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AKTES SCIENTIA VERITAS
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GESCHICHTE
DES
JÜDISCHEN YOLKES
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ZEITALTER JESU CHRISTI
VON
D. EMIL §PHURER
ORDEÜTL. PROFESSOR DER THEOLOGIE ZU GÖTTINGEN
VIERTE AUFLAGE
ZWEITER BAND
DIE INNEREN ZUSTÄNDE
LEIPZIG
J. G. HINKICHS'schb BUCHHANDLUNG
1907
J>5
f
Das Recht der Übersetzung vorbehalten
Druck von August Pries in Leipzig.
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Vorwort.
Obwohl seit dem Erscheinen der vorigen Auflage dieses Bandes
(1898) nur neun Jahre verflossen sind, hat sich doch bei der großen
Mannigfaltigkeit des Stoffes an so vielen Punkten die Notwendig-
keit größerer oder kleinerer Ergänzungen ergeben, daß eine aber-
malige Erweiterung des Umfangs unvermeidlich war. Neue Funde
von Handschriften, Inschriften, MUnzen, Papyrustexten, neue Ar-
beiten von Mitforschern, durch welche den alten Quellen neue
Aussagen und Gesichtspunkte abgewonnen wurden, endlich die
fortgesetzte eigene Beschäftigung mit dem Gegenstand haben wieder
aufs eindringlichste gelehrt, wie wenig es auch auf diesem Gebiete
Buhe und Stillstand gibt. Die große Masse der Ergänzungen ist
den Anmerkungen zuteil geworden. Aber auch der Text hat
doch an nicht wenigen Stellen Ergänzungen und Modifikationen,
hie und da auch Berichtigungen erfahren. Es sei gestattet, die
etwas umfangreicheren Zusätze hier hervorzuheben. Sie finden
sich an folgenden Stellen: S. 4—7 (Hellenismus in Idumäa um
200 v. Chr.), 39 f. (griechische Kulte in Gerasa), 43—46 (semitische
und griechische Kulte in Batanäa und Auranitis), 55 f. (hellenistische
Legenden über die Gründung palästinensischer Städte), 64 f. (die
&vQa mQala Act. 3, 2), 65 f. (Tier- und Menschenbilder bei den
Juden), 68—71 (Import griechischer Waren nach Palästina seit
dem siebenten Jahrhundert v. Chr., insonderheit Tonkrüge aus
Rhodus um 200 v. Chr., zu der Literatur S. 70 ist nachzutragen:
Bleckmann, De inscriptionibus quae leguntur in vasculis Bhodiis,
Göttinger Diss. 1907), 96—99 (Wechsel der Oberherrschaft über
Palästina in der Diadochenzeit), 143, 144, 145, 146 f. (zur Geschichte
der Stadt Ptolemais-Ake), 149 f. (über die „Dekapolis"), 180—189
IV Vorwort.
(zur Geschichte und Verfassung von Gerasa), 246 f. (über das Syn-
edrium, gegen Büchler), 370 f. (Verunreinigung der Hände durch
heilige Schriften), 406 (die siebenzig Völker der Welt), 413 f.
(fremde Einflüsse auf das Judentum), 428 (das Prosbol-Gesetz),
439, 445 (R. Eliesers und E. t'arphons Beziehungen zum Christen-
tum), 461 f. (Jesus Sirach über die Willensfreiheit), 469 (über Am-
haarez), 488 (über die Sadduzäer, gegen Hölscher), 500 (Synagogen
in Ägypten seit dem dritten Jahrhundert v. Chr.), 506 (ovvaycoyri
im griechischen Sprachgebrauch), 514 (Organisation der Armen-
pflege), 533 (Bedeutung des Wortes Haphtara), 541—544 (Geschichte
des Schmone-Esre), 591—593 (die messianische Hoffnung bei Jesus
Sirach), 614 f. (Menschensohn), 633 (ewige Gültigkeit des Gesetzes),
640, 642 (über den Zustand nach dem Tode; auch sonst ist in dem
Abschnitt über die messianische Hoffnung vieles ergänzt, resp. der
Text modifiziert und präziser gefaßt), 646—648 (zur Charakteristik
der messianischen Hoffnung, Ausmünden derselben in die christ-
liche Hoffnung).
Um das Auffinden von Zitaten nach der vorigen Auflage zu
erleichtern, sind die Seitenzahlen der dritten Auflage am inneren
Rand in eckigen Klammern [ ] angegeben und der Beginn einer
neuen Seite der alten Auflage in der neuen jedesmal durch einen
im Text angebrachten senkrechten Strich | bezeichnet Infolge
dessen kann auch das bisherige Register vorläufig noch benützt
werden. Eine Erneuerung desselben ist erst nach Erscheinen der
4. Aufl. von Bd. III beabsichtigt. Letztere ist in Vorbereitung,
während von Bd. I, welcher in einer starken Doppel-Auflage ge-
druckt wurde, noch reichlicher Vorrat vorhanden ist.
Göttingen im September 1907.
E. Schürer.
Inhalt.
Zweiter Teil.
Die inneren Zustände.
Seite
§ 22. Allgemeine Kulturverhältnisse 1
L Mischung der Bevölkerung. Landessprache 1
IL Verbreitung der hellenistischen Kultur 27
1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten .... 27
2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete 57
HL Stellung des Judentums zum Heidentum 89
§ 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester 94
I. Die hellenistischen Städte 94
Baphia 106. Gaza 110. Anthedon 118. Askalon 119. Azotus 125.
Jamnia 126. Jope 128. Apollonia 132. Stratons-Turm — Oä-
sarea 134. Dora 138. Ptolemais 141. Damaskus 150. Hippus 155.
Gadara 157. Abila 162. Eaphana 163. Eanata 164. Kanatha
167. Skythopolis 170. Pella 173. Dium 176. Gerasa 177. Phila-
delphia 189. Sebaste — Samaria 195. Gaba 199. Esbon
(Hesbon) 200. Antipatris 202. Phasaelis 204. Cäsarea Panias
204. Julias «=» Bethsaida 208. Sepphoris 209. Julius = Livias
213. Tiberias 216.
H. Das eigentlich jüdische Gebiet 223
III. Das grosse Synedrium zu Jerusalem 237
Geschichte 238. Zusammensetzung 248. Kompetenz 258. Zeit
und Ort der Sitzungen 263. Gerichtsverfahren 266.
IV. Die Hohenpriester. 267
§ 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus 277
L Die Priesterschaft als geschlossener Stand 278
II. Die Einkünfte 297
HL Die einzelnen Amter 317
IV. Der tägliche Kultus 336
Anhang. Beteiligung der Heiden am Kultus zu Jerusalem . . 357
VI . Inhalt
Seite
§ 25. Die Schriftgelehrsamkeit 363
L Kanonische Dignität der heiligen Schriften 363
II. Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. . . 372
m. Halacha und Haggada 390
1. Die Halacha 391
2. Die Haggada 400
IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten 414
§ 26. Die Pharisäer und Sadduzäer 447
I. Die Pharisäer 456
II. Die Sadduzäer 475
§ 27. Schule und Synagoge 489
I. Die Schule 491
II. Die Synagoge 497
Gemeindeorganisation 501. Beamte 509. Gebäude 517. Gottes-
dienst-Ordnung 526.
Anhang. Das Schma und das Schmone-Esre 537
§ 28. Das Leben unter dem Gesetz 545
I. Allgemeines 545
II. Sabbathfeier 551
HL. Reinheitsgesetze 560
IV. Veräußerlichung des religiösen Gebietes 566
V. Irrwege 574
§ 29. Die messianische Hoffnung 579
I. Verhältnis zur älteren messianischen Hoffnung 583
H. Geschichtlicher Überblick • 590
HI. Systematische Darstellung. 609
Letzte Drangsal und Verwirrung 609. Elias als Vorgänger 610.
Erscheinung des Messias 612. Letzter Angriff der feindlichen
Mächte 621. Vernichtung der feindlichen Mächte 622. Erneu-
erung Jerusalems 625. Sammlung der Zerstreuten 626. Das
Reich der Herrlichkeit in Palästina 628. Erneuerung der Welt
636. Allgemeine Auferstehung 638. Letztes Gericht. Ewige
Seligkeit und Verdammnis 644. Anhang. Der leidende Me-
sias 648.
§ 30. Die Essener 651
I. Die Tatsachen 656
Organisation des Gemeinschaftslebens 656. Ethik. Sitten und
Gebräuche 661. Theologie und Philosophie 665.
II. Wesen und Ursprung des Essenismus 668
Zweiter Teil.
Die inneren Zustände.
§ 22. Allgemeine Kulturverhältnisse.
I. Mischung der Bevölkerung. Landessprache.
Die Stärke und Ausdehnung der jüdischen Bevölkerung in
Palästina hat auch in der griechischen und römischen Zeit, wie in
früheren Jahrhunderten, starke Schwankungen erfahren. Vom Be-
ginn der hellenistischen Zeit bis zur makkabäischen Erhebung
werden wir uns das jüdische Element in allmählichem Rückgang
zu denken haben: das griechische Element drang siegreich vor.
Ein starker Umschlag erfolgte jedoch durch die makkabäische Er-
hebung und ihre Nachwirkungen; durch sie gewann das Judentum
intensiv und extensiv wieder an Boden. Es konsolidierte sich im
Innern, und es breitete sich an den Grenzen fast nach allen Seiten
hin weiter aus1.
Eine kompakte jüdische Bevölkerung hat es im Be-
ginn der Makkabäerzeit nur im eigentlichen Judäa ge-
geben, d. h. in der südlich von Samaria gelegenen Landschaft,
für welche das erste Makkabäerbuch den Namen 'lovda oder ytj
'iovöa oder 'Iovöala gebraucht2. Die räumliche Ausdehnung der
hier wohnenden jüdischen Bevölkerung läßt sich für den Zeitraum
von 175 — 135 vor Chr. ziemlich genau bestimmen. Die nörd-
lichsten Bezirke, welche in Kultusgemeinschaft mit Jerusalem
standen (also nicht „samaritanische", sondern Jüdische" Bevölkerung
hatten), waren die roftoi von Lydda, Bamathaim und Ephraim.
1) Vgl. zum Folgenden: Hol sc her, Palästina in der persischen und
hellenistischen Zeit (1903), S. 26—50, 67—82; auch die Artikel von Guthe
über „Judäa", „Galiläa", „Peräa" in Herzog-Hauck, RealEnz., 3. Aufl. —
Schlatter, Gesch. Israels, 2. Aufl., 1906, 8. 7—17, folgt meiner Darstellung.
2) Der Name iovöala ist schon seit Beginn der hellenistischen Zeit nach-
weisbar iKlearchus bei Jos. c. Apion. I, 22, 179: TiQoaayoQetetai yaq dv xaxoi-
xovoi xbnov lovdala, Hekataus bei Diodor. XL, 3 -=» Müller, Fragm. hist. gr. II,
392 a: elg xijv v$v xaXovuhtjv 'IovSalav, Manetho bei Jos. c. Apion. I, 14, 90:
iv xjj vvv Iovtaia xaXovpivy). Die Zweifel, welche Hol seh er, S. 76 ff., gegen
die Authentie dieser Stellen erhoben hat, kann ich nicht für begründet halten.
Das hebr. D^TiST» ist ja schon bei Jeremia häufig.
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 1
2 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [i. 2]
Diese gehörten bis 145 vor Chr. politisch zur Provinz Samarien,
wurden aber nun von Demetrius IL dem jüdischen Hohenpriester
Jonathan überlassen, und zwar, wie deutlich zu erkennen gegeben
wird, weil die dortige Bevölkerung „in Jerusalem opferte" (I Makk.
11,34). Seitdem wurden diese |Bezirke stets zu Judäa gerechnet3. —
Gegen Osten hat sich die jüdische Bevölkerung wohl bis zum
Jordan hin erstreckt. Unter den Städten h rjj 'lovöala, welche
Bacchides befestigte und mit heidnischen Besatzungen belegte, um
die jüdische Bevölkerung | im Zaume zu halten, wird auch Jericho
genannt (I Makk. 9, 50—52). — Gegen Süden bildete damals Beth-
zur den vorgeschobensten Posten des Judentums. Judas legte eine
jüdische Besatzung hinein, „damit das Volk eine Festung habe
gegen Idumäa" (I Makk. 4, 61; vgl 6, 7. 26). Diese Besatzung mußte
sich freilich nach wenigen Jahren wieder dem syrischen König
ergeben und wurde durch eine heidnische ersetzt (I Makk. 6, 31.
49—50; 9, 52). Aber der Makkabäer Simon gewann die Stadt aufs
neue für das Judentum (I Makk. 11, 65—66). Südlich von Beth-zur,
in der Linie von Hebron bis Marisa (so ist I MM. 5, 63 statt
Samaria zu lesen) wohnten die heidnischen „Söhne Esaus", welche
von Judas wiederholt gezüchtigt wurden, da sie die zerstreut unter
ihnen lebenden Juden mißhandelten (I Makk. 5, 2 — 3. 65—67) 4. —
3) Über ihre Lage s. oben § 6 (Bd. I S. 233). Vgl. überhaupt § 4 An-
feng (I, 184. 185).
4) Viel weiter südlich als Beth-zur, nämlich bisBeerseba (dessen Lage
uns sicher bekannt ist), sollen die Ansiedelungen der Juden nach dem baby-
lonischen Exil gegangen sein (Nehem. 11, 25—30, dazu: Smend, Die Listen
der Bücher Esra und Nehemia, Basel, Progr. 1881, und Stade, Theol. Litztg.
1884, 216f.; Ders., Gesch. des Volkes Israel II, 1888, S. 109—112). Diese An-
gaben können aber nicht richtig sein. Das südliche Judäa war schon zur Zeit
Ezechiels, unmittelbar nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar,
von den Edomitern besetzt worden (Exech. 35, 10 — 13; 36, 5). Und diese sind,
wie die spätere Geschichte zeigt, seitdem dort geblieben, während sie ihre
alten, südlicheren Wohnsitze in der Gegend von Sela (= Petra) den Nabataern
überließen, die wir seit Ende des 4. Jahrh. v. Chr. daselbst finden (s. Bd. I
Beilage II, und zur Geschichte der Edomiter den Artikel von Baudissin in
Herzog-Hauck, Beal-Enz., 3. Aufl.; Buhl, Geschichte der Edomiter, Leipzig,
Progr. 1893; Ed. Meyer, Die Entstehung des Judentums, 1896, S. 114 ff.; Lury,
Geschichte der Edomiter im biblischen Zeitalter, Diss. Berlin, angezeigt von
Baudissin, Theol. Litztg. 1899, 132; Nöldeke, Art. Edom in der Encyclo-
paedia Biblica II, 1901; Ed. Meyer, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme,
1906, S. 328 ff.) Das jüdische Gebiet reichte zur Zeit Nehemias, wie Nehem. 3
beweist, südlich nicht viel weiter als bis Beth-zur. Die Liste Nehem. 11, 25 — 30
bezieht sich also entweder auf die vorexilische Zeit (so Smend, Lehrb. der
alttest Beligionsgesch., 1893, S. 340; Wellhausen, Israelit, und jüd. Ge-
schichte, 1894, S. 122; Schlatter, Zur Topographie und Geschichte Pa-
lästinas, 1893, S. 53), oder sie ist eine freie Erfindung des Chronisten, was
[2. 3] I. Mischung der Bevölkerung. 3
Die Küstenstädte im Westen mit ihren großen, sich weit ins
Binnenland erstreckenden Gebieten, waren sämtlich heidnisch. Die
meisten, ßaphia, Gaza, Anthedony Askalon, Asdod, sind es auch
stets geblieben. Den vorgeschobensten Punkt des Judentums im
Nordwesten bildete das schon erwähnte Lydda (I Makk. 11, 34).
In dessen Nähe lag das von dem Makkabäer Simon befestigte
Adida (I Makk. 12, 38). | Südlich davon war Emmaus die west-
lichste jüdische Stadt (I Makk. 9, 50). Denn schon das nur wenig
westlich von Emmaus liegende Gazara war damals noch heidnisch.
Gerade nach Westen hin hat aber das Judentum schon zur Makka-
bäerzeit zielbewußt sich vorgeschoben. Die Verbindung mit der
Küste war eine Grundbedingung materieller Blüte. Und diese
Verbindung ist in der Weise angestrebt und erreicht worden, daß
zugleich auch die Bevölkerung judaisiert wurde. Ob mit Ekron
so verfahren wurde, als Jonathan es von Alexander Balas zum
Geschenk erhielt (I Makk. 10, 88—89), wissen wir allerdings nicht
Sicher ist aber, daß die bis dahin heidnischen Städte Jope und
Gazara gewaltsam zu jüdischen gemacht wurden. Nach Jope
legte Simon eine jüdische Besatzung (I Makk. 12, 33—34) und ver-
trieb bald darauf die bisherigen heidnischen Einwohner aus der
Stadt (I Makk. 13, 11: i^ißaXs rovg omag h avrfj). Gazara wurde
von Simon nach schwieriger Belagerung erobert, worauf er die
Einwohner vertrieb und Leute dort ansiedelte, „welche das Gesetz
beobachten" (I Makk. 13, 43 — 48: xaxcoxioev ixel avÖQaq ohiveg xbv
vofiov xoiovoi)\ Jope ist die einzige Küstenstadt, welche förmlich
judaisiert wurde. Außerdem hat aber auch in Jamnia das jüdische
Element das Übergewicht gewonnen. Es scheint zwar, daß dies
Ed. Meyer sehr wahrscheinlich gemacht hat (Die Entstehung des Judentums,
8. 105—108. 114ff.; ebenso Guthe in Herzog-Hauck, Real-Enz., 3. Aufl. IX, 557;
Hol s eher S. 26 f.). Jedenfalls hat zur Makkabäerzeit über Beth-zur hinaus
nur eine jüdische Diaspora gewohnt (vgl. I Makk. 5, 2 — 3). Die Hauptmasse
der Bevölkerung war hier edomitisch. Das beweisen nicht nur die Angaben
I Makk. 4, 61 und 5, 65—67, sondern auch die Geschichte des Johannes Hyr-
kanus. Erst dieser hat die bis dahin edomitischen Städte A dora und Marisa
erobert und judaisiert (Joseph Arüt. XIII, 9, 1; Bell. Jud. I, 2, 6). Adora lag
nur wenig südlich von Beth-zur, Marisa westlich von Beth-zur.
5) Über Jope vgl. auch unten § 23; über Gazara oben § 7 (I, 245 f.).
Bei den neueren Ausgrabungen in Gazara (Gezer) sind dort Henkel von
Tonkrügen (Amphoren) in großen Mengen gefunden worden, von derselben Art
wie in Marisa (s. Anm. 8). Sie erweisen sich durch den griechischen Stempel,
den sie alle tragen, als Fabrikat von Bhodus aus dem 3. oder 2. Jahrh. vor
Chr. und bezeugen damit, daß auch in Gazara vor seiner Judaisierung durch
den Makkabäer Simon das Griechentum Eingang gefunden hatte (S. Macalister,
Quarterly Statements 1903, p. 48. 306; 1904, p. 212 sq.).
1*
4 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [3]
nicht vor dem Jahre 135 vor Chr. geschehen ist; denn die beiden
Makkabäerbächer erwähnen Jamnia nur als heidnische Stadt
(I Makk. 5, 58; II Makk. 12, 8 ff. 40) und berichten nichts von seiner
dauernden Besetzung durch die Juden. Aber zur Zeit Philos war
die Bevölkerung Jamnias zum größten Teile jüdisch 6.
Eine starke Erweiterung hat das jüdische Element nach Süden
hin durch die Unterwerfung der Idumäer erfahren. Johannes
Hyrkan| eroberte die Städte Adora und Marisa, unterwarf alle
Idumäer und zwang sie zur Annahme der Beschneidung und der
jüdischen Gesetze. Seitdem waren die Idumäer Juden und sind
auch während des großen Krieges gegen die Römer 67/68 nach Chr.
als solche aufgetreten7. Zur Zeit der Eroberung durch Johannes
Hyrkan hat es in Marisa auch eine hellenistische Kolonie
gegeben. Ja es scheint, daß das griechische Element dort ziemlich
stark war; denn die Stadt gehört zu denjenigen, welche später
durch Pompeius wieder von der Herrschaft der Juden befreit
wurden, was im allgemeinen nur in Betreif der hellenistischen
Städte geschah8. Wahrscheinlich ist auch Adora auf dem Weg
6) Philo, Legat, ad Gajum § 30 (ed. Mang. II, 575). Vgl. unten § 23, I.
7) Joseph. Antt. XIII, 9, 1: *Yoxavd<; öh xal xfjs löovfjLalas aiQel ndXsiq
"ASwoa xal Maoioav, 'xal anavxas xoix; *I6ovftalovq hnö %stQa TtoirjodficvoQ
inhoetpBv abvotq pfreiv iv ty X<°Qa> £l neüirifjtvotvTO xä alSola xal totq
*Iov6alü>v vöpoi$ XQ^ovoO*1 &iXotev. Ol öh nd&cp xfjq naxoiov yfjq xal tip
neoiTOfiip xal tty äXXrjv rotf ßlov öiaixav bji&peivav x^v afafjv Iovöaloiq notf-
aao&ai. K&xelvoig avrotq XQ^v0<i ^rt'JQXBv wäre elvai xb Xoaibv *lovöalov<;
(Text nach Niese). Vgl. auch Bell. Jud. I, 2, 6; Antt. XV, 7, 9; BeU. Jud. IV,
4, 4. Dazu oben § 8 (I, 2(54).
8) Über das Auftreten des Hellenismus in Marisa um 200 vor Chr. hat
uns die Aufdeckung einiger in den Felsen gehauenen Grabstatten im J. 1902
überraschenden Aufschluß gegeben. 8. die Berichte von Lag ränge, Deux
hypogies Macedo-Sidoniens ä Beit-Djebrin (Comptes rendus de VAcadhnie des
Inscr. et Belles-Lettres 1902, p. 497—505), und Thiersch und Peters (Mit-
teilungen und Nachrichten des DPV. 1902, S. 40—42, und Palestine Exploration
Fund, Quarterly Statement 1902, p. 393—397). Eine erschöpfende Beschreibung
geben: Peters and Thierseh, Painted Tombs in the Necropolis of Marissa,
London 1905 (vgl. Theol. Litztg. 1905, 561). Dazu: Macalister, The erotie
grafftto etc. in: Quarterly Statement 1906, p. 54 — 62. Die Gräber liegen am
Teil Sandahanna, südlich von Beth-Dschibrin, dem Eleutheropolis der römischen
Zeit. Da der Teil Sandahanna durch die neueren englischen Ausgrabungen
als bedeutende alte Stadt- Anlage erwiesen ist, so war schon deshalb mit
großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß hier das alte Marisa zu suchen
ist (nach Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 130 lag Maresa 2 mil. pass. von
Eleutheropolis; der alte Name hat sich in dem nahe gelegenen Khirbet
Merasch erhalten, s. die große englische Karte Blatt XX; aber nicht Khirbet
Merasch, sondern Teil Sandahanna muß genauer als die Lage der alten Stadt
betrachtet werden). Bestätigt wird dies nun durch eine Inschrift in den neu
[3] I. Mischung der Bevölkerung. 5
der Hellenisierung gewesen. Denn die Stadt Dora, in welcher
nach einer von Apion wiedergegebenen judenfeindlichen Fabel
Apollo verehrt wurde, kann nicht wohl das phönizische Dora
entdeckten Gräbern, auf welcher Maris a als Name der Stadt Torkommt
(8. unten). — Von den vier Grabstätten, welche Peters und Thiersch be-
schreiben, ist Grab I das bedeutendste, aus paläographischen und historischen
Gründen höchst wahrscheinlich noch vor Ende des dritten Jahrh. vor
Chr. angelegt. Auch die andern sind wohl nicht viel jünger. Alle erinnern
in der Ausführung besonders an ägyptische Gräber der Ptolemäerzeit. In
Grab I ist an den Wänden des Hauptsaales ein großer Tierfries gemalt;
über den Tierbildern stehen die entsprechenden griechischen Namen: naQÖaXoq,
nav^rjQOQf xavQO<;(?), xafieXona^Sakog (?), yQvy, givoxeQme, eXefaq, XQoxoötXoq,
ißtgt ovaygtog, v<tzqi£ (Stachelschwein), Avy£. Am Eingang zu diesem Saale
ist links ein chthonicher Hahn, rechts der dreiköpfige Cerberus gemalt. Die
Personen-Namen, welche über den Loculi geschrieben sind (teils eingeritzt, teils
gemalt), sind zur größeren Hälfte griechische, zur kleineren semitische in
griechischer Form; unter letzteren einige sicher phönizische (S&Ofsuxiog, Mebq-
ßaXoq) und einige sicher rdumäische (Koovaxavoq, Kooßavoq, von dem idumä-
ischen Gott Dp, zu unterscheiden von Ko^i, trotz Jos. Antt. XV, 7, 9, vgl. Bau-
dissin, Art. „Edom" in Herzog-Hauck. Real-Enz., 3. Aufl., V, 166 f.). Von be-
sonderer Wichtigkeit ist aber folgende Inschrift [Painted lorribs p. 36 und 38):
*A7toXXo<pdvt]S Seofialov.&QSaQ to>v iv Magloy HiSwvlcov hrrj xQiaxovxa
xal xQla xal vofuo&elq navrmv ztov xa&* abzbv %Qt]axbxaxo<; xal tpiXoixeidxazoq
fai&ktvev Sh ßiwoaq hrj hßdofi^xovxa xal xtooaga h (sie). Wir erfahren hier-
aus, daß es in Marisa eine Kolonie von griechisch gebildeten Si-
doniern gegeben hat, deren Archon der Verstorbene war. Vermutlich gehörte
die ganze Grab- Anlage dieser Kolonie, die sich aber, wie die idumäischen
Eigennamen beweisen, im Laufe der Zeit auch mit Eingeborenen vermischt
hat. Außer den Aufschriften über den Loculi kommen an den Wänden auch
einige andere Inschriften vor; so hat sich in der Nähe des Altares auf der
Wand ein Oqxccq MaxeScov verewigt (Painted Tombs p, 56, pl XX n. 31), ver-
mutlich ein Besucher der Grabstätte. — Auch in Grab U finden sich einige
Wandmalereien. Die Personen-Namen sind überwiegend griechische, daneben
einige phönizische {Baöwv S. 65, BaXoaXa S. 66, letzteres — nbxbsa, was auf
einer sidonischen Inschrift vorkommt). Eine Frau namens Philotion wird
als Iköwvla bezeichnet (S. 66), woraus man wohl schließen darf, daß die
Mehrzahl der hier Bestatteten nicht Sidonier waren. Die Gräber HI und IV
bieten wenig Bemerkenswertes. — Einzelne Inschriften sind mit Jahreszahlen
versehen (s. die Tabelle in Painted Tombs p. 77). In Grab I kommen vor
ZP— 107 (so Lagrange; Peters erklärt die Lesung für unsicher und ist
geneigt, £P— 160 zu lesen), AOP—lll, J^P — 194; in Grab II bewegen sich
die sieben Daten in den Grenzen zwischen eÄP—125 und HOP= 178; in
Grab III kommt 60P*= 179 vor. Wenn man, was sehr wahrscheinlich ist,
die seleuddische Ära voraussetzen darf (die nur irrtümlich als „seleucidische"
bezeichnet wird), so ist 107 (falls richtig gelesen) — 206/205 vor Chr., 194—119/1 18
vor Ohr. Letzteres Datum (nach pl. XIX n. 19 sicher zu lesen) fällt unge-
fähr in die Zeit, in welche die Eroberung Marisas durch Johannes Hyrkan
zu setzen ist. Auffallend sind die in Grab I vorkommenden Jahreszahlen A,
By € (1, 2, ö). Möglicherweise ist hier an die pompeianische Ära zu denken.
6 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [3]
südlich von Ptolemais gewesen sein, da es als i du maische Stadt
bezeichnet wird und nach den Voraussetzungen jener Legende
nicht weit von Jerusalem gelegen haben muß. Es ist vielmehr
Durch die Aufdeckung dieser Grabstätten erhalten auch erst die Funde
ihr Licht, welche bei den englischen Nachgrabungen auf dem Teil Sandahanna
zutage gekommen sind. 1) Unter einigen Inschriften-Fragmenten ist besonders
bemerkenswert das Bruchstück einer Ehren -Inschrift, welche nach der wohl-
begründeten Ergänzung Clermont-Ganneaus auf Ar sin oe, die Schwester und
Gemahlin des Ptolemäus IV. Philopator (221—205 vor Chr.) zu beziehen ist:
[BaatXiooav 'AQo]iv6rjy, fieydXrjv
[ . . . . <Pdo7tdx]ooa xty iy ßaoiXiaq
[UxokBficdov xal] ßaodUooyjc [....]
S. Glermont-Qanneau, Gomptes rendus de VAcad. des Inscr. et Beiles-
Lettre» 1900, p. 536—541. Ders., Recueil d'archeol. Orientale IV, 1901,p. 152—156.
Englisch in: Palestine Exploration Fund, Quarterly Statement 1901, p. 54—58.
Facsimile auch in Excavations in Palestine by Bliss and Macalister (London
1902) p. 68, 69. — Auf einem andern Fragment ist der Name Bsoevi[xij} deut-
lich zu lesen (s. die eben genannte Literatur). — 2) In dieselbe Zeit, 3. oder
2. Jahrh. vor Chr., gehören die Henkel von Tonkrügen (Amphoren), mehr als
dreihundert (!) an der Zahl, welche ebenfalls auf dem Teil Sandahanna ge-
sammelt worden sind. S. Macalister, Amphora handles with greek stamps
from Teil Sandahannah (Quarterly Statement, 1901, p. 25—43, 124-143, Nach-
trag p. 394 — 397). Kürzerer Bericht in: Excavations in Palestine by Bliss and
Macalister p. 52 sqq. 131—134. Die griechischen Stempel, mit welchen
alle diese Henkel versehen sind, beweisen, daß die Amphoren, deren Reste
sie sind, aus Bhodus stammen. Näheres hierüber s. unten 11,2 in dem Ab-
schnitt über den Handel. — 3) Wahrscheinlich gehören in diese Zeit, etwa
2. Jahrh. vor Chr., auch die auf dem Teil Sandahanna gesammelten griechi-
schen Beschwörungs-Texte (auf Kalksteine eingeritzt), welche Wünsch
in den Excavations in Palestine by Bliss and Macalister p. 158 — 187 be-
sprochen hat. Wünsch setzt sie freilich erst in das 2. Jahrh. nach Chr.
(S. 181 f.). Aber der Schriftcharakter spricht keineswegs für diese späte An-
setzung. S. die Bemerkungen von Thiersch in: Painted Tombs p. 72 und
bes. Wilhelm, Über die Zeit einiger attischer Fluchtafeln (Jahreshefte des
Österreich, archäol. Instituts VII, 1904, S. 105-126), welcher zeigt, daß Wünsch
auch manche attische Beschwörungstafeln infolge irriger Beurteilung der
Schrift erheblich zu spät setzt; über die Beschwörungstexte von Teil Sanda-
hanna sagt Wilhelm S. 110: „auch Bio sind sicherlich viel älter als
Wünsch angenommen hat". — 4) Ebenfalls in vorchristliche Zeit gehört
eine Inschrift, welche in einem großen Kolumbarium (Begräbnisstätte) am Teil
Sandahanna gefunden worden ist: Sift^ xaty öoxel ipol A. Ntxaxetöi. S. Maca-
lister, Quarterly Statement 1901, p, 11—19; Clermont-Ganneau, ebendas.
p. 116—118 und Becueil IV, p. 237—240, pL I. Faksimile auch in Excavations
in Palestine by Bliss and Macalister p. 245. Die Inschrift kann nur als
Liebesbotschaft verstanden werden, zu welcher die heimliche Grabstätte be-
nützt wurde. Eine analoge, viel umfangreichere findet sich auch in den von
Peters und Thiersch beschriebenen Painted Tombs p. 56—60, vgl. Theol.
Litztg. 1905, 563; Macalister, The erotic graffito etc., in: Quarterly Statement
1906, p. 54-62. — 5) Wichtig ist endlich, daß unter den 61 Münzen, welche
[3. 4] 1. Mischung der Bevölkerung. 7
wahrscheinlich unser Adora gemeint9. Eben dieses wird auch
— zwar nicht unter den von Pompeius befreiten, wohl aber unter
den von Gabinius wiederhergestellten Städten erwähnt10. Auch in
diesem Umstände darf ein Beweis dafür gesehen werden, daß es
vor der Eroberung durch Johannes Hyrkan einen Bruchteil grie-
chischer Einwohner hatte. — Die Eroberung von Raphia, Gaza
und Anthedon durch Alexander Jannäus hat keine Judaisiemng
dieser Städte zur | Folge gehabt Die griechische Kultur ist dort
von Pompeius und Gabinius mit besserem Erfolg wiederhergestellt
worden, als in den ebengenannten idumäischen Städten.
bei den Ausgrabungen auf dem Teil Sandahanna zutage gekommen sind,
sich 13 ptolemäi8che, 19 seleucidische und 25 des Johannes Hyr-
kan us gefunden haben (Ezcavations p. 68).
Alle diese Funde sind ebensoviele Beweise dafür, daß in der
Zeit unmittelbar vor der Eroberung Marisas durch Johannes
Hyrkan der Hellenismus dort in erheblichem Maße vertreten war.
Die Rücksicht auf den auch unter der jüdischen Herrschaft erhaltenen Best
griechischer Elemente war der Grund, weshalb Marisa durch Pompeius vom
jüdischen Gebiete abgetrennt (Antt. XIV, 4, 4; B. J. I, 7, 7) und durch Gabinius
restauriert worden ist {Antt. XIV, 5, 3; R J. 1, 8» 4). Infolge der Vernichtung
der Stadt durch die Parther, 40 vor Chr. (Antt. XIV, 13, 9; Ä J. 1, 13, 9), ist
auch dem Griechentum daselbst ein Ende gemacht worden.
9) Jos. contra Apion. 11,9. Apion hat die Fabel aus einem älteren helle-
nistischen Autor geschöpft, dessen Name in den Handschriften Mnafeas lautet.
Gemeint ist nach Nieses glücklicher Konjektur Mnaseas, der Schüler des
Eratosthenes (um 200 vor Chr.). Obwohl Josephus versichert, daß es ein Dora in
Idumfia nicht gegeben habe, ist die Identität mit Adora doch sehr wahrscheinlich
(so Wellhausen, Gott gel. Anz. 1895, 957; Stähelin, Der Antisemitis-
mus des Altertums 1905, S.15), mag nun die kürzere Form durch Textkorruption
oder durch Abschleifung im Sprachgebrauch entstanden sein (der Ort heißt
noch heute Dura, s. Robinson, Palästina in, 206 öl). Mit der Verehrung
des Apollo in Adora stimmt merkwürdig, daß auf einer in Memphis in Ägypten
gefundenen Inschrift aus dem Anfang des 2. Jahrh. vor Chr. 'iöov/LtaZoi vor-
kommen, welche ihre Versammlung hielten iv rq> &vw 'AnoXXwvteltp (Archiv
für Papyrusforschung IQ, 129 « Oaialogue gSnSral des AntiquitSs igyptienms
du Musee du Oafre, vol. XVIII: Greek inscriptions by Milne, 1905, p. 20 —
Dittenberger, Orientis graeci inscr. sei. n. 737).
10) Antt. XIV, 5, 3; B. J. 1, 8, 4 Alle Handschriften außer Pal. und alle
Ausgaben außer Niese, auch noch Naber, haben Antt. XIV, 5, 3 Jwoa. Da
die Stadt aber neben Marisa genannt wird, hat Niese mit Recht nach der
besten Handschrift (Pal.) "ASwoa hergestellt. In der Parallelstelle B. J. I, 8, 4
ist die herkömmliche Lesart 'ASwqboq durch zwei gute Handschriften gesichert;
die Mehrzahl bat dwoeoq. — Wie leicht die Korruption sich einschleichen
konnte , zeigt Antt. XIU, 6, 4 (§ 207), wo alle Handschriften JG>oa nSXiv rifc
>I6ov(iala$ haben und doch sicher nach I Maee. 13, 20HASmoa zu lesen ist, wie
Beland Palaest. p. 739 gezeigt und alle Herausgeber seit Hudson aufge-
nommen haben.
8 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse [4. 5]
Ziemlich genau sind wir über die Ausdehnung der jüdischen
Bevölkerung während der letzten Dezennien vor dem großen Kriege
vom Jahre 70 nach Chr. unterrichtet. Denn die Landesbeschreibung,
welche Josephus Bett. JwL III, 3 gibt, will eben die Grenzen der-
jenigen Gebiete bestimmen, welche von Juden bewohnt waren n.
Es wird hierdurch alles bestätigt, was uns die frühere Geschichte
bereits gelehrt hat; namentlich dies, daß von den Küstenstädten
nur Jope und Jamnia eine vorwiegend jüdische Bevölkerung
hatten. Die Dörfer, welche Josephus als Nord- und Südgrenze
des eigentlichen Judäa angibt (R /. III, 3, 5), sind uns nicht be-
kannt Lehrreicher ist daher, was er über die Einteilung in elf
Toparchien sagt. Von diesen Toparchien ist die nördlichste die
von Akrabatta. Da dieses noch erheblich nördlicher als Ephraim
liegt (s. über die Lage unten § 23, II), so dürfen wir annehmen,
daß seit der Makkabäerzeit das Judentum sich auch nach Norden
weiter ausgedehnt hat l 2. Die beiden südlichsten Toparchien sind |
Idumäa und Engaddi. Idumäa wird also jetzt ganz als jüdisches
(von Juden bewohntes) Land betrachtet. Einer der südlichsten
11) Daß dies die Absicht des Josephus an der genannten Stelle ist, kann
nach dem ganzen Inhalte nicht zweifelhaft sein. Er nennt die heidnischen
Gebiete nur, um die Grenzen der jüdischen zu bestimmen. Galiläa wird be-
grenzt im Westen durch das Gebiet von Ptolemais, im Norden durch das von
Tyrus, im Osten durch das von Hippos und Gadara {B. J. III, 3, 1). Peräa
wird begrenzt im Norden durch das Gebiet von Pella, im Osten durch das von
Philadelphia und Gerasa (III, 3, 3). Auch bei der Beschreibung J u d ä a s werden
nicht etwa die heidnischen Küstenstädte mit zu Judäa gerechnet; es wird viel-
mehr nur gesagt, daß Judäa nicht der Genüsse entbehre, die vom Meere
kommen, da es sich an den Küstenländern hinziehe (111,3,5: &<p\JQrjTcu
<fe ovSh t(bv ix &aläoor}Q zeQTtvibv % 'iovdala, xol$ nagccXioiQ xazarelvovaa).
Nicht einmal das jüdische Jope ist mit zu Judäa gerechnet, sondern von
letzterem gesagt, daß es sich ausdehne f*£x(M ^Idnijq. Höchst charakteristisch
ist aber, daß nach der Beschreibung der vier jüdischen Landschaften Galiläa,
Peräa, Samaria und Judäa anhangsweise noch genannt werden: 1) das Gebiet
von Jamnia und Jope, weil dies die einzigen Küstenstadte sind, welche vor-
wiegend von Juden bewohnt wurden, und 2) die zum Königreich des Agrippa
gehörigen Provinzen Garn aliti 8, Gaulanitis, Batanäa und Trachonitis,
weil in diesen das jüdische Element wenigstens einen sehr starken Bruchteil
bildete. — Von besonderem Interesse ist bei dieser ganzen Beschreibung, daß
Josephus auch Samaria in dieselbe mit aufgenommen hat, offenbar weil
er auch die Samaritaner ihrem Wesen nach doch als Juden betrachtet,
wenn auch als heterodoxe.
12) An einer anderen Stelle (Antt. XIV, 3, 4; B. J. 1, 6, 5) bezeichnet Josephus
Korea ab den nördlichsten Ort Judäas. Die Lage dieses Ortes, wie sie durch
Gildemeister (Zeitschr. des deutschen Palästina-Vereins IV, 1881, S. 245 f.)
ermittelt worden ist (vgl. oben § 12 [I, 297]), stimmt genau zu der Tatsache,
daß Akrabattene die nördlichste Toparchie Judäas war.
[5] 1. Mischung der Bevölkerung. 9
Punkte desselben war Malatha, das in der Geschichte der Irr-
fahrten des Herodes Agrippa I. als idmnäische Stadt ei wähnt
wird ' 3.
Während um Judäa herum seit der Makkahäerzeit'nur ein
weiteres Hinausschieben der jüdischen Bevölkerung stattgefunden
hat, ist Galiläa seitdem überhaupt erst zu einem jüdischen
Lande geworden. So wenig dies fiüher erkannt worden ist,
so bestimmt darf es doch behauptet werden14. Die Restauration
der jüdischen Gemeinde nach dem Exil hat sich ja lediglich auf
das eigentliche Judäa erstreckt. Eine gleichzeitige oder bald nach-
folgende analoge Restauration in „Galiläa" ist niigends bezeugt
und um so weniger selbstverständlich, als diese Landschaft nicht
einmal vor dem 'Exil von Israeliten bewohnt war. ö^3#i b^ä
„Eezirk der Heiden" (Jes. 8, 23) ist eben der non Heiden bewohnte
nördlichste Bezirk des israelitischen Königreiches. Derselbe Bezirk
wird sonst schlechthin b^ätt genannt, woraus der Landschaftsname
ralilaia. entstanden ist15. Aber noch im ersten Makkabäerbuch
kommt neben raXtXala schlechthin (so I Makk. 5, 14. 17—23. 55;
10, 30; 11, 63; 12, 47. 49) das genauere raXtXala aXXoyvXcov vor
(I Makk. 5, 15). Allerdings scheint jetzt der Begriff „Galiläa" nicht
nur den ehemaligen Heidenbezirk in der Gegend von Kades (so
13) Joseph, Antt. XVIJI, 0, 2. Malatha lag nach dem Onomastikon des
Eusebius 20 -f 4 mtl. pass. südlich von Hebron. Vgl. oben § 18 (I, 550). —
Am Ufer des Toten Meeres reichte die jüdische Bevölkerung sicher bis Ma-
gada, wie die Haltung dieser Stadt wahrend des Krieges gegen die Römer
beweist (Ä J. VII, 8-9).
14) Nach dem von mir in Bd. I (2. Aufl. S. 142 f. 218 f.; 3. Aufl. S. 185 f.
275 f.) Ausgeführten haben den Sachverhalt im wesentlichen anerkannt: Well-
hausen, Israelitische und jüdische Geschichte, 8. 163. 212. 230 (2. Aufl. S. 198.
246 f. 264); Buhl, Geographie des alten Palästina, 8. 73; Belser, Theol.
Quartahehr. 1899, 8. 599; Giemen, Theol. 8tud. u. Krit. 1902, S. 676; Hol-
scher, Palastina, 8. 75; Schlatter, Gesch. Israels, 2. Aufl., 1906, 8. 13. —
Über Galiläa überhaupt vgl. Guthe, Art „Galiläa" in Herzog-Hauck, Real-
Enz., 3. Aufl., VI, 1899, 8. 336—344; Cheyne, Art. Galilee in: Encyclopaedia
Biblica II, 1901; Legendre,Art. Galiliem: Vigouroux, Dictionnaire de la Bible
III, 1903, p. 87—95; Oehler, Die Ortschaften und Grenzen Galiläas nach
Josephus (Zeitechr. des DPV. XXVIII, 1905, 8. 1—26. 49—74).
15) Schon die LXX übersetzten ^*n durchweg mit raXtXala. Nach I Reg.
9, 11 schenkte Salomo dem König Hiram von Tyrus zwanzig Städte von galil.
Jos. 20, 7; 21, 32; I Ghron. 6, 61 wird das nordwestlich vom Merom-See ge-
legene Kades als eine Stadt in galil bezeichnet. II Reg. 15, 29 wird riWari
(so ist hier geschrieben) neben Kades, Haxor und Gilead unter den Bezirken
genannt, deren Bevölkerung Tiglath-Pilesar wegführte. Auf diese Tatsache
blickt Jesaja (8, 23) zurück, indem er diesen Bezirken den Anbruch besserer
Zeiten verheißt
10 § 22. Allgemeine Kulturverhäl misse. [5. 6]
nochl Makk. 11,63), sondern auch die weiter sudlich gelegenen Land-
schaften bis zur großen Ebene südöstlich von Ptolemais umfaßt
zu haben (s. bes. I Makk. 12, 47. 49). Daher ist vielleicht raXtXaia
aXXofpvltov ein engerer Begriff als raZtZaia. Aber auch in ganz
„Galiläa" kann die eigentlich jüdische, Bevölkerung nur eine
schwache Minderheit gebildet haben. Die älteste Spur davon, daß
Bewohner | dieser Gegend in der nachexilischen Zeit sich an den
Kultus in Jerusalem angeschlossen haben, hat Stade16 mit Becht
in der Notiz des Chronisten gefunden, daß zur Zeit Hiskias „Männer
aus Asser, Manasse und Sebulon sich demutigten und nach Jeru-
salem kamen" (II Chron. 30, 10 — 11). Das Gebiet von Sebulon enfc
spricht ziemlich genau dem, was später das untere (südliche)
Galiläa genannt wurde; das Gebiet von Manasse schließt sich süd-
lich, das von Asser nördlich an. Indem der Chronist die Verhält-
nisse seiner Zeit in die Zeit Hiskias zurückträgt, bezeugt er in-
direkt, daß zu seiner Zeit (3. Jalirh. vor Chr.) ein Bruchteil der
Bevölkerung jener Gebiete in Kultusgemeinschaft mit Jerusalem
stand. Aber es kann nnr ein kleiner Bruchteil gewesen sein. Das
lehrt die merkwürdige Art, wie der Makkabäer Simon sich der
von den Heiden bedrängten Juden Galiläas annahm. Als aus
Galiläa die Kunde kam, daß die dortigen Juden von den Heiden
verfolgt würden, beschloß man, daß Simon ihnen Hilfe bringen
solle (I Makk. 5, 14—17). Er zog mit dreitausend Mann nach
Galiläa und besiegte die Heiden (I Makk. 5, 20—22). Aber die Folge
war nicht etwa, daß er nun Galiläa dauernd besetzte; vielmehr
umgekehrt: er brachte die dort wohnenden Juden mit Weibern
und Kindern nach Judäa (I Makk. 5, 23). Statt also die jüdische
Bevölkerung an Ort und Stelle zn schützen, zog er sie ganz aus
Galiläa heraus. Das ist nur denkbar, wenn sie eine kleine Minori-
tät, ja nur eine Diaspora unter Heiden gebildet hat17. Und wenn
auch der Wegzug der Juden damals kein vollständiger war, so
ist doch jedenfalls das jüdische Element in den nächsten Zeiten
danach in Galiläa noch sporadischer vertreten gewesen, als bisher.
Die Makkabäer Jonatban und Simon haben Galiläa noch nicht
besessen. Auch die Eroberungen des Johannes Hyrkanus erstreckten
sich noch nicht über Samarien hinaus. Bis zum Ende seiner He-
_j ^ fcann a[ao eme Judaisierung Galiläas nicht erfolgt sein18.
Gesch. des Volkes Israel II, 198 f.
Näheres s. oben § 4 (I, 185).
Die nördlichste Stadt, von der wir wissen, daß Johannes Hyrkanua
ssen hat, war Skythopolis (Ana. XIII, 10, 3; B. J. I, 2, 7). Auf
Einnahme durch Johannes Hyrkanus besieht sich wahrscheinlich die
i Megillalh lhanitk § 8: .„Am 15. und 16. Sivan wurden die Leute von
[6. 7] I. Mischung der Bevölkerung. 11
Dagegen wissen wir von Aristobul I. (104—103 v. Chr.), daß er im
Norden Palästinas gewaltsame Bekehrungen vorgenommen hat In
dem verloren gegangenen Geschichtswerke Strabos war hierüber,
und zwar nach Timagenes (ßx xov Tifiaydvovq 6v6(iaxoq\ folgendes
berichtet19: ixuixtjq xe iydvexo ovxoq 6 avtjQ xal xoXXa xolq
'iovdaloiq XQyäW0^' X^Qav re Y&Q ccvxolg xQoöBXXfjOaxo xal xb
fi£QO$ xov x&v 'FxovQatcov tfrvovg cpxsimoaxo öeOficp öwarpaq xjj
Tcbv alöoicov xsQixo/ijj. Josephus seinerseits erzählt dieselbe Tat-
sache a. a. 0. mit folgenden Worten (wobei es allerdings fraglich
ist, ob er außer Strabo noch eine andere Quelle gehabt hat):
jtolefirjöag 'ItovqcUovq xal xoXXqv avx&v xtjg X<®Qa$ Ttf 'iovöaia
XQOdxxriOapsvoq avayxaoaq xb xovq kvoixovvxag, ei ßovXovxai
(iiveiv ip xy x<DQ$> xsQixifiveö&at xal xaxa xovq 'iovöalcov vofiovq
Cijr. Das Reich der Ituräer umfaßte damals das ganze Libanon-
gebiet (s. Bd. I Beilage I). Im Süden erstreckte es sich, wie eben
die Unternehmungen des Aristobul zeigen, bis an die Grenze des
jüdischen. Es muß demnach auch „Galiläa" (oder doch den größten
Teil desselben) umfaßt haben. Denn Johannes Hyrkan war mit
seinen Eroberungen nach allem, was wir wissen, nicht wesentlich
über Samarien hinaus vorgedrungen20. Da nun die obigen Berichte
nicht sagen, daß Aristobul das ganze Reich der Ituräer sich unter-
worfen habe, sondern nur, daß er ein Stück desselben an sich
gerissen habe, so kann damit im wesentlichen nichts anderes als
Galiläa gemeint sein21. Eben dieses Stück ist aber von Aristobul
zugleich judaisiert worden. Die Einwohner mußten sich beschneiden
lassen und die jüdischen Gesetze annehmen. Wie gründlich solche
gewaltsamen Bekehrungen gewirkt haben, zeigt uns das Beispiel
der Idumäer. Es ist also kaum daran zu zweifeln, daß die
eigentliche Judaisierung Galiläas im wesentlichen das
Beth-sean und die Leute der Ebene vertrieben" (TO3K1 )WD tv»a ^W3K ib*
nrspS). Unter der „Ebene" ist die große Ebene nordwestlich von Skytho-
polis zu verstehen (vgl. zu der Stelle Derenbourg, Hütoire de la Palestine, p. 74;
Grätz, Gesch. der Juden III 4. Aufl. S. 566 f.). Insofern also mit diesen Er-
oberungen des Johannes Hyrkanus eine Judaisierung verbunden war, kann sie
nur den äußersten 8flden von Galiläa betroffen haben.
19) Die Stelle wird von Josephus Antt. XIII, 11, 3 im Wortlaut mitgeteilt.
20) Die weite Ausdehnung der ituräischen Macht war damals ermöglicht
durch die Schwäche der Seleukiden. Antiochus IX. Kyzikenos (111 — 95 v. Chr.)
hatte zwar seine Residenz wahrscheinlich in Damaskus (s. unten § 23, 1, Nr. 12
die Geschichte von Damaskus). Er konnte aber nicht hindern, daß die Itu-
räer den ganzen Libanon nebst Grenzgebieten an sich rissen.
21) Daß Josephus den ihm sonst geläufigen Namen „Galiläa" nicht ge-
braucht, erklärt sich aus der Abhängigkeit von seinen griechischen Quellen
(Strabo und vielleicht Nicolaus Damascenus).
12 § 22. Allgemeine Kultunrerh<niase. [7. 8]
Werk Aristobuls I. ist. Freilich war seine Regierung nur kurz,
und es folgten dann die stürmischen Zeiten des Alexander Jannäus.
Aber was an der Vollendung seines Werkes etwa noch fehlte, wird
die Regierung der frommen Alexandra ersetzt haben22. |
Josephus gibt für seine Zeit die Grenzen des jüdischen Galiläa
folgendermaßen an (& J. III, 3, 1). Im Westen das Gebiet von
Ptolemais und der Karmel; im Süden Samarien und das Gebiet von
Skythopolis; im Osten die Gebiete von Hippos und Gadara, sodann
Gaulanitis und das Königreich des Agrippa; im Norden das Gebiet
von Tyrus. Den südlichen Teil nennt er i? xara> rakiZala, den
nördlichen /} avco raXiZala2*. Von den Dörfern, durch welche er
die Grenzen näher bestimmt, ist nur eines nach seiner Lage uns
genauer bekannt: das die Südgrenze Galiläas bezeichnende Xaloth,
welches nach dem Onomastikon des Eusebius in der Nähe des Tabor,
acht mit. pass. (süd)östlich von Sepphoris (Diocäsarea) lag; es heißt
noch heute Iksai24. Nach Norden erstreckte sich Galiläa bis in
die Gegend des Merom-Sees. Einer der nördlichsten Punkte war
Gis-chala, das heutige el-Dschisch, ungefähr in gleicher geographi-
scher Breite mit der Südspitze des Merom-Sees (s. § 20 [I, 616 f.]).
Auch im Ostjordanland hat das jüdische Element seit der
Makkabäerzeit ganz erhebliche Verstärkungen erfahren. Neben
den hellenistischen Kommunen, welche seit der Zeit Alexanders
gegründet worden waren (Hippus, Gadara, Pella, Dium, Gerasa,
Philadelphia), finden wir hier im Beginn der Makkabäerzeit in der
Hauptsache noch unkultivierte heidnische Stämme25. Unter ihnen
bildeten die Juden, wie in Galiläa, nur eine Diaspora. Die hilf-
reiche Unterstützung, welche ihnen von Seiten der ersten Makkabäer
zu teil wurde, war daher ganz dieselbe wie die in Betreff der
Juden Galiläas. Nachdem Judas zunächst die Ammoniter wegen
ihrer Feindschaft gegen die Juden gezüchtigt und ihre Stadt Jaeser
22) Wenn die Judaisierung Aristobuls 1. überhaupt von Erfolg war, kann
sie nicht Gebiete betroffen haben, die nördlich oder östlich von Galiläa lagen.
Denn hier war die Bevölkerung auch später noch eine heidnische.
23) Vgl. außer B. J. III, 3, 1 auch B. J. II, 20, 6; Vüa 37. Auch in der
Mischna wird yrbsn V4a und yinfinh Wa unterschieden (Schebiitk IX, 2).
24) Euseb. Onomast. ed. Klostermann (1904) p. 22, 4 und 28, 23: XoaXovs iv
zy neötaöt nagä rd ö*qoq ßaß&Q, aTttyovaa Jioxaiaaoslag onfteloiq r\ nodq
ävaroXäs; Robinson, Palästina III, 417 f.; Gast Boettger, Topogr.-histor.
Lexikon zu den Schriften des Fl. Josephus (1879) S. 252. Oehler, Zeitschr.
des DPV. 1905, S. 4 f.
25) Genannt werden z. B. die viol yAfi(iu>v (I Mahle. 5, 6; vgl. II MaJck. 4, 26;
5, 7), die vlol "Iafißot (so ist wohl I Makk. 9, 30—37 zu lesen, vgl. oben § 6
Anf. [1, 224]), die Moabiter und Galaaditer (Jos. Antt. XIII, 13, 5; B. J. 1, 4, 3),
die Nabatäer (I Makk. 5, 25; 9, 35).
[8. 9] L Mischung der Bevölkerung. 13
eingenommen hatte (I Makk. 5, 6—8, vgl. 5, 1—2), unternahm er
einen Kriegszug nach „Gilead", d. h. in den südlich von Batanäa
(ßasan) gelegenen Teil des Ostjordanlandes. Nach mannigfachen
Kämpfen und Eroberung einer größeren Zahl von Städten, in
welchen die Juden bedrängt worden waren, sammelte Judas alle
Israeliten, die in Gilead wohnten, groß und klein, Weiber und
Kinder mit all ihrer Habe, und fährte sie unter dem Schutze seines
Heeres nach | Judäa (I Makk. 5, 9—54, vgl bes. 5, 45: xal ovvfjyaysv
'lovöag ütavxa 'iOQafjX rovg iv rjj ralaaölrtöi djto fiixQov %a><;
lieyaXov usw.; die einzelnen Städte, welche als Wohnorte von
Israeliten erwähnt werden, s.| I Makk. 5, 9. 13. 26—27. 36). Die
Schilderung des ganzen Unternehmens ist hier noch eingehender
als bei dem gleichzeitigen Zuge Simons nach Galiläa und beweist
noch sicherer als dort, daß es sich nur um eine jüdische Diaspora
gehandelt haben kann.
Das Vordringen des Judentums scheint auch im Ostjordanland
durch politische Eroberungen befördert worden zu sein. Johannes
Hyrkan eroberte Medaba, östlich vom Toten Meere (südlich von
Esbon)26. Alexander Jannäus betrieb die Unterwerfung des Ost-
jordanlandes in großem Maßstabe. Die meisten griechischen Städte
(Gadara, Pelia, Dium, Gerasa) eroberte er; die Moabiter und Galaa-
diter machte er sich tributpflichtig; kleine Dynasten, welche damals
einzelne Städte beherrschten, vertrieb er, indem er ihre Städte
eroberte oder zerstörte; so den Demetrius von Gamala und den
Theodorus von Amathus27. Am Schlüsse seiner Regierung stand
das ganze Ostjordanland vom Merom-See bis zum Toten Meere
unter jüdischer Botmäßigkeit28. Diese Eroberungen waren freilich
zunächst nur ein Werk der rohen Gewalt. Aber gelegentlich ein-
mal, bei der Eroberung Pelias, erfahren wir doch, daß Alexander
zugleich die Forderung stellte, daß die Unterworfenen die jüdischen
Sitten annähmen (Antt. XIII, 15, 4: tovtijv xaricxatpsv ovx29 vxo-
oxofievcop x&v kvoixovptmv kq xatQia x&v 'iovöalcov Id-fj (isra-
26) Joseph Antt. XIII, 9, 1; Bell. Jud. I, 2, 6. Ober die Lage und Geschichte
s. oben § 8 (I, 264).
27) S. über Gadara: Jos. Antt. XIII, 13, 3; B. J. 1, 4, 2. Pella, Dium,
Gerasa: Antt. XIII, 15, 3; B. J. I, 4, 8. Moabiter und Galaaditer: Antt. XIII,
13, 5; B. J. I, 4, 3. Demetrius von Gamala: Antt. XIII, 15, 3; B. J. I, 4, 8.
Theodorus von Amathus: Antt. XIII, 13, 3 u. 5; B. J. I, 4, 2—3. Vgl. oben
§ 10 (I, 279. 281. 283).
28) Joseph. Antt. XIII, 15, 4; Qeorgitu SyneeUus ed. Dindorf I, 558 sq.
Vgl. oben § 10 (I, 286).
29) Dieses o{% ist von Niese getilgt, da es im cod. Palatinos fehlt. Es
wird aber von sämtlichen übrigen Handschriften geboten; und durch seine
Tilgung wird der Text sinnlos.
14 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [9. 10J
ßaXelod-cu). Die Eroberungen müssen daher von großer Bedeutung
für die Judaisierung des Ostjordanlandes gewesen sein, namentlich
da die einmal unterworfenen Gebiete dann unter das Regiment der
pharisäerfreundlichen Alexandra kamen. In den hellenistischen
Städten ist allerdings die griechische Kultur durch Pompeius und
Gabinius wiederhergestellt worden. Auch sonst sind nicht alle
unterworfenen Gebiete wirklich judaisiert worden. Aber | nament-
lich in der unmittelbaren Nachbarschaft Judäas muß die Judaisierung
erfolgreich gewesen sein; denn wir finden hier in der römisch-
herodianischen Zeit eine jüdische Provinz Peräa30. Als Gabinius
das jüdische Gebiet in fünf Bezirke teilte, wurde der Sitz eines
der fünf „Synedrien" nach Amathus verlegt, augenscheinlich für
die Juden des Ostjordanlandes (Jos. Antt, XIV, 5, 4; B. J. I, 8, 5).
Josephus gibt die Grenzen des jüdischen Peräa folgendermaßen
an (Ä /. III, 3, 3). Im Norden das Gebiet von Pella, im Osten die
Gebiete von Gerasa, Philadelphia und Esbon (dies ist mit dem
korrumpierten Silbonitis gemeint), im Süden das Moabiterland; die
letzte jüdische Stadt war hier Machärus31. Indem Josephus diese
30) Vgl Guthe, Art. „Peräa" in Herzog-Hauck, Real-Enz., 3. Aufl., XV,
1904, 8. 124—130.
31) Machärus wird als südlichste Stadt Peräas ausdrücklich von Josephus
B. J. III, 3, 3 genannt. Daß es jüdisch war, beweist seine Haltung während des
Krieges gegen die Römer (B. J. VII, 6, 1—4). Über seine Zugehörigkeit zum
jüdischen Gebiete s. auch B. J. VII, 6, 2; Antt XVIII, 5, 1; Plinius Eist Not.
V, 16, 72. Die Meinung, daß es zur Zeit des Herodes Antipas vorübergehend
dem Araberkönig gehört habe, beruht nur auf einer falschen Lesart bei Joseph.
Antt XVIII, 5, 1. S. dagegen Theo!. Litztg. 1890, 644. Andererseits hat aller-
dings das südlich von Esbon gelegene Medaba eben damals zum Gebiete
des Aretas IV. gehört, wie jetzt durch eine in Medaba gefundene Inschrift
aus der Zeit dieses Königs konstatiert ist (Zeitschr. für Assyriologie V, 1890,
S. 289ff.; VI, 1891, S. 149f.; Corp. Inser. Semäiearum P. II Aram. n. 196,
Clermont-Qanneau, Bectteii d'archiologie Orientale II, 189 ff.; Cooke, Text-book of
North-semitie inseriptions 1903 n. 96. Über ein zweites Exemplar derselben
Inschrift, ebenfalls in Medaba gefunden, s. Glermont-Ganneau, Revue aroheol.
IV«* Serie t VII, 1906, p. 415—422 = Beeueil d'archiol. Orient. VII, 1906,
p. 241—247). Damit stimmt, daß auch nach Ptolem. V, 17, 6 = Didotsche
Ausg. (vol. I, 2, Paris 1901) V, 16, 4 Mrjddßa zur Provinz Arabien gehörte.
Über Juden in Medaba s. Mischna Mikwaoth VII, 1. — Für die Bestimmung
der Ostgrenze ist auch noch zu beachten, daß einst die Juden Peräas mit
den Philadelphenern in Streit gerieten wegen der Grenzen eines Dorfes, das
in unserm überlieferten Josephus-Texte Mia heißt (Jos. Antt XX, 1, 1). Wenn
dieses, wie mit Grund vermutet wird, mit dem von Eusebius erwähnten Zia,
15 mit pass. westlich von Philadelphia, identisch ist, dann gehörte reichlich
die Hälfte des zwischen dem Jordan und der Stadt Philadelphia liegenden
Landes zum Gebiete der letzteren (vgl. § 23, I, Nr. 23). — Nicht zu verwerten
ist dagegen die Angabe, daß Ragaba im Gebiete von Gerasa lag (Jos. Antt.
[10. 11] I. Mischung der Bevölkerung. 15
heidnischen Gebiete als Grenzen Peräas bezeichnet, will er sagen,
daß das von ihnen eingeschlossene Gebiet eine jüdische, von Jnden
bewohnte Provinz war (s. oben Anm. 11). Er bemerkt dabei, daß
„Peräa" zwar größer sei als Galiläa, aber schwach bevölkert und
rauh ($qtiiio<z öl xal xQaxsla xo xXiov). Daß die hier wohnende
Bevölkerung im wesentlichen eine jüdische war, wird auch noch
durch andere Tatsachen bestätigt32. Der Name IJeQala ist aus |
dem schon im Alten Testament häufig .vorkommenden "JTW "*3?
Jenseits des Jordan" gebildet und wird jetzt in doppeltem Sinne
gebraucht: vom Ostjordanland überhaupt und vom jüdischen Gebiet
im Ostjordanland insbesondere.
In der römisch-herodianischen Zeit gab es demnach drei jüdische
Provinzen: Judäa, Galiläa und Peräa. Wie bei Josephus, so
werden diese drei auch in der Mischna öfters nebeneinander ge-
nannt (rrnm. b^bä, iTvn "UÄ33. Nur innerhalb dieser war die
Bevölkerung eine wesentlich jüdische. Die weiter gezogenen Grenzen
des „Landes Israel" (barnD** fiK), wie sie in rabbinischen Quellen
angegeben werden, haben nur die Bedeutung von Theorien, welchen
die Wirklichkeit nicht entsprochen hat34. Auch innerhalb jener
Landschaften war aber die Bevölkerung keine rein jüdische. Nach-
dem bis zur Regierung der Alexandra das Judentum extensiv und
intensiv zugenommen hatte, ist unter den Römern und Herodianern
in dieser Bewegung ein Stillstand, ja eher ein Rückschlag ein-
getreten. Pompeius, Gabinius und Herodes begünstigten wieder
die hellenistische Kultur. Die von Alexander Jannäus zerstörten
griechischen Städte wurden wieder aufgebaut und neue gegründet
Durch Herodes kam auch in das Innere des Landes der Glanz
heidnischer Kultur. Immerhin war das pharisäische Judentum
jetzt so gefestigt, daß der Rückschlag kein sehr erheblicher war.
Auch hat Herodes bei seinen Kulturbestrebungen im wesentlichen
die religiösen Anschauungen des Judentums geschont. Stärkere
XIII, 15, 5). Denn die Lage dieses Ragaba ist uns unbekannt 8. oben § 10
(I, 284).
32) Vgl. Jos. Antt. XX, 1, 1 (Grenzstreit der Juden Peräas mit den Phil-
adelphenern); B. J. IV, 7, 4—6 (Teilnahme der Juden Peräas am Aufstand).
— Auch die Mischna setzt durchweg Peräa (Tü^ri *qr) als von Juden be-
wohntes Land voraus, s. Schebiith IX, 2; Bikkurim I, 10; Taanith III, 6;
Keihuboth XIII, 10; Baba bathra III, 2; Edujoth VIII, 7; Menachoth VIII, 3.
33) Sehebiüh IX, 2; Kethuboth XIII, 10; Baba bathra III, 2.
34) Vgl. hierüber jer. Schebiith VI, 1 fol. 36 c; Tosephta Schebiith IV ed.
Zuckermandel p. 66; Siphre Abschnitt Ekeb gegen Ende. Dazu Neubauer,
La giographie du Talmud, 1868, p. 10—21, und besonders die eingehende
Erörterung bei Hildesheimer, Beiträge zur Geographie Palästinas, Ber-
lin 1886.
16 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [LI. 12]
Bruchteile heidnischer Bevölkerung werden daher für Judäa auch
jetzt kaum anzunehmen sein; etwas mehr für Galiläa und Peräa,
wo die Grenzen zwischen jüdischer und heidnischer Bevölkerung
jüngeren Datums und darum auch fließender waren35. |
Trotz der religiösen und nationalen Gemeinschaft der drei Land-
schaften hatten sich doch in Sitten und Gewohnheiten ihrer Be-
wohner auch mancherlei Unterschiede ausgeprägt, welche den drei
Landschaften, ganz abgesehen von der wiederholt eintretenden
politischen Trennung, eine gewisse Selbständigkeit des inneren
Lebens verliehen. Die Mischna erwähnt z. B. kleine Unterschiede
in eherechtlicher Beziehung zwischen Judäa und Galiläa36, ver-
schiedene Sitten in bezug auf den Verkehr zwischen Braut und
Bräutigam37, Verschiedenheit des Gewichtes zwischen Judäa und
Galiläa 38. Sogar eine verschiedene Observanz in betreff des Passa-
festes wird erwähnt: in Judäa arbeitete man am 14. Nisan bis
Mittag, in Galiläa gar nicht39. Da die drei Landschaften auch
politisch öfters getrennt waren, werden sie in gewissen Beziehungen
als „verschieiene Länder" betrachtet40.
Ein buntes Gemisch boten die Landschaften östlich vom See
Genezareth, Gaulanitis, Batanäa, Trachonitis und Auranitis
35) Kaminka, Studien zur Geschichte Galiläas (Berlin 1889), S. 29—38,
will noch für die Zeit Jesu Christi die Bevölkerung Galiläas als eine „über-
wiegend heidnische" (S. 33) betrachten, innerhalb deren nur „Kolonisten aus
Judäa" (S. 33) wohnten. Allein so richtig diese Anschauung für die Makka-
bäerzeit ist, so entschieden unrichtig ist sie für die römisch-herodianische Zeit.
Selbst in Tiberias war das jüdische Element stark überwiegend, wie das Ver-
halten dieser Stadt während des Aufstandes gegen die Römer zeigt (s. § 23,
I, Nr. 33). Die ganze Provinz aber könnte sich nicht mit solcher Entschieden-
heit dem Aufstande angeschlossen haben, wenn die Bevölkerung nicht im
wesentlichen eine jüdische gewesen wäre. Nur eine Stadt, Sepphoris, blieb
auf Seiten der Römer; aber auch hier war die Bevölkerung eine vorwiegend
jüdische [B . J. III, 2, 4: noo&vfJUOQ o<pü<; abxov$ i>7i£axovro xaxa xmv öpo-
(pvXajv ovfiftdxovo). Endlich zeigt ja die Geschichte Jesu Christi, daß es
überall in Galiläa Synagogen gab, in welchen man am Sabbath sich zum
Gottesdienst versammelte.
36) Kethuboth IV, 12.
37) Jebamoth IV, 10; Kethuboth I, 5.
38) Terwnoth X, 8: Fischlake im Gewicht von 10 Sus in Judäa = 5 Sela
in Galiläa; Kethuboth V, 9 und Gkullin XI, 2: Wolle im Gewicht von 5 Sela
in Judäa = 10 Sela in Galiläa.
39) Pesachim IV, 5. Über das Verbot des Arbeitens am 14. Nisan s. auch
Grün hu t, Zeitschr. f. wissensch. Theol. 1894, S. 543 ff.; Chwolson, Ebendas.
1895, S. 343 ff.; Grünhut, Ebendas. 1898, S. 253—266.
40) Z. B. in betreff des Rechtsgrundsatzes, daß die Frau nicht verpflichtet
ist, ihrem Manne in ein anderes Land nachzuziehen {Kethuboth XIII, 10); in
betreff des Rechtes der Ersitzung (Baba bathra III, 2).
[12. 13] I. Mischung der BeYölkerung. 17
dar (aber deren Lage s. oben § 17 a). Die Bevölkerung war eine
aus Juden und Syrern gemischte (& /. in, 3, 5: olxovai de avrrjp
liiyaöeq 'fovdaloi re xal JSvqoi). Aber neben der seßhaften Be-
völkerung trieben sich in jenen Grenzgebieten der Kultur auch
zahlreiche Nomadenscharen herum, von welchen jene nicht wenig
zu leiden hatte. Besonders günstig waren für sie die Höhlen in
jener Gegend, in welchen sie Vorräte an Wasser und Lebens-
mitteln ansammeln und im Falle eines Angriffs samt ihren Herden
Zuflucht finden konnten. Ihre Bekämpfung war darum sehr
schwierig. Erst der kräftigen Hand des Herodes gelang es, hier
einigermaßen Ordnung zu schaffen41. Zur dauernden Niederhaltung
der unjruhigen Elemente siedelte] er mehrmals fremde Kolonisten
an; zuerst in Trachonitis dreitausend Idumäer42; dann inBatanäa
eine Kolonie kriegerischer Juden aus Babylon, welchen er das
Privilegium der Abgabenfreiheit verlieh43. Seine Söhne und Enkel
41) Antt. XV, 10, 1. Über die Höhlen auch Sirabo XVI, 2, 20 p. 756 (eine
Höhle faßte viertausend Mann); Winer, RWB., Art. „Höhlen".
42) Antt. XVI, 9, 2.
43) Antt. XVn, 2, 1—3. Zur Geschichte dieser Kolonie vgl. auch Vita 11
und oben § 17 a (1, 428). Nach Antt. XVII, 2, 2 gründeten diese babylonischen
Juden in Batanäa ein Dorf namens Bathyra (Niese: Barthyra; es ist vielleicht
das heutige Bei Eri am nördlichen Ufer des Jarmuk, östlich vom Nähr er
Rnkkad, s. Schumacher, Across the Jordan p. 52; Furrer, Zeitschr. des DPV
XII, 151. Buhl, Studien zur Topographie des nördl. Ostjordanlandes 1894, S. 19;
Den., Geographie des alten Palästina S. 246; Benzinger in Pauly-Wissowas
Real-Enz. ITT, 138 £) und mehrere yoovoia. Zu letzteren gehörte sicherlich
das Vita 11 erwähnte Ekbatana, und wohl auch das von Eusebius erwähnte
Nineve, Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 136 (s. v. Nivevj): lort öh xal
%vdal(ov elg Hxi vfh> nöXig Nivbvtj xaXovfiivrj neol xty rwvtav xrjq, 'Apaßiag;
Hieronymus ibid. p. 137: est et alia usque hodie civüas Judaeorum nomine Ninive
in angulo Arabiae, quam nunc oorrupte [aL correpte] Neneven [l. Neve?] vocani.
Der „Winkel" oder die „Ecke" Arabiens ist wohl identisch mit dem ander-
wärts von Eusebius erwähnten Winkel von Batanäa (Onomast. ed. Klostermann
p. 18 8. *& Abwd- iaelo* h x$ xakov/iivy Twla xrjq Baxavalag). Batanäa ge-
hörte zur Zeit des Eusebius zur Provinz Arabien. Also wird jenes Nineve
in Batanäa gelegen haben und kann identisch sein mit dem Neve des Itinera-
rium Antonini, dem Nevtj der Notitiae episcopatuum, dem Nawah der rabbini-
schen und arabischen Quellen und dem heutigen Nawa (genau östlich von
der Nordspitze des Sees Genezareth), s. Befand, Palaestina p. 909; Raumer,
Palästina S. 253; Neubauer, Geographie du Talmud p. 245; Schumacher, Across
the Jordan 1886, p. 167—180; Le Strange, Palestine under the Moslems (1890)
p. 515 sq.;. Geizer in seiner Ausg. des Georgias Oyprius (1890) p. 203 (über
IWa 206); Buhl, Geogr. d. alten Palast S. 247 f. Diese Identifizierung wird
dann besonders wahrscheinlich, wenn bei Hieronymus Neve zu lesen ist (so
eine der von Vallarsi Hieron. opp. III, 1, 251 verglichenen Handschriften; die
beiden von Klostermann verglichenen Sangallenses haben Neve und Neven).
Schärer, Geschichte II. 4. Aufl. 2
18 § 22. Allgemeine Kulturrerhtltnisae. [13. 14]
setzten das Werk fort. Doch hat noch einer der beiden Agrippa
in einem Edikte über die tierische Lebensweise ({hjQicidrjg xaxa-
craöig) der Einwohner und ihren Aufenthalt in den Höhlen (hv<pa>-
XevBiv) zu klagen44. Mit den Kulturbestrebungen des Herodes zog
endlich auch das griechische Element in jenen Gegenden ein. In
der Nähe von Eanatha (s. hierüber § 23, I) finden sich noch die
Buinen eines Tempels, der nach den dort gefundenen griechischen
Inschriften aus der Zeit Herodes' des Großen herrührt45. Grie- 1
chische Inschriften der beiden Agrippa, besonders Agrippas IL,
finden sich in der Umgebung des Hauran in größerer Zahl46. In
der römischen Zeit hat dann das griechische Element wenigstens
äußerlich die Herrschaft in jenen Distrikten erlangt (s. darüber
unten Nr. II, 1).
In der zwischen Judäa und Galiläa liegenden Landschaft Sa-
marien sind die Städte Samaria und Skythopolis hinsichtlich
ihrer Bevölkerung vom übrigen Gebiete streng zu unterscheiden.
In Samaria hatte schon Alexander der Große mazedonische Kolo-
nisten angesiedelt Nach seiner Zerstörung durch Johannes Hyr-
kanus war es dann von Gabinius und in erweitertem Umfange
von Herodes als hellenistische Stadt neu gegründet worden (Näheres
s. § 23, 1, Nr. 24). Seine Bevölkerung war ohne Zweifel überwiegend
heidnisch. Das gleiche gilt von Skythopolis, das zur Makkabäer-
zeit ausdrücklich als heidnische Stadt erwähnt wird und, nachdem
es seit Johannes Hyrkanus im Besitz der Juden gewesen war,
durch Gabinius als hellenistische Stadt wiederhergestellt wurde
(8. § 23, 1, Nr. 19). Nach B. J. II, 18, 3—4 hat es zwar einen starken
Bruchteil jüdischer Einwohner gehabt Aber diese bildeten doch
bei weitem die Minorität. Abgesehen von diesen beiden Städten
Unter den alten Ruinen von Natoa findet sich mehrfach der siebenarmige
Leuchter als Ornament (Schumacher 8. 172. 173. 174). — Auch in Tafas in
Batanaa, südlich von Nawa, ist eine jüdische Gemeinde nachweisbar (Bulletin
de eorresp. helUnique XXI, 1897, p. 47: IdxuyßoQ xal ÜSfiovrjXo^ .... t^v owa-
yar/h* oixodö^rjaav).
44) Die leider nur sehr dürftigen Fragmente dieses Ediktes sind mitge-
teilt hei Le Bas et Waddington, Inseriptions Qreeques et Laiines T. III
n. 2329. Hieraus auch in der Zeitschr. f. wissenschaftl. Theol. 1873, 8. 252, bei
Dittenberger, Orientis graeei inseriptiones seleetae n. 424, und in : Inseriptiones
graecae ad res romanas pertinentes t III ed. Oagnat n. 1223.
45) Vgl. bes. die Inschrift bei Le Bas et Waddington T.IUn. 2364 —
Dittenberger n. 415 — Inser. gr. ad res rom. pertinentes HI n 1243.
46) Le Bas et Waddington T. Hl n. 2112. 2135. 2211. 2329. 2365.
2413b. Hieraus auch in der Zeitschr. f. wissenschaftl. Theol. 1873, S. 248 ff. und
bei Dittenberger, Orientis graeei inseriptiones seleetae n. 418. 419. 421. 422. 423.
424. Dazu noch die bei Waddington fehlenden: Dittenberger n. 425. 426.
[14. 15] I. Mischung der Bevölkerung. ig
war die Landschaft Samarien in der Hauptsache wohl von Sa ma-
ritanern bewohnt47. | Diese werden von Josephns nach dem oben
(Anm. 11) Bemerkten im weiteren Sinne zur jüdischen Bevölkerung
gerechnet. Und mit vollem Rechte. Denn man beurteilt ihr Wesen
nur dann richtig, wenn man es unter dem doppelten Gesichtspunkt
auffaßt: 1) daß sie zwar ihrer natürlichen Zusammensetzung
nach ein Mischvolk waren, hervorgegangen aus der Verschmelzung
der älteren israelitischen Einwohner mit heidnischen Elementen,
namentlich mit den durch die Assyrer dorthin verpflanzten heid-
nischen Kolonisten; daß aber 2) ihre Religion im wesentlichen
die Religion Israels war. — Unter den Kolonisten, welche die
47) Die reichhaltige Literatur über die Samaritaner verzeichnet am voll-
ständigsten Kautzech in Hefzog-Hauck, Real-Enz., 2. Aufl. XIII, 351—355;
3. Aufl. XVII, 1906, 3. 428 u. 440— 446. — Vgl. besonders: Cellarius, CoUectanea
kistoriae Samaritanae, 1688 (auch in ügolini Thes. t. XXII). — Robinson,
Palastina HI, 317 — 362. — Juynboll, Gommentarii in historiam gentis Sama-
riUmae, Lugd. Bat. 1846. — Winer, RWB., II, 369—373.— Lutterbeck, Die
neutestamentlichen Lehrbegriffe I, 255 — 269. — Herz fei d, Gesch. des Volkes
Jisrael III, 580 ff. — Jost, Gesch. des Judentums 1, 44—89. — Ewald, Gesch.
des Volkes Israel III, 724ff. IV, 129ff. 274ff. — Petermann in Herzog,
Real-Enz. 1. Aufl. XIH, 369—391. — Hausrath, Zeitgesch., 2.Aufl. 1, 12—23. —
Schrader in Schenkels Bibellexikon V, 149—154. — Äppel, Quaestiones de
rebus Samaritanorum sub imperio Romanorum peractis, Qotting. 1874. — Nutt,
A sketch of Samaritan history, dogma and literature, London 1874. — Kohn,
Zur Sprache, Literatur und Dogmatik der Samaritaner (Abhandlungen für
die Kunde des Morgenlandes, Bd. V Nr. 4, 1876). — Kautzsch in Riehms
Handwörterb. des bibl. Altertums 8. v. — Reuss, Gesch. der heil. Schriften
Alten Testaments, § 381. 382. — Hamburger, Real-Enzyklopädie für Bibel
und Talmud, Abth. II, 1883, S. 1062—1071. — Kautzsch in Herzog-Hauck,
Real-Enz., 2. Aufl. XIH, 340—355; 3. Aufl. XVII, 1906, S. 428—445. — Fürst, Zur
Differenz zwischen Juden und Samaritanern (Zeitschr. der DMG. Bd. 35, 1881,
8. 132—138). — Stade, Gesch. des Volkes Israel II, 189 ff. — Taglicht,
Die Kuthaer als Beobachter des Gesetzes usw., Erlangen, Dissert 1888. —
Wreschner, Samaritanische Traditionen, Berlin 1888 (vgl. Siegfried, Theol.
Litztg. 1888, 546). — Köhler, Lehrbuch der bibl. Geschichte A. T.s II, %
1893, S. 421 ff. 570 ff. 620 ff. — Co wley, Art. Samaritans in der Encyclopaedia
Biblica IV, 1903. — Nagl, Die Religion der Kuttaer auf dem Boden des
ehemaligen Reiches Jisrael (Zeitschr. f. kathol. Theol. 1904, S. 415—424). —
Cowle y, Art. Samariums in The Jewis'h Eneyclopedia vol. X, 1905, p. 669—681.
— Montgomery, The Samaritans 9 the earliest jewish sect, Philadelphia 1907
(358 S.) — Verschiedene Beitrage zur samaritan. Literatur von Heidenheim
in der deutschen Vierteljahrsschrift f. engl.-theol. Forschung und Kritik, 1861 ff.
Über die Messias -Idee der Samaritaner s. unten § 29. Ober den samari-
tanischen Pentateuch s. die Literatur bei Buhl, Kanon und Text des A. T.,
1891, 8. 184 ff; Kautzsch, Herzog-Hauck, Real-Enz., 3. Aufl. XVII, 442 f. Auch:
Kohn, Samareitikon und Septuaginta (Monatsschr. f. Gesch. u. Wissensch. des
Judent, 38. Bd. 1894); König, Art. Samaritan Pentateuch in: Hostings Die-
tionary of the Bible, Extra- Volume 1904, p. 68—72.
2*
20 § 22. Allgemeine Ktütujrverhaltnisse. [15. 16]
Assyrer aus den Provinzen Babel, Entha, Ava, Hamath und Sephar-
vaim nach Samaria verpflanzten (II Eon. 17, 24 ff.), scheinen die-
jenigen ans Entha (ntTO, n*D, II Eon. 17, 24. 30) besonders zahl-
reich gewesen zu sein48. Die Bewohner Samarias wurden daher
von den Juden fortan Euthäer genannt (Xov&alot bei Joseph. Antt
IX, 14, 3. XI, 4, 4; 7, 2. XIII, 9, 1; in der rabbinischen Literatur
S'rra)49. Man darf aber sicher nicht annehmen, daß die alte
israelitische Bevölkerung gänzlich aus dem Lande weggeführt war,
und das Land lediglich durch diese heidnischen Kolonisten neu be-
völkert wurde. Vielmehr ist ohne Zweifel ein sehr starker Prozent-
satz der alten Bevölkerung im Lande geblieben, und die neue
Bevölkerung ist eine Mischung dieser mit den . eingewanderten
heidnischen Kolonisten50. Die Religion dieses Mischvolkes war
anfangs, nach dem Berichte der Bibel (II Eon. 17, 24—41), auch
eine Mischreligion: eine Verbindung der von den Kolonisten mit-
gebrachten heidnischen Kulte mit der alt-israelitischen Verehrung
Jahves auf den Höhen. Später ist aber | das Übergewicht der
jüdischen Religion zu entscheidender Geltung gekommen. Denn
nach allem, was wir sonst über die Religion der Samaritaner
Sicheres wissen (von böswilligen Nachreden ist natürlich abzusehen),
war dieselbe ein reiner jüdischer Monotheismus. Sie erkannten
die Einheit Gottes und die Autorität Mosis als des größten Pro-
pheten an; sie hatten die jüdische Beschneidung am achten Tage
und die Feier des Sabbaths und der jüdischen Jahresfeste. Ja sie
hatten überhaupt den ganzen Pentateuch in derselben Form wie
die jüdische Gemeinde als göttliches Gesetz und erkannten damit
auch die Einheit des jüdischen Eultus an. Nur darin unterschieden
sie sich von den Judäern, daß sie diesen Eultus nicht nach Jeru-
salem, sondern auf den Garizim verlegten. — Wie es zur Bildung
dieser Gemeinde gekommen ist, liegt im dunkeln. Die natürlichste
Annahme scheint die, daß zunächst die religiöse Entwicklung Judäas
auf dem Wege der Propaganda auch nach Samaria übergegriffen
48) Vgl. über die Kolonisten besonders Juynboll, Commentarii p. 32—37.
49) D^n*» in der Mischna an folgenden Stellen: Berachoih VII, 1. VIII, 8.
Pea II, 7. Demai HI, 4. V, 9. VI, 1. VII, 4. Terumoth III, 9. ChaUa IV, 7.
Schekalim I, 5. Bosch hasehana II, 2. Kelhuboth III, 1. Nedarim III, 10.
Qütin I, 5. Kidduschin IV, 3. Ohaloth XVII, 3. Tohoroth V, 8. Nidda IV, 1. 2.
VII, 3. 4. 5.
60) Gegen Hengstenberg, welcher eine völlige Wegführung der israe-
litischen Bevölkerung annimmt und die Samaritaner für eine Mischung ver-
schiedener heidnischer Völker hält (Die Authentie des Pentateuches Bd. I,
S. 3 — 27), s. bes. Juynboll, Commentarii in historiam gentis Samaritonae
p. 12-25.
[16] L Mischung der Bevölkerung. 21
hat, und daß es zu einer Spaltung erst gekommen ist, nachdem
hier wie dort der Pentateuch bereits rezipiert war. Damit würde
der Bericht des Josephus fibereinstimmen, wonach das Schisma
erst kurz vor der Zeit Alexanders des Großen entstanden ist, als
Manasse, der Bruder des Hohenpriesters Jaddua, wegen seiner
Heirat mit der Tochter des Samaritaners Sanballat aus Jerusalem
vertrieben wurde. Infolgedessen habe Manasse den schismatischen
Kultus in Samarien eingerichtet, indem er einen Tempel auf dem
Garizim erbaute 51. Schwierigkeiten macht jedoch, daß nach Nehem.
13, 28 bereits zur Zeit Nehemias ein Hohenpriesterssohn wegen
seiner Heirat mit der Tochter des Horoniters Sanballat aus Jeru-
salem vertrieben wurde. Wenn dies, wie es scheint, dieselben
Personen sind, die auch Josephus nennt, so würde der Vorgang
etwa hundert Jahre früher zu setzen sein, als Josephus meint52.
Es müßte dann schon damals die Trennung der samaritanischen
Gemeinde von der jüdischen stattgefunden haben, und die erstere
müßte trotzdem die vermutlich erst später erfolgten Umgestal-
tungen des Pentateuchs noch rezipiert haben53. Auf alle Fälle
hat spätestens seit Beginn der griechischen^ Zeit bis zur Zeit des
Johannes Hyrkanus der schismatische Kultus auf dem Garizim
bestanden 54. Und auch nachdem der dortige Tempel durch Johannes
51) Joseph. Antt. XI, 7, 2; 8, 2ff.
52) Dafür entscheiden sich z.B. Stade, Gesch. des Volkes Israel II, 189 f.;
Ders., Biblische Theologie des A. T. I, 1905, S. 355; Wellhansen, Israe-
litische und jüdische Geschichte, 1894, S. 133. 148, indem sie den Kern des
Josephns-Berichtes für historisch halten. — Juynboll, p. 85—93, hält sowohl
den Sanballat Neh. 13, 28 als den Sanballat des Josephus für historisch, also
beide für verschiedene Persönlichkeiten, und nimmt zwei Tempelhauten an,
einen unansehnlichen zur Zeit Nehemias und einen glänzenderen hundert Jahre
später.
53) Um diese Annahme zu vermeiden, setzt z. B. Steuernagel (AUgem.
Einleitung in den Hexateuch, im Handkommentar zum A. T. I, 3, 3, 1900,
S. 276) die Trennung erat um 330 und nimmt an, daß Josephus irrtümlich die
Vertreibung des Manasse mit Neh. 13, 28 kombiniert habe. — Sehr ansprechend
konstruiert Hol seh er (Palästina S. 30—43) die Entstehungsgeschichte der sama-
ritanischen Gemeinde (Schisma um 352 — 350). Leider sind die Stützen, welche
er für seine Konstruktionen aus den kanonischen Büchern des A. T. entnimmt,
sehr schwach.
54) Das leodv ^AoyaQÜjiv wird auch erwähnt bei einem von Alezander
Polyhistor exzerpierten hellenistischen Schriftsteller (Euseb. Praep. evang.
IX, 17; vgl. unten § 33, HI, 6; die Form 'Agya^eiv auch bei Joseph. B. J.
I, 2, 6 ed. Niese. Argaris bei Hin. Eist. Not. V, 68, 'AoyaoiCflv bei Damaseius
ap. PhoHum, BiM. cod. 242 ed. Bekber p. 345b. Sonst auch aramäisch Tovq
raoi&r, Mosaikkarte von Madeba, herausgegeben von Palmer und Guthe, 1906*,
Tafel Vil). Unter Antiochus Epiphanes wurde es, gewiß nur vorübergehend,
dem Zebq Sbrioq geweiht (II Makk. 5, 23; 6, 2; Jos. Antt. XU, 5, 5).
22 § 22 Allgemeine Kulturverh<nisse. [16. 17]
Hyrkanus zerstört worden war, DiieD doch der Garizim der heilige
Berg der Samaritaner and die legitime Stätte ihres Kultus 5*. Die |
weitere Entwicklung des pharisäischen Judentums haben sie nicht
mehr mitgemacht, daher alles abgelehnt, was Aber die Bestim-
mungen des Pentateuchs hinausging. Auch haben sie außer dem
Pentateuch keine der anderen heiligen Schriften des jüdischen
Kanons angenommen. Aber auch so kann ihnen das Recht, sich
„Israeliten" zu nennen, nicht abgesprochen werden, sofern es sich
nämlich um die Religion, nicht um die Abstammung handelt
Die Stellung des eigentlichen Judentums zu den Samaritanern
war stets eine feindselige: der alte Gegensatz der Reiche Juda
und Ephraim setzte sich hier in neuer Form weiter fort Dem
Siraciden ist „das törichte Volk, das in Sichern wohnet" ebenso
verhaßt wie die Edomiter und Philister (Sirach 50, 25—26). Die
Samaritaner ihrerseits vergalten diese Gesinnung mit gleicher
Feindschaft56. Trotzdem sind die gesetzlichen Bestimmungen,
welche das rabbinische Judentum hinsichtlich der Samaritaner ge-
troffen hat, überall korrekt und vom Standpunkte des Pharisäismus
aus gerecht57. Die Samaritaner werden nie schlechtweg als
„Fremde", sondern stets als ein Mischvolk behandelt, für dessen
einzelne Glieder die israelitische Abstammung zwar nie als er-
wiesen, aber stets als möglich anzunehmen ist 58. Ihre Zugehörig-
55) Zerstörung durch Johannes Hyrkan: Antt. XIII, 9, 1; B. J. I, 2. 6.
Fortdauernde Geltung: Ev. Joh. 4, 20; Joseph, Antt. XVIII, 4, 1; Bell. Jud.
III, 7, 32. Nach der Gründung von Flavia Neapolis war auf dem Garizim
ein Zeus-Tempel, welcher auf Münzen der Stadt seit Hadrian abgebildet ist
(s. oben § 21, I, Bd. I, S. 651, die Münzen z. £. bei De Sauley, Numüma-
tique de la Terre Sadnte pl. XIII n. 1, XIV n. 2 u. 3}. Zur Zeit des Kaisers
Zeno wurde infolge eines Aufstandes der Samaritaner deren Synagoge auf
dem Garizim in eine christliche Kirche verwandelt (JuynboU p. 159). Vgl.
überhaupt Eckhel, Doctrina Numorum III, 434.
56) Ev. Lue. 9, 52—53; Joseph. Antt. XVIII, 2, 2. XX, 6, 1; BeU.Jud. II, 12, 3;
Bosch haschana II, 2. — Die Galiläer, welche bei den Festreisen nach Je-
rusalem ihren Weg durch Samarien nahmen, waren leicht den Angriffen der
Samaritaner ausgesetzt (Ev. Luc. 9, 52—53; Jos. Antt. XX, 6, 1; B. J. II, 12, 3).
Es kam daher wohl auch vor, daß man den Umweg durch Peraa wählte. Doch
war letzteres nicht die Regel, wie Steck annimmt (Jahrbb. f. prot. Theol. 1880,
S. 706—716). S. dagegen Ana. XX, 6, 1.
57) Eine Sammlung rabbinischer Bestimmungen gibt der Traktat BTYD,
in den von Baphael Kirchheim herausgegebenen sieben kleinen Traktaten
(s. oben § 3). Die Stellen der Mischna s. oben Anm. 49. — Vgl. auch Light-
foot, Oenturia Matthaeo praemissa c. 56 {Opp. XI, 212); Wetstein, Nov. Test.,
zu Matth. 10, 5. Hamburger a. a. O.
58) Vgl. einerseits Schekalim 1,5 (pflichtmäßige Opfer für den Tempel
sind nur von Israeliten, nicht von Heiden, auch nicht von Samaritanern anzu*
[17. 18] L Mischung der Bevölkerung. 22
keit zur „Gemeinde Israels" wird daher nicht negiert, sondern nur
als zweifelhaft bezeichnet59. Ihre Gesetzesbeobachtung, z.B. hin-
sichtlich des Zehnten und der levitischen Seinheitsgesetze, ent-
spricht allerdings nicht den pharisäischen Anforderungen, weshalb
sie in mancher | Beziehung den Heiden gleichgestellt werden60.
Nirgends aber werden sie als Götzendiener (ot'59) behandelt, viel-
mehr von diesen bestimmt unterschieden 6 K Ihre Sabbathbeobachtung
wird gelegentlich erwähnt02; daß sie ein richtiges israelitisches
Tischgebet sprechen können, wird wenigstens als möglich voraus-
gesetzt63. Im Grunde stehen sie also, was ihre Gesetzesbeobach-
tung anlangt, mit den Sadduzäern auf gleicher Stufe64.
Die Sprache der jüdischen Bevölkerung in allen hier ge-
nannten Gebieten war seit den letzten Jahrhunderten vor Chr.
nicht mehr die hebräische, sondern die aramäische65. Wie und
nehmen); andererseits Berachoth VII, 1 (wenn drei Israeliten zusammen
gespeist haben, sind sie verpflichtet, sich förmlich zum Gebet vorzubereiten;
dasselbe gilt auch, wenn einer von den dreien ein Samaritaner ist); Kethuboth
III, 1 (der Anspruch auf Geldentschädigung wegen Beiwohnung einer israeli-
tischen Jungfrau gilt auch in betreff einer Samaritanerin).
50) KidduscMn IV, 3.
60) Vgl. überhaupt: Demai VII, 4. Tohorotk V, 8. Nidda IV, 1-2.
vn, 3-5.
61) Berachoth VII, 1. Demai m, 4. V, 9. VI, 1. Terumoth III, 9. — Die
Behauptung, daß die Samaritaner das Bild einer Taube verehrten, ist eine
erst im Talmud (jer. Aboda sara V, foL 44 d; bab. Chuttin 6», s. Levy, Neu-
hebr. Wörterb. *. v. "pi) auftretende Verleumdung, von der die Mischna noch
nichts weiß. Vielleicht wurde bei den heidnischen (griechischen) Einwohnern
von Sebaste seit der Zeit des Herodes die Taube heilig gehalten. Vgl. Askalon
und die Beziehungen des Herodes zu Askalon ; auch an die Taubenzucht des
Herodes kann erinnert werden (s. oben 1, 394). Jedenfalls darf nicht den
eigentlichen Samaritanern ein Kultus der Taube zugeschrieben werden, wozu
noch Freudenthal, Alezander Polyhistor S. 134 Anm., geneigt ist.
62) Nedarim HI, 10.
63) Berachoth VIII, 8.
64) Vgl. Nidda IV, 2: „Die Sadduzäerinnen, wenn sie der Sitte ihrer Väter
folgen, sind den 8amaritanerinnen gleich". — Epiphanius sagt von den Saddu-
cäern haer. 14: tä ndvta Sh taa Saftageltaiq (pvXatrovoiv.
65) Vgl. Zun z, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden (1832) S. 7 f. —
Herzfeld, Gesch. d. Volkes Jisrael III, 44 ff. 58 ff. — Bohl, Forschungen nach
einer Volksbibel zur Zeit Jesu (1873) 8.4—28. — Delitzsch, Über die palä-
stinische Volkssprache, welche Jesus und seine Jünger geredet haben („Saat
auf Hoffiiung" 1874, S. 195—210). — Beuß, Gesch. der heil. Schriften Neuen
Testaments, § 40. — Ders., Gesch. der heil. Schriften Alten Testaments,
§ 416-417. — Eautzseh, Grammatik des Biblisch-Aramäischen (1884) 8.4—12.
— • Neubauer } On the dialeets spoken in Palestme in the time of Christ (Stu-
dia biblica, Oxford 1885, p. 39—74). — Dilloo^ De moedertaal van onxen heere
Jesus Christus en ran vijne apostelen, Amsterdam 1885. — Dalman, Gram.
24 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [18. 19]
wann dieser Wechsel sich vollzogen hat, läßt sich nicht mehr ge-
nauer verfolgen. Jedenfalls waren es nicht die aas Babel zurück-
gekehrten Exulanten, welche das Aramäische von dort mitgebracht
Denn auch die nachexilische Literatur Israels ist zunächst noch
hebräisch. Auch ist der aramäische Dialekt Palästinas nicht der
ostaramäische (babylonische), sondern der westaramäische. Das
Aramäische muß | also allmählich vom Norden her nach Palästina
vorgedrungen sein. Dieses Vordringen wurde befördert einerseits
durch die politische und numerische Schwächung der hebräisch
redenden Bevölkerung, andererseits durch den Umstand, daß das
Aramäische bis zum Beginn der griechischen Zeit die Reichssprache
war66. Die Zeit des Übergangs bezeichnen etwa die kanonischen
matik des jüdisch -palästinischen Aramäisch, 1894, S. 344—348. — Arnold
Meyer, Jesu Muttersprache, 1896. — Zahn, Einl. in das N. T. I, 1897,
S. 1—24. — Dalman, Die Worte Jesu I, 1898, S. 1—10. — Martin Schultze,
Grammatik der aramäischen Muttersprache Jesu, 1899.
66) Auf letzteren Umstand macht Stade aufmerksam: Gesch. des Volkes
Israel II, 196 f. Über den Gebrauch des Aramäischen als der Kanzleisprache
der persischen Behörden s. Ed. Meyer, Die Entstehung des Judentums (1896)
S. 9—12. Aramäische Inschriften und Texte aus der Zeit der persischen
Herrschaft haben sich in Kleinasien wie in Ägypten gefunden (Kleinasien:
Corp. Insor. Sem. P. II Aram. n. 108—110, Ägypten : n. 122—155). Wegen der
sicheren Datierung sind wichtig: eine in Sakkara bei Memphis gefundene
Stele aus dem 4. Jahre des Xerxes = 482 v. Chr. {Corp. Insor. Sem. P. II Aram.
n. 122), eine in Syene, an der Grenze von Oberägypten und Äthiopien, ge-
fundene Inschrift aus dem 7. Jahre des Artaxerxes ■= 458 v. Ohr. (De Vogüe\
Oomptes rendus de tAcad. des Insor. et Belles-Lettres 1903, p. 269—276 «* Lidz-
barski, Ephemeris für semitische Epigraphik II, 2, 1906, S. 221 f.) und ein
Papyrus aus dem 14. Jahre des Darios ■=- 411/410 v. Ohr. (Eutin g, Notice
sur un Papyrus igypto-arameen etc. in: Memoires prSsenUs par div. savanis ä
VAoad. des Insor. et Belles-Lettres XI, 2, 1903; dazu Clermont-Qanneau,
Recueil dfArck&ol. Orientale VI, 1905, p. 221—246; Repertoire d'Spigraphie semi-
tiqae t. I n. 361. 498. Lidzbarski, Ephemeris II, 2, S. 210—217). Dazu
kommen zehn vortrefflich erhaltene und datierte aramäische Papyrusurkunden
aus der Zeit des Xerxes, Artazerxes und Darius, welche in Syene gefunden
worden sind (Aramaie Papyri diseovered at Assuan, ed. by Sayee and Ootoley,
1906). Obwohl es sich hier um die Besitzverhältnisse von jüdischen Familien
handelt, welche vielleicht aramäisch sprachen, sind die Texte als öffentlich
giltige Rechteurkunden doch auch ein Beweis für den amtlichen Gebrauch
des Aramäischen. Die streitenden Parteien sind nicht lediglich Juden. Die
Namen der Schreiber sind teils jüdisch (A, B, E, G, H, J), teils babylonisch
(O, D, F, K). — Eine erschöpfende Bibliographie über alle bis 1906 in Ägypten
gefundenen aramäischen Texte (Papyrus, Steininschriften und Ostraka) gibt
Seymour de Ricci in: Aramaie Papyri diso, at Assuan ed. by Sayce and
Oowley p. 25—34. — Noch sei bemerkt, daß die Perser auch an die Griechen
in „syrischer" d. h. aramäischer »Sprache schrieben (Thueyd. IV, 60; Diodor.
XIX, 23).
[19. 20] T. Landessprache. 25
Bücher Esra and Daniel (ersteres im 3. Jahrb., letzteres um
167—165 vor Chr. geschrieben), welche teils hebräisch, teils ara-
mäisch geschrieben sind (aramäisch: Esra 4, 8—6, 18; 7, 12—26;
Daniel 2, 4—7, 28). Aber schon die Septuaginta geben nofi
durchweg in der aramäischen Form xac%a wieder und "Dttf durch
ahc€Qa, auch n* zweimal durch fK&Qaq (Exod. 12, 19; Jesaja 14, 1).
Man darf daraus schließen, daß schon im dritten Jahrhundert das
Aramäische vorherrschend war. Das Buch Henoch, dessen älteste
Stficke noch dem zweiten Jahrhundert vor Chr. angehören, ist
aramäisch geschrieben; denn daß dieses, nicht das Hebräische, die
Grundsprache war, ist seit Entdeckung des großen griechischen
Fragmentes, in welchem sich aramäische Worte erhalten haben,
nicht mehr zweifelhaft (s. unten § 32). Ein Ausspruch Jose ben
Joßsers, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Chr., wird in
der Mischna aramäisch zitiert67; desgleichen einige Ausspräche
Hillels und anderer Autoritäten68. Daß zur Zeit Christi das Ara-
mäische die alleinige Volkssprache in Palästina war, erhellt aus
den im Neuen Testamente erwähnten Worten: dßßä (Marc. 14, 36),
dxeldafidx (Act. 1, 19), yaßßa&ä (Joh. 19, 13), joXyo&a (Mt. 27, 33),
igxpa&ä (Marc. 7, 34), xoQßaväg (ML 27, 6; Jos. B. J. II, 9, 4), fia/ucoräg
(Mt. 6, 24), (iaQav a&a (I Cor. 16, 22), Micolaq = KH^tÖti (Joh. 1, 41),
xaC%a (Mt. 26, 17), $axa (Mt. 5, 22), oararäg (Mt 16, 23), xal&a xovp
(Marc. 5, 41), wozu noch Eigennamen kommen wie Krj^äg, MaQ&a,
Taßi&a**y und die zahlreichen mit 13 zusammengesetzten Namen
(Barabbas, Bartholomäus, Barjesus, Barjonas, Barnabas, Barsabas,
Bartimaios). Auch die Worte Christi am Kreuz: *EXwt kXcot Xdfiä
caßax&avel (Marc. 15, 34) sind aramäisch. Bemerkenswert ist end-
lich, daß auch die von Josephus angegebenen einheimischen Be-
zeichnungen für Priester und Hohepriester, für Sabbath, Passa und
Pfingsten aramäisch sind70. Dem | gewöhnlichen Volke war das
Sebräische so wenig geläufig, daß bei den Gottesdiensten die
67) Edujoth Vm, 4.
68) Hillel: Aboth I, 13. II, 6. Andere: Aboth V, 22. 23.
69) Die Akzentuation in unseren Ausgaben ist sehr inkonsequent. Konse-
quenterweise müßte man auch akzentuieren: $axü, xaXi&ü, Taßi&ä.
70) Joseph. Antt. III, 7, 1: toTq Upetoi ... o$q ^crrara/a? xaXotiot . . .
x<p äQZieQBl, 9v avaQaßdxyr noooayooevovoi. So hat die relativ beste Über-
lieferung. Aber ersteres ist Korruption für Kahanaia, letzteres für Kahna
rabba (Wellhansen, Israelitische und jüdische Geschichte 8.161). — adß-
ßata Jos. Antt. I, 1, 1. III, 6, 6; 10, 1. — ndoy.a Antt. II, 14, 6. III, 10, 5.
X, 4, 5. XI, 4, 8. XIV, 2, 1. XVm, 2, 2; 4, 3. XX, 5, 3. Bell. Jud. II, 1, 3.
VI, 9, 3; auch <pdaxa (nach richtiger LA) Antt. IX, 13, 3. XVII, 9, 3. — Aoatfa
(bebr. rYW) Antt. HI, 10, 6. — Vgl. auch Arnold Meyer a. a. O. 8. 39—41.
26 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [20]
biblischen Lektionen Vers für Vers in die Landessprache übersetzt
werden mußten71. Trotz dieses vollständigen Durchdringens des
Aramäischen blieb aber doch das Hebräische noch als „die heilige
Sprache*4 («npn fWb) im Gebrauch. In ihr wurde in den Syna-
gogen Palästinas nach wie vor die heilige Schrift verlesen; und
für gewisse liturgische Fälle war der Gebrauch des Hebräischen
unbedingt gefordert72. Auch blieb das Hebräische noch die Sprache
der Gelehrten, in welcher selbst die juristischen Diskussionen der
Schriftgelehrten geführt wurden. Erst etwa vom dritten Jahr-
hundert nach Chr. an dringt auch in letztere das Aramäische ein:
während noch die Mischna (2. Jahrh.) hebräisch ist, findet sich im
palästinischen Talmud (4. Jahrh.) neben dem Hebräischen viel
Aramäisches. Dieser ist darum eine reiche Quelle für die Kenntnis
dieser palästinensischen Landessprache73. — Über dialektische
Verschiedenheiten in der Aussprache zwischen Judäa und Galiläa
geben uns die Evangelien und der Talmud einige Andeutungen 74.
7i) Megüla IV, 4. 6. 10. Vgl. unten § 27.
72) Jebamoth XII, 6. Sota VII, 2—4. VHI, 1. IX, 1. Megüla I, 8. —
S. bes. Sota VII, 2: „Folgende Stücke werden nur in der heiligen Sprache
vorgetragen: der Schriftabschnitt beim Darbringen der Erstlinge, die Formel
bei der Chaliza, die Segen und Flüche, der Priestersegen, die Segenssprüche
des Hohenpriesters, die Lesestücke des Königs (am Laubhüttenfest im Sabbath-
jahre), die Formel bei einem (wegen eines ermordet Gefundenen) zu tötenden
Kalbe, und die Rede des Kriegsgesalbten, der das Kriegsvolk anredet". —
In jeder Sprache dürfen dagegen vorgetragen werden z. B. das Schma, das
Schmone-Esre (s. über diese § 27, Anhang), das Tischgebet u. s. w. {Sota
VII, 1). — Dies alles gilt in Bezug auf den mündlichen Vortrag. Im
schriftlichen Gebrauch war das Hebräische für den Text der Tephülin und
Mesusoth gefordert, sonst aber, auch für heilige Schriften, jede Sprache ge-
stattet, nach Babban Gamaliel freilich für letztere nur noch das Griechische
(Megüla I, 8). — Das Formular des Scheidebriefes war, wenigstens nach R. Juda,
gewöhnlich aramäisch (Gütin IX, 3), konnte aber auch griechisch sein (Qütin
IX, 8).
73) Vgl. Dal man, Grammatik des jüdisch-palästinischen Aramäisch. Nach
den Idiomen des palästinischen Talmud und Midrasch, des Onkelostargum
(Cod. Socini 84) und der jerusalemischen Targnme zum Pentateuch. 1894.
74) Matth. 28, 73 und dazu die Ausleger. — Buxtorf, Lex. 8. v. b^ba col.
3^ sqq. — Light foot, Centuria chorograph. Maühaeo praemissa e. 87 (Opp.JI,
232 sq.) — Morinus, Exercüationes biblicae (1669) II, 18, 2 p. 514 *^. —
Aug. Pfeiffer, Decas selecta exercüationum saerarum p. 206—216 (im Anhang
zu dessen Dubia vexata script. eacrae, Lips. et Francof. 1685.) — Wet stein,
Nov. Test, zu Matth. 26, 73. — Neubauer, Geographie du Talmud p. 184 sq.
— Dal man, Grammatik S. 43. — Arnold Meyer, Jesu Muttersprache S. 59.
— Dalman, Die Worte Jesu I, 1898, S. 63 ff. — Noch mehr altere Literatur
bei Wolf, Curae phü. in Nov. Test, zu Matth. 26, 73.
[21. 22] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 27
II. Verbreitung der hellenistischen Kultur.
1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten.
Das eben beschriebene jüdische Gebiet war, wie im Altertum
so auch in der griechisch-römischen Zeit, auf allen Seiten von
heidnischen Gebieten umgeben. Nur bei Jamnia und Jope hatte
sich das jüdische Element bis an das Meer vorgeschoben. Sonst
bildete auch im Westen nicht das Meer, sondern das heidnische
Gebiet der philistäischen und phönizischen Städte die Grenze des
jüdischen. In diesen heidnischen Ländern war nun aber der
Hellenismus in viel stärkerer Weise durchgedrungen, als im
jüdischen Lande. Keine Reaktion, ähnlich der makkabäischen
Erhebung, hatte ihm hier Halt geboten: der heidnische Polytheis-
mus eignete sich ja in ganz anderer Weise als das Judentum zu
einer Verschmelzung mit dem Hellenentnm. Während darum im
Innern Palästinas der Hellenismus durch die religiösen Schranken
des Judentums am weiteren Vordringen gehindert wurde, konnte
er hier wie überall, wo er seit Alexander d. Gr. erobernd auftrat,
sein natürliches Übergewicht über die orientalische Kultur sieg-
reich zur Geltung bringen. So war schon lange vor Beginn der
römischen Zeit namentlich in den großen Städten im Westen und
im Osten Palästinas die gebildete Welt im großen und ganzen
hellenisiert. Nur für die niederen Schichten des Volkes und für
die Landbevölkerung ist dies nicht in derselben Weise voraus-
zusetzen. Außer den Grenzgebieten waren aber auch die nicht-
jüdischen Bezirke im Innern Palästinas vom Hellenismus okkupiert
worden: so namentlich Skythopolis und die Stadt Samaria, die
schon durch Alexander d. Gr. mazedonische Kolonisten erhalten
hatte, während die nationalen Samaritaner in Sichern ihren Mittel-
punkt fanden.
Das siegreiche Durchdringen der hellenistischen Kultur läßt
sich noch am deutlichsten und umfassendsten nachweisen an den
religiösen Kulten. Zwar haben sich die einheimischen Kulte,
namentlich in den philistäischen und phönizischen Städten, vielfach
ihrem Wesen nach erhalten; aber doch nur so, daß sie umgebildet
und mit griechischen Elementen verschmolzen wurden. Und da-
neben | haben auch die rein griechischen Kulte starken Eingang
gefunden und an manchen Orten jene gänzlich verdrängt Leider
gestatten uns die Quellen nicht, in der Darstellung die eigentlich
griechische Zeit von der römischen zu trennen: das meiste Material
bieten die Münzen, und diese gehören vorwiegend erst der römischen
Zeit an. In der Hauptsache wird aber das Bild, das wir aus ihnen
28 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [22]
gewinnen, auch schon für die vorrömische Periode Geltang haben;
überdies fehlt es auch für diese nicht an direkten Notizen.
Auf den Münzen von Baphia aus der Kaiserzeit erscheinen
besonders Apollo und Artemis in rein griechischer Auffassung1; auf
denjenigen von Anthedon dagegen die Schutzgöttin der Stadt in
der Auffassung als Astarte2.
Über die Kulte von Gaza in der römischen Kaiserzeit gibt
am vollständigsten Aufschluß die Lebensbeschreibung des Bischofs
Porphyrius von Gaza von Marcus Diaconus. Hiernach gab es zur
Zeit des Porphyrius (Ende des vierten Jahrh. nach Chr.) in Gaza
acht öijfioöioi vaolj einen des Helios, der Aphrodite, des Apollo, der
Persephone {Köre), der Hecate, ein Heroon, einen Tempel der Tyche
und einen des Mamas z. Man sieht schon hieraus, daß die rein
griechischen Kulte die vorherrschenden sind; und dies wird im
allgemeinen auch durch die Münzen bestätigt, auf welchen auch
noch andere griechische Gottheiten vorkommen 4. Ein Tempel des
Apollo in Gaza wird schon bei der Zerstörung der Stadt durch
Alexander Jannäus erwähnt (Antt XIII, 13, 3). Nur die Haupt-
gottheit der Stadt in der römischen Zeit, der Mamas, war, wie sein
Name (TD = Herr) beweist, eine semitische Gottheit, die aber auch
mehr oder weniger in griechisches Gewand gekleidet worden war 5.
1) Mionnet, Descripiion de midailles antiques V, 551 sq. Supplement VIII,
376 sq. — De Saulcy, Numismatique de la Terre Sainte (1874) p. 237—240,
pl XII n. 7—9. — Stark, Gaza S. 584.
2) Mionnet V, 522 sq. Suppl. VDI, 364. — De Saulcy p. 234—236,
pl Xu n. 2—4. — Stark S. 594.
3) Marci Diaconi Vita Pbrphyrii episeopi Oaxensis ed. Haupt (Abhand-
lungen der Berliner Akademie 1874, früher nur in lat. Übersetzung bekannt;
neuere Ausg.: Marci Diaconi vita Porphyrii episeopi Oaxensis edd. societatis
philologae Bonnensis sodales, Lips. Teubner 1895) c. 64: foav Sh iv xy nötei
vaol eldwXwv ÖTj/tdotoi bxxw, xov xe *HXtov xal xfjq 'A<pQodlxrje xal xoü
'AndXXavoq xal xrjq Köqtjs xal xrjq ^Exdxrjg xal xb Xsydßsvov xHq5>ov
xal xb xrje TvxVQ XW ndXswg, fi ixdkow Tvzalov, xal xb MaoveZovy 8
iXeyov elvai xov KQrjxayevovg diöq, b £v6fjuZ,ov elvai iv6o§6xeQOv ndvxwv xCov
UoCbv x(bv anavxaxov. — Das Marneion wird hier auch sonst oft erwähnt.
4) Eckhel, Doctr. Num.IU, 448 sqq. Mionnet V, 535— 549. %/.Vffl,
371—375. De Saulcy p. 209—233, pl. XL — Stark, Gaza S. 583—589.
5) Vgl. über Mamas außer den Stellen bei Marcus Diaconus auch:
Steph. Byx. s. v. rd£a* kv&ev xal xb xof> Kgtftalov dtbq nag* avxotg elvai,
dv xal xa& tifiäg ixdXow Maoväv, iQixrn*ev6fxevov Kgfjxayev^. Lamprid. Ale-
xander Sererus c. 17 (in den Scriptores Historiae Augustae). Epiphan. Ancoratus
e. 106 fin. (ed. Dindorf I, 209). Hieronymus, epist. 107 ad Laetam e. 2 (opp. ed.
VaUarsi I, 679: jam Aegyptius Serapis f actus est Christianus, Mamas Oaxae
luget inclusus et eversionem templi jugiter pertimescit), id. Vita Hitarioms c. 14
xl 20 {VaUarsi II, 19. 22. 23), id. Oomment. in Jesajam e. 17 (VaUarsi IV, 279:
[23] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 29
Eine Mischung einheimischer und griechischer Kulte hat auch
Askalon aufzuweisen. Ein Hauptkultus war hier derjenige der
yAg>Qoölrrj ovQavlrj, d. h. der Astarte als Himmelskönigin. Sie wird
schon von Herodot als Gottheit von Askalon erwähnt und ist noch
auf den Münzen der Kaiserzeit häufig als Schutzgöttin der Stadt
dargestellt6. Mit ihr ist verwandt, ja von Hause aus wahrschein-
Serapium Alexandriae et Marnae templum Oaxae in eeclesias Domini surrexe-
runt). Marinas, Vita Proeli c. 19 (vgl. unten Anm. 11). — Eckhel, Doctr. Num.
HI, 450 sq. Stark, Gaza S. 576—580. Die oben erwähnte Teubnersche Aus-
gabe des Marcus Diaeonus (1895), Index s. v. Mdovag (stellt alles Quellen-
Material zusammen). Drexler, Art. „Marnas" in Boschers Lexikon der griech.
und röm. Mythologie II, 1897, col. 2377 ff. Jewish Quarterly Beview XIII, 1901,
p. 593*?. (Abdr. aus Lenorrnant, Lettres assyriol, Prem. S6rie II, 165 sq.). —
Das älteste ausdrückliche Zeugnis für den Kultus des Marnas sind Münzen
Hadrians mit der Aufschrift Maova, s. Mionnet V, 539; De Sauloy p. 216 — 218,
pl. XI n. 4. — Sein Kultus findet sich auch ausserhalb Gazas. Vgl. die In-
schrift von Kanata bei Le Bas et Waddington, Inscriptions T. HI n. 2412s
(Wetzstein n. 183): Alt Maovq ta> xvgico. — Mit dem Kultus des Marnas als
Zevg Kofirayevfc hängt auch die spät-griech. Legende zusammen, daß Gaza
auch Mlvya, nach Minos, genannt worden sei (Steph. Byx. s. v. rd^a u. s. v.
Mlvwa). Vgl. Stark, Gaza S. 530f.
6) Herodot. 1, 106; Pausan. 1, 14, 7. Die Münzen bei Mionnet V, 523—533.
Suppl VIII, 365—370; De Sauley, p. 178—208, pl IX u. X. Vgl. Stark
S. 258 f. 590 f. — Über die semitische Astarte überhaupt s. Baethgen, Bei-
träge zur semitischen Religionsgeschichte (1888) S. 31 — 37; Cumont inPauly-
Wissowas Real-Enz. II, 1777 f.: Baudissinin Herzog- Hauck, Real-Enz., 3. Aufl.
II, 147—161; Driver in Hostings' Dietionary of the Bible I, 1898, p. 167—171;
Lagrange, Les diesses Aehera et AstartS [Bevue biblique 1901, p. 546 — 566);
Ders., Müdes sur les rdigions semitiques 2. ed. 1905 p. 119 — 140; Torge,
Aschera und Astarte, Greife wald, Diss. 1902; Skipwith, Ashtoreth the goddess
of the Zidonians {Jewish Quarterly Beview XVIII, 1906, p. 715—738). — Die
Identität der Aphrodite Urania mit der semitischen Astarte ist in unserem
Falle zweifellos. Wahrscheinlich ist die griechische Aphrodite überhaupt semi-
tischen Ursprungs und mit Astarte identisch. Zwar ist diese Ansicht, nachdem
sie fast zu allgemeiner Anerkennung gelangt war, neuerdings wieder bestritten
worden von Tiele (Theol. Tijdschrift 1880, p. 559 sqq.), Enmann (Kypros und
der Ursprung des Aphroditekultus, in den MSmoires de VAead. imperiale des
seienees de St. P&ersbourg VTIe Serü, t XXXIV, Nr. 13, 1886) und L. v. Schrö-
der (Griechische Götter und Heroen, 1. Heft: Aphrodite, Eros und Hephaestos,
1887). Aber die Gründe für die ältere Ansicht dürften doch überwiegend
sein. Vielleicht sind sogar die Namen identisch. Aus Ashtoreth kann Aphtoreth
und daraus Aphroteth geworden sein, wieHommel vermutet (Jahrbb. f. klass.
Philologie 1882, S. 176). — Über Aphrodite im allgemeinen vgl. auch: Rö-
scher in s. Lexikon der griech. u. röm. Mythologie I, 390 — 406; Ohnefalsch-
Richter, Kypros (1893) Textband 8. 269—313; Tümpel in Pauly-Wissowas
Real-Enz. I, 2729 ff. (über Oboavta 2774); Preller, Griechische Mythologie
I. Bd., 4. Aufl., bearb. von Robert 1894, S. 345—385 (über Oboavia S. 356f.
und Register S. 942); Furtwängler, Aphrodite Pandemos als Lichtgöttin
30 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [23. 24]
lieh identisch, die Atargatis oder Derketo, die in Askalon in eigen-
tümlicher Gestalt (als Frau mit einem Fischschwanz) verehrt wurde.
Ihr semitischer Name (nn*nn*, zusammengesetzt aus nro = Astarte
und nw) deutet schon darauf hin, daß sie ursprünglich „nichts |
anderes als die syrische Form der Astarte in der Verschmelzung
mit einer anderen Gottheit" ist (Baudissin). Bestätigt wird dies
durch eine Inschrift von Delos, wo sie mit Aphrodite identifiziert
wird (Hauvette-Besnault p. 497 n. 15: 'Ayvjj 'Ag>Qoölxy 'AxctQyaxi).
Aus ihrer Fischgestalt aber erhellt, daß in ihr speziell die be-
fruchtende Kraft des Wassers verehrt wurde7. Da sie eigentlich
(Sitzungsber. der Münchener Akad., philos.-philol. und hist. KL, Jahrg. 1899,
II, S. 590—607). Belegstellen über Oloavla auch bei Pap e -Ben sei er,
Wörterb. der griech. Eigennamen s. v. Ovoavla; Bruchmann, Epitheta deo-
rum quae apud poetas Qraecos leguntur, 1893, p. 66.
7) Über den Kultus der Derketo in Askalon s. bes. Diodor. II, 4: Kaxä
zfjv Zvplav xolvw !<m ndhg 'Aoxakav, xal xavxrfr ohx äno&ev Xlfxvrj fxeydXtj
xal ßa&elcc nX^orjc tx&vwv. Ilagä Sh xavxm* in&Qxzi xifievoQ teäq imqxtvoftQ,
fy 6vo(ia%ovaiv o\ Svqoi deQxexovv. Avxrj Sh xb fih> noboomov fyei ywatxög,
xb Sy aXXo owfia näv lx&vo<;. Über die Göttin und ihren Kultus Überhaupt:
II Makk. 12, 26; Strabo XVI, p. 785; Plinius, Hist Not. V, 23, 81; Lucian. De
Syria dea e. 14; Ovid. Met am. IV, 44—46. Nach der euhemeristischen Le-
gende ist Atergatis in Askalon ertrankt worden (Mnaseas bei Müller, Fragm.
Hist Qraec. III, 155 fr. 32). — Der semitische Name auf einer palmyrenischen
Inschrift [De VogüS, Syrie Centrale, Inscriptions semitiques 1868, p. 7) und auf
Münzen (über diese am vollständigsten Six im Numismatic Chroniele 1878,
p. 103 sqq.; vgl. auch Babelon, Catalogue des monnaies grecques de la Biblioth.
nationale, Les Perses Achiminides, 1893, p.LI— LIV, p. 45—46, pl.VU, n. 16—18).
— Mit dem Kultus der Derketo hängt auch die Heilighaltung der Tauben in
Askalon zusammen, worüber zu vgl. Philo ed. Mang. II, 646 (aus Philos Schrift
de Providentia bei Euseb. Praep. evang. VIII, 14, 64 ed. Oaisford; nach dem
Armenischen bei Aueher, Philonis Judaei sermones tres etc., p. 116); Tibull. I,
7, 18: alba Palaestino saneta columba Syro; Lucian. De Syria dea e. 14. —
Aus der Literatur ist bes. hervorzuheben der Artikel von Baudissin in
Herzogs Beal-Enz., 3. Aufl., II, 171—177. Vgl. ferner die Abhandlung über
Derceio the Qoddess of Askalon im Journal of Sacred Literature and Bibliml
Record, New Sertes, vol. VII, 1865, p. 1—20; Ed. Meyer, Zeitschr. der DMG.
1877, S. 730 ff.; Six, Monnaies d'Hierapolis en Syrie (Numismatic Chroniclet
New Series, vol. XVIII, 1878, p. 103—131 und pl. VI); Hauvette-Besnault,
Fouiües de Duos: Aphrodite syrienne, Adad et Atargatis {Bulletin de correspon'
dance hellenique, t VI, 1882, p. 470—503); Mordtmann, Mythologische Mis-
zellen (Zeitschr. der DMG. XXXIX, 1885, S. 42 f.); Baethgen, Beiträge zur
semitischen Religionsgeschichte (1888), S. 63—75. 90; Pietschmann, Ge-
schichte der Phönizier (1889), S. 148 f.; Ohnefalsch-Richter, Kypros (1893),
S. 295 ff.; Cumont in Pauly-Wissowas Real-Enz., II, 1896 (Art Atargatis) und
IV, 2236 ff. (Art. Dea Syria); Lagrange, Ittudes sur les religions sSmitiques,
2. ed., 1905, p. 130 sqq.; Dussaud, Revue archiol., quatr. Serie t IV, 1904,
p. 226 sq. (über den semit. Namen) und p. 240—250 (über bildliche Darstellun-
[24. 25] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 31
eine aramäische Gottheit ist, ist ihr Kultus in Askalon wohl jünger
als der der echt-philist&ischen Astarte8. Nach einer in Ägypten
(Canobus) gefundenen Inschrift aus der Zeit des Alexander Severus,
228 n. Chr., ist in Askalon auch €HqoxH}q BrjXog als ireoq jtarQioq
verehrt worden9. Eine in Askalon gefundene Statue stellt die
Isis mit ihrem Sohne Horus dar10. Wie die bisherigen, so ist
auch der 'Aöxlrjxioq Xeovvovxog von Askalon, auf welchen der
Neuplatoniker Proclus einen Hymnus dichtete, als eine ursprünglich
orientalische Gottheit zu betrachten 1 K Sonst aber erscheinen auch
auf | den Münzen von Askalon die echt griechischen Gottheiten:
Zeus, Poseidon, Apollo, Helios, Athene u. a.12. Ein Tempel des Apollo
in Askalon wird in yorherodianischer Zeit erwähnt: der Großvater
des Herodes soll daselbst Hierodule gewesen sein18.
In Azotus, dem alten As dod, war in vormakkabäischer Zeit
ein Tempel des philistäischen Dagon, der ehedem auch in Gaza und
Askalon verehrt worden war14. Bei der Eroberung Asdods durch
gen). — Die von Hauvette-Besnault p. 495 — 500 mitgeteilten Inschriften geben
Zeugnis von der Blüte des Atargatis-Kultus in Delos. Vgl. sonst inschriftlich
auch Corp. Inser. Qraec. n. 7046; Le Bas et Waddington, Inscriptions, t. III,
n. 1890. 2588; Quarterly Statement of the Pal Expl. Fund, 1895, p. 141; Inscrip-
tiones graeeae msuhrum maris Aegaei, fast. III, n. 178 u. 188 (letztere — Bul-
letin de eorresp. heüenique, III, 406 sqq., beide in Astypalaea). — Ob die Wid-
mung (tey yAoxaX(ov[rj]a[t] in Betoc&cä im Gebiet von Apamea {Dussaud, Revue
archdoly trois. Serie, t. XXX, 1897, p. 324) auf Atargatis zu beziehen ist (so
Lagrange, p. 131), dürfte fraglich sein.
8) So Baudissin, Theol. Litztg. 1897, col. 292 (in der Anzeige von
Tiele, Gesch. der Religion im Altertum 1,2).
9) Archiv für Papyrusforschung Bd. II, 1903, S. 450 n. 87 (im Corp. Inser.
Gr. 4966 nach ganz ungenügender Kopie), Inschrift aus Abukir «= Canobus,
im brit Museum in London: ein Askalonite stiftet in den Tempel des Serapis
eine Statue seines heimischen Gottes Herakles Bei: Ad *H[Xla>] Meyd[X<p]
Eaodnidi iv Ka[vwß(p) B-edv ndxQi[6v] ftov *H(>[ax]tej BfjXov dvetxrjxov M. A.
Md(ifio[q . .] 'A[o]xaXa>velzr][<; ] ei^dfievoq &v£&T]x[a]. Vgl. dazu : Dussaud,
Revue arthSol., quatr. Strie t. III, 1904, p. 210.
10) Mitgeteilt von Savignac, Revue biblique 1905, p. 426—429.
11) Marinus, Vita Prodi c. 19: ^ x&v üfivav afaoQ ngayfiaxela . . . xal
MdoTov ra^aTor ipvovoa xal *AoxXfytiov Aeovxovxov 'AoxaXwvlxrp xal ßeav-
dohrjv äXXov 'ApaßloiQ noXvxlfjujxov 1te6v. Vgl. dazu Stark, Gaza S. 591—593.
12) S. die Münzen bei Mionnet und de Sauley a.a.O. Stark, S. 589 f.
13) Euseb. Bist. eeel. I, 6, 2; 7, 11.
14) Sichere Zeugnisse über den Charakter des Dagon gibt es nicht. Der
Name gestattet ebenso die Ableitung von 3ft Fisch wie von )yn Getreide.
Der letzteren Etymologie folgt Philo Byblius, indem er den Dagon für den
Gott des Ackerbaues erklärt (bei Euseb. Praep. evang. I, 10 p. 36 c: Aaytov,
8? iort Xttiov, p. 37 d: cO 6h Aaywv, ineidij s$qe oXxov xal iooxoov, ixXförj
Zexx; yAo&tQioq). Wahrscheinlicher ist, wie auch die meisten urteilen, daß
32 § 22. Allgemeine Kulturverhaltnisse. [25]
den Makkabäer Jonathan wurde dieser Tempel zerstört und über-
haupt die heidnischen Kulte daselbst ausgerottet (I Makk. 10, 84;
11, 4). Über die Wiederherstellung derselben bei der Restauration
durch Gabinius ist nichts Näheres bekannt. Jedenfalls hatte Azotus
in dieser späteren Zeit auch einen starken Bruchteil jüdischer Ein-
wohner (s. § 23, 1 Nr. 5).
Zwischen Azotus und Jope ist angeblich eine phönizische
Inschrift gefunden worden, welche, wenn sie echt ist, von der
Ausübung phönizischer Kulte in dortiger Gegend Zeugnis geben
würde. Die Echtheit ist jedoch nach dem Urteile von Fachmännern
sehr zweifelhaft15.
In den Nachbarstädten Jamnia und Jope hatte das jüdische
Element seit der Makkabäerzeit das Übergewicht gewonnen. Doch
ist gerade Jope für den Hellenismus von Bedeutung als Schauplatz
des Mythus von Perseus und Andromeda: hier am Felsen von Jope
ward Andromeda dem Meerungeheuer ausgesetzt und von Perseus
befreit16. Der Mythus hat sich auch während der vorwiegend
jüdischen Periode dort lebendig erhalten. Im Jahre 58 vor Chr.
der in den philistaischen Küstenstadten verehrte Gott ein Meeresgott ist, ent-
sprechend dem phönizischen Meeresgott, der auf den Münzen von Aradus als
Mann mit Fischschwanz abgebildet ist (über diese Münzen: Babelon, Oatalogue
des monnaies grecques de la Biblioth. nationale, Les Perses AohSmenides etc.,
1893, p. 123—125. 131 sq., pl. XXII, n. 1—9. 23—25; Rouvier, Journal inter-
national d'archeologie numism., t. III, 1900, p. 135—137, pl. VI, n. 18—24). —
Über Dagon überhaupt: die biblischen Wörterbücher (Winer, Schenkel n. A.),
ferner: Menant, Le Mythe de Dagon (Revue de Vhistoire des religions, t. XI,
1885, p. 295—301); Pietschmann, Geschichte der Phönizier 1889, 8. 144ff.;
Jensen, Die Kosmologie der Babylonier, 1890, S. 449—456; Baudissin, in
Herzog-Hauck, Real-Enz., 3. Aufl., IV, 424—427 (daselbst noch mehr Literatur);
Rouvier, Baal-Arvad ete. (Journal asiatique, IXme Sirie t. XVI, 1900, p. 347
—359); Noordtxij, De FUistijnen, 1905 (vgl Theol. Litztg. 1906, Nr. 1).
15) Die Inschrift ist mitgeteilt von Lagrange, Revue biblique I, 1892,
p. 275—281; Oonder, Palestine Exploration Fund, Quarterly Statement 1892,
p. 171 — 174. Euting und Nöldeke halten sie für gefälscht (briefliche Mit-
teilung).
16) Die früheste Erwähnung Jopes als Ort dieser Begebenheit findet sich
bei Soylax (4. Jahrh. vor Chr.), s. Müller, Qeogr. gr. minores I, 79. — Vgl.
überhaupt: Stark, S. 255 ff. 593 f.; H. Schmidt, Jona, eine Untersuchung
zur vergleichenden Religionsgeschichte, 1907, S. 12—22. — Gewagte Hypo-
thesen über die Ur-Heimat des Mythus s. bei Tümpel, Die Aithiopenlfinder
des Andromedamythos (Jahrbb. f. klass. Philol., 16. Supplementbd. 1888,
S. 127—220) [die Aithiopenländer, in welchen der Mythus ursprünglich spielte,
sollen die Insel Rhodus und Umgegend sein, so daß der Mythus von dort
nach Jope gekommen wäre]. Wahrscheinlich ist dagegen, daß zur Lokali-
sierung des Mythus der Gleichklang von Aith-iopien mit Jope Veranlassung
gegeben hat. S. auch Pauly-Wissowas Real-Enz. s. v. Andromeda.
[25. 26] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 33
wurde | in jRom bei den pomphaften Spielen, die M. Scanrns als
Ädil gab, auch das Skelett des Meernngeheuers gezeigt, das Scanrns
ans Jope nachvRom hatte bringen lassen 17. Dnrch Strabo, Mela,
Plinins, Josephns, Pansanias, ja noch dnrch Hieronymns ist die
Fortdauer des Mythus in dortiger Gegend bezeugt18. Anch die
hellenistische Sage, nach welcher Jope von Kepheus, dem Vater
der Andromeda, gegründet sein soll, weist darauf hin19. Plinius
spricht sogar von einem Kultus der Keto daselbst20, Mela von
Altären mit den Namen des Eepheus und seines Bruders Phineus,
die dort existierten21. Nachdem im vespasianischen Krieg Jope
als jüdische Stadt zerstört war, werden ohnehin die heidnischen
Kulte dort wieder zur Herrschaft gelangt sein22.
In Cäsarea, das erst durch Herodes den Großen zu einer
ansehnlichen Stadt erhoben wurde, begegnet uns vor allem der für
die römische Zeit charakteristische Kultus des Augustus und der
Roma. Alle Provinzen, Städte und Fürsten wetteiferten damals
miteinander in der Pflege dieses Kultus, der von Augustus zwar
in Born klugerweise abgelehnt, in den Provinzen aber gern ge-
sehen und gefördert wurde23. Es verstand sich von selbst, daß
17) Plinius, Eist Not. IX, 5,11: Beluae, cui dicebatnr exposita fuisse An-
dromeda, ossa Romas adportata ex oppido Judaeae Jope ostendii inter reliqua
miracula in aedüitaie sua M. Scaurus longitudine pedutn XL, aäitudine costarum
Indicos elephanios excedente, Spinae crassiludine sesquipedali. — Über Scanrns
vgL die Übersicht über die römischen Statthalter von Syrien in Bd. I. Über
die Zeit seiner Ädilitfit: Pauly-Wissowas Beal-Enz. I, 588.
18) Sirabo XVI p. 759; Mela I, 11; Plinius V, 13, 69; Joseph. Bell. Jud.
in, 9, 3; Pausanias IV, 35, 6; Hieronymus, Oomment. ad Jon. 1, 3 (Opp. ed.
Vaüarsi VI, 394); Peregrinatio Paulae 0. 8 (Vaüarsi I, 696). — Die meisten er-
wähnen, daß man am Felsen bei Jope die Spnren von den Fesseln der Andro-
meda zeigte.
19) Steph. Byx. 8. v. Itotj.
20) PUmue V, 13, 69: Oolitur täte fabulosa Oeto. — Der Name öeto ist
nnr Latinisierung von xfjxoq (das Meernngeheuer). Vgl. Stark, 8. 257. Auch
in der Bibel heißt der Fisch des Jonas xfjxoq (Jon. 2, 1, LXX; Ev. Matth. 12, 40).
21) Mela 1, 11: tibi Gephea regnasse eo signo aeeolae adfirmant, quod
tituhtm ejus fratrisque Phinei veterts quaedam arae cum religione plurima
retinent.
22) Vgl. Oberhaupt die Münzen bei Mionnet V, 499; De Sauley, p. 176 sq.
pL IX n. 3-4.
23) Taoit. Annal. 1, 10 wird dem Augustus vorgeworfen, nihil deorum ho-
noribus relictum, cum se templis et effigie numinum per flamines et sacerdotes
coli veUet. — Sueton. Aug. 59: provinciarum pleraeque super templa et aras
ludos quoque quinquennales paene oppidatim constituerunt. — Nur in
Born lehnte Augustus diesen Kultus ab (Sueton. Aug. 52: in urbe quidem per-
tinacissime abstinuit hoc honore). Hier wurde ihm erst durch Tiberius ein
Tempel errichtet (ladt. Annal. VI, 45; Sueton. Galig. 21). — Unter den er-
8chürer, Geschichte II. 4. Aufl. 3
34 § 22/ Allgemeine Kulturverhfiltniase. [26. 27]
auch Herodes hier nicht | zurückbleiben konnte. Wenn eine all-
gemeine Bemerkung des Josephns wörtlich zu nehmen ist, so hat
er „in vielen Städten" Cäsareen (KcuöaQsta, d. h. Tempel des Cäsar)
gegründet24. Speziell werden solche erwähnt in Samaria, Panias
(s. unten) und in unserem Cäsarea. Der hier erbaute großartige
Tempel lag auf einem Hügel gegenüber dem Eingang des Hafens.
In seinem Innern standen zwei große Bildsäulen, eine des Augustus
nach dem Vorbilde des olympischen Zeus, und eine der Roma nach
dem Vorbilde der Hera von Argos, denn Augustus gestattete. seinen
Kultus nur in Verbindung mit demjenigen der Roma25. — Was
haltenen Augustustempeln ist der berühmteste der zu Ancyra, über welchen
zu vgl. Per rot, Exploration archSologique de la Galatie et de la Bithynie etc.
(1872) p. 296—312, pUmche 13—31. — Vgl. überhaupt über den Kaiserkultus:
Preller, Römische Mythologie, 3. Aufl. II, 425 ff.; Boissier, La religion ro-
maine cT Auguste aux Antonina (2. ed. 1878) I, p. 109—186; Kuhn, Die Stadt,
und bürgerl. Verfassung des röm. Reichs I, 112; Marquardt, Römische
Staatsverwaltung Bd. III (1878), S. 443 ff. u. Bd. I (2. Aufl. 1881) 8. 503 ff; Le
Bas et Waddington, Inseript. t. III, Erläuterungen zu n. 885; Perrot a. a. O.
p. 295; Marquardt, De provineiarum Romanarum ooncÜiis et saeerdotibus
(Ephemeris epigraphica I, 1872, p. 200—214); Desjardins, Le euUe des Divi
et le euUe de Borne et d' Auguste (Revue de philologie, de litUrature et d'histoire
anciennes, Nouv. serie III, 1879, p. 33 — 63). Ouiraud, Les assemblSes pro*
vinciales dans l'empire r omain, Paris 1887; Büchner, De neocoria, Oissae
1888; Hirsch feld, Zur Geschichte des römischen Kaiserkultus (Sitzungsbe-
richte der Berliner Akademie 1888, S. 833—862); Karl Joh. Neumann, Der
römische Staat und die allgemeine Kirche, Bd. I, 1890, 8. 7 ff; Beurlier, Le
euUe imperial, son histoire, son Organisation, depuis Auguste jusqu'ä Justinien,
Paris 1891 (angez. von Oagnat, Revue crit. 1891 Nr. 48); Krascheninnikoff,
Über die Einführung des provinzialen Kaiserkultus im römischen Westen
(Philologus Bd. LEU, 1894, 8. 147—189); Drexler, Art „Kaiserkultus" in
Roschers Lex. der griech. u. röm. Mythologie II, 901—919; Kornemann in:
Beiträge zur alten Gesch., hrsg. von Lehmann I, 95 ff; Ohapot, La provinee
romaine proeonsulaire d'Asie, 1904, p. 419—453. — Der Kaiserkultus ist nur
die Fortsetzung der schon dem Alexander und seinen Nachfolgern erwiesenen
göttlichen Verehrung; 8. hierüber: Beurlier, De dirinis honoribus quos ac-
ceperunt Alexander et successores eius, Paris 1890; Kaerst, Die Begründung
des Alexander* und Ptolemäerkultes in Ägypten (Rhein. Museum Bd. 52, 1897,
8. 42—68); Strack, Die Dynastie der Ptolemäer, 1897, 8. 12 ff 112 f.; Prott,
Der Kult der &eol aantjoeQ (Rhein. Museum Bd. 53, 1898, S. 460—468);
Kornemann, Zur Geschichte der antiken Herrscherkulte (Beitrage zur alten
Geschichte, hrsg. von O. F. Lehmann I, 1, 1901, 8. 51 — 146); Kaerst, Gesch.
des hellenist Zeitalters Bd. I, 1901, S. 385 ff; Beloch, Griechische Ge-
schichte III, 1, 1904, S. 369 ff
24) Bell. Jud. I, 21, 4. Vgl. Antt. XV, 9, 5.
25) Sueton. Aug. 52: templa . . . in nutta tarnen provincia nisi communi
suo Romaeque nomine recepit. — Über den Tempel zu Cäsarea: Jos. Bell.
Jud. I, 21, 7; Antt. XV, 9, 6. Auch Philo erwähnt das Seßaatetov, s. Legat.
[27. 28] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 35
die sonstigen Kulte von Cäsarea betrifft, so zeigen die Münzen
eine bunte | Mannigfaltigkeit. Dabei ist allerdings zu beachten,
daß sie größtenteils erst dem zweiten und dritten Jahrhundert an-
gehören, was gerade bei Cäsarea von Wichtigkeit ist, da hier seit
Vespasians Zeit das römische Element gegenüber dem griechischen
eine wesentliche Verstärkung erhalten hatte durch die von diesem
Kaiser nach Cäsarea deduzierte römische Kolonie. Und so ist es
wohl auf Rechnung des römischen Einflusses zu schreiben, daß
der bekanntlich in Born hochverehrte ägyptische Serapis am häufig-
sten vorkommt Im allgemeinen aber werden wir die auf den
Münzen erwähnten Gottheiten auch in die frühere Zeit verlegen
dürfen. Es sind auch hier wieder: Zeus, Poseidon, Apollo, Herakles,
Dionysos, Athene, Nike und, von den weiblichen Gottheiten am
häufigsten, Astarte in der in Palästina herrschenden Auffassung26.
Die Münzen von Dora, die seit Caligula nachweisbar sind,
haben das Bild des Zeus mit dem Lorbeer oder das der Astarte27.
In einer albern erdichteten Erzählung Apions wird Apollo als deus
Doriensium bezeichnet28, wobei Josephus als selbstverständlich
voraussetzt, daß unser Dora gemeint sei. Erhebliche Gründe
sprechen aber dafür, daß der Erzähler an Adora in Idumäa ge-
dacht hat (8. oben S. 7). — Der Kultus des Apollo ist allerdings
in den philistäischen Städten häufig (vgl. Baphia, Gaza, Askalon,
Cäsarea) und ist hier wohl durch seleucidischen Einfluß befördert
worden. Denn Apollo war der göttliche Ahnherr der Seleuciden,
wie Dionysos derjenige der Ptolemäer29.
ad Gajwn § 38 fin., ed. Mang. II, 590 fin. — Durch die neueren Forschungen
der Engländer Bind in Cäsarea auch die Reste eines Tempels entdeckt worden
{The Survey of Western Palestine, Memoire by Gonder and Kitchener Ht13sqq.9
mit Plan der Stadt p. 15). Es muß aber dahingestellt bleiben, ob es diejenigen
des Augustu8tempels sind.
26) Mionnet V, 486-497; Suppl. VIII, 334—343. — Berapis sehr oft.
Zeus: n. 53, Suppl. n. 43. Poseidon: n. 38. Apollo: n. 6. 12. 13; Suppl. n. 7.
12. 15. Herakles: n. 16. Dionysos: n. 37.54.56. Athene: Suppl. n. 37. Nike:
n. 4; SuppL n. 6. 8. 20. Astarte: n. 1. 2. 7. 18. 24. 51; Suppl. n. 9. 10. 11.
45. Noch mehr bei de Saulcy p. 112—141, pl. VII.
27) M tonnet V, 359—362; SuppL VIII, 258-260; de Saulcy p. 142—148,
pl. VI n. 6 — 12; Babelon, Caialogue des monnaies grecques de la Bibliotheque
nationalet Les Perees AchemSnides, Gypre et Phinicie (1893) p. 205 — 207; Äow-
vier, Journal international (Parcheologie numismatique t. IV, 1901, p. 125—131.
Vgl. auch Eckkel III, 362*?.
28) Joseph, contra Apion. II, 9.
29) Stark, Gaza S. 568 ff.; Justin. XV, 4, 3: Hujus [Seleuci] quoque
virtus clara et origo admirabilis fuit : siquidem mater ejus Laudice, cum nupta
esset Antiocho . . visa sibi est per quietem ex concubitu Apoüinis concepisse.
3*
36 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [28. 29]
Ein altertümlicher Kultus wurde noch zur Zeit Vespasians,
wie einst zur Zeit des Elias (I Reg. 18), auf dem Karmel betrieben,
ein Höhenkalt unter freiem Himmel, mit bloßem Altar, ohne
Tempel und ohne Götterbild30. |
Das alte Ptolemais (Akko) war zur Zeit der Ptolemäer und
Seleuciden eine der blühendsten hellenistischen Städte (s. § 23,
I Nr. 11). Es läßt sich darum auch ohne speziellere Nachweise
ein Mhzeitiges durchdringen der griechischen Kulte hier annehmen.
Auf den autonomen Münzen der Stadt, welche wahrscheinlich den
letzten Dezennien vor Chr. angehören (bald nach Cäsar), findet sich
fast durchgängig das Bild des ZeusZi. Zur Zeit des Claudius
wurde Ptolemais römische Kolonie. Auf den von da an sehr zahl-
reichen Münzen begegnet am häufigsten die Tyche (Fortuna); da-
neben Artemis, Pluton nnd Persepkone, Perseus mit der Medusa, auch
der ägyptische Serapis und die phrygische Oybeh%\ Die Mischna
berichtet von einer Begegnung des berühmten Schriftgelehrten
Gamaliel II. mit einem heidnischen Philosophen in dem Bade der
Aphrodite zz.
Außer den Küstenstädten waren es namentlich die Gegenden
im Osten Palästinas, welche am frühzeitigsten und durch-
greifendsten hellenisiert wurden. Wahrscheinlich haben hier schon
Alexander der Gr. und die Diadochen eine Anzahl griechischer
Auf Inschriften heißt Apollo 6 dox^yög oder tiLQXW&W tov yhovq {Gorp. Inscr.
Grate, n. 3595 = Ricks, Manual of greek historical inscriptions, Oxford 1882,
p. 279; eine andere ebenfalls bei Hicks p. 297 sq., beide auch bei Dütenberger,
Orientis graeci inscriptiones selectae n. 219 u. 237).
30) Tacit. hist. II, 78: Est Judaeam inter Suriamque Carmelus: ita ro-
cant monJtem deumque. Nee simulacrum deo atä templum (sie tradidere ma-
jores), ara tantum et reverentia. — Sueton. Vesp. 5: Apitd Judaeam Carmeli dei
oraeulum consulentem etc. — Über den Karmel als heiligen Berg 8. auch Scy-
lax in: Oeographi gr. minores ed. C. Müller I, 79: [KaQUijXog] tigog Uodv
Aiög (die Ergänzung ist nach dem Znsammenhang ziemlich sicher) ; Jamblichus,
Vita Pythagorae ed. Nauck III, 15: roff KaofiJjXov X6<pov leQtoxaxov Sh ttbv
aXXcov öqwv ijnloravxo abib xal (tolq) noXXoXq äßavov. Baudissin, Studien
zur semitischen Religionsgeschichte II, 234 f. — Ein Fragment einer phöni-
zischen Inschrift, das auf dem Karmel gefunden wurde, s. bei Clermont-
Ganneau, Archives des missions scientifiques , troisieme S&rie t. XI, 1885,
p. 173. Das Fragment enthält nur einige Namen.
31) De Saulcy p. 154—156; Babelon l. e. p. 2205g.; Rouvier l. c.
p. 209 sq.
32) Mionnet V, 473-481; Suppl. VIII, 324—331. — Tyche (Fortuna)
häufig. Artemis: n. 29. 39. Pluton und Persephone: n. 37. Perseus: Suppl.
n. 19. 20. Serapis: n. 16. 24. 28. Cybele: n. 42. — Noch mehr bei de Saulcy
p. 157—169, pl. VIII; Babelon l. c. p. 221-228; Rouvier l. c. p. 213—232.
33) Aboda sara HE, 4.
[29. 30] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 37
Städte gegründet oder vorhandene Städte hellenisiert So entstand
daselbst schon frühzeitig eine Reihe von Mittelpunkten der grie-
chischen Kultur. Ihre Blüte konnte durch das wüste Zerstörungs-
werk des Alexander Jannäus nur auf kurze Zeit unterbrochen
werden. Schon Pompeius hat ihnen durch ihre Abtrennung vom
jüdischen Gebiete wieder eine selbständige Entwicklung ermöglicht
und sie wahrscheinlich- unter dem tarnen der Dekapolis zu einer
gewissen Einheit zusammengeschlossen.
Zu diesen Städten der Dekapolis wird von Plinius'Ift**. Nat
V, 18, 74 vor allem Damaskus gerechnet, das schon für Alexander
den Großen ein wichtiger Waffenplatz war. Seinen hellenistischen
Charakter bezeugen für die damalige Zeit auch die dort geprägten
Münzen Alexanders (s. § 23, 1 Nr. 12). Von da an ist es mehr und
mehr eine hellenistische Stadt geworden. Bei der Spaltung des
großen Seleucidenreiches in mehrere Teile gegen Ende des zweiten
Jahrhunderts vor Chr. wurde es sogar eine Zeitlang die Haupt- 1
Stadt eines dieser Teilreiche. Wie hiernach zu erwarten, zeigen
in der Tat die, zum größten Teil datierten, autonomen Münzen
von Damaskus, welche bis in den Anfang der römischen Kaiserzeit
gehen, lauter griechische Gottheiten: Artemis, Athene, Nike, Tyche,
Helios, Dionysos u. Auf den eigentlichen Kaisermünzen finden sich
verhältnismäßig selten die Bilder und Embleme bestimmter Gott-
heiten. Das Bild des Sil en, welches auf Münzen des dritten Jahr-
hunderts häufig vorkommt bezieht sich nicht auf einen religiösen
Kultus, sondern ist das Wahrzeichen dafür, daß die Stadt als
römische Kolonie (seit Alexander Severus) das jus Italicum hatte35.
Ein paarmal findet sich Dionysos™. Auf den Kultus dieses Gottes
deutet auch die hellenistische Legende, welche die Gründung von
Damaskus in Beziehung zu ihm bringt37. Vielleicht ist sein Kultus
hier und in anderen Städten des östlichen Palästinas auf arabischen
Einfluß zurückzuführen. Denn die Hauptgottheit der Araber wurde
von den Griechen als Dionysos aufgefaßt38. — Auf den wenigen
34) De Saulcy p. 30—33. — Artemis: n. 2. 3. 7. a 10. 14. 21. Athene;
n. 2. 8. 14. 15. Nike: n. 11. 12. 22. 23. Tyche: n. 17. 18. Helios: n. 3. 21.
Dionysos: n. 24. 25. — Das meiste auch bei Mionnet V, 283 sq.; Suppl. VIII,
193 sq.
35) Mommsen, Staatsrecht III, 1, 809 f.; Heisterbergk, Zum jus
Italicum (Philologus Bd. 50, 1892, S. 639—647). Die Münzen bei Mionnet
V, 285—297 n. 61. 62. 68. 69. 72. 77. 85; Suppl. VIII, 195—206 n. 34. 35. 48;
De Saulcy p. 35—56.
36) Mionnet n. 80. 88.
37) Stephanus Byx. s. v. dauaoxöq.
38) HerodoL HI, 8; Arrian. VII, 20; Strabo XVI, p. 741; Origenes, contra
38 § 22. Allgemeine Kulturverhaltnisse. [30. 31]
griechischen Inschriften, welche in Damaskus und dessen Umgebung
erhalten sind, wird öfters Zeus erwähnt39.
In manchen Städten der Dekapolis, namentlich in Kanatha,
Gerasa und Philadelphia, geben noch heute die dort erhaltenen
großartigen Tempelruinen aus römischer Zeit Zeugnis von der
einstigen Blüte der hellenistischen Kulte daselbst40. Über die
einzelnen Kulte sind wir in betreff der meisten Städte nur mangel-
haft orientiert Auf den Inschriften von Kanatha kommen Zeus,
Athene und die d-sol ö<dtt}qs$ vor41. Auf einem dort gefundenen
Altar sind Apollo und Artemis abgebildet42. Gleichfalls in Kanatha
ist ein | Stein mit nabatäischer Inschrift und einem Stierbilde ge-
funden worden. Letzteres stellt aber nicht, wie Sachau wollte,
eine Stiergottheit dar, sondern ein Opfer, welches der Tyche (Gad)
dargebracht wurde43. In Skythopolis muß besonders Dionysos
Cels. V, 37; Hesych. Lex. s. v. dovo&Qtiq, — Krehl, Über die Religion der
vorislamischen Araber (1863) S. 29 ff. 48 ff.
39) Le Bas et Waddington, Insoriptions t. III, n. 1879. 2549. 2550. —
Aidg KbqovvIov (zu Deir Kanon, am Nähr Barada): Corp. Inscr. Oraee. n.
4520 =» Waddington n. 2557 a. — M [fiey]l<ri(p 'RXionotehy ty xvQltp (ebenfalls
am Nähr Barada) Quarterly Statement 1898, p. 31. 157. 252; 1899, p. 63;
Clermont-Ganneau, Beeueil II, 397; Dittenberger, Orientis gr. inscr. sei. n. 607.
40) S. die in § 23, I genannte geographische Literatur.
41) Le Bas et Wadding ton, Insoriptions t. Dl n. 2339 u. 2340: ätt
fxeylotcp, n. 2345: yA^va rofyialg, n. 2343: teoTg oanrjQoi. — Abbildungen der
Ruinen des Zeustempels s. in den unten § 23, I Nr. 18 genannten Werken
von Laborde, Rey und bes. Butler, Part II of the Publications of an
American archaeological expedition to Syria (1904) p. 351—354. Auch von
einem anderen Tempel sind Ruinen erhalten, s. bes. Butler, S. 354 — 357.
42) Pollard, On the Baal and Ashtoreth aüar diseovered at Kanawdt in
Syria, now in the Füxwiüiam Museum at Cambridge (Proceedings ofthe Society
of Biblioal Arehaeology vol. XIII, 1891, p. 286—297). Die vermeintlichen Bilder
fies Baal und der Astarte sind solche des Apollo und der Artemis. S. Cler-
mont-Ganneau, Journal asiatique, Vlllme Serie, t. XIX, 1892, p. 109.
Dussaud, Revue archiol., quatr. Sirie t. IV, 1904, p. 2Msq.
43) Sachau, Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1896, S. 1056 — 1058.
Nach Ewing, Palestine Exploration Fund Quarterly Statement 1895, S. 157
stammt der Stein aus Kanatha. Die von Sachau gegebene Erklärung des
aramäischen Textes ist unhaltbar. S. Clermont-Ganneau, Beeueil dtarekk»
ologie Orientale U, 106 — 116, und Comptes rendus de VAcad. des Inscr. et Beiles-
Lettres 1898» p. 597—605 — Beeueil HI, 75—82. An letzterer Stelle gibt OL-G.
auf Grund einer besseren Kopie von Euting eine neue Erklärung des Textes,
wonach der abgebildete Stier ein Opfertier ist» welches der Tyche (Gad) als
Holokaustum dargebracht wurde. Vgl. auch BSpertoire (Fipigraphic semitique
I n. 53; Publications of an American' archaeological expedition to Syria Part
n, 1904, p. 414; Part IV, 1905, p. 93 sq.
[31] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 39
verehrt worden sein. Denn die Stadt nannte sich auch Nysa44.
Dies ist aber der mythologische Name des Ortes, an welchem
Dionysos von den Nymphen auferzogen wurde45. Auch wurde der
Name Skythopolis mythologisch auf Dionysos zurückgeführt (s. § 23, 1
Nr. 19). Auf den Münzen von Qadara kommt am häufigsten Zeus
vor, daneben auch Herakles, Astarte und einzelne andere Gottheiten46.
Ein ziemlich reiches Material haben wir jetzt über die Gottheiten
von Ger asa, überwiegend allerdings erst für das zweite Jahrhundert
nach Chr. oder später 4 7. Die Hauptgottheit der Stadt war die Artemis,
welche auf den Münzen von Gerasa als die Tvxv rsQaocov bezeichnet
wird48. Ihr gehörte der große Tempel, von welchem noch bedeu-
tende Beste erhalten sind49. Auch auf Weiheinschriften kommt sie
mehrfach vor50. Neben ihr finden sich auch andere echt griechische
Gottheiten, wie der olympische Zeus und seine Gemahlin Hera*\
44) Plinius Eist. Nat. V, 18, 74: Scythopolim antea Nysam. — Steph. Byx.
s. v. Sxv&SnofoQj TiaXai<nlvr\<; 116X1$, % Nvacriq [1. Nvaaa] KolXtfi Hvglaq. —
Auf Münzen häufig Nvo^aiatv*] Hxv&o[itoXiTwv\.
45) Eine ganze Anzahl von Städten beanspruchte, das wahre Nysa zu
sein. S. Steph. Byx. 8. v. (N&ocu ndXeiQ noXXal); Paulys Enzykl. V, 794f.;
Pape-Benseler, Wörterb. der griech. Eigennamen s. v.
46) Mionnet V, 323—328; Suppl. VIII, 227—230; De Saulcyp. 294—303,
pL XV.
47) Eine Zusammenstellung der auf die Götterkulte bezüglichen Inschriften
von Gerasa hat zuerst, nach eigenen Kopien, Germer-Durand gegeben
(Revue biblique VIII, 1899, p. 7—13). Noch vollständiger und genauer ist das
Repertorium von Lucas (Mitteilungen und Nachrichten des Deutschen Pa-
lästina-Vereins 1901 [1903 ausgegeben], S. 50-55).
48) Mionnet V, 329; Suppl. VHI, 230 sq.; De Saulcy p. 384 sq. pL XXII
n. 1 — 2. — Tvx*] mit Hinzufügung des betreffenden Stadt-Namens kommt auch
sonst vor. & Head, Historia Numorum (1887), p. 449. 618. 686; Bulletin de
eorrespondanee helltnique t. XII, 1888, p. 272; Babelon, Gomptes rendus de TAcad.
des Jnscr. et Beiles- Lettres 1898, p. 388—394 (Tvxv MijSdßatv).
49) Genaueste Beschreibung bei Schumacher, Zeitschr. des Deutschen
Palästina-Vereins XXV, 1902, S. 130—137, mit Rekonstruktion des Grund-
risses Tafel 9. Die Bezeichnung als „Sonnentempel" bei Schumacher und
Älteren ist irrig. S. dagegen Lucas, Mitteilungen und Nachrichten des DPV
1901, S. 51. Die Propyläen, die zu diesem Tempel führten, sind nach der
großen Inschrift Lucas n. 16 zur Zeit des Antoninus Pias erbaut.
50) Revue biblique 1899, p. 11 — Lucas n. 2: 6ea 'Aori/iiöu — Lucas n. 3:
*Aqv4(u& xvQltf. — RB. 1899 p. 9— -Lucas n. 4: 6ea Aaxa[ivy1) inrjxdy yA(tz&-
fuSi. — RB. 1895 p. 384 = Lucas n. 5: 'Aotifuöi xvolq.
51) ßrünnow, Mitteilungen und Nachrichten des DPV. 1899, S. 41 —
Brünnow und Domaszewski, Die Provincia Arabia II, 253 n. 2 —Lucas n. 8:
Jd yOXv(inlq>. — Brünnow, M. u. N. S. 42 — Ders., Die Prov. Arabia II, 253
n. 3 — Revue bibL 1899 p. 11 — Lucas n. 9: AU><; \)Xvfjtnlov. — Brünnow, M. u. N..
8. 58 — Prov. Arabia II, 253 n. \ — RB. 1899 p. 9 — Lucas n. 6: [Aiöq . . . .]
40 §22. Allgemeine Kultlirverhältnisse. [31]
Poseidon*2, Apoüon**, Nemesis b\ aber auch das ägyptische Götter-
paar Serapis und Isis66 und ein „arabischer Gott"66. In der
Nähe von Gerasa (in Suf, sechs Kilometer nordwestlich von Ge-
rasa) ist ein Votivstein für einen hellenisierten Baal mit lo-
kaler Färbung gefunden worden67. — In Philadelphia scheint
Herakles die Hauptgottheit gewesen zu sein68. Daher wird auf
lov üaxeiöä xal^HQaq <sv\pßiov ] &€äq°HQa<;. — Die Inschriften Lucas
8 u. 9 erwähnen Beiträge zum Bau des Tempels des Zeus Olympios.
Sie gehören ins erste Jahrb. n. Chr., vgL auch Lucas n. 10 [und dazu Ditten-
berger, Orimtis gr. inscr. sei. n. 622.
~>2) Brünnow, Mitteilungen und Nachrichten des DPV. 1897, S. 39«Pro-
vincia Arabia II, 255 = RB. 1899 p. 12 = Lucas n. 13: da Üooei&bvi ivoalz&ovi
OCOTTJQl.
53) RB. 1899 p. 13 — Lucas n. 1: QXaovioq Molxsq . . . .[z]dv 'AndXXcova
xjj tkxxqIöl ävi&rjxev. Wohl derselbe Fl. Macer: Corp. Inscr. Lot. TU n. 3347
und p. 888 (Militärdiplom vom J. 167 n. Chr.).
54) Lucas n. 11: *H Nifisaiq.
55) RB. 1899 p. 10 = Lucas n. 12 = Brünnow und Domaszewski, Die Prov.
Arabia II, 254: diöq ^HXlov fi[eylozov 2ae]dmdoc. xaV'IotSoq.
56) RB. 1895 p. 385 «Lucas n. 7: &eijj> 'A^aßucip inrjxdfp. Dazu: Olermont-
Oanneau, Recueil d'arehiol. Orientale II, 14; Dütenberger, Orientis gr. inscr. sei.
n. 623. — Perdrixet, Revue biblique 1900, p. 435 versteht darunter den genius
provinciae Arabiae.
57) Brünnow, Mitteilungen und Nachrichten des DPV. 1898, S. 86; dazu
Clermont-Qanneau, Recueil V, 1903, S. 15—21 (auch Quarterly Statement 1902,
p. 15—21 und 135 f.; Dittenberger, Orientis graeci inscr. sei. n. 620): Jd &ylq>
BeeX[x}o)0{OQ{p xal 'HXttp. Wenn man statt des in Brünnows Kopie als undeut-
lich bezeichneten x vielmehr ß lesen darf, könnte an einen Baal von Bostra
(nxn b?a) gedacht werden. Doch erkennt Clermont-Ganneau, welcher diese
Lesung vorschlägt, selbst an, daß sie nicht unerheblichen Bedenken unterliegt
(Recueil V, 21, Anm.; Quarterly Statement 1902, p. 135 f.). Nach einer späteren
Bemerkung von Brünnow (Die Provincia Arabia II, 240) „scheint x hier durch-
aus sicher zu sein". Die Inschrift steht übrigens schon im Corp. Inscr. Oraec
n. 4665.
5$ ; Auf einer Münze des Mark Aurel und L. Veras findet sich die Büste
des jugendlichen Herakles und darüber die Aufschrift HQaxXijq, s. de Saulcy
p. 391 und die Abbildung pl. XXII n. 7. Auf zwei anderen (einer des Mark
Aurel und einer des Commodus) ist ein Wagen abgebildet, der von einem
Viergespann gezogen wird; darüber die Aufschrift 'HqclxXbiov &Qfia (de Saulcy
p. 390. 391; statt agfia liest de Saulcy mit Älteren im einen Falle Qfia, im
andern anaXa, die richtige Lesung geben Leake, Numistnata HeUenica 1854,
p. 151, und Wroth, Catalogue of (he greek coins in the Brit. Mus., Oalatia
Cappadocia and Syriaf 1899 p. 306). Der Wagen diente wohl dazu, an fest-
lichen Tagen ein Tempelchen des Herakles in Prozession umherzufahren
(Eckhel, Doctr. Num. III, 351). Dussaud denkt an den Sonnenwagen (Revue
archeol. quatr. Serie t. I, 1903, p. 368 sq.) — Das ^HQaxXsov oder ^HgaxXuov
/also der Tempel des Herakles) wird auf einer in Philadelphia gefundenen
Inschrift erwähnt, deren Text im übrigen nicht mehr mit Sicherheit zu lesen
[31. 32] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 41
Münzen auch die Göttin Ästeria erwähnt, die Matter des tyri-
schen Herakles59. Außerdem kommt die Tvx*j $iladeZg>4a>v und
einzelne andere Gottheiten vor 60. Die Münzen der übrigen Städte
der ^Dekapolis sind wenig zahlreich und bieten nur dürftiges
Material [
Abgesehen von den Küstenstädten und von den Städten der
Dekapolis sind es besonders noch zwei Städte, in welchen der
Hellenismus schon frühzeitig Fuß gefaßt hat: Samaria und Panias.
In Samaria soll schon Alexander d. Gr. macedonische Kolonisten
angesiedelt haben. Jedenfalls war es zur Zeit der Diadochen ein
wichtiger hellenistischer Waffenplatz (s. § 23, I Nr. 24). Durch
Johannes Hyrkanus wurde allerding« die Stadt dem Erdboden
gleich gemacht Aber bei der Restauration durch Gabinius sind
ohne Zweifel auch die hellenistischen Kulte daselbst wiederher-
gestellt worden. Noch größeren Aufschwung müssen dieselben bei
der Erweiterung der Stadt durch Herodes d. Gr. genommen haben.
Namentlich ließ dieser auch hier einen großartigen Tempel des
Augustus errichten61. Über die sonstigen Kulte geben die, erst
seit ^Nero [nachweisbaren, Münzen einigen näheren Aufschluß 62.
In der römischen Kaiserzeit wurde Samaria allmählich von dem
neugegründeten Fla via Neapolis überflügelt. [Die Blüte der
heidnischen Kulte daselbst fällt aber erst in das zweite Jahrhundert
nach Chr. oder später (vgl. Bd. I, S. 651). — In Panias, dem nach-
maligen Gäsarea Philippi, muß schon seit Beginn der helle-
nistischen Zeit bei der [dortigen Grotte der griechische Pan ver-
ehrt worden sein; denn die Lokalität wird bereits zur Zeit Antiochus7
d. Gr. (um 198 vor Chr.) unter dem Namen ro Ilavuov erwähnt
(s. § 23, I Nr. 29). Die Fortdauer seines Kultus ist auch für die
spätere Zeit durch Münzen und Inschriften reichlich bezeugt63.
ist. S. Clermont-Qanneau, UHeraeleion de Rabbat-Ammon Philadelphie et
la deesee Asteria (Revue archeologique, quatr. Serie t. VI, 1905, p. 209 — 215 —
Recueil d'archiol. Orientale VH, 1906, p. 147—155).
59) Bea Atneoia: De Saulcy p. 391, Wroth p. 306. Über Asteria als Mutter
des tyrischen Herakles s. AihenaeuslXp. 392 D; Cicero De not. deorum DI, 16;
Boschers Lex. der griech. und röm. Mythologie und Pauly-Wissowas Real-
Enz. 8. r.
60) S. überh. über die Münzen von Philadelphia Mionnet V, 330— 333t
Suppl. Vm, 232—236; De Saulcy p. 386-302, pl XXII, n. 3-9.
61) Bell. Jud. I, 21, 2; vgl. An/t. XV, 8, 5.
02) MionnetV, 513—516; Suppl. VIII, 356— 359 ; Üe Saulcy p. 275-281,
pL XIV \n. 4-7.
63) Die Münzen bei Mionnet V, 311—315, n. 10. 13. 16. 20. 23; Suppl.
VIII, 217—220, n. 6. 7. a 10; noch mehr bei De Saulcy, p. 313-324, pl XVIII.
Vgl. bes. die Abbildungen des Pan mit der Flöte bei De Saulcy pl. XVIII n. 8.
42 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [32. 33]
Herodes der Gr. erbaute auch hier, wie in Cäsarea Stratonis und
in Samaria, einen Tempel des Augustus64. Von sonstigen Gott-
heiten findet sich auf den Münzen öfters noch Zeus, andere nnr
vereinzelt; das Bild des Pan ist bei weitem vorherrschend65. Zur
Zeit des Eusebius existierte in Cäsarea eine eherne Statue, welche
darstellte, wie ein kniendes Weib ihre Hände bittend nach einem
vor ihr stehenden Manne ausstreckt Die Statue, welche in christ-
lichen Kreisen für eine Statue Christi und des blutflüssigen Weibes
galt, war augenscheinlich eine solche des Heilgottes66.
Seit dem zweiten Jahrhundert nach Chr. ist die Existenz helle-
nistischer Kulte auch noch in anderen Städten Palästinas, wie
Sepphoris, Tiberias u. a* nachweisbar. Es darf aber mit ziem-
licher Sicherheit angenommen werden, daß sie dort erst seit dem |
vespasianischen Kriege Eingang gefunden haben. Denn bis dahin
waren die genannten Städte, wenn auch nicht ausschließlich, so
doch vorwiegend von Juden bewohnt, welche die öffentliche Aus-
übung heidnischer Kulte in ihrer Mitte kaum ertragen haben
würden67.
Anders steht es mit den ohnehin halb-heidnischen Landschaften
östlich vom See Genezareth: Trachonitis, Batanäa und Aura-
nitis. Auch hier sind zwar die hellenistischen Kulte wahrschein-
lich erst seit dem zweiten Jahrhundert nach Chr. in weiterem
Umfange durchgedrungen. Aber das Werk der Hellenisierung
9. 10. — Die Inschriften bei Bailie, Fasciadus inscr. graec. \UJ] potissimum
ex Oalatia Lycia Syria etc. 1849, p. 130—133; De Saulcy, Voyage autour de la
mer morte, Atlas (1853), pl. XLIX; Corp. Inscr. Qraec. n. 4537. 4538; Addenda
p. 1179; Le Bas et Waddington, Inscr. T. III n. 1891. 1892. 1893; Mit-
teilungen und Nachrichten des DPV. 1898, S. 84 f. = BrOnnow und Domaszewski,
Die Provincia Arabia II, 249 (neue Kopien von Brünnow). — Über den Kultus
des Pan überh. s. Roschers Lex. der griech. und röm. Mythologie III, 1
(1902), coL 1347-1481 (über den Kultus von Cäsarea Panias: col. 1371).
64) Antt. XV, 10, 3; Bell. Jud, I, 21, 3.
65) S. Mionnet und De Saulcy a. a. O.
66) Euseb. Hist. eccl. VII, 18. Die ältere Literatur hierüber s. bei Hase,
Leben Jesu, § 32; Win er, Realwörterb. I, 576; Gieseler, Kirchengesch. 1, 1,
8. 85 f. Aus neuerer Zeit vgl. v. DobschÜtz, Christusbilder (Texte und
Untersuchungen von Gebhardt und Harnack, Neue Folge, Bd. III), 1899,
8. 197 ff.; Harnack, Die Mission und die Ausbreitung des Christentums 1902,
S. 88, 2. Aufl., 1, 103. — Nik. Müller will an der Deutung auf das blutflüssige
oder etwa auf das kananäische Weib festhalten (Herzog-Haucks Real-Enz.,
3. Aufl., IV, 65 f. im Artikel „Christusbilder").
67) Daß es in Tiberias keine heidnischen Tempel gegeben hat, darf
indirekt auch aus Jos. Vita 12 geschlossen werden. Denn es wird hier nur
von der Zerstörung des mit Tierbildern geschmückten Herodes-Palastes, nicht
aber von derjenigen heidnischer Tempel ers&hlt.
[33] 11/ 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 43
begann hier doch schon mit dem Auftreten des Herodes und seiner
Söhne, welche die bis dahin halb-barbarischen Landschaften für
die Kultur gewannen (s. oben S. 17). Seitdem haben also auch die
hellenistischen Götterkulte dort Eingang gefunden. Die Inschriften,
die in jenen Gegenden besonders reichlich erhalten sind, bezeugen
uns die Blüte derselben für das zweite bis vierte Jahrhundert
Dabei ist auch hier wieder dieselbe Beobachtung zu machen, wie
in den philistäischen Städten: neben den griechischen Gottheiten
haben sich auch die einheimischen noch erhalten. Und zwar sind
dies teils syrische, teils, infolge des Vordringens der Nabatäer,
arabische. Von syrischen Gottheiten ist für die Makkabäerzeit
die Atargalis in Karnaim in ßatanäa nachweisbar (II Makk. 12, 26) 68.
In Sica, in der Nähe von Kanatha, sind Reste eines Tempels
erhalten und unter denselben Inschriften aus herodianischer
Zeit; der Tempel, dessen ältester Teil noch vor der Besitz-
nahme dieser Landschaften durch Herodes (23 vor Chr.) erbaut
ist, war dem syrischen Baal {Baalsamin) geweiht69. Ein kleiner
Altar für Hadad (rqS #£<£ yAdaöq>), einst eine Hauptgottheit der
Syrer, ist in Ehabab in Trachonitis gefunden worden70. Syrische
Gottheiten sind auch Ethaos (?) und Azizos, die in Batanäa vorkom-
men71. Stärker vertreten sind aber, namentlich in den östlichen
68) Dieselbe auch zwischen Panias und Damaskus (Le Bas et Wad-
dington, Inscr. t III n. 1890) und in Trachonitis (Quarterly Statement 1895, p. 141).
69) Abbildung der Ruinen s. bei De Vogüe, Syrie Centrale, Archkecture
civile et religieuse, pl. 2 et 3; dazu Text 8. 31 — 38. Die griechischen In-
schriften bei Waddington, Inscriptions n. 2364— 2369»; die aramäischen bei
De Vogüe, Syrie Centrale, Inscriptions semitiques p. 92 — 99 und im Corp.
Inscr. Sem. P. II Aram. n. 163—168. — Genauere Ermittelungen sind durch
eine amerikanische Expedition angestellt worden, s. Butler, Ärchitecture and
other arts (Part II of the Publications of an American archaeological expeditton
to Syria) 1904, p. 322 sq. 334—340; Littmann, Semitic Inscriptions (Part IV
derselben Publikation) 1905, p. 85—90. Dazu die neueren Mitteilungen von
Butler und Littmahn in: Revue archkl. IVme Serie t. V, 1905, p. 404— 412.
Dussaud, Les Arabes en Syrie 1907, p. 159—165. — Daß der Tempel dem
Baalsamin ('patKfc, *tc!) geweiht war, erhellt aus der Inschrift bei De Vogüe
p. 93 — Corp. Inscr. Sem. P. II Aram. n. 163 = Littmann, Semitic Inscr.
p. 86. — Vgl. über den Baalsamin überhaupt: Baudissin in Herzog- Hauet,
Beal-Enz., 3. Aufl. II, 331 (im Art. Baal); Cumont in Pauly-Wissowas Beal-
Enz. ü,| 2839 f. (Art. Baisamem)', Lidzbarski, Epbemeris für semitische Epi-
graph! k I, 3, 1902, 8. 243-260.
70) Palestine Exploration Fund, Quartetiy Statement 1895 p. 132 = Dus-
saud, Nouvelles archives des missions scientifiques t. X, 1902, p. 642. — Über
Hadad überhaupt: Baudissin in Herzog-Hauck, Beal-Enz., 3. Aufl. VII,
287 ff. Er ist, neben Atargatis, auch von den syrischen Kaufleuten in Delos
verehrt worden, s. oben 6. 30.
l\)"E&ao<;: Le Bas et Waddington Inscr. t. III n. 2209 (Dussaud, Les
44 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [33]
Gebieten, die arabischen Gottheiten. Unter diesen nimmt Dusares
(arab. Dhu ISchara), welchen die Griechen mit Dionysos verglichen,
die erste Stelle ein. Sein Kultus ist für die römische Zeit auch
durch die ihm geweihten Spiele, die *Axrta Jovodgca in Adraa
und Bostra, bezeugt72. Neben ihm werden auf den Inschriften
Arabes etc. p. 150 sq. hält den *E&ao<; für eine arabische Gottheit), "Ä^eC^ot; eben-
das. n. 2314 (= Oorp. lhscr. Oraec. n. 4617), dazu Waddingtons Erläuterungen,
Cumont in Pauly-Wissowas Real-Enz. II, 2644, Dussaud, Axixos et Monimos,
parbdres du dieu soleü (Revue areheol. quatr. SSrie t. I, 1903, p. 128—133).
72) Jovaägw. Le Bas et Waddington, Inscr. t. III n. 2023. 2312;
Dussaud, Nouveües archives des missions seientifiques t. X\, 1902, p. 679 «=
Dittenberger , Orientis gr. inscr. sei. n. 770 (r# d-E<jt dovodoei . . . ezovq dexa-
xov 'AvTwvelvov Katoaoog, nicht bei Waddington); Dussaud, Revue Numis-
matique lVme Sorte t VIII, 1904, p. 161 sq. [dovodorjq &edg yAÖQam>(bv, auf
Münzen von Adraa, bis dahin unediert). Das Nom. propr. Jovooqioq Wadd.
n. 1916. KWft bei De Vogüi, Syrie Centrale, Inseriptions semitiques p. 113. 120
«= Corp. Inscr. Semit. P. II Aram. n. 160. 190. Die"Axrta dovaagia bei Mionnet
V, 577—585, n. 5. 6. 18. 32. 33. 34. 36. 37. Dieselben auch bei De Saulcy
p. 375. 365. 369 sq. (Was Clermont-Ganneau, Recueil IV, 289—319 über ein
mit diesen vierjährigen Festspielen verbundenes „Armen-Recht" zu ermitteln
gesucht hat, ruht auf äußerst unsicherer Grundlage, s. Lagrange, ltüudes sur
les religions simitiques, 2. ed. 1905, p. 300 sq.) — Eigentümlich ist die Ver-
bindung £*-#& «wn auf einer Inschrift in Bostra {Revue biblique 1905, p. 593 \
wo Dusara ähnlich wie Zeus als die allgemeine Gottheit zu betrachten ist,
die durch den lokalen Gott fcnSM spezialisiert wird; vgl. Clermont-Qanneau,
Journal, asiat., X SSrie, t. VI, 1905, p. 363—367 = Recueü VII, 1906, p. 155—
159. Über K*ttK s. oben Bd. I, S. 741 f. Auch auf nabatäischen In-
schriften anderer Gegenden kommt KWH häufig vor. 8. bes. Euting, Naba-
täische Inschriften aus Arabien (1885) Nr. II Im. 5. III tön. 3. 8. IV tön. 4. 7.
IX lin. 3. 7. 8. XI lin. 6. XII lin. 8. XX lin. 8. XXVII lin. 12. Dieselben
Inschriften auch im Corp. Inscr. Semit. P. II Aram. n. 197—224. Euting,
Sinaitische Inschriften (1891) n. 437 (fcOHH), 499 (nom. propr. 60iöVra*n), 1559
(nom. propr. &niövnas). Dieselben Inschriften auch im Corp. Inscr. Semit.
P. II Aram. n. 912. 986. 1225. Inschriften von Petra, dem Zentrum der
nabatäischen Macht: Corp. Inscr. Sem. P. II Aram. n. 350. 443. In Milet
dd dov[aao6i]: Sitzungsber. der Berliner Akad. 1906, S. 260 f. In Puteoli:
Gildemeister, Zeitschr. der DMG. XXIII, 1869, S. 151 — Corp. Inscr. Semit.
P. II Aram. n. 157. Auch lateinisch auf mehreren in Puteoli gefundenen
Basen von Weihgeschenken: Dusart sacrum (Mommsen, Inscr. Regni Neap.
n. 2462 = Corp. Inscr. Lot. t. X n. 1556). — Vgl. Tertullian. Apolog. 24: Uni-
cuique etiam provinciae et civitati suus deus est, ut Syriae Astartes, ut Arabiae
Dusares. — Hesych. Lex. s. v.\ Jovo<xQip> xbv diövvaov Naßaraloi. — Krehl,
Über die Religion der vorislamischen Araber (1863) S. 48 ff. — Wadding-
tons Erläuterungen zu n. 2023. — Mordtmann, Dusares bei Epiphanius
(Ztschr. der DMG. 1875, 8. 99—106). — Preller, Römische Mythologie. 3. Aufl.
II, 404. — Wellhausen, Reste arabischen Heidentums (Skizzen und Vor-
arbeiten, 3. Heft, 1887) S. 45—48. — Baethgen, Beiträge zur semitischen
Religionsgeschichte (1888) S. 92—97. — Roschers Lex. der griech. und röm.
Mythologie, Art. „Dusares" (von E. Meyer). — Pauly-Wissowas Real-Enz.
[33. 34] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 45
auch noch andere | arabische Gottheiten erwähnt, deren einige uns
freilich nur dem Namen nach bekannt sind73. Die Herrschaft
haben jedoch in der genannten Periode die griechischen Gott-
heiten. Unter ihnen begegnet weitaus am häufigsten Zeus in
mannigfaltigen Modifikationen74; nächst ihm Dionysos, Kronos,
Art. „Dusares" (von Cumont, reich an Material). — Dussaud, Le culte de
Dusarte ffaprcs les mormaies d'Adraa et de Bostra (Revue Numismatique IVme
Serie, t. VHI, 1904, p. 160—173). — Ed. Meyer, Die Israeliten und ihre
Nachbarstamme, 1906, S. 267ff. — Dussaud, Les Arabes en Syrie 1907,
p. 166— 16a
73) SeavdQlrrjQ oder ßedvSgioq bei Waddington n. 2C46. 2374a (C. 1 Gr.
4609, Addend. p. 1181). 2481; Dämascius, Vita Isidori, bei Photius, Biblioth.
cod. 242 p. 347b ed. Bekker (Migne, Patrol. gr. 103, 1249): "Eyva> 6h ivrai&a
(in Bostra) xbv SeavÖQlnjv äQoevandp (l. SiQQevwndv) Svxa (tebv xal tdv Stfiy-
Xw ßlov ifutviovra xatq ywza%- Marinas, Vita Prodi e. 19 (vgl. oben
Anm. 11); Waddingtons Erläuterungen zu n. 2046; Fossey, Journal asiatique
IXme Serie, t XI, 1898, p. 314 sq. (nimmt an, daß Theandrites — Dusara). —
Obaaaid&ov (?): Waddington n. 2374. 2374*. — MaXeix^ov (?), Quarterly
Statement of the Pal Expl Fund 1895, p. 136. — ri>K , AUath (weibliche Gott-
heit): De VogiiS, Syrie Centrale, Inscr. simit. p. 100. 107. 119 = Corp. Inscr.
Semit. P. II Aratn. n. 170. 182. 185; vgl 183. Dieselbe auch bei Euting,
Nabatäische Inschriften, Nr. III /m. 4 — Corp. Inscr. Semit. P. II Aram.
n. 198. Bei Herodot "AXttxa (1, 1 31) oder 'AXtXdv (III, 8). Arab. al IM, W e 1 1 -
hausen a. a. O. 8. 25 — 29. — Überhaupt s. Baethgen, Beitrage zur semit.
Religionsgeschichte 8. 58—59. 90. 97 — 104; Dussaud, Nouveües archives des
missions scientifiques t. X, 1902, p. 457 sqq. (über Al-L&t und andere arabische
Gottheiten). Dussaud, Les Arabes en Syrie p. 116 — 139. — Der auf einigen
Inschriften vorkommende Name Vttp, Qaciu, welchen De Vogüe* als Name
eines Gottes aufgefaßt hatte (l. c. p. 96. 103), ist nur Personen-Name (s. Corp.
Inscr. Semit. P. 11 Aram. n. 165. 174). Nach dieser Analogie sind vielleicht
auch die Namen Obaoaia&ov > MaXeiza&ov nicht als Namen von Gottheiten,
sondern nur als Personen-Namen zu betrachten („Gott des Obaoaia&og" usw.);
so Olermont- Ganneau, Recueil d'archiologie Orientale TL, 110.
74) dd fieyi<rt(p: Waddington n. 2116. 2140. 2289. 2292. 2339. 2340. 2412<*
(Wetzstein 185); Quarter ly Statement 1901, p. 354 — 1902, p. 21 = Clermont-
Ganneau, Becueil V p. 22. — dd (teylory iftplonp: Dussaud, Nouveües archives
des missions scientifiques X, 640. — dd xvqI<j> Waddington n. 2290. 2413b
(Wetxst. 179). 2413J (C. J. Gr. 4558); xvqIov didq: Waddington n. 2288. —
0*00 dtöqi Waddington 2413k (O. J. Or. 4559). — didq: Waddington 2211. —
Zev ärixTjre: Wadd. 2390 (vgl. auch unten Anm. 80 über den Sonnengott). —
7sXelq> Wadd. 2484. — dd Ixeolco, in Flk: Germer-Durand, Revue biblique 1899,
p. 8. — dibq, K*Qaov{vlov\ zwischen Gadara und Pella: Revue biblique 1899,
p. 7; bloß KeQawly (in Batanäa): Wadd. 2195; vgl. auch oben Anm. 39 (Nach-
barschaft von Damaskus) und die Inschrift des Agathangelos aus Abila in
der Dekapolis (Wadd. 2631: dd fieyionp Keoawly)-, üsener, Keraunos (Rhein.
Museum 60, 1905, S. 1—30). — 'ETweaptty Ad (Bostra): Wadd. 1907. — dd
[<Poa}i0j(p xal aHga &eolg tcoxqwok; (Bostra) Wndd. 1922. — ZeU Zatpc&rjvt
(Bostra): Clermont- Ganneau, tiudes d'archiologie Orientale tome II (== Biblio-
theque de V&cole des 'haute* Üudes fase. 113) 1897, p. 28—32; Brünnow, Mit-
46 § 22- Allgemeine Kulturverhältnisse. [34. 35]
Herakles, Hermes, Ares, Pluto (mit Persephone), Qanymedes1*; von
weiblichen Gottheiten am häufigsten Athene16 und Tyche11, daneben
Aphrodite, Nike, \ Irene, die Nymphen und Nereiden78. Die Artemis,
welche zur Zeit des Antonmus Pius in Batanäa verehrt wurde, ist ver-
mutlich eine Gräzisierung der hier einheimischen Mondgöttin, der
doppeltgehörnten Astarte79, wie überhaupt manche dieser griechi-
teilungen und Nachrichten des DPV. 1899, S. 82; Dussaud et Maeler, Vbyage
archiologique au Safä etc. l?K)lf p. 192 (Photographie); Hatevy, Journal asia-
iique IXme Serie t. XVIII, 1901, p. 517; Dittenberger, Orientis graeoi inscr.
sei. n. 627.
75) Dionysos: Waddington n. 2309. — Kronos: n. 2375. 2544. — Hera-
kles: n. 2413o (Wetxst. 177). 2428. — Hermes: Revue archiol., troisieme Serie
U IV, 1884, p. 277 — Clermont-Ganneau, Recueil tf archiol Orientale , I, 1888,
p. 19. — Ares: Dussaud, Nouvelles archives des missions seientifiques t. X, 1902,
p. 648. — Pluto and Persephone: Waddington n. 2419. — Ganymedes: n, 2097.
2118. — Nach Wadd. n. 2440 wäre hier auch Ogenes zu nennen; vgl. aber
dagegen Clermont-Ganneau, Recueil a^ archiol Orientale VI, 1905, p. 283 — 287
(statt 'Qyhu ist zu lesen . . . <j> yfrei).
76) Waddington n. 2081. 2203». 2203b {Wetxst. 16. 17). 2216. 2308.
2410. 2453 (= Dussaud, Nouv. archives X, 644). 2461. Auch mit lokaler Fär-
bung (A&ijvq roZjxalg, zu Kanatha) n. 2345.
77) Waddington n. 2127. 2176. 2413* bis 24131 (= Corp. Inscr. Oraec.
n. 4554 bis 4557). 2506. 2512. 2514; Revue biblique 1905, p. 605 (bessere Lesung
von ClOr. 4557 = Wadd. 24131). — Im Semitischen wird Tvxv als Gottesname
durch T$ wiedergegeben, s. Lagarde, Gesammelte Abhandlungen 1866, 8. 16;
Mordtmaon, Zeitschr. d. DMG. 1877, 8. 99—101; Olermont-Ganneaus
Abhandlung über die Inschrift auf dem StierbiJde zu Kanatha (ßomptes rendus
1898, 597—605 — Recueil III, 75—82, s. oben Anm. 43); Baudissin in Her-
zog-Hau ck, Eeal-Enz., 3. Aufl. VI, 1899, 8. 333 ff. (im Artikel „Gad"), und vgl.
noch die in der Mischna erwähnte Lokalität bei Jerusalem "jV *rt, Sabim I, 5.
Daraus folgt aber nicht daß der Kultus der Tvx*l &uf den des altsemitischen
Gad zurückzuführen ist, dessen weite Verbreitung sich nicht nachweisen läßt
(vgl über ihn: Baudissin in Herzog- Hauck, Real-Enz., 3. Aufl. VI, 328 ff.).
Eher ist an die syrische Astarte zu erinnern, mit welcher die Tyche jeden-
falls im allgemeinen verwandt ist (so auch Mordtmann). Vgl. über die Tvxn
als Stadtgottheit: Mordtmann, Zeitschr. der DMG. XXXIX, 1885, 8. 44—46;
Baethgen, Beiträge zur semit Religionsgesch. 8. 76 — 80 (bringt den Kultus
der Tyche in nahen Zusammenhang mit dem des Gad); Allegre, Müde sur
la dSesse grecque TychS. Sa signification religieuse et morale, son culte et ses
representations figuries. These. Paris 1889 (249 p.); Bouchi-Leclercq,
Tyche ou la Fortune, ä propos d'un ouvrage recent (Revue de l'htstoire des reli-
gions XXUI, 1891, p. 273—307); Lewy, Einiges über Tvffl (Jahrbb. fürklass.
Philol. 1892, 8. 701-767); Baudissin a. a. O.
78) Aphrodite: Waddington n. 2098. — Nike: n. 2099. 2410. 2413j (OIQr.
4558). 2479. — Irene: n. 2526. — Nymphen und Nereiden: Dussaud,
Nouvelles archives X, 694.
79) O. A. Smith, Palestine Exploration Fund, Quarterly Statement 1901,
p. 355. Die richtige Lesung 'Aoxiiuöi rjf xvoiq erst bei Clermont-Ganneau,
[35. 36] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 47
sehen Gottheiten nur Gräzisierungen einheimischer sind. Durch
den religiösen Synkretismus der späteren Kaiserzeit sind endlich
neben den alten lokalen Gottheiten auch andere orientalische be-
günstigt worden. Darunter spielt die Hauptrolle der syrische
Sonnengott, der hier bald unter dem semitischen Namen Avpov,
bald unter dem griechischen °HXioq} bald unter beiden zugleich
verehrt wurde80. Sein Kultus war noch zur Zeit Konstantins
so blühend, daß ihm damals noch ein ansehnlicher Tempel in
Auranitis errichtet werden konnte81. Ja es gelang schließlich den
christlichen Predigern nur dadurch ihn zu verdrängen, daß ihm
der Prophet *HUag substituiert wurde82. Außer dem syrischen
Sonnengott sind auch der gazäische Mamas und die ägyptischen
Gottheiten Ammon und Isis nachweisbar83.
Mit den religiösen Kulten stehen vielfach in naher Verbindimg
die periodischen Festspiele. Auch auf diesem Gebiete läßt sich
die Herrschaft hellenistischer Sitte noch an zahlreichen Beispielen
nachweisen. Doch sind auch hier wieder die Quellen für die
eigentlich griechische Zeit äußerst spärlich. Wir wissen, daß schon
Alexander d. Gr. in Tyrus glänzende Spiele gefeiert hat84. Der
dortige xsvxasxriQixbq ay<x>v wird in der Vorgeschichte der makka-
bäischen Erhebung gelegentlich erwähnt | (II Makk. 4, 18—20). Aus
demselben Anlaß erfahren wir auch, daß Antiochus Epiphanes in
Jerusalem die Aiovvcia einfuhren wollte (II Makk. 6, 7). Aber
gerade für die eigentlich hellenistischen Städte Palästinas läßt sich
die Feier solcher Spiele für die vorrömische Periode nirgends mehr
ebendas. 1902 p. 23 « Becueü (TarcMohgie Orientale V, 1903, p. 24, als
„zweifellos richtig" anerkannt von 0. A. Smith, Quarterly Statement 1902, p. 27.
80) Atfiovi Waddington n. 2441. 2455. 2456. —aHXio<;: n. 2165. 2398. 2407,
in Verbindung mit SeX^vrj n. 2430. — dibq ävix^xov 'HXlov &eo$ Aifxovi
n. 2392. 2394. 2395, ähnlich 2393 (— Dittenberger, Orientis graeci ins er. sei.
n. 619). — Die Formel &e(j> Ai/iov (w. 2455. 2456) kann nicht heißen „dem
Gott des Aumos", so daß Aumos Name des Verehrers wäre (vgl. oben Anm. 73),
sondern Afyov oder Avftoq ist der Name des Gottes selbst, wie n. 2393 be-
weist: °HXiov B-eov Av/iov. — Vgl. über den syrischen Sonnengott auch
Du s saud, Notes de mythologie Syrienne (Revue archeol., quatr. Serie t. I— III,
1903—1904; auch separat 1905). Dazu Baudissin, Theol. Litztg. 1906, 294.
Besonders Baudissin Art. „Sonne4* in Herzog-Hauck, Real-Enz., 3. Aufl.
XVm, 1906, S. 489-521.
81) Wadding ton n. 2393.
82) S. Waddington zu n. 2497.
83) Mamas: Waddington n. 2412g (Wetxst. 183). — Ammon: rc. 2313.
2382. — Isis: n. 2527. Auch auf einer Münze von Kanata bei Mionnet, Suppl.
VIII, 225 n. 5.
84) Arrian. II, 24, 6; Hl, 6, 1. Vgl. Plutarch. Alex. e. 29; Droysen,
Gesch. d. Hellenismus (2. Aufl.) I, 1, 297. 325.
48 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [36. 37]
im einzelnen nachweisen; sie ist nnr nach dem allgemeinen Charak-
ter der Zeit als selbstverständlich vorauszusetzen85. Erst fBr^die
römische Zeit fließen die Quellen wieder reichlicher. Es ist bekannt,
welch große Bedeutung die öffentlichen Spiele in der Kaiserzeit
hatten: keine Provinzialstadt von nur einiger Bedeutung entbehrte
derselben86. Namentlich waren es die mit dem Kaiserkultus in
Verbindung stehenden Spiele zu Ehren des Kaisers, welche
schon zur Zeit des Augustus allenthalben in Aufnahme kamen87.
Auch in Palästina wurden sie durch Herodes in Cäsarea und Jeru-
salem eingeführt. Daneben existierten aber auch andere Spiele
mancherlei Art Für das zweite Jahrhundert n. Chr. ist deren
Blüte in den Hauptstädten Palästinas bezeugt durch eine Inschrift
zuAphrodisias in Karien, auf welcher Rat und Volk der Aphro-
disier die Siege verzeichnen, die ein gewisser Aelius Aurelius
Menander bei vielen Wettkämpfen errungen hat Unter den hier
aufgezählten Spielen finden sich auch solche in palästinensischen
Städten88. Auf einer ähnlichen Inschrift zu Laodicea in Syrien
aus dem Anfang des dritten Jahrhunderts nach Chr. hat der Sieger
selbst die von ihm errungenen Siege der Nachwelt überliefert
Auch hier | sind wieder mehrere palästinensische Städte als Schau-
platz genannt89. Endlich in einer anonymen DescripHo totius orbis
86) Vgl. Stark, Gaza S. 594 f.
86) Vgl. über die Spiele in der römischen Zeit bes. Friedländer, Dar-
stellungen ans der Sittengesch. Borns Bd. II (3. Aufl. 1874), S. 261—622. —
Über die Organisation und die Arten derselben auch: Marquardt, Bömische
Staatsverwaltung Bd. III (2. Aufl. 1878), S. 462—544 (ebenfalls von Friedländer
bearbeitet); Bei seh, Art Agones in Pauly-Wissowas Beal-Enz. 1, 836— 866.
87) Sueton. Aug. 59: provinoiarum pleraeque super templa et aras lud ob
quoque quinquennales paene oppidatim constituerunt.
88) Le Bas et Waddington T. HI n. 1620b. — Die Inschrift stammt,
wie eine andere dazugehörige (n. 1620a) beweist, aus der Zeit Mark Aureis.
Der uns interessierende Teil lautet:
Aafxaoxbv ß' ävöowv navxQaxiv,
BriQvzbv ivSgtbv navxQ&uv,
Tvqov avö(Hbv navxQaxLV,
Kaiaäoeiav xty ÜTQaxwvoq dvöowv navxQaxiv>
Niav ndXiv xfjq Sapaglaq dvSowv navxoaxiVy
Zxv&ÖTioliv avögöyy navxoaxiv,
räCpiv &vd(Hbv navxQ&xiv,
Kaioäpeiav Raviaöa ß' ävdfHbv navxodxiv, ....
<PiAaö£A<psiav xfjq \ioaßla<; ävÖQtbv navxodxiv.
89) Corp. Inser. Graec. n. 4472= Le Bas et Wadding ton T. III n. 1839
«= Inseriptiones graecae ad res romanas pertinentes t. HI, ed. Oagnat n. 1012.
— Die Inschrift ist datiert vom J. 221 n. Chr. Sie erwähnt u. a. Spiele in
Cäsarea, Askalon und Skjthopolis.
[37] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 49
aus der Mitte des vierten Jahrhunderts nach Chr. werden die
Arten der Spiele und Wettkämpfer aufgezählt, durch welche damals
die bedeutendsten Städte Syriens sich auszeichneten 90. Aus diesen
und anderen Quellen läßt sich noch folgendes Material zusammen-
stellen91.
In Gaza wurde seitHadrian eine xavriyvQiq yAÖQiavri gefeiert 92.
Ein dortiges xccyxQaTiov erwähnt die Inschrift von Aphrodisias 98.
In einem Papyrus aus der Zeit des Gallienus (259—268) sagt ein
Athlet: £oreg)avc&{h]v Isqov slösXaörixov olxovfievtxov dywpog löo-
Ivfixlov rafyurdiv94. Die pammacharii (= jtafipaxoi oder xayxQa-
Tiaoxat) von Gaza waren im vierten Jahrhundert die berühmtesten
90) Diese ursprünglich griechische Deseripiio totius orbi% ist in zwei la-
teinischen Bearbeitungen erhalten, welche beide bei Müller, Oeographi Oraeci
minores II, 513 — 528 abgedruckt sind. Die eine, filtere, auch bei Riese, Oeo-
graphi Latmi minores (1878) p. 104—126; Lumbroso, Expositio totius mundi
et gentium, Rom 1903; Sinko, Die Deseriptio orbis terrae, eine Handelsgeo-
graphie aus dem 4. Jahrh. (Archiv für lat. Lexikographie und Grammatik XIII,
1904, S. 531-571). [Sinko und Wölfflin, Archiv a. a. O., S. 573—578, halten
den lateinischen Text für Original; s. dagegen: Klotz, Philologus Bd. 65, 1906,
8. 97 — 127]. — Ich gebe den Text von e. 32 nach Sinko: quoniam atäem
oportet et singtäa earum describere, quid a(d) singtäas civitates delectabile[s]
esse polest, et hoc dieere necessarium est: hohes ergo Antioehiam quidem in
omnibus delectabilibus habundantem, maxim[a]e atäem eircensibus. omnia autem
quare? quoniam ibi imperator sedet, necesse est omnia propter cum. ecee simi-
liier Ladicia eireenses et Tyrus et Beritus et Caesarea. [s]et Laodicia mittet
aliis civitatibus agitatores obtimos, Tyrus et Beritus mimarios, Caesarea pan-
tomimos, (H)eliopolis choratäas maxime, quod a Libano Musae Ulis inspirent
divinitatem dicendi. aliquando atäem et Gaza habet bonos audüores; dicitur
autem habere eam et pammacharios. Ascalon athletas luctat ores, Gastabala
ealopettas. — Die Tilgung von luctatores (Biese, Sinko) ist unnötig. Die lue-
tatores waren eine besondere Art der athletae.
91) In der Aufzahlung der Städte befolge ich dieselbe Anordnung wie
oben bei den Kulten und wie in § 23, I. — Zur Orientierung sei noch be-
merkt, daß es überhaupt folgende Arten von Spielen gab: 1) im Zirkus
(bt7t6ö(}opoQ) die Wagenrennen, 2) im Amphitheater die Gladiatorenkampfe
und Tierhetzen, 3) im Theater die eigentlichen Schauspiele, zu welchen auch
die Pantomimen gehören, 4) im Stadium die gymnastischen Spiele: Faust-
kampf, Ringen und Wettlauf (I Kor. 9, 24: o\ iv axaSlq) TQ&xovrtq); doch
wurden letztere zuweilen auch im Zirkus gehalten (Marquardt III, 504 f.). —
Bei den großen Jahresfesten waren in der Regel mehrere dieser Spiele ver-
einigt.
92) Ohron. pasch, ed. Dvndorf I, 474.
93) Das nayxQ&xtov ist der „Gesamtkampf', welcher den Ringkampf
(ndXrj) und Faustkampf (iwyfirf) zugleich umfaßt. Er gehört also in die Klasse
der gymnastischen Spiele. Vgl. Oardiner, \The pankration and tcrestling
(Journal of Bellende Studies XXVI, 1906, p. 4-22).
94) Wessely, Oorpus papyrorum Hermopolitanorum 1, 1905, n. 70 (S. 33).
Schürer», Geachichte II. 4. Aufl. 4
50 § 22. Allgemeine Kiüturverhaltnisse. [37. 38]
in Syrien95. Der zirzensischen Spiele daselbst gedenkt Hieronymus
in seinem Leben des heiligen Hilarion96. Für Askalon ist ein
raXavxcaloq dyciv durch die | Inschrift von Laodicea bezeugt97.
Berühmt waren namentlich seine Ringkämpfer (atUetae luctatores,
s. Anm. 90). — In Gäsarea hat schon Herodes der Große ein
steinernes Theater und ein großes Amphitheater erbaut, letzteres
mit dem Blick auf das Meer98; ein oxadiov wird zur Zeit des
Pilatus erwähnt99; auch einen Zirkus muß die Stadt von Anfang
an gehabt haben, da schon bei der Einweihung durch Herodes ein
Xxjicov ÖQofioq gefeiert wurde (s. unten). Noch jetzt sind Spuren
und Reste eines Theaters und eines Hippodromes daselbst nach-
weisbar 10°. Wie hiernach für alle vier Hauptgattungen der Spiele
von Anfang an gesorgt war, so sind in der Tat schon bei der Ein-
weihung durch Herodes den Großen alle Arten gefeiert worden101.
Diese Spiele wurden von nun an zu Ehren des Kaisers alle vier
Jahre wiederholt102. Sie sind aber natürlich nicht die einzigen
gewesen, die Cäsarea besessen hat Im einzelnen sind auch für
die spätere Zeit noch alle vier Arten nachweisbar. 1) Die ludi
circense8 von Cäsarea waren im vierten Jahrhundert n. Chr. ebenso
berühmt wie die von Antiochia, Laodicea, Tyrus und Berytus
(s. Anm. 90). 2) Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen veranstaltete
Titus nach Beendigung des jüdischen Krieges, wobei Hunderte von
95) 8. oben Anm. 90. — Außer den pammaeharii werden für Gaia auch
boni auditores erwähnt, was sicher auf einem Fehler der Übersetzung oder
der Textüberlieferung beruht; am ansprechendsten ist die Vermutung, daß es
= dxQodfiata.
96) Hieronymus, Vita Eüarionis c. 20 (Opp. ed. Valiarsi 11, 22): Sed et
Italiens ejtisdem oppidi munieeps Christianus adversus Oaxensem Dnumvirum,
Marnae idolo deditum, circenses equos nutriebat.
97) Der Ausdruck xaXavuaZos dywv kommt auch sonst zuweilen vor.
8. Corp. Inscr. Qraec. n. 2741, 20 (== Dittenberger, Orientis Qraeci inscr. seL
n. 509). 2759, 1. 2810, 19. 3208, 20. 3676, 15; Corp. Inscr. Lot. t. III Supplem.
n. 6835—6837.
98) Antt. XV, 9, 6 /in.; R J. I, 21, 8.
99) Antt. XVni, 3, 1; B. J. H, 9, 3.
100) The Surrey of Western Palestine, Memoirs by Conder and Kitchener
II, 13 sqq. (mit Plan der 8tadt S. 15).
101) Antt. XVI, 5, 1: xarrjyyiXxei fihv ya.Q ayüwa ßovaixtJQ xal yvfimxwv
aS-XTjfidrcDV, naQsaxevdxei öh noXv 7iXrj9o$ ftovofiaxwv xal ütjoIcw, aunuov te
öqöjuov etc.
102) Die Spiele wurden gefeiert xazä nevxaexrjQlöa (Antt. XVI, 5, 1) und
heißen darum TcewaeniQixol dyCbvsQ [B. J. I, 21, 8). Nach unserer Ausdrucks-
weise sind dies aber vierjährige Spiele. Dieselben Formeln werden von allen
vierjährigen Spielen, den olympischen, aktischen u. a., konstant gebraucht.
8. die Lexica und das Material im Index zum Corp. Inscr. Qraec. p. 158 s. v.
[38. 39] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 51
jüdischen Kriegsgefangenen geopfert wurden103. Ausländische
Tiere aus Indien und Äthiopien stellte Kaiser Maximinus bei der
Feier seines Geburtstages zur Schau104. 3) Spiele im Theater
werden zur Zeit des Königs Agrippa I erwähnt105. Die pantomimi
von Cäsarea waren im vierten Jahrhundert die berühmtesten in
Syrien (s. Anm. 90). Von pantomimischen Spielen ist wohl auch
zu ver | stehen, was Eusebius von den Spielen des Maximinus
sagt l06. 4) Ein xayxQaziov erwähnt die Inschrift von Aphrodisias,
einen Faustkampf die Inschrift von Laodicea107. — In Ptolemais
erbaute Herodes d. Gr. ein Gymnasium108.
In Damaskus erbaute ebenfalls Herodes ein Gymnasium und
ein Theater (s. Josephus a. a. 0.). Ein xayxQaxiov daselbst ist durch
die Inschrift von Aphrodisias bezeugt (s. Anm. 88), ein „langer
Wettlauf4 durch eine Inschrift von Tralles (dafiaoxov avÖQ&v
ioXixov)in. Die dortigen ceßaofita (Spiele zu Ehren des Kaisers)
werden auf den Münzen seit Macrinus erwähnt110. — InGadara
sind noch heute die Ruinen von zwei Theatern erhalten111. Eine
vavfiaxla daselbst kommt auf einer Münze Mark Aureis vor112. —
Kanatha hat außer seinen Tempelruinen auch die eines kleinen
in den Felsen gehauenen Theaters, das auf einer Inschrift als
d-earQoecöhg coöelov bezeichnet ist113. — In Skythopolis sind noch
103) Bell. Jttd. VII, 3, 1.
104) Euseb. De martyr. Palaest. VI, 1-2.
105) Antt. XIX, 7, 4; 8, 2. Über die an letzterer Stelle erwähnten Spiele
zu Ehren des Kaisers Claudius s. oben § 18 s. fin.
106) De martyr. Palaest. VI, 2: dvöowv ivzixvoig tial c&ftaaxlatQ naoa-
Sdf&vQ yv%aywyla$ toZq dowaiv ivSeixwfiivofv. S. dazu Valesius' Anm.
107) Diese nvyfx^ fand statt bei Gelegenheit des ZeovJjoeioQ Obcovfitvixbq
Ih&ixSe {seil, dywv), d. h. der dem Kaiser Septimius Severus geweihten pythi-
schen Spiele.
108) Joseph. B. J. I, 21, 11.
109) Bulletin de eorresp. hellenique XXVIII, 1904, p. 88.
110) Mionnet V, 291 sqq.; Suppl. VIII, 198 sqq.; De Saulcy p. 42 sqq.
Auch auf Inschriften: Corp. Inscr. Attie. t. III n. 129; Corp. lnscr. Lot. t. XTV
n. 474. Vgl. Clermont-Qanneau, Recueil cfarchäologie Orientale IV, 1901,
p. 302 sqq.
111) S. darüber die in § 23, I Nr. 14 zitierte geographische Literatur.
Die genaueste Beschreibung der beiden Theater gibt Schumacher, Northern
fylün, London 1890, p. 49—60. — Über die fortgehende Zerstörung der Ruinen
durch die heutigen Einwohner s. Schumacher, Zeitschr. d. DPV. XXII, 1899,
8. 181 f.; G. A. Smith, Quarterly Statement 1901, p. 341.
112) S. darüber bes. Eekhel, Doctr. Num. ITT, 348 sqq., auch Mionnet V,
326 n. 38; De Saulcy p. 299.
113) Die Inschrift bei Le Bas et Waddington tUl n. 2341. Über das
Gebäude selbst s. die in § 23, I Nr. 18 zitierte geographische Literatur.
4*
52 § 22. Allgemeine KulturverbAltnisse. [39. 40]
Spuren eines Hippodromes und Ruinen eines Theaters erhalten114.
Ein dortiges xayTCQaxiov erwähnt die Inschrift von Aphrodisias,
einen raXapxtalog dydv die Inschrift von Laodicea115. — unter
den großartigen Ruinen von Geras a finden sich auch solche von
zwei Theatern und Spuren einer Naumachie (eines für Schiffs-
kämpfe eingerichteten Amphitheaters)116. In sehr späte Zeit
(sechstes Jahrhundert nach Chr.) gehört ein außerhalb Gerasas
liegendes kleines Theater, welches auf einer Inschrift als [M]asiov-
fiäg bezeichnet wird; es diente augenscheinlich den durch ihre
Zügellosigkeit berüchtigten Spielen gleichen Namens117. Auch |
Philadelphia hat noch die Ruinen eines Theaters und eines
Odeums (eines kleinen bedeckten Theaters)118. Ein xayxQaxtov
daselbst erwähnt die Inschrift von Aphrodisias. — In Cäsarea
Panias gab Titus nach Beendigung des jüdischen Krieges „mannig-
faltige Schauspiele" {xavxolag d-ecDQlag), namentlich Gladiatoren -
kämpfe und Tierhetzen, für welche die jüdischen Kriegsgefangenen
verwendet wurden119. Ein dortiges xayxQaxiov erwähnt die In-
schrift von Aphrodisias. -— Über die Spiele in den jüdischen
Städten (Jerusalem, Jericho, Tarichea, Tiberias) siehe den
nächsten Abschnitt
114) S. bes. The Survey of Western Palestine, Memoirs by Oonder and
Kitehener vol. II p. 106 (Plan des Hippodromes) u. p. 107 (Plan des Theaters).
— Das Theater ist nach Conder (II, 106) the best-preserved specimen of Roman
work in Western Paleatine.
115) Über xaXavxiaXoQ dywv s. oben Anm. 97.
116) S. die in § 23, I Nr. 22 zitierte geographische Literatur. Die ge-
naueste Beschreibung gibt Schumacher, Zeitschr. des Deutschen Palastina-
Vereins XXV, 1902, 8. 141—150 (die beiden Theater), 159—161 (Naumachie);
vgL dazu den Plan, Tafel 6. Schumacher bezeichnet das Amphitheater irrig
als Zirkus. — In einem der Theater sind noch Sitznummern erkennbar (Nestle,
Mitteilungen und Nachrichten des DPV. 1896, S. 43, und besonders die ge-
naueren Angaben von Puchstein, mitgeteilt von Lucas, Mitteil, und Nachr.
des DPV. 1901, S. 67 f.). — Nach Benzinger, Zeitschr. des DPV. XIV, 1891,
S. 73 haben in neuerer Zeit starke Zerstörungen an den Theatern in Dscherasch
stattgefunden. Doch s. noch die Abbildungen von Schumacher, Zeitschr.
des DPV. XVIII, 1895, 133. 135; XXV, 1902, S. 142. 148 f.
117) S. die Inschrift mit lehrreichem Kommentar bei Lucas, M. u. N.
des DPV. 1901, S. 59—63. Ober die Spiele: Teuffei in Paulys Real-Enz.
IV, 1458 f. (Art. „Mamma") und die von Lucas S. 60 Anm. 4 genannte
Literatur.
118) S. die in § 23, I Nr. 23 zitierte geographische Literatur. Die ge-
naueste Beschreibung gibt Oonder in: The Survey of Eastern Palestine vol. I,
1889, p. 35*9?. Abbildung des Theaters z. B. bei Frohnmeyer und Ben-
zinger, Bilderatlas zur Bibelkunde, 1905, 8. 63; Brünnow und Domaszewski,
Die Provincia Arabia II, 220.
119) Bell. Jud. VII, 2, 1.
[40. 41] II) 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 53
Außer den Kulten und Festspielen ist es noch ein dritter
Punkt, der uns zeigt, wie tief in manchen dieser Städte der Helle-
nismus durchgedrungen ist: sie haben Männer hervorgebracht,
welche sich in der griechischen Literatur einen Namen
erworben haben. Unter den Küstenstädten ragt in dieser Be-
ziehung namentlich Askalon hervor. Bei Stephanus Byzantinus
(s. v. yAoxal<ov) werden allein vier stoische Philosophen aufgezählt,
die aus Askalon stammten: Antiochus, Sosus, Antibius,Eubius.
Von diesen ist nur Antiochus näher bekannt. Er war ein Zeit-
genosse des Lucullus und Lehrer Ciceros, gehört also dem ersten
Jahrhundert vor Chr. an. Sein System ist übrigens nicht eigentlich
stoisch, sondern eklektisch120. Sosus ist sicherlich derselbe, nach
welchem sein Landsmann Antiochus eine Schrift betitelte, also nicht
jünger als dieser121. Als Grammatiker aus Askalon nennt Stepha-
nus Byzantinus den Ptolemäus und Dorotheus, als Historiker
den Apollonius und Artemidorus. Die beiden letzteren sind
unbekannt. Dorotheus wird auch sonst zitiert; er lebte wahrschein-
lich zur Zeit des Augustus und Tiberius 122. Am bekanntesten ist
nächst dem Philosophen Antiochus der Grammatiker Ptolemäus 12S.
Wenn er, wie Stephanus Byzantinus angibt, 'AQiöraQxov yvcoQtfioq
gewesen wäre, so | würde er dem zweiten Jahrhundert vor Chr. an-
gehören. Wahrscheinlich ist er aber erheblich jünger (um den Beginn
der christlichen Zeitrechnung) 124. Außer den von Stephanus Byzan-
tinus aufgezählten sind noch einige andere griechische Literaten
120) Vgl. über Antiochus: Zeller, Die Philosophie der Griechen III, 1
(3. Aufl. 1880), 8.597—608; Hoyer, De Antiocho Ascalonita, Borm 1883; Suse-
mi hl, Geschichte der griechischen Literatur in der Alexandrinerzeit Bd. II,
1892, 8. 284—291; v. Arnim in Pauly-Wissowas Beal-Enz. I, 2493; Doege,
Quae ratio intercedat inier Panaetium et Antiochum Ascalonitam in morati
phüosophia. Diss. Halle 1896.
121) Nach Index Stoic. Herculan. 75, 1 war er ein Schüler des Panaetius.
8. überh. Paulys Beal-Enz. «. *.; Zeller III, 1, 570; Susemihl II, 244.
Über das Alter des Sosus auch Bohde, Rhein. Museum XXXIV, 1879, 8. 565
■= Kleine Schriften I, 369.
122) Vgl. über Dorotheus: Fabricius, Biblioth. graeca ed. Harles I, 511.
VI, 366. X, 719; Nicolai, Griech. Literaturgesch. II, 381; Cohn in Pauly-
Wissowas Beal-Enz. V, 1571 1
123) Vgl. über Ptolemäus: Fabrieius, Bibl. gr. I, 521. VI, 156 sqq.;
Paulys EnzykL VI, 1, 242; Nicolai, Griech, literaturgesch. 11,347; Baege,
De Ptolemaeo Ascalonita 1882 (auch in Dissertationes philol. Halenses V, 2,
1883); Susemihl, Gesch. der griech. Literatur in der Alexandrinerzeit II,
156— 15a
124) Vgl. über die Zeit des Ptolemäus Baege p. 2—6. Bei Stark, Gaza
8. 633, wird er wohl nur aus Versehen in die Mitte des 3. Jahrb. gesetzt«
54 § 22. Allgemeine Kulturverhfiltnfese. [41. 42]
aus Askalon bekannt125. — Unter den Städten der Dekapolis sind
besonders Damaskus, Gadara und Gerasa als Geburtsorte berühmter
Männer hervorzuheben. Aus Damaskus stammte Nicolaus, der
Zeitgenosse des Herodes, berühmt als Geschichtsschreiber und
Philosoph (s. über ihn § 3, B, Nr. 11). Aus Gadara stammte der
Epikureer Philodemus, der Zeitgenosse Cicero 3, von dessen
Schriften durch die in Herkulaneum gefundenen Bollen zahlreiche
Fragmente bekannt geworden sind126; ferner der gleichfalls in der
ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor Chr. lebende Epigrammen-
dichter Meleager, von welchem sich gegen 130 Epigramme in
der griechischen Anthologie erhalten haben; er hat auch zuerst
eine Sammlung von griechischen Epigrammen veranstaltet und
dadurch den Grund zu unserer Anthologie gelegt127. Im dritten
Jahrhundert vor Chr. lebte der Zyniker und Satirendichter Me-
nippus aus Gadara, genannt 6 öJtovdoyiZoios12*. Dem Ende des
ersten Jahrhunderts vor Chr. gehört der Rhetor Theodorus aus
Gadara an, der Lehrer des Kaisers Tiberius 129. Diese vier werden
schon von Strabo zusammengestellt, der dabei freilich unser Gadara
mit Gadara = Gazara in Phiiistäa verwechselt130. | Unter Hadrian
125) Reland, Palaestma p. 594.
126) Über Philodemus: Prell er, Art. „Philodemus" in Ersch und Gru-
bers Enzyklopädie; Zeller, Die Philosophie der Griechen III, 1, 3. Aufl.,
S. 374 f.; Überweg, Gesch. der Philos. I, 4. Aufl., 8. 217; Susemihl, Gesch.
der griech. Literatur in der Alexandrinerzeit II, 267—278. 561. 689; Philodemi
volumina rhetorica ed. Sudhaus, 2 Bde., 1892 — 1896.
127) Über Meleager: Paulys Real-Enz. IV, 1739; Susemihl, Gesch. der
griech. Lit. I, 46 £ II, 555—557; Radinger in: Eranos Vindobonensis (1893),
S. 304—308; Ouvrie, MUagre de Gadara, Paris 1894; Radinger, Meleagros
von Gadara, 1895; Ermatinger, Meleagros von Gadara, ein Dichter der
griechischen Decadence (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge, 304. Heft)
1898.
128) Über Menippus: Paulys Real-Enz. IV, 1805f.; Zeller, Philosophie
der Griechen, 3. Aufl., II, 1, 246. III, 1, 766; Wildenote, De Menippo Cynico,
Halis Saz. 1881; Susemihl I, 44—46. Gegen die Annahme, daß Menippus
im ersten Jahrh. vor Chr. gelebt habe, s. Zeller III, 1, 766; Susemihl I, 44,
Anm. 138. Da Menippus als Sklave aus Gadara nach dem Pontus gekommen
war, ist er allerdings kein Beweis für die Bifite des Hellenismus in Gadara
im dritten Jahrh. vor Chr.
129) Über Theodorus: Piderit, De Apollodoro Pergameno et Theodoro
Oadarensi rhetoribus, Marburg 1842; Paulys Real-Enz. VI, 2,1819; Clinton,
Fasti HeUeniei t. TU. ad ann. 44, 31, 6 vor Chr.; Susemihl H, 507—511.
130) Strabo XVI, 2, 29 p. 759. Über Gadara — Gazara s. oben Bd. I, S. 245 f.
339. Nach dem Zusammenhang bei Strabo ist dieses gemeint. Da es aber
seit der Makkabfierzeit eine jüdische Stadt war, so ist sicher nicht dieses,
sondern das hellenistische Gadara im Ostjordanland der Geburtsort jener
griechischen Schriftsteller.
[42] II, 1. Der Hellenismus in den nicht-jüdischen Gebieten. 55
lebte der Zyniker Oenomans ans Gadara131, im dritten Jahr-
hundert nach Chr. der Rhetor Apsines aus Gadara132. — Aus
Gerasa stammten nach Stephanus Byzantinus (s.v. riQaaa): Ariston
($tJto>q dotslog), Kerykos (oog>tar^g) und Piaton (vo/iucog ^rcop),
alle drei sonst nicht bekannt Im zweiten Jahrhundert nach Chr.
lebte der neupythagoreische Philosoph und Mathematiker Niko-
machus aus Gerasa133.
Daß diese Städte von den griechischen Literaten wirklich als
griechische Städte betrachtet wurden, sieht man auch aus den
hellenistischen Gründungslegenden, deren Niederschlag uns
in dem geographischen Lexikon des Stephanus Byzantinus (ed.
Meineke 1849) erhalten ist Man führte ihre Gründung auf grie-
chische Götter und Heroen zurück, teils aus etymologischer Spielerei,
teils um sie mit dem Nimbus griechischen Ursprungs zu umgeben,
wobei in manchen Fällen der Lokalpatriotismus eingeborener
Schriftsteller eine Bolle gespielt haben mag. Die betreffenden
Artikel bei Stephanus Byzantinus geben folgendes Material. E a p h i a
wurde so genannt axb xriq toxoQlag xfjg jcsqI xbv Aiowcov. —
Gaza wird auch Aza genannt von Azon, dem Sohn des Herakles.
Einige aber sagen, es sei von Zeus gegründet: xal iv avxjj äxo-
XtJtelv ttjv löiav yatpv. Es heißt auch 91<dwj von Jo und Mtvepa
von Minos. — Über Askalon zitiert Stephanus den Lydier Xanthus,
der noch vor Herodot lebte134. Aus dem vierten Buche seiner
Lydiaca (die aber in der von Stephanus benützten Gestalt wahr-
scheinlich eine Fälschung des zweiten Jahrhunderts vor Chr. sind)
erwähnt Stephanus oxi TavxaXoq xal "AöxaXog xaldsq KYfievalov.
Askalos sei von dem Lyderkönig Akiamos als Feldherr nach
Syrien gesandt worden und habe dort eine Stadt seines Namens
131) Über Önomans: Paulys Real-Enz. V, 880; Zeller III, 1, 769 f.;
Saarmann, De Oenomao Oadareno. Lips. 1887. — In der rabbinischen Lite-
ratur kommt mehrfach ein heidnischer Philosoph Abnimos ha-Gardi
(i*ron Di&tsaR) vor, der mit E. Meir verkehrte, also gegen die Mitte des
2. Jahrh. n. Chr. gelebt hat Grfitz hat diesen mit Onomaus identifiziert
(Gesch. der Jaden IV, 2. Aafl, S. 469), und Blumen thal (Rabbi Meir 1888,
S. 115—117. 137—139), Bacher (Die Agada der Tannaiten II, 31 f.) und Blau
(Jewish Eneychpedia IX, 386 s. v. önomaus) haben ihm zugestimmt Die Sache
ist möglich, obwohl Abnimos eher auf E$vo(io$ fuhrt.
132) Über Apsines: Panlys Real-Enz. I, 2, 1357 f.; Nicolai, Griech.
Literaturgesch. II, 445; Pauly-Wissowa, Real-Enz. II, 277 ff. (v. Brzoska).
133) Ober Nikomachus: Fabricius, Biblioth. graee. ed. Hartes V, 629 sqq.;
Paulys Real-Enz. V, 633; Zeller III, 2, 108 f.; Nicolai, Griech. Literaturgesch.
11,414 f.
134) S. über ihn Müller, Fragm. hist. graec. I, p. XX sqq. und 36 — 44;
Westermann in Paulys Real-Enz. s. v.
56 § 22. Allgemeine Kulturrerhaltnisae. [42]
gegründet — Jope ist so genannt von Jope, der Tochter des Aeolus
und Gemahlin des Kepheus, der die Stadt gründete und regierte.
— Dora ist nach Ansicht einiger von Doros, dem Sohn des Poseidon
gegründet So berichtet Klaudios Jullos im dritten Bache seiner
Phoinikika135. — Ebenfalls aus Klaudios Jullos, und zwar aus dem
ersten Buche der Phoinikika, entnimmt Stephanus Byzantinus fol-
gendes über Ake (Ptolemais). Als Herakles wegen Heilung der
von der Hydra ihm verursachten Wunden das delphische Orakel
befragte, erhielt er die Weisung, nach Osten zu gehen, bis er an
einen Fluß komme, welcher ein der Hydra ähnliches Kraut er-
zeuge. Wenn [er von diesem etwas abreiße, werde er geheilt
werden. Herakles fand die vom Orakel beschriebene Pflanze, deren
Köpfe), wenn man sie abschlug, nachwuchsen, wie die der Hydra.
Und er wurde geheilt und nannte die Stadt "Axt] (Heilung). —
Damaskus ist so genannt, weil einer der Giganten namens Askos
in Gemeinschaft mit Lykurgos den Dionysos band und in den Fluß
warf. Hermes löste diesen und zog dem Askos die Hautnah (also
Damaskos = öeQfia "Aöxov) 136. Andere aber sagen, daß Damaskos,
ein Sohn des Hermes und der Nymphe Halimede, aus Arkadien
nach Syrien gekommen sei und eine Stadt seines Namens gegründet
habe. Wieder andere sagen, daß Damaskos ein Mann hieß, der
die von Dionysos gepflanzten Weinstöcke mit dem Beile abhieb
und dafür von Dionysos gestraft wurde. (Die Stelle ist infolge
zweier Textlücken undeutlich.) — Über Sky thopolis gibt Stephanus
Byzantinus keine Gründungslegende. Dafür hören wir von Plinius,
Eist nat. V, 18, 74, daß die Stadt ihren Namen habe von den Skythen,
welche Dionysos zum Schutze des Grabes seiner Amme dort an-
gesiedelt habe. — Bei anderen hellenistischen Städten, die durch
ihren Namen sich deutlich als Gründungen der hellenistischen oder
herodianischen Zeit verrieten, konnten mythologische Gründungs-
legenden nicht aufkommen.
135) Über Klaudios Jullos (auch Julos, Julios, Jolaos) s. Müller, Fragm.
hist. graec. IV, 362—364; Schwartz in Pauly-Wissowas Real-Enz. III, 2728.
136) Die Legende setzt die Form daQfiaaxoq voraus, entsprechend dem
hebr. pWQ^n I Chron, 18, 5; II Ohron. 28, 5. Im Aramäischen ist pDo^n die
gewöhnliche Form (s. Levy, Neuhebr. Wörterb. 1, 426). Ein rYipoonn «p W *i
wird in der Mischna Jadajim IV, 3 und sonst erwähnt. S. über ihn Bacher,
Die Agada der Tannaiten, 2. Aufl. I, 389—394.
[42. 43] II, 2» Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 57
2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete 137.
Aus dem eigentlich jüdischen Gebiete ist der Hellenismus nach
seiner religiösen Seite durch die makkabäische Erhebung sieg-
reich zurückgewiesen worden; erst nach der Niederwerfung des
jüdischen Volkstums im yespasianischen und hadrianischen Kriege
wurde den heidnischen Kulten auch hier durch die Römer gewalt-
sam Eingang verschafft Damit ist aber nicht gesagt, daß das
jüdische Volk in jener früheren Zeit überhaupt vom Hellenismus
unberührt geblieben ist. Der Hellenismus ist ja eine Kulturmacht,
die sich auf alle Lebensgebiete erstreckt. Die Organisation der
Staatsverfassung, Rechtspflege und Verwaltung, öffentliche Einrich-
tungen, Kunst und Wissenschaft, Handel und Industrie, die Ge-
wohnheiten des täglichen Lebens bis herab auf Mode und Putz:
alles hat er eigentümlich gestaltet und damit dem ganzen Leben,
wohin er kam, den Stempel des griechischen Geistes aufgeprägt.
Zwar ist hellenistische Kultur nicht gleichbedeutend mit helle-
nischer. Die Bedeutung der ersteren liegt vielmehr gerade darin,
daß sie durch Aufnahme der brauchbaren Elemente aller fremden
Kulturen in ihren Bereich zu einer Weltkultur geworden ist Aber
eben diese Weltkultur ist dann doch ein eigentümliches Ganze
geworden, in welchem das übermächtige griechische Element den
maßgebenden Grundton bildet In den Strom dieser hellenistischen
Kultur wurde nun auch das jüdische Volk hineingezogen: langsam
zwar und widerstrebend, aber doch unwiderstehlich. Wenn der
religiöse Eifer es auch erreicht hat, daß die heidnische Gottes-
verehrung und was ) damit zusammenhing, aus Israel ferngehalten
wurde, so konnte er doch auf den übrigen Gebieten des Lebens
das Hereinfluten der hellenistischen Kultur nicht dauernd ver-
hindern. Die einzelnen Stadien lassen sich nicht mehr verfolgen.
Wenn man aber erwägt, daß das kleine jüdische Land fast auf
allen Seiten von hellenistischen Gebieten eingeschlossen war, mit
welchen es notgedrungen schon um des Handels willen in stetem
Verkehr leben mußte, und wenn man sich dessen erinnert, daß
schon die makkabäische Erhebung im Grunde sich doch nur gegen
die heidnische Gottesverehrung, nicht gegen den Hellenismus über-
haupt gerichtet hat, und daß dann die späteren Hasmonäer in ihrem
ganzen Wesen wieder hellenistisches Gepräge tragen (sie haben
fremde Soldtruppen, lassen griechische Münzen schlagen, geben
sich griechische Namen und dergl.), und daß einzelne von ihnen
137) Vgl. zum Folgenden übern.: Hamburger, Realenzyklop. für Bibel
und Talmud, II. Abtig., Artikel „Griechentum".
58 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [481
wie Aristobul L den Hellenismus direkt begünstigten, — wenn
man dies alles erwägt, so wird man sicher annehmen dürfen, daß
der Hellenismus trotz der makkabäischen Erhebung doch schon
vor Beginn der römischen Zeit in nicht unerheblichem Maße in
Palästina Eingang gefunden hat188. Durch die Herrschaft der
Römer und Herodianer ist dann sein weiteres Vordringen noch
erheblich gefördert worden; und es ist nun auch das lateinische
Element hinzugekommen, das namentlich seit dem Ende des ersten
Jahrhunderts nach Chr. sich stark bemerklich macht. Aus dieser
späteren Zeit (erste Hälfte des zweiten Jahrhunderts nach Chr.)
haben wir in der Mischna ein sehr reiches Material, das uns den
Einfluß des Hellenismus auf allen Lebensgebieten deutlich zur
Anschauung bringt. Eine Menge griechischer und auch lateinischer
Fremdworte in dem Hebräischen der Mischna zeigt, wie es eben
die hellenistische Kultur ist, die auch in Palästina die Herrschaft
gewonnen hat. Eine Reihe von Beispielen möge dies noch im
einzelnen dartun139. I
138) Zur Zeit Hyrkans II. kamen Athener nicht nur in diplomatischen
Missionen (xazä noeoßelav), sondern auch in Privat- Angelegenheiten (xat'
iSlav itQ6<paoiv) nach Judäa. Da Hyrkan sich ihnen freundlich erwies, be-
schlossen die Athener, ihn durch Aufstellung einer ehernen Bildsäule und
Verleihung eines goldenen Kranzes zu ehren (Jos. Antt. XIV, 8, 5). Der Be-
schluß ist gefaßt inl 'Aya9oxX4ovs &Qxovxoq. Dieser Archon Agathokles
wird von Homolle und den meisten Neueren um 106 vor Chr. gesetzt (Bulle-
tin de eorrespondanee hellmique XVII, 1893, p. 145—158; hiernach Schoeffer
in Pauly-Wissowas Beal-Enz. II, 591; Colin, Bulletin de eorresp. hell. XXII,
1898, p. 160; Ferguson, The Athenian archons of the third and second ceniuries
before Christ, New York 1899, angez. von Kirchner, Gott. gel. Anz. 1900,
S. 433—481). Dann müßte statt Hyrkan II. vielmehr Hyrkan I. gemeint sein.
Er heißt aber im Text des athenischen Volksbeschlusses LYQxavbq*AXe fovdpov
doxiBQevQ xal iQväQZW x&v 'lovöalwv, womit nur Hyrkan U. gemeint sein
kann. An diesem Text hält Theod. Beinach, Le decret AthSnien en Vhonneur
d'Hyrccm (Revue des itudes juives XXXIX, 1899, p. 16 — 27) fest, indem er zu
zeigen sucht, daß die Gründe für die Ansetzung des Agathokles um 106 vor
Chr. nicht zwingend seien. In der Tat sind die Gründe für Annahme eines
Textfehlers bei Josephus zu schwach. Auch wenn ein Archon Agathokles
um 106 anzusetzen wäre, könnte es sehr wohl später einen 'gleichnamigen
gegeben haben. — Zu den Namen in dem Dekret Antt. XIV, 8, 5 s. auch Corp.
Inser. Attie. II, n. 470; Wilhelm, Jahreshefte des Österreich, archäol. Institutes
VIII, 1905, 8. 238 ff. (zu §§. 149 u. 152); zum Text desselben: Wilhelm, Philo-
logus Bd. 60, 1901, 8. 487-490.
139) Die folgende Zusammenstellung beruht zum größten Teil auf eigener
Sammlung. Mehrfache Ergänzungen bot mir das sehr fleißige (nur in den Be-
legstellen nicht vollständige) Verzeichnis der griechischen und lateinischen
Worte der Mischna von Anton Theodor Hartmann, Thesauri Unguae hebraicae
e Mischna augendi particula I (Rostochii 1825), p. 40—47; vgl. pari. HI (1826),
[44] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete, 59
Vor allem sind natürlich auf dem Gebiete der Staatsverfas-
sung nnd des Militärwesens mit den fremden Einrichtungen
auch die fremden Begriffe geläufig geworden. Ein Provinzial-
statthalter heißt ptttn (Tjyeficbv), eine Provinz arrt»n (^y$(iopla\
die Kommunalbehörde einer Stadt in» (aQxv) 14°- Für „Militär*4
Oberhaupt wird das lateinische nwÄ Qegiones) gebraucht; ein
Heer heißt »nnöOK (CTQaria), der Krieg üMßbfti (noleiioq), der
Sold ff^M« (oyciviov), der Helm »iDp (cassida), der Schild O'nn
(&vqb6c)uK — Im Gerichtswesen sind im wesentlichen die
jüdischen Traditionen festgehalten worden. Das Gesetz, das Gott
durch Mose seinem Volke gegeben, erstreckte sich ja nicht nur
auf die heiligen Handlungen, sondern auch auf die bürgerlichen
Rechtsverhältnisse und die Organisation der Rechtspflege. Hier
p. 95. — Sonst vgl. über die Fremdworte in Mischna nnd Talmud: Sachs,
Beiträge znr Sprach- und Altertumsforschung aus jüdischen Quellen, Heft I
u. II, 1852—1864. — Cassel in Ersch und Grubers Enzykl., Abt II, Bd. 27,
S. 28 f. — Adolf Brüll, Fremdsprachliche Redensarten und ausdrücklich als
fremdsprachlich bezeichnete Wörter in den Talmuden und Midraschim, Leipzig
1869. — Perle s, Etymologische Studien zur Kunde der rabbinischen Sprache
und Altertümer, Breslau 1871. — N. Brüll, Fremdsprachliche Wörter in den
Talmuden und Midraschim (Jahrbb. f. jüdische Gesch. und Literatur, 1. Jahrg.
1874, S. 123—220). — Fürst, Glossarium graeeo-hebraeum oder der griechische
Wörterschatz der jüdischen Midraschwerke, 1891. Einige Nachträge hierzu: Revue
des Studes juives t. XXIII, 1891, p. 129—131. — Krauß, Zur griechischen und
lateinischen Lexikographie aus jüdischen Quellen (Byzantinische Zeitschrift
Bd. II, 1893, S. 494— 548). — Dalman, Grammatik des jüdisch- palästin. Ara-
mäisch, 1894, S. 145 ff. — M. Schwab, Mots grecs et latms dorn les livres rabbi-
niques (Semitie Studie* in memory of Alex. Kohut, Berlin 1897, p. 514 — 542). —
M. Schwab, Transcription de mots grecs et latms en Hebreu {Journal asiattque,
Neuvieme Serie t. X, 1897, p. 414—444). — Krauß, Griechische und lateinische
Lehnwörter im Talmud, Midrasch und Targum, 2 Bde., 1897—1899 [reichste
Sammlung; in Bd. II, 623 — 653 gibt Low ein sachlich geordnetes Verzeich-
nis]; vgl. auch die Anzeigen von Perles in: Byzantin. Zeitschr. X, 300—306,
und Oohn in: Monatsschr. f. G. u. W. d. Judent 1900, S. 561—570. — Krauß,
Sur la sMnantique des mots talmudiques empruntis au Qree (Revue des itudes
juives XXXIX, 1899, p. 53-61). — Schlatter, Verkanntes Griechisch (Beiträge
zur Förderung christlicher Theologie IV, 4, 1900, S. 47—84).
140) Traan Edujoth VII, 7; Kanaan Oittin 1, 1. — W« Kidduschm IV, 5.
— Mehr bei Krauß, Lehnwörter II, 628 f.
141) nwri> Kelim XXIX, 6, Ohaloth XVIII, 10. — KWüOK Kiddusehin
IV, 5» — Grab» Sota IX, 14. Para VIII, 9. — KWfcK (nicht K^BOK, s. Levy, Neu-
hebr. Wörtern, s. v.) Sanhedrm II, 4. — «nop Sehabbath VI, 2. Kelim XI, 8. —
O-nn Sehabbath VI, 4. Sota Vm, 1. Aboth IV, 11. — Mehr bei Krauß, Lehn-
Wörter II, 631 f. — Auch bei den Nabatäern sind militärische Titel wie czoa-
rrry6<; und aonfin (— feur^oc oder ainnaoxoq oder imaozos?) häufig (KämOK
Corp. Jnsor. Semit P. II Aram. n. 160. 161. 169. 195. 196. 214. 224. 2&5. 238.
K3-*n ibid. n. 173. 207. 214. 221).
60 § 22. Allgemeine Kulturverhaltnisse. [44. 45]
war also in den wesentlichen Punkten das Alte Testament maß-
gebend. Trotzdem begegnen wir auch hier im einzelnen griechi-
schen Begriffen und Einrichtungen. Der Gerichtshof heißt zwar
gewöhnlich "pi rvo, zuweilen aber auch "pTirco | {cvvidQiov), die
Vorsitzenden "pnmö (xQoeÖQoi) u2, der Ankläger Tftiöp (*an$-
yoQoq\ der Verteidiger trtpnfc (xaQaxlriTog), ein Unterpfand ^Mdh
{vxod'Yixri), ein Testament ipwi (ßiad^xrj), ein Vormund oder
Güterverwalter ownin&K {knlxQoxoq) 143. Ja sogar für ein spezifisch
disches Rechtsinstitut, das zur Zeit Hillels eingeführt wurde,
nämlich die bei Gericht deponierte Erklärung, daß man sich trotz
des Sabbatjahres das Recht vorbehalte, ein gegebenes Darlehen
zu jeder Zeit einzufordern, ist der griechische Ausdruck bwnö
(nQooßoXrj) gebraucht worden144.
Von anderen öffentlichen Einrichtungen kommen zunächst
wieder die Spiele in Betracht Das pharisäische Judentum hat
stets die heidnische Art der Spiele verpönt Zwar erzählt Philo
in seiner Schrift Quod omnis probus über, daß er einmal einem äycbv
jtayxQanaatÄp beigewohnt habe und ein andermal der Aufführung
einer Tragödie des Euripides145. Aber was der gebildete Alexan-
driner sich erlaubte, ist nicht maßgebend für den gesetzesstrengen
Palästinenser. Schon in der Makkabäerzeit wird die Erbauung
eines Gymnasiums in Jerusalem und der Besuch desselben von
Seiten der Juden als ein Hauptgreuel des herrschenden Hellenismus
erwähnt (I Makk, 1, 14—15; II Makk. 4, 9—17). Auch später ist
dies stets der Standpunkt des gesetzlichen Judentums geblieben146.
142) "pTimD kann =- %6lqb6qol oder = nQÖeögoi sein. Letzteres ist als
das richtige zu betrachten, da auf dem zweisprachigen Zolltarif von Palmyra
tfrvrvmbia parallel mit inl ngoiSQOv steht. S. dazu Beckendorf, Zeitechr.
der DMG. 1888, S. 392.
143) Ti^itWD Sota IX, 11; Kidduschin IV, 5; Sanhedrin I, 5—6; IV, 3; Sehe-
buoth II, 2; Middoth V, 4. Bes. häufig in den späteren Targumen, 8. Buxtorf,
Lex. Chald. ; Levy, Chald. Wörterb. *. v. ; Krauß II, 401 f. — 1 vvirv* Joma 1, 1.
— "."tWDp und üibplfc Aboth IV, 11; xavJjywQ in dieser hebr. Form auch
Apoc. Joh. 12, 10. — 'ipimfcH Gittin IV, 4. — ipirvn Moed kaian ITT, 3; Baba
mewia I, 7; Baba bathra VIII, 6; Krauß II, 197. — OWnoiW* Schebiith X, 6;
Bikkurim I, 5; Pesachim VIII, 1; Gittin V, 4; Baba kamma IV, 4. 7; Baba
bathra III, 3; Schebuoth VII, 8. »Dino^D« (Verwalterin) Kethuboth IX, 4. 6.
— Mehr bei Krauß, Lehnwörter II, 630 f.
144) Vam* Pea in, 0; Schebiith X, 3—7; Moed kaian Hl, 3; Kethuboth
IX, 9; Gittin IV, 3; Ukxm III, 10.
145) Opp. ed. Mangey II, 449 u. 467.
146) Aboda sara I, 7: „Man darf den Heiden keine Bären, Löwen oder
sonst etwas, wodurch anderen Schaden entstehen kann, verkaufen. Man darf
ihnen nicht eine Basilika, einen Richtplatz (Gradum), ein Stadium oder
Bema bauen helfen". — Vgl. überh.: Win er, Real wörterb. *. v. „Spiele" und
[46] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 61
Sogar Josephus bezeichnet Theater and Amphitheater als „der
jüdischen Sitte fremdartig"147. Aber trotz dieser theoretischen
Ablehnung konnte das Judentum es doch nicht hindern, daß seit
der herodianischen Zeit auch mitten im heiligen Lande das Ge-
pränge heidnischer Spiele entfaltet wurde; und man kann dabei
doch nicht annehmen, daß die Masse des jüdischen Volkes sich
den Besuch derselben versagt hat In Jerusalem erbaute Herodes
ein Theater und Amphitheater und führte daselbst wie in Cäsarea
vierjährige Spiele zu Ehren des Kaisers ein 148. Die Spiele lassen
auch die Existenz eines Stadiums und eines Hippodromes erwarten;
das [letztere wird einmal ausdrücklich erwähnt149. In Jericho,
wo Herodes öfters residiert zu haben scheint, war ein Theater,
Amphitheater und Hippodrom150. In Tiberias wird gelegentlich
ein Stadium erwähnt151. Selbst eine unbedeutende Stadt wie
Tarichea hatte ein Hippodrom152.
Weitere Einrichtungen, bei welchen sich der Einfluß des
Hellenismus zeigt, sind die öffentlichen Bäder und die öffentlichen
Herbergen. Das Bad heißt zwar mit einem gut hebräischen
Ausdruck prnt?. Aber der Name für den Bademeister 'jia (ßala-
vsvq) deutet auf griechische Einrichtung desselben153. Bei den
die dort zitierte Literatur; Low, Die Lebensalter in der jüdischen Literatur
(1875) 8.291— 300; Ders., Gesammelte Schriften IV, 1898, 8. 108 ff.; Weber,
System der altsynagogalen palästin. Theologie (1880) 8. 68: „Über Theater
und Zirkus der Heiden ist das Urteil fiberall sehr streng"; Hamburger,
Real-Enzyklopädie für Bibel und Talmud, H. Abt, Art. „Theater" ; Bacher, Die
Agada der Tannaiten, 2 Bde. 1884—1890; Derselbe, Die Agada der palästi-
nensischen Amoräer, 3 Bde. 1892 — 1899 (s. in beiden Werken das Sachregister
unter „Theater"); Krauß, Art. Gireus in: The Jetcish Encyclopedia IV, 103 f.
147) Anit. XV, 8, 1: &4cctqov . . . &fi<pi&iaxQOV, neglonxa fithv auqxo x$
noXvxeXsiq, xov öh xaxa xoi>q 'lovöalovq t&ovq aXXdxoia' ZQVOk *e y&Q
abxuyv xal Bea/idx(ov xoiovxwv inlöeiHiq ob naoadiöoxai. Die Juden sahen in
den Spielen eine <pav€oa xaxdXvaig xüw xifMOfiivwv nag' abzolq §&wvs
148) Antt. XV, 8, 1. Ein in den natürlichen Felsen gehauenes Theater
in der Nähe Jerusalems ist in neuerer Zeit von Schick nachgewiesen worden,
der es freilich fälschlich „Amphitheater" nennt {Palestine Exploration Fund,
Quarierly Statements 1887 p. 161—166, vgl. oben § 15, I, 388). Die Spiele in
Jerusalem umfaßten wie die in Cäsarea alle vier Arten: gymnastische und
musische Spiele, Wagenrennen und Tierhetzen. S. die nähere Beschreibung
bei Josephus a. a. O.
149) Antt. XVH, 10, 2; Bell. Jud. H, 3, 1.
150) Theater: Anit. XVII, 6, 3. Amphitheater: Antt. XVII, 8, 2; B. J. I,
33, 8. Hippodrom (Zirkus): XVII, 6, 5; B. J. I, 33, 6.
151) Bell. Jud. II, 21, 6; HI, 10, 10; Vita 17:64.
152) Bell. Jud. H, 21, 3; Vita 27. 28.
153) iba Kelim XVH, 1 ; Sabim IV, 2. Mehr hierher Gehöriges bei Kr au ß ,
Lehnwörter n, 634. — Vgl. über die Bäder als eine heidnische, aber den
62 i§ 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [46. 47]
öffentlichen Herbergen verrät schon ihr griechischer Name *pTT\to
(ptavdoxslov oder xavöoxelo»), daß sie ein Erzeugnis der helle-
nistischen Zeit sind154.
Als stark hellenisierend werden wir uns überhaupt den Bau-
stil, namentlich bei den öffentlichen Gebäuden vorzustellen haben iM.
Bei den hellenistischen Städten in der Umgebung Palästinas ist
dies ja ohnehin selbstverständlich. Sie hatten alle ihre vaovq,
d-iaxQa, yvnvaöia, igiÖQaq, otoaq, dyoQag, vöaxm» eloarfcoyaq, ßa-
Xavsla, xQtjvag, jtBQloxvXa in griechischer Weise156. Aber auch
Jaden erlaubte Einrichtung bes. auch Aboda sara I, 7; III, 4. — Ober ihre
Verbreitung und Einrichtung: Marquardt, Das Privatleben der Römer Bd. I
(1879) S. 262 ff.; Hermann und Blümner, Lehrb. der griechischen Privat-
altertümer (1882) 8. 210 ff.; Pauly-Wissowa, Real-Enz. Art Aquae (II,
294—307) und Art. „Bäder" von Mau (II, 2743—2758). — In Ägypten^ kommt
eine Abgabe inko ßaXavtwv vor (Wilcken, Griechische Ostraka aus Ägypten
und Nubien I, 165—170).
154) "ipw* Jebamoth XVI, 7; Gütin VIII, 9; Kidduschin IV, 12; Bdujoth
IV, 7; Aboda sara II, 1. mpTOD (die Wirtin) Demai III, 5; Jebamoth XVI, 7.
— Beisende Fremde heißen &ODDDK oder •ptODSK &voi) Demai III, 1; Ghultin
VIII, 2. — ipWD nicht selten auch in den Targumen, s. Buxtorf% Lex,
Ghald., und Levy, Chald. Wörtern. «. v. Sonstiges rabbinisches Material bei
Krauß, Lehnwörter II, 428. — Ein örjfidoiov oder xoivdv navöoxZov auf zwei
Inschriften im Hauran: Le Bas et Waddington, Inscr. T. III n. 2462. 2463
-=- Quarterly Statement of the Pal. Expl. Fund 1895 p. 148. 147. Bekanntlich
kommt das Wort auch im Neuen Testamente vor (Luc, 10, 34). 8. überhaupt
Wetstein, Nov. Test., zu Luc. 10, 34; Hermann und Blümner, Lehrb. der
griechischen Privataltertümer S. 497 ff., und die Lexika.
155) Vgl. Winer, BWB. Artikel „Baukunst"; Büetschi in Herzogs
Real-Enz., 2. Aufl., II, 132 ff.; Benzinger, ebendas., 3. Aufl., U, 452 ff.; De
Saulcy, Histoire de Vart juda'ique, Paris 1858; Gonder, Notes on archi-
teeture in Palestme (Quarterly Statement 1878 p. 29—40); Ders., Syrian
Stone-Lore or the monumental History of Palestine, London 1886 (hierüber
Zeitschr. des DPV. XI, 109); Butler, Architecture and other Arts (Part U
of the Publications of an American archaeological expedition to Syria in
1899—1900) 1904, p. 310—422 (wichtig für die Baugeschichte der Hauran-
gegend in der herodianisch-römischen Zeit). Das große Werk von Perrot
et Ghipiex, Histoire de Vart dans l'antiquüS behandelt in t. IV, Paris 1887,
nur die althebräische Kunst vor dem Aufkommen des Hellenismus. — Die
erhaltenen Beste gehören fast alle den nicht-jüdischen Städten Palästinas an.
— Über den Bau der Wohnhäuser vgl. bes. die sorgfaltige Arbeit von
A. Rosenzweig, Das Wohnhaus in der Misnah, 1907. Für die biblische
Zeit die Artikel „Häuser" in den bibl. Wörterbüchern; Nowack, Lehrb. der
hebr. Archäologie § 23 u. 24; Benzinger, Art. „Hausa in Herzog-Haucks
Real-Enz., 3. Aufl., VII, 481—487.
156) S. bes. die Übersicht über die Bauten des Herodes Bell. Jud. I, 21, 11.
— Über Gaza vgl. Stark, Gaza 8. 598 ff. — Über Berytus die Bauten der
beiden Agrippa AntU XIX, 7, 5; XX, 9, 4. — Eine reiche Blumenlese griechi-
[47. 48] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 63
fttr das eigentliche Palästina darf, namentlich seit der Zeit des
Herodes, die Herrschaft des griechischen Stiles als sicher voraus-
gesetzt werden. Wenn Herodes sich in Jerusalem einen pracht-
vollen Palast erbaute, so ist dabei ohne Zweifel der griechisch-
römische Stil zur Anwendung gekommen 15T. Und das gleiche gilt
auch von den anderen Palästen und Denkmälern Jerusalems in
jener Zeit Jedenfalls kennt man auch in Palästina nicht nur
(wie nach dem über die Spiele Bemerkten vorauszusetzen ist)
Stadien168, sondern auch Basiliken 159, Säulenhallen160, Vor | hallen161,
scher Namen fttr Gebäude und deren Teile geben die Inschriften im Haiiran,
s. Chabot, Index alphabStique et analytique des inscriptions greoques et latines
de la Syrie publikes par Waddington (zuerst in der Revue archiologique 1896,
I— H, dann separat 1897), w VTQ: Archüecture (Separat- Ausgabe S. 15). —
In der Deseriptio totius orbis (über deren Ausgaben s. oben Anm. 90) werden
die tetrapyla von Caesarea und Bostra gerühmt, die allerdings erst einer
späteren Zeit angehören (Caesarea § 26, Bostra § 38). Das "pbc-iöö von Cae-
sarea auch in der rabbinischen Literatur (Tosephta Ohaloih XVIII, 13 ed. Zucker-
wandet p. 617, 9, dazu Erauß, Magazin f. d. Wissensch. d. Judent. XIX,
1892, S. 240. Griechische und lat. Lehnwörter im Talmud II, 262; Jevcish
Quarterly Review XIV, 1902, S. 745; Archiv f. lat Lexikographie XIV, 2,
1905, S. 281 f.). — Über die öffentlichen Gebäude, welche in griechischen
Städten überhaupt üblich waren, s. Hermann und Blümner, Lehrb. der
griechischen Privataltertümer (1882) 8. 132 ff.; Liebenam, Städteverwaltung
im römischen Kaiserreiche (1900) S. 134—164.
157) S. die Beschreibung B. J. V, 4, 4.
158) "pias* (araöiov) Baba kamma IV, 4; Aboda sara I, 7; Krauß, Lehn-
wörter II, 119.
159) ip^oa (ßaoüuxt) Aboda sara I, 7; Jbhoroth VI, 8; Krauß II, 161.
160) K3&r<K (atoa) Schekalim VIII, 4; Sukka IV, 4; Ohaloth XVIII, 9;
Tohoroth VI, 10; Krauß II, 117.
161) rWTODK (#£fya) Maaseroth III, 6; Erubin VIII, 4; Sota Vm, 3;
Tamid I, 3; Middoth I, 5; Ohaloth VI, 2; Krauß, Lehnwörter II, 44 f. — Die
i£6&$a ist eine offene Vorhalle vor der Haustüre; s. bes. Ohaloth VI, 2. Sie
wird daher auch definiert als ein Baum, welcher von drei Wänden und einer
Decke darüber eingeschlossen ist, s. Maimonides und Bartenora zu Mischna
Maaseroth III, 6 (Surenhusius, Mischna I, 255). Auf Grabschriften zu Palmyra
bezeichnet K^nos« die Halle oder Kammer einer Grabböhle (Zeitschr. für
Assyriologie IX, 1894, S. 264 ff 329 ff — Cooke, Text-book of North-semitic wt-
8criptions 1908 n. 144; eine andere, gleichfalls palmyrenische Grabschrift bei
H. Müller, Denkschriften der Wiener Akademie, phil.-hist. Cl., Bd. 46 n. 46 =
Cook» n. 143. Vier neue auf Grund einer russischen Publikation gibt Lidz-
barski, Ephemeris für semitische Epigraphik II, 2, 1906, S. 269—276; es kommen
hier vor: „die nördliche Halle", „die südliche Halle", „die westliche Halle".
Es sind die Hallen oder Kammern, die vom Mittelraum der Grabhöhle nach
drei Seiten hin sich abzweigen, also in ihrer Front, nach dem Mittelraume hin,
offen sind.)
64 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [48]
Tribünen162, Speisesäle163 und anderes nach griechisch-römischer
Art Sogar beim Tempel zu Jerusalem ist griechischer Baustil
reichlich zur Anwendung gekommen* Zwar beim eigentlichen
Tempelhaus (dem vaoq) durfte Herodes es nicht wagen, die alt-
hergebrachten Formen zu verlassen. Aber schon für den Bau des
inneren Vorhofes sind griechische Muster maßgebend gewesen. Die
Tore desselben hatten nach innen zu Vorhallen (tgeÖQai); und
zwischen denselben liefen an den Innenseiten der Mauer Säulen-
hallen (öroal) entlang 164. Das Tor auf der Ostseite des Vorhofes
hatte Torflügel aus korinthischem Erz, die noch kostbarer waren
als die mit Silber und Gold bekleideten 165. Ganz im griechischen
162) rwo {ßnfia) Sota VII, 8; Aboda sara I, 7; Krauß II, 150.
163) T4p*iü (tqUXivoq) Erubin VT, 6; Baba baihra VI, 4; Äboth IV, 16;
Middoth I, 6; Erauß II, 274.
164) Die i&dpcu des Tempelvorhofes werden unter diesem Namen auch,
in der Mischna erwähnt (Tamid I, 3; Middoth I, 5). Vgl. über dieselben Bell.
Jud. Vf 5, 3; auch V, 1, 5 fin.; VI, 2, 7; 4, 1; Ana. XX, 8, 11. — Ober die
oxoai des inneren Vorhofes s. Bell. Jud. V, 5, 2 fin.; VT, 5, 2 (wo sie von
denen des äußeren bestimmt unterschieden werden).
165) Bell. Jud. V, 5, 3, inü.; vgl. über dieses Tor auch B. J. II, 17, 3; VI,
5, 3. Es ist höchstwahrscheinlich identisch mit der in der Apostelgeschichte
erwähnten 9voa tooaia (Act. 3, 2), und sicher identisch mit dem in der Mischna
erwähnten „Tor des Nikanor" (Middoth I, 4; II, 3. 6; Schekalim VI, 3; Joma
HI, 10; Sota I, 5; Negaim XIV!, 8). Denn wie von Josephus B. J. II, 17, 3
(§ 411) und VI, 5, 3 (§ 293) die %ahtfi 7tvXtj als die östliche bezeichnet [wird,
so wird in der Mischna das Nikanor-Tor als das Östliche genannt (Middoth
I, 4; II, 6 = Schekalim VI, 3), und es wird von ihm gleichfalls gesagt, daß
sein Erz glänzte (Middoth II, 3 a^nx« ItJ»^), während alle anderen Tore des
Vorhofes mit Gold bekleidet waren (ebenso Jos. Bell. Jud. V, 5, 3 § 201). Wie
bei Josephus, so wird auch in der Tosephta (Joma II, ed. Zuckermandel
8. 183, 21) und im Talmud (bab. Joma 38 a) das Erz des Nikanortores als
„korinthisches14, KTObp, bezeichnet Die Gold- und Silberbekleidung der
anderen Tore hatte „Alezander der Vater des Tiberius", also der Alabarch
Alezander von Alexandria, gestiftet (Jos. B. J. V, 5, 3 § 205). — Eine merk-
würdige Ergänzung zu diesen Angaben liefert ein in neuerer Zeit in Jerusalem
gefundenes Ossuarium, dessen Aufschrift lautet: X)<nä ribv xov Neixdvoooq
UkeSavdoiwq noi^aavxoq tag frvoaq, tt&sbtt *0p5 (Clermont- Qanneau, Re-
cueil d'archiologie Orientale t. V, 1903, p. 334 — 340 und pl. VII, englisch in:
Quarterly Statement 1903, p. 125—131; eine Beschreibung der ganzen Grab-
anlage, aus welcher das Ossuarium stammt, gibt Miss Gladys LHckson, Quar-
terly Statement 1903, p. 326—332). Der Genitiv x(bv xo$ Neixdvoooq ist wohl
mit Dittenberger, Orientis graed inscr. sei. n. 599 zu erklären: [ossa quaesunt
ex ossibus Nicanoris, denn in dem einen Ossuarium können nicht wohl „die
Angehörigen des Nikanor" beigesetzt gewesen sein. Der Plural rag S-vgaq
bezeichnet wohl die zwei Flügel eines Tores; man könnte ihn auch daraus
erklären, daß das Nikanor-Tor zwei Nebenpforten hatte (Middoth II, 6 «=
Schekalim VI, 3). Wie also die Gold- und Silberbekleidung der übrigen
[48. 49] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 65
Stile waren die Säulenhallen (öroat),' welche den äußeren Vorhof
auf allen vier Seiten umgaben. Die Mehrzahl derselben war doppelt
(öutXai) 166; am großartigsten aber war die auf der Südseite be-
findliche. Sie hatte die Form einer Basilika (ßaolXeiog arod); vier
Reihen mächtiger korinthischer Säulen, im ganzen 162 an der Zahl,
bildeten eine dreischiffige Halle, deren mittleres Schiff um die Hälfte
breiter und noch einmal so hoch war als jedes der beiden Seiten-
schiffe167. — Dies alles beweist freilich nicht, daß auch für die
gewöhnlichen Privathäuser der griechische Stil herrschend war;
und es darf dies wohl auch nur in beschränktem Maße angenommen '
werden. Gelegentlich sehen wir, daß auch phönizische und ägyp-
tische Bauart in Palästina bekannt war168.
Die bildende Kunst konnte in Palästina wegen der jüdischen
Verwerfung aller Menschen- und Tierbilder natürlich keinen Ein-
gang finden; denn die Herodianer haben sich doch nur in ver-
einzelten Fällen erlaubt, der jüdischen Anschauung Trotz zu bieten,
wie wenn z. B. Herodes d. Gr. am Tempel einen goldenen Adler
anbringen ließ, oder Herodes Antipas Tierbilder an seinem Palaste
inTiberias169. Tierbilder finden sich auch auf den merkwürdigen
Tore von dem alexandrinischen Alabarchen Alexander geschenkt war, so war
das kunstvolle eherne Tor von einem Alexandriner namens Nikanor gestiftet.
— Nach Middoth II, 3; Joma III, 10 sind mit den Türen des Nikanor Wunder
geschehen. Im Talmud (jer. Joma III, fol. 41a; bab. Joma 38 »; ähnlich Tosephta
Joma II ed. Zuckermandel p. 183, 21 ff.) wird dies näher ausgeführt: Als Nikanor
die Türen aus Alexandria holte, warfen die Schiffer beim Ausbruch eines
Sturmes eine der Türen ins Meer. Da umklammerte Nikanor die andere und
erklärte, wenn diese auch hineingeworfen würde, so wolle er mit ihr unter-
gehen. Da beruhigte sich der Sturm. Die andere Türe aber kam wunderbar
ans Ufer. — Vgl. überhaupt meinen Aufsatz über die &vqcc tooala Act. 3, 2
in der Zeitschr. für die Neutestamenti. Wissensch. 1906, S. 51—68.
166) Bell. Jud. V, 5, 2 init. Vgl. auch B. J. VT, 3, 1 und sonst; Philo, De
monarchia Lib. II § 2. — Die azoal werden unter dieser griechischen Be-
zeichnung auch in der Mischna erwähnt (Schekalim VIII, 4; Sukka IV, 4).
167) Anit. XV, 11, 5.
168) Tyrische Höfe an den Häusern werden Maaseroth III, 5 erwähnt;
tyrische und ägyptische Fenster Baba bathra HI, 6. — Die tyrischen Häuser
waren besonders groß und schon, s. Exech. 26, 12; Strabo XVI p. 757 init; Jos.
Bell. Jud. H, 18, 9.
169) Der Adler am Tempel: Anit. XVII, 6, 2; B. J. I, 33, 2. —Die Tier-
bilder am Palast in Tiberias: Jos. Vita 12. — In der Diaspora kommen
freilich Tierbilder als ornamentaler Schmuck zuweilen vor. So auf dem
Mosaik im Fußboden der Synagoge zu Hammam-Lif in Nord-Afrika (Ab-
bildungen in: Revue arcMol. trois. Sirie t IH, 1884 pl. VII — XI und Revue
des Hudes juives t XIII, 1886, p. 48 — 49) und in der jüdischen Katakombe der
Vigna Bandanini bei Rom [Garrucci, Storia della Arte cristiana tot VI, 1880,
iav. 489), auch auf jüdischen Glasgefößen in Rom {Garrucci tav. 490). Über
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 5
66 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [49]
Ruinen von Aräk el-Emir, nordwestlich von Hesbon, die offenbar
identisch sind mit dem von Josephus erwähnten Schlosse Tyrus
in der Nähe von Hesbon, dessen Erbauung er einem gewissen
Hyrkanus zur Zeit Seleukus' IV. zuschreibt (Antt. XII, 4, 11). Es
ist jedoch fraglich, ob das Schloß wirklich von Hyrkanus erbaut
ist; und außerdem war das Judentum desselben ein sehr laxes170.
— Griechische Musik ist ohne Zweifel bei den Festspielen in
Jerusalem und anderwärts vertreten gewesen171. Die musikalischen
Instrumente der Griechen, xlfraQig, ^aXxrjQiov und övn<pa>via, kennt
Judaica vela mit monströsen Tierbildern bei Claudian um 400 n. Chr. s. unten
Anm. 230. Vgl. überh. Kaufmann, Eevue des Hudes juives XIU, 50 — 52;
Ders., Art in the Synagogue, Jewish Quarterly Review vol. IX, 1897, p. 254 —
269. — Solomon, Art and Judaisni (Jewish Quarterly Review XIII, 1901,
p. 553 — 566); Steinschneider, Jewish Quart. Review XV, 1903, p. 326 sq.
[Urteile jüdischer Autoritäten]; Kohl er, Art. „Art, attitude of Judaism to-
ward1 in: The Jewish Encyclopedia II, 1902, p. 141—143. — In jüdischen
Handschriften des Mittelalters sind vielfach Illustrationen mit
Menschen-undTierbildern angewendet. Eine Geschichte dieser jüdischen
Handschriften-Illustrationen gibt D. Kaufmann in einem Exkurs des Werkes
von Dav. Heinr. Müller und Julius von Schlosse r, Die Haggadah von
Sarajevo, eine spanisch-jüdische Bilderhandschrift des Mittelalters, 1898. Das
Material ist seitdem durch neuere Mitteilungen noch erheblich vermehrt worden,
und zwar 1) über Illustrationen der sog. Passa-Haggada: D. Kaufmann,
Revue des Hudes juives t. XXXVIII, 1899, p. 74—102; M. Schwab, Le Manu-
scrü hebreu No. 1388 de la Bibliotheque nationale (Notices et extraüs des manu-'
scrits de la Bibliotheque nationale t. XXXVIII) 1902; Ders., Revue des Hudes
juives XLV, 1902, p. 112—132 (vgl. Theol. Litztg. 1903, 405f.); Schwarz,
Monatsschr. f. Gesch. u. Wissensch. d. Judent. 1902, S. 560—567. 2) Über
iUustrierte Bibelhandschriften: Gaster, Proeeedings of the Society of
Biblical Arehaeology vol. XXII, 1900, p. 226 — 239 (mit farbigen Ornamenten,
nicht Bildern); Schwab , Revue des Hudes juives t XLII, 1901, p. 111 — 118.
3) Über eine Handschr. des Mach bot (Gebetbuches): M. Schwab, RdEJ.
XLVIH, 1904, p. 230—240. 4) Über eine gemischte Handschrift (Penta-
teuch, Machsor u. a.): Margoliouth, Jewish Quart. Review XVII, 1905,
p. 193—197.
170) S. überh.: De Vogüi, Le temple de Jerusalem (1864) p. 37—42,
pl. XXXIV. XXXV; Tuch, Berichte der sächs. Gesellsch. der Wissensch.,
philol.-hist Klasse 1865, S. 18—36; De Saulcy, Voyage en Terre Sainie (1865)
I, 211 sqq.; Ders. in den Memoires de V Acadimie des Inscr. et Beiles- Lettres
T. XXVI, 1 (1867) p< 83—117 nebst VIII />/.; Duc de Luynes, \oyage £ex-
ploration ä la mer morte etc. pl. 30 — 33; Bädeker, Palästina 3. Aufl. (1891)
S. 189—191; The Survey of Eastern Palestine vol. I, by Conder, 1889, p. 65—87
(mit Plänen und Abbildungen); Gautier, Au dela du Jourdain, Oeneve 1896,
p. 114—126.
171) Herodes setzte Preise aus zolq iv ty fxovaixy öiayivoftivoiq xal &v-
fxeXixolg xuXovpivoiq .... xal dteonovöaaxo ndvvaq tovg iniomioxaxov^ iX&€iv
inl r?)v SfiiMav (Antt. XV, 8, 1).
[49. 50] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiet. 67
bekanntlich schon das Buch Daniel und ebenso auch die Mischna 172.
— Von ünterhaltungs- und Glücksspielen ist | das Würfelspiel
ffWp (xvßeia) durch die Griechen nach Palästina gekommen, wie
sein Name zeigt Es wird übrigens vom strengeren Judentum
verworfen173. — Im Schriftwesen zeigt sich der Einfluß der
griechischen und römischen Zeit in den Benennungen für Feder
OTDbp (xakafioq) und Schreiber nblb (librarius). Die abgekürzte
Schreibung eines Wortes nur mit dem Anfangsbuchstaben heißt
'pp'ntD'O (notaricum)iU.
Am intensivsten macht sich der Einfluß des Hellenismus be-
merkbar auf dem Gebiete des Handels und der Industrie und,
was damit zusammenhängt, der Bedürfnisse des täglichen
Lebens. Schon durch den alten Handel der Phönizier sind ja die
Küstenländer des mittelländischen Meeres in lebhaften Austausch
miteinander getreten175. Während aber in älterer Zeit die Phö-
172) Daniel 3, 5. 10. 15. Über die einzelnen Instrumente s. bes. die Ar-
tikel in Gesenius' Thesaurus. Auch H. Derenbourg, Les mots greos dam
le livre biblique de Daniel {Milanges Oraux, Paris 1884, p. 235 — 244); Vigou-
roux, Die Bibel und die neueren Entdeckungen, deutsche Übers. Bd. IV,
1886, 8. 403—419 (apologetisch). — tKTWBüO auch Kelim XI, 6; XVI, 8. — Über
die Musik bei den Juden überhaupt: Winer RWB. II, 120—125; Leyrer in
Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. X, 387—398; Benzinger, ebendas. 3. Aufl. XIII,
585—603; Low, Die Lebensalter in der jüdischen Literatur 8. 300 ff.
173) fcOSIp Schabbath XXIII, 2; Bosch haschana I, 8; Sanhedrin III, 3;
Schebuoth VII, 4. — 8. überh.: Low, Die Lebensalter S. 323 ff.; Pauly-
Wissowas Real-Enz. Art. alea; Hermann und Blümner, Griech. Privat-
altertümer 8. 511 ff.; Marquardt, Das Privatleben der Romer II, 824 ff; Mio-
doriski, Anonymus adver sus aleatores (1889) 8. 40 ff.
174) öisbp Schabbath I, 3; VIII, 5. Krauß, Griech. und latein. Lehn-
wörter II, 506. — itab Pea II, 6; Schabbath I, 3; Qittin III, 1; Krauß II,
303. Die Form XußXaoioq für librarius auch auf ägypt. Papyrus, s. Wilamo-
witz, Gott gel. Anz. 1898, S. 688, aus Oxyrh Pap. T. — 'pp'na'ti Schabbath
Xu, 5; Krauß II, 356; Ders., Byzantin. Zeitschr. II, 512—516; Bacher, Die
exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur 1905 (Tl. I zuerst
1899 unter etwas anderem Titel) I, 125—128; II, 124. — The Jewish Encyclo-
pedia I, 1901, p. 39—42 (Art. Äbbreviations); IX, 1905, p. 339 sq. (Art. No-
tarikon). — Über griech. Ausdrücke im Schreibwesen überhaupt s. die Zu-
sammenstellung von J. Low bei Krauß, Griech. u. latein. Lehnwörter im
Talmud etc. II, 1899, 8. 643.
175) Über den Handel der Phönizier s. bes. das klassische Werk von
Movers (Die Phönicier), dessen letzter Teil (II, 3, 1856) ganz diesem Gegen-
stande gewidmet ist Aus älterer Zeit: Bockart, Chanaan s. de coloniis et
sermone Phoenicumt Oaen 1646; aus neuerer: Schmülling, Der phönizische
Handel in den griechischen Gewässern, 2 Tle., Münster i. W., Progr. des Real-
gymnasiums 1884—85; Gutschmid, Kleine Schriften 11,47— 61; Ed. Meyer,
Gesch. des Altertums H, 1893, S. 141—154; Beloch, Die Phöniker am
5*
6g § 22. Allgemeine Kaitarverhältnisse. [50. 51]
nizier vorwiegend die Gebenden waren, sind jetzt die Orientalen
mehr die Empfangenden. Wenigstens ist das griechisch-römische
Element jetzt der vermittelnde und zugleich maßgebende Faktor
in dem allgemeinen Weltverkehre. Dies zeigt sich deutlich auch
bei dem jüdisch-palästinensischen Handel und Verkehre 176.|
Dieser hat nicht nur die Juden in alle Welt hinausgeführt, sondern
auch griechische Kauf leute nach Palästina gebracht. Wie alt der
Import griechischer Waren nach Palästina ist, haben neuerdings
die englischen Ausgrabungen im Süden Palästinas, zunächst in
Teil el-Hasi, dem alten Lachisch (zwischen Gaza und Eleuthero-
polis) gezeigt. Unter den dort gefundenen Tongefäßen befinden
sich (nach den sehr wahrscheinlichen Ansätzen von Flinders Petrie)
auch solche griechischen Ursprungs aus verschiedenen Perio-
den, vom siebenten Jahrhundert vor Chr. bis zur Zeit Alexanders
des Gr.177. Ähnliche Resultate haben Nachgrabungen auch an
ägäischen Meer (Rhein. Museum 1894, S. 111—132); Speck, Handelsgeschichte
des Altertums, 1. Bd.: Die orientalischen Völker, 1900, S. 414—514 : Die Phö-
nizier (ohne Quellen-Belege). — Über den hierdurch vermittelten Einfluß der
orientalischen Kultur auf die abendländische s. die Literatur bei Hermann
und Blümner, Griechische Privataltertümer (1882) S. 41 f., und bei Mar-
quardt, Das Privatleben der Römer Bd. H (1882) S. 378 f.
176) Über den jüdischen Handel s. bes. Herz fei d, Handelsgeschichte
der Juden des Altertums (1879). Ferner: Win er RWB. I, 458 ff.; Leyrer in
Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. V, 578 ff. XIII, 513 ff. (Art. „Schiffahrt"); De
Wette, Lehrb. der hebr.-jüd. Archäologie (4. Aufl. von Rabiger) S. 390 ff.;
Keil, Handb. der bibl. Archäol. (2. Aufl. 1875) S. 599 ff. ; Hamburger, Real-
Enzyklopädie für Bibel und Talmud, II. Abt., Art. „Welthandel"; Speck,
Handelsgesch. des Altertums I, 1900, S. 571—587; G. A. Smith, Art. „Trade
and Commerce" in der Encyclopaedia Biblica IV, 1903, col. 5145 — 5199; Gut he,
Art. „Schiffahrt" in Herzog-Hauck, Real-Enz. 3. Aufl. XVII, 563 ff. — Für die
Kenntnis des Orienthandels überhaupt im ersten Jahrh. nach Chr. ist
eine der wichtigsten und interessantesten Quellen der IIeot7i?.ovg ttjs £qv-
&Qä$ SaXdacrjg (wahrscheinlich von einem Zeitgenossen des Plinius um
70 nach Chr. verfaßt). Vgl. darüber bes. Schwanbeck, Rhein. Museum,
Neue Folge, Bd. VII, 1850, S. 321—369.481—511; Dillmann, Monatsberichte
der Berliner Akademie 1879, S. 413 — 429; Jurten de la Graviere, Le com-
merce de F Orient sous les rhgnes d' Aw/uste et de Claude (Revue des deux mondes
1883, 15. Nov. p. 312 — 355). Text bei Müller, Oeographi Qraeci minores 1. 1,
1855, p. 257—305 (dazu Proleg. p. XCV' sqq.). Separatausgabe: Fabricius,
Der Periplus des erythräischen Meeres von einem Unbekannten, griechisch und
deutsch mit kritischen und erklärenden Anmerkungen nebst vollständigem
Wörterverzeichnisse, Leipzig 18S3 (daselbst S. 1 —27 auch die übrige Literatur).
Der Verfasser schreibt noch zur Zeit des nabatäischen Königs Malchus II,
also nicht später als 71 n. Chr. (s. Bd. I, Beilage II).
177) S. Flinders Petrie, Teil cl Eesy (Lachish), London 1891 (grund-
legend für die Altersbestimmung). — Bliss in: Palestine Exploration Fundt
[51] IT, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiet. 69
anderen Orten des südlichen Palästinas ergeben178. Aber auch
bei den von Seilin geleiteten österreichischen Ausgrabungen im
Norden, in Teil Tacannek in der Ebene von Megiddo, ist man auf
dieselben Kulturschichten gestoßen179. Einer späteren Periode
griechischen Einflusses gehören interessante Funde in Teil Sanda-
hanna, dem alten Marisa in Iduniäa, und in Gezer = Gazara
an. Zunächst sind in Teil Sandahanna bei Gelegenheit der eng-
lischen Nachgrabungen mehr als dreihundert Henkel von Ton-
krügen (Amphoren) gesammelt worden, welche mit griechischen
Stempeln versehen sind180. Die Stempel setzen es außer Zweifel,
daß die Amphoren, deren Reste diese Henkel sind, aus Rhodus
stammen und im dritten oder zweiten Jahrhundert vor Chr. her-
gestellt sind. Die Fabrikation solcher Tonwaren muß damals ein
blühender Industriezweig in Rhodus gewesen sein, denn die Reste
Quarter ly Statement 1891. 1892. 1893 (Berichte über die Ausgrabungen). — Zu-
sammenfassend: Naue in der Münchener All gem. Zeitung 1893, 17. März Bei-
lage; Bliss, A mound of many eitles or Teil el Hesy excarated, London 1894.
178) Bliss and Macalister, Excarations in Palcstine during the years
1898-1900, London 1902 (Ausgrabungen in Teil Zakariya, Teil es-Safi, Teil
el-Judeideh, Teil Sandahannah). — S. 101 : Associated wiih the local wäre of
this period are two elasses of Qreek wäre, doubtless imported. The earlier
types date in Egypt from the serenth and sixth centuries B, C. . , . . The second
elass consists of the welUknown glaxed figured wäre dating from 550 to 350 B. 0.
— Vgl. auch Bliss , Art. Pottery in: The Jetcish Encyclopedia X, 1905,
p. 148-151.
179) 8 eil in, Teil Tacannek, Bericht über eine mit Unterstützung usw#
unternommene Ausgrabung in Palästina (Denkschriften der Wiener Akademie,
phil.-hist. Kl. Bd. 50), 1904. — S. 91: „Die zweitoberste Schicht ... ist die
Periode griechischen Einflusses, a) Die erste Art charakterisiert den Beginn
dieses Einflusses, das hervorstechendste Merkmal ist der kleine gelbbraune
Topf mit schwarzen konzentrischen Kreisen .... b) Die zweite Art ist die
Zeit der vollen Herrschaft griechischer Kultur; ihr Hauptmerkmal die glänzend
gefirnißte schwarze Scherbe Die charakteristischen Scherben der
seleucidischen Ära fanden sich überhaupt nicht". — Ob die Tonwaren impor-
tiert oder nach griechischen Mustern im Lande hergestellt waren, wird wohl
nicht immer sicher zu unterscheiden sein. Das treffliche Werk von Vincent,
Canaan d'apres Vexploration ricente, Paris 1907, handelt in cap. V (La cera-
mique, p. 297—360) nicht von den importierten, sondern nur von den ein-
heimischen Tonwaren. Vincent nennt aber die ganze Periode vom 9. bis
5. Jahrh. vor Chr. die jüdisch-hellenische (La ceramique judeo-hell&niquey
JXe — V« sücles av. J.-C, p. 351 — 360), weil sie unter griechischem Einfluß
gestanden habe.
180) 8. Macalister, Amphora handle* with greek stamps from Teil San-
dahannah (Palestine Exploration Fund, Quarterly Statement 1901, p. 25 — 43.
124—143, Nachtrag p. 394 — 397). Kürzerer Bericht in : Excarations in Palestine,
by Bliss and Macalister (1902), p. 52 sqq., 131—134.
70 § 22- Allgemeine Kulturverhältnisse. [51]
sind in großen Mengen fast in allen Gegenden der antiken Kultur-
welt gefunden worden181. Es handelt sich dabei sicher nicht, wie
man wohl gemeint hat, um den Handel mit Wein; sondern die
Tonkrüge selbst waren um ihrer guten Qualität willen ein ge-
suchter Artikel. So sind sie auch nach Marisa gekommen, wo,
wie oben S. 4 f. gezeigt worden ist, im zweiten Jahrhundert vor Chr.
eine griechische Kolonie existierte. Auch in Gazara sind Funde
ganz gleicher Art in großen Mengen zutage gefördert worden182.
181) Außer den rhodischen Amphoren sind namentlich auch solche aus
Knidos häufig. Die rhodischen sind daran sicher zu erkennen, daß durch den
Stempel angegeben wird: 1) der Name des eponymen Beamten, 2) der Monat
(also Jahr und Monat der Herstellung) und 3) der Name des Fabrikanten
(Töpfers, nicht des Weinhändlers, b. P. Becker, Jahrbb. f. klass. Philol., Suppl.
IV, 8. 436; Schuchhardt, Altertümer von Pergamon VIII, 2, 8. 428), ferner
gewisse für Rhodus charakteristische Embleme (Kopf des Helios oder Böse).
Am häufigsten steht der Name des Beamten und des Monats auf dem einen
Henkel (z. B. inl yAva%avÖQOv navd/xov, iitl *Avö(>La \4prajartov, ixi 'Avöqo-
vlxov daMov), der des Töpfers auf dem andern (s. hierüber bes. Schuchhardt
a. a. O. 8. 42b1 ff.). Doch kommen auch andere Kombinationen vor. Die
Altersgrenzen ergeben sich daraus, daß sich dieselben Eponymen-Namen wie
in Palästina teilweise auch in Alexandria und in Pergamon gefunden haben.
Die alexandrinischen Funde können nicht älter sein als Alexander, die per-
gamenischen nicht jünger als zweites Jahrh. vor Ohr. (s. Schuchhardt a.a.O.
8. 432). — Die wichtigsten Publikationen über diese Henkelinschriften sind:
Stephani, Tituhrum graecorum P. II, 1848 (im Index scholarum Dorpatensis).
— Stoddafrt, On the inscribed potter y of Rhodes, Cnidus and other greek cities
(Transactions of tlie Royal Society of Literature, Second Series, vol. HI, 1850,
p. 1—127, und IV, 1853, p. 1—67). — Paul Becker, Über die im südlichen
Bußland gefundenen Henkelinschriften auf griechischen Tongefaßen {Melanies
grico-romains tiris du Bulletin de VAcad. des sciences de St. Pelersbourg t. I,
1855, p. 416 — 521). — Stephani, Milanges Grico-romains tiris du Bulletin etc.
t II, 1859—1866, p. 7—26 und 206— 216. — P. Becker, Jahrbb. f. klass. Philol.,
Supplementbd. IV, 1801—1867, 8. 451—502. V, 1864—1872, 8. 445—536. X, 1878,
8. 1 — 117 u. 207 — 232. — Dumont, Inscriptions ciramiques de Grece, 1872 (zu-
sammenfassend). — NEQOvraoq im 'AS-^vaiov t III, 1874, p. 213— 245,441 — 462. —
Grundmann, Über 98 in Attika gefundene Henkelinschriften auf griechischen
Tongefaßen (Jahrbb. f. klass. Philol., Suppl. XVII, 1890, S.277— 350). — Kaibel,
Inscriptiones gr. Sicil. et Ital. 1890, p. 563—595 (n. 2393, 1 bis 2393, 610). —
Hiller von Gärtringen, Inscriptiones gr. insularum maris Aegaeif fasc. I,
1895 w. 1065—1441. — Altertümer von Pergamon VIH, 2, (1895): Die In-
schriften von Pergamon, unter Mitwirkung von Schuchhardt herausg. von
Fränkel S. 423—493 (bearb. von Schuchhardt). — Pridik, Amphorenstempel
aus Athen (Mitteilungen des deutschen archäol. Instituts, Athenische Abtlg.
Bd. XXI, 1896, S. 127—187). — Corpus Inscr. Lat. t. VIII, Supplem. P. m (1904),
p. 2189—2200 (rhodische Henkel, in Karthago gefunden). — Delattre, Bulletin
archSol. du comiti des travaux historiques et scientifigues 1904, p. 483 — 490.
182) Maca lister , Quarterly Statemetä 1903, p. 48. 306; 1904, p. 212 f.
[51. 52] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiet. 71
Sie stammen augenscheinlich aus der Zeit vor der Judaisierung
der Stadt durch den Makkabäer Simon. — Athenische Fracht-
schiffe fuhren aber schon zur Zeit des Perikles nach Phönizien
und Ägypten 183. Auf einen lebhaften Handelsverkehr mit Griechen-
land in voraiexandrinischer Zeit ist auch aus den phönizischen
Münzen von Gaza zu schließen, denn diese sind nach athenischem
Muster geprägt (s. § 23, I unter Gaza). In Ake-Ptolemais war
sicher bereits zur Zeit des Isäus und Demosthenes eine Nieder-
lassung athenischer Kauf leute (s. § 23, 1). Es ist daher nicht auf-
fallend, daß später (zur Zeit Hyrkans IL) athenische Kauf-
leute auch nach Judäa gekommen sind (s. oben Anm. 138). —
In der römischen Zeit ist der griechische Finfluß in den Lebens-
gewohnheiten des jüdischen Volkes ein sehr starker. Schon die
technischen Bezeichnungen des Kaufmannsstandes sind zum Teil
griechische. Ein Getreidehändler heißt "jwud (omDPijg), ein Allein-
händler b^tyn (ßovojt(6XrjQ\ ein Detailverkäufer nt&D (xqcittiq) 184.
Das Rechenbuch eines Kaufmannes heißt opDt (jr/rag) 185. Das
ganze Münzsystem Palästinas war teils das phönizisch-helle-
nis tische, teils geradezu das griechische oder römische186. Der
183) Thueyd. H, 69: zbv nXovv ru>v dbcdSajv rwv dnö <PaorfXiöoq xal
&oivlxrjq xal r^q ixet&ev faelQOv. Id. VHI, 35: räq ärc' 'Aiyvntov SXxdSaq
UQoaßaXovaaq, Vgl. überh. über den Welthandel Athens zur Zeit des Perikles:
Ed. Meyer, Gesch. des Altertums Bd. IV, 1901, S. 53ff.; Speck, Handels-
geschichte des Altertums, 2. Bd.: Die Griechen (1901), S. 352-474.
184) *pi^O Demai II, 4. V, 6; Baba bathra V, 10; Kelim XII, 1; Krauß,
Lehnwörter II, 381 f. — Vto» Demai V, 4; Krauß II, 344. — löbto Demai V, 4;
Aboda sara IV, 9; Krauß II, 458. — Über airüvrjg und novonkXriQ s. auch
Herzfeld S. 135 f. ^tibto ist an einigen Stellen = tiwXtjt^qiov, das Verkaufs-
lokal; und so will es Herzfeld (S. 131. 324) auch an den beiden zitierten Stellen
verstehen; doch ist es dort wahrscheinlicher = uQaxi\Q (so Hartmann, Thes.
ling. Hebr. e Mischna aug. p. 45). — Noch mehr über griech. Ausdrücke im
Handelswesen s. bei Krauß II, 634 f.
186) bp3B Schabbath XII, 4; Schebuoth VII, 1. 5; Aboth HI, 16; Kelim
XVn, 17. XXIV, 7; Krauß n, 466 f. — Dieses Rechenbuch bestand aus zwei
mit einander verbundenen Täfelchen, die geöffnet und zusammengelegt werden
konnten.
186) Über das jüdische Münzwesen der früheren und späteren Zeit s.
Berthe au, Zur Geschichte der Israeliten (1842) S. 1 — 49; Zuckermann,
Über talmudische Gewichte und Münzen, 1862; Herzfeld, Metrologische
Voruntersuchungen zu einer Geschichte des ibräischen resp. altjüdischen
Handels, 2 Tle. 1863—1865; Ders., Handelsgeschichte der Juden (1879)
S. 171 — 185; Lambert, Les changeurs et la mormaie en Palestine du I«r au
in* stiele de Vhre vulgaire d'aprte les textes talmudiques (Revue des Uudesjuives
t. LI, 1906, p. 217—244; LH, 1906, p. 24—42); Winer RWB. Art „Geld*1;
das. auch die Artikel Denar, Drachme, S tater, Sekel; De Wette, Lehrb. der
hebr.-jüdischen Archäol. (4. Aufl. 1864) S. 251ft; Benzinger, Art. „Geld" in
72 § 22. Allgemeine Kulturverhaltnisse. [52]
Münzfuß der Silbermünzen, welche in den hellenistischen Städten
Phöniziens und Palästinas seit Alexander d. Gr. geprägt wurden,
war abwechselnd der attische (die Tetradrachme zu ungefähr
17 Gramm) und der phönizisch-hellenistische (1 Sekel = 1 Stater
= 1 Tetradrachme zu ungefähr 14 Gramm). Alexander prägte
nach attischem System, die Ptolemäer nach phönizischem, die Seleu-
ciden zuerst nach attischem, seit Alexander Balas nach phöni-
zischem187. Der letztere Münzfuß ist wohl auch vorauszusetzen,
wenn in den Makkabäerbüchern nach Drachmen und Talenten ge-
rechnet wird188. Eben dieses phönizisch-hellenistische Silbergeid
blieb für den Großverkehr in Palästina auch während der Has-
monäerzeit herrschend. Denn die Hasmonäer haben nur Kupfer-
geld für den Kleinverkehr geprägt 189. Diese einheimischen Münzen
trugen hebräische Aufschrift. Aber die späteren Hasmonäer fügten
auch auf diesen eine griechische Aufschrift bei, welQhe für die
phönizisch-hellenistischen Silbermünzen des Großverkehres stets
Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VI, 477—482; Kennedy, Art. Money in
Hostings Dictionary of the Bible III, 1900, p. 417 — 432 (gute Zusammenfassung);
die Werke von De Saulcy, Madden u. a. über die jüdischen Münzen
(s. oben §. 2); Hultsch, Griechische und römische Metrologie (2. Bearb. 1882)
S. 456 ff. 602 ö. — Über das jüdische Münzwesen in der persischen Zeit geben
die aramäischen Papyri von Assuan wichtiges Material, s. Aramaic Papyri
discovered at Assuan ed. by Sayee and Cowley 1906, und dazu Lidzbarskis
Erörterungen, Deutsche Literaturzeitung 1906, col. 3209 — 3212.
187) S. Eeinach, Les monnaies juives (1887) p. 13 — 15 = Actes et eon-
•
firences de la Sociiti des itudes juives 1887 [Beilage zur Revue des itudes juives
t, XV] p. CLXXXIX sq.; Babelon, Catalogue des monnaies grecques, Les rois
de Syrie (1890) p. CXXV, CLXXXUI; Kennedy in Hostings Dictionary KI,
423 sq.
188) Drachmen: II Makk. 4, 19. 10, 20. 12, 43; Talente: I Makk. 11, 28.
13, 16. 19. 15, 31. 35. II Makk. 3, 11. 4, 8. 24. 5, 21. 8, lOf. — Das hebräische
Talent beträgt 3000 Sekel, also 12000 Drachmen phönizischer Währung. Ab-
weichend hiervon setzt Josephus in seinen Angaben über das Testament des
Herodes ein Talent = 10C00 „Silberstücke" (wie aus Vergleichung von Antt.
XVII, 6, 1; 8, 1; 11, 5 fin. erhellt). Vermutlich legt er dabei die Rechnung
nach attischen Drachmen zugrunde, denn 10000 attische Drachmen sind an-
nähernd gleich 12000 phönizischen. So Hultsch, Das hebräische Talent bei
Josephus (Beiträge zur alten Geschichte, herausg. v. C. F. Lehmann, Bd. II,
1902, S. 70—72). — Über die verschiedenen Drachmen s. Hultschs Ar-
tikel in Pauly-Wissowas Real-Enz., V, 1613 — 1633; auch „Didrachmon", V,
433—436.
189) Ob die silbernen Sekel und Halb-Sekel von dem Makkabäer Simon
geprägt sind, wie vielfach angenommen wird, ist sehr fraglich (s. darüber Bd. I
Beilage IV). Jedenfalls wäre diese Silberprägung nicht von langer Dauer ge-
wesen. Denn von den sämtlichen Nachfolgern Simons ist nur Kupfergeld
bekannt.
[52. 53] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 73
selbstverständlich war. In der römisch-herodianischen Zeit trugen
alle in Palästina kursierenden oder dort geprägten Münzen grie-
chische (oder auch lateinische) Aufschrift. In betreff des Münz-
fußes ging die Tendenz der römischen Verwaltung dahin, den
römischen Münzfuß im ganzen Reiche zur | Geltung zu bringen190.
In Palästina ist dies strenger als in manchen anderen Gebieten
durchgeführt worden. Die Herodianer hatten vermutlich über-
haupt nicht das Recht der Silberprägung (s. oben § 15, 3. Aufl. 1, 403);
und ihre Kupfermünzen folgen, soweit sich aus den erhaltenen
Stücken erkennen läßt, dem römischen System. Nur die kleinste
palästinensische Scheidemünze (= % as) ist dem römischen System
fremd. Derselbe Zustand blieb unter den Prokuratoren. Es kur-
sierte jetzt also in Palästina auswärts geprägtes Gold und Silber
(Denare) und daneben das im Lande geprägte Kupfergeld. Ein
Reskript des Germanicus (Oberstatthalter der Provinzen des Ostens
17—19 nach Chr.), welches in dem im Jahre 1881 entdeckten Zoll-
tarif von Palmyra zitiert wird, schreibt für die Bezahlung der
Zölle ausdrücklich den italischen Münzfuß vor191. Die palästinen-
sische Prägung folgte diesem Münzfuße schon seit Herodes I. Auch
die römischen Bezeichnungen der Münzen sind schon im ersten
Jahrhundert nach Chr. in Palästina geläufiger als die daneben noch
gebrauchten griechischen und hebräischen. Dies ergibt sich aus
folgender Zusammenstellung des Materials aus der Mischna und
dem Neuen Testamente192. — 1) Die palästinensische Goldmünze
190) Unter den Batschlägen, welche Dio Cassius dem Mäcenas in den
Mund legt, heifit es in betreff der Provinzialen (Dio Cass. 52, 30): pfoe 6h
vo/jt(a/jtata rj xal axa&ftä rj fxixQa löicc ziq avzfov ix£z<o, aXXä zoXq fjfisziQOiq
xal ixrtvoi ndvzsq XQfl<t&<°a*v*
191) Tafel IV» Im. 42 ff.: xal rsQftavixov Kaloaqoq Siä zfjq nQÖq 2ratei-
kiov imozoXfjq öiaaaqrfoavzoq, Sri Set TCQÖq oloöclqiov izakixdv zä ziXrj Xoyev-
eo&ai (Text bei Schröder, Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1884,
S. 434; zur Erläuterung: Dessau, Hermes XIX, 1884, S. 519f.; Text auch
bei Cooke, Text-book of North-semüio inscriptiom 1903, n. 147 p. 319; Ditten-
b|erger, Orientis graeci inscr. sei. II, 1905, n. 629 p. 336, und in: Inscriptiones
graeeae ad res romanas pertinentes t. Hl ed. Cagnat n. 1056 p. 398. Ditten-
berger liest irrig nQÖq äcaagiov nd[vza] zä ziXij. Die Lesung und Ergänzung
lta[Xixdv] ist völlig sicher, da im aramäischen Paralleltext p^N erhalten ist).
— Für Beträge unter einem Denar gestattet der Tarif von Palmyra trotzdem
Lokal-Scheidemünze.
192) Ein Verzeichnis der in der rab bin i sehen Literatur vorkommenden
griechischen und lateinischen Münz-Namen gibt Low bei Krau ß, Griechische
und lateinische Lehnwörter n, 635 f. Über die im N. T. erwähnten Münzen
s. Cavedoni, Biblische Numismatik I, 96 — 137; Madden, History of Jewish
Coinage (1864), p. 232—248; Hager, Die Münzen der Bibel, 1868; Madden,
Numismatic Chronicle 1876, p. 177-219; Ders., Coins of the Jens (1881),
74 § 22- Allgemeine Kulturverhältnisse. [53. 54]
ist der römische aureus zu 25 Denaren, in der Mischna oft unter
der Bezeichnung „ Gold-Denar tt (am nm) erwähnt193. — 2) Die
gangbare Silbermünze ist der denarius (öijvaQcov), der von | allen
Münzen am häufigsten im Neuen Testamente erwähnt wird (ML 18,
28; 20, 2 ff.; 22, 19; Marc. 6, 37; 12, 15; 14, 5; Luc. 7, 41; 10, 35; 20, 24;
Joh. 6, 7; 12, 5; Apok. 6, 6). Daß für ihn eben diese römische Be-
zeichnung geläufig war, erhellt auch aus der Mischna; denn er
wird hier fast häufiger unter dem Ausdruck "ffn, als unter dem
gleichwertigen semitischen W erwähnt194. Da der Denar an Wert
einer attischen Drachme gleichgesetzt wurde, so wird auch noch
nach Drachmen gerechnet Doch ist diese Rechnungsweise nicht
mehr häufig195. — 3) Von Kupfermünzen wird zunächst das Zwei-
As-Stück oder der dupondius (hebräisch pittt) häufig erwähnt196.
p. 289 — 310; Winer, De Wette, Benzinger, Kennedy a.a.O. — Über
das römische Münzwesen vgl. bes. die treffliche Übersicht bei Marquardt,
Komische Staatsverwaltung, Bd. II (1876), S. 3—75. Die beiden Hauptwerke
aus neuerer Zeit sind: Mommsen, Geschichte des römischen Münzwesens
1860, und Hultsch, Griechische und römische Metrologie, 2. Bearb., 1882.
193) 5m im Maaser scheni II, 7. IV, 9; Sehekalim VI, 6; Nasir V, 2;
Baba kamma IV, 1; Sehebuoth VI, 3; Meila VI, 4. — Über den römischen
aureus (auch denarius aureus genannt) s. Marquardt II, 25 f.; Hultsch,
S. 308 ff. Daß der am w gleich 25 Denare, erhellt z. B. aus Kethuboth X, 4;
Baba kamma IV, 1. — Auf einer palmyrenischen Inschrift vom J. 193 n. Chr.
kommen vor XQV0* TtaXaiä örjväoia (Waddington, Inscr. de la Syrie n. 2596).
194) ^T z. B. Pea VIII, 8; Demai II, 5; Maaser scheni II, 9; Sehekalim
II, 4; Bexa III, 7; Kethuboth V, 7. VI, 3. 4. X, 2; Kiddusehin I, 1. II, 2; Baba
mexia IV, 5; Arachin VI, 2. 5, und sonst; Krauß, Lehnwörter II, 207 f. Auf
Inschriften in Batanäa und Trachonitis örjväoia (Waddington n. 2095. 2341.
2537a; häufiger wird auf diesen Inschriften nur das Zeichen * gebraucht).
Auch der Zolltarif von Palmyia rechnet durchweg nach Denaren. — t*iT Pea
VHI, 8—9; Joma in, 7; Kethuboth I, 5; VI, 5; IX, 8; Gittin VIT, 5; Kiddusehin
HI, 2; Baba kamma IV, 1. VIII, 6; Baba bathra X, 2. — Unter Nero wurde der
Gehalt desDenares herabgesetzt (Marquard II, 27; Kenner, Die Scheidemünzen
des Kaisers Nero, in: Wiener Numismat. Zeitschr. X, 1878, 8.230—306). Da-
her erwähnt die Mischna Kelim XVn, 12 ein rWi3 ste (l Sela — 1 Tetra-
drachme oder 4 Denare). Vgl. übern. Hultsch, Art. „Denarius" in Pauly-
Wissowas Beal-Enz. V, 202—215.
195) SoazuJj Luc. 15, 8 f.; Joseph. Vita 44. An beiden Stellen können
jedoch auch Drachmen tyrischer Währung gemeint sein; vgl. unten Anm. 203.
An solche ist vielleicht auch zu denken bei [S$axu]ä$ %*Xlaq Svoag auf einer
Inschrift im Hauran, Waddington n. 1994. Nach Drachmen wird auch ge-
rechnet auf Inschriften von Gerasa, s. Lucas, Mitteilungen und Nachr. des
DPV. 1901, S. 53, n. 8 (aus der Zeit des Tiberius), n. 9. 10 (tiLQyvolov 6oaxt*aQf
auch diese beiden Inschriften gehören wahrscheinlich in das erste Jahrh. n. Chr.;
über das Datum von n. 10 s. Dütenberger, Orientis gr. inscr. sei. n. 622).
196) 'p'HttB Pea VIII, 7; Schebiith VIII, 4; Maaser scheni IV, 8; Erubin
Vm, 2; Baba mezia IV, 5; Baba bathra V, 9; Sehebuoth VI, 3; Kelim XVH, 12
I
I
[54. .55] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 75
Ein solcher dupondius ist auch gemeint in dem Ausspruch Christi
Luc. 12, 6, wo die Vulgata dcöaglcov ovo richtig mit dipondio über-
setzt — 4) Die gewöhnlichste Kupfermünze ist der as, altlateinisch
a8sariusy hiernach griechisch acoagiov {Mt. 10, 29; Luc. 12, 6), hebräisch
no«, zuweilen ausdrücklich als italischer As, ^pbtD^Ä 108, bezeich-
net197. Er betrug ursprünglich V10 Denar, seit dem zweiten puni-
schen Kriege (217 vor Chr.) nur Vi 6 Denar198. — 5) Die kleinste |
Kupfermünze ist die ntjinB, die nur den achten Teil eines a$ be-
trägt199. Sie ist dem römischen Münzsystem unbekannt, wie ja
auch der Name semitisch ist Identisch mit ihr ist aber das im
Neuen Testamente vorkommende Xsnrov {Marc, 12, 42; Luc. 12, 59;
21, 2), das nach Marc. 12, 42 die Hälfte eines quadrans, also % As,
beträgt Münzen von dieser Größe finden sich in der Tat aus
der letzten Zeit der Hasmonäer, einzelne auch aus herodianisch-
römischer Zeit200. Auffallend ist aber, daß sowohl in der Mischna,
als im Neuen Testamente nur nach diesem kleinsten Teilstück des
As, nicht nach dem römischen semis (V2 as) und quadrans (V4 as)
gerechnet wird, während letztere damals doch auch in Palästina
geprägt wurden, und zwar häufiger als das Xexzov201. Augen-
fan letzterer Stelle ausdrücklich als italisches Pondkro, ^pbr^K *]V>*W1ß, be-
zeichnet); Krauß II, 427. — Aus Baba batkra V, 9 erhellt, daß ein pondion
gleich zwei asses, wie im Talmud auch ausdrücklich bemerkt wird (jer. Kiddu-
sehin 68d; bab. Kidduschin 12»; Lightfoot, Horae hebr. zu Matth. 5, 26, Opp.
II, 288 sq.). Das pondion ist also ohne Zweifel der römische dupondius, wie
schon Guisius zu Pea VIII, 7 (in Surenhusius* Mischna I, 74) bemerkt hat
Vgl. über den dupondius Hultsch in Pauly-Wissowas Real-Enz. V, 1843—1846.
197) *p^K -iö» Kidduschini, 1; Edujoth IV ,1; Chidlin 111,2; Mikwaoth
IX, 5. Ip^o^K *töN auch zweimal im aram. Texte des Zolltarifes von Palmyra,
Tafel He lin. 7 und 35 (Schröder, Sitzungsber. der Berliner Akad. 1884,
S. 432 f.). Griech. ctoadoiov ItaXixöv (s. oben Anm. 191). Abgesehen hiervon
ist aoiodoiov) *Ii(aXix6v) bisher nur auf kretischen Münzen aus der Zeit Neros
nachgewiesen, s. Kubitschek, Art. &ooolqiov in Pauly-Wissowas Real-Enz.
II, 1742ff. — nox überh. z. B. Pea VIII, 1 ; Schebiith VIII, 4; Maaseroth II, 5. 6;
Maaser scheni IV, 3. 8; Erubin VII, 10; Baba mexiu IV, 5; Baba bathra V, 9;
Krauß II, 37 f.
198) Marquardt, Römische Staatsverwaltung II, 16. Genaueres über
die allmähliche Reduktion des As s. ebendas. II, 6 ff. und bei Kubitschek,
Art. „As" in Pauly-Wissowas Real-Enz. II, 1499 ff.
199) Hürm Kidduschin 1, 1. II, 1. 6; Baba hamma IX, 5. 6. 7; Baba mexia
IV, 7. 8; Schebuoth VI, 1. 3; Edujoth IV, 7. — Daß sie den achten Teil eines
As beträgt, wird Kidduschin I, 1; Edujoth IV, 7 gesagt.
200) 8. Madden, Bisiory of Jewish Coinaye p. 296 — 302. Unhaltbar ist
die Ansicht Cavedonis (Biblische Numismatik I, 76—81), welchem auch
Madden später gefolgt ist (Numismatic Chronicle 1876, p. 204 — 207; Coins of
the Jews p. 302—304), daß tenzdv und quadrans identisch seien.
201) S. Madden a. a. O. — In der Mischna werden der semis und qua-
76 § 22* Allgemeine Kulturverhältnisse. [55. 56]
scheinlich stammt die Rechnung nach letzterem aus vorrömischer
Zeit, ist aber auch nach Einführung der römischen Währung noch
üblich geblieben202. — Verschieden von den Münzen römischer
Währung sind die in den phönizischen Städten, namentlich in Tyrus
geprägten Münzen, die in Palästina auch noch zirkulierten, als
dort selbst nicht mehr nach diesem Münzfuß geprägt wurde203. |
Was von dem Gelde, dem Mittel des Handelsverkehres gilt, das
gilt auch von dessen Objekten. Auch hier begegnet man auf
Schritt und Tritt griechischen und römischen Namen und Gegen-
ständen204. Dabei ist nicht zu übersehen, daß das an Natur-
drans nicht erwähnt; erst im jerusalemischen und babylonischen Talmud
kommen auch sie vor. Im N. T. wird zwar der quadrans (xoSpdvxijg) zweimal
erwähnt Aber an der einen Stelle (Marc, 12, 42) sind die Worte 3 ioviv xo-
SQaviTjq überhaupt nur Erläuterung des Evangelisten; an der anderen (Matth.
5, 26) ist der Ausdruck xoÖQdvz/jg wahrscheinlich erst vom Evangelisten ein-
gesetzt an Stelle des von der Quelle gebotenen Xenröv, das Lucas erhalten
hat (12, 59). Die Quellen unserer Evangelien erwähnen also auch nur das
Xstctöv, wie die Mischna nur die HüT*.
202) Vereinzelt kommen in der Mischna vor: p*yß*iü — tQonaixöv —
V2 Denar oder Quinar (Kethuboth V, 7) und r^ö^ni: = tressis = 3 As (Schebuoth
VI, 3). Auch diese gehören dem römischen Münzsystem an. Ungewiß ist, was
unter dem ebenfalls einmal vorkommenden *ic&tt (Maaser scheni II, 9 «-» Edtyoth
1, 10) zu verstehen ist. Vgl. über alle drei: Krauß II, 278. 273 f. 93.
203) Die Münzen phönizischer W ahm Dg sind etwas leichter als die
römischen (welche dem attischen Münzfuß entsprechen), s. Hultsch, Griech.
und röm. Metrologie S. 594 ff. Ein vö/uio/ua Tvqiov im Wert von 4 Drachmen
erwähnt Josephus Bell. Jud. II, 21, 2; vgl. Vita 13 s. fin. Münzen dieser Währung
sind auch das ölÖQax/tov (Matth. 17, 24) und der <naxi\Q (=- 4 Drachmen, Matth.
17, 27); denn die Tempelsteuer, wie überhaupt die im A. T. vorgeschriebenen
Abgaben, wurden nach tyrischer Währung entrichtet (Mischna Becharoth VIII, 7 ;
Tosephta Kethuboth XII fin.), da diese der hebräischen entsprach; vgl. Hultsch
S. 604 f. 471. Wenn Josephus B.J. II, 21, 2 den Wert des vöfiiopia Tvqiov (wie
den des hebr. Sekel Antt. III, 8, 2) auf 4 attische Drachmen angibt, so ist
dies wohl nur eine ungefähre Bestimmung im Gegensatz zu den damaligen
ägyptischen Drachmen (seit Tiberius wurden in Ägypten Tetradrachmen aus
ßillon [Legieruug von Kupfer und Silber mit Überwiegen des ersteren] ge-
prägt, die dem Denar an Wert gleichgesetzt wurden, so daß also eine Biilon-
drachme nur etwa ein Viertel des Wertes einer Silberdrachme betrug, s.
Hultsch in Pauly-Wissowas Real-Enz. V, 1630); genau genommen ist das
tyrische Tetradrachmon etwas leichter als das attische (Hultsch 595 f.).
204) Über die Handelsprodukte des Altertums s. bes. Marquardt, Das
Privatleben der Römer, Bd. II, Leipzig 1882 (2. Aufl. der „römischen Privat-
altertümer" Bd. II). — Karl Friedr. Hermann und H. Blümner, Lehrbuch
der griechischen Privataltertümer, Freiburg 1882. — Büchsenschütz, Die
Hauptstätten des Gewerbfleißes im klassischen Altertume, Leipzig 1869. — Blüm-
ner, Die gewerbliche Tätigkeit der Völker des klassischen Altertums, Leipzig
1869. — über die Produkte Ägyptens speziell: Lumbroso, Recherches sur
[56. 57] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 77
Produkten reiche Palästina auch seinerseits einen großen Beitrag
zum Weltmarkt lieferte: seine Bodenprodukte und die Erzeugnisse
seiner Industrie gingen in alle Länder und waren zum Teil welt-
berühmt205. Aber gleichviel, ob die Produkte im Lande erzeugt]
oder von außen eingeführt waren: sie tragen alle in weitgehendem
Maße das Gepräge der herrschenden hellenistischen Weltkultur;
rSeonomie politique de FlZgypte sous les Lagides, Turin 1870. — Über die Tech-
nik der Herstellung: Blümner, Technologie und Terminologie der Gewerbe
und Künste bei Griechen und Römern, 4 Bde., Leipzig 1875— 1887; Bieg er,
Versuch einer Technologie und Terminologie der Handwerke in der Misnäh.
I. Teil: Spinnen, Färben, Weben, Walken. Berlin 1894 (48 S.). — Eine reiche
Quelle für die Warenkunde ist namentlich das Edietum Diocletiani de pretiis
rerttm (Ausgaben: 1) von Mommsen in den Berichten der sächs. Gesellsch.
der Wissensch., phil.-hist. Klasse, Bd. III, 1851, S. 1—80 mit Nachtrag
8. 383—400; 2) von Waddington in Le Bas et Waddington, Inscr. T. HL
Explieations p. 145—191; 3) von Mommsen im Corp. Inscr. hat. T. HI, 2,
p. 801—841. Hierzu die Nachträge im Hermes XXV, 1890, S. 17 ff. Neue
Ausgabe im Corp. Inscr. hat. T. III Suppl. fasc. 3, 1893 p. 1909—1953, dazu
Index p. 2603 ff.; 4) Separat- Ausgabe: Der Maximaltarif des Diocletian, hrsg.
v. Mommsen, erläutert von Blümner, 1893). Vgl. Blümner, Art. „Edietum
Diocletiani" in Pauly-Wissowas Rcal-Enz. V, 1948—1957.
205) Über die Handelsprodukte Palästinas s. Movers, Die Phönizier H,3
(1856) S. 200—235; Herzfeld, Handelsgesch. der Juden S. 88—117; Blüm-
ner, Die gewerbliche Tätigkeit etc. S. 24—27; Vogel stein, Die Landwirt-
schaft in Palästina zur Zeit der Misnäh. I. Teil: Der Getreidebau. Berlin 1894
(78 S.); F. Goldmann, Der Ölbau in Palästina zur Zeit der Misnäh. Diss.
Freiburg i. B. 1907 (79 S.). — Eine Übersicht über die Hauptprodukte im
4. Jahrh. nach Chr. gibt Totius orbis descriptio (über die Ausgaben von Müller,
Riese, Lumbroso, Sinko s. oben S. 49; ich gebe den Text nach Sinko) c. 29:
Ascalon et Gaxa, civüates eminentes et in negotio bultientes et habundantts
omnibus, mittunt omni regioni Syriae et Aefjypti rinum Optimum c. 31 :
Quoniam ergo ex parte praedietas civitates descripsimus et diximus [necessarium
est dicere, quid singulae earum habent. in litore enim] sunt hae: Scytopolis,
Ladicia, Biblus, Tirus, Beritus, quae linteamen omni orbi terrarum emittunt et
sunt eminentes in omni habundantia; similiter autem et Sarafta et Caesarea et
Keapolis et Lydda purpuram alitinam {a).7\&ivi\v). omnes autem praedietae
civitates gloriosae et fruetiferae in frumento, vino et oleo [habundant] et omnibus
bonis: Nicolaum itaque palmulam [intenies] in Palaestines regionis loco, qui
sie vocatur Jericho, et alteram palmulam minorem et psittatium et omne genus
pomorum habundant es. — Berühmt war namentlich die Leinenindustrie von
Skythopolis. In dem Edietum Diocl. c. XXVI-XXVin (ältere Ausg. c. XVII—
XVIH) stehen bei den verschiedensten Arten von Leinenwaren immer die von
Skythopolis als die teuersten obenan. S. auch jer. Kidduschin H, 5: "jn^JB *»ba
V«? n^aia -pKan 0*>pnn, Movere II, 3, 21 7 f.; Herzfeld S. 107; Marquardt, Das
Privatleben der Römer n, 466; Büchsenschütz S. 61; Blümner, Die gewerbl.
Tätigkeit S. 25. Auch die Mischna setzt voraus, daß Galiläa vorwiegend Leinen-
industrie betrieb, Judäa dagegen vorwiegend Wollenindustrie (Baba kamma
X, 9). Daher ein Wollmarkt in Jerusalem (Erubin X, 9; Jos. Bell. Jtid. V, 8, 1).
78 § 22* Allgemeine Kulturverhältnisse. [57. 58|
die Produkte des Inlandes wurden nach deren Forderungen her-
gestellt, und von auswärts wurden eben die Produkte, die in aller
Welt Mode waren, auch nach Palästina importiert206. Eine Reihe
von Beispielen aus den drei Gebieten: 1) der Nahrungsmittel, 2) der
Kleidung und 3) der Hausgeräte möge dies noch näher illustrieren.
Von auswärtigen Nahrungsmitteln kennt man in Palästina
z. B. babylonischen Brei (nrra), medisches Bier (nDti), edomitischen
Essig (ptfin) und ägyptisches Zythos (oifM)207, von ägyptischen
Produkten außer dem Zythos auch Fische208, Senf, Kürbis, Boh|nen,
206) Über die Einfuhr- Artikel s. auch Herz fei d, Handelsgeschichte
S. 117—129.
207) Alle vier werden Pesachim HI, 1 genannt als Beispiele von Nahrungs-
mitteln, die aus Getreidearten hergestellt sind und eine Gährung durchge-
macht haben. — Über das ägyptische £v&oq oder %vto$ (eine Art Bier, hebr.
birPT, nicht DlrVT, s. Levy, Neuhebr. Wörterb. 8. v.) vgl. Theophrast. de caus.
plant. VI, 11, 2; LHodor. I, 34; Plinius XXII, 164; Strabo XVII p. 824; Digest.
XXXni, 6, 9; Ediet. Diocietiani II, 12; Hieronymus, Gornm. in Jes. 19,10 opp. ed.
Vallarsi IV, 292; Buxtorf, Lex. Chald. s. v.\ Krauß, Lehnwörter H, 247 j
Schleusners Lexicon in LXX 8. v. und überhaupt die Lexika; Wadding-
tons Erläuterungen zum Ediet. Diocl. p. 154; Marquardt, Privatleben der
Römer II, 444; Hermann und Blümner, Griech. Privataltert. S. 235; Hehn,
Kulturpflanzen und Haustiere (3. Aufl. 1877), S. 126 f.; Death, The beer of
the Bible, London 18S7 [bes. über die heutige Bier-Bereitung in Ägypten, s. die
Rez. im Lit. Centralbl. 1888, 170]; Wessely, Zythos und Zythera, Hernais
bei Wien, Progr. 1887, S. 38—48; Buschan, Das Bier der Alten, im „Aus-
land" 1891, Nr. 47; Olck, Art. „Bier" in Pauly-Wissowas Real-Enz. IH,
457—464; Wilcken, Griechische Ostraka aus Ägypten und Nubien I, 1899,
S. 369—373 (über die Besteuerung); Qrenfell, Hunt and Hogarth, Fayum
totons and their Papyri, 1900, Index p. 350 u. 358 8. v. £vrr](>d, ^vtonoäa,
Zfiroq; Qrenfell, Hunt and Smyly, Tebtunis Papyri I, 1902, p. 48 sq.;
Qrenfell and Hunt, The Hibeh Papyri I, 1906, Index 8. v. tvrrjQd (Mitte
des 3. Jahrh. vor Chr.). Es kommt auch in der griech. Übersetzung des
Alten Testamentes vor, Jes. 19, 10. Interessantes Material geben namentlich
ägyptische Papyri.
208) Machschirin VI, 3. — Es sind eingepökelte Fische (raplxi) gemeint,
die in Ägypten an verschiedenen Orten in Menge produziert wurden und einen
großen Ausfuhrartikel bildeten (Blümner, Die gewerbliche Tätigkeit etc.
S. 14 und 17; Lumbroso, Beeherches p. 133; Die Ausleger zu Num. 11, 5).
Eine ganze Anzahl von Orten an der ägyptischen Küste hatte von diesem In-
dustriezweig den Namen TaQi%iai (Steph. Byx. 8. v.). S. überh. über die weite
Verbreitung dieses Industriezweiges: Marquardt, Privatleben der Römer U,
420 ff. und das dort zitierte Hauptwerk: Köhler, Tdoizog ou recherches sur
Vhistoire et les antiquites des ptcheries de la Russie meridionale (MSmoires
de PAcademie imp. des sciences de St.-Päersbourg , VI. Serie, T. I, 1832,
p. 347—490). Ferner: Paul Rhode, Thynnorum captura quanti fuerit apud
veteres rnomenti (Jahrbb. für klass. Philol. 18. Supplementbd. 1. Hft. 1891,
S. 1—79); Eberl, Die Fischkonserven der Alten. Progr. Stadtamhof-Regens-
burg 1892.
[58. 59] II» 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 79
Linsen209. Ferner: cüicische Bohnengrütze 210,bithynischen Käse211,
griechischen Kürbis212, griechischen und römischen Ysop213, spani-
schen Kolias214. Vom Auslande stammen auch, wie die fremden
Namen zeigen, z.B. der Spargel, die Feigbohne, die persische Nuß215.
Sehr verbreitet war in Palästina die Sitte, Fische einzusalzen oder
in Salzlake einzumachen, wie der Name der Stadt TaQixiat, am
See Genezareth und die häufige Erwähnung | der Salzlake (muries)
in der Mischna beweist216. Auch in betreff dieser Sitte erhellt der
auswärtige Ursprung aus den fremden Namen.
209) Senf (1^*) Küajim I, 2. — Kürbis (nsl*) Kilajim I, 2. 5. — Bohne
(b;Ä) Kilajim I, 2.* II, 11. III, 4; Schebiith H, 8. 9; Schabbath IX, 7; Nedarim
VH, 1. 2. Vgl. Plin. Hut. not. XVIH, 121 f. — Linsen (D^ttTW) Maaseroth
V, 8; Kdim XVII, 8; Hieronymus, Gomment. in Exech. 30, 15 (opp. ed. Val~
larsi V, 357) : unde et poeia Pelusiacam appeüat lentem, non quod ibi genus hoc
leguminis gignaiur vel maxime, sed quod e Thebaida et omni Aegypto per rivum
Nili illue plurimum deferaiur. Der poetaf auf welchen Hieronymus Bezug
nimmt, ist Vergil. Georg. 1, 228. Vgl. auch Plin. XVI, 201 ; Marquardt II, 410.
Der Anbau der Linsen ist in Ägypten uralt, s. Hehn, Kulturpflanzen und
Haustiere (3. Aufl.) S. 188. — Über ägypt. Bohnen und Linsen s. Woenig,
Die Pflanzen im alten Ägypten (1886) S. 212 ff., auch die Artikel in Winers
RWB. und Pauly-Wissowa, Real-Enz.
210) *p\>*p ö-na Maaseroth V, 8; Kdim XVII, 12; Negaim VI, 1.
211) ip'wsrYi ri3*aa Aboda sara H, 4 (so ist nämlich hier nach den besten
Zeugen zu lesen statt des corrumpierten ^p^aiK n*S r3*aa\ — Den bithy-
nischen Käse kennt auch Plinius XI, 241: trans maria rero Bithynus fere in
gloria est.
212) nw roVi Kilajim I, 5. II, 11; Orla III, 7; Ohaloth VIII, 1.
213) "|V Sita und i»«n aim Negaim XIV, 6; Para XI, 7. Ersterer auch
Sehabbath XTV, 3.
214) pfeDKn ö^bip Sehabbath XXII, 2; Machschirin VI, 3; Krauß, Lehn-
wörter II, 506. — Der eolias ist eine Art Thunfisch (s. über ihn Plinius
XXXII, 146; Buxtorf, Lex. Chald. col. 2045; Marquardt 11,422, u. die Lexika).
Er kam natürlich eingesalzen in den Handel, wie überhaupt das spanische
Taoi%oq berühmt war (Marquardt II, 421; Blümner S. 130. 135) J
215) Spargel (öimfiöx, dandQayoq). Der Ausdruck bezeichnet allerdings
an der einzigen Stelle, an welcher er in der Mischna vorkommt, Nedarim VI,
10, nicht wirkliche Spargeln, sondern die spargelähnlichen Sprossen verschie-
dener Pflanzen. 8. Loew, Revue des Studes juives XVI, 156. — Feigbohne,
(bwnn, Mofioq) Sehabbath XVIH, 1; Machsehirin IV, 6; Tebul jom I, 4. —
Persische Nuß (ipö*iBK, IJeoaix^) Kilajim I, 4; Maaseroth I, 2. An beiden
Stellen sind, wie der Zusammenhang zeigt, nicht Pfirsiche, sondern persische
Nüsse gemeint, über welche zu vergl. Marquardt II, 411. — Mehr über grie-
chische Pflanzennamen in der rabbinischen Literatur s. bei Krauß, Lehn-
worter H, 626 f.
216) Ober Taotxlai. s. bes. Strabo XVI, 2, 45 p. 764. E9 wird zuerst zur
Zeit des Cassius erwähnt (Joseph. Antt. XIV, 7, 3; B. J. I, 8, 9; Cicero ad
Farn. XH, 11). — CWra Terumoth XI, 1; Joma VIII, 3; Nedarim VI, 4;
Aboda sara II, 4; Kelim X, 5; Krauß II, 329.
80 § 22« Allgemeine Kulturverhältnisse. [59]
Von Kleidungsstoffen und Kleidern fremden Ursprungs217
seien erwähnt: pelusische und indische Leinen- oder Baumwoll-
gewebe218, cilicisches Filztuch219, das sagum (Otto), die dalmatica
(ppiOTbl), das paragaudion (T«n»), die stola (mbtt»)220, das
Schweißtuch Cp-mo, oovdaQiop)221, der Filzhut CjVbfc, xiZiov), die
Filzsocken (»rtw», h(utiXia), die Sandalen (biso), von denen als
217) Vgl. auch die Zusammenstellung der griech. u. lat. Namen ^bei
Krauß, Lehnwörter II, 641 — 643; ferner A. Rosenzweig, Kleidung und
Schmuck im biblischen und talmudischen Schrifttum, Berlin 1905 (130 S.).
218) Aus beiden Stoffen wurden nach Joma III, 7 die Kleider verfertigt,
welche der Hohepriester am Versöhnungstage trug. Am Morgen trug er
•pöib^fi, am Nachmittag •pivwn (ob es Leinen- oder Baumwollstoffe waren,
ist aus diesen Bezeichnungen nicht zu erkennen). — Die feine pelusische
Leinwand war berühmt, s. PUnius XIX, 1, 14: Aegyptio Uno minumum fir-
tnitatis, plurumum lucri. Quaituor ibi genera: Taniticum ac Pelusiacum,
Buticum, Tentyriticum; Movers II, 3, 318; Büchsenschütz 62 f.; Blümner, Die
gewerbliche Tätigkeit S. 6 ff., bes. 16. — Indische Stoffe (dSvviov IvSixdv,
69-dvrj 'ivdixfi, aivööveq 'Ivdixai) werden z. B. auch in dem Periplus maris Jßry-
thraei (s. oben Anm. 176) oft als Handelsartikel erwähnt (§ 6. 31. 41. 48. 63).
Wahrscheinlich sind darunter Baumwollstoffe zu verstehen. S. Marquardt II,
472 f.; Fabricius, Der Periplus des erythräischen Meeres (1883) S. 123, und die
von beiden^ zitierte Abhandlung von Brandes, Über die antiken Namen und
die geographische Verbreitung der Baumwolle im Altertum (1866).
219) *pb*P Kelim XXIX, 1. — Das eilicium ist ein aus Ziegenhaaren be-
reiteter Filzstoff, der zu sehr verschiedenen Zwecken (groben Mänteln, Vor-
hängen, Decken und dergl.) verwendet wurde. S. Marquardt H, 463; Büchsen-
schütz 64; Blümner 30; Mau in Pauly-Wissowas Real-Enz. s. v. Wenn also
Paulus aus Tarsus in Cilicien ein axtjvonoiöq war (Apgesch. 18, 3), so hing
dies mit der Haupt-Industrie seiner Heimat eng zusammen. — In der Mischna
heißt *pb*P geradezu „Filz", z. B. verfilztes Haar am Bart, an der Brust und
dergl. (Afikwaoth IX, 2).
220) maö Kelim XXIX, 1; Ohaloth XI, 3. XV, 1; Negaim XI, 11; Mik-
waoth VII, 6; Krauß II, 371. — •pip'wyi Kilajim IX, 7. — mjnD Schekalim
HI, 2; Kelim XXIX, 1; Krauß II, 477. — rv*»» Joma VH,1; Öt//wVn,5.
— Näheres über diese Kleidungsstücke 8. bei Marquardt II, 548 f. 563 f. 556 f.;
Waddington, Erläuterungen zum Edict Dioclet. S. 175 f. 182. 174 f.; Mommsen,
Berichte der sächs. Gesellsch. der Wissensch., phil.-hist. Kl. III, 71. 391. —
Das Sagum ist ein Mantel, der die Arme frei ließ, daher bes. von Soldaten
und Arbeitern getragen wurde. Die drei anderen sind verschiedene Arten
von Unterkleidern (daher in der armenischen Bibelübersetzung paregöt öfters
für xixtov, s. Lagarde, Gesammelte Abhandlungen 1866, S. 209f). Die do/-
matica erwähnt auch Eptphan. haer. 15, wo er von der Kleidung der Schrift-
gelehrten spricht.
221) ■p-nno ScJiabbalh III, 3; Joma VI, 8; Sanhedrin VI, 1; Tamid VII, 3;
Kelim XXIX, 1; Krauß II, 373f. Im N. T. Luc. 19, 20; Joh. 11, 44; 20, 7;
Act. 19, 12. Viel Material darüber bei Wetstein, Nov. Test., zu Luc. 19, 20,
auch in den Lexicis.
[60] II, 2» Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 81
eine besondere Art die laodicenischen (ip^Hb biso) erwähnt werden222.
Auch eine Reihe technischer Ausdrücke auf dem Gebiete der In-
dustrie zeigen uns den Einfluß griechischer Vorbilder. Der ge-
sponnene Faden heißt bot (vrj/ia), eine gewisse Vorrichtung am
Webstuhl owp (xatQog) 223, der Gerber WO (ßvQCsvg) 224. Von
Eohstoffen ist z. B. der Hanf (O'OSp, xavvaßog, xavvaßiq) erst durch
die Griechen nach Palästina gekommen225.
Überaus zahlreich sind die Hausgeräte fremden, namentlich
griechischen und römischen Ursprungs226. Von ägyptischen Ge-
räten werden erwähnt: ein ägyptischer Korb, eine ägyptische Leiter,
ein ägyptischer Strick227. Ferner: eine tyrische Leiter228, sido-
nische Schüsseln oder Schalen 229. Von griechischen und römischen
222) Yrt» Kelim XXIX , 1. Nidda VIH, 1. Krauß II, 448. — firörott
Jebamoth XII, 1. Kelim XXVII, 6. Krauß II, 02. (Vgl. Marquardt II, 486.
Waddingtoo 8. 164. Mommsen S. 71). — VttD z. B. Schabbath VI, 2. 5. X, 3.
XV, 2. Schekalim HI, 2. Bexa I, 10. Megilla IV, 8. Jebamoth XH, 1. Arachin
VI, 5. Krauß II, 399 f. Der Sandalenmacher heißt nb*Wö Jebamoth XH, 6.
Kethuboth V, 4. Aboth IV, 11; i&#w V, 5. S. über die Sandalen überh. Mar-
quardt II, 577 f. Hermann und Blümner, Griechische Privataltertümer S. 181.
196. — *p*lb Hsö Kelim XXVI, 1. Welches Laodicea gemeint ist, läßt sich
nicht ermitteln; vielleicht das phrygische, das durch seine Wollenindustrie
berühmt war (Edict. Diocl. e. XIX, sqq. [ältere Ausg. XVI]. Marquardt II,
460. Büchsenschütz S. 65. Blümner S. 27 — 28). Das syrische Laodicea hatte
vorwiegend Leinenindustrie (Edict. Diocl. c. XXVI — XXVIII [ältere Ausg.
XVH— XVIII]. Marquardt II, 466. Büchsenschütz S. 61. Blümner S. 26).
223) «wo Erubin X, 13. Schekalim VIII, 5. Kelim XIX, 1. XXIX, 1.
Negaim XI, 10. Krauß II, 359. — öl^p Schabbath XIII, 2. Kelim XXI, 1.
Krauß II, 520. Vgl. über den xaTooq bes. Blümner, Technologie und Ter-
minologie der Gewerbe und Künste I, 126 ff. — Überhaupt: Bieger, Versuch
einer Technologie und Terminologie der Handwerke in der Misnah. I. Tl.:
Spinnen, Färben, Weben, Walken. Berlin 1894 (48 8.).
224) wo Kethuboth VII, 10; Krauß II, 146. »ipö^'D (die Gerberwerk-
stätte) Schabbath I, 2. Megilla III, 2. Baba bathra II, 9. Krauß II, 147. Ders.,
Byzantin. Zeitschr. II, 1893, 516—518.
225) örap Kilajim V, 8. IX, 1. 7. Negaim XI, 2. Krauß II, 551 f. — Über
die verhältnismäßig späte Verbreitung des Hanfes s. Hehn, Kulturpflanzen
u. Haustiere (3. Aufl.) S. 168 f.
226) Vgl. Kren gel, Das Hausgerät in der Misnah. 1. Tl. Frank-
furt a. M. 1899 (68 S.). — Krauß, Griech. und lat. Lehnwörter H, 637 f. 639 f.
227) Korb (WBS) Schabbath XX, 2. Sota H, 1. III, 1. Kelim XXVI, 1.
Auch Tebul jom IV, 2 ist statt ritt^DD wohl zu lesen Hß^fiS. -— Leiter (obö)
Baba bathra IH, 6; Sabim HI, 1. 3. IV. 3. — Strick (ban) Sota I, 6.
228) Baba bathra III, 6. Sabim in, 3.
229) Kelim IV, 3: D^p, vgl. bibl. nop. Es sind wohl gläserne gemeint.
Denn die Anfertigung von Glasgeräten bildete den Hauptindustriezweig Sidons
zur Römerzeit, Plinius H. N. V, 19, 76: Sidon artifex vüri. Hermann und
Blümner, Griech. Privataltertümer 8. 437 f. Marquardt, Privatleben n,
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 6
82 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [60. 61]
Hausgeräten: die Bank (bößO, subsellium), der Lehnstuhl (fimnp,
xad-iÖQa), der Vorhang (pVH, velum), der Spiegel (ambpfiOÄ, specu-
laria), | korinthische Leuchter 2S0. Für Speisen und Getränke z. B.:
die Platte («iOB, tabula), der Teller (kbonpo«, scuteüa), die Schale
Obifc, g>iaXrj\ die Serviette (ntE, mappa)231. Für Behältnisse aller
Art ist die allgemeinste Bezeichnung p^n, d^xrj 232. Spezielle Arten
von Hohlgefäßen sind: der Korb (ntoip, cupa), das Weinfaß (ot^ß,
jtl&og)2™, der Kasten (Wüpoiba, ylcooooxotiov) , die Kiste (KiOTp,
xafuitQa), das Kästchen (KOfcp, capsa), der Sack (tpiltt, fiaQöv-
jtiov) 234.
726. Per rot et Chip i ex ^ Histoire de l'art dans Cantiquüe t HI, 1885, p.
732 — 750 (mit zahlreichen Abbildungen phönizischer Glasgeföße).
230) bößö Schabbath XXIII, 5. Baba bathra IV, 6. Sanhedrin II, 1/w.
Kelim II, 3. XXII, 3. Mikwaoth V, 2. £aWm III, 3. IV, 4. Krauß H, 408 f.
Vgl. Marquardt II, 704. — mmrp Kethuboth V, 5. Jk/iw IV, 3. XXII, 3.
XXIV, 2. Krauß II, 572. Marquardt H, 705. — y»Vn 2Te/im XX, 6. XXIV, 13.
Krauß II, 235 f. — *v*p»OK Kelim XXX, 2. Krauß II, 93. — Korinthische
Leuchter im Besitz des Königs Agrippa, Joseph. Vita 13. Es sind Leuchter
aus korinthischem Erz, wie das Nikanortor am Vorhof des Tempels in Je-
rusalem (s. oben 8. 64). Die kostbaren korinthischen Geräte waren so sehr
Mode, daß am kaiserlichen Hof in Rom ein eigener Diener mit der Sorge
dafür beauftragt war, der a Corinthiis oder Corinthiarius hieß. S. Mau Art.
a Corinthiis und Corinthium aes in Pauly-Wissowas Real-Enz. IV, 1232 ff. —
Über Judaica vela mit monströsen Tierbildern, welche zur Zeit des Dichters
Olaudianus um 400 nach Chr., wahrscheinlich in Alexandria, angefertigt wurden,
s. Birt, Rhein. Museum N. F. Bd. 45, 1890, S. 491-493.
231) Ktaö Schabbath XXI, 3. Bexa I, 8. Moed katan HI, 7. Edujoth HI, 9
(sonst heißt ttbaa auch eine Marmorplatte im Fußboden Sota II, 2. Middoth
I, 9. III, 3, oder eine Tafel mit Abbildungen Bosch haschana II, 8). Krauß
II, 254. — »boipö» Moed katan III, 7. Kelim XXX, 1. — iV* Sota II, 2.
Krauß II, 443 f. Marquardt II, 632. — MEra Berachoth VIII, 3. Marquardt
n, 469.
232) p^n Schabbath XVI, 1. Kelim XVI, 7-8. Krauß H, 5S8.
233) Mfilp (rundes Hohlgefäß, Tonne, Korb) Pea VIII, 7. Demai II, 5.
Schabbath VIII, 2; X, 2; XVIII, 1; Schekalim III, 2; Bexa IV, 1; Kethuboth
VI, 4. Kelim XVI, 3. XVII, 1. XXVIII, 6. Ohaloth VI, 2. Tohoroth IX, 1. 4.
Mikwaoth VI, 5. X, 5. Machschirin IV, 6. VI, 3. Krauß II, 516. — Öt^to
(richtiger Dtv*B) Äi&a wexta IV, 12. Baba bathra VI, 2. JTe/tm III, 6. Krauß
II, 440 f. Marquardt II, 445. 626 f. Hermann und Blümner, Privataltertümer
S. 162.
234) atapö-fo Oittin III, 3. Baba mexia I, 8. Meila VI, 1. Ohaloth IX, 15.
Nach der letzteren Stelle konnte ein Sarg die Form eines ylwoadxofiov oder
einer xd^nxQa haben. Die LXX (II Chron. 24, 8. 10. 11) setzen yXcooodxo/uov
für *p*iK. Im Neuen Testamente (Joh. 12, 6. 13, 29) ist ylmaoöxofjLOv ein Geld-
kasten/ S. überh. das Material bei Krauß II, 175 f. 213. Wetstein Nov. Test,
zu Joh. 12, 6. Hatchy Essays in Biblical Greek, 1889, p. 42 sq. und die Lexika,
— ansap Kelim XVI, 7. Ohaloth IX, 15. — KCBp JTc/?w XVI, 7. Krauß
[61. 62] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 83
Mit den angeführten Beispielen ist der Schatz griechischer und
lateinischer Worte in der Mischna noch lange nicht erschöpft. Sie
genügen aber, um einen lebhaften Eindruck davon zu geben, wie
vollständig man auch in Palästina, wenigstens im zweiten Jahr-
hundert nach Chr., abendländische Sitten und Gebräuche angenom-
men hatte. Der Einfluß des Griechischen geht aber noch weiter.
Selbst in Fällen, wo es sich nicht um Einführung abendländischer
Produkte und Begriffe handelt, begegnet uns in der Mischna der
Gebrauch griechischer Worte. Die Luft heißt T^a (a^)235,
die | Form off»ö (tvxoq\ die Probe oder das Muster anayn (fciypa) 236.
Ein Unkundiger oder Nichtfachmann oder Privatmann heißt tD^in
(IdicSxrjs), ein Zwerg DDD (vavvoq), ein Räuber O^TDöb (työTTJg), die
Mörder D^np^o (siearii) 237. Für den Begriff „schwach** oder „krank44
wird der griechische Ausdruck o^ttöÄ (aod-evrJQ) gebraucht, für
„abschüssig** onfcttp (xara<psQrjg) 238. Im Targum Onkelos finden
sich z. B. Worte wie O^M (ßaöig), C|ba (ylv<p<D), T"TD (xrjQvtrcai), OW3
(p6fiog\ op^tD (ra^ig) und ähnliches239. — Ziemlich häufig ist auch
der Gebrauch griechischer und lateinischer Eigennamen,
II , 517 f. Marquardt II, 705 f. — Sprwa Schabbath VIII, 5. Kelim XX, 1.
Krauß II, 353.
235) -vn» Schabbath XI, 3. Chagiga I, 8. Kelhuboth Xm, 7. Gittm VIII, 3.
Kinnim II, 1. Kelim I, 1. H, 1. 8. HI, 4 u. sonst Ohaloth HI, 3. IV, 1.
Sabim V, 9. Krauß II, 17 f.
236) öfi^ö z. B. die verschiedene Form des Brotes (Demai V, 3—4), oder
die Form, in welcher das Brot gebacken wurde (Menachoth XI, 1), oder der
Behälter für die Tephillin {Kelim XVI, 7), oder das Formular für den Scheide-
brief (Gittin III, 2. IX, 5). S. auch Krauß II, 215. 258. — xnm Schabbath
X, 1: eine Probe von Sämereien. S. auch Krauß II, 187.
237) b wn sehr oft, in den verschiedensten Beziehungen, z. B. vom Laien
im Unterschied vom berufsmäßigen Handwerker (Moed katan I, 8. 10), oder
vom Privatmann im Gegensatz zum Fürsten und Beamten (Nedarim V, 5.
Sanhedrm X, 2. Gittin I, 5); auch vom gewöhnlichen Priester im' Unterschied
vom Hohenpriester (Jebamoth II, 4. VI, 2. 3. 5. VII, 1. IX, 1. 2. 3). Vgl.
auch Krauß II, 220 f. — Ö33 Bechoroth VII, 6, und in dem Eigennamen
D33 p iwaü Bückurim HI, 9. Schabbath XVI, 5 und sonst; auch von Tieren
(Para H, 2) und Gegenständen (Tamid IH, 5. Middoth III, 5). Vgl. auch
Krauß H, 364 f. — ö^üd! gewöhnlich im plur. n^üDb Berachoth I, 3. Pea Ut
7—8. Schabbath H, 5. Pesachim HI, 7. Nasir VI, 3. Baba katnma VI, 1. X, 2.
Krauß H, 315 f. — D^piö Machschirin I, 6. Gewöhnlich in unkorrekter
Form 'pp'npiö als Sing. Bikkurim I, 2. H, 3. Gittin V, 6. Krauß H, 392 f.
Vgl. dazu oben § 19, I, 574 f. Krauß, Byzantin. Zeitschr. II, 1893, S. 511 f.
(erklärt oixaoixöv = Rauberwesen).
238) o-toöä Berachoth Uy 6. Joma HI, 5. — önßüp Ohaloth HI, 3. To-
horoth VHI, 8. 9. — Mehr bei Krauß H, 651 f.
239) Vgl. die Zusammenstellung von Brederek, Theol. Stud. u. Krit.
1901, S. 376 1
6*
84 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [62. 63]
sogar bei den niederen Ständen und bei den pharisäischen Schrift-
gelehrten. Nicht nur die vornehmen griechenfreundlichen Hohen-
priester nannten sich Jason und Menelaus (in der Makkabäerzeit),
Boethus und Theophilus (in der herodianischen Zeit) ; nicht nur die
hasmonäischen und herodianischen Forsten hießen Alexander, Aristo-
bulus, Antigonus, Herodes, Archelaus, Philippus, Antipas, Agrippa.
Auch bei Männern aus dem Volke, wie bei den Aposteln Jesu
Christi, kommen Namen wie Andreas und Philippus vor. Und in
den Kreisen der rabbinischen Schriftgelehrten finden wir einen
Antigonus aus Socho, einen K. Dosthai (= Dositheus), einen R Dosa
ben Archinos (so nämlich, nicht Harkinas, lautet der griechische
Name des Vaters), K. Chananja ben Antigonus, R Tarphon (= Try-
phon), R Papias, R Simon ben Menasia (= Mnaseas), Symmachus.
Auch lateinische Namen beginnen früh sich einzubürgern. Der im
Neuen Testamente erwähnte Johannes Marcus ist nach Apgesch.
12, 12 ein Palästinenser; ebenso Joseph Barsabas mit dem Beinamen
Justus (Apgesch. 1, 23). Josephus erwähnt außer dem bekannten
Justus von Tiberias z.B. auch einen Niger aus Peräa240. |
Mit allem Bisherigen ist nun freilich nicht gesagt, daß auch
die griechische Sprache dem gemeinen Manne in Palästina ge-
läufig war. Mag die Zahl der griechischen Worte, die in das
Hebräische und Aramäische eindrangen, noch so groß sein: für
die Masse des Volkes ist damit die Kenntnis des Griechischen nicht
erwiesen. In der Tat muß nun angenommen werden, daß die
niedern Stände in Palästina entweder keine oder doch nur eine
ungenügende Kenntnis des Griechischen besaßen 24 K Als der Apostel
Paulus in Jerusalem zum Volke sprechen wollte, bediente er sich
der hebräischen (aramäischen?) Sprache (Act. 21, 40. 22, 2). Als
Titus bei der Belagerung Jerusalems wiederholt die Belagerten
240) Vgl. überh.: Zunz, Namen der Juden (Gesammelte Schriften 11,1 — 82).
Hamburger, Real-Enzyklop. für Bibel und Talmud, IL Abt., Artikel „Namen".
Ein reichhaltiges Verzeichnis griechischer und lateinischer Eigennamen in der
rabbinischen Literatur gibt Low bei Krauß II, 647—650.
241) Für Syrien überhaupt hat auf das Fortleben der aramäischen Landes-
sprache Mommsen aufmerksam gemacht (Römische Geschichte V, 451—454).
Noch starker hat dasselbe Nöldeke betont in seiner Besprechung von Momm-
sens Werk (Zeitschr. der DMG. Bd. 39, 1885, S. 331 ff.) S. 334: „Wenn selbst
in der Weltstadt Antiochia der gemeine Mann aramäisch redete (Malala II, 110
ed. Oxon. — p. 395 ed. Dindorf: ytLvi na()0jvv/nrjv i&rjxav ol *Avtiox&<Z B<*m
yovkäv), so kann man ruhig annehmen, daß im Binnenlande das Griechische
nicht Sprache der „Gebildeten" war, sondern nur derer, welche es speziell
gelernt hatten". Vgl. auch Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht in den
östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs (1891) S. 24—35. Well-
hausen, Israelitische und jüdische Geschichte (1894) S. 192.
[63] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 85
zur Übergabe aufforderte, geschah dies stets in aramäischer Sprache,
sei es nun, daß Titus den Josephus mit der Rede beauftragte, oder
daß er im eigenen Namen durch Vermittelung eines Dolmetschers
sprach242. Die etwaige Kenntnis des Griechischen von Seiten des
Volkes war also jedenfalls keine genügende243. Andererseits ist
242) Josephus: Bell. Jud. V, 9, 2. VI, 2, 1. Dolmetscher: B. J. VI, 6, 2.
— Wenn es einigemal scheint, als ob Titus direkt zum Volk gesprochen hätte
(B. J. V, 9, 2. VI, 2, 4), so sieht man gerade bei der letzteren Stelle, daß dies
nur Schein ist: Josephus muß seine Bede dolmetschen (B. J. VI, 2, 5 init).
243) Aus späterer Zeit sei noch folgendes hervorgehoben: 1) Von dem be-
rühmten R. Jochanan, der im dritten Jahrhundert n. Chr. in Sepphoris
und Tiberias lehrte (Bacher, Die Agada der palästinensischen Amoräer Bd. I,
1892, S. 220), wird als etwas Bemerkenswertes berichtet, daß er gestattete, die
Mädchen Griechisch zu lehren (Bacher S. 257). So wenig war dies also an sich
die Sprache der Bevölkerung. — 2) In der christlichen Gemeinde zuSkytho-
polis gab es zur Zeit Diokletians einen Beamten, welcher beim Gottesdienst
„die griechische Sprache in die aramäische" zu übertragen hatte, offenbar für
die des Griechischen unkundigen Gemeindeglieder (Euseb. De mart. Palaestinae,
nach dem vollständigeren syr. Text, bei Zahn, Tatians Diatessaron 18S1, S. 19,
und Violet in: Texte und Untersuchungen von Gebhardt und Harnack XIV, 4,
1896, S. 4). — 3) Für die christliche Gemeinde zu Jerusalem um 385—388 (?)
nach Chr. ist uns dasselbe bezeugt durch die Pilgerschrift, welche ihr erster
Herausgeber Gamurrini der Silvia von Aquitanien zugeschrieben hat (& Hilarii
TraetatuB de mysteriis et Hymni et S. Silviae Aquitanae Peregrinatio ad loca
saneta ed. Gamurrini, Romae 1887; neue Ausg. in: Itinera Hierosolymi-
tana saeculi Uli— VIII ed. Geyer 1898 — ■ Corp. Script, eccl. lat. vol. XXXVIUIj
über die mutmaßliche Verfasserin s. bes. B lud au, Katholik 1904, II. Hälfte,
und Krüger in Herzog-Hauck. Real-Enz. 3. Aufl. XVIII, 1906, S. 345-347,
Art. „Silvia"; die Ansetzung um 385—388 n. Chr. ist die gewöhnliche; Cler-
mont-Ganneau ist geneigt, die Schrift erst in die erste Hälfte des sechsten
Jahrh. n. Chr. zu setzen, s. Becueü d'archeol. Orientale VI, 1905, p, 128 — 144).
Es heißt hier p. 99 ed. Geyer: Et quoniam in ea prorincia pars populi et
graece et siriste [d. h. ZvqiovI, aramäisch] novit, pars etiam alia per se graece,
aliqua etiam pars tantum siriste: itaque quoniam episcopus, licet siriste
noverit, tarnen semper graece loquitur et nunquam siriste, itaque ergo stat
semper presbyter, qui episcopo graece dicente siriste interpretatur, ut omnes
audiant, quae exponuntur. Lectiones etiam, quaecumque in ecclesia legunturf
quia necesse est graece legi, semper stat, qui siriste interpretatur propter popu-
lum, ut semper discant. Sane quicumque hie Laiini sunt, id est qui nee siriste
nee graece noverunt, ne contristentur, et ipsis exponitur eis, quia sunt alii
fraires et sorores Graeco- Laiini, qui latine exponunt eis. — 4) In Gaza spricht
um 400 n. Chr. ein Knabe aus dem Volke tg Zvqojv yxovjj. Seine Mutter
versichert, ftrjdh akt^v (irjöh xb ahxrj<; xtxvov elSivai 'EXXtjvktvI (Marci Diaeoni
vita Porphyrii episcopi Gaxensis c. 66—68 [ed. Haupt in: Abhandlungen der
Berliner Akademie 1874; edd. Societatis philol. Bonnern, sodales 1695]). Auf
letztere Stelle hat Arnold Meyer, Jesu Muttersprache S. 156 aufmerksam
gemacht. Zwei Heilige von Gaza haben syrische Namen: Barochas und
Barsanuphius, s. über sie die Acta Sanet. an den von Kohler, Revue de
l' Orient Latin V, 1897, p. 483 nachgewiesenen Stellen.
86 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [64. 65]
es aber doch wahrscheinlich, daß eine notdürftige Kenntnis des
Griechischen ziemlich verbreitet war, und daß die Höhergebildeten
sich ohne Schwierigkeit desselben bedienten244. Die hellenistischen
Gebiete begrenzten nicht nur Palästina fast auf allen Seiten,
sondern schoben sich auch weit in das Land herein (Samaria,
Skythopolis). Eine stete Berührung mit ihnen war unvermeidlich.
Diese ist aber auf die Dauer nicht denkbar, ohne daß auch in
Palästina eine gewisse Kenntnis der griechischen Sprache sich
verbreitete. Dazu kommt, daß das Land vor und nach der has-
monäischen Periode unter Herrschern stand, deren Bildung die
griechische war: zuerst unter den Ptolemäern und Seleuciden,
dann unter den Römern und Herodianern; ja auch die Hasmonäer
haben zum Teil die griechische Bildung befördert. Die fremden
Herrscher brachten | aber zugleich eine gewisse Summe griechisch
gebildeter Elemente in das Land. Namentlich wissen wir von
Herodes, daß er sich mit griechischen Literaten umgab (s. § 15).
Fremde Truppen standen im Lande. Herodes hatte sogar thra-
cische, germanische und gallische Mietstruppen245. Die Festspiele,
die Herodes in Jerusalem gab, brachten nicht nur fremde Künstler,
sondern auch auswärtige Zuschauer in die heilige Stadt246. Am
stärksten war aber der Fremdenzufluß bei den großen jüdischen
Jahresfesten. Die Tausende von Juden, die bei dieser Gelegenheit
aus aller Welt nach Jerusalem kamen, waren zum großen Teil
nach Sprache und Bildung Hellenisten. Aber nicht nur griechische
244) Die Frage nach der Verbreitung des Griechischen in Palästina ist
schon in älterer Zeit vielfach verhandelt worden. Die reichhaltige Literatur
ist verzeichnet bei Hase, Leben Jesu §29, Anm. b. Credner, Einleitung in
das Neue Testament 8. 183. Volbeding, Index Dissertationum quibus singidi
historiae N. T. etc. loci illustrantiir (Lips. 1849) p. 18. Danko, Historia Re~
relationis divinae Nov. Test. (Vindob. 1867) p. 216 sq. Arnold Meyer, Jesu
Muttersprache 1896, S. 17 ff. — Aus neuerer Zeit vgl. namentlich Hug, Einl.
in die Schriften des N. T. (4. Aufl. 1847) II, 27—49. Rettig, Ephemerides ex-
ejetico-theolojicae fasc. III (Oissae 1824) p. 1—5. Thiersch, Versuch zur Her-
stellung des histor. Standpunkts etc. (1845) S. 48 ff. Roberts, Discussions on
the Qospels. Cimbrid/e and London 1864, MacmiUan and Co. (571 p. 8.);
Delitzsch, Saat auf Hoffnung 1874, 8. 201 ff. Gla, Die Originalsprache des
Matthäusevangeliums (1887) S. 122 — 143. Roberts, Greek the Language of
Christ and His Apostles, London 1888 (510 p). T K. Abbott, Essays chiefiy
on the original texts of the Old and New Testaments, London 1891, p. 129—182:
To what extent was greek the language of Oalilee in the time of Christ? (vgl.
Theol. Litztg. 1892, 537). Arnold Meyer, Jesu Muttersprache, 1896, S. 59 ff.,
155 ff. Zahn, Einl. in das N. T. 1, 1897, S. 24—51. Thumb, Die griechische
Sprache im Zeitalter des Hellenismus, 1901, S. 105 f.
245) AiUt. XVII, 8, 3.
246) Antt. XV, 8, 1.
[65. 66] II, 2. Der Hellenismus im jüdischen Gebiete. 87
Juden, sondern auch "wirkliche Griechen, nämlich Proselyten, kamen
zu den jüdischen Festen nach Jerusalem, um im dortigen Tempel
zu opfern und anzubeten (vgl. Ev. Joh. 12, 20 ff.). Man wird die
Zahl dieser alljährlich nach Jerusalem wallfahrenden Proselyten
sich als ziemlich erheblich vorzustellen haben. Von den Juden,
die im Auslande griechische Bildung angenommen hatten, ließen
wiederum manche sich in Jerusalem zu dauerndem Aufenthalte
nieder und bildeten dort sogar eigene Gemeinden. So finden wir
zur Zeit der Apostel in Jerusalem eine Synagoge der Liber-
tiner, Cyrenäer, Alexandriner, Cilicier und Asiaten, wobei
dahingestellt bleiben mag, ob es sich um eine oder um fünf Ge-
meinden handelt (Apgesch. 6, 9. Vgl. 9, 29) 247. In Galiläa hatten
die größeren Städte wahrscheinlich einen Bruchteil griechischer
Einwohner. Bestimmt wissen wir dies von Tiberias248, um von
dem vorwiegend nicht-jüdischen Cäsarea Philippi zu schweigen. —
Bei diesem starken Hereindringen griechischer Elemente in das
Innere Palästinas muß doch auch dort eine notdürftige Kenntnis
des Griechischen nicht ganz selten gewesen sein. Und so weisen
nun einzelne Spuren in der Tat auf eine solche hin. Während
noch die Hasmonäer ihre Münzen mit griechischer und hebräischer
Aufschrift prägen ließen, haben die von den Herodianern und
Römern | auch für das eigentlich jüdische Gebiet geprägten Münzen
lediglich eine griechische Aufschrift249. Die Angabe der Mischna,
daß sogar im Tempel gewisse Gefäße mit griechischen Buchstaben
bezeichnet waren, ist dort allerdings nur durch eine Autorität
(B. Ismael) vertreten, während nach vorherrschender Überlieferung
die Buchstaben hebräische waren250. Wenn ferner in der Mischna
bestimmt wird, daß Scheidebriefe auch griechisch geschrieben sein
247) Eine Synagoge der Alexandriner zu Jerusalem auch Tosephta
Megitla TR ed. Zuckermandel p. 224, 26. jer. Megilla 73 d (bei Light foot, Horae
zu Act 6, 9). Im babylon. Talmud MegiUa 26a steht dafür: Synagoge der
tPWiD, was neuere Gelehrte (Derenbourg, Histoire de la Palestine p. 263, Neu-
bauer, Geographie du Talmud p. 293, 315) erklären: „Synagoge der Tarsens er",
also Cilicier. Es dürfte jedoch die ältere Erklärung „Synagoge der Kupfer-
schmiede {fabri aerarii)" vorzuziehen sein. 8. Buztorf, Lex. Chald. coL 917.
Levy, Neuhebr. Wörterb. s. v. ^öta.
248) Job. Vita 12.
249) Daß diese griechische Aufschrift der in Palästina geprägten Münzen
allgemein verstanden wurde, darf freilich nicht aus der Geschichte vom Zins-
groschen im Neuen Testamente (Mt. 22, 19 ff. Mc. 12, 15 f. Luc. 20, 24) ge-
schlossen werden. Denn dieser Zinsgroschen war nach dem oben S. 74 Be-
merkten wahrscheinlich ein römischer Denar mit lateinischer Aufschrift. Vgl.
die Abbildung bei Madden, History of Jewish Goinage p. 247.
260) Schekalim HI, 2.
88 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [66. 67]
dürfen251, und daß die heiligen Schriften auch in griechischer
Übersetzung gebraucht werden dürfen252, so kann sich beides auf
die jüdische Diaspora außerhalb Palästinas beziehen. Die Notiz
dagegen, daß zur Zeit des Titas- (oder richtiger Quietus-)Krieges
verboten wurde, daß jemand seinen Sohn im Griechischen unter-
richte253, setzt doch voraus, daß bis dahin auch in den Kreisen
des rabbinischen Judentums das nun Verbotene vorkam 254. Ebenso
läßt es sich nur aus einer gewissen Vertrautheit mit dem Griechi-
schen erklären, wenn in der Mischna öfters zur Veranschaulichung
gewisser Figuren griechische Buchstabennamen gebraucht werden,
z. B. ij> zur Veranschaulichung der Figur X, oder araa zur Ver-
anschaulichung der Figur -T255.
Seit Beginn der römischen Herrschaft ist zu der griechischen
Sprache und Kultur auch die lateinische hinzugekommen256.
Doch ist das Lateinische, wie überhaupt in den östlichen Pro-
vinzen, so auch in Palästina, erst in der späteren Kaiserzeit stärker
eingedrungen. In den ersten Jahrhunderten bedienten sich die
römischen Beamten im Verkehr mit den Provinzialen wohl aus-
schließlich der griechischen Sprache. Nur für offizielle Urkunden,
Inschriften und dergleichen wurde schon seit Cäsars Zeit auch das
Lateinische angewandt. So befahl z. B. Cäsar den Sidoniern, sein
Ernennungsdekret für den jüdischen Hohenpriester Hyrkan IL auf
einer ehernen | Tafel in griechischer und römischer Sprache in
Sidon aufzustellen (Antt. XIV, 10, 2). Ein anderes Aktenstück aus
jener Zeit sollte in derselben Weise in römischer und griechischer
Sprache in den Tempeln zu Sidon, Tyrus und Askalon aufgestellt
werden (Antt XIV, 10, 3). Marcus Antonius befahl den Tyriern,
ein von ihm erlassenes Dekret in römischer und griechischer Sprache
an einem öffentlichen Orte aufzustellen (Antt. XIV, 12, 5). In
Jerusalem waren im Tempel an der Umfriedigung (öqv<poxtoq),
über welche hinaus den Heiden ein weiteres Vordringen in das
Heiligtum nicht gestattet war, an verschiedenen Stellen Tafeln
251) Ötttin IX, 8.
252) Megiüa I, 8.
253) Sota IX, 14.
254) Vgl. überh. über die Stellung des rabbinischen Judentums zur grie-
chischen Bildung: Hamburger, Beal-Enzykl. II. Abt Art. „Griechentum".
Bacher, Die Agada der Tannaiten Bd. II, 1890, Sachregister unter „Grie-
chisch".
255) *3 Menachoth VI, 3. Kelim XX, 7. — ttfflä Middoth IH, 1. Kelim
XXVIII, 7. '
256) Vgl. hierüber: Hahn, Born und Bomanismus im griechischen Osten,
mit besonderer Berücksichtigung der Sprache, bis auf die Zeit Hadrians, 1906.
[67. 68] III. Stellung des Judentums zum Heidentum. 89
(örTJlat) mit Inschriften angebracht, welche teils in griechischer,
teils in römischer Sprache jenes Verbot verkündigten (Bell. Jud.Y,
5, 2. VI, 2, 4). Auch die Aufschrift am Kreuze Christi war ja in
hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache ausgefertigt
(Joh. 19, 20). Über einen derartigen offiziellen Gebrauch wird aber
die Verbreitung des Lateinischen in Palästina in der ersten Zeit
der römischen Herrschaft nicht weit hinausgegangen sein.
III. Stellung des Judentums zum Heidentum.
Je stärker und beharrlicher das Heidentum fortwährend nach
Palästina hereindrängte, um so energischer fühlte sich das gesetz-
liche Judentum zur Abwehr desselben aufgefordert. Im allgemeinen
konnte ja freilich, wie gezeigt wurde, das Hereindringen heidnischer
Kultur nicht verhindert werden. Eben deshalb aber wurden von
der wachsamen Schriftgelehrsamkeit nur um so ängstlicher und
peinlicher die Schranken zur Abwehr alles Ungesetzlichen gezogen.
Die äußerste Wachsamkeit in dieser Beziehung war allerdings für
das Judentum eine Lebensfrage. Wollte es in dem Kampf um
das Dasein, den es führte, nicht unterliegen, so mußte es mit größter
Energie den Gegner von sich abwehren. Aber die Peinlichkeit,
mit der hierbei verfahren wurde, hat die Gefahr, die man abwehren
wollte, und die man in der Tat auch siegreich bestand, dabei doch
zugleich unendlich vervielfacht. Denn je subtiler die Kasuistik
die Fälle festsetzte, welche als eine direkte oder indirekte Be-
fleckung durch heidnisches Wesen zu betrachten seien, um so häufiger
war eben die Gefahr einer solchen. So brachte denn die Entwick-
lung der Dinge den frommen Israeliten in eine fast unerträgliche
Situation. Fast täglich kam er in Berührung mit heidnischem
Wesen: sei es nun mit den Personen oder doch mit den Waren
und Gegenständen, welche auf dem Wege des Handels und Ver-
kehres in Palästina Eingang suchten und fanden. Und dabei
wurde durch den Eifer der Schriftgelehrten | eine immer größere
und mannigfaltigere Zahl von Fällen aufgestellt, in welchen der
gesetzesstrenge Israelite durch heidnisches Wesen verunreinigt
werden konnte.
Besonders zwei Puükte waren es, welche bei der Abwehr
heidnischen Wesens ins Auge zu fassen waren: 1) der heidnische
Götzendienst und 2) die heidnische Nichtbeobachtung der levitischen
Beinheitsgesetze. In bezug auf beide Punkte wurde von der phari-
säischen Schriftgelehrsamkeit mit äußerster Peinlichkeit verfahren.
— 1) In dem Interesse, jede auch nur scheinbare Annäherung an
90 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [68. 69]
den Götzendienst abzuwehren, wurde vor allem das mosaische
Bilderverbot {Ezod. 20, 4 f. Deut. 4, 16 ff. 27, 15) mit rücksichtsloser
Konsequenz gehandhabt1. Daß man freilich lieber alles dulden,
als die Aufstellung von Caligulas Bildnis im Tempel zu Jerusalem
zugeben wollte, war ganz in der Ordnung 2. Aber man wollte über-
haupt von bildlichen Darstellungen, wie etwa zur Zeit des Herodes
von den Trophäen im Theater3 oder von dem Adler am Tempel-
tore4 nichts wissen. Als Pilatus seine Truppen mit den Kaiser-
bildern in Jerusalem einziehen ließ, erhob sich ein förmlicher
Volkstumult 5. Vitellius ließ seine Truppen auf einem Umweg von
Antiochia gegen Petra marschieren, um nur den heiligen Boden
Judäas nicht durch die Kaiserbilder zu beflecken6. Und beim
Ausbruch des Krieges hatte man in Tiberias nichts Eiligeres zu
tun, als den Palast des Antipas zu zerstören, da er mit Tierbildern
geschmückt war7. Es war zwar nicht zu vermeiden, daß Silber-
münzen mit dem Bilde des Kaisers auch in Palästina zirkulierten
(JUL 22, 19 ff. und Parallelen); denn im Lande selbst wurde kein
Silbergeld geprägt (s. oben S. 73). Aber die in Palästina geprägten
Kupfermünzen waren aus schonender Rücksicht nicht mit einem
Kaiserbilde versehen8. Wenn der berühmte Schriftgelehrte Ga-
maliel IL seinen Besuch des Bades der Aphrodite zu Akko (Ptole-
mais) damit rechtfertigte, daß ja das Bild der Aphrodite um des |
Bades willen, und nicht das Bad um der Aphrodite willen da sei 9,
so war dies eine Betrachtungsweise, die in den Kreisen des ge-
setzlichen Judentums keineswegs allgemein als gültig anerkannt
war. Und wenn die Anwendung von Tierbildern zu dekorativen
Zweckenjin der jüdischen Diaspora zuweilen vorkam (s.oben S.65f),
so ist dies von den strengeren Kreisen sicher nicht gebilligt worden.
Erst im europäischen Mittelalter, als die Gefahr des „Götzen-
1) Vgl. Winer RWß. Art. „Bildnerei". Rüetschi Art. „Bilder" in
Herzogs Real-Enz., 2. Aufl. IT, 460 ff. Kieinert Art. „Bilderdienst und Bilder
im A. T.", ebendas. 3. Aufl. in, 217—221. Wieseler, Beiträge zur richtigen
Würdigung der Ew. S. 84 ff.
2) Antt. XVEI, 8. B. J. II, 10.
3) Antt. XV, 8, 1-2.
4) Antt XVII, 6, 2. B. J. I, 33, 2.
5) Antt. XVIII, 3, 1. B. J. II, 9, 2—3.
6) Antt. XVIII, 5, 3. Näheres über die Kaiserbilder s. oben § 17 c,
I, 484f.
7) Vita 12.
8) Ewald, Gesch. des Volkes Israel V, 82 f. Madden, History ofJeurish
Coinage p. 134 — 153. De Saulcy, Numismatique de la Terre Sainte p. 69 sqq.
pl. m u. IV. Madden, Coins of the Jews, 1881, p. 170—187.
9) Aboda sara III, 4.
[69. 70] LH. Stellung des Judentums zum Heidentum. 91
dienstestt zurücktrat, hat eine laxere Praxis weiter um sich ge-
griffen (s. oben S. 66). — Um der Gefahr einer direkten oder in-
direkten Begünstigung des Götzendienstes oder irgendwelcher Be-
rührung mit demselben vorzubeugen, wurde verboten, daß ein
Israelite drei Tage vor den heidnischen Festtagen, nach E. Ismael
auch drei Tage nach ihnen, mit Heiden Geschäfte mache, ihnen
etwas leihe oder von ihnen etwas entleihe, ihnen eine Zahlung
mache oder von ihnen eine solche annehme10; und an den heid-
nischen Festtagen selbst sollte ein Israelite überhaupt nicht in der
Stadt verkehren i K Alle Gegenstände, die auch nur möglicherweise
mit dem Götzendienst in Zusammenhang stehen konnten, wurden
verboten. So durfte von heidnischem Weine, da er möglicherweise
Libationswein sein konnte, nicht nur kein Gebrauch gemacht,
sondern überhaupt kein Nutzen gezogen werden 12. „Hat man Holz
von einem Götzenhaine genommen, so ist von solchem alle Nutzung
verboten. Hat man damit den Ofen geheizt, so muß derselbe, wenn
er noch neu war, zerstoßen werden. Ist er aber alt, so muß man
ihn auskühlen lassen. Hat man Brot damit gebacken, so ist (nicht
nur der Genuß, sondern auch) jede Nutzung von demselben ver-
boten. Wurde dieses Brot mit anderem vermischt, so ist davon
jede Nutzung verboten. Wenn man aus einem solchen Baume ein
Weberschiff gemacht hat, so ist jede Nutzung verboten. Hat man
ein Kleid damit gewirkt, so ist vom Kleide jede Nutzung verboten.
Ward dieses Kleid unter andere und diese anderen wieder unter
andere vermengt, so ist von allen die Nutzung verboten" 18.
War schon durch alles dies für eine Trennung von Judentum
und Heidentum hinlänglich gesorgt, so wurde sie 2) noch ver-
schärft durch die Anschauung, daß der Heide, weil er die Rein-
heits|gesetze nicht beobachtet, unrein sei; daher aller Verkehr mit
ihm verunreinige; daß ferner aus demselben Grunde auch die
Häuser der Heiden, ja alle von ihnen herrührenden Gegenstände
— sofern sie überhaupt der Annahme levitischer Unreinheit fähig
sind — als unreine zu betrachten seien 14. Wenn es in der Apostel-
10) Aboda sara I, 1—2.
11) Aboda sara I, 4.
12) Aboda sara U, 3. Vgl. dazu die Gemara (Abodah Sarah oder der
Götzendienst, ein Traktat aus dem Talmud, übersetzt von Ferd. Christian
Ewald, 2. Ausg. 1868, S. 213ff., bes. 221 ff). Über die neuere jüdische Praxis
in betreff des Weines s. Bodenschatz, Kirchliche Verfassung der heutigen
Juden IV, 50 — 54 Schröder, Satzungen und Gebräuche des talmudisch-rab-
binischen Judentums (1851) S. 597—600.
13) Aboda sara HI, 9.
14) Vgl. zum Folgenden auch: Weber, System der altsynagogalen palä-
stinischen Theologie (1880) S. 68 ff.
92 § 22. Allgemeine Kulturverhältnisse. [70. 71]
geschichte heißt, daß ein Jude nicht mit einem Heiden verkehren
dürfe (Act 10,28: ä&dfurov lexiv apÖQi 'Iovdalcp xoXXäod-ai fj jiqoö£q-
Xsö&cu aXXofpvXco) , so ist dies zwar nicht dahin mißzuverstehen,
als ob der Verkehr schlechthin verboten gewesen wäre; wohl aber
ist damit gesagt, daß jeder solche Verkehr eine Verunreinigung
bewirkte. Alle heidnischen Häuser waren als solche unrein 15. Ihr
bloßes Betreten verunreinigte (Joh. 18, 28). Alle Gegenstände, die
von Heiden herrührten und die überhaupt der Annahme levitischer
Unreinheit fähig waren, waren unrein und bedurften vor ihrem
Gebrauch irgendeiner Art der Reinigung. „Kauft jemand Küchen-
geräte von einem Heiden, so muß er, was man durch Untertauchen
zu reinigen pflegt, untertauchen; was ausgekocht wird, auskochen;
was man im Feuer ausglüht, ausglühen; Bratspieße, Roste muß
man ausglühen; Messer aber hat man nur zu schleifen, und sie
sind rein" 16. Abgesehen von dieser Unreinheit, welche viele Gegen-
stände durch den Gebrauch von seiten der Heiden annehmen
konnten, waren endlich manche heidnische Produkte auch schon
dadurch für den Israeliten unbrauchbar, daß bei ihrer Herstellung
die jüdischen Gesetze in irgendeiner Beziehung, namentlich auch
wieder in bezug auf den Unterschied von rein und unrein nicht
beobachtet worden waren. Teils aus diesem, teils aus jenem Grunde
waren manche der gewöhnlichsten Lebensmittel, wenn sie von
Heiden herkamen, dem Israeliten zum Genuß verboten und nur
zur Nutzung (zu Kauf und Verkauf) erlaubt; so namentlich Milch,
welche eine Heide gemolken, ohne daß ein Israelite es gesehen,
ferner Brot und Öl der Heiden 17. Überhaupt durfte kein gesetzes-
15) Ohaloth XVIII, 7. Vgl. Kirchner, Die jüdische Passahfeier und
Jesu letztes Mahl (Progr. des Gymnasiums zu Duisburg 1870) S. 34 — 41. De-
litzsch, Talmudische Studien, XIV: Die im N.T. bezeugte Unreinheit heid-
nischer Häuser nach jüdischem Begriff (Zeitschr. für luth. Theol. 1874, S. 1 — 4).
Schür er, Über <payziv xb näaxa Joh. 18, 28, akademische Festschrift (1883)
S. 23 f. Chwolson, Das letzte Passamahl Christi und der Tag seines Todes
(= M6moire8 de VAcademie imperiale des sciences de St.-P&tersbourg, VII« Serie,
tome XLI, No. 1) 1892, S. 55—59. Bei s er, Tüb. Theol. Quartalschr. 1896,
S. 540. Einen vergeblichen Versuch, die Tatsache abzuleugnen, macht Bfich-
ler, Der galiläische Am-haares (1906) S. 114.
16) Aboda sara V, 12.
17) Aboda sara II, 6. In betreff des Öles s. auch Joseph. Antt XII, 3, 1.
Bell. Jud. II, 21, 2. Vita 13. Über die Motive s. die Gemara (Abodah sarah,
übers, von Ewald, 8. 247 ff.). Milch z. B. war verboten, weil möglicherweise
Milch von unreinen Tieren darunter sein konnte; Ol, weil es von unreinen
Gefäßen Unreinheit angenommen haben konnte (so wenigstens nach einer
Autorität). Die talmudischen Autoritäten sind übrigens selbst schon über die
ursprünglichen Motive nicht mehr überall im Klaren. S. die Diskussionen in
[71. 72] IQ. Stellung des Judentunis zum Heidentum. 93
treuer Israelite es wagen, heidnische Kost zu genießen (Daniel 1, 8.
Judith 10, 5. Tobit 1, 10 f.), oder an. einem heidnischen Tische zu
speisen (Jubil. 22, 16. Act. 11, 3. Oal. 2, 12). Die Juden waren
8eparaH epuHs (Tacit. Rist V, 5) 18. In heidnischen Ländern waren
daher reisende Israeliten in sehr übler Lage; und wenn sie es mit
dem Gesetze genau nehmen wollten, mußten sie sich auf den Genuß
vegetabilischer Rohprodukte beschränken, wie z. B. einige dem
Josephus befreundete Priester, die als Gefangene nach Rom ge-
bracht worden waren, sich dort von Feigen und Nüssen ernährten ,9.
Zu all den bisher angedeuteten Gründen, welche für den ge-
setzestreuen Israeliten den Terkehr und das Wohnen von Heiden
im heiligen Lande zu einer schweren Last machen mußten, kam
endlich noch ein ganz anderer prinzipieller Gesichtspunkt, der
namentlich die Herrschaft der Fremden im Lande Israel als einen
grellen Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit empfinden
ließ. Das Land war ja das Eigentum des auserwählten Volkes.
Nur Israeliten durften Grund und Boden daselbst besitzen. Sogar
das Vermieten von Häusern und Feldern an Heiden war darum
nach der Theorie der Schriftgelehrten verboten 20. Wie mußte man
es bei dieser Anschauung empfinden, daß Heiden sogar das ganze
Land — wenn auch nicht privatrechtlich, so doch staatsrechtlich —
in Besitz hatten? Es begreift sich, daß man unter diesen Um-
ständen die Frage ernstlich erwog, ob es einem gesetzestreuen
Israeliten überhaupt gestattet sei, dem Kaiser den Zins zu be-
zahlen (ML 22, 15—22. Marc. 12, 13—17. Luc. 20, 20—26). |
So zeigen uns also die Verhältnisse ein eigentümliches Doppel-
bild: eine starke Beeinflussung durch heidnische Sitte bei Aufrich-
tung der stärksten Scheidewand gegen dieselbe. Sofern die letztere
der Gemara a. a. O. Grätz, Die Veranlassung zum Verbote des Heiden-Öls
(Monatsschr. für Gesch. u. Wissensch. des Judent. 1884, S. 470 ff.).
18) Vgl. überhaupt: Maimonides im fünften Buche seines großen
Werkes Mischne Thora oder Jod ha-chasaka (Petersburger Übersetzung 4. Bd.
1851). Win er, RWB. Art. „Speisegesetze". Wiener, Die jüdischen Speise-
gesetze nach ihren verschiedenen Gesichtspunkten, zum ersten male wissen-
schaftlich-methodisch geordnet und kritisch beleuchtet 1895. Kohl er, Art.
Dietary Laws in: The Jewish Eneyclopedia IV, 1903, p. 596—600. Orelli,
Art „Speisegesetze bei den Hebräern" in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl.
XVm, 1906, S. 603—607.
19) Jos. Vita 3.
20) Aboda sara I, 8. Das Vermieten der Felder war noch strenger
verboten als das der Häuser; denn man überließ damit nicht nur Grundeigen-
tum an Heiden, sondern bewirkte auch, daß der Zehnte vom Ertrag des
Bodens nicht entrichtet wurde. S. die Gemara (Abodah sarah, übers, von
Ewald, S. 154ff.).
96 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [73. 74]
regierende Gewalt nicht nur fftr die Stadt selbst, sondern auch für
alle diejenigen Dörfer und Städte, die oft in weitem Umkreis zum
Gebiete der Stadt gehörten2. Die ganze philistäisch-phönizische
Küste zerfiel auf diese Weise in eine Anzahl zum Teil sehr be-
deutender städtischer Kommunen. Demnächst haben wir als solche
zu betrachten die hellenistischen Städte | im Osten und Nordosten
Palästinas, aber auch die hellenisierten Städte im Innern Palästinas,
wie Samaria und Skythopolis, und wohl auch die von Herodes und
seinen Söhnen gegründeten, von einem erheblichen Bruchteil nicht-
jüdischer Einwohner bevölkerten Städte.
Bei aller Selbständigkeit haben natürlich auch diese Städte
die politischen Schicksale des übrigen Palästinas im wesentlichen
geteilt. In der Diadochenzeit wechselte die Herrschaft häufig3.
Um das Jahr 319 vor Chr. setzte sich Ptolemäus Lagi in den
Besitz von Syrien und Phönizien. Den größeren Teil verlor er
schon im folgenden Jahre wieder an Eumenes; und im Jahre 315
2) Die Ausrüstung dieser Städte mit einem eigenen Gebiet von bald
größerem, bald geringerem Umfang wird im folgenden für viele derselben
nachgewiesen werden. — Im allgemeinen vgl. über die hellenistische Städte-
verfassung: F. W. Tittmann, Darstellung der griechischen Staatsverfassungen,
Leipzig 1822. Marquardt, Römische Staatsverwaltung I, 208—215 (1881).
Gilbert, Handbuch der griechischen Staatsaltertümer, Bd. II, 1885. L&vy,
fitudes sur la rie municipale de PAsie Mineure sous les Antonius (Reme des
Studes grecques 1895, p. 203—250; 1899, p. 255-289; 1901,^. 350—371). Oehler,
Art. ßovXj in Pauly-Wissowas Real-Enz. III, 1899, col 1020—1037. Liebenam,
Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche, 1900. Szanto, Die griechischen
Phylen (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, phil.-hist. Kl. 1901, Bd. 144,
Nr. V). Chapot, La prorince romavne proconsulaire d'Asie 1904, p. 89 — 279.
— Viel Material im Index zum Corp. Inser. Oraec. p. 32 sqq. und bei
Dittenberger, Sylloge Inscr. Oraec. ed. 2, t. III (Index) p. 138 — 185. — Über
Wesen und Entwickelung der griechischen nöfoq überh. s. Jak. Burckhardt,
Griechische Kulturgeschichte I, 1898, S. 55—332. Kaerst, Geschichte des
hellenistischen Zeitalters Bd. I, 1901, S. 1—36. — Ober die Verfassung von
Athen, welche das Muster der hellenistischen Städteverfassungen des Orients
gewesen ist, s. Schoemann, Griechische Altertümer, 4. Aufl. bearb. von
Lipsius, Bd. I, 1897.
3) Das Nähere s. bei Droysen* Gesch. des Hellenismus Tl. II — m.
Stark, Gaza und die philistäische Küste S. 347—367. Koepp, Ober die
syrischen Kriege der ersten Ptolemaier (Rhein. Museum Bd. 39, 1884, 8. 209—230).
Niese, Geschichte der griechischen und makedonischen Staaten Bd. II, S. 123 ff.
Bei och, Die auswärtigen Besitzungen der Ptolemäer (Archiv für Papyrus-
forschung Bd. II, 1903, S. 229—250). C. F. Lehmann, Der erste syrische
Krieg und die Weltlage um 275—272 v. Chr. (Beiträge zur alten Geschichte
Bd. 111,1903, S.496— 547). Bei och, Griechische GeschicheIII,2(1904),S.248— 286
(erweiterter Abdruck aus dem Archiv für Papyrusforschung). — Ich folge be-
sonders den beiden zuletzt Genannten.
[74] I. Die hellenistischen Städte. 97
nahm ihm Antigonus auch Palästina ab, indem er Jope und
Gaza eroberte. Drei Jahre später (312 vor Chr.) riß zwar Ptole-
mäns aufs neue das Land an sich, mußte es aber noch im selben
Jahre wieder vor Antigonus räumen, der nun bis zu seinem Tode
in der Schlacht bei Ipsus, also zehn Jahre lang (311—301), im
Besitze blieb4. Fast unmittelbar nach der Schlacht bei Ipsus (301)
besetzte Ptolemäus wieder das südliche Syrien bis in die Gegend
von Sidon (Diodor. XX, 113). Bei der Teilung von Antigonus' Reich'
wurde ganz Syrien dem Seleukus zugesprochen. Aber Ptolemäus
gab die besetzten Gebiete nicht heraus, und Seleukus wandte keine
Gewalt an, um seinen Ansprüchen Geltung zu verschaffen (Diodor-
XXI, 1, 5). So blieb Ptolemäus seitdem tatsächlich im
Besitze Palästinas und des südlichen Phöniziens*. Im
Jahre 296 wurde zwar Samaria durch Demetrius Poliorketes er-
obert (Euseb. Chron. II, 118, vgl. unten Nr. 24 „Sebaste"). Aber
Demetrius verlor schon im Jahre 295 alle außergriechischen Be-
sitzungen. Auch Damaskus muß auf längere oder kürzere Zeit
ptolemäisch gewesen sein, da es von Antiochus I. erobert wurde
(Polyaen. IV, 15, s. unten Nr. 12 „Damaskus")6. Immerhin bleibt
bei Damaskus die Möglichkeit, daß es nur vorübergehend während
des Krieges vom Jahre 274/273 in ptolemäischem Besitz war (so
4) Vgl. Köhler, Das asiatische Reich des Antigonos (Sitzungsberichte
der Berliner Akademie 1898, 8. 824—843), S. 832: „Das Reich des Antigonos
ist nach dem Gesagten als Ganzes von 311 ab zu datieren und hat somit
gerade zehn Jahre lang bestanden Antigonos' Herrschaft erstreckte
sich damals auf ganz Elleinasien von der Küste des ägäischen Meeres bis an
die Grenze von Armenien und umfaßte die syrischen Landschaften bis zum
Rande der arabischen Wüste".
5) Dies scheint mir durch Koepp, Beloch (Archiv S. 230 ff., Gr. Ge-
schichte III, 2, 250 ff.) und Lehmann (S. 512 ff.) erwiesen zu sein. In den
früheren Auflagen habe ich mit Droysen und Stark, welchen teilweise
auch Niese beistimmt, angenommen, daß jene Gebiete vorübergehend auch
unter der Herrschaft des Seleukus I. gestanden hätten. Nach allem, was
wir wissen, ist dies aber sehr unwahrscheinlich. Fraglich ist nur, wie weit
an der phönizischen Küste die Herrschaft des Seleukus sich südlich erstreckte.
S. hierüber Beloch, Archiv S. 233. 236, Gr. Gesch. HI, 2, S. 255. 258 f.; Leh-
mann S. 518 f. 520. 536. Die Städte Tyrus und Sidon, die zunächst nach
der Schlacht bei Ipsus noch von Demetrius Poliorketes, dem Sohne des Anti-
gonus, behauptet wurden, sind wahrscheinlich seit etwa 295 unter ptolemäische
Herrschaft gekommen. Der König von Sidon, Philo kl es, befehligte die
Flotte des Ptolemäus.
6) Über Samaria und Damaskus vgl. auch Lehmann, S. 514. 516. Ob
die Einnahme von Damaskus durch Antiochus in die Zeit des ersten syrischen
Krieges oder, was Lehmann wahrscheinlicher findet, etwas später fallt, kann
hier dahingestellt bleiben. Gegen Lehmann s. Beloch, Griech. Geschichte
III, 2, S. 421.
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 7
9$ § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [74]
Beloch a. a. 0.). Im allgemeinen darf aber als sicher angenommen
werden, daß Ptolemäus IL Philadelphus (285—247 vor Chr.)
Palästina und das südliche Phönizien bereits als ererbten Besitz
von seinem Vater überkommen und nicht erst durch den Krieg
mit Antiochus L, den sogenannten „ersten syrischen Krieg" (274
bis 273 vor Chr.) sich in den definitiven Besitz dieser Länder ge-
setzt hat7. Die durch Inschriften nachweisbare städtische Ära
•von Tyrus vom Jahre 274 vor Chr. kann daher auch nicht in der
definitiven Besitzergreifung Phöniziens durch Ptolemäus IL ihren
Grund haben; vermutlich hängt sie aber mit dem syrischen Krieg
insofern zusammen, als Ptolemäus angesichts des bevorstehenden
Krieges der bedeutenden Stadt, um sie sich günstig zu stimmen,
eben damals die Autonomie verliehen haben wird8. — Die Grenzen
7) Die Zeit dieses Krieges ist durch C. F. Lehmann auf Grund einer
keilinschriftlichen Urkunde genauer ermittelt worden. Er fallt in das J. 38
aer. Sei,, nach babylonischer Rechnung = 274/273 vor Chr. Als Hauptkriegs-
jahr wird das J. 273 zu betrachten sein. S. Zeitschr. f. Assyriologie VI, 1891,
S. 234 ff. (Text der Inschr.), VII, 1892, S. 226 ff., bes. 232 f. (Übersetzung der
Inschr. durch Straßmaie r), Lehmann, Berliner philol. Wochenschr. 1892,
Sp. 1465. Ehrlich, De Catiimachi hymnis quaestiones ehronologieae 1894,
p.2Q sq. Köhler, Sitzungsberichte der Berliner Akad. 1895, S. 969. Leh-
mann, Beiträge zur alten Gesch. Bd. III, 1903, S. 496—512 (der hier sehr
entschieden die Priorität in der Verwertung dieser Urkunde für sich in An-
spruch nimmt). Beloch, Griechische Geschichte 111,2, S. 417 ff.
8) Die Ära von Tyrus v. J. 274 erhellt aus zwei Inschriften, a) Nach der
einen (zu Oum el-Awamid, s. Renan, Mission de PMnicie p. 711 — 725 = Corp.
Inscr. Semit. I. In. 7<=Landau, Beiträge zur Altertumskunde des Orients II,
1899 n. 9= Cooke, Text-book of North- Semitic inscriptions 1903 n. 9) begann
die Ära 37 Jahre später als die seleucidische, was auf 275 oder auch 274 fuhren
würde, b) Auf der anderen (zu Masub, s. Clermont-Qanneauy Revue arcMo-
logique, troisikme s6rie t. V, 1885, p. 380—334 — Clermont-Ganneau, Reeueil
d'arehiol. Orientale t I, 1888, p. 81—86 — Revue des etudes juives t. XII, 1886,
p. 109 — 111 -=G. Hoffmann, Über einige phönikische Inschriften, in: Abh.
der Gott. Ges. der Wissensch. Bd. 36, S. 20—30 — Landau, Beiträge II n. 12
= Cooke y Text-book n. 10) wird das 26. Jahr des Ptolemäus HL Euergetes, d. h.
222/221 vor Chr., dem 53. Jahre der Ära von Tyrus gleichgesetzt, was 274/273
alß Ausgangspunkt ergeben würde. Vielleicht ist dieselbe Ära auch auf Pto-
lemäer-Münzen, die in Tyrus geprägt sind, angewandt (so Six, Vere de Tyr,
in: Numismatic Chronick 1886, p. 97—113). — Als Grund der Ära vermutet
Beloch (Archiv für Papyrusforschung Bd. II, S. 235, Gr. Gesch. HI, 2, 258),
daß damals erst das Königtum in Tyrus durch Ptolemäus Philadelphus ab*
geschafft worden sei. Lehmann (Beitr. zur alten Gesch. Bd. III, S. 519 f.)
wendet dagegen ein, daß es unklug gewesen wäre, angesichts des bevor-
stehenden Feldzuges die Stadt durch einen solchen Akt zu verletzen; wahr-
scheinlicher sei die auch von Beloch als möglich hingestellte Annahme, daß
Philadelphus ihr damals die Selbstverwaltung zurückgegeben habe. Letzteres
war gewiß die Hauptsache; aber die Abschaffung des Königtums wäre damit
[74. 75] I. Die hellenistischen Städte. 9g
des ptolemäischen Gebietes am die Mitte des dritten Jahrhunderts
vor Chr. ergehen sich aus der Tatsache, daß im Kriege des Ptole-
mäus III. Euergetes gegen Selenkus II. Kallinikus die Städte
Damaskus und Orthosias von Ptolemäus zwar belagert, aber
nicht erobert wurden; sie wurden von Seleukus entsetzt, als er im
Jahre 242/241 wieder siegreich nach Süden vordrang (Euseb. Chron.
I, 251, vgl. unten Nr. 12 „Damaskus"). Demnach haben sie vorher
und nachher zum Gebiet der Seleuciden gehört Da Orthosias
etwas südlich vom Eleutherus liegt, wird also die Grenze nicht,
wie vielfach angenommen wird, am Eleutherus, sondern südlich
von Orthosias, zwischen dieser Stadt und Tripolis zu suchen sein 9.
— Die ptolemäische Herrschaft in Palästina dauerte volle hundert
Jahre. | In den Jahren 219—217 vor Chr* nahm zwar Antiochus III.
der Gr. Palästina vorübergehend in Besitz, mußte es aber infolge
der unglücklichen Schlacht bei Raphia wieder aufgeben. Nach dem
Tode des Ptolemäus IV. Philopator fiel er jedoch zum zweiten Male
in Palästina ein, und nun entschied die siegreiche Schlacht bei
Panias im Jahre 198 vor Chr. dauernd zu gunsten der Seleuciden.
Von nun an gehörte Palästina und die ganze philistäisch-
phönizische Küste zum syrischen Reiche10. — Die Ober-
hoheit der Ptolemäer wie der Seleuciden fand ihren Ausdruck
hauptsächlich in zwei Punkten: in der Aufstellung militärischer
Befehlshaber (arQartjyol) in den ihnen unterworfenen Gebieten, und
in der Auferlegung regelmäßiger Abgaben. Von der Organisation
des Steuerwesens in der letzten Zeit der Ptolemäerherrschaft gibt
uns Josephus in seiner Erzählung von dem Steuerpächter Josephus
immerhin vereinbar. Sie war nicht notwendig eine Verletzung der Tyrier,
denn es kommt ganz darauf an, ob diese mit ihrem König, wenn ein solcher
noch existierte, zufrieden waren.
9) Für den Eleutherus als Grenze: Stark, Gaza S. 371. Kuhn, Die
städtische und bürgert. Verfassung dfts rom. Reichs II, 128 1 (weil Strabo XVI
p. 753 den Eleutherus als Grenze zwischen IkXevxlq und Phönizien bezeichnet).
Daß aber Orthosia seleucidisch war, zeigt nicht nur der Krieg vom J. 242/241,
sondern auch die Geschichte des Einfalls Antiochus' des Gr. Bei der Schil-
derung desselben durch Polyb. V, 68, 7—8 „ist deutlich zu erkennen, daß
Orthosia nicht ptolemäisch war" (Hölscher, Palästina in der pers. und
heilenist. Zeit 1903, S. 7). Erst Kalamos bei Tripolis war dem Antiochus
feindlich. Tripolis war also wohl die nördlichste ptolemäische Stadt (so atfch
Beloch, Archiv für Papyrusforschung II, 236 f., Griech. Geschichte III, 2,
S. 260).
10) Das Nähere s. bei Stark S. 375—406. 423 ff. Wilcken, Art. Anti-
ochos HI. in Pauly-Wissowas Real-Enz. Niese, Geschichte der griech. und
makedon. Staaten II, 1899, S. 373 ff. 577 ff. Bevan, The house of Seleueus
1902, I, 311 ff. II, 29-38.
7*
100 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [75. 76]
und seinem Sohn Hyrkanus AntL XII, 4 ein sehr anschauliches
Bild, das trotz seiner romanhaften Färbung doch die Institutionen
selbst gewiß treu widerspiegelt. Man sieht daraus, daß die Ab-
gaben nicht von den Staatsbehörden selbst eingetrieben, sondern
an große Unternehmer verpachtet wurden, denen die Eintreibung
in den einzelnen Städten überlassen blieb11. Wie hoch | und
mannigfaltig die Abgaben zur Zeit der Seleucidenherrschaft waren,
zeigen die Andeutungen iMakk. 10, 29—30. 11, 34—35. 13, 15. 37. 39;
II Makk. 14, 4. Vgl. Joseph. Antt. XII, 3, 3 und dazu aus römischer
Zeit Antt. XIV, 10, 612.
11) Über die Verpachtung der Steuern in Ägypten und den hellenistischen
Staaten überhaupt &. Lumbroso*, Becherches sur F&conomie politique de V&gypte
sous les Lagides (1870) p. 3{S0— 329. Ziebarth, Das griechische Vereinswesen
(1896) S. 19—26. Jouguet, Bulletin de corresp. heUinique XX, 1896, p. 172.
Wilcken, Griechische Ostraka I, 1899, S. 515—555. — Zur Erläuterung von
Jos. Antt. XII, 4 vgl. Stark S. 412—423. Nußbaum, Observationes in Flavii
Josephi Antiquitates (Göttinger Dissertat. 1875) S. 15 — 17. Wellhausen,
Israelitische und jüdische Geschichte (1894) S. 196—198, 4. Aufl. 1901, S. 243
—246. Holleaux, Bevue des itudes juives t. XXXIX, 1899, p. 161—176 [über
§ 155: &fJHpoz£QOV$ zovq ßaaiXiaq = Ptolemäus V. und seine Gemahlin Kleo-
patra]. Gewagte Kombinationen beiSchlatter, Zeitschr. für die alttestamentl.
Wissensch. XIV, 1894, S. 145 ff.; Will rieh, Juden und Griechen vor der
makkabäischen Erhebung (1895) S. 91 ff. Büchler, Die Tobiaden und die
Oniaden 1899, S. 74—91. — Die Erzählung des Josephus erweist sich schon
durch ihren romanhaften Charakter als unhistorisch. Sie setzt aber auch eine
unmögliche Situation voraus. Die Gemahlin des Königs Ptolemäus wird stets
Kleopatra genannt (Antt. XII § 167. 185. 204. 217 ed. Niese). Eine ägyptische
Kleopatra hat es erst seit der Heirat des Ptolemäus V. mit Kleopatra, der
Tochter des Antiochus des Gr. 193/192 vor Chr. gegeben. In der Tat wird
diese Heirat im Anfang der Erzählung erwähnt (§ 154), demnach vorausge-
setzt, daß die Steuerpacht des Joseph, welche 22 Jahre dauerte (Antt. XII, 4,
§ 186 u. 224), in die Zeit des Ptolemäus V., und zwar nach 193 v. Chr., fallt
(der Beiname des Königs Eveoyittiq § 158 fehlt in einigen guten Handschriften
und ist als spätere Glosse zu betrachten^. In dieser Zeit hat Palästina nebst
Nachbargebieten nicht mehr unter der Gewalt der Ptolemäer gestanden.
Allerdings sagt Josephus Antt. XII § 154, wie Appian. Syr. 5, Euseb. Ohron. ed.
Schoene II, 124, Hieronymus zu Daniel 11, 17 (ed. Vallarsi V, 710), Cölesyrien
sei dem Ptolemäus V. von Antiochus d. Gr. als Mitgift für Kleopatra gegeben
worden. Dies war aber im günstigsten Falle ein Versprechen, welches nie
ausgeführt worden ist. Aus den zuverlässigen Angaben des Polybius geht
mit Sicherheit hervor, daß Cölesyrien und Phönizien seit der Schlacht bei
Panias im Besitze der syrischen Könige geblieben ist (Polyb. XXVIII, 1, 2 — 3.
17, 8—9, vgl. oben Bd. I, S. 181). Ptolemäus V. konnte also keine Steuer-
pächter dorthin schicken, wie die Erzählung des Josephus voraussetzt.
12) Zur Erläuterung s. außer den Kommentaren zu den Makkabäer-
büchern auch: Stark, Gaza und die philistäische Küste S. 465 ff. Über die
Steuern im Seleucidenreich überhaupt ist bes. zu vgl. Arisiotelis Oeconom. IT,
[76] I. Die hellenistischen Städte. 10i
Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vor Chr. bietet das
Eeich der Seleuciden mehr und mehr ein Bild der Auflösung dar.
Die Zentralgewalt war durch die fortwährenden Thronumwälzungen
so geschwächt, daß an den Grenzen des Reiches sich eine Menge
unabhängiger Existenzen gründen konnten. In dieser Zeit haben
daher nicht nur die Juden ihre volle Freiheit errungen und be-
hauptet, sondern auch eine Anzahl der größeren Städte, die
schon in den Kriegen zwischen Syrien und Ägypten oft eine selb-
ständige Rolle gespielt haben1, sich unabhängig gemacht und zürn
Zeichen dessen eine neue Zeitrechnung begonnen. So hat Tyrus
eine Ära vom Jahre 126 vor Chr., Sidon eine solche vom Jahre 111,
Askalon von 104, Berytus von 81 vor Chr.13) In anderen Städten
gelang es einzelnen „Tyrannen", die Herrschaft an sich zu reißen.
So finden wir gegen Ende des zweiten und im Anfang des ersten
Jahrhunderts vor Chr. einen Tyrannen Zeno Kotylas in Phila-
djelphia, seinen Sohn Theodorus in Amathus am Jordan, Zoilus
in Stratons-Turm und Dora, Demetrius inGamala14. Und es
ist überhaupt bezeugt, daß die Römer bei ihrer Ankunft in Syrien
daselbst eine Menge kleiner unabhängiger Fürsten vorfanden 15. —
Verhängnisvoll für die Städte in der Umgebung Palästinas war in
jener Zeit das Erstarken der jüdischen Macht Schon die ersten
Makkabäer, dann weiter Johannes Hyrkan haben einzelne Städte
unterworfen. In großem Maßstabe betrieb aber die Eroberungen
namentlich Alexander Jannäus. Am Ende seiner Regierung
waren den Juden unterworfen: sämtliche Kttstenstädte von Raphia
bis zum Karmel, mit alleiniger Ausnahme von Askalon, ferner fast
alle Städte des Ostjordanlandes, und selbstverständlich auch die
im Innern des Landes gelegenen Städte wie Samaria und Skytho«
polis, bis nördlich vom Merom-See16.
Mit der Eroberung Syriens durch Pompeius war der Un-
abhängigkeit aller der kleinen Staaten, die sich vom Reich der
1, 4 (s. oben Bd\ I, S. 229 f. zu I Macc. 10, 29). — Ober die Mannigfaltigkeit
der Steuern in Ägypten s. Wilcken, Griechische Ostraka I, 130—421.
13) Die Ären von Tyrus, Sidon, Askalon sind schon in den älteren
numismatischen Werken nachgewiesen (s. die oben S. 94 genannte Literatur).
Über die Ära von Berytus vgl. Rouvier, Vere de Baryte {Journal inter-
national d? Archäologie numismatique U II, Athen 1899, p. 12—10).
14) Stark S. 478f. Kuhn II, 162.
15) Josephus spricht ganz allgemein von [xövaoxot, (Antt. XIII, 16, 5). —
Appian. Syr. 50 bezeugt, daß Pompeius ztbv %>nb toTq SeXevxlöaig yevofiivwv
i&vibv xolg (th> inioTtjoev olxetovq fiaoiltaq ij öwäarag, die doch wohl Pom-
peius nicht erst geschaffen hat. — Plinius Eist Not. V, 23, 82 kennt in Syrien
noch 17 tetrarehias in regna descrtptas barbaris nominibus.
16) Jos. Antt XIII, 15, 4. S. oben § 10.
102 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [77]
Seleu |ciden losgelöst hatten, mit einem Schlage wieder ein Ende
gemacht. Für die autonomen Städte hatte dies jedoch nur die
Folge, daß sie nun zu den Römern in dasselbe freie Abhängigkeits-
verhältnis traten, in welchem sie ehedem zu den Seleuciden ge-
standen hatten. Für diejenigen Städte aber, die von den Juden
unterworfen worden waren, hatte das Eingreifen der Römer sogar
die Bedeutung einer Befreiung von verhaßter Herrschaft. Denn
Pompeius trennte alle von den Juden seit der Makkabäerzeit unter-
worfenen Städte wieder vom jüdischen Gebiete ab und gab ihnen
die Freiheit17. Josephus nennt als solche durch Pompeius „be-
freite" Städte, die natürlich die römische Oberhoheit anerkennen
mußten, namentlich folgende: Gaza, Azotus, Jamnia, Jope,
Stratons-Turm, Dora, Samaria, Skythopolis, Hippus, Ga-
dara, Pella, Dium18. Das Verzeichnis ist aber nicht vollständig.
Denn außer den genannten haben auch noch andere die pompe-
janische Ära, d. h. die neue Zeitrechnung seit der Befreiung durch
Pompeius, welche viele dieser Städte bis tief in die Kaiserzeit hinein
beibehielten. Die im Ostjordanland gelegenen, samt Skythopolis,
haben sich wohl eben damals zum „Zehnstädtebund", der sogenann-
ten Dekapolis, zusammengeschlossen. — Ein neuer Wohltäter für
viele dieser Städte war der Prokonsul Gabinius, der in den Jahren
57—55 vor Chr. die von den Juden zum Teil ganz zerstörten Städte
Raphia, Gaza, Anthedon, Azotus, Jamnia, Apollonia,Dora,
Samaria, Skythopolis wieder aufbauen ließ 19. — Schwere Zeiten
kamen auch über diese Städte durch die römischen Bürgerkriege
mit ihrer Aussaugung der Provinzen und durch die Willkürherr-
schaft des Antonius im Orient. Letzterer schenkte der Kleo-
patra die ganze philistäisch-phönizische Küste von der Grenze
Ägyptens bis zum Eleutheru§ mit alleiniger Ausnahme von Tyrus
und Sidon20. — Auch als nach dem Untergang des Antonius und
der Kleopatra deren Herrschaft von selbst aufgehört hatte und
durch Augustus eine ruhigere Zeit begründet worden war, haben
doch noch manche dieser Städte mehrmals ihre Herren gewechselt21.
Augustus schenkte dem Her ödes sämtliche Küstenstädte von Gaza
bis Stratons-Turm mit Ausnahme von Askalon, ferner imBinnen-
17) Vgl. überhaupt über die Gewohnheit der Römer, den Städten der er-
oberten Gebiete die Freiheit zu geben: Kuhn II, 15—19.
18) Antt. XIV, 4, 4. Bell. Jud. I, 7, 7.
19) AntL XIV, 5, 3. Bell. Jud. I, 8, 4.
20) Antt. XV, 4, 1 fm. Bell. Jud. I, 18, 5.
21) Die verschiedenen Besitzwechsel seit Alexander Jannäus sind an-
schaulich dargestellt durch die zahlreichen Spezial-Karten in Menkes Bibel-
atlas Blatt IV und V.
[77. 78] I. Die hellenistischen Städte. 103
lande die | Städte Samaria, Hippus und Gadara22. Nach Hero-
des' Tod hatten diese Städte wieder verschiedene Schicksale. Gaza,
Hippus und Gadara wurden unter die unmittelbare Oberhoheit
des römischen Legaten von Syrien gestellt (wegen Anthedon siehe
unten den betreffenden Abschnitt); Azotus und Jamnia nebst dem
von Herodes erbauten Phasaelis erhielt seine Schwester Salome;
endlich Jope, Stratons-Turm und Samaria fielen nebst dem
übrigen Judäa an Archelaus23. Die der Salome gehörigen Städte
bekam nach deren Tod die Kaiserin Livia24. Nach dem Tod der
Livia scheinen sie in den Privatbesitz ihres Sohnes Tiberius über-
gegangen zu sein, weshalb wir zu dessen Zeit in Jamnia einen
kaiserlichen hnltQOJioq finden25. Die dem Archelaus verliehenen
Städte kamen nach dessen Absetzung samt seinem übrigen Gebiet
unter die Aufsicht eines römischen Prokurators, dann in den Jahren
41—44 nach Chr. an König Agrippa L, und nach dessen Tod wieder
unter römische Prokuratoren. Dieser häufige Wechsel der Herren
hatte jedoch für alle diese Städte kaum viel mehr zu bedeuten,
als daß die Abgaben bald an diesen, bald an jenen Herren zu ent-
richten waren. Denn ihre inneren Angelegenheiten haben sie, wenn
auch die Oberhoheit der verschiedenen Herren sich bald mehr bald
weniger bemerklich machte, doch im wesentlichen selbständig ver-
waltet — Von Bedeutung für die Entwicklung des kommunalen
Lebens war es endlich, daß Herodes und seine Söhne eine ganze
Anzahl von Städten neu gegründet haben; so namentlich: Cäsarea
(«- Stratons-Turm), Sebaste (= Samaria), Antipatris, Phasae-
lis, Cäsarea Philippi, Julias, Sepphoris, Livias, Tiberias.
Die Art der Abhängigkeit dieser Städte von der römischen
Macht war dem Namen und der Sache nach verschieden26. Es gab
22) Antt. XV, 7, 3. Bell. Jud. I, 20, 3. Von den Küstenstädten nennt
Jo8ephns nur Gaza, Anthedon, Jope und Stratons-Turm. Aber auch
Azotus und Jamnia, die nach Herodes' Tod seiner Schwester Salome zu-
fielen, müssen damals in den Besitz des Herodes gekommen sein.
23) Antt. XVII, 11, 4—5. Bell. Jud. II, 6, 3.
24) Antt. XVIII, 2, 2. Bell. Jud. II, 9, 1. Azotus wird nicht ausdrücklich
genannt, ist aber doch wohl mit gemeint.
25) Antt. XVHI, 6, 3. Vgl. Marquardt, Römische Staatsverwaltung II,
248 £ — Über den kaiserlichen Privatbesitz überhaupt: Hirsch feld, Der
Grundbesitz der römischen Kaiser in den ersten drei Jahrhunderten (Beitrage
zur alten Geschichte, herausg. von C. F. Lehmann Bd. II, 1902, S. 45—72.
284 — 315). Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten bis auf Dio-
kletian 2. Aufl. 1905, S. 18—29, über die Verwaltung: S. 121 ff.
26) Vgl. zum Folgenden: Kuhn H, 14— 41. Marquardt I, 71—86. 390.
Mommsen III, 1, 645—764. Mitteis, Reichs recht and Volksrecht in den
östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs (1891) S. 83— 110. Henze, De
104 §23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [78..79J
im römischen Reiche freie und untertänige Gemeinden. Die
erster en (civitatis liberae % ilev&eQoi) hatten ihre eigene Gesetz- f
gebung, Rechtspflege und Finanzverwaltung und waren von eigent-
licher Besteuerung frei; sie waren avxopofiot xal (poQmv drsXelg
(Appian. Oiv. I, 102) 27. Ihre Abhängigkeit von Rom kam wesent-
lich in dem Verlust des eigenen Kriegs- und Bündnisrechtes sowie
in der Verpflichtung zu gewissen Leistungen, namentlich zur Kriegs-
hilfe zum Ausdruck. Je nachdem dieses Verhältnis durch ein Bünd-
nis mit Rom geregelt war oder nicht , unterschied man zwischen
dvitates foederatae und solchen, die sine foedere immunes ac liberae
waren. Doch ist der griechischen Terminologie diese Unterschei-
dung fremd; sie faßt beide Kategorien unter dem Titel der «t?ro-
vofioi zusammen28. Alle diese freien Städte werden nicht als im
strengen Sinne zur Provinz gehörig betrachtet29. Von ihnen sind
dann zu unterscheiden die untertänigen (vxrjxooi), im eigentlichen
Sinne zur Provinz gehörigen, deren spezifischer Unterschied von
jenen in der Besteuerung durch das römische Volk beziehungs-
weise durch den Kaiser bestand; sie waren vxorsXelg, stipendiariae.
Die Autonomie hatten sie rechtlich zwar verloren; die römische
Behörde konnte in bezug auf Gesetzgebung, Rechtspflege und Ver-
waltung jederzeit nach Belieben eingreifen. Aber tatsächlich haben
doch auch die untertänigen Gemeinden noch in weitgehendem Maße
ihre eigene Gesetzgebung, Rechtspflege und Verwaltung gehabt30.
Von den hellenistischen Städten in Palästina und dessen Um-
gebung sagt Josephus, daß Pompeius sie zu freien (tlev&tQas) ge-
macht habe31. Damit ist aber nur gemeint, daß er sie von der
jüdischen Herrschaft befreit habe. Über ihr Verhältnis zu Rom
ist damit überhaupt nichts ausgesagt Und die meisten von ihnen
sind sicherlich nicht liberae im technischen Sinne, sondern unter-
oivüatibus liberis quae fuerunt in provinciis populi Eomani. Diss, Berol. 1892.
Auch Stark, Gaza S. 522 — 525. Li eben am, Städteverwaltung im römischen
Kaiserreiche S. 463 ff.
27) S. Marquardt I, 78 f. 84 f. Mommsen III, 1, 655ff. 681A1
28) Mommsen III, 1, 654. 657 ff. Tyrus heißt lateinisch foederata (Corp.
Inscr. Lat. X n. 1601 = Kaibel, Inscr. Oraecae Siciliae et Italiae n. S31)r
griechisch afaövofioq (Corp. Insor. Oraec. n. 5853 = Kaibel n. 830).
29) Mommsen III, 1, 688.
30) Mommsen 111,1,744—751; Mitteis a, a. O.; auch Kuhn II, 34ff.
— Mommsen gebraucht für die beiden Kategorien die Bezeichnungen „auto-
nome Untertanen" und „nicht autonome Untertanen". Die Bezeichnung der
ersteren als „Untertanen" dürfte indessen keine zweckmäßige sein und ist
von Mommsen selbst nicht festgehalten, insofern er S. 728. 732 zwischen „Au-
tonomie" und „Untertänigkeit" unterscheidet.
31) Antt. XIV, 4, 4: ayfeev &ev9&Qaq. B. J. I, 7, 7: ijtev&iQWOE.
179. 80] I. Die hellenistischen Städte. 105
tfinige gewesen. Denn Josephus sagt gleichzeitig, daß Pompeius
sie der Provinz Syrien einverleibt habe32. Von Askalon wird
es als etwas Besonderes hervorgehoben, daß es ein oppidum liberum \
war33. Sonst werden auf Münzen und Inschriften, zum Teil freilich
erst der späteren Kaiserzeit, als avzovofdoi bezeichnet: Gaza,
Dora, Ptolemais (zur Seleucidenzeit) , Gadara, Abila, Capi-
tolias, Diocäsarea (das frühere Sepphoris). Der Begriff der
Autonomie deckt sich aber nicht notwendig mit dem der „Freiheit".
Er bezeichnet an sich nur das kommunale Selbstregiment und
schließt die römische Besteuerung nicht aus34. Wahrscheinlich
unterschieden sich also diese Städte von den untertänigen nur da-
durch, daß ihr Selbstregiment nicht in der Weise beschränkt war,
wie bei den letzteren. Ohnehin haben die Verhältnisse öfters ge-
wechselt; und es darf, was für eine bestimmte Zeit bezeugt ist,
nicht auch auf den ganzen Zeitraum der römischen Herrschaft
übertragen werden. — Einige der palästinensischen Städte (vier
Küstenstädte: Gaza, Askalon, Dora, Ptolemais, und vier Städte
der Dekapolis: Hippus, Gadara, Abila, Skythopolis) führen
auf Münzen und sonst den Titel leQa xal aavXog. Die Verleihung
des Asylrechtes, das eigentlich ein Recht der Tempel ist, an ganze
Städte kommt zuerst zur Zeit des Seleukus IL Kallinikos (246 bis
226 vor Chr.) vor35. Es bedeutet im wesentlichen, daß die Stadt
nicht zur Auslieferung solcher, die bei ihr Zuflucht suchen, ver-
pflichtet ist36. — Die Pflicht militärischer Leistungen bestand auch
für die „freien" Städte, ja sie gehörte geradezu zum Begriff der
Bundesgenossenschaft, nur daß die Art der Hilfsleistung ursprüng-
lich für die Bundesgenossen eine andere war als für die unter-
tänigen Völker und Gemeinden: jene hatten Hilfstruppen zu stellen,
bei diesen wurden Aushebungen veranstaltet. Doch sind auch
diese Unterschiede mehr und mehr verwischt worden. Für die
32) Anit. XIV, 4, 4: TiQOoivsifxev x$ hiagxla. B. J. I, 7, 7: xaxexagev eis xfjv
^VQiax^v htagxlav.
33) Plm. HisL Nat. V, 13, 68.
34) S. Mommsen HI, 1, 658 f.
35) Verleihung an Aradus: Strabo XVI, 2, 14 p. 754, an Smyrna: Corp.
Inscr. Graec, n. 3137 = Dittenberger, Orientis graeci inscr. sei. n. 229 lin. 12:
xd xe Uqöv xfjq 2xgaxovixlSoq 'AfpQoSlxrjg aavXov elvai xal xfifi nbXiv ^fjuav
Ugav xal aovXov. Andere Beispiele bei Dittenberger II, 636 Index s. v.
aovXog.
36) Bei Aradus wird es folgendermaßen umschrieben (Strabo L c): &<n*
i&Ivai dixea&cu xovq xaxa<pevyovxaq ix xfjq ßaaiXelag nag' abvovq, xal pf]
ixdvöövai ixovxaq; y^ yuhxoi nr\f ixnXelv i&v avev xo$ imxQiyai ßaaiXia. —
Ober das Asylrecht der Tempel s. Stengel, Art. „Asylon" in Pauly-Wisso-
was RealEnz. II, 1881 ff. Mommsen, Romisches Strafrecht 1899, S. 458 ff.
106 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [80. 81]
palästinensischen Städte steht im allgemeinen die Pflicht militärischer
Dienstleistung in dieser oder jener Form außer Frage. In Cäsarea
lag vom Jahre 44—67 nach Chr. eine Besatzung von fünf Kohorten
und einer Ala Reiter, die zum größten Teile aus Cäsareensern und
Sebastenern (Einwohnern der Stadtgebiete von Cäsarea und Se-
baste) gebildet waren37. Beim Feldzuge des Cestius Gallus gegen
Jerusalem spricht Josephus ganz allgemein von den Hilfstruppen,
welche von „den Städten" gestellt worden waren38. Seit der Zeit
Vespasians begegnen uns bereits eine Anzahl Auxiliar-Kohorten,
welche von palästinensischen und phönizischen Städten ihren Namen
haben, auch solchen, welche als | „freie" anerkannt waren39. Die
im Anfange der Kaiserzeit noch bestehenden Unterschiede der
Organisation sind jetzt mehr und mehr ausgeglichen worden.
Eine eximierte Stellung unter den Städten des römischen
Reiches nehmen die römischen Kolonien ein40. Solche gab es
auch in Palästina und Phönizien seit Augustus. Die ältesten sind
Berytus, Heliopolis (beide durch Augustus gegründet), Ptole-
mais (durch Claudius), Cäsarea (durch Vespasian). Sämtliche
Kolonien der älteren Kaiserzeit waren Militärkolonien, d. h. sie
bestanden aus ausgedienten Soldaten, welchen zur Belohnung für
ihre Dienste Grundbesitz angewiesen wurde, und zwar so, daß es
immer für eine größere Anzahl an einem Orte gleichzeitig geschah,
wodurch eben die Kolonie gegründet wurde. Der erforderliche
Grund und Boden wurde in der früheren Zeit den Besitzern ein-
fach weggenommen. Später (seit Augustus) wurde es üblich, die
37) Antt. XIX, 9, 1—2. XX, 6, 1. Bell. Jud. II, 12, 5. HI, 4, 2, und bes.
Antt. XX, 8, 7: piya Sh <pQOvovvteq irii zip xovq nXelcvovq ttbv heb cAo-
fialoiq ixet OTQarevofiivwv Kaioagslg elvai xal Seßaavrjvovq. Näheres
s. in der Zeitschr. für wissensch. Theol. 1875, S. 419 ff. und oben § 17o I,
460-462.
38) Bell. Jud. II, 18, 9: IIXeTavoi 6k xal ix r(bv nöXecov inixovgoi
avveXiyriaav, ifxnetQla ßhv }}Tt(j)(*£voi r&v ovqcctiwt&v, tatg 6h TtQO&vfdaiq
xal z<j> xaxa yIov6alo>v (xioet, xb XeTnov iv ratg imat^fnaig dvaTiXrjQoifvreg. —
Berytus, das allerdings als römische Kolonie eine besondere Stellung ein-
nahm, stellte zum Heere des Varus im J. 4 v. Chr. 1500 Mann Hilfstruppen
(Antt XVII, 10, 9. B. J. II, 5, 1).
39) Es kommen auf Inschriften vor: eohortes (und alae) Ascalonitarum,
Canathenorum, Damascenorum, Sebastenorum, Tyriorum. S. die Zusammen-
stellung von Mommsen, Ephemeris epigr. V p. 193 sq. und von Cichorius
Art. Oohors in Pauly-Wissowas Real-Enz. IV, 231 — 356. Art Ala ebendas.
I, 1224 ff.
40) S. hierüber im allgemeinen: Bein, Art. colonia in Paulys Eeal-Enz.
U, 504—517. Kuhn, Die städt. und bürgerl. Verf. I, 257 ff. Marquardt I,
35 ff. 86 ff. 92—132. Mommsen, Römisches Staatsrecht m, 1, S. 773—823.
Korne mann, Art. Coloniae in Pauly-Wissowas Real-Enz. IV, 511 — 588.
[81. 82] I. Die hellenistischen Städte. 107
Besitzer zu entschädigen, oder man gab den Veteranen solches
Land, das ohnehin Staatseigentum war. Die Kolonisten bildeten
entweder eine neue Gemeinde neben der alten, oder sie traten in
die alte Gemeinde ein, in welchem Fall dann diese in ihrer Ge-
samtheit die Rechte einer Kolonie und die römische Munizipal-
verfassung erhielt41. So wurde die Deduzierung einer Kolonie
allmählich zu einer Gunstbezeugung für die Stadt, während sie
ehedem eine grausame Beraubung war. Seit Hadrian hat die An*
siedelung von Veteranen in Verbindung mit einer Koloniegründung
aufgehört Nur Septimius Severus hat, wie es scheint, noch auf
die Deduktion von Veteranen zurückgegriffen. „Im übrigen sind
alle nachhadrianischen Koloniegründungen rein fiktiver Natur. Es
handelt sich hier nur um Verleihung des Kolonienamens und
-rechtes als der höchsten Art von Stadtrecht vor allem an Muni-
zipien, aber auch an Peregrinenstädte und nichtstädtische Ge-
meinden"42. — Die Rechte der Kolonien waren verschieden43. Am
günstigsten waren diejenigen gestellt, welche das volle jus Italicum
und damit Freiheit von Kopfsteuer und Grundsteuer hatten44. —
Das System der Anlegung von Militärkolonien hat übrigens auch
Her ödes dem Augustus nachgeahmt45.
Die Stellung derjenigen Städte, welche vorübergehend unter
herodianischen Fürsten standen, ist wohl auch nicht wesent-
lich anders zu denken, als diejenige der unmittelbar römischen.
Mög|lich ist immerhin, daß die herodianischen Fürsten ihre Herr-
schaft direkter bemerklich machten; doch ist dies nicht nachweis-
bar. Zur Sicherung ihrer Herrschaft hatten sie in den Städten
eigene Statthalter; so Herodes der Große einen <xqx<dv in Idumäa
und Gaza46, Agrippa I. einen OTQartjyog inCäsarea47, einen InctQxoq
in Tiberias48, Agrippa IL einen Statthalter in Cäsarea Phi-
41) Marquardt I, 118f.
42) Kornemann in Pauly-Wissowas Real-Enz. IV, 566.
43) S. hierüber Kornemann in Pauly-Wissowas Real-Enz. IV, 578— 583.
44) Über das jus Italicum s. Marquardt, Römische Staatsverwaltung
I, 89 ff. und die dort zitierte Literatur, zu welcher noch hinzuzufügen ist:
Beaudouin, Jttude sur le Jus italicum, Paris 1883 (vgl. Revue critique 1884
Nr. 6). Heisterbergk, Name und Begriff des jus Italicum, Tübingen 1885.
Siverin, Ittude sur le jus italicum, Bordeaux 1885. Mommsen, Römische»
Staatsrecht III, 1, S. 807—810. Beudant, Le jus Italicum, Paris 1889. Her-
zog, Geschichte und System der römischen Staatsverfassung II, 2 (1891)
S. 932 ff.
45) Anit. XV, 8, 5. S. unten: Samaria, Gabe, Hesbon.
46) Äntt. XV, 7, 9.
47) Antt. XIX, 7, 4.
48) Jos. Vita 9; ob es sich um Agrippa I. oder II. handelt, ist ungewiß.
108 § 23« Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [82.-83]
lippi49, einen IxaQxoq in Gamala60. Eben ein solcher Statthalter
ist auch der UrvaQxtjs des Königs Aretas in Damaskus, II Kor.
11, 32 ".
Die große Selbständigkeit dieser Städte bringt es mit sich,
daß jede ihre eigene Geschichte hat Indem wir dieser noch
im einzelnen nachgehen, beginnen wir mit den Städten der phili-
stäisch-phönizischen Küste, von Süden nach Norden vorgehend.
Viele derselben hatten beim Beginn der hellenistischen Zeit schon
eine reiche Vergangenheit hinter sich und sind auch während der
ganzen hellenistisch-römischen Zeit von hervorragender Bedeutung
geblieben.
1. Baphia, KPa<pla (so ist nach den Münzen zu schreiben),
rabbinisch n^tn (mit Chet am Schlüsse) 62, noch heute nachweisbar
in der Trümmerstätte Kirbetk bir Befah, nach Gu6rin etwa eine halbe
Stunde vom Meer, aber an seichtem, hafenlosem Ufer 53, | daher von
49) Vita 13. Vgl. Kuhn II, 346.
50) Vita 11.
51) Der Titel i&vaQxVQ fi*r solche Statthalter ist ungewöhnlich und aus
den eigentümlichen Verhältnissen des oabatai sehen Reiches zu erklären.
Dort, wo es noch wenig Städte gab, überwog noch die Organisation nach
Stämmen. An der Spitze eines Stammes oder eines Komplexes von Stämmen
stand ein Scheich (Stammes-Haupt, griech. i&vaQXVS)' Spuren einer solchen
Verfassung haben wir noch auf den griechischen Inschriften der Hauran-
Gegend aus römischer Zeit (vgl. bes. Waddington Inscript. n. 2196 = Ditten-
berger, Orientis graeci inser. sei. n. 616: *AÖQiavoi) xov xal Soatöov Maktyov
£&vaQXOv, argatijyov vofidSwv. Häufig werden hier die <pvXai erwähnt,
Waddington n. 2173b. 2210. 2220. 2224. 2265. 2287. 2308. 2309. 2310. 2393. 2396.
2397. 2427. 2431. 2439. 2483. Ein Aw^Xog Zape&ov navagere e&vagxa auf
einer Grabschrift zu Dschize, zwischen Adraa und Bostra, Zeitschr. des DPV.
XX, 1897, S. 135). Einem solchen id-vd^xw war a^o auch Damaskus unter-
stellt. Denn die Meinung von Zahn (Neue kirchl. Zeitschr. 1904, S. 34—41)
und Schwartz (Nachrichten der Göttinger Gesellsch. d. Wiss. 1906, S. 367 f.),
daß der Ethnarch nur in der Nachbarschaft von Damaskus umhergeschweift
sei und dem Apostel auf den Landstraßen aufgelauert habe, ist mit dem Wort-
laut von I Kor. 11, 32 — 33 nicht vereinbar (s. unten bei Damaskus). — So-
fern der idvaQxvs zugleich ein militärisches Kommando hatte, hieß er <sxga-
rtjydQ, MmöK, vgl. oben S. 59 und Jos, AntL XVIII, 5, 1. Es ist nicht wahr-
scheinlich, daß in der obigen Inschrift idvaQxov und axQaxrjyoij zu trennen,
ersteres auf den Vater (MaX£xov)> letzteres auf den Sohn (SoalSov) zu beziehen
ist (so Zahn, Neue kirchl. Zeitschr. 1904, S. 38). — Vgl. übern, meinen Auf-
satz „Der Ethnarch des Königs Aretas" (Theol. Stud. u. Krit. 1899, S. 95—99).
52) jer. Sehebiitk VI, 1 fol. 36 c, und nach richtiger Lesart auch Tosephta
Schebiitk IV ed. Zuckermandel p. 66, Targum Onkelos Deut. 2, 23. Vgl. Neu-
bauer, Geographie du Talmud (1868) p. 20. Berliner, Targum Onkelos
(1884) II, 219. Hildesheimer, Beiträge zur Geographie Palästinas (1886)
S. 66—69.
53) Diodor. XX, 74 nennt Baphia övciiQoodQfxiaxov xal tevaywärj.
[83] I. Die hellenistischen Städte. 1. Raphia. 1Q9
Plinius und Ptolemäus als Binnenstadt betrachtet 54. Es war die
erste syrische Stadt von Ägypten her65. In der Geschichte wird
es, abgesehen von den Keilüischriffcen 56, zuerst bei dem Feldzug
des Antigonus gegen Ägypten im Jahre 306 vor Chr. erwähnt, wo
die Flotte des Antigonus unter Führung seines Sohnes Demetrius
durch den Sturm hierher verschlagen wurde67. Berühmt wurde
es dann namentlich durch den Sieg, welchen hier im Jahre 217
der unkriegerische Ptolemäus IV. Philopator über Antiochus den
Großen erfocht, und welcher für letzteren den Verlust Palästinas
und Phöniziens zur Folge hatte58. Im Jahre 193 wurde hier die
Hochzeit des Ptolemäus V. Epiphanes mit Jüeopatra, der Tochter
Antiochus' des Großen, gefeiert59. Im Anfang des ersten Jahr-
hunderts vor Chr. wurde Raphia von Alexander Jannäus erobert
(Jos. Antt. XIII, 13, 3. Beü. Jud. I, 4, 2;. vgl. Antt. XIII, 15, 4), muß
dann wie die benachbarten Städte durch Pompeius vom jüdischen
Gebiete abgetrennt worden sein, und wurde durch Gabinius neu
gebaut (Antt. XIV, 5, 3. Bell Jud. I, 8, 4). Die Münzen Raphias aus
der römischen Kaiserzeit (von Commodus bis Philippus Arabs)
haben daher eine Ära, welche mit der Neugründung durch Gabinius
(57 vor Chr.?) beginnt60. Im Besitz der herodianischen Fürsten
scheint es nie gewesen zu sein. |
54) Plin. Hut. Not. V, 13, 68. Ptolem. (ed. Nobbe) V, 16, 6 — Didoteche
Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 5. — Vgl. sonst: Strabo XVI, 2, 31. Mnerar. Anto-
nini (edd. Parthey et Pinder 1848) p. 69. Sozomenus, Hist. eeoL VII, 15. Hie-
rocleSy Synecdemus (ed. Parthey 1866) p. 44. — Reland% PcUaestina p. 967 sq.
Ritter, Erdkunde XIV, 138ff. XVI, 39. Raumer, Palastina S. 219. Qutrin,
Judie II, 233 — 235. Schumacher, Eesearches in Southern Palestine (Quarterly
Statements 1886, 171 sqq.). Le Quien, Oriens christianus III, 630.
55) Polyb. V, 80: rtQWTTj xwv xazä KolXrjv SvqIüv n6Xe<ov wq ngdq rty>
Afyvnxov. — Jos. Beü. Jud. IV, 11, 5; fem 6b fj ndXiq cßrri Svolaq &QXÄ-
56) Friedr. Delitzsch, Wo lag das Paradies? (1881) S. 291.
57) Diodor. XX, 74. Droysen, Gesch. des Hellenismus (2. Aufl.) II, 2,
147. Stark, Gaza S. 358.
58) Die Schlacht ist ausführlich beschrieben bei Polyb. V, 82—86. Vgl.
Stark, Gaza S. 382—386. Mahaffy, The army of Ptolemy IV at Raphia
(Hermathena XXIV, 1899, p. 140—152). Niese, Gesch. der griech. und make-
don. Staaten II, 380—382. Beloch, Griechische Geschichte III, 1, S. 716f.
59) Livius XXXV, 13. Über die Zeit dieser Hochzeit (193/192 v. Chr.)
s. Strack, Die Dynastie der Ptolemäer (1897) S. 183. 196.
60) Dies darf jetzt als sicher betrachtet werden, während Noris und
Eckhel noch schwankten, ob die Ära des Pompeius oder die des Gabinius
anzunehmen sei. — S. überh.: Noris, Annus et epochae Syromacedonum V,
4, 2 (ed. IAps. p. 515 — 521). — Eckhel, Doctrina nwnorum IQ, 454 sq. —
Musei Sanclementiani Numismata selecta Pars II, 1809, lib. IV, p. 295 — 298.
— Mionnet, Description de midaiües V, 551 sq. Suppl. VIII, 376 sq. —
HO § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [84]
2. Gaza, ra&, hebräisch nj?61, die alte, im Alten Testament
häufig erwähnte, bedeutende Stadt der Philistäer 62. Auf den
Amarnab riefen heißt sie Azzati, ägyptisch Gadatu 63. Herodot kennt
sie unter dem Namen Kaövtig und bemerkt, daß sie nicht viel
kleiner sei als Sardes 64. Schon in der persischen Zeit muß sie in
Kenner, Die Münzsammlung des Stifts St Florian in Ober-Österreich (1871)
S. 179—182, Tafel VI n. 17—18. — De Saulcy, Numismatique de la Terre
Sainte p. 237—240, pl. XII n. 7—9. — Stark, Gaza S. 515.
61) Zur hebr. Form vgl. Steph. Byx. s. v. ro%a' ixXJj&n xal"A£a* xal [ttyQi
vvv Zvgoi "A^av avtfjv xakovaiv. — Anf einer lateinischen Inschrift aus dem
zweiten Jahrh. nach Chr. (Verzeichnis von Veteranen der leg. III Aug.) kommt
auch die Form Oaxxa vor, Ephemeris epigr. V p. 211 = Corp. Inscr. Lot. t.
VIII Suppl. n. 18084 lin. 22. — Über die heutige Namensform s. Kampffmeyer,
Zeitschr. d. DPV. XVI, 1893, S. 53.
62) S. überhaupt: Reland, Palaestina p. 787—800. — Robinson, Palä-
stina II, 634-648. — Ritter, Erdkunde XVI, 45— 65. — Raumer, Palästina
S. 192—194. — Winers RWB. *. v. —Arnold in Herzogs Real-Enz. 1, Aufl.
IV, 671—674. — Sepp, Jerusalem u. das heilige Land (2. Aufl.) II, 617 ff. —
Guirin, Judie II, 178—211. 219-221. — The Survey of Western Palestine,
Memoir8 by Conder and Kitehener III, 234 sq. 248 — 251, dazu Blatt XIX
der großen engl. Karte. — Gatt, Bemerkungen über Gaza und seine Um-
gebung (Zeitschr. des deutschen Pal.-Ver. VIT, 1 — 14). — Schumacher,
Researches in Southern Palestine (Quarterly Statements 1886, 171 ff.). — Le
Strange, Palestine under the Moslems 1890, p. 441—443. — G. A. Smith,
Historical Oeography of the Holy Land 1894, p. 181 — 189. — Clermont-Qan-
neau, Archaeological Researches in Palestine vol. II, 1896, p. 379—437. — Plan
des heutigen Gaza von Gatt in der Zeitschr. des DPV. XI, 1888, S. 149 ff. —
Für das Geschichtliche bes. Stark, Gaza, 1852. Auch Alb. v. Hörmann,
Gaza, Stadt, Umgebung und Geschichte, 1876 (Progr. des Knabenseminars der
Diözese Brixen zu Rothholz, s. die Anz. in: Zeitschr. f. die Österreich. Gym-
nasien 1877, S. 142f.). Noordtxij, De Füistifnen, 1905 (vgl. Theol. Litztg.
1906, Nr. 1).
63) S. Zeitschr. des DPV. 1907, 8. 12 f.
64) Herodot. II, 159. III, 5: Saoötov oh noXkw iXdaoovoq. Unter dem
Kadytis des Herodot hat man früher wohl Jerusalem verstanden (so auch
noch Wandel, Schulblatt für die Provinz Brandenburg, 53. Jahrg. 1888,
S. 428—442. 497 — 505). Wie wenig die Angaben des Herodot hierzu passen,
ist längst gezeigt worden (s. z. B. Stark, Gaza S. 220). Andererseits be-
zeichnet Herodot in, 5 KdSvxu; als eine Stadt der Svoot TlaXaicxlvoi in der
Nähe der ägyptischen Grenze. Hiernach kann an der Identität mit Gaza
nicht wohl gezweifelt werden. Aber auch II, 159 spricht dafür, denn es heißt
hier, daß Kadytis durch Pharao Necho eingenommen worden sei, was nach
Jerem. 47, 1 in betreff Gazas wirklich der Fall war. Für die Identität von
Kadytis und Gaza haben sich daher die meisten Neueren erklärt, z. B. Hitzig,
De Cadyti urbe Eerodotea, 1829. Gesenius, Thesaurus p. 1010. Winer, RWB.
1, 546 Anm. 3 (im Art. Jerusalem). Stark, Gaza und die philistäische Küste
S. 218ff. Wiedemann, Herodots zweites Buch (1890) zu n, 159 (schwankend).
Th. Reinach, Comptes rendus de VAcad. des Inscr. et Beiles- Lettres 1895,
[84. 85] I. Die hellenistischen Städte. 2. Gaza. m
regem Handelsverkehr mit Griechenland gestanden haben, wie die
erhaltenen Münzen bezeugen65. Zur Zeit Alexanders des Gr.
war sie nächst Tyrus die bedeutendste Festung an der phönizisch-
philistäischen Küste. Alexander eroberte sie erst nach zweimonat-
licher mühsamer Belagerung 332 vor Chr.66 Von da an wurde
sie mehr und | mehr eine griechische Stadt67. Die Kämpfe des
Ptolemäus Lagi mit den anderen Diadochen um den Besitz Cöle-
syriens haben natürlich auch Gaza in erster Linie mitberührt Im
p. 360 — 366 (p. 361: Cadytis, tout le monde est aujourdhui tfaccord lä-dessus,
est Gaxa). Gegen letzteren hat allerdings Oppert (Oomptes rendua 1895,
p. 368 — 376) die Identität wieder bestritten , und Prääek, Forschungen zur
Gesch. des Altertums II, 1808, will sie nur für III, 5 anerkennen ; beide nicht
mit überzeugenden Gründen.
65) Vgl. über diese höchst interessanten Münzen die gelehrte Abhandlung
von 8ixf Observation» sur les mannaies ph&niciennes (Numismatie Chroniele,
New Serie* vol. XVII, 1877, p. 177—241, über Gaza: p. 221— 239); auch Bal-
lon, Oatalogue des mannaies greeques de la Bibliotheque nationale, Les Perses
AchömSnides, Oypre ei Phenicie (Paris 1893) p. LVI sqq. 47 sqq. Die Münzen
haben teils phönizische, teils griechische Aufschrift Der Name der Stadt
(T9 oder nt3?) ist wenigstens auf mehreren derselben sicher zu erkennen. Das
Interessanteste ist aber, daß sie ganz nach athenischem Münzfuß und mit
athenischen (resp. griechischen) Typen geprägt sind, offenbar für den Handels-
verkehr mit Griechenland. Wahrscheinlich sind zur Zeit der Hegemonie
Athens im fünften Jahrhundert vor Ohr. zunächst echte athenische Münzen
nach Palästina gekommen ; und nach deren Muster ist dann dort weitergeprägt
worden. S. Six a. a. O. S. 230 f. 234—236. — Speck, Handelsgeschichte des
Altertums, 2. Bd. 1901, S. 440: „Aus dem Umstände, daß Gaza, das wie alle
phönizischen Städte erst von Anfang des 4. Jahrh. an zur Münzprägung ver-
schritt, seine Münzen nach attischem Fuße und mit attischen Typen prägte,
während Aradus seine Silbermünzen nach persischem, Sidon, Tyrus und
Byblus nach phönizischem Fuße schlug, darf man wohl schließen, daß in Gaza,
dem Endpunkte der großen arabischen Weihrauchstraße, viele Athener sich
einfanden, um die Wohlgerüche Arabiens einzukaufen". — Der Verkehr athe-
nischer Frachtschiffe nach Phönizien zur Zeit des Perikles ist durch Tkucyd.
II, 69 direkt bezeugt Vgl. oben S. 71.
66) Die zweimonatliche Dauer der Belagerung bezeugen Diodor. XVII, 48
und Jos. Antt. XI, 8, 3 — i. Sonst vgl. bes. Arrian. H, 26—27. Ouriius IV, 6.
Plutarch. Alexander 25. Polyb. XVI, 40 (= ed. Hidtsch XVI, 22a). Droysen,
Gesch. d. Hellenismus 2. Aufl. I, 1, 297—301. Stark, Gaza S. 236—244. Jos.
Kohn, Ephemerides rerum ab Alexandro Magno in partibus orieniis gestarum,
Bonnae 1890, Diss. (setzt S. 12 u. 23 die Belagerung Gazas von Mitte August
bis Mitte Oktober 332). Niese, Gesch. der griechischen und makedonischen
Staaten I, 1893, S. 82. £. Keller, Alexander der Große nach der Schlacht
bei Issos bis zu seiner Rückkehr aus Ägypten, 1904 (Historische Studien
herausg. von Ehering, Heft 48), S. 47 — 66.
67) Als ndXig lEXXrjvlq wird sie ausdrücklich bezeichnet Jos. Antt. XVII,
11, 4 Bell. Jud. H, 6, 3.
112 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [85]
Jahre 315 wurde es von Antigonus erobert68. Im Jahre 312 fiel
es infolge des Sieges, welchen Ptolemäus Lagi eben bei Gaza über
Antigonus' Sohn Demetrius erfocht, wieder in die Hände des Ptole-
mäus69. Aber noch im selben Jahre gab dieser den Besitz Cöle-
syriens wieder auf und ließ beim Rückzug die wichtigsten Festun-
gen, darunter auch Gaza, schleifen70. Von 311—301 war Gaza
wie das übrige Palästina im Besitze des Antigonus, seitdem, wahr-
scheinlich ununterbrochen, in dem des Ptolemäus Lagi und seiner
Nachfolger (s. oben S. 97). Von Ptolemäus II. und III. gibt es
Münzen, welche in Gaza geprägt sind. Die datierten Münzen des
Ptolemäus II. mit dem Monogramm von Gaza gehen von seinem
23. bis zu seinem 37. Regierungsjahre (= 263—249 vor Chr.)71. In
den Jahren 218—217 war Gaza wie das übrige Palästina vorüber-
gehend im Besitz Antiochus' des Gr.72. Zwanzig Jahre später kam
Cölesyrien durch den Sieg Antiochus' des Gr. bei Panias (198
vor Chr.) dauernd unter die Herrschaft der Seleuciden. Eben
damals muß auch Gaza von Antiochus nach schwerer Belagerung
erobert worden sein, worüber wir freilich nur Andeutungen bei
Polybius haben73. Die Herrschaft der Seleuciden wird u.a. auch
durch eine in Gaza geprägte Münze des Demetrius I. Soter be-
kundet74. Vorübergehend scheinen die Einwohner sich SeXevxelq
h ra£y oder UeXevxslg r<x£aloi genannt zu haben75. Während
08) Diodor. XIX, 59. Droysen II, 2, 11. Stark S. 350. Niese I, 275f.
69) Diodor. XIX, 84. Über die Schlacht: Droysen II, 2, 42 ff.. Stark
S. 351—354; Niese I, 295ff.; Beloch, Griechische Geschichte III, 1, S. 132f.
Ober das Datum (312): Lehmann, Berliner philol. Wochenschrift 1906,
col. 1264.
70) Diodor. XIX, 93: xaxioxaxpe xäq d£ioloya>zdzaq xtov xexQavrj^vwv
ndXewVf *Axtjv fuv xfjq <Poivlxrjg 2vo(aq, 'Idnrjv 6h xal Eapdoeiav xal räQav
xrtq Zvoiaq. Vgl. Stark S. 355f. Niese I, 300.
71) Catalogue of the greek coins in the British Museum, Ptolemies kings
of Egypt (1883) p. 35. 49. Svoronos, Les monnaies de Ptolimie II qui por*
tent daies {Revue Beige de Numismatique 1901, p. 263—298, 387—412 [Gaza
p. 286 sq.]). Am vollständigsten: Sßoowvoq, Tä vofxlafxaxa xov xodxovq xibv
nxotefiaiuyv, Athen 1904, Tl. II, S. 123—124 (Ptolemäus Il.y S. 165 (Ptole-
mäus III.).
72) Polyb. V, 80. Stark S. 382—385.
73) Polyb. XVI, 18. XVI, 40 {ed. Hultsch XVI, 22a). XXIX, 6a {ed. Hultsch
XXIX, 12); Stark S. 404f.
74) Gardner, Catalogue of the greek coins in the British Museum, Seleueid
hing s of Syria (1878) p. 47. Auffallend ist die viel größere Zahl von Seleu-
ciden-Münzen in Askalon. Offenbar war letzteres damals bedeutender als
Gaza, wie auch aus den Handelsbeziehungen erhellt (s. Askalon am Schluß).
75) De Saulcy, Numismatique de la Terre Sainte p. 211 sq. 2eX. ist
wahrscheinlich = 2e?AvxeTg, 8. Catalogue of greek coins in the Hunterian col-
[85. 86] I. Die hellenistischen Städte. 2. Gaza. 113
der Kämpfe im syrischen Reiche zwischen Demetrius II. Nikator
und Antiochuß VI., resp. Trypho (145—143 vor Chr.), wurde Gaza,
da es | sich der Partei des Antiochus nicht anschließen wollte, im
Einverständnis mit diesem von dem Makkabäer Jonathan belagert
und seine Umgebung verwüstet, woraufhin es seinen Widerstand
aufgab und zur Bürgschaft seines Anschlusses an Antiochus dem
Jonathan Geiseln stellte76. In betreff der Verfassung Gazas in
jener Zeit erfahren wir gelegentlich, daß es einen Bat von 500 Mit-
gliedern hatte77. Um das Jahr 96 vor Chr. fiel auch Gaza gleich
den Nachbarstädten Raphia und Anthedon in die Hände des Alexan-
der Jannäus. Alexander eroberte es nach einjähriger Belagerung,
schließlich freilich doch nur durch Verrat, und gab die Stadt samt
ihren Einwohnern dem Untergange preis (Jos. Antt. XIII, 13, 3.
Bell. Jud. I, 4, 2. Vgl. Antt. XIII, 15, 4. Stark, S. 499 ff). Als Pom-
peius Syrien eroberte, erhielt auch Gaza, soweit von dessen Existenz
damals überhaupt die Rede sein kann, die Freiheit (Antt. XIV, 4, 4.
Bell Jud. I, 7, 7). Die neuerbaute Stadt begann daher mit der Zeit
des Pompeius (61 vor Chr.) eine neue Zeitrechnung 78. Die Wieder-
leetion ed. by Maodonald vol. III, Glasgow 1905, p. 282. — De Saulcy will
diese Münzen in die römische Kaiserzeit setzen; nach Macdonald (a. a. O.
Anm.) ist dies wegen des Stiles unmöglich.
76) I Makk. 11, 61-62. Joseph. Antt. XIII, 5, 5. Stark 8. 492. — Eine
Eroberung Gazas hat zur Makkabfierzeit nicht stattgefunden. Denn an der
Stelle I Makk. 13, 43—48 ist Gazara zu lesen.
77) Jos. Antt. XIII, 13, 3.
78) Über die Ära von Gaza vgl. überhaupt: Noris, Annus et epochae
Syromaced. V, 2 — 3 (ed. lAps. p. 476 — 602). Dufour de Longuerue, De variis
epoehis et omni forma veterum orientahum, Lips. 1760, p. 142 — 167. Eckhel,
Doetr. Num. III, 148 464. Musei Sanelementiani Numismata seleeta P.
II, 1800, lib. m, 252—270, lib. IV, 141—161. Ideler, Handb. der Chronol.
I, 474 f. Stark, Gaza S. 613—515. Schürer, Der Kalender und die Ära
von Gaza (Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1896, S. 1065—1067). Die
Münzen bei Mionnet V, 635—649. Suppl. Vm, 371—375. De Saulcy, Nu-
mismatique de la Terre Sainte p. 209 — 233, pl. XI. Catulogue of greek eoins in
the Hunterian eolleetion ed. by Macdonald III, 282—284. Wichtig sind die
von Germer-Durand und Clermont-Ganneau in neuerer Zeit ge-
sammelten christlichen Grabschriften, über welche unten Anm. 89 das Nähere
mitgeteilt ist — Das Chronieon paschale (ed. Dindorfl, 352) bemerkt zu Olymp.
179, 4 — 61 vor Chr.: *Evx€v&ev ra^aloi xovq iavtlbv %Q^V0V<i *Q&tiof}oiv.
Hiernach haben Noris, Longuerue und Eckhel den Beginn der Ära in d. J.
61 v. Chr. gesetzt. Statt dessen glaubten Bauelemente und nach ihm Ideler
und Stark auf Grund einer Münze der Plautilla, der Gemahlin des Caracalla,
mit der Jahreszahl 264 das J. 62 als Anfangspunkt erweisen zu können Aber
die erwähnten christlichen Grabschriften setzen das J. 61 als Anfangspunkt
außer Zweifel ; und jene Münze steht damit nicht im Widerspruch, da sie
unter Voraussetzung jener Ära in d. J. 203/204 n. Chr. fallt, in welchem Jahre
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 8
114 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [86. 87]
erbauung selbst erfolgte erst unter Gabinius (Antt. XIV, 5, 3). Wahr-
scheinlich ist aber damals das alte Gaza verlassen and die neue
Stadt etwas weiter südlich gegründet wor|den79. Im Jahre 30
vor Chr. kam Gaza unter die Herrschaft Herodes' des Gr. (Antt. XV,
Plautilla noch die Gemahlin des Caracalla war. S. Sitzungsber. der Berliner
Akad. 1896, S. 1072 f.
79) Ober den Unterschied von Alt- und Neu- Gaza vgl. bes. Stark S. 352 f.
509—513. — Die Stadt, bei welcher im J. 312 v. Chr. Ptolemäus Lagi über
Demetrius Poliorketes siegte, wird von Diodor und Porphyrius ausdrücklich
Alt-Gaza genannt, s. Diodor. XIX, 80 {x^v nalaiäv rä^av), Porphyrius in
dem Fragment bei Euseb. Chiron, ed. Schoene I, col. 249—250 (nach dem Ar-
menischen: veterem Qaxam, griech. bei Syncellus: JIalalydt,av oder wie Gut-
schmid liest, naXaiydtyn*). Auf eben dieses Alt-Gaza bezieht sich die Notiz
bei Strabo, daß Gaza von Alexander zerstört worden und wüste geblieben sei,
Strabo XVI, 2, 30, p. 759: xaxeonaofihri rf' imö ^AXe%avdoov xal ptvovoa Ipjy-
fio$. [Von der Bemerkung der Apostelgeschichte Act. 8, 26: avxrj ioxlv iorjfioq
ist dagegen hier abzusehen, da dort avzrj wahrscheinlicher auf döög zu be-
ziehen ist.] Strabo ist freilich insofern im Irrtum, als er von der Existenz
Neu-Gazas nichts zu wissen scheint. Seine Bemerkung beruht eben auf der
Angabe eines älteren geographischen Autors, zu dessen Zeit Neu-Gaza noch
nicht existierte. Die Existenz eines Neu-Gaza, das etwas südlicher als Alt-
Gaza lag, wird aber namentlich bezeugt durch ein anonymes geographisches
Fragment {Anoonaofiaxia xiva y€u>yoa<puca ed. Hudson [im Anhang zu seiner
Ausg. des Dionysius Perieget., Qeoyraphiae vet. scriptores Qraeci minores T. IV,
Oxon. 1717] p. 39: /texä xa ^PivoxÖQOvoa % via räQa xeixai nölig oioa xal avtr},
el&* ^ %Qrifioq rä^a, elxa ^ ^AoxaXiov nöXiq) und durch Hieronymus {Onomast. ed.
Klostermann p. 63|: antiquae civitatis locum vix fundamentoruvi praebere vestijia^
hone autem quae nunc cernitur, in alio looo pro iüa^ quae] corruit, aedifica-
tarn). — Steht somit die lokale Verschiedenheit von Alt- und Neu-Gaza außer
Frage, so wird man es auch mit Stark für das Wahrscheinlichste halten dürfen,
daß die Gründung Neu-Gazas auf Gabinius zurückzuführen ist. Denn eine
völlige Zerstörung des alten Gaza ist nicht, wie Strabo anzunehmen scheint,
bei der Eroberung durch Alexander d. Gr., wohl aber durch Alexander Jannäus
erfolgt — Sowohl Alt- als Neu-Gaza lag übrigens zwanzig Stadien landein-
wärts (s. über das alte: Arrian. II, 26J; über das neue: Soxam. hist.\eccl. V, 3;
irrig Strabo p. 759: f sieben Stadien, Antoninus Martyr c. 33: ein mit. pass.).
Von beiden ist daher zu unterscheiden der Hafen von Gaza, der wohl für
beide derselbe geblieben ist, ra^al&v Xif*fy>, Strabo p. 759, Ptolemaeus V, 16, 2
-=*Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 2. Dieser Hafenort wurde durch Kon-
stantin d. Gr. unter dem Namen Kuyvoxavxeux zur Stadt erhoben {Euseb. Vita
Const.'IV, 38. Sozomenus, Rist eccl. II, 5), verlor aber durch Julian wieder
diesen Namen samt den Rechten [einer Stadt und hieß seitdem wieder nur
Matovfxäg (=* Hafenort) , s. Soxom. hist. eccl. V, 3. Marci Diaconi Vita Porphyrii
c. 57 {ed. Haupt, Abhandl. der Berliner Akad. 1874, Teubnersche Ausg. Lips.
1895). Hieronymus Vita Hilarionis c. 3 {opp. ed. Vaüarsi II, 15). Raajbe,
Petrus der Iberer, 1895, S. 50 — 59. Antoninus Martyr c. 33. Bei and p. 791 sq.
Stark S. 513. Kuhn II, 363.J Guirin, Judie II, 219—221. Thomsen, Loca
saneta p. 86.
[87. 88] I. Die hellenistischen Städte. 2. Gaza. 115
7, 3. Bell. Jud. I, 20, 3). Nach dessen Tode wurde es wieder5 zur
Provinz Syrien geschlagen (Äntt. XVII, 11, 4. Bell. Jud. II, 6, 3).
Hiermit stimmt oberem, daß die Kaisermünzen von Gaza erst nacb
dem Tode Herodes' des Gr. beginnen. Die ältesten bekannten sind
zwei Münzen des Augustus aus den Jahren 63 und 66 aer. Gas.80.
Zur Zeit des Claudius wird Gaza von dem Geographen | Mela als
bedeutende Stadt erwähnt81. Im Jahre 66 nach Chr. wurde es
von den aufständischen Juden überfallen und verwüstet (Jos. Bell.
Jud. II, 18, 1). Es kann dies aber nur eine sehr partielle Ver-
wüstung gewesen sein. Denn eine so starke Festung konnte un-
möglich von einem Haufen rebellischer Juden wirklich zerstört
werden. Auch bezeugen Münzen aus den Jahren 130, 132, 135
aer. Gax. (=» 69 70, 71/72, 74/75 nach Chr.) die fortdauernde Blüte
der Stadt82. Auf einem neuerdings gefundenen Bleigewicht findet
sich die Inschrift L 6§q ayoQavopovvToq Aixalov (Jahr 164 aer. Qa%m
=* 103/104 nach Chr.)33. Besondere Gunstbe?eugungen scheinen
der Stadt durch Hadrian bei dessen Aufenthalt in Palästina im
Jahre 130 nach Chr. zuteil geworden zu sein84. Auf einer In-
schrift aus der Zeit des Gordianus (238—244 nach Chr.) heißt sie
leQa xal oiovXog xai amovoiioq*'*. Später muß sie römische Kolonie
geworden sein86. Eusebius erwähnt sie als jtoXiq ijtlarjfiog91. Und
80) Eckhel III, 453 sq. Mionnet V, 536 sq. De Sauley p. 213.
81) Mela I, 11: in Palaestina est inr/ens et munita admödwn Gaza.
82) Mionnet V, 537 sq. Suppl. VIII, 372. De Sauley p. 214.
83) Mitgeteilt von ClermontrGanneau, Palestine Exploration Funa\ Qitar-
terly Statement 1893, p. 305 sq. — Archaeolojical Besearches in Palestine II, 399.
— Über ein ähnliches Bleigewicht s. Clermont-Ganneau|, Comptes rendus de
VAoad. 'des Inser. et Beiles- Lettres 1898, p. 606—609 =- Reeueä oVarchtol
Orientale III, 82—86. Es trägt die Jahreszahl 86, was nach der Ära von
Gaza — 25/26 n. Chr. sein würde. Nach dem Schriftcharakter muß es aber
jünger sein.
84) Die Münzen aus der Zeit Hadrians haben eine neue hadrianische
Ära neben der gewöhnlichen städtischen. Außerdem erwähnt das Ohronieon
paschale {ed. Dindorf I, 474) eine itav^yvotq 'AÖQiavJ/, die seit Hadrians Zeit
gefeiert werde. S. überhaupt Stark S. 550.
.85) Oorp. Inser. Oraee. n. 5892 =» Kaibel, Inser. Gr. Sicüiae et \Italiae
n. 926 « Caynat, Inseriptiones graeoae ad res romanas pertinentes I n. 387.
Vgl. Stark S. 554 f. Über die Titel s. oben S. 105.
86) Le Bas et Waddington, Inseriptions T. III, n. 1904 =» Gagnat,
Inser. gr. ad res roman. pertinentes III n. 1212: KoXiovlaq rd^rjq. Auf rö-
mische Munizipal -Verfassung deutet auch die Erwähnung eines Gaxtnsis
Duumvir bei Hieronymus, Vita Hilarionis 0. 20 (Vaüarsi II, 22). Vgl. Mar-
quardt, Rom. Staatsverwaltung 1,429. Ober die duoviri überhaupt: Liebe-
nam in Pauly-Wissowas Real-Enz. V, 1804 — 1841.
87) Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 62.
8*
116 § 23» Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [88]
sie ist dies auch noch geraume Zeit geblieben88. Welch selbstän-
diges Leben diese großen Städte führten, zeigt sich vielleicht am
schlagendsten darin, daß Gaza wie Askalon, Tyrus und Sidon sogar
einen eigenen Kalender hatte89. Die griechische Bildung hat
88) Antoninus Martyr (um 570 n. Chr.), De locis sanctis c, 33 (Ausgg.
von Gildemeister 1889, und von Geyer in: Itinera Hierosoh/mitana 1898):
Gaxa autem eivüas splendida delioiosa, komines honestissimi omni liberalitoie
decori, amatores peregrinorum. Vgl. zur Geschichte von Gaza außer dem
Hauptwerke von Stark (1852) auch: Dräseke, Der Sieg des Christentums
in Gaza (Zeitschr. f. kirchl. Wissensch. u. kirchl. Leben 1888, S. 20—40).
Pers., Gesammelte patristische Untersuchungen, 1889 (S. 208—247: Marcus
Diaconus). — Nutk, De Marci Diaconi vita Porphyrii episc. Gaxensis quae-
stiones historicae ei grammaticae. Bonn. Diss. 1897. — Seitz, Die Schule
von Gaza, eine litterargeschichÜ. Untersuchung. Heidelberg. Diss. 1892. —
Povoooq, Toelq /YrgcrZbt. Lips. Diss. 1893. — Bardenhewer, Patrologie
(1894) § 82.
89) S. überhaupt: Ideler, Handbuch der Chronologie I, 410 f. 434 f.
438 f. Schwartz, Nachrichten der Göttinger G eselisch, der Wissensch., phil.-
hist. Kl. 1906, S. 342-345. Über Gaza auch: Noris V, 2 (ed. Lips. p. 476*^.).
Stark S. 517 f. Wertvolles Material über den Kalender und die Ära
von Gaza bieten die neuerdings dort gefundenen christlichen Grabschriften
aus dem sechsten Jahrh. nach Chr. (mitgeteilt von Germer -Dur and, Revue
bibliqus I, 1892, p. 239 sqq. H, 1893, p. 203 sqq. m, 1894, p. 248 sq. und mit
ausführlichem Kommentar von Clermont-Ganneaut Archaeological Re-
searches inPalestine vol. H, 1896, p. 400—429). Sie bestätigen durchaus unsere
bisherige Kunde. Nach dem in einer Leidener und einer Florentiner Hand-
schrift erhaltenen Hemerologium (Ideler I, 411, Sitzungsber. der Berliner
Akad. 1896, S. 1066) hatte der Kalender von Gaza, verglichen mit dem ju-
lianischen, folgende Form (Ideler I, 438):
Monate Gazas. Anfang. Dauer.
Dios 28. Oktober 30 Tage
ApeUaios 27. November 30 Tage
Audynaios 27. Dezember 30 Tage
Peritios 26. Januar 30 Tage
Dystros 25. Februar 30 Tage
Xanthicos 27. März 30 Tage
Artemisios 26. April 30 Tage
Daisios 26. Mai 30 Tage
Panemos 25. Junius 30 Tage
Loos 25. Julius 30 Tage
Epagomenen 24. August 5 Tage
Gorpiaios 29. August 30 Tage
Hyperberetaio8 28. September 30 Tage
Diese Angaben finden schon durch die Vita Porphyrii des Marcus Dia-
conus mehrfache Bestätigung (s. Sitzungsberichte jler Berliner Akademie 1896,
S. 1067). Weitere Belege, zugleich auch für die Ära von Gaza, bieten die er-
wähnten Grabschriften, da sie neben den Jahren und Monaten Gazas auch
das entsprechende Indiktionenjahr angeben. Vollständig erhalten sind folgende
[89] I. Die hellenistischen Städte. 2. Gaza. 117
übrigens nicht alle Schichten der Bevölkerung durchdrungen. Noch
um 400 nach Chr. sprach das niedere Volk syrisch (s. oben S. 85).
zehn Daten, denen wir das entsprechende christliche Datum sogleich beifügen
(die vorangestellte Seitenzahl bezieht sich auf Clermont-Ganneaus Ausgabe):
S. 401 : 22. Hyperberetaios . Jahr 565, ind. 13. (19. Oktober 505 nach Chr.).
S. 402: 22. Loos .... Jahr 571, ind. 4. (15. August 511 nach Chr.).
S.403: ? Xanthicos . . Jahr 589, ind. 7. (? April 529 nach Chr.).
S. 404: 8. Daisios .... Jahr 599, ind. 2. ( 2. Juni 539 nach Chr.).
S. 407: 21. Loos Jahr 601, ind. 4. (14. August 541 nach Chr.).
8.408: 4. Epagomene . . Jahr 601, ind. 4. (27. August 541 nach Chr.).
S. 408: 4. Gorpiaios . . . Jahr 601, ind. 5. ( 1. September 541 nach Chr.).
S. 410: 11. Daisios .... Jahr 623, ind. 11. ( 5. Juni 563 nach Chr.).
8.411: 5. Daisios. . . . Jahr 662, ind. 5. (30. Mai 602 nach Chr.).
S.411: 22. Hyperberetaios. Jahr 669, ind. 13. (19. Oktober 609 nach Chr.).
Hierzu noch Revue biblique 1901, p. 580 = Clermont-Ganneau , Becueil
V, 58:
13. Peritios . . . Jahr 647, ind. 5. ( 7. Februar 587 nach Chr.).
Daß hier die Jahre der Stadt Gaza gemeint sind, ist einmal ausdrücklich
gesagt, S. 410: iv prj(vl) Aaialov ai xoü xazä ra£{aiov<;) yxx' lv6 tu! \ Wenn
wir voraussetzen, daß die Ära Gazas im Herbst 61 vor Chr. beginnt, so er-
geben sich die von uns berechneten christlichen Daten (denn es ist dann
Jahr 1 Gazas •= 61/60 vor Chr. = 693/694 a. ü. c, Jahr 101 Gazas = 40/41
nach Chr. =• 793/794 a. U. c, also Jahr 601 Gazas = 540/541 nach Chr. u. s. w.).
Daß diese Voraussetzung richtig ist, beweisen die beigefügten Indiktionen-
jahre. Die Indiktionen beginnen am 1. September 312 n. Chr. Anfangsjahre
neuer Indiktionen-Zyklen sind also die Jahre n. Chr. 492, 507, 522, 537, 552,
597 (immer mit dem 1. September beginnend). Hiernach stimmen alle obigen
Daten mit Ausnahme des ersten ; denn am 19. Oktober 505 n. Chr. lief be-
reits das 14 Indiktionenjahr. In diesem Falle muß ein Irrtum vorliegen, da
alle andern Daten stimmen. Namentlich ist genau beachtet, daß das In-
diktionenjahr am 1. September beginnt, das gazäische Jahr fast zwei Monate
später. Daher haben die Grabschriften vom Jahr 601 aer. Gax. verschiedene
Indiktionen, die in den August fallenden ind. 4, die vom 1. September aber
ind. 5. Daher ist ferner vom Jahr 662 bis Jahr 669 aer. Qa%. ein Intervall
von acht Indiktionenjahren (er9teres = ind. 5, letzteres «-■ ind. 13), weil die
eine Grabschrift vom Mai, die andere vom Oktober datiert ist. Die Grab-
echriften vom Jahr 601 aer. Gax. bestätigen auch, daß die fünf Ergänzungs-
tage (Epagomenen) vor den Gorpiaios, also nicht an den Schluß des Jahres
fallen, wie man eigentlich erwarten sollte; denn das Datum 4. Epagomene
601 ist — ind. 4, dagegen das Datum 4. Gorpiaios 601 = ind. 5. — Schwierig-
keiten machen dagegen einige Grabschriften mit den Jahreszahlen 33, 39, 88
(Clermont-Ganneau II, 411—413). Bei ihrer Verwandtschaft mit den anderen
liegt die Vermutung nahe, daß die Ziffer für die Hunderte zu ergänzen ist
Aber weder mit 500 noch mit 600 stimmt das beigefügte Indiktionenjahr,
vorausgesetzt, daß es sich um die Ära von Gaza handelt. Da eine dieser
(ebenfalls in Gaza gefundenen) Grabschriften aus Askalon stammen soll, will
Clermont-Ganneau für sie die Ära von Askalon voraussetzen (a. a. O. II,
425—428). Er muß dabei aber das Jahr 105 n. Chr. als Ausgangspunkt an-
118 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [90. 91]
3. Anthedon, 'Av&riöwv, am Meere gelegen, nur von Plinius
irrtümlich als Binnenstadt angeführt 90, nach Sozomenus nur zwanzig
Stadien von Gaza, wahrscheinlich in nördlicher (nordwestlicher)
Richtung91. Es erweist sich schon durch seinen Namen als | eine
Gründung der griechischen Zeit Erwähnt wird es erst zur Zeit
des Alexander Jannäus, der es ungefähr gleichzeitig mit Baphia
eroberte {Jos. Antt. XIII, 13, 3. BelLJud. I, 4, 2; vgl. Antt.XIU, 15, 4).
Wie alle Küstenstädte ist es ohne Zweifel durch Pompeius den
Juden wieder abgenommen worden. Gabinius baute es neu auf
(Antt. XIV, 5, 3. B. J. I, 8, 4). Augustus schenkte es dem Herodes
(Antt. XV, 7, 3. B. J. I, 20, 3), der es abermals restaurierte und zu
Ehren des JA. Agrippa Agrippias oder Agrippeion nannte
(Antt. XIII, 13, 3. B. J. I, 4, 2. 21, 8). Bei der Teilung der Erbschaft
des Herodes wird es nicht ausdrücklich erwähnt Es ist daher
ungewiß, ob es gleich dem benachbarten Gaza zur Provinz Syrien
geschlagen wurde (so Menke), oder wie Jope und Cäsarea an
Archelaus überging (so Stark S. 542 f.). Im letzteren Falle würde
es die Schicksale des übrigen Judäa geteilt haben, also nach Ar-
chelaus' Absetzung unter römische Prokuratoren und vom Jahre
41—44 nach Chr. an König Agrippa gekommen sein. Für letzteres
würde die Existenz einer angeblichen Münze von Anthedon mit
nehmen, während nach allen andern Daten das Jahr 104 sicher ist. Schwarte
(Nachrichten der Göttinger Gesellseh. der Wissensch. 1906, S. 366) vermutet,
daß es sich um eine Ära von Majuma-Konstantia, der Hafenstadt von Gaza
handle.
90) Plin. Eist. Not. V, 13, 68: intus Anthedon. — Daß es aber am Meere
lag, ist nach dem übereinstimmenden Zeugnis aller anderen Autoren zweifellos.
S. Jos. Antt. XIII, 15, 4. XVIII, 6, 3. Bell. Jud. I, 21, 8. Ptolem. V, 16, 2
= Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 2. Sleph. Byx. s. r. Soxomenus Eist.
EccLVy 9. — S. überhaupt: Beland, Palaestina p. 566—568. Baumer, Palä-
stina S. 171 f. Pauly-Wissowas Real-Enz. I, 2360. Gutrin, Judle II
215 — 218. Le Quien, Oriens christianus III, 631.
91) Soxom. V, 9. — In der Regel setzt man Anthedon südlich von Gaza,
nach Jos. Antt. XIII, 15, 4. Allein die Mehrzahl der Josephusstellen spricht
dafür, daß es nördlich von Gaza lag (Antt. XV, 7, 3. Bell. Jud. I, 4, 2. 20, 3.
II, 18, 1); ebenso Plinius V, 13, 68. Entscheidend ist die Notiz des Theo-
dosius, daß es zwischen Gaza und Askalon gelegen habe: Theodosius,
De situ terrae sanctae (ed. Gildemeister 1882 § 18; ed. Geyer ', Jtinera Eieroso-
lymitana 1898 p. 138): inter Ascalonam et Gaxam cititaies duas id est Ante-
dona et Maioma. Mit Recht hat daher Gatt (Zeitschr. des Deutschen Palä-
stina-Vereins VII, 1884, S. 5—7) die Ruinenstätte el-Blachije, eine Stunde
nordwestlich von Gaza, fBr welche ihm von einem Eingeborenen der Name
Teda genannt wurde, mit Anthedon identifiziert. Vgl. auch die Bemerkungen
von Nöldeke und Gildemeister, Zeitschr. d. DPV. VII, 140—142.
[91. 92] I. Die hellenistischen Städte. 3. Anthedon. 4. Askalon. H9
dem Namen Agrippas sprechen, wenn deren Lesung sicher wäre92.
— Beim Beginn des jüdischen Krieges! wurde Anthedon von den
aufständischen Juden überfallen und teilweise verwüstet (Bell Jud. II,
18, 1). — Der Name Agrippias hat sich nie eingebürgert; schon
Josephus und ebenso alle späteren Autoren nennen es wieder
Anthedon 93. Auch auf Münzen ist der Name Anthedon herrschend
und das Vorkommen des Namens Agrippias zweifelhaft94. )
4. Askalon, 'AoxaXcov, hebräisch jftptfÄ, wie Gaza eine be-
deutende, auf den Amarna-Briefen95 und im Alten Testament wieder-
holt erwähnte, auch dem Herodot schon bekannte Stadt der Phili-
stäer96. Das heutige Askalan liegt unmittelbar am Meere; und
92) Die Münze bei Mionnet, Suppl. VHI, 364. Gegen die Richtigkeit
der von Mionnet mitgeteilten Lesung s. Madden, Coins of the Jews (1881)
p. 134. — Imhoof-Blumer (in Sallets Zeitschr. für Numismatik XIII, 1885,
8. 139 f.) glaubt auf der Münze sicher zu lesen: Ayoinna Ayomn(ßwv). Hier-
nach könnte die Münze doch hierher gehören. Denn es würde dabei nicht,
wie Imhoof-Blumer will, an Agrippa II. zu denken sein, der Anthedon nicht
besessen hat, sondern an Agrippa I.
93) So Plinius, Ptolemäus, Stepb. Byz., Sozomenue an den zitierten Stellen;
Hierocles, Synecd. p. 44; die Akten der Konzilien bei Le Quien a. a. O. — Die
vereinzelte Behauptung des Tzetzes (bei Reland p. 567), daß das frühere An-
thedon „jetzt" Agrippias heiße, stützt sich nur auf Josephus.
94) Eckkel, Doctr. Num. III, 443 sq. Mionnet , Descript. V, 522 sq. Suppl
VHI, 364. De Sauley, Numismatique de la Terre Sainte p. 234-236, pl. XII,
n. 1 — 4. — Alle drei geben freilich auch Münzen mit der Legende ^Ayqmnitov.
Aber diese gehören gar nicht Anthedon an, s. Stark, S. 515 f. Imhoof-
Blumer (in Sallets Zeitschr. f. Num. XIII, 140): „Daß die autonomen
Kupfermünzen mit der einfachen Aufschrift Ayoinnewv nicht hierher, sondern
nach Phanagoria gehören, ist schon wiederholt gezeigt worden." Dagegen ist
nach Imhoof-Blumer vielleicht auf der in Anm. 92 erwähnten Münze Ayom-
newv zu lesen.
95) Zeitschr. des DPV. 1907, S. 11.
96) Herodot. 1, 105. — S. überh.: Reland, Palaestina p. 586- 596J Win er
RWB.» und Pauly-Wissowa, Real-Enz. s. v. Rittejr, Erdkunde XVI, 70—89.
Raumer, Paläst 8. 173f. Tobler, Dritte Wanderung nach Palästina (1859)
S. 32—44. Sepp, Jerusalem (2. Aufl.) II, 599ff. Quirin, Judie II, 135—149.
153 — 171. Guthe, DieJ Ruinen JA skalons, mit Plan^ (Zeitschr. d. deutschen
Palästina- Verein s II, 164 ff.). The Surrey of Western Palestine, Memoirs by
Conder and Kitchener 111,237—247 (mit Plan), dazu Blatt XIX der großen
engl. Karte. Warren, Quarter ly Statement 1871,7abgedr. in: The Survey of
Western Palestine, Jerusalem (1884) p. 440 — 447. Hildesheime r, Beiträge zur
Geographie Palästinas (1880) S. 1 — 4, 72—75. Le Strange, Palestine under
the Moslems (1890) p. 4C0-4C3. O. A. Smith, Historical Geography of the Holy
Land p. 189—192. Vigouroux, Dictionnaire de la Bible 1, 1060—1069. Thom-
son, Loca saneta p. 28. — Rabbinisches Material auch bei Büchler, Der
Patriarch R. Jehuda I. und die griechisch-römischen Städte Palästinas (Jetdsh
Quarlerly Review XIII, 1901, p. 683—740).
120 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [92. 93]
so erwähnt auch Ptolemäus Askalon als Küstenstadt97. Aber die
alte Stadt muß landeinwärts gelegen haben, da noch im sechsten
Jahrhundert nach Chr. Asoalon und Majuma Ascalonis (Hafenort
Askalons) unterschieden werden ". Vielleicht bezeichnet das heutige
eUMedjdel die Lage der alten Stadt"; doch bleibt diese Vermutung
sehr problematisch, wenn nicht Ruinen aus griechisch-römischer
Zeit sich daselbst nachweisen lassen. — In der persischen Zeit
gehörte Askalon den Tyriern 10°. Den Eintritt der hellenistischen |
Zeit bezeugen die in Askalon geprägten Münzen Alexanders des
Großen101. Im dritten Jahrhundert vor Chr. stand es wie ganz
Palästina und Phönizien unter der Herrschaft der Ptolemäer, hatte
also an diese jährliche Abgaben zu entrichten102. Mit Antiochus IIL
97) Ptolem. V, 10, 2 = Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 2.
98) Antoninus Martyr e. 33 (ed. Gildemeister 1889, ed. Geyer, Itinera
Hierosol. p. 180): Asealona . . . civitas Majoma Asealonüis. Im J. 518 werden
gleichzeitig ein Bischof von Askalon und ein Bischof von Majuma Ascalonis
erwähnt, s. Le Quien, Oriens Christ HI, 602 sq. Kuhn II, 363.
99) So Clermont-Ganneau (Comptes rendus de PAeadSmie des Insor.
et Belles-Lettres 1895 p. 380 sq. und bes. fitudes d'archeologie Orientale tome II
— Bibliothkque de l'ecole des hautes itudes fasc. 113, 1897, p. 2 — 9) auf Grund
einer Stelle in der Lebensbeschreibung Petrus1 des Iberers (herausg. und
übers, von Raabe 1895, syr. Text S. 77, deutsche Obers. S. 75). Hier wird
ein Ort KKb*t& oder K&6&, zehn Stadien von Askalon entfernt, erwähnt. Cl.-G.
liest dies Peieia „die Taube" und identifiziert es mit dem heutigen Hamämi,
arabisch = „die Taube". Hiernach würde sich als Lage des alten Askalon
nicht die heutige Stadt dieses Namens, die weit mehr als 10 Stadien von
Hamame entfernt liegt, sondern das heutige el Medjdel ergeben.
100) Scylax in: Geographi graeei minores ed. Müller I, 79: 'Aoxäkwv noliq
Tvqio)v xal ßaoiXeia. Movers (Phönizier II, 2, 177 f.) will diese Notiz nur
auf die Hafen- Anlage von Askalon (Majuma Ascalonis) beziehen, die er als
eine Gründung der Tyrier betrachtet Diese wird aber schwerlich in anderem
Besitz als die Stadt selbst gewesen sein. Es ist vielmehr anzunehmen, daß
Askalon in der persischen Zeit (auf welche sich die Angaben des Skylax be-
ziehen), unter der Herrschaft der Tyrier stand, wie Jope und Dora unter der-
jenigen der Sidonier (s. unten bei Jope und Dora). So auch Gutschmid,
Kleine Schriften II, 1890, S. 77. Hol seh er, Palästina in der persischen und
hellenistischen Zeit (1903) S. 15 f., welcher annimmt, daß Askalon den Tyriern
vom Perserkönig geschenkt worden sei.
101) L. Müller, Numismatique df Alexandre le Grand (1855) p. 308, plandies
n. 1472 sqq. — Die bei Mionnet I, 522, Suppl. HI, 199 mitgeteilten Münzen
gehören nach Müller p. 267 der Stadt Aspendos in Pamphylien.
102) Die Erzählung des Josephus Antt. XII, 4, 5 setzt dies auch noch
für die Zeit des Ptolemäus V. voraus, was mit den historischen Tatsachen
nicht vereinbar ist (s. oben S. 100). — Eine in Askalon geprägte Münze des
Ptolemäus IV. von dessen 4. Jahre — 218 vor Chr. s. bei Sßoowvoq, Tä
vofxiofjLaxa xof) xodtovg xCbv IJzokeuaiwy 1904, Tl. II, 8. 192. — Wenn es
richtig wäre, daß eine in Askalon geprägte Münze Antiochus7 L existierte
[93] I. Die hellenistischen Städte. 4. Askalon. 121
beginnt die Herrschaft der Seleuciden, welche auch durch askalo-
nische Seleuciden-Münzen von Antiochus III. bis IX. bezeugt ist l03.
Gegenfiber der steigenden Macht der Juden wußte sich Askalon
durch kluges Entgegenkommen zu schlitzen. Zwar zog der Makka-
bäer Jonathan zweimal gegen die Stadt zu Felde; aber beide Male
begnügte er sich mit einer ehrerbietigen Begrüßung von Seiten
der Stadtbewohner104. Askalon ist auch die einzige Küstenstadt,
welche von Alexander Jannäus unbehelligt blieb. Im Jahre 104
vor Chr. wußte es sich unabhängig zu machen und begann von da
an eine eigene Zeitrechnung, deren es sich noch in der römischen
Kaiserzeit bediente 105. Die Bezeichnung Askalons als avrovofiog
(wie Mionnet V, 8 Nr. 59 angibt), so müßte Askalon zu dessen Zeit unter
syrischer Herrschaft gestanden haben. Vgl. aber dagegen: Stark, Gaza S. 476.
Droysen III, 1, 274. Dieselbe Münze wird von Babelon (Gatalogue des tnon-
naies grecques de la Bibliotheque nationale, Lee rois de Syrie, 1890 p. CLXXVIII
u. 28) dem Antiochus IL zugeschrieben (??).
103) Mionnet beschreibt askalonische Münzen Antiochus' III. u. IV.,
Tryphos u. Antiochus' VIII. (Descript. de mtdailles V p. 25 Nr. 219, p. 38, p. 72
Nr. 625, p. 525; Suppl. VIII, 366). Der Katalog des britischen Museums gibt
solche von Trypho, Alexander Zebinas, Antiochus VIII. u. IX. (Gardner, Gata-
logue of the greek coins, Seleucid kings, 1878, p. 68. 69. 81. 88. 91); der Kata-
log des Pariser Münz-Kabinets solche von Antiochus III. u. IV., Trypho u.
Antiochus VIII. (Babelon, Gatalogue des monnaies grecques de la Bibliotheque
nationale, Les rois de Syrie, 1890, p. 50. 75. 83. 136. 137. 182), Imhoof-Blumer
eine von Alexander Balas (Zeitschr. f. Num. XIII, 140 f.). De Sauley eine
von Trypho (Melanges de Numismatiqite t. II, 1877, p. 82 sq.). — S. übern.: Stark,
Gaza S. 474—477.
104) I Makk. 10, 86 u. 11, 60. Stark, Gaza S. 490f. 492.
105) S. über die Ära vom J. 104: Ghron. paschale zu Olymp. 169, 1 -= 104
v. Chr. (ed. Dindorf I, 346): *AoxaXo>vTtai xobq havvCbv zgövovq ivvev&ev aoi&-
fioVaiv. — Hieron. Ghron. ad ann. Abrah. 2295 (bei Euseb. Ghron. ed. Schoene II,
185): Das 2. Jahr des Probus [1030 cn J7.] = 380 aer. Ascal. — Noris, Ännus
et epochae V, 4, 1 (ed. Lips.p. 503—515). — Eckhel, Doctr. Num. HI, 444—447.
— Musei Sanelementiani Numismata seleeta Pars II lib. IV, 99—114. — Ideler,
Handb. der Chronol. I, 473 f. — Stark, Gaza S. 475f. — Die Münzen bei:
Mionnet, Descr. V, 523—533; Suppl VIII, 365—370; De Sauley, Numis-
matique de la Terre Sainte p. 178—208, 406, pL IX— X; Ders, Mtlanges de
Numismatique t. II, 1877, p. 148—152; Gatalogue of greek coins in the Hun-
terian collection ed. by Macdonald III, 280 f. — Durch eine neuerdings in Ägypten
gefundene Papyrusurkunde über einen Sklavenkauf in Askalon (mitgeteilt
von Wilcken im Hermes XIX, 1884, S. 417— 431) sind die bisher bekannten
Angaben über die Ära von Askalon in willkommener Weise bestätigt worden.
Die Urkunde ist datiert nach den Konsuln des Jahres 359 nach Chr., Fl.
Eusebius und Fl. Hypatius, und zwar vom 12. Oktober dieses Jahres; zugleich
tragt sie das Datum Ikovq öevzigov h^xoarov zetoaxocioorov fiijvdg roomaiov
6i. Das Jahr 462 der Ära von Askalon ist in der Tat = 358/359 n. Chr.; und
der Monat Gorpiaios ist der letzte Monat des askalon i tischen Jahres, ungefähr
122 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [94]
kommt bereits auf einer Münze aus der Zeit des Antiochus VIII.
Grypos vor 106. Die Kömer haben seine Unabhängigkeit wenigstens
formell anerkannt ,07. Außer der gewöhnlichen Ära vom Jahre 104
vor Chr. kommt vereinzelt noch eine andere vom Jahre 57 vor Chr.
vor, welche beweist, daß auch Askalon durch Gabinius begünstigt
worden ist108. Einige autonome Münzen von Askalon zeigen außer der
Aufschrift IsQag äavXov 'AoxaXcwitdip entweder a) den Kopf eines
der letzten Ptolemäer oder b) den Kopf des Antonius oder c) den Kopf
der letzten' Kleopatra. Sie gehören wahrscheinlich alle in die Zeit
des Cäsar und Antonius (47—30 vor Chr.) und sind eine Huldigung
der Stadt für die damaligen ägyptischen Machthaber, insonderheit
für die Königin, welche durch Antonius' Gnade zuletzt die phili-
stäisch-phönizische Küste sogar zum Eigentum erhielt (s. oben
S. 102) 109. Im Besitze des Herodes und seiner Nachkommen ist
dem Oktober entsprechend (Genaueres über den Kalender von Askalon s. bei
Ideler, Handbuch der Chronologie I, 410 f. 438 f. Mommsen im Hermes
a.a.O. S.420f. Schwartz, Nachrichten der Gott Ges. d. Wiss. 1906, S. 342—345).
Der Text der Urkunde auch in : Ägyptische Urkunden aus den königl. Museen
zu Berlin, Griechische Urkunden, Bd. I, 1895, Nr. 316. — Angesichts dieser
urkundlichen Bestätigung aller andern Daten ist es unmöglich, das J. 105
v. Chr. als Epochenjahr anzunehmen, wie neuerdings Clermont-Ganneau
auf Grund sehr unsicheren Materiales vorgeschlagen hat. Bei den drei gazai-
schen Grabschriften , auf welche er seine Annahme stützt, ist es ganz uner-
weislich, daß sie die Ära von Askalon voraussetzen (s. oben Anm. 89 gegen
Ende).
106) Babelon, Catalogue etc. p. 182 n. 1403: 'AoxaXw .... ahzo . . Henze,
De civitaiibiis liberis (Berol. 1892) p. 10.
107) Plinius Hist. Nai. V, 13, 68: oppidum Ascalo liberum. Henze, De
civitatibus liberis p. 14. 76 sq. — Im Anfang der Kaiserzeit (bis um die Mitte
des zweiten Jahrh. n. Chr.) sind in Askalon neben den Kaisermünzen auch
noch autonome Münzen geprägt worden, letztere jedoch nur von kleinster? Art
und geringstem Wert, s. de Saulcxj p. 187.
108) Auf einer Münze des Auguatus findet sich das Doppel-Datum 56 u.
102. Auf einer anderen (bei de Satäcy p. 189 Nr. 8): 55 u. 102. Das Jahr
102 ist nach der gewöhnlichen Ära von Askalon = 3/2 vor Chr. Wenn aber
dieses nach der anderen Ära = 55/56 ist, so ist das Jahr 1 dieser anderen
Ära = 57 vor Chr. (nicht «= 58, wie man bisher auf Grund der Münze v. J. 56
annahm).
109) S. über diese Münzen: De Saulcy, Note sur quelques motmaies in6-
dües d'Ascalon (Revue Numismatique 1874, p. 124 — 135). Feu ar de n t, Ebendas.
p. 184—194. Vgl. Bursians philol. Jahresbericht VII, 467 f; Head, Historie
Numorum p. 679 sq. Forrer, Revue Beige de Numismatique 1900, p. 25. 27.
149 ff. 157 f. Am vollständigsten: Sßopcovoq, Tä vofxlofjtata xov xQarovq xwv
ntoXeualwv 1904, Tl. II S. 313 f., dazu Tl. III pl. LXIII, 9-14 jind die Einl.
Tl. I S. t>o<f bis vo&. — Svoronos sucht für die Münzen eine Ära vom J. 84
vor Chr. zu erweisen und ordnet sie hiernach folgendermaßen:
[94. 95] I. Die hellenistischen Städte. 4. Askalon. 123
Askalon nie gewesen; wohl aber wurde | es von Herodes mit öffent-
lichen Gebäuden geschmückt no[; auch scheint Herodes einen Palast
dort besessen zu haben, der nach seinem Tode in den Besitz seiner
Schwester Salome überging i i K Der Ausbruch des jüdischen Krieges
im Jahre 66 nach Chr. war, bei der alten Feindschaft zwischen
Juden und Askaloniten, für beide Teile verhängnisvoll« Zuerst
wurde Askalon von den Juden verwüstet112, dann töteten die As-
kaloniten die in ihrer Stadt wohnenden Juden, 2500 an der Zahl113;
endlich machten die Juden abermals einen Angriff auf die Stadt,
der freilich von der dortigen römischen Besatzung mit Leichtigkeit
abgeschlagen wurde114. Askalon behielt seine Freiheit auch in
der späteren Kaiserzeit, was aber nicht hinderte, daß dort römische
Aushebungen stattfanden115; im vierten Jahrhundert war es römi-
sche Kolonie116. Es blieb noch lange eine blühende hellenistische
Kopf des Ptolemäus XIV. Jahr 34 (AA) — 51 vor Chr.
„ Ptolemäus XV.
tt
41
(MAY— 44
»» tt
tt
50
(N) - 35 „
„ Antonius
tt
50
(N) - 35 ,
der Kleopatra
tt
52
■
(NB) — 33
» tt
tt
55
(NE) — 30 ,3
Ob die erste Münze richtig gedeutet ist, möchte ich bezweifeln, da Askalon
damals schwerlich schon Anlaß zu einer solchen Huldigung für den unmündigen
Bruder der Kleopatra hatte.
110) Joseph, Bell. Jud. I, 21, 11. — Über zwei zu Askalon aufgefundene
Bildsäulen der Nike, welche ungefähr aus herodianischer Zeit herrühren mögen,
s. Theod. Rein ach, Revue des itudes juives t. XVI, 1888, p. 24 — 27.
111) Jos. Antt. XVII, 11, 5. B. J II, 6, 3. Vgl. Stark S. 542. — Üher
die Frage, ob Herodes aus Askalon stammte, s. oben § 12. Auf den Einfluß
des Herodes glaubt de Saulcy den Gebrauch gewisser, angeblich jüdischer
Symbole (zweier sich kreuzender Füllhörner mit einer Zitrone [?] in der Mitte)
auf einigen Münzen von Askalon aus der Zeit des Augustus zurückführen zu
müssen« S. dessen Note sur quelques monnaies d'Ascalon im Annuaire de la
Soetiti Francaise de Numismatique et df Archäologie III, 253 — 258.
112) Jos. B. J. II, 18, 1.
113) Jos. B. J. II, 18, 5.
114) Jos. B. J. in, 2, 1—2. — Über die Feindschaft der Askaloniten
gegen die Juden s. auch Philo II, 576 ed. Man$ey.
115) Eine cohors I Ascalonitanorum, wahrscheinlich zur Zeit Trajans,
Corp. Inscr. Lat. III n. GCO -= Schriften der Balkankommission, Antiquarische
Abt. in, 1904, S. IC 9. — 2) [Coh, I ?] Ascalonitana, zur Zeit wdes Tiberius,
Corp. Inscr. Lat. IX w. 3664. — 3) Coh. I Asealonit(anorum) sag(ittariorum\
als Bestandteil des syrischen Heeres auf einem Militärdiplom vom J. 157 n. Chr.
in Bulgarien, herausg. von Bormann, Jabreshefte des österr. archäol. Instituts
IH, 1900, S. 21 f. = Corp. Inscr. Lat. t. III, Suppl. p. 2328, 71 (Dipl. CX).
116) Papyrusurkunde vom J. 359 n. Chr. (Hermes XIX, 1884, S. 418 —
Ägyptische Urkunden aus den kgl. Museen zu Berlin, Griechische Urkunden
Bd. I Nr. 316): iv xokwvla *Aöx[dXann] xy morjj xal iXev&ioa.
124 8 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester.; [95. 96]
Stadt mit berühmten Kulten und Festspielen 11T. Eine ganze Anzahl
in der griechischen Literatur berühmter Männer ist aus ihm hervor-
gegangen118. Trotz seiner hellenistischen Kultur scheinen aber
die niederen Schichten der Bevölkerung syrischer Nationalität ge-
wesen zu sein119. — Über die Bedeutung Askalons | als Handels-
stadt geben die Inschriften mannigfache Aufschlüsse. Schon seit
dem dritten Jahrhundert vor Chr. finden wir Kaufleute aus Askalon
in Athen120, später auch in Dolos121, Rhodus122 und Puteoii123.
117) Die Spiele werden erwähnt auf der Inschrift Corp. Inscr. Graec. n.
4472 = Le Bas et Waddinqton, Inscriptions T. III n. 1839 (vgl. oben S. 48).
— Ammian. Marcellin. XIV, 8, 11 erwähnt Cäsarea, Eleutheropolis, Neapolis,
Askalon und Gaza als die bedeutendsten Städte Palästinas.
118) Steph. Byx. s. v. zählt vier Philosophen, zwei Grammatiker und zwei
Historiker aus Askalon auf; und das Verzeichnis ist noch nicht vollständig,
8. oben S. 53. — Einen Schauspieler aus Askalon am Hofe Caligulas erwähnt
Philo, Leqat. ad Cajum § 30 Mang. II, 576.
119) Auf einer Inschrift in Born kommt ein Soldat der achten Präto-
rianer-Kohorte aus Askalon mit echt semitischem Namen vor, Corp. Inscr.
Oraee. n. 6416 = Kaibelf Inscr. Gr. Siciliae et Italiae n. 1661 — Gaynat, Inscr.
graecae ad res romanas pertinentes I n. 266: ^lapcovo Aadfiov Svqoq 'AoxaXco-
vehijg IlaXaiozeivy, &6eX<pdg 'Avzcweivov, ovoaTHJDTTjq x^Q(xV^) V noiaLtwotriq).
Der Name Jamur auch auf einer nabatäischen Inschrift (in der Form in??*',
De Vogitä, Syrie centrale, Inscr. somit, p. 160 = Corp. Inscr. Semit. P. II Aram.
n. 195) und häufig im Arabischen. Griech. lä/taooq auf Inschriften im Hauran
(Nouveües archives des missions scientifiques X, 1902, p. 685 sq. n. 126. 131.
132). — Gegen die von Clermont-Ganneau (Recueil d'archeol. Orient. HI, 347 sq.)
vorgeschlagene Lesung ^Iafxovoaq "Aftov s. Lidzbarski, Ephemeris f. semit.
Kpigraphik I, 216.
120) Ein merkwürdiges Grabdenkmal eines gewissen Antipatros aus
Askalon, wahrscheinlich aus dem dritten Jahrh. vor Chr., nach Köhler saeculo
quarto exeunte vix multo recentior, ist in Athen im J. 1861 gefunden worden.
S. Corp. Inscr. Semit, t. I n. 115 und die dort angefahrte Literatur (worunter
hervorzuheben: Usener, De lliadis carmine quodam Pkocaico, Bonn 1875
p. 33 sqq.). Corp. Inscr. Attic. H, 3 n. 2836 mit Köhlers Bemerkungen. Wol-
ters, Mitteilungen des archäol. Instituts, Athenische Abt. Bd. XIII, 1888,
S. 310—316. Conze, Die attischen Grabreliefs Bd. II, 1900 (Text) S. 262,
Bd. II, 2, 1900 (Tafeln) Tafel CCLVHI. Coobe, Text-book of North-semitic in-
seriptions 1903, n. 32. Auf dem Denkmal ist in Belief der Tote auf einem
Bette liegend dargestellt, zu seinen Häupten ein Löwe, der sich auf den Toten
stürzt, zu seinen Füßen eine menschliche Figur, welche einen Schiffs-Schnabel
als Haupt hat (also ein personifiziertes Schiff; so Köhler, Wolters und Conze ;
die früheren Erklärer unterschieden den Mann und das Schiff, s. die Ab-
bildung im Corp. Inscr. Semit. Atlas tob. XXHI und bes. bei Conze a. a. O.).
Unter dem Belief sind sechs Verse in barbarischem Griechisch, welche be*
sagen, daß ein Lowe den Verstorbenen habe zerreißen wollen, daß aber
Freunde, welche vom heiligen Schiffe kamen, den Löwen abgewehrt und den
Toten bestattet hätten. Usener hält den Löwen für den Dämon der Unter-
welt, welcher den Toten verschlungen hätte, wenn er nicht nach heimischer
[96. S7] I. Die hellenistischen Städte. 5. Azotus. 125
5. Azotus, *A£cotos, oder Asdod, hebräisch TH1Ö«, ebenfalls
wie Gaza und Askalon eine alte Philistäerstadt, im Alten Testament
häufig erwähnt und dem Herodot schon bekannt124. Ptolemäus
erwähnt sie | als Kästenstadt125, Josephus bald als Küsten-, bald
als Binnenstadt 126. Letzteres ist das Genauere; denn sie lag, wie
noch das heutige Asdud, mehr als eine Stunde landeinwärts, wes-
halb in der christlichen Zeit "AC,anog jtaQaXioq und "At^mrog fieoo-
yuoq unterschieden werden127. Das „Gebiet" von Azotus wird in
den Makkabäerbüchern mehrmals erwähnt; doch lassen sich daraus
keine sicheren Schlüsse über dessen Ausdehnung ziehen128. Über
die Schicksale von Azotus unter den Ptolemäern und Seleuciden
Sitte bestattet worden wäre. — Zwei jüngere Grabschriften von Askaloniten
in Athen s. Corp. Inscr. Attic. III, 2 n. 2388. 2389. — Auf einem Verzeichnis
von Epheben in Athen, wahrscheinlich aus dem Anfang des ersten Jahrh. vor
Chr., kommt unter den Fremden auch ein Ztfvwv M6a%ov 'AoxaXa>vi(xtj<;) vor,
Corp. Inscr. Attic. II, 1 n. 467 Im. 148.
121) Einem 'A<pooöioios 'AaxaXwvlTtjQ wurde durch Volksbeschluß der
Delier, also zur Zeit der Selbständigkeit der Insel, vor 166 vor Chr., die
Proxenie verliehen {Bulletin de corr. hell. XXVm, 1904, p. 282). — In einem
Verzeichnis von Epheben in De los, Ende des 2. Jahrh. vor Chr., kommt auch
ein 3AoxaX<av[kn<i] vor (Buüetin de corr. hell. XXIX, 1905, p. 229). — Ein
Philostratus aus Askalon, der sich in De los als Bankier niedergelassen
hat, Anfang des ersten Jahrh. vor Chr., ist durch mehrere Inschriften bekannt,
Bulletin de eorrespondcmce heU&nique VIII, 1884, p. 128 sq. 133. 488 sq.
122) Inscr. Graecae Insularum ed. Hiller de Oaertringen n. 118.
123) Corp. Inscr. Lat. t. X n. 1746: ff er ödes Aphrodisi f. Ascalonit. vixü
atmü XXXXII. Locum emü ab ordine Baulanorum Demetrim Vilieua. Über
den ordo Baulanorum s. Mommsens Erläuterungen a. a. O.
124) Herodot. II, 157. — 8. überh.: Reland, Palaestina p. 606—609.
Winer, EWB. s. v. Asdod. Pauly-Wissowas Real-Enz. n, 2645f.. Ritter,
Erdkunde XVI, 94—100. Raumer, Paläst, S. 174. Tobler, Dritte Wanderung
8. 26—32. Guirin, Judee II, 70—78. Thomsen, Loca sa?icta p. 17. The
Survey of Western Palestine, Memoirs by Gonder and Kitckener II, 409 sq.
421 sq., dazu Blatt XVI der großen engl. Karte. — Hinsichtlich der Namens-
form ist bemerkenswert die auf einer Grabschrift in Rhodus vorkommende
Form U<r?(»T[is], Inscr. Graecae Insularum ed. ffiüer de Gaertrmgen n. 406.
125) Ptolem. V, 16, 2 = Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 2.
126) Als Küstenstadt: Antt. XIII, 15, 4, als Binnenstadt: Antt. XIV, 4, 4.
Bell. Jud. I, 7, 7. Vgl. Kuhn II, 362. 364.
127) Hieroclis Synecdemus ed. Parthey (1866) p. 43. Auch auf der Mosaik-
karte von Medaba kommt 'A^anog naoaXo. neben Aodco[ö % v%v "A^onoc] vor,
s. die Ausg. von Schulten, Abhandlungen der Göttinger Ges. der Wissensch.
phil.-hist. KL N. F. Bd. IV, Nr. 2, 1900, S. 20, 21. Palmer und Guthe, Die
Mosaikkarte von Madeba 1906, Tafel VHI.
128) I Makk. 14, 34. 16, 10. Vgl. auch Ps.-Aristeas ed. Wendland § 117:
xty *Atpnlwv xwoav.
126 § 23. JVerfassung. Synedrium. Hohepriester. [97. 93J
ist nichts Näheres bekannt129. Zar Zeit der makkabäischen Er-
hebung konnte sich Azotns der jüdischen Übermacht gegenüber
nicht behaupten. Schon Judas zerstörte die dortigen Altäre und
Götterbilder (I Mahk. 5, 68). Jonathan aber vernichtete die ganze
Stadt samt ihrem Dagon-Tempel durch Feuer (I Mahk. 10, 84. 11, 4).
Zur Zeit des Alexander Jannäus gehörte die [Stadt, oder deren
Ruinen, zum jüdischen G-ebiete (Jos. Antt. XIII, 15, 4). Pompeius
trennte sie wieder davon ab und gab ihr die Freiheit (Antt. XIV,
4, 4. Bell. Jud. I, 7, 7). Aber erat durch Gabinius wurde die ver-
fallene Stadt wiederhergestellt (Antt. XIV, 5, 3. B. J. I, 8, 4). Im
Jahre 30 vor Chr. ist sie vermutlich samt den andern Küstenstädten
unter die Herrschaft des Herodes gekommen, von welchem sie dann
nach dessen Tod an seine Schwester Salome überging (Antt. XVII,
8, 1. 11, 5. B. J. II, 6, 3). Ob sie nach deren Tod ebenso wie
Jamnia der Kaiserin Livia zufiel, ist nicht ganz sicher, da Azotus
nicht ausdrücklich genannt wird (Antt. XVIII, 2, 2. B. J. jll, 9, 1).
Vermutlich hatte die Stadt einen starken Bruchteil jüdischer Ein-
wohner, weshalb Vespasian im jüdischen Kriege sich genötigt sah,
sie militärisch zu besetzen (B. J. IV, 3, 2). Münzen aus römischer
Zeit scheinen von ihr nicht erhalten zu sein 130. |
6. Jamnia, 'Iapveux, im Alten Testament Jabne, HD3* (II Ghron.
26, 6), unter welchem Namen es auch in der rabbinischen Literatur
häufig vorkommt131. Auch Jamnia wird von Josephus, wie Azotus,
bald als Küsten-, bald als Binnenstadt bezeichnet132. Es lag näm-
129) Zwei vermeintliche Münzen von Asdod aus der Diadochenzeit hat
G. Hoff mann in Sallets Zeitschr. f. Numismatik Bd. IX, 1882, 3. 96 f. mit-
geteilt. Er glaubte die Aufschrift als hebräisch mit griechischer Schrift ge-
schrieben erklären zu können« Die Lesung hat sich aber als irrig erwiesen;
die Münzen gehören nach Kappadozien. S. Halevy, Revue eritique 1887 Nr. 32,
S. 101 f. und die von Schwally mitgeteilten Bemerkungen Nöldekes in der
Zeitschr. f. wissenscb. Theol. 1891, S. 255.
130) Die Münzen mit der Legende Toxi? U<ra>Wa>v, welche ältere Numis-
matiker auf unsere Stadt bezogen haben (Eokhel III, 448; Mionnet V, 534,
Suppl. VIII, 370), werden ihr von de Saulcy (Numism. p. 282 sq.) mit fRecht
abgesprochen, schon wegen des a statt £ [auch bei Pseudo-Aristeas ed. Wend-
land § 117 ist statt *A<j(üTt(ov gcbpav mit Mor. Schmidt in Merx' Archiv I, 275, 6
und Wendland zu lesen !4£ct>r/a>v x&Qav\
131) Mischna ScheJealim I, 4. Rosth haschana II, 8—9. IV, 1—2. Kethu*
both IV, 6. Sanhedrin XI, 4. Edujoth II, 4. Aboth IV, 4. Bechoroth IV, |5.
VI, 8.| Kelim V, 4. Para VTI, 6. — Die Stellen der Tosephta s. im Index zu
Zuckermandels Ausgabe (1882). — Neubauer, La Qiographie du Talmud,
1868, p. 73 — 76. — Über die heutige Namens form s. Kampffmeyer, Zeitschr.
des DPV. XVI, S. 40 f.
132) Küstenstadt: Antt. XIII, 15, 4. Binnenstadt: Antt. XIV, 4, 4 Bell.
Jud. I, 7, 7. Vgl. Kuhn II, 362f.
[98. 99J I. Die hellenistischen Städte. 6. Jamnia. 127
lieh beträchtlich landeinwärts, hatte aber einen Hafen. Beide
werden von Plinius und Ptolemäus richtig unterschieden138. Daß
Jamnia ein eigenes Gebiet hatte, ist ausdrücklich bezeugt134. Es
soll nach Strabo einst so dicht bevölkert gewesen sein, daß'Jamnia
und Umgegend 40000 kriegstüchtige Männer stellen konnte 136. Zur
Makkabäerzeit wurde Jamnia — wie wenigstens das zweite Makka-
bäerbuch erzählt — von Judas überfallen, und sein Hafen samt
der Flotte in Brand gesteckt 136. Die Stadt selbst ist jedoch weder
damals, noch, wie Josephus behauptet, unter Simon in den Besitz
der Juden gelangt 137. Erst unter Alexander Jannäus gehörte auch
sie zum jüdischen Gebiete (Antt. XIII, 15, 4). Pompeius trennte
sie wieder davon ab (Antt. XIV, 4, 4. B. J. I, 7, 7). Gabinius stellte
sie neu her (Ä /. I, 8, 4). Wie Azotus, so muß auch Jamnia im
Besitz des Herodes gewesen sein, da es von ihm seiner Schwester
Salome vermacht wurde {Antt. XVII, 8, 1. 11, 5. B. J. IL 6, 3). Von
dieser erhielt es die Kaiserin Livia (Antt. XVIIi, 2, 2. B. J. II, 9, 1); |
und nach deren Tod scheint es Privatbesitz des Tiberius geworden
zu sein (Antt. XVIII, 6, 3; s. oben S. 103). Die Bevölkerung war
damals eine aus Juden und Heiden gemischte, aber mit Überwiegen
des jüdischen Bruchteils138. Daraus erklärt sich, daß Vespasian
sich zweimal genötigt sah, die Stadt zu besetzen 139, und daß Jamnia
133) Plinius H. N. V, 13, 68: Jamneae duae\ altera intus. — Ptolem. V,
16, 2 — Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 2: "Iapvirlbv kip^y, V, 16, 6 «
Didot V, 15, 5: 'Iäpvuz. — S. überh.: Ret and p. 823 sq. Winer RWB. s. v.
Jabne. Pauly, Real-Enz. IV, 17. Raumer S. 2Q3f. Ritter XVI, 125f.
Tob ler, Dritte Wanderang S. 20—25. Gußrin, Judee TL, 53—65. The Survey
of Western Palestinef Memoirs by Oonder and \Kitchener II, 414. 441 -113,
dazu Blatt XVI der großen engl. Karte. Le Strange, Pakstine under the
Moslems p. 553. Clermont- Ganneau, Arehaeplogical Researches in Pakstine
vol. II, 1896, p. 167—184. Legendre, Art. Jamnia, in: Vigouroux, Dictionnaire
de la Bible III, 1903, p. 1115—1119. Thomsen, Loca saneta p. 70.
134) Jos. Bell. Jud. III, 3, 5: 'ldpveia xal^Iönrj x&v neoiolxtov &<priyovvxai.
135) Strabo XVI p. 759. — Strabo nennt hier freilich Jamnia irrtümlich
eine xu>(xt}.
136) II Makk. 12, 8f. 40. Vgl. Stark, Gaza S. 487.
137) Jos. Antt. XIII, 6, 6. B. J. I, 2, 2. S. dagegen I Makk. 10, 69. 15, 40.
138) Philo, Lef/at. ad. Cajum § 30 (Mang. II, 575): xavtr^y (xiyadeq olxovoiv
ol nXelovq (xh> 'Iovdaloi, fheooi SS ttveg &XX6(pvXoi 7ta06io<p9a0ivzeQ and twv
tiXtjoioxwqcdv, ol xol<; XQÖnov xivä ab&iyevioiv Svxeq pixoixoi, xaxa xal Ttody-
flava naoizovoiVj aet xi naoaXvovxeg xCbv naxoicov 'Ioväaioiq. — Indem hier
Philo den Juden in Jamnia die Rolle von [Eingeborenen, den Heiden die von
Metöken zuweist, kehrt er freilich den richtigen Sachverhalt um. Denn noch
zur Makkabäerzeit war Jamnia eine vorwiegend heidnische Stadt. Und erst
später hat das jüdische Element dort zugenommen.
139) Jos. Bell. Jud. IV, 3, 2. 8, 1.
128 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [99]
bald darauf, nach der Zerstörung Jerusalems, ein Hauptsitz der
jüdischen Gelehrsamkeit wurde.
7. Jope, 'iojti? oder yl6jtJtijiA0, hebräisch ifc?1*1, das heutige
Jafa, kommt schon in den Amarna-Briefen in der Form Japu vor142.
Die besondere Bedeutung Jopes liegt darin, daß es der relativ beste
Hafen an der palästinensischen Küste war143. Es war daher |
140) Die Orthographie schwankt. In den Texten der griechischen und
römischen Autoren pflegen die Herausgeber die Form 'Iöny vorzuziehen, die
von den griechischen Grammatikern gefordert wird (s. Movers, Phönizier II,
2, 176, Anm. 73. Mendelssohn in Bitschis Acta sooiet. philol. Lips. T. V,
p. 104) und durch den Gebrauch der Dichter bezeugt ist {Alexander Ephesius
bei Steph. Byx. ed. Meineke p. 255: Jtboöq r5 äyxiaXdq r' ^dnrj nqov%ovoa
S-aXaoorji;, ebenso Dionys. Perieg. bei Müller, Oeogr. gr. min. II, 160: olxy
Iönrjv xal ra%av 'EXatöa x* iwalovoi). Die Bibelhandschriften dagegen bieten,
wie es scheint, durchgängig ^Idnnrj, und zwar im A. u. N. T. (1. Makkabäer-
buch und Apostelgeschichte). Auch die Josephus-Handschriften haben fast
konstant 'Idnnri (s. Nieses Ausg.). Die wenigen erhaltenen Münzen geben
teils jene teils diese Form. Auf Inschriften kommt vor yI6nntj (Ciermont-
Ganneau, Revue critique 1885 Nr. 27 8. 15. Ders., Recuetl cTarcheologie Orien-
tale t. I, 1888, p. 99 = Quarterly Statement 1900, p. 110 [Faksimile] = Ditten-
berger \ Orientis graeci itiscr. sei. n. 602) und yIo7Üx[tiQ] Corp. Inscr. Attic. III,
2 n. 2498. — Griech. 'löny verhält sich zu toj wie "Axn zu to?. Doch könnte
es auch auf die Form ^ (mit Jod am Schluß) zurückgehen, wie der Name
auf der Inschrift Eschmunazars lautet. S. dazu Schlottmann, Die Inschrift
Eschmunazars (1868) S. 150 ff.
141) Josua 19, 46. Jona 1, 3. II Chron. 2, 15. Esra 3, 7. — Mischna Ne-
darim HI, 6. Tosephta Demai I, 11 (ed. Zuckermandel p. 46, 1). Joma IT, 4
(p. 183, 24). — Neubauer, La Geographie du Talmud p. 81 sq. — Über die
heutige Namensform s. Kampffmeyer, Zeitschr. des DPV. XVI, 43.
142) Zeitschr. des DPV. 1907, S. 32.
143) Josephus B. J. III, 9, 3 beschreibt freilich den Hafen als gefährlich,
wie er es noch heutzutage ist. Er muß aber doch der relativ beste gewesen
sein. Nach Diodor. I, 31 gab es von Farätonium in Libyen bis Jope in
Cölesyrien nur einen sicheren Hafen (ä,o<paXfj Xipha), nämlich den Phams
von Alexandria. Auch Strabo XVI p. 759 hebt die Bedeutung Jopes als Hafen-
platz für Judäa richtig hervor. S. über dieselbe bes. auch I Makk. 14, 5. —
Vgl. überh.: Reland p. 864— 867. Win|er RWB. Pauly Real-Enz., Schenkel
Bibellex. s. v. Ritter XVI, 574—580. Raumer S. 204f. Tobler, Topo-
graphie von Jerusalem II, 576 — 637. Sepp, Jerusalem (2. Aufl.) I, 1—22
Quer in, Judie I, 1—22. Bädeker-Socin, Palästina (3. Aufl.) S. 9 ff. mit
Plan. Schwarz, Jafa und Umgebung, mit Plan (Zeitschr. d. deutschen PaL-
Ver. IH, 44 ff). The Survey of Western Palestine, Memoire by Conder and
Kitchener U, 254—258. 275—278, dazu Blatt XTII der großen engl. Karte.
Le Strange, Palestine under the Moslems p. 550 sq. Schlatter, Joppe in
seiner jüdischen Zeit (Zur Topographie und Geschichte Palästinas, 1893,
S. 1—28, 321—324; dazu Theol. Litztg. 1893, 321 ff.). Heidet, Art. Joppe in:
Vigouroux, Diciionnaire de la Bible HI, 1903, p. 1631—1640. Thomsen,!**»
sancta p. 73.
[100] I. Die hellenistischen Städte. 7. Jope. 129
fast zu allen Zeiten der Hauptlandungsplatz auch für den Verkehr
mit dem Innern Judäas, und sein Besitz namentlich bei der größeren
Entwicklung des Handels und Verkehrs in der späteren Zeit für
die Juden fast eine Lebensfrage. — In der persischen Zeit, und
zwar zur Zeit des sidonischen Königs Eschmunazar, wurde Jope
von dem „Herrn der Könige*4, d. h. dem persischen Großkönig, den
Sidoniern verliehen144. Den Griechen war es namentlich bekannt
als Sitz des Mythus von Perseus und Andromeda und wird als
solcher schon vor der Zeit Alexanders des Großen bei Skylax er-
wähnt (s. oben S. 32). In der Diadochenzeit scheint es ein bedeu-
tender Waffenplatz gewesen zu sein. Als Antigonus im Jahre 315
dem Ptolemäus Lagi Cöiesyrien entriß, mußte er u. a. auch Jope
mit Gewalt nehmen145. Und als drei Jahre später (312 vor Chr.)
Ptolemäus Lagi das wiedereroberte Gebiet gegen Antigonus nicht
glaubte halten zu können, ließ er beim Rückzug auch Jope als
eine der wichtigeren Festungen schleifen146. Von Ptolemäus IL
144) 8. die Inschrift Eschmunazars, Text am besten im Corpus Inscr.
Semit, t. I p. 9—20, lin. 18—20, und dazu Schlottmann a. a. O. S. 83. 147 ff.
Georg Hoffmann, Über einige phönikische Inschriften (Abh. der Göttinger
Gesellsch. d. Wissensch. Bd. 36, 1889—1890) S. 30— 56. Landau, Beiträge zur
Altertumskunde des Orients II, 1899 n. 5 (Text mit deutscher Übersetzung).
Cooke, Text-book of North-semitic inscriptions 1903 n. 5 (Text mit engl. Übers.).
G. Hoffmann übersetzt lin. 18—20: „Es gab uns der Herr der Könige Dor
nnd Jope die herrlichen Getreidelande, welche im Gefilde von Saron liegen,
um eines großen Tributes willen, den ich geleistet habe; und wir fügten sie
dem Gebiete des Landes hinzu, den Sidoniern ewig anzugehören". — Über
die Zeit der Inschrift gehen die Ansichten sehr auseinander. Die Gründe für
die ältere Ansicht (um 400 vor Chr.) s. bei Gutschmid, Kleine Schriften I,
311 f. II, 74 f. Einige Gelehrte wollen sie in die Ptolemäerzeit herabrücken
(so Clermont-Ganneau, Revue archiol. trois. Serie t. V, 1885, p. 383 sq. Six,
Numismatic Chronicle 1886, p. 101 sqq. Babelon, Bulletin de eorresp. hellet
nique XV, 1891, p. 293 sqq.). Der Grund dafür ist der, daß der Großkönig
„Herr der Könige" genannt wird, was Titel der Ptolemäer sei, nicht „König
der Könige", wie die Perserkönige sich zu nennen pflegten. Andererseits er-
heben sich neuerdings Stimmen dafür, daß die Inschrift noch über das 4. Jahrh.
hinaufzurücken sei, s. Rouvier, Les rois ph&niciens de Sidon etc. (Revue
Numism. 1902) p. 460 sq. [6. Jahrh. vor Chr.]. Dussaud, La Chronologie des
rois de Sidon (Revue archiol. quatr. Serie t. V, 1905, p. 1—23) [5. Jahrh. vor
Chr.; gute Übersicht über den Stand der Frage]. Entscheidend für die An-
Setzung in persischer Zeit ist wohl, daß Dora, welches nach der Inschrift dem
Eschmunazar vom Großkönig geschenkt wurde, zur Zeit des Skylax, d. h. gegen
Ende der persischen Zeit, bereits den Sidoniern gehörte, s. unten Nr. 10.
145) Diodor. XIX, 59. Vgl. Droysen, Hellenismus H, 2, 11. Stark,
Gaza S. 350. Niese, Gesch. der griechischen und makedonischen Staaten I, 275 f.
146) Diodor. XIX, 93. Vgl. Droysen H, 2, 54. Stark S. 355 f.
Niese I, 300.
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 9
130 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [100. 101]
und III. gibt es nicht wenige Münzen, die in Jope geprägt sind.
Die datierten Münzen des Ptolemäus II. mit dem Monogramm von
Jope gehen von dessen 23. bis zu seinem 39. Regierungsjahre
(263—247 vor Chr.); die des Ptolemäus III. von dessen 2. bis 6. Jahre
(245—241 vor Chr.)147. In | der Makkabäerzeit waren die Bestre-
bungen der Juden vor allem auch auf den Besitz dieses wichtigen
Platzes gerichtet. Zwar Judas der Makkabäer hat nur — wenn
der Bericht überhaupt Glauben verdient — bei einem nächtlichen
Überfall den Hafen und die Flotte von Jope durch Feuer zerstört
(II Makk 12, 3—7). Auch Jonathan hat die Stadt zunächst im
Jahre 147 oder 146 vor Chr. noch nicht dauernd erobert, sondern
nur als Verbündeter des Alexander Balas die Besatzung des De-
metrius IL daraus vertrieben (I Makk 10, 75—76). Aber einige
Jahre später, als Jonathan im Bündnis mit Trypho gegen Deme-
trius II. kämpfte und die Einwohner Miene machten, eine Besatzung
des Demetrius bei sich aufzunehmen, legte Simon, der Bruder
Jonathans, eine jüdische Besatzung hinein (I Makk. 12, 33—34) und
zwang bald darauf die bisherigen heidnischen Einwohner, die Stadt
zu verlassen (LMakk 13, 11: kgtßale rovg ovxaq iv avzy)us. Von
da an datiert also die Judaisierung der Stadt und ihre Besitz-
ergreifung durch die Juden, die nun mit geringer Unterbrechung
bis zur Zeit des Pompeius im Besitze Jopes blieben. Simon baute
den Hafen besser aus und befestigte die Stadt (I Makk 14, 5. 34).
Als der tatkräftige Antiochus VII. Sidetes die Macht der Juden
wieder einzuschränken trachtete, bildete der Besitz Jopes einen
Hauptstreitpunkt. Noch während Antiochus mit Trypho kämpfte,
forderte er von Simon die Herausgabe Jopes (I Makk 15, 28—30)
oder Zahlung einer großen Abfindungssumme (15, 31). Dieser er-
klärte sich jedoch nur zur Zahlung einer erheblich kleineren Summe
dafür bereit (I Makk 15, 35). Da einige Jahre später, im Anfange
der Regierung Johannes Hyrkans, ganz Palästina von Antiochus
erobert und sogar Jerusalem belagert wurde, so ist wahrscheinlich
147) Catalogue of the f/reek coins in the British Museum, Ptolemies Kings
of Egypt (1883) p. 32, 34, 35, 42, 49, 54. Feuardent, Numismalique, £gypte
ancienne, P. I: Monnaies des rois, Paris s. a. [1860], p. 38 (Ptolemäus II).
Sroronos, Les monnaies de Ptolemte IT, qui portent dates (Revue Beige de
Numismatique 1901, p. 263 ff. 387 ff. [Jope: p. 282—285]). Am vollständigsten:
SßoQwvoq, Tä vofilofiaxa rov xgaxovq xibv JlzoXefialcov, Athen 1904, Tl. H?
S. 119—121 (Ptolemäus II), 8. 164 (Ptolemäus III).
148) Josephus Anü. XIII, 6, 3 gibt rovg ßvrag iv ahry richtig wieder
durch rovg olrfroQag. Vgl. Stark S. 493 f. Grimm zu I Makk. 13, 11. —
Ein ganz ähnliches Verfahren wurde gegen Gazara beobachtet I Makk. 13,
47-48. 14, 34.
[101. 102] I. Die hellenistischen Städte. 7. Jope. 131
auch Jope schon zuvor von ihm eingenommen worden. Trotzdem
begnügte er sich beim Friedensschluß mit der Zahlung einer Ab-
gabe für Jope (Jos. Antt. XIII, 8, 3) 149. Die Stadt blieb also im
Besitze der Juden; und auch die Abgabe ist später nicht mehr be-
zahlt worden. Daß Alexander Jannäus | Jope besaß, wird aus-
drücklich bezeugt (Antt. XIII, 15, 4). Durch Pompeius aber wurde
auch diese Küstenstadt den Juden genommen, und diese damit
wieder ganz vom Meere abgeschnitten (Antt. XIV, 4, 4. B. J. I, 7, 7).
Unter den Gunstbezeugungen Cäsars war eine der wertvollsten
die, daß er eben den Besitz Jopes den Juden zurückerstattete
(Antt XIV, 10, 6)150. Ob Herodes Jope von Anfang an besaß, ist
nicht ganz klar. Jedenfalls gehörte es in den Jahren 34 — 30 vor
Chr., wie alle Küstenstädte, der Kleopatra (s. oben § 15), von da
an aber dem Herodes (AntL XV, 7, 3. B. J. I, 20, 3) ,M. Von nun an
blieb es stets mit dem eigentlichen Judäa vereinigt, kam also nach
Herodes' Tod an Archelaus [Antt. XVII, 11, 4. B.J. II, 6, 3), und nach
dessen Absetzung unter römische Prokuratoren152. Beim Beginn
149) Die Wegnahme Jopes durch einen Antiochus wird auch in zwei
römischen Senatskonsulten vorausgesetzt, in deren letzterem ihm die Heraus-
gabe desselben vom römischen Senat befohlen wird (Jos. Antt. XIH, 9, 2. XIV,
10, 22). Vielleicht erklärt sich hieraus die auffallende Milde des Antiochus
bei den Friedensbedingungen. Doch ist eben fraglich, ob Antiochus Sidetes
gemeint ist. Vgl. darüber oben § 8 I, 260—263.
150) Näheres hierüber s. oben § 13 I, 347 f.
151) Da die Juden seit Cäsars Zeit Jope wieder besaßen, und da gerade
von Jope erwähnt wird, daß Herodes es eroberte, als er von seinem König-
reiche Besitz ergriff (Antt. XIV, 15, 1. B. J. 1, 15, 3 — 4), so soUte man meinen,
daß er es vom Beginn seiner Regierung an besessen habe, und dann, nach
dem kurzen Interregnum der Kleopatra, im J. 30 wieder erhielt Schwierig-
keiten macht nur, daß bei der Gebietsvergrößerung v. J. 30 Jope nicht als
Bestandteil des dem Herodes wieder verliehenen Gebietes, sondern aus-
drücklich neben diesem unter den ihm neu verliehenen Städten genannt wird.
152) Ein Zeugnis für die Existenz einer griechischen ßovXtf in Jope in
damaliger Zeit würde es sein, wenn die nach Lepsius, Denkmäler aus
Ägypten und Äthiopien Bd. XII Blatt 100, Inser. Gr. n. 589 angeblich in
Jaffa (Jope) gefundene Inschrift (H ßovX^i xal 6 örjpoq Aovxtov noniXXiov
BdXßov noeoßevttjv Tißeolov KXavöiov Katoaoog Seßaatov regfiavixov töv
naTQcova ttjs nöXewg) wirklich dorthin gehörte. Tatsächlich ist aber der Fund-
ort unbekannt. Die französischen Gelehrten, welche die Armee Napoleons
im J. 1798 nach Ägypten begleiteten, haben sie in Damiette (an der alten
phatnitischen Mündung des Nil) gesehen (Description de VEgypte etc. ptibliS
par ordre du gouvernement, Antiquites, Tafeln, Bd. V tob. 56, n. 27); ebendort
wenige Jahre später auch Hamilton (Remarks on several parte of Turkey P. I,
Aegyptiaca, 1809, p. 385) und Visc. Valentia (Voyages and travels to india,
Ceylon etc. vol. HI, 1809, p. 419, vgl. 416); desgl. Bailie (Fasciculus inscriptio-
num graeearum [HI] potissimum ex Qalatia Lycia Syria et Aegypto 1849,
9*
132 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [102. 103]
des jüdischen Krieges war Jope wegen seiner vorwiegend jüdischen
Einwohnerschaft auch ein Herd der Empörung. Es wurde gleich
im Anfang des Krieges von Cestius Gallus zerstört {Bell Jud. II,
18, 10), bald aber wieder befestigt und von Vespasian zum zweiten
Maie erobert (& J. III, 9, 2 — 4). Von da an ist es vermutlich wieder
eine vorwiegend heidnische Stadt geworden153. Durch eine in
neuerer Zeit publizierte Münze ist konstatiert, daß es auch Fla via
hieß, was auf eine Neugründung zur Zeit Vespasians schließen
läßt154. Trotz seines engeren Zusammenhangs mit Judäa bildete |
Jope doch ein selbständiges politisches Gemeinwesen nach Art der
hellenistischen Städte155. Von seinen Münzen haben sich nur wenige
Exemplare erhalten156.
8. Apollonia, ' Anollmvla. Zwischen Jope und Cäsarea wird
von den Geographen bis in die spätere Kaiserzeit ein Apollonia
p. 115). Vgl. Corp. Inscr. Gr. n. 4529. 4697b u. Äddenda p. 1175. Den ge-
nannten Beisenden wurde gesagt, daß sie aus Syrien (so Valentia) oder speziell
Berytus (so Hamilton und Bailie) nach Damiette gebracht worden sei. In
Damiette hat sie wahrscheinlich auch Lepsius gesehen, der sie im J. 1845,
also um dieselbe Zeit wie Bailie, kopiert hat (Denkmäler aus Ägyten und
Äthiopien, Text, herausg. von Naville und Sethe Bd. I, 1897, 8. 224). Die
Angabe in Lepsius1 Tafelwerk muß demnach auf einem Versehen beruhen,
und es ist irreführend, wenn Cagnat die Inschrift unter „Jope" mitteilt (In-
scriptiones graecae ad res rom. pertinentes HI n. 1209). — Aus Berytus kann
sie freilich auch nicht stammen, da dieses seit Augustus römische Kolonie
war, während die Stadt, von deren Behörde die Inschrift gesetzt ist, augen-
scheinlich nicht Kolonie war.
153) Jüdische Grabschriften aus Jope (im ganzen vierundzwanzig, einige
davon hebräisch, die meisten griechisch) hat Euting veröffentlicht in den
Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1885, S. 680—688, Nr. 47—49, 52—
57, 72—75, 87—97, dazu die Faksimile's auf Tafel X— Xu. Andere s. in:
Pcdestine Exploration Fund, Quarter ly Statement 1893, p. 290 sq.; Clermont-
Ganneau, Archaeological Researches in Palestine vol. II, 1896, p. 133 — 148.
Quarterly Statement 190D, p. 110 — 123; dazu Glermont- O anneau, Recueii
tf Archäologie Orientale IV, 1901, 138—151.
154) Darricarrhre, Sur une monnaie imdite de Joppe (Revue arcMo-
logique Nouv. Serie t. XLIH, 1882, p. 74 sq.). — Die Münze ist aus der Zeit
Elagabals und hat die Aufschrift: Io7inrjg <PXaoviaq.
155) Das sieht man namentlich aus der Art, wie Josephus B. J. III, 3, 5
Jope neben dem eigentlichen Judäa erwähnt: /uf#' &g 'lafjivua xal'Iöntj xwv
negwixiov a<pTjyovvTai. — Auch B. J. III, 9, 4 werden die xw/btai und noXl%vai
zfjg 'Iotitjq erwähnt.
156) Eckhel, Docir. Num. m, 433. Mionnet V, 499. De Saulcy p.
176 sq. pl. IX n. 3—4. Reichardt, Numismatic Ohronicle 1862, p. 111, und
Wiener Numismat. Monatshefte, hrsg. v. Egger Bd. m, 1867, 8. 192. Darrt-
carrlre a. a. O.
[103. 104] I. Die hellenistischen Städte. 8. Apolionia. 133
erwähnt167, das in der Geschichte nur zweimal vorkommt: zur
Zeit des Alexander Jannäus, wo es zum jüdischen Gebiet gehörte
{Jos. Antt. XIII, 15, 4), und zur Zeit des Gabinius, der es neu her-
stellen ließ (Jos. Bell. Jud. I, 8, 4). Nach der Distanzangabe der
Peutingerschen Tafel (22 m.p. von Cäsarea) muß es an der Stelle
des heutigen Arsuf gelegen haben158. Dies wird auch durch den
Namen selbst bestätigt; denn der phönizische Gott C|im (Eeseph?),
wovon Arsuf den Namen hat, entspricht dem griechischen Apollo 159.
Die | Vermutung Starks, daß es mit Uco^ovca identisch sei, wird
dadurch empfohlen, daß auch in Cyrenaica ein Apolionia und Sozusa
vorkommen, die wahrscheinlich beide identisch sind. Sozusa wäre
also die Stadt des Apollo ScoxtjQ1™. Die Existenz und zähe Er-
157) Plinius H. N. V, 13, 69. — Ptolem. V, 16, 2 «= Didotsche Ausg.
(I, 2, 1901) V, 15, 2. — Tabula Peutinger. Segm. IX. — Qeograpkus Ratennas
edd. Finder et Parthey (1860) p. 83 u. 356. — Guidonis Oeogr. in der eben
genannten Ausg. des Oeogr. Ravenn. p. 524. — Steph. Byx. s. v. knoXXcovla
zählt 25 Städte dieses Namens auf, darunter Kr. 12: neol xty Kolkm*
Svotav, Nr. 13: xaxä *Iönriv (dieses das unsrige), Nr. 20: 2voiag xaxä
'Anä/ueiav.
158) S. überh.: Reland p. 573. Ritter XVI, 590. Pauly-Wisso-
was Real-Enz. II, 117. Kuhn n, 362. 0 uer in, Samarie II, 375— 382. The
Survey of Western Palestine, Memoirs by Gonder and Kitchener II, 135.
137—140 (mit Plan), dazu Blatt X der großen engl. Karte. De Saulcy,
Numismatique p. 110 sq. pl. VI. n. 1 — 2. Le Strange Palestine under the
Moslems p. 399.
159) Auf einer zweisprachigen Inschrift zu ldalion auf Cypern (Corp.
Inscr. Semit, n. 89) steht im semitischen Text bs?a 5]T2nb, im griechischen
xw AnoXwvi x(o Au.vx7.ol. Auf zwei Inschriften zu Tamassos auf Cypern (mit-
geteilt von Euting, Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1887, S. 115 — 123)
entsprechen sich t^^ einerseits und AneiXwvi oder AnoXwvi andererseits. —
Die Identität der Namen Apolionia und Arsuf ist zuerst von Clermont-
Ganneau erkannt worden (Reime archiologique Nouv. Serie t. XXXII, 1876,
p. 374—375 [in der Abhandlung über Borns et Saint Georges^ welche auch
separat ersohien 1877] ; Comptes rendus de l'Academie des inscr. et belles-lettres
de 1'annie 1881 [IVe serie t. IX] p. 186 sq.). Vgl. auch Nöldeke, Zeitschr.
der DMG. 1888, S. 473. Buhl, Geogr. des alten Paläst. S. 213. — Über den
Gott Cjlöi s. auch die Bemerkungen im Corp. Inscr. Semit, zu w. 10. Cler-
mont-Ganneau, Recueil d'archeologie Orientale 1. 1, 1888, p. 176 — 182. Baeth-
gen, Beiträge zur semitischen Religionsgeschichte 1888, S. 50—52. Pietsch-
mann, Gesch. der Phönizier 18S9, S. 149—152. Ohnefalsch-Richter,
Kypros 1893, S. 331 — 342. Griffith, The Aberdeen Reshep stela (Proceedings
of the Society of Biblical Archaeology vol. XXII, 1900, p. 271 sq.). Bei den
Juden war Reseph der Name eines Dämons (Hieronymus, comment. ad Eabac.
3, 5 opp. ed. Vallarsi VI, 641. Talmud bab. Berachoth 5». Raschi zu Beut.
32, 24 und Biob 5, 17. Schwab, Vocabulaire de VAngüotogie 1897, p. 250).
160) Iko^ovaa bei Hierocles ed. Parthey p. 44. Vgl. Stark, Gaza S. 452.
Über Sozusa in Cyrenaica: Forbiger, Handb. II, 829.
134 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [104]
haltung des semitischen Namens Arsuf läßt es fraglich erscheinen,
ob Apollonia erst in griechischer Zeit gegründet ist Jedenfalls
kann es nicht von den ersten Seleuciden gegründet sein161, da
diese die palästinensische Küste nicht besessen haben (s. oben
S. 97).
9. Stratons-Turm, ^xQazopog jtvQyoq, später Cäsarea162.
Wegen des griechischen Namens könnte Stratons-Turm eine Grün-
dung der hellenistischen Zeit sein, etwa zunächst nur ein Kastell,
nach einem Feldherrn der Ptolemäer so genannt. Wahrscheinlich
ist es aber schon gegen Ende der persischen Zeit von einem sido-
nischen König namens Straton gegründet worden163. Der erste
161) So Stark a. a. O.
162) S. überh.: Reland p. 670—678. Raumer S. 152f. Winer RWß.
u. Schenkels Bibel-Lex. s. v. Cäsarea. Pauly-Wissowas Real-Enz. m,
1291 f. Kuhn, Die Stadt, und bürgert. Verfassung II, 347—350. Ders., Über
die Entstehung der Städte der Alten (1878) S. 423—433. Ritter XVI, 598—
607. Sepp, Jerusalem (2. Aufl.) II, 573ff. Guirin, Samarie II, 321—329.
The Survey of Western Palestine, Memoirs by Gonder and Kitchener II,
13 — 29 (mit Plänen), dazu Bl. VII der engl. Karte. Schumacher, Quarierly
Statements 1888 p. 134 sqq. Benzinger, Zeitschr. des deutschen Palästina-
Vereins XIV, 1891, S. 77 (berichtet über fortgehende Zerstörung der Ruinen).
Le Camus in: Vigouroux, Dictionnaire de la Bible 11,456—465. Krauß in:
The Jetrish Encyclopedia III, 1902, p. 485—488. Thomsen, Loca sancta
p. 74 f. — Rabbinisches Material: Neubauer, Geographie du Talmud p. 91 — 96.
Hamburger, Real-Enz. Art. Cäsarea. Hildesheimer, Beiträge zur Geo-
graphie Palästinas, 1886, S. 4 — 10. Rosenzweig, Jerusalem und Cäsarea,
1890. Bacher, Die Agada der paläst. Amoräer, 3 Bde., 1892—99, Register
s. v. Caesarea. Krauß, Griech. und lat. Lehnwörter II, 536. Bacher, Die
Gelehrten von Cäsarea (Monatsschr. f. G. u. W. d. J. 1901, S. 298—310).
Buch ler, Der Patriarch R. Jehuda I und die griechisch-römischen Städte
Palästinas (Jewish Quarierly Review Xm, 1901, p. 683— 740). Krauß, Zur
Topographie von Cäsarea (Jewish Quart, Review XIV, 1902, p. 745 — 751). —
Arabisches: Le Strange, Palestine under (he Moslems p. 474 sq.
163) In Justinians Novelle 103 praef. heißt es von Cäsarea: Kalzoi ye
&o%aia zi iozi xal äel oe/irrf, fjvixa ze avzfjv Szqclzwv lÖQvaazo nQtbzoq, dq
i£ 'EXXaöoq dvaozäq yiyovEv abzfjq olxiazrjq, tyixa te Oveonamavdq . . . . elq
zfjv zu)v KaiaaQCDV ahz^v uyvöfiaos nQoorjyoQtav. Wie wertlos diese Notiz ist,
sieht man schon aus dem groben Irrtum in betreff Vespasians. Da es im
roten Meere an der abyssinischen Küste eine Stratons-Insel gab (Strabo
XVI p, 770), so kann auch Stratons-Turm eine Gründung der Ptolemäer
sein. So Stark, Gaza S. 451. Viel näher liegt aber die Annahme, daß es
eine Gründung der Sidonier ist. Die Sidonier besaßen gegen Ende der per-
sischen Zeit die nördlich und südlich zunächstliegenden Städte Dora und Jope
(s. diese), also vermutlich auch den Küstenstrich, an welchem Stratons-Turm
gegründet wurde. Straton ist aber der Name zweier Könige von Sidon im
vierten Jahrh. vor Chr. (der eine regierte um 370 v. Chr., s. Theopompus bei
Athcnaeus XII p. 531 - Müller, Fragm. Hist Graec. I, 299. Hkronymus adv.
[105. 106] I. Die hellenistischen Städte. 9. Stratons-Turm (Cäsarea). 135
geographische Schriftsteller, der es erwähnt, ist Artemidorus, um
100 vor Chr.164. Eben damals kommt es auch in der Geschichte
bereits vor. Es wird erwähnt zur Zeit Aristobuls I., 104 vor Chr.
(Antt.XIH, 11, 2). Im Anfang der Regierung des Alexander Jannäus
war ein „Tyrann" Zoilus Herr von Stratons-Turm und Dora
(Jos. Antt. XIII, 12, 2). Dieser wurde bald von Alexander Jannäus
unterworfen (Antt. XIII, 12, 4). Daher wird Stratons-Turm unter
den dem Alexander gehörigen Städten genannt {Antt. XIII, 15, 4).
Durch Pompeius erhielt es die Freiheit (Antt. XIV, 4, 4. Bell Jud.
I, 7, 7). Von Augustus wurde es dem Herodes verliehen (Antt. XV,
7, 3. B. «7. 1, 20, 3). Erst von da an datiert die eigentliche Bedeutung
der Stadt Herodes ließ sie nämlich im großartigsten Maßstabe
neu aufbauen, und sie namentlich auch durch kunstvolle Damm-
anlagen mit einem vortrefflichen Hafen versehen (Antt. XV, 9, 6.
XVI, 5, 1. Bett. Jud. I, 21, 5—8) 165. Zu Ehren des Kaisers nannte
er die Stadt KaioaQeia, den Hafen aber Usßaörog hfir}» 166. Daher |
kommt auf Münzen Neros vor: KaicaQta f\ jiqoq Heßaorco lipevi 167.
Jovinian. I, e. 45, Inschrift zu Athen Corp. Inscr. Graee. n. 87 = Corp. Inser.
Attic. II w. 86 =* Ricks, Manual of greek historical inscriptions 1882, p. 155—
157 = Dittenberger Syttoge ed. 2, n. 118; der andere bis zur Zeit Alexanders
332 v. Chr., Curtius IV, 3; über die Chronologie s. Boeckhs Bemerkungen im
Corp. Inser. Qraeo. zu n. 87. Gutschmid, Jahrbb. für klass. Philol. 2. Supple-
mentbd. 1856—57, S. 220 f. Ders., Kleine Schriften I, 311 f. II, 73—79. Babelon,
Bulletin de eorrespondance hellenique t. XV, 1891, p. 313. Ders., Catalogue des
monnaies grecques de la biblioth&que nationale, Les Perses Achim&nides etc., 1893,
p. CLXXXII. Six, Numismatic Chronicle 1894 p. 338; auch die oben Anm. 144
genannten Abhandlungen von Rouvier, Revue Numism. 1902, und Dussaud,
Revue archeol 1905). Für eine hellenistische Gründung ist die Bezeichnung
als nroyog, Turm, jedenfalls nicht gewöhnlich. Endlich glaubt L. Müller eine
Münze Alexanders des Gr. mit den Bubstaben 2r auf unser Stratons-Turm
beziehen zu dürfen (L. Müller, Numismatique d* Alexandre le Grand p. 306,
planehes n. 1466), wonach es also zur Zeit Alexanders des Gr. oder doch
spätestens in der Diadochenzeit (in welcher noch Alexander-Münzen geprägt
wurden) bereits existiert haben müßte. Dies alles vereinigt sich zugunsten
der Annahme, daß es schon von den Sidoniern gegründet wurde.
164) Artemidorus bei Steph. Byx. s v. JCbQoq (über Artemidorus s. For-
biger, Handb. d. alten Geographie I, 246fF. 255ff. Pauly-Wissowas Real-
Enz. II, 1329£). — Der letzte Geograph, der Stratons-Turm nur unter diesem
Namen kennt, ist Strabo XVI p. 758.
165) Außer den obigen Hauptstellen vgl. noch Jos. Antt. XV, 8, 5. PH-
nius V, 13, 69. — Über die Zeit der Erbauung s. oben § 15. Über die Ver-
fassung und politische Stellung bes. Kuhn a. a. O.
166) Über letzteren s. Antt. XVII, 5, 1. Bell. Jud. I, 31, 3.
167) Über diese Münzen handelt ausführlich Bei leg in den Memoires de
VAcadtmie des Inscriptions et BeUes-Lettres, alte Serie t. XXVI, 1759, p. 440 — 455.
Vgl. auch Eckhel, III, 428 sq. Mionnet, DescriptionV,4$15sq. De Saulcy,
136 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [106. 107]
Vereinzelt ist die Bezeichnung KaicaQsia Zeßaöxy) 168. Sonst wird
die Stadt zur Unterscheidung von anderen EaiöaQeta ÜQaxcopog169
und in der späteren Zeit KaiöaQeia xr\q najLaioxlvTjg110 genannt
Sie gelangte rasch zu großer Blüte und blieb lange eine der be-
deutendsten Städte Palästinas171. Nach dem Tode des Herodes
kam sie samt dem übrigen Judäa an Archelaus {Antt. XVII, 11, 4.
B. J. II, 6, 3). Überhaupt blieb sie seitdem stets mit Judäa ver-
einigt; kam also nach der Absetzung des Archelaus unter römische
Prokuratoren, dann an Agrippa L, dann wieder unter römische
Prokuratoren. Von Agrippa I. existieren Münzen, welche in Cäsarea
geprägt sind172. Sein oxQax^yoq in Cäsarea wird gelegentlich er-
wähnt {Antt. XIX, 7, 4). Bekanntlich ist auch er selbst dort ge-
storben (s. oben § 18). Wegen seines Judaisierens war er aber
den Cäsareensern verhaßt (Anü. XIX, 9, 1). Die römischen Pro-
kuratoren sowohl vor als nach der Regierung Agrippas hatten in
Cäsarea ihre Besidenz (s. oben § 17c). Daher heißt die Stadt bei
Tacitus Judaeae capui (Tac. Bist. II, 78). Sie war auch die Haupt-
garnison für die unter dem Befehl des Prokurators stehenden
Truppen, die übrigens vorwiegend aus Einheimischen gebildet
waren (s. oben | S. 106). Da die Bevölkerung eine vorwiegend heid-
Numismaiique p. 116 sq. — Auf einer Münze Agrippas findet sich die defekte
Legende Katoaoia n nooq [Seßaarco] Xtftevi, s. Madden, Numismatic Chro-
nicle 1875, 66 sq. Ders., Coins of the Jews p. 133 sq.
168) Joseph. Antt. XVI, 5, 1. Philo, Legat, ad Cajum § 38 ed. Mang. II,
590. — Die auf einer Inschrift {Corp. Inscr. Oraec. n. 4172 = Le Bas et
Waddington, Inscriptions t. HI, n. 1839) vorkommende Bezeichnung Ahyovaza
Kaioagsia ist Abkürzung von colonia prima Flavia Augusta Caesarea, wie
der offizielle Titel Cäsareas als Kolonie seit Vespasian lautete, s. unten S. 137,
und Kuhn II, 349. — Unter Caesarea Augus(ta) Corp. Inscr. Lat. VIII, n. 2808
ist wohl das spanische zu verstehen (Kubitschek, Imperium Romanum 1889,
S. 258).
169) Ptolem. V, 16, 2 (— Didotsche Ausg. V, 15, 2). VIH, 20, 14. Cle-
ment. Homil. 1, 15. 20. XHI, 7. Recogn. 1, 12. Ephemcris epigrapkica II p. 457— 459
= Corp. Inscr. Lot. X n. 867 = ibid. t. HI Suppl. p. 1959 (Militardiplom
Vespasians vom J. 71 n. Chr.). Le Bas et Waddington, Inscriptions t. Hl
n. 1620t) (Inschrift von Aphrodisias in Karieu, aus dem zweiten Jahrh. nach
Chr., vgl. oben S. 48).
170) Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 2. 78. De martyr. Palaestinae I, 2.
171) Jos. Bell. Jud. HI, 9, 1. Clement. Reeogn. I, 12. Apollonitis Tyan,
epist. XI (in: Epistolographi graeci ed. Hercher, Paris 1873, Didot). Totius or~
bis descriptio bei Müller, Geogr. gr. minores II, 517 und Archiv für lat.
Lexikographie XIII, 550, § 26. Ammian. XIV, 8, 11.
172) Eckhel TU, 491. 492. Maddcn, Bistory ofJewish Coinagep. 107. 109.
Ders., Coins of the Jews (1881) p. 133. 136. Vgl. auch oben Anm. 167. — Die
Münzen mit der Legende Kaioaoeiaq aav).ov werden von Eckhel mit Recht
unserm Cäsarea abgesprochen.
[107] I. Die hellenistischen Städte. 9. Stratons-Turm (Cäsarea). 137
iiische war {Bell. Jud. III, 9, 1), aber doch mit Beimischung eines
starken jüdischen Bruchteils, so kam es leicht zu Streitigkeiten,
und zwar um so mehr, als beide bürgerlich gleichberechtigt waren,
also beide gemeinsam die städtischen Angelegenheiten zu leiten
hatten173. Mit diesem Zustand waren weder die Heiden noch die
Juden zufrieden. Jeder von beiden Teilen beanspruchte für sich
ausschließlich die Regierung der Stadt. Schon gegen Ende der
Amtszeit des Felix kam es darüber zu blutigen Kämpfen, infolge
deren Nero, dessen Ratgeber von der heidnischen Partei bestochen
waren, den Juden die Gleichberechtigung nahm und die Heiden
für die alleinigen Herren der Stadt erklärte, 61 nach Chr. (Antt.XX,
8, 7 u. 9. Bell. Jud. II, 13, 7. 14, 4) 174. Beim Ausbruch des jüdischen
Krieges im Jahre 66 fielen die Juden als die Minderzahl der Wut
des heidnischen Pöbels zum Opfer. Sämtliche jüdische Einwohner,
20000 an der Zahl, sollen damals in einer Stunde hingemordet
worden sein (B. J. II, 18, 1. VII, 8, 7, ed. Niese § 362). Durch Vespasian
wurde Cäsarea in eine römische Kolonie umgewandelt, jedoch ohne
das volle Jus Italicum*™. Auf Münzen führt sie den Titel col(onia)
prima Fl{avid) Aug(usia) Cacsarensis oder Caesarea. Ebenso auf einer
neuerdings gefundenen Inschrift176. Dazu kommt seit Alexander
Severus noch der Titel melropolis oder, wie es auf den Münzen
'" 173) Die in der Apostelgeschichte erwähnten avögeg ol xat iioyftv irjq
notew; (Act. 25, 23) sind nach dem Zusammenhang der Erzählung als Heiden
zu denken. Dies schließt aber nicht aus, daß auch die Juden an der Regie-
rung teil hatten, entspricht vielmehr nur dem von Josephus bezeugten Über-
wiegen des heidnischen Bestandteiles. Allerdings ist zu beachten, daß die
Juden gerade zur Zeit des Festus, in welche die Act. 25, 23 erzählten Er-
eignisse fallen, vom Burgerrechte ausgeschlossen wurden (s. die sogleich an-
zuführenden Stellen). Aber die Act. 25, 23 erzählten Ereignisse fallen ganz
iu den Anfang von Festus* Amtszeit, während das Reskript Neros, welches
jenen Ausschluß verfügte, wohl etwas später zu setzen ist
174) Nach B. J. IT, 14, 4 könnte es scheinen, als ob das Reskript Neros
erst in d. J. 66 falle. Da es aber noch unter dem Einfluß des Pallas erlassen
ist (Antt. XX, 8, 9), welcher im J. 62 starb (Tacit. Annal. XIV, 65), so ist es wohl
nicht später als 61 zu setzen. Vgl. auch oben § 19 I, 577. 579 f.
175) Plinius H. N. V, 13, 69: Stratonis turris, eadem Caesarea, ab Herode
rege condita, nunc colonia prima Flavia a Vespasiano imperatore deducta. —
Digest. L, 15, 8, 7 (aus Paulus): Ditnts Vespasianus Caesarienses colonos fecit
non adjectOy ut et juris ltalici essent, sed tributum his remisit capitis; sed divus
Titus eiiam solum immune factum interprctatus est. — Ibid. L, 15, 1, 6 (aus
Ulpianus): In Palaestina duae fuerunt colotiiae, Caesariensis et Aelia Capitotina^
sed neuira jus Italicum habet. — Vgl. Zumpt} Commentationes epigr. I, 397 sq.
— Über das jus Italicum s. die oben S. 107 genannte Literatur.
176) Zeitschr. des deutschen Palästina- Vereins XIII, 1S90, S. 25 ff. = Corp.
Inscr. Lot. III Suppl. n. 12082 (p. 2C49).
138 § 23. VerfasstiDg. Synedrium. Hohepriester. [108]
seit Decius vollständiger heißt, Metropolis pr. S. Pal. (= provinciae
Syriae Pafaestinae)111.
10. Dora, A&q<x, bei Polybius Aovqcl, sonst auch AwQog, bei
Plinius JDötww178, hebräisch Tto oder "tefr179, eine alte phönizische
Ansiedelung 8—9 mil.pass. nördlich von Cäsarea180. Den Griechen
war sie seit alter Zeit bekannt Schon der um 500 vor Chr. lebende I
177) Über die Münzen s. überh.: Eckhel III, 428— 432. Mionnet V,
486—497. Suppl. VIII, 334—343. De Saulcy p. 112-141, pl. VII. Macdo-
nald, Catalogue of the Hunterian coUection III, 275 — 277. — Für die spätere
Geschichte auch bemerkenswert eine von Germer-Darand, Revue biblique 1895,
p. 75 sq. und Ellis, Quarterly Statement 1896, p. 87 mitgeteilte Inschrift (Re-
staurierung eines Aöquxvsiov in christlicher Zeit).
178) Die Form A&Qoq findet sich namentlich bei älteren Schriftstellern,
doch wird sie auch noch von Steph. Byx. bevorzugt; A&ga ist später aus-
schließlich herrschend geworden. 1) dtagoq haben: Skylax (4. Jahrh. vor Chr.),
Apollodorus (um 140 v. Chr.), Alexander Ephesius (über ihn s. Pauly-Wissowas
Enz. s. v. Alex. n. 86), Charax (die drei zuletzt genannten bei Steph. Byx. s. v.
d&Qoq). Hierher gehört auch Plinius {H.N. V, 19, 75: Dorum). — 2) d&ga
oder dmgd, außer I Makk. auch: Artemidorus (um 100 vor Chr.), Claudius
Julius (diese beiden bei Steph. Byx), Josephus (konstant), Münzen des Caligula,
Trajan, Elagabal (bei de Saulcy), Ptolemaeus (V, 15, 5 = Didotsche Ausg. V,
14, 3), Clement. Becogn. (IV, 1), Eusebius {Onom. ed. Klostermann p. 78), Hie-
ronymus (ebendas. p. 79), Hieroeles {ed. Parthey p. 43), die Bischofslisten (bei
Le Quien, Oriens Christ. III, 574 sqq.), Oeographus Barennas {edd. Pinder et
Parthey p. 89. 357). Hierher gehört auch Polybius (V, 66: dovoa) und Tab.
Peuting. {Thora). Vgl. auch unten Anm. 181. — Das erste Makkabäerbuch
gebraucht dwgä indecl, sonst wird es als neutr. plur. behandelt {Josephus ge-
wöhnlich, Eusebius p. 130, die Bischofslisten); zuweilen auch als fem. sing.
{Jos. Antt. XHI, 7, 2 nach einigen Handschriften, Clem. Becogn. IV, 1).
179) '■ri'n Josua 11, 2. 12, 23. Judic. 1, 27. I Chron. 7, 29. — nan Josua
17, 11. I Beg. 4, 11. Ebenso auf der Inschrift Eschmunazars, s. oben Anm. 144.
— Von der Stadt Dor wird im A. T. unterschieden "ita rBJ {Josua 12, 23.
I Beg. 4, 11) oder ni'n nißj {Josua 11, 2), eigentlich die Höhe oder die Höhen
von Dor, wahrscheinlich also das Hügelland, welches von Dor landeinwärts
lag (s. Riehms Wörterb. s. v.). Nur letzteres, nicht die phönizische Seestadt
besaß Salomo (I Beg. 4, 11). — Weniger wahrscheinlich will Movers (Phö-
nizier II, 2, 175 f.) Naphath-Dor als die Binnen Stadt von Dor als der Hafen-
stadt unterscheiden.
180) Die Gründung durch die Phönizier beschreibt ausführlich Claudius
Julius bei Steph. Byx. s. v. d&Qoq (auch bei Müller, Fragment, hist. graec. IV,
363). Auch Josephus nennt Dora eine nbXiq xfjq <Poivlxtjq {Vita 8; c. Apion.
II, 9). — Die Entfernung von Cäsarea: 8 m. p. nach Tab. Peuting.-, 9 m. p.
nach Eusebius {Onom. ed. Klostermann p. 78. 130) und Eieronymus (ebendas.
p. 79. 137). — Nach Artemidorus (bei Steph. Byx. s. v.) lag Dora inl x*Q<*0V7lm
ooeidovq zdnov. — Vgl. überh.: Beland p. 738—741. Baumer S. 154. Winer,
Schenkel, Pauly-Wissowa s.v. Ritter XVI, 607— 612. Guirin, Sa-
marieU, 305 — 315. The Surrey of Western Palestine, Memoirs by Gonder and
Kitchener II, p. 3. 7 — 11, dazu Bl. VII der engl. Karte. Legendre in: Vi-
[109] I. Die hellenistischen Städte. 10. Dora. 139
Hekatäus von Milet hat sie in seiner Erdbeschreibung erwähnt181.
Ja es ist möglich, daß sie zur Zeit der Hegemonie Athens im
Mittelmeere im* fünften Jahrhundert vor Chr. vorübergehend den
Athenern tributpflichtig war182. Zur Zeit des sidonischen Königs
Eschmunazar wurde sie von dem „Herrn der Könige", d. h. dem
persischen Großkönig, den Sidoniern verliehen183. Daher nennt
Skylax, dessen Beschreibung sich eben auf die persische Zeit be-
zieht, Dora mit Recht eine Stadt der Sidonier 184. — Obwohl Dora
keine große Stadt war185, war sie doch wegen ihrer günstigen
Lage eine starke wichtige Festung. Als Antiochus d. Gr. im
Jahre 219 vor Chr. seinen ersten Angriff auf Cölesyrien machte,
belagerte er Dora, aber vergeblich186. Achtzig Jahre später
(139/138 vor Chr.) wurde hier Trypho von Antiochus Sidetes mit
einem starken Heere belagert, ebenfalls ohne Erfolg. Die Be-
lagerung endigte nur mit der Flucht Tryphos 187. Einige Dezennien
gouroux, Dictionnaire de la Bible II, 1487 — 1492. Cook in: Eneyclopaedia
Biblica ed. by Cheyne and Black 8. v. Thomsen, Loca sancta p. 57.
181) Eecataeus bei Steph. By%. 8. v. d&ooq (auch bei Müller, Fragm.
hist, graec. I, 17, n. 260): fietä 6b ^ nd).ai dtbooq, vvv Sh d&Qa xaXetxai. —
Die Worte können freilich nicht so, wie sie lauten, von Hekatäus herrühren,
da sie einen Wechsel des Sprachgebrauchs konstatieren, der sich erst etwa
500 Jahre später vollzogen hat (s. oben Anm. 178). Das Exemplar, welches
Stephanus Byz. benützte, war also hier interpoliert.'
182) Eine Stadt namens dCbooq hat mit den Städten Kariens gemeinsam
an Athen Tribut gezahlt (Steph. By%. s. v. Aibooq9 KoaxtQÖq iv reo neol xprj-
(piOfxdxiov xqIxw „Kaoixdq <p6ooq' dCbooq, <Paö7]?.TTai", über Craterus s. Suse-
mihl, Gesch. der griech. Literatur I, 599 ff.). Da eine karische Stadt dieses
Namens aber nicht bekannt ist, und da die Macht der Athener jedenfalls bis
Cypern reichte, so glaubt Köhler an das phönizische Doros denken zu dürfen.
S. Ulr. Köhler, Urkunden und Untersuchungen zur Geschichte des Delisch-
attischen Bundes (Abhandlungen der Berliner Akademie 1869) S. 121. 207. Sixy
Numismatie Chronicle 1877, p. 235.
183) S. die Inschrift Eschmunazars lin. 18—20; vgl. oben Anm. 144.
184) Scylax in: Geoyraphi graeci minores ed. Müller I, 79: Jtbgoq nöUq
Sidovlwv (dazu: Gutschmid, Kleine Schriften II, 77). — Über Skylax s. z. B.
Fabricius-Harks, Biblioih. gr. IV, 606 sqq. Forbiger, Handb. d. alten Geogr.
I, 113 ff. 123 ff. Westermann in Paulys Enz. VI, 1, 891 f. Gutschmid, Khein.
Museum IX, 1853, S. 141 ff. = Kleine Schriften IV, 139 ff. Nicolai, Griech.
Literaturgesch. I, 322 f. Separat- Ausjgabe: Anonymi mdgo Seylacis Caryan-
densis periplum maris interni cum appendice, iterum rec. Fabricius. Lips. 1878.
185) Artemidorus: nohafiaxiov, Claudius Julius: ßoayzTa noU/VTj (beide
bei Steph. Byx.). Clement. Becogn. IV, 1: breve oppidum.
186) Polyb. V, 66.
187) I Makk. 15, 11—37. Jos. Antt. XIII, 7, 2. — Altere Numismatiker
glaubten in diese Zeit eine Münze Tryphos setzen zu dürfen, welche angeblich
in Dora geprägt ist (Mionnet V, 72. Stark S. 477). Diese gehört aber viel-
. •>
140 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [109. 110]
darauf finden wir sie im Besitz des Tyrannen j Zoilus (Jos Antt.
XIII, 12, 2) 188, der dann von Alexander Jannäus unterworfen wurde
(Antt. XIII, 12, 4). Sie muß also seitdem zum jüdischen Gebiete ge-
hört haben, wurde aber durch Pompeius wieder davon abgetrennt
(Antt. XIV, 4, 4. B. J. I, 7, 7). Gleich vielen anderen Städten begann
auch Dora von da an eine neue Zeitrechnung, deren es sich noch
auf den Münzen der Kaiserzeit bediente189. Unter den Städten,
welche Gabinius neu herstellen ließ, wird es nicht genannt; denn
Antt. XIV, 5, 3 ist statt des von der Mehrzahl der Handschriften
und Ausgaben gebotenen Aa>Qa höchst wahrscheinlich "AöcoQa zu
lesen (s. oben S. 7). Seit der Zeit des Pompeius hat es stets unter
der unmittelbaren römischen Herrschaft gestanden, hat also auch
dem Herodes (dessen Gebiet an der Küste nicht weiter nördlich
als Cäsarea ging) niemals gehört Auf Münzen der Kaiserzeit heißt
es leQa aovXoq avrovofiog vavaQxlq190. Die Existenz einer jüdi-
mehr nach Askalon (De Saulcy, Memoire sur les monnaies daths des Seien-
eides p. 42. Babelon, Catalogue des monnaies grecques de la Bibliotheque natio-
nale, Les rois de Syrie p. CXXXIX sq. 137).
188) Der Name ZmaX (lies ZwiXa oder ZwiX?..) kommt noch auf einer
Grabschrift in Dora v. J. 233 der Ära von Dora, um 170 nach Chr., vor, s.
Clermont- Ganneau, Recueil d'archeologie Orientale V, 1903, p. 285 — 288.
189) Der Anfangspunkt der Ära läßt sich nicht genau bestimmen; jeden-
falls ist es aber die des Pompeius (63 v. Chr.?), nicht die des Gabinius, wie
de Saulcy, trotz eigener Bedenken vorraussetzt, da eine Ära des Gabinius
nicht früher als Herbst 58 v. Chr. = 696 a. U. beginnen könnte, während die
Münzen Trajans eine so späte Ansetzung nicht gestatten. Kubitschek in
seiner Abhandlung Über die Pompeius -Ära in Syrien (Archäologisch -epi-
graphische Mitteilungen aus Österreich-Ungarn XIII, 1890, S. 200 — 209, über
Dora: S. 209) läßt einen Spielraum zwischen 63 u. 59 v. Chr. Wenn er trotz-
dem die Ära nicht für die des Pompeius gelten lassen will, so beruht dies
auf der irrigen Voraussetzung, daß die Ära des Pompeius genau 64 beginnen
müsse. Schwankend äußert sich Kubitschek im Art. aera in Pauly-Wisso-
was Real-Enz. I, 649 f. — S. überh.: Noris IV, 5, 5 (ed. IAps. p. 453—458).
Peller in , Recneil de medailles de peuples et de villes (3 Bde., Paris 1763) II,
216 $£. Eckhelj Doctr. Num. III, 362 sq. Musei Sanclementiani Numis-
mata selecta Pars II lib. IV, 180—182. Ideler, Handb. der Chronologie I,
459. Die Münzen bei Mionnet V, 359—362. Suppl. VIII, 258—260. De
Saulcy p. 142 — 148. 405. pl. VI n. 6 — 12. Babelon, Catalogue des monnaies
grecques de la Bibliotheque nationale, Les Perses Achemenides, Cypre et Phinicie,
1893, p. CLX1X sq. 205—207. Am vollständigsten: Rouvicr, Journal inter-
national d'archeologie numismatique t. IV, Athen 1901, p. 125 — 131. Ein paar
auch bei Macdonald, Catal. of the Hunterian collection III, 19C5, p. 245.
190) S. Mionnet, de Saulcy, Babelon, Rouvier a. a. O. — Über die Titel
s. oben S. 105. Alle vier Titel {leoä aavloq ahovofjtoq vavao%lq) zusammen
auch bei Tripolis (Dittenberger, Orientis graeci inscr. sei. n. 587), Laodicea am
Meere (Dütenberger n. 603), Tyrus (Ditlenberger n. 595).
[110. 111] I. Die hellenistischen Städte. 11. Ptolemais. 141
sehen Gemeinde in Dora ist durch einen Vorfall aus der Zeit König
Agrippas I. bezeugt: eine Anzahl junger Leute stellte einst ein
Bildnis des Kaisers in der Judensynagoge auf; und es bedurfte
des energischen Einschreitens von Seiten des Statthalters Petronius
in einem an die Behörden von Dora (A&QLxcbv rolg xqc&toiq) ge-
richteten Schreiben, um den Juden die ihnen verbürgte freie Aus-
übung ihrer Religion zu sichern (Anit. XIX, 6, 3). In der späteren
Kaiserzeit scheint Dora verfallen zu sein191. Doch werden noch
christliche Bischöfe bis ins siebente Jahrhundert erwähnt192. |
11. Ptolemais, ZZro^afe193. Der ursprüngliche Name der
Stadt ist Akko, te? (Richter 1, 31), auf den Amarna-Briefen Akka ' 94,
bei den Griechen "Jxrj. Unter diesem Namen war sie den Griechen
schon in vorhellenistischer Zeit bekannt195. Hier sammelte sich
191) Hieronymus Onomast. ed. Klostermann p. 79: Dora . . . nunc de-
serta. Ibid. p. 137: Bor aidem est oppidum jam desertum. Derselbe, Pere-
grinaiio Paulae — epist. 108 ad Eustoehium o. 8 (opp. ed. Vallarsi I, 696, auch
bei Tobler, Palaestinae deseriptiones 1869, p. 13): ruinös Bor, urbis quondam
potentissimae.
192) Le Quien, Oriens ehristianus III, 574—579.
193) Eine Beschreibung der Lage s. bei Joseph. B. J. II, 10, 2. — Vgl.
übern.: Beland p. 534—542. Pauly Real-Enz. VI, 1, 243. Winer *. v. Acco.
Baumer S. 119 f. Ritter XVI, 725—739. Robinson, Neuere bibL For-
schungen in Pal. (1857) S. 115—129. Sepp, Jerusalem II, 513 ff. Guerin,
Qalilie I, 502— 525. Bädeker-Socin, Paläst., 3. Aufl. S. 235 ff. (mit Plan des
heutigen Akka). The Survey of Western Palestine, Memoirs by Gonder and
Kitchener 1, 145. 160—167, dazu Bl. III der engl. Karte. Ebers und Guthe,
Palästina Bd. II, S. 450. Legendre Art. Aceho in: Vigouroux, Dictionnaire
de la Bible I, 108 — 112. Rouvier, Ptollmdis-Ace, ses noms et ses eres sous
les Selencides et la domination romaine (Revue biblique 1899, p. 393 — 408).
G. A. Smith, Art. Ptolemais in: Encyclopaedia Biblica ed. by Cheyne and
Black IH, 3967 ff. (bes. über die älteste Geschichte). Le Strange, Palestine
under the Moslems p. 328 — 334.
194) Zeitschr. des DPV. 1907, S. 7.
195) Scylax in: Geogr. gr. min. ed. Mittler I, 79. — Isaeus Orat. IV, 7. —
Demosthenes Orat. 52 contra Callippum § 24 (wo statt des überlieferten Boqxriv
zu lesen ist "Axrjv, wie schon Valesius auf Grund der Glosse bei Harpoeration
Lex. 8. v. "Axtj gezeigt hat). — Biodor. XV, 41. XIX, 93. — Trogus Pompeius
Prot. 10. — Polyaen. III, 9, 56. — Cornel. Nepos XIV Batamts e. 5. — Heron-
dae Mimiambi ed. Orusius (1892), II, 16. — Den alten und den neuen Namen
zugleich geben Strabo XVI, p. 758. Plinius H. N. V, 19, 75. Charax bei
Steph. Byx. s. v. Jibpog. Claudius Julius bei Steph. By%. s. v. 'Axtj. Stephan.
Byx. ibid. und s. v. llxoXefiatQ. — Harpoeration Lex. {ed. Bindorf) s. v. "Axt}'
ndkig aSxn 4v 4>oivtxy JrjfiooBivijt; iv xy noöq KdXhmtov. "Hv Nixävwg 6
nsol (levovofiaOLuJv ysyoayioQ xal Ka)Jklfxaxoq iv xotq vTco/uvtj/LcaOL x^v v%v
UxoXsfiatSa xalovfiivrjv <paolv elvai. Jr^^xpiog 6h lölcog x^v äxoSnoXiv xrjt;
IlxotefiatSog itoöxegov "Axrjv un'o/uäo&cu <prjoiv. Vgl. dazu Kuhn II, 331.
Kallimachus ist der bekannte, unter Ptolemäus IL Philadelphia lebende
142 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. IUI. 112]
um das Jahr 374 vor Chr. das Heer des Artaxerxes Mnemon zum
Feldzug gegen Ägypten196. Zur Zeit des Isäus und Demosthenes
befand sich in Ake eine Handelsniederlassung von athenischen
Kaufleuten (s. Anm. 195). Zur Zeit Alexanders des Großen muß
Ake eine bedeutende Stadt gewesen sein. Denn unter den in
Phönizien geprägten Münzen Alexanders sind namentlich auch die
von Ake sehr zahlreich. Sie haben den Namen Alexanders in
griechischer, den der Stadt in phönizischer Schrift CJZsgapÖQov,
3*, einigemal auch KD*), un(i die Jahreszahlen einer Ära, welche
mit Alexander d. Gr. beginnt. Wie anderwärts, so sind auch in
Ake diese Münzen noch geraume Zeit nach dem Tode Alexanders
geprägt worden 197. Im Jahre 312 wurde Ake von Ptolemäus Lagi
Dichter; über dessen historisch-geographische Schriften 8. Susemihl, Gesch.
der griech. Literatur I, 366 f.; über Demetrius von Magnesia, einen Zeitge-
nossen des Cicero, s. Susemihl I, 507. Aus Harpokration sind die Artikel
über *Axn im Etymologicum magnum und bei Suidas geschöpft. S. die Texte
bei Bei and p. 536 sq. — Eine Münze von Axr\ bei Mionnet V, 473. De Saulcy
p. 154, pl. VIII n. 2. Einige andere bei Reichardt, Numismatic Chroniele
1862, p. 108. 1864, p. 187. Wiener Numismat. Monatshefte, herausg. von
Egger Bd. II, 1866, S. 3. Babel on, Catalogue etc. Lee Perses Archbnenides,
1893, p. CLXXVm u. 220. Rouvier, Revue biblique 1899, p. 395—397, 406 «£.
Ders. Journal international tfarchiol. numism. IV, 1901, p. 211 (Babelon setzt
diese Münzen um 38—24 vor Chr., Rouvier um 14 vor —14 nach Chr.). —
Zur älteren Geschichte von Ake vgl. bes. auch das Fragm. aus Menander bei
Joseph. Antt. IX, 14, 2 und dazu Gutschmid, Kleine Schriften II, 66 (statt "Axrj
hat hier freilich die Mehrzahl der Handschriften *Aoxri, was aber nach dem
Zusammenhang schwerlich richtig ist, da Arka viel zu weit nördlich liegt).
196) Diodor XV, 41. Trogus Pompeius Prol. 10. Hierauf bezieht sich
auch Polyaen. IH, 9, 56. Cornel. Nepos XIV, 5. Vgl. Strabo XVI p. 758:
EW % nroksfiatg icn fieydXij ndhg JJv "Axrjv wvdfta^ov iZQÖveoov, y ixQ&vto
oQfirjzTjQUo ngöq x^v AXyvnxov ol (liocai. Über die ägyptisch -per-
sischen Beziehuugen im 4. Jahrh. überb. s. Judeich, Kleinasiatische Studien
(1892) S. 144 ff.
197) S. Eekhel III, 408 sq. Mionnet I, 520«?., dazu Recueil des planches,
pl. XXI n. 1—10, Suppl. III, 197 sq. und pL H, n. 1—6. Oesenius, Scripturae
linguaeque Phoeniciae monumenta p. 269 sq. L. Müller, Numismatique d? Alexan-
dre le Grand (1855) p. 303 sq., dazu planches n. 1426—1463. Macdonald,
Catalogue of Oreek Co ins in the Eunterian collection vol. I, 1899, p.3\4. Rouvier,
Journal international dtarch&ol. numism. IV, 1901, p. 193 — 199. — Zahlreiche
Exemplare dieser Münzen (Goldstateren Alexanders, bes. solche mit den Jah-
reszahlen 23 und 24) sind bekannt geworden durch einen großen Münzfund
bei Sidon im J. 1863. S. darüber: W(eckbecker) in den Wiener Numisma-
tischen Monatsheften hrsg. von Egger Bd. I, 1865, S. 5— 11. Waddington in
d. Revue Numismatique 1865 p. 3—25. Droysen, Geschichte des Hellenismus
(2. Aufl.) 1, 1, 302—304. Ders., Monatsber. der Berliner Akademie 1877, S. 40 ff.
— Über Tetradrachmen Alexanders d. Gr. von Ake mit den Jahreszahlen 10,
16, 22, 31, 32, welche „von einem Armenier aus Mossul ungefähr zur selben
[112] I. Die hellenistischen Städte. 11. Ptolemais. 143
geschleift, als dieser das eben eroberte Cölesyrien vor Antigonus
wiederum räumte198. Ob Seleukus L Ake besessen hat, wie auf
Grund der Münzen von manchen angenommen wird, ist mindestens
sehr fraglich, da sich seine Herrschaft an der phönizischen Küste
schwerlich so weit südlich erstreckt hat (s. oben S. 97) 199. Durch
Ptolemäus II. erhielt Ake den Namen IlroXefiälg, der von nun an
der herrschende wurde200. Doch hat der ursprüngliche Name
Zeit [1862—1863] in Beirut zu Markte gebracht wurden", berichtet Weck-
becker in Eggers Wiener Numisniat. Monatsheften I, 98—99. — Über die
Tatsache, daß man Münzen mit dem Kamen Alexanders auch noch nach
dessen Tode geprägt hat, s. L. Müller , Numismatique d? Alexandre le Grand
p. 50—90. Auf den Münzen von Ake finden sich die Jahreszahlen
5 — 46 (bei Macdonald auch 3, ob richtig gelesen?). Da als Ausgangspunkt
d. J. 334 oder 333 anzunehmen ist, so sind diese Münzen auch noch nach
dem J. 306, wo die Diadochen den Königstitel annahmen, etwa zwei De-
zennien lang geprägt worden. S. bes. Müller p. 80 — 83. Noch zwei De-
zennien weiter herab würden wir geführt werden, wenn als Ausgangspunkt
die seleucidische Ära v. J. 312 v. Chr. anzunehmen wäre. So Six, Uere de
Tyr (Nwnismatic Chronicle 1886, p. 97 — 113, bes. 104 f.) und nach ihm Head,
Historia Numorum 1887, p. 677 und Babelon, Cataloyue etc. Les Perses Acke-
menides, 1893, p. CLXXVil. Das Hauptargument hierfür ist, daß die da-
tierten Münzen des Ptolemäus IL in Ake-Ptolemais im J. 261 v. Chr. beginnen,
so daß sich diese sehr passend an die Reihe der Alexandermünzen (308 — 267
v. Chr.) anschließen würden. Aber dieses Argument ist doch nicht entschei-
dend; und andererseits ist es unwahrscheinlich, daß die Reihe der Alexander-
münzen erst geraume Zeit nach dem Tode Alexanders beginnen soll. Gegen
Six und Bahelon, und für eine Ära v. 333 v. Chr. s. bes. Rouvier, Vhre
$ Alexandre le Grand en Phenicie aux IV o et III e sücles avant J.-C. (Revue
des Üudes grecques 1899, p. 362—381). Ders., Uere d Alexandre le Grand en
Phenicie, note complimentaire (Revue Numismaiique IV me Serie t. VII, 1903,
p. 239 — 251) [die erste Abhandlung nach den Münzen von Tyrus und Akko,
die zweite nach denjenigen von Sidon und Aradus].
198) Diodor. XIX, 93. — Vgl. oben Anm. 70 (Gaza) und 146 (Jope).
199) Über die angeblich in Ake geprägten Münzen des Seleucus I. s.
Babelon, Catalogue ete. Les rois de Syrie, 1890, p. XI, XXXVI u. p. 1. Rou-
vier, Journal international (Parchiol. numism. 1901, p. 200. — Gegen Babelon:
Bei och, Archiv f. Papyrusforschung II, 1903, S. 231 f. Lehmann, Beiträge
zur alten Geschichte III, 1903, 8. 518: „Aber selbst für Ake kann ich die
seleukidische Herrschaft nicht für erwiesen halten Es bleibt nur der
Anker als seleukidische Hausmarke auf einem der Goldstateren [Babelon
p. XI]. Wenn hier nicht eine etwa auf Nachprägung beruhende zufällige
Äußerlichkeit vorliegt, so kann daraus nur auf eine Hinneigung der unter
ägyptischer Oberherrschaft stehenden autonomen Stadt zum Seleukidenreiche
geschlossen werden".
200) Auf Ptolemäus IL wird die Neugründung (und Namengebung) aus-
drücklich zurückgeführt bei Pseudo-Aristeas (ed. Wendland § 115): TltoXeiialda
xty heb toi) ßaaiXiwq ixriotu4vrjv. — Dies ist gewiß richtig. Die phönizischen
Münzen mit dem alten Namen ZT gehen beinahe bis zum Regierungsantritt des
144 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [113]
Akko sich daneben ununterbrochen erhalten, ja später den griechi-
schen wieder verdrängt201. Bei der Erneuerung durch Ptolemäus II.
muß es auch bedeutend erweitert worden sein; denn dies besagt
die Notiz des Demetrius von Magnesia, daß eigentlich nur die
Akropolis von Ptolemais früher Ake geheißen habe (s. Anm. 195).
Die datierten Münzen des Ptolemäus IL, welche in Ptolemais ge-
prägt sind, gehen von dessen 25. bis 38. Regierungsjahre = 261 bis
248 vor Chr., die des Ptolemäus III. von seinem 2. bis 5. = 245
bis 242 vor Chr., von Ptolemäus IV. gibt es nur undatierte202.
Auch in der seleucidischen Zeit erscheint Ptolemais als eine der
wichtigsten Städte der phönizisch-philistäischen Küste. Die Er-
oberung dieser Gebiete durch Antiochus d. Gr. im Jahre 219 wurde
diesem eben dadurch sehr erleichtert, daß ihm die Städte Tyrus
und Ptolemais durch den ptolemäischen Feldherrn Theodotus aus-
Ptolemäus IL (285 v. Chr.). Aber schon der unter Ptolemäus II. lebende
Dichter Kallimachus kennt den neuen Namen der Stadt (nach der Notiz im
Lexikon des Harpokration, s. oben Anm. 195). Daß Ptolemäus II. Phila-
delphus Städtegründungen in Palästina vornahm, zeigt das Beispiel von Phila-
delphia (s. unten). Im J. 219 — 217 wird Ptolemais unter diesem Namen bei
Polybius erwähnt, ohne daß Polybius andeutet, daß es damals noch nicht so
geheißen habe (Polyb. V, 61 — 62. 71). Vollends beweisend ist aber, daß es
Münzen des Ptolemäus II gibt, welche das griechische Monogramm von Ptole-
mais haben (s. Anm. 202). — Neuerdings glaubt man auch eine Statue des
Ptolemäus Philadel phus daselbst gefunden zu haben, s. Revue archio-
logique Dlme Serie, T. XXI, 1893, p. 98: On vient de dfcouvrir . . . deux statues
admirablement conserrees de Vepoque alexandrine. Quelques objets d?arty d'argent
et d'or, tres finement ciseles, des armes et de nombreuses midailles, troutees
au mime endroit, ont permis <Fetablir que ces deux statues, qui devaient etre
reunies par un sceptre dont les fragmefits adherent aux mains, reprisentaient
Ptolimee Philadelplie aprks son mariage avec Arsinoe, fille de Lysimaque. Ces
deux statues iront orner le jardin d'ete d' Abdul- Hamid. — Vgl. auch Droysen
HI, 2, 305.
201) Der Name iss? namentlich auch in der rabbinischen Literatur, s.
Mischna Nedarim KT, 6. Gittin I, 2. VII, 7. Aboda sara HI, 4. Ohaloth XVIII, 9.
Die Stellen der Tosephta im Index zu Zuckermandels Ausg. (1882). Neubauer,
Geographie du Talmud p. 231 sq. — Noch heutzutage heißt die Stadt Akka.
S. Zeitschr. des DPV. XVI, 56.
r202) Feuardent, Numismatique, JÜgypte ancienne, [1869] P. I: Monnaies
des Rois p. 38 sq. — Catalogue of the greek coins in the British Museum, Ptole-
mies Kinjs of Egypt p. 33, 34 (Ptolemäus II.). Ibid. p. 49, 50, 53, 54 (Ptole-
mäus HI.). Ibid. p. 65 (Ptolemäus IV.). — Head, Historia Numorum p. 677, —
Svoronos, Les monnaies de Ptolimee U qui portent daXes (Revue Beige de
Numismatique 1901, p. 263—298, 387—412, über Ptolemais: p. 280—282).
HßOQwvog, Tä voftlofjtava xov xgaxovq x(bv IlxoXefialwv, 1904, Tl. II, p. 113—116
(Ptolemäus II.), p. 163 (Ptolemäus III.), 192 (Ptolemäus IV.); da*u die ent-
sprechenden Abbildungen in Tl. III.
[113. 114] I. Die hellenistischen Städte. 11. Ptolemais. 145
geliefert wurden203. Im Jahre 218/217 überwinterte Antiochus in
Ptolemais204. Nach der definitiven Besitznahme Phöniziens durch
die Seleuciden wurde Ptolemais von diesen besonders begünstigt
Auf Münzen, namentlich aus der Zeit Antiochus' IV. und VIII.,
aber auch noch aus römischer Zeit, nennen sich die Einwohner
*Avtiox&$ °l &v nvoZefiätdi, zuweilen mit dem Zusatz IsQa aovlog,
einigemal IsQa avtovofiog. Die Befugnis der Einwohner, sich
UvTioxetg zu nennen, ist als eine Gunstbezeugung zu betrachten,
die auch von manchen anderen Städten, z. B. von Jerusalem unter
der | Herrschaft der hellenistischen Partei, erstrebt wurde205.
203) Polyb. V, 61—62. Vgl. Stark, Gaza S. 375 ff. Niese, Gesch. der
griech. und makedon. Staaten II, 374 f.
204) Polyb. V, 71.
205) Die fraglichen Münzen s. bei Echhel HE, 305 sq. Mionnet V, 37 sq.
88. 216— 2ia Suppl. VIII, 30. De Saulcy, Numismatie Ghronicle 1871,
p. 84 — 88 (reiche Sammlung des Materiales, aber mit sehr verkehrter Deu-
tung). Gardner, (Mal. of tke greeh eoins in the British Museum, Seleudd
Kings, p. 41. Read, Historia Numorum p. 658. Babelon, Gatalogue des
monnaies greeques de la Biblioth&que nationale, Les rois de Syrie (1890) p. CHI sq.
b&sq. 79. Babelon, Gatalogue des monnaies greeques de la Biblioth&que natio-
nale, Les Perses Acheminides, Oypre et PhSnicie (1893) p. CLXXVHs^. 218—
220. Rouvier, Plolimäis-Ace, ses noms et ses eres sous les Sileucides et la
domination Romaine avant sa transformation en eolonie Romaine (Revue bibli-
que VIII, 1899, p. 393 — 408). Rouvier, Journal international d'arckSologie
numismatique IV, 1901, p. 201, 207 sq., 211—213, 215. Schon der Umstand,
daß Uoa üovXog als Apposition zu 'Avtiox&g hinzutritt (Avtiox^wv zCbv iv
IlzoXepatdi legag äavXov, ähnlich auf den Münzen von Hippus, s. unten
Nr. 13), beweist, daß es sich um die Stadt Ptolemais und um deren ge-
samte Bürgerschaft, nicht bloß um eine Kolonie von Antiochenern in Ptole-
mais handelt (letzteres Eck hei und noch Kuhn I, 22, Babelon und Rou-
vier; s. dagegen Stark S. 449, Droysen III, 2, 305, Bevan, Tke house of
Seleucus H, 152, not. 6). — Die offizielle Benennung der Bürger als 'AvuoxeTg
wurde z. B. auch von der hellenistischen Partei in Jerusalem erstrebt, s.
II Makk. 4, 9: Jason versprach große Summen, wenn gestattet würde toi>q
iv %QoaoXvpoig 'Avzioxetg ä\vayoa\pa(, = „die Einwohner Jerusalems öffentlich
als 'AvuoxeTg zu bezeichnen", vgl. 4, 19: er schickte zu den Festspielen des
Herakles nach Tyrus BecDQOvq <oq &nb 'ieQoaoXvfiatv 'AvzioxeTq övzaq. Ahnlich
nannten sich die Bürger von Adana in Cilicien ÄrzioxeTq ol itQÖq zw 2äQ(o,
von Tarsus *4vzioxeTq ol nodq tw KvSvo), von Edessa 'AvxioxeTq ol inl
KaXXiQdy, von Hippus 'AvxioxeTq ol nobq °lnn& , von Gerasa 'AvzioxsTq ol
nQÖg tat XovaoQÖa. In dieselbe Kategorie gehören die Benennungen SeXev-
xetg, yEm<pav£Tq und TlofinriiBiq, raßivieiq, KlavSieXq. Die Benennung 'Avziox&q
hat also mit der Stadt Antiochia (der Hauptstadt Syriens) und ihrem Bürger-
rechte nichts zu tun, sondern sie ist direkt vom Namen des Königs abzu-
leiten. Die *4vTioxeTg sind die Königstreuen. Indem man sich so nennt,
huldigt man dem König; aber es ist auch eine Gunsterweisung von Seiten des
Königs, wenn er die Benennung gestattet. Vgl. überhaupt Babelon, Gata-
Sohürer, Geschichte II. 4. Aufl. 10
146 § 23« Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [114. 115]
Seleucidische Königsmttnzen, die in Ptolemais geprägt sind, gibt
es von den meisten Seleuciden von Antiochus IV. bis Antio-
chus XII.206. Die Stadt wurde gerne von den Königen bei vorüber-
gehendem Aufenthalt in jenen Gegenden als Residenz benützt
(I Makk. 10, 56—60. 11, 22. 24). Den Juden gegenüber hat sie sich
stets feindlich gezeigt. Schon im Beginn der makkabäischen Er-
hebung waren es namentlich die Städte Ptolemais, Tyrus und
Sidon, welche die von der syrischen Herrschaft abgefallenen Juden
bekämpften (I Makk. 5, 15 ff.). Hier wurde auch Jonathan ver-
räterischerweise von Trypho gefangen genommen (I Makk. 12, 45 ff.).
Nach dem Regierungsantritt des Alexander Jannäus, 104 vor Chr.,
als die Seleuciden im Süden ihres Reiches bereits alle Macht ver-
loren hatten, stritten sich drei benachbarte Mächte um den Besitz
von Ptolemais. Zuerst hatte Alexander Jannäus die Absicht,
Ptolemais zu erobern. Er wurde an der Ausführung seines Vor-
habens gehindert durch Ptolemäus Lathurus, den Beherrscher von
Cypern, der selbst die Stadt mit Gewalt nahm (Jos. AntL XIII, 12,
2—6). Diesem aber wurde sie sofort wieder entrissen durch seine
Mutter Kleopatra, die Königin von Ägypten (AntL XIII, 13, 1—2).
Daß aber Ptolemais doch noch um das Jahr 90 und etwas später
unter der Herrschaft der Seleuciden gestanden hat, bezeugen die
Münzen des Philippus | und Antiochus XII.207. Die Macht des
armenischen Königs Tigranes, der im Jahre 83 vor Chr. das Se-
leucidenreich eroberte, erstreckte sich augenscheinlich nicht über
die südlichsten Teile. Denn Ptolemais stand noch um das Jahr 70
vor Chr. unter der Herrschaft oder doch unter dem Einfluß der
Kleopatra Selene, einer Tochter der eben genannten Kleopatra und
Schwester des Ptolemäus Lathurus. Selene war einst mit ihrem
Bruder Ptolemäus Lathurus vermählt gewesen, war aber dann
durch ihre Heirat mit Antiochus VIII. Grypos, Antiochus IX.
Kyzikenos und Antiochus X. Eusebes eine syrische Königin ge-
worden208. Sie scheint im südlichsten Syrien noch eine kleine
logue etc. Les rois de Syrie (1890) p. CI— CIV u. 77—81. Revue Numism.
1898, p. 186. Hill, Historical greek coins 1906, p. 143—145.
20(5) Gardner, Catal. of (he greek coins etc. p. 44. 47. 52. Babelon,
Catalogae des monnaies grecques de la Bibliotheque nationale, Les rois de Syrie
(1890) p. 70, 88, 91, 98, 130, 131, 137, 155, 156, 175, 187, 204, 209. Rouvier,
Journal international cTarcheol. numism. IV, 1901, p. 202 — 207.
207) Babelon, Catalogue etc. Les rois de Syrie, 204, 209. Rouvier,
Journal internat. etc. 1901, p. 206 sq.
208) Selene hatte bald nach dem Tode ihres Vaters Ptolemäus Physkon
(117/116 v. Chr.) auf Betrieb ihrer Mutter ihren Bruder Ptolemäus Lathurus
geheiratet (Justin. Rist. XXXIX, 3, 2). Ebenfalls auf Betrieb der Mutter hei-
[115] I. Die hellenistischen Städte. 11. Ptolemais. 147
Teilherrschaft behauptet zu haben209. Auf ihren Betrieb schloß
Ptolemais vor Tigranes, als dieser um das Jahr 70 nach Süden
vordrang, die Tore; wurde darauf zwar von Tigranes erobert, je-
doch alsbald wieder dadurch befreit, daß Tigranes wegen des
Angriffs der Römer auf sein Reich sich zum Rückzug genötigt
sah (Jos. Antt. XIII, 16, 4. B. J. I, 5, 3). Besondere Begünstigung
scheint Ptolemais durch Cäsar erfahren zu haben, als dieser im
Jahre 47 die syrischen Verhältnisse ordnete. Es gibt nämlich
Münzen aus der Kaiserzeit mit einer Ära, welche auf Cäsar zu-
rückgeht210. Wahrscheinlich gehören in diese Zeit (bald nach
Cäsar) auch die Münzen mit der Legende nroXefiaiiwv leQaq xal
dövXov (oder ähnlich) m. Vorübergehend haben sich die Einwohner,
wie es scheint, (zu Ehren des Germanicus oder Caligula) auch
rsQfiavtxelg genannt212. Kaiser Claudius siedelte in Ptolemais eine
ratete sie später den syrischen König Antiochus VIII Grypos, mit welchem
Kleopatra damals verbündet war (Justin. Hist. XXXIX, 4, 1—4). Nach Appian.
Syr. 69 war Selene auch mit Antiochus IX. Kyzikenos und mit dessen Sohn
Antiochus X. Eusebes vermählt. In betreff des Antiochus IX. (f 95 vor Chr.)
macht es einige Schwierigkeit, daß er den Antiochus VIIL (f 96 vor Chr.) nur
um ein Jahr überlebt hat; doch hebt Appian ausdrücklich hervor, daß Selene
die Gemahlin der genannten drei syrischen Könige war. Bei der Einnahme
von Ptolemais durch Tigranes scheint sie in die Gefangenschaft des letzteren
geraten zu sein, denn Tigranes ließ sie bald darauf zu Seleucia am Euphrat
hinrichten {Sirabo XVI, 2, 3 p. 749). Vgl. über sie überh. Adolf Kuhn, Bei-
träge zur Gesch. der Seleukiden (Altkirch i. E. Progr. 1891) S. 21. 42. Strack,
Die Dynastie der Ptolemäer 1897, S. 201 u. Stammbaum am Schluß. Bevan,
The house of Seleucus, 1902, II, 304, Appendix W (ist geneigt, eine ältere und
jüngere Selene zu unterscheiden).
209) Josephus sagt Antt. XIII, 16, 4: ßaolXieoa yäo Sek^vij % xal KXeo>
naxQa xalovfiivrj tGjv iv JSvolq xaxfjQXBv (die LA. xaxrjgxev ist zwar schwach
bezeugt; aber das von Niese aufgenommene xaxtyeiv ist grammatisch un-
möglich).
210) S. Eckhel III, 425. De Saulcy p. 162. 164. 166. Babelon, Cata-
logue etc. Les Perses Achhninides etc. p. 225. Rouvier, Ptolemais- Ac&, ses
noms et ses eres etc. (Revue biblique VIII, 1899, p. 393 — 408). Rouvier, Jour-
nal international d'archSol. numism. 1901, p. 215, 221, 223, 224 (Münzen des
Claudius, Caracalla (?) , Elagabal und Alexander Severus). — Ptolemais war
nicht die einzige Stadt, welche durch Cäsar begünstigt wurde; vgl. Mar*
quardt I, 397.
211) S. diese bei de Sauley p. 154—156 (teilweise nach Babelon zu be-
richtigen). Babelon, Catalogue etc. Les Perses AchSmSnides etc. p. CLXXVHIs^.
220 sq. Rouvier , Revue biblique 1899, p. 405 sq. Rouvier, Journal interna-
tional farchiol. numism. 1901, p. 209—211.
212) So Imhoof-Blumer in der Wiener Numismat. Zeitschrift Bd. 33,
1901, S. 10—12, nach zwei Münzen (auf der einen: reopavi . . . tefiarti, auf
der anderen . . xewv xmv sv JIxoX, zusammen: reQfiavixiajv xwv iv IIxole-
fxalSt).
10*
148 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [115. 116]
Veteranenkolonie an. Die Stadt hieß daher von nun an colonia
Ptolemais, hatte jedoch nicht die Rechte einer Kolonie213. Beim
Ausbruch des jüdischen Krieges wurden die Juden in Ptolemais,
2000 an der Zahl, von den dortigen Einwohnern niedergemacht
(Ä J. II, 18, 5). Das Gebiet von Ptolemais wird von Josephus als
Westgrenze Galiläas erwähnt (Bell. Jud. III, 3, 1; vgl. Vita 24).
Charakteristisch ist die Formel: nroiefiatöa xal rrjv xqooxvqovociv
avzjj seil. x<®Qav (I Makk. 10, 39).
Nächst den großen Küstenstädten gehören in die Klasse der
selbständigen hellenistischen Kommunen auch die Städte der sol-
genannten Dekapolis. Die Organisation, welche mit diesem Aus-
druck angedeutet wird, ist wahrscheinlich eine Schöpfung des
Pompeius. Denn der Begriff (rj AexaJzoXiq) begegnet uns erst in
der römischen Zeit214; und die Mehrzahl der zur Dekapolis ge-
hörigen Städte verdankt eben dem Pompeius ihre selbständige
politische Existenz. Es sind die hellenistischen Städte des Ost-
jordanlandes, welche von Alexander Jannäus unterworfen, durch
Pompeius aber wieder von der jüdischen Herrschaft befreit wurden.
Vermutlich haben sich damals diese Städte zu einer Art von
Städtebund zusammengeschlossen, der ursprünglich zehn Städte
umfaßte und daher r) Aexanolig hieß, diesen Namen aber auch
213) Plinius V, 19, 75: colonia Olaudi Gaesaris Ptolemais quae quondam
Acce. Vgl. XXXVI, 26, 190. — Digest. L, 15, 1, 3 (aus Ulpianus): Ptolemaeen-
sium enim colonia, quae inier Phoenicen et Palaestinam sita est, nihil praeter
nomen coloniae habet (hierzu Noris p. 427 sq.), — Auf Münzen : COL. PTOL.,
einigemal mit den Zahlen der VI. IX. X. XI. Legion. — S. überh.: Noris IV,
5, 2 (ed. Ups. p. 424—430). Eckhel III, 423—425. Mionnet V, 473—481.
Suppl. VIII, 324—331. De Saulcy p. 153—169. 405 sq. pl. VIII n. 2—11.
Der s., MSlanges de Numismatique t. II, 1877, p. 143—146. Babelon, Cata-
logue etc. Les Perses Achäminides, Oypre et Phinicie p. 220 — 228. Rouvier,
Journal international dtarcheologie numismatique 1901, p. 213, 215 — 232. Zumpt,
Oomtnentatt. epigr. I, 386. Marquardt, I, 428.
214) Ev. Malth. 4, 25. Marc. 5, 20. 7, 31. Plinius H. N. V, 18, 74. Josephus
Bell. Jud. III, 9, 7. Vita 65. 74. Ptolemaeus V, 15, 22 (?). Corp. biscr. Graee.
n. 4501 «=■ Waddington , Inscr. n. 2631 «= Ditlenberger, Orientis graed insor.
sei. n. 631 (Inschrift aus der Zeit Hadrlans, vgl. unten über Abila). Eusebius,
Onomast. ed. Klostermann p. 80. Epiphanius haer. 29, 7; de mens, et pond.
§ 15. Stephanus Byx. s. v. rfyaoct (der überlieferte Text hat hier zeooaQSG-
xaidexanöXsajq, wofür aber Meineke wohl mit Recht ÖExandXeax; liest). — Vgl.
überh.: Win er RWB. 5. v. „Decapolis". Caspari, Chronologisch -geogra-
phische Einleitung in das Leben Jesu Christi (1869) S. 83—90. Roh den,
De Palaestina et Arabia provineiis Romanis, 1885, p. 4 — 13. van Easteren,
Art. Decapole, in: Vigouroux, Dictionnaire de la Bible. Hölscher, Palästina
in der persischen und hellenistischen Zeit, 1903, S. 97 f. ßchwartz, Nach-
richten der Göttinger Gesellsch. der Wissensch., phil.-hist. KL 1906, S. 365—376.
[116] I. Die hellenistischen Städte. 149
dann noch beibehielt, als die Zahl durch den Hinzutritt anderer
Städte sich erweiterte. Wegen ihrer Befreiung durch Pompeius
bedienen sich fast alle diese Städte einer eigenen Zeitrechnung,
welche man die pompeianische Ära zu nennen pflegt Es ist
darunter nicht eine einheitliche Ära zu verstehen, sondern ein
Komplex von Lokalären, deren Ausgangspunkte verschieden sind
und zwischen 64 und 61 vor Chr. variieren215. Der Umfang der
Dekapolis ist nicht immer derselbe geblieben, wie Plinius, unser
Hauptgewährsmann, ausdrücklich bemerkt, H. N. V, 18, 74: Deco-
polüana regio a numero oppidorum, in quo non omnes eadem observant,
plurimum tarnen Damascum, Philadelphiam, Rhaphanarny Scy-
thopolim, Gadara, Hippon, Dion, Pellam, Oalasam [lies: Oa-
ra8am*= Qerasam], Ganatham. Einen viel weiteren Umfang scheint
Ptolemäus V, 15, 22—23 (Didotsche Ausgabe V, 14, 18) der Deka-
polis zu geben. Er stellt in diesem Abschnitt alle von Plinius
genannten Städte, außer Baphana, zusammen, mit ihnen aber noch
neun andere, darunter die im Libanon gelegenen Heliopolis und
Abila Lysaniae. Die von der Mehrzahl der Handschriften ge-
botene Überschrift dieses Abschnittes KolXrjg 2vqI<x<; Aexaxokeax;
ist aber an sich durch ihre Duplizität befremdlich (statt Aexa-
jcoZswg haben manche 6h xäi jtolewq, was dasselbe ist; die Ein-
schaltung eines xäi nach 2vglaq ist ohne Bezeugung, s. den kriti-
schen Apparat in der von C. Müller begonnenen und von Fischer
fortgeführten Didotschen Ausgabe vol. I, 2, 1901). Um so mehr wird
215) Schwartz a. a. O. bekämpft daher den Ausdruck „pompeianische
Ära". Er ist aber von Sachverständigen nie in einem andern als dem obigen,
auch von Schwartz als richtig erwiesenen Sinne gebraucht worden. — Auch
die Vermutung, daß diese Städte eine Art von Städtebund gebildet haben,
lehnt Schwartz ab. Sie läßt sich allerdings nicht beweisen, aber noch weniger
widerlegen. Schwartz selbst vermutet, daß diese Städte Gründungen der
ersten Seleuciden seien, von diesen gedacht „als eine große Festung des sy-
rischen Reichs gegen den ägyptischen Rivalen" (S. 375). Aexdnohg sei ur-
sprünglich der Name einer Provinz des Seleucidenreiches im 3. Jahrh. vor
Chr. (S. 372 — 375). Da aber das ganze Westjordanland seit Anfang des
3. Jahrh. vor Chr. den Ptolemäern gehörte (s. oben S. 97), ist es sehr un-
wahrscheinlich, daß sich die Macht der Seleuciden im Ostjordanland damals
bis Geraea und Philadelphia erstreckt und daß Skythopolis ihnen gehört
haben soll. Es wurde im 3. Jahrh. wiederholt um den Besitz von Damaskus
gekämpft (s. oben S. 97, 99). Was südlich davon lag, wird ptolemäisch gewesen
sein. Sicher ist, daß die Städte der Dekapolis (außer Damaskus) in der
zweiten Hälfte des 3. Jahrh. vor Chr. ptolemäisch waren, denn sie sind
von Antiochus d. Gr. erobert worden. Philadelphia gehörte, wie der Name
beweist, bereits dem Ptolemäus IL Die seleucidische Provinz „Dekapolis"
wird damit zu einer sehr fragwürdigen Größe, um so mehr, als der Name vor
der römischen Zeit nicht nachweisbar ist.
150 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [116. 117]
der Minderzahl der Handschriften zu folgen sein, in welcher dexa-
jioZecog fehlt. Es ist eine in den Text gekommene Glosse. Als
Städte der Kolirj 2vqUx werden die Städte der Dekapolis auch
sonst bezeichnet (bei Steph. Byz.: Skythopolis, Pella, Dium, Gerasa;
auf Münzen: Gadara, Abila, Philadelphia; s. unten bei den einzelnen
Städten). Demnach kommt Ptolemäus für die Frage nach dem
Umfang der Dekapolis nicht in Betracht, und wir haben uns an
Plinius allein zu halten. Zu den von ihm genannten fügen wir
nur noch Abila und Kanata (nach Ansicht mancher verschieden
von Kanatha) hinzu, die beide ebenfalls die pompeianische Ära
haben. Sämtliche Städte, mit Ausnahme von Skythopolis, liegen
im Ostjordanland. Auffallend ist die Hereinziehung des weit
nördlich gelegenen Damaskus. Es hat auch nicht die pompeia-
nische, sondern die seleucidische Ära und hat daher ursprünglich
wohl nicht zur Dekapolis gehört216. Nach der bestimmten Angabe
des Plinius aber muß es später zu ihr gerechnet worden sein. Die
Dekapolis hat als solche wohl noch im Anfang des zweiten Jahr-
hunderts nach Chr. bestanden. Ihre Auflösung erfolgte dadurch,
daß | einige ihrer bedeutendsten Städte, Gerasa und Philadelphia,
zu der im Jahre 106 nach Chr. errichteten Provinz Arabien ge-
zogen wurden. Die Erwähnung der Dekapolis bei Späteren, wie
Eusebius, Epiphanius, Stephanus Byz., beruht also nur auf histo-
rischer Kunde. — Die folgende Aufzählung ist geographisch ge-
ordnet (von Norden nach Süden).
12. Damaskus, dafiaoxog, hebräisch pfcjTS-i, auf den Amama-
Briefen Dimaski217. Aus der reichen Geschichte dieser Stadt kann
hier nur dasjenige hervorgehoben werden, was für die Verfassungs-
geschichte in der hellenistischen und römischen Zeit von Belang
ist218. Die Herrschaft Alexanders des Gr. über Damaskus be-
216) So Hölscher a. a. O. S. 97.
217) Zeitschr. des DPV. 1907, S. 17 f.
218) S. überh.: Rödiger in Ersch u. Grubers Enzykl. Sekt I, Bd. 22,
Abt. 2, S. 113—116. Arnold in Herzogs Real-Enz. 1. Anfl. III, 259—262.
Winer s. v. Nöldeke in Schenkels Bibellex. 8. v. Robinson, Neuere bib-
lische Forschungen S. 578—610. Ritter, Erdkunde XVII, 2, 1332ff. Kremer,
Topographie von Damaskus (Denkschriften der Wiener Akademie, phil.-hist.
Ol. Bd. V u. VI, 1854—55). Porter, Five years in Damascus, 2 Bde., 1855. Sepp,
Jerusalem (2. Aufl.) II, 358—335. Bädeker-Socin, Palästina, 3. Aufl. S. 307 ff.
(mit Plan u. Karte der Umgebung). Ebers und Guthe, Palästina in Bild
und Wort Bd. I (1883) S. 389-442 und 504. Le Strange, Palestine under
the Moslems (1890) p. 224—273. Sauvaire, Description de Damas {Journal
asiatique, Neurieme Sirie t. HI— VII, 1894 — 1896) [Übersetzung einer arab.
Quelle des 16. Jahrh.]. Ler/endre in: Vigouroux, Dictionnaire de la Bible II,
1213—1231. O. A. Smith in: Encyelopaedia Biblica ed. by Okeyne and Black I,
[117. 118] L Die hellenistischen Städte. 12. Damaskus. 151
zeugen außer den Nachrichten der Schriftsteller auch die daselbst
geprägten Münzen Alexanders219. Im dritten Jahrhundert vor Chr.
scheint Damaskus nicht, wie Phönizien und Palästina, den Ptole-
mäern, sondern den Seleuciden gehört zu haben. Zwar Ptolemäus IL
Philadelphia muß um 274 vor Chr. Damaskus besessen haben, sei
es, daß er es erst an sich gerissen oder schon von Ptolemäus I.
ererbt hatte (s. hierüber oben S. 97). Es wurde aber von Antio-
chus I. (280—261) erobert220 und blieb dann dauernd im Besitz
der Seleuciden. Bei dem großen Einfall Ptolemäus' III. in das
Reich der Seleuciden, 246 vor Chr., bei welchem ganz Syrien auf
einige Jahre dem Seleukus IL verloren ging, ist Damaskus nicht
einmal erobert, sondern nur belagert worden. Seleukus entsetzte
es, als er im Jahre 242/241 wieder siegreich nach Süden vor-
drang221. Indirekt wird die alte | Zugehörigkeit von Damaskus
987 ff. Benzinger in Pauly-Wissowas Real-Enz. IV, 2042 ff. The Jewish Ency-
clopedia IV, 1903, p. 415—420. Schwartz, Nachrichten der Göttinger Ges.
d. Wiss. 1906, ß. 366-369.
219) Ourtius m, 13. IV, 1. Arrian. II, 11, 9sq. 15, 1. Die Münzen bei L.
Müller, Numismatique d' Alexandre le Qrand p. 287 sq., planohes n. 1338 — 1346.
220) Polyaen. IV, 15: yAvxio%oq EeXevxov. 'Avzloxoq ßovXdpevoq XQazrjaai
danaoxov J}v £<pvXaooe diwv üzoXefialov Gzoazri'ybq, in^yyetXe zjj Organa xal
zy X^Qcl nday üegcix^v hogz^v xal &7tQoadoxijta)q imtpavelq algel
da[Aaox6v, dlwvoq oh öwrj&ivzoq ävzioxetv *Avziox<p naQÖvzi. Vgl. Droysen,
Gesch. des Hellenismus m, 1, 256. 274. Stark, Gaza 8. 366. 367. Niese,
Gesch. der griech. und makedon. Staaten II, 127 f. Bevan, The hause of
Seleucus I, 234. Hol scher, Palästina in der pers. u. griech. Zeit 8. 8. Beloch
und Lehmann an den oben An in. 6 genannten Stellen. — Während alle
Genannten die Erzählung Polyaens auf Antiochus I. beziehen, bezieht sie
Svoronos auf Antiochus den Gr. Die Buchstaben dl auf Pfcolemäer-Mönzen
deutet er auf den von Polyaen erwähnten Strategen Dion (s. Sßootovoq, Tä
vofilof/aza zod xgazovq zCbv UzoXefialiDV, 1904, Tl. I, S. af£'ff. Tl. II, S. 178
— 181), Aber wenn erst Antiochus d. Gr. bei seiner Eroberung Palästinas
Damaskus genommen hätte, müßte dies in der ausführlichen Erzählung des
Polybius erwähnt sein. Auch die in der folgenden Anm. (221) mitgeteilte
Notiz des Eusebius zeigt, dass Damaskus längst vor Antiochus d. Gr. seleu-
cidischer Besitz war.
221) Euseb. Ghron. ed Schoene I, 251 (armenischer Text, nach der Über-
setzung Petermanns): Ptlomaeus autem, qui et Tripfion, partes (rejtones) Sy-
riorum occupavü : quae vero apud {ad, contra) Damaskum et Orthosiam obsessio
fiebat, finem aecepit (accipiebat) eentesimae trieesimae quartae olompiadis anno
tertio, quum Seleukus eo descendisset (descenderit). — Olymp. 134, 3 ist = 242/241
v. Chr. — Vgl. Droysen HI, 1, 390. 393. Stark S. 369. 370 (Stark nimmt
nach Zohrabs Übersetzung des armenischen Textes eine wirkliche Einnahme
von Damaskus durch Ptolemäus an). Niese, Gesch. der griech. und makedon.
Staaten II, 145 ff. Bevan, The house of Seleucus I, 181 ff. Gorradi, Note
suüa guerra tra Tolemeo Evergete e Seleuco Callinico (Atti della R. Accademia
152 § 23- Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [118]
zum Seleucidenreich auch dadurch bestätigt, daß bei der Eroberung
Phöniziens und Palästinas durch Antiochus d. Gr., welche Polybius
(V, 61—71) ausführlich erzählt, zwar die Einnahme der wichtigsten
phönizischen und palästinensischen Städte, nirgends aber die von
Damaskus erwähnt wird. Als im Jahre 111 vor Chr. infolge des
Bruderkampfes zwischen Antiochus VIII. Grypos und Antiochus IX.
Kyzikenos das syrische Eeich sich spaltete und Antiochus Kyzi-
kenos im südlichen Teil sich festsetzte222, ist vermutlich Damaskus
die Hauptstadt seines kleinen Reiches geworden. Jedenfalls war
es um 95—85 vor Chr. wiederholt die Hauptstadt eines vom syri-
schen Reiche abgezweigten Reiches von Cölesyrien, zuerst unter
Demetrius Eukärus, eiueni Sohne des Antiochus Grypos (Jos. Antt.
XIII, 13, 4), dann unter Antiochus XII., ebenfalls einem Sohne des
Grypos (Antt. XIII, 15, 1). Antiochus XII. fiel in der Schlacht gegen
den Araberkönig; und Damaskus stand von nun an unter dessen
Herrschaft (Antt XIII, 15, 1—2. B. J. I, 4, 7-8) 223. Wie es scheint,
dauerte diese Herrschaft nicht bis zur Ankunft des Pompeius.
Denn zur Zeit der Alexandra um 70 vor Chr. unternahm deren
Sohn Aristobul einen Kriegszug nach Damaskus, angeblich um es
gegen Ptolemäus Mennäi zu schützen. Von der Herrschaft des
Araberköüigs ist hierbei nicht die Rede (Antt. XIII, 16, 3. B. J. I,
5, 3); überdies gibt es eine autonome Münze von Damaskus vom
Jahr 243 aer. Sei. = 70/69 vor Chr.224. Als Pompeius in Asien vor-
drang, wurde im südlichen Syrien vor allem Damaskus durch seine
Legaten besetzt (Ann. XIV, 2, 3. B. J. I, 6, 2). Seitdem gehörte
Damaskus zur römischen Provinz Syrien225. Zur Zeit des Cassius |
delle seienxe di Torino vol. XL, 1903, p. 805 — 826) [setzt ebenfalls mit Eusebius
die Belagerung von Damaskus 242/241 v. Chr.]
222) Euseb. Ghron. ed. Schoene I, 2(50.
223) Der Name des Araberkönigs, welcher den Antiochus Xu. besiegte,
wird nicht genannt (Antt. XDI, 15, 1. B. J. I, 4, 7). Gleich darauf heißt es
aber, daß Damaskus unter die Herrschaft des Aretas kam (Antt. XIII, 15, 2.
B. J. I, 4, 8). Es ist daher nicht wahrscheinlich, daß beide verschieden waren
(ersterer der Vorgänger des letzteren), wie Gutschmid will. S hierüber Bd. 1
Beilage II (S. 732).
224) Mionnäy Suppl. VIH, 193. De Saulcy, Numismatique de la Terre
Sainte p. 31 n. 9. Vgl. Gutschmid bei: Euting, Nabatäische Inschriften aus
Arabien (1885) S. 83.
225) llieronymus Comment. in Jesaj. c. 17 (Opp. ed. Vallarsi IV, 194): Mit
aestimani de Romana captivitatc praedici, quoniam et Judaeorum captus est po-
piduSy et DamascuSy cui imperabat Areta, similem smtinuit servitutem. — Die
Ansicht von Marquardt (Rom. Staatsverwaltung I, 405) und Mommsen
(Rom. Gesch. V, 476 f.), daß Damaskus bis zum J. 106 n. Chr. unter der Herr-
schaft der Araberkönige geblieben sei, stützt sich lediglich auf II Kor. 11, 32
und hat eine Reihe schwerwiegender, ja entscheidender Gründe gegen sich, vor
[119] 1. Die hellenistischen Städte. 12. Damaskus. 153
(44 — 42 vor Chr.) finden wir in Damaskus einen römischen Be-
fehlshaber Fabius (Antt. XIV, 11, 7. 12, 1. Bell. Jud. 1, 12, 1—2). Zur
Zeit des Antonius sind in Damaskus Münzen mit dem Bilde der
Kleopatra geprägt worden226. Komische Kaisermünzen von Da-
maskus gibt es bereits aus der Zeit des Augustus und Tiberius;
aus derselben Zeit jedoch auch noch autonome (ähnlich wie bei
Askalon). Auf beiden ist die seleucidische Ära angewandt, die
also in Damaskus herrschend blieb227. Aus der Zeit des Caligula
und Claudius gibt es keine Münzen, wohl aber wieder von Nero
an. Mit diesem Umstand ist die Tatsache zu kombinieren, daß
Damaskus zur Zeit, als Paulus von dort floh (wahrscheinlich zur
Zeit Caligulas), unter einem Statthalter (l&paQxtjs) des arabischen
Königs Aretas stand (II Kor. 11, 32 und dazu oben S. 108). Es hat
also damals vorübergehend dem Araberkönig gehört, sei es nun,
daß er es gewaltsam an sich gerissen oder durch kaiserliche Gunst
allem den, daß Damaskus, wenn auch vielleicht nicht von Anfang an, so doch
im ersten Jahrh. n. Chr., zur Dekapolis gehörte (Plin. Hist. Not. V, 18, 74).
Noch andere Gründe s. Bd. I. Beilage II (S. 7341 Gegen jene Ansicht auch :
Rohden, De Palaestina et Arabia provinciis Romanis 1835, S. 4 — 9. Gut-
schmid bei Eutin g, Nabatäische Inschriften 8. 85.
226) Mionnet V, 285. De Saulcy p. Msq. Forrer, Revue Beige de
Numismatique 1900, p. 28ßsq. Sßoowvog, Tä vofdcfJLaxa xov xodtovQ ttbv
UxoXeixalütv 1904, Tl. IT, S. 315. Letzterer gibt folgende Varietäten: 1. Kopf
der Kleopatra, Jahr EOS (276 aer. Sei. = 36 v. Chr.), 2. Kopf des Ptolemäus
Caesarion, Jahr ZOS (277 Sei. = 35 v. Chr.), 3. Kopf der Kleopatra, Jahr HS
(280 Sei. — 32 v. Chr.). Die von Früheren gegebene Jahreszahl EOS (275 — 37)
hält Svoronos für falsche Lesung statt EOS. Die Münzen beginnen also im
J. 36, d, h. in demselben Jahre, in welchem Kleopatra von Antonius das Reich
des Lysanias erhalten und darum eine neue Zählung ihrer Begierungsjahre
begonnen hat, s. oben Bd. I, S. 363.
227) S. überh. über die Münzen: Noris II, 2, 2 {ed. Lips.p. 87—93). Eckhel,
III, 329—334. Musei Sanclementiani Niimismata selecta Pars II lib, IV,
175— 17a Mionnet V, 283—297. Suppl. VIII, 193— 206. De Saulcy, p. 30— 56.
404. pl. II n. 1—10. Kenner, Die Münzsammlung des Stifts St. Florian
(1871) S. 167—170, Taf. VI, n. 7—8. Wrothy Catalogue of the greek coins of
Galatia, Cappadocia and Syria [in the British Museum] 1899, p. 282 — 288. —
Die Jahreszahlung begann in Damaskus nicht im Herbst, sondern im Früh-
jahr (Ideler, Handbuch der Chronologie I, 413, 437). Diese Modifizierung der
seleucidischen Ära, übereinstimmend mit derjenigen im I. Makkabäerbucho
(s. oben § 3, A), ist daher wahrscheinlich zu verstehen unter dem „Jahr
von Damaskus", welches auf Inschriften erwähnt wird (Rente archeologique,
troisüme Sirie t. IV, 1884, p. 267: xavä dauaaxov hovg &nz [689]; hierzu die
Erläuterungen von Clermont-Ganneau, wiederholt in dessen Recueild'archio-
logie Orientale 1, 1888, p. Ssqq. Schwartz, Nachrichten der Göttinger Gesellsch.
der Wissensch. phil-hist. Kl. 1906, S. 341, 353, 367, 385).
154 § 23« Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [119. 120]
erhalten hatte228. Daß in Damaskus auch eine Judengemeinde
war, ist schon aus dem Neuen Testamente bekannt (Actor. 9, 2.
II Kor. 11, 32). Wie zahlreich sie war, läßt sich daraus entnehmen,
daß die Zahl der beim Ausbruch des großen Krieges in Damaskus
ermordeten Juden 10000 oder nach einer anderen Angabe 18000
betragen haben soll (ersteres Bell. Jud, II, 20, 2, letzteres B. J. VII,
8, 7). Seit den | letzten Dezennien des ersten Jahrhunderts be-
gegnen uns damaszenische Truppen bereits in fernen Provinzen
des römischen Eeichs; die eohors I Flavia Damascenorum stand um
90—116 nach Chr. in der Gegend von Mainz und Wiesbaden229.
Seit Hadrian hat die Stadt den Titel ^tQojtoXiq, seit Alexander
Severus war sie Kolonie (nicht erst seit Philippus Arabs, wie noch
Eckhel annimmt), beides nach dem Zeugnis der Münzen 230. — Aus
der Zeit des Tiberius wird von einem Grenzstreit der Damaszener
mit den Sidoniern berichtet (Antt. XVIII, 6, 3), der namentlich darum
von Interesse ist, weil er uns zeigt, wie ausgedehnt diese Stadt-
gebiete waren: das Gebiet von Damaskus grenzte unmittelbar an
dasjenige von Sidon. — Obwohl Damaskus eine Binnenstadt war,
sind seine Kaufleute doch auch in weite Ferne gegangen; auf den
228) Letzteres ist wahrscheinlicher (so auch Gutschmid a. a. O. Willrich,
Beiträge zur alten Geschichte, herausg. von Lehmann und Kornemann, III,
1903, S. 299). Vgl. auch ßd. I Beilage H (S. 737). Ober den Titel i&väQzi$
s. oben S. 108. — Die Hypothese von Zahn (Neue kirchl. Zeitschr. 1904, S. 34
—41) und Schwartz (Nachrichten der Gott. Ges. d. Wiss. 1906, S. 367f.),
daß Damaskus auch zur Zeit des Paulus römisch gewesen sei und der Eth-
narch dem Paulus nur auf den Landstraßen vor der Stadt aufgelauert habe,
ist mit der Notiz II Kor. 11, 32 nicht vereinbar, denn diese setzt voraus, daß
derEthnarch die Stadt-Tore besetzt hielt, was nicht möglich gewesen wäre,
wenn das ausgedehnte Stadtgebiet von Damaskus außerhalb seiner Macht-
sphäre gelegen hätte. Die Apostelgeschichte (9, 24) schreibt freilich die
Bewachung der Stadt-Tore den Juden zu. Ihr Bericht ist aber gegenüber
dem des Paulus nicht maßgebend und auf alle Fälle ungenau.
229) Militärdiplom vom J. 90 n. Chr. zu Mainz (Ephemeris epigr. V,
652 50. = Corp. Inscr. Lat. t. TU Suppl. p. 1965), ein solches vom J. 116 zu Wies-
baden (Corp. Inscr. Lat. t. HE, 2 p. 870). Oberhaupt: Ephemeris epigr. V, 194.
— Ein enaQXoq onetgriq itQoixriq JafxaaxrjVibv kommt auf einigen ägyptischen
Urkunden vom J. 135 n. Chr. vor (Ägyptische Urkunden aus den konigl.
Museen zu Berlin, Griechische Urkunden Bd. I, 1895, Nr. 73, 2. 136, 22).
Wenige Jahre später, 139 n. Chr., stand diese coh. I Damascenorum (verschie-
den von der coh. I Flavia Dam.) in Palästina (Militärdiplom vom 22. November
139 n. Chr., Bevue biblique VI, 1897, p. 598 sqq. = Corp. Inscr. Lat. HL Suppl.
p. 2328, 70 (Dipl. CIX). — Mehr Material über beide Kohorten s. bei Cicho-
rius, Art. eohors in Pauly-Wissowas Real-Enz. IV, 279 f.
230) Ober den Titel fXTjtQÖTiohq s. Ecklid III, 331. Kuhn II, 192. Mar-
quardt I, 430.
[120. 121] I. Die hellenistischen Städte. 13. Hippus» 155
Inschriften von Delos begegnen uns schon im zweiten Jahrhundert
vor Chr. neben Sidoniern und Tyriern auch Damaszener281.
13. Hippus, °hjcoq1 ist eigentlich der Name eines Berges oder
Hügels, an welchem die gleichnamige Stadt lag282. Identisch
hiermit ist vermutlich das hebräische Susitha (arvcic), das in
rabbinischen Quellen öfters als heidnische Stadt Palästinas er-
wähnt wird283, desgleichen das bei arabischen Geographen vor-
kommende Susije284. Zur Bestimmung der Lage dienen folgende
Angaben: nach Plinius lag es am östlichen Ufer des Sees Gene-
zareth235, nach Josephus nur 30 Stadien von Tiberias286, nach
Eusebius und Hieronymus in | der Nähe eines Dorfes oder Kastelles
Afeka237. Nach diesen Daten hat man längst vermutet, daß die
Ruinen von el-Hösn auf einem Hügel am östlichen Ufer des Sees
Genezareth die Stätte des alten Hippus seien; 3/4 Stunden von da
liegt ein Dorf namens Fik, das mit dem alten Afeka identisch sein
wird 288. Ein Irrtum war es freilich, wenn man dabei die Namen
231) Bulletin de corresp. kellenique t. XVI, 1892, p. 159 n. 17 (Delos, Ver-
zeichnis von gewesenen Epheben, Ende des zweiten Jahrh. vor Chr.): ol i<pn-
ßevoavtEQ diovvoioq diovvolov UiSwviog, yAya&oxXi}q Avalov Jafiaaxrjvög, 0e6~
öwzog EvtjfjiiQOv Tvgtog. — Ibid. p. 161 n. 23: Mao&a dafitaoxrprf. — Wenn
Damaszener in Delos ihre Söhne am Epheben-Unterricht teilnehmen ließen,
müssen sie dort dauernd gewohnt haben. — Eine daiiaaxrivfi auch in Athen,
Corp. Inscr. AJttic. III, 2 n. 2406.
232) Ptolemaeus V, 15, 8 = Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 14, 6.
233) In der Tosephta Ohaloth XVIII, 4 (ed. Zuckermandel p. 616, 23) wird
Susitha neben Askalon erwähnt als Beispiel einer heidnischen, aber vom Lande
Israel „umschlungenen" Stadt. Sonst wird es öfters in Verbindung mit Tibe-
rias genannt. Vgl. Ligktfoot, Oenturia chorographica Matthaeo praemissa c. 77;
decas Marco praemissa c. 5, 1 {Opp. II, 226. 413). Neubauer, Geographie du
Talmud p. 238 — 240. Schlatter, Zur Topographie und Geschichte Palästinas
1893, S. 306 f.
234) Clermont-Ganneau, Oü etait Hippos de la Decapole? (Revue ar-
chiologique, Nouveüe Serie vol. XXIX, 1875, p. 362—369). Furrer, Zeitschr. d.
DPV. II, 74. Le Strange, Palestine wider the Moslems p. 472, 540.
236) Plinius V, 15, 71: in lacum . . Genesaram . . amoenis circumsaepium
oppidis, ab Oriente Juliade et Hippo.
236) Jos. Vita 65. Die Angaben des Josephus sind hier freilich sehr sche-
matisch: Hippus 30 Stadien von Tiberias, Gadara 60 Stadien, Skythopolis 120.
Dabei verfolgt er die Tendenz, die Entfernungen möglichst gering anzugeben.
Man darf es also mit seinen Zahlen nichts weniger als genau nehmen. —
Übrigens erhellt auch aus Josephus, daß das Gebiet von Hippus am See
gegenüber von Tarichea (Vita 31), in der Nachbarschaft von Gadara (Vita 9) lag.
237) Euseb. Onomast ed. Klostermann p. 22, Hieron. ibid. p. 23.
238) Die Lage von el-Hösn beschreibt bereits Burckhardt, Reisen in
Syrien I, 438. Genauer: Frei, Zeitschr. des DPV. IX, 1886, S. 126-133.
Schumacher, ebendas. S. 327—334 (mit genauem Plan Taf. VI). Kasteren,
156 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [121. 122]
el-Hösn (angeblich Pferd) und Hippos für identisch gehalten hat
Denn el-Hösn — eine im heutigen Syrien häufig vorkommende
Ortsbezeichnung — bedeutet „Festung" 289. Sachlich ist aber jene
Identifizierung sicher richtig; denn der alte Name hat sich noch
in der zwischen el-Hösn und Fik gelegenen Buinenstätte Susije
erhalten240. — Aus der Geschichte von Hippus ist nur wenig be-
kannt241. Alexander Jannäus eroberte es242. Durch Pompeius
erhielt es die Freiheit (Jos. Antt. XIV, 4, 4. B. J. I, 7, 7). Seitdem
gehörte es zur Dekapolis (Plin. \ Eist. Nat. V, 18, 74. Wegen Ptole-
maeus s. oben S. 149 f.). Von Augustus wurde es dem Herodes ver-
liehen (Antt. XV, 7, 3. B. J. I, 20, 3), nach dessen Tod aber wieder
vom jüdischen Gebiete getrennt {Antt. XVII, 11, 4. B. J. II, 6, 3).
Bei dieser Gelegenheit wird es ausdrücklich als griechische Stadt
bezeichnet (1. c). Beim Ausbruch der jüdischen Revolution wurde
das Gebiet von Hippus wie das von Gadara durch die Juden unter
Führung des Justus von Tiberias verwüstet (B. J. II, 18, 1. Vita 9).
Von seiten der Hippener wurde dies damit vergolten, daß sie die
in ihrer Stadt wohnenden Juden ermordeten oder ios Gefängnis
warfen (B. J. II, 18, 5). In der christlichen Zeit w5r Hippus Sitz
eines Bischofs243. Auf Münzen ist der Name der Stadt bis jetzt
ebendas. XI, 1888, S. 220—233. Daß hier das alte Hippus zu suchen sei, ist
bereits die Ansicht von Baumer S. 250. Ritter XV, 1, 352f. Furrer,
Zeitschr. d. deutschen Pal.-Vereins H, 73 f. Frei a. a. O. Andere identifi-
zierten el-Hösn mit Gamala und fanden Hippus entweder in Fik (so Merrill,
East of the Jordan, 1881, p. 163 — 169) oder in dem weiter südlich gelegenen
Sumra (so Guerin, Qalilie I, 310-312).
239) S. Clermont-Ganneau, a. a. O. S. 364. Guthe, Zeitschr. des
DPV. IX, 334 Anm.
240) Zuerst nachgewiesen von Schumacher, Zeitschr. d. DPV. IX, 1886,
S. 324. 349 f. Die Identität von Susije und Hippos ist seitdem anerkannt von
Clermont-Ganneau, Recue eritique 1886, Nr. 46, p. 388. Quarterly State-
ments 1887, p. 36—38. Kasteren, Zeitschr. des DPV. XI, 1888, S. 235—238.
Furrer, ebendas. XII, 148f. Kasteren, ebendas. XHI, 217f. Schlatter,
Zur Topographie und Geschichte Palästinas S. 305 ff. Buhl, Geogr. S. 244.
So gewiß aber in Susije sich der alte Name erhalten hat, so wird doch nicht
diese in der Ebene gelegene Buinenstätte, sondern das nahe dabei gelegene
el-Hösn die Lage der alten Stadt bezeichnen (so die Meisten; jetzt auch Ka-
steren, der früher el-Hösn mit Gamala identifizieren wollte). Ganz unmöglich
ist es, Susije mit Hippos und zugleich el-Hösn mit Gamala zu identifizieren.
Denn zwei so bedeutende Städte können nicht unmittelbar neben einander
gelegen haben.
241) S. Reland p. 821 sq.
242) Syncell. ed. Dindorf I, 559, nach einer von Joseph us unabhängigen
Quelle, s. oben § 10 s. fin. (I, 286).
243) Epiphan. kaer. 73, 26. Le Quien, Oriens christianus IH, 710 sq. Hie-
rocles Synecd. ed. Parthey p. 44. Die Notit. episcopat. ebendas. p. 144.
[122] I. Die hellenistischen Städte. 14 Gadara. 157
nur ein paarmal (auf Münzen aus der Zeit des Nero und Domitian)
nachgewiesen244. Mit Recht werden aber unserem Hippus von
den Numismatikern die Münzen mit der Legende 'Avxioxicov x&v
jiqoc, °Ijt(jtq>) xr\g isQ(äg) x(al) acilov zugewiesen. Sie haben, wie
es von Hippus zu erwarten ist, die pompeianische Ära. Auf den
meisten zeigt sich das Bild eines Pferdes245. Auf einer Grab-
schrift eines Gadareners, welche in Saflure, südöstlich von Susije
gefunden wurde, heißt Hippus aoyrj, ohne Zweifel als eine Stadt
griechischer Bildung (s. unten Anm. 262). Unter den Trümmern
von el-Hösn ist eine Inschrift in griechischen Versen gefunden
worden246. — Das Gebiet von Hippus wird erwähnt Vita 9. 31.
B. J. III, 3, 1. Am instruktivsten ist Vita 9: ifuiljiQrjai rag xe
raöaQTjvaiv xal 'fcjtrjvdiv xc&fiag, dt dtj fiefroQioi xrjg TißeQcaöog
ocal xr\g x&v Sxvd-onoXixmv yr\g kxvy%avov xeifievai. Man sieht
hieraus, daß die Gebiete dieser vier Städte so groß waren, daß
sie einen unter sich zusammenhängenden Komplex bildeten.
14. Gadara, riöapa. Die Lage Gadaras an der Stelle der
heutigen Kuinenstätte Om-Keis (Mkes), südöstlich vom See Gene-
zareth, ist schon von Seetzen (1806) erkannt worden und darf jetzt
als ausgemacht gelten247. Den Hauptanhaltspunkt bieten die
244) Die Münze aus der Zeit Neros ist mitgeteilt von Muret, Revue
Numismatique, troisüme sirie, t. I, 1883, p. 67 und pl. U n. 9. Sie zeigt auf
der einen Seite den Kopf Neros mit der Umschrift Avx. Kaia., auf der an-
deren ein Pferd mit der Umschrift InnipHov und der Jahreszahl AAP (131),
letztere nach der pompeianischen Ära. — Die Münze aus der Zeit Domitians
ist mitgeteilt von Imhoof- Blumer, Numismat Zeitschr. XVI, 1884, S. 293.
Sie hat auf der einen Seite den Kopf Domitians mit der Aufschrift dofuria.
Kaia.y auf der anderen ein Pferd mit der Aufschrift Innrjvanf, ohne Jah-
reszahl.
245) Noris III, 9, 5 (ed. Lips. p. 331—334). Eekhel ITT, 346*?. Musei
Sanclementiani Numismata selecta Pars II lib. IV, 87 — 89. Mionnet V,
319 sq. Suppl. VIII, 224. Leake, Numismata Eellenica (1854) p. 22. De Sauley
p. 344—347, pl. XIX n. 10—15. Wroth, Gatalogue of the greeh coins of Ga-
latia, Cappadocia and Syria [in the British Museum] 1899, p. 301. Macdonald,
CataL of the Hunterian coüection III, 222.
246) Revue biblique 1899, p. 24.
247) Seetzen, Reisen durch Syrien (herausg. v. Kruse, 4 Bde. 1854 — 59)
1.368 ff. IV,188ff. Burckhardt, Reisen in Syrien I, 426 ff. 434 ff. 537 f. (der
freilich Om-Keis für Qamala hält, aber von seinem Herausgeber Gesenius kor-
rigiert wird). Buckingham, Travels in Palestine, 1821, p. 414—440 (wie Burck-
hardt). Winer s. v. Gadara. Räumer S. 248 f. Ritter XV, 1, 371—384.
XV, 2, 1052 f. Sepp, Jerusalem II, 212—216. Bädeker-Socin 3. Aufl.
S. 198 f. GuSrin, Galilie I, 295— 308. Merrill, East of the Jordan (1881)
p. 145—158. Frei, Zeitschr. des DPV. IX, 1886, S. 135 ff. Schumacher,
Northern Ajlün, London 1890, p. 46—80 (genaueste Beschreibung der Ruinen
nebst Plan und Karte der Umgebung). Schumacher, Zeitschr. des DPV.
158 § 23« Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [123. 124]
warmen Quellen, um derentwillen Gadara berühmt war, und die
noch heute in dortiger Gegend sich finden 248. Sie liegen am nörd-
lichen Ufer des Scheriat el-Mandur; am südlichen Ufer, etwa eine
Stunde von den Quellen entfernt, findet man auf hohem Bergrücken
die Ruinen der Stadt Der Scheriat el-Mandur ist demnach iden-
tisch mit dem Hieromicesy welcher nach Plinius an Gadara vorbei-
floß249, — Gadara war schon zur Zeit Antiochus' des Gr. eine
bedeutende Festung, Antiochus eroberte es sowohl bei seinem
ersten Einfall in Palästina 218 vor Chr.250, als auch bei seiner
definitiven Besitzergreifung von Palästina nach der siegreichen
Schlacht bei Panias 198 vor Chr.261. Alexander Jannäus bezwang
Gadara erst nach | zehnmonatlicher Belagerung (Antt. XIII, 13, 3.
Ä J. I, 4, 2). Unter ihm und seinen Nachfolgern gehörte es also
XXII, 1899, S. 181 f. (über die fortgehende Zerstörung der Ruinen). 0. A.
Smith , Quarterly Statement 1901, p. 341. — Über die Bäder bei Gadara in-
sonderheit auch: Dechent, Zeitschr. des DPV. VII, 1884, S. 187—196. Schu-
macher, Zeitechr. des DPV. IX, 1886, 8. 294—301. Nötling, ebenda«. X,
1887, 8. 59—88. Kasteren, ebendas. XI, 1888, S. 239—241. — Für das Hi-
storische: Reland p% 773—778. Kuhn II, 365 f. 371.
248) Vgl. über die Lage Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 74: rddaga,
ndXiq Tttoav xov 'IoqS&vov, dvxixgi 2xv9o7t6Xe<aq xal TißsQidSoq ngbq ava-
xoXatq iv xfy ftgei, oh npdq xalq vncoQelaiq xä x(bv d-ep/jL&v vödxcjv
Xovxgd naodxeixai. — Ibid. p. 22: Alfidb .... xlo/jltj nXrjalov ratidootv
ioxlv 'Bftfjia&ä, %v&a xä xtbv beoniav i>ödxwv Seg/uä Xovxgd. — Ober die Bäder
s. bes. auch die Stellen aus Epiphanius, Antoninus Martyr und Eunapius (der
sie für die bedeutendsten nächst denen von Bajä erklärt) bei Reland p. 775.
Auch Origenes in Joann. Tom. VI, c. 24 (ed. Lommatxsch 1,239): rdSaga yäg
ndXiq (ih ioxi xijq 'lovSalaq, neol Jjv xd öiaßdrjxa öeofiä xvyxdveu — Der
Ort, wo die Quellen liegen, kommt auch im Talmud unter dem Namen hnan
vor. S. die Stellen bei Levy, Neuhebr. Wörterb. II, 69 f. Light foot, Cm-
turia Matthaeo praemissa e. 74 {Opp. II, 224 sq.). Hamburger, Real-Enzy-
klop. für Bibel und Talmud, n. Abt. Art. „Heilbäder". Grätz, Monatsschr.
für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1880, S. 487—495.
249) Plinius V, 18, 74: Gadara Hieromice praefluente. Die Form Hie-
romax, die noch immer in Handbüchern kursiert, beruht auf der falschen
Lesart Hieromace. Daß als Nominat. Hieromices anzunehmen ist, beweisen
die sonst vorkommenden Formen Heromicas (Tab. Peuting.) und Jeromisus
(Geogr. Racennas edd. Pinder et Parthey p. 85). Der einheimische Name ist
Jarmüky "JJW^, Mischna Para VIH, 10, u. arab. Geographen (s. Arnold in
Herzogs Beal-Enz. 1. Aufl. VII, 10. XI, 20. Le Strange, Palestine under the
Moslems p. 54 sq.). Qedrenvs ed. Bekker I, 746 hat xov noxafxov *Ie(>ttox&ä*
250) Polyb. V, 71. Stark, Gaza S. 381. Niese, Gesch. der griech. und
makedon. Staaten II, 378. — Polybius sagt bei dieser Gelegenheit von Ga-
dara: 8 öoxel x(bv xax' ixelvovq xovq xönovq ö%vq6xt]xi dia<p£oeiv.
251) Polyb. XVI, 39 — Joseph. Antt. XH, 3, 3. Stark S. 403. Niese
n, 579.
[124] I. Die hellenistischen Städte. 14. Gadara. 159
zum jüdischen Gebiete (Antt. XIII, 15, 4), wurde aber durch Pom-
peius wieder davon getrennt (Antt. XIV, 4, 4. B. J. I, 7, 7). Hierbei
ließ Pompeius die von den Juden (Alexander Jannäus?) zerstörte
Stadt aus Rücksicht auf seinen Freigelassenen Demetrius aus
Gadara wieder aufbauen (1. c.) 252. Seitdem gehörte es zur Deka-
polis (Plin. V, 18, 74. Wegen Plolemaeus s. oben S. 149 f.). Auf den
zahlreichen Münzen der Stadt, welche von Augustus bis Gordianus
reichen, ist daher stets die pompeianische Ära gebraucht, die sich
für Gadara genau berechnen läßt. Sie beginnt im Jahre 690 a. £/.,
so daß also Jahr 1 aer. Oadar. — 64/63 vor Chr. ist263. Das An-
denken an die Neugründung durch Pompeius ist außerdem auch
verewigt auf Münzen von Antoninus Pius bis Gordianus durch die
Legende üoiixTjiimv ra6a(>£cw2bi. Irrig ist die Meinung, daß unser
Gadara der Sitz eines der fünf von Gabinius errichteten jüdischen
Synedrien gewesen sei (s. oben § 13). Im Jahre 30 vor Chr. wurde
Gadara von Augustus dem Herodes verliehen {Antt XV, 7, 3. B. J. I,
20, 3). Mit dessen Kegiment war aber die Stadt sehr unzufrieden.
Schon im Jahre 23 — 21 vor Chr., als M. Agrippa in Mytiiene ver-
weilte, klagten dort einige Gadarener gegen Herodes (Antt. XV,
10, 2). Die Klagen wiederholten sich, als Augustus im Jahre 20
persönlich nach Syrien kam (Antt. XV, 10, 3). In beiden Fällen
wurden die Kläger abgewiesen. Hiermit hängt es wohl zusammen,
daß gerade aus dem Jahre 20 vor Chr. (44 aer. Oadar.) sich Münzen
von Gadara mit dem Bilde des Augustus und der Umschrift 2e-
ßacxoq finden: Herodes wollte dadurch, daß er diese Münzen in
Gadara prägen ließ, seine Dankbarkeit gegen den Kaiser beweisen260.
252) Demetrius begleitete den Pompeius auf seinen Feldzögen im Orient
und brachte eine ungeheure Beute mit. Bein Reichtum soll den des Pom-
peius noch Übertroffen haben. S. Pauly-Wissowas Beal-Enz. IV, 2802 f.
(Demetrius Nr. 50).
253) Ober die Ära und die Münzen s. Noris III, 9, 1 (ed. Lips. p. 297
— 308). Eekhel III, 348—350. Musei Sanolementiani Numismata selecta
Pars II lib. IV p. 130—141. Mionnet V, 323—328. Suppl. VIII, 227-230.
De Saulcy p. 294—303, pl. XV. Kenner, Die Münzsammlung des Stifts
St. Florian (1871) S. 171 f. Taf. VI n. 10. Wroth, Catalogue of the greek coins
of Oal. Capp. and Syria [in the Brit. Mus.] 1899, p. 304 sq. Schwartz, Nach-
richten der Göttinger Gesellsch. der Wissensch., phil.-hist. Kl. 1906, S. 358 f.
254) Da die Legende gewöhnlich abgekürzt geschrieben ist (TIo. oder
Tlofin. raöagecov), so ist die Lesung nicht ganz sicher. Die älteren Numis-
matiker geben für eine Münze Caracallas die Lesung nofxnrjaewv raöageiov,
de Saulcy dagegen (p. 302 u. pl. XV n. 9) IIo/iTiTjiewv raöaQewv, was wohl
das richtige ist.
255) Vgl. de Saulcy p. 295. Die Münzen bei Mionnet V, 323, Suppl.
vni, 227.
160 § 23* Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [124. 125]
Nach dem Tode des Herodes erhielt Gadara wieder seine Selb-
ständigkeit unter römischer Oberhoheit (Antt. XVII, 11, 4. B. J. II,
6, 3). Beim Beginn des jüdischen Aufstandes wurde das Gebiet
von Gadara wie das des benachbarten Hippus durch die Juden
unter Führung des Justus von Tiberias verwüstet (Ä J. II, | 18, 1.
Vita 9). Die Gadarener rächten sich, wie die Hippener, teils durch
Tötung teils durch Gefangensetzung der dort wohnenden Juden
(R J. II, 18, 5). Die römerfreundlichen Einwohner fühlten sich aber
auch so noch nicht sicher vor den unruhigen Elementen in der
eigenen Stadt und erbaten und erhielten darum in der späteren
Periode des Krieges durch Vespasian eine römische Besatzung
(B. J. IV, 7, 3—4) 2ö6. In welchem Sinne Josephus Gadara als
firiTQOJtoXiQ tjjq ÜBQalaq bezeichnen kann (B. J. IV, 7, 3), läßt sich
nicht näher ermitteln257. Auf Münzen, namentlich aus der Zeit
der Antonine, heißt es Is(qo) aö(vXo<;) a(vxovofioq) /(. . .?) Kol(Zrjg)
2vQ(lag) 2b*. Nach einer von Renan aufgefundenen Inschrift war
es in der späteren Kaiserzeit römische Kolonie 259. Die Notiz des
Stephanus Byz. (s. t;.), daß es auch 'Avuoxeta und JSsXevxeia ge-
heißen habe, steht vereinzelt da und bezieht sich wohl nur auf
256) Da im weiteren Verlauf der Operationen B. J. IV, 7, 4—6 lauter Orte
des südlichen Peräa genannt werden, so kann man fragen, ob B. J. IV, 7, 3
unser Gadara gemeint ist (Schlatter, Zur Topographie und Geschichte Pa-
lästinas 1893, S. 44 — 51 nimmt ein jüdisches Gadara im Süden Peräas an;
ebenso Guthe, Mitteilungen und Nachrichten des DPV. 1896, S. 5— 10. Buhl,
Geographie des alten Palästina 1896, S. 255. 263). Indessen die Bezeichnung
als fiijTQÖnoXig weist auf eine bedeutende, auch sonst bekannte Stadt. — Nach
Jos. Vita 15 könnte es scheinen, als ob auch Josephus als Befehlshaber von
Galiläa einmal Gadara mit Gewalt genommen hätte. Dort ist aber statt raöa-
getq, wie fast alle Handschriften haben, sicherlich zu lesen raßagetq, vgl. Vita
25. 45. 47; eine Handschrift hat c. 15 Tagaßeiq. Auch Bell. Jud. Hr, 7, 1 ist
statt raöagiotv zu lesen raßagiow, wie schon Paret (zu s. Übersetzung d. St.)
richtig bemerkt hat; ebenso Merrill (Quarterly Statements 1884, p. 237 — 240).
Vgl. über Gabara auch Oehler, Zeitschr. des DPV. XXVHr, 1905, S. 56-58.
— Endlich Antt. XIII, 13, 5 ist ebenfalls entweder die Lesart falsch oder
ein anderes Gadara gemeint. Die Lesart ist sehr schwankend.
257) Eckhel IH, 349 vermutet, daß es der Vorort einer Festgemeinschaft
zur Feier periodischer Festspiele war, in welchem Sinne allerdings firixQÖTioXiq
oft vorkommt,
258) S. bei de Saulcy bes. die Münzen von Commodus n. 2 (p. 301) und
Elagabal n. 5 (p. 303). — Das Prädikat le qül auch in einem Epigramm Me-
leagers, wo er von sich sagt: dv öeönaiq ¥jvöqo)06 TvQoq, raödgmv & legä
X&wv {Anthologia palatina VII, 419, ed. Jacobs 1. 1, p. 431). — Als nöXiq Koikqq
IvQiaq wird Gadara auch von Steph. Byxt s. v. bezeichnet.
259) Renan, Mission de Phinicie p. 191 = Corp. Inscr. Lat. t. III n. 181
(Grabschriffc zu Byblus): col(onia) Valencia) Gadara. — Dieselbe Inschrift,
nach einem Abklatsch Eutings, auch Corp. Inscr. Lat. t. III Supplem. n. 6697.
[125. 126] I. Die hellenistischen Städte. 14. Gadara. 161
vorübergehende offizielle, aber nicht in den. allgemeinen Gebrauch
fibergegangene Bezeichnungen. Daß es schon in vorchristlicher
Zeit eine blähende hellenistische Stadt war, ist vielfach bezeugt
Josephus bezeichnet es beim Tode des Herodes als xoXig 'EXlr/vls
(Antt. XVII, 11, 4 Ä J. II, 6, 3). Strabo erwähnt als berühmte
Männer, die aus Gadara stammten, den Epikureer Philodemus,]
den Epigrammendichter Meleager, den Cyniker und Satiriker
Menippus, endlich den Redner Theodorus. Aus späterer Zeit
sind noch hinzuzufügen der Cyniker Oenomaus und der Redner
Apsines260. Meleager sagt von sich, es habe ihn gezeugt „ein
attisches Geschlecht, wohnend im assyrischen Gadara**261. Auf
einer in Saffure, südöstlich von Susije (Hippus) gefundenen Grab-
schrift eines Gadareners Apion heißt Gadara xQWcoftowua2*2.
Grabschriften von Gadarenern sind auch in Athen gefunden
worden263. — Das Gebiet von Gadara bildete die Ostgrenze Galiläas
(Ä J. III, 3, 1). Über seine Ausdehnung vgl Vita 9 und oben S, 157.
Daß es bis an den See Genezareth reichte, ist nicht nur aus Ev.
Matth. 8, 28 (wo die Lesart schwankend ist) zu schließen, sondern
auch aus den Münzen, auf welchen öfters ein Schiff abgebildet ist,
ja einmal (auf einer Münze Mark Aureis) eine vav(ia(xla) erwähnt
wird 264.
260) Vgl. über alle diese Männer oben S* 54.
261) Anthologia palatina VII, 417, ed. Jacobs t. If p. 430 (ed. Dübner 1,
352, wo aber ohne Grund raödooiq in Tadaga geändert ist):
Näaoq ipiä &ginxeiQa Tvqoq' ndxQa 6i ps xexvot
Ax&lq iv Aaavoloiq vaiofiha Faödooiq.
262) Olermont-Ganneau, Ittudes dfareh&ologie Orientale tome II, 1897
(Bibltotheqfte de PScole des haute» Uudes fast. 113) p. 142. Eine andere, wie es
scheint weniger genaue Kopie auch in Palestine Exploration Fund, Quarterly
Statement 1897, p. 188 sq. (wo Nazareth als Fundort angegeben ist). Die ersten
vier Zeilen lauten: .
Vfv. uov naxfjQ Kolvxoq, ?jv ß^xtjQ <PiXovq*
T[d] öy oivofi iorlv 'Anelwv, naxqlq Si fiov
Kai näoi xoivJ}, rdöaoa /(^Gro^ottf«**
Ikxpfjq 6* &<p aImtov iaxlv ^ ft^xifq <PiXof>q.
Für xQ^opiovoTa (mit dieser Akzentuierung) schlägt Olermont-Qanneau, Re-
eueü d'archiol. Orient. II, 1898, p. 399 die Erklärung aux belies mosaiques vor;
es ist aber wohl » ville lettrie, eine Stadt, in welcher Poesie und Rhetorik
gepflegt werden, im Unterschied von Wissenschaft und Philosophie (so Per-
drixet, Revue archSol. trois. S6rie t. 35, 1899, p. 4Qsq.).
263) Oorp. btscr. Attie. III, 2, n. 2400. 2401.
264) Über letztere vgl. bes. Eekhel III, 348s?. Ein Schiff auf den Ab-
bildungen bei de Saulcy pl. XV n. 9—11. — Naumachien sind allerdings auch
in Amphitheatern gehalten worden. Doch findet sich von einem solchen in
Gadara keine Spur.
Sohürer, Geschichte II. 4. Aufl. 11
162 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [126. 127J
15. Abila, "AßiXa. Der Ortsname Abel (bn«) oder Abila ist
in Palästina sehr häufig. Eusebius kennt allein drei Orte dieses
Namens, die durch Weinbau berühmt waren: 1) ein Dorf im süd-
lichen Peräa, 6 mü. pass. von Philadelphia, 2) eine xoliq kxlat)fio$
12 mü. pass. östlich von Gadara, 3) einen Ort zwischen Damaskus
und Paneas265. Von diesen interessiert uns hier näher die an
zweiter | Stelle genannte Stadt östlich von Gadara. Die Lage
derselben, am südlichen Ufer des Scheriat el-Mandur, ist ebenfalls
wie diejenige Gadaras durch Seetzen entdeckt worden266. Plinius
erwähnt dieses Abila nicht unter den Städten der Dekapolis. Seine
Zugehörigkeit zu derselben ist jedoch bezeugt durch eine Inschrift
aus der Zeit Hadrians267. Auch steht bei Ptolemäus neben den
Städten der Dekapolis ein "Jßiöa, womit wohl unser "AßiXa gemeint
ist 268. In der Geschichte kommt es zuerst vor zur Zeit Antiochusr
des Großen, der Abila wie das benachbarte Gadara sowohl bei
der ersten als bei der zweiten Eroberung Palästinas (218 und 198
265) Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 32: 'AßeX äfjinsXwvimv. h&a
SnoXifitjoev *le<p&aL yrjJQ vltbv *A(i(iü>v. xal ftmv elq hxi v$v xwfitj dfuieXotpogog
*AßsX& änb e orj/uelwv tfiXaSeXflag, xal &XXrj nöXtg htlar^fiog *AßeXä olvoipdoog
xaXov(ikvri , öieoruyoa raöaowv orj/xelou; iß xotg nodg ävaxoXalg, xal xqIxtj reg
avxij 'AßeXa xfjg 4>oivixrjg pexagv dapaoxov xal Davedöog.
266) Seetzen, Reisen durch Syrien (herausg. v. Kruse) I, 371. IV, 190 f.
— Vgl. sonst: Burckhardt, Reisen in Syrien I, 425. 537. Raumer S. 241.
Ritter XV, 2, 1058 — 1060. Die genaueste Beschreibung gibt Q. Schumacher,
Abila of the Decapolis, London 1889 (Beilage zum Quarterly Statement des
Palestine Exploration Fund, July 18S9). Dazu: Schumachers Karte des Ost-
jordanlandes Bl. II (Zeitschr. des DPV. XX, 1897). — Für das Historische:
Ret and p. 525 sq. Kuhn II, 335. 371 f. Geiz er in seiner Ausg. des Georgias
Oyprius 1890 p. 193.
267) Corp. Jhscr. Grase, n. 4501 = Le Bas et Waddington, Inscriptions
t. III, 2 ». 2631 — Dittenberger, Orientis graeci inscr. sei. n. 631 — Inscriptiones
graecae ad res romanas pertinentes t. III ed. Oagnat n. 1057 (Inschrift zu
Taiyibeh, zwei Tagereisen nordöstlich von Palmyra, jetzt im britischen Museum
zu London, datiert vom J. 445 aer. Sei. «= 133/134 nach Chr.): yAya9dvysXo$
^AßiXtjvbq xrjg AtxanöXeog. — Über den palmyrenischen Paralleltext, in welchem
der Name DhniK ohne Angabe der Heimat steht, s. Levy, Zeitschr. der
deutschen morgenländ. Gesellsch. Bd. XV, 1861, S. 615—618. — Beide Texte
auch in: The Palaeographical Society vol. I Tafel 176 und Oriental Series Tafel
75 (vorzügliche Photographie), Lidzbarski, Handb. der nordsemit Epi-
graphik S. 477.
268) Ptolem. V, 15, 22. Auch der Kodex von Vatopedi hat hier "Aßiöaf
s. Geographie de Ptol&mie, reproduetion photolithogr. du manuscrit grec du mo-
nastere de Vatopedi (Paris 1867) p. LVII lin. 4. In der Didotschen Ausg.
(I, 2, Paris 1901) V, 14, 18 haben C. Müller und Fischer "AßiXa durch Kon-
jektur in den Text gesetzt.
[127. 128] I. Die hellenistischen Städte. 15. Abila. 16. Raphana. 163
vor Chr.) einnahm 269. Überhaupt scheint es häufig die Schicksale
Gadaras geteilt zu haben. Wie dieses, so wurde auch Abila durch
Alexander Jannäus erobert270; beide erhielten durch Pompeius die
Freiheit Denn die Münzen Abilas mit der pompeianischen Ära
werden mit Recht unserem Abila zugeschrieben271. Auch die Titel
der Stadt sind genau dieselben wie die von Gadara: Kbqo) a(cvXog)
a{vz6vofiog) y(. . . ?) Kol(Xrjg) 2v(Qla<£). Aus den Münzen geht hervor,
daß die Stadt auch HeXsvxsia hieß: die Einwohner nennen sich
SeXevxeig 'AßiXrjvol212. Zur Zeit Neros wurde Abila dem Agrippa IL |
verliehen273. Im sechsten Jahrhundert nach Chr. werden christ-
liche Bischöfe von Abila erwähnt, die mit ziemlicher Sicherheit
unserem Abila zugewiesen werden können274.
16. Raphana, nicht zu verwechseln mit dem syrischen KPaq>a-
vsia in der Cassiotis, wird nur von Plinius (V, 18, 74) erwähnt276.
Wahrscheinlich ist aber damit identisch das im 1. Makkabäerbuch
erwähnte 'Pcupcbv (I Makk. 5, 37 = Jos. Äntt. XII, 8, 4), das nach dem
Zusammenhang der dortigen Erzählung (vgl. 5, 43) in der Nähe
von Earnaim lag. Auch die Lage der letzteren Stadt ist jedoch
269) Pblyb. V, 71 und XVI, 39 — Jos. Antt. Xu, 3, 3.
270) Synceüus ed. Dindorf I, 559. Vgl. oben Anm. 242.1
271) 8. über dieselben bes. Belley in den Mimoires de PAcadSmie des In~
scriptum* et Belies- Lettre* , alte Serie t. XXVIII, 1761, p. 557—567. Eckhel
III, 345 sq. Musei Sanclementiani Nwnismata seleeta Pars IL lib. IV, p. 1—3.
Mionnet V, 318. Suppl. VIII, [223 sq. De Saulcy p. 308—312, pl. XVI
n. 1—7.
272) Dies laßt sich jetzt konstatieren auf Grund einer von de Saulcy mit-
geteilten Münze der Faustina jun. (de Saulcy p. 310 und planche XVI n. 2).
Die früher bekannten Münzen geben entweder abgekürzt Se. lAßiXTjvanr, oder
(eine schadhafte der Faustina) . . tevx. AßiXa$f was man einerseits Seßaatiov,
andererseits Aevxaöoq ergänzte, beides irrig, wie sich nun zeigt.
273) Beä. Jud. II, 13, 2. In der Parallelstelle Antt. XX, 8, 4 erwähnt Jo-
sephus Abila nicht — Übrigens sind Antt. XII 3, 3 und Bell. Jud. II, 13, 2
die einzigen Stellen, an welchen unser Abila von Josephus erwähnt wird. Denn
Antt. IV, 8, 1; V, 1, 1; Bell. Jud. IV, 7, 6 ist ein anderes Abila gemeint, in
der Nähe des Jordans gegenüber von Jericho, nicht weit von Julias-Linas,
welches mit keinem der drei von Eusebius erwähnten Orte gleichen Namens
identisch ist. Wiederum verschieden ist das bekannte Abila Lysaniae. Und
auch damit ist die Zahl noch keineswegs erschöpft S. Win er RWB. s. v.
Abel
274) Le Quien, Oriens christianus m, 702 sq. Vgl. Hierocles Synecd. ed.
Parthey p. 44. Die Notit. episcopat. ebendas. p. 144.
275) Über das syrische Raphaneia s. Jos. Bell Jud. VII, 1, 3. 5, 1.
Ptolem. V, 15, 16 — Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 14, 12. Tab. Peuting.
Hierocles ed. Parthey p. 41. Steph. Byx. s. v. Eckhel m, 323. Mionnet
V, 268. Suppl. VIII, 185. Paulys Enz. s. v. Ritter XVII, 1, 940 f.
11*
164 § 23. Verfassung, Synedrium. Hohepriester. [128. 129]
aicht bekannt276. — Da Ptolemäus den Namen Kaphana bei den
Städten der Dekapolis nicht hat, so ist die Stadt bei ihm wahr-
scheinlich unter anderem Namen aufgeführt; alle näheren Ver|-
mutungen hierüber schweben aber in der Luft, auch die von Quandt,
daß Baphana mit dem bei Ptolemäus (V, 15, 22) und sonst seit dem
zweiten Jahrhundert nach Chr. öfters erwähnten Capitolias iden-
tisch sei277.
17. K an ata? Eine Stadt dieses Namens im Unterschied von
Kanatha = Kanawat hat Waddington auf Grund der Inschriften
nachzuweisen versucht278. Auf einer Inschrift zu el-Afine (am
westlichen Abhänge des Hauran, nordöstlich von Bostra) wird ein
276) Im masorethischen Text von Gen. 14, 5 wird ein Astaroth-Karnaim
erwähnt, das man mit Astaroth, der Residenz des Og von Basan, und mit dem
Karnaim des 1. Makkabaerbuches zn identifizieren pflegt. Da aber bei den
LXX Gen. 14, 5 verschiedene Handschriften k<rrapu>$ xal Kagvaiv haben, und
da sonst nur einerseits Astaroth und andererseits Karnaim vorkommt, so haben
K u e n e n ( Verslagen en Mededeelingen der koninkl. Akademie van Wetenschappen,
Afd. Letterkunde, derde reeks vijfde deel 1888, p. 183 = Gesammelte Abhand-
lungen, übers, von Budde 1894, S. 207) und Buhl, (Zeitschr. des DPV. XIII,
1890, S. 42) beide Städte fu> verschiedene erklärt. Später hat Buhl mit
Nestle (Zeitschr. des DPV. XV, 1892, S. 256) die Lesart Uora^ba- xal
KaQvaiv verworfen und sich wieder für Identität von Karnaim mit Astaroth
Karnaim erklärt (Buhl, Studien zur Topographie des nördlichen Ostjordan-
landes, Leipzig 1894, S. 13—17). Gegen die Lesart mit xal auch: Moore,
Journal of Biblical Literature 1898 p. 155 sqq. Baudissin, Theol. Litztg.
1899, 105 (in der Anzeige von Nowacks Kleinen Propheten). Ebenso Höl-
scher, Zeitschr. des DPV. XXIX, 1906, S. 142—146, der aber trotzdem Asta-
roth und Karnaim für zwei verschiedene Orte hält. — Unsichere Vermutungen
über die Lage von Baphon und Karnaim bei Furrer, Zeitschr. des DPV.
XIII, 198. 199. Buhl, Geogr. des alten Palästina S. 248 ff. Driver und
Etoing in Hostings1 Diciionary of the Bibie I, 1898, p. 166—167. O. A. Smith
in: Encyclopaedia Biblica I, 335*?. Hölscher, Zeitschr. des DPV. 1906,
S. 143 f. 150 f. Dazu Fischers Karte der Haurangegend, Zeitschr. d. DPV- XII.
277) Quandt, Judäa und die Nachbarschaft im Jahrh. vor und nach der
Geburt Christi (1873) S. 40 f. — Capitolias lag (nach der Tab. Peuting.)
16 m. p. von Adraa, und letzteres nur 6 m. p. von Astaroth (Euseb. Onomast,
ed. Klostermann p, 12). Da nun Baphon in der Nähe von Karnaim lag, so würde
sich unter der Voraussetzung, daß Astaroth und Karnaim identisch sind, auch
ein gewisser Anhaltspunkt für die Identität von Capitolias und Baphon er-
gehen. — Über Capitolias s. § 21, I (Bd. I, S. 651 £).
278) Le Bas et Waddington, Inscriptions grecques et latines t. III, Er-
läuterungen zu n. 2296. 2329. 2412<*. — Ihm stimmten bei: De Saulcy, Nu-
mismatique de la Terre Sainte p. 399 sqq. Reichardt, Wiener Numismat.
Zeitschr. 1880, S. 68 ff. Marquardt, Bömische Staatsverwaltung I, 395
Anm. 17. Bonden, De Palaestina et Arabia provinciis Romanis, Berol. 1886,
p. 9 sq. Clermont-Ganneau, Revue archeologique trois. Serie U IV, 1884,
p. 266.
[120. 180] I. Die hellenistischen Städte. 17. Kanata? 165
ayoyybq vöaxcov 6lög>eQO(idva>v elq Kavaxa erwähnt, welchen Cor-
nelius Palma, der Statthalter Syriens zur Zeit Trajans, erbaut
hat279. Diese Wasserleitung kann nicht nach Kanawat geführt
-haben, da dieses höher liegt als el-Afine und selbst reichlich mit
Wasser versorgt ist280. Das Kanata, wohin die Wasserleitung
fahrte, findet Waddington vielmehr in dem heutigen Kerak (in der
Ebene, genau westlich von es-Suweda), weil dort auf einer von
Wetzstein gefundenen Inschrift zu lesen ist: Aä fisyiox[q>] Kavar
xr\v&v 6 [drjfiog]2*1. Von der einstigen griechischen Kultur dieses
Ortes geben auch noch andere Inschriften Zeugnis282. Auf einer
wird ein ßovlevTTJg erwähnt283. Auf einer anderen aus der Mitte
des dritten Jahrhunderts nach Chr. bezeichnet sich der Ort als
xcifirj 284. Wenn hiernach Kanata = Kerak und Kanatha = Ka|-
nawat zu unterscheiden wären, so würde ersteres auch gemeint
sein auf einer Inschrift, auf welcher sich ein yalrjg ky Kavaxmv
avrjQ dyaüog xs 6a6<pQa>v nennt285, und auf den Münzen mit der
Aufschrift Kavaxrjvcop2**. Die Münzen haben die Ära des Pom-
peius. Sicher nachweisbar sind nur solche aus der Zeit des Claudius
und Domitian287. Es würde also keine Schwierigkeiten machen,
279) Le Bas et Waddington t. HI n. 2296 «- Dittenberger, Orientis
graeei insor. sei. n. 618.
280) Vgl. die Karte der Hauran-Gegend von Fischer, nach Stübels
Messungen und anderen Quellen entworfen, in der Zeitschr. des deutschen
Palästina-Vereins Bd. Xu, 1889.
281) Wetzstein, Ausgewählte griechische und lateinische Inschriften
(Abhandlungen der Berliner Akademie 1863, philol.-histor. Klasse) n. 185 «*
Waddington n. 2412d = Dussaud et Macler, Voyage archeologique, 1901,
p. 198.
282) Wetzstein n. 183—186 — Waddington n. 2412d— 2412g.
283) Wetzstein n. 184 — Waddington n. 2412e.
284) Wetzstein n. 186 — Waddington n. 2412*.
286) Gleichzeitig mitgeteilt von Mordtmann, Archäol.-epigr. Mittei-
lungen aus Österreich-Ungarn VIII, 1884, 8. 182, und von Olermont-Gan-
neau, Bevue arehiol. trois. Sirie t. IV, 1884, p. 265 (mit Faksimile S. 281);
von demselben auch in Beeueil cParckeologie Orientale t. I, 1888, p. 7. Die In-
schrift wurde zu Lebkaa in Batanäa, an der großen Pilgerstraße von Damas-
kus nach Mekka, zwischen el-Kutebe und Dilli, gefunden.
286) Belley in den Memoires de l'Academie des Inscr. et Beiles- Lettres,
alte Serie t XXVIII, 568 sqq. — Eekhel III, 347. — Mionnet V, 321. SuppL
VIII, 225. — De Saulcy p. 399 sq. pl. XXIII n. 8—9. — ßeichardt in der
Wiener Numismatischen Zeitschrift 1880, 8. 68—73. — Wroth, Oatalogue of
the greek coins of Oalatia, Cappad. and Syria (in the Brit. Mus.) p. 302.
287) Mionnet Suppl. VIII, 225 gibt eine Münze des Maximinus, die
aber gar nicht Kanata, sondern Askalon angehört (s. de Saulcy S. 206). De
Saulcy und Reichardt geben je eine Münze Elagabals, deren Lesung je-
doch sehr unsicher ist.
166 §. 23. Verfassung. Svnedrium. Hohepriester. [180. 131]
daß auf einer Inschrift zu Kerak ans der Mitte des dritten Jahr-
hunderts nach Chr. nach der Ära der Provinz Arabien (vom Jahre
106 nach Chr.) gerechnet wird288.
Die Unterscheidung von Kanata = Kerak und Kanatha — Ka-
nawat ist aber trotz der von Waddington angeführten Gründe
nicht haltbar. Vor allem ist, wie Mordtmann hervorgehoben hat,
der Unterschied in der Orthographie bedeutungslos, da auch bei
anderen Namen die Schreibung mit r und & wechselt289. Dazu
kommt, daß in unmittelbarer Nähe von Kerak, nämlich in D6r-
Chulef, von Seetzen auf einer Inschrift die Worte Kava^r\vA{v fj]
xoXig hcriCBv gelesen worden sind290. Hiernach könnte man ge-
neigt sein, alle Angaben der alten Schriftsteller über Kanatha
auf | Kanata = Kerak zu beziehen291. Dem stehen aber, wenigstens
bei einigen derselben, die gewichtigsten Gründe entgegen (s. hier-
über unten bei Nr. 18). Es bleibt also nur übrig, entweder zwei
Orte namens Kanatha zu unterscheiden 292, was bei ihrer relativen
Nähe doch sehr unwahrscheinlich ist, oder alle Angaben über
Kanata und Kanatha auf Kanawat zu beziehen. Letzteres ist
möglich unter der Voraussetzung, daß das Gebiet dieser Stadt sich
bis nach Kerak und Der Chulef erstreckt hat Dann können die
Behörden von Kanawat sehr wohl an diesen Orten Weihgeschenke
gestiftet und Gebäude errichtet haben, und es kann von el-Aflne
eine Wasserleitung elg Kavaxa, d. h. in das Gebiet von Kanawat,
geleitet worden sein. Da die Annahme einer so großen Ausdehnung
des Stadtgebietes keine Bedenken gegen sich hat, so scheint es mir
nicht fraglich, daß diese Lösung des Problems die richtige ist293.
288) Wetzstein n. 186 — Waddington n. 2412', und dazu Waddingtons
Erläuterungen.
289) Mordtmann, Archäol.-epigr. Mitteilungen aus Österreich-Ungarn
VIII, 183.
290) Seetzen, Reisen durch Syrien Bd. I, 1854, S. 64 «=* Corp. Inser.
Oraec. n. 4613 = Wadding ton n. 2331*. Die Inschrift ist von Seetzen nicht,
wie im Corp. Inser. und bei Waddington irrtümlich angegeben ist, in Kanawat
gefunden worden, sondern in Der Chulef (wie aus dem Zusammenhang bei
Seetzen I, 64 zweifellos erhellt, vgl. auch die Bemerkungen Kruses in Seetzens
Reisen IV, 40). Der Chulef liegt aber nahe bei Kerak, nach Wetzstein
nur zehn Minuten davon entfernt, also noch näher als auf den Karten an*
gegeben zu werden pflegt (Zeitschr. für kirchl. Wissen seh. und kirchL Leben
V, 1884, S. 126 Anm.).
291) So Hildesheimer in seiner sorgfaltigen Erörterung über das rab-
binische rop (Beiträge zur Geographie Palästinas, Berlin 1886, S. 49-51). Wie
es scheint auch Wetzstein a. a. O. Beide beziehen nur die Angaben über
Kanotha auf Kanawat
292) So Mommson, Romische Geschichte V, 474.
293) Von Kanawat bis Kerak sind in der Luftlinie 25 Kilometer (nicht
[131. 182] L Die hellenistischen Städte. 18. Kanatha. £67
18. Kanatha. Am westlichen Abhänge des Haurangebirges
liegt gegenwärtig der Ort Kanawat, dessen Ruinen zu den be-
deutendsten des Ostjordanlandes gehören. Zahlreiche Inschriften,
wohlerhaltene Reste von Tempeln und anderen öffentlichen Gebäuden
beweisen, daß hier einst eine bedeutende Stadt gelegen hat; und
zwar weisen Inschriften wie Ruinen auf die ersten Jahrhunderte
der römischen Kaiserzeit. Die Ruinen sind seit Beetzens erstem
flüchtigen Besuche oft beschrieben worden 294. Die Inschriften hat |
am vollständigsten Waddington gesammelt295. Die Namensform läßt
zunächst keinen Zweifel darüber, daß hier das auf Inschriften und
bei Schriftstellern vorkommende Eanautha oder Kanotha zu
suchen ist296. Aber auch die Angaben über Kanatha sind wohl
ganz 37a deutsche Meilen). Ein solcher Durchmesser für ein Stadtgebiet ist
durchaus nicht ohne Beispiel (vgl. die Bemerkungen am Schlüsse der Artikel
über Damaskus, Hippus, Skythopolis, Gerasa, Philadelphia, Sebaste). Auf
eine große Ausdehnung des Gebietes von Kanatha deutet die Existenz mehrerer
cohortes Canathenorum. Die Formel el$ Kavaxa kann aber sfchr wohl heißen:
„in das Gebiet von Kanata". Vgl. das unten bei Tiberias (Nr. 33) aus
Stephanu8 Byx. mitgeteilte Material (KaatvLOv, Bqos iv k<miv6<i> xrj<; Ilapigw-
Xlac. usw.). — Für die Identität von Kanata und Kanatha auch: Wroth, Catal.
p. LXXXIV. Mendel, Bulletin de corresp. hellenique XXIV, 1900, p. 276.
294) Seetzen, Reisen durch Syrien (herausg. von Kruse) I, 78 ff. IV, 40 f.
51 ff Burckhardt, Reisen in Syrien 1,157 ff. 504 f. Ritter, Erdkunde XV,
2, 931—939. Porter, Five years in Damascus, 1855, II, 89—115 (mit Plan).
Bädeker-Socin, Palästina 3. Aufl. S. 207 f. (mit Plan). Merrill, East of
the Jordan (1881) p. 36 — 42. Ansichten der Ruinen bei Laborde, Voyage en
Orient, Paris 1837 [—1845], livraison 21— 22, 26; Bey, Voyage dam le Haouran
et aux bords de la mer morte exicutS pendant les annies 1857 et 1858 (Paris
s. a.), Atlas pl. V— VIII [pL VlfcPlan]. De Vogüi, Syrie centrale, ArchU
tecture civile et religieuse I p. 59 sq. pl. 19 — 20. Butler, Architecture and other
Aris (Part II of the Publications of an American archaeological expedition to
Syria) 1904, p. 351—361, 402-405, 407 sq.
295) Le Bas et Waddington, Inscriptions t. III, n. 2329—2363. Vgl.
auch: Inscriptiones graecae ad res romanas pertinentes t. III ed. Oagnat n.
1223—1236. Ältere Mitteilungen: Corp. Inscr. Qraec. n. 4612—4615. Wetz-
stein, Ausgewählte Inschriften (Abhandi. der Berliner Akad. 1863) n. 188 — 193.
— Einiges auch in: American Journal of philology vol. VI, 1885, p. 211 sq.
Mitteilungen und Nachrichten des DPV. 1899, S. 84 f.
296) Eine AigrjXla 'Aozdvtj Kavav&rjvtf auf einer Inschrift zu Bostra (mit-
geteilt von Allen, American Journal of philology VI, 1885, p. 208 «=» Inscr.
gr. ad res rom. pertinentes III n. 1334). — Ein ßovkevtfc noXirijs te Kav<oS'al[co]v
i[ . . ] ZvqItjq auf einer in der Nähe von Trevoux in Frankreich aufgefundenen
Inschrift (s. unten Anm. 305). Derselbe wird seiner Heimat nach als 'AS-ei-
Xtjv6q bezeichnet; das Dorf Atil existiert noch heute in der Nähe von Kana-
wat. — Ein "A^ay n6\zw<; . . . Kavu&a auf der Insel Thasos (Bulletin de cor-
resp. hell. XXIV, 1900, p. 275 — Revue arcMol XXV, 1873, p. 41 — Inscr. gr.
ad res rom. pertinentes I ed. Gagnat n. 839). — Kanotha bei Schriftstellern:
168 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [132. 133]
Bämtlich, einige davon sicher, auf Kanawat zu beziehen297. Im
Alten Testament wird ein paarmal ein nsp im Ostjordanland er-
wähnt (Num. 32, 42. I Ckron. 2, 23); dasselbe auch in einer rabbi-
nischen | Erörterung über die Grenzen Palästinas 298. Auch dieses
wird man mit Kanawat identifizieren dürfen 2". — Abgesehen von
den alttestamentlichen Stellen läßt sich die Geschichte Eanathas
nicht weiter als bis in die Zeit des Pompeius zurückverfolgen: es
hat auf Münzen die pompeianische Ära300 und wird von Plinius
Hierocles ed. Parthey p. 46 (Kavo&d), Notüia episeopai. ebenda«, p. 92 (Kavo-
#ac), Akten des Konzils von Ohalcedon bei Le Quien, Oriens christ. II, 867
Igen. Kava&as). — Über die heutige Namensform Kanawat s. Wetzstein,
Reisebericht über Hauran und die Trachonen (1860) S. 77 f.
297) Die Peutingersche Tafel verzeichnet eine Straße von Damaskus süd-
lich über Aenos nach Chan ata. Aenos ist wahrscheinlich Phaena « Mismie.
Ohanata aber kann nur Kanawat sein, denn die noch heute nachweisbare Rö-
merstrsße von Damaskus nach Bostra führt ganz nahe an Kanawat vorbei.
Auch die Distanz- Angaben stimmen (von Aenos nach Ohanata 37 mtl. pass.;
die Entfernung in der Luftlinie von Mismie bis Kanawat betragt 33 m. p). —
Durch mehrere Inschriften ist eine cohors prima Flavia Canathenorum be-
kannt {Renier, Insor. de P Algerie n. 1534 u. 1535 — Corp. Inser. Lot. t. VIII
n. 2394. 2395, ibid. Suppl. n. 17904, Militärdiplom zu Regensburg vom J. 166
n. Chr. in: Ephemeris epigr. II, 462 =- Oorp. Inser. Lot. t. III Suppl. p. 1991;
Ziegel der coh. I Can. in der Gegend von Regensburg und Straubing: Corp.
Inser. Lot. II [ n. 6001. 11992; vgl. überh. Cichorius in Pauly-Wissowas Real-
Enz. IV, 267). Eine Stadt, in deren Gebiet eine Kohorte ausgehoben werden
konnte, muß eine sehr bedeutende gewesen sein, was wiederum mit Notwen-
digkeit auf Kanawat führt. — Eusebius, Onomast. ed. Klostermann p. 112 er-
wähnt: Kavd&t x&fjtTj trjq Agaßla<;> slq hi [Kava&a] xaXovfihrj . . . xelzai 6h
eis en xal vvv kv Tgaz&vi nXrjolov BSotqcdv. Auch dies stimmt zu der Lage
von Kanawat. Ebenso die Notiz des Stephanus Byx. Lex. s. v. Kava&a* nöXiq
nobq t$ Bdoroq 'Agaßlag. Dann aber werden auch die übrigen Angaben über
Kanatha hierher zu ziehen sein : Plinius V, 18, 74. Ptolem. V, 15, 23 (Didotsche
Ausg. V, 14, 18). Josepkus B. J. 1, 19, 2. Die Form Kanatha auch auf Münzen
(s. unten) und Inschriften {Waddington n. 2216: Kava&nvö<; ßovtevtfc, über
die Inschrift bei Seetzen I, 64 — Corp. Inser. Or. 4613 s. oben Anm. 290).
Einmal auch Keva^vöq ( Waddington n. 2343). Wegen Kavata s. oben Nr. 17.
— Vgl. über die Identität von Kanatha und Kanawat bes. Porter , Five years
in Datnaseus II, 110 sqq. Für das Historische überhaupt: Bei and p. 681*?.
Winer RWB. s. v. Kenath. Raumer S. 252. Ritter a. a. O. Kuhn II,
385 f. Waddingtons Erläuterungen zu n. 2329. Rohden, De Palaestina et
Arabia provinciis Romanis , Berol. 1885, p. 9 sq. Geiz er in seiner Ausg. des
Qeorgius Oyprius 1890 p. 206 sq. Legendre, in: Vi'jouroux, Dictionnaire de
la Bible II, 121—129.
298) jer. Schebiith VI, 1 fol 36c. Tosephta Schebiilh IV (nach der Wiener
Handschrift). Neubauer, Geographie du Talmud p. lOsqq. 20. Hildesheimer,
Beiträge zur Geographie Palästinas, Berlin 1886, Einleitung und S. 49 — 51.
299) S. Dillmann zu Num. 32, 42.
300) S. de Sauley p. 399—401, pl. XXIII n. 10; und bes. Reichardt,
[133. 134] I. Die hellenistischen Städte. 18. Kanatha.] 169
(V,r18, 74, wegen Ptolemäus s. oben S. 149) zur Dekapolis gerechnet
Auf den von Reichardt mitgeteilten Münzen des Commodus nennen
sich die Einwohner raßeiv(ietq) Kava&{rjvoC)\ die Stadt scheint also
durch Gabinius restauriert worden zu sein. Herodes erlitt im
Kampfe mit den Arabern bei Kanatha eine empfindliche Nieder-.
läge801. Nach den in Kanawat und dessen Umgebung gefundenen
Inschriften hat die Stadt sowohl dem Herodes als dem] Agrippa II.
gehört, wahrscheinlich also Jauch den zwischen beiden regierenden
Herodianern (Philippus [und Agrippa I.)302. Über die städtische
Verfassung Eanathas geben die Inschriften einiges Material; es
werden öfters ßovXevtai erwähnt303, je einmal ein jcqoböqos und
ein ayoQav6(io<;ZOi. Von besonderem Interesse ist eine im Jahre
1862 in der Nähe von Trevoux in Frankreich (Departement de
PAin, nicht weit von Lyon) aufgefundene griechisch-lateinische
Grabschrift eines syrischen Kaufmannes, welcher im griechischen
Text als ßovXewfjg xoXltr]c: xb Kavw&al[co]v i[. .] JSvQlrjg, im latei-
nischen als decurio Septimianus Ganotha bezeichnet wird305. Was
letzterer Titel besagt, ist freilich | zweifelhaft306. Wenn das HvqIcl
des griechischen Textes im strengen Sinn (von der Provinz
Syrien) zu verstehen ist, so ergibt sich aus der Kombination beider
Die Münzen Kanathas (Wiener Numismatische Zeitschrift 1880, S. 68—72).
Wenn Kanata und Kanatha identisch sind, was mir sicher scheint, so gehören
auch die oben Anm. 286 erwähnten Münzen hierher.
301) Bell. Jud. I, 19, 2. In der Parallelstelle Antt. XV, 5, 1 heißt der
Ort nach dem bisherigen Vulgärtext Kavd. Niese liest statt dessen nach guten
Zeugen Kdvaza.
302) Herodes: Waddingion n. 2364, Agrippa IL: Waddington n. 2329.
2365. Vgl. Rohden S. 9.
303) Waddington n. 2216. 2339 (— Wetzstein n. 188). Ober die Inschrift
Corp. Inscr. Oraeo. n. 4613, auf welcher auch ein ßovlewfc erwähnt wird, s.
oben Anm. 290.
304) TtQÖeÖQog Corp. Inscr. Qraee. n. 4614« Waddington n. 2341. —
dyooavöfxoq Corp. Inscr. Qraec. n. 4612 — Waddington n. 2330.
306) Die Inschrift ist mitgeteilt von Henzen im Bullettino delV Instituto
di corrisp. archeol. 1867, p. 203—207. Auch bei Wilmans, Exempla Inscr.
Lot. n. 2498. Kaibel, Epigrammata graeca (1878) n. 714. Kaibel, Inscrip-
tiones graecae Siciliae et Italiae (1890) n. 2532. Corp. Inscr. Lot. XIII n. 2448.
Cagnaty Inscr. graecae ad res romanas pertinentes I n. 25. Vgl. auch Momm-
sen, Römische Geschichte V, 469.
306) Henzen a. a. 0. und Waddington (Erläuterungen zu n. 2329)
verbinden decurio Septimianus und denken an eine unter Septimius Severus
geschaffene neue Kategorie von Dekurionen. Wahrscheinlicher ist doch, daß
Septimianus von decurio zu trennen und dahin zu erklären ist, daß die Bürger
von Kanotha überhaupt sich Septimiani nannten wie früher raßivieZq (so
Wilmans und Mommsen, s. die Bemerkungen im Corp. Inscr. Lat. XIII n. 2448;
auch Cagnat a. a. O.).
170 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [134]
Texte, daß Kanatha noch zur Zeit des Septimius Severus zur Pro-
vinz Syrien gehörte307. Zur Zeit des Eusebius gehörte es zur
Provinz Arabien 308. Ein olwvooxojrog aus Kanotha bezeichnet sich
als "AQatp 309. Auffallend ist, daß Eusebius es als xci/iri bezeichnet.
Sollte es damals nicht mehr städtische Verfassung gehabt haben?810
Ein christlicher Bischof von Kanotha war auf den Konzilien von
Ephesus (449), Chalcedon (451) und Konstantinopel (459) anwesend311.
19. Skythopolis, JSxv&oxoltg, eine der bedeutendsten helle-
nistischen Städte Palästinas; unter den Städten der Dekapolis die
einzige, welche westlich vom Jordan lag312. Der alte Name der
Stadt ist Beth-sean, firaj rva oder yto rv>a, bei den LXX und im
1. Makkabäerbuche Br)&cav oder Ba&cav (I Makk. 5, 52. 12, 40 f.)313,
zusammengezogen auch Balacov und Baadv*1*. Sie kommt schon
307) So auch Waddington zu n. 2329, Marquardt I, 396, Rohden 8. 9.
Doch ist Marquardt wegen der Gar nisons -Verhältnisse zu der Annahme geneigt,
daß Kanatha bereits unter Caracalla zur Provinz Arabien gezogen wurde, s.
S. 433, Anm. 3. Ebenso Rohden 8. 9.
306) Euseb. Onomast. ed. Klostennann p. 112: Kaväd-, xuy/ntj xfjq^AQa-
ßlaqt elq ixt [Kava&a] xaXovfihrj.
309) Inschrift in Thasos {Bulletin de corresp. hellinique XXIV, 1900,
p. 275, nach Revue archeol. XXV, 1873, p. 41 auch bei Cagnat, Unser, gr. ad res
rom. pertinentes I n. 839): 'Pov<pevoq rsg/iavov olwvooxonoq "AQatp nSXecoq
iniri/ulaq (sie) Kava>9a regpavä) x<j> bfy (sie) ttfoavxi fny xff ftvtjfitjq x&qiv.
310) Die Angaben des Eusebius sind nicht ganz zuverlässig. Er nennt
z. B. Jabis das einemal noXiq (p. 32), das anderemal x&fjit] (p. 110).
311) Le Quien% Oriens Christ II, 867.
312) 8. überhaupt: Reland p. 992—998. Win er s. v. Bethsean. Rau-
mer 8. 150 f. Paulys Enz. VI, 1,729. Robinson, Palästina 111,407—411.
Derselbe, Neuere biblische Forschungen 8. 429—437. Ritter XV, 1, 426—
435. Kuhn II, 371. Guirin, Samarie I, 284—299. The Survey of Western
Palestine, Memoirs by Gonder and Kitchener II, 83. 101 — 114 (mit Plänen);
dazu Blatt IX der großen englischen Karte. Le Strange, Palestine tmder
the Moslems p. 410 sq. Benzinger, Zeitschr. des DPV. XIV, 1891, 8. 71 f.
G. A. Smith, Historical Geography of the Eoly Land p. 357 — 364. Legendr ey
Art. Bethsan in: Vigovroux, Dietionnaire de la Bible I, 1738—1744, Thom-
son, Loca saneta p. 106 f.
313) Im Alten Testamente: Josua 17, 11. 16. Judic. 1, 27. I Sam. 31,
10. 12. II Sam. 21, 12. I Reg. 4, 12. 1 Ghron. 7, 29. — Ober die Identität
von Bethsean und Skythopolis s. Jos. Antt. V, 1, 22. VI, 14, 8. XII, 8f 5.
XIII, 6, 1. Die Glosse der LXX zu Judic. 1, 27. Euseb. Onomast. ed. Klo-
stermann p. 54. Steph. Byx. und Syncell. (s. nächste Anm.).
314) Stephanus Byx. s. v. 2xv&6noXiq, IlaXaiazlvtiq noXiq, $ Nvaaijq [1.
Nvoaa] KolXijq Svglaq, 2xv9ibv noXtq, nooiegov Balowv Xeyofiivrj und
xibv ßaoßaQwv. — Syncell. ed. Dindorf I, 559: Baaav x^v vvv Sxv&onoXiv
(in der Geschichte des Alexander Jannäus). Ebenso I, 405 (in der unten
Anm. 320 zitierten Stelle).
134. 136] L Die hellenistischen Städte. 19. Skythopolis. 171
auf den Amarna-Briefen unter dem Namen Bitsaani vor315. Der
alte Name hat | sich neben dem griechischen stets erhalten316, ja
diesen schließlich wieder verdrängt. Noch heute bezeichnet das
wüste Trümmerfeld von B eis an im Jordantale südlich vom See
Genezareth die Lage der alten Stadt Der Name Sxv&oxolig ist
sicherlich nicht von rriso abzuleiten, denn der alte Name der Stadt
war eben nicht Sukkoth, sondern Beth-sean317. Auch für die Ab-
leitung von dem Gott Sikkuth (Arnos 5, 26) 318 gibt es keine Anhalts-
punkte. Da der Name auch JSxv&wp jioXiq geschrieben wird319,
so ist höchst wahrscheinlich mit Syncellus anzunehmen, daß eine
Anzahl Skythen bei ihrem großen Einfall in Palästina im siebenten
Jahrhundert vor Chr. sich hier angesiedelt haben und daß darum
die Stadt die Skythen-Stadt genannt wurde320. Über den Namen
315) Zeitschr. des DPV. 1907, S. 15.
316) 1&W3 n*a in der Mischna Aboda sara I, 4. IV, 12. Das Adj. wna
Pea VII, 1. Vgl. Neubauer, Oiographie du Talmud p. 174 sq. Büchler,
Der Patriarch B. Jehuda und die griechisch-römischen Städte Palästinas (Je-
wish Quarterly Review XIII, 1901, p. 683—740). — Die Form *WZ — 2xv&o-
noXlrrjg auch auf einigen in neuerer «Zeit in Jerusalem gefundenen Grab-
schriften, wahrscheinlich aus dem letzten Jahrh. vor der Zerstörung Jeru-
salems (Lidzbarski, Ephemeris für semitische Epigraphik 11,2, 1906, S. 191
-197).
317) Hieronymu8, Quaest. hebr. in Genesin bemerkt zu Sochoth Gen.
33, 17 {opp. ed. Vaüarsi III, 1, 353): Est autem usque hodie civitas trans Jor-
danem hoc vocabulo in parte Scythopoleos. Aber von einer jenseits des Jordan
liegenden und noch später existierenden Stadt kann nicht Beth-sean den
neuen Namen erhalten haben. Ein Ort 8 akut diesseits des Jordan, etwa
zwei deutsche Meilen südlich von Beth-sean, existiert noch heute (Robinson,
Neuere Forschungen S. 406—410). Aber auch dieses liegt viel zu weit ab.
Und selbst wenn ein Ort Sukkoth unmittelbar bei Beth-sean nachweisbar wäre,
würde der im Text angegebene Grund für sich allein entscheidend sein.
318) So Furrer brieflich.
319) Sxv&wv ndXiq- Judith 3, 11. II Makk. 12, 29. LXX zu Judie. 1, 27.
Polybius V, 70. Aristides ed. Dindorf II, 470.
320) Synceü. ed. Dindorf I, 405: üxvd-ai xty UaXaicxlv^v xai&öoafjiov xal
x^v Baaäv xaxkoyov x^v ig abxfbv xXrj^etoav 2xv&6noXiv. Über den Einfall
der Skythen 8. bes. Herodot. 1, 105. Euseb. Chron. ed. Scfioene II, 88 sq. Gut-
schmid, Kleine Schriften Bd. III, 1892, S. 430 ff. Hölscher, Palästina in
der persischen und hellenistischen Zeit,, 1903, S. 43—46 (erklärt Skythopolis
richtig — Skythen-Stadt). — Auch Plinius und sein Nachfolger Solinus leiten
den Namen von den Skythen ab, aber freilich von denen, die der Gott Dio-
nysus zum Schutze des Grabes seiner Amme dort angesiedelt habe: Plinius
V, 18, 74: Scythopolim, antea Nysam, a Libero Patre sepuUa nutrice ibi Seythis
deductis. Solinus (ed. Mommsen) c. 36: Liber Paler cum humo nutricem tra-
didisset, eondidit hoc oppidum, ut sepuüurae titulum eliam urbis moenibus
ampliaret. Ineolae deerant: e comitibus suis Scythas deleyit, quos ut animi
firmaret ad promptam resistendi riolentiam, praemium loci nomen dedit. —
172 §23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [135.136]
Nysa, welchen Skythopolis nach Plinius, Stephanus Byz. und nach
Münzen auch führte, s. oben S. 39). — Unter dem griechischen
Namen Skythopolis kommt die Stadt vielleicht schon zur Zeit
Alexanders | d. Gr., jedenfalls im dritten Jahrhundert vor Chr. votff
wo sie den Ptolemäern tributpflichtig war821. Ais Antiochus d. Gr.
im Jahre 218 vor Chr. in Palästina einfiel, ergab sich ihm die
Stadt freiwillig (*«#' 6fioXoylav)n\ Doch kam sie, wie das übrige
Palästina, erst zwanzig Jahre später (198) dauernd unter syrische
Herrschaft. In der Makkabäerzeit wird Skythopolis als heidnische,
aber den Juden nicht feindselige Stadt erwähnt (ILMakk. 12, 29—31).
Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts (um 107 vor Chr.) kam es
unter die Herrschaft der Juden: der schwache Antiochus IX. Kyzi*
kenos vermochte dem Vordringen des Johannes Hyrkanus nicht
erfolgreich Widerstand zu leisten; ja sein Feldherr Epikrates tiber-
gab Skythopolis durch Verrat den Juden {Jos. Antt. XIII, 10, 3;
anders B. J. I, 2, 7) m. Wir finden es darum auch im Besitze des
Alexander Jannäus {Antt. XIII, 15, 4). Durch Pompeius wurde es
wieder vom jüdischen Gebiete getrennt {Antt XIV, 4, 4. B. /. I, 7, 7);
durch Gabimus restauriert {Antt. XIV, 5, 3. B. J. I, 8, 4). Seitdem
blieb es stets eine selbständige Stadt Auch Herodes und seine
Nachfolger haben sie nie besessen. Ihre Zugehörigkeit zur Deka-
polis bezeugt (außer P/t». V, 18, 74, wegen Ptolemäus s. oben S. 149)
auch Josephus, der sie „eine der größten Städte der Dekapolis"
nennt {B. J. III, 9, 7: ij 6i iari (leylöTTj rfjg AsxajcoXecog). Welche
Ära Skythopolis hatte, ist nicht ganz klar. Auf einer Münze des
Gordianus ist offenbar die pompeianische Ära gebraucht; auf anderen
scheint aber eine später beginnende vorausgesetzt zu sein. Die
Titel der Stadt, namentlich auf Münzen des Gordianus, sind leQa
äa{vXoc)zu. Beim Beginn des jüdischen Krieges vom Jahre 66
Eine andere, ebenfalls mythologische Ableitung von den Skythen s. bei Ma-
lala s ed. Dindorf p. 140, und Gedrenus ed. Bekker I, 237. -— Der sog. Hege-
sippus de hello Judaico bringt bei Wiedergabe von Jos. B. J. III, 9, 1 folgende
eigene Notiz über Skythopolis (Heg. III, 19): ideoque memorata urbs Dianas
ßcythicae consecrataf tamquam ab Scythis condita, et appeüata eivitas Scytharum
ut Massilia Oraeeorum. — Im allgemeinen erklärt auch Steph. Byx. den
Namen durch 2xv9wv nöXig (s. Anm. 314).
321) Jos. Antt. XII, 4, 5. Doch s. oben S. 100. — Über die Münzen
Alexanders des Gr. mit den Buchstaben 2x, welche vielleicht auf Skytho-
polis zu deuten sind, s. L. Müller, Numismattque d* Alexandre le Grand
p. 304. 305 planches n. 1429. 1464.
322) Polyb. V, 70. Stark, Gaza S. 381. Niese, Gesch. der griech. und
makedon. Staaten II, 378.
323) Wegen der Chronologie vgl. oben § 8 (I; 208).
324) 8. über die Münzen und die Ära: Belley in den M&moires de VAca-
[136. .}37] I» Die hellenistischen Städte. 19. Skythopolis. 173
paoh Chr. überfielen die aufständischen Juden das Gebiet von Sky-
thopolis (B.J. II, 18, 1). Die in der Stadt wohnenden Juden sahen
sich im Interesse ihrer Sicherheit genötigt, an der Seite der Heiden
gegen ihre jüdischen Landsleute, welche die Stadt angriffen, zu
kämpfen. Nachmals aber vergalten ihnen die heidnischen Ein-
wohner diese Bundesgenossenschaft durch treulosen Verrat: sie
lockten sie in den heiligen Hain, überfielen sie hier bei Nacht und
machten alle | meuchlings nieder, angeblich 13000 an der Zahl
{Bell. Jud. II, 18, 3—4. VII, 8, 7, Vita 6). Wenn Josephus in bezug
auf die Zeit des jüdischen Krieges sagt, Skythopolis sei damals
dem König Agrippa gehorsam gewesen (Vita 65 [ed. Niese § 3491:
ri}q vjttjxoov ßaöiXsi), so ist dies sicherlich nicht im Sinne wirk-
licher Untertänigkeit zu verstehen, sondern es soll nur gesagt sein,
daß Skythopolis auf seiten Agrippas und der Römer stand325: —
Das Gebiet von Skythopolis haben wir uns sehr umfangreich zu
denken. Bei der Einnahme von Skythopolis und Phiioteria (einer
unter diesem Namen sonst nicht bekannten Stadt am See Gene-
zareth) durch Antiochus <L Gr. im Jahre 218 bemerkt Polybius,
das Gebiet, welches diesen beiden Städten untertänig gewesen sei,
habe mit Leichtigkeit den Unterhalt für das ganze Heer reichlich
beschaffen können326. Auch für die spätere Zeit haben wir ein
ähnliches Zeugnis: das Gebiet von Skythopolis grenzte nach Jos.
Vita 9, an dasjenige von Gadara (s. oben S. 157). Erwähnt wird
das Gebiet der Stadt auch B. J. IV, 8, 2. — Die spätere Geschichte
von Skythopolis, das noch jahrhundertelang eine bedeutende blühende
Stadt blieb, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Über seine
Kulte, Festspiele und seine Industrie vgl. oben S. 38£, 51 f., 77.
20. Pella, IHXla. Das Gebiet von Pella wird von Josephus
als die nördliche Grenze Peräas bezeichnet327. Nach Eusebius
demie des Insor. et BeUes-Ijettres, alte Serie t XXVI, 1759, p. 415—428. —
Eckhel III, 438—440. — Musei Sanol ementiani Numismata selecta Pars II
Üb. IV p. 277—279. — Mionnet V/öll sq. Suppk VIII, 355 sq. — De Saulcy
p. 287—290, pl. XIV n. 8-13.
325) Nur darauf kommt es dem Josephus im dortigen Zusammenhange an.
Daß Skythopolis wirklich zum Gebiet Agrippas gehört haben sollte (wie z. B.
Menke in seinem Bibelatlas annimmt), ist sehr unwahrscheinlich, da Josephus
an den Stellen, wo er das Gebiet Agrippas genau beschreibt, nichts davon
erwähnt.
326) Polyb. V, 70: el&aQOibq $oze itgdq xaq fieXXovaaq imßoXäq 6iä xd
t9jv inotstayfjiivfjv %&Qav xalq ndXeat xavxaiq $qöla>q Övvao&amavxl
xq> öTQaxon&öw xoQijyeTv xal öcaptXf/ napaoxevd^ei.v xä xaxeneiyovxa TtQÖq xijv
XQelav.
327) Bell. Jud. m, 3, 3. Peräa ist hier die jüdische Provinz Peräa, also
mit Ausschluß sämtlicher Städte der Dekapoüs (vgl. oben S. 8). Peräa als
174 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [137. 138]
lag das biblische Jabes nur 6 m. p. von Pella, an der Straße von
da nach Gerasa328. Da nun Gerasa südlich vom heutigen Wadi
Jabis liegt, so muß Pella ein wenig nördlich von diesem gelegen
haben; und dadurch wird es fast zur Gewißheit, daß die bedeu-
tenden Ruinen bei Fahii, auf einer Terrasse über dem Jordantal
schräg gegenüber von Skythopolis (in südöstlicher Richtung), die
Stelle des alten Pella bezeichnen. Bestätigt wird dies durch die |
Angabe des Eusebius329, daß Ammathus 21 m.p. südlich von Pella
liege, was der Entfernung des heutigen Amatha von Fahii ent-
spricht330. Zu der Lage von Fahii stimmt es auch, daß Plinius
Pella aquis divitem nennt331. Die warmen Quellen von! Fahii
(bnfii «man) werden gelegentlich auch im jerusalemischen Talmud
erwähnt332. Vermutlich ist Fahii (Kbns?) der ursprüngliche se-
mitische Name und der Name Pella von den Griechen wegen des
Gleichklangs mit diesem gewählt333. Jedenfalls ist der Name
Pella; entlehnt von der bekannten macedonischen Stadt gleichen
Namens. Da letztere der Geburtsort Alexanders des Gr. war, so
ist es wohl möglich, daß unser Pella wie das benachbarte Dium
geographischer Begriff geht viel weiter nach Norden, umfaßt z. B. auch
noch Gadara (B. J. IV, 7, 3).
328) Euseb. Onomast, ed Klostermann p. 32: ^ <& *Iaßt,q inixetva toi?
%gddvov vvv ian (Asylant nöXiq, HiXkijQ nbXeox; öieartboa atjfieloiq c, 6lvU>vt(oy
hd rsQaadv. — Ahnlich p. 110 (wo aber Jabis wohl richtiger als xwutj be-
zeichnet wird).
329) Onomast ed. Klostermann p. 22.
330) Vgl. überhaupt: Robinson, Neuere biblische Forschungen S.420 — 428,
Ritter XV, 2, 1023—1030. Raumer S. 254. Ouirin, OaliUe I, 288—292.
Merrill, East oftke Jordan (1881) p. 442—447. Schumacher, Pella. Lon-
don 1888 (genaueste Beschreibung der Ortslage und der Ruinen nebst Karte).
— Für das Historische: Reland p. 924sg. Droysen Hellenismus III, 2, 204 f.
Kuhn II, 370. — Schwach begründet ist der gegen die obige Bestimmung der
Ortslage erhobene Widerspruch von Kruse (Beetzens Reisen IV, 198 ff). —
Die gründliche Abhandlung von Korb, Über die Lage von PeUa (Jahns
Jahrbb. für Philologie und Pädagogik 4. Jahrg. 1. Bd., 1829, S. 100-118) setzt
die Lage zu weit nördlich, indem sie die Angaben des Josephus einseitig in
den Vordergrund stellt und darüber die präziseren Angaben des Eusebius
nicht zu ihrem Rechte kommen läßt.
331) Plinius V, 18, 74. Dazu Schumacher a. a. O. S. 31ff.
332) jer. Sckebiith VI, 1 fol. 36 o unten: R. Seira ging nach brin KtTön.
Vgl. Neubauer, Geographie du Talmud p. 274. Über Fahl bei den arabischen
Geographen s. Le Strange, Palestine under the Moslems p. 439.
333) So auch Nöldeke, Zeitschr. der deutschen morgenländ. Gesellsch.
1885, S. 336. — Tuch, Quaestiones de Flavii Josephi libris historiois {Lips.
1859) p. 18 hält DiXXa überhaupt nur för die griechische Aussprache von KbnD
und bestreitet jeden Zusammenhang mit dem macedonischen Ortsnamen. Das
ist doch mehr als unwahrscheinlich.
[138. 139] I. Die hellenistischen Städte. 20. Pella. 175
eine Gründung Alexanders des Gr. selbst ist, wie der überlieferte
Text des Stephanus Byz. andeutet334. Bei der Unsicherheit dieser
Notiz bleibt aber auch die Möglichkeit, daß Pella von einem der
Diadochen gegründet ist, etwa Antigonus, der Palästina zehn Jahre
lang (311—301 vor Chr.) in sicherem Besitz hatte (s.oben S.97)335. |
Nach einer anderen Stelle des Steph. Byz. hieß unser Pella auch
BovtiqM*. — In der Geschichte wird Pella zuerst erwähnt bei
der Eroberung Palästinas durch Antiochus d. Gr. im Jahre 218
vor Chr., wo Antiochus nach der Einnahme von Atabyrion (Tabor)
sich nach dem Ostjordanland wandte und Pella, Kamus und Gephrus
besetzte387. Alexander Jannäus eroberte und zerstörte die Stadt,
da die Einwohner nicht „die jüdischen Sitten" annehmen wollten
(Bell. Jud. I, 4, 8. Antt. XIII, 15, 4) 338. Durch Pompeius wurde sie
334) Steph. Byx. ed. Meineke s. v. Alov' nökiQ . . . KoIXtjq SvqIüq, xxlaua
AtegdvSoov, xal Il&XXa. Die Worte xal MXXa sind vermutlich die Glosse
eines gelehrten Lesers, der damit sagen wollte, dass auch Pella, wie Dium,
eine Gründung Alexanders des Großen sei. Die Lesart ^ xal MXXa ist eine
verkehrte Emendation früherer Herausgeber. Vgl. auch Droysen III, 2, 204 f.
336) Zu dieser Annahme neigt Bei och, Archiv f. Papyrusforschung II,
1903, 8. 233 «=- Griecb. Geschichte III, 2, 1904, 8. 255. — Ein syrisches Pella
wird auch unter den Städte-Gründungen des Seleukusl. erwähnt bei Äppian.
Syr. 57 und Euseb. Chron. ed. Sehoene II, 116 sq. (nach dem lateinischen Text
des Hieronymus: Seleueus Antiochiam Laodiciam Seleuciam Apamiam Edessam
Beroeam ei Pellam urbes eondidit. So auch Syncell. ed Dindorf I, 520, und
der armenische Text des Eusebius, in welchem nur Seleucia fehlt). Unter
diesem Pella ist aber wahrscheinlich die Stadt Ap am ea am Orontes zu ver-
stehen, die von ihrem Gründer Seleukus I. zuerst Apamea, später PeUa genannt
wurde, welcher Name sich dann wieder verloren hat (s. bes. Pausanias Datnas-
eenus bei Malaien ed. Dindorf p. 203 =- Müller, Fragm. hist. graee. IV, 470 «=»
Dindorf, Historici graeei minores I, 160; ferner Strabo XVI, p. 752, Stephanus
Byx. s. v. 'Anaueia; bei Diodor. XXI, 35 kommt Apamea geradezu unter dem
Namen Pella vor, s. Wesselings Anm. z. d. St.). Freilich erwähnen die Ver-
zeichnisse bei Appian und Eusebius Pella neben Apamea, als ob es zwei
verschiedene Städte gewesen wären. Dieser falsche Schein ist aber nur da-
durch entstanden, dass man die Namensänderung als zweite Gründung be-
trachtet und demgemäß in den Verzeichnissen der Städtegründungen behan-
delt hat. Von unserm Pella (in der Dekapolis) ist also bei Seleukusl. über-
haupt nicht die Bede.
336) Steph. Byx. s. v. üiXXa, ndXig .... KofXrjq Svolaq, % Bovtiq Xs~
youtvtj.
337) Polyb. V, 70.
338) Auch an der letzteren Stelle (Antt. XIII, 15, 4) ist sicher unser Pella
gemeint, nicht etwa ein anderes moabitisches. Josephus nennt Pella nur des-
halb ganz am Schluß, nach Aufzählung der moabitischen Städte, weil er darüber
noch eine besondere Bemerkung anknüpfen will. Vgl. Tuch, Quaestiones etc.
p. 17—19. — In Nieses Josephus -Ausgabe ist der Text von Antt. XIII, 15, 4
unverständlich geworden durch Tilgung des oty vor ünooxouhwv.
176 - § 23« Verfassung. fSynedrium. Hohepriester. ; [139. 140]
wieder vom jüdischen Gebiete getrennt (Antt. XIV, 4, 4. B. J. I, 7, 7).
Ihre Zugehörigkeit zur Dekapolis bezeugen außer Plinius auch
Eusebius und Epiphanius 339. Die wenigen erhaltenen Münzen
haben, wie zu erwarten, die pompeianische Ära340. Wenn bei
Josephus (Ä J. III, 3, 5) unter deD Hauptorten der elf Toparchien
Judäas auch Pella genannt wird, so kann dies nur auf einem
Fehler entweder des Josephus oder unseres Josephus-Textes be-
ruhen. Beim Beginn des jüdischen Krieges wurde Pella von den
aufständischen Juden überfallen \B. J. II, 18, 1). Während des
Krieges flüchtete sich dorthin die Christengemeinde aus Jerusa-
lem341. Christliche Bischöfe von Pella werden im fünften und
sechsten Jahrhundert nach Chr. erwähnt342.
21. Dium, Äiov. Unter den Städten dieses Namens, deren
Steph. Byz. sieben aufzählt, ist die in Macedonien am Faß des
Olympus gelegene die bekannteste. Es gilt darum von der Notiz
des Steph. Byz., daß unser Dium (in Cölesyrien) eine Gründung
Alexanders des Gr. sei, dasselbe wie in betreff Pellas (s. oben
S. 174 f.) 343. Nach den astronomischen Bestimmungen des Ptolemäus
(V, 15, 23 = Didotsche Ausg. V, 14, 18) lag Dium in der Nähe von
Pella, Ve ^nd östlich und % Grad nördlich von diesem (so
C. Müller in der Didotschen Ausg., die Überlieferung der Ziffern
schwankt freilich). Hiermit stimmen auch die Angaben des Josephus
über die Marschroute des Pompeius: der jüdische König Aristobul
hatte den Pompeius auf dessen Zug von Damaskus gegen die
Nabatäer bis Dium begleitet Hier trennte sich plötzlich Aristobul
von Pompeius; und darum schwenkte nun auch Pompeius nach
Westen ab und kam über Pella und Skythopolis nach Judäa344.
339) PUn. V, 18, 74.1 Wegen Ptolemäus s. oben S. 149. Euseb. Onomast,
ed. Kloster mann p. 80. Epiphanius haer. 29, 7; de mensuris et ponder. § 15.
340) S. Belley in den Memoire* de VAcademie des Inscr. et BeUes-Lettres,
alte Serie, t. XXVIII, 568 sqq. Eckhel III, 350 sq. Mionnet V, 329 sq. SuppL
VIII, 232. De Saulcy p. 291—293, pl. XVI n. 8.
341) Euseb. Bist. eccL HI, 5, 2—3. Epiphanius haer. 29, 7; de mensuris
et pond. § 15.
342) Le Quien, Oriens Christ. III, 698 sq.
343) Steph. Byz. bemerkt über unser Dium auch: rjq xb ZSwq voocqöv, und
zitiert dabei folgendes Epigramm:
väfta xb diTjvbv yXvxegbv noxbv, JjviSh nlgq,
navoei fthv 6lxprjgy ei&i) 6h xal ßiöxov.
344) Jos. Antt. XIV, 3, 3-4. Bell. Jud. I, 6, 4fin. Hierzu Menkes Bibel-
atlas Bl. IV. — An beiden Stellen ist freilich Dium erst durch Dindorfs
Emendationen in den Text gekommen. Die älteren Ausgaben haben Antt. XIV,
3, 3: etq d^Xiov nbliv, Bell. Jud. I, 6, 4: &nb JioonbXewq. An ersterer Stelle
hat die beste Handschrift (cod. Pal.) elq JeTlov nöXiv, im Bell. Jud. schwanken
[140. 141] I. Die hellenistischen Städte. 21. Dium. 22. Gerasa. 177
Es liegt also kein Grund vor, die Angaben des Ptolemäus zu ver-
werfen und Dium weiter nördlich zu suchen345. — Aus der Ge-
schichte von Dium ist wenig bekannt346. Es wurde von Alexander
Jannäus erobert (Antt.XUI, 15, 3) 347, erhielt durch Pompeius wieder
die Freiheit (Antt. XIV, 4, 4) und gehörte darum zur Dekapolis
(Plin. V, 18, 74; wegen Ptolemäus 8. oben S. 149). Die Münzen von
Dium, mit der Legende Aeirjvmv, haben | die pompeianische Ära.
Es gibt solche aus der Zeit des Caracaila und Geta348. Identisch
mit unserem Dium ist sicherlich das bei Hierokles und anderen
erwähnte AlaZA9.
22. Gerasa, riQaoa. Die Ruinen des heutigen Dscheräsch
(mit kurzem ä zu sprechen)350 sind die bedeutendsten im Ost-
jordanlande und gehören überhaupt (neben denen von Palmyra,
Baalbek und Petra) zu den bedeutendsten in Syrien. Von mehreren
Tempeln, Theatern und anderen öffentlichen Gebäuden sind noch
ansehnliche Reste erhalten. Von einer großen Säulenstraße, welche
die Handschriften zwischen &nd didg fyklov itöteax; und dnd AioonöXeax;, eine
(der von Niese nicht berücksichtigte cod. Bodl.) hat fatd Alov ndXswg (nach
ßernards und Hudsons Angabe). Bei dem sonstigen Charakter dieser Hand-
schrift (s. Niese vol. VI proleg. p. L) ist es fraglich, ob dies auf alter Über-
lieferung beruht oder nur Konjektur des Schreibers ist. An der Richtigkeit
der Emendation wird aber nicht zu zweifeln sein (Aidq %Xlov ist entstanden
aus Aibq i/j Alov).
345) So Schwartz, Nachrichten der Göttinger Gesellsch. der Wissensch.,
phil. hißt. KL 1900, S. 359—361, der geneigt ist, Dium an der Stelle des heu-
tigen Tell-el-Asch'ari, östlich rom See Genezareth zu suchen, wo nach einer
dort gefundenen Inschrift eine alte Stadt gelegen haben muß, welche die pom-
peianische Ära hatte [wenn der Stein nicht verschleppt ist!]. Über Tell-el-
Asch'ari s. Zeitschr. des DPV. 1897, S. 167, und Schumachers Karte ebenda».,
Abschnitt b 6.
346) Vgl. Beland p. 736 sq. Raumer S. 247. Kuhn II, 382f. Geizer
in seiner Ausg. des Georgias Gyprius p. 203. Benzinger in Pauly Wissowas
Real-Enz. V, 833 f.
347) Syncell. ed. Dindorf I, 559 nennt unter den Erwerbungen des Alexan-
der Jannäus Atav, wofür gewiß Alav zu lesen ist, wie auch bei Josephus
Antt. XIII, 15, 3 alle Handschriften haben. Vgl. Geizer, Julius Africanus
I, 257.
348) Q.Belley in den Mimoires de PAcadimie des Inser. et Beiles- Lettre*,
alte Serie t. XXVIII, btösqq. Eckhel III, 347 sq. Musei Sanelementiani
Numismata selecta Pars II lib. IV, 178 sq. Mionnet V, 322. Suppl. VIII,
226. De Sauley p. 378—383, pl. XIX n. 8-9. Wroth, Oatal. of the greek
eoins of Gal., Capp. and Syr. p. 303.
349) Hieroeles Synecd. ed. Parthey p. 45. Die Notitia episcopat. ebendas.
p. 92. — Auch bei Jos. Antt. XIII, 15, 3 haben die Handschriften Alav. Wegen
ßynceüus vgl. oben Anm. 347.
360) S. Mitteilungen und Nachr. des DPV. 1898, S. 57—59.
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 12
178 § 23. Verfassung, ßynedrium. Hohepriester. [141]
durch die Stadt ging, stehen noch 71 Säulen aufrecht; die Straße
mündet in einen runden Platz (Forum), der ebenfalls von Säulen
umgeben ist, wovon noch 55 stehen861. Die bedeutendsten Bauten
gehören nach Stil und Inschriften ins zweite Jahrhundert nach
Chr.852. Die Inschriften waren lange Zeit hindurch nur sehr un-
vollständig bekannt Erst seit 1895 sind sie, soweit es ohne Nach-
grabungen möglich ist, systematisch erforscht worden858. — Daß
351) Die Ziffer 71 gibt Schumacher, Zeitschr. des DPV. 1902, S. 127; die
Ziffer 55: Gautier, Au dela du Jourdam 1896, p. 64 (Schumacher a. a. O. S. 129
sagt: 31 -f- 25 „meist vollständig erhaltene").
362) S. überhaupt: Seetzen, Reisen 1, 388ff. IV, 202ff. Burckhardt,
Reisen I, 401—417. 530—536 (mit Plan). Buekingham, Travels in Palestine,
1821, p. 353—405. Ritter, Erdkunde XV, 2, 1077—1094. Bädeker-Socin,
Palästina 3. Aufl. 8. 181 ff. (mit Plan). Merrill, East of the Jordan p. 281—
290. Benzinger, Zeitschr. des DPV. XIV, 73. Schumacher, Zeitschr. des
DPV. XVIII, S. 126—140. Gautier, Au dela du Jourdain (Geneve 1896)
p. 46 — 85. Prinz Rupprecht von Bayern, Die Ruinenstadt Gerasa in Adschlun
(Zeitschr. des Münchener Altertums-Vereins IX, 1897/98, 8.1—9). Fürst La -
zarew, Gerasa, St Petersburg 1807, fol. [russisch], mit 17 Tafeln. Schreiber,
Festschrift für Kiepert, 1898, S. 335. 336. 343 f. 347. Schumacher, Dscherasch
(Zeitschr. des DPV. XXV, 1902, S. 109—177) [eingehendste Beschreibung,
mit Plan]. Libbey and Hoskins, The Jordan Valley and Petra, New York
1906, 1, 178—227. — Abbildungen: Labor de, Voyage en Orient (Paris 1837 sqq.)
livraison 9. 16. 34 — 35. Hey, Voyage dans le Haouran et aux bords de la mer
morte exieuti pendant les annies 1857 et 1858 (Paris s. a.) Atlas planches XIX
— XXIII (pl. XXI: Plan). Duc de Luynes9 Voyage d% Exploration ä la mer
morte ä Petra et sur la rive gauche du Jourdain, Paris s. a. [1874], Atlas
jp/. 50 — 57. Schumacher, Gautier, Prinz Rupprecht von Bayern, Libbey
a. a. O. Brünnow und Domaszewski, Die Provincia Arabia Bd. II, 1905,
S. 233—239.
353) Corp. Inscr. Oraec. n. 4661-4664. 8654. 8655. Corp. Inscr. Lot. T.
III, n. 118—119. 6034. 6035; dazu die Bemerkung p. 1217. Wetzstein, Aus-
gewählte Inschriften (Abh. der Berl. Akad. 1863) n. 205—207. Böckh, Berichte
der Berliner Akademie 1853, S. 14 ff. Allen, American Journal of Phüology
vol. III (Baltimore 1882) p. 206. Ibid. VI, 1885, p. 191—201. Quarterly State-
ment ofthe Palestine exploration fund 1882, p. 218 sqq. 1883, p. 107 sq. Germer-
Durand^ Exploration Spigraphique de Gerasa (Revue biblique 1895, p. 374—400).
Schumacher und Buresch, Zeitschr. des DPV. XVIII, 1895, S. 126-148.
Clermont-Ganneaut Revue archiol. trois. Sirie t. 28, 1896, p. 151 sq. 337 sqq.
Brünnow, Mitteilungen und Nachrichten des DPV. 1897, S. 38f. Fürst La-
zarew, Gerasa, Petersburg 1897, S. 30—50, Taf. 14. 15 [russisch, war mir nicht
zugänglich]. Schumacher, Mitteilungen und Nachrichten des DPV. 1899,
S. 2—4; 1900, S. 10 — 13, 41 — 44. Germer-Durand, Nourelle exploration Spi-
graphique de Gerasa (Revue biblique 1899, p. 5 — 39). Brünnow, Mitteilungen
und Nachr. des DPV. 1899, S. 41 f. 56 f. Per dr ixet, Revue archiol. trois. Serie
t. 35, 1899, j>. 34—36, 39-42, 51 sq. Germer-Durand, Revue biblique 1900,
p. 93—95. Perdrixet, ibid. p. 429— 443. Schumacher, Zeitschr. des DPV.
XXV, 1902, S. 163. Der s., Mitt. u. Nachr. des DPV. 1901 [auegeg. 1903] S. 18*
[141. 142] 1. Die hellenistischen Städte. 22. Gerasa. 179
hier das alte Gerasa lag, kann keinem Zweifel unterliegen854.
Neben der gewöhnlichen Form Gerasa kommt ein paarmal auch |
Garasa vor355. Die ZuräckfÜhrung des Namens auf die yiQovreq
(Veteranen) Alezanders des Gr., welche sich hier angesiedelt hätten,
beruht freilich nur auf etymologischer Spielerei356. Möglich ist
aber immerhin, daß die Gründung Gerasas als hellenistischer Stadt
in die Zeit Alexanders des Gr. oder der Diadochen zurückgeht
Erwähnt wird es zuerst zur Zeit des Alexander Jannäus, wo es
in der Gewalt eines gewissen Theodorus (eines Sohnes des Tyrannen
Zeno Eotylas von Philadelphia) war. Alexander Jannäus eroberte
es nach mühsamer Belagerung gegen Ende seiner Regierung357.
Noch während er die Festung Ragaba „im Gebiete von Gerasaa
(h rolq rBQaotjvmv oQoig) belagerte, starb er358. Durch Pompeius
erhielt ohne Zweifel auch Gerasa die Freiheit, denn es gehörte
Lucas, Griechische Inschriften aus Gerasa, aus dem Nachlaß H. Kieperts
(Mitt und Nachr. des DPV. 1901, Nr. 3 [ausgegeben Febr. 1903] S. 33-47).
Lucas, Repertorium der griechischen Inschriften aus Gerasa (Mitt. u. Nachr.
des DPV. 1901, Nr. 4—6 [ausgegeben Mai 1903] 8. 4&-82) [vollständigste
Sammlung, mit Benützung neuer Abschriften von Puchstein]. Glermont-
Ganneau, Reeueil (Tareheol. Orientale V, 1903, p. 307—313. Corp. Inser. hat
t m Supplem. n. 13603. 14156—14160. Dittenberger, Orientis graeoi in-
8oriptione$ selectae II, 1905, n. 621 — 625. Oagnat, Insoriptiones graecae ad res
romana8 pertinentes t. HL n. 1343 — 1377. Brünnow und Domaszewski, Die
Provincia Arabia Bd. II, 1905, 8. 253—257.
354) Vgl. für das Historische: Reland p. Süß sqq. Paulys Enzykl. III,
770. Winer s. v. Gadara. Raumer 8. 249 f. Ritter a. a. O. Kuhn II,
370. 383. Rohden, De Palaestma et Arabia (1885) p. 11.
355) Ein Surus Garasenus, der auf der Flotte (in classe Misenensi) ge-
dient hatte, auf einem in Pompeji gefundenen Militardiplom vom J. 71 n. Chr.
(Ephemeris epigr. H p. 457—459 — Corp. Inscr. Lot. t. X w. 867 — ibid. t. HL
SuppL p. 1959). — Auch auf der Inschrift Ephemeris H p. 288 ist wahrschein-
lich Gar(asd) zu lesen, s. die Berichtigungen Ephemeris V p. 1 und Corp.
Inscr. Lot. III SuppL n. 6598. — Endlich nennt Plinius V, 18, 74 unter den
Städten der Dekapolis Oalasam, was wohl in Garasam zu verbessern ist.
356) 8. die Stellen aus Jamblichus und dem Etymolog, magnum bei
Droysen, Hellenismus IQ, 2, 202 f. Auch Reland p. 806.
357) Bell. Jud. I, 4, 8. In der Parallelstelle Antt. XIII, 15, 3 steht'Etoyov
statt npaoav. Da nach dem Zusammenhang zweifellos dieselbe Stadt gemeint
ist, da ferner der Text des Bell. Jud. im Ganzen besser überliefert ist als der
der Antt., und da eine Stadt Essa sonst nicht bekannt ist, so ist die Lesart
des Bell. Jud. sicher die richtige.
358) Antt XIII, 15, 5. Ragaba ist schwerlich identisch mit dem *EQyd
des Eusebius (Onomast. ed. Klostermann p. 16), welches 15 m. p. westlich
von Gerasa lag, also gewiß schon vor der Eroberung Gerasas in der Gewalt
des Alexander Jannäus war.
12*
180 § 23. Verfassung. Synedriuiru Hohepriester. [142. 143]
zur Dekapolis 359 und hatte die pompeianische Ära. Beim Ausbruch
des jüdischen Krieges wurde es von den Juden überfallen (Bell
JucU II, 18, 1) ; doch wurden die in der Stadt wohnenden Juden von
den Einwohnern geschont (Ä /. II, 18, 5). Das durch Lucius Annius
auf Befehl Vespasians eroberte und zerstörte Gerasa (B. J. IV, 9, 1)
kann nicht unser Gerasa sein, das als hellenistische Stadt sicher
römerfreundlich gesinnt war. — Im zweiten Jahrh. n. Chr. nannte
sich Gerasa auch Antiochia am Chrysoroas, eine Benennung, die
wohl aus seleucidischer Zeit stammt (s. oben S. 145). Sie ist durch
vier Inschriften und zwei Münzen bezeugt Die Inschriften sind:
1) eine Inschrift inPergamum aus der Zeit Trajans860, 2) eine Ehren-
inschrift für Hadrian in Gerasa361, 3) eine Weiheinschrift aus der
Zeit des Commodus362, 4) eine aus vier Distichen bestehende Grab-
schrift aus der späteren Kaiserzeit363. Die beiden Münzen haben die
359) Steph. By%. s. v. ttgaacct tcSXiq trjq KolXrjg ZvqIus, xfjq öexandXaox;
(so ist mit Meineke statt des überlieferten xsaaaQsaxaidsxandXewq zu lesen).
Ptönius V, 18, 74 nennt unter den Städten der Dekapolis Oalasam. Vgl.
hierüber oben Anm. 355. Wegen Ptolemäus s. oben S. 149.
360) Mommsen, Berichte der sächsischen Gesellsch. der Wissensch.,
philol-hist. Klasse, Bd. II, 1850, 8. 223. Waddington n. 1722. Fränkel,
Inschriften von Pergamum II, 1895, S. 301. — Die Inschrift ist gesetzt vom
Bat und Volk der Gerasener zu Ehren des A. Julius Quadratus, des kaiser-
lichen Legaten von Syrien unter Trajan, in dessen Heimat Pergamum. (Die
syrische Statthalterschaft des Quadratus fallt 102—104 n. Chr., s. Waddington,
Fastes des provinces asiatigues p. 172 — 176, Liebenam, Forschungen zur Ver-
waltungsgesch. I, 1888, S. 120 f.) Die Selbstbezeichnung der Gerasener lautet
hier: ^Avxioykwv xtbv [ngbq x]<b Xqvooqöo: xCbv 7tQÖX6Qo[v re\oaOT}v(bv % ßovty
xal 6 dfj(i\pq[.
361) Lucas, Repertorium n. 54 (Mitt. u. Nachr. des DPV. 1901, S. 68,
Kopie Puchsteins, früher unbekannt) = Dittenberger, Orientis gr. inscr. sei.
n. 624 «= Oagnat, Inscr. gr. ad res rom. pertinentes t. III n. 1347. Die Inschrift
ist datiert vom J. 130 n. Chr. (Hadrian. trib. pot. XIV, cos. III). Die Stadt
nennt sich hier: ij nöXiq yAvxio%i<ov xCbv itQÖq xip Xqvo[oq6]cc xä>v noöxeoov
reQaQTjvc5[v].
362) Lucas, Repertorium n. 17 (Mitt. u. Nachr. des DPV. 1901, S. 57,
nach Mitteilungen Puchsteins «= Cagnat n. 1357; weniger vollständig Revue bibli-
que 1899, p. 14). Commodus hat hier bereits den Titel Britannicus, welchen
er i. J. 184 annahm (Pauly - Wissowas Real-Enz. II, 2475). Von der Selbst-
bezeichnung der Stadt ist erhalten : . . .] xio% [ ] Xqvooqöo: xtbv [ixq\öx[sq\ov
[reQaa]rjvwv.
363) Lucas, Repertorium n. 82 (Mitt. u. Nachr. des DPV. 1901, S. 75;
frühere Publikationen: American Journal of Philology III, 1882, p. 206, dazu
Berichtigungen VI, 1885, S. 191 f. Revue bibliqm 1895, p. 386 s?. Mitt. u. Nachr.
des DPV. 1900, S. 12). Der Schriftcharakter weist in späte Zeit. Es heißt
hier von der Verstorbenen, einer Frau namens Juliane aus Antiochia, die in
Gerasa verstorben und begraben ist, daß sie nun nicht in ihre Heimat An-
tiochia zurückkehre, &XX* eXaxev xavxyq hxiQag fiiQoq 'AvxioxsItjq (so Lucas;
[143] I. Die hellenistischen Städte. 22. Gerasa, 181
Aufschrift: AN(tiox£<x>») T£2(v) IIP(pq) XP(vöoqoo) T£2(p) Z7J>(ot6-
qov) rE(ßaar]P(Dv). Sie gehören beide in die Zeit des Mark Aurel
(auf der einen das Bild Mark Aureis mit entsprechender Umschrift,
auf der anderen das Bild des Lucius Veras mit entsprechender
Umschrift) 364. Der Chrysoroas kann natürlich nur der durch Gerasa
fließende Wadi Dscherasch sein, nicht der vom Libanon nach Da-
maskus fließende Nähr Barada, wie Mommsen und Fränkel gemeint
haben865. — Über die städtische Verfassung von Gerasa hat
die genauere Erforschung der Inschriften ein ziemlich reiches
Material geliefert. „Rat und Volk" (tj ßovXr/ xal 6 örj/iog) kommt
nur auf zwei Inschriften aus der Zeit Trajans vor866. Häufiger
ist dafür das bloße rj jtokig, wie es scheint, seit Hadrian fest-
stehend867. Eine Mehrzahl von Ämtern wird auf zwei Inschriften
erwähnt, die eben darum hier vorangestellt sein mögen: die eine
wahrscheinlich aus dem ersten Jahrhundert nach Chr.368, die andere
statt tavrnq krioaq haben Am. Jowm. yattjq kziqaq, Revue bibl. tavrrjq Stegov).
Hiermit ist für Gerasa wenigstens der Name Antiochia, wenn auch nicht der
Zusatz „am Chrysoroas" bezeugt
364) Imhoof-B lumer, Revue misse de nwnismcäique VIII, 1898, S. 47.
Wroth, Gatalogue of the greek coins of Oalatia, Oappadocia and Syria [in the
BrU. Mus.] 1899, p. LXXXTX. Perdrizet, Revue biblique 1900, p. 441—443
(stellt das Material über Antiochia am Chrysoroas zusammen, aber noch ohne
die Hadrian-Inschrift).
365) Für den Nähr Barada ist allerdings der Name Chrysoroas durch
Sirabo XVI p. 755. Plin. V, 18, 74. Ptolem. V, 15, 9 (Didotsche Ausg. V,
14, 7) bezeugt. Aber der Name ist auch sonst häufig, s. Pauly-Wissowas
Beal-Enz. s. v.
366) Inschrift von Pergamum aus der Zeit Trajans (s. oben Anm. 360). —
Ehren-Inschrift für Trajan in Gerasa: Lucas, Bepertorium n. 53 (Mitt. u. Nachr.
1901, S. 68) =- Cagnat, Inscr. gr. ad res rom. peHinentes III n. 1346: Afooxoä-
tOQa N&Qova Toalavbv Kaiaaoa Zsßaozöv, reguavixov, Jaxixdv, avlxrjxov, &eov
v\6v> % ßovXfj xal 6 Sfjiioq. — Vielleicht ist aber auch auf der oben Anm. 362
genannten Inschrift aus der Zeit des Commodus ^ [ßovXf] xal] 6 [Sfjuoq] zu
ergänzen.
367) Lucas, Bepertorium n. 16. 54. 55. 57. 58. 62. 63. 66. — Die älteste
dieser Inschriften ist die oben Anm. 361 erwähnte Ehren-Inschrift für Hadrian
(Lucas n. 54).
368) Lucas, Bepertorium n. 70 «=» Dittenberger , Orientis gr. inscr. sei.
n. 621 « Cagnat, Inscr. gr. ad res rom. pertinenies t. III n. 1376 (Kopie Ger-
mer-Durands Revue bibl. 1899, S. 5 f., Kopie Kieperts in: Mitt. u. Nachr. des
DPV. 1901, S. 43 f.): "Ezovq &xq [fatso xffiq oeßaazrjq elgJjvfaq inl z]fjq &QZW
*AnoXkwvlo[v 'Aqio]tIwvoq itooiöoov xal [. . .]ov J^/xtjtqIov öexa7to(6)Xov)
[öiä ß]lov nöXemq xal kvziöx[. . . •] <ovoq &Q%6vzmv xal 3sp[. . . .] q£ov ygafi-
fjtaz[evovzoq]. — Über das Datum s. unten Anm. 374. &qx{>vzo>v bezieht sich
auf die drei vorher Genannten, von welchen der erste zugleich nodeSgoq, der
zweite SexdnQonoq Siä ßiov heißt.
182 § 23. Verfassung. Synedrioin. Hohepriester. [143]
ans dem dritten Jahrhnndert nach Chr.869. Sonst findet sich noch
manches einzelne. Das gesamte Material sei hier nur kurz re-
gistriert, unter Mitberücksichtigung der beiden ebengenannten In-
schriften870; kaiserliche Ämter sind in das Verzeichnis nicht mit
aufgenommen. — Über die Ära, welche in Gerasa gebraucht wurde,
geben die Münzen, soweit sie bis jetzt bekannt sind, keinen Auf-
schluß371. Um so reicher ist das Material der Inschriften. Die
gewöhnliche Ära von Gerasa, wie die fast aller Städte der Deka-
polis, ist die pompeianische. Dies ist schon von Clermont-
Ganneau vermutet worden und jetzt durch das vermehrte In-
schriftenmaterial erwiesen372. Ob alle Daten nach diesem Aus-
369) Lucas Repertorium n. 14 (Kopie Brünnows, Mitt. u. Nachr. des DPV.
1897, S. 39 — Brünnow u. Domaszewski, Die Provincia Arabia II, 255, vgl.
Olermont - Oanneau, Becueil cParehioL Orientale II, 398): "Exovq äxi Savdixov
yx, hd yüa/n/narlaq Maoujvoq 'Aßßlßov xal <swag%laq alrzov rdfiov agxovxoq
xal MaXxalov xal öioixtjxwv 'EqivvIov xal 'AqIotwvoq xal xtbv nivts ^Pr>-
&lov usw. a<pieQiiD&ri ^ cxoa xh 6 ax&eh; ßwfiöq.
370) &QX0Yzeq Lucas n. 14. 70 (auf den Inschriften aus byzantinischer Zeit
n. 22. 23. 24 handelt es sich um kaiserliche Beamte).
nodedQoq Lucas n. 61. 70.
nowxoq xtjq itdXewq Lucas n. 61 (über den Titel s. Liebenam, Städtererwal-
tung S. 295).
öexanowxoq Lucas n. 70.
yQccfXfxazevq Lucas n. 14. 70.
öioixrjxtfq Lucas n. 14 (dazu Pauly-Wissowas Real-Enz. V, 790).
ol n&vxe Lucas n. 14
ciyooavdnoq Lucas n. 71 (Revue biblique 1899, p. 18).
yvfjivaat&QXfi<i Lucas n. 10 (Kopie Kieperts, Mitt. u. Nachr. 1901, S. 35 f., ver-
besserte Lesung bei Glermont - Ganneau, Recueil tfarch. or, V,
310 sq. und Dittenberger, Orientis gr. inscr. sei. n. 622). Der auf
der Inschrift Genannte hat bei Verwaltung des Gymnasiarchen-
Amtes öfters? (wenn nXe in nXeovaxiq zu ergänzen ist) der Stadt
das Salböl (rot äXelfifiaxa) gespendet (über solche Ölspenden s.
Liebenam, Städte Verwaltung S. 116) und 500 Silber - Drachmen
zum Bau des Tempels des olympischen Zeus beigesteuert. Über
das Datum der Inschrift s. unten bei den Aren.
hcifieX^q Lucas n. 11 (öta i7ii(jieXTjx<5v), n. 55. 57. 58. 62. 63 (hier überall ^
nbXiq öi imfiskqxov oder ^ nöXiq öi imfieXTjxwv, es bandelt sich
um Errichtung von Statuen, vgl. über den Titel überh.: Pauly-
Wissowas Real-Enz. VI, 162 ff.).
Svoxd^xv^ Lucas n. 59 (dazu: Liebenam, Städte Verwaltung S. 375 £).
371) S. Eckhel HI, 350. Mionnet V, 329. Suppl. VIII, 230 sq. De
Saulcy p. 384 s#. pl. XXII, n. 1 — 2. Numismatie Gkroniele 1900, p. 295. —
Die Münzen gehen von Hadrian bis Alexander Severus und haben fast alle
die Aufschrift "AQTSfxiq Tvxrj reQaowv, ohne Ära.
372) Glermont' Oanneau y lttudes d'archeoloyie Orientale t. I, 1895 [«-
Bibliotheque de Vecole des hautes tiudes fasc. 44] /;. 142. Recueil d'archeol. orien*
[143] I. Die hellenistischen Städte. 22. Gerasa. 183
gangspunkt zu berechnen sind, ist noch fraglich. Bei der ältesten,
sicher aus der Zeit des Tiberius stammenden Inschrift müßte
man, wenn das Datum richtig gelesen ist, die seleucidische Ära
annehmen; wahrscheinlich ist aber das Datum so zu lesen, daß
auch hier die pompeianische Ära gemeint ist373. Größere Schwierig-
keiten macht die oben Anm. 368 bereits mitgeteilte Inschrift,
welche nach der von den ersten Herausgebern vorgenommenen
Ergänzung „vom augusteischen Frieden ana (dxo rfjq öaßaCTTJQ
elQTJpijq) datiert sein würde; das wäre jedenfalls ganz singulär;
vermutlich ist anders zu ergänzen und die pompeianische Ära an-
zunehmen374. Auch für alle anderen inschriftlichen Daten ist es
in hohem Grade wahrscheinlich, daß sie die pompeianische Ära
tale II, 17 sq. — Kubitschek, Die Ären von Medaba und von Gerasa (Mit-
tellangen der geogr. Gesellsch. in Wien XLII1, 1900, S. 368—373, über Gerasa
8. 369 — 373 [Anhang zu der Abh. über die Mosaikkarte von Medaba]). —
Schwartz, Die Ären von Gerasa und Eleutheropolis (Nachrichten der Göt-
tinger Gesellsch. der Wissensch., phil.-hist. Ell. 1906, 8. 340 — 395, über Gerasa
nur 8. 361 — 366). — Kubitschek und Schwarz nehmen überall die pompeianische
Ära an, wozu auch Dittenberger geneigt ist, abgesehen von der in Anm. 374
besprochenen Inschrift
373) Lucas, Repertorium n. 8 (Mitt u. Nachr. des DPV. 1901, 8. 53 —
Mitt. u. Nachr. 1899, 8. 41 = Brünnow und Domaszewski, Die Provincia Arabia
II, 253): äit *Okv(ml(p bieg xrj<; x(bv Seßaazibv düxriQlaq . . . ZaßSlwv *Aqu$xo*
fidxov leQctodfievoQ Tißeqlov KaloaQoq tro((J) eH hovq. Wenn die Ziffer EIT
(315) richtig gelesen ist, müßte die seleucidische Ära gemeint sein. Die In-
schrift würde dann in das J. 3/4 n. Chr., also in die Begierungszeit des Augus-
tus fallen, wo es noch nicht mehrere Ssßaavol gegeben hat. Wahrscheinlich
ist daher mit Oagnat (Inscr. gr. ad res rotn. pertinentes t. III n. 1344) und
Schwarte (Nachrichten der Gott. Ges. d. Wiss. 1906, 8. 362) statt EIT zu lesen
ETI — 85 nach der pompeianischen Ära = 22/23 n. Chr. Die Zeßaoxoi sind
Tiberius und Livia.
374) Bei jener Datierung denken Germer -Durand und Lucas an die
aktische Ära. Dann wäre das Datum &xq (129) — 98/99 n. Chr. Aber die
aktische Ära ist nie so bezeichnet worden; sie ist eine Ära xfjq vfxtjq, nicht
tijQ e^yrj^ Dittenberger (Orientis gr. inscr. sei., zu n. 621) nimmt das
J. 9 vor Chr. als Ausgangspunkt an, in welchem der große Friedensaltar auf
dem Campus Martins eingeweiht worden ist. Beide Ären wären für Gerasa
ganz singulär. Kubitschek (8.370) und Schwartz (8.362) schlagen daher
vor, zu lesen *Etovq &xq \vneQ trf\q aeßaaxfjq elQ^v[riq hii x]fjq dQxfc 'AnoX*
Xatvlo[v *AQia]tlwvogt und die Jahreszahl &xq (129) auf die pompeianische Ära
zu beziehen == 66/67 n. Chr. Für diese Erklärung spricht namentlich eine von
jenen noch nicht herangezogene Tatsache. Als zur Zeit Neros im J. 66
der armenische König Tiridates dem Kaiser in Rom huldigte [Dio Cass. LXIII,
1—7, vgl. Tacit. Annal. XV, 29. XVI, 23. Plin. Hut. Nat. XXX, 16 f.), wurde
zur Feier des Weltfriedens der Janus-Tempel geschlossen (Sueton.
Nero 13 — 14), und die Arval-Brüder haben, vermutlich aus diesem Anlaß, im
Jahre 66 n. Chr. der Pax eine Kuh geopfert (Henzen, Acta fratrum Arvaliwn
184 § 23. Verfassung. Synedrium. Hobepriester. [143]
zur Voraussetzung haben875. Da Gerasa seit Trajan zur Proyinz
Arabien gehörte (wie sogleich gezeigt werden wird), so sollte man
p. 85, Corp. Inscr. Lat. VI n. 2044, I, 12. Wissowa, Religion und Kultus der
Römer 1902, S. 277). So wird auch die aus demselben Jahre (66/67 n. Cbr.)
stammende Inschrift von Gerasa, von welcher nur der Anfang erbalten ist, auf
eine Widmung der städtischen Behörden zur Feier der 2eßa<n% elQJjvi} sieh
bezogen haben (der Ausdruck Seßaaz^ bIqtjvt] auch im griech. Text des Mo-
num. Ancyranum bei Erwähnung des großen Friedensaltars auf dem Marsfelde,
s. Mommsen, Res gestae divi Augusti ed. 2., p. 49). Eine Ironie ist es freilich,
daß eben damals der jüdische Krieg bereits ausgebrochen war.
375) Ich stelle im folgenden alle Daten, welche auf den von Lucas (Re-
pertorium in: Mitteilungen und Nachrichten des DPV. 1901, S. 49—82) ge-
sammelten Inschriften vorkommen, zusammen, abgesehen von den beiden
bereits erwähnten. Diejenigen, für welche sicher die pompeianische Ära der
Ausgangspunkt ist, sind mit einem * versehen, diejenigen, für welche Lucas
die erst im J. 106 nach Chr. beginnende Ära der Provinz Arabien (Ära von
Bostra) anzunehmen geneigt ist, sind mit einem ? versehen. Der Ausgangs-
punkt fQr erstere ist Herbst 63 vor Chr., wie die parallelen Indiküonen-Jahre
beweisen. Es ist also Jahr 1 der Ära von Gerasa — 63/62 vor Chr. — 691/692
a. U. c. oder Jahr 101 der Ära von Gerasa — 791/792 a. ü. — 39/39 n. Chr.
Die Daten der Inschriften sind:
bq (105) — 42/43 n. Chr. (Lucas n. 10, der aber eq nicht als Jahreszahl erkannt
hat; die verbesserte Lesung [yv]/jivaoiagx^^Q *hv nQa)vrj[v k£A]fit]vov
xod sq' [hovq] erst bei dermont-Ganneau, Recueil V, 311 *- Ditten-
berger, Orientis gr. inscr, sei. n. 622 «= Oagnat, Inscr. gr. ad res rom*
pertinentes III n. 1351). Nach der Ära von Bostra, an welche Cler-
mont-Ganneau denkt, würde die Inschrift in die Zeit des Severus,
Caracalla und Geta fallen, während auf der Inschrift nur ein 2fe-
ßaatöq erwähnt wird. Es muß also die pompeianische Ära gemeint
sein (so Dittenberger).
ßlQ (132) *-= 69/70 n. Chr. (Lucas n. 9 — Revue bibl. 1899, p. 11, Mitt. u. Nachr.
1899, S. 42).
9ßkQam} ^Lucas n' 5 ~ Revue mi 1895' 384)*
Die Widmung lYnhQ xfjq rtov Zeßaozibv oanTjoiaq setzt nicht not-
wendig mehrere regierende Kaiser voraus, da auch die Mitglieder
der kaiserlichen Familie Ueßaoroi sind (Dittenberger zu n. 623).
ItiXq (138) (Lucas w. 29 — American Journal of phüol. VI, 1885, p. 192 sq.
Allen setzt die Inschrift auf Grund unsicherer Lesung und Ergän-
zung in die J. 177 — 180 n. Chr. und nimmt eine sonst unbekannte,
um 40 n. Chr. beginnende Ära an. Bessere Erklärung bei Schwartz,
Nachrichten der GGdW. 1906, 8. 363).
& (160) = 97/98 n. Chr. (Lucas n. 3 nach Puchstein).
W (190) — 127/128 n. Chr. (Lucas n. 74 nach Amer. Journ. 1885, 194; neue
Kopie der inzwischen nach Damaskus verschleppten Inschrift in:
Revue archeol. IVme Serie t. V, 1905, p. 48—50, SSsq.).
Ißia (212) «* 149/150 n. Chr. (Lucas n. 7 — Revue bibl. 1895, 385). Zur An-
nahme einer anderen Ära als der pompeianischen liegt hier kein
[143] I. Die hellenistischen Städte. 22. Gerasa. 185
seitdem eher den Gebrauch der Ära dieser Provinz erwarten. In
4er Tat haben einige Forscher ans paläographischen Gründen für
einzelne Daten deren Gebrauch annehmen zu müssen geglaubt
(s. Anm. 375). Aber ein gleichzeitiger Gebrauch bald der einen,
Grund vor, s. Clermoni - Qcwneauy Revue archiol. trois. Sirie t. 28,
1896, p> 151 sq. — Reeueil H, 15, Dittenberger, Orientü gr. inser.
sei. n. 623.
yio (213; — 150/151 n. Chr. (Lncas n. 2 — Revue bibl. 1899, 11).
*yia (213) — 150/151 n. Chr. (Lucas n. 16, die große Propyläen -Inschrift aus
der Zeit des Antoninus Pius, über welche unten S. 187 Näheres
mitgeteilt ist).
eio (216) — 153|154 n. Chr. (Lucas n. 69, nach P ach stein).
*exo (225) — 162/163 n. Chr. (Lucas n. 18, nach Puchstein). Widmung für
Antoninus und Verus. In der Ziffer ist c unsicher.
*Ö4o (294) — 231/232 n. Chr. \ _ __ RO _ .... nonr „_.
•4a (294) - 231/232 n. Chr. / &*<»» »• ***-»- Bmm t*l 1895, 381).
Zwei gleichartige Aufschriften auf Ehrenstatuen für den Kaiser und
die Kaiserin. Vom Namen des Kaisers sind erhalten . . . oga Kai'
aaga M J&ovtjqov .... ei>aeß?]v Zeßctoxöv, vom Namen der
Kaiserin 'Iovfo Zeßaaxrfv. Hiernach ist die von Olermont-
Qanneau (litudes d* archiol. I, 142, vgl. Reeueil d'archiol. II, 17 sq. —
Revue archiol. trois. Serie t. 28, 1896, p.S38sq.) begründete Beziehung
auf Severus Alexander und Julia Mainaea sehr wahrscheinlich.
axx (321) — 258/259 n. Chr. (Lucas n. 14, s. den Text oben Anm. 369).
S<p (504) =- 441/442 n. Chr., außer der Jahreszahl noch TaQUiMov kvSsxdvTjq
Mix. (Lucas n. 28 — Revue bibl. 1899, 15).
*ap (510) — 447/448 n. Chr., Monat dlov, nowtTjg M. (Lucas n. 25 — Revue
bibl. 1899, 23).
*&<p (527) — 464/465 n. Chr., ohne Monat, y Mix. (Lucas n. 32, nach Wetz-
stein).
*9v<p (559) — 496/497 n. Chr., br (itpl z% xijg t M. (Lucas n. 30, nach
Puchstein).
n^<p (598) — 535|536 n. Chr. [No]etißol[ov\ ohne Induktion (Lucas n. 22, nach
Puchstein).
Die Indiktionen -Angaben bestätigen unsere Voraussetzungen über die
Ära, denn der Indiktionen- Zyklus beginnt am 1. September 312 n. Chr. (s.
oben S. 117). Je ein erstes Indiktionenjahr beginnt daher am 1. Sept. 432,
447, 462, 477, 492 n. Chr. Hiernach stimmt ohne weiteres:
447/448 — ind. 1.
464/465 — ind. 3.
496/497 — ind. 5.
Aber auch das Datum 441/442 — ind. 11 ist in Ordnung, sobald man
die verschiedenen Jahresanfänge beachtet. Nach dem für Gerasa höchst wahr-
scheinlich vorauszusetzenden syromacedonischen Kalender beginnt das Jahr
am 1. Oktober und der Gorpiäus — September ist der letzte Monat des
Jahres, während Dios — November der zweite Monat ist (Ideler, Handb.
der Chrono!. I, 430). Hiernach ist das fragliche Datum = September 442, in
welchem bereits das neue Indiktionenjahr, ind. 11, lief.
186 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [143]
bald der anderen Ära ohne nähere Bezeichnung ist doch höchst
unwahrscheinlich. Und der Gebrauch der pompeianischen ist für
das zweite und dritte Jahrhundert ebenso sicher wie für die byzan*
tillische Zeit
Wie alle Städte der Dekapolis, so hat auch Gerasa ursprüng-
lich zur Provinz Syrien gehört Durch die Inschrift von Perga-
mum (s. oben Anm. 360) ist dies noch für die Zeit Trajans bezeugt;
und noch der Geograph Ptolemäus, der unter Antoninus Pius schrieb
(er kennt bereits die Gründung von Älia durch Hadrian), rechnet
Gerasa wie alle Städte der Dekapolis zur Provinz Syrien376. Er
muß dabei aber älteren Angaben gefolgt sein. Denn aus den In«
Schriften läßt sich erweisen, daß Gerasa schon unter Trajan zu
der neugegründeten Provinz Arabien gezogen worden ist
wahrscheinlich sogleich bei deren Einrichtung im Jahre 106 nach
Chr.377. Es stand nämlich unter folgenden Statthaltern, die als
Statthalter von Arabien bekannt oder als solche zu erweisen sind:
1) C. Claudius Severus, unter Trajan, 111—112 nach Chr.378.
376) Ptohm. V, 15, 23 — Didotsche Ausg. (I, 2, Paria 1901) V, 14, 18,
vgl. dazu oben 8. 149. — Ober die Zeit des Ptolemäus s. Boll, Jahrbb. f.
klass. Philol. Suppl.-Bd. 21, 1894, S. 53-66.
377) Dies hat auf Grund des neuen Materiales Domaszewski gezeigt
(Corp. Inscr. Lat. III Suppl. p. 2315, Vorbemerkung zu n. 14156). Früher hat
man für die Zuweisung Gerasas zur Provinz Arabien einen viel zu späten
Zeitpunkt angenommen. Marquardt (Römische Staatsverwaltung I, 433) ist
geneigt, diese Maßregel erst um 295 n. Chr. zu setzen. Roh den (De Palaestina
et Arabia 1885, p. 11) sucht zu zeigen, daß sie unter Septimius Severus
(193—211 n. Chr.) erfolgt sei. Ebenso P. Meyer (Jahrbb. f. klass. Philol.
1897, S. 594—596). Clermont-Ganneau hat richtig erkannt, daß Gerasa
bereits im J. 162 n. Chr. zu Arabien gehörte (tlludes ffarchSologie Orientale
t. II, 1897 — Bibliothique de Picole des haiäes Uudes fasc. 113, p. 85 sq. 88 sq.).
Ebenso Perdrizet (Revue archSol. trois. Serie t 35, 1899, p. 39 — 42), der aber
damit die komplizierte und sicher unrichtige Hypothese verbindet, daß Gerasa
nach 195 eine Zeitlang zu Syria Pbönice gehört habe und dann erst wieder
zu Arabien.
378) C. Claudius Severus hat im Auftrag Trajans im J. 111 n. Chr.
eine neue Straße von der Grenze Syriens bis zum roten Meere gebaut: Tra*
janus . . trib. pot. XV . . . redacta in formam provinciae Arabia viam novam
a finibus Syriae usque ad mare rubrum aperuit et stravit per (7. Olaudium
Severum leg. Aug. pr. pr. (so gleichlautend, mehr oder weniger erhalten, auf
verschiedenen Meilensteinen an der Straße von Petra nach Philadelphia, s.
oben Bd. I, S. 744; Corp. Inscr. Lat. III Suppl. n. 14149, 19. 14149, 21. 14149, 30.
14149, 42. 14149, 50. Brünnow und Domaszewski, Die Provincia Arabia Bd. I,
1904, S. 29, 38, 42, 83, 84, 85, 86; desgleichen an der Straße von Philadelphia
nach Bostra: CIL. n. 14150, 11. Oer mer- Durand, Bulletin arckiol. du comiiS
des traveaux hist. 1904, p. 3—43, w. 2. 11. 22. 28. Hiernach auch Brünnow u.
Domaszewski II, 312—323). Selbstverständlich Lat er dies als Statthalter von
[143] L Die hellenistischen Städte. 22. Genua. 187
2) L. Attidius Cornelianus unter Antoninus Pias 150/151 nach Chr.
über ihn gibt die große Inschrift auf den Propyläen Aufschluß,
deren zerstreute Bruchstücke erst in neuester Zeit vollständig ge-
sammelt worden sind879. Es heißt hier, daß die Stadt Gerasa die
Propyläen (die zum Artemistempel führten, s. oben S. 39) „zum
Wohle44 des Antoninus Pius und seines Hauses und des römischen
Senates und Volkes geweiht hat &kl A(ovxlov) 'Arndlov Koqvti-
Xutvov xQeöß(evTov) Seß(aörov) dvttötQ{ar^yov) vxarov avads-
[öeiY(iip]ov, hovg yiä As({ov) 6x. Das Datum ist = 24. Dius (No-
vember) 150 nach Chr. Da Attidius Cornelianus als consul designatus
bezeichnet wird, kann er damals nicht Statthalter von Syrien ge-
wesen sein, das immer nur von gewesenen Konsuln verwaltet
wurde; er muß vielmehr zur Zeit der Inschrift Statthalter von
Arabien gewesen sein, wie Domaszewski mit Recht bemerkt hat
Erst später hat er die Provinz Syrien erhalten880. Als vxarixog
Arabien getan (vgl. Pauly-Wissowas Real-Enz. III, 2868. Porp. Inscr. Lat. III
Suppl. p. 2304). Derselbe hat aber im folgenden Jahre, 112 n. Chr. auch die
Straße nordwestlich von Gerasa ausgebessert: Trqjanus . . trib. potest. XVI
. . refecit per 0. Olaudium Severum leg. Aug. pr. pr. (so auf drei Meilen-
steinen mit den Ziffern IUI, VI und VII, jetzt in Suf, nordwestlich von Ge-
rasa, wohin sie offenbar aus der Umgegend gebracht worden sind, Brünnow,
Mitt. u. Nachr. des DPV. 1899, S. 90 — Brünnow u. Domaszewski, Die Pro-
vincia Arabia II, 240 — Corp. Inscr. Lat. Hl Suppl. n. 14176, 3; weniger gut
erhalten ist ein anderer gleichlautender Stein mit der Ziffer A, der sich jetzt
in Gerasa befindet, Zeitschr. des DPV. 1895, S. 130 — Keime biblique 1899,
p. 34*0. «— Corp. Inscr. Lat. III Suppl. n. 14176, 2 — Brünnow u. Doma-
szewski, Prov. Arabia II, 257). Demnach hat auch die Gegend von Ge-
rasa zum Gebiet des C. Claudius Severus gehört.
379) Zusammenstellungen mit fortschreitender Berichtigung der Einzel-
heiten haben gegeben: Corp. Inscr. Qraec. t. HE n. 4661 und Addenda p. 1183
(noch ganz ungenügend). Germ er- Durand, Revue biblique 1895, p. 374 «#.
Perdrizet, Revue archiol. irois. Serie t. 35, 1899 p. 34—36, Germer-Du-
rand, Revue biblique 1900, p. 94. Perdrizet, ebendas. p. 429—431. Schürer,
Mitt. u. Nachr. des DPV. 1900, S. 19. Lucas, Mitt. u. Nachr. des DPV.
1901, 8. 38 (nach Kiepert) u. S. 56 (nach Puchstein, erst hier auch das Da-
tum). Dittenberger, Orientis gr. inscr. sei. n. 625. Brünnow und Do-
maszewski, Die Provincia Arabia II, 254
380) Als Statthalter von Syrien wird er auf einem in Bulgarien gefun-
denen Militärdiplom vom J. 157 n. Chr. erwähnt (Bormann, Jahreshefte des
österreichischen archäol. Institutes III, 1900, S. 21 f. — Corp. Inscr. Ind. III
SuppL p. 2328, 71 Dipl. CX). Im Anfang von Mark Aureis Regierung erlitt
er eine Niederlage gegen die Parther (Scriptores historiae Augustae, Vita
Marei c. 8); er war aber noch im J. 162 n. Chr. Statthalter von Syrien {Corp.
Inscr. Lat. III n. 129 — Suppl. n. 6658). Vgl. Pauly-Wissowas Real-Enz.
II, 2074.
188 § 23. Verfassung. Synedrium. Hobepriester. [143]
kommt er auch auf einer Ehreninschrift in Gerasa vor881. 3) L.
Aemilius Carus unter Antoninus Pius, aber ungewiß, ob vor oder
nach Cornelianus382. 4) P. Julius Geminius Marcianus, unter Mark
Aurel 162 nach Chr. Er ist als Statthalter von Arabien bekannt
und hat als solcher die Straße von Petra nach Philadelphia und
von da nach Bostra ausgebessert883. Sein Name kommt aber auch
auf einem griechischen Inschriftenfragment in Gerasa vor884 und
auf Meilensteinen in der Gegend von Gerasa386. 5) Q. Antistius
381) Lucas, Repertorium n. 60 (Mitt. u. Nachr. S. 70, nach Puchstein):
A. ^Atxlöiov KopnjXiavdv hnaxixöv.
382) L. Aemilius Carus ist als Statthalter von Arabien längst be-
kannt, s. über ihn unten bei Philadelphia, Anm. 406. Daß auch Gerasa zu
seinem Gebiete gehörte, und zwar zur Zeit des Antoninus Pius, zeigt ein von
Germer-Durand (Revue biblique 1899, p. 20) hier gefundenes Fragment, auf
welchem [yAvv]a>velvov Ei{aeßovq[ und AlpiXlov Kdgov nQeaß. zu lesen ist.
Lucas, Repertorium n. 12 (Mitt. u. Nachr. 1901, S. 54 f.) hat zu zeigen ver»
sucht, daß es zu einer größeren Inschrift gehört, von welcher auch andere
Fragmente erhalten sind.
383) S. über ihn als Statthalter von Arabien überh.: Corp. Inscr. Lat. HI
n. 96 (Inschrift in Bostra), CIL. VIII n. 7050. 7051. 7052 (Inschriften in
Cirta in Nordafrika). Liebenam, Forschungen zur Verwaltungsgesch. des
röm. Kaiserreichs I, 15 f. Prosopographia imperii Romani II, 194 sq. Corp.
Inscr. Lat. III Suppl. p. 2304. — Meilensteine mit seinem Namen und dem
Datum 162 n. Chr. an der Straße von Petra nach Philadelphia: Corp. Inscr.
Lat. III Suppl. n. 14149, 23. 14149, 32. 14149, 41. Brünnow und Domaszewski,
Die Provincia Arabia I, 1904, S. 37, 82, 85; und von Philadelphia nach
Bostra: Qermer-Zkirand, Bulletin arckiol. du comitä des travaux hist. 1904,
p. 3—43, n. 14. 19. 24. 36. 38. Hiernach auch Brünnow u. Domaszewski II,
312—323.
384) Lucas, Repertorium n. 56 (Mitt. u. Nachr. 1901, S. 69, nach Puch-
stein -= Revue bibl. 1895, p. 376): inl Fefiiviov Ma[Qxiavoi) .... hcdx]ov
&va6etieiyn&vov.
386) Auf Grund dieser Meilensteine hat Clermont-Ganneau (Müdes cParch.
or. II, 85 sq. SS sq. gezeigt) daß Gerasa im J. 162 zu Arabien gehörte. Die
Fundorte sind: 1) an der Straße von Philadelphia nach Gerasa; erhalten sind
nur die Worte refeeerunt per P. Jul. Oeminium Marcianum leg. Aug. pr. pr.
und die Ziffer XIII ir (Revue bibl. 1905 p. 394 -= Corp. Inscr. Lat. III Suppl.
n. 14173). 2) ebenfalls an dieser Straße, sehr fragmentarisch (Revue bibl. 1905,
p. 392 = CIL HL, Suppl. n. 14175, 2). 3) in Adschlun [nicht — Pella, wie
im Corp. Inscr. Lat. III Suppl. n. 14177 irrig angegeben ist] am Wadi Adsch-
lun, westlich von Gerasa, wegen des Fundortes und der besseren Erhaltung
am wichtigsten: M. Aurelius Antoninus . . trib. pot. XVI . . et . . L. Aurelius
Verus Aug. trib. pot. TL ... . refeeerunt per Oeminium Marcianum leg. pr.
pr. und die Ziffer I. Das Datum ist =* 162 n. Chr. (ältere ungenügende Ko-
pien: Clermont-Ganneau Recueil I, 207. ttudes I, 173. Corp. Inscr. Lat. III
n. 6715; genauere: Brünnow, Mitt. u. Nachr. des DPV. 1899, S. 91 «= Corp.
Inscr. Lat. III Suppl. n. 14177).
[143. 144] I. Die hellenistischen Städte. 23. Philadelphia. 189
Adventus, ebenfalls unter Mark Aurel 166—167 nach Chr.386.
6) C. Allius (?) Fuscianus, nur durch eine Inschrift von Gerasa
bekannt387. Da er als cos. designatw bezeichnet wird, muß er
Statthalter von Arabien gewesen sein. — Im vierten Jahrhundert
nach Chr. war Gerasa eine der | bedeutendsten Städte der Provinz
Arabia 388. Sein Gebiet war so groß, daß Hieronymus sagen konnte,
das frühere Gilead heiße jetzt Gerasa389. — Berühmte Männer
aus Gerasa erwähnt Stephanus Byz.390. Auch die Namen einiger
christlichen Bischöfe sind bekannt391. — Über die Kulte und Fest-
spiele s. oben S. 39 £ 52.
23. Philadelphia, $ijiaöil<peia, die alte Hauptstadt der Am*
moniter, im Alten Testamente „Babba der Ammoniter" (13a nan-
•pia?, d. h. die Hauptstadt der Ammoniter) oder abgekürzt „Rabba"
386) Q. Antistius Adventus ist als Statthalter von Arabien schon
durch eine Inschrift in Bostra bekannt (Oorp. Insor. Lot. III n. 92 = Wad-
dingion n. 1944: Antistio Adv[ento] leg. Äugg. pr. pr. cos. des.). Dazu kommt
noch eine Inschrift aus Thibilis in Numidien, welche seinen ganzen cursus
honorum gibt. Auf Grund derselben läßt sich feststellen, daß seine arabische
Statthalterschaft in die Jahre 166—167 n. Chr. fallt S. Poulle, Becueil des
noHces et memoires de la Sociiti archSol. de Constantine XXVTI, 1892, p. 261 — 274,
Oagnat, ebendas. XXVTII, 1893, p. 78— 84. Ders., MSlanges Nicoleim, p.43— 55.
Text der Inschr. auch in Revue archSol. trois. Särie t. XXI, 1893, p. 396. In dem
Artikel über Antistius Adventus in der Prosopogr. imp. Born. I, 85 sind n. 588
u. 589 irrtümlich als zwei Personen behandelt. — In Gerasa: KoionXvav
ovfißtov K(otrTov) 'Avuoxlov 'Aöoviwov brtävov ^ ndXtg u. s. w. (Revue bibl. 1899,
p. 16 vgl. 1900, p. 165 — Mitt. u. Nachr. des DPV. 1899, S. 56 — Brünnow
tu Domaszewski, Prov. Arabia II, 256 — Mitt u. Nachr. 1901, S. 72, n. 63).
Wegen in&xov ist die Inschrift später als die Statthalterschaft des An-
tistius Adventus. Seine Gemahlin Novia Orispina ist auch durch eine nord-
afrikanische Inschrift bekannt (Oorp. Insor. Lot. VIII Suppl. n. 18893).
387) 0. Attio Fuseiano leg. Aug. pr. pr. cos. desig. (Corp. Inser. Lot. HE
n. 118 — 14156, 3. Mitt. u. Nachr. des DPV. 1897, S. 3a Revue bibl. 1899,
p. 19; an letzterer Stelle die Lesung CAEILIO, was der Herausgeber zu
Gaeoüio ergänzt; es wird wohl (7. Aelio zu lesen sein).
388) Ammian. Marc. XIV, 8, 13: Haec quoque civitates habet inter oppida
quaedam ingenies Bostram et Geras am aique Philadelphias murorum fir-
miiate cautissimas. — Vgl. Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 64: reoaad,
ndkiq hdöTjfxoQ zfjq 'Aqaßlag. .
389) Hieronymus in Obadjam v. 19 (Vallarsi VI, 381: Benjamin autem
• . . cunetam possidebit Arabiam, quae prius vocabatur Qalaad et nunc Ge-
rasa nuneupatur. Auch ein später Midrasch (bei Neubauer, Oiographie du
Talmud p. 250) sagt, daß «na Gilead sei.
390) Steph. Byz. s. v. rioaoa* ig afaffc. 'Aolozctv fäzwo ciorstöq ioriv . . .
xal KJJQvxoc. ooipior^q xal IlXdxwv vofuxdq $%zq>q. — Zu diesen ist noch
hinzuzufügen der neupythagoreische Philosoph und Mathematiker Niko-
machus aus Gerasa, 2. Jahrh. n. Chr. Vgl. oben S. 55.
391) Epiphan. haer. 73, 26. Le Quien, Oriens Christ. II, 859 sq.
190 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [144. 145]
(nan) genannt392. Bei Polybius heißt sie Rabbat- Aman a89$, bei
Eusebius, Hieronymus und Steph. Byz. Amman und Ammana394. |
Die Lage der Stadt ist sicher bezeugt durch die Ruinenstätte süd-
lich von Gerasa, welche noch heute den Namen Amman trägt
Die Ruinen gehören, wie die von Eanatha und Gerasa, der römi-
schen Zeit an 395. Den Namen foXadilyeia erhielt die Stadt durch
Ptolemäus IL Philadelphia, auf welchen demnach auch ihre
Hellenisierung zurückzufahren ist396. Zur Zeit Antiochus' d. Gr,
war sie eine starke Festung, die Antiochus im Jahre 218 vor Chr.
392) Deut. 3, 11. Josua 13, 25. II Sam. 11, 1. 12, 26—29. 17, 27. Jerem.
49, 2—3. Exech. 21, 25. 25, 5. Arnos 1, 14. I Chron. 20, 1. Ober die Iden-
tität von Rabba der Ammoniter mit Philadelphia s. unten die Stellen ans
Eusebius, Hieronymus und Steph. Byz. (Anm. 394 u. 396).
393) Polyb. V, 71: 'Pafißaräftava. Hiernach Steph. Byx. (s. v.)i 'Paßßazdf**
flava, ndXiq xrjq öoeivrjq 'Aoaßlaq.
394) Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 16: lAfxpäv % vvv 4>iXaöeX<pla,
nöXiq iniorj/noq xfjq 'Ayaßiaq. — Ibid. p. 24: 'Afift&v . . . avrrj iarlv *Aß/näv %
xal <PtXaöeX<pla, nöXiq inlöTjfioq xrjq 'Agaßlaq. — Vgl. ibid. p. 146: *Paßßa&
[cod. 'Paßßd] ndXiq ßaoiXelaq 'Ap/xwv, avzrj iatl 4>iXadeX<pla. — Hieronymus,
Oomment. in Nahum 3, 8 ff. opp. ed. Vallarsi VI, 572: Ammana, quae nunc
voeatur Philadelphia. — Steph, Byx. s. Anm. 396.
395) S. übern.: Seetzen, Reisen I, 396 ff. IV, 212 ff. Burckhardt,
Reisen H, 612—618. 1062. Ritter, Erdkunde XV, 2, 1145—1159. De Saulcy,
Voyage en Terre Sainte, 1865, I, 237 sqq. (mit Plan). Bädeker-Socin, Palfi-
stina 3. Aufl. S. 187 ff. (mit Plan). Merrill, East of the Jordan p. 399 sqq.
Oonder, Quarierly Statement 1882, p. 99—112. The Survey of Eastern Pah-
stine vol. I, by Conder, 1889, p. 19—64 (eingehendste Beschreibung der Rui-
nen mit genauem Plan). Benzinger, Zeitschr. des DPV. XIV, 73 f. Gautier,
Au dela du Jourdain, Oeneve 1896, p. 93—110 (mit Abbildungen). Schreiber,
Festschrift für Kiepert 1898, 8. 335, 336, 340. — Abbildungen: Laborde,
Voyage en Orient {Paris 1837 sqq.) livr. 28—29. Brünnow und Doma-
szewski, Die Provincia Arabia II, 1905, S. 216—220 (hier S. 216 auch noch
andere Literatur verzeichnet). — Für das Historische außer Ritter auch die
Artikel über „Rabbath Ammon" in Winers RWB., Herzogs Real-Enz.
(1. Aufl. XII, 469 f.), Schenkels Bibel-Lex., Riehms WB. Kuhn H, 383 f.
Le Strange, PaUstme under the Moslems p. 391 — 393. Eneyclopaedia bibliea
s. v. Rabbah. Thomsen, Loca sancta S. 113.
396) Steph. Byx. s. v. <PiXaö£X<peia . . . xrjq Svglaq ini<pav^q ndXiq, f)
ngöxegov "Afi flava, eZr' 'Aoxdoxrj, elxa <PiXaötX<peia and IlzoXefJtaiov toi; #i-
XadiXipov. — Hieronymus in Exech. c. 25 (Vallarsi V, 285): Rabbath, quae
hodie a rege Aegypti Ptolemaeo cognomento Philadelpho, qui Arabiam tenuit cujn
ludaea, Philadelphia nuneupata est. — L. Müller (Numismatique d Alexandre
le Orand p. 309, planches n. 1473 sqq.) weist einige Münzen Alexanders
d. Gr. mit den Buchstaben <Pi unserm Philadelphia zu. Obwohl es möglich
ist, daß mau auch noch zur Zeit des Ptolemäus II. Münzen mit dem Namen
Alexanders geprägt hat (s. oben Anm. 197), so scheint mir die Richtigkeit
dieser Erklärung doch unsicher. Man kann z. B., wenn man in die Zeit des
Ptolemäus II. herabgehen will, auch an Philoteria (Polyb. V, 70) denken.
[145. 146] I. Die hellenistischen Städte. 23. Philadelphia. 191
vergeblich mit Sturm zu nehmen suchte und erst dann in seine
Gewalt bekam, als ihm ein Gefangener den unterirdischen Gang
zeigte, durch welchen die Einwohner zum Wasserschöpfen hinab-
stiegen; diesen verstopfte Antiochus und zwang so die Stadt durch
Wassermangel zur Übergabe397. Um das Jahr 135 vor Chr. (beim
Tode des Makkabäers Simon) war Philadelphia in der Gewalt eines
gewissen Zeno Kotylas (Antt. XIII, 8, 1. Bell. Jud, I, 2, 4). Ale-
xander Jannätts hat es nicht erobert, während er nördlich Gerasa
und sudlich Esbon | in seiner Gewalt hatte. Darum wird Phila-
delphia auch nicht unter den Städten genannt, welche durch
Pompeius vom jüdischen Gebiete abgetrennt wurden. Doch wurde
es von Pompeius dem Städtebund der Dekapolis eingefügt398 und
hat darum die pompeianische Ära399. Herodes kämpfte in der
Gegend von Philadelphia gegen die Araber400. Im Jahre 44 nach
Chr. entstanden blutige Händel zwischen den Juden Peräas und
den Philadelphenern wegen der Grenzen eines Dorfes, das in
unserem jetzigen Josephus-Texte Mia heißt, wofür aber wahrschein-
lich Zia zu lesen ist (Antt. XX, 1, l)401. Kömische Soldaten, die
aus Philadelphia stammten, kommen schon seit etwa 69 nach Chr.
vor402. Beim Ausbruch des jüdischen Krieges wurde Philadelphia
397) Polyb. V, 71. — Conder hat bei seinen Vermessungsarbeiten in Am-
man im Norden der Bnrg einen Gang aufgefunden, welcher möglicherweise
mit dem von Polybius erwähnten identisch ist, s. Athenaeum 1883, Nr. 2906,
p. 832: the discovery at Amman. Vgl, auch Quarlerly Statement 1882, p. 109,
und bes. The Survey of Eastern Palestine vol. I, by Oonder, 1889, p. 34.
398) Plmius V, 18, 74. Wegen Ptolemaeus s. oben S. 149.
399) Chron. paschale (ed. Dvndorf I, 361) ad Olymp. 179, 2 =» 63 a. Chr.:
<PiXaöeX<peZ<; ivzevd-ev olq&ixovoi xovq kavxibv zq6V0VG- — Die Ära fi°det sich
öfters auch auf Münzen. S. über diese: Noris 1H, 9,2 (ed. Lips. p. 308—316).
Eckhel III, 351. Mionnet V, 330—333. Suppl.VHI, 232—236. De Saulcy
p. 386—392, pl. XXII n. 3—9. Leake, Numismata Hellenica 1854, p. 151.
Wroth, Catalogue of the greeh coins of Oalatia, Cappadoeia and Syria [in the
Brit. Mus.) 1899, p. 306.
400) B. J. 1, 19, 5. An der Parallelstelle Antt. XV, 5, 4 wird Philadelphia
nicht genannt.
401) Ein Dorf Zia 15 m. p. westlich von Philadelphia erwähnt Eusebins,
Onomast. ed. Klostermann p. 94: xal toxi v$v Zia xwfirj ö)g &nb le orißelwv
<PtkaöeX(pla<; inl övöfxdq. Die Vermutung, daß bei Josephus a. a. 0. Zia zu
lesen sei, haben schon Bei and (p. 897), Havercamp (zu Jos. I. c.) und
Tuch (Quaestiones de Flavii Josephi libris historicis, Lips. 1859, p. 19 sq.)
ausgesprochen.
402) Ein Proculus Rabili flilius) aus Philadelphia diente in der cohors II
ltaliea civium Romanorum, welche um 70 n. Chr. in Syrien stand. Sein in
Carnuntum (an der Donau unterhalb Wiens) gefundener Grabstein macht es
wahrscheinlich, daß er unter den Truppen sich befand, welche Marianus Ende
69 n. Chr. aus Syrien nach dem Abendlande führte (Bormann, Archäologisch-
192 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [146. 147]
von den aufständischen Juden überfallen (Ä /. II, 18, 1). — Wie
Gerasa so wird auch Philadelphia von dem unter Antoninus Pius
schreibenden Geographen Ptolemäus zur Provinz Syrien gerechnet,
und zwar zur Kolli] SvqIcl (PtoL V, 15, 22—23 = Didotsche Ausg.
V, 14, 18, vgl. dazu oben S. 149). Dem entspricht es, daß auch bei
Stephanus Byz. und auf Münzen gerade die Städte der Dekapolis
als solche der Kolky JSvqIcc bezeichnet werden (bei Steph. Byz.:
Skythopolis, Pella, Dium, Gerasa; auf Münzen: Abila bis Caracalla,
Gadara bis Elagabal). Die Münzen von Philadelphia mit der Auf-
schrift $>iXadsX<p(wi> KoIXtjs JSvQlag gehen aber bis | Alexander
Severus403. Bei Abila und Gadara kann nun der Zusatz Kou Svq.
auch im amtlichen römischen Sinne korrekt sein. Denn als unter
Septimius Severus Syrien in Syria Pkoenice und Syria Code geteilt
wurde (letzteres das nördliche und innere Syrien mit der Haupt-
stadt Antiochia umfassend)404, können die Städte der Dekapolis
trotz ihrer südlichen Lage sehr wohl bei Syria Coele geblieben sein.
Philadelphia aber hat sicher seit Trajan zur Provinz Arabia
gehört Die Gründe, die in dieser Hinsicht oben für Gerasa bei-
gebracht worden sind (S. 186 f.), gelten auch für das weiter südlich
gelegene Philadelphia. Durch den Statthalter C. Claudius Severus
wurde unter Trajan im Jahre 111 nach Chr. eine neue Straße von
Bostra nach Petra gebaut, um diese beiden wichtigsten Städte der
neugegründeten Provinz Arabia unter sich und mit dem Koten
Meere zu verbinden. Diese Straße führte aber über Philadelphia.
Also muß auch dieses zu Arabia gehört haben. Dies muß ohnehin
schon deshalb angenommen werden, weil bereits das nördlicher
gelegene Gerasa zu Arabia gehörte. Für die Zeit des Antoninus
Pius haben wir auch einen direkten Beweis für die Zugehörigkeit
Philadelphias zu Arabien, nämlich einen in Philadelphia gefundenen
Votivstein mit der Aufschrift /. 0. M. Conservatori L. Aemüius Carus
leg. Aug. pr. prA0b. L. Aemilius Carus ist uns als Statthalter
Arabiens aus der Zeit des Antoninus Pius bekannt406. Es ist
epigraphische Mitteilungen aus Österreich-Ungarn XVIII, 1895, S. 218 f. 223 f.
Corp. biscr. Lot. III Suppl. n. 13483 a). — Ein M. Ulpiiis C. fU. aus Phila-
delphia kommt in einer Liste vom J. 194 n. Chr. vor (Corp. Imcr. Lot. Hl
Suppl. n. 6580). Auch hier ist wohl unser Philadelphia gemeint (Mommsen,
Ephem. epigr. V, 206).
403) Mionnet Suppl. VIII, 236. De Saulcy p. 392.
404) Marquardt, Römische Staatsverwaltung I, 423.
405) Mitteilungen u. Nachrichten des DPV. 1896, 8. 3—4 = Corp. Inscr.
Lot. III Suppl. n. 14149, 1.
406) Über die Frage, wann Philadelphia zur Provinz Arabien gezogen
worden sei, gehen die Ansichten ähnlich wie bei Gerasa auseinander (s. oben
[147. 148] I. Die hellenistischen Städte. 23. Philadelphia. 193
also im amtlichen Sinne korrekt, wenn auf einer Inschrift aus der
Zeit Mark Aureis Philadelphia 4>tZadiX<peta r% 'ÄQaßlag heißt407.
Daß es sich trotzdem auf den Münzen noch von Hadrian bis
Alexander Severus <PiX. KolXrjg SvQlaq nannte, ist auffallend;
scheint aber zu den antiquarischen Liebhabereien zu gehören, in
welchen diese Städte ihre Selbständigkeit suchten. Der Gebrauch
der lokalen Ära statt der Ära der Provinz liegt auf* derselben
Linie. Über die Angabe des Ptolemäus ist hier ebenso zu urteilen,
wie bei Gerasa (s. oben S. 186). — Im vierten Jahrhundert war
Philadelphia eine der | bedeutendsten Städte der Provinz Arabia408.
— Josephus erwähnt das Gebiet von Philadelphia ($iXaÖ6Xg)?]vrj/) als
Ostgrenze Peräas (Ä /. III, 3, 3). Wenn die Vermutung richtig
ist, daß Jos. Antt. XX, 1, 1 Zia zu lesen ist, so erstreckte sich das
Gebiet von Philadelphia etwa 15 m.p. weit westlich von der Stadt;
d. h. es gehörte von dem zwischen dem Jordan und der Stadt
liegenden Lande reichlich die Hälfte zum philadelphenischen Ge-
biete.
Von sämtlichen bisher besprochenen Städten ist es
zweifellos, daß sie selbständige politische Kommunen
Anm. 377). Auf die Bedeutung des genannten Votivsteines hat Clermont-
Ganneau hingewiesen (ßtudes d' Archäologie Orientale t. II, 1897 ™ Biblioth&que
de Pieole des hautes itudes faso. 113, p. 88 sq.). Er schließt ßich dabei an
Li eben am an, welcher die arabische Statthalterschaft des Aemilius Carus
um 120 n. Chr. ansetzt (Forschungen zur Verwaltungsgesch. des röm. Kaiser-
reichs I, 44). Dieser Ansatz ist aber nicht begründet. Wir kennen zwar den
cursus honorum des Aemilius Carus sehr genau aus der römischen Inschrift
Oorp. Inser. Lat. VI n. 1333. Hiernach war er in jüngeren Jahren u. a. tri-
btmus militum legionis IX Hispanae, später Statthalter von Arabien, Gal-
lia Lugdunensis und Eappadozien. Dazu kommt noch die auf jener
Inschrift nicht erwähnte, also später fallende Statthalterschaft von Dacien
(Oorp. Inser. Lat. HI n. 1153. 1415. Suppl. 7771, überall: L. Aemilius Carus
leg. Aug. pr. pr. III Daeiarum). Für die Chronologie haben wir aber nur zwei
Anhaltspunkte: 1) Die leg. IX Bisp. kommt unter Antoninus Pius und später
nicht mehr vor; also hat Carus wahrscheinlich noch unter Hadrian als Tribun
gedient. 2) Die Provinz Dacien ist erst durch Mark Aurel in drei Provinzen
geteilt worden; al60 war Carus nicht früher Statthalter dieser Provinz. Hier-
nach läßt sich nur sagen, daß seine Laufbahn hauptsächlich unter Antoninus
Pius fallt (Borghesi, Oeuvres IV, 159. Bohden, De Palaestina et Arabia etc.
1885, p. 49 sq. Pauly-Wissowa, Real-Enz. I, 549. Prosopographia imperii Ro-
mani I ed. Klebs 1897 p. 27). Jedenfalls war er unter Antoninus Pius Statt-
halter von Arabien, wie das oben Anm. 382 mitgeteilte Inschriften-Fragment
von Gerasa beweist.
407) Le Bas et Waddington, Inscriptions t. III n. 1620h. Vgl. oben
8. 48.
408) Ammian. MarceUin. XIV, 8, 13 (s. oben Anm. 388). Vgl. auch die
Stellen aus Eusebius, oben Anm. 394.
Schür er, Geschichte IL 4. Aufl. 13
194 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. 148. 149]
bildeten, die — wenigsten» seit der Zeit desPorapeius —
ni|e innerlich mit dem jüdischen Gebiete zu einer einheit-
lichen Organisation verschmolzen, sondern höchstens
äußerlich unter demselben Herrscher mit ihm vereinigt
waren. Fast alle Lhaben eine vorwiegend heidnische, seit dem
dritten Jahrhundert vor Chr. mehr und mehr hellenisierte Be-
völkerung. Nur in Jope und Jamnia und vielleicht in Azotus hat
seit der Makkabäerzeit das jüdische Element das Übergewicht
gewonnen. Aber auch diese Städte nebst ihrem Gebiet bilden
nach wie vor selbständige politische Gemeinden. — Unter dieselbe
Kategorie gehören nun auch, wie Kuhn mit Recht annimmt409,
die vonHerodes und seinen Söhnen neugegründeten Städte.
Zwar haben manche von ihnen eine vorwiegend jüdische Bevöl-
kerung. Aber auch wo dies der Fall war, war doch die Verfassung
nach hellenistischer Weise organisiert, wie namentlich das Beispiel
von Tiberias zeigt; in den meisten wird ohnehin die heidnische
Bevölkerung überwogen haben. Es ist daher nicht anzunehmen,
daß sie der Organisation des | jüdischen Landes einverleibt waren,
sondern sie nehmen innerhalb desselben eine ähnliche unabhängige
Stellung ein, wie die älteren hellenistischen Städte. Ja in Galiläa
scheint umgekehrt das jüdische Land, das freilich auch mit heid-
nischen Elementen durchsetzt war, den neuerbauten Hauptstädten
— zuerst Sepphoris, dann Tiberias, dann wieder Sepphoris —
untergeordnet worden zu sein (vgl. die betreffenden Artikel). —
Unter den von Herodes erbauten Städten gehören jedenfalls hier-
her die beiden wichtigsten: Sebaste = Samaria und Cäsarea,
von welch letzterem bereits oben (Nr. 9) die Rede gewesen ist
Von geringerer Bedeutung sind Gaba in Galiläa und Esbon in
Peräa (AntK XV, 8, 5); auch sie sind aber sicher als vorwiegend
heidnische Städte zu betrachten, da sie beim Ausbruch des jüdischen
Krieges ebenso von den aufständischen Juden tiberfallen wurden,
wie etwa Ptolemais und Cäsarea, Gerasa und Philadelphia (Bell.
Jud. II, 18, 1). Endlich sind als von Herodes gegründete Städte
noch zu erwähnen An tipatris und Phasaelis, während das^mit
letzterem zusammen genannte Kypros ein bloßes Kastell bei Jericho,
keine x6hg war (R /. I, 21, 9. Antt.XVl, 5, 2); das gleiche gilt auch
von den Festungen Alexandreion, Herodeion, Hyrkania, Masada
und Machärus. — Von den Söhnen des Herodes hat Archelaus nur
das Dorf (xcof/rf) Archelais gegründet410. Philippus dagegen er-
409) Die städtische [und bürgerliche Verfassung des rom. Reichs II,
346-348.
410) Vgl. Ober dieses Jos. Antt. XVII, 13, 1. Antt. XVIII, 2, 2. Plinius
[149. 150] I. Die hellenistischen Städte. 24. Sebaste. 195
baute Oäsarea = Panias und Julias = Bethsaida, Herodes
Antipas die Städte Sepphoris, Julias = Livias und Tiberias.
Es ist demnach noch von folgenden zehn Städten zu handeln:
24. [Sebaste = Samaria411. Die Hellenisierung der Stadt
Samaria (hebräisch Trfljfc) ist bereits ein Werk Alexanders d. Gr.
Die Samaritaner hatten während Alexanders Aufenthalt in Ägypten
(332/331 vor Chr.) den Andromachus, den Befehlshaber von Cöle-
syrien, ermordet Als daher Alexander aus Ägypten zurückkehrte
(331 | vor Chr.), hielt er über die Schuldigen strenges Gericht und
siedelte in Samaria macedonische Kolonisten an412. Die Chronik
des Eusebius spricht auch von einer Neugründung durch Perdik-
kas413, die er bei seinem Feldzuge gegen Ägypten, kurz vor seinem
Tode (321 vor Chr.), vorgenommen haben könnte. Da aber eine
Neugründung so bald nach der Kolonisierung durch Alexander
d. Gr. unwahrscheinlich ist, hat man vielleicht anzunehmen, daß
beide identisch sind, daß also Perdikkas im Auftrage Alexanders
gehandelt hat414. Wie in alter Zeit so war Samaria auch jetzt
noch eine wichtige Festung. Sie wurde darum von Ptolemäus
Xm, 4, 44. PtoUm. V, 16, 7 — Didoteche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 5. Mosaik-
karte von Medaba, Schulten, Abh. der Göttinger Ges. d. Wiss. phil.-hist. XI.
N. F. Bd. IV Nr. 2, 1900, S. 6. Nach der tabula Peutmger. lag Arcdais an
der Straße von Jericho nach Skythopolis, 12 m. p. von Jericho, 24 m. p. von
Skythopolis (eine dieser Ziffern, wahrscheinlich die letztere, ist zu klein, s.
oben § 17c, I, 452). Vgl. auch Robinson, Palästina II, 555. Ders., Neuere
bibl. Forschungen S. 399 f. Ritter XV, 1,457. Quirin, Samarie I, 235—238.
The Survey of Western Palestine, Memoire by Conder and Kitchener II, 387.
395 *?•; dazu Bl. XV der Karte. G. A. Smith, Eistorical Qeography p. 354.
411) Vgl. überhaupt: Bei and p. 979—983. Paulys Enz. VI, 1, 727 f.
Winer s. v. Samaria. Raumer S. 159 f. Robinson, Palästina III, 365—378.
Ritter, Erdkunde XVI, 658— 666. Quirin, Samarie II, 188— 210. Bädeker-
Socin 3. Aufl. S. 226 f, Sepp, Jerusalem II, 66—74. The Survey of Western
Palestine, Memoire by Conder and Kitchener 11, 160 sq. 211 — 215 (mit Plan);
dazu Blatt XI der großen englischen Karte. Thomsen, Loca sancta p. 102.
412) Gurtius Bufus IV, 8: Oneravit hunc dolorem ntmtius mortis Andro-
macht, quem praefecerat Syriae: vivum Samaritae cremaverant. Ad cujus tn-
teritum vindicandum, quanta maxime celeritate potuit, contendü, advenientique
sunt traditi tanti sceleris auctores. — Euseb. Chron. ed. Schoene II, 114 (ad
arm. Abr. 1680, nach dem Armenischen): Andromachum regionum illarum pro-
curatorem constituit, quem incolae urbis Samaritarum interfecerunt : quos Alexan-
der ab Egipto reversus punivit: capta urbe Macedonas ut ibi habitarent
collocavit. — Ebenso Syncell. ed. Dindorf I, 496: x^v UaftaQSiav ndXiv
kXiov 'AXi£avö(>oq Maxedövaq iv avcy xazipxiosv.
413) S. unten Anm. 416, und dazu Droysen III, 2, 204. Ewald, Gesch.
des Volkes Israel IV, 293.
414) So W illrich, Juden und Griechen vor der makkabäischen Er-
hebung (1895) S. 16—18.
13*
196 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [150. 151]
Lagi geschleift, als dieser im Jahre 312 das kurz zuvor eroberte
Cölesyrien dem Antigonus wieder preisgab415. Etwa fünfzehn
Jahre später (um 296 vor Chr.) wurde Samaria, das wohl inzwischen
wiederhergestellt worden war, von Demetrius Poliorketes in seinem
Kampf gegen Ptolemäus Lagi abermals zerstört416. Von da an
fehlen für längere Zeit spezielle Daten über die Geschichte der
Stadt. Polybius erwähnt zwar, daß Antiochus d. Gr. bei seiner
ersten und zweiten Eroberung Palästinas (218 und 198 vor Chr.)
die Landschaft Samarien besetzte417; aber des Schicksales der Stadt
wird dabei nicht gedacht Von Interesse ist, daß die Landschaft
Samarien unter den Ptolemäern wie unter den Seleuciden in ähn-
licher Weise | wie Judäa eine eigene Provinz bildete, die wieder
in einzelne vofiol zerfiel418. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts
vor Chr., als die seleucidischen Epigonen das Umsichgreifen der
jüdischen Macht nicht mehr zu hindern vermochten, fiel Samaria
der jüdischen Eroberungspolitik zum Opfer: noch unter Johannes
Hyrkanus (um 107 vor Chr.) wurde die Stadt — damals eine xoZtg
oxvQcotaTT) — von dessen Söhnen Antigonus und Aristobulus nach
einjähriger Belagerung erobert und gänzlich dem Untergang preis-
gegeben (Antt. XIII, 10, 2—3. Bell. Jud. I, 2, 7)419. Alexander Jan-
näus besaß die Stadt oder deren Ruinen (Ana. XIII, 15, 4). Durch
Pompeius wurde sie vom jüdischen Gebiete getrennt und von nun
an nie wieder organisch mit demselben verbunden (Antt XIV, 4, 4.
B. J. I, 7, 7). Ihre Wiedererbauung ist ein Werk des Gabinius
(Antt. XIV, 5, 3. B. J. I, 8, 4). Daher nannten sich die Einwohner
vorübergehend auch raßivcslg420. Augustus verlieh die Stadt dem
Her ödes (Antt. XV, 7, 3. B. J. I, 20, 3); und erst durch diesen ge-
415) Diodor. XIX, 93. — Vgl. oben Anm. 70 (Gaza), 146 (Jope), 198 (Pto-
lemais).
416) Euseb. Chron. ed. Schoene II, 118 (ad Olymp. 121, 1 — 296 v. Chr.,
nach dem Annenischen): Demetrius rex Asianorum. Poliorcetes appelkUus, Sa-
maritanorum urbem a Perdica constructam (s. incolis frequentatam) totam ce-
pit. Dieselbe Stelle nach Rieronymus (bei Schoene II, 119): Demetrius rex
Asiae coynomento Poliorcetes Samaritanorum urbem vastat quam Perdicca ante
construxerat. — Syncell. ed. Dindorf I, 519: Jijfz^tQioq 6 IIoXiOQXTjt^Q xfjv
nbXiv HafxaQiiov indQ^aev. Ebenso I, 522. — Vgl. Droysen II, 2, 243.
255. Stark S. 361.
417) Polyb. V, 71, 11. XVI, 39 = Joseph. Ant. XII, 3, 3.
418) S. überh.: Antt. XII, 4, 1. 4. I Uakk. 10, 30. 38. 11, 28. 34.
419) Wegen der Chronologie vgl. oben § 8 (I, 268).
420) Cedrenus ed. Bekker I, 323: rfv z(bv raßivltov [1. raßivUcav] nöhv,
rfv noxs Saftdoeiav, [Herodes] tnixzlaaq Seßaazfyv ahx^v Ttoooriyöoevos. Ce-
drenus verwechselt hierbei freilich Herodes den Großen mit Herodes Antipas
und diesen wieder mit Herodes Agrippa.
[151. 152] li Die hellenistischen Städte. 24. Sebaste. 197
langte sie wieder zu neuer Blüte. Während sie bisher eine zwar
feste, aber verhältnismäßig kleine Stadt gewesen war, wurde ihr
Umfang von Herodes bedeutend erweitert, so daß sie nun —
zwanzig Stadien im Umkreis — - den bedeutendsten Städten nicht
nachstand. In der so erweiterten Stadt siedelte Herodes sechs-
tausend Kolonisten an, teils ausgediente Soldaten, teils Leute aus
der Umgegend. Die Kolonisten erhielten treffliche Ländereien. Auch
die Befestigungswerke wurden erneuert und erweitert. Endlich
erhielt die Stadt durch Errichtung eines Augustustempels und
anderer Prachtbauten auch den Glanz moderner Kultur421. Der
neugegründeten Stadt gab Herodes zu Ehren des Cäsar, der vor
kurzem den Titel Augustus angenommen hatte, den Namen SsßaorTJ
(Antt. XV, 8, 5. B. /. L 21, 2. Strabo XVI p. 760). Die Münzen der
Stadt haben die Aufschrift 2sßaGxr\v<x>v oder SsßaCTijvcop 2vQ(la$)
und eine eigene Ära, deren Ausgangspunkt das Jahr der | Neu-
grttndung ist, nach gewöhnlicher Annahme 25 vor Chr., vielleicht
richtiger 27 vor Chr.422. Unter dem neuen Namen Sebaste (nDoao)
wird die Stadt auch in der rabbinischen Literatur erwähnt423.
Wenn Josephus sagt, Herodes habe ihr eine „ausgezeichnete Ver-
fassung", i^aiQsxov evvo/ilav, verliehen (B. J. I, 21, 2), so werden
unsere Kenntnisse dadurch freilich nicht bereichert Es ist aber
421) Von einer großen Säulenstraße, welche sich am Hügel entlang
zog, und deren Erbauung wahrscheinlich dem Herodes zuzuschreiben ist, sind
noch heute ansehnliche Reste erhalten. S. darüber die oben Anm. 411 zitierte
Literatur. Die Säulen stecken jetzt zu reichlich einem Drittel im Erdboden,
s. Clermont-Ganneau, Archaeological Researches in Palestine vol. II, 1896,
p. 335.
422) Über das Datum der Neugründung s. § 15 (I, 366). — Ober die
Münzen überhaupt: Noris V, 5, 1 (ed. Lips. p. 531-536). Eckhel, HE,
440 sq. Musei Sanclementiani Numismata selecta Pars II, lib. IV, 303—308.
Mionnet V, 513-516; Suppl. VIII, 356— 359. De Saulcy p. 275—281. pl. XIV
n. 4 — 7. — Auf einer angeblich in Sebaste gefundenen Inschrift rindet sich das
Datum IkovQ is xotxb. xzioiv ryq ndleoq (Revue biblique III, 1894, p. 260). Der
Fundort der Inschrift ist aber nicht Sebaste, sondern Jrbid in Peräa (American
Journal of Philology VI, 1885, p. 203, vgl. Mitt. u. Nachr. des DPV. 1900,
S. 17, Reime biblique HI, 1894, p. 623. Die an letzterer Stelle gegebene Kopie
erkennt Clermont-Ganneau, fitudes d'archSoloyie Orientale T. I, 1895,
p. 142 sq. gegenüber einer früher von ihm selbst, Reeueü I, 18, mitgeteilten
als die genauere an). Im J. 1899 befand sich der Stein „im Besitze der ara-
bischen Hotelwirtin in Dschenin" (Mitt. u. Nachr. des DPV. 1900, 8. 9, wo
Seilin die Inschrift als vermeintliches ineditum mitteilt).
423) Mischna Arachin III, 2 (die „Lustgärten von Sebaste", ^üönö mo^B,
werden hier als Beispiel besonders wertvoller Landereien angeführt, s. den
Kommentar Bartenoras in Surenhusius' Mischna V, 198). Neubauer, Geo-
graphie du Talmud p. 171 sq. Krauß, Griech. u. lat. Lehnwörter im Talmud
II, 1899, S. 370.
198 § 23* Verfassung. Synedriom. Hohepriester. , [152. 153]
aus anderen Gründen wahrscheinlich, daß die Landschaft Samarien
der Stadt Sebaste in ähnlicher Weise untergeordnet war, wie
Galiläa der Hauptstadt Sepphoris (beziehungsweise Tiberias)jmd
wie Judäa Jerusalem. Bei den Unruhen der Samaritaner unter
Pilatus wird nämlich ein „Rat der Samaritaner", SapäQicov
ff ßovlrj, erwähnt, der doch auf eine einheitliche Organisation der
Landschaft hindeutet (Antt. XVIII, 4, 2) 424. Sebastenische Soldaten
dienten im Heere des Herodes und ergriffen bei den nach dem
Tode des Herodes in Jerusalem ausgebrochenen Kämpfen die Partei
der Römer gegen die Juden (Ä J. II, 3, 4; 4, 2—3; vgl Antt. XVII,
10, 3). Bei der Teilung Palästinas nach dem Tode des Herodes
kam Sebaste samt dem übrigen Samarien an Archelaus (Antt.
XVII, 11, 4. B. J. II, 6, 3), nach dessen Verbannung unter römische
Prokuratoren, dann vorübergehend an Agjrippa I., dann wieder
unter Prokuratoren. In dieser letzteren Zeit bildeten sebastenische
Soldaten einen Hauptbestandteil der in Judäa stationierten römi-
schen Truppen (s. oben S. 106 und Bd. I, S. 460—462). Beim Aus-
bruch des jüdischen Krieges wurde Sebaste von den aufständischen
Juden überfallen (B. /. n, 18, 1). Die Stadt Sebaste mit ihrer wohl
vorwiegend heidnischen Einwohnerschaft ist damals ohne Zweifel,
wie schon | bei den Unruhen nach dem Tode des Herodes (Antt.
XVII, 10, 9. R /. II, 5, 1) auf Seiten der Kömer geblieben, während
allerdings die nationalen Samaritaner in der Gegend von Sichern
eine schwierige Haltung annahmen (R /. III, 7, 32). — Unter Sep-
timius Severus wurde Sebaste römische Kolonie425.^ Es trat aber
jetzt an Bedeutung immer mehr hinter dem aufblühenden Neapolis
(= Sichern) zurück426. Eusebius und Stephanus Byz. nennen Se-
baste nur noch ein „Städtchen"427. Trotzdem war sein Gebiet so
groß, daß es z. B. das 12 m. p. nördlich von der Stadt liegende
Dothaim noch mit umfaßte428.
424) Über die Verfassung und politische Stellung, welche Herodes der
Stadt gab, s. bes. Kuhn, Über die Entstehung der Städte der Alten (1878)
S. 422 f. 428 ff.
425) Dlyest. L, 15, 1, 7 (aus Ulpianus): Divus quoque Severus in Sebastenam
ciritatem coloniam deduxit. — Auf Münzen: COL. L. SEP. SEBASTE. — Vgl.
Eckhel III, 441. Zumpt, Oommentationes \epigr. I, 432. Kuhn II, 56. Die
Münzen bei Mionnet und De Saulcy a. a. 0.
426) Ammianus Marcellinus XIV, 8, 11 nennt Neapolis, aber nicht Se-
baste, unter den bedeutendsten Städten Palästinas. Vgl. oben Anm. 117.
427) Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 154: üeßaozrjv, x^v v$v noXlx-
vtjv zfjq TlaXaiaxivriq. — Steph. Byx. s. v. Seßaartf . . . eou Sh xdl iv t$
Saptagehidi noXlxviov.
428) Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 76: /dio&aeifjt . . . öiapivei iv
ögioiq Seßaart]g, an^t Sh avtfjq afjtusloig iß ixl rä ßdgeia filor}.
[153« 154] X Die hellenistischen Städte. 25. Gaba. 199
25. Gaba, raßa oder raßa. Der Name entspricht dem hebräi-
schen fttt oder n*n|, Hügel, und ist als Ortsname in Palästina nicht
selten. Für uns handelt es sich hier nur um ein Gaba, das nach
den bestimmten Angaben des Josephus am Earmel lag, und zwar
in der großen Ebene, in der Nähe des Gebietes von Ptolemais und
der Grenze Galiläas, also am nordöstlichen Abhänge des Karmel
(s. bes. Bell. Jud. III, 3, 1 und Vita 24). Hier siedelte Herodes eine
Kolonie von ausgedienten Reitern an, nach welchen die Stadt auch
otoXiq htxicov genannt wurde (Ä J. III, 3, 1. Änit. XV, 8, 5)429. Aus
der Art, wie die Stadt an den beiden Stellen B. J. III, 3, 1, Vita 24
erwähnt wird, sieht man deutlich, daß sie nicht zum Gebiete von
Galiläa gehörte. Da ihre Bevölkerung eine vorwiegend heidnische
war, wurde sie beim Beginn des jüdischen Aufstandes von den |
Juden überfallen (Ä /. II, 18, 1), während sie hinwiederum am Kampf
gegen die Juden aktiven Anteil nahm ( Vita 24). — Dieselbe Stadt
ist wahrscheinlich das bei Plinius erwähnte Oeba am Karmel430.
Was dagegen an sonstigem Material angeblich über unser Gaba
von den Gelehrten beigebracht worden ist, hat mehr dazu gedient,
die Fragen nach seiner Lage und Geschichte zu verwirren, als
sie aufzuhellen431. Ein Gabe 16 m. p. von Cäsarea wird von Eu-
sebius erwähnt; aber die angegebene Entfernung ist für die Lage
nordöstlich vom Karmel zu gering432. Noch unwahrscheinlicher ist
429) Die letztere Stelle (Äntt. XV, 8, 5) lautet nach dem überlieferten
Texte: ?v xe xo> peydXy neM(j>, x(bv imXtxxwv htnimv negl abxöv 3moxXtjqu>-
aaq, fwolov owixuoev htl xe t§ raXiXala Taßa xaXovfievov xal xjj Uegala
x>jv ^aeßwvtxiv. Hiernach könnte man meinen, HerodeB habe drei Kolonien
gegründet: 1) einen ungenannten Ort in der großen Ebene, 2) einen Ort na-
mens Gaba in Galiläa, und 3) Esebonitis in Peräa. Die beiden enteren sind
aber sicher identisch; das xe nach inl ist zu streichen, und der Sinn von inl
t$ raXiXalq ist, wie der ganze Zusammenhang der Stelle zeigt: „zur Beherr-
schung Galiläas". Es wird hierdurch auch bestätigt, daß Gaba am östlichen
Abhänge des Karmel lag. — Übrigens schwankt sowohl hier als in B. J. III,
3, 1 die Lesart zwischen raßa und raßaXa. Doch verdient ersteres den
Vorzug.
430) Ptinius H. N. V, 19, 75.
431) 8. überh.: Beland p. 769. Paulys Enzykl. III, 563. Kuhn, Die
städt. u. bürgerl. Verf. II, 320. 350 f. Ders., Über die Entstehung der Städte
der Alten 8.424. Qu and t, Judäa und die Nachbarschaft im Jabrh. vor und
nach der Geburt Christi (1873) S. 120 f. Geiz er in seiner Ausg. des Oeorgius
Cypriu8 1890 p. 196 sq. Schlatter, Zur Topographie und Geschichte Palä-
stinas (1893) 8. 292-294. Ders., Zeitschr. des DPV. XIX, 1896, S. 227.
432) Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 70: xal h*oxi 7toXl%vri Taßh xa*
Xovpivrj tbg dnö arj/uelwy tq xfjq Katoaoetaq et alia villa Oabatha in finibus
Dioeaesareae naoaxeifiivrj xip /xsydXq* nsöttp xtjq AeyEtbvoq. Die hier in latei-
nischer Übersetzung aus Hieronymus eingeschalteten Worte sind im Eusebius-
200 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [154. J55]
es, daß die Münzen mit der Aufschrift KXav6i(ia)v) &ilix(xiwv)
raßrjvSp unserem Gaba angehören. Diese Titel deuten eher auf
ein Gaba hin, welches zum Gebiete des Tetrarchen Philippus gehört
hatte433, und hiermit kann das Gabe identisch sein, welches Plinius
neben Cesarea Panias erwähnt434. Welches Gabe endlich das bei
Hierokles erwähnte raßat in Palaestina secunda ist, muß dahin-
gestellt bleiben435. — Unser Gaba glaubt Gu6rin in dem, Dorfe
Scheikh Abreik auf einem Hügel nahe am Karmel aufgefunden zu
haben, zu dessen Lage allerdings die Angaben des Josephus vor-
trefflich passen436. |
26. Esbon oder Hesbon, hebräisch patön, bei LXX und Euse-
bius 'Eosßciv, später 'Eößovg. Die Stadt lag nach Eusebius 20 m. p.
östlich yom Jordan, gegenüber von Jericho437. Hiermit stimmt
genau die Lage des heutigen Hesbän, östlich vom Jordan, unter
gleicher geographischer Breite mit der Nordspitze des Toten Meeres,
woselbst sich auch noch Ruinen finden438. — Hesbon wird häufig
Text durch Homoioteleuton ausgefallen. Durch ihren Ausfall entstand der
Schein, als ob das Städtchen Gabe 16 m. p. von Cäsarea und doch zugleich
in der großen Ebene von Legeon (Megiddo) liege, was nicht möglich ist. Das
Gabe des Eusebius scheint vielmehr mit dem Jeba identisch zu sein, welches
die große englische Karte direkt nördlich von Cäsarea am westlichen Abhänge
des Karmel verzeichnet (Map of Western Palestine, Blatt VIII links oben;
dazu Memoire II, 42, wo freilich dieses Jeba mit der ndliq btnimv identi-
fiziert wird).
433) S. über die Münzen: Noris IV, 5, 6 (ed. Lips. p. 453-462). Eck-
hei 111,344 6?. Mitsei Sanclementiani Numismaia selecta Pars U lib.
IV, 128—130. Mionnet V, 316-318. Suppl. VIU, 220-222. De Saulcy
p. 339 — 343, pl XIX n. 1 — 7. Wroth, Gatalogue of the greek coins of Galatia,
Cappadocia and Syria [in the Brit. Mus.] 1899, p, 300. — Die Münzen haben
eine Ära, deren Anfangspunkt zwischen 693 und 696 a. U. liegt.
434) Plinius H. N. V, 18, 74. Dazu Sch'wartz, Nachrichten der Göt-
tinger Gesellsch. der Wissensch., phiL-hist. Kl. 1906, S. 370.
435) Hierocles Synecd. ed. Parthey p. 44.
436) Guörin, GalilSe I, 395—397. — Scheikh Abreik liegt auf einer iso-
lierten Anhöhe unmittelbar am Karmel, unter gleicher geographischer Breite
mit Nazareth. Vgl. über dasselbe auch The Survey of Western Palestinet Me-
moirs by Conder and Kitchener I, 343 — 351; dazu die englische Karte
Blatt V. — Sicher unrichtig ist es, Gaba an der Stelle des heutigen Jebata
zu suchen, wie Menke im Bibelatlas tut. Dieses liegt viel zu weit vom Karmel
entfernt, mitten in der Ebene, und ist vielmehr mit dem Gabatha des Euse-
bius identisch (s. Anm. 432).
437) Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 84: 'Eoeßwv . . . xaXetrai 6% v$v
ISoßovq, inloqfiOQ nöfaq xfjq kgaßlaq, iv Sqbcl xotq avcixoi) xrjq ^Iegix0^ xei"
fi£vrj} wq &nö arjfielwv x xov ^logöavov.
438) S. Seetzen, Reisen I, 407. IV, 220f£ Burckhardt, Reisen II,
623 f. 1063. Ritter, Erdkunde XV, 2, 1176—1181. De Saulcy, Voyage en
[155. 156] I. Die hellenistischen Städte« 26. Esbon. 201
als Hauptstadt eines amoritischen Reiches erwähnt439. Bei Jesaja
und Jeremia dagegen erscheint sie als moabitische Stadt440. Und
als solche erwähnt sie auch Josephus noch zur Zeit des Alexander
Jannäus. Durch des letzteren Eroberungen wurde sie dem jüdischen
Reiche einverleiDt (Antt. XIII, 15, 4. Syncell. I, 558). Ihre weitere
Geschichte läßt sich nicht genau verfolgen. Herodes d. Gr. hat
sie jedenfalls besessen, da er sie zur Beherrschung Peräas neu
befestigte und eine Militärkolonie dorthin verlegte (Antt XV, 8, 5) 441.
Das Gebiet von Esbon wird von Josephus als östliche Grenze
Peräas erwähnt; es gehörte also nicht zumjüdischenPeräa(Ä /.III,
3, 3)442. Beim Ausbruch des jüdischen Krieges | wurde es von den
aufständischen Juden überfallen (B. J. II, 18, 1). Bei Errichtung
der Provinz Arabien 106 nach Chr. ist Esbon oder, wie es nun
heißt, Esbus wahrscheinlich sofort dieser zugeteilt worden; denn
schon Ptolemäus rechnet es zu Arabien443. Die wenigen bis jetzt
Terre Samte (1865) I, 279 sqq. (mit einem Plan der Ruinenstätte). Bädeker-
ßocin, Palästina 3. Aufl. S. 191. The Survey of Eastern Palestine voL I, by
Gonder, 1889, p. 104—109. — Für das Historische: Reland p. 719 sq. Rau-
mer S. 262. Die Artikel über „Hesbon" bei Winer, Schenkel, Riehm,
Herzogs Real- Enz. 1. Aufl. VI, 21 f. Kuhn, Die städtische und bürgerL
Verf. H, 337. 386 f. Hildesheimer, Beiträge zur Geographie Palästinas
(Berlin 1886) S. 65 f. Heidett Art. HesSbon in: Vigourouz, Dietionnaire de
la Bible HI, 657—663. Thomsen, Loca sancta p. 62.
439) Num. 21, 26 ff. Deut. 1, 4. 2, 24 ff. 3, 2 ff. 4, 46. Josua 9, 10. 12, 2 ff.
13, 10. 21. Judic. 11, 19 ff. Vgl. auch noch Judith 5, 15.
440) Jesaja 15, 4. 16, 8. 9. Jerem. 48, 2. 34. 45. 49, 3.
441) So ist die angeführte Stelle wohl zu verstehen; s. den Wortlaut
oben Anm. 429. — Die Form 'BoeßwvTzte ist Bezeichnung des Gebietes von
Esbon. Die Stadt selbst heißt 'Eoeßvw. — Statt 'EoeßwvTxiq kommt auch vor
ZBßaivXxiq B. J. II, 18, 1. HI, 3, 3, s. d. folg. Anm.
442) Statt Sikßcovlziq ist a. a. O. sicher SeßcavZztg zu lesen, wie B. J. H,
18, 1. — In Menkes Bibelatlas Bl. V ist Esebon mit Recht außerhalb Pe-
räas gesetzt; unrichtig ist dagegen, daß es dem Nabatäer-Reiche, statt dem
Reiche Herodes des Gr., zugeteilt wird. Nur dies ist möglich, daß es nach
dem Tode des Herodes in die Hände der Araber fiel. Hierfür spricht aller-
dings der Umstand, daß Esbon seit Errichtung der Provinz Arabien dieser
angehörte. Weniger beweisend ist die Erwähnung der Esbonitae Arabes bei
Plinius V, 11, 65, da dies nur im ethnographischen Sinne gemeint ist Jeden-
falls bildete die SeßwvTzig zur Zeit des Josephus ein eigenes Stadt-Gebiet,
das, wenn auch vielleicht den Arabern unterworfen, doch vom übrigen Arabien
unterschieden wird, B. J. HI, 3, 3.
443) Ptolem. V, 17, 6 — Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 16, 4. Die Stadt
heißt hier ISoßovxa (so auch der Kodex von Vatopedi, s. Geographie de Pto-
UmSe, reproduetion photolithographiqw etc. Paris 1867, p. LVII unten, auch
die Didotsche Ausg.), was aber eigentlich wohl Akkusativ-Form von *Eo-
ßov$ ist.
202 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [156. 157]
bekannten Münzen gehören entweder Caracalla oder Elagabal an444.
Zur Zeit des Eusebius war sie eine bedeutende Stadt445. Christ-
liche Bischöfe von Esbus (Esbundorum, 'Eößovvrlcw) werden im
vierten und fünften Jahrhundert erwähnt446.
27. Antipatris, 'AvrixarQlq441. Die Stadt lag in der Nähe
eines Dorfes KagxxQöaßä44* oder XaßaQöaßä*49, auch KaxsQoa-
ßlv?iAb0. Die Form KayaQOaßä läßt kaum einen Zweifel darüber,
daß der Ort mit dem rabbinischen MO nfcD451 und dem heutigen
Kefr Saba nordöstlich von Jope identisch ist Aber die Lage des
letzteren stimmt nicht genau zu den Angaben über Antipatris.
Zwar: daß Antipatris 150 Stadien von Jope lag452, am Eingang
des Gebirges458, an der großen Straße von Cäsarea nach Lydda454,
444) Eckhel HI, 503. Mionnet V, 596 sq. Suypl. VIII, 387. De Sauley
p. 393 sq. pl. XXIII n. 5—7. — Die bei Mionnet Suppl VIII, 387 mitgeteilte
Münze ist nicht von Esbus, sondern von Eboda in Arabien, s. Imhoof-
Blumer, Monnaies grecques (Verhandelingen der koninkl. Akad. van Weten*
schappen, Afd. Letterhunde, 14. deel, Amsterdam 1833) p. 450 sq.
445) S. oben Anm. 437. Eusebius erwähnt die Stadt auch sonst häufig
im Onomasticon, s. Klostermanns Index S. 196 s. v. Eaßovq, Eoaeßav.
446) Le Quien, Oriens christianus II, 863. Patrum Nicaenorum nomina
edd. Qelxer etc. 1898 (Scriptores saeri et profani faso. 2) Index s. v.
447) S. überh.: Reland p. 569 sq. 690. Kuhn II, 351. Winer s. v.
Antipatris. Baumer 8. 147. Robinson, Palästina III, 256—260. Ders.,
Neuere bibl. Forschungen S. 179—181. Ritter XVI, 569— 572. Quirin, Sa-
marie II, 357—367, vgl. II, 132 5g. Wilson, Quarterly Statement 1874, p. 192
— 196. The Survey of Western Palestine, Memoirs by Oonder and Kitchener
II, 134. 258—262; dazu die engl. Karte Bl. X und XIV. Ebers und Guthe,
Palästina Bd. II, S. 452. Buhl, Geogr. des alten Paläst. 8. 199. Pauly-
Wissowas Real-Enz. s. v. O. A. Smith in: Encyclopaedia Biblica I, 188 f.
Thomsen, Loca saneta p. 22.
448) Jos. Antt. XVI, 5, 2.
449) Antt. XIII, 15, 1 nach den meisten Handschriften; die lat. Über-
setzung hat Cafarsaba; Niese liest mit cod. Pal. Xaßegaaßä.
450) So ist statt xai TtBQOaßivrj ohne Zweifel zu lesen an der Stelle des
Chronicon paschale ed. Dindorf I, 367: 6 avvöq 6e xal 'Av&rjSSva htixxlaaq
'AyQtnnsiav ixdXeotv, Irrt 6h xal nepaaßlvrjv elq dvof/a * Avxvxglxqov xov ISiov
naxodq. Vgl. Reland p. C90. 925. In der parallelen Stelle bei Syncdlus ed.
Dindorf I, 595 heißt es: fn xe IlaQOavaßav elq rtf/tjv 'Avxindxoov xov naxQÖq
avxov *Avxv7taxQlöa wvöfxaoe.
451) Tosephta Nidda 649,35 (ed. Zuckermandel); bab. Nidda 61a; jer. De-
mai II, 1 fol. 22c. Hamburger, Real-Enzykl. für Bibel und Talmud II, 637
(Art. „Kephar Saba"). Auch bei arabischen Geographen: Le Strange, Pale-
stine under the Moslems p. 471.
452) Antt. XIH, 15, 1. Niese liest 160 nach cod. Pol., dessen Zeugnis
aber ganz allein steht.
453) Bell. Jud. I, 4, 7.
454) Das Itinerarium Burdigalense (bei Geyer, Itinera Hierosolymüana
[157] * L Die hellenistischen Städte. 27. Antipatris. 203
würde fftr Kefr £laba zutreffen. Aber nach Eusebius (Onomast ed.
Klostermann p. 68) lag Antipatris 6 miü. pass. südlich von Galgulis,
das augenscheinlich mit dem heutigen Dschildschulije, ein paar
mili. pass. südlich von Eefr Saba, identisch ist Demnach ist Anti-
patris etwa 8 müLpass. südlich von Eefr Saba j zu suchen, wozu
die dortige wasserreiche Gegend stimmt, während Kefr Sab a auf
dürrem Boden liegt455. — Herodes gründete dort, in einer wohl-
bewässerten baumreichen Ebene eine neue Stadt, die er seinem
Vater Antipater zu Ehren Antipatris nannte {Ann. XVI, 5, 2.
B. J. I, 21, 9). Die Stadt wird unter diesem Namen, onü^tttB, auch
in der rabbinischen Literatur erwähnt456, ferner bei Ptolemäus,
Eusebius, Stephanus Byzantinus457. Im vierten Jahrhundert nach
Chr. war sie sehr heruntergekommen: das Itinerar. Burdig. nennt
sie nur als mutatio (Haltestation), nicht als civitas, Hieronymus be-
zeichnet sie als semirutum oppidulumib*. Doch kommt ein Bischof
von Antipatris noch in den Akten des Konzils von Chalcedon,
451 nach Chr., vor459. Auch sonst ist ihre Existenz in dieser
p. 25) gibt die Entfernupg von Cäsarea nach Antipatris zu XXVI m. p.7 die
von Antipatris nach Lydda zu X m. p. an. — Im allgemeinen ist die Lage
von Antipatris an der Straße von Cäsarea nach Lydda und Jerusalem auch
sonst bezeugt, s. Apostelgesch. 23, 31. Jos. Bell. Jud. II, 19, 1 u. 9. IV, 8, 1.
Hieronymus, Peregrinatio Paulas =- epist. 108 ad Eustoohium o. 8 (bei Tobler,
Palaestinae descr. p. 13 und Bisron. opp. ed. Vaüarsi I, 690).
455) So die meisten Neueren, auch Guthe (in Herzogs Real.-Enz. 3. Aufl.
IX, 584, im Art. „Judäa"). Kefr Saba s. auf der großen englischen Karte
Bl. X rechts unten, Dschildschulije Bl. XIV links oben. — Von den An-
gaben des Josephus ist hiernach nur die eine korrekt, daß Antipatris „in der
Ebene von Kapharsaba" gegründet sei (Antt. XVI, 5, 2: iv xy neölw x<p
Xeyofih>(p Ka<paooaßä); die andere aber, daß Chabarsaba „jetzt Antipatris
heiße", irreführend (Antt. XIII, 15, 1 : Xaßaooaßä, 9) vvv y Avxvjtaxolq xaXelxai).
Richtig wird sein, daß die Gebiete des alten Kapharsaba und des späteren
Antipatris annähernd zusammenfielen. — In den Ziffern des Itinerarium Bur-
digalense (s. die vorige Anmerkung) liegt ein Fehler, da die Entfernung von
Cäsarea bis Lydda mehr beträgt, als der überlieferte Text angibt. Zu korri-
gieren ist aber nicht, wie ich früher meinte, die Ziffer für Antipatris — Lydda
(X m. p. ist richtig), sondern die Ziffer für Cäsarea— Antipatris.
456) Mischna Oittin VII, 7. bab. Qittin 76a. Lightfoot, öenturia Matthaeo
praemissa c. 58 (Opp. II, 214). Neubauer, Geographie du Talmud p. 86 — 90.
Hamburger, Real-Enzyklop. II, 62 f. (Art. „Antipatris"). Krauß], Griech.
und lat. Lehnwörter im Talmud etc. II, 1899, S. 70. 599.J
457) Ptolemaeus V, 16, 6 — Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 5. Euse-
bius Onomast p. 68. 72. Steph. Byx. s. v.
458) S. die in Anm. 454 zitierten Stellen.
459) Le Quien, Oriens christianus Hl, 579 sg.
204 ■ § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [157. 158]
späteren Zeit noch bezeugt460. Ja noch im achten | Jahrhundert
nach Chr. wird sie als eine von Christen bewohnte Stadt erwähnt461.
28. Phasaelis, 0aaarjXlgA62. Zu Ehren seines Bruders Phasael
gründetel Herodes im Jordantal nördlich von Jericho die Stadt
Phasaelis, in einer bis dahin unbebauten aber fruchtbaren Gegend,
die er für die Kultur gewann (Antt. XVI, 5, 2. B. J. I, 21, 9). Nach
seinem Tode ging die Stadt mit ihren wertvollen Palmenpflanzungen
in den Besitz seiner Schwester Salome über (Antt. XVII, 8, 1. 11, 5.
Ä /. II, 6, 3); und nach deren Tod erhielt sie die Kaiserin Livia
(Antt XVIII, 2, 2. B. «7. II, 9, 1). Der trefflichen Datteln, welche
von den dortigen Palmen gewonnen wurden, gedenkt auch Plinius46S.
Sonst wird die Stadt noch erwähnt bei Ptolemäus, Stephanus Byz.
und dem Geographen von Ravenna464. Ihr Name hat sich erhalten
in dem heutigen Kharbet Fasail am Bande der Jordanebene in
fruchtbarer Gegend. Der von da nach dem Jordan fließende Bach
heißt Wadi Fasail466.
29. Cäsarea Panias466. Tb üaveiov heißt eigentlich die |
460) Bierocles, Synecd. ed. Parthey p. 43. Die Notitia episcopat. ebendas.
p. 143.
461) Theophanis Chronographia, ad. ann. 743 p. Chr. (ed. Bormens. I, 65S).
462) S. überh.: Reland p. 963 sq. Paulys Enzykl. V, 1439. Raumer
8. 216. Robinson, Palästina 11,555. Ritter XV, 1, 458 f. Quirin, Samarie
I, 228 — 232. The Survey of Western Palestine, Memoirs by Oonder and Kit-
chener n, 388. 392 sq.; dazu die große engl. Karte Bl. XV. Thomsen, Loca
sancta p. 113.
463) Plinius H. N. XIII, 4, 44: sed ut copia ibi atque fertilitas, ita nobi-
tüas in Judaea, nee in tota, sed Hiericunte maxume, quamquam laudatae et
Arehelaide et Phaselide atque Liviade, gentis ejusdem oonvaüibus.
464) Ptolem. V, 16, 7 — Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 5. Steph.
Byx. s. v. Qeographus Bavennas edd. Pvnder et Parthey (1860) p. 84. — Auch
im Mittelalter (bei Burchardus und Marinus Sanutus) wird die Stadt noch
erwähnt, s. die Stellen bei Quirin, Samarie I, 231 sq.
465) S. bes. die große englische Karte Blatt XV, und die Beschreibung
bei Guerin und Conder a. a. O.
466) S. überh.: Reland p. 918—922. Raumer S. 245. Winers RWB.
und Schenkels Bibel-Lex. s. v. Cäsarea. Kuhn II, 334. Robinson, Palä-
stina III, 612 ff. 626—630. Ders., Neuere bibl. Forschungen S. 520— 538.
Ritter, Erdkunde XV, 1,195—207. Querin, GaliiSe II, 308—323. The Sur-
vey of Western Palestine, Memoirs by Conder and Kitchener I, 95. 109—113.
125—128; dazu die engl. Karte Bl. IL Ebers und Guthe, Palästina in Bild
und Wort I, 356—366. Le Camus , Art. „Cisaröe de Philippe" in: Vigouroux,
Dict. de la Bible H, 450-456. Pauly-Wissowas Real.-Enz. III, 1290 f. Thom-
sen, Loca sancta p. 75. — Zur Geschichte der Stadt im Mittelalter auch:
Gildemeister, Zeitschr. des DPV. X, 1887, S. 188 f. Clermont-Qanneau,
Becueil d'archSologie Orientale 1. 1, 1888, p. 242—261. van B er ehern, Le chäieau
de Bänids et ses ifiscriptions (Journal asiatique, huitüme sirie i. XII, 1888,
[159] I. Die hellenistischen Städte. 28. Phasaelis. 29. Cäsarea Panias. 205
dem Pan geweihte Grotte am Ursprung des Jordan467. Sie wird
unter diesem Namen zuerst von Polybius zur Zeit Antiochus' des
Gr. erwähnt, der dort im Jahre 198 vor Chr. den entscheidenden
Sieg Über den ägyptischen Feldherrn Skopas erfocht, infolgedessen
ganz Palästina in seine Hände fiel468. Schon diese frühzeitige
Erwähnung läßt auf eine Hellenisierung des Ortes im dritten
Jahrhundert vor Chr. schließen. Jedenfalls war die Bevölkerung
der dortigen Gegend, wie auch deren weitere Geschichte zeigt,
eine vorwiegend nichtjüdische. — - In der ersten Zeit des Herodes
gehörte die Landschaft üavidg (so heißt sie eben wegen der dort
befindlichen Pan-Grotte) einem gewissen Zenodorus. Nach dessen
Tod im Jahre 20 vor Chr. wurde sie von Augustus dem Herodes
geschenkt (s. oben § 15), weicher in der Nähe der Pan-Grotte einen
prachtvollen Augustus- Tempel erbaute (Antt. XV, 10, 3. B. J. I,
21, 3). Der Ort, welcher ebendaselbst lag, hieß ursprünglich wie
die Landschaft Ilaviaq oder Ilapsag469. Zu einer ansehnlichen
Stadt wurde er aber erst durch den Tetrarchen Philippus, den
Sohn des Herodes, umgeschaffen. Dieser legte die Stadt neu an
und nannte sie zu Ehren des Augustus KatoaQua (Antt. XVIII, 2, 1.
Bell. Jud. II, 9, 1). Die Gründung fällt ganz in die erste Zeit des
Philippus; denn die Münzen der Stadt haben eine Ära, welche
p. 440—470). Ders., Inscriptim arabe de Banias (Revue bibl. 1903, 421—424).
Le Strange, Palestine under the Moslems p. 418 #9. — Zur Topographie der
Umgebung: auch Schumachers Karte des Dscholan, Zeitschr. des DPV.
IX, 1886. — Ansichten der Pan-Grotte auch bei: Duo de Luynes, Voyage
d' Exploration etc. Atlas pl. 62 — 63. Leeper, The sources of the Jordan river
(Biblical World 1900, Nov. p. 326—336). — Inschriften: Corp. Inser. Oraee.
n. 4537—4539, Addenda p. 1179. Bailie, Faseiculus inscr. graee. [HT) potis-
simum ex Galatta Lycia Syria etc. 1849, p. 130 — 133. De Sauley, Voyage
autour de la mer morte, Atlas (1853) pl. XLIX. Le Bas et Waddington,
Inseriptions 1. III, n. 1891—1694. Brünnow, Mitt und Nachr. des DPV.
1898, 8. 84 f. — Brünnow und Domaszewski, Die Provincia Arabia II, 249.
467) Als Grotte (onjkaiov, Slvxqov) wird das Paneion beschrieben bei
Joseph. Antt. XV, 10, 3. Bell. Jud. I, 21, 3. III, 10, 7: öoxet fjthv 'Iogödvov
nr\-fy tö Udveiov. — Stephanies Byx. s. v. Tlavla. — Nächst der Grotte hieß
auch der Berg ebenso, Euseb. Hist. eccl. VII, 17: iv xaXq faccooelaiq xoi> xa-
Xovfiivov Uavlov ßgovq. (Eigentlich ist xb üdveiof Adjektiv, zu welchem also
entweder avrpov oder Sqoq zu ergänzen ist.)
468) Polyb. XVI, 18. XXVIH, 1.
469) llavuxg oder IJaveaq ist eigentlich Adjektiv, und zwar das fem. zu
üdveioq (wie dygidq, Xevxdq, öoeidq fem. poett. zu äygioq, Xevx6q, fioEioq). Da-
her dient dasselbe Wort sowohl zur Bezeichnung der Landschaft (wobei
xd)Qa zu ergänzen ist, so Antt. XV, 10, 3. XVII, 8, 1. Bell Jud. II, 9, 1. P/t-
nius V, 18, 74: Panias in qua Caesarea), als zur Bezeichnung der Stadt oder
Ortschaft (wobei nöXiq oder xoj fitj zu ergänzen ist, so Antt. XVIII, 2, 1).
206 l§ 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [159. 160]
wahrscheinlich das Jahr 3 vor Chr. (751 a. U.) oder spätestens 2
vor Chr. (752 a. U.) zum Ausgangspunkte hat470. Nach dem Tode
des Philippus kam | dessen Gebiet ein paar Jahre lang unter
römische Verwaltung, dann an Agrippa I., dann wieder unter römi-
sche Prokuratoren, endlich seit dem Jahre 53 nach Chr. an
Agrippa IL Dieser erweiterte Cäsarea und nannte es zu Ehren
des Nero NtQmviaq {Antt. XX, 9, 4), welcher Name auch auf Münzen
hier und da gebraucht ist471. Daß die Stadt auch damals noch
eine vorwiegend heidnische war, sieht man aus Jos. Vita 13. Daher
bringen dort während des jüdischen Krieges sowohl Vespasian als
Titus ihre Rasttage unter Spielen und anderen Festlichkeiten zu472.
— [Der Name Neronias [scheint sich nie eingebürgert zu haben.
Im ersten Jahrhundert nach Chr. heißt unser Cäsarea zur Unter-
scheidung von anderen gewöhnlich Kaiodgeia fj $iXlnxov*n\ seine
offizielle Bezeichnung auf Münzen, namentlich des zweiten Jahr-
hunderts, ist Kaiö(aQsta) Seßiaoxri) Isq(o) xäi aOv(XoQ)vje6lIav€lq)iU.
Sonst heißt es seit dem zweiten Jahrhundert gewöhnlich KaioaQeia
Ilaviaq, was im dritten Jahrhundert auch auf den Münzen vor-
herrschend wird475. Seit dem vierten Jahrhundert hat sich der
470) S. Noris IV, 5, 4 [ed. Lips. p. 442—453). Eckhel HI, 339—344.
San dement e, De vulgaris aerae emendatione (Born 1793) III, 2 p. 322 sqq.
Derselbe, Musei Sanclemeniiani Numismata selecta Pars II lib. IV p. 202 —
218. Die Münzen bei Mionnet V, 311—315. Suppl. VIII, 217—220. Leahe,
Numismata Heüenica, 1854, p. 2&™De Saulcy p. 313—324, pl. XVIU. Wroth,
Catal. of the greek coins of Galatia Cappadoda and Syria [in the Brit. Mus.]
p. 298 sq. Macdonald, Oatal. of the Hunterian collection III, 222. — Der
Ansatz in der Chronik des Eusebius, welche die Gründung in die Zeit des
Tiberius verlegt, ist ohne Wert. S. darüber unten bei Tiberias. Nach Euse-
bius auch Hieronymus in der Chronik und Comment. in Matth. 16, 13 (s.
Anm. 476).
471) Eckhel III, 343. Mionnet V, 315. De Saulcy p. 316. 31& Madden,
History of Jewish Coinage p. 116. 117. Ders., Coins of the Jews p. 145. 146.
472) Jos. B. J. III, 9, 7. VII, 2, 1.
473) Ev. Matth. 16, 13. Marc. 8, 27. Jos. Antt. XX, 9, 4. B. J. m, 9, 7.
VII, 2, 1. Vita 13.
474) S. die in Anm. 470 zitierte Literatur, bes. Mionnet und de Saulcy.
475) Ptolem. V, 15, 21 (Didotsche Ausg. V, 14, 17). VIII, 20, 12 (Kai-
oageia Ilaviaq). — Corp. Inscr. Graec. n. 4750 = Lepsius, Denkmäler aus
Ägypten und Äthiopien Bd. XII, Bl. 78 Inscr. Gr. n. 78 (auf der Memnon-
statue zu Theben) und Corp. Inscr. Graec. n. 4921 = Lepsius Bl. 88 Inscr.
Gr. n. 263 (zu Philä), beidemal: Kaioaoelat; IlavidöoQ. — Le Bas et Wad-
dington, Inscriptions t. III n. 1620b (zu Aphrodisias in Karien, aus dem
2. Jahrh. n. Chr.): Kaiodoeiav Uaviaöa. — Tabula Peuting. (Caesareapaneas).
— Geographus Ravennas edd. Pinder et Parthey p. 85. — Die Münzen bei De
Saulcy p. 317. 322 sq.
[160. 161] I. Die hellenistischen Städte. 29. Cäsarea Panias. 207
Name Cäsarea ganz verloren; die Stadt heißt von nun an wieder
nur navsaq*1*. Bei der eingeborenen Bevölkerung scheint dies
ohnehin stets der herrschende Name geblieben zu sein477, wie er
auch in der rabbinischen Literatur (in der Form o^3ß) vorwiegend
gebraucht wird478. Die Meinung, daß Cäsarea unter Elagabal
römische Kolonie geworden sei, ruht auf höchst zweifelhafter
Grundlage479. — Wenn im Neuen Testamente, Marc. 8, 27, die
„Dörfer von Cäsarea Philippi" (al xcofiai Kataagelag rijq <PiXlnxov)
erwähnt werden, so ist hier mit dem Genetiv natürlich nicht nur
eine „räumliche Beziehung" der Dörfer zur Stadt ausgedrückt480,
sondern es sind die der Stadt gehörigen, ihr untertänigen Dörfer
476) Eusebius, der die Stadt im Cnomasticon häufig erwähnt, nennt sie
stets nur Uavsdg (s. den Index in Klostermanns Ausgabe). Und dies ist über-
haupt ihr Name in der kirchlichen Literatur; s. Euseb. Hist. eecl. VII, 17 — 18.
Hieron. in Jesaj. 42, 1 sqq. ed. Vaüarsi IV, 507 (in confinio Caesareae Phüippi,
quae nunc vocatur Paneas); Idem, in Exech. 27, 19, ed. Vall. V, 317 (ubi hodie
Paneas, quae quondam Caesarea Philippi vooabatur); Idem in Matth. 16, 13, ed.
Voll. VII, 121 {in honorem Tiberü [sic\] Oaesaris Caesaream, quae nunc Po-
neos dicitur, eonstruxü). Soxom. V, 21. Phüostorg. VII, 3 (vgl. auch Müller,
Fragm. hist. graec. IV, 546). Theodoret. quaesU (s. die Stellen bei Reland
p. 919). Malalas ed. Dindorf p. 237. Glycas, Theophanes (s. die Stellen bei
Reland p. 922). Photius cod. 271 sub fvn% — Die Akten der Konzilien (bei Le
Quien, Oriens christianus II, 831). Patrum Nicaenorum nomina edd. Oeher etc.
1893, Index s. v. Die Pilgerschriften bei Geyer, Itinera Eierosolymüana p. 128, 16
(Eucherius), 138 (Theodosius), 268 (Adamnanus). Hierocles, Synecd. ed. Par-
they p. 43. — Über die angebliche Christus-Statue zu Paneas s. oben S. 42.
477) Vgl. Euseb. Hist. eccl. VH, 17: inl %n<; ^PiXlmtov Kaioageiaq, JJv Ha-
vedöa <Polvixeq itQoaayooevovai.
478) Mischna Para VIII, 11. Tosephta Bechoroth p. 542, 1 ed. Zuckermandel
(an beiden Stellen wird die „Grotte von Panias", O^Dfi mr», erwähnt). Bux-
torf, Lex. Chald. col. 1752. Levy, Chald. Wörterb. II, 273f. Lightfoot,
Cenluria Matthaeo praemissa c. 67 (Opp. II, 220). Neubauer, Biographie du
Talmud p. 236—238. Krauß, Griech. und lat. Lehnwörter im Talmud etc. n,
1899, S. 463. — Die korrumpierte Form ö^afi gehört nicht dem lebendigen
Sprachgebrauch, sondern erst der späteren Text -Überlieferung an. An der
zitierten Mischna-Stelle haben die besseren Zeugen noch 0*^36 (so Aruch, cod.
de Rossi 138, Cambridge University Additional 470, 1). Im Aruch wird über-
haupt nur diese Form angeführt.
479) Regung, Zeitschr. für Numism. XXIV, 1904, S. 133f., will eine
Münze mit der Aufschrift Aur. Alexandros Caisar (also Severus Alexander als
Caesar, 221 oder 222 n. Chr.) und Col. Cesaria Itur. wegen des Zusatzes Itur.
unserem Caesarea Panias zuweisen. Es scheint mir viel wahrscheinlicher, daß
es sich um eine Münze von Caesarea ad Libanum, dem alten Arka, dem Ge-
burtsort des Severus Alexander, handelt. Vgl. Bd. I, S. 595. Regung selbst
hebt die Verwandtschaft der Münze mit denjenigen von Orthosias, das gauz
in der Nachbarschaft von Arka liegt, hervor.
480) So Winer, Grammatik § 30, 2.
208 § 23* Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [161. 162]
gemeint: Cäsarea hat, wie jede dieser Städte, ein eigenes, von ihr
beherrschtes Gebiet.
30. Julias, früher Bethsaida481. An der Stelle eines Dorfes
ßethsaida, nördlich vom See Genezareth gründete Philippus eben-
falls eine neue Stadt, weiche er zu Ehren der Julia, der Tochter
des AugU8tus, 'iovliag nannte (Antt. XVIII, 2, 1. Bett. Jud. II, 9, 1).
Die Lage derselben östlich vom Jordan kurz vor dessen Einfluß in
den See Genezareth ist durch die wiederholten übereinstimmenden
Angaben des Josephus außer Zweifel gestellt482. Auch die Grün-
dung dieser Stadt muß noch in die erste Zeit des Philippus fallen.
Denn die Julia wurde von Augustus schon im Jahre 2 vor Chr.
(752 a. U) auf die Insel Pandateria verbannt483. Von da an ist
es nicht mehr denkbar, daß Philippus noch eine Stadt nach ihr
genannt | haben sollte484. — Aus der späteren Geschichte der Stadt
ist nur noch bekannt, daß sie durch Nero dem Agrippa II. ver-
liehen wurde (Antt. XX, 8, 4. B. J. II, 13, 2). Erwähnt wird sie auch
bei Plinius, Ptolemäus und dem Geographen von Ravenna485. —
Nach der Art, wie Josephus Antt. XVIII, 2, 1 von ihr spricht,
könnte es scheinen, als ob Philippus nur den Namen des Dorfes
Bethsaida in Julias geändert hätte, so daß also auch der neue Ort
nur eine xcofirj gewesen wäre486. Allein an einer andern Stelle
(Antt. XX, 8, 4) unterscheidet e* gerade Julias als nbXig von den
umliegenden Dörfern; jenes war also doch wohl seit der Neu-
gründung eine nblig im eigentlichen Sinne. — Die Frage, ob das
481) S. überh.: Reland p. 653 sqq. 869. Raumer S. 122. Winer s. v.
Bethsaida. Kuhn II, 352. Robinson, Palästina III, 565-567. Ritter XV,
1, 278ff. GuSrin, Galilie I, 329—338. Furrer in derZeitschr. d. deutschen
Pal.- Vereins II, 66—70.
482) 8. bes. Beü. Jud, III, 10, 7; auch Antt. XVIII, 2, 1 (am See Gene-
zareth). Vita 72 (nahe am Jordan). Antt. XX, 8, 4. B. J. II, 13, 2 (in Peräa). —
Auch Plinius H. N. V, 15, 71 erwähnt Julias am östlichen Ufer des Sees
Genezareth.
483) Vellejus II, ICO. Bio Cassius LV, 10. Vgl. Suäon. Aug. 65. Tac.
AnnaL I, 53. Paulys Enzykl. V, 844f. Lewin, Fasti saeri (1865) n. 961.
484) So auch Sanelemente, De vulgaris aerae emendatione p. 327 sqq.
Lew in, Fasti sacri n. 953. — Die Chronik des Eusebius setzt die Grün-
dung von Julias irrtümlich in die Zeit des Tiberius. S. darüber unten
bei Tiberias. — O. Holtzmann, Neutestamentl. Zeitgesch. 1. Aufl. S. 95 gibt
freilich dem Eusebius den Vorzug vor Josephus und setzt die Gründung von
Julias später als das öffentliche Wirken Jesu Christi. Anders 2. Aufl. S. 87.
485) Plinius V, 15, 71. Ptolem. V, 16, 4 — Didotsche Ausg. (I, 2, 1901)
V, 15, 3. Geogr. Ravennas edd. Pinder et Parthey p. 85.
486) Antt. XVIII, 2, 1: x(i)tut]v öh Bq&aaiSä 7tQÖg Xlfivy x% rsvvrjoaQlttdi,
ndXewg napaoziav ä^imua nXrj&ei xe oIxtjx6q(i)v xal xy aXXy Swaiiu, *IovXlq
SvyaxQl xjj KaioaQoq d^6ivv(xov ixaXeosv.
[162. 163] L Die hellenistischen Städte. 30. Julias. 31. Sepphoris. 209
neutestamentliche Bethsaida mit dem unsrigen identisch ist —
eine Frage, die neuerdings wieder mehrfach bejaht worden ist — ,
kann hier unerörtert bleiben487.
31. Sepphoris, SsjnpcoQiq4^. Die semitische Form dieses |
Ortsnamens schwankt zwischen "pTte und •n'tas. Vielleicht ist
i • • • •
ersteres die ältere, letzteres die abgeschliffene Form489. Der
ersteren entspricht griechisch und lateinisch 2sn<povQlv, Saphorim,
487) Für die Identität: H. Holtzmann, Jahrbb. f. prot. Theol. 1878,
8. 383 f. Ders. im Hand -Kommentar zum N.T. I, 2. Aufl. S. 174. Furrer
in der Zeitechr. d. DPV. II, 66— 70. Ebers und Guthe, Palastdna I, S. 334.
502. Oe hl mann, Die Fortschritte der Ortskunde von Palästina 1. Tl.
(Norden 1887, Progr.) S. 9. G. A. Smith, Historical Qeography of the Holy
Land p. 457 sq. Buhl, Geogr. des alten Palästina S. 242. — Gegen die Iden-
tität bes. Reland, Raum er und Win er a. a. 0.; in neuerer Zeit z. B. van
Kasteren, Revue biblique 1804 (s. Zeitschr. des DPV. XVIII, 226). Ewing
in Hostings1 Dictionary, of the Bible I, 282 sq. — Eine seltsame Ansicht hat
Goodenow aufgestellt (Bibliotheea sacra vol. 45, 1888, p. 729—732). Er meint»
bei der Gründung von Julias sei dessen alter Name aufgegeben und derselbe
nun von der Vorstadt von Kapernaum angenommen worden, p. 730: Gaperna»
um's suburb iown (nearest to Julias) took up the relinquished name Bethsaida
(Heb. „the house of /bod"). Diese Vorstadt von Kapernaum sei überall unter
dem Bethsaida des Neuen Testamentes zu verstehen. In der Stelle Lue. 9, 10
gibt Goodenow der Lesart elq nöliv xaXovfi&vijv Bij&aaTÖd den Vorzug. Gegen
ihn verteidigt Gray (Bibliotheea sacra vol. 46, 1889, p. 374—377) die Lesart
des textus reeeptus elg zdnov Sotj/xov TtöXeax; xakovfiivtjq Brj&oaldd.
488) S. überh.: Reland p. 999—1003. Paulys Enzykl. VI, 1, 1050.
Raumer S. 139. Kuhnü,372. Robinson, Palästina HI, 440—443. Ritter,
Erdkunde XVI, 748f. Guirin, Galilie I, 369—376. The Survey of Western
Pakstme, Memoirs by Gonder and Kitehener I, 279sq. 330—338; dazuBl. V
der engl. Karte.
489) Im A. T. kommt der Ort nicht vor; sehr häufig dagegen in der rabbi-
nischen Literatur; in der Mischna an folgenden vier Stellen: Kiddusehin IV, 5.
Baba mexia VIII, 8. Baba bathra VI, 7. Araehin IX, 6 (nach der Cambridger
Handschrift auch Joma VT, Sfin.); in der Tosephta sehr oft (s. den Index
in Zuckermandels Ausgabe). Sonst vgl. Light foot, Genturia Matthaeo praemissa
e. 82—83 (Gpp. II, 229 sqq.). Neubauer, Geographie du Talmud p. 191—195.
Hamburger, Real -Enzykl. för Bibel und Talmud II, 1115. Bacher, Die
Agada der palästinensischen Amoräer Bd. III, 1899, Register s. v. Sepphoris.
Krauß Art Sepphoris in: The Jewish Encyclopedia XI, 1905, p. 198—200. —
Die Orthographie schwankt zwischen 'p'VifiS (oder, was dasselbe ist, "p^ne^S,
öi-itM) und ^ifiS (resp. ■nifi^x). Der cod. de Rossi 138 hat an sämtlichen vier
Stellen der Mischna "p^WS; ebenso hat die Cambridger Handschrift (ühi-
versity Additional 470, 1) durchgängig die Pluralform. Anch im jerusalemi-
schen Talmud scheint dies die herrschende Form zu sein (s. die Zitate bei
Lightfoot a. a. O.). Sonst dagegen ist "vfifiS vorherrschend ; so namentlich auch
in der Tosephta (nach Zuckermandels Ausgabe). Analog ist das Schwanken
zwischen den Formeu Modein, Modeim und Modei. Die Pluralform dürfte in
beiden Fällen das Ursprüngliche sein.
Sohärer, Geschichte II. 4. Aufl. 14
210 § 2& Ver&Mmig. Sjnedrimii. Hohepriester. [163. 164]
Saffcrine4^ der letzteren JEcur^ot**/, Äipori, &&«rs4fl. Josephus
gebraucht konstant die grizisierte Form 2ix*paQi$A*\ Anf Münzen
nennen sich die Einwohner 2txf><DQiivoiA*\ — Die früheste Er-
wähnung findet sich bei Josephus im Anfange der Regierung des
Alexander Jannäns, wo Ptolemäus Lathnrns einen vergeblichen
Versuch machte, Sepphoris mit Gewalt zu nehmen {Antt Xili, 12, 5).
Als Gabinius um 57—55 vor Chr. das jüdische Gebiet in fünf
„Synechien" zerteilte, verlegte er das Synedrium für Galiläa nach
Sepphoris (Anü. XIV, 5, 4. B.J.l, 8, 5); dieses muß also schon da-
mals die bedeutendste Stadt Galiläas gewesen sein. Als Waffen-
platz wird es auch erwähnt bei der Eroberung Palästinas durch
Herodes d. Gr., der es nur deshalb ohne Mühe einnehmen konnte,
weil die Besatzung des Antigonus den Platz geräumt hatte {Antt.
XIV, 15, 4. B. /. I, 16, 2). Bei dem Aufstand nach dem Tode des
Herodes scheint Sepphoris ein Hauptsitz der Empörung gewesen
zu sein, Varus entsandte dorthin eine Abteilung seines Heeres,
ließ die Stadt in Brand stecken und die Einwohner als Sklaven
verkaufen {Antt. XVII, 10, 9. B. J. n, 5, 1). Hiermit ist der bedeut-
samste Wendepunkt in der Geschichte der Stadt gegeben: sie wurde
aus einer national-jüdischen eine römerfreundlich gesinnte Stadt,
vermutlich auch mit gemischter Bevölkerung. Herodes Antipas
nämlich, in dessen Besitz sie nun überging, ließ sie neu aufbauen
und machte sie zu einer „Zierde von ganz Galiläa*4 {Antt. XVIII,
2, 1: xQooxrjfia rov raXilalov xavxoq). Aber die Bevölkerung war,
wie namentlich ihre Haltung während des großen Krieges vom
Jahre 66—70 zeigte, nicht mehr eine antirömische, also wohl auch
nicht mehr eine rein jüdische494. Vielleicht ist auf diesen Wechsel
490) 2t7t(povQiv Epiphan. haer. 30, 11 (ed. Dindorf). Saphorim: Hierony-
mus praef. in Jonam (Vaüarsi VI, 390). Safforine: Hieron. Onomast. ed.
Klostermann p. 17, 14. Im Evang. Joharmü 11, 54 hat der griech. und lat
Text des cod. Cantabr. nach x&oav den Zusatz Zafupovoeiv, Sapfurim. Auch
hier ist, wie die Namensform zeigt, sicher Sepphoris gemeint, nicht Sepharvaim
II Reg. 17, 24 ff., welches Resch vergleicht (Texte und Untersuchungen von
Gebhardt und Harnack X, 4, S. 141 £ 204).
401) Zampovoel Ptolem. V, 16, 4 — Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 3
(die Form 2a7t<povQtT ohne Zusatz ist entscheidend bezeugt, u. a. auch durch
den Codex von Vatopedi s. Geographie de Ptolhnee, reproduction phototitho-
grapkique etc. p. LVII). Sapori: Geographus Ravennas edd. Pinder et Partkey
p. 85. Sabure: Notitia dignitatum ed. Seeck p. 73.
492) Nur Antt. XIV, 5, 4 ist die Überlieferung sehr unsicher. Es finden
sich die Formen 2a<povQOi$t 2a7t<p6(>oi$, Sauywpoiq, SengxjyQoig u. a. (s. Niese).
493) S. Eckhel in, 425. Mionnet V, 482. De Saulcy p. 325*$. pl. XVH
n. 1—4.
494) Daß sie doch auch jetzt noch eine vorwiegend jüdische war,
[164. 165] I. Die hellenistischen Städte. 31. Sepphoris. 211
eine Stelle der Mischna zu beziehen, in welcher jedenfalls die
„alte Regierung von Sepphoris" als eine rein jüdische voraus-
gesetzt wird495. Bei | der Neugründung durch Herodes Antipas
scheint Sepphoris auch zur Hauptstadt von Galiläa erhoben worden
zu sein496. Von demselben Fürsten wurde jedoch später dieser
erhellt besonders aus B. J. III, 2, 4: ngo&vfxwg a<päq afooi)q imko%ovxo xazä
%(bv 6fio<pvXü)v ovfifxdxovg.
495) Kidduschin IV, 5. Es heißt hier, daß als Israelite reinen Geblütes
jeder zu gelten habe, der seine Abkunft von einem wirklich im Dienst ge-
wesenen Priester oder Leviten oder von einem Mitgliede des Synedriums nach-
weise; ja überhaupt jeder, dessen Vorfahren als öffentliche Beamte oder
Almosenpfleger bekannt waren; insonderheit nach Rabbi Jose auch Jeder
ynifi^s im rw^n was Dtnn mniö *a. Zur Erklärung dieser schwierigen
Worte ist zu bemerken: D^nfi, eigentlich „besiegelt", ist hier so viel wie „be-
stätigt, anerkannt, urkundlich beglaubigt" (vgl. den Gebrauch von oyQayflCjto
Ev. Joh. 3, 33. 6, 27). Das Wort IS, welches der Vulgärtext nach öinn hat,
ist nach den besten Handschriften zu tilgen, ^"i&t ist — &qxÜ (nicht *=> Archiv,
wie Krauß meint), ruw ist sicherlich nicht der Ortsname Jeschana (wofür es
die älteren Kommentatoren gehalten haben), sondern das Adj. „alt". Hiernach
sind zwei Erklärungen möglich. Entweder 1) „Jeder, der (resp. dessen Vorfahre)
anerkannt war in der alten Regierung von Sepphoris, als deren Mitglied".
Dann wäre vorausgesetzt, daß alle Mitglieder der alten Regierung von Sep-
phoris Israeliten reinen Geblütes waren. Oder 2) „Jeder, der anerkannt war
dureh die alte Regierung von Sepphoris", nämlich als Israelite reinen Geblütes.
Auch in diesem Falle wäre die alte Regierung von Sepphoris als
rein israelitische Behörde vorausgesetzt. Die erstere Erklärung
scheint mir nach dem Zusammenhang den Vorzug zu verdienen. — Fraglich
kann allerdings sein, wann die alte rein -jüdische Regierung von Sepphoris
durch eine andere, gemischte oder heidnische, ersetzt wurde. Man könnte
auch an die Zeit Hadrians denken, wo infolge des jüdischen Aufstandes sich
vieles verändert haben kann; wobei auch zu beachten wäre, daß ungefähr
damals Sepphoris den neuen Namen Diocäsarea erhielt (s. unten). Aber nach
allen Anzeichen scheint es mir wahrscheinlich, daß Sepphoris schon seit der
Neugründung durch Herodes Antipas nicht mehr eine rein jüdische Stadt war.
Auch das Beispiel von Tiberiaa zeigt, daß die Verfassungen der von Herodes
Antipas gegründeten Städte nicht nach jüdischen Maßstäben organisiert waren.
Josephus behauptet sogar in betreff ganz Galiläas, daß erst durch ihn die
jüdische Musterverfassung dort eingeführt worden sei (& J. II, 20, 5). Für
Sepphoris ist noch auf die Münzen mit dem Bilde Trajans zu verweisen.
496) Josephus sagt Antt. XVHI, 2, 1: Ijyev [oder fyyayev] afaijv ahzo-
XQaxoQlöa. Darin liegt an sich wohl nicht mehr, als daß er ihr die Autonomie
verlieh (ctfaoxQavoQlöa =— aixdvofxov). Aber die folgende Geschichte macht
es doch wahrscheinlich, daß ihr schon damals das übrige Galiläa untergeordnet
wurde. — Die Erklärung von avxoxQavoQiq durch „Residenzstadt" ist schwer-
lich zu billigen. Eine sichere Erklärung der Stelle ist freilich um so schwie-
riger, als auch die Lesart schwankt Dindorf konjiziert ävfjxsv abity abxo-
xgdzoQi, Niese liest rfyÖQSVEv afafjv aizoxQaxoQlda. So auch Oe hier, Zeitschr.
des DPV. 1905, S. 59. Beides ist handschriftlich kaum genügend begründet.
14*
212 § 23- Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [166. 166]
Bang dem neuerbauten Tiberias verliehen, und Sepphoris diesem
untergeordnet497. So blieb es, bis unter Nero Tiberias von Galiläa
getrennt und dem Agrippa IL verliehen wurde. Infolgedessen trat
wieder Sepphoris in die Stellung einer Hauptstadt von Galiläa
ein408. Diese beiden Städte nahmen also in bezug auf Galiläa
abwechselnd dieselbe Stellung ein, wie Jerusalem in bezug auf
Judäa (s. unten Abschnitt II). — Sepphoris war damals die be-
deutendste Festung von Galiläa499, und neben Tiberias die größte
Stadt der Provinz 60°. Darum war es beim Ausbruch des jüdischen
Krieges von großer Bedeutung, daß gerade sie sich am Aufstand
nicht beteiligte, sondern von Anfang an auf Seiten der Eömer
stand. Schon als Cestius Gallus gegen das aufständische Jerusalem
aog, nahm Sep|phoris eine freundliche Stellung zu ihm ein501. Und
es blieb seiner römischen Gesinnung auch getreu während des
Winters 66/67 nach Chr., als Josephus den Aufstand in Galiläa
organisierte502. Daher nahm Josephus es einmal mit Gewalt ein,
497) Vita 9: Justns sagte, von Tiberias, <oq % nöXiq iatlv «iei xfjq TaXi*
Xataq, apgeiev 6h &ni ye x(hv 'Hqu>6ov XQ^Viov xo% xetgaQxov xal xxiaxov
yevofiivoVy ßovXri&brcoq abzof) x^v 2en<pQ)Qixibv itdXiv xjj TißeQiicw inaxoveiv.
498) Vita 9: &q£cci yäp eitövq xtjv fthv Zbi<pwQiv, ineitf] %Po>paloiq &n}-
xovoe, xfjq raXiXaiaq.
499) Bell. Jud. II, 18, 11: ^ xaQtegwxdxi] xfjq raXiXaiaq nöXiq 2&i<pa>Qiq.
Vgl B. J. III, 2, 4. — Die dxgdnoXiq wird erwähnt Vita 67. Vgl. Mischna
Äraehin IX, 6: T»W»S bffi ritten ft*\xp „die alte Burg von Sepphoris". Tosephta
Schabbath p. 129, 27 ed. Zuckermandel ■nifi'ttStö fcnoxp.
500) Vita 65 (ed. Niese § 346): xGw iv xfj raXiXala ndXswv al fiiytaxai
2bi<po)Qiq xal TißsQiaq. — Vita 45: elq 2facg>a>oiv, fxeyioxrjv xwv 4v xjj TaXi-
Xala nöXiv. — B. J. III. 2, 4: fieyloxrjv fihv ovoav xfjq raXiXaiaq noXiv, iovfivo»
tdx<p 6* imxexeizrtft&iv X^Q^* — Nach Vita 25 waren Tiberias, Sepphoris
und Gabara die drei größten Städte Galiläas.
501) B. J. H, 18, 11.
502) Jos. Vita 8. 22. 25. 45. 65. — Hiermit scheinen freilich zwei Stellen
des Bell. Jud. im Widerspruch zu stehen: nach B. J. II, 20, 6 überließ Josephus
den Sepphoriten selbst die Befestigung ihrer Stadt, da er sie ohnehin „bereit
cum Kriege" (itQO&vfiovq inl xöv ndXtfiov), seil, gegen die Römer, fand; und
nach B. J. II, 21, 7 trat Sepphoris beim Ausbruch des Konfliktes zwischen Jo-
sephuB und der fanatischeren Kriegspartei auf Seite der letzteren. Allein wie
es in Wahrheit mit beiden Tatsachen sich verhält, sieht man aus den spe-
zielleren Angaben der Vita, Ihre Bereitschaft für die Sache der Revolution
schützten die Sepphoriten nur vor, um sich die ganze Revolutionspartei vom
Leibe zu halten ; sie befestigen ihre Stadt nicht gegen, sondern für die Römer
(s. bes. Vita 65). Und da sie im Winter 66/67 längere Zeit ohne römischen
Schutz waren, mußten sie zwischen den einander gegenseitig sich bekämpfen-
den Revolutionsparteien lavieren, und womöglich zu beiden eine scheinbar
freundliche Stellung einnehmen (s. Vita 25 und bes. Vita 45), worauf also das
in B. J. II, 21, 7 Gesagte zu reduzieren ist.
[166. 167] I. Die hellenistischen Städte. 32. Julias (Livias). 213
wobei er nicht hindern konnte, daß es durch seine galiläischen
Truppen geplündert wurde 60S. Infolgedessen sandte Cestius Gallus
der bedrängten Stadt eine Besatzung, durch welche Josephus, als
er zum zweitenmal in die Stadt eindrang, zurückgeschlagen wurde504.
Bald darauf traf Vespasian mit seinem Heere in Galiläa ein, und
Sepphoris erbat und erhielt nun durch ihn abermals eine römische
Besatzung b0\ — Aus der weiteren Geschichte der Stadt sind nur
Bruchstücke bekannt Auf Münzen Trajans nennen sich die Ein-
wohner noch £exg>a)Q7)voL Bald darauf erhielt sie aber den Namep
Diocäsarea, der auf Münzen seit Antoninus Pius nachweisbar ist
Ihre offizielle Bezeichnung auf den Münzen ist: Aioxat(paQud) Uqc,
ao{vXog) xal avT6(po/toq)s0\ Der Name Diocäsarea ist bei den
griechischen | Schriftstellern der herrschende geblieben507. Doch
hat sich daneben auch der ursprüngliche erhalten, ja zuletzt wieder
jenen verdrängt508. — Das Gebiet von Diocäsarea war so groß,
daß es z. B. das Dorf Dabira am Berg Tabor noch mit umfaßte 509.
32. Julias oder Livias510. Im Alten Testamente wird ein
Ort Beth-haram (üyn rM oder "pn tT»a) im Ostjordanlande, im
603) Vita 67.
. 504) Vita 71. — Auf diese zweimalige Einnahme von Sepphoris bezieht
sich die Bemerkung Vüa 15: Ölq fxhv xatä XQ&toq kXwv 2en<pa>Qlraq.
505) Vüa 74. Bell. Jud. III, 2, 4. 4, 1. — Die früher von Cestius Gallus
gesandte Besatzung war entweder inzwischen wieder abgezogen oder sie wurde
nun durch die Truppen Vespasians ersetzt oder verstärkt.
506) S. über die Münzen überhaupt: Noris V, 6/w. (ed. Lips. p. 562—564).
Eckhel III, 425 sq. Mionnet .V, 482 sq. Suppl. VUI, 331 sq. De Saulcy
p. 325—330, pl. XVII n. 1 — 7. — Über eine angebliche Münze des Seleukus I
Nikator: Eckhel III, 426. Wonnet V, 4. In der Zeitschr. f. Numismatik XTLI,
1885, 8. 134—136 teilt Imhoof-Blumer eine Münze von Diocäsarea mit, die er
wohl mit Recht dem cilicischen Diocäsarea zuschreibt. — Über die Identität
von Sepphoris und Diocäsarea: Epiphan. haer. 30, 11 /in. Hieronymus
Onomast. ed. Klostermann p. 17, 13 sq. Hern, praefat. in Jonam (Vallarsi VI,
390). Eegesippus, De hello Jud. I, 30, 7.
507) Eusebius im Onomast, nennt die Stadt ausschließlich dtoxaiodpEia
(s. den Index bei Klostennann). Sonst vgl. außer der in der vorigen Anm.
ziterten Literatur auch: Soerates, Eist. ecel. II, 33. Soxom. Bist. ecel. IV, 7.
Theophanes, Chronograpkia ed. Bonnens. I, 61. Cedrenus ed. Bekker I, 524. Le
Quien, Oriens christ. EI, 714.
508) Über den fortdauernden Gebrauch des Namens Sepphoris s. oben
Anm. 48&— 491. Der Ort heißt noch heute Sefurije.
509) Euseb. Onomast. p. 78: daßeiga .... iv xfy Soei Saßwo, iv SqIoiq
dioxamaoelaQ. — Auch Qabatha, das heutige Jebata, ungefähr 7—8 mil, pass.
von Diocäsarea, gehörte zu dessen Gebiet; s. oben Anm. 432.
510) S. überh.: Reland p. 642. 874. Paulys Enzykl. IV, 1107. Winer,
EWB. I, 171 (s.v. Beth-haram). Raumer S. 260. Ritter XV, 538. 573. 1186.
Seetzen, Reisen IV, 224 f. Riehms Wörterb. s. v. Beth-haram. Kuhn, Die
214 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [167. 168]
Gebiete des amoritischen Königs von Hesbon erwähnt (Jos. 13, 27.
Num. 32, 36). Im jerusalemischen Talmud wird als neuerer Name
dieses Beth-haram nman r^a angegeben511; und ebenso identifizieren
Eusebius und Hieronymus das biblische Beth-haram mit dem ihnen
bekannten Btjd-Qafiqpd-a oder Bethramtha*12. Mit letzterem ist jeden-
falls identisch das Bij&aQafta&og, wo Herodes d. Gr. einen Palast
hatte, der bei dem Aufstande nach dem Tode des Herodes zerstört
wurde518. Eben dieses Bethramphtha nun wurde von Herodes
Antipas neu gebaut und befestigt und zu Ehren der | Gemahlin
des Augustus Julias genannt (Jos. Antu XVIII, 2, 1. B. J. EL, 9, 1).
Statt des Namens Julias geben Eusebius und andere den Namen
Livias514. Und unter diesem Namen wird die Stadt auch sonst
häufig erwähnt515. Da die Gemahlin des Augustus eigentlich
stadtische und bürgert Verfassung II, 352 f. Ders., Über die Entstehung der
Städte der Alten (1878) S. 426. Tuch, Quaestiones de Flavii Josephi tibris
historicis (1859) p. 7—11. Verschiedene Mitteilungen in der Zeitschr. des DPV.
H, 2—3. VH, 201 ff. Vin, lOO. Xm, 218 £ The Survey of Eastern Palestine,
Memoire etc. vol. I by Conder, 1889, p. 238 f. • Thomsen, Loea saneta p. SS sq.
511) jer. Schebiith 38 d (zu Mischna Schebiith IX, 2; s. die Stelle auch bei
Befand p. 306—308. Es wird hier Peräa nach seiner physischen Beschaffenheit
in drei Teile eingeteilt: Gebirge, Ebene und Tal ("in, nbfitt) und p&9). Im
Gebirge liegt z. B. Machärus, in der Ebene Hesbon, im Tal *pn rV*S und
rrvöD n^a. Als die neueren Namen der beiden letzteren Orte werden dann an-
gegeben ntwi rna und "p-raa rv»a. — In der Tosephta (p. 71, 23 ed. Zuckermandel)
heißen die beiden Orte «nai maa r^S. Ist hier r^a vor Ktran ausgefallen?
oder sollte der Ort auch einfach Ktron genannt worden sein?
512) Euseb. Onomaet. ed. Klostermann p. 48. 49.
513) BeU. Jud. n, 4, 2. In der Parallelstelle Antt. XVH, 10, 6 ist der
Name korrumpiert. Statt iv *A(Aa&otq oder iv 'Afifid&otQ, wie der überlieferte
Text hat, ist entweder zu lesen iv 'Aga/naS-oTg (mit Weglassung von Beth, so
Tuch, Quaestiones etc. p. 10) oder geradezu iv Bij&aoafiad'OTQ.
514) Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 48: Bq&Qafup&ä .... afo)j 64
iaxiv % v$v xaXovpivT] Aißidq. — Hieronymus ibid. p. 49: Bethramtha . . ab
Herode in honorem Auf/usti Libias cognominata. — Euseb. Ohron. ed. Sehoene
TL, 148 sq.: Herodes Tiberiadem condidü et Liviadem (nach Hieron., ebenso
armen.). — Syncell. ed. Dindorf I, 605: 'Hgwdriq exrioe TißsoidSa eis Övopa
Tißeoiov Kaioaooq. 6 avtdq Aißiäöa. — Die Identität von Livias mit dem
Betharamphtha- Julias des Josephus ist hiernach zweifellos (gegen Kasteren,
Zeitschr. des DPV. XIII, 218f.).
515) Plinius H. N. XIII, 4, 44. Ptolemaeus V, 16, 9 — Didotsche Ausg.
(I, 2, 1901) V, 15, 6 (Aißidq nach entscheidendem Zeugnis, u. a. auch nach dem
Cod. von Vatopedi). Euseb. im Onomast, häufig. Hierocles, Synecd. ed. Parthey
p. 44. Die Nolitia episcopat. ebendas. p. 144. Die Akten der Konzilien (Le
Quien, Oriens christ. III, Gbbsq.). Die Vita S. Joannis Silentiarii (in den
Acta Sanctorum, s. die Stelle bei Befand p. 874). Oeooraphus Bavennas edd.
Pinder et Parthey p. 84 (Leviada, als Nominat.). Gregor. Turon. De gloria
martyr. I, 18. Raabe, Petrus der Iberer (1895) S. 81 f. Die Pilgerschriften
[168. 169] L Die hellenistischen Städte. 32. Julias (Linas). 215
Li via hieß and erst durch das Testament des Augustus in die
gens JuUa aufgenommen wurde, daher auch erst seit dessen Tod
den Namen Julia führte516, so ist anzunehmen, daß Livias der
ältere Name der Stadt ist, und daß dieser erst später (nach dem
Tode des Augustus) in den Namen Julias geändert wurde; daß
jedoch dieser neue offizielle Name^nicht mehr imstande war, den
schon eingebürgerten älteren zu verdrängen (ähnlich wie bei Cäsa-
rea Philippi und Neronias). Nur Josephus gebraucht den offiziellen
Namen Julias. Er erwähnt die Stadt unter diesem Namen auch
noch zur Zeit des jüdischen Krieges, wo sie durch Placidus, einen
Unterfeldherrn Vespasians, eingenommen wurde517. — Die | Lage
der Stadt beschreibt am genauesten der Palästinapilger Theodosius
(saec. VI) und nach ihm Gregor von Tours: sie lag jenseits des
Jordan, gegenüber von Jericho, XII m. p. von dieser Stadt entfernt,
in der Nähe von warmen Quellen518. Hiermit stimmt auch Eusebius
bei Geyer, Utinera Hierosolymüana p. 51, 13. 52, 10. 54, 8 (Silvia), 145, 16ff.
(Theodosius)» 165, 22 (Antoninus Martyr; die Handschriften haben hier sal~
miada oder salamiada; die von Gildemeister, Zeitschr. des DPV. VIII, 100
vorgeschlagene Korrektur in Liviada ist trotz des Widerspruchs, welchen Mom-
mert, Änon und Bethairia 1903, S. 68 f. dagegen erhoben hat, sehr wahrschein«
lieh). — Über die mehrfach sich findende Nominativ -Bildung Liviada s.
Rönsch, Itala und Vulgata S. 258 f.
516) Über das Testament des Augustus s. Tacit. Annal. I, 8: Livia in
familiam Juliam nomenque Augustum adsumebatur. Der Name Julia für
Livia bei Schriftstellern (z. B. Tae. Annal. I, 14. V, 1. Sueton. Galig. 16. Dio
Cassius LVI, 46. Plinius H. N. X, 55, 154. Josephus häufig) und auf Münzen
und Inschriften. S. Paulys Enzykl. IV, 484. 1116. Rostowzew, Livia und
Julia (Strena Helbigiana 1900, p. 262—264). — Palästinensische Münzen der Julia
8. bei De Saulcy, Recherche* sur la Numismatique Judatque 1854, p. 140 — 145.
Madden, History of Jetoish Goinage p. 141 — 151. De Saulcy, Numismatique
de la Terre Samte p. 73 — 76. Madden, Numismatique Chronicle 1875, p. 183
bis 16a Ders., Coins of the Jews (1881) p. 177—182. Stickel, Zeitschr. des
DPV. VII, 213.
517) Bell. Jud. IV, 7, 6. 8, 2. — Sonst wird die Stadt bei Josephus nicht
erwähnt Denn Antt. XX, 8, 4. Bell. Jud. II, 13, 2 ist sicher Julias = Beth-
saida gemeint; und Antt. XIV, 1, 4 ist statt Aißidg mit cod. Pal. Aißßa zu
lesen; es ist derselbe Ort, der Antt. XIII, 15, 4 Aeußd heißt. Vgl. Nieses
Ausgabe und Tuch a. a. O. p. 11. 14. Schlatter, Zeitschr. d. DPV. XIX, 230
(Lemba ist aus Libba entstanden wie Ambakum aus Abbakuk und dgl.). Auch
das Avoiaq des Strabo p. 763 hat mit unserem Livias nichts zu tun, da es
schon zur Zeit des Pompeius existierte.
518) Theodosius bei Geyer, Itinera Hierosolymitana p. 145: Öivitas Le~
viada trans Jordanen, habens de Hierieho milia XII . . . ibi aquae calidae sunt,
ubi Moyses lavit, et in ipsas aquas calidas leprosi curantur. — Gregor. Tu-
ron., De gloria martyrum 1, 18: Sunt autem et ad Levidam [al. Leviadem] elvi-
totem aquae calidae, .... ubi similiter leprosi mundanlur; est autem ab Hierieho
duodeeim millia.
216 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [169. 170]
überein, der sie gegenüber von Jericho, auf dem Weg nach Hesbon,
ansetzt619. — Ihre Dattelkultur wird von Theodosius noch ebenso
gerühmt wie von Plinius620.
33. Tiberias, TißBQtagb2K — Die bedeutendste Schöpfung des
Herodes Antipas war die Gründung einer neuen Hauptstadt am
westlichen Ufer des Sees Genezareth, die er zu Ehren des Tiberius
TißsQiag nannte. Sie lag in der Nähe berühmter warmer Quellen,
„in der besten Gegend Galiläas" (rol<; xQartozoig . . xr\q raXUaiaq, \
AnU. XVIII, 2, 3. Bell. Jud. II, 9, 1; vgl. oben § 17b)622. Ihre Er-
519) Euseb. Onomast ed. Klostermann p. *2. 16. 48. — Vgl. auch die Stelle
ans der Vita S. Joannis Siientiarii bei Befand p. 874. — Die angegebenen
Daten stimmen zu der Lage des heutigen Teil er-Rame auf der Süd -Seite
des Wadi Hesban, fast genau in der Mitte zwischen Jericho und Hesbon
(s. bes. die genaue Karte in The Survey of Eastern Palestine vol. I, 1889, und
den Text ebendas. p. 238 f.). Sicherlich ist also hier Beth-ramtha = Livias
zu suchen, während die Identität mit Beth-haran aus sprachlichen Gründen
fraglich erscheint (■. Zeitschr. des DPV. II, S. 2—3). Auf der Nord-Seite des
Wadi flesban, bei Teil Hamm am, ostlich von Teil er-Rame, ist eine warme
Quelle. S. Merrill, East of ihe Jordan (1881) p. 193. Dechent, Zeitschr.
des DPV. VII, 202. Gildemeister in seiner Ausgabe des Antoninus (1889)
S. 40 Anm. The Survey of Eastern Palestine p. 101, 229.
520) Plinius K N. XIII, 4, 44 (s. oben Anm. 463). — Theodosius 1. c:
ibi habet dactalum Nicolaum majorem. Hierzu oben Bd. I, S. 51, auch Blüm-
ner, Der Maximaltarif des Diocletian 1893, S. 101.
521) S. übern.: Reland p. 1036—1042. Raumer S. Ulf. Winer RWB.
s. v. Robinson, Palästina III, 500—525. Ritter, Erdkunde XV, 1,315—322.
Bädeker-Socin3. Aufl. S. 252— 256. Sepp, Jerusalem II, 188-209. Quirin,
Oalilie I, 250—264. The Survey of Western Palestine, Memoire by Gonder
and Kitchener I, 361 sq. 379. 418—420; dazu Blatt VI der großen englischen
Karte. Frei, Zeitschr. des DPV. IX, 1886, S. 81—103. Kaminka, Studien
zur Geschichte Galiläas, 1889, S. 9—29. Le Strange, Palestine under the
Moslems p. 334—341. Thomson, Loca sancta p. 111.
522) Über die warmen Quellen s. Plinius H. N. V, 15, 71: Tiberiade
aquis calidis salubri. — Jos. AnU. XVIII, 2, 3. Bell. Jud. II, 21, 6. IV, 1, 3.
Vita 16. — Mischna Schabbath III, 4. XXII, 5. Negaim IX, 1. Machsehirin
VI, 7. Tosephta Schabbath p. 127, 21 ed. Zuckermandel. — Antoninus Martyr
c. 7 bei Geyer, Itinera Hieros. p. 163: in civitatem Tiberiada, in qua sunt ther-
tnae . . . salsae. — Jakubi (9. Jahrh.), übers, v. Gildemeister, Zeitschr. des
deutschen Pal.-Ver. IV, 87 f. Mukaddasi ebendas. VII, 153 f. 222. Idrisi eben-
das. VIII, 128. — Das heutige Tiberias liegt etwa 40 Minuten nördlich von
den Quellen; und man hat keinen Grund, die frühere Lage der Stadt anders
anzusetzen. Denn die Meinung Furrers (Ztschr. d. DPV. II, 54), daß das
alte Tiberias direkt an der Stelle der Quellen gelegen habe, so daß diese „in
die Mauern der Stadt eiogeschlossen waren", beruht auf irriger Auffassung
von Jos. Vita 16. B. J. II, 21, 6. S. dagegen: Antt. XVIII, 2, 3. B. J. IV,
1, 3. (Das iv Tißeoidöi an den beiden ersteren Stellen heißt nur „im Ge-
biet von Tiberias"; so z. B. bei Steph. Byx. ed. Meineke p. 366: Kdoxviov, Ö*qoq
[170. 171] I. Die hellenistischen Städte. 33. Tiberias. 217
bauung fällt jedenfalls erheblich später als die von Sepphoris und
Livias. Denn während Josephus die Erbauung dieser beiden Städte
gleich im Anfange der Regierung des Herodes Antipas erwähnt,
kommt er auf die Gründung von Tiberias erst nach dem Amtsantritt
des Pilatus (26 nach Chr.) zu sprechen (s. Antt XVIII, 2, 1—3).
Dies macht es wahrscheinlich, daß Tiberias erst nach oder um 26
nach Chr. erbaut ist523. Eusebius in seiner Chronik setzt die Er-
bauung bestimmt in das 14. Jahr des Tiberius; aber dieser Ansatz
ist in chronologischer Beziehung ganz wertlos524. Leider läßt sich
die | auf den Münzen Trajans und Hadrians vorkommende Ära der
Stadt nicht sicher berechnen. Es scheint aber, daß die Daten der
Münzen mit der aus Josephus entnommenen Vermutung nicht im
iv 'Aontvdy %fj<; IIaji<pvXla$, p. 442: fem xal iv Kv^ixtp xwfiTj MiXioaa, vgl.
Marquardt, Römische Staatsverwaltung I, 1881, 8. 16, Anm. 5. Auch im A. T.,
II ObroD. 26, 6 lYTOKn — im Qebiet von Asdod. Ohne das Material aus
Steph. Byz. zu kennen, hat auch Frei, Zeitschr. des DPV. IX, 95—99 das
Richtige gefunden.) — Der Ort, wo die Quellen lagen, hieß 'Afjtfia&ovq (so ist
sicher Ana. XVIII, 2, 3 und wahrscheinlich auch B. J. IV, 1, 3 zu lesen, vgl.
TheoL Litztg. 1890, 645), hebr. rrnan, jer. Erubin V, 22 d unten, Tosephta
Erubin p. 146, 5 ed. Zuckermandel. Die Ansicht von Furrer und anderen, daß
die bei Joseph. Antt. XVIII, 2, 3 und B. J. IV, 1, 3 erwähnten Quellen ver-
schieden seien von den Vita 16 und B. J. II, 21, 6 erwähnten (Furrer,
Zeitschr. des DPV. XIII, 194ff. Oehlmann, Die Fortschritte der Ortskunde
von Palästina, 1. Tl. Norden, Progr. 1887, 8. 12—14), ist eine seltsame Kon-
sequenz, zu welcher sie durch ihre Ansicht über die Lage von Tarichea ge-
drängt worden sind. Vgl. dagegen die Bemerkungen über die Lage von Tari-
chea oben § 20 (I, 614 £), auch Dechent, Zeitschr. des DPV. VII, 178.
Kasteren ebendas. XI, 215. Buhl ebendas. XIII, 39—41. Guthe ebendas.
XIII, 284£ — Über die Bäder von Tiberias überhaupt auch Lightfoot, Cen-
turia Maithaeo praemissa c. 74 (Opp. II, 224 sq.). Wichmanshausen, De
thermis Tiberiensibus (in Ugolinis Thesaurus t. VII.) Hamburger, Real-
Enzykl. für Bibel und Talmud. IL Abt Art. „Heilbäder". Dechent, Ztschr.
des DPV. VII, 176-187.
523) So auch Lenin, Fasti saeri (London 1865) n. 1163.
524) Eusebius, Chron. ed. Schoene II, 146—149 berichtet die Gründung
neuer Städte durch die Söhne des Herodes in folgender Reihenfolge: Philippus
gründet Cäsarea und Julias, Herodes Antipas gründet Tiberias und Li-
vias. Sämtliche Gründungen werden in die Zeit des Tiberius gesetzt; Sep-
phoris ist ganz übergangen. Dies alles macht es zweifellos, daß die An-
gaben des Eusebius lediglich aus Jos. Bell. Jud. II, 9, 1 geschöpft
sind. Denn die Gründungen werden dort genau in derselben Reihenfolge,
ebenfalls nach dem Regierungsantritt des Tiberius und ebenfalls mit Über-
gehung von Sepphoris aufgezählt. Die Ansätze des Eusebius sind also nicht
nur ohne selbständigen Wert, sondern sie sind überdies aus dem ungenaueren
Bericht des Josephus im Bell. Jud. geschöpft, mit Ignorierung des genaueren in
Antt. XVHI, 2, 1—3. Vgl. auch Zeitschr. für wiss. Theo!. 189S, S. 30 f., übern.
S. 22ff.
218 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [171. 172]
Widerspruch stehen525. Die Bevölkerung von Tiberias war eine
sehr gemischte. Um nur Einwohner für die neue Stadt zu ge-
winnen, mußte Herodes Antipas eine wahre coüuvies hominum, zum
Teil zwangsweise, dort ansiedeln (s. oben § 17b). Ihre Hal-
tung während des jüdischen Krieges zeigt aber, daß sie doch
eine vorwiegend jüdische war. Nur die Verfassung war ganz
in hellenistischer Weise organisiert528: die Stadt hatte einen
Rat (ßovXri) von 600 Mitgliedern527, an dessen Spitze ein ap-
X<ovh2* und ein Ausschuß der öixa jrpcoro*529 stand, ferner Hyp-
525) Über die Münzen und die Ära s.t Noris V, 6 (ed. Lips. p. 652 — 564).
Sanclemente, De vulgaris aerae emendatione p. 324 sq. Eckhel HI, 426—428.
Musei Sanclementiani Numismata selecta Pars H lib. IV, 340— 344. Mionnet
V, 483— 486. Ä^Vm, 332*?. Hub er in der Wiener Numismatischen
Zeitschrift, Jahrg. I, 1869, S. 401—414. De Sauley p. 333—338, pl. XVII
n. 9—14. Der s. im Annuaire de la Sociiti Francaise de Numismatique et
d'Archiol. III, 266-270. O. A. Smith, Hisiorical Oeography of the Holy Land
p. 448. Macdonald, (Mal. of the Hunterian collection III, 1905, p. 275. — Unter
den datierten Münzen sind sicher bezeugt nur die Münzen Trajans mit der
Jahreszahl 81 und die Münzen Hadrians mit der Jahreszahl 101. Noris und
Sanclemente setzten auch Trajans-Münzen mit der Jahreszahl 101 voraus
und berechneten demgemäß die Epoche von Tiberias auf d. J. 17 n. Chr.
(denn es müßte dann das Jahr, in welchem Hadrian auf Trajan folgte, also
117 n. Chr. — 101 aer. Tiberiens. sein, also 17 n. Chr. — 1 aer. Tib.). Aber
die Münzen mit der Jahreszahl 101 gehören sicher alle Hadrian an. Auch
die anderen von den Numismatikern vereinzelt angegebenen Daten (de Sauley
gibt noch Münzen des Claudius v. J. 33, Trajans v. J. 80 und 90, Hadrians
v. J. 103) sind zweifelhaft. Man kann daher mit Sicherheit nur sagen, daß
die Epoche von Tiberias nicht früher als 17 nach Chr. beginnen kann.
Ein weiterer Anhaltspunkt ließe sich gewinnen, wenn die Titel, welche Trajan
auf den Münzen vom J. 81 führt, sicher festgestellt werden könnten. Wenn
er nämlich hier nur Qermanicus, nicht Dacicus heißt, so könnten die be-
treffenden Münzen nicht später als 103 nach Chr. geprägt sein (seit welchem
Jahre Trajan auch den letzteren Titel führte), die Epoche also nicht später
als 22 n. Chr. beginnen (so Eckhel). Wenn er aber umgekehrt gerade auf
jenen Münzen schon beide Titel hat (wie Beichardt bei Hub er a. a. O.
versichert, indem statt rEPM. zu lesen sei rEP. d.\ so könnten umgekehrt
die Münzen nicht früher als 103 geprägt sein, die Epoche also nicht früher
als 22 n. Chr. beginnen. Damit würde dann Josephus im Einklang stehen.
526) S. zum Folgenden: Kuhn, Die städtische und bürgerl. Verfassung
II, 353 f. Ders., Über die Entstehung der Städte der Alten 8. 427 f.
527) Bell. Jud. II, 21, 9. Vgl. überhaupt Vita 12. 34. 55. 58. 61. 68.
528) Vita 27. 53. 54. 57. Bell. Jud. II, 21, 3. Es wird hier überall ein
Jesus, Sohn des Sapphias, als Archon von Tiberias während der Revolu-
tionszeit erwähnt. Zu seiner Befugnis gehört z. B. auch die Leitung der
Rats-Versamralung, Vita 58.
529) Vita 13. 57. Bell. Jud. H, 21, 9 «= Vita 33. S. bes. Vita 13: tovq.
xfjq ßovXqq izqwtovq föxa. Vita 57: xovq öixa nguTOvc, Tißeoitcov. — Ober
diese in den hellenistischen Kommunen häufig vorkommenden Sixa ngvoxot s.
[172. 173] I Die hellenistischen Städte. 33. Tiberias. 219
archen680 und einen Agoranomos681. Auch wurde sie zur Hauptstadt
von Galiläa erhoben, indem selbst Sepphoris ihr untergeordnet
wurde (s. oben S. 211 f.). Die Münzen von Tiberias, welche zur Zeit
des Herodes Antipas geprägt sind, haben einfach die Aufschrift Ti-
ßsQiäg m. — Nach der Absetzung des Herodes Antipas ging Tiberias
in den Bejsitz Agrippas I. über. Auch aus dessen Zeit ist eine
Münze mit der Aufschrift TtßeQtdcov bekannt688. Nach Agrippas Tode
kam die Stadt unter die Oberhoheit der römischen Prokuratoren
von Judäa. Ebendamals muß sie durch Kaiser Claudius neue
politische Rechte erhalten oder wenigstens irgendwelche Gunst-
bezeugung erfahren haben; denn die Einwohner nennen sich auf
den Münzen Trajans und Hadrians TißeQielg KXavönig 584. Ihre
Kuhn I, 55; Marquardt, Rom. Staatsverwaltung I, 213 f. (1881); d. Index
zum Corp. Jhscr. Graee. p. 35. Liebenam, Städteverwaltung im römischen
Kaiserreiche (1900) S. 552 f. Brandis in Pauly-Wissowas Real-Enz. IV, 2417 ff.
Seeck, Decemprimat und Dekaprotie (Beiträge zur alten Geschichte, herausg.
von Lehmann I, 1, 1901, S. 147 — 187). Hula, Dekaprotie nnd Eikosaprotie
(Jahreshefte des österr. archäol. Inst V, 1902, S. 197—207). — Sie sind nicht
etwa die zehn ältesten oder angesehensten Mitglieder des Rates, sondern ein
wechselnder Ausschuß desselben mit bestimmten amtlichen Funktionen, wie
schon die oft vorkommende Formel dexanQwtevoaq zeigt (s. Corp. Jhsor. Oraee.
n. 2639. 2929. 2930. AM 2930b. 3490. 3491. 3496. 3498. 4289. 4415b. texarcQta-
rev*o>c n. 3418). Ihr Hauptamt war die Eintreibung der Steuern, für deren
richtigen Eingang sie mit dem eigenen Vermögen hafteten, Digest. L, 4, 1, 1:
Munerum civilium quaedam sunt patrimonii, alia personarum. PatrimonU sunt
tnunera rei vehicularis, item navicularis, deeemprimatus : ab Ulis enim periculo
ipsorum exactiones soliemnium celebrantur. Digest. L, 4, 18, 26: Mixta munera
deeaprotiae et icosaprotiae, ut Eerennius Modestmus .... deerevit: nam deca-
proti et icosaproti tributa ewigentes et corporate mimsterium gerunt et pro Om-
nibus defunetorum (?) fisealia detrimenta resareiunt. — Es ist bemerkenswert,
daß Josephus bei seiner Verwaltung Galiläas den decem primi zu Tiberias
Wertsachen des Königs Agrippa zur Aufbewahrung übergibt und sie dafür
verantwortlich macht, Vita 13. 57.
530) B. J. II, 21, 6: xotg xaxk t^v nöXiv vnaQXOu;.
531) Antt. XVm, 6, 2. — Über das Amt des äyoQavöfioq s. Stephanus,
T/ies. 8. v. Häderli, Die hellenischen Astynomen und Agoranomen, vornehm*
lieh im alten Athen (Jahrbb. f. class. Philol. 15. Supplementbd. 1887, S. 45
—94). Oehler in Pauly-Wissowas Real-Enz. I, 884 f. Liebenam, Stadte-
verwaltung im röm. Kaiserreiche S. 362 ff, 539 — 542. In einzelnen Städten
wechselte das Amt halbjährlich (Clermont-Qanneau, Gomptes rendus de VAcad.
des Inscr. et Belles-Lettres 1898, p. 607 sq.). — Auch die rabbinischen Quellen
kennen das Amt des blWTOK (Krauß, Griech. und lat. Lehnwörter im
Talmud etc. II, 11 f.).
532) Madden, History of Jewish Coinage p. 97. 98. Ders., Coins of the
Jetcs (1881) p. 119. 120.
533) Madden, History p. 110. Coins of the Jews p. 138.
534) S. die oben Anm. 525 zitierte Literatur, bes. de Saulcy.
220 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [173. 174]
Stellung als Hauptstadt Galiläas behielt sie ununterbrochen bis
zur Zeit Neros (Jos. Vita 9). Erst durch diesen, vielleicht erst im
Jahre 61 nach Chr., wurde sie dem Agrippa II. verliehen und
damit von Galiläa abgetrennt (AntiXK, 8, 4. B.J.U, 13, 2. Vita 9)535.
Sie gehörte also zum Gebiete Agrippas II., als im Jahre 66 der
jüdische Aufstand ausbrach. Die Haltung der Bevölkerung diesem
gegenüber war eine sehr verschiedene: einige wollten auf Seiten
Agrippas und der Römer bleiben; andere — und zwar die Masse
der Besitzlosen — verlangten den Anschluß an die Sache der Re-
volution; wieder andere nahmen eine zurückhaltende Stellung ein
( Vita 9; vgl. auch Vita 12, wo die Kevolutionspartei fj x&v vccvtcüv
xät x&v ajtoQcov ördoig heißt). Die Revolutionspartei hatte ent-
schieden die Oberhand; und so mußten die anderen sich fügen.
Ein Hauptführer der ersteren war Jesus, Sohn des Sapphias, der
damalige Archon der Stadt536. Auch nach dem Sieg der revolu-
tionären Strömung hielt aber ein Teil der Einwohnerschaft die
Beziehungen zu Agrippa aufrecht und bat ihn wiederholt, freilich
vergeblich, um seine Unterstützung537. Als Vespasian den größten
Teil Galiläas unterworfen hatte und bis Tiberias vorgedrungen
war, wagte die Stadt keinen Widerstand; sie öffnete freiwillig die
Tore und bat um Gnade, die ihr aus Bücksicht auf Agrippa ge-
währt wurde: Vespasian ließ zwar seine Soldaten in Tiberias ein-
ziehen, schonte aber die Stadt und übergab sie wieder dem Agrippa53*.
Ob Agrippa sie bis zu seinem Tode (100 nach Chr.) behalten hat,
ist fraglich. Einige Spuren, wenn auch unsicherer Art, sprechen
dafür, daß ihm seine jüdischen Besitzungen im Jahre 85 nach Chr.
abgenommen wurden539. Tiberias kam dann (sei es 85 oder 100
nach Chr.) wieder unter die unmittelbare römische Herrschaft, von
welcher auch die vorhandenen Münzen, meist aus der Zeit Trajans
und Hadrians, Zeugnis geben 540. Eusebius beizeichnet sie als nöliq
ijtlorjfiogbAi. Im dritten und vierten Jahrhundert nach Chr. war
535) Über die Zeit s. oben § 19, Anhang (Bd. I, 8. 583 f.)
536) Jos. Vita 12. 27. 53. 54. 57. Bett. Jud. II, 21, 3. HI, 9, 7— S. — Die
revolutionäre Haltung der Stadt erhellt aus der ganzen Erzählung des Josephus
.in seiner Vita.
537) Bett. Jud. H, 21, 8-10. Vita 32—34. 68—69. 70.
538) Bell. Jud. HI, 9, 7—8.
539) S. Bd. I, S. 595. 598 f. — Die Spuren sind: 1) daß Batanäa zur
Zeit der Abfassung von Josephus1 Archäologie, also im J. 93 dem Agrippa
nicht mehr gehört hat (Antt. XVII, 2, 2), 2) die Notiz eines späteren Chrono-
graphen, daß Agrippas jüdisches Königtum im J. 85 endigte.
540) Eine Münze aus der Zeit des Com modus ist publiziert worden
von Hub er in der Wiener Numismatischen Zeitschr. Jahrg. 1, 1869, 8. 401 ff.
541) Onomast. ed. Klostermann p. 16.
[174] I. Die hellenistischen Städte. 33. Tiberias. 221
sie ein Hauptsitz rabbinischer Gelehrsamkeit and wird daher auch
in der talmudischen Literatur häufig erwähnt542. Sie hatte aber
seit dem zweiten Jahrhundert auch heidnische Tempel, z. B. ein
9AÖQiavei6v\ das ein vaog (ityiöxoq war543. Von ihrer Bedeutung
als Handelsstadt im zweiten Jahrhundert nach Chr. geben zwei
neuerdings in Rom gefundene Inschriften Kunde, wonach die Kauf-
leute aus Tiberias in Rom eine eigene statio (Verein und Vereins-
haus) hatten544.
Bei einigen der zuletzt genannten Städte, wie Antipatris,
Phasaelis, Julias und Livias, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen,
ob sie wirklich in die Klasse der selbständigen Städte mit helle-
nistischer Verfassung gehörten: es ist ebensogut möglich, daß sie
wie andere Städte zweiten Ranges der allgemeinen Organisation
des Landes einverleibt waren. Sie mußten aber hier mit genannt
werden, weil jedenfalls ein Teil der von Herodes und seinen Söhnen
gegründeten Städte der obigen Kategorie angehörte. Andererseits
bleibt die Möglichkeit offen, daß mit den hier aufgezählten Städten
die Zahl der selbständigen Kommunen noch nicht erschöpft ist
Wir können also die von uns gegebene Liste nicht als
eine festbegrenzte betrachten. — Für- die römische Kaiserzeit
wäre auch noch eine Anzahl selbständiger städtischer Kommunen
zu nennen, die hier absichtlich übergangen sind, weil sie eben
erst später (frühestens seit 70 nach Chr.) diese Stellung erlangt
haben, so namentlich Neapolis = Sichern (gegründet um 72 nach
Chr.), Capitolias in der Dekapolis (um 97—98 nach Chr.), Dios-
polis — Lydda, Eleutheropolis (beide unter Septimius Severus),
542) Neubauer, Geographie du Talmud p. 208 — 214 — P inner, Com-
pendiam des jerus. und bab. Talmud (1832) S. 109—116. — Bacher, Die
Agada der paläst. Amoräer Bd. III, 1899, Register s. v. „Tiberias". — Krau ß,
Griech. u. lab. Lehnwörter im Talmud etc. II, 255 f.
543) Epiphan. haer. 30, 12.
544) Oattiy BuüeUino deüa eomissione archeol eomunale 1899, p. 242
und Notixde degli scavi (in den Aiti deüa R. Aocademia dei Lincei) 1899, p. 386,
abgedruckt bei Cagnat, Inscriptiones gr. ad res romanas pertinentes In. 132,
richtig ergänzt von Turtzewitsch, Orbis in urbe 1902 (russisch, s. Berliner
philol. Wochenschr. 1904, 594) und Kubitschek, Jahreshefte des osterr.
archäol. Institutes Bd. VI, 1903, Beiblatt col. 80 f. Der Beginn lautet: ZVa-
xltov [Tißs]Qii(ov xCov xal KXavöionoXiTLbv Zvoiq IIaX[aio]z€ivy. Die erst von
Turtzewitsch und Kubitschek gegebene Ergänzung [Tiße]QU(ov ist zweifellos
richtig. Die Inschrift gehört nach K. frühestens der Mitte des 2. Jahrh. n. Chr.
an. — 2) Gatti, Bullettino eomunale 1899 p. 241 und Notixte degli scavi 1899,
p. 292 — Cagnat, Inscr. gr. I n. 111: *Iafim>oq *I(oJjvov vlbq Tißegievg r§ <na~
xlatvi. — Die siationes munieipiorum in der Nähe des Forums in Born er-
wähnen auch Plin. Rist. Nat. XVI, 236. Sueton. Nero 37.
222 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [174. 175]
Nikopolis — Emmaus (unter Elagabal), und die der Provinz
Arabien angehörigen Kommunen, wie Bostra, Adraau. a. Auch
Aelia Capitolina (= Jerusalem) wäre für die Zeit nach Hadrian
als heidnische Stadt zu erwähnen. Über Neapolis und Capitolias
s. oben § 21, I (Bd. I, S. 650—652).
Über die Stellung der Juden in diesen vorwiegend heid-
nischen Kommunen liegt nicht mehr Material vor, als was an
den betreffenden Orten bereits mitgeteilt wurde. Am instruktivsten
ist die Geschichte von Cäsarea (Nr. 9). Hier hatten Heiden und
Juden bis zur Zeit Neros die gleichen bürgerlichen Rechte (loo-
jtohrela, Antu XX, 8, 7 u. 9), also beide auch die gleiche aktive und
passive Wahlfähigkeit zum städtischen Senat Da dies notwendig
zu vielfachen Mißhelligkeiten führte, so erstrebte jeder von beiden
Teilen eine Änderung dieses Zustand es: jeder wollte die Herr-
schaft für sich haben. Es gab also eine dreifache Möglichkeit: |
1) Gleichstellung, 2) Ausschließung der Juden vom Bürgerrecht,
3) Ausschließung der Heiden vom Bürgerrecht Alle drei Fälle
sind ohne Zweifel auch wirklich vorgekommen. In den alten phi-
listäischen und phönizischen Kommunen haben die Juden schwerlich
das Bürgerrecht gehabt Sie wohnten zwar auch hier fast überall
zu Tausenden; aber sie waren doch nur als Einwohner geduldet;
und wie gespannt das Verhältnis zwischen ihnen und den heid-
nischen Bürgern war, zeigt am besten die blutige Verfolgung der
Juden in manchen dieser Städte beim Ausbruch der jüdischen Re-
volution, so z. B. in Askalon, Ptolemais und Tyrus. In anderen
Städten mögen Heiden und Juden gleichberechtigt gewesen sein;
so namentlich wohl in denjenigen, welche seit der Makkabäerzeit
vorwiegend von Juden bewohnt waren, wie Jamnia und Jope.
Ob in irgend einer der bisher genannten Städte die Heiden vom
Bürgerrecht ausgeschlossen waren, ist sehr zweifelhaft; nicht ein-
mal bei Sepphoris und Tiberias ist dies wahrscheinlich. Jedenfalls
aber ist diese dritte Möglichkeit durch Jerusalem und überhaupt
durch die Städte des eigentlich jüdischen Gebietes vertreten. Im
einzelnen läßt sich diesen Dingen bei dem Mangel an Material
nicht weiter nachgehen. Es muß uns genügen, die allgemeinen
Gesichtspunkte festgestellt zu haben. Über die Organisation der
jüdischen Gemeinden in diesen Städten s. unten § 27, II und § 31, II.
175. 176] II. Das eigentlich jüdische Gebiet. 223
II. Das eigentlich jüdische Gebiet.
Literatur:
Seiden, De synedriis et praefecturis juridicü veierum Ebraeorum, lib. I Lon-
dini 1650, lib. II Londini 1653, lib. III Londini 1655 (Nachdruck des
Ganzen: Amstelaedami 1679). — Das erste Buch handelt über die jüdische
Gerichtsverfassung ante legis in Sinai datione/n, das zweite Buch über
dieselbe seit der sinaitischen Gesetzgebung, das dritte speziell über die
Befugnisse des großen Synedriums. Wegen seines Stoffreichtums ist das
gelehrte Werk trotz des veralteten unkritischen Standpunktes noch immer
schätzbar.
Saalschutz, Das mosaische Recht Bd. I, 1853, S. 53—64.
Win er RWB. Artikel: Alter, Älteste; Gericht; Städte.
Schenkels Bibel-Lexikon Art. Älteste (von Schenkel); Gerichte (von Wit-
schen); Städte (von Furrer).
Rieh ms Handwörterb. d. bibl. Altertums Art Älteste; Gerichtswesen; Dorf;
Stadt.
Arnold in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XIV, 721 (Art. „Städte").
Leyrer in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XV, 324 f. (Art. „Synedrium").
Kuhn, Die städtische und bürgerl. Verfassung des röm. Reichs II, 336 — 346.
Köhler, Lehrbuch der bibl. Geschichte Alten Testamentes Bd. 1, 1875, S. 350 f.
Reuß, Gesch. der heiligen Schriften A. Ts § 114. |
Seesemann, Die Ältesten im Alten Testament. Leipzig Diss. 1895.
Benzinger, Art. „Älteste" in Herzogs Real-Enz. 3. Aufl. I, 224—227.
Weinberg, Die Organisation der jüdischen Ortsgemeinden in der talmu-
dischen Zeit (Monatsschr. f. Gesch. und Wissensch. des Judent. 41. Jahrg.
1897, S. 588—604, 639—660, 673—691).
Benxinger Art Government in der Encyclopaedia biblica H, 1901, col. 1900 ff,
Weyl, Die jüdischen Strafgesetze bei Flavius Josephus in ihrem Verhältnis
zu Schrift und Halacha, mit einer Einleitung: Flavius Josephus über die
jüdischen Gerichtshöfe und Richter (Bern, Dissert 1900) S. 12—26.
Das eigentlich jüdische Gebiet umfaßte, wenn wir von Samaria
absehen, die drei Landschaften Judäa, Galiläa und Peräa, und
zwar in derjenigen Einschränkung, welche sich durch die Grenzen
der hellenistischen Städte von selbst ergibt (vgl. oben § 22, I). In
diesem Gebiet bildeten die etwa dort wohnenden Heiden höchstens
eine Minorität; und es darf angenommen werden, daß hier die
Kommunalbehörden der Städte ausschließlich aus Juden bestanden.
Auch in den jüdischen Städten hat es nämlich ohne Zweifel Kom-
munalvertretungen gegeben, welche die Angelegenheiten der
Stadt zu leiten hatten. Schon in der frühesten Geschichte Israels
werden häufig „die Ältesten der Stadt" T»?n "Opr als lokale Obrig-
keiten erwähnt (s. überh. Deut. 19, 12. 21, 2 ff. 22, 15 ff. 25, 7 ff.
Josua 20, 4. Judic. 8, 14. Ruth 4, 2 ff. I Sam. 11, 3. 16, 4. 30, 26 ff.
224 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [176. 177J
I Reg. 21, 8. 11). Ihre Zahl wird fast nirgends genannt, muß aber
als ziemlich groß angenommen werden. Sukkoth z. B. hatte 77
Älteste (Judic. 8, 14). Sie vertraten die Gemeinde in jeder Be-
ziehung und übten darum auch richterliche Funktionen aus (s. z. B.
Deut. 22, 15 ff.). Doch werden außer ihnen auch speziell noch
„Richter" (D^ürö) und „Amtleute" (D^üfc) genannt (beide: Deut.
16, 18; die Einsetzung von „Richtern" wird II Chron. 19, 5 ff. auf
Josaphat zurückgeführt). Da namentlich die Richter ausdrücklich
neben den Ältesten genannt werden (Deut 21, 2; Esra 10, 14), so
sind beide zu unterscheiden, aber wahrscheinlich nur so, daß die
Richter diejenigen unter den Ältesten sind, weiche speziell mit
der Rechtsprechung beauftragt waren. Ebenso werden auch die
„Amtleute" zu der Zahl der „Ältesten" gehört haben, und zwar
als die eigentlichen Exekutivbeamten der Gemeinde1. Diese Or-
ganisation wird nun im wesentlichen auch für die spätere Zeit
anzunehmen sein. Auch in der persischen und griechischen Zeit
werden öfters „die Ältesten" der Stadt erwähnt (Esra 10, 14.
Judith 6, 16. 21. 7, 23. 8, 10. 10, 6. 13, 12). Für die römische Zeit
ist die Existenz von Lokalbehörden z. B. bezeugt durch die Notiz
des Josephus, daß Albinus in seiner Habsucht auch solche, die
wegen Räuberei von ihrer Ortsbehörde (ßovXfi) ins Gefängnis
geworfen waren, gegen Geld freigelassen habe 2. Man | sieht hieraus
zugleich, daß die ßovXfi selbst es ist, welche die Polizeigewalt und
Rechtspflege handhabt Dabei ist es immerhin möglich, daß nament-
lich in größeren Städten neben der ßovXri noch besondere Gerichte
bestanden. An Lokalsynedrien ist auch zu denken, wenn es Matth.
10, 17 = Marc. 13, 9 heißt, daß die Gläubigen werden elg ovpsÖQia
überantwortet werden; auch die Gerichte, welche Matth. 5, 22 als
niedrigere Instanz vor dem Synedrium vorausgesetzt werden, ge-
hören hierher; ebenso die jtQeößvxeQot von Kapernaum (Luc. 7, 3).
Namentlich setzt aber die Mischna durchweg die Existenz von
Lokalgerichten im jüdischen Lande voraus 3. Bei Josephus werden
1) S. bes. Knobel und Dillmann zu Exod. 5, 6 und Deut. 16, 18.
2) B. J. II, 14, 1: scal xovq htl Xgoxtlq öeöeßfrovq in 6 xijq ita(? hxa~
axoiQ ßovXfjq rj z(bv tiqox&qwv hciXQÖnwv aneXvxQov xotq ovyyeviai.
3) Schebiith X, 4: Der wesentliche Inhalt des Prosbol-Formulares ist fol-
gender: Ich, der und der, übergebe euch, den Richtern des und des Ortes,
die Erklärung, daß ich etc. — Sota I, 3: Wie hat der Mann (einer des Ehe-
bruchs verdächtigen Frau) zu Ter fahren? Er führt sie vor dasQericht seines
Ortes, welches ihm zwei Gesetzeskundige mitgibt etc. — Sanhedrm XI, 4:
Man tötet einen solchen Verbrecher weder durch das Gericht in seiner
Stadt, noch durch das Gericht zu Jabne etc. — Als Analogon mag hier er-
wähnt werden, daß es auch in Ägypten nQeaßvxegoi xoj^tjq und andere Dorf-
[177. 178] II. Das eigentlich jüdische Gebiet. 225
zur Zeit des Herodes gelegentlich „Dorfschreiber" erwähnt (Antt.
XVI, 7, 3 § 203: xcofiorQaiifiavstg, Bell Jud. I, 24, 3 § 479: xcofiAv
YQafifiavBig)A. — Was die Mitgliederzahl der Ortegerichte betrifft,
so hat man aus der Mischna schließen wollen, daß die kleinsten
nur aus drei Personen bestanden hätten. Es beruht dies aber
lediglich auf Mißverständnis. Denn an den betreffenden Stellen
werden nur die Fragen aufgezählt, zu deren Entscheidung, und
die Handlungen, zu deren Vornahme je drei Personen genügen.
Sd genügen z. B. drei Personen zur Entscheidung in Geldprozessen,
zur Entscheidung über Raub und körperliche Verletzungen, zur
Verurteilung zu Schadenersatz usw.6; zur Verurteilung zur Geiße-
lung, zur Erklärung des Neumondes und Schaltjahres 6; zur Hand-
auflegung (auf ein Sündopfer im Namen der Gemeinde), zum
Genickabschlagen des Kalbes (wegen eines ermordet Gefundenen).
Ferner geschieht vor dreien: die Chaliza und Weigerungserklärung,
die Auslösung der Früchte der vierjährigen Pflanzung und des
zweiten Zehntes, dessen Wert nicht bestimmt ist, die Einlösung
geheiligter Dinge usw.7. Aber nirgends ist gesagt, daß es Orts-
gerichte gegeben habe, welche aus drei Personen bestanden. | Wie
wenig bei jenen rein theoretischen Bestimmungen an tatsächlich
bestehende Behörden gedacht ist, sieht man vielmehr aus einer
anderen Stelle8, welche lautet: „Geldprozesse werden durch drei
beamte gab. S. Lumbroso, Recherche* sur l'Sconomie politique de Pltgypte
sous les Lagides (1870) p. 259. Deißmann, Bibelstudien (1895) S. 153 f.
Hohlwein, L'administration des viUages Sgyptiens ä PSpoque grico-romaine
{Le Musee Beige 1906, p. 38—58, 160-171). M. Strack, Die Müllerinnung in
Alexandrien (Zeitscbr. f. d. Neutestamentl. Wissensch. 1903, S. 213—234) stellt
S. 231 — 234 alles Material über noeoßvteQOi in Ägypten in ptolemäischer
Zeit zusammen. Über dieselben in römischer Zeit s. Hauschildt, Uoeoßv-
xbqoi in Ägypten im L — III. Jahrh. n. Chr. (Zeitschr. f. d. Neutestamentl.
Wissensch. 1903, S. 235—242). — Ober die Organisation der Landgemeinden
im römischen Reiche überhaupt s. Schulten, Philologus Bd. 53, 1894,
S. 629— 686._
4) In Ägypten sind xa>iAoyoa(i(iaveTq häufig. S. z. BJ Tebtunis Papyri ed.
by Grenfell, Bunt and Smüy P. I, 1902, Index p. 611 s. v. (Urkunden aus dem
Ende des 2. Jahrh. vor Chr.). Ägyptische Urkunden aus den Eönigl. Museen
zu Berlin, Griechische Urkunden, Indices zu Bd. I 1895, II 1898, III 1903,
überh. die neueren Papyrus-Publikationen. Ho hl wein, Le Musee Beige 1906,
p, 41 — 58. Niese sieht daher in dem Vorkommen von xa>(ioyoa(i(iat€T$ in
Judäa einen Beweis ägyptischen Einflusses (Gesch. der griech. und make-
donischen Staaten II, 1899, S. 121).
5) Sanhedrin I, 1.
6) Sanhedrin I, 2. Vgl. Bosch haschana II, 9. III, 1.
7) Sanhedrin I, 3.
8) Sanhedrin HI, 1.
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 15
226 § 23» Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [178. 179]
entschieden. Nämlich jede der beiden Parteien wählt einen Richter,
nnd beide Parteien, oder nach anderer Ansicht beide Richter wählen
zusammen noch einen dritten". In Wahrheit bestanden die
kleinsten Ortsbehörden aas sieben Personen. Denn man
wird schwerlich irren, wenn man die Angabe des Josephus, daß
Moses angeordnet habe: „Es sollen gebieten in jeder Stadt sieben
Männer; und jeder Behörde sollen zur Unterstützung zwei Männer
vom Stamme Levi beigegeben werden", als eine Beschreibung des
tatsächlichen Zustandes zur Zeit des Josephus betrachtet, da diese
Bestimmung im Pentateuch nicht vorliegt9. Bestätigt wird dies
dadurch, daß Josephus selbst, als er in Galiläa eine jüdische Muster-
verfassung einführen wollte, in jeder Stadt eine Behörde von sieben
Männern einsetzte l0. Man könnte freilich aus letzterer Tatsache
gerade umgekehrt schließen, daß diese Organisation in Galiläa vor
der Revolution nicht bestanden hat. Allein an der Prahlerei des
Josephus, als ob er dieses Ideal einer jüdischen Verfassung erst
geschaffen habe, ist doch höchstens so viel Wahres, daß er es zu
strengerer Durchführung gebracht hat Auch im Talmud werden
einmal „die sieben Vornehmen der Stadt" (-n*n "OttD n»ttj) als
Gemeindebehörde, welche namentlich das Vermögen der Gemeinde
zu verwalten hat, erwähnt11. Die Angabe des Josephus, daß den
Lokalbehörden je zwei Leviten als vjtrjQteai zugeteilt gewesen
seien (s. oben Anm. 9), hat wenigstens Analogien | im Alten Testa-
mente 12. Nach der Mischna mußten für einzelne bestimmte Fälle
9) Anit. IV, 8, 14: &Qxixa>aav fä xa(f hxdcrrjv nöXtv avögeq hnxd ....
kxdoxy öh &QXV öv° avÖQeg itnrjQ&xai öiöfo&woav ix tfjQ xCbv AevixCbv (pvkfjg.
— Auch bei der Reproduktion des Gesetzes über anvertrautes Gut (Exod.
22, 6 ff.) setzt Josephus die Existenz von Sieben -Männer-Gerichten voraus, Antt.
IV, 8, 38: el öh (iriöhv inlßovXov 6qo>v ö niGzev&el$ dnoXiosiev, dcpucöftevog
inl xob<; hnxä xgtxäg dfivvxm xbv &e6v x.x.X.
10) Bell. Jud. II, 20, 5: hnxd Sh iv kxdorg nöXei öixaaxaq [xccxiaxrjasv].
— Diese Sieben -Männer -Gerichte hatten nur kleinere Streitigkeiten abzuur-
teilen, nicht aber xä uei^u) ngdyfxaxa xal rag <povixäg dlxag, deren Abur-
teilung vielmehr dem von Josephus eingesetzten Rat der Siebenzig vorbe-
halten war.
11) Meyilla2G*: „Rabba sagte: Jene Bestimmung (der Mischna in betreff
des Verkaufs von Synagogen und deren Einrichtungsgegenständen) gilt nur,
wenn die sieben Vornehmen der Stadt sie nicht öffentlich verkauft haben.
Haben sie sie aber öffentlich verkauft etc." — Vgl. auch Rhenferd, In*
vestifjatio praefectorum et ministrorum synagogae II, 25 (in Ugolinis Thesaurus
Bd. XXI).
12) Deut 21, 5. I Chron. 23, 4. 26, 29. Knobel und Dillmann zu
Deut. 16, 18.
[179. 180] II. Das eigentlich jüdische Gebiet 227
Priester als Richter beigezogen werden13. — An größeren Orten
scheint die Lokalbehörde aus 23 Mitgliedern bestanden zu haben.
Wenigstens bemerkt die Mischna, daß ein kleines Synedrium Cp-mpp
ruüp) aus 23 Personen bestehe, und daß ein solches jeder Stadt
zukomme, welche mindestens 120 Männer habe, oder nach Ansicht
R Nechemjas mindestens 230, damit jeder der 23 Richter ein Vor-
steher von 10 Mann sein könne14. Freilich haben wir auch hier,
wie in vielen Fällen, keine Bürgschaft dafür, daß die Wirklichkeit
diesen Bestimmungen entsprochen hätte. Zur Kompetenz dieser
Synechien von 23 Mitgliedern gehörten auch die schwereren Kri-
minalfälle (nittta 13^) 15, wie ja auch aus Matth. 5, 21—22 erhellt,
daß die Aburteilung von Mördern nicht bloß Sache des großen
Synedriums war.
Wie in den hellenistischen Kommunen, so waren auch inner-
halb des jüdischen Gebietes die Dörfer den Städten und die
kleineren Städte den größeren untergeordnet Der Unter-
schied zwischen Stadt (*w) und Dorf (nin, selten iß3) wird schon
im Alten Testamente überall vorausgesetzt; erstere ist in der Regel
ein ummauerter, letzteres ein offener Wohnplatz (s. bes. Lev. 25,
29—31); doch wird auch in betreff der Städte wieder zwischen
ummauerten und offenen unterschieden (Deut. 3, 5. Esther 9, 19).
Auch Josephus und das Neue Testament unterscheiden stets die
Begriffe xotig und xwfii? 16. Einmal ist im Neuen Testamente von
xa>(iox6ZeiQ Palästinas die Rede (Marc. 1, 38), d. h. von Städten,
welche verfassungsmäßig nur die Stellung einer xco/itj hatten17.
In der Mischna werden konstant drei Begriffe unterschieden: eine
große Stadt Opa), eine Stadt (y>?) und ein Dorf (la) l8. Das unter-
scheidende Merkmal der beiden ersteren scheint nur die verschiedene
Größe gewesen zu sein; denn auch eine gewöhnliche | Stadt (T»2)
konnte mit Mauern umgeben gewesen sein und war es wohl ge-
wöhnlich19. — Schon im Alten Testamente wird nun häufig die
13) Sanhedrtn I, 3. — Vgl. überhaupt über die Priester als Richter:
Exech. 44, 24 und dazu Smend.
14) Sanhedrtn I, 6. Vgl. Seiden, De spnedriü II, 5. Winer RWB. II,
554. Leyrerin Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XV, 324 f.
15) Sanhedrin I, 4.
16) Vgl Winer RWB. II, 510; auch das Material in den Konkordanzen
zum N. T. — Über den Begriff einer xto/urj im römisch -hellenistischen Sinne
b. Marquardt, Römische Staatsverwaltung Bd. I (2. Aufl. 1881) S. 16 f.
17) Das Wort xojßdnoXiq kommt auch bei Strabo und bei Byzantinern
zuweilen vor; s. die Lexika und Wetstein, Nov. Test, zu Marc. 1, 38.
18) Megiüa 1, 1. II, 3. Kethuboih XIII, 10. Kidduschin II, 3. Baba mexia
IV, 6. VHI, 6. Arackin VI, 5.
19) nein w Arachin IX, 3 ff. Kelim I, 7. — Über !]}» vgl. Light foot,
TT 15*
228 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [180]
Unterordnung der Dörfer unter die Städte angedeutet In den
Städteverzeichnissen des Buches Josua, besonders in Eap. 15 und 19,
ist oft die Rede von den „Städten und ihren Dörfern" (O'njn
irrnstT)). Anderwärts wird oft eine Stadt „und ihre Töchter"
(»Wtaa) erwähnt (Numeri 21, 25. 32. 32, 42. Josua 15, 45—47. 17, 11.
Judic. 11, 26. Nehemia 11, 25 ff. I Chron.% 23. 5, 16. 7, 28 f. 8, 12. 18, 1.
II Chron. 13, 19. 28, 18. Ezechül 16, 46 ff. 26, 6. 30, 18. I Makk. 5, 8. 65).
Und dem Begriff der Tochter entsprechend kommt für die Haupt-
stadt auch die Bezeichnung „Mutter" vor (II Sam. 20, 19). Aus
alledem erhellt jedenfalls, daß die Dörfer durchgängig von den
Städten abhängig waren. Es ist aber auch sehr wahrscheinlich,
daß dasselbe von den kleineren Städten in bezug auf die größeren
gilt. Denn unter den „Töchtern" sind häufig nicht nur Dörfer,
sondern auch kleinere abhängige Städte zu verstehen; wenigstens
an einigen Stellen ist dies ganz zweifellos (Num. 21, 25. Josua 15,
45—47. I Chron. 2, 23). Diese aus dem Alten Testamente bekannten
Tatsachen werden im allgemeinen auch für die spätere Zeit vor-
ausgesetzt werden dürfen (vgl. bes. I Makk. 5, 8: xf/v 'fagw xal rag
d-vyaxiQaq avxrjg, ibid. 5, 65: xr\v XeßQojv xal rag dvyaxiQag avxrjq).
Eigentümlich ist im Ostjordanland, namentlich in der Landschaft
Trachonitis, das Vorkommen von Hauptdörfern (prixQoxa>filai\
d. h. von Dörfern, welche die Stelle einer Hauptstadt vertraten20.
So heißt Phäna, das heutige Mismie, fiijxQoxoofila xov TQax&vog21.
Eine andere (irjxQoxcofila ist Borechath, das heutige Breike, im
Süden von Trachonitis, nach dem Hauran zu22. Auch Akraba,
westlich von Trachonitis, etwa auf halbem Wege zwischen Mismie
und dem Merom-See, war eine iirjXQoxa>(üa2Z. Epiphanias erwähnt
Horae hebr. zu Marc. 1, 38 (Opp. H, 437) und Levy, Neuhebr. Wörterb. 8. v.
Das Wort ist eigentlich aramäisch ("^5) und steht in den Targumen häufig in
der Bedeutung: Festung, Burg, befestigte Stadt, a. Buxtorf Lex. und Levy
Chald. Wörterb. s. v.
20) S. überh.: Kuhn, Die städtische und bürgerl. Verfassung des römi-
schen Reichs II, 380 ff. Marquardt, Römische Staatsverwaltung Bd. I, 2. AuiL,
S. 427 Anm. 1. Die Lexika 8. v. ujjtgoxwula.
21) Corp. Inscr. Qraec. n. 4551 = Le Bas et Waddington, Inscr. U HI
n. 2524 =» Dittenberger, Orientis gr, inscr. selectae n. 609 — Jnscriptiones gr.
ad res rom. pertincntes t. III ed. Cagnai n. 1119. — Die Inschrift stammt aus
der Zeit des Com modus oder des Alexander Severus, wahrscheinlich des
letzteren (s. Dittenberger a. a. O.). — Über Phäna s. Ritter, Erdkunde XV,
897—899. Raumer Pal. 254 f. Porter, Five years in Damascus II, 244. Kuhn
II, 3S4. Geizer in seiner Ausg. des Oeorgius Oyprius p. 205. Die Inschriften
bei Le Bas ei Waddinqton n. 2524—2537.
22) Le Bas et Waddington t. m, n. 2396.
23) Dussaud, Nouvelles archires des missions scientifiques t. X, 1902, p. 700
[180. 181] IL Das eigentlich jüdische Gebiet. 229
X7]P Baxad-ov (irjxQoxcofilap ttjq 'AQaßlaq xfjq <PiXadeX<plaq u. Aller-
dings gehören | diese Zeugnisse erst etwa dem zweiten bis vierten
Jahrhundert nach Chr. an; auch war die Bevölkerung jener Land-
schaften eine, wenn auch gemischte, so doch vorwiegend heidnische.
Einige speziellere Notizen über die Unterordnung gewisser
Gebiete unter einzelne größere Städte haben wir nur für Galiläa
und Judäa, und nur aus der römischen Zeit In Galiläa war Sep-
phoris durch Gabinius zum Sitz eines der fünf von ihm errichteten
owiÖQta oder övvoöot gemacht worden, und zwar des einzigen für
Galiläa (Antt. XIV, 5, 4. Ä J. I, 8, 5), so daß also Sepphoris den
Mittelpunkt einer ganz Galiläa umfassenden Organisation bildete.
Diese Einrichtung des Gabinius war freilich nicht von langer Dauer.
Aber auch in der späteren Zeit, namentlich unter den herodianischen
Fürsten, war ganz Galiläa stets einer Hauptstadt untergeordnet,
sei es nun daß Sepphoris oder daßTiberias diese Stellung ein-
nahm (s. oben I Nr. 31 und 33). Es war also hier das jüdische
Gebiet sogar einer nicht reinjüdischen Hauptstadt untergeordnet25.
In Judäa ist namentlich von Interesse die durch Josephus
und Plinius bezeugte Einteilung in elf oder zehn Toparchien.
Nach Josephus nämlich war Judäa in folgende elf xXtjqovxIcu oder
ToxaQxicu eingeteilt: 1. Jerusalem, 2. Gophna, 3. Akrabatta,
4. Thamna, 5. Lydda, 6. Ammaus, 7. Pella, 8. Idumäa, 9. En-
gaddi, 10. Herodeion, 11. Jericho26. Die sieben durch gesperrte
Schrift hervorgehobenen nennt auch Plinius, der im ganzen zehn
Toparchien zählt, indem er zu den genannten folgende drei hinzu-
— Dittenberger, Orimtis gr. inscr. sei. n. 769 ■- Inscriptiones gr. ad res roni.
pertinentes HI n. 1112: Diokletian und seine Mitregenten Xl&ov öiOQl^ovza
%qov<; ftijTQOxw/jtias ^Axgdßrjg xal *Aolx<t>v ozriQix&rjvai ixiXev<tav ipQOvzldi Aov~
xlov Kaia[. . .] xijvaizoQig. — Eine ganz ähnliche, auf die Grenzregulierung
zur Zeit Diokletians bezügliche Inschrift s. bei Dittenberger n. 612 — Inscr.
gr. ad res rom. pert. HJ n. 1252. — Eine dritte, stark verstümmelte, aus
Djerma, südöstlich von Damaskus, s. bei Jalabert, Inscr. gr. et lai. de Syrie,
in: Müanges de la FacuM Orientale de V ' Untrer site de Beyrouth I, 1906,
p. 150 sq.
24) Epiphanius, Anacephal. p. 145.
25) Das Verhältnis ist wirklich das einer Unterordnung; denn Jo-
sephus spricht bestimmt von einem olqxbiv und vnaxoveiv, s. oben S. 212
Anm. 497 u. 498.
26) Bell. Jud. III, 3, 5: fiEQÜ^Ezai öh ecg Svdexa xXrjQOvziag, <I>v &QXet t*&
mg ßaoiXeiov zä ^IeQOo6Xvpia> ngoavlaxovaa zyg negioixov ndarjg fixmsQ %
x€<paXf] owftaTOQ, al Xotnal öh fxet abx^v öiy^vzat tag zonaQxlag. r6<pva
6evz£(>aj xal fiez* afafjv 'Axgaßazzd, ßapva TiQÖg zavzaig xal AvöSa xal
'Afifiaoüq xal IliXXij xal 'Iöovftaia xal *Byya6dal xal 'Hqloöslov xal
IeQizovq.
230 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [181. 182. 183J
fügt: Jopica, Beiholethephene, Orine21. Die Nennung von Orine an
Stelle Jerusalems ist keine wirkliche Differenz, denn fj oquvti ist
das judäische Gebirgsland, in welchem nach Plinius, eigener An-
gabe Jerusalem liegt 28. Die Nennung Jopes aber ist ebenso irrig
wie | bei Josephus die Nennung von Pella, da beides selbständige
Städte sind, die nicht zum eigentlichen Judäa gehörten. Beth-
letepha dagegen wird auch von Josephus an einer anderen Stelle
als Hauptort einer Toparchie erwähnt29. Wir werden sonach die
richtige Liste erhalten, wenn wir an Stelle Pellas bei Josephus
Bethletepha setzen30. Die elf Toparchien gruppieren sich dann
in folgender Weise31: In der Mitte Jerusalem; nördlich davon
Gophna32 und Akrabatta33, nordwestlich Thamna34 | undLydda35,
27) Plinius Hist. Not. V, 14, 70: reliqua Iudaea dividitur tn toparekdas
decem quo dicemus ordine: Hierieuntem palmetis consitam, fontibus riguam,
Emma um, Lyddam, Jopicam, Acrabatenam, Gophaniticam, Tham-
niticam, Betholethephenen, Orinen, in qua fitere Hierosolyma longe
clarissima urbium orieniis non ludaeae modo, Herodium cum oppido Mustri
ejusdem nominis. — Zur Textkritik vgl. bes. Detlefsen, Die geographischen
Bücher (II, 242— VI Schluß) der Naturalis Historia des C. Plinius ßecundus
mit vollständigem kritischen Apparat, 1904.
28) Vgl Joseph. Antt. XII, 1: ano te xtjg öoeivijq 'Iovöalag xal xvbv
tcbqI 'IeqoooXvucc x6na>v. Ev. Lue. 1, 39. 65. — ^ doeivJj überhaupt häufig
bei den LXX (s. Trommius' und Hatch' Konkordanzen) und im Buch Judith
(s. Wahl, Olavis librorum V. T. apocr. s. v.).
29) B. J. IV, 8, 1: xty Be^Xenrrjcpwv xonaQxiav.
30) Vgl. Kuhn, Die städtische und bürgert. Verf. II, 339.
31) Vgl. Menkes Bibelatlas Bl. V.
32) Gophna lag an der Straße von Jerusalem nach Neapolis (Sichern),
nach Tab. Peuting. XVI m. p. nördlich von Jerusalem, oder nach Euseb. Ono-
mast. XV m. p. (ed. Klostermann p. 168, 16: Toyva . . . anixovoa Alklag aij-
fieloig te xazä x^v SSdv xfjv elq NeanoXtv üyovoav). Zur Zeit des Cassius
war es ein bedeutender Ort, dessen Einwohner von Cassius als Sklaven ver-
kauft wurden, weil sie die von Cassius auferlegte Kriegssteuer nicht bezahlten
(Antt. XIV, 11, 2. B. J. 1, 11, 2). Die rotpvixixti xonaoyla wird von Josephus
auch sonst erwähnt (B. J. I, 1, 5. II, 20, 4. IV, 9, 9). Vgl. auch B. J. V, 2, 1.
VI, 2, 2. Bei Plolemaeus V, 16, 7 = Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 5
rov<pva, ebenso auch Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 74, 2, Hieronymus:
Gufna (Onomast. ed. Klosterm. p. 27, 1. 75, 2); dagegen auf der Mosaikkarte
von Medaba ro<pva (Schulten, Abh. der Gott. Gesellsch. der Wissensch., phii.-
hist. Kl. N. F. IV, 2, S. 14 f.); hebräisch «asm (Neubauer, Oeogr. du Talmud
p. 157 sq.)> noch heute Dschifna, Jufha. S. überh.: Baumer Pal. S. 199.
Robinson Pal. III, 296 f. Qulrin JudSe III, 28-32. The Survey of Western
Palestine, Memoirs by Conder and Kitohener II, 294. 323, dazu die engl.
Karte BL XIV Mr.
33) Akrabatta, noch weiter nördlich als Gophna, IX miL pass. südöstl.
von Neapolis = Sichern (Euseb. Onomast. ed. Klostermann p. 14: 'Axoaßßelv
. . . xwutj Si iaviv udyiq [1. fteyloxrj] SieaxCbaa Ntag nöteioq arjfieloig #'). Nach
[183] IL Das eigentlich jüdische Gebiet. 231
Mischna Maaser scheni V, 2 lag nmp? eine Tagereise weit nördlich von Je-
rusalem, ebensoweit als Lydda westlich, was fast genau zutrifft. Im Buch der
Jubiläen 29, 14 wird der Ort (äthiop. Aqrobet, lat. Aerobin) neben Bethseah
und Dothain genannt. Die ^AxQccßaxrn*^ xonaqxla auch sonst häufig bei Jo-
sephus und Eusebius (Jos. B. J. II, 12, 4. 20, 4. 22, 2. m, 3, 4. IV, 9, 3-4
u. 9. Euseb. Onomast ed. Klosterm. p. 14, 86, 108,. 156, 160). Der Ort heißt
noch heute Akrabeh. 8. überh.: Baumer, Pal S. 170. Robinson, Neuere
Forschungen S. 388 f. Qu Irin, Samarie II, 3—5. The Survey etc. Memoirs
by Oonder and Kitohener II, 386. 389 sq.% dazu die engl. Karte Bl. XV Op.
— Nicht zu verwechseln ist hiermit ein gleichnamiger Höhenzug im Süden
Jud&as, Num. 34, 4. Josua 15, 3. Judie. 1, 36. Euseb. Onomast. p. 14, von
welchem man in der Begel die im ersten Makkabäerbuch (I Makk. 5, 3 — Jos.
Antt. XII, 8, 1) erwähnte *Axooißaxxivr\ ableitet. Doch s. Hol 8 eher, Palästina
in der persischen und hellenistischen Zeit (1903) S. 69. Ders., Zeitschr. des
DPV. XXIX, 1906, 3. 133 f.
34) T harn na ist ohne Zweifel das alte mo-roan oder D^rrronn auf dem
Gebirge Ephraim, wo Josua begraben wurde (Josua 19, 50. 24, 30. Judic. 2, 9).
Eusebius erwähnt den Ort häufig als ein sehr großes Dorf im GeTbiet von
Diospolis — Lydda (s. bes. p. 96 ed. Kloster mann: ßa/Avd .... Siau&vei xwuq
fieyäXrj tv doloig JioondXeax;) und bemerkt, daß man dort noch zu seiner Zeit
das Grab Josuas zeigte (p. 70: öelxvvxai 6h inlotiuov elq hi vvv aixov xd
uvfjua nXtjolov ßauvä xwuijq. Ibid. p. 100: 6a{xvaS-oaod . . . avxrj iaxl
ßauvd . . . iv % el$ fei vvv debcwxcu xd xov tyoov nvrjua). Ebenso Hierony-
mus in seiner Beschreibung der Pilgerfahrt der heil. Paula (Epist. 108 ad
Eustoehütm c. 13 opp. ed. Vallarsi I, 702 sq. — Tobler, Palaestinae deseriptiones
1869, p. 22: Sepulera quoque in monte Ephraim Jesu filii Nave et Eleaxari
filii Aaron sacerdotis e regione venerata est, quorum alter eonditus est in Tarn-
nathsare a septentrionali parte montis Oaas). Der Ort existiert noch heute
als Ruinenstätte unter dem Namen Tibneh, in ziemlich gerader Linie zwischen
Akrabeh und Lydda, wie nach der Reihenfolge der Toparchien bei Josephus
zu erwarten ist Unter den bedeutenden Grabanlagen, die sich noch heute
dort befinden, glaubt Guärin in der Tat das Grab Josuas entdeckt zu haben.
3. Überh. Raumer Pal. 3. 165 f. Robinson Neuere Forschungen 3.184. De
Saulcy, Voyaye en Terre Sainte (1865) H, 233 sqq. Guirin, Revue arehSol.
Nouv. Serie t. XI, 1865, p. 100—108. Aures, ebendas. t. XTV, 1866, p. 225-242.
Goldziher, Zeitschr. des DPV. H, 13—17. Zschokke, Beiträge zur Topo-
graphie der westlichen Jordans'au 1866, S. 76—83 (Beschreibung des Grabes
Josuas). Ou6rinf Samarie H, 89—104. The Survey of Western Palestine,
Memoirs ete. H, 299 s?. 374—378. Dazu die engl. Karte BL XI V L?. Mühlau
in Riehms Wörtern. 3. 1668. Vigouroux, Die Bibel und die neueren Ent-
deckungen, deutsche Übers. Bd. III, 1886, 3. 171—182. SSjournS, Revue
biblique II, 1893, p. 606—626. — Zur Zeit des Cassius hatte Thamna dasselbe
Schicksal wie Gophna (Antt. XIV, 11, 2. B. J. I, 11, 2). Die Toparchie von
Thamna wird von Josephus und Eusebius auch sonst erwähnt (Jos. B. J. II,
20, 4. IV, 8, 1. Euseb. Onomast. ed. Klostennann p. 24, 56). Vgl. auch Ptolem.
V, 16, 8 — Didotsche Ausg. V, 15, 5. — Von unserm Thamna ist ein anderes
mstn oder nroan zu unterscheiden, das an der Grenze des Stammes Dan
• t • TT I • '
und Juda, westlich von Jerusalem in der Richtung gegen Asdod lag. Auch
dieses existiert noch unter dem Namen Tibneh (Josua 15, 10. 19, 43. Judic.
14, 1 ff. II Chron. 28, 18). Und von diesem ist endlich ein drittes im Gebirge
232 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [183. 184]
westlich Emmaus86, südwestlich Bethlete|pha37, südlich Idu-
Juda zu unterscheiden (Gen. 38, 12—14. Josua 15, 57). Welches Satxva&a
I Makk. 9, 50 gemeint ist, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. S. übern.
Raumer S. 224. Robinson Pal. II, 599. GuirinJudie II, 30 sq. The Sur-
vey etc. Memoirs II, 417, Blatt XVI.
35) Lydda (hebr. »ft, später Diospoiis), die bekannte Stadt an der Straße
von Jope nach Jerusalem, wird auch B. J. II, 20, 4 unter den Toparchien Ju-
daas genannt. Josephus bezeichnet es einmal als xw/arj . . 7io?.ea><; xö fifye*
&oc, ovx änoöiovoa (Antt. XX, 6, 2). Über seine Geschichte vgl. bes. I Makk.
11, 34. Jos. Antt. XTV, 10, 6. 11, 2. Bell. Jud. 1, 11, 2. II, 19, 1. IV, 8, 1.
36) Emmaus oder Ammans, das spätere Nikopolis, ist noch heute er-
halten unter dem Namen Am was, süd-sÜdöstlich von Lydda. Wegen seiner
Lage am Ausgang des Gebirges war es ein militärisch wichtiger Platz und
wird als solcher schon in der Makkabäerzeit öfters erwähnt (I Makk. 3, 40. 57.
4, 3. 9, 50). Über seine spätere Geschichte s. bes. Antt. XIV, 11, 2. B. J. I,
11, 2. Antt. XVII, 10, 9. B. J. H, 5, 1. IV, 8, 1. Unter den jüdischen Top-
archien wird es auch B. J. II, 20, 4 erwähnt. Im Rabbinischen heißt es
D1KBK (Mischna Arachin II, 4. Kerithoth III, 7. Light foot, Chorographica
Lucas praemissa c. 4, Opp. II, 479 sq. Neubauer, Qiogr. du Talmud p. 100 —
102); auch noch bei Ptolemaeus V, 16, 7 -= Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V,
15, 5 yBfjLfjiaovq. Verschieden hiervon ist das Bell. Jud. VII, 6, 6 und Ev. Luc.
24, 13 erwähnte Emmaus bei Jerusalem (s. oben § 20 gegen Ende, I, 640—642).
Vgl. überh.: Reland, Palaestina p. 758—760. Raumer S. 187 f. Winer
RWB. 8. v. Arnold in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. III, 778 f. Robinson,
Neuere Forschungen S. 190—196. Kuhn, Die städtische u. bürgerl. Ver-
fassung II, 356 f. Sepp, Jerusalem 2. Aufl. I, 40 ff. Guirin JudSe I, 293—308.
The Survey of Western Palestine, Memoirs etc. III, 14. 36 sqq. 63 — 81, dazu die
engl. Karte Bl. XVII. Dechent, Zeitschr. des DPV. VII, 209 f. Geizer, Julius
Africanus Bd. I, 8. 5—7. Schiffers, Amwäs das Emmaus des heil. Lucas,
1890 (dazu Theol. Litztg. 1891 Nr. 1). Rückert, Theol. Quartalschrift 1892,
5. 558—616. Van Kasteren, Revue btblique I, 1892, p. 80—99. Eeidet in:
Vigouroux, Dictionnaire de la Bible II, 1735—1748. Clermont- Ganneau,
Archaeological Besearches I, 1899, p. 483—493. Benzinger, Die Ruinen von
Amwas (Zeitschr. des DPV. XXV, 1902, 8. 195—203). Vincent, Les ruines
a* Amwäs (Revue biblique 1903, p. 571—599).
37) Bei Josephus Bell. Jud. IV, 8, 1 hat der herkömmliche Text tj>v Beb-
XenxTjqxbv xonagxlav. Von den sieben Handschriften, welche für die neue Aus-
gabe von Niese und Destinon herangezogen worden sind, haben (nach einer
gütigen Mitteilung des letzteren, vgl. jetzt auch die Ausgabe) drei Be&tenxnv'
(p(bvy je eine Be&Xsnxrjvifwv, Be^XenxrjfjKpCbv, Be&Xe7ixr}<pu)vt BexeXenxtjqxbv,
außerdem der cod. Vat. der latein. Übersetzung belebthptan (sie). Obwohl die
Lesart mit v vor <p stärker bezeugt ist, hat doch die Lesart ohne v dieselbe
Berechtigung, teils wegen der Unterstützung durch den Vet. Lat., teils weil v
oder n vor <p leicht eingeschaltet werden konnte. Bei Plinius V, 14, 70 ist
Bethleptephenen nur eine Konjektur Harduins (s. Reland, Palaestina p. 637 sq.).
Die besten Zeugen haben teils Betholethephenen (Betolethephenen) , teils Beto-
lethenepenen [Betoletthenepenen). Die erstere Form ist durch besonders gewich-
tige Zeugen vertreten und wird von den Herausgebern wohl mit Recht der
anderen (mit Einschaltung des ne vor p) vorgezogen , wobei man sich freilich
[184. 185] IL Das eigentlich jüdische Gebiet 233
mäa 88, südöstlich Engaddi 89 und Hero|deion <°, östlich Jericho 4 \ Es
von der Konjektur Harduins nicht losmachen kann (s. den kritischen Apparat
besonders in Detlefsens Ausgabe des Plinius und in seiner oben 8. 230 ge-
nannten Separataasgabe der geographischen Bücher). Die wesentlichste Diffe-
renz zwischen Josephos und Plinius ist demnach die, daß ersterer Xanx,
letzterer leih hat. Da ersteres wohl durch den Anklang an griechisch Xenxoq
veranlaßt ist, dürfte Bethletepha die richtige Form sein. Vielleicht ist
dann das heutige Bet-Nettif, südlich von Emmaus zu vergleichen, das der
Lage nach passen würde (so Menke in seinem Bibelatlas, auch Furrer brief-
lich, Schlatter, Zur Topographie und Gesch. Palästinas 1893, S. 354. Ders.,
Ztschr. des DPV. XIX, 231). Denn Bethletepha lag nach dem Zusammen-
hang bei Josephus B. J. IV, 8, 1 zwischen Emmaus und Idumäa. Auch das
biblische ntb3 darf wohl hierhergezogen werden (Esra 2,22. Neh. 7,26; vgl.
*rtb) II Sam. 23, 28—29. II Reg. 25, 23. Jerem. 40, 8. Nehem. 12, 28. I Chron.
2, 54.' 9, 16. 11, 30. 27, 13. 15); ebenso rabbinisch hßioa n*a Mischna Sehe-
hiith IX, 5, und nBlü3 Pea VII, 1—2. Über das heutige Bet-Nettif s. Ro-
binson, Palästina II, 596 ff. 600 ff. Guirin, Judie II, 375—377. The Surrey
of Western Palestine, Memoire III, 24, dazu Blatt XVII der großen englischen
Karte (links unten).
38) Idumäa war durch Johannes Hyrkan judai eiert worden (Antt. XIII,
9, 1. XV, 7, 9. B. J. I, 2> 6). Daher treten die Idumäer auch im jüdischen
Aufstand als Juden auf (B. J. IV, 4, 4). Sonst vgl. bes. B. J. ET, 20, 4.
IV, 8, 1.
39) Engaddi, das alte *j» yij (Josua 15, 62. I Sam. 24, lff. Exech.
47, 10. Cant. cant. 1, 14. II Chron. 20, 2), dessen Lage am westlichen Ufer
des Toten Meeres durch Josephus und Eusebius bezeugt ist (Jos. Antt. IX,
1, 2: *Eyyaööl nSXiv xeiuivijv ngbq Tjf 'Aopaktltiöi Xlfjivy. Euseb. Onomast. ed.
Klostermann p. 86: xal vir» iozi x&ptj ueylarij lovdalwv ^Eyyaödi naoaxzi-
fiivrj xjj vexpa &a\aoay). Josephus nennt es B. J. IV, 7, 2 eine noU%vri. Bei
Ptolem. V, 16, 8 — Didotsche Ausg. (I, 2, 1901) V, 15, 5 'ByyäMa. Piin. V,
17, 73: Infra hos [seü. Essenos] Engada oppidum fuit, seeundum ab Hieroso-
lymis fertiiitate palmetorumque nemoribust nunc atterum bustum. Die Palmen
von Engadi auch bei Jesus Sirach 24, 14 (Dach richtiger Lesart, s. Smends
Kommentar S. 218). Hieronymus (Epist. 108 ad Eustockütm c. 11 opp. ed.
Vallarsi I, 701 «=» Tobler, Palaestinae Descriptiones 1869, p. 20): contemplata
est baisami Pineas in Engaddi (bei Tobler ist der Text ohne Grund geändert).
Noch heute Ain Dschidi. S. überh.: Winer BWB. *. v. Baumer 188 f.
Seetzen, Reisen II, 220—239. Robinson, Palästina II, 439—448. Neu-
bauer, Oeogr. du Talmud p. 160. De Saulcy, Voyage autour de la mer morte
t. 1, 1853, p. 175 sqq. Warren, Quarterly Statements 1869, hieraus abgedr. in:
The Surrey of Western Palestine, Jerusalem (1884) p. 448—454. The Surrey of
Western Palestine, Memoirs etc. III, 384—386. 387, dazu die engl. Karte
BL XXII. Zeitschr. des DPV. XVT, 54. Legendre, in: Vigouroux, Dictum-
naire de la Bible II, 1796 — 1801. Thomsen, Loca saneta p. 57 sq.
40) Herodeion ist die vonHerodes d. Gr. erbaute wichtige Festung im
Süden Jüdäas 60 Stadien von Jerusalem (Antt. XIV, 13, 9. XV, 9, 4. Bell.
Jud. I, 13, 8. 21, 10), deren Identität mit dem heutigen „Frankenberge",
südöstlich von Bethlehem, jetzt als anerkannt gelten darf. Vgl. oben § 15.
41) Jericho, die bekannte Stadt in der Nähe des Jordan, war die be-
234 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [186. 186 j
darf als selbstverständlich angenommen werden, daß diese Einteilung
hauptsächlich den Zwecken der Verwaltung diente, in erster Linie
wohl dem Zwecke der Steuererhebung. Ob dieselben Bezirke
zugleich auch Jurisdiktionsbezirke bildeten, muß dahingestellt
bleiben. In der Form, in welcher wir die Organisation aus Josephus
und Plinius kennen, gehört sie wahrscheinlich erst der römischen
Zeit an42. Eine ähnliche hat allerdings schon zur Zeit der grie-
chischen Herrschaft existiert Wir erfahren gelegentlich, daß zur
Zeit Jonathans im Jahre 145 vor Chr. drei Bezirke von Samarien,
nämlich Ephraim, Lydda und Bamathaim, durch Demetrius IL
dem Jonathan überlassen und dadurch mit Judäa vereinigt wurden
(I Makk. 11, 34, vgl. 10, 30. 38. 11, 28. 57). Diese Bezirke heißen
rojtagxlai (I Makk. 11, 28) oder vofiol (10, 30. 38. 11, 34. 57) und
werden etwa denselben Umfang wie die Toparchien der römischen
Zeit gehabt haben. Aber die letzteren können schon deshalb nicht
bis in die Zeit Jonathans hinaufreichen, weil der Umfang Judäas,
namentlich nach Süden und Norden, damals noch erheblich geringer
war als in der römischen Zeit (vgl. oben S. 1— 9)48. Deutliche
Spuren vom Vorhandensein der römischen Einteilung haben wir
dagegen aus der Zeit des Cassius (43 vor Chr.) Dieser verkaufte
die Einwohner von Gophna, Emmaus, Lydda und Thamna als
Sklaven, weil sie die von ihm auferlegte Kriegssteuer nicht be-
zahlten (Antt. XIV, 11, 2. B. J. 1, 11, 2). Alle diese vier Städte finden
wir aber auch bei Josephus und Plinius als Hauptorte von Top-
archien. Augenscheinlich waren sie dies schon zur Zeit des Cassius.
Jünger als Cassius muß freilich die Erhebung Herodeions zum
Hauptorte einer Toparchie sein. Aber die Toparchie selbst kann
schon vor der Zeit Herodes' des Gr. bestanden haben.
Auffallend ist das Schwanken der Quellen in der Bezeichnung
des politischen Charakters der Hauptorte, die bald als xoleig bald
als x<5fdac bezeichnet werden. Zwar kommt hier nicht in Betracht,
daß Eusebius die betreffenden Orte zum größten Teil als xwfiat
behandelt, da zu seiner Zeit die Verhältnisse sich schon wesentlich
deutendste Stadt im Osten Judäas, daher auch zur Zeit des Gabinius Sitz
eines der fünf jüdischen Synedrien (Antt. XIV, 5,4. B.J. I, 8, 5). Als Bezirk
von Judäa auch B. J. II, 20, 4 erwähnt. Sonst vgl. bes. B. J. IV, 8, 2. 9, 1.
42) Über die Einteilung der römischen Provinzen in Verwaltungsbezirke
s. überh. Marquardt, Römische Staatsverwaltung Bd. I (2. Aufl. 1881)
S. 500 f.
43) An den angeführten Stellen des ersten Makkabäerbuches sind ton-
CLQiiai und vofiol gleichbedeutend. In Ägypten waren die Toparchien Unter-
abteilungen der vofxol, s. Strabo p. 787: naliv ö* ol vopoi tofiäg aXXaq %o%ov
elg yäg xonaqflag ol nketazoi öiyQrivxo, xal ahxai 6* el$ iXXag tofidg.
[186. 187] IL Das eigentlich jüdische Gebiet 235
geändert hatten44. Aber auch Josephus selbst schwankt Er be-
zeichnet z. B. Emmaus als firjzQOJtoXig der dortigen Gegend, also
doch offenbar der Toparchie45; Lydda dagegen nennt er nur eine
xcoftrj" und zwar in augenscheinlich genaner Ausdrucksweise (s. oben
Anm. 35), Man muß hiernach annehmen, daß alle diese Orte vom
römisch-hellenistischen Standpunkte aus keine eigentlichen JtoXecc
waren, d. h. keine Kommunen mit hellenistischer Verfassung; und
es kommt nur auf Rechnung des jüdischen und populären Sprach-
gebrauchs, wenn sie als „Städte" bezeichnet werden. Genau ge-
nommen müßten sie eigentlich xmpoxoXeiq genannt werden (s. oben
Anm. 17), und sofern ihre Stellung zur Toparchie in Betracht
kommt, fi7]TQoxcofilai (s. Anm. 21—24).
Nur eine Stadt im eigentlichen Judäa hatte auch nach römisch-
hellenistischen Begriffen die Geltung einer xojUq, nämlich Jeru-
salem. Ihm war das ganze übrige Judäa untergeordnet, so daß
es über dasselbe herrschte cog ßaaUscov (s. Anm. 26). Es hatte
also in bezug auf Judäa eine ähnliche Stellung, wie die
hellenistischen Städte in bezug auf ihr Gebiet46. Dies gibt
sich iL a. auch kund in der Adresse kaiserlicher Erlasse an die
Juden, welche folgendermaßen lautet: 'ieQoöoXvpirtbv Sqxovöi \
ßovkjj öf/ficp, 'iovöalcov navxi i&vet, also ganz ähnlich wie bei Er-
lassen an hellenistische Kommunen, in welchen ebenfalls die Stadt
und ihr Senat Beherrscherin und darum Repräsentantin des ganzen
Gebietes war47. Wahrscheinlich war der Senat (das Synedrium)
von Jerusalem auch für den Eingang der Steuern in ganz Judäa
verantwortlich48. Auch in der Mischna hat sich noch eine Er-
44) Die Namen einzelner Toparchien (AxQaßaxxriv^ ßapvitixtf) haben
sich zwar noch zu Eusebius' Zeit erhalten; die Verfassung selbst aber war eine
wesentlich andere geworden durch Errichtung neuer, selbständiger civitates wie
Diospolis, Nikopolis n. a. Infolgedessen bildete z. B. gerade Thamna nicht
mehr den Hauptort einer Toparchie, sondern war nur noch eine xtofxr} pteydXri
iv SqIoiq AioonöXeaq (s. oben Anm. 34), also dem früheren Lydda unter-
geordnet.
46) Bell. Jud. IV, 8, 1.
46) Vgl. Knhn, Die städtische und bürgert. Verfassung II, 342—345,
47) Anü. XX, 1, 2. Vgl dazu die ähnlichen Adreß-Formeln in den Edik-
ten Antt. XIV, 10 {2i6o)vio>v agxovoi ßovXy fyliy, y3peolci)v ßovXy xal aq%ovoi
xal tyfup und dergl.), XIV, 12, 4—5. XVI, 6.
48) Als nach den ersten Zuckungen des Aufstand es man sich auf einen
Augenblick wieder zu friedlicher Haltung entschlossen hatte, verteilten sich
die Behörden und Ratsherren von Jerusalem auf die Dörfer, um die
rückständigen Abgaben einzusammeln (Ä J. II, 17, 1: elg 6h tag xö>fm<; o2 te
&Q%ovzeq xal ol ßovXevzal (isQio&hrei; rovq ipÖQOvq avvtXeyov). Diese waren,
im Betrage von 40 Talenten, rasch beisammen. Unmittelbar darauf aber sandte
236 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [187. 188]
innerung daran erhalten, daß „die Ältesten" von Jerusalem über
ganz Jndäa geboten49. Über das eigentliche Judäa hinaus
hat sich dagegen die bürgerliche Gewalt des Synedriums von Jeru-
salem, mindestens seit dem Tode Herodes' des Gr., nicht mehr
erstreckt Galiläa und Peräa waren seitdem von Judäa politisch
ganz getrennt oder bildeten doch selbständige Verwaltungsgebiete,
wie namentlich in bezug auf Galiläa oben gezeigt ist. Am wenigsten
dürfte man die Tatsache, daß der Aufstand in Galiläa von Jeru-
salem aus geleitet wurde, zum Beweise dafür verwenden, daß auch
zur Friedenszeit Galiläa zur Kompetenz des großen Synedriums
gehört habe. Denn es handelt sich dabei augenscheinlich um Aus-
nahmezustände. Nur in der früheren Zeit, namentlich während
der hasmonäischen Periode, bildete das ganze jüdische Gebiet auch
politisch eine wirkliche Einheit (vgl unten Nr. III). — Da der Eat
von Jerusalem sich nicht mit allem Detail der Rechtspflege befassen
konnte, so ist es von vornherein wahrscheinlich, daß | neben dem
großen Synedrium auch noch ein oder mehrere kleinere Gerichts-
höfe in Jerusalem bestanden haben. Auch daran hat sich in der
Mischna noch eine, freilich verworrene, Erinnerung erhalten50.
Agrippa die agxovxBq und övvatol zu Florus nach Cäsarea, damit jener aus
ihrer Mitte die Steuer- Einsammler für das Land ernenne (ibid. ?va ixelvog
i£ afcibv &7toöei$y tovg rfjv x&Qav g>OQoXoy^aovvaq), Da letzteres geschieht,
nachdem die Steuern des Stadtbezirkes, also wohl der Toparchie, von Jeru-
salem bereits beigetrieben sind, so wird unter der x^°9a £anz Judäa zu ver-
stehen sein. Für dessen ganzes Gebiet wurden also die Steuer-Einnehmer aus
der Mitte der &Q%ovxBq und öwcccol von Jerusalem ernannt. Vgl. überhaupt
über die Sitte der Römer, die stadtischen Senate zur Eintreibung der römischen
Steuern zu verwenden, Marquardt I, 501. Hirsch feld, Die kaiserlichen
Verwaltungsbeamten bis auf Diokletian, 2. Aufl. 1905, S. 73 ff.
49) Taamth III, 6: „Einst reisten die Ältesten aus Jerusalem nach
ihren Städten (ervnsb B^üWe e* :pt vty») und verfügten Fasten, weil
man in Askaion fpbptöKa) ungefähr so viel eine Ofenmündung beträgt, Korn
brandig fand etc." — Da Askaion nie zum Gebiet von Judäa gehört hat, ist
die Notiz an sich ungeschichtlich ; sie zeigt aber eine richtige Erinnerung daran,
daß die Städte Judäas den „Altesten" von Jerusalem untergeordnet waren.
50) Sanhedrin XI, 2: „Drei Gerichtshöfe ("p:^ *ro) waren dort in Jeru-
salem. Einer hielt seine Sitzungen am Eingange des Tempelberges (nn& b$
n^an in), einer am Eingange des Tempel vorhofes (mtsn nnß bsj, und einer
in der Lischkath hagasith (rvnan nstsba). Die Anfragenden kamen zu dem,
welcher am Eingange des Tempelberges saß, und der Anfragende sagte: So
habe ich und so haben meine Kollegen erklärt; so habe ich und so haben meine
Kollegen geschlossen. Hatte nun das Gericht eine Tradition für den fraglichen
Fall, so sagte dasselbe ihnen die Entscheidung. Wo aber nicht, so kamen sie
vor das Gericht am Eingange des Vorhofes und wiederholten ihre Anfrage.
Hatte dieses eine Tradition darüber, so sagte es ihnen die Entscheidung. Wo
aber nicht, so kamen die Streitparteien samt den Gerichtsmitgliedern vor das
[188. 189] III. Das große Synedrium zu Jerusalem. 237
III. Das große Synedrium zu Jerusalem.
Literatur.
Seiden, De synedriis et praefecturis juridicis veterum Ebraeorum, lib. I — III,
Londini 1650-1655 (vgl. oben S. 223).
Menschen j Nomon Testamentum ex Talmuds et antiquitatibus Hebraeorum
ülustratum (Lips. 1736) p. 1184—1199: Diatribe de aO»3 seu directore Syne-
drii M. Hebraeorum.
Carpxov, Apparates hütorico-criticus antiquitatum sacri codicis (1748) p,
550—600.
Hartmann, Die enge Verbindung des Alten Testaments mit dem Neuen (1831),
8. 166—225.
Winer EWB. II, 551—554: Art. „Synedrium".
Sachs, Über die Zeit der Entstehung des Synedrins (Frankeis Zeitschr. für
die religiösen Interessen des Judentums 1845, S. 301—312).
Saalschütz, Das mosaische Recht, 2. Aufl. 1853, I, 49 ff. II, 593 ff — Ders.,
Archäologie der Hebräer, Bd. H, 1856, S. 249 ff. 271 ff. 429—458.
Levy, Die Präsidentnr im Synedrium (Frankeis Monatsschr. f. Gesch. und
Wissensch. des Judent. 1855, S. 266—274. 301—307. 339— 358).|
Herz fei d', Geschichte des Volkes Jisrael, Bd. II (1855), S. 380—396.
Jost, Geschichte des Judentums und seiner Sekten, Bd. I (1857), 8. 120—128.
270—281. Vgl. auch S. 403 ff Bd. H (1858) S. 13 ff. 25 ff
Geiger, Urschrift und Übersetzungen der Bibel (1857) S. 114 ff.
Keil, Handbuch der biblischen Archäologie (2. Aufl. 1875) S. 714—717.
Leyrer, Art. „Synedrium" in HerzogB Real-Enz. 1. Aufl. Bd. XV (1862)
S. 315-325.
Langen, Das jüdische Synedrium und die römische Procuratur in Judäa
(Tüb. Theol. Quartalschr. 1862, S. 411—463). |
Grätz, Geschichte der Juden Bd. HI (4. Aufl. 1888), S. 100 ff. Dazu 3. Aufl.
S. 683—685 (in der 4. Aufl. getilgt).
De Wette, Lehrbuch der hebräisch-jüdischen Archäologie (4. Aufl. 1864)
S. 204—206.
Ewald, Geschichte des Volkes Israel (3. Aufl. 1864—1868) IV, 217 ff. V, 56.
VI, 697 ff.
Kuenen, (her de samensteUing van het Sanhedrin (Verslagen en Mededeelingen
der honvnkl. Academie van Wetenschappen, Afdeeling Letterkunde, Deel X,
Amsterdam 1866, p. 131—168). In ;deutscher Übersetzung: Über die Zu-
sammensetzung des Sanhedrin (Gesammelte Abhandlungen zur biblischen
Wissenschaft von A. Kuenen, übers, von Budde, 1894, S. 49 — 81). —
Vgl. auch: De Oodsdienst van Israel II, 1870, p. 512—515.
Derenbourg, Eistoire de la Palestine (1867), p. 83—94. 465-468.
Ginsburg , Art. „Sanhedrim" in Kittos Cychpaedia of Biblical Literature.
Hausrath, Neutestamentliche Zeitgeschichte Bd. I (2. Aufl. 1873) S. 63—72.
hohe Gericht in der Lischkath hagasith, von welchem die Gesetzeskunde über
ganz Israel ausgeht". — Schon der Schematismus in bezug auf die Lokalitäten
zeigt, daß wir es hier nicht mit einer treuen historischen Überlieferung zu
tun haben. Über die Lischkath hagasith s. unten Nr. DI, 4.
238 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [189]
Wieseler, Beiträge zur richtigen Würdigung der Evangelien (1869) S. 205
bis 230.
Keim, Geschichte Jesu III, 321 ff. 345 ff.
Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer (1874) S. 26—43. Ders.,
Israelitische und jüdische Geschichte (1894) S. 235—238. 4. Ausg. 1901,
S. 285-288.
Hol tz man n, Art. „Synedrium" in Schenkels Bibellexikon V, 446—451.
Hoffmann (D.), Der oberste Gerichtshof in der Stadt des Heiligtums (Progr.
des Babbiner-Seminares zu Berlin für 1877—1878). — Ders., Die Präsi-
dentur im Synedrium (Magazin für die Wissensch. des Judent. V. Jahrg.
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Reuß, Geschichte der heil. Schriften Alten Testaments (1881) §§ 376. 495.
Hamburger, Real-Euzykiopädie für Bibel und Talmud, H. Abtlg. 1883, Art
„Synhedrion", „Nassi" und „Abbethdin" ; dazu : Supplementband II, 1891,
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Stapfer, Le SanhSdrin de Jerusalem au premier siede {Revue de thSologte et
de philosopkie [Lausanne] 1884, p. 105—119).
Strack, Art. „Synedrium" in Herzogs Beal-Enz. 2. Aufl. Bd. XV (1885)
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Strasbourg 1889 (112 p. 8.).
Jelski, Die innere Einrichtung des großen Synedrions zu Jerusalem und ihre
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Jehuda ha-Nasi. Breslau 1894 (99 S.).
Benzinger, Art „Gericht und Becht bei den Hebräern" in Herzog-Haucks
Beal-Enz. 3. Aufl. VI, 1899, S. 572 ff. — Ders., Art. Government in:
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Bacher, Art Sanhedrin in: Hostings' Dictionary of the Bible IV, 1902, p. 397
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Büchler, Das Synedrion in Jerusalem und das große Beth-Din in der Qua-
derkammer des jerusalemischen Tempels (IX. Jahresbericht der israelitisch-
theoL Lehranstalt in Wien, 1902, S. 1—252). — Dazu Theol. Litztg. 1903,
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G. A. Smith, The jewish Constitution from Nehemiah to the Maccabees (The
Expositor 1906, September, p. 193—209). — Ders., The jewish Constitution
from the Maccabees to the end (The Expositor 1906, Od., p. 348—364).
1. Geschichte. Ein aristokratischer Senat zu Jerusalem, in
dessen Hand die Regierung und Jurisdiktion über das jüdische
Volk, sei es ganz oder zu einem wesentlichen Teile lag, ist erst
in der griechischen Zeit mit Bestimmtheit nachweisbar.
Die rabbinische Exegese sieht freilich in dem Rate der 70 Altesten,
welcher dem Moses auf dessen Verlangen beigegeben wurde (Num.
11, 16), bereits das nachmalige „Synedrium" und nimmt daher eine
kontinuierliche Existenz desselben von Moses bis auf die talmu-
dische Zeit an. Allein während der ersten tausend Jahre dieses
[189. 190] III. Das große Synedrium zu Jerusalem. 1. Geschichte* 239
Zeitraumes findet sich davon so gut wie gar keine Spur. Denn
die | „Ältesten", die wohl zuweilen als Repräsentanten des Volkes
erwähnt werden (z. B. I Reg. 8, 1. 20, 7. II Reg. 23, 1. Exech. 14, 1.
20, 1), sind keine organisierte Behörde nach Art des späteren
Synedriums. Und der oberste Gerichtshof zu Jerusalem, den die
deuteronomische Gesetzgebung voraussetzt (Deut. 17, 8 ff. 19, 16 ff.),
und dessen Einsetzung die Chronik auf Josaphat zurückführt
(II Chron. 19, 8), ist eben nur ein Gerichtshof, der lediglich Recht
zu sprechen hat, nicht ein regierender oder doch an der Re-
gierung wesentlich mitbeteiligter Senat, wie das Synedrium der
griechisch-römischen Zeit1. Erst für die persische Zeit darf man
mit einiger Wahrscheinlichkeit die Existenz oder allmähliche Aus-
bildung einer Gemeindebehörde, welche dem späteren Synedrium
ähnlich war, annehmen. Die Verhältnisse waren jetzt im wesent-
lichen dieselben, wie später in der griechischen und römischen Zeit:
unter der Oberherrschaft einer fremden Macht bildeten die Juden
eine sich selbst regierende Gemeinde. Die gemeinsamen Angelegen-
heiten verlangten irgendwie eine gemeinsame Leitung durch die
Vertreter oder Führer des Volkes. Als solche erscheinen im Buche
Esra gewöhnlich die „Ältesten" (Esra 5, 5. 9. 6, 7. 14. 10, 8)2 bei
Nehemia die ö^-rin und ö^ao (Nehem. 2, 16. 4, 8. 13. 5, 7. 7, 5). Über
ihre Zahl und Organisation erfahren wir aber nichts Näheres. Da
Esra 2, 2 «- Nehem. 7, 7 zwölf Männer als Führer der Exulanten
genannt werden, so könnte man vermuten, daß in der ersten Zeit
nach dem Exil zwölf Geschlechts-Älteste an der Spitze der Ge-
meinde gestanden haben2. Andererseits werden Nehem. 5, 17 ein-
hundertundfünfzig jüdische „Vorsteher", D^ao, erwähnt3. Jedenfalls
unterscheidet sich die spätere Organisation von der früheren da-
durch, daß früher — sowohl vor dem Exil als in der ersten Zeit
nach dem Exil — die Stämme und Geschlechter noch eine größere
Selbständigkeit nebeneinander hatten, daher eine gemeinsame Lei-
tung nur insoweit bestand, als eben die Geschlechts-Oberen zu
1) So stellt es sich allerdings Josephus vor» indem er jenen Gerichts-
hof nach Analogie späterer Verhältnisse als ^ ysQovala bezeichnet {Antt.
IV, 8, 14).
2) So Stade, Geschichte des Volkes Israel II, 102. 105 f.; ähnlich
Köhler, Lehrbuch der bibl. Gesch. II, 2, 1893, S. 555. 592. Derselbe sucht
a. a. O. 8. 591 f. auf Grund umsichtiger Zusammenstellung des Material es zu
ermitteln, inwieweit die Verwaltung Judäas von den persischen Beamten,
und inwieweit sie von den jüdischen Oberen geführt wurde.
3) Hierauf weist namentlich Ed. Meyer hin (Die Entstehung des Juden-
tums 1896, 8. 132, 134, überhaupt 8. 130—135). Die zwölf Männer Esra 2, 2
— Neh. 7, 7 hält er nicht für Oberbeamte, sondern für Leiter der Karawane
(S. 193).
L
240 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [190. 191 J
gemeinsamem Handeln sich verbanden, während später an der
Spitze der Gesamtheit eine einheitlich organisierte Behörde stand 4.
Aus dem engeren Zusammenschluß der Geschlechts-
Oberen, sowohl der Priester als der Laien, wird die Ge-
samtbehörde entstanden sein. Für die Existenz einer solchen,
und zwar in der Form eines aristokratischen Senates, schon in
der persischen Zeit spricht namentlich eine allgemeine Erwägung.
Überall wo der Hellenismus ganz von neuem städtische Verfas-
sungen geschaffen hat, sind es demokratische gewesen. In Judäa
aber finden wir in der griechischen Zeit eine yapotxr/a, d. h. einen
aristokratischen Senat. Dieser stammt also höchst wahrscheinlich
schon aus vorhellenistischer, d. h. aus der persischen Zeit Er
mag in der griechischen Zeit gewisse Umgestaltungen erfahren
haben, ist aber seinem Wesen nach vorhellenistisch.
Den maßgebenden Einfluß in dieser obersten Behörde im Be-
ginn der hellenistischen Zeit hatten ohne Zweifel die Priester,
Ja Hakatäus, der Zeitgenosse des Ptolemäus Lagi, der in einem
uns erhaltenen Bruchstück seiner ägyptischen Geschichte eine
höchst interessante Beschreibung der jüdischen Staatsverfassung
gibt, sagt geradezu, daß Moses die Priester zu obersten Richtern
und Wächtern der Gesetze gemacht habe, weshalb nicht ein König
an der Spitze des Volkes stehe, sondern derjenige der Priester,
der an Einsicht und Tüchtigkeit hervorrage. „Diesen nennen sie
aQxuQsvq und halten ihn für einen Verkündiger der göttlichen
Gebote" 5.
4) Ed. Meyer a. a. O.^S. 134: „Die Leituog des Volks wird von etwa
150 Familienhäuptern oder Ältesten geführt .... Auf welche Weise sie er-
nannt werden, ob durch Erbfolge, durch Wahl oder Kooptation, wissen wir so
wenig, wie ob diese „Ältesten" wirklich alte Männer sein mußten wie die
spartanischen Geronten, oder ob die Bezeichnung nur ein Titel ist wie bei
den römischen Senatoren und den christlichen Presbytern. Nur das zeigen
die verschiedenen Bezeichnungen deutlich, daß es sich nicht sowohl um
eine geschlossene Körperschaft handelt, als um ein Recht aller
vornehmen Familienhäupter, an der Leitung der Gemeinde teil
zu nehmen".
5) Hecataeus bei Diodor XL, 3 (erhalten durch Photius Bibliotk. cod. 244, s.
den Text z. B. auch bei Müller, Fragm. hist graec. II, 392, Th. Reinach, Textes
d'auteurs grecs et romains relatifs au Iudaisme 1895, p. 17; über die Echtheit
unten § 33, VII, 4): Toig abxohq 6h (nämlich die Priester] xal Sixacnaq ani-
<fei£e Tibv (Asylanav xoioswv xal x^v twv vdfioyv xal xCbv £9ü)v tpvlax^v xovxoiq
initQEtpe' Siö xal ßaaiX^a fxhv firjöbtoxe zu>v *Iov6ai<ovt xijv Sh toi) nX^ovq
noocraolav ÖlöooS-ai öiä navxbq xip Soxotivxi xCbv Uq£u)v (p^ovr/oei xal agexfi
7tQO&xt iv- Totixov 6k noooayooevovoiv ao/teoia, xal vo^ovaiv abxolq äyyeXov
ylveoB-ai xCbv xod &eo$ TtQoaxayfxdxcDV. — Hekatäus scheint das Amt des
Hohenpriesters nicht für erblich zu halten (vgl. auch Ps.-Aristeas § 98: 6
[191. 192] HI. Das große Synedrium zu Jerusalem. 1. Geschichte. 241
Die erste Erwähnung der jüdischen ysQovala finden wir bei
Josephus zur Zeit Antiochus' des Gr. (223— 187) 6. Ihr aristokra-
tischer Charakter erhellt aus ihrem Namen7. Ihre Befugnisse
werden als ziemlich ausgedehnte zu denken sein. Denn die helle-
nistischen Könige haben den Kommunen im Innern große Freiheit
gelassen und sich im wesentlichen mit der Zahlung von Abgaben
und der Anerkennung ihrer Oberhoheit begnügt An der Spitze
des jüdischen Staatswesens, also auch der Gerusia, stand der
erbliche Hohepriester. Beide zusammen übten im wesentlichen
alle Regierungsbefugnisse im Innern des Landes aus.
Infolge der makkabäischen Erhebung wurde die alte hohe-
priesterliche Dynastie verdrängt, und an ihre Stelle trat das neue
seit Simon ebenfalls erbliche Hohepriestertum der Hasmonäer.
Auch die alte ysQovcla muß durch Ausscheidung der griechen-
freundlichen Elemente eine wesentliche Umwandlung erfahren haben.
Die Behörde selbst aber hat auch neben und unter den hasmo|-
näischen Fürsten und Hohenpriestern fortbestanden: auch diese
konnten es ja nicht wagen, den Adel von Jerusalem ganz beiseite
zu schieben. Wir finden daher die Gerusia erwähnt zur Zeit des
Judas (II Makk. 1, 10. 4, 44. 11, 27; auch die xQeaßvveQoi rov Xaov
I Makk. 7, 33 sind nichts anderes), des Jonathan (I Makk. 12, 6: r)
fBQovda rov Id-vovq, ibid. 11, 23: ol JtgeCßvreQoi *IOQceqXt ibid. 12, 35:
ol jiQBößvxBQoi rov Xaov), und des Simon (iMakk. 13,36. 14,20. 28) 8.
Auch im Buche Judith, das wahrscheinlich in diese Zeit gehört,
wird ihre Existenz vorausgesetzt (Judith 4, 8. 11, 14. 15, 8). — Die
Annahme des Königstitels durch die hasmonäischen Fürsten und
namentlich das autokratische Regiment eines Alexander Jannäus
bezeichnen einen Fortschritt nach der reinen Monarchie hin, wie
das sehr scharf hervorgehoben wird von der jüdischen Gesandt-
xQL&elg a£u>c). Daß es aber tatsächlich in der griechischen Zeit erblich
war, kann nicht bezweifelt werden.
6) Antt. XII, 3, 3.
7) Eine yeoovola ist stets ein aristokratischer Senat. Namentlich
heißt so der Senat von Sparta und überhaupt in den dorischen Staaten. S.
Westermann in Paulys Real-Enz. III, 849 f.
8) Von Interesse ist die Vergleichung von I Makk. 12, 6 mit I M. 14, 20.
Es handelt sich um den Briefwechsel der Juden mit den Spartanern. An der
ersteren Stelle (I M. 12, 6 — Jos. Antt. XIII, 5, 8) nennen sich die Juden als
Absender: *la>va&av aQzieQtvq xal % yeoovola rov H&vovg xal ol leoeig
xal 6 Xoinöq drjfiog tu>v 'Iovöalwv. In der Antwort der Spartaner lautet die
Adresse (I M. 14, 20): Siftowi Uoel fxeyäXy xal xoiq noeoßvTiooic; xal
toiq leoevoi xal t(]> XouiCp SJjfjHp zCbv 'Iovdaiwv. Beachte 1) daß ^ yeoovola
und ol noeoßvregoi identische Begriffe sind, 2) daß in beiden Fällen die
Gliederung eine vierfache ist: Hoherpriester, Gerusia, Priester, Volk.
Sohürer, Ctochichte II. 4. Aufl. 16
242 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [192. 193]
schaft, welche sich eben hierüber bei Pompeius beschwerte 9. Aber
trotzdem hat auch jetzt die alte Gerusia sich behauptet Wenigstens
werden unter Alexandra ausdrücklich x&v 'Iovöalcov ol jtQeaßvtsQoi
erwähnt {Antt XIII, 16, 5) 10. Seit Alexandra sind ohne Zweifel
auch die Schriftgelehrten in größerer Zahl in die Gerusia ge-
kommen. Denn die Überlassung der Herrschaft an die Pharisäer
kann nicht ohne eine Umgestaltung der Gerusia im pharisäischen
Sinne erfolgt sein. Von hier an wird jene auch noch für die Zeit
Jesu Christi bezeugte Zusammensetzung der Behörde datieren,
welche einen Kompromiß zwischen dem priesterlichen Adel und
dem pharisäischen Schriftgelehrtentum darstellt11.
Bei der Neuordnung der Verhältnisse durch Pompeius ist
zwar das Königtum abgeschafft worden. Der Hohepriester behielt
aber die jzQoaraala rov l&vovq {Antt XX, 10); und so wird auch |
die Stellung der Gerusia zunächst nicht wesentlich alteriert worden
sein 12. Ein starker Eingriff in die bisherige Ordnung war dagegen
die durch Gabinius (57—55) verfügte Zerteilung des jüdischen
Gebietes in fünf cvvoöoi (K /. I, 8, 5) oder avveÖQia {Antt XIV,
5, 4). Da von den fünf Synedrien drei auf das eigentliche Judäa
entfielen (nämlich Jerusalem, Gazara und Jericho), so umfaßte
die Machtsphäre des Senates von Jerusalem, wenn er überhaupt
9) Diodor. XL, 2 ed. Müller i aneyrjvavzo zovq nQoydvovQ avzä>v [seit
des Aristobul und Hyrkan] npoeozTjxdzag zov Ieqov nenQeoßevxivai ngög z^v
avyxXrjzov [den römischen Senat], xal naostXrjyivai ttyv nooazaolav z(hv Yoi>
öaluyy iXei&tywv xal altovducov, oh ßaaiXitoq ZQWBti&vroQ, aXX* &Q%i£Q&a>q
7iQO€<nt]x6zo$ zov l&vovq. Tovzovq 6h vvv dwaozeveiv xazaXeXvxdzag rovg
nazglovg vd/novg xal xaraötöovXwo$ai zovg noXizag äSixwg' fuo&o<p6Q<ov yäp
nXföei xal alxiaiq xal noXXoTg <p6voig aoeßioi neQuienoifjO&ai r/)v ßaatXelav.
— Vgl. auch Joseph. Antt. XIV, 3, 2.
10) Ähnlich stand z. B. auch in Tyrus und Sidon dem König ein Senat
zur Seite. S. Movers, Die Phönizier II, 1 (1849) S. 529—542. Kuhn, Die
stadtische und bürgert. Verfassung II, 117. Gutschmid, Kleine Schriften
II, 72.
11) Über die Geschichte der Gerusia unter den hasmonäischen Fürsten
s. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte (1894) S. 235 — 238.
4. Ausg. 1901, S. 285—288.
12) In den salomonischen Psalmen, welche im allgemeinen in der
Zeit des Pompeius entstanden sind, wird ein dem Verfasser verhaßter Mann,
oder die ihm verhaßte Partei überhaupt, folgendermaßen angeredet, Ps. 4, 1:
\vazl ov xddijöai ßißqXe iv ovveöoUo. Da nach dem Zusammenhang unter
aweÖQiov ein Gericht zu verstehen ist, so kann damit unsere Gerusia gemeint
sein. Aber bei der Vieldeutigkeit des Ausdrucks und bei der Unmöglichkeit,
die Abfassungszeit des Psalmes genauer zu präzisieren, läßt sich historisch
nicht viel aus der Stelle entnehmen. Sie muß ihr Licht erst aus den uns
bekannten Verhältnissen empfangen.
[193. 194] III. Das große Synedrium zu Jerusalem. 1. Geschichte. 243
in der bisherigen Weise fortbestanden hat, nur noch etwa ein
Dritteil des eigentlichen Judäa. Wahrscheinlich bedeutete aber
jene Maßregel mehr, als eine bloße Einschränkung der Macht-
sphäre, denn sie wird von Josephus als eine durchgreifende Um-
gestaltung der politischen Verhältnisse dargestellt, wobei allerdings
nicht recht deutlich wird, ob jene fünf Bezirke Steuerbezirke oder
Gerichtssprengel (conventus juridid) oder beides zugleich waren
(vgl. hierüber oben § 13) 13. — Die Anordnungen des Gabinius haben
jedoch nicht länger als etwa zehn Jahre bestanden. Denn durch
die Einrichtungen des Cäsar (47 vor Chr.) sind dieselben wieder
beseitigt worden. Er ernannte den Hyrkan IL wieder zum £&vaQxri$
der Juden (s. oben § 13); und aus einer in jene Zeit fallenden Be-
gebenheit geht bestimmt hervor, daß die Gerichtsbarkeit des Senates
von Jerusalem sich auch wieder über Galiläa erstreckte: der junge
Herodes mußte sich nämlich wegen seiner Taten in Galiläa vor
dem cvviÖQiov zu Jerusalem verantworten (Antt. XIV, 9, 3—5).
Mit dem Ausdruck cvviÖQiov wird nun hier zum erstenmal
und seitdem häufig der Senat von Jerusalem bezeichnet
Da der Ausdruck sonst zur Bezeichnung städtischer Senate nicht
gerade gewöhnlich ist, so hat dieser Gebrauch etwas Auffälliges,
ist aber wahrscheinlich daraus zu erklären, daß man den Senat
von Jerusalem vor allem als Gerichtshof (yesf rr»a) auffaßte.
Denn in diesem | Sinne wird cwiÖQtov in der späteren Gräzität
namentlich gebraucht14.
13) Über die Verfassungsgeschichte der Jahre 57 — 47 vor Chr. handelt
eingehend Unger, Zu Josephos, Art. IV (Sitzungsber. der Münchener Akademie,
philos.-philol. und histor. Klasse 1897, S. 189—222). Er trifft aber m. £. nicht
immer das Richtige, schon deshalb nicht, weil er Genaueres feststellen will,
als unsere Quellen gestatten.
14) Hesychius Lex. 8. v. erklärt awiÖQtov geradezu durch SixaoxJj-
qiov (Gerichtshof). Bei den LXX Prov. 22, 10 ist owityia — "pi. Vgl,
auch PsaÜ. Salom. 4, 1. Auch im Neuen Testamente heißt ow&qiov einfach
„Gerichte" (Mi. 10, 17. Marc. 13, 9); ebenso in der Mischna (s. bes. Sanhedrin
I, 5: O^oawb nmnnao — Gerichte für die Stämme, und I, 6: map ymrfcö —
ein kleines Gericht). Mit Recht bemerkt daher Steph. Thes. 8. v. praecipue
ita voeatur oonsessus judicum. — An sich ist freilich owiÖQiov ein sehr um-
fassender Begriff und kann von jeder „Versammlung" und jeder koUegialisch
zusammengesetzten Behörde gebraucht werden, z. B. vom römischen Senat.
Auch in manchen Städten Griechenlands heißen die Mitglieder des städtischen
Senates o\ ovveSqoi, z. B. in Dymae in Achaia (Corp. Inscr. Oraee. n. 1543
lin. 4: xotq aQ%ovoi xal avviÖQOiq xal xy ndXei), in Akraephiae in Böotien
(Corp. Inscr. Oraee. n. 1625 lin. 71: liJofev xotq xe &q%ovoi xal awiÖQOtq xal
xip djftip, vgl die Zusammenstellung der Texte, in welchen die ovvsöqol von
Akraephiae vorkommen, im Bulletin de oorreep. hellSnique t. XTV, 1890, p. 17 sq.),
und anderwärts (s. Sauppe, Abhandlungen derGöttingerGesellsch. derWissensch
IG*
244 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [194. 195]
Herodesd.Gr. begann seine Regierung damit, daß er [ sämt-
liche Mitglieder des Synedriums hinrichten ließ (Antt. XIV, 9, 4:
jtavrag ajtixrstve rovg iv xq> CvvböqIco). Ob hier das navzag
ganz wörtlich zu nehmen ist, mag dahingestellt bleiben. An einer
anderen Stelle heißt es dafür, er habe die 45 angesehensten Männer
von der Partei des Antigonus hinrichten lassen (Antt. XV, 1, 2:
ajiixreive 6b reccaQaxovra xivxe rovg jtQcivovg ix rrjg alQiösmg
'Avxiyovov). Jedenfalls hatte die Maßregel den Zweck, den alten
ihm feindlichen Adel entweder ganz zu beseitigen oder doch so
einzuschüchtern, daß er sich dem neuen Herrscher fügte. Aus den
gefügigen Elementen, zu welchen auch manche Pharisäer gehörten,
die in dem tyrannischen Regimente eine wohlverdiente Zuchtrute
Gottes sahen, wurde nun das neue Synedrium gebildet Denn daß
ein solches auch unter Herodes bestanden hat, ist ausdrücklich
bezeugt, insofern unter der „Versammlung" (avviÖQiov), vor welcher
Herodes den alten Hyrkan seiner Schuld überführte, kaum etwas
Bd. VIH, 1858—59, 8. 249, Gilbert, Handbuch der griech. Staatsaltertümer
Bd. II passim. Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche (1900)
8. 227 f. Dütenberger, Syttoge Inscr. Oraee. ed. 2., vol. IH [Index] p. 184, Cor-
pus Inscr. Oraeoarum Oraeciae Septentrionalis vol. I ed. Dütenberger, Index
p. 753, auch Stephanus Thes. s. v. und Westermann in Paulys Enz. VI, 2, 1535),
Der Ausdruck wird aber doch von stadtischen Senaten verhältnismäßig selten
gebraucht, für welche bekanntlich die Bezeichnungen ßovXJj und yeoovoia vor-
herrschend sind. Häufiger dient er zur Bezeichnung von Repräsentativ •Ver-
sammlungen, welche durch Abgeordnete verschiedener Kommunen gebildet
werden. So z. B. vom owidoiov der Phönizier, das sich in Tripolis zu ver-
sammeln pflegte (Diodor. XVI, 41), vom xoivöv owötoiov im alten Lycien,
welches aus Abgeordneten von 23 Städten bestand (Strabo XIV, 3, 3 p. 664*?.),
vom aw&oiov xoivöv der Provinz Asien (Aristides Orot. XXVI ed. Bindorf
t. I p. 531), von den Versammlungen des achäischen, phokischen, böotischen
Bundes (Pausan. VH, 16, 9). Daher werden auch ovveöooi und ßovXevzal
neben einander genannt als zwei verschiedene Kategorien (Inschrift zu Balbura
in Pisidien bei Le Bas et Waddington, Inscr. t. UI n. 1221). Auch die sena»
tores der vier macedonischen Regionen, welche nach Livius cvveöpoi genannt
wurden {Lir. 45, 32: pronuntiatum, quod ad statum Macedoniae pertinebat, sena-
tores, quos synedros vocant, legendos esse, quorum consilio respubliea admi-
nistraretur), sind nicht städtische Senatoren, sondern Deputierte einer ganzen
regio (s. Marquardt, Staatsverwaltung I, 1881, S. 317). — Da der Ausdruck in
Judäa zum erstenmal zur Zeit des Gabinius auftaucht und seitdem auch für
den Senat von Jerusalem gebräuchlich wird, so könnte man zu der Annahme
geneigt sein, daß sein Gebrauch eben durch die Maßregel des Gabinius ver-
anlaßt ist, indem der Ausdruck seitdem auch unter veränderten Verhältnissen
beibehalten wurde (so ich selbst in Riehms Worterb. 1. Aufl. S. 1596). Aber
angesichts der Tatsache, daß das Wort auch sonst, sogar im Hebräischen, in
der Bedeutung „Gerichtshof " überhaupt gebraucht wird, muß diese Erklärung
doch als zu künstlich verworfen werden.
[195. 196] HL Das große Synedrium zu Jerusalem. 1. Geschichte. 245
anderes als unser Synedrium verstanden werden kann (Antt. XV,
6, 2 fin.) «
Nach dem Tode des Herodes erhielt Archelans nur einen
Teil des väterlichen Beiches: die Provinzen Judäa und Samaria.
Hiermit ist ohne Zweifel auch die Kompetenz des Synedriums auf
das eigentliche Judäa beschränkt worden (vgl. oben S. 236).
Dabei blieb es auch zur Zeit der Prokuratoren. Aber unter
ihrer Verwaltung ist die innere Regierung des Landes in höherem
Maße als unter Herodes und Archelaus in der Hand des Synedriums
gewesen. Josephus deutet dies bestimmt an, indem er sagt, daß
seit dem Tode des Herodes und Archelaus die Verfassung des
Staates eine aristokratische war, unter der Oberleitung der Hohen-
priester 16. Er betrachtet also jetzt den aristokratischen Senat von
Jerusalem als die eigentlich regierende Behörde im Unterschiede
von dem früheren monarchischen Begimente der Herodianer. — So
wird nun auch zur Zeit Christi und der Apostel das ovvIöqlov zu
Jerusalem häufig als die oberste jüdische Behörde, namentlich als
der oberste jüdische Gerichtshof erwähnt (Maith. 5, 22. 26, 59. Marc.
14, 55. 15, 1. Luc. 22, 66. Joh. 11, 47. Äctor. 4, 15. 5, 21 ff. 6, 12 ff.
22, 30. 23, 1 ff. 24, 20). Statt övviÖQiov kommen auch die Bezeich-
nungen | JtQBCßvxiQiov {Luc. 22, 66. Act. 22, 5) und yeQovota (Act. 5,21)
vor17. Ein Mitglied desselben, Joseph von Arimathaia, heißt 4fam
15, 43 = Luc. 23, 50 ßovXevTtjg. Josephus nennt die oberste Be-
hörde von Jerusalem owiÖQtoP1* oder ßovXrj19, oder er faßt Be-
15) Vgl. auch Wiesel er, Beiträge zur richtigen Würdigung der Evan-
gelien S. 215 f.
16) Antt. XX, 10 fin.: psxä dh xfjv xovxatv xeXevxijv &QiaxoxQaxla fihv }\v
^ noXtxela, %%v 6h itQooxaoiav xov H&vovg oi aQX&Q&S ineTcldxevvxo. — Da in
dem ganzen Abschnitt von den Hohenpriestern im eigentlichen Sinne die
Bede ist (deren es immer nur einen gab), so ist &qxi£qei<; als Pluralis der
Kategorie zu nehmen: die nQoaxaola tov §(hovg hatte der jeweilige Hohe-
priester.
17) Auffallend ist an der letzteren Stelle (Act. 5, 21) die Formel xb aw-
iÖQiov xal naGoy xfjv ysQovoiav xwv vlatv ^IOQatfX. Da an der Identität der
Begriffe awiÖQiov und yeQovala nicht zu zweifeln ist, so ist nur zweierlei
möglich: entweder das xal ist erklärend zu nehmen oder es ist anzunehmen,
daß der Verf. irrtumlich das Synedrium für einen engeren Begriff gehalten
hat als die Gerusia („das Synedrium und überhaupt alle Ältesten des Volkes")-
Letzteres ist das Natürlichere.
18) 8. außer den beiden genannten Stellen (Antt. XIV, 9, 3—5. XV,
6, 2 fin.) noch: Antt. XX, 9, 1. Vita 12. An letzterer Stelle xb awidgiov t(bv
IeQoooXvfjLizibv. — Ob auch Antt. XX, 9, 6 das große Synedrium gemeint
sei, ist zweifelhaft; vgl. Wieseler, Beiträge S. 217.
19) B. J. H, 15, 6: xovq xe d^xiegetg xal x)jv ßovXtfv. B. J. II, 16, 2:
*Iov6almv o? xb aQ%i£QETq apa xoTg Svvaxolg xal % ßovX^. B. J. II, 17, 1:
246 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. . [196]
hörde und Volk unter dem gemeinsamen Namen ro xotvov zu-
sammen20. In der Mischna heißt der höchste Gerichtshof y*t ma
bi-tan21 oder nbiia rmrao22. auch insn o^ntf bti rn-tnao 2S oder
bloß yninjp24. — Eine künstliche Unterscheidung der hier ge-
nannten Behörden hat Büchler zu begründen versucht25. Er er-
kennt an, daß in den rabbinischen Quellen mit den Ausdrücken
„das große Bdh-dinu oder „das große Sanhedrinu oder „das Sanhedrin
der 71" überall dieselbe Behörde gemeint sei, welche aber „aus-
schließlich das religiöse Leben regelte, den Tempeldienst leitete
und für die Durchführung der jeweilig geltenden Auslegung des
Beligionsgesetzes im Opferdienste und im Leben sorgte und in
seiner Zusammensetzung der Regel nach die sadduzäische und nur
zeitweilig die pharisäische Herrschaft zum Ausdruck brachte"
(S. 193 f.). Davon sei das owiÖQiov der griechischen Quellen zu
unterscheiden, ein Kollegium (wesentlich aus Priestern bestehend),
welches „bloß bei Übertretungen, die innerhalb des Tempelgebietes
begangen wurden, befugt war, einzuschreiten" (S. 227). Von beiden
sei endlich wieder die ßovlrj, „die Verwaltungsbehörde der Stadt
Jerusalem und bloß ihrer Bewohner" zu unterscheiden (S. 232).
Diese gekünstelte Distinktion scheitert schlechthin an einer un-
befangenen Betrachtung des Quellenmateriales. Denn wie die Iden-
tität von •pnreo und owiÖQiov wegen der Gleichheit des Aus-
drucks und alles dessen, was über sie gesagt wird, nicht zweifelhaft
sein kann, so ist auch eine Unterscheidung von övvIöqiov und ßovXrj
(etwa als Gericht und als Regierungsbehörde) angesichts der
Quellenaussagen nicht durchführbar. Büchler hat sich dadurch
irreleiten lassen, daß die späteren jüdischen Quellen sich diese
o? re äQxovrsq xal ol ßovXevzal. Vgl. Antt. XX, 1, 2. B. J. V, 13, 1. Der
Versammlungsort heißt B. J. V, 4, 2 ßovXfy B. J. VI, 6, 3 ßovXevriJQiov.
20) Vüa 12. 13. 38. 49. 52. 60. 65. 70.
21) Sota I, 4. IX, 1. Gütin VI, 7. Sanhedrin XI, 2. 4. Horajoth I, 5 fin.
An den meisten Stellen mit dem Zusatz D^biawailJ.
• ~ T • •••
22) Sanhedrin 1, 6. Middoth V, 4 — Wie das Wort "p^irwö aus dem Grie-
chischen aufgenommen ist, bo auf palmyrenischen Inschriften 01211 tfi'D = ^
ßovXfj xal 6 dfjfxoQ.
23) Sckebuotk II, 2.
24) Sota IX, 11. Kidduschin IV, 5. Sanhedrin IV, 3. — Das Wort
•p^hsö (in verschiedenen Bedeutungen) wird namentlich auch in den späteren
Targumen häufig gebraucht. S. Buxtorf Lex. eoL 1513 sq. Levy, Chald.
Wörterb. 8. v. Krauß, Griech. und lat. Lehnwörter im Talmud II, 1899,
S. 401 f.
25) Büchler, Das Synedrion in Jerusalem usw. (IX. Jahresbericht der
israelit.-theol. Lehranstalt in Wien 1902).
[ 196. 197] III. Das große Synedrium zu Jerusalem. 1. Geschichte. 247
oberste Behörde allerdings wie ein rabbinisches Spruchkollegium
vorstellen26.
Nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 ist ohne Zweifel
das Synedrium in seiner bisherigen Form aufgehoben worden. Das
relativ große Maß von Selbstregierung, welches bis dahin dem
jüdischen Volke noch gelassen worden war, konnte ihm nach einer
so gewaltigen Empörung nicht mehr zugestanden werden. Mit der
jüdischen Hauptstadt wurde auch die jüdische Behörde für immer
aus der Geschichte getilgt: die Begierungsgewalt wurde jetzt
direkter von den Kömern in die Hand genommen. Zwar schuf
sich das jüdische Volk bald wieder einen neuen Mittelpunkt in
dem sogenannten Gerichtshof (y*n ms) von Jabne27. Dieser war
aber | etwas wesentlich anderes als das alte Synedrium: nicht ein
politischer Senat, sondern ein juristisches Tribunal, dessen Ent-
scheidungen zunächst nur theoretische Bedeutung hatten. Und
obwohl auch dieses bald wieder zu einer großen Macht über das
26) Gegen Büchler s. Theol. Litztg. 1903, 345—348. — An Büchler
schließt sich im wesentlichen Lauterbach an (Art. Sanhedrin in: The Jewish
Encyclopedia XI, 1905, p. 41—44); doch identifiziert er gvv£6qiov und ßovMj
und unterscheidet davon das rabbinische „große Sanhedrin". — Wieder in an-
derer Weise folgt Houtsma den Spuren Büchlers (Teylers Theol.- Tijdschrift
II. Jaarg. 1904, p. 297—316). Er unterscheidet folgende zwei Behörden : 1) Die
yeQOvala oder ßovXJj, d. h. die politische Behörde der Stadt Jerusalem, aus den
vornehmen Priestern (aQ/jegsTq) und „Ältesten" bestehend; 2) Das rabbinische
Sanhedrin, ein Kollegium von Gesetzes -Gelehrten (ygafifiaveTq) ganz in der
Weise, wie die rabbinischen Quellen es sich vorstellen. Auf dieses beziehen
sich auch die Angaben der griechischen Quellen über das ovviÖQiov. Wo Syn-
edrium und aQx^Qelq oder Schriftgelehrte und clqx^Q^ neben einander ge-
nannt werden, handeln sie gemeinsam, ohne aber zusammen eine Behörde zu
bilden (!) (S. 308). Der Hohepriester ist auch nicht der Vorsitzende des Syne-
driums, sondern er kann nur als Vertreter der politischen Behörde das Syne-
drium zusammenrufen und eine Anklage vorbringen (!) (S. 312). Es genügt,
diese seltsamen Aufstellungen angeführt zu haben. Die künstliche Zurecht-
legung der Tatsachen, zu welcher H. genötigt ist, ist an sich der beste Beweis
dafür, daß eine solche Unterscheidung der beiden Behörden angesichts der
klaren Aussagen der Quellen nicht aufrecht zu erhalten ist. Die in politischer
Hinsicht regierenden Kreise Jerusalems, die &QZlsQeI<Z> stehen eben augen-
scheinlich auch an der Spitze des „Synedriums". Übrigens bestätigen die An-
sichten von Lauterbach und Houtsma, wenn man sie kombiniert, die herkömm-
liche Auffassung. Nach Lauterbach ist ovv£öqiov = ßovl^, nach Houtsma
ist awiÖQiov = Sanhedrin. Also — bo darf man schließen — ist auch ßovXJj
«« Sanhedrin.
27) Über diesen Gerichtshof zu Jabne s. bes. Bosch haschana II, 8—9.
IV, 1-2. Sanhedrin XI, 4; auch Bechoroth IV, 5. VI, 8. KelimV,4. Para
VII, 6. Vgl. oben § 21, I. — Später (im 3. u. 4. Jahrh.) befand sich dieses
Zentrum des rabbinischen Judentums in Tiberias.
248 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [197]
jüdische Volk dadurch gelangte, daß es eine wirkliche, teils zu-
gestandene, teils usurpierte Gerichtsbarkeit über dasselbe ausübte28,
so hat doch das rabbinische Judentum stets ein deutliches Bewußt-
sein davon gehabt, daß das alte „Synedrium" aufgehört hat zu
existieren 29.
2. Zusammensetzung. Die jüdische Tradition stellt sich
das große Synedrium nach Analogie der späteren rabbinischen
Gerichtshöfe als ein lediglich aus Schriftgelehrten bestehendes
Kollegium vor. Dies ist es sicher bis zur Zerstörung Jerusalems
niemals gewesen. Nach dem einstimmigen Zeugnis des Josephus
und des Neuen Testamentes steht vielmehr fest, daß bis zuletzt
die höchste priesterliche Aristokratie an der Spitze des Synedriums
stand. Aller Wechsel der Zeit hat also doch den ursprünglichen
Grundcharakter des Synedriums — wonach es nicht ein Kollegium
von Gelehrten, sondern eine Vertretung des Adels war — nicht
verwischen können. Allerdings konnte aber die wachsende Macht
des Pharisäismus auf die Dauer nicht ohne Einfluß auf die Zu-
sammensetzung des Synedriums bleiben. Je mehr derselbe an An-
sehen gewann, desto mehr sah sich die priesterliche Aristokratie
genötigt, ihm auch Sitze im Synedrium einzuräumen. Dieser Prozeß
28) Origenes, Epist. ad Africanum §14 (Opp. ed. Lommatxsch t XVII):
Kai vvv yovv 'P(o/jiala>v ßaoiXevövziov xal ^ovöalatv zö ölöoaxftov avzolq te~
kovvzwv, doa ovyx<DQOvvxoq Kalaaooq 6 i&vdQxW nßQ* afaolq övvavat, wq
fitjöhv 6ta<p£oeiv ßaaiXevovzoq zod &h>ovqf lo^iev ol nensigafjiivoi. rivezat öh
xal xoizrJQia W.Tj&ötwq xaza zdv vöpov, xal xazaSixd^ovzal ziveq zfy> inl
z(p Q-avaztp, oüze fxetä zfjq nävzr] tlq zovzo naoorjoiaq, oSze fietä zov Xav&&~
veiv zdv ßaaiXevovza. Kai zovzo iv zjj x&Q* *ov %&vovq noXvv öiazohpavzeq
Xq6vov f/ef/aSrfxa/xsv xal nenXtjQoyoQJifjte&a. Vgl. dazu Mommsen, Romisches
Strafrecht 1899, 8. 120 („den merkwürdigsten Beleg für das Tolerieren selbst
den römischen Ordnungen zuwiderlaufender Institutionen unter der Kaiser-
herrschaft gibt der jüdische Kapitalprozeß")- — Origenes hat selbst mit einem
Patriarchen Jullos (1ovXXq> zip nazQtdoxy) verkehrt, von welchem er sich über
exegetische Fragen belehren ließ (Selecta in Psalmos, in den Vorbemerkungen,
opp. ed. Lommatxsch XI, 352). Bei Hieronymus lautet der Name Huillus
(contra Rufin. I, 13 opp. ed. VaUarsi II, 469: certe etiam Origenis Patriarchen
Euillum, qui temporibus ejus fuit nominal secundum Huilli expositionem).
Grätz will darunter den Patriarchensohn Hillel verstehen (Monatsschr. f. Gesch.
u. Wissensch. d. Judent. 1881, S. 433 ff.), Bacher den Patriarchen Judas II
(Jeioish Encyclopedia VII, 1904, p. 338).
29) &>taIX,ll:„Seitdas Synedrium erloschen ist (ynnniö nioaiö«),
hörte aller Gesang bei festlichen Gastmählern auf; denn es heißt Jes. 24, 9:
Nicht mit Gesang werden sie Wein trinken usw.". Chajes, Les juges juifs
en Palestine de V an 70 ä P an 5C0 (Revue des Üudes juives t. XXXIX, 1899,
p. 39—52), kommt zu dem Schluß (p. 52): qu'il n'existait pas de tribunaux au
teritable sens du motf fonctionnant dfune mattiere permanente.
[197.198] III. Das große Synedriuin zu Jerusalem. 2. Zusammensetzung. 249
muß unter Alexandra begonnen haben und wird namentlich unter
Herodes große Fortschritte gemacht haben. Denn dessen rück-
, sichtsloses Vorgehen gegen den alten Adel mußte notwendig dem
Pharisäismus zugute kommen. So stellt sich also das Synedrium
der römischen Zeit als eine Mischung beider Faktoren
dar: des sadduzäisch gesinnten priesterlichen Adels und
der pharisäischen Schriftgelehrsamkeit Unter diesem Ge-
sichtspunkt werden auch | die überlieferten einzelnen Data zu be-
urteilen sein. — Nach der Mischna betrug die Zahl der Mit-
glieder 71, offenbar nach dem Vorbilde des Ältesten-Rates zur
Zeit Mosis (Num. 11, 16) 30. Aus den beiden Notizen Antt. XIV, 9, 4
(Herodes tötet beim Antritt seiner Regierung alle Mitglieder des
Synedriums) und Antt. XV, 1, 2 (er tötet die 45 Vornehmsten von
der Partei des Antigonus) könnte man geneigt sein zu schließen,
daß die Zahl der Mitglieder 45 betragen habe. Aber jenes jtavxaq
ist doch sicherlich nicht wörtlich zu nehmen. Andererseits dient
manches zur Bestätigung der Zahl 71. Die Kolonie babylonischer
Juden in Batanäa wurde durch 70 angesehene Männer vertreten81.
Als Josephus den Aufstand in Galiläa organisierte, bestellte er
70 Älteste zur Verwaltung von Galiläa32. Ebenso setzten die
Zeloten in Jerusalem nach Beseitigung der bisherigen Gewalten
ein Gericht, von 70 Mitgliedern ein33. Auch in Alexandria soll
30) Sanhedrin I, 6: „Das große Synedrium bestand ans 71 Mitgliedern".
Vgl. Sanhedrin I, 5. II, 4. — Auch Schebuoth II, 2 wird „das Synedrium von
71" erwähnt. — An einigen anderen Stellen ist von 72 Ältesten die Rede (Se-
baehim I, 3. Jadqjim III, 5. IV, 2). Aber diese gehören überhaupt nicht hier-
her. (An allen drei Stellen beruft sich R. Simon ben Asai auf Überlieferungen,
die er empfangen habe „aus dem Munde der 72 Altesten an dem Tage, als
sie den R. Eleasar ben Asarja zum Schulhaupte einsetzten". Es handelt sich
also hierbei gar nicht um das große Synedrium, sondern um die jüdische
Gelehrten -Akademie des zweiten Jahrhunderts. Vgl. auch Seiden, De syne-
driis II, 4, 10). Ebensowenig kommen hier in Betracht die angeblichen
72 Übersetzer des Alten Testamentes (6 aus jedem der 12 Stämme) e. Pseudo-
Aristeas ed. Wendland § 46-51.
31) B. J. II, 18, 6. Vita 11 (ed. Niese § 56).
32) B. J. II, 20, 5. — Wenn Kuenen (Verslagen en Mededeelingen X, 161
«=» Gesammelte Abhandlungen S. 74 f.) die Berufung auf diese Stelle durch
Hinweis auf die abweichende Darstellung Vita 14 entkräften will, so ist zu
antworten, daß die letztere eine absichtlich entstellte ist. Die Tatsache, daß
Josephus den Aufstand in Galiläa durch Einsetzung der 70 Ältesten organi-
siert hat, ist nämlich Vita 14 dahin entstellt, daß er die vornehmsten Galiläer
„ungefähr 70 an der Zahl" unter dem Vorwande der Freundschaft als Geiseln
verwahrt und nach ihrer Entscheidung die Rechts -Urteile gefallt habe.
33) B. J. IV, 5, 4. — Vgl. überh. Hody, De bibliorum textibus originale
bus p. 126—128. Jelski, Die innere Einrichtung des großen Synedrions zu
Jerusalem (1894) S. 19-21.
250 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [198. 199]
der Ältesten-Eat aus 71 Mitgliedern bestanden haben34. Diese
Zahl galt also als die Normalzahl für ein jüdisches Obergericht
Daher ist die Überlieferung der Mischna auch an sich durchaus
wahrscheinlich35. — über die Art der Ergänzung wissen wir
im Grunde gar nichts. Nach dem aristokratischen Charakter der
Korporation darf aber vorausgesetzt werden, daß die Mitglieder
nicht, wie bei den demokratischen Senaten der hellenistischen
Kommunen, jährlich wechselten und durchs Volk gewählt wurden,
son|dern auf länger, ja vielleicht auf Lebenszeit ihr angehörten
und entweder durch Kooptation gewählt oder etwa auch durch die
politischen Oberherren (Herodes und die Eömer) eingesetzt wurden.
Eine Ergänzung durch Kooptation setzt auch die Mischna voraus,
indem sie freilich in ihrer Art nur die rabbinische Gelehrsamkeit
des zu Wählenden als maßgebend für die Wahl betrachtet36. Jeden-
falls wird die eine Forderung des gesetzlichen Judentums: daß
nur Israeliten reinen Geblütes als Kriminalrichter zuzulassen seien,
auch beim großen Synedrium beobachtet worden sein37. Die Auf-
nahme geschah durch den Ritus der Handauflegung (HD^pp),
34) Tosepkta Sukka IV ed. Zuckermandel p. 198, 22 (vgl. jer. Sukka V, 1):
„71 goldene Stühle^ waren dort [in der großen Synagoge zu Alexandria], ent-
sprechend den 71 Altesten".
35) Über die Zahl 70 überh. s. außer Num. 11, 16 auch Jud. 9, 2 (70 Sohne
Jerubbaals), II Reg. 10, 1 (70 Söhne Ah abB). Steinschneider, Zeitscbr. der
DMG. Bd. IV, 1850, S. 145—170, und Nachtrag hierzu Bd. LVII, 1903,
S. 474-507.
36) Sanhedrin IV, 4: „Vor ihnen saßen drei Reihen von Gelehrten-
Schülern (D^ash *H*ain); jeder von ihnen kannte seinen Platz. War es nötig,
einen von ihnen zum Richter zu befördern, bo beförderte man einen aus der
ersten Reihe. Einer aus der zweiten Reihe ersetzte dann seine Stelle; und
einer aus der dritten rückte in die zweite vor. Dann wählte man einen aus
der Gemeinde und setzte ihn in die dritte Reihe. Der neu Aufgenommene trat
nicht an die Stelle des ersten, sondern an den ihm gebührenden Platz".
37) Daß das Synedrium eine exklusiv-jüdische Behörde war, ist im Grunde
selbstverständlich. Die Mischna fordert aber speziell vom Krimi nalrichter
den Nachweis reinen Geblütes, Sanhedrin IV, 2: „Jeder ist geeignet, in Zivil-
sachen Richter zu sein. In Kriminalsachen aber nur Priester, Leviten und
Israeliten, deren Töchter Priester heiraten dürfen" (d. h. solche,
die ihre legitim-israelitiBche Abkunft urkundlich nachweisen können, Deren-
bourg p. 453: les hraelites pourvus des conditions nicessaires pour coniracter
mariage avec le sacerdoce, nicht, wie Geiger, Urschrift S. 114, falsch über-
setzt: die mit dem Prieserstamme [tatsächlich] sich verschwägern). Die
Mischna setzt daher bei einem Synedrialmitglied die legitim-israelitische Ab-
kunft als anerkannt und keines weiteren Nachweises bedürftig voraus (Kiddu-
schin IV, 5). — Da in diesem Punkte die Tendenzen der Priesterschaft und
des Pharisäismus zusammentrafen, so ist auch seine tatsächliche Befolgung
wahrscheinlich.
[199. 200] III. Das große Synedrium zu Jerusalem. 2. Zusammensetzung.
nach Analogie der „Ordination" des Josua durch Moses (Num. 27,
18—23, Deut. 34, 9)88. — Über die einzelnen Kategorien der
Synedrial|mitgiieder haben wir ein sicheres Zeugnis an den
übereinstimmenden Angaben des Neuen Testamentes und des Jo-
sephus. Beide stimmen darin überein, daß die aQxtegeig die
eigentlich leitenden Persönlichkeiten waren. Fast überall,
wo im Neuen Testament die einzelnen Kategorien aufgezählt werden,
werden die aQxt&Q&q an erster Stelle genannt89. Als gleichbedeutend
wechselt damit der Ausdruck ol agxoprsg40. Dies letztere ist
38) Das verbum ^aö (die Hände auflegen) heißt in der Mischna so viel
als: zum Richter einsetzen (Sanhedrin IV, 4). Der Ritus ist also verhältnis-
mäßig sehr alt. Nach Deut. 34, 9 ist durch die Handauflegung eine Über-
tragung des Geistee von dem einen auf den andern vermittelt, dagegen Num.
27, 18—23 ist die Handauflegung deutlich nur Übertragung der Amts-
würde. Dies war sicherlich auch bei dem rabbinischen Brauch die herr-
schende Vorstellung. In der talmudischen Zeit ist der Ritus der Handauf-
legung bei der Ordination nicht mehr geübt worden. Möglicherweise hat zu
seiner Abschaffung gerade dies beigetragen, daß er inzwischen ein christlicher
Ritus geworden war. So Leop. Low, Bacher und Lauterbach in den unten
genannten Abhandlungen (Low, Gesammelte Schriften IV, 1898, S. 215 [vom
J. 1867]: „Da sich auch die christliche Kirche die Handauflegung aneignete,
gab die Synagoge diesen in der Schrift begründeten, seit Hillel allgemein ge-
wordenen Gebrauch auf). — Vgl. überhaupt über die rabbinische ttD'voö Bux-
torf} Lex. Chald. col. 1498 sq. Seiden, De synedriis n, 7. Vitringa, De synagoga
vetere p. 836$^. Carpxov, Apparatus p. 577 sq. Jo. Ghrph. Wolf, Ourae
philol. in Nov. Test, zu Act. 0, 6 und die hier zitierte Literatur (überhaupt die
Ausleger zu Act. 6, 6). Hamburger, Real-Enzyklop. für Bibel und Talmud,
IL Abt Art. „Ordinierung". Bacher, Zur Geschichte der Ordination (Monats-
schr. für Gesch. und Wissensch. d. Judent. Bd. 38, 1894, S. 122—127). Leop.
Low, Gesammelte Schriften Bd. IV, 1898, S. 215. Bd. V, 1900, S. 78—92.
Epstein, Ordination et Auiorisation (Revue des etudes juives t. XLVI, 1903,
p. 197 — 211) [nur über die „Automation" des Rab durch Rabbi]. Lauter -
bach, Art. Ordination in: The Jewish Encyclopedia vol. IX, 1905, p. 428— 430.
39) Es finden sich folgende Formeln: I. aQ%iSQsTq, ygafi^axBlq und noea-
fivreooi (oder die beiden letzten in umgekehrter Ordnung) Matth. 27, 41. Marc.
11, 27. 14, 43. 53. 15, 1. — II. aQxtSQetq und ygawaxeTq Matth. 2, 4. 20, 18.
21, 15. Marc. 10, 33. 11, 18. 14, 1. 15, 31. Luc. 22, 2. 22, 66. 23, 10. —
HI. dgxi^lq und nosaßvxBQOi Matth. 21, 23. 26, 3. 26, 47. 27, 1. 3. 12. 20.
28, 11—12. Act. 4, 23. 23, 14. 25, 15. — IV. ol cioxteoelq xal xb cw&qiov
dkov Matth. 26, 59. Marc. 14, 55. Act. 22, 30. — Überall also Btehen die
doxiepetq an erster Stelle. Die Fälle, in welchen sie nicht an erster Stelle
genannt sind (Matth. 16, 21 — Marc. 8, 31 — Luc. 9, 22; Luc. 20, 19) oder
ganz weggelassen sind (Matth. 26, 57. Act. 6, 12), sind sehr selten.
40) S. bes. Act. 4, 5 u. 8 (Sgxovxeq, TiQEoßvxEQoi u. yga/iftaxeiq) ver-
glichen mit 4, 23 (aox^QBZq u. itosoßvxeQoi). Ein paar mal werden aller-
dings auch ol &QXteQETq xal ol &QXovreq neben einander genannt (Luc. 23,13.
24, 20).
252 § 23. Verfassung. Synedrinm. Hohepriester. [200. 201]
namentlich auch bei Josephus der Fall, der die obersten Gewalten
von Jerusalem entweder so bezeichnet, daß er die aQxisQBig mit
den öwazoiq, yvcoQlfioig und der ßovXjj zusammenstellt41, oder so,
daß er statt des ersteren Ausdrucks die Bezeichnung agxovxsq
wählt42, niemals aber so, daß die agx^gelq noch neben den ag-
Xovzeg genannt werden. Sehr häufig erscheinen dagegen die dg-
XisQslq allein als die leitenden Persönlichkeiten48. So schwierig
es nun auch ist, diesen Begriff genauer zu präzisieren (s. darüber
unten Nr. IV), so kann darüber doch kein Zweifel sein, daß sie
die Vornehmsten der Priesterschaft waren. In ihrer Hand lag also
noch immer die Leitung der Geschäfte. Neben ihnen hatten aber
auch die Yga(i(ia\retgf die Gesetzeskundigen von Fach,
sicher einen großen Einfluß im Synedrium. Diejenigen Beisitzer,
die unter keine dieser beiden speziellen Kategorien gehörten, hießen
einfach jcgsoßvregoi, welche allgemeine Bezeichnung sowohl
priesterliche als nichtpriesterliche Mitglieder in sich befassen kann
(über diese beiden Kategorien s. die in Anm. 39 zitierten Stellen
des Neuen Testamentes). — Da die aQx^sgelg vorwiegend, wo nicht
ausschließlich, der sadduzäischen Richtung angehörten44, die YQap-
fiazeig aber ebenso vorwiegend der pharisäischen, so ist schon mit
dem Bisherigen gegeben, daß sowohl Sadduzäer als Pharisäer
im Synedrium saßen (nämlich während der römisch-herodianischen
Zeit, aus der wir allein genauere Nachrichten haben). Dies wird
auch durch das ausdrückliche Zeugnis des Neuen Testamentes und
des Josephus bestätigt45. Den tatsächlich größten Einfluß
hatten während dieser Zeit bereits die Pharisäer, deren
Forderungen die Sadduzäer, wenn auch widerwillig, sich fügten,
„weil sonst das Volk sie nicht ertragen hätte"46. Diese Äußerung
41) B. J. II, 14, 8: o? xe &Qxi>eQeXq xal öwaxol xd xe yvwQtfiwxaxov
xfjq n6Xe<aq. — B. J. II, 15, 2: ol öwaxol ovv xolq tiLQXieoevoi. — B. J. II,
15, 3: xovq xe ägziegetg ow xolq yvwglftoiq. — B.J. II, 15, 6: xoiiq xe &g*
X^^gelq xal x%v ßovXtfv. — B. J. II, 16, 2: o? xe aQX^eQeXq afxa xolq öwa-
xotq xalfj ßovXrf. — B. J. II, 17, 2: xihv xe &qxi6Q&wv xa^ x^v YVWQlfwv. —
B, J. II, 17, 3: ol öwaxol xolq doxieoevoiv xal xotq xwv <Paoioala)v yvwol-
fjLOiq. — Ä J. II, 17, 5: ol Öwaxol oi>v xotq aQxieoevoi. — B. J. II, 17, 6:
xibv öwaxtbv xal xCbv agxieoiwv.
42) B. J. II, 16, 1: ol xCbv %qocoXv(jio>v &gxovxeq. — B.J. II, 17, 1: o?
xe &Qxovxeq xal ol ßovXevxal. — B. J. II, 17, 1: xovq cep^ovras 8f*a xotq
öwatoXq. — B. J. II, 21, 7: ol öwaxol xal x(bv aQ%6vx(ov xiviq.
43) Z. B. B. J. n, 15, 3. 4. 16, 3. V, 1, 5. VI, 9, 3.
44) Äetor. 5, 17. Joseph. Äntt. XX, 9, 1.
45) Sadduzäer: Actor. 4, lff. 5, 17. 23, 6. Joseph. Antt. XX, 9, 1. Pha-
risäer: Actor. 5, 34. 23, 6. Vgl. Joseph. B. J. II, 17, 3. Vita 38. 39.
46) Antt. XVIII, 1, 4: önöxe yao &t' ägzciq Ttao&boiev, dxovolatq ftkv
[201. 202] III. Das große Synedrium zu Jerusalem. 2. Zusammensetzung. 253
des Josephus läßt uns einen tiefen Blick in die Verhältnisse ton:
das formell unter der Leitung der sadduzäischen Hohenpriester
stehende Synedrium steht faktisch bereits unter dem übermäch-
tigen Einfluß des Pharisäismus47.
Auf die Existenz einer der hellenistisch-römischen Zeit eigen-
tümlichen Organisation darf vielleicht eine gelegentliche Notiz des
Josephus gedeutet werden. Als nämlich einst wegen einer Bau-
veränderung im Tempel zu Jerusalem zwischen den jüdischen Be-
hörden und dem Prokurator Festus Differenzen entstanden waren,
sandten die Juden mit Bewilligung des Festus „die zehn Ersten
und den Hohenpriester Ismael und den Schatzmeister Helkias" als
Gesandte an Nero (Äntt. XX, -8, 11: rovg jtQcorovg öixa xal 7<j-
fidrjkov tbv aQyuQia xal KEXxlav xbv ya&gwlaxa). Wenn hier
unter den üiq&xoi öixa nicht nur im allgemeinen die zehn An-
gesehensten zu verstehen sind, sondern Männer von einer bestimm-
ten amtlichen Stellung, so würden wir darin den in den helle-
nistischen Kommunen | so häufig vorkommenden Ausschuß der
6ixa jtQ&Toi zu erblicken haben, der z.B. auch in der Verfassung
von Gerasa und Tiberias sicher nachweisbar ist (s. oben S. 182, 2 18 f.).
Es läge damit ein charakteristischer Beweis vor, wie in der da-
maligen Organisation des Synedriums sich jüdische und hellenistisch-
römische Einflösse durchkreuzten 48. — Ein weiteres Symptom hier*
für ist die in der Mischna (Joma 1, 1) erwähnte Tmnbfc rötDb oder
ntnfi rDfcb 49. Diese rDfcb war ein Saal oder Zimmer im äußeren
Tempel vorhof (vgl. den Zusammenhang Joma I, 5), wo der Hohe-
priester während der letzten sieben Tage vor dem Versöhnungs-
tage sich aufhalten sollte. Da auf dem zweisprachigen Zolltarif
von Palmyra »nTnnbM parallel steht mit ijtl jzqoböqov (s. oben
xal xax* äv&yxaq, nQOOx<aQovoi 6y oiv olq 6 <PaQioaloQ X&yei, öiä xd p$i aXXayq
avBxxohq yevia&ai xoiq nXföeoiv.
47) Nach dem Obigen ist die im N. T. öfters vorkommende Verbindung
der JßC<€?€ Xq und <PapcoaZoi (Matth. 21, 45. 27, 62. Joh. 7, 32. 45. 11, 47. 57.
18, 3) den Verhältnissen ganz entsprechend. Sie findet sich überdies auch bei
Josephus, B. J. II, 17, 3: aweX&övxeq ovv ol öwaxol xolq agx^eQevaiv slq
xabxö xal xolq xCbv <PaQioaLmv yv&Qipoiq. Vgl. auch Vita 38. 39.
48) Auch in altphönizischen Städten kommen „zehn Erste" vor, so in
Karthago (Justin. XVIII, 6, 1: decem Poenorum prineipibus) und Marathus
(Diodor. XXXIII, 5, 2: xwv nQEOßvxdxcw xoiq htupaveoxaxovq naQa xovxoiq
öixa)f vgl. Gutschmid, Kleine Schriften II, 72. Doch dürfte diese Parallele
weniger nahe liegen als die öixa npwxoi der hellenistischen Städte, die wir in
Gerasa und Tiberias Bicher konstatieren können. Auch auf dem zweisprach-
igen Zolltarif von Palmyra kommen die 6£xa nQibxoi der Stadt vor (col. I lin. 8).
S. die Literatur oben S. 73 und Bd. I, S. 475.
49) Letzteres ist die vom cod. de Rossi 138 gebotene korrektere Form.
254 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [202]
S. 60), so wird auch hier "pTjnbfc = jtqosöqoi sein, und man darf
in dem Gebrauch dieses terminus technicus, wie in Palmyra, einen
Beweis griechischer Einwirkung auf die Organisation des Syne-
driums erblicken50. Wenn es richtig ist, daß derselbe Saal auch
■püYftin toth „Saal der ßovtevral" hieß51, so würde dies nur zur
Bestätigung unserer Annahme griechischen Einflusses dienen: xqo-
göqoi ist der engere Begriff, ßovXevxal der weitere. Der Saal müßte
bald nach diesen , bald nach jenen benannt worden sein. Doch
vgl. unten Anm. 89. — Endlich ist noch zu erwähnen, daß der
Sekretär der Behörde bei Josephus ganz nach griechischer Weise
6 YQafifiarsvg rffq ßovlrjq heißt52.
Über die Person des Vorsitzenden haben auf Grund der
jüdischen Tradition auch bei christlichen Gelehrten bis in die
neueste Zeit hinein#die denkbar verkehrtesten Ansichten geherrscht
Die spätere jüdische Tradition, die überhaupt in dem Syne-
drium nur ein Kollegium von Schriftgelehrten sieht, setzt nämlich
voraus, daß die pharisäischen Schulhäupter regelmäßig
auch Präsidenten des Synedriums gewesen seien. Diese Schul-
häupter werden in der Mischna, Traktat Aboth c. I, aufgezählt, und
zwar für die ältere Zeit, etwa von der Mitte des zweiten Jahr-
hunderts vor Chr. bis um die Zeit Christi, paarweise (s. unten
§ 25); und es wird nun, zwar nicht im Traktat Aboth, wohl aber
an einer anderen Stelle der Mischna behauptet, daß immer der
Erste eines Paares Nasi (fcfnpj), der Zweite Ab-beth~din (na
■p*} ma) gewesen sei, d. h. nach dem späteren Gebrauch dieser
beiden Titel: Präsident und Vizepräsident des Synedriums53. Auch
50) Ober die noöeÖQOi in den griechischen Kommunen s. Gilbert, Hand-
buch der griech. Staatsaltertümer (2 Bde. 1881 — 1885) passim, und die Lexika.
Sie kommen auch in den hellenistischen Städten Palästinas und Syriens häufig
vor, z.B. in Gerasa (s. oben S. 182), Bostra (Waddington, Inscr. de la Syrie
n. 1907), Philippopolis in Batanäa (Waddington, Inscr. n. 2072), Kanatha
(Waddington n. 2341), Adraa (ßrünnow, Mitt. und Nachr. des DPV. 1897,
S. 40 und 1899, S. 58 — Inscr. gr. ad res rom. pertinentes U III ed. Gagnat
n. 1286 u. 1287).
51) Tosephta Joma I, 1 , jer. Joma I, 38 o, bab. JomaSK Levy, Neuhebr.
Wörterb. I, 199. IV, 103. Büchler, Das Synedrion S. 25.
52) Bell. Jud. V, 13, 1. Über den ygafifiazeijg xfjq ßovXrjq in den griechi-
schen Kommunen s. Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche
(1900) S. 289. 551.
53) Ohagiga II, 2: „Jose ben Joeser sagt, man dürfe nicht auf die Fest-
opfer die Hände auflegen, Jose ben Jochanan gestattet es. Josua ben Pe-
rachja entschied verneinend, Nittai (oder Mattai) aus Arbela bejahend.
Juda ben Tabbai verneinend, Simon ben Schetach bejahend. Schemaja
bejahend, Abtaljon verneinend. Hillel und Menachem waren nicht ge-
teilter Meinung; als Menachem ausschied und Schammai eintrat, erklärte
[202. 203] in. Das große Synedrium zu Jerusalem. 2. Zusammensetzung. 255
die auf jene „Paare*4 | folgenden Schulhäupter, namentlich Gama-
liel I. und dessen Sohn Simon, werden von der späteren Tradition
zu Präsidenten des Synedriums gemacht. Von alledem ist nun
schlechterdings nichts historisch54. Nach dem einstimmigen
Zeugnis des Josephus und des Neuen Testamentes war
vielmehr stets der Hohepriester Haupt und Vorsitzender
des Synedriums. Im allgemeinen folgt dies schon aus der Natur
der Dinge. Seit Beginn der griechischen Zeit war stets der Hohe-
priester zugleich Staatsoberhaupt. Ebenso waren die hasmonäischen
Hohenpriester zugleich Fürsten, ja Könige. Für die römische Zeit
bezeugt Josephus ausdrücklich, daß die Hohenpriester auch in poli-
tischer Hinsicht an der Spitze des Volkes standen (Antt. XX, 10 fin.:
xi]V nQOOxaClav rov ifrvovq ol aQXiBQe?$ ijisjtlörevpto). In
seinen theoretischen Darstellungen der jüdischen Verfassung schil-
dert er den Hohenpriester stets als den obersten Richter (Apion.
II, 23: Der Hohepriester <pvXdt*ei tovq vofiovg, öixaösi xegl tc5j>
eich Schammai verneinend, Hillel bejahend. Von diesen Männern waren
immer die ersten Vorsitzer und die anderen Gerichtsoberhäupter
(•pn rva rm» Dnb D*3itrt ta^tti Wi tWHD&nn)". — Eine ernsthafte Unter-
suchung über die* „Kontroverse" dieser Synedrialhäupter hat Sidon angestellt
(Gedenkbuch zur Erinnerung an David Kaufmann, herausg. von Brann und
Eosenthai 1900, 8. 355—364).
64) Vgl. Kuenen a. a. O. p. 141—147 =* Gesammelte Abhandlungen
8. 56—61; meine Abhandlung in den Studien und Kritiken 1872, 8.614— 619;
Wellhausen, Pharisäer und Sadducäer 8. 29 — 43. Neuerdings beginnen
auch jüdische Gelehrte das Richtige einzusehen. 8. bes. Isidore Loeb, Notes
sur le chapitre I«r des Pirki Abot (Bevue des itudes juives t XIX, 1889,
p. 188 — 201). Der s., La chaine de la tradüion dans le premier chapitre des
Pirki Abot (Bibliotheque de Vbcole des hautes Ündes, Sciences religieuses, vol. I,
1889, p. 307—322, dazu TheoL Litztg. 1891, 91). Sack, Die altjüdische Re-
ligion im Übergange vom Bibeltume zum Talmudismus, Berlin 1889, S. 398 f.
Im wesentlichen das Richtige auch bei Bacher, Art Sanhedrin in: Hostings7
Dictionary of the Bible IV, 1902, der aber doch auch den rabbinischen Schul-
häuptern eine leitende Stellung neben dem Hohenpriester zuschreibt (p. 400b,
401a). — Aus älterer Zeit ist namentlich zu nennen Menschen, Nov. Test, ex
Taimude Ulustratum p. 1184 sq., der bereits richtig erkannt hat, daß stets der
Hohepriester Vorsitzender des Synedriums war. — Eine vermittelnde Ansicht
hat Jelski aufgestellt (Die innere Einrichtung des großen Synedrions zu Jeru-
salem 1894, 8. 22—81). Er meint (8. 81): „Während der Tempel bestand,
waren an der Spitze der höchsten Behörde zwei Vorsitzende: das politische
Oberhaupt, der Nasi, war stets der Hohepriester; das religiöse, richter-
liche und legislatorische Oberhaupt war, soweit die Nachrichten der
Quellen reichen, stets ein pharisäischer Schriftgelehrter". Der Beweis für
diese These ist m. E. trotz alles aufgewandten Fleißes nicht erbracht — Über
Büchler, Houtsma und Lauterbach, welche verschiedene Behörden
unterscheiden, s. oben S. 246 f.
256 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [203. 204]
äfKpiößrjtovfiivcop, xoXaöec tovg iXeyxO-^rag kx adlxcp. Antt. IV,
8, 14: Moses verordnete, wenn Ortsgerichte eine Frage nicht ent-
scheiden können, so sollen sie nach Jerusalem kommen, xal avveX-
ftovreg o T€ aQXt*Q£v$ xal 6 JtQoq>rjxriq xal fj yeQovöla rb doxovv
azioyaiviöd-aHSav). Schon hiernach ist vorauszusetzen, daß der
Hohepriester den Vorsitz im Synedrium führte. Aber wir haben
dafür auch die be| stimmtesten Zeugnisse. Schon in dem Volks-
beschlusse, durch welchen das Hohepriestertum und Fürstentum
in der Familie Simons des Makkabäers für erblich erklärt wurde,
wurde festgesetzt, daß es niemandem erlaubt sei, „seinen Befehlen
zu widersprechen und ohne ihn eine Versammlung im Lande zu-
sammen zu berufen" 55. In den wenigen Fällen, wo Josephus über-
haupt Synedriaisitzungen erwähnt, finden wir stets den Hohen-
priester als Vorsitzenden. So im Jahre 47 vor Chr. Hyrkan IL66,
im Jahre 62 nach Chr. den jüngeren Ananos57. Ebenso erscheint
im Neuen Testamente durchweg der aQxisQsvg an der Spitze {Actor.
5, 17 ff. 7, 1. 9, 1. 2. 22, 5. 23, 2. 4. 24, 1) &8. Wo Namen genannt
werden, ist es der fungierende Hohepriester, weicher den Vorsitz
führt. So Kaiaphas zur Zeit Christi (Matth. 26, 3. 57), Ananias
zur Zeit des Apostels Paulus {Actor. 23, 2. 24, 1), beide, wie wir
aus Josephus wissen, die zu jenen Zeiten im Amt befindlichen
Hohenpriester. Das Verhör Jesu vor Annas (Joh. 18), der aller-
dings damals nicht mehr fungierender Hoherpriester war, ist kein
Gegengrund. Denn es handelt sich dabei lediglich um ein Privat-
verhör. Ebensowenig kommt in Betracht, daß der jüngere Ananos
(oder Annas) zur Zeit des Krieges, als er längst abgesetzt war 59,
an der Spitze der Geschäfte erscheint60. Denn es beruhte dies
auf einem speziellen Volksbeschlusse beim Ausbruch der Revolu-
tion61. Die einzige Stelle, welche gegen unsere Ansicht geltend
gemacht werden könnte, ist Act. 4, 6, wo Annas (der nicht mehr
im Amt befindliche Hohepriester) an der Spitze des Synedriums
erwähnt wird. Es verhält sich aber mit ihr nicht anders als mit
der parallelen Stelle Luc. 3, 2. An beiden Stellen wird Annas in
55) I Makk. 14, 44: avxei7telv xotq in* ahxov $rjB-ri<jop£voi$ xal imov-
ciQixpai avavQO^v iv xy X&Qa &vw abcov.
56) Antt. XIV, 9, 3—5.
57) Antt. XX, 9, 1.
58) Gegen die seltsame Meinung von Wieseler, daß der Vorsitzende des
Synedriums als solcher, auch wenn er nicht Hoherpriester war, den Titel
tLQXiBQevq geführt habe, s. Stud. und Krit. 1872, S. 623—631.
59) Antt. XX, 9, 1.
60) B. J. II, 20, 3. 22, 1. IV, 3, 7 bis 5, 2. Vita 38. 39. 44. 60.
61) B. J. II, 20, 3.
[204. 205] HL Das große Synedrium zu Jerusalem. 2. Zusammensetzung. 257
solcher Weise vor Kaiaphas genannt, als ob er der wirklich fun-
gierende Hohepriester gewesen wäre, was er doch sicher nicht
mehr war. So wenig man also aus Luc. 3, 2 schließen darf, daß
er dies noch gewesen, so wenig ist aus Act. 4, 6 zu folgern, daß
er Präsident des Synedriums war, was im Widerspruch mit Matth.
26, 57—66 stehen würde. Vielmehr liegt in beiden Fällen eine
Ungenauigkeit der Darstellung vor. Mit unserer Voraussetzung,
daß der Hohepriester Vorsitzender (xQoeÖQog) war, steht in Ein-
klang die Überlieferung, daß er während der letzten sieben Tage
vor dem Versöhnungstage sich in dem Saal oder Zimmer der xqo-
eögot (■p-nmfc) aufzuhalten hatte (s. oben S. 253). Dies war eben
sein Amtszimmer im Unterschied von seiner Privatwohnung. —
Daß die von der rabbinischen Tradition genannten Männer nicht
Synedrialpräsidenten | waren, erhellt auch noch daraus, daß die-
selben Männer, wo sie gelegentlich bei Josephus und im Neuen
Testamente erwähnt werden, stets als einfache Beisitzer des Syne-
driums erscheinen. So Schemaja (Sameas) zur Zeit Hyrkans ILe2,
Gamaliel I. zur Zeit der Apostel (Act. 5, 34, vgl. Vers 27), Simon
ben Gamaliel zur Zeit des jüdischen Krieges63,
Die in Rede stehende jüdische Tradition widerspricht also
allen sicheren geschichtlichen Tatsachen, Sie ist aber auch selbst
erst sehr späten Ursprungs und gehört wahrscheinlich noch nicht
einmal dem Zeitalter der Mischna an. Die eine Stelle in der
Mischna, an welcher sie sich findet (Chagiga II, 2), steht ganz iso-
liert da. Überall sonst werden die genannten Schulhäupter in der
Mischna eben nur als Schulhäupter erwähnt Es ist daher sehr
wahrscheinlich, daß jene Stelle erst später in den Mischnatext ge-
kommen ist64. — Auch die Titel Nasi und Ab-beth-din für den
Präsidenten und Vizepräsidenten sind, wenn nicht alles trügt, dem
Zeitalter der Mischna noch fremd. Beide Urmini kommen zwar
62) Antt. XIV, 9, 3-5.
63) Vita 38. 39.
64) Spätere Einschaltungen im Misch na-Text lassen sich auch sonst kon-
statieren, z. B. Aboth V, 21« In manchen Handschriften und Ausgaben ist der
Mischna-Text Sota IX, 15 aus dem jerusalemischen Talmud erweitert Man
könnte daher vermuten, daß auch Chagiga II, 2 erst aus dem jerusalemischen
Talmud in den Mischna-Text übergegangen ist. Doch ist zu beachten, daß
sich eine kürzere Fassung derselben Stelle, ohne Nennung der einzelnen Na-
men, auch in der Tosephta findet (Ibsephta Chagiga II, 8 ed. Zuckermandel
p. 234, 27 — 235, 3). — Jelski (Die innere Einrichtung des großen Synedrions
zu Jerusalem S. 37—42) hält zwar nicht die ganze Mischna- Stelle, aber doch
die entscheidenden Worte („Je die ersten waren Vorsitzer und die anderen
Gerichtsoberhäupter") für interpoliert, indem er anerkennt, daß sie in der
Mischna völlig isoliert dastehen.
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 17
258 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [205. 206]
in der Mischna vor65. Aber unter Nasi ist überall der wirkliche
Fürst des Volkes, speziell der König zu verstehen, wie einmal
ausdrücklich erklärt wird66. Und unter dem Ab-beth-din ist nach
der Wortbedeutung schwerlich etwas anderes als der Vorsitzende
des obersten Gerichtshofes (also des Synedriums) zu verstehen. In
derselben Bedeutung kommt daneben auch der Titel Bosch-beth-din
vor67. Erst das nachmischnische Zeitalter hat die Titel Nasi und
Ab-bdh-dm gleichsam um einen Grad herabgesetzt und sie auf den |
Präsidenten und Vizepräsidenten übertragen68. — Der sogenannte
*6dw endlich, der bei jüdischen und christlichen Gelehrten auf
Grund einiger talmudischen Stellen auch häufig als ein besonderer
Beamter des Gerichtes erwähnt wird, ist überhaupt kein solcher,
sondern einfach das „hervorragendste" d. h. gesetzeskundigste Mit-
glied desselben69.
Für das Zeitalter Christi wird es nach alledem feststehen,
daß stets der fungierende Hohepriester, und zwar als
solcher, den Vorsitz führte.
3. Kompetenz. Hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung der
Kompetenz ist schon oben (S. 236) bemerkt worden, daß die bür-
gerliche Gewalt des großen Synedriums im Zeitalter Christi auf
die 11 Toparchien des eigentlichen Judäa beschränkt war. Das
Synedrium hatte daher auch über Jesus Christus keine richterliche
Gewalt, solange er in Galiläa verweilte. Erst in Judäa stand
er direkt unter dessen Jurisdiktion. In gewissem Sinne übte frei-
lich das Synedrium eine solche über alle jüdischen Gemeinden in
der ganzen Welt, und in diesem Sinne auch über Galiläa. Seine
Anordnungen wurden in dem ganzen Bereiche des orthodoxen
Judentums als verbindlich anerkannt. Es konnte z. B. an die Ge-
65) vetou Taantth H, 1. Nedarim V, 5. Horajoth H, 5-7. III, 1—3, u.
sonst. — T^n^a 3K: Taanüh II, 1. Edujoth V, 6.
66) Horajoth III, 3.
67) Bosch haschana II, 7. IV, 4.
68) Der erste rabbinische Synedrialpräsident, dem der Titel Nasi bei-
gelegt wird, ist K. Juda, der Redakteur der Mischna, Ende des 2. Jahrh«
nach Chr. (Aboth II, 2). Von den Eabbinen, welche vor E. Juda dieselbe
Stellung bekleideten, wird noch keiner Nasi genannt (abgesehen von Ghagiga
II, 2). Man kann also annehmen, daß der Titel gegen Ende des mischnischen
Zeitalters aufkam.
69) Der Ausdruck *pl n^a bv gb&itt kommt in der Mischna nur einmal
vor, Horajoth I, 4. Es wird dort bestimmt, was zu geschehen habe, wenn das
Gericht eine irrige Entscheidung getroffen hat, ohne daß der y+i n*a bü »iBTQ,
d. h. das ausgezeichnetste hervorragendste Mitglied des Kollegiums, dabei war.
Vgl über die Bedeutung von «iBTO Buxtorf Lex. coL 1729 sq. Levy, Neu«
hebr. Wörterb. s. t>.
[206. 207] HL Das große Synedrium zu Jerusalem. 3. Kompetenz. 25g
meinden in Damaskus Befehle zur Verhaftung der dortigen Christen
erlassen (Actor.9, 2. 22, 5. 26, 12). Aber dabei hing es doch überall
von dem guten Willen der jüdischen Gemeinden ab, wie weit sie
den Weisungen des Synedriums Folge leisten wollten. Direkte
Gewalt hatte es nur innerhalb des eigentlichen Judäas70. — Der
sachliche | Umfang seiner Kompetenz wird möglichst verkehrt be-
stimmt, wenn man sagt, es sei die geistliche oder theologische
Behörde gewesen im Gegensatz zur weltlichen Obrigkeit der
Römer. Das richtige ist vielmehr, daß es im Gegensatz zur
Fremdherrschaft der Römer die höchste einheimische Behörde
war, welche die Römer wie fast überall hatten fortbestehen lassen,
nur mit gewissen Einschränkungen der Kompetenz. Vor sein
Forum gehörten also alle richterlichen Entscheidungen
und alle Verwaltungsmaßregeln, die nicht entweder den
Lokalgerichten niedrigeren Ranges zustanden, oder vom
römischen Prokurator für sich waren vorbehalten wor-
den. — Vor allem war es die höchste Instanz zur Entscheidung
gesetzlicher Fragen, aber nicht in dem Sinne, daß man von den
niedrigeren Gerichten an dieses höhere hätte appellieren können,
sondern in dem, daß es überall da einzutreten hatte, wo die niedri-
geren Gerichte sich nicht einigen konnten71. Hatte es einmal eine
70) Oskar Hol tz mann, Studien zur Apostelgeschichte, 3 (Zeitschr. für
Kirchengesch. Bd. XIV, 1894, S. 495—502) nimmt freilich an, daß „der jü-
dische Hohepriester und das Jerusalemer Synedrium eine im ganzen Ge-
biete des römischen Reiches öffentlich anerkannte Befugnis der Juris-
diktion über sämtliche Juden hatte" (S. 499); und zwar soll dies gelten
vom J. 139 vor Chr. bis zur Zeit des Paulus. Beweise: I Makk. 15, 21 und
das Dekret Cäsars Antt. XIV, 10, 2 fin. Hierbei ist viererlei übersehen:
1) daß der römische Senat, wenn er einst im J. 139 v. Chr. von den aus-
wärtigen Königen und Staaten die Auslieferung jüdischer Verbrecher (Xoiptol)
an den jüdischen Hohenpriester gefordert hat (I Makk. 15, 21), selbstverständ-
lich nicht auch sich zum Gleichen verpflichtet hat, daß also diese Anordnung
gerade für das „Gebiet des römischen Reiches" nicht nachweisbar ist; 2) daß
die Auslieferung flüchtiger Verbrecher, die von Palästina nach auswärts ge-
kommen waren, etwas wesentlich anderes ist als die Jurisdiktion über die in
der Diaspora wohnenden Juden; 3) daß das Dekret Cäsars Antt. XIV, 10, 2 fin.
sich nur auf die Verhältnisse Judäas bezieht; 4) daß beide Anordnungen durch
den inzwischen eingetretenen vielfachen Wechsel der politischen Dinge zur
Zeit Christi längst außer Kraft gesetzt waren. Mit etwas mehr Recht als auf
jene beiden Stellen hätte Holtzmann sich auf Bell. Jud. I, 24, 2 berufen können,
wo behauptet wird, Herodes habe das Recht gehabt, die vor ihm Geflohenen
auch ans einer ihm nicht gehörigen Stadt abführen zu lassen (ohöevl ycep
ßaoiXtwv roaavxijv Kataag iö<oxB zifttfv, wäre xbv in* abtoti (pevyovxa xal
fx9f 7iQo<jTjxovor]<; nöXeox; i£ayayelv). Auch dies aber war, wenn es überhaupt
richtig ist, nur eine dem Herodes speziell zugestandene Befugnis.
71) Antt. IV, 8, 14 fin. Sanhedrin XI, 2 (s. die Stelle oben S. 236).
17*
260 § 23. Verfassung, Synedrium. Hohepriester. [207. £08]
Entscheidung getroffen, so waren die Beisitzer aller Ortsgerichte
bei Todesstrafe verpflichtet, sich daran zu halten 72. Im einzelnen
hat die Theorie der Schriftgelehrten namentlich folgende Fälle
aufgestellt, die zur Kompetenz des höchsten Gerichtshofes gehören:
„Man darf einen Stamm (wegen Götzendienstes), einen falschen
Propheten und einen Hohenpriester nur vor dem Gerichte von 71
richten« Man darf einen willkürlichen Krieg nur nach Entschei-
dung des Gerichtes von 71 anfangen. Man darf die Stadt (Jeru-
salem) oder die Tempelvorhöfe nur nach Entscheidung des Ge-
richtes von 71 erweitern. Obergerichte für die Stämme darf man
nur auf Befehl des Gerichtes von 71 einsetzen. Eine zum Götzen-
dienst verleitete Stadt darf nur | durch das Gericht von 71 ge-
richtet werden" 7S. Der Hohepriester kann also durch das Syne-
drium gerichtet werden74; der König dagegen steht nicht unter
seinem Urteilsspruch, wie er auch nicht Beisitzer sein kann 75. All
diesen Bestimmungen sieht man es freilich an, daß sie rein theo-
retisch sind, nicht Ausdruck realer Verhältnisse, sondern nur
fromme Wünsche der Mischnalehrer. Mehr Wert hat, was wir
aus dem Neuen Testamente entnehmen können. Wir wissen, daß
Jesus vor dem Synedrium stand wegen Gotteslästerung (Aß. 26, 65.
Joh. 19, 7), Petrus und Johannes als Pseudopropheten und Volks-
verführer (Ad. 4 und 5), Stephanus als Gotteslästerer {Act. 6, 13 ff.),
Paulus wegen Gesetzesübertretung (Act. 23) 76.
Von speziellem Interesse ist die Frage, inwieweit die Kompe-
tenz des Synedriums durch den römischen Prokurator beschränkt
war77. Obwohl Judäa zur Zeit der Prokuratoren keine autonome,
72) Sanhedrin XI, 2.
73) Sanhedrin I, 5. Vgl. Sanhedrin II, 4: „Wenn der König zu einem
freiwilligen Kriege ausziehen will, so kann es nur nach Beschluß des Rates
der 71 geschehen".
74) S. auch Sanhedrin II, 1.
75) Sanhedrin II, 2.
76) Die Zusammenstellung nach Win er BWß. II, 552.
77) Vgl. hierüber: Bynaeus, De morte Jesu Christi III, 1, 9 — 14. —
Deyling, De Judaeorum jure gladii tempore Christi, ad Joh. 18, 31 (Observa-
tiones sacrae P. II, 1737, p. 414r-428; auch in Ugolinis Thesaurus T. XXVI).
— Iken, De jure vitae et necis tempore mortis Servatoris apud Judaeos non
amplius superstite ad Joh. 18, 31 (in dessen Dissertatt. philol.-theoL II, 517 — 572).
— A. ßalth. v. Walther, Juristisch- historische Betrachtungen über die Ge-
schichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi etc., Breslau 1777, S. 142 — 168
(letzteres kenne ich nur aus dem Zitat bei Lücke, Kommentar über das Ev.
Joh. II, 736; noch mehr ältere Literatur s. bei Wolf, Curae philoL in Nov.
Test, zu Joh. 18, 31). — Win er RWB. II, 553. — Leyrer in Herzogs ßeal-
Enz. 1. Aufl. XV, 320—322. — Döllinger, Christentum und Kirche in der
Zeit der Grundlegung (2. Aufl. 1868) S. 456—460. — Langen in der Tüb.
[206. 209] III. Das große Synedrium zu Jerusalem. 3. Kompetenz. 26 f
sondern eine untertänige Gemeinde war (über den Unterschied
beider s. oben S. 104, vgl. auch § 17c), so genoß das Synedrium doch
noch eine verhältnismäßig große Selbständigkeit. Es übte nicht
nur die Zivilrechtspflege nach jüdischem Recht aus (was selbst-
verständlich ist, denn ohne solche Befugnis ist ein jüdisches Ge-
richt gar nicht denkbar), sondern es war auch an der Kriminal-
rechts|pflege in erheblichem Maße mitbeteiligt Es hatte selbständige
Polizeigewalt, also das Recht, durch seine eigenen Organe Ver-
haftungen vornehmen zu lassen (Ev. Matth. 26, 47. Marc. 14, 43.
Actor. 4, 3. 5, 17—18) 78. Es konnte auch solche Fälle, die nicht
mit Todesstrafe bedroht waren, selbständig aburteilen {Actor. 4,
5—23. 5, 21—40). Nur wo es sich um die Todesstrafe handelte»
bedurfte sein Urteil der Bestätigung des Prokurators. Dies wird
nicht nur im Johannesevangelium von den Juden ausdrücklich ge-
sagt (Joh. 18, 31: ffuZv ovx l&ctiv axoxxslvai ovöivci), sondern es
geht auch aus der Geschichte der Verurteilung Jesu, wie sie die
Synoptiker erzählen, mit Sicherheit hervor. Auch in der jüdischen
Tradition hat sich daran noch eine Erinnerung erhalten79. Der
Prokurator konnte dabei nach freiem Ermessen den Maßstab des
jüdischen oder des römischen Rechtes anlegen. Für einen spe-
ziellen Fall war den Juden das Zugeständnis gemacht
worden, daß selbst gegen römische Bürger nach dem Maß«
Theol. Quartalschr. 1862, S. 411—463. — Mommsen, Römisches Strafrecht,
1899, S. 240. Ders., Die Pilatus-Akten (Zeitschr. f. die Neutestament 1. Wis-
sensch. III, 1902, 8. 198—205). — Rosadi, II processo di Qesü, Florenz 1904
(441 8.) [sucht zu zeigen, daß bei der Verurteilung Jesu alles tumultuarisch
zuging, s. die Anz. von Holtzmann, Deutsche Litztg. 19C4, Nr. 48, coL 2912].
— Über die Gerichtsverfassung in den römischen Provinzen überhaupt s.
Geib, Gesch. des römischen Kriminalprozesses (1842), 8. 471— 486. Rudorff,
Römische Rechtsgeschichte Bd. II, bes. 8. 12 u. 345. — Über den Fortbestand
der einheimischen Rechtspflege auch in den untertanigen Gemeinden s. bes.
Mommsen, Römisches Staatsrecht III, 1, 744 ff. Mitteis, Reichsrecht und
Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs (1891)
S. 90 ff. Vgl. auch oben § 17c (I, 480—482).
78) Die Verhaftung Jesu erfolgte nach Mt. 26, 47 « Marc. 14, 43 durch
die jüdische Polizei. Nur der vierte Evangelist scheint vorauszusetzen, daß
es ein römischer Tribun mit seiner Kohorte war, der Jesum gefangen nahm
(Jok. 18, 3 u. 12).
79) jer. Sankedrm 1, 1 (foL 18a) und VII, 2 (foL 24b): „Vierzig Jahre vor
der Zerstörung des Tempels wurden die Urteile über Leben und Tod von
Israel genommen" (bannst micta -»a^ nbo^a). Ähnlich bab. Aboda sara 8b. —
Die Zeitbestimmung ist hier freilich wertlos, da sicher anzunehmen ist, daß
dies nicht erst zur Zeit des Pilatus, sondern von Anfang an, seitdem Judäa
überhaupt unter Prokuratoren stand, geschehen ist Verteidigt wird die Zahl
vierzig von Lehmann, Revue des StuSes jutves t. XXXVII, 1898, p. 12—20.
262 § 23* Verfassung, ßynedrium. Hohepriester. [209. 210]
stab des jüdischen Rechtes verfahren wurde. Wenn nämlich
ein Nicht- Jude im Tempel zu. Jerusalem die Schranke fiberschritt,
über welche hinaus nur den Juden ein weiteres Vorgehen in den
inneren Vorhof gestattet war, so wurde er mit dem Tode bestraft,
selbst wenn er ein Römer war80. Natürlich bedurfte | auch in
diesem Fall das Urteil des jüdischen Gerichtes der Bestätigung
durch den römischen Prokurator. Denn aus den Worten, mit
welchen bei Josephus davon die Rede ist, darf nicht geschlossen
werden, daß die Juden auch nur in diesem Spezialfall ein unbe-
dingtes Recht zum Vollzug der Todesstrafe hatten. Auch aus der
Tatsache der Steinigung des Stephanus (Actor. 7, 57 f.) geht ein
solches nicht hervor. Diese ist vielmehr entweder eine Kompetenz-
überschreitung oder ein Akt tumultuarischer Volksjustiz. Anderer-
seits wäre es wiederum irrig, anzunehmen, daß das Synedrium
überhaupt nur mit Genehmigung des Prokurators sich versammeln
durfte, wie es nach einer Notiz bei Josephus scheinen könnte81.
Die betreffenden Worte wollen nur sagen, daß der Hohepriester
nicht das Recht hatte, ein souverän verfahrendes Gericht ab-
zuhalten in Abwesenheit und ohne Genehmigung des Prokurators.
Ebensowenig ist anzunehmen, daß die jüdischen Behörden jeden
Schuldigen zunächst dem Prokurator übergeben mußten. Dies taten
sie wohl, wenn es ihnen zweckmäßig schien82. Aber damit ist
nicht gesagt, daß es geschehen mußte. — Wenn sonach das Syne-
drium noch eine ziemlich weitgehende Kompetenz hatte, so lag
freilich die stärkste Einschränkung darin, daß die römische Behörde
80) B. J. VI, 2, 4: Titus richtet an die Belagerten die Frage: Haben
nicht wir euch gestattet, diejenigen zu töten, welche die Schranke über-
schritten, selbst wenn es ein Römer war? {ob% tipstq 6h xovq ünsQßdvrae
üfilv dvaiQSiv foiezQixpafiev, x<kv ^Paftaiwv tiq y\). Vgl. hierüber auch unten
§ 24 (Polizeidienst im Tempel). — Die Unterstellung römischer Bürger unter
die Gesetze einer fremden Stadt ist ein ungeheures Zugeständnis, das
im allgemeinen nur solchen Kommunen gemacht wurde, die als liberae an-
erkannt waren. S. Kuhn, Die städtische und bürgerl. Verfassung II, 24.
Marquardt, Komische Staatsverwaltung I, 75 f. Kornemann, De eivibus
Romanis in provincih imperii consistentibus (Berol. 1892) p. 27 — 48. Bes. das
Senatskonsult für Chios vom J. 674 a. U. — 80 vor Chr. (Corp. Inscr. Graee.
n. 2222 = Dittenberger, Sylloge lnscr. Oraec. ed. 2. n. 355): o'i te nag ccfooTq
Svreg ^P&fiatoi xotq Xetwv vnaxovwoiv vdfioiq. Den Juden ist dieses Zuge-
ständnis also wenigstens für den genannten Spezialfall gemacht worden.
81) Antt. XX, 9, 1: oix ifjdv %v *Avdv<p x<oq\<; rfjq ixslvov yvwfirjs xadi*
oai owidgiov.
82) Zur Zeit des Albinos überliefern z. B. die jüdischen agxovtsq einen
Wahnsinnigen, dessen Gebahren ihnen gefahrlich schien, dem Prokurator {B. J.
VI, 5, 3, ed. Niese § 303). f
[210. 211] III. Das große Synedrium zu Jerusalem. 4. Ort der Sitzungen. 263
jederzeit aus eigener Initiative eingreifen und selbständig verfahren
konnte, wie dies auch bei vielen Gelegenheiten, z. B. bei der Ge-
fangennahme Pauli, geschehen ist Auch konnte nicht nur der
Prokurator, sondern sogar der Tribun der in Jerusalem garniso-
nierenden Kohorte das Synedrium zusammenberufen, um durch
dasselbe eine Sache vom Standpunkt des jüdischen Rechtes aus
untersuchen zu lassen (Aoior. 22, 30; vgl. 23, 15. 20. 28).
4. Zeit und Ort der Sitzungen. Die Lokalgerichte hielten
ihre Sitzungen gewöhnlich am zweiten und fünften Wochentag
(Montag und Donnerstag)88. Ob auch das große Synedrium diese
Sitte beobachtete, wissen wir nicht An Feiertagen {yrv nv>) wurde
kein Gericht gehalten, noch viel weniger am Sabbat84. Da in |
Kriminalfällen ein Todesurteil erst am Tage nach der Verhandlung
gesprochen werden durfte, wurden solche Fälle auch nicht am Vor-
abend vor einem Sabbat oder Feiertag abgehandelt85. Freilich
sind dies alles zunächst nur theoretische Bestimmungen. Daß man
aber das Verbot des Gerichthaltens am Sabbat im allgemeinen
wirklich beobachtet habe, ist angesichts des Zeugnisses Philos
nicht zu bezweifeln86. — Das Lokal, in welchem sich das große
Synedrium zu versammeln pflegte (die ßovZrj), lag nach Josephus
Bell. Jud. V, 4, 2 in der Nähe des sogenannten Xystos, uüd zwar
von diesem östlich nach dem Tempelberge zu. Da nach B. J. n,
16, 3 vom Xystos unmittelbar eine Brücke nach dem Tempelberge
hinüberführte, so ist die ßovZrj wahrscheinlich auf dem Tempel-
berge selbst an dessen westlicher Grenze zu suchen. Jeden-
falls lag sie außerhalb der Oberstadt. Denn nach B. J. VI, 6, 3
wurde das ßovltvxr\Qtov (= ßovlfj) von den Römern zerstört, noch
ehe diese die Oberstadt in Besitz hatten. Die Mischna nennt als
Versammlungsort des großen Synedriums wiederholt die n2üb
mTän87. Und da sich ihre Angaben auf keine andere Zeit beziehen
83) Kethuboth I, 1.
84) Beza (oder Jörn tob) V, 2. Auch Philo nennt das Sixd^etv unter
den am Sabbath verbotenen Dingen (De migraiione Abrahami § 16, ed. Mangey
I, 450). — Vgl. Oehler in Herzogs Keal-Enz. 1. Aufl. XIII, 203 (Art. Sab-
bath). Bleek, Beiträge zur Evangelien-Kritik (1846) S. Hl ff. Wieseler,
Ohronologische Synopse S. 361 ff. Kirchner, Die jüdische Passahfeier und
Jesu letztes Mahl (Progr. des Gymnas. zu Duisburg 1870) S. 57 ff. Bernh.
Ritter, Philo und die Halacha, 1879, S. 130.
85) Sanhedrin IV, 1 fin.
86) Welchen Wert man darauf legte, zeigen auch die Edikte des Augu-
stus, durch welche die Juden von der Verpflichtung, am Sabbath vor Gericht
zu erscheinen, befreit wurden (Antt. XVI, 6, 2 u. 4).
87) Sanhedrin XI, 2. Mtddoth V, 4. Vgl. Pea II, 6. Edujoth VII, 4.
264 § 23. Verfassung, Synedrium. Hohepriester. [211. 212]
können als die des Josephus, da ferner auch unter der ßovlr) des
Josephus sicher der Versammlungsort des großen Synedriums zu
verstehen ist, so ist die nvan nstöb notwendig mit der ßovXr} des
Josephus zu identifizieren. Vermutlich will also der Name rotft
rrwr nicht besagen (wie man gewöhnlich meint), daß jene Halle
aus Quadersteinen gebaut war (nna = Quadersteine) — was kein
charakteristisches Merkmal wäre — , sondern daß sie am Xystos
lag (nna — gvazoq, wie LXX I Chron. 22, 2. Arnos 5, 11). Sie wurde
im Unterschiede von den anderen triyob des Tempelplatzes nach
ihrer Lage „die Halle am Xystos** genannt Nach der Mischna
soll sie freilich im inneren Vorhof gelegen haben88. Aber bei der |
Unzuverlässigkeit und teilweisen Unrichtigkeit, an der auch sonst
ihre Angaben über die Topographie des Tempels leiden, bildet ihr
Zeugnis kein hinreichendes Gegengewicht gegen obiges Resultat,
zumal es auch an sich unwahrscheinlich ist, daß man einen Baum
des inneren Vorhofes zu anderen als zu Kultuszwecken sollte ver-
wendet haben89. Ganz unbrauchbar ist die spätere talmudische
Meinung, daß das Synedrium vierzig Jahre vor der Zerstörung des
Tempels aus der lischkath hagasith ausgewandert oder vertrieben
Nach bab. Joma 25a war die lischkath ha-gasüh „wie eine große Basilika"
(nina ^pi^oa "pss).
88) S. bes. Middoih V, 4; auch Sanhedrin XI, 2. Im babylonischen Tal-
mud Joma 25a ist dies näher dahin präzisiert, daß die niwn rcttb zur Hälfte
innerhalb und zur Hälfte außerhalb des Vorhofes gelegen habe (s. die Stelle
z. B. bei Buxtorf, Lex. Chald. 8. v. n^ta). — Keinen Anhaltspunkt zur Be-
stimmung der Lage geben Pea H, 6 und Edvjoth VII, 4; ebensowenig Tamid
II /in, IV fin. Denn wenn nach den beiden letzteren Stellen die Priester
in den Zwischenpausen zwischen den einzelnen Abteilungen ihres Dienstes
sich zum Loosen und zum Beten des Schma in die n">nn rottb be-
gaben, so folgt daraus nicht mit Notwendigkeit, daß letztere im Vorhof ge-
legen habe. Büchler behauptet dies freilich, weil die Priester nicht in Dienst-
kleidung den inneren Vorhof verlassen haben würden (Das Synedrion in Je-
rusalem S. 11 — 14). Aber er selbst führt Beispiele dafür an, daß die Priester
unter Umständen auch außerhalb des Vorhofes Dienstkleidung trugen (S. 14
Anm. 11).
89) Die im Traktat Joma 1, 1 erwähnte "p-nnis roiöi oder "piim» roiöi
(Saal oder Zimmer der TiQÖeÖQOi) ist nach dem Zusammenhang (vgl. I, 5)
außerhalb des Vorhofes zu suchen (dies scheint mir trotz Büchlers Gegen-
bemerkungen S. 22—25 mindestens sehr wahrscheinlich). Wenn sie wirklich,
wie die Tradition will, auch „Saal der ßovXevrai" hieß (s. oben S. 254), so würde
auch damit ein Fingerzeig über die Lage der ßovXtf gegeben sein. Tatsächlich
ist freilich nicht die Identität, sondern nur der nahe Zusammenhang des
„Saales der ngdeögoi" mit dem „Saal der ßovlevral" als wahrscheinlich an-
zunehmen. Der Sonderraum für die TtQÖeÖQOi wird in der Nähe des Sitzungs-
saales der ßovXevzal gelegen haben. Auch so aber darf in der Notiz eine Be-
stätigung unserer Kombinationen gefunden werden.
[212. 213] III. Das große Synedrium zu Jerusalem. 4. Ort der Sitzungen. 265
worden sei (nrta), und seitdem seine Sitzungen in den chanujoth
(Wün) oder in einer chanuth (min, Kaufhalle) gehalten habe90.
Sie ist schon deshalb unbedingt zu verwerfen, weil die Mischna
noch nichts davon weiß, vielmehr augenscheinlich voraussetzt, daß
das Synedrium gerade in der letzten Zeit vor der Zerstörung des
Tempels sich in der lischkath hagasith versammelt habe. Da die
letzten vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels auch als der
Zeitraum bezeichnet werden, während dessen dem Synedrium die
Urteile über Leben und Tod genommen waren (s. oben Anm. 79),
so will die talmudische Notiz wohl besagen, daß das Synedrium
während dieser Zeit seine Sitzungen auch nicht mehr in dem ge-
wohnten solennen Lokale habe halten dürfen oder gehalten habe,
sondern an einem unansehnlichen Orte, in den „Kaufläden" oder,
da die Lesart mit dem Singular chanuth wohl vorzuziehen ist, in
einem „Kaufladen", nwj ist nämlich das gewöhnliche Wort für
Kaufgewölbe, Kaufladen91. Da es an einer Stelle heißt, daß das
Synedrium später aus der chanuth nach Jerusalem gewandert
sei92, so hat man sich jene chanuth wohl außerhalb der eigent-
lichen Stadt zu denken. Aber alle näheren Vermutungen der Gel-
lehrten über ihre Lage sind überflüssig, da die Sache selbst über-
haupt ungeschichtlich ist93. — Wenn bei der Verurteilung Jesu
{Marc. 14, 53 ff. Matth. 26, 57 ff.) das Synedrium im Palaste des
Hohenpriesters sich versammelte, so ist darin eine Ausnahme
von der Regel zu erblicken, zu der man schon durch die nächt-
liche Stunde genötigt war. Denn bei Nacht waren die Tore des
Tempelberges geschlossen 94.
90) Schabbath 15 a. Bosch haschana 31». Sanhedrin 41a. Aboda sara 8*>.
In der mir vorliegenden Talmud-Ausgabe (Amsterdam 1644 ff.) steht nur an
der ersten Stelle {Schabbath 15a) der Plural chanujoth^ an den drei übrigen der
Singular chanuth, — S. die Stellen auch bei Seiden, De synedriü II, 15, 7 — 8.
Wagenseil zu Sota IX, 11 (in Surenhusius' Mischna III, 297). Levy, Neuhebr.
Wörterb. II, 80 {s. v. man).
91) Z. B. Baba kamma II, 2. VI, 6. Baba mexta II, 4. IV, 11. Baba
bathra II, 3. Der Plur. nv»ian Taanith I, 6. Baba mexia VIII, 6. Aboda sara
I, 4. Tohoroth VI, 3. Der Krämer heißt ^13P.
92) Rosch haschana 31a.
93) Die oben gegebene Erklärung des Ursprungs jener unhistorischen
Notiz scheint mir jetzt die wahrscheinlichste. Eine andere s. in den Stud.
und Krit 1878, S. 625. — Schon im Talmud wird über die Motive der Aus-
wanderung des Synedrium8 nur unsicher hin und her geraten, s. Aboda sara
8b, in deutscher Übersetzung bei Ferd. Christian Ewald, Abodah Sarah, oder
der Götzendienst (2. Ausg. 1868) S. 62—64.
94) Middoth I, 1. — Andere Synedrialsitzungen im Palaste des Hohen-
priesters sind nicht bezeugt. Denn Luc, 22, 54 ff. und Joh. 18, 13 ff. handelt
es sich nur um ein Verhör vor dem Hohenpriester. Und Matth. 26, 3 ist die
2(J6 § 23- Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [213. 214]
5. Gerichtsverfahren. Dasselbe wird in der Mischna folgen-
dermaßen beschrieben95. Die Beisitzer des Gerichtshofes saßen
im Halbkreise (rtyxp Tp* *xrto eigentl. wie die Hälfte einer runden
Tenne), damit sie einander sehen konnten. Zwei Gerichtsschreiber
standen vor ihnen, einer zur Rechten und einer zur Linken, and
schrieben die Reden derer die lossprachen und derer die verur-
teilten nieder96. Vor ihnen saßen drei Reihen Jünger der Ger
lehrten. Jeder von ihnen kannte seinen Platz97. Der Angeklagte
hatte in demütiger Haltung und im Trauergewande zu erscheinen 98.
In Fällen, wo es sich um Leben oder Tod handelte, waren be-
sondere Formen für Verhandlung und Urteilssprechung vorge-
schrieben. Es mußte in solchen Fällen stets mit den Entlastungs-
gründen begonnen werden, erst dann durften die Belastungsgründe
vorgebracht wer|den". Wer einmal zugunsten des Angeklagten
gesprochen hatte, durfte nicht nachträglich zu dessen Ungunsten
sprechen, wohl aber umgekehrt 10°. Die anwesenden Jünger durften
nur für, nicht gegen den Angeklagten das Wort ergreifen, während
ihnen sonst beides gestattet war101. Ein lossprechendes Urteil
durfte noch an demselben Tage, ein verdammendes erst am folgen-
den Tage gefällt werden102. Die Abstimmung, zu welcher man
sich erhob m, begann „von der Seite", ittrt 'je, d. h. beim jüngsten
Ortsangabe ein späterer Zusatz des Evangelisten, vgl. Marc. 14, 1. Luc. 22, 2.
— Eine ausführlichere Behandlung der Frage nach dem Versammlungsorte des
großen Synedriums s. in meinem Aursatze in. den Stud. und Krit 1878, S.
608—626. Daselbst 8. 608 auch die ältere Literatur, die aber wegen kritik-
loser Benützung der Quellen nicht zu haltbaren Resultaten gelangt.
95) Über das Gerichtsverfahren im Alten Testamente s. Win er RWB.
Art. „Gericht". Oehler, Art. „Gericht und Gerichtsverwaltung bei den He-
bräern" in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. V, 57—61. Saal schütz, Das Mosaische
Recht II, 593 ff. Keil, Handbuch der biblischen Archäologie (2. Aufl. 1875)
§150. Köhler, Lehrbuch der biblischen Geschichte I, 359 ff. Benzinger,
Art. „Gericht" in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VI, 572 ff. — Über die
„Geschäfts- und Debattenordnung" nach talmudischen Quellen s. Jelski, Die
innere Einrichtung des großen Synedrions zu Jerusalem (1894) S. 81—99.
Bloch, Das mosaisch-talmudische Strafgerichtsverfahren (Jahresbericht der
Landesrabbinerschule in Budapest) 1901.
96) Sanhedrin IV, 3.
97) Sanhedrin IV, 4.
98) Joseph. Äntt. XIV, 9, 4. Vgl. Sacharja 3, 3.
99) Sanhedrin IV, 1.
100) Sanhedrin IV, 1. V, 5.
101) Sanhedrin IV, 1. V, 4.
102) Sanhedrin IV, 1. V, 5. — Daraus haben manche die vermeintliche
doppelte Synedrialsitzung bei Jesu Verurteilung erklärt.
103) Sanhedrin V, 5.
[214. 215] IV. Die Hohenpriester. 267
Gerichtsmitgliede, während sie sonst beim angesehensten begann 104.
Zu einem lossprechenden Urteile genügte einfache Majorität, zu
einem verdammenden war eine Mehrheit von zwei Stimmen er-
forderlich 105. Sprachen daher von den 23 Richtern, welche im
ganzen nötig waren, 12 frei, 11 schuldig, so war der Angeklagte
frei; sprachen aber 12 schuldig, 11 frei, so mußte die Zahl der
Richter um zwei vermehrt werden, und damit fortgefahren werden,
bis entweder eine Freisprechung erfolgte oder die nötige Majorität
für das Schuldig erreicht war. Das Maximum, bis zu welchem
man hierbei ging, waren 71 106.
IV. Die Hohenpriester.
Literatur.
Seiden, De successione in pontifieatum Ebraeorum, Lib. I e. 11 — 12 (öfters
nachgedruckt mit anderen Werken Seldens zusammen, z. B. in der Ausg.
d. üxor Ebraica, Franeof. ad. Od. 1673, auch in Ugolinis Thesaurus
t. XII).
Light foot, Ministerium templi Hierosolymitani c. IV, 3 (Opp. ed. Roterodam.
I, 684 sqq.)
Ret and, Antiquitates sacrae P. II c. 2 (ed. IAps. 1724, p. 146 sq.).
Anger, De temporum in actis apostohrum ratione (1833) p. 93 sq.
Ewald, Geschichte des Volkes Israel Bd. VI, 3. Aufl. 1868, S. 634.
Schürer, Die aQX^QBtq im Neuen Testamente (Stud. und Erit. 1872, S. 593
-657).
Grätz, Monatsschr. für Geschichte und Wissensch. des Judentums Jahrg.
1851/52, 8. 585—596, 1877, 8. 450—454, und 1881, S. 49—64. 97—112. —
Ders., Geschichte der Juden Bd. III, 4. Aufl. (1888), S. 720—752.
Kellner, Zeitschr. für kathol. Theologie 1888, 8. 651—655. |
Hölscher, Der Sadducäismus 1906; hierin S. 37—84: Sadducaismus und
Hohespriestertum (S. 43 — 48: Liste der Hohenpriester). Dagegen: Theol.
Litztg. 1907, 200.
Das hervorstechendste Merkmal der jüdischen Staatsverfassung
in der nachexilischen Zeit ist dies, daß der oberste Priester
zugleich Oberhaupt des staatlichen Gemeinwesens war.
Im Anfang der nachexilischen Zeit ist er es zwar noch nicht ge-
wesen1. Aber seit der zweiten Hälfte der persischen Periode bis
zur römisch-herodianischen Herrschaft war er es unbestritten.
104) Sanhedrin IV, 2.
105) Sanhedrin IV, 1.
106) Sanhedrin V, 5.
1) Vgl. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte (1894)
8. 149 f. 4. Ausg. 1901, 8. 193 f.
268 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [215. 216]
Sowohl die Hohenpriester der vormakkabäischen Zeit als die has-
monäischen Hohenpriester waren nicht nur Priester, sondern zu-
gleich auch Fürsten. Und wenn auch ihre Macht einerseits durch
die griechischen Oberherren, andererseits durch die Gerusia be-
schränkt war, so war sie doch sehr stark befestigt durch das
Prinzip der Lebenslänglichkeit und der Erblichkeit Die
höchste Steigerung priesterlicher Macht repräsentiert das Priester-
Königtum der späteren Hasmonäer2. Seit dem Auftreten der
Römer und noch mehr unter den Herodianern haben sie allerdings
viel von ihrer Macht eingebüßt. Die hasmonäische Dynastie wurde
gestürzt, ja ausgerottet Die Lebenslänglichkeit und Erblichkeit
wurde aufgehoben. Sowohl Herodes als die Kömer setzten nach
Gutdünken die Hohenpriester ab und ein. Dazu kam das stetige
Wachstum der Macht des Pharisäismus und der rabbinischen
Schriftgelehrsamkeit. Aber selbst dem Zusammenwirken aller dieser
Faktoren gegenüber hat das Hohepriestertum doch einen guten
Teil seiner Macht bis zum Untergang des Tempels sich zu wahren
gewußt Auch jetzt noch standen die Hohenpriester an der Spitze
des Synedriums, also der politischen Gemeinde. Auch jetzt noch
waren es einige wenige bevorzugte Familien, aus denen fast stets
die Hohenpriester genommen wurden. Sie bildeten also, wenn auch
nicht mehr eine monarchische Dynastie, so doch noch eine einfluß-
reiche Aristokratie unter der Oberherrschaft der Römer und Hero-
dianer. Da die Reihenfolge der Hohenpriester bis zum Sturze der
Hasmonäer aus der politischen Geschichte bekannt ist, so ist hier
nur noch die | Liste der Hohenpriester der herodianisch-römischen
Zeit zu geben. Josephus sagt, daß es im ganzen 28 gewesen seien 3.
2) Priester, die zugleich Könige oder Fürsten waren, kommen auch in
der Nachbarschaft Palästinas vor. Auf dem im • J. 1887 entdeckten Sarko-
phage des Königs Tabnith von Sidon nennt sich derselbe: mnis* "jriD nsan
Dm *f?'ü mn»3> "jns Wi»»K *ja D312* "]iö „Tabnith Priester der Astarte
König von Sidon, Sohn des Eschmunazar des Priesters der Astarte Königs
von Sidon" (Revue archSologique, troisieme Serie t X, 1887, p. 2 =- Revue des
itudes juives U XV, 1887, p. 110 « Georg Hoffmann, Ober einige phönikische
Inschriften [Abh. der Göttinger Gesellsch. der Wissensch. Bd. 36, 1889—1890]
S. 57 «= Landau, Beiträge zur Altertumskunde des Orients II, 1899, n. 4 —
Cooke, Text-book of norih-semitic inscriptions 1903 n. 4; noch mehr Literatur
in der Zeitschr. des deutschen Palästina- Vereins XII, 103 f.). — Die Dynasten
von Chalcis (Ptolemäus, Lysanias, Zenodorus) nennen sich auf ihren Münzen
zugleich aQ%ieQEtq und TerQ<XQxai> 8* die Nachweise Bd. I Beilage I. — Ober
kleinasiatische Priesterförsten s. Hennig, Symbolae ad Asiae mitioris reges sa-
cer dotales y Lips. 1893,
3) Antt XX, 10.
[216] IV. Die Hohenpriester, 269
In der Tat ergibt eine Zusammenstellung seiner einzelnen Notizen
die folgenden 28 Namen4,
a) Von Herodes (37—4 v. Chr.) eingesetzt:
1. Ananel (37—36 v. Chr.) aus Babylon, von geringer
priesterlicher Herkunft, Antt. XV, 2, 4. 3, 1. Die rabbi-
nische Überlieferung hält ihn für einen Ägypter5.
2. Aristobul, der letzte Hasmonäer (35 v. Chr.) Antt. XV,
3, 1. 3.
Ananel zum zweitenmal (34 ff.) Antt. XV, 3, 3.
3. Jesus Sohn des Phiabi, Antt. XV, 9, 3 6. |
4) Die Liste dieser Hohenpriester ist schon von einigen griechischen
Theologen auf Grund der von Josephus gegebenen Notizen zusammengestellt
worden, nämlich 1) von dem christlichen Josephus in seinem Hypomnesticum
s. liher memorialis c. 2 (zuerst herausgeg. von FabriemSy Codex pseudepigraphus
Vet. Test. t. H, dann auch bei QaUandi, Biblioth. Patrum U XIV und Migne,
Patrol. graec. t. CVT) und 2) von Nicephorus Gonstantmop. in seiner Ohro-
nographia compendiaria oder vielmehr, nach de Boor, von dem Überarbeiter
dieser Chronographie (krit. Ausg. von Credner in zwei Giessener Universitäts-
programmen 1832 — 1838, II, 33 sq. und bes. von de Boor, Nieephori Const.
opusctUa hips. 1880, p. 110—112). Auch Zonaras, der in den ersten sechs
Büchern seiner Annalen den Josephus exzerpiert, hat die Stellen über die
Hohenpriester fast vollständig aufgenommen (Annal. V, 12 — VI, 17). — Rab-
binische Listen s. bei Büchler, Jeivish Quarterly Review XVI, 1904, p. 175—
177 (in der Abh. über die Schauplätze des Bar-Eochbakrieges). — Den Ab-
schnitt über die Hohenpriester zur Zeit Jesu (Jos. Antt. XVIII, 2, 2) zitiert
auch Eusebius Eist. eccl. I, 10, 4—6 und Demonstr. evang. VIII, 2, 100; des-
gleichen das Chron. pauschale ed. Dindorf I, 417. — Unter den neueren Zu-
sammenstellungen ist die korrekteste die von Anger, mit welcher die unsrige
ganz übereinstimmt. Eine ausführlichere Behandlung s. in meinem Aufsatz
in den Stnd. u. Krit. 1872, S. 597-607.
5) In der Mischna Para III, 5 werden die Hohenpriester aufgezählt,
unter welchen eine rote Kuh verbrannt wurde (nach dem Gesetz
Num. 19). In der nachhasmonäischen Zeit geschah dies unter folgenden drei
Hohenpriestern: 1) Elioenai ben ha-Kajaph, 2) Chanamel dem Ägypter,
3) Ismael benPhi-abi (^atf **fi *p b&talö^ •nsah bnasm tpph p •wwvA«,
die Orthographie der Namen nach cod. de Rossi 138). — Chanamel der
Ägypter kann nur unser Ananel sein. Freilieb ist die Form des Namens
ebenso unrichtig wie die Angabe des Heimatlandes. Auch die chronologische
Reihenfolge ist falsch, da unter dem an erster Stelle genannten Elioenai
pur der viel spatere Elionaios Sohn des Kantheras (Nr. 19) verstanden werden
kann. — „Ägypter** ist übrigens so viel wie Alexandriner, was in der Tat
andere Hohepriester zur Zeit des Herodes waren, nämlich die Söhne des
Boethos (Antt. XV, 9, 3). — Jüdische Priester aus Babylonien werden im all-
gemeinen auch Mischna Menachoth XI, 7 erwähnt.
6) Der Vatername Phiabi auch bei Nr. 11 und 22. Die Orthographie
schwankt sehr. An unserer Stelle (Antt. XV, 9, 3) haben die Handschriften
270 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [217]
4. Simon Sohn des Boethos oder, wie es nach anderen An-
gaben scheint, Boethos selbst, jedenfalls der Schwieger-
vater des Herodes, weil Vater der zweiten Mariamme
(etwa 24—5 v. Chr.) Antt. XV, 9, 3. XVII, 4, 2. Vgl.
XVIII, 5, 1. XIX, 6, 2. Die Familie stammte aas Alexan-
dria Antt. XV, 9, 3.
5. Matthias Sohn des Theophilos (5—4 v.Chr.) AnttXYII,
4, 2. 6, 4.
6. Joseph Sohn des Ellem, Antt. XVII, 6, 47.
7. Joasar Sohn des Boethos (4 v. Chr.) Antt. XVII, 6, 4.
b) Von Archelaus (4 vor bis 6 n. Chr.) eingesetzt:
8. Eleasar S. d. Boethos (4 ff.) Antt. XVII, 13, 1.
9. Jesus S. d. Sei Antt. XVII, 13, l8.
Joasar zum zweitenmal, Antt. XVIII, 1, 1. 2, 1.
c) Von Quirinius (6 n. Chr.) eingesetzt:
10. Ananos oder Hannas S. d. Sethi (6—15 n. Chr.) Antt.
XVIII, 2, 1. 2. Vgl. XX, 9, 1. B. J. V, 12, 2. Es ist
der aus dem Neuen Testamente bekannte Hohepriester,
Ev. Luc. 3, 2. Joh. 18, 13—24. Ap.-Gesch. 4, 69. |
(nach Niese) xbv xov <Poaßiro<;y <Paßtxoq% Gaßnxoq (so auch Zonaras Afinal.
V, 16); Joseph. Hypomnest. b xo$ 4>avßr}. An zwei anderen Stellen (Antt.
XVIII, 2, 2 u. XX, 8, 8) hat der sehr korrekt geschriebene cod. Ambros. und
Vet. Lot. <Piaßi (resp. Vet. Lot. XVIII, 2, 2: iabi). Dies ist ohne Zweifel das
richtige; denn auch in der Mischna haben die besten Handschriften (eod. de
Rossi 138 und Cambridge University Add. 470, 1) sowohl Sota IX, 15 als Para
HE, 5 taKifi; ebenso Tosephta ed. Zuckermandel p. 533, 36. 632, 6 (einmal
p. 182, 26 'OfiOfc mit Vav).
7) Ob dieser Joseph mit zu zählen ist, kann fraglich sein, da er nur
aushilfsweise einmal am Versöhnungstage fungierte an Stelle des durch kri-
tische Verunreinigung verhinderten Matthias. Indessen war er auf diese
Weise doch wenigstens einen Tag lang faktisch Hoherpriester, und ist von
Josephus wohl mitgezählt, da sonst die Zahl 28 nicht herauskommt Auch
der christliche Josephus (Hypomnest. c. 2) hat ihn in sein Verzeichnis auf-
genommen. — Das seltsame Ereignis wird auch in den rabbinischen Quellen
Öfters erwähnt (s. Sei den , De successione in pontificatum Ehr. I, 11, ed.
Franeof. p. 160. Derenbourg, Histoire de la Palestine p. 160 not. Grätz,
Monatsschrift 1881, S. 51 ff. Ders., Gesch. der Juden III, 4. Aufl. S. 737 f.).
Der Hohepriester heißt dort tk*H p tpY* d. h. Sohn des Stummen.
8) Er heißt bei Jos. Antt. XVII, 13, 1 '/»/ffoCc b Sei (so die besten Hand-
schriften), Joseph. Hypomnest. 'Iqoovg 6 xoV Sei, Nicephorus fyoovq '&arii.
Zonaras Annal. VI, 2 (ed. Bonnern. I, 472) naXq Sei.
9) Der Name seines Vaters lautet Antt. XVHI, 2, 1 SeM oder Si&.
Ersteres ist besser bezeugt
[218] IV. Die Hohenpriester. 271
d) Von Valerius Gratus (15—26 n. Chr.) eingesetzt:
11. Ismael S. d. Phiabi (etwa 15—16 n. Chr.) Ann. XVIII,
2, 2 10.
12. Eleasar 8. d. Ananos (etwa 16—17 n. Chr.) Antt.
xvm, 2, 2.
13. Simon S. d. Kamithos (etwa 17—18 n. Chr.) Antt. XVIII,
2,2».
* t
14. Joseph genannt Kaiaphas (etwa 18—36 n. Chr.) Antt.
XVIII, 2, 2. 4, 3. Vgl. Ev. Maüh. 26, 3. 57. Luc. 3, 2.
Joh. 11, 49. 18, 13. 14. 24. 28. Ap.-Gesch. 4, 6. — Nach
Joh. 18, 13 war er ein Schwiegersohn des Hannas =
Ananos12.
e) Von Vitellius (35—39 n. Chr.) eingesetzt:
15. Jonathan S. d. Ananos (36—37 n. Chr.) Antt. XVIII, 4, 3.
5, 3. Vgl. XIX, 6, 4. Er nahm noch zur Zeit des Cu-
manus, 50—52 n. Chr., eine hervorragende Stellung im
öffentlichen Leben ein (& J. II, 12, 5—6) und wurde
auf Veranlassung des Prokurators Felix durch Meuchel-
mörder getötet (Ä J. II, 13, 3. Antt. XX, 8, 5).
16. Theophilos S. d. Ananos (37 ff.) Antt. XVIII, 5, 3.
f) Von Agrippal. (41— 44 n. Chr.) eingesetzt:
17. Simon Kantheras S. d. Boethos (41 ff.) Antt. XIX,
6, 2 13.
18. Matthias S. des Ananos, Antt. XIX, 6, 4.
19. Elionaios S. des Kantheras, Antt. XIX, 8, 1 14.
10) Der Name des Vaters lautet bei Euseb. Eist. eccl. 1, 10, 4 ed. Schwartx
u. Zonaras Annal. VI, 3 (ed. Bonnern. I, 477) 4>aßl, Euseb. Demonst. ev. VIII,
2, 100 4>jßa, Joseph. Eypomnest. Biaßrj, Chron. pasch, ed. Dindorf I, 417 Batpet.
Bei Josephti8 bat die beste Handschrift <Piaßi, was sicher das richtige ist (s.
oben Anm. 6).
11) Dieser Hohepriester wird auch in den rabbinischen Quellen öfters
erwähnt (Seiden, De successione in pontifieat. p. 161. 177 ed. Francof. Deren-
bourg, Eistoire p. 197, Qrätz, Monatsschrift 1881, S. 53 ff. Ders., Gesch.
der Juden in, 4. Aufl. S. 738 f.) Er heißt dort r^rrap "p y&am. Bei Jos.
Antt., Euseb. Eist, eccl., Zonaras Annal. VI, 3 (I, 477) lautet der Name des
Vaters Käfti&og, Euseb. Demonstrat. Ka&woq, Joseph. Eypomnest. Kafhiiioq,
Chron. pasch, ed. Dindorf I, 408 u. 417 Kafta&ei.
12) Der Beiname Kaiaphas ist nicht =• Kfi^s, sondern = MD*^p oder
Cpp, s. oben Anm. 5. Derenbourg p. 215 not 2.
13) Über ihn s. allerlei gewagte Kombinationen bei Grätz, Monats-
schrift 1881, 8. 97—112. Gesch. der Juden III, 4. Aufl. S. 739—746. Der
Name KavdyoaQ ist wohl durch Vermittlung des Hebräischen aus KcLV&aooq
entstanden.
14) Niese schreibt den Namen des Vaters Ki&atQot;. Aber Vet. Ixit.
und der Oorrector des cod. Ambros. haben Kantheras, was nach Nr. 17 sicher
272 § 23* Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [219]
g) Von Herodes von Chalkis (44—48 n.Chr.) eingesetzt16:
20. Joseph S. des Kami oder Kamydos, Antt. XX, 1, 3.
5, 2 16.
21. Ananias S. d. Nedebaios (etwa 47—59 n. Chr.) Antt.XX,
5, 2. Vgl. XX, 6, 2. B. J. II, 12, 6. Ap.-Gesch. 23, 2.
24, 1. Er war infolge seines Reichtums auch noch
nach seiner Absetzung ein Mann von großem Einfluß,
zugleich aber auch wegen seiner Habgier berüchtigt
{Antt XX, 9, 2—4). Im Anfang des jüdischen Krieges
wurde er vom aufständischen Volke ermordet (R J. II,
17, 6. 9) !7.
h) Von Agrippall. (50— 100 n. Chr.) eingesetzt:
22. Ismael S. d. Phiabi (etwa 59—61 n. Chr.) Antt. XX, 8,
8. 11. Er ist wohl identisch mit dem, dessen Hinrich-
tung zu Kyrene R J. VI, 2, 2 gelegentlich erwähnt
wird 18.
das richtige ist. Nach Antt. XX, 1, 3 scheint auch er wie sein Vater den
Beinamen Kantheras gehabt zu haben. In der Mischna Para III, 5 heißt
er tppn *p ^"»an^K (6. oben Anm. 5). Die rabbinische Überlieferung hält
ihn also für einen Sohn des Kaiaphas. Der Name ^3?imi« (auf Jahve sind
meine Augen gerichtet) oder "O^^bx kommt auch im Alten Testamente vor
(Esra 8, 4. 10, 22. 27. I Chron. 3, 23. 4, 36. 7, 8. 26, 3).
15) Etwa in diese Zeit (um 44 n. Chr.) würde auch der Hohepriester Is-
mael gehören, der nach Antt. III, 15, 3 zur Zeit der großen Hungersnot
unter Claudius Hoherpriester war. Da Josephus ihn aber in der Geschichts-
erzählung selbst nicht nennt, so liegt bei jener beiläufigen Erwähnung wohl
ein Gedächtnisfehler des Josephus vor. Ewald (Geschichte VI, 634) schaltet
ihn nach Elionaios ein, Wieseler (Chronologie des apostol. Zeitalters S. 159)
identifiziert ihn mit Elionaios. Kellner (Zeitschr. f. kathol. Theologie 1888,
ß. 654) identifiziert ihn mit Ismael Nr. 22 und setzt diesen noch unter Clau-
dius, indem er die Amtszeit des Prokurators Felix nur bis November 54
gehen läßt
16) Der Name des Vaters wird bald Kafiel (Antt. XX, 1, 3 = Zonaras
Annal. VI, 12 fin.) oder Kdßrj (Joseph. Hypomnest.), bald Ka/nvöog, Kapioiö\y
KejLteöi, KsfxeÖTj (diese Varianten Antt. XX, 5, 2) geschrieben, ist aber jeden-
falls identisch mit Kamithos.
17) Über seine Habgier vgl. auch die talmudische Tradition bei Deren-
bourg, Histoire p. 233 09. Der Name des Vaters lautet nicht NsßeöaTog, sondern
NedeßaZoq, denn diese gut bezeugte Form wird durch das biblische rijins
I Chron. 3, 18 bestätigt.
18) Auf diesen jüngeren Ismael S. d. Phiabi (nicht auf den gleich-
namigen Hohenpriester Nr. 11) beziehen sich wohl auch die rabbinischen Tra-
ditionen über 'OSOß ")S batfatt^ (Mischna Para III, 5. Sota IX, 15; auch an
letzterer Stelle ist der Hohepriester dieses Namens gemeint, denn das Prädikat
Rabbi ist mit cod. de Rossi 138 zu tilgen. Tosephta ed. Zuckermandel p. 182,
[220] IV. Die Hohenpriester. 273
23. Joseph Kabi19 S. des Hohenpr. Simon (61—62 n. Chr.)
Antt XX, 8, 11. Vgl. B. J. VI, 2, 2.
24. Ananos S. d. Ananos (62 n. Chr., nur drei Monate lang)
Antt. XX, 9, 1. Er gehörte in der ersten Periode des
jüdischen Krieges zu den leitenden Persönlichkeiten,
wurde aber später vom Pöbel ermordet, B. J. II, 20, 3.
22, 1-2. IV, 3, 7 bis 5, 2. Vita 38. 39. 44. 60 20.
25. Jesus S. d. Damnaios (etwa 62—63 n. Chr.) Antt. XX,
9, lu.4. Vgl. Ä J. VI, 2, 2.
26. Jesus S. d. Gamaliel (etwa 63—65 n. Chr.) Antt. XX, 9,
4. 7. Während des jüdischen Krieges wird er häufig
neben Ananos genannt und teilte auch dessen Geschick,
B. J. IV, 3, 9. 4, 3. 5, 2. Vita 38. 41. Nach rabbinischer
Tradition war seine Frau, Martha, aus dem Hause des
Boethos21.
27. Matthias S. d. Theophilos (65 ff.) Antt. XX, 9, 7. Vgl.
ÄJ.VI,2,222.
i) Vom Volke während des Krieges (67/68) eingesetzt:
28. Phannias, auch Phanni oder Phanasos S. d. Samuel,
von niedriger Herkunft, B. J. IV, 3, 8. Antt. XX, 10 23.
26. 533, 35 s£. 632, 6. S. überhaupt Derenbourg, Histoire p. 232—235). —
Der Name des Vaters ist in den gedruckten Texten häufig korrumpiert Die
korrekte Form ist **a&Ofi oder auch mit getrennter Schreibung tag *>B (so
cod. de Rossi 138 an der einen Mischnasteile, Para III, 5). Vgl. oben
Anm. 6.
19) Der Beiname lautet bei Jos. Antt. XX, 8, 11 Kaßl, Zonaras Jamal.
VI, 17 äexaßl (d. h. Sh Kaßi), Joseph. Hypomnest. Kdfirjg. Letzteres wäre «
Kamithos.
20) Kombinationen über ihn s. bei Grätz, Monatsschr. 1881, S. 56 — 62.
Gesch. der Juden III, 4. Aufl. 8. 747—750.
21) Mischna Jebamoth VI, 4: „Wenn einer mit einer Wittwe sich ver-
lobt hat und dann zum Hohenpriester ernannt wird, so darf er sie heimführen.
So hatte Josua Sohn des Gamla mit der Martha Tochter des Boethos
sich verlobt, und nachmals ernannte ihn der König zum Hohenpriester; darauf
führte er sie heim". — Mit unserm Josua Sohn des Gamla ist wohl auch Ben
Gamla identisch, der nach Joma III, 9 eine goldene Urne zum Looseziehen
über die beiden Böcke am Versöhnungstage anfertigen ließ. — Noch andere
rabbinische Traditionen über ihn s. bei Derenbourg p. 248 sg. Über seine
Verdienste um das Schulwesen s. unten § 27.
22) S. über ihn auch Grätz, Monatsschr. 1881, S. 62—64. Gesch. der
Juden IH, 4. Aufl. S. 750 1
23) Diesen letzten Hohenpriester kennt auch die rabbinische Tradition,
s. Derenbourg p. 269. Sein Name ist hebr. ön^B (also derselbe, der uns
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 18
274 § 23. Verfassung, Synedrium. Hohepriester. [221]
Bei dem häufigen Wechsel dieser Hohenpriester gab es stets
eine ziemliche Anzahl solcher, die nicht mehr im Amte waren«
Auch diese nahmen trotzdem eine sehr angesehene und einfloß-
reiche Stellang ein, wie sich in betreff einiger wenigstens noch
nachweisen läßt24. Von dem älteren Ananos oder Hannas (Nr. 10)
ist ans dem Neuen Testamente bekannt, welches Ansehen er auch
als abgesetzter Hoherpriester noch genoß. Ein gleiches gilt von
seinem Sohne Jonathan (Nr. 15), der lange nach seinem Bücktritt
vom Amte im Jahre 52 eine Gesandtschaft an den syrischen Statt-
halter Ummidius Quadratus führte, hierauf von diesem wegen der
Unruhen in Judäa zur Verantwortung nach Rom geschickt wurde
und dort, als die Sache zugunsten der Juden erledigt war, den
Kaiser um Sendung des Felix als neuen Prokurators bat Als
dieser sein Amt zu allgemeiner Unzufriedenheit führte, erlaubte
sich Jonathan, ihn an seine Pflicht zu erinnern, und büßte dafür
mit dem Leben25. Ein anderer Hoherpriester, Ananias Sohn des
Nedebaios (Nr. 21), herrschte nach seiner Absetzung fast wie ein
Despot in Jerusalem. Der jüngere Ananos (Nr. 24) und Jesus
Sohn des Gamaliel (Nr. 26) standen in der ersten Periode des
Krieges, obwohl sie nicht mehr das hohepriesterliche Amt be-
kleideten, doch an der Spitze der Geschäfte. Es ist daraus zu
entnehmen, daß diese Männer durch ihre Entfernung vom Amte
keineswegs zu politischer Untätigkeit verurteilt waren. Das Amt
verlieh vielmehr seinem Träger einen char acter indelebüis, vermöge
dessen er auch nach seinem Rücktritte noch einen großen Teil der
Rechte und Pflichten behielt, welche der fungierende Hohepriester
hatte26, selbstverständlich auch den Titel <xqxisqsv$, welchen bei
Josephus alle abgesetzten Hohenpriester fortführen. Wenn daher
im Neuen Testamente aQxisQsiq an der Spitze des Synedriums er-
aus Luthers Bibel in der Form Pinehas geläufig ist, Eocod. 6, 25. Num. 25, 7).
Bei Josephus schwankt die Orthographie sehr, Bell. Jud. IV, 3, 8: Qawlaq,
4>avi tiq, *dwt t*s, 4>awtrr]<;, Pseudo-Eegesipp. ed. Weber: Phanes oder Phanis,
Arüt. XX, 10: &dvaooe, 4>Jjvaoog, Finasus, <Pivieaoq.
24) Vgl. zum Folgenden: Stud. u. Krit. 1872, S. 619 ff.
25) Die Belege sind oben überall angegeben.
26) Horajoih III, 1 — 4. — S. bes. III, 4 : „Zwischen einem im Amte stehen-
den und einem davon abgetretenen Hohenpriester ist kein Unterschied, als
der Farren am Versöhnungstage und das Zehntel Epha. Beide sind aber
einander gleich in Ansehung des Dienstes am Versöhnungstage, des Ge-
botes eine Jungfrau zu heiraten; beide dürfen nicht eine Wittwe ehelichen,
sich nicht an verstorbenen Blutsverwandten verunreinigen, nicht das Haupt-
haar wild wachsen lassen, nicht die Kleider zerreißen, und beide bewirken
durch ihren Tod die Rückkehr des Totschlägers". — Dieselben Bestimmungen
zum Teil auch Megilla I, 9 und Makkoth II, 6.
[221. 222] IV. Die Hohenpriester. 275
scheinen, so sind darunter in erster Linie | diese abgetretenen
Hohenpriester mit Einschluß des fungierenden zu verstehen27.
Zuweilen aber werden als aQx^Qelg auch solche Männer ge-
nannt, welche sich nicht in dem obigen Verzeichnisse finden. In
der Apostelgeschichte (4, 6) werden aufgezählt: "Avvag 6 aQx&Qsvg
xal Katatpag xal >I<x>avvr\g xal 'AXigavÖQoq xal oöoc r\Oav ix
yivovq aQxiBQaxixov. An einer späteren Stelle (19, 14) wird ein
jüdischer Hoherpriester Skeuas mit seinen sieben Söhnen erwähnt.
Josephus nennt einen Jesus Sohn des Sapphias, xmv aQxuQicov
$va2*, einen Simon £g aQxisQfov, der zur Zeit des Krieges noch
ein junger Mann war, also nicht mit Simon Kantheras (Nr. 17)
identisch sein kann29, endlich einen Matthias Sohn des Boethos,
xbv aQxtAQia oder ix xmv aQXUQicov*0. Keiner von diesen ist in
unserem Verzeichnisse zu finden. Auch die rabbinische Tradition
kennt manchen Hohenpriester, der darin fehlt31. Zur Erklärung
dieser Tatsache wird folgendes dienen.
Bei Gelegenheit der tumultuarischen Wahl des Phannias (Pine-
has) zum Hohenpriester bemerkt Josephus32, die Zeloten hätten
dadurch „die Geschlechter ihrer Geltung beraubt, aus welchen ab-
wechselnd die Hohenpriester ernannt zu werden pflegten" (axvQa
xa yivr\ jioi7]Capxsg £§ °*v xaxä diadoxag ot aQX^Qelg aJtedsixwvxo).
Das Hohepriestertum galt also für ein Vorrecht weniger
Geschlechter. In der Tat darf man nur die obige Liste ansehen,
um sich zu überzeugen, daß es auf wenige Familien beschränkt
blieb. Zur Familie Phiabi gehören Nr. 3, 11, 22; zur Familie
Boethos Nr. 4, 7, 8, 17, 19, 26; zur Familie Ananos (oder Hannas)
Nr. 10, 12, 14, 15, 16, 18, 24, 27; zur Familie Kamith Nr. 13, 20,
23. Wenn wir von Ananel, einem Babylonier niedriger Abkunft
(Nr. 1), von Aristobul, dem letzten Hasmonäer (Nr. 2), und von
Phannias, dem Hohenpriester der Revolutionszeit (Nr. 28), absehen,
so bleiben nur fünf (Nr. 5, 6, 9, 21, 25), von welchen die Zugehörig-
27) Bestätigt wird dies Damentlich durch folgende Stellen: B. J. II, 12, 6:
zoi>$ a(>xie(>e?G ^(ovad^v xal yAvavlav. — Vita 38: xoi>q &Q%t,eQeZ<; *Ava-
vov xal fyoovv xbv xoO ra/xaXä. — B. J. IV, 3, 7: 6 yeQalxaxoq x(bv &g-
%i€Qi(av "Avavog, — B. J, IV, 4, 3: 6 pex' "Avavov yeQalxazog xwv äQXie'
gio>v iijaoOq. — B. J. IV, 3, 9: ol Soxifjubtazoi xtbv &Q%iE(>4a)Vf rafiaXa
fihv vldg 'Itjoovi;, 'Avdvov 6h "Avavo$. — An den drei letzten Stellen müssen die
&QX&Q&S Hohepriester in dem Sinne sein, in welchem es Ananos
und Jesus waren, d. h. abgesetzte Hohepriester im eigentlichen Sinne.
28) B. J. H, 20, 4.
29) Vita 39.
30) B. J. IV, 9, 11. V, 13, 1. VI, 2, 2.
31) S. StucL und Krit. 1872, S. 639.
32) Ä J. IV, 3, 6.
18*
276 § 23. Verfassung. Synedrium. Hohepriester. [222. 223}
keit | zu einer jener Familien nicht nachweisbar, aber immer noch
möglich ist Bei dieser Beschränkung des Hohenpriestertums auf
wenige Familien und bei dem hohen Ansehen, in welchem das
Amt stand, mußte schon die bloße Zugehörigkeit zu einer der be-
vorzugten Familien ein besonderes Ansehen verleihen. So begreift
es sich, daß Josephus an einer Stelle, wo er die Vornehmsten unter
den zu den Römern Übergegangenen namhaft machen will, neben
den aQxuQBlg auch die vtol x<bv aQxi£Q^G)V aufzählt88. In der
Mischna werden einmal „Söhne von Hohenpriestern" (D^?nb i?3
D^biia) als juristische Autoritäten in einigen eherechtlichen Fragen
angeführt, und zwar ohne Nennung ihrer Namen, weil sie eben als
Hohepriesterssöhne Männer von Ansehen und Autorität sind34.
Ein andermal wird erzählt, daß Briefe aus fernen Ländern mit
besonders großen Siegeln „an Söhne von Hohenpriestern" (^nb
trtna O'OTd) angekommen seien 85, woraus man auch wieder auf ein
gewisses Ansehen derselben im Auslande schließen darf. Es blieb
aber nicht bei dem bloßen Ansehen; vielmehr nahmen die Mit-
glieder der hohenpriesterlichen Familien auch eine tatsächlich be-
vorzugte Stellung ein. Nach Actor. 4, 6 hatten Sitz und Stimme
im Synedrium oooc fjöav ix yivovq dQxiBQarixov1 wo man
unter dem yivoq aQxuQaxtxov nach allem Bisherigen sicher nichts
anderes als die bevorzugten Familien zu verstehen hat — Wenn
nun die Mitglieder der hohenpriesterlichen Familien eine so be-
vorzugte Stellung einnahmen, so ist es begreiflich, daß auch der
Name aQxi£Qsig im weiteren Sinne auf sie übertragen wurde. Daß
dies in der Tat geschehen, dafür spricht, abgesehen von allem Bis-
herigen, namentlich die genannte Stelle des Josephus, in welcher
er den Übergang von zwei Hohenpriestern und acht Hohenpriesters-
söhnen zu den Römern berichtet und dann beide Kategorien unter
dem allgemeinen Titel äoxisQsiQ zusammenfaßt36. Von hier aus
werden wir es auch zu erklären haben, wenn zuweilen Hohe-
priester erwähnt werden, die sich nicht in unserem Verzeichnisse
finden. |
33) B. J. VI, 2, 2.
34) Kethuboth XIII, 1—2.
35) Ohaloth XVII, 5.
36) B. J. VI, 2, 2: T42v %oav &qzi£qsiq fxhv 'I&oqnöq xe xal fyoovq, vlol
6* &qxi€Q&(0V VQGiQ iwfev 'iofiarfXov xov xagaxofiri&hxoq iv Ävpifvy, xal
xiaaaoeq Maz&lov, xal ecq ixioov Max&lov, StaSoäq fxexä tfjv xov naxQÖq
anwXeiav, b%v 6 xov riwoa Zlfiwv anixxeive avv xgialv vlotq, log nQoslQijxai.
IloXkol öh xal xibv aXXiav evye vätv xolq &QX^BQevai avfx/nezeßdXoyvo. — Über
den Gebrauch des Titels im heidnischen Kultus s. Brandis Art. &Q%iSQBvq
in Pauly-Wissowas Beal-Enz. II, 471—483.
[224] IV. Die Hohenpriester. 277
Die aQXLSQeiq, die sowohl im Neuen Testamente als bei Jose-
phus37 als die leitenden Persönlichkeiten erscheinen, sind dem-
nach in erster Linie die Hohenpriester im eigentlichen Sinne, der
fungierende und die, welche früher dieses Amt bekleidet hatten,
in zweiter Linie die Mitglieder der bevorzugten Familien, aus
welchen die Hohenpriester genommen wurden. Sie standen zur
Zeit der Römerherrschaft an der Spitze des Synedriums und über-
haupt der einheimischen Landesregierung, in ihrer Mehrheit ohne
Frage sadduzäisch gesinnt, wenn sie auch im Handein sich wider-
willig den pharisäischen Forderungen fügten (s. oben S. 252 f.).
§ 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus.
Literatur:
Die Literatur über die Priesterschaft verzeichnet am vollständigsten Bau-
dissin, Gesch. des alttestamentl. Priesterthums (1889) S. XI— XV. Er-
gänzungen dazu 8. in Hostings? Dictionary of the Bible IV, 1902, p. 97.
Lightfoot, Ministerium templi quäle erat tempore ncstri servatoris (Opp. ed.
Roterodam. I, 671—758).
Lundius, Die alten jüdischen HeiligthÜmer, Gottesdienste und Gewohnheiten,
für Augen gestellet in einer ausführlichen Beschreibung des gantzen le-
vitischen Priesterthums etc., itzo von neuem übersehen und in beygefügten
Anmerckungen hin und wieder theils verbessert, theils vermehret durch
Johan. Christophorum Wolfium. Hamburg 1738.
Carpxov (Joh. Gottlob), Apparatus historieo-eriticus antiquitatum sacri codi-
eis (1748) p. 64—113. ßllsqq. 699 sqq.
Ugolini, SacerdotiumHebraicum, in s. Thesaurus Antiquitatum sacrarum T.XIII.
— Daselbst in Bd. XII und XIII auch noch andere einschlägige Mono-
graphien.
Bahr, Symbolik des mosaischen Cultus, 2 Bde. 1837—1839. Bd. I, 2. Aufl. 1874.
Win er, Realwörterb. Art.: Priester, Leviten, Abgaben, Erstgeburt, Erstlinge,
Hebe, Zehnt, Opfer u. a.
Herzfeld, Geschichte des Volkes Jisrael I, 387—424. III, 106 ff. 162 ff.
Oehler, Art. „Priesterthum" in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XII, 174—187. —
Ders., Art. „Levi" das. VIII, 347—358. „Nethinim" X, 296 f. „Opfer-
cultus" X, 614—652. — Dieselben Artikel in der 2. Aufl. revidiert von
Orelli.
Kurtz, Der alttestamentliche Opfercultus nach seiner gesetzlichen Begrün-
dung und Anwendung, Mitau 1862.
De Wette, Lehrbuch der hebräisch -jüdischen Archäologie (4. Aufl. 1864)
S. 268 ff.
Ewald, Die Alterthümer des Volkes Israel. Göttingen 1866. |
37) Besonders in dem Abschnitte B. J. II, 14 — 17.
278 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [226]
Keil, Handbuch der biblischen Archäologie (2. Aufl. 1875) S. 166 ff. 200 ff.
357 S. 373 ff.
Haneberg, Die religiösen Alterthümer der Bibel (2. Aufl. 1869) S. 356 ff.
508 ff. 599 ff.
Schenkels Bibel-Lexikon, dieselben Artikel wie bei Winer.
Riebm, Handwörterbuch des biblischen Altertums, die betreffenden Artikel.
Graf, Zur Geschichte des Stammes Levi (Merz* Archiv für wissenschaftl. Er-
forschung des A. T.s Bd. I, 1869, S. 68—106. 208—236).
Köhler, Lehrbuch der biblischen Geschichte Bd. I, 1875, S. 363—454.
Wellhausen, Geschichte Israels Bd. I, 1878, S. 15—174. Seit der 2. Ausg.
1883 unter dem Titel: Prolegomena zur Geschichte Israels. Hier 5. Ausg.
1899, S. 15—165.
Dillmann, Exegetisches Handbuch zu Exodus und Leviticus (1880) S. 455—461
und sonst.
Keuß, Geschichte der heiligen Schriften Alten Testaments (1881) § 294.
Oort, De Aaronieden (Theologisch Tijdschrift 1884 p. 289—335).
Baudissin, Die Geschichte des alttestamentlichen Priesterthums, 1889 (ein-
* gehendste Monographie über die Geschichte des Priestertums in der Zeit
des A. T.). Dazu: Kautzsch, Theol. Stud. und Krit. 1890, 8. 707—786.
Kautzsch, Art. „Levi, Leviten" in: Ersch und Gruber, Allgemeine Enzyklo-
pädie, Zweite Sektion, Bd. 43, 1889, S. 232—293.
Kuenen, De geschieden™ der priesters van Jahwe en de ouderdom der priester-
lijke wet (Theologisch Tijdschrift 1890, p. 1 — 42); in deutscher Übersetzung
in: Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur biblischen Wissenschaft,
übers, von Budde, 1894, S. 465—500.
Kowack, Lehrbuch der hebräischen Archäologie, 2. Bd. Sacralalterthümer,
Freiburg 1894.
Büchler, Die Priester und der Cultus im letzten Jahrzehnt des jerusalemi-
schen Tempels, Wien 1895, Jahresbericht der israelitisch -theologischen
Lehranstalt (vgl. Theol. Litztg. 1895, 516).
Hoonacker, Le sacerdoce livitique dans la loi et dam Vhistoire des Hebreux,
Louvain 1899 (angez. von Baudissin, Theol. Litztg. 1899, 359—363).
Baudissin, Art Priests and Levites in: Hostings* Dictionary of the Bible
vol. IV, 1902, p. 67—97.
Bob. Smith u. Bert holet, Art. Priest in: Encyclopaedia biblica HI, 1902,
coL 3837—3847.
Orelli, Art. „Levi, Leviten" in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. Bd. XI,
1902, S. 417—427. Ders., Art. „Opferkultus des A. T.s" ebendas. XIV,
1904, S. 336—400.
Köberle, Art. „Phestertum im A. T." in Herzog-Haucks Beal-Enz. 3. Aufl.
Bd. XVI, 1905, S. 32—47.
I. Die Priesterschaft als geschlossener Stand.
Die innere Entwickelung Israels seit dem Exil ist im wesent-
lichen durch die Wirksamkeit zweier gleich einflußreicher Kreise
bestimmt: durch die Priester und die Schriftgelehrten. In
den ersten Jahrhunderten nach dem Exil bis tief in die griechische
[225.-226] I. Die Priesterschaft als geschlossener Stand. 279
Zeit hinein hatten zunächst die Priester das Übergewicht. Sie
haben die neue Gemeinde organisiert; ans ihren Kreisen ist das
Gesetz hervorgegangen; in ihrer Hand lag die Leitung der Ge-
meinde nicht nur in äußerlicher, sondern auch in geistiger Be-
ziehung. Während sie aber ursprünglich selbst die Kenner und
Ausleger des Gesetzes waren, hat sich allmählich neben ihnen ein
selbständiger Stand von Gesetzeskundigen oder Schriftgelehrten
ausgebildet Und diese mußten in dem Maße an Ansehen und
Einfluß gewinnen, in welchem der Eifer fftr das väterliche Gesetz
in den Kreisen der Priesterschaft erkaltete, während das Gesetz
selbst im Bewußtsein des Volkes an Wert und Bedeutung gewann.
Dies war namentlich seit den makkabäischen Freiheitskämpfen
der | Fall. Von da an gewannen die Schriftgelehrten mehr und
mehr die geistige Führung des Volkes. Auf die Zeit der Priester
folgte die Zeit der Schriftgelehrten (vgl. Beuß, Geschichte
•der heil. Schriften A. T.s). Dies ist jedoch nicht so zu verstehen,
"als ob die Priester nun allen Einfluß verloren hätten. In poli-
tischer und sozialer Hinsicht waren sie auch jetzt noch die ersten.
Die Schriftgelehrten waren zwar jetzt die Lehrer des Volkes.
Aber die Priester hatten vermöge ihrer politischen Stellung, ver-
möge der gewaltigen Mittel, über welche sie geboten, endlich und
vor allem vermöge ihrer religiös bevorzugten Stellung — daß
nämlich sie allein die Opfer Israels Gott darbringen konnten, so
daß von ihrer Vermittelung geradezu die Erfüllung der religiösen
Pflichten jedes einzelnen abhing — sie hatten durch alles dieses
noch immer eine außerordentliche Bedeutung für das Leben des
Volkes.
Begründet ist diese ihre Bedeutung hauptsächlich eben darin,
daß sie einen fest geschlossenen Kreis bildeten, der ausschließlich
das Recht hatte, die Opfer des Volkes vor Gott zu bringen. Nach
der seit Esra und Nehemia zu unbedingter Geltung gelangten pen-
tateuchischen Gesetzgebung waren allein „die Söhne Aarons"
zum Opferdienst befugt1. Die Priesterschaft war also eine
1) 8. bes. Exod. 28—29. Levit. 8—10. Numeri 16—18. Näheres bei Bau-
et is sin, Die Geschichte des alttestamentl. Priestertums S. 22—25. — Ich be-
merke hier, daß die folgende Darstellung von der Voraussetzung ausgeht, daß
der sogenannte Priesterkodex, d. h. die Hauptmasse der Gesetze in Exodus,
Leviticus und Numeri, jünger ist als Deuteronomium und Ezechiel. Dieses
Verhältnis ist, wie mir scheint, durch die neuere Pentateuchkritik evident
erwiesen worden. Die Gesetzgebung des Priesterkodex repräsentiert auf allen
Hauptpunkten augenscheinlich eine spätere Entwickelungsstufe als Deuterono-
mium und Ezechiel. Die beiden letzteren wären schlechterdings unverständlich,
wenn ihnen der Priesterkodex schon vorgelegen hätte.
280 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [226. 227]
Gemeinschaft, deren Grenzen unverrückbare waren, weil sie durch
die natürliche Abstammung für immer gegeben waren. Niemand,
der nicht von Geburt diesem Kreise angehörte, konnte in denselben
hineingelangen; und niemand, der ihm durch legitime Geburt an-
gehörte, konnte von ihm ausgeschlossen werden. Und dieser fest-
geschlossene Kreis war im Besitz des höchsten Privilegiums, welches
gedacht werden konnte: des Privilegiums, alle Opfer des Volkes
und jedes einzelnen Gott darzubringen. Dieser Umstand allein
mußte der Priesterschaft ein, ungeheures Gewicht verleihen, zumal
das ganze bürgerliche Leben in der mannigfaltigsten Weise mit
dem religiösen Kultus verknüpft war 2. Dazu kommt, daß schon |
seit der Gesetzgebung des Deuteronomiums zur Zeit Josias (um
630 vor Chr.) alle Opferstätten außerhalb Jerusalems für illegitim
erklärt und der gesamte Kultus in dem einen Heiligtum
zu Jerusalem konzentriert war. Aus allen Teilen des Landes
flössen also alle Opfergaben an diesem einen Mittelpunkte zu-
sammen, der dadurch zu einer Quelle der Macht und des Reich-
tums für die hier fungierende Priesterschaft wurde. Auch wurde
durch diese Konzentrierung des Kultus die Priesterschaft selbst
zu einer festen kompakten Einheit zusammengeschlossen.
Nach dem Gesagten versteht es sich von selbst, daß das erste
Erfordernis eines Priesters der Nachweis seines Stamm-
baumes war. Auf diesen wurde das größte Gewicht gelegt. Wer
ihn nicht aufzeigen konnte, hatte keinen Anspruch auf Anerkennung
seiner priesterlichen Rechte. Schon bei der ersten Rückkehr der
Exulanten unter Serubabel wurden einige priesterliche Familien,
die ihre Stammbäume nicht vorlegen konnten, vom Priestertum
ausgeschlossen3. Umgekehrt versichert Josephus, daß er seinen
Stammbaum aufgezeichnet gefunden habe „in den öffentlichen Ur-
kunden"4. Die Geschlechtsregister hatten also wegen ihrer Be-
deutung für die Gesamtheit den Charakter öffentlicher Urkunden.
Um die Reinheit des priesterlichen Blutes zu erhalten, waren
auch für die Eheschließung bestimmte Vorschriften gegeben.
2) Konnten doch z. B. sogar manche eherechtliche und medizinalpolizei-
liche Angelegenheiten nur durch priesterliche Funktionen erledigt werden, 8.
Num. 5, 11 — 31 (Verfahren gegen die des Ehebruchs Verdächtige), Lev. 13—14,
Deut. 24, 8—9 (Verfahren beim Aussatz).
3) Esra 2, 61—63 — Nehemia 7, 63—65.
4) Jos. Vita 1: xfjv phv ovv xov yhovq fiftibv öuxöozfr, u>S iv xalq tfiy-
fioclaiq ötXxoiq dvayeyoafifxivTiv evqov, o\ha> naQaxl&efiai. Josephus ver-
folgt hier seinen Stammbaum zurück bis in die Zeit des Johannes Hyrkanus
und zwar so genau, daß er für jeden seiner Vorfahren das Geburtsjahr
angibt.
[227. 228] L Die Priesterschaft als geschlossener Stand. 281
Nach dem Gesetz Lev. 21, 7—8 durfte ein Priester nicht heiraten
eine öffentliche Dirne oder entweihte Jungfrau oder vom Manne
geschiedene Frau; also nur eine reine Jungfrau oder Witwe, selbst-
verständlich nur aus israelitischem Geschlecht 5. Eine kastenmäßige
Beschränkung auf die Ehe mit Priestertöchtern ist dagegen nicht
gefordert Diese Bestimmungen hat auch die spätere Zeit festgehalten
und sie nur genauer präzisiert6. Als „Geschiedene" sollte auch
gelten eine Chaluza, d. h. eine Witwe, die vom Schwager nicht
zur | Schwagerehe angenommen (gleichsam aus ihr entlassen) worden
ist7. Als der Entweihung verdächtig war dem Priester verboten
eine in Kriegsgefangenschaft Gewesene8. Wenn ein Priester nicht
schon Kinder hatte, durfte er auch keine „Unfähige" heiraten9;
jedenfalls aber keine Proselytin oder freigelassene Sklavin; die
Tochter eines Proselyten oder freigelassenen Sklaven nur dann,
wenn die Mutter eine Israelitin war10. — Noch strenger waren
die Vorschriften für den Hohenpriester. Er durfte auch keine
Witwe heiraten, sondern nur eine reine Jungfrau (Leu. 21, 13—15).
5) Jos. contra Apion. I, 7: öet yäo xbv (xer&xovxa zf/g leoa)Ovvr]g £{ d/io-
e&voüQ yvvaixdg ncudonomo&au
6) 8. im allgemeinen: Philo, De monarckia Lib. II § 8 — 11 (ed. Mang.
II, 228*?.). Joseph. Antt. III, 12, 2. Die rabbinischen Bestimmungen bei
Seiden , De successione in pontificatwn H, 2 — 3. Der 8., Uxor Ebraica I, 7.
Wagenseil zu Sota IV, 1 (in Surenhusius' Mischna m, 230 ff.). Ugolini,
Thesaurus tom. XTTI col. 911 ff. P. Grünbaum, Die Priestergesetze bei Fla-
vius Josephus (Halle, Dissertation, 1887) S. 15—25.
7) Sota IV, 1. VIII, 3. Makkoth III, 1. Targum Jonathan, Siphra und Pe-
sikta zu Lev. 21, 7, bei Ugolini a. a. O.
8) Joseph. Antt. III, 12, 2; contra Apion. I, 7. Antt. XIII, 10, 5 fin. (Ge-
schichte des Johannes Hyrkanus). — Nach Kethuboth TL, 9 waren sogar Prie-
sterfrauen, die sich in einer vom Feind eroberten Stadt befunden hatten, ihren
Männern fortan nicht mehr zu ehelichem Umgang erlaubt, außer wenn ihre
Integrität durch Zeugen verbürgt war.
9) Jebamoth VI, 5.
10) Keine Proselytin oder freigelassene Sklavin: Jebamoth VI, 5. Über die
Töchter s. Bikkurim I, 5: R Elieser ben Jakob sagt: Eine Tochter von Prose-
lyten darf nicht einem Priester vermählt werden, außer wenn ihre Mutter
aus Israel ist. Dasselbe gilt auch bei Töchtern freigelassener Sklaven. Selbst
im zehnten Glied ist es nur gestattet, wenn die Mutter aus Israel ist. Kiddu-
schin IV, 7: R. Elieser ben Jakob sagt: Wenn ein Israeli te eine Proselytin
geheiratet hat, so ist seine Tochter dem Priesterstande erlaubt Wenn ein
Proselyt eine Israelitin geheiratet hat, so gilt dasselbe. Aber wenn ein Pro-
selyt eine Proselytin geheiratet hat, so ist seine Tochter dem Priesterstande
nicht erlaubt. Dem Proselyten steht hierin ein freigelassener Sklave gleich;
selbst bis ins zehnte Geschlecht, bis die Mutter eine Israelitin ist. B. Jose
sagt: Auch wenn ein Proselyt eine Proselytin geheiratet hat, ist seine Tochter
dem Priesterstande erlaubt.
282 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [228* 229]
Auch diese Bestimmung ist von der späteren Zeit festgehalten und
genauer präzisiert worden11. Wenn Philo sagt, daß der Hohe-
priester nur eine Jungfrau aus priesterlichem Geschlechte heiraten
dürfe12, so entspricht dies weder dem Text des Leviticus noch
der | späteren gesetzlichen Anschauung, weiche beide auch dem
Hohenpriester jede israelitische Jungfrau gestatten. Vielleicht ist
Philo zu seiner Meinung durch den Wortlaut der Septuaginta ver-
anlaßt worden13, vielleicht auch durch -die tatsächliche Sitte oder
durch beides. — Die Forderung Ezecbiels (44, 22), daß ein Priester
nur eine Jungfrau oder Priesterswitwe heiraten solle, ist von der
späteren Rechtsentwickelung nicht aufgenommen worden. — Bei
dem großen Gewicht, das man auf die Beobachtung dieser Vor-
schriften legte, mußte natürlich ein Priester bei der Verheiratung
den Stammbaum seiner Frau genau prüfen. Mit welcher Sorgfalt
dies geschah, wird von Josephus ausführlich beschrieben 14. In der
11) Philo, De monarchia II, 9. Joseph. Äntt. III, 12, 2. Jebamoth VI, 4:
„Ein Hoherpriester darf keine Wittwe nehmen, sie sei Wittwe aus der Ver-
lobungszeit oder aus der Ehe. Auch darf er keine bereits völlig mannbare
nehmen. B. Elieser und B. Simon halten eine mannbare für zulässig. Er darf
auch keine durch Zufall verletzte heiraten". — Daß der Hohepriester über-
haupt keine schon verlobt gewesene heiraten dürfe, sagt Philo, De monarchia
II, 9/w. Vgl. Ritter, Philo und die Halacha (1879) 8. 72. — Lundius,
Die alten jüdischen Heiligtümer Buch III, Kap. 19. — Grünbaum, a. a. 0.
S. 26—30.
12) Philot De monarchia II, 11 : TtQooxa^aq xw fikv ioxieoet fxväo&ai ftti
uövov ywaXxa nao&kvov, aXXä xal l&oeiav ig Ieq&wv.
13) Bei den LXX lautet Lev. 21, 13: ovxoq ywatxa nao&ivov ix vovyi-
vovq ai)zov XJj\petaiy wo den Worten ix xov yivovq avxov im hebräischen
Texte nichts entspricht. Vgl. Bitter, Philo und die Halacha S. 72 f.
14) Contra Apion. I, 7. — Man muß hiernach annehmen, daß doch sehr
viele Familien im Besitze von Stammbäumen waren. Vgl. dazu die zahl-
reichen Listen in den Büchern Esra und Nehemia; ferner die Andeutungen
im Neuen Testamente: Matth. 1, lff. Lue. 2, 36. 3, 23 ff. Actor. 13, 21. Rom.
11, 1. Phil. 3, 5. Auch Mischna Jebamoth IV, 13. Taanith IV, 5. Euseb.
Hut. eccl. I, 7 —• Jul. African. Epist. ad Aristidem (bei Routh, Reliquiae sacrae
II, 228 ff. und Spitta, Der Brief des Julius Africanus an Aristides, 1877. Dazu
Harnack, Gesch. der altchristl. Literatur I, 1893, S. 512 f.). Davididen noch
zur Zeit des Vespasian, Domitian und Trajan (Euseb. Eist. eccl. III, 12. III,
19—20. m, 32). — Winer BWB. U, 516—518. Herzfeld, Gesch. des Volkes
Jisrael I, 378 — 387. Wieseler, Beiträge zur richtigen Würdigung der Evan-
gelien (1869) 8. 133ff. Holtzmann in Schenkels Bibellex. II, 425—430.
Hamburger, Real-Enz. IL Abt. Art. „Genealogie". Smend, Die Listen der
Bücher Esra und* Nehemia, Basel 1881. Ed. Meyer, Die Entstehung des
Judentums 1896, S. 135—166. Curtis Art. Oenealogy in Hostings? Dictionary
of the Bible II, 121—137. Cook Art. Qenealogies in: Encyclopaedia biblica II
col. 1657—1666.
[229.. 230] I. Die Priesterschaft als geschlossener Stand. 283
Mischna wird festgestellt, wie weit die Prüfung rückwärts zu gehen
habe15, und in welchen Fällen sie unterbleiben könne16.
Schon bei diesen Vorschriften über die Eheschließung liegt der
Gedanke zugrunde, daß der Priesterstand ein heiliger Stand
sein solle. Derselbe Gedanke kommt auch noch in anderen Vor-
schriften zum Ausdruck. Da nach dem Gesetz (Num. 19) jede
Berührung einer Leiche, ja sogar das Betreten eines Hauses, in
welchem eine solche lag, verunreinigte, so war den Priestern ver-
boten, sich Leichen zu nahen und an den Trauerfeierlichkeiten
teilzunehmen, und zwar dem Hohenpriester unbedingt, den anderen
Priestern nur mit Ausnahme der nächsten Blutsverwandten: Eltern,
Kinder und Geschwister {Leo. 21, 1—4. 11—12. Exeekiel 44, 25—27).
Nicht einmal die Trauer um die eigene Frau scheint dem Priester
gestattet gewesen zu sein. Oder sollte sie als selbstverständlich
nur nicht ausdrücklich unter den Ausnahmen mitgenannt sein?17.
— Unter allen Umständen hatte ein Priester entstellende Trauer-
gebräuche, wie das Scheren einer Glatze und Einritzen der Haut
zu meiden (Lev. 21, 5—6; vgl. Ezech. 44, 20), der Hohepriester auch
das Auflösen des Haupthaares und Zerreißen der Kleider (Lev. 21,
10; vgl. 10, 6—7) 18.
Zu der Heiligkeit eines Priesters gehörte auch die körper-
15) Kidduschin IV, 4 : „Wenn ein Priester einePriestertochter heiraten
will, muß er zurück nach vier Müttern, also eigentlich acht, sich erkundigen.
Diese sind: ihre Mutter und deren Mutter; die Mutter ihres mütterlichen
Großvaters und deren Mutter; die Mutter ihres Vaters und deren Mutter; die
Mutter ihres väterlichen Großvaters und deren Mutter. Will er eine Levi-
oder Israel-Tochter nehmen, so kommt noch ein Grad hinzu"
16) Kiddusehin IV, 5: „Man braucht von einem am Altare gedient haben-
den Priester und von einem im Sängerchore gedient habenden Leviten und
von einem Synedrialrate aufwärts nicht mehr zu untersuchen. Überhaupt
alle, deren Vorfahren als öffentliche Beamte oder Almosenpfleger bekannt sind,
die können ohne weitere Untersuchung mit dem Priesterstande sich verhei-
raten".
17) Nach der gewöhnlichen Auslegung des überlieferten Textes wäre in
Lev. 21, 4 die Trauer um die Ehefrau sogar ausdrücklich verboten. Wenn hier
auch Auslegung und Text . sehr zweifelhaft sind (s. Dillmann zu d. St.), so
bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die Ehefrau nicht unter den Ausnahmen
genannt ist Auch Philo, De monarchia II, 12 und Josephus Antt. III, 12, 2
nennen sie nicht Die Babbinen dagegen beziehen auf sie 'nträ Lev. 21, 2
und verstehen 21, 4 von der Trauer um die illegitime Frau. 8. die Stellen
aus Targum Jonathan und Siphra beiUgolini XIII, 929 ff. Maimonides, Hil-
ehoth Ebel II, 7 (Petersburger Übersetzung Bd. IV, S. 206). Im allgemeinen
auch Oehler in Herzogs Beal-Enz. 1. Aufl. XII, 176 f.
18) Vgl. auch Lundius, Die alten jüdischen Heiligtümer Buch III,
Kap. 20.
284 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [230. 231]
liehe Makellosigkeit Wer irgend einen Leibesfehler hatte,
durfte trotz seiner Zugehörigkeit zu den „Söhnen Aaronstt doch
nicht den Opferdienst verrichten. In der Aufzählung der einzelnen
Fehler geht schon das Gesetz des Leviticus ziemlich ins Detail
(Lev. 21, 16 — 23). Die spätere Zeit hat natürlich auch hier in
möglichster Spezialisierung ihren Scharfsinn geübt Man hat be-
rechnet, daß es im ganzen 142 Leibesfehler gibt, die zum Priester-
dienst untauglich machten 19. Auch diejenigen Priester aber, die |
aus einem solchen Grunde keinen Dienst ausüben konnten, hatten
Anteil an den Einkünften, da auch sie dem ordo angehörten20.
Über das Alter, in welchem ein Priester zum Dienst sollte
zugelassen werden, ist im Gesetze nichts vorgeschrieben. Vielleicht
darf für die Priester dasselbe Dienstalter angenommen werden, wie
für die Leviten. Doch wird auch dieses im Alten Testamente ver-
schieden angegeben21. Die rabbinische Tradition sagt, daß ein
Priester zum Dienst berechtigt war, sobald die ersten Zeichen der
Mannbarkeit sich zeigten, daß er aber faktisch doch erst mit
zwanzig Jahren zugelassen wurde22.
Wer nun allen angegebenen Forderungen genügte, der wurde,
nachdem seine Tauglichkeit vom Synedrium geprüft und anerkannt
war23, noch durch einen besonderen Einweihungsakt für den
Dienst geheiligt. Zu diesem solennen Akt gehörten nach der
Hauptstelle des Gesetzes Exod. 29 = Levit. 8 drei Stücke: 1) das
Reinigungsbad, 2) die Bekleidung mit den heiligen Gewändern,
und 3) eine Reihe von Opfern, mit deren Darbringung zum Teil
19) Haneberg, Die religiösen Altertümer der Bibel S. 532. — S. über-
haupt: Philo, De monarchia II, 5. Josephus Antt. ITT, 12, 2. Mischna Beeho-
roth VIL Seiden, De sueeessione in pontifieatum Ebr. II, 5. Carpxov,
Apparatus historico-criticus p. 89 — 94. Ugolini XIII, 897ff. Haneberg
S. 531 £ 0 eh ler XII, 176. — Parallelen aus dem heidnischen Altertum s.
bei Knobel-Dillmann, Exeget. Handb. zu Exodus und Leviticus 8.568. —
Priester, die einen Leibesfehler hatten, pflegte man nach diesen zu nennen.
So kommt unter den Vorfahren des Josephus vor: Simon „der Stotterer" und
Matthias „der Bucklige" (Joseph. Vita 1). In der Liste der Hohenpriester
finden wir einen Joseph Sohn „des Stummen" (d^k *p), s. oben S. 270.
20) Lev. 21, 22. Philo, De monarchia II, 13. Josephus Antt. III, 12, 2.
Bell. Jud. V, 5, 7. Mischna Sebachim XII, 1. Menachoth XIII, 10 fin.
21) Dreißig Jahre: Num. 4, 3. 23. 30. 35. 39. 43. 47. I Chron. 23, 3.
Fünfundzwanzig: Num. 8, 23—26. Zwanzig: Esra 3, 8. I Ohron. 23, 24. 27.
II Chron. 31, 17. Vgl. Baudissin, Die Geschichte des alttestamentl. Priester-
tums S. 167 £
22) S. die Stelle aus Siphra (=*bab. Ohullin2ih) bei Seiden, De sueees-
sione II, 4 und Ugolini, Thes. XIII, 927. Überhaupt: Grünbaum, Die
Priestergesetze bei Flavius Josephus (1887) S. 34—36.
23) Middoth V fin.
[231. 232] I. Die Priesterschaft als geschlossener Stand. 285
noch besondere Zeremonien verbunden waren: die Bestreichung
einzelner Körperteile der Einzuweihenden mit Blut, die Besprengung
der Personen und Kleider mit Blut und Öl, die „Füllung der
Händett, d. h. das Auflegen gewisser Opferteile auf die Hände der
Priester, um damit ihre künftigen priesterlichen Pflichten und
Rechte anzudeuten. An einigen anderen Stellen (Exod. 28, 41. 30, 30.
40, 12—15. Lev. 7, 36. 10, 7. Num.Z, 3) wird auch noch die Salbung
genannt, die in der Hauptstelle als eine nur den Hohenpriester
auszeichnende Handlung erscheint24. Die ganze Zeremonie dauerte
sieben Tage (Exod. 29, 35 ff. Lev. 8, 33 ff.). Wie es mit diesem
Einweihungsakt in der späteren Zeit gehalten wurde, ist im ein-
zelnen | fraglich 25. Wahrscheinlich ist die Salbung eine Auszeich-
nung des Hohenpriesters geblieben26.
24) 8. hierüber Wellhausen, Jahrbb. f. deutsche Theol. 1877, 8. 412f.
Dillmann, Exeget. Handbuch zu Lev. 8, 12. — Über die Salbung überhaupt:
Weinel, ntös und seine Derivate (Zeitschr. für die alttestamentl. Wissensch.
XVIII, 1898, S. 1—82, speziell über die Salbung der Priester: S. 28 ff.). Well-
hausen, Archiv für Beligionswissenschaft Bd. VII, 1904, S. 33—39 (niDs eigent-
lich: mit der Hand streichen, auch ohne Öl). Zehnpfund, Art „Salbe" in
Herzog-Haucks Beal-Enz. 3. Aufl. XVII, 391 ff.
25) S. übern.: Seiden, De suecessione II, 8*9. Ugolini, Thesaurus
Xm, 434 ff. 476—548. Bahr, Symbolik des mosaischen Cultus II, 165 ff.
Win er RWB. Art. „Priesterweihe". Oehler in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl.
XII, 17&— 180. Haneberg 8. 526—531. Nowack, Lehrb. der hebr. Archä-
ologie II, 120 ff. Weinel a. a. O. — Nach Ansicht einiger hätte in der spä-
teren Zeit der neu antretende Priester nur das Lev. 6, 12 ff. vorgeschriebene
Speisopfer darzubringen gehabt Das ist aber ganz unglaublich und beruht
nur auf Mißverständnis der rabbinischen Stellen, welche allerdings fordern,
daß der neu antretende (also neugeweihte) Priester zunächst dieses Opfer für
sich darbringe, ehe er andere Opfer darbringt. S. die Stellen bei Ugolini
XIII, 546 f. und vgl. auch Frankel, Über den Einfluß der palästinischen Exe-
gese etc. (1851) S. 143. — Keinen Aufechluß geben Philo, Vita Mosis III, 16—18,
und Josephus Antt. III, 8, 6, da sie nur Exod. 29 = Levit. 8 reproduzieren.
26) Vgl. Well hausen, Jahrbb. f. deutsche Theol. 1877, S. 412. — Auch
der Hohepriester scheint aber in der letzten Zeit des Tempelbestandes nicht
mehr (oder nicht immer?) gesalbt worden zu sein, da die Mischna im Unter-
schied von den gesalbten Hohenpriestern auch solche kennt, die in ihr Amt
eingesetzt wurden durch Bekleidung mit den heiligen Gewändern. S. bes.
Horajoth III, 4. Falsch ist aber jedenfalls die Meinung des Maimonides, daß
die Salbung schon seit dem Exil unterblieben sei. Der im 2. Makkabäerbuch
erwähnte Alexandriner Aristobul war „aus dem Geschlechte der gesalbten
Priester1* (H Makk. 1, 10: \4.Qi<noßovXo> .... Övxt, &nö xov xCbv ;r(u<7Ta>v Uq£q>v
yivovq). Das Buch Daniel spricht 9, 26 von einem „Gesalbten", worunter wahr-
scheinlich der Hohepriester Onias III. zu verstehen ist.- Damals ist also die
Salbung noch geübt worden; und die hasmonäischen Priester - Könige werden
sie schwerlich unterlassen haben. Eher wird sie in der herodianisch-romischen
Zeit abgeschafft worden sein.
286 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. (232. 233]
Die Zahl der Priester war so groß, daß nie alle gleichzeitig
fangieren konnten. Es mußte also ein bestimmter Wechsel be-
obachtet werden. Zu diesem Zweck war die ganze Priesterschaft
in 24 Geschlechter oder Dienstklassen eingeteilt27. Über die
Entstehung und Organisation dieser 24 Dienstklassen sagt die
rabbinische Tradition folgendes28: „Vier Dienstklassen (ninatte)
kehrten aus dem Exil zurück: Jedajat Charim, Paschchur und
Immer .... Da standen die Propheten, die unter ihnen waren, auf
und machten 24 | Lose und legten sie in eine Urne. Und es kam
Jedaja und zog fünf Lose, macht also mit ihm sechs. Und es kam
Charim und zog fünf Lose, macht also mit ihm sechs. Und es kam
Paschchur und zog fünf Lose, macht also mit ihm sechs. Und es
kam Immer und zog fünf Lose, macht also mit ihm sechs Und
es wurden Vorsteher der Dienstklassen (rri-fljirjtt itian) aufgestellt.
Und die Klassen teilten sich in Vaterhäuser (rria« '»na). Und es
gab Dienstklassen von fünf, sechs, sieben, acht oder neun Vater-
häusern. Bei einer Dienstklasse von fünf Vaterhäusern hatten 3
an je einem Tage, 2 an je zwei Tagen den Dienst; bei einer Klasse
von sechs Vaterhäusern hatten 5 an je einem Tage, 1 an zwei
Tagen den Dienst; bei sieben jede an einem Tage; bei acht 6 an
je einem Tage, 2 zusammen an einem Tage; bei neun 5 an je
einem Tage, 4 zusammen an zwei Tagen". — Was hier über den
Ursprung (oder nach der Meinung des Talmud: über die Wieder-
herstellung) der 24 Dienstklassen gesagt wird, hat zwar nicht den
Wert einer selbständigen Tradition, beruht vielmehr nur auf Schluß-
folgerungen aus den auch sonst bekannten Tatsachen. Im wesent-
lichen wird aber damit in der Tat das Eichtige getroffen sein. Mit
Serubabel und Josua kehrten aus dem Exil vier Priester-
geschlechter zurück: die Kinder Jedaja, Immer, Paschchur und
Charim, mit zusammen 4289 Männern (Esra 2, 36 — 39 = Nehem. 7,
27) S. hierüber: Light foot, Ministerium templic VI, (Opp. I, 691 — 694).
Ders., Earmonia evangelistarum, zu Lud, 5 (Opp.I, 258 sqq.). Ders., Horae
hebraicae, zu Luc. 1, 5 (Opp. II, 486 sqq.). — Garpxov, Apparatus historico-
critieus p. 100—102. — Ugolini, Thesaurus t XIII, col. 872 sqq. — Herz-
feld, Geschichte des Volkes Jisrael I, 38731 — ßertheau, Exegetisches
Handbuch zu Esra, Nehemia und Ester (1802) S. 228—230. — Oehler in
Herzogs Beal-Enz. 1. Aufl. XH, 182—186. — Haneberg, Die religiösen Alter-
tümer der Bibel S. 555ff: — Graf in Merx' Archiv I, 225f. — Ed. Meyer,
Die Entstehung des Judenthums 1896, S. 168—176.
28) jer. Taanith IV fol. 68», und im wesentlichen gleichlautend Tbsephia
Taanüh o. II (beide Stellen hebr. und lat. bei Ugolini XIH, 876ff.); z. T.
auch bab. Arachin 12b, vgl. Herzfeld I, 393. Ich gebe im obigen den Text
nachher. Taanith mit einigen Kürzungen.
[233. £34] I. Die Priesterschaft als geschlossener Stand. 287
39— 42)29. Diese vier Geschlechter bildeten auch noch bei der
Ankunft Esras, also achtzig Jahre später, den gesamten Bestand
der Priesterschaft, wie sich aus Esra 10, 18—22 ergibt Daneben
werden aber schon für die Zeit Serubabels und Josuas 22 Priester-
abteilungen mit ebensoviel „Häuptern" (owon ^tö&n) erwähnt
(Nehem. 12, 1 — 7). Und dieselben Abteilungen finden wir auch unter
Josuas Nachfolger, dem Hohenpriester Jojakim, wieder {Nehem. 12,
12— 21)80. Offenbar zerfielen also die vier Geschlechter | in 22 Ab-
teilungen. Im wesentlichen derselbe Tatbestand begegnet uns auch
noch zur Zeit Esras. Zu den vier Priestergeschlechtern, welche
Esra im Lande vorfand (Esra 10, 18—22), brachte er selbst mit
dem von ihm geführten Zug von Exulanten noch zwei weitere
Priestergeschlechter hinzu (Esra 8, 2)81. Die Zahl der Abteilungen
war aber bald darauf wieder fast dieselbe, wie zur Zeit Serubabels,
nämlich 21, wie wir aus der Liste Nehem. 10, 3—9 sehen. Von den
an letzterer Stelle genannten Namen finden sich jedoch nur 14
auch in den beiden früheren Listen (Nehem. 12, 1—7. 12—21), die
übrigen sind verschieden. Es waren also inzwischen in der Or-
ganisation der Abteilungen doch mehrfache Änderungen vorgenom-
men worden, was ja schon durch das Hinzukommen der von Esra
mitgebrachten Priestergeschlechter, vielleicht auch noch durch
andere Umstände notwendig geworden war32. Die Zahl der Ab-
29) Die Gültigkeit der angegebenen Zahlen für die Zeit Serubabels ist
in neuerer Zeit mehrfach bezweifelt worden; s. zunächst Stade, Theol. Litztg.
1884, 218 (in der Anzeige von Smend, Die Listen der Bücher Esra und Ne-
hemia 1881), und: Geschichte des Volkes Israel II, 106; ferner die von Ber-
tholet, Die Bücher Esra und Nehemia (Kurzer Hand-Kommentar XIX, 1902)
S. 8 genannte Literatur. Zu den schon von Stade hervorgehobenen Bedenken
kommt allerdings noch hinzu, daß Pseudo-Hekatfius im Beginn der helle-
nistischen Zeit die Zahl der samtlichen jüdischen Priester auf nur 1500 angibt
(Josephus contra Apion. I, 22 ed. Niese § 188: xalxoi ol ndvxeg leget; tföv
'Ioväalwv, ol rijv fcxdxrjv xibv. yivo(t£va>v Xctfißdvovzeg xal xh xoivd dioixotivxeq,
neol %iXlovq /udXiata xal nevxaxoalovq elotv). Sollten etwa in den obigen
4289 auch die Weiber und Kinder inbegriffen sein? Büchler, Die Priester
und der Cultus (Wien 1895, Jahresber. der israelit-theoi Lehranstalt) 8. 47 ff.
nimmt an, daß Hekatäus nur die in Jerusalem wohnenden im Auge hat Für
un8ern Zweck kann die Frage hier unentschieden bleiben.
30) In der zweiten Liste fehlt nur ein Name aus der ersten Liste (Chat-
tusch). Die übrigen 21 Namen sind sämtlich identisch, wie sich trotz mannig-
facher Inkorrektheiten des Textes doch noch sicher erkennen läßt, vgl. Ber-
theau zu Nehem. 12, 12.
31) Die Namen Gersom und Daniel sind hier nämlich Namen von
Priestergeschlechtern; s. Bertheau zu d. St
32) Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur biblischen Wissenschaft,
übers, von Budde (1894) S. 378: „Nichts ist natürlicher, als daß diese Namen
288 § 24* Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [234. 235]
teüungen war jedoch auch bei der Neuordnung in derselben Höhe
beibehalten worden wie früher. Und dabei blieb es im wesent-
lichen auch in der Folgezeit38. Zur Zeit des Chronisten, der die
Verhältnisse seiner Zeit in die Zeit Davids zurückträgt, betrug die
Zahl der Abteilungen 24 (I Chron. 24, 7—18). In dem Verzeichnis
der Namen kehrt freilich kaum mehr als ein Dritteil aus den
früheren Listen wieder. Es müssen also inzwischen wieder starke
Veränderungen stattgefunden haben, falls nicht etwa ein Teil der
Namen vom Chronisten in freier Weise für die Zeit Davids fingiert
worden ist Sicher ist, daß die Einteilung in 24 Klassen von
da an unverändert geblieben ist. Denn Josephus bezeugt aus-
drücklich, daß sie noch zu seiner Zeit bestanden hat84, wie denn
auch einzelne Namen gelegentlich noch vorkommen (Jojarib: I Makk.
2, 1. | 14, 29; Abia: Eo. Luc. 1, 5)36. Auffallend ist, daß Josephus
in einer freilich nur lateinisch erhaltenen Stelle der Schrift gegen
Apion von vier Stämmen oder Abteilungen (tribus) der Priester
(Neh. 10, 3 — 9) großenteils mit den Listen aus den Tagen Jesuas und Jojakims
übereinstimmen; die Abweichungen, soweit sie mehr sind als Schreibfehler,
erklären sich aus den Veränderungen, die die Einteilung in Klassen in der
Zwischenzeit erfahren hatte".
33) Ed. Meyer (Die Entstehung des Judenthums S. 175 f.) hält die Listen
Nehem. 12, 1—7 und 12—21 für fingierte und nimmt auf Grund von Esra 10,
18—22 an, daß bei Esras Ankunft im J. 458 die vier großen Priestergeschlechter
noch ungeteilt existierten, daß sie aber in den nächstfolgenden Jahren in
kleinere Gruppen sich gesondert hätten und so die 21 Geschlechter entstanden
seien, welche wir im J. 444 {Nehem. 10, 3—9) vorfinden. Eine so starke Zer-
klüftung der vier Geschlechter in so kurzer Zeit scheint mir sehr unwahr-
scheinlich.
34) Anti. VII, 14, 7: tiiiueivev ovroq 6 uegicujbq «£(>* xfjq a^fiBQOv
fjuipaq. — Vita 1: ipol 6> oh (xövov ig Uq£wv iaxl xb yivoq, &Mä xal ix
trjq 7t()ü>T??c iiptjusQiöoq ru)v elxooiTEOoäocov (noXXti.äh x&v tovr<p öuctpopd),
xal x(bv iv xavxy gjvXChv ix xfjq äoloTTjq. — Vgl, auch Taanith IV, 2. Sukka
V, 6—8 und dazu die Kommentare.
35) Jojarib und Jedaja auch Baba kamma IX, 12. Die Klasse Jojarib
soll gerade den Dienst gehabt haben, als der Tempel zerstört wurde, bab. Taa-
nith 29a bei Derenbourg, Histoire de la Palestine p. 291. Die Klasse Bilga
wird erwähnt Sukka V, 8. Die Eigennamen Bekyäq und daXaloq bei Joseph.
Bell. Jud. VI, 5, 1 fin. (Bilga ist die 15., Delaja die 23. Klasse). Eine Familie
Chesir (^tn), worunter vermutlich die priesterliche Familie dieses Namens
(I Chron. 24, 15) zu verstehen ist, wird erwähnt auf einer etwa aus herodia-
nischer Zeit stammenden Grabschrift bei Jerusalem, welche zuerst DeVogüe"
(Revue archeol. Nouv. Serie t. IX, 1864, p. 200—209) bekannt gemacht hat. Vgl.
über dieselbe auch die oben § 2 (unter Epigraphik) genannte Literatur, bes.
Chwolson, Corp. Inser. Hebr. (1882) n.ß. Cooke, Text-book of Northsemüic
inscripttons (1903) w. 148. Ferner: Ed. Meyer a. a. O. S. 143.
[235. 236] I. Die Priesterschaft als geschlossener Stand. 289
spricht36. Man könnte geneigt sein, hierbei an die vier mit Seru-
babel zurückgekehrten Geschlechter zu denken. Da er aber offen-
bar, nach dem Znsammenhang, Dienstabteilungen meint, so ist wohl
eine Textkorruption anzunehmen und statt 4 zu lesen 24. Hier-
gegen ist auch* nicht entscheidend, daß er die Kopfzahl jeder Ab-
teilung auf mehr als 5000 angibt Denn hierin sind wahrschein-
lich die Leviten mit inbegriffen (die ebenfalls in 24 Klassen geteilt
waren, so daß zu je einer Priesterklasse eine Levitenklasse gehörte),
vielleicht auch Weiber und Kinder; überdies weiß man ja, was
von den Zahlen des Josephus zu halten ist
Jede der 24 Hauptabteilungen zerfiel wieder in eine Anzahl
von Unterabteilungen. Die Zahl dieser Unterabteilungen
schwankte, wenn wir der oben (S. 286) zitierten talmudischen Über-
lieferung glauben dürfen, zwischen fünf und neun für je eine
Hauptabteilung. Die Hauptabteilungen heißen entweder allgemein
nipbrjö (Abteilungen, so I Chron. 28, 13. 21. II Ckron. 8, 14. 23, 8.
31, 2. 15—16), oder sofern sie eine Geschlechtseinheit bildeten n^a
nin» (Vaterhäuser, so I Chron. 24, 4 und 6), oder sofern sie den
Dienst hatten rrinttiött (Wachen, so Nehem. 13, 30. II Chron. 31, 16).
Die Unterabteilungen, die nur in der nachbiblischen Literatur be-
zeugt sind, heißen hier rria« ^na. Und zwar wird nun im Sprach-
gebrauch der Unterschied beobachtet, daß die Hauptabteilung
"flaute, die Unterabteilung n« r^S genannt wird37. In der |
Bedeutung der "Worte an sich ist dieser Unterschied nicht not-
wendig begründet. Denn wie totöe jede diensttuende Abteilung
sein kann, so kann n« rvo jede Geschlechtseinheit sein, gleichviel
ob von großem oder geringem Umfang38. So heißen ja auch noch
beim Chronisten, wie eben bemerkt, die Hauptabteilungen niafe m
(bei Nehem. 12, 12 abgekürzt rvüK). Später aber scheint man streng
in der angegebenen Weise unterschieden zu haben. Im Griechischen
36) Contra Apion. II, 8 (ed. Niese § 108): licet enim sini tribus quattuor
sacerdotum, et harum tribuum singulae habeant hominum plus quam quin-
que milia, fit tarnen observatio particulariter per dies certos; et his transactis
alii succedentes ad sacrificia veniunt etc. Denselben Text gibt auch Boysen
(1808).
37) Besonders deutlich ist dieser Unterschied Taanith II, 6—7. Vgl. auch
die oben S. 286 zitierte Stelle; ferner jer. Horajoth III fol. 48b und Tosepkta
Eorajoth fin., wo es heißt, daß ein •tbü« t)ao im Eange höher stehe als ein
3ä rY*a ©an. — In der Bedeutung „Haupt- oder Wochenabteil ong" steht '■««»
sicher auch Sukka V, 6 — 8. Taanith IV, 2. Tamid V, 1. Ebenso wird es aber
auch zu verstehen sein Bikkurim III, 12. Jebamoth XI, 7 fin. Baba kamma
IX, 12. Temura III, 4. Para III fin. Andererseits 3K n^n gleich Unter- oder
Tagesabteilung: Joma III, 9. IV, 1. Tamid I, 1. Middoth I, 8.
38) 8. Knobel-Dillmann, Exegetisches Handbuch zu Exod. 6, 14 (S. 58).
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 19
290 § 24. Die Priesterschaft and der Tempelkultus. [236. 237]
heißt eine Hauptabteilung jtaxQia oder ig>tjfieQla oder l<pt]{ieQlg,
eine Unterabteilung gwlr/*9.
Sowohl die Hauptabteilungen als die Unterabteilungen hatten
je einen Vorsteher an der Spitze. Die Vorsteher der Haupt-
abteilungen heißen im Alten Testament ö"nte (Fürsten)40 oder
öitf*n (Häupter)41. Später scheint letzterer Ausdruck Crottron ü8i)
der übliche gewesen zu sein, wie für den Vorsteher der Unter-
abteilung na mn um42. Außerdem kommen auch noch „Älteste"
vor, nw» ^pr und a« tro ^:pT43.
Das Ansehen und der Einfluß der verschiedenen Abteilungen
war keineswegs ein gleicher. Trotz der formellen Gleichstellung
in dem regelmäßigen Dienstwechsei mußten doch diejenigen Ab-
teilungen, aus deren Mitte die Hohenpriester oder andere einfluß-
reiche Beamte hervorgingen, auch selbst an Einfluß und Ansehen
gewinnen. Es ist daher ganz glaubwürdig, wenn Josephus ver-
sichert, daß ein großer Vorzug darin liege, aus der ersten der
24 Klassen zu stam|men44, d. h. aus der Klasse Jojarib, aus welcher
die hasmonäischen Hohenpriester und Fürsten hervorgegangen
waren45. Auch innerhalb der einzelnen Klassen bildeten sich
39) natQid Jos. Antt. VII, 14, 7. i^peola Luc. 1, 5. 8. ifpripieolq und
ipvXri Jos. Vita 1 (s. den Wortlaut oben Anm. 34). Eine ipvkfj 'Eviaxelf* wird
erwähnt Jos. Bell. Jud. IV, 3, 8.
40) tMritoi i^to Esra 8, 24. 29. 10, 5. II Ghron. 36, 14. tirip *yD I Ghron.
24, 5. — Daß diese D*nto mit den ninK ^Xi identisch sind, sieht man beson-
ders aus I Ghron. 15, 4 — 12, wo von den Vorstehern der Levitenklassen beide
Ausdrücke ganz gleichbedeutend gebraucht werden.
41) mnarrvoi D^raan I Ghron. 24, 4. — niawi i wn Nehem. 12, 12. I Ghron.
24, 6. Vgl. auch Nehem. 11, 13. 12, 7.
42) nsiöah sr&O und DK n^a UJ&n Tosephta Horajoth fin. ed. Zuckermandel
p. 476 und ./er. Eorajoth III fol. 48b (letztere Stelle bei Ugolini, Thesaurus
XIII, 870). "ratDBh »Kl auch an der oben 8. 286 zitierten Stelle. 3K rY»a «an
Joma III, 9. IV, 1.
43) ruirw *3pT Joma I, 5. SH rv»a ^3pT Tamid I, 1. Middoth I, 8.
44) Vita 1: noXtöi Sh x&v zoirctp 6ia<pooa — „ein großer Vorzug liegt
auch darin".
45) Man ist zu der Annahme versucht, daß die Liste der Chronik (I Ghron.
24, 7—18) erst in der Hasmonäerzeit redigiert ist. Denn es ist doch sehr auf-
fallend, daß gerade die Klasse Jojarib, aus welcher die Hasmonäer stammten
(I Makk. 2, 1 ; 14, 29), hier an die Spitze gerückt ist, während sie in den Listen
Nehem. 12, 1 — 7. 12—21 eine ziemlich untergeordnete Stelle einnimmt und in
der Liste Nehem. 10, 3 — 9 ganz fehlt. Zustimmend haben sich zu dieser Ver-
mutung geäußert: Ed. Meyer, Die Entstehung des Judenthums S. 174. Ben-
zinger, Die Bücher der Chronik (in Martis Kurzem Hand-Commentar zum
A. T. XX) 1901, S. 71f. ßaudissin, Einleitung in die Bücher des A.T. 1901,
S. 267 f. Köberle (im Art. „Priestertum im A. T." in Herzog -Haucks Beal-
Enz. 3. Aufl. XVI, 1905, S. 40: „Die Klasse Jojarib steht voran, was vielleicht
[237] L Die Priesterschaft als geschlossener Stand. 291
wieder besondere einflußreiche Kreise. Die in Jerusalem wohnen-
den Familien werden es verstanden haben, aus ihrer Mitte die
wichtigsten Tempelämter, die ihren Inhabern einen großen Einfluß
verschafften, zu besetzen. Namentlich aber bildeten in der römi-
schen Zeit die bevorzugten Familien, aus welchen die Hohenpriester
genommen wurden (s. oben S. 275), eine vornehme, hoch über den
andern Priestern stehende Aristokratie. Der soziale Unterschied
dieser Kreise war ein so schroffer, daß in den letzten Zeiten vor
der Zerstörung des Tempels die Hohenpriester sogar mit Gewalt
den andern Priestern den Zehnten entrissen, so daß diese darbten46.
Infolgedessen war auch die politische Stimmung eine so verschie-
dene, daß beim Ausbruch der Revolution die diensttuenden Priester
sich der Eevolution anschlössen, während die Hohenpriester alles
in Bewegung setzten, um den Sturm zu beschwichtigen47.
Von den eigentlichen Priestern sind als Kultusbeamte zweiten
Banges streng zu unterscheiden die „Leviten"48. Der Unter-
mit dem Emporkommen der Makkabäer, die aus diesem Hanse stammten, zu-
sammenhängt; I Chr. 24 müßte dann als eine Einlage aus der Makkahäerzeit
anzusehen sein"). — Ablehnend: Kittel, Die Bücher der Chronik (in Nowacks
Handkommentar zum A. T. I, 6, 1) 1902, S. 89. Biedel, Theol. Litblatt 1902,
eoL 21 f. (in der Anz. v. Benzinger). Bmend, Theol. Litztg. 1902, 350 (in der
Anz. von Baudissin).
46) Jos. Antt. XX, 8, & 9, 2.
47) Jos. Bell. Jud. H, 17, 2—4.
48) 8. überh.: Winer RWB. H, 20ff.— Oehler, Art „Levi" in Herzogs
Beal-Enz. 1. Aufl. VIII, 347— 368. — Graf, Zur Geschichte des Stammes Levi,
in Merx' Archiv Bd. L Ders.f Art. „Levi" in Schenkels Bibel -Lexikon IV,
29—32. — Wellhausen, Geschichte I, 123—156 — Prolegomena 5. Aufl.
S. 118—149. — Smend, Exeget Handbuch zu Ezechiel S. 360— 362. — Dill -
mann, Exeget Handbuch zu Exodus und Leviticus S. 455—461. — Grätz
Geschichte der Juden H, 2 (1876) S. 388—395. — Kittel, Theologische Stu-
dien aus Württemberg H, 1881, S. 147—169. m, 1882, S. 278—314. Ders.,
Geschichte der Hebräer I, 1888, S, 106— 112. — Baudissin, Die Geschichte
des alttestamentlichen Priesterthums (1889) S. 28—36, 67—77, 79—84, 105—116,
136 — 181 und sonst — Kautzsch, Art. „Levi, Leviten" in: Ersch und Gruber,
Allgemeine Enzyklopädie, Zweite Sektion, Bd. 43, 1889, S.282— 293. — Vögel-
st ein, Der Kampf zwischen Priestern und Leviten seit den Tagen Ezechiels,
1889 (phantasiereich, s. Theol. Litztg. 1890, 53). — Büchler, Die Priester und
der Cultus im letzten Jahrzehnt des jerusalemischen Tempels, Wien 1895,
S. 118—159 (ebenfalls phantasiereich, s. Theol. Litztg. 1895, 516). — Ed. Meyer,
Die Entstehung des Judenthums, 1896, S. 176—182. — Köberle, Die Tempel-
sänger im Alten Testament 1899. — Büchler, Zur Geschichte der Tempel-
musik und der Tempelpsalmen (Zeitschr. für die alttestamentl. Wissenschaft
1899, S. 96—133 [hier über die Angaben der Chronik; die Forts. S. 329—344
handelt über die musikal. Instrumente]). — Orelli, Art „Levi, Leviten" in
Herzog-Haucks Re&l-Enz. 3. Aufl. XI, 417—427. — Ed. Meyer, Die Israeliten
und ihre Nachbarstamme 1906 (nur über die älteste Geschichte).
19*
292 § 24. Die Priesterschaft und der Tempeikuitus. [237. 238. 239]
schied | beider ist allerdings dem Deuteronomium noch unbekannt
Die „Leviten" sind hier noch insgesamt zum priesterlichen Dienst
berechtigt;. „Priester" und „Leviten" schlechthin gleichbedeutend
(s. bes. Deut. 18, 5. 21, 5; überh.: 17, 9. 18. 18, 1. 24, 8. 27, 9).
Die Unterscheidung beider findet sich zum erstenmale bei Ezechiel;
und es ist kaum zu bezweifeln, daß sie eben durch ihn erst ein-
geführt ist Nach der Gesetzgebung des Deuteronomiums sollten
zwar die Kultusstätten außerhalb Jerusalems aufgehoben werden.
Den dort fungierenden „Leviten", d. h. Priestern, waren aber ihre
priesterlichen Rechte nicht entzogen; es war nur verlangt, daß
sie dieselben ausschließlich in Jerusalem ausüben sollten. Dieser
Standpunkt war auf die Dauer nicht aufrecht zu erhalten; schon
deshalb nicht, weil die jerusalemische Priesterschaft eine solche
Zuwanderung auswärtiger Kollegen sich schwerlich hat gefallen
lassen; überdies haben die letzteren sich mehr als die jerusalemi-
schen einer Vermengung des Jahvekultus mit dem Dienste fremder
Götter schuldig gemacht Darum zieht nun Ezechiel die Eonse-
quenz aus dem Standpunkt des Deuteronomikers: er verbietet den
auswärtigen Leviten überhaupt die Ausübung des Opferdienstes.
Dieser sollte ein ausschließliches Vorrecht der Leviten aus dem
Hause Zadoks, d. h. der jerusalemischen Priesterschaft, sein. Nur
die Söhne Zadoks sollten von nun an „Fett und Blut vor Gott
bringen", d. h. den Dienst am Altar versehen, und in das innere
Heiligtum eintreten. Den anderen Leviten werden die geringeren
Dienstleistungen: der Wachdienst, das Schlachten der Opfertiere
und dergl., zugewiesen. Dies hatte zugleich den Vorteil, daß die
heidnischen Tempeldiener, welche bisher noch für die geringeren
Dienste verwendet worden waren, ganz vom Tempel ausgeschlossen
werden konnten (s. überh.: Ezechiel 44, 6—16). — Dieser Standpunkt
Ezechiels ist im wesentlichen durchgedrungen. Der von ihm sta-
tuierte Unterschied zwischen Priestern und übrigen Leviten ist
schon im Priesterkodex als ein feststehender vorausgesetzt. Zwischen
den „Söhnen Aarons", d. h. den Priestern, und den übrigen Leviten
wird hier streng unterschieden. Nur die ersteren haben das Recht,
den Dienst am Altar und im Innern des Heiligtums zu versehen
(Num. 18, 7). Die „Leviten" dagegen sind nur dienende Gehilfen
der Söhne Aarons „in allerlei Dienst des Zeltes" (Num. 18, 4). Sie
können und sollen demnach die Priester unterstützen in den ver-
schiedensten Geschäften und Ämtern des Tempels: in der Ver-
waltung der Einkünfte und Besitztümer, in der Anschaffung und
Zubereitung der mancherlei Bedürfnisse für den Opferdienst und
dergl. (Näheres s. in Abschnitt III). Auch das Schlachten und
Zurichten der Opfertiere ist ihnen, wie bei Ezechiel, so auch | in
[239] * I. Die Priesterschaft als geschlossener Stand. 293
der späteren Zeit noch gestattet49. Nur das, was am Altar und
im Innern des Heiligtums zu geschehen hatte, war ihnen untersagt
(Num. 18, 3; s. überh.: Num. 3, 5—13 und 18, 1— 7)50.
Auch die „Leviten*4 bildeten — wie die Priester — einen
durch natürliche Abstammung begründeten fest geschlossenen Stand.
49) II Ghron. 29, 34. 35, 11. Man darf aus diesen Stellen wohl schließen,
daß die Leviten nur dann zum Schlachten herangezogen wurden, wenn große
Massen zu bewältigen waren. In der Regel geschah auch das Schlachten durch
die Priester. Gesetzlich war es übrigens sogar den Laien gestattet und ist
tatsächlich von ihnen wenigstens beim Passa wegen der zu bewältigenden
großen Massen ausgeübt worden, wie wir durch das bestimmte Zeugnis Philos
und der Mischna wissen (Philo, Vita Mos. III, 29 Mang. II, 169; De decalogo
§ 30 Mang. II, 206; de Septenario § 18 Mang. II, 292 — Tischendorf, Philonea
p. 46. Mischna Pesachim V, 6: „Der Israelite schlachtet, der Priester fangt
das Blut auf). Vgl. Frankel, Ober den Einfluß der palästinischen Exegese
auf die alexandrinische Hermeneutik (1851) S. 134. Bitter, Philo und die
Halacha S. llOff. Büchler, Die Priester und der Oultus (Wien 1895) S. 137
bis 140. Ritter hebt richtig hervor, daß das &veiv, welches Philo den Laien
am Passa zuschreibt, nur das Schlachten, nicht das Hinaufbringen der Opfer-
stücke auf den Altar ist.
50) Die genealogische Ableitung der Priester von Aaron ist zunächst nur
ein dogmatisches Postulat, aus welchem sich hinsichtlich des wirklichen Tat-
bestandes in der nach exilischen Zeit gar nichts folgern läßt. Richtig ist aber,
worauf namentlich Baudissin (Geschichte des alttestamentl. Priesterthums
S. 107 ff. und sonst) nachdrücklich hingewiesen hat, daß der Begriff der „Söhne
Aarons" im Priesterkodex ein weiterer ist als der Begriff der „Söhne Zadoks"
bei Ezechiel. Erstere umfassen die beiden Linien des Eieasar und Ithamar
(nachdem von den vier Söhnen Aarons Exod. 6, 23 zwei beseitigt waren Lev.
10, 1 — 2). Die „Söhne Zadoks" aber stellen nur die Linie des Eieasar dar
(I Chron. 5, 30 — 41). Der Priesterkodex wagt also nicht, die letzteren als die
allein Berechtigten hinzustellen, sondern sieht sich genötigt, den Kreis etwas
weiter zu ziehen. In der Tat finden wir unter den Priestern der neuen Ge-
meinde nach dem Exil auch Ithamariden (Esra 8, 2. I Chron. 24). Die Theorie
Ezechiels ist also zwar in der Hauptsache, aber doch nicht rein
durchgedrungen. Vgl. auch Wellhausen, Die Pharisäer und die Saddu-
cäer S. 48. Kuenen, Gesammelte Abhandlungen (1894) S. 488 ff. An einer
Stelle aber, welche im Zusammenhang des Priesterkodex steht, wenn sie auch
vielleicht sekundär ist (s. Dillmann), nämlich Num. 25, 10 ff., wird nur dem
Pinehas, dem Sohn Eleasars und Stammvater der Zadokiden das ewige Priester-
tum verheißen. Dieses Stück vertritt demnach ganz den Standpunkt Ezechiels.
Vgl. auch Kuenen, Gesammelte Abhandlungen S. 495 f. Kautzscb, Theol.
Stud. u. Krit. 1890, S. 778 f. Baentsch, Exodus-Leviticus-Numeri (in Nowacks
Handkommentar zum A. T. I, 2) 1903, S. 625. — Bemerkenswert ist auch noch
die Stellung des Jesus Sirach. Er leitet aus dem „Bund" mit Pinehas
das Anrecht seiner Nachkommen auf das „Hohepriestertum" (nbina rw*na) ab,
Sirach 45, 23—24 und 50, 24 (nach dem Hebräischen) und preist Gott dafür,
daß er „die Söhne Zadoks erwählt hat, Priester zu sein" (Sirach 51, 12, Vers 9
des im Griech. u. Syr. fehlenden Stückes: "jnsb pm *3M nmn).
294 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [239. 240]
Sie werden jetzt auf Levi, einen der zwölf Stammväter Israels,
zurückgeführt (Exod. 6, 17—25. Numeri 3, 14—39. 4, 34—49. 26,
57—62. I Ckron. 5, 27—6, 66 und c. 23). Auch hier war also die
Geburt entscheidend für die Teilnahme an den Rechten und Pflich-
ten der Gemeinschaft. Die „Priester" verhalten sich zu ihnen,
wie | eine bevorzugte Familie zum allgemeinen Stamm. Denn
Aaron, der Stammvater der Priester, war ein Urenkel Levis (Exod.
6, 17 ff.).
Wie dehnbar und flüssig diese genealogischen Theorien freilich
waren, sieht man besonders deutlich gerade an der Geschichte der
Leviten. Von den „Leviten" in dem bisher dargelegten Sinne
werden nämlich noch in der nachexilischen Zeit streng unter-
schieden die Sänger, Torhüter und Tempeldiener (Nethi-
nim, ursprünglich jedenfalls Skaven); so nicht nur zur Zeit Seru-
babels, sondern auch noch 80—100 Jahre später zur Zeit Esras
und Nehemias (s. bes. Esra 2, 40— 58 = Nehem. 7, 43—60; ferner
Esra 2, 70. 7, 7. 24. 10, 23—24. Nehem. 7, 1. 73. 10, 29. 40. 12,
44—47. 13, 5. 10) 51. Alimählich wurden aber auch die Sänger
und Torhüter unter die „Leviten" aufgenommen. Die Zu-
gehörigkeit der Sänger zu den Leviten ist in der Bearbeitung
einiger Teile des Buches Nehemia vorausgesetzt52. Später ge-
langten auch die Torhüter zu dieser Ehre: der Chronist zählt recht
geflissentlich schon beide Kategorien zu den Leviten und führt
nun auch deren Stammbaum auf Levi zurück53. Eine noch
51) Köberle, Die Tempelsänger im A. T. S. 24ff., wül mit manchen
älteren Auslegern diesen Tatbestand nicht anerkennen, indem er Leviten im
weiteren Sinn (das Geschlecht) und im engeren Sinn (den speziellen Beruf)
unterscheidet. Angesichts der großen Zahl von Stellen, an weichen stets die
Sänger und Torhüter neben den Leviten genannt werden, ist dies nicht durch-
führbar. Erstere werden damit doch deutlich von letzteren unterschieden.
52) Nehem. 11, 15—19. 22—23. 12, 8—9. 24—25. 27—29. Hier werden
überall die Sänger zu den Leviten gerechnet, die Torhüter aber davon
unterschieden. Die fraglichen Stücke (Nehem. c. 11 — 12) liegen also in einer
Bearbeitung vor, welche eine Mittelstellung einnimmt zwischen dem Stand-
punkt der ältesten Quellen des Buches Nehemia und dem Standpunkte des
Chronisten. Vgl. Baudissin S. 143 1
53) S. über die Zugehörigkeit der Sänger zu den Leviten: I Chron. 15,
16fF. 23, 3—5. II Chron. 29, 25 u. sonst. Über die Torhüter: I Chron. 9,
26. 15, ia 23. 24. 23, 3—5. Zurückfuhrung der Stammbaume auf Levi, beson-
ders bei den drei Sängerfamilien Heman, Asaph und Ethan: I Chron. 6, 10— 32;
aber auch bei den Torhütern wenigstens teilweise durch Vermittelung Obed
Edoms, s. Graf in Merx' Archiv I, 230— 232. — Die Nethinim werden auch
in der Chronik noch von den Leviten unterschieden I Chron. 9, 2. — Vgl
überh. Stade, Gesch. des Volkes Israel II, 200f. Baudissin S. 1521 Kö-
[240. 241] L Die Priesterschaft als geschlossener Stand. 295
weitergehende Rangerhöhung erlangten die Sänger kurz vor der
Zerstörung des Tempels, indem ihnen durch König Agrippa IL mit
Zustimmung des Synedriums gestattet wurde, gleich den Priestern
leinene Gewänder zu tragen 54. — Über den Beruf derjenigen „Le-
viten", welche weder Sänger noch Torhüter waren, wissen wir
nicht viel mehr, als was oben S. 292 bereits im allgemeinen gesagt
ist Sie waren die Gehilfen der Priester in den mancherlei Ver-
richtungen ihres Dienstes55.
Wie die Priester, so waren auch die Leviten in Dienst-
klassen eingeteilt. Deren Geschichte ist aber noch mehr in Dunkel
gehüllt als die der Priester. Mit Serubabel und Josua kehrten
aus dem Exil nur sehr wenig „Leviten" zurück, im ganzen nur
74 Mann; dazu 128 Sänger und 139 Torhüter (Esra 2, 40—42, |
etwas abweichend sind die Zahlen in der Parallelstelle Nehmt. 7,
43—45). Esra vollends brachte nur 38 „Leviten" mit, und auch
diese erst infolge dringender Vorstellungen von seiner Seite (Esra
8, 15—20). Diese geringe Lust der Leviten zur Rückkehr ist be-
gründet in der untergeordneten Stellung, die ihnen nun angewiesen
war. Man darf aber wohl annehmen, daß die Zurückgekehrten
bald aus der Zahl der im Lande Gebliebenen erheblichen Zuwachs
erhielten. Denn von den „Leviten", die im Lande zerstreut wohnten,
waren sicher verhältnismäßig viel weniger deportiert worden als
von den „Priestern", unter welchen man damals eben vorwiegend
die jerusalemischen Priester verstand. So finden wir in der Tat
schon in dem Verzeichnis der Leviten und Sänger zur Zeit Seru-
babels und Josuas Nehem. 12, 8 einige Geschlechter mehr als in
dem Verzeichnis der mit Serubabel zurückgekehrten (Esra 2, 40 f.
Nehem. 7, 43 f.) 56. In einer Liste aus der Zeit Esras und Nehemias
werden bereits 17 Geschlechter von Leviten im eigentlichen Sinne
aufgezählt (Nehem. 10, 10—14, und dazu Bertheau). Eine andere,
wahrscheinlich ebenfalls auf die Zeit Nehemias sich beziehende
Liste57 gibt allein die Zahl der in Jerusalem wohnenden Leviten,
berle, Die Tempelsänger, 1899. Büchler, Zeitschr. für die alttestamentl.
Wissensch. 1899, S. 96—133.
54) Jos. Antt. XX, 9, 6.
55) Unsere dürftige Kenntnis der Einzelheiten darf aber nicht dazu ver-
leiten, die Existenz dieser ganzen Kategorie in der Zeit nach dem Chronisten
zu bezweifeln, wie das von Baudissin (in der Anzeige von Köberle, Die
Tempelsänger usw., Theol. Litztg. 1899, 678) geschehen ist.
56) 8. dazu Bertheau 8. 251.
57) Über die Zeit, auf welche sich die Liste bezieht, s. Bertheau,
Exeget. Handbuch zur Chronik S. 99; zu Nehemia 8. 248. Bertholet, Die
Bücher Esra und Nehemia (1902) S. 82.
296 § 24. Die Priesterechaft und der Tempelkultus. [241. 242]
allerdings mit Einschluß der Sänger, auf 284 an (Nehem. 11, 15 — 18).
Dabei ist vorauszusetzen, daß die Zahl der außerhalb der Stadt,
in den Dörfern und Städten Judäas wohnenden erheblich größer
war (Nehem. 11, 20. 36) 58. — Zur Zeit des Chronisten scheint
auch bei den Leviten, wie bei den Priestern, die Einteilung in
24 Klassen durchgeführt gewesen zu sein. Der Chronist, der zwar
die Sänger und Torhüter zu den Leviten rechnet, unterscheidet
doch noch die drei Hauptgruppen: Leviten für den Tempeldieust
überhaupt, Sänger und Torhüter (s. bes. I Chron. 23, 3—5). Für
die erste Gruppe gibt er nun I Chron. 23, 6—24 ein Verzeichnis
der Vaterhäuser (rm« r^n), deren Gesamtsumme wahrscheinlich, |
wenn man einige Fehler berichtigt, 24 beträgt69. Die Sänger
werden von ihm ausdrücklich in 24 Klassen geteilt (I Chron. 25).
In der nachbiblischen Zeit ist diese Einteilung für die Leviten
überhaupt als feststehend bezeugt, und zwar so, daß je einer
Priesterklasse eine Levitenklasse entsprach60. — Wie bei den
58) Die Zahl der in Jerusalem wohnenden Priester wird in derselben
Liste (Nehem. 11, 10—14) auf 1192 angegeben, während die Gesamtzahl der
damaligen Priester auf etwa 6000 zu schätzen ist (nach Eara 2, 36—39 und
8, 2; vgl. oben S. 286 f.). Bei den Leviten wird man die Zahl der auswärtigen
im Verhältnis zu den in Jerusalem wohnenden eher noch größer annehmen
dürfen. Jedenfalls muß die Zahl der „Leviten" größer gewesen sein, als die
der Sänger und Torhüter. Denn wenn der Chronist für die Zeit Davids 24000
Leviten im engern Sinne, 4000 Sänger und 4000 Torhüter rechnet (I Chron.
23, 4 — 5), so muß das relative Zahlen Verhältnis doch ungefähr der Wirklichkeit
zur Zeit des Chronisten entsprochen haben, mögen die absoluten Zahlen auch
noch so sehr übertrieben sein.
59) S. Bertheau zu der Stelle. — Auf das Geschlecht Gerson kommen
9 Vaterhäuser, auf das Geschlecht Rabat ebenfalls 9, auf das Geschlecht
Merari wahrscheinlich 6, wenn man nämlich aus o. 24, 26—27 die drei fehlen-
den Vaterhäuser Schoharo, Sakkur und Ibri ergänzt und den doppelt vor-
kommenden Namen Maheli in c. 23, 23 tilgt. — Auf andere Weise sucht zu
der Zahl 24 zu gelangen: Berlin, Notes on genealogies of the tribe of Levi
(Jewish Quarterly Review XII, 1900, p. 291—298). — Als unzulässig wird die
Herstellung der Zahl 24 in unserer Genealogie betrachtet von Benzinger,
Die Bücher der Chronik (in Martis Kurzem Hand-Commentar XX, 1901) S. 68,
und Kittel, Die Bücher der Chronik (in Nowacks Handkommentar I, 6, 1,
1902) S. 86.
60) Joseph. Antt. VII, 14, 7: inoirjoe 6h xal xi}<; AevLxidoq <pvXr}Q blxooi
füiQTj xal riooaoa, xal xXjjqcdocc/jI&cov xazk tdv abvbv ävißrjaav tgdnov xalq
xibv Uq&wv i(prjfji6Ql<Jiv inl ^igag öxtw. — Taanith IV, 2: „Die ersten Pro-
pheten haben 24 Dienstabteilungen (tviOTia) aufgestellt. Auf jede kam eine
Standmannschaft v"**2*13) *n Jerusalem von Priestern, Leviten uud Israeliten.
Sobald die Zeit einer Dienstabteilung zum Hinaufgehen kam, zogen die
Priester und Leviten nach Jerusalem, die Israeliten aber versammelten sich
in den Synagogen ihrer Städte und lasen die Schöpfungsgeschichte".
[242. 243] IL Die Einkünfte. 297
Priestern, so standen auch bei den Leviten Vorsteher (D^to oder
D^ttJan) an der Spitze der einzelnen Abteilungen61.
Über die Wohnstätten der Priester und Leviten haben wir
nur sehr wenige zuverlässige Nachrichten; denn von der Gesetz-
gebung über die 48 Levitenstädte, die lediglich eine Theorie blieb
(Num. 35. Josua 21), ist hier gänzlich abzusehen. Sicher ist, daß
bei der Neuordnung der Gemeinde nur ein Teil der Priester und
Leviten in Jerusalem selbst Wohnung erhielt; die übrigen wohnten
zerstreut in den Städten und Dörfern Judäas, die meisten wohl
nicht sehr weit vom Zentrum entfernt. In dem schon erwähnten
Verzeichnis Nehem. 11, 10—19 wird die Zahl der in Jerusalem
wohnenden Priester auf 1192 angegeben62, die der Leviten und
Sänger auf 284, die der Torhüter auf 172. Die Gesamtzahl der
Priester betrug aber etwa das Fünffache, wenn nicht mehr
(s. Anm. 58); und bei den anderen Kategorien mag die Zahl der
Auswärtigen im Verhältnis noch größer gewesen sein. Jedenfalls
ist die allgemeine Tatsache, daß sowohl Priester als Leviten in
den Städten und Dörfern Judäas wohnten, wiederholt und sicher
bezeugt63. Im einzelnen wissen wir aber darüber nichts Näheres64.
IL Die Einkünfte.
Die Einkünfte, welche die Priesterschaft zu ihrem Lebens-
unterhalt vom Volke bezog, waren bis zum Exil sehr bescheidene,
ja überhaupt kaum regelmäßige. Nach dem Exil sind sie fast ins
Unermeßliche gesteigert. An diesem einen Punkte läßt sich in
61) D^ü I Chron. 15, 4—12. II Chron. 35, 9. — D^löao Nehem. 12, 22—23.
I Chron. 9, 33. 34. 15, 12. 23, 24. 24, 6. 31. — Die Abteilungen, um deren
Vorsteher es sich in diesen Stellen bandelt, sind allerdings verschiedene.
62) Eine höhere Zahl gibt die Parallelstelle I Chron. 9, 10—13.
63) Esra 2, 70. Nehemia 7, 73. 11, 3. 20. 30. II Chron. 31, 15. 19.
64) Eine Anzahl Orte, an welchen Sänger sich niedergelassen hatten
wird Nehem. 12, 27—29 aufgezählt. — Die Makkabäer stammten aus Modein
(I Makk. 2, 1; aus dem xal ixäöiaev darf nicht, wie von mir in der 3. Aufl.
geschehen ist, geschlossen werden, daß die Makkabäer sich erst infolge der
Wirren unter Antiochus Epiphanes dort niedergelassen haben, vgl. dagegen
2, 70: 4v Tcupoiq naxigwv avzCov, 13, 25: noXet. rtbv narigcov alzibv). — Der
Priester Zacharias wohnte auf dem Gebirge Juda (Lue. 1, 39). — Nach Ori-
genes war Bethphage ein Priesterdorf, Comment. in Matth. tom. XVI c. 17
(Lommatxsch IV, 52): hofi7iveveo9ai öi <pa/uev x^v Brj&tpayti phv ohcov aiayö-
vwv9 fjris xtbv leoiwv ^v %a>Qiov. — Vgl. überhaupt auch: Büchler, Die
Priester und der Cultus im letzten Jahrzehnt des jerusalemischen Tempels
(1895) S. 159 ff.
298 § 24- Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [243. 244]
ganz besonders augenfälliger Weise beobachten, welch gewaltigen
Zuwachs an Macht und Einfluß die Priesterschaft durch die Neu-
ordnung der Dinge nach dem Exil gewonnen hat1. Und zwar ist
diese Machtsteigerung ebenso die Ursache der erhöhten Ansprüche
gewesen, wie sie andererseits auch wieder eine Folge des ver-
mehrten materiellen Einkommens war. Die späteren Schriftgelehrten
aber, welche an sich den Priestern nicht immer günstig gesinnt
waren, konnten an diesem Sachverhalte nichts mehr ändern: das
priesterliche Gesetz war längst göttliches Gesetz geworden. Ja
die Schriftgelehrten trugen ebendeshalb nur noch zur Steigerung
des priesterlichen Einkommens bei. Unter dem Gesichtspunkte,
daß man um so mehr Gottes Wohlgefallen sich erwerbe, je pünkt-
licher und bereitwilliger man jene Forderungen erfülle, hat man
die Bestimmungen des Gesetzes fast durchweg in einem den Priestern
günstigen Sinne interpretiert Und wir erleben das eigentümliche
Schauspiel, daß eine Zeit, welche die Priester schon mit Mißtrauen
beobachtete, doch noch an der Befestigung und Erhöhung der
priesterlichen Macht mitgearbeitet hat.
In der vorexilischen Zeit gab es überhaupt fast noch keine
eigentlichen Abgaben als solche, nämlich keine, welche außer
Zusammenhang mit dem Opfer standen und den reinen Charakter
einer Steuer hatten. Abgaben an die Priester wurden nur ent-
richtet bei Gelegenheit der Opfer und im Zusammenhang mit diesen.
Der Opfernde brachte den besten Ertrag seines Feldes und die
Erstgeburt seines Viehes vor Jahve. Davon wurde ein Teil auf
dem | Altar verbrannt; einen anderen Teil erhielt der Priester; das
meiste kam dem Darbringer selbst zugute; denn es sollte zu fröh-
lichen Opfermahlen vor Jahve verwendet werden. In diesem Sinne
ist es zu verstehen, wenn schon die älteste (j ah vis tische) Ge-
setzgebung verlangt, daß der beste Ertrag des Feldes und die
Erstgeburt des Viehes vor Jahve gebracht werde (Erstlinge des
Feldes: Exod. 22, 28. 23, 19. 34, 26; Erstgeburt des Viehes: Exod. 13,
11—16. 22, 29. 34, 19— 20) 2. Vollkommen deutlich und zweifellos
sind die einschlagenden Bestimmungen des Deuter onomiums.
Dasselbe kennt weder eine Abgabe des Zehnt an die Priester, noch
1) Die richtige Einsicht in diese Dinge verdanken wir erst der neneren
Pentateuchkritik. 8. bes. Wellhausen, Geschichte Israels I, 156 — 164 —
Prolegomena 5. Ausg. S. 149—156.
2) Die subtilere Frage, ob Exod. 13, 11—16 und 34, 19—20 dem Jahvisten
selbst oder einer anderen verwandten Hand angehört, kann hier dahingestellt
bleiben. S. für ersteres Dill mann, Exeget. Handb. zu Exodus und Leviticus
S. 99. 334; für letzteres Wellhausen, Jahrbücher für deutsche Theologie 1876,
S. 542 ff. 553ff. Baentsch, Exodus-Leviticus-Numeri (1903) S. 111.
[244 245] IL Die Einkünfte. 299
eine Abgabe der Erstgeburt an dieselben. Der Zehnte der Feld-
früchte soll allerdings abgesondert und zum Heiligtum nach Jeru-
salem gebracht werden. Dort wird er aber nicht etwa dem Priester
gegeben, sondern vom Eigentümer selbst verzehrt; und nur in jedem
dritten Jahre erhalten ihn die Leviten, cL L die Priester, und die
Armen (Deut. 14, 22—29. 26, 12—15; vgl auch 12, 6. 11. 17—19).
Ebenso steht es mit der Erstgeburt Auch diese, und zwar die
männliche Erstgeburt der Binder und Schafe, soll zum Heiligtum
nach Jerusalem gebracht, dort aber vom Eigentümer selbst zu
Opfermahlen verwendet werden (Deut. 15, 19—23; vgl. auch 12, 6.
17—19. 14, 23). Die Priester erhalten von alledem nur gewisse
Anteile; nämlich von den Feldfrüchten nur die rniö*n, d. h. das
Beste (Deut 18, 4. 26, 1—11), und von den geopferten Tieren nur
je einen Vorderfuß, Kinnbacken und Magen (Deut. 18, 3). Außerdem
wird nur noch eine Abgabe von der Schafschur erwähnt, die den
Priestern gegeben werden soll (Deut 18, 4). — Zur Bestätigung des
Bisherigen dienen die Forderungen Ezechiels (44, 28—30). Auch
er, der doch selbst Priester war und die Ansprüche derselben ge-
wiß eher begünstigt als zurückgedrängt hat, weiß doch noch nichts
von einer Abgabe des Zehnt und der Erstgeburt an die Priester.
Seine Ansprüche sind allerdings schon etwas höher als die des
Deuteronomiums, bewegen sich aber im ganzen doch noch auf der
gleichen Linie. Während das Deuteronomium den Priestern von
den geopferten Tieren nur ein paar Stücke zuweist, sollen nach
Ezechiel die Priester die Sündopfer und Schuldopfer (welche das
Deuteronomium noch gar nicht kennt) ganz erhalten, desgleichen
die Speisopfer (Exech. 44, 29); ferner alles „Gebannte" (44, 29); end-
lich die | Eeschith, d. h. das Beste, von den Erstlingsfrüchten, von
Opfergaben aller Art und vom Teig beim Backen (44, 30) 3.
Bedeutend höher als alle bisherigen Forderungen sind nun
aber diejenigen des Priester kodex, der in der Übersicht über
die priesterlichen Einkünfte Num. 18, 8—32 vielfach mit Ezechiel
übereinstimmt, daneben aber als bedeutendste Neuerung die Ab-
gabe des Zehnt und der Erstgeburt einführt. Wie Ezechiel, so
weist auch der Priesterkodex die Sündopfer, Schuldopfer und Speis-
opfer den Priesternf zu, von letzteren wenigstens den größten Teil
(Num. 18, 9 — 10; Genaueres s. Lev. 1—7), Von denjenigen Opfern,
welche der Eigentümer selbst zum Opfermahl verwenden durfte
3) Die Stellung Ezechiels zwischen Deuteronomium und Priesterkodex
ist u. a. treffend gezeichnet von Kam rat h, Jahrbb. für prot Theol. 1891,
S. 585—610, bes. 597 ff. Vgl auch: Bertholet, Der Verfassungsentwurf des
Hesekiel in seiner religionsgeschichtlichen Bedeutung, 1896.
300 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [245. 246]
(den sogenannten D^ttbti TOT), sollten die Priester die Brust und
die rechte Keule erhalten (Lev. 7, 30— 34), also bedeutend bessere
Stücke, als das Deuteronomium ihnen zugewiesen hatte. Wie nach
Ezechiel, so erhalten die Priester auch nach dem Priesterkodex
alles Gebannte (Num. 18, .14) und das Beste, die Reschith, von den
Bodenerzeugnissen: von Öl, Most und Getreide (Num. 18, 12). Zu
der Reschith kommen aber noch als eine Abgabe anderer Art die
Erstlingsfrüchte, D*n*Da (Num. 18, 13); und endlich als das wesent-
lichste, alles Bisherige bedeutend übersteigende Einkommen der
Zehnt (Num, 18, 20—32) und die Erstgeburt (Num. 18, 15—18). Der
Zehnt gehört jedoch zunächst den „Leviten", die davon ihrerseits
den zehnten Teil an die Priester abzugeben haben. Die Abgabe
vom Teig an die Priester, die in der Hauptübersicht fehlt, wird
auch im Priesterkodex an einer anderen Stelle erwähnt (Num. 15,
17—21). -r- Zur Zeit Nehemias finden wir diese Verordnungen
bereits in voller Kraft. Nach Nehem. 10, 36—40 wurden damals
bereits entrichtet: die Erstlingsfrüchte oder Bikkurim (10, 36), das
Beste von den Bodenerzeugnissen, das hier wie im Priesterkodex
sowohl von den Erstlingsfrüchten als vom Zehnt deutlich unter-
schieden wird (10, 38), der Zehnt in derselben Weise wie im Priester-
kodex (10, 38—40), die Erstgeburt (10, 37) und die Abgabe vom
Teig (10, 38) 4. — Unter dem Zehnten ist hier überall nur der
Zehnte | von den Feld- und Baumfrüchten zu verstehen. An einer
Stelle des Priesterkodex wird aber außer diesem Zehnt auch der-
jenige vom Vieh gefordert (Lev. 27, 32—33). Vermutlich gehört
diese ganz vereinzelt dastehende Forderung nicht zum ursprüng-
lichen Bestände des Priesterkodex5. Zur Zeit des Chronisten
scheint der Viehzehnt in der Tat entrichtet worden zu sein; oder
er gehört doch zu den Idealen des Chronisten (II Chron. 31, 6). In
der nachbiblischen Zeit hat man die ganze Stelle Lev. 27, 30—33
im Sinne des vom Deuteronomium geforderten Zehnt verstanden.
Die gesetzlichen Bestimmungen des Deuteronomiums und des
4) Baudissin, Geschichte des alttestamentlichen Priesterthums, S. 124 ff.
170 ff., bestreitet, daß im Priesterkodex (Num. IS, 12 — 131 und bei Nehemia
(10, 36. 38) die Reschith und die Bikkurim verschiedene Abgaben von den-
selben Erzeugnissen seien. Seine Ausführungen scheinen mir namentlich in
betreff Nehemias .nicht überzeugend; indessen ist die Sache sehr irrelevant,
da die Bikkurim, wenn sie von der Reschith zu unterscheiden sind, materiell
nicht ins Gewicht fallen. Die gewaltige Neuerung des Priesterkodex ist die
Einführung des Zehnt und der Erstgeburtsabgabe als einer Steuer an die
Kultusbeamten.
5) S. Wellhausen, Jahrbb. für deutsche Theol. 1877,8.444. Geschichte
Israels I, 162 = Prolegomena 5. Ausg. S. 155.
[246. 247] n. Die Einkünfte. 301
Priesuterkodex sind nicht nur literarisch zu einem Ganzen vereinigt
worden, sondern auch in der Praxis miteinander kombiniert worden.
So hat die spätere Rechtsentwickelung die ohnehin schon
sehr hohen Abgaben des Priesterkodex noch um ein Erhebliches
gesteigert. Mit dem Levitenzehnt des Priesterkodex wurde jetzt
der im Deuteronomium vorgeschriebene Zehnt, der vom Eigentümer
vor Jahve verzehrt werden sollte, einfach als „zweiter Zehnt"
kombiniert Die widersprechenden Vorschriften des Priesterkodex
und des Deuteronomiums in betreff der von den Opfertieren an
die Priester abzugebenden Stücke wurden jetzt dadurch mitein-
ander vereinigt, daß man nur die ersteren auf die geopferten Tiere,
die letzteren aber auf die zum profanen Gebrauch geschlachteten
Tiere bezog; von den ersteren erhielten die Priester nach Lev. 7,
30—34 die Brust und die rechte Keule, von den letzteren nach
Deut. 18, 3 einen Vorderfuß, Kinnbacken und Magen. Endlich wurde
zu allen Steuern des Priesterkodex auch noch die im Deuterono-
mium (18, 4) vorgeschriebene Abgabe von der Schafschur hinzu-
gefügt Durch dieses kombinierende Verfahren ergab sich folgende
Liste von Einkünften der Priesterschaft, die wir zur Zeit Christi
als in voller Geltung befindlich betrachten dürfen6. |
I) Von den Opfern kamen den Priestern folgende Anteile zu:
1) Die Sündopfer ganz, wenigstens in der Regel, da nur für ein
paar besondere Arten die Verbrennung außerhalb des Lagers vor-
6) Eine Zusammenstellung gibt bereits Philo in seinem Traktat De
praemiis sacerdotum et honoribus (Opp. ed. Mangey II, 232—237); vgl. dazu
Bitter, Philo und die Halacha, 1879, S. 114 — 126. Ferner Josephus in der
Hauptstelle Antt. IV, 4, 4, womit zu vgl. III, 9, 1—4 (Opferabgaben) und IV,
8, 22 (Erstlinge); vgl. dazu 01itzkik Magazin für die Wissensch. des Judenth.
XVI, 1889, S. 169—182. — Die Rabbinen rechnen infolge künstlicher Zäh-
lung im Ganzen 24 Abgaben an die Priester, s. Tosepkta Challa II, 7 — 9
(ed. Zuckermandel), jer. Challa IV fin. fol. 60b. bab. Baba kamma 110b. Chullm
133b. Pesikta bei Ugolini, Thesaurus t. XIII, 1122—1128. Einige von den 24
Abgaben sind schon Mischna Challa IV, 9 aufgezahlt. Die talmudischen
Stellen auch bei Bei and , Antiquitqtes sacrae II, 4, 11; inBernards Aus-
gabe des Josephus zu Antt. IV, 4, 4, und in Havercamps Ausgabe zu der-
selben Stelle; deutsch bei Saalschütz, Das mosaische Recht 1,351. — Unter
den Neueren geben die relativ vollständigsten und korrektesten Übersichten:
Saalschütz, Das mosaische Recht I, 343—353, und Haneberg, Die reli-
giösen Alterthüiner der Bibel S. 565—582. Urkundliches Material auch bei
Ugolini, Thesaurus XIII, 1055—1129. — Interessante Parallelen geben die
Opfertarife auf phönizischen Inschriften in Marseille (Corp. Inser. Semit, t. I
n. 165 — Landau, Beiträge zur Altertumskunde des Orients II, 1899, n. 213 «—
Cooke, Text-book of Northsemitic insoriptions n. 42) und Karthago (Corp. Inser.
Sem. I n. 167. 168. 169. 170; Landau n. 216—219; Cooke n. 43).
302 § 24. Die Priesterachaft und der Tempelkultus. [247. 248]
geschrieben war7. 2) Die Schuldopfer ebenfalls ganz8. Bei
beiden wurden nur die Fettstücke auf dem Altar verbrannt; das
Fleisch gehörte den Priestern. 3) Von den Speisopfern bei weitem
das meiste, indem in der Regel nur ein Abhub davon auf den
Altar kam, das übrige aber den Priestern zufiel 9. Alle diese Arten
kamen sehr häufig vor, namentlich die Speisopfer, die nicht nur
für sich allein dargebracht werden konnten, sondern auch eine
notwendige Zugabe zu den meisten Tieropfern bildeten 10. In die-
selbe Kategorie wie diese drei Opferabgaben gehören auch noch
4) die zwölf Schaubrote, die im Tempel wöchentlich neu auf-
gelegt wurden, und von welchen immer die abgenommenen den
Priestern gehörten11. — Alle diese vier Arten waren „hochheilig4*
und durften | als solche nur an heiliger Stätte, d. h. nur im
innern Vorhof, und nur von den Priestern selbst (nicht deren An-
gehörigen) verzehrt werden12.
Nicht ebenso streng sind die Bestimmungen in betreff der
folgenden zwei Opferabgaben. Nämlich 5) von den D^ttbti innt,
d. h. von denjenigen Opfern, welche von den Darbringenden selbst
verzehrt wurden, bei Luther „Dankopfer", richtiger „Mahl-
opfer", erhielten die Priester je zwei Stücke: die Brust und die
rechte Kenia Diese durften überall „an reiner Stätte", also auch
7) Lev. 5, 13. 6, 19. 22 f. Num. 18, 9-10, Exech. 44, 29. Joseph. AniL
III, 9, 3. Siphra zu Lev. 6, 19 ff. bei Ugolini, Thesaurus XIII, 1071 ff. —
Über die Sund- und Schuldopfer überhaupt s. Lev. 4—7; Win er BWB. II,
429—435. Riehm, Theol. Stud. u. Krit 1854, S. 93—121. Rinck, ebendas.
1855, S. 369-381.
8) Lev. 7, 6—7. Num, 18, 9—10. Exech. 44, 29. Joseph. Äntt. III, 9, 3.
Siphra zu Lev. 7, 6—7 bei Ugolini Thes. XIII, 1078.
9) Lev. 2, 3. 10. 6, 9—11. 7, 9—10. 7, 14. 10, 12—13. Num. 18, 9—10.
Exech. 44, 29. Joseph. Änü. III, 9, 4: r^v 6h lotn^v ol leoelq rcQÖq xootp^v
Xa/tßdvovaiv, 1j hptj&etoav (£Xal<p yäo avtine<pvQaxaC) »J yevauhwv aorwv. —
Über die Speisopfer überhaupt s. Lev. 2 ganz u. 6, 7—11. WinerRWB, s. v.
10) Von der Häufigkeit mancher dieser Opfer kann man sich eine Vor-
stellung machen, wenn man die Gesetze über levitische Unreinheit und deren
Beseitigung liest (Lev. 11—15; Num. 19), Jede Wöchnerin z. B. hatte ein
Lamm als Brandopfer und eine Taube als Sündopfer, oder im Falle des Un-
vermögens eine Taube als Brandopfer und eine Taube als Sündopfer darzu-
bringen, Lev. 12, 1—8; Ev. Luc. 2, 24.
11) Lev. 24, 5 — 9; dazu Siphra und die anderen rabbinischen Stellen bei
Ugolini, Thes. XIII, 1084 ff.; auch Jos. Äntt. III, 10, 7. Ev. Maith. 12, 4.
Marc. 2, 26. Luc. 6, 4. — Über die Art der Verteilung: Sukka V, 7—8 (die
abgehende Dienstabteilung erhielt die Hälfte und die antretende die andere
Hälfte).
12) Num. 18, 10 und die in den vorigen Anmerkungen zitierten Stellen;
auch Joseph. Äntt. IV, 4, 4 fin.
[248. 249] H. Die Einkünfte. 303
außerhalb des Heiligtums genossen werden, und nicht nur von den
Priestern, sondern auch von allen Angehörigen des Priesterstandes,
auch den Frauen und Töchtern13. Verhältnismäßig am wenigsten
erhielten die Priester endlich 6) von den Brandopfern, da diese
ganz auf dem Altar verbrannt wurden. Aber selbst hiervon fiel
ihnen wenigstens das Fell zu; und bei der Häufigkeit der Brand-
opfer hat Philo gewiß recht, wenn er auch diese Abgabe als eine
recht ansehnliche taxiert14.
II) So bedeutend diese Opferabgaben auch waren, so bildeten
sie doch immer nur den geringeren Teil des priesterlichen Ein-
kommens; sie kamen ja in der Hauptsache auch nur den dienst-
tuenden Priestern zugute. Die eigentliche Masse des priesterlichen
Einkommens bildeten dagegen diejenigen Abgaben, welche
abgesehen von den Opfern noch zu entrichten waren, |
welche also den Charakter einer reinen Steuer für die Priester-
schaft hatten. Diese Abgaben bezogen sich teils auf die Erzeug-
nisse des Bodens, teils auf diejenigen der Viehzucht, und waren
teils in natura zu entrichten, teils konnten sie auch gegen Geld
ausgelöst werden. Die Abgaben von den Bodenerzeugnissen
waren viererlei Art und mußten in folgender Ordnung abgesondert
werden15: 1) Die Erstlingsfrüchte, D'niM. Sie wurden von
den sogenannten „sieben Arten", d. h. von den im Deuteronomium
(8, 8) aufgezählten sieben Haupterzeugnissen Palästinas dargebracht,
von Weizen, Gerste, Weintrauben, Feigen, Granatäpfeln, Oliven
13) Lev. 7, 30—34. 10, 14—15. Siphra zu Lev. 7, 30—34 bei Ugolini, Thes.
XIII, 1094 ff. Philo, De praemiis sacerdotum § 3 (ed. Mang. II, 234: navxdg
yao leoelov noooxtxaxxai ovo xoZg Isqsvoiv &nö SvoZv didoo&ai iieXCbv, ßoa-
Ziova fxhv &nd %eiQÖ<; Se£iäqy änd 6h xov ox^&ovg ßoov nlov. Josephus Antt.
III, 9, 2: xb de oxtj&OQ scal x^v xv^pttiv r?)v fe&av xoti; Isoevot, naoacyiöv-
xsq. —Vgl. über die Mahlopfer überh. Lev. 3 ganz, 7, 11—21. 28—34. Win er
RWB. Art. „Dankopfer".
14) Uv. 7, 8; dazu Siphra bei Ugolini, Thes. XIII, 1079. Mischna Se-
bachim XII, 2—4. Tosephta Sebachim (oder Korbanoth) XI, 7 ff. bei Ugolini.
Thes. XIII, 1080 ff. Philo, De praemiis sacerdotum § 4 (Mang. II, 235): yE<p
anaoi fiivxoi xal xä$ xChv dloxavxcjuaxwv, äfxv&Tjra Sh xavx iaxt, Sooag
itQooxaxxei xovq önrjQSTovvxcK; xal<i dvolaiq leotfQ Xafjtßdveiv, oh ßoax&av ccAA*
iv xolg (xalioxa nolvxQ+uxaxov Swgiav. Josephus, Antt. III, 9, 1. Ritter,
Philo und die Halacba 8. 126. Auch bei den Griechen gehörten die Häute
der Opfertiere den Priestern (s. Knobel-Dillmann zu Lev. 7, 8); desgleichen
nach der ersten Opfertafel von Karthago (Corp. Inser. Semit. I n. 167 «= Lan-
dau, Beiträge zur Altertumskunde des Orients II n. 216), während sie nach
der Opfertafel von Marseille, die auch aus Karthago stammt (ibid. n. 165 =■
Landau n. 213), den Darbringenden gehörten. — Ober die Brandopfer überh.
s. Lev. 1, 3—17. Winer RWB. *. v.
15) Über die Reihenfolge s. Terumoth III, 6—7.
304 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [249. 250]
und Honig. Die nahe bei Jerusalem Wohnenden brachten frische
Früchte, die entfernter Wohnenden getrocknete. Die Darbringung
geschah in gemeinsamen Prozessionen und wird von Philo und der
Mischna als ein fröhliches Fest beschrieben. Die Landleute sam-
melten sich in den Hauptstädten und zogen von da in festlichem
Zuge unter Pfeifenspiei hinauf genZion. An der Spitze des Zuges
wurde der Stier geführt, der zum Mahlopfer bestimmt war, die
Hörner mit Gold belegt und mit Olivenzweigen bekränzt In
Jerusalem gingen die Vornehmsten der Priesterschaft dem Zuge
entgegen. Die Darbringenden bekränzten die Körbe, in denen die
Erstlinge lagen, und trugen sie auf der Schulter den Tempelberg
hinauf bis zum Vorhof. So taten auch die Vornehmsten, selbst
König Agrippa. Sobald der Zug in den Vorhof eintrat, empfingen
ihn die Leviten mit dem Gesang von Psalm 30. Jeder tibergab
nun unter Ablegung des Bekenntnisses Deut. 26, 5—10 seinen Korb
dem Priester, der ihn am Altar niedersetzte16. — 2) Verschieden
von diesen Erstlingsfrüchten, deren Darbringung immerhin noch
mehr symbolisch-religiöse Bedeutung hat und insofern nicht ganz
in diese Kategorie gehört, ist die sogenannte Teruma (swnn),
die den Charakter einer reinen Naturalleistung für die Priester
hat. Unter Teruma im engeren Sinn (denn im weiteren Sinn ist
Teruma jede „Hebe", d. h. jede Abgabe an das Heiligtum) versteht
nämlich | das rabbinische Judentum die Abgabe des Besten der
Feld- und Baumfrüchte an die Priester. Diese Abgabe be-
zog sich nicht nur auf die „sieben Arten", sondern auf alle Arten
von Feld- und Baumfrüchten, Die wichtigsten waren auch hier
wieder Getreide, Wein und Öl. Die Abgabe geschah nicht nach
Maß, Gewicht und Zahl17, sollte aber im Durchschnitt V50 des
Einkommens betragen; wer V40 gab» gab reichlich, wer nur %0,
gab kärglich18. Was einmal zu Teruma bestimmt war, durfte
16) S. überh. Num. 18, 13. Nehem. 10, 36. Auch Exod. 23, 19. 34, 26.
Deut. 26, 1 — 11 wurde hierauf bezogen. Joseph. AtUt. IV, 8, 22. In der Mischna
handelt von den Erstlingen der ganze Traktat Bikkurim. Vgl. bes. Bikkurim
I, 3 (von den sieben Arten darzubringen) und III, 1—9 (Beschreibung des Fest-
zuges). Philo handelt hiervon in dem erst durch Mai herausgegebenen kleinen
Traktat De festo cophini, in Richters Ausgabe der Werke Philos V, 48 — 50;
bei Tischendorf, Philonea (1868) p. 69—71; in Oohns Ausg. V, 1906, p. 140 sq.
— Aus der Literatur ist hervorzuheben: Lundius, Die alten jüdischen
Heiligthümer Buch III, Kap. 54. U?/olini, Tfies.XLII, 1100 ff. Winer RWB.
Art. „Erstlinge". Saalschütz I, 344 f. Haneberg 8. 565—568. Grätz,
Monatsschrift für Geschichte und Wissensch. des Juden th. 1877, S. 433 ff.
17) Terumoth I, 7.
18) Terumoth IV, 3. — Vgl. Hieronytnus, Comment. in Exechiel. 45,13 — 14.
(Opp. ed. Vallarsi V, 565): At vero primitiva quae de frugibus offerebant, non
[250. 251] n. Die Einkünfte. 305
nur von Priestern genossen werden19. — 3) Nach Absonderung
dieser beiden Abgaben hatte nun erst die Absonderung der wich-
tigsten und größten Abgabe, die des Zehnten zu erfolgen. Wie
peinlich man es mit der Vorschrift des Verzehntens nahm, ist aus
den Evangelien bekannt; man verzehntete auch die geringwertig-
sten Dinge, wie Minze, Dill und Kümmel {Matth. 23, 23. Luc. 11, 42).
Das Prinzip, das die Mischna in dieser Hinsicht aufstellt, lautet:
„Alles was zur Speise dient und gehütet wird und sein Wachstum
aus der Erde hat, ist zehntpflichtig" 20. Der Ertrag dieser Steuer
muß höchst bedeutend gewesen sein. Doch war sie hauptsächlich
nicht sowohl für die Priester, als für die Kultusbeamten zweiten
Banges, die Leviten, bestimmt. Diesen kam der Zehnte zunächst
zu; und sie hatten ihrerseits an die Priester wieder den Zehnten
vom Zehnt abzugeben21. — Nach diesem Levitenzehnt hatte der
Eigentümer | von seinem Einkommen noch einmal den zehnten
erant speeiali numero definita, sed o/ferentium arbürio derelicta. Traditionem-
que aecepimtis Hebraeorum non lege praeceptam, sed magistrorum arbürio mo-
lüam: qui plurimum, quadragesimam partem dahat sacerdotibus, qui mi-
nimum, sexagesimam: tnter quadragesimam et sexagesimam licebat offerre
quodcumque voluissent.
19) S. überb. Num. 18, 12. Nehem. 10, 38. Die rabbinischen Bestimmungen
im Traktat Terumoth. — Philo, De praemiis sacerdotum § 1 (Mang. II, 233):
noooxaxxei xal dnd xrjq aXXrjq xxfjaecoq cindQxso&ai, xa&* kxdoxijv fxkv Xrjvöv
olvov, xa& kxdorrjv 6h aXcova alxov xal xoi&dq. "Ofxoicjg 6h ig iXaubv iXcuov
xal ditb x(bv aXXtov äxoo6Qva>v ^fiigovq xaonovq (daß hier Philo die Teruma
meint, wird mit Recht auch von Bitter, Philo und die Halacha 8. 122 ange-
nommen). — Joseph. Antt. IV, 4, 4: hi 6h &naQ%aq xbv Xabv ölxaiov x<p &ea>
rcdvxmv xtbv ix xfjq yijq <pvop£va>v xagntbv inupioeiv. — Vgl. auch Lud diu 8,
Die alten jüdischen Heiligthümer Buch IV, Kap. 31. Win er RWB. Art.
„Erstlinge". Saalschutz I, 346. Haneberg S. 568 f.
20) Maaseroih I, 1. — Im einzelnen vgl. z. B. Maaseroth IV, 5—6. V, 8.
Lightfoot, Horae hebr. zu Matth. 23, 23 (Opp. II, 359). Wetstein Nov. Test.
zu ders. Stelle. — Über die Verzehntung des Dilles (ävrjBov, rotö) s. Maase-
roth IV, 5; über die des Kümmels (xvfiivov, "paS) Demai II, 1.
21) 8. überh. Num. 18, 20—32. Nehem. 10, 38—40. Philo, De cariiate
§ 30 (ed. Mang. II, 391); de praemiis sacerdot. § 6; wahrscheinlich ist auch
ebendas. § 2 inil. der Zehnt gemeint. Josephus Antt. IV, 4, 3—4. Die rab-
binischen Bestimmungen im Traktat Maaseroth. — Hottinger, De decimis Ju-
daeorum, Lugd. Bat. 1713. Lundius, Die alten jüd. Heiligthümer B. IV,
Kap. 32. Winer, RWB. Artikel „Zehnt". Saalschütz I, 346 f. Haneberg
8. 573—576. Leyrer in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XVIII, 414—421. Ritter,
Philo und die Halacha S. 122 — 124. Knobel-Dillmann, Exegetisches Hand-
buch, zu Lev. 27, 30 — 33 (daselbst auch Parallelen aus dem Heidentum).
Ryssel in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XVH, 428—444. Geißler, Die lite-
rarischen Beziehungen der Esramemoiren (Chemnitz, Progr. des Realgymn.
1899) S. 42-44.
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 20
306 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [251]
Teil, den sogenannten zweiten Zehnt abzusondern. Aber so-
wohr dieser als einige andere Abgaben ähnlicher Art wurden vom
Eigentümer selbst zu Opfermahlen in Jerusalem verwendet; sie
kamen also den Priestern überhaupt nicht zugute und gehören
darum auch nicht hierher22. — 4) Die letzte Abgabe von den
22) In die Kategorie dieser Abgaben, die vom Eigentümer selbst in Je-
rusalem verzehrt wurden, gehören:
1) Der „zweite Zehnt", nach Deut. 14, 22—26; auch Lev. 27, 30-31
wurde in diesem Sinne verstanden. Vgl. Tobit 1, 7. Joseph. Antt. IV, 8, 8.
Ausfuhrlich handelt über den zweiten Zehnt das Buch der Jubiläen c. 32,
10 — 14. In der Mischna der ganze Traktat Maaser scheni. Hottinger, De
decimis Judaeorum p. 146 — 182 {Exercü. VII). Lundius, Die alten jüd. Hei-
ligtümer IV, 33. WinerRWB. Artikel „Zehnt". Saalschütz 1, 169. 354—358.
Leyrer in Herzogs Keal-Enz. 1. Aufl. XVIII, 417 f. — Die entfernter Woh-
nenden konnten den zweiten Zehnt in Geld umsetzen, unter Hinzufögung
von ty5 des Wertes (Lev. 27, 31. Maaser scheni IV, 3). Für dieses Geld
durften aber nur Speisen, Getränke und Salben gekauft werden, die in Je-
rusalem verbraucht werden mußten (Deut. 14, 26. Maaser scheni II, 1).
2) Der Viehzehnt. Die einzige Stelle des Pentateuches, welche eine Ver-
zehntung des Viehes fordert, Lev. 27, 32 — 33, wurde nämlich von der späteren
Gesetzgebung im Sinne des „zweiten Zehnt" verstanden, so daß also das ver-
zehntete Vieh ebenfalls zu den Festmahlen in Jerusalem verwendet wurde.
S. Sebachim V, 8. Bartenora und Maimonides zu Bechoroth IX, 1 (in Suren-
husius' Mischna- Ausgabe V, 187). Philo scheint freilich den Viehzehnt auch
zu den priesterlichen Einkünften zu rechnen, De cariiate § 10 (Mang. H, 391);
de praemiis sacerdotum § 2 mit. (wo wahrscheinlich der Zehnt gemeint ist);
vgl. Bitter, Philo und die Halacha S. 122 f. Ebenso Tobit 1, 6 nach dem
Text des cod. Sinait. Deutlich spricht das Buch der Jubiläen den Viehzehnt
den Priestern zu, die ihn „vor Gott" essen sollen (32, 15; vgl. auch 13, 26.
32, 2. 8). — Näheres s. Mischna Bechoroth IX, 1—8; auch Maaser scheni I, 2.
Schekalim I, 7. HI, 1. VIII, 8. Bosch haschana I, 1. Ghagiga I, 4. Sebachim
V, 8. X, 3. Menachoth IX, 6. Ohullin I, 7. Hottinger, De decimis Judae-
orum p. 228—253 (Exercit. X). Lundius, Die alten jüdischen Heiligtbümer
B. IV, Kap. 38.
3) Der Ertrag vierjähriger Bäume und Weinberge. Nach Lev.
19, 23 — 25 durften die Früchte neugepflanzter Bäume (und Weinberge) in den
ersten drei Jahren überhaupt nicht geerntet werden, im vierten Jahre sollten
sie Gott geweiht werden; erst im fünften standen sie zur freien Verfugung des
Besitzers. Das Buch der Jubiläen bestimmt genauer, daß vom Ertrag des
vierten Jahres die Erstlingsfrucht auf den Altar gebracht, das übrige aber
von den „Dienern des Hauses Gottes" gegessen werden solle (Jubil. 7, 36>
dazu Charles, The book of Jubüees 1902, p. 64 sq.). Die spätere Zeit aber hat
die Verordnung dahin verstanden, daß der Ertrag des vierten Jahres wie der
zweite Zehnt vom Eigentümer selbst in Jerusalem verzehrt werden sollte.
S. bes. Jos. Antt. IV, 8, 19: xCo 6h xexdoxtp XQvydxw nav xö yevdtuevov (x6ve
ydg wqiov elvai) xal avvayayiov elq xfjv ieoäv nöXiv xopi^ho), xal ovv t§
öexdxy xov aXXov xagnov fxexä xtbv <plXo>v evQ)%ov(X€voc avaXiox£zo>
xal fAEx' ÖQ<pav(bv xal xnoevovoibv yvvaixüv. Vgl. auch Philo, De earitate § 21
[251. 252J II. Die Einkünfte. 307
Bodenerzeug|nissen ist endlich die sogenannte Challa (nin), d. h.
die Agabe vom Brot beim Backen (ajcaQxq xov (pvQafiarog Born. 11,
16). Nach der Mischna unterlagen dieser Abgabe folgende fünf
Getreidearten: Weizen, Gerste, Spelt, Hafer und Roggen (?)23. Die
Abgabe durfte nicht vom Mehl, sondern mußte vom Teig entrichtet
werden24. Sie betrug für Privatleute V241 f&r Bäcker V48 vom
Ganzen28. |
(Mang. II, 402). Mischna Pea VII, 6. Maaser scheni V, 1 — 5. Orla ganz.
Edujoth IV, 5. Guisius zu Pea VII, 6 (in Surenhusius' Mischna I, 68).
Eottinger, De jure plarUae quarti anni Juxia praeoeptum Lev. 19, 24, Mar-
burg 1704. Saalschutz I, 168 f. Geiger, Urschrift und Übersetzungen der
Bibel (1857) S. 181 ff. Ad. Schwarz, Die Controversen der Schammaiten und
HUleliten, I, Wien 1893, S. 45—48.
4) Zu den Abgaben, welche nicht den Priestern zufielen, gehören endlich
auch die Abgaben an die Armen, nämlich: a) bei der Ernte das am Band
Gewachsene und die Nachlese, Lev. 19, 9—10. 23, 22. Deut. 24, 19—22. Jo-
seph. Äntt. IV, 8, 21. Philo, De caritate § 9 (Mang. II, 390). Mischna Traktat
Pea. — b) Der sogenannte dritte Zehnt oder Armenzehnt. Nach der hier
zugrunde liegenden Vorschrift Deut. 14, 28 — 29. 26, 12 sollte man eigentlich
erwarten, daß der Armenzehnt mit dem zweiten Zehnt abwechselte. Denn
das Deuteronomium schreibt vor, daß der Zehnt, der sonst vom Eigentümer
selbst vor Jahve verzehrt wurde, im dritten Jahre den Leviten und Armen zu
überlassen sei. So auch noch LXX Deut. 26, 12: (iv xijf hei xCp joitcp) xb
öevxsqov imdixazov öuxjeiq xc]> Aevlxy xal x(j> noootjXvxq) xal xtj> öo<pav<p xal
xjj xhQci. Nach der späteren Praxis kam aber der Armenzehnt in jedem dritten
Jahre noch zum zweiten Zehnt hinzu (genauer: zweimal in sieben Jahren, da
das Sabbathjahr wegfiel). S. Tobit 1, 7—8. Joseph. Äntt. IV, 8, 22. Pea VIII,
2—9. Demai IV, 3—4. Maaser scheni V, 6, 9—10. Jadajim IV, 3. Targum
Jonathan zu Deut. 26, 12. Hieronymus Comment. in Exech. 45, 13 — 14 (ed.
Vaüarsi V, 565). Guisius zu Pea VIII, 2 (in Surenhusius' Mischna I, 70).
Bernards und Havercamps Ausgaben des Josephus zu Antt. IV, 8, 22.
Hottinger, De decimis Judaeorum p. 182 — 203. Lundius, Die alten jüdi-
schen Heiligthümer Buch IV, Kap. 34. Winer RWB. Art. „Zehnt". Leyrer
in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XVIII, 418 f. Herzfeld, Gesch. des Volkes
Jisrael HI, 250 f. Geiger, Urschrift und Übersetzungen der Bibel S. 176 ff.
Gronemann, Die Jonathansche Pentateuch- Übersetzung (1879) S. 161 f.
Olitzki, Flavius Josephus und die Halacha I. Tl. (1885) S. 15—19 (dazu
Theol. Litztg. 1886, 122 f., wo ich gezeigt habe, daß Josephus und die Mischna
übereinstimmen).
23) Challa I, 1. Die Bedeutung der beiden gewöhnlich mit „Hafer" und
»Roggen" übersetzten Worte (teitt) nbiaü und "pfc^lö) ist nicht sicher; namentlich
ist unter "pSW — = olqxov, oicptoviov wohl richtiger eine Haferart zu verstehen.
24) Challa II, 5.
25) Challa H, 7. — S. überh. Num. 15, 17—21. Nehem. 10, 38. Exech.
44, 30. Philo, De praemiis sacerdotum § 1 (Mang. H, 233): KeXevei yäo xovq
oixonovovvxaq dnb navxbg oxiaxdg xe. xal tpvoduaxoQ äoxov äyaiostv anao-
'/.^v eis teoiav XQnoiv. Joseph. Äntt. IV, 4, 4: xoiq xe nhxovxag xöv oXxov
xal &(>T07ioiovu£vov<; xibv nBuudxwv abxoZg xiva yoor\y&v. Mischna Traktat
20*
308 § 24- Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [258]
Eine zweite Hauptklasse regelmäßiger Abgaben bildeten die
Abgaben von der Viehzucht Dieselben waren dreierlei Art.
1) Die wichtigste war die Entrichtung der männlichen Erst-
geburt (d. h. also der Erstgeburt, wenn diese eine männliche war).
Mit den Bestimmungen hierüber verbindet das Gesetz auch Ver-
ordnungen in betreff der Erstgeburt des Menschen. Schon
nach der älteren jahyisti sehen und deuteronomischen Gesetzgebung
sollte die männliche Erstgeburt des Viehes Gott geweiht, d. h. zu
Opfer und Opfermahl verwendet werden (Exod. 13, 11—16. 22, 28
bis 29. 34, 19—20. Deut. 15, 19—23). Das Priestergesetz macht
daraus eine Abgabe für die Priester (Exod. 13, 1—2. Leo. 27, 26 — 27.
Num. 18, 15—18. Nehem. 10, 37). Beide fügen zu der Erstgeburt
des Viehes auch die Erstgeburt des Menschen hinzu, die eben-
falls als eigentlich Gott gehörig betrachtet wird und darum aus-
gelöst werden muß. Da außerdem zwischen reinem und unreinem
Vieh zu unterscheiden ist, so ergeben sich in betreff der Erstgeburt
folgende nähere Bestimmungen26: a) Die Erstgeburt des reinen
und opferbaren Viehes, d. h. der Rinder, Schafe und Ziegen, ist in
natura abzuliefern. Ist sie fehlerfrei, so muß sie als Opfer be-
handelt, d. h. das Blut an den Altar gesprengt und das Fett auf
dem Altare verbrannt werden27. Das Fleisch darf von allen An-
gehörigen des Priesterstandes, auch den Frauen, überall in Jeru-
salem gegessen werden (Num. 18, 17 — 18. Nehem. 10, 37. Exod. 22,
29. 34, 19. Deut 15, 19—20) 28. Hat das Tier einen Fehler, so ge-
hört es ebenfalls den Priestern, wird aber als profane Speise be-
handelt (Deut. 15, 21— 23)29. b) Die Erstgeburt der unreinen
ChaUa. Siphre zu Num. 15, 17 ff. bei Ugolini, Thesaurus XIII, 1108 ff Lun-
diu8, Die alten jüdischen Heiligt hümer ß. IV, Kap. 39. Saalschütz I, 347.
Haneberg S. 571—573. Ritter, Philo und die Halacha S. 118. — Über
eine Differenz zwischen Schammai und Hillel: Edujoth I, 2 und dazu
Ad. Schwarz, Die Controversen der Schammaiten und Hilleliten, I, 1893,
S. 26-29.
26) Die spätere Praxis hat die jahvistischen und deuteronomischen Ge-
setze mit denjenigen des Priesterkodex verbunden und sie nach Maßgabe der
letzteren interpretiert.
27) Die Mischna bezeichnet daher auch die Erstgeburt als „Heiliges",
aber als solches zweiten Grades, ö^ip d*Wp, wie Passa und Viehzehnt, Se-
bachim V, 8.
28) In der Deuteronomiamstelle wird das „Du" lo, 20 als Anrede an die
Priester, nicht (wie es der ursprüngliche Sinn der Stelle ist) als Anrede an
die Israeliten, aufgefaßt.
29) In diesem Falle darf also das Fleisch von den Priestern auch an Nicht-
priester verkauft und von letzteren genossen werden, s. Bartenora zu Becho-
roth V, 1 (in Surenhusius' Mischna V, 169).
[253. 254] II. Die Einkünfte. 309
Tiere, nach Philo namentlich der Pferde, Esel und Kamele, und
zwar auch hier, wie | überall, nur die männliche Erstgeburt, ist
gegen Geld auszulösen nach Abschätzung des Priesters unter Hin-
zufftgung des fünften Teiles (Num. 18, 15. Nehem. 10, 37. Leo. 27, 27).
Ein Esel sollte durch ein Schaf ausgelöst werden (Exod. 13, 13.
34, 20). Nach Josephus scheint die Auslösung nach einer festen
Taxe von 1% Sekel für das Stück erfolgt zu sein, c) Die Erst-
geburt des Menschen, d. h» das erste Kind einer Frau, wenn es
ein Knabe war, mußte im Alter von einem Monat mit fünf Sekel
„gelöst" werden (Num. 18, 15—16; vgl. Num. 3, 44 ff. Nehem. 10, 37.
Exod. 13, 13. 22, 28. 34, 20). Eine Darstellung des Knaben im
Tempel war dabei nicht nötig, wie man in der Kegel auf Grund
von Luc. 2, 22 f. meint30. Unter den Sekeln sind, wie hier aus-
drücklich bemerkt wird, solche in tyrischer Währung zu ver-
stehen31. Die Taxe galt für Reiche wie für Anne ohne Unter-
schied32. |
30) S. dagegen: Low, Die Lebensalter in der jüdischen Literatur (1875)
S. 110 ff.
31) Bechoroth VIII, 7; vgl. oben S. 76 Anm. 203. Ein Sekel in phönizwcher
(=» althebräischer) Währung beträgt ungefähr 2 Mark 62 Pfennige deutschen
Geldes (Hultsch, Griech. und röm. Metrologie, 2. Aufl. 8. 420), fünf Sekel
also etwa 13 Mark. — Die ältere Gesetzgebung (Exod. 13, 13. 34, 20) meint
mit der „Lösung" sicher nicht Auslösung in Geld, sondern gegen ein Opfer.
32) S. überh. Philo, De praemiis sacerdotum § 1 (Mang. IL, 233) : Tglxov
icxl yioag xä nounöroxa aQoevixä xal navxa xibv %eoaai<av Z<sa ngdg fattjoE-
aiag xal XQ*latv av&QU)7ia>v. Tavva yäg xeXevEi 6ia6(6oo&ai xolg leoatuivoig
av&Qu>7ioiq. BoCbv fihv xal TiQoßdxatv xal alyCbv abxä xähcyova, udaxovg
xal xoiovq xal XW&QQOVS* ineiö^ xa&apä xal noög iöarifjv xal noög dvolag
iaxi t€ xal vevdfuoxar Xvxoa 6h xaxax&hai xibv &XX(ov aimnj)v xal Svcov
xal xaurfXa>v xal x(bv naoanXrioiiüv ftfj ueiovvxag ztjv a£lav. "Evtl 6h
xal xafaa TtafiTtXrjB-fj Tip 6h xibv no&xoxdxcjv vl(bv xa&iiowoiv,
6>c vnho xov ftJjze yovslq xixvwv fxtfxe xhxva yoviatv 6ia£evywod-ai, xiftüxai
x^v anaQ-tf\v aoyvplü) $rjx(j>, 7Zooozdgag loov eioye'oeiv xal nivrjxa xal nXov-
oio v. Vgl. auch De caritate § 10 (ed. Mang. II, 391). — Josephus Antt. IV,
4, 4: Ttbv xexQan66(ov 6h xCbv elg zag Ovolag vevoui<Sfji£v<üv xb yewrj&hv now-
xovf av aooev jj, xaxa&voai naoaoxetv xolq legevoiv, Soors airtovg navoixl
otxelofku iv xji leget ndXsr xibv 6* oh vevofttoft&v&v io&ieiv nao' afaotg xaxä
xovg naxoiovg vöfxovq xovg Ssondraq xibv xixxofiiviav olxXov xal fjuiov av~
xotg avapioecv, ävd-gojnov 6h tiqwxoxöxov n&vxe olxXovg. — Mischna Traktat
Bechoroth. — Hotttnger, De primogenitis, Marb. 1711. Lundius, Die alten
jüdischen Heiligthümer B. HI, Kap. 44. Winer BWB. Art. „Erstgeburt".
Saalschütz I, 348 f. Haneberg S. 569— 571. F ran kel, Über den Einfluß
der palästinischen Exegese etc. 1851, S. 98 f. (über die LXX zu Exod. 13, 13
und 34, 20). Ritter, Philo S. 118—122. 136 f. (am eingehendsten und ge-
nauesten). Knobel-Dillmann, Exeget. Handbuch zu Exod. 13, 1—2. Low,
Die Lebensalter in der jüdischen Literatur 1875, S. 110—118. 390—392 (spe-
310 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [255]
2) Von allem Fleisch, das überhaupt geschlachtet
wurde, erhielten die Priester drei Stücke: Vorderfuß, Kinnbacken
und Magen. In diesem Sinne, also von den zum profanen Gebrauch
geschlachteten, nicht von den geopferten Tieren wurde nämlich
Deut 18, 3 verstanden. Die Vorschrift bezieht sich, auch nach der
späteren Auslegung, nur auf die opferbaren Tiere: Rinder, Schafe
und Ziegen33. — 3) Auch von dem Ertrag der Schafschur
mußte eine Abgabe an die Priester entrichtet werden, jedoch nur
wenn einer mehrere Schafe hatte; nach der Schule Schammais
schon bei zweien, nach der Schule Hillels erst bei fünfen. Die
Abgabe sollte fünf judäische (== zehn galiläische) Sela betragen 34.
HI) Neben den regelmäßigen Abgaben fielen den Priestern
auch noch zahlreiche unregelmäßige und außerordentliche
Abgaben anheim. Im Grunde gehören in diese Kategorie schon
eine große Zahl der Opfer, die aus den verschiedensten Anlässen
dargebracht wurden (s. oben S. 301 ff.); außerdem aber auch noch
folgende: 1) Die Gelübde. Diese konnten sehr verschiedener Art
sein. Man konnte Menschen oder sich selbst dem Heiligtum weihen.
In diesem Falle war Auslösung gegen Geld die Regel. Für einen
Mann waren fünfzig Sekel, für eine Frau dreißig Sekel zu ent-
ziell über die Erstgeburt des Menschen). Olitzki, Flavius Josephus und die
Halacha 1. Tl. 1885, S. 29 (über die Auslösung der Esels-Erstgeburt).
33) S. übern, außer Deut, 18, 3: Philo, De praemiis sacerdotum § 3 (Mang.
II, 235): *Anb öh xüdv !£a> xov ßw/xov Svo^ivejv Svexa XQectxpaylaq xgia
Ttooaxixaxxai x(b isget öiöoo&ai, ßoa%iova xal aiayöva xal xb xaXovfisvov
tfvvoxoov. — Jos. Antt. IV, 4, 4: ehai öh xal xotq xax olxov &vovoiv,
eioixlaq evexa xfjq avxibv, &Ua frij öorjaxelaq, ävayx^v xo/ufc,eiv xotq Uotüaiv
Vivvoxqöv xe xal %eXvviov xal xbv öe^ibv ßoaxlova xov övftaxoq. Über
die Bedeutung von /eAvwov (nicht Brust, sondern Kinnbacke) s. Bernards und
Havercamps Ausgaben des Josephus zu d. Stelle. — Mischna Traktat Chullin X
und dazu die Gemara fol. 130 ff. Sipkre zu Deut. 18, 3 bei Ugolini XIII,
1113—1115 (auch hier, wie bei Josephus, der rechte Vorderfuß). — . Hiero-
nymus, Epist. 64 ad Fabiolam c. 2 (Vallarsi I, 355): caeterum et alia tria,
ezceptis primitiis hostiarum, et de privato et de macello publico, ubi non religio
sed tictus necessitas est, saeerdotibus membra tribuuntur, braehium, maxilla
et venter. — Kaiser Julian bei CyrilL adv. Julian, p. 305 sq.: *Iovöatoi xal
vvv hi . . . . xbv 6e%ibv wfiov Siödaoiv anaQzaq xotq leoetoiv (dazu Fried-
mann und Grätz, Theol. Jahrbb. 1848, S. 359 ff.). — Bernards und Haver-
camps Ausgaben des Josephus zu Antt. IV, 4, 4. Saalschütz I, 350. Hane-
berg S. 576 f. Oehler in Herzogs Reai-Enz. 1. Aufl. XII, 181 f. Knobel
zu Deut. 18, 3. Ritter, Philo S. 124 f. Wellhausen, Gesch. Israls I, 158 f.
= Prolegomena zur Gesch. Israels. 5. Aufl. S. 151.
34) S. überh. Deut. 18, 4. Tobit 1, 6. Joseph. Antt. IV, 4, 4: slvai 6h
anaoyaq avzotq xal rrjq xvjv nooßaxwv xovoaq. Mischna Chullin XI,
1—2. * Siphre zu Deut. 18, 4 bei Ugolini XIII, 1113. — Philo, De earitate § 10
(Mangey U, 391) nennt diese Abgabe irrtümlich unter den Zehnten.
[255. 256] II. Die Einkünfte. 311
richten. Man konnte aber auch Tiere, Häuser oder Grundstücke
dem Heiligtum weihen. Waren die Tiere opferbar, so mußten sie
in natura | abgeliefert werden. Bei unreinen Tieren, Häusern und
Grundstücken konnte ebenfalls Auslösung in Geld eintreten unter
verschiedenen Bedingungen, die im Gesetz näher fixiert werden35.
— 2) Eine besondere Art der Gelübde war die Bannung, d. h. die
nicht-lösbare Weihung an das Heiligtum. Wenn etwas in dieser
Form (als Banngut, Dnn) dem Heiligtum geweiht war, so war es
demselben, d. h. den Priestern, in natura verfallen, es mochte nun
Mensch, Vieh oder Grundeigentum sein36. — 3) Endlich gehörte
den Priestern auch der Reueersatz für entwendetes oder irgend-
wie unrechtmäßig erworbenes Gut in dem Falle, daß dasselbe
seinem rechtmäßigen Eigentümer nicht mehr zurückerstattet werden
konnte37. — In betreff der beiden letzten Gefälle lautet das Ge-
setz deutlich dahin, daß sie den Priestern persönlich gehörten.
Die Gelübde dagegen scheint man in der Begel für allgemeine
Kultuszwecke verwendet zu haben38. Doch nennt Josephus unter
35) S. überh. Lev. 27. Beut. 23, 22—24. Joseph. Antt. IV, 4, 4. Ev. Matth.
15, 5. Marc. 7, 11. Lud diu b, Die alten jüdischen Heiligthümer B. III, Kap. 45.
Saalschütz, Das mosaische Recht 1, 150—153. 358—367. Winer RWB. Art.
„Gelübde". Oehler in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. IV, 788—790 (Art. „Ge-
lübde bei den Hebräern"). Knobel- Dillmann, Exeget. Handbuch, zu
Lev. 27. Haneber g, Die religiösen Alterthümer der Bibel S. 370—376. No-
wack, Lehrb. der hebr. Archäologie H, 263 ff. Buhl in Herzog- Haucks Real-
Enz. 3. Aufl. VI, 485—487 (Art. „Gelübde im A. T."). Moore in der Ency-
clop. Biblica IV, Art. Vbws, Votive offerings. — Ligktfoot, Horae hebr. zu
Matth. 15, 5 (Opp. ed. Boterodamens. II, 332 sq.). Edxard, Traetatus Talmudi-
cus Aboda sara 1710, p. 294 sqq. Sehoettgen, Horae hebr.f Wolf, Curae phil.
in Nov. Test, Wetstein, Nov. Test., sämtlich zu Matth. 15, 5; überh. die Aus-
leger zu Matth. 15, 5 und Marc. 7, 11; auch „Saat auf Hoffnung" herausgeg.
von Delitzsch, Jahrg. 1875 S. 37—40. — Über die Gültigkeit der Gelübde bei
Frauen s. Num. 30; Mischna Traktat Nedarim.
36) S. Lev. 27, 28. Num. 18, 14. Exechiet 44, 29. Saal schütz I, 368—373.
Winer RWB. Art. „Bann". — Nicht hierher gehört Lev. 27, 29. S. darüber
Knobel-Dillmann zu d. Stelle.
37) Num. 5, 5—8.
38) Schekalim IV, 6 — 8: Wenn jemand sein Vermögen 0hDD3) heiligt . . .
. . . . und es ist darunter Vieh, das für den Altar geeignet ist, männliches
oder weibliches, so soll nach R. Elieser das männliche zu Brandopfern und das
weibliche zu Mahlopfern an die, welche solche brauchen, verkauft werden und
das Geld mit dem übrigen Vermögen der Kasse der Tempel -Erhaltung
(n?2ri p*oi) zufallen. R. Josua sagt: die männlichen opfert man als Brand-
opfer, die weiblichen verkauft man an solche, welche Mahlopfer brauchen,
und für das Geld werden Brandopfer dargebracht; das übrige Vermögen fallt
der Kasse der Tempel -Erhaltung zu Wenn jemand sein Vermögen
heiligt, und es sind dabei für den Altar geeignete Dinge, Wein, Öl, Geflügel,
312 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [256. 257]
den priester liehen Einkünften bestimmt das Lösegeld von fünfzig,
resp. dreißig Sekel für | den Fall, daß jemand sich selbst Gott als
Eigentum geweiht hat39. Und die rabbinischen Gelehrten rechnen
zu den 24 Priestergaben außer dem Banngut und dem Keueersatz
auch den als Gelübde dargebrachten „Erbacker" (Lev. 27, 16— 21) 40.
In welchem Umfang alle diese Abgaben auch von den Juden
in der Diaspora dargebracht wurden, läßt sich im einzelnen
nicht mehr mit Sicherheit sagen41. Die Abgaben vom Bodenertrag
(Bikkurim, Teruma, Zehnt) fielen für die Diaspora von selbst hin-
weg; denn die Meinung der einschlägigen Gesetzesbestimmungen
ist nicht die, daß der Grundbesitz überhaupt, sondern die, daß der
Boden des heiligen Landes steuerpflichtig ist (wobei allerdings von
der späteren Kasuistik für die Nachbarländer gewisse Ausnahmen
statuiert wurden)42. In manchen Einzelheiten waren die Ansichten
der Gelehrten über die Abgabenpflicht der Diaspora schwankend.
Ein großer Teil der Abgaben ist gewiß auch von der Diaspora
entrichtet worden und bildete durch seine Massenhaftigkeit eine
ergiebige Quelle des priesterlichen Wohlstandes. — Auch über die
Art und Weise der Entrichtung können wir uns nicht mehr
durchweg eine deutliche Vorstellung machen. Manche Abgaben,
wie die Challa und die drei Fleischstücke beim Schlachten, waren
ja von der Art, daß sie keine längere Aufbewahrung ertrugen.
Eine Ablieferung nach Jerusalem war also hier unmöglich. Jeden-
falls sind sie an den Orten, wo Priester waren, diesen direkt ge-
geben worden43. Soweit es aber irgend tunlich, war die Ver-
so sollen sie nach R. Eleasar an die, welche solche Opferarten brauchen, ver-
kauft, für das Geld aber Brandopfer dargebracht werden; das übrige Ver-
mögen fallt der Kasse der Tempel-Erhaltung zu".
39) Jos. Antt. IV, 4, 4.
40) Vgl. die oben Anm. 6 zitierten rabbinischen Stellen.
41) Material hierüber: Challa IV, 7—11. Jadajim IV, 3. ChuUm X, 1 (die
drei Stücke beim Schlachten auch außerhalb Palästinas abzugeben). Oicero
pro Flacco 28. Philo, De monarchia II, 3 (Mang. II, 224). Ijegat, ad Cajum
§ 23. 40 (Mang. II, 568 sq. 592). Joseph. Antt. XIV, 7, 2. XVI, 6, 2—7. XVHI,
9, 1. Epiphan. haer. 30, 11. Oyrill. adv. Julian, p. 306 A. Die Stellen aus
Philo und Josephus beziehen sich allerdings vor allem auf die Didrachmen-
steuer; aber nicht auf diese allein, s. Antt. XVIII, 9, 1: xo te dlÖQaxpov . . . .
xal önooa aXXa avad-^fxata. — Hottinger, De deeimis Judaeorum
p. 100 sqq. (Exerctt.Y). Franke], Über den Einfluß der palästinischen Exe-
gese auf die alezandrinische Hermeneutik (1851) S. 98 f.
42) Ober Syrien vgl. Demai VI, 11. Schebiüh VI, 2. 5. 6. Maaseroth
V, 5. OhaUa IV, 7. 11. Orla III, 9. Aboda sara I, 8. Ohaloth XVHI, 7.
Buch ler, Der galiläische Am -ha -Ares des zweiten Jahrhunderts (1906)
S. 255—274.
43^ Von der Teruma heißt es Terumoth II, 4: Überall wo ein Prie-
[257. 258] II. Die Einkünfte. 313
waltung der Abgaben in Jerusalem zentralisiert Dorthin
wurden sie abgeliefert; von da wurden sie dann an die Priester
verteilt44. Diese priesterliche Zentralverwaltung erstreckte sich
auch über den Zehnten, der in Wirklichkeit gar | nicht an die
Leviten, sondern an die Priester abgeliefert und von diesen ver-
waltet wurde45.
Zum Genuß der priesterlichen Einkünfte waren nicht
nur die Priester selbst, sondern auch deren Angehörige be-
rechtigt Nur das „Hochheilige" durfte lediglich von Priestern
genossen werden (s. oben S. 301 f.). Im übrigen kamen die Ein-
künfte allen zum Hausstand des Priesters Gehörigen zugute:
Frauen, Töchtern und Sklaven. Ausgenommen waren gemietete
Arbeiter und die an Nichtpriester verheirateten Töchter. In allen
Fällen aber durften die Gaben nur im Zustande levitischer Rein-
heit genossen werden46. — In betreff der Priester wurde kein
Unterschied gemacht zwischen den wirklich fungierenden und den
wegen Leibesfehlern vom Dienst ausgeschlossenen. Die letzteren
st er ist, entrichtet man die Teruma vom Besten; wo aber kein Priester ist,
von dem, was sich lange erhält", — Nach Ohalla IV, 8—9 können Challa,
Banngut, Erstgeburten, Lösegeld für erstgeborene Söhne, Lösegeld für Erstge-
burt des Esels, Vorderfuß, Kinnbacken und Magen (beim profanen Schlachten),
Abgabe von der Schafschur u. A. „jedem Priester" gegeben werden. Daher
mußten z. B. Teruma, Zehnt und Erstgeburten auch noch nach der Zerstörung
des Tempels entrichtet werden, Bikkurim II, 3. Schekalim VIII, 8.
44) S. bes. II Chron. 31, 11—19. Nehem. 12, 44. 13, 5. Maleachi 3, 10. —
Philo, De praemiis § 4 {Mang. II, 235 sq.): ^nhg öh xov fitjöiva xCov öiSovxwv
öveiM&iv xotq Xafxßdvovoi , xeXevei xäq anaQx<*q bIq td Uqöv xo(il£eo9cu iiqö-
xsqoVj eix' iv&höe xovq UoeTq ka/ußdveiv.
45) Vgl. Joseph Vita 12. 15. Antt. XX, 8, 8. 9, 2. — Herzfeld, Gesch.
des Volkes Jisrael II, 138 ff. Delitzsch, Zeitschr. f. luth. Theol. 1877, S. 448 f.
Wellhausen, Gesch. Israels I, 171 f. — Prolegomena zur Gesch. Israels
5. Aufl. S. 164. Bitter, Philo und die Halacha 8. 123 f. Grätz, Monatsschr.
für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1886, S. 97 ff. — Zur Zeit Nehemias
wurde der Zehnt noch genau nach Vorschrift des Priesterkodex den Leviten
gegeben, und von diesen nur der Zehnte vom Zehnt an die Schatzkammern
des Tempels abgeliefert, doch geschah beides unter priesterlicher Auf-
sicht (Nehem, 10, 38—39). — Die Mischna scheint als das Korrekte vorauszu-
setzen, daß die Priester und die Leviten je ihren Anteil direkt vom Eigen-
tümer erhalten (Maaser scheut V, 6).
46) Lev. 22, 1—16. Philo, De monarchia Lib. II § 13—15 (ed. Mangey II,
230—233). Joseph. Antt. IV, 4, 4: nävxwv 6h xtbv xotq Uqevoi zeXovfifrwv
xoiviovtlv 6iixa$e xal xovq olxixaq xal &vyax£oaq xal yvvatxaq, l£a> x(bv vnko
aftaoxTjfjidxwv inupeoofifowv &vatfbv xavxaq yao iv xto leocp fiövoi danav(boiv
ol äooevsq xCdv teoiwv aiB-rj/jiEQSv. — Terumoth VI, 2. VII, 2. Siphra zu Lev.
22, 10 ff. bei Ugolini, Thesaurus XIII, 1102 ff.
314 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [258. 259]
durften sogar, wenn ihre Abteilung zum Dienst kam, auch vom
Hochheiligen genießen47.
Alle bisher aufgezählten Abgaben bildeten nur das persönliche
Einkommen der Priester. Von ihnen sind nun noch zu unter-
scheiden die Abgaben, welche direkt zur Unterhaltung des
öffentlichen Kultus bestimmt waren. Die wichtigste davon
war die Halbsekel- oder Didrachmensteuer48. Eine Steuer
dieser Art hat bis zum Exil überhaupt nicht existiert, da bis dahin
die | öffentlichen Opfer durch den König bestritten wurden (Ezech.
45, 17 ff.; 46, 13—15 nach LXX). Zur Zeit Nehemias wurde sie
bereits entrichtet, betrug aber damals nur ein Drittel Sekel (Nehem.
10, 33—34). Die Erhöhung auf einen halben Sekel kann erst nach
Nehemia eingeführt worden sein. Die betreffende Stelle des Pen-
tateuches, in welcher die Halbsekelsteuer vorgeschrieben wird
(Exod. 30, 11 — 16), ist demnach als eine spätere Novelle zum Priester-
kodex zu betrachten, was ohnehin auch aus anderen Gründen wahr-
scheinlich ist49. Über die tatsächliche Entrichtung dieser Steuer
47) Lev. 21, 22. Philo, De monarchia II, 13. Joseph. Antt. III, 12, 2. Bell
Jud. V, 5, 7. Sebachim XII, 1. Menachoth XIII, 10 fin.
48) Vgl. Winer RWB. Art. „Abgaben". Saalschütz 1,291—293. Wie-
sel er, Chronologische Synopse S. 264 ff. Ders., Beiträge zur richtigen Wür-
digung der Evangelien S. 108 ff. Huschke, Über den Census und die Steuer-
verfassung der früheren römischen Kaiserzeit (1847) S. 202—208. Keim, Ge-
schichte Jesu II, 599 ff. Meyer und andere Ausleger zu Matth. 17, 24.
Baudissin, Gesch. des alttestamentl. Priestertums S. 220 (und die dort ge-
nannte Literatur). Ryssel, Art. „Abgaben" in Herzogs Beal-Enz. 3. Aufl. I, 92.
49) S. Kuenen, De godsdienst van Israel II, 1870, p. 219 f. 267. Ders.,
Einl. in die Bücher des A. T. 1, 1, S. 297. Wellhausen, Jahrbb. f. deutsche
Theol. 1877, S. 412. Reuß, Gesch. der heil. Schriften A. T.s 1881, S. 475 f.
Geißler, Die literarischen Beziehungen der Esramemoiren (Chemnitz, Progr.
des Realgymn. 1899) S. 36—39. Siegfried, Esra, Nehemia und Esther (in
Nowacks Handkomm. I, 6, 2) 1901, S. 114. — Eine Ausgleichung zwischen
Nehem. 10, 33—34 und Eocod. 30, 11 — 16 wäre möglich, wenn man verschiedene
Münzsysteme annehmen dürfte. So Baentsch, Exodus-Leviticus-Numeri (in
Nowacks Handkomm. I. 2) 1903, S. 262: „Wenn Neb. 10, 33 die jährliche
Tempelsteuer auf V3 Seqel festgesetzt ist, so . . . beruht das auf Akkomo-
dation an das pers. Münzsystem, dessen Silberseqel 21,S2 g. wog, so daß ein
Drittel desselben ungefähr dem halben Silberseqel der Juden entsprach". Vgl.
Bertholet, Die Bücher Esra und Nehemia (in Martis Kurzem Handcomm.)
1902, S. 78. Unklar Ryssel a. a. O. Da aber Exod. 30, 11—16 auch aus an-
deren Gründen als spätere Novelle zum Priesterkodex zu betrachten ist (so
auch Baentsch), so dürfte die obige Auffassung die näherliegende sein. Die
Exodusstelle spricht freilich an sich nur von einer einmaligen Abgabe,
welche bei der Musterung zur Zeit Mosis (Num. 1) entrichtet werden sollte.
Indirekt soll aber damit sicherlich eine gesetzliche Grundlage geschaffen wer-
[259. 260] IL Die Einkünfte. 315
im Zeitalter Christi haben wir verschiedene sichere Zeugnisse50.
Sie mußte von jedem männlichen Israeliten, der zwanzig Jahre
oder darüber alt war, gleichviel ob reich oder arm, bezahlt werden51,
und zwar, wie alle heiligen Abgaben, in aithebräischer oder tyri-
scher (phönizischer) Währung52. Der Termin für die Bezahlung
war der Monat Adar (ungefähr März) 5S; die Entrichtung geschah
in der Art, daß die Beträge zunächst innerhalb einer Gemeinde
gesammelt und dann von Gemeindewegen nach Jerusalem ab-
geliefert wurden 54. — Verwendet wurde diese Steuer hauptsächlich
zur Bestreitung des täglichen Brandopfers und überhaupt aller im
Namen des Volkes darzubringenden Opfer, sowie auch zu anderen
öffentlichen Zwecken 55. — Nach der Zerstörung Jerusalems mußte
das Didrachmon eine Zeit|lang an den Tempel des Jupiter Capito-
linus in Rom abgeliefert werden56. Unter Nerva ist zwar die
cctiumnia fisci Judaici beseitigt, die Steuer selbst aber nicht auf-
gehoben worden57.
den für die Einforderung einer regelmäßigen Halbeekelsteuer. In diesem
Sinne hat es auch schon der Chronist verstanden (II Chron. 24, 4 — 10).
50) Ed. Matih. 17, 24. Jos. Antt. XVm, 9, 1. Bell. Jud. VH, 6, 6. Mischna
Traktat Schekalim.
61) Exod. 30, 14—15. Philo, De monarchia II, 3 {Mang. II, 224): IlQoozt-
xaxxai yäg &va nav exog änaQxhv ela^Qeiv änd tlxoaaexovq &Q§a-
fiivovg.
52) Tosephta Kethuboth XII fin. : „Alles Geld, von dem das Gesetz spricht,
ist tyrisches Geld fnis C)öd)". Die erhaltenen hebräischen Sekel-Münzen
stimmen in der Tat mit den Münzen phönizischer Währung überein. Ein
halber Sekel ist also = zwei tyrische Drachmen oder ungefähr 1 Mark 31
Pfennige deutschen Geldes. Vgl. oben S. 76 u. 309. — Im Zeitalter Christi
wurde in Palästina nur in römischer Währung geprägt, deren Münzfuß dem
attischen entspricht, s. übern, oben 8. 73 flf. Man hatte daher beim Entrichten
der heiligen Abgaben sehr oft die Wechsler nötig. Vgl. Lambert, Les chan-
geurs et la monnaie en Palestine etc. (Revue des itudes juives t. LI, 1906,
p. 217—244, LH, 1906, p. 24—42).
53) Schekalim I, 1 u. 3.
54) Schekalim U, 1. Vgl. Ev. Matth. 17, 24.
55) Nehem. 10, 33—34 Schekalim IV, 1—3.
56) Joseph. Beü. Jud. VII, 6, 6. Dio Cass. LXVI, 7. — Vgl. Sueton. Do-
mitian. 12: Judaicus fiscus acerbissime actus est. — Hirsch feld, Die kaiser-
lichen Verwaltungsbeamten bis auf Diocletian. 2. Aufl. 1905, S. 73.
57) Ersteres ist bezeugt durch eine Münze Nervas mit der Umschrift
fisci Judaici calumnia sublaia (Madden, Eistory of Jewish Ooinage p. 199).
Gemeint ist damit die Denunziation im Interesse des fiscus Judaicus, welche
Nerva verbot (s. unten § 31, II, 2). Die Steuer selbst ist auch später noch
entrichtet worden; vgl. Appian. Syr. 50 und besonders Origenes Epist. ad.
African. § 14 (ed. Lommatxsch XVII, 44): xal vvv yovv 'Pcof/atwv ßaotXevdv-
T(ov, xal iovöalcjv xd SiÖQaxpov avzolq xsXovvtfov. — Die Rabbinen ihrerseits
316 § 24- Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [260.. 261]
Zn der Halbsekelsteuer kam als regelmäßige Abgabe für den
Tempel namentlich noch die jährliche Holzliefe rang fiir den
Bedarf des Brandopferaltares hinzu58. Schon zur Zeit Nehemias
war angeordnet worden, daß die Priester, die Leviten und das
Volk zu gewissen Zeiten des Jahres das Holz für den Altar
liefern sollten, alle nach ihren „Vaterhäusern", indem die
Reihenfolge durchs Los bestimmt wurde (Nehem. 10, 35. 13, 31).
In der späteren Zeit geschah die Holzlieferung vorwiegend
am 15. Ab, der eben dadurch einen gewissen festlichen Cha-
rakter erhielt09. Doch wurde auch' in dieser späteren Zeit noch
von einzelnen Geschlechtern an anderen Tagen geliefert60. | Zu-
haben bestimmt, daß die Halbsekel-Steuer nicht Pflicht sei, wenn kein Tempel
besteht (Sehekalim VIII, 8).
58) S. hierüber: Herzfeld, Geschichte des Volkes Jisrael H, 144 f. 6 ratz,
Geschichte der Jaden 3. Aufl. IH, 612 (Note 1) und 668 f. (Note 14) — . 4. Aufl.
S. 571 und 707 f. Derenbourg, Eistoire de la Palestine p. 109 not. 2. Ham-
burger, Real-Enz. für Bibel und Talmud IL Abt, 8. 881 f. (Artikel „Opfer-
holzspende").
59) Mejillath Taanith § 11 (bei Derenbourg p. 443. 445). — Joseph. Bell.
Jud. n, 17, 6: xijq r(bv %vXo<poolo)v hoQxf^ oiaijg, £v y näaiv $&oq vkm9 zip
ßcofjuj) nQootpioeiv. Da Josephns B. J. H, 17, 7 den darauf folgenden Tag
als den 15. Loos («= Ab) bezeichnet, so würde sich für die Holzlieferung der
14. Ab ergeben. Daß aber der 15. Ab der Haupttag war, unterliegt nach den
rabbinischen Quellen keinem Zweifel, s. Megillaih Taanith § 11, Mischna Taanith
IV, 5. IV, 8; im allgemeinen auch Taanith IV, 4. Megilla I, 3. jer. Taanith
68 1>— 69 c. jer. Megilla 70 c. bab. Taanüh 28»— 31».
60) Mischna Taanith IV, 5: „Die Zeiten zur Holzlieferung waren für
Priester und Volk neun bestimmte Tage:
1. Am 1. Nisan lieferte das Haus Ar ach vom Stamme Juda (vgl. Esra
2, 5. Nehem. 7, 10).
2. Am 20. Tammus das Haus David vom Stamme Juda (vgJ. Esra 8, 2).
3. Am 5. Ab das Haus ParSosch vom Stamme Juda (vgl. Esra 2, 3. 8, 3.
10, 25. Nehem. 3, 25. 7, 8. 10, 15).
4. Am 7. Ab das Haus Jonadabs des Bechabiten (vgl. H Reg. 10, 15. 23.
Jerem. 35, 8. I Chron. 2, 55).
5. Am 10. Ab das Haus SSnaa vom Stamme Benjamin (vgl. Esra 2, 35.
Nehem. 3, 3. 7, 38).
6. Am 15. Ab das Haus Sattu vom Stamme Juda (vgl. Esra 2, 8. 10, 27.
Nehem. 7, 13. 10, 15).
An demselben Tage: Die Priester.
Die Leviten.
Die von unbekannter Abstammung.
Die Bene Oonbe Eli und die Bene KoxceKe*icoth.
7. Am 20. Ab das Haus Pachath-Moab vom Stamme Juda (vgl. Esra
2, 6. 8, 4. 10, 30. Nehem. 3, 11. 7, 11. 10, 15).
8. Am 20. Elul das Haus Adin vom Stamme Juda (vgl. Esra 2, 15. 8, 6.
Nehem. 7, 20. 10, 17).
9. Am 1. Tebeth das Haus Pareosch zum zweitenmale".
[261. 262] III. Die einzelnen Ämter. 317
lässig waren alle Holzarten außer vom Ölbaum und vom Wein-
stock61.
Große Reichtümer müssen endlich dem Tempel auch durch
freiwillige Schenkungen zugeflossen sein. Es ist schon er-
wähnt worden, daß wahrscheinlich der größte Teil der Gelübde
nicht den Priestern persönlich zufiel, sondern für Kultuszwecke
verwendet wurde (s. oben S. 311). Jedenfalls gilt dies von den
für bestimmte Zwecke dargebrachten Gelübden und^von den sonsti-
gen freiwilligen Gaben, die nicht gerade auf Grund eines Ge-
lübdes geweiht wurden62. Sehr häufig wurden einzelne Gegen-
stände geschenkt, die zum Gebrauch beim Kultus oder zur Zierde
desyTempels dienten63. Man konnte z. B., um nur einiges zu er-
wähnen, zur Erweiterung des goldenen Weinstocks über dem
Tempeltore Gold in Form einzelner Blätter, Trauben oder Beeren
schenken64; der reiche Alabarch Alexander in Alexandria stiftete
die Gold- und Silberbekleidung für die Tore des Vorhofes65; selbst
vornehme NichtJuden stifteten nicht selten Weihgeschenke für den
Tempel (s. darüber am Schluß dieses Paragraphen). Das Gewöhn-
lichste waren wohl Gaben in Geld; und da war selbst das Scherf-
lein der armen Witwe nicht unwillkommen (Ev. Marc. 12, 41 — 44.
Luc. 21, 1—4). In der Schatzkammer des Tempels waren dreizehn
posaunenförmige Kasten aufgestellt, in welche das für die einzel-
nen Kultuszwecke bestimmte Geld eingelegt wurde. Nicht weniger
als sechs davon enthielten die „freiwilligen Gaben" schlechthin,
ohne nähere | Bestimmung; und diese wurden sämtlich, wie wenig-
stens die Mischna behauptet, zu Brandopfern verwendet (weil näm-
lich bei diesen am meisten, sozusagen, Gott zugute kam)66.
ni Die einzelnen Ämter.
Die |große Zahl der Priester, die Fülle ihrer Einkünfte, die
Mannigfaltigkeit ihrer Punktionen erforderten auch eine reiche
Gliederung der Ämter. Es ist bereits im ersten Abschnitt ge-
zeigt worden, wie die ganze Priesterschaft in 24 Geschlechter ge-
61) Tamid II, 3. Anders: Buch der Jubiläen c. 21, 12—15. Testam. XII
Patriarch. Levi c. 9. Vgl. Charles, The book of Jubilees, 19C2, p. 134 sq.
62) Daß man zwischen Gelübden (ö*vftt) und freiwilligen Gaben
(nmi) wenigstens formell unterschied, sieht man z. B. aus Megüla I, 6.
63) S. im allgemeinen Jos. Bell. Jud. V, 13, 6. Mischna Joma III, 10.
64) Middoth HI, 8 fin.
65) Jos. Bell. Jud. V, 5, 3.
66) Schekalim VI, 5-6.
318 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [262. 263]
teilt war, deren jedes einen einheitlichen Körper für sich bildete
mit Vorstehern und Ältesten an der Spitze. Unabhängig von dieser
gesellschaftlichen Gliederung des ganzen Standes war nun aber
der Organismus spezieller Ämter, die zur Durchfuhrung der
mannigfaltigen Kultuszwecke und Kultusordnungen erforderlich
waren. Unter diesen speziellen Ämtern ragen (wenigstens im
letzten Jahrhundert des Tempelbestandes, auf welches die folgende
Darstellung sich bezieht) zwei über alle anderen hervor, die darum
hier an die Spitze zu stellen sind.
1) Das Haupt der gesamten Prieaterschaft war der Ober-
priester oder, wie wir zu sagen gewohnt sind, der Hohepriester
(b"na pD, aQxcBQevg, in der aramäischen Landessprache: Kahna
rabba, s. obenS.25Anm.70)1. Das Charakteristische seiner Stellung
war die Vereinigung einer politischen und einer priesterlichen
Würde in einer Person. Er war nicht nur der höchste Kultus-
beamte, der allein zur Ausübung gewisser Kultushandlungen von
höchster religiöser Bedeutung, wie namentlich zur Darbringung
des Opfers am Versöhnungstage berechtigt war; sondern er war
zugleich auch das politische Oberhaupt des Volkes, also das Staats-
oberhaupt, soweit eben der Staat nicht von fremden Herren regiert
wurde. In der Zeit der Unabhängigkeit waren die erblichen has-
monäischen Hohenpriester zugleich Fürsten und Könige; später
sind die Hohenpriester wenigstens die Präsidenten des Synedriums
und die obersten Vertreter des Volkes auch in allen politischen
Angelegenheiten den | Römern gegenüber gewesen (Näheres s. oben
§ 23, IV). Die vornehme soziale Stellung des Hohenpriesters
brachte es mit sich, daß er nur bei festlichen Gelegenheiten als
Priester fungierte. Gesetzlich verpflichtet war er dazu nur am
Versöhnungstage, an welchem er das große Sündopfer des Volkes
vor Gott brachte (Lev. 16); nach der späteren Praxis hatte er auch
in der Woche vor dem Versöhnungstage das tägliche Opfer dar-
zubringen2. Im übrigen hatte er vollkommen freie Hand, zu
opfern, wann er wollte3. Nach dem Zeugnis des Josephus tat er
1) Vgl. über ihn: Win er RWB. s. v.\ Oehler, Art. „Hoherpriester" in
Herzogs Real-Enz. (1. Aufl. VI, 198—206, 2. Aufl. VI, 237—245, revidiert von
Delitzsch), und die von beiden zitierte Literatur. Graf, Art. „Priester" in
Schenkels Bibellex., Wellhausen, Gesch. Israels 1, 153— 156 = Prolegomena
zur Gesch. Israels 5. Aufl. 8. 145— 149. Riehm, Handwörterb. des bibl.
Altertums s. v. Baudissin, Geschichte des altt es tarn entlichen Pries terthums
S. 26-28, 88 f., 127—130, 140—142, 214, 251—253, 289f. Kuenen, Gesammelte
Abhandlungen, übers, von Budde 1894, S. 475 ff. Buhl, Art. „Hoher Priester"
in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VIII, 1900, S. 251—256.
2) Joma I, 2.
3) Joma I, 2. Tamid VII, 3.
[263. 264] III. Die einzelnen Amter. 319
dies in der Eegel an jedem Sabbat und an den Neumonds- und
Jahresfesten 4. Mit diesen Opfern, die er als Vertreter des Volkes
und in dessen Namen darbrachte, ist nicht zu verwechseln das
tägliche Speisopfer, das er von sich aus als eigenes Opfer dar-
zubringen hatte (Lev. 6, 12—16). Hierbei kam es nicht sowohl
darauf an, daß er selbst fungierte (was in der Regel nicht ge-
schehen ist), als darauf, daß er die Kosten bestritt 5. — Die Einzig-
artigkeit seiner Stellung kam auch zum Ausdruck in der beson-
deren Reinheit und Heiligkeit, die von ihm gefordert wurde (s. oben
S. 281. 283), sowie in einem prachtvollen Dienstgewande, das er bei
Verrichtung seiner priesterlichen Funktionen trug 6. Nur am Ver-
söhnungstage, wenn er ins Allerheiligste eintrat, | trug er ein-
fache weiße Kleider, die übrigens auch aus der kostbarsten pe-
4) Bell. Jud. V, 5, 7: 6 6h dp/jegevg &v£h fihv avv avzotg, äV' ohc ael,
xatg 6* kßöo/udoi xal vovfirjviaig xal et zig ioQzf} ndzQiog rj navtfyvoig nav-
öfjfjLog dyofiivij öi hovg. — Auch die Schilderung der hohenpriesterlichen
Funktionen Simons IL bei Sirach 50, 11 — 21 ist wohl nicht nur auf den
Versöhnungstag zu beziehen, denn was hier beschrieben wird, ist der ge-
wöhnliche tägliche Opferdienst, während auf den Versöhnungstag nur 50, 5
angespielt wird (heraustreten hinter dem Vorhang). — Auch die hasmonäi-
sehen Fürsten und Könige haben die priesterlichen Funktionen tatsächlich
ausgeübt. S. Jos. Antt. XIII, 10, 3 (Joh. Hyrkan), XIH, 13, 5 (Alexander
Jannäus).
5) Jos. Antt. m, 10, 7. Näheres s. unten Abschnitt IV.
6) Dieses Prachtgewand wird von den biblischen und nachbiblischen
Quellen mit besonderer Vorliebe beschrieben. S. Exod. 28 und 39. Sirach 45,
6—13. 50, 5 ff. Aristeas ed. Wendland § 96—99. Philo, Vita Mosis lir, 11—14
(ed. Mang. II, 151—155); de monarchia II, 5—6 {ed. Mang. II, 225-227). Jo-
sephus Antt. III, 7, 4—7 und Bell. Jud. V, 5, 7. Mischna Joma VH, 5. Eie-
ronymus Epist. 64 ad Fabiolam c. 10—18 (ed. Vallarsi I, 360—366). — Aus
der Literatur sei hervorgehoben: Joh. Braun, Vestitus sacerdotum Hebraeorum ,
Amst. 1680. Lundius, Die alten jüdischen Heiligthümer Buch III, Kap. 4—8.
Bened. Dav. Öarpxov, De pontificum Hebraeorum vestitu sacro (in Ugolini,
Thts. t. XII, daselbst in t. XII und XIII auch noch andere Monographien).
Ugolini, Thes. XIII, 163—434. Bahr, Symbolik des mosaischen Cultus II,
61—165. Leyrer, Art. „Kleider, heilige bei den Hebräern" in Herzogs Real-
Enz. 1. Aufl. VII, 714—722, und die daselbst zitierte Literatur. Haneberg,
Die religiösen Alterthümer der Bibel S. 534—555. De Saulcy, Bevue archio-
logique, Nouv. Sirie t. XX, 1869, p. 91— 115. Grün bäum, Die Priestergesetze
bei FJavius Josephus (1887) S. 37—55. Auch die in Anm. 1 zitierte Literatur
über die Hohenpriester. Die Universitätsbibliothek zu Gießen besitzt hand-
schriftlich ein sehr gelehrtes Werk von Martinus Mauritiit De re vestiaria
Hebraeorum 1685 (cod. Gissens. 593—595). — Über die Aufbewahrung des
hohenpriesterlichen Gewandes entstand in der römischen Zeit ein ernsthafter
politischer Konflikt, s. Jos. Antt. XV, 11, 4. XVIII, 4, 3. XX, 1, 1-2; dazu
Theol. ßtud. und Krit. 1872, S. 627—630. Bei der Eroberung Jerusalems fiel
das Prachtgewaud den Römern in die Hände (Jos. Bell Jud. VI, 8, 3).
320 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [264]
lusischen und indischen Leinwand (oder Baumwolle?) angefertigt
waren 7.
2) Dem Hohenpriester am nächsten stand dem Range nach
der 1JO oder )yq, aramäisch 1&, über dessen amtliche Funktionen
freilich die rabbinischen Autoritäten sehr im unklaren sind. Man
meint gewöhnlich, er sei der Stellvertreter des Hohenpriesters ge-
wesen und habe namentlich die Aufgabe gehabt, für diesen ein-
zutreten, wenn er durch levitische Verunreinigung an der Aus-
übung seines Dienstes verhindert war8; diese Meinung ist auch
unter christlichen Gelehrten bis auf den heutigen Tag noch die
herrschende9. Sie ist aber sicher falsch. Die sämtlichen Stellen
der Mischna, an welchen der po erwähnt wird, geben über seine
amtliche Stellung überhaupt keinen näheren Aufschluß. Sie zeigen
7) Lev. 16, 4. Mischna Joma HL, 7 (über die hier erwähnten Stoffe s.
oben S. 80. Vgl. auch unten Abschnitt IV über die Priesterkleidung über-
haupt). Jos. B. J. V, 5, 7 : xavxrn* fiev ovv x%v £o&fjza [oix] i<p6oei xbv älXov
ZQÖvov, kiTor&Qav Sy avelä/ußavev andre [6h] eloloi elg xb aövtov. Die einge-
klammerten Worte sind hier sicher zu tilgen. Statt xbv aXXov %q6vov liest
Niese-Destinon %qbviov, was im selben Sinne gemeint sein müßte. M. Simon
(Jewish Quarterly Review XIH, 1901, p. 547 sq.) behält oix bei, liest zqoviov,
tilgt öh und übersetzt: „diese Kleidung trug er nicht für gewöhnlich (sondern
nur wenn er opferte); eine einfachere legte er an, wenn er ins Allerheiligste
einging". Diese Erklärung scheitert nicht nur an der Trivialität des ersten
Satzes, sondern auch daran, daß die Ergänzung der Worte „sondern nur
wenn er opferte" unberechtigt ist. — Die leinenen Kleider (pb ^3Q) trug der
Hohepriester nur bei den speziell auf den Versöhnungstag bezüglichen Hand-
lungen. Bei den übrigen Kultushandlungen trug er auch am Versöhnungs-
tage seine Prachtgewänder (am ^3Q), Lev. 16, 23—24. Genaueres darüber
s. Joma HI, 4. 6. VII, 1. 3. 4; vgl. auch Jos. Antt. XVHI, 4, 3 (als die Römer
die Prachtgewänder in Verwahrung hatten, wurden sie den Juden ausge-
liefert xqioIv kooratg ixdavov hrovq xal xavä rfjv vqaxelav, d. h. am Ver-
söhnungstage).
8) So Joma 39 a. (Herzfeld, Gesch. des Volkes Jisrael II, 141).
9) S. übcrh.: Buxtorf, Lex. Chald. s. v. *pD. — Seiden, De succcssione
in pontificaium Ebraeorum TL, 1. — Light foot, Ministerium templi V, 1 (Opp.
I, 687 sq.). — Sheringam zu Joma IH, 9 (in Surenhusius' Mischna H, 223). —
Carpxov, Apparatus historico-criticus p. 98 sq. — Vitringa, Observationen
saerae (1723) lib. VI c. 23, p. 517—531. — Blossius 1711, Overkampf 1739
(beide zitiert von Mensel, Bibliotheea historica 1, 2, 165). — Quandt, De pon-
tificis maximi suffraganeo (in Ugolinis Thesaurus t. XH, 963—1028). — Herz-
feld, Gesch. des Volkes Jisrael II, 141. — Oehler, Art. „Hoherpriester" in
Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. VI, 204. — Haneberg, Die religiösen Alterthümer
der Bibel S. 558 f. — Levy, Chald. Wörterb. s. v. ",50. Ders., Neuhebr.
Wörterb. s. v. — Büchler, Die Priester und der Cultus im letzten Jahr-
zehnt des jerusalemischen Tempels, Wien 1895, S. 103—118 (hierüber: Theol.
Litztg. 1895, 516). — Über die MäD im A. T. s. Oesenius, Thesaurus s. v.
[264. 265] HL Die einzelnen Amter. 321
nur, daß er im | Bang der nächste nach dem Hohenpriester war.
Wenn der Hohepriester am Versöhnungstage das Los über die
beiden Böcke zog, stand der po ihm zur Rechten, und der Vor-
steher der diensttuenden Abteilung (na mn Vtiri) zur Linken10.
Wenn der Hohepriester aus der Schrift vorzulesen hatte, reichte
der Synagogenvorsteher die Schriftrolle dem po, und dieser über-
gab sie dem Hohenpriester11. Wenn der Hohepriester das tägr
liehe Opfer darbringen wollte, stand ihm ebenfalls der po zur
Seite12. Aus alledem kann man aber nicht schließen, daß der
Segan (ich wähle diese aramäische Form, da die hebräische Singular*
form sich nicht sicher feststellen läßt) zur Stellvertretung des
Hohenpriesters im Falle von dessen Verhinderung bestimmt war.
Und ein solcher Schluß wäre entschieden falsch. Denn die Mischna
sagt über diese Stellvertretung vielmehr folgendes: „Sieben Tage
vor dem Versöhnungstage bestimmt man einen andern Priester
(nna iro) zur Stellvertretung des Hohenpriesters für den Fall, daß
diesem ein den Dienst verhindernder Zufall zustieße" 13. Dies wäre
doch sehr überflüssig gewesen, wenn es einen ständigen Vicarius
des Hohenpriesters gegeben hätte. — Über die wirkliche Stellung
des Segan läßt sich, wie mir scheint, sehr leicht und sicher ins
klare kommen, sobald man nur beachtet, wie die LXX das Wort
C3AO im Alten Testamente übersetzen. Sie übersetzen es nämlich
fast konstant durch axQaxrjyoliA. Der po ist also nichts anderes
als der in den griechischen Quellen, sowohl im Neuen Testamente
als bei Josephus, öfters erwähnte cxQaxqybq xov Uqov, derTempel-
hauptmann15. Er hatte die oberste Aufsicht über die äußere
Ordnung im Tempel. Und es begreift sich bei der Wichtigkeit
dieser Stellung leicht, daß er als der im Bang dem Hohenpriester
am nächsten stehende Priester angesehen wurde.
10) Joma m, 9. IV, 1.
11) Joma VII, 1. Sota VII, 7—8.
12). Tamid VH, 3.
13) Joma I, 1.
14) So Jerem. 51, 23. 28. 57. Exechiel 23, 6. 12. 23. Esra 9, 2 {mag.
qmüt). Nekem. 2, 16. 4, 8. 12, 40. 13, 11. Daniel 3, 2. 27. 6, 8. Nor selten
— aQxovzsg Jes. 41, 25. Nehem. 4, 13. 5, 7. 7, 5. Einmal — oavod*ai
Daniel 2, 4a
15) Actor. 4, 1 : 6 aroaxtiybs xof> Uqoü. Ebenso Autor. 5, 24. 26. — Jb-
8ephu8 Antt. XX, 6, 2: 'Avavlccv xbv ö.Q%i£Qka xal xbv oxoazTjydv *Avavov. —
Bell. Jud. VI, 5, 3: ol xov Uqoü yvXaxeq IjyyeiXav x<j> oxoaxrjycp. — Antt.
XX, 9, 3: xbv yoaftfjiax&a xpv oxoaxfiyov'vxos *EXeat,dQov. — BelL Jud.
II, 17, 2: l&eä^ctQoq vlb<; 'Avavlov xoü <£(W£(>&u£, veccvlaq &oaovzaxos, oxoa-
xtjyCbv xdxe. — An einigen der letzteren Stellen könnte möglicherweise statt
des obersten oxQaxrjydq einer der unteren oXQaxrtyol gemeint sein, die es
ebenfalls gab, wie sogleich gezeigt werden wird.
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 21
322 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [266]
Neben dem Segan oder cxQaxTjyoQ im Singularis kommen auch
0*0*0 oder öxQaxrjyol im Pluralis vor. Wenn die Festzüge der
Landleute mit den Erstlingsfrüchten nach Jerusalem kamen, so
gingen ihnen die vornehmsten Priester entgegen, nämlich die rvinfi
und Ctto und cnan16. Den beiden an erster Stelle genannten
Kategorien rnng und D^ao entsprechen bei Lucas ot aQxisQeiq xal
öTQarijYol (Lue. 22, 4. 52) 17. Was unter den dQxuQelg zu verstehen
sei, ist bereits oben S. 274 ff. gezeigt worden. Die 0*0*0 oder oxq<z-
xrjyol aber sind der Art nach jedenfalls dasselbe wie der "jao oder
öTQaT7]y6g, nur in einer geringeren Bangstufe, also ebenfalls
Häupter der Tempelpolizei, aber in einer dem obersten öxQaxtjyoq
untergeordneten Stellung18.
In den priesterlichen Banglisten, welche an einigen talmu-
dischen Stellen gegeben werden, werden als die dem Hohen-
priester und dem Segan Zunächststehenden die Vorsteher der
Dienstabteilungen genannt, und zwar zunächst die Vorsteher der
24 Hauptabteilungen (noiBttn ©*n) und sodann die Vorsteher der
Unterabteilungen (1K mn wvn) 1 9. Das Amt dieser Vorsteher be-
zieht sich aber nicht direkt auf den Kultus, sondern vielmehr auf
die Priesterschaft als Korporation, weshalb von ihnen bereits oben
S. 290 die Bede gewesen ist Die eigentlichen Kultusämter, die
hier außer dem des Hohenpriesters und des Segan noch zu er-
wähnen sind, haben es teils mit der Vermögensverwaltung,
teils mit der Polizeiaufsicht im Tempel, teils mit den Kultus-
handlungen selbst zu tun. Was wir über diese drei Kategorien
wissen, ist im wesentlichen folgendes20.
I) Eine sehr wichtige Funktion war die Verwaltung des
ungeheuren Tempelvermögens. Der Tempel zu Jerusalem bietet
16) Bikkurim HI, 3.
17) Die Verbindung nino und D*o JD findet sich öfters auch im Alten Testa-
mente (Jerem. 51, 23. 28. 57. Exech. 23, 6. 12. 23). Die LXX übersetzen hier
meistens fjyefjidveq (oder ^yovfievoC) xal atQarijyolt einmal (Jerem. 51, 67) 3(h
Xovteq xal axQaxriyoL In der zitierten Mischnastelle Bikkurim III, 3, wo es
sich um Priester handelt, können daher die rriftB kaum etwas anderes sein
als die agziegeTt;, denn die oiqxovzeq unter den legetg sind eben die aQX^QeXq.
Bestätigt wird dies durch die Formel des Lucas.
18) Ein ISO dieser Art ist vermutlich der in der Mischna öfters vor-
kommende R. Chananja D^ansn «pö. S. über ihn § 25, IV.
19) S. bes. Tosephta Horajoth fin. (ed. Zuckermandel p. 476 unten); jer.
Horajoih 48b, bei Ugolini Thes. XIII, 870.
20) Vgl. Light foot, Ministerium templi e. V und VII. Herz fei d, Ge-
schichte des Volkes Jisrael I, 387 — 424. Haneberg, Die religiösen Alter-
tümer S. 555 ff. Graf in Merx' Archiv I, 226—232. Köberle, Die Tempel-
sänger im Alten Testament, 1899. Überhaupt auch die oben S. 291 zitierte
Literatur über die Leviten.
[267] m. Die einzelnen Ämter. 323
uns in dieser Hinsicht ganz dasselbe Bild, wie andere berühmte
Tempel des Altertums21. Schon die keilinschriftlichen Urkunden
geben Zeugnis von dem Reichtum der Tempel in Babylonien und
Assyrien und von der Pünktlichkeit, mit welcher ihre Einnahmen
und Ausgaben gebucht wurden 22. Besonders genau sind wir jetzt
durch zahlreiche inschriftliche Funde über den Besitzstand und
die Vermögensverwaltung der Tempel in Delos unterrichtet Un-
geheure, Schätze waren hier angesammelt; und die Finanzverwal-
tung wurde mit einer Sorgfalt geführt, die noch heute unsere Be-
wunderung erregt28. Für Ägypten liefert ein gleiches Bild eine
21) Daß die Tempel in der Begel ihre eigene Schatzverwaltung hatten,
unabhängig von den städtischen Finanzen, zeigt Swoboda, Über griechische
Schatzverwaltung (Wiener Studien X, 1888» S. 278—307. XI, 1889, S. 65—87).
22) O. Weber, Die Literatur der Babylonier und Assyrer 1907, S. 260
—262: Urkunden der Tempelverwaltung.
23) Die inschriftlichen Urkunden über die Tempel zu Delos beziehen sich
teils auf die Zeit der athenischen Herrschaft (5. bis 4. Jahrh. vor Chr.), teils
auf die Zeit, wahrend welcher die Insel unabhängig war (Ende des 4. bis
Mitte des 2. Jahrh. vor Ohr.). 1) Zur Zeit der athenischen Herrschaft wurde
von den Amphiktyonen alle vier Jahre Rechnung abgelegt Dieselbe wurde in
zwei Exemplaren auf Marmortafeln ausgefertigt, von welchen das eine in
Athen, das andere in Delos aufbewahrt wurde, weshalb die Funde teils dort,
teils hier zutage gekommen sind (s. Corpus IhseripHonutn Atticarum t. 1 n. 283,
t. II n. 813—828, Homolle, Bulletin de wrrespondance hellenique t. Vm, 1884,
p. 282—327, t X, 1886, p. 461—475 [besonders gut erhaltenes Exemplar vom
J. 364 vor Chr.]). 2) Zur Zeit der Unabhängigkeit der Insel wurde von den
leoonoiol alle Jahre Rechnung abgelegt, die ebenfalls auf marmornen Tafeln
aufgestellt wurde (s. Homollß, Bulletin de correspondance hellenique t. VI,
1882, p. 1—167 [Rechnung vom J. 180 vor Chr.]. Ibid. t XIV, 1890, p. 389—511,
XV, 1891, p. 113—168 [Rechnung vom J. 279 vor Chr.]. Ibid. XXVH, 1903,
p. 62—103 [Rechnung vom J. 250 vor Chr.], Homolle, Lee archives de l'in-
tendanee sacrbe ä Dolos, 315—166 av. J. C. ■— Bibliotheque des Scoles francaises
cPAthenes et de Borne, vol. 49, Paris 1887 [Untersuchung der Chronologie und
Katalog der bisher gefundenen Urkunden, ohne näheres Eingehen auf den In-
halt]. Sehoeffer, De Deli insulae rebus. Berlin 1889. Ders., Art. „Delos",
in Pauly-Wissowas Real-Enz. IV, 2459 ff. Eine anschauliche Zusammenfassung
der Resultate bietet der Aufsatz von G. Hirsch feld, „Delos", in: Deutsche
Rundschau, Bd. 41, Okt.— Dez. 1884, S. 107—119). — Der Inhalt aller dieser
Urkunden ist ein doppelter. Zunächst wird aufs genaueste Rechnung ab-
gelegt über die Einnahmen und Ausgaben der Tempel; sodann wird ein ge-
naues Inventar aufgestellt über alle vorhandenen beweglichen Gegenstände,
welche die abgehenden Beamten ihren Amtsnachfolgern überliefern: Opfer-
geräte, wie Schalen, Becken, Dreifüße, Lampen, Körbe, oder Schmuckgegen-
stände, wie Kränze, Ringe, Halsbänder und dgi, meist aus Silber oder Gold,
in d<er Regel als Weihgeschenk dem Gotte dargebracht. Von dem Umfang
dieser Finanzverwaltung und dem Reichtum des Besitzes kann man sich eine
Vorstellung machen, wenn man weiß, daß z. B. die Urkunde vom J. 279 im
21*
324 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [267. 268]
Papyrusurkunde vom Jahre 215 nach Chr. aus ArsinoS. „Es sind
uns in ihr über mehrere Monate hin die Berechnungen der Ein-
nahmen und Ausgaben des Tempels des Jupiter Capitolinus von
Arsinog erhalten, die von den Oberpriestern selbst aufgestellt als
Rechenschaftsbericht wohl an den Bat der Stadt abgeliefert werden
mußten" 24. Ähnlich werden wir uns, wenigstens was den Reichtum
des Besitzes anlangt, die Verhältnisse beim Tempel zu Jerusalem
zu denken haben. Allerdings hatte der jüdische Tempel keinen
Grundbesitz. Infolge der Abgaben und Schenkungen waren aber
in den Schatzkammern des Tempels Besitztümer mannigfaltiger
Art in gewaltigen Massen angesammelt. Schon die Geräte, die
zum Opferdienst nötig waren, repräsentierten einen | hohen Wert:
da waren in Menge goldene und silberne Becken, Schalen, Krüge,
Pfannen und ähnliche Geräte, wie man sie zum Auffangen und
Sprengen des Blutes, zum Darbringen des Raucher wer kes, der
Speis- und Trankopfer brauchte25. Da waren Vorräte an Vor-
hängen, Priestergewändern und den zur Anfertigung der-
selben nötigen Stoffen26. Da waren namentlich auch, große Vor-
räte an Naturalien: Mehl und Öl zum Speisopfer, Wein zum
Trankopfer, wohlriechende Stoffe zum Räucherwerk; auch die für
die Priester gelieferten Abgaben27. Vor allem aber lagen in den
Druck des Bulletin 26 Seiten umfaßt (XIV, 389—415), die vom J. 250 38 Seiten
(XXVII, 64—102), die vom J. 180 sogar 48 Druckseiten (Bulletin VT, 6—54).
Ein Verzeichnis der verschiedenen Geräte s. Bulletin VI, 108 ff.
24) 8. Wilcken, Arsinoitische Tempelrechnungen aus dem J. 215 n. Chr.
(Hermes Bd. XX, 1885, 8. 430—476). — Vgl. überhaupt in Betreff der ägyp-
tischen Tempel: W. Otto, Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten
Bd. I, 1905, 8. 258-405: „Besitz und Einnahmen der Tempel".
25) Nach dem, freilich nicht authentischen Verzeichnis Esra 1, 9 — 11
sollen die zur Zeit des Cy ras zurückkehrenden Exulanten mitgebracht haben:
30 goldene und 1000 silberne Becken, 29 Messer, 30 goldene und 410 silberne
Deckelgefäße, im ganzen 5400 goldene und silberne Gefäße (andere Zahlen
gibt der griechische Esra). — Nach dem authentischen, von Esra selbst her-
rührenden Bericht Esra 8, 26—27 brachten die unter ihm zurückkehrenden
Exulanten mit: 650 Talente Silber, silberne Gefäße im Wert von 100
Talenten, 100 Talente Gold, 20 goldene Deckelgefäße im Wert von 1000
Danken, 2 Gefäße von feinem Erz (dazu Ed. Meyer, Die Entstehung des
Judentums 8. 69). — Vgl. ferner: I Makk. 1, 21—23. Joseph. AntL XIV, 4, 4.
Bell. Jud. I, 7, 6. V, 13, 6. VI, 5, 2. VI, 8, 3. Joma m, 10. IV, 4. — Nach
Tamid IQ, 4 gehörten zum täglichen Dienst 93 silberne und goldene Geräte;
nach Ghagiga III, 8 waren alle dreifach vorhanden. Einiges Einzelne s. Exoa\
25, 29. 38. 27, 3. 37, 16. 23. 38, 3. Num. 4, 7. 9. 14.
26) Bett. Jud. VI, 5, 2. VI, 8, 3.
27) Nehem. 12, 44. 13, 5. 9. 12. I Chron. 9, 29. Bell. Jud. V, 13, 6. VI, 8, 3.
Antt. XIV, 4, 4. Bell. Jud. I, 7, 6. — Auch Salz war in großen Mengen er-
[268. 269] m. Die einzelnen Ämter. 325
Schatzkammern des Tempels auch große Summen baren Geldes,
die durch ihre kolossale Höhe nicht selten die Habgier fremder
Machthaber zur Plünderung reizten und doch immer wieder rasch
ersetzt waren28. Zu den dem Tempel gehörigen Geldern kamen
endlich auch noch die von Privatleuten daselbst deponierten
Kapitalien; denn man pflegte auch Privatgelder dem Tempel zur
Aufbewahrung anzuvertrauen, wo man sie wegen der Heiligkeit
des Ortes am sichersten geborgen wußte29. — Alle diese Gelder |
und Wertgegenstände waren in verschiedenen Schatzkammern
(ya£o<pvlaxia) im inneren Vorhofe des Tempels aufbewahrt und
bedurften nicht nur einer steten Bewachung, sondern wegen des
fortwährenden Zu- und Abflusses auch einer sorgsamen Verwal-
tung80.
Die Schatzmeister, denen diese Verwaltung oblag, heißen
im Griechischen ya^og>vXaxeqz\ im Hebräischen D^ara32. Die-
forderlich: Esra 6, 9. 7, 22. Joseph. Antt. Xu, 3, 3 § 140; daher eine Salz-
kammer im Tempelvorhof, Middoth V, 3. Vgl Winer BWB. s. v. „Salz",
Zehnpfund, Art „Salz" in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. XVII, 405 ff.
Über das Salzen der Opferatücke b. unten Abschnitt IV, Anm. 48.
28) Plünderung durch Heliodor versucht (II Makk. 3); durch An-
tiochus Epiphanes (I Makk. 1, 21—23). Pompeius läßt den Schatz un-
berührt (Afitt. XIV, 4, 4. B. J. I, 7, 6); Crassus plündert ihn (Antt. XIV, 7, 1.
B. J. I, 8, 8: zweitausend Talente); desgleichen: Sabinus nach dem Tode
des Herodes {Antt. XVH, 10, 2 fin. B. J. II, 3, 3 /in.); Pilatus (Antt. XVTII;
3, 2. B. J. II, 9, 4); Florus (B. J. II, 14> 6). — Vgl. über den U$d<; dyoavQds
im allgemeinen auch Ev. Matth. 27, 6. Joseph. Bell. Jud. V, 5, 1. Antt XX, 9, 7.
29) H Makk. 3, 10—12. 15. Joseph. Bell. Jud. VI, 5, 2. Auch in heid-
nischen Tempeln geschah dies vielfach. S. überh. Winer RWB. Art. „Hin-
terlage". Grimm, Exeget Handb. zu den Apokryphen, zu II. Makk. ,3, 10.
Marquardt, Bömische Staatsverwaltung Bd. in, 1878, S. 210. Hermann
und Blümner, Lehrb. der griechischen Privataltertümer (1882) S. 456 f.
30) Über die ya£o<pvXdxta s. bes. Joseph. Bell. Jud. V, 5, 2 fin. VI, 5, 2.
Antt. XIX, 6, 1. Nehem. 12, 44. 13, 5. 9. 12. 13. II Makk. 3, 6. 24. 28. 40.
4, 42. 5, 18. Unter dem im Neuen Testamente erwähnten ya&cpvXäxiov ist
nicht eine Schatzkammer, sondern ein Schatzkasten zu verstehen (Marc.
12, 41. 43; Luc. 21, 1; wahrscheinlich auch Joh. 8, 20). Nach Schekalim VI, 5
gab es im Tempel dreizehn posaunenförmige Geldkasten.
31) Antt. XV, 11, 4. XVIII, 4, 3 (die ya£o<pvXaxe<; verwahren das hohe-
priesterliche Kleid). — Antt. XX, 8, 11: lafi&rjXov xöv &qx^Q^ xal %EXxlav
xbv ya£o<pvXaxa (als Gesandte nach Born). — Bell. Jud. VT, 8, 3: ö ya-
£o<pvkag toD leQofj 4>ivkcq (liefert den Römern die priesterlichen Gewänder
aus). — Vgl. auch Antt. XIV, 7, 1: ö rän> ötjoavoibv [al ^^arcov] <pvXa$
Uotvs, ^EXeaQaooq Svofxa .... neniaxtvfxhoq zf/v zCov xatantcacfiaxatv xod
vaoü <pvXaxifo (zur Zeit des Crassus).
32) Pea I, 6 fin. II, 8 fin. IV, 8. Challa DI, 3—4. Bikkurim III, 3. Sehe-
kalim II, 1. V, 2. 6. Menachoth VHI, 2. 7. Meila DI, a — Das Wort kommt
1
326 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [209. 270]
selben hatten nicht etwa nur die Verwaltung der Tempelgelder,
sondern überhaupt die Verwaltung aller Besitztümer der eben
genannten Kategorien. Sie verwahrten die heiligen Geräte88, die
Vorhänge und Priestergewänder84; sie nahmen das Mehl zu den
Speisopfern und den Wein zu den Trankopfern in Empfang35,
nahmen Geheiligtes (dem Tempel Geschenktes) an oder gaben es
gegen Auslösung wieder frei86; sie kauften Holz87 und nahmen
die Halbsekelsteuer ein88. — Selbstverständlich gab es auch bei
den Schatzmeistern wieder verschiedene Bangabstufungen. Nach
den Angaben des Alten Testamentes könnte es scheinen, als ob
alle diese Ämter in den Händen von Leviten gewesen wären89.
Für die niederen Chargen mag dies in der Tat der Fall gewesen
sein; die höheren dagegen waren sicher in den Händen von Priestern.
Erscheint doch | bei Josephus der jaC,o<pvXag (vielleicht der oberste
derselben) unmittelbar neben dem Hohenpriester als einer der vor-
nehmsten Tempelbeamten40. Auch sonst werden die D*n2iTä in der
Regel zu den höheren Tempelchargen gerechnet41. — Wenn die
Mischna festsetzt, daß im Tempel mindestens drei D*n3tt sein
sollten42, so denkt sie dabei wohl auch nur an die Oberschatz-
meister, nicht an das ganze für die Schatzverwaltung nötige Personal
Wahrscheinlich gehören in die Kategorie der Schatzbeamten
auch die Amarkelin CpbDittK), die in der Mischna einmal erwähnt
werden, ohne irgendwelche Andeutung ihrer Funktionen48, weshalb
auch im A. T. vor, Esra 1, 8. 7, 21. Vgl. auch Levy, Chald. Wörterb. «. v.
Der b., Neuhebr. Wörterb. s. v. Ed. Meyer, Die Entstehung des Judentums
(1806) S. 24.
33) Schekalim V, 6. I Chron. 9, 28.
34) Jos. Äntt. XIV, 7, 1. XV, 11, 4. XVIII, 4, 3. Beü. Jud. VI, 8, 3.
86) Menaehoth Vm, 2. 7.
36) Pea I, 6 fin. II, 8 fin. IV, 8. Chaüa III, 3—4.
37) Meiia HI, 8.
38) Schekalim II, 1.
39) I Ohron. 9, 28—29. 26, 20—28. II Ohron. 31, 11—19. — Die Vorliebe
des Chronisten für die Leviten ist bekannt. Bei Nehem. 13, 13 erscheint doch
ein Priester an der Spitze der Schatzmeister.
40) Äntt. XX, 8, 11, s. oben Anm. 31.
41) Bikkurim III, 3 (s. oben S. 322); auch in der priesterlichen Rangliste
osephta Horajoth fin. (s. Anm. 19) stehen die d^nata über den gewöhnlichen
Priestern und diese wieder über den Leviten. — In einem rabbinischen Wehe-
ruf über die Verworfenheit der Hohenpriester erscheinen die G'nan wie bei
Josephus unmittelbar neben den Hohenpriestern („sie sind Hohepriester und
ihre Sohne "p-Ota und ihre Eidame ■pbs-TOK" Tosephta Menaehoth fin., bab.
Pesachim 57», Derenbourg, Histoire p. 232 not.).
42) Schekalim V, 2.
43) Schekalim V, 2.
1270. 271] . HI. Die einzelnen Amter. 327
die Babbinen darüber nur vage Vermutungen, zum Teil auf Grund
harmloser etymologischer Spielereien geben44. Das Wort ist per-
sischen Ursprungs und bedeutet einen „Rechnungsrat oder Rechen-
meister"45. Im Targum Jonathan steht daher z. B. II Reg. 12, 10
und 22, 4 fc^iontta für das Hebräische q©n vre*», „Wächter der
Schwelle", womit die priesterlichen Schatzmeister gemeint sind.
Identisch mit unserm Wort ist das armenische kamarakar, das
ebenfalls einen Rechnungsbeamten (Oberkassierer) bezeichnet46.
Sonst kommt das Wort in den Targumen allerdings auch im weiteren
Sinne von Präfekten überhaupt vor47. Da aber die priesterlichen |
■pbDitta in der Regel mit den "p-QTÄ zusammen genannt werden 48,
so darf wohl als sicher angenommen werden, daß sie auch in die
Klasse der Schatzmeister gehören. Möglicherweise waren sie Unter-
beamte derselben Kategorie49; vielleicht aber sind gübarim und
amarkdin in der Weise zu unterscheiden, daß erstere es mit der
Einnahme und Verwahrung der Schätze, letztere es mit der Ver-
teilung der Priesterabgaben an die Priester zu tun hatten50. —
44) In der Tosephta Schekalim II, 15 (ed. Zuckermandel p. 177) wird be-
hauptet, daß sie die sieben Schlüssel zu den sieben Toren des Vorhofes ge-
habt hätten (s. auch Grätz, Monatsschrift 1876, 441). Dies ist aber nur eine
Hypothese auf Grund der Angabe der Mischna, daß es mindestens sieben
Amarkelin sein müßten. Etymologisch wird das Wort entweder durch bs •»«
(Herr von allem) oder is "tok (der alles sagt, d. h. alles zu befehlen hat) er-
klärt. 8. überh. Levy, Chald. Wörterb. *. v. Ders., Neuhebr. Wörterb. s. v.
*>d*tok und bs-ra. Büchler, Die Priester und der Cultus (1895) S. 94 ff.
Kohler in The Jewish Encyclopedia I, 485 sq. (Art. Amarkot).
45) Perle s, Etymologische Studien (1871) S. 106. Vgl. Nöldeke, Göt-
tinger gel. Anzeigen 1871, 149. Ders., Literar. Central bl. 1875, 876.
46) Prud' homme (Journal asiatique, sixieme serie, t. VII, 1866, p. 115)
erklärt es durch comptable ou eaissier chef. Vgl. auch Levy in Geigers Jüd.
Zeitschrift V, 1807, S. 214 f. La gar de, Armenische Studien (Abhandlungen
der Göttinger GeseUsch. der Wissensch. Bd. XXII, 1877) Nr. 1216.
47) Buxtorf, Lex. Chald. und Levy, Chald. Wörterb. s. v.
48) So außer Schekalim V, 2 auch in der Bangliste Tosephta Horajoth fin.
und in dem Weheruf Tosephta Menachoth fin. (s. Anm. 41).
49) In der Rangliste Tosephta Horajoth fin. stehen die "pte"»«» allerdings
über den •p'UTa. Dies ist aber schwerlich richtig. S. dagegea Schekalim V, 2;
Tosephta Menachoth fin. Unter den priesterlichen Notabein Bikkiirim III, 3
werden die 'piD'n»« überhaupt nicht genannt, wohl aber die •p'OTa.
50) In der Chronik (II Chron. 31, 11—19) werden die Beamten, welche
die Priestergaben einzunehmen hatten, von denjenigen, welche sie auszu-
teilen hatten, deutlich unterschieden. Nun heißt es Mischna Schekalim V, 2:
„Man stellt nicht weniger als drei Gisbarim und nicht weniger als
sieben Amarkelim an". Wenn man hiermit vergleicht was über das Ein-
sammeln und Austeilen der Armengelder gesagt wird (Pea VIII, 7: „Das
Einsammeln geschieht durch Zwei, das Austeilen durch Drei"), so liegt die
328 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [271. 272]
Der jerusalemische Talmud erwähnt außer diesen beiden auch
noch •pp^binp (xafrolixol), von welchen die Mischna jedoch nichts
weiß51.
Obwohl die Schatzverwaltung im wesentlichen in den Händen
der Priester lag, scheint doch in der römischen Zeit von den
staatlichen Behörden eine Oberaufsicht ausgeübt worden zu sein.
Wenigstens von Herodes von Chalcis wird gelegentlich bemerkt,
daß er außer dem Kecht, die Hohenpriester zu ernennen, auch
xr]v h&wlav xov vea> xa\ xtbv Ibq&v xQrmaxtDV erhalten habe52.
Wahrscheinlich ist diese Befugnis vor ihm von den Prokuratoren
und nach ihm von Agrippa IL ausgeübt worden53. Wie bei der
Schatzverwaltung, so haben damals auch bei Ausführung von
Bauten am Tempel die priesterlichen und die politischen Behörden
zusammengewirkt 54.
II) Für den Polizeidienst, der ein sehr zahlreiches Personal
erforderte, wurden vorwiegend die Leviten verwendet Ja in
der | früheren Zeit, noch zur Zeit Esras und Nehemias, gehörten
die „Torhüter** (D*njp«>) nicht einmal zu den Leviten, sondern
standen noch eine Stufe unter ihnen; erst der Chronist rechnet
auch sie zu den Leviten (s. oben S. 294). Im inneren Vorhofe
wurde der Sicherheitsdienst durch die Priester selbst ausgeübt —
Über die Organisation desselben geben die Chronik, sodann Philo
und die Mischna einige nähere Aufschlüsse55. Die Chronik zählt
im ganzen vierundzwanzig Wachposten unter vier Hauptleuten,
nach den vier Himmelsgegenden (I Chron. 26, 12—18; auch 9, 17.
24 — 27). Ihre Angaben beziehen sich auf den Tempel Serubabels.
Durch Herodes wurde namentlich der Umfang des Tempelplatzes
oder des sogenannten äußeren Vorhofes sehr erweitert, so daß
er nun ein großes Viereck bildete mit der größeren Ausdehnung
von Norden nach Süden. Innerhalb dieses großen Platzes lag
wieder ein von festen Mauern eingeschlossener länglich-viereckiger
Vermutung nahe, daß die Gisbarim und Amarkelim sich ebenso zu einander
verhalten, wie die Einnehmer und Ausgeber der Armengelder.
51) jer. Schekalim V, foL 49a.
52) Äntt. XX, 1, 3.
53) Über Agrippa: Äntt, XX, 9, 7.
54) S. bes. Bell. Jud. V, 1, 5 (eine bauliche Veränderung am Tempel wird
beschlossen „vom Volk und den Priestern" und ausgeführt von König Agrip-
pa II.; über dieselbe Sache s. auch Äntt. XV, 11, 3). Wegen einer von den
Priestern eigenmächtig erbauten Mauer entstand ein ernster Konflikt zwischen
ihnen und den politischen Behörden (Agrippa und Fes tu s), s. Äntt. XX, 8, IL
55) 8. überh. Opitii Commentarius de custodia templi nocturna (Uffolini,
Thes. t. IX, 979—1076). — Winer RWB. II, 590 f. — Kneucker Art „Tem-
pelpolizei" in Schenkels Bibel-Lex. V, 484 ff.
[272. 273] III. Die einzelnen Amter. 329
Platz mit der Hauptausdehnung von Westen nach Osten: der so-
genannte innere Vorhof oder „der Vorhof" im eigentlichen Sinne.
Zu diesem Vorhof stieg man anf Stufen hinan; und unterhalb dieser
Stufen lief ein Gitter herum, welches die Schranke bezeichnete,
bis zu welcher auch die Heiden gehen durften. Jeder Heide, der
diese Schranke überschritt und den inneren Vorhof betrat, wurde
mit dem Tode bestraft; und die römische Behörde hatte den jüdi-
schen Anschauungen sogar so weit Rechnung getragen, daß sie die
Ausführung dieser Strafbestimmung auch gegen römische Bürger
gestattete56. In gewissen Zwischenräumen waren an jenem Gitter
Warnungstafeln in griechischer und lateinischer Sprache angebracht,
welche jenes Verbot samt der betreffenden Straf bestimmung ver-
kündigten67. Auch für die Israeliten unterlag das Betreten des|
äußeren und inneren Vorhofes gewissen Beschränkungen, nament-
lich mit Rücksicht auf die verschiedenen Grade levitischer Ver-
56) S. übern. Joseph. Antt. XV, 11, 5. Bell. Jud. V, 5, 2. VI, 2, 4. Apion.
II, 8. — Philo, Legat, ad öajum § 31 (ed. Mang. II, 577). — Mischna Middoth
II, 3. Kelim I, 8. — Wegen angeblicher Übertretung dieses Verbotes, deren
der Apostel Paulus sich durch Einführung des Trophimus in den inneren Vor-
hof schuldig gemacht haben sollte, entstand der Volkstumult, der zur Ge-
fangennehmung des Paulus führte (Actor. 21, 28). — Über das Juristische vgl.
auch oben S. 261 f. — Die Bestimmung, daß kein Fremder den nsolßoXoq des
Tempels zu Jerusalem betreten dürfe, ist übrigens schon durch Antiochus den
Großen genehmigt und eingeschärft worden (Antt. XII, 3, 4).
57) Eine dieser Inschriften ist im J. 1871 durch Clermont-Ganneau
wieder aufgefunden und publiziert worden. S. darüber: Olermont- Oanneau,
Revue archiologique, Nouv. Serie t. XXIII, 1872, p. 214—234, 290—296, pl. X
(auch separat). Derenbourg, Journal asiatique, sixüme sirie t. XX, 1872,
p. 178—195. Piper, Jahrbb. f. deutsche Theol. 1876, S. 51 f. Mommsen,
Römische Geschichte V, 513. Grätz, Gesch. der Juden III, 4. Aufl. S. 225.
Bertholet, Die Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden, 1896,
8. 311 f. Dittenberger, Orientis graeci inscriptiones seleetae vol. U n. 598.
(Derenbourg und Grätz verstehen die Strafbestimmung nur als Drohung mit
dem Strafgericht Gottes, weil die juristische Fassung dem toleranten Sinne des
Judentums widersprechen würde!!). Photographische Abbildung des ganzen
Steines bei Stade, Gesch. des Volkes Israel II, 268. — Der Stein befindet
sich jetzt in Konstantinopel im Museum Tschinili-Ki&schk (Mordtmann,
Zeitschr. des DPV. VIT, 1884, S. 119 f.). — Der Text lautet:
MH6ENA AAAOrENH EISUO
PEYESBAI ENTOS TOY UE
PI TO 1EPON TPY<PAKTOY KAI
UEP1BOAOY OS A AN AH
<PBH EA YTÜI AITIOS ES
TAI älA TO ESAKOAOY
BEIN 6 ANATON.
330 § 24. Die Priesterschaft and der Tempelkaltas. [273. 274]
unreinigungen 58. — Nach Philo standen nun Wachposten sowohl |
an den Toren des äußeren Yorhofes als an den Eingängen zum
inneren Vorhof, welche für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu
sorgen hatten. Außerdem gingen auch Wachen bei Tag und bei
Nacht überall umher, damit nirgends etwas Ungehöriges vorkäme 59.
Nach der Mischna hatten (bei Nacht) an einundzwanzig Stellen
die Leviten Wache und an drei Stellen die Priester. Die levitischen
Wachposten standen teils an den Toren und Ecken des äußeren
Vorhofes (innerhalb desselben), teils an den Toren und Ecken des
inneren Vorhofes (außerhalb desselben); die priesterlichen Wach-
58) Kelim I, 8: „Der Tempelberg (d. h. der äußere Vorhof) ist heiliger
(als die übrige Stadt), denn es dürfen dortbin nicht kommen schleimflüssige
Männer und Weiber (rvtati ö^at), Menstruierende und Wöchnerinnen [über
letztere vgl. Lev. 12. Buch der Jubiläen 3, 9 — 14]. Der Chel (d. h. der Raum
innerhalb des Gitters) ist heiliger, denn es dürfen dorthin nicht kommen
Heiden und solche Israeliten, welche sich an Toten verunreinigt haben. Der
Frauen-Vorhof ist heiliger, denn kein „heute Untergetauchter" (welcher wegen
einer bis abends haftenden Verunreinigung gebadet hat) darf dorthin kommen.
Der Vorhof der Israeliten ist heiliger, denn kein „der Sühne Ermangelnder"
(der wegen irgend einer Verfehlung das vorgeschriebene Opfer noch nicht
dargebracht hat) darf dorthin kommen. Der Priester -Vorhof ist heiliger,
denn kein Israelite darf dorthin kommen, außer wenn es nötig ist zum Hand-
auflegen, Schlachten und Schwingen". — Der Frauen -Vorhof, der Vorhof der
Israeliten und der Priester- Vorhof sind Abteilungen des inneren Vorhofes
(s. darüber unten Nr. IV). — Mit diesen subtilen Bestimmungen der Mischna
stimmen nicht ganz überein die ähnlichen Angaben des Josephus, welche
nach dem richtigen (von Niese hergestellten) Texte lauten Bell, Jud. V, 5, 6:
yovooQoloiq fzhv 69j xal XenootQ ^ ndXiq 8X17, xb ö* legbv ywaixwv i/tfjtJjvou;
dnexixXeiato, nageXSslv öh xavxaig oldh xa&aoatg &&}v Sv ngoelnafiev Zqov,
dvdowv ö7 ol pt^ xa&dnav ^yvevxdxeq sigyovxo xifs %vöov aiXrjg, xal xtbv legicav
ndXiv ol (jl^i xa9aoevovreq efyyovxo. Contra Apion. II, 8: In exteriorem [por-
tieum] iiaque ingredi licebat omnibus etiam alienigenis; midieres tantummodo
menstruatae transire prohibebantur. In secunda vero poriicu cuneti Judaei in-
grediebantur eorumque conjuges, cum essent ab omni poUulione mundae; in
tertia masctdi Judaeorum mundi existentes aique purificati} in quartam autem
sacerdotes stolis induti sacerdotalibus. Vgl. auch Olitzki, Flavius Josephus
und die Halacha 1. Tl. 1885, 8. 28. — Über ähnliche Bestimmungen in betreff
heidnischer Tempel 8. E. Miller ', Revue arMologique , troisieme Serie t H,
1883, p. 181—184. Hatch, Griechenthum und Christenthum, 1892, S. 212,
Anm. 4.
59) Philo, De praemiis sacerdotum § 6 (ed. Mangey II, 236): Tovz&v ol
phv inl &voaiq fäowxai nao* abxalq xatq efodöoiq nvXa>ool' ol öh efow xaxä
xö noövaov i>nhQ xov pJi xiva &V oh £^u*c kxdvxa 1} üxovxa imßijvai9 ol ö*h
iv xvxXq* TteQivoozovoiv, iv (itoei SiaxXijQwadfisvoi. vvxxa xal %/nioav, fjfiSQO-
(piXaxeq xal vvxxoipvXaxeq. — Nach Joseph. Antt. XVIII, 2, 2 wurde die Be-
wachung verschärft, seitdem einmal zur Zeit des Coponius (um 6—9 n. Chr.)
Samaritaner Menschengebeine im Tempel ausgestreut hatten.
[274. 275] III. Die einzelnen Amter. 331
posten waren im inneren Vorhof60. Ein Tempelhauptmann machte
bei Nacht die Bunde, um sich von der Wachsamkeit der Posten
zu überzeugen61. Dieser Tempelhauptmann heißt rn?n in tha.
Außerdem kommt gelegentlich noch ein rn^an ttha vor62. Da die
Sprache der Mischna zur Bezeichnung des äußeren Tempelplatzes,
auch da wo er vom inneren Vorhof unterschieden wird, kein an-
deres Wort hat als rrarj in63, so wird unter dem man in w&
ein Tempelhauptmann zu verstehen sein, welcher die Aufsicht über
den äußeren Vorhof hatte, unter dem mwi tr*x aber derjenige,
welcher die Aufsicht über den Tempel selbst hatte. Denn die rma
kann nicht die Burg Antonia sein, da diese unter einem römischen
(pQovQctQxoq stand64, sondern nur der Tempel selbst65. Die beiden
Genannten würden also mit den o^MO oder öTQaxriyol, die wir
bereits kennen, identisch sein.
Zum Sicherheitsdienst gehörte auch das Schließen und Öffnen
sämtlicher Tore der Vorhöfe, die alle bei Nacht geschlossen waren.
Auch hierfür war ein Oberbeamter bestellt „über das Schließen
der Torea 66. Nach Josephus waren zum Schließen jedesmal zwei-
hundert Mann erforderlich67, zwanzig allein für das | schwere
eherne Tor im Osten des Vorhofes 68. Das Tor des Tempels selbst
soll beim Öffnen so laut geknarrt haben, daß man den Ton bis
Jericho hörte69. Die Schlüssel zu den Toren des Vorhofes hatten
die Ältesten der im Vorhof Wache habenden Priesterabteilung in
Verwahrung 70. Beim Wechsel der Dienstabteilungen übergab die
abgehende Abteilung die Schlüssel der antretenden71. Da das
Morgenopfer bei Tagesanbruch dargebracht werden mußte, geschah
das Öffnen der Tore schon vor Tagesanbruch; am Passafest sogar
schon um Mitternacht72.
60) Middoth I, 1. Tamid I, 1.
61) Middoth I, 2.
62) Orla II, 12.
63) Z. B. Bikkurim IH, 4. Pesachim V, 5—10. Schekalim VH, 2—3. San-
hedrin XI, 2.
64) Jos. Antt. XV, 11, 4. XVIII, 4, 3.
65) So auch I Ohron. 29> 1. 19. Pesachim III, 8. VII, 8. Sebachim XU, 5.
Tamid I, 1. Middoth I, 9. Para IH, 1.
66) Schekalim V, 1.
67) öontra Apion. II, 9.
68) Beü. Jud. VI, 5, 3. Vgl. über dieses Tor oben 8. 64 f.
69) Tamid IH, 8.
70) Middoth I, 8-9. Tamid I, 1.
71) Contra Apion. II, 8.
72) Antt. XVIII, 2, 2. Auch am Pfingstfest gingen die Priester schon
bei Nacht in den Vorhof zum Dienst, Beü. Jud. VI, 5, 3. Vgl. auch
Joma I, 8.
332 § 24- Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [275. 276]
III) Die eigentlichen Kultnshandlungen, d. h. die Opfer
nnd was damit zusammenhing, wurden zwar in der Hauptsache
von der gesamten Priesterschaft vollzogen, deren vierundzwanzig
Abteilungen darin wöchentlich sich ablösten (s. darüber den nächsten
Abschnitt). Für einzelne Funktionen waren aber doch auch hier
ständige Beamte erforderlich. Eine Vorstellung von der Mannig-
faltigkeit dieser Funktionen gibt uns eine Stelle der Mischna, in
welcher, freilich in sehr bunter und unsystematischer Reihenfolge,
die Namen derjenigen Personen aufgezählt werden, welche zu einer
bestimmten Zeit (offenbar in den letzten Jahren vor der Zerstörung
des Tempels) die wichtigsten Kultusämter inne hatten73. Man
sieht daraus, daß es z. B. einen besonderen Beamten „über die
Lose" | gab (Nr. 3), welcher täglich die Verlosung der einzelnen
Dienstverrichtungen unter die diensttuenden Priester zu leiten
hatte74. Ein anderer Beamter war „über die Siegel" (Nr. 1), und
wieder ein anderer „über die Trankopfer*4 (Nr. 2). Es war näm-
lich zur Vereinfachung des Geschäftsganges die Einrichtung ge-
troffen worden, daß für die verschiedenen Arten von Trankopfern
„Siegel" oder Marken ausgegeben wurden, gegen deren Vorzeigung
73) Sehekalim V, 1: „Folgendes sind die Beamten, die im Heiligtum
waren: 1) Jochanan Sohn des Pinchas war über die Siegel, 2) Achia über die
Trankopfer, 3) Matthia Sohn des Samuel über die Lose, 4) Petachja über
die Gelder zu Geflügelopfern, 5) Ben Achia über die Heilung unterleibs-kranker
Priester, 6) Nechonja war Brunnenmeister, 7) Gebini Herold, 8) Ben Gabar
Ober-Torschließer, 9) Ben Bebai hatte die Geißel (? 3^pfc, die Erklärung ist
unsicher), 10) Ben Area das Lärmbecken, 11) Hygros Sohn Levis die Leitung
des Gesanges, 12) die Familie Garmu die Anfertigung der Schaubrote, 13) die
Familie Abtinas die Anfertigung des Bäucher Werkes, 14) Eleasar die Her-
stellung (oder Aufbewahrung?) der Vorhänge, 15) Pinchas die der Kleider". —
Die Parallelstelle in der Tosephta Sehekalim H, 14 {ed. Zuckermandel p. 177)
bietet manche Abweichungen. — Zur Erläuterung der ganzen Stelle vgl. die
rabbinischen Kommentare in Surenhusius' Mischna II, 192, und bes. Herz-
feld, Gesch. des Volkes Jisrael I, 405 ff.; auch Jost, Gesch. des Judenthums
I, 151 f. Grätz, Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1885,
S. 193 ff.
74) Über diese Verlosung s. Joma II, 2^-4. Tamid I, 2. IH, 1. V, 2. —
Der als Beamter über die Lose erwähnte Matthia Sohn des Samuel kommt
auch Joma HI, 1, Tamid IH, 2 vor als Gewährsmann für gewisse Gebräuche
im Tempel. — Büchler, Die Verlosung der Dienstgeschäfte (Reeueil des
travaux ridiges en memoire du jubilS scientifique de M. Ghwolson, Berlin
1899, p. 1—8) meint, daß die Verlosung der Dienstgeschäfte erst in den letzten
drei Dezennien vor der Zerstörung des Tempels eingeführt worden sei. S.
dagegen: Theol. Litztg. 1899, 610, und Fried, Das Losen im Tempel zu Je-
rusalem (Monatsschr. für Gesch. u. Wissensch. d. Judenth. 1901, S. 292 — 298)
[letzterer nimmt nur für eine einzelne Handlung, nämlich das Wegräumen
der Asche vom Altar, die späte Einführung des Losens an].
[276. 277] IIL Die einzelnen Ämter. 333
man das betreffende Trankopfer erhielt. Man kaufte zuerst bei
dem Beamten „über die Siegel" eine Marke, übergab diese dem
Beamten „über die Trankopfer" und erhielt dafür das für den be-
absichtigten Zweck erforderliche Quantum Trankopfers75. In ähn-
licher Weise war für prompte Darbringung der Geflügelopfer ge-
sorgt Man brauchte nur das Geld dafür in einen Kasten einzu-
legen, und der „über die Geflügelopfer" aufgestellte Beamte (Nr. 4)
hatte für die rasche und richtige Verwendung dieser Gelder zu
sorgen 76. Manche Opfer waren von der Art, daß zu, ihrer Her-
stellung eine gewisse Kunstfertigkeit erforderlich war, die in
einzelnen Familien sich fortpflanzte. So hatte die Familie Garmu
{Nr. 12) die Anfertigung der Schaubrote, die Familie Abtinas (Nr. 13)
die Anfertigung des wohlriechenden Räucherwerkes77. Auch die
Leitung des Gesanges hatte ein ständiger Oberbeamter (Nr. II)78.
Wieder ein anderer gab mit dem Lärmbecken (bibi) den Leviten
das Zeichen zum Beginnen des Gesanges (Nr. 10) 79. Es gab ferner
einen Tempelarzt (Nr. 5), einen Brunnenmeister (Nr. 6), einen Herold
(Nr. 7), dessen Stimme so kräftig war, daß man sie bis Jericho
hörte80. Da die Vorhänge im Tempel zuweilen erneuert werden
mußten81, so war auch für deren Anfertigung und für die Auf-
bewahrung der Vorräte ein besonderer Beamter angestellt (Nr. 14).
Endlich war auch | die Sorge für die Priesterkleider einem beson-
deren Beamten übertragen (Nr. 15) 82.
Eine sehr zahlreiche Klasse von Kultusbeamten bildeten die
heiligen Sänger, welche die Darbringung des täglichen Brand-
opfers und die sonstigen feierlichen Kultushandlungen mit Gesang
75) SchekaUm V, 3—5.
76) Das Geld wurde in einen der dreizehn posaunenförmigen Kasten ein-
gelegt, die im Tempel aufgestellt waren, s, oben S. 325, Anm. 30.
77) Beide Familien werden Joma III, 11 darüber getadelt, daß sie ihre
Kunst nicht anderen mitteilen wollten. Nach der Familie Abtinas (— griech.
Eü&woq) wurde ein Gemach im inneren Vorhof oa^oaK n*2 genannt (Joma I, 5.
Tamid I, 1. Middoth I, 1). — Vgl. überh. auch 1 Chron. 9, 30—32. 23, 29.
78) Vgl. über ihn auch Joma III, 11.
79) Vgl. Tamid VII, 3.
80) Tamid m, 8. — Vgl. Buch ler, Die Signale im Tempel für die ein-
zelnen Dienstgeschäfte (Beeueil des travaux ridig&s en memoire . . . de M.
Chwolson 1899, p. 21—41) [phantasiereich].
81) Sehekalim VIII, 5.
82) Die Dienstkleider der Priester wurden nämlich im Vorhof aufbewahrt
{Exech. 42, 14). Der Ober-Garderobier Pinchas wird auch Middoth 1,4, Jos.
Bell. Jud. VI, 8, 3 erwähnt Ob er nur für die Aufbewahrung, oder auch für
die notwendigen Neuanschaffungen zu sorgen hatte, ist nicht ganz deutlich.
334 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [277]
und Saitenspiel zu begleiten hatten83, hebr. D'nnitftt (häufig bei
Esra und Nehemia), griechisch yalrtpöol, leQotpdlrat, v/ivcoöoL,
xifraQtöTai rs xal vfivqtdol*4. Ihre Zunft war eine genealogisch
abgeschlossene und wurde noch zur Zeit Esras und Nehemias von
den Leviten unterschieden, später aber auch zu den Leviten ge-
rechnet (s. oben S. 294) 85. Sie zerfielen in drei Geschlechter,
die Familien Heman, Asaph und Ethan oder Jeduthun (I Chron,
6, 16—32. 15, 16—19. 25 ganz. II Chron. 5, 12) 8«, und waren ins|-
83) Vgl. über sie und über die Tempelmusik überhaupt außer der
S. 291 und 322 zitierten Literatur: Gesenius, Thesaurus p. 698. 844. 1167. —
Winer RWB. Art. „Musik" und „Musikalische Instrumente". — Leyrer,
Art „Musik bei den Hebräern" in Herzogs Real-Enz. (1. Aufl. X, 123—135,
2. Aufl. X, 387—398). — Wetzstein in Delitzschs Commentar zu Jesaja
2. Aufl. S. 702-704. — Riehm, Handwörterb. des bibl. Altertums S. 1028—1045
(mit vielen Abbildungen). — Grätz, Die Tempelpsalmen (Monatsschr. 1878,
S. 217 — 222). Ders., Die musikalischen Instrumente im jerusalemischen Tempel
und der musikalische Ohor der Leviten (Monatsschr. 1881, S. 241 — 259). —
La gar de, Erklärung hebräischer Wörter (Abhandlungen der Göttinger Ge~
sellsch. der Wissensch. Bd. XXVI, 1880) S. 13—27. — Stainer, The music
of the bible» London (ohne Jahr, 1879?); mit 100 Abbildungen (s. Bursiaus
philol. Jahresber. XXVIII, 172). — J oh. Weiß, Die musikalischen Instru-
mente in den heil. Schriften des Alten Testamentes, Graz 1895, Universitats-
progr. — Büchler, Zur Geschichte der Tempelmusik und der Tempelpsal-
men (Zeitschr. für die alttestamentl. Wissensch. 1899, S. 96—133; 329—344;
1900, 8.97—135). — Miliar, Art. Music in: Hostings9 Dictionary of the Bible
HI, 1900, p. 456—463. — Prince, Art. Music in: Cheyne's Encyclopaedia
biblica HI, 1902, coL 3225 öl (mit Abbildungen). — Benzinger, Art. „Musik
bei den Hebräern" in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. XIH, 1903, 8. 585—603.
— Greßmann, Musik und Musikinstrumente im A. T. 1903. — The Sacred
Books of the Old Testament, A neu? english translation prinied in colors etc.
P. 14: The book of Psalms by Wellhausen 1904 [richtiger 1898, s. Theol.
Litztg. 1905, 348], enthält 8. 217—234 einen Exkurs über die Musik der alten
Hebräer mit vielen Abbildungen. . — Über Parallelen bei den Griechen 8. E.
v. Jan, Die griechischen Saiteninstrumente. Progr. Saargemünd 1882 (Bur-
sians Jahresber. XLIV, 30 f.).
84) xpaXzcpSol oder nach anderer Lesart xpaX/na>6ol Sirach 47, 9. 50, 18.
Upoxpalzcu Jos. Antt. XH, 3, 3 s. fin. bpvipöol Antt. XX, 9, 6. xi&aounal rs
xal hfivtpSol Bell. Jud. H, 15, 4. — Aus letzterer Stelle darf nicht gefolgert
werden, daß die Saitenspieler und Sänger veschiedene Kategorien sind. Beide
kommen ja fxeza xöjv doyävwv. „Diejenigen, welche die Saiten spielen und
singen", sind also dieselben Personen. Vgl. I Chron. 15, 16 "W ^ds D'n'iiöBri,
auch I Chron. 23, 5.
85) Auch in der Mischna werden die Sänger stets als „Leviten" (o^lb)
bezeichnet, Bikkurim III, 4. Sukka V, 4. Bosch haschana IV, 4. Arachm H, 6.
Tamid VII, 3—4.
86) Über die künstliche Zurückführung dieser Sängerfamilien auf Levi
s. Graf in Merx* Archiv I, 231 f. — Unter den mit Serubabel und Josua zu-
[278] III. Die einzelnen Amter. 335
gesamt wieder in vierundzwanzig Dienstklassen eingeteilt (I Chron.
25). — Ihre Hauptaufgabe war der Gesang. Die Musik kam nur
in Betracht als Begleitung des Gesanges. Die musikalischen In-
strumente, welche dabei angewandt wurden, waren hauptsächlich
folgende drei87: 1) Die Cymbel (D?nfc*tt, xv/ißaXä), ein Schlag-
instrument, ähnlich dem Lärmbecken (bsbs), mit welchem das
Zeichen zum Beginn des Gesanges gegeben wurde 88. Sie bestand,
wie schon die Dualform andeutet, aus zwei großen ehernen Becken89,
die zusammengeschlagen wurden und dadurch einen lauten Ton
gaben. Mehr zur harmonischen Begleitung des Gesanges dienten
2) der ba?, vaßia, Luther: „Psalter", und 3) der Ttof xivvqcc,
Luther: „Harfe". Beides waren Saiteninstrumente, die vaßXa
nach Josephus zwölfsaitig, die xivvqcc zehnsaitig90. Die vaßXa
wurde mit der Hand gespielt, die xipvqcc nach Josephus mit dem
Piektrum (in der älteren biblischen Zeit wurde auch der "Tto mit
der Hand gespielt)91. Über die nähere Beschaffenheit dieser In-
strumente ist zwar viel geschrieben, ein Sicheres Resultat aber
doch noch nicht erreicht worden. Nach der Mischna kamen bei
der Tempelmusik mindestens zwei und höchstens sechs D^bnD zur
Anwendung, während es von den rvhis? mindestens neun sein
mußten und deren Zahl bis zu beliebiger Höhe vermehrt werden
konnte92. Man wird hieraus schließen dürfen, daß der fto das
herrschende, tonangebende Instrument war, und der bn? mehr zur
Begleitung diente. — Außer diesen drei Instrumenten kamen bei
den großen Jahresfesten (Passa, Pfingsten und Laubhütten) auch
noch Eohrpfeifen, D^br;, zur Anwendung93.
Während die bisher genannten musikalischen Instrumente von
den Leviten gehandhabt wurden (nur in betreff der Pfeifen ist die
Überlieferung schwankend), war das Blasen mit den Trompeten
(ninsisn) Sache der Priester. Es geschah namentlich auch beim
rückgekehrten Exulanten wird nur die Familie Asaph genannt, Esra 2, 41.
Neh. 7, 44.
87) 8. Nehem. 12, 27. I Ohron. 13, a 15, 16—22. 15, 28. 16, 5. H Okron.
5, 12. 29, 25. — I Makk. 4, 54. 13, 51. — Joseph. Antt. Vü|, 12, 3. — Sukka
V, 4. Arachin II, 3—6. Middoth II, 6.
88) Vgl. oben S. 333. — In der Hauptstelle über die musikalischen In-
strumente Araekin II, 3—6 werden Denisia gar nicht erwähnt, sondern nur
bs^S. Man ist daher zu der Annahme versucht, daß beide identisch sind.
Aber die verschiedenen Worte bezeichnen doch wohl verschiedene Instrumente.
89) I Chron. 15, 19. Joseph. Antt. VII, 12, 3.
90) Antt VII, 12, 3.
91) I Sam. 16, 23. 18, 10. 19, 9.
92) Arachin II, 3. 5.
93) Über deren Gebrauch s. bes. Arachin II, 3—4.
336 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [278. 279]
Darbringen des täglichen Brandopfers, sowie sonst bei festlichen |
Gelegenheiten94. Auch der Anbrach und Ausgang des Sabbats
wurde von den Priestern durch Trompetenblasen von der Zinne
des Tempels herab verkündigt95.
Die niederen Dienste wurden zur Zeit Serubabels, Esras
und Nehemias durch Tempelsklaven (CO^rö) besorgt96. In der
späteren Literatur werden zwar bei Gelegenheit juristischer Er-
örterungen noch D^in erwähnt97; ihre Verwendung im Tempel
läßt sich aber nicht mehr mit Sicherheit konstatieren. Statt ihrer
kommen jetzt „Diener" (own) vor98; ja Philo erwähnt das Rei-
nigen und Auskehren des Tempels neben dem Wachdienst als ein
Geschäft der vscqxoqol, d. h. der Leviten99. — Für manche Ver-
richtungen werden auch die heranwachsenden Priesterknaben C*rnB
nana) verwendet1?0.
IV. Der tägliche Kultus.
Der tägliche Opferdienst wurde von den vierundzwanzig Ab-
teilungen der Priesterschaft (s. oben S. 286 ff.) in der Weise ab-
wechselnd besorgt, daß jede Abteilung immer eine Woche
lang den Dienst hatte. Der Wechsel fand am Sabbat statt, und
zwar so, daß die abgehende Abteilung noch das Morgenopfer und
die Zugabeopfer für den Sabbat (nach Num. 28, 9—10), die an-
tretende aber das Abendopfer darbrachte1. An den drei großen
94) S. überh.: Num. 10, 1—10. Esra 3, 10. Nehem. 12, 35. I Chron.
15, 24. 16, 6. II Chron. 5, 12. 7, 6. 29, 26—28. — Sirach 50, 16. — Joseph.
Antt. HI, 12, 6. — Sukka V, 4—5. Bosch haschana III, 3—4. Tamid VII, 3.
— Lundius, Die alten jüdischen Heiligthümer Buch III, Kap. 47.
95) Jos. Bell. Jud. IV, 9, 12. Sukka V, 5.
96) Esra 2, 43. 53. 70. 7, 7. 8, 17. 20. Nehem. 3, 26. 31. 7, 46. 60. 73.
10, 29. 11, 3. 21. I Chron. 9, 2. — Vgl. Pfeffinger, De Neihinaeü (in Ugo-
lini, Thes. t. X1H). Winer RWB. Art. „Nethinim". Oehler, Art. „Nethinim"
in Herzogs Beal-Enz. 1. Aufl. X, 296 f. Jacobs, Studies in biblical archaeo-
logy, London 1894, p. 104—122 (Theol. Litztg. 1895, 482 f.). Taylor, Art. Ne-
thinim in Hostings' Diotionary of the Bible in, 519 f. Benzinger, Art. Ne-
thinim in: Encyclopaedia biblica III, 3397 ff.
97) Z. B. Jebamoth II, 4. Kidduschin IV, 1. Makkoth III, 1. Horajoth III, 8.
98) Sukka IV, 4. Tamid V, 3. Vgl. auch Sota VH, 7—8. Joma VII, 1.
99) Philo, De praemiis sacerdotum § 6 (ed. Mangey II, 236): °BzeQOi äh
täq oioäg xal xä £v inal&otp xogovvxeq xbv (poovrdv ixxoptt,ovoiv, im/teXö-
fievoi xad-aQÖZfjTog.
100) Joma I, 7. Sukka V, 2. Sanhedrin IX, 6. Tamid I, 1. Middoth
I, 8. III, 8.
1) 8. bes. Tosephia Sukka IV, 24—25 {ed. Zuckermandel p. 200); auch
Mischna Sukka V, 7—8. Tamid V, 1. — II Chron. 23, 4. 8 (wo deutlich von
(280] IV. Der tägliche Kultus. 337
Jahresfesten (Passa, Pfingsten und Laubhütten) waren sämtliche
vierundzwanzig Abteilungen gleichzeitig im Dienst2. — Die Ver-
suche christlicher Gelehrter, für das Geburtsjahr Jesu Christi die
Dienstwoche der Klasse Abia {Luc. 1, 5) chronologisch zu ermitteln,
entbehren jeder haltbaren historischen Grundlage 3. — Jede Wochen-
abteilung war wieder in etwa 5—9 Unterabteilungen eingeteilt,
von denen durchschnittlich je eine an einem Tage den Dienst hatte.
Waren es weniger als sieben Unterabteilungen, so kamen einige
zweimal an die Reihe; waren es mehr als sieben, so fungierten
an einigen Tagen je zwei Abteilungen (s. oben S. 286). Auch von
den Priestern einer Tagesabteilung konnte aber immer nur ein
Bruchteil durchs Los zur wirklichen Beteiligung an dem regel-
mäßigen täglichen Gemeindeopfer bestimmt werden.
Wie die Priester, so waren auch die Leviten in vierund-
zwanzig Dienstklassen geteilt (s. S. 295), die ebenfalls wöchentlich
sich ablösten4. — Endlich aber hatte man parallel mit diesen 24
priesterlichen und levitischen Dienstklassen auch das Volk selbst
in vierundzwanzig Dienstklassen (rvhiofctt) geteilt, von
denen ebenfalls in wöchentlichem Wechsel immer je eine als Ver-
tretung des Volkes vor Gott stehen sollte, während das tägliche
den prießterlichen Dienstabteil ungen die Bede ist; anders- in der Parallelstelle
II Reg. 11, 5. 9). — Joseph. Antt. VII, 14, 7: ö\fra& re ulav naxQiav ötaxo-
veloBai tip &e(j> inl tjfitoaq öxrco, and oaßßaxov inl adßßaxov. — Wahr-
scheinlich ist auf den Wechsel der wöchentlichen (nicht der taglichen) Ab-
teilungen auch zu beziehen contra Apion. II, 8: alii suecedentes ad sacrificia
veniurüy et congregati in templum mediante die a praecedentibus claves templi
et ad numerum omnia vasa percipiunt.
2) S. Sukka V, 6—8 und Bartenora zu Sukka V, 6 in Surenhusius*
Mischna-Ausgabe II, 279.
3) S. die Versuche bei: Scaliger, De emendatione temporum (Coloniae
AUobrog. 1629) Anhang p. 54 — 59. — Lightfoot, Harmonia evangeltstarum
zu Luc. 1, 5 (Opp. I, 258—264). — Bengel, Ordo temporum (1741) p. 230—232.
— Wieseler, Chronologische Synopse 8. 140 — 145. — Seyffarth, Chrono-
logia sacra (1846) p. 97—103. — Stawars, Die Ordnung Abia in Beziehung
auf die Bestimmung des wahren Geburtsdatums Jesu (Tüb. Theol. Quartal-
schrift 1866, S. 201 — 225). — Ljungberg, Chronologie de la vie de Jesus, deux
etudes, Paris 1879 (s. Lit. Centralbl. 1879, 537). — Die Berechnungen beruhen
teils auf ganz unbewiesenen Voraussetzungen, teils auf der rabbinischen Über-
lieferung, daß am Tage der Terapelzerstörung die Klasse Jojarib im Dienst
gewesen sei. Diese findet sich zwar nicht nur im Talmud, bab. Taanith 29a,
sondern auch schon im Seder Olam (krit. Ausg. von Neubauer, Mediaeval Je-
tcish Chronicles II, 1895, p. 66, und Bainer, Seder olam rabba, Wilna 1897,
p. 147 sq.). Sie wird aber sehr verdächtig durch die Behauptung, daß dieses
bei der zweiten Zerstörung ebenso wie bei der ersten der Fall gewesen sei.
4) I Chron. 9, 25. II Chron. 23, 4. 8. Joseph. Antt. VII, 14, 7. Taa-
nith IV, 2.
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 22
338 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [280. 281]
Opfer Gott dargebracht wurde5. Die im Dienst befindliche Abi-
teilung hieß "flo^E „Standmannschaft". Doch brauchten die Israe-
liten nicht wie die Priester und Leviten, wenn ihre Abteilung an
die Reihe kam, sämtlich nach Jerusalem hinaufzuziehen. Sie ver-
sammelten sich vielmehr in den Synagogen ihrer Städte zu Gebet
und Schriftlektion; und es ging wahrscheinlich immer nur eine
Deputation wirklich nach Jerusalem hinauf, um bei der Darbringung
des Opfers anwesend zu sein. Diese Deputation war dann die
■mspo im eigentlichen und engeren Sinne, welche „dabei stand",
während das Opfer dargebracht wurde6.
Die Priester, welche den Dienst ausübten, trugen während
desselben eine besondere Dienstkleidung, die aus folgenden vier
Stücken bestand: 1) d?o:d£, d. h. kurzen, nur Hüfte und Schenkel
bedeckenden Beinkleidern aus Byssus (wahrscheinlich nicht Baum-
wolle, sondern feine weiße Leinwand). Darüber 2) die njto, ein
langer, bis auf die Füße reichender, ziemlich anschließender Leib-
rock mit engen Armein, ebenfalls aus Byssus. Dieser Leibrock
wurde in der Gegend der Brust zusammengehalten 3) durch einen
5) Vgl. über die ganze Einrichtung: Buxtorf, Lexicon Ghald. col.
1622 sq. (s. v. 1^2). — Lightfoot, Ministerium templi c. VII, 3 (Opp. I, 700 sq.).
— Garpxov, Apparatur historico-criticus p. 109 sq. — Hottinger, De viris
stationariis, Marburg 1707 (am erschöpfendsten). — Herzfeld, Geschichte des
Volkes Jisrael III, 188—200. 204—209. — Oehler in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl.
XII, 187 (2. Aufl. XH, 227). — Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud
II, 877—880 (Artikel: „Opferbeistände").
6) S. bes. Taanith IV, 1—4. — Die Hauptstelle Taanith IV, 2 lautet:
„Die ersten Propheten haben vieruudzwanzig Dienstklassen (rWEttE) aufgestellt.
Auf jede Dienstklasse kam eine Standmannschaft (*ia3?s) in Jerusalem, von
Priestern, Leviten und Israeliten. Wenn die Zeit des Dienstes kam, so zogen
die Priester und Leviten nach Jerusalem hinauf, und die Israeliten in derselben
Dienstklasse versammelten sich in den Synagogen ihrer Städte und lasen die
Schöpfungsgeschichte". — In dem Wortlaut der Stelle liegt insofern ein Wider-
spruch, als die ganze *ra?£ in Jerusalem sein soll, und doch die Israeliten
sich nur in den Synagogen ihrer Städte versammeln. Wahrscheinlich gibt
hier die Parallelstelle der Tosephta (ed. Zuckermafidel p. 219) den richtigen Sinn,
indem sie bei „Israeliten in derselben Dienstklasse" den Zusatz hat: „welche
nicht nach Jerusalem hinaufziehen konnten". Die Meinung ist also, daß die
dienstfähigen Priester und Leviten einer Dienstklasse sämtlich hinaufziehen
mußten, die Israeliten aber, sofern sie verhindert waren, zu Hause bleiben
durften, wobei aber doch vorausgesetzt wird, daß auch von ihnen ein
Bruchteil wirklich nach Jerusalem hinaufging. Es wird daher Tamid V, 0
„das Haupt der Standmannschaft" (iss^n ra&O) ohne weiteres als in Je-
rusalem anwesend vorausgesetzt. Ebenso fassen die Sache z. B. auch Herz-
feld III, 193 und Hamburger II, 878. — Eine geographische Abgrenzung
der Standmänner-Bezirke mit je einer Hauptstadt wird Bikkurim IH, 2 vor-
ausgesetzt. Sonst vgl. auch Taanith II, 7.
[281. 282] IV. Der tagliche Kultus. 339
Gürtel, tt^K, der in der Hauptsache ebenfalls ans Byssns bestand,
aber mit eingewobenen purpur-, Scharlach- und hyazinthfarbenen
Ornamenten. Er war also das einzige Bunte an der im übrigen |
ganz weißen Priesterkleidung. Als Kopfbedeckung diente 4) die
n^aaia, eine Art Mütze oder Turban7. Schuhe werden nirgends
erwähnt; und es darf als sicher angenommen werden, daß die
Priester den Dienst ohne Fußbekleidung verrichteten8.
7) S. über die Priesterkleidung JEkech. 44, 17—19. Exod. 28, 40—43.
39, 27—29, und besonders die ausführliche Beschreibung bei Joseph, Antt. HI,
7, 1—3. Kürzer Philo , Vita Mosis HI, 16 (Mang. II, 157): xix&vag Xivotiq,
£o>vaq xe xal neoioxeXfj. De monarchia H, 5 (Mang. II, 225) : ^ 6h ioS-rjq iazi
Xixibv Xivovg xal 7ieQt%a)fxa. Jos. Antt. XX, 9, 6: Xivfjv oxoXJjv. Aristeas ed.
Wendland § 87: x&v Uoitov xzxaXvymkvwv fiix9L r">v o<pvo(bv ßvaaivoig #*-
riboiv. — Die Literatur über unsern Gegenstand ist dieselbe wie die über
die Kleidung des Hohenpriesters, s. oben 8. 319. — Über die Frage, ob Byssus
= Baumwolle oder Leinwand s. u. a. Winer RWB. Art. „Baumwolle", Dill-
mann zu Exod. 25, 4, Haneberg, Die religiösen Alterthümer S. 536 — 538
(welcher meint, daß dieselbe durch Rosellini zugunsten der Baumwolle ent-
schieden sei), und dagegen Marquardt, Das Privatleben der Romer Bd. II
(1882) 8. 464 f., und das hier zitierte Hauptwerk von Yates, Textrmum anti-
quorum, An account of the ort of weaving among the ancients, Part I, Ijondon
1843; auch Hehn, Kulturpflanzen und Haustiere, 3. Aufl. S. 145; Wönig,
Die Pflanzen im alten Ägypten (1886), 8. 189. Olck, Art. „Byssus" in Pauly-
Wissowas ßeal-Enz. HI, 1108 — 1114. Da die Alten zwischen Leinen und
Baumwolle nicht immer streng unterschieden, so ist es wohl möglich, daß
unter Umständen auch Baumwolle zur Priesterkleidung verwendet wurde (wie
denn namentlich das feine indische Gewebe, das der Hohepriester am Ver-
söhnungstage nachmittags trug, wohl aus Baumwolle bestand, s. oben S. 80).
Als sicher darf dagegen angenommen werden, daß in der Regel Leinenstoffe
gebraucht wurden. Nach Mischna Kilajim IX, 1 ist zur Priesterkleidung nur
Flachs (ü^ntöfc) und Schafwolle ('vas) verwendet worden, letztere nämlich zu
den bunten Ornamenten im Gürtel; s. die Kommentare in Surenhusius'
Mischna I, 149 und Braun, Vestitus sacerdotum Hebraeorum I, 6, 2; H, 3, 4.
Mit Rücksicht hierauf heißt es bei Josephus, daß es den Priestern, und nur
ihnen, erlaubt sei, ein aus Leinen und Wolle gemischtes Gewebe zu tragen,
Antt. IV, 8, 11: fjtijöelg 6' ig vßüyv xXcooxfjv ig SqIov xal Xivov axoX^v ipooelxct)'
xotq ycLo Isqevol fidvoig xavxrjv änoösSslx^cci. Die Priesterkleidung war
also ausdrücklich von dem Verbot Lev. 19, 19. Deut. 22, 11 ausgenommen.
8) 8. Bartenora zu Schekalim V, 1 (in Surenhusius' Mischna II, 192).
— Braun , Vestitus sacerdotum Hebraeorum I, 3, 3 (p. 43—47). — Carpxov,
Discalceatio religiosa in loco saerot ad Exod. 3, 5 (in ügolini, Thes. t. XXIX).
— Ugolini, Thesaurus t. XHI, 405 ff. — Winer RWB. II, 271. — Leyrer
in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. VII, 718. — Vom Synagogen- Gottesdienst heißt
es Megilta IV, 8: „Wer sagt: Ich will nicht in bunten Kleidern vorbeten, der
darf es auch nicht in weißen Kleidern. Wer es nicht mit Sandalen tun will,
der darf es auch nicht barfuß". Der Sinn ist: Man darf beim Synagogen-
gottesdienst nicht priesterliche Kleidung beanspruchen. In betreff des Priester-
segens dagegen soll Jochanan ben Sakkai angeordnet haben, daß er auch
22*
340 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [283]
Wie die weiße Kleidung Symbol der Reinheit war, so wurde
von den diensttuenden Priestern auch Nüchternheit und levi-
tische Reinheit gefordert Während ihrer Dienstzeit durften
sie keinen Wein, noch sonst irgend ein berauschendes Getränke
trinken9. Wer nicht levitisch rein war, durfte nicht den Vorhof
zum Dienst betreten. Ja selbst diejenigen, die es waren, mußten
unter allen Umständen vor Antritt des Tagesdienstes ein rituelles
Tauchbad nehmen10. Außerdem aber mußten sie dann auch noch
Hände und Füße waschen in dem ehernen Waschbecken (^*s),
das sich unter freiem Himmel zwischem dem Tempel und dem
Brandopferaltar befand l K
Hinsichtlich der Opfer, welche täglich in Masse dargebracht
wurden12, sind zwei Kategorien zu unterscheiden: die Ge|-
nach der Zerstörung des Tempels von den Priestern nur barfuß gesprochen
werden dürfe (Rosch haschana 31 *>. Sota 40 *>. Derenbourg, Histoirc de la
Palestine p. 305 n. 3).
9) Lev. 10, 8—11. Exech. 44, 21. Pseudo-IIecataeus bei Josephus contra
Apion. I, 22 (ed. Niese § 199): xb Ttaqanav olvov ob nlvovxeQ iv xa> Uq&.
Philo , De monarchia II, 7. Josephus Antt. HI, 12, 2. Bell. Jud. V, 5, 7.
Mischna Taanith II, 7. Ugolini, Thesaurus XIII, 885 ff. (hier in extenso hebr.
und lat. die Stellen aus jer. Taanith 65d. Tosephta Taanith II, Siphra und Pe-
sikta zu Lev. 10, 9).
10) Joma III, 3: „Niemand darf den Vorhof zum Dienst betreten, selbst
wenn er rein ist, ohne untergetaucht zu haben". Vgl. Tamid I, 2. Buch
der Jubiläen 21, 16. Testam. XII Patriarch. Ijevi 9 s. fin.: Kai npd xov
eloeX&eTv elg xä ayia kovov* xal £v xoj &veiv vlitxov xal änaQXtC/uyv nahv x^v
Svotav vlnxov. — Namentlich hatte man auch nach Verrichtung der Not-
durft immer ein Tauchbad zu nehmen, Joma III, 2. — Über den Ort des
Tauchbades s. Tamid I, 1. Middoth I, 9 fin.
11) Exod. 30, 17—21. 40, 30—32. Tamid I, 4. II, 1. Philo, Vita Mosis III,
15: nööaq fidXicna xal yelQaq änovmxdfxevoi. Buch der Jubiläen 21, 16. Auch
in der in der vorigen Anmerkung zitierten Stelle der Testam. XII Patriarch.
Levi 9 s. fin. wird neben dem Xoveo&ai noch das rinxsa^ai erwähnt. — Über
den WS selbst s. auch Exod. 38, 8. Middoth III, 6. Joma III, 10. Tamid
III, 8. Liqhtfooty Descriptio templi c. 37, 1 (Opp. I, 643 sq.). Clemens, De
labro aeneof Traject. ad Eh. 1725 (auch in Ugolini, Thes. t XIX). Die Kom-
mentare in Surenhusius' Mischna II, 224. V, 360. Ike n> Tractatus talmu-
dicus de cidtu quotidianoy 1736, p. 32—34 (reichhaltig). Win er RWB. Art.
„Hand faß". Bahr, Symbolik des mosaischen Kultus 2. Aufl. I, 583—586.
Köhler, Lehrb. der bibl. Geschichte I, 373 f.
12) S. über den Opferkultus uberh.: Lundius, Die alten jüdischen Hei-
ligthüraer Buch III, Kap. 33—46. — Bahr, Symbolik des mosaischen Cultus
II, 187—522. — Winer RWB. Art. „Opfer", und dazu die einzelnen Artikel
über Brandopfer, Schuld- und Sündopfer, Dankopfer, Speisopfer, Trankopfer,
Räuchern u. a. — O eh ler, Art. „Opfercultus des Alten Testaments" in Her-
zogs Real-Enz. (1. Aufl. X, 614— 652, 2. Aufl. XI, 29-61). — Thalhofer, Die
unblutigen Opfer des mosaischen Cultes, 1848. — Kurtz, Der alttestament-
[284] IV. Der tagliche Kultus. 341
meindeopfer und die Privatopfer13. Erstere wurden im Namen
des Volkes dargebracht und aus den vom Volk entrichteten Ab-
gaben, namentlich der Halbsekelsteuer bestritten. Letztere waren
Privatsache einzelner und konnten aus den mannigfaltigsten An-
lässen dargebracht werden, teils freiwillig, teils weil man aus
irgendeinem Grunde dazu verpflichtet war. Beide zerfielen wieder
je nach Inhalt und Zweck der Darbringung in verschiedene Arten;
und zwar lassen sich folgende drei Hauptarten unterscheiden: 1) die
Brandopfer, deren Wesen darin besteht, daß das geopferte Tier
ganz auf dem Altare verbrannt wird, 2) die Sund- und Schul d-
opfer, bei welchen nur die Fettstücke auf dem Altar verbrannt
werden, während das Fleisch den Priestern zufällt, 3) die „Mahl-
opferto (D^bttj irnr), nach Luther: „Dankopfer", bei welchen eben-
falls nur die Fettstücke auf den Altar kommen, während das Fleisch
vom Eigentümer selbst zu einem fröhlichen Opfermahle verwendet
wird14. — Die Hauptmasse der Opfer bildeten natürlich die zahl-
liche Opfercultus nach seiner gesetzlichen Begründung und Anwendung, 1862.
— Orelli, Art. „Opferkultus des A. T." in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl.
XIV, 1904, S. 386—400. — Köhler, Lehrb. der bibl. Geschichte I, 387 ff. —
Wellhausen, Geschichte Israels I, 53 — 84 = Prolegomena zur Geschichte
Israels 5. Ausg. S. 54 — 81. — Dillmann, Exeget. Handb. zu Exodus und
Leviticus S. 373—387. — Baentsch, Exodus-Leviticua-Numeri (in Nowacks
Handkommentar zum A. T. I, 2) 1903, 8. 308—310 (zu Lev. 1). — Die Wör-
terbb. von Schenkel und Riehm, und die archäologischen Werke von De
Wette, Ewald, Keil, Haneberg, Nowack u. a.
13) Philo, De victimü § 3 (ed. Mangey II, 233 sq.) : 'Enü öh xtbv övoiibv
al (iiv eloiv $7tho SnavxoQ xov e&vovq, et 6h öeZ xb akri&hq elnetv vnhg
Snavvog avd-Qwnwv yhov$, al Sh ünho hxdoxov x&v iBQOvgyeXv at-iovv-
t(ovf Xsxxiov noöxeoov Tis $1 xCbv xoivihv. — Josephus Antt. HE, 9, 1: ovo
fisv yao eloiv leQOvoylai* xovxojv rf* fj fisv vnd xwv iÖiwx&v, kxioa 6*
faid xov ty/xov owxeXov/xevai x. x. X.
14) In der Hauptstelle über die Opferordnung Lev. 1—7 werden eigentlich
fünf Opferarten erwähnt: 1) Das Brandofer, 2) das Speisopfer, 3) das
Mahlopfer, 4) das Sündopfer, 5) das Schuldopfer. Allein das Speisopfer steht
überhaupt nicht in gleicher Linie mit den Tieropfern und kommt am häufig-
sten nur als Zugabe zu diesen vor, wie das Trankopfer. Die Sund- und Schuld-
opfer aber sind zwar verschieden, jedoch so nahe verwandt, daß sie als eine
Art zu betrachten sind. Man bat also hinsichtlich der Tieropfer, und diese
sind bei weitem die wichtigsten, drei Hauptarten zu unterscheiden, wie dies
auch von Philo (De victimis § 4) und Josephus (Antt. III, 9, 1 — 3) geschieht.
— Alle drei Arten kamen sowohl bei den Privat- als bei den Ge-
meindeopfern vor; bei letzteren allerdings das Mahlopfer (D^bsj M2t)
nur selten, nämlich regelmäßig nur am Pfingstfest (Lev. 23, 19); sonst nur
bei besonderen Veranlassungen (s. Win er RWB. Art. „Dankopfer"). Das
Fleisch der Gemeinde-Mahlopfer gehörte den Priestern (Lev. 23, 20). S. über
dieselben überh.: Pesachim VII, 4. Sebachim V, 5. Menachoth V, 7. Meila H, 5-
342 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [284. 285. 286]
reichen Privatopfer der verschiedenen Arten. Für unsere Dar-
stellung des regelmäßigen täglichen Kultus kommen jedoch nur
die Gemeindeopfer in Betracht, und zwar unter ihnen hauptsäch-
lich das wichtigste: das tägliche Brandopfer der Gemeinde. |
Zur Orientierung seien zunächst ein paar topographische Be-
merkungen vorausgeschickt15. Der innere Vorhof, in welchem
alle Kultushandlungen vollzogen wurden, war durch eine Mauer
in eine westliche und eine östliche Hälfte geteilt. Letztere hieß
„der Vorhof der Weiber", nicht etwa, weil dorthin nur die Weiber
Zutritt hatten, sondern weil dorthin auch die Weiber Zutritt
hatten16. Das schöne Tor im Osten dieses Vorhofes mit kunstvoll
gearbeiteten ehernen Torflügeln (tj &vqcc r\ Xeyotiivri a>Qala Apgesch.
3, 2) bildete den Haupteingang zum Vorhof (vgl. oben S. 64 f.); daher
pflegten hier auch die Bettler zu sitzen (Apgesch. 3, 2). Zu der
westlichen Abteilung des Vorhofes hatten nur die männlichen Is-
raeliten Zutritt; und hier stand nun der eigentliche Tempel Er
war ein verhältnismäßig nicht großes, aber prachtvolles Gebäude.
Das Innere, das vermutlich nur wenig Tageslicht hatte, zerfiel in
einen größeren vorderen Raum und einen nur halb so großen
hinteren. Letzteres war das „Allerheiligste", welches nur einmal
im Jahre von einem menschlichen Fuße betreten wurde, nämlich
vom Hohenpriester am Versöhnungstage. In dem vorderen (also
östlichen) Räume befanden sich die drei heiligen Geräte, deren
pünktliche Bedienung ein Hauptstück des priesterlichen Dienstes
war, nämlich 1) in der Mitte der goldene Räucheraltar (nana
ynrn), auch „der innere Altar" C^DBH n?Tp) genannt, auf
welchem täglich morgens und abends das Räucheropfer dargebracht
werden mußte17, 2) südlich | davon der goldene siebenarmige
Sehr häufig sind die im Namen der Gemeinde dargebrachten Brandopfer
und Sündopfer; s. das Verzeichnis derselben für die Festtage Num. 28 — 29.
15) Die Quellen und Literatur über den herodianischen Tempel s. oben
§ 15.
16) S. Joseph, contra Apion. II, 8: in secunda vero porticu (damit ist der
Weibervorhof gemeint) cuncti Judaei ingrediebantur eorumque conjwjes.
17) Über die tägliche Darbringung des Räucheropfers s. Exod. 30, 7 — 8.
— Über die Zubereitung des Raucherwerkes: Exod. 30, 34 — 38. — Über den
Räucheraltar: Exod. 30, 1—10. 37, 25—29. I Makk. 1, 21. 4, 49. Philo,
Vita Mosis III, 9. De victimas offerentibus § 4. Josephus Antt. III, 6, 8. Beil.
Jud.Vy 5, 5. — Lundius, Die alten jüdischen Heiligthümer Buch I, Kap. 25 — 27.
Monographien bei Ugolini, Thes. t. XI. Win er RWB. Art. „Raucheraltar"
und „Räuchern". Thal hofer, Die unblutigen Opfer des mosaischen Cultes
S. 78—82. 131—139. Bahr, Symbolik des mosaischen Cultus, 2. Aufl. I, 499
—505. Bleek, Der Brief an die Hebräer II, 2, 479 ff. (zu Ebr. 9,4). Leyrer
Art. „Räucheraltar*' und „Räuchern" in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XII, 502
—513. Delitzsch in Riehms Wörterb. S. 1255—1260. Baentsch, Exodus-
[286J IV. Der tägliche Kultus. 343
Leuchter (rnitts), dessen Licht stets brennend erhalten werden
mußte18, und 3) nördlich vom Altar der goldene Schaubrottisch,
auf welchen an jedem Sabbat zwölf neue Brote aufgelegt werden
Leviticus-Numeri S. 258 f. (zu Exod. 30). Orelli, Art. „Räuchern, Räucher-
altar" in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. XVI, 404—409. — nnjn nato
Joma V, 5. 7. Chagiga III, 8. Sebachim V, 2. Menachoth III, 6. iv74. nat»
*mwn Joma II, 3. V, 5. Sebachim IV, 2. Meila III, 4. Tamid IH, 6. 9. Vlj 1.
— Die Zweifel Wellhausens an der Existenz des Räucheraltares (Jahrbb. f.
deutsche Theol. 1877, S, 410 ff.) werden durch die einstimmigen Zeugnisse von
der Makkabäerzeit bis zu Josephus und Mischna widerlegt. Allerdings er-
wähnt Pseudo-Hecataeus (bei Josephus contra Apion. I, 22 ed. Niese § 198) im
Innern des Tempels außer dem Leuchter nur einen goldenen ßojfidg, was
ebensogut der Schaubrottisch als der Raucheraltar sein kann. Und bei Auf-
zählung der von Pompeius im Tempel gefundenen Geräte wird Antt. XIV, 4, 4
der Raucheraltar nicht genannt. Aber in der Parallele zu letzterer Stelle Bell.
Jud. I, 7, 6 erscheinen außer Leuchter und Tisch auch &vuiaxfiQia, worunter
der Räucheraltar mit gemeint sein kann. Und an seiner Existenz zur Zeit
des Pompeius kann angesichts der übrigen Zeugnisse nicht gezweifelt werden ;
denn die Nichterwähnung unter den Beutestücken des Titus B. J. VII, 5, 5
bat ihren Grund in der geringeren Kostbarkeit. Mit weniger Sicherheit läßt
sich seine Existenz für die Zeit des Pseudo-Hekatäus (3. Jahrh. vor Chr.) be-
haupten.
18) Über die Bedienung des Leuchters s. Exod. 27, 20-21. 30, 7—8. Lev.
24, 1 — 4. Num. 8, 1—4. II Chron. 13, 11. — Nach den biblischen Stellen sollten,
wie es scheint, die Lampen des Leuchters nur Abends angezündet werden, um
über Nacht zu brennen. So auch Philo, De victimas offerentibus § 7 init.
Nach Josephus Antt. III, 8, 3 fin. dagegen brannten unter Tags drei von
den sieben Lampen, bei Nacht alle sieben; nach der Mischna bei Tag eine,
bei Nacht alle sieben {Tamid III, 9. VI, 1, und dazu das Referat bei Krüger,
Theol. Quartalschr. 1857, S. 248 f. Ebenso Siphra zu Lev. 24, 1—4 und Siphre
zu Num. 8, 1 — 4, worauf Hamburger verweist. Über die ganze Streitfrage
auch Iken, Tractatus Talmudicus de cultu quotidiano templi (1736) p. 73—76.
107 30.). Vgl. auch Pseudo-Hecataeus bei Joseph, c. Apion. I, 22: inl xovxcdv
iptbq laxtv avandaßeaxov xal xäg vvxxaq xal tag $iu£oaq, Diodor. XXXIV, 1
(ed. Müller): xbv dh a&avaxov Xsydusvov nag* abxotq Xi>%vov xal xaibuzvov
dSiaXelnroag iv xq> va<j>. — Über den Leuchter selbst s. Exod. 25, 31 — 40. 37,
17—24. I Makk. 1, 21. 4, 49. Philo, Vita Mosis III, 0. Josephus Antt. III, 6, 7.
Bell. Jud. V, 5, 5. VII, 5, 5. Mischna Menachoth HI, 7. IV, 4. IX, 3 fin.
Tamid III, 6. 9. VI, 1. — Lundius, Die alten jüdischen Heiligthümer Buch I,
Kap. 23. Winer, RWB. Art. „Leuchter". Bahr, Symbolik 2. Aufl. I, 492— 499.
Krüger, Der siebenarmige Leuchter (Tüb. Theol. Quartalschr. 1857, S. 238
— 261). Riehms Wörterb. Art. „Leuchter" (mit Abbildungen). Hamburger,
Real-Enz. für Bibel und Talmud, Supplementbd. (1886) 8. 40 f. Art. „Bestän-
diges Licht". Levesque, Art. Chandelier in: Vigouroux, Dictionnaire de la
Bible II, 541—546. Cook, Art. Candlestick in: Encyclopaedia Biblica I, 644—647.
— Eine authentische Abbildung des Leuchters ist uns erhalten auf den Reliefs
des Titusbogens in Rom (s. oben § 20 Bd. I, S. 636 f.); auch auf alten Glas-
geraten und Grabschriften ist er nicht selten abgebildet, s. Qarrucci, Storia
344 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [286. 237]
mußten19. — Die Front des Tempels | war gegen Osten gerichtet
Vor demselben, unter freiem Himmel, befand sich der große Brand-
opferaltar oder „der Altar" xax* Hox^ an welchem mit Aus-
nahme des Eäucherns alle Opferhandlungen vollzogen werden
mußten. Er war ein hoher viereckiger Aufbau von gewaltigen
Dimensionen, an der Basis nach den Maßangaben der Mischna
32 Ellen im Geviert (während z. B. das Innere des Tempels nur
20 Ellen breit war); nach oben verjüngte er sich in mehreren Ab-
stufungen, so daß die obere Fläche noch 24 Ellen im Geviert maß 20.
Der ganze Aufbau war aus unbehauenen Steinen, an welche nie
ein Eisen gekommen war, errichtet21. Auf der Südseite führte
della arte cristiana vol. VI, 1880, tav. 490, The Jewish Encyclopedia III, 1902,
p. 532 (im Art. Candlestick, elf verschiedene Abbildungen), ebendas. VIII, 493 sq.
(Art. Menorah). — Über die Stellung des Leuchters südlich vom Altar s. Exod.
26, 35. 40, 24.
19) Über die Bedienung des Schaubrottisches s. Lev. 24, 5 — 9. Philo,
De victimis § 3 {ed. Mangey II, 239 sq.). Josephus Antt. III, 10, 7. — Über den
Schaubrottisch selbst: Exod. 25, 23—30. 37, 10—16. I Makk. 1, 22. 4, 49. Philo,
Vita Mosis III, 10. Josephus Antt. III, 6, 6. Bell. Jud. V, 5, 5. VII, 5, 5.
Mischna Menachoth XI, 5 — 7. Vgl. auch die Beschreibung des Tisches, welchen
angeblich Ptolemäus Philadelphus dem Tempel von Jerusalem schenkte, bei
Pseudo-Aristeas ed. Wendland § 52 — 72. Joseph. Antt. XH, 2, 7 — 8. — Lun-
dius, Die alten jüdischen Heiligthümer B. I, Kap. 24. Winer RWB. Art.
„Schaubrode" und „Schaubrodtisch". Bahr, Symbolik 2. Aufl. I, 488—492.
Thalhof er, Die unblutigen Opfer des mosaischen Cultes S. 73—78. 156 — 168.
Leyrer, Art. Schaubrode und Schaubrodtisch in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl.
XIII, 467—472. Delitzsch in Riehms Wörterb. S. 1388—1392 (mit Abbildung).
Strack in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XIII, 455 — 458. Kennedy, Art. Shew-
bread in: Hostings9 Dietionary of the Bible IV, 495—497. Eine Abbildung des
Tisches findet sich auf den Reliefs des Titusbogens. Vgl. dazu: Holzinger,
Der Schaubrodtisch des Titusbogens (Zeitschr. für die Alttest. Wissensch. XXI,
1901, S. 341 f.). — Über die Stellung des Tisches nördlich vom Raucheraltar s.
Exod. 26, 35. 40, 22.
20) Vgl. bes. die Beschreibungen in der Mischna Middoth III, 1 — 4 und
bei Josephus Bell. Jud. V, 5, 6; Antt. IV, 8, 5; ferner: Pseudo-Hecataeus bei
Joseph, c. Apion. I, 22 (ed. Niese § 198); Aristeas ed. Wendland § 87. I Makk.
4, 44 — 47. Philo, De victimas offerentibus § 4. Maßangaben auch bei Exech.
43, 13—17. — Monographien bei Ugolini, Thes. t. X. Winer RWB. Art.
„Brandopferaltar". Bahr, Symbolik 2. Aufl. I, 579—582. Robertson Smith,
Die Religion der Semiten, deutsche Übers, von Stube, 1899, S. 288—292. The
Jewish Encyclopedia I, 464—469 (Art. Altar). — Analoga in den heidnischen
Kulten s. bei Reis ch, Art. „Altar" in Pauly-Wissowas Real-Enz. 1, 1640—1691.
21) Pseudo-Hecataeus bei Joseph, contra Apion. I, 22: Ätfjt^twv avXX$xta>v
cioyCbv Xl&wv. I Makk. 4, 47. Philo, De victimas offerentibus § 4: ix Xtfkov
XoydSiov xal atfi^mv. Joseph. Antt. IV, 8, 5. B. J. V, 5, 6. Mischna Mid-
doth III, 4. — Altäre aus rohen Feldsteinen oder auch nur von aufgeworfener
Erde sind ohne Zweifel die älteste und primitivste Form der Altäre und
1287. 283] IV. Der tagliche Kultus. 345
zum Altar ein allmählich ansteigender, ebenfalls aus unbehauenen
Steinen errichteter Aufgang hinauf. Das Feuer auf diesem Altare
durfte nie ganz ausgehen, auch nicht bei Nacht22. — Zwischen
dem Tempel und dem Altare befand sich, | ebenfalls unter freiem
Himmel, das schon erwähnte eherne Waschbecken (Ti*?), in
welchem sich die Priester vor Ausübung des Dienstes Hände und
Füße waschen mußten. — Nördlich vom Altar, ebenfalls unter
freiem Himmel, war die Stätte zum Schlachten: es waren Ringe
im Fußboden befestigt, an welchen die Tiere beim Schlachten an-
gebunden wurden; in der Nähe waren Säulen zum Aufhängen der
geschlachteten Tiere und marmorne Tische zum Hautabziehen und
Waschen der Eingeweide23. — Der Tempel mit Einschluß des
Altares und der Schlachtstätte war von einer Schranke umgeben,
innerhalb deren in der Regel nur die Priester eintreten durften;
die gewöhnlichen Israeliten nur „wenn es nötig war zum Hand-
auflegen, Schlachten und Schwingen" (mron)24.
Der wichtigste Teil des regelmäßigen Gottesdienstes war nun
das tägliche Brandopfer der Gemeinde, die Tttnn nbfc oder
Tttijn „das Beständige" schlechthin25. Die Sitte eines regel-
werden auch noch in der jahvistischen Gesetzgebung als das Gewöhnliche
vorausgesetzt (Exod. 20, 24—26; vgl. Deut. 27, 5—6). Schon Salomo ließ aber
in Jerusalem einen ehernen Altar erbauen (I Reg. 8, 64. 9, 25. II Reg. 16,
14—15. II Chron. 4, 1). Der Priesterkodex, der das ganze Heiligtum als
transportabel schildern will, konstruiert zu diesem Zweck einen Brandopfer-
altar aus Holz mit Erzbekleidung {Exod, 27, 1—8. 38, 1—7. Num. 17, 1—5).
Ein solcher hat schwerlich je existiert. Die Praxis der nachexilischen Zeit
hat vielmehr wieder auf die älteren gesetzlichen Bestimmungen Exod, 20, 25.
Deut. 27, 5—6 zurückgegriffen. Vgl. überh. Wellhausen, Gesch, I, 30. 38 f.
— Prolegomena 5. Ausg. S. 29 f. 37 f.
22) Lev. 6. 6. Philo, De viclimas offerentibus § 5 init. (ed. Mangey II, 254).
Joseph, Bell. Jud. II, 17, 6. Vgl. auch H Makk. 1, 18-36, und Buxtorf,
Hütoria ignis sacri et caelestis sacrißcia consumentis (bei Uf/olini, Thes. t. X).
Lundius, Die alten jüdischen Heiligthümer Buch I, Kap. 34.
23) Middoth III, 5. V, 2. Tamid III, 5. Schekalim VI, 4. — Daß die
Schlachtung der Brandopfer nördlich vom Altare stattfinden muß, wird schon
Lev. 1, 11 vorgeschrieben. An derselben Statte mußten aber auch die Sund-
und Schuldopfer geschlachtet werden (Lev. 4, 24. 29. 33. 6, 18. 7, 2. 14, 13).
Nur bei den Mahlopfern fehlt diese Bestimmung; s. Knobel-Dillmann zu
Lev. 1, 11. Genaueres über die verschiedenen Örtlichkeiten, an welchen die
Opfer geschlachtet wurden, s. Sebachim V.
24) Ober die Schranke s. bes. Joseph. Bell. Jud. V, 5, 6. Änlt. VIII, 3, 9.
XIII, 13, 5. Grätz, Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1876,
S. 388 ff. In diesen „Vorhof der Priester" durften aber nach Kelim I, 8 zu
den angegebenen Zwecken auch die Israeliten eintreten.
25) T^Pin rto z. B. Num. 28, 10. 15. 24. 31 ; cap. 29, 16. 19. 22. 25. 28. 31.
34. 38. Esra 3, 5* Nehem. 10, 34. — T^Fin z. B. Daniel 8, 11—13. 11, 31.
346 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [288. 289]
mäßigen täglichen Opfers ist verhältnismäßig sehr alt Im ein-
zelnen war aber die Ausführung zu verschiedenen Zeiten verschie-
den; nicht nur insofern, als vor dem Exil die Könige die Kosten
bestritten (Ezech. 45, 17 und 46, 13—15 nach den LXX), während
es später Sache der Gemeinde wurde, sondern auch dem Inhalte
nach26. Zur Zeit des Ahas wurde morgens nur ein Brandopfer
und abends nur ein Speisopfer dargebracht (II Beg. 16, 15). Diese j
Sitte war so feststehend, daß hiernach die Tageszeiten bestimmt
wurden. Die Zeit „da man das Speisopfer bringt" ist soviel wie
gegen Abend (I Beg. 18, 29. 36). Ja diese Zeitbestimmung hat sich
so fest eingebürgert, daß sie auch noch beibehalten wurde, als
man längst auch abends ein Brandopfer darbrachte (Esra 9, 4—5.
Daniel 9, 21) 27. Letzteres geschah, wie es scheint, noch nicht zur
Zeit Ezechiels. Doch hat bereits Ezechiel insofern eine Erweite-
rung der älteren Sitte, als nach ihm des Morgens ein Brandopfer
und ein Speisopfer dargebracht werden soll (EzechAQ, 13—15). Der
Priesterkodex dagegen schreibt nun vor, daß sowohl morgens
als gegen Abend je ein Brandopfer und ein Speisopfer
dargebracht werden solle, und dazu auch je ein Trankopfer (Exod.
29, 38—42. Num. 28, 3—8). In dieser Form, als ein zweimaliges
tägliches Brandopfer, wird das tägliche Opfer auch vom Chronisten
als altherkömmlich vorausgesetzt (I Chron. 16, 40. II Chron. 13, 11.
31, 3). Es war der eigentliche Kern- und Mittelpunkt des ganzen
Opferkultus. Seine Darbringung durfte unter keinen Umständen
unterlassen werden. Als im Jahre 70 Jerusalem längst von den
Römern eingeschlossen war und die Hungersnot schon aufs höchste
gestiegen war, wurde doch noch regelmäßig das tägliche Opfer
dargebracht; und es galt als einer der schwersten Schläge, als es
endlich am 17. Tammus eingestellt werden mußte 28.
Die genaueren Bestimmungen des Priesterkodex über das Tamid
12, 11. Mischna Pesachim V, 1. Joma VII, 3. Taanüh IV, 6. Menachoth IV, 4.
Der ganze Traktat Tamid hat hiernach seinen Namen.
26) Vgl. zum Folgenden: Kuenen, De r/odsdienst van JsraelU, 270 — 272.
Wellhausen, Geschichte Israels I, 81 — 82 = Prolegomena zur Gesch. Israels
5. Ausg. S. 78 f. Eeuss, Uhistoire sainte et la loi (Iai Bible, Anden Testament,
P. III) I, 262. Smend, Exeget. Handbuch zu Ezechiel S. 381 f. — Die Gegen-
bemerkungen Dillmanns (Exeget. Handb. zu Exodus und Leviticus S. 31 3 f.)
können den klar vorliegenden Tatbestand nicht erschüttern.
27) Auch noch in der Mischna ist die Zeit der Mincha (des Speisopfers)
soviel wie nachmittags, z. B. Berachoth IV, 1. Pesachim X, 1. Bosch haschana
IV, 4. Megüla III, 6. IV, 1.
28) Joseph. Bell. Jud. VI, 2, 1. Mischna Taanüh IV, 6. — Auch in der
Verfolgungszeit unter Antiochus Epiphanes wurde die Abschaffung des Tamid
als das ärgste Übel angesehen (Daniel 8, 11 — 13. 11, 31. 12, 11).
[289. 290] IV. Der tägliche Kultus. 347
sind folgende (Exod. 29, 38-42. Num. 28, 3— 8)29. Sowohl morgens
als abends wurde als Brandopfer je ein einjähriges männliches
fehlerloses Lamm geopfert, bei dessen Darbringung die allgemeinen
Bestimmungen über das Brandopfer überhaupt, namentlich Lev. 1,
10 — 13 und 6, 1—6 zu beobachten waren. Gleichzeitig mußte
jedesmal auch ein Speisopfer und ein Trankopfer dargebracht
werden, wie der Priesterkodex überhaupt für alle Brandopfer eine
solche Zugabe von Speisopfer und Trankopfer vorschreibt (Num. 15, |
1 — 16). Bei einem Lamm bestand das Speisopfer aus einem Zehntel
Epha feinen Mehles (nbb), welches mit einem Viertel Hin feinen
Öles vermengt wurde (b^ba, also nicht gebacken); das Trankopfer
bestand aus eifern Viertel Hin Weines. Die Zeit für die Dar-
bringung des Morgenopfers war früh bei Tagesanbruch; die für
das Abendopfer nach den biblischen Bestimmungen D?2n?n *pa,
d. h. im Abendzwielicht; später war es üblich geworden, das Abend-
opfer schon nachmittags darzubringen, nach unserer Stundenzählung
ungefähr um drei Uhr30.
In Verbindung mit dem täglichen Brandopfer der Gemeinde
wurde stets auch das tägliche Speisopfer des Hohenpriesters
dargebracht. Nach Lev. 6, 12—16 mußte nämlich der Hohepriester
täglich (Tttn)31 morgens und abends ein Speisopfer darbringen,
29) Vgl. auch Light foot, Ministerium templi c. IX (Opp. I, 716 — 722).
— Lundius, Die alten jüdischen fleiligthümer B. V, Kap. 1 — 2. — Winer
RWß. Art. „Morgen- und Abendopfer". — Keil, Handb. der bibl. Archäologie
(2. Aufl. 1875) S. 373 f. — Haneberg, Die religiösen Alterthümer S. 604— 609.
— Hamburger, Real-Enz. Supplementbd. III, 1892, 8. 106 ff. (Art. „Tempel-
gottesdienst"). — Das Genauere im Traktat Tamid, vgl. unten Anm. 42.
30) Philo und Josephus geben an den Hauptstellen, wo sie vom Tamid
sprechen, nur die biblischen Zeitbestimmungen wieder (Philot De victimis § 3:
Ka&' hxdcxrjv fih> ovv ^fxigav ovo dfzvovg dvdyeiv dulprjvai, xbv fxhv a/ua
xjj iip, xbv öh öelXrjg han^Qaq. Joseph. Antt. III, 10, 1: ix 6h xov örjfxoalov
dvaXwfiaxoq vdfioq iaxlv agva xa&* hxdaxrp tj/utgav ccpa^eo&ai x&v avxoexibv
aQXOfiivriq xe tifi&Qaq xal XijyovOTjq). Die wirkliche Praxis der späteren
Zeit erhellt aus Antt. XIV, 4, 3: tilg xfjq tifitgaq, ngtal xe xal tibqI ivdxijv
wqccv, leQOVQyovvxiov inl xov ßcjfiov. Hiermit stimmt genau die Angabe der
Mischna Pesachim V, 1, daß das Abendopfer gewöhnlich um 84/a Uhr ge-
schlachtet und um 9l/2 Uhr dargebracht wurde (also nach unserer Stunden-
zählung um 2V2 und 3*/2 Uhr nachmittags). Vgl. auch Jos. contra Apion, II, 8
(ed. Niese § 105): mane etiam aperto templo oportebat facientes traditas hostias
introire et meridie rursus dum clauderetur templum. Daher pflegte man auch
um die neunte Stunde in den Tempel zum Gebet zu gehen und überhaupt
zu beten (Apgesch. 3, 1. 10, 3. 30). S. überh.: Herzfeld, Geschichte des
Volkes Jisfael III, 184 f.
31) Die Worte „am Tage seiner Salbung" Lev. 6, 13 sind damit nicht zu
vereinigen; das eine oder das andere ist ein späterer Zusatz. S. Dillmann,
1
348 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [290. 29 1J
welches von dem Speisopfer der Gemeinde, das die Zugabe zum
Brandopfer bildete, sowohl nach der Quantität, als nach der Art
der Zubereitung verschieden war. Es bestand im ganzen nur aus
einem Zehntel Epha Mehl, von welchem die Hälfte morgens und
die Hälfte abends dargebracht wurde; und es wurde nicht nur mit
Öl | vermengt, sondern, nachdem dies geschehen war, auf einer
flachen Pfanne (nnm?) gebacken; die fertigen Kuchen wurden in
Stücke gebrochen, mit Ol Übergossen und so dargebracht {Leo. 6,
14 vgl. mit Lev. 2, 5— 6)32. Wegen der Art seiner Zubereitung
heißt es in der späteren Zeit schlechthin Dwan, „das Gebackene
(die Kuchen)", und kommt unter diesem Namen direkt oder in-
direkt schon beim Chronisten33 und dann namentlich in der Mischna
vor34. — Da die Darbringung dieses Opfers Pflicht des Hohen-
priesters war, kann man allerdings von einem täglichen Opfer
desselben sprechen35. Allein der Hohepriester ist dabei der Dar-
Exegetisches Handb. zu Exodus und Leviticus 8. 442. Baentsch, Exodus-
Leviticus -Numeri, zu Lev. 6, 12. — Die jüdische und christliche Exegese hat
den Widerspruch , der in der Stelle liegt, auf verschiedene Weise zu heben
gesucht. S. überhaupt Franke 1, Über den Einfluß der palästinischen Exegese
auf d;e alexandrinische Hermeneutik (1851) S. 143 f. Lundius, Die alten
jüdischen Heiligthümer B. III, Kap. 9. Thalhof er, Die unblutigen Opfer des
mosaischen Cultes (1848) S. 139—151. Kurtz, Der alttestamentliche Opfer-
cultus (1862) S. 302—305. Merx in Hilgenfelds Zeitschr. für wissenschaftl.
Theologie 1863, 8. 55—63. Ho ff mann, Magazin für die Wissensch. des
Judenth. IV. Jahrg. 1877, 8. 5—16. Olitzki, Flavius Josephus und die Ha-
lacha 1. TL 1885, 8. 57 f.
32 Über die Zubereitung vgl. auch Philo, De victimis § 15. Joseph. Antt.
III, 10, 7. ALenachoth XI, 3. Es fand dabei statt T\&\ (Kneten) und n;BK
(Backen). — Lundius, Die alten jüd. Heiligthümer B. IH, Kap. 39, Nr. 51—61.
Thal hofer, Die unblutigen Opfer S. 151 ff.
33) I Chron. 9, 31. Die LXX erklären hier O^MHn nterq geradezu durch
tä BQya rrfg övoiaq xov xrjyavov xov fieydXov Isq^üx;. So auch Gesenius,
Thesaurus s. v. O^nnn. Wahrscheinlich meint aber der Chronist doch nicht
nur das Speisopfer des Hohenpriesters, sondern das gebackene Speisopfer
überhaupt
34) Tamid I, 3. III, 1. IV fin. Joma II, 3. HI, 4. Menachoth IV, 5. XI, 3.
Middoth I, 4. — Aus Tamid HI, 1; IV fin.; Joma n, 3 erhellt, daß das hohe-
priesterliche Speisopfer zwischen dem Speisopfer der Gemeinde und dem
Trankopfer dargebracht wurde. Vgl. überhaupt unten die ausführliche Be-
schreibung des taglichen Gottesdienstes nach Traktat Tamid.
35) Jesus Sirach 45, 14: „Sein Mehlopfer wird ganz verbrannt, alltaglich
als ständiges zweimal". — Philo, De specialibus legibus II § 23 (Mang. II,
321): ei%a<; 6h xal &vo(aq xeXCov xa&y kxdoxipf ^fiigav. — Auch die bekannte
Stelle im Hebräerbrief (Ebr. 7, 27) ist wohl von hier aus zu erklären; nur ist
freilich dieses tägliche Speisopfer des Hohenpriesters kein Sündopfer, wie es
nach dem Hebräerbrief scheinen könnte. — Über einige talmudische Stellen,
[291. 292] IV. Der tagliche Kultus. 349
bringende nur in dem Sinne, in welchem bei dem täglichen Brand-
opfer die Gemeinde die darbringende ist, d. h. er hat es in seinem
Namen und auf seine Kosten darbringen zu lassen36; keineswegs ist
aber nötig, daß er dabei selbst fungiert. Aus Josephus wissen wir,
daß der Hohepriester in der Regel an den Sabbaten und Festtagen
fungierte (s. oben S. 319 Anm. 4). An den übrigen Tagen wurde das
Speisopfer des Hohenpriesters so gut wie die Opfer der Gemeinde
von den eben im Dienst befindlichen Priestern dargebracht: | wenn
die einzelnen Verrichtungen des Tagesdienstes verlost wurden,
wurde immer auch darüber gelost, wer die TWnn, d. h. das Speis-
opfer des Hohenpriesters, darzubringen habe37. Ja — da im Gesetz
dieses Opfer als ein Opfer „Aarons und seiner Söhne" bezeichnet
ist {Leo. 6, 13), so konnte es auch aufgefaßt werden als ein Opfer,
welches die Priester für sich darbringen38.
Außer der Darbringung dieser Opfer gehörte zu dem täglichen
Dienste der Priester auch die Bedienung des Räucheraltares
und des Leuchters im Innern des Tempels. Auf dem Räucher-
altar mußte sowohl morgens als abends ein Räucheropfer dar-
gebracht werden (Exod. 30, 7—8); und zwar mußte des Morgens
an welchen scheinbar oder wirklich von einem täglichen Opfern des Hohen-
priesters die Rede ist, s. Herzfeld, Gesch. des Volkes Jisrael II, 140 f.
36) Joseph. Antt. III, 10, 7: &vei rf' 6 leQSvg (= der Hohepriester) ix
z(bv 16 lo) v dvaXcD/udzajv, xal ölg kxdavtjg tjfiioag zovzo noiet, aXevgov
iXaia) fiefJLayiihov xal nsnrjybg dnzrfoei ßoaxetq' xal slg fiiv ioztv doodowv
zov dlevoov, zovzov 6h zb fthv rj/uov tiqqä zb ö* ersgov deiXijg inuptoei zG>
tcvqL — Wenn ein Hoherpriester starb, so mußte bis zum Amtsantritt des
Nachfolgers das Speisopfer auf Kosten der Gemeinde dargebracht werden,
nach R. Juda auf Kosten der Erben (Schekalim VII, 6).
37) Tamid III, 1. IV fin. Joma II, 3. — Genau genommen ist an diesen
Stellen allerdings nicht von der eigentlichen Opferung die Rede, sondern nur
von dem Hinbringen der Opferbestandteile an den Aufgang zum Altar. Allein
nach Tamid V, 2, Joma II, 4 — 5 wurde auch für die eigentliche Opferung (das
Hinaufbringen auf den Altar) wieder dieselbe Zahl von Priestern bestimmt
wie für das Hinbringen zum Altar, nämlich neun, entsprechend den neun Opfer-
bestandteilen , unter welchen eben an den zuerst genannten Stellen (Tamid
III, 1. IV fin. Joma II, 3) die "pn^an ausdrücklich erwähnt werden. Es kann
also kein Zweifel sein, daß auch die eigentliche Opferung der "prvnn in der
Regel durch einen gemeinen Priester vollzogen wurde.
38) Philo, Quis verum div. heres § 36 (Man//. I, 497): \4XXd xal zag iv-
öeXexstg &volag boag elg Xaa öigorifiivagj fjv ze vtieq avzibv dvdyovoiv ol
leQetg öiä zrjg asitiödXeioq, xal ztyv viihg zov %&vovg zCbv dvotv dfxvtbv,
o$g äva<pigeiv dielojjzai. — De victimü § 15 (ed. Mangey II, 250): SefiiSaXig
yäo % ivöeXsx^g avzibv dvala fiizgov Xegov zb dixazov xa&* kxdozrjv fjfiioav,
ov zb fihv fjfiiov TiQWtag, zb öh tfftiov SeiXrjq 7tooodyezai zayr]vio9hv iv iXaUo,
fxriöevbq elg ßowoiv %)7ioXei<p&£vzog.
350 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [292. 293]
das Räucheropfer dem Brandopfer vorangehen, des Abends aber
ihm nachfolgen, so daß das tägliche Brandopfer von der Dar-
bringung des Räucheropfers gleichsam umrahmt war39. — Auch
der Leuchter mußte jeden Morgen und Abend bedient werden.
Morgens wurden die Lampen gereinigt und mit neuem Öl ver-
sehen, wobei man für den Tag eine oder mehrere (nach Josephus:
drei) Lampen brennen ließ. Abends wurden auch die übrigen
Lampen angezündet, da während der Nacht alle sieben brennen |
sollten (s. bes. Exod. 30, 7—8. II Chron. 13, 11; und überh. oben
S. 342 f.).
Zu der Schönheit der Gottesdienste des Herrn gehörte endlich
auch Musik und Gesang. Wenn das Brandopfer dargebracht
war, fielen die Leviten mit Gesang und Saitenspiel ein, und zwei
Priester bliesen mit silbernen Trompeten (II Chron. 29, 26—28.
Num. 10, 1. 2. 10). Während dessen war auch das Volk im Tempel
zum Gebet versammelt. So oft die Priester bei den Abschnitten
des Gesanges in die Trompeten stießen, warf das Volk sich zur
Anbetung nieder40. Für den Gesang der Leviten war für jeden
Tag der Woche je ein Psalm bestimmt, und zwar für Sonntag
39) Philo, De victimia § 3 (Mangey 11, 239): 61g öe xa&* kxdaxrjv ^(xegav
ini^vfuätai xd ndvxiov eiwöiaxaxa dvfjtiafzdxoov efo<o xov xaxanBxdafxaxoq,
ävioxovros %Xiov xal dvopivov, ngö xe xrjq hw&ivrjs bvaiaq. xal fiexk
xfjv haneQiv^v. — De victimas offerentibus § 4 (Mang, II, 254): oi yäg
itpiezcu xijV oXdxavxov bvolav ?§a> nQooayayelv, tcqIv evöov nepl ßa&vv 8q-
9qov im&vfjiidocu. — Noch genauer ist die Angabe der Mischna Joma 111,5:
„Die Morgen-Räucherung fand statt zwischen dem Blutsprengen und der
Opferung der Glieder; die Abend-Räucherung zwischen der Opferung der
Glieder und den Trankopfern".
40) Über die Versammlung des Volkes zum Gebet im Tempel 8. Lue.
1, 10. Actor. 3, 1. Das Genauere nach Traktat Tamid s. weiter unten. —
Ganz verkehrt ist die auf Mißverständnis von Act 2, 15. 3, 1. 10, 3. 9. 30 be-
ruhende Meinung, daß je um die dritte, sechste und neunte Stunde (also nach
unserer Zählung um 9, 12 und 3 Uhr) eine ständige Gebetszeit gewesen sei
(so z. B. Schoettgen, Horae hebr. I, 418. Winer RWB. I, 398. De Wette
zu Act 2, 15. Meyer zu Act. 3, 1). Die wirklichen drei Gebetszeiten waren
vielmehr: 1) früh morgens zur Zeit des Morgenopfers, 2) nachmittags um die
neunte Stunde (3 Uhr) zur Zeit des Abendopfers, 3) abends zur Zeit von
Sonnenuntergang. S. Berachoth I, 1 ff. IV, 1. Maimonides, Hilchoth TephiUa
c.l—lll (Petersburger Übersetzung I, 257 ff.). Herzfeld, Geschichte des
Volkes Jisrael III, 183 ff. Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud,
IL Abt. Artikel „Morgengebet", „Minchagebet", ,,Abend gebet". Delitzsch,
Zeitschr. für luth. TheoL 1877, S. 0. — Über die christlichen Gebetszeiten 8.
Harnacks Anmerkung zu diöatf VIII, 3 (Texte und Untersuchungen H,
1-2, S. 27).
[293. 294] IV. Der tagliche Kultus. 351
Ps. 24, Montag Ps. 48, Dienstag Ps. 82, Mittwoch Ps. 94, Donnerstag
Ps. 81, Freitag Ps. 93, Sabbat Ps. 92 4I. |
In der hier beschriebenen Form wird der Tempelgottesdienst
schon vom Siraciden mit Begeisterung geschildert (Sirach 50, 11—21).
Eine sehr detaillierte, offenbar auf guter Überlieferung ruhende
Schilderung des Morgengottesdienstes gibt die Mischna im Traktat
Tamid, dessen wesentlicher Inhalt hier zur Ergänzung des Bis-
herigen noch folgen möge42.
41) Tamid Yllfin. Dazu Lundius, Die alten jüdischen Heiligthümer
Buch IV, Kap. 5, Nr. 25. Herzfeld, Geschichte des Volkes Jisrael III, 163 f.
Grätz, Die Tempelpsalmen (Mouatsschr. f. Gesch. und Wisseusch. des Ju-
den th. 1878, S. 217—222). Delitzschs Kommentar zu den Psalmen. Büch-
ler, Zum Vortrage und Umfange der Tempelpsalmen (Zeitschr. für die alttest.
Wissensch. 1900, S. 97 — 114) [sucht zu zeigen, daß nicht alle Psalmen voll-
ständig gesungen wurden]. — Bei fünf dieser Psalmen ist die Bestimmung für
den betreffenden Tag auch in den Überschriften der LXX richtig angegeben,
Ps. 24 (23): xrjq wäg oaßßäxov, Ps. 48 (47): öevxioq oaßßäxov, Ps. 94 (93):
xexgdSi oaßßäzov, Ps. 93 (92): elg xtjv fipigav xov noooaßßäiov, Sxs xaxtp-
xiozai ^ yf}} Ps. 92 (91): slg x^v tjfiioav xov oaßßäzov. Dazu kommt Vet. Lot.
Ps. 81: quinta Sabbati, was auch aus griechischer Vorlage stammen muß.
Beim Sabbatpsalm ist die Angabe auch in den masorethischen Text einge-
drungen. — Für die Wahl der Psalmen soll nach jüdischer Ansicht die
Parallele mit den sechs Schöpfungstagen maßgebend gewesen sein (s. Bosch
fiaschana 31», Sopherim XVIII, 1, die Kommentare von Bartenora und Mai-
monides in Surenhusius* Mischna -Ausgabe V, 310). Allein eine solche
Parallele ist bei den meisten der Psalmen schlechterdings nicht zu entdecken.
Man ist auf jene Meinung offenbar deshalb gekommen, weil allerdings die
Schriftlektion der Standmänner (s. über diese oben S. 338) in der Weise ge-
ordnet war, daß im Laufe der Woche die ganze Schöpfungsgeschichte sukzessive
zur Vorlesung kam (Taanith IV, 3: am ersten Wochentag las man das 1. und
2. Tagewerk, am zweiten Wochentag das 2. und 3. Tagewerk u. s. fJ. — Außer
den Wochenpsalmen wurden selbstverständlich auch noch viele andere bei den
verschiedensten Anlässen im Tempel gebraucht. So wurde z. B. an den
hohen Festtagen immer das sogenannte Hallel gesungen, d. h. nach
gewöhnlicher Ansicht Ps. 113 — 118; doch ist die Überlieferung darüber, was
unter dem Hallel zu verstehen sei, schwankend, s. Buxtorf, Lex. Chald.
coL G13— 616 (s. v. bbn). Light foot, Eorae Hebr. zu Luc. 13, 35 (Opp. II,
538 sq.). Lundius zu Taanith 111, 9 (in Surenhusius' Mischna II, 377). Grätz,
Monatsschr. 1879, S. 202 ff. 241 ff. Levy, Neuhebr. Wörterb. s. v. bbn. Ham-
burger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, II. Abth. Art. „Hallel". King,
The Hallel (The Expositor 1889, Febr. p. 121—135). Büchler, Die Hallel-
psalmen im Tempel (Zeitschr. für die alttest. Wissensch. 1900, S. 114—135).
L. Cohen, Art. Hallet in: The Jeirish Encyclopedia VI, 176—178.
42) Der Traktat steht in Surenhusius' Mischna- Ausgabe Bd. V, S. 284—310;
und bei Ugolini, Thesaurus t. XIX, col. 1467—1502. Die Hauptstellen nebst
sonstigem Material auch bei Ugolini, Thes. XIII, 942—1055. Eine gute Se-
pa rat- Ausgabe (ebenfalls, wie die bisher genannten, mit lat. Übers, und An-
merkungen) ist: Tractatus Talmudicus de cultu quotidiano templi, quem ver-
352 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [294. 295]
Die diensttuenden Priester schliefen in einem Gemach des
inneren Vorhofes. Am frühen Morgen, noch ehe der Tag anbrach,
kam der Beamte, welcher die Verlosung der Dienstgeschäfte zu
leiten hatte, und ließ zunächst losen, wer die Reinigung des Brand-
opferaltares von der Asche zu besorgen habe. Diejenigen, welche
dies zu tun wünschten, mußten schon vor Ankunft des Beamten
das vorgeschriebene Tauchbad genommen haben. Unter ihnen wurde
dann einer durchs Los für jenes Geschäft bestimmt. Derselbe ging
sofort noch in der Dunkelheit, nur beim Scheine des Altarfeuers,
an seine Verrichtung. Er wusch sich Häöde und Füße an dem
ehernen Waschbecken, das zwischen Tempel und Altar stand, stieg
auf den Altar und räumte mit einer silbernen Pfanne die Asche
weg. Während er dies tat, gingen auch die Verfertiger des ge-
backenen Speisopfers (des Hohenpriesters) an ihr Geschäft43. —
Nun wurde frisches Holz auf den Altar gebracht, und während
dieses brannte, gingen die Priester, nachdem sie alle sich auch
Hände und Füße am Waschbecken gewaschen hatten, hinab in die |
lischkath ha-gasith (s. über diese oben S. 263 f.), wo die weitere Ver-
losung stattfand44.
Der Beamte ließ nun losen, 1) wer schlachten solle, 2) wer
das Blut an den Altar sprengen, 3) wer den inneren Altar von
der Asche reinigen, 4) wer den Leuchter reinigen, ferner: wer die
Stücke des Schlachtopfers an den Aufgang zum Altar hinbringen
solle, nämlich wer 5) den Kopf und den einen Hinterfuß, 6) die
beiden Vorderfüße, 7) den Schwanz und den anderen Hinterfuß,
8) die Brust und das Halsstück, 9) die beiden Seiten, 10) die Ein-
geweide, 11) wer das Mehlopfer hinbringen solle, 12) wer das ge-
backene Speisopfer (des Hohenpriesters), 13) wer den Wein45. —
Man ging nun hinaus und sah, ob der Tag schon anbreche. So-
bald die Morgenröte am Himmel stand, holte man ein Lamm aus
der Lämmerkammer und die 93 Dienstgeräte aus der Geräte-
kammer. Das Lamm, das zum Opfer bestimmt war, wurde noch
aus einem goldenen Becher getränkt und dann zur Schlachtstätte
nördlich vom Altar geführt46.
Inzwischen gingen die beiden, welche den Räucheraltar und
den Leuchter zu reinigen hatten, nach dem Tempel, ersterer mit
sione Latina donatum et notis illustratum . . . sub praesidio Dn. Oonradi
Ikenii patrui sui . . . eruditorum examini sufyicit auctor Conradus Iken,
Bremae 1736.
43) Tamid I, 1-4. Vgl. Joma I, 8. II, 1—2.
44) Tamid II, 1—5.
45) Tamid III, 1. Joma II, 3.
46) Tamid III, 2—5. Vgl. Joma III, 1—2.
[295. 296] IV. Der tägliche Kultus. 353
einem goldenen Eimer (^tt), letzterer mit einem goldenen Krug
(tt3). Sie öffneten das große Tor des Tempels, traten ein und be-
sorgten das Beinigen des Räucheraltares und des Leuchters; letz-
teres geschah jedoch in der Art, daß die zwei östlichsten Lampen,
wenn sie noch brannten, zunächst unberührt blieben und nur die
fünf übrigen gereinigt wurden. Nur für den Fall, daß die zwei
östlichsten erloschen waren, mußten sie zuerst gereinigt und wieder
angezündet werden, ehe das Reinigen der übrigen erfolgte. Die
Geräte, welche die beiden Priester beim Reinigen gebraucht hatten,
ließen sie im Tempel zurück, indem sie selbst hinausgingen47.
Während jene beiden im Tempel beschäftigt waren, wurde
von dem dazu bestimmten Priester das Lamm an der Schlacht-
stätte geschlachtet und von einem anderen das Blut aufgefangen
und an den Altar gesprengt Darauf wurde dem Lamm die Haut
abgezogen, und es in einzelne Stücke zerlegt Jeder der dazu
bestimmten Priester erhielt das ihm zukommende Stück. Die Ein-
geweide wurden auf marmornen Tischen an der Schlachtstätte
gewaschen. Im ganzen waren es sechs Priester, unter welche
die einzelnen Stücke des | Tieres verteilt wurden. Ein siebenter
hatte das Mehlopfer, ein achter das gebackene Speisopfer (des
Hohenpriesters), ein neunter den Wein zum Trankopfer. Dies
alles wurde zunächst auf der westlichen Seite des Aufganges zum
Altar, an der unteren Hälfte desselben niedergelegt und mit Salz
versehen, worauf die Priester sich wieder in die lischkath ha-gasith
begaben, um das Schma zu beten48.
Nachdem sie das Schma gebetet hatten, wurde abermals gelost.
Zunächst wurde unter denen, welche noch nie das Räucheropfer
dargebracht hatten, einer durchs Los für dieses bestimmt49. Dann
47) Tamid in, 6—9. — Zur Auslegung von Tamid UI, 6 vgl. auch Grätz,
Monateschr. 1880, S. 289 ff.
48) Tamid IV, 1—3. Über die Stelle, wo die Stücke niedergelegt wur-
den, s. auch Schekalim VIII, 8. Nach Schekalim VI, 4 befand sich zu diesem
Zweck auf der westlichen Seite des Aufgangs zum Altar ein marmorner Tisch.
— Über das Salzen der Opferstücke s. Lev. 2, 13. Exech. 43, 24. Josephus
Antt. m, 9, 1. Buch der Jubiläen 21, 11. Testam. XU Patriarch. Levidfm.:
xal näaav bvolav aXaxt aXietg. — Nach Lev. 2, 13 haben auch im Ev. Mord
9, 49 viele Handschriften den Zusatz xal näaa dvola aXl ahoS-rjoezai. Der
Artikel von Ricci, Le sacrifice sali Mark. 9, 49 (Revue archSol. 1902, mai-juin
p. 336 — 341) schlägt nur eine verkehrte Textänderung vor. — Der Bedarf an
Salz war so erheblich, daß sich im Tempel- Vorhof eine eigene Salzkammer
befand, vgl. oben S. 324, Anm. 27.
49) Die Darbringung des Raucheropfers galt als der feierlichste Moment
der ganzen Opferhandlung. S. Philo, De victimas offerentibus § 4 (Mangey
II, 254): °Oo<p yaQ, olfiai, U9wv /ihv äfjie(va>v ZQvoöq, rä öh iv aövroit; %Gw
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 23
354 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [296. 297]
wurde gelost, wer die einzelnen Bestandteile des Opfers auf den
Altar bringen solle (nach R. Elieser ben Jakob taten dies dieselben,
welche die Stücke am Aufgang zum Altar niedergelegt hatten).
Diejenigen, auf welche diesmal kein Los fiel, waren nun dienstfrei
und zogen ihre heiligen Gewänder aus60.
Der Priester, welchem die Darbringung des Räucheropfers zu-
gefallen war, nahm nun eine mit einem Deckel versehene goldene
Schale (q?), in welcher sich wieder eine kleinere Schale OfTa) mit
dem Räucherwerk befand51. Ein anderer Priester holte mit einer
silbernen Pfanne (nnntt) Kohlen vom Brandopferaltar und schüttete
dieselben in eine goldene Pfanne52. — Beide gingen dann in den
Tempel. Der eine schüttete die Kohlen aus seiner Pfanne auf den
Räucheraltar, warf sich zur Anbetung nieder und ging hinaus.
Der andere nahm die kleine Schale mit dem Räucherwerk aus
der | größeren Schale, übergab letztere einem dritten Priester und
schüttete das Räucherwerk aus der Schale auf die Kohlen des
Altares, so daß es in Rauch aufging. Darauf warf er sich eben-
falls zur Anbetung nieder und ging hinaus. Schon vor ihnen
waren die beiden, welche das Reinigen des Räucheraltares und des
Leuchters besorgt hatten, ebenfalls wieder hineingegangen; ersterer
nur um sein Gerät (den *w) zu holen; letzterer ebenfalls um sein
Gerät (den Tis) zu holen, zugleich aber auch um von den zwei
noch nicht gereinigten Lampen die östliche zu reinigen, während
man die andere brennen ließ, um von ihr am Abend die übrigen
anzuzünden. War sie verloschen, so wurde sie ebenfalls gereinigt
und vom Feuer des Brandopferaltares angezündet53.
Die fünf Priester, welche im Inneren des Tempels beschäftigt
ixzdg ayiwTEQa, xooovxtp xqbIttwv f) Siä zCbv £7ti&vtA,iü)fJi£vQ)v ei>za'
QiQxla xrjq öia. tu>v £vaif*a>v. Daher werden den Priestern namentlich
während sie das Räucheropfer darbringen, Offenbarungen zuteil; so dem
Johannes Hyrkan (Jos. Antt. XIII, 10, 3) und dem Zacharias (Ev. Luc. 1,
9—20).
50) Tamid V, 1—3. Vgl. Joma II, 4—5.
51) Daß der Deckel nicht zum ^rn, sondern zum Cp gehörte, sieht man
aus Tamid VII, 2; sowie auch daraus, daß die Möglichkeit vorausgesetzt wird,
daß aus dem vollgefüllten ^tn etwas in das cp fallt, Tamid VI, 3.
52) Tamid V, 4—5. — Über die silberne und goldene Kohlenpfanne und
über das Räucherwerk vgl. auch Joma IV, 4.
53) Tamid VI, 1 — 3. — Nach der obigen Darstellung der Mischna hätte
unter Tags nur eine von den sieben Lampen des Leuchters gebrannt, näm-
lich die mittlere von den drei östlichen. Nach dem in diesem Punkte ge-
wichtigeren Zeugnisse des Josephus dagegen brannten unter Tags drei Lampen.
Ober die ganze Streitfrage: welche und wie viel Lampen unter Tags brannten,
s. oben S. 343.
[297. 298] IV. Der tagliche Kultus. 355
gewesen waren, traten nun mit ihren fünf goldenen Geräten auf
die Stufen vor dem Tempel und sprachen den priesterlichen Segen
(Num. 6, 22 ff.) über das Volk, wobei der Name Gottes nach seinem
Wortlaut ausgesprochen wurde (also mm, nicht wia)54-
Jetzt erst erfolgte die Darbringung des Brandopfers, indem
die hierzu bestimmten Priester die am Aufgang zum Altar liegenden
Stücke des Opfertieres aufnahmen und, nachdem sie die Hände |
daraufgelegt hatten, auf den Altar warfen55. Wenn der Hohe-
priester opfern wollte, ließ er sich die Stücke von den Priestern
geben (vgl. Sirach 50, 12), legte die Hände darauf und warf sie auf
den Altar. Zuletzt wurden die beiden Speisopfer (das der Gemeinde
und das des Hohenpriesters) und das Trankopfer dargebracht.
Wenn der Priester sich zum Ausgießen des Trankopfers bückte,
wurde den Leviten ein Zeichen zum Beginn des Gesanges gegeben.
Sie fielen mit ihrem Gesang ein; und bei jedem Abschnitt des Ge-
sanges bliesen zwei Priester mit silbernen Trompeten; und bei
jedem Stoß in die Trompeten warf sich das Volk zur Anbetung
nieder56.
54) Tamid VII, 2. Vgl. Sota VII, 6 (im Wortlaut mitgeteilt § 27 gegen
Ende). Außerhalb des Tempels durfte nach den angeführten Stellen der
heilige Name auch von den Priestern nicht ausgesprochen werden. Diesen
Sachverhalt setzt offenbar schon Sirach 50, 20 voraus. Übereinstimmend hier-
mit sagt Philo, daß der Name Gottes nur im Heiligtum (§v ayloiq) gehört
und gesprochen werden dürfe (Vita Mosis III, 11 ed. Mang. II, 152; hierzu
Frankel, Über den Einfluß der palästinischen Exegese auf die alexandrinische
Hermeneutik 1851, S. 26. Siegfried, Philo S. 203; Ritter, Philo und die Ha-
lacha S. 131); und Josephus erzählt, daß Moses Gott gebeten habe, er möge
ihm auch seinen Namen mitteilen, damit er beim Darbringen des Opfers
ihn mit Namen bitten könne, zugegen zu sein (Antt. II, 12, 4: Iva &vwv ig
dvöfxaxoq aixöv napeTvai xotq IsQsloiq nagaxaXy. Kai 6 9edq abttp arj^alvei
xijv iavxov 7iQOOTjyo(>lav). — Als eine besondere Feierlichkeit wird es be-
zeichnet, wenn der Hohepriester am Versöhnungstage beim Sündenbekenntnis
den heiligen Gottesnamen aussprach (Joma VI, 2. Tamid III, 8). — Über die
Unaussprechlichkeit desselben s. auch Sanhedrin X, 1. Buxtorf, Jjex. Chald.
8. v. fihö, Oehler, Art. „Jehova" in Herzogs Real-Eoz. 1. Aufl. VI, 455 ff.
Geiger, Urschrift und Übersetzungen der Bibel S. 261 ff. Leop. Low, Ge-
sammelte Schriften Bd. 1, 1889, S. 187—212. Dal man, Studien zur biblischen
Theologie 1889, S. 36-43. Jacob, Im Namen Gottes 1903, S. 164—176.
Bousset, Die Religion des Judentums 2. Aufl. 1906, S. 352—355.
55) Das Werfen erforderte eine besondere Kunstfertigkeit, die schon von
Pseudo-Aristeas gerühmt wird, ed. Wendland § 93.
56) Tamid VII, 3. Vgl. Sirach 50, 11—21. — Der Traktat Tamid ist
gegen Schluß ziemlich summarisch. Er beschreibt die Darbringung des Opfers
nur für den Fall, daß der Hohepriester selbst opfern will. Auch wird die
Darbringung der beiden Speisopfer gar nicht ausdrücklich erwähnt. Daß
wir sie an der richtigen Stelle eingeschaltet haben, kann nach der Reihen-
23*
356 § 24. Die Pri esterschaft und der Tempelkultue. [298. 299]
Ganz ähnlich wie der hier beschriebene Morgengottesdienst
verlief auch der Abendgottesdienst. Nur wurde bei demselben
das Käucheropfer nicht vor, sondern nach dem Brandopfer dar-
gebracht; und die Lampen des Leuchters wurden am Abend nicht
gereinigt, sondern angezündet (s. oben S. 350).
Diese beiden täglichen Gemeindeopfer bildeten den Grundstock
aller Kultushandlungen im Tempel. Sie wurden in der beschriebenen
Weise auch an allen Sabbaten und Festtagen dargebracht.
Das Auszeichnende der Sabbate und Festtage bestand aber darin,
daß an demselben zu dem gewöhnlichen Tamid noch andere Ge-
meindeopfer hinzukamen. Am Sabbat bestand die Zugabe in zwei
einjährigen männlichen Lämmern, die als Brandopfer dargebracht
wurden, nebst zwei Zehnteln Epha feinen Mehles als Speisopfer
und dem entsprechenden Quantum Trankopfer. Das Sabbatopfer
betrug also gerade so viel, wie das tägliche Morgen- und Abend-
opfer zusammen57. Noch viel größer waren die Zugaben an den
Festtagen. Am Passafest z. B. wurden während der sieben-
tägigen Festzeit täglich als Brandopfer dargebracht: zwei|Farren,
ein Widder, sieben Lämmer nebst entsprechenden Speis- und Trank-
opfern, und dazu noch ein Bock als Sündopfer (Num. 28, 16—25);
am Wochenfest, das nur einen Tag umfaßte, dieselben Opfer
wie an jedem Tage des Passafestes (Num. 28, 26 — 31). Am Laub-
hüttenfest, das als Schlußfest der Ernte zu besonderem Danke
verpflichtete, war die Zahl der Opfer noch viel größer. Es wurden
dargebracht am ersten Tage des Festes als Brandopfer dreizehn
Farren, zwei Widder und vierzehn Lämmer, nebst entsprechenden
Speis- und Trankopfern, und dazu noch ein Bock als Sündopfer;
an jedem der folgenden sechs Festtage dieselben Opfer, nur an
jedem folgenden Tage immer ein Farre weniger als an dem vor-
folge, in welcher sie sonst (Tamid III, 1. IV fin.) erwähnt werden, nicht
zweifelhaft sein. Das Speisopfer des Hohenpriesters ist also nicht, wie es
nach Ebr. 7, 27 scheinen könnte, vor dem Gemeindeopfer, sondern nach dem-
selben dargebracht worden. S. auch Lundins, Die alten jüdischen Heilig-
thümer Buch III, Kap. 39, Nr. 58.
57) Num. 28, 9—10. — Philo, De victimis § 3 (Mang. II, 239): Tatq 6h
ißddfiai<; öinXaaid^si xbv x(bv Uoeianr agid-fidv. — Josepkus Antt. III, 10, 1:
xaxa 6h kßSöfirjv ^//^av, tfxiq oaßßaxa xaXelxai, ovo o<pdt,ovoi, xbv avxbv
XQÖnov UgovQyovvxeq. — Wesentlich anders sind die Bestimmungen bei Execk.
46, 4—5. Der Hauptunterschied zwischen der vorexilischen und der nachexi-
lischen Zeit besteht aber auch bei den Festopfern wie beim Tamid darin, daß
vor dem Exil der König dieselben zu bestreiten hatte, nach dem Exil
aber die Gemeinde. S. bes. Exech. 45, 17 und überh. Exech. 45, 18 — 46, 15.
— Eine Beschreibung des Sabbath-Gottesdienstes s. bei Lundius, Die alten
jüdischen Heiligthümer Buch V, Kap. 5.
[299. 300] IV. Der tägliche Kultus (Beteiligung der Heiden). 357
hergehenden Tage (Num. 29, 12—34). Ähnliche Zugabeopfer von
bald größerem, bald geringerem Umfange waren auch für die
übrigen Festtage des Jahres (Neumond, Neujahr und Versöhnungs-
tag) vorgeschrieben (s. überh. Num. 28—29). Und zu diesen Opfern,
welche nur im allgemeinen den festlichen Charakter der Tage be-
zeichnen sollten, kamen dann noch die besonderen, auf die eigen-
tümliche Bedeutung des Festes sich beziehenden Opfer hinzu (hier-
über Lev. 16 und 23) 58.
So reichlich aber diese Gemeindeopfer auch waren, so ver-
schwanden sie doch an Zahl gegenüber den Privatopfern. Die
Menge der letzteren, die man sich kaum groß genug wird vor-
stellen können, bildete die eigentliche Signatur des Kultus von
Jerusalem. Tag für Tag wurden hier Massen von Opferfleisch
geschlachtet und verbrannt; und wenn erst eines der großen Feste
herankam, dann war die Menge der Opfer trotz der Tausende von
Priestern, die dabei fungierten, kaum noch zu bewältigen69. In
der pünktlichen Ausübung dieses Kultus aber sah Israel ein Haupt-
mittel, die Gnade seines Gottes sich zu sichern.
Anhang. Beteiligung der Heiden am Kultus zu
Jerusalem.
Bei der schroffen Scheidewand, welche das Judentum in reli-
giöser Hinsicht zwischen sich und dem Heidentum aufgerichtet
hat, wird man nicht leicht auf die Vermutung kommen, daß auch
Heiden am Kultus zu Jerusalem sich beteiligten. Und doch ist
diese Tatsache so sicher wie irgendeine andere bezeugt. Wir
58) Eine Beschreibung der Festtags-Opfer nach Num. 28—29 und Lev.
16 und 23 gibt auch Philo in dem erst von Wendland in einer Florentiner
Handschrift (Laur, LXXXV, 10) entdeckten und herausgegebenen Stück des
Traktates de victimis. S. Wendland, Neu entdeckte Fragmente Philos, 1891,
8. 7—14. Theol. Literaturztg. 1891, 467 f. Dasselbe Stück enthält auch der
von Cohn entdeckte vatikanische Palimpsestkodex (Vat. gr. 316), s. Sitzungs-
berichte der Berliner Akademie 1905, S. 42, und Cohns neue Ausg., Phtlonis
Alex, opera quae supersunt vol. V, 1906, prol. p. V— VII, Text p. 43—47, § 177
—193 (was hier steht, fehlt in allen bisherigen Ausgaben zwischen § 3 und 4
des Traktates de viciimis).
59) Aristeas ed. Wendland § 83: UoXXal ya.Q pvQiadeq xxrp&v TiQood-
yovxai xaxä xäg xwv hoqxwv tjfxtpag. — Philo, Vita Mosis III, 19 init. : UoXXCbv
ö% xaxä xb ävayxaXov avayouhwv 9-voiibv xa&y hxdaxrjy f)uioav, xal öicupeoSvxax;
iv navTjyvoeoi xal hoQxatq \>7tiQ xe Uta ixdaxov xal xowjt faho andvxwv Siä
pvQias xal otyl xäq abzaq alxlaq x. x. X. — Vgl. die Zahlen I Reg. 8, 63.
I Chron. 29, 21. II Chron. 29, 32 f. 30, 24. 35, 7—9.
358 § 24. Die Priestersthaft und der Tempelkultus. [300. 301]
meinen dabei nicht etwa die große Masse der Proselyten, d.h.
derjenigen Heiden, welche auch dem Glauben Israels in irgend-
einem Grade sich näherten und welche aus diesem Grunde dem
Gott Israels durch Opfer ihre Ehrfurcht bezeugten. Es handelt
sich vielmehr um wirkliche Heiden, welche, indem sie zu Jerusalem
opferten, damit keineswegs ein Bekenntnis zu der svperslitio Judaica
ablegen wollten. Man kann diese Tatsache nur verstehen, wenn
man bedenkt, wie äußerlich in der Praxis des Lebens der ursprüng-
lich ja sehr enge Zusammenhang zwischen Glaube und Kultus
sich oft gestaltet, und namentlich in damaliger Zeit sich vielfach
gestaltet hat. An einer berühmten Kultusstätte ein Opfer dar-
bringen zu lassen, war sehr häufig nur der Ausdruck einer kos-
mopolitisch gewordenen Frömmigkeit, ja oft nur ein Akt der
Courtoisie gegen das betreffende Volk oder die betreffende Stadt,
mit welchem man durchaus nicht ein bestimmtes religiöses Be-
kenntnis ablegen wollte. Was in dieser Hinsicht an anderen be-
rühmten Kultusstätten geschah, weshalb sollte es nicht auch zu
Jerusalem geschehen? Und das jüdische Volk und seine Priester
hatten ihrerseits keinen Grund, die ihrem Gott erwiesene Ehrfurcht,
selbst wenn sie nur ein Akt der Höflichkeit war, abzuweisen. Die
Vollziehung der Opfer war ja doch Sache der Priester; sie hatten
für die korrekte Vollziehung des Ritus zu sorgen. Wer für die
Kosten aufkam, konnte relativ gleichgültig sein. Jedenfalls be-
stand kein religiöses Bedenken dagegen, eine Gabe auch von einem
solchen anzunehmen, der sonst nicht in den Wegen des Gesetzes
wandelte. So setzt denn schon das Alte Testament voraus, daß
auch von einem Heiden (noD "ja) ein Opfer dargebracht werden
kann 60. In dem Gebet, welches Salomo bei Einweihung des Tempels
gesprochen haben soll, bittet der König, daß Gott auch „den Frem-
den | CHJMn), der nicht vom Volke Israel ist", erhören möge, wenn
er aus fernem Lande kommt und bei diesem Tempel betet. „Denn
sie werden hören von deinem großen Namen und von deiner starken
Hand und von deinem ausgereckten Arme" 61. Das spätere Juden-
tum hat dann genau festgesetzt, welche Arten von Opfern auch
60) Lev. 22, 25 und dazu Di 11 mann. Es heißt hier, daß man fehler-
hafte Opfertiere auch von einem Heiden nicht annehmen dürfe. Dabei ist
also vorausgesetzt, daß man im allgemeinen allerdings Opfer von Heiden an-
nehmen darf.
61) I Bey. 8, 41—43; reproduziert von Josephus Antt. VIII, 4, 3: d),kä
xav änö neQaxmv xfjg olxovfuivrjq xivhg a<pixo)vx<xif xav öno9evörinoxovv ngoa-
XQenöfievoi xal xvxblv xivdg aya&ov Xinagovvxeg, Sdg avxoTg injjxoog yevö-
fievoq. Vgl. auch Bertholet, Die Stellung der Israeliten und der Juden zu
den Fremden (1896), S. 127 f. 293 f.
[301. 302] IV. Der tägliche Kultus (Beteiligung der Heiden). 359
von Heiden angenommen werden dürfen und welche nicht: anzu-
nehmen sind nämlich alle Opfer, welche auf Grund eines Gelübdes
oder als freiwillige Gabe dargebracht werden (alle D'niS und rrirns),
hingegen pflichtmäßige Opfer, wie Sund- und Schuldopfer, Geflügel-
opfer von Eiterflüssigen und von Wöchnerinnen und dergl. können
von Heiden nicht dargebracht werden62. Die zulässigen Opfer
waren demnach Brandopfer, Speisopfer und Trankopfer63. Daher
wird bei den speziellen gesetzlichen Bestimmungen über diese
häufig auch auf die Opfer der Heiden Rücksicht genommen64.
Die Tatsache, daß von und für Heiden geopfert wurde, ist in
ihrer Allgemeinheit am bestimmtesten bezeugt von Josephus bei
Gelegenheit des Ausbruches der Revolution im Jahre 66, wo einer
der ersten Akte eben der war, daß man beschloß, keine Opfer mehr
von Heiden anzunehmen65. Von seiten der konservativen Gegen-
partei wurde damals darauf hingewiesen, daß „alle Vorfahren die
Opfer von Heiden angenommen hätten", und daß Jerusalem in den
Huf der Gottlosigkeit kommen werde, wenn aliein bei den Juden
ein Ausländer nicht opfern könne66. Aus der Geschichte sind
wenigstens einzelne bemerkenswerte Fälle dieser Art bekannt.
Wenn von Alexander d. Gr. erzählt wird, daß er zu Jerusalem
geopfert habe67, so steht und fällt diese Tatsache freilich mit der
Geschichtlichkeit seines Besuches in Jerusalem überhaupt. Aber |
die Erzählung als solche beweist, daß man von Seiten des Juden-
tums ein solches Verfahren ganz angemessen fand. Ptolemäus III.
soll ebenfalls in Jerusalem geopfert haben68. Antiochus VII.
Sidetes sandte sogar, während er im offenen Krieg mit den Juden
sich befand und die Hauptstadt Jerusalem belagerte, zur Zeit des
Laubhütten festes Opfer in die Stadt, vermutlich um den Gott des
Feindes sich geneigt zu machen, während die Juden ihrerseits die
Opfer als ein Zeichen der Frömmigkeit des Königs gerne an-
62) Schekalim I, 5.
63) Mahlopfer schon deshalb nicht, weil sie nur im Stande levitischer
Reinheit genossen werden durften (Lev. 7, 20 — 21).
64) Schekalim VII, 6. Sebachim IV, 5. Menachoth V, 3. 5. 6. VI, 1. IX, 8.
— Vgl. auch Duschak, Josephus Flavius und die Tradition (1864) S. 15 — 17.
Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, IL Abt., Art. „Opfer der
Heiden".
65) Bell. Jud. II, 17, 2-4.
66) Bell. Jud. II, 17, 4: Sn ndvzeq ol nqbyovoi xhq anb xwv äXXoyevwv
Svoiaq &7tEÖixovTO. — B. J. II, 17, 3: xazaxprjfplaaaB-ai xfjq nöXeioq doißetav,
el nccgä /xövoiq 'Iovöaioiq oize &voei xiq äXXdxgioq ovxe nQoaxw^aei.
67) Jos. Antt. XI, 8, 5.
68) Jos. contra Apion. II, 5 init.
360 § 24* Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [302. 303]
nahmen69. Als Marcus Agrippa, der hohe Gönner des Herodes,
im Jahre 15 vor Chr. nach Jerusalem kam, opferte er daselbst eine
Hekatombe, also ein Brandopfer von hundert Stieren 70. Auch von
Vitellius erzählt Josephus, daß er zur Zeit des Passa im Jahre
37 n. Chr. nach Jerusalem kam, um Gott zu opfern71. Wie häufig
solche Akte der Courtoisie oder der kosmopolitischen Frömmigkeit
waren, kann man auch aus dem Umstände entnehmen, daß Augustus
seinen Enkel Cajus Cäsar ausdrücklich belobte, weil er auf dem
Wege von Ägypten nach Syrien nicht in Jerusalem angebetet
habe72. Tertullian kann daher mit Recht sagen, daß die Römer
einst auch den Gott der Juden durch Opfer und ihren Tempel
durch Weihgeschenke geehrt hätten73. Und es wird nicht nur
an Proselyten zu denken sein, wenn Josephus den Altar zu Jeru-
salem „den allen Hellenen und Barbaren ehrwürdigen Altar"
nennt74 und von der Stätte des Tempels sagt, daß sie „von der
ganzen Welt angebetet und bei den Fremden am Ende der Erde
um ihres Rufes willen geehrt seitt 75.
In die Klasse dieser für Heiden und in deren Namen dar-
gebrachten Opfer gehört auch das Opfer für die heidnische
Obrigkeit Wie vor dem Exil die israelitischen Könige den
Aufwand für die öffentlichen Opfer bestritten, so ordnete auch
Darius | an, daß der Bedarf für dieselben aus Staatsmitteln ge-
deckt werde, aber mit der Absicht, daß dabei auch „für das Leben
des Königs und seiner Söhne" gebetet werde (Esra 6, 9— 10)76.
Bedeutende Lieferungen aus Staatsmitteln für den jerusalemischen
Kultus verfügte Antiochus der Große, wobei wohl ebenfalls die
regelmäßige Darbringung eines Opfers für den König vorauszusetzen
69) Antt. Xm, 8, 2.
70) Antt. XVI, 2, 1. Opfer von dieser Größe waren im Tempel zu Jeru-
salem nichts Ungewöhnliches. S. Esra 6, 17. Joseph. Antt. XV, 11, 6. Philo
Legat, ad Cajum § 45 (Mang. II, 598). Orae. Sibyll. III, 576. 626.
71) Antt. XVIU, 5, 3.
72) Sueton. Aug. e. 93: Oajum nepotem, quod Judaeam praetervehens apud
Hierosolyma non supplicasset9 conlaudavit.
73) Tertullian. Apologet, e. 26: cujus (Judaeae) et deum victimis et tem-
plum donis et gentern foederibus aliquamdiu Romani honorastis.
74) Bell. Jud. V, 1, 3: xbv "EXXyoi naoi xal ßagßaQOtq oeß&Ofuov ßcoftdv.
75) Bell. Jud. IV, 4, 3 (ed. Niese IV, 262): 6 6' i)Jtd tfjq olxovfxkvtiq
7ioooxvvov/uevos %&qo<; xal toZq focd negdtatv yfjq alXocpvXoiq dxo$ rert-
(tTjii£vo$.
76) Die Echtheit dieses Erlasses des Darius (der dabei auf einen älteren
des Cyrus zurückgreift) ist allerdings bestritten. Für dieselbe: Ed. Meyer,
Die Entstehung des Judenthums S. 50—52.
[303. 304] IV. Der tägliche Kultus (Beteiligung der Heiden). 361
ist77. Pseudo-Aristeas {ed. Wendland § 45) läßt den Hohenpriester
Eleasar in seinem Schreiben an Ptolemäns Philadelphia versichern,
daß er Opfer dargebracht habe vjzeq oov xal xfjg ä6eXq>rjg xal xä>v
xixvmv xal x&v <plXa>v. Bestimmt ist ein Opfer für den König
(oIoxovtcooh; xQoapeQofisprj vjzIq xov ßaCiXicoq) bezeugt aus der
Zeit der makkabäischen Bewegung (I Makk. 7, 33). Also selbst in
jener Zeit, während ein großer Teil des Volkes gegen den syrischen
König Krieg führte, haben die Priester das, vermutlich von den
syrischen Königen gestiftete Opfer gewissenhaft dargebracht. In
der römischen Zeit war eben dieses Opfer für die heidnische Obrig-
keit die einzig mögliche Form, unter welcher das Judentum ein
gewisses Äquivalent leisten konnte für den sonst überall in den
Provinzen gepflegten Kultus des Augustus und der Roma. Nach
dem bestimmten Zeugnisse Philos hat Augustus selbst angeordnet,
daß für ewige Zeiten auf Kosten des Kaisers täglich zwei
Lämmer und ein Stier geopfert werden sollten 78. Auf dieses Opfer
„für den Kaiser und das römische Volk" beriefen sich die
Juden ausdrücklich zur Zeit Caligulas, als man ihre Loyalität be-
zweifelte, weil sie sich der Aufstellung der kaiserlichen Statue
im Tempel zu Jerusalem widersetzten 79. Und es wurde noch regel-
mäßig dargebracht bis zum Ausbruch der Revolution im Jahre 66
nach Chr.80. Nach dem Zeugnisse Philos war es nicht nur ein
Opfer für den Kaiser, sondern auch vom Kaiser gestiftet, wozu
Augustus trotz seiner inneren Abneigung gegen das Judentum
durch politische Rücksichten sich wohl veranlaßt fühlen konnte.
Josephus versichert freilich, daß es auf Kosten des jüdischen Volkes
dargebracht | worden sei81. Der wirkliche Sachverhalt ist wohl,
77) Jos. Antt. XII, 3, 3.
78) Philo, Legat, ad. Cajum § 23 {ed. Mang. II, 569): ngoaxa^aq xal SC
aUhvoq &vdyeo$tu dvalag ivdsXexetg ÖXoxavtovq xa&* kxäaxTjv tyntoav ix xuyv
lötwv TtQoadöwv, aitaQxftv xfy i>y>lax<p #€g>, a% xal fi&ZQi xov v&v imxsXovv-
xat xal slq anav imxeXeodJjoovzai. — Fast gleichlautend auch § 40, ed. Mang.
II, 592, wo noch die Bemerkung hinzugefügt ist: aoveg elal Svo xal xav-
Qoq xd Isoela, olq KaToao i<pydowe [1. igrfövve] xbv ßw/idv.
79) Jos. Bell. Jud. II, 10, 4: *Iovö*aZoi neol phv Kaloaooq xal xov
ötffjtov x&v cPa>(talwv 61g xfjq ^fAioaq Bveiv $<paoav. — Aus letzteren Worten
sieht man auch, daß das tägliche Opfer für den Kaiser, wie das Gemeinde-
opfer, auf Morgen und Abend verteilt war.
80) Beü. Jud. n, 17, 2-4.
81) Joseph, contra Apion. II, 6 fin.: facimus autem pro eis [seil, impera-
toribus et poptdo Romano] eontinua sacrifida; et non solum quotidianis diebus
ex impensa communi omnium Judaeorum talia celebramus, verum quum nidlas
alias hostias ex communi neque pro filiis peragamusf soHs imperatoribus hunc
honorem praeeipuum pariter exhibemus, quem hominum nullt persolvimus.
362 § 24. Die Priesterschaft und der Tempelkultus. [304. 305]
ähnlich wie zur persischen Zeit, der, daß der Bedarf aus den dem
Fiskus zufallenden jüdischen Steuern bestritten wurde82. Bei be-
sonderen Veranlassungen sind allerdings für den Kaiser sehr an-
sehnliche Opfer, wie es scheint, auf Gemeindekosten dargebracht
worden; so z. B. zur Zeit Caligulas dreimal je eine Hekatombe,
zuerst bei seinem Regierungsantritt, dann bei seiner Genesung von
schwerer Krankheit, und zum drittenmal beim Antritt seines ger-
manischen Feldzuges83.
Außer den Opfern sind dem Tempel von Jerusalem sehr häufig
auch Weihgeschenke von Heiden gewidmet worden. Sehr aus-
führlich beschreibt z. B. Pseudo-Aristeas die prachtvollen Ge-
schenke, welche Ptolemäus Philadelphus für den Tempel von Jeru-
salem stiftete, als er den jüdischen Hohenpriester um Übersendung
geeigneter Männer zur Übertragung des jüdischen Gesetzes ins
Griechische bat: zwanzig goldene und dreißig silberne Schalen,
fünf Krüge und einen kunstvoll gearbeiteten goldenen Tisch84.
Gehört diese Geschichte auch ins Gebiet der Legende, so spiegelt
sie doch die Sitte der Zeit getreu wieder. Denn daß die ptole-
mäischen Könige öfters Weihgeschenke für den Tempel von Jeru-
salem stifteten, ist auch sonst mehrfach bezeugt85. In der römi-
schen Zeit war dies nicht anders. Als Sosius im Verein mit
Herodes Jerusalem erobert hatte, weihte er einen goldenen Kranz86.
Marcus Agrippa schmückte bei seinem schon erwähnten Besuch |
in Jerusalem auch den Tempel mit Weihgeschenken87. Unter den
Tempelgefäßen, welche Johannes von Gis-chala während der Be-
82) So Ed. Meyer, Die Entstehung des Judenthums S. 53 f.
83) Philo, Legat, ad Gajum §45 (ed. Mang. II, 598); über die Opfer beim
Regierungsantritt s. auch § 32 (Mang. II, 580). — Opfer und Gebet für die
heidnische Obrigkeit werden überhaupt empfohlen: Jerem. 29, 7. Baruch 1,
10 — 11. Aboth III, 2: „R. Chananja Vorsteher der Priester sagte: Bete für
das Wohl der Obrigkeit" (rvobs, womit die heidnische Obrigkeit gemeint ist).
— Von christlicher Seite vgl. I Timoth. 2, 1—2. Clemens Romanus c. 61.
Epist. Polycarpi 12, 3. Tertullian. Apologet, c. 30 u. 39. Ortgenes contra Gels.
VIII, 73. Acta Apollonii c. 6. Acta Gypriani 1, 2 (diese beiden bei Gebhardt,
Ausgewählte Märtyrerakten, 1902). Acta Dionysii bei Euseb. Hist. eccl. VII,
11, 8. Harnack, Patrum apost. opp. I, 1 ed. 2, 187G, p. 103 sq. Mangold^
De ecclesia primaera pro Caesaribus ac magistratibus Romanis preces fundente,
1881. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums 1902, S. 215.
2. Aufl. I, 249 f. Knopf, Das nachapostolische Zeitalter 1905, S. 107 f.
84) Pseudo-Aristeas ed. Wendland § 42. 51—82; im Auszug bei Josephus
Antt. XII, 2, 5-9.
85) II Makk. 3, 2. 5, 16. Joseph. Antt. XIII, 3, 4; contra Apion. II,
5 init.
86) Antt. XIV, 16, 4.
87) Philo, Legat, ad Gajum § 37, ed. Mangel/ II, 5S9.
[305] I. Kanonische Dignitat der heiligen Schriften. 363
lagerung einschmelzen ließ, befanden sich auch kostbare Weih-
geschenke, die vom Kaiser Augustus, seiner Gemahlin Julia
und anderen römischen Kaisern gestiftet waren88. Überhaupt war
es nichts Ungewöhnliches, daß Römer Weihgeschenke für den
Tempel stifteten89. — So ist also doch selbst der exklusive Tempel
von Jerusalem in gewissem Sinne kosmopolitisch geworden; auch
er empfing die Huldigungen der ganzen Welt so gut wie die be-
rühmten Kultusstätten des Heidentums.
§ 25. Die Schriftgelehrsamkeit.
I. Kanonische Dignitat der heiligen Schriften1.
Die prinzipiell entscheidendste Tatsache für das religiöse Leben
des jüdischen Volkes in unserer Periode ist die, daß das Gesetz,
welches nicht nur den priesterlichen Kultus, sondern überhaupt
das ganze Leben des Volkes in seinen religiösen, sittlichen und
88) Joseph. Bell. Jud. V, 13, 6: äniozevo öh ov6e zCbv vnb zov 2eßaozov
xal zfjq ywaixbq avzov 7iefi(p9tvtwv axQazo<pÖQO)V ol fihv yäg 'Pwfiaiwv
ßaoiXetq izl/xi^adv ze xal 7iQooex6o(iTjoav zö legbv ael. — Nach Philo hat
Augustus „beinahe mit seinem ganzen Hause" den Tempel mit Weihge-
schenken geschmückt [Legat, ad Gajum § 23, ed. Mang. II', 560: fiovovov
navolxioq nva^rjfidzwv noXvzeXeiaiq zö legbv fyuu>v ixöopijoe). In dem
Schreiben Agrippas I. an Caligula heißt es (bei Philo, Legat, ad Gajum § 40 s.
fin.t Mang. II, 592 fin.) : % nQOfxdfifiij oov yIovXla Zeßaozfj xazexöafirioe zbv
vtibv ZQvoatq <pidXaiq xal onovöetoiq xal aXXwv dvalhjpidzcjv noXvzsXeaxd-
zo)v nXföei.
89) B. J. IV, 3, 10 [ed. Niese IV, 181). Vgl. II, 17, 3.
1) Die Literatur über die Geschichte des alttestamentlichen Kanons s. bei
Strack Art. „Kanon des A. T.s" in Herzog- Haucks Real-Enz. 3. Aufl. Bd. IX,
1901, S. 741 f. und bei Schmiedel, Art. „Kanon" in Ersch und Grubers
Allgem. Enzyklopädie Sektion II Bd. 32 (18S2) S. 335 f. — Aus neuerer Zeit
vgl.: Grätz, Der Abschluß des Kanons des A. T. u. s. w. (Monatsschr. f. Gesch.
und Wissensch. des Judenth. 1886, S. 281—298). — Buhl, Kanon und Text
des A. T. 1891 (vorher dänisch 1885). — Wildeboer, Die Entstehung des
Alttestamentlichen Kanons, 1891 (vorher holländisch 1889; eine 3. Aufl. des
holländischen Originales erschien 1900). — Ryle> The Canon of the Old Testa-
ment, an essay on the gr adual growth and formation of the Hebrew Canon of
Scripture, London 1892 (308 S.) 2. ed. 1899. — Robertson Smith, The Old
Testament in the Jewish Church 1892, p. 149—187. Deutsch: Das Alte Testa-
ment, seine Entstehung und Überlieferung (deutsch v. Rothstein) 1894,
S. 137— 174. — Blau, Zur Einleitung in die heilige Schrift (Jahresbericht der
364 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit [306]
sozialen Beziehungen regelte, als ein von Gott selbst gegebenes
anerkannt war. Jede Forderung desselben war eine Forderung
Gottes an sein Volk; die pünktlichste Beobachtung desselben darum
eine Pflicht der Religion, ja die oberste und im Grunde genommen
einzige Pflicht der Religion. Die ganze Frömmigkeit des Israeliten
ging darin auf, das von Gott ihm gegebene Gesetz mit Furcht und
Zittern, mit dem Eifer eines geängsteten Gewissens in allen seinen
Einzelheiten zu beobachten. Die Anerkennung dieser Dignität des
Gesetzes als eines von Gott selbst gegebenen bedingt also den
spezifischen Charakter der israelitischen Frömmigkeit in unserer
Periode.
Wie alt diese Anerkennung ist, läßt sich fast noch auf Tag
und Stunde bestimmen. Sie datiert seit jenem wichtigen Ereignis,
dessen epochemachende Bedeutung auch in der Erzählung des
Buches Nehemia gebührend hervorgehoben wird: seit der Vorlesung
des Gesetzes durch Esra und der feierlichen Verpflichtung des
Volkes auf dasselbe (Nehem. 8—10). Es ist zwar fraglich, ob das
Gesetz, welches damals vorgelesen wurde, bereits der ganze Penta-
teuch gewesen ist. Wahrscheinlich handelte es sich nur um dessen
wichtigsten Bestandteil, den Priesterkodex, dessen Verbindung mit
Landes-Rabbinerschule in Budapest, 1894) 8.1—47: Die Namen der heiligen
Schrift [d. h. der ganzen Sammlung und der einzelnen Teile und Bücher]. —
König, Essay sur la formation du eanon rie VAncien Testament, Paris 1894
(74 S.). — van Kasteren, De joodsehe Canon omtrent hei bejin onxer jaar-
tclliny (Studien op godsdienstij wetenschappelijk en letterkundig gebied t. XLV,
1895, p. 415—484); verkürzt unter dem Titel: Le Canon juif vers le commenee-
ment de notre ere (Revue biblique V, 1896, p. 408—415, 575-594) [gelehrter
Versuch, im kathol. Interesse die Apokryphen in den Kanon zu bringen].
— Wildeboer, De voor-Talmudsche Joodsehe Kanon (TheoL Studien 1897,
p. 159—177). — van Kaste ren, Studien op godsd. westensch. en letterk. gebied
XLIX, 1897, LI, 1898, Wildeboer, TheoL Studien 1898 u. 1899, und die
unten Anm. 12 genannten Abhandlungen von van Kasteren und Wilde-
boer über den Kanon des Origenes. — Porter , Art. Apoerypha in Hostings'
Dictionary of the Bible I, 1893, p. 110 sqq. — Budde, Art Canon in: Enoy-
clopaedia Biblica ed. by Cheyne and Black I, 1899, eol. 047—674. — Budde,
Der Kanon des Alten Testament«, 1900. — Woods, Art. Old Testament Ca-
non in Rastinjs' Dictionary of the Bible III, 1900, p. 604—616. — Riedel,
Alttestamen tliche Untersuchungen 1902 (S. 90—103: Namen und Einteilung
des Alttest. Kanons). — Nath. Schmidt , Art. Bible Canon in: The Jewish
Encyclopedia III, 1902, p. 140—154. — Bousset, Die Religion des Judentums
1903, 8. 120 ff. (2. Aufl. 1906, S. 164 ff.). — Hölscher, Kanonisch und Apo-
kryph, 1905. Dazu: Theol. Litztg. 1906, col. 98—101. — Green, Allgemeine
Einleitung in das A. T., Der Kanon, deutsche Übers. 1906 [röckläufige Apo-
logetik]. — Aicher, Das A. T. in der Misohna, 1906, S. 5—53. — Olatignyf
Les commencements du Canon de VAnoien Testament. Borne 1906 (246 p.).
[30G. 307] I. Kanonische Dignität der heiligen Schriften. 365
der jahvistischen Schrift und dem Deuteronomium wohl erst später
erfolgt ist2. Aber die grundlegende Bedeutung des Vorganges
bleibt im einen wie im andern Falle dieselbe: das unter dem Namen
des Moses auftretende priesterliche Gesetz wurde vom Volk als
Gottes Gesetz und damit als bindende Lebensnorm, d. h.
als kanonisch anerkannt Denn es liegt ja im Wesen des Ge-
setzes, daß mit seiner Annahme eo ipso die Anerkennung seiner |
verbindlichen, normativen Dignität gegeben ist3.
Die Anerkennung des göttlichen Ursprungs des Gesetzes
hatte aber bald auch die Anerkennung des göttlichen Ursprungs
des Buches, welches dieses Gesetz enthielt, zur Folge. Das Buch
selbst wurde zu einem heiligen, unantastbaren und inspierierten 4.
Diese Vorstellung ist sicher schon geraume Zeit vor Beginn unserer
Zeitrechnung zu allgemeiner Geltung gelangt. Nach dem Buch
der Jubiläen ist das ganze Gesetz mit allen Einzelheiten auf
himmlischen Tafeln aufgezeichnet (3, 10. 31. 4, 5. 32. 6, 17. 29.
31. 35. 15, 25. 16, 28 f. 18, 19. 28, 6. 30, 9. 32, 10. 15. 33, 10. 39, 6.
49, 8. 50, 13). Die Thora Mosis ist also gleichsam nur die Kopie
des himmlischen Originales. Die Anerkennung des göttlichen Ur-
sprungs des Gesetzes wird nun die Bedingung, ohne welche man
nicht ein Glied des auserwählten Volkes sein, also auch nicht an
den dem Volke gegebenen Verheißungen Anteil haben kann. „Wer
behauptet, die Thora sei nicht vom Himmel (D^Ettti ya fi"Yin "pK),
der hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt" 5. Und mit diesem
Gedanken wurde es je länger desto ernster und strenger genommen.
2) So Reuß, La Bibley Ulme partie (— VHütoire sainte et la lot) t I,
1879, p. 270. Ders., Gesch. der heil. Schriften A. T.s 1. Aufl. 1881, S. 462 f.
474 f. Stade, Gesch. des Volkes Israel II, 180 ff. 192. Kautzsch, Stud.
und Krit. 1892, S. 187. — Dagegen Wellhausen, Israelitische und jüdische
Geschichte (1894) S. 136: „Das Gesetz Ezras ist der Pentateuch, nicht der
Priesterkodex für sich". 4. Aufl. 1901, S. 180: „Den Priesterkodex hat Esra
zum Gesetz gemacht, allerdings nicht für sich, sondern als Bestandteil des
Pentateuchs". — Hiergegen wieder Kautzsch, Theol. Litztg. 1895, 278 f.
Ed. Meyer, Die Entstehung des Judenthums 1896, S. 206—216. Geißler,
Die literarischen Beziehungen der Esramemoiren (Chemnitz. Progr. 1899) S. 34 f.
Budde, Der Kanon des A. T. S. 31. Stade, Biblische Theologie des A. T.
(1905) § 144. 145.
3) Vgl. Wellhausen, Geschichte Israels I, 2 f. 425 f. «= Prolegomena
zur Geschichte Israels 5. Ausg. 1899, S. 2 f. 414 f.
4) Hölscher, Kanonisch und Apokryph (1905), hat mit Recht darauf
hingewiesen, daß mit der Anerkennung des göttlichen Ursprungs des Ge-
setzes noch nicht die Vorstellung von der „kanonischen" Dignität des Buches
gegeben sei. Er überspannt aber den Unterschied beider Vorstellungen sehr
einseitig.
5) Sanhedrin X, 1.
366 § 25. Die Schriftgelehreamkeik [307. 308]
„Wer da sagt, daß Moses auch nur einen Vers aus eigenem Wissen
(i£2? *m) geschrieben habe, der ist ein Leugner und Verächter
des Wortes Gottes" 6. Der ganze Pentateuch wurde also jetzt als
ein Diktat Gottes, als vom Geiste Gottes eingegeben, betrachtet7.
Selbst die letzten acht Verse des Deuteronomiums, in welchen
Mosis Tod erzählt wird, sind von Moses selbst auf Grund göttlicher
Offenbarung geschrieben8. Ja schließlich war man auch mit der
Annahme eines göttlichen Diktates nicht mehr zufrieden. Man
ließ das fertige Gesetzbuch selbst von Gott dem Mose eingehändigt
werden und stritt nur noch darüber, ob Gott dem Moses die ganze
Thora auf einmal oder bandweise (ntatt nira) übergeben habe9.
Später als das Gesetz und im Anschluß an dasselbe haben
auch noch andere Schriften des israelitischen Altertums eine ähn-
liche Geltung erlangt: die Schriften der Propheten und die
Werke über die ältere (vorexilische) Geschichte Israels. Sie
waren längst als ein wertvolles Vermächtnis der Vergangenheit
in Ansehen und Gebrauch, ehe man an ihre Kanonisierung dachte.
Allmählich aber traten sie dem Gesetz an die Seite als eine zweite
Klasse „heiliger Schriften"; und je länger man sich an ihre Ver-
bindung mit dem Gesetz gewöhnte, desto mehr wurde auch dessen |
spezifische Dignität, nämlich dessen gesetzlich bindende, also kano-
nische Geltung auf sie übertragen. Auch sie wurden als Urkunden
angesehen, in welchen auf schlechthin verbindliche Weise Gottes
Wille geoffenbart sei. In einem noch späteren Stadium endlich
kam zu diesem Corpus der „Propheten" (D'waa) noch eine dritte
Sammlung von „Schriften" (D^aire) hinzu, die allmählich auch
in dieselbe Kategorie kanonischer Schriften einrückten. Die Ent-
stehung dieser beiden Sammlungen liegt völlig im Dunkeln. Das
älteste Zeugnis für die Zusammenstellung beider Sammlungen
mit der Thora ist der Prolog zum Buche Jesus Sirach (2. Jahrh.
vor Chr.)10. Doch läßt sich aus demselben nicht entnehmen, daß
6) bab. Sanhedrin 99».
7) S. überh. Joh. Delitzsch^ De inspiratione scripturae sacrae quid sta-
tuerint patres apostolici et apolo'jetae secundi saeculi (Lips. 1872) p. 4 — 8. 14—17.
— Bacher, Die älteste Terminologie der jüdischen Schriftauslegung (1899,
anderer Titel 1905) S. 180—182 s. v. rm. — Kohler, Art. „Inspiration" in
The Jeicish Encyclopedia VI, 1904, p. 607—609.
8) Baba bathra 15» (lat. bei Marx, Traditio rabbinorum veterrima de
librorum Vet. Test ordine atque origine, Lips. 1884, p. 23). Philo, Vita Mosis
III, 39 (ed. Many. II, 179). Joseph. Antt. IV, 8, 48. Vgl. Israelsohn, Les
huit demiers tersets du pentateuque (Revue des etudes juives t. XX, 1890, p. 304
—307). Bacher, Die Agada der Tannaiten, Bd. II, 1890, S. 48 f. 259.
9) Oittin 60a.
10) Jesus Sirach Prolog: TloM.ibv xal /xeydkoyv %(ilv öiä xov] vöpov xal
[308] I. Kanonische Dignität der heiligen Schriften. 3ß7
damals die dritte Sammlung schon abgeschlossen war. Im Neuen
Testamente ist noch die zweiteilige Formel herrschend 6 vopog
xal ol JtQoyiJTcu (Matth. 5, 17. 7, 12. 11, 13. 22, 40. Luc. 16, 16.
29. 31. 24, 27. 44 [nur hier mit dem Zusatz ipaZfioi]. Joh. 1, 46.
Act 13, 15. 24, 14. 28, 23. Eom. 3, 21). Daraus darf zwar nicht
geschlossen werden, daß die dritte Sammlung noch nicht existiert
hat Aber sie wurde noch nicht als eine Gruppe von selbständiger
Bedeutung und von gleichem Range mit den beiden anderen em-
pfunden. Der älteste Zeuge für eine feste Gestalt des Kanons, und
zwar höchst wahrscheinlich unsere heutige, ist Josephus. Er sagt
ausdrücklich, es gebe bei den Juden nur 22 Schriften, die mit Recht
Vertrauen genießen (ßißlia öixaicog jitmöTsv[iivd)n\ alle an-
deren würden nicht des gleichen Vertrauens für würdig gehalten
(jciöTscog ovx ofiolag rfeicoxai). Freilich zählt er dieselben nicht
einzeln auf; aber es ist sehr wahrscheinlich, daß er damit sämt-
liche Schriften des jetzigen Kanons und nur diese meint. Denn
die Kirchenväter, namentlich Origenes und Hieronymus sagen aus-
drücklich, daß die Juden die Schriften des jetzigen Kanons so zu
zählen pflegten, daß die Zahl 22 herauskommt12. Nur in betreff |
z(bv 7iQO<pr]z{bv xal zibv ätäwv x(bv xax* ahxovq ijxoXovd-rjxözwv öeöoiievoiv,
vubq wv öiov iaxlv inaivetv xbv ^Icqa^X naiöelaq xal oo<piaq x. x. A.
11) Statt öixalwq Ttemozevpiva hat Eusebius in seiner Wiedergabe der
Worte des Josephus (Eist. eccl. III, 10) öixalwq d-sta nenLOzev/xiva, was Hud-
son und die späteren Herausgeber des Josephus aufgenommen haben. Da
aber 9-eia sowohl im griechischen als im lateinischen Text des Josephus fehlt,
ist es als Zusatz des Eusebius zu betrachten (so z. B. auch J. G. Müller, Des
Fl. Josephus Schrift gegen den Apion 1877, S. 100; Gutschmid, Kleine
Schriften IV, 401 f.) und von Niese mit Recht getilgt. Ich gebe unten auch
im übrigen den Text nach Niese.
12) Joseph, contra Apion. I, 8: Ob fxvqidösq ßtßUcuv slol nag* ^fuv aovfx-
<p6)V(ov xal fiaxofiiva)v} ovo 6h ptöva nqöq xolq sl'xooi ßißXia, xov navxöq
h*XOvxa xqövov r?)v avayoa<pJ]v, xa Sixalwq 7ieniaz€Vfi£va. Kai xovziov nivxe
lifo iozt, MwvoiiDQ, & xovq xe vöfiovq 7tEodxBL *°* x^lv ^ av&Qwnoyoviaq
naqäSooiv fiixQ1 r//S ccvxov zeXevxfjq. Ovzoq 6 XQ&V0<Z AnotelnBi xoioxiMwv
öXlyov ixtbv. *Anö 6h xfjq Matvaiojq xeXevxijq fiixQL TVS ^Agxa^BQ^ov xov fiexä
AEQgrjv JleQaGiv ßaoiXicoq ol fxtxä Mmvafjv noo<prjzai xä xax* ahzovq ngaz*
d-ivxa aweyqatpav iv xqiol xal Sixa ßißXloiq. Al Sh Xoinal xiooagsq
vfxvovq etq xdv d-edv xal xolq civ&Qwnoiq vno^xaq xov ßiov neguxovaiv. Und
Sh *A(>za£i()!;ov ia£%qi xov xa&* %päq XQ^V0V yiygtxmai ßhv Bxaoxa, nlozecoq
6* ovx dfxolaq fälwxai xolq ngö avzwv Siä xb yd\ yevioB-ai x^v xwv 7iQO<pr]z6)v
axQtßfj öia6ox*lv> — Hieronymus gibt in seinem Prolofftis galeatus zu den
Büchern Samuelis (Opp. ed. VaUarsi IX, 455 sq., s. die Stelle z. B. bei Strack
in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. IX, 758 f. und in den Einll. von De
Wette, Bleek u. a.) folgende Zählung als die bei den Juden gewöhnliche
an: 1—5) Pentateuch, 6) Josua, 7) Richter und Ruth, 8) Samuel, 9) Könige,
10) Jesaia, 11) Jeremia und KlageUeder, 12) Ezechiel, 13) Zwölf kleine Pro-
368 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit [309]
einiger Schriften, namentlich des hohen Liedes und des Buches
Koheleth, hatte sich im ersten Jahrhundert nach Chr. das Urteil
noch nicht ganz festgesetzt Doch ist auch in betreff ihrer die
vorherrschende Ansicht bereits die, daß sie „die Hände verun-
reinigen", d.h. als heilige, kanonische Schriften zu betrachten seien13.
pheten, 14) Hiob, 15) Psalmen, 16) Sprüche, 17) Koheleth, 18) Hohealied,
19) Daniel, 20) Chronik, 21) Esra und Nehemia, 22) Esther. — Ganz dieselbe
Zahlung, nur in etwas anderer Reihenfolge (und mit Auslassung der zwölf
kleinen Propheten, was aber nur Versehen der Abschreiber sein kann), gibt
Origenes bei Enseb. Eist EccL VI, 25 (wo die Bezeichnung 'Afx/ueoyexarieifi
für das vierte Buch Mosis, die man gewöhnlich unerklärt läßt, nichts anderes
ist als ö^pö t»in, Joma VII, 1; Sota VII, 7; Menachoth IV, 3). Vgl. über
den Kanon des Origenes auch v. Kasteren, Revue biblique 1901, p. 413—423,
und Wildeboer, Verslagen en Mededeelingen der k. Akademie van Weten-
schappen, Afd. Ijetterkunde, vierde reeks, deel V, 1903, p. 134—163. — Es kann
hiemach kaum zweifelhaft sein, daß Josephus ebenfalls diese Zählung voraus-
setzt und demnach mit seinen 5 + 13 + 4 = 22 Schriften eben unsetn jetzigen
Kanon meint. Die vier Schriften, welche „Loblieder auf Gott und Lebens-
regeln für die Menschen" enthalten, sind die Psalmen und die drei salomoni-
schen Schriften. — Neben der Zählung von 22 Büchern findet sich schon im
IV. B. Esra 14, 44—46 die Zählung von 24 Büchern (die Zahl 24 ist hier im
syrischen Text erhalten; sie ergibt sich aber indirekt auch aus den anderen
Texten durch Subtraktion: 94 — 70). In der späteren rabbinischen Literatur
ist diese Zählung die gewöhnliche. Aber das Zeugnis des Josephus, das sich
nicht aus der Sammlung der griechischen Bibel erklären läßt, spricht dafür,
daß die Zählung zu 22 Büchern damals in Palästina die herrschende war. So
auch Zahn, Gesch. des Neutest. Kanons II, 318—340, Hölscher, Kanonisch
und Apokryph S. 25—29. Anders Strack in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl.
IX, 756—758. — Daß die Chronik schon im Zeitalter Christi den Schluß
des Kanons bildete, darf man wohl aus Ev. Matth. 23, 35 — * Lu,c. 11, 51
schließen, wo die Ermordung des Sacharja II Chron, 24, 20—22 als der
letzte Prophetenmord erwähnt wird. Chronologisch ist die Ermordung des
Uria Jerem. 26, 20 — 23 später. Aber nach der Reihenfolge im Kanon ist die
in der Chronik erzählte Mordtat allerdings die letzte.
13) Jadajim III, 5: „Alle heiligen Schriften verunreinigen die Hände, auch
das hohe Lied und Koheleth. R. Juda sagt: Das hohe Lied verunreinigt
die Hände, aber Koheleth ist streitig. R. Jose sagt: Koheleth verunreinigt
die Hände nicht, und das hohe Lied ist streitig. R. Simon sagt: Koheleth
gehört zu den Punkten, wo die Schule Schammais erleichternd, die Schule
Hillels erschwerend entscheidet. R. Simon ben Asai sagte: Ich habe als Tra-
dition von den 72 Altesten empfangen, daß an dem Tage, als R. Eleasar ben
Asarja zum Oberhaupt ernannt wurde, entschieden wurde, daß das hohe Lied
und Koheleth die Hände verunreinigen. R. Akiba sagte: Behüte! Niemals hat
jemand in Israel behauptet, das hohe Lied verunreinige nicht die Hände.
Denn kein Tag in der Weltgeschichte hat solchen Wert wie der, als das
hohe Lied in Israel erschien. Denn alle anderen Schriften sind heilig, aber
das hohe Lied allerheiligstes. Wenn ein Streit war, so betraf er Koheleth.
R. Jochanan Sohn des Josua, des Sohnes des Schwiegervaters R. Akibas sagte:
i
[309. 310] I. Kanonische Dignität der heiligen Schriften. 369
Von anderen | Schriften als denen unseres jetzigen Kanons läßt
sich nicht nachweisen, daß sie von Seiten des palästinensischen
Jndentnms je zum Kanon gerechnet worden seien, wenn auch das
Buch Jesus Sirach in so hohem Ansehen stand, daß es „zuweilen
in einer nur von Schriftstellen üblichen Weise" zitiert wird14.
So wie ben Asai berichtet, so war man streitig und so wurde alsdann ent-
schieden". — Edujoth V, 3: „R. Simon (nach anderer LA. R. Ismael) sagt: In
drei Fällen entscheidet die Schule Schammais erleichternd, die Schule Hilleis
erschwerend. Nach der Schule Schammais verunreinigt Koheleth nicht die
Hände; die Schule Hillels sagt: Er verunreinigt die Hände etc." — Riero-
nymus, Comment. in Ecclesiast. 12, 13 (Opp. ed. Vaüarsi 111,496): Ajunt He-
braei quum inter caetera scripta Salomonis guae antiquata sunt nee in memoria
duraverunt et hie liber obliterandus videretur eo quod vanas Bei asse-
reret creaturas ei totum ptäaret esse pro nihilo et eibum et potum et delicias
transeuntes praeferret omnibus, ex hoc uno capitulo meruisse auctoritatemy ut in
divinorum voluminum numero poneretur. — S. überh. ßleek, Theol. Stud. und
Krit, 1853, S. 321f. Delitzsch, Zeitschr. für luth. Theol. 1854, S. 280-283.
Fürst, Der Kanon des A. T. (1868) S. 82 ff. 90 ff. Strack in Herzog-Haucks
Real-Enz. 3. Aufl. IX, 752 f. Weber, System der altsynagogalen paläst. Theo-
logie S. 81. Bacher, Die Agada der Tannaiten I, 20 f. II, 493. Schiffer,
Das Buch Koheleth, nach der Auffassung der Weisen des Talmud und Mi-
dro* ch u. s. w. 1885 (Theol. Litztg. 1886, 169). Ad. Schwarz, Die Erleichte-
rungen der Schammaiten und die Erschwerungen der Hilleliten (auch unter
dem Titel: Die Controversen der Schammaiten und Hilleliten, I) Wien 1893,
S. 90 f. H öls eher, Kanonisch und Apokryph S. 31 — 35. — Über den Sinn
des Ausdrucks „die Hände verunreinigen" s. unten Anm. 18.
14) S. Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden S. 101 f. Gegen
die Annahme einer kanonischen Geltung des Buches Sirach s. Strack in
Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. IX, 753 f. Grätz, Monatsschr. 1886, S. 281 ff.
Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, Supplementbd. 1886, S. 81—83.
Für dieselbe: Poertner, Die Autorität der deuterokanonischen Bücher des
A. T. (1893) S. 48—50. Vgl. überhaupt die Literatur über Sirach unten § 32,
III, 1. Daß der Alexandriner Philo einen Spruch aus Sirach (12, 10) als
Xbyiov zitiert (Harris , Fragments of Philo 1886 p. 104), kommt für die Wür-
digung des palästinensischen Kanons nicht in Betracht. — Vollends irrig ist
es, wenn Movers (Loci quidam historiae canonis Vet. Test, illustrati 1842,
p. 14 sq.) und nach ihm Bleek (Stud. u. Krit. 1853, S. 323) aus den Stellen
des Josephus, wo dieser im allgemeinen versichert, daß ihm für seine ganze
Geschichte „die heiligen Schriften" (tä leoä ygäfa/uaTa, al Uoal ßißkoi) als
Quelle gedient hätten {Äntt. Vorw. § 3; X, 10, 6; XX, 11, 2; contra Apion. I,
1. 10), den Schluß ziehen zu dürfen meinen, daß Josephus auch diejenigen
seiner Quellen, die nicht zum hebräischen Kanon gehören, als „heilige
Schriften" betrachte. Denn dabei handelt es sich vorwiegend um heidnische
Quellen! Auch Geiger hat Unrecht, wenn er unter den „heiligen Schriften",
welche nach Schabbath XVI, 1 am Sabbath nicht gelesen wurden, die Apo-
kryphen verstehen will (Zeitschr. 1867, S. 98 — 102). Denn hiermit sind sicher,
wie auch die jüdischen Ausleger erklären, die Kethubim gemeint. (Von diesen
wurden im Synagogengottesdienst nur die fünf Megilloth gebraucht, und auch
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 24
370 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [310. 311]
Nur die hellenistischen | Juden haben noch eine ganze Anzahl
anderer Schriften mit denen des hebräischen Kanons vereinigt
Aber sie hatten Überhaupt keinen festgeschlossenen Kanon.
Trotz der Zusammenstellung der Nebivm und der Kethubim mit
der Thora sind jene doch niemals dieser ganz gleichgestellt worden.
DieThora hat in der religiösen Wertschätzung immer eine höhere
Stelle eingenommen. In ihr ist die ursprüngliche Offenbarung des
göttlichen Willens niedergelegt und vollständig enthalten. In den
Propheten und den anderen heiligen Schriften ist dieser Wille
Gottes im Grunde doch nur weiter tiberliefert. Daher werden
diese geradezu als die „Überlieferung" (nbap, aramäisch anEbfc?»)
bezeichnet und als solche zitiert15. Wegen des höheren Wertes
der Thora wird auch bestimmt, daß zwar für den Erlös heiliger
Schriften ein Gesetzbuch angekauft werden dürfe, nicht aber für
den Erlös eines Gesetzbuches heilige Schriften 16. — Im allgemeinen
partizipieren jedoch auch die Nebiim und Kethubim an den Eigen-
schaften der Thora. Sie alle sind „heilige Schriften" (th^ri *zrp) l7;
in bezug auf sie alle wird bestimmt, daß sie „die Hände unrein
machen" 18. Sie alle werden auch im wesentlichen mit denselben
diese nur bei einzelnen Gelegenheiten im Jahre, s. unten § 27 gegen Ende).
Abzuweisen ist daher auch die Meinung Hansdorf fs, daß darunter die Tar-
gumim zu verstehen seien (Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Juden th.
Bd. 38, 1894, S. 203 ff.).
15) In der Mischna Taanith II, 1 wird eine Stelle aus Joel zitiert mit der
Formel: „in der Überlieferung sagt er" (-mix «in nbapa). — Vgl. überh.
Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden 8. 44. Herzfeld, Gesch.
des Volkes Jisrael III, 18f. Joh. Delitzsch', De inspiratione scriphtrae saorae
p. 7 sq. Taylor, Sayings of the Jewish fathers (Cambridge 1877) p. 120 sq.
Blau, Jahresbericht der Landes- Rabbinerschule in Budapest 1894, S. 24 ff.
Bacher, Die älteste Terminologie (1899) S. 165 f.
16) Megüla III, 1.
17) Schabbath XVI, 1. ErubinX,3. Baba bathra I, 6 fin. Sanhedrin X, 6.
Para X, 3. Jadajim Hl, 2. 5. IV, 6. Blau, Jahresbericht der Landes-Rabbiner-
schule in Budapest 1894, S. 12 ff.
18) Edujoth V, 3. Kelim XV, 6. Jadajim III, 2. 4. 5. IV, 5. 6. — Der
Sinn dieser Bestimmung wird nirgends erläutert. Wir können ihn nur aus
folgenden Einzelsätzen erschließen. Jadajim III, 2: Eine Hand verunreinigt
die andere, sagt R. Josua. Die Gelehrten sagen: zweiter Grad (der Un-
reinheit) macht nicht wieder zweiten Grad. Er wendet ein: die heiligen
Schriften sind zweiter Grad und verunreinigen doch die Hände zu zweitem.
III, 3: Die Riemen der Tephillin, wenn sie an den Tephillin sind, verun-
reinigen die Hände. III, 4: Der leere Rand am Gesetzbuch . . . verunreinigt
die Hände. IH, 5: Ein verlöschtes Gesetzbuch, worin nur noch 85 Buchstaben
sind, wie der Abschnitt Num. 10, 35 f., verunreinigt die Hände, ebenso ein
einzelnes Stück, wenn 85 Buchstaben darauf sind. IV, 5: Die aramäischen
Stücke in Esra und Daniel verunreinigen die Hände; aber aramäisch in
[311. 312] I. Kanonische Dignität der heiligen Schriften. 371
Formeln zitiert Denn wenn auch für die Thora zuweilen besondere
Formeln gebraucht werden, so wird doch die am gewöhnlichsten
vorkommende Formel l£8|ti „denn es ist gesagt", unterschiedslos
bei der Thora wie bei den anderen Schriften angewandt19; ebenso
im Bereiche des Hellenismus (vgl. | das Neue Testament) die Formel
yiyQajtrai und ähnliche20. Ja die Nebiim und Kethubim werden
hebräischer Schrift und hebräisch in aramäischer Schrift verunreinigt die
Hände nicht; es verunreinigt nur, wenn es mit assyrischer Schrift (rvnTOK)
auf Pergament mit Tinte geschrieben ist. IV, 6: Die Zaddukim sagten zu
den Peruschim: Wir müssen euch tadeln, ihr Peruschim, daß ihr behauptet,
heilige Schriften verunreinigen die Hände, aber die Schriften des Homeros nicht.
Darauf erwiderte Babban Jochanan ben Sakkai: „Ist das etwa das einzige
dieser Art, was man den Peruschim vorwerfen kann? Sie sagen auch: die
Gebeine eines Esels sind rein, aber die des Hohenpriesters Jochanan unrein.
Darauf erwiderten jene: nach Verhältnis der Liebe erklärt man die Gebeine
für unrein, damit nicht etwa jemand aus den Gebeinen seines Vaters oder
seiner Mutter Löffel mache. Hierauf versetzte er: nun so ist es auch mit
den heiligen Schriften ein Beweis der Liebe, daß man die Hände für verun-
reinigt erklärt. — Kelim XV, 6: Alle heiligen Schriften verunreinigen die
Hände außer das Gesetzbuch im Vorhofe (des Tempels). Nach allen
diesen Stellen kann es nicht zweifelhaft sein, daß wirklich durch Berührung
heiliger Schriften eine Verunreinigung der Hände bewirkt wird. Es kann
also nicht übersetzt werden: „alle heiligen Schriften erklären die sie be-
rührenden Hände ohne vorhergehende Waschung für unrein" (so Fürst,
Der Kanon des A. T. 1868, S. 83). Vielmehr bedürfen die Hände nach er-
folgter Berührung einer Reinigung, und zwar gerade deshalb, weil die heiligen
Schriften etwas Ehrwürdiges sind. Es liegt demnach in letzter Instanz die
Vorstellung zugrunde, welche die moderne Religionswissenschaft mit dem
Wort tabu bezeichnet: das ist, nach primitiver religiöser Vorstellung, das dem
profanen Gebrauch Entzogene, Unnahbare (lateinisch sacer). Wer sich damit
beschäftigt, hat bei der Rückkehr zum profanen Leben einen Reinigungs-
Ritus durchzumachen. Unter diesem Gesichtspunkte sind also die heiligen
Schriften betrachtet worden. Analog ist es, wenn der Hohepriester nicht nur
vor, sondern auch nach Verrichtung seines Dienstes ein Reinigungsbad neh-
men muß (Lev. 16,4. 24). Vgl. Robertson Smith, Die Religion der Semiten,
1899, S. 117. Budde, Der Kanon des A. T. S. 3—6. Hölscher, Kanonisch
und Apokryph S. 4 f. Über andere Ansichten referiert A icher, Das A. T. in
der Mischna, 1906, S. 23—26.
19) So z. B., um nur Zitate aus den Kethubim anzuführen: Berachoth
VH, 3 (Ps. 68, 27), Berachoth IX, 5 (Ruth 2, 4), Pea Vin, 9 (Prov. 11, 27),
Schabbath IX, 2 (Prov. 30, 19), Schabbaih IX, 4 (Ps. 109, 18), Bosch haschana
I, 2 (Ps. 33, 15). — Hier überall werden die Zitate mit der Formel *raa«ü
eingeführt. Eben diese Formel ist aber auch bei den Zitaten aus der Thora
und den Nebiim bei weitem die häufigste. Vgl. überhaupt das Verzeichnis
der Schriftzitate in der Mischna bei Pinner, Obersetzung des Tractates Be-
rachoth (1842), Einleitung fol. 21b.
20) S. überh. über die Zitationsformeln: Surenhusius, BißXoq xaxaXXa-
yfft (Amstelaedami 1713) p. 1 — 36. Döpke, Hermeneutik der neutestament-
24*
372 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [312. 313]
zuweilen geradezu auch als „Gesetz" (popoq) zitiert21. Und es ist
für die ganze Beurteilung ihres Wertes von Seiten des Judentums
vielleicht nichts charakteristischer als dies: auch sie sind für
das jüdische Bewußtsein in erster Linie nicht Mahn- und
Trostschriften, nicht Erbauungs- und Geschichtsbücher, sondern
ebenfalls „Gesetz", der Inbegriff der Forderungen Gottes
an sein Volk.
IL Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im
allgemeinen.
Literatur:
Ursinus, Antiquitäten Hebraicae scholastico-academicae. Eafniae 1702 (auch
in Ugolinis Thesaurus t, XXI).
Hartmann, Die enge Verbindung des Alten Testaments mit dem Neuen
(1831) S. 384—413.
G fror er, Das Jahrhundert des Heils I (1838), S. 109—214.
Win er, RWB. II, 425—428 (Art. Schriftgelehrte).
Jost, Das geschichtliche Verhältnis der Babbinen zu ihren Gemeinden
(Zeitschr. für die historische Theologie 1850, 8. 351—377).
Levysohn, Einiges über die hebräischen und aramäischen Benennungen für
Schule, Schüler und Lehrer (Frankeis Monatsschr. für Gesch. und Wissensch.
des Judenth. 1858, S. 334—389).
Leyrer, Art. „Schriftgelehrte" in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. Bd. Xni (1860),
S. 731—741.
Klöpper, Art. „Schrift gelehrte" in Schenkels Bibellexikon Bd. V, S.247 — 255.
Ginsburg, Art. „Scribes" in Kittos Gyclopaedia of Biblical Literature. \
Plumptre, Art. „Scribes" in Smiths Dictionary of the Bible.
Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theologie (1880) S. 121—143.
Hamburger, Real-Enzyklopädie für Bibel und Talmud, Abt. II (1883), Art.
Gelehrter, Lehrhaus, Rabban, Schüler, Sopherim, Talmudlehrer, Talmud-
schulen, Unterhalt, Unterricht.
Strack, Art. „Schriftgelehrte" in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. XVII
(1906) S. 775—779.
liehen Schriftsteller (1829) S. 60—69. Pinner, Übersetzung des Tractates
Berachoth, Einleitung foL 21» — 22». Joh. Delitzsch, De inspiratione serip-
turae sacrae p. 4 sq. Vgl. auch Strack, Prolegomena critica in Vet. Test.
(1873), p. &Jsqq.
21) Rom. 3, 19. I Kor. 14, 21. Ev. Joh. 10, 34. 12, 34. 15, 25. Aus dem
babylonischen Talmud führt Low, Gesammelte Schriften Bd. I, 1889, S. 310
folgende Stellen an, an welchen „auch die Propheten und Hagiographen als
Thora bezeichnet werden": Erubin 58», Moed katon 5», Jebamoth 4», Becho-
roth 50», Sanhedrin 1041), Gittin 36», ArachinW*. Vergl. Strack in Herzog-
Haucks Real-Enz. 3. Aufl. IX, 767. Blau, Zur Einleitung in die heil. Schrift
(Jahresber. der Landes-Rabbinerschule in Budapest) 1894 S. 16 f. Bacher,
Die älteste Terminologie der jüd. Schriftauslegung (1899) S. 197.
[313] II. Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. 373
Ryssel, Die Anfänge der jüdischen Schriftgelehrsamkeit (Theol. Stud. und
Krit 1887, S. 149—182).
Bacher, Die Agada der Tannaiten, 2 Bde. 1884—1890, Bd. I, 2. Aufl. 1903
(Sachregister s. v. Lehrhaus, Lehrer, Schüler).
Bousset, Die Religion des Judentums im neu testamentlichen Zeitalter. 2. Aufl.
1906, S. 186—197.
Lightley, Les scribes. Etüde sur leur origine che* les Israilites. These, Ca-
hors 1905 (88 p.).
Mit dem Dasein eines Gesetzes ergibt sich von selbst auch
die Notwendigkeit gelehrten Studiums und fachmännischer
Kenntnis desselben. Wenigstens tritt dieses Bedürfnis in dem
Maße ein, als das Gesetz ein umfangreiches und kompliziertes ist.
Die Kenntnis des Details, die Sicherheit in der Anwendung seiner
einzelnen Bestimmungen auf das alltägliche Leben kann dann nur
durch berufsmäßige Beschäftigung erworben werden. Zur Zeit
Esras und wohl auch noch längere Zeit nachher war dies nun
vorwiegend Sache der Priester. Esra selbst war ja beides
zugleich: Priester und Gelehrter (itfte). Im Interesse des
priesterlichen Kultus ist der wichtigste Bestandteil des Penta-
teuches, der Priesterkodex, geschrieben. Priester waren darum
auch zunächst die Kenner und Wächter des Gesetzes. Allmählich
wurde dies aber anders. Je höher das Gesetz in der Wertschätzung
des Volkes stieg, desto mehr wurde das Studium und die Aus-
legung desselben eine selbständige Aufgabe für sich. Es war ja
das Gesetz Gottes. An seiner Kenntnis und Befolgung hing für
jedermann aus dem Volke ganz dasselbe Interesse, wie für die
Priester. So bemächtigten sich mehr und mehr auch nicht-
priesterliche Israeliten der gelehrten Beschäftigung mit dem
Gesetz. Neben den Priestern bildete sich ein selbständiger Stand
von „Schriftgelehrten", d. h. von berufsmäßigen Kennern des
Gesetzes. Wie angesehen und einflußreich dieser Stand im Anfang
des zweiten Jahrhunderts vor Chr. war, sehen wir aus Sirach 38,
24—39, 11. Die Schriftgelehrten haben den Vorrang in der Volks-
versammlung; sie sind die Richter und die Kenner des Gesetzes;
sie verstehen sich auch auf die Sprüche der Weisen {Sir. 38, 33).
Der Schriftgelehrte „dient inmitten der Herrscher und erscheint
vor den Fürsten" (39, 4). „Wenn es Gott gefällt, wird er mit dem
Geiste der Einsicht erfüllt" (39, 6). „Er trägt einsichtsvolle Lehre
vor und rühmt sich des Gesetzes des Herrn" (39, 8). „Seine Ein-
sicht loben viele, und nie wird ausgetilgt sein Name. Sein Ge-
dächtnis hört nicht auf in Ewigkeit, und sein Name lebt von Ge-
schlecht zu Geschlecht" (39, 9). „Seine Weisheit preist die Gemeinde,
und sein Lob verkündet die Versammlung" (39, 10, Übersetzung
374 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [313. 314]
nach Smend). — Als in der Zeit des Hellenismus die Priester
wenigstens in ihren höheren Schichten sich vielfach der heidnischen
Bildung zuwandten und das väterliche Gesetz mehr oder weniger
vernachlässigten, traten die Schriftgelehrten in einen relativen
Gegensatz zu den Priestern. Nicht mehr die Priester, sondern die
Schriftgelehrten waren jetzt die eifrigen Hüter des Gesetzes. Sie
waren darum von nun an auch die eigentlichen Lehrer des
Volkes, welche dessen geistiges Leben vollständig beherrschten.
In der Zeit des Neuen Testamentes finden wir diesen Prozeß
schon völlig abgeschlossen vor: die Schriftgelehrten bilden einen
festgeschlossenen Stand, welcher im unbestrittenen Besitze der
geistigen Herrschaft über das Volk ist Sie heißen im Neuen
Testamente gewöhnlich yQaftfiarslg, d. h. „Schriftkundige", „Ge-
lehrte", entsprechend dem hebräischen D'HBio, was an sich auch
nichts anderes als homines literati bedeutet (Männer, die sich be-
rufsmäßig mit dem Schriftwesen beschäftigen) K Daß ihre gelehrte
Beschäftigung vorwiegend dem Gesetze galt, verstand sich dabei
von selbst2. Neben dieser allgemeinen Bezeichnung findet sich
auch die speziellere voficxol d. h. „Gesetzeskundige", „Rechtsgelehrte"
(Mt. 22, 35. Luc. 7, 30. 10, 25. 11, 45 f. 52. 14, 3)3; und sofern sie das
1) "ifi'lD ist jeder, der eich berufsmäßig mit dem Bachwesen beschäftigt,
z. B. auch ein Schreiber (Schabbath XII, 5. Nedarim IX, 2. Gütin 1H, 1.
VII, 2. VIII, 8. IX, 8. Baba tnexia V, 11. Sanhedrm IV, 3. V, 5) oder ein
Buchbinder (Pesachim III, 1). — Im Alten Testament ist *iKriö zunächst ein
Beamter, der mit dem Schriftwesen zu tun hat, namentlich der Kanzler des
Königs, der die Staatsschriften ausfertigt; dann aber auch ein Gelehrter und
Gesetzeskundiger. S. Gesenius, Thesaurus p. 966 und überhaupt die Lexika.
Über yga^fxaxevq in den Apokryphen des A. T. s. Wahl, Olavis librorum
V. T. apoer. s. v. Über die Schriftgelehrten der vormakkabäischen Zeit s. auch
Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte (1894) S. 153 f. 4. Ausg.
(1901) S. 196 ff. — Wenn es im Talmud heißt, daß die Schriftgelehrten des-
halb D-nEno hießen, weil sie die Buchstaben der Thora zählten (Kidduschin 30 »
bei Wünsche, Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien 1878, S. 13.
179), so ist dies natürlich nur eine wertlose etymologische Spielerei. — Vgl.
überh. Bacher, Die älteste Terminologie (1899) S. 134—136.
2) Josephus Antt. Schlußwort (XX, 11, 2) sagt von den Juden: fxövoiq
6h oocplav /xaQTVQovoi xoXq xä vdfufjta aagnbq imarafiSvoig xal x^v x(av Isqwv
yQafjLfxaxiov Svvafuv hQfJLtiveüJoai öwapivoiq.
3) vofiixdg ist in der späteren Gräzität der eigentlich technische Ausdruck
für „Rechtsgelehrter" juris peritus. So namentlich auch von den römischen
Juristen, Strabo p. 539: ol naga 'Pwfjtaloig vofiixot, auch im Edictum Diode-
tiani, s. Rudorff, Romische Rechtsgeschichte II, 54. — Es ist nicht zufällig,
daß dieser Ausdruck gerade bei Lucas sich häufig findet. Er will dadurch
das Wesen der jüdischen Schriftgelehrten seinen römischen Lesern ver-
deutlichen.
[314. 315] II. Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. 375
Gesetz nicht nur kannten, sondern auch lehrten, heißen sie vopo-
öiöaoxaloi, „Gesetzeslehrer" (Luc. 5, 17. Act. 5, 34). Josephus nennt
sie xcltqIcov igrjyriTal v6(ia>v\ oder itf gräzisierender Weise 00-
q>iöralb, auch isQoyQafifdarsls*. Der Titel 10*10 findet sich noch
bei Sirach 38, 24. Dagegen in der Mischna wird der Ausdruck
D*nöio nur von den Schriftgelehrten der früheren Zeit gebraucht,
welche für das Zeitalter der Mischna selbst schon eine Autorität
sind 7. Die zeitgenössischen Gelehrten heißen in der Mischna immer
Das außerordentliche Ansehen, dessen diese „Gelehrten" von
seiten des Volkes genossen, prägt sich schon aus in den Ehren-
titeln, die sie sich geben ließen. Am gewöhnlichsten war die An-
rede **2n, eigentlich „mein Herr", griechisch gaßßi {Matth. 23, 7 und
sonst)8. Aus dieser ehrfurchtsvollen Anrede hat sich dann all-
4) Antt. XVII, 6, 2. Vgl. XVIII, 3, 5.
5) Bell. Jud. 1, 33, 2. II, 17, 8. 9.
6) Bell. Jud. VI, 5, 3.
7) So Orla III, 9. Jebatnoth II, 4. IX, 3 (Sota IX, 15). Sanhedrin XI, 3.
Kelim XIII, 7. Para XI, 4-6. Tohoroth IV, 7. 11. Tebul jom IV, 6. Jada-
jim III, 2. — An allen diesen Stellen (mit Ausnahme der nicht zum ursprüng-
lichen Mischnatext gehörigen Stelle in Sota IX, 15) ist von „Verordnungen
der Schriftgelehrten" (d^Blo ^31) im Unterschied von den Satzungen der
Thora die Bede, und zwar so, daß auch erstere als längst in Geltung befind-
liche vorausgesetzt werden. Abgesehen von diesen Stellen kommt der Aus-
druck D"»*ibid nur noch in dem oben Anm. 1 angegebenen Sinne in der Mischna
vor. Im Vulgär-Text des Schmone Esre wird in der 13. Beracha gebetet,
daß Gott sein Erbarmen walten lassen möge „über die Gerechten und Frommen
und Älteste Israels und über den Best der Schriftgelehrten" (ö'nBlö no^bfi).
Aber die letzten Worte fehlen in den älteren, auch sonst abweichenden Re-
zensionen des Gebetes, s. Dalman, Die Worte Jesu 1898, S. 300. 303. El-
bogen, Geschichte des Achtzehngebets 1903, S. 59 = Monatsschr. f. Gesch. u.
Wi6s. d. J. 1902, S. 524 f. — Das griech. ygafx^azavq findet sich noch auf
jüdischen. Grabschriften in Born in der späteren Kaiserzeit (2. — 4. Jahrh. n.
Chr.), 8. Qarrucei, Oimüero degli antichi Ebrei scoperto recentemente in Viyna
Bandanmi (1862) p. 42. 46. 47. 54 55. 59. 61. Garrucci, Dissertaxdoni archeo-
logiche vol. II (1865) p. 165 n. 20. 21. p. 182 n. 21.
8) an heißt im A. T. der „Oberste" (z. B. der Eunuchen oder der
Magier, Jerem. 39, 3. 13); in der Mischna der „Herr", z. B. im Gegensatz zum
Sklaven (Sukka II, 9. Qittvn IV, 4 5. Edujoth I, 13. Aboth I, 3). Es hat
aber dann, wie das lateinische magister, auch die Bedeutung „Lehrmeister,
Lehrer" erhalten. So, wie es scheint, schon in einem dem Josua ben Perachja
zugeschriebenen Ausspruch, Aboth I, 6. Im Zeitalter der Mischna ist diese
Bedeutung jedenfalls ganz gewöhnlich, s. Bosch haschana II, 9 fin. Baba mexda
II, 11. Edujoth I, 3. Vm, 7. Aboth IV, 12. Kerühoth VI, 9 fin. Jadajim
IV, 3 fin. — Wenn daher die Lehrer mit *an angeredet werden (so z. B.
Pesachim VI, 2. Bosch haschana TL, 9 fin. Nedarim IX, 5. Baba kamma
Vm, 6; auch c. Suff. Plural. w»an Berachoth II, 5—7), so ist der Sinn nicht
376 § 25* Die Schriftgelehrsamkeit [315. 316]
mählich der Titel „Rabbi" gebildet, indem bei dem häufigen Ge-
brauch der Anrede das Suffixum seine Pronominalbedeutung verlor
und ian auch außer der Aürede geradezu als Titel gebraucht wurde
(Rabbi Josua, Rabbi Elieser, Rabbi Akiba) 9. Vor der Zeit Christi
ist dieser | Gebrauch noch nicht nachweisbar. Hillel und Schammai
heißen nie Rabbi; auch im Neuen Testamente findet sich Qaßßl nur
als eigentliche Anrede. Erst ungefähr seit der Zeit Christi scheint
der Titel in Gebrauch gekommen zu sein. — Eine Steigerungsform
von m ist "jan oder, wie das Wort auch ausgesprochen wurde, ytan.
Die erstere Form scheint mehr dem hebräischen, die letztere mehr
dem aramäischen Sprachgebrauch anzugehören10. Daher findet
sich in der Mischna "jai als Titel von vier hervorragenden Schrift-
gelehrten aus dem Zeitalter der Mischna (um 30—150 nach Chr.)11.
our „mein Herr", sondern zugleich auch „mein Lehrer". Für andere
Hochgestellte, z. B. den Hohenpriester, kommt die Anrede •vrhx vor (Joma I,
3. 5. 7. IV, 1. Tamid VI, 3. Para IH, 8). Die Erklärung von* faßßet durch
öiddoxaXe (Ev. Joh. 1, 38) ist daher nicht unrichtig. Vgl. auch Hieronymus
ad Matth. 23, 7 (Vallarsi VII, 184): et vocentur ab hominibus Rabbi, quod La-
tino sermone mag ist er dicitur. Ders., Onomast, ed Lagarde p. 63: Rabbi
magister mens, syrum est. Daselbst auch die griechischen Onomastica p. 175,
30. 197, 26. 204, 26.
9) Ähnlich wie Monsieur. — Vgl. über den Rabbi-Titel überhaupt: Se-
ruppii Dissert. de titulo Rabbi (in Ugotinis Thesaurus T. XXI). Light foot
und Wetstein zu Mt. 23, 7. Buxtorf, De abbreviaiuris hebraicis p. 172 — 177.
CarpxoPy Apparatus historico-criticus p. 137 sqq. Winer RWB. H, 296 f.
Pressel in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XII, 471 f. Grätz, Gesch. der Juden
IV, 431. Ewald, Gesch. des Volkes Israel V, 25. 305. Steiner in Schenkels
Bibellex. V, 29 f. Riehms Wörterb. s. v. Hamburger Real.-Enz. Abt H
Art. „Rabban". Levy, Neuhebr. Wörterb. IV, 409. 416. Leop. Low, Ge-
sammelte Schriften IV. Bd. 1898, S. 211—216. Dalman, Die Worte Jesu,
Bd. I, 1898, S. 272—280. Th. Reinach, Revue des itudes juives t. XLVHI,
1904, p. 191—196 (Inschr. von Cypern : ev)fi fraßßl kxvtxov). The Jewish Ency-
clopedta X, 1905, p. 294 sq. Die Lexika zum Neuen Testamente s. v. faaßßi.
— Neben Rabbi findet sich spater auch die Aussprache Rebbi, z. B. duo reb-
bites auf einer Grabschrift zu Venoea {Corp. Inscr. Lat. t. IX n. 648 u. 6220 =
Lenormant, Revue des itudes juives t. VI p. 205), BrjQeßt = *W*2 — *0*i "O
auf einer Grabschrift zu Jope (Euting, Sitzungsberichte der Berliner Akademie
1885, S. 681, Nr. 54, W^a ebendas. S. 680) und Ribbi (wna auf einer palä-
stinensischen Grabschrift, Palest. Explor. Fund, Quarierly Statement 1900, p. 117).
10) In den Targumen kommen beide Formen vor (s. Buxtorf, Lex. Chald.
s. v., Levy, Chald. Wörterb. s. v.)t im Hebräischen dagegen fast nur *|Sn.
Für die Form "pan ist mir in der Mischna nur eine Belegstelle bekannt: Taa-
nith III, 8, wo es in bezug auf Gott gebraucht wird. — Ober die Bedeutung
von "pi heißt es, nach älteren Autoritäten, im Äruch (s. v. ^SK, s. die Stelle
z. B. bei Buxtorf, De abbreviaturis p. 176): "pn *a-ra bwi W S*na bna
„Höher als Rab ist Rabbi und höher als Rabbi ist Rabban".
11) Diese vier sind: 1) Rabban Gamaliel I, 2) Rabban Jochanan ben
[316. 317] II. Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. 377
im Neuen Testamente dagegen gaßßowl Cpsn oder "psn c Suff.) als
ehrfurchtsvolle Anrede an Christum (Marc. 10, 51. Joh. 20, 16) ri. — |
Im Griechischen des Neuen Testamentes wird Rabbi durch xvqib
(ML 8, 2. 6. 8. 21. 25 und oft) oder öiödoxaZe (ML 8, 19 und oft),
von Lucas auch durch hmoraxa (Luc. 5, 5. 8, 24. 45. 9, 33. 49. 17, 13)
wiedergegeben. — Als sonstige Ehrenprädikate, welche den Schrift-
gelehrten gegeben wurden, werden noch erwähnt jiclttiq und xafr?)-
yr]r^Q (Mt. 23, 9. 10). Letzteres ist wahrscheinlich = nnitt „Lehrer" 13;
ersteres entspricht dem aramäischen £!&$, was auch in der Mischna
und Tosephta als Titel mehrerer Rabbinen vorkommt14.
Von Seiten ihrer Schüler forderten die Rabbinen die unbeding-
Sakkai, 3) Rabban Gamaliel IL, 4) Rabban Simon ben Gamaliel II. — Bei
allen wird der Titel *p^ in den besten Handschriften der Mischna (z. B. cod.
de Rossi 138) in der Regel ausgeschrieben. Außerdem kommt in der Mischna
einmal vor 5) Babban Gamaliel III, Sohn des E. Juda ha-Nasi {Aboth II, 2;.
Von zwei anderen dagegen, denen mau ebenfalls diesen Titel beizulegen pflegt
(Simon Sobn Hillels und Simon Sohn Gamaliels I), kommt der erste re in der
Mischna überhaupt nicht vor, der letztere wenigstens au der Hauptstelle Aboth
1, 17 nicht unter diesem Titel. Doch ist er wahrscheinlich unter dem Kerithoth
I, 7 erwähnten Babban Simon ben Gamaliel zu verstehen.
12) Die früher von Delitzsch ausgesprochene Meinung, daß die Form
yo?\ nur in bezug auf Gott gebraucht werde (Zeitschr. f. luth. Theol. 1876,
S. 409. 606), ist mit Bücksicht auf den Sprachgebrauch der Targume von
Delitzsch selbst als irrig zurückgenommen worden (Zeitschr. f. luth. Theol.
1878, S. 7). — Völlig irrelevaut ist es, daß die Form "pa^i von den neueren
Juden ribbon ausgesprochen wird, wie auch *n*i — ribbi (oder rebbi, s. oben
Anm. 9). Die Verkürzung des a in i ist bekanntlich im Hebräischen sehr
häufig, in diesem Falle aber sehr jungen Datums. Noch im Mittelalter sprach
man wahrscheinlich ^2H, wie der cod. de Eossi 138 an der Stelle Taanith HI,
8 punktiert. Vgl. auch Delitzsch, Zeitschr. f. luth. Theol. 1876, S. 606. Nur
für das Aramäische ist die Aussprache ribbon gut bezeugt. S. Berliners
Ausgabe des Onkelos z. B. Gen. 19, 2. 42, 30. Exod. 21, 4—8. 23, 17.
13) S. Wünsche, Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien (1878)
S. 279 f.
14) Am häufigsten wird unter diesen erwähnt Abba Saul (Pea Vni, 5.
Kilajim II, 3. Schabbath XXHI, 3. Sckekalim IV, 2. Beza III, 8. Aboth II, 8.
Middoth II, 5. V, 4, und sonst). Vgl. ferner: Abba Gurjan (Kidduschin
IV, 14), Abba Jose ben Chanan (Middoth II, 6. Tosephta ed. Zuckermandel
p. 154, 18. 199, 22. 233, 22. 655, 31), Abba Jose ben Dosai (Tosephta 23, 4.
217, 19. 360, 16 etc.), Abba Judan (Tosephta 259, 18. 616, 31). Noch andere
s. in Zuckermandels Index zur Tosephta S. XXXI. Die in Mechilta, Siphra
und Siphre erwähnten Rabbinen mit dem Titel Abba s. bei D. Hoffmann, Zur
Einleitung in die halachischen Midraschim (Berliu 1887, Progr. des Rabbiner-
Seminares) S. 82 ff. In The Jeurish Encyclopedia I, 29 — 35 werden mehr als
dreißig Rabbinen mit dem Titel Abba genannt. Vgl. überh. Kohler , Abba,
fathery title of spiritual leader and saint (Jewüh Quarterly Review XHr, 1901,
p. 667—580) [viel Material].
378 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit [317. 318]
teste Ehrerbietung, welche selbst die Ehrfurcht gegen Vater
und Mutter tibertreffen sollte. „Die Ehre deines Freundes grenze
an die Achtung für deinen Lehrer, und die Achtung für deinen
Lehrer an die Ehrfurcht vor Gott"15. „Die Ehrerbietung gegen
den Lehrer geht der Ehrerbietung gegen den Vater vor; denn
Sohn und Vater sind dem Lehrer Ehrerbietung schuldig" 16. „Wenn
jemandes Vater und Lehrer etwas verloren haben, so geht der
Verlust des Lehrers vor (man muß zunächst diesem zur Wieder-
erlangung behilflich sein). Denn sein Vater hat ihn nur in diese
Welt gebracht Sein Lehrer, der ihm Weisheit lehrt, bringt ihn
aber zum Leben in der zukünftigen Welt. Ist aber sein Vater
selbst ein Gelehrter, so hat seines Vaters Verlust den Vorzug.
Tragen jemandes Vater und Lehrer Lasten, so muß er zuerst dem
Lehrer und hernach dem Vater abhelfen. Sind Vater und Lehrer
in der Gefangenschaft, so muß er zuerst den Lehrer und hernach
den Vater loskaufen. Ist aber sein Vater selbst ein Gelehrter, so
hat sein Vater den Vorzug" 17. — überhaupt machten die Rabbinen
überall auf den ersten | Rang Anspruch. „Sie lieben die ersten
Plätze bei den Gastmählern und die ersten Sitze in den Synagogen.
Und haben's gerne, daß sie gegrüßt werden auf den Märkten und
von den Menschen Rabbi genannt werden" {ML 23, 6—7. Me. 12,
38—39. Luc. 11, 43. 20, 46). Auch ihre Kleidung war die der Vor-
nehmen. Sie trugen öroXag, nach Epiphanius speziell afutexovag
und öa/Lfiarixag1*.
Alle Tätigkeit der Schriftgelehrten, sowohl die lehrende als
die richterliche, sollte unentgeltlich sein. R. Zadok sagte: Mache
die Gesetzeskunde weder zur Krone, damit zu prangen, noch zum
Grabscheit, damit zu graben. Hillel pflegte zu sagen: Wer sich
der Krone (des Gesetzes) bedient (zu äußeren Zwecken), schwindet
dahin19. Daß der Richter nicht Geschenke annehmen dürfe, wird
15) Aboth IV, 12.
16) Kerithoth VI, 9 fin.
17) Baba mezia II, 11. Vgl. auch den Traktat Derech Erex sutta (hier-
über oben § 3, I, 137), Maimonides, Hilchoth Talmud Thora c. V— VI (Pe-
tersburger Übersetzung I, 117 ff.), Boden schätz, Kirchliche Verfassung der
heutigen Juden II, 342 ff., Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils I, 144 £ 168.
Weber, System der altsynagogalen paläst. Theologie S. 121 ff.
18) axoXaq Marc. 12, 38 = Lue. 20, 46. Dazu Epiphan. haer. 15 : <fcU*
instä}} atoXaq, cfr* ovv d/xnexSvaq ol xoiovxoi dveßdXXovto xal SaXfiatixäq,
efo* ovv xoXoßlcovaq ix nXercva^/LKov diä noQ<pvQaq aXovQyov<petq xateoxevaa-
fiivag usw. — Die ötoAjJ ist die Kleidung der Vornehmen (I Makk. 6, 15. Wahl,
Clavis libror. V. T. apocr. s. v. und überh. die Lexika). Über die Dalmatika
s. oben 8. 80.
19) Aboth IV, 5. I, 13. Vgl. auch Derech Erex sutla IV, 2 (deutsch bei
[3ia 319] II. Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. 379
schon im Alten Testamente vorgeschrieben (Exod. 23, 8. Deut. 16, 19).
Daher heißt es auch in der Mischna: „Wenn einer Bezahlung
nimmt, um richterlich zu entscheiden, so ist sein Urteil ungültig" 20.
— Die Rabbinen waren daher zur Gewinnung ihres Lebensunter-
haltes auf anderweitige Hilfsquellen angewiesen. Manche mochten
von Hause aus wohlhabend sein; andere betrieben neben dem Ge-
setzesstudium ein Gewerbe. Von Rabban Gamaliel III., Sohn des
R. Juda ha-Nasi, wird ausdrücklich die Verbindung von Gesetzes-
studium mit bürgerlichem Geschäft empfohlen. „Denn die Be-
mühung in beiden führt ab von Sünden. Gesetzesstudium ohne
Geschäftstätigkeit muß endlich gestört werden und zieht Vergehen
nach sichu 21. Bekannt ist, daß der Apostel Paulus auch noch als
Prediger des Evangeliums ein Gewerbe betrieb {Act. 18, 3. 20, 34.
I Thess. 2, 9. II Thess. 3, 8. I Kor. 4, 12. 9, 6 ff. II Kor. 11, 7 ff.) Und
ein gleiches wird von vielen Rabbinen berichtet22. Dabei | wird
natürlich die Beschäftigung mit dem Gesetz immer als das Wert-
vollere betrachtet und vor Überschätzung des bürgerlichen Ge-
schäftes gewarnt. Schon der Siracide ermahnt, sich nicht einseitig
dem Handwerk hinzugeben, und preist den Segen der Schrift-
gelehrsamkeit (Sirach 38, 24—39, 11). R. Meir sagte: Ergib dich
weniger dem Gewerbe und beschäftige dich mehr mit dem Gesetz 2S.
Hillel sagte: Wer sich zu sehr dem Handel widmet, wird nicht
weise werden24.
Das Prinzip der Unentgeltlichkeit ist in der Praxis wohl nur
bei der richterlichen Tätigkeit strenge durchgeführt worden;
schwerlich aber bei der Wirksamkeit der Schriftgehrten als
Lehrer. Selbst im Evangelium heißt es trotz der ausgesprochenen
Mahnung an die Jünger öcoqbclv hXaßtte, öa>Qsav öoxs (Mt. 10, 8)
doch auch, daß ein Arbeiter seines Lohnes wert sei (Jß. 10, 10.
Luc 10, 7), wie denn auch Paulus mit ausdrücklicher Berufung
hierauf (I Kor. 9, 14) es als sein Recht beansprucht, von denen,
Winter und Wünsche, Die jüdische Literatur seit Abschluß des Kanons
Bd. I, 1894, & 639); G frörer, Das Jahrh. des Heils I, 156—160.
20) Bechoroth IV, 6.
21) Äboih II, 2.
22) Vgl. Hartmann, Die enge Verbindung des Alten Testaments mit
dem Neuen S. 410 f. Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils I, 160—163. De-
litzsch, Handwerkerleben zur Zeit Jesu (2. Aufl. 1875) S. 71—83: Lehrstand
und Handwerk in Verbindung. Hamburger, Real-Enz. Abt. II S. 288 (Art.
Gelehrter) und S. 1241 (Art Unterhalt). Seligmann Meyer, Arbeit und Hand-
werk im Talmud (1878) S. 23—36.
23) Abotk IV, 10.
24) Aboth II, 5.
380 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit [319. 320]
welchen er das Evangelium verkündige, seinen Lebensunterhalt
sich darreichen zu lassen, wenn er auch von diesem Rechte nur
ausnahmsweise Gebrauch gemacht hat (I Kor. 9, 3— 18. II Kor. 11,
8—9. Phil 4, 10—18. Vgl. auch GaL6, 6). War dies die Anschauung
der Zeit, so darf angenommen werden, daß auch die jüdischen Ge-
setzeslehrer ihren Unterricht nicht immer unentgeltlich erteilten.
Gerade die oben angeführten Mahnungen, den Gesetzesunterricht
nicht um des egoistischen Interesses willen zu betreiben, lassen
ja darauf schließen, daß die Unentgeltlichkeit nicht allgemeine
Regel war. Und in der Strafpredigt Jesu Christi wird den Schrift-
gelehrten und Pharisäern besonders ihre Habgier zum Vorwurf
gemacht (Mc. 12, 40. Lue. 20, 47. 16, 14). Von Hillel wird erzählt,
daß er sich als Arbeiter vermietete, um das Eintrittsgeld zum
Lehrhaus des Schemaja und Abtaljon bezahlen zu können25. Deren
Schulvorträge waren also nicht unentgeltlich.
Der Hauptsitz der Wirksamkeit der Schriftgelehrten war
natürlich bis zum Jahre 70 nach Chr. Judäa. Aber man würde
irren, wenn man sie nur dort suchte. Sie waren überall da un-
entbehrlich, | wo der Eifer für das väterliche Gesetz lebendig war.
Daher finden wir sie auch in Galiläa {Luc. 5, 17) 26, ja in der
fernen Diaspora: auf den jüdischen Grabschriften in Rom in der
späteren Kaiserzeit werden häufig yQafifiarstg erwähnt (s. oben
Anm. 7); und die babylonischen Schriftgelehrten des fünften und
sechsten Jahrhunderts haben sogar das Hauptwerk des rabbinischen
Judentums, den Talmud geschaffen.
Seit dem Auseinandergehen der pharisäischen und saddu-
zäischen Richtung gehörten die Schriftgelehrten im allgemeinen
der pharisäischen Richtung an. Denn diese letztere ist eben nichts
anderes als die Partei, welche die Satzungen, die von den Schrift-
gelehrten im Laufe der Zeit ausgebildet worden waren, als bindende
Lebensnorm anerkannte und zu strenger Durchführung bringen
wollte. Insofern aber „Schriftgelehrte14 nichts anderes sind als
„Gesetzeskundige", muß es auch sadduzäische Schriftgelehrte ge-
geben haben. Denn es ist nicht wohl denkbar, daß diese Partei,
die doch das geschriebene Gesetz als verbindlich anerkannte, gar
keine berufsmäßigen Kenner desselben in ihrer Mitte gehabt haben
sollte. In der Tat deuten solche Stellen des Neuen Testamentes,
wo von „Schriftgelehrten der Pharisäer" die Rede ist {Mo. 2, 16.
25) b. Jotna 35b.
26) Über galiläische Gelehrte der vorbadrianischeu Zeit s. Büchler, Der
galiläische Am-haares des zweiten Jahrhunderts (1906) S. 274 — 338.
[320. 321] II. Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. 3g 1
Luc. 5, 30. Act. 23, 9), darauf hin, daß es auch sadduzäische ge-
geben hat
Die berufsmäßige Tätigkeit der Schriftgelehrten bezog sich,
wenn nicht ausschließlich, so doch zunächst und hauptsächlich auf
das Gesetz, also das Eecht. Sie sind in erster Linie Juristen.
Und zwar ist ihre Aufgabe in dieser Hinsicht eine dreifache.
Sie haben 1) das Recht selbst theoretisch immer sorgfältiger
auszubilden, 2) es ihren Schülern zu lehren, und 3) es prak-
tisch zu handhaben, also in den Gerichtshöfen als gelehrte Bei-
sitzer Eecht zu sprechen27.
1) Das erste ist die theoretische Ausbildung des Eechtes
selbst. Dieses steht freilich in seinen Grundzügen in der ge-
schriebenen Thora unverrückbar fest. Aber kein Gesetzeskodex
geht so ins Detail, daß er nicht wieder der Auslegung bedürfte.
Die Bestimmungen des mosaischen Gesetzes sind aber zum Teil
noch sehr allgemein gehalten. Hier war also ein weites Feld für
die Arbeit der Schriftgelehrten gegeben. Sie hatten die allgemeinen,
von der Thora gegebenen Vorschriften immer sorgfältiger kasuistisch
zu entwickeln, damit eine Garantie dafür geschaffen würde, daß
wirklich die Tendenz der gesetzlichen Vorschriften ihrem vollen
Sinn und Umfange nach getroffen würde. Bei denjenigen Punkten,
welche durch das geschriebene Gesetz nicht unmittelbar geregelt |
waren, mußte ein Ersatz geschaffen werden entweder durch Fest-
stellung des Gewohnheitsrechtes oder durch Schlußfolgerung aus
anderweitigen bereits, gültigen gesetzlichen Bestimmungen. Durch
die Emsigkeit, mit der diese ganze Tätigkeit in den letzten Jahr-
hunderten vor Chr. betrieben wurde, wurde das jüdische Eecht
allmählich zu einer weitverzweigten komplizierten Wissenschaft.
Und da dieses Eecht nicht schriftlich fixiert, sondern nur mündlich
weiter überliefert wurde, so war schon ein sehr anhaltendes Studium
erforderlich, um dasselbe überhaupt nur kennen zu lernen. Die
Kenntnis des Gültigen war aber immer nur die Grundlage und
Voraussetzung für die berufsmäßige Tätigkeit der Schriftgelehrten.
Ihr eigentliches Geschäft war es, das bereits Gültige durch fort-
gesetzte methodische Arbeit in immer feineres kasuistisches Detail
weiter zu entwickeln. Denn alle Kasuistik ist ihrer Natur nach
endlos 28.
Da der Zweck dieser ganzen Tätigkeit war, das gemein-
gültige Eecht festzustellen, so konnte die Arbeit nicht von den
27) Diese „dreifache Gewalt der Weisen" wird richtig auch von Weber
unterschieden (System der altsynagogalen palästinischen Theologie S. 130—143).
28) Näheres s. unten in Abschnitt III: Halacha und Haggada.
382 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [321. 322]
einzelnen Schriftgelehrten isoliert vollzogen werden. Sie mußten in
stetem Austausch untereinander bleiben, um auf Grund gegen-
seitiger Verständigung zu allgemein anerkannten Resultaten zu ge-
langen. Der ganze Prozeß der Rechtsbildung vollzog sich
also in der Form mündlicher Diskussionen der Schrift-
gelehrten untereinander. Die anerkannten Autoritäten haben
nicht nur Schüler um sich versammelt, um diese im Gesetz zu
unterweisen, sondern sie haben auch unter sich über die gesetz-
lichen Fragen debattiert, ja den ganzen Stoff des Rechts in ge-
meinsamen Disputationen durchgesprochen. Von dieser Form der
Rechtsbildung gibt uns die Mischna noch überall Zeugnis29. —
Damit dies möglich war, mußten wenigstens die Häupter der
Schriftgelehrsamkeit auch an gewissen Zentralstätten beisammen
wohnen. Zwar werden viele zum Zwecke des Unterrichts und
der Rechtsprechung im Lande zerstreut gelebt haben. Aber die
vorwiegend schöpferischen Autoritäten müssen der Mehrzahl nach
an einem Mittelpunkte — bis zum Jahre 70 nach Chr. in Jeru-
salem, später an anderen Orten (Jabne, Tiberias) — konzentriert
gelebt haben.
Das von den Gelehrten theoretisch entwickelte Recht war zu-
nächst allerdings nur eine Theorie. In manchen Punkten ist es
auch stets eine solche geblieben, da die tatsächlichen historisch|-
politischen Verhältnisse die Durchführung nicht ermöglichten30.
Im allgemeinen aber stand die Arbeit der Schriftgelehrten doch
in lebendiger Beziehung zum wirklichen Leben. Und in dem Maße,
als ihr Ansehen wuchs, war ihre Theorie zugleich gültiges
Recht. Im letzten Jahrhundert vor der Zerstörung Jerusalems
hatten die pharisäischen Schriftgelehrten schon so unbedingt die
geistige Herrschaft, daß das große Synedrium trotz seiner ge-
mischten Zusammensetzung aus Pharisäern und Sadduzäern in der
Praxis doch an das von den Pharisäern entwickelte Recht sich
anschloß (s. oben S. 252). Viele Materien waren ja ohnehin der
Art, daß sie einer formellen Gesetzgebung gar nicht bedurften.
Denn die religiösen Satzungen beobachtet der Fromme nicht auf
Grund formeller Gesetzgebung, sondern auf Grund freiwilliger
Unterwerfung unter eine von ihm als legitim anerkannte Autorität31.
29) Vgl. z. B. Pea VI, 6. Kilajim HI, 7. VI, 4. Terumoth V, 4. Maaser
schent II, 2. Schabbaih VIH, 7. Pesachim VI, 2. 5. Kerithoih HI, 10. Mach-
schirin VI, 8. Jadajim IV, 3.
30) Ein instruktives Beispiel dieser Art: Jadajim IV, 3—4. Vgl. auch die
rein theoretischen Bestimmungen über die Stämmeverfassung, Sanhedrin 1, 5.
Horajoth I, 5.
31) Auch die Priester folgten fast durchgängig der Theorie der Schrift-
[322. 323] IL Die Schrift gel ehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. 383
So sind also die von den Schriftgelehrten entwickelten Satzungen,
sobald die Schulen darüber einig waren, auch in der Praxis als
bindend anerkannt worden. Die Schriftgelehrten sind — wenn
auch nicht auf Grund formeller Anerkennung, so doch tatsächlich
— die Gesetzgeber. Ganz besonders gilt dies von der Zeit
nach der Zerstörung des Tempels. Einen staatlichen Ge-
richtshof nach Art des früheren Synedriums gab es jetzt nicht
mehr. Der allein maßgebende Faktor waren nun die rabbinischen
Gesetzeslehrer mit ihrer rein geistigen Autorität Sie, die schon
früher tatsächlich das Recht festgestellt hatten, wurden jetzt
immer mehr auch formell als die entscheidenden Autoritäten an-
erkannt Ihr Ausspruch genügt, um festzustellen, was gül-
tiges Gesetz ist. Sobald also auf irgendeinem Punkte Zweifel
entstehen, ob man so oder so zu handeln habe, braucht man die
Frage nur „vor die Gelehrten" zu bringen, welche dann die maß-
gebende Entscheidung fällen32. Und die Autorität der Gesetzes-
lehrer ist so groß, daß schon der Ausspruch eines einzelnen an-
gesehenen Lehrers genügt, um eine Frage zu erledigen33. Durch
ihr | entscheidendes Urteil werden auch ohne daß eine solch spe-
zielle Veranlassung vorliegt, neue Lehrsätze, d. h. neue rechts-
gültige Satzungen aufgestellt, zuweilen sogar in Abweichung von
dem bisher Üblichen34. Dabei ist nur immer vorausgesetzt, daß
das Urteil des einzelnen sich in Übereinstimmung mit dem Urteil
der Majorität aller Gesetzeslehrer befindet, resp. von dieser ak-
zeptiert wird. Denn die Majorität ist die entscheidende Instanz
(s. Abschnitt III). Es kann daher auch vorkommen, daß die Ent-
scheidung eines einzelnen Gesetzeslehrers nachträglich von der
Majorität korrigiert wird35, oder daß selbst ein hervorragender
gelehrten. Es sind nnr Ausnahmefalle, wo die Mischna eine Differenz zwischen
der Praxis der Priester nnd der Theorie der Rabbinen zu konstatieren hat, s.
Schekalim I, 3—4. Joma VI, 3. Sebachim XII, 4.
32) „Die Sache kam vor die Gelehrten (Q^sn), und diese ent-
schieden so und so" ist eine häufig vorkommende Formel. S. z. B. Kilo-
Jim IV, 9. Edujoth VII, 3. Bechoroth V, 3.
33) In dieser Weise werden zweifelhafte Fälle entschieden z. B. durch
Rabban Jochanan ben Sakkai (Schabbath XVI, 7. XXII, 3), Rabban Ga-
maliel II (Kelvm V, 4), R. Akiba (Kilajim VII, 5. Terumotk IV, 13. Jeba-
moth XII, 5. Nidda VIII, 3).
34) So z. B. von Rabban Jochanan ben Sakkai (Sukka III, 12. Bosch
s haschana IV, 1. 3. 4. Sota IX, 9. Menachoth X, 5) und von R. Akiba (Maaser
scheni V, 8. Nasir VI, 1. Sanhedrin III, 4).
35) So wurde einst eine Entscheidung Nahums des Meders nachträg-
lich von den „Gelehrten" berichtigt, Nasir V, 4.
3S4 § 25- Die Schriftgelehrsamkeit. [323. 324]
Gesetzeslelirer seine eigene Ansicht derjenigen eines „Gerichtshofes*4
von Gelehrten unterordnen muß36.
Die gesetzgebende Gewalt der Rabbinen ist für das Zeitalter
der Mischna eine so selbstverständliche Sache, daß sie auch schon
für die Zeit vor der Zerstörung Jerusalems ohne weiteres voraus-
gesetzt wird. Ganz unbefangen heißt es, daß Hillel dies und jenes
verordnet87, oder daß Gamaliel I. die und die Bestimmung ge-
troffen habe 38. Und doch war damals nicht Hillel und Gamaliel L,
sondern das große Synedrium von Jerusalem die entscheidende
Instanz. Denn von ihm ging, wie es in der Mischna selbst heißt,
„das Recht für ganz Israel aus"39. Das Wahre an jener Dar-
stellung ist aber, daß allerdings auch schon damals die großen
Gesetzeslehrer tatsächlich die entscheidenden Autoritäten waren.
2) Die zweite Hauptaufgabe der Schriftgelehrten war, das
Gesetz auch zu lehren. Das Ideal des gesetzlichen Judentums
ist ja eigentlich, daß jeder Israelite eine fachmännische Kenntnis
des Gesetzes habe. War dies auch nicht erreichbar, so sollten
doch möglichst viele zu dieser idealen Höhe emporgehoben werden.
„Stellet viele Schüler auftt, war angeblich schon ein Wahlspruch
der Männer der großen Synagoge40. Die berühmteren Rabbinen
versammelten | daher die lernbegierige Jugend oft in großer An-
zahl 4 1 um sich, um sie zu gründlichen Kennern des vielverzweigten
und umfangreichen „mündlichen Gesetzes" heranzubilden. Die
Schüler heißen D'niribn42. Der Unterricht bestand in einem un-
ermüdlich fortgesetzten gedächtnismäßigen Einüben. Denn da das
36) So fügte sich R. Josua einer Entscheidung des Rabban Gama-
liel II und seines Gerichtshofes, Rosck haschana II, 9.
37) Schebiith X, 3. Gütin IV, 3. Arachin IX, 4. Überall mit der Formel
"pprri „er verordnete".
38) Rosch haschana II, 5. Oittin IV, 2—3. Ebenfalls mit der Formel
S 39) Sanhedrin XI, 2.
40) Aboth I, 1.
41) Joseph. Bell. Jud. I, 33, 2.
42) Aboth V, 12. Sanhedrin XI, 2. Im einzelnen werden z. ß. erwähnt
Schüler des Rabban Jochanan ben Sakkai (Aboth II, 8), des Rabban Ga-
maliel IL (Berachoth 11,5-7), R. Elieser (Erubin 11,6), R. Ismael (Erubin
I, 2, R. Akiba (Nidda VIII, 3), Schüler von der Schule Schammais (Orla
II, 5. 12). — Wer jura studiert hat und eine fachmännische Kenntnis des Ge-
setzes besitzt, heißt ein Dan T^bfi, Pesachim IV, 5. Joma I, 6. Sukka II, 1.
Char/ifja I, 7. Nedarim X, 4. Sota I, 3. Sanhedrin IV, 4. Makkoth II, 5. Hora-
joth III, 8. Nef/aim XII, 5. Die Benennung -qn für einen, der das Gesetzes- ,
Studium absolviert, aber noch keine öffentlich anerkannte Stellung erlangt hat,
gehört erst einer späteren Zeit an. In der Mischna ist *nn etwas ganz an-
deres. S. darüber § 26.
[324. 325] IL Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. 385
Ziel war, daß der Schaler den ganzen Stoff mit seinen tausend
und abertausend Einzelheiten sicher im Gedächtnis habe, da ferner
das mündliche Gesetz nicht aufgeschrieben werden sollte, so konnte
der Unterricht sich nicht mit einem einmaligen Vortrag begnügen.
Der Lehrer mußte den Stoff immer wieder und wieder mit den
Schülern repetieren. Daher ist für den rabbinischen Sprach-
gebrauch „wiederholen" (TOtö = äevrsQovv) geradezu so viel
wie „lehren4* (daher auch fiDttj'E = Lehre)43. Dieses Wiederholen
geschah aber nicht in der Weise, daß nur der Lehrer vortrug.
Das ganze Verfahren war vielmehr disputatorisch. Der Lehrer
legte den Schülern die einzelnen gesetzlichen Fragen zur Ent-
scheidung vor und ließ sie antworten oder antwortete selbst. Auch
stand es den Schülern frei, selbst Fragen an den Lehrer zu
richten44. Diese Form des Lehrvortrages prägt sich auch noch
im Stile der Mischna aus, indem hier häufig die Frage aufgeworfen
wird, wie es mit diesem oder jenem Gegenstande zu halten sei,
um darauf dann die Entscheidung folgen zu lassen45. — Da alle
Gesetzeskunde | streng traditionell sein sollte, so gab es für den
Schüler nur zweierlei Pflichten. Die eine war die, alles treu im
Gedächtnis zu behalten. E. Dosthai sagte im Namen des K. Mein
Wer ein Lehrstück von seinem Gesetzesunterrichte vergißt, dem
rechnet es die Schrift an, als hätte er mutwillig sein Leben ver-
wirkt46. Die andere Pflicht war die, nie anders zu lehren, als es
ihm überliefert worden war. Selbst im Ausdruck sollte er sich
an die Worte seines Lehrers binden. „Es ist verpflichtet ein jeder
zu lehren mit dem Ausdruck seines Lehrers" littiba nfcib m» a*n
isn47. Das höchste Lob eines Schülers war es, wenn er war „wie
eine mit Kalk belegte Zisterne, welche keinen Tropfen verliert" 48.
Für diese theoretischen Gesetzesstudien, sowohl für die Dis-
putationen der Schriftgelehrten untereinander als für den eigent-
43) Vgl. Hieronymus, Epist. 121 ad Algasiam, quaest. X {Opp. ed. Val-
larsi I, 884 sq.): Doctores eorum oo<pol hoc est sapientes vocantur. Et si quando
certis diebus tradüiones suas exponunt discipulis suis, solent dicere: ol aowol
SevtSQibaiVy id est sapientes doeent traditiones. Über die Bedeutung
von m© und nsrca s. oben § 3, E.
44) S. Lightfoot und Wetstein zu Lue. 2, 46.
45) Z. B. Berachoth I, 1—2. Pea IV, 10. VI, 8. VII, 3. 4. VIII, 1. Kilo-
jim H, 2. IV, 1. 2. 3. VI, 1. 5. Schebiith I, 1. 2. 5. II, 1. HI, 1. 2. IV, 4. —
Besonders häufig wird die Frage mit TS**» (= wie?) eingeführt: Berachoth
VI, 1. VII, 3 Demai V, 1. Terumoth IV," 9~ Maaser scheni IV, 4. V, 4. Chaüa
II, 8. Orla II, 2. III, 8. Bikkurim in, 1. 2. ErtMn V, 1. VHI, 1.
46) Aboth II r, 8.
47) Edujoth I, 3.
48) Aboth 11,8. —Vgl. auch Gfrörer, Das Jahrh. des Heils 1,168—173.
Schtirer, Geschichte II. 4. Aufl. 25
386 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [325. 326]
liehen Unterricht, gab es im Zeitalter der Mischna, und gewiß
schon früher besondere Lokale, die „Lehrhäuser" (hebr. ma
«h-nan, plur. rrtfljma ^ra49. Dieselben werden öfters mit den
Synagogen zusammen genannt als Lokale, die in gesetzlicher Hin-
sicht gewisse Vorzüge genießen50. In Jabne wird als Versamm-
lungsort der Gelehrten eine Lokalität erwähnt, welche „der Wein-
berg" (D13) hieß, woraus man aber nicht schließen darf, daß D^s
überhaupt poetische Bezeichnung eines Lehrhauses gewesen sei51.
In Jerusalem hielt man die Lehrvorträge wohl auch „im Tempelu
(h rq> kQ<p, Luc. 2, 46. ML 21, 23. 26, 55. Mc. 14, 49. | Luc. 20, 1.
21, 37. Joh. 18, 20), d. h. in den Säulenhallen oder sonst einem
Räume des äußeren Vorhofes. — Die Schüler saßen beim Unter-
richte am Boden (*j?"i]?a), der Lehrer auf einem erhöhten Platze
(daher Apgesch. 22, 3: naga rovg jtoöaq ranaXir\X\ vgl. auch
Luc. 2, 46) 52.
3) Eine dritte Aufgabe, welche ebenfalls zum Beruf der Schrift-
gelehrten gehörte, ist endlich das Rechtsprechen im Gericht.
49) Schon Jesus Sirach versammelte seine rWtö*» (— Zuhörerschaft Sir.
51, 29) in seinem »nta rv*3 (Str. 51, 23). In der Mischna vgl. Berachoth IV, 2.
Demai II, 3. VII, 5. *Terumoth XI, 10. Schabbaih XVI, 1. XVm, 1. *Pesachim
IV, 4. Beza III, 5. Aboth V, 14. Menachoth X, 9. Jadajim IV, 3. 4. An den
mit * bezeichneten Stellen findet sich die Pluralform. — Über andere Be-
zeichnungen des Lehrhauses s. Vitringa, De synagoga vetere p. 133 sqq.
50) Terumoth XI, 10. Pesachim IV, 4. — Aus beiden Stellen erhellt auch,
daß die Lehrhäuser von den Synagogen verschieden sind. — Über die
Lehrhäuser überh. s. auch Hamburger, Real-Enz. n, 675—677 (Art. „Lehr-
haus"). Kohler , Art. Bet ha-nridrash in The Jewish Encyclopedia III, 1902,
p. 116—118.
51) Kethuboth IV, 6. Edvjoth II, 4. — Nach dem Zusammenhang beider
Stellen ist D*o ein Ort, wo sich die Gelehrten in Jabne zu versammeln
pflegten (R. Eleasar, resp. R. Ismael trug das und das vor den Gelehrten
im Weinberg zu Jabne vor). Vermutlich ist damit ein wirklicher Wein-
berg gemeint mit einem Haus oder einer Halle, die als Versammlungsort
diente. — Die herkömmliche Erklärung will freilich die Benennung daraus
ableiten, daß im Lehrhause die D^abn reiben weise saßen wie die Weinstocke
(so schon jer. Berachoth IV foL 7d bei Levy, Neuhebr. Wörterb. n, 408, und
hiernach die Kommentatoren der Mischna, s. Surenhusius' Ausgabe HI, 70,
IV, 332). S. dagegen auch Derenbourg, Histoire de la Palestine p. 380 not 3.
52) Nach der späteren talmudischen Überlieferung soll das Sitzen der
Schüler am Boden erst seit dem Tode Gamaliels L üblich geworden sein,
während sie früher standen (Megilla 21a bei Light foot, Horae hebraicae zu
Luc. 2, 46). Die ganze Sage ist aber lediglich Ausdeutung von Sota IX, 15:
„Seit Rabban Gamaliel der Alte tot ist, ist die Ehrerbietung vor dem Gesetz
entschwunden". S. dagegen außer Imc. 2, 46 auch Aboth I, 4, wonach bereits
Jose ben Joeser sagte, man solle sich zu den Füßen der Weisen be-
stäuben lassen.
[326. 327] II. Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. 387
Sie sind ja die berufsmäßigen Kenner des Gesetzes. Ihre Stimme
muß daher auch im Gericht von maßgebender Bedeutung sein.
Allerdings ist — wenigstens in der uns beschäftigenden Periode —
zum Amt eines Richters keineswegs eine eigentlich gelehrte Kennt-
nis des Gesetzes erforderlich. Eichter konnte jeder sein, der durch
das Vertrauen seiner Mitbürger dazu bestellt wurde. Und man wird
annehmen dürfen, daß die kleinen Ortsgerichte vorwiegend Laien-
gerichte waren. Aber es liegt in der Natur der Sache, daß ein
Richter in dem Maße Vertrauen genoß, als er sich durch gründ-
liche und sichere Kenntnis des Gesetzes auszeichnete. Soweit also
„gelehrte" Kenner des Gesetzes überhaupt vorhanden waren, wird
man sie zum Richteramt berufen haben. In betreff des großen
Synedriums zu Jerusalem ist es durch das Neue Testament aus-
drücklich bezeugt, daß zu den Beisitzern desselben auch yQafZfiazeZg
gehörten (vgl. oben S. 251). — Nach dem Untergang des jüdischen
Staatswesens im Jahre 70 hat auch in dieser Beziehung die Auto-
rität der Rabbinen an selbständiger Bedeutung noch gewonnen.
Wie man sie jetzt als selbständige Gesetzgeber anerkannte, so
hat man sie auch als selbständige Richter anerkannt Man fügte
sich freiwillig ihrem Urteil, mochten sie nun als Kollegium oder
als Einzelrichter entscheiden. So wird z. B. erzählt, daß einst
R. Akiba einen Mann zu 400 Sus (Denaren) Schadenersatz ver-
urteilte, weil er einer Frau auf der Straße das Haupthaar ent-
blößt hatte 53.
Diese dreifache Tätigkeit der Schriftgelehrten als Gesetzes-
kundiger bildet ihren eigentlichen und nächsten Berufe Aber die
heiligen Schriften waren doch nicht nur Gesetz. Schon im Penta|-
teuch nimmt die Geschichtserzählung einen breiten Raum ein.
Die anderen heiligen Schriften sind fast ausschließlich entweder
geschichtlichen oder religiös-belehrenden Inhalts. Diese
Tatsache blieb doch immer wirksam, so sehr man sich auch ge-
wöhnt hatte, alles zunächst unter dem Gesichtspunkt des Gesetzes
aufzufassen. Indem man also auch diesen Schriften als heiligen
Schriften ein eingehendes Studium zuwandte, konnte man doch
nicht umhin, die Geschichte eben als Geschichte und die religiöse
Belehrung als solche sich gesagt sein zu lassen. Das Gemeinsame
in der Behandlung dieser Schriften und derjenigen des Gesetzes
war aber, daß man auch sie als einen heiligen Text, eine
53) Baba kamma VIII, 6. — Daß es nach dem J. 70 n. Chr. in Palästina
keine rabbinischen „Gerichtshöfe" im strengen Sinne, d. h. mit staatlicher
Anerkennung gab, zeigt Chajes, Les juges juifs en Palestine de Van 70 ä Van
500 (Revue des itudes juives t XXXIX, 1899, p. 39—52). Vgl. auch oben S. 248.
25*
388 § 25- We Schriftgelehrsamkeit. [327. 328]
heilige Vorlage behandelte, die man nicht nur eingehend studierte,
sondern auch einer eingehenden Bearbeitung zu unterwerfen
sich gedrungen fühlte. Wie man das Gesetz immer weiter aus-
bildete, so bildete man auch die heilige Geschichte und die re-
ligiöse Belehrung weiter aus, und zwar immer im Anschluß
an den Text der Schrift, der eben in seiner Eigenschaft als heiliger
Text zu solch eingehender Beschäftigung mit ihm ■ stillschweigend
aufforderte. Dabei sind natürlich die Anschauungen der späteren
Zeit von sehr wesentlichem Einfluß auf die Gestaltung der Resul-
tate gewesen. Die Geschichte und die Dogmatik wurden nicht nur
weiter ausgebildet, sondern auch den Anschauungen der späteren
Zeit entsprechend umgebildet. Durch diese ganze Tätigkeit ent-
stand nun das, was man die Haggada zu nennen pflegt54. — Die
Beschäftigung mit ihr gehörte zwar nicht zu dem eigentlichen Be-
ruf der Gesetzeslehrer. Aber wie die Bearbeitung des Gesetzes
und die Bearbeitung des heiligen Textes nach seinem geschicht-
lichen und religiös-ethischen Inhalt aus einem verwandten Bedürfnis
entsprungen sind, so ergab es sich auch von selbst, daß beide von
denselben Männern betrieben wurden. Die „Gelehrten" haben sich
in der Regel mit beidem beschäftigt, wenn auch die einen mehr
auf diesem, die andern mehr auf jenem Gebiete sich auszeichneten.
In ihrer doppelten Eigenschaft als Kenner des Gesetzes und
als Kenner der „Haggada" waren die Schriftgelehrten auch vor
anderen befähigt, die Lehrvorträge in den Synagogen zu
halten. Zwar sind auch diese nicht an bestimmte Personen ge-
bunden. Jeder Befähigte konnte in der Synagoge lehrend auftreten,
wenn ihm der Archisynagog das Wort hierzu erteilte (s. § 27).
Aber wie man bei den Gerichten die gelehrten Gesetzeskenner vor
den Laien bevorzugte, so wird auch in der Synagoge das natür-
liche Übergewicht der gelehrten Schriftkenner von selbst sich
geltend gemacht haben. |
Zu der juristischen und der haggadischen Bearbeitung der
heiligen Schriften kommt endlich noch eine dritte Art von gelehrter
Beschäftigung mit denselben: die Sorge für den Schrifttext
als solchen. Je höher die Autorität des heiligen Buchstabens
stieg, desto mehr stellte sich auch das Bedürfnis ein, für die un-
verfälschte und gewissenhafte Erhaltung desselben zu sorgen. Aus
diesem Bedürfnis sind alle jene Beobachtungen und kritischen Be-
merkungen entsprungen, die man unter dem Namen der Masora
zusammenzufassen pflegt (Zählung der Verse, Worte und Buch-
54) Näheres hierüber s. in Abschnitt HL
[328] IL Die Schriftgelehrten und ihre Tätigkeit im allgemeinen. 389
staben, orthographische und textkritische Bemerkungen und dergl.) 55.
In der Hauptsache gehört jedoch diese Arbeit einer späteren Zeit
an. In unserer Periode sind höchstens die ersten Anfänge dazu
gemacht worden56.
55) Über den Ausdruck „Masora" vgl. die treffliche Erörterung von
Bacher in The Jewish Quarierly Review vol. III, 1891, p. 785 — 790. Kürzer
Ders. in: Die älteste Terminologie der jüdischen Schriftauslegung (1899, an-
derer Titel 1905) S. 106—109. Er zeigt, daß der Ausdruck miw aus Exech.
20, 37 stammt und daher ebenso wie dort auszusprechen ist. Gleiches Recht
hat daneben der Ausdruck moa, was aber M^DiE (moserah) auszusprechen
ist. Die Form Masorah oder Massorah ist eine hybride Bildung ohne sprach-
liche Berechtigung, die freilich aus dem Gebrauche nicht mehr zu entfernen
sein wird. Sonst vgl. noch Dal man, Studien zur bibl. Theologie 1889, S. 8.
Buhl, Kanon und Text des A. T. 1891, S. 95 f.
56) Vgl. über die Masora: Strack in Herzog- Haucks Real-Enz. 3. Aufl.
Xu, 1903, S. 393—399. — Reuß, Gesch. der heiligen Schriften A. T.s § 581,
und die von beiden zitierte Literatur. — Aus neuerer Zeit: Hamburger, Real-
Enz. II, 1211—1220 (Art. „Text der Bibel"). Dazu Suppl. IV, 1897, S. 52—68
(Art. „Massora"). — Harris, The rise and development of tke Massorah (The
Jewish Quarterly Revieio vol. I, 1889, p. 128-142, 223—257). — Bacher, Die
Agada der Tannaiten, 2 Bde. 1884—1890 Bd. I, 2. Aufl. 1903. Ders., Die
Agada der palästinensischen Amoräer 3 Bde. 1892 — 1899 (Sachregister s. v.
Massoretisches). — Buhl, Kanon und Text des A. T. 1891, S. 94—106. — Blau,
Masoretische Untersuchungen, Straßb. 1891 (Theol. Litztg. 1892, 255). — Bacher
in: Winter und Wünsche, Die jüdische Literatur seit Abschluß des Kanons II,
1892, S. 119—132 (mit guter Literaturübersicht S. 132); dasselbe auch in der
hieraus abgedruckten Separatschrift: Die hebräische Sprachwissenschaft usw.
1892. — Dobschütz, Die einfache Bibelexegese der Tannaim (Breslau 1893)
8. 36 f. — Blau, Zur Einleitung in die heilige Schrift (Jahresbericht derLan-
des-Rabbinerschule in Budapest 1894) S. 100 — 129: Masoretisches. — Blau, Mas-
soretie studies (Jewish Quarterly Review vol. VHI, 1896, p. 343—359. IX, 1897,
p. 122 — 144. 471 — 490). — Ginsburg, Introduction to the Massoretieo-critical
edition of the Hebrew Bible, London 1897. — Strack, Art. „Text of the Old Te-
stament" in Hostings' Dictionary oftlie Bible IV, 1902, p. 726 — 732. — Hyvernat,
Petite introduction ä Pftude de la Massore (Revue biblique 1902 bis 1905). — Le-
vias Art Masorah in: The Jewish Encyelopedia Vlll, 1904, p. 365—371. — Blau,
Neue masoretische Studien (Jewish Quarterly Review XVI, 1904, p. 357 — 372).
— In der Mischna finden sich nur ganz vereinzelte Bemerkungen, die, etwa
hierher gehören; so Pesachim IX, 2 (daß über dem n in üpm Num. 9, 10
ein Punkt stehe), Sota V, 5 (daß das tf'i Hiob 13, 15 „ihm" oder „nicht"
heißen könne). Hieronymus, Quaest. Hebr. in Genesin bemerkt zu Gen. 19, 35
(opp. ed. Vaüarsi m, 1, 334): Denique Hebraei, quod sequitur „Et nesnvit
quum dormisset cum eo et quum surrexisset ab eo" appungunt desuper quasi
incredibile. — Wenn R. Akiba Aboth III, 13 sagt, die rnbE sei „ein Zaun um
die Thora", so ist möE vermutlich schon hier die sorgfältige Überlieferung
des Bibellextes, s. Bacher, Die älteste Terminologie S. 108. Strack in Her-
zog-Haucks Real-Enz. Xu, 394.
390 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [329]
III. Halacha and Haggada.
Literatur.
Surenhusius, BlßXoq xazaXXay^g in quo secundum veterum theologorum He-
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Zeitschr. XI, 1875, S. 227 ff.).
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Bacher, Die Agada der Tannaiten (Grätz' Monatsschrift für Gesch. und
Wissensch. des Judenth. 1882—1884). Auch separat unter dem Titel: Die
Agada der Tannaiten. 1. Bd.: Von Hillel bis Akiba, Straßburg 1884.
Dazu 2. Bd.: Von Akibas Tod bis zum Abschluß der Mischna. Straß-
burg 1890. — 1. Bd. 2. Aufl. 1903.
Bacher, Die Agada der palästinensischen Amoräer. 1. Bd. Vom Abschluß
der Mischna bis zum Tode Jochanans (220 — 279 nach der gew. Zeitrech-
nung). Straßburg 1892. — 2. Bd. Die Schüler Jochanans (Ende des 3. und
Anfang des 4. Jahrh.) 1896. | — 3. Bd. Die letzten Amoräer des heiligen
[330] III. Halacha und Haggada. 1. Die Halacha. 391
Landes (vom Anfange des 4. bis zum Anfange des 5. Jahrh.). 1899. — Dazu:
Die Agada der Tannaiten und Amoräer, Bibelstellenregister, 1902.
Weber, System der altsynagogalen palästin. Theologie (1880) bes. S. 88 — 121.
Beuß, Gesch. der heiligen Schriften Alten Testaments (1881) § 411—415.
582—584.
Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, Abt. II (1883) Art. Agada
(S. 19—27), Allegorie (S. 50—53), Exegese (S. 181—212), Geheimlehre
(S. 257-278), Halacha (S. 338-353), Kabbala (S. 557—603), Mystik
(S. 816—819), Rabbinismus (S. 944—956), Recht (S. 969—980). — Dazu
Supplementbd. II (1891) Art. Gesetzesaufhebung (S. 51—53), Mündliches
Gesetz (8. 142—145), Sinaitische Halacha (S. 162—165), Tradition (S. 169—
177). Supplementbd. HI (1892) Art. Agada (S. 1—9), Binden und Lösen
(S. 27—30).
Mielniner, Iniroduction to the Talmud. Historieal and literary introduction.
Legal hermeneidics of the Talmud. Talmudical terminology and methodo-
iogy. Outlines of talmudical ethics. Cincinnati 1894 (vgl. Theol. Litztg.
1894, 636).
Bacher, Die älteste Terminologie der jüdischen Schriftauslegung, 1899. Mit
neuem Titel: Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionslite-
ratur, 1. Teil. 1905. Dazu gleichzeitig: 2. Teil. 1905.
Bacher, Les trois brauche* de la science de la vieille traditionjuive, le Mi-
drashy les Halachot et les Haggadot (Revue des etudes juives t. XXXVIII,
1899, p. 211—219). Dasselbe deutsch erweitert in: Die Agada der Tan-
naiten 1. Bd, 2. Aufl. 1903, S. 475—489.
Ginzberg, Die Haggada bei den Kirchenvätern. I. Die Haggada in den
pseudohieronymianischen Quaestiones. Heidelberger Diss. 1899 [zu Rich-
ter, Samuel i s, Könige und Chronik].
Ginzberg, Die Haggada bei den Kirchenvätern und in der apokryphischen
Litteratur, Berlin, Calvary 1900 (vorher in: Monatsschr. für Gesch. u.
Wissensch. d. Judenthums 1898 u. 1899) [zur Genesis].
Weinstein, Zur Genesis der Agada, IL Teil: Die alexandrinische Agada,
1901 [über den Einfluß der hellenistischen Philosophie auf die palästin.
Haggada; der beabsichtigte I. Teil ist nicht erschienen].
Rahmer, Die hebräischen Traditionen in den Werken des Hieronymus. Die
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1902 (dazu die Anz. von Bacher, Theol. Litztg. 1903, 454—457).
The Jeurish Encyclopedia, I, 1901, p. 403 — 411 (Art. AJlegorical Interpretation
von L. Ginzberg), IV, 1903, p. 80—86 (Art. Ghurch Fathers von S. Krauß),
VIII, 1904, p. 548—550 (Art. Midrash von S. Horovitz).
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1906, S. 176—186.
A ich er, Das Alte Testament in der Mischna (Biblische Studien, herausg. von
Bardenhewer XI, 4) 1906, S. 53—170. Vgl. die Anz. von Bacher, Jewish
Quarterly Review XIX, 1907, p. 598—606.
1. Die Halacha.
Nach dem im vorigen Abschnitt Bemerkten war die theore-
tische Arbeit der Schriftgelehrten im wesentlichen eine doppelte.
Sie hatten 1) das Eecht zu entwickeln und festzustellen; sie be-
392 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit [330. 331]
arbeiteten aber 2) auch die geschichtlichen und religiös-
belehrenden Abschnitte der heiligen Schriften. Durch die erstere
Tätigkeit wurde neben der geschriebenen Thora ein Gewohnheits-
recht ausgebildet, das man im rabbinischen Sprachgebrauch die
Halacha (fiabn, eigentl was gang und gäbe ist) zu nennen pflegt.
Durch die andere Tätigkeit wurde eine mannigfaltige Fülle ge-
schichtlicher und religiös-ethischer Vorstellungen erzeugt, die man
unter dem Namen der Haggada oder Aggada (Tnxn oder ?nto&,
eigentl. Lehre, s. unten Nr. 2) zusammenzufassen pflegt Über Ent-
stehung, Wesen und Inhalt beider ist nun noch näher zu handeln.
Die gemeinsame Grundlage beider ist das Erforschen oder
Erläutern des Schrifttextes, hebräisch wy\l. Unter diesem „Er-
forschen" | verstand man aber nicht historische Exegese im moder-
nen Sinne, sondern das Aufsuchen neuer Erkenntnisse auf Grund
des gegebenen Textes. Es wurde nicht nur gefragt, was der vor-
liegende Text seinem Wortlaute nach sage, sondern auch, was für
Erkenntnisse aus diesem Wortlaute durch logische Schlußfolge-
rungen, durch Kombinationen mit anderen Stellen, durch allegorische
Exegese und dergl. zu gewinnen seien. Die Art und Methode dieses
Forschens war bei der Bearbeitung des Gesetzes eine andere und
verhältnismäßig strengere als bei der Bearbeitung der geschicht-
lichen und dogmatisch-ethischen Partien.
Der halachische Midrasch (also die exegetische Bearbeitung
der Gesetzesstellen) hatte zunächst nur den Umfang und die
Tragweite der einzelnen Gebote ins Auge zu fassen. Es mußte
gefragt werden: auf welche Fälle des praktischen Lebens die be-
treffende Vorschrift Anwendung finde, welche Konsequenzen sich
aus ihr ergeben, überhaupt: was zu tun sei, damit sie ja ihrem
1) un'n findet sich in der Mischna in folgenden Konstruktionen: 1) „eine
Schriftstelle oder einen Schriftabschnitt erforschen, erläutern",
wobei der Objekts- Akkusativ entweder ausgedrückt wird oder in Gedanken zu
ergänzen ist, Berachoth I, 5. Pesachim X, Afin. Schekalim I, 4. V, 1. Joma
I, 6. Megilla II, 2. Sota V, 1. 2. 3. 4. 5. IX, 15. Sanhedrtn XI, 2. — 2) mit
31 in derselben Bedeutung „über eine Stelle Erläuterungen geben" Chagiga
11,1. — 3) „einen Satz oder eine Erklärung durch Forschung fin-
den", z.B. ]v nn^ IT PK „dieses erforschte er aus der und der Stelle" (Joma
VIII, 9), oder ohne 1» (Jebamoth X, 3. Chullin V, 5), oder in der Verbindung
unri tö"37« n- iidiese Erklärung gab der und der" (Schekalim VI, 6. Kethuboth
IV, 6). — Das von tü-H gebildete Substantiv ist tö**]* „Forschung, Erläuterung,
Bearbeitung" Schekalim VI, 6. Kethuboth IV, 6. ' Nedarim IV, 3. Aboth 1, 17;
auch in der Verbindung iS'YTOtt nra, s. oben Anm. 49. Es findet sich schon
II Ohron. 13, 22. 24, 27. — S. über iö*H Bacher, Die exegetische Termino-
logie I, 25—27. II, 41—43. Über »-na Bacher ebendas. I, 103—105. 11,107.
Strack in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. XIII, 784 f. (Art Midrasch).
[331. 332] III. Halacba und Haggada. 1. Die Halacha. 393
vollen Umfange nach streng und pünktlich beobachtet werde. Die
Gebote wurden also in das feinste kasuistische Detail zerspalten
und immer wieder zerspalten; und dabei durch die umfassendsten
Vorsichtsmaßregeln dafür gesorgt, daß bei der Beobachtung der-
selben keinerlei Nebenumstände stattfänden, welche als eine Be-
einträchtigung der absolut pünktlichen Erfüllung zu betrachten
wären. — Mit dieser Analyse des gegebenen Textes war aber die
juristische Aufgabe doch nicht erschöpft Es waren auch mancher-
lei Schwierigkeiten zu lösen, die sich ergaben teils aus vor-
handenen Widersprüchen innerhalb des Gesetzeskodex, teils aus
der Inkongruenz gesetzlicher Forderungen mit den realen Ver-
hältnissen des Lebens, teils auch und namentlich aus der Un-
verständigkeit des geschriebenen Gesetzes. Auf alle Fragen, die
sich hieraus ergaben, hatten die Gelehrten eine Antwort zu suchen:
sie hatten die vorhandenen Differenzen durch Feststellung einer
maßgebenden Erklärung zu beseitigen; sie hatten, wo die Beob-
achtung einer Vorschrift wegen der realen Verhältnisse des Lebens
unmöglich oder schwierig oder unbequem war, zu zeigen, wie man
sich trotzdem mit dem Wortlaut ihrer Forderung abfinden könne;
sie hatten endlich besonders für alle diejenigen Fälle des prak-
tischen Lebens, welche durch das geschriebene Gesetz nicht direkt
geregelt waren, eine gesetzliche Normierung zu suchen, sofern eben
das Bedürfnis nach einer solchen sich einstellte. Namentlich das
letztere Gebiet war für die juristische Forschung eine unerschöpf-
liche Quelle der Arbeit. Immer wieder und wieder ergaben sich
Fragen, auf welche das geschriebene oder bisher festgestellte Recht
keine unmittelbare Antwort gab, deren Beantwortung also Sache
der juristischen Forschung war. Für die | Beantwortung solcher
Fragen standen im wesentlichen zwei Mittel zu Gebote: die ge-
lehrte Schlußfolgerung aus bereits anerkannten Sätzen und die
Feststellung eines bereits vorhandenen Herkommens. Auch das
letztere war, sofern es sich konstatieren ließ, für sich allein schon
entscheidend.
Die gelehrte Exegese (Midrasch) ist nämlich keineswegs die
einzige Quelle der Rechtsbildung. Ein beträchtlicher Teil dessen,
was später gültiges Recht wurde, hat überhaupt keinen An-
knüpfungspunkt in der Thora, sondern ist zunächst nur Sitte und
Gewohnheit gewesen. Man hielt es mit dem und dem so und
so. Aber aus der Gewohnheit wurde dann unmerklich ein Ge-
wohnheitsrecht. Wenn etwas auf rechtlichem Gebiete schon
so lange üblich war, daß man sagen konnte, es ist von jeher so
gehalten worden, so war es Gewohnheitsrecht. Es war dann
gar nicht erforderlich, daß seine Ableitung aus der Thora sich
394 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [332. 333]
nachweisen ließ: das alte Herkommen als solches war schon ver-
bindlich. Und dieses Gewohnheitsrecht zu konstatieren, war auch
eine Aufgabe und Befugnis der anerkannten Gesetzeslehrer.
Aus diesen beiden Quellen erwuchs nun mit der Zeit eine Fülle
rechtlicher Bestimmungen, welche der geschriebenen Thora mit
gleicher Autorität an die Seite traten. Sie werden alle unter dem
Gesamtbegriff der Halacha, d. h. des Gewohnheitsrechtes,
zusammengefaßt Denn auch das durch gelehrte Forschung ge-
fundene ist, wenn es Geltung erlangt hat, Gewohnheitsrecht, robn 2.
Das geltende Recht umfaßt demnach jetzt zwei Haupt-
kategorien: die geschriebene Thora und die Halacha5, die
wenigstens bis gegen Ende unserer Periode nur mündlich fort-
gepflanzt wurde. Innerhalb der Halacha gibt es aber wieder
verschiedene Kategorien. 1) Einzelne Halachoth (traditionelle
Satzungen) werden bestimmt auf Mose zurückgeführt4, 2) die
große | Masse ist die Halacha schlechthin, 3) gewisse Satzungen
endlich werden als „Verordnungen der Schriftgelehrten"
(a^nfcio ■nyi) bezeichnet 5. Alle drei Kategorien sind rechtsverbind-
lich. Aber das Ansehen derselben ist doch ein nach der genannten
Reihenfolge sich abstufendes: bei der ersten Klasse am höchsten,
bei der letzten relativ am niedrigsten. Denn während man die
Halacha im allgemeinen als von jeher in Geltung befindlich an-
sah, war man in betreff der O'nsio *nOT sich dessen bewußt, daß
sie erst von den Nachfolgern Esras (dies sind die O'n&io) eingeführt
2) Der umfassende Begriff der riD^n ergibt sich aus folgenden Stellen:
Pea II, 6. IV, 1—2. Orla III, 9. Schabbath I, 4. Ghagiga I, 8. Jebamoth
VIH, 3. Nedarim IV, 3. Edujoth I, 5. VIII, 7. Aboth III, 11. 18. V, 8. Ke-
rithoth III, 9. Jadajim IV, 3 fin. Vgl. Bacher, Die exegetische Termino-
logie I, 42 f. II, 53 — 56. — Nicht zu verwechseln mit der Halacha ist „die
jüdische Sitte" rVHsirn n^ (Kethuboth VII, G), die nur das Gebiet des „guten
Tones" bezeichnet, verwandt mit yysji ^n"n (Kidduschin I, 10). Auch der
spätere Begriff Minhag gehört hierher, der einen lokal oder sonstwie begrenzten
„Usus" bezeichnet. Vgl. hierüber Hamburger, Real-Enz. Supplementbd. II
(1891) Art. „Brauch". Über ■pa yn Bacher, Die exegetische Terminologie
I, 25. II, 40 f.
3) rnin oder K'jfJ'a (Schrift) und riDin werden z. B. unterschieden : Orla
III, 9. Chagiga I, 8. Nedarim IV, 3. Ähnlich &np>* und nj»? (Gesetzeslehre)
Kidduschin I, 10. — Über *rp* s. Bacher I, 117—121. II, 119 f.
4) Solche ^©a rittteb rtebn werden in der Mischna an drei Stellen er-
wähnt: Pea II, 6. Edujoth VIII, 7. Jadajim IV, 3 fin. — Im ganzen finden
sich in der talmudisch-rabbinischen Literatur etwa 50 — 60. S. Herzfeld,
Gesch. des Volkes Jisrael III, 226 — 236. Hamburger, Real-Enz. Supple-
mentbd. II, Art. „Sinaitische Halacha".
5) Orla III, 9. Jebamoth II, 4. IX, 3. Sanhedrin XI, 3. Para XI, 4—6.
Tohoroth IV, 7. 11. Jadajim III, 2. Vgl. auch Kelim XIII, 7. lebul jom IV , 6.
[333. 334] III. Halacha und Haggada. 1. Die Halacha. 395
worden sind6, überhaupt hat man im Zeitalter der Mischna noch
ein ganz deutliches Bewußtsein davon, daß manche traditioneile
Satzungen teils gar nicht in der Thora begründet sind, teils nur
durch dftnne Fäden mit ihr zusammenhängen7. Trotzdem aber
war das Gewohnheitsrecht ganz ebenso rechtsverbindlich wie die
geschriebene Thora8; ja es wurde sogar bestimmt, daß der Wider-
spruch gegen die D^nöio ^"Oi ein schwereres Vergehen sei als der
Widerspruch gegen die Satzungen der Thora9, weil nämlich die
ersteren die authentische Auslegung und Ergänzung der letzteren,
und darum tatsächlich die eigentlich maßgebende Instanz sind.
In dem Wesen der Halacha war es begründet, daß sie nie
etwas Fertiges und Abgeschlossenes sein konnte. Die beiden
Quellen, aus denen sie entsprungen ist, flössen unerschöpflich
weiter. Durch fortgesetzte gelehrte Exegese (Midrasch) wurden
immer neue | Satzungen geschaffen; und es konnten auch gewohn-
heitsmäßig neue Gebräuche hinzukommen. Beides, wenn es sich
als Gewohnheitsrecht durchsetzte, wurde wieder zur Halacha,
deren Umfang also bis ins Unendliche anschwoll. Aber in jedem
Stadium der Entwickelung wurde doch unterschieden zwischen
dem, was bereits gültig war, und dem, was nur durch ge-
lehrte Schlußfolgerung der Eabbinen gefunden wurde,
zwischen robn und )^ (urteilen). Nur ersteres war rechtsverbind-
lich, letzteres an und für sich noch nicht 10. Erst wenn die Majori-
tät der Gelehrten sich dafür entschieden hatte, dann waren auch
6) Daß die D^ölb **\yi eine relativ geringere Autorität haben als die
Halacha schlechthin, erhellt ans Orla III, 9 (wo es ganz unberechtigt ist,
bei Ms^n zu ergänzen *^öa SittJab). — Über die Neuheit der D^Blö •nrn
vgl. bel^Kelim XHL 7. Tebul jom IV, 6: ö^ibiö «itc^n izhn wi.
O 7 " * . | j.TTTT
7) Vgl. bes. die merkwürdige Stelle Chagiga I, 8: „Das Auflösen der Ge-
lübde ist eine Satzung, die gleichsam in der Luft schwebt, denn es findet sich
in der Schrift nichts, worauf es sich stützen könnte. Die Gesetze über Sab-
bath, Festopfer und Veruntreuung (geheiligter Sachen durch Mißbrauch)
gleichen Bergen, die an einem Haare hängen, denn es gibt darüber wenige
Schriftstellen und viele Gewohnheitsrechte (nisbn). Hingegen die Zivilgesetze
(r?n?)> die Kultusgesetze, die Reinheits-, Unreinheits- und Blutschandegesetze
stützen sich vollkommen auf die Schrift. Sie bilden den wesentlichen Inhalt
der (schriftlichen) Thora".
8) Vgl. bes. Aboth III, 11. V, 8.
9) Sanhedrin XI, 3: mta ■nana* ö^öio '»'■ma Win. Ähnliche Aus-
Sprüche späterer Babbinen s. bei Bodenschatz, Kirchliche Verfassung der
heutigen Juden H, 341. Weber, System S. 102 ff.
10) S. bes. Jebamotk Vm, 3. Kerithoth IH, 9. Über «pn s. Bacher, Die
exegetische Terminologie I, 21—23. II, 37 f. — Die rvoin und der ü*Hi3
werden Nedarim IV, 3 als zweierlei Gegenstände des Unterrichts von einander
unterschieden.
396 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [334. 335]
solche Sätze verbindlich und gehörten von nun an zur Halacha.
Denn die Majorität derer, die durch Gelehrsamkeit sich aus-
zeichnen, ist das entscheidende Tribunal11. Man ist daher
auch verpflichtet sich an die DTDDn itm zu halten12. Selbstver-
ständlich gilt aber dieses Majoritätsprinzip nur für solche Fälle,
die nicht schon durch die bereits gültige Halacha geregelt sind.
Denn worüber eine Halacha existiert, hat man unbedingt dieser
zu folgen, auch wenn 99 dagegen und nur einer sich dafür er-
klären sollte13. — Mit Hilfe des Majoritätsprinzips kam man auch
über die große Schwierigkeit hinweg, welche durch das Auseinander-
gehen der Schulen Hilleis und Schammais entstand (s. darüber
unter Nr. IV). Solange die zwischen beiden bestehenden Diffe-
renzen nicht ausgeglichen waren, mußte der gesetzestreue Israelite
in großer Verlegenheit sein, an welche er sich zu halten habe.
Die Majorität hat auch hier schließlich entschieden, sei es nun,
daß die Schulen selbst sich an Zahl miteinander maßen und die
eine von der anderen überstimmt wurde14, oder daß die späteren
Gelehrten durch ihr abschließendes Urteil die Differenz beseitigten ! 5.
Bei der Strenge, mit welcher im allgemeinen die Unveränder-
lichkeit der Halacha proklamiert wurde, sollte man meinen, daß
das einmal Gültige niemals eine Abänderung erfahren konnte. Wie
aber keine Regel ohne Ausnahme ist, so auch diese nicht Und
zwar J sind es nicht ganz wenige Fälle, in welchen bis dahin gül-
tige Satzungen oder Gebräuche später abgeändert wurden, sei
es nun aus rein theoretischen Gründen oder wegen der veränder-
ten Zeitverhältnisse oder weil die alte Sitte zu Inkonvenienzen
führte16.
11) Schabbath I, 4 ff. Edujoth I, 4—6. V, 7. Mikwaoth IV, 1. Jadajim
IV, 1. 3.
12) Negaim IX, 3. XI, 7.
13) Pea IV, 1—2.
14) So werden ein paar Fälle erwähnt, wo die Schule Hilleis von der
Schule Schammais überstimmt wurde, Schabbath I, 4 ff. Mikwaoth IV, 1.
15) In der Regel wird in der Mischna nach Erwähnung der Differenzen
beider Schulen angegeben, wofür „die Gelehrten" sich entschieden haben.
16) Solche Neuerungen wurden z. B. eingeführt durch Hillel (Schebiith
X, 3. Oittin IV, 3. Arachin IX, 4), Rabban Gamaliel L (Bosch haschana
IT, 5. Oittin IV, 2—3), Rabban Jochanan ben Sakkai (Sukka III, 12. Bosch
haschana IV, 1. 3. 4. Sota IX, 9. Menachoth X, 5), R. Akiba (Maaser scheni
V, 8. Nasir VI, 1. Sanhedrin III, 4), überhaupt: Scliebiüh IV, 1. Challa
IV, 7. Bikkurim III, 7. Schekalim VII, 5. Joma II, 2. Kethuboth V, 3. Are-
darim XI, 12. Oittin V, 6. E&ujoth VII, 2. Tebul jom IV, 5. — Vgl. auch
Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, Supplementbd. II, 1891,
S. 51—58 (Art. „Gesetzesaufhebung"). Ders., Suppl. III, 1892, S. 27—30
[335] III. Halacha und Haggada. 1. Die Halacha. 397
So weit sich auch die Halacha von der schriftlichen Thora
entfernte, so wurde doch die Fiktion aufrecht erhalten, daß sie
im wesentlichen nichts anderes sei als eine Auslegung und Näher-
bestimmung der Thora selbst. Formell galt immer noch die Thora
als oberste Norm, aus welcher alle Rechtssätze sich
mußten ableiten lassen17. Allerdings hat die Halacha ihre
selbständige Autorität und ist verbindlich, auch ohne daß ein
Schriftbeweis für sie geführt wird. Ihre Gültigkeit hängt also
nicht vom Gelingen des Schriftbeweises ab. Aber es gehört doch
zur Kunst der Schriftgelehrten, die Sätze der Halacha aus der
Schrift zu begründen 18. Noch unbedingter ist die Forderung zu-
reichender Begründung bei neu aufgestellten oder streitigen Sätzen.
Sie können sich Anerkennung nur erringen durch methodischen
Midrasch, d. h. dadurch, daß sie auf überzeugende Weise aus Sätzen
der Schrift oder aus anderen bereits anerkannten Sätzen abgeleitet
werden. Die Methode der Beweisführung, deren man sich
hierbei bediente, ist nun freilich zum Teil eine für uns befremd-
liche; aber sie hat doch auch ihre Regeln und Gesetze. Man
unterschied zwischen dem eigentlichen Beweis 0"nx"0 und der bloßen
Andeutung (tjT)19. Für den eigentlichen Beweis soll schon Hillel
sieben Regeln (ritro) aufgestellt haben, die man als eine Art
rabbinischer Logik bezeichnen kann20. Diese sieben Regeln lauten:
(Art. „Binden und Lösen")- Mielxiner, Art. Abrogation of Laws in: The Je-
tcish Encyclopedia I, 131 — 133.
17) Dies gilt trotz des in Anm. 7 erwähnten Zugeständnisses. S. bes.
Weber S. 96 ff.
18) Daß diese nachträgliche gelehrte Begründung der Halacha oft auf
ganz andere Sätze der Schrift rekurriert, als auf die, aus welchen die halachi-
schen Sätze wirklich entsprungen sind, sieht man z. B. aus der klassischen
Stelle Schabbath IX, 1—4. Eine Fülle von Belegen gibt A ich er, Das Alte
Testament in der Mischna (Biblische Studien von Bardenhewer XI, 4) 1906,
S. 67—107.
19) Schabbath VIII, 7. IX, 4. Sanhedrin VIII, 2. Vgl. Weber S. 115 ff.
Über rTWt Bacher, Die exegetische Terminologie I, 178 f. II, 201; über *ot
Bacher I, 61 — 55.
20) Sie finden sich in der Tosephta Sanhedrin VII fin. (ed. Zuckermandel
p. 427), in den Aboth de-Rabbi Nathan c. 37, und am Schlüsse der Einleitung
zum Siphra ( Ugolini Thesaurus t. XIV, 595). Der Text im Siphra ist, wenig-
stens nach dem Drucke bei Ugolini, lückenhaft. Das Richtige ergibt sich
aus dem fast wörtlich übereinstimmenden Texte der beiden anderen Quellen.
Vgl. Herzfeld III, 257. Grätz, Gesch. der Juden Bd. HI, 3. Aufl. S. 226
(4. Aufl. S. 712). Der s., Hillel und seine sieben Interpretationsregeln (Mo-
natsschr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1851/52, S. 156 — 162). Fran-
kel, Über palästinische und alexandrinische Schriftforschung '1S54) S. 15— 17.
Strack in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XVIII, 356. Ders., Einleitung in den
398 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [335. 336]
1) Wirn bg „Leichtes und | Schweres", d. h. der Schluß a minori
ad majus21; 2) irm rntä „eine gleiche Entscheidung", d. h. der
Schluß aus Gleichartigem, ex analogia22; 3) in« air^tj a« ^:a
„ein Hauptsatz aus einer Schriftstelle", nämlich Ableitung einer
Hauptbestimmung des Gesetzes aus einer einzigen Schriftstelle;
4) oiMro ■Olött att i?» „ein Hauptsatz aus zwei Schriftstellen";
5) btai vy&i tanfci bis „Allgemeines und Besonderes" und „Beson-
deres und Allgemeines", d. h. Näherbestimmung des Allgemeinen
durch das Besondere und des Besonderen durch das Allgemeine23;
6) in» Diptta ia »ari^a „dem Ähnliches an einer anderen Stelle",
d. h. Näherbestimmung einer Stelle durch Zuhilfenahme einer an-
deren; 7) iywu Ttftn im „eine Sache die sich lernt aus ihrem
Zusammenhange", Näherbestimmung aus dem Zusammenhange des
Textes. — Diese sieben Regeln wurden später zu dreizehn er-
weitert, indem man die fünfte auf acht verschiedene Weisen spezia-
lisierte, dafür aber die sechste wegließ. Die Aufstellung dieser
dreizehn Middoth wird dem R Ismael zugeschrieben. Ihr Wert
Thalmud, 2. Aufl. 1894, S. 99. Die betreffenden Artikel bei Bacher, Die exe-
getische Terminologie I u. II, 1905. Lauterbach, Art. Talmudie Hermeneu-
tics in: The Jewish Encyclopedia XII, 1906, p. 30 — 33 (daselbst auch noch
mehr Literatur). Aicher, Das A. T. in der Mischna 1906, S. 141 — 148.
21) Beispiele: Berachoth IX, 5. Schebiith VII, 2. Bexa V, 2. Jebamoth
Vm, 3. Nasir VII. 4. Sota VI, 3. Baba bathra IX, 7. Sanhedrin VI, 5.
Edujoth VI, 2. Aboth I, 5. Sebachim XII, 3. Chullin II, 7. XII, 5. Becho-
roth I, 1. Kerithoth III, 7. 8. 9. 10. Negaim XII, 5. Machschirin VI, 8. Vgl.
auch Mielziner, The talmudie syüogism or the inference of Kai vechomer
(The Hebrew Review I, Gincinnati 1880). Ad. Schwarz, Der hermeneutische
Syllogismus in der talmudischen Litteratur, VIII. Jahresber. der israelit.-
theol. Lehranstalt, Wien 1901. Wachstein, Monatsschr. f. Gesch. u. Wissensch.
d. Judenth. 1902, S. 53—62. Bacher, Die exegetische Terminologie I, 172 —
174. II, 189 f.
22) Z. B. Bexa I, 6: „Challa und Gaben sind dem Priester zukommende
Geschenke, und ebenso die Teruma. So wenig man nun letztere am Feiertage
zum Priester hinbringen darf, ebensowenig erstere". — Ein anderes Beispiel:
Arachin IV fin. — An beiden Stellen ist auch der Ausdruck nj» rrntfi ge-
braucht. — Reiches Material s. bei Ad. Schwarz, Die hermeneutische Ana-
logie in der talmudischen Litteratur, IV. Jahresber. der israelit.-theol. Lehr-
anstalt, Wien 1897 (rez. von Blau, Revue des Stades juives XXXVI, 1898,
p. 150—159). Bacher, Die exegetische Terminologie I, 13 — 16. U, 27.
23) In den dreizehn Middoth des R. Ismael ist diese Figur auf acht ver-
schiedene Weisen spezialisiert, z. B. durch die Formel ÄDl ta^Bl Ws „Allge-
meines und Besonderes und Allgemeines", d. h. Näherbestimmung zweier all-
gemeiner Ausdrücke durch einen dazwischen stehenden speziellen, wie z. B.
Deut. 14, 26, wo der am Anfang und am Schlüsse gebrauchte allgemeine Aus-
druck „alles was deine Seele gelüstet", beschränkt wird durch die dazwischen
stehenden Worte „Rinder, Schafe, Wein, berauschendes Getränke".
[336. 337] III. Halacha und Haggada. 1. Die Halacha. 399
für die richtige Interpretation des Gesetzes | wird von Seiten des
rabbinischen Judentums so hoch angeschlagen, daß jeder orthodoxe
Israelite sie täglich als integrierenden Bestandteil des Morgen-
gebetes rezitiert (!) 24.
Die Materien, welche den Gegenstand der juristischen For-
schung der Schriftgelehrten bildeten, waren im wesentlichen durch
die Thora selbst gegeben. Den breitesten Baum nehmen darin die
Vorschriften über den priesterlichen Opferdienst und die religiösen
Gebräuche überhaupt ein. Denn das Eigentümliche des jüdischen
Gesetzes ist, daß es vorwiegend Kultusgesetz ist. Es will in
erster Linie gesetzlich feststellen, auf welche Weise Gott zu ehren
ist: welche Opfer ihm darzubringen, welche Feste ihm zu feiern
sind, wie für den Unterhalt der ihm dienenden Priesterschaft zu
sorgen ist, welche religiösen Gebräuche überhaupt zu beobachten
sind. Alle anderen Materien nehmen im Vergleich hierzu einen
relativ geringen Raum ein. Diesem Inhalt des Gesetzes entspricht
auch das Motiv, aus welchem überhaupt die eifrige schriftgelehrte
Beschäftigung mit demselben entsprungen ist: man wollte durch
die pünktliche Auslegung des Gesetzes eben dafür sorgen, daß
keines der Rechte, die Gott für sich in Anspruch nimmt, auch nur
im geringsten verletzt, vielmehr alle aufs gewissenhafteste und im
vollsten Umfange beobachtet würden. So sind denn durch die
Arbeit der Schriffcgelehrten vor allem ausgebildet worden: 1) die
Vorschriften über die Opfer, die verschiedenen Arten derselben,
die Anlässe zu ihrer Darbringung und die Art und Weise der
Darbringung nebst allem, was damit zusammenhängt, also das ge-
samte Opferritual; 2) die Vorschriften über die Feier der hei-
ligen Zeiten, namentlich des Sabbats, aber auch der Jahresfeste:
Passa, Pfingsten, Laubhütten, Versöhnungstag, Neujahr; 3) die Vor-
schriften über die Abgaben an den Tempel und die Priester-
schaft: über die Erstlinge, Hebe, Zehnt, Erstgeburt, Halbsekel-
steuer, über Gelübde und freiwillige Gaben, und was dabei in Be-
tracht kommt: Auslösung, Abschätzung, Veruntreuung u. dergl.;
endlich 4) die mancherlei sonstigen religiösen Satzungen, unter
welchen bei weitem den meisten Raum einnehmen die Vorschriften
24) Sie finden sich daher in jedem jüdischen Siddur (Gebetbuch) ; außer-
dem in der Einleitung zum Sipkra. — Vgl. Waehner, Antiquitates Ebraeorum
I, 422 — 523. Boden seh atz, Kirchliche Verfassung der heutigen Juden III,
237—246 (mit Beispielen). Pinner, Übersetzung des Traktates Berachoth,
Einleitung fol. 17b— 20a. Pressel in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XV, 651 f.
Weber, System der altsynagogalen paläst. Theol. S. 106 — 115. Strack in
Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XVHI, 368. Ders., EinL in den Thalmud, 2. Aufl.
S. 99 f.
400 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [337. 338]
über rein und unrein. Die darauf bezüglichen Bestimmungen
des Gesetzes wurden | für die Schriftgelehrten eine unerschöpfliche
Quelle zur Übung des peinlichsten und gewissenhaftesten Scharf-
sinns. Wahrhaft endlos und unabsehbar sind die Satzungen, durch
welche festgestellt wurde, unter welchen Umständen Verunreini-
gungen bewirkt und mit welchen Mitteln sie wieder beseitigt
werden können — Diese religiösen Satzungen bildeten aber doch
keineswegs den ausschließlichen Stoff für die Arbeit der Schrift-
gelehrten. Das Gesetz Mosis enthält auch die Grundzüge eines
Kriminal- und Zivilrechtes; und die praktischen Anforderungen
des Lebens boten hinreichende Veranlassung, auch diese Materien
weiter auszubilden. Allerdings sind die betreffenden Materien nicht
gleichmäßig bearbeitet worden. Am eingehendsten wurde das Ehe-
recht entwickelt, teils weil das Gesetz hierzu am meisten Veran-
lassung bot, teils weil es am engsten mit dem religiösen Gebiete
zusammenhing. Nicht ganz mit derselben Ausführlichkeit sind in
der Mischna die übrigen Gebiete des Zivilrechtes behandelt (in
den Traktaten Baba kamma, Baba mezia und Baba bathra), und
noch weniger ist das Kriminalrecht ausgebaut (in den Traktaten
Sanhedrin und Makkoth). So gut wie völlig ignoriert wird das
Gebiet des Staatsrechtes. Zu dessen Ausbildung bot allerdings
die Thora nur äußerst geringe Veranlassung, und die etwa darauf
verwendete Arbeit wäre in Anbetracht der politischen Verhältnisse
auch völlig nutzlos gewesen25.
2. Die Haggada.
Von ganz anderer Art als der halachische Mid rasch ist der
sogenannte haggadische Midrasch, d. h. die Bearbeitung der
geschichtlichen und religiös-ethischen Partien der heiligen Schriften.
Während bei jenem die Bearbeitung doch vorwiegend in einer Ent-
wickelung und Fortbildung des wirklich im Text Gegebenen
besteht, nimmt die haggadische Bearbeitung ihren Inhalt zum
größten Teil nicht aus dem Texte, sondern sie trägt ihn in den-
selben ein. Sie ist eine Bereicherung und Umbildung des Gegebenen
nach den Bedürfnissen und Anschauurgen der späteren Zeit. Den
Ausgangspunkt bildet allerdings auch hier der gegebene Text. Und
es findet immerhin auch hier zunächst eine ähnliche Bearbeitung
statt, wie bei den Gesetzesstellen: man bearbeitet die Geschichte,
25) Die Belege für Obiges gibt die Inhaltsübersicht über die Mischna
(s. § 3).
[338. 339] m. Halacha und Haggada. 2. Die Haggada. 401
indem man die verschiedenen Angaben der Texte miteinander kom-
biniert, einen aus dem anderen ergänzt, die Chronologie feststellt
und dergl.; oder man bearbeitet die religiös-ethischen Partien, in-
dem man aus einzelnen Aussagen der Propheten dogmatisch-feste
Lehrsätze formuliert, diese in Beziehung zueinander bringt und so
eine Art von dogmatischem System gewinnt. Aber diese strengere
Art der Bearbeitung wird doch überwuchert von der viel freieren,
welche in völlig zwangloser Weise mit dem Texte schaltet, den-
selben durch eigene Zutaten aufs mannigfaltigste ergänzend. Die
durch solche Bearbeitung der heiligen Schriften gewonnenen ge-
schichtlichen und religiös-ethischen „Lehren4* nennt man rriian
oder rvnaa26.
Für den geschichtlichen Midrasch bietet ein sehr lehr-
reiches Beispiel schon eine kanonische Schrift des Alten Testa-
26) Das Wort „Haggada" wird in der Regel erklärt durch „Erzählung,
Sage" (von T^an — erzählen). So z. B. Levy, Nenhebr. und chald. Wörterb.
s. v, rvttK und rViari; Güdemann, Haggada und Midrasch -Haggada, in:
Jubelschrift zum neunzigsten Geburtstag des Dr. L. Zunz, Berlin 1884, S. 111
— 121 (erklärt man = mündliche „Sage" im Gegensatz zu iro = „Schrift") ;
Derenbourg, Hagqada et Legende, in: Revue des Uudes juives t IX, 1884,
p. 301 — 304 (stimmt Güdemann bei). — Gegen diese herkömmliche Erklärung s.
Bacher, The Origin of the word Haggada (Agada) f in: The Jewish Quarter ly
Review vol. IV, 1892, p. 4C6 — 429, deutsch in: Die Agada der Tannaiten 1. Bd.
2. Aufl. 1903, S. 451 — 475. Kürzer auch in: Die exegetische Terminologie I,
30 — 37. n, 44. Bacher fuhrt in überzeugender Weise Folgendes aus: In
Mechilta und Siphre wird T<an als Synonymum von *nab gebraucht, T»sa
asinsn „die Schriftstelle lehrt" oder gewöhnlich bloß T»as „sie lehrt" (eigentlich
„sie zeigt an") dient hier zur Einführung einer Folgerung aus einer Schrift-
stelle, und zwar sowohl bei halachischen als bei nicht-halachischen Erörte-
rungen. Im Siphra dagegen wird Y»:ra nicht mehr gebraucht. Es ist jetzt
ganz durch das gleichbedeutende ta^a verdrängt. Ersteres gehört also einem
älteren Sprachgebrauch an, der in der Schule lamaeis noch beibehalten, in
der Schule Akibas aber verlassen ist. Dagegen wird jetzt das Substantiv
ITHjn mit Einschränkung auf die nicht-halachischen Erklärungen gebraucht.
Hiernach ist also „Haggada" jede nicht-halacbische „Lehre", die aus einer
Schriftstelle gezogen wird. Was die Wortform anlangt, so sind die Schrei-
bungen „Haggada" und „Aggada" gleichberechtigt Ersteres ist babylonisch,
letzteres palästinensisch, wie überhaupt im palästinensischen Dialekt die Form
nbren häufig durch die Form nbstK ersetzt wird. Falsch ist die Schreibung
„Agada". So weit Bacher. — In einer Stelle der Mischna (Nedarim IV, 3)
werden als drei Unterrichtsgegenstände neben einander genannt: löma (Exe-
gese), nnain (gesetzliche Lehren), tvpttK (nicht-gesetzliche Lehren). Der Mi-
drasch ist die Grundlage der beiden letzteren. Vgl. über diese drei Begriffe
Bacher, Revue des etudes juives t. XXXVIII, 1899, p. 211—219 «= Die Agada der
Tannaiten 1. Bd. 2. Aufl. 1903, S. 475—489. — Über einige Einzelheiten des
mittelalterlichen Sprachgebrauches handelt Bacher, Derasch et Haggada (Re-
vue des Üudes juives t XXIII, 1891, p. 311—313).
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 26
402 § 25. Die Bchriflgelehrsamkeit. [339. 340]
mentes, nämlich die Chronik. Wenn man ihre Erzählung mit
den parallelen Abschnitten der älteren Geschichtsbücher (Samuelis
und Könige) vergleicht, so muß auch dem fluchtigen Beobachter
die Tatsache auffallen, daß der Chronist die Geschichte der jüdi-
schen Könige | durch eine ganze Klasse von Nachrichten bereichert,
von welchen die älteren Quellen so gut wie nichts haben, nämlich
durch die Erzählungen von den mancherlei Verdiensten,
welche sich nicht nur David, sondern auch eine Anzahl anderer
frommer Könige um die Erhaltung und reichere Ausgestal-
tung des priesterlichen Kultus erworben haben. Es ist dem
Chronisten ein besonderes Anliegen, zu berichten, welche gewissen-
hafte Fürsorge diese Könige den Kultusinstitutionen zuwandten.
In den älteren Quellen findet sich von diesen Nachrichten, welche
sich durch die ganze Chronik hindurchziehen, so gut wie gar nichts.
Nun könnte man freilich sagen, das Fehlen derselben in unseren
Büchern Samuelis und Könige sei noch kein Beweis der Unge-
schichtlichkeit: der Chronist habe sie eben aus anderen Quellen.
Allein das Eigentümliche ist, daß auch die Institutionen selbst,
durch deren Pflege sich jene Könige ausgezeichnet haben sollen,
überhaupt erst der nachexilischen Zeit angehören, wie sich das
wenigstens in der Hauptsache noch bestimmt nachweisen läßt
(s. § 24). Augenscheinlich hat also der Chronist die ältere Ge-
schichte unter einem bestimmten, ihm sehr wesentlich erscheinenden
Gesichtspunkte bearbeitet: wie für ihn selbst der Kultus die Haupt-
sache ist, so müssen auch die theokratischen Könige durch ihr
Interesse für den Kultus sich ausgezeichnet haben. Dabei verfolgt
er zugleich den praktischen Zweck, das gute Recht und den hohen
Wert dieser Institutionen darzutun, indem er zeigt, wie schon die
hervorragendsten Könige sie gepflegt haben. Der Gedanke, daß
dies eine Fälschung der Geschichte ist, hat ihm vermutlich sehr
ferne gelegen. Er glaubt sie zu verbessern, indem er sie nach
den Bedürfnissen seiner Zeit bearbeitet Sein Werk oder vielmehr
das größere Werk, aus welchem unsere Chronik wahrscheinlich
nur ein Auszug ist, ist daher recht eigentlich ein geschichtlicher
Midrasch, wie es denn von dem abkürzenden Bearbeiter aus-
drücklich auch als solcher (löTTO) bezeichnet wird (II Chron. 13, 22.
24, 27)27.
Die hier beschriebene Methode der Bearbeitung der heiligen
Geschichte hat nun in der späteren Zeit tippig fortgewuchert und
immer kühnere Bahnen eingeschlagen. Je höher das Ansehen und.
27) Vgl. Well hausen, Geschichte Israels I, 236 f. — Prolegomena zur
Geschichte Israels 5. Ausg. S. 226 f.
[340. 341] m. Halacha und Haggada. 2. Die Haggada. 403
die Bedeutung der heiligen Geschichte in der Vorstellung des
Volkes stieg, desto eingehender beschäftigte man sich mit ihr; desto
mehr fühlte man sich auch getrieben, die Einzelheiten derselben
immer genauer festzustellen, immer reicher auszugestalten, und das
Ganze mit einem immer volleren und helleren Glorienschein zu
umgeben. | Namentlich war es die Geschichte der Patriarchen und
des großen Gesetzgebers, welche auf diese Weise immer reicher
ausgeschmückt wurde. Sehr lebhaft haben sich an dieser Art der
Geschichtsbearbeitung auch die hellenistischen Juden beteiligt.
Ja man könnte fast auf die Vermutung kommen, daß sie von ihnen
ausgegangen ist, wenn nicht die Chronik den Gegenbeweis lieferte,
und wenn nicht die ganze Methode dieses Midrasch so völlig dem
Geiste des rabbinischen Schriftgelehrtentums entspräche. — Die
Literatur, in welcher uns die Reste dieser haggadischen Ge-
schichtsbearbeitung noch erhalten sind, ist verhältnismäßig reich
und mannigfaltig. Wir finden sie in den Werken der Hellenisten
Demetrius, Eupolemus, Artapanus (s. über sie § 33); bei
Philo und Josephus28, in den sogenannten Apokalypsen und
überhaupt in der pseudepigraphischen Literatur29; vieles auch
in den Targumen und im Talmud; das meiste aber in den eigent-
lichen Midraschim, welche exprofesso der Bearbeitung der heiligen
Texte gewidmet sind (s. darüber oben § 3). Unter diesen ist der
älteste das sogenannte Buch der Jubiläen, welches als das eigent-
lich klassische Muster dieser haggadischen Bearbeitung der heiligen
Geschichte gelten kann. Der ganze Text unserer kanonischen
Genesis ist hier in der Weise reproduziert, daß die Einzelheiten
der Geschichte nicht nur chronologisch fixiert, sondern auch durch-
weg an Inhalt bereichert und im Geschmacke der späteren Zeit
umgebildet sind. — Zur Veranschaulichung dieses Zweiges der
schriftgelehrten Tätigkeit seien im folgenden wenigstens einige
Beispiele namhaft gemacht30.
Die Schöpfungsgeschichte wurde z. B. in folgender Weise
28) Über Josephus s. Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden
S. 120, und die oben § 3 (I, 104) genannte Literatur. Über Philos Berüh-
rungen mit dem palästinensischen Midrasch s. Siegfried, Philo von Alexan-
dria S. 142—159.
29) Vgl. bes. Fabricius, Codex pseudepigraphus Veteris Testamenti (2 Bde.
171$— 1723), dessen Werk so geordnet ist, daß nach der chronologischen Reihen-
folge der biblischen Personen die auf jeden bezüglichen Literaturreste zu-
sammengestellt werden.
30) Vgl. Hartmann, Die enge Verbindung etc. S. 464-514. Herz-
feld, Gesch. d. Volkes Jisrael 01,490—502. Ewald, Gesch. des Volkes
Israel I, 286 ff. und überhaupt die oben 8. 390 f. genannte Literatur.
26*
404 § 25- Die Schriftgelehrsamkeit [341. 342]
ergänzt: „Zehn Dinge sind am Vorabend des Sabbat in der Abend-
dämmerung erschaffen worden. 1) Der Schlund der Erde (für Korah
und seine Rotte), 2) die Mündung des Brunnens (Mirjams), 3) der
Mund der Eselin (Bileams), 4) der Regenbogen, 5) das Manna in
der Wüste, 6) der Stab (Moses), 7) der Schamir (ein Wurm, der
Steine spaltet), 8) die Buchstabenschrift, 9) die Gesetztafelschrift, |
10) die steinernen Tafeln. Einige rechnen dazu: die bö3en Geister,
das Grab Moses und den Widder unseres Vaters Abraham; noch
andere rechnen dazu die erste Zange zur VerfertigUDg künftiger
Zangen"31. — Über das Leben Adams bildete sich ein reicher
Sagenkreis, den wir namentlich aus seinen Niederschlägen und
Fortbildungen in der christlichen und in der spätjüdischen Lite-
ratur kennen32. — Der auf wunderbare Weise zu Gott in den
Himmel versetzte Henoch erschien besonders geeignet, himmlische
Geheimnisse den Menschen zu offenbaren. Ein Buch mit solchen
Offenbarungen wurde ihm daher schon gegen Ende des zweiten
Jahrhunderts vor Chr. zugeschrieben (s. § 32). Die spätere Sage
rühmt seine Frömmigkeit und beschreibt seine Himmelfahrt33. Der
Hellenist Eupolemus (oder wer sonst der Verfasser des betreffenden
Fragmentes ist) bezeichnet ihn als den Erfinder der Astrologie34.
— Selbstverständlich hatte Abraham, der Stammvater Israels,
ein ganz besonderes Interesse für diese Art der Geschichtsbetrach-
tung. Hellenisten und Palästinenser bemühten sich in gleicher
Weise um ihn. Ein jüdischer Hellenist schrieb, wahrscheinlich
schon im dritten Jahrhundert vor Chr, unter dem Namen des
Hekatäus von Abdera ein eigenes Buch über Abraham35. Nach
Artapanus unterrichtete Abraham den König Pharethothes von
Ägypten in der Astrologie36. Für das rabbinische Judentum ist
er ein Muster pharisäischer Frömmigkeit. Er erfüllte das ganze
Gesetz, noch ehe es gegeben war37. Zehn Versuchungen — so
31) Abotk V, 6.
32) Fabricius, Codex pseudepigr. 1, 1—94. II, 1—43. Hort, Art. „Adam,
books op'n in Smith dt Wace, Dictionary of Christian biography vol. I (1877)
p. 34—39. Dillmann in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XII, 366 f. Kohler, Art.
Adam in The Jewish Encyclopedia I, 174 — 177. Beer in Herzog- Haucks Real-
Enz. 3. Aufl. XVI, 203 f. (im Artikel „Pseudepigraphen des A.-T.") und über-
haupt die unten (§ 32, VI, 4) genannte Literatur.
33) Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, II. Abt. Art. „He-
nochsage".
34) Euseb. Praep. evang. IX, 17.
35) Joseph. Antt. I, 7, 2. Clemens Alex. Strom. V, 14, 113.
36) Euseb. Praep. evann. IX, 18. Vgl. über Abraham als Astrologen auch
Joseph. Antt. I, 7, 1. Fabricius, Codex pseudepigr. I, 350—378.
37) Apoc. Baruch c. 57. Kiddusehin IV, 14 fin. Vgl. Nedarim HI, 11 s. ftn.
[342. 343] III. Halacha und Haggada. 2. Die Haggada. 405
zählte man — hat er siegreich überstanden38. Infolge seines ge-
rechten Wandels empfing er auch den Lohn aller | ihm vorher-
gehenden zehn Geschlechter, welche -durch ihre Sünde desselben
verlustig gegangen waren 39. — Im hellsten Glorienscheine strahlt
der große Gesetzgeber Moses und seine Zeit Die Hellenisten
stellen ihn in ihren auf heidnische Leser berechneten Werken als
Vater aller Wissenschaft und Bildung dar. Nach Eupolemus ist
Moses der Erfinder der Buchstabenschrift, welche von ihm erst
zu den Phöniziern und von diesen zu den Hellenen gelangt ist.
Nach Artapanus haben die Ägypter überhaupt ihre ganze Kultur
ihm zu verdanken40. Da ist es also noch etwas Geringes, wenn
es in der Apostelgeschichte nur heißt, daß er erzogen war in aller
Weisheit der Ägypter, wiewohl auch dies schon über das Alte
Testament hinausgeht (Act. 7, 22). Die Geschichte seines Lebens
und Wirkens wird von der hellenistischen und rabbinischen Legende
aufs mannigfaltigste ausgeschmückt, wie das schon aus den Dar-
stellungen des Philo und Josephus zu sehen ist 4 *. Man kennt die
Namen der ägyptischen Zauberer, welche von Moses und Aaron
besiegt wurden: Jannes und Jambres (II Timoth. 3, 8). Bei dem
Zug durch die Wüste wurden die Israeliten nicht nur einmal auf
wunderbare Weise durch Wasser aus einem Felsen getränkt, son-
dern ein wasserspendender Fels begleitete sie während der ganzen
Wanderung durch die Wüste (I Kor. 10, 4). Das Gesetz ist nicht
durch Gott selbst dem Moses gegeben, sondern durch Vermittelung
33) Aboth V, 3. Bach der Jubiläen 19, 8. Aboth de- Rabbi Nathan e. 33.
Pirke de- Rabbi Elieser c. 26—31. Targum jer. zu Qen. 22, 1. Fabricius I,
398 — 400. Beer, Leben Abrahams 8. 190—192. Schröder, Satzungen und
Gebräuche des talmudisch-rabbinischen Judenthums(1851) S. 117 — 119. Rönsch,
Das Buch der Jubiläen S. 382 ff. Charles, The book of Jubilees (1902) p. 121
(Erläuterung zu Jub. 17, 17). Ginzberg, Monatsschr. f. G. u. W. d. J. 1899,
S. 533 f. -=» Die Haggada bei den Kirchenvätern S. 117 f. Die Ausleger zu
Aboth V, 3 (Surenhusius1 Mischna IV, 465. Taylor, Sayings of the Jewish
Fathers p. 94).
39) Aboth V, 2. — Vgl. überh. Beer, Leben Abrahams nach Auffassung
der jüdischen Sage. Leipzig 1859. Grünbaum, Neue Beiträge zur semi-
tischen Sagenkunde 1893, S. 89 — 132. Bonwetsch, Die Apokalypse Abra-
hams 1897, S. 41—55. Kohler, Art. Abraham in: The Jewish Encyclopedia I,
85 — 87. Doctor, Abram, Jugendgeschichte des Erzvaters Abraham nach der
talmudischen Sage, Frankf. a. M. 1905.
40) Eupolemus: Euseb. Praep. evang. IX, 26 = Clemens Alex. Strom. I,
23, 153. Artapanus: Euseb. Praep. evang. IX, 27.
41) Philo, Vita Mosis, Josephus, AM. II — IV. Vgl. überh. Fabricius,
Codex pseudepigr. I, 825—868. II, 111—130. Beer, Leben Moses nach Auf-
fassung der jüdischen Sage, Leipzig 1863. Lauterbach, Art. Moses in The
Jewish Encyclopedia IX, 1905, p. 46—54.
406 § 25. Die ßchriftgelehrsamkeit. [343. 344]
von Engeln an ihn gelangt (Act. 7, 53. Oal. 3, 19. Hebr. 2, 2 ; dazu
Bleek and andere Ausleger). Zu der Vollkommenheit seiner Offen-
barung gehört auch dies, daß es auf den auf dem Berge Ebal
aufgerichteten Steinen (Deut. 27, 2 ff.) in siebzig Sprachen auf-
geschrieben wurde42. Da die beiden Ungltickstage in der Gel-
schichte Israels der 17. Tammus und der 9. Ab sind, so müssen auf
einen jener beiden Tage insonderheit auch die unglücklichen Er-
eignisse der mosaischen Zeit fallen; am 17. Tammus wurden die
Gesetzestafeln zerbrochen, und am 9. Ab wurde verfügt, daß die
Generation Mosis nicht in das Land Kanaan kommen solle43
Reichen Stoff zur Sagenbildung boten auch die wunderbaren Um-
stände bei Mosis Tod (Deut 34) 44. Um seinen Leichnam stritt be-
kanntlich der Erzengel Michael mit dem Satan (Judae 9). — In
ähnlicher Weise wie die Urgeschichte Israels ist auch noch die
Geschichte der nachmosaischen Zeit durch den historischen
Midrasch bearbeitet worden. Hier nur ein paar Beispiele aus dem
42) Sota VII, 5 mit Berufung auf Deut. 27, 8: Sö^rt *wa „deutlich (also
für alle verständlich) eingegraben". Die 70 Sprachen entsprechen den 70 Völ-
kern, welche man nach Oen. 10 annahm; s. Targum Jonathan zu Oen. 11,7 — 8.
Deut. 32, 8. Pirks de-rabbi Mieser c. 24 bei Wagenseil zu Sota VTI, 5 in
Surenhusius' Mischna III, 253. Krauß, Die Zahl der biblischen Völker-
schaften, Zeitschr. für die alttest. Wissensch. 1899, S. 1 — 14; ebendas. 1900,
S. 38—43 u. 1906, S. 33— 48. Vgl. auch Krauß, Die biblische Völkertafel im
Talmud, Midrasch und Targum (Monatsschr. f. Gesch. u. Wissensch. des Ju-
denth. 39. Jahrg. 1895, S. 1—11, 49—63). — Eine Aufzählung der 70 oder 72
Völker und Sprachen der Welt auf Grund von Oen. 10 findet sich in ver-
schiedenen christlichen Chroniken (s. darüber Gutschmid, Kleine Schriften
Bd. V, 1894, S. 240—273, 585—717); unter anderen schon in der Chronik des
Hippolytus, denn zu dieser gehört der auch von Gutschmid behandelte
dia/4EQiOfid<; Tff$ yrjSi s. Bauer, Die Chronik des Hippolytos 1905 (— Texte
und Unters, v. Gebhardt und Harnack, N. F. XIV, 1) S. 100—103, 136—140,
vgl. Hippolytus, Philosophum. X, 30: Ijoav ö*h ovzoi oß' $&vri <jdv xal tä M-
(xaxa ixte&eltie&a h ktioaiQ ßtßXoiq. Über die verschiedenen Listen auch
Bauer a.a.O. 8. 162—242. — Auf der Annahme von 70 Heiden Völkern beruht
es bereits, wenn im Buch Henoch 70 Engel zu „Hirten" der Völkerwelt be-
stellt werden (s. unten § 32, V, 2). Über die 70 Sprachen s. auch Schekalim
V, 1 (Mordechai verstand 70 Sprachen); Olem. Homil. 18, 4: neoiygaxpas yXcotf-
oaig kßöo/jtfjxovra, Clem. Reeogn. II, 42: in septuaginta et duas partes divisit
totius terrae nationes. Epiphan. haer. 1, 5: tag yXoittag . . dnd fiiäg el$
hßöofjLTixovxa Svo öiiveiftev. Augustin. Oiv. Dei XVI, 9: per septuaginta duas
gentes et toiidem linguas. Über die Zahl 70 überhaupt: Steinschneider,
Zeitschr. der DMG. IV, 1850, S. 145—170 (hier S. 150—157 über die Nationen,
Sprachen und Engel). Dazu Nachtrag Bd. LVII, 1903, S. 474—507.
43) laanith IV, 6; dazu die Stellen der Gemara bei Lundius in Suren-
husius' Mischna U, 382 f.
44) Vgl. schon Joseph. Antt. IV, 8, 48.
[344. 345] III. Halacha und Haggada. 2. Die Haggada. 407
Neuen Testamente. In der Liste der Vorfahren Davids kommt in
der Chronik und im Buch Ruth ein gewisser Salma oder Salmon,
Vater des Boas, vor (I Chron. 2, 11. Ruth 4, 20 f.). Der historische
Midrasch weiß, daß dieser Salmon die Eahab zur Frau hatte (Ev.
Maüh. 1, 5)45. Die Dürre und Hungersnot zur Zeit des Elias
(I Reg. 17) dauerte nach dem historischen Midrasch 3 Vi Jahre, d. h.
die Hälfte einer Jahrwoche {Luc 4, 25. Joe. 5, 17) 46. Unter den
Märtyrern des alten Bundes nennt der Verfasser des Hebräerbriefes
auch solche, die zersägt wurden (Hebr. 11, 37). Er meint damit
den Jesajas, von dem die jüdische Legende dies berichtet47. |
Wie bei der heiligen Geschichte, so ist auch bei dem religiös-
ethischen Inhalt der heiligen Schriften die Bearbeitung eine
doppelartige: teils wirkliche Bearbeitung des Gegebenen durch
Kombination, Schlußfolgerung und der gl., teils aber auch freie
Ergänzung durch die mannigfaltigen Gebilde der schöpferischen
religiösen Spekulation. Beides greift unmerklich ineinander über.
Nicht wenige dogmatische Vorstellungen und Begriffe der späteren
Zeit sind wirklich dadurch entstanden, daß man das vorliegende
Schriftwort zum Gegenstand der „Forschung" gemacht hat; also
durch Reflexion über das Gegebene, durch gelehrte Schlußfolge-
rungen und Kombinationen auf Grund desselben. Aber eine noch
viel reichere Quelle neuer Bildungen war doch die frei schaltende
Phantasie. Und das, was auf dem einen und auf dem andern
Wege gewonnen wurde, verschmolz fortwährend ineinander. An
das durch Forschung Gefundene schlössen sich die freien Gebilde
der Phantasie an, ja die erstere folgte in der Regel bewußt oder
unbewußt ohnehin demselben Zuge, derselben Richtung und Tendenz
wie die letztere. Und wenn die freien Schöpfungen der Spekulation
45) Nach einem anderen Midrasch (Megilla 14b) war Babab die Frau des
Josua.
40) Ebenso Jdücui Schimoni bei Surenhusius BlßXoq xataXkayrjq p. 681 sq.
— Ober die Elias -Sagen überhaupt vgl. S. K., Der Prophet Elia in der
Legende (Monatsschr. f. Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1863, 241 — 255.
281—296). Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud I. Abt.
47) Ascensio Isajae (ed. Dillmann 1877) c. V. Jebamoth 49*>. Justin. Dial.
c. Tryph. c. 120. Tertuüian. de patientia c. 14, scorpiace c. 8. Hippolyt. de
Christo et Antichristo c. 30. Origenes epist. ad Afriean. c. 9, comment. ad
Maüh. 13, 57 und 23, 37 (opp. ed. Lommatzsch III, 49. IV, 238 sq.). öommo-
dian. Carmen apologet. v. 509 sq. (ed. Ludwig). Priscülian. III, 60 ed. Sehepss
p. 47. Hieronymus comment. ad Isaiam c. 57 fin. (opp. ed. VaUarsi IV, 666).
Noch mehr patristische Stellen bei Fabricius, Codex pseudepigr. I, 1088 sq.
Wetstein und Bleek zu Hebr. 11,37, und in Ottos Anmerkung zu Justin.
Tryph. 120.
408 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [345. 34G]
feste Gestalt gewonnen hatten, wurden sie hinwiederum durch
schulgerechten Midrasch aus der Schrift abgeleitet.
Diese forschende und unablässig Neues schaffende theologische
Arbeit erstreckte sich auf das gesamte Gebiet der religiösen und
ethischen Anschauungen. Eben durch sie hat der religiöse
Vorstellungskreis Israels im Zeitalter Christi einerseits
den Charakter des Phantastischen, andererseits den des
Schulmäßigen erhalten. Denn die religiöse Entwickelung ist
nicht mehr bedingt und geleitet durch die wirklich-religiöse Pro-
duktion skraft der Propheten, sondern teils durch das Walten einer
zügellosen, nicht wahrhaft religiösen, wohl aber die religiösen
Objekte behandelnden Phantasie, teils durch die schulmäßige Re-
flexion der Gelehrten. Beides beherrschte in dem Maße die Ent-
wickelung, als das wahrhaft religiöse Leben an innerer Kraft verlor.
Mit dieser Richtung der ganzen Entwickelung hängt es auch
zusammen, daß man mit besonderer Vorliebe sich mit denjenigen
Objekten beschäftigte, welche mehr an der Peripherie als im
Zentrum des religiösen Lebens liegen: mit dem zeitlich und örtlich
rein Transzendenten: mit der zukünftigen und der himm-
lischen Welt Denn je geringer die wirklich religiöse Kraft war,
desto mehr mußte Phantasie und Reflexion vom Zentrum nach der
Peripherie hin sich bewegen; desto mehr mußten jene Objekte von
ihrem Mittelpunkte sich ablösen und an selbständigem Werte und
selbständigem Interesse gewinnen. Man sah die Gnade und Herr-
lichkeit Gottes nicht mehr in der gegenwärtigen irdischen Welt, |
sondern nur noch in der zukünftigen und in der oberen himmlischen
Welt. So hat man denn mit großem Eifer einerseits die Escha-
tologie, andererseits die mythologische Theosophie ausgebaut.
Durch gelehrte Schriftforschung und freie religiöse Dichtung er-
wuchs eine reiche Fülle von Vorstellungen über die Verwirklichung
des Heiles Israels in einer künftigen Weltperiode. Man stellte fest,
unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen, unter welchen
begleitenden Umständen, mit welchen Mitteln und Kräften dieses
Heil sich verwirklichen werde, vor allem aber, worin es bestehen
und wie überschwenglich seine Herrlichkeit sein werde; mit einem
Worte: die messianische Dogmatik wurde immer sorgfältiger aus-
gebaut und reicher ausgestattet. Ebenso angelegentlich beschäf-
tigte man sich aber auch mit der oberen himmlischen Welt. Gottes
Wesen und Eigenschaften, der Himmel als seine Wohnung, die
Engel als seine Diener, die ganze Fülle und Herrlichkeit der himm-
lischen Welt: das waren die Objekte, welchen die gelehrte Reflexion
und die dichtende Phantasie mit Vorliebe sich zuwandte. Auch
philosophische Probleme wurden dabei erwogen: wie die Offen-
[346. 347] III. Halacha und Haggada. 2. Die Haggada. 409
barung Gottes in der Welt zu denken, wie ein Wirken Gottes in
der Welt möglich sei, ohne daß er selbst in die Endlichkeit herab-
gezogen werde, inwiefern in der von Gott geschaffenen und ge-
leiteten Welt das Böse einen Raum habe und dergl. — Zur Ent-
wickelung der theosophischen Spekulationen gaben in den heiligen
Schriften besonders zwei Abschnitte Veranlassung: die Schöpfungs-
geschichte (r^ttjann nto») und der „Wagen" des Ezechiel (nnrjtt),
d. h. die Eingangs vision Ezech. c. 1. Bei Erklärung dieser beiden
Abschnitte wurden jene tieferen göttlichen Geheimnisse behandelt,
die aber nach Ansicht der Gelehrten eine esoterische Lehre bilden
sollten. „Die Schöpfungsgeschichte darf nicht vor zweien zugleich
erklärt werden, und der Wagen nicht einmal vor einem, außer
wenn er ein Gelehrter ist und aus eigener Einsicht urteilen kann" 48.
In diesen so sorgfältig gehüteten Auslegungen der Schöpfungs-
geschichte und des Wagens haben wir die Anfänge zu jenen wunder-
lichen Phantasien über Schöpfung und Geisterwelt zu | erblicken,
welche in der sogenannten Kabbala des Mittelalters ihre höchste
Blüte erreicht haben49.
Während die Auslegung und Weiterbildung des Gesetzes eine
verhältnismäßig streng geregelte war, schaltete auf dem Gebiete
der religiösen Spekulation eine fast zügellose Willkür. Von Regel
48) Chagiga II, 1. Vgl. auch MegUla IV, 10. Näheres „über das Alter
und Wesen der Forschungen über Maase bereschith und Merkaba" s. bei Herz-
feld III, 410 — 424. Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden S. 162 f.
Biram, Art. Maaseh bereschith etc. in: The Jetoish Encyclopedia VIII, 1904,
p. 235 sg. Bischoff, Babylonisch-Astrales im Weltbilde des Thaimud und
Midrasch, 1907, S. 78 ff. 149 ff. Auch die in der nächsten Anmerkung ge-
nannte Literatur. — Eieronymus, prolog. eommentarii in Exech. (opp. ed.
Vallarsi V p. 3): aggrediar Exechiel prophetam, cvjus di/ficuttatem Uebraeorum
probat traditio. Nam nisi quis apud eos aetaiem sacerdotalis ministerii, id est
tricesimum annum impleverit, nee prineipia Geneseos, nee Canticum Canti-
corum, nee hvjus voluminis exordium et finem legere permittitur. — Idem,
epist. LEI ad Pgulinum c. 8 ( Vallarsi I, 279) : tertius (seil. Exediiel) prineipia
et finem tantis habet obscuritatibus incoluta, ut apud Hebraeos istae partes cum
exordio Geneseos ante annos triginla non legantur.
49) Vgl. Gas teilt, GH antecedenti della Cabbala nella Bibbia e nella
letteratura Talmudica (Actes du douxieme congres international des Orientalistes
Borne 1899, t. III, 1 Florence 1902, p. 57—109). — Über die mittelalterliche
Kabbala, welche stark vom Planeten-Glauben beeinflußt ist, s. Zunz, Die
gottesdienstlichen Vorträge der Juden S. 157—170. Hamburger, Real-Enz.
für Bibel u. Talmud II, 257—278 (Art. „Geheimlehre") und 557—603 (Art.
„Kabbala**). Bloch in: Winter und Wünsche, Die jüdische Literatur seit Ab-
schluß des Kanons III, 1890, S. 217—286. Wünsche, Art. „Kabbala" in Her-
zog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. IX, 670—689. L. Ginxberg, Art. Cabala in:
The Jetvish Encyclopedia III, 456—479.
410 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [347. 348]
und Methode kann hier nur in sehr uneigentlichem Sinne die
Rede sein. Namentlich fehlte eines, was die Entwicklung des
Rechts zu einer so stetigen und festgefügten machte: das strenge
Traditionsprinzip. Der Bearbeiter der ethisch-religiösen Materien
war nicht, wie der Ausleger des Gesetzes, verpflichtet, sich streng
an die Tradition zu halten. Er konnte frei und ungehindert seine
Phantasie walten lassen, wofern deren Produkte sich nur überhaupt
in den Rahmen der jüdischen Anschauung einfügen ließen. Eine
gewisse Tradition hat sich freilich auch hier gebildet. Aber sie
war nicht verbindlich. Der religiöse Glaube war verhältnismäßig
frei, während das Tun in um so engere Fesseln gelegt wurde50. |
Mit dem Fehlen des Traditionsprinzips auf diesem Gebiete fiel aber
überhaupt jeder Regulator weg. Denn es gab für den „Forscher"
50) Mit einem gewissen, wenn auch nur relativen Rechte hat daher
Moses Mendelssohn behauptet, das Judentum habe Überhaupt keine
Dogmen („Unter allen Vorschriften und Verordnungen des mosaischen Ge-
setzes lautet kein einziges: Du sollst glauben oder nicht glauben; sondern
alle heißen: Du sollst tun oder nicht tun! Dem Glauben wird nicht befohlen;
denn der nimmt keine andern Befehle an, als die den Weg der Überzeugung
zu ihm kommen", Mendelssohn, Jerusalem, zweiter Abschnitt S. 53 f. = Ge-
sammelte Schriften III, 321). Diese Ansicht hat bei modernen Juden viel-
fachen Beifall gefunden, indem man darin eine Überlegenheit des Judentums
gegenüber dem Christentum erblickt. Die Berechtigung der Ansicht auf jü-
dischem Boden ist freilich nur eine relative. Denn es heißt in der Mi seh na
Sanhedrin X, 1: „Folgende haben keinen Anteil an der künftigen Welt: Wer
sagt, die Auferstehung der Toten sei nicht im Gesetze gelehrt, und das Gesetz
stamme nicht vom Himmel, und Epikuros (= der Leugner der Schöpfung und
Regierung der Welt durch Gott)". Als verbindliche Glaubenslehren werden
also hier, wenn wir die Reihenfolge umkehren, folgende drei aufgestellt: 1) die
Schöpfung und Leitung der Welt durch Gott, 2) der gottliche Ursprung des
Gesetzes, 3) die Auferstehung der Toten. Maimonides hat in seinem Kom-
mentar zu dieser Stelle sogar dreizehn Grundlehren des Judentums auf-
gestellt, ohne deren Anerkennung man, wie die Mischna sagt, keinen Anteil
an der künftigen Welt haben könne (s. die lat. Übersetzung von Maimonides'
Kommentar in Surenhusius' Mischna- Ausgabe IV, 263 f. Englisch: Maimoni-
des on ihe Jewish Oreed, by Abelson, Jewish Quarterly Review vol. XIX, 1907,
p. 24—58). Die Mendelssohnsche Behauptung hat daher auch im Schöße des
modernen Judentums nicht selten Opposition gefunden (s. z. B. Leop. Low,
Gesammelte Schriften Bd. I, Szegedin 1889, S. 31 — 52: „Die Grundlehren der
Religion Israels", und S. 133— 176: „Jüdische Dogmen". Hamburger, Real.-
Enz. für Bibel und Talmud, Teil II Art. „Dogmen", Supplementbd. II, 1891,
Art. „Glaube", Literatur auch in The Jewish Eneyclopedia II, 148—151, Art.
„Ariicle8 of Faith"). Aber eine gewisse Berechtigung ist der Behauptung Men-
delssohns nicht abzusprechen. Und es ist sehr interessant, zu sehen, wie hier
Rabbinismus und Aufklärung sich die Hand reichen. Beiden ist gemeinsam,
daß sie das Wesen und den Wert des wirklich religiösen Glaubens nicht
kennen.
[348] III. Halacha und Haggada. 2. Die Haggada. 41 1
eigentlich nur eine Regel: das Recht, aus jeder Stelle alles machen
zu dürfen, was Witz und Verstand ihm eingab. Wenn trotzdem
auch für die haggadische Auslegung gewisse „Regeln* aufgestellt
werden, so ist es eben nur die Willkür, die hier zur Methode wird.
Eine Anzahl solcher Regeln für die haggadische Auslegung finden
sich unter den 32 Middoth (hermeneutischen Grundsätzen), welche
dem R. Elieser, dem Sohne des R. Jose ha-Gelili zugeschrieben
werden51. Das spätere Judentum hat gefunden, daß es einen
vierfachen Schriftsinn gebe, der in dem Worte oillnD (Paradies)
angedeutet sei, nämlich: 1) tttto, den einfachen oder wörtlichen
Sinn, 2) ran (Andeutung), den typischen, allegorischen Sinn, 3) lim
(Forschung), den durch Forschung abzuleitenden Sinn, 4) Tio (Ge-
heimnis), den theosophischen Sinn52.
Die Art dieser exegetischen Methode durch Beispiele an-
schaulich zu machen, ist um so überflüssiger, als sie aus dem Neuen
Testamente und der gesamten altchristlichen Literatur zur Genüge
bekannt ist. Denn mit den heiligen Schriften selbst ist auch die
51) S. die 32 Middoth z. B. bei Waekner, Antiquitäten Ebraeorum I,
396—421. P inner, Übersetzung des Traktates ßerachoth, Einleitung fol. 20»
— 21a. Pressel in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XV, 658 f. Bacher, Die Agada
der Tannaiten I, 372 (2. Aufl. I, 365 f.). II, 293 ff. Strack in Herzogs Real-
Enz. 2. Aufl. XVHI, 356 f. Ders., Einl. in den Thalmud 2. Aufl. S. 100—103.
Aicher, Das A. T. in der Mischna 1906, S. 149-153. — Für das Literar-
historische vgl. auch Zunz, Die gottesdienstlichen Vortrage der Juden S. 86.
Fürst, Btbliotheca Judaica H, 108.
52) Die Anfangsbuchstaben dieser vier Worte ergeben das Wort Ol"**!).
Vgl. Waehner, Äntiquitates Ebraeorum I, 353—357. Döpke, Hermeneutik
der neutestamentlichen Schriftsteller S. 135—137. Deutsch, Der Talmud (1869)
S. 16 f. Dobschütz, Die einfache Bibelexegese der Tannaim (Breslau 1893)
S. 44 — 45, und bes. Bacher, Uexegbse bibliquedans le Zohar (Revue des itudes
juives t XXII, 1891, p. 33—46, 219-229). Ders., Die jüdische Bibelexegese
vom Anfang des 10. bis zum Ende des 15. Jahrh. (in: Winter und Wünsche,
Die jüdische Literatur seit Abschluß des Kanons Bd. II, auch separat 1892)
Kap, VTH. Ders., Das Merkwort ö*ni> in der jüdischen Bibelexegese (Stades
Zeitschr. für die alttestamejtfl. Wissensch. XIII. Jahrg. 1893, S. 294—305). —
Bacher zeigt, daß die Unterscheidung dieses vierfachen Schriftsinnes zuerst im
Sohar auftritt (Ende des 13. Jahrh.). Allerdings sagt schon eine talmudische
Legende, daß vier Gelehrte in das „Paradies" eingetreten seien und nur einer
von ihnen, nämlich B. Akiba, unversehrt herausgekommen sei (Tosepkta Cha~
giga II, 3; jer. Ckagiga 77b; hob. Chagiga 14b). Allein unter dem Eintreten
in das „Paradies", d. h. an den Ort der himmlischen Geheimnisse, ist hier
nicht die vierfache Exegese, sondern nur die theosophische und kosmogonische,
an Gen. 1 und Ezech. 1 sich anschließende Spekulation zu verstehen. — Über
avfi und ixn s. auch die betr. Artikel bei Bacher, Die exegetische Termino-
logie I u. n.
412 § 25. Die Schriftgelebrsamkeit. [349]
Art ihrer exegetischen Behandlung vom Judentum in die christ-
liche Kirche übergegangen. Dabei ist nur das eine zu bemerken,
daß die im Neuen Testamente gehandhabte exegetische Methode
sich verhältnismäßig noch durch große Besonnenheit vor der ge-
wöhnlichen jüdischen auszeichnet. Die Apostel und die christlichen
Schriftsteller überhaupt wurden eben durch die regulierende Norm
des Evangeliums vor den Extravaganzen der jüdischen Exegese
bewahrt. Und doch — wer möchte noch solche Behandlungen alt-
testamentlicher Stellen, wie sie etwa Gal 3, 16; 4, 22— 35; Born. 10,
6—8. auch Matth. 22, 31—32 vorliegen, rechtfertigen? Die jüdische
Exegese aber, der ein solcher Regulator fehlte, artete immer mehr
in die willkürlichsten Spielereien aus53. Es ist von ihrem Stand-
punkte aus gar nicht mehr etwas Besonderes, sondern ganz ihrem
Geiste entsprechend, wenn man sich z. B. auch erlaubte, Worte in
Zahlen oder Zahlen in Worte umzusetzen, um dadurch die über-
raschendsten Aufschlüsse zu gewinnen54.
Bei der verhältnismäßig großen Freiheit, welche der Ent-
wickelung des religiösen Vorstellungskreises gegeben war, konnten
fremde Einflüsse besonders leicht sich geltend machen. Palästina
war ja längst dem allgemeinen Weltverkehr erschlossen. Schon
53) Vgl. überhaupt die oben S. 390 f. genannte Literatur, besonders:
Döpke S. 88— 188. Hartmann S. 534— 699. G fror er, Das Jahrhundert des
Heils I, 244 ff. Hirschfeld, 1847. Weite, in der Tübinger Quartalschrift
1842. Hausrath I, 97 ff. Bacher, Die Agada der Tannaiten I-H. Ders.,
Die Agada der paläst. Amoräer I — in. Hamburgers Artikel in der Real-
Enz. für Bibel und Talmud Abt. IL Ginzberg, Die Haggada bei den Kir-
chenvätern (Heidelberger Dissert. 1899 und Monatsschr. 1898—99). Rahm er,
Die hebräischen Traditionen in den Werken des Hieronymus 1902. — Über
die allegorische Schriftauslegung Philos s. insbesondere: Gfrörer, Philo I,
68—113. Zell er, Die Philosophie der Griechen III, 2 (3. Aufl.) S. 346—352.
Siegfried, Philo S. 160 ff. — Über die wörtliche Exegese: Dobschütz, Die
einfache Bibelexegese der Tannaim, Breslau 1893.
54) In einem Anhang zur Mischna wird z. B. die Behauptung, daß Gott
jedem Gerechten 310 Welten zum Erbteil geben werde, durch Prov. 8, 21
üi ^nna b^mnb bewiesen; denn S3^ ist gleich 310 (ükxin III, 12, die Stelle
fehlt in der von Lowe herausgegebenen Cambridger Handschrift). Umgekehrt
beweist der Verfasser des Barnabasbriefes, der hierin ganz in den Bahnen der
jüdischen Exegese geht, aus den 318 Knechten Abrahams, daß Abraham schon
das Kreuz Jesu im Geiste geschaut habe; denn die Zahl 18 — IH bedeute den
Namen Jesus, und die Zahl 300 = T bedeute das Kreuz (Barnab. c. 9). —
Zahlreiche Beispiele ähnlicher Art sind nachgewiesen in Bachers Agada der
Tannaiten I — II und Agada der paläst. Amoräer I— HI, Register «. v. „Wort-
deutung" (mit Änderung der Buchstaben, mit Versetzung der Buchstaben, mit
Zerlegung des Wortes, nachdem Zahlenwerte). Vgl. auch Bacher, Die exege-
tische Terminologie 1, 125—128 (s. v. ■ppvia'ü) und H, 27 f. (s. v. »vnra'O)- The
Jeicish Encyelopedia V, 589—592 (Art. Qematria) und IX, 339 f. (Art. Notarikon).
[349. 350] III. Halacha und Haggada. 2. Die Haggada. 413
seit Gründung der großen Weltreiche der Assyrer, Chaldäer, Perser
gingen Einflüsse der mannigfaltigsten Art über das Land dabin.
Wenn es zwei Jahrhunderte lang unter persischer Herrschaft ge-
standen hat, so wäre es wahrlich sehr auffallend, wenn diese Tat-
sache nicht auch auf dem Gebiete des geistigen Lebens Israels |
irgendwelche Spuren zurückgelassen hätte. Vollends der Übermacht
des griechischen Geistes konnte es sich unmöglich, auch bei allem
Streben nach geistiger Absperrung, gänzlich entziehen. So ist es
denn unleugbar, daß babylonische, persische und griechische
Einflüsse in der Entwickelung des religiösen Vorstellungskreises
Israels bemerkbar sind. Man kann über das Maß dieser Beein-
flussung streiten. Die Detailuntersuchung ist noch nicht so ein-
gehend und umsichtig geführt, daß ein abschließendes Urteil schon
möglich wäre. Die Tatsache aber, daß fremde Einwirkungen
mannigfacher Art stattgefunden haben, kann im allgemeinen nicht
mehr bestritten werden 55. Sie scheint allerdings bei der schroffen
55) Vgl. überhaupt: Ckeyne, Jewisk religious life after the exile, 1898.
Deutsch: Da« religiöse Leben der Juden nach dem Exil, 1899. — Bousset,
Theol. Rundschau 1900, 8. 295—302. Ders., Die Religion des Judentums im
neutestamentlichen Zeitalter, 1903, 2. Aufl. 1906, bes. S. 540—594. Speziell:
a) Ober babylonische Einflösse (schon in sehr früher Zeit): Gunkel,
Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, 1895. — Die Literatur des durch
Fr. Delitzsch 1902 entfachten Bibel-Babel-Streites. S. darüber die zusam-
menfassenden Berichte von Nowack in der Theol. Rundschau 1903, S. 414
—430, 461—471, und von Volz in der Theol. Literaturzeitung 1904, Nr. 7—9.
— Schrader, Die Keilinschriften und das Alte Testament, 3. Aufl. von Zim-
mern und Winckler, 2 Teile 1902. — Alfr. Jeremias, Das Alte Testament
im Lichte des alten Orients, 1904. Ders., Babylonisches im Neuen Testament
1905 (kritiklos).
b) über Einflüsse des Parsismus: v. Colin, Biblische Theologie Bd. I,
1836, S. 346 — 352. — Lücke, Versuch einer vollständigen Einleitung in die
Offenbarung des Johannes 2. Aufl. 1852, S. 55 — 60. — Kohut, Über die jü-
dische Angelologie und Dämonologie in ihrer Abhängigkeit vom Parsismus, 1866.
— Kohut, Was hat die talmudische Eschatologie aus dem Parsismus auf-
genommen? (Zeitschr. der deutschen morgenländ. Gesellsch. Bd. 21, 1867,
S. 552 — 591). — Hübschmann, Die parsische Lehre vom Jenseits und
jüngsten Gericht (Jahrbb. für prot. Theol. V, 1879, S. 203—245). — Ham-
burger, RealEnz. Suppl. IV, 1897, S. 71—75. — Stave, Über den Einfluß
des Parsismus auf das Judentum, Haarlem 189^. — Söderblom, La vire fu-
ture d'aprte le Maxdetsme ä la lumiere des croyances paralleles dans les autres
religions, Paris 1901. — Böklen, Die Verwandtschaft der jüdisch-christlichen
mit der parsischen Eschatologie, 1902. — Söderblom, Notes sur les relations
du Juda'isme arec le Parsisme ä propos de travaux ricents (Revue de Vhistoire
des religions t. 48, 1903, p. 372—378). — Moulton, Art. Zoroastrianism in:
Hostings' Dictionary of the Bible IV, 1902, p. ?>88— 994. — Geldner und
Cheyne, Art. Zoroastrianism in: Encyclopaedia Biblica IV, 1903, col. 5428 ff.
414 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [350. 351]
Scheidewand, welche das Judentum in religiöser Beziehung zwischen
sich und dem Heidentum gezogen hat, auf den ersten Blick be-
fremdlich, ja rätselhaft. Man braucht sich aber zu ihrer Erklärung
nicht darauf zu berufen, daß die Einflüsse zu einer Zeit statt-
gefunden haben, wo die Scheidewand noch keine so schroffe war
— sie gehen auch in der späteren Zeit noch fort66; auch nicht
darauf, daß gegen die Macht geistiger Einflüsse eben keine Scheide-
wand stark genug ist. Der tiefste Erklärungsgrund ist vielmehr
der, daß das gesetzliche Judentum das Hauptgewicht eben doch
nur auf die Korrektheit des Tuns gelegt hat, und daher dem reli-
giösen Vorstellungskreis ein verhältnismäßig freier Spielraum
gelassen wurde.
IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten.
Literatur.
Die älteren hebräischen Werke über die Mischna-Lehrer s. bei Wolf, Biblioth.
Hebr. II, 805 sq. Fürst, Biblioth. Judaiea II, 48 sq.
Ott ho, Historia doctorum misnicorum, qua opera eiiam synedrii magni Hiero-
solymüani praesides et vice-praesides recensentur. Ooconii 1672 (öfters nach-
gedruckt, z. B. auch bei Wolf, Biblioth. Hebr. t. IV und in Ugolinis
Thesaurus t. XXI).
— Lagrange, La religion des Perses, la r&forme de Zoroasire et le Juddisme
{Revue biblique 1904, p. 27—55, 188—212, auch separat). — (Der Artikel „Par-
sismas" in Herzog- Haucks Real-Enz. 3. Aufl. XTV, 699 — 705, von Lindner
geht auf das Verhältnis zum Judentum nicht ein). — Jackson, Art. Zoroa-
strianism in: TheJewish Encyclopedia Xu, 1906, p. 695—697. — Mills, Zara-
bustra, Philo, the Ächaemenids and Israel, 2 Tle. 1905—1906.
c) griechische Einflüsse sind wohl schon in einigen späteren Büchern des
A. T. anzunehmen, s. zuletzt: M. Friedländer, Griechische Philosophie im
Alten Testament, 1904. Seil in, Die Spuren griechischer Philosophie im A. T.,
1905 (gegen Friedländers Übertreibungen). — Für die Zeit Jesu Christi: M.
Friedländer, Die religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums im Zeit-
alter Jesu, 1905 (starke Oberschätzung der griechischen Einwirkungen). —
Über griechische Einflüsse im späteren Midrasch: Freudenthal, Helle-
nistische Studien 1875, S. 66—77. — Siegfried, Philo S. 283 ff. — Wein-
stein, Zur Genesis der Agada. II. Teil. Die alexandriniscbe Agada, 1901
(bes. S. 29—90: Die Logoslehre in der Agada).
56) Die Angelologie ist in der Zeit des babylonischen Talmud noch viel
stärker parsistisch beeinflußt als früher. Vgl. Kohut, Über die jüdische
Angelologie und Dämonologie 1866. — Die von Freudenthal, Siegfried und
Weinstein nachgewiesenen Einwirkungen des Hellenismus auf den palästinen-
sischen Midrasch gehören überhaupt erst einer Zeit an, wo die religiöse Ab-
sperrung längst eine sehr scharfe war.
[351. 352] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 415
Joh. Chrph. Wolf, Bibliotheca Hebraea II, 805—865 (gibt ein alphabetisches
Verzeichnis der in der Mischna erwähnten Gelehrten).
Herzfeld, Geschichte des Volkes Jisrael 111,226—263. — Derselbe, Chro-
nologische Ansetzung der Schriftgelehrten von Antigonus von Socho bis
auf B. Akiba (Monatsschr. f. Qesch. und Wissensch. des Judenth. 1854,
S. 221—229. 273—277).
Kämpf, Genealogisches und Chronologisches bezüglich der Patriarchen aus
dem Hillelschen Hause bis auf R. Jehuda ha-Nasi, den Bedacteur der
Mischnah (Monatsschr. f. Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1853, S. 201
—207. 231—236. 1854, S. 39-42. 98—107).
Jost, Geschichte des Judenthums und seiner Secten Bd. I — II.
Grätz, Geschichte der Juden Bd. HI — IV.
Derenbourg, Essai svr Vhistoire et la gSographie de la Palestine & apres les
Thalmuds ei les atäres sources rabbmiques. P. I: Hisioire de la Palestine
depuis Oyrus jusqu'ä Adrien. Paris 1867.
Die hebräisch geschriebenen Werke von Frankel (1859), Brüll (1876) und
Weiss (1871—1876). Näheres darüber s. bei der Literatur zur Mischna
(§3).
Friedländer, Geschichtsbilder aus der Zeit der Tannaiten und Amoräer.
Brunn 1879 (sehr nachlässig, s. Theol. Litztg. 1880, 433).
Hamburger, Beal -Enzyklopädie für Bibel und Talmud, Abt. II, die einzel-
nen Artikel.
Bacher, Die Agada der Tannaiten, Bd. I: Von Hillel bis Akiba, 1884. Bd. II:
Von Akibas Tod bis zum Abschluß der Mischna, 1890 (Bd. I erschien
zuerst in der Monatsschrift für Gesch. und Wissensch. des Judenthums
Jahrg. 1882—1884). 2. Aufl. Bd. I, 1903.
Strack in Herzogs Beal-Enz. 2. Aufl. Bd. XVHI, S. 345 ff. (im Art. „Thal-
mud"). Ders., Einleitung in den Thalmud 2. Aufl. 1894, S. 76 ff.
Loeb, La chaine de la tradition dans le pr emier chapitre des Pirki Abot (Bi-
bliotheque de l'icole des hatdes itudes, Sciences religieuses, t. I, Paris 1889,
p. 307—322). — Ders., Notes svr le chapitre I* des Pirte Abot (Bevue des
itudes juives U XIX, 1889, p. 188—201).
de Qraaf, De joodsche wetgeleerden in Tiberias van 70 — 400 n. O. Dies. Gro-
ningen 1902. (175 S.)
Braunschweiger, Die Lehrer der Mischnah, ihr Leben und Wirken für
Schule und Haus nach den Quellen bearbeitet, 2. Aufl. 1903 (populär,
aber am Schluß S. 306 — 314 ein hebräisches Namenregister mit Kachweis
aller Stellen, an welchen die Betreffenden in der Mischna vorkommen).
Über die einzelnen Schriftgelehrten sind wir erst seit dem
Zeitalter der Mischna, d. h. seit etwa 70 nach Chr., näher unter-
richtet Über alle früheren ist unsere Kunde eine äußerst dürftige.
Selbst in betreff der berühmten Schulhäupter Hillel und Scham-
mai steht es nicht viel anders. Denn wenn man von dem rein
Legendarischen | absieht, so ist das, was wir wirklich über sie
wissen, verhältnismäßig sehr wenig und unbedeutend. — Die Namen
und die Reihenfolge der berühmtesten Schulhäupter etwa seit dem
zweiten Jahrhundert vor Chr. bis 70 nach Chr. sind uns nament-
416 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [352. 353)
lieh durch das erste Kapitel des Traktates Aboth (oder Pirke Aboth)
überliefert, wo die ununterbrochene Reihe der Männer aufgezählt
wird, welche von Moses an bis auf die Zeit der Zerstörung Jeru-
salems die Träger der Gesetzesüberlieferung waren. Das ganze
Kapitel lautet folgendermaßen K
1. „Mose hat das Gesetz auf Sinai empfangen und tiberlieferte
es dem Josua; dieser den Ältesten; die Altesten den Propheten;
und die Propheten überlieferten es den Männern der großen Ver-
sammlung. Diese stellten drei Regeln auf: Seid bedachtsam im
Urteilsprechen! stellet viele Schüler auf! .und machet einen Zaun
um das Gesetz! 2. Simon der Gerechte war einer von den
letzten Männern der großen Versammlung. Er pflegte zu sagen:
Durch drei Dinge besteht die Welt: durch das Gesetz, den Gottes-
dienst und Wohltätigkeit. 3. Antigonus von Socho empfing die
Überlieferung von Simon dem Gerechten. Er sagte: Gleichet nicht
den Knechten, die dem Herrn um des Lohnes willen dienen, sondern
seid denen gleich, die ohne Rücksicht auf Lohn Dienste leisten;
und stets sei Gottesfurcht bei euch.
4. Jose ben Joeser aus Zereda und Jose ben Jochanan
aus Jerusalem empfingen die Überlieferung von ihnen. Jose ben
Joeser sagte: Laß dein Haus einen Sammelplatz für weise Männer
sein; laß dich vom Staub ihrer Füße bestauben; und trinke mit
Durst ihre Lehren. 5. Jose ben Jochanan aus Jerusalem sagte:
Dein Haus sei allseitig offen (für Gäste), und laß die Armen deine
Hausgenossen sein. Schwätze nicht überflüssig mit dem Weibe.
Man findet es unschicklich mit der eigenen, um wieviel mehr mit
eines anderen Frau. Daher sagen auch die Weisen: Wer mit einem
Frauenzimmer unnütze Reden führt, zieht sich Unglück zu, wird
abgehalten von Beschäftigung mit dem Gesetze, und am Ende ist
die Hölle sein Erbteil.
6. Josua ben Perachja und Nittai aus Arbela empfingen
die Überlieferung von diesen. Ersterer sagte: Verschaffe dir einer]
(Studier-)Gefährten und beurteile alle Menschen nach der günstigen
Seite. 7. Nittai aus Arbela sagte: Entferne dich von einem bösen
Nachbarn; geselle dich nicht zu dem Gottlosen; und glaube nicht,
daß die Strafe ausbleibt.
1) Die folgende Übersetzung ist zum größten Teile aus der unter Josts
Leitung erschienenen Mischna-Ausgabe (Berlin, Lewent, 1832—1834) entnommen;
teilweise aber nach der sorgfaltigen Erklärung von Cahn (Pirke Aboth 1875)
berichtigt. Sonst vgl. für die Auslegung bes. noch die Ausgaben von Suren-
husius (Mischna Bd. IV), P. Ewald (Pirke Aboth 1825), Taylor (Sayings
of the Jewish Fathers, Cambridge 1877, 2. ed. 1897), Strack (Die Sprüche der
Väter 1882, 3. Aufl. 1901), Fiebig (Pirque 'aboth, 190(3).
[353. 354] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 417
8. Juda ben Tabbai und Simon ben Schetach empfingen
die Überlieferung von diesen. Der erstere lehrte: Mache dich (als
Sichter) nicht zum Sachwalter. Wenn die Parteien vor dir stehen,
siehe sie an, als ob sie beide unrecht hätten. Sind sie aber ent-
lassen und haben den Urteilsspruch angenommen, so betrachte sie
beide als gerechtfertigt 9. Simon ben Schetach sagte: Prüfe die
Zeugen wohl, sei aber vorsichtig im Ausfragen, daß sie nicht eben
daraus Unwahrheit sagen lernen.
10. Schema ja und Abt al jon empfingen von ihnen. Schemaja
lehrte: Liebe die Arbeit, hasse die Herrschaft und dränge dich
nicht zu den Großen. 11. Abtaljon sagte: Ihr Weisen! Seid vor-
sichtig in euren Lehren, auf daß ihr euch nicht Verirrung zu-
schulden kommen lasset, und euch verirret an einen Ort schlechten
Wassers. Nun trinken davon Schüler, die nach euch kommen,
sterben dahin; und der Name Gottes wird dadurch entheiligt!
12. Hillel und Schammai empfingen von diesen. Hillel sagte:
Sei ein Schüler Aarons, friedliebend, friedenstiftend, liebe die Men-
schen und ziehe sie heran zum Gesetze. 13. Er pflegte auch zu
sagen: Wer sich einen großen Namen machen will, büßt den seinen
ein; wer seine Kenntnisse nicht vermehrt, vermindert sie; wer aber
gar keine Lehre sucht, ist des Todes schuldig; wer sich der Krone
(des Gesetzes) bedient (zu äußeren Zwecken), schwindet dahin.
14. Derselbe sagte: Wenn nicht ich für mich (arbeite), wer soll
es für mich tun? Und tue ich es für mich allein, was bin ich?
Und wenn nicht jetzt, wann sonst? 15. Schammai sagte: Mache
das Gesetzesstudium zur bestimmten Beschäftigung; versprich wenig
und tue viel; und nimm jedermann mit Freundlichkeit auf.
16. Kabban Gamaliel sagte: Setze dir einen Lehrer, so ver-
meidest du das Zweifelhafte. Und verzehnte nicht zu oft nach
bloßem Ungefähr.
17. Sein Sohn Simon sagte: Ich bin unter weisen Männern
seit früher Jugend aufgewachsen und habe für den Menschen nichts
zuträglicher gefunden, als Schweigen. Das Studium ist nicht das
Wesentlichste, sondern die Ausübung. Wer viel Worte macht,
bringt nur SQnde zuwege.
18. Babban Simon ben Gamaliel sagte: Durch drei Dinge
besteht die Welt: durch Rechtspflege, durch die Wahrheit und
durch | Eintracht [So heißt es auch (Sacharja 8, 16): Wahrheit und
Recht des Friedens richtet in euren Toren]2".
2) Die eingeklammerten Worte fehlen in den besten Handschriften, z. B.
Berotin. Mss. Or. Fol. 567 (s. Cahn, Pirke Aboth 8. 62) nnd Cambridge Uni-
tersity Additional 470, 1 (s. Taylor, Sayings of the Jeioish Fathers p. 4).
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 27
418 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [354. 355]
So weit die Mischna* Unter den hier aufgeführten Autoritäten
interessieren uns zunächst „die Männer der großen Versammlung"
oder der großen Synagoge (nbiian no?D ^ri:»). Sie erscheinen
hier als die Träger der Gesetzestradition zwischen den letzten Pro-
pheten und den ältesten, mit Namen bekannten Schriftgelehrten.
Die spätere jüdische Tradition schreibt ihnen allerlei gesetzliche
Verordnungen zu3. Sehr jung, eigentlich erst modern, ist dagegen
die Meinung, daß sie auch den Kanon des Alten Testamentes zu-
sammengestellt hätten4. Da in den Quellen nirgends gesagt wird,
wer sie eigentlich waren, so ließen sich um so besser die verschieden-
artigsten Hypothesen über sie aufstellen 5. Das Richtige, daß | *sie
3) S. Bau, De synagoga magna p. 6 — 24. Herzfeld, Gesch. des Volkes
Jisrael in, 244 f. Kuenen, Over de mannen der groote synagoge p. 2 — 6 =
Gesammelte Abhandlungen zur bibl. Wissensch. S. 126 — 129. Taylor, Sayings
of the Jewish Fathers p. 124 sq. D. Hoff mann im Magazin für die Wissen-
schaft des Judenth. X, 1883, S. 45 ff. W. Bacher, Art. Synagogue, the great,
in: The Jewish Encyclopedia XI, 640—643.
4) Diese Meinung ist, wie es scheint, hauptsächlich durch Elias Le-
vita (16. Jahrh.) in Umlauf gekommen und von ihm in die christliche Theo-
logie übergegangen. S. Strack in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. IX, 744 f.
(Art. „Kanon des Alten Testaments").
5) 8. Hartmann, Die enge Verbindung des Alten Testaments mit dem
Neuen S. 120—166. — Die Einleitungen ins A.T., z. B. De Wette-Schrader
§ 13. — Heidenheim, Untersuchungen über die Synagoga magna (Studien
und Krit. 1853, S. 93 — 100). Ders., Deutsche Vierteljahrsschrift für englisch-
theolog. Forschung und Kritik n, 1865, 286—300. — Herzfeld, Gesch. des
Volkes Jisrael II, 22—24, 380 ff. HI, 244 f. 270 f. — Jos t, Gesch. des Judenth.
I, 41 — 43, 91, 95 f. — Grätz, Die große Versammlung (Monatsschr. £ Gesch.
und Wissensch. des Judenth. 1857, S. 31—37, 61—70). — Leyrer in Herzogs
Real-Enz. 1. Aufl. XV, 296 — 299. — Derenbourg, Histoire de la Pcdestine
p. 29 — 40. — Fürst, Der Kanon des A. T. nach den Überlieferungen in Tal-
mud und Midrasch 1868, S. 21 — 23. — Ginsburg in Kittos Oyclopaedia HI,
909 sqq. — Neteler, Tüb. TheoL Quartalschr. 1875, S. 490—499. — Bloch,
Studien zur Geschichte der Sammlung der althebräischen Literatur (1876)
S. 100—132. — Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, Abt. H,
S. 318—323. — Montet, Essai stur les origines des partis saducien et pharisien
(1883) p. 91—97. — D. Hoffmann, Über „die Männer der großen Versamm-
lung" (Magazin für die Wissensch. des Judenth. X. Jahrg. 1883, S. 45 — 63).
— Strack in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XV, 95 f. 3. Aufl. XIX, 221 f. — Ro-
senzweig, Das Jahrhundert nach dem babylonischen Exile mit besonderer
Rücksicht auf die religiöse Entwicklung des Judentums, 1885 (hierüber Be~
vue des Studes juives XH, 128. Theol. Litztg. 1886, 409). — Sack, Die alt-
jüdische Religion im Übergange vom Bibelthume zum Thalmudismus (1889)
S. 100 ff. — Leop. Low, Gesammelte Schriften Bd. I, 1889, S. 399—449 (Si-
mon der Gerechte = Simon der Makkabäer, die große Versammlung —
I Makk. 14). — S. Kr aus s, The great synod (Jetcish Quarterly Review voL X,
1898, p. 347—377).
[355] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 419
nämlich in der Form, wie es die jüdische Tradition sich vorstellt,
überhaupt nicht existiert haben, hat doch schon die ältere pro-
testantische Kritik dargetan 6, wenn es auch erst der abschließenden
Untersuchung von Kuenen vorbehalten blieb, das über ihnen
schwebende Dunkel völlig zu lichten. Die historische Grundlage
der ganzeb Vorstellung ist nämlich lediglich die Erzählung bei
Nehem. c 8—10, daß zur Zeit Esras das Gesetz von einer großen
Versammlung des Volkes feierlich angenommen wurde. Diese
„große Versammlung" hatte ja in der Tat für die Erhaltung des
Gesetzes eminente Bedeutung. Nachdem aber der Begriff einer
„großen Versammlung*4 als einer für die Erhaltung des Gesetzes
wichtigen Instanz einmal fixiert war, hat sich in der Tradition
allmählich eine ganz unhistorische Vorstellung damit verbunden.
Statt einer gesetzempfangenden Volksversammlung dachte man sich
darunter ein Kollegium von Männern, welche das Gesetz weiter
überlieferten; und mit dieser Vorstellung füllte man die Lücke aus
zwischen den letzten Propheten und denjenigen Schriftgelehrten, bis
zu welchen die Erinnerung der späteren Zeit noch hinaufreichte7.
Mit der Vorstellung von der großen Synagoge fällt auch von
selbst die Notiz, daß Simon der Gerechte eines der letzten
Mitglieder derselben gewesen sei. Dieser Simon ist vielmehr kein
anderer als der Hohepriester Simon, welcher nach Josephus
den Beinamen 6 ölxaiog erhielt8. Ohne Zweifel hat er von seiten
6) Joh. Eberh. Rau, Diatribe de synagoga magna, Trag, ad Rh. 1726. —
Aurivillius, Disseriationes ad sacras literas et phüologiam orientalem perti-
nenies (ed. Michaelis 1790) p. 139—160.
7) S. Kuenen, Over de mannen der groote synagoge, Amsterdam 1876
(Separatabdruck aus: Verslagen en Mededeelingen der koninklijke Akademie van
Wetensehappen9 Afdeeling Letterkunde, 2de Reeks, Deel VI). Vgl. Theol. Litztg.
1877, 100. In deutscher Übersetzung: Über die Männer der großen Syna-
goge, in: Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur biblischen Wissenschaft,
übers, von Budde, 1894, 8. 125—160. — Wie Kuenen auch: Ryssel, Theol.
Stud. und Krit. 1887, S. 174. Wildebo er, Die Entstehung des alttestamentl.
Kanons, 1891, S. 120—122. Buhl, Kanon und Text des A. T. 1891, S. 36 f.
Robertson Smith , The Old Testament in the Jewish Church 1892, p. 169 sq.
Ryle, The Canon of the Old Testament 2. ed. 1899, p. 261—283 (ausführlich
über die älteren Meinungen; Kuenens Ansicht ist not altogether improbable,
p. 282 f.). Budde, Encyelopaedia Biblica I, 654 f. (im Art. Canon). Ders.,
Der Kanon des A. T. 1900, S. 19 — 23. Selbie, Art. „Synagogue, the great", in
Hostings' Dictionary of the Bible IV, 643 sq. Auch W. Bacher in seinem
gehaltvollen Artikel ober die große Synagoge in The Jewish Encyclo-
pedia XI, 1905, p. 640—643, erkennt im wesentlichen die Resultate Kuenens
an, indem er sie freilich mit der Tradition einigermaßen in Einklang zu
bringen sucht.
8) Joseph. Antt. XII, 2, 5 § 43: 6 xal Sixatoq imxXri&elq öia xe xö nodq
xdv &edv eboeßhq xal xö ngbq xohq öfiOipvXovq evvow.
27*
420 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [355. 356)
des pharisäischen Judentums diesen Beinamen erhalten, weil er
streng gesetzlich gesinnt war, während andere Hohenpriester der
griechischen Zeit in dieser Beziehung zu wünschen übrig ließen.
Eben deshalb wird | er auch yon der jüdischen Überlieferung zu
einem Träger der Gesetzestradition gestempelt9. Fraglich kann
nur sein, ob der Hohepriester Simon I. (Anfang des dritten Jahr-
hunderts yor Chr.) oder Simon IL (Ende des dritten Jahrhunderts
yor Chr.) gemeint ist10. Nach Josephus wäre es der erstere. Aber
Jesus Sirach c 50 rühmt einen Hohenpriester Simon wegen der
Treue, mit welcher er den Tempeldienst in alter Pracht verwaltet
habe. Er hat die Zeit desselben offenbar noch erlebt und preist
seine Gesetzestreue im Gegensatz zu den gräzisierenden Hohen-
priestern der Zeit, in welcher er schreibt Da seine Schilderung
sich nur auf Simon IL beziehen kann, ist wohl eine Verwechselung
bei Josephus anzunehmen11.
Der älteste Schriftgelehrte, von welchem die Überlieferung
wenigstens den Namen erhalten hat, ist Antigonus aus Socho.
Es ist aber auch fast nur der Name, den wir von ihm kennen 12.
— Auch von den folgenden Schriftgelehrten bis zur Zeit Christi
9) Er wird auch Para III, 5 erwähnt als einer der Hohenpriester, unter
welchen eine rote Kuh verbrannt wnrde. Andere Traditionen über ihn: To-
sephta Nasir IV, 7. Sota XIII, 6—7 (ed. Zucker mandel p. 289, 9. 319, 9. 11.
15). — Vgl. überh. Wolf, Biblioth. Hebr. II, 864. — Fürsts Literaturbl. des
Orients 1845, S. 33 ff. — Herzfeld, II, 189ff. 377 f. — Grätz, Simon der Ge-
rechte und seine Zeit (Monatsschr. 1857,8.45—56). — Derenbourg, Histoire
de la Palestine p. 46 — 47. — Low, Gesammelte Schriften I, 411—413 (s. oben
Anin. 5). — Hamburger, Beal-Enz. Abt. II, 8. 1115—1119. — Montet,
Essai sur les origines etc. p. 135—139. — Bacher und Ochser, Art. Simeon
the Just in: The Jeurish Eneyclopedia XI, 352—354. — Smend, Die Weisheit
des Jesus Sirach, erklärt, 1906, S. XV— XVII.
10) Über letzteren s. Jos. Antt. XII, 4, 10.
11) So Herzfeld, Derenbourg, Smend, Bousset (Die Religion des
Judentums, 2. Aufl. S. 191).
12) Vgl. auch Wolf, Biblioth. Hebr. II, SIS sqq. — Fürsts Literaturbl.
des Orients 1845, S. 36 f. — Hamburger, Beal-Enz. s. v. — In den Aboth
de-Rabbi Nathan c. 5 werden dem antigonus zwei Schüler Zadok und Boe-
thos zugeschrieben und von diesen die Sadduzäer und Boethos&er abgeleitet.
— Orte namens Socho (roito) kommen zwei im A. T. vor, beide im Stamme
Juda: 1) eine Stadt in der Ebene Jos. 15, 35. I Sam. 17, 1. I Reg. 4, 10.
II Chron. 11, 7. 28, 1& 2) eine Stadt im Gebirge Jos. 15, 48. Der Name
beider hat sich noch heute in der Form es-Suweike erhalten (s. z. B. Mühlau
in Riehms Handwörterbuch und Gesenius' Handwörterbuch). Erstere liegt
südwestlich von Jerusalem, gegen Eleutheropolis zu, letztere südlich von He-
bron. Da die Gegend südlich von Hebron im zweiten Jahrhundert vor Chr.
edomitisch war, wird ersteres die Heimat des Antigonus gewesen sein.
356. 357] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. . 421
ist die in der Mischna erhaltene Kunde eine äußerst dürftige und
unsichere. Das sieht man schon aus der äußerlich schematischen
Anordnung zu f&nf Paaren. Denn diese ist schwerlich eine ge-
schichtlich begründete in dem Sinne, daß gerade in jeder Genera-
tion wirklich nur je zwei Gelehrte sich besonders hervorgetan
hätten. Man hat eben zehn Namen gekannt und daraus unter
Zusammenstellung der ungefähr Gleichzeitigen fünf Paare for-
miert, vermutlich nach Analogie des letzten und berühmtesten
Paares Hillel und Schammai 13. Bei diesem Sachverhalt kann natür-
lich auch die Chronologie nur in den allgemeinsten Umrissen
fixiert werden. Die verhältnismäßig sichersten Anhaltspunkte sind
folgende 14. Simon ben Schetach war ein Zeitgenosse des Alexan-
der Jannäus | und der Alexandra; lebte also um 90—70 vor Chr.15.
Hiernach ist das erste Paar zwei Generationen früher, um 150
vor Chr. anzusetzen. Hillel soll nach talmudischer Überlieferung
100 Jahre vor der Zerstörung Jerusalems, also zur Zeit Herodes'
des Gr. geblüht haben 16. Gamaliel I. wird in der Apostelgeschichte
(5, 34. 22, 3) um 30—40 nach Chr. erwähnt, während hinwiederum
dessen Sohn Simon nach Josephus zur Zeit des jüdischen Krieges
um 60—70 nach Chr. lebte17. Daß die spätere Tradition die sämt-
lichen fünf Paare zu Präsidenten und Vizepräsidenten des
Synedriums macht, ist bereits oben (S. 254) erwähnt worden;
ebendort aber auch die völlige Verkehrtheit dieser Behauptung
nachgewiesen worden. In Wirklichkeit waren sie nichts anderes
als Schulhäupter.
Das erste Paar Jose ben Joeser und Jose ben Jochanan
wird außer der Hauptstelle im Traktat Aboth nur noch ein paar-
mal in der Mischna erwähnt18; noch seltener das zweite Paar
13) In der rabbinischen Literatur werden daher jene Zehn zuweilen auch
schlechthin „die Paare" (n^T) genannt, z. B. Pea II, 6.
14) Vgl. über die Chronologie: Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge
der Juden 8. 37, und Herzfeld in der Monatsschr. f. Gesch. und Wissen&ch.
des Judenth. 1854.
15) Hiermit stimmt auch überein, daß Simon ben Schetach nach
Taanith III, 8 ein Zeitgenosse jenes wegen seiner Gebetsmacht berühmten
Onias war, dessen Tod um 65 vor Chr. von Josephus Antt. XIV, 2, 1 be-
richtet wird.
16) Schabbath 15a. Vgl. Hieronymus ad Jesaj. 8, 11 ff. (Opp. ed. Val-
larsi IV, 123): Sammai et Heüel non mutio prius quam Dominus nasceretur
orti sunt Judaea.
17) Bell. Jud. IV, 3, 9. Vita 38. 39. 44. 60.
18) Beide außer Aboth I, 4 — 5 nur noch Chagiga II, 2. Sota IX, 9. Jose
ben Joeser auch Chagiga II, 7. Edvjoth VIII, 4. — Nach Chagiga II, 7 war
422 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit [357. 358]
Josua ben Perachja und Nittai (oder Mattai) aus Arbela19.
Von dem | dritten Paare hat nur Simon ben Schetach eine einiger-
maßen greifbare Gestalt, obwohl auch das von ihm Erzählte meist
sehr legendarischen Charakters ist20. Von all diesen ist bei Jo-
sephus keine Rede. Dagegen erwähnt er, wie es scheint, das vierte
Paar Schemaja und Abtaljon unter dem Namen £a(iaiag und
Tlollicov. Als nämlich im Jahre 47 vor Chr. der junge Herodes
wegen seiner Taten in Galiläa als Angeklagter vor dem Synedrium
stand, und alle Beisitzer in feiger Furcht mit ihrer Klage ver-
stummten, erhob allein ein gewisser Samaias seine Stimme und
prophezeite seinen Kollegen, daß sie alle noch von Herodes würden
ums Leben gebracht werden. Seine Weissagung erfüllte sich zehn
Jahre später, indem Herodes nach der Eroberung Jerusalems im
Jahre 37 alle seine ehemaligen Ankläger hinrichten ließ21. Nur
der Pharisäer Pollio und sein Schüler Samaias {floXXlmv 6 4>aQc-
Jose ben Joeser ein Priester und zwar ein „Frommer" (Tön) unter der
Priesterschaft. Dunkel ist die Notiz Sota IX, 9, daß es seit dem Tode des
Jose ben Joeser und Jose ben Jochanan keine niblDTOK mehr gegeben habe.
Da die Mischna selbst hierbei auf Micha 7, 1 verweist, so ist mblDiöK wahr-
scheinlich in seiner gewöhnlichen Bedeutung (Trauben) zu nehmen als bild-
liche Bezeichnung für Männer, an welchen man sich geistig erquicken kann.
Andere wollen es gleich a%oXal nehmen. — Vgl. überh. Herz f e 1 d III, 246— 249.
Derenbourg p. 65, 75, 456 sqq.
19) Beide nur Aboth I, 6—7 und Chagiga II, 2. — 8tatt Nittai (^na
oder ^na) haben gute Zeugen an beiden Stellen ^nitü oder ^rvo, also Mat-
thäus, was vielleicht vorzuziehen ist (so cod. de Rossi 138, Cambridge Uni-
versity Additional 470, 1, auch der jerusalemische Talmud Chagiga II, 2).
Auch im Verzeichnis der 72 Bibel Übersetzer bei Pseudo-Aristeas kommt ein
Nav&aloq vor, wofür einige Text-Zeugen Max&aToq haben (Mendelssohn, Aru
steae quae fertur epist. 1897, p. 50 und Wendlands Ausg. § 49). — Die Heimat
des Nittai (bn*iN) ist das heutige Irbid nordwestlich von Tiberias, wo sich
noch Ruinen einer alten Synagoge befinden, deren Erbauung von der Legende
natürlich dem Nittai zugeschrieben wird (s. § 27). — Vgl. überh. Herzfeld
III, 249. Derenbourg p. 93 sq.
20) Über seine Beziehungen zu Alexander Jannäus und Alexandra s.
oben § 10. — Sonst vgl. über ihn außer Aboth I, 8—9, Chagiga II, 2 auch
Taanith in, 8. Sanhedrin VI, 4. Tosephta Chagiga II, 8. Kethuboth XII, 1.
Sanhedrin VI, 6. VIH, 3 {ed. Zuckermandel p. 235, 3. 274, 3. 424, 31. 427, 19).
Je eine Stelle in Mechiltha, Siphra und Siphre bei D. Hoffmann, Zur Ein-
leitung in die halachischen Midraschim (Berlin, Jahresbericht des Rabbiner-
Seminars 1887) S. 90. — Landau in der Monatsschr. f. Gesch. und Wissensch.
des Judenth. 1853, S. 107— 122, 177—180. Herzfeld in, 251f. Grätz, Gesch.
der Juden Bd. III, 3. Aufl. S. 665—669 (Note 14), 4. Aufl. S. 703—708 (Note
13 — 14). Derenbourg p. 96 — 111. Schlatter, Geschichte Israels 2. Aufl.
1906, S. 116 ff.
21) AnU. XIV, 9, 4.
[368. 359] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 423
öalog xal 2a/ialag 6 rovrov (la&rjrqg) wurden von ihm verschont,
ja hochgeehrt, da sie bei der Belagerung der Stadt durch Herodes
den Eat gegeben hatten, den König in die Stadt einzulassen. Der
hier erwähnte Samaias wird von Josephus mit dem früheren aus-
drücklich identifiziert22. Endlich erwähnt Josephus den Pollio
und Samaias, und zwar wiederum in dieser Ordnung, noch an
einer dritten Stelle. Doch erhalten wir leider in betreff der Zeit
keine volle Gewißheit. Er berichtet nämlich, daß einst die An-
hänger des Pollio und Samaias (ot jceQi üolllcova rbv 4>aQiöalov
xal Sapaiav) dem Herodes den geforderten Huldigungseid ver-
weigerten und nicht dafür bestraft wurden, „da sie wegen des
Pollio Nachsicht erlangten" (ivtQoxfjg öia xbv IloXXloparvxoprsg)23.
Josephus bemerkt dies unter den Ereignissen des achtzehnten Jahres
des Herodes (= 20/19 | vor Chr). Es ist aber aus dem Zusammen-
hang nicht ganz klar zu ersehen, ob das Ereignis wirklich in jenes
Jahr fällt Die beiden Namen Uafialag und IIolXlcop stimmen nun
mit JTj^oti und T^bM» so auffällig überein, daß die Annahme der
Identität beider jedenfalls sehr nahe liegt24. Auch die Chronologie
würde ungefähr stimmen. Nur das eine erregt Bedenken, daß
Samaias als Schüler des Pollio bezeichnet wird, während sonst
Schemaja stets vor Abtaljon steht Man könnte daher versucht
sein, den Samaias mit Schammai zu identifizieren26, wobei nur
wieder auffällig wäre, daß Josephus ihn zweimal mit Abtaljon und
22) Antt. XV, 1,1. — In dem Satz, in welchem auf den früheren Vor-
fall verwiesen wird, haben freilich die Josephus-Handschriften UoXXiwv (auf-
genommen von Niese), nur die Epitome und der Lateiner 2a(xala<;. Nach
Antt. XJV, 9, 4 ist aber letzteres die richtige Lesart, wofern nicht Josephus
an einer von beiden Stellen einen Flüchtigkeitsfehler begangen hat.
23) Antt XV, 10, 4.
24) Der Name rroow, der auch im A. T., bes. bei Nehemia und in der
Chronik häufig vorkommt, wird von den LXX durch Haftaia, Za/xalaq, 2a-
(xelaq, Sefielag wiedergegeben. Der Name IIoXXi(ov ist zwar nicht mit Abtal-
jon identisch, vielmehr gleich lat. Pollio; bekanntlich führten aber die Juden
häufig neben dem hebräischen Namen einen ähnlich lautenden griechischen
oder römischen (Jesus und Jason, Saul und Paulus und dergl.). — Erwähnt
sei noch, daß Schlatter (Zur Topographie und Geschichte Palästinas 1893,
8. 126) "Trtoaa für griechisch Ei&aUwv hält Dies wäre lautlich möglich,
ist aber unwahrscheinlich, da Evd-aXlmv als griechischer Name nicht nach-
weisbar ist (Pape-Benseler, Wörterb. der griech. Eigennamen, erwähnt nur
Ei&äXioq). Schlatter nimmt dabei ebenfalls Identität mit TIoXXIcov an, indem
er letzteres für Lesefehler des Josephus erklärt.
25) *WüW oder ^»iö (wahrscheinlich nur Abkürzung aus riWDtD, s. Deren-
bourg p. 95) kann griechisch sehr wohl 2a(xaiaq lauten, wie *W lavvaZoe
oder yIawia$ (zwischen beiden Formen schwanken die Handschriften Antt.
XIII, 12, 1).
424 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [359. 360]
nicht mit seinem Zeitgenossen Hillel zusammen nennt. Wenn man
aber wegen dieser Zusammenstellung unter Pollio und Samaias
den Hillel und Schammai hat verstehen wollen26, so steht teils
die Verschiedenheit der Namen Pollio und Hillel entgegen, teils
die Bezeichnung des Samaias als Schüler Pollios, während doch
Schammai nicht Hillels Schüler war. Alles in allem möchte die
zunächst sich darbietende Zusammenstellung des Samaias und Pollio
mit Schemaja und Abtaljon doch die wahrscheinlichste sein27.
Hillel und Schammai sind unter den fünf Paaren bei weitem
die berühmtesten28. An jeden von ihnen hat sich eine ganze
Schule | yon Schriftgelehrten angeschlossen, die, wenn auch nicht
im Prinzip, so doch in einer Menge einzelner gesetzlicher Bestim-
mungen nach zwei verschiedenen Richtungen hin auseinandergingen.
Aus dieser Tatsache erhellt allerdings, daß beide für die Geschichte
des jüdischen Rechtes eine hervorragende Bedeutung haben: beide
haben offenbar mit besonderem Eifer und Scharfsinn an dem sub-
tileren Ausbau des Gesetzes weiter gearbeitet Allein man darf
deshalb nicht meinen, daß beide auch ihrem persönlichen Leben
und Wirken nach im hellen Licht der Geschichte stehen. Was
wir über sie selbst Sicheres wissen, ist verhältnismäßig sehr wenig.
In der Mischna, der einzigen zuverlässigen Quelle, werden beide
26) So z. B. Arnold in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. VI, 97, und Leh-
mann, Le prochs d'Hirode, Samias et Pollion (Revue des etudes juives t. XXIV,
1892, p. 68—81).
27) Vgl. über beide außer Aboth I, 10—11 und Qhagiga II, 2 auch Edu-
joth I, 3. V, 6. — Landau in der Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. de»
Judenth. 1858, S. 317—329. Herzfeld HI, 253 ff. Grätz, Gesch. der Juden
3. Aufl. HI, 671 f. (Note 17), 4. Aufl. S. 709 f. (Note 16). Derenbourg
p. 116—118. 149 sq. 463 sq. Hamburger Real-Enz. Abt. H, S. 1113 f. (Art
„Semaja"). The Jewish Encyclopedia XI, 268 (Art. Shemajah, dürftig) und
I, 136 (Art, Abtalion).
28) Über beide, bes. über Hillel s. Biesenthal in Fürsts Literaturbl.
des Orients 1848, Nr. 43—46. — Kämpf, Ebendas. 1849, Nr. 10—38. —
Arnold in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. VI, 96 — 98 (und die hier zitierte ältere
Literatur). — Herzfeld III, 257 ff. — Grätz HI, 222 ff. 4. Aufl. S. 207 ff. —
Jost I, 255—270. — Ewald, Jahrbb. der bibl. Wissensch. Bd. X, S. 56—83.
Gesch. des Volkes Isr. Bd. V, 12—48. — Geiger, Das Judenth. und seine
Gesch. I, 99—107. — Delitzsch, Jesus und Hillel, 1866 (3. Aufl. 1879). —
Keim, Gesch. Jesu 1, 268—272. — Derenbourg p. 176—192. — Strack in
Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VHI, 74—76. — Hamburger, Real-Enz.
II, 401—412. — Bacher, Monatsschr. f. Gesch. und Wissensch. des Judenth.
1882, S. 100—110 — Die Agada der Tannaiten I, 4—14. 2. Aufl. I, 1—11. —
Goitein, Magazin für die Wissensch. des Judenth. XI. Jahrg. 1884, S. 1 — 16,
49—87. —Bacher, Art. Hillel in: The Jewish Encyclopedia VI, 1904, p. 397—400.
Lauterbach, Art. Shammai, ebendas. XI, 1905, p. 230 sq.
[360. 361] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 425
kaum je ein dutzendmal erwähnt29. Und was die späteren Quellen
von ihnen erzählen, trägt fast durchweg den Stempel der Legende.
Hillel, zum Unterschiede von anderen „der Alte" fpjn genannt80,
soll aus davidischem Geschlecht entsprungen31 und von Babylon
nach Palästina eingewandert sein. Da er arm war, mußte er sich
als Tagelöhner verdingen, um den Lebensunterhalt für sich und
seine Familie und zugleich das Honorar des Unterrichts zu be-
streiten. Sein Eifer im Studium war so groß, daß er einst, als er
das Eintrittsgeld zum Beth-ha-Midrasch nicht entrichten konnte,
in die Fensteröffnung kletterte, um von hier aus dem Unterrichte
zuzuhören. Da es gerade Winterszeit war, erstarrte er vor Kälte
und wurde in dieser Lage von den erstaunten Lehrern und Kollegen |
gefunden32. Von der Gelehrsamkeit, die er sich durch solchen
Eifer erwarb, erzählt die Tradition wunderliche Dinge. Alle
Sprachen verstand er, auch die Eede der Berge, Hügel, Täler,
Bäume, Kräuter, der wilden und zahmen Tiere und der Dämonen 3S.
Jedenfalls war er der angesehenste Gesetzeslehrer seiner Zeit, aber
Präsident des Synedriums ist er so wenig gewesen, als irgendein
anderer der damaligen Schriftgelehrten. Der Grundzug seines
Charakters war der der Sanftmut und Milde, wovon man sich ab-
sonderliche Proben erzählte34. Sie gibt sich auch kund in dem
ersten der oben mitgeteilten Sinnsprüche (Aboth I, 12): „Sei ein
Schüler Aarons, friedliebend, friedenstiftend, liebe die Menschen
und ziehe sie heran zum Gesetze". — Der Antipode des milden
Hillel war der strenge Schammai, gleichfalls wie jener „der Altett
Ipjn genannt 35. Von dem rigorosen Eifer desselben für die buch-
stäbliche Erfüllung des Gesetzes erzählt die Mischna folgendes
Beispiel Als einst seine Schwiegertochter am Laubhüttenfest einen
29) Hillel wird in der Mischna nnr an folgenden Stellen erwähnt: Sche-
biith X, 3. Chagiga II, 2. Qittin IV, 3. Baba mexia V, 9. Edujoth I, 1—4.
Aboth I, 12—14. II, 4—7. IV, 5. V, 17. Arachin IX, 4. Nidda 1, 1. — Scham -
mai nnr an folgenden: Maaser schein II, 4. 9. Orla II, 5. Sukka II, 8. Cha-
giga H, 2. Edujoth I, 1—4. 10. 11. Aboth I, 12. 15. V, 17. Kelim XXII, 4.
Nidda I, 1.
30) Sehebiith X, 3. Arachin IX, 4.
31) jer. Taaniih IV, 2 foL 68». Bereschüh rabba e. 98 zu Gen. 49, 10 (s.
Bereschith rabba, übersetzt von Wünsche S. 485. 557). Daß die Tradition
yon der davidischen Abstammung Hillels keine zuverlässige ist, zeigt Israel
Livij Uorigine davidique de Hillel (Revue des Utides juives t. XXXI, 1895,
p. 202—211; dazu t. XXXIII, 1896, p. 143 sq.).
32) Delitzsch, Jesus und Hillel 8. 9—11.
33) Delitzsch, Jesus und Hillel 8. 8.
34) S. Delitzsch 8. 31 f.
35) Orla H, 5. Sukka H, 8.
426 § 25. Die Schriftgelehrsarakeit. [361]
Knaben gebar, ließ er den Estrich abbrechen und deckte über dem
Bette das Dach mit Laub, damit auch der neugeborene Knabe nach
der Vorschrift des Gesetzes das Laubhüttenfest feiere36.
Der milden Richtung Hilleis und der strengen Schammais ent-
spricht auch die Richtung ihrer beiden Schulen. Die Schule
Hiilels entschied gesetzliche Fragen gerne im erleichternden Sinne,
die Schule Schammais im erschwerenden. Jene suchte sich wo-
möglich mit einem Minimum abzufinden, diese wählte gern das
Maximum. Eine wirklich prinzipielle Differenz kann man dies aber
kaum nennen; denn beide waren darin einig, daß der Buchstabe
des Gesetzes pünktlich erfüllt werden müsse. Es fehlt daher auch
nicht an Fällen, wo die Schule Hiilels erschwerend, diejenige
Schammais erleichternd entschied37. Stets aber sind esnurMinu-
tien, um welche die Differenz sich bewegt. Es lohnt sich daher
auch nicht, den Gegensatz näher im Detail zu verfolgen 38. Einige |
36) Sukka II, 8.
37) Edujoth IV, 1 — 12; V, 1—5. Dazu die gründlichen Erörterungen von
Ad. Schwarz, Die Erleich temngen der Schammaiten und die Erschwerungen
der Hilleliten (auch unter dem Titel: Die Controversen der Schammaiten und
Hilleliten I). Wien 1893 (109 S ).
38) Für denjenigen, der den Dingen näher nachgehen will, teile ich hier
sämtliche Stellen der Mischna mit, an welchen Differenzen zwi-
schen beiden Schulen erwähnt werden. Berachoth I, 3. Vüi, 1 — 8.
Pen III, 1. VI, 1. 2. 5. VII, 6. Demai I, 3. VI, 6. Kilajim II, 6. IV, 1. 5.
VI, 1. Schebiüh I, 1. IV, 2. 4. 10. V, 4. 8. VIII, 3. Terumoth I, 4. V, 4.
Maaseroth IV, 2. Maaser scheni n, 3. 4. 7. 8. 9. III, 6. 7. 9. 13. IV, 8. V, 3.
6. 7. ChaUa I, 6. Orla II, 4. Schabbath I, 4—9. III, 1. XXI, 3. Erubm I,
2. VI, 4. 6. Vni, 6. Pesachim I, 1. IV, 5. VIII, 8. X, 2. 6. Schekalim n, 3.
VIII, 6. Sukka I, 1. 7. II, 7. III, 5. 9. Bexa 1, 1—9. II, 1—5. Bosch haschana
I, 1. Chagiga I, 1—3. H, 3. 4. Jebamoth I, 4. III, 1. 5. IV, 3. VI, 6. XIII, 1.
XV, 2. 3. Kethuboth V, 6. VIII, 1. 6. Nedarim III, 2. 4. Nasir II, 1. 2. HI, 6. 7.
V, 1. 2. 3. 5. Sota IV, 2. Oittin IV, 5. VHI, 4. 8. 9. IX, 10. Kidduschm 1, 1.
Baba mexta HE, 12. Baba baihra IX, 8. 9. Edujoth I, 7—14. IV, 1—12. V,
1—5. Sebaehim IV, 1. ChuUin I, 2. VHI, 1. XI, 2. Bechoroth V, 2. Keri-
thoth I, 6. Kelim IX, 2. XI, 3. XIV, 2. XVIII, 1. XX, 2. 6. XXH, 4. XXVI, 6.
XXVIH, 4. XXIX, 8. Ohaloth II, 3. V, 1-4. VII, 3. XI, 1. 3-6. 8. Xin, 1. 4.
XV, 8. XVIII, 1. 4. 8. Para XII, 10. Tohoroth IX, 1. 5. 7. X, 4. Mihcaoth
I, 5. IV, 1. V, 6. X, 6. Nidda II, 4. 6. IV, 3. V, 9. X, 1. 4. 6-8. Mach-
schirin I, 2-4. IV, 4. 5. V, 9. Sabim 1, 1—2. Tebuljoml, 1. Jadajim IH, 5.
ükxin III, 6. 8. 11. — "waü rra allein: Berachoth VI, 5. Demai TU, 1. Kilajim
VIII, 5. Terumoth IV, 3. Orla II, 5. 12. Bexa II, 6. Edujoth HI, 10. Mih-
waoth IV, 5. — Dieses Stellenverzeichnis lehrt, daß die Differenzen sich haupt-
sächlich auf die im ersten, zweiten, dritten und sechsten Seder der Mischna
behandelten Materien beziehen (d. h. 1) die religiösen Abgaben, 2) die Sab-
bath- und Festfeier, 3) die Ehegesetze und 4) die Beinheitsgesetze), dagegen
fast gar nicht auf die im vierten und fünften Seder behandelten Materien
(Zivil- und Kriminalrecht und Opfergesetze). Die letzteren, die nicht das reli-
[362. 363] IV. Die berühmtesten SchriftgelehrteD. 427
Beispiele mögen genügen. Das Gebot, am Sabbat keine Speise zu
bereiten, wurde z. B. auch auf die eieriegenden Hennen ausgedehnt,
und daher darüber debattiert, ob und unter welchen Umständen ein
an einem Feiertage gelegtes Ei an demselben gegessen werden
dürfe oder nicht39. Oder man verhandelte darüber, ob an einem
viereckigen leinenen Nachtgewande Schaufäden (Zizüh) erforderlich
seien oder nicht40; ob man am Feiertage eine Leiter von einem
Taubenschlage zum andern tragen oder nur von einer Luke zur
andern neigen dürfe41. Von reformatorischen Ideen, welche uns |
jüdische Eigenliebe so gerne glauben machen möchte, ist hier, wie
man sieht, nirgends die Rede. In der Praxis gewann die mildere
Schule Hilleis im Laufe der Zeit die Oberhaud; doch gab sie in
manchen Punkten freiwillig ihre Ansicht auf und trat der Schule
Schammais bei42, und in anderen folgte man später weder der
Meinung Hillels noch der Schammais43.
An den Namen Hillels knüpft sich auch eine Einrichtung,
die zwar dem Gesetz widersprechend, aber in der Lage der Dinge
wohlbegründet und gewiß von wohltätigen Folgen war. Die ge-
setzliche Bestimmung, daß in jedem siebenten Jahre alle Schulden
erlassen werden sollten (Deut 15, 1—11), hatte nämlich die üble
Folge, „daß die Leute Anstand nahmen, einander Geld zu leihen",
obwohl das Gesetz selbst ermahnte, daß man nicht um dieser Be-
stimmung willen zurückhaltend im Ausleihen sein solle {Deut 15, 9).
Um nun diesen Übelstand zu beseitigen, wurde unter Hillels Ein-
fluß der „gerichtliche Vorbehalt" (Prosbol) eingeführt Es wurde
nämlich dem Gläubiger gestattet, vor Gericht eine Erklärung ab-
giöse Tun der Privatpersonen betreffen, sondern entweder rein bürgerliche
oder priesterliche Handlungen, sind in den Schulen nicht ebenso eifrig disku-
tiert worden wie erstere. Das Zivil- und Kriminalrecht hatte überhaupt nicht
dasselbe Interesse, wie die religiösen Satzungen. Die Opfergesetze aber sind
vermutlich schon durch die älteren priesterlichen Schriftgelehrten ausgebildet
worden und lagen außerhalb der direkten Machtsphäre der Eabbinen. — Ahn-
lich wie in der Misch na steht es in der Tosephta (s. das Stellenverzeichnis
im Index zu Zuckermandels Ausgabe p. XXXIII). In den Midraschim (Me-
chiltha, Siphra und Siphre) werden beide Schulen nur selten erwähnt.
S. das Stellenverzeichnis bei D. Hoff mann, Zur Einleitung in die halachi-
schen Midraschim (Berlin, Jahresbericht des Rabbiner-Seminars 1887) 'S. 84
— Vgl. auch Mendelssohn, Art. Bet Hülel and Bei Shammai in: TheJewish
Eneydopedia III, 115 sq.
39) Beza I, 1. Edujoth IV, 1. Delitzsch S. 21 f.
40) Edtyoth IV, 10.
41) Beza I, 3.
42) Edujoth I, 12—14.
43) Z. B. Edujoth I, 1—3. Vgl. überh. die in Anm. 38 zitierten Stellen.
428 § 25- Die Schriftgelehrsamkeit. [363]
zugeben folgenden Inhalts: Qijwjn ^bai ^bfi «Jni ODb i?K -iqi*
nrtKtf iwr bD toUttri ^b v*id nin tairf "ofta oipwiTD „Ich der und
der übergebe euch den Richtern des und des Ortes (die Erklärung),
daß ich jede mir ausstehende Schuld, wann ich wolle, jederzeit ein-
fordern dürfe". Durch einen solchen bei Gericht niedergelegten
Vorbehalt war der Gläubiger auch für das Sabbatjahr gesichert44.
Die konstante Bezeichnung dieses Vorbehaltes als Prosbol (Vtarhfi)
ist noch nicht genügend aufgeklärt. Daß es nicht = jtqos ßovXfjv
ist, wie manche gemeint haben, darf bestimmt gesagt werden, denn
der Hauptbegriff wäre dabei gar nicht zum Ausdruck gebracht
Es kann kaum etwas anderes als xQooßoXtj sein. Aber im grie-
chischen Sprachgebrauch ist bis jetzt keine für unsern Fall passende
Bedeutung nachgewiesen45. Am ansprechendsten dürfte die Ver-
mutung sein, daß es = lat adjedio in der Bedeutung „Zusatz, Bei-
satz, Klausei" ist, denn die Prosbol-Erklärung war ja tatsächlich
eine den Schuldvertrag ergänzende Klausei46.
44) Vgl. bes. Schebiith X, 3-7 (die Formel: Schebiith X, 4); Einführung
durch Hillel: Schebiith X, 3. Qittin IV, 3; überhaupt: Pea III, 6. Moed katan
III, 3. Kethuboth IX, 9. Ukxin HI, 10. — Literatur: Buxtorf, Lex. Ghald. coL
1806 sq. Quisiu8 in Surenhusius' Mischna 1,196. Jost, Gesch. des Judenth.
I, 365 f. Hamburger, Keal-Enz. II, 939 f. (Art. Prosbul). Levy, Neuhebr.
Wörterb. s. v. bwnß. Krauß, Griech. und lat. Lehnwörter im Talmud H, 1899,
S. 482. Greenstone, Art. Prosbul in: The Jewish Encyclopedia X, 1905,
p. 21$ sq. und die oben Anm. 28 angeführte Literatur über Hillel.
45) In den früheren Auflagen habe ich wegen der Eingangsworte nöTS
üdb *M „ich übergebe euch" angenommen, daß nQoaßoX^ = das Hinbringen,
Übergeben der Deklaration vor Gericht sei. Diese Erklärung hat aber er-
hebliche sprachliche Bedenken gegen sich. — Neuerdings sind zwei Papyrus-
urkunden bekannt geworden, in welchen noooßoXii als juristischer Begriff vor-
kommt (Papiri Fiorentini, per eura di G. Vit eilt, Milano 1906, n. 55, 25 und
56, 11). Das Wort steht hier neben irexvQaola (Auspfändung). Aber der Zu-
sammenhang gibt keinen Fingerzeig für den Sinn, in welchem es gemeint ist.
46) Diese Vermutung ist mir von Wilcken (brieflich) ausgesprochen
worden. Für adjectio in der Bedeutung „Zusatz, Beisatz, Klausel" gibt Heu-
manns Handwörterbuch zu den Quellen des römischen Rechts, 9. Aufl. bearb.
von Seckel, 1907, folgende Belege: Gaius, Institutiones IV, 126—129 (wo
z. B. für den Fall, daß einer mit einem anderen vereinbart: ne pecuniam f
quam mihi debes, a (e peterem, die Klausel empfohlen wird : si non postea con-
tenity ut mihi eam pecuniam petere liceret). Digest. XXVIII, 5, 70. XXX, 30,
1—4. 81, 4. 108, 8. — TtQoaßoXii müßte dann Latinismus sein (wörtliche Wie-
dergabe von adjectio). Die jüdische 7tgoaßoXij scheint freilich keine Klausel
in dem Schuldvertrage selbst gewesen zu sein, sondern ein genereller Vorbe-
halt für alle Fälle (vgl. außer der Formel selbst auch Schebiith X, 5:
„Wenn fünf Personen von Einem borgen, so kann er ein Prosbol für alle
schreiben"). — Die von Josephus erwähnten Schuldverträge, welche im
Archiv zu Jerusalem niedergelegt waren (Bell. Jud. IL, 17, 6: jtie£* 8 xb
[363. 364] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 429
Als Sohn Hillels wird von jüdischen nnd christlichen Gelehr-
ten | in der Regel ein Simon genannt, der wiederum der Vater
Gamaliels I. gewesen sein soll. Die Existenz dieses Simon nnd
damit das ganze genealogische Verhältnis ist aber höchst frag-
würdig47. Eine sichere historische Persönlichkeit ist erat wieder
Gamaliel L, 'jß-in bäpb£| isn, wie er zum Unterschied von Gama-
iiel IL in der Mischna genannt wird48. Zu seinen Füßen saß be-
nvo inl zä &(>Z*fo Hfpeoov &<payla<u onevSovreg xä avfißdXaia x(ov SsSa-
vetxdtwv xal räq eloiiQ&&iq anoxötpai rwv zoeCbv), waren nicht, wie ich
früher angenommen habe, Prosbol- Vertrage, sondern die Schuldverträge selbst.
Auch die Prosbol -Verträge waren aber wohl an demselben Orte nieder-
gelegt.
47) In der Mischna kommt dieser Simon überhaupt nicht vor. Er taucht
erst im babylonischen Talmud auf und wird auch hier noch nicht als Sohn
Hilleis bezeichnet, sondern nur als Inhaber der Nasi -Würde zwischen Hillel
und Gamaliel I. Die ganze Stelle lautet (Schabbath loa unten): iws»*» M>rt
nau> nxü n^an ^tb "jn^iös naru "pswi bartaa „Hillel und Simon, Gama-
liel und Simon führten die Nasi -Würde zur Zeit des Tempelbestandes
hundert Jahre lang" (d. h. während der letzten hundert Jahre vor der Zerstö-
rung des Tempels). Bei der Wertlosigkeit dieser spät- talmudischen Notiz ist
denjenigen Gelehrten beizustimmen, welche die Existenz jenes Simon über-
haupt bestreiten. So namentlich Kaempf, Monatsschr. für Gesch. und Wis-
sensch. des Judenth. 1854, S. 39 ff. 98 ff.; auch Lebrecht, Jüdische Zeitschr.
für Wissensch. und Leben XI, 1875, S. 278 Anm. Abgesehen von b. Schabbath
15 * wird jener angebliche Simon im ganzen Talmud, sowohl im jerusalemischen
als im babylonischen, sonst nirgends erwähnt (Kaempf, Monatsschrift 1854,
S. 98). Kaempf meint daher, daß an der angeführten Stelle statt „Hillel und
Simon" zu lesen sei „Schemaja und Hillel". — Ältere Ansichten s. bei Wolf,
Biblioth. Hebr. II, 861 sq.
48) Orla H, 12. Bosch hasehana II, 5. Jebamoth XVI, 7. Sota IX, 15.
Qittin IV, 2—3. An allen diesen Stellen heißt er ausdrücklich „der Alte"
(1EJ1). Außerdem ist, abgesehen von Aboth I, 16, wahrscheinlich auch noch
Pea U, 6 und Schekalim VI, 1 dieser ältere Gamaliel gemeint. An allen an-
deren Stellen ist es zweifelhaft. Insonderheit hat der berühmte gesetzeskun-
dige Sklave Tabi (*^B) nicht im Dienste des älteren, sondern des jüngeren
Gamaliel gestanden (Berachoth II, 7. Sukka II, 1). Nur Pesachim VH, 2, wo
es heißt, daß Gamaliel dem Tabi das Braten des Passa auf einem Hoste be-
fohlen habe, scheint Gamaliel L gemeint zu sein. Wenn hier nicht eine Ver-
wechselung vorliegt, muß man annehmen, daß Tabi den beiden Gamaliel,
dem Großvater und dem Enkel, gedient hat (so Derenbowg, Histoire de la
Palestine p. 480 sq.), oder daß es mehrere Tabi gegeben hat (so Friedmann
und Grätz, TheoL Jahrbücher 1848, S. 368 f.). — Vgl. über Gamaliel I. über-
haupt: Oraunii Historia Qamalielis Viteb. 1687. — Wolf, Biblioth. Eebraea
II, 821 sq. Ders., öurae philol. in Nov. Test, zu Act. 5, 34. — Palmer,
Paulus und Gamaliel. Gießen 1806. — Winer, RWB. I, 389. — Grätz, Gesch.
der Juden 3. Aufl. HI, 373 ff. 4. Aufl. S. 349 ff. — Jost, Gesch. des Judenth.
I, 281 ff. 423. — Ewald, Gesch. des Volkes Israel VI, 256 f. — Derenbourg,
Histoire de la Palestine p. 239—246. — Schenkel im Bibellex. II, 328—330. —
430 § 25- Die Schriftgelehrsamkeit [364. 365]
kanntlich der Apostel Paulus (Ap.-Gesch. 22, 3); und er war es,
der einst im Synedrium den Rat gab, die angeklagten Apostel frei-
zulassen, da ihr Werk, falls es von Menschen sei, ohnehin vergehen
werde; | falls es aber von Gott sei, vergebens bekämpft würde
(Ap.-Gesch. 5, 34—39). Die christliche Sage hat ihn dafür zum
Christen gemacht49, während die jüdische Tradition ihn als einen
Hamburger, Real-Enz. Abt. II Art. „Gamaliel I". — Qinsburg in Smith
and Wace, Dictionary of Christian Biography t. II, 1880, p. 602—604. — Dal-
man in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VI, 363 f. — Büchler, Das Syne-
drion in Jerusalem, 1902 (IX. Jahreeber, der ieraelit.-theol. Lehranstalt in
Wien) S. 115 — 131 (verteidigt die Meinung, daß Gamaliel I. Vorsitzender des
obersten beth-din gewesen sei). — Bacher, Art. Gamaliel in: The Jewish En-
cyelopedia V, 1903, p. 558—560.
49) Clement. Recogn. I, 65 sqq. — In einem, in verschiedenen Rezen-
sionen erhaltenen Berichte erzählt der Presbyter Lucianus von Jerusalem,
wie ihm der heilige Gamaliel wiederholt im Schlafe erschienen sei und ihm
den Ort geoffenbart habe, wo er einst den Märtyrer Stephanus und den
Nikodemus begraben habe, und wo er selbst Gamaliel und sein Sohn
Abibos begraben seien, und wie die Gebeine dieser Männer, die hier alle als
Christen vorausgesetzt werden, in der Tat an dem bezeichneten Orte bei Ka-
phar-Gamala („Dorf Gamaliels") in der Nähe von Jerusalem gefunden worden
seien. Die Legende ist erhalten 1) lateinisch bei Surius, Vitae Sanetorum
IV, 502 sqq. (3. August), Baronius Annal. ad ann. 415, und in der Benedictiner-
Ausgabe des Augustinus Bd. VII Anhang (zwei Texte), hiernach auch bei
Migne, Patrolog. Lot. t. 41, eol. 807 — 818. 2) syrisch bei Land, Anecdota
Syriaca t. III, 1870, p. 76—84, und in den Acta martyrum et sanetorum ed.
Bedjany t. III, 1892, p. 188—199, vgl. Nestle, Theol. Litztg. 1893, eol. 6; hier-
nach deutsch von Byssel, Zeitschr. für Kirchengesch. Bd. XV, 1894, S. 224 f.
233—240; Fragmente bei Schultheß, Christlich-palästinische Fragmente aus
der Omaj jaden- Moschee zu Damaskus (Abh. der Göttinger Gesell seh. d. Wis-
sensch., phil.-hist. Kl. N. F. VIII, 3, 1905) S. 102—107. 3) griechisch in:
'AvdXexia ^IegoooXvfiixiPcrjg JSzaxvokoylaq ixö. vnb nanadoitovkov-KeQa'
ßiwq Tdßoq V, Petersb. 1898, p. 28 — 53 (der Bericht über die Auffindung ist
hier ergänzt durch einen Bericht über die Überführung nach Konstantinopel).
— Aus dieser Legende des Lucianus, die schon Gennadius kennt, Vitae 46. 47
fs. auch Fabricius Biblioth. graeca ed. Hartes X, 327), schöpfte der Presbyter
Eustratius von Konstantinopel, 6. Jahrb., in seinem Buch über den Zustand
der Verstorbenen Kap. 23 (griech. herausgeg. von Leo Allatius 1655, 8. Fa-
bricius Bibl. gr. X, 725. XI, 623). Endlich aus Eustratius gibt wiederum
Photius Exzerpte iu seiner Biblioiheca cod. 171. Über ein Grabmal der drei
Heiligen: Gamaliel, Abibas und Nikodemus zu Pisa s. Wagenseil zu Sota
IX, 15 (in Surenhusius' Mischna HE, 314 sq.). Vgl. auch Thilo, Cod. apoer.
p. 501, Nilles, Kalendarium Manuale (ed. 2. 1896) p. 232 sq. und die hier
zitierte Literatur. Achelis, Die Martyrologien, ihre Geschichte und ihr
Wert (Abh. der Göttinger Gesellsch. der Wissensch., phil.-hist. Kl. N. F. III, 3,
1900) S. 75. 166 f. 187 f.
Eine in altslavischer Übersetzung erhaltene Legende über den Märtyrertod
des Stephanus (eine apokryphe Parallele zur Erzählung der Ap. Gesch.),
[365. 366] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 431
der gefeiertsten Lehrer verherrlicht „Seit Rabban Gamaiiel der
Alte tot ist, gibt es keine Ehrfurcht vor dem Gesetze mehr (Tina
rryiPrt); und gleichzeitig erstarb Reinheit und Enthaltsamkeit (nnjjtj
ratf'nw) 50. Daß auch er so wenig wie Hillel Präsident des Syn-
edriums war, sehen wir eben aus der Apostelgeschichte (5, 34 ff.),
wo er als einfaches Mitglied desselben erscheint Viel Verwirrung
ist hinsichtlich seiner namentlich von christlichen Gelehrten da-
durch angerichtet worden, daß man Dinge, die von Gamaiiel II.
gelten, auf ihn übertragen hat; wie z. B. die Wirksamkeit in Jabne
und anderes.
Auch sein Sohn Simon genoß als Schriftgelehrter eines außer-
ordentlichen Rufes51. Josephus sagt von ihm52: cO 6h 2lficov \
ovxog tjv JioXecoq phv 'ieQOöoZvfdcop , yivovq 6h CHpoÖQa lafixgov,
xijg 6h G>aQiOala>v algdoecog, ot jibqI xa JtaxQia voftifia 6oxovoc xa>v
aXXcov dxQißela 6ia<piQsiv. rHv 6* ovxog avfjQ 3tXr\Qr\q övviöecoq
xal XoyiCfiov, 6vva(ievoq xe jtQayfiaxa xaxcoq xsl flava q>Qovr\Qu xfj
eavxov öioQd-ciöaöfrai. Er lebte zur Zeit des jüdischen Krieges
und nahm während der ersten Periode desselben (66—68 nach Chr.)
einen hervorragenden Anteil an der Leitung der Geschäfte. Prä-
sident des Synedriums ist jedoch auch er nicht gewesen.
Von tiefgreifender Bedeutung für die weitere Entwickelung
des Schriftgelehrtentums war der Fall Jerusalems und die Ver-
nichtung des bis dahin noch relativ selbständigen jüdischen Ge-
welche Franko deutsch herausgegeben hat (Zeitschr. für die Neutestam.
'Wissensch. 1906, S. 151—171), erwähnt ebenfalls den Abibus, Nicodemus
und Gamaiiel als Gefährten des Stephanus (8. 164 oben). Franko meint des-
halb, sie habe mit der Legende von der Auffindung der Gebeine zusammen
ursprünglich ein Werk gebildet, als erster Teil desselben. Da aber die ältesten
Zeugnisse über die Schrift Lucians nichts davon wissen, ist das Martyrium
vielmehr für ein späteres Produkt zu halten.
In einer Anzahl koptischer Fragmente, deren Herkunft unsicher ist,
glaubt Baumstark (Revue biblique 1906, p. 253—259) Bruchstücke eines „Evan-
geliums des Gamaiiel" erkennen zu dürfen.
50) Sota IX, 15. — rninn *rias heißt „Ehrfurcht vor dem Gesetz", s.
Wagenseil in Surenhusius, Mischna III, 312 w. 13, 315 n. 20. Vgl. Nedarim
IX, 1: TOK tos «= „Ehrerbietung gegen seinen Vater". Ähnlich Aboth IV % 12.
Der Sinn ist also, daß niemand mehr solche Ehrfurcht vor dem Gesetz ge-
habt habe, wie Rabban Gamaiiel der Alte.
51) Vgl. über ihn Joseph. Bell. Jud. IV, 3, 9. Vita 38. 39. 44. 60. Jost
1, 446 ff. Derenbourg p. 270—272, 474 5g. Hamburger Real-Enz. II, 1121.
Bächler a. a. O. S. 131 — 144. — In der Mischna ist unter dem häufig er-
wähnten Rabban Simon ben Gamaiiel in der Regel der Sohn Gamaliels II
zu verstehen; so namentlich auch Aboth 1,18. Auf Simon Sohn Gamaliels I
bezieht sich außer Aboth I, 17 vielleicht nur noch Kerühoth I, 7.
52) Vita 38.
432 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [366]
mein wesens. Das alte Synedrium, an dessen Spitze die saddu-
zäischen Hohenpriester gestanden hatten, trat nun für immer vom
Schauplätze ab. Die pharisäischen Gesetzeslehrer, die schon im
letzten Jahrhundert vor der Zerstörung des Tempels tatsächlich
den größten Einfluß ausgeübt hatten, wurden die alleinigen Führer
des Volkes. Der politische Untergang hat also direkt zur Folge
eine Steigerung der rabbinischen Macht und einen Aufschwung der
schriftgelehrten Studien. —Von jetzt an fließen auch unsere Quellen
reichlicher, da die erste Kodifizierung des jüdischen Rechtes von
Männern unternommen wurde, welche mit derjenigen Generation
welche den Untergang der Stadt erlebt hatte, noch direkt zu-
sammenhingen.
Ein Hauptsitz der schriftgelehrten Studien wurde nach dem
Untergang der heiligen Stadt das seit der Hasmonäerzeit vor-
wiegend von Juden bewohnte Jamnia oder Jabne. Hier scheinen
die angesehensten Gelehrten, welche die Zerstörung Jerusalems
tiberlebten, sich niedergelassen zu haben53. Außerdem wird nament-
lich noch Lydda oder Lud als Wohnort von hervorragenden
Schriftgelehrten erwähnt64. Erst später, etwa seit der Mitte des
zweiten Jahrhunderts nach Chr., wurde Tiberias der Mittelpunkt
der schriftgelehrten Studien.
Der bedeutendste Schriftgelehrte in den ersten Dezennien nach
der Zerstörung Jerusalems war Rabban Jochanan ben Sakkai55.
53) 8. überh. Schekalim I, 4. Bosch haschana II, 8—9. IV, 1—2. Kethu-
both IV, 6. Sanhedrin XI, 4. Edujoth II, 4. Aboth IV, 4. Bechoroth IV, 5.
VI, & Kelim V, 4. Para VII, 6.
54) Rosch haschana I, 6. Taanith III, 9. Baba mexia IV, 3. Jadajim
IV, 3. — Hteronymus, eomm. in Habac. 2 (opp. ed. VaUarsi VI, 623). — Neu-
bauer, Geographie du Talmud (1868), p. 76—80. E, Neumann, Art. Lydda
in: The Jewish Encyelopedia VIII, 227 sq.
55) 8. über ihn die hebräisch geschriebenen Werke von Frank el, Brüll
und Weiß (die Titel oben § 3), ferner: Jost, Gesch. des Juden thums und
seiner Sekten II, 13 ff. Landau, Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des
Judenth. 1851/52, 8. 163—176. Grätz, Gesch. der Juden IV, 10 ff. Deren-
bourg, Histoire de la Palestine p. 266 sq. 276—288. 302—318. Hamburger,
Real-Enz. Abt. II 8. 464—473. Bacher, Monatsschr. für Gesch. und Wis-
sensch. des Judenth. 1882, 8. 145—166 — Die Agada der Tannaiten I, 25—46.
2. Aufl. I, 22—42. Spitz, Rabban Jochanan ben Sakkai, Rektor der Hoch-
schule zu Jabneh. Dissertation, Leipzig 1883. Reich, Zur Genesis des Talmud,
der Talmud und die Römer (2. Aufl. 1893) 8. 37—68. Schlatter, Jochanan ben
Zakkai, der Zeitgenosse der Apostel (Beitrage zur Förderung christlicher Theo-
logie HI, 4) 1899. Dazu Blau, Jochanan ben Zakkai in christlicher Beleuch-
tung (Monatsschr. f. G. u. W. d. J. 1899. 8. 548—561). Bacher, Art Johanan
b. Zakkai in: The Jewish Encyelopedia VII, 214—217. — In der Misehna wird
er an folgenden Stellen erwähnt: Schabbath XVI, 7. XXII, 3. Schekalim I, 4.
{367. 368] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 433
Die Zeit seines Wirkens erhellt schon daraas, daß er mehrere ge-
setzliche Bestimmungen oder Gebräuche abänderte „nachdem der
Tempel zerstört war**56. Seinen Wohnsitz scheint er vorwiegend
in Jabne gehabt zu haben57. Doch wird auch Berur Chail (-vna
b^n) als Ort seines Wirkens genannt58. Und vorübergehend muß
er sich auch in Arab (ni?) aufgehalten haben, wo ihm verschiedene
gesetzliche Fragen zur Entscheidung vorgelegt wurden59. Aus seinen
gesetzlichen Neuerungen ist etwa hervorzuheben, daß er abschaffte,
daß die des Ehebruchs Angeklagte das Bitterwasser zu trinken
hatte60. Wie nahe er noch den Verhältnissen stand, wie sie vor
der Zerstörung Jerusalems existierten, sieht man auch daraus, daß
er über gesetzliche Fragen mit Sadduzäern disputierte 6 *, während
letztere schon bald nachher aus der Geschichte verschwinden. |
Auch ist er der Träger uralter Traditionen, die auf Moses selbst
zurückgeführt werden62. Die Legende erzählt von ihm dasselbe,
was Josephus von sich erzählt: daß er nämlich dem Vespasian
Sukka II, 5. III, 12. Rosch haschana IV, 1. 3. 4. Kethuboth XIII, 1—2. Sota
V, 2. 5. IX, 9. 15. Edujoth VIII, 3. 7. Aboth II, 8—9. Menachoth X, 5. Kelim
TU 2. XVII, 16. Jadajim IV, 3. 6. Nur als *TOT p Sanhedrin V, 2. — Die
Stellen der Tosephta s. im Index zu Zuckermandels Ausgabe. Die Stellen in
Mechiltha, Siphra und Siphre bei D. Hoffmann, Zur Einleitung in die hala-
chischen Midrascbim (1887) S. 86.
56) Sukka III, 12. Rosch haschana IV, 1. 3. 4. Menachoth X, 5.
57) Schekalim I, 4. Rosch haschana IV, 1.
58) Sanhedrin 32b. Tosephta Maaseroth 82, 13 (vgl. jer. Demai III, 1
fol. 23^. jer. Maaseroth II, 3 foL 49d). Derenbourg 307. — Manche, wie z. B.
Derenbourg, nehmen an, daß Jochanan ben Sakkai sich nach Berur Chail
zurückgezogen habe, um das Regiment in Jabne dem Gamaliel II. zu über-
lassen (Histoirep. 306—310, Monatsschr. fiir Gesch. und Wissensch. des Judenth.
Neue Folge, Jahrg. 1, 1892/93, S. 304). Andere wollen, mehr phantasiereich als
überzeugend, Berur Chail und Jabne identifizieren. So Grätz, Monatsschrift
für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1884, S. 529—533 (Berur Chail sei
das Jamnia intus des Plinius) und Samuel Krauß, Magazin für die Wissensch.
des Judenth. XX, 1893, S. 117—122 (nina «=■ <pqovqiov [!], V»n — Heer, also
Berur Chail — „Militär-Rayon", womit Jabne gemeint sei).
59) Schabbath XVI, 7. XXII, 3. — Arab ist ein Stadtchen in Galiläa
nicht weit von Sepphoris, s. Derenbourg, Histoire p. 318 not. 3. Euseb. Onomast,
ed. Klostermann p. 16: fori 6h xal xwfit] xaXovfihrj *Aoaßa iv SqIoiq dioxai-
oaoelaq xal &nö zqiojv arjfjteiujv 2xv&on6XeQ><; aXXtj ngdg dvapaq. Garmoly^
Itvniravres de la Terre Sainte (1847) p. 383, 453.
60) Sota IX, 9. — Im Talmud werden im ganzen neun von ihm einge-
führte Satzungen (M3pn) aufgezählt, Rosch haschana 31b, Sota 40», Deren'
bourg p. 304 sq.
61) Jadajim IV, 6.
62) Edujoth Vni, 7. Jadajim IV, 3 fin. Vgl. oben S. 394.
Schür er, Geschichte IT. 4. Aufl. 28
434 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit [36a 369]
seine künftige Erhebung zum Kaiser geweissagt habe63. Als seine
fünf Schüler werden in der Mischna genannt: R Elieser ben
Hyrkanos, E. Josua ben Chananja, R Jose der Priester, R. Simon
ben Nathanael, R. Eleasar ben Arach64. Die bekanntesten und
bedeutendsten unter ihnen sind die beiden erstgenannten: R Elieser
und R. Josua.
Etwa gleichzeitig mit Rabban Jochanan ben Sakkai lebte
R. Zadok, oder wie sein Name richtiger auszusprechen wäre,
R. Zadduk65.iEr soll schon vor der Zerstörung des Tempels ge-
lebt, aber auch noch mit Gamaliel IL, Josua und Elieser verkehrt
haben66. Neben diesen wird er in der Tat in der Mischna öfters
genannt67. An einigen Stellen, nach welchen seine Lebenszeit noch
erheblich später anzusetzen wäre, ist wahrscheinlich ein jüngerer
R. Zadok gemeint 68.
Ebenfalls in die ersten Dezennien nach der Zerstörung des
Tempels gehört ein vornehmer priesterlicher Schriftgelehrter R.
Chananja „Vorsteher der Priester1* (D^nsn po)69. Derselbe bei-
richtet, was sein Vater im Tempel getan, und was er selbst noch
im Tempel gesehen habe 70, und erscheint in der Mischna überhaupt
63) Midrasch Rabba zu Thrm. 1, 5. Derenbourg p. 282 sq. Deutsch bei
Wünsche, Der Midrasch Echa rabbati (1881) S. 66 ff,
64) Aboth II, 8—9. ~ Die Abkürzung R. bedeutet Rabbi, während der
höhere Titel Rabban vollständig geschrieben zu werden pflegt
65) S. über ihn: Derenbourg p. 342 — 344. Bacher, Monatsschr. für
Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1882, 8. 208—211 = Die Agada der Tan-
naiten I, 47—50. 2, Aufl. I, 43—46. Ochserin The Jewish Encyclopedia XU,
629 sq. — In der Mischna: Terumoth X, 9. Pesachim VII, 2. Sukka II, 5. Ne-
darim IX, 1. Edujoth m, 8. VII, 1-4. Aboth IV, 5. Beehoroth I, 6. KeUm
XII, 4—5. Mikwaoth V, 5. Wegen Sehabbath XX, 2. XXIV, 5 vgl, Anm. 68. —
Die Stellen der Tosephta s. im Index zu Zuckermandels Ausgabe. — Die Aus-
sprache Zadduk nach dem z. T. punktierten coa\ de Rossi 138. Vgl. Saööoix
bei den LXX in Ezechiel, Esra und Nehemia.
66) Die Belege für beides bei Derenbourg und Bacher a. a. O.
67) Neben Gamaliel II.: Pesachim VII, 2; neben Josua: Edujoth VII, 1
= Beehoroth I, 6; neben Elieser: Nedarim IX, L
68) So Sehabbath XX, 2. XXIV, 5. Vgl. Bacher, Monatsschr. 1882, S. 215
«= Die Agada der Tannaiten I, 54 f. 2. Aufl. I, 50. — Erkepnt man die Exi-
stenz dieses jüngeren R. Zadok an, so entsteht allerdings die Frage, ob nicht
auch noch andere Stellen auf ihn zu beziehen sind.
69) S. über ihn: Derenbourg p. 368—370. Hamburger Real-Enz. II,
131. Bacher, Monatsschr. 1882, S. 216—219 — Die Agada der Tannaiten I,
55—58. 2. Aufl. I, 51 — 53. — Der Name lautet nach den besten Zeugen nicht
Chanina, sondern Chananja (so cod. de Rossi 138 und die von Lowe heraus-
gegebene Cambridger Handschrift). — Über das Amt eines priesterlichen "jÄD
s. oben & 320 t
70) Sebachim IX, 3. XII, 4.
[369] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 435
fast nur als Berichterstatter über die Details des priesterlichen
Kultus 71. Charakteristisch für ihn als vornehmen Priester ist seine
Aufforderung, auch für das Wohl der (heidnischen) Obrigkeit zu
beten n.
Zu der ersten Generation nach der Zerstörung des Tempels
gehört ferner R. Elieser ben Jakob73. Es ist nämlich von dem
in der Mischna ziemlich häufig zitierten erheblich späteren R.
Elieser ben Jakob höchst wahrscheinlich ein älterer gleichnamiger
Gelehrter zu unterscheiden, der nicht lange nach der Zerstörung
des Tempels lebte 74. Dessen Oheim hat noch als Levit im Tempel
gedient75; er selbst wird bei der Beschreibung des Tempels im
Traktat Middoth öfters als Gewährsmann angeführt76; ja die
spätere Tradition schreibt ihm sogar die Abfassung des ganzen
Traktates zu77. Im einzelnen wird sich nicht mehr entscheiden
lassen, welche Stellen auf den älteren und welche auf den jüngeren
R. Elieser ben Jakob zu beziehen sind. Vielleicht dürfen dem
ersteren die auf die Kultusverhältnisse bezüglichen Angaben zu-
geschrieben werden78.
Nur ein paar Dezennien jünger als Jochanan ben Sakkai ist
Rabban Gamaliel IL, Sohn Simons und Enkel Gamaliels I., der
angesehenste Gelehrte um die Wende des Jahrhunderts (etwa 90
bis 110 nach Chr.)79. Der Gerichtshof zu Jabne, an dessen Spitze
71) S. überh.: Pesachim I, 6. Schekalim IV, 4. VI, 1. Edujoth II, 1—3.
Äboth III, 2. Sebachim IX, 3. XII, 4. Menachoth X, 1. Negaim I, 4. Para III, 1.
72) Äboth III, 2.
73) Derenbourg p. 3Usq. Bacher, Monatsschrift 1882, 8. 228—233 —
Die Agada der Tannaiten I, 67—72. 2. Aufl. I, 62—67.
74) So auch Derenbourg 375 n. 2 und Bacher 228 — 67 — 62. — Der
jüngere Elieser ben Jakob war ein Zeitgenosse des R. Simon, um 160 n. Chr.
(Para IX, 2), und berichtet im Namen des Chananja ben Chakinai, der wie-
derum im Namen des E. Akiba berichtet (Kilajim IV, 8. Tosephta Negaim
617, 38. Tohoroth 672, 15 ed. Zuckermandel). — Auch, der jüngere heißt nach
entscheidendem Zeugnis der Handschriften Elieser, nicht Eleasar, wie
Bacher im zweiten Bande seines Werkes schreibt (Agada der Tannaiten
IT, 283).
75) Middoth I, 2.
76) Middoth I, 2. 9. H, 5. 6. V, 4. Vgl. Schekalim VI, 3.
77) Joma 16». Derenbourg 374 n. 1.
78) So die Angaben über die Priesterehen {Bikkurim I, 5. Kiddusehin
IV, 7), über das Opfer-Ritual (Menachoth V, 6. IX, 3. Hamid V, 2), über die
Erstgeburt des Viehes (Bechoroth III, 1), über die heiligen Sänger (Arachin
II, 6), über das Proselyten-Opfer (Kerithoth II, 1).
79) S. über ihn die hebräisch geschriebenen Werke von Frankel, Brüll
und Weiß, ferner: Jost, Gesch. des Judenth. II, 25ff. Landau, Monateschr
für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1851/52, S. 283— 295. 323—335. Grätz,
28*
436 § 25. Die Schriftgelehrsainkeit. [369. 370]
er stand, | war zu seiner Zeit allgemein als die oberste Autorität
in Israel anerkannt80. Die bedeutendsten Gelehrten sammelten
sich hier um ihn; und in diesem angesehenen Kreise galt wieder
Gamaliei als die entscheidende Autorität81. Unter den Gelehrten,
die in näherem Verkehre mit ihm standen, waren der etwa gleich-
altrige R. Josua und der jüngere R. Akiba die hervorragend-
sten82. Mit dem ebenfalls gleichzeitigen und berühmten R. Eli es er
ben Hyrkanos scheint dagegen Gamaliei nicht in näherer Beziehung
gestanden zu haben. Wenigstens findet sich in der Mischna keine
Spur davon, und die spätere Tradition erzählt im Gegenteil, daß
Elieser von Gamaliei mit dem Bann belegt worden sei (s. weiter
unten). Mit R. Josua, R. Akiba und dem ebenfalls angesehenen
R. Eleasar ben Asarja zusammen unternahm Gamaliei einst
eine Seereise nach Rom, die in der rabbinischen Literatur eine
gewisse Berühmtheit erlangt hat83. — Wegen seines allzu auto-
kratischen Wesens soll er einst von den 72 Ältesten seiner Stelle
als Vorsitzender enthoben und statt seiner R. Eleasar ben Asarja
Geschichte der Juden IV, 30 ff. 423 f. Derenbourg p. 306—313. 319—346.
Hamburger, Real-Enz. II, 237—250. Bacher, Monatsschr. 1882, 8. 245-267
— Die Agada der Tannaiten I, 78—100. 2. Aufl. I, 73—95. Schein in, Die
Hochschule zu Jamnia und ihre bedeutendsten Lehrer, mit besonderer Rück-
sicht auf Rabbi Gamaliei II. Halle, Diss. 1878. Ginsburg in Smith and
Wace, Dictionary of Christian Biography t. II, 1880, p. 604—608. Reich, Zur
Genesis des Talmud, der Talmud und die Römer (2. Aufl. 1893) S. 115—135.
Zahn, Gesch. des Neutest Kanons II, 675 ff. Bacher in The Jewish En-
cyclopedia V, 560 — 562. — Die Chronologie ergibt sich schon daraus, daß sein
jüngerer Zeitgenosse Akiba eine Rolle im Barkocbbakrieg spielte.
80) Bosch haschana II, 8—9. Kelim V, 4. Vgl. Derenbourg p. 319—322.
— In Kephar-Othnai, wo wir Gamaliei einmal treffen (Oittin 1,5), scheint
er sich nur vorübergehend aufgehalten zu haben.
81) Als daher einst während einer längeren Abwesenheit Gamaliels ent-
schieden werden mußte, ob das Jahr ein Schaltjahr sein solle, geschah dies
nur unter dem Vorbehalt der nachträglichen Zustimmung Gamaliels (Edujoth
VII, 7). — Vgl. für die Autoritätsstellung Gamaliels auch die Formel „Rab*
bau Gamaliei und die Ältesten" (Maaser scheni V, 9. Schabbath XVI, 8. Erubin
X, 10).
82) Über die Beziehungen des Gamaliei, Josua und Akiba zu einan-
der vgl. bes. Maaser scheni V, 9. Erubin IV, 1. Bosch haschana H, 8 — 9.
Maaser scheni II, 7. Sukka HI, 9. Kerithoth IH, 7—9. Negaim VII, 4. —
Gamaliei und Josua: Jadajim IV, 4. — Gamaliei und Akiba: Bosch ha-
schana I, 6. Jebamoth XVI, 7.
83) Erubin IV, 1—2. Maaser scheni V, 9. Schabbath XVI, a — Grätz,
Monatsschr. t Gesch. und Wissensch. des Judentb. 1851/52, S. 192—202. De-
renbourg p. 334— 340. Benan, Les ivangiles (1877) p. 307 sqq. Bacher,
Monatsschr. 1882, S. 251 ff. — Die Agada der Tannaiten I, 84 ff. 2. Aufl.
I, 79ff.
[370. 371] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 437
eingesetzt worden sein. Doch sei Gamaiiel, da er sich reumütig
zeigte, bald wieder in sein Amt eingesetzt | worden, indem Eleasar
freiwillig auf dasselbe verzichtete84. Die Erhebung des Eleasar
zum Schulhaupt durch 72 Älteste ist allerdings schon durch die
Mischna bezeugt85. — In seinen gesetzlichen Entscheidungen folgte
Gamaiiel der Schule Hillels; es wird als Ausnahme erwähnt, daß
er in drei Dingen erschwerend nach der Schule Schammais ent-
schied86. Im allgemeinen charakterisiert er sich ebenso durch ge^
setzliche Strenge87, wie andererseits durch eine gewisse Welt-
förmigkeit, ja Unbefangenheit des Urteils88.
Die zwei berühmtesten Zeitgenossen Gamaliels waren R. Josua
ben Chananja und R. Elieser ben Hyrkanos, beide Schüler des
Jochanan ben Sakkai89. Beide finden wir auch häufig über ge-
setzliche Fragen miteinander disputierend, an welchem Verkehre
auch der jüngere Akiba teilnahm90. Mit Gamaiiel scheint nur
Josua, nicht aber Elieser in Verkehr gestanden zu haben. Nach
der späteren Überlieferung wäre dies daraus zu erklären, daß
Elieser von Gamaiiel exkommuniziert worden ist91. — R. Josua
stammte aus levitischem Geschlecht92. Er war sanften und nach-
84) jer. Beraekoth IV, 1 fol. 7cd. bab. Berachoth 27b (deutsch bei Pinner,
Talmud Babli, Trac tat Berachoth, 1842; lateinisch in Surenhusius' Mischna
II, 337. HI, 247). Jost, Gesch. des Juden th. II, 28 ff. Grätz, Gesch. der Ju-
den IV, 35 ff. Derenbourg p. 327—329.
85) Sebachim I, 3. Jadajim III, 5. IV, 2.
86) Bexa II, 6. Edujoth III, 10.
87) Berachoth II, 5—6.
88) Vgl. außer der Heise nach Rom auch seinen Verkehr mit dem Statt-
halter (Hegemon) von Syrien (Edujoth VII, 7), und seinen Besuch des Bades
der Aphrodite zu Akko, obwohl sich in demselben eine Statue der heidnischen
Gottin befand (Aboda sara III, 4).
89) Äboth n, 8. Vgl. Edujoth VIII, 7. Jadajim IV, 3 fln.
90) Über die Beziehungen des Josua, Elieser und Akiba zueinander
vgl. bes. Pesaekim VI, 2. Jebamoth VIII, 4. Nedarim X, 6. Nasir VII, 4.
Edujoth II, 7. — Josua und Elieser: Pesachim VI, 5. Taanith I, 1. Seba-
chim VII, 4. VIII, 10. Nasir VII, 4. — Josua und Akiba: Pesachim IX, 6.
Sanhedrin VII, 11. — Elieser und Akiba: Pea VII, 7. Keritkoth III, 10.
Schcbiith VIII, 9-10.
91) jer. Moed Icatan III, 1 fol. 81d. bab. Baba mexia 59b. Jost, Gesch.
des Judenth. II, 35. Grätz, Gesch. der Juden IV, 47. Derenbourg 324 sq.
Bas s freund, Monatsschr. f. Gesch. u. Wissensch. des Judentb. 1898, S. 49 — 57.
92) Dies erhellt aus Maaser scheni V, 9. — Vgl. über Josua überh.: die
hebräisch geschriebenen Werke von Frankel, Brüll und Weiß, ferner:
Grätz, Gesch. der Juden IV, 50 ff. 426 f. Derenbourg p. 319 sqq. 416 sqq.
Hamburger, Real-Enz. II, 510—520. Bacher, Monatsschr. 1882, 340—359.
433—464. 481-496 — Die Agada der Tannaiten I, 129—194. 2. Aufl. I,
438 § 25. Die Schriftgelebrsamkeit. [371. 372]
giebigen Charakters und ordnete sich darum auch dem unbeug-
samen | Gamaliel unter98. „Seit R. Josua tot ist, gibt es keine
Herzensgüte (nniü) mehr in der Welt" 94. Sein Wahlspruch war:
„Neid, böse Begierde und Menschenhaß bringen den Menschen aus
der Welttt 95. — Als Ort seines Wirkens wird Pekiin oder Bekiin
(■pypD, T^pa) genannt9*; bei seinen nahen Beziehungen zu Ga-
maliel ist aber jedenfalls anzunehmen, daß er teilweise auch in
Jabne gelebt hat Die Legende erzählt von ihm u. a^ daß er mit
Kaiser Hadrian verschiedene Gespräche über religiöse Gegenstände
geführt habe97. — Im Gegensatz zu dem nachgiebigen Josua war
R. Eli es er ein starrer, unbeugsamer Charakter, dabei aufs strengste
an der Tradition festhaltend, die er vermöge seines treuen Ge-
dächtnisses und seiner umfassenden Gelehrsamkeit wie kein anderer
beherrschte98. Sein Lehrer Jochanan ben Sakkai rühmte an ihm,
daß er war wie eine mit Kalk belegte Zisterne, die keinen Tropfen
verliert ". Was er aber als Tradition kannte, davon war er durch
keine Gründe und Vorstellungen abzubringen. Daher das gespannte
Verhältnis zu Gamaliel, obwohl er dessen Schwager gewesen sein
soll 10°. Sein Wohnsitz war Lydda 101. Die seltsame Meinung eines
neueren Gelehrten, daß er sich zum Christentum hingeneigt habe,
ja heimlich Christ gewesen sei 102, stützt sich auf eine Legende,
123—187. Braunschweiger, Die Lehrer der Mischnah 2. Aufl. S. 118—129.
Bacher in The Jewish Encydopedia VTI, 290—292.
93) Bosch haschana II, 8—9. Derenbourg 325—327.
94) Sota IX, 15. Die Parallelstellen in Tosephta und Talmud drücken
in verschiedenen Variationen den Gedanken aus, daß es seit B. Josuas Tod
keinen „guten Bat" mehr gebe (s. Bacher, Monatsschr. 1882, S. 446 ■= Die Agada
der Tannaiten I, 161. 2. Aufl. I, 156).
95) Aboth II, li: nvnnn r«a«i »nn -isr snn •p*.
96) ytrpt Sanhedrin 32b. Tosephta Sota 307, 8. -pypa jer. Ghagiga I, 1.
Derenbourg 307. — Es lag zwischen Lydda und Jabne, s. bes. jer. Ghagiga I,
1 (mitgeteilt bei Befand, Palaestitia p. 621), auch bab. Ghagiga 3a, Neubauer,
La giographie du Talmud p. 81, Hamburger, Beal-Enz. Abt. II, S. 98.
97) Bacher, Monatsschr. 1882, 461 ff. 481 ff. = Die Agada der Tannaiten
I, 176 ff. 2. Aufl. I, 170 ff.
98) S. über ihn: die hebräisch geschriebenen Werke von Frankel, Brüll
und Weiß, ferner: Grätz, Gesch. der Juden IV, 43 ff. 425 f. Derenbourg
Zlüsqq. 366 sqq. Hamburger H, 162—168. Bacher, Monatsschr. 1882, 289
—315. 337—359. 433—445 — Die Agada der Tannaiten I, 100—160. 2. Aufl,
I, 96—155. Ginsburg in Smith and Wace, Dictionary of Christian Biography
n, 90 — 93. Braunschweiger, Die Lehrer der Mischnah 2. Aufl. S. 15—24.
Mendelsohn in The Jewish Encydopedia V, 113 — 115.
99) Aboth II, 8.
100) Schabbath 116». Derenbourg 323.
101) Jadajim IV, 3. Sanhedrin 32b. Derenbourg 307.
102) Toetterman, B. Eliexer ben Hyrcanos sire de vi qua doctrina Ghri-
1372. 373] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 43g
die in Wahrheit das Gegenteil beweist: Elieser wird einst vor das
heidnische Gericht geführt und sieht dies als gerechte Strafe Gottes |
dafttr an, daß er an der spitzfindigen Lösung einer gesetzlichen
Frage, die ein Judenchrist als von Jesu stammend ihm mitgeteilt
hatte, Gefallen gefunden habe108.
Neben den zuletzt Genannten nimmt eine ehrenvolle Stellung
auch E. Eleasar ben Asarja ein104, ein vornehmer und reicher
Priester, dessen Stammbaum auf Esra zurückgeführt wird105. Sein
Eeichtum war so groß, daß man sagte, seit er tot ist, gebe es
keinen Eeichtum unter den Gelehrten mehr106. Von seinen Be-
ziehungen zu Gamaliel, Josua und Akiba, seiner gemeinschaftlichen
Reise mit diesen nach Born, seiner Erhebung zum Vorsitzenden
durch die 72 Ältesten und seinem freiwilligen Rücktritt von dieser
siiana primts aeculis illustrissimos quosdam Judaeorum attraxü. Lipsiae 1877.
— Vgl. Theol. Litztg. 1877, 687—689.
103) Die Legende findet sich in mehrfacher Redaktion: 1) Aboda sara 16b,
deutsch bei Ewald, Abodah sarah oder der Götzendienst, 1868, S. 120—122,
und in Qoldschmidtjs Ausg. des babylonischen Talmud VII, 1903, 8. 850 f.
2) Midrasch rabba zu Koheleth 1, 8, deutsch bei Wünsche, Der Midrasch
Koheleth, 1880, S. 14 f. 3) Ahnlich auch schon Tosephta Ghullin II, 24 {ed. Zucker-
mandel p. 503). Die beiden ersteren Texte sind mitgeteilt von Dal man im
Anhang zu Laible, Jesus Christus im Thalmud S. 13*— 14*; dieselben deutsch
von Arnold Meyer bei Hennecke, Handbuch zu den Neutestamen tlichen
Apokryphen 1904r S. 68 f. Alle drei mit englischer Übersetzung bei Her-
ford, Christianity in Talmud and Midrash, 1903, p. 137—145, 412 sq. ,1m Text
von Aboda sara heißt der Judenchrist ein Jünger des ■nxniri iiö\ im Midrasch
rabba: des *TH3fi law», in derTosephta: des wa» «p yi»\ M. Friedländer
(Der vorChristi, jud. Gnosticismus 1898, S. 72), hat unter Benutzung eines durch
die Zensur entstellten Textes in Abrede gestellt, daß es sich um einen Juden-
christen handle, dann aber (Der Antichrist 1901, S. 53 f.) die Bezeichnung des
Betreffenden als „Jünger Jesu" für Einschiebsel erklärt, und endlich (Die reli-
giösen Bewegungen innerhalb des Judentums 1905, S. 216) behauptet, daß sie nur
in der Tosephta vorkomme. — 8. überh.: Jost II, 41 f. Grä tz IV, 47 f. Deren-
bourg 357—360. Bacher, Monatsschr. 1882, S. 301 f. — Die Agada der Tan-
naiten I, 112 f. 2. Aufl. 1,107 f. Laible, Jesus Christus im Thalmud, 1891,
S. 58 f. Schlatter, Die Kirche Jerusalems vom J. 70—130 (1898) S. 11—14.
104) S. über ihn: Derenbourg 327 sqq. Hamburger II, 156—158
Bacher, Monatsschr. 1883, S. 6—27 — Die Agada der Tannaiten I, 219—240.'
2. Aufl. 1,212 — 232. Derenbourg, Monatsschr. f. Gesch. und Wissensch. des
Judenth. Neue Folge Jahrg. I, 1893, S. 395—398. — Der Name lautet nach
den besten Zeugen nicht Elieser, sondern Eleasar (im cod. de Rossi 138
und in der Cambridger Handschrift gewöhnlich itsb. Letzteres ist die in der
paläst. Umgangssprache jener Zeit herrschende Form für "itsba griech. Ad'Ca-
eoq Ev. Luc. 16, 20 ff. Jon. 11, 1 ff. Joseph. Ball. Jud. V, 13, 7).
105) Bacher, Monatsschr. 1883, S. 7 =- Die Agada der Tannaiten I, 220.
2. Aufl. I, 212. — Daß er Priester war, erhellt aus Maaser scheni V, 9.
106) Sota IX, 15.
440 § 25. Die ßchriftgelehrsamkeit. [373. 374J
Stellung ist bereits oben die Bede gewesen. Schon aus diesen per*
sönlichen Beziehungen ergibt sich, daß er in Jabne gewirkt hat,
was auch sonst noch bezeugt ist107. In persönlicher Beziehung
stand er auch mit R. Ismael und R. Tarphon, den Zeitgenossen
Akibas 108.
Ein Zeitgenosse Garn alieis und Josuas war ferner R. Dosa
ben Archinos (oder Harkinas) 109. Von ihm wird namentlich be-
rich|tet, daß er den Josua zur Unterwerfung unter Gamaliel be-
wogen habe110.
Zu den jüngeren Männern dieser Generation gehört weiter
B. Eleasar ben Zadok, der Sohn des bereits erwähnten R.
Zadok111. Wie der Vater, so stand auch der Sohn dem Gamaliel
nahe und berichtet daher über dessen Verfügungen und über ge-
setzliche Sitten seines Hauses112.
Eine selbständige Stellung unter den Gelehrten dieser Zeit
nimmt R. Ismael ein113. Zwar finden wir ihn gelegentlich in
107) Kethuboth IV, 6. — Einige Sentenzen Eleasars s. Aboth HI, 17.
108) Eine Disputation zwischen ihm, Tarphon, Ismael und Josua s.
Jadajim IV, 3. — Eleasar und Ismael auch Tosephta Berachoth 1 lin. 15 ed.
Zuckermandel. — Eleasar und Akiba: Tosephta Berachoth 1, 12. Schabbath
113, 23.
109) S. Derenbourg 368 sq. 370 sq. Hamburger II, 155. — Der Name
des Vaters lautet im cod. de Rossi 138 ö3*wk, sonst gewöhnlich OMnn, ist
aber jedenfalls nicht gleich Hyrkanos, sondern gleich Archinos.
110) Bosch haschana II, 8—9. — Sonst vgl.: Erubin HI, 9. Kethuboth
XIII, 1—2. Edujoth III, 1—6. Aboth III, 10. ChuUin XI, 2. Ohaloth III, 1.
Negaim I, 4.
111) S. über ihn: Derenbourg p. 342—344. Bacher, Monatsscbr. 1882,
S. 211—215 *= Die Agada der Tannaiten I, 50—54. 2. Aufl. I, 46—50. — Wie
bei R. Zadok, so sind wahrscheinlich auch bei Eleasar ben Zadok zwei Ge-
lehrte des gleichen Namens zu unterscheiden , ein älterer und ein jüngerer
(so Frankel, Barke hamischna p. 98. 178, Bacher, Monatsschr. 1882, 215 «
Die Agada der Tannaiten I, 54. 2. Aufl. I, 49 f.; anders Derenbourg p. 262 n. 2,
344 n. 4). Der jüngere berichtet im Namen des R. Meir (Kilqjim VII, 2),
lebte also erst nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts. Der Name beider
lautet nach den besten Zeugen nicht E lieser, sondern Eleasar {cod. de
Rossi 138 und die Cambridger Handschrift haben vorwiegend wi).
112) Tosephta ChaUa 99, 9. Schabbath 111, 15. Jörn tob 202, 28. 204, 15—16.
Kidduschin 336, 13 (ed. Zuckermandel).
113) S. über ihn: Grätz, Gesch. der Juden IV, 60 ff. 427 ff. Derenbourg
p. 386—395. Hamburger II, 526—529. Bacher, Monatsschr. 1883, 63 ff.
116 ff 209 ff. « Die Agada der Tannaiten I, 240—271. 2. Aufl. I, 232—263.
Petuchowski, Der Tanna R. Ismael, Halle, Dissert. 1892 (im Buchhandel
1894). — Über die Schule Ismaels: D. Hoffmann, Magazin für die Wissensch.
des Judenth. XI. Jahrg. 1884, S. 17—30. Ders., Zur Einleitung in die ha-
lachischen Midraschim, Berlin 1887 (Jahresbericht des Rabbiner-Seminars).
[374. 375] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 441
Jabne114; auch verkehrte er mit seinen berühmten Zeitgenossen
R. Josua, Eleasar ben Asarja, Tarphon und Akiba 116. Aber seinen
gewöhnlichen Wohnsitz hatte er im Süden Palästinas, an der
Grenze Edoms in einem Darfe Kephar-Asis (T^T# ito), wo Josua
ihn einst besuchte116. Dem Alter nach scheint er dem Tarphon |
und Akiba näher gestanden zu haben als dem Josua: den Josua
befragt er und geht (wie ein Schüler) „hinter ihm her"; mit Tarphon
und Akiba verkehrt er wie mit seinesgleichen 117. Von besonderem
Interesse wäre es, wenn sein Vater wirklich, wie die Überlieferung
will, noch fungierender Hoherpriester gewesen wäre. Die Sache
ist aber mehr als fraglich, und nur soviel wahrscheinlich, daß er
aus priesterlichem Geschlechte stammte118. — In der Geschichte
der Halacha repräsentiert Ismael eine eigene Richtung: im Unter-
schied von der gekünstelten und willkürlichen Exegese Akibas
hält er sich mehr an den einfachen und wörtlichen Sinn der Schrift,
was aber freilich nur in sehr relativem Sinne zu verstehen ist119.
Ihm wird auch die Aufstellung der dreizehn Middoth oder exe-
getischen Regeln für die halachische Exegese zugeschrieben120.
Von ihm und seiner Schule stammt ein großer Teil des in zweien
der ältesten Midraschim (Mechilta zu Exodus, und Siphre zu
Numeri und Deuteronomium) enthaltenen exegetischen Materiales,
Königsberg er, Die Quellen der Halacha. 1. Teil. Der Midrasch, Ber-
lin 1890.
114) Edujoth II, 4.
115) Josua und Ismael: Küajim VI, 4. Aboda sara II, 5. Tosephta Para
638, 35. — Akiba und Ismael: Edvjoth II, 6. Mikwaoth VII, 1. — Über eine
Disputation zwischen Tarphon, Eleasar ben Asarja, Ismael und Josua s.
Jadajim IV, 3. — Daß aber z. B. Josua und Ismael nicht an demselben Orte
wohnten, sieht man aus Küajim VI, 4. Tosephtha Beehoroth 536, 24. Dasselbe
erhellt in betreff Akibas aus Erubin I, 2. Tosephta Sabim 677, 6 (Schüler Is-
maels berichten yor Akiba über des ersteren Lehre).
116) An der Grenze Edoms: Kethuboth V, 8. In Kephar-Asis: Kilajim
VI, 4. Über Kephar-Asis vgl. The Survey of Western Palestine, Memoirs by
Conder and Kitchener HI, 315. 348 — 350. — Auf eine Wirksamkeit in Peräa
deutet Mikwaoth VIT, 1, wonach Leute aus Medaba, der bekannten moabi ti-
schen Stadt, über Ismaels Lehre berichten.
117) Vgl. die in Anm. 115 zitierten Stellen; in betreff Josuas bes. Aboda
sara II, 5. Tosephta Para 638, 35. Bacher, Monatsschr. 1883, 64 «== Die Agada
der Tannaiten I, 241. 2. Aufl. I, 232 f.
118) S. Derenbourg p. 387 sq.
119) Vgl. in der Kürze: Hamburger S. 528. Bacher, Monatsschr. 1883,
73 f. — Die Agada der Tannaiten I, 250 f. 2. Aufl. I, 242 f. Über die wört-
liche Exegese in der tanuaitischen Periode überhaupt s. D ob schütz, Die
einfache Bibelexegese der Tannaim, Breslau 1893.
120) S. darüber oben S. 398 f. und Derenbourg p. 389—391.
442 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [375. 376]
wenn diese auch nicht, wie die Überlieferung will, ausschließlich
ans seiner Schule hervorgegangen sind121. — Nach der Legende
soll Ismael wie die meisten seiner Zeitgenossen im Barkochba-
Kriege als Märtyrer gestorben sein122.
Unter den Gelehrten, welche noch mit G-amaliel, Josua und
Elieser verkehrt, aber zu ihnen mehr oder weniger im Schüler-
verhältnis gestanden hatten, ist bei weitem der berühmteste R.
Akiba ben Joseph123. Seine Blütezeit fällt um 110—135 nach
Chr. Von | seinen Beziehungen zu G-amaliel, Josua und Elieser
ist bereits die Bede gewesen (Arno. 82, 83 und 90). An Einfluß
und an Glanz des Namens hat er sie alle übertroffen. Keiner hat
so zahlreiche Schüler um sich versammelt124, keiner ist von der
Legende so verherrlicht worden wie er. Aus dem Kranz der Sage
ist aber das historisch Gesicherte kaum noch herauszupflücken.
Nicht einmal der Ort seines Wirkens ist sicher bekannt: nach der
Mischna scheint es Lydda gewesen zu sein125, der babylonische
Talmud nennt Bene Barak (p-o ^n) 126. Die von ihm mitgeteilten
121) Auf ihr richtiges Maß zurückgeführt ist die Überlieferung z. B. bei
Bacher, Monatsschr. 1383, S. 66 f. — Agada der Tannaiten I, 243 f. 2. Aufl.
I, 235. Sonst vgl. über beide Midraschim oben § 3, uud die in Anm. 113 ge-
nannte Literatur.
122) Grätz IV, 175. Derenbourg 436.
123) S. über ihn: die hebräisch geschriebenen Werke von Fraukel, Brüll
und Weiß, ferner: Jost, Gesch. des Judenth. II, 59 ff. Landau, Monats-
schr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1854, S. 45—51. 81—93. 130—148.
Grätz, Gesch. der Juden IV, 53 ff. 427 ff. Ewald, Gesch. des Volkes Israel
VII, 376 ff. Derenbourg p. 329— 331. 395s??. USsqq. Hamburger II, 32— 43.
Bacher, Monatsschr. 1383, S. 254 ff. 297 ff. 347 ff. 419 ff. 433 ff. = Die Agada
der Tannaiten I, 271-348. 2. Aufl. I, 263—342. «Dalman, Art „Akiba" in
Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. I, 281 f. F.unk, Akiba, 1. Tl. Jena, Diss.
1896. L. Ginzberg, Art. Akiba in: The Jewish Encyclopedia I, 304—310.
Braunschweiger, Die L?hrer der MUchnah 2. A'ifl S. 217—241. Schlatter|,
Geschichte Israels 2. Aufl. 1906, S. 284— 239. — Gastfreund, Biographie des
Tanaiten Rabi Akiba (hebräisch geschrieben), Lemberg 1871.
124) Derenbourg p. 395 s?.
125) Bosch hasehana I, 6.
126) Sanhedrin 32 b. Derenbourj 307. 395. Vgl. auch Sanhedrin 96 b,
OUtin 57 b, Mid rasch Vajjikra rabba c. XXI (Wunsches Übersetzung S. 142).
Hamburger, Real-Enz. Abt. H S. 194, Abt. II, S. 100|, ebendas. S. 34 (im
Artikel Akiba). Neubauer, La gSographie du Talmud p. 82. — p*D **3a
kommt auch im A. T. vor (Josua 19, 45). Es lag im Stamme Dan und ist
ohne Zweifel identisch mit dem heutigen Ibn Ibräk, zwischen Jope und
el-Jehudijeh, etwa 5 röm. mtl. pass. östlich von Jope (The Survey of Western
Palestine, Memoirs II, 251, dazu die große Karte Blatt XIII. Mühlau in
Riehms Worterb. Art. Bne Barak, Dillmann, Comm. zu Josua 19, 45). — Euseb.
[376. 377] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 443
Sentenzen charakterisieren nicht nur seinen gesetzlich strengen
Standpunkt, sondern zeigen, daß er auch dogmatisch-philosophische
Fragen zum Gegenstand seines Nachdenkens gemacht hat127. Mit
dem religiösen Eifer verband er, wie die alten Zeloten, den natio-
nalen Patriotismus. Daher begrüßte er in dem politischen Helden
Barkochba den erschienenen Messias128 und soll auch als eines
der vornehmsten Opfer für die nationale Sache den Märtyrertod
gestorben sein129. — Von seiner exegetischen Methode läßt sich
eigentlich nur sagen, daß sie eine Steigerung und Ausartung der
bei den Rabbinen überhaupt herrschenden Methode ist: es ist die
Kunst, „aus jedem Häkchen des Gesetzes Haufen von Halachoth
abzuleiten" 13°. Um dies zu erreichen, wird namentlich nach dem
Grundsatz verfahren, | daß kein Wort im Texte überflüssig sei:
gerade die kleinsten, scheinbar überflüssigen Bestandteile des Textes
enthalten die wichtigsten Wahrheiten131. Wertvoller als diese
exegetischen Künste und von wirklich epochemachender Bedeutung
für die Geschichte des jüdischen Rechtes war es, daß zur Zeit
Akibas und wahrscheinlich unter seiner Leitung die bis dahin
nur mündlich fortgepflanzte Halacha zum erstenmale kodi-
fiziert wurde. Die verschiedenen Eechtsmaterien wurden nach
sachlichen Gesichtspunkten geordnet und das geltende Hecht unter
Anführung der abweichenden Ansichten aller hervorragenderen
Onom. (ed. Klostermann p. 54 s. v. Bagaxat) verlegt es irrtümlich in die Ge-
gend von Asdod. So auch Qu&rin, Judee II, 68—70.
127) Die Sentenzen: Aboth III, 13—16. Darunter III, 15 der Spruch: isn
nsins rvutnm *16U „Alles ist (von Gott) ersehen, aber die Freiheit ist (dem
Menschen) verliehen".
128) Derenbourg 425.
129) Grätz IV, 176—177. Derenbourg 436. Bacher 1883, S. 256 =
Die Agada der Tannaiten I, 273. 2. Aufl. I, 265.
130) Bacher, Monatsschr. 1883, 254 f. — Die Agada der Tannaiten I,
271 f. 2. Aufl. I, 263 f.
131) So soll z.B. die Partikel na andeuten, daß außerdem erwähnten
Objekt auch noch etwas anderes mit gemeint sei. Im Schöpfungsbericht steht
o**atöri r\M, weil auch Sonne Mond und Sterne mit gemeint sind (Wünsche,
Bereschith rabba S. 6 f.). Vgl. Derenbourg 397. — Diesem exegetischen
Grundsatz suchte der Froselyt Aquila in seiner griechischen Bibelübersetzung
dadurch gerecht zu werden, daß er übersetzte obv zbv oioavdv xal ovv x^v
yjjv, worüber Hieronymus seinen berechtigten Spott ergießt (Epist. 57 ad
Pammachium c. 11, Opp. ed. Vaüarsi I, 316). Vgl. über Aquila als Schüler
Akibas auch Hieronymus, Qomment. in Jes. 8, 11 ff. (Vaüarsi IV, 122 sq.):
Akibas quem magistrwn Aquilae proselyti autumunt. Grätz, Gesch. der Ju-
den IV, 437.
444 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [377. 378]
Gelehrten schriftlich aufgezeichnet Dieses Werk bildet die Grund-
lage der uns erhaltenen Mischna des R. Juda ha-Nasi132.
Ein Zeitgenosse Akibas war B. Tarphon, ein priesterlicher
Schriftgelehrter, der es mit seinen priesterlichen Rechten und
Pflichten, soweit es nach der Zerstörung des Tempels noch möglich
war, sehr ernst genommen haben soll133. Er lebte in Lydda134
und verkehrte am häufigsten mit Akiba135, nahm aber auch an
einer Disputation mit Eleasar ben Asarja, Ismael und Josua teil 136.
Die späte Legende macht natürlich auch ihn, wie fast alle Schrift-
gelehrten seiner Zeit, zum Märtyrer im Barkochba-Kriege137. Da |
dies aber genau denselben Wert hat, wie wenn die christliche
Legende sämtliche Apostel zu Märtyrern macht, so kann er sehr
wohl identisch sein mit jenem Trypho, mit welchem Justin zu-
sammentraf und der von sich selbst sagte, daß er wegen des Krieges
aus Palästina geflüchtet sei138. Eigentümlich ist, daß gerade er
eine besonders schroffe Stellung gegenüber dem (Juden-)Christentum
132) Daß unserer Mischna ein älteres Werk aus der Zeit Akibas zu-
grunde liegt, ist aus dem Inhalte fast mit Sicherheit zu schließen. Daß jenes
Werk yon Akiba selbst redigiert wurde, darf nach dem Zeugnisse des Epi-
phanius (haer. 33, 9) ebenfalls als wahrscheinlich angenommen werden. Näheres
s. § 3. Vgl. auch Derenbourg p. 399-401.
133) S. überh.: Derenbourg 376— 383. Hamburger II, 1196 £ Bacher,
Monatsschr. 1883, S. 497—507 — Die Agada der Tannaiten I, 348—358. 2. Aufl.
I, 342—352. Ochs er in: The Jetcish Encyclopedia XII, 56 sq.
134) Taanith III, 9. Baba mexia IV, 3.
135) Terumoth IV, 5. IX, 2. Nasir VI, 6. BecJioroth IV, 4. Keriihoth V,
2—3. Tosephta Mihcaoth 654, 4. 660, 33.
136) Jadajim IV, 3.
137) Grätz IV, 179. Derenbourg 436. Die Legende über diese Mär-
tyrer ist übrigens selbst sehr schwankend. S. Hamburger, Real-Enz. Supple-
mentbd. I, 1886, S. 155—158 (Art. „Zehn Märtyrer"), und oben § 21, in
(I, 697).
138) Justin. DicU. c. Tryphone c. 1: etftl Sh ^Eßgaloq ix neoirofxfjQ, <pvy<hv
xbv vVv yevöfievov nöXefiov, iv x$ c2?AAa<fc xal xy Koplvd-y xä noXXä
didycov. — Die Namen "jiBiü und Tqv<p<ov sind identisch, denn es läßt sich
nicht nachweisen, daß ersteres ein echt semitischer Name war, wenn es auch
der Form nach möglich wäre. Die Zeit stimmt ebenfalls genau. Die Iden-
tität des R. Tarphon mit Justins Trypho ist daher schon von älteren Ge-
lehrten vielfach angenommen worden. S. Wolf, Bibliotheea Hebraea H, 837.
Neuerdings haben sich för dieselbe erklärt: Renan, Les evangiles 1877, p. 70.
Zahn, Zeitschr. für Kircheugesch. Bd. VHI, 1886, S. 54—66 (vermutet S. 45 ff.,
daß das FroÖmium zu Justins Dia!, c. Tryph. verloren gegangen sei, und daß
daraus die Angaben bei Euseb. Hist. eccl. IV, 18, 6 entnommen seien [x(hv
xdxe 'Eßoalwv imarjfjtoxaxov]). Strack in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XVHI,
347 (anders Derselbe, Einl. in den Thalmud, 2. Aufl. 1894, 8. 80). Barden-
hewer, Gesch. der altkirchl. Literatur I, 212.
[378] IV. Die berühmtesten Schriftgelehrten. 445
eingenommen hat Als die Frage erörtert wurde, ob „die Evan-
gelien (owba) und die (biblischen) Bücher der Ketzer (Minim)tt,
in welchen der Name Gottes vorkommt, am Sabbat aus dem Feuer
zu retten seien oder nicht, sagte R.. Tarphon: „Ich will meinen
Sohn verlieren, wenn ich sie nicht, falls sie in meine Hände kommen,
trotz der darin vorkommenden Gottesnamen verbrenne. Wer von
einem Mörder oder einer Schlange verfolgt wird, flüchte sich eher
in einen Tempel der Götzendiener als in ihre Häuser; denn die
Götzendiener leugnen swar die Gotteslehre, haben sie aber nie
erkannt; jene aber kennen und leugnen sie"139.
139) b. Schabbath 116 a. jer. Sehabbath 15 0. TosephJta Schabbath XIII, 5
(ed. Zuckermandel p. 129, Im. 2 ff.). Derenbourg p. 379 sq. Bacher, Mo-
natsschr. 1883, 506 -= Die Agada der Tannaiten I, 357. 2. Aufl. I, 351. —
Unter den gUjonim will ALFriedländer (Der vorchristliche jüdische Gnosti-
cismus 1898, S. 80 ff. Der Antichrist 1901 , S. 62 ff.) gnostische Zaubertafeln
und Zauberbücher verstehen. Schlatter (Die Kirche Jerusalems 1898, S. 16)
erklärt giljonim allgemein ■= Volumina, Hölscher (Kanonisch u. Apokryph
1905, S. 42 f.) nach dem Syrischen =» „Apokalypsen". Daß aber die Erklä-
rung „Evangelien" richtig ist, erhellt aus der in b. Schabbath 116 & folgenden
Angabe: „Die Schule R. Meirs nannte sie — seil, die Giljonim — yrbl "pK,
die Schule R. Jochanans iv4ä *V9". Auch in der unmittelbar hieran sich an-
schließenden Anekdote von der Verhöhnung eines Philosophen durch Imma
Salome, die Schwester des Rabban Gamaliel, ist *p^ y& augenscheinlich =
Evangelium. S. Zahn, Gesch. des neutest Kanons II, 673 — 679. Bacher,
Revue des etudes juives t. XXXVIII, 1899, p. 39—42. Ders., Theol. Litztg.
1904, 719. L. Blau, Art Qüyonim in: The Jewish Encyclopedia V, 1903,
p. 668 sq. Die Texte mit englischer Übersetzung bei Herford, Ghristiamty
in Talmud and Midrash, 1903, p. 146—157, 413 sq. Den Text der Anekdote
von Imma Salome und dem Philosophen gibt auch Dal man im Anhang zu
Laible, Jesus Christus im Thalmud S. 14* f., deutsch A. Meyer in Hen-
neckes Handb. zu den Neutest. Apokryphen 1904, S. 70. Den ganzen Kon-
text von Schabbath 116 mit deutscher Übersetzung s. bei Goldschmidt, Der
babylonische Talmud Bd. I, 1897, S. 598 f. — Wegen des besonderen Inter-
esses, das R. Tarphon für den christlichen Theologen hat, teile ich hier
sämtliche Stellen mit, an welchen er in der Mischna ewähnt wird:
Berachoth I, 3. VI, 8. Pea III, 6. Küajim V, 8. Terumoth IV, 5. IX, 2. Moose-
roth III, 9. Maaser scheni II, 4* 9. Schabbath II, 2. Erubin IV, 4. Pesachim
X, 6. Sukka III, 4. Beza III, 5. Taanith III, 9. Jebomoth XV, 6—7. Kethu-
both V, 2. VII, 6. IX, 2-3. Nedarim VI, 6. Nasir V, 5. VI, 6. Kidduschin
III, 13. Baba kamma II, 5. Baba mexia II, 7. IV, 3. Makkoth I, .10. Edujoth
I, 10. Aboth II, 15—16. Sebachim X, 8. XI, 7. Menachoth XII, 5. Bechoroth
n, 6-9. IV, 4. Kerithoth V, 2-3. Kelim XI, 4. 7. XXV, 7. Ohaloth XÜI, 3.
XVI, 1. Para I, 3. Mikwaoih X, 5. Machschirin V, 4. Jadajim IV, 3. —
Die Stellen der Tosephta s. im Index zu Zuckermandels Ausgabe. Die Stellen
in Mechilta, Siphra und Siphre bei D. Hoffmann, Zur Einleitung in die ha-
lachischen Midraschim (1887) S. 85. — In Jope ist eine hebräische Grabschrift
gefunden worden, welche lautet: "W^a "jiBiis "Oin rra yrv» (Clermont-Ganneau,
446 § 25. Die Schriftgelehrsamkeit. [378. 379]
Außer R. Tarphon sind als Zeitgenossen Akibas noch hervor-
zuheben: R Jochanan ben Nuri, der schon zur Zeit GamalielsIL,
Josuas und Eliesers lebte, am häufigsten aber im Verkehr mit
Akiba erwähnt wird140, B. Simon ben Asai oder Ben Asai |
schlechthin, gleichfalls ein Zeitgenosse Akibas, an welchem beson-
ders die Unermüdlichkeit im Studium gerühmt wird141, R Jocha-
nan ben Beroka, der mit Josua und Jochanan ben Nuri ver-
kehrte142, R. Jose der Galiläer, der als Zeitgenosse des Eleasar
ben Asarja, Tarphon und Akiba erwähnt wird14S, R. Simon ben
Nannos oder Ben Nannos schlechthin, ebenfalls ein Zeitgenosse
des Tarphon und Akiba144.
In dieselbe Zeit gehört auch Abb a Sani, der zwar noch über
Proceedings of the Society of bibkcal archaeology, March 1884, p. 123 sqq. Eu-
tiug, Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1885, S. 680). Da der Schrift-
charakter nach Euting auf das zweite oder dritte Jahrhundert weist, ist dieser
Judan wohl der Sohn unseres B. Tarphon.
140) Zur Zeit Gamaliels: Bosch haschana II, 8. Zur Zeit Josuas:
Tosephta Taanith 217, 14. Zur Zeit Eliesers: Tosephta Orlaib, 1. KeUmNb,
ia 20. — Im Verkehr mit Akiba: Bosch haschana IV, 5. Bechoroth VI, 6.
Temura I, 1. ükxm HI, 5. Tosephta Pesaehim 156, 27. — Vgl übern.: Ham-
burger II, 490 f. Bacher, Monatsschr. 1883, 537 f. — Die Agada der Tan-
naiten I, 372-374. 2. Aufl. I, 366-368.
141) Zeitgenosse Akibas: Schekalim IV, 6. Joma IT, 3. Taanith IV, 4.
Baba bathra IX, 10. — Man sagte von ihm: „Seit Ben Asai tot ist, gibt es
keine unermüdlich Studierenden mehr" (Sota IX, 15: D^pjü, eigentlich:
Wachende, d. h. unermüdlich Arbeitende). — Einige Sentenzen von ihm:
Aboth IV, 2—3. — Übern.: Hamburger U, 1119—1121. Bacher, Monatsschr.
1884, S. 173—187. 225 f. — Die Agada der Tannaiten I, 409—424. 2. Aufl. I,
406-422.
142) Mit Josua: Tosephta Sota 307, 7. Mit Jochanan ben Nuri: Tosephta
Terutnoth 38, 15. — In der Mischna wird Jochanan ben Beroka erwähnt:
Erubin VHI, 2. X, 15. Pesaehim VII, 9. Jebamoth VI, 6. Kethuboth H, 1.
Baba kamma X, 2. Baba bathra VIII, 5. Schebuoth VII, 7. Aboth IV, 4.
Bechoroth VHI, 10. Kelim XVH, 11. — Vgl. auch Bacher, Monatsschr. 1884,
S. 280 f. — Die Agada der Tannaiten I, 448 f. 2. Aufl. I, 448 f.
143) Mit diesen drei zusammen: jer. Gütin IX, 1 (Derenbourg 368). Mit
Akiba und Tarphon : Tosephta Mikioaoth 660, 32. Er berichtet auch im Namen
des Jochanan ben Nuri: Tosephta Orla 45, 1. — S. überh.: Hamburger H,
499—502. Bacher, Monatsschr. 1883, S. 507—513. 529— 536 — Die Agada der
Tannaiten I, 358—372. 2. Aufl. I, 352—365. Die Stellen in Mechilta, Siphra
und Siphre s. bei D. Hoffmann, Zur Einleitung in die halachischen Midra-
schim (1887) S. 87.
144) S. bes. Tosephta Mikwaoth 660, 33. Im Verkehr mit Ismael finden
wir ihn Baba bathra X, 8. — Mit seinem vollen Namen Simon ben Nan-
nos (vdwog =-» Zwerg) wird er erwähnt: Bikkurim HI, 9. Schabbath XVI, 5.
Erubin X, 15. Baba bathra X, 8. Menachoth IV, 3. Nur als Ben Nannos:
Kethuboth X, 5. Qittin VHI, 10. Baba bathra VH, 3. X, 8. Schebuoth VII, 5.
[379. 380j § 26. Pharisäer und Sadduzäer. Literatur. 447
einen Ausspruch Jochanan ben Sakkais berichtet und wiederholt
als Gewährsmann über Einrichtungen des Tempels angeführt wird,
aber nicht älter als Akiba gein kann, da er mehrmals auch über
dessen Aussprüche berichtet145. Ferner R. Juda ben Bethera,
der einerseits als Zeitgenosse des Elieser, andererseits noch als
Zeitgenosse des R Meir erwähnt wird, dessen Blüte also zwischen
beide, d. h. in die Zeit Akibas fallen wird 146.
Häufiger als alle bisher Genannten werden in der Mischna
die Männer der nächstfolgenden Generation angeführt: R Juda,
R. Jose, R. Meir, R. Simon. Ihre Wirksamkeit fällt aber erst
in die Mitte des zweiten Jahrhunderts, also jenseits der Grenze
des hier zu behandelnden Zeitraumes.
i 26. Pharisäer und SadduzEer.
Literatur:
Die ältere Literatur 8. bei Ca rpxov, Apparatiis hist.-crit. p. 173. 204, und bei
Daniel, Art „Pharisäer" in Ersch und Grubers Enzyklopädie Sektion HI,
Bd. 22, S. 18.
Triglandius, Trium seripiorum ülustrium de tribus Judaeorum seeHs *yn~
tagma, in quo Serarii, Drusii, Scaligeri opuseula quae eo pertinent
cum aliis junciim exhibentur. 2 Bde. Delphis 1703.
Ugolini, Trihaeresium sive dissertatio de tribus sectis Judaeorum (Thesaurus
antiquüatum sacrarum tom. XXII. Daselbst auch noch andere Disserta-
tionen).
145) Über einen Ausspruch Jochanan ben Sakkais: Aboth IL, 8. über
Einrichtungen des Tempels: Middoth II, 5. V, 4; auch Mmachoth VIII, 3
XI, 5. Über Aussprüche Akibas: Tosephta Kilajim 79, 9. Sanhedrin 433, 27
— Sonst vgl. Pea VIII, 5. Kilajim II, 3. Schabbath XXIH, 3. Schekalim IV, 2.
Beza III, & Kethuboth VE, 6. Nedarim VI, 5. Oittin V, 4. Kidduschin IV, 2.
Baba mexia IV, 12. VI, 7. Baba baihra II, 7. 13. Sanhedrin X, 1. Makkoth II, 2,
— Lewy, Über einige Fragmente aus der Mischna des Abba SauL Berlin 1876
(vgl.: Magazin fßr die Wissensch. des Judenth.IV, 1877, S. 114— 120. Monatsschr.
ffir Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1878, S. 187—192. 227—235). Ham-
burger, Real-Enz. Supplementbd. I, 1886, S. lf. Bacher, Die Agada der
Tannaiten II, 1890, S. 366-369.
146) Zeitgenosse des Elieser: Negaim IX, 3. XI, 7. Zeitgenosse des Meir:
Tbsephia Nasir 290, 14. — Vgl. zur Chronologie auch Pea III, 6. Pesachim
Iü, 3. Edujoth VIII, 3. Kelim II, 4. Ohaloth XI, 7. Tosephta Jebamoth 255,
2a — 8. übern.: Bacher, Monatsschr. 1884, S. 76—81 — Die Agada der Tan-
naiten I, 379-385. 2. Aufl. I, 374—380.
448 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [380. 381]
Joh. Gottlob Oarpxov, Apparatur historico-crüicus antiquitatum sacri codicis
(1748) p. 173-215.
Grossmann, De Judaeorum disciplina arcani. Part I— II. Lips. 1833 — 1834.
— Der b., De phüosophia Sadducaeorum* Part I — IV. Lips. 1836 — 1838.
— Ders., De Pharisaeismo Judaeorum Alexandrino. Part. I — HI. Lips.
1846—1850. — Der s., De collegio Pharisaeorum. Lips. 1851.
Daniel, Art. „Pharisäer" in: Ersch und Gruber, Allgemeine Enzyklop. der
Wissensch. und Künste, Sektion III, Bd. 22 (1846) S. 17—34.
Winer, Bealwörterb. II, 244—248 (Pharisäer), und 352-356 (Sadduzäer).
Lutterbeck, Die neutestamentlichen Lehrbegriffe I (1852) S. 157 — 222.
Eeuß in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XI, 1859, S. 496—509 (Pharisäer), und
Xin, 1860, S. 289—297 (Sadducäer). |
Müller (Alois), Pharisäer und Sadducäer oder Judaismus und Mosaismus.
Eine historisch-philosophische Untersuchung als Beitrag zur Religionsge-
schichte Vorderasiens (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, phil.-hist.
Klasse, Bd. XXXIV, 1860, S. 95—164).
Ewald, Geschichte des Volkes Israel IV, 357 ff. 476 ff.
De Wette, Lehrb. der hebr.-jüdischen Archäologie (4. Aufl.) S. 413—417.
Herzfeld, Gesch. des Volkes Jisrael III, 356 ff. 382 ff.
Jost, Gesch. des Judenthums und seiner Secten I, 197 ff. 216 ff.
Geiger, Urschrift und Übersetzungen der Bibel, S. 101 — 158. — Ders., Sad-
ducäer und Pharisäer (Jüd. Zeitschr. Bd. n, 1863, S. 11 — 54. Auch als
Separatabdruck). — Ders., Das Judenthum und seine Geschichte Tl. I
(2. Aufl. 1865) S. 86 ff.
Grätz, Geschichte der Juden Bd. III, 3. Aufl. 1878, S. 91 ff. 647—657 (Note 10).
4. Aufl. 1888, S. 83 ff. 637—697 (Note 12).'
Derenbourg, Histoire de la Palestine p. 75 — 78. 119 — 144. 452—456.
Hanne, Die Pharisäer und Sadducäer als politische Parteien (Zeitschr. für
wissensch. Theol. 1867, S. 131—179. 239—263).
Keim, Geschichte Jesu I, 250—282.
Holtzmann in: Weber und Holtzmann, Gesch. des Volkes Israel H, 124 — 135.
Hausrath in d. Prot. Kirchenzeitung 1862, Nr. 44. — Ders., Zeitgesch. 2. Aufl.
1, 117—132. — Ders. in Schenkels Bibellexikon IV, 518—529.
Ginsburg Art. „Pharisees" und „Saddueees" in Kittos Oyclopaedia of Biblical
4 Lüerature.
Twisletony dieselben Artikel in Smiths Dictionary of tke Bible.
Kuenen, De godsdienst van Israel H, 338 — 371. 456 sqq. — Ders., Theot Tyd~
schrift 1875, p. 632—650 (Anzeige von Wellhausens Schrift).
Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur
inneren jüdischen Geschichte. Greifswald 1874»
Cohen, Les Pharisiens. 2 vols. Paris 1877.
Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theologie. Leipzig 1880.
Neue unveränderte Ausgabe unter dem Titel: Die Lehren des Talmud,
quellenmäßig, systematisch und gemeinverständlich dargestellt. Leipzig
1886. 2. verb. Aufl. unter dem Titel: Judische Theologie auf Grund des
Talmud und verwandter Schriften, 1897.
Beuß, Geschichte der heiligen Schriften Alten Testaments (1881) §§ 396. 546.
- 648-554.
Baneth, Über den Ursprung der Sadokäer und Boethosäer (Magazin für die
[381. 382] Die Zeugnisse des Josephue. 449
Wissensch. des Judenth. IX. Jahrg., 1882, S. 1 — 37. 61—95. Auch separat
als Leipziger Doktor-Dissertation).
Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, Abt. II (1883) S. 1038—1059
(Art „Sadducäer etc." Vgl. auch die Artikel: Amhaarez, Chaber, Chassi-
dim, Zaddikim).
Montet} Essai sur les origines des pariis saduden et pharisien et leurhistoire
jusqu'ä la naissance de Jteue- Christ. Paris 1883 (vgl. Theo!. Litztg. 1883,
169). — Derselbe, Le premier eonflit entre Pharisiens et SaducSens,
dtaprls trois documents orientaux (Journal asiatique VUIm« Sirie t. JX,
1887, p. 415-423).
Sie ff er t, Art. „Sadducäer und Pharisäer" in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XIII,
1884, 8. 210-244. 3. Aufl. XV, 1904, S. 264—292.
Edersheim, The lifc and times of Jesus the Messiah (1884) I, 310—324. |
Krüger, Über die sieben oder acht Arten schlechter Frömmigkeit (Theol.
Quartalschr. 1887, S. 429—460, 599—631, 702) [gelehrt, aber ohne brauch-
bares Resultat].
Davaine, Le Saduce'isme, ttude historique et dogmatique. Tftise, Montauban
1888 (147 p.).
Narbel, Ittude sur le parti pharisien, son origine et son histoire. Th&se, Paris
1891 (257 p.).
Krüger, Beiträge zur Kenntnis der Pharisäer und Essener (Theoi Quartalschr.
1894, S. 431—496).
Bertholet, Die Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden, 1896,
S. 123—256 (wichtig für die Vorgeschichte der pharis. Partei).
Eaton, Art. 9tPharisees" in Hostings' Dictionary of the Bible HI, 1900,
p. 820—829. — Ders., Art. „Sadducees" ibid. IV, 1902, p. 349—352.
Cowley, Art „Sadducees" io: Eneyelopaedia Biblica IV, 1903, col. 4234 ffl —
Prineef Art. „Scribes and Pharisees" ib. col. 4321 ff.
Elbogen, Die Religionsanschauungen der Pharisäer mit besonderer Berück*
sichtigung der Begriffe Gott und Mensch. 1904.
Lafay, Les Sadduciens. These, Lyon 1904. (95 p)
Kohler, Art. )tPhariseestf in: The Jewish Encyclopedia IX, 1905, p. 661—666.
— Ders., Art. „Sadducees1' ibid. X, 1905, p. 630—633.
Wünsche, Jesu Conflict mit den Pharisäern und Schriftgelehrten wegen
Unterlassung des Händewaschens seiner Schüler (Viertelj ah rasch r. für
Bibelkunde Bd. II, 1905, S. 113—163).
Schlatter, Geschichte Israels 2. Aufl. 1906, S. 102—122.
Holscher, Der Sadduzäismus, eine kritische Untersuchung zur späteren jü-
dischen Religionsgeschichte, 1906 (dagegen: Theol. Litztg. 1907, 200—203).
Die Zeugnisse des Josephus.
Bell. Jud. II, 8, 14: <PctQiöaloi php ol fzexa axQtßelaq öoxovpxeg
igTjyelo&cu xa vofiifia xal xr\v nQmxr\p djtayovxsg afyeoiv, st/iaQ-
fiivq xe xal (req> jiQoöcütxovcfi Jtapxa, xal xb php jiQaxxuv xa
ölxaia xal pfj xaxä xb nXetöxov Inl xolg äv&Qcoxoig xela&ai, ßor}-
&tlv de elq txaoxov xal xfjv BlfiaQfiiprjV ipvxqp 6h Jtacav php
aip&aQxop, pexaßalvuv öh elq %xbqop ocofia xtjp xäp aya&mp poprjp,
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 29
450 § 26- Pharisäer und Sadduzäer. [382. 383]
rag 6h x&p g>avXmp dlölcp rifimQia xoXa&o&ai. Sadöovxaloi öe,
xb 6bvxbqop xdypa, xr)p fihp etfiaQ/tivTjv jiavraxaoiv ävaiQovöi,
xal top &ebv $gm xov ÖQav xt xaxbv rj i<poQap xl&evxat, g>aol 6'
ix' dvftQmnmp ixXoyjj xo xb xaXbp xal xb xaxbv xQoxela&ai, xcä
xb xaxä yp<6fif]P hxdöxm xovxmp IxaxiQcp JtQooiivai. *Pvx*]S Te
xtjv dtafiovrjv xal xag xad-' °Ai6ov xifimQlag xal xifiag dvacQovOi.
Kai <PaQiöaloc fihp (piXaXXrjXol xb xal xtjp elg xb xoivbv Sfiopoiav
aoxovvxeg, 2a66ovxalmv 6h xal JtQog dXXr/Xovg tb rjd-og dyQimxBQOP,
aX xe im(u£lai jtQog xovg ofiolovg djtr/PBlg a>g JtQog aXXoxQlovg.
Antt. XIII, 5, 9: Kaxa 6h xop XQW°V xovxop XQBlg aiQeOeiq
xmp >Iov6almp rjöap, ai jieqX xmp dp&Qcoxlpcop JtQayfidxmp öia<poQa>g
vjteXdfißavov mp i) fiep <PaQiöalmp iXdysxo, ff 6h Zaööovxalmp,
tj xqIxtj 6h 'Eoorjpcbp. Ol fihp ovp <PaQiöalot xtpa xdi ov jrdvxa
xfjg ctfiaQfiiprjg EQyop üvai Xiyovöcp, xipcl 6> ig>* iavxolg vxaQXBtPy
cvfißalvEiv xb xal fifj yiptobai. Tb dh xmp 'Eoorjpmp yepog xdpxmp
xtjp eifiaQfiiprjp xvQlap dxo<paipBxaiy xal fitjdhp o fit] xax* ixelvrjg
tprj<pov dpfrQcoxoig dxapxa. Sa66ovxaloi 6h xtjp fihp BlfiaQfiipf/p
dpaiQOVOiP, ov6hv elvat xavxrjp d^ioipxBg, ovSh xax* avxr)p xa
dvd'QWJciva riXog Xafißdpeip, dxapxa 6' ig>* r]filp avxolg xl&BPxat,
mg xal xmp dyad-mp alxlovg tjfiäg avxovg yipofiipovg xal xa ^c/pcö
jtaQa xr)p fjfiBxiQap dßovXlap Xafißdpopxag.
Antt. XIII, 10, 5: [Ol <PaQiöaloi] xoOavxtjP h'xovoi x*lv Igxv*>
JtaQa xqi JiXrjfrei mg xal xaxa ßaoiXimg xi Xiyopxeg xal xax* oqx*-
BQicog Bv&vg JuöxBVBöfrai. \
Antt XIII, 10, 6: "AXXmg xb xdt (pvou XQog xag xoXaoeig hxi-
Bixmg bxovoip ol 4>aQiöaloi.
Ibid.: Nbfiifid xipa JtaQiöoöav xm 6f\fim ol <PaQioaIoi ix xaxi-
qcop 6ia6oxfjg> djtBQ ovx dpayiyQaxxai ip xolg Mcovai&g vofioig,
xal 6ia xovxo xavxa xb 2a66ovxaia>p yipog ixßaXXei, Xiyop btelpa
6bIp r)yBl6d-ai pofiifia xa ysyQafifiipa, xa 6* ix xaQaöoöeax; xcop
xaxiQcop fit] xtjqsIp. Kai jibqI xovxcdp fyxTJöBiq avxolg xal 6iatpoQag
ylpeo&ai CvpißaiPB fieyaXag, xmp fihp 2a66ovxaia>p xovg evxoQovg
ßopop jtEid-opxcop, xb 6h 6rjfioxixbv ovx IjtofiBPOP avxolg ixopratp,
xmp 6h 4>aQioalmp xb nXr)d-og ovfifiaxop ixbpxmp.
Antt. XVII, 2, 4: Hp yäg fiOQiop xi >Iov6aXxmp dv&Qcbnmv ix'
igaxQißmosi fiiyq tpQOPovp xov jtaxQlov pofiov, o\g xalQeiP xb &elop
jtQoojioiovfi£p[mp]oig vjtfjxxo r) yvpaixmplxig' $aQicaloi xaXoipxatf
ßaoiXel 6vpd(iBPot fidXiöta dvrcJtQaOöeiv, jr^Ofi^d-slg, xdx xov xqov-
ütxov elq xb xoXefietP xe xal ßXanxBiP ijttjQfiipoiK
1) Diese pharisäerfeindlichen Worte stammen offenbar nicht aus Josephus'
Feder, sondern sind von ihm ans Nikolaus Damascenus abgeschrieben (vgl.
Derenbourg p. 123 not.). Um so wertvoller sind sie als Korrektiv gegen die
{383. 384] Die Zeugnisse des Josephus. 451
Antt. XVIII, 1, 2: 'lovöaloig q>tXoöoq>lai xQBlg r\cav kx xov
xavv ccQXcdov xa>p nazQlcop, ?\ xb xSp 'EöOrjvdiv xal r\ xtbv JEaööov-
xalcov xqIxt/p öh hq>iXoöoq>ovp 61 <PctQiöalot Xeyopsvoi. Kai xvy~
Xavei fiipxoi xsqI avxabv rj(ilv elQTjfieva h xjj ÖBVxiQa ßlßXco xov
'lovöa'ixov noXifiov, fivrjöfrtjcofdcu öh oficog xal pvp avxmp In oXlyop.
§ 3: Ol xs yaQ <PaQtöaloi xr\v ölaixap kf-evxell£ovöiv , ovöbp
Big xo fiaXaxcixBQOP kpöiöopxBg, odv xs 6 Xoyog xglpag naQiöcoxBP
dyad-d*p, inopxai xjj fjyBfiopla, nBQtfidx^TOP rjyovfispoi xr\v g>vXaxrjp
a>v vnayoQBvstp rj&iXTjCB. Tififjg yB xotg fjXixla jtQorjxovat naQa-
XWQovOtv, ovöhp kn avxiXi^Bi xmv BlorjyTjd-ipxcop xavxa ot2 &Qaoei
knacQOfisvoi. IJQdooeöO-al xb elfiaQfitvy xd ndpxa dfyovpxBg, ovöh
xov dvfrQconelov xb ßovXofievov xrjg in' avxolg oQfifjg dtpaiQOVPxat*,
öoxfjöap x& {tec5 xQaöiv yBPBö&at xal x& exelprjg ßovXevrtjQia) xal
xäp dp&Qconcop xb id-BXrjöav* jiqoöx&QbIp /ibx* oqbxtjs rj xaxUxq. \
'A&apaxop xb laxjbp xalg ipvxalg nlöxig avxolg dvai, xal vnb x^opbg
öixaiciöBig xb xal xifidg olg aQBxtjg fj xaxlag £nixt]ÖBVöig £p xq> ßlcp
yiyoPB, xal xalg fiep BtQyfibp dtötop JtQoxl&Böfrai, xatg ob $aöxcopi]p
xov avaßiovv. Kai öl* avxa xolg xb örjfioic ntd-apc&xaxoi xvyxar
vovöi, xal onoca &Bla bvx<bp xb BXBxai xal Ibqwp noiyCBmg i§TjyfjöBi
t# bcslvwp xvyx&povoi nQacoofiBPa. Elg xoCopöb aQBxijg avxolg
at noXecg ifiagxvQr/öap hnixtiöevöBt xov inl ndoi xQslccoPog Ip xb
xy öialxy xov ßlov xal Xoyotg.
§ 4: JSaööovxaloig öh, xag ywxag 6 Xoyog övpa<papl&i xolg
öc&fiaöi, (pvXaxy 6h ovöaficog xipcdp fiBxanolijöig avxolg r) xcop
p6fta)P' jiQog yaQ xovg öiöaöxaXovg öocplaq, rjp pexlaoip, dfnpcXoyelv
4LQBxriv dQid-ftovöip. Elg oXlyovg 6h aPÖQag ovxog 6 Xoyog dg>lxBxo,
xovg [lipxoi XQc&xovg xolg dgiwfiact, jiQaGGBxal xb an avx&p ovöbp
aSg slnBlP' onoxB yaQ hn dgxag naQiX&oiBP, dxovoicog (ihp xal xax*
dpdyxag, nQoöxcoQovöc 6* ovp olg 6 4>aQiOalog XiyBi, öia xb fit]
aXXcog dpsxxovg yBPiöd-ai xolg nXrjd-Böcp.
AntU XX, 9, 1: atQBOip öh fiexyei xtjp 2aööovxala>p, ohtsg bIci
nBQl xag xglösig cofiol naget ndpxag xovg *Iovöalovq, xad-mg rjöij
ÖBÖrjXcoxapBP.
schönfärbende Darstellung des Josephus. — Die Textüberlieferung der Stelle
ist schwankend. In dem oben nach guter Überlieferung gegebenen Wortlaut
ist meines Erachtens nur TCQOonoiovfiivav olq in ngooTiocov/n^voig zu ändern
(quibus 86 deo caros esse simtdantihus addietae erant feminae, wie bereits Hud-
son übersetzt). Niese liest: ht igaxQißiooei pfya (pQovovv xoi> naxglov xal
ydfjuav olg Xa^Q6i x& ^biqv nQoanoiovfxivajv , olg vnrpcto % ywakxwyixig^ #£*(>*-
aaloL xaXovvrcu, ßaatXel dwafibip (laXtaxa ngaooeiv n^o^rjd-etg u. s. w„ ein
Text, dessen Richtigkeit mir äußerst fragwürdig erscheint.
2) Die Worte xavxa ol, welche in der Epitome fehlen, sind wohl zu tilgen.
3> So * wohl richtig ^die Epitome. — Die codd. haben x$ id-eXtfaavxi oder
xij> &€Xtfoavxt.
29*
452 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [384. 385)
Vita 2 fin.: rjQgafirjv xoXtreveo&ac rjj <PaQiöalwv alQicst xaxa-
xoXovd-cfrv, tf jtaQaJtlrjöioq icxt xfj xaQ* °EXXfjoi JSxcoixjj Xeyonivq.
Vita 38: rtjg 6h QaQiöalow algioecog, oi xbqI rä otaxQia vofitfia
öoxovöi x&v aXXcov dxQcßela dicupiQUv.
Die Zeugnisse der Mischna.
a) Über Peruschim und Zaddukim.
Jadajim IV, 6: „Die Zaddukim sprachen zu den Peruschim: Wir
müssen euch Peruschim tadeln, daß ihr behauptet, heilige Schriften verun-
reinigen die Hände, aber gegnerische Bücher (Dnwi *ntO richtiger on^an •nfcö
— Bücher des Homeros) 4 verunreinigen die Hände nicht Hierauf erwiderte
Rabban Jochanan ben Sakkai: Ist dies etwa das Einzige dieser Art, was
man den Peruschim vorwerfen kann? Sie sagen auch: Die Knochen eines
Esels sind rein und die des Hohenpriesters Jochanan unrein. Darauf er-
widerten jene: Nach Verhältnis der Liebe erklärt man die Gebeine für un-
rein, damit nicht etwa jemand aus den Knochen seines Vaters oder seiner |
Mutter Löffel mache. Hierauf versetzte er: Nur so ist es auch mit den heiligen
Schriften ein Beweis der Liebe, daß man die Hände für verunreinigt erklärt,
während die gegnerischen Bücher (Bücher des Homeros?) nicht geliebt werden,
daher ihre Berührung nicht verunreinigt".
Ibid. IV, 7: „Die Zaddukim sprachen ferner: Wir müssen euch Peru-
schim tadeln, daß ihr die Strömung (beim Gießen in ein unreines Gefäß)
für rein erklärt Die Peruschim erwiderten: Wir müssen euch Zaddukim
tadeln, daß ihr dennoch einen aus dem Begräbnisplatze kommenden Kanal
für rein erklärt. — Die Zaddukim sprachen ferner: Wir müssen euch Peru-
schim tadeln, daß ihr saget: Wenn mein Ochse oder Esel Schaden anrichten,
bin ich Ersatz schuldig, und wenn mein Knecht oder meine Magd Schaden
anrichten, bin ich frei. Wenn ich für Ochs oder Esel, für welche ich keine
gesetzlichen Pflichten habe, Ersatz zahlen muß, wie sollte ich nicht für das,
was mein Knecht und meine Magd tun, für welche ich doch gesetzliche
Pflichten habe, Ersatz schuldig sein? Sie erwiderten: Nicht was von Ochs
und Esel gilt, die keinen Verstand haben, kann von Knecht und Magd gelten,
die Verstand haben. Denn sonst könnten sie, wenn ich sie böse mache, eines
anderen Feld anzünden und mich zu Zahlungen nötigen".
Ibid. IV, 8: „Ein galiläischer Ketzer* sprach einst: Ich tadle euch Pe-
ruschim, daß ihr in den Scheidebrief den Namen des Regenten mit dem des
4) Ich zweifle nicht, daß „Homeros" zu lesen ist; D und D sind in den
Handschriften oft kaum zu unterscheiden. Mancherlei Erklärungsversuche s.
bei: Buxtorf, Lex. Chald. eol. 1256«?. (s.v. D*ra). Levy, Neuhebr. Wörtern.
I, 476. Perl es, Revue des itudes juives HI, 1881, p. Mßsqq. Weil ebenda*.
III, 276 sqq. Edersheim, The life and times of Jesus the Messiah I, 1884,
p. 23 not. Kohut, Jewisk Quarterly Review III, 1891, p. 546 — 548.
5) Nach den besten Zeugen (cod. de Rossi 138, Cambridger Handschrift,
editio prineeps der Mischna 1492) ist hier und im folgenden statt *»i*4a *pW&
zu lesen ^ba yw.
[385. 386] Die Zeugnisse der Misch na, 453
Mose schreibet Darauf erwiderten die Feruschim: Wir müssen dich tadeln,
galiläischer Ketzer, daß ihr dennoch den Namen des Herrschers und den
Namen Gottes auf ein Blatt schreibet, und noch dazu jenen oben und diesen
unten. Denn in der Schrift steht (Exod. 5, 2): Pharao sprach: Wer ist
Jahve, daß ich ihm gehorchen und Israel entlassen müßte?"
Chagiga II, 7: „Die Kleider von Am-haarez sind Midras (O^ns, d. h. durch
Druck verunreinigt) für Peruschim; die der Peruschim sind Midras für die,
welche Hebe essen; die der letzteren sind Midras für die, welche Heiliges
essen; und die der letzteren sind Midras für die mit Entsündigungswasser
Sprengenden"8.
Sota HI, 4: „R. Josua pflegte zu sagen: Ein törichter Frommer, ein kluger
Gottloser, eine pharisäische Frau (nspriB rrät*) und Leiden von Peruschim
verderben die Welt" 7. |
Erubin VI, 2: „Rabban Gamaliel erzählt: Einst wohnte ein Zadduki mit
uns in einem Maboi (einer zum Zweck des freieren Sabbathverkehrs abge-
sperrten Straße) in Jerusalem. Da sprach mein Vater zu uns: Briuget eilig
alle Geräte in den Maboi, ehe der Zadduki etwas dahin bringe und ihn für
euch unerlaubt mache. R. Juda führt den Ausspruch anders an: Tut eilig,
was ihr zu tun habt im Maboi, ehe der Zadduki etwas dahin bringe und ihn
für euch unerlaubt mache"8.
6) Ober die Bedeutung von Am-haarez (^Ktt 05) s. weiter unten. — „Die,
welche Hebe essen" sind die Priester und deren Angehörige; „die welche Hei-
liges essen" sind die Dienst tuenden Priester. Jede folgende Kategorie steht
in der Heiligkeit und Reinheit immer um einen Grad höher als die vorher-
gehende, weshalb die Kleider der vorhergehenden für sie als unrein und un-
erlaubt gelten. Vgl. zur Erläuterung Levy, Neuhebr. Wörterb. s. v. övra (ÜI,
33 f.) und die Übersetzung in der unter Josts Leitung herausgegebenen Mischna.
Die breite Erörterung von Krüger über Chagiga II, 7 (Theol. Quartalschr.
1894, S. 431—442) mischt Fremdartiges ein.
7) Der Sinn scheint zu sein, daß bei einer Verbindung unvereinbarer Ge-
gensätze die Welt nicht bestehen kann. Die Ausleger erklären freilich anders.
S. Surenhusius' Mischna III, 218 ff. Chwolson, Das letzte Passamahl
Christi (Mhnoires de l'Acadimie imperiale des sciences de St.-Petersbourg, VII«
Serie, tome XLI, No. 1, 1892) S. 115.
8) Die Erklärung der schwierigen Mischna ist streitig, und die Schwierig-
keit wird erhöht durch das Schwanken der Lesart im letzten Satze (s. die An-
merkung in Josts Mischna und die Kommentare bei Surenhusius II, 108 f.).
Die allgemeine Regel, welche bei dem angeführten Spezialfälle vorausgesetzt
wird, ist die, daß mehrere Israeliten, welche in einem gemeinsamen Hofe oder
einer abgesperrten Straße wohnen, diesen Raum für ihren Privat- Bereich er-
klären können, indem sie vor Sabbath- Anbruch gemeinsam etwas Speise da-
selbst niederlegen. Ist dies geschehen, so dürfen in diesem Bereich auch am
Sabbath Gegenstände hin- und hergetrageu werden, während es in einem
öffentlichen Bereiche verboten ist. Die gemeinsame Besitzergreifung durch
{Niederlegen von Speise ist jedoch nur dann gestattet, wenn alle Anwohner
Israeliten sind. Hat ein Heide oder ein Israelite, der das Recht des Erub
nicht anerkennt, Anteil am Hof oder an der Straße, so ist die Sache nicht
ausführbar (Erubin VI, 1). Man wußte jedoch auch hier zu helfen. Einem
Heiden kann sein Besitzrecht abgemietet, und ein Sadduzäer kann veran-
454 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [386. 387]
Makkoth I, 6: „Falsche Zeugen werden nur dann hingerichtet, wenn be-
reits das Urteil über den von ihnen Angeschuldigten gefallt worden. Die
Zaddukim sagen nämlich: Nur dann, wenn er bereits hingerichtet worden;
weil es heißt {Deut. 19, 21): Seele um Seele. Allein die Gelehrten widerlegten
dies, da es heißt (Deut. 19, 19): Ihr sollt ihm tun, wie er gedachte seinem
Bruder zu tun. Also ist sein Bruder noch da".
Para HI, 3 hat nur der gedruckte Vulgär-Text D^pllS. Die besseren Zeugen
haben ü^o».
Para III, 7: „Man verunreinigte absichtlich den die rote Kuh ver-
brennenden Priester, wegen der Zaddukim, damit sie nicht behaupten, die
Kuh werde nnr von solchen bereitet, die durch den Sonnenuntergang rein ge-
worden".
Nidda IV, 2: „Die Töchter der Zaddukim sind, wenn sie in den Wegen
ihrer Väter wandeln, den Samaritaoerinen gleich. Wandeln sie offenkundig in
den Wegen Israels, so sind sie wie Israelitinen. B. Jose sagt: Sie werden alle
wie Israelitinen angesehen, wenn nicht erwiesen ist, daß sie in den Wegen
ihrer Väter wandeln". |
b) Über Chaber und Am-haarez.
Demai II, 3: „Wer es auf sich nimmt, ein Chaber ("Oft) zu sein, ver-
kauft an den Am-haarez (f^OT B?) weder feuchte noch trockene Früchte,
kauft von ihm keine feuchten, kehrt nicht als Gast bei ihm ein und nimmt
ihn nicht in seinem Gewände als Gast auf. R. Juda sagt: Er darf auch kein
kleines Vieh ziehen 10, nicht leichtsinnig sein mit Gelübden und mit Scherzen,
sich nicht an Toten verunreinigen; muß dagegen im Schulhause aufwarten.
Man erwiderte ihm aber: Dies alles kommt nicht zur Hauptsache".
Demai VI, 6: „Die Schule Schammais sagt: Man verkauft Oliven keinem
anderen als einem Chaber. Die Schule Hillels sagt: Auch wohl einem, der
stets verzehntet. Die Sorgfältigen aus der Schule Hillels richteten sich indeß
hierin nach der Schule Schammais".
DemaiVI, 9: „Wenn ein Chaber und ein Am-haarez ihren Vater, der
ein Am-haarez gewesen, beerben, so kann jener sagen: Nimm du den Weizen
an dieser, ich will den Weizen an jener Stelle nehmen; du den Wein von
dieser, ich den Wein von jener Stelle. Aber er darf nicht zu ihm sagen:
Nimm du Weizen, ich Gerste; du das Feuchte, ich das Trockene"11.
laßt werden, auf dasselbe für den Sabbath zu verzichten (Maimonides, Ä/-
choth Erubin II u. V, 16, Petersburger Übersetzung Bd. II S. 253 ff. 286 f.
Schwarz, Die Tosifta des Tractates Erubin 1882, S. 59 ff.). In der Mi seh Da
ist aber dieser Punkt noch streitig {Erubin VI, 1); und der angeführte Spezial-
fall scheint zu lehren, daß die strengen Israeliten dem Sadduzäer einfach zu-
vorkommen können, während andererseits auch dem Sadduzäer dasselbe
Recht zusteht.
9) So cod. de Rossi 138, die Cambridger Handschrift, und die editio prin*
ceps der Mischna (Neapel 1492).
10) Weil die Schafhirten den fremden Acker nicht schonen.
11) Das Interesse ist dabei die richtige Verzehntung aller Fruchtarten
durch den Chaber.
[387. 388] Die Zeugnisse der Mischna. 455
Demai VI, 12: „Sagt ein Am-haarez zu einem Chaber: Kaufe mir ein
Bündel Kräuter, kaufe mir ein feines Brot, so kann dieser ohne besondere Be-
merkung kaufen und ist frei von der Zehntpflicht. Hat er aber hinzugesetzt:
Dies kaufe ich für mich und jenes für meinen Freund, und sie werden ver-
mengt, so muß er alles verzahnten, selbst wenn letzteres hundert wären
(nämlich hundertmal so viel wie seine eigenen)".
Schebiüh V, 9 «=- Gittin V, 9: „Eine Frau darf einer anderen, die wegen
Schebiith (Genuß von Früchten des siebenten Jahres) verdächtig ist, ein Mehl-
sieb und ein Kornsieb, eine Handmühle und einen Ofen leihen; aber nicht
ihr lesen oder mahlen helfen. Die Frau eines Chaber darf der Frau eines
Am-haarez ein Mehlsieb und ein Kornsieb leihen, auch ihr lesen und mahlen
und sieben helfen. Aber sobald sie Wasser auf das Mehl gegossen, darf sie
nicht weiter mit anrühren 12, denn man darf die Übertreter nicht unterstützen.
Übrigens hat man dies letztere nur erlaubt um des Friedens willen, wie man
den Heiden im siebenten Jahre zur Arbeit Glück wünschen darf, aber nicht
dem Israeliten u. s. w."
Bikkurim III, 12: „R. Juda sagt: Der Priester darf die Erstlinge nur
einem Chaber als Geschenk geben".
Tohoroth VTI, 4: „Wenn die Frau eines Chaber die eines Am-haarez
in ihrem Hause an der Mühle mahlend verließ, so ist, wenn die Mühle still
steht, das Haus unrein; wenn sie noch mahlt, nur das unrein, was jene mittelst
Ausstreckung der Hand berühren kann. Sind zwei solche Frauen da, so ist
nach B. Meir alles unrein, weil, während die eine mahlt, die andere alles be-j
rühren kann, nach den Gelehrten auch dann nur das, was jede mittelst Aus-
streckung der Hand berühren kann".
Tohoroth VUI, 5: „Wenn die Frau eines Am-haarez in das Haus eines
Chaber eintritt, um dessen Sohn oder Tochter oder Vieh herauszuholen, so
bleibt das Haus rein, weil sie keine Erlaubnis hat, darin zu verweilen".
Die Priester und die Schriftgelehrten sind die beiden
maßgebenden Faktoren, durch welche die innere Entwickelung
Israels seit dem Exil bestimmt ist. Zur Zeit Esras sind sie im
wesentlichen noch identisch. Seit Beginn der griechischen Zeit
gingen sie mehr und mehr auseinander. Um die Zeit der makka-
bäischen Kämpfe entwickelten sich aus ihnen zwei Parteien, die
geradezu in einen scharfen Gegensatz gegeneinander traten. Aus
den Kreisen der Priester ging die sadduzäische Partei hervor,
aus den Kreisen der Schriftgelehrten die Partei der Pharisäer.
Beide Parteien kennen wir namentlich aus den Zeugnissen des
Josephus und des Neuen Testamentes als zwei einander feindlich
gegenüberstehende Kreise. Man verschließt sich aber von vorn-
herein das Verständnis ihres Wesens, wenn man den Gegensatz
zwischen beiden als einen wirklich begrifflichen auffaßt. Die
Pharisäer sind ihrem Wesen nach die streng Gesetzlichen,
12) Der Grund liegt hier in den Gesetzen über rein und unrein. S. die
Kommentare.
456 § 26- Pharisäer und Sadduzäer. [388. 389]
die Sadduzäer aber sind zunächst nichts anderes als die Aristo-
kraten, die durch die geschichtliche Entwicklung allerdings zur
Opposition gegen die pharisäische Gesetzlichkeit gedrängt worden
sind, bei denen aber dies letztere nicht das eigentlich grundlegende
Moment ihres Wesens bildet Man gewinnt daher ein schiefes Bild,
wenn man die Differenzen zwischen beiden Punkt für Punkt ein-
ander gegenüberstellt Die Charakteristik der Pharisäer hat viel-
mehr auszugehen von ihrer gesetzlichen Richtung, die der
Sadduzäer von ihrer sozialen Stellung13.
I. Die Pharisäer,
Die Pharisäer sind ihrem Wesen nach einfach diejenigen, welche
es mit der Auslegung und Beobachtung des Gesetzes besonders
genau nehmen, also die streng Gesetzlichen, die sichs auch
Mühe und Entbehrungen kosten ließen, das Gesetz pünktlich zu
erfüllen. „Sie gelten dafür, mit Genauigkeit die Gesetze auszu-
legentt ". „Sie | tun sich etwas zugute auf die genaue Auslegung
des väterlichen Gesetzes" 15. „Sie verzichten auf den Lebensgenuß
und geben sich in nichts der Bequemlichkeit hin" 16. Sie sind also
diejenigen, welche das von den Schriftgelehrten aufgestellte Ideal
eines gesetzlichen Lebens mit Ernst und Konsequenz auch praktisch
durchzuführen sich bestrebten. Damit ist schon gesagt, daß sie
die klassischen Repräsentanten derjenigen Richtung sind,
welche die innere Entwickelung Israels in der nachexi-
lischen Zeit überhaupt eingeschlagen hat Was von dieser
überhaupt gilt, gilt in spezifischer Weise von der pharisäischen
Partei. Sie ist das eigentliche Kernvolk, das sich von der übrigen
Masse nur durch größere Strenge und Konsequenz unterscheidet.
Die Basis all ihrer Bestrebungen ist darum das Gesetz in der-
jenigen komplizierten Ausbildung, weiche ihm durch die jahr-
hundertelange Arbeit der Schriftgelehrten gegeben worden war.
Dieses pünktlich durchzuführen, ist der Anfang und das Ende all
13) Der oben ausgesprochene Gedanke, daß der Gegensatz zwischen bei-
den kein begrifflicher ist, ist zum erstenmal voq Wellhausen präzise for-
muliert worden.
14) Bell. Jud. II, 8, 14: ol (xexa ascgißelaq öoxovvzsq it-qyeto&ai xä vö-
futua. — Vita 3S: <ft tigqI xä ndxQia vößifxa öoxovai xojv &)Jkwv dxQißslq
6ia<p&QUv. — Vgl. Apgesch. 22, 3. 26, 5. Phil. 3, 5.
15) Antt. XVII, 2, 4 : in tqaxQißhosi fiiya <pgovovv xov naxgiov vöfiov.
16) Antt. XVIII, 1, 3: x^v öiavxav i£evxeXi£ovoiv, ohSlv etg xb fiaXaxw-
xbqov SvöiSövzeq.
[389. 390] L Die Pharisäer. 457
ihrer Bestrebungen. Zur Charakteristik des Pharisäismus dient
daher alles das, was aber die Ausbildung des jüdischen Rechtes
durch die Arbeit der Schriftgelehrten bereits oben (§ 25, III) aus-
geführt worden ist; ferner auch alles das, was über das Wesen
der jüdischen Gesetzlichkeit noch weiter unten (§ 28) mitzuteilen
sein wird. Die dort charakterisierte Gesetzlichkeit ist eben die
pharisäische. — Wie aber der Pharisäismus auf dem Boden des
durch die Schriftgelehrten ausgebildeten Gesetzes ruht, so hat er
seinerseits auch wieder die weitere Entwickelung des jüdischen
Rechtes beherrscht. Nachdem einmal die pharisäische Partei als
solche sich gebildet hatte, sind aus ihrem Schöße alle namhafteren
Schriftgelehrten hervorgegangen; wenigstens alle diejenigen, welche
die Entwickelung für die Zukunft bestimmt haben. Es hat wohl
auch sadduzäische Schriftgelehrte gegeben. Ihre Arbeit hat aber
in der Geschichte keine Spüren zurückgelassen. Die einflußreichen
Schriftgelehrten gehörten alle der pharisäischen Partei an. Das
darf als selbstverständlich vorausgesetzt werden und wird dadurch
bestätigt, daß in den wenigen Fällen, wo überhaupt die Partei-
stellung der Schriftgelehrten namhaft gemacht wird, sie regelmäßig
als Pharisäer bezeichnet werden 17. I
Nach dem Gesagten versteht es sich von selbst, daß die Phari-
säer nicht nur die schriftliche Thora, sondern ebenso auch das
durch die Schriftgelehrten ausgebildete „mündliche Gesetz" für
verbindlich erklärten. Diese ganze Fülle von Satzungen galt ja
nur als die korrekte Auslegung und Weiterbildung der schriftlichen
Thora. Mit dem Eifer für diese war von selbst auch der Eifer für
jene gegeben. So heißt es denn ausdrücklich bei Josephus: „Die
Pharisäer haben dem Volke aus der Überlieferung der
Väter (ix naxtQcov öiadoxTJq) viele Gesetze auferlegt, die
nicht geschrieben sind im Gesetze Mosis"18. Als Johannes
Hyrkan sich von den Pharisäern abwandte, schaffte er die Satzungen
ab, welche die Pharisäer eingeführt hatten xaxa xr\v jtaxQcoav
ütaQadooip, und bei der Restauration unter Alexandra wurden die-
selben wiederhergestellt19. Auch im Neuen Testamente ist das
Wertlegen der Pharisäer auf die jraQaöootg x<bv jtQsoßvxsQcov be-
zeugt (Marc. 7, 3. ML 15, 2). Daß das ganze rabbinische Juden-
tum hinsichtlich dieser jtaQaöootg denselben Standpunkt vertritt,
17) AntL XV, 1, 1: TIoXIlojv 6 tpagtoaioq xal Zaualaq 6 xovxov (Aa&tj-
rrfq. Ebenso Anit. XV, 10, 4. — Apgesch. 5, 34: xlq iv xöj GvveÖQiqt <Pccqi-
aatoq övöfxazi rafiaXi^k. — Jos. Vita 38: 6 6h Siftwv ovzoq ty ndXewq phv
'iepoooXvfjuw, ylvovq 6h a<p6öQa Xa/uTiQOv, xfjq 6h 4*aQiocdatv algioecaq.
18) Anit. XIU, 10, 6.
19) Antt. XIII, 16, 2.
458 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [390. 391]
ist bereits oben (S. 394 f.) gezeigt worden. Die Halacha oder das
traditionelle Recht, wie es durch die Arbeit der Schriftgelehrten
ausgebildet und festgestellt worden ist, wird für ebenso rechtsver-
bindlich erklärt, wie die schriftliche Thora. „R. Eleasar aus Modein
sagte: Wer die Schrift auslegt im Widerspruch mit der Über-
lieferung (nabn? «itö), hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt41 20.
Unter den Ursachen, um derentwillen Kriegsstürme über das Land
kommen, werden u. a. auch genannt „Leute, die das Gesetz auslegen
im Widerspruch mit der Überlief erungtt (HDbn? a&toj)21. Die tra-
ditionelle Auslegung und das traditionelle Recht wird also für
schlechthin bindend erklärt. Und es ist dabei nur konsequent,
wenn die Abweichung von diesem sogar für strafbarer erklärt
wird als die Abweichung von der schriftlichen Thora. „Es ist
strafbarer, gegen die Verordnungen der Schriftgelehrten
zu lehren, als gegen die Thora selbst"22. Wenn die tradi-
tionelle Auslegung bindend ist, so ist ja in der Tat sie, und nicht
das geschriebene Gesetz die entscheidende Instanz. Nichts anderes
als dieses feste Traditionsprinzip des Pharisäismus ist auch ge-
meint mit der schönen Redensart des Josephus, daß die Pharisäer
sich keinen Widerspruch gegen die Anordnungen der dem | Alter
nach Vorangehenden erlauben23. Immerhin ist in diesen Worten
des Josephus noch unendlich viel mehr Einsicht enthalten, als in
der Behauptung Geigers, daß der Pharisäismus „das Prinzip der
fortschreitenden Entwickelungtt sei, und der Protestantismus nur
„das volle Spiegelbild des Pharisäismus4*24.
Wie in der Stellung zum Gesetz, so vertritt der Pharisäismus
auch in den religiösen und dogmatischen Anschauungen
lediglich den orthodoxen Standpunkt des späteren Judentums. Als
charakteristisch für die Pharisäer im Unterschied von den Saddu-
zäern werden in dieser Hinsicht teils von Josephus teils im Neuen
Testamente folgende Punkte hervorgehoben.
1) Die Pharisäer lehren, „daß jede Seele unvergänglich sei,
aber nur die der Guten in einen anderen Leib übergehe, die der
Bösen hingegen mit ewiger Pein gestraft werde*425; oder, wie es
an einer andern Stelle heißt, „sie haben den Glauben, daß den
20) Aboth III, 11.
21) Aboth V, 8.
22) Sanhedrin XI, 3.
23) Antt. XVIII, 1, 3.
24) Geiger, Sadducaer und Pharisäer (Separat- Abdruck) S. 35.
25) Bell. Jud. II, 8, 14. — Daß Josephus den Pharisäern hiermit nicht
die Lehre von der Seelenwanderung zuschreiben will, beweist die fol-
gende Stelle.
[391. 392] L Die Pharisäer. 459
Seelen eine unsterbliche Kraft zukomme, und daß es unter der
Erde Strafen und Belohnungen gebe für diejenigen (Seelen), welche
im Leben der Tugend oder Schlechtigkeit sich hingaben, und daß
den einen ewiges Gefängnis bestimmt sei, den andern aber die
Möglichkeit, ins Leben zurückzukehren"26. Die Sadduzäer da-
gegen sagen, es gebe keine Auferstehung (firj elvai avaaxaoiv
Mt 22, 23. Mc. 12, 18. Lc. 20, 27. Act 23, 8; vgl. 4, 1—2). „Sie
leugnen die Fortdauer der Seele und die Strafen und Belohnungen
in der Unterwelt"27 „Die Seelen vergehen nach ihrer Lehre zu-
gleich mit den Körpern"28. — Was hier von Josephus in philo-
sophierender Manier als Lehre der Pharisäer dargestellt wird, ist
einfach der jüdische Vergeltungs* und Auferstehungsglaube, wie er
schon durch das Buch Daniel (Daniel 12, 2) und von da an durch
die gesamte jüdische Literatur, auch durch das Neue Testament,
als Gemeinbesitz des genuinen Judentums bezeugt ist Die Ge-
rechten werden auferstehen zum ewigen Leben in der Herrlichkeit
des messianischen Reiches, die Ungerechten aber werden mit ewiger
Pein gestraft werden. Der Kern dieses Glaubens ist auch nicht
eine bloße philosophische Schulmeinung in betreff der Unsterblich-
keit, sondern es hängt daran das direkt religiöse Interesse des per-
sönlichen Heiles jedes einzelnen. Dieses erscheint nur garantiert
unter der Voraussetzung der leiblichen Auferstehung. Darum wird
auf diese ein so großes Gewicht gelegt, daß es in der Mischna
sogar heißt: „Wer da sagt, die Auferstehung der Toten sei
nicht vom Gesetz herzuleiten, der hat keinen Anteil an
der zukünftigen Welt"29. Indem die Sadduzäer also die Auf-
erstehung und überhaupt die Unsterblichkeit leugnen, lehnen sie
zugleich die gesamte messianische Hoffnung wenigstens in der-
jenigen Form ab, welche ihr das spätere Judentum gegeben hat
Und es sind nicht die Pharisäer, sondern die Sadduzäer diejenigen,
welche — vom Standpunkte des späteren Judentums aus — eine
Sondermeinung vertreten.
2) Die Pharisäer lehren ferner auch Engel und Geister, die
Sadduzäer leugnen sie (Apgesch. 23, 8). Obwohl diese Angabe
der Apostelgeschichte sich nicht durch anderweitige Zeugnisse be-
stätigen läßt, ist sie doch durchaus glaubwürdig; denn sie stimmt
ganz zu dem Bilde, das wir ohnehin von dem Wesen der beiden
Parteien gewinnen. Daß auch hier die Pharisäer den gemein-
26) Antt. XVni, 1, 3.
27) B. J. H, 8, 14.
28) Antt. XVIII, 1, 4.
29) Sanhedrin X, 1.
460 § 26- Pharisäer und Sadduzäer. [392. 393]
jüdischen Standpunkt der späteren Zeit vertreten, bedarf nicht erst
des Beweises.
3) Auch über die göttliche Vorsehung und die menschliche
Willensfreiheit schreibt Josephns den Pharisäern und Sadduzäern
verschiedene Anschauungen zu. Die Pharisäer „machen alles
vom Geschick und von Gott abhängig und lehren, daß das Tun
und Lassen des Guten zwar größtenteils Sache der Menschen sei,
daß aber zu jeder Handlung auch das Geschick mithelfe" 30. „Sie
behaupten, daß alles durch das Geschick vollbracht werde. Doch
berauben sie den menschlichen Willen nicht der eigenen Tätigkeit
hierbei, indem es Gott gefallen habe, daß eine Mischung stattfinde,
und daß zum Willen des Geschickes auch der menschliche Wille
hinzukomme mit Tugend oder Schlechtigkeit" 3l. „Sie sagen, einiges,
aber nicht alles sei ein Werk des Geschickes; einiges stehe bei
den Menschen selbst, ob es geschehe oder nicht geschehe1*32. —
Die Sadduzäer „leugnen das Geschick ganz und gar und setzen
Gott außerhalb der Möglichkeit, etwas Böses zu tun oder vorzu-
sehen. Sie sagen, daß in des Menschen Wahl das Gute und das |
Böse stehe und das Tun des einen oder des andern nach seinem
Belieben" 33. „Sie leugnen das Geschick, indem sie behaupten, daß
es nichts sei, und daß nicht durch dasselbe die menschlichen Dinge
zustande kommen. Alles vielmehr schreiben sie uns selbst zu, in-
dem wir selbst sowohl des Glückes Ursache seien, als auch das
Übel durch unsere eigene Unbesonnenheit uns zuzögen" 34. — Auf
den ersten Blick scheint es sehr befremdlich, solche Philosopheme
bei den religiösen Parteien Palästinas zu finden; und es entsteht
der Verdacht, daß Josephus nach eigenem Gutdünken nicht nur
religiöse Anschauungen philosophisch gefärbt, sondern geradezu
philosophische Theorien seinen Landsleuten angedichtet hat; ein
30) B. J. U, 8, 14.
31) Antt. XVIII, 1, 3. — Die obige Übersetzung beruht auf der Lesart
td i&eMjoav für Tip iöeXtfoccvti,
32) Antt. XIII, 5, 9.
33) B, J. II, 8, 14. — Die noch von Keim I, 281 verteidigte Lesart tdv
9eöv l£co xov ÖQäv xi xaxdv rj fxij ögäv (für jJ i<poQäv) zi&evzcu ist eine ganz
unnütze Konjektur, die von den neueren Herausgebern mit Recht wieder ver-
lassen ist Das Wort i<pOQäv ist, wie schon Passows Wörterbuch ausweist,
in der gesamten Gräzität der eigentliche technische Ausdruck für die gött-
liche Aufsicht über die Welt, und zwar nicht nur im Sinne des tn8pieorey
sondern auch im Sinne des prospicere, provtdere. Entsprechend ist das hebräische
HB3 in dem weiter unten anzuführenden Ausspruche Akibas.
34) Antt, XIII, 5, 9. — Über naga c. Acc. in der Bedeutung „durch"
(eigentl. „bei") s. Passow II, 669t> oben.
[393. 394] I. Die Pharisäer 461
Verdacht, der sich noch steigert, wenn wir seine Äußerungen über
die Essener hinzunehmen, wonach sich das Schema ergibt, daß
die Essener ein unbedingtes Fatum lehren, die Sadduzäer das Fatum
gänzlich leugnen, die Pharisäer einen Mittelweg zwischen beiden
einschlagen. Und um unsern Verdacht noch weiter zu verstärken,
versichert Josephus anderwärts ausdrücklich, daß die Pharisäer
den Stoikern, die Essener den Pythagoreern entsprächen85. In
der Tat beweist ja schon der Ausdruck elfiaQ^vrj, der für jedes
jüdische Bewußtsein völlig unmöglich ist, daß wir es mindestens
mit einer starken griechischen Färbung jüdischer Anschauungen
zu tun haben Aber es ist eben doch nur das Kleid, das aus
Griechenland geborgt ist. Die Sache selbst ist echt jüdisch. Denn
im Grunde sagt Josephus, sobald wir nur die griechische Form
abstreifen, nichts anderes, als dies: daß nach der Lehre der Phari-
säer alles, was geschieht, durch Gottes Vorsehung geworden ist,
daher auch bei den menschlichen Handlungen, sowohl den guten
als den bösen, ein Mitwirken Gottes anzunehmen sei. Dies ist
aber eine echt alttestamentliche Anschauung. Einerseits nämlich
führt die strenge Fassung des Begriffes der göttlichen Allmacht
dazu, auch die menschlichen Handlungen, sowohl die guten als die
bösen, als von Gott gewirkt vorzustellen. „Der gute sowohl als
der böse | Geist kommt von Gott; er erneuert das Herz und den
Geist, und er ist es auch, der beide verstockt; er treibt den Menschen
zu verkehrten wie zu trefflichen Taten; er läßt ihn reden was gut,
aber auch was böse ist1*36. Andererseits betont das Alte Testa-
ment doch ebensogut auch die sittliche Verantwortlichkeit des
Menschen: er selbst zieht sich Schuld und Strafe zu, wenn er böse
handelt, wie andererseits Verdienst und Lohn, wenn er gut handelt
Und gerade für das spätere Judentum ist die sittliche Selbständig-
keit des Menschen ein Fundamentalgedanke, eine Grundvoraus-
setzung seines gesetzlichen Eifers und seiner Zukunftshoffnung.
Beide Gedankenreihen sind also echt jüdisch. Man ist auch auf
das Problem, das darin liegt, aufmerksam geworden. In sehr starker
und auffälliger Weise betont Jesus Sirach die Willensfreiheit,
offenbar in bewußter Polemik gegen die Behauptung, daß Gott
selbst die Sünde bewirke. Aber derselbe Sirach sagt auch, daß
Gott den Menschen nach seinem Belieben bilde, wie der Töpfer
35) Vüa 2 fin. Antt. XV, 10, 4.
36) Mit diesen Worten ist die alttestamentliche Anschauung zusammen-
gefaßt in der trefflichen Untersuchung von De Visser, De daemonologie van
•het Oude Testament (Utrecht 1880) p. 5—47. Vgl. Theol. Litztg. 1881, coL 26.
Lütgert in der unten genannten Abhandlung S. 55 — 59.
462 § 26- Pharisäer und Sadduzäer. [394]
den Ton37. Ähnliche kürzere Äußerungen finden sich in den salo-
monischen Psalmen 38. So hat überhaupt das Judentum das Problem
der göttlichen Vorsehung und menschlichen Freiheit zum Gegen-
37) Willensfreiheit, Sir* 15| 11—20 (nach Smends Obersetzung):
15, 11. Sage nicht: von Gott kam meine Sünde;
denn er bewirkt nicht, was er haßt
12. Sage ja nicht: er selbst brachte mich zu Fall ;
denn die Frevler sind nicht vonnöten.
13. Böses und Greuel haßt der Herr,
und er laßt es nicht zustoßen denen, die ihn fürchten.
14. Gott hat im Anbeginn den Menschen geschaffen
und überließ ihn seinem freien Willen.
15. Wenn es dir beliebt, hältst du das Gebot,
und Treue ist es, das ihm Wohlgefällige zu tun.
16. Man hat dir vorgesetzt Feuer und Wasser;
strecke deine Hand aus, wohin du willst!
17. Vor dem Menschen liegen Leben und Tod;
was ihm beliebt, wird ihm gegeben.
18. Denn allgenugsam ist die Weisheit des Herrn,
er ist stark an Macht und alles sieht er.
19. Die Augen [Gottes] sehen auf die, die ihn fürchten,
und er kennt alles Tun der Menschen.
20. Er befahl keinem Menschen zu sündigen,
und er stärkt nicht die Anhänger der Lüge.
Gottes freies Belieben, Sir. 36, 10—15:
36, 10: Auch alle Menschen sind von Ton gemacht,
und aus Erde wurde Adam geschaffen.
11. In seiner großen Weisheit machte Gott sie verschieden,
und mannigfaltig gestaltete er ihre Schicksale.
12. Die einen segnete und erhöhte er,
UDd andere heiligte er und brachte sie nahe zu sich,
und andere verfluchte und erniedrigte er,
und stürzte sie von ihrer Stelle.
13. Wie der Ton in der Gewalt des Töpfers ist,
so daß er ihn gestaltet nach seinem Belieben,
so ist der Mensch in der Gewalt seines Schöpfers,
so daß er aus ihm etwas macht nach seiner Bestimmung.
14. Gegenüber dem Bösen steht das Gute, und gegenüber dem Tode das
Leben,
also auch gegenüber dem Gerechten der Gottlose.
15. Und so schaue alle Werke Gottes an:
lauter Gegensätze, eins das Gegenteil vom andern.
Trotz der Betonung der Willensfreiheit betet Sirach doch auch um Be-
wahrung vor Sünde (Sir. 22, 27—23, 6).
38) P8alt. Salom. IX, 7: 6 &ed$f rä igya ^(jl(ov iv ixXoy§ xal i£ovotq Tfjq
ipvxfis tlfitbv, xov noitfoai Öixcuoovvtiv xal aöixlav iv fpyotc £e*pu>v ijfiGw. —
Andererseits V, 6: &v$(>wnQQ xal ft fis^lg aircov nagä aol iv Gta&piip, ob tiqoo-
fr/joei xof) TtXeovdaai nagä rö xpi/aa oov, 6 &e6$.
[394. 395] I. Die Pharisäer. 463
stand seines Nachdenkens gemacht39. Damit ist nun freilich noch
nicht gesagt, daß die drei möglichen Standpunkte (1) unbedingtes
Fatum, 2) unbedingte Freiheit, 3) vermittelnde Ansicht) so sche-
matisch, wie Josephus angibt, von den drei Kreisen der Essener,
Sadduz&er und Pharisäer vertreten worden wären. Dieser Schema-
tismus ist gewiß der schwächste Punkt in der Darstellung des
Josephus. Aber selbst daran kann etwas Wahres sein. Es mag
sein, daß in der Anschauung der Essener der göttliche Faktor, in
derjenigen der Sadduzäer der menschliche Faktor im Vordergründe
stand. Jedenfalls haben die Pharisäer beide Gedankenreihen mit
gleicher Entschiedenheit festgehalten: die göttliche Allmacht und
Vorsehung, und die menschliche Freiheit und Verantwortlichkeit
Daß die eine neben der anderen und trotz der anderen Bestand
habe, wird in einem Ausspruche Akibas ausdrücklich betont: bin
fittfD nw'VT; "^»ä, „alles ist (von Gott) erschaut, aber die Freiheit |
ist (dem Menschen) gegeben**40. Auch hierin vertreten also die
Pharisäer nicht eine Sondermeinung, sondern den korrekten Stand-
punkt des Judentums.
Auch in der Politik ist der Standpunkt der Pharisäer der echt
jüdische, nämlich der, die politischen Fragen nicht von politischen,
sondern von religiösen Gesichtspunkten aus zu behandeln. Eine
„politische** Partei sind die Pharisäer überhaupt nicht; wenigstens
nicht direkt Ihre Ziele sind keine politischen, sondern religiöse:
die strenge Durchführung des Gesetzes. Insofern diese nicht ge-
hindert wurde, konnten sie sich jedes Regiment gefallen lassen.
Nur wenn die weltliche Macht die Ausübung des Gesetzes, und
zwar in jener strengen Weise, welche die Pharisäer forderten, ver-
hinderte, sammelten sie sich zum Widerstand gegen dieselbe und
wurden dann in gewissem Sinne allerdings eine politische Partei,
welche der äußeren Gewalt auch äußeren Widerstand entgegen-
setzte. Das geschah nicht nur zur Zeit der Bedrückung durch
39) S. bes. Hamburger, Real-Enz. Abt. II, S. 102ff. (Artikel „Bestim-
mung"). Bacher, Die Agada der Taunaiten, Bd. IT, Sachregister Art. „Willens-
•freiheit". Bald ensp erger, Die messianisch-apokalyptischen Hoffnungen des
Judentums 1903, S. 78—82 (weist auf das starke Hervortreten einer determi-
nistischen Anschauung hin). Lütgert, Das Problem der Willensfreiheit in
der vorchristlichen Synagoge (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie
X, 2, 1906, S. 53—88). Vgl. ferner: Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils H,
111 ff. Langen, Das Judentum in Palästina S. 381 ff Bousset, Die Religion
des Judentums 2. Aufl. 1906, S. 465 i, — Auch der Apostel Paulus ist ja
ein Beweis dafür, wie sehr das fragliche Problem das jüdische Bewußtsein be-
schäftigte.
. 40) Aboih III, 15. — Derenbourg, p. 127 not. verweist auch auf Siphre § 53.
464 § 26. Pharisäer und Sadduxaer. [396. 396]
Antiochus Epiphanes, sondern namentlich auch unter den jüdischen
Fürsten Johannes Hyrkan und Alexander Jannäus, da diese von
ihrem sadduzäischen Standpunkte aus die pharisäischen Satzungen
bekämpften. Andererseits hatten die Pharisäer unter Alexandra,
die ihnen ganz die Herrschaft ließ, eine leitende Stellung in der
Begierung, die sie aber auch nur zur Durchführung ihrer religiösen
Forderungen benützten. Die Politik als solche war ihnen immer
relativ gleichgültig. Doch ist anzuerkennen, daß es zur Beur-
teilung der politischen Lage, namentlich zu der Zeit, als Israel
unter heidnischem oder heidenfreundlichem Begimente stand, zwei
verschiedene. religiöse Gesichtspunkte gab, die, je nachdem man
den einen oder den andern in den Vordergrund stellte, zu einem
entgegengesetzten Verhalten führen konnten. Man konnte entweder
ausgehen von der Idee der göttlichen Vorsehung. Dann ergab
sich der Gedanke, daß gerade auch die Herrschaft der Heiden
über Israel eine von Gott gewollte sei Gott hat den Heiden Macht
gegeben über sein Volk, um es zu strafen für seine Übertretungen.
Diese Herrschaft der Heiden wird darum auch nur so lange dauern,
als Gott es will Darum hat man sich zunächst unter diese Zucht-
rute Gottes willig zu beugen; man hat auch ein heidnisches und
überhaupt ein hartes Regiment willig zu tragen, soweit nur nicht
die Beobachtung des Gesetzes dadurch gehindert wird. Von diesem
Standpunkte aus haben z. B. die Pharisäer Pollio und Samaias ihren
Mitbürgern empfohlen, sich unter das Regiment des Herodes zu
beugen 4 '. Auch zur Zeit des großen Aufstandes gegen die Römer |
sehen wir die vornehmsten Pharisäer wie Simon Sohn Gamaliels
an der Spitze jener vermittelnden Partei, die den Aufstand nur
mitmacht, weil sie dazu gezwungen wird, im Grunde ihres Herzens
aber gegen denselben ist42. Zu einem ganz andern Resultate mußte
man aber freilich kommen, wenn man den Gedanken der Erwäh-
lung Israels in den Vordergrund stellte. Dann mußte die Herr-
schaft der Heiden über das Volk Gottes als eine Abnormität er-
scheinen, deren Beseitigung mit allen Mitteln zu erstreben sei
Israel hat keinen andern König über sich anzuerkennen als Gott
allein und den von ihm gesalbten Herrscher aus Davids Hause.
Die Herrschaft der Heiden ist eine widerrechtlich angemaßte. Von
diesem Standpunkte aus war es nicht nur fraglich, ob man ver-
pflichtet, sondern sogar ob man berechtigt sei zum Gehorsam gegen
die heidnische Obrigkeit und zum Zahlen des Zinses an dieselbe
41) Antt. XIV, 9, 4. XV, 1, 1.
42) Vgl. über Simon B. J. IV, 3, 9. Über die regierungsfreundliche
Stellung des damaligen offiziellen Judentums überhaupt s. oben & 360 £
[396. 397] I. Die Pharisäer. 465
(ML 22, 17 ff. Mc. 12, 14 ff. Luc. 20, 22 ff). Von diesem Standpunkte
aus hat, vie es scheint, auch die Masse der Pharisäer dem Herodes
den Eid verweigert43. Man darf annehmen, daß dies der eigent-
lich populäre Standpunkt war, wie beim Volk so auch bei den
Pharisäern. Er mußte es schon deshalb sein, weil jedes nicht-
pharisäische Regiment, auch wenn es die Ausübung des Gesetzes
nicht hinderte, doch immer eine gewisse Gefährdung seiner freien
Ausübung mit sich brachte. So war es denn auch ein Pharisäer
Saddukos, der in Gemeinschaft mit Judas Galiläus die Umsturz-
partei der Zeloten begründet hat44. So sehr also der Pharisäis-
mus der Politik zunächst indifferent gegenüber steht, so kommt
doch die revolutionäre Strömung, welche im Zeitalter Christi mehr
und mehr Boden im jüdischen Volke gewann, wenigstens indirekt
auf Rechnung seines Einflusses46.
Die ganze bisherige Charakteristik hat für den Pharisäismus
nichts Eigentümliches ergeben, wodurch er sich von dem nach-
exilischen Judentum überhaupt unterschieden hätte. Sofern er nur
als geistige Richtung in Betracht gezogen wird, ist er einfach
identisch mit der Richtung, welche das Judentum der nachexili-
schen | Zeit, wenigstens in seiner Hauptmasse und in seinen klassi-
schen Repräsentanten, überhaupt eingeschlagen hat Aber er bildet
nun doch eine Partei innerhalb des Volkes, eine ecclesiola
in ecclesia. An einer der beiden Stellen, wo Josephus oder viel-
mehr sein Gewährsmann Nikolaus Damascenus von der Eidver-
weigerung der Pharisäer spricht, bezeichnet er sie als ein (ioqiov
xi 'iovöcuxdiv avd-QcojtoDv und gibt ihre Zahl auf sechstausend
an46. Das läßt doch auf eine bestimmte Abgrenzung ihres Kreises
schließen. Auch im Neuen Testamente und bei Josephus erscheinen
die Pharisäer deutlich als eine bestimmte Fraktion innerhalb des
Volkes. Auf dieselbe Tatsache führt aber auch ihr Name. Er
lautet hebräisch D^tonnfi47 oder aramäisch "pttrnfi, statemphat. KjlJ'nfi,
wovon griechisch <PaQioaioi. Daß dies wörtlich „Abgesonderte"
bedeutet, ist zweifellos. Fraglich kann nur sein, welche Beziehung
43) Antt. XV, 10, 4. XVII, 2,4.
44) Antt, XVIII, 1, 1; vgl. 1, 6.
45) Die beiden oben gezeichneten Auffassungen konnten übrigens auch
nebeneinander hergehen, insofern das Regiment der Heiden einerseits als von
Gott gewollt, andererseits doch als ein Frevel von seiten der Heiden betrachtet
werden konnte. So namentlich im vierten Buche Esra, aber auch sonst
S. Gunkel, Theol. Litztg. 1891, Nr. 1, SpaUe 10 unten (in der Besprechung
von: Kabißch, Das 4. Buch Esra).
46) Antt. XVII, 2, 4.
47) So Jadaflm IV, 6-8. Ohagiga U, 7. Sota HI, 4.
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 30
466 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [397. 396)
dem Begriffe zu geben ist Sind es die von aller Unreinheit
und Ungesetzlichkeit sich Absondernden, oder die von gewissen
Personen sich Absondernden? Für ersteres könnte sprechen, daß
im Rabbinischen auch die Substantivs mhifi und murns vorkommen
in der Bedeutimg „Absonderung** seil, von aller Unreinheit48. Allein
wenn nur an die Absonderung von unreinem Wesen ohne jede Be-
ziehung auf Personen zu denken wäre, so hätten andere positive
Bezeichnungen näher gelegen (die „Reinen" oder die „Gerechten"
oder die „Frommen" oder dergL). Entscheidend ist vollends, daß
eine Absonderung von unreinem Wesen immer zugleich
eine Absonderung von unreinen Personen ist Erstere ist
ohne letztere — beim levitischen Reinheitsbegriff — gar nicht
möglich; denn die Unreinheit haftet an den Personen. Man kann
also die Verunreinigung nur vermeiden, wenn man auch die Be-
rührung mit unreinen Personen meidet49. Auch die Beobachtung
der jüdischen Speisegebote fährt notwendig zum äyoQl&oß-ai von
den Personen, wie das Beispiel des Petrus in Antiochien zeigt
(Oal. 2, 12: dycolQi&v tavzov). Ist demnach an die Personen jeden-
falls mit zu denken, so scheint es naheliegend, den Namen abzuleiten
von jener „Absonderung", welche zur Zeit Serubabels und dann
wiederum zur Zeit Esras stattgefunden hat, indem Israel sich ab-
sonderte von den im Lande wohnenden Heiden oder Halbjuden
und ihrer Unreinheit (Esra 6, 21. 9, 1. 10, 11. Nehem. 9, 2. 10, 29) 50.
Mit Recht hat aber Wellhausen dagegen eingewendet, daß diese
Absonderung nichts für die Pharisäer Charakteristisches war.
Dieser Absonderung hat sich damals ganz Israel unterzogen51. Die
Pharisäer müssen aber ihren Namen haben von einer Absonderung,
welche die Masse des Volkes nicht mitmachte; mit anderen Worten
davon, daß sie vermöge einer strengeren Fassung des
Reinheitsbegriffes nicht nur von der Unreinheit derHeir
48) Sabim V, 1: •PKQöaa 'intö'nB *mvb „nachdem er von dem, was ihn
verunreinigt hat, geschieden ist". — Tohoroth IV, 12: rmiö'nÄ mno „Reinheit
des abgesonderten Lebens". — Sola IX, 15: „Seit Babban Gamaliel der Alte
tot ist, gibt es nicht mehr nwn^l H^no". — Aboth III, 13: „R. Akiba sagte:
Gelübde sind ein Zaun ftir die rMö'nii" (d. h. sie dienen zur Erhaltung und
Bewahrung derselben). — Vgl. auch Büchler, Der galiläische Am-haares des
zweiten Jahrhunderts (1906) S. 167.
49) Selbst auf sittlichem Gebiete hängt beides zusammen. Im Interesse
der sittlichen Reinheit ermahnt Paulus die Korinther, die Gemeinschaft mit
unsittlichen Personen zu meiden (II Kor. 6, 17 «=- Je*. 52, 11): i£iX9me ix
fdaov alx&v xal &<poqIo&tjt69 Xtyei xvQioq, xal &xa&aQzov ft^ &m€0&e.
50) Über die Absonderung zur Zeit Esras s. u.a. Köhler, Biblische
Geschichte II, 2, 607—614.
51) Well hausen, Pharisäer und Sadducaer S. 76 ff.
[39a 399] I. Die Pharisäer. 467
den oder Halbjaden, sondern auch von derjenigen Un-
reinheit, welche nach ihrer Auffassung einem großen Teil
des Volkes anhaftete, sich absonderten. In diesem Sinne
heißen sie die Abgesonderten oder Sich- Absondernden. Und das
kann im lobenden wie im tadelnden Sinne gemeint sein. Sie können
sich selbst so genannt haben, weil sie nach Möglichkeit sich fern
hielten von aller Unreinheit und darum auch von der Berührung
mit dem unreinen Volke. Sie können aber aus demselben Grunde
auch im tadelnden Sinne von ihren Gegnern so genannt worden
sein als „die Separatisten", die im Interesse ihrer beson-
deren Reinheit von der Masse des Volkes sich absondern52.
Ursprünglich ist wohl letzteres der Sinn des Namens. | Denn es
52) Diese Auffassung ist auch in den Erklärungen der Kirchenväter und der
Babbinen die vorherrschende, wenn auch mit anderen Gesichtspunkten unter-
mischt S. Clement. Homil. XI, 28: o? eloiv ägwoioftivoi xal xä vöfiifia loq
yoaftftazeZq xwv äkXwv nXelov sldöxeq. — Pseudo-Tertuüian. adv. haer. c. 1:
Pharisaeos, qui additamenta quaedam legis adstruendo a Judaeis divisi
sunt, w%de etiam hoc accipere ipsum quod habent nomen digni fuernnt. — Ort-
genes, Oomment. in Matth. 23, 2 (Opp. ed. Lommatxsch IV, 194): Qui atäem
majus aliquid profitentes dividunt se ipsos quasi meliores a multis, se-
cundum hoc Pkarisaei dicuntur, qui interpretantur divisi et segregati. Phares
enim divisio appellatur. — Idem, Oomment. in Maüh. 23, 23 sq. (Lommatxsch IV,
219 sq.): Similiter Pkarisaei sunt omnes, qui justificant semetipsos, et dividunt
se a caeteris dicentes: noli mihi appropiare, quoniam mundus sunt.
Interpretantur autem Pharisaei, secundum nomen Phares, divisi, qui se ipsos a
caeteris diviserunt. Phares autem dicitur hebraica lingua divisio. — Idem, Oom-
ment. in Matth. 23, 29 (Lommatxsch IV, 233) : rede Pharisaei sunt appellati, id
est praecüi, qui spiritualia prophetarum a corporali historia praeciderunt. —
Idem, Oomment. in Joann. tom. VI c. 13 (Lommatxsch I, 210): Ol 6h <PaoioaXoi,
clze xaxä xb Svofta Svxeq Öiyorj/iivoi xivhq xal ozaoiioöeiq. — Idem, Oomment.
in Joann. tom. XIII, c. 54 /in. (Lommatxsch II, 113): <PaQioala>v 6h xCov äno-
SiyQTjfjiivwv xal xijv &etav hvdxrjxa &7ioXo)Xexözwv' <PaQioaToi yäo hofirivevov-
xac ol SiyoTinhot,. — Epiphanias haer. 16, 1: 'BXiyovxo 6h &aoioaToi 6iä xb
&<pwQio/ub>ovq ehai ahzovq anö ztbv aXXwvy 6iä xfp i&eXoneQiooo&QTjoxetav
xijv nao* ahzolq vevo/iiOfxtvrjv. <Pdoeq yäo xaxä xty cEßoat6a kofirivevexai
a<poQiO(ibq. — Hieronymus contra Luciferianos c. 23 (Opp. ed. VaUarsi II, 197):
Pharisaei a Judaeis divisi propter quasdam obsertaiiones super fluas nomen
quoque a dissidio susceperunt (nach Pseudo - Tertullian , vgl. unten S. 481). —
Idem, Oomment. in Matth. 22, 23 (Vallarsi VII, 1, 177): Pharisaei traditionum
et observationum, quas Uli Sevteowoeiq vooant, Justitium praeferebant, unde et
divisi vocabantur a populo; Sadducaei autem ,' qui interpretantur justi, et
ipsi vendicabant sibi quod non erant. — Nathan ben Jechiel erklärt im Aruch:
isK« p*ip*m •ü'wö ytfn Dan woo isaa «pi nttoio iss tdxs w»ra «in «m»
„Parusch ist einer, der sich absondert von aller Unreinheit und von unreiner
Speise und vom Volk des Landes, das nicht sorgfältig ist mit dem Essen".
Noch anderes s. bei Buxtorf Lex. Ohald. col. 1851 sq. Drusius, De tribus
sectis Judaeorum lib. II, c. 2. De Wette, Archäologie 8. 413.
30*
468 § 26. Pharisäer and Sadduzäer. [399. 400]
ist nicht wahrscheinlich, daß sie diesen sich selbst gegeben haben.
Ihnen hätten doch andere positive Selbstbezeichnungen näher ge-
legen, wie sie in der Tat in der Geschichte zuerst unter dem Namen
der DTon auftreten (s. weiter unten). Ihre Gegner aber nannten
sie die „Separatisten". Daraus erklärt sich auch, daß der Name
in unserer ältesten rabbinischen Quelle, in der Mischna, so selten
vorkommt, und zwar an der Hauptstelle im Munde der Gegner,
sonst nur noch zweimal53. Allerdings zeigt eben die letztgenannte
Tatsache, daß die Pharisäer den einmal eingebürgerten Parteinamen
doch auch ihrerseits akzeptierten. Und das konnten sie ja sehr
yröbl. Denn von ihrem Standpunkte aus war die „Absonderung",
von welcher sie ihren Namen hatten, etwas durchaus Rühmliches
und Gottwohlgefälliges.
Zeigt uns der Name peruschim, daß die Pharisäer von dem
übrigen Volke „sich absonderten", so zeigt uns ein anderer Name,
den sie sich selbst gaben, daß sie unter sich eine enge Gemein-
schaft bildeten. Sie nannten sich schlechtweg chaberim (D'nan)
„Genossen". Dieser Begriff ist nämlich für den Sprachgebrauch
der Mischna und überhaupt der älteren rabbinischen Literatur, ge-
radezu identisch mit dem der peruschim. Es ist aus dem Inhalt
der oben (S. 454 f.) mitgeteilten Stellen ohne weiteres von selbst
deutlich, daß dort überall ein Chaber so viel ist, wie einer, der
das Gesetz, namentlich in betreff der levitischen Reinheit
und der Abgaben an die Priester, pünktlich beobachtet
Und zwar umfaßt der Begriff alle diejenigen, welche dies tun;
also nicht | bloß die Gelehrten von Fach. Denn den Gegensatz
bilden nicht die Ungelehrten54, sondern, wie die angeführten Texte
zeigen, die Masse derer, bei welchen keine pünktliche Beobachtung
des Gesetzes vorausgesetzt werden darf, das „Volk des Landes"
(f n«n D?) 55. Man darf also in jene Stellen der Mischna nicht den
53) Die Hauptstelle ist Jadajim IV, 6 — 8; die beiden anderen Stellen:
Chagiga II, 7. Sota HI, 4.
54) Der Ungelehrte im Unterschied vom Gelehrten heißt tt'vnn, lSt6)tijqt
Bosch haschana II, 8. — Der Begriff des Chaber umfaßt beide, den üVnn
und den Dan. S. Weber, System der altsynagogalen paläst. Theologie S. 122 f.
55) Der Ausdruck Am-haarez kommt schon im Alten Testamente häufig
vor, besonders bei Jeremia, Ezechiel und im zweiten Buch der Könige wie in
den Parallelen der Chronik zu letzterem ; vereinzelt auch in anderen Büchern
(Jerem. 1, 18. 34, 19. 37, 2. 44, 21. 52, 6. 25. Exech. 7, 27. 12, 19. 22, 29.
33, 2. 39, 13. 46, 3. 9. II Reg. 11, 14. 18. 19. 20. 15, 5. 16, 15. 21, 24. 23, 30.
35, 24, 14. 25, 3. 19. II Chron. 23, 13. 20. 21. 26, 21. 33, 25. 36, 1). An
den meisten der angeführten Stellen bezeichnet er das Volk überhaupt im
Unterschied vom König und den obrigkeitlichen Personen. Zu der Elite, von
welcher „das Volk" unterschieden wird, gehören auch die Priester (Jerem. 1,
[400. 401] I. Die Pharisäer. 46Ö
späteren Sprachgebrauch eintragen, wonach ein chaber ein „Kollege"
der Eabbinen, ein Gelehrter ist56. Chaber ist vielmehr dort jeder,
18. 34, 19). Doch bezeichnet der Ausdruck nicht nur die niedrigen Schichten
des Volkes. Vielmehr wird das geringe Volk ausdrücklich y^tin 0? rfc* ge-
nannt (II Reg. 24, 14, eigentlich „das Geringe des Volkes des Landes"; vgl.
die ähnlichen Ausdrücke II Reg. 25, 12. Jerem. 40, 7. 52, 15. 16). — In den
Büchern Esra und Nehemia sind „die Völker der Länder" (nwum •*»?) ein-
fach die Heiden-Völker, wie besonders Esra 9, 1 und Nehem. 9, 30 deut-
lich ist (also nicht Halbjuden, wie ich früher im Anschluß an Smend, Alt-
testamentliche Religionsgeschichte 1893, S. 339 f. und Wellhausen, Israeli-
tische und jüdische Geschichte 1894, S. 122. 125, gesagt habe, s. dagegen
Wellhausen 4. Ausg. 1901, S. 167 Anm.). Aber Angehörige dieser Völker
wohnten zur Zeit des Esra und Nehemia in Palästina und vermischten sich
hier durch Heirat mit den Israeliten. Daher ist nun nicht nur von den „Völkern
der Länder" {Hur. msr«n i», Esra 3, 3. 9, 1—2. 11. Nehem. 9, 30. 10, 29),
sondern auch von den „Völkern des Landes" (Sing. piHri ^»3?, Esra 10, 2.
11. Nehem. 10, 31. 32) die Bede. Es sind die im jüdischen Lande wohnenden
Nicht -Juden. — Der spätere rabbinische Sprachgebranch ist teils mit dem
der älteren kanonischen Bücher, teils mit dem der Bücher Esra und Nehemia
verwandt; mit ersterem, sofern nicht von den Völkern, sondern von dem
Volke des Landes (^Nri D3>) gesprochen wird; mit letzterem, 6ofern damit
die nicht-gesetzlich lebenden im Unterschied von den gesetzlich lebenden ge-
meint sind. Es ist das im Lande wohnende Volk im Unterschied von
der engeren Gemeinschaft der Streng-gesetzlichen. Der kollektivi-
sche Sing. D9 wird aber jetzt auch von dem Einzelnen gebraucht. Man sagt
„ein Am-haarez" (d. h. Einer vom Volk des Landes). S. überh. Demai I, 2. 3.
II, 2. 3. IH, 4. VI, 9. 12. Schebiith V, 9. Maaser scheni in, 3. IV, 6. Gha-
giga H, 7. Qittin V, 9. Edujoth I, 14. Äboth II, 5. III, 10. Horqjoth UI, 8.
Kvrmim III, 6. Tohorolh IV, 5. VII, 1. 2. 4. 5. VIII, 1. 2. 3. 5. Maehschirin
VI, 3. Tebuljom IV, 5. Geiger, Urschrift S. 151. Weber, System S. 42— 44.
Wünsche, Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien S. 527 f. Ham-
burger, Reai-Enz. II, 54 — 56 (Artikel: „Amhaarez"). Rosenthal, Vier apo-
kryphische Bücher (1885) S. 25—29. Friedlaender, Les pharisiens et les
gern du peuple (Revue des Studes juives t. XIH, 1886, p. 33—44). Bacher, Die
Agada der Tan nahen Bd. II, 1890, Sachregister Art. „Amhaarez". Montefiore,
Leotures on the origin and growth of religion as iüustrated by the religion of
the aneient Hebrews, 1892, p. 497— 502. Büchler, Der galiläische lAm~hayAref
des zweiten Jahrhunderts, 1906 (338 S., davon S. 1—213 auch als XIII. Jahres-
bericht der israelitisch- theologischen Lehranstalt in Wien) [die weitschweifige
Arbeit steht ganz im Dienste verkehrter Hypothesen, s. Theol. Litztg. 1906,
619 f.]. Die ältere Literatur bei Jo. Chrstph. Wolf, Ourae philol. in Nov. Test.
zu Joh. 7, 49. S. überh. die Ausleger zu Joh. 7, 49 (Light foot, Schöttgen,
Wetstein, Lampe u. a.).
56) Schon in der rabbinischen Literatur des 3. und 4. Jahrh. n. Ohr. be-
zeichnet der Ausdruck „die Genossen" (K^an) häufig die um einen hervor-
ragenden Gesetzeslehrer versammelten Jünger, ist also gleichbedeutend mit
D^sin (reiches Material hierüber gibt Bacher, Zur Geschichte der Schulen
Palästina^ im 3. und 4. Jahrhundert, in: Monatsschr. f. G. u. W. d. J. 1899,
S. 345 — 360). Daher ist dann chaber ohne nähere Bezeichnung = Gelehrter
470 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [401]
der das Gesetz mit Einschluß der jcapadooeic xa>v jtQsößvreQcov
pünktlich beobachtet, also identisch mit Pharisäer57. Dies läßt
(s. überh. Mendelsohn, Art. Haber in: The Jewish Encyelopedia VI, 121—124).
In diesem Sinne erklärt z. B. Maimonides zu. Demai II, 3: Vabn tnp3 -an
o^-an ö^asn ■nteinb ■anp'» pl Dan. Elias Levita im Tischte s. v. erklärt
•an durch Sin -an „Kollege des Rabbi, d. h. Einer, der zwar die Gelehrten-
Ordination empfangen, aber noch nicht öffentlicher Lehrer ist" (s. die Stelle
z. B. in Ugolini, Thes. XXI, 907; Oarpxov, Apparatus p. 142). An Elias Levita
schließt sich die Mehrzahl der älteren christlichen Gelehrten an; \p. das Ver-
zeichnis derselben bei Ursinus, Antiquitäten Hebraieae c. 8 (Ugolini, Thes. XXI,
007), und bei Oarpxov, Apparatus p. 143. Ich hebe nur folgende hervor: Sca-
liger (Elenchus trihaeresii Serarii c. 10), Buxtorf (Lex. Chald. s. v.), Otho
(Lex. Rabbin. s. v.), Wagen seil (Sota p. 1026 sq.), Vitringa (De synagoga
vetere Lib. II c 10 p. 571). — In der Mischna und den gleichzeitigen Barajthas
hat aber "an noch nicht diese Bedeutung. Zwar kann *an auch hier den
Kollegen (Genossen) eines Gelehrten oder eines Eichten bezeichnen, wenn
sich aus dem Zusammenhang diese Beziehung ergibt (z. B. Edujoth V, 7. San-
hedrin XI, 2). Wo es aber ohne Angabe einer speziellen Beziehung als ter-
minus technicus schlechthin gebraucht wird, da ist es von Dsn n^obn ver-
schieden und bezeichnet einen weiteren Kreis. Schabbath IIa: gbi *>"D nnn
osn wabn nnn ait -an nnn -an nnn „Unter einem Heiden und nicht
unter einem Chaber, unter einem Chaber und nicht unter einem Gelehrten -
Jünger" (die Stelle wird schon im Aruch s. v. -an zur Erläuterung dieses
Begriffes angeführt; über ihren Sinn s. Weber, System S. 142). Beehoroth 30b:
y-\x Dan r»«bn iVwi D^-an a ia&s tapb -ps nwan i-ai ispb «an
D^*an löblö ^3M bspb „Wer die Satzungen der Gemeinschaft (chabenUh) auf
sich nehmen will, der muß dies in Gegenwart dreier Chaberim tun; selbst
wenn er ein Gelehrten -Jünger ist, muß er es in Gegenwart dreier Chaberim
tun". Vgl. auch Bacher a. a. O. S. 345. 357—359.
57) Die Identität von panisch und chaber ergibt sich namentlich aus Ver-
gleichung von Chagiga II, 7 mit Demai II, 3 (s. die Stellen oben S. 453, 454).
An der ersteren Stelle stehen Am-haarez und Parusch sich gegenüber, an
der letzteren Am-haarez und Chaber, und zwar so, daß an beiden Stellen
der Am-haarez der Unreine ist, durch dessen Kleider der Parusch, resp.
der Chaber verunreinigt wird. Offenbar sind also die beiden letzteren iden-
tisch. Mit Recht gibt daher Nathan ben Jechiel im Aruch (s. v. Wifc, und
zwar unter Anführung der Stelle Ohagiga II, 7) zu twi^Ä die Erläuterung:
n-tiiöS ^n^in l^bsiKn •p'unn ))n „Das sind die Chaberim, welche ihre profane
Speise in Reinheit essen". — Vgl. bes. auch die treffliche Erörterung von
Guisius zu Demai II, 3 (in Surenhusius' Mischna I, 83). Edxardus, Trac-
tatus Talmudici Avoda Sara caput secundum (Hamburg 1710), p. 531 — 534.
Light f oo t} Horae hebr. %u Matth. 3, 7 (Opp. II, 271b). Jost, Gesch. des Ju-
dentums I, 204. Geiger, Urschrift S. 122. Weber, System der aitsynago-
galen palästinischen Theologie S. 42 — 46. 77. Edersheim, Thelifeand times
of Jesus the Messiah I, 311 sq. Anklänge an das Richtige finden sich auch
bei Levy, Chald. Wörterb. s. v. K-an Ders., Neuhebr. Wörterb. s. t. -an.
Hamburger, Real-Enz. II, 126—129 (Artikel „Chaber"). Bestritten wird die
Identität von Chaberim und Peruschim z. B. von Montef iore a. a. O. (s.
1401. 402. 403] L Die Pharisäer. 471
uns aber einen tiefen Blick in die Selbst|beurteüung des Pharisäis-
mus ton. Im Unterschied vom gewöhnlichen Volke sind die Phari-
säer die chaberim, die Bundesbrüder, welche die wahre Gemeinde
Israels darstellen. Während nach der Anschauung des Alten Testa-
mentes jeder Israelite ein "Dn des anderen ist, erkennt der Pharisäer
nur den als nnn an, der das Gesetz pünktlich beobachtet58. Es
ist also ein ähnlicher Sprachgebrauch, wie er auf christlichem
Gebiete bei den Pietisten üblich ist. Diese nennen sich auch
schlechthin „die Christen". Sie gestehen dabei den andern viel-
leicht eine gewisse Art von Christentum zu. Aber die eigentlichen
Christen sind doch nur sie. So erkennt auch der Pharisäer nur
den Pharisäer als chaber, als Bundesbruder im vollen Sinne an.
Alles übrige ist „Volk des Landes"59.
Daß die Pharisäer in der Tat, wie ihr Name besagt, von |
dem übrigen Volke sich „absonderten", d. h. den Verkehr mit dem-
selben im Interesse ihrer Reinheit und strengen Gesetzlichkeit
oben Anm. 55), der aber nichts Stichhaltiges gegen die obigen Argumente
vorbringt.
58) "OH ist im Sprachgebrauch der Mischna dasselbe, was im A. T. das
490 häufige sn ist Es ist überhaupt der Genosse, der Angehörige derselben
Kategorie. In Verbindung mit einem Sufäxum läßt es sich oft mit „Seines-
gleichen", „Deinesgleichen" übersetzen oder einfach mit „der Andere". Der
Chaber eines Rabbi ist ein Rabbi, der Chaber eines Priesters ist ein Priester,
der Chaber eines Israeliten ist ein Israelite. Eben darum aber ist „Chaber"
schlechthin, ohne Angabe einer bestimmten Beziehung, so viel wie ein Israelite.
So z.B. Ghullin XI, 2, wo es den Gegensatz zu ^"OJ (Fremder) bildet; auch
in der oben (Anm. 56) aus Schabbaih IIa angeführten Stelle, wo es zwischen
*m und dsn T^abn in der Mitte steht Wenn sich daher die Pharisäer die
ehaberim schlechthin nannten, so erklärten sie damit sich für die eigentliche
und wahre Gemeinde Israels, die Bundesbrüder, während die übrigen nur das
„Volk des Landes" sind.
59) Die Frage „wer ist mein Nächster*' (Lue. 10, 29) ist daher ganz ernst-
haft gemeint. Für das jüdische Bewußtsein war es in der Tat eine wichtige
Frage, wer als Chaber anzuerkennen sei. Eben deshalb darf bei Untersuchun-
gen über den jüdischen Begriff der Nächstenliebe nicht mit dem Wort chaber
als solchem operiert werden, da die Beziehungen dieses Begriffes sehr mannig-
faltige sein können, vielmehr ist aus der Gesamtanschauung festzustellen, wer
in den betreffenden Kreisen als chaber anerkannt worden ist. Dies ist bei
den Verhandlungen zwischen Güdemann und Hilgenfeld über die jüdische
Nächstenliebe weder von der einen noch von der anderen Seite in ausreichen-
der Weise beachtet worden (Güdemann, Nächstenliebe, ein Beitrag zur Er-
klärung des Matthäus-Evangeliums, 1890. Hilgenfeld, Prot Kirchenzeitung
1891, Nr. 38 und 43. Chwolson, Das letzte Passamahl Christi 1892, S. 73—75.
Güdemann, Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. Neue Folge
Jahrg. I, 1893, S. 153-164. Hilgenfeld, Zeitschr. für wissensch. Theol. 1893,
Bd. II, S. 416—429).
472 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [403. 404]
nach Möglichkeit vermieden, wird durch verschiedene Sprüche der
Mischna bestätigt „Die Kleider von Am-haarez sind Midras (un-
rein) für Peruschimtt 60. „Ein Chaber kehrt nicht als Gast bei
einem Am-haarez ein und nimmt ihn nicht in seinem Gewände als
Gast auf"61. „Wenn die Frau eines Chaber die eines Am-haarez
in ihrem Hause an der Mühle mahlend verließ, so ist, wenn die
Mühle still steht, das Haus unrein; wenn sie noch mahlt, nur das
unrein, was jene mittelst Ausstreckung der Hand berühren kann
usw"62 Wenn also die Evangelien erzählen, daß die Pharisäer
sich tadelnd äußerii über Jesu freien Verkehr mit den „Zöllnern
und Sündern44, über sein Einkehren in deren Häusern (Marc. 2,
14—17. Iß. 9, 9—13. Luc. 5, 27—32), so entspricht dies genau dem
hier dargelegten Standpunkte. Die Pharisäer haben sich in der
Tat vom Volke des Landes „abgesondert4*, insofern sie den näheren
Verkehr mit demselben gemieden haben.
Diese Exklusivität des Pharisäismus berechtigt allerdings dazu,
ihn eine atysoig, eine Sonderrichtung zu nennen, wie es so-
wohl im Neuen Testamente (Act. 15, 5. 26, 5) als von Josephus
geschieht Dabei bleibt aber doch bestehen, daß er der legitime
und klassische Repräsentant des nachexilischen Judentums über-
haupt ist Er hat nur mit rücksichtsloser Energie die Konse-
quenzen aus dessen Prinzipien gezogen. Nur diejenigen sind das
wahre Israel, welche das Gesetz aufs pünktlichste beobachten. Da
dies im vollen Sinne nur die Pharisäer tun, so sind nur sie das
eigentliche Israel
Erst jetzt, nach dieser allgemeinen Charakteristik des Phari-
säismus, kann auch die Frage nach seiner Entstehung erhoben
und seine Geschichte kurz skizziert werden. Seinem Wesen
nach ist er so alt als das gesetzliche Judentum überhaupt So-
bald einmal die pünktliche Beobachtung des Zeremonialgesetzes
als das eigentliche Wesen des religiösen Verhaltens angesehen
wird, ist der Pharisäismus im Prinzip vorhanden. Eine andere
Frage ist aber, wann er zuerst als eine Sonderrichtung, als
eine Fraktion innerhalb des jüdischen Volkes aufgetreten
ist Und in diesem Sinne läßt er sich nicht weiter hinauf ver-
folgen als bis in die Zeit der makkabäischen Kämpfe. An diesen
beteiligten sich, wenigstens | in der ersten Zeit, auch die „From-
men" (pl 'Aoiöaloi, d. h. o^pn), die deutlich als eine besondere
60) Chagiga II, 7.
61) Demai II, 3.
62) Tohoroth VII, 4» — Vgl. überhaupt die in Anm. 55 angeführten
Stellen.
[404. 405] I. Die Pharisäer. 473
Fraktion innerhalb des Volkes erscheinen (I Makk. 2, 42. 7, 12 ff.).
Sie kämpfen zwar an der Seite des Jndas für die väterliche Religion,
aber sie sind nicht identisch mit der makkabäischen Partei63.
Offenbar vertreten sie, wie aus ihrem Namen zu schließen, die
strengste Sichtung, die mit besonderem Eifer auf Beobachtung des
Gesetzes hielt. Sie sind also dieselbe Partei, die uns einige
Dezennien später unter dem Namen der „pharisäischen"
wieder begegnet Wie es scheint, hatten sie in der griechischen
Zeit, als die vornehmen Priester und die Obersten des Volkes hin-
sichtlich des Gesetzes eine immer laxere Richtung einschlugen,
sich enger verbunden zu einer Gemeinschaft solcher, welche die
pünktlichste Beobachtung des Gesetzes sich zur Pflicht machten.
Als dann die Makkabäer die Fahne erhoben zum Kampf für den
Glauben der Väter, haben auch diese „Frommen" sich an demselben
beteiligt; aber doch nur so lange, als wirklich für den Glauben
und das Gesetz gekämpft wurde. Als dies nicht mehr der Fall
war, und das Ziel des Kampfes mehr und mehr die nationale
Selbständigkeit wurde, scheinen sie sich zurückgezogen zu haben.
Wir hören daher nichts mehr von ihnen unter Jonathan und Simon.
Erst unter Johannes Hyrkan treten sie wieder auf, und zwar
nun unter dem Namen der „Pharisäer"; aber nun nicht mehr an
der Seite der Makkabäer, sondern in feindlichem Gegensatz zu
ihnen. Die Entwickelung der Dinge hatte dahin geführt, daß die
priesterliche Familie der Makkabäer eine politische Dynastie be-
gründete. Die alte hohepriesterliche Familie war verdrängt worden.
In ihr politisches Erbe traten die Makkabäer oder Hasmonäer.
Eben damit fielen ihnen aber auch wesentlich politische Aufgaben
zu. Die Hauptsache war für sie jetzt nicht mehr die Durchführung
des Gesetzes, sondern die Erhaltung und Erweiterung ihrer poli-
tischen Machtstellung. Die Verfolgung dieser politischen Ziele
mußte sie aber immer mehr von ihren alten Freunden, den „Chasi-
dim" oder „Peruschim", trennen. Nicht als ob sie abgefallen wären
vom Gesetz. Aber eine weltliche Politik war an sich kaum ver-
einbar mit jener gesetzlichen Ängstlichkeit und Peinlichkeit, welche
die Pharisäer forderten. Es mußte über kurz oder lang zum Bruch
zwischen beiden Bestrebungen kommen. Dieser Bruch erfolgte
unter Johannes Hyrkan. Während derselbe sich noch im Anfang
seiner Regierung zu den Pharisäern | hielt, sagte er sich später
von ihnen los und wandte sich den Sadduzäern zu. Die Veran-
63) Dies ist namentlich von Wellhausen (S. 78—86) treffend nachge-
wiesen worden, der eben darum mit Recht die Chasidaer mit den Pharisäern
identifiziert.
474 § 26. Pharisäer und Sadduzaer. [405. 406]
lassung zum Bruch wird von Josephus zwar in sagenhafter Weise
erzählt64. Die Tatsache selbst, daß es unter Hyrkan zum Um-
schwung kam, ist aber durchaus glaubhaft So finden wir denn
die Pharisäer von nun an als die Gegner der hasmonäischen
Priester-Fürsten. Sie waren es nicht nur unter Johannes Hyrkan,
sondern auch unter Aristobul I. und besonders unter Alexander
Jannäus. Unter diesem, der als ein wilder Kriegsmann die reli-
giösen Interessen ganz hintansetzte, kam es sogar zur offenen Re-
volution. Sechs Jahre lang lag Alexander Jannäus mit seinen
Soldtruppen im Kampf gegen das von den Pharisäern geleitete
Volk65. Was er schließlich erreichte, war doch nur die äußere
Einschüchterung, nicht die wirkliche Überwindung des Gegners:
die Pharisäer hatten mit ihrer Betonung der religiösen Interessen
die Masse des Volkes auf ihrer Seite. Es ist daher nicht zu ver-
wundern* daß Alexandra, um Frieden zu haben mit ihrem Volk,
den Pharisäern die Herrschaft überließ. Deren Sieg war jetzt ein
vollständiger: die ganze Leitung der inneren Angelegenheiten lag
in ihren Händen. Alle von Hyrkan abgeschafften pharisäischen
Satzungen wurden wieder eingeführt: sie beherrschten vollständig
das öffentliche Leben des Volkes 66. Und dabei blieb es im wesent-
lichen auch für alle Folgezeit Unter allem Wechsel der Regie-
rungen, unter Römern und Herodianern, behaupteten die Pharisäer
ihre geistige Hegemonie. Sie hatten die Konsequenz des Prinzipes
für sich. Und diese Konsequenz verschaffte ihnen das geistige
Übergewicht Zwar standen die sadduzäischen Hohenpriester an
der Spitze des Synedriums. Aber tatsächlich hatten nicht die
Sadduzaer, sondern die Pharisäer den maßgebenden Einfluß auf
die öffentlichen Angelegenheiten. So beschreibt uns Josephus wieder-
holt die Situation. Die Pharisäer haben die Menge des Volkes
zum Bundesgenossen67; besonders haben sie die Weiber in ihrer
Hand68. Sie haben den größten Einfluß auf die Gemeinden,
so daß alle gottesdienstlichen Handlungen, Gebete und
Opfer nach ihren Anordnungen geschehen69. Ihre Herr-
schaft über die Massen ist so unbedingt daß sie selbst dann Gehör
finden, wenn sie etwas gegen den König oder den Hohenpriester
sagen 70. | Infolgedessen vermögen sie am meisten den Königen ent-
64) Antt. XIII, 10, 5-6.
65) Antt. XIII, 13, 5.
66) Antt. XHI, 16, 2.
67) Antt. XIII, 10, 6: xö nXfj^oq avfifxaxov t%bvx(»v.
68) Antt. XVII, 2, 4: olq . . . . vnfjxxo % yvvcuxa)vlxi<;.
69) Antt. XVIII, 1, 3: xolg d^ixotq m&avwvaxoi xvy/ävovai x. x. A.
70) Antt. XIII, 10, 5.
(406] IL Die Sadduzäer. 475
gegenzuwirken71. Auch die Sadduzäer halten sich daher in
ihrem amtlichen Wirken an die Forderungen der Phari-
säer, weil andernfalls die Menge sie nicht ertragen
würde72. — Dieser große Einfluß, welchen die Pharisäer tatsäch-
lich ausübten, ist nur die Kehrseite der exklusiven Stellung, die
sie sich selbst gaben. Gerade deshalb, weil sie ihre Forderungen
so hoch spannten und nur diejenigen als vollbürtige Israeliten an-
erkannten, die das Gesetz nach der vollen Strenge ihrer Forderungen
beobachteten, gerade deshalb imponierten sie der Menge, «die in
diesen exemplarisch Frommen ihr eigenes Ideal und ihre legitimen
Fährer anerkannte.
IL Die Sadduzäer.
Nicht ebenso klar wie das Wesen der Pharisäer liegt das der
Sadduzäer vor Augen. Die spärlichen Angaben, welche die Quellen
uns liefern, lassen sich nur schwer unter einen einheitlichen Ge-
sichtspunkt bringen. Und es scheint, daß dies im Wesen der Sache
begründet ist. Die Sadduzäer sind keine so einheitliche und kon-
sequente Erscheinung wie die Pharisäer, sondern sozusagen eine
zusammengesetzte, welche von verschiedenen Ausgangspunkten aus
zu begreifen ist.
Das hervorstechendste Merkmal ist zunächst dies, daß sie die
Aristokraten sind. Als solche bezeichnet sie Josephus wieder-
holt „Sie gewinnen nur die Wohlhabenden für sich, das Volk
haben sie nicht auf ihrer Seite"1. „Zu wenigen Männjern ist
diese Lehre gelangt, jedoch zu den ersten an Ansehen" 2. Wenn
Josephus hier davon spricht, daß diese „Lehre" nur zu wenigen
gelangt sei, so hängt dies mit seiner ganzen Manier zusammen,
die Pharisäer und Sadduzäer als philosophische Richtungen zu
schildern. Nimmt man diesen aufgetragenen Firnis weg, so bleibt
als tatsächliche Angabe dies, daß die Sadduzäer die Aristokraten
sind, die Reichen (svjcoqoi) und Hochgestellten {ptQmxoi xolq agtco-
fiaoiv). Damit ist auch schon gesagt, daß sie vorzugsweise der
Priesterschaft angehörten. Denn Priester waren es, die seit Beginn
der griechischen, ja seit der persischen Zeit den jüdischen Staat
71) Antt. XVII, 2, 4.
72) Antt. XVIII, 1, 4.
1) Antt. XIII, 10, 6: xohq slnÖQOvq fidvov 7zei96vxQ)v, xd Sh druxoxi-
xdv o$x kndfjLSvov ahxotq 4x6vx<ov.
2) Antt. XVIII, 1, 4: slq öXiyovq avÖQaq olvoq 6 Xöyoq äybcexo, xovq
liivxoi TtQUixovq xolq agitojuaot.
476 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [406. 407]
regierten, wie | überhaupt die Priesterschaft den Adel des jüdischen
Volkes bildete 3. Zum Überfluß bezeugt auch das Neue Testament
und Josephus ausdrücklich, daß die hohenpriesterlichen Familien
jder sadduzäischen Partei angehörten 4. So richtig aber diese, zum
erstenmal von Geiger mit Nachdruck vertretene, Anschauung ist,
so darf sie doch nicht dahin verstanden werden, als ob die Sad-
duzäer die Partei der Priester überhaupt gewesen wären.
Der Gegensatz der Sadduzäer zu den Pharisäern ist nicht ein
Gegensatz der priesterlichen und der strenggesetzlichen Partei,
sondern ein Gegensatz der vornehmen Priester zu den Streng-
Gesetzlichen. Die Pharisäer standen den Priestern an sich keines-
wegs feindlich entgegen. Im Gegenteil, sie haben die gesetzlichen
Bestimmungen über die Einkünfte der Priesterschaft reichlich zu
deren Gunsten ausgelegt und ihnen an Erstlingen, Hebe, Zehnt,
Erstgeburt usw. ihr voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maß
zuerkannt5; auch die größere Heiligkeit und höhere Rangstellung
der Priester in der Theokratie entschieden anerkannt6. Anderer-
seits standen auch die Priester durchaus nicht alle dem Pharisäis-
mus feindlich gegenüber. Es gab wenigstens in den letzten De-
zennien vor und in den ersten Dezennien nach der Zerstörung des
Tempels eine ganze Anzahl Priester, welche selbst dem Rabbinen-
stande angehörten7. Die Gegner der Pharisäer waren demnach
nicht die Priester als solche, sondern nur die vornehmen Priester:
diejenigen, welche durch Besitz und Ämter auch im bürgerlichen
Leben eine einflußreiche Stellung einnahmen.
3) Joseph. Vita c. 1.
4) Apgesch. 5, 17. Antt. XX, 9, 1. Gegen Hol sc her, welcher diese
Notizen als unhistorisch verwirft, s. Theol. Litztg. 1907, 202.
5) Vgl. in der Mischna die Traktate Demai, Terumoth, Maaseroth, Challa,
Btkkurim, Bechoroth.
6) Chagiga II, 7: Die Kleider der Peruschim gelten als Midras (unrein)
für die, welche Hebe essen (d. h. die Priester). — Horajoth HI, 8: ö*np Ina
b&Ottrt •*•&, *nbb. — Auch bei der Schriftlektion in der Synagoge ließ man den
Priestern den Vortritt, Qiitin V, 8.
7) Schon dem Jose ben Joeser wird bezeugt, daß er ein Y*öri unter
der Priesterschaft war {Chagiga II, 7). — Ein Joeser, welcher Tempelhaupt-
mann, also ebenfalls Priester war, gehörte zu der Schule Schammais {Orla H,
12). — Bei Josephus kommt vor ein *Iö%aQoq (Niese: rd^ogoq) hoartxov
yivovq, <Paoi.oaloq xal afaöq {Jos. Vita 39).— Josephus selbst war Priester
und Pharisäer {Vita 1 — 2). — Ferner werden erwähnt ein Rabbi Juda ha-
Kohen {Edujoth Vin, 2), ein Rabbi Jose ha-Kohen {Edujoth VIH, 2. Aboth
II, 8). — Am bekanntesten sind als priesterliche Schriftgelehrte Rabbi Cha-
uanja 0*3 rpn *)30 (s. oben S. 434) und Rabbi Eleasar ben Asarja (s. oben
S. 439). — Auch Rabbi Ismael und Rabbi Tarphon sollen Priester gewesen
sein (s. S. 441 und 444).
[408. 409] II. Die Sadduzäer. 477
Angesichts dieser Tatsache ist es eine ansprechende Vermutung
Geigers (die er freilich für Gewißheit ausgibt), daß die Saddu-
zäer ihren Namen o^jms8, 2a66ovxaiot9 von jenem Priester Zadok
haben, dessen Geschlecht seit Salomos Zeit den priesterlichen Dienst
zu Jerusalem verwaltete. Jedenfalls darf es gegenwärtig als aus-
gemacht gelten, daß der Name nicht, wie man früher vielfach
meinte, von dem Adjektiv p^t abzuleiten ist10, sondern von dem
Eigennamen piis11. Denn bei der ersteren Ableitung bleibt der
Umlaut von i in u unerklärlich12, während andererseits für den
Eigennamen Zadok die Aussprache Zadduk (2addovx, p^t) durch
die übereinstimmenden Zeugnisse der Septuaginta 1S, | des Jose-
8) 80 heißen sie in der Mischna: Jadajim IV, 6 — 7. Erubin VI, 2. Mak-
koth I, 6. Para m, 7. Nidda IV, 2. -- Der Singular lautet Erubin VI, 2
*<pVttt, was im cod. de Rossi 138 T.^-f punktiert ist (Kamez und Pathach werden
in dieser Handschrift oft verwechselt; an den übrigen Stellen ist der Name
nicht vokalisiert).
9) So bei Josephus und im Neuen Testament.
10) So schon manche Kirchenväter, z. B. Epiphanius haer. 14: inovo-
ptd^ovat Sh ovxoi havxovq Saööovxalovq, öy&ev and öixcuoovvtiq xrjq inixX^oecog
dpfKOfjtivijq. SsShx yäo kofXTjvevercu Stxaioavvrj. Hieronymus Oomm. in
Matih. 22, 23 (VaUarsi VII, 1, 177): Sadducaei autem, qui interpretantur justu
— In neuerer Zeit ist die Ableitung von p^X namentlich noch von Deren -
bourg (Histoire p. 78) und Hamburger (Enz. S. 1041) vertreten.
11) Daß dies die einzig mögliche Ableitung ist, hat am sorgfältigsten
Hontet gezeigt (Essai sur les origines des partis sadueien et pharisien p. 45
bis 60). Vgl. ferner außer Geiger auch: Hitzig, Gesch. des Volkes Israel
S. 469, Keim I, 274f., Hanne, Zeitschr. f. wiss. Theol. 1867, S. 167, Haus-
rath, Zeitgesch. I, 118. Bibellex. IV, 520. Wellhausen S. 45ff. Kuenen,
De godsdienst van Israel II, 342 sq. Theol Tifdschr. 1875, 639. Hilgenfeld,
Zeitschr. 1876, S. 136. O ort, De naam Sadduceen {Theol. Tydschr. 1876, p. 605
bis 617). Reuss, Gesch. der heil. Sehr. A. T.'s § 396. Sieffert in Herzogs
Beal-Enz. 2. Aufl. XIH, 230. 3. Aufl. XV, 282. Lagarde, Übersicht über die
im Aramäischen, Arabischen und Hebräischen übliche Bildung der Nomina
(Abhandlungen der Göttinger Gesellsch. der Wissensch. Bd. 35, 1888) S. 225
bis 229.
12) Wiesel er fingiert freilich ein Adjektiv xadduk, für dessen Existenz
er aber den Nachweis schuldig geblieben ist (Stud. u. Krit. 1875, 551).
13) Der Name Zadok kommt im A. T. nach Ausweis von Brechers Kon-
kordanz der Eigennamen (1876) im Ganzen 53 mal vor. Hiervon entfallen zehn
Stellen auf Ezechiel, Esra und Nehemia (Exech. 40, 46. 43, 19. 44, 15. 48, 11.
Esra 7, 2. Nehem. 3, 4, 3, 29. 10, 21. 11, 11. 13, 13). An diesen sämt-
lichen zehn Stellen haben die LXX die Form SaSSovx (nämlich nach
dem richtigen Text, der allerdings an einigen Stellen erst durch Korrektur des
gedruckten Vulgärtextes nach den Handschriften herzustellen ist). Die Rezen-
sion des Lucian hat sogar fast regelmäßig auch an den anderen Stellen 2ad-
öovx. Vgl. die genaue Statistik der handschriftlichen Überlieferung bei La-
garde a. a. O. — Auch im griech. Text der Ascensio Jesajae c. II § 5 lautet
478 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [409]
phus14, und einer vokalisierten Mischnahandschrift15 zweifellos
verbärgt ist Der Parteiname D^pns verhält sich also zu pn&
wie D^orpna zu Boethos oder D^cn^W zu Epikuros. Weniger
sicher ist die andere Frage zu entscheiden, von welchem Zadok
die Sadduzäer ihren Namen haben. Eine apokryphische Legende
in den Aboth de-Babbi Nathan führt sie zurück auf einen angeblichen
Schüler des Antigonus von Socho namens Zadok16. Allein die
Legende ist trotz der lebhaften Verteidigung, die sie noch bei
Baneth gefunden hat17, unbrauchbar 1) schon deshalb, weil die
Aboth de-Babbi Nathan wegen ihres späten Ursprungs als histo-
der Name SaSdovx (The Atnherst Papyri ed. by Orenfell and Hunt 1900, p. 4,
wo die Herausgeber »ehr mit Unrecht die LA der Handschrift SaSocvx in
SaSwx korrigiert haben).
14) Ein Pharisäer SdSdovxog (Niese ZäMwxos) wird Antt. XVIII, 1, 1
erwähnt. Vgl. auch 'Avavlag SaSSovxi Bell. Jud. II, 17, 10. 21, 7, wo 2a6-
Sovxl nicht „Sadduzäer" heißen kann, da der Betreffende nach Vita 39 ein
Pharisäer war.
15) Im cod. de Rossi 138 ist der Name des Rabbi Zadok zwar nur an
der Minderzahl der Stellen vokalisiert; soweit dies aber der Fall ist, lautet
er fast durchweg p^2t (oder p^S, da Pathach und Kamez oft verwechselt
werden); nämlich an folgenden Stellen: Pea II, 4. Terumoth X, 9. Schabbath
XXIV, 5. Pesachim HI, 6. VII, 2. X, 3.
16) Aboth de-Babbi Nathan c. 5: „Antigonus von Socho empfing die
•Überlieferung von Simon dem Gerechten. Er sagte: Gleichet nicht den Knech-
ten, die dem Herrn um des Lohnes willen dienen, sondern seid denen gleich,
die ohne Rücksicht auf Lohn Dienste leisten; und stets sei Gottesfurcht bei
euch, auf daß euer Lohn doppelt sei in der Zukunft Antigonus von Socho
hatte zwei Schüler, welche seinen Ausspruch lehrten, Sie trugen ihn ihren
Schülern vor, diese wieder ihren Schülern. Da standen sie auf und deutelten
hinterher daran und sprachen: Was dachten sich denn unsere Väter, da sie
so sprachen? Ist es möglich, daß ein Arbeiter den ganzen Tag arbeite und
abends seinen Lohn nicht erhalte? Hätten aber unsere Väter gewußt, daß
es ein kommendes Leben und eine Auferstehung der Toten gibt, sie hätten
nicht so gesprochen. Da standen sie auf und sagten sich los von der Thora,
und es zweigte sich von ihnen ausgehend eine zweifache Spaltung ab: Sadoj-
käer und Boethosäer, die Sadokäer nach dem Namen des Sadok, die Boe-
thosäer nach dem Namen des Boethos". — S. die Stelle auch bei Taxier,
Tractatus de pairibus (London 1654) p. 33. Geiger, Urschrift S. 105. Herz-
feld HI, 382. Wellhausen S. 46. Taylor, Sayings of the Jewish Fathers
(1877) p. 126. Baneth, Magazin für die Wissensch. des Judenthums IX. Jahrg.
1882, S. 4 (hier die oben mitgeteilte Obersetzung). — Die Boethosäer
(o^on^n), die auch in der Mischna einmal erwähnt werden (Menachoth X, 3),
haben ihren Namen von der hohenpriesterlichen Familie Boethos zur Zeit
des Herodes (s. oben S. 275). Sie sind also jedenfalls den Sadduzäern ver-
wandt.
17) Baneth, Magazin für die Wissensch. des Juden th. IX, 1882, 8.1—37.
61—95.
[409. 410] II. Die Sadduzäer. 479
rische Quelle für unsere Zeit überhaupt nicht in Betracht kommen
können, 2) weil speziell das über die Boethosäer Gesagte sicher
verkehrt ist (s. Anm. 16), und 3) weil die Legende | gar keine Über-
lieferung, sondern nur eine gelehrte Kombination enthält: die Sad-
duzäer, welche die Unsterblichkeit leugneten, sollen zu ihrer Häresie
gekommen sein durch Mißverständnis jenes Ausspruches des Anti-
gonus von Socho, daß man ohne Rücksicht auf künftigen Lohn das
Gute tun müsse18. Es bleibt demnach nur die Wahl, den Namen
der Sadduzäer entweder abzuleiten von einem uns unbekannten
Zadok, der in unbekannter Zeit die Partei der Aristokraten be-
gründet hat, oder ihn zurückzuführen auf das priesterliche Ge-
schlecht der Zadokiden. Ersteres ist möglich und ist z. B. von
Kuenen (früher), Montet und Lagarde vorgezogen worden 19; aber
letzteres ist doch das wahrscheinlichere20. Die Nachkommen Za-
dok 3 haben seit Salomos Zeit den priesterlichen Dienst im Tempel
zu Jerusalem versehen. Seit der deuteronomischen Beform, welche
alles Opfern außerhalb Jerusalems verpönte, galt der dortige Kultus
als der allein legitime. Eben darum erkennt Ezechiel in seinem
Idealbild der Theokratie allein den „Zadokiden" (piis ^53) das
Becht zu, als Priester im Tempel zu Jerusalem zu fungieren
(Exech. 40, 46. 43, 19. 44, 15. 48, 11). Diese Forderung Ezechiels ist
bei der Wiederherstellung des Kultus nach dem Exil zwar nicht
ganz durchgedrungen, indem auch ein Teil der andern Priester-
geschlechter seine alten Bechte geltend zu machen wußte21. Aber
die Zadokiden bildeten doch den Kern und Hauptbestandteil der
Priesterschaft in der nachexilischen Zeit Dies sieht man nament-
lich auch daraus, daß der Chronist in seiner Genealogie das Haus
Zadoks auf Eleasar, den älteren Sohn Aarons, zurückführt Er
gibt damit zu verstehen, daß die Zadokiden, wenn nicht den ein-
zigen, so doch den ersten und nächsten Anspruch auf das Priester-
tum hätten (I Ckron. 5, 30—41). Dieses Verfahren des Chronisten
18) Vgl. Well hau Ben S. 46. — Der Ausspruch des Antigonus von Socho,
an welchen die Kombination anknüpft, steht Aboih I, 3. S. oben S. 416.
19) Kuenen, De godsdienst van Israel II, 342*?. Theol Tijdschrift 1875,
639. Montet, Essai p. 59. Lagarde a. a. O. — Später hat Kuenen seine
Ansicht zurückgenommen und sich für die Ableitung der Sadduzäer von dem
Priester Zadok entschieden (Theol. Tijdschr. 1890 p. 37 not — Gesammelte Ab-
handlungen, übers, von Budde 1894, S. 496 Anm.).
20) So alle in Anm. 11 Genannte außer Kuenen (früher), Montet und
Lagarde.
21) Dies ist nämlich daraus zu schließen, daß in der Chronik außer der
Linie Eleasars (das sind die Zadokiden) auch die Linie Ithamars als zum
priesterlichen Dienste berechtigt erscheint (I Chron. 24). Vgl. oben S. 293.
480 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [410. 411. 412]
beweist aber zugleich auch, daß der Name des Ahnherrn jenes
Geschlechtes noch zur Zeit des Chronisten, also in der griechischen
Zeit in lebendiger Erinnerung war. Auch noch Jesus Sirach
preist Gott dafür, daß er „die Söhne Zadoks erwählt hat, Priester
zu sein" (Sir. 51, 12, Vers 9 des im Griechischen und Syrischen
fehlenden Stückes: pDb pn* *>m irnsb TO)22. Eine Partei,
welche sich | an die vornehmen Priester anschloß, konnte
demnach recht wohl die zadokidische oder sadduzäische
genannt werden. Denn wenn die vornehmen Priester auch nur
ein kleiner Bruchteil der piis ^ä sind, so sind sie eben doch die
maßgebenden Repräsentanten derselben. Ihre Richtung ist die
„zadokidische" 23.
Zu dem bisher festgestellten Merkmal des aristokratischen
Charakters der Sadduzäer kommt als weiteres Merkmal zunächst
dies, daß sie nur die schriftliche Thora als verbindlich an-
erkannten, dagegen die gesamte im Lauf der Jahrhunderte
durch die Schriftgelehrten ausgebildete traditionelle Auslegung
und Weiterbildung des Gesetzes nicht anerkannten. „Die
Sadduzäer sagen, nur das habe man für gesetzlich zu achten, was
geschrieben ist. Das aus der Überlieferung der Väter Stammende
hingegen habe man nicht zu beobachten" 24. So weit sind sie von
dem unbedingten Autoritätsprinzip der Pharisäer entfernt, daß sie
es vielmehr für rühmlich halten, ihren Lehrern zu widersprechen 25.
Es handelt sich, wie man sieht, lediglich um eine Verwerfung der
jzaQaöoöic; xmv jcQscßvriQcop, also der ganzen Fülle gesetzlicher
Bestimmungen, welche von den pharisäischen Schriftgelehrten zur
Ergänzung und Verschärfung des schriftlichen Gesetzes ausgebildet
worden waren. Die Angabe mancher Kirchenväter, daß die Sad-
duzäer nur den Pentateuch anerkannt, die Propheten aber ver-
worfen hätten26, | hat in den Worten des Josephus keine Stütze
22) S. Peters, Der jüngst wieder aufgefundene hebräische Text des
Buches Ecclesiasticus (1902) S. 304 ff. Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach,
hebräisch und deutsch 1906, dazu Kommentar 1906, S. 502 f. Obwohl das
Stück im griechischen und syrischen Texte fehlt und einzelne Sätze aus dem
Schmone Esre enthält, ist es doch wohl in seiner Grundlage echt (s. Smend
a. a. O. gegen Peters).
23) Vgl. zum Obigen bes. Wellhausen, Pharisäer und Sadducäer
S. 47—50. Ders., Gesch. Israels I, 127—130. 230 f. — Prolegomena zur Gesch.
Israels 5. Ausg. 1899, S. 122—124 221 f. Auch Kuenen, Zadok en de Zado-
ktetm (TheoL Tijdschr. 1869, p. 463—509).
24) Antt. XIII, 10, 6. Vgl. XVIII, 1, 4.
25) Antt. XVIII, 1, 4.
26) Origenes, Contra Celsum I, 49 (Opp. ed. Lommatxsch XVUI, 93): ol
fjiövov öh Ma>aia>q na^aöexS/uevot zäq ßlßkovq Zapapelq if 2aödovxaloL —
[412] II. Die Sadduzäer. 481
und wird daher von den meisten neueren Gelehrten als irrig an-
gesehen27. An eine wirkliche Verwerfung der Propheten ist in
der Tat wohl nicht zu denken. Aber daß die Sadduzäer nur den
Pentateuch als im eigentlichen Sinne kanonisch haben gelten lassen,
ist wohl möglich 28. — Bei der prinzipiellen Opposition, welche die
Sadduzäer der gesamten pharisäischen Gesetzestradition entgegen-
setzten, haben die einzelnen gesetzlichen Differenzen
zwischen Sadduzäern und Pharisäern nur ein untergeordnetes Inter-
esse. In der rabbinischen Literatur werden eine Anzahl Differenzen
dieser Art erwähnt29. Allein die betreffenden Notizen können zum
Teil überhaupt nicht als historische Überlieferung gelten — so
namentlich die Angaben des sehr späten Kommentares zu Megillath
Taanith. Soweit sie aber glaubwürdig sind, treten sie so vereinzelt
und zusammenhangslos auf, daß ein einheitliches Prinzip in ihnen
Idem, Oomment in Maith. tom. XVII, c. 35 (zu Matth. 22, 29, bei Lommatxsch
IV, 166): xotq Saödovxaioiq fi^j noooieutvoig aXXrjv yga<p^v ij r^v vofxtx^v ....
xovq SaMovxaiovq, r6xi fifj nQootiftevoi xäq i£rjq xtj> vö/uy yoaqwLq nXavwvxai.
— Ibid. tom, XVII c. 36 (zu Matth. 22, 31-32, bei Lommatxsch IV, 169): xal
elq xotizo Sh (ptfoofXEv, Sri fivoia öwäftevoq neol xov vndgx^v tty fiSXXovoav
to>^v xolq dv&Qwnoiq napa(}£o9>ai dnö nooqHjxlbv 6 Änr^p, xovxo oh nenoi'
rjxev öia x6 xovq Eaödovxalovq fiövriv noooleofteu xtyv Ma>o£<oq yoa<p)jv, &<p
ijq ißovXJjfhj avxovq ovXXoyiany övawnfjaai. — Hieronymus, Oomment. in
Matth. 22, 31—32 (Vaüarsi VII, 1, 179): Hi quinque tantum libros Moysis re~
cipiebant, prophetarum vaticinia respuentes. Stultum ergo erat inde proferre
testimonia, cujus auctoritaiem non sequebantur — Philo so phumena IX, 29:
nooqJixaiq 6h oh npoaiyovow, &XX' ohtih kxSpoiq xial aocpolq, nX^v uövcp xoj
öiä Mwoicjq v6(*<p, fitjShv hpufjvevovxeq. — Pseudo-Tertullian. adv. haer.
c. 1 : taceo enim Judaismi haereticost Dositheum inquam Samaritanum, qui pri-
mus ausus est prophetas quasi non in spiritu sancto locutos repudiare, taceo
Sadducaeos, qui ex hujus erroris radice surgentes ausi sunt ad hanc haeresim
etiam resurrectionem carnis negare. (Der pseudo-Tertullianische Traktat gehört
wahrscheinlich noch in die erste Hälfte des 3. Jahrb., 8. Bardenhewer, Gesch.
der altkirchl. Literatur II, 384f.) Hiernach fast wörtlich Hieronymus, contra
Luciferianos c. 23 (Vallarsi II, 197): taceo de Judaismi haereticis, qui ante ad-
rentum Christi legem traditam dissiparunt: quod Dosithaeus Samaritanorum
princeps prophetas repudiavit: quod Saddueaei ex iliius radice nascentes etiam
resurrectionem carnis negaterunt.
27) Verteidigt ist sie noch z. B. von Serarius, Trihaeresium Lib. II
c. 21. Gegen ihn s. Scaliger, Elenchus trihaeresii Serarii c. 16, Drusius,
De tribus sectis Judaeorum Lib. III c. 9. Mehr Literatur bei Carpxov, Appa-
rat™ p. 2085$. Winer RWB. II, 353f.
28) So Budde, Der Kanon des Alten Testaments (1900), S. 42 f.
29) Vgl. hierüber: Herzfeld III, 385ff. Jost I, 216—226. Grätz 3. Aufl.
III, 652ff. (Note 10). 4. Aufl. S. 693ff. (Note 12). Geiger, Urschrift S. 134ff.
Sadducaer und Pharisäer S. 13 — 25. Derenbourg p. 132 $<7^. Kuenen, De
godsdienst ran Israel II, 4b&sqq. Wellhausen S. 56—75. Hamburger II,
1047 ff. Montet 236*??.
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 31
482 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [412. 413]
nicht zu erkennen ist, namentlich nicht das von Geiger gesuchte
einer Vertretung der priesterlichen Interessen durch die Saddu-
zäer30. Im Kriminalrecht sind nach Josephus die Sadduzäer
strenger, die Pharisäer milder gewesen31. Das kann damit zu-
sammenhängen, daß die ersteren sich streng an den Buchstaben
des Gesetzes hielten, während die letzteren Mittel und Wege fanden,
durch Interpretation die Härten des Gesetzes zu mildern. In einem
von der Mischna erwähnten Punkte gingen die Sadduzäer noch
über die Forderungen des Gesetzes hinaus: sie verlangten Schaden-
ersatz nicht nur wenn jemandes Ochse oder Esel Schaden an-
gerichtet hatte (so Exod. 21, 32. 35 f.), sondern auch wenn jemandes
Knecht oder Magd Schäden angerichtet hatte32. | Andererseits
wollten sie, daß falsche Zeugen nur dann hingerichtet würden, wenn
infolge ihres falschen Zeugnisses der Angeklagte bereits hingerichtet
worden (Deut 19, 19—21), während die Pharisäer es auch schon
dann verlangten, wenn nur das Urteil gefällt war33. Hier sind
also die Pharisäer die strengeren. Man sieht eben, daß die Diffe-
renzen nicht eigentlich prinzipielle sind. Ahnlich steht es bei den
rituellen Fragen. Auch hier kann man von einer prinzipiellen
Differenz nur insofern reden, als die Sadduzäer die pharisäischen
Bestimmungen z. B. hinsichtlich von rein und unrein nicht als
bindend anerkannten. Sie verspotteten ihre pharisäischen Gegner
wegen der Seltsamkeiten und Inkonsequenzen, zu denen ihre Rein-
heitsgesetze führten34. Andererseits erklärten die Pharisäer alle
Sadduzäerinnen „wenn sie in den Wegen ihrer Väter wandeln"
für unrein35. Wie wenig jedoch die Sadduzäer das Prinzip der
levitischen Reinheit an sich verwerfen wollten, sieht man daraus,
daß sie in betreff der Reinheit des die rote Kuh verbrennenden
30) Gegen Geiger s. bes. Wellhausen a. a. O.
31) Antt. XX, 9, 1: Saödovxaiwv , cftneQ elol tcbqI xaq xqioek; fofiol naga
ndvxaq xovq ^ovöaiovq. — Antt. XIII, 10, 6: "AXX&q xe xal <pvoei rcQÖq xäq xo-
läoeiq iniEixtbq hyovaiv 61 <PaQioaToi.
32) Jadajim IV, 7b. — Den Wortlaut dieser und der folgenden Stellen
s. oben S. 452 ff.
33) Makkoth I, 6. — Vgl. Ober die juristischen Differenzen bes. auch
Hol s eher, Der Sadduzäismus S. 22 — 24 u. 30—32, welcher die sadduzäischen
Anschauungen auf römischen Einfluß zurückfuhrt.
34) Nur als Spott können die Jadajim IV, 6 und 7a erwähnten Angriffe
der Sadduzäer auf die Pharisäer gemeint sein. Denn die Sadduzäer wollen
sicher nicht dafür eintreten, daß auch „gegnerische Bücher" die Hände ver-
unreinigen (Jadajim IV, 6), oder daß auch die „Strömung" beim Gießen aus
einem reinen Gefäß in ein unreines für unrein zu erklären sei (Jadajim IV,
7a). Sondern sie verspotten nur die Pharisäer wegen ihrer Absonderlichkeiten.
35) Nidda IV, 2.
[413] II. Die Sadduzäer. 483
Priesters strengere Forderungen stellten als die Pharisäer36. Dies
letztere ist zugleich der einzige Punkt, wo sich ein gewisses
priesterliches Interesse, nämlich das fftr priesterliche Reinheit er-
blicken läßt Hinsichtlich der Festgesetze wird erwähnt, daß
die „Boethosäer" (die als eine Spielart der Sadduzäer zu betrachten
sind) behaupteten, die Pflichtgarbe beim Passafest (Lev. 23, 11) sei
nicht am zweiten Festtag, sondern am Tag nach dem in die Fest-
woche fallenden Sabbath darzubringen37, und dementsprechend das |
36) Para III, 7. Das Gesetz schreibt vor, daß der Priester nach Ver-
brennung der Kuh ein Reinigungsbad nehme; er blieb dann noch unrein Jus
zum Abend (Num. 19, 3—8). Die Sadduzäer wollten, daß der Priester erst
nachdem er durch Sonnenuntergang rein geworden ist, die Kuh verbrenne.
Ihre Ansicht ist also die strengere, nicht die leichtere, wie Hol 8 eher will
(Der Sadduzäismus S. 20 — 22).
37) Menachoth X, 3. — Sie verstanden nämlich unter dem PQTD Lev. 23,
11 nicht den ersten Festtag, sondern den Wochensabbath. Die traditionelle
Auslegung, welche darunter den ersten Festtag, also unter dem „Tag nach
dem Sabbath" den zweiten Festtag versteht, ist schon vertreten durch die LXX
(r# htavQiov xrjs nQ&vriq), Philo de septenario § 20 ed. Mang. II, 294, und Jo-
sepkus Antt. III, 10, 5. Der Ausdruck ist auf alle Fälle befremdlich und nur
daraus zu erklären, daß hier verschiedene Quellen kombiniert sind (s. bes. die
umsichtigen Erörterungen in Dillmanns Kommentar zu Lev. 23, 11, auch
die neueren Kommentare von Baentsch und Bertholet). Über die Geschichte
der Auslegung und speziell über die sadduzäische Ansicht s. Wellhausen
S. 59 f. 67 und überhaupt die oben Anm. 29 genannte Literatur; ferner:
Hitzig, Ostern und Pfingsten I, 1837. II, 1838. Winer, Real worterb. Art.
„Pfingsten". Frankel, Vorstudien zu der Septuaginta 1841, S. 190 f. Ders.,
Über den Einfluß der palästinischen Exegese auf die alexandrin ische Herme-
neutik 1851, S. 136 f. D. Hoffmann, Abhandlungen über die pentateuchischen
Gesetze I, Berlin 1878 (Programm) S. 1—66. Adler, Pharisäismus und Sad-
dueäismus und ihre differierende Auslegung des nawi mrraia (Monatsschr.
für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1878, S. 522 ff. 568ff. 1879, S. 29ff.).
Ritter, Philo und die Halacha 1879, S. 113. Dillmann in Schenkels Bibel-
lex. Art. „Pfingsten". Ders., Die Bücher Exodus und Leviticus 1880, zu Lev.
23, 11. Delitzsch in Riehms Handwörterbuch Art. „Pfingsten". Olitzki,
Flavius Josephus und die Halacha I, 1885, S. 54 f. Chwolson, Das letzte
Passamahl Christi (Mhnoires de VAcad&mie imperiale des scienees de St.-P&ters-
bourg, VHe Serie, tome XLI No. 1, 1892) S. 60—67 (meint, daß die Praxis zur
Zeit Christi sich nach der sadduzäischen Ansicht gerichtet habe, und daß die
pharisäische Ansicht erst in der letzten Zeit des Tempelbestandes durchge-
drungen sei). Hol s eher, Der Sadduzäismus S. 24 — 26. — Nach dem Buch
der Jubiläen 15, 1; 16, 13; 44, 4—5 soll das Erntefest (identisch mit dem
Wochenfest, s. 6, 21; 22, 1) „in der Mitte" des dritten Monats gefeiert werden.
Auf dieses Datum kommt man weder bei der pharisäischen noch bei der
sadduzäischen Auslegung von Lev. 23, 11 u. 15, vielmehr scheint hier unter
dem na» der letzte Festtag der Passawoche, der 21. Nisan, verstanden zu
sein. S. Charles, The book of Jubüees (1902) p. 106 sq. und Theol. Litztg.
1903, 678.
31*
484 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [414. 415]
sieben Wochen später fallende Pfingstfest (Lev. 23, 15) stets am
Tage nach Sabbath zu feiern88. Diese Differenz ist aber eine so
rein schalmäßige, daß sie eben nur die exegetische Ansicht der die
Tradition nicht anerkennenden Sadduzäer zum Ausdruck bringt
Eine „prinzipielle" Bedeutung kommt ihr nicht zu89. Die einzige
Differenz von Bedeutung wird auch in der Festgesetzgebung,
namentlich in der Auslegung des Sabbathgebotes die gewesen
sein, daß die Sadduzäer den Wust der pharisäischen Bestimmungen
nicht als bindend anerkannten40. Auf diese allgemeine Ab-
lehnung der pharisäischen Tradition durch die Sadduzäer
beschränkt sich also überhaupt die prinzipielle Differenz
zwischen beiden. Alles übrige sind Differenzen, wie sie sich
von selbst ergeben mußten, wenn die einen die Verbindlichkeit der
exegetischen Tradition der anderen nicht anerkannten. Man darf |
auch nicht meinen, daß die Sadduzäer die pharisäische Tradition
ihrem gesamten Inhalte nach abgelehnt hätten. Ganz abgesehen
davon, daß sie seit der Zeit der Alexandra mit ihren Anschauungen
in der Praxis nicht mehr durchdrangen, werden sie auch theoretisch
in manchen, vielleicht vielen Einzelheiten mit der pharisäischen
Tradition übereingestimmt haben. Nur die Verbindlichkeit der-
selben leugneten sie und behielten sich das Recht der eigenen
Meinung vor.
In dieser Ablehnung der pharisäischen Gesetzestradition re-
präsentieren die Sadduzäer den älteren Standpunkt Sie bleiben
bei dem geschriebenen Gesetze stehen. Die ganze spätere Ent-
wickelung ist für sie nicht mehr verbindlich. Einen ähnlichen,
88) öhagiga II, 4. — Es ist hier freilich nur im allgemeinen von solchen
die Bede, welche sagen: naion in« mx9 (Pfingsten fallt auf den Tag nach
Sabbath). Daß aber damit die Sadduzäer (Boethosäer) gemeint sind, ist nach
Menachoth X, 3 allerdings anzunehmen.
39) Vgl. Wellhausen S. 59f. — Die Meinung Chwolsons, daß die
sadduzäische Ansicht noch zur Zeit Christi praktische Geltung gehabt habe (s.
Anm. 37), steht im Widerspruch mit LXX, Philo und Josephus.
40) Nach Erubin VI, 2 könnte man freilich meinen, daß die Sadduzäer
die pharisäischen Subtilitäten hinsichtlich der Sabbathfeier auch beobachteten.
Denn es wird dort der Fall als möglich vorausgesetzt, daß ein Sadduzäer
ganz nach pharisäischer Art in einem künstlich abgesperrten Baum vor Sab-
bathanbruch etwas niederlegt, um sich darin das .Recht der freieren Bewegung
für den Sabbath zu sichern. In Wahrheit zeigt aber der Zusammenhang, daß
die Sadduzäer zu denen gehören, welche „das Gesetz vom Erub nicht aner-
kennen" (Erubin VI, 1). Die Absicht des Sadduzäers bei einer solchen Hand-
lung kann also nur die sein, den pharisäischen Nachbar zu ärgern, welchem
durch die Handlung des Sadduzäers der solchergestalt okkupierte Baum ent-
zogen wird.
[415. 416] II. Die Sadduzäer. 435
man kann sagen archaistischen Standpunkt vertreten sie auch in
den religiösen Anschauungen. Das Wesentliche ist hierüber
schon oben (S. 458 ff.) mitgeteilt worden. Sie lehnten 1) den Glauben
an die leibliche Auferstehung und an die Vergeltung in einem
künftigen Leben, ja an eine persönliche Fortdauer des Individuums
überhaupt ab. Sie leugneten 2) auch Engel und Geister. Sie be-
haupteten endlich 3) „daß in des Menschen Wahl das Gute und
das Böse stehe und das Tun des einen oder des anderen nach seinem
Belieben"; daß also Gott keinen Einfluß auf die menschlichen
Handlungen ausübe, daher auch der Mensch selbst Ursache seines
Glückes und Unglückes sei41. — In betreff der beiden ersten
Punkte ist es zweifellos, daß damit die Sadduzäer den ursprüng-
lichen Standpunkt des Alten Testamentes im Unterschied vom
späteren jüdischen vertreten. Denn mit Ausnahme des Buches
Daniel kennt auch das Alte Testament keine leibliche Auferstehung
und keine jenseitige Vergeltung im Sinne des späteren Judentums,
nämlich kein persönliches Heil des einzelnen nach diesem irdischen
Leben und auch keine jenseitige Bestrafung für die Sünden dieses
irdischen Lebens, sondern nur eine schattenhafte Fortexistenz in
der Scheol. Ebenso ist dem Alten Testament auch der Engel- und
Dämonenglaube in der Ausbildung, welche er in der späteren Zeit
erlangt hat, noch fremd. Die Sadduzäer sind also in beiden Be-
ziehungen im wesentlichen auf dem älteren Standpunkte stehen
geblieben. Nur wird man freilich nicht sagen dürfen, daß das
eigentliche Motiv hierbei der konservative Zug, das Hangen am
Alten als solchem war. Vielmehr hatte augenscheinlich die poli-
tische | Machtstellung der Sadduzäer eine gewisse weltliche Ge-
sinnung bei ihnen zur Folge. Sie standen mit ihren Interessen
ganz im Diesseits und hatten nicht ein so intensives religiöses
Interesse wie die Pharisäer. Es ist also das geringere Maß reli-
giöser Energie, welches ihnen den älteren Standpunkt als genügend
erscheinen ließ. Ja es ist wahrscheinlich, daß bei ihnen als den
Hochstehenden und Gebildeten auch aufklärerische Motive mit
im Spiele waren. Je phantastischer sich die religiöse Vorstellungs-
welt des Judentums gestaltete, desto weniger vermochten sie der
Entwicklung auf diesem Wege zu folgen. — Von diesen Gesichts-
punkten aus ist wohl hauptsächlich auch die Betonung der mensch-
lichen Freiheit von Seiten der Sadduzäer zu erklären. Wenn die
41) Halivy, Traces df aggadot saduciennes dans le Talmud (Revue des
ehides juives t. VIII, 1884, p. 38—56) sucht Spuren dieser sadduzäischen An-
schauungen auch im Talmud nachzuweisen. Dieselben sind aber sehr un-
deutlich.
486 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [416. 417]
betreffenden Angaben des Josephus überhaupt Glauben verdienen,
so kann man in dieser stärkeren Betonung der Freiheit auch nur
ein Zurücktreten der religiösen Motive erblicken. Sie wollten den
Menschen auf sich selbst gestellt wissen und lehnten den Gedanken
ab, daß auch bei den menschlichen Handlungen als solchen ein
Mitwirken Gottes stattfinde.
Mit den letzten Ausführungen ist teilweise auch schon an-
gedeutet, wie gerade die hohe Aristokratie zu der als „sad-
duzäisch" bezeichneten Richtung kam. Wir müssen, um die
Genesis dieser Richtung zu begreifen, davon ausgehen, daß die
vornehme Priesterschaft schon in der persischen, namentlich aber
in der griechischen Zeit die Leitung der politischen An-
gelegenheiten in ihrer Hand hatte. Der Hohepriester war das
Oberhaupt des Staates; vornehme Priester standen ohne Zweifel
an der Spitze der Gerusia (des nachmaligen Synedriums). Die
Aufgabe der priesterlichen Aristokratie war also ebenso eine poli-
tische wie eine religiöse. Dies brachte notwendig mit sich, daß
für ihr ganzes Verhalten politische Gesichtspunkte und Interessen
sehr wesentlich mit in Betracht kamen. Je stärker aber diese in
den Vordergrund traten, desto mehr traten die religiösen zurück.
Dies scheint nun namentlich in der griechischen Zeit der Fall ge-
wesen zu sein, und zwar deshalb, weil jetzt die politischen Inter-
essen verknüpft wurden mit den Interessen der griechischen
Bildung. Wer in der damaligen Welt politisch etwas ausrichten
wollte, mußte notwendig mit dem Hellenismus auf einem mehr oder
weniger freundlichen Fuße stehen. So gewann denn auch bei der
vornehmen Priesterschaft zu Jerusalem der Hellenismus mehr und
mehr an Boden. In demselben Maße aber wurde sie den jüdisch-
religiösen Interessen entfremdet Es ist daher begreiflich, daß
Antiochus Epiphanes mit seinen Forderungen gerade in diesen
Kreisen am leichtesten Eingang fand. Ein Teil der hochgestellten
Priester | war ohne weiteres bereit, sogar den jüdischen Kultus
mit dem heidnischen zu vertauschen. Dieser Triumph des Heiden-
tums war nun freilich nicht von langer Dauer: die makkabäische
Erhebung hat ihm ein rasches Ende bereitet. Aber die Tendenzen
der priesterlichen Aristokratie blieben darum im wesentlichen doch
dieselben. Wenn auch vom heidnischen Kultus nicht mehr die
Rede war, wenn auch die eigentlichen Griechenfreunde verdrängt
oder zum Schweigen gebracht waren, so blieb in der priesterlichen
Aristokratie doch nach wie vor die weltliche Gesinnung und
die, mindestens relative Laxheit des religiösen Interesses.
Auf der anderen Seite aber hatte die makkabäische Erhebung eine
Belebung und Kräftigung des religiösen Lebens zur Folge. Die
[417. 418] II. Die Sadduzäer. 487
gesetzesstrenge Richtung der „Chasidäer" gewann mehr und mehr
an Einfluß. Und damit steigerten sich auch ihre Ansprüche. Nur
der sollte als wahrer Israelite anerkannt werden, der das Gesetz
nach der ganzen Strenge der von den Schriftgelehrten gegebenen
Auslegung beobachtete. Je dringender aber diese Forderung ge-
stellt wurde, desto ablehnender verhielten sich die Aristokraten.
Es scheint also gerade der religiöse Aufschwung der makkabäischen
Zeit zu einer festeren Konsolidierung der Parteien geführt zu haben.
Die „Chasidäer" zogen die Konsequenzen ihres Prinzipes und
wurden zu „Pharisäern". Die hohe Aristokratie lehnte eben-
falls bestimmter und prinzipieller als bisher die Errungenschaft
der letzten Jahrhunderte sowohl in der Auslegung des
Gesetzes als in der Entwickelung der religiösen An-
schauungen ab. Sie sahen in der jiaQaöooig ra>v jcQeaßvriQcov
ein Übermaß gesetzlicher Strenge, das sie sich nicht wollten auf-
legen lassen. Und die fortgeschrittenen religiösen Anschauungen
waren ihnen teils bei ihrem weltlichen Sinn entbehrlich, teils bei
ihrer höheren Bildung und Aufklärung unannehmbar. Da die
Hauptvertreter dieser Richtung dem alten Priestergeschlecht der
Zadokiden angehörten, wurden sie und ihr ganzer Anhang von den
Gegnern die Zadokiden oder Sadduzäer genannt.
Unter den ersten Makkabäern (Judas, Jonathan und Simon)
trat diese „zadokidische" Aristokratie notwendig in den Hinter-
grund. Die alte hohepriesterliche Familie, die wenigstens in einigen
ihrer Mitglieder den extremsten griechenfreundlichen Standpunkt
vertreten hatte, war verdrängt Das hohepriesterliche Amt blieb
eine Zeitlang ganz unbesetzt Im Jahre 152 wurde Jonathan zum
Hohenpriester ernannt und damit eine neue hohepriesterliche
Dynastie, die derHasmonäer begründet, die infolge ihrer ganzen
Vergangenheit sich zunächst auf die gesetzesstrenge Partei stützen
mußte. Trotzdem ist schon für die Zeit der ersten Hasmonäer
(Jonathan, | Simon) sicher nicht eine völlige Verdrängung der „Sad-
duzäer*4 vom Schauplatz anzunehmen. Die alte Aristokratie war
durch die Stürme der makkabäischen Zeit zwar von den extremsten
griechenfreundlichen Elementen gereinigt, aber darum nicht mit
einem Male ganz verschwunden. Die emporgekommenen Hasmonäer
mußten sich also mit ihr irgendwie verständigen und ihr wenigstens
einen Teil der Sitze in der „Gerusia" einräumen. Dabei wird es
geblieben sein bis zur Zeit Johannes Hyrkans. Seit Johannes
Hyrkan waren die Sadduzäer sogar wieder die eigentliche Re-
gierungspartei: Johannes Hyrkan, Aristobul L, Alexander Jannäus
folgten ihrer Richtung (vgl. oben S. 473 f.). Die Reaktion unter
Alexandra brachte dann die Pharisäer wieder an die Regierung.
488 § 26. Pharisäer und Sadduzäer. [418]
Aber deren politische Herrschaft war doch nicht von langer
Dauer. So sehr auch die geistige Macht der Pharisäer wuchs: in
der Politik wußte sich die sadduzäische Aristokratie am Ruder
zu erhalten, und zwar trotz des Sturzes der Hasmonäer und trotz
der Proskriptionen des Herodes gegen den alten, mit den Hasmo-
näern verbundenen Adel. Auch die hohenpriesterlichen Familien
der herodianisch-römischen Zeit gehörten der sadduzäischen Partei
an. Wenigstens für die römische Zeit ist dies bestimmt bezeugt42.
Der Preis, um welchen die Sadduzäer in dieser späteren Zeit sich
die Herrschaft zu sichern wußten, war freilich ein ziemlich teurer:
sie mußten sich tatsächlich in ihrem amtlichen Handeln den phari-
säischen Anschauungen akkomodieren. „Getan wird von ihnen so-
zusagen nichts. Denn so oft sie zu Ämtern gelangen, halten sie
sich, wenn auch widerwillig und gezwungen, an das, was die
Pharisäer sagen, weil andernfalls die Menge sie nicht ertragen
würde"43.
Mit dem Untergang des jüdischen Staatswesens verschwinden
die Sadduzäer überhaupt aus der Geschichte. Ihre Stärke war die
Politik. Als keine Politik mehr zu machen war, hatte ihre Stunde
42) Apgesch. 5, 17. Joseph. Antt. XX, 9, 1.
43) Antt XVIII, 1, 4. — Ein völliges Mißverständnis ist es, wenn man
aus den Wortea hat herauslesen wollen, daß die Sadduzäer nur widerwillig
Ämter annahmen (so^ selbst Win er RWB II, 350). Im Gegenteil! Sie hatten
gerade die hohen Amter in Beschlag! Die Worte äxovolwg fxhv xal xax
aväyxaq sind, wie das fxh und 6k beweist, mit dem folgenden zu verbinden.
Vgl. Geiger, Urschrift S. 108 Anm. Ders., Sadducäer und Pharisäer S. 13.
Hanne, Zeitschr. für wissensch. Theol. 1867, S. 176. Keim, I, 282 Anm.
Wellhausen S. 45.
Unter Verwerfung der wichtigsten Zeugnisse hat Hol scher (Der Saddu-
zäismus, 1906) die oben dargelegte, seit Geiger allgemein angenommene Auf-
fassung vom Wesen und der Geschichte des Sadduzäismus bestritten. Er
leitet zwar den Namen auch von den pTi? *OS ab und betrachtet den Saddu-
zäismus als die von den vornehmen Priestern beim Beginn der makkabäischen
Erhebung vertretene Geistesrichtung, welche mit den politischen Machthabern
liebäugelte, fremde Kultur begünstigte und gegen die jüdischen Gebräuche
sich gleichgiltig zeigte (S. 105). Aber er nimmt an, daß die Angehörigen des
Zadokidengeschlechtes durch die makkabäische Erhebung aus Jerusalem
verdrängt worden seien (S. 103 f.), und daß ihre Richtung in der Folgezeit
bis zur Zerstörung Jerusalems durch die Römer unter der vornehmen Priester-
schaft nicht mehr vertreten war, mit alieiniger Ausnahme der Familie des
Boethos zur Zeit des Herodes. Damals erst sei der Name der „Sadokischen"
aufgekommen in Erinnerung an die verwandte Richtung zur Zeit der Makka-
bäer. Die Durchführung dieser Auffassung ist nur möglich, indem H. eine
ganze Reihe historischer Zeugnisse als unglaubwürdig verwirft. Die Gründe,
um derentwillen dies geschieht, sind durchweg sehr schwach. S. Theol. Litztg.
1907, 202 f.
[418. 419] § 27. Schule und Synagoge. 489
geschlagen. Während die pharisäische Richtung infolge des Zu-
sammenbruchs der politischen Verhältnisse nur noch mehr er-
starkte, nur noch unbedingter die Herrschaft über das jüdische
Volk gewann, war den Sadduzäern der Boden, auf dem sie existieren
konnten, | entzogen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß die
jüdischen Gelehrten selbst schon bald nicht mehr wissen, wer die
Sadduzäer eigentlich waren: in der Mischna finden sich noch einige
glaubhafte Überlieferungen über sie. Die eigentlich talmudische
Zeit hat von ihnen nur noch eine ganz nebelhafte Vorstellung,
§ 27. Schule and Synagoge.
„Wer das Gesetz nicht kennt, der ist verflucht4* (Joh. 7, 49),
dies war die Grundüberzeugung des nachexilischen Judentums.
Damit war von selbst gegeben, daß Gesetzeskunde als das höchste,
vor andern erstrebenswerte Gut des Lebens geschätzt wurde. So
erklingt denn auch in allen Tonarten die Mahnung: Hin zum Ge-
setz! — Jose ben Joeser sagte: Dein Haus sei ein Versammlungs-
haus für Gesetzesgelehrte (o^BDn); laß dich bestäuben vom Staub
ihrer Füße, und trinke mit Durst ihre Lehren1. — Josua ben
Perachja sagte: Verschaffe dir einen Lehrer (a^)2. — Schammai
sagte: Mache das Gesetzesstudium zur bestimmten Beschäftigung
(?npj)3. — Rabban Gamaliel sagte: Setze dir einen Lehrer, so ver-
meidest du das Zweifelhafte4. — Hillel sagte: Ein Unwissender
kann nicht wahrhaft fromm sein (Ton fj»n D? tfb) 5. — Derselbe
sagte: Je mehr Gesetzeslehre, desto mehr Leben; je mehr hohe
Schule, desto mehr Weisheit; je mehr Beratung, desto vernünftiger
Handeln. Wer Gesetzeskenntnis sich erwirbt, erwirbt sich das
Leben in der zukünftigen Welt6. — R. Jose ha-Kohen sagte: Gib
dir Mühe, das Gesetz zu erlernen, denn durch Erbschaft erlangt
man es nicht7. — R. Eleasar ben Arach sagte: Sei emsig im Studium
des Gesetzes8. — R. Chananja ben Teradjon sagte: Wenn zwei
1) Aboth I, 4.
2) Aboth I, 6.
3) Aboth I, 15.
4) Aboth I, 16.
5) Aboth II, 5.
6) Aboth II, 7.
7) Aboth II, 12.
8) Aboth II, 14.
490 § 27. Schule und Synagoge. [419. 420]
beisammen sitzen und sich nicht vom Gesetz unterhalten, so sind
sie eine Versammlung von Spöttern, von welcher es heißt: Sitze
nicht, da die Spötter sitzen. Wenn aber zwei beisammen | sitzen
und sich vom Gesetz unterhalten, so ist die Schechina unter ihnen
gegenwärtig9. — R. Simon sagte: Wenn drei an einem Tische
zusammen speisen und sich nicht vom Gesetz unterhalten, so ist
es, als hätten sie von Totenopfer genossen. Aber wenn drei an
einem Tische zusammen speisen und sich vom Gesetz unterhalten,
so ist es, als hätten sie am Tische Gottes gegessen10. — R Simon
sagte: Wer im Wandern sich das Gesetz wiederholt, sich aber
unterbricht und ruft: Wie schön ist dieser Baum! Wie schön ist
dieser Acker! dem rechnet es die Schrift an, als wenn er sein
Leben verwirkt11. — R. Nehorai sagte: Wandere immer nach einem
Orte, wo Gesetzeslehre ist, und sage nicht, sie wird dir nach-
kommen, oder deine Gefährten werden sie dir erhalten; auch ver-
laß dich nicht auf deinen eigenen Scharfsinn12. — Derselbe R.
Nehorai sagte: Ich lasse alle Gewerbe in der Welt beiseite und
lehre meinen Sohn nur Gesetz; denn dessen Lohn genießt man in
dieser Welt; und das Kapital G^gn) bleibt stehen für die zu-
künftige Welt13. — Folgende Dinge haben kein Maß: die Pea, die
Erstlinge, die Wallfahrt, die Mildtätigkeit, das Studium des Ge-
setzes. Folgendes sind Dinge, deren Zinsen (rr.-PB) man in dieser
Welt genießt, während das Kapital (yvgrt) stehen bleibt für die
zukünftige Welt: Ehrerbietung vor Vater und Mutter, Mildtätig-
keit, Friedenstiften unter Nebenmenschen und Studium des Ge-
setzes mehr als dieses alles14. — Ein Bastard, der das Gesetz
kennt, geht selbst einem Hohenpriester im Range voran, wenn
dieser ein Unwissender ist15.
Solche Wertschätzung des Gesetzes mußte notwendig dazu
treiben, daß alle Mittel aufgewendet wurden, um womöglich dem
ganzen Volke die Wohltat gründlichster Gesetzeskenntnis und Ge-
setzesübung zuzuwenden. Was die pharisäischen Schriftgelehrten
9) Aboth III, 2; vgl. III, 6.
10) Aboth III, 3.
11) Aboth III, 7.
12) Aboth IV, 14.
13) Kidduschin IV, 14.
14) Pea I, 1.
15) Eorajoth III, 8. — Vgl. überhaupt über Notwendigkeit und Wert des
Gesetzesstudiums: Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theo-
logie (1880) S. 28—31. Leop. Low, Gesammelte Schriften Bd. 1, 1889, S. 86—
101. Bacher, Die Agada der Tannaiten Bd. II Sachregister Art. „Thora-
studium".
[420. 421] I. Die Schule. 491
in ihren Schulen als Gesetz Israels festgestellt hatten, das mußte
Gemeingut des ganzen Volkes werden, sowohl theoretisch wie
praktisch. Denn auf beides kam es an: auf die Kenntnis und |
auf die Ausübung des Gesetzes. Josephus rühmt es gerade als
einen Vorzug des israelitischen Volkes, daß hier nicht einseitig
das eine oder das andere bevorzugt werde, wie etwa die Spartaner
nur durch Gewöhnung erzogen, nicht durch Unterricht (e&eoiv
tjtalöevov, ov Xoyoig), die Athener dagegen und die übrigen Hellenen
mit dem theoretischen Unterricht sich begnügen und die Einübung
vernachlässigen. „Unser Gesetzgeber aber hat beides mit vieler
Sorgfalt verbunden. Denn er ließ weder die Übung der Sitten
stumm, noch die Lehre des Gesetzes unausgeführt" 16. Der Unter-
richt, der die Voraussetzung der Ausübung bildete, begann schon
in früher Jugend und zog sich durch das ganze Leben des Israe-
liten hindurch. Für die Grundlegung hatte die Schule und Fa-
milie zu sorgen, für die Weiterführung die Synagoge.
I. Die Schule.
Literatur.
Die von Steinschneider, Jewish Quarterly Review XVII, 1905, p. 556—559
verzeichnete Literatur über „Bildung und Erziehung" bei den Juden im
Mittelalter betrifft mehr das höhere als das niedere Schulwesen, berück-
sichtigt aber auch letzteres.
MaimonideSj Hilchoth Talmud Thora (Petersburger Übersetzung I, 102 ff.;
über den Titel des Gesamt -Werkes s. unten Abschnitt U).
Ursinus, Antiquität es Hebraieae Scholastico-Academicae, Hafniae 1702 (auch
in Ugolinis Thesaurus t XXI).
Pacht, De eruditione Judaica (dissertatio, quam praeside A, G. Waehnero exa-
mini submittet auctor J. L. Pacht) , Gottmg. 1742. — Handelt speziell
p. 50 — 55: de ludis puerorum.
Andr, Georg Waehner, Antiquitates Ebraeorum vol. II {Gottingae 1742)
p. 783 — 804: De eruditione Ebraeorum.
Ant Theod. Hart mann, Die enge Verbindung des A. T. mit dem Neuen
(1831) S. 377—384.
G frörer, Das Jahrhundert des Heils I, 186—192.
Win er, RWß. Art. „Kinder" und „Unterricht" (hier auch noch mehr Lite-
ratur).
Herzfeld, Gesch. des Volkes Jisrael III, 243. 266—268.
Keim, Gesch. Jesu I, 424 ff.
Diestel, Art. „Erziehung" in Schenkels Bibellex. II, 172 f.
Ginsburg, Art. „Education" in Kittos Gyclopaedia of Biblical Literature.
S. R. Hirsch, Aus dem rabbinischen Schulleben. Frankf. a. M. 1871 (Progr.).
16) Gontra Apion. 11, 16—17.
492 § 27. Schule und Synagoge. [421. 422]
Elias van Gelder, Die Volksschule des jüdischen Altertums nach talmudi-
schen und rabbinischen Quellen. Berl. 1872 (Leipziger Dissertat).
Leop. Low, Die Lebensalter in der jüdischen Literatur (Szegedin 1875) S. 195 ff.
407 ff.
Mos. Jacobson, Versuch einer Psychologie des Talmud (Hamburg 1878)
S. 93—101.
Jos. Simon f L'Sducation et finstruction des enfants che* les anciens Juifs
(Fapres la Bible et le Talmud. 3. id. Leipzig 1879, O. Schulze. |
Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, I. Abt. Art. „Erziehung",
n. Abt. Artt. „Lehrer, Mizwa, Schule, Schüler, Unterricht".
Straßburger, Geschichte der Erziehung und des Unterrichts bei den Israe-
liten. Von der vortalmudischen Zeit bis auf die Gegenwart, Stuttgart
1885. (Behandelt S. 1—24 die vor talmudische Zeit, S. 24—91 die talmu-
dische Zeit, s. Theol. Litztg. 1886, 265 ff.)
Bacher, Die Agada der Tannaiten, Bd. H, Sachregister Art. „Kinderer-
ziehung".
Wiesen, Geschichte und Methodik des Schulwesens im talmudischen Alter-
tume, Straßburg 1892 (49 S.).
Weinberg, Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1897,
S. 675-678.
Kennedy , Art. Education in Hostings* Dictionary of the Bible I, 1898,
p. 646—652.
BoXy Art. Education in: Encyclopaedia Biblica II, 1901, col. 1189 ff.
Nach Josephus' Behauptung hatte schon Moses verordnet: „daß
die Knaben die wichtigsten Gesetze lernen sollten, da dies die
beste Wissenschaft und des Glückes Ursache sei" n. „Er befahl,
die Kinder in den Anfangsgründen des Wissens (Lesen und Schreiben)
zu unterrichten und sie zu lehren, die Gesetze und die Taten der
Vorfahren zu kennen. Diese, damit sie sie nachahmten; jene, da-
mit sie mit ihnen aufwachsend sie nicht überträten oder den Vor-
wand des Nichtwissens hätten" 18. Zu wiederholten Malen rühmt
Josephus den Eifer, mit welchem der Jugendunterricht betrieben
wurde. „Mehr als um alles bemühen wir uns um die Kinder-
erziehung und halten die Beobachtung der Gesetze und die ihnen
entsprechende Frömmigkeit für die wichtigste Angelegenheit des
17) Antt. IV, 8, 12: Mav&avizwoav öh xal ol naZÖEQ ngwzovq (Niese
riQibxov) zovg vöfJLOvq, fidd^fia xdXXiazov xal zfjq sbSaifxoviaq auiov.
18) Apion. II, 25: Kai yQdtu/naza naiöeveiv ixiXevoe [seil, zobq itatSaq],
negi ze zovq vöfiovq [dvaoz(>i<peo9ai\ xal zwv nQoyövatP zag nod&iq intaza-
o&ai, zag fjihv Iva /a/^ibvrat, zotq d* 7va avvz^e<p6fxevoi /xtfze Ttaoaßalvwai firfze
oxytpiv dyvolaq I^cocji. — Über yodfifiaza = Anfangsgründe des Wissens
(Lesen und Schreiben) s. Passows Wß. s. v. — &vaozoi(peo9ai fehlt in dem
von Euseb. Praep. evang. VIII, 8, 37 ed. Oaisford gebotenen Texte wie im Vet.
IxU.) und ist von Niese wohl mit Recht getilgt; dagegen dürfte negl re zovq
röftovq (cod. Laur.) statt zä negl zovq vdpovq (Eus.) beizubehalten sein.
[422. 423] I. Die Schule. 493
ganzen Lebens"19. „Wen von uns man nach den Gesetzen früge,
der würde leichter alle hersagen, als seinen eigenen Namen. Da
wir sie vom ersten Bewußtsein an erlernen, haben wir sie in
unsern Seelen wie eingegraben; und selten ist ein Übertreter, un-
möglich aber die Abwendung der Strafe"20. Ähnlich äußert sich
Philo. „Da | die Juden ihre Gesetze für göttliche Offenbarungen
halten und von frühester Jugend an in deren Kenntnis unter-
wiesen sind, so tragen sie das Bild des Gesetzes in ihrer Seele** 2 *.
„Sie werden sozusagen von den Windeln an von Eltern und
Lehrern und Erziehern noch vor dem Unterricht in den heiligen
Gesetzen und den ungeschriebenen Sitten gelehrt, an Gott den einen
Vater und Schöpfer der Welt zu glauben** 22. Von sich selbst rühmt
Josephus, daß er schon im vierzehnten Lebensjahre eine so genaue
Kenntnis des Gesetzes besessen habe, daß die Hohenpriester und
die ersten Männer Jerusalems zu ihm kamen „um von ihm in be-
treff der Gesetze Genaueres zu erfahren** 2S. Es kann nach alledem
nicht zweifelhaft sein, daß in den Kreisen des echten Judentums
der Knabe von zartester Kindheit an mit den Anforderungen des
Gesetzes vertraut gemacht wurde24.
Daß diese Erziehung zum Gesetz vor allem die Pflicht und
Aufgabe der Eltern war, ist selbstverständlich. Aber es scheint,
daß schon im Zeitalter Christi auch von Gemeindewegen durch
Errichtung von Schulen für den Jugendunterricht gesorgt wurde.
Zwar will es nicht viel besagen, wenn die spätere Sage erzählt,
daß bereits Simon ben Schetach verordnet habe, daß die Kinder
19) Apion. I, 12: MdXiaxa 6% ndvxmv negl naiöoxQO<ptav yiXoxaXovvxeq,
xal xb tpvXdxxuv xovq vbpovq xal xfjv xaxd xovxovq 7taQaSeSofjiiv7jv evaißeiav
£gyov dvayxaibxaxov navxbq xov ßlov nenonjinivoL,
20) Apion. II, 18: lHfiihv £' dvxivovv [ef om. Euseb.] xiq Mqoizo xovq
vbpovq, §üov cev einoi ndvxaq % xotivofjta xb havxov. Toiyagovv dnb tfjq
no&xTjq evS-vq ala&rfoetaq avxovq ixfiav&dvovxeq sxofiev h xalq \pv%alq
W07Z6Q iyxexagayfiivovqf xal ondvioq fikv 6 nagaßalv<ovy dSvvaxoq <J' fj xfjq
xoXdaewq nagalxrjoic.
21) Legat, ad Cajum § 31, Mang. II, 577: ßebxgrjaxa yäg Xbyia xovq vb~
tuovq elvai vnoXafxßdvovxeq, xal xovxo ix ngwxrjq ^Xixlaq xb fidfrTjfia nai-
6ev&£vxeq, iv xalq tpvxatq ayaXuaxoyoQoioi xdq x(bv öiaxexay/jtivatv elxbvaq.
22) Legat, ad Cajum § 16, Mang. II, 562: deötöayfiivovq ig avx(bv xqb~
nov xiva onagydvwv vnb yoviwv xal naiSaywywv xal vxprjyrjxtbv, xal noXv
ngbxegov xwv legtbv vöjjhdv xal iri xtbv dyod<pwv i&tbVj ?va vojniZ,€tv xbv na-
xiga xal noirpty xov xbopov S-ebv.
23) Vita 2.
24) Auch in den christlichen Gemeinden wurden bereits die Kinder in
der heiligen Schrift unterwiesen, vgl. II Timoth. 3, 15: dnb ßg£<povq leoa
ygdfifiaxa o'iäaq.
494 § 27. Schule und Synagoge. [423. 424]
(mpwi) die Elementarschule ("®on rvo) besuchen sollen 25. Denn
dieser Simon ben Schetach ist überhaupt ein Ansatzpunkt für
allerlei Sagen« Jedenfalls wird aber im Zeitalter der Mischna,
also spätestens im zweiten Jahrhundert nach Chr., die Existenz von
Elementarschulen vorausgesetzt. Es finden sich z. ß. gesetzliche
Bestimmungen hinsichtlich des ijn (Gemeindedieners), der die Kinder
(mpim) am Sabbat im Lesen unterrichtet26. Oder es wird fest-
gesetzt, daß ein lediger Mann nicht Einderschule halten solle, *6
dvwio pvt | m« -niab^27. Oder es wird bestimmt, daß för gewisse
Fälle das Zeugnis eines Erwachsenen gültig sei in betreff dessen,
was er einst als Kind (pp) in der Elementarschule (nton mn)
gesehen habe28. Es ist daher durchaus nicht unglaubwürdig, was
eine spätere Tradition berichtet, daß Josua ben Gamla (= Jesus
Sohn Gamaliels) angeordnet habe, daß man Knabenlehrer ('»■nAB
mpwn) in jeder Provinz und in jeder Stadt anstelle und die
Kinder im Alter von sechs oder sieben Jahren zu ihnen bringe29.
Der einzige in der Geschichte bekannte Jesus Sohn Gamaliels
ist der Hohepriester dieses Namens, um 63—65 nach Chr. (s. oben
S. 273). Dieser wird also auch in der obigen Notiz gemeint sein.
Da seine Maßregel schon ein längeres Bestehen von Knabenschulen
voraussetzt, so wird man sie unbedenklich in das Zeitalter Christi
verlegen dürfen, wenn auch nicht als eine allgemeine und fest
organisierte Institution30.1
Der Gegenstand des Unterrichtes war, wie schon aua
25) jer. Keihuboth VIII, 11 (32 c oben).
26) Schabbath I, 3.
27) Kiddusehin IV, 13.
28) Keihuboth II, 10.
29) bab. Baba baihra 21 a: „Rab Juda sagte im Namen des Bab: Wahrlich,
es möge dieses Mannes zum Guten gedacht werden! Josua ben Gamla ist
sein Name. Wäre er nicht gewesen, das Gesetz wäre in Israel vergessen-
worden. Denn anfangs, wer einen Vater hatte, den lehrte dieser das Gesetz;
wer keinen hatte, der lernte das Gesetz nicht .... Später verordnete man,,
daß man Knabenlehrer in Jerusalem anstellen solle .... Allein, nur wer
einen Vater hatte, den schickte dieser in die Schule; wer keinen hatte, ging
nicht hinein. Da verordnete man, daß man in jeder Provinz Lehrer anstelle
und die Knaben im Alter von sechzehn oder siebzehn Jahren zu ihnen schicke.
Allein, über wen nun sein Lehrer ärgerlich wurde, der lief davon, bis Josua
ben Gamla kam und verordnete, daß man in jeder Provinz und in jeder
Stadt (wn w bsm nrman txv^va bsa) Knabenlehrer anstelle und die Kinder
im Alter von sechs oder sieben Jahren zu ihnen bringe".
30) Genaue Vorschriften über die Kinderschulen gibt Maimonides
1 12. Jahrh. n. Chr.), der sie dabei als eine für das Judentum notwendige und
selbstverständliche Institution voraussetzt, Hilchoih Talmud Thora e. H (Pe-
tersburger Übersetzung I, 106 ff.).
[424. 425] I. Die Schule. . 495
den obigen Stellen des Philo und Josephus erhellt, so gut wie aus-
schließlich das Gesetz. Denn nur auf dessen Einprägimg in das
jugendliche Gemüt, nicht auf Vermittelung einer allgemeinen Bil-
dung war es mit all jenem Eifer der Jugenderziehung abgesehen.
Und zwar beschäftigte sich der erste Unterricht mit dem Schrift-
text, mit dessen Lektüre und Einprägung. Daher heißt die Ele-
mentarschule einfach nfc&n r^a, weil sie es mit dem „Buch" der
Thora, oder, wie einmal ausdrücklich erklärt wird, mit dem Schrift-
text (der anjH?) zu tun hatte, im Unterschied vom tfTnart | r^a,
welches dem weiteren „Studium" gewidmet war31. Es war also
im Grunde nur das Interesse am Gesetz, welches auch den Unter-
richt im Lesen zu einem ziemlich weit verbreiteten gemacht hat.
Da nämlich beim Schrifttext (im Unterschied von der mündlichen
Gesetzesüberlieferung) gerade darauf Gewicht gelegt wurde, daß
er wirklich gelesen wurde (s. unten über die Gottesdienstordnung),
so war der elementare Gesetzesunterricht notwendig mit Lese-
unterricht verbunden. Die Kenntnis des Lesens darf deshalb überall
da vorausgesetzt werden, wo eine einigermaßen gründlichere Ge-
setzeskenntnis vorhanden war. Daher finden wir schon in vor-
christlicher Zeit auch Gesetzesbücher im Privatbesitze einzel-
ner32. Weniger allgemein wird dagegen die schwierigere Kunst
des Schreibens gewesen sein33.
Mit dem theoretischen Unterricht ging die praktische Gewöh-
nung Hand in Hand. Denn wenn auch die Kinder nicht eigentlich
zur Erfüllung des Gesetzes verpflichtet waren, so wurden sie
doch von Jugend auf daran gewöhnt Es wird z. B. den Erwach-
senen zur Pflicht gemacht, auch die Kinder zur Sabbatruhe an-
zuhalten34. Zum strengen Fasten am Versöhnungstage sollen die
Kinder ein bis zwei Jahre vor dem pflichtmäßigen Alter allmählich
gewöhnt werden35. Einige Punkte waren sogar auch für Kinder
schon verbindlich. Sie waren z. B. zwar nicht zum Lesen des
31) jer. Megilla III, 1 (73 d): „R. Pinchas sagte im Namen des R. Hoschaja:
480 Synagogen waren in Jerusalem, und eine jede hatte ein Beth-Sepher UDd
ein Betk-Talmud, ersteres für die Mihra (den Schrift-Text), letzteres für die
Misckna (die mündliche Gesetzeslehre)".
32) Vgl. I Makk. 1, 56 f. — In der Mischna Jebamoth XVI, 7 fin. wird von
einem Leviten erzählt, welcher auf der Reise im Wirtshause starb, und dessen
Hinterlassenschaft aus Stock, Reisetasche und Gesetzbuch bestand. — Über
die Verbreitung von Bibelexemplaren im Privatbesitz im talmudischen Zeit-
alter s. Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen (25. Jahresbericht der
Landesrabbinerschule in Budapest) 1902, S. 84 — 97.
33) Vgl. hierüber Win er RWB. Art „Schreibkunst".
34) Schabhath XVI, 6.
35) Jvma VIII. 4.
496 § 27. Schule und Synagoge. [425. 426]
Schma und zum Anlegen der Tephillin, wohl aber zum gewöhnlichen
Gebet (dem Schmone Esre) und zum Tischgebet verpflichtet36. Die
Knaben sollten schon im zartesten Alter bei den Hauptfesten im
Tempel erscheinen37. Insonderheit werden die Knaben auch zur
Beobachtung des Laubhüttenfestgesetzes verpflichtet38. Sobald
dann die ersten Zeichen der Mannbarkeit sich zeigten, war der
heranwachsende Israelite zur vollen Gesetzesbeobachtung verpflich-
tet39. Er trat damit in alle Rechte und Pflichten eines erwach-
senen Israeliten ein; er war von nun an ein mstt na40. Die weit-
verbreitete, namentlich auf Lightfoots und Wetsteins Anmerkungen
zu Luc. 2, 42 sich stützende Meinung, daß das zurückgelegte zwölfte
Jahr die Grenze zwischen Verpflichtung und NichtVerpflichtung
gebildet habe, ist also in doppelter Beziehung ungenau: einmal,
insofern auch schon der minderjährige Knabe zu gewissen Geboten
verpflichtet war, und sodann, insofern nicht ein bestimmtes Alter,
sondern die Zeichen der eintretenden Pubertät die Grenze bildeten.
36) Berachoth III, 3: „Frauen, Sklaven und Kinder sind befreit vom Lesen
des Schma und von den Tephillin, sind aber verpflichtet zur Tephilla (dem
Schmone Esre), zur Mesusa und zum Tischgebet".
37) Chagiga I, 1 : „Jeder ist verpflichtet, an den Hauptfesten im Tempel
zu erscheinen, ausgenommen Taube, Blödsinnige, Kinder, Geschlechtslose,
Zwitter, Frauen, Sklaven, die nicht freigelassen sind, Lahme, Blinde, Kranke.
Altersschwache und überhaupt wer nicht gehen kann. Was heißt hier ein
Kind Cisfl?)? Nach der Schule Schammais: Jeder, der noch nicht auf des
Vaters Schulter reitend von Jerusalem auf den Tempelberg kommen kann.
Die Schule Hilleis aber lehrt: Jeder, der noch nicht an des Vaters Hand von
Jerusalem auf den Tempelberg steigen kann". — Aus Luc. 2, 42 darf freilich
geschlossen werden, daß Auswärtige in der Regel erst nach Vollendung des
zwölften Jahres an den Wallfahrten teilnahmen.
38) Sttkka II, 8: „Frauen, Sklaven und Kinder sind frei vom Laubhütten-
festgesetze. Ein Knabe jedoch, der seiner Mutter nicht mehr bedarf, ist dazu
verpflichtet. Einst gebar die Schwiegertochter Schammais des Alten (am
Lau bh litte nfest einen Sohn). Da ließ er das Dach öffnen und deckte es über
dem Bette mit Laub zu, um des Kindes willen". — Sukka III, 15: „Ein Knabe,
der imstande ist, den Lulab zu schütteln, ist dazu verpflichtet".
39) Nidda VI, 11: Ein Knabe, bei welchem sich die zwei Haare zeigen,
ist verpflichtet zu allen Geboten, die gesagt sind im Gesetz". —
Das Gleiche gilt auch vom Mädchen, nur mit dem Unterschied, daß die Frauen
weder an allen Hechten, noch an allen gesetzlichen Pflichten der Männer Teil
nahmen. — Vgl. auch Sanhedrin VIII, 1.
40) Der Ausdruck Bar-Mixwa findet sich schon im Talmud (Baba mexia
96a unten, s. Levys Neuheb r. Wörterb. I, 258 b), ist aber erst im Mittelalter
zur Bezeichnung eines volljährigen Israeliten gebräuchlich geworden, 8. Low,
Die Lebensalter S. 210. 410. Kohler, Art. Bar Mixwah in: The Jewish Ency-
clopedia II, 1902, p. 509 s?.
[426. 427] IL Die Synagoge. 497
Und als später ein bestimmtes Alter als Grenze fixiert wurde,
ist es nicht das von zwölf, sondern das von dreizehn Jahren ge-
wesen41. |
IL Die Synagoge.
Literatur:
Maimonide8, Hilchoth Tepküla (im zweiten Buche seines großen Werkes
Jad ha-chasaka oder Mischne Thorä) gibt eine systematische Darstellung
der zu seiner Zeit (12. Jahrh. n. Chr.) giltigen Tradition über das Syna-
gogenwesen. — In der zu Petersburg erschienenen deutschen Übersetzung
(„Auszüge aus dem Buche Jad-HaghasaJcJcah, die starke Hand, u. s. w. von
Maimonides" 10 Tle., Petersburg 1850—1852) ist der Traktat Hilchoth
Tephilla fast ganz enthalten (Tl. I, S. 257—341 des deutschen Textes).
Vitringa, De synagoga vetere libri tres: quibus tum de nominibus, structura,
origine, praefectis, ministris et sacris synagogarum agitur, tum praecipue
formam regiminis ei ministerii earum in ecolesiam christianam translatam
esse demonstratur, Franequerae 1696.
Jok. Gottl. Carpxov, Apparates hütorico-erüieus (1748) p. 307—326.
Bodenschatz, Kirchliche Verfassung der heutigen Juden (1748) II, 1 — 87.
Eine Anzahl älterer Monographien über einzelne Gegenstände ist gesammelt
in Ugolinis Thesaurus Antiquitatum saerarum t. XXI.
Sal. Jacob Cohen, Historisch-kritische Darstellung des jüdischen Gottesdienstes,
und dessen Modifikationen von den ältesten Zeiten an bis auf unsere Tage.
Leipzig 1819.
Hartmann, Die enge Verbindung des Alten Testaments mit dem Neuen
(1831) S. 225—376.
41) So in dem erst aus nachtalmudischer Zeit herrührenden Anhang zum
Traktat Aboth, Aboth V, 21: „Mit fünf Jahren (kommt man) zum Lesen der
Schrift, mit zehn Jahren zur Mischna, mit dreizehn Jahren (mw vAw p)
zur Ausübung der Gebote, mit fünfzehn Jahren zum Talmud, mit acht-
zehn Jahren zum Heiraten etc.". — Für einen speziellen Punkt, nämlich die
unbedingte Giltigkeit der Gelübde, wird auch schon von der Mischna das zu-
rückgelegte dreizehnte Jahr als Grenze bestimmt, s. Nidda V, 6: „Wenn ein
Knabe zwölf Jahre und einen Tag alt ist, so werden seine Gelübde geprüft;
wenn er dreizehn Jahre und einen Tag alt ist, so gelten sie ohne weiteres".
— Vgl. überhaupt: Low, Die Lebensalter S. 143 ff. Hamburger, Real-Enz.
für Bibel und Talmud, II. Abt. Art. „Mizwa". — Das Material, welches
Lightfoot (Horae hebr.) und Wetstein (Nov. Test.) zu Luc. 2, 42 beigebracht
haben, beweist nicht, daß das zurückgelegte zwölfte Lebensjahr die fest-
stehende Grenze zwischen Verpflichtung und NichtVerpflichtung bildete.
Teils handelt es sich dort überhaupt nur um die Ansicht einzelner Autori-
täten, denen andere gegenüberstehen; teils aber ist nur gesagt, daß im Alter
von zwölf Jahren die strengere Gewöhnung beginnen solle, nicht, daß dann
die Verpflichtung eintrete; so namentlich an den Stellen Joma 82», Kethu-
both 50a. Auch aus Luc. 2, 42 ist nur zu schließen, daß man im Alter von
zwölf Jahren mit der strengeren Gewöhnung begann.
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 32
498 § 27- Schule und Synagoge. [427. 4281
Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden (1832) S. 1—12. 329—360.
Win er EWB. II, 548—551: Synagogen.
Herzfeld, Geschichte des Volkes Jisrael HI, 129—137. 183—226.
Jost, Geschichte des Judenthums I, 168 ff.
Keil, Handbuch der biblischen Archäologie (2. Aufl. 1875) S. 164 ff. 444 ff.
Leyrer, Art „Synagogen" in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. Bd. XV (1862)
S. 299-314.
De Wette, Lehrb. der hebr.-jüd. Archäologie (4. Aufl. 1864) S. 369—374.
Hausrath, Neutestamentl. Zeitgesch. 2. Aufl. Bd. I (1873) S. 73—80.
Haneberg, Die religiösen Alterthümer der Bibel (1869) S. 349—355. 582—587.
Ginsburg, Art. „Synagogue" in Kittos Gyclopaedia of Biblical Literature.
Plumpire, Art. „Synagogue1* in Smith' 8 Dictionary of the Bible.
Kneucker, Art. „Synagogen" in Schenkels Bibellex. V, 443—446.
Sieffert, Die jüdische Synagoge zur Zeit Jesu (Beweis des Glaubens 1876,
S. 3—11, 225—239). |
Hamburger, Real-Enzyklopädie für Bibel und Talmud, IL Abt., 1883, Art.
„Synagoge". — Ders., Spplementbd. III, 1892, Art „Sabbatgottesdienst",
„Synagogengottesdienst", „Vorbeter", auch: Neujahrsgottesdienst, Neu-
mondsgottesdienst, Versöhnungstagsgottesdienst.
Low, Leop.t Der synagogale Ritus (Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des
Juden th. 1884, S. 97 ff. 161 ff. 214 ff. 305 ff. 364 ff. 458 ff.; wiederabgedruckt
in: Leop. Low, Gesammelte Schriften. IV. Bd. 1898, S. 1 — 71) [nur über
das Synagogengebäude; Quellen- und Literaturnachweise für die geplante
Fortsetzung s. in: Ges. Schriften V, 21—36].
Strack, Art. „Synagogen" in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XV, 96—100. 3. Aufl.
XIX, 223-226.
Edersheim, The life and times of Jesus the Messiah (1884) I, 430 — 450.
Ramsay, The Eulers of the Synagogue (The Expositor 1895, April p. 272 — 277)
[schiefe und unbewiesene Behauptungen].
Weinberg, Die Organisation der jüdischen Ortsgemeinden in der talmu-
dischen Zeit (Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1897,
S. 588 ff. 639 ff. 673 ff).
Da Im an, Artikel „Gottesdienst, synagogaler" in Herzog-Haucks Real-Enz.
3. Aufl. VII, 1899, S. 7-19.
Bacher, Art Synagogue in Hostings* Dictionary of the Bible IV, 1902,
p. 636—643 [selbständig und sorgfältig].
Peritx, Art. „Synagogue" in Encyclopaedia Biblica IV, 1903, coL 4832 ff.
Bacher, Art Synagogue in: The Jewish Eneyclopedia XI, 1905, p. 619—628;
dazu Brunn er, Synagogue Architecture ib. XI, 631 — 640.
Eine tiefere und fachmännische Kenntnis des Gesetzes konnte
nur zu den Füßen der Schriftgelehrten im Beth-ha-Midrasch er-
worben werden (s. oben § 25). Es lag in der Natur der Sache, daß
dazu immer nur ein kleiner Bruchteil gelangen konnte. Für die
Masse des Volkes war schon viel gewonnen, wenn nur das elemen-
tare Wissen ein Gemeingut aller wurde und blieb. Auch dieses
Ziel war aber nur erreichbar durch eine Institution, mittelst welcher
jedem einzelnen im Volke das Gesetz während des ganzen Lebens
immer wieder und wieder nahegebracht wurde. Eine solche In-
[428. 429] IL Die Synagoge. 499
stitution hat das nachexilische Judentum geschaffen in der Sitte
der sabbatlichen Schriftlektion in der Synagoge. Es ist nämlich
vor allem zu beachten, daß der Hauptzweck dieser Sabbat-
versammlungen in der Synagoge nicht der Gottesdienst im engeren
Sinne, d. h. nicht die Anbetung war, sondern die religiöse Unter-
weisung; und diese ist für den Israeliten vor allem Unterweisung
im Gesetz. In diesem Sinne hat schon Josephus mit Recht die
Sache aufgefaßt „Zu einem trefflichen und notwendigen Unter-
richtsgegenstand hat er (unser Gesetzgeber) das Gesetz gemacht,
indem man es nicht nur einmal oder zweimal oder öfters hören
sollte, sondern er befahl, allwöchentlich mit Aussetzung der andern
Beschäftigung zum Anhören des Gesetzes zusammenzukommen und
dieses genau zu lernen" *. Philo hat also nicht so unrecht, wenn
er die Synagogen als „Lehrhäuser" bezeichnet, in welchen „die |
vaterländische Philosophie" getrieben und jede Art von Tugend
gelehrt werde2. Auch im Neuen Testamente erscheint ja das
didaöxeiv stets als die Haupttätigkeit in den Synagogen3. Der
Ursprung dieser Sabbatversammlungen in eigens hierzu errich-
teten Gebäuden ist uns unbekannt Urkundlich können wir die
Synagogen zuerst für das ägyptische Judentum nachweisen. Die
ältesten griechisch-jüdischen Urkunden, auf welchen Synagogen
(jtQooev%al) erwähnt werden, stammen aus der Zeit des Ptolemäus HL
Euergetes (247—221 vor Chr.)4. Im Alten Testamente begegnen
1) Apion. II, 17 (— Eus. Pr. ev. VIII, 8, 11): KaXkiaxov xal dvayxaiö-
xaxov änideigs naiSevf/a xbv vd/nov oix eloana§ &XQoaao(i£voiq (al. dxgoaaa-
fihoiq, äxQoaaa/jiivovq) oitöh ölq ?j noXXdxiq, &\X' kxdaxrjq eßdofiddoq xCbv aXXwv
igywv a<pe(x£vovq htl x^v dxQÖaoiv ixslevae xov vbfiov avXXfyeo&ai xal xov-
xov äxQißCbq ixfiav&dveiv. — Antt. XVI, 2, 4 (ed. Niese XVI, 43, Rede des
Nicolaus Damascenus): xi\v xe eßdöpriv xtbv ^(isQüiv ävie/uev x$ fia&tfoei x(bv
fjfiexigatv iS-wv xal vöfxov.
2) Vita Mosis HI, 27 (Mang. II, 168): yA<p ov xal elaixi v&v yiXoocxpotiöi
xalq ißSöftaiq 'IovdaXoi x^v ndxgiov (piXooo<piav, xbv xgbvov ixeXvov ava&ivzeq
inioxfag xal $e(x>Qiq xöw negl <pvoiv. Tä yaQ xaxä ndkeiq TtQoaevxxJj-
Qia xl Sxsqöv iaxiv rj SiSaoxaXeXa <pQOV^aetoq xal dvSglaq xal ooxpQO-
avvTjq xal dixaioevvrjq, ehaeßelaq xe xal Saidxijxoq xal avfXTtdarjq &Qexr}q, $
xaxavoeXxai xal xaxog&ovxai xd xe av&Qwneia xal &eXa; — Vgl. Legat, ad Ca-
jum § 23 (Mang. II, 568): "Hnloxaxo ovv (seil. Augustus von den römischen
Juden) xal itQoaevxaq Mzovxaq xal aim&vxaq etq avzaq, xal (xdXioxa xalq le-
gaXq eßSöpaiq, Zxe Srjfioola xijv tkxtqlqv naiöevovxai <piXooo<ptav.
3) Mt. 4, 23. Mc. l/21. 6, 2. Luc. 4, 15. 31. 6, 6. 13, 10. Joh. 6, 59.
18, 20.
4) Durch neuere Funde in Ägypten sind folgende Inschriften, resp.
Papyrustexte, auf welchen jüdische ngoaevxal erwähnt werden, bekannt ge-
worden, sämtlich aus vorchristlicher Zeit:
a) Inschrift zu Schedia bei Alexandria aus der Zeit des Ptolemäus III.
32*
500 § a7« Schale und Synagoge. [429]
sie uns zum erstenmal unter der Bezeichnung b« "HSpE in Psalm
74, 8, wahrscheinlich aus der makkabäischen Zeit Aber man darf
ihre Entstehung erheblich höher hinauf, vielleicht in die Zeit Esras
Euergetes (247 — 221 vor Chr.) [sicher nicht später]: 'Ynhg ßaoiX&oq UxoXe fialov
xal ßaoiXlaaijq BeQEvlxyq dSeX<p^q xal ywatxdq xal xwv xixvwv x%v nooatvxjiv
ol tovSaToi, Bulletin de la SocUU arcMol. d'Älexandrie Nr. 4, 1902, p. 49 —
Revue des Studes juives t. XLV, 1902, p. 162 — Sitzungsberichte der Berliner
Akademie 1902, S. 1094 «= Archiv ffir Papyrusforschung Bd. II, 1903, S. 541
—■ Dittenberger, Orientis graeci inscr. sei. n. 726.
b) Inschrift aus Unter -Ägypten, jetzt im Berliner Museum, Erneuerung
einer filteren wahrscheinlich aus der Zeit des Ptolemäus III. = Eeuergetes I. (so
Wilcken, Berliner philol. Wochenschr. 1896, col. 1493 f. Paul Meyer, Das
Heerwesen der Ptolemäer und Römer in -Ägypten 1900, S. 34, Beinach, Revue
des it. juives XLV, 164, jetzt auch Strack, Archiv f. Papyrusforschung II,
641 f., der früher mit anderen sie auf Ptolemäus Physkon = Euergetes II.
bezogen hatte): BaoiXevq IlxoXsfxaloq EbeQyhrjq xty noooevxftv acvXov, Ephe-
meris epigr. IV, 25 sq. «=» Corp. Inscr. Lot. III Suppl. n. 6583 — DUtenberger,
Orientis graeci inscr. sei. n. 129.
c) Papyrus aus Mittelägypten (Magdola im Fajjum), sicher aus dem
dritten Jahrh. vor Chr., wahrscheinlich 217 vor Chr. (Jahr 5 des Ptolemäus IV.,
so Beinach), Eingabe einer Frau an den König wegen Entwendung eines
Mantels, welchen der Dieb nicht herausgeben will, hierin die Worte iv xqi
ngooevxrjt x(hv 'Iovöalwv (der Dieb scheint den Mantel beim Diener der Pros-
euche deponiert zu haben), Bulletin de correspondanee hellenique t. XXVII,
1903, p. 200; über das Alter der Papyrus-Sammlung, zu welcher diese Ur-
kunde gehört, s. Bulletin XXVI, 1902, p. 95. 96 sq. Neue Lesung mit Erläu-
terungen: Th. Beinach, MSlanges Nicole, Genf 1905, p. 451 — 459.
d) Zwei Inschriften zu Athribis, vermutlich aus der Zeit des Ptole-
mäus VI. Philometor: 1) 'Ynho ßaaiXiwq UxoXe^alov xal ßaotkloorjq KXeo-
naxoaq IlxoXefiaZoq 'EmxiSov 6 inioxdxijq tCbv <pvXaxixwv xal ol iv 'A&plßei
*[ov6aZoi xty npoaevx^v #6uu vxploxm, 2) 'Ynho ßaaiXiwq IlxoXe/jtatov xal ßaai-
Xlaarjq KXeondtoaq xal x(av xixvwv 'Eofjdaq xal <PiXox£oa % ywfj xal xa nai-
öla xljvöe i&dgav xfy itQooevxm (so mit Becht Dittenberger statt tiqocsvx^v),
Revue des itudes juives t. XVII, 1888, p. 236 sq. ■= Bulletin de corresp. hel-
lenique t. XIII, 1889, p. nSsqq. = Dittenberger, Orientis gr. inscr. sei. n. 96
u. 101.
e) Papyrus aus Mittelägypten, Ende des zweiten Jahrh. vor Chr., Teb-
tunis Papyri ed. by Qrenfell, Hunt and Smyly P. I 1902 n. 86. In diesem
Verzeichnis von Grundstücken wird zweimal (lin. 18 u. 29) eine nooaevj^i
*lovöalwv erwähnt, welcher ein Grundstück gehört, das als „heiliges Garten-
land" (leoä napddeiooq) bezeichnet wird.
f) Inschrift zu Alexandria (Gabbary), Datum unsicher, nach Stracks
Vermutung 37 vor Chr.: [inho] ßao\iXloorj\q xal ß[aad]iwq 9eibi [pte]ydXo>i
i[7itjx6]a)i *AXvn[oq x%v] tcqoob[vx^v\ inöer L Ti (Jlb\x^q . .], Bulletin de la So-
ciiti arckiol. d'Älexandrie Nr. 4, 1902, p. 86 — Sitzungsberichte der Berliner
Akademie 1902, S. 1094 — Archiv für Papyrosforschung II, 559 — Ditten*
berger n. 742.
[429. 430] II. Die Synagoge. 501
oder in die des Exiles verlegen 5. Erwähnt werden die „Versamm-
lungshäuser" auch im Buch Henoch (46, 8). Im Zeitalter Christi
war das „Lehren in den Synagogen am Sabbat" schon eine fest-
begründete und allgemein eingebürgerte Institution (Marc. 1, 21. 6, 2.
Luc. 4, 16. 31. 6, 6. 13, 10. Actor. 13, 14. 27. 42. 44. 15, 21. 16, 13.
17, 2. 18, 4). Nach der Apostelgeschichte (15, 21) hat Moses „von
alten Zeiten her (ix yeveäv aQxalmv) in allen Städten, die ihn
verkündigen, indem er in den Synagogen an jedem Sabbat gelesen
wird". Josephus und Philo und überhaupt das spätere Judentum
führt die ganze Einrichtung auf Moses selbst zurück6. Das ist
freilich nur insofern | von Interesse, als man daraus sieht, daß das
spätere Judentum sie als wesentlichen Bestandteil seiner religiösen
Institutionen betrachtet^ hat. An einen vorexilischen Ursprung ist
sicher nicht zu denken.
* Die Voraussetzung der ganzen Einrichtung ist vor allem die
Existenz einer religiösen Gemeinde. Und hier entsteht die
Frage, ob in den Städten und Ortschaften Palästinas im Zeitalter
Christi die bürgerliche und religiöse Gemeinde getrennt war, so
daß die letztere eine selbständige Organisation besaß? Man muß,
um sich hierüber Klarheit zu verschaffen, zunächst beachten, daß
die politischen Verfassungsverhältnisse selbst in den verschiedenen
Städten^Palästinas verschiedene waren. Es ist bereits oben (S. 222)
gezeigt worden, daß eine dreifache Verschiedenheit in dieser
Beziehung möglich war und auch wirklich vorkam. Es konnten
die Juden vom Bürgerrecht ausgeschlossen sein, oder Juden und
5) Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte 1894, S. 107 f.
163 = 4. Ausg. 1901, S. 149 f. 196 f., hält die Synagogen für eine Einrichtung
des Exiles, welche die Exulanten von dort mitgebracht hätten.
6) Vgl. außer den beiden bereits zitierten Stellen (Jos. c. Apion. II, 17.
Philo Vita Mosis III, 27) bes. Philo, fragm. apud Euseb. Praep. evang. VIII, 7,
12—13 (Mang. II, 630), und De septenario § 6 (M. II, 282). Rabbinische Stellen
bei Vüringa p. 283 sg#. — Die Angabe Winers (RWB. II, 548, mit Berufung
auf seine Dies, de Jonathanis in Pentat. paraphrasi chald. I, 30), daß die Tar-
gume die Einrichtung in die patriarchalische Zeit übertragen, ist nicht ganz
korrekt. Allerdings heißt es bei Onkelos Gen. 25, 27, Jakob habe gedient im
„Lehrhaus" (KSfiilK r^a), und im Targ. Jerus. I Gen. 33, 17, Jakob habe sich
ein „Lehrhaus" (Kimia *a) erbaut. Aber in beiden Fällen ist nicht eine eigent-
liche Synagoge gemeint. Im Targ. Jerus. I Exod. 18, 20 wird erzählt, der
Schwiegervater Mosis habe diesen aufgefordert, dem Volke das Gebet bekannt
zu machen, das sie beten sollen in ihrer Synagoge (yinntr^SD rv^a). Aber hier
handelt es sich eben nicht mehr um die Zeit der Patriarchen im engeren
Sinne. Und so beziehen sich auch die übrigen von Winer angeführten Stellen
auf eine spätere Zeit. Immerhin würde es dem Geist der Targume entsprechen,
auch die Synagogen in die Patriarchen zeit zu verlegen.
502 § 27. Schule und Synagoge. [430. 431]
NichtJuden bürgerlich gleichberechtigt, oder auch nur die Juden
im Besitz der bürgerlichen Rechte sein. Die beiden ersteren Fälle
waren möglich in den Städten mit vorwiegend griechischer oder
stark gemischter Bevölkerung. In beiden Fällen waren die Juden
darauf angewiesen, für ihre religiösen Bedürfnisse sich als selb-
ständige religiöse Gemeinde zu organisieren. Denn ob sie nun bei
der Leitung der bürgerlichen Angelegenheiten mitwirkten oder
nicht — für die religiösen Angelegenheiten war die Notwendigkeit
der selbständigen Organisation die gleiche. Für diese beiden
Fälle ist also die aufgeworfene Frage entschieden zu be-
jahen; und es war demnach die Stellung der Synagogengemeinde
in diesen Städten dieselbe wie in den Städten der Diaspora. Ganz
anders aber stellte sich die Sache in den Städten und Orten mit
ganz oder fast ausschließlich jüdischer Bevölkerung. Hier bestand
die Ortsbehörde doch sicher nur aus Juden, und die wenigen etwa
anwesenden NichtJuden waren vom Kollegium der Ortsältesten oder
vom städtischen Senat ausgeschlossen. Das ist z. B. gerade in be-
treff Jerusalems zweifellos. Da nun die Ortsbehörden ohnehin sich
sehr vielfach mit religiösen Angelegenheiten zu befassen hatten
(denn das jüdische Gesetz kennt eben gar keine Trennung dieser
von den bürgerlichen Angelegenheiten), so wird man es von vorn-
herein höchst wahrscheinlich finden müssen, daß auch das Syna-
gogenwesen zu ihrer Kompetenz gehörte. Oder soll gerade nur
für dieses ein besonderer Ältestenrat eingesetzt worden sein? In
den kleinen Orten wäre dies jedenfalls sehr unnatürlich. | Aber
auch in den größeren Städten, wo es mehrere Synagogen gab, lag
dazu keine Veranlassung vor. Es genügte, wenn von der Orts-
behörde für jede Synagoge die notwendigen Beamten (ein Archi-
synagog, Almosenpfleger und Diener), welche die eigentlichen Ge-
schäfte zu besorgen hatten, bestellt wurden. Zur Bildung eines
Ältestenkollegiums für jede einzelne lag wenigstens kein zwingen-
der Grund vor. Bei der Dürftigkeit unseres Materiales ist freilich
die Möglichkeit, daß dies geschehen sei, zuzugeben. Ja in einem
Falle ist es sogar wahrscheinlich: die hellenistischen Juden in
Jerusalem, die Libertiner, Cyrenäer, Alexandriner, Cilicier und
Asiaten, haben offenbar besondere „Gemeinden" gebildet (Act.6, 9)7.
7) Die AißeQzlvoi können nur römische „Freigelassene" resp. deren Nach-
kommen sein, also wohl Nachkommen der Juden, die einst von Pompeius als
Gefangene nach Rom geschleppt und hier von ihren Herren bald wieder frei-
gelassen worden waren {Phüo Leg. ad Gajum § 23, M. II, 568). Manche von
ihnen mögen später nach Jerusalem zurückgekehrt sein und hier eine eigene
Gemeinde gebildet haben. Ebenso bildeten die zahlreichen in Jerusalem wohn-
haften hellenistischen Juden aus Cyrene, Alexandrien, Cilicien und Asien je
[431. 432] IL Die Synagoge. 503
Aber das waren eben besondere Verhältnisse: da machte die Ver-
schiedenheit der Nationalität eine besondere Organisation notwendig.
Für die einfachen Verhältnisse namentlich der kleineren Orte
Palästinas wäre eine Trennung der politischen und religiösen Ge-
meinde ganz unnatürlich. Sie würde geradezu dem Wesen des
nachexilischen Judentums widersprechen; denn dieses kennt ja
eigentlich die politische Gemeinde überhaupt nur in der Form der
religiösen. Es fehlt aber auch nicht an positiven Beweisen dafür,
daß die bürgerliche Gemeinde als solche auch das Synagogenwesen
leitete. In der Mischna wird z. B. als ganz selbstverständlich
vorausgesetzt, daß die Synagoge, der heilige Schrank und die
heiligen Bücher ganz ebenso Eigentum der Stadt, also doch der
bürgerlichen Kommune sind, wie z. B. die Straße und die Bade-
anstalt8. Die Stadtbewohner (TWi ^a) haben daher auch das
Verfügungsrecht über jene wie über diese9. Wenn R. Eleasar |
ben Asarja sagt, daß das Musaphgebet nur in einer Stadtgemeinde
("P* "£na) zu beten sei, so ist auch hieraus zu schließen, daß die
Stadtgemeinde, die bürgerliche Kommune als solche sich mit dem
Synagogenkultus befaßte10. — Wir dürfen demnach als wahrschein-
lich voraussetzen, daß nur in den Städten mit gemischter Ein-
eine besondere Gemeinde. Die alte Streitfrage, wie die zitierte Stelle der
Apostelgeschichte zu konstruieren ist: ob so, daß nur eine, oder so, daß zwei,
oder so, daß fünf Synagogen erwähnt sind, ist nämlich wohl im letzteren
Sinne zu entscheiden (so schon Vitringa S. 253).
8) Nedarim V, 5: „Dinge, die der Stadt gehören, sind z. B. die Straße,
die Badeanstalt, die Synagoge, der heilige Schrank, die heiligen Bücher**.
9) MrgiUa III, 1 : „Wenn Stadtbewohner den freien Platz der Stadt ver-
kauft haben, dürfen sie für den Erlös eine Synagoge kaufen; wenn eine Syna-
goge, dann einen heiligen Schrank; wenn einen heiligen Schrank, dann Um-
hüllungen zu heiligen Schriften; wenn solche, dann heilige Schriften; wenn
solche, dann ein Gesetzbuch".
10) Berachoth IV, 7: „R. Eleasar ben Asarja sagt: Das Musaphgebet
[das am Sabbath und den Festtagen zum gewöhnlichen Gebet hinzugefügt
wird, vgl. Hamburger, Real-Enz. Art. „Mussafgebet"] wird nur in einer Stadt-
gemeinde gebetet. Die Gelehrten sagen: In einer Stadtgemeinde und außer-
halb einer solchen. R. Juda sagt im Namen jenes: Überall, wo eine Stadtge-
meinde ist, ist der Einzelne frei vom Musaphgebet". — Das seltene Wort
•v*S *an wird allerdings verschieden erklärt. Da aber jedenfalls ein Gemeinde-
verband darunter zu verstehen ist (nicht, wie Maimonides und viele Neuere
erklären, ein einzelner „Gelehrter"), und da die religiöse Gemeinde sonst nicht
*an sondern nD3D heißt, so wird unter "an eben ein bürgerlicher Gemeinde-
verband zu verstehen sein, was auch an der von Levy, Neuhebr. Wörterb.
8. v. zitierten Stelle Megiüa 27 *> sehr wohl paßt. Vgl. über 1*3 *an auch
Semachoth XI— XII, Buch ler, Der galiläische Am-ha-Ares des 2. Jahrh.
(1906) S. 210-212.
504 § 27. Schule und Synagoge. [432]
wohnerschaft die Synagogengemeinde eine selbständige Existenz
neben der politischen Kommune hatte. In den rein jüdischen
Ortschaften werden die Ortsältesten zugleich Synagogen-
älteste gewesen sein. — Sofern die Gemeinde als religiöse ins
Auge gefaßt wird, heißt sie «j» (eigentl. „Versammlung", griech.
ovvaywyq, aram. KDtö^D), die Gemeindeglieder daher np??n ^3 * \
11) Bechoroth V, 5. Sabim III, 2. Auch die Gesamtgemeinde Israels
heißt b«ntt5^ nwa (Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdischen Tra-
ditionsliteratur 1905, I, 85. II, 87 f.). — nöJS ist in der vorletzten Silbe nicht
mit Segol, sondern mit Zere zu schreiben, vgl. aram. KTO^s und cod. de
Rossi 138, wo zwar nicht ganz konsequent, aber doch an den meisten Stellen
richtig HDJÄ punktiert ist. Vgl. über die Bildung des Wortes auch Bacher
in Hostings' Dictionary of the Bible IV, 636. — Das griech. axvaywyi\ in der
Bedeutung „Gemeinde" z. B. Actor. 6, 9. 9, 2. Inschrift von Phokäa an der
jonischen Küste (Revue des eUudes juives XII, 1886, p. 236 sqq. — Bulletin de
corresp. hell. X, 1886, p. 327 sqq. : ^ owayoyfy helprjosv ttbv *Iovdala>v u. s. w.),
Inschrift von Akmonia in Phrygien (Revue archeol. trois. Sirie t. XII, 1888,
p. 225 — Ramsay, The cities and bishoprics of Phrygia vol. I pari II, 1897,
p. 649 sq. -= Revue des itudes anciennes t HI, 1901, p. 272: tj owayopy)} hei-
Utiobv u. s. w.), Inschrift von Pantikapäum am cimmerischen Bosporus vom
J. 81 n. Chr. (Corp. Inscr. Oraec. t. II p. 1005 Addenda n. 2114bb = Laty scher,
Inscr. antiquae orae septentrionalis Ponti Euxini II, 1890, n. 52: awemtooTts-
ovorjq tik xal tijg ovvayuyyfjs ttbv ^IovSalwv, ebenso CIGr. n. 2114h — ■ Laty-
sehet n. 53). Häufig auf römisch-jüdischen Grabschriften, öorp. Inscr. Oraec.
n. 9902 sqq. vgl. unten § 31, IL Daß es im späteren Judentum der gewöhn-
liche Ausdruck für „Gemeinde" war, erhellt namentlich auch aus dem Sprach-
gebrauch der Kirchenväter, welche owayayfi und ixxXrjala ohne weiteres in
der Art unterscheiden, daß ersteres die jüdische, letzteres die christliche
Gemeinde bezeichnet Ja die Ebjoniten haben den Ausdruck awaywyt) auch
für die christliche Gemeinde beibehalten (Epiphan. haer. 30, 18: awayatyijv
Ah oiroi xaXoüoi xfjv kavrwv ixxXrjalav xal obxl ixxXrjalav). Und sogar in der
patristischen Literatur wird zuweilen owayaryrf für die christliche Gemeinde
gebraucht (s. Harnack, Zeitschr. für wissensch. Theol. 1876, S. 104 ff., und
dessen Anm. zu Hermas Mandat. XI, 9 in Gebhardt und Harnacks Ausg. der
Patr. apostol. Zahn, Forschungen zur Gesch. des Neutest. Kanons II, 1883,
S. 165. Ders., Einleitung in das Neue Test. I, 66 f.). Im christlich-palästi-
nensischen Aramäisch scheint KnttJ^D, welches dem griech. awayaty^ ent-
spricht, das gewöhnliche Wort für „Kirche" gewesen zu sein (s. Land, Anec-
dota Syriaca IV, 217. Zahn, Tatians Diatessaron S. 335. Schultheß,
Jjexicon Syro-Palaestinum 1903 p. 95 s. v.). Die Herrschaft auf christlichem
Gebiet hat jedoch allerdings von Anfang an, schon seit Paulus, der Ausdruck
ixxXrjala behauptet. Dieser Gegensatz des jüdischen und christlichen Sprach-
gebrauchs ist auf den ersten Blick befremdlich, da im Alten Testament kein
wesentlicher Unterschied zwischen ovvayioyj und ixxXrjala gemacht wird. Die
LXX setzen avvaywytf für nny, ixxXrjala in der Regel für in£; ebenso die
Targume KnttJ^s für ms, ainp gewöhnlich für bnp. Ersteres wird haupt-
sächlich in den Büchern Exodus, Leviticus, Numeri und Josua gebraucht,
letzteres im Deuteronomium, I. und IL Chronik, Esra und Nehemia (Näheres
[433] II. Die Synagoge. 505
Der Ausdruck awaycoyrj kommt auch im Sprachgebrauch der grie-
chischen Kultvereine vor. Er ist hier gleichbedeutend mit avvodog
und bezeichnet (dem ursprünglichen Sinne entsprechend) in der
Regel nicht den Verein, sondern die periodisch wiederkehrende
festliche „Versammlung" (Zusammenkunft) desselben 12. Doch finden
s. in den Koncordanzen) , beides sehr häufig, und beides ohne wesentlichen
Unterschied zur Bezeichnung der „Gemeinde Israels". Schon das spätere Ju-
dentum scheint aber einen Unterschied im Gebrauch beider Begriffe gemacht
zu haben, und zwar in der Art, daß owaywy/j mehr die Gemeinde nach Seite
ihrer empirischen Wirklichkeit, ixxXqola mehr dieselbe nach ihrer idealen
Bedeutung bezeichnete; ovvaywytf ist der an irgend einem Orte kon-
stituierte Gemeindeverband, ixxXrjaia dagegen die Gemeinde der
von Gott zum Heil Berufenen, namentlich wie irjjj, die ideale Gesamt-
gemeinde Israels (wegen bh£ vgl. in der Mischna Jebamoth VIII, 2. Kiddu-
sohin IV, 3. Horajoth I, 4—5. Jadajim IV, 4). Wenn also Augustin sagt,
away(oyrj = congregatio werde auch von Tieren gebraucht, ixxXijaia =» con-
vocatio dagegen mehr von Menschen (s. Enarrat. in Ps. 81, 1), so ist daran
wenigstens so viel Wahres, daß letzteres in der Tat der wertvollere Begriff
ist. ZvvaycoyJi drückt nur einen empirischen Tatbestand aus, ixxXrjoia aber
enthält zugleich ein dogmatisches Wert-Urteil. Aus dieser, wie es scheint,
schon im Judentum herrschend gewordenen Differenzierung der Begriffe er-
klärt es sich leicht, daß der christliche Sprachgebrauch sich fast ausschließlich
des letzteren Ausdrucks bemächtigt hat. Nur anmerkungsweise ist hier
endlich auch noch der in der Mischna häufig gebrauchte Ausdruck i*iä2 zu
erwähnen. Er bezeichnet nämlich überhaupt nicht die Gemeinde als Gemein-
schaft, sondern nur als Gesamtheit im Gegensatz zum Einzelnen; so z. B. in
dem noch zu besprechenden Ausdruck n^ax H^iü Berachoth V, 5. Bosch ha-
schana IV, 9. In der Opfersprache heißen die öffentlichen Opfer, die im
Namen Gesamt-Israels dargebracht werden, nias niaa^ip Sehekcdim IV, 1. 6.
Sukka V, 7. Sebachim XIV, 10. Menachoth II, 2. VIII, 1. IX, 6. 7. 9. Te-
mura II, 1. Kerithoih I, 6. Para II, 1. Vgl. auch n*ns rKüH Jonia VI, 1.
Sebachim V, 3 und sonst, *nax ■nAw ^nat Pesachim VII, 4. Sebachim V, 5
und sonst. Ein öffentliches Fasten heißt ein Fasten, das verfügt wird bs
ninxn Taanith I, 5. 6. II, 9. 10. -itaS ist also überhaupt nicht die „Ge-
meinde", sondern die „Gesamtheit".
12) So vor allem in dem Testament der Epikteta um 200 v. Chr. (Corp.
Inscr. Oraec. 2448, neuere Ausgabe von Ricci in: Monumenti antichi pubbli-
cati per cwra detta R. Academia dei Lincei vol. II, 1893, p. 70 — 158, und in
Inscriptiones Oraecae insularum maris Aegaei fasc. III, ed. Hiller de Gaertringen
1898, n. 330; vgl. auch Ziebarth, Das griechische Vereinswesen 1896, S. 7 f.).
Diese Dame richtet für ihren verstorbenen Gemahl und für zwei verstorbene
Söhne einen Heroenkultus ein, der von dem männlichen Teil ihrer Verwandt-
schaft gepflegt werden soll. Der Verein, welchen 25 Mitglieder derselben zu
diesem Zwecke bilden sollen, heißt aber nicht owayuyyrf, sondern xb xoivdv
xo$ olvöqbIov xtbv ovyyevtbv. Nur in bezug auf die Jahresversammlungen des
Vereins werden die Formeln gebraucht: umjxe ylveo&ai xav avvaywyav in
a/uhgag xgetg iv xCo fiovaelat (col. IV lin. 10 sq.), räv öh cwayojyav xov avSgeiov
xCov cvyyevibv ylveo&ai iß (jtrjvl JsXyivto) iv x(j> fiovoeUo xad? exaovov hoq
506 § 27. Schule und Synagoge. [433. 4341
sich auch einzelne Beispiele dafür, daß ovvayar/fi den Verein selbst
bezeichnet13. |
Die Befugnisse der Gemeindeältesten in religiösen An-
gelegenheiten müssen denen in bürgerlichen Dingen analog gedacht
werden. Wie also die bürgerliche Verwaltung und Jurisdiktion
wohl ganz in ihrer Hand lag, so ist vermutlich auch die Leitung
der religiösen Angelegenheiten ausschließlich ihre Sache gewesen.
Es fehlt wenigstens jede Spur davon, daß in den jüdischen Ge-
meinden etwa in der Art wie in der korinthischen Christengemeinde
das Plenum der Gemeinde selbst direkt über einzelne Fälle der
auigaq xgeTq (col. IV lin. 23 sq.). — In demselben Sinne steht awaycoytf 2)
auf einem Ehrendekret des noXixevfia der Idumäer in der Nähe von Memphis
(2. Jabrh. vor Chr.): inl awaywyrjq xrjq yevri&elorjq iv xCbi &vo> 'AnoXXwviticoi
xov noXixevuaxoq xal xCbv dnd xfjq nöXsojq 'Idovfiaicw (Gatalogue gineral des
Antiquitis fyypt. du Musie du Cdire vol. XVIII: Greek inseriptions by Milne
1905 n. 20 — Dittenberger, Orientis graeei inser. sei. n. 737). — 3) Auf dem
Ehrendekret eines d-laaoq (unsicherer Herkunft, wahrscheinlich aus Bithynien,
2. Jabrh. vor Chr.) für eine Priesterin der Kybele und des Apollo, welche
bekränzt werden soll iv xf\i xov didq ovvayu>yr}i (Conze, Reise auf der Insel
Lesbos 1865, S. 61—64, Tafel XIX = Foucart, Des assoeiations religieuses chex
les Grecs p. 238 n. 65, dazu die Erörterungen von Perdrixet, Bulletin de cor-
resp. kellinique t. XXIII, 1899, p. 592—599, welcher. awaywyJi schwerlich richtig
durch confrSrie wiedergibt p. 595). — 4) Auf der großen Grabschrift, welche
der König Antiochus von Koramagene (1. Jahrh. vor Chr.) sich selbst gesetzt
hat (Humann und Puchstein, Reisen in Kleinasien und Nordsyrien, 1890,
S. 232 — 353 — Dittenberger, Orientis gr. inser. sei. n. 383), ordnet er die jähr-
liche Feier seines Geburtstages und des Tages seines Regierungsantrittes an
und weist etq awaytoyäq xal 7iav/jyvQ£iq xal 9votaq xavxaq die Einwohner
seines Reiches, nach Dörfern und Städten eingeteilt, je den benachbarten
Heiligtümern zu (lin. 93 — 95). — Überhaupt hießen die Zusammenkünfte zu
Schmausereien mit oder ohne kultischen Charakter avvayatyal. Aihenaeus V,
p. 192 B : näaa Sh avunoolov avvaywyfi tkxqcl xolq oLQxaloiq r»)v aixiav eiq B-edv
avipege. Ders., VIII p. 362 E: fyavoi öi elocv al dnb xtbv avpßaXXop&vwv
owayoryat, oltiö xov owbqolv xal ov/ucpiQtiv ixaaxov (also Picknicks). Ditten-
berger, Orientis gr. inser. sei. n. 748 (Verzeichnis von Gaben, welche ein ge-
wisser Philetairos für öffentliche Zwecke gespendet hat, 3. Jahrh. vor Chr.):
elq tXaiov xal ovvaya>[yaq] xwv v£wv &Qyvglov xaXavxa %AXe§dvÖQ€ta eüxooiv e£
(angesichts der großen Summe wird nicht mit Dittenberger ovvaywyJjv, sondern
owaywyaq zu ergänzen sein). — Ahnlich auch awaywytov, s. unten Anm. 62.
13) Wenn es in dem Dekret des xoivdv xtbv 'AxxaXiaxüv (2. Jahrh. vor
Chr.) Corp. Inser. Gr. n. 3069 = Dittenberger, Orientis gr. inser. sei. n. 326
lin. 12 heißt, daß die Könige freundlich behandelt haben xty ^fXBxigav atyeoiv
xal avvaywyJjv, so ist awaywyj mindestens im Übergang zu der Bedeutung
„Verein". Deutlich liegt dieselbe aber vor iu der Bezeichnung eines Barbier-
Vereins als awaywyij xtbv xovq£<dv (Anfang des 1. Jahrh. nach Chr., Archäol.-
epigr. Mittheilungen aus Österreich - Ungarn XIX, 1896, S. 67). — Wie
ovvaycoyfy so ist auch das häufigere avvoöoq 1) Versammlung, 2) Verein.
i
[434. 435] II. Die Synagoge. 507
Disziplin und Verwaltung beraten und beschlossen hätte. Es ge-
schah dies vielmehr hier durch Vermittelung der dazu berufenen
Organe, d. h. durch die Ältesten der Gemeinde. Zur Kompetenz
der letzteren gehörte insonderheit höchst wahrscheinlich die Aus-
übung des wichtigsten religiösen Disziplinaraktes, die Verfügung
des Bannes oder der Ausschließung aus der Gemeinde. Die
strikte Handhabung dieses Zuchtmittels war für das nachexilische
Judentum geradezu eine Lebensfrage. In fortwährender Berührung
mit einer heidnischen Umgebung konnten die jüdischen Gemeinden
nur dann sich intakt erhalten, wenn sie fremdartige Elemente stets
sorgfältig von sich ausschieden. Wie daher die festere Organi-
sierung der nachexilischen Gemeinde eben damit begonnen hatte,
daß jeder, welcher der neuen Ordnung sich nicht fügte, von der
Gemeinde ausgeschlossen wurde (Esra 10, 8), so mußte auch fort
und fort für Ausscheidung widerstrebender Elemente auf dem Wege
der Gemeindedisziplin gesorgt werden. Daß diese Einrichtung im
Zeitalter Christi tatsächlich bestanden hat, beweisen wiederholte
Andeutungen im Neuen Testamente (Luc. 6, 22. Joh. 9, 22. 12, 42.
16, 2). Fraglich kann nur sein, ob es verschiedene Arten des Aus-
schlusses gegeben hat Manche Gelehrte haben auf Grund der
Angaben des Elias Levita (f 1549) in seinem „Tischbi" drei ver-
schiedene Arten unterschieden: 1) "»^5, 2) Din, 3) ürmw u. Hiervon
kommt aber | die letztere sofort in Wegfall, da im Talmud "»TO
und fcWTOt? ganz gleichbedeutend gebraucht werden, wie bereits
Buxtorf nachgewiesen hat15. Traditionell ist nur die Unterschei-
dung zweier Arten: des ^TO oder der temporären Ausschließung
und des wrn oder des unlösbaren Bannes16. Wie alt jedoch diese
Unterscheidung sei, ist schwer zu sagen. Direkt bezeugt ist im
Neuen Testamente nur das äyogiCeiv (Luc. 6, 22) oder anoovvaym-
yov noulv oder ylvso&cu (Joh. 9, 22. 12, 42. 16, 2), also nur die Sitte
der Ausstoßung als solcher. Wenn in der bekannten Stelle des
I. Korintherbriefes (I. Kor. 5) neben oIqbiv kx [ifoov (Vers 2) auch
der Ausdruck xagadovrai x<p Saxava vorkommt (V. 5), so ist es
eben fraglich, ob unter letzterem eine strengere Form des Bannes
zu verstehen ist. Auch in der Mischna wird nur die Ausstoßung
("^3) als solche erwähnt und dabei die Möglichkeit der Wieder-
aufnahme vorausgesetzt17. Andererseits kennt ja schon das Alte
14) Nach Schmiedel zu I Kor. 16, 22 findet sich diese Dreiteilung auch
schon bei Paulus von Burgos (f 1435).
15) Lex. Ghald. col. 2462—2470 (s. v. Krott». — Vgl. auch Levy, Chald.
Wörterb. 8. r. n^n.
16) So Maimonides bei Vitringa, De synagoga p. 739.
17) Taanitk III, 8. Moed katan III, 1—2. Edujoth V, 6. Middoth II, 2.
508 § 27. Schule und Synagoge. [435. 436]
Testament den Begriff des onn, d. h. der unlösbaren Bannung oder
Verfluchung; und daß derselbe wenigstens als dogmatischer Begriff
(im Sinne der Verfluchung) auch dem späteren Judentum geläufig
war, beweisen schon die im Neuen Testamente wiederholt vor-
kommenden Ausdrücke ävd&tfia und avad-efiaxl^eiv {Born. 9, 3. L Kor.
12, 3. 16, 22. Qal 1, 8—9. Marc. 14, 71. Apostelgesch. 23, 12. 14. 21).
Ein tatsächlicher Gebrauch von Anathematismen in den Synagogen
ist vom zweiten Jahrhundert nach Chr. an bezeugt durch die Notiz
des Justin und anderer Kirchenväter, daß die Juden beim täglichen
Gebet jedesmal auch Verwünschungen gegen die Christen aus-
sprachen 18. Allerdings handelt es sich hier nicht um Verhängung
des ara&e/ia über einzelne bestimmte Personen; und es ist auch
fraglich, ob die Verwünschungen direkt gegen die Christen ge-
richtet waren. Aber es ist doch jedenfalls damit der faktische
Gebrauch von Anathematismen im gottesdienstlichen Leben jener
Zeit bewiesen. Es ist daher möglich, daß schon im Zeitalter Christi
eine doppelte Art der Ausschließung aus der Gemeinde vorkam,
entweder ohne oder mit Verhängung des dva&efia. Bestimmteres
aber läßt sich bei dem Mangel direkter Zeugnisse nicht behaupten 19.
— - Zur Ver| hängung dieser höchsten Disziplinarstrafe waren nun
höchst wahrscheinlich die Ältesten der Gemeinde befugt Denn
wie im nachexilischen Judentum, soviel wir wissen, nirgends die
Masse des Volkes als solche die Jurisdiktion ausgeübt hat, so ist
dies auch in betreff des Bannes nicht vorauszusetzen. In der Tat
sehen wir z. B. Joh. 9, 22, daß der Bann von den 'lovöaloiQ, d. h. nach
dem Sprachgebrauch des Evangeliums von den Behörden des Volkes
verhängt wird. Indirekt wird dies auch dadurch bestätigt, daß
im Zeitalter der Mischna, wo die politische Organisation des Volkes
aufgelöst war und die fachmännisch gebildeten Schriftgelehrten
mehr und mehr die Befugnisse der früheren Ortsbehörden an sich
gebracht hatten, eben die „Gelehrten" (D^on) es sind, welche den
18) Justin, Dial. c. Tryph. c. 16. Epiphan. haer. 29, 9. Näheres s. unten
im Anhang über das Schmone Esre.
19) Vgl. über den Bann überhaupt: Buxtorf, Lex. Chald. col. 827—829
(s. v. Din), col. 1303—1307 (s. v. iru), col. 2462—2470 (s. v. an*tt). — Seiden,
De synedriis lib. If cap. VII. Ders., De jure naiurae et gentium IV e. 19. —
Light footy IJorae hebr. zu I Kor. 5, 5 (Opp. II, 888 sqq.). — Vitringa, De
synagoga p. 729 — 768. — Oarpxov, Apparalus hislorico-criticus p. 554 — 562.
— Bindrimt De gradibus excommunicationis apud Hebraeos, in Ugoiinis The-
saurus t. XXVI. — Oottl Isr. Musculus, De excommunicatione Hebraeorum
et ejusdem in Novo Testamento vestigiis, Lips. 1703. — Danx, Ritus excommu-
nicationis (bei Meuschen, Nov. Test, ex Talmude iüustratum p. 615 — 648). —
Noch andere ältere Dissertationen s. bei Mensel } Bibliotheca historica I, 2,
[436. 437] IL Die Synagoge. 509
Bann verhängen und aufheben20. Auch in der talmudischen und
nachtalmudischen Zeit lag er stets in der Hand der kompetenten
Gemeindebehörden 21.
Neben den Ältesten, welche im allgemeinen die Angelegenheiten
der Gemeinde zu leiten hatten, mußten für besondere Zwecke
spezielleBeamte bestellt werden. Hier ist aber das Eigentüm-
liche dies, daß gerade für die eigentlich gottesdienstlichen Hand-
lungen: Schriftlektion, Predigt und Gemeindegebet, keine beson-
deren Beamten aufgestellt wurden. Diese Akte wurden vielmehr
im Zeitalter Christi noch von den Gemeindegliedern selbst in freiem
Wechsel ausgeübt, weshalb z. B. auch Christus überall, wohin er
kommt, in den Synagogen sofort das Wort ergreifen kann (Näheres
s. unten bei der Gottesdienstordnung). Aber wenn auch keine amt-
lichen Lektoren, Prediger und Liturgen bestellt wurden, so mußte
doch vor allem 1) ein Beamter aufgestellt werden, welcher für die
äußere Ordnung beim Gottesdienst sorgte und überhaupt die Auf-
sicht über das Synagogenwesen führte. Dies war der Archi-
synagog22. Solche aQxiovvaymyoi treffen wir im gesamten Be-
198 sq. — Die Ausleger zu Bv. Luc. 6, 22. Joh. 9, 22 (zu letzterer Stelle bes.
Wetstein Nov. Test, Wolf Ourae phiL, Kuinoel Oomment.). — Wieseler,
Commentar über den Brief an die Galater, zu Gai. 1, 8. — Gildemeister,
Blendwerke des vulgären Rationalismus zur Beseitigung des paulinischen Ana-
thema, Bremen 1841. — Win er, RWB. Art. „Bann". — Merx in Schenkels
Bibellex. 8. v. — Hamburger, Real-Enz. f. Bibel u. Talmud, 1. Abt. 8. v.
— Wiesner, Der Bann in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1864.
— Cremer, Biblisch- theo!. Wörterb. Art. anoawdyoyyoq (4. Aufl. S. 67 f.). —
Heinrici Art. „Anathema" in Herzog-Haucks Real-Enz. I, 493 f. — Mandl,
Der Bann, ein Beitrag zum mosaisch-rabbinischen Strafrecht, Brunn 1898 (52 S.).
— Kohl er, Art. Anathema in: The Jetvish Encyclopedia I, 559 — 562.
20) S. bes. Moed kaian III, 1—2.
21) In Justinians Novell. 146, in welcher das Vorlesen des griechischen
Bibeltextes in den jüdischen Synagogen gestattet und die jüdischen Behörden
angewiesen werden, dies nicht durch Verhängung des Bannes zu verhindern,
heißt es in letzterer Beziehung: OixSh aSsiav iSovaiv ol naoy avvoZQ ä'QX'-V*'
qexTxcu ij nQeoßvxsQOL zvxöv rj StödoxaXoi nQoaayogevöfisvoi neoivolaig xiolv
fj ava^e/nariofioTg rotruo xwXveiv. — Maimonides setzt als selbstverständlich
voraus, daß der Bann durch das "pl rvo verhängt wird. S. überhaupt: Vi-
tringa p. 744 — 751.
22) Vgl. über die Archisynagogen meine Abhandlung: Die Gemeindever-
fassung der Juden in Rom in der Kaiserzeit (Leipzig 1879) S. 25 — 28. — Wein-
berg, Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1897, S. 657 f. —
Die ältere Literatur ist deshalb wenig ergiebig, weil sie Heterogenes zusammen-
wirft. Hervorzuheben sind: Vitringa, Archisynagogus observationibus novis
illustrativ, Franeq. 1685. — Id., De synagoga vetere p. 580—592. 695—711. —
Rhenferd, Investigatio praefectorum et ministrorum synagogae c. 1 [Opp. phil.
p. 48Qsqq. Auch in Ugolinis Thesaurus Bd. XXI).
510 § 27. Schule und Synagoge. [437. 438]
reiche des Judentums, nicht nur in Palästina23, sondern auch in
Ägypten24, Kleinasien25, Griechenland26, Italien27, Afrika28 | und
23) Ev. Marti 5, 22. 35. 36. 38. Luc. 8, 49. 13, 14. — Evang. Nicodemi
bei Thilo, Codex apoer. Nov. Test. p. 514 sq. 640. 652 (=- Acta Pilati bei 2¥-
schendorf, Evang. apocr. 1876, p. 221. 270. 275. 284). — Griech. Inschrift aus
der Gegend von Sepphoris, wie es scheint für einen Sidonier (spätere Kaiser-
zeit): Palestme Exploration Fund, Quarierly Statement 1895 p. 354.
24) Hadrians angeblicher Brief an Servianus bei Vopiscus, Vita Saturnin.
c. 8 (Scriptores Eistoriae Augustae ed. Peter 1865, II, 209).
25) Act. 13, 15 (Antiochia Pisidiä). — Epiphan. haer. 30, 11 (Cilicien). —
Inschrift von Smyrna, Revue des etudes juives t. VII, 1883, p. 161 sq. — In-
schrift von Akmonia in Phrygien, Revue archeol. trois. Serie t. XU, 1888 p. 225
= Ramsay, The cities and bishoprics of Phrygia vol. I pari II, 1897 p. 649 sq.
=■ Revue des Studes anciennes t. III, 1901, p. 272 (hier ein &QXiowäy(oyo<; Siä
ßlov). — Inschrift von Myndos in Karien, Revue des Studes juives t. XLU, 1901,
p. 1—4.
26) Act. 18, 8. 17 (Korinth). — Corp. Inscr. Oraec. n. 9894 (Aegina).
27) Corp. Inscr. Oraec. n. 9906 (Rom). — Oarrucei, Cimitero degli antichi
Ebrei scoperto recentemente in Vigna Randanini p. 67 (Rom). — Mommsen,
Inscr. Regni Neap. n. 3657 «— Corp. Inscr. Lat. t. X n. 3905 (Capua). — Ascoli,
Iscrixioni inedite o mal note greche latine ebraiche di antichi sepolcri giudaici
1880, p. 49 not. 1, p. 52, 57 (Venusia in Unteritalien). Dieselben drei In-
schriften im Corp. Inscr. Lat. t. IX (1883) n. 6201. 6205. 6232. Die zwei letz-
teren auch bei Lenormant, La catacombe juive de Venosa, in: Revue des Studes
juives t. VI, Nr. 12, 1883, p. 203. 204. — Kaibel, Inscr. Oraecae Sicü. et Ital.
n. 2304 (Brescia). — Die drei zuerst genannten Inschriften aus Rom und Capua
s. auch im Anhang zu m. Schrift: Die Gemeindeverfassung der Juden in Rom,
Nr. 5. 19. 42.
28) Synagoge zu Hammam-Lif, nicht weit von Carthago (entdeckt 1883)..
Hier in einem Vor -Räume die Inschrift: Asterius fUius Rustici arcosina-
f/ogi, Margarita Riddei partem portici tesselavit. Im Fußboden des eigent-
lichen Synagogen -Raumes fand man ein Mosaik mit allerlei Tiergestalten
und einer Inschrift, in welcher nach den ersten ungenauen Mitteilungen das
christliche Monogramm vorzukommen schien (Joh. Schmidt, Ephemeris epigra-
phica t. V, 1884, p. 537 n. 1222, nach dem Bulletin epigraphique de la Gaule
III, 1883, p. 107). In Wahrheit steht das christliche Monogramm nicht da;
wohl aber ist mehrfach der siebenarmige Leuchter abgebildet. Der Bau und
die Inschriften sind also trotz der Tiergestalten sicher jüdisch. S. die Mit*
teilungen von: Renan, Revue archSol. troisieme SSrie t. I, 1883, p. 157 — 163*
t. III, 1884, p. 273—275, pl. VII— XI (hier Abbildungen des ganzen Mosaik-
fußbodens). Kaufmann, Revue des Studes juives t. XIII, 1886, p. 45 — 61.
Rein ach, ebendas. p. 217 — 223. Corp. Inscr. Lat. VIII Supplem. n. 12457. —
Die Mosaiken sind jetzt an Ort und Stelle nicht mehr vorhanden, s. Revue des
etudes juives XIII, 217. Schmidt im Corp. Inscr. Lat. I. c. Bruchstücke be-
finden sich in Toulouse, s. Les monuments historiques de la Tunisie, P. I, pubL
par Cagnat et Gauckler, 1898, p. 152 — 154. Monceaux, Revue des Studes
juives t. XLIV, 1902, p. 11—13. Schwab, Nouveües archives des missions
scientißques t. XII fasc. 3, 1904, p. 189—193. — Ein archisynagogus in Cae-
[438. 439] IL Die Synagoge. 511
überhaupt im römischen Reiche29. Von den Juden ist das Amt
und der Titel auch in die judenchristlichen Gemeinden Palästinas
übergegangen30. Gleichbedeutend hiermit ist ohne Zweifel der
hebräische Titel DW3n flfen81. Daß dieses Amt von dem eines
Gemeindeältesten verschieden war, beweist das Nebeneinander-
vorkommen der Titel xQeaßvreQoi und aQx^ovvaymyoi S2. Am in-
struktivsten ist aber, daß nach dem Zeugnis der Inschriften ein
und dieselbe Person das Amt eines <xqx<dv und eines aQxcovvayoyog
nebeneinander bekleiden konnte33. Die aQxovxsq waren in der |
Diaspora die „Obersten" der Gemeinde, in deren Hand die Ge-
meindeleitung im allgemeinen lag. Von deren Amt ist also das
des Archisynagogen jedenfalls verschieden. Der Archisynagog kann
aber auch nicht etwa der Oberste der Archonten gewesen sein;
denn dieser heißt yBQovöiaQxnq (s. unten § 31, über die Diaspora).
Er hat also überhaupt mit der Gemeindeleitung im allgemeinen
nichts zutun. Sein Amt ist vielmehr speziell die Sorge für
den Gottesdienst. Er heißt „Archisynagog" nicht als Oberster
der Gemeinde, sondern als Leiter der gottesdienstlichen Gemeinde-
versammlung. In der Regel ist er wohl aus der Zahl der Ge-
sarea (in Mauritanien) kommt in den Acta Marcianae c. 4 vor (Monceaux
a. a. O. S. 8).
29) Codex Theodosianus (ed. Haeml) XVI, 8, 4. 13. 14. — Vgl. auch noch
Justin. Dial. c. Tryph. c. 137.
30) Epiph. kaer. 30, 18: 7tQSoßvT&QOvq yaQ ovzoi Hzovoi xal &QXiovvayu>yovg.
31) Sota VII, 7 — 8: „Bei den Segenssprüchen des Hohenpriesters am Ver-
söhnungstage wird so verfahren: Der Synagogendiener (chassan ha-keneseth)
nimmt eine Gesetzesrolle und gibt sie dem Archisynagogen (rosch ha-keneseth)-,
dieser reicht sie dem Vorsteher der Priester, dieser dem Hohenpriester. Dieser
empfangt sie stehend und liest stehend (8) Bei den Lesestücken des
Königs am ersten Tage des Laubhüttenfestes im Sabbathjahre wird so ver-
fahren: Man errichtet für den König eine hölzerne Tribüne (ßrjpa) im Vor-
hofe, und er setzt sich daselbst nieder .... Der Synagogendiener nimmt eine
GesetzesroUe und gibt sie dem Archisynagogen (rosch ha-keneseth); dieser reicht
sie dem Vorsteher der Priester, dieser dem Hohenpriester, dieser dem König,
und der König empfangt sie stehend und liest sitzend etc." — Die erste Hälfte
dieser Stelle s. auch Joma Vn, 1.
32) Epiphan. haer. 30, 11 u. 18. — Codex Theodosianus XVI, 8, 13. — Acta
Püaii bei Tischendorf p. 221.
33) Oarrucci, Cimitero p. 67: Stafulo arconti et archisynagogo. —
Momfnsen, Inscr. Regni Neap. n. 3657 — Corp. Inscr. Lot. t. X n. 3905: AI-
fius Juda arcon arcosynagogus. — Vgl, auch Corp. Insoript. Qraec. n. 9906:
'iovXiavdg Uqsvq &qx(0V • • • V^S *IovXiavo$ «j^xKJvvaytbyov. — In der
Apostelgeschichte 14, 2 hat der cod. D folgenden Text: ol 6h &Q%iovva-
ywyoi x(bv lovöalaw xal ol a(>xovr£S trjg owaywyfjq injyayov abzoXq 6iwy~
fidv xaxä tu>v ötxalwv. Der sachkundige Urheber dieses Textes hat also ge-
wußt, daß aQztffvväyQ)yoi und 5(#ovtec verschieden sind.
512 § 27. Schule und Synagoge. [439. 440]
meindeältesten genommen worden. Als seine Funktionen werden
insonderheit z. B. erwähnt, daß er zu bestimmen hatte, wer die
Schriftlektion und das Gebet vortragen solle34, und daß er geeig-
nete Personen zur Predigt aufzufordern hatte36. Er hatte über-
haupt dafür zu sorgen, daß in der Synagoge nichts Ungehöriges
vorkam (Luc. 13, 14), und hatte wohl auch die Sorge für das Syna-
gogengebäude36. Gewöhnlich hat es wohl für jede Synagoge nur
einen Archisynagogen gegeben (vgl. Luc. 13, 14). Zuweilen wird
aber auch eine Mehrheit von solchen an einer Synagoge erwähnt;
so namentlich Act. 13, 15 (aJtioruXav ot aQxiovvaymyoi jiqos avtovg),
während der unbestimmtere Ausdruck elg x&v äQXiOvvay<6ya>v
Marc. 5, 22 auch erklärt werden kann: „einer aus der Klasse der
Synagogenvorstehertt (s. Weiß zu d. St.). In späterer Zeit scheint
der Titel aQxiovvaywyoq auch als bloßer Titel sogar an unmündige
Kinder und an Frauen verliehen worden zu sein37. | Merkwürdig
ist, daß auch im heidnischen Kultus Archisynagogen vor-
kommen. Doch muß dahingestellt bleiben, ob der Gebrauch des
Ausdrucks auf jüdischem oder auf heidnischem Gebiete ursprüng-
lich ist38.
34) S. Raschi, Bartenora und Sheringam zu Joma VII, 1 (in Surenhusius'
Mischna II, 244. 246). — Raschi, Bartenora und Wagenseil zu Sota VII, 7 (in
Surenhusius' Mischna III, 266. 267).
35) Act. 13, 15: In Antiochia Pisidiä werden Paulus und Barnabas von
den Archisynagogen aufgefordert, das Wort zu ergreifen, wenn sie einen Xöyoq
nagaxX^asQfg hätten.
36) Corp. Insor. Graec. n. 9894: Der Archisynagog Theodorus in Aegina
leitet den Bau einer Synagoge (ix B-epeXtiov xPn* avvay[wy^v] olxoödurioa).
37) Corp. Inscr. hat. t. IX n. 6201 (=» Ascolt, Iscrixioni p. 49 not. 1):
KaXXiöxov vtniov aqxoooivaywyov sxojv y (xrivotv y. — Reime des Stades juives
t. VII, p. 161 sq.: Pov<p8iva Iovöcua ap^urwayaiyoc. — Bevtte des Üudes juives
t. XLII, p. 1—4: [ß]eej7iif4nzrjg [oLo]ziow(aywyov) xe xov vlov ahxfjq Ehaißiov
(Myndos in Karien, Anfang der byzantinischen Zeit). — Analog sind die un-
mündigen aoxovxsq auf judischen Grabschriften in Rom (s. unten § 31, II).
Ebendaselbst auch ein yoafxfiaixevg) vrfmoq von sechs Jahren ( Garrueci, Oimi-
tero degli antichi Ebrei p. 61). — Auf einer christlich-lateinischen Inschrift in
Afrika kommt ein lector von fünf Jahren vor (Oorp. Insor. Lat. VIII, n. 453).
Leetores infantuli bei Victor Vitensis III, 34 (im Wiener Corp. script. eccL lat.
vol. VII). Nach Mischna Megilla IV, 5—0 war es gestattet, Minderjährige
zur Schriftlektion, aber nicht zum Gebet zuzulassen. — Über die Verleihung
von Ehren-Titeln an Frauen s. unten § 31, II.
38) Euseb. Bist. Eccl. VII, 10, 4 erwähnt einen cLQXio'vvä'yayoc, xihv
o\ri Alyvnxov fidyiov. — Auf einer Inschrift in Olynth (Corp. Insor. Graec.
T. II, p. 994 Addend. n. 2007* =- Duchesne et Bayet, Mission au mont Aihos
1876 n. 119) kommt vor ein AÜaavbq Neixcw ö &QXi>Gvvayv)yoq &eod tf$woq
xal xb xoXXrfyiov Baißly Avxmvlip dvioxrjoev xdv ßwfxöv. — Auf einer In-
schrift in Chios (Oorp. Inscr. Graec. T. II, p. 1031 Addend. n. 2221c) fünf
[440. 441] II. Die Synagoge. 513
Außer dem Archisynagogen kommen als Gemeindebeamte 2) die
Almoseneinnehmer, npm i«aa, vor39. Sie haben allerdings |
mit dem Gottesdienste als solchem nichts zu tun, sind also da, wo
die religiöse und bürgerliche Gemeinde nicht getrennt war, mehr
als bürgerliche Gemeindebeamte zu betrachten. Doch müssen sie
hier genannt werden, da das Einsammeln der Almosen gerade auch
[&0Xiov]vdyo>yoi °l &Q$<*vteQ. — Eine Inschrift in Thessalonike (Bulle-
tin de corresp. heltenique VIII, 1884 p% 463), welche ein Dekret der Herakles-
Verehrer für ein Mitglied ihres Vereins enthält, ist datiert vom J. 155 n. Chr.,
und zwar &QXt>ovvay<x>yovvxoQ Kwxvoq ElQ^vijg. — Inschrift in Thracien,
Anf. des 1. Jahrh. nach Chr. (Archäol.-epigr., Mittheilungen aus Österreich-
Ungarn XIX, 1896, S. 67): xbv ßojfxdv xff owaywyji xwv xovotwv tcbqI dgxi(fvVm
dywyov R lovXiov ObdXevxa. — Da in Ägypten die Beligionsmengerei an
der Tagesordnung war, die vier griechischen Inschriften aber jung sind, so ist
in allen Fällen Entlehnung aus dem Judentum möglich; ebensogut freilich
auch das Umgekehrte. — Wenn endlich Alexander Severus spottweise ein
Syrus Arckisynagogus genannt wurde (Lamprid. Vita Alex. Sev. c. 28, in Script.
Eist. Aug. ed. Peter I, 247), so ist es ungewiß, ob dabei an einen jüdischen
oder heidnischen Archisynagogen zu denken ist. — Der verwandte Titel ovva-
ycoydg kommt häufig bei Kulturvereinen am Schwarzen Meere vor, und zwar in
Pantikapaeum am kimmerischen Bosporus (Latyschev, Inscriptiones antiquae
orae septentrionalis Ponti Euxini graecae et latinae vol. II, 1890, n. 19. 60 — 64,
vol. IV, 1901, n. 207. 208. 210. 211. 212. 469, Ziebarth, Rhein. Mus. 55, 1900,
S. 513), in Gorgippia ebenfalls am kimmerischen Bosporus (Latyschev IV
n. 434, Ziebarth S. 514) und in Tan ai s an der Nordspitze des Asowschen
Meeres (Latyschev II n. 438. 442. 443. 445—448. 451. 454. 455). Die Vereine
von Tanais pflegten den Kultus des S-edq vxpioxoq und waren augenscheinlich
vom Judentum beeinflußt (s. meine Abhandlung in den Sitzungsberichten der
Berliner Akademie 1897, S. 200— 225). Andererseits ist der Titel avvayoryevq
auch sonst bezeugt, nämlich: in De los (Bulletin de corresp. hellinique XI,
1887, p. 256: ovvay<oy£<og öiä ßlov ASXov KaXovlvov), in der Gegend von
Eläusa im westlichen Cilicien (Journal of Hellenic Studies XU, 1891, p. 233 sq.
=« Dittenberger, Orientis gr. inscr. sei. n. 573, Dekret der üaßßaxioxal, welche
unter anderem beschließen, axe<pavovo&ai ... xbv avvayioyia), inTomi am
Schwarzen Meere (Archäol.-epigr. Mittheilungen aus Österreich VI, 1882, S. 19
bis 20, unter den Beamten eines Kultvereines wird hier an erster Stelle der
ovvayioyevg oder Gvvaycoyoq genannt; die Lesung der Endsilbe ist unsicher).
Lucian sagt von seinem Peregrinus Proteus (Peregr. 11), daß er als Schüler
der Christen diese bald übertroffen habe, so daß sie ihm gegenüber nur Kinder
waren: iv ßoaxtf naUaq avxovq om6<pTjve TtgotfrfxTjQ xal S-ictödoxiS xal gvvaya-
yevq xal ndvxa fidvoq ahxbq wv. — Bildungen mit ciQXh wie doxeoavioxfa
aoxi&i&olxrjq , <£p£'Aci'OTf7£, kommen bei griechischen Kultvereinen mehrfach
vor. S. das Material bei Ziebarth, Das griechische Vereinswesen, 1896,
S. 219 (Wortregister s. v.).
39) Demai III, 1. Kiddusehin IV, 5. — An letzterer Stelle heißt es, daß
die Nachkommen von npis ^fcOä auch ohne besondere Untersuchung als Israe-
liten reinen Geblütes gelten, mit welchen die Angehörigen des Priesterstandes
sich verheiraten dürfen. Man sieht also, daß sie wirklich Beamte waren.
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 33
514 § 27. Schule und Synagoge. [441J
in den Synagogen geschah40. Man unterschied die Wochenkasse
(nwp = cupa), aus welcher die Ortsarmen einmal in der Woche
regelmäßig unterstützt wurden, und die „Schüssel" ("nrran), aus
welcher jeder Bedürftige (also besonders der Fremde) eine Tages-
ration erhalten konnte41. Wer daher Speise für zwei Mahlzeiten
hatte, sollte nichts aus dem ^nw annehmen, und wer Speise für
vierzehn Mahlzeiten hatte, nichts aus der rfe-lp42. Das Einsammeln
für die fiöip sollte mindestens durch zwei, und das Austeilen min-
destens durch drei Personen geschehen43. — Endlich ist noch zu
40) Ep. Matth. 6, 2 und dazu Light foot (Eorae Hehr.) und Wet stein
(Nov. Test)-, auch Vitringa, De synagoga p. 211 sq.
41) Tosepkta Pea IV ed. Zuckermandel p. 23 lin 21. Maimonides, Hilchoth
Anijim IX, 1. 2. 6. Mehr Belegstellen bei Weinberg, Monatsschr. für G. u.
W. d. J. 1897, S. 680 f. — Über nvp (— lat. eupa) überhaupt s. oben S. 82
und Kren gel, Das Hausgerät in der Mifinah I. Teil. 1899, S. 40—42; über
rißlp und ^rron: Krauß, Griechische und lateinische Lehnwörter im Talmud,
Midrasch und Targum Bd. II, 1899, S. 516. 590 f. — Die nßlp ist in der Regel
ein Korb, z. B. für Baumfrüchte {Schabbath X, 2), Gemüse (Demai II, 5. Kelim
XVII, 1), Feigbohnen (Machschirin IV, 6), Fische (Machachirin VI, 3), Stroh
(Schabbath XVIII, 1. Beza IV, 1. Kelim XVII, 1. Ohaloth VI, 2); allerdings
auch zum Transport von größeren Geldsummen (Schekalin HI, 2: die in der
Schatzkammer angesammelten Didrachmen entnahm man von dort in Kuppotht
deren jede drei HKb enthielt [ein Sea = l*/2 römische modii, s. Joseph. Antt*
IX, 4, 5 § 85, Eieron. Comm. ad Matth. 13, 33 opp. ed. VaUarsi VII, 1, 94]).
Aber der später gemachte Unterschied, daß in der rifinp Geld, im iirran vor-
wiegend Naturalien gesammelt wurden (so Maimonides a. a. O.), gilt schwer-
lich schon für das Zeitalter der Mischna. Die Größe der Gefäße spricht dafür,
daß es sich bei beiden zunächst um Naturalien gehandelt hat; es kam aber
bei beiden auch Geld in Betracht (Tosephta Peä IV ed. Zuckermandel p. 23
lin. 23: ,,ein Armer, der eine perutha für den ilrron und eine perutha für die
hfcip gibt'*)- — Aus dem •nrron sollte der Arme am Passafeste auch vier Becher
Wein erhalten (Peaachim X, 1).
42) Pea VIII, 7.
43) Pea VIII, 7. — Mehr über die Almosenpflege im talmudischen und
nachtalmudischen Judentum s. bei Maimonides, Hilchoth Anijim IX (Peters-
burger Übersetzung II, S. 593 ff.). Buxtorf, Lex. Ghald. col. 375 (s. v. *&aa),
2095 (s. v. hfclp), 2604 (s. v. ^rron). Light foot, Eorae Hebr. ad Matth. 6, 2.
Vitringa, De synagoga p. 543 — 547. Rhenferd, De decem otiosü Diss. I c*
75—88. Werner, De fisco et paropside pauperum, Jenae 1725 (zit. v. Win er,
RWB. I, 46). Wabnitx, La chariti juive et son Organisation au temps de
Jisus-Christ (Revue thSologique, Montauban 1887, p. 61—72, 133—152). Wein-
berg, Monatsschr. für GWJ. 1897, S. 678 — 681. Lehmann, Assistance pu-
blique et privie d y apres Vantique ligislation juive (Revue des Studesjuives t XXXV,
1897, Actes et Conferences p. I— XXXVIII). — Ober die gesetzlichen Ab-
gaben an die Armen s. auch oben § 24 S. 307 und Winer RWB. Art.
„Arme".
■
[441. 442] II. Die Synagoge. 515
nennen 3) der Diener, hebr. noDSn IJt.44, griech. vjuiQeTijq4*. Er
hatte beim Gottesdienst die heiligen Schriften herbeizubringen und
wieder aufzubewahren46; auch den Anbruch und das Ende des
Sabbaths durch Blasen mit der Trompete zu verkündigen47. Er
war überhaupt der Gemeindediener, der z. B. an den Verurteilten
die Strafe der Geißelung zu vollziehen48, aber auch die Kinder
im Lesen zu unterrichten hatte49. Auf einem Papyrustext aus dem
dritten Jahrhundert vor Chr., der in Mittelägypten gefanden wurde,
kommt in Verbindung mit einer xQoöevxq t&v 'iovöalcov ein vaxoQog
(= vecoxoQoq) vor50. Da vecdxoqol sonst die Tempeldiener sind51,
so ist der vaxoQog augenscheinlich ein Synagogendiener. — Ge-
wöhnlich betrachtet man als Gemeindebeamten | auch den n^btt?
■fiM, der beim Gottesdienst im Namen der Gemeinde das Gebet
zu sprechen hatte52. In Wahrheit ist jedoch das Gebet nicht von
einem ständigen Beamten, sondern in freiem Wechsel von irgend-
einem Gemeindeglied gesprochen worden (s. unten beim Gottes-
dienst). Es hieß also nia* mbtt? „Bevollmächtigter der Gemeinde"
Oberhaupt jedesmal derjenige, der im Namen der Gemeinde das
Gebet sprach 5S. — Noch weniger sind als Gemeindebeamte zu be-
trachten die „zehn geschäftsfreien Männer" CpAtD^ rnto*, decem
44) Sota VII, 7—8. Joma VII, 1. Makkoth in, 12. Schabbath I, 3 (an
letzterer Stelle bloß )in). Tbsephta ed. Zuckermandel p. 198, 23. 199, 8. 216, 7.
Aram. «am Sota IX, 15. Vgl. Epiphan. haer. 30, 11: 'A^avirCbv ztbv nag*
airtoXq öiaxövwv kQfirjvevoft&cDv ?j ürnjoetCbv. — Auch im Tempel kommen
D^am vor, Sukka IV, 4. Tamid V, 3.
45) Ev. Luc. 4, 20. — Ein solcher Synagogendiener ist wohl anch gemeint
auf der römisch -jüdischen Grabschrift: <PXaßioq *IovXiavo<; faijoetTiQ. <PXaßia
*IovAiavti dvyaTijo netto 1. *Bv elorjvri tj xoifirjois aov (Garrucci, Dissertazioni
archeologiche di tario argomento Vol. II, 1865, p. 166 n. 22; auch in m. Ge-
meindeverfassung der Juden in Born, Anhang Nr. 30).
46) Sota VII, 7—8. Joma VII, 1. Luc. 4, 20. Die Kommentare zu Sota
und Joma (Surenhnsius' Mischna III, 266 f. II, 246).
47) Tbsephta Sukka IV ed. Zuckermandel p. 199, 8; vgl. unten Anm. 90.
48) Makkoth III, 12.
49) Schabbath I, 3. — In späterer Zeit ist ytn — Vorbeter. Vgl. über
die verschiedenen Funktionen desselben auch: Weinberg, Monatsschr. f.
GWJ. 1897, S. 659 f. Bacher in Hostings1 Dictionary of the Bible IV, 640 f.
(im Art. Synagogue). Schlössinger Art. Haxxan in: The Jeunsh Bncyclope-
dia VI, 284 — 286. Zahlreiche Belegstellen (aus talmudischer und nachtalmudi-
scher Zeit) verzeichnet Low, Gesammelte Schriften V, 1900, S. 31 — 33.
50) Bulletin de correspondanee hellSnique t. XXVII, 1903, p. 200. Dazu
Th. Bei nach, MiUmges Nicole, Genf 1905, p. 461—459.
51) Bei Philo «— Leviten, De praemiis sacerdotum § 6. Mang. U, 236.
52) Berachoth V, 5. Bosch haschana IV, 9.
53) VgL auch Hamburger, Beal-Enz. Supplementbd. III, 1892, Art.
„Vorbeter". The Jeunsh Encyclopedia XI, 261 (Art. Sheliah Zibbur).
33*
516 § 27. Schule und Synagoge. [442. 443]
otiosi), die namentlich im nachtalmndischen Judentum in jeder Ge-
meinde gegen eine Geldentschädigung den Auftrag hatten, beim
Gottesdienst stets in der Synagoge anwesend zu sein, damit die
zu einer heiligen Versammlung erforderliche Zahl von zehn Mit-
gliedern stets vorhanden sei54. Die Einrichtung ist ohnehin dem
Zeitalter der Mischna noch völlig fremd. Der Ausdruck selbst
kommt zwar in der Mischna vor55. Er kann aber ursprünglich
nichts anderes bezeichnen, als solche Männer, die auch an den
Wochentagen nicht durch Geschäfte am Besuch der Synagoge ge-
hindert sind. Denn am Sabbath war ja jeder Israelite geschäfts|-
frei; da wäre also das otiosum esse kein spezifisches Merkmal ein-
zelner. Daß dies in der Tat auch noch an jener Stelle der Mischna
der Sinn ist, ist nach dem Zusammenhang ganz deutlich. An die
gewöhnlichen Sabbathgottesdienste ist also dabei gar nicht gedacht;
und noch weniger ist gesagt, daß in jeder Gemeinde zehn ge-
schäftsfreie Männer vorhanden sein müssen. Es ist im Gegenteil
nur als Merkmal einer großen Stadt angegeben, daß in ihr auch
für jeden Wochentag immer eine genügende Anzahl von Synagogen-
besuchern ohne Schwierigkeit vorhanden ist Erst erheblich später
hat man dann die eben erwähnte Einrichtung getroffen und da-
durch dem Begriff den veränderten Sinn gegeben.
54) Buxtorf, Lex. Chald. col. 292 (s. r. 'jbaa): Apud Rabbinos de decem
•pabM crebra fit mentio. Sunt autem decem viri otiosi, Synagogae Judaicae quasi
Stipendiarii, qui Stipendium accipiunt, ut in precibus et aliis Conventions sacris
in Synagoga semper frequentes adsint et ab initio ad finem cum sacerdote out
sacrorum praefecto perdurent, ne synagoga unquam in sacris sit vacua aut sa-
cerdos solus. — Diese präzise Erklärung Buxtorfs wird bestätigt durch die
rabbinischen Autoritäten, z. ß. Baschi zu Baba kamma 82a (bei Vitringa t De
synagoga p. 532). Bartenora zu Megilla I, 3 (Surenhusius' Mischna II, 388 f.).
— Im Talmud werden die •p&ea mtö3> nicht häufig erwähnt, jer. Megilla I, 6
(70b unt.), bab. Megilla 5», Baba kamma 82», Sanhedrin 17b (bei Vitringa, De
decemviris utios. c. 2, De synag. p. 531). Da an keiner dieser Stellen näher
angegeben wird, was für eine Bewandtnis es mit ihnen hat, so konnte Light-
foot (Horae Eebr. ad Matth. 4, 23) die irrige Hypothese aufstellen, die decem
otiosi seien die Beamten der Synagoge gewesen, so daß sämtliche
Synagogen - Ämter unter diese zehn Männer verteilt gewesen wären. Dieser
Irrtum hat dann eine gelehrte Kontroverse hervorgerufen, in welcher Vi-
tringa zurückhaltender, Bhenferd schonungsloser die Meinung Lightfoote
bekämpften. S. bes. Bhenferd, De decem otiosis synagogae, Franekerae 1686.
Vitringa, De decemviris otiosis, Franequerae 1687 (beide auch in Ugolinis
Thesaurus t XXI). Vitringa, De synagoga p. 530 — 549. Eine kurze Dar-
stellung der ganzen Kontroverse bei Carpzov, Apparatus historico-crit. p.
310-312.
55) Megilla I, 3: „Was heißt eine große Stadt? Jede, worin zehn ge-
schäftsfreie Männer sind. Sobald deren weniger sind, heißt es ein Dorf'.
[443] IL Die Synagoge. 517
Das Gebäude, in welchem die Gemeinde sich zum Gottes-
dienst versammelte, hieß ficssin mä56, aram. «rtt^DD ^a oder bloß
ÄtniÖ^S57, griech. övvaycoyr)1* oder jiqoöbvxt} 59. Im älteren Sprach-
56) In der Mischna an folgenden Stellen: Berachoth VII, 3. *Terumoth
XI, 10. Bikkurim I, 4. Erubin X, 10. *Pesachim IV, 4. Sukka HI, 13. Bosch
haschana III, 7. Megüla III, 1—3. Nedarim V, 5. IX, 2. Schebuoth IV, 10.
*Aboth HI, 10. Negaim XIII, 12. — An den mit * bezeichneten Stellen kommt
die Pluralform nTö3D *M vor.
57) S. Levy, Chald. WB. 8. v. Ders., Neuhebr. WB. 8. v. Bacher in
Hasiings' Dictionary IV, 636.
58) Häafig im Neuen Testamente. Bei Josephus nur dreimal: Antt. XIX,
6, 3. Bell Jud. II, 14, 4—5. VII, 3, 3. Bei Philo, Quod omnis probus liber
§ 12, ed. Mang. II, 458 (von den Essenern): elg leoovg &<pixvor/nevoL xönovq,
o*l xaXovvxai avvaymyal. Auch in der späteren Literatur häufig, z. B.
Codex Theodosiartus XVI, 8 passim. Vgl. auch Corp. Inscr. Oraec. n. 9894
(Aegina), Bulletin de corresp. hellenique t. XXI, 1897, p. 47 (gr. Inschr. zu
Tafas in Batanaea) und die Mosaik-Inschrift in der Synagoge zu Hamm&m-
Lif in Nord- Afrika (s. oben S. 510); letztere lautet: Sancta sinagoga Naron
pro saliäem suam ancilla tua Julia Nor. de suo propium teselavit, was zu
lesen ist: Sanctam sinagogam Naronitanam pro salute sua ancilla tua Julia
Naronitana de suo proprio tesselavit (s. die Facsimiles in: Revue archSol. troi-
sieme Serie t. DI, 1884, pl. IX— X, und Revue des itudes juives t. XIII, 1886,
p. 48 sq. Text auch im Corp. Inscr. Lot. VIII Suppl. n. 12457). — Auf christ-
lichem Gebiet ist die Bezeichnung ovvay&yJj für ein gottesdienstliches Ge-
bäude bis jetzt nur einmal nachweisbar, merkwürdigerweise gerade bei den
antijudaistischen Marcioniten, auf einer Inschrift aus dem J. 319 n. Chr. zu
Deir-Ali, etwa drei Meilen südlich von Damaskus: awaywy^ Maoxtuiviözibv
x6}/i(rjg) Aeßaßwv (Le Bas et Waddington, Inscriptions grecques et latines,
T. III, n. 2558 — Dittenberger , Orientis gr. inscr. sei. n. 608. Vgl. auch
Harnack, Zeitschr. f. wissenschaftl. Theol. 1876, S. 103).
59) So vor allem auf den oben S. 500 mitgeteilten Inschriften und Pa-
pyrusurkunden in Ägypten (3. bis 1. Jahrh. vor Chr.); ferner: Philo, In Flae-
cum § 6. 7. 14 (Mang. II, 523. 524. 535). Legat, ad Caj. § 20. 23. 43. 46
(Mang. II, 565. 568. 596. 600). — III Makk. 7, 20 (wo TtQoaevx^v xa&iöovoavieq
zu lesen ist, nicht TtQoaevxrjq, s. Grimm zu d. St.). — Apostelgesch. 16, 13:
?£ü> xfjq TtvlrjQ naga noxctfidv ov ivo/xl^o/uev tiqoobvx^v elvai. — Joseph. Vita
c. 54: owdyovxai ndvxeg etq xfjv Ttoooevxrfv, (liyiaxov oXxr\ua nolvv Öx^ov
£mö&§ao&ai dwduevov. — Corp. Inscr. Graec. T. II, p. 1004 sq. Addend.
n. 2114 b. 2114t>b = LatyscheVy Inscriptiones antiquae orae sept. Ponti Euxini II,
n. 53. 52 (Inschriften von Pantikapäum am kimmerischen Bosporus). — Cleo~
medes. De motu circulari corporum caelestium, ed. Ziegler 1891, II, 1 c. 91
(Epikur gebraucht abgeschmackte Ausdrücke, so daß man meinen könnte, sie
stammten inö ftiorjq xfjq nooaevxrjq, *lovöa'Cxd xiva xal naQaxsxaQayfxha). —
Juvenal. Sat. III, 296: Ede, ubi consistasy in qua te quaero proseucha? —
O ruter, Corp. Inscr. p. 651, n. 11: Dis M. P. Corfidio Signino pomario de
aggere a proseucha etc. (Corfidius aus Signia, Obsthändler am Wall bei der
Proseuche). — Das Wort kommt auch im heidnischen Kultus als Be-
zeichnung einer Gebetsstätte vor. S. Corp. Inscr. Oraec. n. 2079 = Latyschev I
518 § 27.. Schule und Synagoge. [443. 444]
gebrauch der Diaspora kommt awaycoyfi in dieser Bedeutung noch
nicht vor. Es heißt hier, sofern es überhaupt vorkommt, „die Ge-
meinde", während xqoöbvxti der stehende Ausdruck für das Ver-
sammlungshaus ist. Beide Ausdrücke werden in dieser Weise noch
auf den Inschriften von Pantikapaeum (erstes Jahrhundert nach
Chr.) unterschieden (s. oben S. 504 und den vollen Wortlaut § 31,
Bd. III, S. 18 der 3. Aufl.). Für ovvaycoyfi = Gemeinde vgl. auch
die (allerdings jüngeren) Inschriften von Phokaea und Akmonia
(oben S. 504, das Gebäude heißt auf beiden einfach 6 olxoc) und
die der römischen Katakomben, für xQoasvxrj = Versammlungshaus
besonders die ägyptischen Inschriften vom dritten bis ersten Jahr*
hundert vor Chr. und überhaupt die in Anm. 59 genannten Zeug-
nisse. Die Übertragung des Ausdrucks awaycoyt] auf das Ver-
sammlungshaus scheint zuerst in Palästina erfolgt und erst in
nachchristlicher Zeit auch in den Sprachgebrauch der Diaspora
übergegangen zu sein. An der einzigen Stelle, wo Philo den Aus-
druck ovvaycoyfi gebraucht, spricht er von den Essenern in Palästina,
und man sieht, daß er ihm nicht geläufig ist Die übrigen in
Anm. 58 genannten Zeugnisse sind entweder palästinensisch oder
sehr spät Die Apostelgeschichte, welche ovpaycoyrj auch für die
Versammlungshäuser in der Diaspora gebraucht (13, 5. 14. 14, 1.
17, 1. 10. 17. 18, 4. 7. 19. 26. 19, 8; nur 16, 13. 16 jtQooevxrj), folgt
also wohl dem palästinensischen Sprachgebrauch. Vereinzelt kom|-
men die Bezeichnungen jiqocevxttjqiov60 und öaßßarelov*1 vor.
Irrig ist dagegen die (auch von mir noch in der 3. Aufl. wieder-
gegebene) Meinung, daß auch ovvaycbytov in diesem Sinne vorkomme.
Es bezeichnet an den bis jetzt nachgewiesenen Stellen nicht das
Gebäude, sondern die „Zusammenkunft" oder die Gemeinde62. —
n. 98 (Inschr. v. Olbia am Pontus Euxinus). Epiphan. Juter. 80, 1, von den
heidnischen Massalianern (den Wortlaut s. weiter unten). Doch ist in diesen
Fällen jüdischer Einfluß möglich. Sicher ist derselbe bei der Inschrift von
Gorgippia, dem heutigen Anapa, Latyschev II n. 400 (dazu Sitzungsberichte
der Berliner Akademie 1897, S. 204).
60) Philo, Vita Hosis III, 27 (Mang. H, 168).
61) Joseph. Antt. XVI, 6, 2 (in einem Edikte des Augustus). — Mög-
licherweise gehört hierher auch Oorp. Inscr. Oraec. n. 3509: <Pdßto<; Zwai/xog
xaxaaxevdaag ooqöv l&exo inl xönov xa&aQoV, Svxoq tcqö xijq nöternq TtQÖq
zoj Hafißa&ely iv xip XaXtalov neQißöXcp x.x.X. Wahrscheinlich aber ist
dieses 2a/jtßa&ecov ein Heiligtum der chaldäischen Sibylle. S. darüber unten
§ 33, VII, den Abschnitt über die Sibyllen. — Im Syrischen kommt vor
•w-niTH »ra« rv»a (Bacher in Hostings' Dictionary IV, 636b).
62) Philo, Legat, ad Cajum § 40 (Mang. II, 591): Iva imxgina>ai xolq
'iovöalotg fxdvoig elq xä avvayvDyia aw&Qxeo&ai. Mtj yäo Avai xavxa
atvdSovQ ix fjt£9yq etc. — Id. De somniis II, 18 ed. Wendland § 127 (Mang. I,
[444] II. Die Synagoge. 519
Man erbaute die Synagogen gern außerhalb der Städte, in der
Nähe von Flüssen oder am Meeresstrande, um jedem vor dem Be-
such des Gottesdienstes bequeme Gelegenheit zur Vornahme der
nötigen levitischen Reinigungen zu geben63.
675, Ansprache eine» Statthalters, wahrscheinlich des Flaccus): xal xa&e~
äelo&e iv xoTg avvaywytoig vfjtthv xbv ela&Sxa S-laaov ayeloovxsq etc. —
Zur Erläuterung vgl. Athenaeus VIII p. 365 c: %\eyov 6h xal oway&yiov
xb ov/nnöoiov. — In der Bedeutung „Gemeinde" steht das Wort Oorp. Inaer.
Graec. n. 9908: nax^g owaywylwv.
63) S. bes. Apostelgesch. 16, 13. Deutseh, Sacra Judaeorum ad littora
frequenier ezstructa, Lips. 1713. Die oben S. 500 Nr. e nach Tebtunis Papyri
n. 86 erwähnte rtQoaevztf lag am Wasser. Vgl. auch unten Anm. 72. In der
rabbinischen Literatur findet sich hiervon freilich keine Spur; statt dessen
vielmehr die Vorschrift, die Synagogen auf dem höchsten Punkte der
Stadt zu erbauen (Tosephta Megiüa IV, p. 227 Im. \§sq. ed. Zuckermandel).
Aus diesem Grunde ist die von uns behauptete Tatsache von Low ganz be-
stritten worden (Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1884,
S. 167—170 — Ges. Schriften IV, 24—26). Allein jene theoretische Vorschrift
ist kein Beweis für die bestehende Sitte. Low selbst weist nach, daß die
Synagogen häufig außerhalb der Städte erbaut wurden (Monatsschr.
S. 109 ff. 161 fll — Ges. Schriften IV, 14 ff.). Daß man dabei die Nähe des
Wassers aufsuchte, wo solches vorhanden war, ist wenigstens an sich wahr-
scheinlich. Denn die Pflicht des Händewaschens vor dem Gebet steht
außer Zweifel. Vgl. darüber: Aristeas (ed. Wendland § 305—306) von den
siebzig Dolmetschern: log d' H&oq iovl näoi xotq 'lovöaiotq anovcxpaftevoi xjj &a-
Xäooq xaq zsToaq, u>$ av efy;Q>vxai tcqöq xbv &söv. — Judith 12, 7. — Clemens
Alex. Strom. IV, 22, 142. — Orac. Sibyll. III, 591—593. — Maimonides,
Hilchoth Tephilla IV, 1—5 (IV, 1: „Fünf Dinge müssen vor dem Gebet stets
beachtet werden [eigentlich: verhindern das Gebet], auch wenn seine Zeit ge-
kommen ist: die Reinigung der Hände, die Bedeckung der Blößen, die Reini-
gung des Ortes, wo das Gebet stattfindet, die Entfernung der zerstreuenden
Gegenstände und die Inbrunst des Herzens" . . . IV, 4: „Im allgemeinen hat
man vor dem Gebet nur die Hände zu reinigen; aber am Morgen muß man
Gesicht, Hände und Füße waschen, und dann erst beten"). — Schröder,
Satzungen und Gebräuche des talmudisch -rabbinischen Judenthums, 1851,
S. 25 G>ene man zur Synagoge geht, müssen, auch wenn man wüßte, nichts
Unreines berührt zu haben, dennoch abermals die Hände gewaschen werden").
— S. überh. Vitringa, De synagoga p. 1091. 1105 sq. Schneckenburger,
Über das Alter der jüdischen Proselyten-Taufe S. 38 f. (bedarf der Sichtung).
Olitzki, Einiges über das Beten am Wasser (Magazin für die Wissensch. des
Judenth. XVI, 1889, S. 268-270). — Bekanntlich findet sich die Sitte des
Händewaschens und anderer Lustrationen vor dem Gebet auch im Heiden-
tum (Odyss. II, 261. IV, 750 ff. Utas VI, 266 f. Potter, Archaeolog. graec.
II, 4) und in der christlichen Kirche (s. schon Tertullian., De oratione c. 13:
Ceterum quae ratio est, manibus quidem ablutis, spvrüu verg sordente ora~
tionem obire. Die Stellen aus Chrysostomus bei Suicerus, Sacrarum ob-
servationum lib. sing. p. 153). S. überh. Pfannenschmidt, Das Weihwasser
im heidnischen und christlichen Cultus. 1869. Steitz, Art. „Weihwasser" in
Herzogs Real-Enz. (2. Aufl. XVI, 701 ff.).
520 § 27. Schule und Synagoge. [444. 445]
Die | Größe und Bauart war natürlich sehr verschieden 64. Im
nördlichen Galiläa sind noch heute an mehreren Orten Ruinen
alter Synagogen erhalten, von denen die ältesten aus dem zweiten,
ja möglicherweise aus dem ersten Jahrhundert nach Chr. herrühren.
Nach ihrer Art etwa wird man sich den Synagogenbaustil zur
Zeit Christi vorzustellen haben 65. Die große Synagoge von Alexan-
64) S. überh.: Maimonides, Hilchoth Tephilla XI (Petersburger Über-
setzung I, 308 ff.). Low, Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Juden th.
1884, S. 214 ff. — Ges. Schriften IV, 27 ff.
65) Die Bedeutung und das hohe Alter dieser Synagogen-Ruinen ist im
wesentlichen schon von Robinson .richtig erkannt worden (Neuere biblische
Forschungen S. 89—91. 94 f. 450. 454 f. 482 f.). Eingehend hat über dieselben
dann namentlich Renan gehandelt (Mission de Phinicie p. 761—783). Vgl.
auch die Abhandlungen von Wilson und Eitchener im Quarterly Statement
1869 und 1878, abgedr. in The Survey etc., Special Papers p. 294—305. Ferner:
Bädeker-Socin, Palästina 1. Aufl. S. 387. 390. 391. 393. 394. 397. Ebers
und Guthe, Palästina I, 342—345. 502. Guirin, Galilee I, 198—201. 227—
231. 241 s?. II, 95. 100*?. 357 sq. 429 sq. 441. 447—449. The Survey of Western
Palestine, Memoirs by Gonder and Kitehener vol. I p. 224 sq. 226 — 230.
230—234. 240 sq. 243 sq. 251—254. 396—400. 400-402. 414-417 (mit zahl-
reichen Abbildungen). Über die Ruinen von Teil hum speziell: The recovery
of Jerusalem by Wilson, Warren etc. (1871) p. 342—346. Eine neue Erforschung
aUer dieser Ruinen ist durch die Deutsche Orient-Gesellschaft veran-
laßt worden, s. Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft Nr. 23, Sept.
1904, S. 17—19, Nr. 27, Mai 1905, S. 2—4, und besonders Nr. 29, Dez. 1905,
S. 4 — 34 (Berichte von Kohl, Watzinger und Hiller, die namentlich für
Teil Hum durch Nachgrabungen wesentliche Berichtigungen der englischen
Aufnahme gebracht haben). — Die Fundorte sind: Kasiun, Kefr Birim,
el-Djisch, Meiron, Nabartein, Kedes (?), Teil Hum, Keraze, Ir-
bid. Die fünf ersteren liegen westlich und südwestlich vom Merom-See, Ke-
des nordwestlich von demselben (die Bedeutung der dortigen Ruine ist aber
zweifelhaft), Teil Hum und Keraze am See Genezareth, Irbid nordwestlich
von Tiberias. — In Kefr Birim, el-Djisch, Meiron und Irbid erwähnen schon
jüdische Pilger des Mittelalters die Existenz sehr alter Synagogen, deren Er-
bauung sie größtenteils dem Simon ben Jochai (2. Jahrh. nach Chr.) zu-
schreiben ; die Synagoge zu Irbid wird sogar auf den noch viel älteren Nittai
aus Arbela zurückgeführt. S. Garmoly, Itmeraires de la Teure Sainte des
XIHe, XlVe, XVe, XVIe et XVHe siede, traduüs de Vhibreu (Bruxelles 1847)
S. 132. 136. 380 (Kefr Birim), S. 262. 452 f. (Gusch Chaleb =- el-Djisch),
S. 133 f. 184. 260 (Meiron), S. 131. 259 (Arbel — Irbid). — Entscheidend für
die Altersbestimmung ist eine griechische Inschrift aus der Zeit des Septi-
mius Severus (197, n. Chr.) unter den Trümmern der Synagoge zu Kasiun
(bei Renan, Mission p. 774). Mit dieser Synagoge sind die anderen im Stil
mehr oder weniger verwandt. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß sie alle
aus der Blütezeit des rabbiirischen Judentums in Galiläa, d. h. aus dem 2.
bis 4. Jahrh. nach Chr., herrühren. Einige möchte Renan sogar dem 1. Jahrh.
n. Chr. zuweisen ; so namentlich die sehr gut erhaltene in Kefr Birim (p. 773).
Die fromme Phantasie darf sich daher dem Gedanken hingeben, daß die
[445. 446. 447] IL Die Synagoge. 521
dria | soll die Form einer Basilika gehabt haben66. Auf griechischen
Inschriften werden gelegentlich einzelne Teile von Synagogen-
gebäuden erwähnt: eine igiÖQa in Athribis, ein jrQovaog inMantinea,
ein jtBQlßoXoq xov vxai&Qov in Phokäa67. In den jteglßoXoi wurden
auch Ehreninschriften und Weihgeschenke aufgestellt, wie im Vor-
hof des Tempels zu Jerusalem 68. — Unter den reichen Ornamenten,
welche die Synagogenruinen in Galiläa aufweisen, finden sich zu-
weilen Motive aus der Tierwelt (Löwet Lämmer, Adler)69. Noch
weiter geht die Ausschmückung des Mosaikfußbodens der Synagoge
zu Hammam-Lif in Nordafrika mit allerlei Tiergestalten (s. oben
Anm. 28). Für das eigentliche Judäa zur Zeit Christi wird man
Ruinen in Teil Hum («= Kapernaum) möglicherweise von der Synagoge her-
rühren, welche der heidnische Centurio erbaut und in welcher Jesus oft ge-
lehrt hat {Wilson in: The Recovery p. 345. Quirin, Oalilie I, 229 sq. Bä-
deker 390). — Fast alle diese Synagogen sind von Süden nach Norden
orientiert, so daß der Eingang im Süden ist. In der Regel scheinen sie in
der Front drei Türen gehabt zu haben: ein Hauptportal und zwei kleinere
Seitentüren (so in Kefr Birim, Meiron, Teil Hum). Bei einigen ist noch nach-
weisbar, daß sie durch zwei Säulenreihen in drei Schiffe geteilt waren (so in
Teil Hum, Nabartein und Kasiun). In Teil Hum war das Mittelschiff auf
drei Seiten von einer Empore umzogen (Mitteilungen der deutschen Orient-
Gesellschaft Nr. 29, S. 15). Diese Empore, von welcher man auch bei anderen
Ruinen Spuren entdeckt hat (Mitteilungen Nr. 29, S. 24. 26), diente wohl zum
Aufenthalt für die Frauen. Die Synagoge von Kefr Birim hatte vor der
Front eine Vorhalle (nicht die von Meiron, s. Mitteilungen Nr. 29, S. 24).
Im allgemeinen ist der Stil zwar vom griechisch-römischen beeinflußt, aber
doch sehr charakteristisch verschieden. Namentlich kennzeichnet ihn eine
reiche, überladene Ornamentik. Die Synagoge von Teil Hum „übertrifft durch
den Reichtum der Dekoration und die Güte der Arbeit alle übrigen" (Mit-
teilungen Nr. 29, S. 20).
66) jer. Sukka V, 1 fol. 55 ab (deutsch z.B. bei Haneberg, Die religiösen
Alterthümer der Bibel S. 352); dieselbe Stelle auch Tosepkta Sukka 198, 20 sqq.
ed. Zuckermandel. Auch Philo erwähnt unter den alexandrinischen Proseuchen
eine ftsylorrj xal neoiainbtozarTj (Leg. ad Caj. § 20, M. II, 565).
67) i^iSQa in Athribis, Ägypten {Revue des etudes juives XVII, 236 s#.
= Bulletin de corresp. hell. XIII, 179 5g. =» Dittenberger, Orientis gr. inscr. sei.
n. 101). — TtQÖvaoq in Mantinea {Bulletin de corr. hell. XX, 1896, p. 159 =
Revue des etudes juives XXXIV, 1897, p. 148). — xbv oheov xal zöv neolßolov
xov inalOgoVy Phokäa an der jonischen Küste Klein- Asiens {Revue des iludes
juives XII, 1886, p. 236 sqq. — Bulletin de corr. hell. X, 1886, p. 327 sqq.).
68) Philo in Flaccum § 7 Mang. II, 524, vgl. mit Isegat. ad Cajum § 20
Mang. II, 565. S. den Wortlaut der Stellen oben Bd. I, S. 483 f. — In be-
treff des Tempels zu Jerusalem s. Jos. Antt. XV, 11, 3 fin., auch I Makk. 11, 37.
14, 26. 48 (öffentliche Urkunden).
69) Mitteilungen der deutschen Orientgesellschaft Nr. 29, S. 17. 18. 32.
522 § 27. Schule und Synagoge. [447]
solche, dem jüdischen Bilderverbot widersprechende Eonzessionen
an den Zeitgeist nicht annehmen dürfen70.
Die Meinung, daß es auch gottesdienstliche Versammlungsorte
ohne Bedachung nach Art der Theater gegeben habe, läßt sich
nicht erweisen. Bezeugt ist dies nur von den Samaritanern71.
Sicher ist allerdings, daß die Juden an den Fasttagen die öffent-
lichen Gebete nicht in der Synagoge, sondern auf einem freien
Platze, etwa auch am Meeresstrande hielten72. Aber das geschah
eben auf ganz freien Plätzen und beweist nicht die Existenz von
Gebäuden ohne Bedachung. Noch unwahrscheinlicher ist es, daß
man eben diese Gebäude im Unterschied von den eigentlichen
Synagogen jxQooevxal im engern Sinne genannt habe (wie nach dem
Vorgange anderer auch in der ersten Auflage dieses Buches an-
genommen wurde). Denn das Zeugnis des Epiphanias, des ver-
meintlichen Hauptgewährsmannes, beweist dies ganz und gar nicht 73.
70) Kaufmannn, Art in the Synagogue (Jetcish Quarterly Review vol. IX,
1897, p. 254—269), sagt freilich p. 255: the lion . . . has at all times been ad-
mitted in Jewish synagogues. Das gilt aber schwerlich für Judäa zur Zeit
Christi Übrigens vgl. auch oben § 22, S. 65 f.
71) Epiphan. haer. 80, 1.
72) Taanüh II, 1: „Wie ist die Ordnung der Fasttagsfeier? Man
bringt die Lade (worin die Gesetzesrollen) auf den freien Platz der Stadt,
streut Asche von Gebranntem auf die Lade und auf das Haupt des Fürsten
und des Obersten des Gerichts, und jeder andere tut selbst Asche auf sein
Haupt. Der Alteste unter den Anwesenden etc. . . ." (folgen nun die wei-
teren liturgischen Vorschriften). — Tertullian. De jejunio c. 16: Judaicum
certe jejunium ubique celebraturt cum omissis templis per omne litus quoeunque
in aperto aliquando jam precem ad caelum mittunt. — Id. Ad naiiones I, 13:
Judaici ritus lucernarum et jejunia cum axyrnis et orationes litorales. — Jo-
seph. Antt. XIV, 10, 23: xal xäq noooevzäq noieio&cu ngbq xfj S-akdoog xaxä
xb ndxgiov Ü&og (über noooEvxaq oder öerjostq nouZo&ai = „Gebete verrichten"
vgl. I Timoth. 2, 1. Ev. Luc. 5, 33. Phil. 1, 4; es heißt also nicht „Proseuchen
erbauen44, wie manche es verstanden haben). — Vgl. auch Philo, In Flaccutn
§14, Mang. II, 535. — Low, Monatsschr. f. Gesch. und Wissensch. des Ju-
dentums 1884, S. 166 f. =- Gesammelte Schriften IV, 23.
73) Epiphan. haer. 80, 1 (von den Massalianern) : Tiväq de oucovq kavxocq
xaxaoxevdoavxeq fj xönovq 7tXaxelqy <p6q<üv ölxrjv, noooevxäq xavxaq ixdXovv.
Kai %oav pev xb ndkaibv tiqoöbvxOjv xötioi £v xe xolq 'lovöaloiq h*£a) ndtewq
xal iv xotq Sapaoeixaiq, u>q xal £v xalq Tlgät-eoi xtbv äTtooxökiov rjvgofiev
(folgt dat Zitat Act. 16, 13). *AX).ä xal 7tQOOEv%Tjq xönoq iv Zixipioig, iv x$
vvvl xaXovfiivy NeanöXei ?|cti xfjq ndXEotq, iv xy neöiäÖL, wq and aquettov
ovo, &saxooeiöi)q1 ovxwq iv <x£qi xal al&oi(p xöna) iaxl xaxaaxsvaaBelq vnb
xG)v SauaQSixCbv navxa xd x(bv lovöalwv fiiuovuivwv. — Zur Auslegung ist
zu bemerken: 1) Was Epiphanius von den heidnischen Massalianern sagt,
ist natürlich für die jüdischen Verhältnisse nicht maßgebend. Doch haben
gerade sie die Bezeichnung noooevxrf für beide Arten von Gebetsstätten, die
[447. 448] II. Die Synagoge. 523
Eher scheint die Apostelgeschichte dafür zu sprechen, | daß man
die Begriffe jtQooevxrj und ovvaycoyfi zu unterscheiden hat, da hier
c 16, 13. 16 von einer xqoosvxt} in Philippi und dann gleich darauf
c. 17, 1 von einer ovvaycoyri in Thessalonich die Rede ist. Aber
wenn überhaupt ein Unterschied bestehen soll, so könnte er doch
nur der sein, daß die JtQooevxrj lediglich zum Gebet, die cvvaymyri
auch zu anderen gottesdienstlichen Handlungen bestimmt war. Eben
diese Unterscheidung ist aber für Act 16, 13. 16 unhaltbar, da hier
jcqoo^vxv augenscheinlich der gewöhnliche Ort der sabbathlichen
Versammlung ist, an welchem Paulus auch zur Predigt das Wort
ergreift. Und da nun ferner Philo das Wort zweifellos von den
eigentlichen Synagogen gebraucht, so wird überhaupt zwischen
beiden Ausdrücken kein sachlicher Unterschied zu statuieren sein 74.
Der Wechsel der Ausdrücke in der Apostelgeschichte ist vermut-
lich durch die Quellenverhältnisse bedingt
Bei dem Wert, den man auf diese sabbathlichen Versammlungen
legte, ist anzunehmen, daß in jeder Stadt Palästinas, selbst
in kleineren Orten, mindestens eine Synagoge war75. Die nach-
talmudische Zeit hat die Forderung aufgestellt, daß überall, wo
auch nur zehn Israeliten beisammen wohnten, eine Synagoge er-
baut werden solle76. Diese Forderung ist zwar dem Wortlaute
nach in vortalmudischer Zeit nicht nachweisbar, aber ihrem Geiste
oheoi und die xbnoi nXax€t$ gebraucht. 2) Mit der folgenden gelehrten An-
merkung will Epiphanius allerdings wohl sagen, daß sich Gebetsstätten unter
freiem Himmel mit der Bezeichnung noooevxal auch bei Juden und Samari-
tanern fänden. Er hat davon aber nur in betreff der Samaritaner eine selb-
ständige Kenntnis. In betreff der Juden weiß er nichts mehr davon (vgl. das
Praeter, fjoav zö naXcuöv) und stützt seine Behauptung nur auf Act. 16, 13.
Und gesetzt, er hätte Recht, so wäre auch damit noch nicht bewiesen, daß
man diese Gebetsstätten im Unterschied von den Synagogen Proseuchen
nannte.
74) Für Identität beider erklärt sich z. B. auch Carpxov, Apparates hi-
storico-crit. p. 320 sq. (woselbst auch noch andere Autoritäten für und wider).
75) Wir finden Synagogen z. B. in Nazareth (Mt. 13, 54. Mc. 6, 2. Lite.
4, 16), Kapernaum (Mc. 1, 21. Luc. 7, 5. Joh. 6, 59). Vgl. Act. 15, 21: xaxa
ndXtv. — Philo, De Septenario c. 6 (Mang. II, 282 =» Tischendorf, Phüonea
p. 23): 'Avanhixaxai yovv xalq kßSd/btatq pvola xaxä näaav TtöXiv SiSaaxa-
Xsia (pQOvtjOeux; xal ocjwqocvvtjq xal avöoeiaq xal Sixaioovvijg xal tCbv aXlwv
doezCbv. Nachweise aus der rabbinischen Literatur gibt Bacher in Hostings*
Dictionary of ihe Bible IV, 637.
76) Maimonidesy Hilchoth TephiUa XI, 1 (Petersburger Übersetzung I,
308). Vitringay De Synagoga p. 232—239. — Daß mindestens zehn Personen
zu einer gottesdienstlichen Versammlung gehören, sagt schon die Mischna.
5. Megiüa IV, 3. Sanhedrin I, 6. Vgl. auch Megilia I, 3. In betreff des
Passafestes: Joseph. Bell. Jud. VI, 9, 3.
524 § 27. Schule und Synagoge. [448. 449]
entsprechend. In größeren Städten gab es eine erhebliche Anzahl
von Synagogen, so z. B. in Jerusalem77, Alexandria78, Rom79. Die
verschiedenen Synagogen ein und derselben Stadt scheint man zu-
weilen durch besondere Embleme voneinander unterschieden zu
haben. So gab es in Sepphoris eine „Synagoge des Weinstocks"
(fcCBlin »niD^D)80, in Rom eine „Synagoge des Ölbaumes" (awa-
ycoyrj kZaiag)*1.
Die Einrichtung der Synagogen war in der neutestament-
lichen Zeit wohl ziemlich einfach82. Das Hauptstück war der
Schrank (n^P), in welchem die Gesetzesrollen und die anderen
heiligen Bücher aufbewahrt wurden83. Diese selbst waren in
77) Apostelgesch. 6, 9. 24, 12. Eine Synagoge der Alexandriner in Jeru-
salem auch Tosephta Megilla III, ed. Zuckermandel p. 224, 26. jer. Megilla 73 d
(bei hightfooty Horae zu Act* 6, 9). Über die abweichende Lesart des babylon.
Talmuds s. oben § 22 (S. 87). — Die talmudische Sage, daß es in Jerusalem
480 Synagogen gegeben habe (s. oben S. 495 Anm. 31), ist freilich nur für die
Geschmacklosigkeit dieser Legenden charakteristisch. Christliche Quellen
sprechen von sieben Synagogen auf dem Zion. So der Pilger von Bordeaux,
333 n. Chr. (Tobler, Palaest. Descriptiones 1869, p. 5 = Itinera Hierosolymitana
ed. Geyer p. 22: ex Septem synagogis, quae iüie fueranty una tantum remansit),
Optatus von Mileve III, 2 (Corpus Script, eccl. lat. vol. 26 p. 70: m Mo morde
Sion . . . in cujus vertice . . . fuerant Septem synagogae), und Epiphanius (J)e
mensuris et ponderibus § 14: xal hcxa owaywyal, A iv xjj I(d)v uövai hazi}-
xeoav log xaXvßai, i£ iw ula nsQieXely&ti ?a>g XQ^V0V Ma^iuoivä xov imoxönov
xal Ktovoxavxlvov xov ßaoiXia>q log oxrjvt} iv duneXCovi xaxä xd yeyQauuivov,
Maximonas war Bischof um 335—348, s. Zahn, Neue kirchl. Zeitschr. 1899,
S. 386 f.).
78) Philo, Leg. ad Coj. c. 20 (M. II, 565): noXXal ö& eloi xa& Sxaaxov
Tfirj/ncc xrjg 7t6).ea>g.
79) Philo, Ijeg. ad Coj. c. 23 (M. II, 568) spricht von nQOoevyal zu Rom
in der Mehrzahl. Näheres über die römischen Synagogen s. unten § 31.
80) jer. Naeir VII, 1 fol. 56». — Irrig übersetzt Lightfoot: „Synagoge der
Gophniter" (Horae Hebr., Centuria Matthaeo praemissa c. 55, Opp. II, 211).
81) Corp. Inscr. Oraec. n. 9904. De Bossi, BuUettino V, 1867, p. 16. —
Über die Bedeutung des Ausdruckes war ich früher sehr schwankend (s. m.
Gemein de Verfassung der Juden in Rom S. 17), halte aber nun die obige Er*
klärung für zweifellos.
82) Nachweise von Quellenstellen und Literatur über „Synagogenrequi-
siten" s. bei Low, Gesammelte Schriften V, 1900, S. 24 — 20.
83) Die rW!n wird erwähnt: Megilla III, 1. Nedarim V, 5. Taanüh II,
1 — 2 (nach letzterer Stelle war sie transportabel); ferner in der häufig vor-
kommenden Formel: nn^nn ^tb *a$ (s. unten beim Gottesdienst). Vollstän-
diger D^ibö bir m^n Tosephta Jadajim II ed. Zuckermandel p. 683 Im. 8—9.
Chrysost. Orat. adv. Jttdaeos VI, 7 {Opp. ed. Montf. t. I): 'AXXwq öh, nola xi-
ßu)xdg vvv naoa >Iovdaloiq, ttnov iXaotJjotov ovx loxiv; %nov ov xQyop&q, oh
öia(rfxtjg nXaxeq .... *Euol xtbv x>nd xtfq ayoQ&q nwXovuivav xtßwxlatv ovShv
a.[xeivov avxTj t) xißcoxdq öiaxeioSai öoxel, ciXXä xal noXXtp yelpov. — Über
[450] IL Die Synagoge. 525
leinene Tücher (rrinßöfc) gehüllt84 und lagen in einem Futteral
(p^pi = d-rjxrj)**. — Für den, der die Schriftlektion vortrug oder
predigte, war wenigstens in der späteren Zeit ein erhöhter Platz
(rro'fc = ßwcc, Tribüne) errichtet, auf welchem das Lesepult
stand86. Beide werden im jerusalemischen Talmud erwähnt87 und
dürfen wohl schon für das Zeitalter Christi vorausgesetzt werden.
— Von sonstigen Einrichtungsgegenständen werden etwa noch
die Aufbewahrung der heiligen Bücher in der Synagoge s. Josepkus Anit. XVI,
6, 2. Chrysost. Orat. adv. Judaeos I, 5: 'EiteiS^ öS eiai xivsq, ol xal xip ovva-
ywyfjv aefxvbv slvat xbnov vofil^ovaiv , dvayxatov xal ngbq xovvovg öXlya el-
netv . . . . *0 vdfiog Änbxetxai, (prjolv, b> avzcö xal ßißXla 7tQo<prjxixä. Kai xl
xotixo; Mfj yaQ, üv&a av $ ßißXla xoiavza, xal 6 xbno$ Syiog eozat; Oh nav-
tco?. Ähnlich Orat. VI, 6 u. 7. - Daß die heiligen Bücher in der rin^n auf-
bewahrt wurden, sagen auch Maimonides, Eilchoth Ikphiüa XI, 3 bei Vi-
tringa p. 182 und Bartenora zu Taanith II, 1 (Surenhusius' Mischna II, 361).
Abbildungen des Synagogenschrankes mit den heiligen Bollen z. B. auf einigen
römischen Glasgefäßen bei Oarrucci, Storia della Arte cristiana vol. VT
(1880) tav. 490. Hiernach auch bei Jacobs, Earliest representation of Ark of
the Law (Jewish Quarterly Review XIV, 1902, p. 737—739). — Vgl. überhaupt
über die fi^n Vitringa p. 174 — 182. Bacher in Hostings' Dictionary of
the Bible IV, 639. The Jewish Encyclopedia II, 107—111 (Art. Ark of the Law,
mit Abbildungen).
84) Kilajim IX, 3. Schabbath IX, 6. MegiUa III, 1. Kelim XXVIH, 4.
Negaim XI, 11.
85) **ön p*r\ Schabbath XVI, 1. ö^fcört p^n Tosephta Jadajim II, 12
ed. Zuckermandel p. 683 lin. 8. — Das Wort p*r\ auch Kelim XVI, 7—8.
Krauß, Griech. u. lat Lehnwörter II, 588. — Mehr über „Hüllen und Be-
hälter" s. bei Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen (25. Jahresber.
der Landes-Babbinerschule in Budapest) 1902, S. 173—180. — Über den Ge-
brauch von Bucherbehältnissen im klassischen Altertum s. Birt, Das antike
Buchwesen (1882) S. 64—66. Dziatzko in Pauly-Wissowas Real-Enz. HI,
970 (Art „Buch"). Manche Ausleger wollen auch unter dem yeXbvrjq II Tim.
4, 13 ein solches Bücherbehältnis verstehen. — Eine Abbildung des alten
silbernen Behälters* für den Pentateuch bei den heutigen Samaritanern s. in
The Survey of Western PaUstvne, Memoirs by Gonder and Kitchener vol.H,
1882, p. 206. Andere Abbildungen von alten Gesetzesrollen und deren Be-
hältern s. in The Jewish Encyclopedia XI, 126—134 (Art. Scroll of the Law)
und VHI, 298 f. (Art. Mantle of the Law).
86) Maimonides, Eilchoth Thephilla XI, 3. Vitringa p. 182—190. —
Nach Maimonides sollte diese Tribüne (im Mittelalter mit einem korrum-
pierten arabischen Wort Almemar genannt) in der Mitte der Synagoge stehen.
5. hierüber auch Low, Die Almemorfrage (Ges. Schriften IV, 1898, S. 93—
103). The Jewish Encyclopedia I, 430 f. (Art. Almemar) und X, 267 i (Art.
PulpiC).
87) jer. MegiUa IH, 1 fol. 73 d unten. — Das Lesepult heißt hier "pabsK «
ctvaXoyeTov. So ist nämlich mit Artich zu lesen statt •pbaaat, wie die Ausgaben
haben. Dasselbe Wort auch Kelim XVI, 7. S. Levy, Neuhebr. Wörterb. s. v.
Krauß, Griech. und lat. Lehnwörter II, 73 (*. v. "pabaa).
526 § 27. Schule und Synagoge. [450. 451]
Lampen erwähnt88. — Unentbehrliche gottesdienstliche Instru-
mente waren endlich die Hörner (rrinffitf) und Trompeten (rvinrixn).
Mit ersteren wurde am Neujahrstage, mit letzteren an den Fast-
tagen geblasen89. Auch Anbruch und Ende des Sabbaths wurde
vom Synagogendiener durch Blasen mit der Trompete verkündigt,
damit das Volk wußte, wann es mit der Arbeit aufzuhören habe
und wann es dieselbe wieder beginnen dürfe90.
Die Synagogen als Versammlungshäuser der Gemeinde dienten
nicht ausschließlich religiösen Zwecken. In der großen Proseuche
zu Tiberias wurde einmal eine politische Versammlung gehalten91.
Vom Strafvollzug in den Synagogen ist im Neuen Testamente öfters
die Rede (ML 10, 17. 23, 34. Mc 13, 9; vgl. Act. 22, 19. 26, 11). Essen
und Trinken war zwar im allgemeinen in den Synagogen verboten 92.
Trotzdem kommen in der rabbinischen Literatur auch Beispiele
von Mahlzeiten in denselben vor93. Der eigentliche Zweck der-
selben aber war allerdings die Versammlung zur Lehre und zum
Gebet
Die Ordnung des Gottesdienstes war in der neutestament-
lichen Zeit schon ziemlich ausgebildet und festgeregeit Man saß
in bestimmter Ordnung, die angesehensten Gemeindeglieder auf den
ersten Sitzen, die jüngeren hinten; Frauen und Männer vermut|lich
88) Terumoth XI, 10. Pesachim IV, 4. Vitringa p. 194—199.
89) Rosch haschana III — IV. Taaniih II— III. Surenhusius' Mischna II,
341. Vitringa p. 203—211 (daselbst S. 209 auch mehrere Stellen aus Chry-
sostomus). Win er, RWB. Art. „Musikalische Instrumente". Gesenius'
Thesaurus p. 513. 1469. Leyrer Art. „Musik" in Herzogs Real-Enz. Abbil-
dungen des Schophar s. in The Jewish Eneyclopedia XI, 303 (Art. Shofar). —
Über das Schophar -Blasen am Neujahrstag s. auch Maimonides, Eüchoth
Schophar (Petersburger Übersetzung II, 443 ff.). Hamburger, Real-Enz. Suppl.
1886, S. 129 ff. Bei Philo heißt das Neujahrsfest geradezu das Fest der tfaA-
myyeq (Philouis opp. ed. Cohn- Wendland vol. V, de special, legibus lib. I § 186,
H § 188); ebenso bei Chrysost.f Orot. adv. Judaeos I, 1.
90) Tosephta Sukka IV, ed. Zuckermandel p. 199, lin. 8 sqq. Mischna
Chuüin I fin. jer. Schabbath XVII, foL 16». bab. Schabbath 35 b. Maimonides,
Hilchoth Schabbath V, 18—20. Levy, Neuhebr. Wörterb. s. v. rnnxrt. Vi-
tringa p. 1123 sq. — Im Tempel zu Jerusalem geschah dies durch die Priester,
Joseph. Bell. Jud. IV, 9, 12. Sukka V, 5.
91) Jos. Vita 54.
92) b. Megilla 28» unten.
93) jer. Schabbath 3a (Bombergsche Ausg. Z. 17—16 v. unten): „R. Miascha
und R. Samuel Sohn des R. Jizchak saßen und aßen in einer der oberen
Synagogen" (nrv^W «nsr^D *p fcHm), seil, von Tiberias. Ebenso &uch jer.
Berachoth U Ende. — Vgl. überhaupt über die Verwendung der Synagogen
zu anderen als gottesdienstlichen Zwecken: Bacher in Hostings* Dictionary
of the Bible IV, 642 f.
[451] II. Die Synagoge. 527
getrennt94. Über die Richtung, in welcher man saß, s. unten
Anm. 103. In der großen Synagoge zu Alexandria sollen die Männer
nach ihrem Gewerbe (rvofcnK) getrennt gesessen haben 95. War ein
Aussätziger in der Gemeinde, so wurde für ihn ein besonderer
Verschlag hergerichtet So verlangt es wenigstens die Mischna96.
Zu einer regelmäßigen gottesdienstlichen Versammlung gehörten
mindestens zehn Personen (s. oben S. 523). — Als Hauptstücke des
Gottesdienstes werden in der Mischna erwähnt: das Rezitieren des
Schma, das Gebet, die Thoralektion, die Prophetenlektion,
der Priestersegen97. Dazu kommt noch die Übersetzung der
verlesenen Schriftabschnitte, die ebenfalls in der Mischna voraus-
gesetzt wird (s. unten), und die Erläuterung des Vorgelesenen durch
einen erbaulichen Vortrag, der bei Philo fast als die Hauptsache
beim Gottesdienst erscheint98.
94) Über die ngwxoxa&eÖQla der Schriftgelehrten und Pharisäer s. Maith.
23, 6. Marc. 12, 39. Luc. 11, 43. 20, 46. Daß man nach der Ordnung des
Alters saß, die Jüngern „unter" (d. h. hinter) den Älteren, sagt Philo wenig-
stens von den Essenern, Quod omnis probus Über c. 12 (Mang. IT, 458): xa&
^Xixlaq iv xa&oiv vitb ngsaßwigoig viot xad-^ovxau In der Diaspora kam
es vor, daß verdienten Männern oder Frauen nach griechischer Sitte durch
Gemeindebeschluß die ngoeSQla verliehen wurde; s. die Inschrift von Phokaea,
Revue des itudes juives t. XII, 1886, p. 236 sqq. — Bulletin de corresp. hellenique
t. X, 1886, p. 327 sqq. — Die Trennung der Geschlechter ist wohl als selbst-
verständlich vorauszusetzen, wenn sie auch zufällig in keiner der älteren
Quellen ausdrücklich erwähnt wird. Denn was die pseudo-philonische Schrift
De vüa contemplativa c. 9 mit. (M. II, 482) von den Therapeuten sagt, darf
hier nicht verwertet werden. Auch im Talmud wird eine besondere Abtei-
lung für Frauen nicht erwähnt, s. Low, Monatsschr. f. Gesch. u. Wissensch.
des Judenth. 1884, S. 364 ff. *= Ges. Schriften IV, 55 ff. Um so interessanter
ist es, daß in einigen der alten Synagogenruinen in Galiläa sich Spuren von
Emporen gefunden haben (s. oben Anm. 65 gegen Ende). Man darf ver-
muten, daß diese Emporen für die Frauen bestimmt waren. — Über die Sitz-
ordnung in der nachtalmudischen Zeit s. Maimonides, Hilchoth Tephilla XI, 4
(Petersburger Übersetzung I, 309).
95) jer. Sukka V, 1 foL 55 ab.
96) Negaim XIII, 12.
97) Aufzählung dieser Stücke: MegiUa IV, 3.
98) Wir haben von Philo zwei, resp. drei summarische Beschreibungen
des Synagogengottesdienstes: 1) Fragm. apud Euseb. Praep. evanq. VIII, 7,
12—13 ed. Qaisf. (Mang. II, 630) aus dem ersten Buch der Hypothetica: TL
ovv inolrjoe [seil. 6 vofjioB'ixijq] xalq hßSbfxaiq xavxaiq ^iih^aiq; Avxovq stq
xavxdv »}g/ov Gwdyea&ai, xal xa&e^ofxivovq pex* &XXrfXa>v ovv alSot xal xoafito
x(hv vö/niov &XQoäo&ai xov fxrjöiva &yvor}oai x&QLV- ^a^ ö*?Ta ovvhqxovxai
fihv dsl, xal oweSgevovai pet äXXJjXwv dt fxhv noXXol anonyy nX^v st xt
7tQOoem<pTjftl<jai xotq avaytvwaxofxhoiq vofxi%etai * xtbv Uq£wv d£ xiq 6 naQvow
rj xwv yeoovxtov elq ärayivwaxei xovq legovq vofiovq avxoXq, xal xa& Sxaaxov
528 § 27. Schule und Synagoge. [452]
Das Schma, so genannt nach den Anfangsworten bfenfy *£t?,
besteht aus den Abschnitten Deut. 6, 4—9. 11, 13—21. Num. 15,
37—41, nebst einigen Benediktionen vorher und nachher (Näheres
s. unten im Anhang). Es wird vom eigentlichen Gebet stets unter-
schieden und hat mehr die Bedeutung eines Bekenntnisses als
igrjyeZzat (ttzQ1 <JX*töv öelXriq öxplaq. — 2) De Septenario c. 6 (Mang. II, 282 =
Tischendorf, Philonea p. 23): 'Avaninxaxai yovv xatq kßSdfjiaiq juvpla xaxä
näaav noXiv öiSaaxaXsia <pQOvrfoea>q xal aoMpQOOvvrjq xal dvögsiaq xal 6i-
xaioovvrjq xal xtbv aXXtov aQezCbv. 'Ev oiq ol fikv iv xöafjuo xa&i£ovxatt ovv
fjuvxlcc xä iixa av&Q&atxoxsq, fxsxa nooooyfjq ndarjq, ivexa xov ötxprjv Xoytav
noxLfJHov. 'Avaozäq Si xiq xtbv ifineiQOzdzojv {xprjyeZxat x&Qiaxa xal ovvolaovxa,
olq anaq 6 ßioq iniSwoei noöq xö ßkXxwv. — 3) Von den Essenern, Quod
omnis probus liber c. 12 (Mang. II, 458, auch bei Euseb. Praep. evang. VIII,
12, 10 ed. Gaisf.): lO [isv xäq ßißXovq dvayivwaxei Xaßwv, szepoq ö*h x(bv ip-
neiQOxdxcov, %oa fitj yv&Qipia naQeX&ibv dvaöiSdaxet. — Zu diesen Äußerungen
Philos kommt 4) die Ansprache eines ägyptischen Statthalters, wahrscheinlich
des Flaccus, an die Juden bei Philo De somniis II, 18 § 127 ed. Wendland
(Mang. I, 675): xa&eösio&e iv xolq owayatyioiq \>fubv} xdv eta>9oza Qiaoov
dyelpovxeq xal dotpaXihq xäq IsQaq ßißXovq avayivwoxovxeq xav et xi yd\ xgaveq
€?7 öianxvoaovxeq xal xy naxQl(p <fiXooo<plq öia ftaxQijyoQlaq ivevxaiQovvxiq
xe xal ivoyoXd£ovxsq (also lange Vorträge). — Ich erwähne hier noch, daß
aus nachtalmudischer Zeit namentlich der Traktat Sopherim e. 10—21 eine
Reihe detaillierter Vorschriften für den Synagogenkultus gibt (beste Ausg.:
Masechet Sopherim, herausg. v. Joel Müller, 1878). Eine erschöpfende Be-
schreibung des Ritus der nachtalmudischen Zeit, im Anschluß an Maimo-
nides, gibt Vitringa, De synagoga p. 946—1121, vgl. p. 667 — 711. Außerdem
sind für die Geschichte des Synagogen-Kultus in vor- und nach-
talmudischer Zeit zu vergleichen die oben S. 497 f. genannten Werke von
Cohen, Herzfeld, Hamburger, Edersheim, Dal man; ferner: Schrö-
der, Satzungen und Gebräuche des talmudisch-rabbinischen Judenthums,
1851, S. 254—304. D lisch ak, Geschiebte und Darstellung des jüdischen Cul-
tus, 1866, S. 183—328. Kohler, Über die Ursprünge und Grundformen der
synagogalen Liturgie (Monatsschr. für Gesch. und Wissenach. des Judenth.
37. Jahrg. 1893, S. 441—451, 489—497 [wenig ergiebig]). Blau, Art. Lüurgy
in The Jewish Encyelopedia VIII, 1904, p. 132—140. Noch mehr Literatur
bei Dal man in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VII, S. 7 f. (im Art. „Gottes-
dienst, synagogaler") , Strack in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XV, 100. Die
wichtigsten Quellen für die mittelalterliche Geschichte verzeichnet in der
Kürze Dal m An, Theol. Litztg. 1891, 621. Im einzelnen hat sich der Ritus
in den verschiedenen Ländern verschieden gestaltet; s. darüber die jüdischen
Gebetbücher (Verzeichnisse bei Steinschneider, Catalogus librorum Hebraeo-
rum in Bibliotheca Bodleiana, 1852 — 60, col. 295—514, Zedner, Caialogue of
the Hebrew Books of the Library of the British Museum, 1867, p. 440—494;
über den südarabischen Ritus: Bacher, Jewish Quarterly Review XIV, 1902,
p. 581 — 600). — Beachtenswert, wenn auch sehr unsicher, ist der Versuch von
Chase, Spuren der hellenistisch -jüdischen Liturgie in der altchristlichen
Literatur nachzuweisen, s. Chase, The Lord's Prayer in the early Church
(Texts and Studies ed. by Robinson I, 3) 1891, p. 14—19.
(452. 453] U. Die Synagoge. 529
die eines Gebetes. Man spricht daher auch nicht vom „beten",
sondern vom „rezitieren" des Schma (*£TD nfcOip). Wie das Schma
ohne Zweifel schon der Zeit Christi angehört, so waren sicherlich
auch gewisse feststehende Gebete schon damals beim Gottes-
dienst üblich. Doch wird sich schwer ermitteln lassen, wie viel
von der ziemlich reich entwickelten Gebetsliturgie des nachtalmu-
dischen Judentums in jene frühere Zeit hinaufreicht". Die Formel,
mit | welcher der Vorbeter zum Gebet auffordert, mm n« ^Dna,
wird in der Mischna ausdrücklich erwähnt100. Auch die Sitte, von
dem sogenannten Schmone Esre (worüber Näheres im Anhang)
bei den Sabbath- und Festgottesdiensten die drei ersten und die drei
letzten Benediktionen zu beten, geht in das Zeitalter der Mischna
hinauf101. — Man pflegte beim Gebet zu stehen, und zwar mit dem
Gesicht nach dem Allerheiligsten, also nach Jerusalem zu ge-
wendet 102. Vermutlich hat man auch in dieser Eichtung gesessen 108.
09) Vgl. darüber die in der vorigen Anm. genannte Literatur. — Über
einzelnes s. auch die Artikel bei Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Tal-
mud, Abt. II (Abendgebet, Kaddisch, Keduscha, Kiddusch, Minchagebet,
Morgengebet, Mussafgebet, Schema, Schemone-Esre). Von Interesse ist nament-
lich, wegen seiner Berührungen mit dem Vater- Unser, das sog. Kaddisch.
8. darüber Schröder S. 294 f. Hamburger a. a. O. II, 603 ff.
100) Berachoth VH, 3.
101) Vgl. überhaupt Vitringa p. 1042 sq. (nach Maimonides). Zunz,Die
gottesdienstlichen Vorträge S. 367. — Daß die Sitte in das Zeitalter der
Mischna hinaufgeht, erhellt aus Bosch haschana IV, 5.
102) Über das Stehen beim Gebet s. Matth. 6, 5. Marc. 11, 25. Lue.
18, 11. Berachoth V, 1. Taanith II, 2. Lightfoot (Horae hebr.) und Wet-
stein (Nov. Test.) zu Matth. 6, 5. — Wendung nach dem Allerheiligsten, resp.
nach Jerusalem: Exech. 8, 16. I Beg. 8, 48. Daniel 6, 11. Berachoth IV, 5—6.
Siphre 71b ed. Friedmann bei Weber, System der altsynag. Theol. S. 62. Die-
selbe Stelle auch Tosephta Berachoth HI p. 8 ed. Zuckermandel (vgl. auch Low,
Monatsschr. f. Gesch. und Wissensch. d. Judenth. 1884, S. 310 «= Ges. Schriften
IV, 40). Hieronymus, Comment. ad Exech. 8, 16 opp. ed. Vaüarsi V, 90. Mai*
tnonides, Hilchoth Tephilla V, 3 (Petersburger Übersetzung I, 277). — Vgl.
überh. Winer RWB. Art. „Gebet". Hölemann, Die biblische Gestalt der
Anbetung in: Bibelstudien, I, 96 — 153. Qinxberg Art. „Adoration, forms of"
in The Jewish Encyclopedia I, 208—211. Maimonides, Hilchoth Tephilla V
(Petersburger Übersetzung I, 276 ff.). — Über die Haltung beim Gebet im Alter-
tum überhaupt: Voullieme, Quomodo veteres adoraverint. Halle, Diss. 1887,
Sittl, Die Gebärden der Griechen und Römer, 1890, S. 174r— 199.
103) In der Tosephta Megilla IV ed. Zuckermandel p. 227, lin. 11—14 findet
sich folgende Vorschrift: „Die Ältesten sitzen mit dem Gesicht gegen das
Volk und mit dem Rücken gegen das Heiligtum. Der Schrank (nn^n) steht
mit der Vorderseite gegen das Volk und mit der Rückseite gegen das Heiligtum.
Wenn die Priester den Segen erteilen, stehen sie mit dem Geeicht gegen das
Volk und mit dem Rücken gegen das Heiligtum. Der Synagcgeodiener <1Tfi,
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl. 34
530 § 27- Schule und Synagoge. [453. 454]
Das Gebet wurde nicht von der ganzen Gemeinde gesprochen,
sondern von einem durch den Archisynagogen dazu Aufgeforderten
(dem "rtas n^btD) vorgebetet, und die Gemeinde sprach nur gewisse
Eesponsorien, namentlich das *p?« 104. Der Vorbetende | trat vor
die Lade, in welcher die Gesetzesrollen lagen. Daher ist ^Dfcb -o*
rn^nn der gewöhnliche Ausdruck für „vorbeten" 105. Berechtigt
dazu war jedes Gemeindeglied; nur ein Minderjähriger nicht106.
hier als Vorbeter) steht mit dem Gesicht gegen das Heiligtum, und ebenso
ist das ganze Volk gegen das Heiligtum gerichtet". Vgl. Maimonides, Hü"
ekoth Tephiüa XI, 4. Vitringa p. 191. — Wenn diese Vorschrift in Galiläa
beobachtet worden ist, muß die Gemeinde mit dem Gesicht nach Süden ge-
sessen haben. Da die erhaltenen Synagogen-Ruinen in Galiläa alle den Ein-
gang im Süden haben (S. 521), würde hiernach anzunehmen sein, daß die
riSTi sich in der Nähe des Eingangs befand und die Gemeinde mit dem
Gesicht dem Eingang zugewendet saß (Bacher in Hostings' Dictionary of the
Bible IV, 639). Eine Sicherheit, daß die in der Tosephta erhaltene Vorschrift
zur Zeit Christi beobachtet worden ist, haben wir freilich nicht. Die To-
sephta schreibt auch, abweichend von der Orientierung der erhaltenen Syna-
gogen-Ruinen, vor, daß der Eingang immer im Osten sein müsse, nach dem
Vorbild des Tempels in Jerusalem {Tosephta Megüla IV, ed. Zuckermandel
p. 227, lin. 15, ebenso Maimonides, Hüchoth Tephilla XI, 2). In den euro-
päischen Gemeinden des Mittelalters wurde es Gesetz, den Eingang im
Westen anzubringen. Genaueres s. bei Low, Monats sehr. f. Gesch. u. Wis-
sensch. d. Judenth. 1884, S. 305 ff. — Ges. Schriften IV, 36 ff.
104) Über das Auffordern zum Gebet durch den Archisynagogen s. oben
S. 512; über *vnx rv4i8 S. 515. — Das responsorische yq& schon im A. T.,
Deut. 27, 15 ff. Neh. 5, 13. 8, 6. I Chron. 16, 36. Tobit 8, 8. Ferner: Berachoth
V, 4. Vm, 8. Taanith H, 5. Auch im christlichen Kultus von Anfang an:
I Kor. 14, 16. Justin. Apol. maj. 65. 67. Die LXX übersetzen amen im Pen-
tateuch, in den Nebiim und im Psalter ins Griechische; so auch Judith 13,20
(yboao). Dagegen Aß^v Neh. 5, 13. 8, 6. I Chron. 16, 36. I Esra 9, 47; bei
Symmachus öfters (s. Hatchs Concordanz), bei Theodotion Deut. 27, 15. —
S. überh. Büxtorf, Lex. Chald. s. v. Vitringa, De Synagoga p. 1093 sqq.
Wetstein und andere Ausl. zu I Kor. 14, 16. Suicer, Thes. s. v. dfirfv.
Ottos Anm. zu Justin, c. 65. Hogg, „Amen", Notes on its signißeance and
use in biblical and post-biblical times (Jetcish Quarterly Review IX, 1897,
p. 1 — 23). Ders. in Encyclopaedia Biblica I, 136 f. L. Oinxberg in The Je-
teish Encyclopedia I, 491 f. (hier auch noch mehr Literatur). Über den christ-
lichen Gebrauch: v. d. Goltz, Das Gebet in der ältesten Christenheit, 1901,
S. 160. Drews in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. XI, 545 f. (Art „Litur-
gische Formeln"). Cabrolt Art. yyAmen" in: Dictionnaire oVArchMogis chrl-
tienne I, 1, 1907, col. 1554—1573 (viel Material). Ältere Literatur bei Wolf,
Ourae philol. in Nov. Test, zu Matth. 6, 13 und I Kor. 14, 16.
105) Berachoth V, 3—4. Erubin III, 9. Bosch haschana IV, 7. Taanith
I, 2. II, 5. MegiUa IV, 3. 5. 6. 8. Vgl. auch Taanith H, 2. El bogen, Jetcish
Quarterly Review XIX, 1907, p. 704 sqq.
106) Megilla IV, 6. — Auch in den christlichen Gemeinden wurde das
Gebet von irgend einem Gemeindeglied gesprochen, s. I Kor. 11, 4.
[454. 455] IL Die Synagoge. 531
Derselbe, der das Gebet sprach, konnte auch das Schma rezitieren
und die Prophetenlektion vortragen und, wenn er ein Priester war,
den Priestersegen sprechen107.
Die Schriftlektionen (sowohl die pentateuchischen als die
prophetischen) konnten ebenfalls von jedem Gemeindeglied vor-
getragen werden, sogar von Minderjährigen108. Nur beim Buche
Esther (das am Purimfeste gelesen wurde) waren letztere aus-
geschlossen109. Wenn Priester und Leviten anwesend waren, so
ließ man diesen den Vorrang bei der Lektion 110. Der Vortragende
pflegte zu stehen {Luc. 4, 16: avicxr\ avayv<bpcu)xu. Beim Buch |
Esther war Stehen und Sitzen gestattet112, und dem König wurde,
wenn er am Laubhüttenfest im Sabbathjahr seinen Schriftabschnitt
vortrug, ebenfalls erlaubt zu sitzen113. — Die Thoralektion ge-
schah in der Weise, daß der ganze Pentateuch zusammenhängend
in einem dreijährigen Zyklus durchgenommen wurde 114. Auf diesen
dreijährigen Zyklus geht wahrscheinlich die masorethische Ein-
teilung des Pentateuches in 154 Abschnitte zurück; es finden sich
auch Zählungen von 161, 167, 175 Abschnitten116. Die Einteilung
107) Megilla IV, 5.
108) Megilla IV, 5—6. — Daß die Schrift-Lektion nicht Sache ständiger
Beamter war, erhellt auch aus Philo, Fragm. ap. Euseb. Praep. ev. VIII, 7, 13
(den Wortlaut s. oben S. 527 f.).
109) MegiUa H, 4.
110) Qittin V, 8: „Folgende Dinge sind um des Friedens willen verordnet
worden: Der Priester liest als erster vor, dann der Levite, dann der Israelite,
um des Friedens willen". — - Maimonides bezeugt, daß es zu seiner Zeit
Sitte war, sogar einem ungelehrten Priester bei der Lektion den Vorgang vor
einem gelehrten Israeliten zu lassen, was er freilich nicht billigt. S. Maimo-
nides' Kommentar zu Oittin V, 8 (in Surenhusius' Mischna III, 341) und Hil-
choth Tephilla XII, 18 (bei Vitringap. 981). Vgl. auch Hamburger, Real-
Enz II, 1267. Schröder, Satzungen und Gebräuche S. 49. — Auch Philo
deutet den Vorrang der Priester an; nur setzt er dabei voraus, daß immer
nur einer die Lektion vortrug, Fragm. ap. Euseb. Praep. evang. VIII, 7, 13:
ru>v Uq^wv 6i tig 6 nagibv 1j xtbv yeodvrcov el$.
111) Vgl. Joma VII, 1. Sota VII, 7 (oben S. 511). Lightfoot >u
Luc. 4, 16.
112) Megilla IV, 1.
113) Sota VII, 8.
114) Megilla 29 b.
115) S. überh.: Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge S. 3 f. Herz fei d,
Gesch. des Volkes Jisraei III, 209—215. Grätz, Über Entwickelung derPen-
tateuch-Perikopen- Verlesung (Monatsschr. f. Gesch. u. Wisseusch. des Judenth.
1869, S. 385—399). Hamburger, Real-Enz. f. Bibel und Talmud, II. Abt.
S. 1263—1268 Art. „Vorlesung aus der Thora". Theodor, Die Midraschim
zum Pentateuch und der dreijährige palästinensische Cyklus (Monatsschr. für
Gesch. und Wissensch. des Judenthums 1885—1887). Büchler, The reading
34»
532 § 27. Schule und Synagoge. [455. 456]
war also schwankend; die Zählung von 175 Abschnitten weist viel-
leicht auf einen 3 ll2 jährigen Zyklus (zweimal in 7 Jahren)116. In
die Lektion teilten sich mehrere Gemeindeglieder, die von einem
Gemeindebeamten, ursprünglich wohl vom Archisynagogen, dazu
aufgerufen wurden117, und zwar bei den Sabbathgottesdiensten (nicht
so bei den Wochengottesdiensten) mindestens sieben, deren erster
und letzter eine Danksagung (HDin) zum Anfang und zum Schluß
zu sprechen hatte 1 18. Jeder hatte (bei der Thoralektion) mindestens
drei Verse zu lesen119, und durfte sie niemals auswendig her-
sagen 120. Dies ist wenigstens die von der Mischna vorgeschriebene |
Ordnung, die allerdings nur in den palästinensischen Synagogen
beobachtet wurde. Von den nichthebräischen Juden bemerkt der
Talmud ausdrücklich, daß bei ihnen immer Einer die ganze Parasche
of the law and prophets in a triennial cycle. I (Jeicish Quarterly Review V, 1893,
p. 420—468). Kohl er, Art. „Law, Reading from the" in: The Jewish Encyclo-
pedia VII, 643 sq. Jacobs, Art „Triennial Cycle" in: The Jewish Encyclo-
pedia Xu, 1906, p, 254—257. — Noch einige Literatur notiert Harris, Jewish
Quarterly Review I, 1889, p. 226 sq. Vgl. auch unten Anm. 122.
116) Versuche, den dreijährigen Zyklus im einzelnen zu rekonstruieren,
s. bei Dobsevage, Art. „Sidra" in The Jewish Enryclopedia XI, 328*?. Ja-
cobs, Art „Triennial Oycle" in The Jewish Enc. XU, 254—257. — Während
der dreijährige Zyklus in Palästina üblich war, las man in Babylonien den
ganzen Pentateuch in 54 Abschnitten in einem Jahre. Dieser Gebrauch
wurde später allgemein. Maimonides, Hüchoth Tephüla XIII, 1 (Petersburger
Übersetzung I, 323) bezeichnet ihn als zu seiner Zeit herrschend, doch be-
merkt er, daß einige den Pentateuch in drei Jahren lesen. In der Tat war
dies nach Benjamin von Tudela noch um 1170 in einzelnen Gemeinden in
Ägypten üblich (Jewish QR. V, 420). — Über die Verteilung der 54 Abschnitte
auf das Jahr s. Loeb, Revue des itudes juives VI, 250 — 267. Derenbourg
ibid. VII, 146—149. Otto Schmid, Über verschiedene Einteilungen der heil
Schrift (Graz 1892) 8. 4ff. Dobsevage, Art. „Sidra" in The Jewish Enc. XI,
328 sq. — Über die Einteilungen des alttestamentlichen Textes überhaupt:
Hupfeld, Theol. Stud. und Krit. 1837, S. 830 ff. Buhl, Kanon und Text
des A. T. 1891, ß. 222 ff. O. Schmid a. a. O. — Über die Bedeutung der
Ausdrücke „Paraschen" (nvnmß) und „Sedarim" (D*t*Hö) und ihren in der
talmudischen Zeit noch mannigfachen Gebrauch s. auch die betreffenden Ar-
tikel bei Bacher, Die exegetische Terminologie I — II, 1905.
117) Über das Aufrufen zur Thora s. Vitringa p. 980. 1122 (nach Mai-
monides). Daß es im Zeitalter Christi durch den Archisynagogen geschab,
darf nach dessen sonstiger Stellung als wahrscheinlich angenommen werden.
Raschi und Bartenora (an den oben S. 512 genannten Stellen) bezeugen wenig-
stens, daß der Archisynagog (Rosch ha-heneseth) zu bestimmen hatte, wer die
Propheten-Lektion, das Schma und das Gebet vortragen solle.
118) Megilla IV, 2. Maimonides bei Vitringa p. 983.
119) Megilla IV, 4.
120) Zunz S. 5. Vgl. Megilla II, 1 (in betreff des Buches Esther); Ta-
anith IV, 3 (wo das Auswendigrezitieren als Ausnahme erwähnt ist).
[456] II. Die Synagoge. 533
gelesen habe121; und damit stimmt auch Philo überein, der augen-
scheinlich voraussetzt, daß die Thoralektion von Einem vorgetragen
wurde (s. die oben S. 527 f. mitgeteilten Stellen). — An die Vorlesung
des Gesetzes schloß sich schon in der neutestamentlichen Zeit ein
Abschnitt aus den Propheten (d. h. den O^fcpas, also mit Ein-
schluß der älteren historischen Bücher), wie wir namentlich aus
Luc 4, 17 (Jesus liest zu Nazareth einen Abschnitt aus Jesaja) und
Actor. 13, 15 (avayvartiq xov vofiov xal x&v nQoq>r\xmv) sehen,
wie denn auch in der Mischna der Prophetenlektion gedacht wird m.
Da sie den Schluß des Gottesdienstes bildete, also die Gemeinde
damit „verabschiedet" wurde, nannte man den Vortrag aus den
Propheten den „Abschiedsvortrag" (rt^Mrt oder rntjfi«), weshalb
die prophetischen Abschnitte selbst Haphtaren genannt werden m.
121) jer. MegiUa IV, 3 fol. 75a (zu der Vorschrift der Mischna, daß am
Sabbath immer sieben Personen zur Thora aufgerufen werden sollen): „Die
fremdsprachlichen Juden (mnsbn) haben nicht diesen Gebrauch, sondern einer
liest die ganze Parasche" 8. die Stelle bei Frank el, Vorstudien zu der Sep-
tuaginta 8. 59 Anm., und bei Levy, Neuhebr. Wörterb. II, 515* *. v. T13&.
122) MegiUa IV, 1—5. Näheres s. bei Vitringa p. 984 sqq. Herzfeld
III, 215 ff. Adler, Die Haftara (Monatsschr. f. Gesch. u. Wissensch. d. Ju-
denth. 1862, S. 222—228 [völlig verfehlte Erklärung des Ausdruckes]). Ham-
burger, Real-Enz. f. Bibel und Talmud, IL Abt. Art. „Haftara". Büchler •,
The reading of the law and propJiets in a triennial cycle t U (Jewish Quarter ly
Review VI, 1894, p. 1 — 73). Adler, MS. of Haftaras of the triennial cycle
[saec. XI/XH] (Jewish QR VIH, 1896, p. 528 sq.). Büchler und Dobsevage,
Art» „Haflarah" in The Jewish Encyclopedia VI, 1904, p. 135—137. Jacobs,
Art. „Triennial Cycle" in The Jewish Enc. XII, 254—257.
123) Das Verbum naß heißt nicht „beschließen" sondern 1) intrans. fort-
gehen, scheiden, 2) trans. entlassen, fortschicken, s. Levy, Chald. Wörterb.
*. t\, Ders., Neuhebr. Wörterb. s. v. Ebenso ist das Hiphil ^üBfi «= „ent-
lassen", z. B. die Gemeinde (jer. Berachoth IV, fol. 7d oben: D3JH DK ^oan
„entlasse die Gemeinde"). Im Aram. heißt das Aphel *)tt£K mit te „über
jemanden eine Abschiedsrede, d. h. Leichenrede halten", und das Subst.
mafin oder mttBtt ist = „Abschiedsrede" eines Rabbi an seine Gemeinde.
Hiernach ist die schon in der Mischna MegiUa IV, 1 — 5 gebräuchliche Formel
fcOasa *^ttBn nicht zu erklären: „mit dem Propheten die Lektion beschließen"
(so z. B. Herz fei d HI, 217—219), sondern: „mit dem Propheten die Ge-
meinde verabschieden", s. Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdi-
schen Traditionsliteratur II, 1905, 8. 14 Anm. 2 (s. v. mofcK). Schon Vi-
tringa p. 993 — 997 erwägt eingehend beide Erklärungen, ohne zu einem
sicheren Resultate zu kommen, während Hamburger beide kombiniert. Für
die Erklärung „die Lektion beschließen" beruft man sich namentlich auf Pe-
sachim X, 8: •pip^BX HOBM IHK "p-PüBa "pK, wo aber ebenfalls zu übersetzen
sein wird: non dimittunt coetum post pascha cum bellariis (Surenhusius' Mischna
H, 175). Die Lukasstellen (Luc. 4, 17. Act. 13, 15) scheinen freilich voraus-
zusetzen, daß auf die Propheten-Lektion erst die Predigt gefolgt ist, was nach
unserer Erklärung nicht die Regel gewesen sein kann. Wir haben uns die
534 § 27. Schule und Synagoge. [456. 457]
Für dieselben war keine lectio conHnua gefordert124; sie konnten
also frei ausgewählt werden125, auch wurden sie stets von Einem
vorgetragen126. Übrigens wurden sie nur bei den Hauptgottes-
diensten am Sabbath, nicht auch bei den Wochen- und Sabbath-
nachmittagsgottesdiensten gelesen 127. |
Da die heilige Sprache, in welcher die Schriftabschnitte ver-
lesen wurden, der Masse des Volkes nicht mehr geläufig war, so
mußte durch Üb er setz ung für besseres Verständnis gesorgt werden.
So wurde denn die Lektion durch fortlaufende Übersetzung in die
aramäische Landessprache begleitet Ob der Übersetzer (ptfrira)
ein ständiger Beamter war, oder ob in freiem Wechsel irgendein
kundiges Gemeindeglied als Übersetzer fungierte, muß bei dem
Mangel bestimmter Zeugnisse dahingestellt bleiben. Bei der Thora-
lektion durfte der Vorlesende dem Übersetzer immer nur einen
Vers vorlesen; bei der Prophetenlektion allenfalls drei; doch wenn
jeder einen besonderen Abschnitt bildete, mußte er auch hier jeden
einzeln lesen128. Es darf als selbstverständlich vorausgesetzt
Sache wohl so vorzustellen, daß die „Predigt'4, die ja nichts anderes als
Erläuterung des verlesenen Schriftabschnittes sein sollte, an die Thora-
Lektion sich anschloß, und daß darauf die Propheten-Lektion, in der Regel
ohne Erläuterung, als Schluß des Gottesdienstes folgte. Das schließt nicht
aus, daß zuweilen auch der prophetische Abschnitt noch durch einen Vortrag
erläutert wurde. In kleinen Gemeinden, wo nicht immer gewandte Redner
vorhanden waren, wird die „Predigt" oft ganz unterblieben sein.
124) Megiüa IV, 4.
125) Hamburger, Real-Enz. II, 336. Vgl. Luc. 4, 17 ff. Später (in
nachmischnischer Zeit) wurden auch die Haphtaren fixiert (s. darüber die in
Anm. 122 genannte Literatur). Für die Festtage und gewisse ausgezeichnete
Sabbathe geschieht dies bereits in der Tosephta Megiüa IV. Vgl. Hoffmann,
Magazin für die Wissenseh. des Judenth. IX, 1882, S. 162.
126) Megilla IV, 5.
127) Megilla IV, 1—2. — Von den Kethubim wurden nur die fünf Me-
gilloth, und auch diese nur bei einzelnen Gelegenheiten im Jahre beim
Synagogengottesdienst gebraucht, nämlich: Hoheslied am Passa, Ruth am
Pfingstfeste, Klagelieder am 9. Ab, Koheleth am Laubhüttenfest, Esther am
Purim. S. Carpxov, Critica sacra p. 134. Blau, Art. Megiüoth in The Je-
wish Encyclopedia VIII, 429 f. Von diesen Gebräuchen geht aber höchst wahr-
scheinlich nur die Sitte, das Buch Esther am Purimfeste zu lesen, bis in die
Zeit Christi hinauf. Hoheslied und Koheleth hatten noch nicht eiumal eine
feste Stellung im Kanon. S. oben S. 36Sf.
128) Vgl. überhaupt: Megilla IV, 4. 6. 10. Vitringa, De synagoga
p. 1015—1022. Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge S. 8. Hamburger,
Real-Enz. IL Abt. Art. „Targum". Levias, Art. Meturgeman in The Jewish
Encyclopedia VIII, 521 f. Bacher, Die exegetische Terminologie der jüd.
Traditionsliteratur I u. II, 1905, s. v. Wir und eiJP^n. — - Auch von den
christlichen Gemeinden wird gelegentlich Ahnliches bezeugt. So wurde in
[457. 458] II. Die Synagoge. 535
werden, daß die Übersetzung nur mündlich vorgetragen wurde.
Erst in einer Erzählung aus dem vierten Jahrhundert nach Chr.
wird vereinzelt die Vorlesung der Übersetzung aus einem ge-
schriebenen Targum erwähnt129.
An die biblische Lektion schloß sich aber noch ein erbaulicher
Vortrag oder eine Predigt OiHJTT), durch welche der verlesene
Abschnitt erläutert und praktisch nutzbar gemacht wurde. Daß
solche Erläuterungen häufig waren, sehen wir aus dem im Neuen
Testamente so oft erwähnten öiöaaxuv kv ralg cvvayayalg1*0, so-
wie aus Luc. 4, 20 ff. und aus dem ausdrücklichen Zeugnisse des
Philo (s. oben S. 527 f.). Über die Stellung der Predigt, ob vor oder
nach der Prophetenlektion, s. das oben Anm. 123 Bemerkte. Der
Vortragende (yoyf) m pflegte auf einem erhöhten Platze zu sitzen
(Luc 4, 20: ixd&ictev) 132. Auch diese Vorträge waren nicht an
bestimmte Personen gebunden, sondern, wie namentlich aus Philo
erhellt, jedem kundigen Gemeindegliede gestattet 133. — Den Schluß
des Gottesdienstes bildete der durch ein priesterliches Mitglied der
Gemeinde er|teilte Segen (Num. 6, 22 ff), worauf die ganze Ge-
meinde das ftJÄ sprach134. War kein Priester in der Gemeinde,
Skythopolis zur Zeit Diocletians beim Gottesdienst „die griechische Sprache
in die aramäische übersetzt" (s. Euseb. De mart. Palaest%naey nach dem voll-
ständigeren syr. Text, bei Zahn, Tatians Diatessaron 1881, S. 19, und Vi ölet
in: Texte und Untersuchungen von Gebhardt und Harnack XIV, 4, 1896,
S. 4). In Jerusalem geschah dasselbe um 385 — 388 n. Chr. S. die anschau-
liche Schilderung in der durch Gamurrini herausgegebenen Pilgerschrift der
Sylvia von Aquitanien (im Wortlaut mitgeteilt oben S. 85). Epiphanius,
Expos, fidei c. 21 ed. Petav. p. 1104 (Dindorf III, 1, 583) nennt als christliche
Gemeindebeamte auch kQfJujvevtal yX&aarjg slq yX&ooav rj iv ratg avayvwoeoiv
?j iv xatq, TiQoaofxiXlaiq. S. Zahn, Gesch. des Neutest. Kanons I, 43.
129) jer. Megüla 74 d. Bacher in Hostings' Dictionary of the Bible
IV, 641b.
130) Mattk. 4, 23. Marc. 1, 21. 6, 2. Luc. 4, 15. 6, 6. 13, 10. Joh. 6,
59. 18, 20.
131) Ein berühmter *|»n* war Ben Soma (Sota IX, 15).
132) Vgl. Z u n z , Die gottesdienstlichen Vorträge S. 337. Delitzsch, Ein
Tag in Capernaum S. 127 f.
133) S. überh. Hamburger, Real-Enz. II. Abt Art. „Predigt".
134) Berachoth V, 4. Megüla IV, 3. 5. 6. 7. — Über den Ritus des
Segensprechens s. Sota VII, 6 («= Tamid VII, 2): „Wie spricht man den
Priestersegen? Im Lande spricht man ihn in drei Absätzen, im Tempel in
einem Absatz. Im Tempel spricht man den Namen Gottes aus, wie er ge-
schrieben wird (rttrV»), im Lande nach seiner Benennung (i5Vix). Im Lande
heben die Priester ihre Hände nur in gleiche Höhe mit der Schulter, im
Tempel über den Kopf, außer dem Hohenpriester, welcher die Hände nicht
über das Stirnblech hin heben darf. R. Juda sagt: Auch er hob die Hände
536 § 27. Schule und Synagoge. [458. 459]
so wurde der Segen von einem andern Gemeindegliede nicht erteilt,
sondern erbeten ,35.
Die beschriebene Ordnung ist die des Hauptgottesdienstes am
Sabbathyormittag. Man versammelte sich aber auch am Sabbath-
nachmittag zur Zeit des Minchaopfers wieder in der Synagoge.
Wenn also Philo sagt, die sabbathlichen Versammlungen hätten
gedauert fiixQ1 oxeöop dsUfjg oipiag (s. oben S. 528), so ist das an-
gesichts der langen Dauer dieser Gottesdienste nicht unbegründet
Beim Nachmittagsgottesdienst las man keinen prophetischen, sondern
nur einen pentateuchischen Abschnitt. Und in die Lektion teilten
sich nur drei Gemeindeglieder, nicht mehr und nicht weniger136.
— Dieselbe Ordnung wurde auch beobachtet bei den Wochen-
gottesdiensten, welche regelmäßig am zweiten und fünften
Wochentag (Montag und Donnerstag) gehalten wurden137. — Auch
an den Neumonden versammelte man sich zur Thoralektion, wo-
bei vier Gemeindeglieder sich in die Parasche teilten138. Über-
haupt verging kein Festtag im Jahre, ohne daß er | durch Gottes-
dienst und Vorlesung aus dem Gesetze ausgezeichnet worden wäre;
und die Mischna hat für alle Festtage die pentateuchischen Lek-
tionen genau vorgeschrieben139.
über das Stirnblech". — Nach Bosch haschana 31b, Sota 40 b soll Jochanan
ben Sakkai angeordnet haben, daß die Priester den Segen auch nach der
Zerstörung des Tempels nur barfuß sprechen dürften (Derenbourg, Histoire de
la Palesiine p. 305 n. 3). — Überhaupt s. Bamidbar rabba zu Num. 6, 22 ff.
(in deutscher Übersetzung mitgeteilt von Wünsche, Jahrbb. für prot Theol.
1877, S. 675—705). Maimonides, ffilchoth Tephilla XIV— XV (Petersburger
Übersetzung I, 331 ff.). Wagenseil zu Sota VII, 6 (Sarenhusius' Mischna
III, 264 f.). Vitringa p. 1114—1121. Lundius, Die alten jüdischen Heilig-
thümer Buch III, Kap. 48. Haener, De ritu benedictionis saeerdotalis, Jenae
1671 (auch in: Thesaurus theol. philologicus, Amst. 1701—1702, t. TL p. 936 sqq.).
Hottinger, De benedictione sacerdotali, Marburg 1709 (auch in: Thesaurus
novus theol-phil. edd. Hasaeus et Ikenius t. I p. 393 sqq.). Hamburger, Real-
Enz. II. Abt Art. „Priestersegen". The Jewish Encyclopedia HI, 244—247,
Art „Blessing, priestly".
135) Vitringa p. 1120 (nach Maimonides).
130) Megüla III, 6. IV, 1.
137) MegiUa IH, 6. IV, 1. Vgl. I, 2. 3.
138) MegiUa IV, 2.
139) MegiUa III, 5—6. Vgl. Herzfeld 111,213. Hamburger H, 1205 ff.
(Art. „Vorlesung aus der Thora").
[459] IL Die Synagoge. 537
Anhang: Das Schma und das Schmone-Esre.
In der jüdischen Gebetsliturgie nehmen die beiden schon oben
erwähnten Stücke, das Sehma und das Schmone-Esre, teils
durch ihr Alter, teils durch den Wert, der auf sie gelegt wird,
eine so hervorragende Stelle ein, daß hier noch einiges Nähere
über sie mitgeteilt werden muß.
1. Das Schma140. Es besteht aus den drei Abschnitten Deut.
6, 4—9. 11, 13—21. Num. 15, 37—41, also aus denjenigen Stellen
des Pentateuches, in welchen hauptsächlich eingeschärft wird, daß
Jahve allein der Gott Israels ist, und in welchen der Gebrauch
gewisser Denkzeichen zur steten Erinnerung an Jahve angeordnet
wird. Die drei Abschnitte werden nach ihren Anfangsworten:
1) *w5, 2) ycti D» rrSTi, 3) *rt2K*5, schon in der Mischna ausdrück-
lich genannt141. Um diesen Kern gruppieren sich zu Anfang und
zu Ende Danksagungen (Berachas); und zwar schreibt die Mischna
vor, daß beim Morgen-Schma zwei Benediktionen vorher, eine
nachher, beim Abend-Schma zwei vorher und zwei nachher zu
beten seien142. Die Anfangsworte der Schlußbenediktion werden
in der Mischna schon ebenso zitiert, wie sie noch heutzutage lauten,
nämlich n^sm nr» 143. Wenn also der Wortlaut der Benediktionen
später auch erheblich erweitert worden ist, so gehören doch auch
sie ihrer Grundlage nach schon dem Zeitalter der Mischna an144.
— Dieses Gebet, oder richtiger dieses Bekenntnis, ist von jedem
erwachsenen männlichen Israeliten täglich zweimal, morgens und
140) S. überhaupt: Vitringa, De Synagoga p. 1052—1061. — Zunz, Die
gottesdienstl. Vortrage S. 307. 369—371. — Hamburger, Real-Enz. II, 1087—
1092. — Blau, Origine et histoire de la lecture du Schema et des formules
de btnidiction qui V aecompagnent (Revue des itudes juives t XXXI, 1895,
p. 179—201). — Dalman in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VII, 9 f. (im
Artikel „Gottesdienst"). — Eisenstein, Art. Shema in The Jewish Encyclo-
pedia XI, 266 f. — Elbogen, Studies in the Jewish liturgy {Jewish Quarter ly
Review XVIII, 1906, p. 587—599. XIX, 1907, p. 229—249). — Fi e big, Bera-
choth, der Mischnatraktat „Segenssprüche" 1906, S. 24—26 u. 29 — 41 (deutsche
Übersetzung des Schma und der Benediktionen am Anfang und am Schluß).
141) Beraehoth II, 2. Tamid V, 1.
142) Beraehoth I, 4.
143) Beraehoth II, 2. Tamid V, 1.
144) Einen Versuch, die älteren Bestandteile von den späteren Zusätzen
zu scheiden, hat bereits Zunz a. a. O. gemacht; vgl. auch die übrige, in Anm.
140 genannte Literatur, sowie die Artikel Ahabah rabba, Oeullah und Yoxerot
in The Jewish Encyclopedia.
538 § 27- Schule und Synagoge. [460]
abends, zu beten145. Frauen, Sklaven und Kinder dagegen haben
es nicht zu beten146. Es muß nicht notwendig in hebräischer
Sprache, sondern kann auch in jeder andern Sprache rezitiert
werden147. — Wie alt die Sitte des Schma-Rezitierens ist, sieht
man schon daraus, daß die Mischna bereits so detaillierte Be-
stimmungen darüber gibt148. Sie erwähnt aber überdies, daß es
bereits von den Priestern im Tempel gebetet wurde, was doch
mindestens einen Gebrauch vor dem Jahre 70 nach Chr. voraus-
setzt149. Ja, für Josephus verliert sich der Ursprung dieser Sitte
schon so sehr in grauer Vorzeit, daß er sie als eine Anordnung
Mosis selbst betrachtet150.
2. Das Schmone-Esre151. Etwas jünger als das Schma, aber
145) Berachoth I, 1-4.
146) Berachoth III, 3.
147) Sota VII, 1.
148) Vgl. im allgemeinen auch noch Pesachim IV, 8. Taanith IV, 3. Sota
V, 4. Aboth II, 13.
149) Tamid IV /Sn. V, 1.
150) Joseph, Antt. IV, 8, 13: Alq <T kxdoxrjq fiftigaq, &Qyo(i£vriq ze avxrjq
xal dnöxe ngbq vjivov &oa xoineo&ai, fiagxvQeiv xcp &E(j> xaq öwQEaq &g
änaiAayeXoiv abxotq ix xrjq Atyvnxlwv yfjq nagioxe, ötxaiaq oCorjq <pioei Tijq
evxagioxlaq xal yevofiivqq in dfiotßj fxhv xCbv ^Sij yeyovdzwv inl 6h ngo'
xQonji xtbv ioopivatv. — Daß Josephus hiermit die Sitte des Schma-Rezitierens
meint, kann nicht zweifelhaft sein. Er faßt das Schma mit Recht auf als ein
dankbares Bekenntnis zu Jahve als dem Gott, der Israel aus Ägypten erlöst
hat. Vgl. bes. Num. 15, 41.
151) S. überhaupt: Vitringa, De synayoga p. 1031—1051. — Zunz,Die
gottesdienstl. Vorträge S. 367—369. — Delitzsch, Zur Gesch. der jüdischen
Poesie (1830) S. 191—193. — Herzfeld, Gesch. des Volkes Jisrael HI, 200—204.
— Duschak, Geschichte und Darstellung des jüdischen Cultus, 1866, S. 196 —
211. — Bickell, Messe und Pascha (1872) S. 05 f. 71—73. — Hamburger,
Real-Enz. II, 1092—1099. — Enoch, Das Achtzehngebet, nach seiner sprach-
lichen und geschichtlichen Entwickelung dargestellt 1886. — Derenbourgt
Revue des etudes juives U XIV, 1887, p. 26—32. — Loeb, Les dix-huü bine-
dieiions (Revue des itudes juives t. XIX, 1889, p. 17—40; abgedruckt in: Loeb,
La litterature des pauvres dans la Bible 1892, p. 137 — 166). — L6vi, Les dix-
huü benidietions et les psaumes de Salomon {Revue des etudes juives t. XXXII,
1896, p. 161—178). Der s., Encore un mot etc. (ib. XXXIII, 1896, p. 142 sq.).
— Schechter, Jewish Quarterly Reviere X, 1898, p. 656 sq. (Mitteilung eines
alten Textes aus den Handschriften- Fragmenten der Genisa zu Kairo). —
Da Im an, Die Worte Jesu I, 1898, S. 299—304 (Wiedergabe des von Schechter
entdeckten Textes und eines andern nach südarabischem Ritus). Ders. in
Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VII, S. 10 f. — Elbogen, Geschichte des
Achtzehngebets (Monatsschr. f. Gesch. u. Wissensch. des Judenth. 1902,
S. 330— 357, 427—439, 513—530, auch separat 1903). Ders., Jetcish Quarterly
Review XIX, p. 704—720. — Hirsch, Art. Shemoneh Esre in The Jewish En-
cyclopedia XI, 1905, j?. 270-282. — Volz, Jüdische Eschatologie 1903, S.44f.
[460. 461] II. Die Synagoge. 539
seiner Grundlage nach auch sehr alt ist das Schmone-Esre,
d. h. das Hauptgebet, welches jeder Israelite, auch Frauen, Sklaven
und Kinder, täglich dreimal, nämlich morgens, nachmittags (zur
Zeit des Minchaopfers) und abends zu beten hat152. Es ist so |
sehr das Hauptgebet des Israeliten, daß es auch nisrin „das Ge-
bet" schlechthin heißt In seiner späteren Form besteht es eigent-
lich nicht, wie der Name rnto* rtjitatf, besagt, aus achtzehn, sondern
aus neunzehn Berachas. Ich gebe zunächst den vulgären Text
nach deutschem Eitus, wie ihn jedes jüdische Gebetbuch darbietet:
„1. Gelobet seist du Herr, unser Gott und Gott unserer Väter, Gott Abra-
hams Gott Isaaks und Gott Jakobs, großer mächtiger und furchtbarer Gott,
allerhöchster Gott, der du spendest reiche Gnade und schaffest alle Dinge und
gedenkest der Gnaden -Verheißungen der Väter und bringest einen Erlöser
ihren Eindeskindern um deines Namens willen aus Liebe. O König, der du
Hilfe und Heil bringest, und ein Schild bist. Gelobet seist du Herr,
Schild Abrahams. 2. Du bist allmächtig in Ewigkeit, Herr, der du Tote
lebendig machest. Du bist mächtig zu helfen; der du Lebende erhältst aus
Gnade, Tote lebendig machst aus viel Erbarmen, Fallende stützest und Kranke
heilest und Gefangene befreiest und dein Wort getreulich hältst denen, die
im Staube schlafen. Wer ist wie du, Herr der Stärke; und wer gleichet dir,
o König, der du tötest und lebendig machst und sprossen lassest Hilfe. Und
treu bist du, Tote lebendig zu machen. Gelobet seist du Herr, der du
lebendig machest die Toten. 3. Du bist heilig und dein Name ist heilig,
und Heilige lobpreisen dich jeglichen Tag. Sela. Gelobet seist du Herr,
heiliger Gott. 4. Du verleihest dem Manne Erkenntnis und lehrest den
Menschen Einsicht. Verleihe uns von dir Erkenntnis, Einsicht und Verstand.
Gelobet seist du Herr, der du verleihest die Erkenntnis. 5. Führe
uns zurück, unser Vater, zu deinem Gesetz, und bringe uns, unser König, zu
deinem Dienst, und laß uns zurückkehren in vollkommener Buße vor dein
Angesicht. Gelobet seist du Herr, der du Wohlgefallen hast an
Buße. 6. Vergib uns, unser Vater, denn wir haben gesündigt; verzeihe uns,
unser König, denn wir haben gefrevelt. Du vergibst und verzeihest ja gerne.
Gelobet seist du Herr, Gnädiger, der du viel verzeihest. 7. Schaue
unser Elend und führe unsere Sache und erlöse uns bald um deines Namens
willen; denn ein starker Erlöser bist du. Gelobet seist du Herr, Erlöser
Israels. 8. Heile uns Herr, so werden wir geheilt; hilf uns, so wird uns
— Hönnicke, Neue kirchl. Zeitschr. 1906, S. 63 f. (in der Abh. über das
Vater- Unser). — Bousset, Die Religion des Judentums 2. Aufl. 1906,
S. 203—205, 420—422. — Fiebig, Berachoth, der Mischnatraktat „Segens-
sprüche" 1906, S. 26 — 29 (deutsche Übersetzung des von Schechter entdeckten
Textes). — Ein Targum zum Schmone Esre hat Gaster herausgegeben (Mo-
natsschr. f. Gesch. u. Wissensch. des Judenth. 39. Jahrg. 1895, S. 79—90; vgl.
dazu Epstein ebendas. S. 175—178, Mendelssohn ebendas. S. 303 — 305).
Eine englische Übersetzung dieses Targums lieferte Gollancz in: Semitic
Studies in Memory of Alex. Kohut, Berlin 1897, p. 186—197.
152) Berachoth in, 3 (Frauen, Kinder, Sklaven). IV, 1 (dreimal täglich).
540 § 27. Schule und Synagoge. [461. 462]
geholfen ; denn unser Lob bist du. Und bringe vollkommene Genesung allen
unsern Wunden ; denn ein Gott und König, der da heilet, treu und barmherzig,
bist du. Gelobet seist du Herr, der du heilest die Kranken deines
Volkes Israel. 9. Segne für uns, Herr unser Gott, dieses Jahr und lasse
alles Gewächs wohl gedeihen; und gib Segen auf das Land; und sättige uns
mit deiner Güte; und segne unser Jahr wie die guten Jahre. Gelobet seist
du Herr, der du segnest die Jahre. 10. Verkündige mit großer Posaune
unsere Befreiung und erhebe ein Panier, um zu sammeln unsere Zerstreuten,
und versammele uns von den vier Enden der Erde. Gelobet seist du
Herr, der du sammelst die Verstoßenen deines Volkes Israel.
11. Setze wieder ein unsere Richter wie vormals und unsere Räte wie am An-
fang; und nimm von uns Kummer und Seufzen; und herrsche über uns, du
Herr allein, in Gnade und Erbarmen; und rechtfertige uns im Gericht. Ge-
lobet seist du Herr, König, der du liebest Gerechtigkeit und Gericht
12. Und den Verleumdern sei keine Hoffnung; und alle die Böses tun, mögen
Bchnell zugrunde gehen, und sie alle baldigst ausgerottet werden; und lähme
und zerschmettere und stürze und beuge die Übermütigen bald in Eile, in
unsern Tagen. Gelobet seist du Herr, der du zerschmetterst Feinde [und
beugest Übermütige. 13. Über die Gerechten und | über die Frommen
und über die Altesten deines Volkes, des Hauses Israel, und über den Rest
der Schriftgelehrten und über die Proselyten und über uns möge sich regen
dein Erbarmen, Herr unser Gott. Und gib reichen Lohn allen, die wahrhaftig
vertrauen auf deinen Namen; und laß unser Teil bei ihnen sein in Ewigkeit,
auf daß wir nicht zuschanden werden; denn auf dich haben wir vertraut.
Gelobet seist du Herr, Stütze und Zuversicht für die Gerechten.
14. Und nach Jerusalem, deiner Stadt, kehre zurück in Erbarmen ; und wohne
in ihrer Mitte, wie du gesagt hast; und baue sie bald in unsern Tagen zu
einem ewigen Bau; und den Thron Davids richte bald auf in ihrer Mitte.
Gelobet seist du Herr, der du bauest Jerusalem. 15. Den Sproß Da-
vids, deines Knechtes, lasse bald aufsprossen, und sein Hörn erhebe durch
deine Hilfe. Denn auf deine Hilfe harren wir alle Tage. Gelobet seist du
Herr, der du aufsprossen lassest ein Hörn des Heils. 16. Höre unsere Stimme,
Herr unser Gott, schone und erbarme dich unser; und nimm an in Erbarmen
und Wohlgefallen unser Gebet; denn ein Gott, der Gebete und Flehen er-
höret, bist du. Und von deinem Angesichte, unser König, laß uns nicht leer
zurückkehren; denn du erhörest das Gebet deines Volkes Israel in Erbarmen.
Gelobet 'seist du Herr, der du Gebet erhörest. 17. Habe Wohlge-
fallen, Herr unser Gott, an deinem Volke Israel und an ihrem Gebet Und
führe zurück den Opferdient in das Allerheiligste deines Hauses. Und die
Opfer Israels und ihr Gebet nimm an in Liebe mit Wohlgefallen. Und wohl-
gefällig sei das tägliche Opfer Israels, deines Volkes. O daß sehen möchten
unsere Augen deine Rückkehr nach Zion in Erbarmen. Gelobet seist du
Herr, der du zurückkehren lassest deine Herrlichkeit (njtDiri) nach Zion.
18. Wir preisen dich, denn du bist der Herr unser Gott und der Gott unserer
Väter in alle Ewigkeit, der Fels unseres Lebens, der Schild unseres Heils.
Du bist es für und für. Wir preisen dich und erzählen dein Lob, für unser
Leben, das in deine Hand gegeben, und für unsere Seelen, die dir anbefohlen
sind, und für deine Wunder an jeglichem Tage bei uns, und für deine Macht-
erweisungen und für deine Wohltaten zu jeder Zeit, abends und morgens und
mittags. Allgütiger, dessen Barmherzigkeit kein Ende hat; Barmherziger,
[462. 403] IL Die Synagoge. 541
dessen Gnade nicht aufhöret; immerdar harren wir auf dich. Und für alles
dies sei gepriesen und erhoben dein Name, unser König, immerdar in alle
Ewigkeit Und alles, was lebet, preiset dich, Sela; und lobet deinen Namen in
Wahrheit; du Gott, unser Heil und unsre Hilfe, Sela. Gelobet seist du
Herr; Allgütiger ist dein Name, und dir geziemet Preis. 19. Großes
Heil bringe über Israel, dein Volk, in Ewigkeit; denn du bist König, Herr
alles Heils. Gelobet seist du Herr, der du segnest dein Volk Israel
mit Heil".
Von diesen 19 Berachas sind die ersten drei (Nr. 1—3) Lob-
preisungen der Allmacht und Gnade Gottes, die letzten zwei
(Nr. 18—19) enthalten Dank für Gottes Güte und Bitte um Gottes
Segen im allgemeinen. In der Mitte stehen die eigentlichen Bitt-
gebete, und zwar Nr. 4—9 Bitten um Erkenntnis, Buße, Vergebung,
Erlösung vom Übel, Gesundheit und Fruchtbarkeit des Landes,
Nr. 10—17 Bitten um Sammlung der Zerstreuten, Wiedereinsetzung
der einheimischen Obrigkeit, Vernichtung der Gottlosen, Belohnung
der Gerechten, Erbauung Jerusalems, Sendung des Messias, Er-
hörung der Gebete, Wiederherstellung des Opferdienstes. — Aus
diesem Inhalte ergibt sich, daß das Gebet erst nach der Zerstörung
Jerusalems, also nach dem Jahre 70 nach Chr. redigiert ist. Denn
es setzt in seiner 14. und 17. Beracha die Zerstörung der Stadt
und das Aufhören des Opferdienstes voraus. Andererseits wird
es schon in derMischna unter dem Namen tvrtiy rwittirJ zitiert153,
und es wird erwähnt, daß bereits R. Gamaliel II., K. Josua, R. Akiba
und K. Elieser, also lauter Autoritäten aus dem Anfang des zweiten
Jahrhunderts, darüber verhandelten, ob man die sämtlichen 18 Be-
rachas oder nur einen Auszug daraus täglich zu beten habe154,
sowie darüber, in welcher Weise die Zusätze während der Regen-
zeit und am Sabbath einzuschalten und in welcher Form es am
Neujahrstage zu beten sei155. Demnach muß es die Form von
18 Berachas um das Jahr 70-100 nach Chr. erhalten haben, und
153) Berachoth IV, 3. Taanitk U, 2.
154) Berachoth IV, 3.
155) Berachoth V, 2. Bosch haschana IV, 5. Taanith I, 1—2. — Beim
Sabbath- Ausgang wurde die sogenannte ni-on eingeschaltet, d. h. die „Schei-
dung", mittelst welcher der Sabbath vom Wochentag geschieden wurde.
S. Berachoth V, 2. Chullin I fin. Die Kommentare zu Berachoth V, 2 (in
Surenhusius' Mischna I, 18). Levy, Neuhebr. Wörterb. 8. v. nVisn. Später
(in nachmischnischer Zeit) wurde es üblich, die Habdala vom Schmone Esre
zu trennen und als besondere Benediktion zu sprechen. Maimonides, Hilchoth
Sckabbath XXIX (Petersburger Übersetzung II, 228 ff.). Hamburger, Real-
Enz. Suppl. II, 1891, S. 76 ff. Art. „Habdala". The Jeuish Enajclopedia VI,
11S-121 (Art Habdalah).
542 § 27. Schule und Synagoge. [463]
es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Grundlage des Gebetes
noch erheblich älter ist156.
Im einzelnen läßt sich der Wortlaut, welchen das Gebet um
70—100 nach Chr. gehabt hat, nicht mehr rekonstruieren. Unter
den uns bekannten Formen kommt ihm vermutlich am nächsten
ein Text, welcher erst in neuerer Zeit (wie der hebräische Sirach)
unter der Fülle handschriftlicher Fragmente in der alten Genisa
(Rumpelkammer) der Synagoge zu Kairo entdeckt und von Schechter
im Jahre 1898 herausgegeben worden ist (s. oben Anm. 151). Der
Wortlaut der einzelnen Berachas ist hier häufig kürzer als der
spätere vulgäre; die Struktur des Ganzen aber fast genau die
gleiche. Namentlich stimmen die Doxologien, mit welchen die ein-
zelnen Berachas jedesmal schließen, fast durchweg mit denjenigen
des Vulgärtextes wörtlich überein. Sie zeigen uns das Gerippe,
das sicher aus der Zeit um 70—100 nach Chr. stammt (im obigen
Text sind die Doxologien, soweit sie mit denjenigen des Textes
von Kairo übereinstimmen, durch gesperrten Druck hervorgehoben).
Die erheblichste Abweichung besteht darin, daß im Text von Kairo
die 15. Beracha, d. h. die ausdrückliche Bitte um das Kommen des
Messias, fehlt, indem ihr Inhalt nur im Zusammenhang der 14. Be-
racha in kürzerer Fassung zum Ausdruck kommt. Das Fehlen der
15. Beracha, oder vielmehr die Verbindung der 14. und 15. Beracha
zu einer läßt sich auch sonst als palästinensisch nachweisen157.
Das Gebet hat hiernach wirklich nur 18 Berachas, wie der Name
156) Zu den Grundlagen des Gebetes wurde auch Jesus Sirach zu
rechnen sein, wenn das Stück, welches im hebräischen Text auf c. 51, 12
folgt, seinem ganzen Umfange nach ursprünglich wäre (Text bei Smend, Die
Weisheit des Jesus Sirach, hebräisch und deutsch, 1906, für die Ursprünglieh-
keit: Smend s Kommentar 1906, S. 502 f., gegen dieselbe: Peters, Der jüngst
wieder aufgefundene hebr. Text des Buches Ecclesiasticus 1902, S. 304 ff.). In
diesem Stück finden sich die auffalligsten Parallelen mit dem Schmone Esre.
Gott wird gepriesen als „Schild Abrahams" (Sirach 51, 12, 10 « Schmone
Esre 1), als „Erlöser Israels" (Sirach 51, 12, 5 =» Schm. E. 7), als der „der
die Zerstreuten Israels sammelt" (Sir. 51, 12, 6 = Schm. E. 10), „der seine
Stadt und sein Heiligtum baut" (Sir. 51, 12, 7 = Schm. E. 14), „der dem
Hause Davids ein Hörn sprossen läßt" (Sir. 51, 12, 8 =» Schm. E. 15). Die
Hauptmasse des Stückes bei Sirach wird nun in der Tat als echtes Gut des*
selben zu betrachten sein (außer dem Interesse für die Sohne Zadoks 51, 12, 9
spricht dafür namentlich, daß nach der Ankündigung 51, 12 eine längere Lob-
preisung Gottes zu erwarten ist). Aber eine derartige Litanei konnte später
leicht durch Einschöbe erweitert werden. Ein solcher ist mindestens die
Lobpreisung Gottes als (Wieder-)Erbauer Jerusalems und des Tempels (Sir.
51, 12, 7) und vermutlich auch noch einige andere Berachas.
157) El bogen, Geschichte des Achtzehngebets S. 25—27 — Monatsschr.
f. G. u. W. d. J. 1902, S. 348-350.
[463] IL Die Synagoge. 543
besagt. Während dieser Umstand für die Ursprünglichkeit dieses
Textes zu sprechen scheint, wird dieselbe durch anderes wieder
zweifelhaft. Die ausdrückliche Bitte um das Kommen des Messias
kann in einem Gebete, welches sonst alle Seiten der Zukunfts-
hoffnung umfaßt, kaum fehlen; ihre Verbindung mit der Bitte um
den Bau Jerusalems macht einen sekundären Eindruck. Sodann
haben wir eine bestimmte Überlieferung, daß die Zahl von 19 Be-
rachas durch Einfügung der „Beracha gegen die Ketzer" (rena
c^tot), d. h. der 12., also nicht durch Zerlegung der 14. in zwei,
entstanden sei. „Simon der Baumwollhändler ordnete die 18 Be-
rachoth zur Zeit des Rabban Gamaliel nach ihrer Reihenfolge in
Jabne. Da sprach Rabban Gamaliel zu den Gelehrten: Ist denn
jemand da, der die Beracha gegen die Ketzer festzustellen ver-
steht? Da stand Samuel der Kleine auf und stellte sie fest"158.
Es bleibt also fraglich, ob der Text von Kairo (d. h. der palästi-
nensische) hinsichtlich der 14. Beracha das Ursprüngliche bietet.
Überhaupt kann dieser Text nur als der relativ älteste, nicht als
der des zweiten Jahrhunderts nach Chr. angesehen werden. Wie
schwankend die Überlieferung ist, zeigt der Umstand, daß an dem-
selben Ort, von welchem der vollständige Text Schechters stammt,
noch zwei Fragmente gefunden wurden, die wiederum erhebliche
Abweichungen zeigen159.
In einem Punkte aber bietet die Handschrift von Kairo augen-
scheinlich den palästinensischen Text der ersten christlichen Jahr-
hunderte, wie er durch mehrere Kirchenväter bezeugt ist, nämlich
hinsichtlich der Erwähnung der Christen in der „Beracha
gegen die Ketzer44. Der Wortlaut dieser Beracha schwankt in
der Überlieferung sehr 160. Nach den patristischen Zeugnissen muß
158) Berachoth28*: lartaa 'pri ■»»£ nw^a ms» wra» -i^öh 4ipBn "praiö
rr-a iprft mws dix »■» onia, öiosrft heiaa pn urib -isat . r«M -non bs
napni "ppn i»n«io nss tD^Wi. Unmittelbar vorher wird die Frage aufge-
worfen, weshalb es 19 statt 18 Berachas seien. — Die Lesart D^sn ro*n ist
ohne Zweifel die richtige, nicht D^pVixfi rois, wie viele Ausgaben haben,
s. Levy, Neuhebr. Wörterb. 8. v. *p£.
159) S. Schechter und Dalman a. a. O. — Über die mannigfachen
Schwankungen im Wortlaut der einzelnen Berachas s. besonders die oben Anm.
151 genannten Arbeiten von Elbogen und Hirsch. Merkwürdigerweise neh-
men beide von dem durch Schechter 1898 herausgegebenen Text von Kairo
keine Notiz (Elbogen erst in Jewish Quart Rev. XIX, 716 sqq.).
160) Die Beracha ist gegen verschiedene Kategorien von Feinden des-
Judentums gerichtet, deren Bezeichnung stark variiert. In dem oben wieder-
gegebenen Vulgärtext werden genannt: „Verläumder" (D^üio), „alle die
Böses tun", „Feinde" und „Übermütige" (ö^t). Die ö^o kommen hier gar
nicht vor, wohl aber werden sie in andern Rezensionen erwähnt, wie nach
der in Anm. 158 mitgeteilten talmudischen Notiz zu erwarten ist. — Vgl.
544 § 27. Schule und Synagoge. [463]
angenommen werden, daß in derselben auch die Christen (Na$coQaioi,
Nazareni) erwähnt waren 161. Nach dem Text von Kairo ist dies
in der Tat der Fall, denn hier lautet die 12. Beracha: „Den Ab-
trünnigen (O'HiaiDiab) sei keine Hoffnung, und frevlerische Herr-
schaft CpTT wob«) rotte eiligst aus in unsern Tagen; und die
Nozrim und Minim (tWHjj D"nsin) mögen schnell zugrunde gehen;
sie mögen getilgt werden aus dem Buche des Lebens und mit den
Gerechten nicht angeschrieben werden. Gelobet seist du Herr, der
du beugest Übermütige (o^TT)". Die Erwähnung der Nozrim (Naza-
räer, Judenchristen) in unserer Beracha findet sich sonst nirgends
im Bereiche der gesamten Textüberlieferung des Schmone-Esre.
Die cnsb sind der engere Begriff, die o^tt der weitere (= Ketzer,
Abtrünnige überhaupt)162.
über die birkaik ha-minim überhaupt Buxtorf, Lex. Ohald. col. 1201 sq. —
Vitringa, De synagoga p. 1047—1051. — Herzfeld III, 203 f. — Grätz,
Gesch. der Juden IV, 434 f. — Derenbourg p. 345$?. — Hamburger II,
1095 f. — Krauss, Jewish Quarterly Review V, 1893, p. 130—134. IX, 1897,
p. 515—517. — Schlatter, Die Kirche Jerusalems vom J. 70—130 (Beiträge
zur Förderung christl. Theol. II, 3) 1898, S. 17—19. — M. Friedender, Der
Antichrist, 1901, 8. 77 ff. — Elbogen, Gesch. des Achtzehngebets, 1903,
S. 30—36 und 57 f. — Monatsschr. f. G. u. W. d. J. 1902, 8. 353—357, 427 f.
u. 523 f. — Herford, Christianity in Talmud and Midrash, 1903, p. 125-137.
— M. Friedländer, Die religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums im
Zeitalter Jesu 1905, S. 221 ff. — Hirsch in The Jewish Encyclopedia XI, 281.
161) Vgl. Epiphan. kaer. 29, 9: Ob fiövov yäo ol x(bv 'loväalcw natSeg
nobq xovxovq xixzm*xai ftiooq, &lXk xal &viozdfievoi f-a&ev xal ftiaijq fyfiioaq
xal negl x^v ionioav, xolq xfjq tjfxioaq, Sxs ebxfc inixekoVoiv kavxolq 4v zalg
ovvayotyaTq, inaoibvxai avzotq, xal avafrefxazl^ovoi xolq xfjq ^(x^Qaq (pdoxovxeq
Sri 'Enucazagaoai 6 9ebq xovq NatpQaiovq. — Eieronymus ad Jesaj. 5,
18 — 19, ed. Vallarsi IV, 81: (Judaei) usque hodie persererant in blasphemiis et
ter per singulos dies in omnibus synagogis sub nomine Naxarenorum anathe-
matixanl vocabulum Christianum. Idem ad Jesaj. 49, 7, ed. Vallarsi IV, 565:
(Judaei Christo) ter per singulos dies sub nomine Naxarenorum maledieunt in
synagogis suis. Idem ad Jesaj. 52, 4 ff. ed. Vallarsi IV, 604: (Judaei) diebus
ac noctibus blasphemant Salvatorem et sub nomine, ut saepe dixi, Naxarenorum
ter in die in Christianos congerunt maledicta. — Unbestimmter Justinus
Dialog, c. Tryph. c. 16: Kazao6>(ievoi iv xaiq owayatyaTq tyibv xovq morev-
ovzaq inl xbv Xqiozöv. In derselben Weise äußert sich Justin noch häufig
(c. 47. 93. 95. 96. 108. 117. 133, s. Ottos Kommentar zu c. 16). Eigentümlich
ist c. 137: SvfjKpdfjtevoi ovv (xi) XoiöoQtjze inl xbv vlbv zov &eov, fiyäh <Paoi*
oaloiq Ttei&öfievoi öiöaaxdloig xbv ßaoO.la xov 'looatjX imoxwytjxi noze% önola
öiöäoxovoiv ol aQxiGwaywyoi vpöv, fiezä x^v nooozvxi\v. Da hier .nicht
von einem Verfluchen (Verwünschen) der Christen, sondern von einem Ver-
spotten (imoxu>nxeiv) Christi die Rede ist, so ist wohl nicht an die birkath
ha-minim zu denken. Dieselbe ist ja auch nicht „nach dem Gebet" (ftezä
z?)v noooevzJjv), sondern inmitten desselben gesprochen worden.
162) Die von vielen, auch noch von Herford vertretene Meinung, daß
[464. 465] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 545
§ 28. Das Leben unter dem Gesetz.
I.
Aller Eifer der Erziehung in Familie, Schule und Synagoge
zielte darauf ab, das ganze Volk zu einem Volk des Gesetzes
zu machen. Auch der geraeine Mann sollte wissen, was das Ge-
setz gebietet; und nicht nur wissen, sondern auch tun. Sein ganzes
Leben sollte geregelt werden nash der Norm des Gesetzes; der
Gehorsam gegen dieses ihm zur sichern Gewohnheit, und ein Ab-
weichen von seiner Richtschnur zur inneren Unmöglichkeit werden.
Im großen und ganzen ist dieser Zweck in hohem Maße erreicht
worden. Josephus versichert: „Auch wenn wir des Reichtums und
der Städte und der andern Güter beraubt werden, das Gesetz bleibt
uns auf ewig. Und kein Jude kann so weit von seinem Vaterlande
weg kommen, noch wird er einen feindseligen Gebieter so sehr
fürchten, daß er nicht mehr als diesen das Gesetz fürchtete"1.
So treu hielt die Mehrzahl der Juden an ihrem Gesetz, daß sie
auch die Qualen der Folter und den Tod für dasselbe mit Freuden
auf sich nahmen. „Schon oft," sagt Josephus, „hat man viele der
Gefangenen Folterqualen und alle Arten des Todes in Theatern
erdulden sehen, um nur kein Wort vorzubringen wider die Gesetze
und die andern heiligen Schriften" 2. |
Aber welches waren die Motive, aus denen dieser Enthusias-
mus für das Gesetz entsprang? Welches die Mittel, durch die es
sich diese ungeheure Herrschaft über die Gemüter errungen hat?
Um es kurz zu sagen: es war der Glaube an die göttliche
Vergeltung, und zwar an eine Vergeltung im allerstrengsten
unter den Minim überaU die Judenchristen zu verstehen seien, ist, wie auch
unser Text zeigt, irrig. Insofern M. Friedländer hiergegen polemisiert, ist
er im Rechte. Seine positiven Aufstellungen über die Minim sind freilich
verfehlt.
1) Apion. II, 38: Kav nXovxov xal nokewv xal x&v a\\u>v ayadvov
axeQrjSvofiev , 6 yovv vöfioq ^/uZV ci&dvttxoq äuxpivei* xal olöslq y£ovöalu)v oike
HaxQtnv ovxaq &v anik&oi xfjq naxoidoq ovze TtütQÖv <poßtj&Jjoexai öeanoxijv a>q
fi9j tcqö ixelvov öeöihai xdv vofxov.
2) Apion. I, 8: "HStj ovv noXXol noXXäxiq kwoavxai x(bv alxfiaXwxwv
oxoißXaq xal navxo'uöv &avaxtov xoonovq iv 9eäxQ0iq ^noixivovxeq inl x(p fxij6hv
fäfia ngoio9ai nagk xovq vofiovq xal xaq ftexä xovxwv ävaygaipäq. — Vgl.
auch Apion. I, 22 (aus Hekataus) und II, 30: noXXol xal noXXdxiq tfSrj xtbv
fjfxex^Qotv tcbqI xov (Jirjöh §rj[xa <p&iy£aofrai naoä xbv vojhov ndvxa na&eTv
yewalwq nooeiXovxo.
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 35
546 § 28. Das Leben anter dem Gesetz. [465. 466]
juristischen Sinne. Die prophetische Idee des Bundes, den Gott
mit dem auserwählten Volke geschlossen hatte, wurde im rein
juristischen Sinne aufgefaßt: der Bund ist ein Rechtsvertrag, durch
welchen beide Kontrahenten gegenseitig gebunden sind. Das Volk
ist verpflichtet, das von Gott ihm gegebene Gesetz pünktlich und
gewissenhaft zu beobachten; dafür ist aber auch Gott verpflichtet,
den verheißenen Lohn nach Maßgabe der Leistung dem Volke zu
entrichten. Und zwar gilt diese Verpflichtung gegenüber dem Volke
als ganzem, wie gegenüber jedem einzelnen: Leistung und Lohn
müssen immer in entsprechendem Verhältnis zueinander stehen.
Wer viel leistet, hat von der Gerechtigkeit Gottes zu erwarten,
daß ihm auch viel Lohn zuteil werden wird, während umgekehrt
jede Übertretung auch entsprechende Strafe nach sich zieht8. Wie
äußerlich dieser Vergeltungsglaube einerseits Übertretung und
Strafe, andererseits Gesetzeserfüllung und Belohnung gegeneinander
abwog, wird aus folgendem erhellen. „Sieben verschiedene Plagen
kommen in die Welt wegen sieben Hauptübertretungen. 1) Wenn
ein Teil des Volkes seine Früchte verzehntet und ein Teil nicht,
so entsteht Hungersnot aus Dürre, so daß ein Teil darbt, und ein
Teil zur Genüge hat. 2) Verzehntet aber niemand, so folgt Hungers-
not durch Kriegesstörungen und Dürre. 3) Hat man allgemein
keine Teighebe abgesondert, so entsteht eine alles verderbende
Hungersnot 4) Die Pest wütet, wenn solche Verbrechen überhand
nehmen, die in der Schrift mit Todesstrafe belegt, aber dem Ge-
richte nicht zur Vollziehung übergeben sind; wie auch wegen Ver-
gehens mit Früchten des Erlaßjahres. 5) Der Krieg verheert das
Land wegen Verzögerung der Rechtssprüche, wegen Beugung des
Rechts, und wegen gesetzwidriger Auslegung der heiligen Schrift.
6) Reißende Tiere nehmen überhand wegen Meineid und wegen
Entheiligung des göttlichen Namens. 7) Vertreibung in fremde
Länder ist Strafe für Götzendienst, für Blutschande, für | Mordtaten
und für Unterlassung des Feierjahres**4. Mit ähnlicher Gewissen-
haftigkeit berechnete man den Lohn für die Gesetzeserfüllung.
„Wer auch nur ein Gebot erfüllet, dem wird Gutes beschieden,
3) Vgl. Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theologie (1880)
S. 235 ff. 290 ff. — Hamburger, Real-Enz. für Bibel und Talmud, Abt II
Artikel „Lohn und Strafe" (S. 691—703) und „Vergeltung" (S. 1252-1257).
— Hermann Schultz, Die Beweggründe zum sittlichen Handeln in dem vor-
christlichen Israel (Theol. Stud. u. Krit 1890, S. 7—59, bes. ß. 39 ff.).
4) Aboth V, 8—9. Ahnliches z. B. Schabbath II, 6. — Die alttestament-
liche Grundlage hierfür sind die Verheißungen resp. Androhungen von Segen
und Fluch in Lev. 26 und Deid. 28. Aber die kasuistische Durchführung der
Parallele ist dem A. T. noch fremd.
[466] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 547
seine Tage werden verlängert, und er wird das Land ererben"5.
„Nach Verhältnis der gegebenen Mühe wird auch der Lohn sein"
(»naK an» D^b) 6. „Wisse, daß alles in Rechnung gebracht wird"
(TiatinnT '^th h'srvtö Vi) 7. Jede Gesetzeserfttllung bringt also den
entsprechenden Lohn mit sich. Und Gott hat nur zu dem Zwecke
dem Volke Israel so viele Gebote und Satzungen gegeben, um ihm
viel Verdienst zu verschaffen 8. — Beides, Strafe und Lohn, werden
dem Menschen schon in diesem gegenwärtigen Leben zuteil. Die
volle Vergeltung erfolgt aber erst in dem künftigen Leben, im
fctan Dbi?. Dann werden auch alle scheinbaren Inkongruenzen ihre
Ausgleichung finden. Wer in diesem Leben trotz seiner Gerechtig-
keit von Leiden heimgesucht war, wird dort um so volleren Lohn
empfangen. Aber auch abgesehen hiervon erfolgt die volle Be-
lohnung jedenfalls erst in der künftigen Welt. Denn die gegen-
wärtige Welt ist noch eine Welt der Unvoilkommenheit und des
Übels. In der künftigen Welt aber hört alle Schwäche auf. Dann
wird Israel für seine treue Gesetzeserfttllung sowohl als Volk im
ganzen wie in seinen einzelnen Gliedern durch ein Leben in un-
getrübter Seligkeit belohnt Die guten Werke — wie Ehrfurcht
vor Vater und Mutter, Wohltätigkeit, Friedestiften unter Neben-
menschen und vor allem Studium des Gesetzes — sind daher zu
vergleichen mit einem Kapital, dessen Zinsen man schon in diesem
Leben genießt, während das Kapital selbst stehen bleibt für das
künftige Leben9. Diese Hoffnung auf eine künftige Ver-
geltung war also die Haupttriebfeder alles gesetzlichen
5) Kidduschin I, 10.
6) Äbotk V, 23.
7) Äboth IV, 22.
8) Makkoth HI, 16. — Neuere jüdische Gelehrte beanstanden die Über-
setzung von nte] durch „Verdienst verschaffen". Aber im Vorhergehenden
(IQ, 15) steht rot als Synonymum von *ou inp „Lohn empfangen", heißt
also „Verdienst haben"; demnach ist das Fiel MST in unserem eng mit dem
Vorhergehenden zusammenhangenden Satz = „Verdienst verschaffen". — Zur
Bestätigung sei noch die Äußerung eines mittelalterlichen Philosophen, des
Saadja Gaon, angeführt, welcher die Offenbarungsgebote im Unterschiede
von den Vernunftgeboten bezeichnet als solche, die gegeben sind ohne
einen ersichtliche^ Zweck, die aber trotzdem berechtigt sind, weil Gott
für deren Befolgung einen Lohn gewährt Sie sind „Dinge, über welche die
Vernunft kein Urteil abgibt, daß sie an sich gut oder verwerflich sind, die
aber Gott durch Gebot oder Verbot hinzugefügt hat, um unseren Lohn
und unsere Glückseligkeit um ihretwillen zu mehren" (Referat
Guttmanns in der Theol. Litztg. 1904, col. 56, in der Anzeige von Engel«
kemper, Die religionsgeschichtliche Lehre Saadja Gaons über die heil«
Schrift, 1903).
9) Pea I, 1. Vgl. Kidduschin IV, 14.
35*
548 § 28* Das Leben unter dem Gesetz. [466. 467]
Eifers. Ja das ganze religiöse Leben des jüdischen Volkes
in unserem Zeitalter bewegte sich geradezu um | diese
beiden Pole: Erfüllung des Gesetzes und Hoffnung einer
künftigen Herrlichkeit Der Eifer für jenes hat seine Lebens-
kraft vornehmlich aus dieser geschöpft. Das Wort des Antigonus
von Socho: „Gleichet nicht den Knechten, die ihrem Herrn um des
Lohnes willen dienen, sondern seid denen gleich, die ohne Bück-
sicht auf Lohn Dienste leisten" 10, ist keineswegs ein korrekter
Ausdruck der Grundstimmung des pharisäischen Judentums. Dieses
gleicht in der Tat den Knechten, die um des Lohnes willen dienen.
Zu welchen Resultaten hat nun dieser gesetzliche Eifer ge-
führt? Sie entsprechen den Motiven. Wie die Motive im wesent-
lichen doch äußerlicher Art sind, so ist auch das Resultat eine
unglaubliche Veräußerlichung des religiösen und sitt-
lichen Lebens. Freilich ist dieses Resultat unvermeidlich, sobald
einmal die Religion zum Gesetz gemacht wird, und zwar in dem
Sinne, daß das gesamte religiöse Verhalten in nichts anderem be-
stehen soll, als in der strikten Befolgung eines das bürgerliche
und soziale ebensogut wie das individuelle Leben in allen seinen
Beziehungen regelnden Gesetzes. Mit dieser Auffassung der reli-
giösen Pflicht, welche das charakteristische Merkmal des nach-
exilischen Judentums bildet, wird das gesamte religiöse und
sittliche Leben in die Sphäre des Rechts herabgezogen,
und damit ist notwendig Folgendes gegeben. 1) Vor allem
wird hiermit das individuelle Leben durch eine Norm geregelt,
deren Anwendung auf diesem Gebiete überhaupt vom Übel ist*
Das Recht hat lediglich die Aufgabe, die Beziehungen der Menschen
zueinander nach gewissen Maßstäben zu ordnen. Sein Objekt ist
nicht das Individuum als solches, sondern nur die bürgerliche Ge-
sellschaft als ganze. Die Funktionen dieser letzteren sollen durch
das Gesetz so geregelt werden, daß innerhalb dieses Rahmens jedem
einzelnen die Erfüllung seiner individuellen Aufgabe ermöglicht
werde. Die Anwendung der Rechtsnorm auf das individuelle Leben
bringt also an sich schon das letztere unter falsche Maßstäbe.
Denn zum Wesen des Rechts gehört der äußere Zwang; zum Wesen
des sittlichen Handelns aber gehört die Freiheit. Nur dann ist
das sittliche Leben des Individuums ein gesundes, wenn es durch
innere Motive geleitet wird. Die Regelung durch äußere Maßstäbe
ist eine Verfälschung desselben im Prinzip. — 2) Mit der recht-
lichen Normierung des religiösen und sittlichen Lebens ist aber
ferner gegeben, daß die verschiedenartigsten Tätigkeiten als gleich-
10) Aboth I, 3.
[467. 468] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 54g
wertig nebeneinander gestellt werden. Denn es werden nun schlecht-
hin alle Lebensbetätigungen durch das Gesetz normiert: nicht nur
das | Verhalten der Menschen zueinander in Staat und Gesell-
schaft, sondern in derselben Weise auch die individuellsten Lebens-
äußerungen des einzelnen: wie er seine Dankbarkeit gegen Gott
bezeugt oder die Reue über begangene Sünden an den Tag legt,
wie er dem Nächsten seine Liebe erweist, wie er sein tägliches
Leben in den äußerlichsten Beziehungen, in Sitten und Gewohn-
heiten gestaltet Alles fällt nun unter denselben Gesichtspunkt:
unter die Norm des Gesetzes, und zwar eines Gesetzes, welches mit
göttlicher Autorität auftritt Der Inhalt des Tuns wird damit
relativ gleichgültig. Es hat alles denselben Wert: das bloß kon-
ventionelle Verhalten in den äußeren Dingen und Zeremonien wie
die Erfüllung der höchsten religiösen und sittlichen Aufgaben. Das
erstere wird auf die Stufe der letzteren erhoben, und die letztere
auf die Stufe des ersteren herabgedrückt. Es gibt immer und
überall nur eine Aufgabe: Erfüllung des Gesetzes, d. h. Erfüllung
alles dessen, was nun einmal von Gott geboten ist, gleichviel,
welches Inhaltes es auch sei. — 3) Hiernach versteht es sich auch
von selbst, daß es im Grunde nur darauf ankommt, dem Gesetz
zu genügen. Eine höhere Aufgabe gibt es auf dem Gebiete des
Rechtes nicht Ist die Forderung des Gesetzes pünktlich erfüllt,
so ist auch der Pflicht genügt. Die Fragestellung kann also immer
nur die sein: Was ist geboten? und was ist zu tun, damit dem
Gebot Genüge geschehe? Die Konsequenz ist unvermeidlich, daß
alles Dichten und Trachten nur darauf gerichtet ist, sich mit dem
Buchstaben des Gesetzes abzufinden. Man wird diese Aufgabe
vielleicht schwer nehmen; man wird lieber mehr tun als weniger,
um nur ja den ganzen Umfang des Gebotes bei der Ausführung
zu treffen. Aber man wird immer nur die eine Absicht haben:
dem Wortlaut zu genügen. Und das kann nicht geschehen ohne
schwere Schädigung des Inhaltes. Der eigene Wert des Guten
bleibt dabei außer Betracht Nicht das Tun des Guten als solchen
ist das Ziel, sondern die rein formale Korrektheit in der Erfüllung
des Gesetzesbuchstabens. Trotz alles Eifers, ja gerade wegen des-
selben muß dabei die wahre Sittlichkeit notwendig Schaden leiden.
— 4) Endlich aber hat der rein formale Gesichtspunkt auch noch
die weitere Folge, daß die sittliche Aufgabe sich zerspaltet in eine
endlose atomistische Menge einzelner Aufgaben und Pflichten. Jedes
Recht ist notwendig kasuistisch; denn es stellt eine Vielheit ein-
zelner statutarischer Forderungen auf. Jede Kasuistik ist aber
ihrem Wesen nach endlos. Man mag den einen Fall in noch so
viele Unterarten zerteilt haben: jede Unterart läßt sich doch wieder
550 § 28- D&s Leben unter dem Gesetz. [46a 469]
in Unterabteilungen zerspalten; und des Teilens ist hier kein Ende.
Den glänzendsten Beweis dafür liefert eben die staunenswerte
Arbeit der pharisäischen Schriftgelehrten. Mit allem Fleiß und
Scharfsinn ihres Distinguierens sind sie doch nie ans Ende ge-
kommen. Aber das Zeugnis muß man ihnen geben, daß sie es sich
redlich haben sauer werden lassen. Das jüdische Recht ist unter
ihren Händen zu einer weitverzweigten Wissenschaft geworden.
In tausend und abertausend einzelne Gebote haben sie das Gesetz
zerlegt, und damit, so viel an ihnen lag, für jeden denkbaren Fall
des praktischen Lebens eine leitende Formel aufgestellt So staunens-
wert aber diese Leistung auch ist, so liegt doch gerade hier der
schwerste Fehler. Alles freie sittliche Handeln wird nun voll-
ständig erdrückt durch die Last der zahllosen einzelnen statutari-
schen Forderungen. Je größer deren Zahl, desto verhängnisvoller
wird die Wirkung des Grundirrtums, der in der Übertragung der
juristischen Behandlungsweise auf das Gebiet des religiösen und
sittlichen Lebens liegt. In jedem Momente des Lebens wird nun
nicht aus inneren Motiven, nicht in freier Betätigung einer sitt-
lichen Gesinnung gehandelt, sondern unter dem äußeren Zwang
einer statutarischen Forderung. Und diese Forderung erstreckt
sich über alles in gleicher Weise: über das Größte und über das
Kleinste, über das Wertvollste und über das Gleichgültigste; alles
Tun, es mag nach sittlichem Maßstab gemessen hoch oder gering
sein, hat nun denselben Wert; für alles gibt es nur einen Gesichts-
punkt: daß man tue, was geboten ist, weil es geboten ist Und
dabei gibt es natürlich auch keine höhere Aufgabe, als daß man
dem Buchstaben gerecht werde um des Buchstabens willen. Nicht
auf die Gesinnung, sondern auf die äußere Korrektheit des Tuns
kommt es an. — Und all dieser kleinliche und verkehrte Eifer
will schließlich der wahre und rechte Gottesdienst sein. Je mehr
man sich darin abmüht, desto mehr glaubt man sich Gottes Wohl-
gefallen zu erwerben. Es ist, wie der Apostel Paulus sagt: Cfilov
&tov Bxovöiv, d/Ll* ov xar* ijtlyvcoötv {Rom, 10, 2) n. Wie weit sich
11) Neben der endlosen kasuistischen Zerspaltung des Gesetzes in ein-
zelne Gebote finden sich hier und da (aber sehr selten!) Sprüche mit ent-
gegengesetzter Tendenz. Am berühmtesten ist Hill eis goldene Regel: „Was
dir unlieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht" mit dem Zusätze: „Dies
ist die ganze Lehre, das übrige ist nur Erläuterung" {Schabbaih 31», Bacher,
Die Agada der Tan nahen I, 2. Aufl. S. 4 f.). In derselben Richtung bewegt
sich auch ein Ausspruch des R. Simlai (3. Jahrh. n. Chr.): „613 Gebote sind
Moses offenbart worden, 365 Verbote, gleich der Anzahl der Tage des Sonnen-
jahres, und 248 Gebote, gleich der Anzahl der Glieder des menschlichen Kör-
pers [diese Zahl auch in der Mischna Ohaloih I, 8]. Es kam David und
[469. 470] §. 28. Das Leben anter dem Gesetz. 551
dieser unverständige Eifer um Gott verirrte, und welche schwere
Last er damit dem Leben des Israeliten auflud, mag durch eine
Reihe konkreter Beispiele deutlich gemacht werden12. |
n.
Eine der wichtigsten Materien, sowohl hinsichtlich ihres Um-
fangs wie hinsichtlich des Wertes, den man auf sie legte, war
das Kapitel von der Sabbathfeier13. Das kurze pentateuchische
brachte sie auf elf (Ps. 15); dann kam Jesaja and brachte sie auf sechs (Jes.
33, 15); Micha, and brachte sie auf drei (Micha 6, 8); Jesaja kam noch ein-
mal und brachte sie auf zwei (Jes. 56, 1); Arnos kam and brachte sie auf
eins (Arnos 5, 4: Suchet mich, so werdet ihr leben)" s. b. Makkoth 23b,
Bacher, Die Agada der palästinensischen Amoräer Bd. I, 1892, S. 558 f. Die
Absicht dieses Spruches ist zweifellos, zu zeigen, daß alle Einzelgebote auf
ein Grundgebot zurückgehen und in demselben ihre Einheit haben. Wie
fern aber dieser Gesichtspunkt im allgemeinen dem rabbinischen Judentum
liegt, zeigt am schlagendsten der Umstand, daß die Folgezeit ihren Scharf-
sinn darin geübt hat, die 365 + 248 =- 613 Gebote im einzelnen nachzu-
weisen, so daß die herrschende Ansicht in Wahrheit dahin geht, daß das
Gesetz nicht etwa ein, sondern 613 Grundgebote umfaßt (Merkwort: Tarjag
mm avin — 613), s. Bloch, Les 613 lois (Revue des kudes juives t I, 1880,
p. 197—211 u. t V, 1882, p. 27—40). BroydS, Art. „Oommandments, the 613"
in: The Jexoish Encyclopedia IV, 1903, p. 181—186.
12) Es sind hierbei hauptsächlich diejenigen Punkte hervorgehoben, welche
in 'den Evangelien berührt werden. — In betreff der Zeit, aus welcher das
hier vorgeführte Material stammt, sei nur daran erinnert, daß die in der
Mischna zitierten Autoritäten fast sämtlich dem Jahrhundert zwischen 70—170
nach Chr. angehören. Es liegt uns also hier das jüdische Recht in derjenigen
Ausgestaltung vor, welche es etwa in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhun-
derts nach Chr. erhalten hat. Im wesentlichen wird aber diese Ausgestaltung
bereits aus dem Anfang der christlichen Zeitrechnung, aus der Zeit Hilleis und
Schammais herrühren. Denn die Differenzen ihrer beiden Schulen beziehen
sich bereits auf das subtilste Detail.
13) Vgl. in der Mischna die Traktate Schabbath, Erubin, Bexa oder Jörn
tob, Buoh der Jubiläen cap. 2, 25 — 33 und cap. 50. Maimanides, Hilchoih
Schabbath, Erubin und Jörn tob (Petersburger Übersetzung H, 1—310, 322—386).
— Ferner: Boden seh atz, Kirchliche Verfassung der heutigen Juden H,
112—158. J. F. Schröder, Satzungen und Gebräuche des talmudisch-rabbi-
nischen Judenthums, 1851, S. 18—66. Winer, Realwörterb. H, 343—349.
Oe hl er in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XIII, 193—204 (in der 2. Aufl. revidiert
von Orelli XIII, 156—166). Saalschütz, Das mosaische Recht I, 388 ff.
Mangold in Schenkels Bibellex. V, 123—126. Riehms Wörterb. s. v.
Rönsch, Das Buch der Jubiläen, 1874, S. 510—513. Driver in Hostings'
Diäionary of the Bible IV, 317—323. Bohn, Der Sabbat im Alten Testa-
ment und im altjüdiseben religiösen Aberglauben, 1903. The Jexoish Bncyclo-
1
552 § 28. Das Leben unter dem Gesetz. [470. 471]
Verbot der Arbeit am Sabbatb, das auf Näheres sich fast gar nicht
einläßt (Exod. 16, 23—30. 20, 8—11. 23, 12. 31, 12-17. 34, 21.
35, 1—3. Lev. 23, 3. Num. 15, 32—36. Deut 5, 12-15. Vgl. Jes.
58, 13. Jerem. 17, 21—24. Ezech. 22, 8. Arnos 8, 5. Nehem. 10, 32.
13, 15 ff.), war im Laufe der Zeit so vielseitig ausgebaut worden,
daß es für sich allein schon einen umfangreichen Wissenszweig
bildete. Denn mit diesem schlichten Verbot konnten sich die Rab-
binen natürlich nicht begnügen. Sie mußten auch genau bestimmen,
welche Arbeit verboten sei. Und so brachten sie denn mit vielem
Scharfsinn endlich heraus, daß im ganzen 39 Hauptarbeiten ver-
boten sind, von welchen natürlich nur die wenigsten im Pentateuch
irgendwie sich angedeutet finden. Diese 39 verbotenen Haupt-
arbeiten sind: 1) säen, 2) ackern, 3) ernten, 4) Garben binden,
5) dreschen, 6) worfeln, 7) Früchte säubern, 8) mahlen, 9) sieben,
10) kneten, 11) backen, 12) Wolle scheren, 13) sie waschen,
14) klopfen, 15) färben, 16) spinnen, 17) anzetteln, 18) zwei Binde-
litzen machen, 19) zwei Fäden weben, 20) zwei Fäden trennen,
21) einen Knoten machen, 22) einen Knoten auflösen, 23) zwei
Stiche nähen, 24) zerreißen, um zwei Stiche zu nähen, 25) ein Reh
fangen, 26) es schlachten, 27) dessen Haut abziehen, 28) sie salzen,
29) das Fell bereiten, 30) die Haare abschaben, 31) es zerschneiden,
32) zwei Buchstaben schreiben, 33) auslöschen, um zwei Buchstaben
zu schreiben, 34) bauen, 35) einreißen, 36) Feuer löschen, 37) an-
zünden, 38) mit dem Hammer glatt schlagen, 39) aus einem Bereiche
in einen andern tragen14.
Jede dieser Hauptbestimmungen forderte nun aber wieder
nähere | Erörterungen über ihren Sinn und ihre Tragweite. Und
damit beginnt erst eigentlich die Arbeit der Kasuistik. Wir wollen
nur einige ihrer Resultate hier herausheben. Nach Exod. 34, 21
gehörte zu den verbotenen Arbeiten das Pflügen und Ernten. Als
Erntearbeit wurde es aber schon angesehen, wenn jemand auch
nur ein paar Ähren ausraufte15. Als daher die Jünger Jesu dies
mdm X, 587—602 (Art. Shabbath). Lotz in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl.
XVH, 283—291.
14) Schabbaih VII, 2. — Die Übersetzung ist hier und im Folgenden
überall die von Josts Mischna- Ausgabe. — Vgl. auch die Aufzählung im
Buch der Jubiläen e. 50.
15) Vgl. Maimonides, Hilcholh Schabbath VIII, 3 (Petersburger Über-
setzung II, 50, latein. bei Light foot, Horae hebr. zu Matth. 12, 2): „Aus-
reißen ist eine Unterarbeit des Erntens; deshalb macht sich, wer etwas von
der Stelle, wo es gewachsen, ausreißt, des Erntens schuldig". — Philo, Vita
Mosis II §4 (Mang. II, 137 fin.): Ol yäg $Qvoq oi> xXaöov &XX9 oi>dh niraXov
ifpelxai refteiv ij xaqnbv dvviva ovv ÖQ&yao&cu. — Wünsche, Jesu
[471. 472) § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 553
einst am Sabbath taten, wurden sie von den Pharisäern getadelt,
nicht wegen des Ausraufens an sich (das nach Deut 23, 26 gestattet
war), sondern weil sie damit sich der Erntearbeit am Sabbath
schuldig machten (Matth. 12, 1—2. Mc. 2, 23—24. Luc, 6, 1—2). —
Das Verbot, einen Knoten zu machen und aufzulösen (Nr. 21—22),
war viel zu allgemein, als daß man sich dabei hätte beruhigen
können. Es mußte auch gesagt werden, von welchen Knoten dies
gelte und von welchen nicht „Folgendes sind die Knoten, über
deren Anfertigung man schuldig wird: Der Knoten der Kameltreiber
und der der Schiffer; und so wie man schuldig ist wegen deren
Schürzung, so ist man auch schuldig wegen deren Lösung. R. Meir
sagt: Wegen eines Knotens, den man mit einer Hand lösen kann,
ist man nicht schuldig. Es gibt Knoten, wegen welcher man nicht
wie bei dem Kameltreiber- und Schifferknoten schuldig wird. Ein
Frauenzimmer darf den Schlitz ihres Hemdes zuknüpfen, so auch
die Bänder der Haube, die einer Leibbinde, die Riemen der Schuhe
und Sandalen, Schläuche mit Wein und Öl, einen Topf mit Fleisch** 16.
Und da nun der Knoten an der Leibbinde doch einmal gestattet
war, so wurde festgesetzt, daß man auch einen Eimer über den
Brunnen mit der Leibbinde festknüpfen dürfe, nur nicht mit einem
Stricke17. — Das Verbot des Schreibens am Sabbath (Nr. 32) wird
folgendermaßen präzisiert: „Wer zwei Buchstaben schreibt, mit
der Rechten oder mit der Linken, sie seien einerlei oder zweierlei
oder auch mit verschiedenen Tinten geschrieben, oder aus ver-
schiedenen Sprachen, ist schuldig. Wer einmal sich vergessend
zwei Buchstaben schrieb, ist schuldig; er möge nun mit Tinte ge-
schrieben haben oder mit Farbe, mit Rötel, mit Gummi, mit Vitriol,
oder was irgend bleibende Zeichen macht Wer ferner auf zwei
einen Winkel bildende Wände oder auf zwei Tafeln des Rechen-
buches schrieb, so daß man | sie zusammen lesen kann, ist schuldig.
Wer auf seinen Körper schreibt, ist schuldig. Schreibt einer in
dunkle Flüssigkeiten, in Fruchtsaft, oder in Wegestaub, in Streu-
sand oder überhaupt in etwas, worin die Schrift nicht bleibt, so
ist er frei. Schreibt einer mit verkehrter Hand, mit dem Fuße,
mit dem Munde, mit dem Ellenbogen; ferner wenn einer einen
Buchstaben zu anderer Schrift zuschreibt oder andere Schrift über-
zieht; ferner wenn einer ein n zu schreiben beabsichtigt und nur
zwei t T schrieb, oder wenn jemand einen Buchstaben an die Erde
Conflikt mit den Pharisäern wegen des Ährenausraufens seiner Schüler (Vier«
teljahrsschr. für Bibelkunde I, 1904, S. 281—306).
16) Schabbath XV, 1—2.
17) Schabbath XV, 2.
554 § 28. Das Leben unter dem Gesetz. [472. 473]
und einen an die Wand schrieb, oder auf zwei Wände des Hauses,
oder auf zwei Blätter des Buches, so daß sie nicht miteinander
gelesen werden können, so ist er frei. Wenn er in zweienmalen
vergessend zwei Buchstaben schrieb, etwa einen des Morgens und
den andern gegen Abend, so erklärt ihn R. Gamaliel für schuldig;
die Gelehrten sprechen ihn frei" 18. — Nach Exod. 16, 23 war es
verboten, am Sabbath zu backen und zu kochen. Die Speisen, die
man am Sabbath warm genießen wollte, mußten daher vor Anbruch
desselben bereitet und künstlich warm erhalten werden. Dabei
mußte aber sorgfältig darauf geachtet werden, daß nicht etwa die
vorhandene Wärme gesteigert würde, was ja ein „kochen" gewesen
wäre. Es durften also die Speisen nur in solche Stoffe eingesetzt
werden, welche die Wärme erhielten, nicht in solche, welche sie
möglicherweise steigern konnten. „Man darf Speisen (um sie am
Sabbath warm zu erhalten) nicht einsetzen in Öldrüsen, in Dünger,
in Salz, in Kalk oder in Sand, sie seien feucht oder trocken; nicht
in Stroh, in Weinhülsen, in Wollflocken, in Kräuter, wenn diese
feucht sind; wohl aber wenn sie trocken sind. Man darf aber ein-
setzen in Kleider, unter Früchte, unter Taubenfedern, unter Hobel-
späne und unter Flachswerg. R. Jehuda erklärt feines (Flachs-
werg) für unerlaubt und gestattet nur grobes" 19. | — Nach ExocL
18) Schabbath Xu, 3—6.
19) Schabbath IV, 1 ; und dazu die Kommentare in Surenhusius' Mischna
II, 18. — Einige Schotten zu Juvenal über die Bpeisenaufbewahrung für den
Sabbath teilt Rönech mit (Jahrbb. f. class. Philol. 1881, S. 692—696); z. B.
zu Juv. VT, 542: ideo dixit foenoque supellectilef quod his pulmentaria sua et
calidam aquam die sabbati servare consuerunt. — Ron seh, Ein weiteres
Scholion etc. (ebendas. 1885, S. 552), zu Juv. ETI, 13, von den Juden: uno die
ante sabbatum in cofinis edulia sua calida ponebani insolventes in feno post in-
vohUionem linteaminum et mapparum, ut sabbato calida haberent. — Beide
Aufsätze von Ron seh wieder abgedr. in dessen CoUectanea philologa, nach
dem Tode des Verf. herausg. 1891, S. 249—254. — Die Speisenaufbewahrung
für den Sabbath war deshalb wichtig, weil eine gute Mahlzeit auch nach
jüdischen Begriffen, wie nach denen des Altertums überhaupt, zur würdigen
Feier eines Festtages gehörte (Nehem. 8, 10. Tabu 2, 1). Daher war auch am
Sabbath Wohlleben Pflicht (Maimonides, Hüchoth Schabbath c. XXX,
Petersburger Übersetzung II, 238 ff.), das Fasten verboten (Judith 8, 6. Buch
der Jubiläen, c. 50, 10 u. 12). Auch die bei Persius Sat. V, 179—184 be-
schriebene Mahlzeit ist nicht etwa eine Fasten-Mahlzeit, sondern das Fest-
mahl des Proletariers. Vgl. auch die Ausleger zu Luc. 14, 1 (Lightfoot, Koros
kebr.j Wetstein Nov. Test. I, 750). Bodenschatz, Kirchl. Verfassung der heu-
tigen Juden II, 124 f. Schröder, Satzungen und Gebräuche S. 21. Ein grober
Irrtum ist es, wenn griechische und römische Schriftsteller den Sabbath als
Fasttag betrachten (Strabo XVI, 2, 40. Sueton. Äug. 76. Justin. XXXVI, 2, 14*
Petron. fragm. 37 ed. Bücheier).
[473. 474] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 555
35, 3 war es verboten, am Sabbath Feuer anzuzünden. Dieses Ver-
bot wurde durch das des Feuerlöschens ergänzt Hinsichtlich des
letzteren entstand nun die Frage, wie es zu halten sei, wenn ein
Nichtisraelite zu einem Brande kommt. „Wenn ein Nichtisraelite
zum Löschen herbeikommt, so sagt man weder zu ihm: Lösche!
noch: Lösche nicht! Und zwar, weil man nicht verbunden ist, ihn
zum Ruhen anzuhalten** 20. Selbstverständlich wurde das Lösch-
verbot auch auf Lichter und Lampen ausgedehnt und darüber fol-
gendes verordnet: „Wer ein Licht auslöscht, weil er sich_fürchtet
vor Heiden, vor Räubern, vor bösem Geist, oder um eines Kranken
willen, damit er einschlafe, ist frei. Geschieht es aber, um die
Lampe, das Ol, oder den Docht zu schonen, so ist er schuldig.
R. Jose spricht ihn in jedem Falle frei, außer in betreff des Dochtes,
weil er dadurch gleichsam eine 'Kohle bereitet**21. „Man darf ein
Gefäß zum Auffangen der Funken unter die Lampe setzen; aber
nicht Wasser hineintun, weil man dadurch löscht" 22. — Ganz be-
sonders reichen Stoff zur Diskussion gab die letzte der 39 Haupt-
arbeiten: das Tragen aus einem Bereiche in einen anderen (^sran
mfcpib rnttnti), was nach Jerem. 17, 21—24 verboten war; vgl. auch
Buch der Jubiläen c. 2, 29—30. c. 50, 8. Wir werden später noch
sehen, welche raffinierte Sophistik darauf verwandt wurde, um den
Begriff des nw -j zu erweitern. Hier sei nur mit ein paar Worten
erwähnt, daß man auch das Maß dessen, was am Sabbath aus einem
Bereiche in einen andern zu tragen verboten ist, genau feststellte.
So machte sich z. B. einer Sabbathverletzung schuldig, wer so viel
Speise hinaustrug, als eine dürre Feige ausmacht28, oder so viel
Wein, als .zur Mischung des Bechers genügt, Milch, so viel zu
einem Schluck genügt, Honig, so viel als man auf eine Wunde
legt, Öl, so viel man ein kleines Glied zu salben braucht, Wasser,
so viel nötig ist, um Augensalbe anzufeuchten24, Papier, so viel, |
daß man darauf einen Zollzettel schreiben kann 25, Pergament, um
den kleinsten Abschnitt der Tephillin darauf zu schreiben, d. i. 2£E
b&nü\ Tinte, so viel genügt, um zwei Buchstaben zu schreiben26,
Rohr, so viel genügt, eine Schreibfeder zu machen27, usw. Auch
solche Bekleidungsstücke, die nicht zur eigentlichen Kleidung ge-
20) Schabbath XVI, 6.
21) Schabbath II, 5.
22) Schabbath III, 6 fin.
23) Schabbath VII, 4.
24) Schabbath VIII, 1.
25) Schabbath VIII, 2.
26) Schabbath VUlt 3.
27) Schabbath VIII, 5.
556 § 2& Das Leben unter dem Gesetz. [474. 475]
hören, sind zu tragen verboten. Ein Krieger darf nicht mit Panzer,
Helm, Beinschienen, Schwert, Bogen, Schild and Spieß aasgehen 28.
„Ein Verstümmelter darf nach R. Meir mit seinem Stelzfuße aus-
gehen. R. Jose dagegen erlaubt es nicht" 29. Nur bei Ausbruch
von Feuersbrtinsten werden einige Konzessionen in betreff des
Tragens gemacht „Alle heiligen Schriften darf man aus einer
Feuersbrunst retten. Man darf das Futteral des Buches mit dem
Buche, das der Tephillin mit den Tephillin retten, sogar wenn
Geld darin liegt. Man darf Speise für die drei Sabbathmahlzeiten
retten. Kommt am Abend des Sabbath eine Feuersbrunst aus, so
rettet man Speise für drei Mahlzeiten; findet sie vormittags statt,
so rettet man für zwei Mahlzeiten; findet sie nachmittags statt,
nur für eine Mahlzeit. Man darf ferner retten einen Korb voll
Brote, wäre es auch für hundert Mahlzeiten, einen Feigenkuchen,
ein Faß Wein" 30.
Die Vorsicht der Gesetzeshüter beschränkte sich aber nicht
darauf, zu eruieren, was am Sabbath selbst verboten sei. Sie dehnte
ihre Verbote auch auf solche Handlungen aus, welche nur mög-
licherweise eine Sabbathverletzung herbeiführen konnten. Aus diesem
prophylaktischen Interesse sind z. B. folgende Bestimmungen her-
vorgegangen: „Der Schneider gehe bei einbrechender Dunkelheit
nicht mit seiner Nadel aus; denn er könnte vergessen und (nach
Eintritt des Sabbath) damit ausgehen. Auch nicht der Schreiber
mit seinem Rohre"31. „Man darf nicht Fleisch, Zwiebeln, Eier
braten, wenn nicht | Zeit ist, daß sie noch bei Tage gebraten
werden. Man darf nicht Brot in der Dämmerung in den Ofen tun,
nicht Kuchen über Kohlen setzen, wenn nicht die Oberfläche der-
selben noch bei Tage sich härten kann. R Elieser sagt: Wenn
nur Zeit da ist, daß die untere Fläche sich härtet" 32. Noch weiter
geht die Vorsicht, wenn z. B. verboten wird, am Sabbath bei Lampen-
licht zu lesen oder Kleider von Ungeziefer zu reinigen. Beides
28) Schabbat h VI, 2. 4. — Die Bestimmung Schabbath VI, 2, daß man
nicht in Sandalen, die mit Nägeln beschlagen sind, ausgehen dürfe, kennt
auch Origenes, De principiis IV, 17 /in.: Sed et quod ait: „non levare onus
in die sabbati?1 impossibile mihi pidetur. Ex his enim ad fabulas infinüas,
sictä sanctus apostolus dicit, Judaeorum doetores devoluti sunt, dieentes non
reputari onus, si calceamenta quis habeat sine clavis, onus rero esse, sicali-
ffiilas quis cum clavis habuerit (griech. nach der Philocalia: <pdcxovreq
ßaaxayfia f*lv elvai xb xoiovde bnoöriiia ob /nfjv xal xb toiovSb, xal xb tfXovc
%%ov oavöaXiov ob ftfjv xal xb dvfywxov).
29) Schabbath VI, 8.
30) Schabbath XVI, 1—3.
31) Schabbath I, 3.
32) Schabbath I, 10.
[475. 476] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 557
sind nämlich Handlungen, bei welchen helles Licht besonders nötig
ist Da liegt also die Versuchung nahe, die Lampe zu neigen, um
ihr mehr Öl zuzuführen, was gegen das Verbot des Feueranzündens
verstoßen würde. Daher werden jene Handlungen überhaupt ver-
boten. Dem Schullehrer ist zwar gestattet, zuzusehen, wie Kinder
bei Licht lesen. Er selbst aber darf bei Licht nicht lesen83.
Außer den 39 Hauptarbeiten sind auch noch manche andere
Verrichtungen und Tätigkeiten, die sich nicht unter jene subsumieren
lassen, verboten. Einige davon lernen wir z. B. aus folgender Ver-
ordnung in betreff der Feiertage (an welchen die Ruhe weniger
streng war) kennen. „Alles, worüber man am Sabbath strafbar
wird wegen Verletzung der Ruhe oder wegen an sich willkürlicher
oder wegen sonst gesetzlicher Handlungen, ist auch am Feiertage
nicht gestattet. Folgendes wegen der Ruhe: Man darf nicht auf
einen Baum steigen, nicht auf einem Tiere reiten, nicht auf dem
Wasser schwimmen, nicht mit den Händen klatschen, nicht auf die
Hüfte schlagen, nicht tanzen. Folgendes wegen willkürlicher
Handlungen: Man darf nicht Gericht halten, nicht eine Frau durch
Angeld erwerben, nicht das Schuhausziehen (die Chaliza, wegen
Verweigerung der Schwagerehe) verrichten, nicht die Schwagerehe
vollziehen. Folgendes wegen gesetzlicher Handlungen: Man darf
nichts heiligen, keine Schätzung auflegen, nichts als Banngut be-
stimmen, auch nicht Hebe und Zehnt absondern. Dies alles ist
am Feiertage nicht für statthaft erklärt worden; geschweige am
Sabbath"34. — Hierher gehört namentlich auch die Bestimmung,
daß man am Sabbath nicht mehr als 2000 Ellen weit sich von seinem
Aufenthaltsorte (wo man bei Anbruch des Sabbaths sich befindet)
entfernen dürfe. Man nannte dies die „Sabbathgrenze" natön D^nn 3Ö,
und eine Wegstrecke von 2000 Ellen einen „Sabbath) weg" (Äp.-
Gesch. 1, 12: öaßßdvov 060g). Wie scharfsinnig man auch diese
auf Exod. 16, 29 gegründete Vorschrift, ähnlich der über das Tragen
33) Schabbath I, 3.
34) Beza V, 2.
35) Erubin V, 5. Die Entfernung von 2000 Ellen (nach Num. 35, 1—8) :
Erubin IV, 3. 7. V, 7. Origenesy De prineipiis IV, 17 (griech. nach der
Philocalia): Sxmeg xal nsQl xo$ aaßßärov, (pdaxovreg xonov hcaaiy elvai
öioxiMovq nii%si$. Hieronymus, Epist. 121 ad Algasiam quaest. X (opp.
ed. Vallarsi I, 884): solent respondere et dicere: Baraehibas et Simeon et Heüel
magistri nostri tradiderunt nobis vi bis mille pedes ambulemus in sabbato.
Vgl. überhaupt: Buxtorf, Lexicon Chaldaicum col. 2582—2586 (s. v. Drin).
Lightfoot, Horae Eebr. zu Act. 1, 12. Winer, RWB. II, 350 f. Oehler in
Herzogs Real-Enz. X1H, 203 f. Leyrer Ebendaa. XIII, 213 f. Arnold Eben-
das. IX, 148 (sämtl. nach der 1. Aufl.). Mangold in Schenkels Bibellex.
V, 127 f.
558 § 28- D&s Leben unter dem Gesetz. [476. 477]
aus einem Bereich in den andern, zu umgehen wußte, wird später
gezeigt werden.
Trotz aller Strenge, mit welcher das Gebot der Sabbathfeier
gehandhabt wurde, mußte man doch gewisse Fälle anerkennen, in
welchen es eine Ausnahme erleide. Solche Ausnahmen* wurden
statuiert teils aus Bücksichten der Humanität, teils aus Bücksicht
auf ein noch höheres und heiligeres Gebot. In letzterer Beziehung
kamen namentlich die Bedürfnisse des Tempelkultus in Betracht
Das tägliche Brandopfer mußte auch am Sabbath dargebracht werden;
ja es war [sogar noch ein besonderes Opfer^fur den Sabbath vor-
geschrieben (Num. 28,19—10). Selbstverständlich waren also alle
für die Darbringung des Opfers notwendigen Hantierungen auch
am Sabbath gestattet (Ev. Matth. 12, 5: xolq aaßßaotv ol IsQetg kv
xq> ieQcp xb caßßaxov ßeßrjXovcip xal avalxiol ddv)*\ Auch die
beim Darbringen des Passaopfers notwendigen Verrichtungen waren
am Sabbath erlaubt; doch wird hier sehr sorgfältig festgestellt,
welche Handlungen erlaubt und welche nicht erlaubt sind87. In
dieselbe Kategorie gehört auch das Gebot der Beschneidung. Alles,
was zur Beschneidung nötig ist, darf man am Sabbath verrichten,
soweit es nämlich nicht schon am Tage vorher geschehen konnte.
Denn alles, was am Tage vorher vorbereitet werden konnte, ist
verboten 88. Aus Humanitätsrücksichten wurde gestattet, daß | man
einer Frau bei ihrer Entbindung am Sabbath allen Beistand leiste 39,
und als allgemeiner Grundsatz aufgestellt, daß alle Lebensgefahr
den Sabbath verdränge (natfn n» nrm rritiw pßo-ba)40. „Wenn
auf jemand ein Bau einstürzt, und es ist zweifelhaft, ob er darunter
36) Vgl. Buch der Jubiläen e. 50, 10—11. Lightfoot, Schöttgen,
Wetstein zu Matth. 12, 5. Wolf, Ourae pkilol. zu ders. Stelle. Wünsche,
Der lebensfreudige Jesus (1876) S. 424.
37) Fesachim VT, 1—2. — Über andere Ausnahmen vom Sabbathgebot zu-
gunsten des Tempeldienstes s. auch Ervhin X, 11 — 15. — Daß die Ausnahme
zugunsten des Passa-Opfers schon im Zeitalter Christi gegolten hat, wird
von Ohwolson ohne zureichende Gründe bestritten (Das letzte Passamahl
Christi und der Tag seines Todes, in: M6moires de l'Academie imperiale des
sciences de St.-P&tersbourg, VII o Serie, tome XLI, No. 1, 1892, S. 20—31.
Ders., Monatsschr. £ Gesch. u. Wissensch. d. Judenth. 37. Jahrg. 1893, S. 546 ff.).
Gegen Chwolson s. Eosenthai, Monatsschr. 38. Jahrg. 1894, 8. 97 fE Grün-
hut, Zeitschr. f. wissensch. Theol. 1894, S. 551 fi. 1898, S. 285 ff.
38) Schabbath XIX, 1—5. Vgl. Ev. Joh. 7, 22—23 (einer jener Zuge,
welche beweisen, daß der vierte Evangelist die jüdischen Verhaltnisse sehr
wohl kennt).
39) Schabbath XVIH, 3.
40) Joma VIII, 6. Vgl auch die Stelle aus Synesius bei Win er BWB.
H, 345.
[477. 478J § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 559
ist oder nicht, ob er lebt oder tot ist, ob er ein Nichtisraelite oder
ein Israelite ist, so darf man den Schutthaufen am Sabbath über
ihm wegräumen. Findet man ihn lebend, so räumt man weiter
auf; ist er tot, so läßt man ihn liegen" 4 '. Ein Arzt darf einem
Kranken am Sabbath Beistand leisten, wenn Lebensgefahr vorhanden
ist R. Matthija ben Charasch erlaubte sogar, daß man einem, der
im Halse Schmerzen empfindet, am Sabbath Heilmittel in den Mund
tue, weil es vielleicht lebensgefährlich sein könnte42. Dies wird
jedoch nur als Ansicht dieses einen Gelehrten, keineswegs als all-
gemein gültig angeführt Jedenfalls wird ärztlicher Beistand immer
nur unter Voraussetzung der Lebensgefahr gestattet. „Man darf
nicht einen Bruch (eines Gliedes) wieder einrichten. Wer sich die
Hand oder den Fuß verrenkt hat, darf sie nicht mit kaltem Wasser
begießen" 43. „Der im Tempel diensttuende Priester darf am Sabbath
ein während des Dienstes abgelegtes Wundpflaster wieder auf-
legen; anderswo darf man es nicht; von vornherein darf man sich
nirgends eines am Sabbath auflegen .... Wenn ein Priester sich
den Finger beschädigt, darf er im Heiligtum am Sabbath zum Dienst
ihn mit Binsen verbinden; anderswo ist das nicht erlaubt; zum
Herausdrängen des Blutes ist es überall verboten"44. Hiermit
steht es also völlig in Einklang, wenn Jesus wegen seiner Kranken-
heilungen am Sabbath von den Pharisäern durchweg angefeindet
wird (M. 12, 9—13. Mc. 3, 1—5. Lue. 6, 6-10. 13, 10—17. 14, 1—6.
Joh. 5, 1—16. 9, 14— 16)45. — | Selbst jener Grundsatz, daß Lebens-
gefahr den Sabbath verdränge, ist keineswegs zu allen Zeiten als
maßgebend betrachtet worden. Im Anfang der makkabäischen
Erhebung ließ eine Schar von Gesetzestreuen sich lieber bis auf
den letzten Mann niedermachen, als daß sie am Sabbath zum
41) Joma Vm, 7.
42) Joma Vm, 6.
43) Schabbaih XXII, 6.
44) Ervbin X, 1S-14. — Vgl. auch Edujoth H, 5.
45) Unter ei Dem einseitigen und schiefen Gesichtspunkt ist das rabbinische
Material behandelt bei: Danx, Christi euratio sabbathica vindicata ex legibus
Judaids (Menschen, Nov. Test ex Talmude illustratum 1736, p. 569—614).
Zipser in Fürsts Literaturblatt des Orients 1847, S. 814 ff. Jahrg. 1848,
S. 61 ff. 197 ff. Wünsche, Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien
aus Talmud und Mi drasch (1878) S. 150—152. Ebstein, Die Medizin im
N. T. und im Talmud, 1903, S. 185—188. — Vgl. sonst: Maimonides, Ril-
choth Schabbath c. U (Petersburger Übersetzung II S. 9 ff). Winer RWB.
II, 346. Oehler in Herzogs Keal-Enz. XIII, 202 (1. Aufl.). Hamburger,
Real-Enz. Suppl. H, 1891, S. 36 ff. Art „Dispensation vom Gesetz". — über
ein Vieh, das am Feiertag in eine Grube fallt, s. Bexa HI, 4.
560 § 28- Das Leben unter dem Gesetz. [478]
Schwerte gegriffen hätten46. Von da an beschloß man allerdings,
zur Verteidigung, nur nicht zum Angriff, auch am Sabbath das
Schwert zu nehmen47. Und dieser Grundsatz wurde seitdem im
ganzen festgehalten48. Aber nur in den äußersten Notfällen wurde
von ihm Gebrauch gemacht Und nicht selten kam es auch später
noch vor, daß feindliche Feldherren die Sabbathruhe der Juden zu
deren Nachteile ausnützen konnten49. — Wie streng im allgemeinen
von jüdischen Soldaten auf Beobachtung der Sabbathruhe gehalten
wurde, sieht man daraus, daß auch ein Mann wie Josephus sie als
etwas Selbstverständliches betrachtet 50, und die Römer sich sogar
genötigt sahen, die Judeu ganz vom Kriegsdienste zu befreien, da
jüdische Sabbathruhe und römische Disziplin unvereinbare Gegen-
sätze waren51.
III.
Noch tiefer als das Sabbathgesetz griffen in das tägliche Leben
ein die mannigfachen und weitschichtigen Verordnungen über Rein-
heit und Unreinheit und die Beseitigung der letzteren52. Schon
46) I Makk. 2, 34—38. Joseph. Äntt. XII, 6, 2.
47) I Makk. 2, 39—42. Joseph. Antt. XII, 6, 2.
48) Joseph. Antt. XIII, 1, 3. XIV, 4, 2. XVIII, 9, 2. — Daß man den
Kampf am Sabbath „auch noch in späteren Zeiten für verboten" hielt (Lu-
cius, Der Essenismus S. 96 Anm.), ist in dieser Allgemeinheit nicht richtig.
Josephus sagt ausdrücklich, daß das Gesetz die Abwehr eines persönlichen
Angriffs gestatte (Antt. XIV, 4, 2).
49) Antt. XIII, 12, 4. XIV, 4, 2. Dio Cass. 37, 16. 49, 22. 66, 7. — Vgl.
auch Jos. Antt. XII, 1; contra Apion. I, 22 s. fin. (Ptolemäus I. Lagi nimmt
Jerusalem an einem Sabbath ein). Buch der Jubiläen c. 50, 12.
50) Bell. Jud. II, 21, 8 = Vita 32.
51) Antt. XIV, 10, 11. 12. 13. 14. 16. 18. 19. — Unter den Ptolemäern
haben die Juden noch Kriegsdienste getan (Antt. XII, 1 und 2, 4, nach Pseudo-
Aristeas ed. Wendland § 36—37); ebenso unter den Seleuciden (I Makk. 10,
36—37. 11, 44. 13, 40. Jos. Antt. xm, 8, 4). Vgl. auch Antt. XI, 8, 5 fin.
XIV, 8, 1. B. J. I, 9, 3. Antt. XVII, 2, 1—3. Benzinger, Art. „Kriegs-
wesen bei den Hebräern" in Herzog-Haucks Beal-Enz. 3. Aufl. XI, 111 — 119,
und die Artikel Über „Krieg" und „Kriegsheer" in den biblischen Real Wörter-
büchern von Winer, Schenkel, Riehm.
52) Vgl. überhaupt: Winer RWB. II, 313—319 (Art. Reinigkeit). Leyrer,
Art. „Reinigungen" in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. Bd. XII, S. 620—640. Keil,
Bibl. Archäologie (2. Aufl. 1875) S. 295—323. Haneberg, Relig. Alterthümer
S. 459—476. Schenkels Bibellex. V, 65—73. Kamphausen in
Wörterb. S. 1274 ff. Nowack, Lehrb. der hebr. Archäologie n, 287—299.
Katzenelson, Die rituellen Reinheitsgesetze in der Bibel und im Talmud
(Monatsschr. £ Gesch. u. Wissensch. des Judenth. 1899, S. 1—17, 97—112,
193-210, und 1900, S. 385—400, 433-451). Simcox, Art. „Clean and Un-
L
[479] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 561
das Alte Testament (Lev. 11—15. Num. 5, 1—4 und bes. c 19) hat
über diese Punkte ziemlich zahlreiche und eingehende Vorschriften
gegeben, indem es (ans welchen Gründen, kann hier anerörtert
bleiben) namentlich gewisse Vorgänge des geschlechtlichen Lebens,
sodann gewisse Erscheinungen an Personen und Gegenständen, die
es unter dem Gesamtbegriffe des Aussatzes zusammenfaßt, und
endlich die Leichen sowohl yon Menschen als von Tieren für unrein
und verunreinigend erklärt. Auch über die Beseitigung der Un-
reinigkeit durch Opfer oder Waschungen gibt es bereits eingehende
Vorschriften, die je nach der Art und dem Grade der Verunreinigung
sehr verschiedenartig sind. Aber so ausführlich auch diese Be-
stimmungen sind, so sind sie doch immer noch arm und dürftig
im Vergleich mit dem Reichtum, der in der Mischna sich auf-
gespeichert findet. Nicht weniger als zwölf Traktate (den ganzen
letzten Teil der Mischna ausfüllend) handeln über die hierher-
gehörigen Materien. Die Grundlage aller Erörterungen bildet die
im Eingange des Traktates Kelim (I, 1—4) gegebene Aufzählung
der „Hauptarten der Unreinheit" (ni»t3ton rrina), die, wie man zu-
gestehen muß, in den Bestimmungen des Pentateuches {Lev. 11—15.
Num. 19) zum größten Teile begründet sind. Auf dieser Grundlage
aber erhebt sich dann ein ungeheurer, weiter und vielverschlungener
Bau. Denn es handelt sich nun bei jeder der Hauptarten wieder
um die Frage: unter welchen Umständen man sich eine solche
Unreinheit zuzieht, auf welchem Wege und inwieweit sich dieselbe
auf andere überträgt, welche Geräte und Gegenstände der Annahme
der Unreinheit fähig sind und welche nicht, und endlich welche
Mittel und Anstalten zur Aufhebung der Unreinheit erforderlich
sind. Um wenigstens eine Ahnung davon zu geben, zu welcher
mannigfaltigen Weisheit diese Lehre von den Verunreinigungen
ausgebildet worden war, möge hier einiges mitgeteilt werden aus
den Bestimmungen über die Geräte, welche Unreinheit annehmen
(und bei Berührung Weiter verpflanzen) und welche nicht Die
alttestamentlichen Grundlagen sind Num.. 19, 14—15 und 31, 20—24.
Eine Hauptfrage ist vor allem die nach dem Material, aus
clean" in: Encyclopaedia Bibliea I, 836—848. Pedke, Art. „Unclean, Unclean-
ne88" in Hostings' Dictionary of the Bible IV, 825 — 834. König, Art. „Reini-
gungen" in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. XVI, 564— S80. Stade,
Biblische Theologie des A. T. I, 1005, § 67 ff. Büchler., Der galiläische
*Am-ha-'Ares des zweiten Jahrhunderts 1906 [das wegwerfende Urteil, welches
B. sich hier S. 126 — 130 über die von mir gegebene Darstellung erlaubt, be-
ruht auf der zweifellos verkehrten Behauptung, daß die hier geschilderten
Reinheitsgesetze nicht für die Laien, sondern nur für die Priester bestimmt
gewesen seien; s. dagegen Theol. Litztg. 1906, 619 f.}.
Sohiirer, Geschichte II. 4. Aufl. 36
L
562 § 28. D&s Leben unter dem Gesetz. [479. 480]
welchem die Geräte" bestehen; und sodann die nach der Form der
Geräte: ob sie hohl sind oder flach. — In betreff der hohlen
irdenen Gefäße wird bestimmt, daß ihr Luftraum (das Innere)
Unreinheit annimmt und fortpflanzt, und ebenso die Fußhöhlung,
nicht aber die Außenseite. Ihre Reinigung erfolgt nur durch ihre
Zerbrechung53. Aber wie weit muß die Zerbrechung erfolgt sein, |
um die Reinigung zu bewirken? Auch darauf erhalten wir genaue
Antwort Ein Bruchstück gilt nämlich noch als Gefäß (ist also
verunreinigungsfähig) „wenn von einem ein Log haltenden Gefäße
so viel geblieben, daß es genug enthalten kann, um den kleinen
Zeh damit zu salben; und wenn von einem Gefäße, das über ein
Log bis ein Sea enthielt, Raum für ein Viertel Log; von einem
Sea bis zwei Sea, Raum für ein halb Log; und von zwei oder drei
Sea bis fünf, Raum für ein Log geblieben ist*454. Während also
die irdenen Hohlgefäße zwar nicht von außen, wohl aber von innen
verunreinigungsfähig sind, nehmen folgende irdene Gefäße über-
haupt keine Unreinheit an: eine flache Platte ohne Rand, eine offene
Kohlenschippe, ein gelöcherter Rost zu Getreidekörnern, Ziegel-
rinnen, obgleich sie gebogen sind und eine Höhlung haben, und
anderes mehr56. Verunreinigungsfähig dagegen sind: eine Platte
mit einem Rande, eine ganze Kohlenschippe, eine Platte voll schüssel-
artiger Behälter, ein irdenes Gewttrzbtichschen oder ein Schreib-
zeug mit mehreren Behältern56. — Von hölzernen, ledernen,
knöchernen, gläsernen Geräten sind die flachen ebenfalls
nicht verunreinigungsfähig; die vertieften dagegen nicht nur (wie
bei irdenen) im Luftraum, sondern auch an der Außenseite ver-
unreinigungsfähig. Wenn sie zerbrechen, sind sie rein. Macht
man wieder Geräte daraus, so nehmen sie von da an wieder Un-
reinheit an57. Auch hier entsteht wieder die schwierige Frage:
Wann gelten sie als zerbrochen? „An allen Geräten zum Haus-
halte ist das Maß (eines die Reinheit bewirkenden Loches) die
Granate. R. Elieser sagt: Das Maß richtet sich nach der Be^
Stimmung des Gerätes** 58. „Unter Granaten ist zu verstehen: von
solcher Art, daß drei aneinander sitzen. Die als Maß bestimmte
Granate ist eine nicht zu große, sondern mittlere"59. „Wenn an
dem Kasten, der Lade, dem Schranke ein Fuß fehlt, so sind sie,
53) Kelim II, 1.
54) Kelim U, 2.
55) Kelim II, 3.
56) Kelim II, 7.
57) Kelim II, 1. XV, 1.
53) Kelim XVH, 1.
59) Kelim XVII, 4-5.
[480. 481] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 563
wenngleich sie etwas aufnehmen können, rein. R. Jose hält alle,
die, wenn auch nicht in ordentlicher Stellung, das Maß aufnehmen
können, für verunreinigungsfahig" 60. „Ein (dreifüßiger) Tisch, dem
ein Fuß fehlt, ist rein; ebenso wenn der zweite fehlt; fehlt auch
der dritte, so ist er verunreinigangsfähig, wenn man beabsichtigt, |
ihn (als Platte) zu gebrauchen" 61. „Eine Bank, daran ein Seiten-
brett fehlt, ist rein; ebenso wenn auch das zweite fehlt Bleibt
daran eine Handbreit Höhe, so ist sie verunreinigungsfähigu 62.
Übrigens ist an den vertieften Geräten nicht nur die Außen- und
Innenseite, sondern auch „die Stelle zum Anfassen" zu untersfcheiden.
„Wenn z. B. die Hände rein sind, und die Außenseite des Bechers
unrein, und man nun an der zum Anfassen dienenden Steile den
Becher hält, hat man nicht zu besorgen, daß die Hände durch die
Außenseite des Bechers verunreinigt werden" 63. — „Von Metall-
gefäßen sind die glatten und die vertieften verunreinigungsfähig.
Wenn sie zerbrechen, werden sie rein; wenn man wieder Gefäße
daraus macht, sind sie wieder in ihrer vorigen Unreinheit"64.
„Jedes Metallgefäß, das einen Namen für sich allein hat, ist ver-
unreinigungsfähig; ausgenommen eine Türe, der Riegel, das Schloß,
die Angelmutter, die Angel, der Klöppel und eine Rinne; weil sie
an die Erde befestigt werden" 65. „Am Zaum ist das Gebiß ver-
unreinigungsfähig, die Bleche an den Kinnbacken sind rein; nach
R. Akiba unrein. Die Gelehrten sagen: nur das Gebiß ist unrein;
aber die Bleche nur wenn sie daran befestigt sind"66. — „Runde
Blashörner sind verunreinigangsfähig; gerade sind rein. Ist das
Mundstück von Metall, so ist es verunreinigungsfähig" 67. — „Holz,
welches zum Metallgeräte dient, ist verunreinigungsfähig; Metall,
das zum Holzgeräte dient, rein. Z. B. ein hölzerner Schlüssel mit
metallenen Zähnen ist verunreinigungsfähig, auch wenn der Zahn
nur ein Stück ausmacht Ist aber der Schlüssel von Metall und
der Zahn von Holz, so ist er nicht verunreinigungsfähig" 68.
Ein würdiges Seitenstück zu den Bestimmungen über die Ver-
unreinigung sind die über die Hebung der Unreinheit durch Opfer
und Waschungen. Wir wollen hier nur einiges über letztere heraus-
60) Kelim XVIII, 3.
61) Kelim XXII, 2.
62) Kelim XXII, 3.
63) Kelim XXV, 7-a
64) Kelim XI, 1.
65) Kelim XI, 2.
66) Kelim XI, 5.
67) Kelim XI, 7.
68) Kelim XIII, 6.
36*
564 § 28. Das Leben unter dem Gesetz. [481. 482]
heben. Es handelt sich dabei hauptsächlich um die Frage, welches
Wasser zu den verschiedenen Arten der Reinigung: zum Besprengen
der Hände, zum Untertauchen der Geräte, zum Reinigungsbade
für Personen, geeignet ist Die Mischna unterscheidet sechserlei
Abstufungen von Wassersammlungen, deren eine immer |
wichtigere Eigenschaften hat, als die andere. 1) Ein Teich und das
Wasser in Gruben, Zisternen oder Höhlen, sowie Bergwasser, das
nicht mehr zufließt, und gesammeltes Wasser im Betrag von weniger
als 40 Sea. Alles dieses ist, sofern es nicht verunreinigt worden,
geeignet zur (Bereitung der) Challa69, und zum gesetzlichen Waschen
der Hände. 2) Noch zufließendes Bergwasser. Solches darf man
gebrauchen zu Hebe (Teruma) und zum Händewaschen. 3) Ge-
sammeltes Wasser, welches 40 Sea enthält In diesem kann man
selbst untertauchen (ein Reinigungsbad nehmen) und Geräte unter-
tauchen* 4) Ein Quell mit wenigem Wasser, worein man mehr
geschöpftes Wasser zugegossen hat Es ist darin dem vorigen
gleich, daß es in Sammelstelle (d. h. ohne zu fließen) als Tauchbad
reinigt, und dem reinen Quellwasser darin gleich, daß man darin
Gefäße reinigt, wenn auch nur wenig Wasser da ist 5) Fließendes
Wasser, womit eine Veränderung vorgegangen (d. h. aus minera-
lischen oder warmen Quellen stammendes). Dieses reinigt im Fließen.
6) Reines Quellwasser. Dieses dient als Tauchbad für den Eiter-
flüssigen, zum Besprengen der Aussätzigen, und ist geeignet, es
mit der Entsündigungsasche zu heiligen70. — Diese allgemeinen
Sätze bilden nun die Grundlage einer auch hier wieder ins unend-
liche Detail sich verlierenden Kasuistik. Namentlich ergeht sich
die Mischna in ermüdender Breite darüber: unter welchen Be-
dingungen und Voraussetzungen das unter Nr. 3 erwähnte „ge-
sammelte Wasser" (d. h. solches Regen-, Quell- oder Flußwasser,
das nicht geschöpft, sondern unmittelbar durch Rinnen oder Röhren
in ein Behältnis geleitet ist) zum Baden und zum Untertauchen
ton Geräten tauglich sei, wobei es sich hauptsächlich darum handelt,
daß kein „geschöpftes Wasser" darunter komme. Zur Veranschau-
lichung geben wir wenigstens einige Beispiele. „R. Elieser sagt:
Ein Viertel Log geschöpftes Wasser zu Anfang macht das nachher
hineinfallende Wasser zum Tauchbade ungeeignet; 3 Log geschöpftes
Wasser aber, wenn schon anderes Wasser da war. Die Gelehrten
sagen: sowohl zu Anfang als zur Ergänzung 3 Log" 71. „Wenn
jemand Gefäße unter die (ins Tauchbad sich ergießende) Rinne
G9) Der Teighebe, welche beim Backen abgesondert werden muß.
70) Mikwaoth I, 1-8.
71) Mikwaoth II, 4.
[482.483] §28. Das Leben unter dem Gesetz. £6*>
setzt, so machen sie das Tauchbad angeeignet (weil es dann als
geschöpftes Wasser gilt). Es ist nach der Schule Schammais einer-
lei, ob man sie hinsetze oder da vergessen hat; nach der Schule
Hilleis machen sie, wenn sie bloß vergessen sind, es nicht un-
geeignet" 72. „Wenn sich geschöpftes und Regenwasser im Hofe |
oder in einer Vertiefung oder auf den Stufen der Badeböhle ver-
mengt hat, so ist das Tauchbad, wenn das meiste von geeignetem
ist, geeignet; wenn das meiste von ungeeignetem oder beidem gleich-
viel ist, ungeeignet. Dies jedoch hur, wenn sie vermengt sind,
bevor sie in die Wassersammlung gelangten. Strömen sie jedes
ins Tauchbad hinein, so ist es, wenn man gewiß weiß, daß 40 Sea
geeignetes Wasser hineingekommen, bevor 3 Log geschöpftes hinein-
fiel, geeignet; sonst nicht*473, Auch darüber disputierte man, ob
Schnee, Hagel, Reif, Eis und dergleichen mit zur Füllung eines
Tauchbades tauglich seien oder nicht74. — Überaus umständlich
sind auch die Bestimmungen über das Waschen oder richtiger
Begießen der Hände. Vor dem Essen müssen nämlich die Händß
stets mit Wasser begossen werden (Untertauchen ist nur beim Ge-
nuß heiliger Speise nötig, d. h. solcher, die von Opfern herrührt).
Und es wird nun eingehend erörtert, aus welchen Gefaüen das
Begießen geschehen darf, welches Wasser dazu geeignet ist, wer
es aufgießen darf, und wie weit die Hände begossen werden müssen75.
— Mit welchem Eifer man schon im Zeitalter Christi auf die Be-
obachtung aller' dieser Satzungen über das Waschen der Hände
und die Reinigung der Becher und Krüge und Schüsseln und Bänke
hiel^ sehen wir aus den wiederholten Andeutungen der Evangelien,
die hinwiederum ihr volles Licht und ihre treffendste Erläuterung
eben durch die Ausführungen der Mischna erhalten (Jß. 15, 2. Jfe. 7,
2—5. ML 23, 25—26. Luc. 11, 38—39).
72) Mikwaoth IV, 1.
73) Mikwaoth VI, 4.
74) Mikwaoth VII, 1.
75) Berachoth VIII, 2-4. Ohagiga II, 5—6. Edujoth HI, 2.^ Jadajim I,
1—5. II, 3. — Maimonides, Hilohoth Berachoth VI (Petersburger Übersetzung
I, 483 ff.). Lightfoot und andere Ausleger zu Matth. 15, 2. Wünsche,
Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien (1878) S. 180 f. Hamburger,
Real-Enz. Art. „Händewaschen". Edersheim, The life and tvmes of Jesus
the Messiah (1884) II p. 9 sqq. Wünsche, Jesu Conflict mit den Pharisäern
und Schriftgelehrten wegen Unterlassung des fländewaschens seiner Schüler
(Vierteljahrsschr. für Bibelkunde IL Jahrg. 2. Heft, Dez. 1904, S. 113—163
[viel Material]). Büchler, Der galiläische 'Am-ha-'Ares, des zweiten Jahr-
hunderts, 1906, S. 96—138 [gibt sich vergebliche Mühe, die Behauptung durch-
zuführen, daß diese Vorschriften nur für die Priester gelten].
566 § 28- Das Leben unter dem Gesetz. [483. 484]
IV.
Schon aus dem Bisherigen geht zur Gentige hervor, welch ein
ungeheures Gewicht überall auf die äußere Korrektheit des Handelns
gelegt wird; freilich eine selbstverständliche Eonsequenz, sobald
einmal die sittliche Aufgabe gesetzlich aufgefaßt wird. Höchst
charakteristisch für diesen mächtigen Zug zur Veräußerlichung
sind auch die drei Denkzeichen, durch welche jeder gesetzes-
treue Israelite fortwährend an seine Pflichten gegen Gott erinnert |
werden sollte. Diese drei Denkzeichen sind: 1) Die Zizith (r^aps,
Flur, rrraps, bei den LXX und im Neuen Testamente xQaaxeöa,
im Targum Onkelos 'p-iwnD, bei Justinus Martyr to xoxxlvov
gafifia)1*. Es waren Quasten oder Fransen aus hyazinthblauer
oder weißer Wolle, welche auf Grund der Verordnung Num. 15,
37 ff. Deut. 22, 12 jeder Israelite an den vier Zipfeln seines Ober-
gewandes zu tragen hatte. Sie sollten, wie es an der zuerst an-
geführten Stelle heißt, dazu dienen, „daß ihr sie ansehet und ge-
denket aller Gebote Jahves und darnach tuet" 77. 2) Die Alesusa
76) Justin. Dial. c. Tryph. e. 46 8. fin. (ed. Otto II, 154). Die Ausgaben
haben freilich xö xöxxivov ßauua (Farbe), was aber keinen Sinn gibt Daß
$auua (Faden) zu lesen ist, erhellt ans Hesychius, Lex. 8. v. xoaoneöa' xa iv
xüj> axQtp xov Ifiazlov xexhjiopha frauuaxa xal xb axgov abvov.
77) Vgl. Pseudo-Aristeas ed. Wendland § 158. Matth. 9, 20. 14, 36. 23, 5.
Marc. 6, 56. Luc. 8, 44. Die LXX und Targum Onkelos zu Num. 15, 38 u.
Deut. 22, 12. Mischna Moed katan III, 4. Edujoth IV, 10. Menachoth m, 7.
IV, 1« Die rabbinischen Vorschriften sind zusammengestellt in dem von Ra-
phael Kirchheim herausgegebenen Traktat Zixith (Septem libri Talmudici
parvi Hierosolymitani, ed. Raph. Kirchheim, 1851), und bei Maimonides,
Hüehoth Zixith (Petersburger Übersetzung I, 442 ff.). — Hiller, De vestibus
fimbriatis Eebraeorum (Ugolini, Thesaurus t. XXI). Buxtorf, Synagoga Ju-
daica p. 160—170. Lexic. ehald. eol. 1908 sq. Oarpxov, Apparatur historico-
critieus p. 197 sqq. Bodenschatz, Kirchl. Verfassung der heutigen Juden
IV, 9 — 14. Schröder, Satzungen und Gebräuche des talmudisch-rab binischen
Judenthums, 1851, S. 238—240, 261—265, 269—273. Levy, Chald. Wörterb.
II, 322. Winer RWß. Art. „Saum". Haneberg, Eelig. Alterthümer,
S. 592—594. Wünsche, Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien
S. 274 f. 378. Weber, System der altsynagogalen paläst. Theologie S.26— 28.
Eiehms Wörterb. Art. „Läpplein". Hamburger, Real-Enz. Suppi. II, 1891,
S. 155—159 Art. „Schaufäden". — Die Farbe der Zizith ist jetzt weiß, während
sie ursprünglich hyazinthblau sein sollten (Näheres s. bei Hamburger a. a. O.
S. 158 f.). Schon die Mischna Menachoth IV, 1 setzt voraus, daß beides ge-
stattet ist. Auch werden sie jetzt nicht, wie es der Pentateuch vorschreibt
und zar Zeit Christi auch noch üblich war, am Obergewande (rv&ü, lud-
xiov) getragen, sondern an den beiden viereckigen wollenen Tüchern, deren
eines stets auf dem Leibe getragen wird, während das andere nur beim Gebet
[484. 4S5] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 567
(pitwö), ein an den Haus- und Zimmertüren oben am rechten Tür-
pfosten angebrachtes längliches Kästchen, mit einer kleinen Per-
gamentrolle, auf welcher (nach der Verordnung Deutü, 9. 11, 20)
in 22 Zeilen die beiden Abschnitte Deut 6, 4—9 und 11, 13—21
geschrieben waren78. Man hat mit dieser Vorrichtung nicht nur
die Gedanken auf Gott lenken wollen, sondern auch bösen Geistern
den Eintritt in die Wohnung verwehren wollen79. 3) Die Tephillin
oder Gebetsriemen, welche | jeder männliche Israelite beim Morgen-
gebet (mit Ausnahme des Sabbaths und der Festtage) anzulegen
hatte, im Alten Testamente rriöoiü (Arm- und Stirnbänder), im
Rabbinischen "pte? (von fii&n das Gebet), im Neuen Testamente
tpvlaxTfJQia (Schutzmittel, Amulette, von Luther unrichtig „Denk-
zettel" übersetzt). Ihr Gebrauch gründet sich auf die Stellen
Exod. 13, 9. 16. Deut. 6, 8. 11, 18. Es gab deren zwei: a) Die nicri
■p biß (Tephilla für die Hand) oder yhr bfc nisn (Tephilla für den
Arm)80, eine kleine würfelförmige hohle Kapsel aus Pergament,
in welcher ein Pergamentröllchen lag, auf dem die Stellen Exod. 13,
1 — 10. 13, 11 — 16 Deut. 6, 4— 9. 11, 13— 21 geschrieben waren. Sie
wurde mittelst eines durchgezogenen Riemens an den linken Ober-
um den Kopf geschlungen wird. Freilich werden diese beiden Tücher auch
Taüith genannt, und zwar das auf dem Leibe getragene y&p rrto oder WiK
niB33, das beim Gebet um den Kopf geschlungene bvtt n^bo. Vgl. The Je-
wish Encyclopedia II, 75 f. (Art Arba Kanfot) und XI, 676—678 (Art. Tallit,
mit Abbildungen).
78) Vgl. Pseudo-Aristeas ed. Wendland § 153. Josephus Antt. IV, 8, 13.
Mischna Berachoth HI, 3. Sckabbath VEIT, 3. Megilla I, 8. Moed katan III, 4.
Qittin IV, 6. Menachoth HI, 7. Kelim XVI, 7. XVII, 16. Die rabbinischen
Vorschriften zusammengestellt im Traktat Mesusa (herausgegeben von Kirch -
heim in der oben genannten Sammlung) und bei Maimonides, Hilchoth Me-
susa (Petersburger Übersetzung I, 382 ff.). — Dassovius, De ritibus Mexuxae
(Ugolini, Thesaurus t. XXI). Buxtorf, Synagoga Judaicä p. 581—587. Lex.
chald. eol. 654. Bodenschatz, Kirchl. Verfassung der heutigen Juden IV,
19—24. Schröder, Satzungen und Gebräuche 8. 245—249. Levy, Chald.
Wörterb. II, 19 f. Leyrer in Herzogs Real-Enz. XI, 642 (2. Aufl. XI, 668).
Haneberg, Eelig. Alterthümer S. 595—598. Hamburger, Real-Enz. Art.
„Mesusa". Casanowiex, Art. Mexuxah in: The Jewish Encyclopedia VIII,
531 f. (mit Abbildungen). Nestle, Zeitschr. f. d. alttest. Wissensch. 1904,
S. 315 f.
79) Ähnliches kommt auch im christlichen Altertum vor. In Ephesus
ist in neuerer Zeit ein steinerner Türstufz gefunden worden, auf welchem der
Briefwechsel swischen Abgar und Christus eingegraben ist, offenbar zum Zweck
der Abwehr böser Geister (Heberdey, Jahreshefte des österreichischen ar-
chäolog. Institutes Bd. IH, 1900, Beiblatt col. 83—96). Auch in Edessa ist
dieser Briefwechsel in ähnlicher Weise gebraucht worden, s. v. D ob schütz,
Zeitschr f. wissensch. Theologie 1900, S. 423 ff. 480 ff.
80) Ersteres z. ß. Menachoth IV, 1; letzteres Mikwaoih X, 3.
568 § 23. Du Leben unter dem Gesetz. [485]
arm befestigt, b) Die tän 515 rticpi (TepMlla far das Haupt), eine
Kapsel von derselben Art, aber dadurch von jener verschieden,
daß sie in vier Fächer geteilt war und die genannten Tier Bibel-
stellen auf Tier Pergamentröllchen enthielt. Sie wurde mittelst
eines Riemens auf die Mitte der Stirne dicht unter dem Haarwuchs
befestigt81. Die griechische Bezeichnung der Tephillin als ipvXa-
xrfiQia (= Amulette) beweist, daß man ihre Bedeutung in erster
Linie darin sab, die bösen Geister beim Gebet fernzuhalten. Auch
im christlichen Altertum sind biblische Texte nicht nur zu dem
81) Vgl. Pseudo-Aristeas ed. Wendland § 159. Matth. 23, 5. Jtmphm,
Antt. IV, 8, 13. Justimm Martyr, Bial. c. Tryph. t. 46 s. ßn. (ed. Otto II, 154).
Origenes zu Matth. 23, 6 (ed. Lommatxach IV, 201); überhaupt die patriotischen
Exegeten zu Matth. 23, 5. Mischna Berachoth III, 1. 3. Schabbaih VI, 2.
VHI, 3. XVI, 1. Erubin X, 1—2, Schekaiim III, 2. MegiUa I, 8, IV, 8. Moed
katan in, 4. Neaarim II, 2. Gütin IV, 6. Sanhedrin XI, 3. Sckebuotk Jll,
8. 11. Menaehoth III, 7. IV, 1. Arachm VI, 3. 4. Kelim XVI, 7. XVIH, 8.
XXIII, 1. Mikwaoth X, 2. 3. 4 Jadajim 111, 3. Targiim Onkelos zu Bmd.
13, 16. Deut, 6, 8. Paeudo-Jonathan zu Exod. 39, 31. Deut. 11, 18. Targtim
zum Hohenlied 8, 3i zu Esther 8, 16. Babylon, Talmud Schabbaih 28b. 62».
Erubin 95b bis 97». Megüla 24b. Menaehoth 34b bis 37», 42b bis 44b (die
Stellen ans Targum und Talmud nach Pinner). Eine Zusammenstellung der
rabbinischen Vorschriften gibt der Traktat Tephillin (herausgegeben von
Kirchheim in der genannten Sammlung), Maimonides, Hilehoth Tephillin
(Petersburger Übersetzung I, 356 3".). — Vgolini, De Phylaeteriie Hebraeorum
(Thesaurus tom. XXI). Buxtorf, Synagoga Judaica p. 170—185. Lex. chald.
eol. 1743sg. Spencer, De natura et origine Phylaoteriorum (in: De legibus
Bebraeorum ritualibus ed. Tubing. 1732, p. 1201—1232). Oarpxov, Apparatur
historieo-criticus p. 190—197. Bodenschatz, Kirchl. Verfassung der heutigen
Juden IV, 14— 19. Schröder, Satzungen nnd Gebräuche S. 265-273. Light-
foot zu Matth. 23, 5. Wolf, Curat phil und andere Ausleger zu Matth. 23, 5.
Hartmann, Die enge Verbindung des Alten Test mit dem Neuen 8. 360—362.
Winer RWB. II, 260f. (Art. Phylakterien). Pinner, Übersetzung des Trak-
tates ßerachoth fol. 6», Erläuterung 33. Herzfeld, Oesch. des Volkes Jisrael
HI, 223—225. Leyrer Art. „Phylakterien" in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XI,
639—043 (2. Aufl. XI, 666—669). Haneberg, Relig. Alterthümer S. 587-592.
Levy, Chald. Wörterb. H, 549f. Delitzech, Art, „Denkzettel" in Riehms
rb. (mit Abbildungen). Klein, Die Totaphoth nach Bibel und Tradition
b. f. prot. Theol. 1881, 8. 666-689). Hamburger, ReaUEnz. Art.
illin". Rodkinssohn, Twxb ribfin, Ursprung nnd Entwicklung des
sterien-Ritus bei den Juden, Presburg 1883 (in hebr. Sprache; bes. auch
len schwankenden Gebrauch im Mittelalter; s. die Anz. in ßrütls Jahrbb.
83, Revue des ttudes jutves VI, 288). Kennedy, Art. Phylaeteriee in
js' Dictionary of the Bible HI, 869—874. M. Friedländer, Der Anti-
1901, S. 155 ff. [Gebrauch der Tephillin als Amulette]. Blau, Ajt.Pky-
!« in; The Jewish Eneyelopedia X, 21—28 [sehr eingehend, mit Abbil-
i]. Wünsche, Art. „Tephillin" in Herzog-Haucks Real-Euz. 3. Aufl.
ilO-513.
[485. 486. 487] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 569
in Anm. 79 genannten speziellen Zweck, sondern überhaupt auf
Amuletten als wirksam zur Abwehr böser Geister gebraucht
worden82. |
Von den drei Denkzeichen ist jedenfalls das erste in den Vor-
schriften des Pent&teuches begründet, wahrscheinlich auch die beiden
anderen, insofern wenigstens an den Stelleu des Deuteronomiums
die wörtliche Fassung wohl die richtige ist (s. Dillmann zu Exod.
13, 16). Aber ganz bezeichnend für das spätere Judentum ist es,
welchen Wert man gerade auf diese Äußerlichkeiten legte, und
wie sorgfältig auch hier alles bis ins einzelnste geregelt war. Aus
wieviel Fäden die Zizith zu bestehen haben, wie lang sie sein
sollten, wieviel Knoten an ihnen zu schlingen seien und in welcher
Weise dies geschehen müsse; wie die Abschnitte der Mesusa und
der Tephillin zu. schreiben seien, wie groß die Eitstehen der letz-
teren und wie lang ihre Riemen sein müssen, wie sie an Kopf und
Arm anzulegen und wie oftmal der Riemen um letzteren zu schlingen
sei: dies alles wurde mit peinlicher Sorgfalt festgestellt. Die Ehr-
furcht vor den Tephillin war fast so groß wie die vor den heiligen
Schriften83. Wie diese, so durfte man auch jene am Sabbath aus
einer Feuersbrunst retten84.
Von wahrer Frömmigkeit ist, wie man sieht, dieser äußerliche
Formalismus weit entfernt Immerhin konnte jene auch unter solcher
Last noch notdürftig ihr Leben fristen. Wenn aber vollends auch
das Zentrum des religiösen Lebens, das Gebet selbst, in die Fesseln
eines starre» Mechanismus geschlagen wurde, dann konnte von
lebendiger Frömmigkeit kaum mehr die Rede sein. Auch diesen
verhängnisvollen Schritt hatte das Judentum zur Zeit Christi be-
reits | getan. Die beiden Hauptgebete, welche damals für den
Privatgebrauch allgemein üblich waren, sind: 1) das Schma,
welches täglich zweimal zu rezitieren war, eigentlich kein Gebet,
sondern ein Bekenntnis zu dem Gott Israels, und 2) das Schmone
Esre, das gewöhnliche tägliche Gebet, welches morgens, mittags
und abends zu beten war (Näheres s. oben § 27^ Anhang). Auch
82) Unter diesem Gesichtspunkt ist zu beurteilen eine in Rhodus ge-
fundene Bleirolle mit dem Texte von Psalm 80 (herausg. von Hiller von
Gärtringen, Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1898 S. 582—588) und
eine in Megara gefundene Tonscherbe mit dem Texte des Vaterunsers (Knopf,
Mitteilungen des deutschen archäolog. Instituts, Athenische Abt. 1900, S. 313 ff.
und Zeitschr. f. d. neutest Wissensch. 1901, S. 228 ff.). Vgl. auch Nestle,
Evangelien als Amulet am Halse und am Sofa (Zeitschr. f. d. NT1. Wissensch.
1900, 8. 96).
83) Jadßjim HI, 3.
84) Sckabbath XVI, 1.
570 § 28; Das Leben unter dem Gesetz. [487. 488]
diese Gebete wurden nun zum Gegenstande kasuistischer Diskus-
sionen gemacht, und ihr Gebrauch damit notwendig zu einem
äußerlichen Werkdienst herabgewürdigt85. Namentlich gilt dies
vom Schma, auf das wir uns hier umsomehr beschränken können,
als es fraglich ist, ob das Schmone Esre zur Zeit Christi schon
feste Formen angenommen hatte. Vor allem wurden die Zeitgrenzen
genau festgestellt, innerhalb deren das Abend- und das Morgen-
Schma zu beten sei. Der Anfangspunkt für ersteres ist die Zeit
„da die Priester wieder eintreten, um von ihrer Teruma (Hebe)
zu essen"; der Endpunkt nach R Elieser das Ende der ersten
Nachtwache, nach gewöhnlicher Ansicht Mitternacht, nach R. Gama-
liel das Aufsteigen der Morgenröte86. Das Morgen-Schma kann
gebetet werden „sobald man zwischen blau und weiß unterscheidet.
R Elieser sagt: zwischen blau und lauchgrtin". Der Endtermin
ist „bis die Sonne hervorstrahlt R Josua sagt: bis drei Uhr (nach
unserer Rechnung 9 Uhr); denn so ist die Sitte der Fttrstenkinder,
erst um drei Uhr aufzustehen"87. Da den Hauptbestandteil des
Schma biblische Abschnitte bildeten, so entstand die Frage: ob
derjenige, der zur Zeit des Schma-Betens in der Bibel liest und
die betreffenden Abschnitte (innerhalb eines größeren Zusammen-
hanges) mitliest, der Schma-Pflicht gentigt habe oder nicht? Hier-
auf wird geantwortet: Wenn er daran gedacht hat (iab ^5 Dtf),
so hat er der Pflicht genügt; sonst nicht88. Höchst bezeichnend
(und eine Bestätigung des Wortes Matth. 6, 5 vom Beten auf den
Straßen) ist es, daß auch die Frage verhandelt wird: ob und unter
welchen Umständen man während des Schma-Betens grüßen dürfe?
Es kamen dabei drei Fälle in Betracht: 1) das Grüßen aus Furcht
(rttrm ijw), 2) das Grüßen aus Ehrerbietung (Tinsn ^ött) und
3) das Grüßen gegen jedermann (DlK bsb); ferner war zu unter-
scheiden zwischen Grüßen und Erwidern des Grußes; und endlich
war zu beachten, daß im Schma selbst sich natürliche Absätze
finden, nämlich zwischen der ersten und zweiten Beracha, zwischen |
dieser und dem Abschnitt Deut. 6, 4—9, zwischen diesem und dem
Abschnitt Deut 11, 13—21, zwischen diesem und dem Abschnitt
Xum. 15, 37—41, endlich zwischen diesem und der Schluß-Böracha.
R Meir erlaubte nun, daß man bei den Absätzen aus Ehrerbietung
grüße und den Gruß erwidere, in der Mitte aber nur aus Furcht
grüße und erwidere. R Jehuda aber ging einen Schritt weiter
85) Vgl. auch Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theo-
logie 8. 40—42.
86) Berachoth I, 1.
87) Berachoth I, 2.
88) Berachoth II, 1.
[488. 489] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 571
und erlaubte in der Mitte auch noch das Erwidern aus Ehrerbietung,
und bei den Absätzen auch noch das Erwidern des Grußes von
jedermann89. — Im allgemeinen werden noch folgende Bestimmungen
getroffen: „Wer das Schma betet, ohne es seinem Ohre hörbar zu
machen, ist entledigt. R. Jose sagt: Er ist nicht entledigt. Wer
gebetet und nicht genau auf die Buchstaben geachtet hat, hat nach
R. Jose seiner Pflicht genügt, nach R. Jehuda aber nicht genügt.
Wer in unrichtiger Ordnung betet, ist nicht entledigt Wer sich
geirrt hatte, fängt wieder da an, wo er sich geirrt hatte. Arbeiter
können auf dem Baume oder auf der Mauer beten4* 90.
Eine schöne Sitte war es, daß Speise und Trank nie ohne
Dank gegen Gott genossen wurden (nach der Vorschrift Deut.
8, 10). Man sprach sowohl vor als nach der Mahlzeit Danksagungen
(Berachas), wozu auch Frauen, Sklaven und Kinder verpflichtet
waren91. Aber auch hier war alles bis ins kleinste geregelt:
welche Formel man bei Baumfrüchten, welche beim Wein, welche
bei Erdfrüchten, beim Brot, bei Gemüse; welche beim Essig, bei
unreif abgefallenen Früchten, bei Heuschrecken, Milch, Käse, Eiern
anzuwenden habe; und die Gelehrten stritten sich noch darüber,
wo diese und wo jene Formel zulässig sei92. „Hat man über den
Wein vor der Mahlzeit den Segen gesprochen, so befreit man den
Wein nach der Mahlzeit. Hat man über Nebengerichte vor der
Mahlzeit den Segen gesprochen, so befreit man die Nebengerichte
nach der Mahlzeit Spricht man den Segen über das Brot, | so
befreit man die Nebengerichte" 93. „Bringt man einem Gesalzenes
erst und Brot dazu, so spricht man den Segen über das Gesalzene
und befreit das Brot"94. „Hat einer Feigen, Weintrauben und
89) Berachoth II, 1—2.
90) Berachoth H, 3—4.
91) Berachoth HI, 3—4. Vgl. auch Orac. Sibyü. IV, 25—26 (wahrschein-
lich jüdisch). — Bekanntlich war das Tischgebet auch bei den Christen von
Anfang an Sitte (Rom. 14, 6. I Cor. 10, 30. I Tim. 4, 4), wie ja auch Jesus
selbst diese Sitte stets geübt hat (Matth. 14, 19. 15, 36. 26, 26 und Parallelen).
— S. überh. Maimonides , Hilchoth Berachoth (Petersburger Übersetzung I,
457 ff.). Bodenschatz, Kirchliche Verfassung der heutigen Juden II, 79—84.
Schröder, Satzungen und Gebräuche S. 309 f. 315—317. 323—330. Winer
EWB. I, 398. Arnold, Art. „Mahlzeiten der Hebräer" in Herzogs Real-Enz.
VIH, 688 f. (2. Aufl. IX, 202). Benzinger ebendas. 3. Aufl. Xn, 78. Dem-
bitx, Art. „Grace at meals" in: The Jeicish Encyclopedia VI, 61 f. von der
Goltz, Tischgebete und Abendmahlsgebete in der altchristlichen und in der
griechischen Kirche (Texte und Untersuchungen von Gebhardt und Harnack
N. F. XIV, 2b) 1905, S. 5—13 [hier über das jüdische Tischgebet].
92) Berachoth VT, 1—3.
93) Berachoth VI, 5.
94) Berachoth VI, 7.
572 § 28. Das Leben unter dem Gesetz. [489. 490]
Granatäpfel gegessen, so spricht er danach drei Segen. Dies ist
die Meinung des ß. Gamaliel. Die Gelehrten sagen: Einen Segen
dreierlei Inhaltes" 95. „Bei wieviel Speise ist förmliche Vorberei-
tung zum Dankgebet erforderlich? Bei der Größe einer Olive.
E. Jehuda sagt: eines Eies" 96> „Hat einer gespeiset und vergessen,
den Tischsegen zu sprechen, so muß er nach der Schule Schammais
zurückkehren an seinen Ort und den Segen sprechen; die Schule
Hillels erlaubt, daß er den Segen da spreche, wo er sich dessen
erinnert. Bis wie lange ist man zum Segen verpflichtet? Bis die
Speise im Magen verdaut ist" 97.
Wo das Gebet in solcher Weise unter die gesetzliche Formel
gebannt war, mußte es notwendig zu einem äußern Werkdienst
erstarren. Was half es, daß die Gebete selbst schön und gehalt-
reich waren (wie man dies namentlich vom Schmone-Esre wird zu-
geben müssen), wenn sie doch nur darum gebetet wurden, damit
man ^der Pflicht genüge"? Was half es, daß R. Elieser erklärte:
„Wer sein Gebet zur festgestellten Pflicht (*3p>) macht, dessen
Gebet ist kein andächtiges Flehen"98, wenn doch er selbst daran
mitarbeitete, es zu ersterer zu machen? Ist schon die gesetzliche
»» -
Behandlung des sittlichen Lebens überhaupt vom Übel, so ist sie
es beim Gebete, dieser zartesten Blüte des innersten Gemütslebens,
doppelt und dreifach. Nur die notwendige Konsequenz einer solchen
Behandlungsweise war es, daß man schließlich dahin kam, das
Gebet zum Dienst der Eitelkeit herabzuwürdigen (Matth, 6, 5) und
es als Deckmantel innerer Unlauterkeit zu mißbrauchen (Jft 15, 7 f.
Mc. 7, 6. 12, 40. Luc. 20, 47).
Ein weiterer Punkt, in welchem die ganze Veräußerlichung des
religiösen Lebens sehr scharf zutage tritt, ist endlich auch das
Fasten. Daß die Pharisäer viel fasteten und großen Wert darauf
legten, wissen wir im allgemeinen aus den Evangelien (Aß. 9, 14.
Mc. 2, 18. Luc. 5, 33). Es gab zwar nur wenige durch den Kalender
fixierte öffentliche Fasttage". Aber nicht selten wurden außer-
ordentliche öffentliche Fasttage angesetzt wegen allgemeiner Kala-
mitäten, namentlich wegen Ausbleibens des Eegens im Herbste.
Diese Fasttage | wurden stets auf den zweiten und fünften Wochen-
tag (Montag und Donnerstag) verlegt und zwar so, daß stets mit
dem zweiten Wochentag begonnen wurde; so daß also ein dreir
95) Berachoth VI, 8.
96) Berachoth VII, 2.
97) Berachoth VIII, 7.
98) Berachoth IV, 4. Vgl. Äboth II, 13.
99) Vgl. hierüber Dal man in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VII,
S. 16 f. (im Artikel „Gottesdienst, synagogaler").
[490. 491] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 573
tägiges Fasten auf den 2., 5., 2. Wochentag (Montag, Donnerstag,
Montag) fiel, bei sechstägigem dann mit dem 5., 2., 5. fortgefahren
wurde usw.100. Neben diesen allgemein verordneten Fasten, welchen
jeder sich unterziehen mußte, wurde aber auch aus freien Stücken
viel gefastet; und die Strengsten gingen sogar so weit, daß sie das
ganze Jahr hindurch an den beiden genannten Wochentagen faste-
ten 10J. — Je nach der Strenge des Fastens war die äußere Haltung
dabei eine verschiedene. Beim geringsten Grade pflegte man sich
noch zu waschen und zu salben; beim strengeren wurde beides
unterlassen; und beim strengsten enthielt man sich aller irgendwie
erfreulichen Handlungen, selbst des gegenseitigen Grüßens 102. Über-
haupt war es beliebt, das Fasten in möglichst augenfälliger Weise
zu üben, um damit seinen frommen Eifer zur Schau zu tragen
(Mt. 6, 16). Aber das Schlimmste war die Grundanschauung, von
der man bei alledem ausging. Man meinte durch solche Selbst-
qual eine Pression auf Gott auszuüben, um ihm seine Gnaden-
erweisungen, wenn er damit zurückhielt, gleichsam abzuzwingen.
Je länger im Herbste der Regen ausblieb, desto verschärfter wurde
das Fasten. Wenn der 17. Marcheschwan eintrat, ohne daß Regen
gefallen war, so begannen einzelne drei Fasttage zu halten. Trat
der Neumond des Kislev ein, ohne daß Regen gefallen war, so ver-
fügte man drei allgemeine Fasttage. War nach Ablauf dieser
noch kein Regen gefallen, so wurden drei weitere Fasttage verfügt,
100) Taanüh II, 9. — Vgl. diöoxh x(bv ö&Sexa anoaxöXwv (ed. Bryennios
1883) e. 8: AI Sh vrjoveTai üfjtwv (i% %oxa>oav fjtexä xibv vnoxQixtbv vijaxevovoi
yag SevziQa oaßßdzwv xal TtifiTCxy vfjteZg 6h vijcxevaaxe xexgdöa xal
naQaoxevj)v. — Dasselbe fast wörtlich auch Const. apost. VII, 23. — Epiphan.
haer. 16, 1 (ed. Peiav. p. 34): ivrfaxevov ölq xov oaßßdzov, öevx^Qav xal
n £ fjt n xtjv. — Josephi Hypomnesticum 0. 145 (bei Fabricius, Cod. pseudepigr,
Vet. Test. t. II, Anhang). — Verboten war das Fasten nicht nur am Sabbatb,
sondern auch am Tage vor Sabbath (Judith Ü, 6). Über die Pflicht des Wohl-
lebens am Sabbath s. oben S. 554 Anm. 19. — Über die Gebete an den Fast-
tagen s. -for. Liviy Reinte des etudes juives t. XLVII, 1903, p. 161—167.
101) Ev. Lue. 18, 12; vgl. Taanüh fol. 12a (bei Lightfoot und Wetstein
zu Jmc. 18, 12): TVW ia itt *wi ^lam *W y4* hy^pw iw. nEin einzelner,
der eß auf sich nimmt am zweiten und fünften und zweiten Tage während
des ganzen Jahres etc". — Die weitverbreitete Meinung, daß alle Pharisäer
die beiden Fasttage während des ganzen Jahres beobachtet hätten , ist hier-
nach nicht richtig.
102) Taanüh I, 4—7; iu allen Punkten bestätigt durch Matth. 6, 16—18
(wo die bildliche Fassung der von Jesu gegebenen Weisung nicht, wie Meyer
meint, selbstverständlich, sondern grundverkehrt ist. Jesus will sagen, man
solle das Fasten nicht äußerlich kund geben, also auch das gewöhnliche
Waschen und Salben nicht unterlassen). Vgl. auch Daniel 10, 3. Joma VIII, 1.
574 § 28. Das Leben unter dem Gesetz. [491. 492]
und zwar mit einigen Verschärfungen. Waren auch diese x>hne
Regen vorübergegangen, so wurden noch sieben allgemeine Fast-
tage veranstaltet, abermals mit neuen Verschärfungen103.
V.
Die bisherigen Beispiele werden es hinreichend zur Anschauung
gebracht haben, in welcher Weise das sittliche und religiöse Leben
vom juristischen Gesichtspunkte aus aufgefaßt und geregelt wurde.
In allen Fragen kam es überall nur darauf an, festzustellen, was
Rechtens ist, und zwar mit möglichster Sorgfalt, damit das handelnde
Subjekt für jeden einzelnen Fall eine sichere Direktive habe. Mit
einem Worte: Ethik und Theologie löst sich auf in Jurisprudenz.
Welche Übeln Folgen diese äußerliche Auffassung für die Praxis
des Lebens hatte, liegt deutlich zutage. Und sie mußte notwendig
solche Folgen haben. Selbst in dem günstigsten Falle, daß die
juristische Kasuistik im ganzen sich in sittlich korrekten Bahnen
bewegte, war sie eben selbst schon eine Vergiftung des sittlichen
Prinzipes und mußte lähmend und erstarrend auf den frischen Puls-
schlag des sittlichen Lebens wirken. Aber dieser günstige Fall
trat keineswegs ein. Sobald einmal die Frage so gestellt war:
„Was habe ich zu tun, um dem Gesetz zu genügen", lag die Ver-
suchung zu nahe, daß man vor allem eben darauf ausging, mit
dem Gesetzesbuchstaben sich abzufinden, auch auf Kosten der
wahren Anforderungen der Sittlichkeit, ja der eigenen Intentionen
des Gesetzes.
Ein ziemlich harmloses und in seiner Harmlosigkeit komisches
Beispiel dafür, wie man mit ausgesuchtem Scharfsinn Mittel und
Wege fand, das Gesetz gleichzeitig zu umgehen und doch zu er-
füllen, sind die Bestimmungen über den sogenannten Erub. Es war,
wie wir wissen, unter anderm verboten, am Sabbath einen Gegen-
stand aus einem Bereiche (nwi) in einen andern zu tragen. Dies
hätte nun die unbequeme Folge gehabt, daß man am Sabbath fast
alle Freiheit der Bewegung verloren hätte, denn der Begriff des
roth (oder genauer des Tn*n rviton, des Privatbereiches) war ein |
sehr enger. Wenn es nun aber gelang, diesen Begriff zu erweitern
und möglichst große „Bereiche" herzustellen, so war ja dem Übel
aufs glücklichste abgeholfen. Das nächste Mittel, das man zur
Erreichung dieses Zieles ergriff, war die sogenannte Vermischung
103) Taanüh I, 4—6. — Jüdische Urteile über den Wert des Fastens 8.
bei Leop. Low, Gesammelte Schriften I, 1889, S. 107 ff.
[492. 493] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 575
der Höfe (rri-ttn nvv?), d. h. die Verbindung mehrerer in einem
Hofe stehender Häuser (deren jedes ein Tn*n nth bildet) zu
einem TW« muri. Eine solche Verbindung ward dadurch be-
werkstelligt, daß „sämtliche Bewohner vor Sabbath oder einem Fest-
tage etwas Speise zusammenlegten und solche an einen bestimmten
Ort hinsetzten, um damit zu bezeichnen, daß sie den ganzen Hof
mit allen Wohnungen darin als ein gemeinschaftliches Ganzes be-
trachteten. Dadurch ward es sämtlichen Bewohnern gestattet,
innerhalb dieses Bereiches am Feiertage ein- und auszutragen" l04.
Natürlich wurde nun auch mit großer Gewissenhaftigkeit fest-
gestellt, welche Speisen zu diesem Erüb verwendet werden dürfen
und wieviel Speise nötig und was überhaupt dabei zu beobachten
ist, wie in derMischna des langen und breiten zu lesen ist105. —
Sehr viel war aber mit dieser Verbindung der Höfe noch nicht
gewonnen. Man verfiel daher noch auf ein anderes, jenes erste
ergänzendes Mittel, das weit ergiebiger war, nämlich „die Ver-
bindung des Eingangs" (^iStt an?), d. h. die Sperrung einer engen
Gasse oder eines von drei Seiten umgebenen Raumes mittelst eines
Querbaikens, eines Drahtes oder eines Strickes, wodurch beide
"Pn*n man werden (also Räume, innerhalb deren das Hin- und
Hertragen von Gegenständen gestattet ist). Auch hier wird sorg-
fältig erörtert, wie hoch und wie breit die Öffnungen sein dürfen,
um deren Verschließung es sich handelt; und wie die Verschluß-
mittel, die Balken und Stricke, beschaffen sein müssen: wie stark
und wie breit usw.106.
Außer dem Tragen von einem Bereich in den andern war auch
das Gehen auf eine Entfernung von mehr als 2000 Ellen am Sab-
bath verboten. Auch hierfür wurde durch ein ähnliches Mittel Er-
leichterung geschaffen: durch die „Vermischung der Grenzen" (n*n?
■pttwn). Wer nämlich am Sabbath weiter als 2000 Ellen zu gehen
wünschte, brauchte nur vor Eintritt des Sabbath innerhalb dieser
Grenze irgendwo (also etwa an deren Endpunkt) Speise für zwei
Mahlzeiten niederzulegen. Er erklärte damit gleichsam, daß hier
sein Aufenthaltsort sein werde, und durfte nun am Sabbath nicht
nur von seinem faktischen Aufenthaltsorte bis zu diesem recht-
lichen | Aufenthaltsorte 2000 Ellen weit gehen, sondern auch von
da an noch 2000 Ellen weiter107. Ja es war nicht einmal in allen
104) Josts Einleitung zum Traktat Ervhin. Vgl. Bodenschatz, Kirch-
liche Verfassung II, 134 ff. Schröder, Satzungen und Gebrauche S. 64 f.
105) Erubin VI— VII. „
106) Erubin I, 1 ff. VII, 6ff.
107) Josts Einleitung zum Traktat Erubin. Die näheren Bestimmungen
Erubin HL. IV. VIII.
576 § 28* Das Leben unter dem Gesetz. [493. 494]
Fällen diese umständliche Vorbereitung- nötig. Wenn z. B. jemand
bei Sabbathanbruch unterwegs war, und er sah auf eine Entfernung
yon 2000 Ellen einen Baum oder eine Steinmauer, so konnte er
dies für seinen Sabbathsitz erklären und durfte dann nicht nur bis
zu dem Baume oder der Mauer 2000 Ellen gehen, sondern von da
hoch 2000 Ellen weiter. Nur mußte er freilich gründlich zu Werke
gehen und sagen: „Mein Sabbathsitz sei an dessen Stamme" (^nn^nü
•hjMEi). Denn wenn er nur sagte: „Mein Sabbathsitz sei darunter"
(vnnp ^nn^nti), so galt dies nicht, weil es zu allgemein und un-
bestimmt war108.
So unschuldig diese Spielereien an sich auch sein mögen: sie
zeigen jedenfalls in erschreckender Weise, daß der sittliche Ge-
sichtspunkt vollständig durch den formal-gesetzlichen verdrängt ist;
daß man nur dem Gesetzesbuchstaben gerecht zu werden suchte,
selbst mit Umgehung von dessen eigenem Sinne.
Diese Verschiebung des richtigen Gesichtspunktes führte not-
wendig auch in wichtigeren Fragen, als die eben berührten waren,
zu Resultaten, welche mit einer sittlichen Auffassung der Dinge
direkt im Widerspruche stehen. Bekannt ist der Weheruf Jesu
über die Schriftgelehrten, die mit dem Eide ihr leichtfertiges Spiel
treiben, indem sie sagen: „Wer da schwöret bei dem Tempel, das
bedeutet nichts; wer aber schwöret bei dem Golde des Tempels,
der ist gebunden. Und wer da schwöret bei dem Altar, das be-
deutet nichts; wer aber schwöret bei dem Opfer, das auf dem Altar
ist, der ist gebunden" (Matth. 23, 16. 18) 109. Bekannt ist ferner
die laxe Auslegung der Bestimmung über die Ehescheidung
Deut. 24, 1: daß der Mann die Frau entlassen dürfe, wenn er etwas
Schändliches (nyj ny#) an ihr bemerkt habe. Nur die Schule
Schammais ließ den Worten ihren eigentlichen Sinn. Die Schule
Hillels deutete sie dahin um: Wenn sie ihm auch nur die | Speise
verderbt hat. Und nach R. Akiba vollends war dem Manne die
Entlassung der Frau gestattet, wenn er auch nur. eine andere
108) Erubin IV, 7.
109) Vgl. Schebuoth IV, 13: Wer schwört „bei Himmel und Erde", der ist,
wenn er falsch geschworen, nicht des Meineides schuldig. — S. überh. Sche-
buoth IV, 3 ff. Bodenschatz, Kirchliche Verfassung der heutigen Juden II,
854—386. Schröder, Satzungen und Gebräuche des talmudisch-rabbinischen
Judenthums S. 011—631. Winer RWE. Art. „Eid". — Auch Maimonides
sagt, ein Schwur bei Himmel und Erde sei kein Schwur. 8. die Stelle bei
Lightfoöt, Horae hebr. zu Matth. 5, 33 (Opp. H, 293), Schotttgen, Borae
hebr. I, 40. — Über Philos Lehre vom Eid s. Low, Ges. Schriften I, 1889,
S. 213-221. ...
[494] § 28. Das Leben unter dem Gesetz. 577
schöner fand als sie110. — Die Reinigungsgesetze gaben Veran-
lassung, das Gebiet des geschlechtlichen Lebens in einer Weise
zu behandeln, welche viel Ähnlichkeit hat mit der schlüpfrigen
Kasuistik der Jesuiten: ein schlagender Beweis, wie die kasuistische
Methode als solche mit innerer Notwendigkeit auf diese Irrwege
führt111. Auch noch in einem andern Punkte zeigt sich eine auf-
fallende Parallele mit dem Jesuitismus, nämlich in der Hintan-
setzung der Pietätspflichten, z. B. gegen Vater und Mutter, hinter
vermeintliche religiöse Verpflichtungen. „Wenn ein Mensch zu
Vater oder Mutter gesagt hat: Geopfert sei, was immer du von
mir als Nutzen haben könntest, so gestattet ihr ihm nicht mehr,
etwas für Vater oder Mutter zu tun" {Marc. 7, 11—12, vgl. Matth.
15, 5) — so wirft Jesus den Pharisäern vor; und in der Mischna
heißt es wenigstens im allgemeinen, daß ein übernommenes Gelübde
nicht „wegen der den Eltern schuldigen Ehrfurcht" (yok TODS
TOKi) rückgängig gemacht werden könne112. Die ganz äußerlich
und formal aufgefaßte religiöse Verpflichtung steht also höher als
die höchste Pietätspflicht
Es ist nach alledem nur zu sehr begründet, wenn Jesus seinen
Zeitgenossen ein Mückenseigen und Kameleverschlucken vorwirft
(ML 23, 24), und ihnen die schwere Anklage ins Gesicht schleudert,
daß sie die Becher und Schüsseln auswendig rein halten, aber in-
wendig voll Kaub und Unmäßigkeit seien (ML 23, 25. Luc. 11, 39).
110) Qittin IX, 10. Vgl. Matth. 19, 3. Überhaupt über diese Abschwä-
chungen: Keim, Geschichte Jesu II, 243 ff'.
111) Vgl. die Traktate Nidda und Sabim. — Hierony?nus, Epist. 121 ad
Algasiam, quaesL X {opp. ed. Vallarsi I, 884): dicam tarnen unum in ignomi-
niam gentis inimicae. Praeposiios habent synagogis sapientisstmos quosque
foedo operi delegatos, ut sanguinem virginis sive menstruatae mundum vel im-
mundum, si oculis discernere non potuerint, gustu prpbent.
112) Nedarim IX, 1. Nur R. Elieser will ganz aligemein gestatten, daß
ein Gelübde „wegen der den Eltern schuldigen Ehrfurcht" rückgängig gemacht
werde ; die Majorität der Gelehrten gestattet dies nur „in einer Sache zwischen
ihm und seinen Eltern" (raan vaa.ynb is^SE nma), d. h. nur wenn das Ge-
lübde ausdrücklich zum Nachteil der Eltern gemacht worden ist. Insofern
geht also die von Jesus getadelte Praxis über das in der Mischna kodifizierte
Hecht hinaus. Vgl. bes. die korrekte Darstellung bei. Wünsche, Neue Bei-
träge zur Erläuterung der Evangelien S. 184—186. Noch eingehender handelt
über die Sache Wünsche, Vierteljahrsschr. für Bibelkunde II, 2, 1904,
S. 133 — 151 (in der oben Anm. 75 genannten Abhandlung). Im allgemeinen
auch: Oehler-Delitzsch, Art. „Gelübde bei den Hebräern" in Herzogs
Real-Enz. 2. Aufl. V, 40 — 43. Edersheim, The life and times of Jesus the
Messiah (1884) II, 17 sqq. Buhl, Art. „Gelübde im Alten Testament" in
Herzog- Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VI, 485 — 487. Oort, De verbintenissen met
„Korban" (Theol. Tijdsehrift 1903, S. 289—314). Hart, Corban (Jewish Quar-
terly Review XIX, 1907, p. 615-650).
Schüror, Geschichte II. 4. Aufl. 37
578 § 28- Das Leben unter dem Gesetz. [494. 495]
Gleich übertünchten Gräbern, welche auswendig zwar an|mntig
erscheinen, aber inwendig voller Totenbeine und alles Unflates
sind, scheinen auch sie von außen vor den Menschen gerecht, aber
inwendig sind sie voller Heuchelei und Untugend (ML 23, 27—28.
Luc. 11, 44). Indessen wäre es unbillig, in solchen, wie immer
auch begründeten, Strafworten eine allseitige Charakteristik der
ganzen Zeit zu finden. Die Gerechtigkeit erfordert es, hier nicht
unerwähnt zu lassen, daß uns von den Gelehrten jener Zeit doch
auch manch schönes Wort aufbewahrt ist, weiches den Beweis
liefert, daß unter dem Wüste der halachischen Diskussionen nicht
alles sittliche Urteil erstickt war. Wir erinnern etwa an die
schon erwähnte Mahnung des Antigonus von Socho, daß man den
Knechten gleichen solle, welche ohne Rücksicht auf Lohn Dienste
leisten113, oder an die des R Elieser: das Gebet nicht zur fest-
gestellten Pflicht zu machen114. Ein Wahlspruch Hillels war es:
Richte deinen Nächsten nicht, bis du an seine Stelle gekommen115.
R. Elieser ben Hyrkanos sagte: Deines Nächsten Ehre sei dir so
wert als die deinige116. R. Jose ha-Kohen sagte: Deines Nächsten
Vermögen sei dir teuer wie dein eigenes. Derselbe sagte: Tue alle
deine Handlungen im Namen Gottes117. R. Juda ben Tema sagte:
Sei mutig wie ein Leopard, leicht wie ein Adler, schnell wie ein
Hirsch und stark wie ein Löwe, den Willen deines Vaters im
Himmel zu tun118.
113) Aboth I, 3.
114) Berachoth IV, 4. Vgl. Aboth II, 13.
115) Aboth II, 4.
116) Aboth n, 10.
117) Aboth n, 12.
118) Aboth V, 20. — Vgl. Saalschütz, Archäologie der Hebräer I, 247 ff.
— Eine Anzahl von talmudischen Parallelen zu Aussprüchen Christi hat Weiß
(Zur Geschichte der jüdischen Tradition Bd. 1, 1871) zusammengestellt; hieraus
in deutscher Übersetzung mitgeteilt von Weber in Delitzsch' s „Saat auf
Hoffnung*' Jahrg. 1872, S. 89 ff. Ähnlich: Duschak, Die Moral der Evan-
gelien und des Talmud, Brunn 1877. — Durch einseitige Zusammenstellung
und einseitige Beleuchtung dieses Materiales gelingt es modernen jüdischen
Gelehrten immer wieder, Lichtbilder herzustellen, die der wirklichen Ge-
schichte nicht entsprechen, vgl. z. B. Gü de mann, Nächstenliebe, ein Beitrag
zur Erklärung des Matthäus -Evangeliums, 1890. Eschelbacher, Die Vor-
lesungen A. Harnacks über das Wesen des Christenthums (Monatsschr. f. Gesch.
u. Wissensch. d. Judenth. 1902—1903). Perles, Boussets Religion des Juden-
tums im neutestamentlichen Zeitalter, 1903. Güdemann, Das Juden thum
im neutestamentlichen Zeitalter in christlicher Darstellung (Monatsschr. f.
Gesch. u. Wissensch. d. Judenth. 1903, S. 38—53, 120—136, 231—249). El-
bogen, Die Religionsanschauungen der Pharisäer, 1904. Eschelbacher, Das
Judentum und das Wesen des Christentums, 1905.
[495. 496] § 29. Die messianische Hoffnung. 579
Wenn wir aber von solchen einzelnen Lichtblicken und ebenso
von den tieferen Schatten, welche den Gegensatz hierzu bilden,
absehen, so können wir die Gesamtrichtung des Judenturas jener
Zeit nicht besser charakterisieren, als mit den Worten des Apostels:
Sie haben einen Eifer um Gott, aber in Unverstand (Rom. 10, 2).
Es war eine furchtbare Last, welche die falsche Gesetzlichkeit auf
die Schultern des Volkes geladen hatte. „Schwere und unerträgliche
Bürden legen sie den Menschen auf den Hals" (M.23, 4. Luc. 11, 46).
Nichts war der freien Persönlichkeit anheimgegeben; alles unter
den Zwang des Buchstabens gestellt. Bei jeder Regung und Be-
wegung | mußte der gesetzeseifrige Israelite sich fragen: Was ist
geboten? Auf Schritt und Tritt, bei der Arbeit des Berufes, beim
Gebet, bei der Mahlzeit, zu Hause und unterwegs, vom frühen
Morgen bis zum späten Abend, von der Jugend bis zum Alter
folgte ihm die zwingende, tote und ertötende Formel. Ein gesundes
sittliches Leben konnte unter solcher Last nicht gedeihen. Überall
wurde, statt aus innern Impulsen gehandelt, vielmehr äußerlich
gemessen und abgewogen. Für den, der es ernst nahm, war das
Leben eine stete Qual. Denn jeden Augenblick war er in Gefahr,
das Gesetz zu übertreten; und da so viel an der äußern Form hing,
war er oft im ungewissen, ob er dem Gesetze wirklich genügt
habe. Andererseits war für den, der es in der Kenntnis und Hand-
habung des Gesetzes zur Meisterschaft gebracht hatte, Hochmut
und Dünkel fast unvermeidlich. Er konnte sich ja sagen, daß er
der Pflicht genügt, daß er nichts versäumt, daß er alle Gerechtig-
keit erfüllt habe. Aber um so gewisser ist, daß diese Gerechtig-
keit der Schriftgelehrten und Pharisäer (ML 5, 20), die mit hoch-
mütigem Danke gegen Gott auf die Sünder herabsah (Luc. 18, 9—14)
und pomphaft mit ihren Werken vor den Augen der Welt prahlte
(ML 6, 2. 23, 5), nicht die wahre und Gott wohlgefällige ist
§ 29. Die messianische Hoffnung.
Literatur1:
SchÖttgen, Horae Hebraicae et Talmudtcae. Tom. II. De Messia 1742. (Ein
Werk von eminenter Gelehrsamkeit, aber ganz von dem Streben beherrscht,
die Babbinen zu christlichen Theologen zu machen. Selbst die Lehre von
der cammunicatio idiomatum wird aus rabbinischen Schriften erwiesen).
1) Die ältere Literatur s. bei Hase, Leben Jesu § 34. De Wette, Bib-
lische Dogmatik (3. Aufl.) S. 163. Bretschneider, Systematische Entwicke-
lung aller in der Dogmatik vorkommenden Begriffe (4. Aufl. 184r) S. 553 ff.
37*
580 § 29. Die messianische Hoffnung. [496. 497J
Bodenschatz, Kirchliche Verfassung der heutigen Juden (4 Tle. 1748—1749)
HI, 181—216.
Bertholdtf Christologia Judaeorum Jesu apostolorumque aetate in compendium
redacta observationibusque illustrata. Erlangae 1811.
Moraht, De iis, quae ad cognoscendam Judaeorum Palaestinensium, qui Jesu
tempore vivebant% Christologiam evangelia nobis exhibeant, deque locis mes-
sianis in Ulis aüegatis. Ootting. 1828.
De Wette, Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments (3. Aufl. 1831)
S. 159 — 179. — Der 8., Oommentatio de morte Jesu Christi expiatoria (Opus-
cula theologica, 1830, p. 1—148).
Von Colin, Biblische Theologie Bd. I (1836) S. 479-511. |
Mack, Die messianischen Erwartungen und Ansichten der Zeitgenossen Jesu
(Tüb. Theol. Quartalschr. 1836, S. 3—56. 193—226).
G frörer, Das Jahrhundert des Heils (auch unter dem Titel: Gesch. des Ur-
christenthums Bd. 1—2, 1838) II, 195—444.
Bauer (Bruno), Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker Bd. I,
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messianische Dogmatik gehabt habe (Theol. Jahrbücher 1843, S. 35—52).
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Ewald, Geschichte des Volkes Israel Bd. V (3. Aufl. 1867) S. 135—160.
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S. 389 — 411). — Ders., in Weber und Holtzmanns Gesch. des Volkes
Israel (1867) II, 191—211. — Ders., Lehrbuch der Neutestamen tlichen
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Hausrath, Neutestamentliche Zeitgeschichte Bd. I (2. Aufl. 1873) S. 165—176.
Weiffenbach, Quae Jesu in regno coelesti dignitas sit synopticorum senteniia
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Ebrard, Wissen scbaftl. Kritik der evangelischen Geschichte (3. Aufl. 1868)
S. 835—849.
Wittichen, Die Idee des Reiches Gottes, dritter Beitrag zur biblischen
Theologie insbesondere der synoptischen Reden Jesu (Göttingen 1872)
S. 105-165.
Anger, Vorlesungen über die Geschichte der messianischen Idee, herausgeg.
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Castellif II Messia secondo gli Ebrei, Firenxe 1874 (358 8.). — Ders., The
future live in rabbinieal literature (Jeteish Quarterly Review I, 1889,
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[497. 498] § 29. Die messianische Hoffnung. 581
Vernes, Histoire des idSes tnessianiques depuis Alexandre jusqu'ä Vempereur
Hadrien. Paris 1874 (294 S.).
Stähelin, Jahrbb. für deutsche Theologie 1874, S. 199—218 (in der Abhand-
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Schöne feld, Über die messianische Hoffnung von 200 vor Christo bis gegen
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Drummond, The Jewish Messiah, a critical history of the messianic idea
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Stapf er, Les idies religieuses en Palestine ä Pipoque de JSsus-Christ (2. id.
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Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theologie aus Targum,
Midrasch und Talmud dargestellt (Leipzig 1880) S. 322—386. 2. Aufl. unter
dem Titel: Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter
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ßeuß, Geschichte der heiligen Schriften Alten Testaments (1881) § 555 — 556.
Hamburger, Real-Enzyklopädie für Bibel und Talmud, IL Abt. (1883) Ar-
tikel: Messianische Leidenszeit, Messias, Messiasleiden, Messias Sohn Jo-
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Ewiges Leben, Lohn und Strafe, Paradies, Vergeltung, Zukunftsmahl. —
Der s., Suppl. n, 1891, S. 107—136. Art. „Messiauische Bibelstellen".
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Die messianisch-apokalyptischen Hoffnungen des Judenthums, 1903.
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Eschatology in: Encyclopaedia Biblica n, 1901, col. 1335—1390.
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zu den Targumim, 1. Teil, 1899 (165 S.) [nützlich als erste Einführung in
den Stoff].
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les ivangiles synoptiques. Th&se, Cahors 1900 (256 p.) [über die jüdische
Erwartung: p. 63—100].
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582 § 29. Die messianische Hoffnung. [496. 499]
Schiefer, Der Christus in der jüdischen Dichtung (Neue kirchliche Zeitechr.
1903, S. 843—884).
Brückner, Die Entstehung der paulinischen Christologie 1903, S. 97 — 173.
Klausner, Die messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes; im Zeit-
alter der Tannaiten kritisch untersucht und im Rahmen der Zeitgeschichte
dargestellt 1904; vorher als Heidelberger Dissert. 1903 (119 S.).
Lagrange, Notes sur le Messianisme au temps de Jesus (Revue biblique 1905,
p. 481—514).
Rabinsohn, Le Messianisme dans le Talmud ei les Midraschitn, Paris 1907
(108 p).
Oouard, Die religiösen und sittlichen Anschauungen der alttestamentlichen
Apokryphen und Pseudepigraphen (1907) S. 189 — 244.
In dem religiösen Ideenkreis des jüdischen Volkes in unserer
Zeit kann man zwei Gruppen unterscheiden: 1) die allgemeinen
religiösen Ideen, weiche sich auf das Verhältnis des Menschen
und der Welt zu Gott überhaupt beziehen, und 2) die spezifisch
israelitischen Ideen, welche das Verhältnis des jüdischen Volkes
zu Jahre als dem Gott Israels zum Gegenstande haben. Die letz-
teren sind die eigentlich durchschlagenden; sie bilden das Zentrum,
um welches jene anderen gruppiert, und auf welches dieselben be-
zogen werden. Diese spezifisch israelitischen Ideen haben aber in
der späteren Zeit wieder ihre besondere Färbung erhalten durch
die gesetzliche Auffassung des Verhältnisses zwischen Jahve
und Israel. Der Gedanke, daß Gott dieses eine Volk zu seinem
Eigentum erkoren hat und ihm darum ausschließlich seine Wohl-
taten spendet, wird nun ergänzt durch den anderen, daß er ihm
auch ein Gesetz gegeben hat, und sich dabei verpflichtet hat, ihm
seine Wohltaten unter der Voraussetzung zu spenden, daß es dieses
Gesetz beobachtet. Den Kern des religiösen Bewußtseins
bildet also jetzt der Satz, daß Gott dem Volke Israel viele
Gebote und Satzungen gegeben hat, um ihm viel Verdienst
zu verschaffen2. Eine sehr einfache Beobachtung zeigte jedoch,
daß dieser Lohn in der empirischen Gegen|wart weder dem Volke
als ganzem noch dem Einzelnen in dem zu erwartenden Maße zu-
teil werde. Je intensiver demnach jener Gedanke das Bewußtsein
des Volkes wie des Einzelnen durchdrang, um so mehr mußte sich
der Blipk auf die Zukunft richten, und zwar dies wieder um so
lebhafter, je schlimmer die Gegenwart beschaffen war. Man darf
daher sagen, daß in der späteren Zeit das religiöse Bewußt-
sein sich konzentriert um die Zukunftshoffnung. Die zu
erwartende bessere Zukunft ist der eigentliche Zielpunkt, auf
welchen alle anderen religiösen Ideen teleologisch bezogen werden.
Wie das Tun des Israeliten wesentlich Gesetzesbeobachtung ist,
2) Makkoth in, 16; vgl. oben S. 547.
[499. 500] I. Verhältnis zur älteren messianischen Hoffnung. 583
so ist sein Glaube wesentlich Glaube an eine bessere Zukunft
Um beide Pole bewegt sich, wie schon oben (S. 547 f.) bemerkt,
das religiöse Leben des jüdischen Volkes in unserer Zeit Man
eifert für das Gesetz, um dereinst des Lohnes teilhaftig zu werden.
— Diese zentrale Stellung der Zukunftshoffnung in dem religiösen
Bewußtsein Israels rechtfertigt es, daß wir auf sie speziell hier
noch unsere Aufmerksamkeit richten.
I. Verhältnis zur älteren messianischen Hoffnung.
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist schon bei den alt-
testamentlichen Propheten ein wesentliches Moment ihres religiösen
Bewußtseins. Sie ist dem Volke auch später nie ganz verloren
gegangen, wenn sie auch nicht immer so lebendig war, wie es dann
etwa seit der makkabäischen Erhebung in steigendem Maße wieder
der Fall war. Im Laufe der Zeit hat aber diese Zukunftshoffnung
doch sehr mannnigfache Wandlungen erfahren. Auf dem Ge-
biete des Glaubens war ja die Freiheit der Bewegung eine viel
größere als auf dem Gebiete des Tuns. Während die gesetzlichen
Vorschriften bis in ihr kleinstes Detail hinein verbindlich waren
und darum unverändert von einer Generation der anderen über-
liefert werden mußten, war dem Glauben wenigstens ein relativ
freierer Spielraum gestattet: sofern nur gewisse Grundlagen fest-
gehalten wurden, konnte das individuelle Bedürfnis sich hier viel
freier ergehen (s. oben § 25 III: Halacha und Haggada). So ist
denn auch die Zukunftshofihung in sehr mannigfaltiger Weise aus-
gestaltet worden. Dabei lassen sich aber doch gewisse gemein-
same Grundlinien beobachten, durch welche imDurchschnitt
die spätere messianische Hoffnung sich von der älteren
charakteristisch unterscheidet Die ältere messianische Hoff-
nung bewegt sich im wesentlichen in dem Rahmen der gegen-
wärtigen Weltverhältnisse und ist nichts anderes als die Hoffnung
auf eine | bessere Zukunft des Volkes. Daß das Volk sittlich
geläutert, von allen schlechten Elementen gereinigt werde, daß es
unbehelligt und geachtet inmitten der Heidenwelt dastehen werde,
indem seine Feinde entweder vernichtet oder zur Anerkennung des
Volkes und seines Gottes gezwungen worden sind, daß es von einem
gerechten, weisen und mächtigen Könige aus Davids Hause regiert
werde, darum auch im Innern Gerechtigkeit, Friede und Freude
herrschen werden, ja daß alle natürlichen Übel aufgehoben und
ein Zustand ungetrübter Seligkeit eintreten werde: dieses etwa sind
die Grundzüge der Zukunftshoffnung der älteren Propheten. Dieses
584 § 29* Die meseianische Hoffnung. [500. 501]
Bild hat aber in dem Bewußtsein der späteren Zeit, zum Teil
schon bei den späteren Propheten, besonders aber in der nach-
kanonischen Zeit sehr wesentliche Umgestaltungen erfahren.
1) Vor allem hat sich der Bück je länger desto mehr
erweitert vom Volk auf die Welt: nicht nur die Zukunft des
Volkes, sondern die Zukunft der Welt wird ins Auge gefaßt.
Während für die ältere Anschauung die Heidenvölker nur insofern
in Betracht kamen, als sie zum Volke Israel in irgendwelcher Be-
ziehung standen, faßt die Erwartung der späteren Zeit immer be-
stimmter das Geschick aller Menschen, ja der ganzen Weit ins
Auge. Das Gericht ist ursprünglich entweder ein Gericht, durch
welches Israel geläutert wird, oder ein Gericht, durch welches die
Feinde Israels vernichtet werden; später wird es zum Weltgericht,
in welchem über das Schicksal aller Menschen und Völker ent-
schieden wird, und zwar entweder durch Gott selbst oder durch
seinen Gesalbten, den messianischen König Israels. Das ideale
Reich der Zukunft geht nach der älteren Erwartung nicht wesent-
lieh über die empirischen Grenzen des heiligen Landes hinaus;
nach der späteren Auffassung umfaßt das Gottesreich der Zukunft
die ganze Menschheit, die willig oder gezwungen unter dem Zepter
Israels zu einem Weltreiche vereinigt ist Der Messias ist also
Weltrichter und Weltbeherrscher. Ja auch die vernunftlose Kreatur,
Himmel und Erde, also die ganze Welt im strengen Sinne werden
umgestaltet: die alte vernichtet und eine neue herrliche an ihrer
Stelle geschaffen. — Diese Erweiterung der Zukunftsidee ist teil-
weise schon durch die Erweiterung des politischen Gesichtskreises
herbeigeführt. Je mehr die kleinen Einzelstaaten von den großen
Weltreichen verschlungen wurden, desto näher lag es, auch das
ideale Beich der Zukunft als ein Weltreich sich vorzustellen. Nach
dem Untergang des letzten heidnischen Weltreiches nimmt Gott
selbst das Zepter in die Hand und begründet ein Weltreich, in
welchem er, der himmlische König, regiert durch sein Volk. Aber
noch wichtiger als die Erweiterung des politischen Horizontes war
für die Entwickeiung | der messianischen Idee die Erweiterung
des Gottesbegriffes und der Weltanschauung überhaupt. Für die
ursprüngliche Anschauung ist Jahve nur der Gott und König Is-
raels. Später wird er immer bestimmter und deutlicher als der
Gott und König der Welt aufgefaßt; womit auch wieder zusammen-
hängt, daß nun auch der Begriff der „Welt" als eines einheitlichen,
alles Seiende umfassenden Ganzen immer deutlicher ins Bewußt-
sein tritt Wesentlich durch diese Erweiterung des religiösen Be-
wußtseins überhaupt ist es bedingt, daß auch die Zukunftserwartung
sich immer universeller gestaltet.
[501. 502] I. Verhältnis zur älteren messianischen Hoffnung. 585
2) Mit dieser Erweiterung der Zukunftserwartung geht aber
auf der andern Seite Hand in Hand eine viel bestimmtere Be-
ziehung derselben auf das Einzelindividuum. Auch dies
hängt wieder zusammen mit der Entwicklung des religiösen Be-
wußtseins überhaupt. Ursprünglich ist Jahve der Gott des Volkes,
der das Wohl und Wehe des Volkes mit seiner mächtigen Hand
leitet. Auf das Geschick des Einzelnen wird dabei kaum reflektiert
Mit der Vertiefung des religiösen Bewußtseins mußte aber mehr
und mehr auch der Einzelne sich als Gegenstand der Fürsorge
Gottes fühlen. Jeder Einzelne weiß sein Geschick in Gottes Hand
und ist dessen gewiß, daß Gott ihn nicht verläßt. Die Erstarkung
dieses individuellen Vorsehungsglaubens hat allmählich auch eine
individuelle Gestaltung der Zukunftshoffhung zur Folge gehabt;
freilich verhältnismäßig sehr spät: erst bei Daniel ist sie mit Be-
stimmtheit nachweisbar. Die Form, in der sie sich zunächst äußert,
ist die des Auferstehungsgiaubens. Indem der fromme Israelite
dessen gewiß ist, daß auch sein persönliches und zwar dauerndes
und ewiges Heil von Gott gewollt ist, erwartet er, daß er und
jeder einzelne Fromme teil haben werde an der zukünftigen Herr-
lichkeit des Volkes. Wer also vor Verwirklichung derselben vom
Tode ergriffen wird, der darf hoffen, daß er dereinst von Gott
wieder auferweckt und in das Eeich der Herrlichkeit versetzt
werden wird. Der Zweck der Auferweckung ist demnach die Teil-
nahme an der herrlichen Zukunft des Volkes; und der Grund des
Auferstehungsgiaubens ist das immer kräftiger sich entwickelnde
persönliche Heilsinteresse. — Aber nicht nur das Heilsinter-
esse gestaltet sich individuell, sondern die Reflexion richtet sich
überhaupt bestimmter auf das künftige Geschick jedes einzelnen,
auch in malam pariem. Gott fuhrt im Himmel Buch über die Taten
jedes Einzelnen, wenigstens jedes Israeliten. Und auf Grund dieser
himmlischen Bücher wird dann beim Gericht entschieden: Lohn
und Strafe jedem Einzelnen genau nach Verdienst zugemessen. Dies
hat dann wieder zur Folge, daß die Erwartung | der Auferstehung
sich verallgemeinert: nicht nur die Gerechten, sondern auch die
Ungerechten werden auferstehen, um im Gericht ihr Urteil zu
empfangen. Doch ist diese Erwartung nie zu allgemeiner Gültig-
keit gelangt: vielfach wird doch nur eine Auferstehung der Frommen
erwartet — Endlich aber hat das individuelle Heilsinteresse sich
auch nicht mehr begnügt mit der Auferstehung zum Zweck der
Teilnahme am messianischen Reiche. Diese wird nicht mehr als
die letzte und höchste Seligkeit betrachtet, sondern nach dieser
noch eine höhere, ewige, himmlische Seligkeit erwartet: ein ab-
soluter Verklärungszustand im Himmel, wie andererseits auch für
586 § 29. Die messianische Hoffnung. [502. 503]
die Gottlosen nicht mehr bloß Ausschloß vom messianischen Reiche,
sondern ewige Qual und Pein in der Hölle.
3) Die letzteren Momente hängen nun schon mit einer weiteren
Eigentümlichkeit zusammen, durch welche die Zukunftserwartung
der späteren Zeit sich von der älteren unterscheidet: sie wird näm-
lich immer mehr transzendent, immer mehr ins Übernatürliche,
Überweltliche umgesetzt Die ältere Zukunftshoffnung bleibt im
Rahmen der gegenwärtigen Weltverhältnisse. Man erwartet eine
Vernichtung der Feinde Israels, eine Läuterung des Volkes und eine
herrliche Zukunft desselben. So ideal auch diese künftige Selig-
keit vorgestellt wird, sie bleibt doch im Rahmen der gegenwärtigen
Verhältnisse, die eben nur idealisiert werden. Für die spätere An-
schauung werden Gegenwart und Zukunft immer mehr zu reinen
Gegensätzen, die Kluft zwischen beiden immer schroffer, die Auf-
fassung immer dualistischer. Mit dem Eintritt der messianischen
Zeit beginnt ein neuer Weltlauf, ein neuer öbi*. Dieser künftige
Weitlauf («an öbi*) ist aber in allen Stücken der reine Gegensatz
zu dem gegenwärtigen Weltlauf (ran öbi*). Der gegenwärtige
steht unter der Herrschaft der widergöttlichen Mächte, des Satans
und seiner Engel: er ist darum in Sünde und Übel versunken. Der
künftige steht unter der Herrschaft Gottes und seines Gesalbten:
in ihm herrscht darum lauter Gerechtigkeit und Seligkeit Einen
Zusammenhang zwischen beiden gibt es kaum. Durch einen wunder-
baren Akt Gottes wird der eine vernichtet und der andere ins
Dasein gerufen. — So sehr sich diese Anschauung auch an die
ältere Vorstellung anlehnt, so ist dabei doch der Gegensatz zwischen
Jetzt und Einst viel schärfer gespannt als in der früheren An-
schauung. Die letztere sieht weit mehr auch in der Gegenwart
schon das gnädige Walten Gottes. Nach der späteren Vorstellung
könnte es fast scheinen, als ob Gott für die Gegenwart den sata-
nischen Mächten das Regiment ganz überlassen habe, und erst für
die künftige Welt die volle Ausübung seiner Herrschaft sich vor-
behalten habe. Dem|gemäß wird auch das künftige Heil immer
mehr als rein transzendentes aufgefaßt Alle Güter der künftigen
Welt kommen von oben herab, vom Himmel, wo sie von Ewigkeit
her präexistiert haben. Sie sind für die Heiligen dort aufbewahrt
als ein „Erbe", das ihnen dereinst wird zugeteilt werden. In-
sonderheit existiert dort bereits das vollkommene neue Jerusalem,
das in der Vollendungszeit an Stelle des alten auf die Erde herab-
kommen wird. Ebenso befindet sich aber dort in der Gemeinschaft
Gottes bereits der von Gott seit Ewigkeit erwählte vollkommene
König Israels, der Messias. Alles Gute und Vollkommene kann
eben nur von oben herabkommen, weil alles Irdische in seinem
[503] L Verhältnis zur älteren messianischen Hoffnung. 587
gegenwärtigen Zustande das reine Widerspiel des Göttlichen ist.
Zuletzt greift darum die Zukunftshoffnung überhaupt über das
irdische Dasein hinaus. Auch nicht in dem Reich der Herrlichkeit
auf der erneuerten Erde wird das letzte Heil gefunden, sondern
in einem absoluten Verklärungszustande im Himmel — Wie das
Heil selbst, so wird auch die Art seiner Verwirklichung immer
mehr transzendent gedacht. Das Gericht ist ein forensischer Akt,
in welchem ohne Vermittelung irdischer Kräfte lediglich durch einen
Urteilsspruch Gottes oder seines Gesalbten über das Schicksal der
Menschen entschieden wird; und die Vollziehung dieses Urteils
erfolgt nur durch übernatürliche Kräfte, durch einen wunderbaren
Machtakt Gottes, welcher das Alte vernichtet und die neue Ord-
nung der Dinge ins Dasein ruft.
Vielleicht sind bei dieser Entwicklung der jüdischen Zukunfts-
hoffnung persische Einflüsse mit im Spiel Da das jüdische
Volk zweihundert Jahre lang unter persischer Herrschaft gestanden
hat, liegt die Möglichkeit solcher Einflüsse sehr nahe. In der
Angelologie sind sie unverkennbar; in der Eschatologie nicht so
deutlich, aber in irgendwelchem Maße doch wahrscheinlich (s. die
Literatur hierüber oben S. 4 13 f.). Die Lehre von einer individuellen
Vergeltung nach dem Tode und die starke Transzendenz sind für
die persische Eschatologie charakteristisch. Eben dieses sind aber
Punkte, durch welche die spätere jüdisdie von der älteren israe-
litischen Eschatologie sich unterscheidet. So darf man in dieser
Allgemeinheit wohl von der Wahrscheinlichkeit persischer Ein-
wirkungen sprechen. Aber sie sind nur allgemeiner Art Sobald
man auf die Einzelheiten achtet, verflüchtigen sich die Parallelen,
oder es ist doch, wo sie stärker sind, das höhere Alter der per-
sischen Anschauungen sehr fraglich. Die jüdischen Anschauungen
bleiben überall eigenartige und erklären sich von der Basis der
aittestamentlichen Anschauungen aus als Umbildungen oder Er-
gänzungen dieser. Der Parsismus kommt also nur als nebensäch-
licher, die Entwickelung irgendwie fördernder, nicht als sie be-
herrschender Faktor in Betracht.
4) Eine wesentlich neue Färbung hat endlich die messianische
Hoffnung in der späteren Zeit auch dadurch erhalten, daß sie, wie
überhaupt der gesamte religiöse Vorstellungskreis, durch die emsige
Arbeit der Schriftgelehrten immer mehr dogmatisiert wurde.
An Stelle der frischen religiösen Produktion trat die gelehrte
Forschung in den Schriften der Propheten, durch welche das Detail
des messianischen Zukunftsbildes dogmatisch festgestellt wurde.
Die Aufgabe der Schriftgelehrten war ja freilich zunächst die
Feststellung und Bearbeitung des Gesetzes. Aber nach derselben
588 § 29. I>ie messianische Hoffnung. [503. 504]
Methode haben sie dann auch den religiösen Vorstellungskreis,
speziell auch die messianischen Erwartungen bearbeitet und im
Detail festgestellt. So wurde das poetische Bild zum gelehrten
Dogma. Während in den idealen Zukunftsbildern der Propheten
die Grenze des eigentlich und bildlich Gemeinten offenbar eine
fließende ist, wird von den Schriftgelehrten der späteren Zeit der
heilige Text der Propheten beim Wort genommen, das poetische
Bild dogmatisch versteift und eben dadurch auch der Charakter
des ganzen Zukunftsbildes immer mehr ein äußerlich transzendenter.
Es ist aber nicht nur das vorliegende Detail gesammelt | und dog-
matisch fixiert worden, sondern durch gelehrte Kombination des-
selben auch neues Detail gewonnen worden, wie das eben die Art
des haggadischen Midrasch ist (s. oben § 25, III). Man brachte,
um neue Aufschlüsse zu gewinnen, in scharfsinniger Weise die
heterogensten Stellen in Beziehung zueinander und stellte dadurch
immer genauer und umfassender das Detail der messianischen Dog-
matik fest Immerhin war dieser gelehrte Stoff ein fließender. Denn
wirklich verbindlich, wie das Detail des Gesetzes, ist er nie ge-
worden. Es stand also dem Einzelnen doch frei, bald mehr bald
weniger sich davon anzueignen und ihn nach eigener Einsicht zu
formen, so daß die messianische Hoffnung stets im Flusse blieb
und uns bei den Einzelnen in sehr verschiedener Ausgestaltung
entgegentritt. ^
Überhaupt ist noch zu bemerken, daß die hier charakterisierten
Eigentümlichkeiten der späteren messianischen Erwartung keines-
wegs überall in gleicherweise sich finden. Die Herrschaft hat
doch auch in der späteren Zeit die alte Hoffnung auf eine
herrliche Zukunft des Volkes behalten. Diese bildet auch
in dem Zukunftsbilde der späteren Anschauung die maßgebende
Grundlage. Je nachdem aber auf diese Grundlage die charakte-
ristischen Eigentümlichkeiten der späteren Anschauung stärker
oder schwächer, so oder so umgestaltend einwirken, wird das alte
Bild bald mehr bald weniger, bald in der einen bald in der andern
Weise eigentümlich modifiziert und ergänzt Diese Ergänzungen
verhalten sich zu der alten Grundlage nicht selten disparat, so
daß durch die mannigfachen Kombinationen Gesamtbilder entstehen,
deren einzelne Teile sich im Grunde gegenseitig ausschließen oder
doch durch die künstliche Art, wie sie aneinandergefügt werden,
ihren verschiedenen Ursprung verraten. Insbesondere gilt dies von
der Erwartung eines irdischen Reiches der Herrlichkeit und einer
transzendenten ewigen Seligkeit im Himmel, aber auch von den
verschiedenen Vorstellungen über das Gericht und über die Person
und die Aufgaben des messianischen Königs.
[504. 505] I. Verhältnis zur älteren messianischen Hoffnung. 589
Aber ist überhaupt diese Hoffnung stets im Volke lebendig
geblieben? Ist sie nicht mit dem Absterben der alten Prophetie
auch selbst abgestorben und erst etwa durch die christliche Be-
wegung zu neuem Leben erweckt worden? Letzteres ist mehrfach
behauptet worden, namentlich sofern es sich um die messianische
Idee im engeren Sinne, um die Erwartung eines messianischen
Königs handelt. Man meint, diese sei erst durch das Auftreten
Jesu Christi wieder angeregt und dadurch auch in den Kreisen
des Judentums erst wieder lebendig geworden. . In summarischer
Weise ist diese Behauptung aufgestellt worden von Bruno Bauer
und Volkmar; besonnener und mit besserer Begründung von
Holtzmann in seiner Abhandlung vom Jahre 1867 (anders in
seiner Neutestamentl. Theologie 1897). Des letzteren Aufstellungen
sind etwa diese. Nachdem in den letzten Jahrhunderten vor Christo
die messianische Idee fast völlig erloschen war, sei sie auf dem
Wege gelehrter Tätigkeit „vermittelst rein literarischer Forschung"
rekonstruiert worden. Dieser Prozeß der Neubildung sei zwar zur
Zeit Jesu schon im Gange gewesen, habe seinen Abschluß aber
erst in der christlichen Zeit und unter teilweisem Einflüsse christ-
licher Ideen | erhalten. Im Volksbewußtsein sei die messianische
Idee zur Zeit Christi noch keineswegs lebendig gewesen. Ein
wesentlicher Unterschied der späteren schulmäßigen von der frühe-
ren prophetischen Messiasidee sei der, daß von den Propheten das
Auftreten des Messias erst erwartet werde, nachdem zuvor Gott
selbst in einer Entscheidungsschlacht die feindlichen Mächte ver-
nichtet habe, während nach der späteren Dogmatik der Messias
erscheine, um Gericht zu halten, und zwar ein Gericht in foren-
sischer Form. Indem wir den letzteren Punkt vorläufig dahin-
gestellt lassen, können wir das Urteil über diese Ansicht dahin
zusammenfassen, daß sie zwar entschieden im Rechte ist, wenn sie
den schulmäßigen Charakter der späteren Messiasidee betont, im
Unrechte aber, wenn sie den letzten Jahrhunderten vor Christo die
Messiasidee so gut wie gänzlich abspricht und auch zur Zeit Jesu
sie noch nicht ins Volksbewußtsein übergegangen sein läßt. In
Wahrheit ist die messianische Idee wohl nie ganz erstorben ge-
wesen, wenigstens nicht in ihrer allgemeineren Form, als Hoffnung
auf eine bessere Zukunft des Volkes. Jedenfalls ist sie in den
letzten Jahrhunderten vor Christo und namentlich zur Zeit Christi
wieder sehr lebendig gewesen, wie gerade der Verlauf der evan-
gelischen Geschichte zeigt: ohne daß Jesus etwas zur Belebung
derselben tut, erscheint sie durchweg als im Volke lebendig. Und
zwar tritt sie in der Kegel auch schon in den letzten Jahrhunderten
vor Chr. nicht nur in ihrer allgemeinen Form als Hoffnung auf
590 § 29. Die messianische Hoffnung. [505. 506]
eine bessere Zukunft des Volkes auf, sondern auch speziell als
Hoffnung auf einen messianischen König. Dies wird erheilen, wenn
wir im folgenden 1) die Entwickelung der messianischen
Idee in ihrem geschichtlichen Verlaufe darstellen und so-
dann 2) eine systematische Übersicht der messianischen
Dogmatik geben.
IL Geschichtlicher Überblick,
Von tiefgehendem Einfluß auf die Gestaltung der messianischen
Idee waren die (zwischen 167—165 vor Chr. entstandenen) Weis-
sagungen des Buches Daniel. In der Zeit der Drangsal (rn& rs
12, 1), welche durch die wahnsinnigen Maßregeln des Antiochus
Epiphanes über Israel hereingebrochen war, weissagt der Prophet
die nahe Errettung. Gott selbst wird Gericht halten über die Reiche
dieser Welt und wird ihnen die Macht und die Herrschaft nehmen
und sie vertilgen und vernichten für immer. Aber „die Heiligen
des Höchsten" werden das Reich empfangen und werden es be-
sitzen immer und immerdar. Alle Völker und Nationen und Zungen
werden | ihnen dienen; und ihr Reich wird nie zerstöret (7, 9—27;
2, 44). Auch die entschlafenen Gerechten werden daran teil haben;
denn sie werden erwachen aus dem Erdenstaube zu ewigem Leben;
die Abtrünnigen aber zu ewiger Schmach (12, 2). Ob der Verfasser
jenes Reich der Heiligen des Höchsten mit einem messianischen
König an der Spitze gedacht hat, ist nicht zu ersehen. Jedenfalls
wird ein solcher nicht erwähnt. Denn der in Gestalt eines Menschen
(VtaK "D? 7, 13) Erscheinende ist keineswegs der persönliche Messias,
sondern, wie der Verfasser in der Auslegung deutlich und aus-
drücklich sagt, das Volk der Heiligen des Höchsten (7, 18. 22. 27).
Wie die Weltreiche durch Tiere dargestellt werden, welche aus
dem Meere aufsteigen, so wird das Reich der Heiligen durch eine
menschliche Gestalt dargestellt, welche aus den Wolken des Himmels
herabkommt. Das Aufsteigen aus dem Meere, d. h. aus dem Ab-
grunde, deutet auf den widergöttlichen Ursprung jener; das Kommen
vom Himmel auf den göttlichen Ursprung dieses. Der Kern der
messianischen Hoffnung Daniels ist also die Weltherrschaft der
Frommen (s. bes. 2, 44. 7, 14. 27). Und zwar denkt der Verfasser
diese nicht, wie es nach Kap. 7 scheinen könnte, durch einen bloßen
Richterspruch Gottes herbeigeführt Vielmehr sagt er 2, 44 aus-
drücklich, daß das Reich der Heiligen die widergöttlichen Weit-
reiche „zermalmen und vernichten", d. h. also doch mit Waffen-
gewalt überwinden werde, freilich unter Gottes Beistand und nach
[500. 507] II. Geschichtlicher Überblick. 591
seinem Willen. Beachtung verdient noch, daß in unserem Buche
deutlich und bestimmt die Hoffnung einer leiblichen Auferstehung
ausgesprochen ist (12, 2). — Die messianische Hoffnung ist demnach
hier ebenso wie früher die Hoffnung auf eine herrliche Zukunft
des Volkes, aber mit der doppelten Modifikation, daß das künftige
Reich Israels als ein Weltreich gedacht ist und daß auch alle ver-
storbenen Frommen daran teil haben werden.
In den Apokryphen des Alten Testamentes3 tritt die messia-
nische Hoffnung wenig hervor, was doch nur teilweise in dem vor-
wiegend geschichtlichen oder didaktischen Inhalte dieser Schriften
begründet ist. Die meisten derselben sind vielmehr Zeugnisse da-
für, daß die messianische Hoffnung eben damals, als sie durch
Daniel neu belebt wurde, im allgemeinen stark verblaßt war. |
Wie es in dieser Hinsicht bei Jesus Sirach steht, läßt sich
in betreff einiger Einzelheiten nicht ganz sicher sagen. Deutlich
ist, daß er eine Vernichtung der Feinde Israels und eine herrliche
Zukunft des Volkes, entsprechend den Verheißungen Gottes, nicht
nur erbittet, sondern auch wirklich hofft (Vernichtung der Feinde
als Hoffnung 32, 22—26, nach anderer Verszählung 32, 18—20; als
Gebet 33, 1—12). Wichtig ist besonders das zuversichtliche Gebet
33, 13a + 36, 16b— 22, nach Smends Übersetzung:
33, 13a. Sammle alle Stämme Jakobs,
36, 16b. damit sie ihr Erbe einnehmen wie vorlängst.
17. Erbarme dich des Volkes, das nach dir genannt ist,
Israels, dem du den Beinamen des Erstgeborenen gabst.
18. Erbarme dich über deine heilige Stadt,
Jerusalem, die Stätte deiner Wohnung.
19. Erfülle Zion mit deiner Majestät,
und mit deiner Herrlichkeit deinen Tempel.
20. Bekenne dich zu deinem uranfanglichen Werke,
und mache wahr die Weissagung, die in deinem Namen
geredet ward.
21. Gib Lohn denen, die auf dich harren,
daß deine Propheten als zuverlässig befunden werden.
3) Vgl. hierzu: Bergquist, An idea Messiae in apocryphis V. T. sit obvia.
Lund 1826. De Wette, Biblische Dogmatik S. 160 f. Oehler in Herzogs
Real-Enz. Bd. IX, 8. 422-425 (2. Aufl. IX, 653—655). Anger, Vorlesungen
über die Geschiente der messianischen Idee S. 78 f. 84 f. Drummond, The
Jewish Messiah p. 196 sqq. Couard, Die messianische Erwartung in den alt-
testamentlichen Apokryphen (Neue kirchliche Zeitschrift 1901 j S. 958 — 973).
Baldensperger, Die messianisch - apokalyptischen Hoffnungen des Juden- (
thums 1903, S. 92-97.
$92 § 29. Die messianische Hoffnung. [507]
22. Du wollest hören das Gebet deiner Knechte,
nach deiner Huld gegen dein Volk,
Damit die Enden der Erde erkennen,
daß du bist der ewige Gott
Die hier erbetene Herrlichkeit des Volkes ist als eine zeitlich
unbegrenzte gedacht4. Aber charakteristisch ist, daß der Ausdruck
der Bitte und Hoffnung sich doch in sehr allgemeinen Formen be-
wegt; namentlich ist trotz der Berufung auf die Verheißungen der
Propheten von einem messiauischen Könige nicht die Rede. An
zwei anderen Stellen ist vielleicht auf denselben hingewiesen; aber
die Erklärung ist in beiden Fällen unsicher 5. Wenn der Verfasser
auf Grund der prophetischen Weissagung einen messiauischen
König erwartet hat, so ist diese Erwartung mehr dem Schrift-
studium als dem lebendigen religiösen Bedürfnis entsprungen. Weit
mehr als die Erneuerung der davidischen Dynastie liegt ihm die
ewige Dauer des Priestertums des Hauses Pinehas am Herzen
(45, 23 f. 50, 24 nach dem Hebr.). Daß die Ansätze zu einer ge-
lehrten messianischen Dogmatik bereits vorhanden waren, zeigt
die Erwartung der Wiederkehr des Elias (48, 10—11). — Ein
lebendigeres Bild würde sich freilich ergeben, wenn das im he-
bräischen Text auf Kap. 51, 12 folgende Stück (das im griechischen
und syrischen fehlt) in seinem vollen Umfange echt wäre. Hier
4) Hiefür darf man sich zwar nicht auf 44, 13 berufen, wo es im Grie-
chischen heißt, daß „die Nachkommenschaft" der Väter (ontyfxa abzibv) in
Ewigkeit bleibt, denn nach dem Hebräischen und Syrischen ist vielmehr „ihr
Gedächtnis" zu lesen, wie durch den Parallelismus bestätigt wird. Wohl aber
ist 37, 25 gesagt, daß „das Leben Israels (Jesuruns) unzählbare Tage währt".
Das von Isr. Livi, Revue des Müdes juives t XXXIV, 1897, p. 44 sq. gegen
die Echtheit dieses Verses erhobene Bedenken, daß er den Zusammenhang
störe, ist insofern begründet, als er, wie der hebräische Text zeigt) nicht
zwischen V. 24 und 26, sondern vor V. 24 gehört, womit jenes Bedenken hin-
wegfallt. Der Vers ist in zwei hebräischen Fragmenten erhalten : einem Blatt
des britischen Museums {Jewish Quarterly Review XII, p. 11) und einem
Pariser Blatt (Revue des etudes juives XL, p. 4). Die Lesart Jeschurun, welche
das Pariser Fragment statt Am Jisrael bietet, steht in dem Londoner Frag-
ment am ßande. Das Fehlen des Verses in der syrischen Übersetzung ist
keine entscheidende Instanz gegen die Echtheit.
5) c. 47 ', 11 heißt es von David, daß Gott sein Hörn erhöht habe „für
immer" (öinsb); dieser dehnbare Ausdruck geht aber nicht notwendig auf
eine ewige Dauer der Dynastie. — c. 47, 22 übersetzt Smend: „und er wird
Jakob einen Best geben und dem Hause Davids einen Sprößling von ihm".
Aber die futurische Fassung von *]n^l ist nach dem Zusammenhang nicht not-
wendig. Die griech. Übersetzung hat töwxev, ebenso übersetzen auch noch
nach Auffindung des hebr. Textes z. B. Byssel und Peters.
[507. 508] IL Geschichtlicher Überblick. 593
wird Gott gepriesen nicht nur als Erlöser Israels und als der, der
die Zerstreuten sammelt (Vers 5—6), sondern auch als der, „der
seine Stadt und sein Heiligtum baut" (7) und „dem Hause Davids
ein Hörn sprossen läßt'4 (8). Diese Sätze finden sich aber fast
wörtlich auch im Schmone Esre (s. oben S. 542) und sind vermut-
lich erst aus diesem in den Sirachtext eingedrungen, denn die
Lobpreisung Gottes als dessen, „der seine Stadt und sein Heiligtum
baut", ist während des Bestandes der Stadt und des Tempels kaum
verständlich. Sie ist der Ausdruck der Hoffnung nach der Kata-
strophe vom Jahre 70 nach Chr.
Die Erwartung eines messianischen Königs liegt jedenfalls
dem Verfasser des ersten Makkabäerbuches ferne, der seinerseits
in der Dynastie der Hasmonäer die Bürgschaft für Israels Größe
sieht6. Sonst finden wir in den Apokryphen etwa die Erwartung,
daß Gott über die Heiden Gericht halten (Judith 16, 17) und die
Zerstreuten Israels wieder zu einem Volke sammeln werde (II Makk
2, 18. Baruch 2, 27—35. 4, 36—37. 5, 5—9); daß das Volk auf ewig
gegründet sein werde (II Makk. 14, 15). Der Verfasser des Buches
Tobit hofft nicht nur, daß die Gerechten gesammelt und das Volk
Israel erhöhet und Jerusalem aufs prächtigste mit Gold und Edel-
steinen neu gebaut werde (Tobit 13, 12—18. 14, 7), sondern auch,
im Anschluß an einige Propheten des Alten Testamentes, daß alle
Heiden sich zum Gott Israels bekehren werden (Tobit 13, 11. 14,
6—7). — In der hellenistischen Weisheit Salomonis tritt be-
greiflicherweise das nationale Moment völlig zurück; ja der Ver-
fasser kann vermöge seiner platonisierenden Anthropologie das
wahre Heil für die Seele erst nach dem Tode erwarten. Für ihn
ist daher das Wesentliche, daß die verstorbenen Gerechten einst
Gericht halten werden über die Heiden (Sap. Sal. 3, 8. 5, 1; vgl.
I Kor. 6, 2 f.). Ganz unbegründet ist die in der älteren Exegese
herrschende Deutung des Gerechten in Sap. Salom. 2, 12 — 20 auf
den Messias7.
Ein Hauptpunkt, durch welchen die religiöse Hoffnung der
älteren Apokryphen (Sirach, Judith, Tobit, I Makkabäer) von
der messianischen Hoffnung der späteren Zeit sich unterscheidet,
6) Wenn I Makk. 2, 57 dem sterbenden Matt&thias die Worte in den
Mund gelegt werden JavlS .... ixXrjQovöfiTjoe Sqovov ßaatXelaq elq aitbva
alCbvo$ oder nach besserer Lesart elq al&vaq, so ist nur an eine lange,
nicht an eine ewige Dauer von Davids Dynastie zu denken. S. Grimm
zu d. 8t.
7) Vgl. Reusch, Gehört Weisheit 2, 12—20 zu den messianischen Weis-
sagungen? (Tfib. Theol. Quartalschr. 1864, 8. 330—346).
Schürer, Geschichte II. 4. Aufl. 38
594 § 29. Die mesnaniache Hoffnung. [506]
ist das Fehlen der Auferstehungshoffnung8. Die genannten
Schriften stehen in dieser Hinsicht noch ganz auf dem Boden der
altisraelitischen Anschauung: die Verstorbenen führen in der Scheol
nur ein schattenhaftes Dasein; ein seliges Leben nach dem gegen-
wärtigen gibt es nicht9. Die durch das Buch Daniel bezeugte
Auferstehungshofihung ist also im zweiten Jahrhundert vor Chr.
noch nicht Allgemeingut geworden, wie sie ja in gewissen Kreisen
(bei den Sadduzäern) niemals durchgedrungen ist Nur im IL Mak-
kabäerbuche tritt sie deutlich hervor (II Makk. 7, 9. 14. 23. 29. 36.
12, 43 — 44). Die hellenistische Weisheit Salomonis hat statt
dessen die Erwartung eines seligen Fortlebens nach dem Tode
(3, 1—9. 4, 7. 5, 16. 6, 20).
In reicher Fülle ergießt sich der Strom messianischer Weis-
sagung in den um 140 vor Chr. entstandenen ältesten jüdischen
Sibyllinen. Freilich darf hierher nicht Sibyll. III, 286*?. bezogen
werden {Kai tote ötj fcoq ovQavo&ev xifjrpsi ßaoilrja, KqipsI ö*
arÖQa Ixaoxop iv afyari xdi jtvQog ctvyjj), wo vielmehr von Cyrus
die Bede ist10. Auch auf den vlbq &eoio III, 775 kann man sich
nicht berufen. Denn statt vlbv ist nach Alexandres richtiger Ver-
mutung zu lesen vtjop11. Und vollends verkehrt ist es, unter der
xoqti, in welcher nach Sibyll. III, 784—786 Gott wohnen wird, die
Mutter des Messias zu verstehen (eine Deutung, zu welcher nach
Langens Vorgang 12 selbst Weiffenbach 13 sich hat verleiten lassen).
8) Vgl. bes. Grob ler, Die Ansichten über Unsterblichkeit und Aufer-
stehung in »der jüdischen Literatur der beiden letzten Jahrhunderte v. Chr.
(Theol. Stud. und Krit. 1879, S. 651—700). — Anders vom katholischen Stand-
punkte aus: Atzberger, Die christliche Eschatologie in den Stadien ihrer
Offenbarung im A und N. Testamente, 1890, S. 96—109.
9) Vgl bes. Sirach 7, 17. 10, 9—11. 14, 17—19. 17, 2a 22, 11. 38, 21.
41, 1—4. Hier überall ist vom Tode als vom Ende des Lebens schlechthin
die Rede, ohne daß irgendwo auf ein anderes und neues Leben hingewiesen
würde. Ein Fortleben gibt es nur im Gedächtnis der Nachwelt (44, 8—15).
Im Totenreich ist Ruhe (28,21. 30, 17). Man kann dort keinem Genuß (awn,
zgv<pq) mehr nachgehen (14, 16) und Gott nicht mehr preisen (17, 27£). Wenn
11, 26 von einer Vergeltung iv fjfiiga xtlevxfjq die Rede ist, so ist letzteres
wohl ungenaue Übersetzung für „am Ende seiner Tage" d. h. in seiner letzten
Lebenszeit (s. Smend).
10) Wie später auch Hilgenfeld zugegeben hat (Zeitschr. £ w. Th. 1871,
8. 36), nachdem er es früher bestritten hatte (Apokalyptik 8. 64. Zeitschr. 1860,
8. 315). Geffckens Änderung von obgavo&ey in oitQavioq ist unnötig.
1 1) Diese Emendation liegt nach dem Zusammenhang viel näher als die
Annahme einer christlichen Interpolation des ganzen Verses (Gfrörer, Hilgen-
feld, Geffcken).
12) Das Juden thum in Palästina 8. 401 ff.
13) Quae Jesu in regno coelesti dignitas sii p. bOsq.
[508. 509] II. Geschichtlicher Überblick. " 595
Denn die xoqtj, hebr. nbina, ist nichts anderes als Jerusalem. Aber
nach Abzug aller dieser Stellen bleibt doch noch stehen, daß der
ganze Abschnitt Sibyll. III, 652—795 fast ausschließlich messiani|-
schen Inhalts ist, wenn auch des messianischen Königs nur im Ein-
gang desselben kurz Erwähnung geschieht Vom Aufgang her
(an rjeltoLo), so heißt es hier, wird Gott senden einen König,
welcher allem Krieg auf Erden ein Ende machen wird, die einen
tötend, den andern die gegebenen Verheißungen erfüllend. Und
er wird dies nicht nach eigenem Rate tun, sondern den Befehlen
Gottes gehorchend14. Bei seinem Auftreten (denn dies ist wohl
die Meinung des Verfassers) sammeln sich die Könige der Heiden
noch einmal zu einem Angriff gegen den Tempel Gottes und das
heilige Land, Rings um Jerusalem herum bringen sie ihre Götzen-
opfer dar. Aber mit gewaltiger Stimme wird Gott zu ihnen reden;
und alle kommen um durch die Hand des Unsterblichen. Die Erde
wird erbeben, und die Berge und die Hügel werden einstürzen,
und der Erebus wird erscheinen. Und die Heidenvölker werden
umkommen durch Krieg und Schwert und Feuer, weil sie gegen
den Tempel ihre Speere geschwungen haben (663—697). Dann
werden die Kinder Gottes in Ruhe und Frieden leben, da die Hand
des Heiligen sie beschützt (698—709). Und die Heidenvölker, die
dies sehen, werden gegenseitig sich selbst ermuntern, Gott zu loben
und zu preisen und seinem Tempel Gaben zu senden und sein Ge-
setz anzunehmen, da es das gerechteste ist auf der ganzen Erde
(710—726). Unter allen Königen der Erde wird dann Friede
herrschen (744—761). Und Gott wird ein ewiges Reich auf-
richten über alle Menschen. Von der ganzen Erde wird man
Geschenke zum Tempel Gottes bringen. Und die Propheten Gottes
werden das Schwert niederlegen; denn sie sind Richter der Men-
schen und gerechte Könige. Und Gott wird wohnen auf Zion, und
allgemeiner Friede wird herrschen auf Erden (767—795). — Das
Hauptgewicht fällt dem Verfasser, wie man sieht, darauf, daß bei
allen Völkern der Erde Gottes Gesetz zur Geltung und Anerken-
nung gelangt. Doch erwartet er nicht allein dies, sondern auch
die Aufrichtung eines ewigen Reiches über alle Menschen (767—768:
ßaötXrjtov elg alcovaq jraprag ix* avß-Qmxovc) mit Jerusalem
14) SibyU. in, 652—656:
Kai xdt* oLit rfeXtoto &ed<; nt/uipei ßaaiXfjay
°Og näaav yalav izavoei noXifioio xaxoto,
0$q f/tv apa xxeivaq, olq 6* dpxia ntoxä zeXtooaq.
Ov5i ye xalq IStaig ßovXatq xdde ndvxa norfoei,
'AXXa &eov /xeydXoio nt^aag doynaoiv iaBXotq.
38*
596 § 29- Die messianißche Hoffhang. [509. 510]
als theokratischem Mittelpunkte. Des gottgesandten Königs gedenkt
er zwar nur im Eingang (652—656) als des Werkzeuges Gottes
zur Herstellung des allgemeinen Weltfriedens. Aber ohne Zweifel
ist er | auch als Mittelursache zu denken, wenn es Vers 689 heißt,
daß Gott durch Krieg und Schwert (ptoMtup rjöh fiaxaiQTj) die an-
stürmenden Heiden vertilgt. Und wenn in dem Reiche des Friedens
nur im allgemeinen die Propheten Gottes (&sov fieyakoio xQoyfJTai,
d. h. wohl die Israeliten „die Heiligen des Höchsten", wie sie bei
Daniel heißen) als Richter und Könige genannt werden (781—782),
so ist doch ein theokratischer König an ihrer Spitze durch die
Worte des Verfassers wenigstens nicht ausgeschlossen. In jedem
Falle verdient es bemerkt zu werden, daß selbst ein Alexandriner
bei seinem Gemälde der Zukunft des gottgesandten Königs nicht
entraten kann.
Verhältnismäßig wenig Messianisches enthalten die ältesten
Stücke des Buches Henoch (im letzten Dritteil des zweiten Jahr-
hunderts vor Chr.)15. Es kommt hier namentlich der Schluß der
Geschichts Vision, nämlich c. 90, 16—38, in Betracht. Der Verfasser
erwartet zunächst einen letzten gewaltigen Angriff der heidnischen
(d h. hier vorwiegend der syrischen) Macht, der aber durch Gottes
wunderbares Eingreifen vereitelt wird (90, 16—19). Dann wird
ein Thron errichtet in dem lieblichen Lande, und Gott setzt sich
zum Gerichte. Es werden zunächst die gefallenen Engel und die
abgefallenen Israeliten verstoßen in die feurige Tiefe (90, 20—27).
Dann wird das alte Jerusalem (denn das „Haus" ist Jerusalem)
weggeschafft, und Gott bringt ein neues Jerusalem und stellt es
an dem Orte auf, wo das alte gestanden (90, 28—29). In diesem
neuen Jerusalem wohnen die frommen Israeliten; und die Heiden
huldigen ihnen (90, 30). Hierauf erscheint (unter dem Bilde eines
weißen Farren) der Messias, und alle Heiden flehen ihn an und
bekehren sich zu Gott dem Herrn (90, 37—38). — In sehr charak-
teristischer Weise tritt hier der transzendente Charakter der
späteren messianischen Idee hervor: das neue Jerusalem hat mit
dem alten nichts gemein; es wird auf wunderbare Weise vom
Himmel herabgebracht. Der Messias erscheint aber erst,
nachdem Gott das Gericht gehalten hat; er nimmt also nicht
selbst teil am Gericht. — Bemerkenswert ist ferner, daß ebenfalls
in den ältesten Stücken des Buches Henoch (ob von demselben
Verfasser oder einem anderen, mag hier dahingestellt bleiben) für
die einzelnen Individuen nicht ein ewiges, sondern nur ein
15) Vgl. van Loon, Eschaiologieen van den Hasmoneentijd volgms het
boek Henoch (Theol Tydschr. 1902, p. 421—463).
[510. 511] H. Geschichtlicher Überblick. 597
langes und glückliches Leben in dieser Welt erwartet wird
(1, 8. 5, 7—9. 10, 9—11, 2. c. 24—25). Die religiösen Hoffnungen
für den Einzelnen bewegen sich also hier noch auf derselben
Linie wie bei Jesus Sirach.
In volleren Farben und schärferen Umrissen tritt uns die
Gestalt des messianischen Königs in dem zur Zeit des Pompeius
(63—48 vor Chr.) entstandenen Psalterium Salomonis entgegen.
Diese Psalmen sind schon darum lehrreich, weil der Verfasser |
beides betont: sowohl daß Gott selbst Israels König ist (XVII, 1),
als auch daß das Königtum des Hauses Davids nicht ausgehen
wird yor Gott (XVII, 5). Es darf also, wo ersteres geschieht, nicht
ohne weiteres angenommen werden, daß letzteres ausgeschlossen
sei. Die Sehnsucht nach dem davidischen König ist bei dem Ver-
fasser besonders lebendig, da Jerusalem zu seiner Zeit unter die
heidnische Obmacht der Römer geraten war, und auf das saddu-
zäisch gesinnte Fürstenhaus der Hasmonäer keine Hoffnungen für
die Zukunft gebaut werden konnten. So hofft er denn, daß Gott
erwecke einen König aus Davids Haus, daß er herrsche über Israel
und zerschmettere seine Feinde und reinige Jerusalem von den
Heiden (XVII, 23—27). Derselbe wird versammeln ein heiliges
Volk und wird die Stämme des Volkes richten und nicht lassen
Ungerechtigkeit in ihrer Mitte weilen und wird sie verteilen nach
ihren Stämmen im Lande, und kein Fremdling wird unter ihnen
wohnen (XVII, 28—31). Und heidnische Nationen werden ihm
dienen und werden nach Jerusalem kommen, um als Gaben zu
bringen die ermatteten Kinder Israels und zu sehen die Herrlich-
keit des Herrn. Und er ist ein gerechter, von Gott gelehrter
König (XVII, 32—35). Und nicht ist Ungerechtigkeit in jenen
Tagen. Denn alle sind Heilige. Und ihr König ist der Gesalbte
des Herrn 16. Nicht wird er auf Roß und Reiter sein Vertrauen
setzen. Denn der Herr selbst ist sein König. Und er wird schlagen
die Erde durch das Wort seines Mundes in Ewigkeit (XVII, 36—39).
Segnen wird er das Volk des Herrn mit Weisheit Und er ist reim
von Sünde. Und er wird herrschen über ein großes Volk und
nicht schwach sein. Denn Gott macht ihn stark durch seinen
heiligen Geist. In Heiligkeit wird er sie alle führen, und nicht
16) XQLOtbq xvqlo<; XVII, 36 ist wahrscheinlich falsche Übersetzung für
njrrj niste, wie Thren. 4, 20. In Gap. XVIII, 8 ist Xqiqxoü xvqIov zu er-
klären nach dem vorhergehenden Xqkjtov avxov (XVIII, 6), also xvqIov ab-
hängig von Xqiotov (Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer S. 132).
Im Ev. Luc. kommt beides vor (2, 11 XQiaxbq xvQioq, 2, 26 tdv Xqloxöv xvqIov).
Noch anderes Material s. bei Byle and James, Psalms of the Pharisees, 1891,
p. 141 sq.
598 § '<$• Die messianische Hoffnung. [511. 512]
ist Hochmut unter ihnen (XVII, 40—46). Dies ist die Schönheit
des Königs von Israel. Selig sind, die geboren werden in jenen
Tagen (XVII, 47—51). — Wie es scheint, erwartet der Verfasser
nicht überhaupt gottesf&rchtige Könige aus dem Hause Davids,
sondern einen einzigen, von Gott mit wunderbaren Kräften ausge-
rüsteten Messias, der von Sünde rein und heilig ist (XVII, 41. 46),
den Gott durch den heiligen Geist mächtig und weise gemacht hat |
(XVII, 42), und der darum seine Feinde nicht mit äußeren Waffen,
sondern durch das Wort seines Mundes schlägt (XVII, 39, nach
Jesaja 11, 4). Irotz dieser Idealisierung ist er aber doch ganz als
weltlicher Herrscher, als wirklicher König Israels vorgestellt. —
Vgl. überhaupt auch Ps. XVIII, 6—10, und speziell Ps. XI (Samm-
lung der Zerstreuten) und III, 16; XIV, 2 ff. (Auferstehung der
Frommen).
Wie die salomonischen Psalmen veranlaßt sind durch den
Druck der pompejanischen Zeit, so ein jüngeres sibyllinisches
Stück (Orac. Sibyll. III, 36— 92) durch die Gewaltherrschaft des
Antonius und der Kleopatra in Ägypten. Damals, als Rom auch
über Ägypten die Herrschaft erlangt hatte, erwartet der Sibyllist
den Anbruch des Gottesreiches auf Erden und das Kommen eines
heiligen Königs, der auf ewig jegliches Land beherrschen wird.
Die betreffende Stelle (III, 46-50) lautet wörtlich:
AvraQ ixel 'Pc&fit] xal Alyvjtrov ßaotXevöst,
Elq fcV Ifrvvovöa11, rore öt] ßaötXela psyloxri
'Ad-avatov ßaöcXrjog kx* dvfrQcojtoiöi (pavelzai.
Hgei 6 aypbq ava§y jtdorjq yijq öxtjxtqcz xgccrrjocov
Elq almvaq jravraq, tjteiyofievoio xQovoto.
Der unsterbliche König, dessen Reich bei den Menschen er-
scheinen wird, ist natürlich Gott selbst Dagegen kann unter dem
ayvoq ava^ der auf ewig jeglichen Landes Zepter innehaben wird,
kein anderer verstanden werden, als der Messias. Auch hier finden
wir, wie bei den salomonischen Psalmen, den persönlichen Messias
und die Idee des Königtums Gottes unmittelbar beisammen.
Wenn schon in den salomonischen Psalmen die Gestalt des
messianischen Königs das Maß des Gemein-menschlichen überragt,
so tritt diese Seite noch weit stärker hervor in den Bilderreden
des Buches Henoch (c. 37—71). Das Bild des Messias wird hier
vorwiegend im Anschluß an das Buch Daniel gezeichnet, indem
unter dem „Menschensohn" die Person des Messias verstanden und
17) Eine Handschrift hat elg h öfj&vvovoa. Hiernach konjiziert Geffcken:
'laszi Srj&vvovoa, „noch zögert Rom (die Sibylle fingiert ja früher zu leben)".
[512. 513] II. Geschichtlicher Überblick. 599
das Kommen vom Himmel im eigentlichen Sinne genommen, daher
dem Messias Präexistenz zugeschrieben wird. Aber leider ist die
Abfassungszeit dieser Bilderreden so unsicher, daß wir darauf ver-
zichten müssen, sie hier in die geschichtliche Entwickelung ein-
zureihen. Nur bei der systematischen Übersicht kann von ihnen
Gebrauch gemacht werden.
Ein Zeugnis für die Existenz der messianischen Hoffnung zur
Zeit desHerodes ist die Erzählung des Josephus Antt. XVII, 2, 4.
Die Pharisäer sollen dem Pheroras, dem Bruder des Herodes, ver-
heißen haben, daß die Herrschaft des Herodes und seines Gel-
schlechtes aufhören und an ihn und seine Kinder übergehen werda
Zugleich sollen aber die Pharisäer einem Eunuchen Bagoas ver-
heißen haben, daß er Vater und Wohltäter heißen werde durch
Ausspruch des künftigen Königs, der ihm, da alles in seine Hand
gelegt sei, die Kraft der Ehe und Kindererzeugung gewähren
werde ,8. Dieser künftige König, der dem Eunuchen die Zeugungs-
kraft wiedergibt, ist natürlich nicht Pheroras, sondern der Messias
(nach Jesaja 56, 3: Der Verschnittene wird nicht sagen: ich bin
ein dürrer Baum). Entweder hat also Pheroras die Reden der
Pharisäer von dem bevorstehenden Sturze der herodianischen Herr-
schaft und dem kommenden Könige verkehrterweise auf sich be-
zogen, oder es hat nur Herodes, dem diese Reden zu Ohren ge-
kommen sind, eine solche Beziehung angenommen19.
In schönen, schwungvollen Worten weissagt die etwa um den
Beginn der christlichen Zeitrechnung entstandene Assumptio Mosis
den Anbruch des Reiches Gottes. Nachdem der Verfasser eine
Zeit der Drangsal wie unter Antiochus Epiphanes in Aussicht ge-
stellt hat, fährt er c 10 fort: „Dann wird erscheinen sein Reich
unter aller Kreatur; und der Teufel wird ein Ende haben; und die
Traurigkeit wird mit ihm dahingehen. Denn erheben wird sich
der Himmlische von dem Sitze seines Reiches; und er wird aus-
gehen von seiner heiligen Wohnung mit Grimm und Zorn um seiner
Kinder willen. Und erzittern wird die Erde bis an ihre Enden,
18) Jos. Antt XVII, 2, 4/5n.: fyxo Sh 6 Baywa<; vn abz&v ü>c naxr\Q xe
xal ebtQyhriQ dvofiaa^rjadßevoq xod imxaxaoxa&tjaofjiivov TtQOQQ^aei ßaoi-
Xicoq, xaxa t&Qa y&Q ixelvtp xä ndvx* elvcu, naQ^ovxot; abxfy ydßov xe icyyv
xal 7iaiöw<JEa>Q xixvwv yvrjaiwv. — Die herkömmlichen Übersetzungen des
Josephus geben tiqoqq^osl falsch wieder und finden in der Stelle den Unsinn,
daß Bagoas der Vater eben des Königs heißen werde, der ihm die Zeugungs-
kraft wiedergibt!!
19) Vgl. Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducfier S. 25. Anders:
Holwerda, Verslagen en Mededeelingen der Koninkl. Akademie ran Weten-
schappen, Afdeeling Letterkande, Tweede Reeks, deel II, 1872, p. 106 — 117.
600 § 29. Die messianische Hoffnung. [513. 514]
und die hohen Berge werden geniedrigt werden, und die Hügel
werden fallen. Die Sonne wird kein Licht geben, und der Mond
^ sich in Blut verwandeln (vgl Joel 3, 4), und der Sternkreis in
Verwirrung geraten. Und das Meer wird zum Abgrund zurück-
weichen, und die Wasserquellen werden ausbleiben, und die Flüsse
vertrocknen. Denn erheben wird sich Gott der Höchste, der allein
Ewige, und wird hervortreten und die Heiden züchtigen und alle
ihre Götzen vernichten. Dann wirst du glücklich sein Israel und
wirst auf den Nacken und die Flügel des Adlers hinaufsteigen
(vgl. hierzu unten III, 8). Und erhöhen wird dich Gott und wird
machen, daß | du am Sternenhimmel schwebest; und du wirst er-
blicken von oben herab deine Feinde auf Erden, und wirst sie
erkennen und dich freuen und Dank sagen und bekennen deinem
Schöpfer". — Mit dieser Erwartung einer Erhebung Israels in
den Himmel schließt hier das Zukunftsgemälde. Von einem mes-
sianischen Beiche im gewöhnlichen Sinne ist gar nicht die Bede.
Man wird daher auch das Fehlen des messianischen Königs nicht
auf den demokratischen Standpunkt des der Zelotenpartei ange-
hörigen Verfassers zurückführen dürfen20.
In allgemeinen Umrissen schildert das Buch der Jubiläen
die Zeit der Freude und Wonne, welche für Israel eintreten wird,
wenn es sich bekehrt (Jubil. 23, 27— 31) 21. „Die Tage werden an-
fangen viel zu werden und zu wachsen unter jenen Menschen-
kindern von Geschlecht zu Geschlecht und von Tag zu Tag, bis
daß ihre Lebenszeit sich 1000 Jahren nähert. Und keinen Alten
und Lebenssatten wird es geben, sondern sie alle werden wie Kinder
und Knaben sein, und werden alle ihre Tage in Frieden und Freude
vollenden und leben, indem es keinen Satan und keinen Bösen gibt,
der sie verdirbt, sondern alle ihre Tage werden Tage des Segens
und Heils sein. In jener Zeit wird der Herr seine Diener heilen;
und sie werden sich erheben und werden tiefen Frieden schauen
und ihre Feinde vertreiben, und die Gerechten werden zuschauen
und danken und sich freuen mit Freuden bis in Ewigkeit Und
sie werden sehen an ihren Feinden alle ihre Strafgerichte und all
ihren Fluch. Und ihre Gebeine zwar werden in der Erde ruhen,
ihr Geist aber wird viele Freude haben; und sie werden erkennen,
daß Gott es ist, der das Gericht hält und der Gnade übt an Hun-
derten und an Tausenden und an allen, die ihn lieben". — Während
20) So Wieseler, Jahrbücher für deutsche Theologie 1868, S. 645, und
ich selbst früher.
21) Übers, von Dillmann in Ewalds Jahrbb. der bibl. Wissensch.
Jahrg. III, 8. 24; von Littmann in Kautzschs Apokryphen und Pseudepi-
graphen II, 80.
[514. 515] IL Geschichtlicher Überblick. 601
hier nur im allgemeinen gesagt ist, daß die Diener des Herrn „ihre
Feinde vertreiben werden", wird an einer andern Stelle dem Samen
Jakobs bestimmt die Weltherrschaft verheißen (32, 18— 19)22.
Gott sprach zu Jakob: „Ich bin der Gott, der Himmel und Erde
geschaffen hat. Ich will dich wachsen lassen und dich gar sehr
mehren; und Könige sollen aus dir hervorgehen und überall herrschen,
wohin der Fuß der Menschenkinder getreten ist. Und ich will
deinem Samen die ganze Erde geben, welche unter dem Himmel
ist, und sie sollen nach Willkür herrschen über alle Völker; und |
darnach sollen sie die ganze Erde an sich ziehen und sie ererben
auf Ewigkeit". — Diese Weltherrschaft der Nachkommen Jakobs
wird aber herbeigeführt durch den Stamm Juda. Isaak sprach
zu Juda (31, 18— 20)23: „Gott gebe dir Kraft und Stärke, daß du
alle niedertretest, die dich hassen! Sei ein Fürst, du und einer
von deinen Söhnen über die Söhne Jakobs. Dein Name und
der Name deiner Söhne gehe aus und verbreite sich über die ganze
Erde und in [allen] Ländern. Dann werden sich die Völker vor
deinem Antlitz fürchten und alle Völker werden bestürzt werden.
In dir sei [die Hilfe Jakobs, und in dir werde das Heil Israels
gefunden. Und wann du auf dem Throne des Ruhmes deiner Ge-
rechtigkeit sitzest, wird tiefer Friede über allem Samen der Kinder
des Geliebten (d. h. Abrahams) herrschen". Die Worte „du und
einer von deinen Söhnen" scheinen auf den künftigen Messias
hinzuweisen.
Ein sehr charakteristisches Zeugnis für die Intensität der
messianischen Hoffnung im Zeitalter Jesu Christi ist es, daß selbst
ein Moralist wie Philo das zu erwartende Glück der Frommen
und Tugendhaften in dem Rahmen und mit den Farben der jüdisch-
nationalen Erwartungen schildert24. Zwei Stellen seiner Schrift
„Über die Belohnung der Guten und die Bestrafung der Bösen"
kommen hier namentlich in Betracht (De exsecratiombus § 8—9,
ed. Mang. II, 435 sq., und De praemiis et poenis § 15—20, ed. Mang. II,
421—428). An der ersteren Stelle spricht er die Hoffnung aus,
daß alle Israeliten, oder vielmehr alle, die sich zu Gottes Gesetz
bekehren (denn darauf, nicht auf die leibliche Abstammung von
Abraham kommt es ihm an), sich im heiligen Lande versammeln
werden. „Wenn sie auch am Ende der Erde sich befinden als
22) Ewalds Jahrbb. III, 42. Kautzschs Apokr. und Pseudepigr. II, 95.
23) Ewalds Jahrbb. HI, 40. Kautzschs Apokr. und Pseudepigr. II, 93.
24) Vgl. über das Messianische bei Philo: Gfrörer, Philo und die alexan-
drinische Theosophie I, 495 — 534. Dähne, Geschichtl. Darstellung der jüdisch-
alexandrinischen Religionsphilosophie I, 432—438. J. G.Müller, Die messia-
nischen Erwartungen des Juden Philo. Basel 1870 (25 S. 4.).
602 § 29. Die meesianiache Hoffnung. [515. 516]
Sklaven bei ihren Feinden, die sie gefangen weggeführt haben, so
werden sie doch wie auf ein gegebenes Zeichen an einem Tage
alle befreit werden, weil ihre plötzliche Wendung zur Tugend ihre
Gebieter in Erstaunen setzt Diese werden sie nämlich entlassen,
da sie sich schämen, über Bessere zu herrschen. Wenn dann diese
unerwartete Freiheit denen zuteil wird, die zuvor zerstreut waren
in Hellas und im Barbarenlande, auf den Inseln und auf dem Fest-
lande, so werden sie auf einen Antrieb von überallher nach dem
ihnen angewiesenen Orte hineilen, geführt von einer göttlichen
übermenschlichen Erscheinung, weiche, allen anderen unsichtbar,
nur den Geretteten sichtbar ist25 Wenn sie nun angekommen
sind, so werden die zerfallenen Städte wieder aufgebaut und die
Wüste wieder bewohnt werden, und das unfruchtbare Land wird
sich verwandeln in Fruchtbarkeit". — An der andern Stelle (De
praemiis et poenis § 15 sqq. Mang. II, 421 sqq.) beschreibt Philo die
Zeit des Glückes und Friedens, welche anbrechen wird, wenn die
Menschen sich zu Gott bekehren. Vor allem werden sie sicher
sein vor wilden Tieren. „Bären und Löwen und Panther und
indische Elefanten und Tiger und überhaupt alle Tiere von un|-
bezwinglicher Stärke und Kraft werden von der einsamen Lebens-
weise zum Zusammenleben sich wenden; und von dem Verkehre
mit wenigen nach Art der Herdentiere an den Anblick des Menschen
sich gewöhnen, der von ihnen nicht mehr, wie früher, angegriffen,
sondern als Gebieter gefürchtet wird; und sie werden ihn als ihren
natürlichen Herrn verehren. Einige werden sogar, mit den zahmen
Tieren wetteifernd, wie die Schoßhündchen durch Schweifwedeln
ihre Huldigung ihm darbringen. Auch das Geschlecht der Skor-
pionen und Schlangen und andern Gewürmes wird dann kein schäd-
liches Gift mehr haben" (§ 15). Ein weiteres Gut dieser Zeit ist
der Friede unter den Menschen. Denn diese werden sich schämen,
wilder zu sein als die unvernünftigen Tiere. Und wer etwa den
Frieden zu stören versucht, der wird vertilgt werden. „Denn aus-
gehen wird ein Mann, sagt die Weissagung (LXXNnm. 24, 7),
welcher zu Felde zieht und Krieg führt und große und
volkreiche Nationen bezwingen wird, indem Gott selbst den
25) ^Bvayovfitvoi nQÖq xivoq üeiotigag ij xaxk gwoiv av&QWJiivqv Öxpeax;,
aSrjkov fihv ktiQoiq, fxövoig Sh xolq ävaato^ofxivoiq S/x<pavovq. — Daß diese
göttliche Erscheinung nicht der Messias ist, sondern eine der Feuersäule
beim Zug durch die Wüste analoge Erscheinung, sollte kaum der Erwähnung
bedürfen. — Nach der sog. Apokalypse des Elias (achmim. 39, 7 ff. — sahid.
11, 24 ff.) bilden Gabriel und Uriel eine Lichtsäule und führen mittelst der-
selben die Gerechten in das heilige Land. S. Steindorff, Die Apokalypse
des Elias 1899, S. 101, 137, 166.
[616. 517] IL Geschichtlicher Überblick. 603
Heiligen seine Hülfe sendet. Diese besteht in unerschütterlicher
Kühnheit der Seele und unbezwingbarer Kraft des Leibes, von
welchen Eigenschaften jede für sich den Feinden furchtbar ist,
denen aber, wenn sie vereinigt sind, nichts Widerstand zu leisten
vermag. Einige der Feinde aber werden, wie die Weissagung
sagt, nicht einmal gewürdigt, durch Menschenhand umzukommen.
Ihnen wird er [Gott] Schwärme von Wespen entgegenstellen, welche
zu schmachvollem Untergang kämpfen für die Heiligen. Diese
aber [statt tovxop ist wohl zu lesen tovtovq™, nämlich die Hei-
ligen] werden nicht nur den Sieg im Kampf ohne Blutvergießen
sicher haben, sondern auch unbezwingbare Gewalt der Herrschaft
zum Heile der Untertanen, welche aus Liebe oder Schrecken oder
Ehrfurcht sich unterwerfen. Denn drei Eigenschaften, welche die
größten sind und eine unzerstörbare Herrschaft begründen, besitzen
sie [die Heiligen]: Heiligkeit und gewaltige Kraft und Wohltätig-
keit (oefivorrjTa xal öeaorTjta xal tveQyeoiav)] wovon die erste
Ehrfurcht erzeugt, die zweite Schrecken, die dritte Liebe. Sind
sie aber harmonisch in der Seele vereinigt, so erzeugen sie Unter-
tanen, welche den Herrschern gehorsam sind44 (§ 16). Als weitere
Güter der messianischen Zeit erwähnt Philo dann auch noch Reich-
tum und Wohlstand (§ 17—18), Gesundheit und Kraft des Körpers
(§ 20). — Man sieht, daß er trotz seines Bestrebens, überall auf
das Ethische den Hauptnachdruck zu legen, sich doch den volks-
tümlichen Vorstellungen nicht zu entziehen vermochte. Auch er
erwartet nach Verwirklichung des ethischen Ideals eine Zeit äußeren
Glückes und Wohlstandes für die Frommen und Tugendhaften,
wozu auch | dies gehört, daß sie die Herrschaft haben auf Erden.
Und in diesem Bilde fehlt auch der messianische König nicht.
Denn wer anders als dieser sollte gemeint sein mit jenem Manne,
welcher zu Felde zieht und Krieg führt und große und volkreiche
Nationen bezwingt? Je weniger aber ein solcher gottgesandter
HeiTScher durch die Grundanschauung Philos gefordert ist, um so
bemerkenswerter ist es, daß er doch von Philo in seine Beschrei-
bung der messianischen Zeit mit aufgenommen wird.
Aber auch ohne solche Zeugnisse würde schon aus dem Neuen
Testamente selbst erhellen, daß die messianische Idee in der Zeit
vor Christo keineswegs im Volksbewußtsein erloschen war. Aus
der Johannesfrage: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir
eines andern warten?44 (M. 11, 3. Luc. 7, 19—20) ist ja zu sehen,
daß man dem Kommenden entgegenharrte. Und der ganze Verlauf
der evangelischen Geschichte — man denke nur an das Petrus-
26) So jetzt auch Oohn in seiner Ausgabe (Pkilonis opp. V, 1906).
604 § 29* Die messianische Hoffnung. [517]
bekenntnis (ML 16, 13 ff. Mg. 8, 27 ff. Luc. 9, 18 ff.) — zeigt deutlich,
daß Jesus, indem er sich als den Messias bekannte, nur an vor-
handene Vorstellungen anknüpfte. Keineswegs ging er in erster
Linie auf Weckung und Belebung der messianischen Hoffnung aus.
Und doch finden wir, daß beim Einzug in Jerusalem das ganze
Volk ihm als dem Messias zujauchzt (ML 21, Mc. 11, Luc. 19, Joh. 12).
Solche Szenen sind nur zu erklären unter der Voraussetzung, daß
schon yor seinem Auftreten die messianische Hoffnung im Volke
lebendig war.
Für die nachchristliche Zeit bedarf dies ohnehin keines Be-
weises. Die zahlreichen politisch-religiösen Volksbewe-
gungen zur Zeit der Prokuratoren (44—66 nach Chr.) zeigen
zur Genfige, mit welcher fieberhaften Spannung man einem wunder-
baren Eingreifen Gottes in die Geschichte und dem Anbruche seines
Reiches auf Erden entgegenharrte. Wie hätten sonst Leute wie
Theudas und der Ägypter für ihre Verheißungen Hunderte und
Tausende yon Gläubigen finden können? Zu allem Überflusse ge-
steht selbst Josephus zu, daß die messianische Hoffnung einer
der mächtigsten Hebel war in dem großen Aufstande gegen
Rom. Er selbst entblödet sich freilich nicht, die messianischen
Weissagungen auf Vespasian zu deuten, worin er bei Tacitus und
Suetonius gläubigen Beifall gefunden hat27.
27) Über die Messiasidee des Josephus s. Gerlach, Die Weissagungen
des Alten Testaments in den Schriften des Flavius Josephus (1863) S. 41—89.
Langen in der Tüb. Theol. Quartalschrift 1865, S. 39—51. Holwerda, Ver-
siegen en Mededeelingen der koninkl. Akademie van Wetenschappen, Afd. Letter-
kunde, tweede reeks, deel II, 1872, p. 127 — 139. — Die betreffende Stelle lautet
Bell. Jud. VI, 5, 4: Tb 6h inaoav aivovq fidXiaxa nobq xbv tiöXe/ülov fyv XQI0'
ubq äftylßoXoq buolaq iv xotq Ugotq evQTj/jtevoq ygdfjifxaaiv , wq xaxä xbv
xatobv ixetvov dnb x%q x^Qaq T'C ahx(bv aoget xfjq olxoifxivTjq. Tovxo dt
fxhv wq olxetov igiXaßov, xal noXXol xwv oo<p(bv inXavJjdyaav neol xtjv xoloiv
iö^Xov <f5 aoa x^v Oveanaaiavov xb Xöyiov f}yeftoviav} änodeix&ivToq inl
*Iovöalaq avzoxQaxoQoq. — Vgl. Tacit. Hist. V, 13: Pluribus persuasio inerat,
antiquis sacerdotum literis conlineri, eo ipso tempore fore ut valesceret oriens
profectique Judaea rerum potirentur. Quae ambages Vespasianum ac Titum
praedixerant; sed volgus more humanae cupidinis sibi tantam fatorum magni-
tudinem interpretati ne adversis quidem ad vera mutabantur. — Sueton. Vesp.
c. 4: Percrebuerat Oriente toto tetus et constans opinio, esse in fatis, ut eo tem-
pore Judaea profecti rerum potirentur. Id de imperatore Romano, quantum
postea eventu paruit, praedictum Judaei ad se trahentes rebellarunt. — Es ist
kaum zu bezweifeln, daß Tacitus und Suetonius lediglich (sei es direkt oder
indirekt) aus Josephus geschöpft haben. Vgl. Gieseler, Kirchengesch. I, 1,
S. 51. Bestritten wird es von Keim, in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XVII,
164 (Art. Vespasianus); auch von Friedländer, Revue des Studesjuives t. XXX,
1895, p. 122—124, welcher meint, daß Tacitus und Suetonius sich hier auf die
sibyllinischen Orakel beziehen.
[518. 519] IL Geschichtlicher Überblick. 605
Über den Stand der messianischen Hoffnung nach Zerstörung
des Tempels, in den letzten Dezennien des ersten Jahrhunderts nach
Chr., geben uns die Apokalypsen Baruchs und Esras reichhaltigen
Aufschluß. Die Apokalypse Baruchs beschreibt den Verlauf
des Endes der Dinge folgendermaßen. Vor allem wird eintreten
eine Zeit allgemeiner und furchtbarer Verwirrung. Die Menschen
werden sich gegenseitig hassen und bekämpfen. Ehrlose werden
über Angesehene herrschen, Niedrige über Hochberühmte, Gottlose
über Helden sich erheben. Und Völker, welche Gott zuvor dazu
bereitet hat (es ist wohl an Gog und Magog zu denken), werden
kommen und kämpfen mit den Fürsten, welche übrig sind. Und
es wird geschehen: Wer dem Kriege entronnen ist, wird durch das
Erdbeben umkommen; und wer diesem entgangen ist, durch das
Feuer; und wer diesem entronnen ist, durch den Hunger. Und
wer von allen diesen Übeln errettet ist, wird in die Hände des
Messias überliefert werden (70, 2—10). Dieser nämlich wird ge-
offenbaret werden, und wird die Scharen des letzten Weltreiches
vernichten. Und der letzte Fürst, der noch übrig ist, wird gefesselt
und nach dem Zion gebracht werden; und der Messias wird ihn
seiner Gottlosigkeit überführen und ihn töten (39, 7—40, 2). Über-
haupt wird der Messias die Völker versammeln und den einen
das Leben verleihen, die andern aber mit dem Schwerte vertilgen.
Das Leben verleiht er denen, welche sich dem Samen Jakobs unter-
werfen. Vertilgt aber werden diejenigen, welche Israel bedrückt
haben (72, 2—6). Dann wird er sich setzen auf den Thron seines |
Reiches in Ewigkeit 28; und der Friede wird erscheinen, und Kümmer-
nis und Trübsal wird weichen von den Menschen, und Freude wird
herrschen auf der ganzen Erde. Und die wilden Tiere werden
kommen und den Menschen dienen; und Nattern und Drachen
werden sich unmündigen Kindern unterwerfen. Und die Schnitter
werden nicht matt und die Bauleute nicht müde werden (73—74;
vgl. 40, 2—3). Und die Erde wird ihre Früchte zehntausendfältig
geben. Und an einem Weinstock werden 1000 Reben, und an einer
Rebe 1000 Trauben, und an einer Traube 1000 Beeren sein, und
eine Beere wird ein Kor Wein geben29. Und das Manna wird
28) Gap. 73, 1: „Und nachdem er ... . sich» in Frieden für immer auf
den Thron seines Königreichs gesetzt haben wird". Gap. 40, 3: „Und seine
Herrschaft wird bestandig sein für immer, bis die dem Verderben ge-
weihte Welt zu Ende kommt" (Übersetzung nach Ryssel in Kautzschs
Apokr. und Pseudepigr.). Aus letzterer Stelle sieht man, daß die Herrschaft
des Messias nicht „auf ewig" im strengen Sinne währt, sondern nur bis zum
Ende der gegenwärtigen Welt.
29) Vgl. Papias bei Irenaeus V, 33, 3.
606 § 29- Die messianische Hoffnung. [519. 520]
wieder herabkommen vom Himmel, and man wird wieder essen
von ihm in jenen Jahren (29, 5—8). Und nach Ablauf jener Zeit
werden alle Toten auferstehen, Gerechte und Ungerechte, in der-
selben Gestalt und Leiblichkeit, welche sie ehedem gehabt haben.
Darauf wird das Gericht gehalten werden. Und nach dem Gericht
werden die Auferstandenen verwandelt werden. Die Leiber der
Gerechten werden verwandelt in Lichtglanz; die der Gottlosen
aber schwinden dahin und werden häßlicher denn zuvor. Und sie
werden der Qual überliefert Die Gerechten aber werden schauen
die unsichtbare Welt und werden wohnen in den Höhen jener Welt
Und das Paradies breitet sich vor ihnen aus, und sie sehen die
Scharen der Engel, welche vor dem Throne Gottes stehen. Und
ihre Herrlichkeit ist größer denn die der Engel (<?. 30 and 50—51.
Vgl. 44, 15).
In allen wesentlichen Punkten mit Baruch übereinstimmend
sind die eschatologischen Erwartungen des vierten Buches Esra,
Auch er weissagt zunächst eine Zeit furchtbarer Not und Be-
drängnis (5, 1-13. 6, 18—28. 9, 1—12. 13, 29—31). Nach dieser
wird der Messias, der Sohn Gottes, geoffenbart werden. Und es
wird geschehen: Wenn die Völker seine Stimme hören, werden sie
den Krieg unter sich vergessen, und werden sich sammeln zu einer
unzähligen Menge zum Angriff gegen den Gesalbten. Er aber wird
auf dem Berge Zion stehen und wird sie ihrer Gottlosigkeit über-
führen und sie verderben durch das Gesetz ohne Kampf und ohne
Kriegswerkzeug (13, 25—28. 32—38; vgl. 12, 31—33). Dann wird
die verborgene Stadt (nämlich das himmlische Jerusalem) er-
scheinen (7, 26); und die zehn Stämme werden nach dem heiligen
Lamde zurückkehren (13, 39—47). Und der Gesalbte wird das Volk
Gottes im heiligen Lande beschützen und erfreuen und ihnen viele
Wunder zeigen, vierhundert Jahre lang (7, 27—28. 12, 34. 13,
48—50. Vgl. 9, 8). Und nach dieser Zeit wird sterben der Ge-
salbte und alle Menschen, die einen Odem haben. Und die Welt
wird wieder zur Todesstille zurückkehren sieben Tage lang, wie
am Anfang. Und nach sieben Tagen wird erweckt werden eine
Welt, die jetzt schläft, und wird vergehen die verderbte. Und die
Erde wird wiedergeben, die in ihr schlafen; und die Behältnisse
werden zurückgeben die Seelen, die ihnen anvertraut sind (7, 29
bis 32). Und der Höchste wird auf dem Richterstuhle erscheinen;
und die Langmut wird ein Ende haben; nur das Gericht wird
bleiben; und der Lohn wird an den Tag kommen (7, 33 — 35). Und
es wird geoffenbart werden der Ort der Qual und ihm gegenüber
der Ort der Ruhe; der Abgrund der Hölle und ihm gegenüber das
Paradies. Und der Höchste wird zu den Auferstandenen sagen:
[520. 521] IL Geschichtlicher Überblick. 607
Sehet hier den, den ihr verleugnet und nicht geehrt und dessen
Befehle ihr nicht befolgt habt Hier ist Freude und Wonne; und
dort ist Feuer und Qual. Und die Länge des Gerichtstages wird
sein eine Jahrwoche (6, 1—17 nach Zählung der äthiopischen Über-
setzung = 7, 36—43 nach der Zählung in Benslys Ausg. 1895; vgl.
auch 6, 59 und 68—72 nach dem aeth. = 7, 84 und 95—98 nach
Bensly).
So die beiden Apokalypsen. Daß ihre Hoffnungen nicht ver-
einzelt dastehen, sondern einen wesentlichen Bestandteil des jüdi-
schen Bewußtseins bilden, beweist auch noch das SchmoneEsre,
das tägliche Gebet der Israeliten, das etwa um das Jahr 100 nach
Chr. redigiert worden ist Da wir es oben (S. 539 ff.) vollständig
mitgeteilt haben, braucht hier nur daran erinnert zu werden, daß
in der 10. Bitte um Sammlung der Zerstreuten, in der 11. um
Wiedereinsetzung der einheimischen Obrigkeit, in der 14. um
Wiedererbauung Jerusalems, in der 15. um Sendung des Sohnes
Davids und Aufrichtung seines Reiches, endlich in der 17. um
Wiederherstellung des Opferkultus in Jerusalem gebetet wird. In
dem von Schechter herausgegebenen kürzeren Text fehlt die 15. Be-
racha. Die Bitte um Sendung des Sohnes Davids ist hier im Zu-
sammenhang der 14. Beracha nur angedeutet. Ob diese Fassung
die ursprünglichere ist, dürfte fraglich sein (su oben S. 542 f.) 80.
Wir haben in diesem Überblick absichtlich die Targume )
übergangen, in welchen „der König Messias" nicht selten vor-
kommt81. Denn die Meinung, daß die älteren Targume im Zeit-
alter Jesu Christi entstanden seien, darf jetzt wohl als aufgegeben
betrachtet werden. Sie gehören wahrscheinlich erst dem dritten
oder vierten Jahrhundert nach Chr. an; jedenfalls gibt es keinen
Beweis dafür, daß sie älter sind, wenn sie auch vielfach auf ältere
exegetische Traditionen zurückgehen. Es steht also mit ihnen
nicht anders, als mit den* anderen rabbinischen Schriftwerken
(Mischna, Talmud, Midrasch): daß sie zwar auf älteren Mate-
rialien fußen, aber in der uns vorliegenden Gestalt nicht mehr
30) Das Gebet um Wieder-Erbauung Jerusalems und Wiederherstellung
der Aboda (des Opferkultus) kommt auch in der Passa-Liturgie vor. S. Fesa-
chim X, 6.
31) Ein Verzeichnis der Stellen, welche in den Targumen auf den Messias
gedeutet werden, s. bei Buztorf, Lextcon Chaldaicum coL 1268—1273. Vgl.
ferner: Im. Schwarz, Jesus Targumicus, 2 partt. 4. Torgau 1758—1759. Ay-
erst, ba'W* nipn, Die Hoffnung Israels oder die Lehre der alten Juden von
dem Messias, wie sie in den Targumen dargelegt ist. Aus dem Engl, übers.
(52 S. 12), Frankf. a/M. 1851. Young, The Christology of the Targums, 1853.
Langen, Das Judenthum in Palästina S. 418—429.
608 § 29- Die messianische Hoffnung. [521. 522]
dem hier behandelten Zeitraum angehören. — Die wesentlichen
Grundzüge der messianischen Hoffnung des Judentums in dieser
späteren Zeit (um den Anfang des dritten Jahrhunderts nach Chr.)
sind sehr gut zusammengefaßt von dem Verfasser der Phüosophu-
mena, der sie folgendermaßen schildert32: „Seinen Ursprung, sagen
sie, werde der Messias haben aus Davids Geschlecht, aber nicht
aus einer Jungfrau und dem heiligen Geiste, sondern von Mann
und Weib, wie es allen bestimmt ist aus Samen geboren zu werden.
Dieser, glauben sie, werde König sein über sie, ein kriegerischer
und mächtiger Mann, der das ganze Volk der Juden versammeln
und mit allen Völkern Krieg fahren und den Juden Jerusalem als
königliche Stadt aufrichten werde, in welche er das ganze Volk
sammeln und wieder in den alten Zustand versetzen werde als ein |
herrschendes und den Opferdienst verwaltendes und lange Zeit in
Sicherheit wohnendes. Darnach werde sich gegen sie insgesamt
Krieg erheben; und in jenem Kriege werde der Messias durchs
Schwert fallen. Nicht lange darnach werde das Ende und die Ver-
brennung der Welt erfolgen, und so werde sich das erfüllen, was
man in betreff der Auferstehung glaube, und werde einem jeden
die Vergeltung nach seinen Werken zuteil werden**.
Über die messianische Hoffnung der Samaritaner im Zeit-
alter Jesu Christi sind wir nicht näher orientiert, da unsere Quellen
über die Theologie der Samaritaner einer späteren Zeit angehören.
In diesen späteren Quellen heißt der Messias Taheb (der Wieder-
kehrende oder der Bekehrer?) und wird in erster Linie als Prophet^
der überall die wahre Lehre herstellt (vgl. Ev. Jok. 4, 25), zugleich
aber als Priester und König geschildert33.
32) Phüosophum. IX, 30: riveoiv fxhv yäo avxov [seil xov Xqioxov] ioo-
lihrjv Xiyovoiv ix yhovq daßlS, &XX* ovx ix nao&hov xal aylov itvBV(iaxoq>
aXX' ix ywaixbg xal ävÖQÖq, ioq näaiv Üqoq yevväo&ai ix aniQfiaxoq^ <pd-
oxovxeq xovxov iadfisvov ßaotXia in avxovq, avÖQa noXefiiaxfjv xal äwaxöv*
dq iniawa^aq xb näv l&voq 'lovöaiow, nävxa xä H&vrj noXsfitfoaq , avaox^ati
avvoZq xfjv 'IeoovaaXijfi nbXiv ßaoiXlöa, slq #v imovvä&i, anav xb £&voq xal
näXiv fall xä aQxata &ty änoxaxaoxJjOei ßaoiXsvov xal Isgaxevov xal xatoi-
xovv iv Ttenov&JjOEi iv %9^VOi^ heavotq' sneixa inavaoxfjvai. xax* avzwv nb-
Xefiov imavvax&£vx<ov iv ixeiv<p xij> noXt^icp neaetv xbv Xgioxbv iv iiaxaiQy,
ÜnBixa fxer oh noXv x^v cwxiXuav xal ixjtvfnooiv xov navxbq ijiiorrjvai, xal
ovrwq xä tcbqI x)\v ävdoxaoiv 6o£a£6fxeva imxeXeo&rivai, xdq te dftoißäq
kxdaxij) xaxä xä nenoayfiiva ajtoöo&ijvau — Viel Material über die messia-
nische Hoffnung der Jaden zu seiner Zeit findet sich bei Hieron ymns.
S. die Zusammenstellung von Krau 8 8, Jewish Quarterly Review VI, 1894,
p. 240—245.
33) Vgl. Bertholdt, Chrietologia Jtidaeorum 1811 p. 19—24. — Joh. Chr.
™-*edrichj Discussionum de ehristologia SamarUanorum liber, Lips. 1821. —
[522. 523] IU. Systematische Darstellung. 609
III. Systematische Darstellung.
Zur Ergänzung dieses geschichtlichen Überblickes geben wir
im folgenden noch eine systematische Darstellung der messia-
nischen Dogmatik, mit Zugrundelegung des Schemas, das sich aus
der Apokalypse Baruchs und dem vierten Buch Esra von selbst
ergibt. Denn in diesen beiden Apokalypsen ist die eschatologische
Erwartung am vollständigsten entwickelt. |
1. Letzte Drangsal und Verwirrung1. Fast tiberall, wo
auf die letzten Dinge Bezug genommen wird, kehrt in verschie-
denen Variationen der Gedanke wieder, daß dem Anbruch des
Heiles eine Zeit besonderer Not und Trübsal vorangehen müsse.
Es war ja an sich ein naheliegender Gedanke, daß der Weg zum
Glück durch Trübsal hindurchführe. Und im Alten Testamente
war Ähnliches ausdrücklich geweissagt (Hosea 13, 13; Daniel 12, 1
und sonst). So bildete sich in der rabbinischen Dogmatik die Lehre
von den mittel ^bnn, den Wehen des Messias, welche seiner Ge-
Gesenius , De Samaräanorum theologia ex fontibus ineditis commentatio,
Halae 1822, p. 41—46. Ders., Garmina Samaritana, Lips. 1824, p. 75 sq. —
Petermann in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XIII, 373 f. — Vilmar, Abul-
fathi annales Samaritani, 1865, p. XLI — XL VIII. — Heidenheim, Die Chri-
stologie der Samaritaner (Vierteljahrsschrift für deutsch- und engl.-theol. For-
schung und Kritik V. Bd. Heft 1 u. 2, 1873, S. 169—182). Der hier aus einer
Handschr. des brit. Museums mitgeteilte Text ist auch abgedruckt in: Hei-
denheim, Die samaritanische Liturgie, 3 Hefte 1885—1887 [= Bibliotkeca
Samariiana II— IV] S. 88 ff. — Kautzsch in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. XIII,
348. 3. Aufl. XVII, 436. 444 f. — Merx, Ein samaritanisches Fragment über
den Ta'eb oder Messias (Actes du huüibne congres international des orienta-
listes, tenu en 1889 ä Stockholm et ä Christiania, deuxi&me partie, Section S&-
mitique, Leide 1893, fasc. 2 p. 117—139). — Hilgenfeld, Der Taheb der
Samaritaner nach einer neu aufgefundenen Urkunde (Zeitschr. f. wiss. Theol.
1894, S. 233—244). Hierzu die Berichtigung Jahrg. 1895, S. 156 [das von
Merx nach einer Gothaer Handschrift herausgegebene Stück ist identisch mit
dem von Heidenheim 1873 publizierten], — Cowley, The Samariian doctrine
of the Messiah (Expositor 1895, März S. 161 — 174). — Montgotnery, The Sa-
marüans, 1907, p. 243—250.
1) Vgl. Schoettgen, Horae Hebraicae II, 509 sqq. 550 sqq. Bertholdt,
Ghristologia Judaeorum p. 45 — 54. Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils II,
225 f. 300—304. O eh ler in Herzogs Real-Enz. IX, 436 f. (2. Aufl. IX, 606).
Ben an, Der Antichrist (deutsche Ausg. 1873) S. 260 Anm. 1. Hamburger,
Real-Enz. Art. „Messianische Leidenszeit" (S. 735—738). Volz, Jüdische
Eschatologie von Daniel bis Akiba 1903, S. 173-188 (hier S. 173 auch die
Belege für neuron ^bah). Klausner, Die messianischen VorsteUungen des
jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten 1904, S. 47—57. Bousset,
Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter 2. Aufl. 1906,
S. 286 f.
Schürer, Geschichte II. 4* -Aufl- 39
610 § 29. Die messUnische Hoffnung. [523. 524]
bort, d. h. seiner Ankunft, vorangehen müssen (der Ausdruck nach
Hosea 13, 13; VgL Matth. 24, 8: xavxa 6k ravra oqjti noöipmv. Marc.
13, 9: aQxai mSivmv ravra). Durch allerlei Vorzeichen wird sich
das drohende Unheil ankündigen. Sonne und Mond werden sich
verfinstern. Schwerter erscheinen am Himmel; Züge von Fußvolk
und Reitern ziehen durch die Wolken (Orac* Stbyll in, 795—807;
VgL II Makk. 5, 2—3. Joseph. B. J. VI, 5, 3. Tadt. Hut. V, 13). In
der Natur gerät alles in Aufruhr und Verwirrung. Die Sonne
scheint in der Nacht, und der Mond am Tage. Vom Holze tropft
Blut, und der Stein läßt seine Stimme erschallen, und im süßen
Wasser wird sich Salz finden (IV Esra 5, 1—13). Besäete Orte
werden wie unbesäet erscheinen, und volle Scheuern werden leer
gefunden werden, und die Quellen der Brunnen werden stehen
bleiben (IV Esra 6, 18—28). Auch unter den Menschen werden
alle Bande der Ordnung sich lösen. Sünde und Gottlosigkeit
herrschet auf Erden. Und wie vom Wahnsinn ergriffen werden
die Menschen sich gegenseitig bekämpfen. Freund ist gegen Freund,
der Sohn gegen den Vater, die Tochter gegen die Mutter. Völker
erheben sich gegen Völker. Und zu dem Kriege kommen noch
Erdbeben, Feuer und Hungersnot, wodurch die Menschen dahin-
gerafft werden (Apocal. Baruch. 70, 2—8. IV Esra 6, 24. 9, 1—12.
13, 29-31. Mischna Sota .'IX, 15) 2. | — Vgl. auch Mt. 24, 7—12. 21.
Marc. 13, 19. Luc. 21, 23. I Kor. 7, 26. II Tim. 3, 1.
2. Elias als Vorgänger3. Auf Grund von Makachi 3, 23—24
2) Mischna Sota IX, 15 lautet nach Josts Übersetzung: „Als Spuren
des nahen Messias ist zu betrachten, daß der Übermut zunimmt; Ehrgeiz
schießt empor; der Weinstock gibt Früchte und der Wein ist doch teuer.
Die Regierung wendet sich zu Ketzerei. Es gibt keine Zurechtweisung. Das
Versammlungshaus [die Synagoge] wird der Unzucht gewidmet, Galiläa wird
zerstört, Gablan wird verwüstet. Die Bewohner eines Gebietes ziehen von
Stadt zu Stadt, ohne Mitleid zu finden. Die Wissenschaft der Gelehrten wird
verhaßt; die Gottesfurchtigen verachtet; die Wahrheit vermißt Knaben be-
schämen Greise; Greise stehen vor Kindern. Der Sohn würdigt den Vater
herab; die Tochter lehnt sich gegen die Mutter auf; die Schwiegertochter
gegen die Schwiegermutter; die Feinde eines Menschen sind seine Hausgenossen
[vgl. Micha 7, 6. Matth. 10, 35-36. Luc. 12, 53]. Das Ansehen des ganzen
Zeitalters ist hündisch, so daß der Sohn sich vor dem Vater nicht schämt". —
Das ganze Stück gehört Übrigens gar nicht zum echten Text der
Mischna. Es fehlt z. B. in einem cod. Hamburg. (». 156 des Steinschneider-
schen Kataloge») und in der Ediiio princeps der Mischna, Neapel 1492. Da
es im jerusalemischen Talmud steht, ist es wohl aus diesem in die
Mischna hereingekommen.
3) Vgl. Schoetigeny Horae Hebraicae II, 533 sqq. — Lightfoot9 Horae
^ebr. zu Matth. 17, 10. — Bertholdt, Christologia Judaeorum p. 58—68- —
•örer, Das Jahrhundert des Heils II, 227—229. — Alexandre, Oracula
[524. 525] III. Systematische Darstellung. ß\i
erwartete man, daß der Prophet Elias wiederkommen werde, um
dem Messias den Weg zu bereiten. Schon im Bache Jesus Sirach
(48, 10—11) wird diese Anschauung vorausgesetzt. Bekannt ist,
daß im Neuen Testamente häufig darauf Bezug genommen wird
(s. bes. MaMh. 17, 10. Marc. 9, 11; auch ML 11, 14. 16, 14. Mc. 6, 15.
8, 28. Luc. 9, 8. 19. Joh. 1, 21). Und selbst in den christlichen
Vorstellungskreis ist sie übergegangen 4. Als Zweck seiner Sendung
wird nach Maleachi 3, 24 hauptsächlich der betrachtet: Friede zu
stiften auf Erden und überhaupt alles Ungeordnete in Ordnung zu
bringen (ML 17, 11: äxoxaxaox7JC6i navxa, Mc. 9, 12: cbtoxafrioxavsi
navxd). Die Hauptstelle in der Mischna lautet folgendermaßen5:
„R Josua sagte, ich habe von R. Jochanan ben Sakkai die Über-
lieferung empfangen, welcher es von seinem Lehrer in gerader
Linie als eine Überlieferung des Mose vom Sinai ver|nommen hat,
daß Elias nicht kommen werde, überhaupt Familien unrein oder
rein zu sprechen, zu entfernen oder aufzunehmen, sondern nur die
mit Gewalt Eingedrungenen zu entfernen, und die mit Gewalt Ent-
fernten aufzunehmen. Eine Familie namens Beth Zerepha war
jenseits des Jordans, die ein gewisser Ben Zion mit Gewalt aus-
geschlossen hatte. Noch eine andere Familie (unreinen Geblütes)
war daselbst, die dieser Ben Zion mit Gewalt aufgenommen hat
Also dergleichen kommt er, unrein oder rein zu sprechen, zu ent-
fernen oder aufzunehmen. R. Jehuda sagt: nur aufzunehmen, aber
nicht zu entfernen. R Simon sagt: seine Sendung ist bloß Streitig-
keiten auszugleichen. Die Gelehrten sagen: weder zu entfernen,
noch aufzunehmen, sondern seine Ankunft wird bloß zum Zweck
Sibyllina (1. ed.) II, 513—516. — S. K, Der Prophet Elia in der Legende (Mo-
natsschr. f. Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1863, S. 241—255, 281—296).
— „Elias who was to come" (Journal of sacred Literaiure and Biblical Record,
New Serie* Vol. X, 1867, p. 371-376). — Renan, Der Antichrist 8. 321 Anm.
5. — Ca st elli, 11 Messia secondo gli Ebrei p. 196 — 201. — Weber, System
der altsynagogalen paläst. Theologie S. 337—339. — Derenbourg, Le pro-
phete jßlie dans le rituel (Revue oes itudes juives t. II, 1881, p. 290—293). —
Ederskeim, The life and times of Jesus the Messiah II, 706—709. — Bacher,
Die Agada der Tannaiten 2 Bde., Sachregister s. v. Elija. — Volz, Jüdische
Eschatologie S. 192 f. — Klausner, Die messianischen Vorstellungen des jü-
dischen Volkes S. 58 — 63. — Bousset, Die Religion des Judentums 2. Aufl.
S. 266 f.
4) Commodian. Carmen apo löget, v. S2ß sq. — Orac. JSibyll. II, 187 — 190
(christlichen Ursprungs):
Kai xo& 6 ßeaßhrjq ye, an obgavoi) Sofia xixalvmv
Oboaviov, yaig <J' iiußäq, xoxe otfuava xoioaä
KoofKp SX(p öel&L *£ oi7ioXXvu£vov ßiovoio.
5) Edujoth VIII, 7'
39*
612 § 29. Die mesrimnische Hoffnung. [525. 526]
haben, Frieden in der Welt zu stiften. Denn es heißt: Ich sende
euch den Propheten Elia, der das Herz der Väter den Kindern,
und das Herz der Kinder den Vätern zuwenden wird {MaUacki 3, 24)tt.
Zu der Aufgabe des Ordners und Friedestifters gehört auch die
Entscheidung streitiger Prozesse. Daher heißt es in der Ifischna,
daß Geld und Gut, dessen Besitzer streitig, oder Gefundenes, dessen
Besitzer unbekannt ist, liegen bleiben müsse „bis daß Elias kommt11 6.
— Vereinzelt findet sich auch die Ansicht, daß er den Messias
salben7, und daß er die Toten auferwecken werde8. — Neben
Elias wurde von manchen auch noch der Prophet wie Moses
erwartet, welcher Deut 18, 15 verheißen wird (Ev. Joh. 1, 21. 6, 14.
7, 40. Act. 3, 22. 7, 37), während von andern diese Stelle auf den
Messias selbst gedeutet wurde. Auch noch von andern Propheten
als Vorläufern des Messias, wie z. B. Jeremias (Matth. 16, 14), finden
sich Andeutungen im Neuen Testamente. In christlichen Quellen
ist auch von einer Wiederkehr des Henoch die Bede (Ev. Ntcodemi
c 25, und die patristischen Exegeten zu Apoc. Joh. 11, 3)9.
3. Erscheinung des Messias. Nach diesen Vorbereitungen
erscheint der Messias. Es ist nämlich keineswegs richtig, daß das |
vorchristliche Judentum den Messias erst nach dem Gericht er-
wartet, und daß erst durch Einfluß des Christentums die Vor-
stellung sich gebildet habe, der Messias selbst werde Gericht halten
über seine Feinde. Denn nicht nur bei Baruch und Esra, nicht
nur in den Bilderreden des Buches Henoch und in den Targumen
(wo man überall etwa christlichen Einfluß annehmen könnte), son-
dern auch in der ältesten Sibylle (III, 652—656), in den salomo-
nischen Psalmen (XVII, 24. 26. 27. 31. 38. 39. 41) und bei Philo
(De praemiis et poenis § 16), also in sicher vorchristlichen Doku-
menten, erscheint der Messias zur Besiegung der gottfeindlichen
Mächte. Und die entgegenstehende Anschauung, daß er erst nach
dem Gericht auftreten werde, findet sich nur ganz vereinzelt,
nämlich nur in der Grundschrift des Buches Henoch (90, 16—38).
6) Baba mexia III, 4-5. I, & II, 8. Vgl. auch Schekalim II, 5 fin.
7) Justin. Dial. c. Tryph. c. 8: XQi<nd<; 6h sl xal yeyivfjxai xal fori
nov, &yvwax6g iaxi xal oböh avxdq nu) kavxdv inLcxaxai oitih fysi Svvafuv
xiva, n£xQL$ av H&wv HXlaq %qLo% avxdv xal (pavepdv näoi noi-
i}ay. — Ibid. c. 49: Kai yaQ navxeq y)^eZq xöv Xqioxöv av&Qamov i£ av&Qa*-
tuüv TiQOoSoxtbfiev yevrfoeo&ai xal xöv *HXlav XQioai ahxbv kXbovxa.
— Vgl. auch Ev. Joh. 1, 31.
8) Sota IX, 15 (ganz am Schluß): „Die Auferstehung der Toten kommt
durch den Propheten Elia". Vgl. Klausner S. 62. — Die Erwartung gründet
sich darauf, daß Elias im A. T. als Totenerwecker erscheint
9) Vgl. Thilo, Cod. apocr. Nov. Test. p. 756—768, und die Kommentare
*.u Apoc. Joh. 11, 3.
( 526. 527] III. Systematische Darstellung. 613
Es ist also von seinem Erscheinen ohne Zweifel an dieser Stelle
zu reden.
Was zunächst seine Namen betrifft, so heißt er als der von
Gott eingesetzte und gesalbte König Israels am häufigsten: der
Gesalbte, der Messias (Henoch 48, 10. 52, 4. Apocai. Baruch.
29, 3. 30, 1. 39, 7. 40, 1. 70, 9. 72, 2. Esra 7, 28—29, wo die
lateinische Übersetzung interpoliert ist, Esra 12, 32: Unctus\
griech. Xqiötos xvqIov (Psalt. Salom. XVII, 36. XVIII, 6. 8),
hebr. niflhon (Müchna Berachoth I, 5), aram. «rplDE {Müchna Sota
IX, 15) oder «rntitt asbig (beides häufig in den Targumim) 10; im
Neuen Testamente Meoolag (Joh. 1, 42. 4, 25) n. Die griechisch-
redenden Juden der christlichen Zeit haben, da Xqiötos zu einem
christlichen Terminus geworden war, den durch Aquilas Bibel-
übersetzung eingeführten Ausdruck 'HXsififiipog vorgezogen12.
10) Vgl. überhaupt über den Titel „Messias": Weine 1, Der Gesalbte
Jahwes im Bilde und seine Bolle in der Zukunftshoffnung (Zeitschr. f. d.
alttest. Wissensch. XVHI, 1898, S. 68—82). — Dalman, Die Worte Jesu
1898, S. 237—245 (viel Material ans den Targumim). — Volz, Jüdische Escha-
tologie 8. 213. — Klausner, Die messianischen Vorstellungen S. 66.
11) Meoolaq ist die hesser bezeugte Form, nicht Medac, wie manche
Handschriften hahen. Da nach allen analogen Fällen nicht die hebräische,
sondern die aramäische Form vorauszusetzen ist, so ist Meoolaq nicht — >
rr^o, sondern «= K^iöa (vgl. oben S. 25. Delitzsch, Zeitschr. f. luth.
TheoL 1876, S. 603. Kautzsch, Grammatik des biblisch-Aramäischen 8. 10).
Die Möglichkeit dieser Gleichung wird von La gar de bestritten, welcher für
Msoalaq ein nicht nachweisbares «rprco «= „welcher wiederholentlich salbt"
annimmt (Deutsche Schriften 8. 68, 122, dritter Abdruck 8. 53, 95, Psalterii
venia Memphitiea p. VII, Semitica I, 50 f., Symmicta II, 92, Übersicht über
die im Aramäischen, Arabischen und Hebräischen übliche Bildung der No-
mina 1888, 8. 93 ff. [Abhandlungen der Göttinger Gese lisch, der Wissensch.
ßd. 35]). Da aber ü auch sonst zuweilen durch oo wiedergegeben wird, so
liegt kein Grund zu irgend welchen Bedenken vor. Vgl. gegen Lagarde:
Delitzsch a.a.O. und Nöldeke, Zeitschr. der DMG. 1878, S. 403.
12) Origenes in Joann. tom. XIII c. 26 fin. (ad Joh. 4, 25, opp. ed. Lom-
matxsch n, 48): Meoolag fihxoi ye 'Eßgaiorl xaXetxai, Zneg ol phv 'Eßdofirf-
xovxa XQLOxdq fjQ/itfvevoav, 6 6h 'AxvXaq ^HXetfifiivoq. — Die Bemerkung des
Origenes wird bestätigt durch die Überreste von Aquilas Übersetzung zu
Daniel 9, 26 (-= Euseb. Demonstr. evang. VIII, 2, 90, p. 397), Psalm 2, 2 (Syr.
Hexapl. und Philastr. haer. 142: Aquila: adversum Uhctum ejus), Ps. 84, 10.
89, 39. I Sam. 2, 35 (— Euseb. Demonstr. evang. IV, 16, 45 p. 191). II Sam.
1, 21 (hier vom Schild Sauls). 8. Origenis Hexapl. ed. Field. — Hieronymus,
comment. in Jes. 27, 13 (opp. ed. Vallarsi IV, 369): Judaei cassa sibi vota
promütunt, quod in consummatione mundi, quando [Antiehristus, ut dicitur]
^Xeifx/iivoQ suus venerit (die eingeklammerten Worte fehlen in einigen Hand-
schriften und sind sicher zu tilgen). — Id. in Sachar. 14, 15 (Vallarsi VT, 928):
haee Judaei sub rfXeififihx» suo carnaliter explenda contendunt. — Id. in Ma-
leach. 3, 1 (Vallarsi VI, 970): Judaei hoc K . referunt ad tfXeipifjtivov hoe est
614 § 29. Die messianische Hoffnung. [527]
Den Bilderreden des Baches Henoch eigentümlich ist die Bezeich-
nung: der Menschensohn (46, 1—6. 48, 2—7. 62, 5—9. 14. 63, 11.
69, 26—29. 70, 1. 71, 17), welche daraus entsprungen ist, daß man
das danielische Bild von der in den Wolken des Himmels kom-
menden Menschengestalt (welche nach dem Zusammenhange bei
Daniel die Gemeinde und das Reich Gottes bedeutet) direkt auf
den Messias bezog13. Insofern der Messias das erwählte Werkzeug
Christum stium. — Id. in Maleacli. 4 fin. {Vaüarsi VT, 986): Judaei et Judai-
xantes haeretici ante ^XeifAfiivov suum Miam piäant esse venturum. (Diese
Stellen nach Krauß, Jewish Quarterly Review VI, 244). — Dialogue between a
Christian and a Jew ed. by McQiffert, New York 1889, p. 55 lin. 22 (wo
eine Handschrift richtig ^Xsififiivov hat, McGiffert druckt eÜLtififi&vov). — In
der JidaaxaXla laxu>ßov veoßantlorov, über welche Bonwetsch, Nachrichten
der Göttinger Gesellsch. der Wissensch., phil.-hist. Kl. 1899, 8. 411—440, um-
fangreiche Mitteilungen macht, heißt der Messias durchweg d f}Xeinfi£vo$
(S. 418, 427, 432, 435); ebenso in der von Gumont wieder herausgegebenen
Abschwörung aller jüdischen Irrtümer (Wiener Studien 1902, S. 468, 469). —
SophoeleSf QreeJc Lexicon s. v. ^Xeififiivoq verweist auf Cyrill. Hieros. (Cateches.
XV, 11 — Migne Patrol. gr. t. 33, eol. 885 A) und Cosmas Indicopl. (Migne
t. 88, eol 333 A). — Vgl. auch Onomastica sacra ed. Lagarde 1870, p. 177, 59.
195, 80. — Wesseling, Observationes I, 19.
13) Wie auf Grund der Danielstelle der Ausdruck „Menschensohnu bei
Henoch tatsächlich zu einer Bezeichnung des Messias geworden ist, mag der
Wortlaut der Stellen veranschaulichen. Henoch 46, 1—4: „Und daselbst sah
ich einen, der hatte ein betagtes Haupt .... und bei ihm war ein anderer,
dessen Gestalt hatte das Aussehen eines Menschen . . . Und ich
fragte einen der Engel . . nach jenem Menschensohne . . . Und er ant-
wortete und sprach zu mir: Dies ist der Menschensohn, der die Gerech-
tigkeit hat und bei dem die Gerechtigkeit wohnt . . . Und dieser Men-
schensohn, den du gesehen hast, wird die Könige und die Mächlägen auf-
scheuchen von ihren Lagern u. s. w." — 48, 2: „Und in jener Stunde wurde
jener Menschensohn in Gegenwart des Herrn der Geister genannt, und
sein Name vor dem betagten Haupte". — 62, 5 — 9: „Schmerz wird sie er-
grei fen , wen n sie jenen Mannessohn auf dem Throne seiner Herrlichkeit
sitzen sehen .... Denn von Anfang an ist der Menschensohn verborgen
gewesen, und der Höchste hat ihn bewahrt . . . Und alle Könige und Mäch-
tigen werden . . auf jenen Menschensohn ihre Hoffnung setzen". —
62, 14: „Und mit jenem Menschensohne werden sie essen". — 63, 11:
„Und darnach wird ihr Antlitz voll Finsternis und Scham werden vor je-
nem Menschensohne". — 69,26 — 29: „Und es herrschte unter ihnen große
Freude . . . darum, daß ihnen der Name jenes Menschensohnes offen-
bart worden war . . . Und die Summe des Gerichts ward ihm, dem Men-
schensohne, übergeben . . . Und von nun an wird es nichts Verderbtes
mehr geben; denn jener Mannessohn ist erschienen aber das Wort
jenes Mannessohnes wird fest stehen vor dem Herrn der Geister". —
70, 1: „Und danach geschah es, daß sein Name (d. h. Henoch) bei seinen
Lebzeiten zu jenem Menschensohne und zu dem Herrn der Geister er-
höht wurde". — 71, 17: „Und so wird langes Leben sein bei jenem Men-
[527] III. Systematische Darstellung. 615
Gottes ist und Gottes Liebe auf ihm ruht, heißt er der Aus-
er wählte (Henoch 39, 6 f. 40, 5. 45, 3—5. 49, 2—4. 51, 3. 5. 52,6—9.
53, 6. 55, 4. 61, 5. 8—10. 62, 1 ff.) oder, wie der theokratische König
im Alten Testamente, der Sohn Gottes {Henoch 105, 2. IV Esra 7,
28—29. 13, 32. 37. 52. 14, 9). Bei Henoch kommt einmal in einem
Teil der Handschriften die Bezeichnung Sohn des Weibes vor
{Henoch 62, 5); die Mehrzahl der besseren Handschriften hat dafür
„Mannessohntt. Daß der Messias aus Davids Geschlecht hervor-
gehen werde, war auf Grund der alttestamentlichen Weissagung14
allgemein anerkannt {Psalt. ScUom. XVII, 5. 23. Matth. 22, 42. Marc.
12, 35. Luc. 20, 41. Joh. 7, 42. IV Esra 12, 32 15. Targum Jonathan
zu Jes. 11, 1. Jer. 23, 5. 33, 15). Daher ist „Sohn Davids" eine
gewöhnliche Bezeichnung des Messias (im Neuen Testamente häufig
vlog Aavid, im Targum Jonathan zu Hosea 3, 5: f?^ na, im Schmone
Esre 15. Beracha: -rn Titel) 16. Als Davidide muß er auch in Beth-
1 ehern, der Stadt Davids, geboren werden {Micha 5, 1 nebst Tar-
gum. Matth. 2, 5. Joh. 7, 41—42).
Ob das vorchristliche Judentum den Messias lediglich als
Menschen oder als ein Wesen höherer Art gedacht, namentlich
schensohne". Wenn Lietzmann (Der Menschensohn 1896, S. 42 — 48)
und Wellhausen (Skizzen und Vorarbeiten VI, 1899, S. 199) betonen, daß
der Ausdruck „Menschensohn" bei Henoch nirgends Titel oder Name des
Messias sei, so ist das richtig, wenn man „Titel" oder „Name" im strengen
Sinne nimmt, denn es wird fast durchgängig mit dem Pronomen ,jener" auf
die grundlegende Beschreibung c. 46 zurückverwiesen. Aber durch den be-
harrlichen Gebrauch dieser Verweisung auch an Stellen, die schon weit von
c. 46 abliegen, ist der Ausdruck eben doch zu einer festen „Bezeichnung"
geworden; ja er ist schon nahe daran, ein Titel oder Name zu werden, wie
das zweimal (62, 7 und 69, 27) vorkommende „der Menschensohn" statt
„jener Menschensohn" zeigt. Es ist sehr mißlich, daß Lietzmann (S. 46) sich
bemüht, gerade diese beiden Stellen als Interpolationen nachzuweisen, so
zweifelhaft auch die Integrität des ganzen Abschnittes c. 37 — 71 sein mag.
Vgl. gegen Lietzmann und Wellhausen: Dal man, Die Worte Jesu 1898,
S. 199 f. Seh mi edel, Protestant Monatshefte 2. Jahrg. 1898, S. 252 ff. (bes.
255 ff.), 5. Jahrg. 1901, S. 333 ff. (bes. 339f.). Gunkel, Zeitschr. für wissen-
schaftl. Theol. 1899, S. 582—590. Baldensperger, Theol. Rundschau 1900,
S. 243 ff. Der s., Die messianisch-apokalyptischen Hoffnungen des Judentums
1903, S. 127 ff. Voiz, Jüdische Eschatologie S. 214 f. Bousset, Die Re-
ligion des Judentums 2. Aufl. S. 301—303.
14) Jesaja 11, 1. 10. Jeremia 23, 5. 30, 9. 33, 15. 17. 22. Ezechiel 34,
23 f. 37, 24 f. Hosea 3, 5. Arnos 9, 11. Micha 5, 1. Sacharja 12, 8.
15) Hier fehlen zwar die Worte qui orietur ex semine David in der latei-
nischen Übersetzung; aber nach dem einstimmigen Zeugnis der orientalischen
Versionen sind sie für ursprünglich zu halten.
16) Rabbinisches Material über „Sohn Davids" s, bei Dalman, Die
Worte Jesu S. 260—262.
616 § 29. Die messianische Hoffnung. [527. 528]
ob | es ihm Präexistenz zugeschrieben habe, ist bei der schwan-
kenden Chronologie der Quellen nicht mit voller Sicherheit zu ent-
scheiden17. Die ursprüngliche messianische Hoffnung er-
wartet überhaupt nicht einen Messias als Einzelpersön-
lichkeit, sondern theokratische Könige aus Davids Hause18.
Später konsolidiert und steigert sich die Hoffnung mehr und mehr
dahin, daß ein einzelner Messias als ein mit besonderen Gaben
und Kräften von Gott ausgerüsteter Herrscher erwartet wird. Im
Zeitalter Jesu Christi ist diese Form längst die vorherrschende.
Damit ist aber auch von selbst gegeben, daß das Bild mehr und
mehr übermenschliche Züge annimmt: je eximierter die Stellung
ist, die dem Messias angewiesen wird, desto mehr tritt auch er
selbst aus dem gemein- menschlichen Rahmen heraus. Dies ge-
schieht nun — bei der Freiheit, mit welcher der religiöse Vor-
stellungskreis sich bewegte — in sehr verschiedener Weise. Im
allgemeinen wird der Messias doch als menschlicher König
und Herrscher gedacht, nur als ein mit besonderen Gaben
und Kräften von Gott ausgerüsteter. Besonders klar ist dies
in den salomonischen Psalmen. Er erscheint hier ganz und gar
als menschlicher König (XVII, 23. 47), aber als ein gerechter
(XVII, 35), von Sünde reiner und heiliger (XVII, 41. 46), und durch
den heiligen Geist mit Macht und Weisheit und Gerechtigkeit aus-
gerüstet (XVII, 42). Dieselbe Anschauung ist nur auf einen kurzen
Ausdruck gebracht, wenn er Orac. SibylL III, 49 als äyvog ava£ be-
zeichnet wird. Anderwärts dagegen wird ihm auch Präexistenz
zugeschrieben und seine Erscheinung überhaupt mehr ins Über-
menschliche erhoben. So namentlich in den Bilderreden des
Buches Henoch und im vierten Buche Esra19. Zwar darf
17) Vgl. über die jüdischen Anschauungen von der Person des Messias
überhaupt: Bertholdt , Ohristologia Judaeorum p. 86 — 147. De Wette,
ßibliche Dogmatik S. 169—171. Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils II,
292—300. O eh ler in Herzogs Real-Enz. IX, 437 f. (2. Aufl. IX, 666 f.). Ca-
stellt, 11 Messia secondo gli Ebraei p. 202—215. Weber, System der alt-
synagogalen paläst. Theologie S. 339 ff. Hamburger, Beal-Enz. Art. „Messias"
(8. 738—765). Volz, Jüdische Eschatologie 8. 197—237. Klausner, Die
mes8iani8chen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter derTannaiten
8. 64—74. Bousset, Die Religion des Judentums 2. Aufl. S. 255—266.
297—308.
18) Die Verheißung eines Königs aus Davids Hause „auf ewig" hat zu-
nächst nur den Sinn, daß die Dynastie nicht aussterben werde. So wird
z. B. auch der Makkabäer Simon vom Volk zum Fürsten und Hohenpriester
„auf ewig" (elq xbv aUbva) gewählt (I Makk. 14, 41), d. h. es wird das Fürsten-
tum und tlohepriestertum in seiner Familie für erblich erklärt.
19) Vgl. über die Vorstellung von der Präexistenz des Messias: Hell-
[528. 529] III. Systematische Darstellung. 617
hierher nicht gerechnet werden, daß er, wie oben erwähnt, Sohn
Gottes genannt wird. Denn dieses amtliche Prädikat sagt über
sein Wesen überhaupt nichts ans. Auch die Bezeichnung als
Menschensohn bei Henoch entscheidet | an und für sich noch nichts.
Wohl aber ist die ganze Auffassung seiner Person in den beiden
genannten Schriften eine wesentlich übernatürliche. In den Bilder-
reden des Buches Henoch heißt es von ihm: Sein Name ward ge-
nannt vor dem Herrn der Geister, ehe die Sonne und die Zeichen
geschaffen, ehe die Sterne des Himmels gemacht waren (48, 3)20.
Er ward auserwählt und verborgen vor Gott, ehe denn die Welt
geschaffen wurde (48, 6). Von Anfang an ist er verborgen
gewesen und der Höchste hat ihn bewahrt (62, 7). Als daher Henoch
vom Engel durch die himmlischen Regionen geführt wurde, sah
er „den Auserwählten" und „seine Wohnung unter den Fittichen
des Herrn der Geister, und alle Gerechten und Auserwählten
strahlten vor ihm wie der Glanz des Feuers" (39, 6— 7)21. Noch
ein andermal, c 46, 1—4, beschreibt Henoch, wie ihm „jener Menschen-
sohn" gezeigt wurde. Sein Antlitz war voll Anmut gleich einem
der heiligen Engel (46, 1). Er ist es, der die Gerechtigkeit hat,
bei dem die Gerechtigkeit wohnt, und der alle Schätze dessen,
was verborgen ist, offenbart, weil der Herr der Geister ihn erwählt
hat, und dessen Los vor dem Herrn der Geister alles übertroffen
hat durch Rechtschaffenheit in Ewigkeit (46, 3). Seine Herrlich-
keit ist von Ewigkeit zu Ewigkeit, und seine Macht von Geschlecht
zu Geschlecht. In ihm wohnt der Geist der Weisheit, und der
Geist dessen, der Einsicht gibt, und der Geist der Lehre und der
Kraft, und der Geist derer, die in Gerechtigkeit entschlafen sind.
wag, Theol. Jahrbb. 1848, S. 151—160. — Dalman, Die Worte Jesu S. 245—
248. — Bar ton, On the jetcish-ckristian docirine of the prSextstence of the
Messiah (Journ. of Bibl. Lit. XXI, 1902, p. 78-91 [berührt die jüdische Vor-
stellung nur ganz kurz]). — Volz, Jüdische Eschatologie S. 216 — 219. —
Baldensperger, Die messianisch-apokalyptischen Hoffnungen S. 119 — 149.
— Brückner, Die Entstehung der paulinischen Christologie 1903, S. 97—173.
— Boußset S. 297 — 308. — Greßmann, Der Ursprung der israelitisch-jüdi-
schen Eschatologie 1905, S. 334 — 365. — Couard, Die relig. und sittl. An-
schauungen der ATI. Apokr. und Pseudepigr. 1907, 8. 204—213.
20) Vgl. Targum Jonathan, zu Sacharja 4, 7 : Der Messias, dessen Käme
genannt ist von Ewigkeit. — Dalman S. 247. Klausner S. 66.
21) Henoch hegt bei dieser Gelegenheit den Wunsch, ebenfalls dort zu
wohnen, wo ihm in der Tat „ein Anteil zuvor ausgemacht ist" (39, 8). Die
Erfüllung dieses Wunsches, also die Erhebung Henochs in den Himmel zu
dauernder Gemeinschaft mit dem „Menschensohn" — Messias, wird e. 70 — 71
berichtet. Es ist aber ein Mißverständnis, wenn man gemeint hat, Henoch
selbst werde mit dem Menschensohn ■=- Messias identifiziert, weil er 71, 14
auch „Mannessohn" angeredet wird.
618 § 29. Die messianische Hoffnung. [529. 530]
Und er wird richten die verborgenen Dinge, und niemand wird
eine eitle Rede vor ihm führen können, denn er ist aaserwählt
vor dem Herrn der Geister, nach seinem Wohlgefallen (49, 2—4).
Im wesentlichen übereinstimmend hiermit sind die Aussagen des
vierten Buches Esra. Man vergleiche namentlich 12, 32: Hie
est Unctu8j quem reservavit AlHssimus in finem, und 13, 26: Ipse est,
quem conservat AlHssimus mulHs temporibus. Wie hier die Prä-
existenz ausdrücklich gelehrt ist, so ist sie vorausgesetzt, wenn
14, 9 dem Esra verheißen wird, daß er nach seiner Aufnahme in
den Himmel verkehren werde mit dem Messias (tu enim reeipieris
ab Iwminibus, et converteris residuum cum filio meo et cum simihbus
tuis, usquequo finiantur tempora). Und ganz übereinstimmend mit
Henoch wird die Präexistenz als ein Zustand der Verborgenheit
bei Gott bezeichnet, 13, 52: Sicut non potest hoc vel scrutinare vel scire
quisy quid sit in profundo maris, sie non poterit quisquam super terram
videre filium meum, vel eos qui cum eo sunt, nisi in tempore ddei. —
Manche wollen nun freilich diese ganze Gedanken reihe auf christ-
liche Einflüsse zurückführen; aber schwerlich mit Recht Sie ist
ja von alttestamentlichen Prämissen aus vollständig zu begreifen.
Schon solche Aussagen, wie Micha 5, 1, daß die Ursprünge des
Messias von Alters her sind, I von den Tagen der Urzeit (oigTQ
Dbi* h*ptt), konnten leicht im Sinne einer Präexistenz von Ewig-
keit her verstanden werden. Und vollends die Steile Daniel 7,
13—14 brauchte nur eben von der Person des Messias verstanden
und wörtlich genommen zu werden, so war die Lehre von der
Präexistenz von selbst gegeben. Denn wer vom Himmel herab-
kommt, von dem ist selbstverständlich, daß er vordem im Himmel
gewesen ist. Befördert wurde diese Auffassung dadurch, daß über-
haupt der Zug der ganzen Entwickelung dahin ging, alles wahr-
haft Wertvolle als im Himmel präexistierend zu denken 22. Andere
orientalische Parallelen, wie sie namentlich von Bousset und Greß-
mann herangezogen worden sind, liegen so weit ab, daß sie nicht
zur Aufhellung des Problemes dienen. — Wenn im nachchristlichen
Judentum die Idee von einem präexistenten Messias wieder zurück-
getreten und darauf beschränkt worden ist, daß der Name des
Messias präexistiert habe (s. Anm. 20), so steht dies in Einklang
mit der Tatsache, daß überhaupt das nachchristliche Judentum im
22) S. oben S. 586, Harnack zu Hermas Vis. II, 4, 1 (nach Hermas
ist die christliche Kirche präexistent), und bes. Harnack, Dogmengeschichte
I, 2. Aufl. S. 710-719 (3. Aufl. 8. 755—764). — Schon im Alten Testamente
wird ein himmlisches Vorbild für das Zelt der Offenbarung und dessen Ge-
räte vorausgesetzt, Exod. 25, 9 u. 40. 26, 30. 27, 8. Num. 8, 4.
[530. 531] III. Systematische Darstellung. 619
Gegensatz gegen das Christentum die menschliche Seite des Messias
wieder stärker betont hat. Man erinnere sich nur an die Worte
in Justins Dialogus cum Tryphone c. 49: Jtavxsq tjfielq top Xqioxov
av&Q&xov ig dvd-Qcbjccov jcQOödoxcöfiev yspfiasöd-ai. Und ver-
wandt hiermit ist eine talmudische Stelle, jer. Taanith II, 1 (mit-
geteilt von Oehler IX, 437; 2. Aufl. IX, 667): „Es sprach R. Abbahu:
sagt ein Mensch zu dir, Gott bin ich, so lügt er; des Menschen
Sohn bin ich, so wird er es zuletzt bereuen; ich fahre gen Himmel
— hat er es gesagt, so wird er es nicht bestätigen". Das nach-
christliche Judentum hat also gerade die Menschheit stark betont
Umsoweniger haben wir Ursache, die Anschauung von der Prä-
existenz auf christlichen Einfluß zurückzuführen.
Über die Zeit der Erscheinung des Messias haben die späteren
Rabbinen allerlei spitzfindige Berechnungen angestellt23. Ziemlich
verbreitet scheint die Ansicht gewesen zu sein, daß die gegen- Vj
wärtige Welt sechstausend Jahre dauern werde, ent-
sprechend den sechs Schöpfungstagen, denn ein Tag ist für Gott
wie tausend Jahre 24. Doch wird auch unter dieser Voraussetzung |
die Zeit für die Ankunft des Messias wieder verschieden berechnet,
je nachdem man die Tage des Messias mit dem künftigen obi?
identifiziert oder noch zum gegenwärtigen Dbi* rechnet (vgl. unten
Nr. 9). Nach der ersteren, jedenfalls älteren Auffassung würde
die messianische Zeit nach Ablauf des sechsten Jahrtausends an-
brechen (so Barnabas, Irenäus, Hippolytus u. a.). Unter der anderen
Voraussetzung (daß die Tage des Messias noch zum gegenwärtigen
Dbi* gehören) wird im Talmud der gegenwärtige Weltlauf in drei
Perioden eingeteilt: 2000 Jahre ohne Gesetz, 2000 Jahre unter dem
Gesetz, und 2000 Jahre messianische Zeit. Die für den Messias
bestimmte Zeit wäre hiernach bereits angebrochen; aber der Messias
23) Sanhedrin 96t> — 97a, vollständig mitgeteilt in Delitzschs Kommentar
zum Briefe an die Hebräer S. 762—764, bei Cas teilt, II Messia p. 297 sqq.
und Wünsche, Der babylonische Talmud IL Halbbd., 3. Abt 1889, 8. 190 f.
Vgl. Weber, System S. 334 f.
24) Barnabas c. 15; Irenaeus V, 28, 3; Hippolytus, comment. in Daniel
IV, 23 ed. Bonwetsch p. 242 — 245. Das slavische Henochbuch, deutsch von
Bonwetsch (Abhandlungen der Göttinger Ges. der Wissensch. N. F. Bd. I Nr. 3,
1896) S. 31, dazu Bonwetsch 8. 6. — Thilo, Codex apocr. N. T. p. 692 sq.
Hilgenfelds und Harnacks Anmerkungen zu Barnabas c. 15. Kuenen,
Der Stammbaum des maso retischen Textes des A. T., in: Gesammelte Ab-
bandlungen, deutsch von Budde, 1894, 8. 82 ff. Hamburger, Real-Enz. für
Bibel und Talmud, Suppl. II, 1891, Art. „Chiliasmus". — Überhaupt über die
Frage: Wann kommt das Ende? s. Volz S. 162—172. Bousset S. 282 f. —
Über die komplizierten Berechnungen der byzantinischen Chronographen s.
v. Dobschütz, Byzantinische Zeitschr. Xu, 553 ff.
620 § 29. Die messianische Hoffnung. [531. 532]
konnte noch nicht kommen wegen der Verschuldungen des Volkes25.
— Dies letztere ist nun überhaupt, wenigstens in den streng ge-
setzlichen Kreisen, allgemeine Anschauung: der Messias kann
erst kommen, wenn das Volk Buße tut und das Gesetz
vollkommen erfüllt „Wenn ganz Israel zusammen einen Tag
lang gemeinsam Buße täte, so würde die Erlösung durch den
Messias erfolgen*4. „Wenn Israel nur zwei Sabbathe hielte, wie
es sich gebührt, so würden sie sofort erlöst"26.
Die Art der Ankunft des Messias wird als eine plötzliche vor-
gestellt: mit einem Maie ist er da und tritt als siegreicher Herrscher
auf. Da andererseits vorausgesetzt wird, daß er als Sind in
Bethlehem geboren werde, so wird beides miteinander vereinigt
durch die Annahme, daß er zunächst in Verborgenheit leben und
dann plötzlich aus der Verborgenheit hervortreten werde27.
Darum sagen die Juden im Evang. Joh. 7, 27: 6 Xquotos oxav bq-
XVTait ovöelq yipcioxei jco&sv köriv. Und in Justins Dialogus
cum Tryphone wird eben deshalb von dem Vertreter der jüdischen
Ansicht die Möglichkeit offen gelassen, daß der Messias | bereits
geboren und nur noch nicht geoffenbart worden sei28. Im jerusa-
lemischen Talmud wird erzählt, daß der Messias an dem Tage,
da der Tempel zerstört wurde, in Bethlehem geboren worden, aber
einige Zeit darauf seiner Mutter durch einen Sturmwind entführt
worden sei29. Auch im Targum Jonathan zu Micha 4, 8 wird vor-
ausgesetzt, daß er bereits vorhanden, aber noch verborgen sei,
und zwar wegen der Sünden des Volkes. Bei Späteren findet
sich die Ansicht, daß er von Rom ausgehen werde30. Allgemein
25) S. Delitzsch und Weber a. a. O. (Sanhedrin 97»; Aboda sara 9»).
26) S. Weber, System S. 333 f. Doch vgl. auch Livi, La diseussion de
R. JosuS ei de R. ßliexer sur les conditions de Vavenement du Messie (Revue
des etudes juives XXXV'1897, p. 282 — 285). Klausner, Die messianischen
Vorstellungen S. 34-46.
27) Vgl. Lightfoot, Horae Hebraieae zu Joh. 7, 27. Qfrörer, Das Jahr-
hundert des Heils II, 223—225. Oehler in Herzogs Real-Enz. IX, 433 (2. Aufl.
IX, 668). Drummond, The Jewish Messiah p. 293 sq. Weber, System
S. 342 ff.
28) Dial. c. Tryph. c. 8: Xoiazdq 6h et xal yeyivTjrai xal hnt nov, äy-
vwatoq ioti xal oüdh abzöq tcw kavvdv bclaxaxai obtih }%£i 6vvaulv tiva. —
Ibid. c. 110: el 6h xal iXrjXv&ivai Xtyovoiv, oi yiv&axBtai üq iaxiv, &AX* dxav
i/ucpavt/t; xal fvctofoc ytvrjxat, xoxe yvwo&^jaexat dq toxi, <paol.
29) S. die ganze Stelle bei Lightfoot, Horae zu Matth. 2, 1. Drum-
mond, The Jeicish Messiah p. 279 sq.
30) Targum Jeruschalmi zu Exod. 12, 42, und bab. Sanhedrin 98*. Letztere
Stelle mitgeteilt in Delitzschs Kommentar zum Hebraerbrief S. 117; bei
Wünsche, Die Leiden des Messias (1870) S. 57 f. und Wünsche, Der baby-
lonische Talmud II, 3 S. 200.
[532. 533] III. Systematische Darstellung. 621
aber war der Glaube, daß er bei seinem Auftreten sich durch
Wunder legitimieren werde (Matth. 11, 4 ff. Luc. 7, 22 ff. Joh.
7, 31).
4. Letzter Angriff der feindlichen Mächte31. Nach dem
Erscheinen des Messias werden sich die heidnischen Mächte zu
einem letzten Angriff gegen ihn versammeln. Auch diese Erwartung
war durch alttestamentliche Stellen, namentlich durch Daniel 11,
nahegelegt. Am deutlichsten findet sie sich ausgesprochen Orae.
SibylL III, 663 sqq. und IV Esra 13, 33 ff., auch Henoch 90, 16, nur daß
es sich hier um einen Angriff nicht gegen den Messias, sondern
gegen die Gemeinde Gottes handelt. — Mehrfach wird angenommen,
daß dieser letzte Angriff erfolgt unter Führung eines Haupt-
widersachers des Messias, eines „Antichristus" (der Name
im Neuen Testamente in den johanneischen Briefen I Joh. 2, 18. 22;
4, 3; II Joh. 7; die Sache: Apoc. Baruch. c. 40. II Thess. 2. Apoc.
Joh. 13) 32. In | spätrabbinischen Quellen kommt für diesen Haupt-
widersacher des Volkes Israel der Name Armilus (o^eik),
31) S. Drummond, The Jewish Messiah p. 296—308. — För das A. T.:
I Herrn. Schultz, Alttestamentliche Theologie, 2. Aufl. 1878, S. 696; kürzer
5. Aufl. S. 579 f.
1 32) Vgl. Bertholdt, Ohristoloyia Judaeorum p. 69—74. — Gesenius,
Art. „Antichrist" in Ersch und Grubers Enzykl. Sektion I, Bd. 4 (1820)
8. 292 ff. — Böhmer, Zur Lehre vom Antichrist, nach Schueckenburger
(Jahrbb. für deutsche Theologie 1859, S. 40.3 — 467). — Hausrath in Schenkels
Bibeliex. I, 137 ff. — Kahler in Herzogs Real-Enz. 2. Aufl. 1, 446 ff. — Hang,
Die biblische Lehre vom Antichrist (Theol. Studien aus Württemberg V, 1884,
8. 188—245, 283-328). — Fehr, Studio, in oracula Sibyttina, UpsaL 1893,
p. 53 — 69. — Bousset, Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums,
des neuen Testaments und der alten Kirche, 1895. — Sieffert, Art. „Anti-
christ" in Herzog-Hauck, Real-Enz. I, 1896, S. 577— 584. — Erbes, Der Anti-
christ in den Schriften des N. T. (Theol. Arbeiten aus dem rhein. wissensch.
Prediger- Verein, Neue Folge 1. Heft 1897, S. 1— 59). — Friedländer, L'Anti-
Messie (Revue des Studes juives t. XXXVIII, 1899, p. 14—37). Ders., Der Anti-
christ in den vorchristlichen jüdischen Quellen, 1901. — Charles, The Ascen-
sion of Isajah 1900, p. LI— LXXIII. — L. Ginxberg, Art. Antichrist in: The
Jewish Eneyelopedia I, 625—627. — Geffcken, Die Sage vom Antichrist
(Preuß. Jahrbb. Bd. 102, 1900, S. 385—399). — Bousset, Die Religion des
Judentums 2. Aufl. S. 291—294. — Die Ausleger zu II. Thcss. c. 2, bes. Bor-
nemann in Meyers Kommentar über das N. T. X, 5.-6. Aufl. 1894, S. 348—
382 u. 400—459. — Neumann, Hippolytus von Rom 1902, S. 1-61. — Für
die Geschichte der christlichen Lehre ist das Hauptwerk: Malvenda, De
Antichrist o, Romae 1604. Vgl. auch: Wadstein, Die eschatologische Ideen-
grappe: Antichrist Weltsabbat Weltende und Weltgericht in den Haupt-
momenten ihrer christlich -mittelalterlichen Gesamtentwicklung (Zeitschr.
für wissensch. Theol. 1895, S. 538-616. 1896, S. 79-157, 251—293, auch
separat).
622 § 2a Die messianische Hoffirang. [533. 534]
cL h. Roma las. vor"; griechisch korrumpiert 'EQpoXaog**. Aach
das Wiederauftreten von Gog und Magog wird a&f Grund voa
Ezceh. c. 38—39 erwartet, doch in der Regel erst nach Ablauf des
messianischen Beiches als letzte Manifestation der widergöttlichen
Mächte (Apoc. Joh. 20, 8—9) 35.
5. Vernichtung der feindlichen Mächte35. Die Vernich-
tung der feindlichen Mächte «-folgt nach der alttestamentlichen
Weissagung durch ein gewaltiges Strafgericht, welches Gott selbst
über seine Widersacher hereinbrechen läßt37. Am treuesten ist
diese Anschauung festgehalten in der Assumptio Mosis, deren 10. Ka-
pitel mehrfach an Jod «.3—4 erinnert Hiermit am nächsten ver-
wandt ist die Darstellung in der Grundschrift des Buches Henoch. j
insofern auch hier Gott selbst die Macht der heidnischen Völker
33) Buztorf, Lex. Chaid. coL 221—224 s.v. onV'r-'.x — Eisenmenge r,
Entdecktes Judenümm (1700) 11, 704—715. — Zunz, Die gottesdienstlichen
Vortrage der Jaden 8. 282, auch S. 130, 140. — Jellinek, Bet ha-Midrasch,
Vorbemerkungen zu B<L I, ET, m (daselbst I, 35—57, n, 54-63, UI, 65—68,
7S— 82 verschiedene Texte über Armilus). — Levy, Chald. Wörtern. I, 66
(zu den Targum-Stellen s. auch : Zeitachr. für wissensch. TheoL 1888, 8. 48). —
Hamburger, Real-Enz. n, 72t: (Art „Armilus"). — Castelli, II Messia
p. 239 sqq. — Nöldeke, Zeitschr. der DMG. Bd. 39, 1885, S. 343, in der Be-
sprechung von Mommsens römischer Geschichte („Das ist einfach <PmuvXo<;1
der auch syrisch in der Schreibung Dixbr-ü< vorkommt [Lagarde Ana/. 203, 3J;
Romains ist hier der Vertreter Borns"; ebenso Zunz, Die gottesdiensü. Vor-
trage 8. 282, der auch rabbinische Stellen über Bomulus und Remus nach-
weist). — Dal man, Der leidende und der sterbende Messias der Synagoge
1888, S. 13 £ — Bousset, Der Antichrist 8. 66 ff. — Kaufmann, Bez. von
Boussets Antichrist, in der Monatsschr. f. Gesch. und Wissensch. des Judent
Bd. 40, 1896, S. 134 ff. (lehnt die Gleichung Ärmüus = Bomuhts ab). — S.
Krauß, Griech. und lat Lehnwörter I, 241—243, U, 132. — L. Oinxberg,
Art. Armilus in : The Jetcish Eneyelopedia II, 19G2, p. 118—120.
34) So z.B. in der JiSaaxakia 'laxwßov veoßa7txiaxovf heransg. von Bon -
wetsch, Nachrichten der Göttinger Gesellsch. der Wissensch., phil.-hißt. Kl.
1899, S. 418. 431. 439.
35) Vgl. Orac. Sibyll. III, 319 sqq. 512 sqq. Mischna Edujoth II, 10. — Die
Kommentare zu Apoc. Joh. 20, 8—9. — Die Artikel über Gog und Magog
in den biblischen Wörterbüchern (Winer, Schenkel, Riehm); und in Her-
zog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VI, 761—763 (von Orelli). — Uhlemann,
Über Gog und Magog (Zeitschr. f. wissenschaftl. Theol. 1862, S. 265-286). —
Böhmer, Wer ist Gog von Magog? (Zeitschr. f. wiss. Theol. 1897, 8. 321—
äoö). — Benan, Der Antichrist S. 356. — Weber, System S. 369ff. —
Bousset, Zeitschr. f. Kirchengesch. XX, 1900, S. 113—131. Der*., Die Re-
ligion des Judentums S. 251 — 253. — Klausner, Die messianischen Vorstel-
lungen S. 99 ff
36) Vgl. Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils II, 232— 234.— Bousset,
™- Religion des Judentums 8. 253—255.
M) 8. überhaupt: Knobel, Der Prophetismus der Hebräer I, 325 t
[534] III. Systematische Darstellung. 623
vernichtet (90, 18—19), und dann das Gericht hält, bei welchem
jedoch nur die abgefallenen und ungehorsamen Engel und die ab-
trünnigen Israeliten (die verblendeten Schafe) gerichtet werden
(90, 20—27), während die übriggebliebenen Heidenvölker der Ge-
meinde Glottes sich unterwerfen (90, 30). Der Messias, der in der
AssumpHo Mosis überhaupt fehlt, erscheint hier erst nach dem Ge-
richte (90, 37). Beiden ist also gemeinsam, daß Gott selbst das
Gericht hält. Dief gewöhnliche Anschauung aber war, daß der
Messias die feindlichen Mächte vernichten werde. Schon in der
ältesten Sibylle (III, 652 ff.) tritt er auf, um „allem Krieg auf Erden
ein Ende zu machen, die einen tötend, den andern die gegebenen
Verheißungen erfüllend". Bei Philo (De praem. et poen. § 16) heißt
es von ihm, daß er „zu Felde zieht und Krieg führt und große
und volkreiche Nationen bezwingen wird". Noch deutlicher er-
scheint er im PscUterium Salomonis als Besieger der heidnischen
Widersacher des Volkes Gottes, und es verdient hier besonders
beachtet zu werden, daß er durch das bloße Wort seines Mundes
(h Xoycp ötofiarog avrov, nach Jes. 11, 4) seine Feinde darnieder-
wirft (XVII, 27. 39). Im Einklang mit diesen älteren Vorbildern
wird dann namentlich in der Apokalypse Baruchs und im vierten
Buche Esra die Vernichtung der heidnischen Weltmächte als das
erste Geschäft des erschienenen Messias dargestellt (Apocal. Baruck.
39, 7—40, 2. 70, 9. 72, 2-6. IV Esra 12, 32—33. 13, 27—28.
35—38). .Hierbei waltet jedoch der Unterschied ob, daß nach dem
vierten Buche Esra diese Vernichtung ausschließlich durch einen
Richterspruch des Gesalbten Gottes erfolgt (13, 28: non tenebat
frameam neque vas betticosum, 13, 38: perdet eos sine labore per legem),
während in der Apokalypse Baruchs zwar auch von forensischen
Formen, zugleich aber auch von Kriegswerkzeug die Rede ist
(ersteres 40, 1—2, letzteres 72, 6).
Noch bestimmter als im vierten Buche Esra wird in den Bilder-
reden des Buches Henoch das Gericht des Messias über die
widergöttliche Welt als ein rein forensisches geschildert
Es hängt das zusammen mit der Auffassung vom Wesen des Messias,
welche in diesen Apokalypsen herrscht. Er ist nicht ein mächtiger
Krieger, sondern ein vom Himmel herabkommendes übermensch-
liches Wesen. So vollzieht er die Strafe an den Feinden der Ge-
meinde Gottes nicht als Kriegsheld, sondern als von Gott
eingesetzter Richter. Zwar klingen auch hier noch die kriege-
rischen Töne an. Es wird Kap. 46, 4—6 von dem Menschensohn
gesagt, daß er die Könige und Mächtigen aufscheucht von ihren
Lagern und die Zäume der Gewaltigen löst und die Zähne der
Sünder zermalmt; daß er die Könige von ihren Thronen und aus
i
i
624 § 29. Die messiamsche Hoffnung. [534. 535]
ihren Reichen verstößt; und Kap. 52, 4—9: daß nichts auf Erden
vor seiner Macht standzuhalten vermag. „Es wird kein Eisen
geben für den Krieg, noch Zeug zum Brustpanzer; Erz wird nichts
nützen, und Zinn wird nichts nützen, und nichts gelten, und | Blei
wird nicht begehrt werden". Aber eben hieraus sieht man, daß
es sich nicht um Kampf, sondern um Vernichtung der Feinde durch
höhere Gewalt handelt Und so wird denn durchweg die Funktion
des Messias als die eines souveränen Richters geschildert Er ist
dazu befähigt als der, der den Geist der Weisheit und der Ein-
sicht hat; er wird das Verborgene richten, und niemand wird
vor ihm unnütze Reden führen können (49, 3—4). Er, der Aus-
erwählte, der Menschensohn, wird sitzen auf dem Throne seiner
Herrlichkeit, auf welchen Gott ihn setzt, um Gericht zu halten
über die Menschen und über die Engel (45, 3. 51, 3. 55, 4. 61,
8—10). Am eingehendsten sind die Schilderungen c 62 und 69.
Der Herr der Geister setzt ihn [so ist statt „saß" wohl zu lesen]
auf den Thron seiner Herrlichkeit. Und die Rede seines Mundes
tötet alle Sünder, und alle Ungerechten werden vor seinem Antlitz
vernichtet (62, 2). Und die Könige und Mächtigen der Erde, wenn
sie ihn sehen, werden in Furcht und Schrecken geraten und ihn
rühmen und preisen und anflehen und Barmherzigkeit von ihm
erbitten (62, 4—9). Aber der Herr der Geister wird sie drängen,
daß sie eilends hinweggehen vor seinem Angesicht; und ihre An-
gesichter werden mit Schande erfüllt werden, und Finsternis wird
man darauf häufen. Und die Strafengel werden sie in Empfang
nehmen, um Vergeltung an ihnen zu üben dafür, daß sie seine
Kinder und Auserwählten mißhandelt haben (62, 10—11). In der
anderen Schilderung (& 69) heißt es: Er setzte sich auf den Thron
seiner Herrlichkeit und die Summe des Gerichts ward ihm, dem
Menschensohne, übergeben, und er läßt verschwinden und vertilgt
die Sünde vom Antlitz der Erde und die, welche die Welt verfahrt
haben. Mit Ketten werden sie gebunden und an ihrem dem Ver-
derben geweihten Versammlungsorte eingeschlossen werden, und
all ihr Werk wird verschwinden vom Antlitz der Erda Und von
nun an wird es nichts Verderbtes mehr geben (69, 27—29).
In den Targumen finden wir wieder die Vorstellung, daß der
Messias als ein mächtiger Kriegsheld seine Feinde im Kampfe be-
siegt So bei Jonathan zu Jesaja 10, 27: „Zermalmt werden die
Völker durch den Messias"; und besonders Pseudo-Jonathan und
Jeruschalmi zu Genesis 49, 1 1 : „Wie schön ist der König Messias,
der aufstehen wird aus dem Hause Juda. Er gürtet seine Lenden
und tritt auf den Plan und ordnet die Schlacht gegen seine Feinde
und tötet Könige". Man sieht eben, daß die allen gemeinsame Idee
I
[535. 536] III. Systematische Darstellung. 625
einer Vernichtung der widergöttlichen Mächte durch den Messias
im einzelnen sich sehr verschiedenartig gestaltet38. — Erst nach
Vernichtung der Gottlosen kann nun die | messianische Zeit ein-
treten. Denn „so lange die Frevler in der Welt sind, so lange
dauert Gottes Zorn; sowie sie aber von der Welt schwinden, weicht
auch der göttliche Zorn von der Welt**39.
6. Erneuerung Jerusalems40. Da das messianische Reich
im heiligen Lande aufgerichtet wird (vgl z. B. IV Esra 9, 8), muß
vor allem Jerusalem selbst erneuert werden. Es wurde dies aber
in verschiedener Weise erwartet Am einfachsten in der Art, daß
38) In einer Barajtha {bab. Sukka 52a) ist von einem „Messias Sohn
Josephs" die Rede, von welchem nur gesagt wird, daß er getödtet wird,
während dem Messias Sohn Davids das Leben verheißen wird. Eben dort
(Sukka 52a) wird auch Saeharja 12, 10 auf ihn bezogen, ohne daß über Grund
und Art seines Todes Näheres gesagt würde. In jüngeren Quellen wird
diesem untergeordneten Messias, der auch „Messias Sohn Ephraims"
heißt, die Aufgabe zugeschrieben, die Hauptfeinde des Volkes Gottes zu be-
siegen. Die Entstehung dieser ganzen Vorstellung liegt im Dunkel. Viel-
leicht ist sie aus der Doppelnatur und Doppelaufgabe des Messias (kriege-
rischer Held und Bringer des Heils) entsprungen, die man auf zwei Personen
verteilte: der eine kämpft und fallt im Kampf, der andere, der als der Heilige
dafür zu hoch steht, bringt nur das Heil. Während letzterer aus Davids
Geschlecht stammt, ließ man jenen aus dem Stamme Joseph oder Ephraim
hervorgehen (so Klausner). Dalman hält Deut. 33, 17 für die Quelle der Vor-
stellung, Rabinsohn leitet sie aus Saeharja 12, 10 ab. Als Messias der zehn
Stämme wird er nirgends beschrieben; ebensowenig ist sein Tod als sühnender
gedacht. Vgl. überhaupt: Bertholdt, Ghristologia Judaeorum p. 75—81. De
Wette, Opu8cida p. 108 sqq. (in der Abhandlung De morte Jesu Ghristi expia-
toria). Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils H, 258 ff. Beer, Zeitschr. der
DMG. IX, 1855, S. 791 ff. (in den Beiträgen zu der Alexandersage). Oehler
in Herzogs Real-Enz. IX, 440 (2. Aufl. IX, 669 f.). Wünsche, Die Leiden
des Messias S. 109—121. Gastelli, II Messia p. 224-236, U2sqq. Drum-
mond, The Jewish Messiah p. 356 sqq. Weber, System S. 346 f. Hamburger,
Real-Enz. H, 767—770 (Art. „Messias Sohn Joseph"). E. G. King, The Yalkuth
on Zechariah, translaied wüh Notes and Appendices, 1882, Appendix A, p. 85 — 108 :
on Messiah ben Joseph (zitiert von Stanton p. XH). Dalman, Der leidende und
der sterbende Messias der Synagoge, 1888, S. 1— 26. Hamburger, Real-Enz.
Suppl. II, 1891, S. 112 f. (in dem Art.: Messianische Bibelstellen). Klausner,
Die messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes S. 86 — 99. Bonsset,
Die Religion des Judentums 2. Aufl. S. 264 — 266. Rabinsohn, Le Messia-
nisme p. 66 — 78.
39) Misehna Sanhedrin X, 6 fin.
40) Vgl. Schoettgen, De Hierosolyma coelesti (Horae Hebraicael, 1205 —
1248). — Meuschen, Nov. Test ex Talmude iUustratum p. 199 sq. — Wetstein,
Nov. Test., zu Oal. 4, 26. — Eisenmenger, Entdecktes Juden thum H, 839 ff.
— Bertholdt, Ghristologia Judaeorum p. 217 — 221. — Gfrörer, Das Jahr-
hundert des Heus II, 245 ff. 308. — Weber, System S. 356 ff. — Volz S. 334
—339. — BoussetS. 273—275.
Schür er, Geschichte II. 4. Aufl* 40
V •
626 § 29. Die messianische Hoffnung. [536. 537]
man nur eine Reinigung der heiligen Stadt, namentlich „von den
Heiden, die sie jetzt zertreten", erwartete (Psalt Salom. XVII, 25. 33),
was sich nach der Zerstörung Jerusalems zu einer Hoffnung der
Wiedererbauung gestaltete, und zwar der Wiedererbauung „zu
einem ewigen Bau" (Schmone Esre, 14. ßeracha). Daneben aber
findet sich auch die Anschauung, daß schon in der vormessianischen
Zeit ein viel herrlicheres Jerusalem, als das irdische ist, bei Gott
im Himmel vorhanden sei, und daß dieses beim Anbruch der mes-
sianischen Zeit auf die Erde herabkommen werde. Die alttestament-
liche Grundlage dieser Anschauung ist besonders Ezechiel 40 — 48,
auch Jes. 54, 11 ff. c. 60. Haggai 2, 7—9. Sacharja 2, 6—17, indem
man das an diesen Stellen beschriebene neue Jerusalem als jetzt
schon im Himmel vorhanden dachte. Bekanntlich ist auch im
Neuen Testamente öfters von diesem avm €IeQovaakrjfi (Gal 4, 26),
^IsQovöaXfjfi kxovQavioq (Hebr. 12, 22), xaivrj 'isQovoaXrjfi (ApocaL
3, 12. 21, 2. 10) die Rede; vgl. auch Test. Dan. c. 5: r\ via Vepov-
oaXrjti. Nach der Apokalypse Baruchs stand dieses himmlische
Jerusalem ursprünglich, ehe Adam sündigte, im Paradiese. Als er
aber Gottes Gebot übertrat, wurde es von ihm genommen und im
Himmel aufbewahrt, wie auch das Paradies. Später wurde es dem
Abraham im nächtlichen Gesichte gezeigt, und ebenso dem Moses
auf dem Berge Sinai (Apoc. Baruch. 4, 2—6). Auch Esra sah es
im Gesichte (IV Esra 10, 44—59). Dieses neue und herrliche Je-
rusalem wird also auf Erden erscheinen an der Stelle des alten,
und seine Pracht und Schönheit wird die des alten um vieles über-
treffen (Ilenoch 53, 6. 90, 28—29. IV Esra 7, 26. Vgl. auch Apoca!.
Baruch. 32, 4). Die Fortdauer dieser Hoffnung in ihrer sinnlichen
Realität ist auch durch Hieronymus bezeugt, der sie seinerseits
als eine jüdische und judenchristliche heftig bekämpft41.
7. Sammlung der Zerstreuten42. Daß an dem messiani-
schen Beiche auch die Zerstreuten Israels teil haben und zu diesem
Zwecke nach Palästina zurückkehren würden, war so selbstver-
41) Hieronymus, Comment. in Jes. 49, 14 (opp. ed. Vallarsi IV, 570): Je-
rusalem, quam Judaei et nostri Judaixantcs juxta apocalypsim Joarmis, quam
non intelligunt, putant auream atque gemmatam de coeiestibus ponendam, cujus
terminos et infinitam latitudinem etiam in Exechielis ultima parte describi.
Ähnlich comment in Exech. 36 ( Vallarsi V, 422), comment. in Jod 3, 16 ( Val-
larsi VI, 214).
42) Vgl. Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils II, 235—238. — Volz,
Jüdische Eschatologie S. 309— 312. 341. — Klausner, Die messianischen Vor-
stellungen des jüdischen Volkes S. 75 — 85. — Bousset, Die Religion des
Judentums S. 271 f. — Die Reihenfolge: 1) Erneuerung Jerusalems, 2) Samm-
lung der Zerstreuten, nach dem Sohar bei Gfrörer II, 217 oben.
[537. 538] IIL Systematische Darstellung. 627
ständlich, daß man auch ohne die bestimmten Weissagungen des
Alten Testamentes diese Hoffnung gehegt haben würde. Selbst
Jesus Sirach betet: „Sammle alle Stämme Jakobs, damit sie ihr
Erbe einnehmen wie vorlängst" (33, 13a + 36, 16b; über den nur
im Hebr. stehenden Preis Gottes als dessen, „der die Zerstreuten
Israels sammelt" 51, 12, 6, s. oben S. 591 f.). In poetischer Weise
schildert das Psalterium ScUomonis (Ps. XI), wie vom Abend und
Morgen, vom Norden und von den Inseln her die Zerstreuten Israels
sich sammeln und nach Jerusalem ziehen. Zum Teil wörtlich da-
mit übereinstimmend äußert sich das griechische Buch Baruch
(4, 36—37. 5, 5—9). Philo sieht die Zerstreuten unter Führung
einer göttlichen Erscheinung von überall her nach Jerusalem ziehen
(De exsecrationibus § 8—9). Auch die Weissagung des Jesaja, daß
die Heidenvölker selbst die Zerstreuten als Opfergaben zum Tempel
zurückbringen werden (Jes. 49, 22. 60, 4. 9. 66, 20), kehrt im
Psalterium Sabmonis wieder (XVII, 34), während gleichzeitig die
Sammlung auch als Werk des Messias dargestellt wird (Psalt. Salom.
XVII, 28. Targum Jonathan zu Jerem. 33, 13). Nach dem vierten
Buche Esra sind die zehn Stämme in ein bis dahin unbewohntes
Land namens Arzareth (so die lateinische Version) oder Arxaph
(finis mundi, so die syrische Version) gezogen, um dort ihre Gesetze
zu beobachten43. Von da werden sie beim Anbruch der messia-
nischen Zeit wieder zurückkehren; | und der Höchste wird die
Quellen des Euphrat verstopfen, damit sie herüber können (IV Esra
13, 39—47). Bei der Allgemeinheit der Hoffnung auf Sammlung
der Zerstreuten ist es auffallend, daß überhaupt von Einzelnen die
Kückkehr der zehn Stämme bezweifelt wurde44. Aber aus der
43) Arxareth ist = mn&t "pa, terra alia (IV Esra 13, 40); der hebräische
Ausdruck Deut. 29, 27, welche Stelle in der Mischna Sanhedrin X, 3 auf die
zehn Stamme bezogen wird (». die folgende Anmerkung). Diese zweifellos
richtige Erklärung hat zuerst Schiller-Szinessy gegeben (Journal of Phi-
lology, vol. III, 1870); hiernach Bensly, The missing fragment of the latin
translation of the fourth book of Exra (1875) p. 23 Anm.
44) Sanhedrin X, 3 fin.: „Die zehn Stämme kommen niemals mehr zu-
rück, denn es heißt von ihnen (Deut. 29, 27): Er wird sie in ein anderes Land
schleudern wie diesen Tag. Also wie dieser Tag dahin geht und nicht wieder-
kehrt, so sollen sie auch dahingehen und nicht wiederkehren. So R. Akiba.
R. Elieser aber sagt: Wie der Tag finster und wieder hell wird, so wird den
zehn Stämmen, denen es finster ward, auch einst wieder Licht werden". —
Die Tradition schwankt übrigens hinsichtlich der Autoritäten, welche diese
Sätze vertreten. In den Aboth de-Rabbi Nathan wird die letztere (gunstige)
Ansicht dem R. Akiba, die ungünstige dem R. Simon ben Jochai zugeschrieben.
Andere haben wieder anders. S. das Genauere bei Bacher, Monatsschr. für
Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1882, S. 354 f. = Die Agada der Tan-
naiten I, 143 f. 2. Aufl. I 137 f.; vgl. ebendas. II, 145. 472.
40*
628 § 29« Die messianische Hoffnung. [538. 539J
täglichen Bitte des Schmone Esre (10. Beracha): „Erhebe ein
Panier, um zn sammeln unsere Zerstreuten, und versammele uns
von den vier Enden der Erdett ersieht man, daß solche Zweifel
doch nur vereinzelt waren45.
8. Das Reich der Herrlichkeit in Palästina. Das nun-
mehr anbrechende messianische Reich hat zwar den messianischen
König an seiner Spitze. Aber sein oberster Beherrscher ist doch
Gott selbst (vgl. z. B. Orac. Sibyü. III, 704—706. 717. 756-759. PsalL
Salom. XVII, 1. 38. 51. Schmone Esre, 11. Beracha. Joseph. Bell
Jud. II, 8, 1). Mit der Aufrichtung dieses Reiches wird also
die Idee des Königtums Gottes über Israel zur vollen
Wirklichkeit und Wahrheit Gott ist freilich auch jetzt schon
Israels König. Aber er übt sein Königtum nicht in vollem Um-
fange aus, hat vielmehr zeitweilig sein Volk den heidnischen Welt-
mächten preisgegeben, um es zu züchtigen wegen seiner Sünden.
In dem herrlichen Zukunftsreiche aber nimmt er selbst wieder
das Regiment in die Hand. Daher heißt es im Gegensatz zu den
heidnischen Weltreichen das Reich Gottes (ßaotZela rov teov,
im Neuen Testamente namentlich bei Marcus und Lucas. Sibyü.
III, 47 — 48: ßaoiXela (leyloxi] afrapaxov ßaöilrjog. Vgl. Psali. Salom.
XVII, 4. Assumptio Mosis 10, 1. 3)46. Gleichj bedeutend hiermit ist
der bei Matthäus vorkommende Ausdruck ßaoiXela x&v ovqclvoov
„Reich des Himmels** 4l Denn „der Himmel** ist hier nach einem
45) Für die spätere Zeit vgl. Hieronymus, comm. in Joel 3, 7 {ppp. ed.
Vaüarsi VI, 210) : Promittunt ergo sibi Judaei immo somniant, quod in ultimo
tempore congregentur a Domino et reducantur in Jerusalem. Nee hac felieitate
contentiy ipsum Deum suis manibus Romanorum filios et filias asserunt tradi-
turum, ut vendant eos Judaei non Persis et Aethiopibus et caeteris nationibus
quae vicinae sunt, sed Sabaeis, genti longissimae. — Auf christlichem Gebiete
vgl. bes. Oommodian. Carmen apologet. 952 — 985.
46) Vgl. über die Idee des „Königtums Gottes": Dal man, Die Worte
Jesu S. 75—119. Volz, Jüdische Eschatologie S. 298—305. Bousset, Die
Religion des Judentums S. 245 ff.
47) Vgl. über diesen Ausdruck überhaupt: Sekoettgenf De regno coe-
lorum (Horae Hebraicae 1, 1147 — 1152). — Lightfoot, Horae zu Matth. 3, 2. —
Wetstein, Nov. Test., zu Matth. 3, 2. — Bertholdt, Christologia Judaeorum
p. 187—192. — De Wette, Biblische Dogmatik S. 175—177. — Tholuck,
Bergpredigt 8. 6b' f. — Fritxsehe} Evangelium Matthaei p. 109 sqq. (woselbst
noch mehr Literatur). — Kuinoel zu Matth. 3, 2. Überhaupt die Kommen-
tare zu Matth. 3, 2. — Wichelhaus, Commentar zu der Leidensgeschichte
(1855) 8. 284 ff. — Keim, Gesch. Jesu II, 33 ff. — Schürer, Der Begriff des
Himmelreiches aus jüdischen Quellen erläutert (Jahrbb. für prot Theol. 1876,
8. 166—187). — Crem er, Bibl.-theol. Wörterb. s. v. ßaaiXela. Hierzu Theol.
Litztg. 1883, 581. — Edersheim} The life and times of Jesus (he Messiah I,
266—268. — Dalman, Die Worte Jesu 8. 75 f. 178 f.
[539. 540] III. Systematische Darstellung. 629
sehr gangbaren jüdischen Sprachgebrauch metonymische Bezeich-
nung Gottes, Es ist das Reich, welches nicht von irdischen Mächten,
sondern vom Himmel regiert wird48.
Den Mittelpunkt dieses Eeiches bildet das heilige Land
„Das Land ererben" ist daher so viel wie am messianischen Reiche
teil haben49. Es zeigt sich hier, wie entscheidend die alte pro-
phetische Hoffnung auch die spätere Zukunftshoffnung bestimmt
hat: das vollendete Grottesreich ist auch jetzt noch ein nationales
Reich des Volkes Israel50. Aber es ist nicht auf die Grenzen
Palästinas beschränkt; vielmehr wird es in der Regel in irgend-
einer Weise als | die ganze Welt umfassend gedacht61. Schon
im Alten Testamente ist ja geweissagt, daß auch die Heidenvölker
den Gott Israels als obersten Richter anerkennen (Jesaja 2, 2 ff.
Micha 4, 1 ff. 7, 16 f.) und sich zu ihm bekehren werden (Jesaja 42,
1—6. 49, 6. 51, 4—5. Jerem.3, 17. 16, 19 f. Zeph.2, 11. 3, 9. Sacharja
8, 20 ff.), und darum auch in die Theokratie werden aufgenommen
48) Wie geläufig diese Metonymie dem Judentum zur Zeit Christi war,
habe ich in der angeführten Abhandlung (Jahrbb. für prot. Theol. 1876, 166 ff.)
nachgewiesen; vgl. auch Landau, Die dem Räume entnommenen Synonyma
für Gott in der neu-hebräischen Litteratur. 1888, S. 14 — 28. Sehr oft kommt
namentlich auch die Formel D^attj ntoio vor, allerdings in der Hegel nicht in
der Bedeutung „Reich des Himmels", sondern als abstractum „das Königtum,
das Regiment des Himmels", d. h. die Herrschaft Gottes (z. B. Mischna Bera-
choth n, 2. 5). Gerade hier kann aber kein Zweifel sein, daß D^aiö metony-
misch für „Gott" steht. Um so seltsamer ist es, die Richtigkeit dieser Fassung
für diejenigen Fälle zu bestreiten, wo ßaoiXela als conoretum steht (in der Be-
deutung „Reich"); denn der Genetiv xwv oboavibv bleibt ja derselbe, ob nun
ßaatXela „das Königtum" oder „das Reich" bedeutet. Wenn zufällig in der
rabbinischen Literatur der Ausdruck D**iat23 nisb* nicht in der Bedeutung
„Reich des Himmels" vorkommen würde, so würde sich dies vollkommen ge-
nügend daraus erklären, daß die Rabbinen überhaupt selten vom „Reiche
Gottes" sprechen. Sie sagen dafür „die Tage des Messias" oder „der künftige
Dil*" oder dergl. Es scheint aber, daß der Ausdruck doch auch in jener Be-
deutung vorkommt; so namentlich Pesikta (ed. Buber) p. 51a: irc h3ST s^an
r&anrc d^nw rvoba irc nasT sinn, niisn yo -ipsnrc nsimn msis, „Es ist ge-
kommen die Zeit der gottlosen Maüchidh, daß sie ausgerottet werde aus der
Welt; es ist gekommen die Zeit der Malkhuth des Himmels, daß sie geoffen-
bart werde". Dieselbe Stelle auch im Midrasch rabba zum Uohenliede (bei
Levy, Neuhebr. Wörterb. s. v. msba). Vgl. auch Weber, System S. 349.
Cremer, Biblisch-theol. Wörterb. s. v. ßaoiXela (3. Aufl. S. 162).
49) Kidduschin I, 10. Vgl. Ev. Matth. 5, 5 (ecL Tischendorf 5, 4).
50) Vgl. über den nationalen Charakter: Volz, S. 106 ff. 305 ff. 315 ff.
332 ff. 371 ff. Bousset S. 268—271.
51) 8. Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils H, 219 f. 238—242. Weber,
System S. 364 ff. Volz, g. 322-325. Klausner S. 80 ff. 105—108. Bous-
set S. 248£ 269 f.
630 § 29» Die messianische Hoffnung. [540. 541]
werden {Jesaja 55, 5. 56, lff. Jerem. 12, 14 ff. Sacharja 2, 15), so
daß Jahve König ist über die ganze Erde {Sacharja 14, 9) und
der Messias ein Panier für alle Völker {Jesaja 11, 10) 52. Am be-
stimmtesten ist im Buche Daniel den Heiligen des Höchsten die
Herrschaft über alle Beiche der Welt verheißen {Daniel 2, 44.
7, 14. 27). Diese Hoffnung ist denn auch von dem späteren Juden-
turne entschieden festgehalten; doch in verschiedener Weise. Nach
den Sibyllinen werden die Heiden, wenn sie die Buhe und den
Frieden des Volkes Gottes sehen, von selbst zur Einsicht kommen,
und den allein- wahren Gott rühmen und preisen und seinem Tem-
pel Gaben senden und nach seinem Gesetze wandeln {Orac. Sibyli.
III, 698—726). Dann wird Gott ein Reich über alle Menschen
aufrichten, in welchem die Propheten Gottes Richter sind und ge-
rechte Könige (III, 766—783). Nach Philo werden die Frommen
und Tugendhaften die Herrschaft über die Welt erlangen, weil sie
diejenigen drei Eigenschaften besitzen, welche vornehmlich zum
Herrschen befähigen, nämlich aefiporrjQ, deivoTijg und evsQysola.
Und die übrigen Menschen unterwerfen sich ihnen aus aldcbg oder
g)6ßog oder evvoia {De praem. et poen. § 16). Anderwärts erscheint
die Weltherrschaft der Frommen mehr als eine auf Macht ge-
gründete. Die Heiden huldigen dem Messias, weil sie erkennen,
daß ihm Gott die Macht verliehen hat {Henoch 90, 30. 37. Bilder-
reden: 48, 5. 53, 1. Psalt. Salom. XVII, 32—35. Sibyli III, 49:
ayvog avag JtaOTjg yrjg öxrjjtTQa xQarrjöwv. Apocal. Baruch. 72, 5.
Targum zu Sacharja 4, 7: Der Messias wird herrschen über alle
Reiche)53. Nach dem Buche der Jubiläen | (32, 18—19) wurde schon
dem Jakob verheißen, daß aus ihm Könige hervorgehen sollen,
welche überall herrschen, wo nur ein Tritt von Menschenkindern
hintritt. „Und ich will deinem Samen die ganze Erde geben, welche
52) Vgl. über den Universalismus im A. T.: Well hausen, Israelitische
und jüdische Geschichte (1894) S. 180—182. 4. Aufl. 1901, S. 224—226 (Kap. XV
Schluß). Bertholet, Die Stellung der Israeliten und der Juden zu den
Fremden (1896) S. 91—122, 191—195. Löhr, Der Missionsgedanke im A. T. 1896.
53) Auf eine Unterwerfung der Römer durch die Juden haben manche
(und ich selbst früher) Assumptio Mosis 10, 8 gedeutet: tune felix eris tu
Istrahel et ascendes supra cervices et alas aquilae. Das Folgende zeigt
aber, daß der Gedanke vielmehr der ist, daß Israel auf Adlers Flügeln zum
Himmel erhoben werden wird (et altabü te deus et faciet te haerere caelo stel-
larum . . . et conspicies a summo et videbis inimicos tuos in terra). Schmie-
del, Protestant. Monatshefte 2. Jahrg. 1898, S. 253 f., sieht in der SteUe mit
Hecht eine Reminiszenz an Deut. 32, 11 (LXX: u>? aerdg . . . . diele, xäc.
nxigvyag avxoti iöigaxo afaove, xal äviXaßev abxoitc. inl tthv fisxatpge-
vu)v avrov. alae ist = nxiqvyeqf und cervices «=» uezdfpQeva). Ebenso Huhn,
Die messianischen Weissagungen 1899, S. 98.
[541] III. Systematische Darstellung. 631
unter dem Himmel ist, und sie sollen nach Willkür herrschen über
alle Völker; und darnach sollen sie die ganze Erde an sich ziehen,
und sie ererben auf Ewigkeit" (vgl. auch Rom. 4, 13, und dazu die
Ausleger, besonders Wetstein)54.
Im übrigen wird die messianische Zeit, meist auf Grund alt-
testamentlicher Stellen, als eine Zeit ungetrübter Freude und
Wonne geschildert55. Im Buch Henoch wird als ein Hauptgut
hervorgehoben, daß nun der Messias unter den Menschen
wohnt. „An jenem Tage werde ich meinen Auserwählten unter
ihnen wohnen lassen . . . Und ich werde die Erde umwandeln und
werde sie zum Segen machen" (Henoch 45, 4—5). „Und der Herr
der Geister wird über ihnen wohnen, und mit jenem Menschen-
sohne werden sie essen und sich niederlegen und aufstehen in alle
Ewigkeit" (Henoch 62, 14). Aller Krieg und Streit und Zwietracht
und Hader wird ein Ende haben, und Friede, Gerechtigkeit, Liebe
und Treue wird herrschen auf Erden (Orac. SibylL III, 371—380.
751 — 760. Philo, De praem. et poen. § 16. Apocal. Baruch. 73, 4 — 5).
Auch die wilden Tiere verlieren ihre Feindschaft und dienen dem
Menschen (Sibyll. III, 787 — 794. Philo, De praem. et poen. § 15.
Apocal. Baruch. 73, 6. Targum zu Jesaja 11, 6). Die Natur ist
von ungewöhnlicher Fruchtbarkeit (Sibyll III, 620—623. 743—750.
Henoch 10, 18—19. Apocal. Baruch. 29, 5—8). Reichtum und Wohl-
stand herrscht unter den Menschen (Philo, De praem. et poen.
§ 17—18). Das Lebensalter nimmt wieder zu bis nahe an tausend
Jahren, und doch werden die Menschen nicht alt und lebenssatt,
sondern wie Kinder und Knaben sein (Jubiläen 23, 27—30). Alle
erfreuen sich körperlicher Kraft und Gesundheit Die Weiber
werden ohne Schmerzen gebären, und die Schnitter nicht ermüden
bei der Arbeit (Philo, De praem. et poen. § 20. Apocal. Baruch. 73,
2—3. 7. 74, l)56.
54) Aus späterer Zeit sei noch erwähnt Cosmas Indicopl. Top. Chr. lib. VI
p. 271 (= Migne, Patrol. gr. 88 cot. 333 Ä): avzol Srj&ev töv iQxöfAßvov tiqoo-
öoxCbaiv, 8v xal *HXsifi[i£vov xaXovoiv, ßaoiXeveiv inl yfjq aivibv iXnitfivaiv
xal vnoraoosiv aitotg navxa xa l^viy.
55) Vgl. Knobel, Prophetismus der Hebräer I, 321 ff. GfrÖrer, Das
Jahrhundert des Heils II, 242—252. Hamburger, Real-Enz. S. 770 ff. (Art.
„Messiaszeit"). Volz S. 341—368. Klausner S. 108—115.
56) Zuweilen wird diese künftige Herrlichkeit auch dargestellt unter dem
Bilde eines Freuden-Mahles (rnwo), das Gott den Gerechten bereitet
Schon in der syrischen Baruch-Apokalypse heißt es (wie dann später häufig),
daß dabei der Behemoth und Leviathan verspeist werden (Apoc. Baruch.
c. 2fl, 4). Vielleicht ist auch der defekte Text bei Henoch 60, 7—10 und 24b
in diesem Sinne zu ergänze*1- Rabbinische Schilderungen dieser HWO s. bei
Jellinek, Bei ha-M%iwch III, 75—76; V, 45-46; VI, 150-151. * Vgl. hob.
i
532 § 29. Die messianische Hoffnung. [542]
Diese äußeren Güter sind aber nicht die einzigen. Vielmehr
sind sie nur die Folge davon, daß die messianische Gemeinde ein
heiliges Volk ist, das Gott geheiligt hat, weiches der Messias an-
führt in Gerechtigkeit Nicht läßt er Ungerechtigkeit in ihrer
Mitte weilen, and nicht wohnt ein Mensch bei ihnen, der Bosheit
weiß. Nicht ist Ungerechtigkeit in ihrer Mitte, denn alle sind sie
heilig (Psaü. Salom. XVII, 28. 29. 36. 48. 49. XVIII, 9. 10). Das
Leben im messianischen Reiche ist ein stetiges XarQsveip &ew iv
oöiottjti xcä öixaioövvq kvcQjtiov avroo {Ev. Luc 1, 74 — 75). Und
die Herrschaft des Messias über die Heidenwelt ist keineswegs nur
als auf äußerer Macht beruhend gedacht, sondern häufig auch in
der Art, daß er ein Licht ist für die Völker (Jesaja 42, 6. 49, 6.
51, 4. Henoch 48, 4. Ev. Luc. 2, 32. Vgl. bes. auch die bereits er-
wähnte Stelle der SibylUnen III, 710—726). — Da der Israelite
sich ein XdrQsvsiv &e<p nicht anders vorstellen kann als in den
Formen des Tempelkultus und der Gesetzesbeobachtung,
so ist es im Grunde selbstverständlich, daß auch diese im messia-
nischen Reiche nicht aufhören werden. In der Tat ist dies wenig-
Pesachim 119b. Baba baihra 75a (Wünsche, Der babylon. Talmud I, 250. II,
2, S. 178). Vajjikra rabba par. XIII (deutsche Übers, von Wünsche S. 86),
Bamidbar rabba par. XIII (deutsche Übers, von Wünsche S. 305). Ruft-
nu8, ApoL in Hieron. I, 7 (Hieron. opp. ed. Vallarsi II, 579): Est enim Ju-
daeorum vere de resurrectione talis opinio, quod resurgent qtadem, sed tä car-
nalibus delictis et luxuriis caeterisque voluptatibus corporis perfruantur. Hie-
ronymus in Jes. 59, 5 {opp. ed. Vallarsi IV, 705): Qui igitur audiens tradi-
tiones Judaicas ad eseas se mille annorum voluerit praeparare. Abschwörung
aller jüdischen Irrtümer, neu herausg. von Cumont (Wiener Studien 1902,
S. 468): "Bn äva&enarl^a) ndvxaq xovq xfjv xov >Hl£i[z/ub>ov fzäXXov öh x%v xov
dvxixoloxov noooöoxtbvxaq lAevatv, 8v xal xgdne^av abxolq kzot/ndasiv iXni-
t,ovoi fieylaxtiv xal nooftfioeiv elq koxiaoiv xdv xe Z/£, 7txijv6v xi £($>ov, xbv 6h
Bex£fA<*>9' xexodnovv, xdv Sh Aeßia&äv ivdXiov, ovxut yiiyioxa xal lüJßwxa
xalq occq&v öyq SlqxbXv elq XQ0<p^v Sxaoxov fxvQidoiv dnelgoiq. — Buxtorf,
Lex. Gkald. col. 1128 (s. v. )r\^h). Eisenmenger, Entdecktes Judenthum II,
872—889. Corrodi, Kritische Geschichte des Chiliasmus, I, 329 ff. Ber-
thol dt, De Ghristologia Judaeorum p. 196 — 199. Hamburger, Ueal-Enz.
S. 1312 ff. (Art. „Zukunftsmahl"). Wünsche, Neue Beiträge zur Erläuterung
der Ew. 1878, S. 113. Spitta, Zur Gesch. und Litteratur des Urchristen-
tums I, 1893, S. 269 ff. Dal man, Die Worte Jesu S. 90— 92. Wellhausen,
Skizzen und Vorarbeiten VI, 1899, S. 232 (Genuß des Behemoth und Levia-
than aus Ps. 74, 14 eutsponnen). Volz S. 331 f. — Das Alter dieser Vor-
stellung ist bezeugt durch die neutestamentlichen Stellen: Mt. 8, 11 = Lc.
13, 29. Lc. 14, 15. Mt. 26, 29 — Mc. 14, 25 — Lc. 22, 18. Lc. 22, 30. Dazu die
Parallelen bei Besch, Paralleltexte zu Lucas (Texte und Untersuchungen
von Gebhardt und Harnack X, 3, 1895) 8. 382 ff. 400. 627 ff. 671 ff. Vgl. auch
Hippolytus' Werke I, 2 herausg. v. Achelis 1897, S. 247.
[542. 543] III. Systematische Darstellung. 633
stens die vorherrschende Anschauung57. Besonders nachdrücklich
wird im Buch der Jubiläen die ewige Gültigkeit der Gesetze ein-
geschärft58. Nach der Zerstörung des Tempels geht daher das
tägliche Gebet des Israeliten dahin, daß auch der Opferkultus
(die rniny) wiederhergestellt werde59.
An diesem herrlichen Reiche der Zukunft werden nicht nur
die in der Welt zerstreuten Glieder des Volkes, sondern auch alle
verstorbenen Israeliten teilnehmen. Sie werden aus ihren
I Gräbern hervorgehen, um mit ihren beim Anbruch des Reiches
lebenden Volksgenossen die Seligkeit des Reiches zu genießen
(Näheres s. unten Abschnitt 10) 60.
57) Näheres s. bei Weber, System S. 359 ff. Castelli, 11 Messia
p. 277 sqq. Edersheim, The life and tvmes of Jesus tke Messiah II, 764 — 766.
Hamburger, Real-Enz. Suppl. II, 1891, S. 43 ff. (Art „Fortdauer des Ge-
setzes") und S. 51 ff. (Art. „Gesetzesauf hebung"). Volz S. 339— 341. Klaus-
ner S. 115—118.
58) S. die Zusammenstellung bei W. Singer, Das Buch der Jubiläen,
1898, S. 24—26. — Der Wortlaut der Hauptstellen ist: Jubil. 2, 33: „Dies
Gesetz und Zeugnis (vom Sabbath) wurde den Kindern Israel gegeben als
ewiges Gesetz für ihre Nachkommen". — 6, 14: „Und für dieses Gesetz
(kein Blut zu essen) giebt es kein Ende der Tage, sondern es gilt für
e wig" (überh. 6, 11—14). — 13, 25—26: „Und Gott bestimmte ihn (den Zehnten)
zu einer Satzung für ewig, daß sie ihn den Priestern, die vor ihm dienten,
geben sollten, damit sie ihn in Ewigkeit erhielten. Und dieses Gesetz hat
keine Beschränkung der Tage, sondern für ewige Geschlechter hat
er es angeordnet". — 15, 25: „Dies Gesetz (der Beschneidung) gilt für alle
Geschlechter der Ewigkeit, und es gibt keine Beschneidung der Tage . . .
sondern eine ewige Ordnung ist es". — 15, 28 — 29: „Du aber gebiete
den Kindern Israel, daß sie das Zeichen dieses Bundes bewahren sollen für
ihre Geschlechter als eine ewige Ordnung .... denn das Gebot ist an-
geordnet für den Bund, daß sie ihn in Ewigkeit bewahren über allen Kin-
dern Israel". — 16, 29—30: (das Gesetz vom Laubhüttenfest) „ein Gesetz
für ewig nach ihren Geschlechtern . . . Und dieses hat keine Beschrän-
kung der Tage, sondern für ewig ist es über Israel angeordnet". — 30, 10:
„Und für dieses Gesetz (Verbot der Ehe mit Heiden) gibt es keine Be-
schränkung der Tage und keine Vergebung und keine Verzeihung". —
32, 10: „Und für dieses Gesetz (vom zweiten Zehnt) gibt es keine Be-
schränkung der Tage immerdar". — 33, 16—17: „Erst in deinen Tagen ist
es (das Gesetz gegen Blutschande) wie ein Gesetz der Zeit und der Tage und
ein ewiges Gesetz für die ewigen Geschlechter. Und es gibt für
dieses Gesetz keine Vollendung der Tage". — 49, 8: „(das Passa-
gesetz) ist eine ewige Ordnung .... Und es gibt da keine Grenze
der Zeiten, sondern für ewig ist es festgesetzt".
59) Schmone Esre, 17. Beracha (s. oben S. 540). Vgl. auch die Passa-
Liturgie Pesachim X, 6.
60) Es scheint mir nicht richtig, wenn Stähelin (Jahrbb. f. deutsche
Theologie 1874, S. 1 99 ff.) die Auferstehungshoffnung und die messia-
634 § 29. Die messianische Hoffnung. [543]
Mit dieser Hoffnung auf ein Reich der Herrlichkeit in Palästina
schließt bei vielen die eschatologische Erwartung ab, indem seine
Dauer als eine unendliche gedacht ist Wie die alttestamentliche
Weissagung dem Volke Israel verheißt, daß es ewiglich sein Land
bewohnen werde (Jer. 24, 6. Ezech. 37, 25. Jod 4, 20), daß Davids
Thron nie leer stehen (Jerem. 33, 17. 22), und David auf ewig
Israels Fürst sein werde (Exech. 37, 25), wie dann namentlich im
Buche Daniel das Reich der Heiligen des Höchsten als ein ewiges
(ob* rfiDbig) bezeichnet ist (Daniel 7, 27), so wird auch bei Späteren
häufig dem messianischen Reiche ewige Dauer zugeschrieben (Sibyll.
III, 766. Psalt. Salom. XVII, 4. Sibyll. III, 49—50. Henoch 62, 14).
Und so sagen auch die Juden im Evang. Joh, 12, 34: 'Hfutg ijxou-
oafiep kx xov vopov ort 6 Xqiotoq fievei elg top ai&va, wie
denn auch in der späteren jüdischen Theologie diese Anschauung
sich findet61. Das Leben im messianischen Reiche wird
eben als der Zustand höchster Glückseligkeit vorgestellt,
der überhaupt gehofft werden kann. Ein Höheres gibt es nicht
mehr. Die Güter des Himmels sind auf die Erde herabgekommen.
Die Erde ist selbst ein Stück Himmel geworden62.
nische Hoffnung möglichst auseinanderzuhalten sucht, ja annimmt, daß
ursprünglich gar kein Zusammenhang zwischen beiden bestanden habe. Bei
Daniel 12, 2 und Psalt. Salom. 3, 16 ist dieser Zusammenhang doch unver-
kennbar. Denn wenn es an beiden Stellen heißt, daß die Gerechten aufer-
stehen werden „zu ewigem Leben", so kann unter diesem ewigen Leben nach
dem Gedankenkreise beider Bücher nichts anderes als das Leben im messia-
nischen Reiche verstanden werden. Eine andere £a>i} kennen beide Bücher
überhaupt nicht. Vgl. auch Henoch 51, 1 — 5. Der Gang der Ideen-Entwicke-
lung scheint mir also gerade der umgekehrte zu sein wie der von Stähelin
statuierte. Es sind nicht die Auferstehungshofrhung und die messianische
Hoffnung ursprünglich unabhängig von einander und erst später mit einander
verbunden worden. Sondern umgekehrt: aus dem Interesse, am messianischen
Reiche teilzuhaben, ist die Hoffnung einer leiblichen Auferstehung ent-
sprungen. Etwas anderes als der Auferstehungs-Glaube ist der Glaube an
ein seliges Fortleben im Jenseits. Dieser ist zunächst unabhängig von der
messianischen Hoffnung entstanden und erst nachträglich mit ihr kombiniert
worden. Insofern Stähelin hieran denkt, wird seine These allerdings richtig
sein.
61) Vgl. Bertholdt, Ghristologia Judaeortim p. 155 sq.
62) Dieser an sich richtige Gedanke wird von Baldensperger, Die
messianisch-apokalyptischen Hoffnungen des Judentums 1903, S. 150 — 158, in
zu starker und einseitiger Weise betont. Ja er sucht zu zeigen, daß we-
nigstens in manchen Kreisen das messianische Reich als ein Reich im
Himmel gedacht worden sei, wobei er sich namentlich auf die oben Anm. 53
zitierte Stelle der Assumptio Mosis c. 10 stützt Diese Stelle ist aber sin-
gulär. Es findet sich sonst freilich neben der Erwartung eines messianischen
Reiches auch die Erwartung einer Seligkeit der einzelnen Individuen
[543. 544] III. Systematische Darstellung. 635
Häufig wird aber die Herrlichkeit des messianischen Reiches
noch nicht als das Letzte und Höchste betrachtet, sondern nach
ihr noch eine höhere himmlische Seligkeit erwartet, und daher
dem messianischen Reiche nur eine zeitlich begrenzte Dauer
zugeschrieben63, über deren Maß im Talmud ausführlich | debat-
tiert wird64. Unter den älteren Denkmälern haben diese An-
schauung am bestimmtesten die Apokalypse Baruchs und das vierte
Buch Esra. Zwar heißt es in der ersteren von dem Messias
c. 73, 1, daß er sich setze „für immer auf den Thron seines
Königreichs". Aber wie dies gemeint ist, sieht man aus einer
anderen Stelle c. 40, 3: „Und seine Herrschaft wird beständig
sein für immer, bis die dem Verderben geweihte Welt zu
Ende kommt". Also nur so lange diese vergängliche Welt dauert,
währt die Herrschaft des Messias. Ähnlich heißt es im vierten
Buch Esra c. 12, 34, daß er das Volk Gottes erlösen und es er-
quicken werde quoadusque veniat finisy dies judicii. Noch
näheren Aufschluß gibt die Hauptstelle c. 7, 28—29: Jocundabuntur
(al. jocundabit), qui relicti sunt, annis quadringenlis. Et erit post
annos hos, et morietur filius mens Christus et omnes qui spiramentum
habent hominis (al. homines)*b. Die Berechnung der Dauer des mes-
sianischen Reiches zu 400 Jahren findet sich neben anderen auch
in der oben genannten talmudischen Stelle (Sanhedrin 99 a). Aus
ihr erfahren wir zugleich, daß diese Rechnung sich stützt auf
Gen. 15, 13 (die Knechtschaft in Ägypten dauerte 400 Jahre) vgl.
mit Psalm 90, 15: „Erfreue uns wieder gemäß den Tagen, da du
uns gedemütigt, gemäß den Jahren, da wir das Böse sahen". Die
im Himmel (s. darüber unten Abschnitt X). Beide Erwartungen dürfen aber
nicht in der Weise kombiniert werden, daß man sagt: das messianische Reich
ist im Himmel. Letzteres ist, wie das Herabkommen Jerusalems und die
Sammlung der Zerstreuten im heiligen Lande zeigt, trotz alles himmlischen
Charakters doch ein Reich auf Erden. Dabei ist immerhin zuzugeben, daß
für die fromme Empfindung hier der Gegensatz von Himmel und Erde ver-
schwindet, wenigstens da, wo das messianische Reich das Letzte und Höchste
ist, was gehofft wird.
63) Vgl. Corrodi, Krit. Gesch. des Chiliasmus 1, 324—329. Gfrörer, Das
Jahrhundert des Heils II, 252—256. Renan, Der Antichrist S. 373. Weber,
System S. 355 f. Drummond p. 312 — 318. Klausner, Die messianischen
Vorstellungen S. 27—33.
64) Sanhedrin 99a bei Gfrörer II, 252 ff. Vollständiger (Sanhedrin 96b—
99») bei Castelli p. 297 sqq. und bei Wünsche, Der babylonische Talmud
II, 3, 1889, S. 204 f. Die ältesten Stücke daraus bei Klausner 8. 27 ff.
65) Die Zahl 400 haben die lateinische und arabische Übersetzung,
die syrische hat 30; in der äthiopischen und armenischen fehlt die
Zahl überhaupt.
636 § -9- I>ie messianische Hoffnung. [544. 545]
Zeit der Freude soll also ebenso lange dauern, wie die der Plage.
Eine andere Berechnung ist bekanntlich in der Apokalypse Jo-
hannis vorausgesetzt, indem nach dem Psalmwort, daß für Gott
1000 Jahre wie ein Tag seien, die Dauer auf 1000 Jahre ange-
geben wird (Apoc. Joh. 20, 4—6). Auch diese Berechnung wird im
Talmud erwähnt66. — Überall da nun, wo dem messianischen
Reiche nur eine zeitliche Dauer zugeschrieben wird, wird am
Ende dieser Zeit noch eine Welterneuerung und das letzte Gericht
erwartet.
9. Erneuerung der Welt67. Die Hoffnung einer Erneuerung
: Himmels und der Erde gründet sich namentlich auf Jesaja
65, 17. 66, 22 (ygl. auch Maüh. 19, 28. Apoc. 21, 1. II Petr. 3, 13).
Man unterschied darnach eine gegenwärtige und eine zu-
künftige Welt ron Dbi*n und »an übten68, im Neuen Testa-
%J ? ~ TT T~TT*
mente häufig: 6 aiobv ovtog und 6 ala>v 6 piXltov oder 6 kQ%6-
fieroq (z. B. Matth. 12, 32. Marc. 10, 30. Luc. 18, 30. Eph. 1, 21).
Aber eine Verschiedenheit der Auffassung bestand insofern, als
man die neue Welt entweder mit Beginn der messianischen Zeit
66) Sanhedrin 97a unten. Vgl. Gfrörerll, 254. Gastelli p. 300. Drum-
mond p. 317. Delitzsch, Kommentar zum Hebräerbrief S. 763. Wünsche
S. 193.
67) Vgl. Bertholdt, Ghristologia Judaeorum p. 213 sq. Gfrörer, Das
Jahrhundert des Heils H, 272—275. Volz, Jüdische Eschatologie S. 296— 29a
Bousset, Die Religion des Judentums S. 321—324. — Vgl. Matth. 19, 28:
naXtyysveala. Der rabbinische Ausdruck Dbterj tö*Tnri (Buxtorf, Lex. col. 711),
welchen viele Ausleger zu ML 19, 28 vergleichen, gehört nicht hierher, denn
er bedeutet nicht „Welt-Erneuerung", sondern ist so viel wie creatio ex nihilo.
Das griech. naXiyyeveoia im Sinne von „Welterneuerung" ist namentlich bei
den Stoikern häufig.
68) Misckna Berachoth I, 5. Pea 1,1. Kidduschin IV, 14. Baba unexia
II, 11. Sanhedrin X, 1-4. Aboth II, 7. IV, 1. 16. 17. V, 19. Apocal. Barueh.
44, 15. 48, 50. 73, 5. IV Esra 6, 9. 7, 12—13. 42—43. 8, 1. — Vgl. Rhen-
f er diu 8, De saecvXo futuro (Meuschen, Nov. Test, ex Talmude iUustratum 1736,
p. 1116—1171). — WitsiuSy De saeculo hoc et futuro (Meuschen, Nov. TesL
p. 1171 — 1183). — Schoettgen, De saeculo hoc et futuro (Horae Hebraicae ir
1153—1158). — Light foott Horae Hebraicae, zu Matth. 12, 32. — Wetstein,
Nov. Test, zu Mt. 12, 32. — Koppe, Nov. Test. Vol. VI, episL ad Ephes. Exe. I.
— Bertholdt, Ghristologia Judaeorum p. 38 — 43. — G frörer, Das Jahrhun-
dert des Heils H, 212-217. — Bleek, Hebräerbrief II, 1, 20 ff. — Riehm,
Lehrbegriff des Hebräerbriefes I, 204 ff. — O eh ler, in Herzogs Real-Enz.
IX, 434 f. (2. Aufl. IX, 664 f.). — Geigers Jüdische Zeitschrift 1866, S. 124. —
W eber, System S. 354 f. — Löwy , Messiaszeit und zukünftige Welt (Monats-
sehr. f. Gesch. u. Wissensch. d. Judenth. 41. Jahrg. 1897, S. 392—409). —
Dal man, Die Worte Jesu S. 120—127. — Volz, Jüdische Eschatologie
S. 62 — 68. — Klausner, Die messianischen Vorstellungen S. 17 — 26. —
Bousset, Die Religion des Judentums S. 278 — 286.
[54ö. 546] III. Systematische Darstellung. 637
oder erst nach Ablauf derselben anbrechen ließ. Ersteres z. B.
in den Bilderreden des Buches Henoch c. 45, 4—5: „Und an jenem
Tage werde ich meinen Auserwählten unter ihnen wohnen lassen,
und werde den Himmel umgestalten, und ihn zum Segen und Licht
auf ewig machen. Und ich werde die Erde umwandeln und sie
zum Segen machen, und meine Auserwählten auf ihr wohnen
lassen" (vgl. auch 91, 16). Letzteres im vierten Buch Esra, dem-
zufolge nach Ablauf der messianischen Zeit eine siebentägige Todes-
stille auf Erden eintritt, worauf dann der Anbruch der neuen und
der Untergang der alten Welt erfolgt (7, 30—31). Gemäß dieser
verschiedenen Auffassung wird die messianische Zeit entweder mit
der zukünftigen Welt identifiziert oder noch zu der gegenwärtigen
Welt gerechnet. Ersteres z. B. im Targum Jonathan zu I Reg.
4, 33: „Die zukünftige Welt des Messias" (»rptitoi ->r\tn #$>$),
und Mischna Berachoth I, 5, wo die gegenwärtige Welt (njfi übi*n)
und die Tage des Messias (tytf tan nw;) einander entgegengestellt,
also letztere mit «an Dbi*n identifiziert werden. Im vierten Buche
T - T T
Esra dagegen werden die Tage des Messias noch zur gegenwärtigen
Welt gerechnet, und die zukünftige beginnt erst mit dem, am |
Schlüsse der messianischen Zeit erfolgenden, letzten Gerichte (s.
bes. 7, 42—43, womit freilich 6, 9 nicht leicht zu vereinbaren ist).
Auch das Buch Siphre scheidet zwischen den „Messiastagen44 und
der „zukünftigen Welt" 69. Die ältere und ursprüngliche Anschau-
ung ist jedenfalls die, welche die Messiastage mit dem künftigen
Dbi? identifiziert. Denn der „künftige Weltlauf" ist eben zunächst
nichts anderes als die künftige selige messianische Zeit (so auch
noch im Neuen Testamente). Erst infolge der Erwartung einer
höheren himmlischen Seligkeit nach Ablauf des messianischen
Reiches ist man dann dazu gekommen, die messianische Zeit noch
zum gegenwärtigen Olam zu rechnen und die Welterneuerung erst
nach Ablauf der messianischen Zeit eintretend zu denken. In der
späteren jüdischen Theologie ist diese Auffassung die vorherr-
schende geworden (Näheres s. in der oben Anm. 68 genannten Lite-
ratur). Zuweilen wird der messianischen Zeit eine Mittelstellung
zwischen dieser und der zukünftigen Welt angewiesen. So schon
in der Äpocal. Baruch. 74, 2—3: „Jene Zeit (die messianische) ist
das Ende dessen, was vergänglich ist, und der Anfang dessen, was
unvergänglich ist Darum ist sie ferne von den Bösen und
nahe denen, die nicht sterben". — Auf welche Weise die Zerstö-
rung der alten Welt erfolgt, wird in der Eegel nicht näher aus-
geführt Im Bereich des hellenistischen Judentums findet sich die
69) S. Geigers Jüdische Zeitschrift 1866, S. 124.
638 § 29. Die messianische Hoffnung. [546. 547]
Erwartung einer Zerstörung durch Feuer, die teils biblische
Anknüpfungspunkte hat, teils an die stoische Lehre von der ix-
jivqcooiq sich anschließt70. |
10. Allgemeine Auferstehung71. Ehe nun das letzte Ge-
richt gehalten wird, erfolgt eine allgemeine Auferstehung der
Toten. Doch herrscht gerade in betreff dieses Punktes in der
jüdischen Theologie eine so große Mannigfaltigkeit der Anschau-
ungen, daß es zu weit führen würde, auf alle Einzelheiten näher
einzugehen72. Nur die Hauptpunkte können hier angedeutet wer-
70) Biblische Anknüpfungspunkte sind: 1) die Vorstellung, daß Gott von
Feuer umgeben ist, wenn er zum Gericht kommt, Daniel 7, 9—10; vgl. I Kor.
3, 13. II Thess. 1,8; 2) das prophetische Bild vom Zerschmelzen der Him-
melskräfte und der irdischen Kreaturen vor Gottes Zorn (Jes. 34,4: tarfoov-
xai näoai al Öwafieu; xCov ovoavtbv, 64, 1—2 nach LXX). Über beides geht
es aber hinaus, wenn von einer wirklichen Vernichtung der Welt durch
Feuer die Rede ist (Pseudo-Sophocles bei Justin, de monarehia c. 3 und
Giern. Alex. Strom. V, 14, 121—122 «=- Euseb. Praep. evang. XIII, 13, 48 ed.
Gaisford; Orac. Sibytt. IV, 172—177; Hystaspes bei Justin, apol. I c. 20; Hip-
polytus Philosoph. IX, 30, letzterer gebraucht den Ausdruck ixTtvpwoiq. Auf
christlichem Gebiete: II Petri 3, 10—12, die Stellen der christlichen Sibyl-
linen bei Fehr, Studio, in oraeula Sibyllina, Upsal. 1893 p. 72—73. Celsus
behandelt die Lehre von der ix7iiQ<ooi<; als eine bei den Christen herrschende,
Origenes c. Gels. IV, 11. Vgl. auch Bousset, Der Antichrist S. 159 ff. An-
rieh in: Theologische Abbandlungen zu Holtzmanns 70. Geburtstag 19 >2,
S. 106 ff. (in der Abhandlung über das Fegfeuer). Volz S. 294 f. Bousset,
Die Religion des Judentums 8. 323 f. — Die jüdisch-christliche Lehre von der
ixnvQ(DOi<; hat freilich einen anderen Sinn, als die stoische. Zur Geschichte
der letzteren vgl. u. a. auch die pseudo-philonische Schrift De incorruptibili-
tote mundi, wo die stoische Lehre vom peripate tischen Standpunkte aus be-
kämpft wird).
71) Die Reihenfolge: 1) Welterneuerung, 2) Allgemeine Auferstehung,
3) Letztes Gericht, nach IV Esra 7, 31—34. So auch Gfrörer II, 272. 275. 286.
72) Vgl. Bertholdt, Cltristologia Judaeorum p. 176—181. 203—206. —
Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils II, 275—285. 308 ff. — Fr. Boettcher,
De inferis rebusque post mortem futuri8) vol. I, 1846. — Herzfeld, Gesch. de*s
Volkes Jisrael III, 307—310. 328—333 349-351. 504—506. — Langen, Das
Judenthum in Palästina S. 338 ff. — Rothe, Dogmatik H, 2, S. 68—71.
298-308. — Oehler, Theologie des A. T. II, 241 ff. — Herrn. Schultz, Ait-
testamentl. Theologie 2. Aufl. S. 713 ff. 807 ff. 5. Aufl. S. 595—606. — Ham-
burger, Real-Enz. II, 98 ff. (Art. „Belebung der Todten"). — Stähelin,
Jahrbb. f. deutsche Theoi. 1874, S. 199 ff. — Drummond, The Jewish Messiah
p. SQOsqq. — Weber, System S. 371ff. — Gröbler, Die Ansichten über Un-
sterblichkeit und Auferstehung in der jüdischen Literatur der beiden letzten
Jahrh. v. Chr. (Stud. und Krit. 1879, S. 651—700). — Wünsche, Die Vor-
stellungen vom Zustande nach dem Tode nach Apokryphen, Talmud und
Kirchenvätern (Jahrbb. f. prot Theoi. 1880, S. 355—383, 495—523). — Castelli,
The future life in rabbinical lileraiure (Jewish Qarterly Review vol. I, 1889,
[547. 548] III. Systematische Darstellung. 639
den. Im allgemeinen stand der Glaube an eine Auferstehung oder
Wiederbelebung der Toten (o^nian n*nn)73, der im Buche Daniel
nach manchen älteren Ansätzen zum ersten male bestimmt und deut-
lich ausgesprochen wird {Daniel 12, 2), in unserer Periode bereits
unumstößlich fest (vgl. z. B. II MakJc. 7, 9. 14. 23. 29. 36. 12,
43—44. Henoch 51, 1. PsalU Salomon. 3, 16. 14, 2 ff. Joseph. Antt.
XVIII, 1, 3. Bell. Jud. II, 8, 14. Apocal. Baruch. 30, 1—5. 50,
1 — 51, 6. IV Esra 7, 32. Testam. XII Patriarch. Judae 25, Benja-
min 10. Schmorte Esre, 2. Beracha. Mischna Sanhedrin X, 1. Aboth
IV, 22; vgl. auch Berachoth V, 2. Sota IX, 15 fin). Wenigstens
gilt dies in betreff aller vom Pharisäismus beeinflußten Kreise;
und diese bildeten ja bei weitem die Majorität. Nur die Saddu-
zäer leugneten die Auferstehung 74, und das hellenistische | Juden-
tum setzte an deren Stelle die Unsterblichkeit der Seele75.
Für die Zwischenzeit zwischen Tod und Auf erstehung76
p. 314—352). — Atzberger, Die christliche Eschatologie in den Stadien ihrer
Offenbarung im A. u. N. T., 1890, S. 96 ff. 136—189. — Schwally, Das Leben
nach dem Tode nach den Vorstellungen des alten Israel und des Judentums
einschließlich des Volksglaubens im Zeitalter Christi, 1892. — Tausch, Die
geschichtliche Entwicklung des Begriffs des Lebens im A. T. und die Ansätze
der tieferen neutestamentl. Fassung (Jahrbb. f. prot. Theol. 1892, S. 1 — 33). —
Bacher, Die Agada der Tannaiten (2 Bde. 1884—1890, 1. Bd. 2. Aufl. 1903)
und: Die Agada der paläst. Amoräer (3 Bde. 1892 — 1899), Sachregister s. v.
„Auferstehung derTodten". — Smend, Lehrbuch der alttestara entlichen Re-
ligionsgeschichte 2. Aufl. 1899, S. 476 — 483. — Charles, A eritical History
of the Doctrine of a Future Life in Israel in Judaism and in Christianity,
London 1899 (428 S.), vgl. Theol. Litztg. 1900, col. 167—171. — Wünsche,
Der Auferstehungsglaube und seine Beweiserbringung im Neuen Testamente,
im Talmud und bei den vor- und nachnicäischen Kirchenlehrern (Viertel-
jahrsschr. für Bibelkunde 1. Jahrg. 1903, S. 195—234). — Voiz, Jüdische
Eschatologie S. 126 — 133, 237 — 256. — Bousset, Die Religion des Judentums
2. Aufl. S. 308—315.
73) Dieser Ausdruck z. B. Berachoth V, 2. Sota IX, 15 fin. Sanhedrin X, 1.
74) Joseph. Antt. XVIII, 1, 4. Beü. Jud. II, 8, 14. Act. 23, 8.
75) Sapientia Salom. 3, 1—9. 4, 7. 5, 15 f. % 19 f. (mit Unrecht bestreitet
Weber, Zeitschr. für wisseusch. Theol. 1905, S. 409—444, daß in der Sap.
Salom. die Anschauung von der Unsterblichkeit der Seele ohne Auferstehung
vertreten sei). — In betreff Philos vgl. Gfrörer, Philo und die alexan-
driniscbe Theosophie I, 403 ff. — IV Makk. 9, 8. 13, 16. 15, 2. 17, 5. 18. 18, 23.
— Auch die Essener lehrten nach Josephus keine Auferstehung, sondern eine
Unsterblichkeit der Seele, s. Antt. XVIII, 1, 5. Bell. Jud. II, 8, 11. — Vgl.
auch das Buch der Jubiläen 23, 31 („ihre Gebeine werden in der Erde ruhen,
und ihr Geist wird viel Freude haben"); auch hier liegt nicht die Auf-
erstehungshoffnung vor, wie Singer will (Das Buch der Jubiläen 1898,
S. 256 ff).
76) Vgl. hierüber; Volz* Jfidfsohe Eschatologie S. 133—146. Bousset,
640 § 29. Die messianische Hoffnung. [548]
nahm man in der Regel eine Scheidung zwischen Gerechten und
Ungerechten an, indem man für erster e, d. h. für deren abge-
schiedene Seelen, eine vorläufige Seligkeit, für letztere einen vor-
läufigen Zustand der Qual statuierte (s. bes. Henoch c. 22, und im
IV. B. Esra den im cod. Sangermanensis ausgemerzten und darum
im lateinischen Vulgärtext fehlenden Abschnitt c 7, 75—101 ed.
Bemly [bei Fritzscfie p. 609—611, nach Zählung der äthiopischen
Übersetzung c. 6, 49—76]). Nach Henoch 22, 2 ist der Ort für die
abgeschiedenen Seelen in vier Abteilungen geteilt, drei dunkle und
eine helle (rosig avtcop öxotsipoI xal elg yxüvsipog), jene für die
Sünder, diese für die Gerechten. An diesen Orten bleiben sie
aber nur bis zum großen Tage des Gerichtes (22, 11: fiixQ1 T*H
fisyaXTjg $ psoas xr\g xolöscog)11. Während also nach der älteren
Anschauung das Loos aller Abgeschiedenen in der Scheol das
gleiche ist, wird jetzt eine vorläufige Vergeltung unmittelbar
nach dem Tode angenommen. Diese Erwartung liegt ja auch dem
Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus zugrunde (Luc.
16, 22 ff.); denn der Ort, an welchem Lazarus sich befindet, ist
nicht ein Ort im Himmel, sondern eine Abteilung der Unterwelt;
und es ist nicht gesagt, daß Lazarus und der reiche Mann in
Ewigkeit an den Orten bleiben, an welchen das Gleichnis sie uns
zeigt. Ihr Geschick ist zwar für immer entschieden; es hindert
aber nichts, das Stadium, in welchem das Gleichnis sie uns zeigt,
nur als vorläufiges anzusehen, wofür namentlich die verwandte
Schilderung Henoch c. 22 spricht78. Auch Josephus bezeichnet es
Die Religion des Judentums S. 339 ff. — Über die patristischen und die neu-
testamentlichen Anschauungen vom Zwischenzustand s. die Literatur in
Anm. 78 und 82.
77) In betreff der Gerechten wird Henoch 22, 13 augenscheinlich voraus-
gesetzt, daß sie auferstehen. Hierin, wie überhaupt in der Eschatologie steht
das Stück c. 22 nicht in Einklang mit der Hauptmasse von c. 1 — 36. Vgl.
über die sonst in c. 1—36 herrschende Eschatologie oben S. 596 f.
78) Sehr entschieden wird diese Auffassung des Gleichnisses Luc. 16
vertreten von den älteren Kirchenvätern, welche überhaupt betonen, daß die
verstorbenen Frommen nicht sogleich in den Himmel versetzt werden. Sie
nennen wohl zuweilen den Ort, an welchen die Frommen nach dem Tode
gelangen, „Paradies", betrachten dieses aber nicht als einen Ort im Himmel.
S. das Material bei Münscher, Dogmengeschichte II, 1818, S. 392 — 407
Kattenbusch, Das apostolische Symbol H, 1900, S. 901 ff. Clemen,
„Niedergefahren zu den Toten" 1900, S. 142—151. Die Hauptstellen sind:
Justin. Dial. c. Tryph. c. 5 ed. Otto p. 24 (ed. 3); dazu c. 80 ed. Otto p. 290.
Irenaeus II, 34, 1. V, 5, 1. V, 31, 1—2. Tertuüian. De anima c. 55. 58. De
resurr. c. 43. Besonders ausfuhrlich Hippolytus in dem Fragmente negl toC
~~^r(fc, welches von manchen dem Josephus zugeschrieben wird (am besten
[548. 549] III. Systematische Darstellung. 641
als Lehre der Pharisäer, daß die abgeschiedenen Seelen vor der
Auferstehung ein verschiedenes Los in der Unterwelt
haben {Antt. XVIII, 1, 3: a&avaxov xe löxvv xalg ipvxatg jclöxig
avvolg üvai, xal vjco x&ovbq ötxaicoöecg xe xal xifiag alg
aQstfjg 7) xaxlag kniTTjöevoig iv xq> ßlcp yiyova, xal xalg fihv
elQYfio» aiöiov jiQoxl&sofrai, xalg fih Qaöxwvrjv xov avaßiovv). In
j der Apokalypse Baruchs und im vierten Buch Esra ist häufig von
Behältnissen (jyromptuaria) die Rede, in welche die Seelen der ver-
1 storbenen Gerechten nach dem Tode aufgenommen werden (Apocal.
Baruch. 30, 2. IV Esra 4, 35. 41. 7, 32. 80. 95. 101 ed. Bensly). Im
II Makkabäerbuche wird vorausgesetzt, daß | die Verstorbenen An-
teil nehmen am Geschick der Lebenden: Jeremias und Onias tun
( Fürbitte für ihr Volk (II Makk. 15, 12—16). Die Tendenz geht
i im allgemeinen dahin, die Vorstellung von der vorläufigen Se-
! ligkeit der verstorbenen Frommen zu steigern, so daß der Unter-
j schied zwischen der vorläufigen und der definitiven Seligkeit all-
• mählich geringer wird. Im späteren rabbinischen Judentum ist
• die Anschauung vorherrschend, daß die Seelen der verstorbenen
; Gerechten (nicht ihre Leiber) alsbald nach dem Tode in das
„Paradies" (den yv? "ja) versetzt werden79; und dieses Paradies
wird mehr und mehr als ein himmlisches gedacht. In ähnlicher
Richtung bewegen sich schon die Bilderreden des Buches Henoch,
deren Aussagen aber nicht einheitlich zu sein scheinen: die Selig-
keit der verstorbenen Gerechten ist teils eine solche im Himmel,
teils eine solche in einem fernen „Garten" irgendwo auf der Erde;
dabei ist es auch nicht überall klar, ob an eine vorläufige oder
eine definitive Seligkeit zu denken ist (Henoch 39, 3—12. 60, 8. 23.
61, 12. 70, 3-4. 71, 16—17). Für-die Zeit Christi wird man als
Anschauung des vulgären Judentums betrachten dürfen, daß nur
einzelne bevorzugte Gottesmänner, wie Henoch und Elias,
aber auch Esra und seinesgleichen, unmittelbar nach dem Tode
in den Stand der himmlischen Herrlichkeit aufgenommen werden
(IV Esra 14, 9: tu enim recipieris ab hominibus et converteris resi~
duum cum filio meo et cum similibus tuis, usquequo ßniantur tempora\
vielleicht ist auch II Makk 15, 12—16 in diesem Sinne zu ver-
stehen). Die Erwartung dagegen, daß alle verstorbenen
Gerechten schon unmittelbar nach dem Tode in die himm-
herausgegeben von Ho 11, Fragmente vornicänischer Kirchenväter aus den
Sacra parallela, 1899, 8. 137—143; über andere Ausgaben s. oben Bd. I,
8. 90 f.).
79) Vgl. Lightfoot, fforae hebr. zu Luc. 16, 22. Wetstein, Nov. Test, zu
Luc. 23, 43. Weber, System S. 322 ff. Castelli, Jeurish Quarterly Review
I, 337$??.
Schür er, Geechic^ #, «*. Aufl, 41
642 § 29. Die messianische HoffmiDg. [549. 550}
lische Seligkeit versetzt werden, ist zunächst ein Cha-
rakteristikum des hellenistischen Judentums. Sie vertritt
hier die Stelle des Auferstehungsglaubens und ist mit diesem nur
künstlich vereinbar80. Eben weil sie den Auferstehungsglauben,
| wie er ursprünglich gemeint war, im Grunde ausschließt, wird sie
auch von den älteren Kirchenlehrern als häretisch verworfen81.
Es ist darum keineswegs allgemein giltig, wenn nach der christ-
lichen Äscensio Jesaja 9, 7—8 alle Gerechten, die seit Adam ver-
storben sind, sich im siebenten Himmel befinden. — Im Neuen
Testamente zeigt sich eine ähnliche Mannigfaltigkeit, wie in den
jüdischen Quellen. Die Erwartung einer sofortigen Versetzung der
Gerechten in den Himmel scheint vorzuliegen: Luc. 23, 43. II Kor.
5, 8. Phil. 1, 23. Act 7, 59. Apoc. 6, 9 ff. 7, 9 ff. Aber es fragt
sich, ob das „Paradies" Luc. 23, 43 als ein Ort im Himmel zu
denken ist; und an den andern Stellen ist zu erwägen, ob es sich
nicht um eine Bevorzugung der im Dienste Christi als Märtyrer
Gestorbenen handelt; nur Apoc. 7, 9 ff. würde in diese Auffassung
sich nicht fügen82. Jedenfalls ist es nicht richtig, zu sagen, daß
80) Vgl. die in Anm. 75 genannten Schriften. Besonders bemerkenswert
sind die Äußerungen des IV. Makkabäerbuches , da dieses sonst den
pharisäischen Anschauungen sehr nahe steht. Um so auffallender ist es, daß
es die in seiner Vorlage, dem II. Makkabäerbuche, so stark hervortretende
Auferstehungshoffnung überall getilgt und an deren Stelle die Hoffnung ge-
setzt hat, daß die Frommen zu Gott in den Himmel versetzt werden. 9, 8:
sie werden sein naoä &e<p. 13, 16: Abraham, Isaak und Jakob nehmen sie
auf. 15, 2: sie kommen elq alowiov £a>^v xaxä &e6v. 17, 5: sie stehen bei
Gott iv ovQavcp. 17, 18: x<j> &el(p vvv naQeoxtfxaoi &oöv(p xal xbv fiaxäoiov
ßiovaiv alwva. 18, 23: sie sind zum Chor der Väter versammelt Vgl. Grimms
Commentar zum IV. Makkabäerbuche S. 289. Freudenthal, Das IV. Makka-
bäerbuch S. 67—71.
81) Justin. Dial c. Tryph. c. 80 ed. Otto p. 290 (ed. 3): di xal Xiyova*
u-il elvai vsxqwv avdaxaoiv, &XX& a/ua xco ano&v/jaxeiv xä$ tpvxäs avxCbv
avaXafißaveo&ai elg xöv ovoavöv, ufi vnoXaßrixs avxovq Xoiaxiavovs. Dazu c. 5
ed. Otto p. 24. — Sehr bestimmt verwirft Irenaeus V, 31, 1—2 die Lehre der-
jenigen als häretisch, welche sagen, daß „der innere Mensch" beim Verlassen
des Körpers in super coe festem ascendere locum (V, 31, 2). — Ähnlich Bippo-
lytus in der eingehenden Erörterung in dem Fragmente aus nsol xov navx6$
(Ho 11, Fragmente vornicänischer Kirchenväter 8. 137 — 143).
82) Vgl. über die Lehre des N. T. bes. Zell er, Die Lehre des N. T.
vom Zustand nach dem Tode (Theol. Jahrbb. 1847, S. 390—409). Titius,
Die vulgäre Anschauung von der Seligkeit im Urchristenthum (*— Die neu-
testamentl. Lehre von der Seligkeit IV) 1900, S. 40—50. Clemen, „Nieder-
gefahren zu den Toten" 1900, S. 142—151. M. Stier, Neue kirchl. Zeitschr.
1907, S. 227—250 (erörtert den Gegenstand ganz in der Weise der katholischen
Scholastik). — Daß nur die Märtyrer gleich nach dem Tode zu Christo-
kommen, sagt ausdrücklich Tertullian De resurr. c. 43: Nemo enim pere~
[550. 551] III. Systematische Darstellung. 643
nach dem Neuen Testamente alle Gläubigen unmittelbar nach dem
Tode in das himmlische Paradies versetzt werden 83. Fest fixierte
und allgemein giltige Anschauungen haben sich auf diesem Punkte
überhaupt nicht gebildet. — Über die neue Leiblichkeit der
Auferstandenen gibt die Apokalypse Baruchs ausführlichen Auf-
schluß (50, 1—51, 6. Vgl. auch IV Esra 7, 97 ed. Bensly).
Eine Hauptdifferenz in der Auferstehungslehre besteht nun
aber darin, daß man entweder nur eine Auferstehung der Ge-
rechten zum Zweck der Teilnahme am messianischen Reiche er-
wartete, oder eine allgemeine Auferstehung (der Gerechten und
Gottlosen) zum Gericht, und zwar bald yor Anbruch des messia-
nischen Reiches, bald nach Ablauf desselben. Die älteste Form
ist wohl die zuerst genannte (vgl. Anm. 60). Sie findet sich z. B.
im Psalt. Salom. 3, 16; 14, 2 ff., wird aber auch noch von Josephus
als pharisäische Durchschnittsmeinung erwähnt (Antt. XVIII, 1, 3.
B. J. II, 8, 14). Eine Erweiterung dieser ältesten Auferstehungs-
hoffnung ist die Erwartung einer allgemeinen Auferstehung
zum Gericht. So Daniel, Henoch, Apocal. Baruch, IV Esra, Testam.
XII Patriarch, und die Mischna, an den oben angeführten Orten84.
Hierbei besteht wieder | der Unterschied, daß man Auferstehung
und Gericht entweder vor Anbruch der messianischen Zeit er-
wartete oder nach Ablauf derselben. Die erstere, von Daniel 12, 2
und Henoeh 51 vertretene Anschauung ist sicher die ältere; denn
das Gericht hat ursprünglich den ZVeck, die messianische Zeit zu
inaugurieren. Erst als die messianische Seligkeit nicht mehr als
die letzte und höchste betrachtet wurde, hat man auch das Gericht,
als die Entscheidung über das Endgeschick der Menschen, an den
Schluß der messianischen Zeit verlegt So namentlich Apocal. Ba~
ruch und IV Esra. In der neutestamentlichen Apokalypse ist
die Erwartung einer Auferstehung der Frommen vor Anbruch des
messianischen Reiches kombiniert mit der Erwartung einer allge-
cjrinatus a corpore statim immoratur penes dominum nisi ex martyrii prae-
rogativa.
83) So Korff, Unmittelbar in das himmlische Paradies, Neutestainent-
liche Untersuchung über den Aufenthaltsort der Gerechten alsbald nach dem
Tode (auch unter dem Titel: Die Auferstehung und Himmelfahrt unseres
Herrn Jesu Christi, Vorverhandlung), 1897.
84) In der Mischna vgl. bes. Aboth IV, 22: „Die geboren werden, sind
bestimmt zu sterben; die Gestorbenen, auferweckt zu werden; die Aufer-
weckten vor Gericht zu stehen, damit man lerne, lehre und überzeugt
-werde, daß er der Allmächtige ist etc." — Auch Sanhedrm X, 3 wird die
•Auferstehung als eine allgemeine vorausgesetzt, insofern nur ausnahmsweise
von einzelnen hervorragenden Sündern, die schon bei Lebzeiten ihr Gericht
empfangen haben, gesagt wird* daß sie nicht zum Gericht auferstehen werden.
« 41*
644 § 29. Die messianische Hoffnung. [551. 552]
meinen Auferstehung nach Ablauf desselben. — Die Auferweckang
selbst erfolgt durch den Schall der göttlichen Posaune (I Kor.
15, 52. I Thess. 4, 16. Vgl. Matth. 24, 31. IV Esra 6, 23) 85.
11. Letztes Gericht Ewige Seligkeit und Verdamm-
nis86. Von einem letzten Gerichte nach Ablauf der messianischen
Zeit kann nur da die Rede sein, wo dem messianischen Reiche
eine begrenzte Dauer zugeschrieben wird. Es kommen hier also
von älteren Dokumenten nur die Apokalypse Baruchs und das
vierte Buch Esra in Betracht Bei den übrigen fällt das Ge-
richt zusammen mit der Vernichtung der feindlichen Mächte, welche
vor Anbruch des messianischen Reiches erfolgt (s. oben. Nr. 5).
In der Apokalypse Baruchs wird das letzte Gericht nur kurz an-
gedeutet (50, 4). Etwas ausfuhrlicher ist das vierte Buch Esra
(7, 33—44 ed. Bensly, bei Fritzsche c. 7, 33—35 und 6, 1—17 nach
dem äthiop.). Wir erfahren aus ihm namentlich, daß Gott selbst
es ist, der das Gericht hält Auch kann darüber kein Zweifel
sein, daß nach diesen beiden Apokalypsen am Tage des Gerichts
nicht nur über das Volk Israel, sondern über die ganze Mensch-
heit das Urteil gesprochen wird {Baruck 51, 4 — 5. Esra 7, 37 ed.
Bensly). Als allgemeiner Grundsatz gilt, daß alle Israeliten An-
teil haben an der zukünftigen Welt (Sanhedrin X, 1: bfcnto*! b3
«an Dbteb pbn Dnb tfi). Selbstverständlich aber sind alle Sünder
in Israel (die in der Mischna Sanhedrin X, 1—4 sorgfältig ver-
zeichnet werden) davon ausgeschlossen. Da das Urteil über jeden
einzelnen genau nach Maßgabe der Werke gefällt werden soll, so
werden schon bei Lebzeiten der Menschen ihre Taten in himm-
lischen Büchern aufgeschrieben (Henoch 98, 7—8; 104, 7; auch
c. 89—90. Jubiläen c. 30, 19—23. 36, 10 und sonst Test. XII Patr.
Äser 7. Mischna Aboth II, 1. Ev. Luc. 10, 20. Phü. 4, 3. Äpoc. 3, 5.
13, 8. 20, 15. Hermas Vis. I, 3, 2)87, und nach Ausweis [dieser
85) 8. auch Weber, System S. 352 f. Stähelin, Jahrbb. f. deutsche
Theol. 1874, S. 198; 220. BousBet, Der Antichrist S. 166 f. und die Kommen-
tare zu I Kor. 15, 52 und I Thess. 4, 16.
86) Vgl. überhaupt: Bertholdt, Christologia Judaeorum p. 206 — 211.
221—226. Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils II, 285 ff. 311 ff. Weber,
System S. 371 ff. — Über das Gericht: Volz, Jüdische Eschatologie S. 83—105,
257—270. Bousset, Die Religion des Judentums S. 237—245, 294—297. —
Über ewige Seligkeit und Verdammnis: Volz S. 270—292, 325—368,
Bousset S. 315—321, 324—329, 333—346.
87) Vgl über diese himmlischen Bücher bes. Harn acks Anmerkung zu
Hermas Vis. I, 3, 2; auch Fabririusy Cod. pseudepigr. I, 551 — 562. Dill«
mann, Das Buch Henoch S. 245; Ewalds Jahrbb. HI, 83. Langen, Das Ju-
den thum in Palästina S. 385. 499. Besch, Paralleltexte zu Lucas S. 1951
Bousset, Die Religion des Judentums S» 296.
[552. 553] III. Systematische Darstellung. 645
Bücher erfolgt dann der Urteilsspruch im Gericht. Die Gottlosen
werden in das Feuer der Gehenna verstoßen (Baruch 44, 15. 51,
1—2. 4—6. Esra 7, 36—38 u. 84 ed. Bensly, bei Fritzsche p. 607 sqq.
c 6, 1—3 u. 59) 88. Diese Ver|dammnis wird in der Regel als ewige
gedacht89. Doch findet sich auch die Anschauung von einer zeit-
lich begrenzten Dauer der Höllenstrafen, wodurch sie also nur
die Bedeutung eines Purgatoriums erhalten90. Die Gerechten und
88) Das hebr. Disrpa Kidduschin IV, 14. Edujoth n, 10. Abotk I, 5. V,
19. 20. Häufig in den Targumen und im Talmud. Im Neuen Testamente
yhwa ML 5, 22. 29 f. 10, 28. 18, 9. 23, 15. 33. Mc. 9t 43. 45. 47. Luc. 12, 5.
Jaeob. 3, 6. — Eigentlich ist das Qe-htnnom (Tal des Hinnom) ein Tal bei
Jerusalem, in welchem die Israeliten dem Moloch opferten (Jerem. 32, 34 — 35,
vgl. II Reg. 21, 4 — 5). Jeremia weissagt darum, daß gerade hier auch das
Verderben hereinbrechen werde: ein furchtbares Blutbad, in welchem die
Israeliten hingemordet werden (Jerem. 7, 31 ff. 19, 5 ff). Im Buch Henoch
e. 26 — 27 finden wir dann die Erwartung, daß in diesem Tale aUe Gottlosen
versammelt werden, damit an ihnen das Gericht vollzogen werde. Der Name
Gehinnom ist nicht genannt; aber es ist deutlich beschrieben als das Tal
zwischen Zion und Ölberg. Es ist also noch ein eigentliches Tal bei
Jerusalem. Fndlich aber ist dann das Gehinnom gedacht als ein Strafort
in der Unterwelt, an welchen die Gottlosen verstoßen werden. — Rabbinische
Beschreibungen des Gehinnom s. bei Jellinek, Bei ha-Midrasch I, 147 — 149.
II, 48—51. V, 48 f. Löwy, Proceedings of the Society of Bibl. Archaeology
X, 1888, p. 333—342. Gaster, Journal of the Royal Asiatic Society 1893,
p. 571—611. — Vgl. überhaupt: Eisenmenge r, Entdecktes Juden thum II,
322—369. Light foot, Horae zu Matth. 5, 22. Wetstein, Nov. Test., zu
Mt. 5, 22. Buxtorfj Lex. Ohald. col. 395 sq. Bodenschatz, Kirchliche Ver-
fassung der heutigen Juden III, 64—86. Boetteher, De inferis p. 80 — 85.
Levy, Chald. Wörterb. I, 135 f. Ders., Neuhebr. Wörterb. I, 323. Tho-
luck und Achelis in ihren Auslegungen der Bergpredigt, zu Matth. 5, 22.
Die Lexika zum N. T. s. v. yiewa. Dillmann, Das Buch Henoch S. 131 f.
Weber, System S. 326 ff. Wünsche, Jahrbb. f. prot. Theol. 1880, S. 382f.
495 ff. Bacher, Die Agada der Tannaiten 2 Bde. Register s. v. „Hölle".
Daiman, Art. „Gehenna" in Herzog-Haucks Real-Enz. 3. Aufl. VT, 418—421,
und Art. „Hades" ebendas. VH, 295—299. Charles , Art. Gehenna in: Ha-
stings* Dictionary of the Bible H, 119 sg. Beer, Der biblische Hades, in:
Theologische Abhandlungen für Holtzmann 1902, S. 1-29. Volz, Jüdische
Eschatologie 8.288 ff. — Sonst wird auch der Hades und dessen Finster-
nis als künftiges Los der Gottlosen bezeichnet, z. B. Psalt. Salom. XIV, 6.
XV, 11. XVI, 2.
89) Jes. 66, 24. Daniel 12, 2. Matth. 3, 12. 25, 46. Luc. 3, 17. Testam.
XII Patr. Sebulon 10. Äser 7. Joseph. B. J. H, 8, 14: &Xd*l<p u/totola. Antt.
XVni, 1, 3: elgypöv ätöiov (beide Stellen im Zusammenhang oben 8. 449 ff.).
Vgl. Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils H, 289.
90) Edujoth n, 10: ;,R- Akiba sagte: Die Gerichtsvollziehung über Gog
und Magog in der Zukauft dauert zwölf Monate und die Verdammungszeit der
Gottlosen im Gehinnojw faüert zwölf Monate". — Es ist dabei aber wohl nur
646 § 29* Die messianische Hoffnung. [553]
Frommen werden aufgenommen ia das Paradies und werden
wohnen in -den Höhen jener Welt und schauen die Majestät Gottes
und seiner heiligen Engel. Ihr Angesicht wird leuchten wie die
Sonne, und sie werden ewiglich leben {Daniel 12, 3. Baruch 51, 3.
7—14. Esw 7, 36—38; 95—98 ed. Bensly, bei Fritzsche p. 607 sqq.
c. 6, 1—3; 68—72. Vgl. auch Assumptio Mosis 10, 9— 10) 91.
Bei diesen letzten Akten des eschatologischen Dramas tritt
besonders stark der Unterschied zwischen der älteren prophetischen
und der späteren jüdischen Hoffnung hervor. Im allgemeinen ist
dieser Unterschied oben in den einleitenden Bemerkungen S. 583 ff.
charakterisiert worden. Es ist dort — abgesehen von der Steige-
rung ins Transzendente (Nr. 3) und der Ausgestaltung durch
schriftgelehrte Forschung (Nr. 4) — als Hauptunterschied hervor-
gehoben worden: einerseits die Erweiterung des Blickes auf das
Geschick der ganzen Welt (Nr. 1) und andererseits die Konzen-
an die Sünder ans Israel zu denken. Jedenfalls gelten die Höllenstrafen in
der Regel als ewige. S. Cas teilt, Jewish Quarter ly Review I, 345.
91) Im Rabbinischen heißt das Paradies gewöhnlich yrs *|* (so z. B.
Aboth V, 20), oder auch ö*nß, letzteres aber seltener (in der Mischna nur von
einem Park im natürlichen Sinne, Sanhedrin X, 6. Chuliin XII, 1. Ärachin
III, 2). In den Testam. Xu Patr. kommt beides vor ('EStfi Test. Dan. 5,
naoaöeiooq Test Levi 18). Im N. T. naoadeioog Lue. 23, 43. II Kor. 12, 4.
Apoc. 2, 7. Die syrischen Übersetzungen des N. T. geben das nentestament-
liche naoaäeiooq teils durch „Garten Eden", teils durch das griechische Wort
wieder (b. Resch, Paralleltexte zu Lucas 1895, S. 735 ff.). — Sofern das Para-
dies als Ort der definitiven Seligkeit in Betracht kommt, ist es als ein Ort
im Himmel zu denken; nach der älteren Anschauung liegt es in einer fernen
Gegend der Erde (s. z. B. Henock 32). — Rabbinische Beschreibungen s. bei
Jellinek, Bet ha-Midrasch II, 48—51. 52 sq. in, 131—140; 194—198. V,
42—48. VI, 151—152. Gaster, Journal of the Royal Asiatic Society 1893,
p. 571—611 (engl. Übersetzung rabbinischer Texte). — Viel Material bei Eisen-
menger, Entdecktes Juden thum II, 295 — 322. Bodenschatz, Kirchliche
Verfassung der heutigen Juden III, 41—63. Wetstein, Nov. Test. I, 818—820
(zu Luc. 23,43). Vgl. auch Lightfoot, Horae hebr. zu Luc. 23, 43. Schött-
gen, Horae hebr. zu II Kor. 12, 4 und Apoc. 2, 7. Überhaupt die Ausleger
zu den Stellen des N. T.s. Joh. Schultheß, Das Paradies, das irdische
und überirdische, historische, mythische und mystische (Zürich 1816) S. 345 ff.
Arnold, Art. „Paradies" in Ersch und Grubers Enzykl. Sektion 111, Bd. 11
(1838) S. 304 ff. bes. 310 ff. Thilo, Cod. apocr. Nov. Test. p. 74Ssqq. Dill-
mann in Schenkels Bibellex. IV, 377 — 379. Klöpper, Commentar zum
zweiten Korintherbrief S. 506 ff. Weber, System S. 330 ff. Hamburger,
Real-Enz. II, 892—897 (Art. „Paradies"). Wünsche, Jahrbb. f. prot Theol.
1880, S. 382 f. 495 ff. Salmond, Art. Paradise in: Hastings' Dictionary of
the Bible III, 1900, p. 668-672. Eisenstein und Barton, Art. Paradise in:
The Jewish Encyclopedia IX, 1905, p. 515—519. Voiz S. 374—378. Bousset
8. 324 ff.
[553] III. Systematische Darstellung. (547
trierung des Interesses auf das einzelne Individuum (Nr. 2). Am
stärksten ins Gewicht fällt der letztere Punkt: das Hervortreten
des religiösen Individualismus. Über sein Verhältnis zur
älteren prophetischen Hoffnung sei hier noch einiges bemerkt
Der religiöse Individualismus steht mit der älteren prophe-
tischen Hoffnung, welche immer das Volk als solches im Auge
hat, in keinem näheren Zusammenhang. Das Endgeschick des
Einzelnen ist nicht notwendig bedingt durch das des Volkes und
umgekehrt Ein gewisser Zusammenhang besteht nur so lange,
als die individuelle Hoffnung noch in der einfachsten Form des
Auferstehungsglaubens auftritt: die Frommen werden auferweckt,
um am messianischen Reiche teilzuhaben. Sobald aber die indi-
viduelle Hofinung eine mehr transzendente Form annimmt und
irgendwie auf ein seliges Leben in einer übersinnlichen Weit geht,
tritt eine Spannung zwischen beiden Anschauungskreisen ein: beide
sind nur noch künstlich zu vereinigen. Durch die verschiedene
Art der Kombination ist die Jgroße Mannigfaltigkeit, ja Inkon-
zinnität der Zukunftsbilder bedingt, wie sie eben gezeichnet wur-
den. Am deutlichsten ist dies bei der hellenistischen Form der
Zukunftshoflhung: die Seele geht nach dem Tode in ein übersinn-
liches himmlisches Dasein über. Für ein Leben im messianischen
Reiche bleibt hier kein Raum. Aber auch die palästinensische
Hoffnung bewegt sich irgendwie in derselben Richtung. Was
früher nur als ein Vorzug einzelner Gottesmänner erschien: die
Erhebung in ein himmlisches Dasein, wird jetzt mehr und mehr
die Hofinung der Frommen überhaupt. In dem Maße als dies der
Fall war, mußte die alte nationale Hoffnung entweder aufgelöst
oder mit jener nur äußerlich kombiniert werden. In den Apoka-
lypsen des Baruch und Esra ist letzteres geschehen. Aber die
äußerliche Art der Addition zeigt deutlich, daß hier zwei eigentlich
disparate Elemente zusammengeschweißt sind. Tatsächlich geht
die Tendenz dahin, das nationale Reich des Messias durch ein
„Himmelreich", ein Reich, in welchem der Unterschied von Himmel
und Erde aufgehoben ist, zu ersetzen.
Während also der religiöse Individualismus zur nationalen
Hoffnung sich disparat verhält, steht er in voller Harmonie mit
dem religiösen Universaiismus. Auch hier gibt es zwar eine
Form, welche sich noch an die alte nationale Hoffnung anschließt
Das Gericht ist ein Gericht über alle Feinde des jüdischen Volkes,
und das messianische Reich umfaßt insofern die ganze Welt, als
die Heiden dem jüdischen Volke unterworfen sind oder sich willig
ihm anschließen. Indem aber die das Universum umspannenden
Erwartungen den Boden dieser irdischen Welt verlassen und sich
\\±# § 29. Die meäsianische Hoffnung. [553. 554]
tun (übersinnliche erheben, treten sie auch in Disharmonie ziTden
nationalen. Wenn das letzte große Gericht ein Weltgericht ist,
bei welchem alle Menschen vor Gottes Richterstuhl zu erscheinen
haben, und über das Geschick aller entschieden wird nach Maß-
gabe (ihres Verhaltens auf Erden, dann müssen die nationalen
Unterschiede zurücktreten. Es [handelt sich jetzt nicht mehr in
erster Linie um die Frage: ob Jude oder Heide, sondern um die:
ob gut oder böse. Der ethische Faktor tritt in den Vorder-
grund und der nationale zurück.
Durch das Hervortreten der individuellen und universellen
Richtung und ihre Erhebung ins Transzendente strebt demnach
die Entwickelung auf eine Auflösung der |Volkshoffnung und) ihre
Ersetzung durch eine rein religiöse hin. Aber weiter als zu
starken Ansätzen in dieser Richtung kommt es nicht. Die Volks-
hoffnung behält doch [das Übergewicht Sie wird mannigfaltig
modifiziert; sie wird mit Elementen bereichert, die sich eigentlich
disparat zu ihr verhalten; aber sie bleibt der feste Punkt im
Wechsel der Zeiten. Erst im Christentum ist sie durch die rein
religiösen Gesichtspunkte verdrängt. Aber auch hier hat das Erb-
stück der jüdisch-nationalen Hoffnung, der Chiliasmus, noch zwei
Jahrhunderte lang die Gemüter beherrscht
12. Anhang. Der leidende Messias92. Wir hatten im |
bisherigen nirgends Veranlassung, von Leiden oder vollends von
einem Versöhnungstode des Messias zu reden. Denn die Weis-
sagung des vierten Buches Esra, daß der Messias nach 400jähriger
Herrschaft sterben werde (IV Esra 7, 28—29), hat selbstverständ-
lich mit der Idee eines Versöhnungstodes nichts gemein. Aber es
darf nun doch die Frage nicht unerörtert bleiben: ob das Juden-
tum im Zeitalter Christi einen leidenden und zwar zur Sühnung
der menschlichen Sünde leidenden und sterbenden Messias erwartet
habe. Nach dem bisherigen scheint sich die Frage von selbst zu
verneinen, wie sie denn auch von den meisten (unter eingehendster
92) Vgl. De Wette, De morte Jesu Christi expiatoria (Optiscc. p. 1 — 148).
— G frörer, Das Jahrhundert des Heils II, 265—272. — Oehler, in Herzogs
Real-Enz. IX, 440 f. (2. Aufl. IX, 670 f.). — Wünsche, rr*tt*n «nw oder Die
Leiden des Messias. Leipzig 1870. — Delitzsch, Sehet welch' ein Mensch!
(Leipzig 1872), S. 13. 30 f. — Castelli, 11 Messia p. 216—224, 329 ff. 335 ff. —
Weber, System S. 343—347. — Hamburger, Real-Enz. II, 765—767 (Art.
„Messiasleiden"). — Dal man, Der leidende und der sterbende Messias der
Synagoge im ersten nachchristl. Jahrtausend, 1888 (bes. beachtenswert). —
Baldensperger, Das Selbstbewußtsein Jesu (2. Aufl. 1892), S. 144 ff — Vgl.
auch das unten Anm. 100 genannte Werk Ton Driver und Neubauer. —
Die ältere Literatur verzeichnet De Wette a. a. 0. 8. 6—9.
[554. 555] III. Systematische Darstellung. 649
Begründung namentlich von de Wette) verneint worden ist. An-
dere dagegen, wie z. R Wünsche, glauben sie ebenso entschieden
bejahen zu können. Allerdings ist nun im Talmud wiederholt von
Leiden des Messias die Rede. Aus dem Worte iirnrn Jesaja 11, 3
wird geschlossen, daß Gott den Messias beladen habe mit Geboten
und Schmerzen gleich Mühlsteinen (D^ms "p-fio-n mroa)93. An
einer andern Stelle wird geschildert, wie der Messias an den
Toren Roms sitzt und seine Wunden auf- und zubindet94. Wich-
tiger ist, daß schon in Justins Bialogus cum Tryphone von dem
Vertreter des jüdischen Standpunktes wiederholt zugegeben, ja als
selbstverständlich versichert wird, daß der Messias leiden müsse.
„Wenn wir (so berichtet Justin c. 68) ihnen die Schriftstellen
nennen, welche deutlich beweisen, daß der Messias leiden muß
und anzubeten ist und Gott ist, so geben sie zwar gezwungen zu,
daß dort vom Messias die Rede ist, aber trotzdem wagen sie zu
behaupten, daß dieser (Jesus) nicht der Messias sei. Vielmehr
glauben sie, er werde erst kommen und leiden und herrschen und
ein anbetungswürdiger Gott werden". Noch bestimmter äußert
sich Trypho selbst an einer anderen Stelle c. 89: Ua^rjxbv /ihv
xov Xqiöxov oxi al ygcupal xrjQvööovOi, (paveoov köxiv
| el öe öia xov kv xq3 vopcp xexaxrjQafiivov xad-ovg, ßovXofis^a
[la&elv, sl %x6l$ x<d BSQ1 tovxov äxodelgcu. Hier überall ist nun
freilich nur von Leiden im allgemeinen, nicht von einem sühnen-
den Leiden die Rede, und die Idee eines Kreuzestodes wird be-
stimmt abgewiesen. Aber es finden sich auch Stellen, in welchen
im Anschluß an Jesaja 53, 4 ff. deutlich von einem Leiden um der
Sünde der Menschen willen die Rede ist So wird einmal
dem Messias unter anderen Namen auch der Name Ckulja («"'bin
der Kranke, nach anderer Lesart fcng^n der Aussätzige) beigelegt,
und dies begründet durch Berufung auf Jes. 53, 4: „Fürwahr
unsere Krankheiten hat er getragen und unsere Schmerzen hat
er auf sich genommen; wir aber hielten ihn für einen, der ge-
plaget und von Gott geschlagen und gedemütigt wäre**95. Nach
einer von Raymundus Martini aus dem Siphre entnommenen Stelle
sagte R. Jose der Galiläer: „Der König Messias ist erniedrigt und
klein gemacht worden wegen der Abtrünnigen, wie es heißt: Er
ist durchbohrt wegen unserer Frevel u. s. w. (Jes. 53, 5). Um wie
93) Sanhedrin 93 *>, mitgeteilt bei Wünsche, Die Leiden des Messias
S. 56 f. Dal man S. 38 f.
94) Sanhedrin 98a, bei Delitzsch, Hebräerbrief S. 117. Wünsche 8. 57 f.
Dalman S. 39 f.
95) Sanhedrin 98b, bei Gfrörer II, 266. Wünsche S. 62 f. Dal-
man S. 36 f.
650 § <&• Die messianische Hoffnung. [555. 556]
viel mehr wird er deshalb für alle Geschlechter Genugtuung
schaffen, wie geschrieben steht: Und Jahve ließ ihn treffen die
Schuld von uns allen (Jes. 53, 6)a96. Da die Stelle in unseren
Texten des Sipkre sich nicht findet, so fragt es sich, ob unsere
Texte verkürzt sind oder ob Raymundus Martini ein interpoliertes
Exemplar hatte97. Es wird damit auch zweifelhaft, ob der Aus-
spruch wirklich von E. Jose dem Galiläer, einem Zeitgenossen
Akibas (erste Hälfte des zweiten Jahrh. n. Chr., s. oben S. 446),
herrührt An sich ist es aber nicht unwahrscheinlich, daß um
jene Zeit einzelne Gelehrte Jes. 53, 4 ff. auf den Messias gedeutet
haben. Dafür sprechen namentlich die Worte Tryphos bei Justin.
Dial. c. Tryph. c. 90: Uafrelv (ihv yaQ xal coq XQoßarov a#-
d-TJoeod-ai oldctftev el 6h xal oravQco&fjvcu x. r. X. Der jüdische
Gegner Justins gab also zu, daß Jes. 53, 7 auf den Messias zu
beziehen sei. Es wird sich hiernach nicht bestreiten lassen, daß
man im zweiten Jahrhundert nach Chr. wenigstens in ge-
wissen Kreisen des Judentums sich mit der Idee eines leidenden,
und zwar zur Sühne der menschlichen Sünde leidenden Messias
vertraut gemacht hat98. Die Darstellung Justins macht es wahr-
scheinlich, daß die jüdischen Gelehrten durch ihre Disputationen
mit den Christen sich zu dieser Konzession gedrängt sahen. Es
ist damit ein Gedanke auf den | Messias angewandt, der
dem rabbinischen Judentum ganz geläufig ist: daß nämlich
der vollkommene Gerechte nicht nur alle Gebote erfüllt, sondern
auch durch Leiden die etwa begangenen Sünden büßt, und daß
das überschüssige Leiden der Gerechten den anderen
zugute kommt99. Aber so sehr sich von diesen Prämissen aus
die Idee eines leidenden Messias auf dem Boden des Judentums
begreifen läßt, so wenig ist sie doch die herrschende Anschauung
des Judentums geworden. Das, sozusagen offizielle, Targum Jona-
than läßt zwar die Beziehung von Jes. 53 auf den Messias im
ganzen stehen, deutet aber gerade diejenigen Verse, welche vom
96) S. Wünsche S. 65 f. Delitzsch, Paulus1 Brief an die Römer (1870)
S. 82 f.
97)8. Dalman S. 43 f. Wünsche gibt freilich die Seitenzahl des
Siphre an, wo die Stelle angeblich steht!!
98) Da Justins Trypho höchst wahrscheinlich mit R. Tarphon iden-
tisch ist (s. oben S. 444), und da R. Tarphon mit R. Jose dem Galiläer ver-
kehrt hat (oben S. 446), so gewinnt die obige Tradition über R. Jose den
Galiläer durch Justins Angabe an Glaubwürdigkeit. Trypho würde hiernach
einen Standpunkt vertreten haben, welcher auch seinen nächsten palästinen-
sischen Kollegen nicht fremd war.
99) S. Weber, System S. 313—316.
[
556. 557] § 30. Die Essener. 651
Leiden des Knechtes Gottes handeln, nicht auf den Messias100.
In keiner der zahlreichen von uns besprochenen Schriften fanden
wir auch nur die leiseste Andeutung von einem sühnenden Leiden
des Messias. Wie fern diese Idee dem Judentum lag, beweist
auch das Verhalten der Jünger wie der Gegner Jesu zur Genüge
(ML 16, 22. Luc. 18, 34. 24, 21. Joh, 12, 34). Man wird nach
alledem wohl sagen dürfen, daß sie dem Judentum im großen
und ganzen fremd gewesen und immer nur Schulmeinung ge-
blieben ist101.
§ 30. Die Essener.
Literatur:
Triglandius, Trium seriptorum illustrium de tribus Judaeorum sectis syn-
tagma. 2 Bde. Delphis 1703.
Joh. 0 ottlob Carpxov, Apparatus historico-critieus antiquüatum sacri codicis
(1748) p. 215-240. |
Ugolini, Trihaeresium etc., in seinem Thesaurus antiquitatum sacrarum
t. XXII.
Bellermann, Geschichtliche Nachrichten aus dem Alterthume über Essäer
und Therapeuten, Berlin 1821.
Credner, Über Essäer und Ebioniten und einen teil weisen Zusammenhang
derselben, in: Winers Zeitschr. für wissenschaftl. Theol. Bd. I, Heft 2.
(1827) S. 211—264, und Heft 3 (1829) S. 277—328.
Gfrörer, Philo und die alexandrinische Theosophie Bd. II (1831) S. 299— 356.
Dähne, Geschichtliche Darstellung der jüdisch -alexandrinischen Religions-
Philosophie Bd. I (1834) S. 439—497. — Ders., Art. „Essäer" in Ersch und
Grubers Allg. Enzyklop. Sektion I, Bd. 38 (1843) S. 173—192.
Frank el, Die Essäer. Eine Skizze (Zeitschr. för die religiösen Interessen des
Judenthums 1846, S. 441—461).
Frankel, Die Essäer nach thalmudischen Quellen (Monatsschr. für Gesch. und
Wissensch. des Judenth. 1853, S. 30-40. 61—73).
Lutterbeck, Die neutestamentlichen Lehrbegriffe Bd. I (1852), S. 270—322.
ühlhorn, Art. „Essener" in Herzogs Real-Enz. Bd. IV (1855), S. 174—177.
3. Aufl. Bd. V (1898) S. 524—527.
100) Näheres s. bei O eh ler in Herzogs Real-Enz. IX, 441 (2. Aufl. IX,
670 f.). Weber, System S. 344 f. — Zur Geschichte der Auslegung von Jes. 53
bei den Juden vgl. auch Origenes c. Gels. I, 55; und besonders: Driver and
Neubauer, The fifty-third chapter of Isajah according to the Jewish Inter-
preters. 2 Bde. I: Texts. II: Translations. Oxford and London 1876—1877
(Theol. Litztg. 1877, 567 f.).
101) Stellen aus späteren Midraschim und anderen Werken jüdischer
Theologen s. bei Wünsche 8. 66—108.
652 §• 30. Die Essener. 1557. 558]
Zeller, Die Philosophie der Griechen Tl. m, Abt. 2 (1. Aufl. 1852), 2. Aufl.
1868, S. 234-292. 3. Aufl. 1881, S. 277—338. 4. Aufl. 1903, S. 307—377.
— Ders., Über den Zusammenhang des Essai smus mit dem Griechen-
thum (Theol. Jahrbb. 1856, 8. 401—433).
Ritschi, Über die Essener (Theol. Jahrbb. 1855, S. 315—356). — Ders., Die
Entstehung der altkathoL Kirche (2. Aufl. 1857) 8. 179—203.
Mangold, Die Irrlehrer der Pastoralbriefe (1856) 8. 32—60.
Hilgenfeld, Die jüdische Apokalyptik (1857), 8. 243—286. — Ders., Zeitschr.
für wissensch. Theol. Bd. I, 1858, 8. 116 ff. III, 1860, 8. 358 ff. X, 1867,
8. 97 ff. XI, 1868, 8. 343 ff. XIV, 1871, 8. 50 ff. XXV, 1882, S. 257 ff.
Herz fei d, Gesch. des Volkes Jisrael Bd. III, 8. 368 ff. 388 ff. 509 ff.
Jost, Geschichte des Juden thums und seiner Secten Bd. I, 8. 207 — 214.
Grätz, Geschichte der Juden Bd. III, (3. Aufl.), 8. 99 ff. 657—663 (Note 10).
4. Aufl. 8. 91 ff. 697—703 (Note 12).
Ewald, Geschichte des Volkes Israel Bd. IV, 8. 483 ff.
Barnischmacher y De Essenorum apud Judaeos societaie. Bonn 1866 (Gym-
nasialprogramm). — Ders., Essenorum apud Judaeos societatis origines
exponuntur et historia. Bonn 1886 (Gymnasialprogr.).
eim, Geschichte Jesu Bd. I, 8. 282—306.
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1906, p. 5-27).
Von der großen Heerstraße des jüdischen Volkslebens abge-
schieden lebte im Zeitalter Christi in Palätina eine religiöse Ge-
meinschaft, die, obwohl auf jüdischem Boden erwachsen, doch in
vielen Punkten von dem traditionellen Judentume wesentlich ab-
wich, und die, wenn sie auch auf die Entwickelung des Volkes
keinen maßgebenden Einfluß geübt hat, doch schon als eigentüm-
liches Problem der Religionsgeschichte unsere Aufmerksamkeit ver-
dient Man pflegt diese Gemeinschaft, die Essener oder Essäer,
nach dem Vorgange des Josephus als die dritte jüdische Sekte neben
die Pharisäer und Sadduzäer zu stellen. Aber es bedarf kaum
der Bemerkung, daß wir es hier mit einer Erscheinung ganz anderer
Art zu *tun haben. Während die Pharisäer und Sadduzäer große
politisch-religiöse Parteien sind, lassen sich die Essener am ehe-
sten vergleichen mit einem Mönchsorden. Im einzelnen ist frei-
lich vieles rätselhaft an ihnen. Schon ihr Name ist dunkel. Jo-
sephus nennt sie gewöhnlich 'EoötjpoI1, daneben aber auch yEo-
oatoc2. Bei Plinius heißen sie Esseni, bei Philo stets 'Eooaioi.
Wenn Philo behauptet, ihr Name sei identisch mit oaioi, so ist dies
eben nur etymologische Spielerei 3. In Wahrheit ist er jedenfalls
semitischen Ursprungs, so wenig Einverständnis auch bisher da-
rüber erreicht worden ist4. Die früher von vielen angenommene
Erklärung «*o« „Ärzte" trifft zu wenig die Eigentümlichkeit des
Ordens, hat auch keine Stütze an dem griechischen d-egcvtevral, da
1) So im ganzen 14 mal: Antt. XIII, 5, 9 (2 mal). XIU, 10, 6. XIII, 11, 2.
XV, 10, 4. XV, 10, 5 (2 mal). XVIII, 1, 2. XVIII, 1, 5. Vita c. 2. Bell. Jud.
II, 8, 2. II, 8, 11. II, 8, 13. V, 4, 2 (vgl. Harnischmacher 1866, p. 5).
2) So Ana. XV, 10, 4. XVII, 13, 3. Bell. Jud. I, 3, 5. II, 7, 3. II, 20, 4.
III, 2, 1.
3) Quod omnis probus liber § 12 (Mang. II, 457): öiaXtxvov 'EXXqvucrjq
7i aQiovvß öl baibxnxoq. Ibid. § 13 (Mang. II, 459): xbv \z%&kvxa ZpuXov
xihv 'Eooatwv ?j balmv. Mang. II, 632 (= Euseb. Praep. evang. VIII, 11, 1
ed. Qaisford): xalovvxai 'EooaZoi nagä x^v baibxrjxa, ßol <fo*u>, xfjq tiqoo-
riyogiaq &%uo&hxeq. — Es scheint mir unwahrscheinlich, daß Philo bei diesen
Erklärungen an das semitische chase gedacht hat (so Lucius S. 89 und Nestle,
Zeitschr. f. d. neutest. Wissensch. 1903, S. 348). Vielmehr leitet er, wie
namentlich die zuerst angeführte Stelle zeigt, den Namen wirklich von dem
griechischen boibxrjq ab.
4) S. das Verzeichnis der verschiedenen Ansichten bei Keim, Geschichte
[560] § 30. Die Essener. 655
| die Essener nirgends „Ärzte", sondern nur d-eQaxsvxai d-eov
(Diener Gottes) genannt werden5. Am ansprechendsten ist die
z. B. von Ewald, Hitzig, Lucius und anderen vertretene Ableitung
von dem syrischen Kon fromm (dem aramäischen Äquivalent für
das hebräische "Ppn), im Plural etat absoL "pon stat. emphat. fcTüH.
An ersteres schließt sich die Form 'EcötjvoI, an letzteres y£ccaioi
an6. Mehr noch als der Name der Essener liegt ihr Ursprung
im Dunkeln. Josephus gedenkt ihrer zuerst zur Zeit des Mak-
kabäers Jonathan um 150 vor Chr.7 Bestimmt erwähnt er
einen Essener Judas zur Zeit Aristobuls I (105—104 vor Chr.)8.
Darnach wird die Entstehung des Ordens wohl ins zweite
Jahrhundert vor Chr. zu setzen sein. Aber es fragt sich, ob
sie lediglich aus dem Juden turne hervorgegangen sind, oder ob
auch fremde, speziell hellenistische Einflüsse auf ihre Bildung
eingewirkt haben. Um darauf zu antworten, haben wir vor
allem die Berichte der Quellen, nämlich des Philo9, Jose|-
Jesu I, 285. Zeller, Philosophie der Griechen III, 2, 278 (3. Aufl.). Light-
foott St. PauFs epistles to the Golossians and to Philemon (2. ed.) p. 349—354.
Lucius, Der Essenismus S. 89 f. Hilgenfeld, Ketzergeschichte S. 93— 101.
5) Philo, Quod omnis probus über § 12 (Mang. II, 457).
6) Daß anlautendes h mit folgendem Zischlaut im Griechischen durch
iaa— oder äaa — wiedergegeben werden kann, sieht man z. B. aus iaa^vijq
= 'jttjn (Jos. Antt. III, 7, 5. 8, 9), aooiöaloi = ti^on, 'Eoaeßwv = *p3iion. —
Die Wortbildungen auf rjvöq und aloq werden im hellenistischen Griechisch
promiscue gebraucht; es bedarf also zu ihrer Erklärung nicht notwendig der
Berufung auf den semitischen Status absol. und emphat.; doch wird man eine
gewisse Einwirkung dieser auf die Bildung der griechischen Formen für wahr-
scheinlich halten dürfen.
7) Antt. XIII, 5, 9.
8) Antt. XIII, 11, 2. B. J. I, 3, 5.
9) Quod omnis probus über § 12 — 13 (Opp. ed. Mang. II, 457—459), und
das Fragment bei Eusebius, Praeparatio evangelica VIII, 11, aufgenommen von
Mangey II, 632—634. Die Echtheit beider Berichte ist neuerdings von Ohle
bestritten worden, die des zweiten (bei Euseb. Praep. ev. VIII, 11) auch von
Hilgenfeld. Ohle hält zwar die Schrift Quod omnis probus liber für philo-
nisch, den Abschnitt über die Essäer aber für eine spätere Einschaltung. Der-
selbe Fälscher soll auch das Stück bei Euseb. VIII, 11 und die Schrift De
rita contemplativa verfaßt haben, frühestens Ende des dritten Jahrh. n. Chr.
(Beiträge zur Kirchengescb. I, 18 ff. 43). Hilgenfeld urteilt über die Schrift
Quod omnis probus liber umgekehrt: sie rühre von einem Stoiker her, in dessen
Schrift Philo den Abschnitt über die Essäer eingeschoben habe; dagegen sei
das Stück Euseb. VIII, 11 nicht-philonisch. Die Gründe gegen die Echtheit
des letzteren scheinen mir sehr unerheblich. Eher kann man an dem philo-
nischen Ursprung der Schrift Quod omnis probus liber zweifeln. Aber auch
hier dürften die Grunde gegen die Echtheit nicht durchschlagend sein (s.
Lucius S. 13 — 23, und überhaupt die unten § 34 genannte Literatur). Sollte
656 § 30. Die Essener. [561]
phus10 und Plinius11 uns zu vergegenwärtigen, um auf dieser
Grundlage dem Ursprung und Wesen des Essenismus näher nach-
zugehen.
I. Die Tatsachen.
1. Organisation des Gemeinschaftslebens. Philo und
Josephus schätzen übereinstimmend die Zahl der Essener zu ihrer
Zeit auf mehr als 4000 *. Soviel wir wissen, lebten sie nur in
Palästina; wenigstens gibt es keine sicheren Spuren für ihr
Vorkommen außerhalb Palästinas2. Nach Philo wohnten sie vor-
die Schrift nicht von Philo herrühren, so würde sie dadurch ihren Quellen-
wert doch nicht verlieren; denn der Bericht über die Essäer gibt an sich zu
keinen Bedenken Anlaß. Gegen Ohle s. Wendland, Archiv f. Gesch. der
Philos. V, 225 ff. Treplin, Theol. Stud. u. Krit. 1900, S. 32 ff. Plooij, De
bronnen voor onxe Kennis van de Essenen 1902, p. 30—90.
10) Bell. Jud. II, 8, 2—13. Antt. XIII, 5, 9. XV, 10, 4-5. XVIII, 1, 5.
Auch die Berichte des Josephus hält Ohle für stark überarbeitet. Nur eine
ganz schmale Grundlage erkennt er als echt an. Es muß auch hier genügen,
gegenüber seinen scharfsinnigen, aber wenig überzeugenden Ausführungen auf
Wendland, Treplin und Plooij zu verweisen.
11) Hut. Not. V, 17. — Die übrigen Quellen (Hippolytus, Porphy-
rius, Eusebius, Solinus, Epiphanius) sind entweder ganz von den drei
Genannten abhängig, oder doch so dürftig oder unzuverlässig, daß sie kaum
von Wert sind. S. überhaupt über die Quellen für die Geschichte der Essener:
Bellermann, Geschichtliche Nachrichten S. 36—145. Clemens, Zeitschr.
für wiss. Theol. 1869, S. 328 ff. Lightfoot, St. PauPs epistles to the Ookssians
etc. 2. ed. p. 83 sq. Lucius, Der Essenismus S. 12—34. Hilgenfeld, Zeitschr.
1882, S. 266-289. Ketzergeschichte 8.87—149. Treplin, Stud. u. Krit. 1900.
Plooij, De bronnen etc. 1902. — In der rabbinischen Literatur (Mischna,
Tosephta, Talmud, Midraschim) werden die Essener, wie es scheint, nirgends
erwähnt; jedenfalls nicht unter diesem Namen. Wenn die jüdischen Gelehrten
(Frankel, Herzfeld, Jost, Grätz, Derenbourg, Geiger, Hamburger,
Weinstein, Lehmann) sie unter verschiedenen anderen Namen haben wie-
derfinden wollen, so sind diese Identifizierungen teils entschieden unrichtig,
teils wenigstens sehr fraglich, wie dies für die meisten Fälle auch von Geiger
anerkannt worden ist. S. bes. Jüdische Zeitschrift für Wissensch. und Leben
1871, S. 49—56.
1) Philo ed. Mangey II, 457. Joseph. Antt. XVIII, 1. 5. — Es scheint mir
kaum zweifelhaft, daß Josephus hier den Philo benützt hat In der ausführ-
lichen Schilderung, welche Josephus selbst Bell. Jud. H, 8 gibt, fehlen fol-
gende Punkte: 1) Die Zahl 4000, 2) Verwerfung der Tieropfer, 3) Ackerbau
als vorwiegende Beschäftigung, 4) Verwerfung der Sklaverei. Alle diese Punkte
werden von Philo erwähnt und von Josephus in dem späteren Berichte Antt.
XVIII, 1, 5 nachgeholt; doch wohl aus Anlaß des philonischen Berichtes.
2) Ob die christlichen Asketen in Rom (Rom. 14 — 15) und Kolossä
{Col. 2) christianisierte Essener sind, ist sehr fraglich. Nur in Syrien würde
[561. 5621 I. Die Tatsachen. 657
wiegend in Dörfern, da sie die Städte mieden wegen der Unsitt-
lichkeit | der Stadtbewohner3. Doch sagt er selbst an einer an-
dern Stelle, daß sie auch viele Städte Judäas bewohnten4. Und
nach Josephus waren sie sogar in jeder Stadt (Palästinas) zu
finden 5. Man würde sonach sehr irren, wenn man durch die Schil-
ein Vorkommen der Essener bezeugt sein, wenn in der Stelle Philos Quod
omnis probus liber § 12, Mang. II, 457 (s. nächste Anm.) die vulgäre Lesart
^ üaXaioxlvij xal Zvola die richtige wäre. Es ist aber sicher zu lesen fj IIa-
XaiGxlvrj Zvola. Denn 1) Die besten Philohandschriften haben so, s. Wend-
land, Archiv f. Gesch. d. Philos. V, 230. 2) Eusebius, der die Stelle ebenfalls
zitiert (Praep. evang. VIII, 12, 1 ed. Oaisford) liest ^ iv IlaXaioxivg 2vqIcl.
3) Der Ausdruck ^ UaXaiaxlvTj SvqIcc wird von Philo auch sonst gebraucht
(De nobilitate § 6, Mang. 11,443: ßduao 9p xwv knb xfjq üaXaiaxlvvq Zvolccq),
und derselbe ist überhaupt seit Herodot ganz gewöhnlich (seit Antoninus Pius
auch im amtlichen römischen Sprachgebrauch rezipiert). S. Herodot I, 105:
iv xy IlaXaioTlvg SvQlg, II, 106 ebenso, III, 5: Svqcdv xibv üaXaioxivwv xa-
XeofiivüjVf III, 91 : 4*oivixrj xe näaa xal EvqIti fj üaXaiaxlvij xaXeofjttvrj (Näheres
über den Sprachgebrauch des Herodot s. Herzog-Haucks Beal-Enz. 3. Aufl.
XIV, 558, im Artikel „Palästina"). Joseph. Äntt. VIII, 10, 3: x^v üaXaiaxlvrjv
2vqIov. Polemon bei Euseb. Praep. evang. X, 10, 15 (ed. Oaisford): iv xy ILa-
Xaiaxlvy xaXovßivy Zvglq. Für den amtlichen röm. Gebrauch ist der älteste
Beleg ein Militärdiplom vom J. 139 n. Chr. (Reime bibliqve VI, 1897, p. 598 sqq.
=» Corp. Insor. hat. III Suppl. p. 2328, 70, Dipl. CIX). Häufig findet sich auf
den Münzen von Flavia Neapolis die Beischrift üvoiaq TlaXaiaxlvrjq (De Saulcy,
Numismatique de la Terre Sainte p. 248 sqq.). Noch mehr Material bei Pape-
Benseler, Wörterb. der griech. Eigennamen s. v. IlaXaiorlvv. Forbiger,
Geogr. II, 673 f. Paulys Real-Enz. V, 1070. Kuhn, Die städtische und
bürgert. Verfassung des röm. Reichs II, 183 f. Marquardt, Romische Staats-
verwaltung Bd. I (1881) S. 420 ff. Rohden, De Palaestina et Arabia etc. 1885,
p. 1—3. — naXaiatlvT] ist hier überall Adjeetivum („das philistäische Syrien")*
Aus den angeführten Stellen erhellt auch, daß bei Philo a. a. O. nicht JlaXai-
axlvrj Svglaq zu lesen ist, wie Manche wollen, sondern 2V(>/a. Das Richtige
z. B. bei Wieseler in Herzogs Real-Enz. 1. Aufl. XXI, 291 (Art. Timotheus-
b riefe).
3) Philo ed. Man?/. II, 457: *Eaxi 6h xal ^ IJaXaioxlvTj [xal] Svgla xa-
Xoxaya&iaq obx ayovoq, JJr noXvavS^Qwnoxdxov S&vovq x(bv *Iov6alo>v obx ÖXlyrj
(xoZqo, vtftexai. Aiyovxai xtvsq nag' abxotq övofxa 'EooaZoi x. x. X. . . . Oircoi
xb fxhv ngibxov Xiüfxridbv olxovai, xaq nöXuq ixxgenbfxevoi, 6ia xaq x(bv noXi-
xevofiivoiv yEiQOTJ&eiq dvo/ilaq, elödxeq ix xibv cwövxwv ioq &n* Stigoq <p&ooo-
noioS vöaov iyyivo/xivrjv ngooßoX^v %pv%atq dvlaxov.
4) Philo ed. Mang. II, 632 (= Euseb. Praep. Evang. VIII, 11, 1 ed. Oais-
ford): Olxovoi 6k noXXaq fikv noXeiq xfjq 'lovöalaq, noXXäq 6k x&paq, xal
pteyäXovq xal noXvav&gvonovq SfxlXovq.
5) Joseph. Bell. Jud. H, 8, 4: Mla rf' obx ?<mv abxwv ndXiq, äXX* iv
hxaoxg ftexoixovoi noXXol. „Jede Stadt" kann nur heißen: jede Stadt
Palästinas, nicht: jede Stadt des Ordens, wie Hilgenfeld will (Judenthum und
Judenchristen thum S. 25; Zeitschr. f. wiss. Theol. 1900, S. 206). — Sicher gab
es Essener auch in Jerusalem, wo sie mehrfach in der Geschichte auf-
Sohürer, Geschiebte II. 4. Aofi. 42
658 § 30- Die Ebener. [56& 563]
derimg des Plinius sich verleiten ließe, sie nur in der Wüste En-
gedi am Toten Meere zu suchen6. Vielmehr kann die dortige
Niederlassang nur als eine der | zahlreichsten vor andern sich
ausgezeichnet haben. Dm des gemeinsamen Lebens willen hatten
sie eigene Ordenshäuser, in welchen sie zusammen wohnten 7. Ihre
ganze Gemeinschaft war aufs strengste einheitlich organisiert
An der Spitze standen Vorsteher {ixifieJLTjTcd, . welchen die Mit-
glieder zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet waren8. Wer in
den Orden eintreten wollte, bekam drei Abzeichen (deren Be-
deutung später klar werden wird): eine Axt (dzipaQiov^, eine
Schürze (xeQiZcDfia und ein weißes Gewand (Xsvxt)v iofrfjrc?. Er
wurde aber nicht sofort in die Ordensgemeinschaft aufgenommen,
sondern hatte zunächst eine einjährige Probezeit zu bestehen, nach
welcher er zu den Waschungen zugelassen wurde. Darauf folgte
eine weitere Probezeit von zwei Jahren. Und erst nach Ablauf
dieser durfte er an den gemeinsamen Mahlen teilnehmen und trat
ganz in den Orden ein, nachdem er zuvor noch einen furchtbaren
Eid abgelegt hatte. In diesem Eide hatte er sich ebenso zu un-
bedingter Offenheit gegen die Brüder, wie zur Geheimhaltung der
Lehren des Ordens gegen Nichtmitglieder zu verpflichten9. Auf-
treten U»i«. XIII, 11, 2. XV, 10, 5. XVII, 13, 3. B. J. II, 20, 4), und ein Tor
nach ihnen genannt wurde (B. J. V, 4, 2: &it x^v ''Eoorjvibv nvlrjv), vermutlich
deshalb, weil in seiner Nähe sich das Ordenshaus der Essener befand.
0) Eist. Nat. V, 17: Ab occidente litora Esseni fuqiunt usque qua nocent,
gens sola, et in toto orbe praeter ceteras mira, sine ulla femina, omni trnere
abdicata, sine pecunia, socio palmarum. In dient ex aequo convenarum turba
renasciiur large frcqueniantibus quos vita fessos ad mores eorum forttmae fluc-
tibus agit. Iia per seculorum milia (incredibiie dicht) gens aeterna est, in qua
nemo nascitur. Tarn fecunda Ulis aliorum titae paenitetitia est. Infra hos En-
gada oppidum fuit etc. — Auch Dio Chrysostomus (erstes Jahrb. nach Chr.)
hat nach dem Zeugnis seine« Biographen Synesius die Essener als eine Ge-
meinde am Toten Meere erwähnt, Synesii Opp. ed. Peiav. p. 39: oxi xal tovq
'Eooqvovq Inawzl nov, ndXiv SXqv evdalftova x^v naoa xd vexodv vo\oo iv xj
/xeooyelq xfjq Ilakaioxivjjq xfifievtjv nag' avxd nov xä 266o(ia. — Vermutlich
gehen Plinius und Dio Chrysostomus auf eine gemeinsame Quelle zu-
rück; vgl. Lucius, Der Essenismus S, 30 — 33.
7) Philo ed. Mangey II, 632 (=» Enseb. Praep. evang. Vm, 11, 5 ed. Qais-
fordy. Olxovoi 6* iv xavxib, xaxä 9idoovq hxaiglaq xal ovooixia noiovfie-
voiy xal nav&* imho xov xoivwq>6Xovq noayfiaxevdfievoi dtaxeXovciv. — Jo-
sephus Bell. Jud. II, 8, 5 sagt wenigstens, daß sie zu den Mahlzeiten elq lötov
oixqua ovviaoiv, lv$a fxrjöevl x(bv kxeoodögwv huxixoanxai naoeX&eir. — Vgl.
auch Philo ed. Manq. II, 458: Ovösvbq olxia xiq ioxiv l&a, JJv oi%l ndvxwr
elvat ovfxßtßqxe. ÜQÖq yäo xd xaxä &ukoovq owoixeiv, dvanhcraxcu xal votq
kxioay&ev Safixvovfihoiq ttbv üfxotfiXwv.
8) Joseph. Bell. Jud. II, 8, 6.
9) Joseph. Bell. Jud. II, 8, 7.
[563. 564] I. Die Tatsachen. 659
genommen wurden nur erwachsene Männer10. Doch nahmen sie
auch schon Kinder an, um sie für ihre Grundsätze heranzubil-
den11. Wenn Josephus sagt, daß die Essener nach der Zeit ihres
Eintrittes in vier Klassen zerfallen12, so sind unter der ersten
Klasse wohl jene | Kinder, unter der zweiten und dritten die
beiden Stufen des Noviziates, und unter der vierten die eigent-
liehen Mitglieder zu verstehen. Über Vergehungen von Ordens-
mitgliedern entschied ein Gericht von mindestens 100 Mitglie-
dern13. Wer sich schwer vergangen hatte, wurde ganz aus der
Gemeinschaft ausgestoßen u.
Das festeste Band, welches die Glieder unter einander verband,
war die unbedingte Gütergemeinschaft „Bewundernswert ist
bei ihnen die Gemeinschaft; und man findet nicht, daß einer mehr
besitze als der andere. Denn es ist Gesetz, daß die Eintretenden
ihr Vermögen dem Orden übergeben, so daß nirgends weder Nie-
drigkeit der Armut noch Übermaß des Reichtums zu sehen ist,
vielmehr nach Zusammenlegung des Besitzes der einzelnen nur
ein Vermögen für alle als Brüder vorhanden ist" 15. „Unter sich
kaufen sie weder, noch verkaufen sie etwas; sondern indem jeder
dem anderen gibt, was er braucht, empfängt er hinwiederum von
jenem, was ihm nützlich ist. Und ohne Gegenleistung erhalten sie
ungehindert, was sie nur wollen" 16. „Die Verwalter (ijttfisXrjrai)
des gemeinsamen Vermögens werden gewählt, und jeder ist ohne
Unterschied für alle zur Dienstleistung verpflichtet" 17. „Zu Em-
pfängern der Einkünfte (djeoötxrag rcov jiqoöoöcov) und dessen,
was die Erde hervorbringt, wählen sie treffliche Männer und Prie-
ster für die Bereitung von Brot und Speise" 18. So Josephus. Über-
einstimmend hiermit äußert sich Philo. „Keiner will auch nur
irgendwie eigenen Besitz haben, weder ein Haus, noch einen Skla-
10) Philo ed. Mangey II, 632 (= Euseb. Praep. Evang. VIII, 11, 3 ed.
Gaisford).
11) Joseph. Bell. Jud. II, 8, 2.
12) B. J. II, 8, 10: Ji^QTjvxai 6h xaxä XQ<>V0V TW dax^aeioq slq poloag
xioaaoaq.
13) B. J. II, 8, 9.
14) B. J. II, 8, 8.
15) B. J. II, 8, 3.
16) B. J. II, 8, 4.
17) B. J. II, 8, 3: XeiQOTOvjjzol 6* ol x(bv xoivCov imfxeXTjxat, xal döial-
qbxol ngbq andvxwv elq xäq XQe^a<S sxa<noi. Einen etwas anderen Sinn wurde
die Bekkersche Lesart aloexoi ergeben.
18) Antt. XVIII, 1, 5: yAno6ixxaq dh xibv tiqoo66<j)v x^Qoxovovvxeq xal
önöoa % yrj (piooi aväoaq aya&ovq, Uouq xe Siä nolrjaiv altov te xal ßom-
fidxatv.
42*
660 § 30. Die Essener. [564. 565]
ven, noch ein Grundstück, noch Heer den, noch was sonst über-
haupt Reichtum verschafft. Sondern indem sie alles ohne Unter-
schied zusammenlegen, genießen sie den gemeinsamen Nutzen
aller"19. „Den Lohn, welchen sie durch verschiedenartige Arbeit
sich erwerben, geben sie einem erwählten Verwalter (ra/ilag).
Dieser empfängt ihn und kauft davon, was nötig ist, und spendet
reichliche Nahrung und was sonst das menschliche Leben er-
heischt"20. „Nicht nur die Speise, sondern | auch die Kleidung
ist ihnen gemeinsam. Für den Winter nämlich sind dichte Mäntel
vorhanden, und für den Sommer leichte Überwürfe, so daß jeder
nach Belieben davon Gebrauch machen kann. Denn was einer
hat, gilt als Besitztum aller; und was alle haben, als das jedes
einzelnen" 21. „Nur eine Kasse gibt es für alle und gemeinsame
Ausgaben und gemeinsame Kleider und gemeinsame Speisen in ge-
meinsamen Mahlen. Denn die Gemeinschaft der Wohnung und des
Lebens und der Mahlzeit findet man nirgends so fest und ausge-
bildet wie bei jenen. Und das begreiflicherweise. Denn was sie
täglich für ihre Arbeit als Lohn empfangen, das verwahren sie
nicht für sich, sondern legen es zusammen und machen so den Ge-
winn ihrer Arbeit zu einem gemeinsamen für die, welche davon
Gebrauch machen wollen. Und die Kranken sind unbesorgt wegen
ihrer Erwerbslosigkeit, da zu ihrer Pflege die gemeinsame Kasse
in Bereitschaft steht, so daß sie mit aller Sicherheit aus reich-
lichen Vorräten ihren Aufwand bestreiten können" 22.
Wie schon in der eben zitierten Stelle angedeutet ist, verstand
es sich bei ihrem engen Gemeinschaftsleben von selbst, daß für alle
Hilfsbedürftigen von Ordenswegen gesorgt wurde. Wenn einer er-
krankte, wurde er auf Gemeindekosten verpflegt. Die Alten genossen
unter der Fürsorge der Jüngeren ein fröhliches Alter, gleich als ob
19) Phüo ed. Manqey II, G32 (= Euseb. Praep. evatig. VIII, 11, 4).
20) Philo ed. Mangey II, 633 (— Euseb. Praep. evawj. VIII, 11, 10): 'Ex
ty rtöv ovtioq Öta<peo6vxa>v f-xavxoi xbv ftio&dv Xaßbvxeq kvl öidSaai x(j> ^et-
QOTovr}&hti xafjUa. Aaßibv ö* ixetvoq avxlxa xdmxföeia wvtXxai^ xal naQsxu
zpo<päq d<p&6vovq, xal xaXXa uiv 6 dv&Qwmvoq ßloq XQBi&Öriq.
21) Philo ed. Mangey II, 033 (= Euseb. Praep. erang. VIII, 11, 12).
22) Philo ed. Mangey II, 458 sq.: Eix* iazl xafteiov £v ndvxatv xal <fa-
ndvai, xal xoival fxhv io9i}zEqt xoival 6h xgo<pal ovooixia nEnoiTjfjievwv. Td
ydo oßcogöcpiov rj o/uoöiaivov ij ofioxßdne^ov oix av xiq evooi nag* hiooig
ftäXXov J-oy<p ßeßaiorfievov. Kai pfaox* eix6xa>q;aOaa yao av fxs&' tjßipav i(>-
yaadfxsvoi Xdßcomv inl ftio&q>, xavx' ohx LÖia (pvXdxxovoiv, &XX* elq pticov
7i Qoxi&ivxeq xotv^v xolq £&£Xovoi ZQijo&ai xtyv dn* abxtbv naQacxevd%ovctv
uxpiXeiav. Cflxe voatjXsvovxeq ob% dxi noofl^eiv dÖwaxovoiv d/u€Xovvxai^ nobq
xäq voaijXeiaq ix x(av xoivCov exovxsq £v hxolfiio ioq fiexä ndcfjq ASelaq i£ ct-
<p&ov<ox4(Mav dvaXlaxetv.
[566. 566] I. Die Tatsachen. 661
sie viele und treffliche Kinder um sich hätten23. Jeder hatte das
Recht, nach eigenem Ermessen aus der Gemeindekasse Hilfsbe-
dürftige zu unterstützen. Nur wenn es sich um Verwandte han-
delte, mußte er hierzu die Genehmigung der Verwalter (knlxQOJtoi)
einholen24. Reisende Ordensgenossen fanden überall gastfreie
Auf |nahme. Ja es war in jeder Stadt ein eigener Beamter (xTjöeficip)
aufgestellt, der für die Bedürfnisse der reisenden Brüder zu sorgen
hatte25.
Das Tagewerk des Esseners war streng geregelt. Es begann
mit Gebet, nach weichem die Mitglieder von den Vorstehern zur
Arbeit entlassen wurden. Zu den reinigenden Waschungen ver-
sammelten sie sich wieder, worauf das gemeinsame Mahl folgte.
Nach dem Mahle ging man wieder an die Arbeit, um sich abends
zum Mahle wiederum zu versammeln26. Die Hauptbeschäfti-
gung der Ordensmitglieder war der Ackerbau27. Doch trieben
sie auch allerlei Gewerbe. Verpönt war dagegen aller Handel,
weil er zur Habsucht reize; und ebenso die Anfertigung von Kriegs-
werkzeug und überhaupt von Geräten, durch welche den Menschen
Schaden zugefügt wird28.
2. Ethik. Sitten und Gebräuche. Sowohl von Philo al&
von Josephus werden die Essener als wahre Virtuosen der Sitt-
lichkeit geschildert. BiXxioxoi avÖQsg xbv xqojiov nennt sie Jo-
sephus29. Und Philo wetteifert mit ihm in der Verkündigung ihres
Lobes30. Enthaltsam, einfach und bedürfnislos war ihr
Leben. „Die sinnliche Lust verwerfen sie als Sünde, die Mäßigkeit
aber und die Freiheit von Leidenschaften halten sie für das Wesen
der Tugend*4 31. Speise und Trank genießen sie nur bis zur Sätti-
23) Philo ed. Jüan?/. II, 633 (= Euseb. Praep. er. VIII, 11, 13).
24) Joseph. Bell, Jud. II, 8, 6. ^— Die Verwalter (imftelrjTai B. J. II,
8, 3, knobixxai xwv noooböatv Anit. XVIII, 1, 5, xa/ulai Philo II, 633 = Eus,
VIII, 11, 10, inltQonoi B. J. II, 8, 6) scheinen zugleich die Vorsteher des
Ordens gewesen zu sein. Denn auch letztere werden im/jteXtjxal genannt (B.
J. II, 8, 5. 6).
25) B. J. II, 8, 4.
26) Joseph. Bell. Jud. II, 8, 5.
27) Antt. XVIII, 1, 5: xb näv noveiv inl yewoyicc xexoctfifjiivoi.
28) Philo ed. Mangey H, 457. 633 (= Euseb. VIII, 11, 8—9).
29) Antt. XVni, 1, 5.
30) Vgl. namentlich, was Philo II, 458 über ihren Unterricht sagt, mit
dem Inhalte des Eides, welchen nach Joseph. B. J. II, 8, 7 jeder beim Ein-
tritt zu schwören hatte.
31) Bell. Jud. IIf ßf 2: Tag u£y fjdovaq o)g xaxlav a7iooxo£<povxai, x^v öh
iyxodzeiav xal xb /u?) x0?g accfy firzonlnxeiv «fyer^v vnoXafißävovoi.
32) Bell. Jud. II, 8, 5 fin.: Ursache der Ruhe und Stille bei den Mahl-
zeiten ist fj ötrjvexfjq vrjtpiq xal xd /ustqeiö&cu nag' avxotq XQOtp^v xal noxdv
11&XQ1 xöqov.
33) Bell. Jud. II, 8, 6: ÖQyrjq xafilcu dlxaioi, Qvfiov xa&exxixol.
34) Philo ed. Mangey II, 633 (= Euscb. VIII, 11, 11).
35) Joseph. B. J. II, 8, 4.
36) Philo ed. Mang. II, 457.
37) Philo ed. Mangey II, 457: dovXöq xs naQ* avxoXq ovöl elq toxiv, äXX*
itev&EQOi ndvxeq, av&vnovoyovvxeq aXXrfXoiq. — Vgl. Joseph. Antt. XVIII, 1, 5:
oike öovXwv imxr\6zvovoi xtrjaiv.
38) Bell. Jud. II, 8, 6: näv fxhv xd fa&hv vn* aix&v IoxvqSxeqov doxov,
xd Sh dfxvieiv avxolq nepuoiaxai, x&lqov xi xrjq iniogxlaq vnoXafißdvovxeq'
tfÖT] yag xaxeyvä>o&al <paoiv xbv dmaxovfievov ölya &eov. — Vgl. Antt. XV,
10, 4 (Herodes erläßt den Essenern den Eid). — Philo II, 458: sie lehren xd
avwfioxov, xd axpEitäq.
39) Bell. Jud. II, 8, 3: xrjXTÖa £' vnoXafxßavovai xd tXaiov, x&v &Xei<p9jj
xiq axu)v, ofiJjxexat- x& olb[jLa% xd yag ai>xfi€iv iv xaXCo xl9evzai.
40) B. J. II, 8, 5: anoXovovxat xd owfia xpvxQotq vdccaiv.
41) B. J II, 8, 9 fin.
42) B. J. n, 8, 10 inü.
662 § 30. Die Essener. [566. 567]
gung32. Indem sie leidenschaftlicher Erregung sich enthalten, sind
sie „des Zornes gerechte Verwalter"33. Bei ihren Mahlzeiten sind
sie „Tag für Tag mit demselben zufrieden, die Genügsamkeit
liebend, großen Aufwand als der Seele und dem Leibe schädlich
verwerfend"34. Kleider und Schuhe legen sie erst ab, wenn sie
völlig unbrauchbar geworden sind35. Schätze von Gold und Silber
sammeln sie nicht, | noch erwerben sie aus Begierde nach Gewinn [
große Ländereien, sondern nur was für die Bedürfnisse des Lebens
nötig ist36.
Neben diesem allgemeinen Zuge der Einfachheit und Mäßig-
keit findet sich aber in ihren sittlichen Grundsätzen, in ihren
Gebräuchen und Lebensgewohnheiten eine Reihe eigentümlicher
Punkte, die wir zunächst hier einfach aufzählen, die Erklärung
für später vorbehaltend. 1) „Keiner ist bei ihnen Sklave, sondern
alle sind frei, indem sie gegenseitig für einander arbeiten"87.
2) „Alles, was sie sagen, ist gewisser als ein Eid. Das Schwören
aber wird von ihnen verworfen, da es schlimmer sei als Meineid.
Denn wer ohne Anrufung Gottes nicht Glauben verdient, der sei
schon gerichtet"38. 3) Das Salben mit Öl verwerfen sie. Und
wenn einer wider Willen gesalbt worden ist, so wischt er sich ab.
„Denn ein rauhes Äußere halten sie für löblich" 39. 4) Vor jeder
Mahlzeit baden sie sich in kaltem Wasser40. Dasselbe tun
sie, so oft sie eine Notdurft verrichtet haben41. Ja selbst die
bloße Berührung durch ein Ordensmitglied der niedrigeren Klasse
erfordert ein reinigendes Bad42. 5) Allezeit weiße Kleidung
[567. 568] I. Die Tatsachen. 663
zu tragen, halten sie für schön43, weshalb jedem eintretenden Mit-
gliede ein weißes Gewand überreicht wird44. 6) Mit besonderer
Schamhaftigkeit verfahren sie bei Verrichtung der Notdurft.
Sie graben nämlich mit der Hacke (oxaXlg, a^ivagcov), welche jedes
Mitglied erhält, eine Grube von einem Fuß Tiefe, umhüllen sich
mit dem Mantel, um nicht den Lichtgianz Gottes zu beleidigen
(mg fifj rag avyag vßgl^oiev zov &eov), entleeren sich in die Grube
und schütten die aufgegrabene Erde wieder darauf. Und dabei
suchen sie die einsamsten Orte auf und baden sich darnach, wie
| es Verunreinigte zu tun pflegen. An Sabbathen aber enthalten
sie sich gänzlich der Verrichtung der Notdurft45. Auch sonst
noch zeigt sich ihr schamhaftes Wesen. Beim Baden binden sie
eine Schürze um die Lenden46. Und das Ausspeien in die Mitte
oder nach rechts hin vermeiden sie47. 7) Die Ehe verwarfen
sie ganz und gar48. Zwar kennt Josephus einen Zweig der
Essener, welcher die Ehe zuließ49. Aber diese können nur eine
kleine Minderheit gebildet haben. Denn Philo sagt 'geradezu:
'Eoocdcov ovo elg äyezai yvvalxa. 8) An den Tempel schickten sie
zwar Weih gesehen ke, aber Tieropfer brachten sie nicht dar,
da sie ihre eigenen Opfer für wertvoller hielten. Sie waren des-
halb ausgeschlossen von dem Tempel zu Jerusalem50. 9) Eine
Haupteigentümlichkeit der Essener waren endlich ihre gemein-
samen Mahlzeiten, die den Charakter von Opfermahlen hatten.
Die Speisen wurden von Priestern zubereitet51, wobei wahrschein-
lich gewisse Reinheitsvorschriften beobachtet wurden; denn es war
43) B. J. II, 8, 3: xd yao aiyjteTv iv xa\ij> zi&svxaii X^vx^ifiovelv xe
6iä nuvxög.
44) B. J. II, 8, 7.
45) Bell. Jud. II, 8, 9.
46) B. J. II, 8, 5.
47) B. J. II, 8, 9: xd nxvocu 6h elg ixt-oovq % xd 6e&6v fttyoq (pvkda-
oovxca.
48) Philo II, 633—634 (= Euseb. VIII, 11, 14—17). Joseph. B. J. II, 8, 2.
Antt. XVm, 1, 5. Plin. Hut. Not. V, 17.
49) Bell. Jud. H 8, 13.
50) Philo II, 457: ov t^ma xaza&vovxegt ctXX* leQonoeneiq tag havxtbv 6ia-
volag xaxaaxevd^eiv a&ovvxeg. — Joseph. Antt. XVIII, 1, 5: elg 6h xd Xeoöv
avaQJjfiuxa oxiXXovxeg &volag ovx imzeXovoiv 6ia<poo6xrjxi ayveiCbv a$ vofil-
Z>oiev, xal 6i* avxö eloydfjtevoi xov xoivov xepevlouaxog i<p* a\>x(bv zag &volag
imxeXovoiv. — Das ovx vor tmxeXovoiv im ersten Satz ist von Niese getilgt,
von Naber mit Recht beibehalten worden. Es fehlt zwar in den griechischen
Handschriften, ist aber durch die Epitorne und den Vet. Lot. ausreichend be-
zeugt und dem Sinne nach unentbehrlich.
51) AM. XVIII, 1, 5.
b
664 § 30. Die Essener. [568. 569]
einem Essener nicht gestattet, eine andere als eben diese Speise
zu genießen52. Die Mahlzeiten beschreibt Josephus folgendermaßen:
„Nach dem reinigenden Bade begeben sie sich in eine eigene Woh-
nung, wohin keinem Andersgläubigen der Zutritt gestattet ist
Und sie selbst gehen als Reine in den Speisesaal wie in ein Hei-
ligtum. Und nachdem sie sich in Kühe gesetzt haben, legt der
Bäcker der Reihe nach Brote vor, und der Koch setzt einem jeden
ein Gefäß mit einem einzigen Gerichte vor. Der Priester aber
betet vor der Mahlzeit, und keiner darf vor dem Gebete etwas ge-
nießen. Nach der Mahlzeit betet er wieder. Am Anfang und am
Ende ehren sie Gott als Geber der Nahrung. Darauf legen sie
ihre Kleider als | Heilige ab und wenden sich wieder zur Arbeit
bis 'abends. Zurückkehrend speisen sie dann in derselben Weise
wieder" 53. 10) Die weit verbreitete Meinung, daß die Essener sich
des Genusses von Fleisch und Wein enthalten hätten, hat keine
Stütze in den älteren Quellen und ist neuerdings von Lucius
wohl mit Recht bekämpft worden64. Als indirekte Argumente
pflegt man dafür anzuführen: a) die Verwerfung der Tieropfer,
welche ihren Grund darin habe, daß die Essener das Schlachten
der Tiere überhaupt für verwerflich hielten, und b) die Verwerfung
des Fleisch- und Weingenusses bei den verwandten Richtungen
der Therapeuten, Pythagoreer und Ebjoniten. Allein daß die Ver-
werfung der Tieropfer aus dem angegebenen Motive hervorge-
gangen ist, läßt sich nicht beweisen; und die Verwandtschaft der
genannten Richtungen mit dem Essenismus, resp. der Grad dieser
Verwandtschaft, ist eben erst auf Grund der feststehenden Tat-
sachen zu ermitteln. Hieronymus schreibt allerdings den Essenern
die Enthaltung von Fleisch und Wein zu. Seine Behauptung be-
ruht aber nachweisbar nur auf grober Nachlässigkeit in der Wie-
dergabe des Berichtes des Josephus55.
52) B. J. II, 8, 8.
53) Bell. Jud. II, 8, 5. Ohne Zweifel haben wir in diesen Mahlen die
Opfer {9-voiai) zu erblicken, welche die Essener nach Joseph. Ant. XVIII,
1, 5 für wertvoller hielten, als die zu Jerusalem. Die UqclI £o&ijxeq waren
wohl leinene Gewänder. Denn weiße Kleidung trugen die Essener stets.
Das Auszeichnende der heiligen Gewänder kann also nur in dem Stoffe ge-
legen haben. Bestimmt sagt Josephus (B. J. II, 8, 5) von den Bade- Schürzen,
daß sie aus Leinwand bestanden. Vgl. Zeller III, 2, 290 (3. Aufl.).
54) Lucius, Die Therapeuten S. 38 f. Ders., Der Essenismus S. 56 f.
55) Hieronymus adv. Jovinian. II, 14 (Opp. ed. Vallarsi II, 343: Josephus
in seeunda Judaicae captivitatis historia et in octavo decimo antiquiiatum libro
et contra Appionem duobus voluminibus tria describit dogmala Judaeorum: Pha-
risaeos, Sadducaeos, Essaenos. Quorum novissimos miris effert laudibus, quod
et ab uxoribus et vino et carnibus semper abstinuerint et quotidianum
[570] I. Die Tatsachen. 665
3. Theologie und Philosophie. Die Weltanschauung der
Essener war ihrer Grundlage nach jedenfalls die jüdische. Wenn
Josephus ihnen den Glauben an ein unabänderliches ^Geschick zu-
schreibt, durch welches die menschliche Willensfreiheit schlechthin
aufgehoben werde56, so ist dies ohne Zweifel nur im Sinne eines
unbedingten Vorsehungsglaubens zu verstehen57. Und wenn er
sagt, daß die Essener alles, die Sadduzäer nichts vom Geschick ab-
hängig machen, während die Pharisäer eine Mittelsteilung zwischen
beiden einnehmen, so mag daran so viel wahr sein, daß die Essener
an dem Vorsehungsglauben, den sie mit den Pharisäern gemein
hatten, mit besonderer Entschiedenheit festhielten. Wie die Essener
in [diesem ^Punkte nur entschiedene Pharisäer sind, so auch in
Hochhaltung des Gesetzes und des Gesetzgebers. „Nächst
Gott ist bei ihnen der Name des Gesetzgebers Gegenstand großer
Ehrfurcht; und wer ihn lästert, wird mit dem Tode bestraft"58.
„Die Ethik betreiben sie besonders gründlich, indem sie zu Lehr-
meistern die väterlichen Gesetze nehmen, die eine menschliche Seele
ohne göttliche Eingebung unmöglich habe ausdenken können"59.
jejunium verterint in naturam. Der Eingang dieser Worte beweist, daß Hie-
ronymu8 dabei überhaupt nicht den Josephus, sondern den Porp hyrius be-
nützt hat, welcher in seiner Schrift de abstinentia IV, 11 — 13 den Bericht des
Josephus wiedergibt (vgl. de abstinentia IV, 11: 'iuMJTjnoq . . . iv x(j> öevrioq)
xfjq 'lovSaiXTJQ loxooiaq . . . xal iv x<p dxx&xaiöexdxy xrjq doxcnoXoylaq . . .
xal iv zip devxigip xiy nobq xovqvEXXi}vaq, die letztere Angabe ist falsch, da
in den Büchern contra Apionem die Sekten nicht erwähnt werden). Aber weder
Josephus noch Porphyrius sagen etwas davon, daß die Essener sich des
Fleisch- und Weingenusses enthalten hätten. Porphyrius selbst fordert aller-
dings in seiner ganzen Schrift die Enthaltung von Fleischgenuß. Er ist aber
exakt genug, in den Bericht des Josephus nichts Fremdes hineinzutragen (die
Angabe bei Lucius S. 56 ist also unrichtig, vgl. auch Zeller S. 287). Erst
Hieronymus hat diese Ergänzung vorgenommen. Da er aber seine Behauptung
lediglich auf Josephus stützt, so verliert sie damit allen Wert. — Für den
Fleisch- und Weingenuß bei den Essenern lassen sich wenigstens
zwei Wahrscheinlichkeitsgründe geltend machen: 1) Nach Philo II, 633
= Euseb. Praep. evanq. VIII, 11,8 trieben sie auch Viehzucht. 2) Josephus
B. J. II, 8, 5 erklärt die Buhe und Stille bei den Mahlzeiten daraus, daß sie
Speise und Trank (xgocpijv xal noxöv) nur bis zur Sättigung genossen, was
doch nur einen Sinn hat, wenn sie auch Wein tranken.
56) Joseph. AntL XIII, 5, 9. Vgl. XVIII, 1, 5: 'EoorjvoTq 6 inl ph> &ey
xaxaXdnetv <piXel xa ndvva 6 Xdyoq.
57) Vgl. das oben S. 460 ff. über die Pharisäer Bemerkte.
58) Joseph. Bell. Jud. II, 8, 9: 2£ßaq öh fxiya nao* aircolq pexa xdv
&edv xovvofxa xov vofio&erov xav ßka<5(pmi^oy xiq elq xovxov, xoXä"C,ezai
&avaxio.
59) Philo II, 458: Tb rf&ucfo ev (xvXa SianovovoiVj äXelnxaiq XQ^^01
xoZq naxoloiq v6ß0lgf ovg faAYcevov av&Q<omvriv imvofjoai rpvx^v avev
666 § 30. Die Essener. [570. 571]
Bei ihren Gottesdiensten wurden ganz ebenso wie bei den übrigen
Jaden die heiligen Schriften gelesen und erklärt; und Philo be-
bemerkt, daß sie mit besonderer Vorliebe sich der allegorischen
Auslegung bedienten60. Außerordentlich streng waren sie in der
Feier des Sabbaths. Sie wagten an diesem Tage kein Gefäß |
von der Stelle zu rücken, ja nicht einmal ihre Notdurft zu ver-
richten61. Auch sonst zeigen sie sich als Juden. Obwohl sie vom
Tempel ausgeschlossen waren, schickten sie doch ihre Weihge-
schenke {avad-rjuaxa) dorthin62. Und selbst das Priestertum des
Hauses Aaron scheinen sie beibehalten zu haben63.
Bei dieser entschieden jüdischen Grundlage ihres Bewußtseins
kann selbstverständlich von eigentlicher Sonnenanbetung bei ihnen
keine Rede sein. Wenn daher Josephus erzählt, daß sie täglich
vor Aufgang der Sonne „altherkömmliche Gebete an sie richten,
gleichsam bittend, daß sie aufgehe" 64, so kann dies nicht im Sinne
einer adoratio, sondern nur in dem einer invocaiio gemeint sein.
Immerhin ist schon diese invocatio (man beachte das slq avtov)
bei jüdischen Monotheisten auffällig, da hierbei die (dem jüdi-
schen Bewußtsein fremde) Vorstellung zugrunde zu liegen scheint,
daß die Sonne Repräsentant des göttlichen Lichtes ist Daß sie
nämlich von letzterer Vorstellung ausgingen, ist darum anzuneh-
men, weil sie auch ihre Vorsicht bei Verrichtung der Notdurft
xaxaxwx^q &9iov. — Vgl. Joseph. B. J. II, 8, 12: ßißXoiq legalq xal öia-
<pögoiq äyveiaiq xal 7iQO<p7jxü)v ano<p&£y[iaOLV iimatdoxQißovfiBvoi, Üb
dagegen unter den ovvxdyfiaxa [al. avyyQa/n/iaxa] r(bv naXaiGw B. J. II, 8, 6
die heiligen Schriften zu verstehen sind, ist fraglich, da es nach B. J. II, 8, 7
auch eigene Bücher der Sekte gab.
60) Philo II, 458. Zur Erklärung der Stelle vgl. Zeller, Theol. Jahrbb.
1856, S. 426. Philosophie der Griechen III, 2, 293 f. (3. Aufl.)
61) Beil. Jud. II, 8, 9.
62) Antt. XVin, 1, 5.
63) Es handelt sich hier um die Auslegung der Stelle Antt. XVIII, 1, 5:
Anoöixxaq Sh xG>v tiqooööwv xeL90T0V0^VT£Q xa^ önooa ^ yrj (pe*QOi ävdoaq
äya&ovg, Ugelq xe 6ta noirjotv oirov xe xal ßQOJ/xdzwv. Gewöhnlich übersetzt
man dies: „Zu Empfangern der Einkünfte und dessen, was die Erde hervor-
bringt, wählen sie treffliche Männer, und (ebensolche Männer wählen sie) zu
Priestern wegen der Bereitung von Brot und Speise". Es wird aber vielmehr
zu übersetzen sein: „und Priester (wählen sie) zur Bereitung von Brot und
Speise". Im ersteren Falle würde der Sinn sein, daß sie kein Priestertum
der Geburt kannten, sondern nur ein solches durch Wahl; im letzteren Falle
würde gesagt sein, daß sie ihre Bäcker und Köche aus der Zahl der Priester
(des Hauses Aaron) nahmen.
64) Bell. Jud. II, 8, 5: ITqIv yag dvaoxeZv xbv fjliov oiShv <f&4yyovxai
x(bv ßeßtfXa>v} naXQlovq ö£ xivaq slq avxöv svxdq, &aneg Ixcxevovxeq
avaxeZXai.
[571. 572] I. Die Tatsachen. 667
damit motivierten, daß sie den Lichtglanz Gottes nicht beleidigen
wollten 65.
Wie sich schon hierin die Einmischung fremdartiger Elemente
zeigt, so hatten überhaupt die Essener in ihrer Lehre manches
Eigentümliche, dem traditionellen Judentum Fremdartige. Zwar
wenn Josephus sagt, daß der Eintretende schwören mußte, keinem
die Satzungen {öoyiiara) anders mitzuteilen, als wie er sie | selbst
empfangen66, so kann es bei der Weitschichtigkeit des Begriffes
von doyfia zweifelhaft sein, ob hierbei an besondere Lehren zu
denken ist. Jedenfalls aber war der Orden im Besitze ihm eigen-
tümlicher Bücher, deren sorgfältige Verwahrung den Mitgliedern
zur Pflicht gemacht wurde67. Und hinsichtlich ihrer Lehre sind
uns wenigstens einzelne Eigentümlichkeiten bekannt Aus den
„Schriften der Alten44 (es ist nicht klar, ob die Sektenbücher
oder die kanonischen Schriften gemeint sind) erforschten sie, was
zum Nutzen der Seele und des Leibes dient: die Heilkraft der
Wurzeln und die Eigenschaften der Steine 68. Großen Wert müssen
sie auf ihre Engellehre gelegt haben. Der Eintretende mußte
schwören, die Namen der Engel sorgfältig zu bewahren69. Auf
Grund ihres Schriftstudiums und ihrer Reinigungen versicherten
sie. die Zukunft vorher zu wissen; und Josephus behauptet, daß
sie in ihren Weissagungen selten sich geirrt hätten 70, wie er denn
mehrere Beispiele eingetroffener Weissagungen von Essenern er-
zählt; so von einem Judas zur Zeit Aristobuls I.71, von einem
Menachem zur Zeit des Herodes72, von einem Simon zur Zeit
des Archelaus 73. Am eingehendsten äußert sich Josephus über ihre
Lehre von der Seele und deren Unsterblichkeit. Wenn
wir seinem Berichte trauen dürfen, so lehrten sie, daß die Leiber
65) B. J. II, 8, 9: wg /*/) xdg avydg vßgi^oiev xov 9eov. — Die entgegen-
gesetzte Voraussetzung findet sich gelegentlich in den Testam. XII Patriareh,
Benjamin c, 8: 6 fjfoog oi fiiatvexai 71qoo£%ci)v inl xöngov xal ßÖQßogov,
d).?.d [xäXkov dfi<pöxeQa xpv/ei xal dnekavvet x^v övawölav.
66) B. J. II, 8, 7: fiTjösvl fxkv ftexaöovvai xmv öoy[xdx<ov kz^Qojg j} «>s ah-
zog juexiXaßev.
67) B. J. II, 8, 7: <wvzti(>Jjaeiv d/ioiwg xd xs xfjg algiaewg abzmv ßißlla.
68) B. J. II, 8, 6: Snovöd^ovoi 6* ixxönwg tcbqI xd xöv naXaiöv awxdy-
fxaxa [ah ovyygdfiaxa], fidlioxa xd ngög uxp&eiav tpvz*is %al ow/ucxog ixXi-
yovxeg. "Ev&ev avxotg ngög Seganelav na&ibv pi'Qai xe dXegrjxJjQioi xal Xl&wv
iSwxrjxeg dveQEivibvzai.
69) B. J. II, 8, 7: Gwxrjgfjoeiv . . . . xd xiov dyyeXiov övöfiaxa.
70) B. J. II, 8, ]2.
71) Antt. XIUf xl, 2. B. J. I, 3, 5.
72) Antt XV, j0 />.
73) Antt XVn 11. 3.
J(t 13, 3. £. J. II, 7, 3.
668 § 30. Die Essener. [572. 573]
vergänglich seien, die Seelen aber unsterblich, und daß sie, ur-
sprünglich im feinsten Äther wohnend, durch sinnlichen Liebesreiz
herabgezogen mit den Leibern wie mit Gefängnissen sich ver-
banden; wenn sie aber aus den Fesseln der Sinnlichkeit befreit
werden, wie aus langer Knechtschaft erlöst sich freudig in die
Höhe schwingen. Den guten (Seelen) sei ein Leben jenseits des
Ozeans beschieden, wo sie weder von Regen noch Schnee, noch
Hitze belästigt werden, sondern stets ein sanfter Zephyr weht
Den bösen (Seelen) aber sei ein finsterer und kalter Winkel be-
stimmt voll unaufhörlicher Qualen74.
IL Wesen und Ursprung des Essenismus.
So eingehend [die Schilderungen unserer Quellen, namentlich
des Josephus, sind, so wenig ist bis auf den heutigen Tag die
Frage entschieden, von welchem Gesichtspunkte aus diese Mannig-
faltigkeit der Erscheinungen zu erklären, aus welchen allgemeinen
Anschauungen und Motiven sie hervorgegangen ist Die einen
(und sie bilden die Mehrzahl) wollen den Essenismus rein aus
dem Judentum erklären, indem sie ihn entweder für wesentlich
identisch mit dem Pharisäismus halten oder ihn doch (bei allen
Abweichungen) aus dem chasidäischen und pharisäischen Juden-
tum glauben ableiten zu können« So namentlich die jüdischen
Gelehrten Frankel, Jost, Grätz, Derenbourg, Geiger, und
von christlichen Gelehrten: Ewald, Hausrath, Tideman, Lauer,
Clemens, Reuß, Kuenen, Renan. In eigentümlicher Weise
vertritt diesen Standpunkt Ritschi. Er betrachtet den Essenis-
mus nur als eine konsequente Durchführung der Idee des allge-
meinen Priestertums (Exod. 19, 6). Alle einzelnen Tatsachen glaubt
er daraus erklären zu können, daß die Essener ein Volk von
Priestern sein wollten. Ähnlich Bestmann, nur daß dieser im
Essenismus nicht eine Durchführung der Idee des allgemeinen,
sondern des aaronidischen Priestertums sieht. Lucius hält eben-
falls den Essenismus für ein rein jüdisches Gebilde und leitet seine
Entstehung daraus ab, daß die exklusiv „Frommen44 in der Makka-
74) & J. II, 8, 11 : Kai yaQ sqqwxcu naq avxolq tföe rj 66£a} <p&aQxä (thv
üvai xä ooifxaza xal xtyv vX-qv ov tuövi/uov aii(bvf xäq 6h ipv%aq d&avätovq
del öiafitveiv, xal ovjunXixeo&ai /asv, ix xov Xenxoxdxov <poixto<jaq al&tyog,
SxrneQ elQxtatq xoTq owfiaoiv ivyyl xivi tpvoixy xaxao7ta>(tevaq , inetöäv öh
&ve9umji xäv xaxh. oägxa öeofxwv, olov <ty ßaxgäq öovXetaq cinrjXXayfiivaqt
xöxe %aiQUv xal pexeuyQOvq (p&Qeolhu x, x. X.
[573. 574) II. Wesen und Ursprung des Essenismus. 669
bäerzeit sich vom jernsalemischen Tempelkultus lossagten, weil sie
ihn für illegitim hielten. Aus dieser Lossagung vom Tempelkultus
sollen sich alle Eigentümlichkeiten des Essenismus erklären lassen.
Wieder in anderer Weise hat früher Hiigenfeld den Essenis-
mus rein aus dem Judentume abgeleitet Er glaubte (in seinem
Werke über die jüdische Apokalyptik 1857, S. 243 ff.) in den
Essenern nichts anderes als eine Schule von Apokalyptikern er-
blicken zu müssen. Ihre Askese hatte, wie bei Daniel 10, 2—3.
Henoch 83, 2. 85, 3. IV Fsra 9, 24. 26. 12, 51, lediglich den Zweck,
sich zum Empfange von Offenbarungen würdig und fähig zu machen.
„Es war die höhere Erleuchtung, der Empfang von Offenbarungen,
namentlich durch Traumgesichte, was man auf diesem Wege zu
erreichen suchte" (S. 253). Nachdem Hiigenfeld diese Ansicht noch
| in seiner Zeitschrift 1858, S. 116 ff. verteidigt hatte, deutete er
schon im Jahrgang 1860, S. 358 ff. die Möglichkeit persischen Ein-
flusses an. Später (Jahrgang 1867, S. 97 ff.) suchte er bestimmt
nachzuweisen, daß auf die Bildung des Essenismus nicht nur der
Parsismus, sondern auch der Buddhismus von wesentlichem Ein-
fluß gewesen seien; welche Anschauung er längere Zeit (1868,
S. 343 ff. 1871, S. 50 ff.) festgehalten hat1. In seinen neueren Kund-
gebungen betont Hiigenfeld wieder mehr die jüdische Grundlage
und nimmt daneben nur pärsistische Einwirkungen an (Zeitschr.
1882, S. 290; Ketzergeschichte des ürchristenthums S. 141—149);
er meint, die Essener seien ursprünglich Rechabiten, die sich in
einem Orte namens Essa westlich vom Toten Meere niedergelassen
hätten (Zeitschr. 1882, S. 268 ff. 286 ff. Ketzergeschichte des ür-
christenthums S. 100 ff. 139 ff.)2. Eine wesentlich jüdische Grund-
lage mit sekundärem Einfluß des Parsismus nimmt auch Light-
1) In gewissem Sinne hat er einen Vorgänger schon in Philo, der als
Beispiele asketischen Lebens zuerst die persischen Magier, dann die indischen
Gymnosophisten, und unmittelbar darauf die Essener anführt (Quod omnis
probus Über § 11 — 12, ed. Mang. II, 456—457: !EV ITigaaig fxhv xb Mdywv,
.... *Ev 'IvSolq 6h xb rvfivooo(ptoxwv9 .... "Eoxi öh xal % UaXaioxivri 2v*
Qta xakoxaya&lag ovx ayovoq x. r. X.).
2) Dieser Ort Essa westlich vom Toten Meere ist von Hiigenfeld ledig-
lich ad hoc erfunden. Hiigenfeld selbst kann nur ein "Eooa in Peräa nach-
weisen, das mit Gerasa identisch sei (Jos. ArUt. XIII, 15, 3 vgl. mit Bell. Jud.
I, 4, 8). Er meint aber, der Name bedeute „Gründung" und könne daher als
Name mehrerer Orte vorkommen. Leider hat aber auch jenes "Eooa in Peräa
gar nicht existiert, da auf Grund von B. J. I, 4, 8 auch in der Parallelstelle
Antt. XHI, 15, 3 rioaoa zu lesen ist. Dies wird jeder, der die Oberliefe-
rungsgeschichte des Joseph ustextes zu würdigen weiß, trotz der energischen
Proteste Hiigenfeld« (Judenthnm und Judenchristenthum S. 2üf. Zeitschr. 1889,
S. 483; 1900, S. 204 f.) als T*^cJje anerkennen. Vgl. oben S. 179.
670 § 30. Die Essener. [574. 575]
foot an (St. Paul's epistles to the Colossians and to Philemon, 2. ed.
p. 355—396). Vorwiegend aus dem Judentum erklärt auch Lipsius
die Entstehung des Essenismus; doch gibt er die Einwirkung
fremder Einflüsse zu, nur nicht von Seite der griechischen Philo-
sophie oder des Parsismus, und am wenigsten des Buddhismus,
sondern von Seite des syrisch -palästinensischen Heidentums. Die
Entwickelung des Essenismus habe sich „durchaus auf palästi-
nensischem Boden" vollzogen (Bibellexikon II, 189—190). Wäh-
rend alle bisher Genannten den Essenismus ausschließlich oder
doch vorwiegend als jüdisches Gebilde betrachten, haben nach
Baurs und Gfrörers Vorgang Lutterbeck, Zeller, Mangold
und Holtzmann, bald mehr bald weniger, die Eigentümlichkeiten,
welche den Essenismus von dem traditionellen Judentume | unter-
scheiden, aus dem Einfluß des Pythagoreismus erklärt, mit welchem
schon Josephus (Antt. XV, 10, 4) den Essenismus zusammengestellt
hat. Namentlich war es Zell er, der in seinen Verhandlungen mit
Ritschi auf Grund seiner umfassenden Kenntnis der griechischen
Philosophie für beinahe alle Punkte Parallelen mit dem Pytha-
goreismus nachzuweisen gesucht hat* Er hat seine Position auch
noch in seinen letzten Kundgebungen festgehalten, unter Ablehnung
der Annahme persischer oder buddhistischer Einflüsse (Zeitschr.
f. wiss. Theol. 1899, Philosophie der Griechen III, 2, 4. Aufl. 1903).
Eine vermittelnde Stellung nahm Herzfeld ein, indem er glaubte,
daß im Essenismus „ein Judentum von ganz eigentümlich ver*
schmolzenen ultra- pharisäischen und alexandrinischen Anschau-
ungen mit dem Pythagoreismus und manchen Riten der ägypti-
schen Priester verschwistert erscheint" (III, 369). Auch Keim ist
der Ansicht, daß zwar alle Eigentümlichkeiten des Essenismus aus
dem Judentume abgeleitet werden könnten, daß aber doch die
Parallelen zwischen Pythagoreismus und Essenismus zu auffallend
und zahlreich seien, um den Einfluß des ersteren auf letzteren in
Abrede stellen zu können (Gesch. Jesu I, 300 ff.). Griechisch-ale-
xandrinische Einflüsse im allgemeinen nehmen Friedländer und
Conybeare an. An parsistische und platonische Einwirkungen
denkt Wellhausen.
Aus diesem Labyrinthe von Anschauungen ist es nicht leicht,
einen Ausweg zu finden. Die Fragestellung wird sich vereinfachen,
wenn wir zunächst die eigentümlichen Hypothesen von Ritschi,
Lucius und Hil genfei d einer Prüfung unterziehen. 1) Die Hypo-
these Ritschis ist insofern bestechend, als allerdings die Essener
wie die israelitischen Priester einen Stand von besonderer Rein-
heit und Heiligkeit darstellen wollen. Die Parallelen zwischen
beiden sind daher sehr zahlreich. Andererseits aber bleiben dabei
[575. 576] II. Wesen und Ursprung des Essenismus. 671
doch wesentliche Punkte unerklärt; so namentlich die Verwerfung
der Tieropfer, der Ehe, des Eides, des Salböles3. Es wird nicht
gelingen, alle diese Erscheinungen aus jenem einen Gesichtspunkte
befriedigend abzuleiten. 2) Noch weniger freilich ist dies der Fall
bei dem von Lucius gewählten Ausgangspunkte. Sein Versuch,
alle Singularitäten der Essener aus ihrem Bruch mit dem illegi-
timen jerusalemischen Kultus zu erklären, darf als mißlungen be-
zeichnet werden. Wie sollen sie von hier aus zur Verwerfung der
Ehe, des Eides, der Sklaverei, des Handeltreibens, überhaupt zu
ihrer eigentümlichen puritanischen Richtung kommen?4. Über-
dies ist schon der Ausgangspunkt unglücklich gewählt. Denn |
wenn die Essener, wie Lucius annimmt, in ihrer gesetzlichen Rich-
tung mit den Pharisäern eins waren, so hatten sie mindestens seit
den Zeiten der Alexandra keinen Grund mehr, sich vom Tempel-
kultus fern zu halten, da seitdem alle Sacra in durchaus korrekter
Weise vollzogen wurden. 3) Im wesentlichen dieselben Instanzen
wie gegen Ritschi kund Lucius gelten auch gegen Hilgenfelds
frühere Auffassung der Essener als einer Gemeinde von Apokalyp-
tikern. Auch hier bleiben viele Einzelheiten durchaus unerklärt5.
Wenn überhaupt der Essenismus als ein rein jüdisches
Gebilde begriffen werden kann, ist es immer noch am
einfachsten, ihn lediglich als eine Steigerung der phari-
säischen Richtung zu betrachten, denn mit dieser hat er den
Ausgangspunkt und viele Einzelheiten gemeinsam. Man kann da-
her die Frage dahin vereinfachen: ob der Essenismus nichts
anderes ist als ein eigentümlicher Seitentrieb des Pha-
risäismus, oder ob auf seine Entstehung und Entwicke-
lung auch fremde Einflüsse eingewirkt haben? und wenn
letztere Frage bejaht wird, welche Einflüsse dies gewesen sind, ob
der Buddhismus (Hilgenfeld früher) oder der Parsismus (Hilgen-
feld, Lightfoot, z. T. auch Wellhausen), oder das syrisch-palästi-
nensische Heidentum (Lipsius), oder die orphisch- pythagoreische
Richtung der Griechen (Zeller und andere), oder griechische Ein-
flüsse anderer Art (Friedländer, Conybeare, Wellhausen).
Es ist nun nicht zu leugnen, daß sich sehr vieles, ja das
meiste aus der pharisäisch -jüdischen Grundlage erklären läßt
Echt pharisäisch sind vor allem zwei Hauptpunkte: die strenge
3) Vgl. Zeller, Theol. Jahrbb. 1856, 8. 413 ff. Philosophie der Griechen
in, 2, 311 ff. (3. Aufl.)
4) S. gegen Lucius auch meine Anzeige in der Theol. Literaturzeitung
1881, 492-496.
5) Vgl. Zelier, Philosoph der Griechen in, 2, 315 ff. (3. Aufl.)
672 § 30. Die Essener. • [570. 577]
Gesetzlichkeit and das ängstliche Reinheitsstreben. Mit
ihrer Hochschätzung des großen Gesetzgebers Moses und der
heiligen Schriften, mit ihrer strengen, ja rigoristischen Sabbath-
feier stehen sie ganz auf dem Boden des Judentums. Wenn sie
dabei einzelne Vorschriften des Gesetzes, wie namentlich die über
die Tieropfer, nicht beobachteten, so kann dies seinen Grund
haben entweder in einer Notlage, in der sie sich befanden, oder
in allegorischer Deutung der betreffenden Gesetze. Jedenfalls steht
es nicht im Widerspruch mit ihrer unbedingten Anerkennung der
formalen Autorität des Gesetzes. Pharisäisch ist aber im wesent-
lichen auch ihr ängstliches Eeinheits streben. Das Wertlegen
auf die levitische Reinheit und auf die Bäder und Waschungen,
durch welche dieselbe nach geschehener Verunreinigung wieder-
hergestellt wurde, ist ja gerade ein charakteristisches Merkmal |
des Pharisäismus 6. Namentlich das essenische Baden vor der
Mahlzeit hat seine Analoga im pharisäischen Judentum und ist
nur eine Steigerung der pharisäischen Sitte7. Das Baden nach
Verrichtung der Notdurft wird wenigstens von den diensttuenden
Priestern gefordert8. Wenn also die Essener dasselbe von allen
ihren Mitgliedern fordern, so zeigen sie damit nur, daß sie eben
den höchsten Grad der Reinheit nach jüdischen Begriffen bei sich
verwirklichen wollen. Sehr lebhaft wird man an pharisäische An-
schauungen auch erinnert durch die essenische Sitte, sich sogar
nach Berührung mit einem Ordensmitgliede niedrigeren Grades
(d. h. einem Novizen) zu baden, Jos. B. J. II, 8, 10 iniL: ro-
covxov ol fisrayevioxBQoi xmv jtQoyevsöx^QOjp ilaxxovvxai, cjöt'
bI rpavöecap avxaiv, exelvovg ajtokovaöd-at xad-aneQ aXXo-
6) Tertullian. De baptismo c. 15: Ceterum Israel Judaeus quotidie lavaty
quia quotidie inquinatur. — Wenn bei Epiphanius haer. 17 die Hemerobap-
tisten (= xa&' fjftigav ßanuty/Lisvoi) als jüdische Sekte erwähnt werden, so
ist damit nur aus einer charakteristischen Eigentümlichkeit aller Juden ein
besonderer Sektenname fabriziert.
7) Ev. Marci 7, 3 — 4: ol yao <PaoioaToi xal Ttdvreg ol iIov6aloi Säv pi}
nvyny viyjwvrai tag xe^Qa? °^x io&lovoiv . . . xal an* ayooäg iav fity $av-
tlocovtai (al. ßamlacovrai) ohx ioSlovoiv. Vgl. auch Matth. 15, 2. Luc. 11,38.
— Chagiqa II, 5: „Zum Genuß von Chullin (profaner Speise), Zehnt und Hebe
muß man die Hände waschen (eigentlich: begießen); um Heiliges zu essen,
sie erst untertauchen" (letztere Vorschrift gilt nur denjenigen, welche „heilige"
d. h. von Opfern herrührende Speise genießen). Vgl. auch oben S. 565. —
Das Baden (des ganzen Körpers) vor dem Essen ist als generelle Vorschrift in
der rabbinischen Literatur nicht nachweisbar. Die Auslegung der neutesta«
mentlichen Stellen ist streitig.
8) Joma 111,2. Vgl. überhaupt über die von den Priestern gefor-
derte Reinheit oben S. 340.
O.ij
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[577. 578] IL Wesen und Ursprung des Essenismus. 673
cpvXco ovfig>vQ€Pzag , vgl. dazu oben S. 465—472, bes. die Stellen
Ghagiga II, 7 (S. 453, 472) und Origenes, Comment in Matth. 23, 23 sq.
(S. 467). Was für den Pharisäer der unreine Amhaarez ist, [das
ist für den Essener der noch nicht in die eigentliche Gemein-
schaft aufgenommene Novize. Der Essenismus ist also zu-
nächst nur der Pharisäismus im Superlativ. — Aus dem
Bestreben, die hier geforderte Reinheit des Lebens vollkommen
durchführen zu können, erklärt sich auch die essenische Sepa-
ration, ihre Organisation zu engen geschlossenen [Ge-
meinschaften. Wenn schon der Pharisäer den Verkehr mit dem
unreinen Am-haarez nach Möglichkeit vermeidet, so sondert sich
der Essener nun vollends ab von dem großen Haufen und bildet
enggeschlossene Vereine, in welchen durch die Gleichheit der [Ge-
sinnung und des Strebens die Möglichkeit geboten wird, das Ideal
eines vollkommen reinen Lebens zu verwirklichen. Die gemein-
samen Mahlzeiten in diesen Vereinen, für welche die Speisen
von den Priestern zubereitet werden, geben dem Essener eine
Bürgschaft dafür, daß er nur koschere Eost zu genießen be-
kommt Der enge brüderliche Verband führt dann zur Güter-
gemeinschaft Die strengen Forderungen aber, welche an ein
Ordensmitglied gestellt werden, machen es notwendig, daß man
neue Mitglieder nur nach mehrjährigem strengem Noviziate in
die Gemeinschaft aufnimmt — Die Reinheit und Heiligkeit, welche
die Essener zu verwirklichen streben, ist nun freilich doch eine
andere, höhere und absonderlichere als die der Pharisäer. Aber
fast alle Besonderheiten haben wenigstens ihre Anknüpfungspunkte
im Pharisäismus. Die weiße Kleidung entspricht der Dienst-
kleidung der israelitischen Priester; beweist also wieder nur, daß
die Essener den höchsten Grad jüdischer Reinheit und Heiligkeit
darstellen wollen. Die Vorsicht bei Verrichtung der Notdurft
findet durch Deut. 23, 13—15 und durch talmudische Parallelen
ihre Erklärung9. Auch die Schamhaftigkeit beim Baden10
und selbst die Sitte, nicht nach vorn oder nach rechts hin auszu-
9) Nach Beraehoth 61*> durfte man in Judäa die Notdurft nicht gegen
Osten oder Westen (sondern nur gegen Süden oder Norden) verrichten, um
sich nicht gegen den Tempel hin zu entblößen.
10) Nach Mischna Beraehoth HI, 5 muß ein Badender, wenn die Zeit de»
Schma-Betens kommt und er nicht mehr Zeit hat, heraufzusteigen und sich
in zu bedecken, sich wenigstens mit Wasser bedecken. Bob. Beraehoth 24 *> wird
gefordert, daß ein Nackter vor dem Schma- Beten den Tallith um den Hals
oder um das Herz winde, daß die oberen Körperteile die Scham nicht sahen,
s. Herzfeld IH, 389. Vgl. auch Lucius S. 68.
8chürer, Getchiohte H. 4. Aafl« 43
674 § 30. Die Essener. [578. 579]
speien, hat ihre Analogien im Talmud11. Die Verwerfung der
Ehe ist freilich etwas dem genuinen Judentume Heterogenes12.
Aber auch sie läßt sich von jüdischen Prämissen aus erklären.
Da nämlich der eheliche Akt als solcher den Menschen verun-
reinigt und ein levitisches Reinigungsbad notwendig macht13,
so konnte das Bestreben, den höchstmöglichen Grad von Reinheit
und Heiligkeit darzustellen, wohl zur völligen Verwerfung der
Ehe | führen. Wie jedoch in allen diesen Punkten sich ein Hin-
ausgehen über das gewöhnliche Judentum zeigt, so auch in dem
starken puritanischen Zug, welcher die essenische Lebensweise
charakterisiert In manchen sozialen Sitten und Einrichtungen,
welche die Kulturentwickelung mit sich gebracht hatte, sahen sie
eine Verkehrung der ursprünglichen und einfachen, von der Natur
selbst vorgeschriebenen Sitten-Ordnung. Sie glaubten darum die
wahre Sittlichkeit darzustellen, indem sie zu der Einfachheit
der Natur und der natürlichen Ordnungen zurückkehrten.
Von hier aus wird ihre Verwerfung der Sklaverei, des Eides,
des Salböles und überhaupt jedes Luxus zu erklären sein; ein-
fach und bedürfnislos soll der Mensch leben, und dem Leibe immer
nur so viel an Speise und Trank zuführen, als die Natur erfor-
dert Daß sie eigentliche Askese getrieben hätten durch Fasten
und Kasteiungen, durch Entsagung des Fleisch- und Weingenusses,
ist nicht nachweisbar. Nur ein Hinausgehen über das natürliche
Bedürfnis verwarfen sie14. Mit diesem ethischen Radikalismus
hängt wohl auch ihre Verwerfung des Handels zusammen: sie
wollen einen kommunistischen Staat, in welchem jeder für die
Gesamtheit arbeitet, aber keiner auf Kosten des andern sich be-
reichert.
11) Nach jer. Berachoth III, 5 war es verboten, beim Gebet nach vorn
oder zur Hechten auszuspeien, b. Herzfeld III, 389. Noch heutzutage wird
diese Sitte beobachtet.
12) Vgl. über das debitum tori: Jebamoth VI, 6: „Niemand soU sich der
Fortpflanzung entziehen, es sei denn, daß er bereits Kinder habe, und zwar
nach der Schule Schammais bereits zwei Söhne, nach der Schule Hillels
mindestens einen Sohn und eine Tochter". — Ferner: Kethuboth V, 6 — 7. Qiäin
IV, 5. Edujoth I, 13. IV, 10.
13) Joseph. Apion. II, 24: xal ixtxa x9jv vbyunov ovvovatav dvÖQÖQ
xal ywatxÖQ änoXovoac&ai xekevei 6 vSpog. — Vgl. Exod. 19, 15. Lev. 15,
16—18. Deut. 23, 11—12.
14) Es fallt daher nicht ganz unter denselben Gesichtepunkt, wenn das
pharisäische Judentum bei den strengeren Graden des Fastens den Gebrauch
des Salböles verbietet (Taanith I, 6. Joma VIII, 1. Vgl. Daniel 10, 3. Ev.
McUth. 6, 17). Dies soll eine wirkliche Entsagung sein.
/
l
I
[579. 580] II. Wesen und Ursprang des Essenismus. §75
Wenn schon mit den bisher geschilderten Zügen der Boden
des vulgären Judentums verlassen ist, so geschieht dies noch mehr
durch die höchst auffällige Tatsache der Verwerfung der Tier-
opfer. Daß der Gesichtspunkt, den Lucius zur Erklärung dieser
Tatsache aufgestellt hat, nicht zum Ziele führt, ist schon oben
bemerkt worden15. Der einzige Anknüpfungspunkt, der sich auf
jüdischem Boden dafür finden läßt, scheint mir vielmehr die Po-
lemik mancher Propheten gegen die Überschätzung der Opfer zu
sein. iWie die Propheten betonen, daß Gott nicht an Opfern Ge-
fallen habe, sondern an Reinheit der Gesinnung, so ist nach esse-
nischer (Anschauung nicht die Schlachtung von Tieren, sondern
die Heiligung des eigenen Leibes der wahre Gottesdienst Es liegt
also auch hier wieder ein gewisser ethischer Radikalismus zugrunde.
Aber freilich ist nun mit Verwerfung der Tieropfer ein völliger
Bruch mit dem eigentlichen Judentum vollzogen, der dadurch
nicht aufgehoben wird, daß die Essener an den Tempel zu Jeru-
salem doch Weihgeschenke sandten. — Noch viel fremdartiger
nimmt sich aber auf jüdischem Boden ihr eigentümliches Ver-
halten gegenüber der Sonne aus. Ihre evxri dq top r\Xiov
kann unmöglich nur das jüdische Schma sein, das vor Aufgang
der Sonne gebetet wurde16, sondern sie haben sich beim Gebet
deshalb nach der Sonne hin gewendet, weil sie in ihr die Reprä-
sentation des göttlichen Lichtes sahen. Das beweist namentlich
der Umstand, daß sie bei Verrichtung der Notdurft es sorgfältig
vermieden, sich gegen die Sonne hin zu entblößen. Auch aus der
Notiz des Epiphanius, daß die Überreste der Ossäer (die sicher-
lich mit den Essenern identisch sind) sich mit den Sampsäern,
also den Sonnenverehrern, verschmolzen hätten, darf wohl ge-
schlossen werden, daß es ihnen mit ihrer religiösen Wertschätzung
der Sonne voller Ernst war17. Jedenfalls widerspricht schon die
bloße Gebetsrichtung nach der Sonne hin der jüdischen Sitte und
15) Vgl. auch Theol. Literaturzeitnng 1881, 494.
16) So die meisten jüdischen Gelehrten, auch Derenbourg p. 169 not. 3.
— Vgl. über das Beten des Schma vor Aufgang der Sonne: Berachoth I, 2,
und über das Schma überhaupt oben S. 537 f.
17) S. Epiphan. haer. 20, 3: xal ^Oooalmv xb XeZ/x/ua olxixi lovÖattyv,
&XXk cwa<p&hv ZafxxplxaiQ xolq xaxa StaSox^v iv xfy nigav xfjq vexoäg #cr-
Xaaoriq vneoxei/uboiq. Vgl. auch Epiphan. haer, 19, 2. 53, 1—2. Light f 00t,
St. Paul's epistles to the Oolossians ete. 2. ed. p. 88. 374 sq. — Die Identität der
Essener und Ossäer ist kaum zu bezweifeln, obwohl Epiphanius sie als zwei
verschiedene Sekten behandelt, haer. 10 und 19 (Light f 00t p. 83). — Den Sekten-
namen der ZafixpcrfQi erklärt Epiphanius haer. 53, 2 richtig durch 'HXiaxol
(von »an? Sonoe).
43*
676 § 30. Die Essener. [580. 581]
Anschauung. Diese fordert vielmehr die Wendung nach dem Tempel
hin und verwirft die Richtung nach der Sonne ausdrücklich als
etwas Heidnisches18. — Man wird sonach mehr und mehr zu der
| Annahme gedrängt, daß auf die Bildung des Essenismus auch
fremde Einflüsse eingewirkt haben. Vollends zweifellos wird dies,
wenn der Bericht des Josephus über ihre Anthropologie auch
nur der Hauptsache nach glaubwürdig ist. Denn wenn sie wirklich
die Präexistenz der Seele gelehrt und den Leib nur als Gefängnis
der Seele betrachtet haben, dann ist eben damit auch schon ent-
schieden, daß sie von fremden Philosopheinen beeinflußt sind. Die
Frage nach dem Ursprung des Essenismus verwandelt sich sonach
in die nach der Glaubwürdigkeit des Josephus. Diese ist nun
freilich durchaus nicht unverdächtig; und wir sahen schon oben
(S. 460 f.), daß er auch die Lehre der Pharisäer griechisch gefärbt,
ihre jüdische Doktrin in griechisches Gewand gekleidet hat Aber
eben dort fanden wir auch, daß doch alles, was er über sie sagt,
im^Wesen" der Sache richtig ist, und nur die Form von außen ent-
lehnt ist. Wenn nun" von alledem, was er über die"Anthropologie
der Essener sagt," auch nur ein Wort wahr istTsb" steht fest, daß
ihre Lehre vom Menschen dualistisch, d. h. nicht-jüdisch war. Und
es ist um so weniger Grund, dies zu bezweifeln, als sich von diesem
Gesichtspunkte aus auch manche Einzelheiten, namentlich ihr den
Pharisäismus noch überbietendes Reinheitsstreben, am einfachsten
und natürlichsten erklären.
Aber an welche fremden Einflüsse haben wir nun zu
18) S. bes. Exechiel 8, 16 ff. Dazu Hieronymus (opp. ed. Vallarsi V, 90):
praecipiente ipso Domino per Moysenf quod nequaquam in morem gentilium
contra orientem Deum adorare deberent, sed in quacumque fuissent orbis parte
.... adorarent contra templum. — .Nach Sukka V, 4 pflegten am Laub-
hüttenfest morgens, wenn der Hahn krähte, zwei Priester mit Trompeten zu
blasen, und zwar zunächst an dem Tore, welches vom Männervorhof in den
Weibervorhof führte, denn an dem östlichen Ausgangstore des Weibervorhofes;
hierauf wendeten sie sich um nach Westen (also nach dem Tempel zu) und
sagten (mit Bezug auf Exech. 8, 16 ff.): „Unsere Väter, die an diesem Orte
waren, wendeten ihren Bücken dem Tempel Gottes zu und ihr Gesicht dem
Osten, und beteten nach Osten die Sonne an. Wir aber richten unsere Augen
auf Gott". — Wenn es in der Sapientia Salom. 16, 28 heißt, man solle der
Sonne zuvorkommen mit der Danksagung gegen Gott, und zu Gott beten nobq
ävaroX^v (pwtdg, so ist nodq nicht örtlich, sondern zeitlich gemeint: „gegen
Sonnenaufgang", wie Luc. 24, 29 noög kanigav, vgl. Grimm, Exeget Hand-
buch, zu Sap, Sal. 16, 28. — Auch das Material, welches Lucius (S. 61, 69 f.,
125 Anm.) zur Erklärung der essenischen Sitte vom jüdischen Standpunkte aus
beibringt, ist nicht beweisend. Sehr gut ist das Fremdartige derselben nach-
gewiesen bei Lightfoot S. 374 — 376, welcher vermutet, daß die Sampsäer
selbst nichts anderes seien, als ein Ausläufer des Essenismus.
[581. 582] II. Wesen und Ursprung des Essenisinus. 677
denken? Es sind nicht weniger als vier oder fünf verschiedene
Faktoren in Vorschlag gebracht worden, der Buddhismus, der Par-
sismus, das syrische Heidentum, der Pythagoreismus und die grie-
chische Philosophie überhaupt. Jeder dieser Faktoren kann in der
Tat auf das geistige Leben in Palästina in den letzten Jahrhun-
derten vor Chr. eingewirkt haben; eben darum wird die Beant-
wortung der obigen Frage immer eine unsichere bleiben. [Arn
fernsten scheint der Buddhismus zu liegen. Wenn man aber be-
denkt, daß schon durch den Eroberungszug Alexanders des Großen
die Kenntnis Indiens den westlichen Völkern erschlossen wurde, daß
dann Megasthenes zur Zeit des Seleukus I. Nikator, also um 300
vor Chr., auf Grund seiner eigenen Beobachtungen während eines
längeren Aufenthaltes in Indien eine eingehende Beschreibung des
Landes und seiner Bewohner geliefert hat l 9, und daß in der grie-
chisch-römischen Zeit vom Roten Meere aus wahrscheinlich eine
regelmäßige Handelsverbindung mit Indien bestand20, wenn man
ferner die zum Teil frappierenden Parallelen zwischen Buddhismus
und Essenismus erwägt, so wird man wenigstens die Möglichkeit
19) Die umfangreichen Fragmente des Megasthenes s. bei Müller,
Fragm. hist. grate. II, 397—439. Vgl. über ihn auch Paulys Real-Enz. IV,
1721. Nicolai, Griech. Literaturgesch. II, 170 f. Susemihl, Gesch. der griech.
Litteratur in der Alexandrinerzeit I, 547 ff. — Das Werk des Megasthenes
scheint für lange Zeit die Hauptquelle über Indien geblieben zu sein. Doch
hat Strabo in seiner ausführlichen Beschreibung Indiens (XV, 1, p. 685—720)
auch mehrere Schriftsteller aus dem Gefolge Alexanders des Großen als Quelle
benützt (Aristobulus, Nearchus, Onesikritus). Noch andere 'ivöixd s.
bei Müller, Fragm. hüt. graee. IV, 688 *> unten; Nicolai, Griech. Literaturgesch.
II, 170 f. — Daß gewisse Hauptpunkte in das allgemeine Bewußtsein über-
gingen, sieht man z. B. aus Philo, Quod omnis probus Über § 11, Josephus,
Bell. Jud. VII, 8, 7 {ed. Niese VH, 351 sqq.). — Eine „Geschichte des
griechischen Wissens von Indien" überhaupt gibt Lassen, Indische
Alterthumskunde, Bd. H (2. Aufl. 1874) S. 626—751. Vgl. auch die sorgfältige
Untersuchung bei Light footy St. Paul's epistles to the Colossians etc. p.390 — 396,
und die von ihm zitierten beiden Werke: Reinaud, Relations politiques et
covimerciales de Vempire romain avec l'Asie centrale, Paris 1863 und Priaulx,
The Indian Travels of Apollonitis of Tyana and the Indian Embassies to Borne,
1873. — Über die Griechen in Indien (z. T. auch über indische Einflösse
auf die Griechen): Weber, Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1890,
8. 901—933. Sylvain L&vi, Le Buddhisme et les Orecs (Revue de thistoire des
religions XXHI, 1891, p. 36—49).
20) Vgl. namentlich den oben S. 68 uad 80 erwähnten Periplus maris
Erythraei und die in der vorigen Anmerkung zitierte Literatur. — Zur Zeit
des Augustus kamen auch politische Gesandtschaften aus Indien nach Rom
{Monumenium Ancyranum V, 50 — 51 und dazu Mommsen, Res gestae divi
Augusli 1883, p. 132 sq. Strabo XV, 1, 4 p. 686 und XV, 1, 73 p. 719. Dio
Cass. UV, 9. Sueton. Aug. 21. Orosius VI, 21, 19).
678 § 30. Die Essener. [582. 583]
eines geschichtlichen Zusammenhanges nicht bestreiten können*
Immerhin ist dieser Zusammenhang bei der in vorchristlicher Zeit
doch noch spärlichen Verbindung Indiens mit dem Westen nicht
wahrscheinlich21. Näher liegt es, an Parsismus oder Pythagoreis-
mus zu denken; denn die Berührungen mit dem syrischen Heiden-
tum sind doch nur sehr allgemeine und betreffen höchstens einzelne
Punkte. Im Parsismus dagegen finden wir eine Reihe charakte-
ristischer Eigentümlichkeiten der Essener: die Waschungen und
die weiße Kleidung (für die Magier), die Verehrung der Sonne
und die Verwerfung des eigentlichen Opferns der Tiere (d. h. der
Darbringung des Fleisches an die Gottheit), namentlich auch die
Engel|lehre und die Magie. Da nun ohnehin auch das vulgäre
Judentum Einwirkungen des Parsismus zeigt (s. oben S. 413 f.), so
scheint die Annahme parsistischen Einflusses sehr naheliegend.
Derselbe wäre im Essenismus nur etwas stärker, als im vulgären
Judentum22. Allein andere Punkte sind doch wieder nicht par-
sis tisch; so namentlich die Ehelosigkeit und die ganze Anthropo-
logie 28. Es dürfte daher nach wie vor die namentlich von Zeller
eingehend begründete Hypothese, daß die Eigentümlichkeiten des
Essenismus aus pythagoreischen Einwirkungen zu erklären sind,
die meiste Wahrscheinlichkeit für sich haben. Der Pythagoreis-
mus nämlich weist von allen bisher genannten Richtungen die
meisten Parallelen mit dem Essenismus auf. Er teilt mit ihm das
Streben nach körperlicher Reinheit und Heiligkeit: die Waschungen,
die einfache, von allem Sinnengenuß sich frei haltende Lebensweise,
die Hochschätzung (wenn auch nicht gerade Forderung) der Ehe-
losigkeit, die weiße Kleidung, die Verwerfung des Eides, nament-
21) S. dagegen: Zell er, Philosophie der Griechen III, 2, 323 ff. (3. Aufl.).
Ders., Zeitechr. für wissensch. Theol. 1899, S. 209 ff. Light foot, St. Patd's
epistles to the Oolossians etc. p. 390—396. — Auch auf anderen Gebieten sind
die indischen Einwirkungen, die man in neuerer Zeit nachzuweisen versucht
hat, fraglich, ja mehr als fraglich. Letzteres gilt namentlich von: Seydel,
Das Evangelium von Jesu in seinen Verhältnissen zu Buddha-Sage und Buddha-
Lehre, Leipzig 1882 (dagegen: Theol. Literaturzeitung 1882, 415 ff.); ders.,
Die Buddha-Legende und das Leben Jesu nach den Evangelien, Leipzig 1884
(dagegen: Theol. Litztg. 1884, 185 ff.); auch von: van den Bergh van Ey-
singa, Indische Einflüsse auf evangelische Erzählungen, 1904 (dagegen: Theol.
Litztg. 1905, col. 65 ff). — Über Pythagoras: Schroeder, Pythagoras und die
Inder, Leipzig 1884 (dagegen: A. W. im Lit. CentralbL 1884, Nr. 45). —
Überhaupt: Hardy, Der Buddhismus, nach älteren Pali -Werken darge-
stellt, 1890.
22) S. Hilgenfeld, Zeitschr. f. wissenschaftl. Theol. 1867, S. 99 ff. Ders.,
Ketzergeschichte des Urchristenthums S. 141 ff. Lightfoot S. 387 ff.
23) S. Zell er, Philosophie der Griechen ITT, 2, 320 ff. (3. Aufl.).
[583. 584] II. Wesen und Ursprung des Essenismus. 679
lieh aber auch die Verwerfung der blutigen Opfer, die Anrufung
der Sonne und die Ängstlichkeit, mit der man alles Unreine (wie
die menschlichen Entleerungen) ihrem Anblicke entzog24, endlich
die dualistische Anschauung über das Verhältnis von Seele und
Leib. Dies alles gehört zum Lebensideal und zur Lehre wie der
Essener, so auch der Pythagoreer 25. Wenn auf Grund dieser weit-
gehenden Übereinstimmung ein geschichtlicher Zusammenhang
zwischen beiden mindestens sehr wahrscheinlich ist, so erhalten
dadurch auch jene Eigentümlichkeiten des Essenismus, die sich von
der jüdischen Grundlage aus begreifen lassen, ein neues Licht Sie
sind doch nicht das Resultat einer spontanen Entwicklung, son-
dern einer Befruchtung des Judentums durch fremde Faktoren.
Diese letzteren haben auf das Judentum eben deshalb eine An-
ziehungskraft ausgeübt, weil sich im Judentum eine Reihe wahl-
verwandter Anknüpfungspunkte für sie fand.
Historien ist eine solche Einwirkung des Pythagoreismus auf
jüdische Kreise, die zur Bildung dieser Sonder-Richtung auf jüdi-
schem Boden geführt hat, wohl erklärlich. Der Essenismus ist |
frühestens um die Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Chr. nach-
weisbar. Der Pythagoreismus aber ist, wenn auch nicht als ge-
schlossene Philosophenschule, so doch als Lebensanschauung und
Lebenspraxis weit älter. Da nun seit der Zeit Alexanders des
Großen die griechische Bildung auch auf Palästina mächtig [ein-
wirken mußte — erst durch die makkabäische Bewegung ist sie
zurückgedrängt worden — , so ist es nur natürlich, wenn wir in
dem Kreise der Essener den tatsächlichen Beweis für diese Ein-
wirkung des Griechentums finden. Der Essenismus wäre
demnach eine Separation von dem Boden des eigent-
lichen Judentums, welche etwa im zweiten Jahrhun-
dert vor Chr. unter griechischen Einflüssen sich voll-
zogen hat zum Zweck der Verwirklichung eines dem
24) Daß die Anbetung der Sonne zum Lebensideal der Pythagoreer
gehörte, sehen wir namentlich aus des Philostratus Biographie des Apollonius
von Tyana (vgl. Zeller, Philosophie der Griechen ITT, 2, S. 155, Anm. 1). Auch
das Streben, alles Unreine ihrem Anblick zu entziehen, ist echt pythagoreisch.
Vgl. Zeller, Theol. Jahrbb. 185G, S. 425. Mangold, Irrlehrer der Pastoral-
briefe S. 52.
25) S. die Nachweise bei Zell er, Theol. Jahrbb. 1856, S. 401 ff. Philosophie
der Griechen HI, 2 S. 325 ff. (3. Aufl.). — Über die ältere pythagoreische
Lehre überhaupt s. W. Bauer, Der ältere Pythagoreismus (Berner Studien
zur Philosophie VÜI) 1897. Roh de, Psyche 2. Aufl. II, 1898, S. 158-170.
Zeller, Zeitschr. für wissensch. Theologie 1899, S. 213 ff.