht wird, verbessere oder ver-
feinere er; er steigere das Gewicht der Argumente des Opponenten
oder mache andererseits aufmerksam, wenn er abschweift. Ist das
Argument gelöst oder kommt der Respondent nicht zum Ziel, so mache
er ein Ende, indem er die Sache entscheidet und erklärt.
Bemerkenswert ist noch die Einrichtung von wissenschaftlichen
Vereinen der Studierenden unter dem Namen von Akademien. Die
Ratio Studiorum giebt dafür ausführliche Regeln. Es sollen dazu alle
Mitglieder der Marianischen Kongregation und alle Religiösen, dann
aber die Schüler gehören, die sich durch Fleiß, Leistungen und Sitten
auszeichnen. Es können drei solcher Akademien sein: die erste der
Grammatiker, die zweite der Rhetoriker und Humanisten, die dritte der
Theologen und Philosophen. Mit der Leitung beauftragt der Rektor
des Kollegs einen Lehrer, im übrigen wählen die Mitglieder ihre Be-
amten. Die gemeinsamen Übungen beziehen sich auf den Umkreis der
Schuldisziplinen, sie bestehen in Repetitionen, Deklamationen, Disputa-
tionen und Vorträgen (praelectiones), die bei Gelegenheit öffentlich
stattfinden.^
Auf den philosophischen Kursus folgt endlich der theologische,
für die Scholastiker allerdings in der Regel erst nach längerer Unter-
brechung des Studiums durch die Lehrthätigkeit an der Schale , und
zwar nur für diejenigen, die den philosophischen Kursus mit gutem
Erfolg absolviert haben. Er umfaßt in vier Jahren das Studium der
heiligen Schrift, der scholastischen Theologie, wo der h. Thomas Führer
ist, der Kontroversen und der Moraltheologie, worauf hier nicht weiter
einzugehen ist.
Am Ende jedes Jahres findet, wie auf den Schulen, so auf den
Universitäten eine Prüfung über das gehörte Fach statt; nur wer die
^ Ausführliche lustruktionen für die Akademien aus dem 18. Jahrhondert
im IV. Bd. der Rat. Stud. (Mon. Genn. Paed. XVD, S. 135 ff.
Der theologische Unterricht, 423
Mittelmäßigkeit (mediocritas, ut niminim quae audivit bene intelligat
et rationem Hierum passet r edder e) erreicht, darf in den folgenden
Jahreskursus übertreten. Am Ende des theologischen Kursus findet
große Schlußprüfung statt und niemand soll zur Profession der Tier
Gelübde zugelassen werden, „der nicht die wissenschaftliche Ausbildung
hat, die zum tüchtigen Vortrag der Philosophie und Theologie erforder-
lich ist, es sei denn, daß er eine ganz hervorragende Gabe zur Predigt
oder zur Regierung besitzt, und dies nach dem Urteil des Generals",
oder daß er in den klassischen oder orientalischen Sprachen sich durch
besondere Leistungen auszeichnet (Dekret der Generalkongreg, von
1615/16, bei Pachtlek, I, 87).
Lektionspläne einzelner Anstalten mitzuteilen scheint nicht ei-
forderlich, sie sind überall nichts anderes als Ausführungen der all-
gemein verbindlichen Vorschriften der Rat. St., die für Individualisierung
überaus geringen Spielraum läßt. Daß Einheit in der Lehre und in
der IJnterrichtsform herrschen müsse, darüber ist allgemeines Einver-
ständnis im Orden.
Dagegen sei eine Bemerkung über den Wert dieses ganzen Unter-
richtssjstems gestattet. Daß die Ratio studiorum mit ungemeiner
Sorgfalt und großem Verstand ausgearbeitet ist, darüber wird niemand
in Zweifel sein. Auch darüber nicht, daß der Studienplan den For-
derungen der Zeit im ganzen wohl angepaßt ist; alles, was im 16. Jahr-
hundert in der wissenschaftlichen Welt Geltung hatte, ist darin be-
rücksichtigt. Ich zweifle auch nicht daran, daß der Orden durch sein
Schulwesen die Ausbreitung intellektueller Kultur und besonders die
Kenntnis der klassischen Sprachen in den katholischen Ländern wirk-
sam gefordert hat. Die Jesuiten waren damals gewiß die gelehrtesten
und eifrigsten Lehrer, die in den katholischen Ländern zu haben waren.
Und daß sie nicht ungeschickte Lehrer waren, dafür spricht ihr Erfolg.
Einer Gesellschaft, die auf diesem Gebiet nichts leistete, hätten die
katholischen Völker in einem Zeitalter, das den Wert der gelehrten
Bildung im Kampf ums Dasein so wohl zu schätzen wußte, wie das
16. und 17. Jahrhundert, ihr Schulwesen sicherlich nicht anvertraut.
Im besonderen wird von den Jesuitenschulen berichtet, daß die Knaben
es leicht und schnell zur Fertigkeit in der lateinischen Sprache ge-
bracht hätten. Daß dabei die Klassizität des Lateins oft ein wenig
Schaden litt, wie ihnen nicht selten vorgeworfen wird, dürfte ohne
weiteres zuzugeben sein: Latein war für den internationalen Orden die
lebende Verkehrssprache; dazu kam, daß die scholastische Theologie
und Philosophie, die er lehrte, sich überall gegen die Sprache Ciceros
sträubt. Und vermutlich ist mit der wachsenden Entfernung vom Zeit-
424 II, 7. Die Neuhegründung des röm,-kathol. Gelehrtenschultoesens.
alter des Hamanismus die Sorglosigkeit im Ausdruck größer geworden«
Baüeb teilt aus dem Diarium des Münchener Kollegs ergötzliche Dinge
mit. Auch das wird nicht zu leugnen sein^ daß das Griechische hinter
dem Lateinischen sehr weit und mit der Entfernung Tom 16. Jahr-
hundert immer weiter zurückblieb. Das war auch in den protestan-
tischen Schulen nicht anders. Der größte Übelstand war wohl der
bestandige Wechsel des Lehrpersonals; er war in allen Stellen empfind-
lich ^ am empfindlichsten wohl in den oberen Klassen und in der
Leitung. Baüeb führt an, daß am Münchener Kolleg, also dem
wichtigsten des Landes, in den Jahren 1595 — 1772 von mehr als
70 Studienpräfekten, deren Stellung der unseres Direktors einigermaßen
entspricht, einer 1972» ^^^^^ ^ '^j ^^^^^ ^> ^^®^ ^ — "^ Jahre das Amt ver-
walteten, alle übrigen waren nur Passanten. Ganz dasselbe wird von
den Lehrern gelten; sie waren und betrachteten sich in der Schule nur
als Passanten. Vom Gymnasium in Brunn erfahren wir, daß an den
sechs Klassen in 132 Jahren 509 Lehrer thätig waren, also jeder im
Durchschnitt ly^ Jahre; in derselben Zeit finden wir 69 Präfekten,
im Durchschnitt verwaltete jeder das Amt kaum zwei Jahre (Gesch.
des Gymn. zu Brunn, 1878). Zahlreiche Klagen und Verordnungen
zeigen, daß man gegen das Übel nicht blind war, aber ebenso, daß es
nicht weichen wollte: der Schuldienst galt zugleich für beschwerlieh
und wenig ansehnlich; jeder suchte sich ihm so bald als möglich zu
entziehen. Als der Orden fest im Besitz war und nicht mehr um
seine Anerkennung zu ringen brauchte, da werden diese Verhältnisse
die in der Natur der Sache liegenden Wirkungen gehabt haben. Wo
nun noch dazu überfüllte Klassen kamen, wie sie bei großer Frequenz
gewiß nicht selten waren, mußte der Unterricht in Schlendrian und
dürftige Routine verfallen. Ein junger Lehrer, der ohne Übung in
Unterricht und Disziplin vor eine Klasse von 100 Schülern und
darüber sich gestellt sah, der konnte sich wohl kaum anders als durch
mechanisches Vorsagen und Abhören helfen.
Was die studia superiora, im besonderen den philosophischen
Unterricht angeht, durch den die allgemein-wissenschaftliche Ausbildung
vollendet wurde, so wird man ihn im allgemeinen auch angemessen
und zeitgemäß nennen müssen. Er gleicht nach Inhalt und Form im
wesentlichen dem entsprechenden Unterricht der protestantischen Fakul-
täten. Die aristotelisch-scholastische Philosophie bildet, in der Form
des Systems, die ihr Thomas von Aquino gegeben, die Substanz des
Unterrichts. Durch Repetitionen, Disputationen und Prüfungen wird
für die Aneignung des Stoffes Sorge getragen. Man wird sagen dürfen :
ein junprer Mann, der etwa mit 20 Jahren den ganzen Kursus absol-
Der Wert des jesuitiscfien ünterrichtsaystem^, 425
vierte, hatte einen un verächtlichen Fond allgemeiner Bildung. Besaß
er an positiven Kenntnissen, in Mathematik and Naturwissenschaft, in
Geographie und Geschichte, sehr viel weniger als unsere Abiturienten,
so hatte er dafür mit der philosophischen Gedankenwelt, die seit zwei
Jahrtausenden die Grundlage aller Wissenschaft nnd Bildung war, eine
Vertrautheit gewonnen, die dadurch nichts an Wert verliert, daß sie heute
von den meisten gering geschätzt wird. Auch an formeller Gewandtheit,
diese Gedanken darzulegen und zu behanpten, werden die Schüler der Je-
suiten den Schülern unserer Gynmasien vermutlich überlegen gewesen sein.
Auf der anderen Seite wird nun freilich zugegeben werden müssen,
daß das Studienwesen der Gesellschaft für die Erweiterung der Wissen-
schaft selbst und für die Entwickelung der Philosophie wenig geleistet
hat Es liegt das im Wesen der Gesellschaft, in der Grundrichtung
ihres Unterrichts; sie ist so fern davon, zu selbständigem Denken und
Forschen zu ermutigen, daß sie sich vielmehr angelegen sein läßt, den
Trieb dazu mit allen Mitteln zu unterdrücken. Wissenschaftliche und
philosophische Forschung setzt voraus, daß noch über wichtige Dinge
neue Einsichten zu erwerben seien. Die Bat. Stud. setzt voraus, daß
die Wahrheit, in philosophischen nicht minder als in theologischen
Dingen, fertig vorliegt; sie läßt sich überall angelegen sein, den Inhalt
der Lehre und die Quelle, woraus sie zu schöpfen ist, möglichst genau
zu bezeichnen. Solche, die eigene Wege zu gehen geneigt sind, schließt
sie grundsätzlich vom Lehramt aus. „Selbst in den Dingen, wo Glaube
und Frömmigkeit nicht Gefahr laufen", heißt es in den Kegeln für die
Lehrer der studio superiora, „soll niemand bei Dingen von irgend
welcher Erheblichkeit neue Quästionen oder eine Ansicht vorbringen,
für die er nicht eine tüchtige Autorität hat, ohne zuvor mit den Vor-
gesetzten zu beraten. Auch soll er nichts gegen die feststehenden
Ansichten der Doktoren oder gegen die allgemeine Auffassung der
Schulen lehren. Vielmehr sollen alle insgesamt den am meisten an-
erkannten Doktoren und den in den katholischen Akademien vorzüg-
lich rezipierten Ansichten folgen." Dies ist auch der Gesichtspunkt
bei der Auswahl der Philosophieprofessoren: sie müssen, so wird dem
Provinzial vorgeschrieben, „nicht nur den Kursus der Theologie absol-
viert, sondern auch zwei Jahre repetiert haben, damit ihr Unterricht
mehr Sicherheit darbiete und besser der Theologie diene. Sollten aber
einige zu Neuerungen geneigt oder allzu freien Geistes sein, so müssen
sie ohne Zweifel vom Lehramt entfernt werden". Und von dem Lehrer
der Theologie wird verlangt, daß er dem h. Thomas anhange : „wer ihm
abgeneigt oder auch nur weniger zugethan ist, der soll vom Lehramt
zurückgewiesen werden".
426 llj 7, DU Neubeiiründung des röm.-kathoL Qdehrtenschulwesens,
Für die Durchführung dieser Vorschriften wird durch beständige
Kontrolle gesorgt Dem Studienprafekten wird zur Pflicht gemacht,
hin und wieder, wenigstens einmal im Monat, den Vorlesungen bei-
zuwohnen, auch zuweilen die nachgeschriebenen Hefte der Hörer durch-
zusehen. „Bemerkt er selbst oder hört er von andern auf zuverlässige
Weise etwas, das zu tadeln ist, so soll er den Lehrer mit aller Gut«
und Freundlichkeit ermahnen, und bringe, wenn's Not thut, die ganze
Angelegenheit an den Rektor".^
Also, ins Lehramt auf Universitäten und Schulen sollen nur Leute
kommen, die entweder zu selbständigem Denken und eigener Er-
forschung der Wahrheit überhaupt keinen Trieb haben, oder die bereit
sind, das Denken gefangen zu nehmen unter den Gehorsam, der nicht
bloß mit dem Willen, sondern ebenso auch mit dem Verstände zu
leisten ist. Es wird nicht zweifelhaft sein, daß Anstalten, auf denen
dieser Geist herrscht, den Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis zu
fördern wenig geeignet sind. Wo Einförmigkeit und Stabilität in der
* Der Entwurf von 1586 hat unter dem Titel de opiniofium delecfu die
genauere Anweisung: ,,auch soll der Präfekt zwei oder drei Zuhörer aus den
Unsrigen, die zuverlässig und begabt sind, häufig fragen, was der Lehrer in
dieser oder jener Frage für eine Ansicht habe, doch so, daß es wie zufällig
herauskomme und so viel als möglich ohne Verletzung des Ansehens des
Lehrers". „Wird etwas Tadelnswertes wahrgenommen oder berichtet, so sollen
Rektor und Präfekt die Hefte von zwei oder drei Hörern prüfen. Auch sollen
zwei oder drei heimlich befragt werden, doch mit Vorsicht, daß keine Ver-
leumdung mit unterlaufe, was nicht ungestraft bleiben soll, zum Schrecken der
andern.** — Troti der Vorsichtsmaßregeln hatte der Orden vielfach mit dem
Übel der iiccntia opinandi zu kämpfen, namentlich im 17. Jahrhundert, wie aus
wiederholten Vorhandlungen und Beschlüssen der Generalversammlung (mitgeteilt
im ni. Bd. der Rat. Stud.J hervorgeht. Zu solchen geföhrlichen und darum ge-
mißbilligten Neuerungen gehören auch die Sätze der „laxen Moral", die dem
Orden so üble Nachrede zugezogen haben. Übrigens gewinnt man für die
Würdigung dieser Dinge vielleicht erst von hieraus den richtigen Standort: es
waren wohl nicht so sehr Lehren, die der Orden oder seine Mitglieder ins
Leben einzuführen bestrebt waren, als vielmehr gewagte Behauptungen, die es
einen Lehrer im Hörsaal aufzustellen und zu verteidigen reizte. Man wird ver-
stehen, wie eine Neigung hierzu gerade da entstehen muß, wo dem eigenen
Ermessen so überaus enge Schranken gezogen sind. Wie es unsere Primaner
reizt, in ihren lateinischen Übungen einmal gewagte Konstruktionen und Wen-
dungen zu bringen und sie dann, wenn auch aus weniger probablen Autoren
zu verteidigen, so mußte es einen Lehrer der Philosophie, der bis zum Über-
druß den Kanon feststehender Lehren eingepaukt hatte, reizen, gelegentlich
einmal den eigeuen Scharfsinn wenigstens darin zu zeigen, daß er verwegene
und an der äußersten Grenze des Zulässigen sich bewegende Sätze als mög-
liche oder noch zu verteidigende Folgerungen aus approbierten Ansichten be-
handelte.
Der Wert des jesuitischen Unferrichtssysienis. 427
Lehre (uniformitas et soliditas doctrinae) das erste Erfordernis des
wissenschaftlichen Unterrichts ist, da kann der Trieb zur Untersuchung,
der Geist der Kritik nicht aufkommen. Eruditio mag dabei noch ge-
deihen, Philosophie kann dabei nicht aufkommen.
Übrigens hätte es, um das Aufkommen selbständiger Forschung
in den Jesuitenkollegien zu verhindern, dieser Vorkehrungen wohl nicht
einmal bedurft. Dies zu bewirken wäre vielleicht die Einrichtung
allein hinreichend gewesen, daß der philosophische Unterricht ebenso
wie der voraufgehende Unterricht in den Sprachen durchweg in den
Händen junger Männer lag, die darin nicht ihre Lebensaufgabe sahen,
sondern eher ein Stuck ihres eigenen Lehrganges. Man absolvierte,
aufsteigend mit seinem Coetus, das dreijährige Philosophieprofessorat,
wie man das Amt des Klassenlehrers in den niederen Schulen absol-
vierte. Es ist bemerkenswert, daß sich in der Rat Stud., die für den
sprachlich-humanistischen Unterricht soviel als möglich magistros per*
petuos, Lehrer, die das Amt als dauernden Beruf ansehen, wenigstens
als wünschenswert bezeichnet (II, 260), kein entsprechendes Verlangen
für die Philosophieprofessoren findet. Hier scheint es also für un-
bedenklich gegolten zu haben, daß das Lehramt jährlich in neue
Hände überging; man trug einmal im Leben in dreijährigem Kursus
die Logik, die Physik, die Metaphysik und Moral vor, um sich dann
höheren oder bequemeren Aufgaben zuzuwenden, dem theologischen
Unterricht oder der Praxis in Predigt und Beichtstuhl oder in der
Mission. Für die Bildung des Professors wird es nicht unfruchtbar
gewesen sein, den philosophischen Kursus, den er früher als Schüler
durchgemacht hatte, als Lehrer zu wiederholen; docendo discimiis. Aber
für die Philosophie konnte dabei schwerlich etwas herauskommen. In
der Regel wird es dabei so zugegangen sein, daß der Lehrer seine
alten Schulhefte hervorsuchte und sie der jüngeren Generation ohne
viel eigene Zuthat vorlas. In einem Gutachten, das im Jahre 1821
der Provinzial der deutschen Provinz dem General abstattete, wird auf
die besondere Schwierigkeit des philosophischen Unterrichts hinge-
wiesen : einen durchaus empfehlenswerten Autor gebe es nicht, so bleibe
nur übrig, daß man den Lehrern überlasse, ihr eigenes Heft vorzu-
tragen (dictare), wobei denn von dem Fleiß und der Fähigkeit der
Professoren alles abhänge, ob es gut oder schlecht geschehe: „häufig
nämlich, so ist es auch in der alten Gesellschaft beobachtet worden,
folgen sie sklavisch dem Heft ihres Vorgängers oder schreiben sich den
ersten besten Autor ohne Auswahl und eigene Ansicht getreulich ab;
was auch bei den Theologieprofessoren, auch denen der Gesellschaft^
häufig beobachtet isV' (Rat. Stud. IV, M. G. P. XVI, S. 366).
428 //, 7. Die Neuhegründung des röm.-kuthoL Oelehrtenschtäwesens.
Gewiß war dies Verfahren durchaus geeignet, die gewünschte
Stabilität in den Ansichten zu erhalten. Es war aber zugleich ge-
eignet, theoretisches Interesse an philosophischen Fragen und selb-
ständiger Forschung aus den Kollegien der Väter fernzuhalten. Es ist
wahr, auch auf den protestantischen Universitäten wurde das Lehramt,
besonders in der philosophischen Fakultät nicht als dauernde Lebens-
aufgabe angesehen. Nicht nur kommt das Aufeteigen aus einer Professur
in die andere innerhalb der philosophischen Fakultät im 16. und 17. Jahr-
hundert häufig vor, sondern auch der Übergang in eine theologische,
juristische oder medizinische Professur, oder auch in ein praktisches
Amt ist etwas ganz gewöhnliches. Dennoch wird der Wechsel im
ganzen erheblich seltener gewesen sein, als in den Jesuitenkollegien,
und Männer wie Melanchthon, Stubm, Caseliüs finden wir lebens-
länglich in demselben Lehramt. Seit dem Ende des 1 7. Jahrhunderts
wird das Regel, Männer wie Wolff und Kant sehen von Anfang an
den akademischen Unterricht in den philosophischen Wissenschaften
als ihre Lebensaufgabe an. — Ebenso ist ursprünglich die Ansicht von
der Aufgabe dieses Unterrichts auf den protestantischen Universitäten
keine andere, als auf den katholischen: das Studium navarum opinionum
wurde auf ihnen grundsätzlich ebenso wenig begünstigt oder auch nur
geduldet. Aber die Zersplitterung in Landeskirchen, die Rivalität der
Universitäten, der individualistische Geist der Religion hat hier that-
sächlich die Kontrolle der Lehre von Anfang an weniger wirksam
werden lassen; seit dem Ende des 17. Jahrhunderts fallt sie völlig
dahin, an ihre Stelle tritt das Prinzip der freien Forschung. Ohne
Zweifel ist es hierdurch mitbedingt, daß in Deutschland der Fortschritt
wissenschaftlicher Erkenntnis wesentlich vom protestantischen Teil der
Bevölkerung und, soweit überhaupt von den Universitäten, von den
protestantischen ausgegangen ist.
Mit einem Wort gehe ich noch auf die jesuitische Erziehung
ein. Sie ist auf zwei Prinzipien gegründet: Disziplin und Ehre.
Es sind dieselben Prinzipien, worauf die Erziehung des modernen
Oftiziercorps gegründet ist; und die Ähnlichkeit ist nicht zufallig: der
Stifter des Ordens war selber aus der militärischen Laufbahn hervor-
gegangen und seine Absicht war, der Kirche in dem neuen Orden ein
Fähnlein auserlesener Krieger oder vielmehr Offiziere und Anführer in
dem großen Kampf mit der Welt zuzuführen. Innerhalb des Ordens
gilt unbedingter Gehorsam, wie in der Armee; der Obere ist an Gottes
Statt, sein Befehl ist Gottes Gebot, jede Leistung, jede Entsagung, jeder
Dienst ist ohne Zögern und Murren zu übernehmen. Die Wurzeln
des Gehorsams aber sind Selbstbeherrschung und Ehre. Die Kraft der
Erziehungsmittel des Ordens. 429
Selbstbeherrschung wird gewonnen durch Selbstzucht, Gewöhnung zur
Überwindung der natürlichen Triebe. Ehre aber bedeutet nicht die
äußere Ehre vor der Welt — hier gilt für den Ordensmann die
Demut, er hat kein Eigentum und kein Ansehen, er lebt ohne An-
sprüche, seine Erscheinung und sein Auftreten drückt Unterordnung
und Dienstwilligkeit gegen jedermann aus und kein Dienst ist ihm zu
gering — sondern die Ehre vor Gott und die Anerkennung der Oberen.
Als wichtigste Mittel dieser inneren Disziplinierung erscheinen die
religiösen Übungen. Durch häufige Gewissenserforschung und Beichte
wird der Einzelne an die Beobachtung seiner selbst und an die Bloß-
legung seines Innern vor dem Oberen gewöhnt; durch die geistlichen
Exerzitien, wie sie durch den h. Ignatius systematisiert sind, wird das
Gemüt gezogen, sich nicht den natürlichen Empfindungen und ihrem
schweifenden Lauf zu überlassen, sondern die geziemenden religiösen
Gefühle in geordneter Folge in sich zu erzeugen.
Wie für die Erziehung der eigenen Mitglieder, so sind auch für
die Erziehung der ihnen anvertrauten Jugend Disziplin und Ehre die
beiden herrschenden Prinzipien. Disziplin bedeutet auch hier nicht
äußere Unterwerfung durch Strafe und Furcht; in der Verwendung
dieser Mittel waren die Jesuiten zurückhaltender, als die mittelalter-
lichen und die protestantischen Schulen, die von der Rute taglich aus-
giebigsten Gebrauch machten, wogegen die Jesuitenpädagogik die körper-
liche Züchtigung als ein letztes Hilfsmittel der Disziplin in Reserve zu
halten rät und sie dann durch einen nicht dem Orden angehörigen
Angestellten (den corrector) ausführen läßt — eine bemerkenswerte
Vorsicht, den Lehrer nicht mit dem Schüler handgemein werden zu
lassen, sondern ihm den nötigen Abstand zu wahren.^
* Übrigens scheinen die ältesten deutschen Schulordnungen der Jesuiten
(bei Pachtler, I, 155 ff.; er legt sie dem P. Canisius bei und setzt sie in die
Zeit der Gründung der ersten deutschen Kollegien zu Prag, Ingolstadt und
Köln, um 1556; vergl. Mainz, I, 567, 1, 207) diese Vorsicht noch nicht zu kennen;
sie mahnen nur, daß der Lehrer bei der ca^Hyatio nwdestiam^ charitatem ao
praescriptam plagarum mensuram inne halte, welches Maß den verschiedenen
Vergehen entsprechend auf ein bis sechs Schläge festgestellt wird. Wenn mög-
lich soll nicht während der Lektion gestraft werden. In schwereren Fällen tritt,
nach Befragung des Präfekten, correetio ein, d. h. der Delinquent wird über-
gelegt (in scamni^ jubebunt ab aliis pueris teneri). Ob die Scheu vor den
Schlägen bei den verschiedenen Nationen verschieden war, größer bei den
romanischen Völkern als bei den germanischen? und ob von dort her die vor-
nehme Zurückhaltung des Lehrers in den Orden gekommen ist? G. Müller
vermutet es, wohl mit Recht. Es wäre eine kulturhistorisch und völker-
psychologisch nicht uninteressante Untersuchung, die Geschichte der Rute in
der Schule.
430 //, ". Die Neubegründung des röm.-kathoL GelehrtefiscktUwesens,
Statt mit diesen äußerlichen Mitteln suchten sie mit den Mitteln
innerer Disziplin, besonders den religiösen Mitteln der Beichte und der
Betrachtung zu wirken; dem Verhältnis zur Religion Spontaneität und
inneres Leben zu geben, dienten sodann vorzüglich die Kongregationen,
in denen die Jugend sich als Glied einer bis ins Jenseits reichenden
Genossenschaft fühlen lernt.
Daneben gilt als weltlicher Antrieb die Ehre. In Übereinstim-
mung mit den Forderungen der humanistischen Pädagogik machen die
Schulen der Gesellschaft von allen Mitteln, den Ehrtrieb und wohl
auch den Ehrgeiz der Schüler ins Spiel zu bringen, ausgedehntsten
Gebrauch: öflfentliche Aufführungen, Deklamationen, Prüfungen, Loka-
tionen, Prämien, Censuren, Certationen, diese zwischen Einzelnen und
zwischen ganzen Klassen und Schulen, alle dienen dem Zweck, zur An-
spannung der Kräfte anzutreiben; sie sind in den katholischen Ländern
bis ins 19. Jahrhundert in ausgedehntem Gebrauch geblieben. Von
protestantischen Geschichtsschreibern sind die Jesuiten oft gescholten
worden, daß sie den Ehrgeiz stachelten und alles auf die „Aemulation"
stallten. Vielleicht ist das Übermaß nicht immer vermieden worden,
und eine Ablenkung des Interesses von der Sache auf die äußerlichen
Erfolge ist freilich eine gefahrliche Nebenwirkung aller ostensiblen
Auszeichnungen. Andererseits vergesse man nicht, daß der Wetteifer
in der Schule unentbehrlich ist; freilich ist mit der guten i^otg die
böse nahe verwandt; aber ohne jene ist nie eine gute Schule gewesen.
Und so hat denn die Praxis der Schule die Mittel, die den Wetteifer
erregen, nie verschmäht, auch unsere heutigen Gymnasien thun es
nicht. Und auch das vergesse man nicht, daß die Jesuitenpädagogik
es in erster Linie mit Internaten zu thun hatte, in denen zum guten
Teil die vornehme Jugend, bis hinauf zu den Söhnen der regierenden
Häuser, ihre Erziehung empfing. Dem entsprechend war denn auch
die äußere Einrichtung und Lebenshaltung in den Kollegien vielfach
eine recht stattliche, die von der Armut der protestantischen Kloster-
schulen merklich absticht. Hierzu stimmt auch, daß die Jesuiten bei
ihren Mitgliedern auf sicheres und weltgewandtes Auftreten entschieden
Wert legten ; lauter Dinge, deren Absehen darauf gerichtet war, Leuten
von Welt diese Erziehungsanstalten zu empfehlen. Wo von diesen
Dingen gebandelt wird, da pflegt man auch von der „Klugheit" der
Väter zu reden, die jedes Mittel zum Zweck habe zu wenden und zu
brauchen gewußt. Goethe hat einmal über diese Klugheit ein feines
und billiges Wort. Auf dem Wege nach Italien, so berichtet er in
der italienischen Reise, besuchte er in Regensburg die gerade statt-
findende Aufführung im Jesuitenkolleg. Er fand sie nicht übel, sie
Das katholische und das protestantische Erzieliungsprinzip, 431
machten es nicht schlimmer als eine angehende Liebhabertruppe und
waren recht schön, fast zu prächtig gekleidet. Er fügt hinzu: „Auch
diese öfifentliche Darstellung hat mich von der Klugheit der Jesuiten
aufs neue überzeugt Sie verschmähten nichts was irgend wirken
konnte, und wußten es mit Liebe und Aufmerksamkeit zu behandeln.
Hier ist nicht Klugheit, wie man sie sich in abstracto denkt;
es ist eine Freude an der Sache dabei, ein Mit- und Selbstgenuß,
wie er aus dem Gebrauch des Lebens entspringt Wie diese große
geistliche Gesellschaft Orgelbauer, Holzschnitzer und Vergolder unter
sich hat, so sind gewiß auch einige, die sich des Theaters mit Kenntnis
und Neigung annehmen, und wie durch gefalligen Prunk sich ihre
Kirchen auszeichnen, so bemächtigen sich die einsichtigen Männer hier
der weltlichen Sinnlichkeit durch ein anständiges Theater.'* —
Halten wir zum Schluß die Schulen der Jesuiten mit denen der
Protestanten zusammen, so tritt bei aller Gleichförmigkeit, wie sie in
den Zeitverhältnissen begründet ist, auch auf diesem Gebiet der Wesens-
unterschied der beiden Konfessionen sehr deutlich hervor. Man kann
ihn durch die Stichwörter Disziplin und Freiheit, Organisation
und Individualität bezeichnen. Auf der katholischen Seite liegt das
Schulwesen in der Hand einer einzigen, bald den Erdkreis umspannen-
den, streng zentralisierten Gesellschaft; die Lehrer sind jahrelang durch
die auf Auslöschung der Individualität gerichtete Disziplin der Ordens-
erziehung hindurchgegangen und haben die Beziehung zu Familie,
Gesellschaft, Nationalität abgelegt; sie erziehen die Jugend nach den
detaillierten Anweisungen des Ordensgesetzes durch streng geregelte
religiöse, sittliche und intellektuelle Disziplin zu gehorsamen katho-
lischen Christen. — Auf der anderen Seite haben wir größte Zer-
splitterung und Freiheit bis zur Willkür: es giebt keine allgemeine
Schulordnung, jedes Territorium, jede Stadt richtet ihr Schulwesen ein,
wie sie will und kann; es giebt keine wirksame Aufsicht, der Lehrer
ist im wesentlichen der eigenen Einsicht und dem eigenen guten Willen
überlassen. Und dasselbe gilt endlich in einigem Maße auch von dem
Schüler; statt der Internate mit Tag und Nacht gegenwärtiger Auf-
sicht haben wir Stadtschulen, die den Schüler bis auf die paar Schul-
stunden sich selber überlassen. Und auf den protestantischen Uni-
versitäten bildet sich im 16. und 17. Jahrhundert allmählich jene
akademische Freiheit aus, wodurch unsere Universitäten sich heut^ von
allen übrigen unterscheiden.
Die Geschichte hat nicht zu Gunsten der Disziplin, sondern der
Freiheit entschieden. So groß die nächsten Erfolge der Gesellschaft
Jesu waren, so ist darüber doch kein Zweifel, daß die Führung in der
482 //, S, Scldußhetrachtung.
geistigen Welt des deutschen Volkes seit der Trennung immer ent-
schiedener an die protestantische Hälfte gekommen ist. Und auch
unter den katholischen Völkern haben nicht die bestdisziplinierten,
nicht Spanien und Italien die erste Stelle behalten , das französische
Volk hat sie ihnen abgewonnen , das Volk, das am wenigsten unter
die Zucht des römisch-jesuitischen Systems sich beugte, das am meisten
dem Einflüsse der protestantischen Nachbarvölker, des englischen und
deutschen, sich öfinete. Eine mit größten Buchstaben geschriebene
Lehre der Geschichte: der Freiheit zu vertrauen. Sie sollte auch
für die staatliche Schulverwaltung unserer Tage nicht umsonst ge-
schrieben sein.
Der Jesuitenorden ist nicht der einzige geblieben, der innerhalb
der katholischen Kirche des gelehrten Unterrichts sich annahm; aber
so sehr ist er nicht nur durch die Ausdehnung seiner Wirksamkeit,
sondern auch durch bestimmenden Einfluß auf Inhalt und Form des
Unterrichts allen übrigen überlegen, daß es für die hier verfolgten Zwecke
ausreicht, an die Thätigkeit der letzteren mit einem Wort zu erinnern.
In den österreichischen und bayerischen Ländern war es vor-
zugsweise der Benediktinerorden, der getreu seiner alten Tradition
die Pflege gelehrter Studien im 16. und 17. Jahrhundert lebhafter
wieder aufnahm. Sogar die Begründung einer Universität wurde unter-
nommen. Im Jahre 1617 begannen sechs Benediktiner aus Ottenbeuren,
nachdem Verhandlungen mit den Jesuiten sich zerschlagen hatten, zu
Salzburg im Kloster St. Peter humanistisch- philosophischen Unter-
richt zu erteilen; 1623 erhielt die Anstalt durch päpstliche BuUe die
Universitatsprivilegien (Progr. des Salzb. Gymn. 1851). — Im Nord-
westen Deutschlands, besonders im Westfälischen, sind eine ganze
Reihe noch bestehender Gymnasien durch die Franziskaner begründet
worden, meist jedoch erst nach dem westfälischen Frieden. Im Nord-
osten, Böhmen, Schlesien, Polen, war besonders ein neuer Orden
thätig, die von Gregor XV. im Jahre 1621 bestätigten Piaristen,
welche im 18. Jahrhundert den Jesuiten sehr erfolgreich Konkurrenz
machten.
Achtes Kapitel.
Schlußbetrachtimg.
Wir stehen am Ende des Jahrhunderts der Renaissance und der
Reformation und blicken rückwärts. Im gelehrten Unterrichtswesen
Schlußbetrachiung. 433
hat sich eine tiefgreifende Wandlung vollzogen ; im ganzen ist erreicht,
was man am Anfang als Ziel ins Auge gefaßt hatte. Zwar mit seinen
innersten Tendenzen ist der Renaissance -Humanismus nicht durch-
gedrungen, der Sieg, der schon erreicht schien, wurde ihm durch die
mit so elementarer Gewalt hervorbrechende religiös-kirchliche Bewegung
entrissen. Aber der Schul- und Universitätsunterricht hat im ganzen
doch eine Gestalt empfangen, die in ihrer Anlage von dem Ideal, das
dem Erasmus oder dem jugendlichen Melanchthon vorschwebte, sich
nicht weit entfernt^ in der Durchführung freilich hinter ihm erheblich
zurückbleibt. Die Schulen, protestantische und katholische, redeten und
lehrten am Ende des Jahrhunderts nicht nur das reine Latein, sondern
gaben dazu auch eine elementare Kenntnis des Griechischen, die Schrift-
steller des Altertums wurden fleißig gelesen, citiert und imitiert; die
Universitäten trieben das Studium einer gereinigten Philosophie und
einer mehr schriftmäßigen Theologie, nicht bloß die protestantischen,
sondern in einigem Maße auch die katholischen. Nicht minder hatte
in Sachen der Kunst und des Geschmacks die Renaissance über die
„gotische Barbarei" einen vollständigen Sieg errungen.
Die Geschichtsbetrachtung der siegreichen Lebensform, wie sie
durch Humanismus und Aufklärung bis zum Liberalismus der Gegen-
wart sich fortgepflanzt hat, pflegt diese Wandlung als einen großen und
allgemeinen Fortschritt zu besserer und höherer Lebensgestaltung zu
preisen. Ich bin weit davon entfernt, die Berechtigung dieser Be-
trachtung überhaupt zu leugnen; es ist in der That nicht zweifelhaft,
daß zu denjenigen Leistungen, worauf unsere moderne Kultur stolz ist, in
diesem Zeitalter die Kräfte und Mittel vorbereitet sind. Die großartige
Entwickelung der wissenschaftlichen Forschung beginnt mit der im
16. Jahrhundert geschehenen Wiederanknüpfung an die wissenschaft-
liche Forschung des Altertums. Mit der Aneignung der Resultate der
griechischen Wissenschaft hatte das Mittelalter zwar einen sehr acht-
baren Anfang gemacht; aber erst der Humanismus, indem er die
Litteratur des Altertums zum Gegenstand philologisch -historischer
Untersuchungen, freilich zunächst in der Absicht treuerer und tieferer
Aneignung, ja vielfach selbst sklavischer Nachahmung, zu machen be-
gann, gewann ihr gegenüber eine selbständige Stellung. Dem Mittel-
alter hatte mit der historischen Forschung und Auffassung die Fähig-
keit gefehlt, das Altertum sich objektiv gegenüber zu stellen und damit
von ihm sich frei zu machen. Der Humanismus wurde durch die
philologische Beschäftigung, welche den Text als Objekt faßt, zur
kritischen Beurteilung und damit zur Selbständigkeit geführt. Das tritt
vielleicht in der Entwickelung der mathematischen, astronomischen und
Pftulsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 28
434 II, 8, SchlußhetraclUwig.
physikalischen Forschung am frühesten und deutlichsten hervor. Auch
sie begann mit der humanistisch-philologischen Beschäftigung mit den
Alten, aber sie wurde bald frei und selbständig und schon im 16. Jahr-
hundert, mit CoPERNicus und Galilei, fing sie an eigene Wege zu
gehen, die Wege, die über die Griechen so weit hinausgeführt haben.
Es ist aber nicht minder gewiß, daß erst durch die bestimmte, chrono-
logisch gesicherte Geschichte der Vergangenheit, die auf den philo-
logischen Forschungen beruht, womit der Humanismus begann, jenes
scharfe und klare Welt- und Selbstbewußtsein möglich geworden ist,
wodurch das Leben der modernen Menschheit von dem unhistorischen,
dämmerigen Leben des Mittelalters sich so eigentümlich unterscheidet
Also das scheint mir nicht im mindesten zweifelhaft, daß zu jenen
großen und bedeutsamen Fortschritten der Wissenschaften, wodurch die
Gestalt der gesamten modernen Kultur in so hohem Maße bestimmt
worden ist, der Humanismus die Bahn gebrochen hat
Wenn man jedoch eine wertschätzende Beurteilung des historischen
Gangs der Dinge überhaupt für zulässig erachtet und also die au-
gedeuteten Fortschritte als günstige Wirkung der großen Umgestaltung
betrachtet, dann darf man nicht übersehen, daß die Sache auch eine
Kehrseite hat, daß dem Licht sein Schatten nicht fehlt
Zwischen der mittelalterlichen und der modernen Kultur besteht
ein tiefgehender Unterschied, es ist der, daß jene war, was diese nicht
ist: volkstümlich. Das Wort zwar hatte das Mittelalter nicht es ist
erst am Anfang des 19. Jahrhunderts durch Jahn aufgebracht worden,
als der Mangel der Sache zum Bewußtsein kam; aber seine Kultur
hatte die Gestaltung, welche durch das Wort bezeichnet wird: das ganze
Volk war ihr Träger; Trager der modernen Kultur dagegen sind die
Gelehrten, d. h. die Schicht der Bevölkerung, die eine gelehrte Schul-
bildung empfangen hat Im Mittelalter hatten alle eine Sprache, eine
Dichtung, einen Glauben, eine Kirche, eine Kunst; seit dem 15. Jahr-
hundert ist eine innere Spaltung des Volkskörpers in Gelehrt« und ün-
gelehrte, oder wie man gegenwärtig sagt, in Gebildete und Ungebildete,
eini^etreten, die neben einander, aber nicht mit einander und auch
nicht dasselbe Leben leben. Es mag dahingestellt sein, ob die Renais-
sance die letzte Ursache dieser Veränderung ist, zweifellos scheint mir,
daß sie ihre nächste Ursache, oder wenn man lieber will, ihre erste
Erscheinungsform ist.
In der Entwickelung der Sprache spiegelt sich die innere Ent-
wickeln g eines Volkes. Seit dem Ausgang des Mittelalters ist die Ein-
heit der Sprache unserem Volksleben abhanden gekommen; die Gelehrten
reden seitdem eine andere Sprache als die an der Bildung nicht
Einfluß des Humanismus auf deutsche Sprache und LitUratur, 435
teilnehmende Masse der Bevölkerung, nämlich lateinisch. Zwar auch
im Mittelalter war die Sprache der Gelehrsamkeit und zum Teil auch
des öffentlichen Lebens eine fremde. Aber das mittelalterliche Latein
war nicht diß Sprache eines fremden Volkes, es war auf dem Boden
des Eigenlebens dieser Zeit erwachsen, es veränderte nicht den Sinn
und die Denkart dessen, der es gebrauchte; es war nicht Gegenstand
des Hochmuts und der Aufizeigung, sondern ein notwendiges Werkzeug
fdr den gelehrten und internationalen Verkehr. Sein Besitz entfremdete
nicht dem Volksleben, die Kleriker, die es verstanden und brauchten,
blieben auf dem Boden der Welt- und Lebensanschauung des ganzen
Volkes. — Anders das humanistische Latein; es ist eine wirklich fremde
Sprache, ihre Fremdheit wird empfunden und gewollt. Die Humanisten
sonderten sich als vornehmere Sprachgenossenschaft von der Masse aus;
mit Verachtung lehnten sie es ab, in der Volkssprache, der Vulgär-
sprache, etwas anderes zu sagen, als das Gemeine, was auf die Alltags-
bedürfhisse sich bezieht; für alles Geistigere, Tiefere, Edlere mochten
sie allein die Sprache der Alten brauchen. Büsghiüs warf einem alt-
modischen Rostocker Magister in einem Schmähgedicht als das AUer-
gravierendste vor, einmal, daß er einen falschen Vokativ (Buschie) ge-
bildet, sodann aber, daß er den Terenz „in der schmutzigen Sprache
der Barbaren'^ seinen Studenten erklärt habe: ohne Zweifel in den
Augen fast aller Humanisten ein vernichtender Vorwurf! In hunderten
von Reden und offiziellen Anordnungen ist seitdem diese Anschauung,
daß es schimpflich sei, in der Sprache des Pöbels von geistigen Dingen
zu reden, ausgesprochen, mit tausend Schlägen den Gelehrten in ihren
Knabenjahren eingeprägt worden.
Die Folge war, daß die einheimische Sprache, wie ein nicht ge-
brauchtes Organ, nicht nur nicht weiter gebildet wurde, sondern schwand
und verarmte. Am Ende des 16. Jahrhunderts konnte niemand mehr,
wenn er einmal über nicht ganz alltägliche Dinge in deutscher Sprache
zu reden genötigt war, ohne Anlehen beim Latein zu machen, sich aus-
drücken. Mochte auch zur Einsetzung einiger lateinischer lumina die
Neigung mitwirken, zu zeigen, daß man nicht zum Pöbel gehöre, so
war es doch gewiß oft auch die wirkliche Verlegenheit um einen
passenden deutschen, und die Nähe des lateinischen Ausdrucks, die zu
dessen Verwendung führte. Man kann daran zweifeln, ob es für den
durchschnittlichen Menschen möglich ist, in zwei so verschiedenen
Sprachen, als Deutsch und antikes Latein sind, zu denken und zu
reden. — Die Verachtung und Verwilderung, in die schon im Laufe
des 16. Jahrhunderts die deutsche Sprache, infolge des lateinischen
Schulbetriebs, gefallen war, hat es dann möglich gemacht, daß im Laufe
28*
436 II, 8, Schlußbeirachtung.
des 1 7. Jahrhunderts die französische Sprache die ganze vornehme Ge-
sellschaft eroberte. Es konnte eine Zeitlang scheinen, als sei die deutsche
Sprache als Kultursprache definitiv ausgestorben. Als sie endlich für
den litterarischen Gebrauch wieder zubereitet zu werden begann, da
war die Beziehung zu der lebendigen, gesprochenen Sprache fast ver-
schüttet; zum Glück hatte Luthers Bibelübersetzung ein gut Teil der
mittelalterlichen Volkssprache auf bessere Zeiten gerettet.
So ist es geschehen, daß in Deutschland langer als ein Jahrhundert
die höchsten Angelegenheiten des Volks beinahe gar nicht in seiner
eigenen Sprache behandelt worden sind, womit denn gegeben ist, daß
ebenso lange das Volk von der Teilnahme an diesen Dingen aus-
geschlossen war: sie wurden zwischen Gelehrten und gleichsam bei
verschlossenen Thüren verhandelt Die Folge war auf der einen Seite
die Verarmung des Lebens der Massen, auf der andern die Verkümme-
rung des geistigen Lebens selbst, tiefe und große Gedanken und Em-
pfindungen gedeihen nicht in der Stubenluft der Gelehrsamkeit Die
gesamte Litteratur der beiden folgenden Jahrhunderte hat diesen
Charakter. Die wissenschaftliche Litteratur hat etwas Eünmierliches
und Künstliches; viel kleinliche und giftige Kontroverse, aber nichts
von großen ins Leben greifenden Kämpfen; es ist die Stickluft ein-
gesperrter Zunftgelehrsamkeit, die uns daraus entgegenweht Aber
ebenso steht es auch mit der schönen Litteratur; sie hat den Charakter
des Künstlichen und Gemachten, wie alles, was nicht im Leben des
Volks selbst seine Wurzeln hat Konventionelle Phrasen, nach dem
Schema antiker Metrik oder Rhetorik angeordnet, das ist die Dichtung
und Beredsamkeit der Gebildeten, wie man sie auf den Schulen und
Universitäten bei Professoren der Poesie und Eloquenz erlernte. Mit
der natürlichen Ausdrucksweise ging die natürliche Empfindung selbst
verloren; die gemachte, gedunsene Empfindung sucht mit übertriebenen
Ausdrücken sich selber den Glauben an ihre eigene Wirklichkeit vor-
zumachen. Der Schwulst und die Phrasenhaftigkeit, die uns die deutschen
Dichter und Redner des 17. Jahrhunderts so lächerlich und unerträg-
lich macht, sind nichts als die ins Deutsche übersetzte metrische und
unmetrische Eloquenz des Humanismus; in der beständigen Beschäftigung
mit Phrasen und Tropen hat das Ohr das Gehör für Naturlaute voll-
ständig eingebüßt; das Einfache und Wahre klingt ihm dürftig und
schal, gekünstelte und geschwollene Phrasen dagegen machen den Ein-
druck des Vornehmen und Erhabenen. Die Perrücke, in der die 2ieit
endlich die ihr gemäße Form des äußeren Menschen entdeckte, nämlich
für den vornehmen und etwas vorstellenden Menschen, ist das trefiendste
Symbol für die Verkünstelung und Unnatur des inneren Menschen.
Einfluß des Humanismus auf deutsche Sprache und Ldtteratur, 437
Auf der andern Seite steht das Volk, die Massen; sie sind ver-
armt, verroht, verwildert Der „Grobianismus" tritt seit der Mitte des
16. Jahrhunderts im Volksleben und in der Volkslitteratur die Herr-
schaft an; er hängt zusammen mit derselben Verrohung des Gefühls
und des Denkens, die in dem fratzenhaften Teufelsglauben und dem
grauenvollen Hexenunfug zur Erscheinung kommt. Das Volkslied ver-
stummte. Als im Zeitalter der Aufklärung die Gebildeten dem Volk
wieder Beachtung zuzuwenden begannen, da fanden sie es stumpfsinnig,
trag, voll von Unwissenheit und Aberglauben, voll von Mißtrauen und
Haß gegen die oberen Klassen. Kein Wunder! Zwei Jahrhunderte
lang hatten diese Massen ohne Anteil am geistigen Leben in dumpfer
Absperrung dahingelebt, niemand sprach zu ihnen, als der Schulmeister,
der ihnen den unverstandenen Katechismus einbläute, und der Pastor,
der ihnen die unverstandliche Dogmatik vorpredigte und wo sich
eigenes religiöses Leben regte, es als Konventikelwesen verfolgte.
Können wir uns verhehlen, daß die Folgen dieser Zustande auch
heute noch keineswegs ganz überwunden sind und daß unsere Litteratur,
im besonderen unsere sogenannten Klassiker, zum großen Teil unserem
Volke fremd sind und fremd bleiben werden? daß die Künste einiger-
maßen exotischen Gewächsen gleichen, die ohne Wurzeln im heimischen
Boden in Treibhäusern gezogen werden? daß Recht und Staat gelehrte
Kunstprodukte und nicht volkstümliche Bildungen sind? ja, daß auch
Religion und kirchliches Leben einen künstlichen, halb politischen und
halb gelehrten Charakter haben? Können wir leugnen, daß das Mittel-
alter in diesem Stück glücklicher konstituiert war? Damals ruhte das
Leben des ganzen Volks auf dem Grunde der einen und allgemeinen
Welt- und Lebensanschauung; dieselben Ideale des heldenhaften und
des heiligen Lebens standen allen vor der Seele; zu allen sprach die
Kunst, indem sie den Idealen, die in jedem Gemüt lebten, Gestalt und
Wirklichkeit gab, und ebenso setzte das kirchliche Leben mit seinen
heiligen Handlungen das Leben aller in Beziehung auf dieselbe Ideen-
welt. Mit der Renaissance beginnt das große Schisma.
Statt selber diese Betrachtung weiter auszuführen, setze ich ein
paar Zeugnisse sachkundiger Männer hierher, die von verschiedenen
Standpunkten ausgehend auf diese Ansicht geführt worden sind.
Sehr bestimmt hebt W. Wackernagel in seiner deutschen Litteratur-
geschichte diesen Punkt hervor: seit dem 16. Jahrhundert habe die
deutsche Litteratur aufgehört volkstümlich zu sein, sie sei zu einer
Sache der Gelehrten geworden, die Universitäten seien an die Stelle der
Höfe und der Städte getreten. Die Schuld hieran trügen zumeist die-
jenigen, die in der neuen Bewegung zuvorderst gingen, die Gelehrten,
438 //, 8. SchlußbetrarJitung.
die Reformatoren selbst ,;Denn eigentlich ganz deutsch gesinnt und
gebildet und ganz ein Mann des Volkes war unter diesen einzig Lutheb,
alle die andern waren durch die Art ihres Wissens der Deutschheit,
dem Volke, der Sprache und der litteratur des Volkes fremd geworden.
So notwendig der Reformation die Studien des klassischen Altertums
waren, sie waren derselben gleichwohl schädlich, insofern sie zunächst
dem deutschen Volke galt, dies in seiner Gesamtheit und zumal in
seinen unteren Schichten heben und halten sollte. Die klassischen
Studien waren die Ursache, daß einem gesunden Leben aus sich selbst
eins nach dem andern seiner unentbehrlichsten Bedingnisse entzogen
ward. Die Universitäten und Schulen waren ebenso viele Pflanzstätten
nicht bloß des Glaubens und der Wissenschaft, sondern auch jener Ein-
seitigkeit und Beschränkung, zu welcher nach Anfangen voll von Größe
und Freiheit der Humanismus je mehr und mehr hinabsank, und der
blinden Geringschätzung alles dessen, was Deutschland im Gebiete der
Litteratur an eigenen Leistungen und an eigner nur noch unbenutzter
und unentwickelter Kraft besaß." So kam es, daß Dichtung und Prosa
in deutscher Sprache ausstarben. „Wie viel der schönsten Kraft, die
der Lyrik, dem Drama, der Geschichte und der lehrenden Prosa hätte
zu gute kommen können, ist der deutschen Litteratur entzogen worden.
Und doch vielleicht ist das nicht einmal zu beklagen. Denn falls diese
Lateiner sich einmal herbeiließen auch Deutsch zu schreiben, es gelang
ihnen nicht: ihnen fehlte selbst das deutsche Denken und Empfinden.'^
Es entstand endlich wieder eine deutsch redende Litteratur; aber „nicht
mehr aus dem frischen Leben, sondern aus einer Gelehrsamkeit, die dem
Leben des Volkes meist entfremdet ist, wuchs die neuhochdeutsche Litteratur
hervor. Darum hat die Epik untergehen, darum selbst in der Lyrik das
Singen dem Sagen, ja das Sagen überall einem taubstummen Lesen, dem
Schreiben und dem Drucken weichen müssen" (S. 362, 385 flF., 492 flF.).
Derselbe Wackeknagel hat in einem kleinen Aufsatz über die
Umdeutschung fremder Wörter (Kleinere Schriften, III, 252) ausgeführt,
wie im Mittelalter der deutsche Geist die Einflüsse Roms und der
romanischen Völker zwar auch aufnahm, aber sogleich das von außen
Gebotene selbständig umbildete, aus Undeutschem Deutsches machte.
So in der Poesie und Kunst, der Baukunst und Malerei; wobei denn
das geschichtliche Kostüm natürlich vollständig verloren ging und
Alexander, Cäsar oder Christus ganz wie Helden und Könige der
eigenen Zeit dargestellt wurden. „Seitdem sich aber diesem unab-
lässigen Fortleben und Fortwachsen die Renaissance mit plötzlicher
Hemmung in den Weg gestellt, von dieser in Wissenschaft und Kunst
und allem Leben entscheidenden Wendung an die ganze nachmittel-
Einfluß des Hufnanismtis auf deutsche Sprache und lÄUeratur, 439
alterliche Zeit hindurch verhält sich der deutsche Geist nicht mehr so
schöpferisch gegen das Voi^zeitliche und Fremde: an die Stelle selbst-
thätiger Aneignung ist die Nachahmung getreten, die sich des Selbst
und seiner Thätigkeit möglichst entäußert, die mit gewissenhafter Ob-
jektivität in fremde Form, fremde Anschauung, ja, sogar hier auf die
Fortentwickelung verzichtend, zurück in die eigene Vorzeit wie in ein
Fremdes sich versetzt. Die Kunst, die dichtende wie die bildende, ist
gelehrt geworden; die Gelehrsamkeit aber in ihrer Entfremdung von
der Kirche steht außerhalb des Volkes und wirkt auf dessen Lebens-
entwickelung öfter störend und verfälschend als fordernd ein." Wacker-
nagel weist dann an der Aufnahme fremder Wörter in die deutsche
Sprache nach, wie frei und selbständig das Mittelalter, wie pedantisch
und ängstlich die neuere Zeit verfahrt; ein Kapitel, welches in dem
Aufsatz über die deutsche Pedanterei (ebend. 417 fif.) nochmals berührt
wird. Das Mittelalter hat zahlreiche Wörter aus der lateinischen
Sprache aufgenommen, aber es machte sie gleich zu deutschen Wörtern,
indem es ihnen Form, Klang, Geschlecht solcher gab. Dem Pfarrer
und Küster, dem Probst oder Bischof, dem Kloster und Münster, dem
Spiegel und dem Ziegel, der Mauer und dem Körper sieht niemand
mehr ihre lateinische Herkunft an, es sind nicht mehr fremde Wörter,
höchstens darin, daß ihnen der Hintergrund etymologischen Verständ-
nisses abgeht, der ja übrigens auch für zahllose Wörter der eigenen
Sprache nicht da ist. Seit dem 16. Jahrhundert dagegen hat die
deutsche Sprache die Kraft der Aneignung verloren. Jetzt werden
Wörter fremder Sprache als fremde der Rede eingefugt: zuerst latei-
nische Wörter und Wendungen, sie herrschen in dem Jahrhundert, das
zwischen Luthers Tod und dem westfälischen Frieden liegt; dann
dringen die französischen massenhaft herein. Und bis auf diesen Tag
hat sich die deutsche Sprache dieser Eindringlinge nicht zu erwehren
vermocht, oder vielmehr: bis auf diesen Tag hält es der „gebildete"
Deutsche für vornehm, mit den Wörtern der fremden Sprache Staat
zu machen.
Ähnlich spricht sich ein anderer Germanist, Fb. Pfeiffeb, in der
Vorrede zu seiner Ausgabe der deutschen Theologie (1851) über die
große Störung, welche die Entwickelung der deutschen Sprache durch
die Renaissance erlitten hat, aus: „Es ist bekannt, mit welcher Ver-
achtung die Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts auf die Sprache
des 13. und der folgenden als Altväterdeutsch herabgeblickt haben.
Die Verständigen wissen heutzutage, was davon zu halten und wo die
Rohheit zu suchen ist. Im Gegenteil, wenn man die Sprache der erst-
genannten Jahrhunderte vergleicht mit der Einfachheit und Klarheit,
440 //, 8, SMußhetraMung,
der Lebendigkeit und selbst Grazie des Ausdrucks , womit Bruder
David, Eckhaet, Tauleb, Seuse und der Verfasser des vorliegenden
Büchleins die Sprache gehandhabt und die schwierigsten spekulativen
Fragen behandelt haben, so kann man nicht im Zweifel sein, daß
letztere auch formell unendlich höher stehen und man muß bedauern,
daß das Studium der Klassiker den Einfluß, den die mittelalterlichen
deutschen Prosaiker auf die naturgemäße Entwickelung und Weiter-
bildung der Sprache auszuüben geeignet und berufen waren, fast völlig
vernichtet und unmöglich gemacht hat"
Es giebt auch eine andere Betrachtung und ich leugne nicht, daß
die Sache sie zuläßt. Fb. Kluge führt sie in seiner sprachgeschicht-
lichen Studie: Von Luther bis Lessing (2. Aufl. 1888) aus: Erst mit
der Reformation sei das Deutsche die Sprache des Gottesdienstes und
der Erbauung geworden, erst seit der Reformation habe sich eine ein-
heitliche deutsche Schrift- und Litteratursprache gebildet, deren Grund-
lage Luthers Sprache geworden sei. Es ist so. Wenn Kluge dann
aber weiter behauptet, daß seitdem das Lateinische aus seiner fast
tausendjährigen Herrschaft verdrängt sei, so kann das nicht ohne starke
Einschränkung gelten: auf den Schulen und Universitäten, in der Wissen-
schaft und der zünftigen Litteratur behielt das Lateinische bis gegen
Ende des 17. Jahrhunderts die Alleinherrschaft. Und zwar bedeutete
das jetzt mehr als im Mittelalter: damals lernte bloß der Klerilier
Latein und zwar als Amtsspraclie; jetzt lernt auch der Herrenstand
Latein, und zwar als die Sprache des gebildeten Menschen. Daß man
erst durch das Latein ein gebildeter Mensch wird, das ist der neue
Gesichtspunkt, aus dem der Humanismus die Sache betrachtet. Und
wenn Kluge fortfährt: „Der Fluch der Barbarei, mit dem noch Luthers
Zeitgenossen die deutsche Sprache brandmarken, verstummt seit der
Mitte des 16. Jahrhunderts; waren bis dahin deutsch und barbarisch
(barbare) als Gegensatz zum Latein gleichwertige Begrifle, so tritt
fortan die stolze Benennung der deutschen ,Haupt- und Heldensprache*
auf", so wäre hierzu manches zu bemerken. Vor allem: die Zeit-
genossen Luthers, denen deutsch und barbarisch gleichbedeutend
sind, das sind eben die Humanisten; ich glaube nicht, daß im Mittel-
alter jemand die deutsche Sprache barbarisch genannt hat. Das
kam erst mit der Renaissance auf und verschwand auch keineswegs
mit der Mitte des 16. Jahrhunderts, blieb vielmehr in den Kreisen
der Bildung die herrschende Ansicht bis auf die Tage Leasings und
Goethes: bis dahin gilt alles, was nicht Latein, die Sprache der
Universitäten und Schulen, oder französisch, die Sprache der Höfe,
spricht und schreibt, für Pöbel. Und die Sache steckt uns ja noch in
Einfluß des Humanismtis auf deutsche Sprache und Liiteratur, 441
den Gliedern: wer nicht Latein oder Französisch kann, der gilt doch
auch heute noch mindestens für „ungebildet". Woher kommt denn bis
auf diesen Tag die Begierde des Deutschen nach Fremdwörtern, als
daher, daß ihr Gebrauch vornehm macht? Durch die Fremdwörter sagt
man: wenn ich reden dürfte, wie ich möchte und könnte, nämUch
lateinisch oder französisch, dann würde ich die Dinge viel besser und
feiner sagen können. Das Mittelalter spricht nicht mit Fremdwörtern,
weil es die fremden Sprachen nicht als die vornehmeren, „gebildeteren"
empfindet; der Herrenstand spricht im Mittelalter deutsch und nur
deutsch; der mittelalterliche Ritter sieht geringschätzig auf den latein-
lernenden Kleriker als scriba oder Scolaris herab. Und was die
deutsche „Haupt- und Heldensprache" anlangt, so scheint mir gerade
dies krampfhafte Großthun mit der deutschen Sprache ein sehr zu-
verlässiges Symptom für die geringe Geltung, die sie in Wirklichkeit
hatte; es ist das reizbare und heftig sich ausdrückende Selbstgefühl
dessen, der weder seiner Schätzung bei anderen, noch seines Wertes in
sich selbst sicher ist. Ob wohl ein Franzose oder Engländer des
18. Jahrhunderts seine Sprache als „Haupt- und Heldensprache" be-
zeichnet hat? Und seit Lessing und Goethe thut's der Deutsche auch
nicht mehr, es sei denn ein Untersekundaner, dem das Latein die Brust
beklemmt. Übrigens kann darüber, daß die beiden Jahrhunderte, die
auf Luther folgen, nicht ein aufsteigendes Zeitalter der deutschen
Sprache ausmachen, denn doch wohl nirgend ein Zweifel sein: wen
hätte das Deutschland von 1546 — 1746 aufzuweisen, der als Meister
der deutschen Sprache neben Luther und Lessing auch nur zu nennen
wäre? In gewisser Weise ist Luther ein Anfang einer neuen Ent-
wickelungsepoche der Sprache; in anderer kann man ihn aber mit
ebenso viel Recht das Ende der mittelalterlichen nennen: er sammelt
die ganze Kraft der mittelalterlichen Sprache nochmals zu gewaltigster
Wirkung. Dann folgt ein langes Zeitalter der Ermattung und Unkraft,
ja der Verachtung der deutschen Sprache.
So viel über den Einfluß der Renaissance auf die deutsche Sprache
und Litteratur. Was die bildenden Künste anlangt, so haben wir hier
dieselbe Wandlung: die schöpferische Kraft, die aus dem Eigenleben des
Volks Inhalt und Formen der künstlerischen Darstellung hervorbringt,
läßt nach ; mit der Bewunderung der Antike zieht die Imitation, und mit
der Imitation halten bald auch Phrasentum und Schwulst ihren Einzug.
Man höre hierüber den einen Goethe. Im Leben Winckelmanns
(1805, S. 204 ff.) heißt es: „Wir geben es zu, die Griechen haben
manche Vorteile genossen, deren die Neueren sich nicht erfreuen; doch
weniger der Schönheit ihrer mythologischen Dichtungen, ihren Spielen
442 II ". ^ •;*l^••fr^v*•-'w'^.^
r^Li 1-t/.^ &-• irzi rrlirl'srL Ei-tT Tini. nrtin demselben, dem patrio-
tirrhrü. >ier ireLn nun i-ese^ Irtr-ere mit eiiiem fferingeren Kamen
>-rlr2eTi irilL dem allzriiirinr:: Vsr -r v-FJiTgyf5hl and der Ruhmbegier
:e*i*^ rinzeiten «»rt?. v:r -irm anieren VorzüK-. Merkwürdiekeiten zu
^-^iiz^n. hatten 5:e waLr?*?hrii:l:ch den Flor ihrer Kunst in danken;
und aTich wir. s*:- sch^iL* «, ^iiid dem katholischen Beligionseifer des
13^ 14.. 15. Jahrhimder- «üe Grondnn? nnd das Wachstum der bil-
denden Künste --rhaMig geworden. >> lange die heiligen Stiftnngen
aller An ihnen ein weites Feld, wüplige and man kann hinzusetzen,
zahllose Gelegenheit £ral:»en sich zn zeisen. so lanee stiegen sie rasch
nnd freudig emp«:«r. Düstre. mCnchische Ideen scheinen dem Künstler
wenig hinderlich zu sein, denn er bearbeitet, erheitert und verschont
dieselben. Betrachte man nur unl*efangen von allen Seiten die schöne
Stufe, worauf sich alle bildenden Künste zu Ende des 15. und Anfang
des 16. Jahrhunderts l:»efanden und es ist keineswegs schwer zu denken,
daß sie auf diesem Wege nii^ch weiter hätten fortschreiten, ja sich,
wiewohl mit eigentümlichem Charakter, bis neben die Antike erheben
können: aber die emporhebende Kraft war schwächer geworden und
hatte ihnen ihr Ziel gesetzt: mächtige Beschützer fanden sich zwar noch,
aber diese konnten das Heilige nicht ersetzen. Die Künste waren Mode,
sie gefielen vielleicht, doch man bedunte ihrer nicht mehr notwendig.
Rafael bemalte Hallen und Säle, des Michel Angelos hauptsächlichste
Bildhauerarbeiten sind Grabmäler. Wir wollen nicht sagen, daß dieses
unwürdige Beschäftigungen für diese großen Meister gewesen seien, allein
es bereitete doch schon das Abnehmen der Kunst vor. In der Stille und
Freiheit der Altäre fand sie nicht mehr volle Beschäftigung und mußte
darum der Welt dienen, den Launen auf mancherlei Weise schmeicheln.
Ihre Anwendung wurde ausgedehnter, aber auch gemeiner; die mindere
Würde zog Bestreben nach größerer Fertigkeit, das Bedürfnis schnell
zu arbeiten die Manier, die Manier aber das Geistlose, das Handwerks-
mäßige nach sich. Dieses sind die Stufen, über welche die neuere
Kunst von ihrer Höhe herabstieg, und wenig anders ist es auch mit
dem Verfall der alten beschaffen gewesen."
Über die große Umgestaltung des Rechtslebens, die sich seit
dem 16. Jahrhundert unter dem Einfluß der Renaissance durchgesetzt
hat, sj)richt Stintzing in seiner Geschichte der deutschen Rechtswissen-
schaft (1, 89 ff.) in folgender Weise sich aus. „Es liegt im Wesen des
Schi'jffentums, daß als letzte Quelle des Rechts nur die persönliche
Oberzeugung des Urteilers wirkt, welche sich durch keine äußere Auto-
rität ^'cbunden fühlt. Der Begriff des zwingenden Gesetzes, dem die
persrmliche Meinung sich unbedingt unterzuordnen habe, kommt hier
Einfluß der Renaissance auf Recht und Staat, 443
zu keiner Geltung. Die Rechtsaufzeichnungen aller Art sind dem
SchüflFen nur Hilfsmittel der Erkenntnis." Die Rezeption des römischen
Rechts, welche das Erlöschen des schöpferischen Triebes, der Rechts-
bildung im SchöflFentum zugleich zur Ursache und zur Wirkung hatte,
bewirkte nicht nur, „daß neue und fremde Rechtssätze in den Ge-
richten zur Anwendung gebracht wurden, sondern auch, daß das Wesen
der Rechtsprechung selbst eine prinzipielle Umgestaltung erfuhr. Äußer-
lich manifestiert sich diese durch das Eindringen der Gelehrten in die
Gerichte; der Juristenstand bildet sich und tritt an die Stelle der
SchöflFen. Allein das innere Wesen dieses Vorgangs besteht nicht in
dem Wechsel der Personen; sondern das Absterben des SchöflFen tums
ist das Erlöschen des Prinzips autonomer Rechtsfindung. An die Stelle
des nach subjektiver Überzeugung gefundenen Rechts tritt die formale
Autorität des geschriebenen Rechts. Der gelehrte Richter unterscheidet
sich vom SchöflFen nicht bloß durch das Merkmal akademischer Bildung,
sondern dadurch, daß dieser in seinem Urteil das Dasein eines Rechts-
satzes bezeugt, den er aus eigenem Bewußtsein und eigener Erfahrung
schöpft; jener dagegen ein Recht, welches außer ihm da ist, dessen
Kenntnis er sich von außen her angeeignet hat, auf den einzelnen Fall
zur Anwendung bringt." Aufs schärfste kommt der neue Charakter
des Rechts darin zur Erscheinung, daß die juristischen Fakultäten zu-
gleich zu Spruchkollegien werden, denen die Gerichte die Akten von
Rechtshändeln zur letzten Entscheidung einsenden: die Rechtsprechung
in absentia aus Büchern und Papier tritt an die Rechtsfindung aus dem
lebendigen Rechtsbewußtsein der Volksgenossen.
In gewisser Weise gilt etwas Ähnliches doch auch von dem reli-
giös-kirchlichen Leben: es hat an Volkstümlichkeit eingebüßt. Zu-
nächst freilich stellt sich die Sache anders dar; erst durch die Refor-
mation, wird man sagen, ist die Religion Sache des Volks geworden,
während sie bisher Sache des Klerus war. Gewiß, es ist so; und es
liegt mir fem zu leugnen, daß durch die Reformation die Religion
tiefer in Gemüt und Leben der Einzelnen eingedrungen ist. In der
alten Barche war die Beteiligung der Laien am religiösen Leben mehr
passiv als aktiv; indem die Reformation den sakramentalen Charakter
des Priestertums und damit den Unterschied zwischen Laien und
Priestern aufhob und das allgemeine Priestertum lehrte, machte sie
die Religion zur eigensten Angelegenheit jedes Einzelnen, der Idee
nach, hinter der denn die Wirklichkeit auch hier erheblich zurück-
geblieben ist. Doch blieben zwei Stücke: erstens, die heilige Schrift in
jedermanns Hand, mit der Aufforderung, selber darin zu lernen und zu
forschen; sodann die Betonung der Notwendigkeit, durch persönlichen
444 //, 8. SMußhetrachtung.
Glauben das Heil anzueignen. In dem Examen ordinandorum (C. IL
XXIII) wird der Gegensatz in diesem Stück von Melanohthon so ge-
faßt: „die Päpstlichen sagen, der Priester verdiene Vergebung der
Sünden mit seinem Opfern, ihm selber und andern ; und dazu ex opere
operato, wie sie reden". Dagegen sagt die neue Kirche: „Du sollt
wissen, daß nicht des Priesters Werk einem andern die Gnade appli-
zieret, sondern ein jeder muß ihm selber durch eigenen Glauben die
Vergebung und Gnade applizieren: fide proprio fit applicatio, non
propter opus alienum^^.
Auf der andern Seite liegt nun aber die Sache doch so, daß die
Religion selbst im Mittelalter eine viel volkstümlichere Gestalt hatte,
als da, wo die Reformation durchgedrungen ist; vor allem: diese hat
ihr die Bildlichkeit genommen und dafür die Lehrhafbigkeit gegeben.
In der alten Kirche bestand der Glaube für das Volk wesentlich in
Bildern, nicht in Lehrsätzen. Wie die Kirchen im Mittelalter mit
Bildern gefüllt waren, so war auch innerlich dem Glauben die ganze
jenseitige Welt in Bildern gegeben. Die Reformation hat die Bilder aus
den Kirchen und auch aus der Vorstellung beseitigt. Die Mutter Gottes
und die Heiligen, die Gegenstände der Kunst und Dichtung, ver-
schwinden, die jenseitige Welt verliert immer mehr an Vorstellbarkeit^
zuletzt ist, im Deismus der Aufklärung, nichts als ein abstrakter Be-
griff der Vorsehung und der Unsterblichkeit der Seele übrig, die Reli-
gion ist eine Sache des Denkens und Beweisens geworden, sie ist nicht
mehr eine Sache der Anschauung und des Glaubens.
Es scheint mir nicht zweifelhaft, daß die Reformation im Sinne
dieser Entwickelung gewirkt hat. Sie hat den Glauben zum Gegen-
stand der Untersuchung und der Beweisführung gemacht; und zwar
nicht bloß auf den Universitätskathedem, hier gab es die Sache auch
schon im Mittelalter, sondern auch in den Schulen und auf den Kanzeln.
Das war eigentlich nicht Luthers Meinung, im Gegenteil, er wollte
eigentlich die Philosophie und Vernunft aus dem Glauben herausbringen;
aber die Dinge haben ihre eigene Natur und Wirkung, thatsächlich
hat die Reformation doch die Predigt von der erbaulichen Paranese
abgelenkt und ihr die Richtung auf dogmatische Lehrhaftigkeit ge-
geben. Melanchthon hat dazu hauptsächlich beigetragen; der Ver-
fasser der ersten protestantischen Dogmatik dringt auch darauf, die
neue Dogmatik von den Kanzeln zu predigen. In einer bezeichnenden
Stelle der Rhetorik (C. R. XIII, 421) heißt es: zu unserer Zeit sei die
lehrhafte Form (das gemis didascalicum dicendi, das er in die Rhetorik
eingeführt hat, s. o. S. 258), auch in der Kirche von größter Wichtig-
keit; erbauliche Reden (conciones suasoriae) genügten jetzt nicht, sondern
Einfluß der Renaissance und ReformaHon auf das religiöse Leben, 445
viel öfter sei es nötig , ^i^ logischer Form die Dogmen der Religion
vorzutragen, daß die Leute sie völlig erkennen'^ (multo saepius homines
dialecticorum more de dogmatibus religionis docendi sunt, ut ea perfecte
cognoscere possint,^
Eben zu diesem Zweck wird nun die wissenschaftliche Bildung der
Geistlichen der neuen Kirche so dringend notwendig: alle Prediger
müssen y um dies leisten zu können, die Philosophie und die Grund-
sprachen der Schrift lernen, dadurch allein werden sie in den Stand
gesetzt, die Wahrheit des neuen Bekenntnisses wissenschaftlich zu be-
weisen und kunstgerecht, dialecticorum more, darzulegen. Für den
mittelalterlichen Priester war die Wissenschaft nicht ebenso notwendig;
wenn er die Messe zu lesen und Beichte zu hören verstand, so konnte
er dem Amt vorstehen. Nicht so der Prediger; er soll vor allem lehren
und also muß er Gelehrsamkeit und Dialektik haben. Sicherlich hat
die Reformation die Geistlichen gelehrter und gebildeter gemacht, aber
eben dies hat auch die Tendenz, sie vom Volk zu trennen. Es ist nicht
zufallig und nicht ohne Folge, daß die Häupter der Reformation Uni-
versitatsprofessoren waren. Der Protestantismus hat bis auf diesen Tag
etwas Professorenhaftes: die Richtung auf gelehrte Behandlung der
Religion, sei es die dogmatisch-philosophische, wie im 17. und 18., sei
es die historisch-kritische, wie im 19. Jahrhundert, ist ihm eigen, dazu
vielfach die Scheu vor dem Volke und die Unfähigkeit zu volkstüm-
licher Wirkung. Auch das ist doch schon in Lutheb angelegt. So
sehr er selbst volkstümlicher Rede und Wirkung mächtig war, so ist
doch der Sinn für das Leben und das Bedür&is der Massen bei ihm
nicht sehr entwickelt; man denke an seinen Haß und seine Verachtung
gegen alles, was er „Schwarmgeister*^ nennt; es ist darin auch etwas
von dem Haß des zum Besserwissen berufenen Professors gegen Leute,
die keine Universitätsstudien gemacht und keinen Dr. theol. vorzuweisen
haben. Und diese Mißachtung und Verfolgung volkstümlich-religiöser
Regungen hat bis in unser Jahrhundert hinein gedauert; sie vor allem
hat immer wieder zur Sektenbildung getrieben ; das religiöse Bedürfnis
fand eigentlich nie Sättigung in dem Evangelium von der Recht-
fertigung durch den Glauben allein und seiner gelehrten Auslegung.
* Bekannt ist Luthers Vorliebe für Paulus, den Theologen unter den
Aposteln. Den Auswähler der Perikopen, besonders der Episteln, schilt er einen
sehr uugelehrten und abergläubischen Anhänger der Werke, daß er so wenig
aus den Briefen des Paulus bringe, in denen der Glaube gelehrt werde, sondern
viel mehr moralische und ermahnende Stellen {Formula missae, XII, 209, Weim.
Ausg.). Glücklicherweise ist es zu einer Reinigung der Perikopen im Sinne der
sola fides doch nicht gekommen.
446 //, S. Schlußbetrachiung,
Das Evangelium von der Nachfolge Christi hat mehr Kraft die Herzen
zu bewegen. Aber dies Evangelium hatte für den Protestantismus
einen Beigeschmack von Werkgerechtigkeit und Heterodoxie.
So konnte es geschehen, daß die große Masse in der protestan-
tischen Welt sich bald mehr oder minder gleichgültig in die Kirchen-
und Lehrordnungen des Landesherm und seiner Hoftheologen fügen
lernte und sich allmählich gewöhnte, das Christentum als eine Sache
der Obrigkeit und der Gelehrten anzusehen. Eine subjektivere Frömmig-
keit aber führte leicht eine Neigung zur Aussonderung aus der Kirche
und zur Abschließung in privaten Konventikeln mit sich. Daß die
katholische Kirche stärkere Wurzeln im Volksleben hat, sie mögen
nun sein, welcher Art sie wollen, das wird heute kaum noch jemand
leugnen.
Ich schließe hier noch eine Bemerkung über den Einfloß der
Renaissance und Reformation auf das geschichtliche Bewußtsein
des deut<schen Volkes an. Daß ein eigentlich geschichtliches Selbst-
bewußtsein erst seit dem 16. Jahrhundert sich entwickelt hat, wurde
schon bemerkt: erst indem man sich von der eigenen Vergangenheit
abhob und in bewußtem Gegensatz zum Mittelalter sich in Beziehung
zum klassischen und christlichen Altertum setzte, kam es zu einem
deutlichen Bewußtsein über die eigene geschichtliche Stellung. Aber
eben damit ist gegeben : Renaissance und Reformation haben dem euro-
päischen, vor allem dem deutschen Volke, zunächst nicht ein tieferes
Verständnis für die eigene Vergangenheit eröffnet, sondern vielmehr sie
ihm entfremdet. Das Mittelalter, so leiten beide zu glauben an, ist ein
Zeitalter der Finsternis und Barbarei, ein Glaube, der bekanntlich bis
auf die Tage der Romantik ohne Widerspruch geherrscht hat, auch
heute noch keineswegs ganz ausgestorben ist; herrscht er bei den Ge-
schicht^kundigen nicht mehr, so erhält er sich doch sehr zäh bei Philo-
logen und Theologen. Wie tief den Philologen der Glaube an die
Barbarei des Mittelalters im Blute liegt, dafür bringt beinahe jedes
Blatt dieses Buches einen Beweis; und ein Beweis war auch die Auf-
nahme, die es bei vielen unter ihnen gefunden hat Hat die Renaissance
das geschichtliche Bewußtsein der Philologen, so hat die Reformation
das der Theologen bestimmt. Bei Janssen (VII, 278) finde ich eine
Stelle aus C. A. Menzels Geschichte der Deutschen mitgeteilt-^ die das
Verhältnis, in das die Reformation unser Volk zu seiner eigenen Ver-
gangenheit gesetzt hat, sehr gut ausdrückt: „Der Haß, mit dem das
Papsttum betrachtet ward, dehnte sich nach und nach auf alles aus,
was mit der römischen Kirche verwandt oder aus deren Pflege hervor-
gegangen war. Die Geschichte erschien als Mitschuldige der antichrist-
Einfluß der Renaissance auf das geschic^itliche Selbstbewußtsein, 447
liehen Arglist, die ein Jahrtausend hindurch Lug und Trug für Wahr-
heit und Recht verkauft haben und unablässig daran gearbeitet haben
sollte, das gesamte Christenvolk, Tomehmlich aber das deutsche, immer
tiefer in die Nacht des Irrtums und der Sünde zu verstricken. Eine
solche Ansicht war nicht geeignet, geschichtlichen Sinn zu entwickeln
und die Geister zur Freiheit des Urteils zu erziehen. Die Flur, auf
welcher die Saat der Jahrhunderte geblüht hatte, verwandelte sich
durch sie in eine dürre Steppe voll Disteln und Dornen, und anstatt
das eigentliche Leben der Zeiten zum heitern Verständnis zu bringen,
anstatt die großen Gestalten der Vergangenheit dem gegenwärtigen Ge-
schlecht näher zu führen, war die Geschichtsforschung ängstlich bemüht,
Beispiele und Belege für die Behauptung zu sammeln, daß zwischen
dem 5. und dem 16. Jahrhundert eine tiefe Finsternis die Völker bedeckt
habe und nur bei einigen Zeugen der Wahrheit ein spärlicher Funke
des Lichts christlicher Erkenntnis aufbehalten worden sei."
So hat das 16. Jahrhundert dem deutschen Volke in gewissem
Sinne einen Bruch des geschichtlichen Selbstbewußtseins gebracht und
damit auch den geschichtlichen Sinn getrübt. Und hier mag denn
noch eine Bemerkung L. Bankes über humanistische Geschichtsschreiber
Platz finden. Er schreibt an seinen Bruder Heinrich aus Frankfurt a. 0.
im Jahre 1823:^ „Mich kommen jetzt häufig Zweifel an, ob diese Art
der Bildung auch nützlich, ja ob sie nur nicht verderblich sei. Näm-
lich unter den Geschichtsschreibern sind einige, die das Altertum kennen
und nachahmen und diese Bildung haben, die wir selbst ausbreiten
woUen, und andere, die es nicht kennen und nachahmen. Fragst du
mich nun, in welchen ich lieber lese, bei welchen ich die größere
Wahrheit und oft das schärfere Eindringen in das Wesen der Dinge
finde, so sind es die letzteren. Glaubst du wohl, daß mich das Chro-
nicon Bononiense in Mübatobi über Bologna im Grund viel besser
unterrichtet hat, als selbst MACcmAVELL über Florenz? Aber so ist's.
Denn das Lateinschreiben bringt eine gewisse Vornehmheit in die mensch-
liche Sprache. Zwischen den Gedanken und das Wort steDt sich noch
ein drittes, das beide auseinander hält. Das bleibt nun auch, wenn
wir unsere Muttersprache reden und gilt bei allen Schriftstellern, und
wer wäre, der so geredet, wie ihm der Schnabel gewachsen war? Du
merkst's an diesem Brief, ich merk es auch, und mit Abscheu. So
werden wir durch die Bildung unsere eigenen Gefangenen und sind
wir in diesen beinah Zauberkreis eingetreten, so können wir nicht
wieder heraus."
^ L. V. Kanke, Zur eigenen Lebensgeschichte. Heraosgefi^. von A. Dove
(1890), S. 110.
448 //, 8. SMußbetrackhing.
Nach allem: Das Zeitalter, das auf die Renaissance und Beformation
folgte, war für das deutsche Volk nicht ein Zeitalter kraftiger Erhebung,
sondern eher der Ermattung und Stagnation. Die Lebensgeister des
Volkes scheinen erschöpft. Ist das die Wirkung jener geistigen Revo-
lutionen? So stellt es die katholische Geschichtsschreibung dar, während
von der andern Seite diese Auffassung mit Entrüstung zurückgewiesen
wird. Ob mit Recht? Sicherlich, der Niedergang des deutschen Volks-
lebens hat noch andere Ursache: das Absterben des deutschen Reichs,
die Zersplitterung Deutschlands in Staatstrümmer, die zu Trägem eines
wirklichen Staatslebens und einer internationalen Politik zu schwach
waren, während ringsum die modernen Nationalstaaten sich konsoli-
dierten; ferner die furchtbare Niedertretung des Bauernstandes seit der
großen Revolution der zwanziger Jahre und die Herabdrückung der
Städte zu kümmerlichem Spießbürgertum, und als Kehrseite das Empor-
kommen des Fürsten- und Adelsregiments: alles das Dinge, die mit
Wandlungen in der politischen und wirtschaftlichen Weltlage des
deutschen Volkes zusammenhangen und die vermutlich auch ohne
Reformation und Renaissance eingetreten wären. Andererseits, scheint
mir, wird man vergebens leugnen, daß auch diese zu der Depression
mitgewirkt haben. Durch die Reformation ist das deutsche Volk in
zwei sich hassende und bekriegende Hälften gespalten worden. Man
sagt: das ist die Schuld der Jesuiten und ihrer Ränke, durch welche
die allgemeine Durchführung der Reformation, die thatsächlich fast voll-
endet war, im letzten Augenblick gehindert wurde. Aber in der ge-
schichtlichen Welt ist Schwäche die eigentliche Schuld: die Refor-
mation hatte eben seit den zwanziger Jahren die Kraft, das Volk zu
ergreifen, verloren, sie war zur Angelegenheit der Dynastien und der
Universitäts- und Hoftheologen herabgesunken. Lutheb hatte schon bei
seinen Lebzeiten die Fühlung mit dem Volke und seinem Denken und
Empfinden verloren. In der gelehrten Welt aber machte sich immer
stärker ein übles Erbe des Reformators geltend, die halsstarrige Recht-
haberei. LuTHEBs Misologie hat durch zwei Jahrhunderte unheilvoll
nachgewirkt; sein Mangel an Achtung vor der Vernunft und vor
Gründen — bei ihm der Fehler seiner Tugend: der Kraft zu glauben
und zu wollen — wurde bei kleineren Geistern zur ärgerlichsten Zank-
sucht; indem sie sein Zetern und Toben gegen jeden Widerspruch nach-
machten, glaubten sie sich als rechte Lutheraner zu erweisen. Der
Humanismus aber bot gegen die rabies theologorum keinen Schutz; er
hatte aufgehört zu sein, was er in Erasmüs gewesen war, eine selb-
ständige geistige Macht, die mit kritischer Besonnenheit der Überliefe-
rung und dem Dogma gegenüberstand. Es war zu einem formalen
Notwendigkeit der Renaissance und BeformaHon. 449
Hilfsmittel herabgesetzt, das Protestanten und Jesuiten in gleicher Weise
handhabten. Dagegen wirkte in ihm die ursprüngliche aristokratische
Abneigung gegen das ungebildete Volk noch nach: an geistigen Dingen
haben nur diejenigen Anteil, hier haben nur die auf Beachtung An-
spruch, die klassisches Latein verstehen. So half er die Reformation
dem Volksleben entfremden. Es ist doch auch bemerkenswert, daß für
die Volksschule im 16. Jahrhundert so überaus wenig geschehen ist;
ja vielfach zeigen die reformatorischen Schulordnungen eine Neigung,
die „deutschen" Schulen, deren es am Ende des 15. Jahrhunderts in
allen größeren Städten gab, als „Winkelschulen" zu Gunsten der Latein-
schulen zu unterdrücken. Daß das geistige Leben der Massen am Ende
des 16. Jahrhunderts tiefer stand als am Anfang, daß die Reformations-
bewegung im Jahre 1617 nicht einen Resonanzboden im Volk gefunden
hätte, wie 1517, scheint mir zweifellos.^
Ich wiederhole: es liegt mir völlig fern, der Geschichte gleich-
sam nachträglich das Konzept korrigieren zu wollen. Man wird durch-
aus sagen müssen: konnte die Kirche gewisser Dinge nicht Herr werden,
konnte sie sich nicht von innen heraus reformieren, so war es besser,
daß sie auf jede Gefahr hin gebrochen wurde; es gilt hier das Wort:
was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne (oder
^ Ich mache hier noch auf die Betrachtung aufinerksam, worin G. Körting
in seinem Werke über die Anfänge der Renaissancelitteratur in Italien (1884,
S. 170 ff.) die Wirkung der Renaissance auf das Volksleben kennzeichnet: „Indem
die Renaissancekultur ihrem ganzen Wesen nach auf die höheren Stände be-
schränkt blieb, so hatte sie bei den Völkern, bei welchen sie zur Herrschaft
gelangte, eine Zweiteilung der Nation zur Folge: die litterarisch gebildeten Klassen
schieden sich scharf von den litterarisch nicht gebildeten. Aus dieser Spal-
tung in zwei auf verschiedener Kulturstufe stehenden Schichten ergaben sich die
schwersten Nachteile, die bis in die Gegenwart hinein verderblich fortwirken
und von deren Folgen noch die Zukunft arg bedroht sein dürfte. Seit der
Renaissance hört die Litteratur auf ein Gesamtgut der Nation zu sein, was sie
in hohem Grade während des Mittelalters gewesen war. Seitdem bildete sich
auch eine eigene Litteratur- und Büchersprache aus, welche, wie die Litteratur
selbst, ein Prärogativ der höheren Stände blieb. Die Folge war, daß die unteren
Stände litteraturlos wurden. — Wäre wenigstens die mündliche Überlieferung
und der Volksgesang fortgepflanzt worden ! Aber, und das war das Schlimmste,
das Volk begann seiner alten Dichtung sich zu schämen, weil die Gebildeten
sich von ihr als einer bäuerischen und plumpen mit vornehmem Ekel abwendeten;
und so verwilderte und verdarb das alte Volkslied. So ward auch ein Bruch
mit der nationalen Vergangenheit herbeigeführt, wie er unheilvoller und unheil-
barer nicht gedacht werden kann, ein Bruch, der nicht bloß in der Litteratur
sehr entwickelungsfähige nationale Dichtungsgattungen (so das volkstümliche
Drama) ertötet, sondern auch im politischen und sozialen Leben zerrüttend und
zerstörend gewirkt hat."
Paulsen, Unterr. Zweite Aufl. L 29
450 //, 8. Schlußbetrachiung,
behielte), und nähme doch Schaden an seiner Seele? Und wer wollte
die Reformation aus dem Leben unseres Volkes ausstreichen? Hat sie
ihm bittere Leiden und Nöte gebracht, so hat sie ihm doch auch einen
Sinn für den Ernst der Wahrheitsforschung und die Innerlichkeit des
religiösen Lebens gebracht, der mehr ist als die formale Einheit des
Glaubens und das Ausruhen in der unfehlbaren Autorität der Kirche.
Und ebenso wenig kann man im Ernst wünschen, Humanismus
und Renaissance gleichsam nachtraglich aus dem deutschen Geistesleben
zu eliminieren. Deutschland konnte sich natürlich von der europäischen
Kulturbewegung nicht ausschließen, Isolierung wäre Versumpfung ge-
wesen. Aber, schwerer als den lateinischen Völkern ist es dem deutschen
geworden, aus der Hingebung an das Fremde sich selber wieder zu ge-
winnen und das in jener Schule Gelernte für sein eigenes geistiges Leben
zu verwerten. Wenn unter den großen Völkern Europas das deutsche
in der modernen Kulturentwickelung am letzten die Stellung eine^
ebenbürtigen erreicht hat, wenn das goldene Zeitalter der deutschen
Litteratur um ein oder mehrere Jahrhunderte später, als das der fran-
zösischen, englischen, italienischen eingetreten ist, so sind zwar die Ur-
sachen dieser Verspätung vielleicht zuletzt in dem lange vorbereiteten
Untergang des deutschen Staatswesens und in den großen merkantilen
Verschiebungen des 16. Jahrhunderts zu suchen, doch hat die Renaissance
in dem gleichen Sinne gewirkt. Man kann dieselbe als eine notwendige
Durchgangsstufe in unserer Bildung ansehen, die aber zunächst als eine
empfindliche Störung der Entwickelung des Eigenlebens sich darstellt
Eine eigene deutsche Litteratur beginnt erst mit der entschlossenen Ab-
werfung des Joches der lateinischen Imitation, welches das deutsche Volk
im 16. Jahrhundert auf sich genommen hatte. Klopstock und Herdeb,
Goethe und ScHiLiiEB sind, was sie sind, nicht durch das tiefere Ver-
ständnis oder gar geschicktere Nachahmung des Altertums, wie hin und
wieder, aller historischen Wahrheit zum Trotz, behauptet wird, sondern
dadurch, daß sie wieder eigene Gefühle und Gedanken des deutschen
Gemüts in eigener Form und Sprache ausdrückten. Durch das Zurück-
gehen ins eigene Innere ging ihnen dann auch der Sinn für das Alter-
tum auf und sie verstanden es, wie es Imitatoren nie verstehen konnten.
Auch hierüber hat Goethe ein gutes Wort: „Über Geschichte kann nie-
mand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat Die Deutschen
können über Litteratur erst urteilen, seitdem sie selbst eine Litteratur
haben" (Sprüche in Prosa, herausgeg. von Löper, No. 677).
Drittes Buch.
Das Zeitalter der französisch- höfischen Bildnng.
Beginnende Modernisiemng der Universitäten nnd
Schnlen.
1600(1648) — 1740.
Ratio Tidt, Yetustas ceevit
Raticbiüs.
Compendiose, jucunde, lollde.
Ck>MEMIUB.
In yerbis daritatem, in rebuB ubuui.
Leibniz.
29
Erstes Kapitel.
Begmnendes Erwachen des modernen Geistes.
Beaktion gegen den hnmanistischen Schnlbetrieb im
Übergangszeitalter (1600—1648).
In den beiden ersten Büchern ist die Gestaltung des gelehrten
Unterrichtswesens dargelegt worden, die es im Verlaufe des 16. Jahr-
hunderts unter dem beherrschenden Einfluß des Humanismus und der
Reformation annahm. Beinahe zwei Jahrhunderte blieb es im Ganzen
unverändert im Rahmen dieser Verfassung bestehen. Erst gegen Ende
des 17. Jahrhunderts beginnt eine innere Umbildung; neue geistige
Strömungen, der aus den neuen Wissenschaften und der neuen Philo-
sophie hervorwachsende Rationalismus, der in die Aufklärung mündet,
dann seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der Neuhumanismus machten
ihren Einfluß geltend; < zuerst erreichte er die protestantischen Universi-
täten, sodann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch die Ge-
lehrtenschulen. Die durchgreifende Neugestaltung des gesamten ge-
lehrten Unterrichts in den protestantischen und in den katholischen
Ländern hat. sich dann in dem Zeitalter der großen Revolution voll-
zogen, die am Anfang des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland zu
einer Umwandhmg aller öffentlichen Verhältnisse und Einrichtungen
führte.
Will man den Unterschied des heutigen Gymnasiums von der
Gelehrten schule des 16. Jahrhunderts mit einer Formel ausdrücken^
so kann man sagen: in dieser beruhte die Bildung auf zwei Stücken:
dem Christentum und dem Altertum; das neue Gymnasium hat
zwei weitere Stücke aufgenommen: die Realien und das Nationale.
Dort war Festigkeit im Bekenntnis und in der Gelehrtensprache das
Schulziel; hier sind, nicht ohne jene ersten Ziele allmählich zurückzu-
drängen, Mathematik und Naturwissenschaften, Geschichte und Geo-
graphie, die nationale Sprache und Litteratur hinzugekommen. Die
Ausbildung dieser neuen Elemente, die Schöpfung der nationalen Poesie,
454 III, 1, Beginnendes Erwaclien des modenien Geistes u. s. w.
der modernen Wissenschaften und der auf ihnen ruhenden modernen
Philosophie macht den eigentlichen Inhalt des geistigen Lebens der
abendländischen Völker in den beiden nächsten Jahrhunderten aus.
Es ist nun im Folgenden zu beschreiben, wie diese neuen Elemente,
nachdem sie in der großen Welt ihre Berechtigung erkämpft hatten,
zuerst in die pädagogische Litteratur eindrangen, wo sie dem Be-
stehenden mit bitterer Kritik und mit enthusiastischer Verkündigung
von Reformen entgegentraten, und wie sie endlich auch in die Unter-
richtsanstalten, die Universitäten und Schulen, sich Eingang verschafften.
Das Verhältnis der vier Elemente zu einander, die Spannung und Aus-
gleichung zwischen ihnen, bildet seit dem 17. Jahrhundert das eigent-
liche Thema der Geschichte des gelehrten Unterrichts im Abendlande.
Bei der großen Neugestaltung des Schulwesens im 16. Jahrhundert
hatte der Humanismus, wenn auch ein durch das Bekenntnis gemäßigter
und gezähmter Humanismus, das entscheidende Wort gesprochen; Ziel
und Mittel des Schulbetriebs entsprachen im Ganzen seinen Forderungen.
Von zwei Seiten beginnt sich mit dem 1 7. Jahrhundert die Opposition
zu regen, von Seiten derer, welche die Herrschaft des Altertums zu
Gunsten des Christentums l)eschränken wollen, und von Seiten derer,
die dem sich regenden Eigenleben der modernen Völker auch auf die
Schule Einfluß zu verschaffen wünschen. Es sind die beiden Richtungen,
die bis auf diesen Tag dem Klassizismus die Alleinherrschaft in der
Schule streitig machen, die christlich-kirchliche und die modern-
nationale und realistische.
Was die erste Richtung anlangt, so hatte die protestantische Theo-
logie von LuTHEB als einen erblichen Grundzug ihres Wesens den
Gegensatz gegen die rationalistisch -naturalistische Lebensanschauung.
Die absolute Geringschätzung der Werke und die absolute Verwerfung
des Urteils der Vernunft in Sachen des Glaubens sind die zusammen-
gehörigen Äußerungen des lutherischen Supranaturalismus und Anti-
rationalismus. Wenn Amsdorf erklärt, daß gute Werke schädlich zur
Seligkeit seien, oder D. Hofmann in Helmstedt, daß nach dem Satan
die Kirche einen ärgeren Feind nicht gehabt habe, als die Vernunft
und die Weisheit des Fleisches, so konnten beide auch hierfür sich auf
LuTHEB berufen. Andererseits konnte freilich die Reformation ihren
Ursprung nicht verleugnen. Ihre Theologie war entstanden als Ver-
such, den Abfall von der Kirche durch Wissenschaft zu rechtfertigen,
d. h. durch verbesserte philologische Auslegung und durch kritisches
Geschichtsstudium zu zeigen, daß sie das echte und ursprüngliche
Christentum habe. Der Humanist Melanchthon hat die erste prote-
stantische Dogmatik geschrieben.
Theologische Opposition gegen den Humanismus. 455
Zu Lebzeiten der Reformatoren war dieser Gegensatz zwar auch
empfunden worden, doch wurde er durch die persönlichen Beziehungen
und durch den äußeren Druck, den gemeinschaftliche Feinde übten,
verhindert, in offenen Krieg auszubrechen. Seit Luthers Tode wurde
das Verhältnis gespannter. Seine Nachfolger, die nicht den wunder-
baren Instinkt für das Mögliche besaßen, der Luther bei allen seinen
Schritten leitete, begannen die prinzipiellen Konsequenzen zu ziehen
und bildeten so allmählich jene intransigente lutherische Theologie aus,
(leren grundlegende Sätze in der Konkordienformel (1580) festgestellt
wurden. Die andere Richtung blieb zwar nicht unyertreten, ihr gehörte
vor allem die Universität des braunschweig -wolfenbüttelschen Hauses
zu Helmstedt und ihr großer Theologe Calixtus an.^ Doch war das
Übergewicht in diesem Zeitalter unzweifelhaft auf Seite der streng
lutherischen Theologen, vor allem beherrschten sie in Sachsen die Uni-
versitäten und die Kirche. Wittenberg, Tübingen, Gießen waren Haupt-
))urgen des strengen Luthertums.
Soweit die lutherische Orthodoxie auf Universitäten und Schulen
herrschte, traten die humanistischen und philosophischen Studien in den
Hintergrund, sie mußten sich wenigstens gefallen lassen, nur als dienende
Werkzeuge für die Theologie Geltung oder Duldung zu haben. Allerdings
war diese Orthodoxie nicht in dem Sinne antirationalistisch, daß sie, wie
tief religiöse Naturen, vor dem Vemunftgebrauch in göttlichen Dingen
überhaupt Scheu getragen hätte; jede Dogmatik ist natürlich wenigstens
der Form nach rationalistisch. Aber die Vernunft sollte nirgends die
materielle Entscheidung haben; diese blieb, auch in historischen und
natürlichen Dingen, bei der Schrift und ihren theologischen Interpreten.
Eigentlich wissenschaftliche Interessen waren darnach mit dieser Theo-
logie allerdings unverträglich. Es ist bekannt, wie Kepler von den
heimischen württembergischen Theologen sein Fürwitz verwiesen wurde.
— Ebenso stand es mit den klassischen Studien. Die Sprachen überhaupt
für überflüssig zu erklären, konnte einer protestantischen Theologie natür-
lich nicht einfallen. Aber daß sie nicht um der heidnischen Weisheit
willen, wie doch auch Melanchthon und seine Schüler noch gemeint
hatten, getrieben werden sollten, das behaupteten die neuen Theologen
allerdings. Der Zweck des Unterrichts in den Sprachen geht ihnen darin
auf, dem Schüler Fertigkeit im Gebrauch der allgemeinen Gelehrten-
sprache und die Fähigkeit, die Schrift im Original zu lesen, zu geben.
^ In den litterarischen Kämpfen, welche zu Helmstedt zwischen den beiden
Parteien ausgefochten wurden, ist (nach Henke, Calixtus, I, 69) fiir die Melanch-
thonsche Richtung zuerst der Name RationistaSj Raiiocinistae von den Gegnern
aufgebracht worden.
456 111, 1. Beginnendes Erwachen des modernen Geistes u. s. w.
Die eigentlich theoretischen Interessen lagen hiemach für die
herrschende Richtung ganz und gar auf dem Gebiet der Theologie.
Der Verstand fand, wie im Mittelalter, Beschäftigung und Befriedigung
in der Ausbildung und Verteidigung einer scholastischen Theologie.
Über das Verhältnis der zwei Naturen in Christo, über seine Allgegen-
wart auch dem Leibe nach, über das Verhältnis von göttlicher Gnade
und menschlichem Willen u. s. w. wurde jetzt mit nicht minderem Ernst
und Scharfsinn, und mit noch mehr Hart« und Rechthaberei gestritten^
als früher über die Frage der unbefleckten Empfängnis.
Noch weniger als für die orthodoxen Theologen waren begreiflicher
Weise die klassischen Studien für fromme Gemüter, die ohne starken
intellektuellen Trieb und ohne geistliche Regierungssucht, die Erbauung
mehr als die Wissenschaft und das innere Leben in Gott höher als die
richtige Dogmatik achteten. Wenn diese auch, wie etwa Joh. Abndt,
Ton den Orthodoxen angefeindet wurden, so geschah das doch keines-
wegs um etwaiger rationalistisch-liberalistischer Neigungen willen; eher
könnte man sagen, daß ihnen die Orthodoxie, welche durch dogmatische
Wissenschaft den Verstand zwingen wollte, doch noch allzu rationa-
listisch war.^
Ein ganz anderes Verhältnis zu den humanistischen Studien und
den weltlichen Wissenschaften hat die andere Richtung, die modern -
nationale. Sie steht an sich nicht in feindseligem Gegensatz zum
Humanismus, sie ist vielmehr aus ihm herrorgewachsen; aber eben
damit hat sie die Tendenz, ihn, wie der Keim das Saatkorn, zu zerstören.
* Einige Urteile von Theologen über die ,,beidniscben'' Gelehrtenschuleu
bei Henke, H, 1, 111 ff. Statius Büscher, Prediger in Hannover, schrieb einen
„christlichen und notwendigen Unterricht, wie die Studia sollen angerichtet
werden" (Rinteln 1625), gegen die Helmstedter. „Warum,** heißt es darin,
„sollte ein Knabe nicht sowohl einen griechischen Vers schreiben lernen aus
dem Nonno oder einen lateinischen aus dem Buchanano, Eohano und dergleichen
als aus dem Homero, ViryiliOy Ovidio, Haratio'f Es wäre dann Sache, daß man
dieses für kein gutes cannen wollte halten, wo nicht heidnische Götzen, Apollo,
Mercurius, Jupiter und dergleichen Teufel sich mehr darin hören und sehen
ließen." Wie kann man es verantworten, einem Knaben, der noch nicht Gutes
und Böses aus Gottes Wort zu unterscheiden gelernt hat, der Heiden Bücher
in die Hand zu geben? Ist es doch gar schwer zu erkennen, was bei den heid-
nischen Skribenten dem Christentum entgegen ist, „dieweil das Gift so heim-
lich darin verborgen steckt, und oftmals einen Schein herrlicher Tugenden von
sich giebt; und wenn darin sonst nichts Böses vorhanden wfire, so ist doch das
hochschädlichste Gift des Ehrgeizes durch und durch mit untergeschättet , sie
sind 80 gar damit allenthalben durchmachet, wie Lutherus sagt, daß es ganz
fährlich fiir ungeübte Christen darin lesen'*. Vgl. Tholück, I, ISOff. Vogt,
Ratichius, III, 111 ff.
Modemrnaiionale Opposition gegen den Humanismus, 457
Die Renaissancelitteratur in den modernen Sprachen hat überall die
Renaissancelitteratur in den alten Sprachen verdrängt. Seitdem der
Geschmack an italienischen, spanischen, französischen, englischen Versen,
die freilich nach dem Muster der alten gemacht waren, aufkam, hörte
die Nachfrage nach neulateinischer und neugriechischer Poesie auf, und
mit der Nachfrage schwand allmählich auch die Produktion. Die roma-
nischen Völker gingen in der Hervorbringung einer Kunstpoesie in
der eigenen Sprache voran, sei es weil sie den alten Vorsprung in
der Kulturentwickelung voraus hatten, oder weil der Übergang vom
Lateinischen zu der modernen Volkssprache hier leichter war. Die
Renaissancelitteratur in deutscher Sprache bringt es im 17. Jahrhundert
erst zu kleinen Anfangen.
Ein gewisser litterarischer Aufschwung ist allerdings auch in Deutsch-
land am Anfang des 17. Jahrhunderts unverkennbar; der Meßkatalog
weist, wie die Übersicht unter den Beilagen zeigt, eine bedeutende
Steigerung des Bücherkonsums auf, er betragt das Doppelte gegen das
letzte Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts; die Höhe des Jahrzehnts 1611
bis 1620 wurde, nach der Verwüstung Deutschlands durch den furcht-
baren Krieg, erst in den Jahren 1771 — 1780 wieder erreicht. Der
litterarische Verkehr mit den romanischen Völkern war ein lebhafter;
Übersetzungen aus dem Spanischen, Italienischen und Französischen
machten die Erzeugnisse der neuen Poesie zugänglich. Die Beziehungen
zu den Italienern und Spaniern wurden besonders durch den katho-
lischen Süden, die Beziehungen zu Frankreich, den Niederlanden und
England durch den protestantischen Norden vermittelt. Die Höfe des
reformierten Bekenntnisses, besonders Heidelberg und Kassel, standen
schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in intimen politischen Be-
ziehungen zu Frankreich; die Fürsten nahmen französischen Sold und
sprachen französische Sprache, sie schickten ihre Kinder und ihren
Adel auf die französischen Universitäten, von wo sie nicht bloß römische
Rechtswissenschaft, sondern auch französische Bildung und Sitten heim-
brachten. Landgraf Moritz war der erste deutsche Fürst, der in seiner
Residenz eine höfisch-moderne Bildungsanstalt errichtete, das coUegium
adelphicum Mauritianum zu Kassel 1618, von dem später noch die
Rede sein wird. So wurde die höfische Welt der gelehrt-lateinischen
Bildung, die im 16. Jahrhundert noch die einzige gewesen war, all-
mählich entfremdet und der Übergang zu der militärisch-französischen
vorbereitet^
^ Vergl. hierzu und zu dem Folgenden Scherers deutsche Li tteraturgeschichte,
8 31 5 ff., und Bartuold, Geschichte der fruchtbringenden Gesellschaft.
458 III, L Beginnendes Erwaclien des modernen Geistes u. s. w.
Die Teilnahme am Fremden begann endlich den Wetteifer zu er-
regen. Wie man einst zur Zeit der humanistischen Bewegung eifer-
süchtig auf die Italiener es diesen an klassischer Bildung hatte gleich
thun wollen, so fing man jetzt an auf dem Gebiet der nationalen
Litteratur zu wetteifern. Am Stuttgarter Hof dichtete um 1617
E. Weckheblin, in Heidelberg lebte W. Zincgbef, in Frankfurt a. 0.
ließ 1618 ein junger Schlesier, der nachmals berühmte Maktin Opitz,
eine Rede Aristarchus, sive de contemptu linguae teutonicae drucken,
worin er mit leidenschaftlicher Eloquenz gegen die Selbstentfremdung
des deutschen Volkes eifert: „Wir unternehmen gefahrvolle und kost-
bare Reisen ins Ausland und ringen mit allen Kräften darnach, uns
und dem Vaterlande nicht mehr ahnlich zu scheinen. Während wir
mit maßloser Begier die fremde Sprache erlernen, bringen wir die
unsrige in Verachtung. Eher sollten wir streben, gleich wie wir von
Franzosen und Italienern Geist und Eleganz erborgen, auch unsere
Sprache nach ihrem Vorbilde zu glätten und auszubilden; aber wir
schämen uns unseres Vaterlandes und trachten darnach, daß wir nichts
weniger als die deutsche Sprache zu verstehen scheinen. Aus dieser
Quelle strömt das Verderben auf Vaterland und Volk, wir verachten
uns selbst und werden deshalb verachtet. So verändert sich die reinste
und vor fremdem Schmutz bisher bewahrte Sprache und artet in einen
wunderlichen Jargon aus. Man sollte meinen, unsere Sprache sei eine
Schlammgrube geworden, in welche der Schmutz der übrigen zusammen-
flösse. Es ist fast kein Satz, keine Wortverbindung, die nicht nach dem
Ausländischen schmeckt" (Barthold, 87). So schilt Opiiz mit huma-
nistischer Eloquenz die humanistische Gewöhnung, das Heimische zu
verachten. Es ist humanistischer Patriotismus, nicht volkstümliche
deutsche Empfindung, die aus ihm spricht. Opitz wurde der Gesetz-
geber der Renaissancepoesie in deutscher Sprache; 1624 erschien sein
Buch von der deutschen Poeterei zum erstenmal. Die Poesie, welche
er lehrt, gleicht nach Form und Stoflf ganz der humanistischen Poesie,
nur daß sie in deutscher, statt in lateinischer Sprache redet.
Im Jahre 1617 wurde bei einer Zusammenkunft anhaltischer und
weimarischer Fürsten die fruchtbringende Gesellschaft gestift-et.
Ihr eigentlicher Gründer und vieljähriges Haupt war Fürst Ludwig
von Anhalt. Das Vorbild war die florentinische Academia della crusca,
deren Mitglied der Fürst bei längerem Aufenthalt in Italien geworden
war. Als ihren vornehmsten Zweck bezeichnet der spätere Bericht des
Gründers: gute und reine deutsche Rede zu erhalten, als welche an
alten schönen und zierlichen Reden, an eigentlichen und wohl bedeut-
lichen Worten, so jede Sache besser als die fremden zu verstehen geben
Mathematisch-natunv^issenschaftlicJie Richtung, 459
könnten, einen Überfluß vor anderen besitze (Barthold, 105). Die
Gesellschaft bestand ein halbes Jahrhundert lang; es gehörten ihr eine
lange Reihe von Fürsten, Adligen und Gelehrten an ; die Rücksicht auf
Stand und religiöses Bekenntnis war ausgeschlossen. Theologen haben
der Gesellschaft gar nicht angehört. Als ein eifriger Calvinist, mit Be-
tonung dieser Eigenschaft, aufgenommen zu werden wünschte, erwiderte
Ludwig: die Gesellschaft halte nicht auf die „rottischen" Namen.
Verwandt mit diesen auf die Hervorbringung einer modernen Litte-
ratur gerichteten Bestrebungen sind die in diesem Zeitalter ebenfalls
im Aufsteigen begriffenen mathematisch-naturwissenschaftlichen
Studien, wodurch die wissenschaftliche Emanzipation der Neuzeit vom
Altertum angebahnt wurde. Wenngleich Deutschland auch hierin nicht
an der Spitze ging, so hatte es doch bedeutende Vertreter dieser Studien
aufzuweisen, es genügt Jon. Kepler (1571 — 1630) und Joachim
JuNGius (1587—1657) zu nennen. Erwähnenswert scheint der Ver-
such, den JuNGius machte, als Professor der Mathematik zu Rostock
im Jahre 1619 eine naturforschende Gesellschaft zu begründen
mit dem Zweck, „die Wahrheit aus der Vernunft und Erfahrung zu
erforschen und alle Künste und Wissenschaften, welche sich auf die
Vernunft und die Erfahrung stützen, von der Sophistik zu befreien, zu
einer demonstrativen Gewißhheit zurückzuführen, durch eine richtige
Unterweisung fortzupflanzen, endlich durch glückliche Erfindungen zu
vermehren". Die Gesellschaft, die übrigens auch einem italienischen
Vorbild, der zu Rom 1603 gestifteten Academia dei Lyn<:ei nachgebildet
ist, hat nach Gühbaueb (Jungius, S. 71) eine Reihe von Jahren be-
standen; ihre merkwürdigen Gesetze sind ebendort mitgeteilt. Jungius'
Streben ging überall dahin, die scholastische Philosophie, die an den
protestantischen wie an den katholischen Universitäten thatsächlich nie
aufgehört hatte den Unterricht zu beherrschen, abzustellen und in dem
Sinne Bacons und Galileis induktive Forschung zu treiben und zu
lehren. In dieser Absicht ist seine Rede beim Antritt des Rektorats
des Hamburger Gymnasiums im Jahre 1629 über den propädeutischen
Nutzen der Mathematik bemerkenswert (Guhbaueb, 9 7 ff.).
Mit dem Humanismus als herrschender Bildungsform ging es seit
dem Ausgang des 1 6. Jahrhunderts allmählich zu Ende. Die Männer,
welche noch von den Strahlen der zum Untergang neigenden huma-
nistischen Sonne waren beschienen worden, starben um den Anfang des
neuen Jahrhunderts aus: in Rostock Posselius (1591) und D. Chytraeus
(1600), in Helmstedt Caselius(1613), in Wittenberg Rhodomanus (1606)
und Taubmannus (1613), in Leipzig Dresseeus (1607), in Heidelberg
Sylbuegius (1596), Melissus (1602), in Tübingen Fbischlin (1590)
460 ///. i. Beginnendes Erwachen des modernen Geistes w. s. w.
und Cbusiüs (1607). Sie hatten keine Nachfolger. Es wurden zwar
noch lange lateinische und griechische Verse und Reden gemacht, sie
gelangen wohl auch einzelnen vortrefflich, wie dem bayerischen Jesuiten
Jac. Bälde (1603 — 1668); aber ihre eigentliche Zeit war vorüber,
es waren Schulübungen, die in der großen Welt keine Geltung mehr
hatten. Man verlangte nicht mehr weder lateinische Hofyoeten und
Oratoren, noch elegante Humanisten als Prinzenerzieher. Ein Symptom
davon ist auch, daß die Antikisier ung der Namen aufhörte, man hängt
höchstens noch die lateinische Endung zum Behuf der Flexion an, aber
giebt sich nicht mehr die Mühe, aus einem Schubtzfleisch, Mobhof,
EoRTHOLT u. s. f. einen wohlklingenden Griechen oder Römer zu machen.
Die Welt war nüchtern geworden, das Maskenkostüm paßte nicht mehr
zum Grauen des neuen Tags.
Die Beschäftigung mit dem Altertum hörte allerdings nicht auf;
aber sie nahm einen neuen Charakter an. Das Altertum wurde zur
Raritätenkammer, woraus man sich nach Gelegenheit dies oder jenes
zur Betrachtung in einer Dissertation oder einem Programm hervor-
holte, sei es aus der litterarischen, oder aus der politisch -historischen
Welt, oder aus dem täglichen Leben. Die Münz- und Antiquitäten-
kabinete kamen in Mode. Man näherte sich dem Zeitalter der Obser-
vationen und Thesauren, der Gbonoviüs (1611 — 1671) und Graevius
(1632—1703), der Conbing (1606—1681) und Schubtzfleisch (1641
bis 1708), der Mobhop (1639—1691) und Fabritius (1668—1738).
Das Altertum wurde Museumsobjekt.
Die Veränderung in dem geistigen Leben des deutschen Volkes
spiegelt sich in den pädagogischen Reformbestrebungen, die seit
dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts lebhaftes Interesse in
weiten Kreisen erregten. Sie knüpfen sich vorzugsweise an zwei Namen,
den des Holsteiners Wolfgang Ratichius (1571 — 1635) und den
des Mähren Joh. Amos Comenius (1592 — 1671).^
Im Jahre 1612 übergab Ratichius (oder Ratke, der Name ist in
der Schreibart Rathgen, Ratjen in Holstein häufig; Ratich ist eine
* Es kann hier, wo es sich uin die Geschichte des gelehrten ünterrichts-
weseus, nicht der pädagogischen Theorien, handelt, über Leben, Schriften nnd
Ansichten dieser beiden Männer natürlich nicht ausführlich berichtet werden.
Ich kann den Leser hierfür jetzt auf die sehr eingehende Darstellung in Scumids
Geschichte der Erziehung (III, 2) von A. Israel und J. Brüoel verweiseu. Über
Ratichius handelt sehr gründlich auch G. Vogt in den Programmen des Fride-
ricianums zu Kassel von 1876—1882.
Wolfgang BcUichitis. 461
scheußliche Verstümmelung der Latinisierung) dem deutschen Reich auf
dem Wahltag zu Frankfurt ein Memorial folgenden Inhalts:
„Wolfgang Ratichius weiß mit göttlicher Hilfe zu Dienst und
Wohlfahrt der ganzen Christenheit Anleitung zu geben:
1. Wie die ebräische, griechische, lateinische und andere Sprachen
mehr in gar kurzer Zeit, so wohl bei Alten und Jungen, leichtlich zu
lernen und fortzupflanzen sei.
2. Wie nicht allein in hochdeutschen, sondern auch in allen, andern
Sprachen eine Schule anzurichten, darinnen alle Künste und Fakultäten
ausführlich können gelehrt und propagiert werden.
3. Wie im ganzen Reich eine eintrachtige Sprache, eine einträch-
tige Regierung und endlich auch eine einträchtige Religion bequemlich
einzuführen und friedlich zu erhalten sei."
Dieses merkwürdige Schriftstück, von einigen erläuternden Aus-
führungen begleitet, wanderte nicht, wie einem Anerbieten ähnlichen
Inhalts heutzutage ohne Zweifel widerfahren würde, in den Papierkorb
des deutschen Reiches, sondern rief ein überaus lebhaftes Interesse bei
den versammelten Fürsten und Städten hervor. Ratichius und seine
Reformprojekte beschäftigten das folgende Vierteljahrhundert unausgesetzt
deutsche Regierungen und Universitäten. Fürsten und Fürstinnen des
anhaltischen und herzoglich sächsischen, des hessischen und pfalzischen,
des schwarzburgischen und waldeckschen Hauses nahmen persönlich
lebhaften Anteil an seiner Sache und brachten ihr zum Teil erhebliche
Geldopfer. Die bedeutendsten Städte, Frankfurt, Augsburg, Magdeburg,
interessierten sich für die neu erfundene Lehrmethode und wünschten,
allerdings ohne Kosten, davon zu profitieren. Eine große Menge von
Gutachten wurden von Professoren und Rektoren, unter welchen der
Mathematiker Jüngius und der Gräcist Helvicüs, beide Gießener
Professoren, sowie Hoescheliüs, ebenfalls ein bekannter Gräcist, Rektor
zu St. Anna in Augsburg, gefordert und zu Gunsten der Didaktik ab-
gegeben. Die genannten Männer gaben sich sogar bei dem Ratichius
in die Lehre, um die Didaktik zu lernen. Die ausgebreitete und an-
haltende Bewegung ist ein unzweideutiger Beweis, wenn auch noch
nicht für den Wert des RATiCHius'schen Unternehmens, so doch dafür,
daß der Glaube an den alten Schulbetrieb in den weitesten Kreisen
erschüttert war.
Auf die umfassenden und hochfliegenden Pläne des enthusiastischen
Didacticus, dem übrigens ein nicht ganz kleiner Anflug von Charla-
tanerie, wie so manchen pädagogischen Weltverbesserern, anhaftet, kann
hier nicht näher eingegangen werden. Sie beschränken sich übrigens
keineswegs auf die Reform des Unterrichts, sondern haben eine Reform
462 III, 1, Beginnefides Erwaclien des modernen Geisfes u. s, w.
aller Wissenschaften, ihre definitive Abschließung in systematischen
Lehrbüchern und dadurch zuletzt eine Wiederherstellung des ganzen
gemeinen Wesens zum Ziel. Derselbe Traum, den Comeniüs, Leebniz.
Basedow träumten, ist schon von Ratichiüs geträumt worden. Auch
für das Detail seiner von ihm als üniversalmittel angepriesenen und
geheim gehaltenen [Jnterrichtskunst ist hier kein Raum. Was den
Sprachunterricht angeht, so treten zwei Grundprinzipien hervor: 1. nicht
mit der Grammatik, sondern mit der Sprache selbst (dem Autor, für
Latein Terenz, für Hebräisch und Griechisch die heil. Schrift) beginnen
erst die Sache, dann die Regel 2. Erste Unterrichtssprache ist die
Muttersprache, auch in dem Sinn, daß an ihr die Grammatik zuerst
eingeübt werden muß, darnach an den fremden Sprachen. Auch das
Stichwort aller späteren pädagogischen Revolutionäre fehlt dem Ratichiüs
nicht: das sei der natürliche Weg der Sprachenerlemung, welchen zu
gehen die Vernunft, trotz der hergebrachten Schulpraxis, rate, üatio
vicitj vetustas cessit, steht als Motto auf den „zur Lehrart" gehörigen
Lehrbüchern.^
Noch deute ich die Beziehung dieser Bestrebungen zu den beiden
im Vorigen charakterisierten Richtungen der Zeit an, der christlichen
und der modern-nationalen. Seine Freunde und Gönner fand Ratichiüs
einerseits unter den lutherischen Theologen, welche an dem heidnischen
Unterricht der Jugend aus den griechischen und lateinischen Poeten
und Philosophen Anstoß nahmen, andererseits in den fürstlichen
Häusern, welche den Bemühungen um die Ausbildung einer deutschen
Sprache und Litteratur am nächsten standen, Anhalt und Weimar.
Fürst Ludwig von Anhalt, der Begründer der fruchtbringenden Ge-
sellschaft, ermöglichte nicht nur durch äußere Mittel den Versuch
^ Nur das bemerke ich noch, daß das Wesentliche dieser Methode nicht
eine neue Erfindung ist. Die mündliche oder schriftliche Interlinearversion, die
Wiedergabe eines Textes Wort um Wort, ist wohl die Form des Unterrichts
in einer Buchsprache, auf die der gesunde Menschenverstand überall von selbst
zuerst verfallen wird. Sie war und ist noch altherkömmlich bei den Juden, wo
die hebräische Sprache vom frühesten Knabenalter ab in dieser Weise gelehrt
wird, daß der Lehrer die Schüler einen Vers lesen läßt, ihn dann Wort für
Wort übersetzt und sie nun so lange taktmäßig nachsprechen und wiederholen
läßt, bis es sicher geht. So wird in einem Jahre eine Anzahl Kapitel durch-
gebracht, und die Sprache ohne alle Analyse durch eine Art mechanischer
Gewohnheit gelernt. S. Maoer, Die genetische Methode, S. 67 ff., wo man eine
historische Übersicht über die Methode des Sprachlemeus überhaupt findet.
Das Werk von Güdemann, Quellenschriften zur Greschichte des Unterrichts und
der Erziehung bei den Juden (1891), giebt über die Methode des Sprachunter-
richts wenig Auskunft.
Wolfgang Baiichius, 463
der Verwirklichung der RATiCHius'schen Pläne in Köthen, sondern be-
teiligte sich auch durch persönliche Arbeit an dem Werk. Die Ver-
deutschung der Wissenschaften steht schon auf dem ursprünglichen
Programm des Ratichius vom Jahre 1612. Es heißt in den Erläute-
rungen (Vogt, I, 10): „Hier stehet nun ferner zu bedenken, wie die
Künste und Fakultäten an keine Sprachen und hiergegen die Sprachen
an keine Künste oder Fakultäten gebunden. So haben auch die lieben
Deut>schen jetziger Zeit, Gott sei gelobt, nicht allein das Licht der
Natur, sondern auch des Evangelii, und die wahre Erkenntnis Gottes:
dazu mangelts auch nicht an Büchern und gelehrten Leuten und kann
deshalb eine vollkommene Schule in hochdeutscher Sprache sehr wohl
angerichtet werden, wodurch die deutsche Sprache und Nation merklich
zu bessern und zu erheben stehet Kann doch ein Philosoph in grie-
chischer und lateinischer Sprache seine Philosophie lehren und ver-
teidigen, was soll ihm dann mangeln, solches in hochdeutscher Sprache
zu thun, wenn nur die vocahula artium in derselben erfunden, die
Künste ordentlicher Weise darin beschrieben und in Gebrauch sind.
Es können auch die Rechtsgelehrten in allen Ständen in deutscher
Sprache sehr wohl erkennen, was Recht ist, auch in derselbigen ein
corpus juris, welches Gottes Wort konform, verfertigen, darin alle Un-
gerechtigkeit abgeschafft, auf das allein die Gerechtigkeit im Reich
gepäeget und erhalten werde. Desgleichen kann ein medicus den Leib
wohl auf gut Deutsch kurieren und versorgen, geschieht es doch nicht
auf Griechisch oder Arabisch, in welchen Sprachen der meiste Teil
unerfahren." In den deutschen Büchern zur JDidactica ist die Ver-
deutschung der termini streng durchgeführt; nomen heißt Nenn-
wort, pronomen Vomennwort, verbum Sprachwort, Metaphysik Wesen-
kundigurig, Logik Verstandlehre u. s. f. Die Gießener Referenten und
Mitarbeiter am Werk, Jüngiüs und Helvicüs, sprechen ganz dieselbe
Anschauung aus.
Allerdings war es nicht des Ratichius Meinung, die alten Sprachen
abzuschaffen; im Gegenteil, er hoffte durch die neue Lehrart ihre
Kenntnis so allgemein zu machen, daß jedermann die heil. Schrift in
den Ursprachen zu lesen im Stande sei. Er fahrt in den eben citierten
Erläuterungen fort: „Die Theologen werden sich auch nicht viel zu
zanken haben, wenn Gottes Wort allein aus Gottes W^ort und nicht
aus menschlicher Opinion, wie jetzt die verkehrte Welt den gottlosen
und verfluchten Gebrauch hat, gelernt wird; denn wenn Alt und Jung,
Frauen und Kinder selber mit Gott reden, die heil. Schrift in ebräischer
und griechischer Sprache lesen und verstehen, so wird niemand leicht-
lich zu verführen sein; ja wenn nur die Streitschriften und Glossen
464 ///, 1. Beginnendes Erwachen des modemefi Geistes u. s, w.
über die Bibel aufgehoben, alsdann kann die uralte katholische und
apostolische Lehre rein und allein im ganzen Reich unverfälscht bleiben
und friedlich erhalten werden." Unter dieser katholischen Lehre ist
aber nicht, wie man etwa erwarten möchte, ein konfessionsloses Christen-
tum, sondern vielmehr das unverfälschte Luthertum zu verstehen. Er
sagt, in später abgegebener Erklärung: „Wie eine einträchtige Religion
zu gewarten, hat es nicht diese abscheuliche und unchristliche Meinung,
als wollte ich die widerwärtigen Religionen vereinigen und vergleichen,
wie vordem mit dem Interimsbuche versucht, sondern daß ich Mittel
an die Hand geben wolle, kraft deren den Papisten, Calvinisten, Schwenk-
feldem oder wie sie und andere Ketzer Namen haben mögen, Abbruch
geschehen und also die reine, wahre, apostolische und lutherische Lehre
könne eingeführt, fortgebracht und erhalten werden."
Man sieht, die Sprachen sollen durchaus dem wahren Christentum
imd ganz und gar nicht dem humanistischen Heidentum dienen; wie
er denn auch ausdrücklich die hohen Schulen von dem „ehrgeizigen
und zanksüchtigen Heiden Aristoteles" befreien will, was auch die
Meinung des Magdeburger Rats von seinem Vorhaben war: daß er die
Schulen von jener verkehrten Richtung zurückbringen wolle, welche die
Schüler „an die heidnischen traditiones und Profanitäten so stark alligiere
und binde, auch darin so weit vertiefe und verwickle, daß sie aus dem
Christentum ein Wort- und Schulgezänk machten".
Vielleicht kann man die Summe der Bestrebungen des Ratichiüs
so formulieren: er will den langen und gefahrlichen Umweg, welchen
seit der humanistischen Reform der gelehrte Unterricht nimmt, indem
er die Jugend durch die Schule der alten römischen und griechischen
Schriftsteller zur Eloquenz und Erkenntnis führt, abschneiden und ge-
rades wegs durch kurze, methodisch abgefaßte Anleitungen zur Fertig-
keit in den Sprachen und sodann ebenso geradeswegs zu den ebenfalls
methodisch abgefaßten Wissenschaften von weltlichen und heiligen
Dingen führen. — Man könnte auch sagen, es ist ein Versuch, auf
den mittelalterlichen Weg des gelehrten Unterrichts durch Kompendien
zurückzukommen. Das Ziel, die wissenschaftliche Erkenntnis erscheint
am Anfang der Schullaufbahn so nahe, wie dem Wanderer ein Berg-
gipfel, von dem er durch einen verdeckten Thaleinschnitt getrennt ist.
Diesen Einschnitt bilden die alten Sprachen. Die humanistische Ge-
lehrtenschule führt durch ihn in mehr als zehnjähriger mühevoller
Wanderung hindurch, und mancher bleibt in dem Gestrüpp heidnischer
Poesie und Eloquenz hangen. Kann man ihn nicht überbrücken? Der
Versuch, eine solche Brücke zu konstruieren, ist während der nächsten
anderthalb Jahrhunderte das unausgesetzte Bemühen der Reformpädagogen.
J, Arnos Comenius, 465
Seit Basedows Versuch scheint die Sache aufgegeben zu sein und man
pflegt sich nunmehr darüber zu trösten: es sei gut, daß er nicht ge-
lungen sei, die lange Wanderung kräftige die Glieder der Jugend, daß
sie alsdann mit größerer Aussicht auf Erfolg an die Besteigung des
Gipfels der wissenschaftlichen Erkenntnis sich wage.
Dieselben beiden Gesichtspunkte, welche in den Reformbestrebungen
des Ratichius uns entgegentreten, finden sich auch bei Comenius, der
übrigens ein viel tieferer, größerer und freierer Geist als jener war.
Auch er will die Christenkinder von der heidnischen Schulherrschaffc
befreien, und ebenso der deutschen Sprache in Unterricht und Wissen-
schaft ihr Recht verschaffen; endlich will er, und das ist freilich prak-
tisch der nächste und wichtigste Zweck, dem ein großer Teil seiner
litterarischen Arbeit gewidmet ist, die Erlernung der unentbehrlichen
alten Sprachen durch einen methodischen Kompendienlehrgang ab-
kürzen.
Mit der ihm eigentümlichen wirksamen und leidenschaftlichen Be-
redsamkeit spricht er sich in dem 25. Kapitel seines pädagogischen
Hauptwerks, der Didactica magna, einem an tiefen und fruchtbaren
Gedanken reichen Werk, über den ersten Punkt aus. Ich setze die
Hauptstellen her; die ünerträglichkeit der heidnischen Lehrer in den
christlichen Schulen, so oft dies Kapitel in der pädagogischen Litte-
ratur wiederkehrt, ist vielleicht von niemand lebhafter empfunden und
stärker ausgedrückt worden, als von dem Prediger und letzten Bischof
der Mährischen Brüder.^ „Wollen wir wirklich christliche Schulen haben,
dann müssen wir die heidnischen Lehrer abthun. Ich kann um der
Ehre Gottes und des Heils der Menschen willen hiervon ohne Eifer
nicht reden. Die Hauptschuleu der Christen bekennen nur dem Namen
nach Christum, in W^ahrheit sind die Terenz, Plautus, Cicero, Ovid,
Catull, TibuU, Venus und die Musen ihr Schatz und ihre Liebe. Daher
kommt es, daß wir auf die Welt uns besser als auf Christum verstehen
und Christen mitten in der Christenheit kaum zu finden sind. Unsere
größten Gelehrten, selbst unter den Theologen, den Verwaltern der
göttlichen Weisheit, haben die Larve von Christus, Blut und Geist von
Aristoteles und dem übrigen heidnischen SchwarnL" Er weist dann
aus vielen Schriftstellen alten und neuen Testaments nach, wie wenig
dieses Verhalten nach Gottes Willen sei, der seinem Volke überall ver-
boten habe, auf die Wege der Heiden zu sehen, dagegen auf sein Wort
zu hören immer und immer wieder gefordert habe. Er appelliert an
* Comenü Opera didactica omnia (Amsterdam 1657, vou ihm selbst be-
sorgt), I, 147 ff.
Paalsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 30
466 Uly 1. Beginnendes Erwachen des nwdertieti Geistes u, s, w.
das Ehrgefühl der Christen: „Unsere Herrlichkeit, als der Kinder
Gottes, als des königlichen Priestertums und Erben des Reichs, läßt es
nicht zu, daß wir uns und unsere Kinder so wegwerfen und prostituieren,
daß wir uns mit den gottlosen Heiden also gemein machen. Würde
auch ein König seinen Kindern elende Parasiten und Possenreißer zu
Erziehern geben? sondern ernste und weise und fromme Männer. Und
wir schämen uns nicht, den Kindern des Königs der Könige, den
Brüdern Christi, den Erben der Seligkeit, den Possendichter Plaatus,
den Unzuchtpoeten Catull, den unreinen Ovid, den Spötter Lucian, den
schmutzigen Martial zu Lehrern zu geben?" So haben wir den heid-
nischen Götzendienst in die Schulen eingeführt. Oder sind die Bücher
keine Götzenbilder? Schlinmier sind sie als Götzenbilder. Denn diese
waren Werke der Hände, jene sind Werke des Geistes. Bestachen die
Bilder durch den Glanz des Goldes und Silbers die Augen, so ver-
blenden die Bücher durch den Schein einer fleischlichen Weisheit den
Geist. Wer hat den Kaiser Julian, wer den Papst Leo X. verführt,
daß er die Geschichte von Christus für eine Fabel hielt? durch welchen
Geist getrieben mahnte Bembus den Sadoletus von der Lesung der
Bibel ab, da solche kindische Possen für einen so großen Mann nichts
seien? Was ist es, das heutzutage so viele italienische und andere
Denker in den Atheismus stürzt? Daß es doch selbst in der gereinigten
Kirche Christi nicht solche gebe, welche durch den todbringenden Ge-
ruch des Cicero, Plautus, Ovid von der Schrift sich abziehen lassen.
„Lasset uns nicht ferner das Bild Dagons neben die Lade des Bundes
stellen; lasset uns nicht mehr die Weisheit von oben mit der irdischen,
tierischen und teuflischen vermischen und den Zorn Gottes über unsere
Kinder bringen."
„Man wird sagen: es sei viel Weisheit in den Büchern der Philo-
sophen, Redner und Poeten. Ich antworte: Finsternis verdienen, welche
vom Licht die Augen abwenden. Den Nachtvögeln kommt der erst«
Dämmerschein als heller Mittag vor; aber anders urteilen die Tiere
des Tags." Überall, in der Naturlehre wie in der Sittenlehre, ist die
Schrift die klarste Leuchte. Die wahre Philosophie ist nichts anderes
als die wahre Erkenntnis Gottes und seiner Werke, und diese kann überall
nicht wahrer, als aus dem Munde Gottes vernommen werden.
„Aber um des Stils willen muß man Terenz, Plautus u. a. lesen. —
Ich antworte: Sollen wir darum unsere Kinder in die Kneipen und
Hurenhäuser führen, damit sie sprechen lernen? Oder führen etwa
Terenz, Plautus, Catull, Ovid die Jugend nicht an solche Orte?" —
„Aber nicht alles in jenen Autoren ist von der Art. — Ich antworte:
das Schlechte bleibt kleben." — „Du sagst: nicht alle sind schmutzig;
J. Arnos Camsniiis, 467
Cicero, Virgil, Horaz u. a. sind anständig und würdevoll. — Ich ant-
worte: auch das sind blinde Heiden, die vom wahren Gott zu Göttern
und Göttinnen den Sinn der Leser lenken. Gott aber hat seinem Volk
gesagt: Gedenket nicht des Namens fremder Götter und lasset ihn nicht
aus eurem Munde gehen" (Exod. 23, 13).
Aber in Wahrheit, ist allein bei jenen Heiden Eleganz der Sprache?
Der Tollkommenste Redner ist, der die Rede geschaffen hat, der Geist
Gottes, dessen Worte süßer sind als Honig, durchbohrender als ein
zweischneidig Schwert. Sind allein bei den Heiden merkwürdige Ge-
schichten? Die Bibel ist voll von viel merkwürdigeren und wahren.
Sind allein bei ihnen Tropen, Figuren, Allegorien etc. zu finden? Nirgend
mehr und schönere als bei uns. Nur ein Mann mit Triefaugen kann
den Olymp, Helicon, Pamassus schöner finden als den Sinai, Zion,
Hermon, Tabor und ölberg. — Doch geben wir zu, daß auch bei den
Heiden für uns brauchbare Phrasen, Sprichwörter, Sentenzen sich finden,
sollen wir deshalb unsere Söhne zu ihnen schicken? Warum plündern
wir nicht lieber die Ägypter und ziehen ihnen ihren Schmuck aus?
Gott hat es erlaubt, ja geboten. — Höchstens mag ein Schriftsteller
wie Seneca, Epictetus, Plato und ähnliche Lehrer der Tugend und Ehr-
barkeit zugelassen werden; aber auch nicht, bevor die Gemüter im
Christentum befestigt sind. Und zuvor soll man jene reinigen, indem
man die Namen der Götter und was sonst an den Aberglauben er-
innert, entfernt
Er schließt mit dem Worte Jesu: Alle Pflanzen, die mein himm-
lischer Vater nicht gepflanzet, werden ausgereutet (Matth. 15, 13).
Und ebenso wenig, als in Hinsicht der sittlich-religiösen Erziehung,
genügen die humanistischen Schulen den Forderungen des Comenius
in Hinsicht auf die wissenschaftliche und intellektuelle Bildung. Er
klagt in dem 18. Kapitel der Didaktik, welches von der Solidität im
Unterricht handelt, als die aberratio enormis desselben an. „Sie haben
die ingenia nicht, wie die jungen Bäumchen, aus der eigenen Wurzel
wachsen lassen, sondern sie gelehrt, Zweiglein überallher abpflücken
und sich damit behangen und nach Art der Aesopischen Krähe mit
fremden Federn sich schmücken. Sie haben nicht den Quell der Ein-
sicht, der in den Kindern verborgen ist, ans Licht zu führen, sondern
mit den Wasserbächen anderer sie zu begießen sich bemüht, sie haben
nicht die Dinge gezeigt, wie sie an sich sind, sondern was über dieses
und jenes dieser und jener und ein dritter und zehnter meine und sage,
so daß für den Gipfel der Erudition gegolten hat, vieler Menschen
Meinungen über viele Dinge zu wissen. So ist es geschehen, daß die
meisten nichts trieben, als sich durch die Autoren durchzublättern,
30*
468 Ul, 1. Beginnendes Erwachen des modernen Geistes u. s. u\
Phrasen, Sentenzen, Opinionen abpflückend, und Wissenschatt wie einen
Rock aus tausend Lappen zusammenflickend. Ihnen gilt das Wort des
Horaz: o Imitatoren, Sklavenvieh! Wahrlich Sklaven vieh, das nichts
kann als Packträger fremder Dinge sein.^<
Aber nicht einmal die Sprache haben sie gelernt Ein Küchen-
junge oder Troßbube lernt in der Kneipe oder im Lager eine, ja zwei
und drei ihm völlig fremde Sprachen, eher als ein Schüler unserer Ge-
lehrtenschulen in voller Muße und mit größter Anstrengung das einzige
Latein. Jene schwatzen nach ein paar Monaten munter ihre Sachen,
dieser kann kaum nach 15 oder 20 Jahren mit Hilfe von Grammatik
und Wörterbuch ein wenig Latein stottern (JDidact m. c. 11).
Aus diesen labyrinthischen Wegen will Comenius die Jugend und
die Schulen herausführen. Vor allem hat er sich die Erfindung eines
geraden und kurzen Weges zur Latinität angelegen sein lassen. Eine
ganze Eeihe von Schulbüchern, die Janua linguarum reserata, das J'esti-
bulumj der Orbis pictus dienen in erster Linie diesem Zweck; sie geben
dem Schüler Form und Material der Sprache mit einander; sie wollen
ihm ersparen, mit unermeßlicher Mühe aus den Autoren die Sprache
selbst zusammenzutragen, damit, heißt es in der Vorrede zu der Gesamt-
ausgabe, „die Erlernung dieser Sprachen nicht so viel Schweiß und
Mühe koste und die Jugend eher zu den Sachen, in deren Erkenntnis
die Weisheit besteht, komme und in der Folge besser für die Aufgaben
des Lebens vorbereitet werden könne."
Auf das Detail der didaktischen A])sichten und Versuche des
Comenius gehe ich nicht ein, ich verweise auf Baumeb und Schmid.
In den pädagogischen Grundanschauungen berührt er sich überall mit
Ratichius, von dem er die erste Anregung empfangen zu haben selbst
bekennt Wie dieser, will er den Unterricht nicht mit der Grammatik,
sondern mit der Sprache selbst beginnen; wie dieser, will er den Unter-
richt in der Muttersprache dem fremdsprachlichen Unterricht voraus-
schicken; wie dieser, beschäftigt er sich lebhaft mit der Idee methodisch
entworfener Kompendien oder Encyklopädien der Wissenschaften (pan-
Sophia); wie dieser, sucht er den Weg der Natur in der Entwickelung
des Intellekts, um ihm im Unterricht zu folgen; die Analogie des
Pflanzen Wachstums ist ihm oft Führerin in seinen allgemeinen didak-
tischen Betrachtungen. Stärker als Ratichius betont er die Notwendig-
keit, Wort- und Sachunterricht parallel gehen zu Is^sen; der orbis pictus,
welcher wenigstens Abbildungen der Dinge zu ihren lateinischen Be-
nennungen giebt, ist ein Versuch, die Forderung zu erfüllen. Comenius
hatte Einflüsse von den neuen naturwissenschaftlich -philosophischen
Anschauungen Campanellas und Bacons erfahren. Was diese mit
Eühard Liibinus, 469
stärkstem Nachdruck aussprechen, daß es in den Wissenschaften keine
Entscheidung durch Autorität, auch nicht die der Alten, sondern nur
durch Vernunft und Erfahrung gebe, das ist die Grundanschauung
auch des Comeniüs; er folgert daraus für den Unterricht, daß seine
eigentliche letzte Aufgabe überall keine andere sein könne, als hierzu
geschickt machen. Als Gesetze der Solidität des Unterrichts formu-
liert er folgende drei: 1. Omnia e principiis rerum immotis deriventur,
2. Niltil doceatur per autoritatem nudam, omnia per demonstrationem
sensualem et rationalem, 3. Nihil methodo analytica sola, synthetica
potius omnia (I, 91).
Noch mag das Ideal eines ünterrichtswesens und Studienkursus,
wie es Comeniüs mit einigen Strichen zeichnet, Erwähnung finden. Er
teilt die Jugend in vier Sexennien. Das erste gehört dem Haus und
der Mutter, das zweite der öffentlichen deutschen Schule, welche jede
Gemeinde haben und durch welche jedes Kind gehen muß, das dritte
der Lateinschule (Gymnasium), welche in jeder Stadt, das vierte der
Akademie, welche in jedem Land sein muß, und endlich den Reisen.
Das Gymnasium lehrt die Sprachen und die Künste: Lateinisch bis
zur Fertigkeit der Eede, Griechisch und Hebräisch bis zur Fähigkeit,
in diesen Sprachen Geschriebenes zu lesen (I, 164).
Comeniüs, durch die siegreiche katholische Reaktion aus seinem
Vaterlande vertrieben (1627), war seitdem heimatlos; aber überall, wohin
ihn sein Geschick führte, fand er für seine Schulreform Teilnahme und
zuweilen auch Unterstützung: in Polen und Ungarn, in Schweden und
England, bei Privaten und Regierungen. Die letzten Jahre seines Lebens
hielt er sich in Amsterdam auf; er hat der Stadt, die er das Auge der
Welt nennt, die Gesamtausgabe seiner Werke gewidmet. —
Die beiden Männer, von denen im Vorhergehenden gehandelt worden
ist, haben natürlich nicht die pädagogischen Reformbestrebungen erst
in die Welt gebracht; jsie haben nur die vorhandenen Stimmungen und
Mißstimmungen am stärksten empfunden und ausgedrückt und die ihrer
Zeit einleuchtendsten Heilmittel vorgeschlagen. Dadurch hat sich die
ganze Bewegung an ihren Namen geknüpft. Der genaueren Nach-
forschung würde es sicher gelingen, eine ganze Anzahl von Männern
zusammenzubringen, die sich gleichzeitig und zum Teil schon vor ihnen
mit ähnlichen Gedanken und Plänen beschäftigt haben. Ich will
wenigstens einen erwähnen, Eilhabd Lübinüs, Professor der Poesie,
später der Theologie zu Rostock (1565 — 1621). Im Jahre 1614 erschien
in neuer Auflage sein Novum Testamentum Graeco-Latino^Germanicum ;
es ist ein Schulbuch zur Erlernung der beiden Sprachen: unter dem
griechischen Text steht eine lateinische und darunter wieder eine deutsche
470 lU, 1. Beginmndes Erwachen des modenien Geistes u. s. w.
Interlinearversion. In der Epistola praeliminarisj qua consilium de
Latina lingua compendiose a pueris addiscenda exponitur (an Herzog
Philipp von Pommern), wird ausgeführt: es habe den Verfasser schon
lange beunruhigt, wie ein Knabe eine neuere Sprache, die pohlische
oder französische, so schwer sie unserer Zunge falle, doch in kurzer
Zeit und ohne große Mühe lerne, dagegen in den alten Sprachen trotz
jahrelangen Unterrichts und grausamer Plage des Lehrers und Schülers
es kaum dahin bringe, ein wenig Latein zu stammeln. Die Sache
könne nur an der Methode liegen; er glaube den Fehler darin gefanden
zu haben, daß man die Sprache aus der Grammatik lehren wolle, statt,
wie man neuere Sprachen lerne, durch den Gebrauch; auch das sei ein
Fehler, daß man mit Übersetzen aus dem Deutschen ins Lateinische,
statt mit der umgekehrten Übung beginne. Schon vor 20 Jahren habe
er um dem abzuhelfen einen Plautus mit Interlinearversion heraus-
gegeben und andere ünterrichtsbücher verfaßt. — Man sieht, Lübinus
ist ganz auf demselben Wege, auf dem später Ratichiüs wandelt. Auch
die Idee, Bilder zum Sprachunterricht herbeizuziehen, welche von Come-
Niüs später ausgeführt worden ist, findet sich schon bei Lübinus. —
Ob übrigens dem Ratichiüs, der in Rostock studierte, die Versuche
des LüBiNüs nicht doch eine Anregung gegeben haben, obwohl er es
in Abrede stellt? (Vogt, I, 5).
Unter den jüngeren reformpädagogischen Schriftstellern, welche
jenen Führern folgen, mag J. Balthasar Schupp, ein Schwiegersohn
des Gießener Helvicus, zuletzt Prediger in Hamburg (1610 — 1661)
erwähnt sein; er bildet einen Übergang zu dem folgenden Zeitalter,
er wird schon von den Ideen bewegt, denen wir bei Leibniz in ihrer
vollen Entwickelung wieder l)egegnen werden.^ Die TJniversitätsgelehr-
samkeit wird von ihm nicht hoch geschätzt, er stellt sie oft als Schul-
fuchserei der Bildung durch das Leben gegenüber, wie sie besonders
an den Höfen gewonnen werde. „Wer nicht ein wenig bei Hofe ge-
wesen, der kennet die Welt nicht recht; ein vornehmer fürstlicher oder
gräflicher Hof ist eine Schule, darinnen man große Tugenden und
große Laster lernen kann. Und wenn auch große Herren nicht stu-
dieret haben, so hat ihnen doch die Natur gemeiniglich etwas sonderliches
mitgeteilt, und die Natur thut mehr als die Kunst" (Hentschel, 51).
Er schätzt die mathematisch-physikalischen Studien und denkt an ihre
praktische Verwertung: „Wenn ich Karls d. Gr. Eeichtum hätte, wollt*
ich dem Mathematico 3000 Reichsthaler geben, damit er diese scientias
* Über ihn C. Hentschel im Progr. der Realschule zu Döbeln, 1876.
Th. Bischoff, J. B. Schupp, in der Beilage zum Jahresbericht des Nürnberger
Realgymn., 1SS9.
Balthasar Schupp, 471
also excoliere in deutscher Sprache, daß alle Handwerksleute dieselbe
lernen und ihre Handwerke dadurch perfektionieren könnten. Dem
physico wollte ich auch 3000 Thaler geben, daß er gedächte, ich will
die Physik also excolieren, daß die Bauern mehr von mir lernen können,
als die Gelehrten aus des Aristotelis Physik bisher gelernt haben" (48).
Auch das perpetuum mobile macht ihm zu schaffen. Auf die lateinische
Eloquenz giebt er wenig: „Wem unter den Deutschen nützt die latei-
nische Redefertigkeit, wenn er nicht im Schulstaub leben und sterben
will ?" Der Theolog, der Rechtsgelehrte bedürfen allerdings der Bered-
samkeit, aber immer der deutschen. „Wenn ich meine verlorne Zeit
einbringen und noch einmal professor eloquentiae auf einer Universität
werden könnte (er war es zu Marburg gewesen), so wollte ich mich
bemühen, daß die Jugend in der Wohlredenheit angeführt würde in
ihrer Muttersprache: denn in ihrer Muttersprache könnten sie leichter
zur perfecäon gebracht werden, als in einer ftremden Sprache." Doch
hat Schupp auch eine Methode zur Erlernung der lateinischen Sprache
erfunden.^ —
Faßt man die Bestrebungen aller dieser Männer in Formeln, so
treten als gemeinsame Punkte etwa folgende vier hervor:
1. Nicht bloß die Sprachen, sondern auch die Sachen!
Die Schule soll nicht bloß Latein lehren, sondern zum Sachwissen führen,
in Mathematik und Naturwissenschaft, in Geschichte und Erdkunde.
^ Wie Schupp als Vorläufer LEiBxizens, so kann Jon. Val. Andreae (1586
bis 1654), ein württembergischer Theologe, befreundet mit Job. Arnd, als Vor-
läufer Francees in seinen pädagogischen Bestrebungen angesehen werden. Über
ihn Hüllemann, Progr. der Leipziger Thomasschule, 1884,. und ausfQhrlicher
ScHHiD, Gesch. der Erziehung, III, 2, 147. Ebendort wird auch über einen
andern pädagogischen Reformer der Zeit, Jon. Heinr. Alsted (1588 — 1638), ge-
handelt, den CoMENius in Herbom gehört hat. Ein jüngerer Zeitgenosse des
CoMENiüs ist Johann Baue (über ihn Wohlrab im Progr. Dresden-Neustadt 1886).
Raue (1610—1679), ein geborener Berliner, Professor der Eloquenz und Historie
zu Erfurt, Rostock, au der dänischen Ritterakademie zu Sorö, und endlich zu
Danzig, warf sich, von Comeniüs angeregt, mit Eifer auf die Studienreform, für
die er zuerst in Kursachsen, dann in den thüringischen Gebieten Propaganda
machte. 1654 kehrte er nach Brandenburg zurück und wurde in diesem Jahre
vom großen Kurfürsten zum „General -Inspektor aller Schulen unserer Chur-Mark*'
und zum Professor an der eben nach Berlin verlegten Landesschule (Joachimsthal)
ernannt. Von seiner Thätigkeit in diesen Stellungen wird freilich wenig gehört.
1659 wurde er zum Vorsteher der neu errichteten Bibliothek zu Berlin ernannt.
Seine didaktischen Prinzipien entfernen sich nicht weit von CoifSNius ; Ziel alles
Unterrichts ist cognitio rerum, der Weg dazu die Anschauung. In Danzig war
Jon. BuNO Raues Kollege, derselbe, der in zahlreichen Lehrbüchern die Ver-
anachaulichung als mnemotechnisches Hilfsmittel verwendet hat; besonders seine
historischen Lehrbücher sind vielfach gebraucht worden.
472 ///, h Beginnende Erwachen des modernen Geistes u, s. w.
2. Die Sprachen recht lehren! Nicht die Sprache aus der
Grammatik, sondern die Grammatik an und aus der Sprache.
3. Die deutsche Sprache treiben! Sie ist die Sprache, welche
die Kinder mitbringen, also die erste Unterrichtssprache, und die Sprache,
in der Besinnung auf die grammatischen Kategorien zuerst stattfinden
kann. Auch ist sie die Sprache, die der Theolog und Jurist im prak-
tischen Leben als Redner und Schriftsteller braucht; daher ist Übung
in der deutschen Rede notwendig.
4. Des Zwangs und des Prügeins ledig werden! Der Weg
dazu ist: durch vernünftige Wahl der Unterrichtsgegenstande und durch
vernünftige Methode das Lernen erleichtem und das Interesse gewinnen.
Die Reformbestrebungen sind an der Wirklichkeit nicht ganz spur-
los Torübergegangen. Eine Reihe von mitteldeutschen Schulordnungen
lassen ihren Einfluß erkennen. Zwar der Versuch Ludwigs von Anhalt,
die Pläne des Ratichius in einer zu Köthen dafür gegründeten Schul-
anstalt zu verwirklichen, scheiterte und trug dem Didacticus nicht den
erwarteten Dank. und Ruhm, sondern Schimpf und Gefängnis ein. Auch
das Vorkommen RATicmas'scher Grundsätze in der landgräflich hessi-
schen Schulordnung vom Jahre 1618 dürfte nicht auf tiefergehenden
Einfluß schließen lassen. Dagegen scheinen in den sächsischen Herzog-
tümern die von ihm ausgegangenen Anregungen fruchtbarer gewesen
zu sein, sowohl in den gelehrten Schulen, als in den deutschen, in
deren Organisierung jene Ländchen vorangingen. Für Weimar wurde
1619 durch den. Superintendenten Kromayer eine an Ratichius' Ge-
danken sich anschließende Schulordnung gegeben ; in ihr ist auch zum
erstenmal das Prinzip des staatlichen Schulzwangs ausgesprochen. Mit
dem lateinischen Unterricht beschäftigt sie sich, weil auch in einigen
Dörfern Unterricht in der lateinischen Grammatik gegeben werde; sie
folgt hier in der Methode durchaus dem Ratichius (Vormbaum,I1, 257).
In den 40 er Jahren folgten Herzog Ernsts des Frommen von Gotha
gleichgerichtete und wirksamere Bemühungen. Sein Berater war
S. EvENius, der des Ratichius Methode schätzte; auf dessen Veran-
lassung wurde A. Reyher als Rektor an das Gothaer Gymnasium be-
rufen. Reyheb hat sich mit der Verbesserung der Unterrichtsmethode
viel Mühe gegeben, von ihm ist der berühmte Gothaische Schulmethodus
entworfen, der die erste ausführliche Ordnung des Volksschulunterrichts
giebt (VoRMBAUM, II, 2950*.). Reyhers Verwaltung des Gymnasium?, in
dessen Unterricht er des Comenius lateinische Elementarbücher einführte,
wird als eine vortreffliche und glückliche bezeichnet (Schulze, 124 ff.;
Einfluß der Reformer auf die Praxis, 473
über Reyhees Leben Heine, Progr. Holzminden 1882). Auch in
anderen Schulordnungen des 17. Jahrhunderts kommen die lateinischen
Schulbücher des Comeniüs nicht selten vor, so in der hessischen (1656),
hanauischen (1658) und der Erzstift -magdeburgischen (1658), welch
letztere ganz voll ist von den Grundsätzen und Anschauungen des
Comeniüs. Auch in den Lehrplänen mancher Städte, Güstrow, Soest,
Mors, Nürnberg, Baireuth, Eisleben, Görlitz, Danzig u. a. werden Schriften
des Comeniüs erwähnt.
Man wird sich aber hierdurch nicht darüber täuschen lassen, daß
im ganzen und großen wenig geschah; es wurden vielfach neue Schul-
ordnungen verfaßt, aber zu einer umfassenden Verbesserung des Schul-
wesens kam es nirgends. Zur Schulreform gehören zwei Dinge, tüchtige
Lehrer und Geld. An beiden fehlte es. Hierüber sind alle Reformer
und alle Schulordnungen der Zeit einig: das große Übel, an dem die
Schulen kranken, ist die überaus kümmerliche Lage des Lehrerstandes;
die Folge ist, daß kein tüchtiger Mann in der Schule bleiben will. Die
Besoldungen, sagt B. Schupp, seien im besten Falle die alten geblieben,
aber die Preise seien aufs zwei- und dreifache gestiegen. ,,Daß sich
heute kein generöses und tugendreiches ingenium zum Schulwesen will
gebrauchen lassen, rühret daher, daß man den Schulbedienten Zeisigen-
futter giebt, aber Eselsarbeit auferlegt" (Bischoff, 69). Überaus deut-
lich spricht über diesen Punkt die braunschweigische Schulordnung von
1651 (bei Voembaüm, II, 407). Der Mangel der Schule komme vor
allem daher, daß man sehr wenig rechtschaflFen qualifizierte Lehrer habe
und daß diese nicht bei der Schule bleiben wollten; und das komme
wieder daher: erstens „daß die praeceptores so viel zu ihrem Sold sich
nicht zu erfreuen gehabt, davon sie notdürftiges Essen und Trinken,
zu geschweigen Kleider und andere unentbehrliche Notdurft nehmen
könnten"; zweitens „daß sie keine Ehre, sondern hingegen lauter Ver-
achtung und Beschimpfung in bürgerlichen Konversationen und Zu-
sammenkünften zu erwarten gehabt". „Gerät es zu ehrbaren Zusammen-
künften, Gelagen, Prozessionen, auf Hochzeiten, Kindtaufen, da ist
niemand auch unter den gemeinen Bürgern, welcher den Prazeptoren
zu weichen oder die Oberstelle zu lassen gemeinet, sondern es muß
sich der arme Präzeptor, ob er schon Rektor, Konrektor oder Subrektor
ist, welchem die ganze Stadt die Seelen ihrer Kinder anvertraut, von
Hand Werksleuten, Schustern, Schneidern, Bäckern, Brauern, Krämern,
ja auch denen, so wohl gar nichts zum gemeinen Besten thun, sondern
entweder von Finanz und Wucher oder von demjenigen leben, was
ihnen ihre Vorfahren hinterlegt, fruges consumere natis, hinunterstoßen
und verachten lassen." Dem Kuh- und Schweinehirten werde überall
474 ///, 1, Beginnendes Erwachen des modernen Geistes u. s, w.
gebührlich gelohnt, damit das unvernünftige Vieh wohl in acht ge-
nommen werde, dagegen lasset sich, welches nicht genug mit Thranen
zu beklagen ist, kein Mensch finden, welcher ernstlich darauf gedachte,
zu geschweigen jährlich oder monatlich ein gewisses hergeben wollte
zur Unterhaltung des Präzeptors.
Diese Verhältnisse sind das ganze 17. und 18. Jahrhundert hin-
durch im wesentlichen überall die gleichen geblieben: für Lehrer und
Schulen waren keine Mittel vorhanden. Die Einkünfte des Fürsten
verzehrten der Hof und das Heer, so daß auch da, wo guter Wille
vorhanden war, nicht viel geschah, und was geschah, kam noch eher
den deutschen Volksschulen auf dem Lande, als den lateinischen Stadt-
schulen zu gute. Die Städte aber, durchweg selbst arm und kümmer-
lich vegetierend, hatten ebenso wenig Mittel für die Verbesserung der
Schulen übrig. Vielfach fehlte es hier auch an Einsicht in die Wichtig-
keit der Sache; ein träger, spießbürgerlicher Konservatismus ließ e^
am liebsten in allen Stücken beim alten und erwehrte sich durch
passiven Widerstand der von eifrigen Lehrern erstrebten oder von oben
gebotenen Neuerungen.
Und damit ist ein zweites großes Hemmnis der Schulreform be-
rührt: der Mangel an einheitlicher Organisation und einheitlichem Schul-
regiment Nur die Landesschulen standen unmittelbar unter staatlicher
Verwaltung, die Stadtschulen standen unter dem Rat. Zwar erließ die
Landesregierung allgemeine Schulordnungen, es fanden wohl auch Visi-
tationen der Schulen im landesherrlichen Auftrag statt; aber es gab
kein Mittel, widerwillige Städte zu zwingen. Und wieder, auch der
einzelnen Schule fehlte es an einheitlicher Organisation. Bei dem
herrschenden Elassensystem war im Grunde jeder Lehrer in seiner
Klasse Alleinherrscher; wenn er nicht mochte, kümmerte er sich über-
haupt gar nicht darum, was in der Klasse über oder unter ihm ge-
trieben wurde. Da das Schulgeld dem einzelnen Lehrer von den
Schülern seiner Klasse gezahlt wurde, so gab es nicht selten ärgerlichste
Verhältnisse zwischen den Kollegen. Auch diesen Punkt berührt die
eben erwähnte Schulordnung: ob schon der eine und andere Präzeptor
es ihm mit der Institution einen rechten Ernst sein lasse, so bringe
das keinen rechten Nutz, da so viel Schulen (Klassen), so viel Arten
des Unterrichts sich fönden; wenn dann die Jugend aus einer niederen
Schule (Klasse) in die andere sich begäbe, müsse sie nicht nur von
neuem zu lernen anfangen, sondern was sie vorher gelernt, mit großem
Verlust der Zeit wieder abgewöhnen und ablernen. —
War unter solchen Umständen eine große und durchgreifende
Reform des Schulwesens im 17. Jahrhundert von vornherein unmöglich,
Versdii^bungen im ünterrichtshetrieb. 475
so vollzogen sich doch allmählich kleine Verschiebungen im ünter-
richtsbetrieb. Man kann sie unter folgende Gesichtspunkte bringen.
1. Die lateinische Sprache blieb die eigentliche Substanz des
Unterrichts; Eloquenz, mündliche und schriftliche Herrschaft über die
Gelehrtensprache, war noch das erste und wichtigste Schulziel. Doch
nahm mit der zunehmenden Entfernung von der Renaissance, mit der
abnehmenden Geltung der neulateinischen Litteratur in der großen
Welt, allmählich die Schätzung der Klassizität des Ausdrucks ab ; man
lernte sich mit dem Latein der philosophischen und theologischen Lehr-
bücher begnügen. Auch die Lektüre der lateinischen Klassiker wird
allmählich zurückgegangen sein.
2. Die griechische Sprache, die schon im 16. Jahrhundert mit
großem Abstand der lateinischen folgte, blieb in diesem Zeitalter noch
mehr zurück. Der Betrieb schränkte sich noch enger auf die für den
Theologen erforderliche Kenntnis der Sprache ein. Als Schulautoren
kommen am Anfang noch, außer den Spruchsammlungen, Homer und
Demosthenes vor; aber daneben werden Schriften christlichen Inhalts
häufiger gebraucht, die kurpßllzische Schulordnung von 1615 z.B. nennt
neben jenen Nonnus und Basilius. Mehr und mehr wurde das N. T.
das Hauptunterrichtsbuch. Der Rückgang der griechischen Studien
wird auch im üniversitätsunterricht sichtbar. Die Benutzung der
griechischen Texte des Aristoteles wurde seltener. Schon gegen Ende
des 16. Jahrhunderts wird aus Wittenberg und Leipzig darüber geklagt,
daß die Kompendien das Quellenstudium des Aristoteles verdrängt hätten.^
Ebenso trat in der theologischen Fakultät die Exegese, die Schrift, hinter
die Dogmatik wieder mehr und mehr zurück, so daß endlich gegen
Ende des 17. Jahrhundert-s erstere an manchen Universitäten fast ganz
fehlte (Tholuck, I, 104flF.). Die Scholastik zog auch hier wieder ein.
Ein sehr sicheres Anzeichen für das Zurückgehen des Griechischen
im gelehrten Unterricht ist auch der Umstand, daß die Herausgabe
griechischer Autoren allmählich fast ganz aufhörte; die Zeit zwischen
^ PoLYKARPUs Ltser sprlcht um 1590 seine Verwunderung darüber aus,
daß auf der Wittenberger Universität, die doch für die Mutteranstalt der übrigen
deutschen Akademien gehalten werde, nur über moderne Kompendien der Philo-
sophie Vorlesungen gehalten, dagegen die Schriften des Aristoteles selbst gänz-
lich vemachlftssigt würden. Er sei überzeugt, daß Melanchthok seine Kom-
pendien bloß für die Anfänger geschrieben, keineswegs aber die Absicht gehabt
habe, die aristotelischen Schriften selbst der akademischen Jugend aus der Hand
zu nehmen (Brücker, Hist, philosoph., IV, 248). Ahnliche Klagen aus Leipzig,
aus der Zeit des Lebensendes des Camebabius, findet man in den Schriften eines
oppositionellen Magisters bei Thoxasius, Annalen der Univers. Leipzig und
Wittenberg (Halle 1717), S. 146.
476 Uly 1, Beginnendes Erwachen des jnodernen Geistes u. s. u\
dem Ende des 16. uud dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts stellt
sich in dieser Absicht als eine große Lücke dar. Aus dem Handbuch
der klassischen Litteratur von Schweigeb habe ich folgende Daten
zusammengestellt. Es erschienen in Deutschland (die deutsche Schweiz
eingeschlossen, die Niederlande ausgeschlossen) von 1525 — 1606 16 Ge-
samtausgaben des Homer, von da bis zur ERXEsxischen Ausgabe
1759 nur noch eine; von Hesiod zehn Ausgaben von. 1542 — 1598,
dann eine bis 1730; von Demosthenes fünf Ausgaben von 1532 — 1604,
dann keine bis zur REiSKESchen 1770; von Isokrates 16 Ausgaben
von 1533 — 1613, dann keine bis 1803; von Sophokles acht Ausgaben
von 1534 — 1608, dann keine bis 1786; von Euripides sechs Ausgaben
von 1537—1599, dann keine bis 1778; vom Pindar fünf Ausgaben
von 1526 — 1616, dann keine bis zur HEYNBSchen 1773; von Lucian
sechs Ausgaben von 1526 — 1619, dann keine bis 1777; von Plato
zwei Ausgaben von 1556 — 1602, dann keine bis zur Bipontina 1781;
vom Aristoteles vier Ausgaben von 1531 — 1587, dann keine bis zur
Bipontina 1791; von Euklid sieben Ausgaben von 1533 — 1577, dann
keine bis 1824; von Herodot drei Ausgaben von 1541 — 1608, dann
keine bis 1778; vom Thukydides zwei Ausgaben von 1540 — 1594,
dann keine bis 1784; vom Xenophon acht Ausgaben von 1540 — 1596,
dann keine bis 1763; vom Herodian elf Ausgaben von 1530 — 1662,
dann keine bis 1782; vom Aesop 17 Ausgaben von 1518 — 1610, dann
bis 1734 eine, von da bis 1800 14; von den carmina des Pytha-
goras und Phokylides elf Ausgaben von 1539 — 1622, dann keine
bis 1720; von Epiktets Handbüchlein sieben Ausgaben von 1529 — 1595,
dann keine bis 1756.
Als ein symptomatisches Vorkommnis mag auch das Folgende hier
Erwähnung finden. In den dreißiger Jahren brach ein Streit über die
Graecität des neuen Testaments aus. Die nächste Veranlassung
dazu gab der Rektor des Hamburger Johanneums, Joachim Jungius.
Er verlangte, daß neben dem N. T. auf der Schule auch ein Profan-
schriftsteller gelesen werde, weil das N. T. nicht reines Griechisch enthalte.
Andere Lehrer waren dagegen. Die Frage wurde bei einer Disputation
verhandelt. Die These: an N. T. barharismis scateat? sei eine Frage,
welche nicht zur Theologie, sondern zur Grammatik gehöre, gab weiteren
Kreisen Anstoß. Die Hamburger Geistlichkeit erblickte darin ein Ärger-
nis, der christlichen Gemeinde und besonders der Jugend gegeben; sie
censierte den Urheber von den Kanzeln und forderte den Rat zum Ein-
schreiten auf. Auf des Jungius' Verteidigung: er werfe dem N. T. nicht
Barbarismen vor, sondern behaupte nur, daß seine Sprache nicht rein
Griechisch sei, wendete sich das Ministerium an die Wittenberger theo-
Abwelken des Griechisofien, Rückkehr der scholasL Philosophie, 477
logische und philosophische Fakultät um ein Gutachten. Es fiel folgender-
maßen aus: „Daß Soloecismi, Barbarismi und nicht recht Griechisch
in der heil. Aposteln Reden und Schriften zu finden, ist dem heil Geist,
der durch sie geredet und geschrieben, zu nahe gegriflfen und wer die
heil. Schrift einiger Barbarismi bezüchtiget, wie man heutiges Tages
den Barbarismus zu beschreiben pfleget, der begehet nicht eine geringe
Gotteslästerung" (Gühbaüeb, Jungius, 112lf.). Der Streit zwischen
Puristen, welche die reine Graecität des N. T.s behaupteten, und Helle-
nisten, welche sie leugneten, zog sich ins 18. Jahrhundert hinein, bis
allmählich die erste Partei ausstarb (Wineb, Grammatik des neutesta-
mentlichen Sprachidioms, S. 13flf.).
3. Der Raum, der durch die Zurückdrängung des Griechischen und
Lateinischen gewonnen wurde, kam in erster Linie dem theologischen
und philosophischen Unterricht, daneben allmählich auch der
Mathematik und Physik, der Geschichte und Geographie zu gute. An
die Stelle der Katechismen des 16. Jahrhunderts traten ausführlichere
dogmatische Kompendien als Lehrbücher; in den Ländern des luthe-
rischen Bekenntnisses gewann das von dem Witt^nberger Professor
L. Httttebus, dem großen Feind des Calvinismus, im Auftrag der kur-
sächsischen Regierung für die Fürstenschulen abgefaßte Compendium
locorum theologiconim (zuerst 1610 zu Wittenberg) auf lange Zeit das
größte Ansehen und die ausgedehnteste Verbreitung. Dem theologischen
Unterricht diente der philosophische als Vorbereitung. Logik und
Metaphysik wurden auf den Universitäten wieder mit einem Eifer ge-
lehrt und gelernt, als ob das Mittelalter selbst zurückgekommen wäre;
mit den Vorlesungen kehrten auch die Disputationen wieder, die zu
Anfang des 16. Jahrhunderts durch Poesie und Eloquenz waren be-
schränkt oder verdrängt worden. Der Vorgang der Universitäten wirkte
auch auf die Schulen, zumal da eine feste Grenze im Unterrichtsbetrieb
überhaupt nicht vorhanden war. In den sogenannten akademischen
Gymnasien wurden theologische und philosophische Vorlesungen und
Disputationen gehalten, wie auf den Universitäten. Von dem oben er-
wähnten A. Reyheb, der, ehe er nach Gotha gerufen wurde, Rektor
des Gymnasiums zu Schleusingen war, das zu einer akademischen Lehr-
anstalt sich zu erheben wenigstens trachtete, wird berichtet, daß er in
den Jahren seines dortigen Rektorats von 1633 — 1637 mindestens
41 öflFentliche Disputationen gehalten habe, in denen bald Ethik, Öko-
nomik, Politik und Geschichte, bald Metaphysik, Pneumatik, Physik,
Arithmetik, Geometrie, Geodäsie, Statik, Architektonik, Sphärik, Theorik,
Astronomie, Komputus, Musik und Optik (mit der Sache kehren auch
die mittelalterlichen Namen wieder) behandelt wurde. In denselben
478 II J, 1, Begimiendes Erwaofien des modernen Geistes u. s. w-
Jahren hielt außerdem der Konrektor noch zehn Disputationen de rhe-
torica, de affectionibtts troporum etc. Zu den Disputationen, bei denen
Schüler opponierten und respondierten, kamen auch die benachbarten
Pfarrer und Schulmeister, sowie etwaige fremde Gelehrte.^
^ G. Weicker, Geschichte des Gymnasiums zu Schleusingen (Meiningen,
1877). Die Heranziehung der Geistlichen zu den Disputationen wird auch sonst
erwähnt, z. B. in Ellendts Geschichte des Gymnasiums zu Eisleben, wo über
den Unterricht in diesem Zeitraum überhaupt ausführlich gehandelt ist Im
Grauen Kloster zu Berlin kamen die Disputationen über philosophische und
theologische Materien unter dem Rektorat G. Gütkes (1618—1634), eines Schülers
der Wittenberger Universität, in Aufnahme; er nennt sie delieium yneum et
laboris levamen (Heidemann, 141). Als Gregenstände einer Disputation im Jahre
1654 werden die Fragen angeführt: An aecidens possit esse sine stdjecto? An
gloriosa corpora (die verklärten Leiber) penetrare possint non gloriosa? Man
sieht, wir sind ganz im Mittelalter. Der Göttinger Pädagogiarch Fabricius ver-
faßte einen Thesaurus philosophicus (1624), der in 373 Tabellen das Ganze der
Philosophie darstellt: Logik, Grammatik, Rhetorik, Poetik, Disputierkunst,
Analysis, Genesis, Metaphysik, Physik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Optik,
Astronomie, Geographie, Ethik, Politik, Ökonomik, Historie, quem etipsum, so
berichtet er schon im Jahre 1624, divini spiritus auxilio^ hahitis disputatio-
nibus 136, feliciter dbsolvimus (Pannenborg, Gott Progr. 1886. S. 24> Über
ähnliche Übungen an dem Stettiner Pädagogium s. Wehrmann, S. 70: sie be-
gannen unter dem Rektor Büteuus (1602—1606) hervorzutreten, es sind von
ihm gedruckte Programme für 48 Disputationen aus vier Jahren erhalten ; sein
Nachfolger veranstaltete in dem einen Wintersemester 1606/7 20 Disputationen;
den Höhepunkt erreichte dieser Betrieb aber erst unter dem Rektor Micraeliüs,
der z. B. 1658 20 Disputationen aus Ciceros Offizien halten ließ. Die Programme,
mit Thesen und Korollarien, wurden von den Lehrern verfaßt und auf Kosten
der Schüler gedruckt, die sie als Respondenten zu verteidigen hatten. Daneben
fanden zahlreiche Deklamationen statt, auch in der Form von Gegenreden,
wieder mit großer Inanspruchnahme von Papier und Druckerschwärze. — Über
den gleichen Betrieb an einer süddeutschen Schule, zu Durlach, s. Vierordt,
S. 65 ff. — Noch mag eine Probe der logischen Behandlung der Schriftsteller
aus der 1648 gedruckten Praxis lo(fi<^a des Geraer Rektors Mitternacht, eines
Schulmannes von großem Ruf, hier Platz finden. Horaz' carm, H, 16 wird
durchgegangen. Ad vocem Luna (in Vers 3) heißt es: Quid proprie notet Ijuna,
liquidissinium est. Per metonymiam ponitur pro nocie, eui praeesL Est auteni
individuum (II, 2), quamquam non ignoramus, esse qui statuant non videri ab-
surdum, si vel fnaxume Liinam et Solem speciebus adnumeremus. Etsi enim
una sattem sit Luna numerOy non tarnen simpliciter repugnaty esse posse plures.
Estque Luna substantia (IH, 5) et quidem prima (HI, 7), qui^i neque in sub-
jecto est, neque de suhjecio dieittir. Inde nihil ipsi est contrarium (III, 10),
neque recipit magis aut minus, etianisi quoad lumen crescai atque deficiat. Dis-
paraium est Luna respectu Solls et aliarum stellarum (IV, 10). Posterius quid
est coelo Luna, et quidem tempore. Coelum enim secundo, Luna rero quarto die
rreata. Simul est cum Sole, cum quo tarnen dignitate non est simul (IV, 12).
Die Ziffern verweisen auf Mitternachts Medulla manualis logici Scharfiani
(Büttner, Progr. Gera 1888).
Urteile der Hwmanisten, 479
Die letzten Humauisten urteilten hart über diese Bemühungen.
In einer Rede vom Jahre 1619 (Henke, I, 285) leitet Calixtüs den
Anfang des Verderbens von diesem verfrühten Betrieb der Philosophie
und Theologie ab. Statt auf den Schulen aus den Klassikern Latein
und Griechisch zu treiben, „läßt man die Knaben zu den höheren und
realen Wissenschaften übergehen oder vielmehr überspringen. Und da
bilden sich dann solche Schulmeister was rechtes ein, wenn sie lehren,
was sie selbst nicht wissen und die Schüler nicht verstehen; die guten
Autoren, welche die Vorzeit als Lehrer der Bildung und Rede aner-
kannte, nehmen sie der Jugend aus der Hand; dafür geben sie ihnen
ihre eigenen Kompendien und disserieren nun mit den Knaben über die
materia prima, über ins principium individuationis, über die Prädestination
und den Antichrist. Das scheinen ihnen große und wichtige Dinge zu
sein, dagegen klein und verächtlich die Arbeit, welche auf die Übung
in der schönen Litteratur und den Sprachen verwendet wird."
In einer kurz vorher (1605) gehaltenen Rede beklagt Casblius den
Untergang der schönen Wissenschaften und prophezeit die Barbarei:
die griechische Sprache, welche zu lernen die Jugend vor 100 Jahren
vor Begierde gebrannt habe, finde jetzt selbst auf den Universitäten
kaum noch einige Sorge; auf einigen werde sie gar nicht getrieben,
auf anderen ihre Lehrer vor allen vernachlässigt. Ja selbst gegen die
lateinische Sprache werde man gleichgültiger. Zwar etwas Latein reden
oder stammeln lernten viele, ausreichend für den gemeinen Gebrauch;
aber sobald es sich um größere Dinge handle, fehle es ihnen, wie an
Gedanken, so an Worten, und gar einen alten lateinischen Autor zu
verstehen oder zu erklären, seien sie gar nicht fähig. Ja, es gebe sogar
I^eute, welche die klassischen Autoren als unsittliche Heiden schmähten.
Sollte diese Ansicht sich durchsetzen, dann werde die Barbarei herein-
brechen, Tugend und gute Sitten zu Grunde gehen, von großen Thaten
und Verdiensten um das Vaterland nicht mehr die Rede sein. Auch
die Frömmigkeit werde untergehen und der Aberglaube mit allen seinen
Greueln und Verbrechen und der scheußlichsten Barbarei allein übrig
bleiben.^
Caseliüö war einer der letzten Humanisten ; er hatte seine Bildung
noch in der Schule Melanchthons empfangen, in Italien vollendet;
dann war er erst am mecklenburgischen, hierauf am braunschweigischen
Hof Prinzenerzieher gewesen. Diese Zeit war dahin, Caseliüs hatte
^ CoJwrtatio ad Latinum sermonem paullo adcuratius dUcendum, ab-
gedruckt bei Burckhardt, De fatis lat. lingu, I, 576 ff. Ahnliche Klagen von
Jos. ScALioER aus Leyden in einem Briefe an Caseliüs bei Henke, Calixtus,
Ö. 217.
480 HI, 2. Das Zeitalter Ludwigs XIV. u. d. höfisch-moderne Bildungsideal.
sie überlebt und empfand mit Bitterkeit, daß das neue Jahrhundert
seine Verdienste und Künste nicht mehr nach Gebühr schätzte.
Zwischen den Ausläufern des 16. Jahrhunderts uud dem Beginn
einer neuen Zeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts liegt die
furchtbare Zeit des 30jährigen Krieges, der in Deutschland alle Kultur
niedertrat und das Land um mehr als ein Jahrhundert zurückwarf.
Ich verzichte darauf, das Zerstörungswerk, das dieser Krieg auch an
den Universitäten und Schulen übte, im einzelnen zu verfolgen. Ebenso
verzichte ich darauf, Schauerbilder aus dem Universitätsleben, wie sie
Meyfabt und andere Sittenrichter der Zeit bieten, hier nochmals zur
Schau zu stellen, oder die Geschichte des Aufkommens und der Unter-
drückung des Pennalismus hier auszuführen. Wen es gelüstet, in die
furchtbare Verwilderung der Sitten und des Geschmacks, die im Ge-
folge des Kriegs über Deutschland und im besonderen auch über die
akademische Welt kam, einen Blick zu thun, der versäume nicht
auch eine Schilderung von E. G. Happel, Der akademische Roman
(Ulm 1690) zur Hand zu nehmen. Daß nur 100 Jahre später bei
diesem selben Volk ein Goethe möglich war, ist ein erstaunliches
Zeichen für die Lebenskraft des deutschen Volks.
Zweites Kapitel.
Das Zeitalter Ludwigs XIV. und das höfisch moderne
Bildungsideal.
Mit dem westfälischen Frieden beginnt ein neuer Abschnitt in der
Geschichte Deutschlands. Es ist ein neuer Anfang, zwar nicht in dem
Sinne, daß große neue Ideen, wie beim Beginn des 16. Jahrhunderts,
auf den Plan treten, wohl aber in dem Sinne, daß nach der furcht-
barsten Verwüstung, die vielleicht jemals ein großes Land erlitten hat,
mit der allmählichen Wiederanpflanzung der Kultur begonnen wird.
Für Form und Gehalt der Kultur des neuen Zeitalters ist es von
entscheidender Bedeutung, daß ihr Träger die höfische Welt, der neue
Herrenstand des hohen und niederen Adels ist. Es hat sich seit
dem Ausgang des Mittelalters eine ungeheure Wandlung in der Gesell-
schaft vollzogen. Am Anfang des 16. Jahrhunderts hatten die Städte
und das Bürgertum die führende Stellung gehabt, Humanismus und
Reformation hatten hier ihre stärksten Wurzeln. Aber sie hatten sich
SozicUe Wandlung, Aufsteigen des Adels. 481
nicht als politische Macht zu konstituieren yermocht; seit der Mitte
des 16. Jahrhunderts waren sie auch im ökonomisch -sozialen Nieder-
gang; der große Krieg drückte sie endlich zur Unbedeutendheit herab.
Als herrschender Stand steht in den auf den Krieg folgenden andert-
halb Jahrhunderten der Adel da; der hohe Adel erreichte im west-
fälischen Frieden die formliche Anerkennung der Souveränität; der niedere
Adel büßte bei dem Übergang aus dem alten Feudalstaat in den mo-
dernen Fürstenstaat zwar seine standischen Rechte vielfach ein, doch
brachte er, als Hof- und Dienstadel im Besitz aller höheren Stellen in
der nun sich entwickelnden Militär- und Civilverwaltung, an Reichtum,
Einfluß und Ansehen den Verlust hundertfaltig ein. An Stelle des
heruntergekommenen und verarmten Rittertums am Ende des 15. Jahr-
hunderts haben wir am Ende des 17. Jahrhunderts einen Ökonomisch
wohl situierten Landadel, der eben zum landwirt-schaftlichen Großbetrieb
übergeht, und zugleich als Umgebung des Fürsten im Mitbesitz der
neuen, ungemein gesteigerten Staatsgewalt ist Bürger und Bauern
sind zur Masse herabgedrückt, ihr Beruf ist: Steuern zahlen, Fron-
dienste leisten und das Menschenmaterial für die stehenden Heere
liefern. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist, um das gleich zu
bemerken, das Bürgertum aufs Neue im Aufsteigen; und im 19. Jahr-
hundert erreicht es wieder das Übergewicht. Gleichzeitig wird die
adlig-höfische Bildung durch die gelehrt-bürgerliche des Neuhumanis-
mus zurückgedrängt; wie denn Wandlungen in den Bildungsidealen
jederzeit auf soziale Wandlungen zurückweisen.
Ein sehr charakteristisches Anzeichen für das Aufsteigen des Adels
ist der gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufkommende Brauch, hervor-
ragende Bürgerliche, besonders Beamte und Gelehrte, später auch
Finanzmänner, zu adeln. Die so Ausgezeichneten werden dadurch aus
der Masse herausgenommen und in die Gemeinschaft des regierenden
Standes erhoben. Im 16. Jahrhundert wäre die Adligmachung eines
Gelehrten noch absurd gewesen, man stelle sich vor: Freiherr von
MEiiANCHTHON oder Ritter VON LuTHEE ! Aber Freiherr vonLeibniz oder
VON WoiiPF, das klingt den Zeitgenossen ganz vernünftig, sie vergessen
nie den Zusatz zum Namen, wenn sie von ihnen reden; es ist, als
fühlten sie sich mit geehrt, daß einer von ihnen zu solcher Höhe
emporgestiegen ist. Daß aber die thatsächliche Stellung und Geltung
des Simpeln Dr. Lutheb oder Mag. Philippus bei seinem Landesherm
und beim deutschen Volk eine sehr viel größere war, als diejenige des
Freiherm von Leibniz am Hof zu Hannover, daran wird niemand
zweifeln. Man stelle sich vor, ein Hofprediger hätte um 1 700 zu dem
regierenden Herrn zu reden sich herausgenommen, wie Lutheb zu und
Paulsen, Unterr. Zweite Aufl. I. 31
482 ///, 2, Das Zeitalter Ludwigs XIV, u. d, höfisdi-moderne Biidungsideal,
Ton Fürsten und großen Hansen redet! In den Humanisten und Belor-
matoren war noch etwas von dem Selbstgefühl des alten ersten Standes.
Auch das ist ein charakteristisches Zeichen der Wandlung, daß die
Gelehrten in der äußeren Erscheinung dem Ho&nann es nachthun. Im
16. Jahrhundert trug der Universitatsprofessor durchweg noch, wie im
Mittelalter, die klerikale Tracht; in der zweiten Hälfte des 17. legte
er höfische Tracht an: natürlich, es ist die einzige, die Auszeichnung
verleiht, die klerikale überlaßt er Theologen und Schulmeistern. —
Auch der Student streckt sich nach diesem Ziel: aus dem alten Scholaren
in klerikaler Tracht ist im 17. Jahrhundert der kavaliermäßig gekleidete
und auftretende Student geworden; Stiefel und Sporen, Koller und Degen,
Federn und Abzeichen kennzeichnen den nach höheren Dingen strebenden.
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheint das Tragen des
Degens und der zugehörigen Kleidung als allgemeine Standespfiicht des
Studenten. Natürlich gehören auch kavaliermäßige Neigungen dazu, vor
allem Liebschaften und Ehrenhändel. Duelle und Duellmandat« be-
ginnen seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts.^
Es ist selbstverständlich, daß in diesem Zeitalter aller Fortschritt
von den Höfen ausgeht. Die fürstlichen Residenzen , Berlin, Dresden,
Hannover, Braunschweig, Kassel, Heidelberg, Stuttgart, München, Wien,
sind die Mittelpunkte der Kulturbewegung; die alten Bürgerstädte,
Nürnberg, Augsburg, Ulm, Straßburg, Köln, Erfurt, Lübeck u. s. w.
werden zu stillen Landstädten. Von bedeutenden Fürsten gehen Im-
pulse zu Fortschritten auf jedem Gebiet aus, ich erinnere an Männer
wie Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Ernst den Frommen von
Gotha, August den Jüngeren von Braunschweig- Wolfenbüttel, Joh. Fried-
rich von Hannover, Karl Ludwig von der Pfalz, Joh. Philipp von Mainz
und Würzburg. Wir finden sie bemüht, ihrem Lande zuerst und vor
allem Rechtssicherheit und geordnete Verwaltung, die ersten Bedingungen
jedes Kulturfortschritts, zu geben ; sodann lassen sie sich angelegen sein,
die materielle Wohlfahrt, Handel und G^werbfleiß zu heben; endlich
liegt ihnen an, auch Kunst und Wissenschaft in ihrem Lande anzu-
pflanzen: ist die Macht des Hauses und der Glanz des Hofes der nächste
Gesichtspunkt, so kommt die Sache doch auch dem Lande zu gute.
Im ganzen darf man sagen: von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis
zur französischen Revolution marschiert in Deutschland das Fürstentum
an der Spitze der Kulturbewegung. So viel persönliche Unzugänglich-
keit, so viel Größenwahn und kraftvergeudende Staat- und Souveränität-
^ Michaelis, Rädonnemeiitf I, 15. Siehe über diese Dinge auch Keil, Grescfa.
des Jenaischen Studeutenlebens.
Die Höfe und der moderne Staat als Kulturträger. 483
Spielerei, so viel hohle Fmnksacht und nichtswürdige Mätressenwirtschaft
mit unterläuft und durch Vergeudung der Mittel des Landes die öko-
nomische und kulturelle Entwickelung hemmt, so hat das Fürstentum
im ganzen doch seine Aufgabe: dem deutschen Volk den Anschluß an
die Kulturbewegung des fortgeschritteneren Westens zu vermitteln,
gelöst.
Es ist der moderne Staat mit seiner YoUgewalt über das Leben
seiner Bürger, der in der Qestalt der fürstlichen Souveränität sich zuerst
ankündigt Ein stehendes Heer ist das Bückgrat der neuen Staats-
gewalt, die Eameral- und Steuerverwaltung hat die äußeren Mittel zu
schaffen ; damit entsteht die auf die Hebung des Wohlstandes gerichtete
Politik: die Macht des Fürsten ruht auf der Leistungsföhigkeit der
Unterthanen. Hiermit hängt wieder zusammen die Förderung des
Schulwesens und der Wissenschaft: Wissen ist Macht, der Satz
Bacons ist die Grundlage der Schulpolitik des modernen Staats. Be-
sonders gilt das von der neuen Wissenschaft, der die Zeit überall das
lebhafteste Intere^e zuwendet, der experimentellen Naturwissenschaft
und ihrer Gehilfin, der Mathematik. Die Mutter der Erfindungen, wird
sie die Grundlage der Naturbeherrschung. Sie hat nicht bloß theore-
tische Bedeutung, wie die alte philosophische Physik, sondern sie hat
ein sehr praktisches Interesse, das als kameralistisches den Staat un-
mittelbar angeht. Auch die neuen Künste des Kriegs beruhen auf
Mathematik und Naturwissenschaft. So drängt sich von allen Seiten
her dem modernen Staat die Fürsorge für den Unterricht in den
Wissenschaften auf, er bedarf ihrer für seine Militär- und Civilbeamten.
Aber er bedarf auch des allgemeinen Unterrichts: er kann die Unter-
thanen, deren persönliche und ökonomische Leistungsfähigkeit er schon
im Interesse der Steigerung der eigenen Machtmittel heben will, nicht
erreichen und fassen, wenn sie nicht so viel Schulbildung haben, um
Verordnung und Belehrung aufnehmen zu können. Daher die jetzt
überall beginnende Fürsorge der Obrigkeit für die Volksschule. Es
beginnt das Zeitalter des staatlichen Schulzwangs. In wirksamer Weise
hat sich wohl zuerst Herzog Ernst der Fromme von Gotha der Sache
angenommen. Sein Schulmethodus (bei Vobmbaum, II, 295 ff.), der
1642 zum erstenmal gedruckt wurde, bezeichnet einen wichtigen Grenz-
stein in der Geschichte des deutschen Volksschulwesens. Die Pflanzung
und Erhaltung christlicher Lehre und Zucht ist der eine, die An-
pflanzung nützlicher Fertigkeiten und notwendiger Erkenntnis von natür-
lichen und politischen Dingen ist der andere Gesichtspunkt, den der
fürstliche Oberschulmeister des Landes im Auge hat. — Die kleinen
mitteldeutschen Fürstentümer schlössen sich alsbald dem Vorgang an;
31*
484 III, 2, Das Zeitalter Ludwigs XIV, u, d, höfisch-moderne Bildungsideal,
die größeren nord- und süddeutschen Territorien folgten allmählich im
Verlaufe des 1 8. Jahrhunderts. Für Preußen ist die Regierung Fried-
rich Wilhelms I. eine Zeit bedeutender Thätigkeit.
Die Masse der Bevölkerung ließ diese Bestrebungen passiv über
sich ergehen. Sache des Fürsten ist das Gebieten, Sache des Unter-
thanen das Gehorchen, das ist die politische Anschauung dieses Zeit-
alters. Der Fürst, der jetzt beide Schwerter, nach alter Redeweise, in
der Hand hält, das weltliche und das geistliche, ist die leitende Ver-
nunft des Landes, die Bevölkerung der ausführende Körper. Alle
Lebensbethätigung erwartet von ihm den Anstoß oder steht doch unter
seiner Eontrolle. Sehr bestimmt spricht Herzog August der Jüngere
von Braunschweig-Wolfenbüttel am Eingang seiner Schulordnung vom
Jahre 1651 dies Prinzip aus: „Nun diktieret die Vernunft selbst, daß
zu Erhaltung solches hochnützlichen Zwecks, aller Menschen zeitlicher
und ewiger Glückseligkeit, zweierlei Hauptmittel verordnet: Erstlich
daß die Jugend fleißig, mit großer Behutsamkeit und ziemlicher Strenge
erzogen, vom Bösen abgehalten und hingegen zu allem Guten gewöhnet;
zum andern daß denjenigen, so ihre Jahre erreichet und nun mehr voll-
ständige cives rei publicae geworden sind, keineswegs vergönnet
werde, ihres eigenen Willens und Gefallens zu leben, sondern
daß auch dieselben durch obbemelte media (Belohnungen und gebühr-
liche Zwangsmittel) gehalten werden, allen Wandel, Thun und Lassen
dergestallt im ganzen Leben anzustellen, wie es die von Gott zu dem
End verordnete Obrigkeit nach der Richtschnur göttlichen Worts und
der Ehrbarkeit gebeut'- (Vobmbaüm, II, 207).
Man sieht, die weltliche Obrigkeit hat die geistliche Gewalt, der
Staat hat die Kirche ganz in sich aufgenommen: er regiert das ganze
Leben. Sein erster und wesentlicher Gesichtspunkt aber ist: diesseitige
Wohlfahrt Die jenseitige Glückseligkeit steht zwar auch auf dem
Plan, aber sie tritt in die zweite Linie. Damit verlieren die Dinge,
woran sie hängt, der richtige Glaube und der richtige Kult, an
Wichtigkeit
So entspricht dem Umschwung in der sozialen und politischen
Welt ein Umschwung in der geistigen und wissenschaftlichen Welt
Die Theologie, die Wissenschaft des alten ersten Standes, sinkt mit
diesem im Ansehen. Mehr und mehr wird sie auf der einen Seite von
der Naturwissenschaft, der Wissenschaft von der diesseitigen Welt^ auf
der andern Seite von den neuen Staatswissenschaften, der Wissenschaft
des neuen ersten Standes, zurückgedrängt. , Den Theologen entgleit-et
die Führung im geistigen Leben. Theologische Kontroversen, die im
16. Jahrhundert die Höfe in leidenschaftliche Aufregung versetzten,
Die konf, Theologie sinkt, Natyr- u. Staatswissenschaften im Aufsteigen, 485
begegnen jetzt sehr kühler Aufnahme, meist werden sie mit der An-
weisung, Frieden zu halten, abgefertigt; allzu eifrigen Verteidigern ihrer
Ansichten wird wohl auch mit ernsteren Mitteln beigebracht, daß Sere-
nissimus das Eetzermachen nicht liebe, man denke an den großen
Kurfürsten und Paul Gebhabd. Der Herrenstand, den Angelegen-
heiten dieser Welt zugewendet, ist der Natur der Dinge nach nicht
eben geneigt, gelehrten Kontroversen große Bedeutung beizumessen,
mögen Schulfüchse darüber streiten. Auch theologische Streitfragen
machen davon keine Ausnahmen; und sie werden ärgerlich, wenn sie
politischen Interessen zuwider laufen. Dazu kommt, daß mit zu-
nehmender Bildung in diesen Kreisen sich leicht eine Neigung zum
Spiel mit skeptischen und profanen Ansichten einstellt; sie hat ihren
Boden in elftem Leben, das dem Druck der Arbeit und Sorge ent-
nommen ist und dem Spiel und Scherz sich hingiebt; man denke an
Montaigne und Heinrich IV. Auch in den höfischen Kreisen Deutsch-
lands tritt mindestens eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die konfessio-
nellen Unterschiede seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überall
hervor; hielt doch Karl Ludwig von der Pfalz es für möglich, den
Juden Spinoza, von dem er freilich wohl wenig wußte, als Lehrer der
Philosophie an seine Universität zu berufen. Glücklicherweise war
der Philosoph besonnener als der Kurfürst und so wurde beiden eine
große Enttäuschung erspart. Der Lutheraner Leibniz stand im Dienst
des Erzbischofs von Mainz und des Konvertiten Boineburg, dann des
Konvertiten Johann Friedrich von Hannover. Aus der politischen
Gleichgültigkeit gegen die theologischen Unterschiede der Konfessionen
gingen die Bestrebungen, die auf die Reunion der Kirchen gerichtet
waren, hervor und an politischen Gründen scheiterten sie. Von Leibniz,
der auch hierbei die Hand im Spiele hatte, wird erwähnt, daß er als
junger Mann sich rühmte ein Gebet erfunden zu haben, das nicht nur
jeder Christ, sondern auch ein Jude und Muhammedaner beten könne
(GüHRAüER, Leibniz, I, 18). Wie übrigens in bürgerlichen Kreisen
über solche Weitherzigkeit damals noch gedacht wurde, kann man aus
den ängstlich besorgten Briefen der LEisNizschen Geschwister an den
politischen und höfischen Bruder ersehen (Werke, herausg. von Klopp,
III, XII flF.).
Als die anerkannten Führer im geistigen Leben traten an die
Stelle der Hoftheologen mehr und mehr die Männer, die das natürliche
Weltbild und die philosophische Weltanschauung neu gestaltet haben.
Das 18. Jahrhundert erblickt die Väter seines Denkens und Glaubens
in KoPEENicus und Kepler, in Galilei und Descaetes, in Habvet
und BoYLE, in Newton und Hüyghbns, in Bacon und Hobbes. In
486 in, 2, Das Zeitalter Ludivigs XIV. u. d, höfisch-moderne BildungsideaL
Deatschland sind unter den ersten Trägem der neuen Anschauungs-
weise Leibniz und Pufekdobff als Führer zu nennen; jener pflanzte
die neue theoretische Philosophie, dieser die moderne Staatswissenschaft
auf deutschem Boden an. Unter den Pflegern der jungen Anpflanzung
ragen Che. Thomasiüs und Che, Wolff hervor. Man vergleiche, um
des Umschwungs der Zeiten inne zu werden, die Stellung, die Kopeb-
NICU8 und Kepleb unter ihren Zeitgenossen einnahmen, mit der, die
Newton, Leibniz, Püfendokff, Wolff inne hatten: jene unbekannt
oder verfolgt, diese die vielbewunderten und vielgepriesenen großen
Leuchten in der wissenschaftlichen Welt. Neben ihnen erscheinen die
Hofprediger des 17. und 18. Jahrhunderts, die Nachfolger der Amsi>oef,
Flaciüs, Chemnitius und wie die Berühmtheiten des 16. Jahrhunderts
heißen, als gar kleine Lichter.
Im Zusammenhang mit der Wandlung in der äußeren Stellung
der Theologie steht eine in demselben Zeitalter sich vollziehende innere
Wandlung: das Aufkommen des Pietismus. Innere Abwendung von
der gelehrten Theologie, von den Systemen der orthodoxen Dogmaük,
Hinwendung zum Erbaulichen, zum praktischen Christentum, das sind
die herrschenden Züge der neuen Richtung, die seit dem letzten Viertel
des 17. Jahrhunderts im Vordringen ist Nicht um eine neue, von
der alten abweichende Lehre handelt es sich dabei, sondern um eine
andere Wertung der Lehre: das Christentum ist nicht bloß und nicht
wesentlich Lehrsystem, sondern vielmehr Prinzip eines neuen Lebens;
die Lebensemeuerung ist wichtiger als die Korrektheit in allen Punkten
der Lehre. Begreiflich, daß die alte auf den Universitäten herrschende
Schultheologie darin einen Angriff* auf ihre Existenz erkannte und den
Pietismus als Heterodoxie, als Indifferentismus brandmarkte: wozu hätte
sie dann über hundert Jahre lang um die Reinheit der Lehre gekämpft?
Ja, wozu wäre Lütheb gewesen, dem die reine Lehre über alles ging?
Wogegen freilich der Pietismus auf den Luthee von 1520, den großen
Feind der Schultheologie, den gewaltigen Prediger der fides gegen das
autorisierte credo sich berufen konnte. Und bei den weltlichen Ge-
walten fand die neue religiöse Richtung bald Freunde und Gönner.
Es kamen ihr hier entgegen einerseits die wachsende Abneigung gegen
die Streittheologie und die zunehmende Gleichgültigkeit gegen die dog-
matische Fassung der Lehre, andererseits die Richtung auf das Prak-
tische, auf Verbesserung der Erziehung und der Sitten. Es geht ein
tiefes Gefühl durch die Zeit, daß die Reformation auf ein falsches Ge-
leise gekommen ist, daß es sich im Grunde doch nicht darum gehandelt
habe, aus dem Wort Gottes ein neues theologisches Lehrgebäude zu er-
richten, sondern Christi Lehre im Leben wirksam zu machen.
Ansehen des Altertums im Sinken. 487
So arbeiteten weltliche und geistliche, wissenschaftliche und gefühls-
mäßige Antriebe zusammen , der Herrschaft der alten Schultheologie
ein Ende zu machen.
Auch das andere Element, auf dem die geistige Welt des 16. Jahr-
hunderts ruht, das Altertum oder der klassische Humanismus,
verliert an Geltung. Auch ihm wirken die beiden führenden Tendenzen
der Zeit, die rationalistisch-kulturelle Richtung der höfischen Welt und
die pietistische Richtung der kirchlich-religiösen Kreise entgegen. Der
Pietismus, der überhaupt nicht zur Hochschätzung des Wissens und der
Bildung neigt, darin dem Urchristentum sich verwandt fühlend, ist der
klassischen, der heidnisch-humanistischen Bildung der Renaissance, ihrer
Selbstgerechtigkeit, ihrem Hochmut, ihrer diesseitigen Weltlichkeit, mit
seinem innersten Wesen entgegengesetzt Die rationalistisch-kulturelle
Richtung ist an sich zwar der Welt- und Lebensanschauung des klassi-
schen Altertums verwandt. Aber dem überlieferten humanistischen
Schulbetrieb wird sie noch mehr als der Pietismus gefahrlich, sie ist
geneigt, ihn für veraltet und überflüssig anzusehen: wir können vom
Altertum nichts mehr lernen, wir sind ihnen in den Wissenschaften
überlegen. Vor allem gilt das von der Mathematik und Naturwissen-
schaft; hierin haben wir unzweifelhaft die Griechen überholt; damit
aber haben wir sie auf dem grundlegenden Gebiet der Philosophie
überholt Wir können von ihnen überhaupt nichts Wesentliches lernen.
Dem Mittelalter mochte Aristoteles ein tauglicher Lehrer sein, uns
kann er es nicht mehr sein.
Schon Fe. Bacon spricht, vielleicht ein wenig verfrüht, diese An-
schauung überall auf das lebhafteste aus. Unserer Zeit, meint er (Nov.
Org. I, 84), kommt das höhere Alter zu, nicht den sogenannten Alten ;
und wie wir größere Einsicht in menschliche Angelegenheiten und ein
reiferes Urteil von einem älteren Mann als vom Jüngling erwarten, um
der Erfahrung und der Mannigfaltigkeit und Fülle der Dinge willen,
die jener sah und hörte und dachte, so muß man auch billig von
unserer Zeit mehr als von den Alten erwarten. Und wäre es nicht
schimpflich, wenn wir, die wir durch Schififahrt und Reisen unsere
Kenntnis der äußeren Welt so sehr erweitert haben, in der intellektuellen
Welt uns in den engen Schranken der antiken Vorstellungen festhalten
ließen? — Die ganze Physik des Aristoteles will Bacon nicht einmal
für einen Anfang der wahren Naturwissenschaft gelten lassen: sie tauge
zum Disputieren, aber nicht, was das Kennzeichen der wirklichen Er-
kenntnis sei, zur Beherrschung der Dinge.
Mehr berechtigt als bei Bacon ist das Selbstgefühl, womit Descabtes
es ablehnt ein Schüler der Alten zu sein. Er hatte sich bekanntlich in
488 ///, 2. Das Zeitalter Ludwigs XIV. u. d. höfisch-moderne BUdungsideal,
den letzten Jahren seines Lebens überreden lassen, zu dem litterarisch-
wissenschaftlichen Hofstaat za gehören, den die Königin Christine von
Schweden um sich versammelte. Dazu gehörte auch der Philologe
IsAAC Vossius. Als die Königin von diesem sich im Griechischen
Unterricht geben ließ, bemerkte Descartes: „Ich bin erstaunt, daß Eure
Majestät an diesen Sächelchen Gefallen findet; ich bin als kleiner Knabe
in der Schule auch damit vollgestopft worden, aber seitdem ich zu
meinen vernünftigen Jahren gekommen bin, hab ich glücklicherweise
das alles vergessen." Griechisch und Lateinisch zu verstehen, meint er
ein andermal, sei für einen gebildeten Mann nicht mehr Pflicht als
Schweizerdeutsch oder Niederbretonisch, und die Geschichte des deutschen
oder römischen Reichs gehe ihn nicht mehr an, als die des kleinsten
Ländchens in Europa. Auf ein Skelet zeigend, sagt er: das sind meine
Bücher.^ Das ganze Selbstgefühl des modernen, mathematisch -natur-
wissenschaftlichen Forschers spricht aus diesen Worten. Er verachtet
die Bücher, denn er glaubt die Dinge selbst aus der Vernunft zu er-
kennen ; er verachtet die Historien, denn er sucht das Allgemeine und
das Gesetz; er verachtet die Alten, denn sie hatten noch keine Wissen-
schaft. — Wie Bacon, so erwartet auch Descaetes von der neuen
Wissenschaft die größten praktischen Erfolge; in dem letzten Abschnitt
seines wissenschaftlichen Programms, des Diskurses von der Methode,
entwickelt er, wie jener in der Nova Atlantis, in einigen Zügen ein
Zukunftsbild der vollkommenen Kultur: der Mensch, durch Natur-
wissenschaft Herr der Elemente und der Kräfte, durch Medizin im Be-
sitz der vollkommenen Gesundheit, vielleicht der Altersschwäche selbst
sich erwehrend, erreicht durch Erziehung und Einsicht auch die voll-
kommene Tugend und die vollkommene Glückseligkeit
Man sieht, das Selbstbewußtsein der Menschheit hat eine völlige
Umkehrung erfahren. Bisher war der Blick rückwärts gerichtet Das
Mittelalter hat die Propheten und Apostel, die großen Heiligen und
Lehrer in femer Vergangenheit erblickt und mit demütiger Ehrfurcht
zu den Unerreichbaren hinaufgesehen. Den humanistischen Poeten und
Oratoren fehlte es zwar keineswegs an zuversichtlichem Selbstgefühl,
aber den Alten sich gleichzustellen war im Ernst doch kaum irgend
einem eingefallen: sie blieben die ewigen und unübertrefflichen Muster.
Dieses PJpigonengefühl begann jetzt einer anderen Lebensstimmung zu
weichen: nicht hinter ihnen, so fühlten Bacon und Descabtes und
mit ihnen die folgenden Geschlechter, sondern vor ihnen liege das
* RiOAULT, Histoire de la querelle des and^ns et des modernes, p. 52 ff.;
woselbst eine Reihe älinlicber Urteile von Cartesianeni.
Ansehen des Alteiiums im Sinken, 489
Vollkommene, und sie selbst seien berufen, zu ihm hin zu fuhren. Das
ganze 18. Jahrhundert ist durchdrungen von dem freudigen Bewußt-
sein des eigenen Vermögens, von dem Stolz auf das Erreichte, von
enthusiastischer Hofihung auf das Zukünftige. Es ehrt die Alten, aber
nicht als die Vollender, sondern als die Anfanger; er will sie nicht
mehr nachahmen, sondern übertreffen.
Die Berliner Akademie stellte für das Jahr 1797 die Preisfrage:
Welche Vorteile das gegenwärtige Zeitalter aus der Kenntnis und histo-
rischen Untersuchung des Zustandes der Wissenschaftien bei den Alten
ziehen könne? In der einen der beiden gekrönten Arbeiten, von
D. Jenisgh, einem Schüler Kants, heißt es (S. 83): „das Ansehen der
Alten, besonders in allem was Wissenschaft betrifft, sinkt und sinkt
für immer — zum Heil der Wahrheit und der Kultur! Denn mit
mutigeren Schritten eilt nun das vorurteilfreie Genie dem glorreichen
Ziel der Wahrheit entgegen. Die Kepler, Newton, BoyiiE, Leibniz
strahlen am Horizont Europas herauf und der Glanz der Namen Plato,
Aristoteles, Epikur, Plinius, Seneca und vieler anderer erlischt vor ihnen,
wie Mond und Morgenstern vor der Schöpferin des Tages". — Übrigens
hindert diese Ansicht Jenisch so wenig als den Verfasser der anderen
Preisschrift, den Marburger Tiedemann, die Frage nach den Vorteilen
der Kenntnis der Alten positiv zu beantworten, wobei jener die schöne,
dieser die wissenschaftliche Litteratur hervorhebt
Diese Stimmung gegen das Altertum fand neue Nahrung in der
politischen und litterarischen Entwickelung. Das französische
Volk übernahm hierin die Führung. Der Staat, in der Hand eines
starken Königtums zusammengefaßt, entwickelte sich hier zu einer Größe
militärischer und ökonomischer Macht, zu einer Festigkeit des Baues,
einer Sicherheit der Regierung und Verwaltung, einer überschwäng-
lichen Herrlichkeit der äußeren Erscheinung, daß dagegen die Stadt-
staaten und Bünde der Alten als unentwickelte politische Bildungen
erschienen. Gleichzeitig erreichte die französische Sprache ihre voll-
endete Ausbildung; es entstand eine reiche Litteratur mit feinster und
sorglich gehüteter Formentwickelung. So schien das Altertum auch in
dieser Hinsicht, wenn nicht übertroffen, so doch von einer ebenbürtigen
modernen Kultur erreicht.
La belle antiquite fut toujours venirable,
Mais je ne crus jamais qv^elle fut adorable.
Je vois les Anciens, sans plier les genoux,
Hs sont grandsj il est vrai, mais hommes, comme nous.
Et Pon peut comparer, sans craindre (fStre injuste,
Le Siede de Louis au beau Siecle cP Auguste.
490 ni, 2. Das Zeitalter Ludioigs XIV, u, d. höfisch-moderne Bildungsideal,
So Pereault, der Sänger des Siecle de Louis le Grand, der Ver-
fasser der Parallele des Änciens et des Modernes,
Für die humanistische Poesie war hier kein Baum mehr. Jean
LE Clerc, der als Herausgeber der Bibliothique universelle viele Jahre
lang von Amsterdam aus die litterarische Welt richtete, sprach der
neulateinischen und neugriechischen Poesie das Urteil: Viele Moderne,
die lateinische oder griechische Verse gemacht haben, gleichen den
Alten, wie Affen den Menschen; sie treffen ihre Fehler, aber nicht ihre
Tugenden. Anstatt bedeutender und erhabener Gedanken bieten sie
platte und kriechende; anstatt eines reinen und gedrängten Stils sind
ihre Verse voll verdächtiger Wendungen und langweiliger Wieder-
holungen, voll synonymer Ausdrücke, welche von den Alten entlehnt,
aber am verkehrten Ort angebracht sind. Die alten Dichter würden
diese Verse lächerlich finden und nicht begreifen, daß es Leute giebt,
welche damit ihre Zeit verderben. Die modernen Poeten sind elende
Nachahmer, ohne Originalität, sie sind Dichter nur durch Routine und
Imitation. Um sich von diesem Knechtsgeist der Nachahmung zu be-
freien, muß man in seiner eigenen Spi*ache schreiben. Dann denkt
man nicht an die Ausdrücke und Sentenzen der Alten, sondern, da
man voll ist von modernen Wörtern und Ideen, die man völlig in der
Gewalt hat, wird man selbst Original.^
Die politische Übermacht Frankreichs und das Übergewicht seiner
geistig-litterarischen Bildung war während des auf den westfälischen
Frieden folgenden Jahrhunderts so groß, daß das zersplitterte, zer-
rissene, niedergetretene Deutschland in vollständige Abhängigkeit geriet
Die vornehme Welt bezog während dieses Zeitalters ihre Bildung aus
Frankreich, und die gelehrte und bürgerliche Welt war bemüht, so gut
es ging, zu folgen. Die französische Sprache wurde die Sprache des
Staats und der Gesellschaft; französische Litteratur und Kunst, fran-
zösische Sitten und Anschauungen gewannen in der vornehmen Welt
ausschließliche Geltung; auch die französische Staatseinrichtung und
Hofhaltung, Civil- und Militärverwaltung wurden treulich kopiert. Ein
^ £s ist charakteristifich für die Kulturlage Deutschlands, daß es hier noch
Leute gab, die durch solche Sprache empört wurden. Lizelius, dessen Historia
Poetarum Oraecarum Germaniae (1730, Proleg. p. 4) ich diese Stelle aus
Le Clebcs Parrhasiana ou Pensees diverses sur des mativres de eritique efe,
tom. I, p. 4ff. (Amsterdam 1701) entnehme, meint, das Urteil sei sehr ungerecht:
priscos Poctas, si e mortuis ad fios redirent, muUos e modernis ceu fratres et in
aniiqua Graeeia ceu Latio natos agnituros esse valde persttctsus sum, quemad-
modum etiam credo eosdetn ymdtorum Graecos et Latinos versus derisuros esse.
Er verweist dazu auf eine eigene Schrift von dem berühmten Kieler Kortholt,
worin dieser den Ciericus zurechtgewiesen.
Das neue Bildungeideal: der vollkommene Hofmann. 491
Heer von deutschen Reisenden zog jährlich nach Paris, dort die Sprache
und die Wissenschaften, die Künste and die Kondnite za lernen. Dafür
kam ein Heer von französischen Gesandten und Residenten, Prinzen-
erziehem und Gouverneurs, Tanz- und Fecht-, Sprach- und Stallmeistern,
Köchen und BekleidungskünsÜem nach Deutschland, und bediente und
beherrschte hier den hohen Adel und das verehrliche Publikum. Fürsten
und Adel, Diplomaten und Gelehrte, wie Boinebübo und Cokbing,
nahmen von Ludwig XTV. Pensionen und dienten seinem Interesse. —
So niederträchtig der bewußte Verrat der Interessen des eigenen Volkes
bei Einzelnen, so ungeschickt und tölpelhaft bei Vielen die Versuche
sind, die französische Galanterie zu imitieren, so wäre es doch thöricht
zu verkennen, daß die Aufnahme der französischen Bildung für das
durch den Krieg verwilderte deutsche Volk, wenn nicht der einzige,
so doch der nächste Weg zum Anschluß an die europäische Kultur-
bewegung war.
Auf diesem sozialen und geistigen Boden ist nun das neue
Bildungsideal erwachsen, das seit der Mitte des 17. Jahrhunderts
die Herrschaft gewinnt. Im 16. Jahrhundert war es der höchste Ehr-
geiz eines jungen Mannes, ein vollkommener Gelehrter zu werden,
die beiden alten Sprachen zu verstehen und untadelige lateinische Verse
zu machen, auch für einen Prinzen gab es keine vornehmere Bildung.
Dies alte Bildungsideal wurde jetzt durch ein neues gänzlich in den
Schatten gestellt: das Ideal des vollkommenen Hofmannes. Ein
solcher ist vor allem an der vollkommenen Herrschaft über die Sprache
der neuen Bildung, die französische, erkennbar; in zweiter Linie steht
die italienische, die am kaiserlichen Hof viel gilt; doch gereicht ihm
auch die lateinische zum Nutzen und zur Zierde. Unter den Wissen-
schaften sind dem vollkommenen Hofmann, der als Militär- und Civil-
bedienter gleich verwendbar ist, vor allem Geschichte und Geographie,
natürlich moderne, mit Genealogie und Heraldik, Statistik und Staaten-
kunde, wichtig. Daran schließen sich die Rechts- und Staatswissenschaften,
mit Moral und Naturrecht, Politik und Reichshistorie. Endlich sind
für ihn auch die mathematischen Wissenschaften mit ihren vornehmsten
Anwendungen, z. B. in Architektur und Fortifikation, sowie die neue
Physik und Mechanik, mit ihren Experimenten und Inventionen, von
Bedeutung. Zu den Sprachen und Wissenschaften kommen sodann die
eigentlichen Qualitäten des Kavaliers: Reiten, Fechten, Tanzen, Ball-
spielen, auch Jagen, Tranchieren, ferner Zeichnen, Malen, Musik. Und
die Krönung der Bildung ist die conduite, die große Wissenschaft vom
492 ///, 2, Das Zeitalter Ludwigs XIV. u, d. höfiscfi-modeme BüdungsideaL
Komplimentieren und Diskurieren, von Visiten und Antichambrieren,
von Kleidern und Moden. Sie wird durch den Verkehr mit Leuten
von Welt erworben, daher die Reise als das letzte große Mittel zur
Vollendung der Bildung in dieser Zeit in besonderer Schätzung steht;
Frankreich und die Niederlande, dann Italien und England sind das
regelmäßige Ziel Ein Mann, der alle diese Dinge besitzt, heißt ein
galarUhomme; er wird nun mit guten Aussichten auf Erfolg sein Glück
bei Hofe suchen. Auf einen Gelehrten nach dem alten Zuschnitt blickt
er mit souveräner Verachtung als auf einen altmodischen Pedanten oder
Schulfuchs herab.
Das ist das Bildungsideal, dem während des folgenden Jahrhunderts
die höfische Welt nachstrebt Es ist zunächst der Adel, der sich dar-
nach formt Aber die bürgerliche Welt folgt dem tonangebenden Stande,
wenigstens von ferne und mit sehnsüchtigem Verlangen. Es giebt
für sie nichts Höheres, als sich zur Aufnahme in den Herrenstand zu
qualifizieren, was seit dem Ende des 17. Jahrhunderts immer häufiger
erreicht wird.
Selbstverständlich kann diese Bildung auf den alten Lateinschulen
nicht gewonnen werden. Die vornehme Welt verläßt daher die alten
in Mißachtung fallenden Schulen. An die Stelle tritt die Erziehung
im Hause durch Hofmeister und Informatoren, sie gehören in diesem
Zeitalter zu dem regelmäßigen Inventar eines großen Hauses, oder die
neue Schule höfischer Bildung, die Ritterakademie, wovon im folgenden
Kapitel zu handeln sein wird.^
^ Vergl. hierzu den Aufsati: Die Idealerziehang im Zeitalter der Perrücke,
von G. Steimhausen in den Mitteil, der Gesellschaft für deutsche Erziehungs-
geschichte, Jahrg. IV, S. 209 ff. £Ls ist hier vor allem die umfangreiche Hof-
meisterlitteratur benutzt. FQr eine etwas spätere Zeit bietet manches G. Stephak,
Die häusliche Erziehung in Deutschland während des 18. Jahrhunderts (1891).
— Sehr klar treten die großen Wandlungen, die im Verlauf von 5 Jahrhunderten
in der Erziehung des Herrenstandes stattgefunden haben, in Fb. Schiudts Gre-
Bchichte der Erziehung der bayerischen Witteisbacher dem Lehrer vor Augen.
Im Mittelalter, um mit ein paar Umrißlinicu die Sache zu skizzieren, giebt es
zwei nebeneinander hergehende Formen der Erziehung des Herrenstandes: die
ritterliche und die klerikale. Die letztere allein, die vielfach für jüngere Söhne
gewählt wird, um sie für die geistlichen Wahlfurstentümer zu habilitieren,
schließt schulmäßigen Unterricht ein; wogegen der Mann des Schwerts die kleri-
kalen Künste geringschätzt und verschmäht. Im Zeitalter des Humanismus
kommt eine erste weltlich-litterarische Bildung neben der klerikalen auf, nach
ihr beginnt auch der Herrenstand die Hand auszustrecken, zuerst in Italien,
dann auch in Deutschland. Im Reformationsjahrhundert stellt sich dazu das
Bedürfnis theologischer und juristischer Kenntnisse für den Herrenstand ein.
Alles dies nötigt ihn zur schulmäßigen Erwerbung der Elemente der Sprachen
Leibnix als BepräserUent der höfischen Biidungshestrebungen. 493
Über das neue höfische Bildungsideal können wir uns, als aus
authentischer Quelle, Belehrung von dem Manne holen, der es in
Deutschland zuerst aufs vollkommenste verwirklicht hat: es ist Leibniz,
der Hofphilosoph von Hannover und Berlin. Seine Bedeutung als Denker
und Forscher hat patriotischer Eifer vielleicht hin und wieder über-
schätzen lassen. Er besaß ohne Zweifel eine glänzende Begabung, aber
die Begierde, etwas damit und daraus zu machen, ließ sie nicht zu
ruhiger Entwickelung und zu vollem Fruchttragen kommen. Er hat
eine unermeßliche Kraft im Entwerfen von Plänen aller Art und in
Versuchen, sie bei Fürsten und Herren anzubringen, verbraucht; unter
allen mit ihm lebenden Menschen war er hierin ohne Zweifel der größte,
vermutlich wird er auch von keinem der vor und nach ihm lebenden
erreicht Und freilich sind seine Pläne nicht leere Phantasmen, es sind
überall Divinationen dessen, was kommen will. Darum ist Leibniz für
eine Geschichte der deutschen Kultur von kaum zu überschätzender
Bedeutung; die Bestrebungen des Jahrhunderts, an dessen Anfang er
geboren ist, stellt er dar, wie in Deutschland kein zweiter.
Seine Pläne gehen auf nichts geringeres als die tiefgreifendste und
umfassendste Reformierung der gesamten geistigen und wirtschaftlichen
Kultur des deutschen Volkes oder vielmehr der ganzen Menschheit. Mit
fieberhafter Eile wirft er immer neue Projekte aufe Papier, zur Orga-
nisierung der wissenschaftlichen Forschung durch Gesellschaften, zur
Kodifizierung aller wissenschaftlichen und technischen Erfindungen in
Encyklopädien, zur Erfindung eines einheitlichen Zeichensystems als
Organ des internationalen wissenschaftlichen Verkehrs, zur Vereinigung
der gespaltenen Religionsgemeinschaften, zur Organisation des Buch-
handels, zur Reformation des Unterrichts, zur politischen Neukonsti-
tuierung Deutschlands und Europas, zur Bekehrung der Heiden, zur Aus-
führung technischer Erfindungen, zur Verbesserung des Bergbaues u. s. f.
Es ist das Zeitalter der Utopien (ich erinnere an Morus, Baco,
uud Wissenschaften; das Universitätsstudium wird zur Regel. Im 17. Jahr-
hundert bricht sodann das höfisch-französische Bildungsideal ein, es beherrscht
seit dem westfälischen Frieden alle deutschen Höfe, die protestantischen wie
die katholischen; an die Stelle der schulmSßigen Gelehrtenbildung auf Universi-'
täten tritt nun die Erziehung durch Hofmeister, militärische und civile, und den
Abschluß macht die Schule in der Armee und in der Verwaltung. Das 19. Jahr-
hundert bringt eine neue Wandlung: das bürgerliche deutsch -hellenistische
Bildungsideal drängt das höfisch -französische zurück: die Könige Ludwig L
und Maximilian II. haben wieder von humanistischen Schulmeistern eine schul'>
mäßig-gelehrte Bildung erhalten. Alle diese Dinge zeigt das genannte W^erk
am Münchener Hofe wie in einem Spiegelbild, nur daß es das 19. Jahrhundert
und den neuen Umschwung nicht erreicht hat.
494 111, 2. Das Zeitalter Ludwigs XIV. u. (L höfisch-moderne Bildungsideal,
Gampanella, HARSiNaxoN), in welchem Leibniz lebt, aber ihm sind
seine Entwürfe gar nicht Utopien, sondern die allerrealsten und aller-
emsthaftesten Dinge, er trägt sie vor mit der brennendsten Ungeduld,
daB über dem Vortragen die Zeit vergeht nnd die anderen Nationen
den Deutschen zuvorkommen. Alle diese Dinge könnte ein großer
Fürst, der sich der Sache annähme, zu Wege bringen. Leibniz hat
sein Leben lang nach diesem Fürsten gesucht, er hat seine Projekte
beinahe allen mit ihm lebenden großen Herren brieflich oder person-
lich vorgetragen. Zuletzt glaubt-e er ihn am Ende seines Lebens in
Peter d. Or. gefunden zu haben; er bietet ihm dringend seine Dienste
an, „denn ich nicht von denen bin, die auf ihr Vaterland oder sonst
eine gewisse Nation erpicht sein, sondern ich gehe auf den Nutzen des
ganzen menschlichen Geschlechts^' (Hülsen, Leibniz als Pädagog, Progr.
Charlottenburg 1874, S. 28).
In allen den zahlreichen Entwürfen LEisNizens tritt als der herr-
schende Gesichtspunkt hervor: durch Verbesserung der Erkenntnis,
durch Organisierung der wissenschaftlichen Forschung das Leben reicher,
besser, glückseliger, vollkommener zu machen. Die Sozietäten, die als
Träger der wissenschaftlichen Unternehmungen zu organisieren er sein
Leben lang den Fürsten zugeredet hat, sollten von allen bisherigen
dadurch sich unterscheiden, daß sie nicht auf curiosaj sondern auf uiiUa,
nicht auf das Wissen um des Wissens, sondern um des Nutzens
willen sich richteten. In den ältesten Entwürfen zur Errichtung einer
Sozietät aus der Zeit um 1670 (Werke, Ausg. Klopp, I, 111 fif.) deduziert
er geschichtsphilosophisch die Notwendigkeit dieser Richtung gerade bei
der deutschen Nation. Die Deutschen hätten sich von jeher durch Er-
findungen in den mechanischen Künsten vor allen Völkern hervorgethan;
Niederländer und Engländer, Franzosen und Italiener seien hierin von
jeher die Schüler der Deutschen gewesen; den Nürnberger und Augs-
burger Meistern werde fast alles, was man hierin besitze, verdankt
„Will ich derowegen den Italienern und Franzosen, Leoni X. und Fran-
cisco I., gern die restaurationem cultiorum Utterarum gönnen, wenn sie
nur gestehen, daß realste und unentbehrlichste Wissenschaften, wenige
ausgenommen, erst von Deutschen kommen." „Der Italiener Künstler
Werk hat fast einzig und allein in Formierung lebloser, stillstehender
und nur wohl aussehender Dinge bestanden. Die Deutschen hingegen
allezeit sich beflissen, bewegende Werke zu verfertigen, die nicht nur
die Augen sättigten und großer Herren Kuriosität büßeten, sondern
auch etwas verrichteten, die Natur der Kunst zu unterwerfen und
menschliche Arbeit leichter zu machen."
Derselbe Gesichtspunkt kehrt wieder in den Denkschriften, die er
Lmbnix' Bemühungen um die Organisierung der wiss, Forschung. 495
als gereifter Mann im Jahre 1700 über die Errichtung der Berliner
Sozietat dem Kurfürsten von Brandenburg vorl^te (Deutsche Schriften,
herausgeg. von Guhbaüeb, II, 267): ^^solche kurfürstliche Sozietat
müßte nicht auf bloße Kuriosität oder Wissensbegierde und unfrucht-
bare Experimente gerichtet sein oder bei der bloßen Erfindung nützlicher
Dinge ohne Applikation und Anbringung beruhen, wie etwa zu Paris,
London und Florenz geschehen: sondern man müßte gleich anfangs
das Werk samt der Wissenschaft auf den Nutzen richten. Wäre dem-
nach der Zweck, theoriam cum praxi zu vereinigen und nicht allein die
Künste und Wissenschaften, sondern auch Land und Leute, Feldbau,
Manufakturen und Kommerzien und mit einem Wort die Nahrungs-
mittel zu verbessern.'^ Ob alle Arbeit, welche die Gesellschaft während
ihres nun fiäst 200jährigen Bestehens gethan hat, vor den Augen ihres
intellektuellen Gründers Gnade finden würde?
Nochmals kehrt diese Betrachtung wieder in den Entwürfen, die
er für Peter d. Gr. zur Bildung Rußlands machte. Vor allem fordert
er hierzu die Einrichtung eines mit großen Vollmachten ausgestatteten
Kollegiums, „das in des Czars Namen die Direktion der Studien, Künste
und Wissenschaften im czarischen Reich haben soll, und worin ver-
schiedene Nationen Platz finden mögen. Dieses Kollegium soll die
Au&icht haben über alle Schulen und Lehrende, Druckereien, das ganze
Buchwesen und den Papierhandel, auch Arzneien und Apotheken, des-
gleichen die Salz- und andere Bergwerke, und endlich über die In-
ventionen und Manufakturen, und Introduktion neuer Kultur der
Yegetabilien, neuer Fabriken und neu einzuführender Konmierzien''
(Hülsen, 29). Also ein Kollegium, das in seiner Hand die Leitung
der gesamten Kulturbestrebungen des Staats, sowohl in der Organisie-
rung der Forschung und der Studien, als in der Anleitung zu ihrer
Anwendung in der Technik, vereinigen soll. Es ist Bacons Collegvum
domus Salomonis auf der Nova Atlantis, das uns hier wieder begegnet
Wie alle Plänemacher, die es auf die Glückseligkeit des mensch-
lichen Geschlechts abgesehen haben, beschäftigte sich Leibniz auch mit
der Reform der Erziehung. Schon dem 20jährigen ließ es keine Ruhe,
zum Besten des Menschengeschlechts einen Entwurf zur Neugestaltung
des höheren Unterrichts, mit vorzüglicher Rücksicht auf die Bildung von
Staatsbeamten, der Öffentlichkeit zu übergeben. Der Titel der Schrift,
worin dies geschah, ist: Nova methodut discendi docendique juris (Werke,
Ausg. DüTENS, IV, 3, 169 — 230). Sie hatte zugleich den Zweck, die
Aufmerksamkeit des Kurfürsten Joh. Philipp von Mainz auf die brach-
liegende Kraft aufmerksam zu machen, welche z. B. bei der beabsich-
tigten Reform der Universität Erfurt gute Dienste leisten könnte.
496 ///, 2. Das Zeitalter Ludungs XIV, u, d. höfisch-moderm Bildungsideal.
Der erste Teil dieser Schrift, welcher de raäone studiorum in uni'
versum handelt, giebt den Entwurf eines Studienkursns, dessen Ziel die
vollkommene Bildung eines zu allen Bedienungen geschickten Welt-
und Hofmannes ist (§§ 40 — 44). Er teilt das Jugendalter in drei
Abschnitte von je sechs Jahren. In dem ersten sexennium ist die
Sprache zu lernen, die Muttersprache und die lateinische, diese wie jene
per usum: man läßt den Hofmeister (paedagogus) mit den Kindern nur
Latein sprechen. Vom sechsten Jahr ab schicke man den Knaben in
die öffentliche Schule, das ist für seine Charakterbildung förderlicL
Er lerne gewählt schreiben und sprechen, durch Unterricht und Übung;
femer Greschichte und Mathematik, mit Einschluß der Optik, Statik und
Astronomie; sowie etwas aus der Naturgeschichte, wozu des Comenius
Orbis pictus (sed diligentius pingendtis et coloribus convenientibus iUu"
strandus) dienlich. Vom 12. — 18. Jahr besuche er die Akademie, eine
liberalere Behandlung trete ein, er sei nicht wie unter Lehrern, sondern
wie unter Freunden. Man zeige ihm die größeren Geheimnisse der
Natur und der Kunst, sowie die Grundlagen der mechanischen Künste,
damit er wenigstens mit dem Material, dem Handwerkszeug, den Haupt-
regeln und den Preisen bekannt sei; femer mache man ihn mit den
Handelsverhältnissen bekannt, damit er die Waren zu unterscheiden
vermöge, die Preise und die Orte, woher man sie bezieht, kenne.
Femer mag er die Rudimente der Medizin und Pharmakologie lernen;
ebenso die Elemente der Jurisprudenz und Theologie, die Gesetze seines
Landes, und einigermaßen auch die der andern, „auf daß er desto
besser reisen könne''. Er lerne Französisch und Italienisch, und damit
er die heil. Schrift selbst verstehen könne, das notwendige Hebräisch
and Griechisch. Er übe sich femer fleißig in der Bede, lateinisch und
deutsch. Bücherkenntnis wird ihm ziemlich und nutzlich sein. Er ver-
bringe diese Zeit nicht in der Schule, sondern auf der Akademie oder
am Hof^ wo man Gelegenheit hat, Bekanntschaften und Verbindungen
mit bedeutenden Männem anzuknüpfen; so muß es machen, wer heut-
zutage es zu etwas bringen will. Gegenwärtig wird nicht leicht jemand
von der Akademie ins Amt gerufen. Früher schrieb man an eine Uni-
versität und ließ sich von ihr einen tüchtigen jungen Mann empfehlen:
jetzt muß man durch andere Künste sich emporbringen.
Dann vom 18. Jahr ab, oder dem 20., wenn er langsamer fort-
schreitet, schicke man ihn bis zur Beförderung auf Reisen. Er wird
hier für seine Gesundheit sorgen, er wird beachten und notieren, welche
Gelegenheiten er bei jedem Volk findet, was Speise und Trank, Häuser
und Kleidung, Ackerbau und Handwerk anlangt; ebenso Gesetze und Ge-
wohnheiten. Er wird sich um Verbindungen mit bedeutenden Männem
Leibnix' Büdungsideal. 497
bemühen, zu denen Fremde leichter als Einheimische gelangen, be-
sonders mit Staatssekretaren und Ministem. Auch merkwürdige Ge-
schichten, Kuriositäten der Natur und Kunst wird er genau notieren.
Besonders wird er achtgeben, wenn ein Land in einer Manufaktur sich
auszeichnet, daß er die Kunstgriffe herausangele. Das sind, so schließt
er, einige Oedanken über den Studiengang, wie ich sie aus meinen alten
Konzepten auf der Beise ohne Bücher in Eile hingeworfen habe. —
Man möchte sagen, es wäre nicht schade gewesen, wenn der jugend-
liche Verfasser seine alten Konzepte der Welt noch eine Weile - vorent-
halten hätte. Und doch, es wäre schade gewesen. In unTergleichlicher
Naivität stellt sich in diesem Entwurf dar, wie einem jungen Kopf^ der
ganz mit den modernen Ideen erfüllt war, im Jahre 1667 die Zukunfts-
erziehung des voUkonmienen Menschen sich darstellte.
Bestimmtere praktische Vorschlage zu Unterrichtsanstalten, beson-
ders für den deutschen Adel, macht er dann in den oben erwähnten,
ersten jugendlichen, „bei fliegender Feder" entworfenen Plänen zur
Errichtung einer deutschen gelehrten Sozietät Unter den vielen und
mannigfachen Aufgaben der Gesellschaft wird als eine bezeichnet: die
Verbesserung der Schulen. Es werden folgende Andeutungen dafür
gegeben:
darein compendia, Richtigkeit und Ordnung einzuführen,
die Jugend nicht sowohl auf poeäcam, logicam et phüosophiam
scholasticam, als auf realia: histariam, mathernaticamj geographiam und
physicam veram, moralia und civilia studia zu leiten,
ganze Kompagnien Beisender, wenn sie dazu tüchtig worden, mit-
einander auszuschicken und mit probatis directoribus zu versehen, da-
durch Kosten zu ersparen, die Jugend vor debauchen zu präservieren,
und doch dabei der Sozietät affairen zu thun,
zu Haus gute Sprach- und Exerzitienmeister zu halten,
ja rechte Ritterschulen aufzurichten und zu verlegen, damit man
nicht solcher Dinge wegen, so man zu Haus haben könnte, sein halbes
Patrimonium in der Fremde verzehren und mit seinem eigenen Ver-
derben zu Verarmung des Vaterlandes kooperieren müsse,
Kunst- und Raritäten-, Schilderei- und Anatomiekammern, anders
bestellte Apotheken, hortos medicos, Tiergärten, und also tkeatrum na-
turae et artisy um von allen Dingen lebendige impressiones und con-
naissances zu bekommen, anzurichten,
zu welchem Ende den vornehmen Herren, Adligen und sonderlich
wohl bepfründeten Geistlichen, nach der Fremden Exempel, Appetit
zur Kuriosität entweder zu machen oder, da er vorhanden, solche
mit Lust und ohne Mühe auszuüben Gelegenheit zu geben, und mit
Paulsen, Untorr. Zweite Aafl. I. 32
498 ///, 2. Das Zeitalter Ludungs XIV, u. d, lüifisdi-moderne Bildungsidecd.
solchen innoxüs, ja summe utilibus occupationibus nicht allein Brutalität,
Schwelgerei und Sünde zu verhüten, sondern auch zu verhindern, daß
mancher aus Geiz oder Faulheit sein Talent und habende Mittel nicht
vergrabe.
Bei Hülsen kann man nachsehen, wie Leibniz als Mentor des
jungen Boinebubg in Paris sein Ideal zu verwirklichen bemüht war,
freilich auch, wie die Natur dieses jungen Mannes den Studien und
Visiten, die ihm verordnet wurden, im begreiflicherweise widerstrebte.
Ebendort findet man das Projet de Feducation dun Prince mitgeteilt,
welches Leibniz auf Anfrage eines fürstlichen Erziehers 1693 aufsetzte.
Nach Bratüscheck (Die Erziehung Friedrichs des Großen, 1885) ist
dieser Aufsatz der Königin Sophie Charlotte, der Freundin LsiBNizens,
in die Hände gekommen und von ihr der Instruktion von 1695 für
die Erziehung des Kurprinzen, des späteren Königs Friedrich Wilhelm L
zu Grunde gelegt, derselben Instruktion, die der König nachmals mit
eigenhändigen Korrekturen versah, es war im Jahre 1718, und als
Vorschrift für die Einziehung seines Sohnes benutzte. Die Möglichkeit
ist da. Andererseits ist Zusammenstimmung in den Grundanschauungen
kein Beweis für Entlehnung; auf gleichem Boden wachsen gleiche
Früchte.
Noch mache ich auf ein Blatt aufmerksam, das bei Hülsen
und Leviseub (Leibniz' Beziehungen zur Pädagogik, Progr. des Leibniz-
gymn. 1882) nicht benutzt ist; es findet sich, undatiert, in F£iiL£&s
Otium Ilannoveranum (S. 147 — 150) abgedruckt Es behandelt die
Frage: Quaenam discenda ad usum vitae? Ich lasse, da es eine bessere
Vorrede zur Geschichte der pädagogischen Reformbestrebungen des
18. Jahrhunderts nicht giebt, den Hauptinhalt folgen: „Wenn es bloß
eine Sprache in der Welt gäbe, so wäre das für das Menschengeschlecht
der Gewinn von einem Drittel des Lebens, welches jetzt auf die Sprachen
gewendet wird. Dazu giebt es viele andere Dinge, welche nicht um
ihres wirklichen, sondern um des in der Meinung bestehenden Nutzens
willen gelernt werden müssen, als da sind die positiven Gesetze und
Zeremonien, der Stil der Höfe und ein großer Teil der philologischen
Gelehrsamkeit, von deren Folianten kaum der hundertste Teil etwas
für das Leben Brauchbares enthält. Auch die Geschichte hat außer
der Ergötzung keinen Wert als den, daß mit ihrer Hilfe die Wahrheit
der christlichen Religion bewiesen werden kann, was sonst nicht mög-
lich wäre. Sonst genügte einem Mann, der für den Gebrauch des
Lebens Großes leisten könnte, ein ungefährer Umriß der Universal-
geschichte und einige merkwürdige Geschichten, die sich passend im
Gespräch verwerten lassen, wohin auch Scherze und Witze gehören.
F. L. V. Seckendorfs Bildungsideal. 499
Dagegen ist die allergenaneste Kenntnis der richtigen Lugik oder der
Basonnierkunst and ebenso die allergenaneste Kenntnis der Segeln des
Gerechten und Nützlichen, femer eine wirksame Beredsamkeit erforder-
lich. Doch das sind kleine Vorbedingungen. Hingegen ist es nun
notwendig, die ganze Mathematik und Mechanik, femer die ganze prak-
tische Physik, soweit sie dem Gebrauch dient, auf das Allergenaneste
zu verstehen. Dazu auch die Geographie. Von der Geometrie genügt
weniges, denn zum Gebrauch des Lebens hilft es nicht viel, den Zirkel
quadrieren können.^' Dagegen erscheint Kenntnis der Medizin und
Naturgeschichte wünschenswert, womit die Völkerkunde und Statistik
zusanmienhängt, die wieder Gmndlage der Politik ist; ohne sie ist es
nicht möglich ein Staatsideal zu entwerfen. Dabei muß man auf die
Fehler achtgeben, wie durch Störung des Verkehrs, durch Verabsaumung
der Gelegenheiten des Ortes der Vorteil verloren geht Ferner ist es
wichtig, die Gemütsart und die Anschauangen sowohl der Massen und
der einzelnen Stande, als auch der regierenden Herren und derer, die
bei ihnen etwas vermögen, zu kennen.
So viel von Leibniz und seinen Gedanken über Erziehung und
Bildung. Man sieht, seine Schätzung des humanistischen Schulbetriebs
ist aufs äußerste herabgestimmt; und offenbar würde er über den Schul-
humanismus des 19. nicht viel anders als über den des 16. Jahrhunderts
geurteilt haben.
Neben Leibniz mag noch Veit Ludw. v. Seckendoef genannt
sein. In seinem Werk über den deutschen Fürstenstaat (1656), das in
höchst lehrreicher Weise das deutsche Staatswesen des 17. und 18. Jahr-
hunderts, jenes seltsame Mittelding zwischen privatrechtlicher Herrschaft
und öffentlich-rechtlicher Regierung zur Anschauung bringt, giebt er
auch (S. 74 ff.) eine kurze Anweisung zur Erziehung der Söhne und
Töchter des Herrenstandes. Außer dem Notwendigen, Unterweisung in
der Religion, Anleitung zur Tugend, femer Lesen, Schreiben und Rechnen
(„denn es ein großer Übelstand ist, wenn hierin vomehme Leute ganz
ungeübt sein"), empfiehlt er noch: Naturkunde („dadurch des Menschen
Verstand in den Dingen, damit er täglich umgehet, erleuchtet, Aber-
glauben verhütet, seine Gesundheit befördert, und sein Gemüt zum
Lobe Gottes ermuntert wird"), Landeskunde mit Historie, Haus-
haltskunde, Briefschreiben. Für solche aber, die zur Regierung
erzogen werden, kommt hinzu: Latein („zum wenigsten so weit, daß
sie es wohl verstehen und zur Notdurft ihre Meinung darin entdecken
können, denn solche Sprache ist ihnen wegen stattlicher Bücher, die
darin geschrieben, vieler Handlung, die im Reich mit fremden Nationen
fürgehen, auf Reisen und im geistlichen Regiment unentbehrlich");
32*
500 ///, 2. Das Zeitalter Ludteigs XIV. u, d, höfisdi-modeme BUdungsideaL
gründlichere Landeskunde und Geschichte, summarische Unter-
weisung dessen, was recht und billig ist, aus göttlichen, natürlichen
und Landrechten, Eriegswissenschaft Femer, nach Gelegenheit
der Fähigkeiten und Natur: „aus den mathematischen Wissenschaften,
was zum Feldmessen, Baukunst, Festungsbau, auch zu Torteilhaftiger
Mechanik und Handgrififen gehört^'; Welt- und Reichsgeschichte
mit Geographie und Chronologie; Politik, Beredsamkeit, Sprachen,
„deren wir Wohlstandes und um der Benachbarten willen gebrauchen,
als der französischen, italienischen, spanischen etc.'', natürliche
Wissenschaften, Logik. Mehr zu thun, besonders aus den philo-
sophischen Wissenschaften und den Sprachen, könnte zwar nicht schaden,
ihn auch gelehrt, ansehnlich und beliebt machen, aber es ist dabei
dahin zu sehen, „daß dadurch das Notwendige nicht verabsäumet, auch
der Gesundheit und Gemüts geschonet, und er dadurch nicht zu einem
einsamen Leben und steten Bücherlesen von seiner Berufsarbeit ab-
geleitet werde''. Endlich aber sind von Wichtigkeit noch die Leibes-
übungen und Exerzitien, als Tanzen, Reiten, Rennen, Fechten; sowie
etliche Künste, etwas von der Musik, Malerei und Kunst zu reisen,
und allerlei Ergezlichkeit im Spielen, Jagd, Beize, Fischen u. s. w.
Zum Schluß erwähne ich noch eines neuen Bildungsmittels, das
in diesem Zeitalter aufkam: der gelehrten Zeitungen. Auch in
Deutschland entstanden nach französischem Vorbild gegen Ende des
17. Jahrhunderts als Organe der Mitteilung und Fortpflanzung der
neuen weltmännischen Bildung die ersten Monatsschriften in deutscher
Sprache. Eine der ersten giebt auf dem Titelblatt folgende verlockende
Ankündigung des Inhalts: „Novellen aus der gelehrten und kariösen
Welt, darinnen die Quintessence mannigfaltiger Gelehrsamkeit, oder
sonderbare Sachen in Bistoria, Chronologia^ Genealopia, Geographia^
Notitia Herum pubL et Astronomia, in Jure Nattiraliy Civiti et Publica^
in TheoLy Polit, Moral. , Phys., Medic, Philosoph, ^ Philologid* , in
Militär, et Civilibus enthalten, viele alte und neue Bücher und Autores
erzählet und beurteilet, auch nicht wenig Partikularitäten von hohen
Standespersonen, Staats-, Kriegs- und gelehrten Leuten untermenget,
viel Mängel und Gebrechen bei allerhand Ständen voi^estellet, gute
Lehren erteilet ingleichen Rat und Mittel zu vielen Wissenschaften an
Händen gegeben werden; auch endlich artige Geschichten und lustige
Scherze mit beigebracht und alles kürzlich abgehandelt wird, vermittelst
öfterer Zusammenkunft einer kuriosen und gelehrten Gesellschaft er-
gangen und zu Erlangung einer galanten Erudition monatlich kom-
muniziert von G(ottfried) Z(enner) J. C. Frankfurt und Gotha, verlegts
Aug. Boetius.'* Von der Zeitschrift erschienen sechs Jahrgänge, 1692 — 97.
in, 3. Die lätterakademien. 501
Der uns so befremdlich klingende Titel spiegelt getrenlich die Hast
und Begierde, mit welcher am Ende des 17. Jahrhunderts das deutsche
Lesepublikum y der unfruchtbaren lateinischen Poesie und Eloquenz,
ebenso wie der dürren Schulphilosophie und der theologischen Kontro-
verse überdrüssig, über die im Leben und in der Welt wichtigen
Dinge sich zu orientieren suchte. Eine andere, die Monatsschrift des
Chb. Thomasius von (1688 — 90), wird uns noch später b^egnen.
Übrigens dient der Befriedigung desselben Bedürfnisses, dem die
neuen Zeitschriften dienen wollen, auch ein anderes Studienmittel, das
um diese Zeit auf dem Höhepunkt seines Ansehens steht: das ist die
akademische Reise, die der Vollendung des Universitatsstudiums
folgt Vielseitige Berührung mit Welt und Menschen, um zu erfahren,
wie man anderswo denkt und lebt, welche Bücher man liest und
welche Meinungen man von gelehrten Sachen hegt, das ist der Gewinn,
den man sich davon verspricht Die Lebensbeschreibung des Göttinger
Chb. A. Heumanns (von Cassius, 1768) enthält einen Auszug aus dem
Tagebuch, das Heumann auf einer Reise im Jahre 1705 durch das
westliche Deutschland und die Niederlande führte; es tritt darin sehr
deutlich der Betrieb des gelehrten Interviewers hervor: die Städte
werden besucht, vor allem die Universitätsstädte und in ihnen alles,
was in der gelehrten Welt einen Namen hat; es werden die Urteile
über Menschen, Bücher, Meinungen notiert, ebenso werden die Bücher-
sammlungen fleißig aufgesucht, rare Bücher notiert und auch wohl
excerpiert Auf Breite der Erudition ist der Sinn gerichtet; die Ver-
tiefung tritt dagegen zurück.
Drittes Kapitel.
Die Bitterakademien.
In den Ritterakademien, die in der zweiten Hälfte des 17. und
am Anfang des 18. Jahrhunderts in größerer Zahl entstanden, hat das
im vorigen Kapitel skizzierte Bildungsideal die ihm gemäßen Eraiehungs-
anstalten hervorgebracht Es sind Anstalten, in denen der neue Herren-
stand seine Söhne, die bestimmt sind, an den Höfen ihr Glück zu
machen und in die Militär- und Civilbedienungen des neuen Staats
einzutreten, für ihren Beruf ausbilden läßt
Im 16. Jahrhundert finden wir auch die Söhne des Adels in den
Ijateinschulen : so in den Fürstenschulen, wo ihm eine Anzahl von
Stellen vorbehalten ist, so in den Schulen Sturms und Trotzendobfs.
502 ///, ,9. Die Ritterakademien,
Nach den Wandlungen in der großen Welt wird dies als unangemessen
empfanden: ist es nicht absurd, die Söhne des regierenden Standes in
die alten Schalklöster zu stecken und sie hier neben armen Bürger-
und Baaemknaben unter der Rute aufwachsen zu lassen? Das paBt
nicht for Leute, die durch ihre Geburt zum Regieren bestinunt sind.
Und wozu ihnen die lateinische Poesie oder die Fechterkünst« der Dia-
lektik beibringen? Bei Hofe liest man keine lateinischen Verse mehr
und die alten Disputationen erscheinen der neuen Bildung als lächer-
liche Alfanzereien. Durch das ganze 1 7. Jahrhundert gehen die Klagen
darüber, daß es an geeigneten Bildungsanstalten für junge Leute von
Stande fehle, daß das, was sie brauchten, auf den Schulen und Uni-
versitäten nicht zu lernen sei, und dagegen, was hier gelernt werde,
im Leben nicht zu brauchen sei. Manche dahinzielende Äußerungen von
Zeitgenossen findet man schon in einer Art Universitätshodegetik, die 1621
anter dem Titel: Gymnasma de exercitiis academicorum zu Straßburg ohne
Namen erschien; ihr Verfasser ist G. Gumpelzheimeb, wie aus der von
MoscHEBOSGH 1651 besorgten neuen Ausgabe des Buchs hervorgeht
Sehr lebhaft spricht der schon öfter erwähnte J. B. Schupp, der
sich selbst an den Höfen und in der großen Welt viel bewegt hatte
und für das pedantische Gelehrtentum der Universitäten voll Miß-
achtung war, über die Unangemessenheit der weitabgewendeten, „schul-
füchsigen" Erziehung für junge Leute von Stande. „Was großer Herren
Kinder für ein sonderliches Unglück haben, daß sie gemeiniglich Pe-
danten zu Präzeptoren bekommen, welche sie lehren subtile Game
stricken, welche zu nichts anderem nützlich sind, als daß man latei-
nische Hasen und Schulfüchse damit fange. Ich sehe, daß der großen
Herren Kinder nicht recht auferzogen werden, sondern wachsen auf
entweder im Frauenzimmer, inter adulationes et delicias muliebres, oder
unter einem Haufen Schulfuchse, welche sie anführen, als ob sie auch
notwendig müßten magistri werden und ihr Land und Leute mit der
Metaphysik regieren." Schupp empfiehlt die Gründung von Bitter-
akademien, in welchen die adlige Jugend „nicht schulfüchsisch, sondern
königlich und fürstlich und ihrem Stande gemäß auferzogen werde, so-
wohl in der wahren Gottesfurcht als auch in allerhand guten Künsten,
Sprachen und ritterlichen exercitiis, von Lehrern, welche Gott und die
Welt kennen" (Hentschel, S. 60). Ebenso legt V. L. v. Segkendokf
in einem dem Kurfürsten von der Pfalz in Sachen einer zu gründenden
Ritterakademie erstatteten Gutachten (1660) das gänzliche Ungenügen
der bestehenden Unterrichtsanstalten für die Berufsbildung des regierenden
Standes dar: sie genügten weder nach Seiten der Zucht noch des Unter-
richts (MoNE, Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins, II, 135 flf.).
Tübinger Coll^gium illustre, 503
Hier mag auch eine Eingabe der kursächischen Ritterschaft beim
Dresdener Hofe vom Jahre 1682 erwähnt sein, worin sie bittet, die
adlige Jugend von der bürgerlichen auf den Fürstenschulen in der
Art zu trennen, daß von den drei Schulen die Meißnische ausschließ-
lich dem Adel, Grimma und Fforta dagegen ausschließlich den Bürger-
lichen überwiesen würden. Es sei die höchste Notdurft, so heißt es
in der Eingabe, daß die adlige Jugend eine andere Information und
Traktament erhalte, als die bürgerliche. Zwar so viel das Fundament
in pietate et religione und lateinischen stylum angehe, sei kein Unter-
schied; dagegen sei die gründliche und langwierige Unterweisung in
der griechischen und hebräischen Sprache für die Bürgerlichen aller-
dings vonnöten, nicht aber für die Adligen. „Sondern vielmehr diese
kostbare Zeit auf andere ihre Zwecke erreichende Dinge und studia an-
zuwenden sich befleißigen können; zu geschweigen, wie unter adligen
und bürgerlichen Standes Jugend stätige Zänkereien, Schalousien und
Emulationes, denen nicht zu steuern, sich, ereignen; auch dahero jenen
die Adligen um so viel mehr in moribus zurückgesetzet und durch den
gleichen Zwang dergestalt schüchtern gemacht werden, daß nachgehends
kontinuierlich etwas davon ihnen anhänget und nicht zu korrigieren
ist" (Flathe, 483 flF.). Die Städte protestierten und die Regierung ging
auf die Forderung der Ritterschaft nicht ein.
Blieb die Forderung des sächsischen Adels unerfüllt, so war in
anderen Territorien mit dem Angebot einer besonderen Information für
die adelige Jugend längst ein Anfang gemacht. Eine der ersten adeligen
Bildungsanstalten ist das schon 1589 zu Tübingen begründete
CoUegium illustre. Hatte Herzog Christoph Stipendien für einige
Landeskinder von Adel zum Studium an der Universität und zu Reisen
ins Ausland verordnet, so errichtete sein Nachfolger dafür das genannte
Kollegium: es war nicht bloß dem Landesadel, sondern dem ganzen
deutschen Herrenstand bestimmt. 1606 zählte man darin neun Fürsten,
fünf Grafen und 51 Edelleute. Die Anstalt war in Hinsicht aller
äußeren Verhältnisse selbständig, in Hinsicht des wissenschaftlichen
Unterrichts jedoch mit der Universität in der Art vereinigt, daß die
Kollegiaten auch die Universitätsvorlesungen besuchten, und andererseits
Professoren der Universität im Kollegium lehrten. Als den Kollegiaten
wichtige Disziplinen werden römisches Recht, Staats- und Lehnrecht,
Politik, Geschichte und neuere Sprachen genannt Großen Spielraum
nehmen auch die ritterlichen Übungen ein.^
^ KlOpfel, 103 ff. Statuten vom Jahre 1609 bei Sattler, Geschichte
Württembergs, VI, Beil. 6. — Hautz (Heidelberger Univers., II, 109) erwähnt
504 III, 3. Die RUterakademien,
Etwas ausführlicher gehe ich auf die Anstalt ein, die Landgraf
Moritz von Hessen (reg. 1592 — 1627) unter dem Namen Collegium
Mauritianum am Hof zu Kassel 1599 errichtete und 1618 neu kon-
stituierte. Die Aufgabe, die das Mauritianum erfüllen sollte, war die:
den deutschen und zunächst den hessischen Adel aus der Bohheit seines
in Jagd und Völlerei zugebrachten Lebens herauszureißen und ihn der
feineren Sitte und Bildung, wodurch der französische Adel sich aus-
zeichnete, zuzuführen. Moritz selbst war einer der gebildetsten Fürsten
seiner Zeit; er beherrschte die alten und neuen Sprachen; besonders in
der lateinischen und französischen bewegte er sich mit Toller Freiheit,
Ton den Zeitgenossen wurde er als lateinischer Poet gepriesen; auch
der fruchtbringenden Gesellschaft gehörte er an. Im Jahre 1601 hatte
er am Hofe des gleichgesinnt-en Kurfürsten von der Pfalz einen Orden
der Temperanz für deutsche Fürsten und Herren gestiftet, der in
einer Geschichte der deutschen Bildungsbestrebungen Erwähnung ver-
dient In dem ersten Artikel des merkwürdigen Statuts (bei Bommel,
Neuere Gesch. von Hessen, II, 357 ff., abgedruckt), verpflichten sich die
Mitglieder des Ordens, zunächst auf ein Jahr vom Tage der Unter-
schrift an gerechnet, sich „alles YoUsaufens, in was Getränk auch das
sein möchte, zu enthalten'^ Der zweite Artikel normiert das erlaubte
Maß auf „sieben Ordensbecher Wein auf eine Mahlzeit**, und der dritte
fügt die Bestimmung hinzu, daß die Mitglieder nicht mehr als zwei
Mahlzeiten innerhalb 24 Stunden mit Trunk nehmen wollen ; „da aber
ja einer zur (Morgen-)Suppe Wein trinken müßte oder wollte, sei er
doch schuldig sein, dasjenige so er an Wein getrunken, von den sieben
Morgenmahlzeitsbechem abzukürzen, also und dergestalt, daß nach
verrichter Morgenmahlzeit die sieben Becher nicht überschritten seien**.
Man sieht, der Frühschoppen beschäftigt schon im 17. Jahrhundert
einen um die geistige Gesundheit des deutschen Volkes besoirgten
Fürsten. In der That, die Ablegung der Gewohnheit des viehischen
Saufens, welche die deutschen Höfe im 1 6. Jahrhundert schändete, war
die erste Bedingung der Annahme feinerer Bildung und Sitte.
Das Bitterkollegium wurde 1618 durch ein „Fürstliches Ausschreiben,
wie es mit unserm zur Beförderung der studierenden Rittermaßigen
Jugend in Künsten und Sprachen, sodann zur anführung in allen
Bitterlichen Thugenden und Übungen in Unserer Haubtstadt und
Vestung Cassell angeordnetem Newen Illustri Collegio gehalten werden
der Stiftung einer Ritterschule für den kurpfälzischen Adel im Stift Seltz, 1575:
20 Stipendiaten und 60 Pensionäre sollten darin gehalten werden. Doch ging
die Stiftung bald wieder ein; der Adel wurde mit 10 Stellen im Heidelberger
Kollegium entschädigt
Coüegium Mauritianum tm Kassel. 505
soll" öffentlich angekündigt.^ Der Unterricht, heißt es, soll nicht die
Faknltätswissenschaften umfassen, sondern sich „in den Schranken eines
wol bestellten Gymnasii halten und also im nächsten Grad und gleich-
sam der ersten Staffel einer rechtschaffenen hohen Schul oder Uni-
versität bestehen und es bei der philosophischen Institution und Unter-
richt in freien Künsten und deren nutzbarlichem Brauch bewenden".
Doch mögen denen, die schon einen Vorsprung im Studieren haben,
vier lectiones publicae vorgetragen werden; 1. soll durch einen gelehrten
Theologum eine Synopsis der wahren christlichen Beligion in wöchent-
lich vier Stunden in einem Jahr beendet, auch alle Monat einmal
disputiert werden; 2. soll ein professor ethices et politices bestellt werden,
welcher eine gewisse üthicam metkodice conscriptam in einem Jahr zu
Ende bringen, im folgenden aber ein Compendmm Politices et Oecono^
mices aus dem Aristoteles oder einem andern guten Autor proponieren
und alle Monat eine Disputationem Eihicam halten soll; 3. soll ein
professor pkysices auf dieselbe Weise jedes Jahr lectionem compendii
Fhysici und 4. ein professor logices Bialecticam und Rhetoricam mit
monatlichen Disputationen und Deklamationen absolvieren.
Den eigentlichen Schulunterricht sollen vier professores linguarum
geben, zwei für die lateinische, einer für die griechische, einer für
die fremden aus der lateinischen entstandenen Sprachen, Französisch,
Italienisch, Spanisch. Der Unterricht soll dergestalt gegeben werden,
,;daß die Jugend in jeder Sprach ganz schleunig hindurch geführet
werden möge, alles nach Art und Unterricht der in unseren Landen
unlängst publicirten Schulordnung, und stellen wir in keinen Zweifel,
es werde die Institution der lateinischen Sprache durch die vier Ciasses
in zweien Jahren ziemlicher Maaßen erfolgen, der discipulus auch, so
er nur etwas tieüsinnig ist und Fleiß ankehren will, sich in gedachter
Zeit, wo nicht ehe, durch die vier Ciasses hindurcharbeiten können. So
wird man auch, wenn die Discipuli die lateinische Sprache erst ge-
fasset haben, zu dem Zweck in der griechischen und ausländischen
Sprachen noch in weit geringerer Zeit gelangen". — Die studio astro-
nomica und mathemcUica, als welche „feinen, freudigen und tapferen
Gemüthern nicht allein sehr anmuthig und ergetzlich sind, sondern
auch rittermäßigen Personen, so sich mit der Zeit in Kriegssachen üben
und gebrauchen lassen wollen, merkliche große Anleitung und Urteil
in Belagerungen befestigter Plätze, wie auch Anrichtung und Be-
schützung derselben, so wie zur Anstellung rechtschaffener Schlacht- und
anderer Ordnungen gewähren", sollen ebenfalls mit Fleiß getrieben
* Sammlung hessischer Landesordnungen I, 601 £f. (Kassel 1767).
506 ///, 3, Die Ritterakademien.
werden. Doch werden nicht besondere Professoren dafür bestellt; son-
dern zwei der obigen acht Professoren sollen diese Lektionen, wie auch
die Historien vortragen.
„Dieweil aber zu notwendiger Zier und Wolstand rittermäßiger
Personen nicht allein studio litter aria erfordert werden , sondern die-
selben auch daneben in allerhand löblichen exercitOs, so heutiges Tages
sonderlich beim Hofwesen und dessen Conversation fast notwendig, an-
geführet werden müssen; überdies auch die Abwechslung und Ver-
änderung der Studien und anderer Ergötzlichkeiten feine wackere ingenia
zur Verrichtung ihres Obliegens um so viel lustiger und unverdrossener
macht: so haben wir bei unserem Adelichen Collegio auch gebührliche
Anordnung verschaffet, daß die angehende Jugend mit und beneben
den Studiis, als dem Hauptwerk, zugleich auch allerhand gute Exercitia
beides des Leibes und Gemüths, mit Reiten, Ritterspielen, Fechten,
Tanzen, Roßspringen, Ballspielen, Übung der Waffen und Kriegsordnung,
auch allerhand Instrumental- und Vocalmusik, kunstbaren Anschlägen
sowohl zum Krieg als sonsten zu den Gebäuden, Abrissen und Malerei
dienlich, haben und treiben kann und soll". Hierfür sind vier Per-
sonen, ein Bereiter, ein Fechter, ein Tanzmeister, ein £oßspringer und
ein wohlgeübter Kriegsmann bestellt. — Vorsteher der Anstalt sind
ein Adeliger und ein Gelehrter: jener Oberhofmeister, dieser Dekan oder
Senior genannt.
Auch diese Bildungsanstalt verschlang, wie so viele andere, der
Krieg. ^
Mit dem Ende des Kriegs beginnt dann die eigentliche Periode der
Ritterakademien. Der Charakter dieser Anstalten ist durch das über das
Mauritianum Mitgeteilte hinlänglich gekennzeichnet Bei den einzelnen
und ihren Schicksalen und Eigentümlichkeiten zu verweilen, ist keine
Ursache; ich begnüge mich sie namhaft zu machen, so weit sie mir
vorgekommen sind.^
In den weifischen Ländern wurde die alte Benediktinerabtei
St. Michaelis zu Lüneburg 1655 als Ritterakademie eingerichtet; eine
ebensolche wurde am Hof zu Wolfenbüttel mit Unterstützung der
^ Erwähnt werden mag hier, daß Wallenstein zu Gitschin eine Ritterschule
auf seine Kosten unterhielt: zwölf Edelknaben erhielten darin Unterricht in den
Wissenschaften und Sprachen und in den ritterlichen Künsten; in jenen waren
Jesuiten vom Gymnasium Lehrer. Der Feldherr kümmerte sich mitten im Krieg
um die kleinsten Angelegenheiten der Schule, aus allen Feldlagern erließ er
Anordnungen in Sachen derselben, wie man in einem Artikel der Österreich.
Milit-Zeitschrift, III, 85 ff. nachsehen mag.
' Eine Übersicht über diese Anstalten giebt auch ein Artikel von £. Köpke
in der Encyklopädie, VII, 171—203.
Weitere Oründungen, 507
Landschaft 1687 gegründet. Anch im Brandenburgischen entstanden
miteinander eine stiftische und eine königliche Bitterakademie , jene
wurde vom Domkapitel zu Brandenburg 1704, diese zu Berlin 1705
errichtet. Zu Kassel lebte die eingegangene Ritterschule, doch mit
etwas verändertem Charakter, als Collegium Carolinum 1709 wieder au£
Zu Kolberg in Pommern war schon 1653 eine militärische Bildungs-
anstalt für den pommerschen Adel errichtet worden. In Sachsen ist
es auffallender Weise zur Gründung einer eigentlichen Bitterakademie
gar nicht gekommen, vermutlich deshalb nicht, weil der Adel in den
Fürstenschulen eine erhebliche Anzahl Stellen hatte. Ein gräflich
Vitzthumsches Geschlechtsgymnasium, für welches schon 1638 eine testa-
mentarische Dotation ausgeworfen wurde, kam erst im 19. Jahrhundert
unter gänzlich veränderten Umständen zur Ausführung (Hentsohel,
Schupp, 61); dagegen wurde 1725 eine Kadettenanstalt in Dresden
errichtet. In den thüringischen Herzogtümern wurde eine Bitter-
akademie zu Hildburghausen 1714 gegründet; das großartig be-
gonnene Unternehmen bestand jedoch bei bald eintretendem Mangel
an Mitteln nur wenige Jahre (bis 1729). In Erlangen entstand durch
Frivatstiftung 1699 eine Bitterakademie, sie bestand mit Unterstützung
der Markgrafen von Baireuth, bis sie 1743 in die Universität um-
gewandelt wurde (Engelhabdt, Gesch. der Univ. Erlangen), In Bayern
wurde Kloster Ettal 1711 zu einer Bitterakademie eingerichtet (EncykL
II, 1083). Die niederösterreichischen Landstände gründeten zu Wien
1682 eine Bitterakademie, die übrigens von der alten 1560 gestifteten,
später von Jesuiten geleiteten Landschaftsschule abstammt; als ihre
Bestimmung wird angegeben zum Dienst tarn in functionibus publicis
quam militaribus tauglich zu machen. Die Frofessoren sollen katholisch
und nicht Franzosen sein; der kaiserliche Hof suchte überhaupt, im
Gegensatz zu den protestantischen Höfen, der französischen Sprache
und Bildung nach Möglichkeit sich zu erwehren, 1746 errichtete die
Kaiserin das Collegium Theresianum zu Wien für den Adel der ganzen,
dem Einheitsstaat mehr und mehr zustrebenden österreichischen Mon-
archie.^ Zu Liegnitz hatte Joseph I. im Jahre 1708 eine ältere
landesherrliche Stiftung zu Kirchen- und Schulzwecken unter dem Beirat
der Jesuiten zu einer Bitterakademie für den schlesischen Adel um-
geformt Ein adeliger Direktor, drei Frofessoren (jurisy Mstoriarum^
tuathematices), ein französischer Sprachmeister, ein Bereiter, ein Fecht-
und ein Tanzmeister machen den Lehrkörper, zwölf Fundatisten und
^ Geusau, Geschichte der Süftungen zu Wien. Eine Gesch. des Theresia-
uiims in dem Progr. des jetzigen Gymn. Theres. von 1872.
508 Uly 8. Die Rüierakadeniien.
außerdem zahlende Pensionäre die Schülerschaft aus, die in der Begel
wenig über 20 stark war.^ Noch mögen hier zwei Anstalten erwähnt
sein, die, mit Ritterakademien verwandt, doch mehr den Charakter einer
dem neuen Fürstenstaat und seinen Bedürfhissen angepaßten modernen
Hochschule haben: das CoUegium Carolinum, von Herzog Karl im
Jahre 1745 zu Braunschweig, und die von Herzog Karl Eugen von
Württemberg 1778 errichtete hohe Karlsschule. Ich komme später
darauf zurück und bemerke hier nur noch, daß auch die neue Uni-
versität Halle aus einer Bitterakademie hervorgegangen ist —
Die Aufgabe dieser neuen ünterrichtsanstalten ist: die Jugend des
Herrenstandes in den höfischen Sitten und Künsten und in den
ihrem Stande nötigen Wissenschaften und Sprachen auszubilden.
In der Regel in einer fürstlichen Besidenz errichtet, stehen sie zum
Hofe in engster Beziehung. In den Einladungsschreiben pflegt der
Verkehr bei Hofe in Aussicht gestellt zu werden. So zählt die Akar
demie zu Wolfenbüttel unter ihren Vorzügen auf: „daß die Akadenüsten
permission haben, den fürstlichen Hof zu frequentieren, wie sie dann
ordinarie gewisse Tage in der Woche bei Hofe konmien und denen
angestellten divertissementen, Bällen und dergleichen mit beiwohnen
und von der daselbst vorfallenden honesten conoersatlon mit profitiren
können". Spezielle Fürsorge ist auch für die Erlernung des Anti-
chambrierens getroffen: wenn ein Prinz in der Akademie ist, finden
sie sich zeitig in dessen Antichambre oder dem Eßsaal ein, ihn zu Hofe
oder in die Kirche zu begleiten (Vormbaum, II, 733, 736). Auch den
ritterlichen Exerzitien kommt die Besidenz zu gute: der fürstliche
Marstall stellt Pferde und Beitbahn, und ebenso finden sich hier Be-
reiter, Tanzmeister u. s. f. von der ersten Qualität. Unter diesem Ge-
sichtspunkt empfiehlt sich z. B. besonders die Akademie, welche im
Jahre 1714 zur größeren gloire des neuen Hofes zu Hildburghausen
errichtet wurde. „S. Hochfurstl. Durchlauchtigkeit halten zur Bahn
etliche 20 der schönsten jungen, meist Spanischen, Englischen und
Türkischen Pferde; der Herr Oberbereiter giebt selbst Lektion, zu dem
geringen pretium von 3 Thlr. monatlich. Im Fechten und Tanzen
haben S. Hochfurstl. Durchl. nach der eigenen Experienz in dergleichen
exercitiis solche maitres choisirt, deren capacite und dexterite in infor"
matione jeder gute Kenner wird approbiren müssen" (Grobe, Progr.
von Hildburghausen, 1879, S. 18).
Das andere Stück ist die Einführung in die modernen Sprachen
und Wissenschaften. Die lateinische Sprache bleibt auf dem Lehr-
^ Wendt, Progr. der Ritterakademie zu Liegnitz, 1893.
Unterrickt und BildungsideaL 509
plan, sie ist noch jedem Mann in bedeutender Stellung selbst für den
praktischen Gebrauch unentbehrlich. Dagegen treten für Griechisch
und Hebräisch die neuen Sprachen ein, in erster Linie Französisch,
daneben Italienisch, endlich auch Spanisch und Englisch. Französisch
lehrt natürlich regelmäßig ein Franzose. Auch Übungen in der deutschen
Sprache werden hin und wieder empfohlen, obwohl kaum wieder mit
dem Nachdruck, wie in der Ordnung für das CoUegium Mauritianum
vom Jahre 1618; das deutsche Volk war inzwischen aus der Beihe der
gebildeten Nationen, deren Sprache zu kennen Pflicht des vornehmen
Mannes ist, so gut wie ausgeschieden.
Mit Nachdruck werden dagegen überall die modernen Wissen-
schaften als Gegenstände des Unterrichts genannt, auf der einen Seite
Mathematik und Naturwissenschaften, auf der anderen Seite die neuen
Staats Wissenschaften, mit Geschichte, Genealogie, Staatenkunde, came-
ralia u. s. w. Das Interesse an den Naturwissenschaften war seit der
Mitte des 17. Jahrhunderts in den Kreisen der vornehmen Welt ein
ungemein lebhaftes; man sieht es z. B. aus dem Briefwechsel von Leibniz;
er ist, wie die Briefwechsel Desoaetes' und Spinozas, erfüllt mit Mit-
teilungen und Anfragen über neue Erfindungen und Experimente. Aller-
dings war es meist nicht rein theoretische Teilnahme, sondern zugleich
die HolBftiung auf überraschende Unterhaltung und auf Reichtum
bringende Erfindungen, die im 17. und 18. Jahrhundert die Gunst
der Fürsten und Herren diesen Forschungen zuführte. In diesem Sinn
versprechen die Ritterakademien Gelegenheit zur Erlangung von Kennt-
nissen in der Physik und Chemie, der Anatomie und Botanik, zu
welchem Behuf die fürstlichen Raritätenkammern und Gärten sich den
Akademikern offnen; so wird in der Hildburghausenschen Ankündigung
besonders der Luftpumpe gedacht, „deren Gebrauch zum Nutzen der
studierenden Jugend Ihro Durchl. mit besonderer generosite gnädigst
erlaubet". Nicht minder wird die Mathematik mit Absicht auf ihre
Anwendungen getrieben, besonders Feldmessen, Baukunst und Forti-
fikation: „die auditores^^, heißt es ebendort, „sollen durch reelle demonr
stratio per experimenta und praxin sofort den usum der Sache erlernen.
Risse machen und den Übungen im freien Felde fleißig beiwohnen".
Die Nützlichkeit und Notwendigkeit der politischen und historischen
Studien einleuchtender zu machen, konnte, wenn es anders nötig ge-
wesen sein sollte, die Lektüre der Zeitungen, die öfter erwähnt wird,
dienlich sein. Endlich wird in der Regel auch zu einem Kursus in der
Jurisprudenz und Theologie Gelegenheit geboten. Die Akademie soll den
jungen Herren eben zugleich die Universität ersetzen. Man sehe die
Lektionsverzeichnisse der Wolfenbütteler Akademie beiKoLDEWET,II,261ff.
510 III, S, Die Ritterakademien,
Ebendort (S. 205) ist der Stundenplan der ersten Ordnung (vom
Jahre 1687) mitgeteilt: Der Tag beginnt an den vier Wochentagen
mit Reiten (2 — 3 Stunden, im Sommer um 5, im Winter um 7 Uhr).
Hierauf folgen am Mont. und Donn. 10 — 12 fundamenta pieiatis und
historia ecclesiastica ; Nachm. 2 Stunden MatheuL, 2 Stunden Tanzen
und Fechten. Dienst, und Freit. 10 — 12 fremde Sprachen, 3 — 5 prin-
cipia ethices et politices, abwechselnd mit jus privatum et publicum.
Mittw. und Sonn, fallt das Beiten aus, dafür Studium genealogicum cum
historia et chronoloffia, Nachm. wie Dienstags, dazu von 6 — 7 les ex*
ercices du mousquet et de la pique.
Die Zahl der Akademisten darf natürlich nicht groß sein. Zu
Wolfenbüttel waren anfangs etwa 20, dann bis 40 in Aussicht ge-
nommen. Sie wohnen mit den Lehrern und Exerzitienmeistem in der
Akademie. Der Preis für die Pension beträgt für den Adeligen (mit
einem Diener) 300, für den Grafen (mit zwei Dienern) 500, für den
Prinzen (mit drei Dienern) 600 Thlr. im Jahr. Hofmeister und Infor-
matoren, die sie mitbringen, ebenso viel, falls sie in der Akademie
wohnen. — Die Kosten der Anstalt waren sehr beträchtlich. Der jähr-
liche Zuschuß, außer den Zahlungen der Akademisten, wird auf 7000 Thlr.
veranschlagt, reichlich so viel, als eine Universität damals erforderte;
auch die Stände wurden dazu mit der Hälfte herangezogen, „um durch
weiteres respective gnädigstes und unterthänigstes Concert das institutum
auf einen solchen Fuß zu setzen, daß man davon eines gedeihlichen
successes in perpetuum sich würde versichern können". Die Hoffnung
tauschte. Die Anstalt sank, nach kurzem Anlauf, zur Bedeutungslosig-
keit und wurde von den Nachfolgern 1715 aufgehoben.
Das sind die Anstalten, die man im 1 7. und 1 8. Jahrhundert zur
Erziehung und Unterweisung des Adels begründete. Daß ein Bedürfiiis
dafür vorhanden war, daran ist wohl nicht zu zweifeln; die alten Schul-
klöster mit ihrer lateinischen Eloquenz und griechischen und hebräischen
Granunatik waren in der That keine geeigneten Schulen für den regie-
renden Stand. Andererseits scheint freilich nicht eine unter diesen
Anstalten zu eigentlichem Gedeihen gelangt zu sein; sie kosteten viel
und leisteten wenig. Es lag doch wesentlich daran, daß sie nicht für
Schüler, sondern für junge Herren eingerichtet und zugeschnitten waren.
Man sehe das trübselige Bild, das Wekdt von der Liegnitzer Ritter-
akademie entworfen hat: die jungen Leute kommen in der Regel ohne
gründliche Vorbildung, zum Teil so gut wie ganz ohne Schulkennt-
nisse auf die Anstalt; dagegen sind sie regelmäßig mit dem ganzen
junkerlichen Hochmut ausgestattet, der das Lernen für eine armen
Teufeln sehr nötige, dem Herrenstand aber sehr entbehrliche, ja ihn
Erfolge der Ritterakademien. 511
herabdrückende Sache ansieht; und in dieser Yerfassung teilen sie nun
ihre Zeit zwischen Exerzitien, Kollegienhören und allerlei galanten Not-
wendigkeiten: man kann sich denken, was dabei für eine Bildung ge-
deiht Vielleicht lagen die Dinge in Liegnitz besonders ungünstig; aber
im ganzen werden Anstalten mit ähnlichem exklusiven Charakter überall
ähnliche Mißstände hervorgerufen haben: Junkerdünkel und Wissen-
schaftsverachtung gedeihen gar leicht in einem jungen Hirn; kommt
die Anstalt dem auch nur ein wenig entgegen, so werden sie bald
üppig ins Kraut schießen. Mit der exemten Stellung des Adels in
Staat und Gesellschaft ist auch die exemte Erziehung abgekommen,
heute schickt der Adel seine Söhne wieder, wie im 16. Jahrhundert, in
die allgemeine Gelehrtenschule, gewiß nicht zu ihrem Schaden.
Viertes Kapitel.
Die Universitäten nnter dem Einflnß der höfisch-modernen
Bildung und des Pietismus. Die neue Universität Halle.
Thomasius. Francke. Wolf.
Die Bildungsbestrebungen der herrschenden Gesellschaftsklasse üben
jederzeit einen bestimmenden Einfluß auf die der unteren Schichten;
zu dem Reiz der Vornehmheit kommt die Nützlichkeit einer modischen
Bildung: sie empfiehlt ihren Träger in den Augen der Herren, die
Gunst und Stellen zu vergeben haben, sei es auch nur die eines Dorf-
pfarrers oder Hofmeisters. Nach diesem allgemeinen Gesetz finden wir
auch in diesem Zeitalter die Universitäten und Schulen überall bemüht,
sich nach dem Vorbild jener für den Herrenstand bestimmten Bildungs-
anstalten zu formen. Freilich war vom Begehren bis zur Durchführung
ein weiter Weg.
Der gelehrte Unterricht und die litterarische Produktion der deutschen
Universitäten standen vielleicht in keiner Periode ihres Bestehens in ge-
ringerem Ansehen, als in diesem Zeitalter. Die Manner des Fortschritts
und der neuen höfischen Bildung sahen auf sie als auf überlebte An-
stalten herab, deren Betrieb ihnen absurd und lächerlich vorkam. Was
die Schulphilosophen vor 200 Jahren von den Humanisten erlitten
hatten, das wurde jetzt von den Kindern einer neuen Zeit an den Nach-
kommen jener Humanisten gerächt Leebniz, der seine litterarische
und wissenschaftliche Bildung in der höfischen Gesellschaft und in der
512 lU, 4. Die Universitäten unier d. Einfluß d. höfisch-modernen Bildung.
Metropole der Galanterie, wie er Paris einmal nennt, vollendet hatte,
spricht oft mit unverhohlener Geringschätzung von den Universitäten.
Er nennt sie mönchische Anstalten, welche sich mit leeren Grillen be-
schäftigen ; er habe sich immer gewundert, warum angesehene Männer,
wenn sie als Schriftsteller auftreten^ lieber Proben ihrer Gelehrsamkeit
als ihrer Erfahrung und ihres Urteils geben wollten. Was ein klein
wenig von den römischen und griechischen Formeln abweiche, das
wagten sie kaum zu nennen, sie trauten sich nichts zu sagen, das sie
nicht mit dem Namen irgend eines Dichters oder Redners decken
könnten; Beispiele wählten sie nur aus der alten Geschichte. Die Folge
sei, daß alle praktischen Männer solche Bücher für unnütz ansahen und
verachteten. In einem Buch über Landwirtschaft oder Schreinerkunst
sei oft mehr Wahres und Nützliches als in einer ganzen Bibliothek;
aus einer Zeitungssammluug von zehn Jahren lerne man mehr, als aus
hundert klassischen Autoren (Pfleiderer, Leibniz, 604 flF.).
In einem Briefe vom Jahre 1673 aus Paris erbietet er sich für den
dänischen Premierminister Bücher, deren er hier eine Unmasse der besten
finde, zu besorgen: die meisten Bibliotheken, fügt er hinzu, sind fast
durchaus mit wenig brauchbaren Büchern angefüllt. „Sollte ich eine
nach meiner Ansicht zusammenstellen, so ließe ich hauptsächlich nur
zwei Arten hinein, erstens solche, die Erfindungen, Demonstrationen,
Experimente, zweitens solche, welche politische und historische Doku-
mente hauptsächlich aus unserer Zeit und Beschreibungen der Staaten
enthielten. Eine solche Bibliothek würde nicht viel kosten und uner-
meßlich instruktiv sein." Er selbst habe für 40 Thaler die Blüte der
englischen Bücher aus London mitgebracht (Werke, herausgeg. von
0. Klopp, IH, 229).
Die Wertlosigkeit der wissenschaftlichen und besonders der philo-
sophischen Litteratur der Deutschen scheint LEiBNizen in Zusammen-
hang mit dem Festhalten an der lateinischen Sprache zu stehen: nur
in lateinischer Sprache sei jene Spielerei mit leeren Wörtern möglich,
die deutsche Sprache habe nur für rechtschaffene wirkliche Dinge Aus-
drücke. Schon in einer seiner frühesten Schriften (de stUo philosophico
Nizolüy § 1 2, Opp. philos, ed, Ebdmann, p. 62) hat er darauf aufioierk-
sam gemacht, daß die Entwickelung der modernen Philosophie bei den
Franzosen und Engländern mit dem litterarischen Gebrauch der modernen
Sprache in Wechselwirkung stehe. Er hat daher wiederholt für die
Verwendung der deutschen Sprache in wissenschaftlicher Darstellung
sich ausgesprochen, auch mit Verdeutschung der wissenschaftlichen
termini hin und wieder sich Mühe gegeben; doch hat er für seine
Person sich der Lage eines damaligen deutschen Schriftstellers, der von
Ghr, Thomasius, 513
der gebildeten oder der gelehrten Gesellschaft gelesen werden wollte,
gefügt und durchweg französisch oder lateinisch geschrieben; nur in
ein paar kleinen Abhandlungen hat er gezeigt, daß die deutsche Sprache
zu einer reinen und durchsichtigen Darstellung nicht ganz unfähig ge-
worden war. Übrigens hat er noch einen Grund gegen die Alleinherr-
schaft des Lateins: die Schulplackerei mit der Erlernung der Sprache
bringe bei manchen einen unauslöschlichen Abscheu gegen Bücher und
Lesen hervor, was die Ausbreitung der Bildung in die Kreise der
Nichtgelehrten hemme.
Leibniz selbst hat sich von den Universitäten fern gehalten, er
dachte zu groß von sich und seiner Aufgabe, als daß ihm die Stellung
eines Professors hätte genügen können. Sein Ort war der Hof, von
hier aus gelegentlich neben größeren Dingen auch eine Universitäts-
reform zu machen, hat er sich wiederholt, jedoch vergeblich, als Auf-
gabe gewünscht. So fem stand er dem gemeinen deutschen Professoren-
tum, daß er weder in seinen Gedanken sich mit ihnen auseinandersetzte,
sondern mit Desoabtes und Spinoza, mit Bayle und Lookb, noch
seine Schriften an sie richtete, sie sind an Fürsten und hohe Würden-
träger adressiert.
Der Mann, der diese Anschauungen mitten in die Universitätswelt
hineingetragen hat, ist Christian Thomasius, oder wie er sich auf
seinen deutschen Schriften nennt, Thomas. Neun Jahre jünger als
Leibniz, ist er wie dieser der Sohn eines Leipziger Professors, des
Jacob Thomasius, der auch LEiBNizens Lehrer war. Nachdem er zu-
nächst auf der Leipziger Universität seine Studien gemacht hatte, ging
er nach Frankfurt a. 0., wo er unter Stbyk seine juristischen Studien
beendete. Wichtig für seine Bildung wurde der Einfluß von Pufen-
DOBFF und Gbotius; sie lehrten ihn die herkömmliche scholastisch-
theologische Begründung des Rechts und der Moral mit der rationalen
Begründung auf die Natur des Menschen zu vertauschen. Die Philo-
sophie und Jurisprudenz der Universitäten erscheint ihm seitdem als
antiquierte pedantische Scholastik. Er hat sein Leben lang daran ge-
arbeitet, der Vernunft- und zeitgemäßen, „ohnpedantischen^^ Denk- und
Lehrweise in die Wissenschaft und den Universitätsbetrieb Eingang zu
schaffen. Der Kampf gegen Pedanterei und Schulfuchserei, gegen Vor-
urteil und Aberglaube aller Art ist sein Ruhm und seine Freude. Als
Denker ist er nicht bedeutend; aber als rastloser Agitator hat er auf
die Umgestaltung des deutschen Universitätswesens im Sinne der mo-
dernen Ideen einen sehr erheblichen Einfluß geübt: er ist der Mann,
der wegweisend am Eingang des 18. Jahrhunderts steht.
Er begann seine Laufbahn als Privatdozent an der heimischen
Paulsen, Untcrr. Zweite Aufl. I. 33
514 Hl, 4, Die Universitäten unter d, Einfluß d. hö/vtcßi-niodernen Bildung.
Universität. Nachdem er schon mehrere Jahre durch ketzerischen Vor-
trag der Jurisprudenz und durch Disputationen über anstoßige Thesen
den alten Herren Ärgernis gegeben und sich einen Namen gemacht
hatte, machte er das Maß voll durch eine Reihe von Schritten, die er
in den Jahren 1687—1688 that. Im Herbst 1687 kündigte er in
deutscher Sprache deutsche Vorlesungen über die Schrift eines
spanischen Jesuiten über Lebensklugheit, in französischer Übersetzung,
an: es waren die später von Schopenhaueb unter dem Titel „Hand-
orakel der Weltklugheit" ins Deutsche übertragenen feinen und scharf
geschliffenen Aphorismen des Baltahar Gracian. Das deutsche Pro-
gramm, womit er zu den Vorlesungen einlud, behandelt die Frage:
„in welcher Gestalt man denen Franzosen im gemeinen Leben und
Wandel nachahmen solle ?" Gleich nach diesem „unerhörten Greuel"
reichte er den ersten Teil seiner Vernunftlehre, ebenfalls in deutscher
Sprache, der Fakultät zur vorschriftsmäßigen Zensur ein. Nach einigen
Monaten, so erzählt er in seiner Ausgabe des Testaments des M. v. Osse
(S. 252), erhielt er sie von dem Professor des „aristotelischen Orgelwerks*^
mit dem Bemerken zurück: man könne nach Beschluß der Fakultät
keine Schrift zensieren, darinnen philosophische Materien in deutscher
Sprache traktieret würden. Endlich begann er zu Anfang 1688 eine
litterarische Monatsschrift erscheinen zu lassen, es ist die erste in
deutscher Sprache: „Scherz- und ernsthafte, vernünftige und einfaltige
Gedanken über allerhand lustige und nützliche Bücher und Fragen."
Er adressierte sie mit einem Vorwort an die Herren Tabtuffe und
Barbon, welche die heuchlerische Orthodoxie und die geistlose Pedanterie
der deutschen Gelehrten vorstellen. Die Bosheit ist gut gemeint^ aber
die satirische Kraft ist nicht groß: mit der der Dunkelmännerbriefe ist
sie nicht zu vergleichen. Als überlegener Aufklärer, der aus der Höhe
seiner Vernünftigkeit auf die tief unter ihm noch im Schlamm des
Mittelalters Watenden herabblickt, gießt Thomasius über die Koliken
die Schale seines nicht immer feinen oder scharfen Witzes und seiner
immer platten Moralphilosophie aus. In der vierten Nummer ergötzt
er sich an der „weitläuftigen Abbildung eines hochmütigen und ver-
liebten Pedanten unter der Person des Aristoteles(**.
Bemerkenswert ist der Inhalt seines Programms von der Nach-
ahmung der Franzosen; Thomasius stellt darin das neue, modern-höfische
Bildungsideal, wie er es in die Universitätswelt einführen will, dem
alten Gelehrtenideal gegenüber.^ Er faßt am Schluß die Züge zu-
^ Abgedruckt in den kleineu Schriften, Halle 1721. Neuerdings in den
Festdcliriftcn zur Jubelfeier der Univ. Halle (1894) wieder herausgegeben von
Opel, mit ausführlicher Einleitung.
Th(rtna»ius* Bildungsideal. 515
sammen: „honnete Gelehrsamkeit, beatite d'esprit, un bon gout und
f/alanteriey wenn man alle diese Stücke zusammensetzt, wird endlich
ein parfait komme sage oder ein vollkommener weiser Mann daraus
entstehen, den man in der Welt zu klagen und wichtigen Dingen
brauchen kann'^ Hierin sind uns nun die Franzosen ohne Zweifel
voraus, und da der vernünftige Mann das Gute nimmt, wo er es findet,
warum sollten wir von ihnen nicht lernen? Sie kultivieren die höfische
Bildung und moderne Wissenschaft in ihrer eigenen Sprache, warum
sollten wir es nicht auch thun? Griechisch und Ijateinisch ist dazu
wirklich nicht unentbehrlich. Wenn ein Fürst Französisch und Deutsch
verstünde, vom Naturrecht und der Historie, von politischen, statistischen
und kameralistischen Sachen einen guten Begriff hätte und von allem
dem durch eine geschickte Rede nach dem Hof-stylo seine Gedanken
eröffnen oder einen netten und artigen Brief verfertigen könnte, auch
dasjenige, was zum Amt eines Fürsten gehört, auf sich und seine
Unterthanen wohl zu applizieren wüßte, die gemeine Ruhe und Wohl-
fahrt zu befördern : so würde man einen solchen Herrn mit gutem Fug
für einen gelehrten Fürsten passieren lassen müssen; und wo mir recht
ist, so hat Flato auf einen solchen gezielet, wenn er gesaget: Daß als-
dann die Republiquen höchst glückselig sein würden, wenn entweder
die Fürsten philosophierten oder denen Philosophis die Regimentslast
aufgebürdet würde. Daß wir dergleichen Proben nicht viel aufweisen
können, liegt nicht an den Potentaten selbst, sondern an der Art selbige
zu unterweisen. „Ich bin versichert, daß, wenn man einen jungen
Herrn von 10 — 12 Jahren, der nur sein Teutsch und Französisch ver-
stünde, anfinge taglich zwei bis drei Stunden von diesen Materien mit
einem von Ernst und Scherz gemengten Discurs zu unterhalten und
darneben mit guter Art disponirte, daß er noch ein paar Stunden mit
Lust auf Lesung guter Historien, auf die Geographie und Genealogien
anwendete, man würde ohne ihm einigen Ekel vor dem Studieren noch
Verdruß für denen Gelehrten zu machen, ingleichen ohne Beschwerung
des Gedächtnisses mit vielem Auswendiglernen und Marter des Ver-
standes, dasjenige zu glauben, was man nicht verstehet, welches zugleich
denen Menschen einen haupt-verdrießlichen Eigensinn einflößet; ja end-
lich ohne Beibringung vieler nichtswürdigen Fragen, welche das Gehirn
verwirren und keinen größeren Nutzen haben, als Ratten und Mäuse
zu tödten, gleichsam spielend und als durch den angenehmsten Zeit-
vertreib noch vor dem 18. oder 20. Jahre dieses alles zuwege bringen
können." Und auf eben dieselbe Art könnte man auch eine Privat-
person zu den Geschäften und zur Gesellschaft erziehen: „wenn sie
erstlich die Regeln gründlich zu räsonnieren wohl inue hätte, ihre
33*
516 ///,*/. Die Universitäten unter d, Einfluß d. höfisdi-modemen Bildung.
Gedanken füglich und ordentlich fürzubringen wußte, von Anderer
Schriften ein gut Judicium fallen, auch den Ursprung ihrer irrigen
Meinungen mit guter Art und Freundlichkeit darthun könnte; wenn
sie die Bedekunst so weit verstünde, daß sie einen wohl gesetzten Brief
verfertigen und einen geschickten Discurs formiren könnte; wenn sie
in den mathematischen Wissenschaften so weit bewandert wäre, daß
sie von niemand in selbigen verrathen zu werden befürchten dürfte;
wenn sie von denen Geschöpfen Gottes und deren natürlichen Eigen-
schaften vernünftig reden; wenn sie von der menschlichen Pflicht so-
wohl gegen Gott als Menschen in allen Standen vernünftige Nachricht
geben könnte'^ endlich noch in der Geschichte der menschlichen
Meinungen sich umgethan hätte, ,,ich dächt«, wer alles dieses prästierte,
dürfte noch wohl sich unter die Gelehrten machen". Auf Universitäten
und Schulen dürfte man dergleichen junge Leute nicht leicht finden;
und doch wäre es durch vernünftigen Unterricht so leicht zu erreichen;
selbst beim Frauenzimmer. „Ich getraue mir darzuthun, daß es viel
leichter sei und mehr Succeß zu hoffen, ein Frauenzimmer von einem
guten Verstände, welche kein Lateinisch verstehet, auch nichts oder
wenig von der Gelehrsamkeit weiß, als eine auch mit gutem Verstände
begabte Mannsperson, die aber daneben von Jugend auf sich mit dem
Latein geplackt, zu unterrichten, weil durch die gewöhnliche Lehr-Art
viel ungegründet und ohnnöthig Zeug nebst dem Iiatein in die Ge-
müther der Lehrlinge eingepräget wird, welches hemachmals so fest
klebet und merkliche Verhinderungen bringet, daß das Tüchtige und
Gescheid te nicht haften will."
Diesem ersten deutschen Programm zu Vorlesungen in deutscher
Sprache ließ er andere folgen, man findet sie ebenfalls in seinen kleinen
Schriften gedruckt. Zu Ostern 1688 kündigte er zwei Kollegien über
die christliche Sittenlehre und über AdiS jus publicum mit einem Biscour s
von den Mängeln der aristotelischen Ethik an; zum Herbst desselben
Jahres ein Bisputatorium über seine Logik, welche er demnächst unter
dem Titel: Tntroductio ad philosophiam aulicam drucken ließ, mit einem
Biscours von den Mängeln der heutigen Akademien, absonderlich aber
der Jurisprudenz. Endlich im Sommer 1689 eröffnete er der studie-
renden Jugend einen „Vorschlag, wie er einen jungen Menschen, der
sich fürgesetzt, Gott und der Welt dermaleins in vita civili rechtschaffen
zu dienen und als ein honnete und galant komme zu leben, binnen dreier
Jahre Frist in der Philosophie und singulis jurisprudentiae partibus zu
informieren gesonnen sei".
Der philosophische Kursus, welcher hier angeboten wird, hat nach
der Ausführung im Programm folgende Gestalt: er beginnt mit der Logik,
Thomasius' philosophischer Unterricht. 517
einer Anleitung zu rasonnieren und der Säuberung des Kopfes von
Präjudizien; es folgt die Historie, das Auge der Wissenschaften, sonder-
lich die Historie der Philosophie; sodann die wichtigste Disziplin, die
praktische Philosophie mit ihren drei Teilen: Ethik, Politik, Ökonomik.
Die Ethik giebt eine sehr praktische und detaillierte Anweisung zur
Kunst zu leben; die Summe ist die Demonstration, „daß ein laster-
hafter Mensch, als z. E. ein Müssiggänger, ein Hurer, ein Spieler, ein
Säufer, denn diese vier Laster stehen einem jungen Menschen am meisten
nach, das allerverdrießlichste Leben von der Welt führe, und daß ein
tugendhafter Mann (durch welchen allerdings nicht einen mürrischen
Pedanten, sondern einen vernünftigen und politen Mann verstehe) das
allerlustigste Leben zu genießen allein fähig sei''. Die Politik handelt
nicht allein von Staatssachen, sondern lehrt auch ein politisches Ver-
halten im Privatverkehr mit Menschen, eine Disziplin, auf deren syste-
matische Ausbildung auf Grund von Psychologie und Physiognomik
Thomasius besonders stolz war. Ebenso lehrt die „Ökonomik'' 1. wie
man sich ein ehrlich Vermögen zuwege bringen, 2. wie man es kon-
servieren und administrieren, 3. wie man sich in Ausgebung desselben
verhalten solle", jedes dieser Stücke wird mit sehr detaillierten Über-
legungen ausgeführt. Ein Anhang handelt vom decorum oder der Ga-
lanterie, welche besteht „in der Übereinstimmung des menschlichen
Thuns und Lassens mit dem Thun und Lassen solcher Personen, die
für etwas sonderliches in der menschlichen Gesellschaft ästimieret
werden." — Vor dem Übergang zur Jurisprudenz werde hier dann noch
eine kurze Anleitung zur Oratorie eingelegt werden, freilich etwas von
dem, was sonst auf Akademien unter diesem Titel geboten würde, völlig
Verschiedenes; besonders werde darin zur deutschen Redekunst an-
geführt werden.
Thomasius hat auch in Halle sein Collegium styli fortgesetzt, mit
Lektionen und Übungen, um die Studenten zur „Deutlichkeit und Artig-
keit" der Bede in deutscher Sprache zu führen, denn von den Schulen
brächten sie nichts mit als etwas Latein. „Ich kann," so sagt er ein-
mal in einem späteren Programm, „durch zwölQährige Erfahrung be-
zeugen, daß die meisten unter meinem Auditoribus , auch diejenigen,
die ihr gut Latein von Schulen mitgebracht, wenig oder gar kein
Teutsch gekonnt, das ist, daß sie gar selten capabel gewesen, einen
deutlichen artigen Brief zu schreiben oder einen kleinen Satz förmlich
vorzubringen." Daher er hierzu Anleitung geben wolle, zuerst durch
praecepta und lectiones, dann durch Übungen, indem die Zuhörer nach
Belieben „einen Brief, eine Hochzeit- oder Leichenrede, oder was sonsten
im bürgerlichen Leben, bei Antretung eines Amts oder bei Niederlegung
518 111, 4. DU Universitäten unier d. Einfluß d, höfischrnwdemen Bildung.
desselbigen, bei Bewerbung um eine Braut u. s. w. vorzugehen pflegety
oder eine kurze Erzählung aufsetzen. Wenn dieses einige Zeit lang
geschehen, werde ich ihnen selbsten einen Aufsatz von unterschiedenen
Materien, jedoch ohne einige Disposition geben, daraus zu wählen was
ihnen anstehet. Ja es soll auch einem jeden freistehen, außer den
vorgeschriebenen Materien eine andere zu erkiesen, wenn er sich nur
nicht ertappen läßt, daß es dasjenige, was er präsentiert, aus andern
geschrieben habe."
Soviel über die Anschauungen und Bestrebungen des Mannes, der
das neue höfische Bildungsideal zuerst in das deutsche Universitäts-
wesen hineintrug. Den rechten Boden aber für diese seine Bestrebungen
fand er an der neugegründeten Universität zu Halle, als deren plan-
tator, mit dem mittelalterlichen Ausdruck, man den Thomasius be-
zeichnen kann.
Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts begann unter den deutschen
Staaten einer hervorzutreten, der bisher namentlich in Hinsicht auf die
geistige Kultur eine überaus bescheidene Bolle gespielt hatte: es ist
der brandenburgisch-preußische. Wie in der politisch-militärischen
Welt, so errang er auch in der geistigen Welt allmählich die Fährer-
stellung. Eine Reihe von bedeutenden Regenten, alle mit der großen
Herrscherkraft ausgestattet, das Wirkliche und Lebenskräftige von dem
Abgestorbenen und nur noch scheinbar Lebenden zu unterscheiden,
haben dem neuen Staat das Übergewicht und zuletzt die Hegemonie
in Deutschland verschafft. Vor allem war es die furchtlose Anerkennung
des Neuen und Zukunftsreichen in der geistigen Welt, wodurch der
preußische Staat die hervorragendsten Kräfte, die Träger neuer Ge-
danken aus ganz Deutschland an sich zu ziehen wußte.
Der erste in der Reihe großer Fürsten war Friedrich Wilhelm,
der große Kurfürst. Sein beweglicher Geist hatte auch für die Wissen-
schaften und Künste Sinn; die phantastischen Hoffnungen, womit die
Zeit auf Naturbeherrschung durch Naturwissenschaft ausging, waren
ihm nicht fremd. In theologischer Beziehung gehörte er der Richtung
an, die sich von dem zugespitzten Konfessionalismus abwendete und
einem mehr praktischen Christentum zuneigte; Friede zwischen den
Konfessionen auf Grund der Anerkennung der Parität war das Ziel
seiner Kirchen politik. Sie entsprach der Stellung der reformierten
Dynastie im lutherischen Lande. Nach dem Kriege ließ er sich die
Wiederherstellung der alten Landesuniversitäten zu Frankfurt und
Königsberg angelegen sein. Ebenso wurde die brandenburgische
Landesschule zu Joachimsthal, die der Krieg zerstört hatte, zu Berlin
wieder aufgerichtet (1650, anfangs im Schloß), und zu Hamm in der
Brandenlnirg und der große Kurfürst, 519
Grafschaft Mark ein Gymnasium illustre, mit drei Fakultätsprofessuren,
auch Fecht-, Tanz- und Sprachmeistern, eröffnet (1657). Eine neue
Umyersitat für seine westlichen Länder begründete er zu Duisburg
1654. Sie war zeitweilig nicht ohne Bedeutung, namentlich dadurch,
daß sie den Einfluß der fortgeschritteneren Bildung der Niederlande
und Frankreichs vennitteln half. Ihr Philosoph und Theolog J.Claubekg
war ein Anhänger der Cartesianischen Philosophie (Tholuck, II, 246 flF.).
In Frankfurt war der Physiker Placentiüs Cartesianer, und der Philo-
soph und Psycholog A. Weöenfeld ein Anhänger Bacons (Gumposch,
Philos. Litteratur, S. 130), wie denn auch die Werke Bacons von einem
märkischen Prediger herausgegeben und einem Sohne des großen Kur-
fürsten dediziert worden sind (1694). Als die Frankfurter Fcakultat
gegen die freiere Richtung zu Gunsten des rezipierten Aristotelismus
einschritt, reskribierte der Kurfürst: er könne nicht absehen, „warum
einem philosopho es nicht concedirt werden möchte, pro et contra,
ungeachtet es des Äristotelis placitis zuwider laufe, zu mehrerer Er-
läuterung der philosophischen Wahrheit zu lehren und zu disputieren".^
Bemerkenswert ist noch, daß der Kurfürst den ersten großen Vertreter
des Natur- oder Vernunftrechts in Deutschland, den von den Anhängern
der Schulphilosophie so viel angefeindeten Samuel Pufendobff als
Historiographen nach Berlin berief. Es ist der erste Gelehrte von uni-
versellem Ruf, der hier sein Leben beschlossen hat (1694). Auch die
Begründung der großen Berliner Bibliothek ist das Werk des großen
Kurfürsten.
Noch viel weiter aussehend erscheint ein Entwurf, der freilich auf
dem Papier geblieben ist, aber doch einen Einblick in die Gedanken
gestattet, die den Fürsten bewegten oder doch bei ihm Anklang fanden:
es ist ein 1667 vom Kurfürsten unterzeichnetes Gründungspatent für
eine internationale wissenschaftliche Zentralanstalt in der Mark Branden-
burg, die zugleich eine universelle Hochschule sein soll. Die Liebhaber
der Freiheit und der Wissenschaften aller Länder und aller christlichen
Konfessionen werden in dem Patent eingeladen, sich an dem Sitz dieser
Anstalt (Tangermünde wurde dafür in Aussicht genommen) anzusiedeln;
sie werden dort Schutz, Ehre, wissenschaftlichen Verkehr und Förderung
aller Art finden. Es werden einige hervorragende Gelehrte (rarioris
scientiae et politioris litteraturae) angestellt werden, die täglich öffent-
liche Vorträge halten, nicht für die Jugend über elementare Dinge,
sondern für höher Gebildete (non erudiendae juventuti apta sed doctis
* Varrentrapp, Der große Kurfürst und die Universitäten (1894, Straß-
burger Rektoratsrede).
520 Uly 4, Die Unh^ersüätcn unter d, Einfluß d, höfisdi'jnodemen Bildung.
auribus et optime cultis congrua animaöus). Auch Juden und Arabern
soll diese Anstalt nicht verschlossen sein, wenn sie durch Wissenschaft
sich auszeichnen und ihre religiösen Ansichten für sich behalten.^
Der Entwurf zu dieser Gründung stammt von einem schwedischen
Flüchtling, Benedict Skytte. Ein von ihm gemachter Anschlag zur
Ausführung (ebenfalls bei Oelrichs mitgeteilt) bezeichnet die notwen-
digen Institute und Angestellten. Außer den notwendigen Bepräsen-
tations-, Gebrauchs- und Okonomiegebäuden finden sich darunter eine
Bibliothek, eine Dnickerei für alle Sprachen, eine Apotheke, ein che-
misches Laboratorium, ein physikalisch -technologisches Institut, ein
Kranken- und Waisenhaus, ein zoologischer und botanischer Garten,
ein Institut für Wasserkünste und Bäder, ein Haus für Maschinen und
Feuerspritze, ein Museum (Raritatenkabinet), ferner Manufakturen, öflFent-
liche Anlagen, Alleen, Säulengänge u. s. f.
Es ist kein Zweifel, daß dieser „erhabenste Palast des Universums"
nach dem Vorbild jenes naturwissenschaftlich-technologischen Instituts
gebaut ist, das Bacon als die Zentralanstalt seiner utopischen Nova
Atlantis beschreibt. Es sind Gedanken, wie sie zu jener Zeit alle vor-
geschrittensten Geister, man denke an Comenius und Letbniz, be-
schäftigten. Auch der große Kurfürst gehört zu ihnen. Freilich war
er Realpolitiker genug, um auf die Vorstellungen seiner besonneneren
Räte von dem Versuch einer Verwirklichung des phantastischen Planes
abzustehen. Das Patent scheint nicht einmal veröfientlicht zu sein.
In der That, man wird annehmen dürfen, daß die Sache nur zu einer
^ Oelrichs, Commentationes histor, litterariaej 1751. S. auch Ebhan, Sur
le projet dune ville savante dans le Brandenbourg (1792). Das bei Oelrichs im
Original mitgeteilte Plakat hat die Überschrift: Fundatio novae univerailatis
Brandenhurgicae Gentium Seientiarum Artium. Die Einladungsformel, womit
die merkwürdige Urkunde beginnt, hat folgenden Wortlaut: Si qui sunt ele-
ganltorum Musarum cultoreSy si qui sunt indagatores eximiarum seientiarum,
nohiliorum artium periti, si qui sunt impediti Divinitatis eultu et usu sctero-
rum, si qui sunt asperae dominationis pertaesi, libertatis amantes, si qui sunt
per ostrar/ismum pntria pulsi vel ob atium qtmnieumque modo non inhonestam
causam sedihus exforres, si qui suntj qui in Soeietate Litteratorum et in erudita
conrersatione mundi ponunt delieias: sciant praedicti et omnes viri probi ei
honesti, cujtis etiam sint nationiSj honestae professionis ei fideiy sciant sese in
hac U7iieersitate reperturos Pamassuvt, Maecenatem, Seientiarum et Artium
honorem, conscientiarum et omnium rerum decoram liberiatem, solamen afflictis,
ex/ilantibus refugium et asylumy sodalitium bonorum mentiuniy cultioris et suprn
vulgus sapientis generis humani delieias. Das Siegel des Instituts soll den Kur-
fürsten darstellen auf dem Thron, in der Rechten das Szepter, mit der Linken
den Tempel der Weisheit berührend; Pallaä und Minerva halten Lorberzweige
über dem Haupt des Fürsten.
Gründung der Universität Halle, 521
großen Enttäuschung geführt hätte. Die Mark war damals nicht das
Land und Tangermünde nicht der Ort, um eine internationale Gelehrten-
kolonie anzuziehen.
Die Regierung des Nachfolgers, des ersten preußischen Königs,
blieb, was die Bildungspolitik anlangt, im wesentlichen in denselben
Spuren; ihr Ziel war, den jungen aufstrebenden Staat in geistigen
Dingen an der Spitze des Fortschritts zu erhalten. Draußen verketzerte
Vertreter neuer Richtungen fanden in Brandenburg bereite Aufnahme.
J. Ph. Speneb, der von der sächsischen Theologie verketzerte Pietist,
wurde 1691 als Probst nach Berlin berufen: nicht ein unmoderner
Mann, er war vorher Prinzenhofmeister gewesen und ist nicht bloß
Begründer der collegia pietatis, sondern auch ein geschätzter Bearbeiter
der höfischsten aller Wissenschaften, der Heraldik. Nicht minder fand
Gottfried Abnold, der Verfasser der „Unparteiischen Kirchen- and
Ketzerhistorie" (einer Darstellung, wo die Ketzer recht, und die Kirche
unrecht hat), als er vor dem Haß der Orthodoxie aus dem Sächsischen
weichen mußte, im Brandenburgischen Aufnahme; jenes Werk ist
Friedrich I. gewidmet Auf das bestimmteste gelangte endlich die
Tendenz des neuen Staatswesens zum Ausdruck in der Begründung von
zwei neuen wissenschaftlichen Anstalten, die in der Geschichte der
geistigen Kultur Deutschlands eine wichtige Rolle gespielt haben:
der Universität zu Halle (1694) und der Gesellschaft der
Wissenschaften zu Berlin (1700). Die Namen von Thomasius und
Leibniz, die unlösbar mit diesen beiden Anstalten verknüpft sind, be-
zeichnen ihre Richtung und Bedeutung. Nach dem Urteil Friedrichs
des Großen haben unter allen deutschen Gelehrten diese beiden dem
Fortschritte des menschlichen Geistes die größten Dienste erwiesen. In
gewissem Sinne kann man sagen: was der große Kurfürst mit dem
großen, aber übereilten Entwurf einer Zentralanstalt für wissenschaft-
liche Forschung und wissenschaftlichen Unterricht gewollt hatte, das
ist durch die Hallische Universität und die Berliner Akademie, aller-
dings nicht in Form einer einheitlichen Anstalt, ins Werk gesetzt
worden.
Halle ist die erste eigentlich moderne Universität.^ Schon ihr Ur-
sprung weist auf diesen Charakter hin. Sie ist als Ersatz für einen
Hof und mit Benutzung von dessen Hinterlassenschaft begründet. Im
* Über die Vorgänge bei der Gründung berichtet ausfiihrlich J. P. v. Lude-
wig , Historie der Hallischen Universität in Cons, Hall, Jure Cons. tom. II. am
Eingang. Neben den älteren Geschichten der Hallischen Univ. von Förster
und HuFFBAUER jetzt das zum Jubiläum erschienene Werk von W. Scbradek,
Geschichte der Friedrichsuniv. zu Halle (2 Bde. 1894).
522 IlL 4, Die Unirersüäten unter d. Einfluß d, höfisch-modernen BiJdung.
Jahre 1 680 fiel das Erzstift Magdeburg an das Haus Brandenburg. Die
in der bisherigen Residenz leer gewordenen Häuser und hofischen In-
stitute, Keitbahn, Ballhaus, Fechtboden etc. mitsammt dem zugehörigen
Personal gaben Veranlassung zur Begründung einer Hitterakademie;
ein französischer Emigrant und ein deutscher Edelmann spielten dabei
die Hauptrolle; außer in den ritterlichen Exerzitien wurde in den
modernen Sprachen und Wissenschaften unterrichtet. Im Jahre 1690
kam Thomasius nach Halle. In Leipzig hatte er es durch fortwährende
Beibungen mit der am Alten hangenden Universität erreicht, die best-
gehaßte Persönlichkeit zu sein. Als er auch dem Dresdener Hof An-
stoß gab und man einen Verhaftsbefehl gegen ihn erwirkte, wich er
aus und wandte sich dem Nachbarlande zu, wo er mit offenen Armen
aufgenommen wurde. Er wurde alsbald zum brandenburgischen Ge-
heimen Bat ernannt und ihm anheim gegeben, in Halle seine Vor-
lesungen zu eröffnen. Da diese eine beträchtliche Anzahl von Hörern
anzogen, so wurde nun der Plan, dort eine Universität zu errichten
(ein Plan, den schon der Kardinal Albrecht von Mainz gehabt, auch
eine päpstliche Errichtungsbulle dafür erworben hatte, 1531) auf-
genommen und ausgeführt. Es wirkte dabei besonders auch die Ab-
sicht mit, für die lutherischen Theologen des Landes, denen der Besuch
der beiden sächsischen Universitäten untersagt war, eine zuverlässige
einheimische Bildungsanstalt herzustellen, denn Frankfurt war seit dem
Übertritt des regierenden Hauses reformiert Zu den vorhandenen
Kräften wurde eine kleine Anzahl auswärtiger berufen, darunter der
berühmte Jurist Sam. Stryk von Wittenberg, die Theologen J. Bbeit-
HAUPT und A. H. Prancke von Erfurt, der Philosoph J. Fb. Buddeüs
vom Koburger Gymnasium und der Philolog Chb. CELLARicrs aus dem
Merseburger Rektorat. Der Wittenberger Philolog Schuezfleisoh und
der berühmte Altdorfer Physiker J. Chr. Stürm hatten abgelehnt
Dagegen wurden an Fr. Hoffmann und 6. E. Stahl zwei bedeutende
Mediziner und Naturforscher gewonnen. Als Direktor der Universität
wurde V. L. v. Seckendorf berufen, doch starb er schon im Jahre
1692. Endlich wurde im Jahre 1694 die neue Universität, nachdem
1693 ein kaiserliches Privileg erworben worden, mit großem Pomp
eingeweiht.
Das Lektionsverzeichnis auf das Jahr 1695 weist im ganzen
15 Lehrer auf: in der theologischen Fakultüt 2, in der juristischen 5
(4 Ordinarien), in der medizinischen 2, in der philosophischen 7 (darunter
Hoffmann, der auch in der medizinischen Fakultät eine Professur hatte).
In der theologischen Fakultät liest Breithaupt exegetische, Anton
dogmatische Vorlesungen. In der philosophischen liest CELiiAaius,
Universität Halle. Thoifiasius und Francke. 523
Eloqu. et Bistor. P. F., über Philologie und Geschichte, Fbanckb,
Gr, et Or. lingu. P. P,, erklärt philologisch Bücher des alten und neuen
Testaments, Uoffmakn, Philos, Natur, et Experimentalis (1694 statt
dessen Cartesianae) P. P., liest über Experimentalphysik; Büddeus,
Philos. Mor. ac. Civ, P, P., über Politik und Naturrecht; J. Speblettb,
Philos. P. P.y über sein System der Philosophie (erbietet sich auch die
Cartesianische Philosophie zu lehren, sowie Geographie und französische
Sprache vorzutragen); Lüdewig, PhiL Ration. P. P., liest über Logik
(mit Disputationen) und Metaphysik, ferner über Geschichte, mit Genea-
logie, Heraldik und Geographie; endlich in Poesi erklärt er den Prü-
den tius; OsTBOwsKi, Äfat/i. P. P. Extraord.j liest über Mathematik.
Der Charakter der Universität während der ersten Dezennien ihres
Bestehens wurde, wenn nicht bestimmt, so doch am schärfsten zum
Ausdruck gebracht durch Thomasiüs und Fbai^gke. Die beiden kannten
sich schon von Leipzig her; wie Thomasiüs von der juristischen, so
war Fbancke von der dortigen theologischen Fakultät als revolutionäres
Element ausgeschieden worden.^ Sie begegneten sich, wie einst Lutheb
und die Humanisten, in der Verachtung der Schulphilosophie samt
scholastischer Theologie und Jurisprudenz; die Richtung auf das Prak-
tische ist beiden eigen. Sie begegneten sich auch in der Abneigung
gegen den humanistischen Schulbetrieb; mißtraute Fbancke den grie-
chischen und römischen Klassikern als Heiden, so blickte Thomasiüs
auf sie als auf einen überwundenen Standpunkt; beide waren bestrebt,
die modernen Bildungselemente für den Jugendunterricht zu verwerten;
wie in Fbanckes Pädagogium dies versucht wurde, davon wird noch
später zu reden sein.
freilich bestand zugleich zwischen diesen beiden Männern ein
innerer Gegensatz von derselben Art, wie zwischen Lütheb und den
Humanisten. Stand Fbancke den weltlichen Dingen, den profanen
Wissenschaften, der ganzen französisch -höfischen Kulturbewegung mit
Scheu gegenüber, so war dagegen Thomasiüs, so demütig-fromm er auch
zuweilen redet, im Grunde seines Herzens durchaus weltlich gesinnt;
* Kbamer, Franckes Leben, I, 46 fF. Vor allem wurde Fbancke durch den
Erfolg seiner exegetischen Vorlesungen über die heiligen Schriften den alten
Professoren, besonders Cari>zow und Alberti, die auch Thomasiüs* und Pupen-
DORFPs erbitterte Gegner waren, unerträglich. „Seit die sogenannten Pietisten
sich lierfürgethan," heißt es in einem Bericht der Fakultät nach Dresden, ,,hahen
die shidiosi keine andere collegia, weder lectoria noch disputatoria geachtet;
ganze collegia systematica in libros symbolicos sind eingegangen. Redet man
von collegiis philosophieis, logicis, metaphysicis u. dergl., so lächeln sie darüber,
der Meinung, daß sie ihr Studieren leichter hinauszuführen wüßten."
524 III, 4, Die Universitäten unter d, Einfluß d, höfisch-modernen Bildung,
der Pietismus war ihm recht als Bundesgenosse gegen die Orthodoxie,
mit welcher er auf den Tod verfeindet war; er liebte es, ebenso wie
Hütten, seinen Gegnern gegenüber sich gelegentlich nicht nur als den
gebildeteren, sondern auch als den frömmeren Mann darzustellen. In
Halle brach später der innere Gegensatz in offene Feindschaft aus.
Sowohl die Lehre als das Leben des Thomasius gaben Fbancken An-
stoß. Im Jalire 1 702 sah Fbancke durch sein Gewissen sich genötigt,
die Frau des Thomasius um ihres Kleiderluxus willen von der Kom-
munion auszuschließen (Ebameb, II, 145 ff.). Dem Thomasius selbst
hatte schon ein Leipziger Gegner vorgehalten, daß er zur Vorlesung
und Disputation das Katheder im bunten Modekleid mit Degen und
zierlichem goldenem Gehänge besteige.
Die Studentenschaft folgte den beiden repräsentativen Männern.
p]s ging bald unter den Gegnern ein Spruch um: du gehst nach Halle?
du wirst als Atheist oder als Pietist zurückkehren (Halam tendis aut
pietista aut atheista reversurus). Dem Juristen wird in Aussicht ge-
stellt, als ungläubiger Weltmann, der nicht mehr an Hexen und Teufel,
vielleicht auch noch an andere Dinge, glaubt, aus Halle zurückzu-
kommen; dem Theologen droht der Pietismus oder gar der Enthusias-
mus, der nicht minder der „gesunden Lehre" feind und vor allem dem
Kirchenregiment verhaßt ist: indem er sich auf innere Erleuchtung
beruft, entzieht er sich der Kontrolle der Lehraufsicht Aber die Ent-
rüstung der Vertreter des Alten hielt den Lauf der Dinge nicht auf.
Mitten zwischen den alten sächsischen Universitäten gelegen, machte
sich die neue brandenburgische bald Baum. Während des ganzen
18. Jahrhunderts, seit der Mitte desselben in Konkurrenz mit der neuen
hannoverisch -englischen Universität Göttingen, behauptete Halle die
Führerschaft unter den deutschen Universitäten. Die Zahl der jähr-
lichen Inskriptionen stieg schon im ersten Jahrzehnt auf 600. Bis 1 724
waren 6032 Theologen und 8052 Juristen, dazu noch zwei Fürsten,
76 Grafen, 103 Freiherren und 1200 Adlige immatrikuliert worden
(Hoffbauer, 32). Aufklärung und Pietismus, philosophischer, politischer
und zuletzt auch theologischer Rationalismus haben von Halle aus ihren
Siegeslauf durch Deutschland angetreten.
Thomasius war für die Ausbreitung seiner Denkweise rastlos thätig.
In Halle hinderte ihn nichts mehr, seine Gedanken in deutschen Lehr-
büchern mitzuteilen. Gleich im Jahre 1691 erschien die Philosophia
aulica deutsch als ,,Einleitung zu der Vernunftlehre, worinnen durch
eine leichte und allen vernünftigen Menschen, waserlei Standes oder
Geschlechtes sie seien, verständliche Manier der Weg gezeigt wird, ohne
die SyllogisHca das Wahre, Wahrscheinliche und Falsche voneinander
Universität Halle, Tfianiasius und Francke, 525
zu entscheiden und neue Wahrheiten zu erfinden'^ Im folgenden Jahr
erschien das zugehörige Lehrbuch der Moral unter dem Titel: „Von
der Kunst yemünfbig und tugendhaft zu lieben, als dem einzigen Mittel
zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen,
oder Einleitung in die Sittenlehre." Die Schriften, deren „ohn pedan-
tischer" Inhalt dem Titel völlig entspricht, wurden begierig gelesen, wie
durch eine große Menge Auflagen bewiesen wird. So war Thomasius
bestrebt, die Halleschen Studenten von dem „Laster der Pedanterei"
zu befreien und moderne Bildung zu verbreiten. Das persönliche Bei-
spiel unterstützte die litterarischen Bemühungen. Halle, so bezeugt er
1717 (in seiner Ausgabe von M. v. Osses Testament, S. 215), „dürfe
sich, obwohl von der ünhöflichkeit noch nicht gänzlich befreit, doch
gratulieren an einem Ort angelegt zu sein, an welchem die Herren
Rate bei der hochlöblichen Regierung als Männer von höflichen Sitten
sowohl die Lehrer als die Studierenden durch ihr gutes Exempel an-
trieben zu folgen; und werden wir Professores auch nunmehro, nachdem
die Regierung nach Magdeburg transferieret worden, uns angelegen sein
lassen, den desfalls uns anvertrauten studiosis noch mit dergleichen
Beispiel voranzugehen." Es folgt ein drei Quartseiten langer Exkurs
über das Hutabnehmen, als welches, obwohl mit Maßen zu üben, zur
Höflichkeit gehöre. So seltsam uns diese Bestrebungen anmuten, so
hatten sie zu einer Zeit, wo die Universitäten eben aus dem Unwesen
des Pennalismus aufzutauchen begannen, ihr gutes Recht. Durch die
höfisch-französische Bildung ist die Barbarei des Saufens und Raufens,
die um die Mitte des 17. Jahrhunderts in der akademischen Welt ihren
Höhepunkt erreicht hatte, allmählich zurückgedrängt worden. Auch in
-dieser Hinsicht geht die Universität Halle voran. Der Pennalismus hat
hier überhaupt nicht erst Eingang gefunden.
Standen die Juristen in Halle unter solchen Einflüssen, so em-
pfingen die Theologen ihre Bildung und Lebensrichtung durch Fbancke.
So groß die Spannung zwischen den Vertretern des Pietismus und des
Rationalismus zeitweilig wurde — die große Explosion, wodurch ganz
Deutschland in Aufregung gebracht wurde, die Vertreibung Wolfs
durch den unter pietistischen Einflüssen handelnden König Friedrich
Wilhelm, ist bekannt — so blieben sie doch durch den gemeinsamen
Gegensatz gegen die überkommene Schulgelehrsamkeit verbunden: wirken
wollen beide, wirken auf dem kürzesten Wege, denn das Größte steht
auf dem Spiel, die diesseitige und jenseitige Glückseligkeit des Menschen-
geschlechts. Hierfür tragen, das ist die gemeinsame Grundüberzeugung,
lateinische Poesie und Eontroversentheologie beide nichts aus; worum
es sich jetzt handelt, das ist die Reformation des ganzen Lebens, des
526 III, 4, Die Universitäten, unter d. Einfluß <L liöfisdi-modemen Bildung,
öffentlichen wie des privaten , durch die nenen Wissenschaften und
durch ein praktisches Christentum.
Hierin ist der Pietismus mit dem Bationalismus ganz einstimmig.
Er ist sehr fem von quietistischer Beschaulichkeit Y^laucke hat es
nicht minder als Leibniz und Wolf auf die großartigste und all-
gemeinste Erneuerung und Umgestaltung aller Dinge abgesehen. Um
dieselbe Zeit, als in Berlin LEiBNizens Plan zu einer allgemeinen Ver-
besserung des menschlichen Wesens in der Akademie der Wissenschaften
einen ersten Anfang zur Verwirklichung erhielt, entwarf Fbancks ein
,,Projekt zu einem seminario untverscUi, in welchem man eine reale
Verbesserung in allen Standen in und außerhalb Deutschlands, ja in
Europa und allen übrigen Teilen der Welt zu gewarten (1701, bei
Kbameb, II, 489); in den Waisenerziehungs-, Armenversorgungs- und
Lehrerbildungsanstalten, die im Werden waren, sah er den Keim zu
jenem Werk. Wie ernst es ihm mit der großen Idee einer „gründlichen
realen Verbesserung des allgemeinen verderbten Zustandes, nicht allein
in der evangelischen Kirche, sondern allenthalben in der Welt" war,
zeigen die wiederholten Bearbeitungen dieses Projektes. Die letzte, im
Jahre 1711 für den Kronprinzen verfaßt, zählt neun Hauptanstalten
als Teile dieser „Universaleinrichtung zum Nutzen der ganzen Christen-
heit^' auf, darunter als letztes das Seminarium nationum, eine Erziehungs-
anstalt für Ausländer, wie denn schon zwei tartarische Kiiaben ihre
Erziehung in Halle erhalten hätten (ebend. 500).
Wer von solchen Ideen erfüllt ist, wird für die Quisquilien philo-
logisch-kritischrhistorischer Forschung oder die Quästionen scholastischer
Systembildung wenig Geduld haben. Überall dringt Fbancke darauf,
daß die Studierenden nicht bei unnötigen Schwierigkeiten sich aufhalten ;
er warnt vor dem pruritus scientiae; auf die innere Aneignung der
Wahrheit kommt es an. Was der Student an Wissenschaft bedarf, das
ist, außer der Kenntnis der symbolischen Schriften und der Eirchen-
geschichte, die genaue Kenntnis der beiden Grundsprachen, aber freilich
nicht um zu philologischer Kritik, sondern um zu sicherem und ver-
tieftem Verständnis befähigt zu sein ; die Applikation ist die Hauptsache
(Kbameb, II, 393 ff.). A. Benoel, ein Gesinnungsgenosse Fbanckss,
charakterisiert seine eigene Bibelforschung so: „meine ganze Manier-
lichkeit besteht darin, daß ich alle unnötigen Dinge, Worte, Umstände
unterlasse. Ein Scepticus biblicus ist wie ein Reisender, der über keine
Pfütze schreiten und über kein Gräslein setzen, sondern alles vorher
eben gemacht und ausgefüllt haben will: wer wollte solchen für klug
halten? Der Glaube hängt sich an alles an, was er kriegt und macht
wacker fort, der Unglaube ist das Gegenteil davon^^ (Bengels Leben von
UniversHäi Halle, Christian Wolf. 527
Wächter, S. 6). Damit ist auch Feangkes Stellung zur Forschung
bezeichnet.
Neben Thomasius und Francke trat später ein etwas jüngerer
Mann hervor, der Philosoph Christian Wolf. Zu Breslau 1679
geboren, wurde er 1706 als Lehrer der Mathematik nach Halle berufen;
er dehnte aber seine Vorlesungen allmählich auf den ganzen Umkreis
der philosophischen Wissenschaften aus; Mathematik, Physik, Astro-
nomie, Mechanik, Logik, Metaphysik, Natürliche Theologie, Psychologie,
Ethik, Politik, Ökonomik, Naturrecht, alle diese Disziplinen liegen inner-
halb seiner akademischen und schriftstellerischen Lehrthätigkeit. Eine
erstaunliche Arbeitskraft, ein freier Wahrheitssinn und ein sicheres Ge-
fühl für die intellektuellen und praktischen Tendenzen der Zeit haben
ihn zu einer Wirksamkeit emporgehoben, wie sie seit Melanchthon
kein deutscher Universitätslehrer geübt hatte. Man kann ihn geradezu
den Nachfolger Melanchthons in der philosophischen Schulherrschaft
nennen. Bis gegen Anfang des 18. Jahrhunderts hatte auf den
deutschen Universitäten und Gymnasien die Melanchthonsche Schul-
philosophie geherrscht; sie wird im Verlauf der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts durch die Philosophie Wolfs abgelöst. Wolfs System
ist die erste Form, worin die moderne, auf den neuen mathematisch-
naturwissenschaftlichen Forschungen und den neuen rechts- und st^ats-
wissenschaftlichen Anschauungen beruhende Philosophie von den Lehr-
stühlen der Universitäten Besitz ergriflfen hat Zwar hatte schon vorher
die Cartesianische Philosophie gelegentlich Eingang gefunden, aber die
Wolfische Philosqphie ist das erste zu allgemeiner Anerkennung und
Herrschaft gelangte moderne Schulsystem. Auf seinen Inhalt und sein
Verhältnis zu Leibniz einzugehen, ist hier keine Veranlassung. Ich
hebe bloß den einen Charakterzug hervor, wodurch es sich so bestimmt
als moderne Philosophie ankündigt und von aller älteren Schulphilo-
sophie unterscheidet: die Absage an allen Autoritätsglauben. Als
„Vernünftige Gedanken" kündigen sich schon auf dem Titel die
ersten, in deutscher Sprache geschriebenen Lehrbücher Wolfs an; das
will sagen ; nicht bloß objektiv vernünftige, sondern allein auf Vernunft
beruhende Gedanken. Es ist das Prinzip des Rationalismus, zu dem
sich die Bücher durch ihren Titel bekennen: als wahr wird' nur aner-
kannt, was bei freier Prüfung vor der Vernunft besteht
Wie revolutionär Wolfs Rationalismus, der der heutigen Zeit so
zahm vorkommt, den Zeitgenossen erschien, ist bekannt genug. Francke
sah in der Vertreibung Wolfs aus Halle (1723) eine Erhörung seiner
Gebete um die Erlösung von dieser „großen Macht der Finsternis".
Andere Universitäten sekundierten den Hallischen Vertretern des
528 ///, 4. Die Universitäten unter d, Einfluß d, höfisch-modernen Bildung,
Antorität>sprinzips im Kampf gegen diesen grundstürzenden Rationalis-
mus. Die theologische Fakultät zu Tübingen erklärte in einem geforderten
Gutachten die Prinzipien der Wolfischen Philosophie für völlig unver-
einbar mit der Theologie; auch gäben, ^die dissentierenden Professoren
zu unnöthigen Controversien Anlaß, welche den akademischen Statuten,
kraft deren Übereinstimmung in der Lehre sein solle, schnurstracks zu-
wider seien'^ Ebenso sprachen sich die theologische und philosophische
Fakultät zu Jena gegen die Zulässigkeit der neuen Philosophie aus;
nachdem sie ihre Irrtümer in 29 Punkten ans Licht gebracht, schließen
sie so: „Wenn dann nun notorisch, daß auf der hiesigen Universität
verschiedene Dozenten der Wolfischen Philosophie anhangen und solche
mit nicht geringem Zugang dociren, gleichwohl aber die Professores
selbst zur Festhaltung bewährter und sonderlich in die Religion ein-
schlagender Prinzipien auf das nachdrücklichste mit Eid und Pflicht
angewiesen und verbunden sind, welches ganz vergeblich sein und end-
lich zu der Professoren Spott gereichen würde, wenn denen Magistern
allerhand ohne Unterschied zu lehren oder wohl gar die Professores
zu refutiren nachgelassen werden sollte, auch die Leibniziscben und
Wölfischen principia von den Gelehrten als schädlich detestiret werden,
vornehmlich aber, wie solche von Sr. Kgl. Maj. in Preußen angesehen,
weltbekannt und daher unschwer zu ermessen ist, in was gefahrliche
und nachtheilige Blame die Akademie dadurch gerathen könnte: als
haben wir solches nach Erforderung unserer Pflicht hierdurch gebührend
vorzustellen keinen Umgang nehmen wollen" (Hettner, Litteratur-
geschichte des 18. Jahrhunderts, III, 1, 239 0!.).
Man sieht, es handelt sich um den Kampf zwischen zwei Prin-
zipien: dem Autoritätsprinzip, das bisher den gesamten Universitats-
unterricht beherrscht hatte, und dem neuen Prinzip der freien
Forschung. Nach der alten Auffassung ist die Aufgabe des akade-
mischen Lehrers die Tradition einer kanonischen Lehre, nach der neuen
Auffassung ist seine Aufgabe: durch eigene Forschung die Wahrheit
suchen und hierzu auch die Hörer anleiten; selbständiges Denken ist
Recht und Pflicht aller Bürger der Universität.
Der Sieg, den das alte Prinzip erfocht, indem es Wolfs Abgang
aus Halle mit Androhung der Strafe des Stranges erzwang, war nicht
ein nachhaltiger Erfolg. Nicht nur, daß Wolf in Marburg sogleich
einen günstigen Boden für seine Wirksamkeit wieder gewann, die Ver-
folgung führte zu rascher Ausbreitung der Lehre. Als Wolf 1740
mit großen Ehren nach Halle zurückgerufen wurde, konnte seine Philo-
sophie schon für die herrschende gelten. Im besonderen tritt das auch
darin zu Tage, daß die Theologie jetzt unter ihren Einfluß sich stellt
Univ. Halle; die Theologen. 529
Seit den 30 er Jahren vollzog sich dieser bemerkenswerte Umschwung.
Bisher hatte die Philosophie unter der Botmäßigkeit der Theologie ge-
standen; sie war ancilla theoloffiae, wenigstens die akademische. Von
jetzt ab änderte sich, wenigstens im Bereich des Protestantismus, das
Verhältnis dahin, daß die Theologie unter den dominierenden Einfluß
der Philosophie trat: nacheinander haben die Wölfische, die Kantische,
die Uegelsche Philosophie auf die Gestaltung der Theologie entscheidend
eingewirkt.
Auch diese Wandlung hat sich zuerst in Halle vollzogen; ein-
geleitet ist sie durch den Theologen J. S. Baumgabten, der 1734 bis
1757 zu Halle mit großem Erfolg lehrte; er war, wie sein Bruder,. der
Philosoph Alex. Baumgabten, ein Schüler und Anhänger Wolfs. Ihm
folgte als führender Theolog sein Schüler J. S. Semleb (lehrte 1752
bis 1791), der dann voranging, die Methode historisch-kritischer Unter-
suchung auf die heiligen Schriften anzuwenden. Mit ihm begann die
große Wendung im theologischen Unterricht Bisher hatte er wesent-
lich einen praktisch-homiletischen Charakter gehabt, seine Absicht war,
künftigen Geistlichen Anleitung zur Predigt und Lehre zu geben,
Dogmatik und Exegese dienten diesem Zweck. In Halle hatte der
Pietismus dem Unterricht seine besondere Färbung gegeben; Fbanckes
paränetische Vorlesungen hatten als der Mittelpunkt des theologischen
Unterrichts gegolten; auch Baumgabten hatte anfangs noch die Er-
klärung jedes Kapitels mit Gebet begonnen und geschlossen (Sohbadeb,
I, 277). Jetzt begann der theologische Unterricht einen eigentlich
wissenschaftlichen Charakter anzunehmen, die Religion wird Objekt
wissenschaftlicher Forschung. Man kann die Wendung so bezeichnen:
die bisherige Theologie war der Form nach dogmatisch, sie setzte voraus,
daß die eine und gleiche Lehre von Anfang an in den heiligen Schriften
gegeben sei und daß es sich allein um die sichere Ermittelung und
Formulierung handle, um sie dann zur allgemeinen Aneignung in
Predigt und Katechismus zuzubereiten. Die neue, von Semleb zuerst
eingeführte Betrachtungsweise ist historisch, sie machte die heiligen
Schriften zum Objekt der Untersuchung; sie sah, daß jede Zeit ihren
Inhalt auf ihre Weise angeeignet und entsprechend dem Locale (milieu
sagt man jetzt) zum Lehrsystem verarbeitet habe. Sie verwarf diese
letztere Bemühung nicht geradezu, aber verlangte daneben, daß man
den ursprünglichen Gehalt jener Schriften, ohne Bücksicht auf die
spätere dogmatische Auslegung ermittele. Von dieser Unterscheidung
„der historischen Auslegung, die wirklich in jene Zeiten des ersten
Jahrhunderts als damaliger Inhalt und Umfang der Vorstellungen dieser
Zeitgenossen gehört, und der jetzigen Anwendung zur Belehrung unserer
Paalsen, Unterr. Zweit« Anfl. I. 84
530 ///, 4, Die Universitäten unter <L Einfluß d, höfisch-modernen Bildung.
Christen, welche der Lehrer nach den Umstanden seiner Zeit und seines
Ortes mit jetziger Lehrgeschicklichkeit zu fordern hat'^, behauptet er,
daß sie ihm als leitender Gedanke von großem Wert gewesen sei
(Lebensbeschreibung, I, 208). Man sieht, mit dem alten Prinzip des
Unterrichts, Auslegung inspirierter Schriften, ist hier grundsatzlich
gebrochen.
Hiermit war die innere Umformung des akademischen Unterrichts
vollendet: nicht Überlieferung feststehender Wahrheiten ist seine Auf-
gabe, sondern Anleitung zum Selbstdenken und freier wissenschaftlicher
Forschung. Halle blieb bis tief ins 19. Jahrhundert hinein die Burg
des theologischen Rationalismus. Als ein Hauptvertreter desselben wird
uns später A. H. Niemeyeb, ein Enkel A. H. Fbanckes, begegnen.
Es ist der Stolz und der Ruhm der Hallischen Universität, hierin
vorangegangen zu sein. Das Prinzip der libertas philosophandi^
welches Spinoza in dem tractatiis theologico-politicusy jenem liber hur-
rendus für die alten Universitäten, zuerst empfohlen hatte, die neue
preußische Universität wagt« zuerst es anzunehmen. Im Jahre 1711
hielt GuNDLiNG am Geburtstag des Königs eine bemerkenswerte Kede
(abgedruckt in J. E. Kapps Sammlung: Orationes selectae, Leipzig 1722,
S. 803 flF.). Sie handelt De libertate Fridericianae: die Friedrichs-
universität das atrivm libertatis. Was ist die Aufgabe der Universität?
GuNDiiiNG antwortet: zur Weisheit zu führen, d. h. zur Fähigkeit, das
Wahre und Falsche zu unterscheiden; das aber ist unmöglich, wenn
der Forschung irgend welche Grenzen gesetzt sind. Er erörtert dann
die Frage: ob ein Mensch das Recht habe; einen andern durch Straf-
androhung zu der Meinung, welche er selbst für wahr hält, zu nötigen.
Er verneint sie; aus naturrechtlichen und aus Xützlichkeitsgründen ist
der Zwang zu verwerfen; es giebt nichts Nützlicheres als Freiheit
der Lehre und der Schrift, durch sie werden" alle Geisteskräfte hervor-
gelockt, alle Wissenschaften kommen zur Blüte, die Künste, der Reich-
tum und die Bevölkerung wächst, wie dies alles das Beispiel der
Niederlande zeige. — Aber, sagt man, libertas sei freilich gut, aber
liceiitia nicht — Ist jemals, erwidert Gundling, eine Neuerung ver-
sucht worden, ohne daß ihr der Vorwurf des Subjektivismus, der Zügel-
losigkeit gemacht ward? Sind nicht die Verkünder des reinen Evan-
geliums von den PfaflFen, sind nicht die Begründer der neuen Physik
von den Freunden der verborgenen Qualitäten so beschuldigt worden?
Also Zwang ist in diesen Dingen überall vom Übel: belehre, ermahne,
bitte; hören sie, ist es gut, wenn nicht, lerne es ertragen. Veritas
adhuc in medio posita est: qui potest; adscendat: qui audet, rapiat: et
applaudemus.
Univ. Halle; die Philologie, 531
Es war eine unerhörte Sprache. Bisher war überall, wenigstens
in der theologischen und philosophischen Fakultät, der Inhalt der Lehre
vorgeschrieben worden; Neuerungen, wie den Ramismus, hatte man
unbedenklich yerboten. Noch am Ende des 17. Jahrhundert« ver-
pflichtete der Magistereid zu Leipzig und Helmstedt zur Verteidigung
und Fortpflanzung der alten und wahren, d. h. der aristotelischen
Philosophie. Aber das neue Prinzip drang durch. Die Hallische Frei-
heit und Weisheit, sagt Heumaitn in seinem 1718 zum erstenmal
erschienenen Conspectus reip, litter. S. 52, verbreitet ihr Licht auch zu
den andern deutschen Völkern und schon schämen sich überall die
Professoren manches zu glauben und zu lehren, was zu den Zeiten
unserer Väter noch für heilige Pflicht galt.
Nur ein Studium wollte zu Halle nicht gedeihen, das huma-
nistisch-philologische. Es lag nicht an ihrem Vertreter, sondern
an dem Geist, der die neue Universität beherrschte. Die Professur der
Eloquenz, womit der Vortrag der alten und neuen Geschichte verbunden
war, wurde von Christoph CBiiLABius (1638 — 1707), einem nicht un-
bedeutenden, tüchtigen und thätigen Mann als erstem Inhaber ver-
waltet. Er war der neuen Bildung gar nicht feindlich; er war nichts
weniger als Verbalphilolog oder Imitationspoet. Seine litterarische
Thätigkeit, von welcher J. Burokhabd in seiner Epistola de obitu C. C.
(1707) eine Übersicht giebt, umfaßt, außer zahlreichen Editionen latei-
nischer Schriften und einer Beihe viel gebrauchter Lehrbücher zur
leichteren Erlernung der lateinischen Sprache, auch das Gebiet der
Geschichte und Geographie; seine Lehrbücher der alten, mittleren und
neueren Geschichte, sowie der alten und neuen Geographie (seit 1685),
haben diese Gegenstände in den gelehrten Unterricht eingeführt.
Dennoch fand er in Halle wenig Anklang.
Um den gänzlich damiederliegenden klassischen Studien aufzu-
helfen, wurde 1697 ein coUegium elegantioris litteraturae errichtet; es
ist das erste philologische Seminar. In der Eröffnungsrede (de
meliorum litter arum restitutione) klagt Cellabiub, daß er in seinen
beiden Lehrfachern bisher wenig glücklich gewesen sei, die Zahl der
Zuhörer sei sehr gering geblieben. Die jungen licute eilten sogleich
zu den Studien der höheren Fakultäten, um bald ins Amt zu kommen.
Vor lauter Fachkollegien und Leibesübungen kämen sie zur Übung
im Reden und Schreiben gar nicht, wovon die Folgen in der Barbarei
ihrer Bede leicht zu sehen. Aber nicht nur seine philologischen, son-
dern auch seine historischen Vorlesungen würden verschmäht, man
beschwere sich darüber, daß er statt über die neueste, über alte Ge-
schichte lese: als ob dem Juristen die römische Geschichte entbehrlich
84*
532 lU, 4. Die Universitäten unter d. Einfluß d, liöfiach-modemen Bildung,
wäre! Aber freilich sei sie schwieriger als die Geschichte der Barbaren,
welche sie bei anderen mit großem Zulauf hörten, wie die monströsen
und barbarischen Namen der alten Dänen in Großbritannien oder der
ersten spanischen Könige. — Der Rede ist ein Einladungsprogramm
des Rektors Hoffmann, Professors der Physik und Medizin, beigegeben,
worin noch stärker der Verfall des klassischen Studiums ausgesprochen
wird: wer kann noch reines I^atein schreiben, ja auch nur beurteilen?
Die Professoren der schönen Wissenschaften reden vor leeren Bänken,
in ihren Schulen ist grauenhafte Ode. Die klassischen Autoren liegen
unbekannt und verachtet im Staube, man weiß kaum noch ihren Namen.
Diesem Übel solle das neugegründete Institut begegnen, der Vorsteher
werde sowohl zur Eloquenz anleiten, als die Antiquitäten, sowie Geschichte
und Geographie vortragen. Besonders sei es für solche bestimmt^ die
hernach zu Lehrern an den Gymnasien und Schulen gebraucht werden
könnten, seinen Mitgliedern sollten die Bedienungen in den branden-
burgischen Staaten vor anderen zu Teil werden.
Cellabiub hat an dem Seminar nicht viel Freude gehabt; Zeit
und Ort waren allzu ungünstig. Die Hallische Studentenschaft bestand,
wie übrigens jede andere zu jener Zeit, aus Juristen und Theologen;
die Zahl der Mediziner war ganz gering, und die philosophische
Fakultät war bloß allgemeine Vorschule; selbst ihre Professuren waren
in der Regel Vorstufe zu einem Lehramt in der theologischen oder
juristischen Fakultät; im Jahre 1738 befanden sich z. B. unter den
13 Professoren der philosophischen Fakultät je drei, die auch in der
theologischen und juristischen und zwei, die auch in der medizinischen
ein Ordinariat bekleideten (Scumeizel, 181). Eigene Schüler hatte sie
eigentlich überhaupt nicht; sie führte bis 1802 gar keine eigenen
Inskriptionslisten, jeder Student wurde sogleich bei der Immatrikulaüon
bei einer der oberen Fakultäten eingeschrieben, als welche allein zn
einem Amt und Le])ens])eruf führten ; der Lehrerberuf wurde nicht als
Lebensberuf, sondern als Durchgangsstufe zum geistlichen Amt an-
gesehen. Aber weder die Theologen noch die Juristen fanden in Halle
seitens ihrer Lehrer große Ermunterung zu den klassischen Studien.
Die Theologen, wenn sie Bbeithaupts und I'eanckes Rat folgten,
hörten vor allem und zuerst die theologischen Vorlesungen, nachher
wenn ihr Sinn gereinigt und befestigt und noch Zeit übrig sei, möchten
sie auch philosophica besuchen (Hoffbauee, S. 101 flF.). Das galt zu-
nächst von den eigentlich philosophischen Vorlesungen, deren Geföhrlich-
keit Feancke so oft zu beklagen Ursache hatte. Auf die Sprachen
hielt er, sowohl auf die griechische und hebräische, die er selbst lehrte,
als auf die lateinische; wie er denn auch ebenso wie die übrigen
ühiv, Halle; die PhüoUxjie. 533
Hallischen Theologen für seine wissenschaftlichen Vorlesungen an der
lateinischen Sprache festhielt (Kbameb^ II, 385). Aber ein mit Hin-
gebung betriebenes Studium der Alten seitens seiner Schüler hätte
Fbangke nur mit größter Besorgnis gesehen. Die Sprachen haben für
ihn nur die Bedeutung äußerlich notwendiger Hilfsmittel für die
wissenschaftliche Arbeit. Übrigens hat er für den schulmäßigen Betrieb
der Sprachen durch die Theologie Studierenden sehr Bedeutendes ge-
leistet; sein Waisenhaus mit den Schulen war zugleich ein großes
philologisch-pädagogisches Seminar. Ich komme hierauf später zurück.
Den Juristen dieses Zeitalters lag die Schätzung humanistischer
Studien wenn möglich noch ferner. Von Stryk, dem gelehrten
Kenner des römischen Rechts, wird erzählt, daß er seinen Studenten
eingeprägt habe, das corpus juris für das Hauptessen, die philosophica
aber bloß als hors (Toeuvre anzusehen. War das zunächst wohl ein
Stich gegen Thomasius, so hatte doch auch Cellabius, wenn er ein-
mal den juristischen Disputationen in eigengemachter Sprache anwohnte,
Ursache zu dem Ausruf: jusy jus, et nihil plus! Noch weniger fanden
die Studenten bei Thomasius Ermunterung zum Studium der Alten.
Wie dieser die Alten schätzte, hat er in einer Anmerkung zu dem
Testament M.v.OssES (S. 338 flf.) unmißverständlich ausgesprochen: Me-
LANCHTHON sci zwar zu loben, daß er die griechische Sprache ein-
geführt, aber das sei nicht weislich gethan, „daß er die Jugend mit
der Thorheit der griechischen Oratoren und Poeten, ingleichen mit der
unnützen Philosophie des Aristoteles aufgehalten und denen studiosis
nicht klügere Bücher in die Hände gegeben. Warum ließ er nicht
in Graecis, statt der Poeten, Euripides, Sophokles, Homer, Aristoteles
u. s. w., das neue Testament oder die Bücher des alten Testamentes nach
der 70 Dolmetscher ihrer Version durch die professores philosophiae
erklären?" Thomasius findet, der einzige denkbare Grund sei, daß man
den philosophischen Magistern die Behandlung der Schrift nicht an-
vertraut, sondern den Theologen vorbehalten hätte, welcher grobe Brocken
des Papsttums auch auf den evangelischen Universitäten geblieben sei.
Hätte man aber dann doch wenigstens die nicht zum Kanon gehörigen
Bücher den Philosophen gelassen: „Ich sollte vermeinen, das Buch der
Weisheit, der Judith, der Makkabäer u. s. f. wären so gut, ja noch
besser gewesen, als der Narr Homerus und die übrigen heidnischen
Poeten und Oratores. Ja, ich sollte meinen, aus dem einzigen Jesus
Sirach mehr gute praecepta loffica, moralia und politica in eine Ord-
nung oder in formam artis zu bringen, als aus allem Geschmiere des
heidnischen Aristoteles."
Es ist kein Wunder, daß Cellabius in solcher Umgebung nicht
534 III, 4. Die Universitäten unter d, Einfluß d. höfisch-modernen Bildung.
durchdringen konnte. Sein Schüler J. Burckhabd sagt in dem er-
wähnten Nekrolog, einem Ort, wo doch lieber von Erfolgen als Ent-
täuschungen geredet wird, daß seine Wirksamkeit ganz geringfügig
geblieben sei; namentlich an dem Griechischen habe er beinahe ganz
verzweifelt
Die nächsten Nachfolger des Cellabius in der Professur der
Eloquenz und Geschichte gaben sich mit der Erhaltung der klassischen
Studien, die ihnen selbst fem lagen, kaum noch Mühe. Zunächst
übernahm der Philosoph und Jurist N. H. Gundling, ein Schüler und
Geistesgenosse des Thomasius, das Lehramt, er wurde aber bald auch
Ordinarius in der Juristenfakultät; sein Interesse gehörte ganz und
gar der Historie und Philosophie, sowie den Staats- und Eameral-
wissenschaften. Die Vorlesungen, die er als prof, eloquent, anzeigt,
haben zu der klassischen Litteratur kaum Beziehung, höchstens kommt
gelegentlich einmal Tacitus Germania vor.^ Nach Gündlings Tode
(1729) kam die Professur, nach mehrjähriger Vakanz, an den Mediziner
J. H. Schulze, der sie 1732 — 1744 neben seinem Ordinariat in der
medizinischen Fakultät verwaltete; er las über römische und griechische
Altertümer und hin und wieder über den Sueton. Ihm folgte Wiede-
BüBG (bis 1758), der ebenfalls mehr historische als philologische Vor-
lesungen hielt. Hierauf folgte wieder eine fünQährige Vakanz. Außer
den Ordinarien beteiligten sich an dem Unterricht in den alten Sprachen
noch der Jurist Heinegciüs, der lateinische Stilübungen zu leiten pflegte;
ein Extraordinarius Begeb, der Anleitung zur Verfassung deutscher
und lateinischer Briefe und Gedichte anbietet; der Theologe J. H.
Michaelis und der Orientalist C. B. Michaelis, die beide Griechisch
lehrten, mit Vorlesungen über das neue Testament Letzterer kündigt
auch einmal (1722) eine zweistündige Vorlesung über des Paeanius
griechische Paraphrase des Eutrop an, ad hauriendam inde Graecitatem.
Dieselbe Ansicht von dem Betrieb der humanistischen Studien
erhält man, wenn man die Hodegetik zu Rate zieht-, die ein Hallischer
Professor, Ordinarius in der juristischen und philosophischen Fakultät,
als Grundriß zu Vorlesungen herausgab: M. Scumeizel, Rechtschaffener
Academicus (Halle 1738), übrigens ein unsäglich vernünftiges und
langweiliges Buch. Von Schulen muß man danach mitbringen: eine
^ Die hier gegebenen Data sind aus den Lektionsverzeichnissen entnommen,
welche die Universität halbjährlich veröffentlichte. Über Gundukqs Thätig-
keit als Gelehrter und Lehrer geben auch die Gundlingiana Auskunft, eine in
44 Stücken von 1715 — 1728 erschienene Sammlung von Abhandlungen, „darinnen
allerhand zur Jurisprudenz, Philosophie, Historie, Kritik, Litteratur und übrigen
Gelehrsamkeit gehörige Sachen abgehandelt werden^^
Univ. Halle; Kostenaufivand, 535
tüchtige Kenntnis der deutschen und lateinischen Sprache, so daß
man auch letztere fehlerfrei sprechen und schreiben kann; Griechisch
ist Theologen, Medizinern und Philosophen unentbehrlich und auch
einem Juristen, der etwas mehr als ein gemeiner Advokat zu werden
verhoflFet, wegen der Justinianischen Novellen wünschenswert. Dem
Juristen ist auch die Kenntnis des Französischen und dem Mediziner
außerdem die des Englischen wertvoll. Femer müssen alle mitbringen
die Elemente der Religionskenntnis, der Geographie und Universal-
historie, besonders der Historie der Gelahrtheit, endlich der Philosophie.
Diese Grundlage einer allgemeinen Bildung ist dann in den ersten
Jahren des Universitatsstudiums zu vertiefen und zu erweitern; be-
sonders hat der Student Fleiß zu verwenden auf die Historie der Ge-
lahrtheit, auf Geo^aphie und Historie, besonders auch Kirchenhistorie
und Geschichte der neuesten politischen Welt, auf Philosophie, , jedoch
nicht mehr und auch nicht weniger, als seiner Partikularabsicht ge-
mäß", auf Mathematik und Physik, wo dieselbe tiefsinnige Regel gilt,
auf Politik und jus naturacy welche zu kennen allen vernünftigen
Menschen notwendig. Endlich ist der lateinische Stil fleißig zu üben.
Man sieht, die klassischen Autoren kommen auf diesem Stundenplan
gar nicht vor. — Eine ganz ähnliche Anweisung giebt ein zu Jena
1726 anonym herausgekommenes „Vernünftiges Studentenleben", das
übrigens manche interessante Details aus dem damaligen Universitats-
leben enthält. —
Das ist der Studienbetrieb an der neuen führenden Universität.
Die wissenschaftlichen Bestrebungen, die hier als die kräftigsten sich
erweisen, die neue Theologie, mit ihrer praktischen, irenischen und
rationalen Richtung, im Gegensatz zur alten Orthodoxie, die neue Juris-
prudenz mit ihrer Richtung auf das Naturrecht und den modernen
Staat und die Reform des öffentlichen Wesens durch beide, die neue,
auf Mathematik und Naturwissenschaft, auf Vernunft und Erfahrung
cregründete Philosophie, im Gegensatz zur alten aus dem Aristoteles
abgeleiteten Schulphilosophie, das sind die Dinge, die allmählich auch
auf den übrigen Universitäten durchdringen und das Alte verdrängen.
An allen wird sich die Wandlung nachweisen lassen, die sich übrigens,
ähnlich wie vor zwei Jahrhunderten die Aufnahme der humanistischen
Studien, meist unter Begünstigung oder auf Antrieb der Regierungen
vollzog.
Einer Übersicht über diesen Vorgang schicke ich aber noch eine
Bemerkung über die äußere Ausstattung der neuen Universität voraus.
Sie war sehr bescheiden. Der Besoldungsfonds betrug anfangs 5400 Thlr.,
wovon auch die Beamten und Exerzitienmeister unterhalten wurden.
536 lU, 4. Die Unirersiiäim unter d, Einfluß d. höfisdh-modermen BOdung.
Nrich 1721 V>etni(r die Summe der Professorengehalte nieht mehr als
6000 Thir. Der Gesamtaufwand ans öffentlichen Kassen belief sich
auf 7000 ThIr. Man sieht, die Professoren waren hauptsächlich aof
ihren privaten Verdienst angewiesen. Hierfür kamen, neben den Ein-
nahmen ans der Praxis (geistlicher, juristischer und medizinischer) and
den Gebuhren vor allem die Vorlesungshonorare in Betracht Die Mehr-
zahl der Lehrer war wesentlich auf den Ertrag aus dem Privatunterricht
und aus dem Halten von Pensionären angewiesen. Es hängt hiermit
zusammen, daß die Zahl der Privatvorlesungen vieläu^h übermäßig
groß war, und daß die öffentlichen Vorlesungen hier von Anfirng an
zurücktreten. Auch im übrigen war die Ausstattung dürftig. Ein
eigenes Gebäude besaß die Universität überhaupt nicht; für die öffent-
lichen Vorlesungen wurden vier Zimmer in dem Residenzgebände an-
gewiesen, Privatvorlesungen wurden zu Hause gehalten. Aoßerdem
war ein »Saal im stadtischen Wagehaus für öffentliche Akte und Dispu-
tationen zur Verfügung gestellt; Promotionen fanden in der Kirche
statt Die Institute beschränkten sich auf eine dürftig ausgestattete
Bibliothek, die noch 1709 in drei Zimmern des Wagehauses Unter-
kunft fand; noch 1768 betrug der Anschaffungsfonds kaum 100 Thlr.
Außerdem wurde ein hortus medicus und eine Anatomiekammer in
Aussicht gestellt, doch glich jener noch um die Mitte des 18. Jahr-
hunderts einer Wüstenei und für den anatomischen Unterricht blieb
einstweilen den Lehrern selbst überlassen, sich Raum und Material zu
verschaffen. Endlich ist noch der Ausstattung mit Freitischen zu er-
wähnen, etwa 150, die aus Beiträgen der Landschaft und aus den
Flrträgen einer vierieljährlich in allen königlichen lianden angestellten
Kollekte vor den Kirchthüren unterhalten wurden. Erst 1787 wurden
der Universität noch 7000 Thlr. und 1803—4 wieder 15000 Thlr.
zugelegt.
Man sieht, der ganze Aufwand für die junge Universität betrug
weniger, als heutzutage die Kosten eines mäßig ausgestatteten Gymna-
siums. Und dennoch war sie in kurzem die erste Universität Deutsch-
lands, ja man kann wohl ohne Übertreibung sagen, die erste Universität
der Welt: wenigstens sind bedeutendere Antriebe für die wissenschaft-
liche Kultur und den akademischen Unterricht von keiner gleichzeitigen
Universität ausgegangen. Wahrend die auswärtigen Universitäten die
Führung im geistigen Leben ihrer Völker immer mehr verloren und
zur Unbedeutendheit herabsanken, stellte sich Halle an die Spitze aller
aufstrebenden Kräfte und brachte es, durch sein Beispiel die übrigen
deutschen Universitäten mit sich fortreißend, dahin, daß diese Anstalten,
die noch am Ende des 17. Jahrhunderts in tiefer Mißachtang lagen,
Univ. Königsberg; Lektionsordnung von 1735. 537
so daß ein Mann wie Leibniz ihnen anzugehören unter seiner Würde
fand, am Ende des 18. Jahrhunderts als die Trägerinnen des wissen-
schaftlichen Lebens und des geistigen Fortschritts der Nation dastanden.
So sehr hängt hier alles von den rechten Personen, so wenig von den
äußeren Mitteln ab. Oxford hatte vielleicht mehr als das hundert-
fache Einkonmien von Halle. Und doch, was ist das Oxford des
18. Jahrhunderts gegen Halle?
Ich gebe nun eine Übersicht über den Zustand einiger der be-
deutenderen Universitäten in den 20er und 30er Jahren, hauptsäch-
lich in der Absicht, die Lage der klassischen Studien erkennen zu
lassen; auf Vollständigkeit ist es dabei nicht abgesehen; sie wäre auch
nicht ganz leicht zu erreichen.
Was zunächst die alten preußischen Universitäten anlangt, so er-
hielt im Jahre 1735 Königsberg eine neue Lektionsordnung (Arnold,
I, Beil. 54), die allerdings wohl mehr eine schematisierte Darstellung
des Wünschenswerten, als eine Beschreibung des Wirklichen giebt; sie
hat aber auch als solche Interesse. Sehr deutlich tritt darin hervor,
wie ganz schulmäßig der Unterricht noch war. Ich gebe das Schema
des Unterrichts in der philosophischen Fakultät Es sind neun Lehr-
facher; jedes soll durch einen ordentlichen und einen außerordentlichen
Professor als Assistenten vorgetragen werden. Jener wird verpflichtet,
in jedem Jahr den ganzen Umfang seines Fachs in öffentlichen und un-
entgeltlichen Vorlesungen zu absolvieren, in vier wöchentlichen Stunden.
Der extraordinarius unterstützt ihn, seine Vorlesungen vorbereitend und
ergänzend, durch zwei öffentliche Vorlesungen in der Woche. Einzelne
schwierigere Materien sollen beide in privatis zu behandeln sich erbieten.
Die Fächer und Vorlesungen sind folgende:
1. Der prof. ord, der griechischen Sprache soll in jedem Jahr
das neue Testament in kursorischer Lektüre beendigen, jedes Semester
beginnend mit zwei Evangelien. — Der extraord. lehrt die Grammatik
mit Übungen. Die Schüler präparieren sich auf alle Vorlesungen und
werden einer nach dem andern aufgefordert zu exponieren, „weil es,
wie die Erfahrung lehret, zu besonderer Erweckung des Fleißes bei den
Studiosis dienet, wenn die Professores ihre Auditores selbst exponieren
lassen^^ Die Professoren sollen darauf achten, daß die Studiosi sich
nicht an Codices mit nebenstehender Version gewöhnen. Dasselbe gilt
von den Lektionen im Hebräischen.
2. Der Professor ord, des Hebräischen vollendet in jedem Jahr
die Lektüre des Pentateuch im Winter, der histor. Bücher des alten
538 III, 4. Die Universitäiefi wüer d, Einfluß d, höfisch-modem&n Bildung,
Testaments im Sommer. — Der extraord. lehrt Grammatik. Die
schwierigeren Bücher bleiben für Privatvorlesungen.
3. Der Professor ord, der Mathematik absolviert im Jahres-
kurs die Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie, Astronomie. — Der
extraord. behandelt einleitend Arithmetik und Geometrie. Beide stellen
Übungen an.
4. Der Professor ord. eloquentiae hält im Winter ein vierstün-
diges collegium stili Latini: in zwei Stunden läßt er einen autorem
probatum exponieren und erklärt ihn mit den nötigen Anmerkungen,
so zum stilo und den römischen und anderen Altertümern gehören;
eine Stunde widmet er den praeceptis oratoriae und die letzte den ela-
borationibusy welche die Studenten wechselweise in deutscher und latei-
nischer Sprache exhibieren. Im Sommer giebt er abwechselnd eine
gründliche Einleitung in die Universalhistorie und in die Geschichte
nach Christi Geburt. — Der extraord, soll dergleichen traktieren; er
behandelt auch im Sommer die Geographie.
5. Der Professor poeseos soll mit seinem extraord, die jungen
Leute in siudiis humanioribus üben, damit an guten Schulleuten kein
Mangel sei. Zu diesem Ende traktieren sie einen poetam Latinum, nebst
den praeceptis der lateinischen Poesie und der Mythologie, mit prak-
tischen Übungen in allerlei generibus carminum. Die deutsche Poesie, als
wozu nur gewisse ingenia geschickt sind, muß alle zwei Jahr in einem
Semester publice, außerdem aber nur privatim traktiert werden.
6. Der Professor ord, logices liest in den beiden Semestern ab-
wechselnd Logik und Metaphysik.
7. Der Professor moralium ebenso jus naturae und Moral; die
entsprechenden extraordinarii, sowie
8. der Professor historiae literariae sollen in ihrer science ein
jeder gleichfalls alle halbe Jahr etwas gewisses dergestalt tradieren und
zu Ende bringen, daß dadurch die studiosi zu denen lectionibus der
professorum ordinariorum und anderen studiis präparieret werden.
9. Der Professor ord, physices bringt jedes Jahr physicam experi-
mentalem et tkeoreticam zu Ende, sei es neben oder nach einander. —
Der extraord, kann alle halbe Jahr einen Teil der physicae sacrae per-
traktieren.
Allen aber wird empfohlen, wenn sie mit einer Materie zu Ende
sind, daraus Examina anzustellen.
Die philosophische Fakultät zu Frankfurt hatte (nach Beckmann,
S. 74) am Anfang des 18. Jahrhunderts sechs Lehrstühle: Philosophie,
Physik, Mathematik, Geschieht« und Politik, Orientalische Sprachen,
Eloquenz. —
Univ, Leipzig y/m 1740. 539
Eursaohseii; toh dem die große Revolution des 16. Jahrhunderts
ihren Ausgang genommen hatte , befolgte seit der Etablierung der
lutherischen Landeskirche in kirchlichen und politischen Dingen eine
streng konservative Politik; auch seine Universitäten und Schulen waren
Hüterinnen des Überlieferten: nirgends fand das echte Luthertum oder
was dafür galt, die neue Schultheologie und Philosophie hartnäckigere
Verteidiger, als in Wittenberg und Leipzig, nirgends der althumanistische
Schulbetrieb treuere Pflege, als an den sächsischen Furstenschulen.
Allerdings, die Berührung mit dem Neuen blieb nicht aus; Leipzig
war allmählich der Zentralpunkt des Buchhandels und überhaupt des
gelehrten Verkehrs in Deutschland geworden, hier erschienen die ersten
wissenschaftlichen Zeitschriften und es ist nicht zufallig, daß Leibniz
und Thomasitjs Leipziger Professorensöhne sind. Der Vater des letzteren,
Jacob Thomasius (1622 — 1684) gehörte der Übergangsbildung an: er
leitete seine Schüler zu historisch -eklektischer Beschäftigung mit den
alten und neuen Philosophen an, wie aus den von ihm verfaßten philo-
sophischen Lehrbüchern nicht minder, als aus Briefen seines Schülers
Leibniz hervorgeht. Ein Schwiegersohn des J. Thomasius war Adam
Rechenbebg (1642—1721), der eine Reihe philosophischer Professuren
und zuletzt eine theologische verwaltete. In seiner Hodegetik (De studiis
academicisy 1691) geht er die neuen Wissenschaften, Mathematik und
Physik, Historie und Geographie, Politik und Naturrecht, ausführlich
durch und zeigt ihre Notwendigkeit zu einer galanten Bildung und
ihre Nützlichkeit für die Studien der oberen Fakultäten. Auch zu dem
Pietismus stand er in freundschaftlichen Beziehungen. Im Ganzen aber
hatten das ganze 17. Jahrhundert hindurch die Vertreter des Alten
noch entschieden das Übergewicht an der Universität. Wie gegen Ende
des 16. Jahrhunderts von dem herrschenden Aristotelismus jede hetero-
doxe Philosophie war femgehalten worden, so daß ein zum Bamismus
neigender Professor abgesetzt und in den Magistereid die Verpflichtung
auf die reine aristotelische Philosophie aufgenommen worden war:^ so
wurde am Ende des 17. Jahrhunderts das Eindringen der neuen Philo-
sophie mit Erfolg abgewehrt; Püfbndobps Schriften wurden verboten,
Thomasius und Fbancke vertrieben.
Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts begann jedoch der Wider-
stand zu ermatten. Val. Albebti und B. Cabpzow, die Vorkämpfer
des Alten, starben 1697 und 1699. Neue Professuren wurden errichtet:
für Chemie und für Reichsrecht 1710, für Naturrecht und für Heraldik
1711, für Arabisch 1724, für Philosophie 1725, wozu 1721 auch ein
' Elswich, de varia Ärisiotelie in aekolie Protestantium fortunay p. 47 £
540 III, 4, Die Universitäten unter d. Einfluß d, höfisdi-modemen Bikbtng.
besoldeter Bereiter kam (Schulze, Leipziger Universität im 18. Jahr-
hundert, 77 ff.). Seit 1724 lehrte J. C. Gottsched (1700—1766)
zunächst als Privatdozent^ seit 1734 als Professor der I^ogik und Meta-
physik die moderne, d. h. die Wolfische Philosophie, fast ganz unan-
gefochten von den „Pedanten und Heuchlern", welche den Thomasits
noch zum Abzug genötigt hatten; ein kleiner Versuch ihn zu verdäch-
tigen, der freilich Gottsched in große Furcht setzte, fand nunmehr
in dem auch fortschrittlich gewordenen Dresden kaum mehr Gehör
(Danzel, Gottsched, 18 ff.). Durch Gottsched wurde auch die deutsche
Poesie in die Universitätskreise mit offizieller Vertretung eingeführt:
seit 1730 war er Professor extraord. der Poesie und lehrte als solcher
öffentlich die Theorie und Praxis der deutschen Dichtkunst Beim An-
tritt des Amts schrieb er eine Dissertation: Musas philosophiae qiton-
dam obstetrices; im 18. Jahrhundert leistete die Philosophie den Musen
Gegendienste. Gottscheds Bemühungen vorzüglich verdankt I^ipzig,
daß es der Geburtsort der neuen Poesie, des neuen Theaters, des neuen
Geschmacks wurde. Gottscheds zahlreiche littcrarische und moralische
Zeitschriften beherrschten lange Zeit die deutsche Bildung. Seit 1744
gehörte auch Gellebt der Universität als Lehrer an.
Den Umfang des Unterrichts, welchen die Leipziger philosophische
Fakultät um 1740 anbot, suche ich durch eine Zusammenstellung aus
den Ijektionsverzeichnissen der Jahre 1739 — 1744 zu vergegenwärtigen.
¥j& finden sich folgende öffentliche Vorlesungen in nachstehender
Ordnung: ^
7 Uhr: J. C. Gottsched, Prof. der Logik und Metaphysik,
extraord. der Poesie, liest 1739 über Melanchthons Erotemata diaiectica;
1740 kündigt er an: über P. Huötii de imbecillitate iniellectus hum.;
* Nützliche Nachrichten von denen Bemühungen derer Gelehrten und
anderen Begebenheiten in Leipzig, 1739 — 1756. Altere Verzeichnisse in den
Aetn Lipsiensium ncadem,, welche 1723/24 erschienen. — Es ist ein bemerkens-
wertes Zeichen der Zeit, daß in den ersten Jahrzehnten des IS. Jahrhunderts
fast alle Universitäten längere oder kürzere Zeit eine eigene wissenschaftliche
Zeitschrift, Acta, Annales, Novellen, Nachrichten oder wie immer genannt,
herausgaben, so Halle, Leipzig, Wittenberg, Helmstedt, Jena, Gießen, Altdorf,
Rostock, Tübingen. Den Inhalt bilden nicht, wie im 16. Jahrhundert, Dekla-
mationen und Poesien, sondern wissenschaftliche Untersuchungen über natur-
wisseuschaftliclie, mathematische, historische, philologische Dinge, nebst Bücher-
anzeigen und Berichten über die Lt^hrthfitigkeit Auch die gelehrten Gesell-
schaften sind bemerkenswert, die im 18. Jahrhundert überall entstehen, natur-
wissenschaftliche, historische, ökonomische, litterarische oder deutsche. Die
geogrnphia aeademica von Götz (Nürnberg 1789) zfihlt im ganzen 73 gelehrte
Gesellschaften auf, fast alle in Universitätsstädten oder Residenzen.
üniv, Leipzig am. 1740, 541
1741 über Fr. Sanchez Tractatus quod nihil scitur; 1742 über Cicero
de fato and deutsche Poetik; 1743 über F. Bamiis' Dialektik.
8 Uhr: J. F. Chbist, Prof. der Poesie und extraord, der Ge-
schichte, liest 1739 über Plautus, dazu um 3 Uhr über Suetonius;
ferner erbietet er sich zu Privatvorlesungen über Litteraturgeschichte
und Antiquitäten. Ebenso in den folgenden Jahren; 1742 treten dafür
Horaz und Cornelius ein,
9 Uhr: F. Menz, Prof. der Physik, liest Physik mit Experi-
menten; in fünQährigem Kursus geht er das ganze Gebiet der Natur-
wissenschaften durch; außerdem liest er zweistündig über die gelehrten
Zeitungen.
10 Uhr: J. E. Kapp, Prof. der EloquBnz, liest 1739 zunächst
über ein paar Reden, welche zum Leipziger Reformationsjubiläum im
Jahre 1639 gehalten worden sind, sodann über die griechischen und
römischen Rhetoren und Redner; privatim und privaässime giebt er
Anleitung zum lateinischen Stil (nach Heineccius) und zum Disputieren.
Ähnlich in den folgenden Jahren; 1741 liest ^x privatim über Rechen-
bergs Hodegetik; 1742 über Mosheims Kirchengeschichte.
11 Uhr: C. A. Hausen, Prof. der Mathematik, liest 1739 erste
Elemente der Mathematik; 1740 Chronologie und Wolfs Elemente,
1741 Mechanik, 1742 Euklid und privatim Wolfs Elemente.
1 Uhr: A. F. Müller, Prof. Org. Arist., Syllogistik, mit privaten
Übungen, in regelmäßiger Wiederkehr.
2Uhr: G. F. Richter, Prof. der Moral und Politik und extraord.
der Mathematik, über Griebners Prinzipien der Jurisprudenz; 1740 über
Gundlings, 1741 über Wolfs, 1742 über Baumgartens Moralphilosophie;
daneben privatim einen mathematischen Kursus.
3 Uhr: G. F. Oleariüs, Prof. der griechischen und lateinischen
Litteratur, liest 1739 über die Weissagungen des N. T. vom Antichrist
und der großen Babel (wegen des Reformationsjubiläums) ; 1740 römische
und griechische Antiquitäten mit besonderer Rücksicht auf das N. T.;
sein Nachfolger J. H. Winkler kündigt an für das Sommersemester
1743 Hauptstücke aus der griechischen Litteratur, für den Winter
Piaton. Dialoge, worin über Gott, Welt und Seele gehandelt wird; 1744
griechische Antiquitäten.
4 Uhr: C. G. Jüecher, Prof. der Geschichte, liest 1739 Kirchen-
geschichte im Mittelalter, nach Schmid; privatim Litteraturgeschichte
nach Heumann und Staatengeschichte nach Gebauer; in den folgenden
Jahren wechseln mit diesen Gegenständen Universal- und deutsche
Reichsgeschichte (nach Joh. Clericüs und Struve), auch Geschichte
der Philosophie.
542 in, 4. DU ünirerntälen unter (L Einfluß d. hö/uek-modemen Büdumg.
5 Uhr: C. G. Ludovici, Prof. der Philosophie, giebt 1739 einea
KnuBOs der Philosophie nach eigenem Entwurf: 1740 liest er pmeuma-
ticam mit EinschluB der Psycholoerie. Dämonologfie und natürliche
Theologie; fem^rr Moral: 1743 liest er über neoeste Geschichte (n'iiu
fufdie imperantium hreoiter enarratunuj.
Das Wittenberger Lektionsrerzeichnis für den Winter 1722/23
weist folgende in das Gebiet der altsprachlichen Studien einschlagende
Vorlegungen auf: der Prof. der Eloquenz erklärt Taciims Germania; der
Prof. der Poesie liest ul^er dramatische Poesie und besonders über die
Komödie und wird Mustergültiges und Fehlerhaftes an Beispielen der
Griechen und Römer zeigen: der Prof. der griechischen Sprache wird
die Geheimnisse der griechischen Sprache aufschließen und ihre Eleganz
und Reinheit an der Sprache des N. T. aufzeigen.^ Die Wittenberger
Universität, wie sie im 17. Jahrhundert als Hüterin der cathedra
I/ut/ieri und Bewahrerin der reinen I^hre sich hervorgethan hatte, hielt
sich auch das 18. Jahrhundert hindurch den neuen Dingen am meisten
fern; die Aussperrung der Wolfischen Philosophie gelang bis gegen das
Knde des Jahrhunderts.
Kin ähnliches Bild von der Lage der klassischen Studien giebt das
I^ktionsverzeichnis der dritten sachsischen Universität, Jena, für das
Sommersemester 1722. Der Prof. der Poesie und der griechischen
Sprache liest öfifentlich Griechisch, privatim Poetik; der Prof. der
Elocjuenz (J. G. Walch) kündigt Vorlesungen über die Paolinische
Eloquenz, am Romerbrief gezeigt, an; außerdem liest er über lateinischen
Stil und über Philosophie. Noch von zwei anderen Philosophen werden
Vorlesungen über griechische Sprache und Paulinische Briefe angeboten.
Ebenso lesen drei Theologen über Stücke des N. T. Zu den hervor-
ragendsten Persönlichkeiten unter den Jenaischen Lehrern während
dieses Zeitalters gehorte J. Fb. Buddeüs, der von 1705 — 1729 die
Theologie im Sinne der Vermittelung zwischen Pietismus und Ortho-
doxie lehrte. Seine philosophischen und theologischen Lehrbücher waren
sehr verbreitet. Der Philolog und Theolog J. G. WAXiCH war sein
Schwiegersohn, J. M. Gesnee sein Schüler. — Erwähnt mag noch
werden, daß im Jahre 1733 eine Societas Latina Jenensis begnründet
wurde, zuerst als rein privater Zirkel von Studierenden. Allmählich
erhielt sie eine öfifentliche Stellung und einen Professor zum Direktor.
Ihr nächster Zweck waren lateinische Stilübungen, von welchen seit
1741 Proben veröffentlicht wurden. Allmählich richtete sich die Thätig-
keit der Gesellschaft mehr auf gelehrte philologische Arbeiten und
* Acta academ, Vitemb, 1724.
Univ, Wittenberg, Jena, Helmstedt. 543
seit dem Anfang dieses Jahrhunderts ging sie in ein philologisches
Seminar über.^
An der Helmstedter Universität^ die bis zum Aufkommen Qtbt-
tingens eine hervorragende Stellung einnahm, waren die humanistischen
Studien durch drei Professuren vertreten. Nach den in den Annales
Äcad. Julian (Helmstedt 1722 u. f.) mitgeteilten indices hielten ihre
Inhaber folgende Vorlesungen: J. Chr. Böhmer, Prof. der Eloquenz
(zugleich der Theologie) lehrte im Winter 1720/21 öffentlich die Rhetorik
und ihre Anwendung im geistlichen und weltlichen Amt und leitete
dazu privatim Übungen in der Abfassung von Reden und Briefen in
lateinischer und deutscher Sprache; im Sommer 1721 handelte er
ofiTentlich von der Abfassung von Briefen in beiden Sprachen und den
besten Briefschriftstellem, privatim bot er denjenigen Anleitung an,
„welche auf Stilübungen Mühe verwenden mögen und bibliographische
Kenntnisse zu erlangen wünschen". Der Prof. der Poesie, P. Leyseb,
erklärte öfiFentlich die soeben gedruckte poetria Galfridi de Vino Salvoj
privatim die Litteraturgeschichte. Im Sommer 1721 lehrte er öflFentlich
die deutsche Dichtkunst, privatim die Litteraturgeschichte.^ J. Oldeb-
MANN, Prof. der griechischen Sprache, fuhr im Winter 1720/21 in
der philosophischen Erklärung der Episteln des N. T. fort, beendigte
diese im Sommer und ging zum Evang. Marci über. Privatim las er
über jüdische Altertümer. Vorlesungen über griechische und römische
Schriftsteller finden sich in den Lektionsverzeichnissen dieser Jahre gar
nicht; auch die Geschichte der Alten fehlt
Erst die Nachfolger lasen gelegentlich wieder über einen klassi-
schen Autor und über die Antiquitäten. So im Winter 1724/25
E. Reüsch, Prof. der Eloquenz, über römische Antiquitäten und Tacitus
^ Stbubberq, diarium Solanum 1722, S. 115 ff. Güldenapfbl, Jenaischer
Universitätsalmanach (1816), S. 271—292.
* Leysers Antrittsprogramm handelt: de poesi diseiplinarum principe: der
Poesie dienen alle Wissenschaften, Philologie, Eloquenz, Logik, Geschichte,
Physik, Metaphysik, Theologie, Medizin, Mathematik, Musik, Ethik, Politik,
Natur- und Völkerrecht, Ann, acad, Jul, I, 78. Letser ließ sich auf einer
akademischen Rundreise im Jahre 1723 zu Straßburg nach rite bestandenem
£xameu zum />r. med. et jur. utriustjue promovieren (a. a. 0. V, 66 ff.). Be-
merkenswert ist, daß er für das Mittelalter Interesse hatte, wie auch aus der
Vorlesung über die Poetik des Galfridus (aus dem 12. Jahrhundert) sich ergiebt
In seiner JSistoria poetarum medii aevi (Halle 1721) nahm er die mittelalter-
liche Bildung gegen die Schmähreden des Humanismus in Schutz. So wies er
J. BuRCKHARDT zurccht, der in seiner Geschichte der latein. Sprache das übliche
Urteil wiederholt hatte. B. sucht sich darauf im zweiten Teil (S. 64 ff.) durch
Anführung von Zeugnissen großer Männer zu decken, woran es denn keines-
wegs fehlte.
544 lU, 4. Die UmveniiäUn unter ± Einfluß <L kofitek-modernen Bildung,
Germania. Gleichzeitig handelte G. Lakemacheb, Prof. der grie-
chidchen Sprache, über die griechischen Altertümer, bis der Buch-
händler die besseren griechischen Autoren zogänglich mache. Im
folgenden Sommer erbietet er sich auf kürzestem Wege zur Kenntnis
der griechischen Sprache zu führen und Mnsäns" Gedicht Hero und
Leander zu erklären. Im Winter 1725,26 las er über die Sacral-
altertümer der Griechen und erklärte im Anschluß daran Lucians
Dialoge über die syrische Gr»ttin und über Opfer, sowie Plutarchs und
Theophrasts Bücher über die Superstition, die zu diesem Ende be-
sonders gedruckt wurden. Im Sommer folgen die griechischen Staatsi-
altertümer mit Erklärung ausgewählter und hierfür besonders ge-
druckter Kapitel aus dem Uerodot. Außerdem las und schrieb er
über jüdische Altertümer. Keusch erklärte im Winter 1725/26
Ciceros und Plinius' Episteln und las über die Humanisten des 15. Jahr-
hunderts öffentlich; privaäm interpretierte er Cicero tie oraiore und
die römischen ßechtsaltertümer mit Numismatik und Metronomie,
Leyseb las wiederholt über Virgil, im Anschluß an die Poetik. —
Außer diesen drei Professuren gab es noch fünf andere: für Hebräisch,
Mathematik und Naturwissenschaft, Logik und Metaphysik, Moral und
Politik, Geschichte. — Die hervorragendste Persönlichkeit an der Uni-
versität war der Theologe J. L. Moshetm (1723 — 1747 in Helmstedt),
der Calixtus des 18. Jahrhunderts.
Der Charakter der neuen Universität des Nordens, die Herzog
Christian Albrecht im Jahre 1665 zu Kiel begründete und aus den
Mitteln des Bordesholmer Klosters (mit 6000 Thlm. jährlich) dotierte,
wird bezeichnet durch den Theologen S. Kortholt, den Juristen
S. Rachel, der als einer der ersten Vertreter der modernen Disziplin
des jus nat, et yentium genannt wird, und den Inhaber der Professur
der Eloquenz und Poesie, D. G. Mobhof. Der letztere ist bekannt
durch seinen „Unterricht von der deutschen Sprache und Poesie" 1682,
worin zum erstenmal in Deutschland eine Übersicht über die moderne
europaische Litteratur gegeben wird (Räumer, III, 187), und noch mehr
durch den Polyhistor literarius, philosophicus et practicus (Lübeck 1688
u. 0.) ein umfassendes Werk, das die JSumme der zur vollkommenen
gelehrten Bildung damals als notwendig angesehenen Kenntnisse ent-
hält. Außerdem waren anfangs noch folgende Professuren in der
philosophischen Fakultiit: Logik und Metaphysik, Moral, Politik, Mathe-
matik, Physik und Griechisch, Geschichte, moderne Sprachen (Ratjkn,
Gesch. der Univ. Kiel).
Die süddeutschen Universitäten mag Tübingen repräsentieren.
Die Modernisierung hat sich hier ebenfalls in der ersten Hälfte des
Die Universitäten Tübingen, Straßburg, 545
18. Jahrhunderts vollzogen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
bestand im Wesentlichen noch der Unterrichtsbetrieb, wie er durch die
Keformation eingerichtet worden war; auch über die lateinischen und
griechischen Autoren wurde noch fleißig gelesen (Klüpfel, 152). Seit
Anfang des 18. Jahrhunderts ist das Eindringen des Modernen be-
merkbar: Vorlesungen über Grotius, Pupendoef und Thomasius, über
deutsche Dichtkunst, über Antiquisaten erscheinen auf dem Plan. Im
Jahre 1720 hielt der Theologe C. M. Pfafp bei Antritt des Kanzler-
amts eine Bede cle universitatibus scholasticvt emendandts et pedantismo
literario ex iisdem eliminandoy die wenigstens als Symptom der Stimmung
in den oberen fiegionen Bedeutung hat In die theologische Fakultät
drang der Pietismus ein, in die philosophische die neue Wolfische
Philosophie; BiLFmaEB, bald ein sehr angesehenes Mitglied der Uni-
versität, begann sie seit 1721 als Privatdozent vorzutragen, nicht ohne
Widerspruch der Theologen. Im Jahre 1752 erhielt die Universität
neue Statuten (bei Beyscheb, 408 ff.). Die philosophische Fakultät soll
darnach fünf Professuren haben: 1) Logik und Metaphysik, 2) Moral
und Naturrecht^ 3) Physik und Mathematik, 4) Oriechisch und Hebräisch,
5) allgemeine und deutsche Geschichte. Die Eloquenz und Poesie soll
einem unter ihnen, der sich mit diesen Dingen am meisten abgegeben
hat, übertragen und jederzeit darauf geachtet werden, daß die klassischen
Autoren, die Geschichte der Litteratur und Philosophie, die lateinische
und deutsche Beredsamkeit und Poesie, die griechischen, römischen und
deutschen Altertümer von den Professoren oder Magistern gelehrt
werden. 1752 wurde die Poesie und Eloquenz dem Professor der Moral
übertragen ; er las über Bedekunst, Sittenlehre, Natur- und Völkerrecht,
Altertümer, Geschichte der Philosophie, Handlungswissenschaft, aber
nicht über klassische Autoren. Ebenso wenig las der Gräcist über
griechische Autoren. Die klassische Philologie, sagt Klüpeel (202),
war in dieser Zeit so gut wie gar nicht vertreten; er irrt aber, wenn
er hinzufügt, daß sie damals auf anderen Universitäten als Hauptfach
angesehen worden sei.
B'rüher als in Tübingen ist in dem der westlichen Welt zugewen-
deten Straßburg, das 1621 für die alte Sturmsche Akademie die
Universitätsprivilegien erwarb, die moderne Bichtung durchgedrungen.
In dem Leben Matth. Berneggers (1582—1640) von Büngkr (1893)
kann man die beginnende Wandlung, das stärkere Hervortreten der
mathematischen und historischen Wissenschaften auf Kosten der Elo-
quenz und der klassischen Erudition verfolgen. Bebneggeb war in
beiden Fächern der Forschung, dem historischen wie dem naturwissen-
schaftlich-mathematischen, thätig.
Paulson, Unterr. Zweite Aafl. I. 35
546 ///, 4, Die Universitäten unter d. Einfluß cL höfisch-modernen Bildung.
Noch erwähne ich schon hier die neue protestantische UniFersität,
die von den beiden fränkischen Fürstentümern im Jahre 1743 zu
Erlangen errichtet wurde. Bei der Gründung spielte eine Hauptrolle
ein französischer Befugie, der zu Rotterdam geborene Leibarzt der
Markgräfin Wilhelmine, Daniel de Supebville. Die XJniYersität
wurde mit der Yerlassenschaft der schon erwähnten Ritterakademie aus-
gestattet Gleich am Anfang hatte sie drei Professoren der Theologie,
die alle drei zugleich geistlichen Ämtern vorstanden; fünf Juristen, von
denen drei zugleich in der philosophischen Fakultät lasen, besonders
historische und philosophische Fächer, und fünf Mediziner. Die philo-
sophische Fakultät erhielt sieben Professuren, von denen aber drei, wie
gesagt, von Juristen verwaltet wurden, und eine, nämlich die der Elo-
quenz oder, nach unserm Sprachgebrauch, der Philologie, von einem
Theologen. Die philosophischen Wissenschaften wurden von Anfang an
nach den Wolfischen Lehrbüchern vorgetragen. Für Sprachen und
Exerzitien war besonders gut gesorgt Die neue fränkische Universität
hat als vermittelndes Glied zwischen Nord- und Süddeutschland lange
Zeit eine nicht geringe Bedeutung gehabt (Engelha&dt, Die Univ.
Erlangen, 1843; Sehleng, D. de Superville, 1893).
Auf die übrigen Universitäten, Altdorf, Rostock, Greifiswald, Erfurt,
Marburg, Gießen u. s. w., gehe ich nicht ein; ihre Frequenz ist zum
Teil ganz geringfügig, sie sinkt zum Teil weit unter 100. Ebenso über-
gehe ich die katholischen Universitäten, sie folgen in der Umgestaltung
erst beträchtlich später. Über die neue Universität Göttingen wird
später ausfuhrlicher zu handeln sein.
Dagegen möchte ich hier noch ein paar Äußerungen von Philo-
logen über die Stellung der klassischen Studien an den Universitäten
während dieses Zeitalters einfügen. Die Dekadence dieser Studien ist
das Thema der stets wiederholten Klage der Professoren der Poesie
und Eloquenz; bei jeder öfiFentlichen Gelegenheit kehrt sie wieder und
läuft regelmäßig in die Prophezeiung aus, daß die Barbarei des Mittel-
alters nunmehr vor der Thür stehe.
Schon in einer 1693 zu Leiden gehaltenen Rede (De usu atque
utilitate Graecae Romanaeque linguae) führt J. PERizoiaus bittere Klage:
in Schimmel und Schmutz lägen die Griechen begraben; es sei dem-
nach an der Zeit, daß die Barbarei des Mittelalters wiederkehre. Wenn
jener so klagen wolle, meint J. Bubgkhabd in einem Programm, das
er als Rektor der Hildburghäuser Schule 1718 schrieb (Quid causae
sity cur human itatis studiis majus hodie a Batavis quam a Germam*
statuatur pretiumf) was solle denn ein Deutscher sagen? Den Pebi-
zoNiuis habe er selbst in Leiden vor einem großen und wohlgefüllten
Klagen der Philologen, 547
Auditorium gegen ein bedeutendes Honorar den Terenz erklären hören.
In Deutschland brächte der berühmteste Mann auf der größten Uni-
versität nicht so viele zusammen, wenn er umsonst läse. Plato, Aristoteles,
Homer, Thukjdides, Euhpides seien den Studenten nicht einmal dem
Namen nach bekannt Cicero bleibe in den Händen der Knaben. Cäsar
und Livius, geschweige denn Virgil, Horaz, Terenz lesen sei ein Vorwurf:
über diese Possen seien wir hinaus: für den Nutzen der Kirche oder
des Staates komme dabei nicht mehr heraus als beim Spiel mit Nüssen.
— Die Schuld des Verfalls findet Bubckhabd bei den Schulmeistern,
welche ihre Schüler alsbald zu den höheren, den Beal Wissenschaften
führten, nach selbst gemachten Kompendien; aber auch die Universitäten
hätten daran Teil, sofern sie immer mehr die deutsche Sprache statt
der lateinischen zuließen. Die Folge werde sein, daß auch die Real-
wissenschaften verfallen und die Barbarei wiederkehren würde.
In einem Programm vom Jahre 1709 bespricht der Helmstedter
Prof. der Eloquenz, J. Chb. Böhmer, die Angelegenheit Er sucht die
Ursachen der Vernachlässigung der klassischen Studien 1) in dem
schlechten Unterricht in den Lateinschulen, wo z. B. immer noch das
methodisch schlechterdings unzulässige Verfahren herrsche, aus lateinisch
geschriebenen Grammatiken Lateinisch zu lehren; tüchtige Leute gingen
nicht in die Schule, weil das Amt gar zu unansehnlich und schlecht
bezahlt sei; 2) in der Meinung der jungen Leute, man könne die nötige
wissenschaftliche Vorbildung für ein Amt auch ohne fremde Sprachen
sich verschafien; sei außer dem Deutschen ja noch etwas nötig, so helfe
das Französische aus, das doch jeder Gebildete lernen müsse und in
welches die Alten jetzt höchst elegant übersetzt seien.
Gegen die Wittenberger beschwerte sich 1728 das sächsische
Oberkonsistorium, daß viele Kandidaten des Predigtamts zum Examen
kämen, die einen aufgegebenen Text kaum lesen, geschweige denn einen
richtigen Verstand und Vortrag daraus ziehen könnten (Gbohmann,
III, 99).
Der Lehrer der Eloquenz in Kiel, Mobhof, beklagt in seinem
Polyhistor dieselbe Thatsache: schon Jon. Caselius habe über die Ver-
nachlässigung der Sprachen Klage geführt; käme er jetzt auf eine
deutsche Universität, so würde er finden, daß die griechische Sprache
überhaupt verstummt sei, im Lateinischen ein kindisches Stammeln ver-
übt werde. Die Disputationen über logische und metaphysische Quästionen
hätten alles verschlungen (Polyhistor II, 9, 9 — 16).
Ganz ausdrücklich wird für jene Thatsache den Philosophen die
Schuld beigemessen in der Eede, womit J. E. Kapp 1731 die Professur
der Eloquenz zu Leipzig antrat. Außer der Neigung der Schulmeister
35*
548 III, 4. Die Universitäten unter cL Einfluß d, höfisch-modernen Bildung.
für die Folyhistorie und der allzu kurzen Studienzeit (trienmum oder
auch diennium), seien vor allem die schlechten Philosophen an der Ver-
achtung der klassischen Studien schuld; es sind natürlich die modernen
Hallischen Philosophen gemeint Ohne Kenntnis der alten Philosophie,
deren Sprache sie nicht verstanden, und ohne Kenntnis der philosophischen
Bemühungen der Neueren, machten sie sich eine eigene Philosophie
und gaben diese für die wahre gelehrte Bildung aus.^ — Noch schärfer
wird diese Anklage von J. Ben. Cabpzow formuliert, der 1748 ein
Extraordinariat der £loquenz in Leipzig mit einer Bede antrat: De
damno, quod parit philosophia absque litteris humanioribus et arte critica.
In den stärksten Ausdrücken führt er aus, daß gegenwärtig eine neue
Philosophie aufkomme, welche die Pfleger der Altertumsstadien als
Grammatiker und Kritiker verächtlich mache: jam omnes omjuum ordt-
num scriptores peragravit. Nicht ausbleiben werde die Barbarei^ — doch
ich lasse ihn in seiner eigenen Sprache reden — barbaries ac scholasti-
corum tempora sccibiosa, si philosopkiam sequimur unice, Graecos et
Latinos autores rejicimus, Lapporum et Finnorum lingvuij Gothico et
Longobardico sermone in famelids suis et nauseabundis libellis juridicis
Stoice t. e, incomte et inficete philosophantur. Ex academica cavea anno
secundo vel tertio evolantes juris brevissimi doctores nihil praeter inanem
ex aliquo jure quod Uli naturae vocant latratrum protrudunt Auch über
Medizin und Theologie verbreitet sich das Übel: divini verbi sanctissima
placita inquinant stramineis praeceptis, suosque sermones tamquam pig^
mentis fucoque allinunt philosophia; magna demonstratorum seges in-
horruit, qui Universum Christianismum philosophica diphthera involverunt
et obfuscarunt — Über die Adresse dieser Liebenswürdigkeiten war
wohl niemand, am wenigsten die Empfanger in Halle, in Zweifel. —
Cabpzow hatte übrigens in demselben Jahr nochmals Gelegenheit zu
einer ähnlichen Rede. Er wurde nach Helmstedt berufen und sprach
hier, erheblich zahmer, de philosophiae absque literis Graecis imper-
fectione: er verachte die neue Philosophie nicht. Aber eine Philosophie,
welche diserta, elegans, copiosa sein und de rebus divinis kumanisque
suaviter, venuste et amoene, zugleich aber argute, sublilitery acute disse*
rieren wolle, könne von den Griechen viel lernen. Ohne diese degeneriere
sie in jejunam horridam et inpolitam scientiam s. peritiamj quae ab illa
vulgarium opificum non discrepat.
Der spätere Hallische Geheimrat Klotz bestätigt diese Ansicht in
* Mehreres über Kapp, im besonderen ein nicht uninteressantes Gatachten
über die Herstellung der philologischen und philosophischen Stadien vom Jahre
1728 giebt G. Müller in den historischen Untersuchungen, von der histor. G^s.
zu Dresden E. Förstemann gewidmet (1894).
Klagen der Philologen, 549
einer Rede: De dignitate jucunditate et utilitate studiorum humanionim
(Jena 1761): tot quotidie sordibus ingenuam pulcher.rimamque philo-
sophiae faciem corispurcant, tot verborum monstra evomunt, ut vix ho-
mines loqui putemus, — Genau 100 Jahre früher hatte in Basel beim
Antritt des Dekanats Jon. Zwingeb, Prof. der griechischen Sprache,
über dasselbe Thema geredet.^ Er erzählt, er habe einmal in einer
Klosterbibliothek in den vorhandenen Büchern geblättert: horret animus,
haeret lingua totumque corpus contremiscit j quoties vel solarum vocum
barbariei recordor, ZwiNGER gratuliert noch seiner Zeit zu ihrer Ver-
menschlichung. Freilich hat diese Vermenschlichung, wenn wir den
obigen Anklägern glauben wollen, nur kurze Zeit vorgehalten; der
Rückfall in die Barbarei ist schon im 17. und vollends im 18. Jahr-
hundert ein vollständiger.
Wenn wir jetzt diese hitzigen Deklamationen lesen, kommen sie
uns einigermaßen seltsam vor: also mit dem Zeitalter Wolfs und
Kants, Lessings und Klopstocks soll die Vertierung oder die so-
genannte „Barbarei des Mittelalters" wieder über uns hereingebrochen
sein? Uns stellt sich die Sache etwas anders dar; nicht die Rückkehr
zum Mittelalter, sondern die entschiedene Loslösung vom Mittelalter hat
sich in dieser Zeit vollzogen. Nicht der Verlust der Humanität, sondern
der Beginn neuer, selbständiger, schöpferischer Teilnahme des deutschen
Volkes an der Bildung der Menschheit datiert für uns von dieser
Epoche. Was verloren ging, das war nicht die humane und nicht
einmal die klassische Bildung (sie ersteht im folgenden Zeitalter zu
neuem blühenden Leben), sondern nichts als die althumanistische Elo-
quenz und Poesie, oder vielmehr (denn diese waren längst tot) die darauf
gerichteten Schulübungen. So seltsam werden die Augen der Zeit-
genossen gehalten, daß sie die wahre Bedeutung der Dinge nicht sehen.
Es läge ein Trost darin für alle, die mit unserer Zeit unzufrieden sind.
Wenn sie ihn nur zu finden vermochten! —
Versuchen wir zum Schluß die Summe der Wandlungen auszu-
sprechen, die sich in dem Jahrhundert, das auf den westfälischen
Frieden folgt, an den deutschen Universitäten vollzogen haben, so
werden wir also sagen können: auf allen Punkten ist der tTbergang
vom Mittelalter zur Neuzeit, der Übergang von dem gebundenen
Schulbetrieb zum selbständigen Denken, zur freien wissen-
schaftlichen Forschung und Lehre angebahnt Keine Fakultät ist
^ De barbarie »uperiorum aliquot sectdorum orta ex supina linguae Oraecae
tgnoratiofiey Basel 1661. — Von derselben immants barbarieSy ut verbis vix ex-
primi possit, redet ein Kollege des oben erwähnten Bubckhabd, Laür. Reinhard,
in einer Rede De Qraecas linguae fatis (1722).
550 III, 5. Die Modernisierung der GeUhrienschiden u. s. w.
davon ausgenommen. Selbst in die theologische ist das Prinzip der
freien Forschung im Begriff seinen Einzug zu halten, in Gestalt der
kritisch-historischen Behandlung der heiligen Schriften. In der juri-
stischen Fakultät hat das Naturrecht, d. h. die rationale oder philo-
sophische Behandlung des Rechts schon seit den Tagen Püfkndobffs
sich durchgesetzt: das Recht nicht ein absolut gegebenes, sondern ein
Ton uns durch Vernunft zu machendes. In der medizinischen Fakultät
ist an die Stelle der Überlieferung der medizinischen Wissenschaft des
Altertums, der Interpretation des Hippokrates und Galenus, die selb-
ständige, mit neuen Mitteln und Werkzeugen (darunter das Mikroskop)
arbeitende Forschung getreten; ffberall beginnt man Anatomie und
Physiologie zu treiben, botanische Gärten und anatomische Theater
werden eingerichtet, und die neuen Thatsachen werden in schnell ent-
worfenen neuen biologischen und medizinischen Systemen gedeutet
Am größten ist die Wandlung in der philosophischen Fakultät
Man halte Chb. Wolf gegen Melanchthon, den professor universi
generis humanis gegen den alten praeceptor Germaniae, Melakghthon
will in seinen Lehrbüchern der Logik, Physik und Ethik nichts als das
überlieferte Wissen für den Schulgebrauch formulieren; WoiiF erhebt
dagegen durchaus den Anspruch, eine Philosophie aus dem Eigenen
geschaffen zu haben, die sich nicht auf Autorität, sondern allein auf
Vernunft und Gründe stützt; sie fordert auf nicht zu glauben, sondern zu
zweifeln und zu prüfen und so von ihrer Notwendigkeit sich selbst zu
überzeugen. Am Ende des 18. Jahrhunderts hat sich, wie wir sehen
werden, diese Wandlung auf allen deutschen TJniTersitäten, die katho-
lischen nicht ausgenommen, vollständig durchgesetzt
Fünftes Kapitel.
Die Modernisierung der Gelehrtenschulen unter dem Einfluß
der höfischen Bildung und des Pietismus.
Die gelehrten Schulen formen sich naturgemäß nach den Uni-
versitäten, von welchen sie ihre Lehrer empfangen und an welche sie
ihre Schüler übergeben. Wie diese, so strebten jene im 18. Jahrhundert
nach Teilnahme an der höfischen Bildung. Wie Halle und Göttingen
und ihnen folgend die alten Universitäten ihren Flor an der Zahl der
hei ihnen immatrikulierten Grafen und Barone maßen und ihre Wert-
schätzung dieser membra praecipua durch allerlei äußere Auszeichnungen
Aufnahme der neuen Wissenschaften, 551
sichtbar machten, so strebten auch die Gelehrtenschulen darnach, jungen
Leuten vom Herrenstande sich nützlich und angenehm zu machen.
Seit dem großen Krieg waren die Adeligen auf den Gelehrtenschulen
selten geworden; sie erhielten ihren Unterricht bis zur Universität durch
Informatoren im Hause; auf den Schulen blieb die Gesellschaft zurück,
der die Mittel fehlten, für den Unterricht ihrer Kinder auf andere
Weise zu sorgen. Die Lehrer konnten hiergegen nicht gleichgültig sein,
ihre soziale Stellung richtet sich nach der gesellschaftlichen Herkunft
ihrer Schüler. Gerade die tüchtigsten und strebsamsten finden wir
daher bemüht, durch persönliches Entgegenkommen und durch Angebot
eines Unterrichts in den modernen Bildungswissenschaften die Söhne
der höheren Stände ihrer Schule wieder zuzuführen.
Auf diese Weise sind die „galanten" Disziplinen, Mathematik und
Physik mit Technologie und Raritätenkunde, Geographie und Geschichte
mit Genealogie und Heraldik, Moral und Politik mit Naturrecht und
Ökonomik, französische Sprache und deutsche Oratorie und Poesie zuerst
in den Bjreis der alten Lateinschulen getreten. Allerdings sind sie in
der Regel nicht gleich in den eigentlichen Schulkursus aufgenommen
worden, vielmehr erscheinen sie zunächst meist in Privatkursen, welche
die einzelnen Lehrer den Schülern der obersten Klassen gegen beson-
deres Honorar geben. Es werden sich an allen größeren Schulen solche
Privatkurse neben dem eigentlichen Schulkursus in diesem Zeitalter nach-
weisen lassen. Von den Schulgeschichtsschreibern ist diese Einrichtung
als eine wunderliche und unzulässige verurteilt worden ; wie mir scheint,
nicht ganz mit Recht. Zuerst muß man sagen, es war durchaus billig,
daß den Lehrern, die allein für die alten Disziplinen angenommen
waren, Extraleistungen besonders bezahlt wurden ; es war für viele eine
höchst erwünschte Gelegenheit, das bei steigenden Preisen überall un-
genügende und meist überaus dürftige Einkommen zu ergänzen.
Übrigens folgten die Schulen damit nur dem Beispiel der Universitäten,
an denen eben im 18. Jahrhundert auch die Privatvorlesungen neben
den öffentlichen stark hervorzutreten begannen. Femer ist zu bedenken,
daß eine allgemeine Einordnung der neuen Disziplinen in den alten
Kursus überhaupt nicht stattfinden konnte: es kam eben, ganz ab-
gesehen davon, daß damals überhaupt noch keine Staatslehrpläne für
die Lateinschulen gemacht wurden (nur für die Landesschulen wurde
der Lehrplan von der Regierung festgestellt), darauf an, ob gerade ein
Lehrer, der den Unterricht erteilen könnt«, und Schüler, die ihn be-
gehrten, vorhanden waren. Man kann vielleicht auch sagen: gerade die
Freiwilligkeit dieser Arbeit auf beiden Seiten war geeignet, ihr erhöhtes
Interesse zuzuführen. Arme Schüler, die das Honorar nicht zahlen
552 in, 5, Die Modernisierung der Oelekrtenachulen u, s, w.
konnten, waren freilich ausgeschlossen; man wird aber annehmen dürfen,
daß, wenn befähigte arme Knaben der obersten Klassen, die zum Stu-
dieren bestimmt waren, an den Kursen teilzunehmen begehrten, hierfür
sich in der Regel werden Mittel und Wege gefanden haben.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts sind übrigens mehr und mehr
die Privatkurse in den Realien in den Kreis der öffentlichen Lektionen
aufgenommen worden, zunächst an den Landesgymnasien, allmählich
auch an den großen städtischen Schulen. Die Notwendigkeit, an diesen
Bildungszweigen irgend einen Anteil zu haben, wurde immer allgemeiner
und einleuchtender. Nicht bloß der Adelige und der künftige Beamte
oder Offizier, sondern auch der arme studiosus theologiae bedurfte ihrer.
Der Verfasser des früher erwähnten „Vernünftigen Studentenlebens"
rät jedermann, wenn irgend möglich, schon auf der Schule die An-
fangsgründe der galanten Wissenschaften zu erlernen, vor allem mit
der französischen Sprache einen Anfang zu machen, „weil es heutzu-
tage solche grande mode worden und bei Frequentation honneter Kom-
pagnien höchst nötig, und ein künftiger studiosus nicht wissen könne,
ob er nicht mit der Zeit eine Information werde suchen müssen".
Nicht minder sei es durchaus zu empfehlen, wenigstens einen all-
gemeinen Konzept von der Geographie und Geschichte und einige Be-
kanntschaft mit den mathematischen Disziplinen von der Schule mit-
zubringen.
Wichtig und folgenreich war es vor allem, daß auf diese Weise
die Mathematik, besonders die Geometrie, ihre Aufnahme unter die
unentbehrlichen Unterrichtsgegenstände der höheren Schulen zu fordern
und allmählich durchzusetzen begann. In den Schulen des 16. Jahr-
hunderts war die Stellung der Mathematik, wie oben (II, Kap. 6) gezeigt
ist, noch eine ganz unsichere; die Eloquenz war so sehr die wichtigste
Aufgabe, daß für Dinge, die nicht in engem Zusammenhang damit sich
treiben ließen, kein Raum blieb. Die älteren Schulordnungen erwähnen
den mathematischen Unterricht überhaupt nicht oder nur im Vorüber-
gehen und mit frommen Wünschen; spätere fordern allerdings einen
Unterricht in der Mathematik, doch erstreckt er sich nur auf das ge-
meine Rechnen. So blieb die Lage der Dinge bis in den Anfang des
18. Jahrhunderts. Seitdem wird an den neugegründeten oder den dem
Fortschritt huldigenden alten Anstalten, wenn es möglich ist, ein eigener
Mathematiklehrer angestellt, und auf ihren Lehrplänen beginnt außer
dem Rechnen die Geometrie zu erscheinen, regelmäßig mit ihren An-
wendungen in der Feldmeßkiinst, der Kriegs- und Civilbaukunst, der
Gnomonik u. s. f. In diesem saeailo mathematico, sag^ der Nürnberger
Pastor und Schulinspektor Feuerlein in einer zur Eröflhung des neuen
Aufnahme der neuen Wissenschaften. 553
Gymnasiums 1699 geschriebenen Schrift, wo methodus mathematica in
allen Disziplinen, auch in morihus und phüologicis angewendet werde,
könne niemand mehr titulum eruditi cum laude sustinieren, der in der
Äfatkesi unerfahren wäre; daher habe der Rat den Unterricht in der
Mathematik durch alle Klassen des neuen Gymnasiums mit Zugrunde-
legung von Stüems mathesis juvenilis angeordnet.^
Eine Folge des Eindringens neuer XJnterrichtszweige war, daß da-
durch, wie durch junge Nebentriebe, dem alten Stamm in einigem
Maß die Nahrung entzogen wurde. Natürlich konnte am Anfang des
18. Jahrhunderts niemand daran denken, den Unterricht in den alten
Sprachen fallen zu lassen; Latein nicht bloß verstehen, sondern auch
schreiben und sprechen war offenbar nach wie vor das erste Erfordernis
eines jeden, der gelehrte Studien machen wollte; und für die meisten
blieb auch einige Kenntnis des Griechischen unentbehrlich. Aber man
hatte zu diesen Dingen nicht mehr die Geduld, wie im 16. Jahr-
hundert. Überall mehren sich die Klagen, daß die Sprachen so viel
Zeit kosten; überall dauern die Versuche fort, ihre Erlernung zu er-
leichtem und zu beschleunigen. Die Editionen der Klassiker mit Noten
ad modum Minellii gehören diesem Zeitalter an; vielfach versucht man
es mit Neulateinern; es kommen durchweg neue grammatische und
lexikalische Lehrmittel, meist in deutscher Sprache verfaßt, in Ge-
brauch. Halle ist der Ort, von, dem diese Umgestaltung der Lehr-
methoden und Lehrmittel ausgeht. Cellabius' Lehrbücher, HErNECCius'
Fundamenta culäoris stili, Chr. Wolfs mathematische Lehrbücher,
dann die Grammatiken und Editionen, die aus der Druckerei des
Waisenhauses hervorgehen, erlangen mit ihren Bearbeitungen und Nach-
ahmungen die Herrschaft in den Schulen wenigstens des protestanti-
schen Deutschlands.
Ich will im Folgenden einige Nachweisungen über diesen Prozeß
der Modernisierung der Gelehrtenschulen geben. Er beginnt im
letzten Viertel des 17. Jahrhunderts und dauert das ganze 18. Jahr-
hundert hindurch, seit der Mitte desselben durch jene Bestrebungen
* Eine Übersicht über die Stellung der Mathematik in den Schulen während
dieses Zeitalters giebt Beier im Progr. der Realschule zu Krimmitschau 1879.
Den Inhalt des Sturmscheu Lehrbuches findet man bei Raümer, U, 162 an-
gegeben; ein anderes vielgebrauchtes Schulbuch der Mathematik istB. Hederichs
(Rektors zu Großenhain) Anleitung zu den fürnehmsten mathematischen Wissen-
schaften, benanntlich der Arühmetiea, Oeometria, Architectura militaris et eivilia,
der Astronomia und Gnomonica, 1713 u. ö. ; eine ausführliche Inhaltsangabe
davon bei Beier, S. 31 ff. Einige Daten aus der Geschichte des Rechen- und
des Geometrieunterrichts auch in der Geschichte der Methodik des deutschen
Volksschulunterrichts, herausgeg. von 0. Kehr, I, 280 ff.
554 III, 5, Die Modernisierung der OdehrtenschtUen u. s, w.
modifiziert, die man als die Anjfange des neuen Humanismus be-
zeichnen kann. Diese bleiben jedoch hier noch außer Betracht
Die Darstellung mag von I'kanckbs Pädagogium in Halle
ihren Ausgang nehmen; nicht freilich, als ob Feancke diese Be-
strebungen überhaupt erst aufgebracht hätte, sie erscheinen schon lange
vorher an vielen neugegründeten und alten Schulen; wohl aber kann
man sagen, daß sie im Hallischen Pädagogium mit besonderer Klar-
heit sich darstellen, auch von hier, als einer wichtigen Pflanzstätte der
neuen Pädagogik, sich ausgebreitet haben. Das Pädagogium, aus ge-
ringen Anfangen erwachsen, wurde mehr und mehr zu einer Muster-
gelehrtenschule, die, unbehindert durch historische Tradition oder
hemmenden Einspruch fremder Gewalten, sich ganz nach den An-
forderungen der Zeit gestaltete, wie sie sich in der repräsentativen
Persönlichkeit Franckes spiegelten. Im Jahre 1702 erhielt die Anstalt
öffentliche Anerkennung und den Namen eines PaedcLgogvum regium,
blieb aber durchaus unter der Leitung Fbanckes. Die ausführlichen
Ordnungen und Lehrpläne aus den Jahren 1702 und 1721, die
Francke und der Inspektor Freyer verfaßt haben (mitgeteilt in
Kramers Ausgabe von Franckes pädagogischen Schriften 277 — 436,
auch bei Vormbaum, IIL 53flF., 214flF.) lassen Geist und Einrichtungen
deutlich erkennen. Einen detaillierten Bericht giebt auch KRAnogR in
seinem Leben Franckes {II, 403 S,). — Das Pädagogium war eine
Pensionsanstalt für junge Leute aus den höheren Gesellschaftsschichten,
die meist zum juristischen Studium bestimmt waren. Neben ihm be-
stand die Lateinschule des Waisenhauses, die außer den begabtesten
Zöglingen unter den Waisen auch Stadtkinder zuließ, sie ist im Granzen
nach denselben Prinzipien eingerichtet.
Vier Stücke bezeichnet Francke als das Ziel der Erziehung im
Pädagogium: daß die Jugend einen guten Grund lege, 1) in der wahren
Gottseligkeit, 2) in den nötigen Wissenschaften, 3) in einer geschickten
Beredsamkeit, 4) in äußerlichen wohlanständigen Sitten. Für das erste
wird durch eine unablässige, den Schüler keinen Augenblick sich selbst
überlassende Aufsicht und Zucht, ferner durch ein methodisch durch-
gebildetes System religiöser Übungen, endlich durch einen sehr aus-
gedehnten theologischen Unterricht gesorgt In jeder Hinsicht liegt
Francke die Erreichung dieses Zieles am meL<»ten am Herzen.
I'ür unsere Absicht ist das zweite Stück wichtiger. Unter den
Unterrichtsgegenständen des Pädagogiums nahmen die alten Sprachen,
und unter diesen die lateinische weitaus den ersten Platz ein; ihr
wurden, nach Freyers Lehrplan, durch alle Klassen täglich S^j Stunde
gewidmet, jedoch die beiden Bepetitionstage, Mittwoch und Sonnabend,
Das Pädagogium A. H, Franckes zu Halle, 555
ausgenommen. Das Ziel ist eine völlige Herrschaft über die Sprache
in schriftlichem und mündlichem Gebrauch. Deshalb wird auf das
Lateinreden bei Großen und Kleinen gedrungen: niemand darf im
Unterricht anders als Latein sprechen, es wäre denn, daß er auf Deutsch
gefragt worden; zuwiderhandeln wird mit Abzug vom Taschengeld be-
straft Dagegen hatte man, und das ist eine bemerkenswerte Neuerung
des Hallischen Unterrichts, die lateinische Grammatik in deutscher
Sprache abfassen lassen, denn es sei eine recht verkehrte Sache, daß
ein Deutscher die lateinische Sprache, die er noch nicht verstehe, ans
lateinischen und mit vielen philosophischen und schweren terminis an-
gefüllten Regeln begreifen solle. Der bekannte Schüler und Kollege
Fbanckes, Joachim Lange, ist der Verfasser der Hallischen lateinischen
Grammatik, die seit 1707 in unzähligen Auflagen erschienen ist Für
die ersten Leseübungen dienten Fbeyers Colloquia Terentiana (seit
1714), nämlich Gespräche, welche den Gebrauch des Terenz überflüssig
zu machen bestimmt waren; in den oberen Klassen wurde C. Nepos,
Caesar und Cicero (Briefe, Officia und kleine philosophische Schriften)
gelesen. Für die poetische Lektüre war durch eine von Freteb aus
alten und neuen Dichtem zusammengestellte, die Formen an un-
schuldigem Inhalt aufzeigende Chrestomathie (Fasciculus poem. LaL)
gesorgt.
Im Jahre 1698 hatte eine Bewegung unter den Lehrern statt-
gefunden, welche auf die Entfernung aller heidnischen Autoren ab-
zielt«; es gelang jedoch Francke, sie von der Unbedenklichkeit und
Notwendigkeit der zugelassenen Schriften zu überzeugen, es wird nicht
gesagt mit welchen Gründen (Fbanckes pädag. Schriften, S. 287); ver-
mutlich waren es dieselben, die Lange in seiner eigenen Lebens-
beschreibung (64flF.) dafür anfuhrt: die Gefahr werde durch einen ge-
schickten Lehrer, der das Unzulängliche der heidnischen Sittlichkeit
und Religion aufzeige, leicht beseitigt (doch müsse man Schmutziges
ausmerzen); und nur von theologischen Materien handelnde Schriften
zu lesen sei nicht ratsam, weil solche durch tägliche Behandlung bei
jungen Gemütern, die man dabei nicht» allezeit in ehrerbietiger Be-
trachtung erhalten könne, leicht in Geringschätzung fielen.
Selbstverständlich fand neben der Lektüre fortlaufende Einübung
des Wortschatzes und der Phraseologie sowie Verwertung des An-
geeigneten in Exerzitien, Extemporalien (variierende Rückübersetzung
des Gelesenen), Briefen, Reden und Gedichten statt. In der obersten
Klasse wurden in einer Stunde die Leipziger lateinischen Zeitungen
gelesen, bei welcher Gelegenheit denn zugleich hier und da ein Stück
aus der Geographie, Genealogie, Historie und Heraldik repetiert wurde.
556 III, 5. Die Modernisierung der Gelehrtenschulen u, s, w.
Griechisch und Hebräisch standen gegen das Lateinische weit
zurück. Fbancke hatte hierin der Zeit eine Einräumung gemacht;
nach dem ursprünglichen Entwurf scheint den beiden Sprachen, in
denen die heiligen Schriften abgefaßt sind, eine bedeutendere Rolle
zugedacht gewesen zu sein. Unter den Zöglingen, die nur zum geringsten
Teil künftige Theologen waren, blieb jedoch die Nachfrage nach dem
Unterricht in diesen Sprachen gering, aufgenötigt wurde er nicht
Griechisch wurde in drei Stufen oder Klassen gelehrt, eine Grammatik
von J. Lange (seit 1705 oft gedruckt) und das neue Testament waren
fast die einzigen Unterrichtsbücher. Die von Feancke entworfene
Lehrordnung giebt eine ausführliche Anweisung für den griechischen
Unterricht, die als Probe der Hallischen Didaktik mitgeteilt werden mag.
„Sobald sie lesen können, fanget man an das Testament selbst
deutsch zu exponieren, saget ihnen einen Vers von Wort zu Wort lang-
sam vor und lasset denselbigen von einem jeglichen nachexponiren;
alsdann gehet man weiter und wiederholet fleißig die darinnen vor-
kommenden vocabula, schreibet ihnen auch wohl täglich etliche an die
Tafel, die sie abschreiben und des folgenden Tages recitiren müssen.
Die Mittwochs- und Sonnabendsstunden werden zur Erlernung der
paradigmatum aus der grammatica angewendet, da man ihnen eins
nach dem andern an die Tafel anschreibet und dann langsam vorsaget,
bis sie e^ recht gefasset haben. Bei dem verbo TunroD zeiget man die
formationem temporum gleichfalls an der Tafel und saget ihnen hernach
ein tempm langsam nach dem andern vor. Damit aber alsbald die
praxis möge dazu kommen, fanget man auch zugleich an zu analysiren:
doch lieset man nur diejenigen Wörter aus, welche nach dem, was sie
gelernet, müssen formiret werden. Z. E. wann sie erstlich nur die
artiados gelemet, suchet mau in dem, was sie im neuen Testament ge-
lesen, alle articuhs auf und fraget sie darvon. Hernach, wenn sie die
nomina primae declinationis gelernet, suchet man alle nomina primae
declinationis in dem, was abgehandelt worden, auf, und lasset solche
dekliniren. Auf diese Weise wird auch in den übrigen verfahren.
Wann sie die paradigmata wohl gefasset und die ersten sieben cajrita
im Mattheo fertig expliciren können, werden sie in die andere Klasse
translociret"
Die zweite Abteilung nimmt das neue Testament bis zu Ende durch.
Sie übersetzt aber ins Lateinische und zwar zunächst Wort für Wort,
nach Anleitung einer für den Unterricht bestimmten Chrestomathie
des Leusdeniüs, in welcher 898 Verse, mit lateinischer Übersetzung, zu-
sammeiicrest^llt sind, die alle im neuen Testament vorkommenden Wörter
enthalten, dann freier mit Beachtung der Latinitat, wozu die Über-
Dtis Pädagogium A. H, Franckes zu Haus, 557
Setzung Castauos Anleitung giebt Ein Schüler übersetzt vor, nach
der späteren Lehrordnung ein Lehrer, damit es schneller gehe; jeder
schreibt in seinem Text, der ohne Version sein muß, über, was er
nicht weiß. Zu Anfang und zu Ende jeder Stunde wird eine Viertel-
stunde repetiert, in folgender Weise: der Lehrer liest aus der deutschen
Übersetzung irgend ein Kapitel vor und läßt die Schüler im griechi-
schen Text nachlesen, fragt aber bei jedem Vers den einen nach dem
andern, wie dies oder jenes Wort gegeben sei, damit er sie alle in der
attention erhalte. Auf solche Weise kann das neue Testament im Jahr
viermal durchgebracht werden, einmal in der Explikation und dreimal
in der Eepetition. Nebenher geht in zwei Stunden wöchentlich die
Repetition und Ergänzung der Grammatik. Die verda contractu und
in fjLi werden gelernt, die übrigen anomala durch fleißiges Aufschlagen
und Lesen. Zur Übung in der grammatischen Analysis wird eine
Sammlung von Sprüchen (J. Girberti Syntagma dictorum scripturae 400y
cum definitionibus tlieologicis) benutzt und allmählich auswendig gelernt
Hat ein Enabe das Neue Testament wohl gefasset, so wird er in
die erste Abteilung versetzt. Hier werden andere autores gelesen, Maca-
riusy Bibliotheca patrum Ittigii, libri apociyphiy Faeanii Metapkrasis
Jiutropiij Upictetus, Demosthenis orationes, Plutarchus de puerorum in-
stitutione, Pythagorae carmina etc, Ebameb bemerkt jedoch, daß in
den noch vorhandenen Klassenjournalen diese Schrifsteller sehr selten
vorkommen. Das neue Testament ist thatsächlich die fast ausschließliche
Lektüre. Die Lehrart bleibt dieselbe. Auch der grammatische Unter-
richt wird in derselben Weise fortgesetzt, sowie das Memorieren. Und
nach wie vor wird jede Stunde mit der repetitorischen Lektüre eines
Kapitels aus dem neuen Testament angefangen und geschlossen.
Wöchentlich wird eine Version aus dem Lateinischen ins Griechische
aufgegeben, in der Eegel ein von dem Lehrer aus einem griechischen
Autor übersetztes Stück. Bei der Zurückgabe wird das griechische
Original vorgelegt, damit die Schüler die Idiotismos graecos et laänos
und auch den Unterschied des Stjls und der Dialekte daran erkennen
lernen. Von der griechischen Poesie machet man ihnen gleichfalls so
viel bekannt, als nötig ist Fbeyebs fasciculus poem. Graec. gab später
hierzu Gelegenheit
Man sieht, die Hallische Didaktik zeigt die Züge der Reform-
pädagogen; die Methode der Spracherlernung ist von den Vorschlägen
des Katichius nicht weit entfernt Fbancke war Schüler des Gothaer
Gymnasiums gewesen (1673 — 1679), welches schon unter dem Rektor
A. Keyheb während der Regierung des Herzogs Ernst die neue Lehr-
art angenommen hatte und wegen der methodus instituendi in großem
558 lU, 5. Die Modernisierung der Gelehrtensehülen u. s. w.
Ruf stand (Schulze, Gesch. d. Goth. Gymn., 119ff.). Durch die Halli-
schen Lehrbücher und die an dem Waisenhausseminar gebildeten
Präzeptoren haben die didaktischen Neuerungen der Reformer die
wirksamste Verbreitung gefunden.
Die französische Sprache gewann an Bedeutung, was die grie-
chische verlor. Für die Leseübungen wurden auch hier, neben einigen
anderen Sachen, das Neue Testament und französische Zeitungen ge-
gebraucht Neben dem regelmäßigen Unterricht durch deutsche Lehrer
finden Sprechübungen unter Leitung eines französischen mcdtre statt:
er lieset mit lauter Stimme etwas vor und parlieret auch mit ihnen
von allerhand nützlichen Sachen.
Die Sprachen nehmen weitaus den größten Raum im Unterricht
des Pädagogiums ein; den sogenannten Realien oder discipiinis Ute-
rariisy wie sie in Fretebs Ijehrordnung heißen, ist bloß eine tagliche
Nachmittagsstunde zugeteilt Voran stehen Geographie und Ge-
schichte; in beiden wird vorzugsweise Palästina und Deutschland be-
rücksichtigt In der Geographie werden Uübnebs Lehrmittel, die
Fragen und Karten, gebraucht; für die Geschichte empfiehlt F&ancke
die Idea historiae universalis des J. Büno, Rektors in Lüneburg, welche
nach der Weise des Comenius die Einprägung des geschichtlichen
Materials durch mnemotechnische Bilder, freilich zum Teil von selt-
samer Art, der Jugend zu erleichtern sucht
Der mathematische Unterricht beginnt mit Rechnen und geo-
metrischer Anschauungslehre. Für Geometrie, Trigonometrie und etwa
auch Algebra werden Che. Wolfs Grundrisse gebraucht „Die Schüler
werden auch zum öfteren auf den hierzu im horto botanico aptirten
Platz geführet und zur Ausmessung mancherlei lünge. Breite, Höhe,
körperlichen Raumes und Dichte angewiesen." Auch kann nach Ge-
legenheit zu anderen Stücken aus der mathesi applicata^ als der Bau-
kunst, Mechanik, Gnomonik etc. geschritten werden. — Eine wesent-
liche Absicht beim mathematischen Unterricht ist die Schärfnng des
Verstandes, wozu dieselbe tauglicher, als wenn man die Jugend mit
vielen unnützen Dingen aus der Logik plaget: sie lernen dort eins
aus dem andern vernünftig schließen und eine Wahrheit aus der andern
herleiten.
Endlich wird stilus Germanicus exkoliert, indem nach An-
leitung oratorischer Vorschriften Reden, Briefe und Gedichte gemacht
werden.
Unter dem Titel Rekreationsübungen sind zur Befiriedigung einer
unschuldigen Kuriosität angeordnet: Besuche bei Handwerkern und
Künstlern, Unterricht von Thieren, Kräutern, Bäumen, Metallen,
Das Pädagogium Ä. H. Franckes zu Halle. 559
Steinen und anderen Mineralien, Erde, Wasser, Luft, Feuer und
mancherlei meteoris, von den Hauptstücken der Haushaltungskunst, als
Acker-, Garten- und Weinbau, Bierbrauen u. s. f., von der materia
medica^ von der Experimentalphysik und Astronomie, von der Botanik
und Anatomie, überall soweit möglich mit Demonstrationen. So wird
unter dem Titel Anatomie auch das Tranchieren geübt, zuerst am
Phantom, danach auch an wirklichen Speisen, jedoch also, daß daraus
keine Gasterei entstehe und insonderheit kein Wein dabei gebraucht
werde. Auch das Serviettenbrechen und Apfelschälen wird nicht über-
gangen. Zur Erwerbung mechanischer Fertigkeiten bietet das Drechseln,
die Pappfabrik, das Glasschleifen Gelegenheit; nicht minder wird Unter-
richt im Zeichnen und der Musik angeboten. — So wird, nach wieder-
holtem Ausdruck, dulce cum utili misciert
Als eine wichtige Neuerung wird noch hervorgehoben, daß man
das alte starre Elassensystem aufgegeben habe; statt dessen würden
für jedes einzelne Unterrichtsfach Abteilungen gebildet, denen die
Zöglinge nach den Fortschritten, die sie in dieser Disziplin gemacht
hätten, zugeteilt würden; eine Einrichtung, die im 18. Jahrhundert
viele Lobredner und Nachahmer gefunden hat Sie hängt offenbar
mit der Auftiahme der neuen Unterrichtsfächer, außerdem freilich auch
mit den besonderen Bedürftiissen eines Alumnats zusammen, das sehr
ungleich vorbereitete Zöglinge aufnahm. So lange Latein der einzige
Unterrichtsgegenstand war, war die Einteilung der Schüler in feste
Klassen nach dem Maß ihrer Kenntnis in dieser Sprache das Natür-
liche. Es schien aber nicht zweckmäßig, diese Einteilung beizubehalten,
nachdem so heterogene Fächer, wie Mathematik oder Französisch, hinzu-
gekommen waren: jemand der als guter Lateiner auf die Anstalt kam,
mochte hierin noch nicht die ersten Anfangsgründe kennen. Erst
nachdem im 19. Jahrhundert die detaillierteste Absteckung des Schul-
kursus von Staats wegen stattgefunden hatte, sodaß auf allen Schulen
des Staates der gleiche Stufengang innegehalten wurde, schien es
möglich und vorteilhaft zu der festeren Gliederung zurückzukehren.
Erwähnung verdient endlich die Einrichtung einer Selecta, das
heißt eines zusammenfassenden und abschließenden Jahreskursus, der
zur speziellen Vorbereitung auf das Universitätsstudium bestimmt war.
Vor allem wurde Vervollkommnung im lateinischen Stil, auch durch
ausgedehntere Lektüre lateinischer Autoren, erstrebt, außerdem aber
durch einleitende encyklopädische Vorträge über alle Fakultätswissen-
schaften das freiere Studium auf der Universität vorbereitet. In der
Philosophie wird im ersten Halbjahr die Geschichte der Philosophie,
die Logik und Physik, im andern die Ontologie, Metaphysik oder
560 III, 5. Die Modernisierung der GeUhrtensckulen u. s. w.
doctrina spirituum, und die Moral mit Naturrecht und Politik traktiert^
zumeist nach den Lehrbüchern des Jenaischen Professors Buddeus.
Ebenso wird allen ^ sie mögen einmal studieren , was sie wollen, ein
kurzer Unterricht in jure et medicina, und zwar durch einen geübten
studiosum erteilt Wichtiger ist natürlich die Theologie; der Unter-
richt der Selecta hat besonders die Aufgabe^ die Jugend mit den
Waflfen der Apologetik zu versehen gegen '„die verführerischen und
heutzutage sehr überhand nehmenden Lehrsatze der Ätheorumj Deis-
iaruTf/ij Naturalistarumj Fanaticorum, Indifferentistarum und anderer
dergleichen Freigeister, damit die Scholaren, welche meistenteils das
Studium juridicum oder medicum zu ergreifen pflegen, gegen die künftigen
Versuchungen, worin sie durch Lesung solcher Bücher oder auch in
der Konversation mit dergleichen Leuten auf Eeisen, an Höfen und bei
anderer Gelegenheit geraten können, in etwas gewappnet werden." —
Von großer Wichtigkeit für die Ausbreitung der pädagogischen
und didaktischen Ideen Feanckes war die regelmäßige Verwendung
von Studierenden zum Unterricht: gegen freien Tisch übernahmen
arme Theologen an den sämtlichen Schulen des Waisenhauses, be-
sonders auch an der Lateinschule, unter Aufsicht und Anleitung der
Inspektoren den Unterricht. Die Einrichtung hatte von Anfang an
zugleich den Zweck, die Studenten für einen etwaigen künftigen Schul-
dienst vorzubereiten. In dem Anhang zur Idea studiosi theologiae
heißt es darüber: „Der ganze sogenannte Ordinar-Tisch des Waisen-
hauses, jetzo bestehend aus 134 Studiosisy ist eigentlich das seminarium
praeceptorum für hiesige Anstalten; sie alle üben sich fleißig in den
Dingen, so zum Schulwesen gehören, damit man gleich Leute zur
Hand habe, die vakant werdenden Stellen der praeceptorum zu be-
setzen." Dazu kommen noch weit über 100 Expektanten, die an den
extraordinären Tischen gespeist werden. Alle werden vom Inspektor
der Lateinschule zur Information der Jugend präpariert, durch Gram-
matik, Lektüre und Imitation der beiden Sprachen. — Aus diesem
allgemeinen Seminar wird eine kleinere Zahl für das semin. seUctum
praeceptorum ausgewählt; sie erhalten zwei Jahre lang freien Tisch
und Information, dafür verpflichten sie sich, drei Jahre an den An-
stalten zu dienen; dann mögen sie auch auswärts gehen. Dies Seminar
erhielt 1715 ein eigenes Haus in Verbindung mit dem Seminaram
ministerii ecclesiastici. Die Mitglieder sollten in den ersten Jahren
vorzugsweise selbst Unterricht erhalten, indem sie neben dem theo-
logischen Studium die Schulwissenschaften, d. h. die alten Autoren,
den lateinischen Stil, Geschichte und Geographie, Litterarhistorie und
Antiquitäten trieben. Die letzten Jahre sollten hauptsachlich der
Das Pädagogium Franckes zu Halle, 561
praktischen Einführung in den Lehrerberuf gewidmet werden. Die
Leitung hatte zu Anfang Cbllarius, nach seinem Tode Feeyeb. Wie
es scheint, ist das früher erwähnte Collegium eleg, litter ahirae darin
aufgegangen (Kramers Leben Franckes, II, 11 ff., 111; Franckes pädag.
Schriften, S. 498 ff.). —
Die Franckesche Pädagogik entsprach ganz dem Verlangen der
Zeit; sie verband Frömmigkeit und Gemeinnützigkeit, sie erzog für den
Himmel, ohne die Erde und ihre Bedürfnisse, auch weltliche und
höfische, zu vernachlässigen; und das alles nach der Maxime des utili-
tarischen Eationalismus: auf kürzestem Wege größte Erfolge. Ferien
und freie Nachmittage gab es im Pädagogium nicht, jeder Streifen Zeit
wurde in Kultur genommen, um darauf Frömmigkeit und nützliche
Kenntnisse oder Fertigkeiten anzubauen; auf dem unkultivierten Boden
würde, so ist Franckes Meinung, doch nur Unkraut wachsen, von
welchem dann auch das bebaute Feld überwuchert werden möchte.
Spiel und Scherz, in welcher Gesalt immer, wurde dem Kreise der
Hallischen Anstalten gänglich fem gehalten; es sind Arbeitshäuser,
nicht Häuser der Muße, wie es auch ihr baulicher Charakter bestimmt
genug ausspricht Was sollten in diesen Häusern die Werke der
Griechen, die in der Muße und für die Muße geschaffen sind? Was
gehen die Fabeln ihrer Dichter, die Spekulationen ihrer Philosophen, die
Reden, mit welchen die Eedner das müßige Marktpublikum zu Athen
unterhielten, junge Leute an, welche zur tTbernahme weltlicher oder geist-
licher Bedienungen in Preußen, dem Preußen Friedrich Wilhelms L, im
1 S.Jahrhundert geschickt gemacht werden sollten? Offenbar gar nichts!^
^ Einen interessanten Einblick in die Zeit und die Gedanken und Em-
pfindungen, die sie bewegen, giebt ein kürzlich erschienenes Buch : Die Jugend
Zinzendorfs von G. v. Natzmkr (Eisenach 1894). Es enthält Briefe und Tage-
bücher des jungen Grafen aus der Zeit, da er das Franckesche Pädagogium
und die Universität Wittenberg besuchte (1710—1718). Wunderlich genug er-
scheint darin die Mischung von Kavalier und Pietisten. So notiert der 18jährige
z. B. zum 28. Februar 1718: „diese Woche habe ich die ganze Stunde von 6 — 7
wie des Abends von 8 — 9 und von ^/^ auf 10 zum Gebet zu destiniereu an-
gefangen. Auch will ich das ju^ civile mit Eifer treiben. — Examinatorium
bei Mencken. Um 10 focht ich. Um 11 traktierte ich die Pandekten. Um 12
speiste ich. Um 1 schlug ich die volants (Federball). Um 2 zeichnete ich.
Um 3 hörte ich die Reichshistorie. Um 4 tanzte ich. Um 5 war Bardin (der
Franzose) da. Um 6 traktierte ich das jus civile. Um 7 speiste ich, um 8 betete
ich, um 9 Uhr traktierte ich Hoppii exanien.'^ — Sehr deutlich tritt darin auch
hervor, wie sehr die ganze Bildung noch auf Eloquenz gerichtet ist: die car-
mina, orationeSj Briefe, die der junge Graf in deutscher, französisclier, latei-
nischer, griechischer Sprache schreibt, spielen, neben den Disputationen, eine
sehr wichtige Rolle.
Paulsen, Unterr. Zweito Aufl. 1. 36
5G2 ///, 5, Die Modernisierung der CreUhrtenschiüen u. s. u\
Am stärksten und unmittelbarsten erfuhren die brandenburgisch-
preußischen Länder den Einfluß Franckes. Schon unter der Re-
gierung Friedrichs I. war Francke in Berlin bei den einflußreichen
Männern persona grata; wie denn auch seine Frömmigkeit keineswegs
alle weltliche Klugheit ausschloß. Einige der bedeutendsten Schulen
kamen schon unter dieser Regierung unter die Leitung von Schülern
und Gesinnungsgenossen des Hallischen Pädagogen. Die auf dem
Friedrichswerder zu Berlin 1681 neugegründete Schule erhielt Joachim
Lange zum Rektor {1698 — 1709) uud wurde durch ihn zu Ansehen
gebracht (Mülleb, Gesch. des Fr. Werderschen Gymn., S. 17 ff".).
Die 1694 gegründete Friedrichsschule zu Frankfurt a. 0. wurde ?on
P. VoLCKMANN, der später (1707 — 1721) dem Joachimsthalschen
Gymnasium in Berlin als Rektor vorstand, das 1703 gestiftete CoUegium
Fridericianum zu Königsberg von H. Lysius ganz nach Hallischem
Muster eingerichtet und später von F. A. Schulz im Sinne F&anckbs
geleitet. Die übrigen reformierten Schulen des Landes wurden auf
diese als Musteranstalten verwiesen.^ Zu bedeutendem Ansehen gelangte
auch die Schule zu Kloster Berge bei Magdeburg, besonders unter dem
Abt Steinmetz {1732 — 1762). Sie hatte schon gegen Ende des 17. Jahr-
hunderts den Charakter einer Landesschule angenommen und war im
18. Jahrhundert eine der bedeutendsten Anstalten in den preußischen
Ländern (Holstein, Gesch. der Schule zu Kloster Berge, Neue Jahrb.
f. Phil. u. Päd. 1885, S. 86).
Deutlich läßt sich der Einfluß der neuen Zeit auch an dem Ber-
linischen Gymnasium im Grauen Kloster verfolgen. Schon unter dem
Rektor Heinzelmann (1652 — 1658) wird mathematischer und physika-
lischer Unterricht in Privatstunden erwähnt Sein Nachfolger führte
den Terentius Christianus an Stelle des heidnischen ein. Unter dem
Rektorat des Polyhistors Weber (1668 — 1698) umfaßte der Lehrplan
Geschichte nach eigenen Tabellen des Rektors, Mathematik nach
Weigels Pankosmos, Physik und Geographie. Der Rektor Bodenberg
(1708 — 1726), ein Schuler des Cellarius, ist mit anderen Berliner
Rektoren und Lehrern Verfasser der Märkischen Grammatiken und an-
derer Lehrbücher, welche an die Hallische Methode sich anlehnen und
bis gegen Ende des Jahrhunderts in Gebrauch blieben. Die lateinischen
Deklamationen wurden durch deutsche Reden, auch historischen und
patriotischen Inhalts ersetzt, nicht minder wird Französisch gelehrt
* Merleker, Annaleii des Friedrichsgymn., Königsberg 1864. Interessantes
Detail über die Kämpfe bei der Einführung des Pietismus in Königsberg bei
J. IIoRKEL, der Holzkämmerer T. Gebr und die Anfänge des Friedrichskolleg.,
Königsberg 1855.
Preußen: Lehrordnung von 17 IS. 563
Auf BoDENBEBG folgte, um das noch zu erwähnen, als Rektor des Grauen
Klosters Leonhard Frisch, der deutsche Sprachforscher, auf diesen,
nach kurzem Zwischenregiment, der bekannte Geograph Büsching (1766
bis 1793). Sein Nachfolger ist Fr. Gedike, der Verehrer Basedows;
von ihm wird später zu handeln sein (Heidemann, Gesch. des Grauen
Klosters, 156 flF.).
Seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. erlangte die
FRANCKEsche Richtung immer entschiedener die Herrschaft in den
preußischen Kirchen und Schulen. Der König schätzte Francke und
sein Werk; Nützlichkeit und Frömmigkeit hielt er wert, für theore-
tisches Wissen und den schönen Schein hatte er gar kein Verständnis.^
Er ist der eigentliche Begründer der Volksschule in Preußen; die
Waisenhauspädagogik hat ihr im Entstehen Ziel und Gestalt gegeben.
Auch der gelehrte Unterricht erhielt, soweit die Regierung ihn be-
stimmte, diesen Charakter.
Eine Verordnung vom 30. Sept. 1718 „wegen der studierenden
Jugend auf Schulen und Universitäten, wie auch der candidatorum
ministerü'' (bei Rönne, I, 61 flf.) enthält unter anderem folgende charak-
teristische Bestimmungen über das Ziel der Schul- und der Lehrer-
bildung; „Auf Schulen und Gymnasien sollen sonderlich diejenigen,
welche Theologiam zu studieren gedenken, einen guten Grund legen im
Catechismo, in Latinitate, in Dzsdplinis, in Historia ecclesiastica et civili,
und Geographia; das Novum Testamentum sollen sie in fontibus aJbsque
nUerprete lesen und vertiren, den codicem Hebraeum guten Teils durch-
gebracht haben, in der Teutschen Orthographie und Kalligraphie wohl-
geübet sein, auch in Teutscher Sprache einen verständlichen Vortrag
thun." — Es folgen Bestimmungen über Universitätsstudium und Amts-
prüfung der Kandidaten des Kirchen- und Schulamts: bei der Ankunft
auf der Universität (Landeskinder sollen allein kgl. preußische besuchen)
soll der Ankömmling, der übrigens von der Schule testimonia, vom
Beichtvater und sllen praeceptoribus unterschrieben, mitbringt, von denen
Decanis wohl examinieret und von denen Frofessoribus angewiesen
werden, wie er seine Collegia vorzunehmen habe; besonders an einen
^ Man sehe einen Erlaß an den Prof. Baümqahten in Halle, worin er ihn
wohlmeinend erinnert, ,,daß Ihr sowohl vor Euer Gewissen wohl thun, als auch
Euch hei mir rekommandieren werdet, wenn Ihr von allen dergleichen unver-
ständlichen philosophischen Fratzen, so weder bessern noch erbauen, unschul-
digen und einfältigen Gemütern aber nur Gelegenheit zu Irrwegen geben, hin-
führo abstrahieret, dagegen bei dem Reellen in der Theologie bleibet und solche
auf gleiche Art, als sie von den seL Breithaupt und Francken dozieret worden,
lehret'' (Sch&adeb, II, 463).
36*
5fi4 ///, .7. 2>'V M^jd^nijfiemng der GiUhriensehuUn m. «. ir.
dersell>en soll er dch näher aDschließen, demselben seine Umstände
offenbaren and von ihm Bat annehmen. Beim Abgang kann er ein
Ujtthnanium vitae et studiarum fordern. Wenn der ttudiosug dann zn
Hanse anlanget oder sich anderswohin zor informatUm begiebt, so soll
er sich bei dem praeposito des synodi melden, welcher mit seinen
Kollegen ihn examiniert und ihm darüber ein testimonium erteilt.
Damit Ist ücentia condonandi und zugleich docendi gegeben.
Vor einer eventuellen Anstellung als Prediger oder Lehrer ist dann
aber noch das eigentliche Amtsexamen zn bestehen. Den Patronen
wird zur Pflicht gemacht, vor Verleihung der Stelle den Kandidaten
dem Konsistorio oder dem Generalsuperintendenten zu einem Tentamen
zu sistieren. „In diesem Tentamen sollen die examinatores ein jeder
priratüfsime den candidatum nach seinem inwendigen Zustande prüfen:
Ob er in der Buße und lebendigem Glauben stehe? Was er hierin vor
Kennzeichen von sich geben könne? Wie er sein Leben von Jugend
auf geführet? Wie er zu Gott bekehret worden? Welche spedmina
providentiae dimnae er an sich erfahren? Wie er zu dem Amt komme?
Ob bei ihm oder dem patrono unlautere Absichten unterlaufen? Wie
er das Amt im Predigen, Katechisieren und übrigen Verrichtungen zu
führen gedenke? Welche Bücher er gelesen und zu eigen habe? Ob
er einige Mängel in Kirchen- und Schulsachen angemerket und Mittel
zur Verbesserung wisse? Da denn auch zu attendieren, wie es um die
shidia und übrige Amtstüchtigkeit stehe?" Hierauf folgt ein öffent-
liches Examen vor der Ordination, entweder im Konsistorium oder in
der Sakristei, in Gegenwart aller Examinatoren und womöglich auch
eines membri politici des Konsistoriums. Es berührt theologiam theti-
cam et poiemicamj exegeticam , moralem, casuisticam, pastoralem oder
historiam erdesiasticam. Durch dieses Examen wird erkundet, ob der
Kandidat die vornehmsten Artikul der christlichen Ijchre, sonderlich
au(;ii von denen praktischen matedis die thesin recht inne habe, ana-
Im/imn fiddy auch oeconomiam und ordinem salutis wohl verstehe, des-
gleichen den Unterschied des Gesetzes und Evangelii. Cnndidatus muß
seine thesin durch die Hauptsprache des Grundtextes beweisen, den in
(i<T Hau|)tsprache liegenden Nachdruck eruieren, einen vorgegebenen
Text ex tempore analysieren, disponieren, notdürftig erklären und die
usus herausziehen können.
Dius theologische Examen ist zugleich Lehramtsprüfung. Eüne
Probelektion in der zu übernehmenden Schulstelle vervollständigte oder
vertrat wohl auch jenes Examen. Die Schulmeister werden auch durch-
aus als Kandidaten des Pfarramts angesehen. Es wird von ihnen
erwartet, daß sie den Pfarrern mit Predigen und Katechisieren zur
Preußen: Lehrordnung von 1735. 565
Hand gehen. Auch sollen die Propst« ihnen theologische Vorlesungen
halten, „wöchentlich einmal ein collegium publicum^ dazu sich die studiosi
vom Lande dann und wann mit einfinden«'.
Über das Schulziel giebt noch etwas genauere Bestimmungen
eine Verordnung vom 25. Okt. 1735 für Preußen (Aenoldt, Gesch. d.
KOnigsb. Universität, I, Beil. 54). Ihr Verfasser ist F. A. »Schulze. Um
zu verhüten, daß nicht unfähige und unwürdige Subjekte den Genuß
der Benefizien würdigen und begabten vorwegnehmen, wird festgesetzt:
niemand soll in die erste Klasse der großen Lateinschule gelassen werden,
„der nicht einen leichten autorein classicum^ als den Comelium JVepotem,
wo man ihm demselben aufschlägt, fertig exponiere und selten einen
Fehler wider die Grammatik begehe; keiner in primam Graecam, der
nicht im Griechischen zum mindesten die dedinationes und das verbum
reguläre innehat und dabei die ersten zehn Kapitel im neuen Testament
ohne Version exponieren und ziemlich analysieren kann. Insbesondere
muß niemand ad Academica dimittiert werden, der nicht einen etwas
schweren autorem, als Curtium und orationes Ciceronü selectas ziemlich
geläufig exponieren und eine kleine Oration absque vitiis grammaticis
machen, auch was Latein geredet wird, notdürftig verstehen könne,
dabei aus der Logik das vornehmste aus der doctrina syllogistica und
das allernotwendigste aus der Geographie, Historie und Epistolographie
innehabe, imgleichen der nicht mindestens zwei Evangelisten im Grie-
chischen, als Matthäum und Johannem und die 30 ersten Kapitel des
ersten Buches Mosis im Hebräischen fertig exponieren und beides ziem-
lich analysieren könne." Auch die Juristen und Mediziner sollen sich
der Erlernung des Hebräischen nicht entziehen, denn es sei besser etwas
an sich nicht schädliches mit zu lernen, als die Zeit mit Müssiggang
oder gar mit Mutwillen hinzubringen.
Durch eine Aufnahmeprüfung beim Zugang zur Universität soll die
Innehaltung dieser Vorschriften gesichert werden. Die sich als Theo-
logen inskribieren lassen wollen, werden von der theologischen Fakultät,
die übrigen, d. h. Juristen und Mediziner, von dem Dekan der philo-
sophischen Fakultät geprüft Es wird ausdrücklich festgesetzt, daß
jedermann bei einer der drei oberen Fakultäten sich alsbald einschreiben
lassen soll; weder der Einwand, daß man noch nicht entschieden sei,
noch der, daß man sich allein auf die Philosophie oder einen Teil der-
selben legen wolle, darf hiervon eine Ausnahme begründen.
In dem Staat Friedrich Wilhelms I. werden studiosi artium übe-
ralium nicht gebraucht. —
Die eigentliche Heimat der pädagogischen Keformbestrebungeu
waren seit dem Anfang des 1 7. Jahrhunderts die kleinen mitteldeutsche!
566 ///, 5, Die Modernisierung der OelehrtenschiUen u, 8. w.
Territorien, besonders die thüringischen Herzogtümer. Hier hatten
Ratichius und seine Anhänger Eingang gefanden; hier zuerst hatte
fürstliche Fürsorge dem allgemeinen Unterricht sich zugewendet; Emsts
des Frommen Schulmethodus führte selbst in die Dorfschulen den Unter-
richt in den nützlichen, natürlichen und politischen Dingen ein. Auf
dem Gothaischen Gymnasium hatte Fbanoke als Schüler (1673 — 1679)
die neue Lehrart kennen gelernt. Was als allgemeiner Grundsatz bei
der Absteckung des Unterrichtsplanes für die Gothaer Schule angeführt
wird : ^^daß zwar nächst dem exercitio pietatU das fundamentum studiomm
die lateinische Sprache sei, daß aber außer dieser die griechische und
hebräische und, zur Erweckung und Schärfung des Nachdenkens, sowie
zur Vorbereitung auf den akademischen Unterricht, die Geschichte,
Mathematik, Philosophie, besonders Logik und Rhetorik, femer die
Grundsätze der Poesie, Beredsamkeit und Musik vorgetragen werden
müßten^': das kann auch als Norm der Hallischen Einrichtungen gelten.
Auch die Hallische clcmsis selecta hatte ihr Vorbild in Gotha, nicht
minder war das starre Klassensystem auch hier schon durchbrochen.
Im Jahre 1694 trat Vockebodt, der erste pietistische Rektor in
Gotha, das Amt an. 1718 wurde ein Franzose angenommen, in zwei
Stunden wöchentlich seine Sprache zu lehren (Schulze, Gesch. des
Goth. Gymn., 131 fiF.).
Eine höhere Bildungsanstalt mit ganz modernem Charakter wurde
im Jahre 1664 von Herzog August von Sachsen-Weißenfels, demselben,
der als Administrator des Erzstifts Magdeburg die schon erwähnte, von
Grundsätzen des Comenius erfüllte Schulordnung vom Jahre 1658 ge-
geben hatte, in seiner Residenz Weißenfels begründet Die Bestim-
mung der Anstalt war, dem kleinen Ländchen als akademisches Gymnasium
die Universität, wenigstens zu einem Teil, zu ersetzen. Außer den
Sprachen und der Philosophie standen Mathematik und Physik, Ge-
schichte und Politik, sowie die Elemente der Fakultätswissenschaften
auf dem Programm der Schule (Rosalsky im Progr. 1873). Unter
den ersten Lehrern finden sich Chr. Cellariüs und Chb. Weise. Jener
hat, ehe er in Halle den Ort seiner Bestimmung fand, noch den Schulen
zu Weimar, Zeitz und Mei^seburg vorgestanden. Weise, der bekannte
deutsche Poet und Dramatiker, sowie Verfasser von allerlei Lehrbüchern
der Politesse, hat später (1678— 1 708) als Rektor des Zittauer Gymnasiums
auf die Modernisierung der lausitzischen und sächsischen Schulen nicht
unerheblichen Einfluß gehabt (vgl. Gelbke, Zittauer Progr. 1881).
Statt mehr oder minder unerhebliche Notizen über die Erlebnisse
anderer thüringischer Schulen in diesem Zeitalter zusammenzustellen,
will ich hier eines der leidenschaltlichslen Wortführer der Reform-
ThüringiscJie Staaten. E. Weigel. 567
Pädagogik erwähnen, der in langer Lehrthäügkeit an der Universität
Jena manche wirksame Anregungen gegeben hat: Ebhabd Weigel
(1625—1699, seit 1654 Prof. der Mathematik in Jena).i Weigel
spricht mit der herbsten Verachtung von dem Bestehenden: die Mathe-
matik und Sachwissenschaften würden gänzlich vernachlässigt und „das
zarte Lehrfeld mit lauter (lateinischen) Wörterpflauzen und Sprachsamen
besteckt und bestreuet, zwischen welcher Wörtersaat dann sehr viele
Streit- und Zankdisteln mit aufwachsen"; denn aus dem Wortwissen
kommt der Hochmut und Zank, aus dem Sachwissen Bereitwilligkeit
und Friede. Femer sind die alten Sprachen und Schriftsteller ein
Hemmnis der Gottesfurcht: „sie bringen meistens abscheuliche Welt-
händel, Fabeln und Figmente, und darunter grausam garstige und
verführerische Vorstellungen, ja Lehren und Anreizungen zur Geilheit,
zum Betrug, zur Falschheit und allen Lastern vor. Man findet in
ihnen zwar den und jenen feinen Spruch, aber keinen, der nicht auch
aus der Natur oder der täglichen Erfahrung bekannt sein sollte. Und
daneben sind soviel abscheuliche Schandpossen und Narrendeutungen,
grobe Zoten, ärgerliche Thaten, alberne Fabeln, grausame Dichtungen
von so und so vielen und vielerlei Göttern und Göttinnen, unmensch-
hche Vermischungen mit dem Vieh in ihnen erzählet." — Freilich
Latein muß gelernt werden. Aber auf andere Weise als jetzt geschieht;
Weigel giebt dazu Anleitung. „Die Grammatik ist nicht für Kinder,
die Sprachregeln sind ihnen zuwider. Den Kindern die Sprache durch
Regeln lehren wollen ist ebenso, als ob ein Fuhrmann seinen an-
ziehenden Pferden durch Einhemmen helfen wollte.** Aus lateinisch
geschriebener Grammatik die fremde Sprache lehren sei gleich, „als
wenn man Vögel fangen und dieselben Vögel zu Lockvögeln ihrer selbst
gebrauchen wollte". Man muß Wörter, Formen und Redensarten aus-
wendig lernen lassen und dann viel Übung im Reden geben: wird
falsch gesprochen, es schadet nicht, die Kinder lernen auch eher gehen
als tanzen. Das Memorieren wird erleichtert durch Chorsprechen „auf
des Lehrers Vorrufen mit Nachrufen gesungen, wobei die Kinder auf
einer Schaukel oder Schulpferdchen sitzen oder mit dem Ball spielen,
damit das verdrießliche Memorieren durch eine Nebenlust versüßt
werde". Ein Basedowianer vor Basedow!
Derselbe Prozeß der Modernisierung im Sinne der Nützlichkeit für
die irdische und himmlische Wohlfahrt läßt sich auch an den sächsi-
schen Schulen nachweisen. Im Jahre 1676 trat Jacob Thomasius,
* E. SriEss, E. Weigel, Leipzig 1881. Über s. pädagogischen Bestrebungen
handelt A. Israel im Jahresbericht des Seminars zu Zschopau 1884, sowie ein
Artikel von Bartholomai in den Jahrb. für Philol. u. Päd., Bd. XCVIII, 400 ff.
508 ///, o. Die Modernisierung der Geleitrtensehulen u, 8. w.
der schon lange neben seiner Universitätsprofessor eine Lehrerstelie an
der Thomasschnle in Leipzig rerwaltete, das Rektorat dieser Schule
an. Alsbald legte er dem Rat einen Reformplan vor, in dem folgende
Punkte vorkommen: „ob nicht in prima classe des Dienstags statt des
Isocratis das griechische N. T. einzufuhren , weil hiervon sowohl bei
einem jeden im Christentum, als auch bei denen insonderheit«, so sich
künftig in studio academico auf theologiam legen möchten, größerer
Nutzen zu erwarten: ob nicht, weil der Rat angeordnet, öfters cu-tus
oratorios abzuhalten, statt der officiorum Ciceronis dessen orationes oder
Mureti, Afajora(/ii und dergleichen orationes einzufuhren; ob nicht eben
zu solchem Ende, damit auch secunda classis ad Studium eloquentiae
allmählich angeleitet, selbige ad elaborationes progymnasmatum zu
unterweisen, und zu diesem Ziel Aphthonius zu erklären, welches dann
füglich in der Zeit, wo zeither Epistolae Ciceronis erklart worden, ge-
schehen könnte; ob nicht, falls es bei den Epistolis bleiben sollte, die
des Ciceronis mit denen Afanutianis zu verwechseln ; ob nicht bei denen
Frimanis ratsam, daß loco Äurei Carminis Pythagorae, weil zu anderer
Zeit bereits ein carmen Graecum, nämlich Fosselii Evangelia erklart
werde, ein historicus Latinus, z. E. Justinus, zu introduzieren sei; ob
nicht poesis Latina mit denen Primanis auch vom Rectore zu üben
und zu solchem Ende Buchanani Psalterium oder ein anderes christ-
liches Po'ema vorzunehmen; ob nicht bei denen Seeundanis die Zeit,
welche zu Terentii Comoediis bestimmet, vieler Ursachen wegen Schoenaei
Terentius Christianus einzuführen; ob nicht für Tertia die colloquia
Corderi zu gebrauchen?" (Stallbaum, 42flf.). Man sieht, es sind ganz
die Gesichtspunkte der Hallischen Pädagogik, aus denen auch diese
Vorschläge schon geflossen sind. Sie hatten übrigens auch den Beifall
der Orthodoxie. STAiiLBAUM führt aus Caepzows Leichenpredigt auf
Thomasiüs folgendes Lob an: ,,Bei ihm traf das Sprichwort nicht ein:
je gelehrter, desto verkehrter; sondern je gelehrter er war, jemehr er-
wies er seine Gottseligkeit, und stunken ihm der heidnischen Autoren
Schriften, die er früherhin durchstankert hatte, einige Jahre her gleich-
sam an." Auch der Leipziger Rat fand diese Vorschläge sehr zweck-
mäßig. Die neuen Lehrbücher wurden eingeführt und J. M. Gbsnsb
fand sie noch im Gebrauch, als er 1730 das Rektorat der Thomas-
schule übernahm. Inzwischen war, unter dem nächsten Nachfolger des
Thomasiüs, J. H. Ernesti (1684—1729), der auch ebenso wie jener
prof\ poiis. an der Universität war, eine neue Schulordnung eingeführt
(1723), welche Übungen in der deutschen Oratorie und Unterricht in
Geschichte und Geographie einschloß; ein Lehrer der Mathematik wurde
(»rst 1781, zur Zeit von Gesnkrs Rektorat, angestellt. — An der
Sachsen, Lavsitx, 569
Nikolaischule wurde 1716 ein neuer Lehrplan eingeführt, der als neue
Unterrichtsgegenstände bietet: je 1 Stunde Geographie und Deutsch für
IV und in, und 2 Stunden Geschichte (nach Cellarius) für II und I.
Arithmetik 1 Stunde durch alle Klassen, fakultativ (Progr. 1893).
Eines bedeutenden Rufes erfreute sich seit ihrer Gründung und
Errichtung durch P. Vincentius die Schule zu Görlitz. Ihre Mpder-
nisierung begann unter dem Rektor Chb. Funcke (1666 — 1695), einem
Mitglied der fruchtbringenden Gesellschaft; gegen Ende seines Lebens
kam er auch in das Geschrei des Pietismus. Ein neuer von ihm ent^
worfener Lehrplan vom Jahre 1666 umfaßt, außer den alten Sprachen
und der Logik und Metaphysik, auch philosophia civilis et naturalis,
Astronomie, Geo^aphie und Geschichte. Sein Nachfolger GroSvSer
führte das Amt in gleichem Sinn (Knauth, Gesch. des Görlitzer Gym-
nasiums, 1765).
Die Vollendung der Neugestaltung, freilich schon mit Anklängen
an die Ideen, welche die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bewegen,
ist das Werk Chr. Baumeisters (1736 — 1785), eines der berühmtesten
Rektoren seiner Zeit; er ist ein Nachkomme Melanchthons, ein Schüler
des Gothaer Gymnasiums und der Jenaer Universität. In einem Pro-
gramm vom Jahre 1747 giebt er eine Anzeige von der vorteilhaften
Einrichtung des Görlitzer Gymnasiums, aus welcher ich die wichtigsten
Punkte mitteile. Unter den Sprachen wird zuerst die deutsche genannt:
es sei ein schändliches Vorurteil, daß sie nicht unter die gelehrten
Sprachen gehöre. Man treibe sie nach Gottscheds Regeln der deut-
schen Beredsamkeit; künftig wolle man auch drei- bis vierwöchentliche
Privatlektionen auf das Lesen von Schriftstellern, die rein Deutsch ge-
schrieben hätten, wenden: „Warum sollten wir nicht ebenso wohl in
unserer Muttersprache als in der römischen autores classicos aufweisen
können?" Latein behält seine Stelle, und auch die alten Autoren: als
Muster der historischen Schreibart werden Cornelius, Cäsar, Sallustius,
Justinus, in der brieflichen Cicero und Plinius, in der oratorischen
Cicero und Muretus, in der poetischen Virgil, Claudian, Ovid gebraucht.
„Bei der Erklärung sehen wir nicht allein auf die eigentliche und
natürliche Bedeutung der Wörter, auf die Feinheit des Latein, sondern
wir suchen auch die Begriffe und Ordnung der Gedanken nach den
Regeln der Vernunftlehre zu zergliedern und folglich die Urteilskraft
und den Verstand der Zuhörer zu schärfen." Unter besonderen Hand-
griffen, von denen man gute Wirkung verspüre, wird auch der genannt:
„man läßt den Schüler auf den Lehrstuhl treten; man legt ihm eine
Stelle aus dem C'icero oder Plinius oder einem anderen nicht zu schweren
Skribenten vur. Diese muß er seinen Mitschülern unter Aufsicht des
570 ///, 5, Die Modernisierung der OelehrtenschtUen u. s. w.
Lehrers erklaren. Er muß seine Anmerkungen über Wortfügung und
Redensarten machen. Er muß seinen Lehrlingen die Schönheiten zeigen,
die in dieser oder jener Periode vorkommen". Der Nutzen dieser
Übungen sei ein augenscheinlicher. — Griechisch wird aus der Halli-
schen Grammatik und dem N. T. gelernt, auch Plutarchs Schrift über
Erziehung gelesen; denen, die weiter gehen wollen, werde in Privat-
stunden Gegners Chrestomathie vorgelegt Französisch hoffe man bald
auch in den öffentlichen Lehrstunden zu treiben. Geschichte, Geographie
und Antiquitäten lehrt der Rektor in zwei Stunden wöchentlich; in der
Geschichte wird die neueste besonders berücksichtigt; sie wird erst in
deutscher, dann in lateinischer Sprache vorgetragen und von den Schülern
lateinisch nacherzählt In der Philosophie wird Lbgik, Naturrecht,
mit Exempeln aus der neuesten Geschichte, und natürliche Theologie
gelehrt. Baumeister ist Woltianer, er hat mehrere philosophische
Kompendien verfaßt, die auch bei Universitatsvorlesungen als Leitfaden
benutzt wurden, u. a. auch von Kant. Mathematik wird nach Wolfs
Lehrbuchern gelehrt Die Abiturienten nimmt der Rektor wöchent-
lich zweimal zu zwanglosen Besprechungen auf seine Stube, wo einer
eine Frage, einen Satz vorlegt, über welchen man sich in lateinischer
Sprache unterhält. — Ein Schüler Baumeisters ist der spätere Hallische
Professor Klotz. Er war 1756 der Tyrannei des Meißener Schulklosters
entflohen und hatte sich nach Görlitz gewendet Er blieb Baumeister
mit dankbarer Verehrung zugethan: bei ihm habe er die griechischen
Dichter, besonders Homer, kennen und lieben gelernt (Manoeüsdobf,
Fita et memoria Klotzii, 39).
Den Lesern der ßAUMEHSchen Geschichte der Pädagogik ist Bac-
MEisTEK durch folgende Stelle aus dem oben benutzten Progranun be-
kannt: „Wir unterscheiden adelige und vornehmer Leute Kinder von
andern, so niedriger Geburt sind, auch dadurch, daß wir ihnen teils
einen nähern, liebreichern und vertrautern Umgang mit den Lehrern
unter Bezeigung aller anständigen Höflichkeit gestatten, teils auch daß
sie von gewissen Verrichtungen ausgenommen sind, denen sich andere
unterziehen müssen." Die Stelle ist allerdings charakteristisch, wenn
auch vielleicht nicht für den persönlichen Servilismus Baumeisters,
welchen Kaumeb brandmarkt, so doch für die soziale Ordnung des
Jahrhunderts, und durch die naive Aufrichtigkeit, mit welcher die hen-
schende Gesellschaftsordnung anerkannt wird. Raumes hätte übrigens
nicht die unmittelbar vorhergehenden und nachfolgenden Worte weg-
liLssen sollen. Der Passus wird eingeleitet durch die Worte: „Ohner-
aclitet ein jeder, der in unser Gymnasium aufgenommen werden will,
sich die Ordnung und Einrichtung, in welcher wir stehen, gefallen
Sachsen: die FüratensctiuUn, 571
lassen mnß, so setzen wir doch niemals bei dem Bezeigen gegen die
uns Untergebenen diejenigen Vorzüge außer Augen, so einigen die Ge-
burt oder der Stand der Eltern geziemet/' Und es schließt sich un-
mittelbar an die Bezeichnung der Funktionen, von denen Adelige aus-
genommen sind: ,,z. £. die Leichenbegleitungen. Doch wollen wir diese
Freiheit nicht bis aufs Degentragen gedeutet wissen'^, obwohl es von
den Eltern häufig gewünscht werde.
Auch durch die Elostermauem der Fürstenschulen drang der Ein-
fluß der Zeit. Ich begnüge mich die Modernisierung an der Meißener
Schule, über welche wir durch Flathes treflFliche Darstellung unter-
richtet sind, nachzuweisen. Schon 1684 wurde ein Schülerverein unter
den Afranem, welcher unter dem Namen des deutschen Pflanzordens
die deutsche Sprache und Reimkunst zu exkolieren sich vorgeset-zt hatte,
untersagt, weil dabei allerlei Mißbrauche und Versäumnis der ordent-
lichen Studien vorgefallen; doch mit dem Bemerken, daß man die Ver-
suche in deutscher Poesie an sich nicht mißbilUge, wer dazu Lust und
Zeit habe, möge es thun, solle aber die carmina einem Lehrer zur
Durchsehung und Verbesserung vorweisen. Im Jahre 1 700 wurde auf
Erinnerung der Visitatoren der Unterricht in der Universalgeschichte
nach BüNOS Idea und in der Geographie nach Hübneb oder Cellabius
eingeführt, nach welchem sich auch bei der Jugend großes Verlangen
zeigte. 1721 wurde ein besonderer Lehrer für Geometrie angenommen,
trotz einigen Widerstrebens des Kollegiums, das es bei den bisherigen
Lektionen in Arithmetik und Sphärik bewenden lassen wollte und von
der Einführung der Mathematik eine Versäumung der humaniora be-
sorgte. Kurz vorher, 1718, war auch ein Franzose als Sprachmeister
angenommen worden, mit dem man übrigens trübe Erfahrungen machte,
indem er noch zu weiteren Galanterien anleitete; ebenso wurde ein
Tanz- und Fechtmeister angenommen. 1726 erhielt die Schule in dem
Rektor Martius einen der modernen Bildung ganz geneigten Vor-
steher; in einem beim Amtsantritt abgefaßten Gutachten spricht er
unter anderem Zweifel aus, wie weit das Griechische heutzutage zu
poussieren, besonders, ob man nicht die elaborationes in prosa et ligata
fallen lassen und sich auf das Lesenlemen beschränken solle, welche
Ansicht von den adeligen Schulinspektoren geteilt wird. Die letzteren
sind überhaupt für Beschränkung der Poesie und darum auch für Er-
setzung der poetischen Lektüre durch Prosaiker, da nur der kleinste
Teil der ingenia ad poesin inkliniere. Der Konrektor Sillio dagegen
will allerdings einen griechischen Dichter lesen, aber statt des „weit-
leuftigen^' vormals eingeführten Homer einen feinen Moralpoeten,
Hesiod oder Theognis oder Pos«elius oder Rhodomanus. Auf Grund
572 III, i"). Die Modernisierung der GeUhrienschulen u, s, w.
der Gutachten der Lehrer und Inspektoren wurde 1727 eine reformierte
Unterrichtsordnung gegeben, worin den Forderungen der Zeit entsprochen
wurde: auf die Kultur der deutschen Sprache wird Gewicht gelegt, der
Unterricht in der Geschichte erweitert., mit besonderer Betonung der
Genealogie in den notabelsten und letzten Perioden, doctrina morumj
jus naturae und Politik aufgenommen, im Griechischen das neue Testa-
ment zur besonderen Beachtung empfohlen, die Anlegung eines bota-
nischen Gärtchens angeordnet. Endlich werden Schläge als Zuchtmitte]
stillschweigend beseitigt und die häuslichen Verrichtungen, Reinmachen.
Auftragen u. s. w. den Alumnen abgenommen und hierzu angestellten
Weibern übertragen. — Ähnliches wäre aus Grimma (nach Rössler)
zu berichten; ein Mathematiker wurde 1726 angestellt, Profangeschichte
war 1718 auf den Lehrplan gesetzt worden.
Im Hessischen wurden nach dem großen Krieg, der auch hier
verheerend auf das Schulwesen gewirkt hatte, die alten Bildungsbestre-
bungen wieder aufgenommen. Die Schulordnung des Landgrafen Moritz
von 1618, welche Ratichianische Anregungen in sich aufgenommen hatte,
wurde, mit einigen Veränderungen, 1656 erneuert; unter anderem ist
hier für die I ein Unterricht in der Universalgeschichte, wöchentlich
eine Stunde angeordnet; auch Astronomie und Geometrie wird als
wünschenswerter, aber in Privatstunden zu betreibender Unterrichts-
gegenstand genannt. Im Griechischen werden noch poetische Übungen
festgehalten (Vobmbaum, II, 448 ft".). Vom Jahre 1710 findet sich ein-
mal erwähnt, daß der Kasseler Rektor die Cartesianische Philosophie
lehre. Von 17 18 — 1736 stand ein Rektor aus der Franckeschen Schule,
Stephan Veit, vorher Konrektor am Hallischen Pädagogium, der Schule
zu Kassel vor und führte die Hallischen Reformen durch. Im Ganzen
!)lieb der Zustand der Kasseischen Schule bis gegen Ende des 1 8. Jahr-
hunderts ein ziemlich kümmerlicher, wozu wesentlich der folgende Um-
stand beitrug. Im Jahre 1709 wurde die vom Landgraf Moritz ge-
gründete Ritterakademie als Collegium CaroUnum wieder ins Leben
gerufen. Die Bestimmung des neuen Instituts war wesentlich die alte:
den Söhnen der vornehmeren Gesellschaftsklassen teils eine höhere all-
gemeine Bildung, teils aber einen den modernen Anforderungen ent-
sprechenden Abschluß des Vorbereitungskursus für das Universitats-
studium zu geben. Der Landgraf Carl, nach dessen Namen das neue
Kollegium, auch Athenaewn, genannt ist, hatte wahrgenommen, ,,wie
wenig die Notwendigkeit und Vortrefflichkeit derer physikalischen und
mathematischen Wissenschaften von den Mehrsten erkannt werde, indem
die jungen Leute, sobald sie auf den Trivialschulen eximirt worden,
anstatt ihr Gemüt zuvörderst in diesen Scientien zu excoliren, gleich
Hessen, Braun schweig- Lüneburg. 573
ad altiora sich zu appliciren gewöhnt sind^^ Diesem Mangel sollte das
Kollegium zunächst abhelfen. Bald aber \mrde, „weil es der Jugend
insgemein an der Latinität zu fehlen pflegt", auch ein professor elo-
guentiae et historiarunty ferner ein Professor der Philosophie und Theo-
logie angestellt und der Besuch der Anstalt zwischen Lateinschule und
Universität den Landeskindern zur Pflicht gemacht. Später wurde der
Unterricht mehr und mehr erweitert-, namentlich auch ein 1738 er-
richtetes Collegium Medicum mit dem Carolinum verbunden. Das er-
neuerte Statut der Anstalt vom Jahre 1766 hält zwar an dem Zweck
einer Ergänzung der Vorbereitung für die Fakultätsstudien durch philo-
sophische, physikalische, mathematische, philologische und historische
Lektionen fest, erweitert jedoch den Umkreis der Disziplinen in dem
Sinne, „daß der Hofmann, Offizier, Arzt und Wundarzt sein Studium
auf ihr vollenden und Künstler aller Art, Architekten, Maler, Bildhauer,
Musiker sich auf ihr gehörig vorbereiten können". Zugleich wurden
akademische Formen der Verwaltung, Dekane, Matrikel, Lektionsver-
zeichnisse u. s. w. eingeführt Die Gunst des Hofes war dem neuen
Institut zugewendet und so hatte die alte Stadtschule daneben einen
schweren Stand. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde jedoch das Ver-
halten der Regierung ein anderes, die Stadtschule wurde 1779 zu einem
Lyceum Fridericianum umgestaltet, eine Reihe von Fachschulen errichtet
und das Carolinum stillschweigend aufgegeben, indem die Professoren,
soweit sie nicht anderweite Verwendung fanden, an der Marburger Uni-
versität angestellt wurden (Weber, 238 flF.). Die neue Schulordnung
von 1779 gehört schon dem folgenden Zeitalter an. — Das Marburger
und das Darmstädter Pädagogium haben die alte Ordnung bis in die
zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts festgehalten.
Nicht ohne Literesse ist eine gräflich Waldecksche Schulordnung
vom Jahre 1704 (Vormbaum, 111, 116): sie zeigt die Spuren Franckescher
Pädagogik mit besonderer Deutlichkeit, methodische Anführung zur
Gottseligkeit und andererseits Anleitung zur Weltkenntnis, besonders
zur Kenntnis der gegenwartigen durchlauchtigen Welt gehen neben
einander her.
Der ilinfiuß der neuen Zeit auf die braunschweig-lüneburgi-
schen Schulen tritt in den Lehrordnungen des Hannoverschen
Lyceums und der Ilfelder Klosterschule vom Jahre 1716 zu Tage.
In beiden sind die neuen Hallischen Sprachlehrmittel in Gebrauch, in
beiden findet sich Unterricht in der Geographie und Historie, mit
Genealogie und Heraldik, in Geometrie und Astronomie, in Philosophie
und Litteraturhistorie. Dabei bleibt die Erlernung des Lateinischen
die große Hauptsorge, prosaische und poetische Imitationsübungen bilden
574 ///, />. Die. Modernisierung der Gclehrtenschulen u, s. w.
die eigentliche Substanz der Schulübungen, sehr ins Einzelne gefahrte
Beschreibungen des Verfahrens zeigen, wie wichtig die Angelegenheit
ist.^ Im Jahre 1717 übernahm der, ebenso wie Kbibgk, aus der Jenaer
Schule stammende Litterarhistoriker Chr. Heümann das Rektorat des
Göttinger Gymnasiums, welches er, wie man aus seinem ausführlichen
Bericht in seiner Göttinger Schulgeschichte (S. 126 flf.) sieht, bis zum
Übergang der Anstalt in die Universität im Sinne der modernen
Bildungsbestrebungen führte. An Stelle der lateinischen Disputationen
wurden öffentliche deutsche Redeübungen beliebt, deren kurieuse oder
gemeinnützige Themata vn» freilich vielfach etwas seltsam anmuten. —
Eine neue Periode beginnt mit der stlMihlich durchdringenden Wirk-
samkeit Gesners in Göttingen. Die von ihm vodaßte berühmte kur-
braunschweigische Schulordnung vom Jahre 1737 kann man als das
gymnasialpädagogische Programm der zweiten Hälfte des Jabztanderts
bezeichnen; ihre Betrachtung bleibt daher dem folgenden Absclnyltit
vorbehalten.
Unter den Landesschulordnungen, welche nach der Beendigung des
großen Krieges die Wiederaufrichtung des Schulwesens versuchten, ist
die schon öfter erwähnte braunschweig-wolfenbüttelsche vom Jahre 1651
die erste (Vormbaum, II, 407 ff.). Die braunschweigischen Herzoge
bewiesen überhaupt ein lebhaftes Interesse für geistige Kultur, Herzog
August, der jene Schulordnung erließ, war selbst ein Gelehrter, er ist
auch der Begründer der Wolfenbütteischen Bibliothek. Die Schulordnung,
die wohl den Helmstedtischen Professor der Eloquenz, Chb. Schbadbb,
einen Schüler und Freund des Calixtüs, zum Verfasser hat (übrigens
scheint in manchen Partien der Herzog selber zu sprechen), steht im
ganzen durchaus auf dem Boden des 16. Jahrhunderts; doch fehlt es
nicht an Spuren der neuen Zeit Das Prinzip des allgemeinen, wenn
nötig mit obrigkeitlichem Zwang durchzuführenden Unterrichts wird,
wie in den Weimarischen und Gothaischen Ordnungen, ausgesprochen;
auch von den Dorfschulmeistern wird gefordert, daß sie besonders be-
gabte Kinder in den ersten Elementen der lateinischen Sprache unter-
richten. Der Professor Schrader wird zum General- Inspektor des
ganzen Landesschulwesens bestellt Als solchem wird ihm eine be-
sondere Prüfung (außer der allgemeinen vor dem Konsistorium) derer,
die zu einem eigentlich gelehrten Schulamt präsentiert sind, zur Pflicht
gemacht Ebenso wird ihm aufgetragen, einmal im Jahr die drei Ge-
lehrtenschulen des Landes (Wolfenbuttel, Helmstedt, Gandersheim) und
* Gbotkfend, Gesch. des Lyceums zu Hannover von 1733 — 1833 (Hui-
nover 1889}, S. 6 ff.; 6. Krieqk, Con^tittUio rei seholasiicae IlefMep$sis (Nord-
haasen 1716).
hfc.
Braunschweig - Wolfenhüttel. 575
auch die kleineren Lateinschulen (es sind ihrer sechs) nach Gelegenheit
zu visitieren; bei der anzustellenden Prüfung soll auch „erwogen und
beschlossen werden, was für individua auf Akademien zu schicken tüchtig,
damit nicht jemand zu früh, ehe er genugsam fnndamenta gelegt, sich
aus der Schulen begebe, auch ein fürsichtiger selecius ingeniorum an-
gestellet werde". — Schbadee legte Wert darauf, daß auch die Schüler
der gelehrten Schulen nicht nur in der lateinischen, sondern auch in
der deutschen Sprache geübt würden. Er veranlaßte, da er bei seinen
Inspektionen der gelehrten Schulen wahrnahm, daß die jungen Leute
in ihren schriftlichen Arbeiten fast noch mehr Verstöße gegen die
deutsche als gegen die lateinische Sprache machten, seinen Freund, den
bekannten Germanisten J. G. Schottelius, der einst als Prinicnerzieher
von dem Herzog August an den Hof gezogen war und dort in hohem
Amt und Ansehen stand, zur Ausarbeitung eines kleinen Lehrbuchs der
deutschen Rechtschreibung für den Schulgebrauch (Räumer, III, 184).
Wie groß Sohradebs Ansehen in der Schulwelt war, geht auch daraus
hervor, daß sein Rat auch von außerhalb begehrt wurde. So wendete
sich 1672 das Domkapitel zu Halberstadt an die philosophische Fakultät
zu Helmstedt um ein Gutachten über die neu einzurichtende Domschule,
welchem Gesuch die Fakultät mit einem eingehenden Entwurf, der
offenbar von Schrader verfaßt ist, entsprach. Die Halberstadter und
später auch die Magdeburger Domschule wurde nach diesem Entwurf
eingerichtet (mitgeteilt bei A. Richter, Festschr. des Halberstädt. Dom-
gymn., 1875).
Bemerkenswert ist noch die gleichzeitige Klosterordnung von
1655 (KoLDEWEY, II, 168). Die nach der Reformation in den Klöstern
eingerichteten Schulen wurden aufgehoben, weil „der verhoffte gute
event bei weitem nicht erfolget, sondern viel feine in/^enia in solchen
Klosterschulen verdorben, fürnehmlich daher, daß die Kloster-^ft/t/io^i
Tag und Nacht bei einander gewohnet, der Präzeptor so wenig als der
Prälat alle Augenblicke eine Aufsicht auf sie haben können". Statt
dessen soll ein Teil der Einkünfte zur Besoldung der Lehrer und zu
Stipendien für Schüler an den drei großen Schulen verwendet werden.
Indessen „damit gleichwohl die qnotidianae preces et laudes in den
Klöstern gehalten werden mögen, soll der fünfte conventualis in jedem
Kloster eine Kinderschule für die nächsten Dörfer halten", in der auch
die Elemente des Lateinischen gelehrt werden sollen. Außerdem sollen
vier arme Kinder in jedem Kloster unterhalten werden. Diese Schulen
sollen nun die horas canoniccLs täglich abwarten, mit singen, lesen und
beten, um 6, 9 und 3 Uhr, abwechselnd lateinisch und deutsch. Man
sieht, wie zäh sich die Überlieferungen der alten Kirche auch nach
576 ///, />. Die Modernisierung der GeWirtenschuhn u. s, u\
der Reformation noch Erhalten haben. Übrigens wurden die Kloster-
schulen ihrer alten Bestimmung bald zurückgegeben und bestanden
bis ins 19. Jahrhundert.
Tiefer greifende Änderungen erfuhren die braunschweigischen Ge-
lehrtenschulen gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine Reihe von
Schulordnungen einzelner Anstalten zeigen den Einfluß der Hallischen
Pädagogik. Die beiden alten Klosterschulen zu Marienthal und Ame-
lungsbom gingen ein; die letztere wurde nach Holzminden verlegt
und mit der dortigen Stadtschule zu einem Pädagogium vereinigt; die
Einkünfte der ersteren wurden zur Dotierung einer neuen Anstalt, des
1745 zu Braunschweig errichteten Collegium Carolinum verwendet
(KoLDEWEY, II, c). Das Carolinum kann als eine Erneuerung der
eingegangenen ßitterakademie zu Wolfenbüttel auf dem Boden des
18. Jahrhunderts bezeichnet werden. Es erhielt seine Gestalt durch
den Hofprediger Jerusalkm, einen Schüler Gottscheds, den Herzog
Karl zur Erziehung seines Sohnes berufen hatte (1742). Als die wesent-
lichen Mängel der bisherigen Erziehungs- und ünterrichtsart der ge-
lehrten und gebildeten Stände werden von dem aufgeklärten Theologen
bezeichnet, daß die jungen Leute in entlegenen Orten, wie jenen Schul-
klöstem, keine Gelegenheit hätten sich feine Sitten anzueignen, und
daß sie gemeiniglich „bloß mit einem dürftigen Vorrat etlicher latei-
nischer Vokabeln und Regeln auf die Universität gingen, ohne den ge-
ringsten Geschmack von dem zu haben, was in den Wissenschaften,
die sie erlernen wollen, oder in den von ihnen schon erworbenen Kennt-
nissen das eigentlich Schöne und das Wesentliche ist. Vorläufige Bildung
ihres Verstandes und Geschmacks hingegen und ein vorläufiger all-
gemeiner Begriff von den Wissenschaften würde den wohlthätigen Er-
folg haben, daß sie die hohen Schulen nützlicher, kürzer und mit ge-
ringerem Geldaufwand besuchen könnten**.^
Es ist damit die Aufgabe des neuen Instituts bezeichnet Den
elementaren Unterricht, auch in den Sprachen voraussetzend, will es
den eigentlich wissenschaftlichen Unterricht der Universität durch ein-
leitende encyklopädische Vorträge vorbereiten, und zugleich eine für
die Geschäfte und das Leben ausreichende allgemeine Bildung geben.
Es rechnet auf Schüler vom 15. bis 20. Lebensjahr, natürlich aus der
besseren Gesellschaft; von Mosheims Übernahme der Inspektion wird
die Zuführung Adeliger erwartet (die auch eintraf); doch sollen begabte,
aber unbemittelte Knaben nicht ausgeschlossen sein, „man muß allen-
falls einen kleinen Aufwand machen, damit sich diese in Kleidung und
* J. J. EsciiENBURo, Entwurf einer Gesch. des Coli, CaroL (Berlin 1812), S. 3.
Braunschweig j Mecklenburg, 577
Wäsche ebenso reinlich wie die übrigen halten können". Alles was an
Kloster, Pädagogium, Waisenhaus, Armenschule erinnern könnte, müsse
sorgfältig fern gehalten werden. In der ersten Ankündigung werden
die Wissenschaften und Übungen aufgezählt, zu denen im Kollegium
Anleitung gegeben wird: Theologie, Weltweisheit, Litterarhistorie, Mathe-
matik, Dicht- und Redekunst, alte und neuere Sprachen, Zeichnen,
Malen, Musik, Tanzen, Fechten, Reiten, Drechseln, Glasschleifen (S. 17).
Unterrichtssprache ist die deutsche; die Übungen in den Sprachen sollen
durch gute poetische und prosaische Muster die jungen Leute dahin
führen, sich rein und mit Geschmack auszudrücken. Die lateinische
Sprache ist nicht mehr bloß als Sprache, sondern kritisch (d. h. ästhe-
tisch) zu behandeln: bei der Erklärung der Klassiker ist vorzüglich
auf den Geist und Geschmack der Werke zu sehen. Jerusalem brachte
dabei die französischen Ausleger und Nachahmer der Alten in Vorschlag,
da es in Deutschland an geschmackvollen Kommentaren und Über-
setzungen noch fehle. Ebenso sollte die Landesuniversität zu Helmstedt
als Universität du bon sens eingerichtet werden, um geschickt zu sein,
das auf dem Carolinum Begonnene fortzuführen. Die Anstalt fand
Beifall und Nachahmung; die Inskriptionslisten weisen in den ersten
Jahren über 50 Namen jährlich auf, darunter viele Adelige; später
sanken sie auf die Hälfte. Sie bestand bis 1808.
Im Mecklenburgischen treten die reformpädagogischen An-
schauungen in ihren ersten Spuren bei der Wiederherstellung der Dom-
schule zu Güstrow (1662) durch Herzog Gustav Adolf, der sich dabei
auch der Beratung des Helmstedter Schraders bediente, zu Tage, so-
wohl in der Besorgnis vor der Ansteckung mit dem klassischen Heiden-
tum, als in der Einführung der Elemente der neuen Wissenschaften
(Raspe, Progr. 1853; die Schulordnung bei Vormbaum, II, 584 ff.).
Eine tiefer greifende Veränderung wurde in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts begonnen, indem neben der alten Landesuniversität,
wegen der Aufsässigkeit Rostocks, 1760 eine neue zu Bützow errichtet
und hier gleichzeitig mit der Einrichtung eines Pädagogiums nebst
Realschule und Waisenhaus vorgegangen wurde. Die Namen von
Lehrern, wie Tetens und Biester, deuten den Charakter der geplanten
Reformen an. Doch fand die ganze Unternehmung, welcher der Boden
unter den Füßen fehlte, ein baldiges Ende (Hölscher, Progr. von
Bützow 1881). Das hinderte nicht, daß allmählich der Einfluß der
neuen Zeit in den mecklenburgischen Schulen durchdrang; bei Rische
(Progr. von Ludwigslust 1888) findet man eine Menge Nachweisungen
darüber, wie die Unzufriedenheit mit veralteten Lehrzielen und Lehr-
methoden sich auch hier in vielen Stimmen äußert und Anfinge der
Paalseo, Unterr. Zweite Aufl. I. 37 ^|
578 ///, 5, Die Modernisierung der Gelekrtenschulen u. s, w.
Modernisierung zuerst im Sinne der Hallischen, dann der Göttingisehen
Anschauungen durchsetzte.
Die alte pommersche Landesschule zu Stettin wurde als
Gymnasium academicum Carolinum 1667 wieder aufgerichtet. Ein
Visitationsrezeß von 1703 (Wehrmann, 93) läßt in den Unterrichts-
betrieb einen Blick thun. Gelehrt werden außer den Sprachen die
philosophischen Disziplinen und in einleitenden Kursen alle Fakultäts-
wissenschaften. Latein ist das Hauptstück, vom Griechischen werden
nur die Elemente, und die zuweilen nur privatim^ gelehrt Logik, Meta-
physik, Ethik, Politik wird nach modernen Lehrbüchern, frei von den
„nichtswürdigen Subtihtäten und unnützen Disputationen" der Schola-
stiker vorgetragen. Mathematik und Naturwissenschaft sind mit der
medizinischen Professur verbunden; die Physik soll experimentell be-
handelt werden, nicht nach Art der Scholastiker; ein botanischer Garten
und eine Anatomiekammer wird erwähnt, doch scheint es damit nicht
viel geworden zu sein. Für die Geschichte, die bisher nach dem alten
SiiEiDAN war behandelt worden, wird Püfendorf empfohlen : „historia
civilis tarn universalis quam particularis wird nach Gelegenheit der
Zeit und der Zuhörer dergestalt profitieret, daß nach Absolvierung der
historia universalis sonderlich absolvieret werde, was in den beiden
letzten saeculis sing\ilis annis in singulis rebus publicut meistens circa
regimina sich zugetragen hat, wie die regna et res puhlicae ihren Ur-
sprung und Wachstum genommen, auch wie sie in Decadence geraten,
wobei nicht weniger Genealogia, Chronologia und Geographia mit allem
Fleiß zu proponieren". Der Jurist liest meist Institutionen, doch auch
einmal über Püfendobf, De statu imperii Germaniae. Disputationen
finden häufig statt. Auch werden die modernen Sprachen gelernt und
bald finden sich Exerzitienmeister ein. Man sieht, es ist das Vorbild
der Ritterakademie, nach dem sich die Anstalt streckt — Ahnliches
wird auch von der Anstalt zu Stargard, die 1714 als Gymnasium
ilhistre konstituiert wird, berichtet (Falbe, Gesch. des Gymn. zu Star-
gard, 1831).
Im Holsteinischen ging die alte Klosterschule zu Bordesholm
ein (1665), indem ihre Güter an die neu gegründete Universität Kiel
gegeben wurden. Im Jahre 1738 wurde zu Altena ein neues, nach den
modernen pädagogischen Anschauungen eingerichtetes Gymnasium aca-
demicum und Pädagogium gegründet; es ist das noch bestehende
Christianeum. Schon im Jahre 1725 hatte die Stadt eine große Latein-
schule, in welcher die modernen Disziplinen von Anfang an vertreten
waren, errichtet; an ihre Stelle trat jene königliche Stiftung, welche
außer einer Lateinschule und einem Pädagogium zugleich vorbereitende
Pommern, Holstein, Oldenburg u, s, w, 579
akademische Vorlesungen in allen Fakultäten und dazu ein seminarium
candidatorum ministerii ecclesiastici et scholastici mit fünf Stipendien-
plätzen umfaßte. Das letztere, offenbar nach Hallischem Muster ein-
gerichtet, hatte die Bestimmung, Landeskindern, die in Theologie und
Philosophie, in Sprachen und Mathematik ihren Kursus vollendet hätten,
Gelegenheit zur theoretischen Fortbildung und andererseits zur prak-
tischen Übung im Predigen und Unterrichten zu geben; doch wurde
es schon nach wenigen Jahren aufgegeben, wie denn überhaupt die
Anstalt mit vielen Widerwärtigkeiten zu kämpfen hatte, bis sie gegen
Ende des Jahrhunderts zu festerem Bestand kam (Programme von
1844, 1888).
Die Schule zu Oldenburg, welches damals ebenfalls unter däni-
scher Eegierung stand, erhielt 1703 eine neue Lehrordnung, worin die
neuen ünterrichtsgegenstände, außer Deutsch, Geschichte, Geographie
und Mathematik auch Ethik und institutiones juris , meist mit einer
Stunde wöchentlich, genannt werden. Von 1733 — 1768 war der
Wolfianer J. M. Herbabt, der Großvater des Philosophen, Rektor; ihm
folgte M. Ehlebs, der zu dem Kreis der holsteinischen Aufklärungs-
pädagogen gehörte, 1771 kam er nach Altena, 1786 nach Kiel, wo er
als Professor an der Universität und als fruchtbarer Schriftsteller für
die Verbreitung der Aufklärungspädagogik wirkte (Meinakdus, 84 ff.).
In auffallender Weise scheinen die Schulen der beiden großen
Nordseestädte, Hamburg und Bremen, hinter der Zeit zurück-
geblieben zu sein; ist es, weil eine höfische Regierung fehlte, welche
die Modernisierung betrieben hätte? oder hinderten die akademischen
Institute, die mit ihnen verbunden waren, oder die zahlreichen Privat-
schulen die Entwickelung der Schulen? Das Hamburger Johanneum
hatte von 1708 — 1711 den berühmten Litterarhistoriker F. A. Fabeicius,
dann bis 1781 den kaum minder bekannten Verfasser historischer und
geographischer Schulbücher, Joh. Hübneb aus Zittau, Che. Weises
Schüler, zum Rektor. Eine durchgreifende Reform des Unterrichts scheint
aber von ihnen nicht versucht oder doch nicht durchgesetzt worden zu
sein. Die Schulordnung von 1732 betont den deutschen Unterricht
und erst die Lehrordnung von 1760 zeigt die Erweiterung des Lehr-
plans, welche an vielen Schulen schon am Anfang des Jahrhunderts
durchgeführt war.^ Dagegen hatte das Äcademicum schon 1652 unter
JuNGiüs eine neue Ordnung erhalten, in welcher der Unterricht in
Mathematik und Physik, mit Demonstrationen und Übungen, hervortritt,
unter anderem wird die Anschaflfung eines physikalischen Apparats mit
^ Calmberq, Gesch. des Johanneums, 194. Hoche, Beiträge, 118 £^
87*
580 lU, 5. Die Modernisierung der Gelehrtenschtden u, s. w.
einem besonderen Schrank dafür angeordnet (Voembaum, II, 432). —
Das Pädagogium zu Bremen, mit dem das Gymnasium illustre ver-
bunden war, erfuhr im Jahre 1765 die erste große Reformation seit
seiner Stiftung; nachdem es bisher bloß die Verbalwissenschaften gelehrt
und also nur den eigentlichen Gelehrten gedient habe, so wolle man
es nunmehr gemeinnütziger machen. In diesem Sinne wurde der Lehr-
plan ergänzt. Zugleich trug man Sorge für eine feinere Bildung; das
Niedersächsischreden wurde gänzlich abgestellt und der „Anführung der
Jugend zur Tugend und Geschliffenheit*- besondere Aufoierksamkeit ge-
widmet, da das schädliche Vorurteil der ehemaligen Zeiten, daß einem
Gelehrten, wenn er nur Kenntnisse besitze, das Ungeschliffene und
Unanständige nicht zur Mißzierde gereiche, in diesen aufgeklärten Zeiten
sich glücklicherweise verloren habe (Ritz, 63 ff.).
In den fränkischen Fürstentümern wurde 1664 zu Baireuth
von Christian Ernst, einem Neffen des großen Kurfürsten, unter dessen
Leitung er auch erzogen worden war, an Stelle der alten Lateinschule
ein Gymnasium illustre mit dem üblichen Apparat eines solchen errichtet;
außer den alten Schuldisziplinen wurden Geschichte und Politik, Mathe-
matik und Französich, Reiten, Fechten und Tanzen gelehrt; die Zög-
linge der obersten Klassen trugen Degen und duellierten sich. Mit
Mühe erhielt sich die großartige Anstalt in dem kleinen Lande. Im
Jahre 1737 wurde die alte Landesschule im Kloster Heilsbronn, welche
beiden Fürstentümern gemeinsam gehorte, aufgehoben, die Einkünfte auf
die Schulen zu Baireuth und Ansbach verteilt und nunmehr auch die
alte Ansbachsche Lateinschule zu einem Gymnasium illustre Carolinum
erhoben. Das Baireuther Gymnasium, welches dem Hof des Markgrafen
lYiedrich noch zu wenig lustre zu geben schien, wurde 1742 in eine
Akademie verwandelt; dieselbe wurde jedoch schon im folgenden Jahr
als Universität nach Erlangen verlegt.^
Das nürnbergische Gymnasium, welches 1633 von Altdorf nach
der Stadt zurückverlegt und mit einleitenden akademischen Vorlesungen
ausgestattet worden war, erhielt bei der Wiederherstellung nach einem
Brande 1699 eine neue Lehrordnung, welche in allen Stücken die
Modernisierungsbestrebungen zum Ausdruck bringt. Die Lehrbücher des
CoMENius und Cellariüs werden gebraucht, Universalgeschichte und
Mathematik durch alle sechs Klassen, Geographie in der obersten gelehrt
Vermutlich hat der berühmte Altdorfer Mathematiker J. Chr. Stükm,
der das Lehrbuch für den mathematischen Unterricht verfaßt hat^ auf
^ K. Fries, Gesch. der Studienanstalt zu Baireuth (1864); L. Schiller,
Das Carolo-Alexandrinum zu Ansbach (Progr. 1873, 75, 79); Enqelhardt, Die
Univers. Erlangen, 1843.
Franken, Württemberg. 581
die Neugestaltung Einfluß gehabt Die gleichzeitige Ordnung für die
deutschen Schulen nimmt Bücksicht auf Frangkes Waisenhauslehrord-
nung (VoRMBAUM, n, 7 55 ff.; Raumer, II, 161).
Einen Einblick in den ünterrichtsbetrieb zu St. Anna in Augs-
burg gewährt ein nicht uninteressantes Tagebuch eines Alumnus, der
1719 valedizierte. Im Jahre 1718 erbaten die Schüler vom Rat, daß
der Rektor ihnen geographische Lektionen geben dürfe, was sie auoh^
gegen den Willen des Ephorus, erreichten. Für das Französische wurde
in demselben Jahr ein Sprachmeister angenommen und wieder abgeschafft
Philosophie wurde nach dem deutschen Lehrbuch des Bdddeus ge-
lehrt; Geschichte und Mathematik werden kaum erwähnt Das große
Ereignis während des Schullebens des Alumnus war die Aufführung einer
vom Rektor verfaßten deutschen Komödie historisch-politisch-patriotischen
Inhalts; nachdem zwei Monate lang TTbungen und Proben stattgefunden
hatten, wurde dieselbe sechsmal, fast an aufeinander folgenden Tagen,
aufgeführt, wozu das ganze Honoratiorenpublikum von den Schülern
invitiert wurde (Augsb. Progr. 1876).
Im Württembergischen wurde das alte Pädagogium zu Stutt-
gart 1686 als Gymnasium illustre. neu gegründet Der Lehrplan vom
Jahre 1687, auf dessen Gestaltung ein Gutachten des Altdorfer Mathe-
matikers Stürm vielleicht Einfluß gehabt hat, zeigt folgende Stunden-
verteilung für die beiden oberen Klassen: Latein sechs bis sieben,
Griechisch und Hebräisch je zwei, Theologie und Philosophie sechs,
Mathematik und Physik vier, Geschichte und Geographie drei bis vier
wöchentliche Stunden. Im Griechischen wird das neue Testament ge-*
lesen, Nichttheologen werden dispensiert. Französisch und Italienisch
wird privatim gelehrt (Lampabteb, Progr. 1879). In die Kloster-
schulen drangen die neuen Ideen später ein. Au einer von ihnen,
Denkendorf, war der Vertreter des württembergischen Pietismus,
J. A. Bengel, Lehrer (1713 — 1741), und brachte den Hallischen ver-
wandte Anschauungen zur Geltung (Schmld, Encyklop., I, 564). Die
neuen Statuten vom Jahre 1757 nehmen allgemein die ersten Elemente
der modernen Bildung in den Kursus auf (Wundeblich, 32 ff.).
Hier mag auch gleich die hohe Karlsschule erwähnt sein, ob-
wohl sie einer etwas späteren Zeit angehört; sie ist vielleicht der Idee
einer allgemeinen Bildungsanstalt nach dem Herzen der höfischen Auf-
klärung am nächsten gekommen, wie sie denn auch von den Zeitgenossen
viel besucht und bewundert wird. Herzog Karl Eugen begann 1770
zuerst auf der Solitude eine Schule für Hofbeamte einzurichten; sie
wuchs und wandelte sich ihm unter der Hand, wurde 1775 nach
Stuttgart verlegt und erhielt von Joseph IL, der sich lebhaft für sie
582 III, 5. Die Modernisierung der OelehrtenschtUen u. s. w.
interessierte, 1781 üniversitatspriTÜegien. Sie nahm Eleven, die der
Herzog unterhielt, Pensionäre und Stadtschüler auf. Ihre Zahl stieg
bis auf über 500; der jährliche Aufwand wird einmal auf 60000 fl.
angegeben. Es ist eine Bildungsanstalt universellsten und eigentüm-
lichsten Charakters. Sie umfaßt alle Unterrichtsstufen, von den Ele-
menten bis zu den Fakultätswissenschaften; sie lehrt alle Sprachen,
alle Wissenschaften, alle Künste; sie bildet Hof-, Militär- und Civil-
bediente jeder Art, vom Minister und General abwärts: sie liefert Bau-
meister, Ärzte, Gärtner, Ballettänzer, Perrückenmacher, alles, nur keine
Theologen. Bürgerschule^ Realschule, Gymnasium, Handelsschule,
Kriegsschule, philosophische, juristische, medizinische, staatswissenschaft-
liche und naturwissenschaftliche Fakultät, land- und forstwirtschaftliche
Akademie, Polytechnikum, Kunstschule, Musik-, Theater-, Balletschule:
alles ist in ihren zahlreichen Abteilungen vereinigt. Der Herzog selbst
ist der Mittelpunkt; er ist Oberschulmeister, Oberpädagog, Oberexami-
nator, täglich gegenwärtig, antreibend, prüfend, strafend, belohnend;
er selbst wählt Lehrer und Schüler. Karl Eugen ist der Typus des
aufgeklärten Despoten oder sogenannten Landesvaters, der nach dem
eigenen Bilde die Unterthanen formen will, zunächst den ganzen
Beamten- und Hofstaat Das formelle Prinzip ist das bien raisonner
seines großen Vorbildes, Friedrichs d. Gr.: selbständig denken lernen
ist der Zweck des Unterrichts. Hierzu soll vor allem der philosophische
Unterricht führen, dem daher auf der Mittelstufe ein ungemein breiter
Kaum zugewiesen ist. Auf der Unter- und Mittelstufe bilden die
Sprachen, besonders das Lateinische, dann auch, mit der Zeit starker
hervortretend, das Griechische, daneben die modernen Sprachen, die
Geschichte und Geographie die Substanz des Unterrichts. Auf der
Oberstufe tritt der fach wissenschaftliche Unterricht in den Vordergrund.
Bekanntlich war Schiller von 1773—1780 Eleve der Karlsschule; ihr
Unterricht ist nicht ohne Spuren in seinem Wesen geblieben ; das uni-
versal-wissenschaftliche und philosophische Interesse, auch die Richtung
auf Eloquenz und ßäsonnement weisen darauf hin. — Mit dem Tode
des Herzogs (1793) ging auch seine Lieblingsschöpfung ein, oder viel-
mehr, sie wurde von seinem Nachfolger sogleich abgethan (1794). Die
alte Universität Tübingen, die durch das Konkurrenzinstitut auf das
theologische Stift reduziert zu werden in Gefahr war, wurde dadurch
gerettet (Klüpfel, 196).^
^ Eine kurze, aber lehrreiche Darstellung der hohen Karlsschule giebt
J. Klaiber, im Progr. des Stuttgarter Realgymnasiums, 1873. Viel Material in
Waqners Gesch. der Karlsschuie. 3 Bde. 1856. S. auch Weltrichs Schiller-
biographie.
Hohe KarlsscJvuU, Karlsruhe, 583
Noch mag bemerkt sein, daß die neologischen Bestrebungen den
Widerspruch der Alten hervorriefen. Zum Redeaktus des Stuttgarter
Gymnasiums bei der Schülerentlassung 1788 (Hegel war unter den
Abiturienten) lud der prof, eloquentiae Haüg mit einem Programm ein:
de Galantismo liiterario eruditioni periculoso. Aus der Charybdis des
Pedantismus, so führt er aus, seien wir in die Scylla des Galantismus
verfallen, jener Bildung für Junkerlein, deren Philologie ein wenig
Französisch, deren Arbeit das Zureiten von Pferden nebst Fechten und
Tanzen, deren Wissenschaft etwas Geschichte und Geographie sei. Er
führt die Sache auf die Weichlichkeit der Eltern, den Unverstand der
Regierungen und die Leichtfertigkeit der Pädagogen zurück (Schanzen-
bach, Festschrift des Stuttgarter Gymn., 1886).
Die alte markgräflich badische Landesschule wurde 1724 von
Durlach nach der neuen Residenz Karlsruhe verlegt und seitdem als
Gymnasium illustre bezeichnet. Bis zur Zerstörung durch die Franzosen
im Jahre 1689 hatte sie mit ihren fünf Klassen und den lectiones
publicae, sowie dem mit ihr verbundenen Theologenkonvikt, den badi-
schen Theologen ihre ganze gelehrte Bildung gegeben; in der Regel
besuchten nur Begabtere, die etwa sich zu Professoren an der Landes-
schule zu eignen schienen, auswärtige Universitäten. Die Professoren
waren übrigens zugleich praktische Geistliche, wie denn auch die juristi-
schen und medizinischen Kurse, die zu den lectiones publicae gehörten,
von praktischen Juristen und Ärzten gehalten wurden. Nach 1689
wurde der Konvikt nicht wieder hergestellt. Die Modernisierung des
Schulkursus hatte schon in Durlach begonnen; Mathematik und Natur-
kunde, sowie die ritterlichen Exerzitien werden schon im 17. Jahr-
hundert, Geschichte und Geographie, mit Benutzung der Zeitungen, seit
1710 erwähnt. In Karlsruhe gedieh die Anstalt zuerst nicht. Erst
unter Karl Friedrich (1746—1811), der sie in der Richtung auf die
schönen und nützlichen Wissenschaften förderte, hob sie sich.^
Im Pfälzischen wurde anstatt der im großen Krieg zu Grunde
gegangenen Klosterschule Hornbach ein Gymnasium zu Zweibrücken
als Landesschule errichtet; dasselbe hatte im 18. Jahrhundert nicht
unbedeutendes Ansehen. Ein Lehrplan vom Jahre 1720 hat die übliche
Gestalt der modernisiei-ten Gymnasien, auch an privaten philosophischen
Lektionen für eine Selekta fehlte es nicht. Die Klosterschule Höningen,
* ViERORDT, Gesch. des Karlsruher Gymnasiums (1856) und Funk, Gesch.
der alten badischen Fürstenschule, Progr. Karlsruhe 1881, wo man eine aus-
fuhrliche Darstellung des Schulgangs des berühmten Philologen A. Boeckh
(1792—1803) findet; bemerkenswert ist, daß dieser auch die Kurse der mit der
Anstalt verbundenen Realschule besuchte.
584 ///, ß. Zustände des gelehrten Unterrichtswesens um 1700.
welche ebenfalls dem Krieg zum Opfer gefallen war, erstand wieder in
der gräflich Leiningenschen Residenz Grünstadt 1716. In der Eurpfalz
dagegen lag das ganze Unterrichtswesen während des 18. Jahrhunderts
infolge der Mißregierung, welche mit den katholischen Kurfürsten seit
1685 begonnen hatte, heillos darnieder (Bavaria IV, 2, 524 flF.).
Sechstes Kapitel.
Zustände des gelehrten Unterrichtswesens am Anfang des
18. Jahrhunderts und Urteile darüber.
Ich will in diesem Kapitel nicht eigentlich, wie im sechsten Kapitel
des ersten und wieder im sechsten Kapitel des vierten Buchs, einen
Querschnitt durch den Bestand des Schulwesens geben, das Ende des
17. Jahrhunderts bildet keinen auch nur relativen Abschluß; ich will
bloß mit ein paar Bemerkungen die Gesamtlage charakterisieren, ein
paar Urteile von Zeitgenossen hinzufügen und ein paar Lebensbilder
einlegen.
Im ganzen ist die Situation dadurch bezeichnet, daß neben der
alten Gelehrtenbildung eine neue, die höfisch-französische Bildung, auf-
gekommen ist und jene in den Schatten stellt An den Höfen und in
der großen Welt gilt die französische Sprache und Bildung; sie schließt
die moderne Wissenschaft, Naturwissenschaft und Mathematik, Natur-
recht und Staatswissenschaften, Geschichte und Geographie ein. Anderer-
seits ist doch auch die alte lateinische Gelehrtenbildung noch da und
gilt auf Schulen und Universitäten als unentbehrlich. Latein ist noch
die Sprache der Gelehrsamkeit und der Universitäten; die Vorlesungen
und vor allem die Disputationen werden in lateinischer Sprache ge-
halten. Auch die Universitätslitteratur ist, wie man aus der Beilage I
entnehmen mag, noch ganz überwiegend lateinisch. Auf die Universi-
täten komme ich hier nicht zurück; dagegen versuche ich, das Bild der
Schulen mit ein paar Umrißlinien zu zeichnen.
Aus der gegebenen Übersicht geht hervor, daß die Zeit der alten
Schulklöster vorbei war. Viele der im 16. Jahrhundert gestifteten An-
stalten hatten den großen Krieg überhaupt nicht überlebt; andere waren
aus der ländlichen Abgeschiedenheit in die Städte verpflanzt, das
Joachimsthal nach Berlin, Heilsbronn nach Ansbach und Baireuth,
Bordesholm nach Kiel u. s. w.; dazu waren in den zahlreichen großen
und kleinen Residenzen manche neue Schulen, mit dem illustren Namen
Moderne Wissenschaften und Beredsamkeit. 585
des illustren Gründers geziert, entstanden. Der äußeren Wandlung
entsprechen innere Veränderungen. Das Ziel der Erziehung und des
Unterrichts ist nicht mehr, demütige Kleriker oder bescheidene Gelehrte
zu bilden; vielmehr richtet sich der Ehrgeiz neumodischer Schulmeister
darauf, gewandte Weltleute aus der Schule zu entlassen, die einmal bei
Hof und im Rat, oder auch auf der Kanzel und im Konsistorium sich
zu präsentieren verstehen. Und dieses stolze Ziel wirkt natürlich auf
den ganzen Habitus der Schule in Disziplin und Unterricht zurück.
Es steht hiermit in Zusammenhang, daß die Schule in diesem Zeit-
alter eine starke Neigung zeigt, sich an die Öffentlichkeit zu drängen.
Ihr Glanz hängt davon ab, daß sie mit zahlreichen Rednern unter
Musik und Pomp aller Art bei öffentlichen Gelegenheiten hervortritt,
worin denn übrigens die Jesuitenkollegien voranleuchteten. Natürlich
gehörten dazu auch gedruckte Prunkleistungen; der Konsum der Schulen
an Papier und Druckerschwärze für Programme, Reden und Gedichte
in lateinischer, deutscher und französischer Sprache hat seinen Höhe-
punkt in dem Jahrhundert nach dem westfälischen Frieden erreicht.
Es hängt das übrigens auch damit zusammen, daß der Unterschied
zwischen Schulen und Universitäten so verwischt war, wie zu keiner
anderen Zeit; jede größere Schule meinte sich durch Disputationen und
Deklamationen zum Gymnasium academicum aufzuschwingen.^
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts drängt, wie schon früher bemerkt
wurde, der öffentliche Redeaktus die anderen Akte, Disputationen und
dramatische Aufführungen, mehr und mehr zurück; die Schulkomödien
verschwanden ganz und die Disputationen wurden obsolet, ein Vorgang,
der mit dem Absterben der alten Schulphilosophie und Schultheologie
zusammenhängt. Dagegen gedieh die öffentliche Rede oder der Vor-
trag; sie geht mit dem Aufkommen der neuen Philosophie Hand in
Hand; man beginnt von den Dingen, die die Gegenwart angehen, mit
philosophischen Räsonnements zu handeln; die Popularphilosophie ist
ja nichts anderes. Das Aufkommen der Zeitschrift-en, der sogenannten
moralischen Wochenschriften, geht damit parallel: ihren Inhalt bilden
gedruckte Reden; oder umgekehrt: die öffentlichen Reden sind ge-
sprochene Wochenschriftenaufsätze. Alle Welt beteiligt sich daran;
mit täglich neuer Freude wird nach der langen Entbehrung während
der Periode des Konfessionszwangs und der Lateinherrschaft über alle
Dinge des öffentlichen und des privaten Lebens in der Muttersprache
gehandelt. Niemals hat man sich mehr der Publizität und der Bered-
^ Eine große Masse Titel von derartigen Scbulscbriften aus dieser Zeit
giebt Zober in der Gesch. des Stralsunder Gymn., IV, 102 ff.
586 Uly 6. Zustände des gelehrten Unierrichtswesens um 1700,
samkeit erfreut, als in Deutschland zur Zeit der Gottsched -Weisse-
Gelleet sehen „Wasserfluth".
An dieser allgemeinen Redelust beteiligen sich auch die Schulen.
Bei jeder Gelegenheit, Schulfesten, Kirchenfesten, Landesfesten — die
Feier des landesherrlichen Geburtstags, wovon das 16. Jahrhundert noch
nichts gewußt hatte, kommt in dieser Zeit auf — führt die Schule ihre
Redner hervor; in allen Sprachen, die in der Schule getrieben werden,
wird geredet, vorzüglich natürlich in der lateinischen, der Sprache der
Eloquenz, dann der deutschen; aber auch französisch, italienisch, eng-
lisch, griechisch und hebräisch kommt vor. Für die Wahl der Themate
ist die Wendung zur Gegenwart bezeichnend. Die alten Deklamationen
entnahmen ihren StoflF dem Altertum oder der Philosophie. Die neue
Beredsamkeit liebt das Moderne und Aktuelle. Man behandelt patrio-
tische und politische Ereignisse, das Lob des Landesvaters ist allein ein
unerschöpflicher Gegenstand; oder es wird über theologische und reli-
giöse, litterarische, litterar-historische, philosophische und pädagogische
Fragen gehandelt, nicht selten in der Form, daß in utramque partem
disseriert wird. Je mehr Redner die Schule stellen kann, desto größer
der lustre. In Dortmund traten beim Reformationsjubiläum (1743)
35 Redner und zwei Disputanten von der Schule auf. In Königsberg
stellte bei der Jubelfeier der Augsburgischen Konfession (1730) die
altstädtische Schule 21, die Löbeniehtsche 16, die kneiphöfische
24 Redner. 1
^ Zahlreiche Angaben bei Möller, Gesch. des altstädt Gymnasiums zn
Königsberg, IV, 6 ff. Ich teile ein paar Proben von Redethematen mit, wozu
denn zu bemerken ist, daß die von den Schülern öffentlich vorgetragenen Reden
für gewöhnlich als Arbeiten der Lehrer anzusehen sind, ebenso wie die gedruckten
Dissertationen der Universitäten; auch wurde den Schullehrem dafür ebenso
wie den Professoren ein Honorar gereicht Erst allmählich zog sich die Teil-
nahme der Lehrer mehr auf Anleitung und Korrektur zurück. In Listerburg
redeten 1687 acht Redner über das Thema: encomium aanctorum angdorum.
Der erste verteidigte die Existenz der Engel gegen ihre Leugner; der zweite
zeigte, daß die Engel keine Körper haben; der dritte zählt die Eigenschaften
der Engel auf und pries ihre Vollkommenheit; der vierte handelte von dem
Dienst der Engel, und zwar von ihren musikalischen Leistungen, der fünfte von
ihrem Botendienst, der sechste von dem Schutz, den sie den Menschen gegen
die bösen Geister erweisen, der siebente zeigte, daß wir durch die Hilfe der
Engel vielen Gefahren entgangen sind, der achte faßte das Ganze zusammen und
dankte Gott, daß er Engel schickt. — Dasselbe Thema kehrt 1711 in anderer
Ausführung unter einem andern Rektor wieder (Möller, S. 12). — Von dem
Güttinger Rektor Heümann (1717—1734) berichtet Pannenbobq (Progr. 1886),
daß er 86 Programme zu Redeakten der Schüler verfaßt habe, wogegen er die
Ausführungen und Disputationen habe eingehen lassen. Da wird geredet über
die Wichtigkeit des Stadtregiments, die Heiligkeit des Predigtamts, den Nutzen
Der Laiinitätsbeirieb. 587
Auch im Unterricht ist das Streben zur Gegenwart erkennbar.
Ich habe in der Übersicht überall darauf hingewiesen, wie die modernen
Disziplinen, Französisch und Deutsch, Geschichte und Geographie,
Mathematik und Naturwissenschaft in die alten Lateinschulen ein-
dringen. In den großen Schulen hatten sie wohl um 1740 überall
Fuß gefaßt, wenn auch zunächst nicht im Ordinarium, so doch im
Extraordinarium, d. h. in privaten und freiwilligen Stunden, wogegen
in den kleinen Lateinschulen in der Regel weder die Mittel der Lehrer
noch der Schüler dafür ausreichend gewesen sein werden.
Aber, und das ist nun der entscheidende Punkt, trotz dieser mo-
dernen ßildungsbestrebungen hatten die alten Sprachen oder vielmehr
das Lateinische immer noch die Stellung des den ganzen Schulbetrieb
beherrschenden ünterrichtsgegenstandes. Und im ganzen und großen
war Form und Ziel des lateinischen Unterrichts noch derselbe wie im
16. Jahrhundert. Immer noch handelte es sich in erster Linie um
lateinische Eloquenz; darauf war der ganze Betrieb nicht bloß auf den
kleinen Lateinschulen, die den modernen und höfischen Einflüssen
weniger zugänglich waren, sondern auch auf den großen Schulen und
den neuen illustren Gymnasien gerichtet. Diesem Zweck diente der
ganze ausgedehnte grammatische Unterricht und die beständige Übung
im Lateinschreiben. Und ebenso war die Lektüre ihm dienstbar. Die
alten Schriftsteller wurden zunächst und wesentlich um der Sprache
willen gelesen; mochte daneben etwas für Erudition in Geschichte und
Antiquitliten, in Philosophie und Moral abfallen; die Hauptsache blieb,
den Schulsack mit Formeln und Phrasen, mit Sentenzen und Bildern
zu füllen, um daraus lateinische Reden und Gedichte anzufertigen. Die
Imitation war Maß und Ziel des ganzen Unterrichts. Das tritt überall
zu Tage. So äußerten bei den Verhandlungen über die Unterrichts-
einer ordentlichen Miliz; oder: daß man jungen Leuten in den Schulen die
Freiheit lassen solle, nach Belieben eine Disziplin zu wählen, daß der Grobia-
nismus aus den Werkstätten der Gelehrsamkeit allerdings zu verbannen. Ein-
mal redeten vier Schüler: der erste ,,stellte die Schullehrer vor als Leute, die
in großem Elende leben, der zweite als höchst glückselige Leute, der dritte be-
hauptete mit dem Pöbel, daß der Stand der Schullehrer ein sehr geringer und
verachtungswürdiger Stand, der letzte aber mit den Verständigen, daß es ein
vornehmer und ein sehr ehrsamer Stand sei". — In Stuttgart redeten die Abitu-
rienten des Gymnasiums 1790 über das Thema: Xova rerum in Oallia revohttio;
1791: De facie rerum politicarum in Polonia feliciter mutata; 1804: De com-
mutatione reipublicae Franco-Oallicae in Imperium hereditarium ^ wobei fünf
Redner das Encomium Napoleons sangen. So eifrig war man dort bedacht,
nicht hinter der Zeit zurückzubleiben (Schanzenbach, Festschr. des Stuttgarter
Gymnasiums, 1886, S. 40).
588 ///, 6*. Zubände des gelehrten Unierrichtswesens um 1700.
reform in St. Afra im Jahre 1726 die adeligen Schulinspektoren sich
über die Lektüre griechischer Dichter in folgender bezeichnenden Weise:
„Nicht weniger wollten wir dafür halten, daß, weil doch die griechische
Poesie itziger Zeiten nach in dem Flor und Hochachtung nicht mehr
ist, auch der etwa davon sich zu versprechende Nutzen in Ansehung
der Schulleute vor die samtlichen Alumnen etwas allzu specielles sein
möchte, sich größerer Nutz davon zu versprechen, wenn statt des vor-
geschlagenen griechischen Poeten ein anderer Autor in Graecü Irak-
tiret würde, und könnten dann unbeschadet, dafem sich ingenia fanden,
so zu der griechischen Poesie Lust hätten, denselben die Vorteile zu
solcher privatim gewiesen werden" (Flathe, 242). Es ist diesen Leuten
augenscheinlich ein völlig fremder Gedanke, daß man in der Schule
einen Schriftsteller zu einem anderen Zweck in die Hand nehmen könne,
als um ihn imitieren zu lernen.
Aus derselben Schule liegt ein Bericht über eine im Jahre 1735
stattgehabte Probelektion des Tertius Weise vor. Nach gehaltener latei-
nischer Oration erklärte der Kandidat zuerst ein Pensum aus Hesiod,
dann aus dem Livius, zuletzt aus dem Horaz. Ich gebe die Behand-
lung des Livianischen Textes (1, 18), welche durch folgende zehn Stücke
vollendet wurde: 1. übersetzte der Kandidat den Text secundum senswn
grammaticum ins Deutsche, 2. eröfiiiete er mentem autoris kistorice,
3. explizierte er constructionem irregulärem^ wie auch 4. die figuras
rhetoricasy 5. berührte er materiam de transmigraiione animarum, disse-
rierte 6. de ordine inter sacerdotes ethnicos Romanos und 7. über die
auspices und deren Verrichtung, sowie 8. ihren Ursprung von Eomulus;
endlich 9. gab er eine deutsche Imitation des Textes, welche er 10. so-
fort wieder in die lateinische Sprache übersetzte. — Ganz ähnlich ist
die Behandlung der beiden anderen Autoren, zum Hesiod wird eine
griechische, zum Horaz eine poetische Imitation gegeben (Flathe, 259 flF.).
Ähnlich stellt sich die Behandlung der klassischen Texte in den Prüfungs-
zeugnissen dar, die Koldewey (II, 541 ff.) aus Braunschweig mitteilt
So wird dem Rektor Fricke zu Wolfenbüttel bescheinigt, daß er in
einer im Jahre 1710 gehaltenen Probelektion über eine Stelle aus
Cicero, eine Ode des Horaz und die dies Uesiodi „nicht allein mit guter
Geschicklichkeit den scopum und argumentum eines jeden thematis evol-
viret, darauf exponiret und dabei die historiam iemporum ziemlich mit-
genommen, hernach post analysin logicam, rhetoricam und grammaticam
also fort aus dem ersten eine gute Imitation, und bei den andern eine
wohlgesetzte parodiam hinzugethan, sondern auch bei dem letzten noch
ein mehreres vorzubringen bereit war, so aber mitzunehmen damalige
Zeit nicht gestattete".
Der Latinitätshctrieb. 589
Handelt es sich hier mehr um epideiktische Leistungen, so werden
wir durch einen Bericht des Rektors Masius in Schwerin (1687 — 1714)
an die Regierung ganz in den alltaglichen Schulbetrieb hineinversetzt.
Das nächste Ziel der Lektüre ist das Verständnis des Textes. Hierzu
wird vorausgesetzt, daß z. B. bei der Lesung der Ciceronischen Briefe
oder Reden alle das Argument und die Disposition gegenwärtig haben.
„Darauf müssen alle auf zwei- oder dreimalige Explikation (durch den
Lehrer) Acht geben, weil das als der Grund alles studierens nicht zu
viel getrieben werden kann. Bei der letzten Explikation wird ein
Periodus nach dem andern vorgenommen und bei den inferioribus
nach der natürlichen Construktion explicirt und hernach considerirt:
1. quoad praecipua, etymologice, 2. Si/ntactice, wie der contextus natU"
raliter zusammenhangen sollte, dabei denn leicht zu observiren, wie die
constructio naturalis in elegantiorem zu verwandeln sei, 3. wird der
periodus durchgefragt quoad vocabula und observirt, was tarn quoad
voceSj quam significationem vocum minus notum mag gewesen und nun
erst gelernet sein, 4. werden die phrases durchgefragt, 5. dieselbigen
flugs mündlich exerciret ad imitationem und durch etliche regulas syn--
tacticas geführt, bevorab, wenn sie von der indole linguae Germ, ab-
gehen, 6. werden sie variirt per synonymas phrases oder per casus von
den peritioribus, welches denn ein feines und ad copiam comparandam
sehr dienliches exercitium ist, 7. wird der ganze contextus wieder ge-
fragt, auf daß die rechte Erklärung desto besser härire, 8. wenn die
structura darnach ist, rhetorice der periodus oder die dictio oder figura
examinirt, 9. wenn's die Zeit leidet, wird derselbe ganze contextus
eines oder andern periodi soviel möglich mit andern Worten exprimirt.
10. Letztlich werden in einer andern Stunde die besten phrases aus
der Lektion notirt, wiederum variirt, imitirt, reassumirt, was irgend in
der vorigen Lektion wegen Kürtze der Zeit nicht mag haben berührt
werden künnen, und also der Autor soviel möglich ist gesucht in succum
et sanguinem zu convertiren. Da denn ein jeder sieht, was inferiores
sowohl als superioresj wenn alle attendiren, durch Gottes Gnade zu
repetiren und zu lernen haben" (Rische im Progr. der Realschule zu
Ludwigslust 1884).
Es leuchtet ein, daß bei diesem Verfahren das Fortschreiten im
Text nur ein sehr langsames sein konnte. Der Konrektor Werenberg
in Eisleben (1677 — 1679) giebt in einer Verteidigung gegen Vorwürfe,
welche ihm wegen seines Verfahrens vom Rektor gemacht worden waren,
das von ihm durchgegangene griechische Pensum an: vom 10. Januar
bis Ostern habe er im Hesiod außer der Einleitung 46 Verse durch-
genommen, notas, phrases et imitationem de vitanda super bia beigefügt,
590 III, 6, Zustände des gelehrten ünterriMswesens um 1700.
vier Imitationen von den Schülern anfertigen lassen und drei Bogen
diktiert. Bei Ciceros Offizien halte er sich allerdings etwas länger auf,
des schönen moralischen Inhalts wegen, zum Teil auch bei den ver-
schieden en philosophischen Meinungen, bei der rhetorischen Zerlegung
der Perioden, der philologischen Betrachtung der Latinitat, endlich
wegen der praktischen Nützlichkeit der loci communes und Imitationen
(Ellendt, 139).
Ausführiich wird der Lateinbetrieb durch alle Klassen in der ver-
besserten „Stadt -Hannoverschen Schulordnung" vom Jahre 1716 be-
schrieben; sie ist vom Rektor Auqspübg nach den Grundsätzen der
Hallischen Pädagogik entworfen.^ Ich setze die Hauptpunkte her. Der
Unterricht beginnt in V mit Lektionen aus Cellarü libro Latinitatu
memoriali und Langii Grammatica, IV lernt aus Cellarü l, Lat mem.
außer den mit dem signo crucis bemerkten Vokabeln zugleich diejenigen,
vor welchen sich ein asteriscus findet. Die Substantiva werden mit
Hinzufügung eines Adjektivs dekliniert, die verba mit Hinzufügung
eines Substantivs, auch die verba anomala defectiva und Impersonalia
mit allen pronominibus gelernt, ferner die Regeln von den generibus
nominum, die sieben Hauptregeln der Syntax und der Gebrauch der
Partikeln. Man soll die lateinische Sprache in die deutsche und kurze
deutsche Sätze ins Lateinische übertragen. In III lernt man im Cellarius
eine ganze Seite von Wort zu Wort mit den deutschen Synonymen;
femer die lateinischen praeterita und supina, die genera nominum und
die sieben Hauptregeln der Syntax mit den nötigsten Ausnahmen. Man
soll mehr aus dem Deutschen ins Lateinische übersetzen, Phaedri Fabeln
lernen, mit Variationen der Syntax, und mit einem exercitio syntactico
zwei imiiationes wöchentlich verbinden. II lernt im Cellarius die ano-
malischen praeterita und supina, die sgntaxis figurata et omata mit
allen Exzeptionen der Regeln und Langes Grammatik. Mit denen
Phrasen aus der Anthologia latinitatis und den rhetorischen Figuren
werden Exercitia extemporalia und Lateinreden verbunden. Aber auch
für die Kultur der deutschen Sprache wird Sorge getragen: bei tTber-
setzung des Cornelius Nepos nach Cellarü Ausgabe und Caselii kürzesten
und leichtesten Episteln und mit dem ersten Kapitel der Prosodie ist
nicht nur die scansio versuum zu verbinden, und versus dislocati in
Ordnung zu bringen, sondern auch Anleitung zur deutschen Poesie zu
geben. In I werden bei fleißiger Übung der Syntax Ciceroms orationes
selectae und selectiores Epistolae Ciceronis, abwechselnd mit Caselii
* Gbotefesd, Geschichte des Lyceums zu Hannover von 1733 — 1888.
Hann. 1839. S. 6 ff.
Der Latinitätsbetrieb. 591
Epistolis gelesen, Vokabeln und Phrasen fleißig traktiert, nebst Tropo-
logie und Schematologie, der numerus orationis und constructiones
ornatae. Wöchentlich wird ein exercitium styli ordinarium^ eine latei-
nisch zu vertierende imitaiio^ ein kurzes exercitium extemporale und ein
exercitium poeticum ausgearbeitet; dann und wann auch lateinische oder
deutsche Upistolae, Chriae und Orationes nach Anleitung des M. Uhsen
in seinem Wohlinformierten Eedner. Alle Jahr soll bei den mutatio-
nibus ein actus oratorius gehalten werden, wobei Eektor und Konrektor
alternieren. Kein discipulus soll mit seinem condiscipulus anders als
Latein reden. Wöchentlich wird etwas in genere Heroico et elegiaco
elaborieret; wem es aber an der vena poetica mangelt, der muß das in
dem autore gehabte pensum in rein und gut Deutsch übersetzen, oder
auch in deutsche Verse. Die autores sind: aus dem Virgil iibri Aeneidos
I — VIII, ohne IV und V; aus dem Ovidius bloß die Iibri Tristium und
Epistolae ex ponto; in poesi Lyrica alle vier Wochen Aurelii Prudentii
Carmina, statt des Virgil. Man sieht, wir haben es noch überall mit
dem alten Imitationsbetrieb zu thun.
Endlich mag noch der schon oben erwähnte Polyhistor des Kieler
Professors Mobhof uns das Ziel dieser Übungen auf der Akademie
vergegenwärtigen. In dem zweiten Buch dieses vielgerühmten Werkes
wird zu prosaischen und poetischeü Imitationen Anleitung gegeben.
Kap. 14 giebt exempla imitationum; es* wird z. B. eine Ciceronische
Periode von drei Zeilen durch dilatatio auf neun Perioden, die beinahe
eine Quartseite füllen, gebracht; Kap. 15 enthält eine Brief beispiel-
sammlung; Kap. 16 handelt von den Übungen in gebundener Sprache.
Die neun ersten Kapitel des dritten Buchs beschreiben, wie man zum
Behuf der prosaischen Darstellung exzerpiert, Phrasen, Observationen,
Antiquitäten, Elegantien, Enthjmeme u. s. w. sammelt; die folgenden
zwei geben Anleitung, für die Poesie sich einen ähnlichen Schatz von
Exzerpten anzulegen; Kap. 12, überschrieben Hyle inventionum poetica-
rum, zeigt die Benutzung. Man hat ein carmen gratulatorium zum
Rektoratsantritt zu machen. Der alte Vers der luven tionstecknik beginnt
mit dem quis. Hier ist es ein homo literatus, der ein Regiment über-
nimmt. Man gehe also aus von dem Begriff einer Musenregierung, daß
sie nicht sei tyrannisch, sondern jungfräulich und friedlich; oder von
der Anschauung des Apollo, der einst am Pamassus Rinder weidete;
jetzt aber sei die Aufgabe, auserlesene Jünglinge zu weiden. Ist es ein
Theolog, so lasse man die personifizierte Pietas seiner Regierung die
Gesetze vorschreiben, man nenne sie eine Hierarchie, aber eine unschäd-
liche, welche die Gottesfeinde, die Giganten bekämpft. Ist es ein Jurist,
80 führe man die Astraea, das Orakel der Themis am Helikon ein, ein
592 ///, 6, Zustände des gelehrten ünterrichtswesens um 1700,
neues Gericht sei zu bestellen, in dem nicht Paris der Venus, sondern
Phöbus der Minerva die Palme reicht. Ist es ein Mediziner, so sage
man: Apollo sei nicht minder der Vorsteher der Sanitat, als der Musen.
In dieser Weise geht das lange Kapitel die Eeihe aller möglichen Ge-
legenheiten zu Poesien durch. Vielleicht darf man es noch heute der
Aufmerksamkeit nicht erfindungsreicher Festredner empfehlen.
Nach allem : der Betrieb des klassischen Unterrichts war am Ende
dieser Periode noch wesentlich derselbe, wie er im 16. Jahrhundert ein-
geführt worden war. Nur eines war anders geworden: der Glaube daran
fehlte. Zur Zeit des Humanismus war alle Welt davon überzeugt, daß
es größere, sublimere Leistungen des menschlichen Geistes als gute
lateinische Verse und Reden nicht geben könne; nicht bloß die Poeten
selbst, sondern auch Fürsten, Bischöfe und Kaufherren glaubten daran,
wie sie dadurch bewiesen, daß sie den Poeten ihre Erzeugnisse mit
Geld und Ehre bezahlten. Um den Anfang des 18. Jahrhunderts glaubte
kein Mann von Welt mehr an die lateinische Poesie und Eloquenz,
kaum noch der Besitzer der Kunst. Die Höfe und der Adel hatten
längst aufgehört, Abnehmer solcher litterarischen Produkte zu sein, sie
lasen französische Autoren und einige ermunterten die eben hervor-
sprießende deutsche Litteratur. Die Verwendung der carmina war auf
die Anlässe eingeschränkt, welche das scholastische und akademische
Leben herbeiführte; machte' man zu einem Friedensschluß, zu einem
fürstlichen Geburtstag ein lateinisches Po^m, so geschah es gratis et
frustra, Kanonikate und Professuren wurden damit nicht mehr erworben.
Ja vielleicht that man am besten, sich gar nicht öffentlich damit sehen
zu lassen, dann brauchte man wenigstens nicht das mitleidige Lächeln
eines Mannes von moderner Bildung über dies Überlebsel einer längst-
vergangenen Zeit und die Pedanterie seines Verfassers als Dank ein-
zustecken.
Wenn in den Schulen Lehrer und Schüler angehalten werden, in
täglicher Mühsal Dinge zu treiben, denen außerhalb der Schul wände
keine Bedeutung mehr beigemessen wird, so kann die Folge keine andere
sein, als daß sie mit Mißvergnügen arbeiten. Denn so abgesperrt leben
weder die Lehrer noch die Schüler, daß sie nicht bemerkten, was in der
großen Welt gilt, und was nicht; vielleicht haben Schüler eine besonders
feine Witterung für das Geltende oder Zeitgemäße; wer wüßte nicht,
daß kein Lebensalter gegen den Vorwurf de^ Altfränkischen empfind-
licher ist, als das des Primaners? Ich glaube, daß zu keiner Zeit die
Schularbeit in den gelehrten Schulen mit weniger Freude und Frei-
willigkeit von Lehrern und Schülern verrichtet worden ist, als am Anfang
des 18. Jahrhunderts.
Geringes Ansehen des Lehramts, 593
Zu der Unfruchtbarkeit und Unzeitgemäßheit der Arbeit kam noch
ein anderes, das auf die Lehrer und indirekt auf die Schüler drückte,
das war die elende äußere Lage. Das Amt war schlecht bezahlt und
verachtet; es war unter den gelehrten Berufen zweifellos der letzte;
selten ging jemand freiwillig hinein und noch seltener blieb er länger
darin, als er mußte. Die Masse der Lehrer waren Kandidaten der
Theologie, die in der Schule Unterkunft während der Wartezeit suchten,
um so bald als irgend möglich ins geistliche Amt überzugehen. An
Schulwissenschaften brachten die meisten wohl nichts mit, als was sie
einst selbst aus der Schule davongetragen hatten, auf der Universität
hatten sie die paar Jahre Philosophie und Theologie getrieben. Und
für die Unterrichtspraxis war die Erinnerung an die eigene Schul-
zeit maßgebend. Dauernd blieb niemand in der Schule, es sei denn
in ein paar Rektorstellen in großen Städten; sonst waren es die in der
Wissenschaft oder im Glauben oder im Leben Unzulänglichen oder die
bei den Wahlen zum Predigtamt Verschmähten; man mag sich denken,
welche Atmosphäre voj Unzufriedenheit sie um sich verbreiteten. In
den kleinen Lateinschulen fand wohl auch geradezu der Abhub verun-
glückter Studenten dauernd Unterkunft.
Man versteht von hier aus, wie noch im Jahre 1768 Michaelis
(Räsonn. I, 146) es als erstaunliches Beispiel von seltsamer Richtung
der Neigungen ansehen kann, daß „seit einiger Zeit einige, die den
seltenen rauhen Vorsatz auf Universitäten mitbringen, dereinst Schul-
leute zu werden, sich bloß auf Schulstudien legen, ohne sich mit der
Theologie zu beschäftigen".^
Wie dürftig es um die Schulbildung mancher Lehrer an Latein-
schulen noch nach der Mitte des 18. Jahrhunderts bestellt war, das
zeigen mit erschreckender Deutlichkeit ein paar von den bei Koldewey
(II, 541) mitgeteilten Probearbeiten; man sehe die geradezu unglaub-
lichen Leistungen von zwei Bewerbern um die Stelle des colkga quartus
zu Wolfenbüttel vom Jahre 1761; die mit Hilfe von Lexikon und
Grammatik zusammengestoppelten lateinischen Exerzitien wären als
Quartanerleistungen mäßig. Dabei war der eine von ihnen, mit
Namen Unvebzagt, bisher Rektor der Lateinschule zu Schöppen-
stedt. Derselbe leitete in der mündlichen Prüfung Sakrament aus
* In der Geschichte der Lateinschule zu Oschatz von Fritzsche (Bericht
des Lehrerseminars zu Oschatz, 1895) findet man eine Reihe von Mitteilungen
aus den an den Rat gerichteten Bewerbungsschriften um die Lehrerstellen aus
dem 17. und 18. Jahrhundert; sie zeigen in ihrer Unterwürfigkeit die ganze
Misere des Lehrerstandes. Hin vmd wieder ist auch von Bestechungsversuchen
bei den ehrbaren Stadtvätem die Rede.
Paulsen, Untorr. Zweite Aufl. I. 38
594 ///, 6'. Zustände des gel4Jirten Unterrichtswesens um 1700.
dem Griechischen ab, die Transsubstantiationslehre legte er den Refor-
mierten bei.
Der Bildung der Lehrer wird natürlich die der Schüler entsprt^chen.
Bittere Klagen sind häufig. Man höre A. H. Fbancke in der Idea
Studiosi theologiae (Anhang § 7): ,,Die meisten Schulen sind so übel
bestellet, daß von denselben Leute kommen, die wohl zwanzig Jahr alt
sind und darüber und dennoch bedürfen, daß man ihnen in den funda-
mentis der lateinischen, geschweige der griechischen und ebräischen
Sprache besondere Informationen verschaffe, wo man anders will, daß
sie die collegia mit Nutzen frequentiren sollen. Daß dieses wahr sei^
lehret die tägliche Erfahrung und ergehet nicht nur unserer, sondern
auch anderen Universitäten also, daß sie viele untüchtige und un-
wissende Leute überkommen, aus welchen nichts zu machen." „Des-
gleichen bringet selten einer auch nur qualemcumque peritiam der
deutscheu Orthographie von der Schule mit, so doch bei einem Studie-
renden nicht nur ein ornament, sondern eine notwendige Sache ist.
Ingleichen findet sichs selten, daß einer eine Wissenschaft von der
Arithmetica vulgari mitbringet, deren Gebrauch doch im täglichen Leben
immer vorfallet."
Ähnlich lautet ein Urteil des Berliner Propstes Reinbeck, eines
Schülers Franckes, der übrigens für den Philosophen Wolf beim König
eintrat, über die Schulen um das Jahr 1740 (in Biedeämanns Acta
scholast I, 207): „Die meisten Schulen sind so eingerichtet, daß die
allerwenigsten Menschen sich derselben mit Nutzen bedienen können.
Wer nicht auf die Wissenschaften sich allein legen, sondern eine Kunst
oder sonst ein gutes Handwerk oder die Kaufmannschaft erlernen will,
findet bei den Schulen gar schlecht seine Rechnung. Es wird in den-
selben auf die Reinigkeit und Rechtschreibung der Muttersprache wenig
gesehen; die Rechenkunst wird sehr sparsam getrieben; zur Historie
und Geographie werden entweder gar keine oder die Woche über nur
aufs höchste ein paar Stunden und dieses noch wohl dazu privatim
ausgesetzet. Die Weltweisheit, insonderheit die Vemunftlehre, wie auch
die Meßkunst sind auf den allermeisten Schulen unbekannte Sachen.
Und gleichwohl sind dieses alles solche Sachen, welche allen Schülern,
wenn sie auch gleich nicht beim studieren bleiben wollten, höchst nötig
wären. Selbst auch diejenigen, welche sich hauptsächlich auf die Wissen-
schaften zu legen gewillet sind, bekommen hier beim Lernen eine Lücke,
die sie hernach nicht so leicht oder doch nicht ohne schädlichen Zeit-
verlust ergänzen können. Überdem sind die meisten Schulen so ein-
gerichtet, daß wer sich nicht vornehmlich auf die Gottesgelahrtheit
legen will, in denselben viel Stunden vergeblich zubringen muß. Ein
Urteile über den SchvXbetrieb, 595
solcher kann fast nichts anderes als ein bischen Latein, und dieses noch
wohl dazu schlecht genug, daraus mitbringen. Aber auch die andern,
welche sich der Gottesgelahrtheit gewidmet haben, finden gar selten
die richtige Anweisung. Latein ist ihr vornehmstes Werk; die deutsche
Sprache wird gar sehr versäumt. Und gleichwohl sollen diese Menschen
ihren Gemeinden dermaleinst nicht Latein, sondern Deutsch predigen.
Daher geschieht es denn auch, daß sie hernach in ihre Predigten einen
Haufen lateinische, mit deutschen Endigungen versehene Wörter ein-
mischen und kaum glauben, daß sie alles mit gutem Deutsch geben
könnten, wodurch sie dann dem gemeinen Mann unverstandlich werden.
Das Griechische wird gemeiniglich so obenhin getrieben. Und wenn
jemand auf Schulen ein wenig Hebräisch herbuchstabieren kann, so hält
er sich für geschickt genug, eine hohe Schule zu besuchen."
Zum Schluß teile ich noch ein paar Urteile von Schülern über
die Schule mit, sind sie doch, nach einem alten Wort, die letzten
Richter ihrer Lehrer. Zuvor aber vergegenwärtigen wir uns durch ein
paar Namen die Generation, die am Ende dieses Zeitalters (um 1740)
auf den Schulbänken saß. Im Jahre 1734 verließ Gellebt St Afra
in Meißen; sieben Jahre später zog Lsssma in dieselben Zellen ein
(1741—1746). Fast gleichzeitig saß Klopstock in Schulpforta (1739
bis 1745); die Brüder J. E. und J. A. Schlegel verließen dieselbe
Anstalt 1739 und 1741. 1748—1749 finden wir Wieland in Kloster
Berge. 1739 verließ Gleim die Schule zu Wernigerode, 1743 Semlee
die zu Saalfeld, 1748 Heyne die zu Chemnitz. Aus der Latein-
schule des Hallischen Waisenhauses ging 1732 Reiske nach Leipzig,
1740 Ramler nach Halle, 1747 Nicolai nach Berlin, um dort zunächst
die Realschule Heckebs zu besuchen. Einige Jahre vor ihm (1742)
hatte sich ein armer Judenknabe aus Dessau auf denselben Weg ge-
macht, Moses Mendelssohn. Winckelmann verließ 1736 das CöUnische
Gynmasium zu Berlin, wo er einen Versuch gemacht hatte, das Grie-
chische zu erlernen. Blicken wir aus diesem engen und belebten mittel-
deutschen Kreis heraus, so finden wir im Jahre 1740 im Königsberger
Friedericianum Kant und Rühnken, im Osnabrucker Gymnasium
J. Moser, alle drei im Begrifi" den Schulbänken Lebewohl zu sagen.
Man sieht, wären die Leistungen einer Generation der Schule gut zu
schreiben, die sie besuchte, dann dürfte sich die Schule auch des Zeit-
alters, das wir eben betrachteten, neben jeder anderen mit Ehren
sehen lassen.
Hören wir nun die Schüler selbst Zuerst zwei Hallenser. Reiske
erzählt in seiner Selbstbiographie, wie er im Jahre 1728 als zwölf-
jähriger Knabe auf die lateinische Schule des Waisenhauses gekommen
38*
596 III, 6. Zustände des gelehrten Unterrichiswesens um 1700.
und vier Jahre dort geblieben sei. „Von dieser Schule brachte ich
einen ganz guten Grund im Lateinischen mit weg, sonst aber nicht
viel mehr. An zweien Klippen habe ich auf dieser Schule angestoßen.
Die eine ist diese: auf allen Schulen sind die Lehrer selten recht aus-
gesucht; die allerwenigsten schicken sich zu ihrem Amte. Und zu
Halle bringt es die Einrichtung so mit sich, daß man beinahe alle
Stunden und alle halbe Jahre andere und neue Praeceptores hat. Ich
hatte also zu Halle das Unglück, meistenteils unter Lehrern zu stehen,
die keine Litteratoren, keine wahren Schulleute waren. Sie konnten
mir den Cicero nicht recht ausschälen; ich bekam also einen Ekel an
den alten lateinischen Autoren, die ich nicht verstund. Böse Exempel
verführten mich zum Muretus, Buchner, Cunäus, Cellarius. Die las
ich fleißig, denn das konnte ich verstehen. Das war ein Unheil für
mich. Zwar hatte ich aus den neueren Latinisten eine so ziemliche
Latinitat geschöpfet, daß ich fertig Latein reden und schreiben konnte,
selbst so, daß Leute, die Kenner der guten Latinitat waren, mein Latein
für schön hielten. Aber die gute Latinitat der alten echten Autoren
habe ich erst im vierzigsten Jahre meines Lebens kennen gelernt, da
es zu spät war, das Verwahrloste wieder einzubringen. — Der zweite
Stein des Anstoßes, über welchen ich zu Halle fiel, war: In meinem
zwölften Jahr machten mich die Betstunden zum Narren. Ich ward
ein Betnarr. Allein die Hitze verrauchte bald; ich kam in die Welt,
kurz ich ward nicht viel besser als ein Naturalist. Von diesem so
weiten Sprunge über eine so große Kluft habe ich mich noch nicht
ganz erholt." Reiske hatte sein Leben lang damit zu thun, den Ruf
des Atheismus abzuwehren. — Von Halle ging er auf die Universität
Leipzig. Aus dem Bericht über seine dortigen Erlebnisse mag noch
Folgendes hier Platz finden: „Ich las dort einige griechische Schrift-
steller; weil ich aber keine Lehrer hatte, noch kannte (denn damals
wurden hier keine griechischen Collegia gelesen), mit dem nötigen Vorrat
von Hilfsmitteln nicht versehen war, die Grammatik so wenig verstand,
als ich den Wert und die Notwendigkeit derselben einsah und schätzte,
so kam ich auch hierin nicht weit. Die griechischen Autoren, ein
Demosthenes, ein Theokritus, waren mir zu schwer. Niemanden hatte
ich, der sie mir erklärt hätte; ich war ihrer also bald überdrüssig und
legte sie weg. Dagegen bemächtigte sich meiner Seele eine gewisse,
ich weiß selbst nicht woher entstandene, unsägliche und unaufhaltbare
Begierde Arabisch zu lernen." Diese Leidenschaft bestimmte nun zu-
nächst seinen Lebensweg.
Etwas später war Fkiedrich Nicolai (geb. 1733) auf derselben
Schule. Auch er hat in der Schrift „Über meine gelehrte Bildung'* (1 799)
urteile Über den SchtUbetrieb. 597
über die Einwirkung der Schale auf seine Entwickelung berichtet Es
heißt dort: „Ich lernte nichts als lateinische und griechische Wörter,
wunderbar zusammengeknetet in alle Pradikamente einer pedantischen
Grammatik. Es ward dekliniert, konjugiert, exponiert., analysiert, phra-
seologisiert und wer weiß was mehr; auch ward uns die lateinische
Prosodie aufgegeben, so daß wir bald wußten lateinische Verse zu skan-
dieren und nach der Elle dergleichen selbst zu verfertigen." Dazu
HüBNEBs Fragen aus der Geschichte und anderes. „Außerdem lernte
ich in Halle in der Schule des Waisenhauses beten und würde auch
nach damaliger Stimmung das Heucheln gelernt haben, wenn ich die
geringste natürliche Anlage dazu gehabt hätte. Vor allem ward in
Berlin (wo er vorher war) und in Halle oft wiederholt, wer nicht gut
Lateinisch lerne, sei ein deutscher Michel." Bei dieser Art des Unter-
richts wurde das Lateinische, gerade den hellsten und fähigsten Köpfen
zuerst, sehr widerlich. Besser ging es anfangs mit dem Griechischen.
Ein verständiger Lehrer wußte die Sprache am N. T. sehr wohl einzuüben.
Als aber dieser die Schule verließ und „ein heulender pietistischer
Pedant" folgte, gab Nicolai es auf, indem er erklärte, daß er Jurist
werden wolle. „Es war damals in Halle unter Lehrern und Schülern
ein Axiom: ein Theolog müsse Hebräisch und Griechisch, ein Medicus
Griechisch, ein Jurist nur Lateinisch lernen, doch könne ihm das
Griechische nicht schaden." Trotz dem Zureden des Inspektors Fbei-
LiNGHAüSEN, der die Süßigkeit, das N. T. in der Grundsprache zu
lesen, anpries, setzte N. sein Verlangen durch, dispensiert zu werden.
Erst kurz vor Abgang von der Schule lernte er bei einem Selektaner
aus Freyebs fasciculus poematum graecorvm etwas vom Homer kennen
und meint: er wäre gewiß in der griechischen Klasse geblieben, wenn
ihm statt des N. T.s dieser fascicultis wäre empfohlen worden. Ab-
geschreckt durch den Schul betrieb entschloß sich Nicolai, nicht zu
studieren, sondern den Buchhandel zu lernen. Er besuchte noch ein
Jahr lang (1748) die eben begründete Berliner Realschule, die er
überaus lobt: selbst Virgil und Horaz habe er hier erst liebgewonnen.
Als Buchhändler in Berlin etabliert, las er später, um das gleich hier
zu erwähnen, mit M. Mendelssohn zusammen, den griechischen Homer:
„Die erste Lesung der Ilias und Odyssee that auf mich eine wunderbare
Wirkung, ich lebte eine Zeit lang in Troja und Ithaka" (S. 29 ff.). Das
war 1757. Ein neues Zeitalter war heraufgekommen.
Sehr anschaulich ist in Semlees Selbstbiographie das Eindringen
des Pietismus in . der kleinen Residenz Saalfeld geschildert, das Ein-
schleichen bei Hofe, das Durchdringen in Kirche und Schule, die Er-
weck ungsstunden im Schloß und in der Schule, mit Herzensergießungen,
598 lU, 6. Zustände des gelehrten Unterrichtswesens um 1700,
Offenbarungen des Seelenzustandes und umgehender Gebetsübung. Sehr
deutlich tritt auch die Wirkung dieses aufgeregten Treibens auf die
Gemüter zu Tage: wir sehen nebeneinander die ihrer Versiegelung Ge-
wissen, die Erweckten, die nicht zur Gewißheit kommen können und sich
mit Bußübungen abmartern, die geschäftsmäßigen Eonventikler, die
dabei auch allerlei weltliche Absichten verfolgen. Die Geringschätzung
der Wissenschaft ist überall ein charakteristischer Zug. Der junge
Semler, der die Zerrüttung, die durch die forcierten Religionsübungen
bewirkt wurde, in nächster Nähe sah, auch vorübergehend an sich
selber erfuhr, wurde durch seine entschiedene Neigung für die Studien
vor dem ungesunden Wesen bewahrt Daß es ähnliche Eindrücke
waren, welche Kant und Rühnken von den pietistischen Religions-
übungen auf dem Fridericianum ins Leben mitbrachten, ist aus gelegent-
lichen Äußerungen beider, welche bei den Biographen Kants berichtet
werden, zu entnehmen; wer Kants Urteile über äußerliche Religions-
übungen kennt, wird nicht im Zweifel darüber sein, daß lange gehegte
Bitterkeit daraus spricht.
Noch mögen ein paar charakteristische Äußerungen Lessings über
Lehrer und Schule zu Meißen Platz finden. An seinen Vater schrieb
er als Student: „Ich habe es schon in Meißen geglaubt, daß man vieles
daselbst lernen muß, was man in der Welt gar nicht brauchen kann,
und jetzo sehe ich es noch viel deutlicher ein." Und über den Kon-
rektor Höbe ließ er sich als Alumnus also vernehmen: „Ich weiß
wohl, daß seine geringste Sorge ist, aus seinen Untergebenen ver-
nünftige Leute zu machen, wenn er nur wackre Fürstenschüler aus
ihnen machen kann, d. i. Leute, die ihren Lehrern blindlings glauben,
ununtersucht, ob sie nicht Pedanten sind." . Höbe hatte die poetischen
Übungen. Lessings Lieblingslehrer war der Mathematiker.^ — Daß
Klotz wenige Jahre später aus St. Afra davon lief, wurde schon früher
erwähnt.
Hebdeb mag die Reihe beschließen. „Es ist für mich unbegreif-
lich, wie unser Jahrhundert so tief in die Schatten, in die dunklen
Werkstätten des Kunstmäßigen sich verlieren kann, ohne auch nicht
einmal das weite helle Licht der uneingekerkerten Natur erkennen zu
wollen. Aus den größten Heldenthaten des menschlichen Geistes, die
er nur im Zusammenstoß der lebendigen Welt thun und äußern konnte,
sind Schulübungen im Staube unserer Lehrkerker, aus den Meister-
stücken menschlicher Dichtkunst und Beredsamkeit Kindereien ge-
worden, an welchen greise Kinder und junge Kinder Phrases lernen
» Flathe, 253, 261. Vgl. Danzel, Lessing, I, 29 f.
Lebensbilder: Winckelmann. 599
und Regeln klauben. Wir haschen ihre Formalitaten und haben ihren
Geist yerloren; wir lernen ihre Sprache und fühlen nicht die lebendige
Welt ihrer Gedanken."
Ich lege nun noch ein paar Lebensbilder ein, die geeignet sind,
die Zustande im gelehrten ünterrichtswesen dieser Zeit und zugleich
die vorwärts drängenden Kräfte erkennen lassen.
J. J. WiNCKELMANN mag die Reihe eröffnen. Mit ungemeiner
Deutlichkeit tritt in seinem Leben der Gegensatz der ersten und der
zweiten Hälfte des Jahrhunderts, der Gegensatz des abgestorbenen Alt-
humanismus und des lebendig aufstrebenden Neuhumanismus uns ent-
gegen. Ich entnehme die Daten aus der Biographie von C. Jüsti,
einer der lehrreichsten und nachdenklichsten unter allen deutschen
Lebensbeschreibungen. Winckelmann ist 1717 zu Stendal in der Alt-
mark geboren, sein Vater war ein armer Schuhflicker, der einzige Raum
des Hauses Werkstatt, Wohn- und Schlafstube zugleich. Der Wissens-
drang des Knaben setzte die Aufnahme in die Lateinschule durch; er
unterhielt sich durch Freitische, Nachhilfestunden und die Kurrende,
die nach altem Herkommen vor den Thüren singend Brot und Geld
erbettelte; später war er Präfekt des Chors, der unter dem Kantor beim
Gottesdienst, bei Leichenfeiern und Hochzeiten sang, auch dreimal im
Jahr einen Umgang durch die Stadt hielt. Die Schule war officina
Laänitatis; doch wurden auch die Elemente des Griechischen gelernt,
dazu Logik und natürlich Religion oder Theologie: in keiner Stunde,
wird berichtet, war er ein unaufmerksamerer Zuhörer als in den theo-
logischen, wo er sich gern heimlich mit einem alten Schriftsteller be-
schäftigte. Auch fehlten nicht Schulakte mit Reden, lateinischen und
deutschen, und einer Disputation geschieht Erwähnung, wobei der
14Y2Jährige Winckelmann über die Frage disputierte: „ob das Eben-
bild Gottes anerschaflfen oder als übernatürliche Gabe Gottes hinzugethan
sei". Die Kirche wurde Sonntags zweimal von der ganzen Schule in
Prozession besucht; Montags und Donnerstags fand Katechese in der
Kirche statt. Als Amanuensis des Rektors hatte er Zutritt zu dessen
Büchern und verwaltete auch die kleine Büchersammlung der Schule.
— Im Jahre 1735 machte er sich nach Berlin auf den Weg, um am
CöUnischen Gymnasium sein Griechisch zu verbessern. Hier war näm-
lich der Konrektor Damm, ein eitriger Liebhaber des Griechischen, be-
sonders des Homer, dessen Kunst und Bildung er gegen die neumodischen
Franzosen, die ihn zu einem Bänkelsänger machten, verteidigte und den
er auch, in Prosa, übersetzte. Doch leitete er die Schüler auch zu
deutscher Wohlredenheit an; so ließ er im Dezember 1735 in 20 Reden
600 ///, 6, Zustände des gelehrten Unierrichiswesens wm 1700.
die Tugenden des Verstandes beschreiben, durch das folgende Jahr geht
ein Cyclus von Reden über den Gelehrten: von den Chimären der Ge-
lehrten, von gelehrten Fürsten, von gelehrten Schustern, von frühzeitigen,
spätklugen, sehr alt gewordenen Gelehrten u. s. w. Später machte Damm
sich auch als Freigeist und Verbesserer der deutschen Sprache bekannt
Auch Mathematik und Physik, vor allem aber Geschichte dienten der
Polymathie. Mit dem griechischen Unterricht stand es übrigens auch
hier bescheiden genug, in I las man zwei Stunden Homer, den Frosch-
mäusekrieg und Herodian. Unterkunft fand Winckelmann als Pädagog
beim Rektor, der übrigens beim Abgang zu seinem Namen ins Album
die Worte setzte: komo vagiLs et inconstans. Nach etwa einjährigem
Aufenthalt vertauschte er Berlin mit Salzwedel, wo ein gelehrter, aber
wunderlicher Pedant das Schulszepter schwang: über der Rektorwohnung
stand die Inschrift: fabrica mentium. Justi wendet auf die Lehrer
die Charakteristik aus Ruhnkens Rede de doctore umbratico an: „ob-
wohl mit der Wissenschaft umgehend, welche bestimmt ist, zu liebens-
würdiger Menschlichkeit zu erziehen, bleiben sie jedes Sinnes hierfür
bar; ja verlieren den gesunden Menschenverstand: sie sind weniger
Menschen als Menschenscheuchen". In einer Schlußbetrachtung aber
heißt es: „Und so hatte Winckelmann denn bis zu seinem 19. Jahr
fast überall an taubes Gestein angeschlagen, die Schalen der Gelehr-
samkeit hatte er gefunden, von dem Kerne fast nichts. Doch war die
Fahrt durch die Steppen solcher Schulen Köpfen, wie der seine, weit
weniger gefährlich, als die spätere Vollstopfung mit Stoffen, welche zu
Zerstreuung und Sattheit und von da zu stumpfer Langeweile führt,
auf welche die Lethargie der intellektuellen Kräfte folgt, die man
Blasiertheit nennt."
Im Frühjahr 1738 ging er endlich nach Halle und wurde hier
als Studiosus theologiae inskribiert. Er hörte, der Vorschrift folgend,
philosophische und theologische Vorlesungen, doch ohne Verlangen,
„die akademische Speise blieb ihm zwischen den Zähnen hängen". Da-
gegen las er fleißig die Alten, in geborgten Büchern und in den Bücher-
sälen der Bibliothek und des Waisenhauses. Auch zog er fleißig die
neuen franzosischen und englischen Skeptiker und Deisten aus, so daß
er in den Geruch eines Gottesleugners kam. Sein Abgangszeugnis von
der Universität (22. Februar 1740) drückt sehr zurückhaltend gute
Meinung und Hoffnung von ihm aus: „obwohl uns von seinem inneren
Zustande keine hinlängliche Kunde geworden ist, so hoffen wir doch,
daß er aus den von ihm, wie bezeugt wird, besuchten Vorlesungen
einigen Nutzen ziehen wird". Nachdem er ein Jahr in einem adligen
Hause der Altmark als Informator konditioniert hatte, ging er nochmals
Lebensbilder: Winckelmann, 601
auf die Universität, diesmal nach Jena, wo er bei Hambubgeb mathe-
matische und medizinische Studien trieb, übrigens durch Information
seinen Unterhalt gewann. Dann ist er wieder 1^3 Jahre Hauslehrer,
diesmal bei einem bürgerlichen Oberamtmann, nachdem ein Reiseplan
gescheitert war. Endlich lief er, schon 26jährig, in den Hafen eines
Amts ein: er wurde 1743 Konrektor in Seehausen in der Altmark.
Fünf Jahre hat er an diesem Orte sich mit dem Schulunterricht, für
den er nicht geschaffen war, geplagt In seiner Probelektion handelte
er „in der Theologie über das Dogma von der Erlösung, in der Philo-
sophie über die Ideen, mit ziemlicher Richtigkeit und Lebhaftigkeit",
gab auch Proben seiner Kenntnis in den drei Sprachen. Er lehrte
Hebräisch und Griechisch, auch Geometrie und Logik; doch hatte er
keine Freude daran, die Knaben konnten ihm nicht folgen und es kam
zu ärgerlichen Auftritten. Auch bei den Bürgern war er nicht beliebt,
„weil er ein Liebhaber der Einsamkeit und ein Feind des andern Ge-
schlechts" war; endlich zerfiel er mit dem geistlichen Herrn, man be-
merkte, daß er unter der Predigt den Homer las. So kam es, daß er
zum Elementarunterricht hinabgestoßen wurde; er giebt sich selber
später das Zeugnis: „Ich habe den Schulmeister mit großer Treue ge-
macht, und ließ Kinder mit grindigen Köpfen das ABC lesen, wenn
ich während dieses Zeitvertreibs sehnlich wünschte zur Kenntnis des
Schönen zu gelangen und Gleichnisse aus dem Homer betete". Sein
Einkommen betrug etwas über 120 Thaler, 4372 ^^^ ^®^ Kirchenkasse,
40 aus Kollekten (statt der mensa ambulatoriaj die 1709 abgeschafft
war) und noch etwa 40 für Wohnung, aus Accidenzien von Leichen,
Trauungen, Neujahrsrekordationen und aus Privatstunden. Davon er-
hielt er auch noch seinen alten Vater im Hospital. Von seiner Tages-
ordnung berichtet ein Bekannter: „den ganzen Winter kam er nicht
ins Bett, sondern saß im Lehnstuhl in einem Winkel vor einem Tisch,
auf beiden Seiten standen zwei Bücherrepositorien. Wenn er den Tag
mit Schulstunden und dem Unterricht seiner Pensionäre zugebracht
hatte, so studierte er für sich bis Mitternacht; dann löschte er seine
Lampe und schlief bis 4 Uhr auf dem Stuhle. Um vier zündete er
das Licht wieder an und las bis 6 Uhr, wo die Information seiner
Junker von neuem begann". Massenhaft noch erhaltene Auszüge aus
Büchern, die er mit unendlicher Mühsal sich verschaffte, von seiner
Armut kaufend und von Freunden und Bekannten, willigen und un-
willigen, borgend, sind die Frucht dieser nächtlichen Arbeit; neben den
Griechen ist es die Geschichte, Universal-, Staaten und Gelehrten-
geschichte, aus der er rastlos, mit der Geschäftigkeit der Ameise, Stöße
von Exzerpten zusammenschleppt. Außer dieser Leidenschaft hat er
602 Uly 6, Z^stmide des gelehrten Unterrichtswesens um 1700.
noch eine zweite, eine Leidenschaft für Freundschaft mit Jünglingen,
die bei dem auch hierin antik empfindenden etwas von einem erotischen
Charakter an sich hatte; aber auch sie führte für den Unverstandenen
nur Enttäuschungen herbei. — Das Jahr 1748 brachte endlich die
sehnlich erstrebte Erlösung vom Schuldienst; er trat als Bibliothekar,
Sekretär und Mitarbeiter an der deutschen Reichsgeschichte in den
Dienst des Grafen von Bünau bei Dresden, und hier knüpfte er die
Verbindungen, die ihn dann in neue Bahnen führten, nach Rom, wo
er die Griechen, nach denen er so sehnliches Verlangen getragen hatte,
mit Augen schauen sollte.
Auf WiNCKELMANN mag Heyne, der Göttinger, folgen. Er ist
1729 zu Chemnitz geboren, sein Vat^r war ein armer Leineweber. Er
erzählt selbst aus seinen Jugendjahren (mitgeteilt in seiner Lebens-
beschreibung von seinem Schwiegersohn Heeren, 1813). „Ich ward
in der grOßt-en Dürftigkeit geboren und erzogen; der früheste Gespiele
meiner Kindheit war der Mangel, und die ersten Eindrücke machten
die Thränen meiner Mutter, die für ihre Kinder kein Brot wußte."
Er besuchte eine Kinderschule, dann durfte er an einer Privatstunde
Latein teilnehmen, wofür wöchentlich ein guter Groschen zu entrichten
war, den ein Pate auf sein inständigstes Bitten für ihn zahlte. Ein
anderer Pate, ein Geistlicher, ließ ihn von seinem zwölften Jahr ab
die Lateinschule besuchen, indem er den Gulden Quartalgeld für ihn
bezahlte, auch ihm das notwendige blaue Mäntelchen und einige Bücher
schenkte. Sieben Jahre besuchte Heyne nun die beiden ersten Klassen
der Lateinschule. Daneben gab ihm der Pate, ein alter, geiziger Hage-
stolz, einige Lateinstuuden; er hatte nämlich „die Eitelkeit, ein guter
Lateiner und, was noch mehr ist, ein lateinischer Versmacher und
folglich ein Gelehrter sein zu wollen". „Kaum war Erasmus de civili-
täte morum auf die Seite gebracht, so ward ich zum lateinischen Verse-
machen angeführt, ehe ich noch Schriftsteller gelesen oder nur einigen
Wortvorrat verschafft hatte. Hätte er nur noch einen Klassiker in
die Hände genommen. Aber den hatte er nicht, sondern bloß einen
Owen, Fabricius, ein paar Collectiones epigrammatum^ und einige geist-
liche Dichter, aus denen er mir Verse diktierte, die ich verändern,
paraphrasieren, in ein anderes metrum übertragen mußte. Noch
schlimmer gings, als er weiterhin selbst Verse machte, an denen ich
die Prosodie, denn das war gleichgeltend bei ihm mit Poesie, lernen
sollte." Zum Geburtstag überrascht ihn der Schüler durch eigen-
gemachte Verse: „das erstemal, daß seine stolz finstre Miene sich zu
einem Lächeln verzog. Allein ich hatte hierdurch den Grund zu den
lästigsten Anforderungen gelegt, denn nun erwartete man bei jeder
Lebensbilder: Heyne. 603
feierlichen Gelegenheit 61 ückwünschungs- Carmens, nicht bloß von 10
bis 20 Versen, nein; das geringste war einige Hundert und zwar in
allerhand Metren." „Der Unterricht in der Schule war nicht viel besser;
es war ganz *der ehemalige Schlendrian : lateinische Vokabeln, Exponieren,
Exerzitien, alles ohne Geist und Sinn. Ich wäre auf diesem Wege end-
lich zur völligen Stupidität fortgegangen." Ein glücklicher Zufall gab
einen neuen Anstoß. Bei einem Schulexamen war der Superintendent
zugegen. Er verlangte ein Anagramm auf Äustria; keiner wußte was
ein Anagramm sei. Der kleine Heyne begriff die Erklärung zuerst und
bildete Fastari, was ihm, dem InfimtiSy lautes Lob von dem Scholarchen
und neidischen Haß bei den Kameraden eintrug. „Dieses pedantische
Abenteuer gab den Anstoß zur Entwickelung meiner Kräfte, und ent-
fernte mich von dem Umgang mit den Kommilitonen, unter denen,
wie es bei einer Jugend von niedriger Herkunft und schlechter Er-
ziehung nicht anders sein kann, die äußerste Ungezogenheit und Sitten-
losigkeit jeder Art herrschte." „Was mir der Schulunterricht verschaffte,
beschränkte sich fast bloß auf Vokabeln und Phrasen. Mit dem Grie-
chischen ging es nicht besser. Das N. T. und Plutarch von der Er-
ziehung war alles, was wir von griechischen Büchern kannten. Ich
mußte mein Pensum abschreiben, eine Wellerische Grammatik entlehnen.
Gleichwohl arbeitete ich mich in das Griechische so wacker hinein, daß
ich griechische Elaborationen verfertigte, weiterhin griechische Verse,
nachher selbst in griechischer Prosa, endlich in griechischen sowohl als
lateinischen Versen das Extemporaneum und sogar die Predigten nach-
schrieb. In prima gelangte ich zur Notiz von einigen Klassikern.
Unser Rektor, der selbst den Homer hat abdrucken lassen, gab noch
Privatstunden über die eine und andere Rhapsodie. Aber es fehlte
ihm überall an den Elementen selbst. So gewann ich daran keinen
Geschmack, nicht einmal am Homer, las keinen einzigen Schriftsteller
aus, war also beim Abgehen von der Schule in allem ganz fremd, was
auf klassische Gelehrsamkeit Beziehung hatte." Erst im letzten Schul-
jahr (1748) kam ein Schüler Ernestis, der nachherige Rektor in Grimma,
Kbebs, als Konrektor nach Chemnitz und gab doch einigen Vorschmack
von etwas Besserem. Er gab Heyne, den er seiner Aufmerksamkeit
würdigte, eine griechische Privatetunde, worin Sophokles' Ajax erklärt
wurde. Endlich kam auch einige Verbesserung der äußeren Umstände:
er erhielt Privatinformation in einem guten Hause; „da mir diese
Stunden monatlich einen Gulden brachten, so war ich nun auch gegen
den Unwillen der Meinigen mehr gesichert. Bisher hatte ich oft noch
Handarbeiten geleistet, um nicht hören zu müssen, daß ich umsonst
ihr Brot essen wolle." Auch verschaffte der Umgang mit jener Familie
604 ///, 6. Zustände des gelehrten Unterrichtswesens um 1700.
dem Schüchternen und Linkischen einige Bildung. — Bitterste Zeit des
Mangels und Kummers kam dann wieder, als Heyne, mit zwei Gulden
in der Tasche, die Universität Leipzig bezog. „Das meiste wirkte auf
mich der Trotz gegen das Schicksal, überall es darauf ankommen zu
lassen, ob ich ganz in Staub solle und müsse liegen bleiben.^' Nach
einem Jahr etwa wurde er mit Cheist bekannt, der sich freundlich
gegen den armen, durch sein Äußeres nicht eben empfohlenen Studenten
erwies; „er erlaubte mir zu ihm zu kommen, reichte mir ein Buch,
ließ mich in einem Zimmer sitzen, unterhielt sich zuweilen mit mir,
gab mir auch wohl einige Lehren über das Schickliche und Unschick-
liche." Er riet, die Alten nach dem Beispiel des Scaliger von den
Ältesten ab in der Folge zu lesen; mit dem Herodot ward der Anfang
gemacht „Ich verfolgte den Rat eine gute Zeit so weit ich die nötigen
Bücher geborgt erhalten konnte. So unsinnig war mein Eifer im Lesen,
daß ich länger als ein halbes Jahr die Woche nur zwei Nächte schlief.**
Nützlich wurden besonders die Vorlesungen Eknestis. Auch ein Priva-
tissimum, in dem die Teilnehmer selbst interpretierten, öffnete sich ihm,
und hier bekam er die ersten Ideen über Methode, wenigstens der
sprachlichen Interpretation. Dazu begann er, um doch ein Brotstudium
zu haben, die Rechtswissenschaften zu erlernen. Die äußere Bedräng-
nis dauerte inzwischen fort, durch Privatinformation mußte ein kümmer-
licher Unterhalt verdient werden. Da brachte im Jahre 1752 ein Zufall
eine unerwartete Wendung: ein lateinisches carmen von Heyne auf
den Tod eines Geistlichen erregte, mehr durch die opulente Ausstattung
als durch den Inhalt, die Aufmerksamkeit des allmächtigen Ministers
Brühl, er ließ den Wunsch fallen, den Verfasser kennen zu lernen.
Heyne macht sich, nachdem er sich equipiert, mit geborgten 51 Thalem,
nach Dresden auf den Weg. Der Minister sah ihn mit gnädigem
Lächeln an und — speiste ihn mit Versprechungen. Nach einem halben
Jahr bittersten Hungers erhielt er endlich eine Stelle als Kopist an
Brühls Bibliothek mit 100 Thalern Gehalt Hier lernte er die neuen
Schriften der Franzosen und Engländer kennen; gelegentlich begegnete
er hier auch Winckelmann. Die Not trieb, durch schrifstellerische
Arbeiten einen Nebenverdienst zu suchen; er gab den Tibull und
Epiktet heraus. Dann warf der Überfall Dresdens durch die Preußen
(1756) den eben ans Ufer strebenden wieder in die Flut zurück; er
mußte eine Hofmeisterstelle in einem adeligen Hause annehmen, ging
1759 mit dem Zögling nach Wittenberg auf die Universität, wo be-
sonders historische Studien, bei Ritteb, getrieben wurden. Nachdem
der Krieg ihn noch ein paar Jahre hin- und hergeworfen und ihm
alles genommen hatte — bei dem Bombardement von Dresden (1760)
Lebensbilder: Busch. 605
verbrannte seine ganze Habe, auch seine Manuskripte — lief er end-
lich im Jahre 1763 unerwartet in den Hafen ein: er wurde als Nach-
folger Gesnees nach Göttingen berufen; Ruhnken hatte auf ihn die
Aufinerksamkeit gelenkt
Nicht ohne Interesse ist auch die kleine Selbstbiographie von
J. G. BüscH, dem späteren Begründer der Handlungsakademie zu Ham-
burg: Über den Gang meines Geistes und meiner Thätigkeit (Ham-
burg 1794). Geboren 1728 als Sohn eines Hamburgischen Predigers,
erhielt er den ersten Unterricht durch eine Reihe von Hauslehrern,
von welcher Gattung von Menschen und ihrem Schicksal er eine wenig
günstige Meinung hat Nach dem Tode des Vaters kam er, 15 jährig,
auf die Gelehrtenschule der Stadt Der Unterricht des Konrektors war
überaus elend. „Lateinische Schriftsteller wurden so gelesen, daß der
erste in der Bank eine Periode laut übersetzte. Dann hieß es: repete^
bis die ganze Bank durchgenommen war. Dann kauete die folgende
Bank eine zweite Periode durch, und so fortan, ohne ein Wort der Er-
läuterung. In den Privatstunden wurden wir mit Zusammenstoppelung
verworfener lateinischer Verse oder mit deutschen Perioden ex argu-
mentis ab utüi, a jucundo u. dergl. gequält" Pennalismus und andere
widrige Dinge fehlten nicht Inzwischen lernte der kleine Busch ohne
Lehrer und ohne Grammatik Französisch und Englisch, aus geliehenen
Autoren, die er mit Hilfe eines Lexikons entziflferte. Etwas besser war
der Unterricht des Rektors, den er vom 17. — 19. Jahr genoß. „Alles
ging auf kursorische Lektüre hinaus; wer die Perioden des Cicero und
Livius ebenso geschwind, als er sie lateinisch hergelesen hatte, deutsch
wiedergeben konnte, hatte seinen Beifall. Aber ebenso kursorisch wurden
lateinische wissenschaftliche Bücher, z. B. Baumeistees Logik, Ernestis
Initia, Nieupobts Antiquitäten, Vossii Rhetorica, ohne Anmerkungen
und Exempel, ohne Rückfragen, ob und was wir verstanden oder be-
halten hatten, nicht gelesen, sondern durchgejagt Und das hieß Philo-
sophie, Redekunst und Altertümer treiben." Auch zu den Aufsätzen
und Reden, die gefordert wurden, gab es keine Anleitung. Ebenso
wenig zu den Disputierübungen, die in lateinischer Sprache stattfanden.
„Als die Reihe an mich kam, fiel ihm ein, die Authentizität der Schriften
des N. T. zum Gegenstand unserer Disputation zu machen. Ich sollte
opponieren, der ich niemals gehört hatte, daß Zweifel daran statthätten.
Ich geriet an /. Casauboju Exercitationes ad Baronii Annales, in deren
ersten Abschnitten die Authentizität verteidigt wird. Nun lernte ich
die Gegenseite einigermaßen kennen, bildete Argumente daraus, oppo-
nierte bis in die dritte Stunde und schied aus diesem Kampf mit einer
Ehre, die ich damals für große Geldbelohnung nicht vertauscht haben
606 III, ()\ Zustände des gelehrten Untenichiswesens um 1700.
möchte." Man sieht, die Schüler wurden ins Wasser geworfen, nun
hieß es schwimmen können. — Mit 19 Jahren kam Busch auf das
akademische Gymnasium, das sich an das Johanneum anschloß und
machte hier den zweijährigen Kursus in der Philosophie und den Wissen-
schaften durch; er hält diese zwei Jahre für die bestangewendeten seines
Lebens. Besonders erwies sich der philosophische Unterricht des älteren
Reimabus förderlich. Daneben wurde Geschichte und Mathematik, be-
sonders angewendete, fleißig getrieben. 1748 ging er nach Göttingen,
mit Stipendien, und studierte hier drei Jahre Theologie (bei Mosheim),
Geschichte und Staatswissenschaften, Mathematik und Physik, vielfach
ohne Hilfe, auf der Bibliothek. Dann folgen die Jahre „traurigen
Kandidatenstandes". Als Erzieher und Hauslehrer, unter demütigenden
Verhältnissen bis zur Erschöpfung arbeitend, rieb er die Kraft« auf, bis
sich ihm die Stelle eines Mathematiklehrers am Johanneum öffnete und
zugleich den Studien die Richtung auf Mathematik und Naturwissen-
schaft gab. Endlich gab die Teilnahme an der Handlungsakademie
seinen Arbeiten nochmals eine Wendung auf die wirtschaftlichen Dinge.
Noch füge ich hier aus der für die Geschichte des Gelehrt^nw^ens
im 18. Jahrhundert in mancher Hinsicht interessanten Selbstbiographie
J. St PüTTEEs, des bekannten Göttinger Staatsrechtslehrers, die Um-
risse seines Bildungsganges ein. Geboren 1725 zu Iserlohn aus guter
bürgerlicher Familie, erhielt er den ersten Unterricht mit anderen
Knaben von einem Privatlehrer, „denn mit den damaligen Lehrern der
ordentlichen Stadtschule war man nicht zufrieden. Einem königlichen
Befehl, den der damalige Rektor dagegen bewirkt hatte, wichen wir
damit aus, daß unser Herr Kandidat mit allen seinen Schülern sich auf
einige Wochen ins Kölnische gab." Als der Kandidat eine anderweit«
Versorgung erhielt, wurde der kleine Ptittee zu einem Prediger gethan,
bei dem er mit drei oder vier anderen Schülern drei Jahre lang Unter-
richt im Lateinischen, Griechischen, Hebräischen und Chaldäischen, auch
in den Anfangsgründen der Geographie und Geschieht« hatte. ÖflFent-
licher Vortrag einer lateinischen Bede und eines ebensolchen Gedichtes
auf einen Kometen ragen als Ereignisse noch in der Erinnerung des
alten Mannes hervor. Noch nicht 13jährig wird er 1738 auf die Uni-
versität Marburg geschickt; um als Student gelten zu können, muß er
trotz seiner Jugend den Degen anlegen; er hört bei Wolf Mathematik
und Metaphysik, dessen Vortrag er rühmt: „er las nicht ab und dik-
tierte nicht, deklamierte auch nicht, sondern sprach ganz frei und un-
gezwungen natürlich". Bei einem andern hörte er Logik, Univeral-
historie und Keichsgeschichte, endlich Institutionen. 1789 ging er nach
Halle, wo er bei dem Theologen Baumgarten Dogmatik (als Konfir-
Lebensbilder: Pütter. 607
mationsunterricht), bei dem Philosophen Baumgarten Moral und all-
gemeine Encyklopädie, außerdem juristische und staatswissenschaftliche
Vorlesungen hörte. Ferner begann er hier Französisch, Englisch, Italie-
nisch, Flöte und Tanzen. Nach zwei Jahren ging er nach Jena, auf
Rat eines Freundes, der ihm bei Prof. Estor Logis verschaflFte; von diesem
erhielt er seine Bücher und vor allem auch die Akten zur Benutzung.
Außer den juristischen Studien trieb er hier noch angewandte Mathe-
matik und setzte das Französische und Italienische fort. Auch erhielt
er hier zuerst Gelegenheit zum Unterricht: er repetierte mit einem im
Hause wohnenden jungen Edelmann die Institutionen. 1742 siedelte
er mit Estor nach Marburg über, wo er hörend und lehrend seine
juristischen Studien fortsetzte, 1744 promovierte und sogleich in Estors
Hörsaal zu lesen begann, und zwar über deutsche Reichs<ieschichte. vor
39 Zuhörern, darunter 11 Adligen. 1746 wurde er, 21 Jahre alt, von
MüNCHHAUSEN zuuächst als außerordentlicher Professor nach GOttingen
gezogen, das er, trotz zahlreicher lockender Anerbietungen nicht wieder
verließ. Beinahe 60 Jahre lang hat er hier die Rechts- und Staats-
wissenschaften gelehrt, vor allem das deutsche Staatsrecht; mit Genug-
thuung giebt er in seiner Biographie zu jedem Jahr die Zahl der Hörer
an und unterläßt nicht die Herren von Stande namentlich aufzuführen;
wie denn aus dem ganzen Buch jene submisse Devotion gegen den hohen
und niederen Adel atmet, die die Luft des 18. Jahrhunderts erfüllt.
Wir sind am Ende der ersten Hälfte unserer Darstellung. Wir
haben die Geschichte des gelehrten Unterrichts unter dem Zeichen des
alten Humanismus bis zu seinem Absterben verfolgt. Um 1740 sind
die Schulen auf den tiefsten Stand in der öflFentlichen Schätzung ge-
sunken, den sie überhaupt erreicht haben. Was sie triöben, galt in der
Welt draußen nicht mehr; was draußen galt, trieben sie noch kaum.
Der althumanistische Schulbetrieb mit samt seinem Ziel, der lateinischen
Poesie und Eloquenz, war tot; und alle Beredsamkeit der Professoren
der Eloquenz und alles Klagen und Schelten der Gymnasialpädagogen
konnte ihn nicht wieder zum Leben bringen. —
Eine Probe aus dem kastalischen Quell, den die Lehrer und Pro-
fessoren der Poesie erschlossen, mag dem Leser, der bisher so viel Schul-
staub geschluckt hat, zu einer Plrfrischung und Ergötzung hier am Ende
vorgesetzt sein. Ich entnehme sie einem von dem Witten])frger pro-
fessor poeseos C. L. Crkllius „nojnine academiae elaborierten in zwei
Bogen auf Atlas gedruckten carmen^% das August dem Starken bei seiner
Anwesenheit in Wittenberg im Jahre 1728 vom Rektor und Senat über-
reicht wurde. Was Übung, Kunst und Imitation in der Poesie vermag.
608 ///, 6, Zustände des gMirten ünterrichtswesens um 1700,
wird der Leser mit Nutzen und Vergnügen aus dieser kleinen Probe ent-
nehmen; zugleich auch, was von der Rede zu halten sei: daß die deutsche
Litteratur allein dem treuen Studium und der Nachahmung der Alten
ihren Aufschwung seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts zu danken habe.
Die ersten vier Verse des besagten, auf Atlas gedruckten Carmens (wo-
von ein Abdruck auf der kgl. Bibliothek ist) lauten also folgendermaßen:
August ist da! Wie! Fühlt ihr nicht
Der Gottheit Strahl, der Regung Kräfte?
Bewegt nicht Ehrfurcht, Freude, Pflicht,
Kunst, Geister, Herzen, Mark und S&ft;e?
Was hemmt des Bluts erhitzten Lauf?
Was hält euch, edle Musen, auf?
Was stöhrt der frohen Seele Flammen?
Dringt durch, reißt Band und Damm entzwej;
Zeigt, was der Liebe WQrkung sej.
Setzt Trieb, Verstand und Geist zusammen!
August, DU bist der Hoffnung Ziel,
Wonach uns Lieb und Ehrfurclit leitet:
Und wir ein lebend Harffen- Spiel,
Das die Natur vor DICH bereitet.
Mit Adern, als mit Sajten, ziert.
Die t-äglich Lieb und Treue rührt
Daß wenn das Blut mit Freuden wallet,
Und jedes Tröpffchen, so sich zeigt.
Bald ab-, bald wieder aufwärts steigt,
Augustens Nalim und Ruhm erschallet
Die Heftigkeit ist ungeschickt.
Der Wünsche Sehnsucht zu bezeugen.
Die, von Begierd und Gluth erstickt.
Doch häufig aus dem Herzen steigen.
Ein 9^uf^[j^j>driiigt dem andern vor,
Cfe' Muiid wiod ein verwirrter Chor,
VerÄeret W^e, Thon und {nieder;
Die Ohnmacht strebt und greift sich an,
Und fällt, iRadl sie nicht weiter kann.
Gebückt zu Deinen Füßen nieder.
Die Jugend hebt das Haupt empor.
Der Säugling wird DIR nachgetragen.
Der lahme Greis dringt sich hervor,
Der Kranke fragt und läßt sichs sagen:
Das schwangre Weib kreucht auf das Dach
Umi^sieht DIR mit Erstaunen nach.
Des künftgen armen Erbens willen:
Die Frucht, die sie gefährlich trägt.
Mit Liebe, so sie vor DICH hegt,
Noch ungebohren zu erfüllen.
}<.'-
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