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Full text of "Geschichte des Teufels"

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Geschichte  des  Teufels. 


Erster   Band. 


t 


Geschichte  des  Teufels. 


Von 


Gustav   Roskoff. 


Erster  Band. 


Leipzig 


F.  A.  Brockha  u  s. 


1869. 


Das  Recht  der  Uebersetzung  in  fremde  Sprachen  wird  vorbehalten. 


X, 


y 


Vorwort. 


Alle  Dinge,  die  in  ihrer  Gesammtheit  das  All  ausmachen, 
bedingen  sich  gegenseitig,  wirken  in  ihrem  Nebeneinandersein 
aufeinander  und  bringen  eine  Vielheit  und  Manniclifaltigkeit  des 
Inhalts  und  der  Form  hervor.  Der  denkenden  Betrachtung,  die 
nach  dem  Zusammenhange  der  Erscheinungen  forscht,  „was  die 
Welt  im  Innersten  zusammenhält",  ist  die  in  der  Vielheit  sich 
äussernde  Einheit  nicht  entgangen.  Sie  fasst  die  zerstreuten 
Naturdinge  und  Naturkräfte  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  zu- 
sammen und  sieht  in  ihm  einen  lebensvollen  Organismus,  inner- 
halb dessen  eine  Menge  besonderer  Systeme  sich  thätig  erweisen, 
die,  obschon  selbständig,  in  steter  Wechselwirkung  aufeinander 
bezogen  und  durch  allgemeine  Gesetze  im  Zusammenhang  er- 
halten, in  Ein  Grundgesetz,  das  der  Harmonie,  zusammenlaufen. 
In  dieser  Erkenntniss  feiert  die  Naturwissenschaft  ihren  Sieg, 
nachdem  sie  den  eroberten  Schatz  von  Wahrnehmungen  der 
Herrschaft  des  Denkens  unterworfen  hat.  Es  ist  ein  auf 
Erfahrung  gegründeter  Satz ,  den  ein  Gewährsmann  aus- 
spricht: „Je  tiefer  man  eindringt  in  das  Wesen  der  Natur- 
kräfte, desto  mehr  erkennt  man  den  Zusammenhang  der 
Phänomene,  die,  lange  vereinzelt  und  oberflächlich  betrachtet, 
jeglicher  Anreihung  zu  widerstreben  scheinen."1  Die  Betrach- 
tung der  eigenen  Beschränktheit  erfüllt  zwar  das  Einzel- 
wesen mit  Wehmuth;  diese  verliert  aber  an  Herbheit  im 
Hinblick  auf  die  unendliche  Reihe  der  unablässig  forschen- 
den und  stets  mehr  erforschenden  Menschheit.  Denn  „Wis- 
sen und  Erkennen  sind  die  Freude  und  Berechtigung  der 
Menschheit". 

In  dieser  berechtigten  Freude  am  Erkennen  mag  das  Auge 
des  Beobachters  geschichtlicher  Erscheinungen  wol  auch,  auf 
Culturzustände  hingelenkt,  deren  Zusammenhang  mit  jenen  auf- 
zufinden versuchen.  Denn  nicht  nur  in  der  physischen  Welt 
gibt  es  nichts  Unnatürliches,  sondern  alles  ist  Ordnung,  Gesetz ; 

1  A.  v.  Humboldt,  Kosmos,  I,  30. 


VI  Vorwort. 

auch  die  geschichtlichen  Erscheinungen  und  ebenso  die  Gebilde 
des  geistigen  Lebens  sind  durch  gewisse  Factoren  bedingt. 
Wenn  im  Verlaute  der  Geschichte  bestimmte  Vorstellungen  so 
mächtig  heranwachsen,  dass  sie  die  Oberherrschaft  in  den  Ge- 
müthern erlangen,  muss  sieh  wol  jedem,  der  nach  dem  Grunde 
der  Erscheinungen  zu  suchen  gewohnt  ist,  die  Frage  aufdrängen: 
warum  diese  Vorstellungen  gerade  um  diese  Zeit  eine  so  ge- 
waltige Macht  gewinnen,  die  sie  ein  andermal  wieder  verlieren? 
Warum  sie  in  dieser  bestimmten  Form  zur  Herrschaft  kommen, 
zu  einer  andern  Zeit  eine  andere  Gestalt  annehmen  V  Die  Lösung 
solcher  Fragen  vom  culturgeschichtlichen  Gesichtspunkte  darf 
wol  versucht  werden,  und  die  Neigung,  herrschende  Vorstellungen 
nach  ihrem  Zusammenhange  zu  begreifen,  wird  sich  nicht  ab- 
schwächen, wenn  diese  auch  als  Wahngebilde  bezeichnet  werden. 
Denn  auch  eine  Geschichte  der  Wahngebilde  eines  Volks  oder 
der  Völker  kann  nicht  ohne  Bedeutung  sein,  da  jene,  wenngleich 
als  Kehrseite  der  Bildung  oder  als  Vorbildungen  betrachtet, 
mit  der  Individualität  eines  Volks  aufs  innigste  verwachsen 
sind  und  aus  dessen  Bildungsprocesse  hervorgehen.  Mögen 
derlei  Erscheinungen  immerhin  mit  einem  kritischen  Ausschlage 
verglichen  werden:  sie  erregen  mit  dem  pathologischen  Interesse 
zugleich  das  eulturhistorische,  weil  sie,  wie  die  Bildung  selbst,  durch 
eine  Menge  Factoren  bedingt  sind,  weil  auch  an  ihnen  das  Gesetz 
menschlicher  Entwickelung  zu  Tage  tritt,  weil  sie  mit  dieser 
Hand  in  Hand  gehen,  die  Eigenthümlichkeit  eines  Volks  abspiegeln, 
die  Wandlungen  des  menschlichen  Bewusstseins  mitmachen. 

Einer  aufmerksamen  Beobachtung  wird  es  nicht  entgehen, 
dass  gewisse  Factoren  die  Anregung  zur  Erzeugung  und  Ge- 
staltung bestimmter  Vorstellungen  geben,  und  dass  im  allgemei- 
nen zwei  Hauptfactoren  in  die  Entwickelung  der  Menschheit 
eingreifen:  Natur  und  Geschichte.  Diese  bedingen  den  Bil- 
dungsprocess  überhaupt  und  bieten  die  massgebende  Anregung 
zur  Gestaltung  bestimmter  Anschauungsweisen.  Bei  Natur- 
völkern, die  der  allgemeinen  geschichtlichen  Bewegung  abseits, 
gleichsam  ausserhalb  der  Strömung  am  festen  Ufer  stehen,  ist 
das  vornehmliche  Anregungsmittel  die  sie  umgebende  Natur; 
bei  den  Culturvölkern  des  Alterthums,  die  laut  ihrer  cultur- 
historischen  Mission  ihren  Arbeitsantheil  an  die  Weltgeschichte 
abgegeben  haben,  hat  ausser  der  Natur  auch  die  Geschichte 
ihren  Einfluss  geltend  gemacht;  die  später  auftretenden  Völker 


Vorwort.  VII 

haben  die  Anregung  vornehmlich  aus  den  geschichtlichen  Ver- 
hältnissen empfangen,  obschon  das  Naturmoment  auch  bei  diesen 
nicht  ausser  Kraft  ist.  „Der  Mensch  ist  ein  geschichtliches 
Wesen",  bemerkt  Lazarus,  „alles  in  uns,  an  uns  ist  Erfolg  der 
Geschichte,  wir  sprechen  kein  Wort,  wir  denken  keine  Idee, 
ja  uns  belebt  kein  Gefühl  und  keine  Empfindung,  ohne  dass  sie 
von  unendlich  mannichfaltig  abgeleiteten  historischen  Bedingun- 
gen abhängig  ist." 1  Gleiches  gilt  wol  auch  von  ganzen  Völkern. 
Kein  Volk  schafft  eine  Cultur  ganz  aus  sich  selbst,  jede  ist 
die  Summe  der  seitherigen  Ergebnisse  der  Weltentwickelung, 
die  es  aufnimmt  und,  mit  dem  eigenen  Geiste  verarbeitet,  der 
Nachwelt  als  Erbe  hinterlässt.    Das  ist  die  Tradition  der  Cultur. 

Bei  einer  Studie  über  die  Vorstellung  vom  christlichen 
Teufel,  der  im  Mittelalter  den  kirchlichen  Glaubenskreis  aus- 
füllt, wird  der  unbefangene  Forscher  zunächst  in  die  ersten 
christlichen  Jahrhunderte  zurückblicken  müssen  und,  indem  er 
dem  Ursprünge  dieser  Vorstellung  nachspürt,  führt  ihn  der  Weg 
durch  das  Neue  Testament  zu  den  Hebräern  und  denjenigen 
Völkern,  mit  welchen  jene  in  Berührung  gekommen  sind.  Der 
Dualismus  von  guten. und  bösen  Wesen,  der  bei  den  Parsen, 
deren  Verwandten,  bei  den  Aegyptern  in  die  Augen  fällt,  die 
dualistische  Anschauung,  die  in  den  Mythologien  aller  Cultur- 
völker  mehr  oder  weniger  entschieden  auftritt,  muss  die  Auf- 
merksamkeit auf  sich  ziehen  und  zum  weitern  Rückschreiten 
auf  der  Stufenleiter  der  verschiedenen  Religionen  nöthigen.  Bei 
den  Naturvölkern  angelangt,  wird  sich  die  Thatsache  heraus- 
stellen, dass  auch  in  allen  Naturreligionen  der  Dualismus  zum 
Ausdruck  kommt,  und  an  diese  Wahrnehmung  knüpft  sich  die 
Aufforderung,  den  Grund  dieser  Erscheinung  auf  dem  Gebiete 
der  Anthropologie  zu  suchen,  das  menschliche  Bewusstsein,  das 
zur  Bildung  einer  solchen  Vorstellung  angeregt  wird,  zu  betrachten. 

„In  allen  Zeiten",  sagt  der  Naturforscher,  „hat  der  den- 
kende Mensch  versucht,  sich  Rechenschaft  zu  geben  über  den 
Ursprung  der  Dinge,  um  sich  Aufschluss  zu  verschaffen  über 
den  Grund  ihrer  Eigentümlichkeiten." 2  Sollte  denn  dieses 
Streben  nur  auf  die  Dinge  ausserhalb  des  Menschen  beschränkt 
bleiben,  hat  nicht  der  zum  Denken  erwachte  Mensch  seine  eigene 


1  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie,  II,  437. 

2  Liebig,  Chemische  Briefe,  S.  79. 


VIII  Vorwort. 

geistige  Thätigkeit  und  deren  Producte  zum  Gegenstände  seiner 
Denkoperation  gemacht?  Ein  Versuch,  die  Vorstellung  von 
einem  bösen  Wesen,  vom  Teufel,  im  Zusammenhang  mit  der 
Natur,  den  geschichtlichen  Erscheinungen  und  deren  Conjunc- 
turen  darzustellen,  ist  vorliegende  Schrift,  Sie  will  versuchen, 
die  Geschichte  dv>  Teufels  nach  seinem  Ursprünge  und  seiner 
weitern  Entwicklung  unter  culturgeschichtlichem  Gesichtspunkte 
darzustellen,  will  auf  die  Momente  hinweisen,  die  überhaupt 
zur  Vorstellung  von  einem  bösen  Wesen  anregen,  will  den  reli- 
giösen Dualismus  bei  den  Naturvölkern  und  den  Culturvölkcrn 
des  Alterthums  nachweisen,  sie  will  zeigen,  wie  innerhalb  der 
christlichen  Welt  die  Vorstellung  vom  Teufel  Raum  gewonnen 
und  im  Verlaufe  der  Geschichte  eine  alle  Gemüther  beherr- 
schende Macht  erlangt  hat.  Die  Geschichte  des  Teufels  will 
gewisse  Hauptfragen  zu  lösen  versuchen,  als:  wie  gelangt  der 
Mensch  überhaupt  zur  Vorstellung  von  der  Existenz  eines  über- 
menschlichen bösen  Wesens,  oder  wie  bildet  sich  der  religiöse 
Dualismus?  wobei  der  Ausgangspunkt  vom  menschlichen  Be- 
wusstsein  angegeben  ist.  Bei  der  christlich-kirchlichen  Vor- 
stellung vom  Teufel  handelt  es  sich  um  Factoren,  welche  die 
allgemeine  Verbreitung  dieser  Vorstellung  gefördert  haben. 
Daran  knüpft  sich  die  Frage:  warum  diese  Vorstellung  gerade 
zu  einer  bestimmten  Zeit  so  mächtig  geworden,  welche  Wand- 
lungen sie  erlebt,  warum  sie  wieder  abnimmt,  welches  die  Ur- 
sachen der  Abnahme  sein  mögen?  u.  dgl.  m.  Manche,  und 
vielleicht  wichtige  Momente,  die  in  die  Geschichte  des  Teufels 
eingreifen,  mögen  dem  Verfasser  entgangen  sein,  daher  seine 
Schrift  auch  nur  auf  die  Bedeutung  eines  Versuchs  Anspruch 
machen  darf.  Denn  es  ist  gewiss:  „im  geschichtlichen  Zu- 
sammenhange der  Dinge  schlägt  ein  Tritt  tausend  Fäden,  und 
wir  können  nur  einen  gleichzeitig  verfolgen.  Ja  mv  können 
selbst  dies  nicht  immer,  weil  der  gröbere  sichtbare  Faden  sich 
in  zahllose  Fädchen  verzweigt,  die  sich  stellenweise  unserm 
Blicke  entziehen."  x 

Wien,   im  März   1869. 

Dr.  Gr.  Roskoff, 

ordentl.  Professor  au  der  k.  k.  ovangel.  theolog.  Facultät  in  Wien. 


Fr.  All».  Lange,  Geschichte  des  Materialismus  (186G),  S.  282. 


zw: 


Inhalt  des  ersten  Bandes. 


Erster  Abschnitt. 

Der   religiöse  Dualismus. 

Seite 

1.  Mensch  und  Religion  gegenüber  der  Natur 1 

2.  Die  Gegensätzlichkeit  in  der  religiösen  Anschauung   der  Natur- 

völker   15 

3.  Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker 24 

4.  Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums    .  G2 

Aegypten 65 

Die  Araber 82 

Babylonier.     Chaldäer     .....       90 

Syrische  Stämme.     Phönizier 97 

Kleinasien 101 

Assyrien 103 

Arier :    Inder-Perser 105 

Die  Arier  am  Indus  und  Ganges 108 

Der  Buddhismus 114 

Die  Arier  in  Iran.     Baktrer.     Perser 116 

Griechen 124 

Römer 141 

Germanen 148 

Slawen 166 

Hebräer 175 

5.  Der  Satan  im  Alten  Testament 186 

6.  Der  Teufel  im  Neuen  Testament 199 

7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern   der   drei   ersten  christlichen 

Jahrhunderte 212 

S.    Der  Teufel  im  Talmud  und  in  der  Kabbala 244 

9.   Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert 257 


X  Inhalt. 

Seite 

in.    Vom    7.    bis    zum     13.    Jahrhundert.      Völlige    Ausbildung    lies 

Teufels 289 

11.  Vom  13.  Jahrhundert  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes"  von 

Innocenz  VIII 317 

Eigentliche  Teufelsperiode 317 

Der  Satansprocess 349 

12.  Der  Teufel  auf  der  Bühne 359 

Der  dumme  Teufel 394 

Der  Teufel  als  Lustigmacher     , 399 


Erster  Abschnitt. 

Der  religiöse  Dualismus. 


1.  Mensch  und  Religion  gegenüber  der  Natur. 

l'er  Merfsch  wird  in  die  Natur  hineingeboren,  bildet  einen 
Theil  des  Weltganzen,  ist  vermittels  der  Sinne  den  Eindrücken 
der  ilm  umgebenden  Aussenwelt  unterzogen.  Er  selbst  als  ein 
organisches  Ganzes,  das  als  Leben  auf  einer  immerwährenden 
Selbsttätigkeit  beruht,  ist  der  Natur  gegenübergestellt,  die 
ihm  einen  zu  überwindenden  Gegensatz  Rietet.  Mit  der  Ge- 
burt, für  das  Kind  mit  Leiden  verbunden,  beginnt  der  Kampf 
mit  der  Aussenwelt,  und  hat  man  in  diesem  Sinne  auch  die 
Worte  Shakspeare's  deuten  wollen,  die  er  den  König  Lear 
sagen  lässt:  „Wenn  wir  geboren  werden,  weinen  wir." 

Den  nächsten  Gegensatz  unmittelbar  nach  der  Geburt 
stellt  die  atmosphärische  Luft.  Dem  Embryo  im  Mutterleibe 
genügte  zu  seiner  pflanzenartigen  Existenz  das  durch  das 
Athmen  der  Mutter  roth  gewordene  Blut;  das  Neugeborene 
hingegen  muss  nun  die  Luft  schon  unmittelbar  einathmen,  es 
ist  mit  dem  Luftkreise  in  unmittelbaren  Verkehr  gesetzt  und 
vollzieht  mit  dem  Athmen  den  ersten  Act  der  Selbsttätigkeit. 
Durch  das  unmittelbare  Einathmen  der  Luft  verschafft  es  dem 
Blute  eine  seinem  selbständigen  Leben  angemessene  Entwicke- 
lung  und  wird  zugleich  angeregt,  seine  Empfindung  frei  zu 
äussern.  Auf  das  Niesen,  das  sich  infolge  des  Luftreizes  in 
der  Nasenhöhle  gewöhnlich  einstellt,  möchten  wir  dem  kleinen 
Erdenbcwohner  ein  ermuthigendes  „Prosit"  zurufen,  zur  glück- 
lichen Ueberwindung  all  der  Gegensätze,  durch  die  er  zur 
freien  Selbständigkeit  gelangen  soll,  die  ja  seine  Bestim- 
mung ist. 

Roskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  X 


2  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Den  nächsten  Gegensatz,  den  das  Kind  zu  überwinden 
hat,  findet  es  in  der  Nahrung.  Solange  es  diese  an  der 
Muttermilch  hat,  übernimmt  die  Mutterliebe  das  Geschäft  der 
Vermittelung,  deren  der  Säugling  bedarf;  mit  dem  Hervor- 
brechen der  Zähne  gibt  aber  die  Natur  den  Wink,  dass  der 
kleine,  werdende  Mensch  zur  Selbständigkeit  sich  zu  ent- 
wickeln bestimmt  ist.  Nach  der  Entwöhnung  gewöhnt  sich  das 
Kind,  selbstthätig  seine  Nahrung  unmittelbar  zu  sich  zu  neh- 
men und  in  sein  Fleisch  und  Blut  zu  verwandeln,  d.  b.  den 
Gegensatz  zu  überwinden,  um  das  Leben  selbstthätig  zu 
erhalten. 

Wie  das  Kind  im  Kauen  den  Stoff  überwindet,  so 
kommt  es  dahin,  im  Gehen  den  Raum  zu  beherrschen  und 
später  im  Sprechen  die  Vorstellung  aus  sich  herauszubringen, 
wodurch  es  seine  Innerlichkeit  freimacht,  wie  es  im  Kauen 
und  Gehen  von  der  Aussen  weit  sich  befreit,  indem  es  dieselbe 
beherrscht.  „Alles  Leben  kämpft  gegen  die  Schranken  von 
Raum  und  Zeit."  1  So  greift  der  Mensch  in  die  Natur  ein, 
indem  er  sich  seine  Nahrung  daraus  holt;  indem  er  sie 
vernichtend  seiner  .Leiblichkeit  assimilirt,  übt  aber  auch  die 
Natur  eine  Wh'kung  auf  ihn  aus.  Im  weitern  Verlaufe  greift 
er  in  die  Natur  ein  durch  die  Arbeit,  indem  er  den  Boden 
cultivirt,  das  in  der  Natur  Vorgefundene  umbildet,  wodurch 
er  selbst  wieder  gebildet  wird. 

Es  ist  eine  ununterbrochene  Reihe  von  Wechselwirkungen 
im  grossen  und  kleinen  und  beider  aufeinander. 

Desgleichen  findet  auch  im  leiblichen  Organismus  des 
Menschen  statt.  Das  Blut,  welches  man  „die  Mutter  des 
ganzen  Lebens"  genannt  hat,  ist  Ursache,  dass  der  Magen- 
saft sich  bildet,  und  dieser  ist  die  Ursache  der  Blutbildung, 
und  wie  jedes  Organ  Blut  enthält,  so  ist  dieses  die  Substanz 
aller  Organe.  Das  Blut  dient  zur  Erhaltung  und  Belebung 
der  Organe,  und  diese  erfüllen  ihren  Zweck  in  der  Erhaltung 
des  Bluts  in  seiner  lebendigen  Form.  Ohne  die  Thätigkeit 
der  Lunge  kann  das  Gehirn  nicht  thätig  sein  und  ohne  dessen 
Einfluss  wäre  die  Bewegung  der  Lunge  unmöglich. 

Indem   der  Mensch   lebt,    überwindet   er   den    Gegensatz, 


1  Burdach,  Der  Mensch  nach  den  verschiedeneu  Seiten  seiner  Natur, 
neue  Aufl.  von  1854,  S.  631. 


1.    Mensch  und  Religion  gegenüber  der  Natur.  3 

den  er  an  sich  trägt,  denn  wo  Leben  ist,  da  ist  Gegensätz- 
lichkeit, die  ausgeglichen  werden  muss.  Das  Leben  bethätigt 
sich  in  der  Ausgleichung  des  Gegensatzes.  Der  Lebensprocess 
kann  daher  füglich  mit  dem  Ausgleichungsprocesse  zweier 
chemisch  gegeneinander  gespannter  Substanzen  verglichen 
werden  *,  denn  vom  ersten  Augenblick  des  Lebens  sucht  das 
Individuum  die  Z weiheit  seines  Wesens ,  die  Innerlichkeit ,  die 
Psyche,  mit  der  Aeusserlichkeit  oder  Leiblichkeit  auszugleichen. 
In  der  Ausgleichung  dieses  Unterschieds  von  Leib  und  Seele 
bethätigt  sich  das  individuelle  Leben.  Es  ist  Naturgesetz ,  dass 
alles,  was  den  Leib  afficirt,  in  die  Seele  hineinversetzt  wird  und 
umgekehrt,  dass  die  innerlichen  Zustände  verleiblicht,  d.  h. 
äusserlich  zur  Erscheinung  gebracht  werden.  Das  menschliche 
Individuum  lebt  sonach  im  steten  wechselwirkenden  Verkehr 
zwischen  Innerm  und  Aeusserm  und  umgekehrt,  und  sein 
Leben  ist  nur  so  lange  ein  gesundes,  als  sich  diese  Gegen- 
sätzlichkeit zur  Einheit  zusammenfasst. 

Durch  die  Sinne,  vermittelt  durch  die  organische  Thätig- 
keit  des  Nervensystems,  tritt  der  Mensch  in  Verkehr  mit  der 
Aussenwelt.  Von  den  verschiedenen  Sinnesorganen,  in  welchen 
die  Nerven  ihre  peripherischen  Enden  haben ,  leiten  diese  die 
Eindrücke,  die  sie  an  jenen  empfangen  haben,  im  Central- 
organ  zusammen  und  gelangen  zu  gegenseitiger  Durchdrin- 
o'unff.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Lebensthätio-keiten  zur  Ge- 
meinsamkeit  zusammensummirt  regt  sich  als  Innerlichkeit  und 
Einheit,  als  Gemeingefühl,  worin  das  Leben  sich  selbst 
inne  wird,  sich  selbst  findet.  Dieses  dunkle  Gefühl  des  Da- 
seins wird  zur  Empfindung,  wo  der  eigentliche  Leibeszu- 
stand  pereipirt  wird.  Die  Entwickelung  zur  Klarheit  wird 
angeregt  durch  den  Gegensatz,  wodurch  das  Leben  sich  irgend- 
wie gehemmt  oder  gefördert  fühlt,  sodass  der  besondere 
Lebenszustand  durch  äussere  Verhältnisse  bestimmt  empfunden 
wird.  Ist  der  Gegensatz  derart,  dass  die  organische  Thätig- 
keit  des  Lebens  zur  Kraftäusserung  aufgefordert  und  jener 
dadurch  überwunden  wird,  so  ist  die  Empfindung  eine  an- 
genehme, welche  bei  wachsender  Regung  zur  Lust  sich 
steigert;  oder  das  Gemeingefühl  bleibt  wegen  Mangels  an 
Reiz  oder  durch  übermässige  Reizung,    welche  die  Thätigkeit 


Erdmann,  Psychologische  Briefe,  S.  198. 


4  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

der  Organe  zu  stören  droht,  unbefriedigt,  und  die  Empfin- 
dung- ist  unangenehm,  die  bei  grösserer  Stärke  zum 
Schmerz  wird. 

Nach  dem  Naturgesetze  bringt  jede  Einwirkuno:  eine 
Gegenwirkung  hervor,  weil  jede  angeregte  Kraft  sich  zu  äus- 
sern strebt.  Die  Empfindung,  durch  einen  äussern  Reiz  an- 
geregt, erweckt  den  Trieb,  der  sich  der  willkürlichen  Mus- 
keln bedient,  um  das  Leben  zu  äussern.  Die  innere  Thätigkeit 
im  Gehirnleben  tritt  durch  den  Trieb  mit  den  Muskeln  in 
Berührung,  die  innere  Bewegung  wird  zur  äussern,  die  Gegen- 
sätzlichkeit des  Aeussern  und  Innern  wird  ausgeglichen.  Die 
willkürlichen  Muskelbewegungen  entsprechen  den  Sinnes- 
empfindungen ,  indem  ein  Gehirnreiz ,  auf  die  peripherischen 
Theile  des  Nervensystems  fortgeleitet,  durch  die  Muskelthätig- 
keit  eine  Veränderung  am  Leibe  hervorbringt.  In  den  un- 
willkürlichen Bewegungen  kommen  Modifikationen  des  Gemein- 
gefühls zum  Ausdruck. 

Das  Innewerden  der  Aussenwelt  durch  die  Sinne  ist  be- 
dingt durch  das  Innewerden  der  eigenen  Leiblichkeit,  denn 
ohne  Gemeingefühl  des  eigenen  Daseins  ist  die  Empfindung 
des  fremden  Daseins  nicht  denkbar.  Die  äussern  Gegenstände 
wirken  auf  die  Sinnesorgane  und  durch  die  Nerven  auf  das 
Gehirn,  welches  dadurch  in  entsprechender  Weise  bestimmt 
wird. 

In  der  anorganischen  Natur  zeigt  sich  die  Wechselbezie- 
hung zu  einem  fremden  Körper  zunächst  in  der  Ausgleichung 
der  Wärmeverhältnisse;  im  Pflanzenleben  bethätigt  sich  der 
Ausgleichungsprocess  in  Modifikationen  der  Zellenernährung; 
im  animalischen  Leben  wird  der  Gegensatz  zur  Aussenwelt 
durch  das  Nervensystem  vermittelt  und  das  Leben  durch  die 
willkürliche  Bewei>-un<Y  als  höhere  Form  offenbar.  Im  Menschen 
findet  die  zusammenfliessende  Fülle  von  Empfindungen  und 
Sinneseindrücken  ausser  der  Compensation  durch  die  Muskel- 
bewegung den  noch  höhern  Ausgleichungspunkt  im  Bewusst- 
sein  und  Selbstbe wusst sein.  Das  menschliche  Individuum 
hat  mit  dein  animalischen  Leben  das  gemeinschaftlich,  dass 
die  durch  Sinneseindrücke  afficirten  Nerven  zum  Gehirn  oder 
Rückenmark  verlaufend  von  da  zu  den  willkürlichen  Muskeln 
gelangen  und,  sieh  bis  zu  jeder  Fleischfiber  vertheilend, 
diese  als  Bewegungsorgane  in  Anspruch  nehmen.     Der  kenn- 


1.    Mensch  und  Religion  gegenüber  der  Natur.  5 

zeichnende  Unterschied  zwischen  Mensch  und  Thier  ist  also 
das  Bewusstsein  und  Selbstbe  wusstsein,  womit  die 
Grenz-  und  Scheidelinie  gezogen  ist,  von  der  aus  die  speeifisch 
unterschiedene  Bedeutung  beginnt.  Auch  das  Thier  wird  zwar 
die  Eindrücke  der  Aussenwelt  durch  die  Sinnesorgane  inne, 
es  hat  Empfindung  und  äussert  sein  Empfundenes  durch  die 
Muskelbewegung,  es  nährt  sich  vom  Stoffe,  den  ihm  die 
Natur  bietet,  und  assimilirt  denselben  seiner  Leiblichkeit;  aber 
während  das  Thier  im  Frasse  und  überhaupt  in  der  Aeusser- 
lichkeit  aufgeht,  kommt  der  Mensch  dahin,  sich  bewusst  zu 
werden:  dass  die  Aussenwelt,  von  der  er  seine  Nahrung  und 
Sinneseindrücke  erhält,  ein  von  ihm  Verschiedenes  ist;  er 
kommt  zum  Bewusstsein:  dass  sein  eigenes  Dasein  und 
seine  Umgebung  als  eine  ihm  fremde  Aussenwelt  im  Gegen- 
satz stehen.  Ja  er  Avird  seiner  eigenen  physischen  Thätig- 
keiten  inne,  unterscheidet  sie  vom  leiblichen  Dasein  des 
Organismus  und  stellt  im  Bewusstsein  seine  eigene  Empfin- 
dung sich  selbst  gegenüber,  d.  h.  er  kommt  zum  Selbstbe- 
wusstsein.  Dadurch  wird  er  erst  eigentlich  Mensch,  dass 
er  zum  selbstbewussten  Ich  gelangt,  hiermit  beginnt  er  ein 
vom  materiellen  Leben  unterschiedenes  geistiges  Leben; 
insofern  aber  das  Material,  das  der  menschliche  Geist  um- 
bildet, Leiblichkeit  ist  und  das  geistige  Leben  wol  selbst- 
thätio-,  aber  nicht  eigenmächtig  ist:  so  muss  die  Einheit  von 
Sinnlichem  und  Geistigem  die  eigentliche  Sphäre  des 
Menschen  ausmachen. 

In  der  Periode,  die  dem  Selbstbewusstsein  vorhergeht, 
spricht  das  Kind  von  sich  in  der  dritten  Person ,  es  lebt  noch 
im  Dämmerlichte,  bis  ihm  die  Sonne  des  Bewusst-  und  Selbst- 
bewusstseins  aufgeht,  von  wo  an  es  sich  mit  Ich  bezeichnet. 
Wenn  Fichte  den  Tag,  wo  er  sein  Kind  das  erste  Ich  sagen 
hörte,  feierlich  begangen  haben  soll,  so  beweist  dies  eben 
die  Bedeutsamkeit  des  Moments,  den  der  grosse  Philosoph 
zu  würdigen  wusste. 

Das  Thier,  welehes  keine  höhere  Aufgabe  hat  als  zu  leben, 
sein  inneres  Empfindungsleben  durch  Bewegung  zu  äussern, 
seine  Gattung  durch  Fortpflanzung  zu  erhalten,  erfüllt  seine 
Bestimmung  mit  dem  natürlichen  Ende,  dem  Tode.  Der 
Mensch  fängt  sein  speeifisch -menschliches  Leben  erst  an,  wo 
er  sich  seiner  selbst  bewusst  wird.     Aber  schon  als  Säugling, 


(3  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

dessen  nächste  Aufgabe  zwar  auch  im  Lebendigsein  gelost 
wird,  steht  er  mit  dem  Thiere  doch  nicht  auf  gleicher  Linie, 
weil  er  die  Anlage  zur  Weiterentwickelung  in  sich  trägt,  die 
dem  Thiere  versagt  ist.  Den  schlagenden  Beweis  hiervon 
liefert  das  Kind,  wenn  es  zu  sprechen  anfängt,  womit  der 
selbstbewusst  werdende  Geist  sich  zum  Ausdruck  bringt  und 
der  Gegensatz  von  Innerlichkeit  und  Aeusserlichkeit  die  aus- 
gleichende Mitte  findet. 

Das  Höchste,  wozu  es  das  animalische  Leben  zu  bringen 
vermag,  ist  der  Gattungsprocess ;  der  Mensch  hingegen  bringt 
es  zum  Bewusst-  und  Selbstbewusstsein  und  infolge  dieses 
zur  Sprache,  Arbeit,  Geschichte,  Religion,  zum  be- 
grifflichen Denken,  zur  Wissenschaft. 

Es  ist  eine  unzulängliche  Definition ,  welche  den  Menschen 
nur  als  entwickeltes  Thier  hinstellt,  da  er  vom  Thiere  speci- 
fisch  verschieden,  daher  auch  eine  andere  Bestimmung  hat. 
Der  Keim,  aus  dem  der  Mensch  hervorgeht,  ist  wesentlich 
verschieden  von  dem  eines  Naturproducts.  Vergleichungs- 
punkte  sind  nur  dadurch  gegeben,  dass  im  Systeme  des  or- 
ganischen Menschenlebens  alle  andern  Systeme  enthalten  und 
ineinandenjesetzt  zur  Erreichung  der  menschlichen  Bestimmung 
dienen  und  der  Physiolog  daher  ein  vegetabiles  und  animales 
Leben  im  Menschen  vertreten  findet,  wie  im  menschlichen 
Organismus  auch  Substanzen  der  anorganischen  Natur  noth- 
wendig  vorhanden  sein  müssen. 

Durch  die  Aufmerksamkeit,  in  welcher  die  Seelen- 
thätigkeit  nach  den  durch  die  Aussenwelt  hervorgebrachten 
Eindrücken  sich  richtet,  macht  der  Mensch  Wahrnehmun- 
gen, deren  Einzelheiten  er  zu  einem  Ganzen  vereinend  zur 
Vorstellung  bildet,  indem  er  vermittels  des  Sinnen-  und 
Hirnlebens  das  von  aussen  gewonnene  Material  in  eine  gei- 
stige Thatsache  umsetzt,  das  Aeussere  im  Innern  abdrückt. 
Alles,  was  er  inne  geworden,  wird  durch  das  Gedächtniss 
innerlich  fortwirkend  aufbewahrt,  und  so  fasst  er  eine  Reihe 
von  Wahrnehmungen,  die  er  an  verschiedenen  Orten  und  zu 
verschiedenen  Zeiten  gewonnen  hat,  einheitlich  zusammen  in 
der  Erfahrung. 

Dasselbe  Gesetz,  wonach  das  animalische,  unbewusste 
Leben,  die  Empfindung  in  der  Muskelbewegung  zum  Ausdruck 
kommt,    drängt  den   bewussten  Geist,    sich  zu   äussern  durch 


1.    Mensch  und  Religion  gegenüber  der  Natur.  7 

die  Sprache.  Nach  den  Beobachtungen  der  Physiologen 
wird  infolge  innerer  Bewegungen  der  Kehlkopf  leicht  afficirt, 
womit  eine  specielle  Beziehung  zwischen  beiden,  gleich  der 
zwischen  dem  Vagus  und  den  Herzbewegungen,  der  Sphäre 
des  kleinen  Gehirns  und  den  Bewegungsmuskeln  der  obern 
Extremitäten,  angedeutet  wäre.  Dies  kann  aber  erst  die  laut- 
liche Aeusserung  der  aufgenommenen  Eindrücke  erklären,  aller- 
dings als  Vorbereitung  zum  ausgesprochenen  Wort.  Das 
Thier  hat  eine  Stimme,  durch  die  es  sein  empfindendes  Leben 
offenbart;  es  bleibt -aber  nur  beim  Laute,  wodurch  es  das  un- 
bewusste  Leben  äussert,  und  bringt  es  nimmermehr  zum 
Worte,  dem  Ausdruck  selbstbewussten  Geistes,  weil  ihm 
eben  das  Selbstbewusstsein  nicht  aufgeht.  Es  ist  daher  tref- 
fend, wenn  Lotze  irgendwo  den  Gesang  der  Vögel  ein  „willen- 
loses und  absichtsloses  Springen  mit  den  Stimmbändern" 
nennt,  denn  es  ist  eben  nur  eine  Muskelbewegung,  durch  die 
der  Laut  hervorgebracht  wird.  Die  Sprache  ist  Ausdruck 
des  selbstbewussten  Geistes,  der  Mensch  spricht  im  Worte 
nicht  nur  seine  Empfindung,  sein  Gefühl  aus,  sondern  auch 
seine  Wahrnehmungen,  Vorstellungen  und  Gedanken.  Eben 
weil  er  Wahrnehmungen  macht,  Vorstellungen  bildet  und  Ge- 
danken erzeugt,  spricht  der  Mensch.  Er  erfindet  die  Sprache 
nicht,  so  wenig  als  er  sein  Dasein  erfunden  hat,  sie  ist  ein 
Erzeugniss  seines  Geistes,  dessen  Wesen  in  der  Sprache  laut 
wird,  wobei  die  Sprach  Werkzeuge  entgegenkommend  in  Be- 
wegung gesetzt  werden.  Ohne  Zunge,  Zähne,  Gaumen, 
Stimmritze  könnte  der  Mensch  allerdings  keine  Vorstellung 
und  keinen  Gedanken  sprachlich  darstellen;  er  spricht  aber 
nicht,  weil  er  diese  hat,  sonst  würde  der  Hund  und  das 
Schwein  auch  eine  Sprache  haben.  Das  Grunzen,  Bellen, 
Miauen  u.  dgl.  ist  nur  der  elementare ,  unartikulirte  Ausdruck 
von  Empfindungen,  aber  von  keinem  Gedanken,  zu  welchem 
nur  der  Mensch  die  Empfindung  zu  verarbeiten  vermag.  „Die 
Sprache  befreit  den  Menschen  von  der  Unbestimmtheit  des 
Eühlens  und  Anschauens  und  macht  ihm  den  Inhalt  seiner 
Intelligenz  zum  Eigenthum."  x  In  der  Sprache  zeigt  sich  der 
bildende  Trieb  und  eine  Art  Herrschaft  über  den  Gegen- 
stand,  der,  von   aussen  nach  innen  angeregt,   zur  Vorstellung 


1  Rosenkranz,  Psychologie,  2.  Aufl.,  S.  389. 


Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismu 


6" 


verarbeitet,  als  Wort  wieder  ausgesprochen  wird.  „Durch 
Benennung  wird  das  Aeussere  wie  eine  Insel  erobert  und 
vorher  dazu  gemacht,  wie  durch  Namengeben  Thiere  bezähmt 
werden"  l,  und  man  erinnert  sich  hierbei  der  trefflichen  Dar- 
stellung in  der  Genesis,  wonach  die  Herrschaft  des  Menschen 
über  die  Thiere,  ausser  deren  Genüsse,  damit  bezeichnet 
wird,  dass  er  sie  benennen  soll.  Beim  Kinde  zeigt  sich  die 
Herrschaft  des  Geistes  in  den  „kühnen"  und  „doch  richtigen" 
Wortbildungen ,  deren  Jean  Paul 2  mehrere  anführt ,  die  er  von 
drei-  und  vierjährigen  Kindern  gehört  hat,  als:  „der  Bierfässer, 
Saiter,  Fläscher"  (der  Verfertiger  von  Fässern,  Saiten,  Flaschen), 
„die  Luftmaus"  für  Fledermaus,  „die  Musik  geigt,  das 
Lieht  ausscheren  (von  der  Lichtsehere) ,  dreschflegeln,  dre- 
scheln;  ich  bin  der  Durchsehmann  (hinter  dem  Fernrohr 
stehend),  ich  wollte,  ich  wäre  als  Pfeffernüsschenesser  ange- 
stellt, oder  als  Pfeffernüssler;  am  Ende  werde  ich  gar  zu 
klüger;  er  hat  mich  vom  Stuhle  heruntergespasst;  sieh 
wie  Eins  (auf  der  Uhr)  es  schon  ist "  u.  s.  f.  Aehnlich  nennen 
die  uordamerikanischen  Indianer  ihnen  fremde  Gegenstände 
mit  selbstgebildeten  Namen,  wie  „Lochmacher"  statt  Bohrer 
u.  dgl.  3 

Wie  das  Bewusst-  und  Selbstbewusstsein  von  minderer 
Klarheit  zur  festern  Bestimmtheit  fortschreitet,  so  lässt  sich 
bei  Kindern  auch  die  allmähliche  Entwickelung  der  Sprache 
beobachten.  Aus  den  unbestimmten  Vocallauten  entstehen  erst 
reine  Vocale,  zu  denen  wieder  zunächst  stumpfe  Consonanten 
hinzutreten  und  undeutliche  Silben  bilden,  bis  endlich  die 
Vocale  zur  Klarheit  kommen,  die  Mitlauter  ihre  Schärfe  er- 
halten und  die  Silben  das  deutliche  Gepräge  bekommen.  Ein 
ähnliches  Fortschreiten  zeigt  sich  auch  im  Gebrauche  der 
Wortformen,  indem  das  Kind  aus  dem  Infinitiv  und  der  dritten 
Person  allmählich  zur  ersten  Person,  zur  Conjugation  und 
Declination  übergeht  und  endlich  die  Syntax  in  die  Sprache 
aufnimmt. 

Von  rdeichorossem  Interesse  ist  in  dieser  Beziehung  die 
Verfährungs weise  der  Naturvölker,    die  in   der   Kindheit   der 


1  Jean  Paul,  Levana,  Ausgabe  von  1814,  S.  420. 

-  a.  a.  0.,  S.  423. 

:i  Bastian,  Der  Mensch  in  der  Geschichte,  I,  431. 


1.    Mensch  und  Religion  gegenüber  der  Natur.  9 

menschlichen  Entwickelungsgeschichte  stehen  geblieben  sind. 
Wie  die  Kinder  sprechen  die  brasilianischen  Indianer  immer 
im  Infinitiv,  meist  ohne  Fürwort  oder  Substantiv.  Der  Un- 
zulänglichkeit solcher  Sprache  müssen  dann  gewisse  Zeichen 
mit  der  Hand,  dem  Munde  oder  andere  Geberden  zum  ver- 
ständlichen Ausdruck  verhelfen.  „Will  der  Indianer  z.  B. 
sagen:  ich  will  in  den  Wald  gehen,  so  spricht  er  «Wald- 
gehen »  und  zeigt  dabei  mit  rüsselartig  vorgeschobenem  Munde 
auf  die  Gegend,  die  er  vermeint."  x  „Die  Grönländer,  be- 
sonders die  Weiber,"  begleiten  manche  Worte  nicht  nur  mit 
einem  besondern  Accent,  sondern  auch  mit  Mienen  und  Augen- 
winken, sodass,  wer  dieselben  nicht  gut  wahrnimmt,  des  Sinnes 
leicht  verfehlt.  Wenn  sie  z.  B.  etwas  mit  Wohlgefallen  bejahen, 
schlürfen  sie  die  Luft  durch  die  Kehle  hinunter  mit  einem  ge- 
wissen Laut.  Wenn  sie  etwas  mit  Verachtung  und  Abscheu  ver- 
neinen, rümpfen  sie  die  Nase  und  geben  einen  feinen  Laut 
durch  dieselbe  von  sich,  wie  sie  es  auch  durch  Geberden  er- 
rathen  lassen,  wenn  sie  nicht  aufgeräumt  sind."2 

Wie  die  selbstbewusste  Thätigkeit,  das  Denken  im  wei- 
tern Sinne,  den  ersten  Ausgangspunkt  von  sinnlichen  Ein- 
drücken erhält,  so  wählt  auch  die  Sprache  zunächst  solche 
Laute,  die  auf  das  Ohr  einen  entsprechenden  Eindruck  her- 
vorbringen. 3  Es  sind  dies  die  sogenannten  Onomatopoetica, 
wie  sie  jede  Sprache  hat,  so  etwa  in  unserm  „starr"  der  Ein- 
druck des  Widerstandskräftigen,  in  „Wind"  das  Bewegende, 
in  „Wirr"  das  Durcheinandergehende  kaum  unbemerkt  bleiben 
kann,  u.  dgl.  m. 

Solange  das  Denken  nur  in  sinnlichen  Vorstellungen  ge- 
schieht und  die  Ideen  Gestalten  annehmen,  kann  auch  nur 
das  Sinnlichwahrnehmbare  seinen  Ausdruck  finden,  wogegen 
das  Begriffliche  durch  Umschreibung  aufgenommen  und  aus- 
gedrückt wird.  Dadurch  erhalten  diese  Sprechweisen  einen 
überfliess*enden  Pomp  und  malerischen  Glanz ,  wovon  Bastian  4 
aus  der  Sprache  der  Indianer  treffende  Beispiele  anführt. 
In     dem     aller     abstracten     Begriffe     entbehrenden     Materia- 


1  Spix  und  Martius  bei  Bastian,  I,  427. 
4  Ebcndas.,  S.  430. 

3  Vgl.  W.  v.  Humboldt,  Ueber  die  Kawisp räche,  S.  94  fg. 

4  1 ,  42G. 


1()  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

lismus  der  amerikanischen  Indianer  wird  „Glück"  bezeichnet 
durch  „Sonnenglanz",  „Friede"  durch  „Waldbaumpflege" 
oder  „eine  Streitaxt  begraben",  „Leidtragende  trösten" 
durch  „das  Grab  der  Verstorbenen  bedecken".  Selbst  fremde 
A\  örter  kann  er  nur  durch  Umschreibungen  aufnehmen :  Kerze 
wird  übersetzt  als  Wassa  kon-a-cm  jegun  von  wassan  (heller 
Gegenstand),  kon-a  (Brand),  jegun  (Werkzeug);  Lichtputze 
durch  Kisehke-kud-jegun  von  kischk  (abschneiden),  ked  oder 
sknt  (Feuer)  und  jegun  (Werkzeug). 

Wie  in  der  Sprache  die  höhere  Lebenspotenz  des  Selbst- 
bewusstseins  offenbar  wird,  jene  aber  wieder  auf  die  Ent- 
wicklung des  Menschen  zurückwirkt,  so  zeigt  sich  die  Herr- 
schaft des  selbstbewussten  Wesens  besonders  merklich  in  der 
Arbeit.  Die  Bedeutsamkeit  der  Arbeit  liegt  in  der  umbil- 
denden Einwirkung  auf  den  Gegenstund,  zunächst  auf  die 
Natur,  ferner  in  der  bildenden  Rückwirkung  auf  den  Arbei- 
tenden. Der  Mensch  arbeitet,  indem  er  wirkt  und  selbst  da- 
durch eine  Rückwirkung  empfängt,  indem  er  geistig  umbildet 
und  dadurch  selbst  geistig  gebildet  wird.  Arbeiten  kann  daher 
nur  der  Mensch  als  geistiges,  selbstbewusstes  Wesen.  Wenn 
er  den  Gegensatz,  in  welchem  er  der  Natur  gegenüber  sich 
befindet,  dadurch  überwunden  und  ausgeglichen  hat.  dass  er 
ihre  Producte  vernichtend  verzehrt  und  seiner  Leiblichkeit 
assimilirt,  bietet  er  hiermit  ein  Analogon  zum  Thiere,  welches 
auch  sein  Futter  in  Fleisch  und  Blut  verwandelt;  indem  aber 
der  Mensch  das  Feld  bearbeitet,  die  Thierhaut  zur  Kleidung 
verarbeitet,  bildet  er  die  Natur  um,  und  die  Folge  ist  eine 
rückwirkende,  sodass  mit  der  Bearbeitung  der  Natur  die  Bil- 
dung des  Menschen  Hand  in  Hand  geht.  Das  Thier  arbeitet 
in  diesem  Sinne  nie,  weil  es  nie  zum  Selbstbewusstsein  kommt, 
und  wenn  der  Vogel  sein  Nest  baut,  die  Biene  Honig  und 
Wachs  sammelt,  so  ist  dies  eine  emsige  Geschäftigkeit,  in 
welcher  das  rückwirkende  Moment  der  Bildung,  das  die  Arbeit 
kennzeichnet,    mangelt.1     Ist  es    doch    zum   Axiom    erhoben, 


1  „Die  Thiere  bauen  sich  bisweilen  recht  künstliche  Wohnungen", 
sagt  treffend  Lange  (Geschichte  des  Materialismus,  S.  416),  „aber  wir 
haben  noch  nicht  gesehen,  dass  sie  sich  zur  Herstellung  derselben  künst- 
licher Werkzeuge  bedienen"  —  „eben  die  Ausdauer,  welche  auf  die  Fer- 
tigung eines  Instruments  verwandt   wird,    das   sich   nur   massig  über  die 


1.    Mensch  und  Religion  gegenüber  der  Natur.  11 

dass  mit  dem  Ackerbau,  also  mit  der  Bearbeitung  der  Natur, 
die  Cultur  der  Menschheit  ihren  Anfang  nimmt.  „Nicht  das 
mythische  Paradies  oder  goldene  Zeitalter,  sondern  die  Ar- 
beit ist  der  Anfang  der  Culturgeschichte."  *  In  der  Arbeit 
selbst  liegt  daher  ein  Fortschreiten,  denn  wenn  der  rohe  Mensch 
arbeitet,  weil  ihn  die  Noth  zwingt,  weil  er  muss,  so  arbeitet 
der  Gebildete  aus  eigener  freier  Bestimmung,  weil  er  will. 
Durch  die  Arbeit  drückt  der  Mensch  dem  Gegenstande,  den  er 
bearbeitet,  das  Gepräge  seines  eigenen  geistigen  Wesens  auf,  er 
stempelt  ihn  mit  seinem  Willen  und  erklärt  ihn  hiermit  für 
sein  Eigenthum.  Jäger-  und  Nomadenstämme  bilden  sich 
nicht,  weil  sie  nicht  zur  Umbildung  der  Natur,  zur  Arbeit 
kommen,  und  obschon  sie  nicht  gänzlich  im  reinen  Naturzu- 
stande leben  gleich  dem  Thiere,  da  es  überhaupt  gar  keinen 
Menschenstamm  gibt,  bei  dem  nicht  z.  B.  der  Gebrauch  des 
Feuers  sich  vorfände  2,  oder  der  Brauch  sich  zu  schmücken, 
wenn  auch  in  roher  Weise,  angetroffen  würde,  so  bringen  sie 
es  doch  nicht  zur  ständigen  Arbeit,  zu  keinen  festen  Sitzen 
und  daher  auch  nicht  zur  Totalität  eines  Volks  und  Staats. 

Da  mit  der  Arbeit  die  Gesittung  und  Bildung  ihren  An- 
fang  nimmt,  ist  jene  die  Bedingung  der  Geschichte.  Sprache 
und  Arbeit  als  Aeusserungen  des  selbstbewussten  Geistes 
sind  nothwendige  Voraussetzungen  der  Geschichte.  Es  gibt 
keinen  wilden  Stamm,  der  keine  Sprache  hätte,  der  seine  in- 
nern  Zustände  blos  durch  unartikulirte  Laute  oder  durch  blosse 
Muskelbewegung  als  Geberden  zu  erkennen  gäbe ;  aber  ebenso 
hat  kein  Volksstamm  eine  Geschichte,  in  dessen  Leben  die 
Arbeit  mit  der  erforderlichen  Sesshaftigkeit  fehlte.  Der  Be- 
duinenaraber steht  deshalb  auf  derselben  Stufe,  die  er  zu 
Abraham's  Zeit  eingenommen,  er  hat  keine  Geschichte,  weil 
sein  Leben  der  bildenden  Arbeit  ermangelt,  Man  kann  sagen: 
die  Arbeit  ist  das  Bildungsmittel  des  Menschen  und  die  Sprache 


Leistungen  eines  natürlichen  Steins  oder  Steinsplitters  erhebt,  zeigt  eine 
Fähigkeit,  von  den  unmittelbaren  Bedürfnissen  und  Genüssen  des  Lebens 
zu  abstrahiren  und  die  Aufmerksamkeit  um  des  Zweckes  willen  ganz  auf 
das  Mittel  zu  wenden,  welche  wir  bei  Thieren  nicht  leicht  finden  werden." 

1  Wachsmuth,  Allgemeine  Culturgeschichte,  I,  7. 

2  Wie  Linck,    Urwelt,   I,  311,   die  widersprechenden  Angaben  voll- 
ständig widerlegt  hat. 


]  2  Erster  Abschnitt :    Der  religiöse  Dualismus. 

das  Fortpflanzungsmittel  der  Bildung.  Beide,  Factoren  sind 
unentbehrlich  in  der  Geschichte  der  Menschheit,  und  diese  ist 
undenkbar  ohne  jene.  Was  die  mündliche  Tradition  in  der 
Vorhalle  der  Geschichte  durch  die  Fortpflanzung  der  Mythen- 
und  Sagenkreise  bewerkstelligt,  das  vollzieht  mit  dem  Beginn 
der  wirklichen  Geschichte  die  durch  die  Schrift  oder  andere 
Denkmäler  fixirte  Sprache.  Der  einzelne  bringt  durch  das 
Wort  sein  inneres  Leben  zum  Ausdruck  und  zur  Mittheilung 
für  den  andern,  und  die  Schätze  der  Bildung  eines  Volks 
kommen  dem  andern  mittels  der  Sprache  zugute ;  die  Cultur 
längstvergangener  Reiche,  durch  die  Sprache  aufgespeichert, 
wird  von  der  Gegenwart  aufgenommen  und  die  Sprache  dient 
der  Zukunft  als  Hebel,  der  sie  auf  die  Schultern  der  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart  heben  wird.  Die  Sprache  ist 
das  Gebinde,  worin  die  mittels  Arbeit  erzielten  Früchte  der 
Cultur  von  einem  Geschlechte  dem  andern,  von  einem  Volke 
dem  andern,  von  einer  geschichtlichen  Periode  der  andern 
überreicht  werden.  Sprache  und  Arbeit  haben  aber  ihren 
Grund  im  Menschen  als  bewusstem  und  selbstbewusstem 
Wesen,  d.  h.  im  menschlichen  Geiste,  und  hierin  ist  also  auch 
der  Grund,  dass  das  Menschengeschlecht  eine  Geschichte 
hat.  Die  Natur  und  ihre  Producte  haben  diese  nicht  in  dem 
Sinne,  dass  ein  und  dasselbe  Geschöpf,  wie  der  Mensch, 
durch  Entwicklung  seiner  Anlage  sich  ändert.  Der  Flieder- 
Strauch  treibt  dieselben  Blüten  und  bringt  dieselben  schwarzen 
Beeren  wie  vor  3000  Jahren,  und  die  Ameise  ist  heute  noch 
ebenso  geschäftig  wie  ehedem,  der  Orang-Utang  sieht  dein 
Menschen  zwar  ähnlich,  ist  ihm  aber  noch  immer  nicht  gleich 
geworden,  weil  er  seiner  ursprünglichen  Anlage  nach  ver- 
schieden ist;  aber  der  sprechende  und  arbeitende  Mensch  von 
heute  fühlt  und  weiss  sich  anders,  hat  andere  Bedürfnisse 
und  andere  Anschauungen  als  der  vor  3000  Jahren,  und  ob- 
schon  das  Gesetz,  nach  dem  er  sich  entwickelt,  ein  unwan- 
delbares ist,  so  sind  ihm  die  Culturen  längstvergangener  Zeiten 
zugefallen,  die  er  kraft  dieses  unwandelbaren  Gesetzes  sich 
eigen  gemacht  und  in  sich  verarbeitet  hat. 

Im  Selbstbewusstsein  des  Menschen  liegt  aber  der  Grund 
nicht  nur,  dass  der  Mensch  eine  Sprache  hat,  dass  er  durch 
Arbeit  seiner  Bestimmung  sich  nähert,  was  schon  in  der 
biblischen    Schöpfungsgeschichte    tiefsinnig    angedeutet    wird, 


1.    Mensch  und  Religion  gegenüber  der  Natur.  13 

dass  er  ferner   eine  Geschichte  hat,    in   der   er  sein  Wesen 
als  ein  sich  entwickelndes  darlegt;    im  selbstbewnssten  Geiste 
liegt  auch  der  Grund,  dass  der  Mensch  Religion  hat.     Der 
Consensus   populorum    hat    zwar    als  Beweis   für   das    Dasein 
Gottes  nicht  mit  Unrecht  seine  Kraft  verloren  und  ist  bei  den 
meisten   Theologen   und  Philosophen   ausser   Geltung    gesetzt; 
er   birgt    aber   dennoch  in  gewisser   Beziehung  ein  Körnchen 
Wahrheit  in  sich:  dass  es  keinen  noch  so  rohen  Völkerstamm 
gibt,    bei  dem    nicht. Spuren  von  religiösen  Vorstellungen  an- 
zutreffen wären.     „An  Götter  im  Sinne  civilisirter  Völker,  an 
höhere  Wesen,   die,  mit  übermenschlicher  Macht  und  Einsicht 
begabt,    die    Dinge    dieser  Welt    nach  ihrem    Willen    lenken, 
glauben  allerdings  durchaus  nicht  alle  Völker;    versteht   man 
aber    unter   religiösem    Glauben    nur    die    Ueberzeugung    von 
dem  Dasein  meist  unsichtbarer  geheimnissvoller  Mächte,  deren 
Wille  überall  und  auf  die  mannichfachste  Weise  in  den  Lauf 
der  Natur  einzugreifen  vermag,    sodass   der  Mensch  und  sein 
Schicksal   von   ihrer   Gunst   äusserst   abhängig   ist,    so   dürfen 
wir  behaupten,  dass  jedes  Volk  eine  gewisse  Religion  besitze. 
Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  bei  den  Völkern  der  niedrigsten 
Bildungsstufe    diese    Religion    im    Grunde    nichts    ist   als    ein 
meist  sehr  ausgedehnter  Gespensterglaube,  aber  man  wird  sich 
hüten   müssen,    das   religiöse  Element,    welches   unzweifelhaft 
darin    enthalten  ist,    zu   verkennen."1    „Der  Mensch  sieht  in 
den  natürlichen  sinnlichen  Dingen  durchgängig  mehr  und  etwas 
anderes  als  blos  sinnliche  Eigenschaften  und   materielle  Kräfte 
er  sieht  in  ihnen  übernatürliche  Mächte  und  einen  übernatür- 
lichen Zusammenhang,    er  vergeistert  die  Natur."'2    Diese  Er- 
scheinung findet  ihre  Erklärung  darin,  dass  der  Mensch  selbst 
auf  der   niedersten   Culturstufe  zum  Bewusst-    und   Selbstbe- 
wusstsein  gelangt,   dass  er   es   zu   Vorstellungen   bringt,   dass 
er  Schlüsse  zieht,  dass  er  überhaupt  als  geistiges  Wesen  eine 
ideale  Seite,    religiösen  Sinn   und  Trieb   hat,    die   im  reli- 
giösen Glauben   zum  Ausdruck   kommen.     Man   mag  Reli- 
gion als  schlechthiniges  Abhängigkeitsgefühl  von  einem  höch- 
sten  Wesen    bezeichnen,    als    Beziehung    des   Endlichen    zum 
Unendlichen,    als  Glaube   des  Menschen   an  Gott  ansprechen, 


1  Waitz,  Anthropologie,  I,  324. 

2  Ders.,  a.  a.  0.,  S.  328. 


|4  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

oder  nach  der  anthropologischen  Anschauung  den  Satz  der 
Theologen:  „Gott  schuf  den  Menschen  nach  seinem  Bilde", 
umkehren  und  sagen:  „Der  Mensch  schuf  Gott  nach  seinem 
Bilde";  das  Wesentliche  an  der  Sache  bleibt,  dass  Religion 
auf  einem  Zim-e  im  Menschen  nach  einem  höhern  vollkomm- 
nern  Wesen  und  in  der  Anerkennung  einer  höhern  Macht,  als 
die  des  Menschen  ist,  beruht. 

Der  Anthropologe  hat  hierin  recht,  dass  jede  Vorstellung 
von  Gott  Spuren  des  menschlichen  Bewusstseins  an  sich  trägt, 
wie  schon  Luther  bemerkt,  wenn  er  sagt:  „Wie  das  Herz,  so 
der  Gott",  was  wol  so  viel  sagen  will  als:  nach  der  mehr 
oder  minder  entwickelten  Bildungsstufe  wird  auch  die  mensch- 
liche Vorstellung  vom  höchsten  Wesen  eine  mehr  oder  weniger 
sinnliche  oder  geläuterte  sein.  Die  schlagendsten  Beweise 
bieten  die  religiösen  Vorstellungen  der  Naturvölker,  welche 
eigentlich  in  der  Personificirung  derjenigen  Dinge  in  der  Natur 
bestehen,  von  denen  der  Mensch  seine  Existenz  und  sein 
Schicksal  abhängig  glaubt,  und  dessen  günstige  oder  ungün- 
stige Wendung  der  Wirkung  selbständiger  Geister  zugeschrieben 
wird.  Auf  diesem  Standpunkte  fällt  die  Naturansicht  mit  der 
religiösen  Ansicht  der  Dinge  zusammen,  und  diese  Geister 
sind  ganz  nach  der  Analogie  der  menschlichen  Individualität 
gedacht. 

Aber  auch  die  Vertreter  des  absoluten  Abhängigkeitsge- 
fühls von  Gott  haben  die  Wahrheit  für  sich,  dass  das  Gefühl 
ein  Wesensbestandtheil  des  religiösen  Glaubens  ist,  ohne  wel- 
ches Religion  weder  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Glaubens 
noch  des  Handelns  lebendig  oder  wirksam  sein  kann.  Ausser- 
halb  des  Zusammenhangs  der  geschichtlichen  so  wol  als  der 
begrifflichen  Entwickelung  steht  nur  diejenige  Ansieht,  welche 
eine  Religion  ungeahnt  und  historisch  unvorbereitet  urplötzlich 
einem  Meteorsteine  gleich  über  die  Menschen  herabfallen  lässt. 
Dem  Denker  ist  die  Entstehung  dieser  Ansicht  wol  erklärlich, 
obschon  diejenigen  selbst,  die  sie  hegen,  dieselbe  für  unbe- 
greiflich halten. 

Bei  erweiterter  Fassuno:  des  Beoriffs  Religion  wird  deren 
Element  überall  erkannt  werden,  wo  ein  Streben  nach  Idealem 
sich  kundgibt,  ob  dieses  in  einer  Naturkraft  besteht  oder  im 
Schönheitsideal,  ob  im  Patriotismus  oder  in  der  Wissenschaft, 
es  bleibt  immer  eine  Beziehung  zu  etwas,  das  über  dem  End- 


2.  Die  Gegensätzlichkeit  in  der  religiösen  Anschauung  der  Naturvölker.    15 

liehen  und  Alltäglichen  liegt  und  deshalb  stets  in  irgendeiner 
Hinsieht  etwas  Erhebendes  in  sich  trägt.  Weil  jeder  Reli- 
gionsform der  Zug  nach  Idealem  zu  Grunde  liegt,  hat  auch 
jede  ein  bildendes  Moment  in  sich,  und  weil  es  keinen  Men- 
schenstamm gibt,  bei  dem  nicht  Spuren  von  Religion  vor- 
handen wären,  lebt  auch  keiner  ein  reines  Thierleben,  sowie 
kein  Stamm  der  Sprache  entbehrt,  weil  jeder  zum  vorstellen- 
den Bewusstsein  sich  erhebt. 


2.  Die  Gegensätzlichkeit  in  der  religiösen  Anschauung 

der  Naturvölker. 

Das  alte  Sprichwort:  „Noth  lehrt  beten"  enthalt  zwar, 
wie  alle  Sprichwörter,  nicht  die  ganze  Wahrheit,  ist  aber  auch 
nicht  aller  Wahrheit  bar.  Ob  der  Satz  dahin  erklärt  wird: 
die  Noth  sei  als  Mutter  der  Religiosität  zu  betrachten  1  oder 
ob  man  dabei  an  die  Worte  des  Goethe'schen  Harfners 
erinnert:  „Wer  nie  sein  Brot  in  Thränen  ass,  der  kennt  euch 
nicht,  ihr  himmlischen  Mächte";  soviel  ist  gewiss,  das  reli- 
giös-gläubige Gemüth  fühlt  in  Augenblicken  der  Bedrängniss 
am  meisten  das  Bedürfniss,  seinem  Gott  sich  zu  nahen  und 
ihm  sich  zuzuwenden.  In  der  Noth  überkommt  den  Menschen 
das  Gefühl  seiner  Schwäche,  hervorgerufen  durch  einen 
Gegensatz,  der  unüberwindlich  zu  sein  droht  und  daher  mit 
Furcht  erfüllt. 

Allerdings  wird  die  Religiosität,  durch  Noth  und  Be- 
drängniss veranlasst,  eine  unfreie  sein  und  die  daraus  ent- 
springenden Handlungen  auch  das  Merkmal  der  Unfreiheit  an 
sich  tragen,  indem  sie  als  Opfer  zur  Sülmung  oder  zur  freund- 
lichen Stimmung  des  göttlich  verehrten  Wesens  dargebracht 
werden;  ungeachtet  dessen  muss  doch  das  religiöse  Moment 
dabei  anerkannt  werden  und  die  unfreie  Religionsform  wird 
dem  geistig  entwickeitern  Religionsbegrifie  gegenüber  eben  als 
niedrigere  Stufe  erscheinen. 


1  Kraft,  Die  Religionsgeschichte  in  philosophischer  Darstellung,  S.  19. 


{(]  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Im  dunkeln  Gefühle,  ein  einheitliches  Ganze  zu  sein,  be- 
trachtet der  Mensch  zunächst  alles,  was  er  in  der  Aussenwelt 
wahrnimmt,  in  Beziehung  auf  sich,  inwiefern  es  seinem  Wohle 
zuträglich  ist  oder  entgegensteht,  und  unterscheidet  das  An- 
genehme, als  mit  seinem  Gemeingefühl  übereinstimmende,  von 
dem  Widersprechenden,  dem  Unangenehmen.  Weil  Harmonie 
das  Grundgesetz  sowol  des  grossen  Ganzen,  des  Makrokos- 
mos, als  auch  der  menschlichen  Natur,  des  Mikrokosmos,  ist, 
sucht  der  Mensch  unbewusst  nach  angenehmen  Empfindungen 
und  alles  mit  sich  in  Uebereinstimmung  zu  bringen.  Der 
Naturmensch  nimmt  seine  mikrokosmische  Auffassungsweise 
auch  zum  Masstabe  seiner  Handlungsweise  und  erhebt  das 
eigene  Wohl,  das  ihm  Angenehme  zum  Hauptgrundsatz  der 
Moral  und  erachtet  nur  das  für  recht  und  gut,  was  seiner 
Selbsterhaltung  dienlich,  seinem  Zustande  angenehm  ist.  Ein 
treffendes  Beispiel  gibt  jener  Buschmann,  der,  über  den  Un- 
terschied von  gut  und  böse  befragt,  für  böse  erklärt,  wenn 
ihm  ein  anderer  seine  Frauen  raube,  für  gut  hingegen,  wenn 
er  die  Frauen  eines  andern  raube.  *  Der  Naturmensch  wird 
alles,  was  in  sein  einheitliches  Sein  störend  eingreift,  für  böse 
und  übelthätig  ansehen,  während  er  das  mit  ihm  Uebereinge- 
stimmte  wohlthätig  und  gut  nennt.  Mit  dem  Naturleben  im 
innigsten  Zusammenhange,  in  die  Sinnlichkeit  versenkt,  ist  auch 
seine  geistige  Thätigkeit  von  dieser  abhängig.  Der  Sinnesein- 
druck bringt  eine  gewisse  Stimmung  hervor,  und  diese  vertritt 
beim  Naturmenschen  die  Stelle  des  Urtheils.  Solange  dem 
Menschen  der  Zusammenhang  zwischen  Ursache  und  Wirkung, 
Grund  und  Folge  ein  unaufgelöstes  Räthsel  ist,  erfüllt  ihn  die 
staunende  Furcht  vor  jeder  Erscheinung,  die  ihm  fremd  ent- 
gegenkommt. Der  Naturmensch  und  das  Kind  sind  daher  am 
meisten  von  der  Furcht  heimgesucht,  daher  auch  für  „grosse" 
Furcht  das  Epitheton  „kindisch"  als  synonym  gebraucht  zu 
werden  pflegt.  Das-  Kindesalter  weist  auf  den  Urzustand  des 
Menschen  hin  und  „noch  immer  ist  die  Menschheit  im 
kleinen  das  fortlebende  Bild  der  Menschheit  im  grossen"  — 
„ein  jeder  von  uns  war  also  einmal  auch  Naturmensch,  hat 
da  angefangen,  wo  der  erste  Mensch  seine  Entstehung  anfing"2 


1  Bastian,  Der  Mensch  in  der  Geschichte,  II,  83. 

2  Fr.  Aug.  Carus,  Ideen  zur  Geschichte  der  Menschheit,  S.  195. 


2.  Die  Gegensätzlichkeit  in  der  religiösen  Anschauung  der  Naturvölker.   17 

Der  Satz :  „  Die  Kindheit  der  Natur  bleibt  immer  das  Symbol 
aller  ersten  Entwickelung",  dürfte  freilich  nur  auf  die  erste 
Zeit  des  Kindesalters  zu  beschränken  sein,  denn  ein  Kind, 
das  in  einem  civilisirten  Lande,  in  einem  gebildeten  Familien- 
kreise sechs  Jahre  alt  geworden,  wird  mit  einem  sechsjährigen 
Indianerkinde  im  Urwalde  kaum  mehr  auf  gleicher  Linie 
stehen.  Die  Eindrücke,  die  auf  das  Kind  civilisirter  Aeltern 
von  Geburt  an  eingewirkt  haben,  sind  ganz  verschieden  von 
denen,  welche  der  kleine  Urwaldbewohner  in  sich  aufgenom- 
men hat,  demnach  wird  auch  das  Geistesleben  beider  ver- 
schieden sein,  ja  schon  die  Dämmerung  des  werdenden  Be- 
wusstseins  in  dem  einen  wird  nicht  ganz  gleich  sein  dem 
Traumleben  des  andern.  Vor  dem  Erwachen  des  Bewusstseins 
verschwimmen  beide  Kinder  mit  der  Aussenwelt,  die  sie 
umgibt;  aber  eben  diese  ist  bei  beiden  eine  verschiedene  und 
bringt  eine  verschiedene  Wirkung  hervor.  Beide  Kinder  ent- 
wickeln sich  allerdings  nach  demselben  Gesetze  des  mensch- 
lichen Geistes,  und  in  dieser  Beziehung  ist  die  Beobachtung 
des  Kindeslebens  sowie  des  Lebens  des  Naturmenschen  von 
wesentlichem  Werthe  für  den  Psychologen;  betrachtet  man 
aber  die  Summe ,  d.  h.  das  zum  Bewusstsein  entwickelte  Kind, 
so  wird  niemand  in  Abrede  stellen  können,  dass  es  im  Be- 
wusstsein des  kleinen  Europäers  anders  aussieht  als  in  dem 
des  kleinen  Waldindianers.  Da  in  der  Natur  nichts  sprungweise 
vor  sich  geht,  jede  Erscheinung  viel  mehr  das  Resultat  von  unab- 
sehbaren nothwendigen  Vorbereitungsstufen  ist,  da  dasselbe 
Gesetz  auch  bezüglich  der  menschlichen  Natur  in  Kraft  steht, 
wonach  jede  Form  des  geistigen  Lebens  eine  ganze  Reihen- 
folge von  Factoren  voraussetzt,  deren  Product  sie  ist:  so 
muss  die  Verschiedenheit  der  Factoren  auch  ein  verschiedenes 
Facit  hervorbringen. 

Dem  Menschen,  der  in  den  Jahren  der  Kindheit  oder  im 
Kindesalter  der  Geschichte  steht,  erscheint  die  Natur  zunächst 
furchtbar.  Denn  das  Fremde  an  sich  erregt  Schrecken, 
und  alles  Unbekannte,  Unerklärte  jagt  Furcht  ein.  Man  er- 
zählt von  Thomas  Platter,  der,  bei  Beginn  seiner  Laufbahn 
als  fahrender  Schüler  am  Berge  Grimsel  zuerst  ihn  aneifernde 
Gänse  erblickend,  dieselben  für  den  Teufel  haltend  die  Flucht 
ergriff.  Weil  jede  unbekannte  Erscheinung  feindlich  zu  wirken 
droht,  betrachten  die  Wilden  jeden  Fremden  als  Feind. 

Eoskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  2 


1g  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Bevor  der  Mensch  zum  allgemeinen  Denken  emporwächst, 
fasst  er  nur  die  Einzelheiten,  und  sein  Verständniss  reicht  so 
weit,  als  eben  seine  Sinne  reichen.  Der  Algonkiner  in  Ame- 
rika, der  auf  dieser  Stufe  steht,  hat  keinen  Ausdruck  für  den 
allgemeinen  Begriff  Eiche,  weil  er  nicht  verallgemeinern  kann, 
und  benennt  daher  jede  der  verschiedenen  Eichen,  die  in 
seinen  Wäldern  wachsen,  mit  besondern  Namen  *.  Es  ist 
ein  Gesetz  der  menschlichen  Natur,  das  Empfundene  gegen- 
ständlich zu  machen,  das  Innerliche  nach  aussen  zu  werfen. 
Da  nun  dem  Naturmenschen  so  vieles  unbekannt,  fremd, 
unerklärlich  ist,  demnach  so  vieles  furchtbar  erscheint,  bildet 
seine  Phantasie,  durch  mächtige  Erscheinungen  oder  ge- 
waltige Ereignisse  angeregt,  furchtbare  Gestalten,  die  er 
hinter  jenen  als  Urheber  erblickt.  Die  sinnliche  Anschauung 
hat  keinen  Blick  für  den  Zusammenhang  zwischen  Ursache  und 
Wirkung,  der  sich  dem  denkenden  Geiste  erschliesst;  jene 
ahnt  nur  eine  besondere  Ursache  und  kleidet  sie,  ihrer  Eigen- 
artio-keit  gemäss,  in  eine  besondere  sinnliche  Form.  Eigentlich 
spiegelt  sich  die  ganze  Summe  der  Empfindungen,  die  Tota- 
lität des  Lebens  in  den  Vorstellungen  des  Menschen.  Ein 
treffendes  Beispiel  liefert  die  Ansicht  des  Grönländers  von 
dem  seligen  Zustande  nach  dem  Tode.  „Weil  die  Grön- 
länder ihre  meiste  Nahrung  aus  der  Tiefe  des  Meeres  bekom- 
men, so  suchen  sie  den  glückseligen  Ort  unter  dem  Meere 
oder  unter  dem  Erdboden  und  denken,  dass  die  tiefen  Löcher 
in  den  Felsen  die  Eingänge  dafür  seien.  Daselbst  wohnen 
Torngansuk  und  seine  Mutter,  da  ist  beständiger  Sommer, 
schöner  Sonnenschein  und  keine  Nacht,  da  ist  gutes  Wasser 
und  ein  Ueberfiuss  an  Fischen,  Vögeln,  Seehunden  und  Renn- 
thieren,  die  man  ohne  Mühe  fangen  kann  oder  gar  in  einem 
grossen  Kessel  lebendig  kochend  findet"2.  Klemm  macht 
hierzu  die  Bemerkung ,  dass  der  Grönländer  ebenso  wenig  über 
seinen  Horizont  hinausgehe  wie  jene  beiden  Schweinehirten,  die 
einander  frugen,  was  sie  thun  würden,  wenn  sie  Napoleon 
geworden  wären?  Der  eine  meinte:  er  würde  von  da  an  braune 
Butter  aus  Bierkrügen  trinken;  der  andere  versicherte,  er 
möchte  dann  seine  Schweine  zu  Pferde  hüten.    Wir  sehen,  dass 


«  Bastian,  II,  35. 

5  Klemm,  Allgemeine  Culturgeschichte,  II,  310. 


2.  Die  Gegensätzlichkeit  in  der  religiösen  Anschauung  der  Naturvölker.    19 

beide,  im  Schweinehirtenthum  befangen,  auch  als  Napoleone 
dasselbe  nicht  losgeworden  wären. 

Das  Gefühl  der  Furcht  wird  gegenständlich,  indem  es  mittels 
der  Phantasie  die  Gestalt  des  Furchtbaren  erhält.  Der  Indianer 
schreibt  darum  jede  ihm  unerklärliche  Naturerscheinung  einem 
Manitou  zu  und  versetzt  in  die  Prärien  den  grossen  Geist  des 
Feuers,  der  mit  glühenden  Bogen  dahinrast;  der  Australier 
findet  den  schwarzen  Wandvag  in  den  Gummiwäldern  hausen; 
der  Kamtschadale  sieht  überall  die  tollen  Streiche  Kuka's;  auf 
Tonga  treiben  die  Holuah  Pou's  ihren  Schabernack ;  im  brasilia- 
nischen Walde  übt  Gurupira  seine  Neckereien;  bei  Wassergefahr 
sieht  der  Dajak  den  Nesi-panjang  mit  seinen  Beinen,  über  dem 
Flusse  stehen;  am  Ufer  des  Maranon  steht  der  Unhold  Ypu- 
piara  und  erdrosselt  den  Wanderer;  in  Senegambien  brüllt 
Horey  nach  Opfern  im  Walde;  auf  Ceylon  erfüllen  die  bösen 
Fafardets  die  Luft,  und  die  Kalmücken  hören  den  Drachen 
Dun  Chan  durch  dieselbe  fahren;  in  den  canadischen  Wäldern 
haust  der  Gigri;  auf  den  Philippinen  leben  die  Tibalangas  auf 
den  Baumgipfeln.  „In  Patna  sitzt  die  Cholera  mit  Schädel- 
knochen behangen  an  den  Ufern  der  Sone"  *).  An  der  Sklaven- 
küste unterlässt  es  der  Dahomeer,  des  Nachts  zu  reisen,  aus 
Furcht  vor  dem  bösen  Leiba ,  der  in  Schlangengestalt  die  Luft 
durchfliegt  2). 

Furcht  ist  wesentlich  das  Gefühl ,  womit  der  Naturmensch 
erfüllt  wird.  Der  indianische  Führer  des  Reisenden  Marthas 
glaubte  sich  dem  Gurupira  verfallen,  als  im  Walde  zufällig 
eine  Eidechse  herabgefallen,  und  nachdem  er  sich  hierauf  in 
einem  Sumpfe  verirrte,  verzweifelte  er  vollends,  je  wieder  aus 
dessen  Macht  zu  kommen.  „Noch  scheuer  war  ein  Indianer 
vom  Stamme  Catanaxis.  Jeder  krumme  Ast  oder  abgestor- 
bene Baumstumpf,  jede  seltsame  Verschlingung  von  Sipos  er- 
schreckte ihn.  Die  Wanika  fürchten  sich  vor  ihrem  eigenen 
Schatten"  3). 

In  der  Furcht  liegt  das  Gefühl  der  eigenen  Machtlosig- 
keit gegenüber  einer  Macht,    die  über  den  Menschen   waltet, 


1  Bastian,  II,  38. 

2  Ebendas.,  II,  145. 

3  Bastian,  II,  45. 


2* 


20  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

und  mit  der  Abhängigkeit  geht  Hand  in  Hand  die  anerkennende 
Verehrung  des  mächtigen  furchtbaren  Wesens. 

Furcht  ist  nicht  nur  die  Mutter  der  Weisheit,  sondern 
auch  der  Religion,  insofern  sie  den  grossen  Anstoss  gibt  zur 
Elementarregung  des  religiösen  Sinnes  und  vermittels  der 
Phantasie  religiöse  Vorstellungen  erzeugt.  Es  gibt  dieser  An- 
fang allerdings  nur  erst  ein  religiöses  Dämmerlicht,  das  im 
Bewusstsein  aufsteigt,  daher  auch  die  Gestalten  dunkel  ge- 
färbt sind  und  das  Gemüth  in  Bangigkeit  gefesselt  liegt.  Es 
fehlt  dieser  Religionsform  das  Moment  der  Freiheit,  ist  aber 
doch  schon  eine  religiöse  Ahnung  von  dem  Walten  über- 
menschlicher Mächte,  vor  denen  der  Naturmensch  als  vor 
einer  Gottheit  sich  beugt.  Wir  müssen  daher  auch  dieser 
niedern  Form  den  Titel  „Religion"  zuerkennen,  wie  der  Bo- 
taniker nicht  nur  in  der  Palme,  sondern  auch  in  den  Algen 
vegetabilische  Gebilde  erkennt. 

Es  ist  erklärlich,  dass  Erscheinungen,  welche  Unheil  und 
Verderben  drohen  und  das  Dasein  des  Naturmenschen  zu  ge- 
fährden scheinen,  zu  allernächst  dessen  Aufmerksamkeit  auf 
sich  ziehen,  weil  sie  durch  den  merklichen  Gegensatz  auch 
merklich  reizen,  während  die  wohlthätigen  Wirkungen  der 
Natur,  durch  die  der  Mensch  sein  Dasein  fristet,  als  selbst- 
verständlich hingenommen  werden.  Man  mag  diesen  Umstand 
„Undankbarkeit"  nennen  *,  es  genügt  uns,  darin  den  Grund 
zu  sehen,  warum  wir  bei  den  Bojesmanen  (Buschmännern)  in 
Südafrika,  den  Indios  da  matto  in  den  südamerikanischen 
Wäldern,  bei  den  Pescheräh,  den  Bewohnern  des  Feuerlandes 
und  den  Ureinwohnern  Australiens,  Californiens,  soweit  sie  von 
europäischen  Einflüssen  unberührt  geblieben,  mehr  das  Böse  als 
das  Gute  als  Gegenstand  der  Verehrung  antreffen.  Schon 
Herodot 2  erwähnt  ein  rohes  Volk  in  der  Wüste  Sahara,  die 
Ataranten,  die  sogar  in  der  Sonne  eine  böse  Macht  sehen  und 
dieselbe  beim  Aufgange  unter  heftigen  Lästerungen  verwün- 
schen, weil  sie  dieselbe  zu  Grunde  richte.  Es  wird  von  man- 
chen Stämmen,  wie  z.  B.  von  den  Indianern  von  Caracas, 
behauptet,  dass   sie   nur  an  ein  böses  Urwesen  glauben3  oder 


1  Waitz,  Anthropologie,  I,  362. 

*  IV,  181. 

3  Depons,  im  Magazin  für  merkwürdige  Reisebeschreibungen,  XXIX,  143. 


2.  Die  Gegensätzlichkeit  in  der  religiösen  Anschauung  der  Naturvölker.  21 

dass  die  bösen  Wesen  ein  so  grosses  Uebergewicht  haben, 
dass  die  guten  fast  ganz  unbemerkt  bleiben  und  keine  weitere 
Berücksichtigung  finden,  da  sie,  als  dem  Menschen  freundlich 
gesinnt,  ihm  keinen  Anlass  bieten,  ihnen  zu  dienen.  Wie 
diese  Stämme  erst  in  den  Windeln  des  menschlichen  Daseins 
lieo-en,  in  den  Anfängen  der  menschlichen  Gesellschaft  begriffen 
sind,  so  besteht  auch  ihre  Religion  auf  der  untersten  Stufe 
des  Schamanenthums  in  einem  dumpfen  Gefühle  der  Furcht 
vor  ungewöhnlichen  Ereignissen,  die  das  menschliche  Dasein 
bedrohen,  deren  Ursachen  aber  nicht  gesehen  werden  können. 
Diese  Ursachen,  die  der  sinnlichen  Wahrnehmung  des  Natur- 
menschen entzogen  sind,  die  aber  sein  Schlussvermögen  voraus- 
setzen muss,  commentirt  seine  Phantasie,  indem  sie  ihnen  eine 
sinnliche  Form  verleiht,  d.  h.  sie  personificirt.  Allenthalben, 
wo  der  Naturmensch  Bewegung  und  Thätigkeit  bemerkt,  ver- 
muthet  er  als  Ursache  ein  Wesen  seiner  Art,  die  ihm  uner- 
klärlichen Veränderungen  in  der  Natur,  die  ihm  verderblich 
erscheinen,  erhalten  daher  persönliche  Wesen  zu  Urhebern, 
die  er  fürchtet,  von  denen  er  sich  abhängig  fühlt,  die  er  des- 
halb für  sich  zu  gewinnen  sucht  durch  Opfer  u.  dgl.  Da  es 
zumeist  nur  unangenehme,  störende,  also  feindliche  Einwir- 
kungen sind,   die   den  Menschen   im  Naturzustande   auf  seine 

Ö  * 

Umo-ebuns:  aufmerksam  machen,  so  wird  seine  Phantasie  die 
Ursachen  auch  in  schreckliche  Formen  fassen.  Solche  sind  die 
Fetische  der  Neger,  die  Ana  der  Brasilianer,  die  Balichu  der 
Chacostämine,  die  Dämonen  bei  allen  Völkern. 

Nach  diesem  „  der  Phantasie  eigenen  Pragmatismus ",  wie 
Gervinus  sich  irgendwo  ausdrückt,  wonach  der  Mensch  die 
Ursachen  der  Erscheinungen  zu  erklären  meint,  wenn  er  sie 
personificirt,  kann  es  nicht  befremden,  wenn  in  Cassange  der 
Mann  nach  der  Entbindung  seines  Weibes  sich  in  das  Bett 
legt,  damit  der  Krankheitsdämon  getäuscht  werde;  oder  wenn 
der  Bowakke  nach  der  Geburt  seines  Kindes  alles  vermeidet, 
z.  B.  Thiere  zu  tödten,  Bäume  zu  fällen  u.  dgl.,  wodurch  er 
vielleicht  unbewussterweise  irgendein  dämonisches  Wesen  be- 
leidigen könnte,  das  sich  dann  an  dem  Säugling  rächen 
würde.  Darum  zündet  auf  den  Philippinen  der  Hausherr, 
sobald  die  Hausfrau  Geburtswehen  bekommt ,  vor  seiner  Hütte 
ein  grosses  Feuer  an,  hinter  welchem  er,  mit  einer  Waffe 
in    der    Luft    fechtend,     sich    aufstellt,    um    den    Pontianac, 


22  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

das    böse   Wesen,   das    dem   Gebären   hinderlicb  ist,  zu  ver- 
scheuchen. * 

So  dumpf  der  Zustand  des  Naturmenschen  auch  sein  mag, 
und  so  blind  seine  Furcht,  wenn  der  Donner  kracht,  der 
Vulkan  seine  feurigen  Rauchwolken  emportreibt  oder  die  Erde 
erbebt,  so  unterscheidet  sich  diese  Furcht  doch  immer  von 
dem  Schrecken,  von  welchem  das  Thier  bei  ähnlichen  Ge- 
legenheiten ergriffen  wird. 2  Denn  wenn  der  Naturmensch 
kraft  seiner  Phantasie  an  die  Stelle  der  wirklichen  Ursache 
auch  blos  ein  Surrogat  setzt,  nämlich  ein  personificirtes  Wesen, 
so  beweist  er  damit  doch,  dass  er  eine  Ursache  ahnt,  und  in 
dieser  dunkeln  Ahnung  liegt  ein  unmittelbar  gegebenes  Ur- 
theil,  obschon  noch  unentwickelt,  gleichsam  im  Schlafe  be- 
griffen. In  religiöser  Beziehung  ahnt  die  Seele  des  Natur- 
menschen  ein  Unbeschränktes,  Unendliches,  in  welchem  ihr 
eigenes  Sein  wurzelt. 

Nach  der  Wirkung  der  umgebenden  Natur,  welche  der 
Naturmensch  als  angenehm  oder  unangenehm  unterscheidet, 
indem  er  sich  dadurch  wohl  oder  unwohl  befindet,  bewegt 
sich  auch  sein  religiöses  Gefühl  im  Kreise  der  Gegensätzlich- 
keit von  Furcht  und  Scheu  und  dankbarer  Anerkennung. 
Nach  demselben  Gesetze,  wonach  die  sinnliche  Anschauung 
hinter  den  Erscheinungen,  welche  dem  Naturmenschen  Furcht 
einflössen,  persönliche  Wesen  vermuthet,  werden  auch  wohl- 
thätige  Naturmächte  personificirt,  sodass  das  religiöse  Be- 
wusstsein  inmitten  des  Gegensatzes  guter,  wohlthätiger  und 
böser  oder  übelthätiger  göttlicher  Wesen  sich  bewegt.  Ob- 
gleich, wie  schon  bemerkt,  bei  den  auf  der  untersten  Cul- 
turstufe  stehenden  Jäger-  und  Fischerstämmen  die  Verehrung 
übelthätiger  Wesen  mehr  betont  ist,  indem  das  Widerwärtige 
und  Feindliche  mehr  gefürchtet,  als  der  Dank  für  das  Wohl- 
thuende  gefühlt  wird,  weil  Dankgefühl,  wo  es  vorherrscht, 
schon  einen  höhern  Grad  der  Civilisation  voraussetzt,  daher 
meist  erst  bei  ackerbautreibenden  Stämmen  zu  finden  ist,  so 
lässt  sich  doch  behaupten:  Der  Dualismus  ist  in  allen 
Religionen  der  Naturvölker  vorhanden. 


1  Bastian,  I,  128. 

2  Dagegen  vgl.  Renaud,  (Jurisüanisinc  et  paganisine,  Ö.  12. 


2.  Die  Gegensätzlichkeit  in  der  religiösen  Anschauung  der  Naturvölker.    23 

Diese  Ansieht  findet  schon  an  Plutarch  ihren  Vertreter1: 
„Deswegen  ist  auch  von  Theologen  und  Gesetzgebern  auf 
Dichter  und  Philosophen  diese  uralte  Ansicht  übergegangen, 
deren  Urheber  sich  zwar  nicht  angeben  lässt,  die  aber  doch 
durchaus  zuverlässig  und  wahr  ist,  da  sie  nicht  blos  in  Er- 
zählungen und  Sagen,  sondern  auch  in  den  Mysterien  und 
bei  den  Opfern  aller wärts  bei  Griechen  und  Barbaren  sich 
findet,  ich  meine  die  Ansicht,  dass  das  Weltall  keineswegs 
Vernunft-  und  verstandlos  ohne  Leitung  dem  Ungefähr  über- 
lassen herumschwebe,  noch  von  einem  einzigen  vernünftigen 
Wesen  beherrscht  und  gelenkt  werde,  gleichsam  wie  mit 
einem  Steuer  oder  Zügel,  sondern  von  vielen  Wesen,  und 
zwar  von  solchen,  die  aus  Bösem  und  Gutem  gemischt  sind; 
oder,  um  es  gerade  herauszusagen,  dass  die  Natur  nichts  Lau- 
teres enthält,  daher  auch  nicht  ein  einzelner  Verwalter  wie 
ein  Schenkwirth  aus  zwei  Fässern  die  Elemente  gleich  Ge- 
tränken uns  mischen  und  austheilen  kann,  sondern  dass  aus 
zwei  entgegengesetzten  Principien  und  zwei  einander  feind- 
seligen Kräften,  von  welchen  die  eine  rechts  in  gerader 
Richtung  führt,  die  andere  nach  der  entgegengesetzten  Seite 
sich  wendet  und  umbeugt,  das  Leben  und  die  Welt,  wenn 
auch  nicht  die  ganze,  so  doch  diese  irdische  und  lunarische, 
gemischt  und  dadurch  ungleich,  mannichfaltig  und  allen  Ver- 
änderungen unterworfen  ist.  Denn  da  nichts  ohne  Ursache 
entstehen  kann,  so  muss  das  Böse  wie  das  Gute  einen  be- 
sondern Ursprung  und  eine  besondere  Entstehung  haben. 

Dies  ist  die  Ansicht  der  meisten  und  besten  Philosophen. 
Einige  von  ihnen  nehmen  zwei  einander  gleichsam  entgegen- 
wirkende göttliche  Wesen  an,  wovon  das  eine  das  Gute,  das 
andere  das  Böse  schaffe,  andere  nennen  das  Gute  Gott,  das 
andere  Dämon." 

Obschon  Plutarch  in  demselben  Buche  ven  einer  „Har- 
monie dieser  Welt"  spricht,  scheitert  er  doch  an  der  Schwie- 
rigkeit, das  Gute  und  das  Ueble  in  der  Natur  zu  erklären. 
Diese  Frage,  die  seit  jeher  den  Menschengeist  beschäftigt  hat, 
bleibt  auch  ungelöst,  solange  der  Mensch  Licht  und  Finster- 
niss,    Frost  und  Hitze  und   ähnliche  Erscheinungen  nicht  auf 


1  De  Iside  et  Osiride,  c.  45. 


24  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

den  letzten  Grund  zurückführt,  aus  dem  Gesetze  herzuleiten 
nicht  vermag,  so  lange  er  bei  der  Erklärung  der  Erschei- 
nungen ihre  Beziehung  auf  sein  eigenes  Dasein  hincinmengt 
und  die  Relativität  des  Uebels  nicht  zu  klarem  Bewusstsein 
erhebt. 


3.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker. 

Zur  Erhärtung  der  früher  angeführten,  auch  von  Plutarch 
vertretenen  Behauptung  eines  durchgängigen  Dualismus  im 
religiösen  Bewusstsein  der  Naturvölker  dienen  die  Beobach- 
tungen  reisender  Forscher  und  deren  Berichte  über  die  reli- 
giösen Anschauungen  der  Menschenstämme  unter  allen  Him- 
melsstrichen der  Erde. 

In  den  Urwäldern  von  Südamerika,  von  Borneo,  von 
Timor,  deren  Boden  nie  von  der  Sonne  berührt  wird,  wo 
sich  an  den  riesenhaften  Baumstämmen  kolossale  Schling- 
pflanzen, die  selbst  von  der  Dicke  eines  Baumes  werden, 
hinaufranken  und  die  Farrnkräuter,  Nesseln  baumartig  sich 
erheben,  Gebüsche  und  Gräser  mit  riesenhaften  Dimensionen 
ineinanderwachsen,  sodass  das  vegetabile  Leben  hier  gleichsam 
seinen  Triumph  feiert,  mit  welchem  die  Farbenpracht  der 
Thierwelt  einen  Wettstreit  eingegangen  zu  sein  scheint,  in 
diesen  Urwäldern  streift  der  Naturmensch  herum  und  findet 
bei  dem  milden  feuchtwarmen  Klima  alles,  was  er  zu  seinem 
Lebensunterhalt  braucht.  Bei  dem  Jägerleben,  das  er  führt,  das 
Schweigen  und  Geduld  erheischt,  zeigt  er  anderwärts  eine  Un~ 
behülflichkeit  und  Unempfindlichkeit,  aus  der  er  bei  der  Abge- 
schiedenheit der  einzelnen  Familien  nicht  herausgerückt  werden 
kann.  Sein  ganzes  Dasein  erfüllt  sich  durch  Sättigung  und 
Ruhe  und  ist,  abgesehen  von  dem,  was  auf  das  Jägerleben 
Bezug  hat,  in  dem  sich  seine  ganze  Thätigkeit  concentrirt, 
im  übrigen  ein  unerzogenes  Kind.  In  seinem  Gemüth  wech- 
seln stumpfe  Gleichgültigkeit  mit  den  rohesten  Ausbrüchen 
ungezügelten  Affects.  Er  lebt  nur  für  den  Augenblick,  für 
ihn  gibt  es  kein  Nacheinander  der  Zeit,  sowie  auch  die  ihn 
umgebende  Natur  in  ihrem  Klima  immer  gleichbleibt,  Tag 
und    Nacht     fast     immer    von     derselben    Länge     und     auch 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  25 

die  atmosphärischen  Ersehein ungen  regelmässig  sind.  So 
dunkel  wie  der  Urwald,  in  dem  er  haust,  ist  auch  der  reli- 
giöse Gemüthszustand  des  Waldbewohners;  er  ist  erfüllt  von 
grauenhafter  Furcht,  die  man  mit  der  unserer  Kinder  an  ein- 
samen, düstern  Orten  verglichen  hat.  1  Die  Furcht  wird 
hervorgerufen  durch  gewaltige  Erscheinungen,  die  er  nicht 
wie  die  feindlichen  Thiere  erjagen  kann,  als:  heftige  Stürme, 
Gewitter,  vulkanische  Erscheinungen,  deren  Entstehen  zu  er- 
klären er  nicht  vermag  und  daher  auf  ein  höheres  Wesen 
zurückleitet.  Dieses  Wesen  ist  Tupan  (Tapan),  dem  be- 
sonders der  Donner  zugeschrieben  wird.  Ausser  diesem  hau- 
sen im  Innern  der  Urwälder  noch  andere  zu  fürchtende  We- 
sen, mit  welchen  die  Paje  verkehren,  eine  Art  Zauberer,  die 
in  ausserordentlichen,  wichtigen  Fällen  zu  liathe  gezogen  wer- 
den.2 In  den  Wäldern  von  Peru  fand  Pöppig3  bei  den  India- 
nern den  Glauben,  dass  im  dichten  Dunkel  des  Waldes  das  übel- 
thätige  Wesen  Uchuclluchacpii  sich  aufhalte,  das  den  Jäger  in  die 
Waideseinöde  immer  tiefer  hineinlocke,  um  ihn  zu  verderben. 
Auch  im  alten  Peru  findet  sich  der  Dämonencultus  und  Fe- 
tischismus, der  neben  dem  Sonnendienst,  der  Staatsreligion 
des  Inkareichs,  einherging,  und  so  hatte  sich  aus  der  vor- 
inkaschen  Periode  die  Vorstellung  von  einem  bösen  Dämon 
auch  in  späterer  Zeit  erhalten,  den  die  Peruaner  Cupay  (Su- 
pay)  nannten,  als  Herrn  des  blassen  Todes  fürchteten  und 
ihm  überhaupt  viel  Einfluss  auf  die  menschlichen  Angelegen- 
heiten zuschrieben.  4  Wie  es  um  den  angeblichen  Monotheis- 
mus  der  Inkas  stand,  den  Garcilasso,  ihr  Lobredner,  ihnen 
und  den  Inkaperuanern  zueignen  möchte,  hat  Waitz5  genügend 
gezeigt,  indem  er  den  Polytheismus  auch  in  der  altern  Zeit 
nachweist.  Derselbe  bestätigt  auch,  dass  sich  der  Glaube  an 
den  bösen  Supay  oder  Sopay  bis  in  die  neuere  Zeit  erhalten 
habe  und  diesem  in  manchen  Gegenden  kleine  Kinder  geopfert 
worden  seien. 


1  Klemm,  I,  278. 

2  Spix  und  Martius,  Reise  nach  Brasilien,  I,  379. 

3  Reise  in  Chile,  Peru  etc.,  II,  358. 

4  Prescott,    Geschichte  der  Eroberung  von  Peru,   I,  G6;    Garcilaaso, 
Geschichte  der  Inkas,  II,  2. 

5  Anthropologie  der  Naturvölker,  IV,  447  fg. 


2G  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Es  ist  bestätigt,  class  die  Spanier  in  Peru  und  Mexico 
den  Glauben  an  gute  und  böse  Wesen  vorfanden.  l  In 
der  untergegangenen  Cultur  von  Anahuac,  dem  alten  Mexico, 
zeigt  sich  in  den  religiösen  Vorstellungen  der  Azteken  ein 
seltsames  Gemisch  von  der  Wildheit  ihres  Charakters  und 
toltekischer  Milde.  Es  findet  sich  die  Vergötterung  des  Cul- 
turheros  Quetzalkoatl  neben  der  Verehrung  blutdürstiger 
Dämonen.  Man  hat  in  der  Verehrung  des  aztekischen  Sonnen- 
gottes Teotl  einen  ausgesprochenen  Monotheismus  erkennen 
wollen2;  näher  betrachtet,  zeigt  sich  die  Religion  des  alten 
Mexico  als  Gestirndienst,  als  Verehrung  elementarer  Mächte 
und  Dämonencult ,  obschon  auch  uralter  Thierdienst  bemerklich 
ist,  dessen  Hauptgegenstand  in  früherer  Zeit  die  Schlange 
war,  und  da  alles  seine  Gottheit  erhielt,  so  kann  es  nicht 
befremden,  dass  die  Azteken  über  300  Gottheiten  zählten. 
Da  aber  in  jedem  Naturdienst  die  Naturmächte  personificirt 
werden,  so  glaubten  auch  die  Azteken  an  gute  und  böse 
Wesen.  Zu  den  ältesten  Gottheiten,  die  schon  von  den  Ur- 
be wohnern  verehrt  wurden,  gehörte  der  schon  erwähnte 
Teotl,  „durch  den  wir  leben,  welcher  alles  in  sich  selbst  ist". 
Ihm  gegenüber  steht  der  böse  Geist,  der  Feind  der  Menschen, 
Tlakatekolotl,  der  ihnen  oft  erscheint  und  sie  erschreckt, 
in  dem  Klemm  3  ein  Ueberbleibsel  aus  dem  Wald-  und  Ge- 
birasleben  der  alten  Jäo-erstämme  erkennen  will.  Es  wird 
zwar  bestritten,  dass  Tlakatekolotl  als  Widerpart  des  Teotl, 
also  als  Teufel  der  mexicanischen  Religion  zu  betrachten 
sei,  da  die  sittliche  Bedeutung  fehle4;  allein  gesetzt  auch,  dass 
dem  so  wäre,  so  ist  der  Dualismus  doch  vorhanden,  und  zwar 
nicht  nur  auf  Grund  dieser  beiden  Gottheiten,  sondern  aul 
Grund  der  mexicanischen  Religion  überhaupt,  in  welcher  die 
aztekische  Schicksalsidee  scharf  ausgeprägt  auftritt,  daher  auch 
Sterndeuterei  und  Traumzeichen  eine  grosse  Rolle  spielen. 
Wenn  Waitz  meint,  der  Gegensatz  zwischen  dem  guten  und 
bösen  Princip  scheine  in  der  mexicanischen  Religion  keine 
hervorragende   Stelle   eingenommen   zu  haben,    so   wollen   wir 


1  Home,  Versuch  über  die  Geschichte  der  Menschen,  II,  232  fg. 

2  Prescott,  Geschichte  der  Eroberung  ven  Mexico,  I,  46. 


3  V,  114. 


4  Müller,  Geschichte  der  amerikanischen  Urrcligionen,  573. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  27 

dies  auf  sich  beruhen  lassen,  da  es  sieh  nur  um  das  Vorhan- 
densein eines  bösen  Wesen  handelt,  von  dem  Waitz  den  be- 
sondern Namen  anführt  und  überdies  die  naive  Bemerkung 
von  B.  Diaz,  einem  der  Conquistadoren:  „die  Mexicaner, 
welche  die  Spanier  als  Teuces  (Götter)  bezeichneten,  hätten 
unter  diesen  vorzugsweise  böse  Geister  verstanden".  x 

Die  dualistische  Anschauung  der  Mexicaner  tritt  auch  in 
der  Verehrung  der  zwei  Gottheiten  Tetzkatlipoka  und  sei- 
nes Bruders  Huitzilopotchli  hervor.  Der  erstere  (auch 
Tetzkatlpopoka  oder  Tetzkalipulla  genannt)  heisst  der  „glän- 
zende Spiegel",  „Seele  der  Welt",  ist  Schöpfer  des  Him- 
mels und  der  Erde,  überhaupt  Urheber  und  Erhalter  der 
Welt.  Der  andere,  im  europäischen  Volksmunde  zu  Vitzli- 
putzli  corrumpirt,  ist  die  negative  Seite  des  aztekischen  Gottes- 
begrifis  und  steht  ersterm  gegenüber,  wie  dem  indischen  Va- 
runa  oder  dem  Vislmu,  dem  Beieber  und  Erhalter  der  Welt, 
der  Agni  oder  Siva  als  Zerstörer  entgegengesetzt  wird,  der 
aber  ungeachtet  seiner  schrecklichen  Eigenschaften  in  der  Vor- 
stelluno; der  Sivadiener  ein  seinen  Gläubip-en  wohlthuender 
Gott  ist.  So  war  auch  Huitzilopotchli  von  den  Azteken  weit 
über  seinen  Bruder  gestellt  und  verehrt.  Als  der  „Schreck- 
liche" war  er  der  Kriegsgott,  furchtbar  im  Bilde  und  in  der 
Bedeutung;  aber  als  Schutzgott  sein  Volk  segnend,  war  sein 
Tempel  im  Mittelpunkt  der  Stadt  zugleich  der  Mittelpunkt 
des  mexicanisehen  Reichs  und  die  Stätte  grauenhafter  Men- 
schenopfer. Sein  Cult  war  sehr  alt,  denn  die  einwandernden 
Stämme  brachten  ihn  schon  mit.  Als  verneinendes  Princip 
repräsentirt  er  die  Gottesmacht,  die  sich  dem  andern  Dasein 
gegenüber  als  Macht  erweist,  indem  sie  es  verneint,  sonach 
mit  dem  Baal  (dem  Verzehrenden)  der  Semiten  zu  verglei- 
chen2, insofern  er  auch  das  Moment  der  Besonderheit  und 
Ausschliesslichkeit  darstellt.  Als  Kriegse-ott  eines  erobernden 
Volks  und  dessen  Schutzo-ott  wurde  er  zum  eigentlichen  Na- 
tionalgott  der  Azteken,  er  war  ihr  göttlicher  Führer  auf  der 
langen  Wanderung  nach  Mexico.  Die  Mexicaner  hatten  noch 
eine  Menge  geringerer  Gottheiten:   des  Wassers,  Feuers,  der 


1  Waitz,  Anthropologie,  IV,  147. 

a  Wuttke,  Geschichte  des  Ileidenthums,  I,  256. 


28  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Berge,  der  Freude  u.  a.  in.,  ausser  diesen  aber  auch  eine 
Menge    böser  Dämonen.  l 

Die  brasilianischen  Indianer  nennen  den  bösen  Geist 
Agurjan.  Der  brasilianische  Bauer,  namentlich  in  den  nörd- 
lichen und  mittlem  Provinzen  des  Reichs,  der,  stolz  und  faul, 
keinen  Wohlstand  kennt,  ist  ganz  beherrscht  vom  Glauben 
an  gute  und  böse  Waldgeister  und  andere  Gespenster  und 
hegt  religiöse  Vorstellungen,  die  ebenso  abgeschmackt  als  die 
der  Botokuden  befunden  worden  sind.2 

Die  Einwohner  von  Terrafirma  betrachten  die  Sonne 
als  die  wohlthätige  Gottheit,  fürchten  aber  auch  ein  böses 
Wesen  als  Urheber  aller  Uebel,  dem  sie,  um  es  günstig  zu 
stimmen,  Blumen,  Flüchte  u.  dgl.  zum  Opfer  darbringen. 

Die  Guarani,  die  zwar  Opfer  und  Cultus,  aber  keine 
Idole  besessen  haben  sollen  3,  pflegten  zur  Versöhnung  der 
bösen  Geister,  an  die  sie  glaubten,  Gaben  darzubringen.  Zum 
Schutze  vor  dem  bösen  Agnan  (Agnian,  Aenjang)  oder  Kaas- 
herre  unterhielten  sie  des  Nachts  einen  Feuerbrand. 

Die  Araucaner  opfern  ihren  bösen  Geistern  bisweilen 
einen  Kriegsgefangenen,  dem  sie  das  Herz  herausreissen.  Sie 
rauchen  den  bösen  Wesen  zu,  nennen  deren  Oberhaupt  Pillan4, 
auch  Guenupiglian,  womit  sie  auch  Vulkane  bezeichnen.  Die 
Berichte  über  den  Namen  ihres  guten  und  bösen  Wesens  tref- 
fen nicht  ganz  zusammen;  das  Wesentlichste  ist  jedoch,  dass 
die  Vorstellung  von  einem  guten  und  bösen  Wesen  herrscht. s 

Die  Pehuenche  nennen  ihren  höchsten  Gott  Pillam 
und  den  Urheber  alles  Uebels  Gueculbu.  6 

Die  A ntis aner,  deren  ursprünglicher  religiöser  Glaube 
Monddienst  sein  soll ,  fürchten  besonders  den  bösen  Geist 
Choquigua,  der  als  Hauptgegenstand  ihrer  Verehrung  gilt.  7 

Die   Bewohner   von  Louisiana    anerkennen    ein   Wesen 


4  Clavigero,  Geschichte  von  Mexico,  VI,  c.  5,  33,  34,  35,  39. 

2  Prinz  Max,  Reise  nach  Brasilien  1820,  II,  39. 

3  Waitz,  III,  418. 

*  Ovaglie,  Hist.  de  relat.  del  regno  di  Cile,  2G3. 

5  Bardel,  775. 

6  De  la  Cruz,  Viage  etc.,  S.  30. 

7  Casio,  Kurze  Beschreibung  der  Provinz  Mojos,  in  Lüdde's  Zeitschrift 
für  Erdkunde,  III,  50. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  29 

als  Urheber  des  Guten  und  eins  als  Stifter  des  Uebels,  wel- 
ches letztere  seine  Herrschaft  über  die  ganze  Welt  ausübt. 
Die  von  Florida  verehren  Sonne,  Mond  und  Sterne,  haben 
aber  auch  ein  böses  Wesen,  Namens  Toia,  dessen  Gunst  sie 
durch  Feste,  ihm  zu  Ehren  veranstaltet,  zu  gewinnen  suchen. 
Die  Canadier  und  die  in  der  Nähe  der  Hudsonsbai  woh- 
nenden Indianer,  welche  Sonne,  Mond  und  Blitz  verehren, 
fürchten  besonders  ein  böses  Wesen,  das  im  Hervorbringen 
des  Bösen  allmächtig  vorgestellt  wird.  Die  Indianer  an  der 
Davisstrasse  nehmen  ebenfalls  gewisse  wohlthätige  und  übel- 
thätio-e  Wesen  an.  Die  Warrau-Indianer  in  Guiana  ver- 
ehren  ein  erhabenes  Wesen  als  Schöpfer  der  Welt,  das  sich 
aber  um  deren  Regierung  wenig  kümmern  soll;  wogegen  böse 
Wesen  die  Uebel  in  der  Welt  geschaffen  haben.  l 

Bei  den  Karaiben  finden  sich  zwei  Arten  von  Wesen, 
wohlthätige,  die  ihren  Sitz  im  Himmel  haben,  wovon  jeder 
Mensch  das  seinige  als  Führer  auf  Erden  hat;  boshafte,  die 
durch  die  Luft  ziehen  und  ihre  Lust  daran  finden,  den  Men- 
schen Schaden  zuzufügen.  Wie  die  Indianer  Nordamerikas 
glaubten  sie  an  einen  höchsten  guten  Gott  und  Schöpfer,  den 
sie  ihren  „grossen  Vater"  nannten2;  neben  diesem  aber  an  eine 
Menge  guter  Icheiri  und  böser  Mapoya. 3  Bei  den  jetzigen  Karai- 
ben gilt  (wie  bei  den  Macusi,  Akawai  und  Aarawak)  „der,  wel- 
cher in  der  Nacht  arbeitet",  als  der  Schöpfer  der  Welt,  auf  den 
sie  alles  Gute  zurückführen.  Er  setzte  sich  auf  einen  Baum, 
hieb  Zweige  ab  und  verwandelte  sie  in  Thiere,  zuletzt  schuf 
er  den  Mann,  der  in  einen  tiefen  Schlaf  verfiel  und  beim 
Erwachen  ein  Weib  an  seiner  Seite  fand.  Als  später  Epel, 
das  böse  Wesen,  die  Oberhand  auf  der  Erde  erhielt,  schickte 
jener  grosse  Fluten,  denen  nur  ein  Mann  in  einem  Kahne 
entrann.  Die  Ratte  brachte  ihm  mit  einem  Maiskolben  die 
Botschaft,  dass  sich  die  Wasser  verlaufen  hätten,  und  er 
selbst  bevölkerte  die  Erde  aufs  neue,  indem  er  Steine  hinter 
sich   warf.  4 


1  Froriep,  Fortschritte  in  den  Naturwissenschaften,   1847,  Nr.  35. 

2  Gumilla,  Hist.  nat.  civ.  et  geograph.  de  l'Orcnoque,  2(J. 

3  Du  Tertre,  Hist.  gener.  des  Antilles,  II,  365. 

4  Schomhurgk  in   dem  Monatsbericht  der  Gesellschaft  für  Erdkunde, 
Neue  Folge,  II,  122  fg.,  319. 


30  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Auch  bei  den  Laparos,  Yaos-Chaymas,  herrscht  der  dua- 
listische Glaube  an  gute  und  böse  Wesen,  die  durch  die 
Macht  der  Zauberer  dem  Menschen  dienstbar  gemacht  werden. ' 
Die  Mandans  oder  Mönnitaris  haben  den  Ohmahauk-Chika,  den 
Bösen  der  Erde,  dem  sie  viel  Gewalt  über  die  Menschen  zu- 
schreiben, gegenüber  dem  Rokanka-Tauihanka,  der  die  Men- 
schen auf  der  Erde  beschützt. 

Die  wesentliche  Grundlage  des  nordamerikanischen  Cultus 
wie  der  Naturreligion  der  Indianer  ist  der  Feuercultus,  der 
sich  bis  zum  Rauchen  des  Tabacks  als  Cultushandlung  und 
dem  Herumgeben  der  Pfeife  in  feierlichen  Versammlungen 
nachweisen  lässt.  -  Der  bekannteste  Zug  in  der  Religion  der 
Indianer  ist  allerdings  der  Glaube  an  den  „grossen  Geist", 
den  „Herrn  des  Lebens"  oder  „Geber  des  Lebens";  es  ist 
aber  zu  weit  getrieben,  diesen  überall  in  den  Mittelpunkt 
zu  stellen,  wie  es  von  manchen  geschehen  ist.  Der  grosse 
Geist,  der  an  der  Spitze  der  Religion  des  Indianers  steht,  wird 
dargestellt  als  Riesenvogel,  der,  mit  seinen  Flügeln  das  Meer 
berührend,  die  Erde  hervorbrachte,  seine  Augen  waren  Feuer, 
seine  Blicke  Blitze,  sein  Flügelschlag  Donner.  Diese  Auf- 
fassung findet  sich  bei  den  Chippeway,  am  Mackenzie,  den 
Sioux3,  den  Irokesen,  den  Pari  u.  a.  Die  Sage  weiss 
von  einem  Kampfe  dieses  Vogels  mit  der  Schlange,  dem 
bösen  Princip,  welche  die  Eier  des  Vogels  fressen  will.  Der 
grosse  Geist  ist  dem  Indianer  vor  allem  der  Donnerer,  daher 
jener  beim  Gewitter  von  Todesfurcht  ergriffen  wird. 4  Zu- 
weilen wird  dem  grossen  Geiste  auch  Menschengestalt  bei- 
gelegt. Da  nach  der  Vorstellung  des  Indianers  das  Böse 
nicht  vom  Guten,  noch  dieses  von  jenem  kommen  kann, 
so  herrscht  neben  dem  gütigen  Himmelsgott,  dem  belebenden 
Princip  der  Natur,  der  wohlthätigen  Macht  der  Sonne  und 
des  Feuers,  in  der  Welt  noch  der  böse  Geist,  der  im  Gegen- 
satz zum  überirdischen  Gott  als  unterirdisches  Wesen,  als 
Wassergott,  im  Gegensatz  zum  fliegenden  Vogel  als  kriechende 


1  Bancroft,  Naturgeschichte  von  Guiana,  191  fg. 
*  Vgl.  Erman's  Archiv,  VIII,  213. 

3  Prescott  bei  Schoolcraft,  111,  233. 

4  Loskiel,    Geschichte   der  Mission   der   evangelischen   Brüder  unter 
den  Nordamerik ,  49. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  31 

Schlange  dargestellt  wird.  x  Dies  ist  die  gewöhnliche  Form, 
unter  welcher  Hobbamock,  auch  Abamocho,  Chepian  2  er- 
scheint, obschon  er  auch  andere  Thiergestalten  annimmt  und 
an  unheimlichen  Orten  gegenwärtig  gedacht  wird.  Weil  der 
Mensch  von  Uebel  und  Unglück  in  mannichfaltiger  Weise  und 
empfindlicher  getroffen  wird,  die  mit  seinem  Wesen  harmo- 
nische Erscheinung  hingegen  viel  gleichgültiger  hinnimmt,  so 
erklärt  es  sich,  dass  man  sich  dem  Dienste  des  bösen  Wesens 
eifriger  als  dem  des  grossen  Geistes  hingibt,  da  von  diesem 
nichts  zu  fürchten  ist,  jenes  aber  die  Existenz  bedroht,  daher 
versöhnt  und  günstig  gestimmt  werden  muss.  Der  allgemeinste 
und  bestimmt  ausgeprägte  Zug  in  den  religiösen  Vorstellungen 
der  Indianer  ist  jener  Dualismus,  die  Annahme  guter  und  böser 
Wesen,  der  allerdings  mit  Modificationen  der  Schärfe  auftritt, 
aber  gewiss  nicht  erst  durch  die  christlichen  Missionäre  ein- 
geführt worden  ist.  Der  gute  und  böse  Geist,  Hawneyn 
und  Hanegoasegeh  3,  treten  bei  den  Irokesen  als  Zwillings- 
brüder auf  und  zwar  mit  gleichem  Antheile  an  der  Schöpfung. 
Wenn  von  den  nördlichen  Algonkineru  berichtet  wird,  dass 
sie  das  gute  und  böse  Princip  Sonne  und  Mond  nennen  4,  so 
sind  nach  der  gewöhnlichen  Ausdrucksweise  der  Indianer  damit 
zwei  Erscheinungen  bezeichnet,  die  einander  begleiten  oder 
folgen.  Wem  daher  die  böse  Gottheit  im  Traume  erscheint, 
erzählt  ein  Sauk,  der  ziehe  Weiberkleider  an  und  diene  als 
Weib. 5  Nach  der  Ueberlieferung  der  Huronen  hatte  der 
Weltschöpfer  Yoscaha  eine  Grossmutter,  Ataensig,  welche  das 
böse  Princip  vertritt,  jeuer  aber  das  gute.  6  Am  verbreitetsten 
ist  bei  ihnen  der  Glaube  an  die  Oki,  womit  auch  die  Algon- 
kiner  die  höhern  Wesen  bezeichnen.7  In  früherer  Zeit  wurde 
auch  in  Virginien  der  böse  Geist  Okee  oder  ükeus  genannt. 
Auch  die  Potowatomi  glauben  an  böse  Wesen  als  Ur- 
heber innerer  Krankheiten,    die  als  Besessenheit  gelten.     Die 


1  Copway,  The  tradit.  last,  of  the  Ojibway  nation,  184. 

2  Hutchinson,  Hist.  of  Massachusetts,  421. 
8  Schoolcraft  V,  155. 

4  De  la  Potherie,  Hist.  de  l'Amerique  septent.,  I,  121. 

5  Keating,   Karr,    of   an   exped.   to    the   source    of   St.  Peter's  River, 
I,  216. 

6  Sagard,  Grand  voy.  du  pays  des  Hurons,  288. 

7  Champlain,  Voy.  de  la  nouvelle  France  occid.,  I,  296. 


39  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Geisterbeschwörer  führen  in  ihrem  Zauberbeutel  die  Mittel, 
welche  den  Einfluss  der  bösen  Geister  abwehren.  Sie  ver- 
fahren bei  der  Heilung  aber  auch  auf  andere  Weise,  sie 
saugen  an  der  kranken  Stelle,  um  dann  den  bösen  Dämon 
auszuspeien,  oder  machen  ein  kleines  Thierbild,  das  sie  er- 
schiessen  oder  erstechen,  wenn  das  böse  Wesen  sich  in 
Thiergestalt  in  den  Kranken  eingeschlichen  hat,  u.  dgl.  m.  x 
Die  Dahkotahs,  die  in  vieler  Beziehung  als  typisch  ange- 
nommen werden  können,  haben,  neben  dem  grossen  Geiste, 
den  Glauben  an  Havkah,  ein  riesenhaftes  Wesen  von  über- 
menschlichen Kräften,  das  so  mächtig  ist,  um  den  Donner 
in  seine  Hand  zu  nehmen  und  auf  die  Erde  werfen  zu  können, 
ist  zweifarbig  an  Gesicht  und  Augen,  führt  stets  Bogen 
und  Pfeile  mit  sich,  obwol  es  ihrer  nicht  bedarf,  da  es  mit 
dem  Blicke  Thiere  tödten  kann.  Es  heisst  der  widernatür- 
liche Gott,  weil  es  im  Sommer  friert  und  im  Winter  von  der 
Kälte  leidet,  heisses  Wasser  kalt  findet  und  umgekehrt 
u.  dgl.  m.  Sie  ziehen  bei  ungewöhnlichen  Himmelsersehei- 
nungen  aus,  um  durch  Schreien,  Pfeifen  und  Lärmen  die 
bösen  Wesen,  in  deren  Gewalt  sich  der  Himmel  befindet,  zu 
verscheuchen.  Sie  glauben  an  einen  Gott  des  Winters,  den 
Mann  des  Nordens ,  dessen  Sohn  von  dem  Manne  des  Südens, 
dem  Gotte  des  Sommers,  getödtet  wurde.2  Die  Bewohner  der 
Insel  Nutka  an  der  nordwestlichen  Küste  Amerikas  glauben  an 
das  Dasein  eines  guten  und  eines  bösen  Wesens,  Quautz  und 
Matlox,  die  einander  bekämpfen.  3  Die  Chinook,  an  dersel- 
ben Küste,  stellen  den  grossen  Geist  meist  als  grossen  Vogel 
vor,  der  in  der  Sonne  wohnt.  Eine  andere  Gottheit,  die  nur 
Böses  hervorbringt,  lebt  im  Feuer.4  Die  Selisch  im  Innern 
des  Oregongebietes  reden  zwar  vom  grossen  Geiste,  sollen 
ihm  aber  keine  Verehrung  erweisen;  dagegen  ist  aber  auch 
hier  der  Dualismus  von  guten  und  bösen  Wesen  verbreitet.  5 
Die  religiösen  Vorstellungen  der  Ureinwohner  Californiens, 


1  Waitz,  III,  213. 

2  Waitz,  Die  Indianer  Nordamerikas.     Eine  Studie,  S.  133. 

3  Humboldt,  Neu-Spanien  II,  257. 

4  W.  Irving,  Astoria,  259  fg. 

5  Cox,  The  Columbia  river,  I,  230;  Parker,  Journal  of  an  explor.  tour 
beyond  the  Rocky  mountains,  240. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  33 

in  deren  Sprache,  nach  dem  Berichte  Bägert's  *,  die  Worte 
„Gott"  und  „Seele"  gar  nicht  vorkommen,  werden  allerdings 
dumpf  gewesen  sein;  indem  aber  derselbe  Berichterstatter 
Schamanenthum  findet,  obschon  in  sehr  roher  Form,  und  von 
Männern  und  Weibern  spricht2,  die  mit  den  Geistern  verkehren 
als  den  Urhebern  von  Hungersnoth,  Krankheiten  und  andern 
Uebeln:  so  wird  hiermit  eine  dualistische  Anschauung  von 
guten  und  bösen  Wesen  vorausgesetzt.  Denn  das  Schamanen- 
thum beruht  in  der  Anerkennung  einer  Macht,  die  der  Mensch 
unmittelbar  zu  bewältigen  nicht  im  Stande  ist,  daher  zu  ver- 
schiedenen Beschwichtigungsmitteln  seine  Zuflucht  nimmt. 
Wenn  Reiseberichte  über  Mangel  an  Zusammenhang;  in  den 
religiösen  Vorstellungen  der  Jäger-  und  Fischerstämme  klagen, 
so  ist  zu  bemerken,  dass  auf  dieser  Stufe  der  Cultur  über- 
haupt kein  Zusammenhang  erwartet  werden  sollte.  „Der 
Mensch  verhält  sich  der  Natur  gegenüber  als  Raubthier,  er 
offenbart  seine  Herrschaft  über  sie  durch  ihre  Verneinung:, 
er  bezwingt  ihr  Leben,  indem  er  es  tödtet."  3  Er  treibt 
noch  keine  Arbeit ,  durch  die  er  die  Natur  umbildete 
und  dadurch  sich  selbst  bildete,  er  lebt  in  kleinen  Fami- 
lien zersplittert,  bringt  es  kaum  zu  einem  Volksstamm,  ge- 
schweige dass  er  sich  zu  einem  Volke  erweiterte,  hat  keinen 
festen  Sitz,  daher  auch  kein  Besitzthum,  darum  auch  keine 
Geschichte.  Bei  den  Reiter-  und  Jägerstämmen,  welche  die 
grossen  Ebenen  von  Süd-  und  Nordamerika  bewohnen,  findet 
sich  schon  der  Anfang  von  Feldbau,  Viehzucht  und,  damit 
Hand  in  Hand  gehend,  manche  Fertigkeit  in  Bereitung  der 
Nahrung,  Kleidung,  des  Schmucks;  die  Wohnungen  sind 
fester,  die  Familien  schliessen  sich  zu  ganzen  Stämmen  an- 
einander. Demgemäss  sind  auch  die  religiösen  Vorstellungen 
mehr  zusammenhängend  und  gipfeln  in  einem  höchsten  Wesen 
als  Urheber  alles  Lebens.  So  ist  der  nordamerikanische  Roth- 
häuter  dem  Indianer  Südamerikas  an  entwickeitern  Lebens- 
formen weit  alberlegen.  Der  merkliche  Wechsel  der  Jahres- 
zeiten bringt   ihm  das  Nacheinander  der   Zeit    mehr   zum   Be- 


1  Nachrichten   von   der    amerikanischen   Halbinsel   Californien.     Von 
einem  Priester  der  Gesellschaft  Jesu,  1772. 

2  S.  165. 

3  Wuttke,  I,  47. 

Roskoff,  Geschichte  des  Teufels.    1.  o 


34  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

wusstsein,  der  Winter  heisst  ihn  im  Sommer  Vorräthe  sam- 
meln, sich  mit  Bekleidung  zu  versehen,  die  scharfen  Winde, 
Schnee,  Nebel  in  den  Prairien  Nordamerikas  erheischen  festere 
Wohnungen,  die  aneinandergereiht  zu  Dörfern  werden,  in 
denen  die  Familien  zu  Stämmen  sich  zusammenfassen.  Im 
südlichen  Amerika,  wo  der  Wechsel  der  Jahreszeit  keine 
wesentliche  oder  langdauernde  Veränderung  zeigt,  bedarf  es 
nur  eines  leichten  Schirmdachs,  und  dieselbe  Bekleidung  ge- 
nügt das  ganze  Jahr  hindurch.  Die  Dauer  des  Aufenthalts 
ist  von  der  Menge  des  Wildes  abhängig,  die  der  Wald  bietet, 
oder  von  der  Reife  der  Frucht  eines  flüchtig  bebauten  Boden- 
stücks, wonach  die  elende,  von  Baumzweigen  zusammenge- 
bundene Hütte  verlassen  wird  und  der  Zug  weiter  geht. 

Während  der  amerikanische  Südländer  von  wenig  Ab- 
wechselung "umgeben,  auch  wenig  angeregt  wird,  führt  der 
Nordländer  ein  stets  wechselndes  Leben  zwischen  träger  Be- 
schaulichkeit  und  angestrengter  Thätigkeit.  Unter  allen  Stäm- 
men der  nordamerikanischen  Rothhäute  findet  sich  die  Ver- 
ehrung des  grossen  Geistes1,  von  verschiedenen  Stämmen 
verschieden  genannt2;  aber  schon  der  Umstand,  dass  der 
grosse  Geist  doch  fast  bei  jedem  Stamme  einen  andern  Na- 
men hat,  dadurch  von  andern  Geistern  ausdrücklich  unter- 
schieden wird,  weist  darauf  hin,  dass  von  einem  Mono- 
theismus keine  Rede  sein  könne,  und  Wuttke  3  dürfte  im 
Rechte  sein,  wenn  er  in  jenem  nur  „den  mächtigern 
Dämon",  den  „Häuptlingsgeist"  eines  je  einzelnen  Stam- 
mes erkennt.  Die  Bewohner  des  Feuerlandes  an  der 
Südspitze  von  Amerika,  denen  das  rauhe,  felsige,  an  Pro- 
ducten  arme  Land  wenig  bietet,  entnehmen  ihre  Nahrung 
meistens  der  See  und  führen  als  Fischer  kein  sesshaftes  Leben, 
sondern  streifen  umher  und  schlagen  ihre  Hütten  da  auf,  wo 
sie  für  die  nächste  Zukunft  Unterhalt  finden,  ziehen  wieder 
weiter,  wenn  dieser  erschöpft  ist.  Von  den  spärlichen  Nach- 
richten über  ihre  religiösen  Vorstellungen  ist  hervorzuheben 
der  Glaube  an  übelthätige  Wesen,  welche  sie  dadurch  zu  ver- 
scheuchen   suchen,    dass    sie     gen    Himmel    blickend    in    die 


1  Müller,  Geschichte  der  amerikanischen  Urreligion,  99  fg. 

2  Vgl.  Scherr,  Geschichte  der  Religion,  I,  21. 

3  I,  92. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  35 

Luft  blasen.  1  Um  die  Aehnlichkeit  der  religiösen  Vorstel- 
lungen der  Eingeborenen  von  Südamerika  mit  denen  der  nord- 
amerikanischen  Stämme  im  allgemeinen  zu  zeigen,  führt  Waitz® 
die  Hauptzüge  der  Schilderung  Falkner's  von  den  Pata- 
goniern  an:  sie  glauben  an  eine  Vielheit  von  Göttern, 
deren  einige  gut,  andere  böse  sind.  An  der  Spitze  der  erstem 
steht  Guayarakunny  oder  der  Herr  der  Todten;  der  oberste 
böse  Geist  heisst  Attskannakanath  oder  Valichu,  welcher  Name 
allen  bösen  Geistern  zukommt ,  auf  die  sich  die  Verehrung  zu 
beschränken  pflegt. 

Die  dunkle  Ahnung  von  Wesen,  die  höher  und  mächtiger 
sind  als  der  Mensch,  findet  sich  auch  bei  den  Australiern. 
Wie  sie  sprachliche  Ausdrücke  für  gut  und  böse  haben,  so 
auch  die  Vorstellung  von  einem  guten  Wesen  Koyan  Gujot, 
gegenüber  dem  bösen  Koppa,  der  in  dunkler  Nacht  in  düsterer 
Höhle  haust,  im  Windesrauschen  sich  vernehmen  lässt.  Der 
böse  Warwi,  der  die  Kinder  raubt,  lebt  im  Wasser;  ander- 
wärts herrscht  die  Furcht  vor  Man,  Kupir,  Bucki,  Manjus. 
Ebenso  sind  die  ungeheuerlichen  Gestalten,  unter  welchen  das 
böse  Wesen  vorgestellt  wird,  verschieden.  Nach  der  Vor- 
stellung der  Neuholländer  hausen  ihre  bösen  Wesen  in  der 
Finsterniss  und  erscheinen  in  der  Gestalt  von  wilden  Thieren 
oder  von  Menschen  als  Gespenster,  um  den  Tod  zu  brin- 
gen 3.  Alle  Krankheiten  werden  in  Australien  durch  die 
übelthätigen  Bayl-yas  verursacht,  die  sich  unsichtbar  durch 
die  Luft  transportiren  und  ihre  Opfer  befallen,  aus  deren 
x  Körper  sie  die  Priesterärzte  in  der  Form  von  Quarzstück- 
chen auszuziehen  verstehen. 4  Auch  die  Bewohner  der  In- 
sel Rook  in  Neuguinea  glauben,  dass  Krankheiten  von  bö- 
sen Geistern,  Marcabes,  herrühren,  die  in  Wäldern  wohnen, 
wilde  Schweine  essen,  des  Nachts  in  die  Wohnungen  schlei- 
chen, aus  denen  sie  die  Seele  des  Lebendigen  entführen.  Es 
wird  auf  derselben  Insel  vornehmlich  ein  böses  Wesen,  Mar- 
saba,  anerkannt,  das  aber  keine  Opfer,  sondern  Schläge  er- 
halten soll.   Nach  irgendeinem  Unglücksfalle  laufen  die  Leute, 


1  Meriais  bei  Bastian,  II,  113. 

2  Die  Indianer  Nordamerikas,  S.  136. 

3  Wuttke,  I,  90. 

*  Bastian,  II,  125. 

3* 


36  Erster  Abschnitt :    Der  religiöse  Dualismus. 

schreien,  sehimpfen,  heulen,  schlagen  die  Luft  mit  Stöcken, 
um  Marsaba  zu  vertreiben.  Von  der  Stelle  ausgehend,  wo 
Marsaba  den  Schaden  angerichtet  hat,  jagen  sie  ihn  in  das 
Meer,  am  Strande  angelangt,  verdoppeln  sie  den  Lärm,  um 
den  Bösen  von  der  Insel  zu  verscheuchen,  der  sich  dann  ge- 
wöhnlich ins  Meer  oder  nach  der  Insel  Lottin  zurückziehen 
soll.  > 

Unter  den  Buschmännern,  die  das  innere  Afrika  nördlich 
vom  Cap  durchstreifen,  wo  die  Unfruchtbarkeit  des  Bodens 
keine  Anhaltspunkte  zu  einem  sesshaften  Leben  bietet,  findet 
sich  nur  eine  unklare  Vorstellung  vom  Einflüsse  übermensch- 
licher Wesen.  Nach  den  Mittheilungen  Campbeils2  sollen  sie  eine 
männliche  Gottheit  über,  und  eine  weibliche  unter  der  Erde  an- 
nehmen. Nach  Abousset  et  D.  (S.  501)  3,  glauben  sie  an  einen  un- 
sichtbaren Mann  im  Himmel.  Die  im  Damaralande  bieten  dem 
Wassergotte  Trosip,  einem  grossen  rothen  Mann  mit  weissem 
Kopfe,  einen  Pfeil,  Stücke  Haut  oder  Fleisch  dar,  wenn  sie 
nach  Wasser  graben  wollen,  auch  bitten  sie  ihn  um  Nahrung 
und  glückliche  Jagd.  Die  rohen  Anfänge  der  Religion,  die 
als  unzusammenhängender  Aberglaube  erscheinen,  gestalten 
sich  noth wendig  als  dualistisch,  indem  Donner,  Sturm,  Erd- 
beben, Krankheiten  und  ähnliche  das  Dasein  des  Menschen 
bedrohende.  Vorfälle  bösen  Wesen  als  Urhebern  zugeschrieben 
werden. 

In  den  Polarl ändern,  wo  der  an  sich  sterile  Boden  die 
grössere  Hälfte  des  Jahres  mit  Schnee  und  Eis  bedeckt  ist, 
muss  der  Mensch  durch  mühevolle  Arbeit  sein  Leben  fristen, 
wodurch  aber  sein  Geist  auch  frisch  erhalten  wird,  wie  die 
Luft,  welche  seine  Zone  bedeckt,  die  er  einathmet  und 
ihn  nicht  jenem  dumpfen  Hinbrüten  verfallen  lässt,  in  wel- 
chem der  Südländer  sein  höchstes  Glück  findet.  Der  reiche 
Schatz  von  Sagen  unter  den  Polarmenschen  deutet  auch  auf 
ein  geweckteres  geistiges  Leben,  welches  in  der  Jagd  und  den 
damit  verbundenen  gefahrvollen  Fahrten  auf  leichten  Kähnen 
zwischen  kolossalen  Eismassen  unterhalten  wird.  Die  Spär- 
lichkeit der  Natur   nöthigt   den  Polarbewohner   zu   sinnreicher 


1  Bastian,  II,  93. 

2  Zweite  Reise,  Ö.  1G9. 

3  Bei  Waitz,  II,  346. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  37 

Benutzung  der  wenigen  dargebotenen  Mittel  und  schärft  seinen 
Witz,  den  er  vor  dem  Tropenbewohner  voraus  hat.  Der 
amerikanische  Waldindianer,  vom  Hunger  zur  Jagd  getrieben, 
hat,  wenn  er  gesättigt  ist,  kein  höheres  Verlangen  als  nach 
träger  Ruhe;  der  Kamtschadale  strengt  zwar  seine  Kraft  auch 
nur  so  weit  an,  als  seine  und  der  Seinigen  Ernährung  er- 
heischt, sein  Streben  geht  aber  bei  genügendem  Vorrath 
danach,  durch  Gastereien,  Besuche,  Tänze,  Gesang,  Er- 
zählungen in  Gesellschaft  sich  zu  belustigen.1  Im  allge- 
meinen finden  die  Reisenden  bei  den  Polarbewohnern  Leb- 
haftigkeit, Munterkeit,  Gastfreundschaft,  daneben  aber  be- 
trügerisches  Wesen,  Hinterlist,  Furchtsamkeit  neben  Kühn- 
heit, Gutmüthigkeit  neben  rücksichtsloser  Grausamkeit,  grosse 
Vorsicht  neben  kindischer  Leichtgläubigkeit,  Verständigkeit 
neben  dickem  Aberglauben."2  Diese  gegensätzlichen  Elemente, 
die  mehr  oder  weniger  im  Polarmenschen  liegen,  erklären 
sich  avoI  auf  Grund  der  klimatischen  Verhältnisse  aus  der 
grössern  Reizbarkeit  der  Nerven,  die  selbstredend  bei  dein 
weiblichen   Geschlechte   einen   noch  höhern  Grad  erreicht. 3 

Aus  der  Abgeschlossenheit  der  Familiengruppen  oder 
kleinen  Stämme  erklärt  sich  auch  die  grosse  Mannichfaltigkeit 

im  religiösen  Glaubenswesen   der   Polarbewohner.     Im   Allge- 

... 

meinen  herrscht  aber  durchaus  der  Dualismus  von  mächtigen 
wohlthätigen  und  übelthätigen  Wesen,  hervorgerufen  durch 
die  Unregelmässigkeiten  im  Verlaufe  der  Jahreszeiten,  der 
Witterung,  wovon  der  Fischer  und  Jäger  sich  und  auch  die 
Erwerbung  seiner  Nahrung  und  Kleidung  abhängig  sieht.  Die 
dualistische  Anschauung  beruht  auf  der  precären  Existenz  des 
Menschen,  seine  Abgeschiedenheit  und  die  lange  Winternacht 
geben  seinem  Geiste  Muse,  den  Dualismus  zu  fixiren. 

Bei  den  Grönländern  besorgen  zwei  oberste  Gottheiten, 
eine  gute  und  eine  böse,  die  Erschaffung  der  Welt,  deren 
Erhaltung  und  die  Leitung  der  Menschen.  Das  gütige  Wesen, 
Torngarsuk,  ist  männlich,  das  misgünstige  weibliche  ist  ohne 
Namen.  Von  ersterm  heisst  es  bald,  dass  es  ohne  Gestalt 
sei,  während  andere  es  als  grossen  Bären  oder  grossen  Mann 


1  Steller,  286. 


2  Ellis,  132;  Steller,  285. 

3  Georgi,  Beschreibung  der  Nationen  des  russischen  Reichs,  S.  278. 


38  Erster  Abschnitt :    Der  religiöse  Dualismus. 

mit  einem  Arm,  bald  als  Däumling  vorgestellt  wissen  wollen. 
Obwol  unsterblich,  könne:  es  doch  getödtet  werden,  wenn 
jemand  in  einem  Hause,  wo  gezaubert  wird,  einen  Wind 
liesse. '  Waitz  hält  2  zwar  Torngarsuk  für  das  höchste  We- 
sen der  Grönländer  und  den  Vater  der  Angekok  oder  Zaube- 
rer, indessen  zweifelt  er,  ob  jener  als  gute  Gottheit  zu  be- 
zeichnen sei,  und  stellt  entschieden  in  Abrede,  dass  er  fin- 
den Weltschöpfer  gehalten  werde.  Den  Gegensatz  zu  Torn- 
garsuk's  Grossmutter,  dem  bösen  Weibe,  das  im  Innern  der 
Erde  wohnt,  hält  indessen  auch  Waitz  fest,  und  daran  ist 
uns  im  gegenwärtigen  Falle  nur  gelegen. 

Die  Grönländer  sowie  andere  Polarländer  fürchten  noch 
manche  andere  verderbliche  Wesen.  So  sagen  die  Grönländer: 
in  der  Luft  wohne  ein  Innua,  d.  h.  Besitzer,  den  sie  Inner- 
terrirsok,  d.  h.  Verbieter,  nennen,  weil  er  durch  die  Angekoks 
(die  Zauberer)  den  Leuten  sagen  läset,  was  sie  nicht  thun 
sollen.  Der  Elversortok  wohnt  auch  in  der  Luft  und  passt 
den  aufwärtsfahrenden  Seelen  auf,  um  ihnen  das  Eingeweide 
herauszunehmen  und  zu  verzehren.  Er  ist  mager,  finster  und 
grausam.  Kongeusetokit  sind  Meergeister ,  welche  die  Füchse 
wegschnappen  und  fressen,  wenn  sie  am  Seestrande  fischen 
wollen.  Die  Feuergeister  Ingnersoit  hausen  in  Klippen  an 
der  Meeresküste  und  raffen  den  Menschen  hinweg.  Auch  die 
hundsköpfigen  Erkiglit  sind  als  Kriegsgeister  grausame  Men- 
schenfeinde, die  aber  nur  auf  der  Ostseite  des  Landes  Avohnen. 
Die  Vermuthung,  dass  in  diesem  Zuge  die  Erinnerung  an  die 
alten  Norweger  aufbewahrt  sei,  hat  viele  Wahrscheinlichkeit.  3 

Die  Kodjaken,  obschon  dem  Namen  nach  Christen, 
halten  doch  ihren  alten  dualistischen  Glauben  an  gute  und 
böse  Wesen  fest,  und  letztern  soll  vorzüglich  Verehrung  er- 
wiesen werden.  4 

Die  Kamtschadalen  sagen  bei  der  Frage  nach  dem 
Weltschöpfer:  Kutka  habe  Himmel  und  Erde  gemacht,  aber 
eben  kein  Meisterstück  geliefert,  da  er,  wenn  er  klug  ge- 
wesen, die  Welt  viel  besser,  nicht  mit  so  vielen  Bergen   und 


1  Klemm,  II,  316. 

2  III,  810. 

3  Crantz,  I,  2GG  fg. 

4  Langend orff,  II,  5G;  Lisiansky,  196. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  39 

Klippen  ausgestattet  hätte,  nicht  reissende  oder  seichte  Ge- 
wässer, keine  Stürme  noch  Regen  eingesetzt  haben  würde. 
Jede  Beschwerde  wird  auf  Kutka  zurückgeführt  und  dieser 
darob  getadelt.  Alles  Unverständige  wird  ihm  zugeschrieben, 
und  nur  seiner  klügern  Frau  sei  es  zu  danken,  wenn  er  nicht 
mehr  Thorheiten  begehe.  Er  zeugte  mit  ihr  Kinder,  von 
denen  auch  die  Kamtschadalen  abstammen.  Neben  Kutka 
glauben  sie  an  viele  übelthätige  Wesen,  vor  denen  sie  sich 
fürchten.  Uschachtschu ,  der  wie  ein  Mensch  aussehen  soll, 
und  sein  Weib,  mit  einem  auf  dem  Rücken  angewachsenen, 
beständig  weinenden  Kinde,  machen  die  Leute  toll  und  ver- 
führen sie.  Billukai  oder  Billutschet,  der  mit  seinen  Kamuli 
in  den  Wolken  wohnt,  blitzt  und  donnert  und  lässt  bei  Sturm- 
winden durch  seine  Kamuli  die  Kinder  der  Menschen  rauben, 
um  sie  zu  Lampenhältern  in  seiner  Jurte  zu  verwenden.  1  Die 
Kamtschadalen  sollen  einen  förmlichen  Teufel  annehmen,  Na- 
mens Kanna,  der  als  sehr  schlau  und  betrügerisch  gedacht 
wird  und  in  einem  sehr  alten  und  grossen  Erlenbaum  bei 
Nischna  wohnen  soll,  daher  jährlich  viele  Pfeile,  von  denen 
dieser  ganz  gespickt  sein  soll,  abgeschossen  werden.  Der 
Urheber  des  Erdbebens  ist  Tuil,  der  mit  seinem  Hunde  auf 
dem  Schlitten  unter  der  Erde  fährt,  und  wenn  dieser  die 
Flöhe  oder  den  Schnee  abschüttelt,  die  Erde  dadurch  in  Be- 
wegung setzt. 

Die  Hirtenvölker.  Obgleich  die  Anfänge  des  Hirten- 
lebens dürftiger  erscheinen  als  die  höhern  Stufen  des  Jäger- 
und  Fischerlebens,  ist  das  Nomadenleben  doch  entwicklungs- 
fähiger,  daher  es  Nomaden  gibt,  die  einen  weit  höhern  Cultur- 
grad  erreichen,  als  Jäger-  und  Fischerstämme  je  im  Stande 
sind.  Ein  wesentliches  Moment  beim  Nomaden  ist  „die 
Freude  am  Besitz".  l  Während  der  Jäger  und  Fischer 
nur  den  unmittelbaren  Genuss  am  Thiere  sucht,  wirkt  auf 
den  Nomaden  civilisatorisch  der  Umstand,  dass  er  nicht 
bloss  vernichtend  in  die  Natur  eingreift,  um  zu  gemessen, 
dieselbe  vielmehr  schont  und  zu  erhalten  sucht,  sie  pflegt, 
um  sie  besitzen  zu  können.  Daran  knüpft  sich,  dass  das 
Hirtenleben    auf   den   Frieden   gegründet  ist,    und   der   Krieg 


1  Steller,  Kamtschatka,  265. 

2  Klemm,  111,  5. 


40  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

nur  als  Ausnahme,    als  Nothwehr  gilt.      Der   Ilirte   führt   ein 
regelmässigeres  Leben,  seine  Arbeiten,  die  sieh  täglich  wieder- 
holen, erheischen  keinen  übermässigen    Kraftaufwand,   dessen 
der  Jäger  oft  bedarf,   um   satt   zu   werden.      Das   Hirtenleben 
steht  in  der  Mitte  zwischen  dem  ungeordneten,  wilden  Jäger- 
leben  und    dem    regelmässigen    Culturleben    des   Ackerbauers. 
Wir  finden    daher   in   der  Wirklichkeit,   dass    das  Jägerthum 
in  das  Nomadenthum  hineinragt,  und  zwar  ist  dies  vornehm- 
lich  der  Fall    bei    den  Polarnomaden,    welche    ausser    der 
Milch  der  Hausthiere  und  deren  Fleisch  auch  von  Jägerei  und 
in  der  Nähe  des   Wassers    von  Fischerei    sich    nähren.     Ein 
Zeichen  der  höhern  Cultur  ist   darin  zu  bemerken,   dass   fast 
bei  allen  nur  durch  Feuer  zubereitetes  Fleisch  genossen  wird. 
Die   Lappländer   leben   in   geringer    Gemeinschaft,   wo- 
her in  Bezug  auf  ihren  religiösen  Glauben  eine  grosse  Mannich- 
faltigkeit  herrscht.     Die  Nachrichten  über  ihre  religiösen  Vor- 
stellungen, obschon  weit  dürftiger  als  die  über  Kamtschadalen 
und  Grönländer,   stimmen  darin  überein,    dass   oberste    Gott- 
heiten im  Himmel,  unter  dem  Himmel,  also  in  der  Luft  und 
unterirdische  anerkannt  werden.     Da  es  unter  den  Grönländern 
Zauberer  gibt,    so   setzt  dies  ein  vorhandenes  Zauberwesen  in 
ihrer  religiösen  Anschauung  voraus,  wofür   auch   die  Zauber- 
trommeln sprechen ,    durch   wrelche   der   Wille   der   Götter   er- 
forscht und  erkannt  wird,    welchem  derselben  ein  Opfer   dar- 
zubringen ist.    Man  hat  die  Religion  der  schwedischen  Lappen 
und  der   norwegischen   im   wesentlichen    übereinstimmend    ge- 
funden, bis    auf  die   Namen   der   Gottheiten,    die  verschieden 
sind.  1     Die   norwegischen  Lappen   nennen    den  obersten  aller 
Götter    Radien7Atzie,     dessen    einziger    Sohn    Radien- Kidde 
ist.     Bei  den  schwedischen  Lappen   heisst   der   erste   der   drei 
grossen  Götter  Tjermes  der  Donnergott,  auch  Aijeke,  Gross- 
vater, von  dem  der  Menschen  Leben,  Gesundheit,  Krankheit, 
Tod  abhängt;  er  führt  auch  die  Herrschaft    über   die  schäd- 
lichen Geister,  die  in  Höhlen,  Gebäuden,  Seen  hausen,  und 
die  er   zuweilen    straft   und   mit    seinen   Blitzen   tödtet.     Dazu 
dient  ihm  ein  Bogen,  womit  er  die  Geister   schiesst,  und  der 
wird  im   Regenbogen   erkannt.      Er   hat  ferner,   wie   der   ger- 


Seheffer.  Lappland,  S.  10G  iy. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  41 

manische  Thor,  einen  Hammer,  mit  dem  er  die  Geister  zer- 
malmt. Storjunkare  gilt  als  Statthalter  des  Aijeke,  gewährt 
den  Menschen  viel  Gutes  und  gestattet  deshalb  auch,  dass  die 
Thiere,  über  die  er  die  Herrschaft  führt,  von  jenen  gefangen 
werden.  Baiwe  oder  Sonne  wird  als  Urheberin  aller  Erzeuo-- 
nisse  und  Geburten  betrachtet.  Die  Lappen  glauben  aber 
noch  an  mehrere  kleinere  Geister,  namentlich  der  Verstor- 
benen, und  das  Juulheer  schweift,  gleich  dem  deutschen 
wilden  Jäger,  in  Wäldern  und  Bergen  einher.  Nach  der 
dualistischen  Anschauung,  die  auch  in  der  religiösen  An- 
schauung der  Lappen  vertreten  ist,  haust  inmitten  der  Erde 
Peskal  als  oberster  der  bösen  Geister,  und  Rota  waltet  über 
Sünder  und  Gottlose.  Unter  der  Erde  wohnt  die  Mutter  des 
Todes,  Jabme  Akko,  die  Grabesgöttin,  bei  der  die  Seelen 
der  Abgeschiedenen  bleiben,  bis  ihr  Schicksal  entschieden  ist. * 
Bei  Klemm 2  findet  sich  eine  Abbildung  einer  der  vollstän- 
digsten Zaubertrommeln  der  Lappländer,  die  er  aus  der  Ab- 
handlung des  Erich  Joh.  Jessens  3  im  verkleinerten  Massstabe 
mittheilt.  Da  sind,  ausser  verschiedenen  Gottheiten,  auch  der 
böse  Geist  „Rutu"  und  „Rumpi",  der  Wolf  oder  Hund 
desselben ,  dann  die  zum  Schaden  stets  bereiten  Geister 
„Mubben-Ohnak".  Bei  allen  finnischen  Völkern  ist  die  Welt 
voll  Geister  in  verschiedenen  Gestalten.  Durch  das  gebirgige 
Land  getrennt  und  vereinzelt  haben  sie  weder  ein  gemein- 
sames Oberhaupt  noch  einen  Volksgottesdienst  oder  Priester- 
schaft. Die  vielen  Seen,  Flüsse  und  Wasserfälle,  die  als 
„heilig"  bezeichnet  werden,  geben  sich  als  Stätten  einstiger 
religiöser  Culte  zu  erkennen. 4  Bekanntlich  bedeutete  im 
Mittelalter  „Finne"  so  viel  als  „Zauberei",  was  von  der  all- 
gemein bekannten  Zauberei  der  Finnen  herrührt,  deren  Vor- 
handensein wieder  auf  die  Anerkennung  böser  Wesen,  also  des 
Dualismus  zurückleitet.  Ein  besonders  gefürchteter  böser 
Gott  war  Hüsi  oder  Hyse,  stark  und  wild,  als  Bezähmer  der 
wilden  Thiere  und  Bären  verehrt,  an  einem  furchtbaren  Orte 


1  Mone,  Geschichte  des  Heidenthums,  I,  57. 

2  III,  93. 


3  „De   Finnorum  Lapporumque  norwegiorum   religione   pagana"   in 
Kund  Leem's  Comment.  de  Lapponibus  Finnmarchiae  (Kopenhagen  1767). 

4  Rühs,  Finnland  und  seine  Bewohner,  S.  22. 


42  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

hausend,  woher  der  Ausdruck:  „Mene  Hüten",  geh  zu  Hüsi, 
als  grösste  Verwünschung  gilt.  Für  mit  diesem  verwandt 
wird  gehalten  x  der  Höllengott  Perkel,  Peiko,  den  Georgi  für 
den  finnischen  Teufel  hält.  Die  Geisterlehre  war  sehr  aus- 
gebildet, und  Mone  2  unterscheidet  Erd-,  Wasser-  und  Luft- 
geister, welche,  gleich  den  Hauptgeistern,  sich  in  wohlthätige 
und  übelthätige  theilten.  Die  Luftgeister,  allgemein  Capeel 
(Kobolde)  genannt,  neckten  die  Menschen,  griffen  den  Mond 
an,  wodurch  er  verfinstert  wurde,  u.  dgl.  Sie  konnten  durch 
Zauberei  bezwungen  werden.  Der  Alp  Peinajainen  (der 
Drücker)  drückt  die  Schlafenden,  verursacht  das  Schielen 
und  schädigt  die  Kinder.  Nach  der  Behauptung  des  Schwe- 
den Rühs  sollen  die  meisten  höhern  Wesen  böser  Natur,  da- 
her Gegenstand  der  Furcht  und  nicht  der  Verehrung   sein. 

Die  Eskimo  haben  einen  gütigen  Gott  Ukuma,  daneben 
einen  übelthätigen  Uikan,  der  als  Urheber  aller  Uebel  auch 
die  Stürme  erregt,  die  Fahrzeuge  umwirft,  die  Arbeit  ver- 
geblich macht.  Hinter  allem,  was  dem  Menschen  widerfährt, 
ahnen  sie  ein  gutes  oder  böses  Wesen. 

Die  Religion  der  Tungusen  hat  im  wesentlichen  dieselben 
Grundzüge  wie  die  der  Lappen.  3  Dem  grossen  unsichtbaren 
Gott  Boa  unterstehen  alle  übrigen  Gottheiten.  Die  Unter- 
gottheiten  sind  theils  guter,  theils  schlimmer  Art.  Die  vor- 
nehmste Untergottheit  ist  Delatsche  oder  Tirgani,  die  Sonne; 
Bega,  der  Mond,  hat  zur  Begleiterin  Doloin,  die  Nacht,  Ositka, 
die  Sterne,  deren  jeder  Mensch  einen  als  Schutzgeist  hat. 
Ungja,  die  Wrolken,  Niolka,  Regen,  Bonaran,  Hagel,  Tamnascha, 
Nebel,  Okschaden,  Sturm  und  Wind,  sind  neben  dem  Gewitter 
und  Regenbogen  Gottheiten,  deren  Wirkungen  sowol  dankbar 
anerkannt  als  auch  gefürchtet  Averden.  Ebenso  wird  das 
Wasser  der  Fische  wegen  verehrt,  übrigens  aber  als  schreck- 
lich gefürchtet,  denn  in  ihm,  wie  im  Bauche  der  Erde  wohnen 
die  bösen  Geister,  deren  Zahl  ungeheuer  gross  ist.  Die  bösen 
Geister  Buni,  welche  den  Auftrag  haben,  das  Böse  zu  be- 
strafen, empfinden  Wollust  am  Strafen  und  gehen  daher  gerne 
in  diesem   zu  weit,    daher   man  sie    besänftigen    oder   sich    an 


1  Mone,  Geschichte  des  Heidenthums,  I,  56  fg. 

2  A.  a.  0. 

3  Georgi,  Bemerkungen  auf  einer  Reise  im  rassischen  Reiche,  I,  275  fg. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  43 

gute  Geister  wenden  muss.  Der  vornehmste  Wasser-Buni, 
der  dasselbe  aufregt,  Kähne  umstösst,  die  Fische  vertreibt,  ist 
Garan;  der  erste  Buni  der  Erde  ist  Kongdarokdi,  Darokdi; 
Menschen  und  Thieren  wird  Atschintitei  durch  die  Mücken 
und  sonstiges  Ungeziefer  beschwerlich. 

Die  Buräten,  deren  alte  heidnische  Religion  mit  jener 
der  Tungusen  und  Lappen  zusammenfällt,  haben  manches  von 
ihren  Lamaischen  Nachbarn  angenommen,  wie  jene  ihre  ur- 
sprüngliche religiöse  Anschauung  durch  christliche  Vorstellun- 
gen vermehrt  haben.  Neben  ihrem  obersten  Gott  Oktorgon- 
Burchan  oder  Tigiri-Burchan  werden  Sonne,  Mond  und  Erde 
als  nächste  Gottheiten  verehrt.  An  der  Spitze  der  übelthäti- 
gen  Gottheiten,  die  sehr  gefürchtet  und  bei  allen  Ceremonien 
feierlich  verflucht  werden,  steht  Okodil,  dessen  Macht  sowie 
die  seiner  untergebenen  Wesen  in  Beziehung  auf  die  Menschen- 
seelen  durch  Oktorgon-Burchan  beschränkt  wird. 

Auch  bei  den  Ostiaken,  die  das  höchste  Wesen  Tornim 
nennen,  überdies  aber  noch  viele  andere  Gottheiten  haben, 
finden  wir  den  Dualismus,  sowie  bei  den  Wogulen  und  allen 
übrigen  Polarnomaden.  Sie  nennen  die  übelthätige  Gottheit 
Kul,  die  Samojeden  ihr  böses  Wesen  Sjoudibe;  die  Mo- 
tonen:  Huala;  die  Karpassen:  Sedkir  u.  a.  in.  Die  Tschu- 
waschen von  Katschinzi,  die  ihre  Gebete  an  eine  wohlthätige 
Gottheit  richten,  wobei  sie  sich  gegen  Osten  wenden,  fürchten 
noch  mehr  ihre  bösartige  Gottheit  Tous,  zu  der  sie  beten, 
um  Schaden  abzuwenden. 

Die  dualistischen  religiösen  Vorstellungen  der  Polarnoma- 
den fassen  sich  darin  zusammen:  dass  ein  grosser,  guter 
Schöpfer  aller  Dinge  angenommen  wird,  der  bei  der  Leitung 
der  irdischen  Dinge  sich  eines  Statthalters  bedient.  Die 
Sonne  wird  fast  durchaus  als  göttliches  Wesen  betrachtet 
nebst  einer  Anzahl  guter  Geister.  Diesen  gegenüber  stehen 
ihre  Widersacher  mit  einer  Menge  untergeordneter  übelthätiger 
Geister,  die  im  Innern  der  Erde,  in  Gewässern,  Bergen,  Klüf- 
ten, Wäldern,  Insekten  hausen  und  die  Urheber  des  mensch- 
lichen Elends  sind. 

Der  Dualismus  herrscht  auch  bei  den  Nomaden  der  ge- 
mässigtcn  Zone,  welche  das  mittlere  Asien  vom  Schwarzen 
und  Kaspischen  Meere  bis  zur  östlichen  Seeküste  zwischen 
den  sibirischen  Grenzen  des  russischen  Reichs  und  Chinas  be- 


44  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

wohnen.  Gegenwärtig  ist  die  Religion  der  mongolischen 
Stämme  der  ans  Asien  stammende  Buddhismus;  die  älteste, 
ans  dem  Volke  hervorgegangene  war  jedoch  Schamanenthinn, 
wobei  zahllosen  guten  und  bösen  Geistern  gedient  wurde  ver- 
mittels der  Zauberer.  Die  bösen  Geister,  die  sich  in  dem 
Kreise  der  Gottheiten  sämmtlicher  mongolischen  und  finni- 
schen Geisterverehrer  befinden,  hausen  in  heissen  Quellen, 
feuerspeienden  Bergen,  Höhlen,  Wüsten  u.  dgl.  Sie  haben 
scheussliche  Gestalten  und  erscheinen  als  Schlangen,  alte  Wei- 
ber, Spinnen,  und  machen  überhaupt  dem  Menschen  das  Leben 
sauer.  1  Die  Dämonenverehrung,  die  im  ganzen  mittlem  und 
nördlichen  Asien  herrscht,  hat  man  nicht  unrichtig  die  eigent- 
liche Steppen  religio  n  genannt.2  In  den  Stürmen  von 
Gobi  hausen  nach  der  Sage  die  bösen  Geister,  die  den  Rei- 
senden durch  Nachahmung  von  Menschenstimmen,  Waffen- 
geklirre und  seltsames  Blendwerk  irreleiten  und  ins  Verder- 
ben stürzen.  3  Wie  anderwärts  wurden  auch  bei  den  Mon- 
golen die  bösen  Geister  durch  Opfer  besänftigt  oder  durch 
Zauberer   abgewehrt.  "*     Bei   den  Jakuten   werden    alle  Mis- 


'Öv 


geburten  als  von  Natur  böse  Geister  betrachtet  und  daher  so- 


& 


fort  aufgehängt.  5 

Die  Beduinen,  welche  die  Wüsten  Syriens,  Arabiens 
und  Nordafrikas  bewohnen  und,  obschon  in  zahllose  kleine 
Stämme  zersplittert,  doch  in  Sitte,  Lebensart,  Sprache  und 
Körperbildung  auf  die  einheitliche  Abstammung  zurückweisen, 
bekennen  sich  zwar  gegenwärtig  zum  Islam,  dessen  Vorschrif- 
ten aber  nicht  strenge  eingehalten  werden.  Die  ursprüng- 
lichen Formen  des  religiösen  Glaubens  der  Beduinen  sind 
zwar  durch  Sabäismus,  Judentimm,  Christcnthum  und  Islam 
verdrängt  oder  alterirt  worden,  es  wird  aber  angenommen, 
dass  schon  früh  Gestirncultus  geherrscht  habe,  wo  die  Ge- 
stirne nicht  blos  als  Zeitmesser,  sondern  als  die  Sitze  höherer 


1  Georgi,  Reise,  S.  275.  396;  dessen  Beschreibung,  380  fg.;  Pallas, 
Reisen,  I,  340;  derselbe,  Mongolische  Völkerschaften ,  I,  165;  Steiler, 
Kamtschatka,  S.  47;  Crantz,  Grönland,  250. 

2  Schmidt,  Ssan.  Ssetzen,  352;  Stuhr,  Religionssysteme,  244. 

3  Marco  Polo,  I,  35;  Ritter,  III,  379. 

4  D'Osson,  I,  17. 

8  J.  G.  Gmelin,  Reise  durch  Sibirien,  II,  456. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  45 

Wesen  betrachtet  worden  seien,  daher  die  Personification  der 
Gestirne.  l  Bei  dem  Naturdienst  wurden  Quellen  und  Brun- 
nen, besondersgestaltete  Felsen  gefeiert,  und  die  Verehrung 
ausgezeichneter  Helden  erzeugte  den  Cultus  der  Vorfahren. 
"Wie  aber  der  Religion  erster  Anfang  vom  Gefühle  der  Ab- 
hängigkeit des  Menschen  von  der  Natur  ausgeht,  so  wurden 
sicher  auch  die  alten  Beduinen  zur  Verehrung  wohl-  und 
übelthätiger  Naturmächte  geführt,  welche  als  überirdische  ge- 
fürchtet, daher  abzuwehren  oder  zu  versöhnen  waren.  Dafür 
spricht  die  noch  heute  gehandhabte  abwehrende  Zauberei, 
durch  Anwendung  von  Anmieten,  allerlei  Anhängseln  und 
verschiedenen  Praktiken,  die  schon  in  frühesten  Zeiten  üblich 
war,  und  es  lässt  sich  denken,  wie  jeder  Stamm  seinen  eigenen 
Stammesgott,  so  auch  seinen  eigenen  Stammesfetisch  ge- 
habt  habe. 

Nomaden  der  heissen  Zone.  Der  Glaube  an  einen 
Gott  als  Schöpfer  und  Regierer  der  Welt  wird  den  Kaffern 
von  einigen  ursprünglich  abgesprochen'2,  von  andern  zuerkannt.3 
Es  kann  also  darüber  gestritten  werden,  ob  sie  mit  dem  höch- 
sten Wesen  den  Begriff  des  Schöpfers  verbinden;  dass  sie  aber 
eine  höhere  Macht  anerkennen,  ebenso  dass  sie  die  dualistische 
Anschauung  aller  übrigen  Stämme  theilen,  geht  schon  daraus 
hervor,  dass  nach  den  übereinstimmenden  Berichten  der  Rei- 
senden die  Zauberei  eine  hervorragende  Rolle  spielt.  Im  Be- 
griffe der  Zauberei  liegt  immer  das  Wirken,  und  zwar  zu- 
nächst das  abwehrende,  auf  eine  Macht  vermittels  einer  andern, 
es  liegt  also  stets  die  Annahme  einer  doppelten,  sich  entgegen- 
gesetzten Macht  zu  Grunde.  Bei  den  Kaffern  sind  die  Zau- 
berer,  Inyanga,  von  grosser  Wichtigkeit  und  werden  dieselben 
nach  mehrern  Graden  abgestuft.  Sie  verstehen  mancherlei 
Uebel  durch  ihre  Kunst  abzuwehren,  machen  z.  B.  die  Krieger 
durch  ein  schwarzes  Kreuz  auf  der  Stirn  und  schwarze  Striche 
auf  den  Backen  im  Kampfe  unverwundbar  oder  gar  unsicht- 
bar für  den  Feind,  diesen  aber  blind  oder  von  Furcht  und 
Schrecken  ergriffen  u.  dgl.  4     Im  Vordergründe  des  religiösen 


1  Hartmann,  Aufklärung  über  Asien,  II,  274. 

2  Alberti,  93;  Le  Vaillant,  Reise,  305. 

3  Dähne,  Kaffernland,  55;  Collenso,  57. 

4  Dähne,  303. 


40  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Bewusstseins  steht  bei  dem  Kaffer  die  bange  Scheu  vor  der 
Macht,  welcher  gewisse  unglückliche  Zufälle  zugeschrieben 
werden,  und  die  man  daher  zu  besänftigen  trachten  muss. 
So  wird  bisweilen  eine  Krankheit  für  die  Folge  der  einem 
Flusse  zugefügten  Beleidigung  gehalten,  aus  dem  die  Horde 
das  Wasser  holt,  und  man  glaubt  den  Fluss  dadurch  zu  ver- 
söhnen, dass  man  die  Eingeweide  von  einem  geschlachteten 
Vieh  oder  eine  Menge  Hirse  in  denselben  wirft.  Einst  starb 
ein  Kaffer  kurz  darauf,  nachdem  derselbe  von  dem  Anker 
eines  gestrandeten  Schiffes  ein  Stück  abgeschlagen  hatte.  Dies 
ward  für  eine  Beleidigung  gehalten,  und  seit  der  Zeit  ging 
kein  Kaffer  an  dem  beleidigten  Anker  vorbei,  ohne  denselben 
zu  grüssen,  um  dadurch  den  Zorn  abzuwenden.  Ist  ein  Ele- 
fant mit  vieler  Mühe  erlegt,  so  entschuldigt  man  sich  bei 
demselben  und  versichert  ihm,  dass  die  Tödtung  nicht  mit 
Absicht,  sondern  nur  zufällig  geschehen  sei.  Der  Rüssel  des 
getödteten  Elefanten  wird  sorgfältig  begraben,  denn  der  Ele- 
fant ist  ein  grosser  Herr  und  der  Rüssel  seine  Hand,  womit 
er  schaden  kann.  So  erblickt  der  Kaffer  in  dem  Flusse,  dem 
Anker  und  dem  Elefanten  ein  Wesen,  das  gleich  ihm  einen 
Willen  und  eine  Macht  hat,  das  auch  gleich  ihm  gereizt  und 
versöhnt  werden  kann.  1 

In  unendlich  vielen  Variationen  tritt  die  Vorstellung  von 
einem  höchsten  Wesen  bei  der  schwarzen  Menschenrasse 
hervor 2,  welches  aber  von  der  bangen  Furcht  vor  einem 
höchsten  bösen  Wesen  beinahe  gänzlich  in  den  Hintergrund 
gedrängt  wird.  Denn  Furcht  ist  das  vorwiegende  Moment  im 
religiösen  Bewusstsein  des  afrikanischen  Negers,  der  gleich 
dem  Kinde  das  Schlimme  mehr  fürchtet  als  für  das  Gute 
dankbar  ist.  Inmitten  einer  Natur,  welche  ihm  die  äussersten 
Gegensätze  von  Schönem,  Wohlthätigem  und  Schrecklichem, 
Gefährlichem  in  der  ausschreitendsten  Weise  aufdrängt,  wo 
kein  Uebergang  stattfindet  von  der  Regenzeit,  welche  einen 
riesenhaften  Pfianzenwuchs  hervortreibt,  zur  öden  Dürre  und 
schrecklichen  Wüste  mit  dem  Glutwind  und  tobenden  Or- 
kanen, wo  paradiesische  Gegenden  an  den  Strömen  zur  Zeit 
der  Dürre  plötzlich  verschwinden,  wo  die  überfliessende  Natur- 


1  Klemm,  III,  354. 

2  Vgl.  Wilson,  Western  Africa,  269  fg. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  47 


kraft  der  Erschlaffung  in  der  Thier-  und  Menschenwelt  schroff 
o-eo-enübersteht:  da  wird  auch  das  Gemüth  des  Negers  zwischen 
diesen  schrillen  Contrasten  ohne  Vermittelung  hin-  und  herge- 
worfen, und  es  wechseln  in  ihm  ebenso  schnell,  wie  die  Ge- 
witter seines  Himmels,  kindische  Lust  mit  dumpfer  Verzweif- 
lung, unbändige  Wuth  und  Grausamkeit  mit  schlaffer  Passi- 
vität, sich  selbst  verzehrende  Lebensglut  mit  Lebensüberdruss. 
Ebenso  schroff  verhalten  sich  die  unbeschränkteste  Despotie 
gegenüber  der  entseibsteten  Sklaverei  in  der  socialen  Welt 
des  Negers,  und  die  Berührung  mit  der  weissen  Rasse  hat 
infolge  des  Sklavenhandels  das  vorwiegende  Moment  seines 
religiösen  Gefühls,  die  bange  Furcht,  nicht  gemildert,  sondern 
seinem  Bewusstsein  von  dem  Verhältniss  der  schwarzen  Rasse 
der  Gottheit  gegenüber  nur  eine  eigenthümliche  Anschauung 
verliehen.  Der  schwarze  Mensch  klagt  nämlich  in  seinen 
Mythen  über  stiefväterliche  Behandlung  von  Seiten  der  Gott- 
heit. Diese  habe  zwar  die  Welt  erschaffen,  da  sie  aber  um 
ihre  Schöpfung  sich  nicht  weiter  bekümmere,  erkläre  sich, 
dass  die  Welt  ein  Tummelplatz  böser  Wesen  geworden,  denen 
die  guten  zwar  gegenüberstehen,  aber  mit  ihrer  Macht  nicht 
ausreichen.  Die  bösen  Wesen  stehen  allenthalben  unter  einem 
obersten  Bösen,  der  in  verschiedenen  Gegenden  unter  ver- 
schiedenem Namen  auftritt.  In  Loango  heisst  er  Zambianchi, 
das  oberste  gute  Wesen  Zambi.  *  Auf  Madagaskar  nennt 
man  den  guten  Gott  Zamhor  und  seinen  Gegner  Niang.  Wie 
letzterer  auf  Madagaskar  ausdrücklich  im  religiösen  Cultus  her- 
vorgehoben wird,  zeigt  sich  in  den  religiösen  Liedern,  wie  im 
folgenden : 

Zamhor  und  Niang  erschufen  die  Welt; 
0  Zamhor,  wir  richten  an  dich  kein  Gebet! 
Der  gütige  Gott,  der  braucht  kein  Gebet. 
Aber  zu  Niang  müssen  wir  beten, 
Müssen  Niang  besänftigen. 
Niang,  böser  und  mächtiger  Geist, 
Lass  nicht  die  Donner  ferner  uns  dröhn, 
Sage  dem  Meer  in  der  Tiefe  zu  bleiben, 
Schone,  Niang,  die  werdenden  Früchte, 
Trockne  nicht  aus  den  Reis  in  der  Blüte, 
Lass  nicht  die  Frauen  gebären  an  Tagen, 
Die  Verderben  und  Unglück  bereiten. 


1  Baseler  Missionsmagazin  von  1816,  S.  365. 


48  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Zwinge  die  Mutter  nicht  mehr,  die  Hoffnung 

Ihres  Alters  im  Flusse  zu  tödten.  1 

0,  verschone  die  Gaben  des  Zamhor, 

Lass  nicht  alle,  alle  vernichten. 

Siehe,  du  herrschest  schon  über  die  Bösen, 

Gross  ist,  Niang,  die  Anzahl  der  Bösen, 

Darum  quäle  nicht  mehr  die  Guten.  2 

Manche  Reisende  wollen  bei  mehrern  Stämmen,  wie  z.  B. 
bei  den  Negern  von  Wassulo,  gar  keine  Religion  gefunden 
haben,  berichten  aber  über  das  Vorhandensein  von  Zauberei, 
Anmieten  u.  dgl. 3,  als  ob  nicht  daran  die  religiöse  Vorstellung, 
wenn  auch  als  niedere  Form,  deutlich  zu  erkennen  wäre!  Die 
Versicherung:  es  sei  kein  Dorf,  kein  Geschlecht  anzutreffen, 
das  nicht  in  einem  Stücke  der  religiösen  Anschauuno;  unter- 
schieden  wäre4,  sowie  dass  seit  Jahrhunderten  der  Islam  und 
das  Christenthum  auf  verschiedene  Art  wesentlichen  Einfluss 
auf  die  religiösen  Vorstellungen  der  Neger  geübt  haben,  be- 
rührt wol  zunächst  die  Thatsache  der  Unzahl  und  Ver- 
mengung religiöser  Anschauungen,  die  durch  eine  Reihe  von 
Beobachtern  bestätigt  wird.  5  Dieser  Thatsache  der  grossen 
Menge  und  Ineinandersetzung  religiöser  Vorstellungen  liegt 
aber  eine  andere  als  Bedingung  zu  Grunde:  dass  ursprünglich 
irgendeine  religiöse  Vorstellung  vorhanden  gewesen  sein  muss, 
die  im  Verlaufe  der  Zeit  verschiedenartig  gestaltet  und  mit 
fremden  Elementen  versetzt  werden  konnte.  Dass  die  Vor- 
stellung Eines  grossen  Gottes  von  den  Besuchern  der  Küste 
den  Guineanegern  zugeführt  worden  sei,  wie  versichert  wird  6, 
kann  immerhin  gelten,  thatsächlich  ist  aber  der  bei  denselben 
schon  früher  vorhandene  Glaube:  dass  die  Welt  von  guten 
und  bösen  "Wesen  voll  sei. 

In  Aquapirn,  wo  mit  dem  Namen  Jankkupong  der  höchste 
Gott  und  die  Witterung  bezeichnet  wird,  steht  im  Gegensatz 
zu  ersterm  das  böse  Princip  Abunsom.  7 


1  Nämlich  als  Kinderopfer  für  Kiang. 

2  Talvj,  Versuch  einer  geschichtl.  Charakteristik  der  Volkslieder,  78. 

3  Caillie,  II,  82. 

4  Bosmann,  S.  176. 

3  Des  Marchais,  Voy.  en  Guinee,  I,  336 ;  Isert  Guin.,  323 ;  Douville,  I, 
283;  Römer,  S.  40,  u.  a. 

6  Bosmann,  177;    Isert,   223. 

7  Halleur,  Monatsber.  der  Gesellschaft  für  Erdkunde,  neue  Folge,  IV,  87. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  49 

Die  Odscliis  (Aschanti)  anerkennen  zwar  ein  höchstes 
Wesen,  halten  aber  dafür,  dass  nur  die  untergeordneten  Geister 
die  Welt  regieren,  von  denen  wieder  nur  die  übelthätigen 
Verehrung  erhalten  sollen.  2 

Ebenso  findet  sich  der  Glaube  an  ein  böses  Wesen  neben 
dem  guten  bei  den  Banjuns  an  der  Casamanza,  in  Benin  am 
Zaire  und  bei  andern  Ne^erstämmen.  2 

Der  Neger,  der  die  Beseelung  der  Aussenwelt  auf's 
äusserstc  treibt,  dabei  aber  nicht  im  Stande  ist,  das  Allge- 
meine wahrzunehmen  und  zu  fassen,  verliert  sich,  von  seiner 
Phantasie  geleitet,  ins  einzelne  und  vermuthet  daher  hinter 
jeder  besondern  Erscheinung  einen  Geist,  den  er  wol  zuweilen 
von  dem  sinnlichen  Dinge  trennt,  nicht  selten  beide  einander 
gegenüberstellt,  gewöhnlich  aber  als  Eins  zusammenfasst,  wo 
wir  es  dann  Fetisch  nennen.  Daher  erklärt  sich,  dass  er  die 
ganze  ihn  umgebende  Welt  von  Geistern  bewohnt  weiss,  dass 
jeder  Neger  seinen  Pomull  oder  Grissi  hat,  von  dem  er  sich 
beschützt  glaubt,  dass  hohe  Berggipfel,  Felsen,  Bäume,  Haine 
der  Sitz  mächtiger  Geister  sind,  dass  die  Thiere  eine  eigen- 
thümliche  Stellung  in  der  Verehrung  der  Neger  einnehmen, 
wovon  Waitz  3  eine  Reihe  von  Beispielen  aufführt,  dass  die 
Neger  das  Feuergewehr,  bevor  sie  damit  vertraut  sind,  beim 
Abschiessen  wegwerfen  aus  Furcht  vor  dem  bösen  Geiste,  der 
darin  steckt.  Die  Negerphantasie  gibt  den  bösen  Geistern 
verschiedene  Gestalten,  sie  erscheinen  ihr  als  schwarze  Hunde, 
als  geschwänzte,  mit  Hörnern  versehene,  weisse  Gestalten  mit 
europäischen  Nasen.  4  Die  Neger  von  Ante  stellen  sich  den 
Bösen  als  einen  Riesen  vor,  dessen  eine  Seite  frisch  und 
kräftig  ist ,  die  andere  aber  verfaultes  Fleisch  enthält.  5  Die 
Neger  der  Goldküste  lassen  den  guten  Geist  schwarz,  den 
bösen  hingegen  weiss  sein,  dessen  Gunst  sie  vornehmlich  zu 
erwerben  suchen.  Wie  in  der  Sage  der  Abiponischen,  so 
spricht  sich  auch  in   der  bei  den  Guinea-Negern  das  Verhält- 


1  Rüs,  Baseler  Missionsmagazin  1847,  IV,  244.  248. 

2  Hecquard,    78;    Palisot-Beauvais    bei    Labarthe,    137;    Landolphe, 
II,  70;    Tuckey,  214. 

3  II,  177  fg. 

4  Römer,  Guinea,  43;    Bosmann,  193;    I>es  Marcbais,  I,  300. 
6  Bosmann,  S.  194. 

Eoskoff ,    Geschichte  des   Teufels.    I.  1 


;"")( l  Erster  Abschnitt :    Der  religiöse  Dualismus. 

niss  der  schwarzen  Rasse  zur  weissen  darin  aus,  dass  der  böse 
Sissa,  der  mit  seinen  Geistern  das  Böse  hervorbringt,  weiss 
ist,  welche  Färbung  wol  erst  von  der  Bekanntschaft  mit  den 
Europäern  herrührt,  sowie  die  früher  erwähnten  europäi- 
schen Nasen.  Hierher  gehört  auch  was  Horst  *  von  Burck« 
hardt,  während  seiner  Reise  in  Nubien,  am  Nil  und  weiter 
hinauf  (in  den  Jahren  1813  u.  1814)  erzählen  lässt,  dass  dieser 
um  seiner  weissen  Farbe  willen  überall  als  Auswurf  der  Na- 
tur betrachtet  wurde.  An  Markttagen  setzte  er  die  Leute 
oft  in  Schrecken,  wenn  er  plötzlich  zu  ihnen  trat,  avo  ihr 
Ausruf  gewöhnlich  war:  Ach,  der  Teufel!  Gott  bewahre  uns 
vor  dem  Teufel!   u.  s.  w. 

Der  Dualismus  der  religiösen  Anschauuno;  o-eht  alle  Neger- 
stamme  hindurch.  So  haben  auch  die  Mandingo- Neger  gute 
und  böse  Wesen.  2  So  sollen  die  Neger  am  Casamanza  zwar 
an  einen  Gott  glauben,  doch  aber  für  nöthig  halten  in  allen 
wichtigen  Fällen  den  Bösen  an  den  Xianas ,  den  heiligen 
Plätzen,  zu  beschwören. 

Zu  den  Nomaden  der  heissen  Zone  gehören  auch  die 
Hottentotten,  von  denen  häufig  behauptet  wurde,  dass  sie 
aller  religiösen  Vorstellung  bar  seien,  was  aber  bereits  als 
unrichtig  anerkannt  ist.  Auch  hier  begegnen  wir  dem  Dua- 
lismus, und  von  einem  der  ältesten  herrnhuter  Missionäre, 
G.  Schmidt  (1737),  erfahren  wir  schon  die  Namen  Tuiqua 
und  Ganna,  womit  sie  „den  Oberherrn  über  alles"  und  den 
Bösen  bezeichnen.3  Sie  sollen  erstem  auch  den  „Kapitän 
von  oben"  und  letztern  den  „Kapitän  von  unten"  oder 
Tukoa,  der  klein,  verkrümmt,  von  böser  Gemüthsart  und  den 
Hottentotten  feindlich  gedacht  wird,  nennen,  von  dem  Krank- 
heit, Tod,  Unglück  abgeleitet  werden,  denen  man  durch  Anm- 
iete, Austreibung,  Beschwörung  zu  begegnen  hat. 

Auch  bei  andern  afrikanischen  Stämmen  herrscht  Dualis- 
mus; wie  allenthalben  der  Glaube  an  Zauberei  vorkommt. 
Die  Wakamba  theilen  mit  den  Kaffern  den  Glauben  an  die 
Zauberei  und  halten  besonders  die  Weissen  für  Regen- 
macher.     Die   Wauika   bringen  aus  Furcht   vor  Zauberei  die 


1  Zauber-Bibliothek,  IV,  371. 

2  Home,  Versuch  über  die  Geschichte  des  Menschen,  II,  233. 

3  De  Jong,  I,  278. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  51 

umgestalteten  Kinder  um,  als  der  Zauberkünste  verdächtig.  1 
Bei  den  Va-Ngindo  im  Süden  des  Luvuma  ist  Mulungu  der 
Schöpfer  aller  Dinge,  der  in  allem  lebt,  was  auf  Erden  gut 
und  schön  ist,  im  Himmel  unter  den  guten  Geistern  wohnt; 
wogegen  Mahoka  das  Schädliche  und  Böse  schafft.  2 

Die  Eingeborenen  von  Madagaskar  haben  neben  dem 
guten  Wesen,  das  sie  Jadhar  oder  den  grossen  Gott,  oder, 
wie  alles  Gute,  Wunderbare  und  Unbegreifliche  überhaupt, 
Zannaar,  Zannahar  nennen,  auch  ein  böses  Princip:  Angath, 
Angatch,  dem  sie  die  Attribute  der  Schlange  geben,  mit  jenem 
gleich  mächtig  halten,  dem  aber  allein  mit  Opfern  gedient 
werden  soll.  3 

Die  religiöse  Anschauung  der  Abyssinier  zeigt  im  Ver- 
gleiche mit  einigen  negerartigen  Stämmen  manches  Ueber- 
eingestimmte,  als:  dass  sie,  wie  jene,  das  böse  Wesen  weiss 
darstellen,  bei  ungewöhnlichen  Ereignissen,  wie  z.  B.  bei  einer 
Mondfinsterniss,  von  grossem  Schrecken  ergriffen  werden,  Krank- 
heit für  Bezauberung  oder  Besessenheit  halten,  die  sie  mit 
Opfern  oder  durch  Anmiete  abzuwenden  oder  durch  Lärm 
auszutreiben  suchen.  Namentlich  wird  den  Eisenarbeitern  zu- 
gemuthet,  dass  sie  sich  des  Nachts  in  reissende  Thiere  ver- 
wandeln können.  4 

Auch  bei  den  Stämmen  von  Goa  sowie  den  Galla  herr- 
schen gute  und  böse  Geister,  und  die  Schlange  spielt  ihre 
bekannte  Rolle. 

Bei  den  Bewohnern  der  Südseeinseln,  wo  der  Gegen- 
satz schon  in  den  Eries  und  den  Papuas  sich  darstellt,  wahr- 
scheinlich eine  Spur  urältester  Einwanderung  von  Menschen 
weisser  Rasse,  findet  sich  die  Gegensätzlichkeit  auch  in  den 
religiösen  Anschauungen,  die  gemäss  der  Zerstreutheit  der 
Inseln  auch  zerrissen  und  zusammenhanglos  auftreten.  In 
der  dualistischen  religiösen  Vorstellung  aber  treffen  sie  zu- 
sammen, indem  sie  neben  den  wohlwollenden  Wesen,  die  sie 
verehren,  böswillige  fürchten.  In  der  Vorstellung  der  Sand- 
wichs-Insulaner   ist    der    schrecklichste    dieser  Dämonen    das 


1  Waitz,  II,  424. 

2  Waitz,  a.  a.  0. 

3  Leguevel,  I,  96 ;  Rochen,  19. 

4  Salt,  426;  Harris,  II,  295;  Pearce,  I,  287. 


52  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

weibliche  Sehreekensgespenst  Pele,  das  jenen,  obwol  sie  zum 
Christenthum  bekehrt  sind,  doch  viel  bange  macht  und  im 
Lavastrom  des  Kilau-Ea  auf  Hawaji  wohnend  gedacht  wird.1 
Auch  die  religiösen  Vorstellungen  der  Tonga-Insulaner 
bestehen  in  Dämonenverehrung  und  damit  unzertrennlich  ver- 
bundener Zauberei.  Ausser  den  guten  Göttern  gibt  es  eine 
Menge  böser  Geister,  Hothua-Pow,  deren  sich  mehrere  häu- 
figer auf  Tonga  als  dem  Göttersitz  Belotuh  aufhalten,  um  die 
Menschen  recht  zu  peinigen.  Alles  Ungemach  und  alle  klei- 
nen Plagen  sind  boshafte  Streiche  der  Hothua-Pows,  aus 
Schadenfreude  begangen.  '2  Turbane  zu  tragen  soll  den  ge- 
meinen Leuten  auf  Tonga,  ausser  bei  der  Arbeit,  verboten 
gewesen  sein,  auch  wenn  kein  Häuptling  (Matabul)  gegen- 
wärtig war,  weil  doch  irgendein  göttliches  Wesen  in  der 
Nähe  sein  könnte.  3 

Die  religiöse  Anschauung  der  Bewohner  von  Nukahiwa 
nennt  Klemm4  „die  roheste  Art  von  Religion".  Es  ist  hier 
zwar  von  keinem  personificirten  Wesen  die  Rede,  wol  aber 
wird  eine  übelthätige  Macht  anerkannt,  welche  gesühnt  wer- 
den soll.  Die  Seele  eines  Priesters,  Königs  und  deren  Ver- 
wandten wird  für  ein  höheres  Wesen  gehalten  (Etua),  das 
übrige  Volk  erfreut  sich  keiner  göttlichen  Abkunft.  Der 
Glaube  an  Zauberei  ist  allgemein,  und  die  Priester  sind  im 
Besitz  der  Zaubermittel.  „Die  Zauberei  (Kaha)  besteht  darin, 
dass  man  jemand,  auf  den  man  einen  Groll  hat,  auf  lang- 
same Art  tödten  kann.  Man  sucht  den  Speichel,  Urin  oder 
Exkremente  seines  Feindes  auf  irgendeine  Art  zu  erlangen, 
legt  diese  vermischt  mit  einem  Pulver  in  einen  besonders  ge- 
flochtenen Beutel  und  vergräbt  diesen;  worauf  der  Feind  er- 
krankt und  in  20  Tagen  sicher  todt  ist.  Sucht  er  die  Rache 
seines  Feindes  mit  irgendeinem  wichtigen  Geschenke  abzu- 
kaufen, so  kann  er  noch  am  19.  Tage  gerettet  werden."  5 

Bei  den  Neuseeländern  ist  die  oberste  Gottheit  Mow- 


1  Ileen  Bille,  Bericht  über  die  Reise   der  Corvette  Galathea  um  die 
Welt,  in  den  Jahren  1845—47,  II,  313. 

2  Klemm,  IV,  358. 
8  Bastian,  II,  113. 

4  IV,  351. 

5  Klemm,  IV,  352,  nach  Krusenstern,  Reise,  I,  190. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  53 

heerangaranga,  sie  fürchten  aber  besonders  einen  Gott  des 
Zorns  nebst  vielen  andern  bösen  Wesen,  welche  die  Men- 
schen im  Leben  quälen,  Krankheiten  verursachen,  als  Eidech- 
sen erscheinen  und  so  den  Schlafenden  in  den  Mund  schlüpfen 
u.  dgl.  Dem  Gott  des  Zorns,  Teepockho,  der  auch  das  Leben 
nimmt,  wird  angelegentlichst  gedient.  1  Die  Todten  kommen 
nach  Rcinga,  einem  Ort  der  Marter,  dessen  Eingang  eine 
steile  Klippe  und  weite  Höhle  am  Nordcap  ist.  Hier  wohnt 
der  böse  Geist  und  Zerstörer  der  Menschen.  Bei  Krankheiten 
werden  Beschwörungen  angewendet,  den  Göttern  wird  mit 
Todtschlagen  und  Auffressen  gedroht.  2 

Von  den  Gesellschaftsinseln  hat  jede  ihr  besonderes  höch- 
stes Wesen  nebst  andern  Gottheiten,  unter  denen  auch  Un- 
heilstifter, welche  gerne '  die  Menschen  im  Schlafe  tödten.  3 
Es  herrscht  die  Meinung,  dass  die  menschenleere  Insel  Man- 
nua  von  Geistern  bewohnt  werde,  welche,  von  grosser,  starker 
Mannesgestalt  mit  schrecklich  funkelnden  Augen,  jeden  ver- 
schlingen, der  sich  ihrer  Küste  naht.  4 

Die  dualistische  Anschauuno;  findet  sich  auch  anderwärts 
überall,  wo  die  Spuren  der  ursprünglichen  Religion  im  Volke 
noch  bemerklich  sind.  Die  Cingalesen  auf  Ceylon  sind  zwar 
Bekenner  des  Buddhismus,  unter  welchem  sie  aber  immer 
noch  Ueberreste  ihres  frühern  Geisterdienstes  forthegen.  Man 
kann  vermuthen,  dass  die  Vorstellung  von  einem  höchsten 
Wesen,  dem  Schöpfer  des  Himmels  und  der  Erde,  Ossa  polla 
maupt  Dio,  aus  einer  Vorzeit,  wo  weder  Buddhismus  noch 
Brahmaismus  auf  Ceylon  eingedrungen  war,  herrühre 5  und 
es  ist  wahrscheinlich,  dass  die  Verehrung  der  Sonne  und  des 
Mondes,  der  vier  Pattinies,  der  furchtbaren  Schutzgeister  der 
Welt,  schon  frühe  stattgefunden  habe.  Von  besonderm  Inter- 
esse für  uns  ist  der  Dienst  der  Geister  der  Todten,  Dayautas 
genannt,  welcher  als  Rest  vorbuddhistischer  Zeit  von  den  Ge- 
bildetem misbilligt  und  innerhalb  des  Buddhadienstes  sogar 
verboten,    vom  Volke    aber   noch    auf   eigene  Faust    gepflegt 


1  Nicholas,  Voyage,  I,  55  fg. 

2  Yate,  Account  of  Ncw-Zealand,  S.  141  fg. 

3  Forster,  Reise,  II,  119  fg. 
1  Forster,  a.  a.  0.,  S.  121. 

5  Stuhr,  Religionssysteme,  I,  "275. 


54  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

wird.  Dieser  Cultus  gründet  sich  auf  die  Furcht  vor  der 
schädlichen  Macht,  welche  diesen  Geistern  zuerkannt,  aus  der 
Krankheiten  abgeleitet  und  die  daher  abgewendet  werden  soll. 
Der  Synkretismus,  der  im  Fortgange  der  geschichtlichen  Ent- 
wickelung  des  geistigen  Lebens  der  ostasiatischen  Völker  platz- 
gegriffen, hat  sich  auch  auf  Ceylon  geltend  gemacht.  Sonach 
ist  dieser  Dienst,  auf  Heilung  von  Krankheiten,  die  von  bösen 
Geistern  herrühren,  bezogen,  mit  dem  brahmanischen  Heil- 
gotte  Kumaras  in  Verbindung  gesetzt  worden.  Dem  alten 
Berggotte,  der  auf  dem  Gipfel  des  Felsen  Mahameru  Parkwete 
thront,  ist  der  Name  Kumaras  beigelegt  und  zu  Kattragam 
ein  berühmter  Tempel  erbaut  worden.  Dieser  Gott  von  Kat- 
tragam, unter  vielerlei  Namen,  besonders  aber  als  Kumaras 
verehrt,  unter  mancherlei  furchtbaren  Gestalten  dargestellt, 
ist  der  am  allgemeinsten  gefürchtete,  obschon  es  noch  viele 
in  schrecklichen  Gestalten  vorgestellte,  gefürchtete  Geister 
gibt,  deren  jeder  einem  Uebel  vorsteht.  1 

Im  Birmanischen  Reiche  waren  die  Stämme,  bevor  sie 
dem  Buddhismus  unterworfen  wurden,  dem  Geisterdienste  er- 
geben, und  noch  heutigen  Tags  findet  sich  bei  den  unbekehr- 
ten,  in  Wäldern  lebenden  Stämmen  die  Verehrung  von  Wald- 
und  Berggeistern,  deren  manche  als  übelthätige  in  Furcht 
durch  Opfer  verehrt  werden ,  womit  dann  selbstverständlich 
Zauberei  verbunden  ist.  2 

Bei  den  Siamesen  herrscht  auch,  nebst  der  Anerkennung 
wohlthätiger  Gottheiten,  der  Glaube  an  die  Wirksamkeit  böser 
Wesen,  als  Urheber  von  Uebeln,  die  sie  von  jenen  nicht  her- 
leiten wollen.  Sie  opfern  diesen,  um  das  Böse  abzuwehren, 
und  wenden  sich  besonders  zur  Zeit  der  Trübsal  zu  ihnen. 
Wie  überall,  wo  der  Buddhismus  eingedrungen  ist,  wird  da- 
neben auch  brahmanischen  Gottheiten  gedient. 

Auch  die  Küstenstämme  von  Pegu  zeigen  noch  Spuren 
des   religiösen  Volksglaubens,    bevor  sie   durch  den   Buddhis- 


1  Bei  Stuhr,  a.a.O.;  Knox,  Hist.  relat.  of  the  island  of  Ceylon,  S.  123  fg. ; 
Upham,  Hist.  of  Buddhism,  S.  41.  50.  120;  Derselbe,  The  sacred  and 
hist.  Looks  of  Ceylon,  1,84;  Davy,  An  aecount  of  the  interior  of  Ceylon, 
S.  127. 

-  De  la  Bissachere,  Gegenwärtiger  Zustand  von  Tunkin  und  Cochin- 
ehina  ;    aus  dem  Französischen,  S.  258  fg. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  55 

muß  in  die  Cultur  hineingezogen  worden,  und  neben  dem 
Urheber  des  Guten  suchen  sie  vornehmlich  den  Stifter  des 
Uebels  zu  besänftigen.  Letztern  erklärten  die  Christen  natür- 
lich für  den  Teufel.  l 

Die  ursprüngliche  Bevölkerung  auf  den  Inseln  des 
Ostmeeres  (Inseln  der  indisch-chinesischen  Meere)  war  eine 
schwarze,  deren  Ueberreste  in  Wäldern  und  Gebirgen  der 
Inseln  leben  und  als  Verwandte  der  Stämme  von  Neuguinea 
und  Neuholland  erkannt  werden.  Wie  jene  Inseln  zerstreut 
sind,  ist  auch  das  Geistesleben  der  Bewohner  gesondert  und 
kommen  sie  im  allgemeinen  in  der  Verehrung  der  Naturmächte 
und  in  der  Furcht  vor  den  Gräbern  der  Todten  und  Er- 
scheinungen übelthätiger  Geister  überein. 

Gleich  den  Cingalesen  auf  Ceylon  glauben  auch  die 
Battas  auf  Sumatra  an  die  Macht  der  vier  gefürchteten  Geister, 
die  auf  den  Gipfeln  vier  verschiedener  Berge  hausen  und  von 
da  aus  alle  Art  von  Unglück  über  die  Menschen  schicken. 2 
Nach  andern  Berichten  sollen  die  Battas  den  Gott  der  Ge- 
rechtigkeit Batara  Guru,  den  der  Gnade  Sori  Pada  nennen, 
denen  gegenüber  Mangalan  Bulan  als  der  Stifter  aller  Uebel 
bezeichnet  und  in  menschlichen  Angelegenheiten  als  beson- 
ders wichtig  gehalten  wird,  weil  er  die  guten  Absichten  sei- 
ner Brüder  zu  durchkreuzen  die  Macht  haben  soll,  darum 
den  Battas  an  seiner  Gunst  am  meisten  gelegen  sein  muss.  3 
Daher  der  Anschein,  als  hätten  die  Battas  auf  Sumatra  nur 
böswillige  Wesen,  denen  sie  dienen,  indem  ihnen  Krankheiten 
und  Verbrechen  zugeschrieben  und  sie  unter  schrecklichen 
Gestalten  vorgestellt  werden.  4  Denn  nach  dem  Glauben  der 
Battas  ist  jede  Krankheit  durch  einen  Begu  (böses  Wesen) 
veranlasst:  der  Krampf  durch  den  Begu  Lumpun,  die  Bräune 
durch  den  Begu  Antis,  das  Fieber  durch  den  Begu  Namarung, 
die  Kolik  durch  den  Begu  Barang  Munji,  u.  s.  w.  Einer  der 
furchtbarsten  ist  der  Begu  Nalalain,  der  Geist  der  Zwietracht, 
des  Mordes,  der  das  Land  entvölkert  und  die  Dörfer  ver- 
wüstet.    Während  die  andern  Begus  ohne  festen  Sitz,  unstet 


1  Bei  Bekker,  Bezauberte  Welt,  I,  22. 

2  Marsden,  Hist.  of  Sumatra,  S.  385. 

3  Transact.  of  the  roy.  Asiatic  Society  vol.,  I,  499. 

4  Junghuhn,  Battaländer,  II,  24.8. 


5(i  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

in  der  Luft  umherschweifen,  nur  zeitweise  in  die  Menschen 
sich  einsenken,  um  zu  schaden,  schleicht  der  Begu  Nalalain 
mit  feurigen  Augen,  langer  rother  Zunge  und  scharfen  Kral- 
len an  den  Händen  im  Dämmerlichte  zwischen  den  Dörfern 
lauschend  umher.  Epidemische  Krankheiten  werden  dem  Er- 
scheinen neuer  Begus  zugeschrieben.  1 

Wie  die  Maldivier,  so  bringen  auch  die  Biajas  auf  Borneo 
dem  Gotte  des  Uebels  ihr  Opfer  jährlich  dar,  wobei  sie  eine 
kleine  Barke  mit  den  Sünden  und  Unglücksfällen  der  Bewoh- 
ner vom  Stapel  lassen,  welche  dann  auf  das  Schiffsvolk, 
das  dieser  Opferbarke  begegnet,  fallen  sollen.  In  einer  Be- 
ziehung erinnert  diese  Ceremonie  an  den  Vorgang  mit  dem 
hebräischen  Azazel. 

Auch  auf  Java,  wie  auf  Bali  und  andern  östlichen  Inseln, 
war  vor  dem  Eindringen  indischer  Cultur  Natur-  und  Geister- 
dienst herrschend,  und  Luft,  Wälder,  Gewässer  hielten  die 
alten  Javaner  mit  Geistern  erfüllt,  welche  als  wohlthätige  ge- 
liebt oder  als  übelthätige  gefürchtet,  erstere  in  Menschen- 
gestalt, diese  in  Büffelgestalt,  als  Riesenweiber  u.  dgl.  vor- 
gestellt wurden.  Jäger,  Fischer  hatten  ihre  Schutzgeister;  es 
fand  aber  auch,  wie  auf  Celebes  und  in  andern  östlichen 
Gegenden,  der  Cultus  der  Geister  der  Vorfahren  statt.2  Als 
Localgottheiten  von  Java  werden  genannt  die  Banaspatie  oder 
die  bösen  Geister  der  Bäume,  die  Daminsil,  die  guten  Genien 
in  menschlicher  Form,  die  Bankashan,  die  bösen  Geister  der 
Luft,  die  Brayagan,  die  weiblichen  Genien  der  Flüsse,  die 
Kabo  Hamale,  die  bösen  Geister  der  Buffaloes,  welche  Frauen 
in  Gestalt  ihrer  Männer  täuschen,  die  Wewe,  boshafte  Geister 
in  Form  weiblicher  Riesen,  Dadonjavru,  die  Beschützer  der 
Jäger,  u.  dgl.  m.  3 

An  der  Küste  von  Koromandel  herrschen  auch  gute  und 
böse  Geister,  jene  Dewata,  diese  Raatsjasja  genannt,  welche 
letztere  theils  böse  Menschen  gewesen,  die  dazu  verdammt 
sind,  in  der  Welt  herumzuschwärmen,  theils  von  Natur  bos- 
hafte Wesen  sind,  die  den  Menschen  Uebles  zufügen,  abscheu- 


1  Bastian,  II,  125. 

2  Crawfurt,  Ilist.  of  the  Indian  Archipelago,  II,  230  fg. 

3  Bastian,  II,  109. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  57 

liehe  grosse  Leiber  haben,  Gestank  verbreiten  und  Kinder 
erzeugen.  l 

Die  Vorstellung  der  Niko baren  von  dem,  was  nicht  un- 
mittelbar im  Bereiche  derselben  liegt,  soll  sieh  nach  der  Mit- 
theilung eines  Missionars 2  nur  auf  die  Furcht  vor  Wesen 
beschränken,  deren  Einflüssen  sie  solche  unglückliche  Er- 
eignisse zuschreiben,  die  aus  gewöhnlichen  Ursachen  nicht 
zu  erklären  sind,  als:  gewisse  Krankheiten,  Mislingen  der 
Früchte  u.  s.  w.  Diese  Wesen,  „Ivi",  die  beschworen,  ver- 
trieben werden  können,  halten  sich  im  Dickicht  der  Wäl- 
der auf. 

Die  Bewohner  der  Molukken  und  die  Wilden  auf  den 
Philippinen  anerkennen  auch  den  Dualismus,  richten  ihre  Opfer 
aber  vornehmlich  an  das  böse  Wesen,  damit  es  ihnen  kein 
Uebel  zufüge.  Die  Heiden  auf  den  Philippinen  haben  ge- 
wisse Wahrsagerinnen,  Holawi  genannt,  welche  täglich  mit 
den  Dämonen  verkehren.  3 

Auf  der  Insel  Formosa  heisst  der  gute  Gott  Isby,  das 
böse  Wesen,  dem  mehr  als  jenem  geopfert  wird,  führt  den 
Namen   Shuy. 

Die  Eingebornen  auf  Teneriffa  verehrten  einen  höchsten 
Erhalter  der  Dinge,  Achguaya-xerax  (Achuhuanax),  dem 
sie  bei  Dürre  oder  andern  Unglücksfällen  Opfer  darbrach- 
ten; dem  gegenüber  aber  auch  einen  übelthätigen  Geist,  den 
sie  Guayotta  nannten. 


Diese,  aus  allen  Himmelsstrichen  und  von  allen  Menschen- 
rassen angeführten  Thatsachen,  die  leicht  noch  bedeutend 
vermehrt  werden  könnten,  sollen  nur  bestätigen:  dass  in 
den  religiösen  Anschauungen  der  Naturvölker  der 
Dualismus  waltet,  wonach  den  guten  übermenschlichen 
Wesen  übelthätige  gegenübergestellt  werden  und  der  Grund- 
ton in  der  religiösen  Beziehung  zu  diesen  die  religiöse  Furcht 
ist.      Den    Anknüpfungspunkt    zu    dieser    dualistischen    An- 


;  Bei  Bekker,  I,  56. 

2  Bei  Bastian,  II,  113. 

3  Bei  Bekker,  I,  66. 


58  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

schaumig  bietet  zunächst  der  Gegensatz  in  der  Natur,  mit 
welcher  der  Mensch  auf  jener  Bildungsstufe  mehr  im  Zu- 
sammenhange lebt.  Hitze  und  Kälte,  Licht  und  Finsterniss, 
Nässe  und  Dürre  berühren  seine  Existenz,  indem  ihm  dadurch 
Ueberfluss  oder  Mangel,  überhaupt  Wohl  oder  Weh  erwächst. 
Er  betrachtet  eben  alles,  was  ihn  umgibt,  in  Beziehung  auf  sich, 
inwiefern  es  zu  seinem  Wohle  beiträgt  oder  demselben  ent- 
gegensteht. Jeder  Reiz  auf  den  Organismus  ruft  nicht  nur 
eine  natürliche  Reaction  hervor,  bei  leiblichen  Empfindungen 
die  Bewegung  der  entsprechenden  Muskeln ,  sondern  regt 
auch  die  geistige  Thätigkeit  an.  Denn  der  Mensch  ist  nicht 
blos  empfindendes,  sondern  auch  denkendes,  seiner  selbst 
bewusstes  Wesen,  und  seine  geistige  Natur  wird  nicht  be- 
friedigt durch  die  Erfüllung  rein  äusserlicher  Bedürfnisse.  So 
wahr  es  ist,  dass  Naturerscheinungen,  überhaupt  die  Aussen- 
welt  die  geistige  Entwickelung  anfachen,  ebenso  wahr  ist  es, 
dass  ohne  Selbstthätigkeit  des  Geistes  keine  Entwickelung 
möglich  wäre.  „Ueberall  reagirt  die  geistige  Anlage  gegen 
die  blos  natürliche  Befriedigung."  *  Jede  Erfahrung  des 
Menschen  ist  nicht  blos  eine  äussere,  sondern  zugleich  eine 
innere  seiner  eigenen  Lust  oder  Unlust,  von  der  er  sich  durch- 
drungen fühlt.  Das  Gefühl,  obschon  dem  Gemeingefühle  ver- 
wandt und  gleich  diesem  im  Kreise  des  Angenehmen  und 
Unangenehmen  sich  bewegend,  wird  nicht  nur  durch  blose 
organische  Zustände,  sondern  auch  durch  Vorstellungen  von 
Verhältnissen  bestimmt.  An  sich  dunkel,  erhält  das  Gefühl 
Klarheit  durch  den  Zutritt  des  Verstandes,  der  sicn  nie  ab- 
wehren lässt  oder  abseits  unthätig  bleibt,  sondern  alsobald 
heranrückt  mit  der  Frage:  woher  rührt  das  Angenehme  oder 
Unangenehme?  Das  Gemüth,  als  Complex  von  Gefühl  und 
Verstand,  wird  zunächst  durch  dunkle  Vorstellungen  erfüllt, 
in  welchen  aber  ein  unmittelbar  gegebenes,  unentwickeltes 
Urtheil  liegt.  Dieses  Urtheil,  noch  vom  Gefühle  durchdrun- 
gen und  mit  ihm  verwachsen,  regt  sich  als  Ahnung.  Der 
Mensch  ahnt  zunächst  die  Macht,  durch  die  ihm  vermittels 
seiner  Umgebung  Wohl  oder  Weh  zutheil  wird  und  findet 
sich    befriedigt    in    der    Vorstellung    dieser    Macht.      Diese 


1  Schaller,  Leib  und  Seele,  S.  llt>. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  59 

Vorstellung  ist  aber  nur  die  Projection  seines  eigenen  Ge- 
müths.  „Was  sich  im  geistigen  Gefühle  als  der  Seele  selbst 
angehörig  darstellt,  das  offenbart  sich  im  Glauben  als  Gegen- 
stand."  l  Der  Naturmensch  ahnt  in  den  Erscheinungen  der 
ihn  umgebenden  Aussenwelt  eine  übermenschliche  Macht  und 
stellt  sich  diese  vor,  angethan  mit  den  Attributen  seiner  eigenen 
Persönlichkeit.  Die  Anthropomorphismen  und  Anthropopa- 
thismen  in  den  religiösen  Vorstellungen  der  Völker  und  Men- 
schen sind  daher  der  Spiegel  ihrer  Culturstufen,  und  es  läuft 
darauf  hinaus,  was  schon  der  Reformator  sagt:  Die  Heiden 
glaubten  an  solche  Götter,  wie  sie  selbst  waren.  —  Wie  der 
Mensch,  so  sein  Gott. 

Die  religiöse  Anschauung  ist  aber  deshalb  ebenso  wenig 
Product  der  Natur  wie  der  menschliche  Geist,  so  wenig  als 
sittliche  Ideen  aus  der  Beobachtung  der  Natur  entnommen 
werden;  die  Natur  bietet  jedoch  die  Anregung,  dass  sich  der 
Geist  „so  oder  anders  gestaltet"  2  und  unterstützt  somit  die 
Entwickelung  religiöser  und  sittlicher  Vorstellungen. 

Je  näher  ein  Volk  dem  Naturzustande  steht,  um  so 
grösser  ist  der  Einfluss,  den  die  Natur  auf  seine  Entwickelung 
nimmt,  und  dieser  schwächt  sich  ab,  im  Verhältniss  als  die 
Bewältigung  der  Natur  durch  menschliche  Kunst  und  Wissen- 
schaft  zunimmt,  und  der  Verkehr  mit  Schnelligkeit  über  weite 
Räume  sich  ausbreitet.  Im  heissen  Klima,  wo  leibliche  und 
geistige  Bewegung  erschwert  ist,  wird  Faulheit  zum  Genuss, 
die  reichlichen  Gaben ,  welche  die  Natur  spendet,  machen  die 
Arbeit  überflüssig,  und.  der  Geist  verharrt  in  Stumpfheit. 
Diese  erfolgt  aber  auch  im  kalten  Klima,  wo  die  Gewinnung 
der  leiblichen  Bedürfnisse  den  ganzen  Verbrauch  aller  Kräfte 
erheischt.  „Oft  hört  man  in  den  spanischen  Colonien  die 
Behauptung,  dass  sich  die  Bewohner  der  Tierra-Caliente  so 
lange  nicht  aus  dem  Zustande  der  Apathie,  in  welchem  sie 
seit  Jahrhunderten  versunken  sind,  erheben  können,  als  kein 
königlicher  Befehl  die  Zerstörung  der  Bananenpflanzungen 
verordnete."  3    Die  anhaltende  Einwirkung  der  Hitze  schwächt 


1  Burdach,  S.  334. 

2  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie,  I,  39. 

3  Humboldt  und  Bonpland,   II,  12;    Humboldt,  Neuspanien,  III,  12. 
23.  142. 


(30  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

die  gegenseitige  Bindung  der  Stoffe  und  Kräfte,  das  anima- 
lische Leben  und  die  Selbsttätigkeit,  wogegen  die  Sinnlich- 
keit, Trägheit  das  Uebergewicht  erlangt.  Die  fortdauernde 
strenge  Kälte  macht  das  peripherische  Leben  sinken,  stumpft 
die  Sinne  und  beschränkt  die  bildende  Thätigkeit.  Selbst- 
verständlich übt  auch  die  Atmosphäre  und  deren  Beschaffen- 
heit ihren  Einfluss  auf  den  Menschen,  sowie  das  Sonnenlicht, 
das  Wasser  u.  s.  w.  Die  Einwirkung  der  umgebenden  Natur 
ist  allerdings  am  auffallendsten  bei  den  Pflanzen,  die,  nach- 
dem sie  in  eine  ursprünglich  fremdartige  Naturumgebung  ver- 
setzt sind,  von  dieser  mehr  oder  weniger  umgeändert  werden, 
wie  z.B.  behaarte  Gewächse,  die,  auf  sonnigem,  trockenem  Boden 
gewachsen,  an  schattigen,  feuchten  Standorten  glatt  werden, 
oder  durch  die  Beschaffenheit  des  Bodens  und  des  Wassers 
die  Zahl  der  Blumenblätter,  die  Farbe  der  Blüten,  der  Ge- 
schmack der  Früchte  verändert  werden  kann.  Weniger  ist 
die  Alterirung  beim  Thiere  durchschlagend,  obgleich  auch 
hier  merkwürdige  Beispiele  erwähnt  werden.  So  sollen  die 
grossen  Zitzen  der  europäischen  Kühe  und  Ziegen  mit  jeder 
Generation  in  Amerika  abnehmen,  die  dicken  Schwänze  der 
kirgisischen  Schafe  durch  die  trockenen  und  bittern  Kräuter 
der  sibirischen  Steppen  verschwinden.  x  Allerdings  bringen 
die  materiellen  Einwirkungen ,  die  Verschiedenheit  der  Nah- 
rungsmittel und  des  Klimas  noch  weniger  Veränderung  beim 
Menschen  hervor  als  beim  Thiere,  er  ist  danach  angethan, 
über  die  Verhältnisse  und  Umstände  zu  siegen,  aber  ganz 
unempfindlich  ist  er  doch  in  dieser  Beziehung  nicht.  Noch 
mehr  wirkt  die  Aussenwelt  auf  die  Stimmung  seines  Gemüths, 
auf  die  Belebung  seiner  Phantasie  und  die  Erregung  von 
Vorstellungen,  sodass  der  psychische  Charakter  inmitten  einer 
grossartigen  Natur  sich  anders  gestaltet  als  in  einer  einfachen, 
kleinlichen  Umgebung.  Die  Civilisation  aber,  die  das  Denken 
des  Menschen  erzeugt  und  erhält,  ist  die  Summe  von  inein- 
andergreifenden Thätigkeiten  von  einer  Menge  zusammen- 
lebender Individuen,  sich  gegenseitig  tragend  und  hebend,  ge- 
fördert durch  die  Umgebung  und  fortgezogen  durch  die  ge- 
schichtlichen Ereignisse,  in  welche  sie  ihrerseits  wieder  ein- 
greifen. 


1  Prichard  bei  Bastian,  I,  328. 


3.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Naturvölker.  ßl 


Wo  die  Bedingungen  der  Civilisation  fehlen,  wo  nicht 
durch  Ackerbau  und  geregelte  Arbeit  der  Bildungsprocess 
begonnen,  durch  Verkehr  mit  andern  fortgesetzt,  wo  der 
Mensch  auf  die  plumpsten  Bedürfnisse  beschränkt  ist,  da  bleibt 
die  Intelligenz  auch  unentwickelt  und  ihr  gemäss  werden  seine 
religiösen  Vorstellungen  eine  rohe  Form  an  sich  tragen.  In 
der  naturwüchsigen  Gestalt  des  Polytheismus  sieht  sich  der 
Mensch  von  Gefahren  umgeben,  die  Natur  wird  ihm  zur  Ge- 
spensterwelt, Himmelserscheinungen,  Elemente,  Thiere  und 
Pflanzen,  selbst  ihm  unbegreifliche  Kunstproducte  wie  Uhren, 
Feuergewelire  u.  dgl.  sind  ihm  von  Geistern' besessen.  In- 
folge einer  unwillkürlichen  Uebertragung  sinnlicher  Vorstellun- 
gen auf  das  geistige  Gebiet,  versetzt  er  seine  Götter  vornehm- 
lich in  die  Höhe  oder  Ferne,  lässt  sie  auf  hohen  Bergen,  im 
Luftkreis,  in  den  Wolken,  der  Sonne  u.  s.  w.  wohnen,  wo 
das  Unerreichbare  das  über  ihn  Erhabene  vertritt. 

Je  weniger  der  Mensch  die  ihn  umgebende  Natur  er- 
kennt,  desto  mehr  lebt  er  im  Gefühle  der  Abhängigkeit  von 
derselben,  und  seine  an  der  Sinnlichkeit  haftende  Anschauung, 
innerhalb  der  Gegensätzlichkeit  von  Angenehmem  und  Un- 
angenehmem sich'bewegend,  wird  sich  auch  im  Dualismus  der 
religiösen  Vorstellungen  zu  erkennen  geben.  Der  sinnliche 
Eindruck  bringt  beim  Naturmenschen  wie  beim  Kinde  eine 
gewisse  Stimmung  hervor,  bedingt  durch  das  Gefühl  des  An- 
genehmen oder  Unangenehmen,  und  in  der  Abhängigkeit  davon 
vertritt  sie  die  Stelle  des  Urtheils.  Hiernach  wird  die  uner- 
kannte Ursache  eines  angenehmen  Eindrucks  vermittels  der 
Phantasie  zum  guten  Wesen  gestaltet  und  umgekehrt  zum 
Gegentheil.  Diese  Wesen,  die  er  liebt  oder  fürchtet,  tragen 
natürlich  die  Merkmale  seiner  eigenen  Zuständlichkeit  an  sich, 
nur  dass  er  sie  an  Macht  sich  überlegen  vorstellt  und  des- 
halb als  höhere  Wesen  staunend  oder  fürchtend  verehrt.  Hin- 
ter jeder  Thätigkeit,  die  er  ausser  sich  wahrnimmt,  vermuthet 
er  ein  Wesen  seiner  Art  und  schaut  in  der  Natur  das  Product 
seines  eigenen  Geistes  an,  und  so  umgibt  er  sich  äusserlich 
mit  seiner  eigenen  Geisterwelt. 


(32  Erster  Abschnitt :    Der  religiöse  Dualismus. 

4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des 

Alterthums. 

In  der  Vorhalle  zur  eigentlichen  Geschichte  bewegt  sich 
das  Leben  der  Culturvölker  innerhalb  der  Mythen-  und  Sagen- 
kreise. Es  ist  eine  immer  wiederkehrende  Erscheinung,  dass 
das  Alterthum  mit  Göttern  anhebt  und  mit  historischen  Per- 
sonen schliesst,  wobei  von  erstem  durch  die  Brücke  der  Genea- 
logie ein  Uebergang  zu  letztern  o-eschlagen  wird.  Wie  Wodan 
in  allen  altgefmanischen  Königshäusern  das  Stammglied  in 
der  genealogischen  Kette  bildet,  so  Bei  bei  den  Semiten,  den 
Assyrern,  Babyloniern,  Phöniziern,  Karthagern,  Lydiern.  An 
irgendeinem  Punkte  der  Reihe  aufwärts  werden  Wesen  der 
Geschichte  mit  Wesen  der  Religion  verwechselt,  es  ist  aber 
kaum  zu  bestimmen,  wo  diese  Verwechslung  eingetreten  ist. 

Alles,  was  in  das  Leben  eines  Volks  eingreift  und  auf 
dessen  Schicksale  Einfluss  hat,  fällt  bei  seinem  vorgeschicht- 
lichen Dasein  innerhalb  der  Mythen  und  Sagenkreise,  die  kei- 
nen Inhalt  ausschliessen,  obschon  Religion  der  vorzüglichste 
ist.  Die  durchlebte  Zeit,  in  welcher  das  Volk"  um  seine  Selbst- 
ständigkeit kämpfte,  wird  in  den  Mythen  und  Sagen  ver- 
herrlicht, sie  schildern  dessen  Anfang  und  die  Ursprünge  sei- 
ner Einrichtungen,  erzählen  die  Erlebnisse  der  Urahnen  und 
deren  Verdienste  um  die  folgenden  Geschlechter,  berichten 
die  Verwandtschaft  der  Stammväter  und  somit  der  von  ihnen 
abstammenden  Völker;  kurz,  alles  dessen,  was  übeihaupt  die 
Thätigkeit  eines  Volks  anregen  kann,  bemächtigt  sich  der 
Mythus  und  die  Sage,  welche  als  Geburt  des  Volksgeistes 
dessen  Eigenartigkeit  an  sich  tragen  und  von  den  Bestrebun- 
gen und  Neigungen  des  Volks  ein.  Zeugniss  ablegen.  Denn 
was  ein  Volk  denkt  und  fühlt,  worin  es  sein  Heil  oder  Vn- 
heil  erblickt,  das  lagert  sich  in  seinen  Mythen  und  Sagen  ab 
und  bildet  deren  Inhalt.  Insofern  enthalten  die  Mythologien 
der  Völker  Wahrheit,  aber  poetische,  sie  enthalten  historische 
Facta,  aber  im  Kleide  der  Poesie,  mit  dem  sie  infolge  der 
mündlichen  Tradition,  durch  die  sie  sich  von  Geschlecht  zu 
Geschlecht  fortpflanzen,  angethan  werden.  Jedes  historische 
Volk,  dessen  Ursprung  ins  Alterthum  zurückgreift,  hat  seinen 
Sagen-  und  Mythenkreis,  wie  der  Geschichte  die  Vorgeschichte 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     03 

vorangeht,  obschon  strenggenommen  ancli  die  vorgeschicht- 
lichen Zustände  und  Schicksale  eines  Volks  in  dem  Sinne 
historisch  zu  nennen  sind,  als  sie  auf  Dasein  und  Bildung 
des  Volks  eingewirkt  haben.  Der  Ausdruck  „vorhistorisch" 
hat  daher  eine  relative  Bedeutung,  inwiefern  wir  den  Mythen 
und  Sagen  zu  Grunde  liegende  Thatsachen  in  poetischer  Hülle 
vor  uns  haben,  die  historische  Wahrheit  aber  von  der  Dich- 
tung zu  sondern  nicht  immer  im  Stande  sind. 

Die  natürliche  Umgebung,  die  äussere  Natur  und  deren 
Beschaffenheit  ist  von  wesentlichem  Einfluss  auf  ein  Volk, 
aber  kein  Geist,  also  auch  nicht  der  Volksgeist,  ist  ein 
Erzengniss  der  Natur,  obschon  die  geographische  Lage  des 
Landes  die  Veranlassung  geben  kann,  dass  sich  nicht  nur  ge- 
wisse Fertigkeiten  des  Volkes,  sondern  auch  gewisse  Vor- 
stellungen und  Anschauungen  ausbilden.  Es  ist  irrig,  die 
ganze  Volksentwickelung  von  der  Naturbestimmtheit  des  Lan- 
des ableiten  zu  w ollen,  die  Natur  gibt  aber  die  allernächste 
Handhabe  durch  die  in  ihr  auftretenden  Gegensätze  von  Tag 
und  Nacht,  Hitze  und  Kälte,  Nässe  und  Trockenheit,  über- 
haupt durch  Erscheinungen,  welche,  auf  das  menschliche  Da- 
sein bezogen,  wohlthätig  oder  verderblich  erscheinen,  und  ver- 
mittels des  religiösen  Sinnes  und  Triebes  die  religiöse  An- 
schauung eines  Volks  dualistisch  gestalten.  Noch  wichtiger 
aber  für  die  Bildung  der  religiösen  Vorstellungen  sind  die 
vorgeschichtlichen  Schicksale  eines  Volks,  die  in  den  meisten 
Fällen  auf  der  Berührung  mit  andern  Völkern  beruhen  und 
gegensätzlich  erscheinen.  Nicht  nur  die  Erscheinungen  der 
Natur,  welche  Staunen  oder  Furcht  einflössen,  auch  Ereignisse, 
die  das  Leben  des  Volks  betreffen  und  meistens  durch  den 
Conflict  mit  andern  Völkern  hervorgebracht  werden,  indem 
sie  das  ursprüngliche  Dasein  des  Volks  zu  gefährden  drohen, 
werden  durch  Mythen  und  Sagen  personificirt,  zu  persönlichen 
bösen  Wesen  erhoben,  die  übermenschlich  erscheinen,  weil  sie 
eben  übermächtig  eingreifen.  So  nehmen  die  Ursprünge  der 
Völker  gewöhnlich  ihren  Ausgangspunkt  von  göttlichen  We- 
sen, indem  sich  Mythen  und  Sagen  an  die  freundlichen  oder 
feindlichen  Gegensätze  hängen  und  durch  die  Phantasie  zu 
persönlichen  Wesen  gestalten.  Der  gefährliche  Feind  wird 
entweder  selbst  zum  mythischen  bösen  Wesen  und  als  solches 
im  Mythus  durch  die  mündliche  Ueberlieferung  von  Genera- 


64  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

tion  zu  Generation  fortgepflanzt  und  in  der  Erinnerung  auf- 
bewahrt, oder  die  Gottheit,  die  dem  feindlichen  Volke  als 
Schutzgottheit  gilt  und  von  ihm  verehrt  wird,  erscheint  dem 
bedrohten  Volke  als  feindliche,  übelthätige,  gegenüber  der 
eigenen  Stammgottheit,  unter  deren  Schirm  es  sein  bisheriges 
Dasein  gefristet  hat.  Die  Schutzgottheit  des  Feindes  wird 
als  übelthätige  der  eigenen  Stammgottheit  antagonistisch  ent- 
o-eo-engestellt. 

So  bildet  sich  ein  Dualismus  der  religiösen  Anschauung 
auf  Grund  der  theils  von  der  Natur,  theils  durch  die  Ge- 
schichte gebotenen  Gegensätze,  und  wie  die  Natur  die  An- 
regung gibt  zu  religiösen  Vorstellungen  der  Völker,  so  sind 
auch  deren  Schicksale  in  jene  verwoben  und,  da  die  Ge- 
schichte eines  Volks  auch  mit  der  Naturbeschaffenheit  seines 
Landes  vornehmlich  in  den  Anfängen  in  Beziehung  steht,  so 
findet  ein  Ineinandergreifen  und  eine  Gegenseitigkeit  statt, 
wie  in  jedem  Organismus.  Natur  und  Geschichte  üben  ihren 
Einfluss  auf  die  Gestaltung  des  religiösen  Bewusstseins  eines 
Volks,  und  das  religiöse  Bewusstsein,  von  dem  das  Volk  durch- 
drungen ist,  wirkt  auf  jene  zurück.  Denn  in  der  religiösen 
Anschauung  haften  die  Springfedern  der  Handlungen  und 
Thaten,  mit  denen  das  Volk  seine  Geschichte  erfüllt,  und  die 
Gemeinsamkeit  der  religiösen  Anschauung  bildet  im  Alter- 
thum  ein  Moment  der  Zusammengehörigkeit,  wie  die  Gleich- 
heit der  Abstammung,  der  Sprache,  der  Beschäftigung,  der 
Freuden,  die  es  geniesst,  der  Gefahren,  die  es  durch  Kampf 
abwehrt  oder  aus  Unmacht  ertragen  muss. 

Die  Schöpfungen  des  Volksgeistes,  durch  Natur  und  Ge- 
schichte angeregt  und  durch  Selbsttätigkeit  des  Volks  in 
seiner  Ursprache  und  Urreligion  niedergelegt,  sind  von  solcher 
Zähigkeit,  dass  sie  durch  eine  lange  Reihe  von  Geschlechtern 
fortgepflanzt  und  lebendig  erhalten  werden.  Sie  begleiten 
das  Volk  auf  seiner  Auswanderung  aus  dem  Ursitz,  und  wenn 
sie  im  Verlaufe  der  Zeit  auch  Wandlungen  erleiden,  so  schil- 
lern sie  doch  aus  den  neuen  Formen  hervor,  wie  auf  einem 
Palimpsest  die  ursprünglichen  Züge  zum  Vorschein  zu  kom- 
men pflegen,  verschlungen  mit  den  Jüngern  Zügen. 

Die  Behauptung  Plutarch's,  dass  der  Dualismus  der  reli- 
giösen Anschauung  allgemein  verbreitet  sei,  bestätigt  sich  auch 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     05 

in  der  Ausdehnung  über  alle  historischen  Culturvölker  des 
Alterthums. 

Es  wird  sich  zeigen,  dass  die  Annahme  von  guten  und 
bösen  göttlichen  Wesen  als  Urheber  wohlthätiger  oder  schäd- 
licher Erscheinungen  bei  allen  Völkern  des  Alterthums  Raum 
gefunden,  obschon  die  dualistische  Ansicht  nicht  bei  jedem 
Volke  in  gleicher  Schroffheit  auftritt,  nicht  gerade  zu  einem 
sich  bekämpfenden  Gegensatz  gespannt  ist. 

Es  wird  sich  zeigen,  dass  der  Dualismus  die  Hauptbasis 
der  religiösen  Anschauung  der  Aegypter  und  Perser  ist, 
zweier  Völker,  denen  ein  grosser  Einfluss  auf  die  religiösen 
Vorstellungen  anderer  Völker,  besonders  der  Hebräer,  zuer- 
kannt werden  muss.  Der  Dualismus  wird  bei  den  Babyloniern, 
Phönikern,  Assyrern  und  Syrern  entgegentreten,  er  findet  sich 
in  gewissem  Masse  bei  den  arischen  Stämmen,  bei  den  Ger- 
manen und  Skandinavern,  den  alten  Slaven  mehr  oder  weniger 
durchgeführt;  er  ist  bei  Griechen  und  Römern  nachzuweisen 
und  hat  selbst  im  Christenthum,  besonders  im  Mittelalter,  ein 
sehr  scharfes  Gepräge  erhalten. 


Aegypten. 

In  das  untere  Nilthal  setzt  man  die  Wiege  der  ersten 
Cultur  der  Erde  und  lässt  hier  auch  die  älteste  Speculation 
ihren  Ursprung  nehmen.  In  den  religiösen  Vorstellungen  der 
Aegypter  hat  der  Dualismus  ein  sehr  scharfes  Gepräge  er- 
halten. In  Creuzer's  „Symbolik",  Schelling's  „Einleitung  in  die 
Philosophie",  Grimm's  „Deutsche  Mythologie",  den  neuern  Ar- 
beiten von  Welcker,  Max  Müller,  Bunsen,  E.  Renan  wird  zwar 
für  die  Hauptzweige  des  Heidenthums  die  Gotteseinheitslehre 
in  Anspruch  genommen;  dagegen  hat  aber  Diestel 1  ganz  rich- 
tig bemerkt:  „Monotheismus  ist  nicht  überall  da,  wo  man  ein 
höchstes  Wesen  annimmt  oder  sich  vorstellt";  „die  Einheit 
kann  die  Einzigkeit  einschliessen ,  aber  auch  als  das  zusam- 
menhaltende Band  für  eine  Vielheit  gesetzt  werden  —  eine 
Vielheit  untergeordneter,  aber  dem  Menschen  gegenüber  mäch- 


1  Der  Monotheismus   des  ältesten  Heidenthums,   in  den  Jahrbüchern 
für  deutsche  Theologie,  1860,  V,  743. 

Eoskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  5 


ßß  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

fciger  Wesen."  Auch  die  Behauptung  Uhlemann's  1,  dass  die 
Religion  der  Aegypter  ursprünglich  Monotheismus  gewesen 
sei,  beruht  auf  der  Ansicht:  der  ursprüngliche  Monotheismus 
habe  sich  erst  im  Verlaufe  der  Zeit  in  Polytheismus  zersplit- 
tert, wobei  jedoch  die  Verwechslung  der  Speculation  mit  Re- 
ligion nicht,  zu  verkennen  ist,  da  alle  altern  Speculationen 
mit  der  Lehre  von  der  Entstehung  des  Weltganzen  beginnen 
und  gewöhnlich  auf  Ein  Grundwesen  zurückkommen.  Die 
Speculation  ist  Resultat  des  Lebens  und  der  Geschichte,  und 
obschon  sie  während  des  Verlaufs  der  letztern  nicht  ruht, 
also  nicht  nach  dem  Ableben  eines  Volks  ihre  Thätigkeit  erst 
beginnt;  so  lässt  sich  ebenso  wenig  behaupten,  dass  die  spe- 
culativen  Begriffe  ihrer  abstracten  Form  nach  im  Bewusstsein 
des  Volks  vorhanden  seien,  da  sie  vielmehr  Producte  der 
Denkoperation  des  Philosophen  sind.  Allerdings  ruht  jede 
Religion  auf  der  Ahnung  einer  einheitlichen  (monotheistischen) 
Grundlage,  woraus  sich  das  Streben,  alles  irdische  Dasein  mit 
einer  höhern  Macht  in  Verbindung  zu  setzen,  erklärt;  allein 
die  Zerstreutheit  der  sinnlichen  Anschauung  lässt  den  mono- 
theistischen Gedanken  nicht  in  jedem  Volke  zur  Einzigkeit 
sich  zuspitzen,  sondern  stellt  ihn  gleich  einem  gothischen 
Bauwerke  in  einer  Menge  von  Giebeln,  Zacken  und  Spitzen 
dar,  ohne  es  aber  zu  einem  Hauptthurme  zu  bringen.  Der 
Götterglaube  und  die  Götterverehrung  waren  früher  vorhan- 
den als  die  religiöse  Speculation,  wie  die  begriffliche  Einheit 
in  der  Vielheit  und  Mannichfaltigkeit  erst  durch  Abstraction 
gewonnen  wird. 

Wie  jede  Religion  aller  Völker  des  Alterthums  ursprüng- 
lich Naturreligion  ist,  so  geht  auch  die  religiöse  Anschauung 
der  Aegypter  von  dem  Gegensatze  der  wohlthätigen  und 
verderblichen  Naturkräfte  aus,  die  sie  in  ihren  Göttern  ver- 
ehrt. Wir  kennen  zwar  nicht  die  ägyptische  Religion  in 
ihrer  ursprünglichen  Form,  allein  aus  dem  Charakter  der  ein- 
zelnen Momente,  die  sich  mit  den  Göttervorstellungen  ver- 
schmolzen haben,  lässt  sich  mit  Gewissheit  schliessen,  dass 
die  älteste  Form  der  ägyptischen  Religion  dem  ältesten  Natur- 
cultus  der  Semiten  oder  der  vedischen  Arier  entsprechend  ge- 


1  Thot,  S.  17—31).     Dessen  Handbuch  der  ägyptischen  Alterthums- 
kunde,  II,  154. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     07 

wesen  sei.  Das  wohlthätige  Licht  und  Feuer  der  Sonne,  den 
hellen,  blauen  Himmel  personificirten  die  Aegypter  zu  heil- 
bringenden Gottheiten  und  verehrten  sie  als  Leben  schaffende 
und  erhaltende  Wesen.  Da  die  Natur  dem  Menschen  nicht 
immer  wohlthätige  Kräfte  und  Erscheinungen  zeigt,  wenn- 
gleich diese  immer  wieder  das  Uebergewicht  erlangen,  wie 
auf  die  Nacht  stets  der  Tag  folgt  und  aus  dem  Winter  immer 
neues  Leben  aufersteht;  so  personificirte  die  ägyptische  Phan- 
tasie diesen  Wechsel  der  wohlthätigen  und  schädlichen  Er- 
scheinungen als  Kampf  heilbringender  und  übelthätiger  Gott- 
heiten miteinander  um  neues  Leben  und  die  alte  Ordnung. 
Die  regelmässige  Wiederkehr  im  Thierleben  blieb  der  ägyp- 
tischen Beobachtung  nicht  fremd,  und  diese  feste,  gleichblei- 
bende Ständigkeit  rang  dem  ägyptischen  Geiste,  der  selbst 
durch  die  Eindrücke  der  steten  Regelmässigkeit  und  gleich- 
bleibenden Wiederkehr  der  Naturerscheinungen  seines  Landes 
zu  einem  stetigen  Charakter  herangebildet  ward,  Ehrfurcht  ab. 
Hierin  findet  der  merkwürdige  ägyptische  Thierdienst  seine 
Erklärung,  dessen  Ursprung  schon  die  Alten  beschäftigte  und 
bis  auf  die  Gegenwart  verschieden  gedeutet  wurde.  x 

Obschon  die  Aegypter  ihren  Gottheiten  menschliche  Ge- 
stalt verleihen,  stellen  sie  dieselben  doch  häufig  mit  Thier- 
köpfen  oder  in  der  Form  geheiligter  Thiere  dar,  in  denen  sie 
ein  jenen  entsprechendes  Wesen  zu  erkennen  glaubten. 

Im  untern  Flussthale  zu  Memphis  verehrte  man  als  höch- 
sten Gott  den  Ptah,  dessen  Symbol  das  Feuer.  Die  Griechen 
erkannten  in  ihm  den  Hephästos.  Er  ist  der  Sonnengott  des 
Lichts  und  der  Helle,  und  die  Verehrung  bezog  sich  mehr 
auf  das  Sonnenlicht,  den  Glanz,  als  auf  das  Gestirn.2  Er 
ist  wol  als  der  älteste  Gott  zu  betrachten,  wird  von  den 
Griechen  als  „Vater  des  Sonnengottes"  bezeichnet,  heisst  auf 
den  Inschriften  „der  Vater  der  Väter  der  Götter",  „Herrscher 


1  Vgl.  Diodor,  I,  21;  Herodot,  II,  46.  63.  65;  Plut.  Is.,  43.  72; 
Lukian ,  °Ueber  Astrologie,  6—7;  Jean  Paul,  Levana,  II,  297;  Creuzer, 
Symbolik,  I,  30;  Hegel,  Philosophie  der  Religion,  I,  235  fg.;  0.  Müller, 
Arch.  der  Kunst,  2.  Ausg.,  S.  17;  Roth,  Geschichte  der  abendländischen 
Philosophie,  I,  Kap.  3;  Duncker,  Geschichte  des  Alterthums,  3.  Aufl.,  I, 
53;  Scherz,  Geschichte  der  Religion,  II,  36  fg. 

2  Diestel,  Set-Typhon  u.  s.  w.,  Zeitschrift  für  historische  Theologie, 
1860,  S.  160. 


5* 


08  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

des  Himmels",  „König  der  beiden  Welten,  der  die  Sonne  ge- 
bar". Er  ist  auch  „Herr  der  Wahrheit",  „Gott  des  Anfangs", 
und  als  Schöpfer  der  Welt  heisst  er  „der  Bildner". 

In  dem  benachbarten  Anu  (On,  griech.  Heliopolis)  findet 
sich  Ra  als  Gott  der  Sonnenscheibe,  daher  sein  Symbol  die 
rothe  Sonnenscheibe  mit  zwei  Flügeln.  Er  ist  der  „Vater 
der  Götter",  Vater  der  Welt  und  des  Lebens,  Vater,  Ur-  und 
Vorbild  der  Könige,  die  über  Aegypten  herrschen,  wie  Ra 
über  die  Welt  herrscht.  1  Man  wird  hierbei  an  die  mytholo- 
gischen Anklänge  bei  manchen  Naturvölkern  erinnert,  die 
ihren  Ursprung  auf  ein  höheres  Wesen  zurückführen. 

Nach  der  Vorstellung  der  Aegypter  ist  der  Sonnengott, 
der  zugleich  der  Gott  des  Lebens  und  der  Reinheit  ist,  im 
Kampfe  mit  der  Dunkelheit,  der  Nacht,  der  Unreinheit, 
welche  durch  die  böse  Schlange  Apep  repräsentirt  wird,  in- 
dem diese  die  Sonne  verschlingen  will.  2 

Dem  Ptah  wie  dem  Ra  ist  der  Stier  geheiligt  als  Sinn- 
bild des  Lebens,  da  Licht  und  Sonne  Leben  und  Frucht 
schafft.  Neben  beiden  werden  auch  weibliche  Gottheiten  als 
Personificationen  des  empfangenden,  gebärenden,  mütterlichen 
Princips  verehrt.  Zu  Sais  die  Göttin  Neith,  zu  Bubastis 
die  Geburtsgöttin  Pacht  mit  dem  Katzenkopf,  dem  Thiere 
der  starken  Fortpflanzung,  das  gehenkelte  Kreuz  als  Zeichen 
des  Lebens  in  der  Hand. 

In  Oberägypten  war  Arnim  der  Gott  von  Theben,  den 
die  Inschriften  als  „Herrn  des  Himmels"  bezeichnen.  Nach- 
dem Theben  die  Hauptstadt  des  neuen  Reichs  geworden  war 
und  die  siegreichen  Pharaonen  des  15.  und  14.  Jahrhunderts 
in  dem  Gott  von  Theben  ihren  besondern  Schutzgott  erkannt 
hatten,  verschmolz  Arnim  mit  dem  Sonnengott  Ra  und  er- 
scheint auf  den  Denkmälern  als  Amun-Ra.  In  Oberägypten 
wurde  auch  der  widderköpfige  Kneph  (Chnubis)  verehrt,  dem 
der  Widder  als  Symbol  kräftiger  Zeugung  geheiligt  war. 
Die  Inschriften  bezeichnen  ihn  als  „Herr  der  Wasserspenden", 
„der  Ueberschwemmungen"  3,  wodurch  er  zum  Land  befruch- 
tenden Gott  wird.     Auch  Kneph  wird  mit  Arnim  verbunden, 


1  Lepsius,  Ueber  den  ersten  Götterkreis,  S.  34  fg. 

2  Champollion,  Lettres,  S.  230  fg. 

3  Bunsen,  Aegyptens  Stelle  u.  s.  \\\,  I,  4.42. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     69 

daher  dieser  ebenfalls  widderköpfig  oder  mit  Widderhörnern 
auftreten  kann.  Die  Sonnengottheit  theilt  sich  in  Oberägyp- 
ten in  Mentu,  die  aufgehende,  und  Atrau,  die  untergehende 
Sonne,  die  Sonne  des  Tags  und  die  der  Nacht,  die  oberwelt- 
liche und  unterweltliche.  Ueber  ihnen  steht  Arnim,  der  herr- 
schende Gott  in  der  Höhe,  als  „der  Verborgene",  als  „non 
apertus,   xsxpu|jt.{j.svo<;u.  1 

Dass  den  in  Oberägypten  verehrten  Göttern,  so  wie  in 
Unterägypten,  weibliche  Göttinnen  als  Ergänzung  zur  Seite 
standen,  ist  selbstverständlich,  kann. aber  im  Hinblick  auf  den 
vorliegenden  Zweck  unerörtert  bleiben  sowie  viele  andere 
in  dem  Gewirre  der  ägyptischen  Göttergestalten.  Hervor- 
zuheben ist  hier  der  Dualismus,  der  in  des  ägyptischen  Vor- 
stellung bis  zum  feindlichen  Gegensatz  gespannt  wird  und 
im  Hesiri-(Osiris-)Mythus  als  Götterkampf'  auftritt.  Die 
Natur  erschien  dem  Aegypter  nicht  immer  von  der  wohlthäti- 
ofen  Seite,  er  bemerkte  in  ihr  auch  wirkende  Kräfte,  die  ihm 
zum  Uebel  ausschlugen,  er  sah  auf  den  lichten  Tag  die  fin- 
stere Nacht  folgen,  nach  dem  Leben  den  Tod  eintreten,  neben 
dem  schwarzen  fruchtbaren  Boden  seines  Landes  die  unabseh- 
bare gelbe  Wüste  sich  ausbreiten,  von  wo  der  Sturm  den  ver- 
sengenden Hauch  herüberbrachte  und  das  Grün  mit  Sand  be- 
deckte ;  er  sah ,  wie  der  Sonnenstrahl  in  der  heissen  Zeit  die 
Vegetation  verdorren  machte  und  im  Winter  die  Natur  im 
Tode  zu  liegen  schien.  Dem  ägyptischen  Menschen  erschien 
dieser  Wechsel  als  ein  Ringen  der  ihm  wohlthätigen  Natur- 
kräfte mit  den  übelthätigen,  er  bemerkte  aber  zugleich,  dass 
erstere  schliesslich  die  Oberhand  gewinnen,  da  auf  die  Nacht 
der  helle  Tag  wieder  aufgeht,  das  Absterben  der  Natur 
eigentlich  nur  scheinbar  ist,  da  sie  in  der  folgenden  Jahres- 
zeit immer  wieder  zu  neuem  lieben  erwacht  und  neue  Früchte 
bringt.  Die  ägyptische  Phantasie  personificirte  diese  Vor- 
gänge in  der  Natur  und  stellte  sie  dar  als  Kampf  wohlthäti- 
ger  Geister  mit  verderblichen  und  als  Sieg  jener  über  diese 
in  dem  Hesiri-My thus ,  der  erst  spä,t  und  mit  Parallelen  zur 
griechischen  Mythologie  von  den  Griechen  überliefert  wurde. 
Seb,  der  Gott  des  Sternenhimmels,  der  Zeit  (Kronos),  und 
Nut  (Khea),    die   Göttin   des   Hiinmelsraums,   erzeugten   den 


1  Ruth,  I,  Note  80. 


70  Erster  Abschnitt-:    Der  religiöse  Dualismus. 

Hesiri  (Osiris),  die  Hesi  (Isis),  den  Set  (Typhon)  und 
die  Nebti  (Nephtys).  Hesiri,  dem  sein  Vater  die  Herrschaft 
über  das  Nilthal  übergeben  hatte,  waltete  mit  seiner  Schwester 
und  Gemahlin  Hesi  segensreich,  lehrte  die  Aegypter  Aeker- 
und  Weinbau,  gab  ihnen  Gesetze  und  Gottesdienst.  Er  durch- 
zog die  übrigen  Länder,  überall  Segen  verbreitend,  wurde  aber 
nach  seiner  Rückkehr  von  Set,  dessen  72  Genossen  (und  der 
äthiopischen  Königin)  in  einen  Sargkasten  geschlossen  und 
durch  die  tanitische  Mündung  ins  Meer  entsandt.  Dies  ge- 
schah am  17.  des  Monats  Athyr,  wo  die  Sonne  den  Skorpion 
durchläuft,  von  welchem  Tage  die  Aegypter  den  Beginn  der 
grossen  Hitze  rechneten.  Hesi,  in  der  Stadt  Koptos  davon 
benachrichtigt,  hüllt  sich  in  ein  Trauergewand  und  irrt  weh- 
klagend, den  Hesiri  suchend,  umher.  Nach  langem  Suchen 
findet  sie  ihn  zu  Byblus  an  der  phönikischen  Küste,  wo  die 
Wellen  den  Leichenkasten  ans  Land  gespült  hatten  und  eine 
schöne  Tamariske  über  ihm  entsprosste.  Hesi  brachte  den 
Leichnam  nach  Aegypten  zurück,  wo  sie  ihn  bestattete.  In- 
zwischen war  Har  (Horos),  der  Sohn  des  Hesiri  und  der 
Hesi,  herangewachsen,  und  um  seinen  Vater  zu  rächen,  kämpfte 
er  viele  Tage  mit  Set,  bis  er  ihn  ganz  besiegte;  Hesiri  aber, 
der  nicht  gestorben  war,  lebte  in  der  Unterwelt  als  deren 
Beherrscher.  x 

In  diesem  Mythus  ist  nebst  der  untersten  allgemeinen 
Grundlage  des  ägyptischen  Glaubens,  der  ursprünglich  Licht 
und  Sonnendienst  ist,  auch  der  Entwickelungsgang  sammt  den 
verschiedenen  Momenten  darin  angedeutet.  Mit  der  solari- 
schen Bedeutung  des  Hesiri  verschmolz  die  physische,  welche 
die  landschaftliche  Eigenartigkeit  Aegyptens  darbot,  wozu 
überdies  das  politische  Moment  und  das  ethische  hinzukam. 

Bevor  in  Aegypten  der  Nil  das  Thal  überschwemmt,  nach- 
dem die  fruchtbare  Zeit  vorbei  ist,  herrscht  Dürre  und  Un- 
fruchtbarkeit, die  von  den  Aegyptern  auf  72  Tage  ange- 
schlagen wurde.  Diese  Periode  wird  im  Mythus  durch  den 
Sies;  des  Set  und  seiner  72  Genossen  über  Hesiri,  den  sie 
erschlagen,  angedeutet.  Während  der  Zeit,  wo  die  Natur- 
kraft in  Aegypten  unthätig  zu  sein  scheint,  ist  Hesiri  in  dem 


1  Diodor,  I,  10.  13  fg.;  Flut,  Is.,  e.  12—20. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     71 

Leichenkastcn  eingesargt.  Hesi,  welche  die  Erde  bedeutet, 
sucht  trauernd  den  Hesiri,  in  dieser  Beziehung  den  Nil  re- 
präsentirend  ?,  der  die  Fruchtbarkeit  Aegyptens  bedingt  2,  der 
im  Mythus  ins  Meer  getrieben  wird.  Die  ägyptische  Erde 
ist  während  dieser  Periode  ihrer  Fruchtbarkeit  beraubt  und 
ihre  Kraft  nach  Norden  gezogen,  daher  findet  Hesi  den  Leich- 
nam an  der  Meeresküste.  Die  Erwähnung  der  phönikischen 
Küste  im  Mythus  kann  mit  Recht  als  nichtägyptischer  Zug, 
als  griechische  Combrnation  betrachtet  werden  3,  da  in  Phö- 
nikien  Astarte  verehrt  und  gleich  der  Isis  mit  Rinderhörnern 
dargestellt  wurde,  Byblus  wegen  seiner  Adonisklage  bekannt 
war.  Nach  den  72  Tagen  drückender  Dürre,  nachdem  mit 
der  Sonnenwende  die  Nilschwellung  das  Land  unter  Wasser 
gesetzt  hat,  beginnt  nach  der  Ueberschwemmung  der  neue 
Segen  des  Jahrs.  Dieser  Vorgang  wird  im  Mythus  durch 
Ilar,  das  Kind  der  Hesi  und  des  Hesiri,  angedeutet,  das 
herangewachsen  zum  rächenden  Sohn  des  Vaters  wird.  He- 
siri, der  aber  nur  scheintodt  gewesen,  lebt  mit  seinem  Sohne 
in  der  Unterwelt  fort.  In  den  Hieroglyphen  wird  Har  „Rächer 
seines  Vaters  Hesiri"  genannt4  und  häufig  die  Schlange  Apep, 
Apophis  5  mit  einem  Speere  durchbohrend  dargestellt.  Aegyp- 
tische  Denkmäler  bezeichnen  ihn  durch  den  ihm  geheiligten 
Sperber  mit  der  Geisel.  6 

In  Hesiri,  ursprünglich  die  Sonne  mit  ihren  heilsamen 
Wirkungen  7,  dachten  die  Aegypter  alle  wohlthätigen  Eigen- 
schaften der  Natur  vereinigt,  er  wurde  zum  Gott  des  Lebens, 
das  unzerstörbar  aus  dem  Tode  wieder  aufersteht.  Er  heisst 
„König  des  Lebens",  „Herr  von  unzähligen  Tagen",  „König 
der  Götter".  Die  immergrüne  Tamariske,  der  Reiher  sind 
ihm  geheiligt.  Auf  den  Denkmälern  erscheint  er  mit  dem 
Scepter,  der  Krone  Oberägyptens  und  dem  Nilmesser,  dem 
Zeichen  des  Lebens.     Er  führt   die  Herrschaft   in   der  Unter- 


1  Herodot,  II,  59;  Plut.  Is.,  e.  38. 

2  Daher  "Ooipi?  aya^OTioios  (Plut.  Is.,  c.  42). 

3  Duncker,  I,  46. 

1  Vgl.  Plutarch,  Is.,  e.  12. 
5  So  viel  als  Set,   vgl.  Plutarch,  e.  36. 
e  Wilkinson,  Manners  and  cusloms,  VI,  37. 

7  Diodor,  I,  e.  10;  Macrobius,  Saturn.,  I,  o.  21  ;  Porpliyrius  und  Ma- 
netho  bei  Euseb.  praepar.  evangel.,  I,  e.  10;   III,  c.  2. 


72  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

weit,    lebt    aber  auch    in   seinem  Sohne  Har  fort,    der    über 
Aegypten  waltet. 

Den  Gegensatz  zu  Hesiri  bildet  Set,  von  den  Griechen 
Typhon  genannt,  der,  ursprünglich  das  zerstörende  Sonnen- 
feuer bedeutend,  zum  Repräsentanten  aller  schädlichen  Wir- 
kungen der  Natur  überhaupt  wird.  Im  Gegensatz  zum  Licht 
ist  er  die  Dunkelheit,  dargestellt  als  Schlange  Apep,  welche 
die  Sonne  zu  verschlingen  droht.  Er  ist  die  versengende 
Sonnenhitze,  die  Dürre,  und  da  diese  durch  die  Glutwinde 
vermehrt  wird,  der  Glutwind  und  Sandsturm.  Gegenüber 
dem  befruchtenden  Nil  ist  Set  das  salzige,  öde  Meer  \  in 
welchem  der  Nil  bei  seinem  Ausflusse  verschwindet.  Ihm 
eignen  das  gefrässige  Krokodil,  das  wüste  Nilpferd,  der  stützige 
Esel.  Set  selbst  wird  auf  Denkmälern  mit  Eselsohren  abge- 
bildet 2,  wie  ihm  überhaupt  aUe  Thiere,  Pflanzen  schädlicher 
Art  und  die  schlimmen  Ereignisse  zugeschrieben  werden.  3 
Sein  Geburtstag  galt  für  einen  Unglückstag,  an  dem  man 
keine  Geschäfte  unternahm.4  Alles  Unregelmässige,  Ordnungs- 
lose, Unbeständige  leiteten  die  Aegypter  von  ihm  ab,  und  er 
gilt  in  ethischer  Hinsicht  als  Urheber  des  Bösen,  der  Lüge 
und  Verleumdung. 5  Ein  Papyrus  bezeichnet  ihn  als  „den 
allmächtigen  Zerstörer  und  Veröder"  6;  er  zerstört  die  heilige 
Lehre  der  Hesi  und  wirkt  der  Cultur  Aegyptens  feindlich 
entgegen. 7  Seiner  Farbe  nach  ist  er  7CU(5po£  vfi  xpo??  was 
Plutarch0  durch  zapox.?°*5  a^so  farblos,  gelblich,  erläutert. 
Diestel  9  bemerkt,  man  habe  dies  „sehr  falsch  mit  roth  oder 
gar  rothbraun  übersetzt",  und  es  wäre  „sonderbar",  gerade 
die  rothe  Farbe  dem  Typhon  beizulegen,  da,  wie  die  Denk- 
mäler ausweisen,  roth  und  rothbraun  recht  eigentlich  die 
Hautfarbe  der  Aegypter  ist.  „Vielmehr  sind  mit  den  farb- 
losen,  gelblichen  Menschen   auf  den  Monumenten   immer  die 


1  Plutarch,  Is.,  c.  33. 

-  Salvolini,  Campagne  de  Ramses  le  Grand,  pl.  I,  3*. 

s  Plut.,  Is.,  c.  50. 

1  Plut.,  ibid.,  c.  12. 

5  Plut,,  Is.,  c.  19.  54. 

l'  Lepsiu*,  Götterkreis,  S.  53. 

7  Plut.,  Is.,  c.  2. 

8  C.  33. 

'-'  Sct-Typhon,  in  der  Zeitschrift  für  histor.  Theologie,  1860,  S.  170. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Altertkums.     7o 

nördlichen  Ausländer  gemeint,  die  sich  durch  Tracht,  Hal- 
tung und  Physiognomie  als  solche  zu  erkennen  geben."  Diese 
gewiss  schätzenswerthe  Bemerkung  scheint  doch  das  politische 
Moment  zu  einseitig  zu  betonen,  da  kaum  erweislich  sein 
dürfte,  dass  bei  der  Farbe  des  Set  nicht  auch  die  physische 
Bedeutung  mitspiele.  Immerhin  mögen  unter  den  typhoni- 
schen  (setischen)  Menschen  zwar  kv§§q(  \  obschon  nicht  roth- 
haarige, sondern  „gelbhäutige",  also  Nichtägypter,  Ausländer 
zu  verstehen  sein,  so  schliesst  dies  nicht  aus,  dass  bei  der 
Farbe  des  Set  auch  der  Gegensatz  des  Landes  Aegypten  zur 
Wüste  mit  inbegriffen  werde,  da  die  Aegypter  selbst  ihr  Land 
als  „khemi",  schwarz,  dunkel  bezeichnen  gegenüber  dem  un- 
fruchtbaren gelblichen  Sande  der  Wüste,  die  unter  der  bren- 
nenden Sonne  im  röthlichen  Lichte  erscheint.  Da  Ilesiri  als 
Schutzgott  Aegyptens  dessen  dunkle  Farbe  trägt,  da  Set 
als  Ttu^po'c  bezeichnet  in  derselben  Färbung  erscheint  wie 
die  unter  dem  Sonnenbrande  liegende  Wüste  mit  ihren  vom 
Sturme  aufgewirbelten  Sandwolken,  so  ist  die  Annahme  be- 
rechtigt, auch  von  dieser  Seite  die  physische  Bedeutung  des 
Set  festzuhalten,  ohne  sie  indess  einseitig  allein  betonen  zu 
wollen,  und  denselben  als  das  in  der  Wüste  hausende  Wesen 
zu  betrachten,  gegenüber  dem  im  fruchtbaren  Aegypten  wal- 
tenden Hesiri. 

In  Set,  dem  schlechthinnigen  Gegensatz  zu  Hesiri,  ver- 
einigen sich  physische  und  politische  Beziehungen,  und  in 
letzter  weist  er  auf  das  Nichtägyptische,  Ausländische  hin. 
Bemerkenswerth  ist  deshalb,  dass  die  dem  Set  geheiligten 
Städte  und  Gebiete  an  den  Grenzen  des  eigentlichen  Nil- 
landes gelegen  waren,  wie  Nubt  (Ombos),  wovon  Set  den 
Beinamen  Nubi  führt2;  so  auch  der  sirbonische  See,  in  wel- 
chem laut  der  gräcisirten  Sage  Set  gefesselt  liegt  3;  Ha-uar, 
das  in  der  Geschichte  der  Hyksos  bekannte  Aüapi? 4,  in  der 
heiligen  Sprache  auch  Sethroe  genannt,  der  setroitische  Nomos, 
Thor  des  Set  5,  nach  Brugsch  6  die  Stadt  Set  des  Wächters. 


1  Diodor,  I,  8«. 

2  Lepsius,  Denkmäler,  III,  34.  35. 

3  Herodot,  III,  5. 

4  Vgl.  Joseph,  c.  Ap.,  I,  14. 

5  Lepsius,  Chronologie,  I,  344. 

6  Zeitschrift  der  Deutschen  lnorgcnläudischen  Gesellschaft,  IX,  209. 


74  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Set  galt  auch  als  Gott  der  Nachbarvölker,  des  südlichen  und 
nördlichen  Auslandes.  Daher  gibt  es  einen  Set-nehes,  einen 
Set  der  Neger,  der  durch  einen  schwarzen  Raben  mit  abge- 
stutzten Setohren  dargestellt  wird,  darum  ist  die  äthiopische 
Königin  im  Hesiri-Mythus  dem  Set  verbündet. 

Alles  Nichtägyptische,  Fremdartige  ist  eine  Offenbarung 
des  Set,  ebenso  alles  Schädliche,  Rohe,  alles  verwüstende 
Wesen.  In  der  Bedeutung  des  Set  vereinigt  sich  mit  der 
Beziehung  auf  das  Ausländische  die  tobende  Gewaltthätigkeit, 
das  Vernichtende,  Rohe  im  Kriege,  das  die  Griechen  dem 
Ares  zueignen.  Er  ist  Kriegsgott  und  als  solcher  begünstigt 
er  das  Kriegsglück,  repräsentirt  aber  vornehmlich  die  wilde 
Seite,  das  Ungestüme,  Vernichtende  des  Krieges.  Als  Kriegs- 
gott findet  sich  Set  auch  in  Hieroglyphenbildern  und  stand 
in  dieser  Bedeutung  dem  Kriegerstamme  der  Aegypter  vor. 
Auf  einer  Tempelwand  zu  Karnak  unterrichtet  er  neben  Hör 
den  König  Thutmosis  im  Bogenschiessen.  *  Als  Kriegsgott 
hatte  Omble-Set  seinen  Tempel.  2 

Mit  der  Bedeutung  des  Set  als  Kriegsgott  und  Reprä- 
sentant des  Auslandes,  über  welches  er  die  Macht  führt  und 
insofern  von  ihm  abhängt,  ob  Aegypten  vom  Auslande  unter- 
jocht wird  oder  über  dieses  die  Oberhand  gewinnt,  steht  in 
Verbindung:  dass  Set  vornehmlich  in  jenen  Gebieten  cultivirt 
wird,  wo  vielfache  Berührungen  mit  dem  Auslande  statt- 
finden, dass  sich  die  feindliche  Seite  des  Set  besonders  ge- 
steigert in  jenen  Zeiten  herauskehrt,  wo  Aegypten  von  den 
Ausländern  bedrückt  wird.  Dies  zeigt  die  Zeit  der  Hyksos 
in  Aegypten. 

Manetho  erzählt  3:  „  Es  regierte  ein  König  Amyntimäos4 
über  Aegypten,  unter  welchem  die  Gottheit  ungünstig  war. 
Unerwartet  zogen  aus  den  östlichen  Gegenden  von  Geschlecht 
unangesehene  Menschen  voll  Selbstvertrauen  gegen  das  Land 
und  nahmen  es  mit  Gewalt  ohne  grosse  Mühe  ein,  und  nach- 
dem sie  die  Herrschenden  im  Lande  sich  unterworfen,  ver- 
brannten   sie   grausam   die  Städte   und   zerstörten   die   Tempel 


1  Wilkinson,  VI,  pl.  39. 
-  Ilerod.,  II,  83. 
3  Jos.  c.  Ap.,  I,  14. 


4  Ameuemhat;    Lepsin?,  König&buch,  S.  24. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     75 

der  Götter:  segeii  die  Einheimischen  aber  handelten  sie  auf 
das  feindseligste,  indem  sie  die  einen  niedermachten  und  die 
Weiber  und  Kinder  der  andern  in  Knechtschaft  brachte». 
Am  Ende  machten  sie  auch  einen  ans  ihrer  Mitte  zum  König, 
dessen  Name  Salatis  war.  Dieser  residirte  in  Memphis,  er- 
hob Tribut  aus  dem  obern  und  untern  Lande  und  hielt  Be- 
satzungen in  den  gelegensten  Orten,  besonders  den  östlichen 
Gegenden.  Im  sethroitischen  Bezirke  fand  er  eine  sehr  ge- 
eignete, am  Nilarme  von  Bubastis  gelegene  Stadt,  welche  in 
alter  Zeit  den  Namen  Abaris  erhalten  hatte;  diese  bevölkerte 
er,  umgab  sie  mit  festen  Mauern  und  legte  240000  Mann 
seiner  Bewaffneten  als  Besatzung  hinein.  Diesem  folgten  an- 
dere Könige,  die  stets  Krieg  führten  und  die  Wurzel  Aegyp- 
tens  immer  mehr  auszurotten  suchten.  Ihr  Geschlecht  wurde 
Hyksos  genannt.  Denn  «Hyk»  bedeutet  in  der  heiligen  Sprache 
einen  König,  «Sos»  aber  Hirte  im  gemeinen  Dialekte,  und  so 
zusammengesetzt  entsteht  Hyksos." 

Manetho  bezeichnet  die  Fremden  an  verschiedenen  Stellen 
seines  Werks  als  Phöniker  oder  als  deren  Verwandte  \  und 
wenn  sie  nach  dessen  Angabe  von  einigen  Araber  genannt 
werden,  so  ist  bekannt,  dass  der  Landestheil,  der  an  die  nord- 
östliche Grenze  Aegyptens  stiess,  woher  die  Eindringlinge 
gekommen  waren,  von  den  Alten  bald  zu  Phönikien,  bald 
zum  peträischen  Arabien  gerechnet  wird.  Afrikanos  nennt 
sie  Phöniker.2 

Dass  mit  dem  Einbrüche  der  Phöniker  nicht  ganz  Aegyp- 
ten  unterjocht  worden  sei,  sondern  die  einheimische  Königs- 
dynastie sich  nur  nach  Oberägypten  zurückgezogen  habe,  geht 
aus  der  Bemerkung  hervor,  die  Josephus  der  Manethonischen 
Stelle  hinzufügt,  wonach,  nach  511  jähriger  Herrschaft  der 
Könige  der  Hirten,  in  dem  Gebiete  von  Theben  und  dem 
übrigen  Aegypten  Könige  aufgestanden  seien,  woraus  sich 
ein  langer  Kampf  entwickelt  habe,  infolge  dessen  die  Hirten 
geschlafen  und  auf  Avaris  zurückgedrängt  wurden.  3 


1  Georg.  Syncell.,  S.  61;   Eusebiu*,  Cliron.,  S.  99. 

2  Afric.  ap.  Syncell.,  S.  Gl. 

3  Fragmenta   Manethon.,    üb.  II,    in  Idleri  Hermap.  Appeud.,   Ö.  37; 
Jos.  c.  Apion.,  I,  14.  15,  in  Idleri  Hermap.  Append.,  S.  53. 


76  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Nach  dem  Berichte  Manetho's  versuchte  Tuthmosis  Abaris 
mit  Gewalt  einzunehmen,  da  ihm  dies  aber  nicht  gelungen, 
habe  er  sich  mit  den  Hirten  abgefunden,  dass  sie  Aegypten 
verlassen  konnten,  worauf  sie  in  die  Wüste  gezogen  seien. 

So  viel  lässt  sich  dem  Berichte  entnehmen,  dass  die  Herr- 
schaft der  Fremden  in  Niederägypten  neben  den  einheimi- 
schen Königen  in  Oberägypten  eine  geraume  Zeit  hindurch 
bestanden  habe,  dass  diesen  nur  nach  langem  Kampfe  ge- 
lungen sei,  das  Uebergewicht  zu  erlangen  und  die  Phöniker 
auf  das  Nildelta  hinabzudrängen  und  endlich  aus  Aegypten 
zu  vertreiben. 

Von  der  Zeit  wo  König  Raskenen  in  Theben  regierte, 
nachdem  seit  der  ersten  Erhebuno;  der  einheimischen  Fürsten 
gegen  die  Fremden  über  hundert  Jahre  vergangen  waren, 
berichtet  ein  Papyrus  des  Britischen  Museum:  „Es  ereignete 
sich,  dass  das  Land  Aegypten  Eigenthum  war  der  Bösen 
und  nicht  war  damals  ein  Herr  mit  Leben,  Heil  und  Kraft 
König.  Und  siehe,  es  war  Raskenen  mit  Leben,  Heil  und 
Kraft  nur  Vorsteher  des  südlichen  Landes.  Die  Bösen  waren 
in  der  Burg  der  Sonne  (Heliopolis) ,  und  ihr  Haupt  Apepi 
(Apophis)  war  in  Hauar  (Avaris),  und  das  ganze  Land  leistete 
Dienste  die  Fülle  und  Tribut,  alles  Gute  was  Unterägypten 
hervorbringt.  Und  Apepi  wählte  den  Gott  Sutech  (Set) 1  zum 
Herrn  und  baute  ihm  einen  Altar  in  guter,  langdauernder  Ar- 
beit und  diente  keinem  andern  Gotte,  welcher  in  Aegyp- 
ten war."  2 

Die  Verdrängung  der  ägyptischen  Götter  durch  Set  in  je- 
ner Zeit  findet  sich  auch  in  Priestersagen  bei  griechischen 
Schriftstellern  aufbewahrt  und  bestätigt,  wonach  es  heisst: 
dass  die  ägyptischen  Götter  ihre  Kronen  abgelegt,  als  sie  die 
Herrschaft  des  Typhon  (Set)  sahen3;  oder:  dass  die  Götter 
(die  ägyptischen),  als  Typhon,  der  Feind  der  Götter,  nach 
Aegypten  gekommen,  aus  Furcht  vor  ihm  sich  in  Thiere  ver- 
wandelt hätten4,   und  zwar,   wie  Diodorus  erklärt,    um  sich 


1  Lepsius,  Lieber  den  ersten  Götterkrieg,  S.  18  fg. 

2  Brugscb ,    Aegyptische   Studien ,    in   der  Zeitschrift   der  Deutschen 
niorgenländischen  Gesellschaft,  IX,  200  fg. 

3  Hellanic.  ap.  Athen.,  XV,  G80. 
1  llygin.,  II,  28. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     77 

der  Gottlosigkeit  und  Grausamkeit  der  erdgeborenen  Menschen 
(nämlich  der  Hyksos)  zu  entziehen. 

Es  darf  immerhin  angenommen  werden,  dass  das  Ver- 
halten der  Fremden,  die  Manetho  bei  ihrem  Einbrüche  als 
wilde  Eroberer  auftreten  lässt,  im  Verlaufe  der  Zeit  milder 
geworden  sei 1 ;  allein  ebenso  ergibt  sich  aus  dem  Papyrus- 
berichte:  dass  der  Setcult  in  Niederägypten  vornehmlich  ge- 
pflegt worden,  dass  Set  im  Volksglauben  zum  Träger  des 
Bösen  und  Uebeln  sich  herausgebildet  habe. 

Als  die  phönikischen  Eindringlinge  im  Lande  der  Aegyp- 
ter  sich  festgesetzt  hatten,  erkannten  sie  im  ägyptischen  Set, 
Sutech,  dem  Gott  des  zerstörenden  Kriegs,  dem  Localgott 
von  Ombos,  Ombte-Set,  Nub,  Nubi-Set,  ihren  eigenen  Feuer- 
gott, der  zugleich  ihr  Kriegs-  und  National-  oder  Stammgott 
war,  daher  sie  dem  Set  ihre  Verehrung  zollten,  ihn  zur  Haupt- 
gottheit erhoben  und  demselben  ihr  festes  Lager  heiligten. 
Der  ägyptische  Hass  gegen  die  phönikischen  Eindringlinge 
und  Unterdrücker  Hess  dieselben  in  den  Augen  der  Aegypter 
als  Repräsentanten  schwerer  Vergewaltigung  erscheinen,  und 
dieser  Hass  wurde  in  der  Erinnerung  aufbewahrt.  Auf  Set, 
den  die  verhassten  Fremdlinge  als  ihre  Hauptgottheit  verehrt 
hatten,  übertrug  sich  das  Gewaltthätige;  alles  dem  Lande 
Aegypten  und  seinen  wohlthätigen  Göttern  Feindselige  und 
alles,  was  dem  Aegypter  schädlich  erschien,  wie  der  Druck 
der  Phöniker,  häufte  er  auf  Set,  den  diese  verehrt  hatten. 
Obschon  das  Princip  aller  Rohheit,  „das  die  Harmonie  im 
Weltall  wie  im  Menschen  stört,  der  stark  griechisch  gefärbten 
Religionsphilosophie"  angehören  mag  2 ,  ist  doch  nicht  zu  ver- 
kennen, dass  durch  das  Auftreten  der  Hyksos  in  Aegypten 
die  Vorstellung  von  Set  als  einer  furchtbaren  übelthätigen 
Gottheit  im  ägyptischen  Volksglauben  ihre  weitere  Ausbildung 
erlangte.  Diese  Annahme  wird  kaum  abgeschwächt  durch 
die  Hinweisung  auf  „die  grosse  Verschiedenheit  der  religiösen 
Observanz  in  den  zahlreichen  Localculten ",  noch  dadurch, 
dass  Set  als  eine  der  Besänftigung  fähige  Gottesmacht  noch 
in  späten  Zeiten  nachzuweisen  ist.     Es  liegt  in  der  Natur  der 


1  Duncker,  I,  97. 

2  Diestel,  Set-Typhon  u.  s.  w.,  Zeitschrift  für  historische  Theologie,  1860, 
187. 


78  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Sache,  dass  der  Setcult  nicht  in  allen  Gebieten  auf  gleicher 
Linie  im  Vordergrund  gestanden,  dass  man  nach  Umständen 
entweder,  um  den  wohlthätigen  Göttern  Aegyptens  zu  ge- 
fallen, die  als  von  Set  angefeindet  galten,  diesem  in  seinen 
ihm  geeigneten  Thieren  den  Abscheu  an  den  Tag  legte,  wie 
die  Einwohner  von  Koptos  einen  Esel  vom  Felsen  herabstürz- 
ten 1;  oder  den  Set,  der  als  gefährlich  zu  fürchten  war,  wenn 
er  eine  Landplage,  z.  B.  den  Glutwind,  angerichtet  hatte, 
di#ch  Opfer  zu  besänftigen  suchte. 

Die  Gegensätzlichkeit  von  guten  und  bösen  Wesen  inner- 
halb des  ägyptischen  Götterglaubens  steht  fest,  und  das 
Vorhandensein  eines  übelthätigen  höhern  Wesens  ist  ausser 
Zweifel. 

Der  gegensätzliche  Dualismus  in  der  ägyptischen  Reli- 
gionsanschauung findet  einen  fernem  Beleg  in  der  religiösen 
Speculation  der  Aegypter.  Es  bleibt  wahr,  „der  Götterglaube 
und  die  Götterverehrung  waren  früher  vorhanden  als  die  reli- 
giöse Speculation2-,  aber  ebenso  richtig  ist,  dass  speculative 
Constructionen,  Kosmogonien  und  Theogonien,  dogmatische 
Systeme  auf  die  Art  und  den  Charakter  eines  Volks  und  sei- 
nes religiösen  Seins  hindeuten,  weil  sie  der  untersten  Grund- 
lage nach  doch  im  Volke  wurzeln ,  obschon  sie  in  der  Form 
der  Speculation  nicht  im  Volksbewusstsein  vorhanden  und 
der  Masse  nicht  zugänglich  sind.  Es  soll  daher  die  ägyptisch 
religiöse  Speculation  eben  nur  als  Unterstützung  für  unsere 
Annahme  beigebracht  werden,  insofern  auch  in  ihr  jene  Zwei- 
heit  zum  Ausdruck  kommt. 

Nach  den  Erörterungen  Röth's  3  stand  an  der  Spitze  der 
ägyptischen  Speculation  eine  Urgottheit,  das  ,,ungetheilte 
Eine"4,  zusammengesetzt  aus  Stoff,  woraus  alle  Theile  in 
der  Welt  gebildet  sind,  Geist,  der  das  Ganze  durchweht  und 
belebt  in  seiner  unendlichen  Ausdehnung,  und  Zeit,  das  regel- 
mässige Nacheinander  von  Tagen  und  Nächten,  Jahreszeiten 
und  Jahren.  Diese  vier  Grundbestandteile  der  Welt  waren 
von  Ewigkeit  zu  einer  Einheit  verbunden  gedacht  in  der  Ur- 


1  Plutarch,  Is.,  c.  30. 
*  Roth,  I,  50. 

3  I,  132  fg. 

4  Jambl.,  de  myster.  Aegyptior.,  VIII,  2. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culfcurvölker  des  Aitertliums.     70 

gottheit,  die  man  an  die  Spitze  alles  Vorhandenen  stellte,  in 
der  in  Einheit  verbunden  war,  was  in  der  Welt  getrennt  und 
in  die  einzelnen  Gottheiten  gesondert  auseinandertreten  sollte. 
Diese  Urgottheit  nennen  die  Aegypter  Arnim,  „unentstanden, 
verborgen",  d.  h.  durch  die  Sinne  nicht  unmittelbar  wahr- 
nehmbar, von  den  Aegyptern  so  heilig  gehalten,  dass  sie  den 
Namen  auszusprechen  sich  scheuten.  l 

Da  die  vier  Urwesen,  aus  welchen  die  Gottheit  bestand, 
verschiedenen  Geschlechts  gedacht  wurden,  so  entstanden  zwei 
Paare:  der  männliche  Kneph  als  Urgeist  mit  der  weiblichen 
Neith  als  Urstoff  bildet  das  eine  Paar;  der  männliche  Sevech 
als  Urzeit  mit  der  weiblichen  Pascht,  Urraum,   das  andere. 

Kneph,  d.  h.  Geist,  der  in  der  Hieroglyphenschrift  auch 
Neb,  Noub,  Noum  heisst,  nach  der  griechischen  Schreibart 
xvs'9,  xvoucpi^,  xvoüßic,  xvoü(u(.<;  2,  ist  aber  nicht  unser  abstracter 
Begriff  Geist,  der  dem  ganzen  Alterthum  fremd  war,  sondern 
als  feines  Wehen,  als  aetherischer  Hauch,  als  luftartiges  We- 
sen gedacht,  von  den  Aegyptern  zugleich  als  das  ,, Urgute" 
betrachtet,  als  ,,der  gute  Gott".  Die  Urmaterie  Neith  wurde 
als  mit  Erdtheilen  vermischtes  Wasser,  als  schlammige  Ma- 
terie, aber  mit  selbstschöpferischer  Kraft  versehen,  gefasst,  sie 
heisst  „die  grosse  Mutter",  auch  „Göttermutter",  denn  die 
Götter  sind  Kinder  der  Neith,  ihr  Attribut  ist  das  Symbol 
der  Zeugungskraft. 

Die  Bemerkung  Diestel's  3,  dass  diese  „alte,  von  Roth  er- 
neute Meinung  von  einem  schöpferischen  Urwesen  Kneph 
zerstiebt  angesichts  aller  Urkunden",  so  schätzbar  sie  ist, 
kann  hier  unabgewogen  bleiben,  da  sie  nach  einer  andern 
Richtung,  nämlich  der  Zeit,  gestellt  ist4,  während  wir,  das 
Deductive  ausser  Acht  lassend,  den  Blick  auf  den  gegensätz- 
lichen Dualismus  richten,  der  sich  auch  in  der  ägyptischen 
Speculation  herausstellt. 

Sevech,  der  männliche  Gott  der  Urzeit,  ist  wesentlich 
ein    übelthätiger   Gott,    da   die   Zeit    nicht  nur   hervorbringt, 


1  Jambl.,  de  myster.  Aegyptior.,  VUf,  3. 

2  Vgl.  bei  Roth,  I,  Note  83. 

3  Monotheismus  des    ältesten   Heidenthums;    Jahrbuch    für    deutsche 
Theologie,  V,  1860. 

4  „Name  wie  Begriff  lässt  sich  für  die  ganze  vorchristliche  Zeit 
nicht  nachweisen."     Diestel,  a.  a.  0.  v 


gQ  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

sondern  auch  alles  zerstört,  mithin  Urgrund  der  Zerstörung 
und  Vernichtung  ist.  Sonach  ist  Sevech  der  Urheber  alles 
Uebcls  und  alles  Bösen. 

Das  vierte  Urwesen,  Pascht,  die  Herrin  des  Raumes,  „die 
ausgegossene,  ausgebreitete",  vereint  in  sich  die  Vorstellung 
der  Finsterniss,  wurde  aber  trotz  ihrer  Verbindung  mit 
Sevech  als  gute  Gottheit  gedacht,  und  weil  sie  die  Urmaterie 
Neith  in  sich  aufnahm,  heisst  sie  auch  die  „Geburtshelferin". 

Aus  der  Urgottheit,  in  der  sich  Materie,  Geist  oder  Kraft, 
Raum  und  Zeit  vereinigt  befand,  ging  die  Welt  durch  innere 
Entwickelung  hervor,  indem  die  Materie  unter  Einwirkung 
des  bewegenden  Hauches  sich  kugelartig  gestaltete,  daher 
Kncph,  auch  Schöpfer  und  König  des  Weltalls  genannt,  auf 
Hieroglyphenbildern  als  eine  die  Weltkugel  umfassende  Schlange 
dargestellt  wird.  Als  Himmelslenker  und  Weltbeherrscher  ist 
Kneph  der  gute  Geist. 

Aus  der  im  Schose  der  Urgottheit  entstandenen  Welt- 
kugel gingen  auch  die  acht  grossen  Götter  hervor,  die  per- 
soniticirten  kosmischen  Götterbegriffe,  da  sie  als  Theile  der 
Urgottheit  in  die  Welt  übergingen  und  diese  unter  ihrem 
Einflüsse  die  jetzige  Gestalt  erhielt. 

Nachdem  der  „innenweltliche  Schöpf  ergeist"  auf  die  Erde 
niedergestiegen  war',  schmückte  er  sie  mit  ihrer  jetzigen  Ge- 
stalt, d.  h.  er  bildete  Aegypten,  denn,  wie  für  jedes  ältere 
Volk,  war  dem  Aegypter  sein  Land  der  Haupttheil  der  Erde, 
und  die  vier  Urgottheiten  wurden  zu  irdischen  Gottheiten. 

Da  vom  Nil  die  Existenz  und  Cultur  Aegyptens  abhängt, 
nach  seiner  Ueberschwemmung  die  drei  Hauptzeiten:  die  Zeit 
der  Ueberschwemmung,  die  darauffolgende  Saatzeit  und  die 
Zeit  der  Dürre,  sowie  die  ganze  Lebensordnung,  die  häus- 
lichen und  bürgerlichen  Einrichtungen  geregelt  werden;  so 
knüpft  sich  auch  die  ägyptische  Kosmogonie  und  Theogonie 
an  diesen  Fluss.  Kneph,  der  gute  Urgeist,  wird  zum  Nil- 
Okeamos  (Okeamos  soll  der  ägyptische  Name  des  Nil  sein), 
und  heisst  daher  der  gute  Gott  mit  all  den  wohlthätigen 
Eigenschaften  des  Flusses;  die  Gemahlin  des  Kneph,  das 
himmlische  Urgewässer  Neith,  die  Netpe  des  Himmels,  kommt 
auf  die  Erde  und  wird  zur  Flussgöttin  Okeame,  die  als  Er- 
nährerin der  Welt,  d.  h.  Aegyptens,  gilt;  Sevech  findet 
im  Wechsel   der  von   den  Nilüberschwemmungen    abhängigen 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthuras.     31 

Jahreszeiten  seine  Verkörperung  und  wird  als  Seb  zur  irdi- 
schen Zeit:  Pascht  findet  auf  Erden  ihr  Amt  als  Hüterin 
der  bestehenden  Weltordnung  und  wird  zur  Reto. 

Nachdem  die  vier  Urgottheiten  verkörpert  waren,  trat 
Erzeugung  und  Geburt  auf  Erden  ein,  auch  die  göttlichen 
Wesen  pflanzten  sich  fort,  und  es  entstand  ein  Göttergeschlecht 
ungeheuer  an  Kraft  und  Grösse,  die  Giganten  Apophi. 

Reich  an  Nachkommenschaft  waren  die  vier  grossen  ir- 
disch gewordenen  Götter,  und  besonders  war  Netpe  als  Ge- 
bärerin  thätig,  sie  hatte  Kinder  von  verschiedenen  Vätern: 
Hesiri  und  Arueris  von  Re,  dem  Sonnengott;  Hesi  von  Thoot; 
Set  und  Nephthys  von  Seb.  Die  Erde  ward  mit  zahllosen 
Gottheiten  und  Dämonen  gefüllt,  die  vier  Gottheiten  herrsch- 
ten auf  der  Erde,  auf  welcher  es  aber  noch  keine  Men- 
schen gab. 

Die  Zeit  der  unmittelbaren  Herrschaft  des  Okeamos,  des 
guten  Geistes  über  Aegypten,  bildet  das  goldene  Zeitalter, 
wo  es  kein  Uebel  und  nichts  Böses  gab.  Aber  Seb,  der  ir- 
disch gewordene  Sevek,  entfaltete  seine  zerstörerische  Eigen- 
schaft und  machte  der  goldenen  Zeit  ein  Ende.  Mit  dem  zu- 
nehmenden Alter  der  Welt  machte  sich  die  übelthätige  Natur 
der  Zeit  geltend,  sie  riss  die  Herrschaft  an  sich,  und  die  Zer- 
störung trat  ein.  Seb  empört  sich,  unterstützt  von  den  Gi- 
ganten Apophi  gegen  Okeamos,  den  guten  Geist,  den  Nilgott, 
dem  die  guten  Götter  und  Geister  treu  blieben.  Dieser  Krieg 
endete  damit ,  dass  die  Seb-Partei  in  den  Nil  gestürzt  und  in 
die  Unterwelt  verbannt,  und  dadurch  der  Einfluss  des  Bö- 
sen wenigstens  beschränkt  wurde.  Um  die  Erde  von  der 
Verunreiniormo;  der  Herrschaft  des  Seb  zu  sühnen,  ward  die 
grosse  Flut  herbeigeführt,  durch  welche  die  Erde  in  ihre 
jetzige  Gestalt  gebracht,  den  Menschen  zum  Aufenthalt  die- 
nen sollte.  Die  durch  Seb  zum  Abfall  verleiteten  Geister 
sollten,  zur  Sühne  in  irdische  Leiber  eingeschlossen,  durch 
ihren  Aufenthalt  auf  der  Erde  sich  reinigen.  So  entstand 
das  Menschengeschlecht,  welches  den  zwölf  Göttern  und  ihren 
Nachkommen  zur  Obhut  und  Erziehung  übergeben  wurde. 

Die  Gegensätzlichkeit,  die  in  dem  Götterkampfe  zwischen 
Okeamos  und  Seb  stattfindet  und  im  Streite  Set's  mit  Hesiri 
unter  Modificationen  sich  wieder  abspiegelt,  liefert  den  schla- 
genden Beweis  für  die  dualistische  Anschauung  der  ägyptischen 

Eoskoff,  Geschichte  des  Teufels.   I.  G 


s-_>  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Religion.     Die  Vermuthung,  tlass  die  Mythen  auch  geschicht- 
liche Elemente  enthalten,  hiermit  also  ein  Stück  wirklicher  Ge- 
schichte  Aegypteus   geliefert   werde  *,   hat  ihre  Berechtigung; 
obschon  dies  nicht   ausschliefst,    dass    „die  umbildenden  Ein- 
flüsse"   wieder  von   der   Naturbeschaffenheit  Aegyptens,    na- 
mentlich   dem  massgebenden  Nil,   herzuleiten   seien,    um    den 
sich   das  Wohl  und  Weh  Aegypteus  drehte  und  der  das  Haupt- 
interesse seiner  Bewohner  ausmachte.     Die  Annahme  Roth  's2, 
„dass  diese  sterblichen,  aus  der  Sagengeschichte  hervorgegan- 
genen Gottheiten  (Osiris,  Isis  u.  s.  w.),  wesentlich  keine  physi- 
kalischen Begriffe,   keine  Theile  und  Kräfte   des  Weltganzen, 
wie  die  grossen  kosmischen  Gottheiten,  sondern  persönliche,  men- 
schenähnliche Götter  sind",  Hesse  sich  wol  dahin  modificiren :  dass 
die  Sage  von  Hesiri  (Osiris)  und  Hesi  (Isis)  in  die  Ursprünge  der 
ägyptischen  Geschichte  hineinragt  und  darin  ihren  Anknüpfungs- 
punkt findet,  an  den  geschichtlichen  Kern  aber  sich  mythische 
Bestandteile  angesetzt  haben,  die  aus  dem  Leben  der  Aegyp- 
ter   sowie  von  der  Natur  des  Landes,    insbesondere  dem  Nil, 
dieser  Puls  und  Herzensader  des  ägyptischen  Lebens,  auf  die 
geschichtlichen    Momente    übertragen    und    mit    diesen    ver- 
schmolzen  im  Osiris-Mythus  aufbewahrt  sind.    So  steht  Set  in 
Beziehung  zur  natürlichen  Beschaffenheit  des  Landes,  zugleich 
aber  auch  zu  dessen  Geschichte,  und  einen  Schritt  weiter  er- 
hält Set-Typhon  eine  Bedeutung  rein  geschichtlicher  Art,  aus 
den  Schicksalen  des   ägyptischen  Volks   abgeleitet.     So  wurde 
der  ursprüngliche  Begriff,   den   das   religiöse  Bewusstsein   der 
Aegypter   an  Set   geknüpft   hatte,    durch    die   Berührung   mit 
einem  phönikischen  Stamme    und   nach    dem  Verhältnisse    der 
Aegypter  zu  jenem  umgewandelt  und  vielbedeutend,  er  wurde 
Zeit-,  Kriegsgott,  Repräsentant  und  Urheber  alles  Widrigen, 
Schädlichen,  Verabscheuungswürdigen. 

Die  Araber. 

Die  Araber,  welche  im  Mittelalter  eine  neue  semitische 
Cultur  und  Herrschaft  gründeten,  nachdem  die  grossen  Reiche 
ihrer  Stammverwandten  längst  vom  Schauplatze  der  Geschichte 


1  Rötb,  I,  159. 

2  I,  1G4. 


4.    Dualismus  m  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     83 

abgetreten  waren,  werden  schon  im  höchsten  Alterthnm  be- 
merklich. Die  Tradition  der  Hebräer  lässt  sie  von  Abraham's 
ältestem  Sohne  abstammen,  und  die  Araber  lehnen  sich  im 
wesentlichen  an  jene  Ueberlieferung.  Die  Wanderstämme  der 
Araber  im  Norden  und  Innern  des  Landes  verehrten  die 
Naturmächte,  sie  erkannten  die  Macht  der  Gottheit  des  Him- 
mels im  Sturme,  in  der  Wetterwolke,  im  Donner  und  Blitz, 
im  heissen  Sonnenstrahl,  namentlich  auch  in  schönen  Bäumen 
und  besonders  gestalteten  Steinen.  l  Die  fruchtbare  Kraft  der 
Erde  verehrten  sie  in  einer  weiblichen  Gottheit,  ebenso  waren 
die  Sterne,  welche  dem  Araber  auf  seinen  Wanderungen  den 
Weg  zeigten,  Gegenstand  seiner  Verehrung,  wovon  ihm  einige 
Freude  und  Wohlsein  verkündeten,  andere  dagegen  Leid  und 
Unglück.  Herodot a  berichtet  über  zwei  Gottheiten  und  er- 
kennt  in  der  einen  den  Dionysos,  den  die  Araber  Urotal 
nennen,  in  der  andern  die  Urania  (Aphrodite),  Alilat  oder 
Alitta  geheissen.  Von  dieser  letztern  bemerkt  Herodot,  dass 
sie  von  der  Mylitta  nur  dem  Namen  nach  verschieden  sei. 
Der  ihr  gegenüberstehende  Urotal  (Urotalt)  wird  für  den 
Sonnengott,  auch  Feuergott,  erklärt 3,  wie  auch  Sabit  zu 
Sabatha  für  eine  Modification  des  Sonnengottes  gilt.  4 

So  viel  geht  aus  den  spärlichen  Nachrichten  hervor,  dass 
sich  bei  den  alten  Arabern  eine  Zweiheit  des  göttlichen  We- 
sens vorfindet.  Die  verschiedenen  Schutzgottheiten  der  ver- 
schiedenen Stämme,  und  der  eigene  Stern,  den  jeder  Stamm 
verehrte,  sind  nur  als  verschiedene  Modificationen  ein  und 
derselben  religiösen  Grundanschauung  zu  betrachten,  die  auf 
Sabäismus  zurückgeführt  werden  muss.  5 

Besonders  hat  sich  die  Verehrung  der  Wandelsterne  ent- 
wickelt. Der  Stern  der  Venus  soll  als  Beschützer  der  Liebe 
verehrt  worden  sein,  mit  Beilegung  einer  mehr  sinnlichen 
Wirkung.  6  Die  Planeten  Saturn  und  Mars  wurden  als  übel- 
thätig  gefürchtet.  Letzterm  opferte  man  mit  blutbesprengten 
Kleidern   einen  Krieger,    während    dem   Planeten   Jupiter   die 


1  Genes.,  2<S,  12—22. 

2  I,  131. 

3  Movers,  Phönizier,  I,  414. 

4  Plinius,  12,  14.  32. 

5  Gesenius,  Jesaja,  II,  380;  Pocock,  Specim.  bist,  Arab.,  !S.  12!». 

6  Gesenius,  Jesaja,  II,  341. 

6* 


s  1  Erster  Abschnitt:    Dei'  religiöse  Dualismus. 

Verehrung  durch  die  Opferung  eines  Säuglings  darge- 
bracht ward.  ' 

Obschon  von  der  Religion  der  alten  Araber  zu  wenig  be- 
kannt ist,  um  eine  genaue  Gesammtvorstellung  zu  bieten,  so 
ist  die  Annahme  des  Dualismus  guter  und  böser  Wesen  in 
derselben  sichergestellt  durch  den  alten  Glauben  an  die 
Dschinnen,  d.  h.  Dämonen,  den  Mohammed  bei  seinem  Volke 
vorfand,  in  den  Islam  aufnahm  und  durch  den  Koran  be- 
kräftigte. 

Wenn  die  Lehre  der  Moslems  von  den  Dschinnen  und 
dem  Satan  hier  schon  erwähnt  wird,  bevor  das  Judenthum 
erörtert,  geschweige  denn  die  christliche  Periode  erreicht  wor- 
den  ist,  so  möge  diese  Vor  wegnähme  darin  ihre  Entschul- 
digung finden,  dass  eine  spätere  Einschiebung  der  islamiti- 
schen Vorstellungen  während  des  chronologischen  Verlaufs  der 
Geschichte  des  christlichen  Teufels  weit  störender  sein  dürfte. 

Mohammed  soll  als  junger  Mann  und  in  seiner  frühern 
Jugend  nach  Syrien  gekommen  sein  und  bei  diesen  Gelegen- 
heiten Rabbinen  und  christliche  Mönche  kennen  gelernt  haben, 
was  aber  geschichtlich  unverbürgt  ist.  Sicher  ist  dagegen, 
dass  schon  vor  Mohammed  das  Christenthum  von  mehrern 
Seiten  in  Arabien  eingedrungen  war  und  arabische  Klöster 
und  Bisthümer  gestiftet  hatte.  Auch  Juden  hatten,  nach  der 
Zerstörung  ihres  Staats  durch  die  Römer,  sich  nach  dem 
nördlichen  Arabien  geflüchtet  und  daselbst  angesiedelt.  Den 
Arabern  fehlte  es  also  nicht  an  Gelegenheit,  mit  monotheisti- 
schen Glaubenslehren  bekannt  zu  werden,  und  von  einzelnen, 
unter  denen  selbst  Mekkaner  gewesen  sein  sollen,  berichtet 
die  Uebcrlieferung  der  Moslems  die  Lossagung  vom  alten 
arabischen  Götzendienste.  Wir  wissen  zwar  nicht,  wie  viel 
Mohammed  vor  dem  Antritte  seiner  Prophetenlaufbahn  vom 
Judenthum  oder  Christenthum  bekannt  war;  so  viel  ist  aber 
gewiss,  dass  seine  Annahme  des  monotheistischen  Glaubens 
aus  dem  Bedürfniss  hervorgegangen  ist,  dem  die  alte  Religions- 
form  nicht  mehr  entsprochen  hat.  Allerdings  finden  sich  so- 
wol  christliche  als  auch  jüdische  Elemente  in  der  Religion 
Mohaumied's,  er  war  aber   „nicht  der  Mann   der   kühlen   und 


1  (iosenius,  a.  a.  ().,  337.  344  fg. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     85 

scharfen  Ueberlegung",  wie  Nöldecke  sehr  richtig*  bemerkt  l; 
seine  Religion  ist  ihrem  Ursprünge  nach  das  Werk  tiefer  Be- 
geisterimg und  gewaltiger  religiöser  Bewegung,  die  sich  in 
den  Satz  zusammenfasste :  „es  ist  nur  Ein  Gott",  womit  der 
bisherige  Götzendienst  gestürzt  war,  und  das  Gefühl,  dass 
Mohammed  berufen,  diese  Wahrheit  zu  verkünden,  kam  im 
zweiten  Hauptsatze  des  Islam  zum  Ausdruck. 

Es  ist  nicht  unsere  Aufgabe,  den  ganzen  Glaubensinhalt 
der  Lehre  Mohämmed's  darzustellen,  vielmehr  ist  hier  nur 
auf  das  dualistische  Moment  darin  hinzuweisen.  Dieses  liegt 
in  den  schon  erwähnten  Dschinnen  angedeutet.  Dass  der 
Glaube  an  sie  und  die  Verehrung  ihrer  schon  vor  Mohammed 
unter  den  Arabern  geherrscht,  bestätigt  der  Koran,  wo  es 
Sure  XXXIV,  49  hcisst:  „Sie  (die  Araber)  beteten  die 
Dschinnen  an,  die  meisten  derselben  glaubten  an  sie."2  Vor 
Mohammed  galten  die  Dschinnen  für  Söhne  und  Töchter 
Gottes.  Sure  VI,  101 :  „  Sie  (die  Götzendiener)  setzten  Gott 
(dem  Herrn)  die  Dschinnen  als  seinesgleichen,  die  er  er- 
schaffen; sie  schrieben  ihm  aus  Unwissenheit  Söhne  und  Töch- 
ter zu,  er  sei  gepriesen  u.  s.  w."  Als  Mohammed  wenige 
Monate  nach  dem  Tode  seiner  ersten  Gemahlin  Chadidscha 
und  seines  Oheims  Abu  Thalif  sich  nach  Thaif  begab,  um  den 
Islam  zu  verkündigen,  von  den  Einwohnern  aber  mit  Spott 
und  Steinwürfen  behandelt  wurde,  ging  er  in  das  zwischen 
Mekka  und  Thaif  gelegene  Thal,  „Palmenbauch"  oder  auch 
„Dattelbauch"  genannt,  und  übernachtete  in  einer  Höhle,  den 
Koran  lesend.  Da  zogen,  nach  dem  Berichte  der  Ueber- 
lieferung,  sieben  Dschinnen  vorüber,  die,  als  sie  die  Lesung 
des  Koran  hörten,  stillstanden  und  darauf  sich  zum  Islam 
bekehrten.  Diese  Bekehrung  von  Dschinnen  bestätigt  der 
Prophet  im  Koran  durch  Sure  LXXII,  die  den  Titel  „Dschin- 
nen" führt,  und  weil  sie  die  Lehre  von  ihnen  enthält,  merk- 
würdig ist.  Sie  lautet  im  Anfange:  „1)  Mir  ist  geoffenbaret 
worden,  dass  mir  Dschinnen  zugehört  und  dass  sie  gesagt: 
Wir    haben    gehört    den    wundervollen    Koran.     2)    Er    leitet 


1  Herzog,  Realencyklopädie,  Art.  Mukammed  am  Ende  des  18.  Bandes. 

"  Wir  folgen  der  Uebersetzung  des  Freiherrn  Hammer-Purgstall  in 
seiner  Gcistcrlehre  der  Moslems.  Denkschrift  der  philosophisehdiistorischcn 
Klasse  der  Wiener  Akademie  der  Wissenschaften,  1852,  III. 


,%  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

zum  Rechten,  und  wir  glauben  daran,  und  wir  setzen  unserm 
Herrn  keinen  andern  zur  Seite.  3)  Erhöht  sei  unser  Herr! 
Er  nahm  keinen  Genossen  und  keinen  Erzeugten  an.  4)  Tho- 
ren  von  uns  sagen:  der  Herr  habe  dergleichen  Unmässigkeit 
gethan;  5)  wir  meinten,  weder  Mensch  noch  Dschinne  werde 
eine  Lüge  sagen  von  Gott  fortan,  (i)  Es  gab  Männer  der 
Menschen,  die  sich  zu  den  Männern  der  Dschinnen  flüchteten, 
aber  diese  bestärkten  jene  in  ihrem  thörichten  Wahn.  7)  Sie 
wähnten,  wie  ihr  gewähnt,  Gott  werde  keinen  (Propheten) 
senden  fortan.  8)  Wir  wollten  (sprachen  die  Dschinnen)  zum 
Himmel  uns  schwingen,  aber  wir  trafen  nur  Wachen  und 
Flammen  dort  an.  9)  Wir  sassen  dort  auf  Sitzen,  um  zu 
horchen,  nun  horcht  aber  keiner,  ohne  dass  ihn  wachhabende 
Flammen  umfachen.  10)  Wir  wissen  nicht,  ob  dieses  der 
Herr  zum  Bösen  derer,  die  auf  Erden,  oder  zu  ihrem  Besten 
gethan.  11)  Wir  sind  von  den  Guten  unter  uns  und  andere 
sind  anders  daran,  denn  es  gibt  mehr  als  Eine  Bahn.  12)  Wir 
wähnten,  dass  wir  Gott  nicht  entgehen  auf  irdischer  und  nicht 
auf  himmlischer  Bahn.  13)  Wir  haben  die  Leitung  gehört 
und  geglaubt  an  den  Koran,  und  wer  an  den  Herrn  glaubt, 
fürchtet  nicht,  dass  ihm  Verminderung  seines  Gutes  und  Un- 
recht werde  gethan.  14)  Einige  von  uns  sind  Moslems,  und 
andere  weichen  von  der  wahren  Bahn,  die  Moslems  suchen 
das  Recht  fortan.  15)  Die  Abweichenden  sind  dem  Feuer 
(der  Hölle)  als  Zunder  zugethan." 

Die  Senduno;  Mohammed's  betraf  also  nicht  nur  die  Men- 
sehen,  sondern  auch  die  Dschinnen,  deren  einige,  wie  jene, 
gläubige,  andere  ungläubige,  also  gut  und  böse  sein  können, 
daher  auch  der  Koran  Menschen  und  Dschinnen  häufig  mit- 
einander  zu  erwähnen  pflegt.  l  Mit  den  Teufeln  werden  sie  2 
als  Feinde  der  Propheten  aufgeführt.  Die  guten  Dschinnen 
sind  nach  dem  Islam  die  gläubigen,  die  den  Koran  anhören  3, 
die  bösen  sind  die  ungläubigen,  welche  die  Menschen  ver- 
führen. 4  Gleich  den  Menschen  werden  auch  die  Dschinnen 
selig   oder   verdammt.     Die   boshaftesten    und    listigsten    aller 


1  Vgl.  Sure  VII,  3'J.  89;    XXVII,   IS:    LV,  33.  56.  130    u.  a.  in. 

-'  Sure  VI,  12. 

3  Vgl.  Sure,  XL  VI,  2<j. 

1  Vgl.  Sure  LXXII,  6.  7. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     87 

Dsehinnen  sind  die  Ifris  (Afaris,  Afer,  Aferij,  Afarijes).  l 
Eine  Art  Dsehinnen  sind  die  Gull,  zwar  nicht  aus  dem 
Koran,  wol  aber  aus  der  Ueberlieferung  bekannt  als  die 
eigentlichen  Wüstendämonen,  männliche  und  weibliche,  deren 
letztere  insgemein  Soilat  genannt  werden,  womit  aber  der 
Beo-riff  einer  Zauberin  oder  Hexe  verbunden  ist.  Weibliche 
Gull  oder  Wüstenteufel  sind  auch  die  Ssaidanes  u.  a.  m.2 

Ganz  scharf  und  klar  tritt  der  Dualismus  in  der  Lehre 
von  Engeln  und  Teufeln  auf,  die  Mohammed  in  den  Islam 
aufgenommen  hat.  Der  Glaube  an  die  Engel  macht  einen 
wesentlichen  Bestandtheil  des  islamischen  Bekenntnisses  aus, 
daher  er  im  Koran  wiederholt  auftritt.  3  Ist  ja  bekanntlich 
dem  Propheten  selbst  das  Wort  Gottes  durch  Gabriel,  den 
Boten  der  Offenbarung,  den  obersten  aller  Engel,  übersendet 
worden,  den  der  Koran  auch  wiederholt  mit  Namen  anführt.4 
Seine  Füsse  stehen  auf  der  Erde,  während  sein  Kopf  im 
Himmel,  seine  Flügel  dehnen  sich  vom  Aufgang  bis  zum 
Untergang  der  Sonne,  seine  Zähne  schimmern  wie  der  Mor- 
gen, seine  Haare  sind  korallenfarbig,  seine  Füsse  morgenroth, 
seine  Flügel  grün,  als  er  seine  Stimme  ertönen  Hess,  erstarr- 
ten die  Beni  Themud  vor  Schrecken  als  Todte.  5  Den  zwei- 
ten Erzengel  Michael,  dessen  Flügel  nur  Gott  kennt,  der 
die  Nahrung  der  Menschen  auf  Erden  besorgt  und  nach  dem 
Tode  die  Gerichtswage  überwacht,  auf  welcher  die  Werke 
der  Menschen  gewogen  werden,  erwähnt  der  Koran  nicht, 
sowenig  als  den  dritten  Israfil  mit  vier  Flügeln,  wovon  der 
eine  nach  Osten,  der  andere  nach  Westen,  der  dritte  gegen 
die  Erde  gerichtet  ist  und  der  vierte  ihm  das  Gesicht  bedeckt, 
damit  ihn  der  Anblick  der  Majestät  Gottes  nicht  blende.  Von 
diesen  weiss  nur  die  Ueberlieferung  sowie  von  Israil,  der 
von  der  Tafel  des  Schicksals  die  Namen  der  Menschen  liest, 
deren  Seelen  er  in  Empfang  zu  nehmen  hat.  Ausser  diesen 
haben    die   Moslems    noch    vier   Träger   des   Himmels,    deren 


1  Sure  XXVII,  40. 

3  Vgl.  Hammer,  Von  den  Dsehinnen   der  Ueberlieferung-,  S.  301  fg. 
u.  216. 

8  Z.  B.  gleich  Sure  11,  286. 

J  Sure  II,  97;  LXV,  4. 

5  Hammer,  Adschaibol-nachlukat,  1.  u.  7.  llauptslüek.  S.  193. 


$5  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

Gestalt  aus  der  eines  Stiers,  Löwen,  Vogels  und  Menschen 
besteht;  vier  Schutzengel,  deren  zwei  des  Tags  und  zwei  des 
Nachts  die  bösen  und  guten  Handlungen  der  Menschen  auf- 
zeichnen, wobei  ihm  der  eine  zur  Rechten,  der  andere  zur 
Linken  steht.  Der  Koran  nennt  sie  die  beiden  Schreiber, 
die  beiden  Hüter.  1  Die  Moslems  kennen  auch  die  Namen 
der  beiden  Folterengel,  Nekir  und  Monkir,  welche  den 
Menschen  im  Grabe  um  seinen  Glauben  und  seine  Handlun- 
gen ausfragen;  .Harut  und  Marut,  die  Wächter  des  Him- 
mels, welche,  nachdem  sie  Erlaubniss  erhalten,  in  menschlicher 
Gestalt  auf  Erden  zu  wandeln,  das  Passwort,  das  sie,  gegen 
das  göttliche  Verbot,  der  schönen  Lautenspielerin  Anahia  mit- 
getheilt  und  hierauf  selbst  vergessen  hatten,  zur  Strafe  in  dem 
Brunnen  von  Babel  bis  an  den  Jüngsten  Tag  an  den  Füssen 
aufgehängt  sind  und  dort  die  Menschen  Zauberei  lehren. 

Wir  übergehen  die  Menge  anderer  namhafter  Engel,  von 
denen  die  Ueberlieferung  der  Araber  zu  erzählen  weiss,  und 
wenden  uns  zu  den  Teufeln,  Scheijathin.  Die  einfache 
Zahl,  Scheithan,  erinnert  sogleich  an  den  hebräischen  Satan, 
als  der  er  auch  dem  Wesen  nach  erkannt  worden  ist.  Scheith 
erhält  gewöhnlich  das  Prädikat  „der  zu  Steinigende".2  Er 
ist  der  Empörer  wider  Gott  3  und  Feind  der  Menschen,  unter 
die  er  Zwietracht  bringt.  4  Die  Scheijathin  lehrten  die  Men- 
schen Zauberei,  die  Kunst  der  gefallenen  Engel  Harut  und 
Marut 5,  von  ihren  Verführungen  der  Menschen  geschieht 
öfter  Erwähnung  6,  daher  letztere  gewarnt  werden.  7  Ver- 
schwender und  Undankbare  werden  für  Brüder  der  Satane 
erklärt.  8  Mit  ihnen  werden  aber  nicht  nur  die  Bösewichter 
und  Ungläubigen,  sondern  auch  die  Poeten  in  Verbindung 
gebracht.  9     Dem  Salomo  wird  die  Herrschaft  über  die  Satane 


1  Sure  LXXXII,  10.  11. 

2  Sure  III,  XV,  16;  XVI,  98;  XXXVII,  7;  LXVII,  5,  u.  a. 

3  Sure  XIX,  42. 

1  Sure  XVII,  53. 

•  Sure  11,  102. 

1    Sure  VI,  71.  112;  XXIII,  99. 

7  Sure  VII,  28. 

8  Sure  XVII,  27. 

3  Sure  II,  14;   XXVI,  220. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     89 

zugeschrieben  *,    als    dessen    Handlanger    bei    seinen    Bauten 
und  der  Perlenfischerei  sie  erscheinen.  2 

Wie  sich  im  islamischen  Scheithan  der  jüdische  Satan  zu 
erkennen  gibt,  so  hat  man  in  dem  Iblis  den  Diabolus  ge- 
funden. Dieser  Iblis  der  Moslems  ist,  wie  es  scheint,  ur- 
sprünglich kein  Engel,  wie  der  Lucifer  der  Christen,  sondern 
der  Sohn  eines  Dschinn,  der  von  Engeln  in  den  Himmel 
aufgenommen,  um  eine  bessere  Erziehung  zu  erhalten,  aber 
misrathen  war.  Hammer  3  macht  auf  diese  Abkunft  des  Iblis 
aufmerksam,  unter  Berufung  auf  den  Koran  und  Kaswini's 
„Wunder  der  Geschöpfe".  Als  Gott  den  Engeln  befohlen 
hatte,  sich  vor  Adam  in  Verehrung  niederzuwerfen,  stellte  sich 
Iblis  an  die  Spitze  der  Devotionsverweigerung  und  ward  zum 
Anführer  der  empörten  Engel.  Zur  Strafe  seines  Hochmuths 
und  Ungehorsams  wurde  er  sammt  seiner  aufrührerischen  Rotte 
in  die  Hölle  gestürzt,  wo  er  noch  als  Fürst  und  Beherrscher 
gedacht  wird.  Im  Koran  wird  Iblis  ein  Dschinne  genannt, 
Sure  XVIII,  51 :  „Und  als  wir  den  Engeln  sagten :  werft  euch 
vor  dem  Adam  nieder!  warfen  sie  sich  vor  ihm  nieder,  nur 
nicht  Iblis  der  Dschinne,  der  widerspenstig  wider  den  Befehl 
seines  Herrn."  Besonders  häufig  wird  das  empörerische,  hoch- 
müthige  Wesen  Iblis'  hervorgehoben.  Sure  II,  34:  „Als  wir 
den  Engeln  sagten:  werft  euch  vor  Adam  nieder!  warfen  sie 
sich  nieder,  nur  Iblis  weigerte  sich  und  war  hochmüthig  und 
war  von  den  Ungläubigen."  Vgl.  Sure  VII,  11;  XV,  30.  31 
u.  32:  „Da  sagte  Gott  zu  Iblis:  was  ist  dir,  dass  du  dich 
nicht  niederwirfst?  33)  Da  sagte  Iblis:  was  soll  ich  mich 
niederwerfen  vor  dem  Menschen,  den  du  erschaffen  aus  trocke- 
nem Thon  und  schwarzem  Koth.  34)  Da  sagte  Gott:  geh 
hinaus  aus  dem  Paradiese,  du  bist  der  zu  Steinigende.  35)  Und 
über  dich  sei  Fluch  bis  an  dem  Tage  des  Gerichts.  Da  sagte 
Iblis:  36)  Herr,  warte  nur  auf  mich  bis  an  den  Tag  der  Auf- 
erstehung. 37)  Gott  sprach:  du  wirst  von  den  Erwarteten 
sein  bis  zum  Tage  der  bestimmten  Zeit.  38)  Iblis  sprach: 
Herr,  weil  du  mich  verführet  hast,  werde  ich  die  Menschen 
auf  Erden  verführen  alle.     39)  Bis  auf  deine  Diener,  die  auf- 


1  Sure  II,  102. 

2  Sure  XXXVIII,  38.  39. 

3  A.  a.  0.,  S.  191. 


90  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

richtigen.  40)  Gott  sprach:  dies  ist  der  wahre  Pfad.  41)  Denn 
über  meine  Diener  wirst  du  keine  Macht  haben,  sondern  über 
die,  welche  dir  folgen  von  den  Verführten."  Sure  XVII, 
&2.  03.  G4:  „Da  sprach  Gott:  gehe  von  hinnen!  wer  dir  folgt, 
dess  Lohn  wird  die  Hölle  sein  als  ausgiebiger  Lohn.  G5)  Ver- 
führe nur,  wen  du  kannst,  mit  deiner  Stimme  und  überziehe 
sie  mit  deinen  Heeren  zu  Pferde  und  zu  Fuss,  und  gib  ihnen 
Reichtimm  und  Kinder,  und  mache  ihnen  Versprechen,  aber 
die  Versprechen  des  Satans  sind  eitler  Dunst."  *  Die  weitere 
Ausführung  der  Vorstellung  von  den  Teufeln  durch  die  Sage 
und  Dichter  lassen  wir  abseits  liegen. 

Babylonier.    Chaldäer. 

Die  weite  Ebene  am  untern  Laufe  des  Euphrat  und 
Tigris,  etwa  hundert  Meilen  vor  deren  Mündung,  umfasst  das 
von  den  Hebräern  „Sinear"  genannte  Land 2,  das  nach  dem 
Vorgange  der  Griechen  von  der  Hauptstadt  Babel  als  Baby- 
lonien  bekannt  ist. 

Der  an  sich  treffliche  Boden,  durch  jährliche  Ueber- 
schwemmung  der  beiden  Flüsse  bewässert,  die  den  geschmol- 
zenen Schnee  von  den  armenischen  Bergen  herabführen,  der 
regelmässige  Anbau  durch  die  Bevölkerung,  künstliche  Ka- 
nalisirung,  ungeheuere  Bassins  3  machten  das  Niederland  sei- 
ner Fruchtbarkeit  und  seines  Reichthums  wegen  frühzeitig 
berühmt.  Die  alten  Schriftsteller  sind  voll  bewundernden 
Lobes4,  und  das  Perserreich  soll  den  dritten  Theil  seines 
Einkommens  aus  Babylon  allein  bezogen  haben.  5 

Da  in  den  ältesten  Quellen  die  Priester  des  Landes  Sinear 
stets  Chaldäer  (Chasdim)  genannt  werden  und  die  Herrscher- 
dynastie als  eine  chaldäische  bezeichnet  ist,  so  wird  der  Schluss 
wol  richtig  sein:  dass  die  Chaldäer  der  herrschende  Stamm 
in   diesem  Reiche   gewesen,    von    dem    es    seine  Könige   und 


1  Sure  XXVI,  94    kommt  Iblis  abermals  vor;    XXXV11I    enthalt  die 
obige  Anrede  mit  wenig  Abweichung. 
-  Genes.  10,  10;  11,  2;  14,  1. 

3  Herodot,  I,  179.  185;  Diodor,  2,  9. 

4  Berosus  ap.  Synccll.,  y.  28;   Herodot,  I,  193|  Xeaoph.  Angb.,  II,  3. 
B  Herodot,  I,  192. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Altertlumis.    91 

Priester  erhalten  habe.  1  Daher  konnte  Babylonien  wol  auch 
LLand  der  Chaldäer"  genannt  werden 2,  obschon  dort  zu 
Zeiten  arabische  und  kusehitische  Stämme  vorkamen  und  die 
Chaldäer  im  südwestlichen  Theile  des  Landes  am  untern 
Euphrat  eine  besondere  Landschaft  innehatten. 

Diese  Chaldäer  hatten  nicht  nur  durch  Waffengewalt  ein 
blühendes  Reich  gegründet,  sie  machten  es  auch  berühmt 
durch  Kunstfleiss,  ausgedehnten  Handel,  waren  die  Urheber 
höherer  Cultur,  erfanden  ein  in  der  ganzen  alten  Welt  gang- 
bares Münz-  und  Gewichtsystem.  Ihre  astronomischen  Be- 
obachtungen werden  bis  ins  zweite  vorchristliche  Jahrtausend 
zurückgeführt,  und  ebenso  alt  ist  der  Ruf  ihrer  künstlichen 
Keilschrift,  die  den  Scharfsinn  unserer  Gelehrten  auf  die 
Probe  stellt. 

Ein  Mitglied  der  chaldäischen  Priesterschaft,  Berosus 
(schrieb  um  280 — 270  v.  Chr.  unter  Antiochus  Soter),  theilt 
in  seiner  babylonisch-chaldäischen  Chronik,  die  mit  Erschaf- 
fung der  Welt  beginnt,  die  kosmogonischen  und  Cultur-My- 
then  der  Babylonier  mit.  Im  Anfange  habe  das  All  aus 
Finsterniss  und  "Wasser  bestanden,  voll  von  ungeheuerlichen 
Geschöpfen,  welches'  ein  weibliches  UrWesen:  Homoroka,  d.  h. 
Weltmutter,  Allmutter,  beherrschte.  Die  männliche  Urkraft 
gestaltete  dann  den  chaotischen  Urstoff;  Bei,  der  Sonnengott, 
zertheiltc  die  Homoroka  in  Himmel  und  Erde,  Tag  und  Nacht, 
Sonne,  Mond  und  Sterne.  Als  die  urweltlichen  Ungeheuer, 
die  das  Licht  nicht  ertragen  konnten,  zu  Grunde  gegangen 
waren,  und  die  Erde  keine  Bewohner  hatte,  habe  sich  Bei 
den  Kopf  abgerissen  und  den  Göttern  befohlen:  sein  Blut 
mit  Erde  zu  vermischen,  woraus  sie  Menschen  und  Thiere 
formten,  die  das  Licht  zu  ertragen  vermochten.  3  Da  aber 
die  in  Babylonien  lebenden  Menschen  in  thierischer  Wildheit 
lebten,  sei  ein  göttliches  Wesen,  Oannes,  halb  Fisch,  halb 
Mensch,  jeden  Morgen  aus  dem  Meere  gestiegen,  um  die 
Menschen  Ackerbau,  Religion,  staatliche  Einrichtungen,  Künste 
und  Wissenschaften,  Städte  und  Tempelbau  zu  lehren,  worauf 
es  abends  wieder  ins  Meer  tauchte. 


1  Duncker,  I,  109  fg. 

-  Jerem.  24,  5;  25,  12;  Ezechiel  19,  Vö. 

3  Berosus  ap.  Syncell.  cd.  Richter,  S.  29. 


92  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Wie  die  Mythen  allenthalben  in  die  Geschichte  münden, 
so  auch  bei  den  Babyloniern. 

Berosus  berichtet  von  mehrern  Oannes,  die  gemeinschaft- 
lich mit  den  sieben  ersten  Herrschern  des  Reichs  an  den  Ba- 
byloniern weiter  bildeten.  Diese  sieben  mit  den  drei  darauf 
folgenden  hätten  432000  Jahre  regiert,  und  unter  dem  letzten, 
Namens  Xisuthros,  sei  die  grosse  Flut  gekommen,  welche  die 
Menschen  vertilgte.  Nur  Xisuthros,  der  auf  Anordnung  Bel's 
sich  und  seine  Familie  nebst  verschiedenen  Thierpaarcn  in 
einen  von  ihm  erbauten  Kasten  begeben,  nachdem  er  die  von 
Oannes  erhaltenen  Offenbarungen  verzeichnet  und  diese  hei- 
ligen Schriften  vergraben  hatte,  ward  gerettet  und  nach  der 
Flut  in  den  Himmel  erhoben,  von  wo  er  die  Seinigen  er- 
mahnte, von  den  chaldäischen  Bergen,  auf  denen  der  Kasten 
sitzen  geblieben,  wieder  nach  Babylon  hinab  zu  wandern,  die 
Offenbarungsschriften  auszugraben,  ihnen  gemäss  zu  leben, 
das  Land  zu  bevölkern  und  die  Stadt  Babel  wieder  aufzu- 
bauen. 

Es  ist  längst  anerkannt,  dass  diesen  Mythen  der  Sonnen- 
dienst zu  Grunde  liege.  Bei  als  männliche  Urkraft,  als  das 
scheidende  und  gestaltende  Princip,  ist  ein  Sonnengott.  Auch 
Oannes,  der  mit  dem  Morgen  erscheint  und  am  Abend  ver- 
schwindet, lässt  in  seiner  Beziehung  zum  Sonnengott  keinem 
Zweifel  Kaum,  und  im  Culturmythus  knüpft  sich  das  bil- 
dende, Avohlthätige,  civilisatorische  Moment  hier  wie  bei  an- 
dern Völkern  des  Alterthums  an  die  Sonne. 

Neben  Bei,  dem  höchsten  Gott,  der  in  Babylonien  als 
Herr  des  Himmels,  des  Lichts  verehrt  wurde,  dem  Schöpfer 
des  Menschen,  auf  den  höchsten  Bergen  über  den  Wolken 
thronend1,  steht  Mylitta  2  oder  Bertis  3  als  weibliche,  in  der 
Erde  und  im  Wasser  empfangende  und  gebärende  Gottheit. 
Sic  war  die  Göttin  der  Fruchtbarkeit,  der  Geburt,  daher  ihr 
die  Thiere  von  starker  Fortpflanzung  (Fische,  Tauben)  heilig 
waren. 4  Ihr  dienten  die  babylonischen  Jungfrauen  durch 
sinnliche  Lust  in    dem    Darbringen    ihrer  Jungfrauschaft,    in- 


1  Diodor,  II,  30. 

2  Herodot,  I,  191». 

3  Berosus,  Fragmente  von  Richter,  S.  (JÜ. 
1  Munter,  Religion  der  Babylonicr,  ö.  28. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvülker  des  Alterthums.     93 

dem  jede  einmal,   Mylitta  zu  Ehren,   sieh   preisgab   und   den 
Geldlohn  dafür  in  den  Tempelschatz  lieferte. 

Man  kann  dem  Berichte  Herodot's  (an  oben  angeführter 
Stelle)  glauben,  wenn  er  meldet,  dass  die  Schönen  von  den 
Frauen,  welche  der  Mylitta  zu  dienen  kamen,  bald  ihren 
Mann  gefunden,  die  hässlichen  aber  dem  Gesetze  schwer  nach- 
kommen konnten  und  daher  drei  und  vier  Jahre  an  den 
Festen  der  Göttin,  in  deren  Haine,  sitzen  geblieben  seien. 1 

Die  spätere  priesterliche  Lehre  fasste  Mylitta  als  das 
materielle  Princip  oder  als  Materie  überhaupt 2,  und  Bei  als 
Lichtäther  und  Urheber  der  intellectuellen  "Welt.  3 

Wie  überhaupt  im  Alterthum  (ja  auch  im  Mittelalter  und 
noch  später)  war  die  Astronomie  auch  bei  den  Babyloniern 
mit  Astrologie  versetzt.  Das  Leben  des  Menschen  und  sein 
Schicksal  dachte  man  abhängig  von  den  Gestirnen  des  Him- 
mels, Sonnenlauf,  Planeten,  der  Stand  gewisser  Fixsterne  be- 
dingte die  Jahreszeiten,  die  Fruchtbarkeit  oder  Unfruchtbar- 
keit der  Erde;  in  den  Sternen  sah  der  Babylonicr  die  Ueber- 
schwemmung  der  Flüsse  angedeutet.  Die  Veränderung  in 
der  Natur  wie  im  Menschenleben,  jeder  Zustand,  jede  Unter- 
nehmung, alles  hing  vom  Stande  der  Sonne  ab,  vom  Wechsel 
des  Mondes,  dem  Auf-  und  Niedergang  der  Sterne. 

Im  Sternendienst,  dieser  uralten  Keligionsform,  wird  dem 
Menschen  der  Gedanke  der  Naturnothwendigkeit  eeo;enständ- 
lieh,  indem  er  in  dem  ewig  Wandelnden  ein  ewig  Bleibendes, 
d.  h.  das  Gesetz  ahnt,  auf  dem  die  unabänderliche  Ordnung 
des  Daseienden  beruht.  Im  Sternendienst  wird  das  Gesetz, 
die  Constellation,  das  Verhältniss  der  Sterne  zueinander,  gött- 
lich verehrt.  Die  Sterne  verkünden  das  Ungeheuere,  Geheim- 
nissvolle, Ewige,  an  welches  der  Mensch  sein  vergängliches 
Leben  und  sein  Geschick  geknüpft  glaubt  und  zu  knüpfen 
sucht. 

Aus  der  einfachen  Anschauung  entwickelte  sich  bei  den 
Chaldäern  ein  complicirtes  System  des  Sabäismus.  Im  Bei 
erkannten  sie  die  überallhin  wohlthätig  wirkende  Kraft  der 
Sonne;    das  Licht  der  Nacht,    der  Mond,   ward   der   Mjjitta 


1  Vgl.  Baruch,  6,  42.  43;  Genes.  38,  14  fg. 

2  Berosus  ap.  Syncell.,  S.  29. 

3  Movers,  Religion  der  Phönizier,  S.  2G2  fg.,  287. 


()4  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

zuerkannt  \  der  auch  der  Planet  Venus  geheiligt  war.  Der 
Planet  Mars  gehörte  dem  Kriegsgotte  Nergal2;  der  Mcrcur 
dem  Schreiber  des  Himmels  Nebo.  3 

Von  den  Planeten,  welche  von  den  Chaldäern  auch  die 
„Geburtsgötter"  genannt  wurden,  unter  deren  Einfluss  das 
Schicksal  der  Menschen  stand,  waren  zwei  wohlthätiger  Natur, 
denen  zwei  übelthätige  gegenüberstanden,  die  übrigen  galten 
für  unentschieden  oder  mittlere. 4  Jupiter  und  Venus  hielt 
man  für  heilbringende  Sterne  (auch  in  der  Bibel  kommt  die- 
ser als  ^12  und  mit  ihm  Jupiter  als  n?  Glück  vor),  jenem 
wurde  die  wohlthät ige  Wärme  der  Luft,  diesem  der  fruchtbar 
machende  Thau  zugeschrieben.  Dagegen  war  der  rothschei- 
nende Mars  unheilbringend,  der  Urheber  zerstörender  Dürre. 

Da  nicht  nur  die  guten  und  Übeln  Erscheinungen  in  der 
Natur,  sondern  auch  im  Menschenleben  von  den  Sternen  ab- 
geleitet wurden,  so  sahen  die  Chaldäer  in  ihnen  die  Verkünder 
des   Willens  der  Götter.  5 

Den  Lauf  der  Sonne  theilten  die  Chaldäer  in  zwölf  Sta- 
tionen, „Häuser",  die  Zeichen  des  Thierkreises ,  woraus  zwölf 
Constellationen  entstanden  (nach  den  von  der  Sonne  berühr- 
ten Sternbildern)  entsprechend  den  zwölf  Monaten  des  Jahrs. 
Im  Zeichen  des  Löwen,  dem  höchsten  Standpunkte  der  Sonne, 
war  deren  Haus.  Auch  die  Planetenbahnen  wurden  in  Häuser 
eingetheilt,   und  diese   Planetenhäuser   ebenfalls   zu   göttlichen 


1  Die  Frage,  ob  dem  Bei  der  Planet  Jupiter  oder  Saturn  entspreche, 
ist  streitig.  Nach  Gesenkte  (a.  a.  0.)  wird  Jupiter,  nach  andern  (wie 
Duncker,  gestützt  auf  Tacit.,  Histor.,  V,  4)  der  Saturn  angenommen.  Nork 
(Die  Götter  Syriens,  S.  12)  meint,  obschon  der  ursprüngliche  Name  des 
Apollo  (A-bellio)  an  den  jugendlichen  Sonnengott  denken  lasse,  sei  doch 
der  Planet  Jupiter  zu  vermuthen.  Servius  (in  Aeneide,  I,  612.  729)  glaubt, 
Belus  müsse  wol  Saturnus  sein,  da  dieser  bei  den  Assyrern  gewöhnlich 
mit  dem  Sonnengott  verwechselt  werde.  Hiernach  könnte  Saturn  auch 
auf  die  Babylonier  bezogen  werden. 

Für  den  vorliegenden  Zweck  erseheint  die  Entscheidung  der  Frage 
unmassgebend,  das  Wesentliche  ist  der  Dualismus,  der  sich  auch  bei  den 
Chaldäern  herausstellt. 

2  2  Könige  17,  30,  der  wahrscheinlich  auch  unter  dem  Namen  Mero- 
dach,  Jer.  50,  2,  gemeint  ist. 

3  Josua  46,  1. 

4  Plut.,  Is.,  c.  48. 

5  Diodor,  II,  30. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvülker  des  Alterthums.     95 

Mächten  erhoben  und  „Herren  der  Götter"  genannt.  l  Meh- 
rere Fixsterne,  als  weniger  einflussreich,  Messen  „rathgebende 
Götter";  zwölf  am  nördlichen  und  ebenso  viel  am  südlichen  Him- 
mel waren  die  „Richter",  von  welchen  die  sichtbaren  über 
das  Schicksal  der  Lebenden,  die  unsichtbaren  über  das  der 
Toclten  entschieden.  2 

Die  sieben  Tage  der  Woche  gehörten  den  Sternen.  Der 
erste  Tag  war  dem  Bei  geweiht.  Dem  Planeten,  dem  die 
erste  Stunde  nach  Mitternacht  geweiht  war,  kam  auch  der 
Tao-  zu,  dem  in  der  folgenden  Stunde  der  Sonne  zunächst- 
stehenden  ward  die  Herrschaft  über  jene  zuerkannt  und  so 
war  die  Reihenfolge  solarisch  und  lunarisch  festgesetzt. 

Die  Chaldäer  verehrten  also  Sonne,  Mond,  Sterne  und 
den  Thierkreis,  opferten  den  „Planetenhäusern  und  dem  ganzen 
Heere  des  Himmels".  3  Die  Priester  erkannten  in  den  Con- 
stellationen  den  Willen  der  Götter,  verkündeten  aus  der 
Stunde  der  Geburt  das  Schicksal  vorher,  bestimmten  die  Zeit 
für  jede  Unternehmung,  und  von  der  Stellung  der  Gestirne 
wurde  das  Glück  oder  Unglück  des  ganzen  Reichs  abhängig 
gedacht,  sowie  des  Jahrs,  des  Tags,  der  Stunde,  wobei  die 
Himmelsgegend  des  Auf-  und  Niedergangs  der  Sterne,  die 
Farbe,  in  der  sie  erschienen,  für  bedeutsam  galt. 

Der  erhabenen  Auffassung  des  Bei  als  reinen,  heiligen 
Himmelsherrn  gegenüber  machte  sich  der  sinnliche  Charakter- 
zug des  Volks  in  dem  wollüstigen  Dienste  der  Mylitta  gel- 
tend, der  mit  dem  wachsenden  Reichthum  zunahm.  Die  ba- 
bylonische Ueppigkeit  ist  durch  die  Propheten  des  Alten 
Testaments  sprichwörtlich  geworden  sowie  die  Pracht  und 
der  Reichthum  der  Hauptstadt  Babel,  der  „Wohnung  des 
Bei",  die  sich  einst  in  der  Gegend  des  heutigen  Dorfes  Hil\ah 
in  einem  Umfange  von  anderthalb  Meilen  ausgebreitet  hat.  An 
Babel  knüpft  die  hebräische  Tradition  die  Scheidung  der  Völ- 
ker, um  diese  und  die  Verschiedenheit  der  Mundarten  zu  er- 
klären im  Zusammenhang  mit  dem  frevelhaften  Thurmbau  der 
Stadt,  worin  ein  jüdischer  Schriftsteller  eine  übermüthige 
Auflehnung  gegen  Gott  durch  Nimrod  personificirt  erblickt.  * 

1  Diodor,  II,  30. 

2  Diodor,  II,  31. 

3  2  Kön.  23,  5-7. 

4  Jos.  Antiqu.,  I,  4. 


96  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Das  Wesen  der  religiösen  Anschauung  des  Clialdiiers  be- 
sieht in  einer  verständigen  Berechnung  aller  Erscheinungen 
und  deren  Beziehung  auf  sich.  Er  stellt  die  Sternenmächte 
als  geistig  beseelte  Wesen  vor,  von  welchen  Natur  und 
Menschenleben  abhängt,  und  schaut  in  den  Bahnen  der  Him- 
melskörper das  Gesetz  alles  Lebens  also  auch  des  eigenen  an, 
somit  hat  das  religiöse  Bewusstsein  des  Chaldäers  eine  Ahnung 
von  der  Einheit,  die  im  Leben  waltet  und  es  beherrscht. 
Hieraus  dürfte  sich  vornehmlich  der  geschichtliche  Einfluss 
erklären,  den  das  chaldäische  Religionssystem  auf  Völker  der 
alten  und  neuen  Zeit  gewonnen  hat. 

Der  sinnliche  Chaldäer  übertrug  diese  waltenden  Mächte 
auf  die  Naturelemente  und  setzte  das  Bereich  der  Erde,  des 
Wassers  und  Feuers  mit  ihnen  in  Beziehung.  Wie  mit  den 
Sternengeistern  stand  daher  der  Chaldäer  auch  mit  den 
Geistern  der  Erde,  der  Luft,  des  Wassers  und  Feuers  im 
Verkehr  durch  Beschwörung,  Vogelschau,  Traumdeutung, 
Opferschau,  Sterndeuterei.  * 

Aus  der  Ahnung  des  Zusammenhangs  des  gesammten 
Lebens  in  allen  Dingen  entspringt  die  Vorstellung:  dass  sich 
in  den  einzelnen  Kreisen  des  Naturlebens  die  Sternenmächte 
abspiegeln,  in  denen  aller  Kräfte  Ursprung  zu  suchen  ist. 

Indem  der  Chaldäer  auf  selbstische  Weise  alle  Erschei- 
nungen auf  sein  eigenes  irdisches  Dasein  bezieht,  sucht  er 
dieselben  sich  dienstbar  zu  machen.  Seinem  Zwecke  sollten 
selbst  die  Todten  dienen,  die  er  aus  dem  Scheol  herauf- 
bannte 2,  und  die  Erscheinungen  des  Naturlebens  sollten  ihm 
wenigstens  zur  Enträthselung  seines  Schicksals  behülflich  sein, 
daher  er  auch  die  Erscheinungen  am  Sternenhimmel  verständig- 
berechnete. 

Dieser  selbstischen  Thätigkeit  steht  die  passive  Hin- 
gebung im  sinnlichen  Dienste  der  Mylitta  schroff  entgegen, 
von  der  man  glaubte,  dass  durch  sie  die  Menschen  zu  sinn- 
lichen Begierden,  Tanz  und  Gesang  angeregt  Avürden. 

Wie  in  den  Religionen  Vorderasiens  überhaupt ,  so  tritt 
auch  in  der  chaldäischen  ein  geschlechtlicher  Dualismus  in 
der    religiösen  Anschauung    nach    dem    Vorbilde    der    Natur- 


1  Bertliold,  Daniel,  S.  837  fg.;  Gesen.,  Jes.,  2.  Beil.,  352. 

2  Vgl.  Jes.,  8,  19. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.   97 

erzeugung  auf.  Es  ist  der  Sonnengott ,  das  männliche,  active 
Princip  als  himmlischer  Herrscher,  als  starker  Befrnchter,  und 
die  Mondgöttin  als  weibliches,  empfangendes  Princip.  Als 
Uro-eo-ensatz  gelten  die  männliche  Wärme  und  die  weibliche 
Feuchte,  und  Bei  und  Mylitta,  Jupiter  und  Venus  sind  die 
glücklichste  Constellation,  unter  welche  nur  die  Geburt  von 
beglückten  Völkerherrschern  fallen  konnte. 

Der  Dualismus  ergibt  sich  ferner  aus  dem  glücklichen 
oder  unglücklichen  Zustande  des  Menschen,  und  indem  das 
Wohl  und  Weh  von  jenen  göttlichen  Mächten  abgeleitet  wird, 
gestalten  sich  diese  zu  wohlthätigen  oder  unheilbringenden 
Sterngeistern.  Von  diesen  verkündet  und  bringt  Saturn,  in 
seiner  Kälte  gefürchtet,  der  auch  den  Namen  Elos  trägt, 
grosses  Misgeschick,  wie  Mars  (Nergal,  Nerig)  kleines  Mis- 
geschick  in  seiner  Glut.  Nebo,  der  Stern  Mercur,  zwischen 
den  guten  und  bösen  Sterngeistern  in  der  Mitte  stehend,  hat 
als  Schreiber  die  himmlischen  und  irdischen  Begebenheiten  zu 
verzeichnen.  1 

Syrische  Stämme.    Phönizier. 

Die  syrischen  Volksstämme  theilen  mit  den  Babyloniern 
dieselbe  religiöse  Grundanschauung,  nur  dass  bei  jenen  die 
sinnliche  Seite  des  Cultus  das  Uebergewicht  über  den  Gestirn- 
dienst gewinnt,  der  bei  diesen  mehr  im  Vordergrunde  steht. 
Dem  orgiastischen  Cultus  gegenüber,  der  namentlich  in  den 
phönizischen  Städten  weit  getrieben  wurde  und  den  zeugenden 
Mächten  galt,  herrschte  die  grausamste  Äscetik,  womit  man 
den  Gottheiten,  die  dem  natürlichen  Leben  als  feindlich  be- 
trachtet wurden,  zu  dienen  glaubte.  Im  Cultus  war  daher 
die  ausschweifendste  Wollust  neben  der  blutigsten  Grausam- 
keit herrschend.  Solche  dem  Anscheine  nach  grell  sich 
widersprechende  Richtungen,  die  im  Menschen  überhaupt 
Raum  gewinnen,  treten  besonders  bei  den  Semiten  auf.  Dem- 
gemäss  finden  sich  bei  den  Syrern  und  Phöniziern  Culte,  wo 
in  lasciver  Wollust  den  befruchtenden  und  gebärenden  Natur- 
mächten gedient  wird,  und  wieder  andere,  wo  die  lebens- 
feindlichen Gottheiten  mit  Fasten,  Kasteiung,  Selbstent- 
mannung, Kinderopfern  verehrt  werden. 

1  Gesen.,  Jes.,  2.  Beil.,  Nr.  342. 

Boskoff,  Geschichte  des  Teufels.     I.  7 


|g  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Solche  Gottheiten  des  Lebens,  der  Zeugung  und  Geburt, 
des  Lichts  und  der  Fruchtbarkeit  waren  Baal  und  Aschera. 
Ersterer  trägt  bei  verschiedenen  Stämmen  verschiedene  Namen, 
als  Baal-Peor,  Baal-Etan,  Baal-Berith,  Baal-Sebub  u.  a.  m. 
Bei  den  Moabitern  wird  er  als  Milkom  und  Kamos  verehrt, 
obschon  mehr  als  zerstörende  Gottheit;  bei  den  Philistäern 
erscheint  er  als  Dagon  und  Aschera,  die  auch  Baaltis  (Herrin) 
heisst,  und  in  der  fischweibgestaltigen  Derketo  zu  Askalon 
erkenntlich  ist. 

Wie  Baal  als  Herr  des  Himmels  auf  Bergeshöhen  ange- 
rufen und  ihm  Altäre  errichtet  wurden,  so  waren  der  grossen 
Lebensmutter  Aschera  die  Gewässer,  von  Bäumen  die 
Cypresse,  Terebinthe,  besonders  der  Granatapfelbaum  als 
Symbol  der  Fruchtbarkeit,  von  Thieren  die  Tauben,  Fische, 
Widder,  Ziegen  geheiligt  und  Hügel  und  Haine  als  Lieblings- 
stätten der  Göttin  betrachtet.  In  ihrem  Dienste  wurde  auch, 
wie  bei  den  Babyloniern  der  Mylitta,  die  weibliche  Keusch- 
heit zum  Opfer  gebracht. 

Das  religiöse  Bewusstsein  der  Semiten  erkannte  aber  auch 
in  den  lebenzerstörenden  Naturmächten  das  Walten  von  Gott- 
heiten, und  diese  wurden  dem  Gott  und  der  Göttin  des  Lebens 
ento-eo-ensesetzt.      Moloch   und   Astarte   sind    die   dem    Leben 
der  Natur   und   der   Fortpflanzung   der  Menschen  feindlichen 
Gottheiten.    Moloch,  der  König,  repräsentirt  das  verzehrende, 
vertilgende  Feuer.    Er  ist  der  Herr  des  Feuers,  der  Sommer- 
dürre,   des    vernichtenden    Kriegs.      Der  wilde,   ungebändigte 
Stier    ist    ihm   geheiligt,    daher   er   als    Stier   oder   mit   einem 
Stierkopf  dargestellt  wird.     Ihm  eignet  das  Schwein ,  das  die 
Sonnenhitze  wüthend  macht.      Den   finstern  Grimm   des  Mo- 
loch   zu    sänftigen    und    diesen    gnädig    zu    stimmen,    musste 
Menschenblut   vergossen   wTerden.      Bei    jeglicher   Gefahr,    ob 
durch    Elementarereignisse    oder    durch    Krieg    herbeigeführt, 
bei   wichtigen   Unternehmungen   fielen  daher  zahlreiche   Men- 
schen   als    Sühnopfer.      Das   Alte    Testament    gedenkt    dieses 
grausamen   Cultus    an   vielen    Stellen,  und  viele   Schriftsteller 
des  Alterthums  bestätigen  ihn. '     Diese  Menschenopfer  mussten 
aus  der  Mitte  der  Bürger  genommen,  durchaus  rein,  nämlich 


1  Herodot,  1,  199;   Plut.  de  superstit.,  13,  171;   Plin.,  Hist.  nat.,  36; 
Curüus,  IV,  15;  Silius  Itulicus,  IV,  819;  Justin.,  XVIII,  5,  u.  a. 


4.    Dualismus  in  den  Keligionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     99 

noch  nicht  durch  Zeugung  befleckt,  also  Jünglinge  und  Knaben 
sein ,  die  sich  noch  nicht  geschlechtlich  vermischt  hatten.  Das 
Opfer  galt  für  um  so  wirksamer ,  wenn  man  das  einzige  Kind, 
den  erstgeborenen  Knaben  den  glühenden  Armen  der  Molochs- 
Statue  übergab,  somit  das  Liebste  und  Theuerste  dem  grim- 
migen Gotte  darbrachte.1  Sollten  diese  Opfer  dem  Moloch 
angenehm  sein,  so  mussten  sie  ohne  Klagen  gebracht  werden, 
daher  die  Mütter,  die  gegenwärtig  sein  mussten  bei  der 
Schlachtung  ihrer  Lieblinge,  den  Schmerz  unterdrücken  sollten, 
und  das  Wehklagen  der  unglücklichen  Opfer  von  dem  Ge- 
räusch der  Pauken  und.  Pfeifen  übertönt  wurde. 

Das  weibliche  Seitenstück  zu  dem  starken,  zornigen  Mo- 
loch ist  „die  grosse  Astarte",  besonders  in  Sidon  verehrt,  die 
„Königin   des   Himmels".      Ihre  Verwandtschaft   mit  Moloch 

.77  Ö 

zeigt  sie  in  dem  Stierkopfe  oder  den  Stierhörnern,  oder  dass 
sie  auf  dem  Stiere  reitend  dargestellt  wird.2  Sie  ist  Göttin 
des  vernichtenden  Kriegs,  daher  sie  mit  dem  Speere  in  der 
Hand  erscheint.3  In  diesem  Sinne  hängten  die  Philistäer  die 
erbeuteten  Waffen  des  von  ihnen  überwundenen  Saul  im  Tem- 
pel der  Astarte  auf.  Als  zeugungsfeindlich  ist  der  keusche 
Mond  ihr  Gestirn4,  und  mit  den  Mondhörnern  wird  sie  zur 
gehörnten  Astarte,  Astaroth  karnaim.  Sie  ist  die  „himmlische 
Jungfrau",  ihre  Priesterinnen  sollten  der  Göttin,  der  sie  sich 
geweiht,  durch  Ertödtung  aller  Sinnenlust  gleich  werden, 
demnach  zur  strengsten  Keuschheit  verpflichtet  sein.  Das  ihr 
wohlgefälligste  Opfer  war  die  Selbstentmannung,  sonst  wurden 
ihr  Jungfrauen  zum  Opfer  gebracht.  Die  Menschenopfer  beim 
Astarte-Cultus  waren  zwar  nicht  so  zahlreich  wie  beim  Moloch- 
dienste, dafür  fanden  aber  bei  dem  grossen  Feuerfeste  der 
Astarte  im  Frühling  Verstümmelungen  statt,  welche  Jünglinge, 
durch  Pfeifen-  und  Paukenschall  in  Ekstase  versetzt,  mit  dem 
Schwerte,  das  am  Altar  der  Göttin  stand,  an  sich  vollzogen.5 
Ueberdies  gab  es  zur  Feier  der  Astarte  verschiedene  Selbst- 
quälereien,    indem    ihre   Diener    sich   bis   aufs   Blut   geiselten, 


1  Euseb.  praep.  evang.,  IV,  16. 

2  Lucian,  De  dea  Syr.,  4;  Hock,  Creta,  1,  98. 

3  Pausan.,  3,  23. 

4  Lucian,  a.  a.  0. 

3  Lucian,  15.  27.  49—51. 


JQO  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

sich  die  Arme  zerbissen  oder  zerschnitten  und  unter  solchen 
Selbstpeinigungen  Processionen  veranstalteten.1 

Der  Syrer  und  Phönizier  stellt  die  natürlichen  und  über- 
natürlichen Mächte  als  freundliche,  lebenerzeugende  den 
feindlichen,  lebenzerstörenden  Gottheiten  schroff  gegenüber, 
und  zwar  nicht  in  Beziehung  aufeinander,  wie  dies  im  Kampfe 
in  den  ägyptischen  Mythen  oder  im  Parsismus  geschieht,  wo 
es  im  Verlaufe  eines  epischen  Processes  durch  Ueberwindung 
des  verderblichen  Princips  zu  einem  positiven  Resultate  kommt. 
Ungeachtet  dessen  ist  auch  bei  den  Phöniziern  das  Streben 
nach  Einheit  nicht  zu  verkennen,  obschon  die  Ausgleichung  le- 
diglich vermittels  der  Phantasie  geschieht,  welche  die  gegen- 
sätzlichen Momente  ineinandersetzt  und  das  übelthätige  sowol 
als  das  wohlthätige,  das  zeugende  mit  dem  vernichtenden 
Principe  auf  ein  und  dieselbe  Gestalt  überträgt. 

Dies  ist  der  Fall  bei  Melkarth  (Stacltkönig),  dem  Schutz- 
gütte von  Tyrus,  in  welchem  der  Baal  mit  dem  Moloch  ver- 
schmolzen ist.  Seinen  Tempel  mit  aller  Pracht  darin  hat  der 
weitreisende  Herodot2  bewundert.  Dem  Melkarth  wurde  die 
grosse  Dvu-re  des  Landes  zugeschrieben  und  daher  ein  Stier 
als  Sühnopfer  zugemuthet,  das  er  mit  seinem  Strahle  ver- 
brennen sollte,  worüber  der  Spott  des  Propheten  Elias  laut 
ward,  als  es  unterblieben  war.3  Derselbe  Melkarth  umwan- 
derte aber  auch  die  Erde  wie  die  Sonne,  stiftete  die  alten 
phönizischen  Colonien,  bezwang  die  feindlichen  Volksstämme 
und  lenkte  das  Schicksal  der  Könige  und  Völker.4 

Aehnlich  fasst  sich  die  gegensätzliche  Bedeutung  der 
Aschera  und  Astarte  in  der  phönizischen  Dido-Astarte  zu- 
sammen, die  Spenderin  des  Segens  und  Stifterin  des  Unheils 
zugleich  ist.  Wie  Melkarth  mit  der  Sonne  die  Erde  umkreist, 
Städte  gründet,  so  ist  jene  eine  wandernde  Göttin,  die  mit 
dem  Wechsel  des  Mondes,  ihres  Gestirns,  verschwindet  und 
kommt.  Melkarth  als  Baal  sucht  sie  während  ihrer  Wanderung, 
und  indem  die  zeugungsspröde  Dido  sich  ihm  ergibt,  wird 
sie  Anna  (Anmuth),  der  Zeugung  günstige  Göttin,  und  ver- 
wandelt sich  zur  Anna-Aschera.     Aus  dieser  Vereinigung  des 


1  Movers,  Relig.  d.  Phon.,  681. 
-  II,  44. 

3  1  Kön.  18,  2(5-29. 

4  Lucian,  De  dea  Syr.,  c.  6—8. 


4.  Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  101 

Sonnengottes  mit  der  Mondgöttin  geht  Leben,   Ordnung  und 
Cnltur  hervor. 

Der  Wechsel  der  Jahreszeiten,  der  freundlichen  und  feind- 
lichen Naturmächte  tritt  besonders  deutlich  im  Adonis-Cnltus 
zu  Byblus  entgegen,  wo  in  der  Linusklage  die  hinwelkende 
Natur  betrauert,  die  Auferstehung  des  Adonis  im  Frühling 
hingegen  mit  unbändigem  Jubel  und  wilden  Orgien  von  den 
Syrern  gefeiert  wurde. 


Kleinasien. 

Auf  der  Halbinsel  Kleinasien,  wo  eine  Vielzahl  von  Völker- 
schaften zusammengedrängt  war,  von  welchen  die  Homerischen 
Gesänge  die  erste  Kunde  geben l  und  mehrere  Jahrhunderte 
später  Genaueres  berichtet  wird,  erinnern  nicht  nur  die  Lebens- 
bedingungen, wie  Klima,  Beschaffenheit  des  Bodens,  an  die 
westasiatischen  Länder,  auch  die  Bewohner  werden  in  der 
hebräischen  Stammtafel  mit  den  Syrern,  Babyloniern,  Phöni- 
ziern in  ein  verwandtschaftliches  Verhältniss  gesetzt,  und 
zwar  durch  Lud  (Lydier),  den  Sohn  Sems.  Die  Lydier  sind 
aber  eben  in  religionsgeschichtlicher  Beziehung  der  wichtigste 
Stamm  Kleinasiens,  und  so  lässt  sich  die  religiöse  Anschauung 
der  Kleinasiaten  überhaupt  auf  die  Grundlage  zurückführen, 
auf  welcher  die  der  Westasiaten  beruht. 

Es  findet  sich  bei  den  Kleinasiaten  ebenfalls  die  Vorstellung 
und  Verehrung  einer  zeugenden  und  gebärenden  Naturmacht, 
die,  wie  bei  den  Westasiaten,  locale  Ausbildung  erhalten  hat. 
Es  zeigt  sich  ferner  hier  wie  dort  derselbe  gegensätzliche 
Dualismus  eines  schaffenden  und  zerstörenden  Princips,  sowie 
die  Zusammenfassung  des  Männlichen  und  Weiblichen  in  eine 
mann  weibliche  Gestalt  und  der  orgiastische  Cult,  in  dem  die 
Extreme  von  Lust  und  Pein  sich  berühren. 

Die  phantasiereichen  Phrygier,  unter  denen  die  Midas-Sage 
entstand  sowie  die  von  dem  unglücklichen  Flötenspieler 
Marsyas ,  verehrten  Ma-Kybele  als  die  „grosse  Mutter",  „die 
Königin",  die  „Alles-Gebärerin".2  Sie  führt  auch  von  einer 
der  Hauptstätten    ihres   Dienstes    am   Berge  Ida   den   Namen 


•  Uias,  II,  III,  IV,  V  u.  s.  w. 
2  Diod.,  III,  58. 


102  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

„die  idäische  Mutter".     In  Pessinus  heisst  sie  auch  Agdistis, 
auf  den  Höhendienst  der  Göttin  hindeutend.1      Die  Griechen 
fanden  in  der  idäischen  Mutter  die  Aphrodite,  die  Beschützerin 
Bions    in    der   Nähe   des  Berges    Ida.      Gleich  der   syrischen 
Aschera  waren  auch  der  phrygischen  Kybele  Widder,  Böcke, 
Tauben    heilig   und   zu  Opfern   bestimmt,    sowie   der  Granat- 
apfelbaum  als  Sinnbild   der   Fruchtbarkeit  geweiht.      Ihr   be- 
deutendstes   Opfer    war    das    der   jungfräulichen    Keuschheit, 
und  die  lydischen  und  phrygischen  Mädchen  gaben  sich  ihrer 
Göttin  zu  Ehren  preis,  wie  die  Babylonierinnen  und  Syrerinnen, 
nur    dass  erstere   den  Gewinn   zu    ihrer  Aussteuer  verwendet 
haben  sollen.2    Beim  orgastischen  Cultus  treffen  wir,  wie  bei 
den    Westasiaten,    die    Steigerung    bis    zur    Verzückung    und 
Raserei  und  ebenso  Selbstverwundungen  und  Selbstentmannung 
zu  Ehren   der  Göttin.  3     Die  Priester   der  Göttin  waren  Ver- 
schnittene (Gallen)  unter  einem  Archigallus,  und  alles  übrige 
Beiwerk  des  Cultus  erinnert  an  den  Dienst  der  Astarte.    Auch 
der  Mythus  von  der  Dido -Astarte  wiederholt  sich  hier  zwischen 
Kybele  und  Hyperion,  wobei  dieser  die  Rolle  des  Baal  über- 
nommen   hat.4      Das    männliche    Princip    Men    ist    weniger 
betont,  wie   auch   in  Babylon  der  Dienst   der  Mylitta  und  in 
Syrien  der  Aschera  den  Vordergrund  einnimmt.    Indess  heisst 
Men  doch  Papas,  Vater,  wie  Ma  mit  Amma  bezeichnet  wird. 
Auch  hier  findet  sich  die  Verschmelzung  des  Männlichen  und 
Weiblichen,     indem    die    grosse    Mutter    eine    mannweibliche 
Gestalt  bekommt. 

Die  syrischen  Stämme,  inmitten  des  Landes  von  den 
Griechen  Kappadoker  genannt,  hatten  zur  Hauptgottheit  Ma 5, 
deren  berühmtester  Tempel  zu  Komana  stand.  Unweit  davon 
hatte  der  männliche  Men  den  seinigen.  Wenn  es  von  den 
Bewohnern  von  Komana  heisst,  dass  sie  weichlich,  die 
meisten  von  ihnen  Begeisterte  und  Verzückte  seien,  dass  eine 
Menge  Mädchen,  welche  Strabo  nach  Tausenden  zählt6,  dem 
Tempel  mit  dem  Leibe  dienten;   so   finden  wir   hierin  nur  die 


1  Herodot,  I,  80;  Pausan.,  I,  4,  11. 

2  Herodot,  I,  93. 

3  Dio  Cassius,  LXVIII,  27. 
i  Diod.,  III,  56  fg. 

ä  Strabo,  535, 
*  536  fg. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Cullurvölker  des  Alterthums.  103 

Bestätigung  des  verwandtschaftlichen  Zusammenhangs  mit 
Syrien.  Dasselbe  gilt  auch  von  der  Beschreibung  der  heiligen 
Gebräuche,  sich  im  Taumel  der  Verzückung  mit  Schwertern 
zu  zerfleischen  oder  den  sinnlichen  Ausschweifungen  bei  den 
Festen  sich  hinzugeben. 

In  Lydien  tritt  derselbe  Cultus  wie  in  Phrygien  auf,  die- 
selbe Landesgöttin  Kybele  auch  unter  dem  Namen  Ma1;  ihr 
steht  Sandon  (Sardan)  zur  Seite,  der  dem  Baal-Men  ent- 
spricht. Auch  hier  der  orgiastische  Dienst  in  ausschreitendster 
Weise  neben  dem  grausamsten  Cultus  der  Astarte,  der  Artemis 
der  Lydier2,  durch  Entmannung.  3 

Die  Cilicier,  welche  schon  der  Vater  der  Geschichtschreibung 
von  den  Phöniziern  ableitet4,  haben  Baal  als  Ilauptgottheit, 
was  die  Münzen  bestätigen,  auf  denen  auch  die  Naturgöttin 
dargestellt   wird. 

Selbstverständlich  lassen  sich,  ungeachtet  der  Verwandt- 
schaft der  Götterdienste,  die  von  den  Grenzen  Syriens  nord- 
wärts bis  zum  Pontus  und  westwärts  bis  an  die  Küste  des 
Aesiuschen  Meeres  herrschend  waren,  doch  Modificationen  und 
locale  Gestaltungen  der  religiösen  Vorstellungen  erwarten; 
alle  schlössen  sich  aber  nach  ihrer  Grundanschauung  an  den 
geschlechtlichen  Dualismus,  Ma  und  Men,  wobei  die  Natur- 
kraft bald  als  gebärende,  bald  als  der  Zeugung  feindliche 
gedacht  wird.  Allen  diesen  Ländern  ist  somit  der  Dualismus 
von  wohlthätigen  und  übelthätigen  Wesen  gemeinsam. 

Assyrien. 

Von  dem  Sitze  der  Assyrer,  Assur,  zwischem  dem  Zad 
und  dein  Tigris ,  hatte  sich  das  Keich  durch  Eroberungen  über 
Mesopotamien  und  Syrien  bis  nach  Aegypten  erweitert  und 
schon  im  frühen  Alterthum  eine  bedeutende  Höhe  der  Cultur 
erreicht.  Die  Assyrer,  nachdem  sie  das  Reich  von  Babylonien 
aufgehoben,  hatten  nach  etwa  600  Jahren  das  Los,  unter 
Nabopolassar  den  Babyloniern  zu  unterliegen  und  annectirt 
zu  werden,    unter    dessen    Sohne  Nebucadnezar    aber   wieder 

1  Diod.,  III,  58. 

8  Athen.,  XIV,  633  A. 

3  Herodot,  III,  48;  VIII,  105. 

4  Herodot,  VII,  91;  vgl.  Movers,  Phon.,  II,  1.    12!>  fe. 


104  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

als  grosse  assyrisch -babylonische  Macht  auf  dem  Schauplatze 
der  Geschichte  thätig  aufzutreten. 

Aus  den  vereinzelten  Nachrichten  der  Bibel  und  den  in 
der  Neuzeit  ausgegrabenen  Ueberresten  ist  ersichtlich,  dass 
die  assyrische  Religion  mit  der  babylonischen  dieselbe  Grund- 
lage theilt. 

Bei  und  Beltis  als  zeugende  und  empfangende  Macht 
linden  sich  bei  den  Assyrern  als  Hauptgottheiten.  1  An  den 
ausgegrabenen  Palastruinen  von  Nimrud  und  Khorsabad  stehen 
die  Namen,  wie  auch  die  ihnen  von  andern  Stämmen  beige- 
legten. In  den  Inschriften  kommen  für  den  „grossen  König 
der  Götter''  noch  andere  Benennungen  vor,  daher  sich  die 
Annahme  empfiehlt,  dass  die  einzelnen  Landschaften  ihre 
besonderen  Localgötterdienste  gehabt  haben.  In  einer  Pro- 
cessen wird  ein  bärtiger  Gott  mit  vier  Stierhörnern  am 
Haupte,  ein  Beil  in  der  Rechten,  schreitend  vorgestellt, 
worunter  Bei  gemeint  ist.  2  Auf  den  ausgegrabenen  Bruch- 
stücken wiederholen  sich  weibliche  Gestalten  mit  einem  Sterne 
auf  dem  Kopf,  auf  einem  Löwen  stehend,  einen  Ring  in  der 
Hand,  die  auf  die  Astarte  gedeutet  werden.  3  Eine  besonders 
häufig  in  den  Sculpturen  vorkommende  menschliche  Figur  mit 
einem  Adlerkopf,  den  assyrischen  Nisroch  darstellend,  findet 
ihre  Erklärung  darin,  dass  dem  tyrischen  Melkarth  auch  der 
Adler  heilig  war.4 

Nach  schriftlichen  Berichten5  hatten  die  Assyrer  einen 
Gott  Sandon ,  Sardon,  den  wir  auch  bei  den  Lydiern  ange- 
troffen haben,  den  die  Griechen,  wie  auch  den  Melkarth,  als 
Herakles  bezeichnen. 

Bei  den  Assyrern  findet  sich  auch  die  Vereinigung  des 
Männlichen  und  Weiblichen  zu  einer  mannweiblichen  Gottheit, 
welche  Verschmelzung  im  Cultus,  wie  bei  andern  semitischen 
Stämmen,  durch  die  Vertauschung  der  männlichen  und  weib- 


1  Servius  ad  Aeneid.,  I,  729. 

2  Layard,  Niniveh,  417,  Fig.  81;  übers,  von  Meixner.  Diodor.,  II,  9, 
erwähnt  in  seiner  Beschreibung  des  Tempels  zu  Babel,  die  Statue  des  Bei 
gei  in  schreitender  Stellung  dargestellt  rewesen.    Vgl.  Baruch,  6,  14. 

3  Layard,  a.  a.  0.,  300. 

4  Nonnus  Dionys.,  40.   495.   528. 

5  Pausan.,  X,  17.  5;  Joannes  Lydus,  De  magistr.,  3,  64. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  105 

liehen  Tracht  und  in  geschlechtlichen  Ausschweifungen  ihren 
Ausdruck  fand.  Wollust  und  Grausamkeit,  die  in  den  semi- 
tischen Götterdiensten  Hand  in  Hand  gehen,  finden  sich  be- 
sonders in  dem  assyrischen  Mythus  von  der  vergötterten 
Semiramis,  und  die  Erdaufwürfe,  die  sogenannten  Semiramis- 
hügel  in  jener  Gegend,  erklärt  die  Sage  für  Grabhügel  der 
vielen  Liebhaber  der  Semiramis  \  die  nach  gepflogener  Sinnen- 
lust von  ihr  getödtet  worden  seien.  Die  der  Aschera  gehei- 
ligten Vögel,  die  Tauben,  spielen  in  der  Sage  von  der 
Semiramis  eine  grosse  Rolle.  Sie  war  die  Tochter  der  höchsten 
weiblichen  Gottheit,  der  gebärenden  Naturkraft,  der  Myljtta- 
Derketo.  Die  Göttin  Derketo  findet  sich  demnach  wirklich 
bei  den  Assyrern,  denn  die  Nachkommen  der  Semiramis  auf 
dem  assyrischen  Throne  werden  als  Derkeiaden  bezeichnet2, 
sowie  auch  das  Vorhandensein  des  Dagon  auf  den  Ueberresten 
zu  Nimrud  beglaubigt  ist.  3  In  der  Semiramis  vereinigt  der 
Assyrer  die  Attribute  der  Derketo  und  Astarte  in  Einer  Ge- 
stalt: Krieg  und  Liebeslust,  Leben  und  Tod,  die  wohlthätige 
und  verderbliche  Macht,  wie  sie  in  der  Aschera -Astarte  der 
Phönizier  und  Syrer,  in  der  Dido-Anna  bei  den  Karthagern 
erscheinen.  Auf  diese  Ineinandersetzung  deuten  die  Züge  in 
der  Semiramis  von  ihrem  unwiderstehlichen  Liebreiz,  von  dem 
Untergange  ihrer  Buhlen,  von  ihren  übermächtigen  Kriegs- 
thaten.  Man  braucht  nicht  die  wirkliche  Existenz  einer  Semi- 
ramis aus  der  Geschichte  ganz  hinwegzustreichen,  muss  aber 
dabei  im  Auge  behalten,  dass  diese  Persönlichkeit  durch  die 
Sage  zur  Trägerin  religiöser  Elemente  und  zur  göttlichen 
Gestalt  erhoben  ist. 

Arier:   Inder-Perser. 

Nach  dem  heutigen  Stande  der  "Wissenschaft  ist  es  ausser 
Zweifel,  dass  die  Arja  am  Indus  und  Ganges  mit  den  Arja 
auf  dem  Hochlande  von  Iran  ein  und  demselben  Stamme  an- 
gehören, dem  sie  als  Zweige  entwachsen,  zu  Völkern  geworden 
sind.     Wo  aber  ihr  gemeinschaftlicher  Ursitz  vor  ihrer  Tren- 


1  Diod.,  II,  14. 

2  Vgl.  Duncker,  I,  270,  Note  3. 

1  Rawlinson,  Journ.  of  the  roy.  soc,  vol.  12,  p.  2,  1850. 


106  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

nung  gewesen,  hat  sich  bisher  noch  nicht  feststellen  lassen, 
und  selbst  gewiegteste  Indienforscher  machen  nur  Anspruch 
auf  Wahrscheinlichkeit,  wenn  sie  bei  ihrer  Hindeutung  auf 
den  ältesten  Ursitz  der  Iraner  und  Inder  das  Quellengebiet 
des  Oxus-Jaxartes,  das  Hochland  auf  dem  Westgehänge  des 
Belurtag  oder  Mustag,  das  östliche  hohe  Iran  angeben.1 
Ebenso  wenig  bestimmt  ist  die  Zeit  der  Trennung,  denn  diese, 
wie  die  Anfänge  ihres  Culturlebens,  verliert  sich  im  dunkeln 
Hintergründe  der  Mythen  und  Sagengeschichte.  Sicher  da- 
gegen ist,  dass  der  Urstamm  der  Ar  ja  zwei  Sprösslinge  ent- 
liess,  wovon  der  eine  südwestwärts  bis  in  die  Thalebenen  des 
Euphrat  und  Tigris  sich  erstreckte,  der  andere  südostwärts 
über  die  Stromgebiete  des  Indus  und  Ganges  sich  ausbreitete. 
Die  Westarier  bewohnten  das  nachmalige  Baktrien  und  Per- 
sien, die  Ostarier  erhielten  vom  Indus  den  Namen  Inder  und 
ihr  Land  Indien. 

Der  Beweis  für  ihre  ursprüngliche  Zusammengehörigkeit 
liegt  in  dem  gemeinschaftlichen  Namen,  mit  dem  sich  beide 
bezeichnen.  Die  Stämme,  die  im  Alterthume  das  iranische 
Hochland  bewohnten:  Baktrer,  Margianer,  Sattagyden  oder 
Sogdianer,  Parther  u.  a,;  im  Westen:  Meder,  Perser,  die 
alle  nach  den  Berichten  der  Griechen  in  Sprache,  Tracht  und 
Sitte  sich  ähnlichten,  nannten  sich  selbst  Arier  und  ihr  Land 
Ariana  (Airja,  Airjana,  Iran)2;  die  Inder  nannten  nach  ihrer 
ältesten  und  gangbarsten  Bezeichnung  Arja  ihr  Land  Arjavarta.3 
,, Airja  und  Arja  bedeuten  die  Tüchtigen,  die  Würdigen".4 
Lassen5  übersetzt  den  Namen  Arja  durch  „ehrwürdige  Män- 
ner, Leute  aus  gutem  Geschlecht". 

Die  vergleichende  Sprachwissenschaft  hat  zwischen  dem 
Sanskrit,  der  ältesten  Sprache  der  Inder,  namentlich  in  den 
ältesten  Veda,  und  der  altiranischen  Sprache  enge  Beziehungen 
entdeckt.  Die  Berührongen  des  Zendvolks  und  der  Inder 
zeigen  sich  in  dem  Namen  Jazata,  Ized,  Götter  der  zweiten 
Ordnung  im  Zend,   entsprechend  der  Sanskritform  Jag'ata  in 


1  Vgl.  Lassen,  Ind.  Altertl).,  I,  421  fg. 

2  llerod.,  VII,  62;  Strabo,  721,  724. 

3  Rigvedii  v.  Kosen,  I,  51,  8;   Samaveda  v.  Benf'ey,  I,  1,  5;   Manu, 
;X,.4ö,  u.  a. 

i  Duneker,  II,  13. 
5  Ind.  Alterth.,  1,5. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  107 

den  Veda,  mit  der  ursprünglichen  Bedeutung  „verehrungs- 
würdig". In  der  Bibel  der  Iranier,  dem  Zendavesta,  heissen 
die  Priester:  Aharvan;  die  Inder  eignen  das  vierte  der  Veda 
dem  Atharvan,  einem  geheiligten  Charakter,  in  dem  sich  die 
Erinnerung  bei  den  Indern  aufbewahrt  hat,  dass  auch  bei 
ihnen  wie  bei  den  Iraniern  der  Priester  ursprünglich  Atharvan 
geheissen  habe.  Die  alte  Sprache  der  Inder  und  die,  in 
welcher  die  religiösen  Urkunden  der  Iranier  abgefasst  sind, 
finden  die  Sprachforscher  nur  dialektisch  verschieden,  und  die 
Inschriften  des  Cyrus,  Darius  und  Xerxes  erhärten  diese 
Annahme. 

Die  Religionswissenschaft  bestätigt  die  nahe  Verwandt- 
schaft der  Ostarier  oder  Inder  mit  den  Westariern  oder 
Iraniern  durch  den  Nachweis  der  gemeinschaftlichen  Grund- 
lage ihrer  religiösen  Anschauung,  obschon  sich  dieselbe  später 
verschieden  gestaltet  hat.  Beiden  gemein  ist  die  Verehrung 
der  Sonne  als  göttliches  Wesen,  das  beide  unter  dem  Namen 
Mitra  anrufen;  gemein  ist  dem  Zendavesta  mit  den  Veda  die 
Verehrung  des  Mondes,  des  Feuers,  der  Erde,  des  Wassers. 
Der  höchste  Gott  der  Inder  führt  in  alter  Zeit  gewöhnlich 
den  Beinamen  Vritraghna,  Tödter  des  Vritra;  die  Iranier 
kennen  einen  Geist  des  Sieges,  den  sie  unter  dem  Namen 
Verethragna  verehren.  Nach  den  ältesten  Mythen  beider 
Völker  steht  das  Opfer  in  höchsten  Ehren ,  welches  die  Inder 
Soma,  die  Iranier  Haoma  nennen.  Die  Iranier  nennen  den 
ersten  Opferer  Vivanghvas,  der  zuerst  den  Saft  des  Haoma 
ausgedrückt  und  den  Göttern  dargebracht  habe,  wofür  ihm 
zum  Lohne  Jima  geboren  worden,  der  Stifter  des  Ackerbaues 
und  des  geordneten  Lebens,  der  erste  Vereiniger  der  Men- 
schen und  erster  König.  Nach  den  indischen  Mythen  wird 
den  höchsten  Göttern,  namentlich  dem  Indra,  der  Saft  einer 
Bergpflanze  Soma  geopfert,  der  jene  nicht  nur  erfreut  und 
ihre  Stärke  vermehrt,  sondern  sie  auch  nöthigt,  den  Menschen 
hülfreich  zu  sein.  Jama,  bei  den  Indern  der  Name  des 
Todtenrichters  und  Beherrschers  des  Reichs  der  Verstorbenen, 
erscheint  zwar  nicht  selbst  als  König,  dafür  aber  sein  Bruder 
Manu  als  erster  Gesetzgeber,  Begründer  des  geregelten 
Lebens  und  Stammvater  der  indischen  Königsgeschlechter. 
Die  Inder  verehrten  die  ersten  Lichtstrahlen  des  Morgens  als 
das  schöne  Zwillingsbrüderpaar,  die  Acvinen;  bei  den  Iraniern 


108  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

finden  wir  die  Aspinen.  Die  Sage  der  Inder  erzählt  von 
einem  Heros  Traitana  oder  Trita,  Aptja's  Sohne,  der  den 
dreiköpfigen  Drachen  erlegt;  bei  den  Iraniern  ist  es  Chraetavna, 
der  Sohn  Athwja's,  der  die  verderbliche  Schlange  Dahaka 
mit  drei  Köpfen,  drei  Ilachen,  sechs  Augen  und  tausend 
Kräften  tödtet.  Beiden  Völkern  gemeinschaftlich  ist  auch  der 
Glaube,  dassTodtes,  Haare,  Nägel  verunreinigen,  und  beide 
gebrauchen  dasselbe  Reinigungsmittel.  J 

Diese  gemeinschaftliche  Grundanschauung  wurde  nur  von 
den  Ariern  am  Indus  und  den  Ariern  am  Ganges  ie  eigenartig 
zu  zwei  sich  unterscheidenden  Systemen  ausgebildet. 

Die  Arier  am  Indus  und  Ganges. 

Wie  das  Leben  der  Arier,  die  sich  am  Indus  nieder- 
gelassen, beschaffen  war,  ist  aus  den  religiösen  Liedern  des 
Veda  ersichtlich,  die  uns  den  Einblick  in  die  religiösen  Vor- 
stellungen den  Umrissen  nach  gewähren.  Das  Volk  theilt 
sich  in  kleine  Stämme,  die  von  Viehzucht  und  Ackerbau 
leben,  es  herrschen  Fehden,  meist  um  Heerden  und  Weide- 
plätze. In  religiöser  Beziehung  werden  die  Geister  der  klaren 
Luft,  des  Lichts,  des  blauen  Himmels,  der  Winde  als  Hülfs- 
mächte  angerufen.  Die  Götter  heissen  Deva2;  an  der  Spitze 
steht  der  „grossarmige  Indra"  als  der  höchste  Gott  des  hohen 
Himmels,  des  Donners,  Blitzes,  der  Herrscher  über  das 
Flüssige  und  Feste,  des  gehörnten  Viehs,  der  Speerträger,  Herr 
der  Männer. 

Diesem  gewaltigen,  aber  wohlthätigen  Wesen  gegenüber 
stehen  übelthätige  Geister:  Vritra,  der  Einhüller  des  Himmels- 
wassers in  die  schwarze  Wolke;  Ahi,  der  die  strömenden 
Wasser  im  Sommer  in  Berghöhlen  versteckt.  Indra  kämpft 
gegen  die  bösen  Dämonen,  er  muss  die  Wolke  mit  dem 
Speere  spalten,  damit  der  Regen  herabfliessen  könne,  er 
befreit  auch  die  gefangenen  Ströme.  In  diesem  Kampfe  stehen 
dem  Indra  als  Gehülfen  bei:  der  Gott  Vaju,  der  Wehende, 
sammt    der    Schar    der    schnellen    Winde,    die    den    Himmel 


1  Vgl.  Duncker,  II,  13  fg. 

-  Von  div,  hellleuehtend;  Lassen,  a.  a.  0.,  I,  756:  Seo's,  deus,  im 
Littauisch-Slav.  diewas,  althochd.  zio,  goth.  tius,  eddisch  tivar,  franz. 
dieu,  ital.  dio,  span.  dios. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvolker  des  Alterthums.  109 

reinigen,  und  unter  ihnen  ist  Rudra  (die  tropische  Winds- 
braut) besonders  bemerklich,  der  zwar  im  Zorne  verderblich 
und  selbst  den  Tod  für  Mensch  und  Thier  bringen  kann, 
aber  auch  ein  wohlthätiger  Gott  ist,  dem  erquickende  Regen 
folgen.  Mit  Rudra's  Beistand  besiegt  Indra  die  „schwarz- 
leibigen"  Dämonen  und  ist  demnach  auch  Gott  des  Siegs, 
um  den  er  im  Kampfe  angerufen  wird. 

Neben  den  Geistern  des  Lichts,  die  in  den  Veda  angerufen 
werden,  ist  besondex*s  Surja,  die  Sonne,  unter  verschiedenen 
Namen  gepriesen,  als  Erzeuger  (Savitri),  Nährer  der  Menschen 
(Pushan),  als  allwissender  Gott.  Viele  dieser  alten  Veda 
haben  Agni  (das  Feuer)  zum  Gegenstande  ihrer  Anrufungen. 
Er  bringt  das  Licht,  ist  Gast  der  Menschen,  reinigt,  tilgt 
das  Böse,  ist  der  Bote  zwischen  Menschen  und  Göttern. 
Ihm  selbst,  wie  den  übrigen  Göttern,  wird  reine  Butter,  ins 
Feuer  geworfen,  als  Opfer  dargebracht,  das  Agni,  wenn  die 
Flamme  emporprasselt,  hinaufträgt.  Agni  ist  auch  Bekämpfer 
der  riesigen  Asuren  und  Rackschas,  Personificationen  der 
feindlichen  Naturmächte;  dem  Erzeuger  Indra  und  dem  Er- 
halter Varuna  gegenüber  erscheint  aber  Agni  selbst  als  Zer- 
störer. Dem  Indra  und  den  Geistern  der  Luft  wird  der  Saft 
einer  Bergpflanze,  Soma,  in  einer  Schale  dargeboten,  und 
durch  Opfer  sollen  die  Götter  nicht  nur  erfreut,  sondern  auch 
o-enöthigt  werden,  sich  den  Menschen  hülfreich  zu  erweisen. 
Die  Priester,  als  Vorsteher  des  indischen  Opferwesens,  be- 
kommen dadurch  in  der  Vorstellung  des  Inders  zauberische 
Gewalt  über  die  Götter. 

In  diesen  Vorstellungen  ungefähr  bewegt  sich  das  religiöse 
Bewusstsein  der  Arier  am  Indus  nach  den  Hymnen  der  Veda, 
den  ältesten  Producten  der  religiösen  Lyrik  der  Inder,  deren 
Entstehuno;  aber  nach  der  Verschiedenheit  ihres  Inhalts  auf 
einen  Zeitraum  von  mehrern  Jahrhunderten  avisgedehnt  wird.1 
Die  im  Ri«veda  beschilderten  Zustände  setzt  Duncker2  zwi- 
sehen  die  Jahre  1800  und  1500  vor  Christus,  somit  müsste 
die  Einwanderung  der  Arja  in  das  Indusland  einige  Jahr- 
hunderte früher  geschehen  sein,  da  in  den  Hymnen  der  Veda 


1  Duncker,  II,  26. 

2  A.  a.  0.,  26. 


HO  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

keine  Spur  der  Erinnerung  an  eine  frühere  Heimat  zu 
finden  ist. 

Als  ein  Theil  der  Arja  sich  aus  dem  Lande  der  sieben 
Ströme  (dem  Indus ,  Fünfstrom  und  Sarasvati)  aufmachte, 
um  den  Vorbergen  des  Himalaja  entlang  in  das  Thal  der 
Jamuna  bis  an  die  Ganga  vorzudringen ,  war  diese  Wanderung 
mit  vielen  Kämpfen  verbunden,  und  erst  nach  langen  Kriegen 
erlangten  die  Ausgewanderten  feste  Wohnsitze  in  den  er- 
oberten  Gebieten.  Aus  dieser  Heldenzeit  entsprang  die 
kriegerische  Poesie  der  Inder,  und  die  Erinnerung  daran  liegt 
in  den  riesenhaft  grossen  indischen  Epen  aufbewahrt. 

Um  das  Jahr  1300  v.  Chr.  mögen  die  Stämme  der  Inder 
im  Gangeslande  zu  festen  Staatsbilduno;en  gelangt  sein.1  Der 
alten  Bevölkerung,  die  den  herrschenden  Arja  sich  gefügt 
hatte,  standen  die  Arja  als  Leute  von  besserm  Geschlechte 
gegenüber,  aus  welchen  sich  wieder  der  kriegerische 
Adel  hervorhob  und  zum  besonderen  Stand  der  Krieger 
(Kshatrija)  entwickelte,  von  dem  sich  Bauern,  Handwerker 
und  Handelsleute  ausschieden  und  als  Kaste  der  Vaicja  fixirten. 
Bei  dem  frommen  Sinne  der  Inder  und  ihrer  Vorstellung, 
dass  der  Sieg  in  der  Schlacht  vom  Opfer  abhängig  sei,  ja 
durch  dasselbe  die  göttliche  Gunst  abgenöthigt  werde  und 
den  Priestern  die  Kunst  dieser  Abnöthigung  zuerkannt  ward, 
da  ihre  Gebete  und  Bräuche  diese  Zauberkraft  besitzen  sollten, 
konnte  es  den  unentbehrlichen  Priestern  nicht  schwer  werden, 
ihrem  Stande  einen  überwiegenden  Einfluss  zu  sichern,  ihre 
Kaste  den  andern  gegenüber  abzuschliessen.  Dies  gelang  ihnen 
um  so  leichter,  als  sie  nicht  nur  die  Kenntniss  des  im  Laufe 
der  Zeit  sehr  complicirt  gewordenen  liturgischen  Codex  allein 
besassen,  sondern  auch  an  Bildung  überhaupt  voraus  waren. 
Als  die  Periode  der  Kämpfe  vorüber  und  das  Heldenthum 
zurückgetreten  war,  gewann  das  religiöse  Interesse,  das  Opfer- 
wesen das  Uebergewicht  und  damit  zugleich  der  Priesterstand 
die  Macht. 

Aus  dem  Glauben,  der  sich  in  den  ältesten  Veda  (von 
Priestern  verfasst)  ausspricht,  dass  die  göttliche  Hülfe  durch 
Opfer  und  Gebete  abgenöthigt  werden  könne,  entwickelte  die 
Priesterschaft  den  „Brahmanaspati",   den   Herrn  des  Gebets, 


1  Duncker,  II,  50. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.    1 1 1 

in  welchem  sie  die  Zaubermacht  ihres  Gebets  und  ihrer  heiligen 
Handlungen  auf  die  Götter  personificirt  darstellte.  Dieses 
Wesen  ist  in  den  Priestern  selbst  vorhanden,  macht  die  Wirk- 
samkeit ihrer  Gebete  aus,  ist  mächtiger  als  die  Götter  selbst, 
da  es  sie  zwingen  kann.  Es  ist  das  Brahma,  d.  h.  das  Heilige 
selbst,  die  specielle  Gottheit  der  Priester  und  Beter  (Brahmana), 
es  ist  die  höchste  Gottheit.  Brahma  übt  auf  die  Götter  Kraft 
aus,  hat  ihnen  Kraft  gegeben,  ist  selbst  die  Kraft  der  Götter, 
ist  vor  allen  Göttern  gezeugt.  In  diesem  Abstractum,  dem 
Brahma,  fasst  sich  die  ganze  Heiligkeit  und  Göttlichkeit 
zusammen.  Dieser  zauberhafte,  unsichtbare  Geist  war  nicht 
nur  die  wirkende  Kraft,  die  hinter  und  über  den  heiligen 
Handlungen  und  Gebeten  sich  bethätigte,  hinter  und  über 
den  Göttern  sich  mächtig  erwies,  er  war  es  auch,  der  hinter 
den  grossen  und  mannichfaltigen  Erscheinungen  des  Natur- 
lebens waltete,  er  war  die  Welt seele,  die  alle  Dinge  der 
Natur  durchzieht,  belebt  und  erhält.  Brahma  war  der  geistige 
Uro-rund  der  geistigen  und  natürlichen  Welt,  er  war  in  und 
ausser  der  Natur,  alle  Wesen  verdankten  dem  Brahma  ihren 
Ursprung. 

Wie  überall  so  auch  bei  den  Indern  bedingt  der  Gottes- 
beoriff  die  sittliche  Aufgabe  des  Menschen.  Ist  Brahma  ein 
reines,  heiliges,  körperloses  Wesen,  so  setzt  der  Inder  seine 
Bestimmung  darein,  jenem  ähnlich  zu  werden  durch  ein  stilles, 
heiliges  Leben,  durch  Fügung  in  die  Weltordnung,  die  von 
Brahma  herrührt,  mit  der  Hoffnung  auf  Rückkehr  der  reinen 
Seele  zu  Brahma,  ans  dem  sie  hervorgegangen.  Die  Seele 
allein  ist  aber  die  Seite,  welche  dem  Brahma  zugekehrt  ist, 
da  dieses  selbst  ein  unkörperliches  Wesen  ist.  Die  Seele  ist 
somit  die  bessere  Seite  am  Menschen ;  die  unreine,  schlechte 
Seite  ist  seine  Leiblichkeit.  Die  höchste  Bestimmung  des 
Menschen  kann  also  nur  sein:  die  wahre  Reinheit  darein  zu 
legen,  dass  die  Seele  nicht  durch  den  Körper  verunreinigt, 
der  Geist  vom  Sinnenleben  frei  werde.  Der  Leib  erhält  hier- 
mit die  Bedeutung  eines  Kerkers  für  die  Seele,  und  da  nur 
die  reine  Seele  wieder  zu  Brahma  gelangen  kann,  ist  es  die 
Aulgabe  des  Menschen,  seine  Leiblichkeit  ganz  abzuthun. 
„Diese  Wohnung  des  Menschen,  deren  Zimmerwerk  die 
Knochen,  deren  Bänder  die  Muskeln  sind,  dies  Gefäss  mit 
Fleisch    und  Blut  gefüllt,    mit  Haut    bedeckt,    diese  unreine 


112  Erster  Abschnitt :    Der  religiöse  Dualismus. 

Wohnung,  welche  die  Excremente  und  den  Urin  enthält, 
welche  dem  Alter,  der  Krankheit  und  dem  Kummer  unter- 
worfen ist,  dem  Leiden  jeder  Art  und  den  Leidenschaften, 
diese  Wohnung,  dem  Untergange  bestimmt,  muss  mit  Freuden 
von  dem  verlassen  werden,  welcher  sie  einnimmt."  x 

Wohl  war  auch  die  sinnliche  Welt  aus  Brahma  hervor- 
gegangen, denn  er  war  ja  auch  der  Quell,  aus  dem  die 
materielle  WTelt  entsprungen;  allein  von  den  Brahmanen  wurde 
diese  stets  als  Brahma  fern  stehend  betrachtet,  von  der 
sreistiaen,  unsinnlichen  auseinandergehalten  und  nur  diese  mit 
Nachdruck  hervorgehoben  und  jener  entgegengesetzt. 

Der  gegensätzliche  Dualismus  im  indischen  Brahmanen- 
tlmm  besteht  also  in  Seele  und  Leib,  intellectuellem  und 
materiellem  Sein,  Seelenleben  und  Sinnenleben,  dieses  als 
das  Unreine,  von  Brahma  Trennende,  als  Urquell  des  Uebels, 
des  Bösen;  jenes  als  das  Reine,  der  Gottheit  Angehörige,  das 
Gute  betrachtet. 

Die  ethische  Aufgabe  bestand  hiernach  darin :  die  sinnliche 
Existenz  möglichst  zu  vernichten,  also  in  Ascese,  die  Seele 
vom  Leben  loszulösen  und  zu  reinigen,  reines,  immaterielles 
Leben  zu  sein,  wie  Brahma  unsinnlich  ist,  nichts  als  Brahma 
zu  denken,  d.  h.  die  absolute  Abstraction  von  jeder  Einzel- 
heit und  Vertiefung  in  die  leere  Allgemeinheit,  was  gleich- 
bedeutend ist  mit  Aufhebung  sowol  des  physischen  als  auch 
des  geistigen  Lebens. 

Die  Grausamkeiten  der  indischen  Ascese  sind  bekannt. 
Ein  Beispiel  der  Selbstquälerei,  das  nicht  als  Product  der 
dichterischen  Phantasie  zu  betrachten  ist,  da  Augenzeugen 
ähnliche  Unternehmungen  der  Fakire  schildern,  ist  im  7.  Act 
der  Sakuntala.  Matali  zeigt  dem  König  eine  Einsiedelei: 
„Wo  dort  der  Weise  unbeweglich  wie  ein  Baumstamm  gegen 
die  Sonnenscheibe  gewendet  steht,  mit  dem  in  die  Spitze 
eines  Termitenhaufens  versunkenen  Körper,  mit  einer  Brust, 
um  die  eine  Schlangenhaut  gebunden  ist,  am  Halse  über  die 
massen  gequält  von  sich  ausdehnenden  Schlingpflanzen,  die 
ihn  umringen,  ein  um  den  Scheitel  gewundenes  Haargeflecht 
tragend,  das  sich  bis  zu  den  Schultern  erstreckt  und  mit 
Vogelnestern  angefüllt  ist."  2 

1  Manu,  ß,  76.  77. 

2  Boethlingk's  Uebersetzung,  103'. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  H3 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  dieses  System, 
welches  sich  über  dem  Brahmabegriff  aufgebaut  hatte,  erst 
lange  Zeit,  nachdem  das  Leben  im  Gangeslande  fest  geordnet 
und  thätig  geworden,  die  Priesterschaft  zu  einer  abgeschlos- 
senen  Körperschaft  herausgebildet  war,  in  das  Leben  der 
indischen  Gangesbewohner  eingreifen  konnte.  1  Die  neue 
Umgebung  am  Ganges,  die  neuen  Verhältnisse,  die  zusammen 
ein  anderes  Leben  gestalteten  als  das  in  der  frühern 
Heimat  am  Indus,  drängten  auch  die  Erinnerung  an  die 
frühern  religiösen  Vorstellungen  zurück.  Der  priesterlichen 
brahmanischen  Abstractionstheorie  kam  besonders  das  heisse 
Klima  am  Ganges  zu  Hülfe,  das  die  Nerven  schwächte  und 
die  Muskeln  schlaff  inachte.  Unter  der  heissen  Sonne  am 
Ganges,  welche  auf  die  Reisfelder  niederbrennt  und  das 
Zuckerrohr  kocht,  musste  die  ursprüngliche  Thatkraft,  welche 
der  Arier  aus  seiner  Heimat  mitgebracht  hatte,  im -Verlaufe 
der  Zeit  verschwinden.  Wo  sich  die  höchsten  Gipfel  des 
Himalaja  zusammendrängen,  bricht  der  Ganges  aus  den 
Schneefeldern  hervor  und  wird  durch  Zuflüsse  vom  Norden 
verstärkt,  im  Süden  von  dem  dichtbewachsenen  Gürtel  des 
Vindhja  herab  geschwellt,  sodass  er  die  niedrigen  Ufer  jähr- 
lich überschreitet  und  die  Ebenen,  die  er  durchströmt,  ohne 
menschliches  Hinzuthun  zu  fettem  Fruchtboden  macht.  Die 
tropische  Vegetation  wuchert  ins  Masslose,  Reis,  Baumwolle, 
Zuckerrohr  gedeiht  auf  das  üppigste.  Hier  ist  das  Land 
der  blauen  Lotosblume,  in  der  indischen  Poesie  so  häufig 
erwähnt,  hier  wachsen  die  nahrhaften  Bananen,  die  riesigen 
indischen  Feigenbäume.  Weiter  hinab  wird  das  Klima  noch 
heisser,  die  Luft  mit  Feuchtigkeit  imprägnirt,  und  in  dem 
üppigen  Tiefland  mit  seinen  Kokos  und  Arekapalmen,  Zimmt- 
stauden,  überwuchern  endlose  Schlingpflanzen  die  höchsten 
Baumstämme.  Uebermächtig  wird  der  Baumwuchs  gegen 
die  Mündung  des  Ganges  und  in  der  durchhitzten  sumpfigen 
Waldgegend  haust  nur  mehr  der  Tiger,  Elefant  und  das 
Rhinoceros. 

Der  Inder,  schon  an  sich  zum  beschaulichen  Leben  ange- 
than,  wurde  durch  das  heisse  Klima  am  Ganges  vielfach  zur 
körperlichen  Unthätigkeit  genöthigt  und  bei  seiner  klimatisch 


1  Nach  Duncker,  II,  88,  frühestens  um  das  Jahr  1000  v.  Chr. 

Eoskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  y 


1  14  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

bedingten  Einfachheit  der  Ernährung  konnte  er  sich  sorglos 
der  Ruhe  überlassen.  Sein  reflectirender  Geist  vertiefte  sich 
in  die  bunte  Vielheit  der  ihn  umgebenden  Natur  und  suchte 
in  dem  immer  wiederkehrenden  Wechsel  der  Dinge  das 
Bleibende,  die  ewige  Dauer,  er  suchte  in  dem  vielgestaltigen 
wirren  Leben  um  ihn  her  den  Urgrund  dieses  Durcheinander, 
die  Einheit,  wie  in  allen  pantheistischen  Anschauungen  mehr 
oder  weniger  der  Zug  nach  einheitlicher  Auffassung,  der  in 
der  menschlichen  Natur  begründet  ist,  sich  wahrnehmen  lässt. 
Diese  Einheit  glaubte  er  durch  Abstraction  von  der  Vielheit, 
in  der  abstracten  Allgemeinheit  und  darin  das  Urwesen  zu 
finden ,  das  in  der  Natur  walte,  das  den  Gebeten  der  Priester 
die  Kraft  verleihe  und  die  Götter  den  Menschen  beizustehen 
zwinge,  das  also  über  den  Göttern  walte,  wie  in  den  heiligen 
Handlungen  und  allen  Erscheinungen  der  Natur  herrsche. 
Dieses  Urwesen,  Brahma,  hat  sich  in  Maja,  d.  h.  Täuschung 
gespiegelt,  heisst  es  in  einer  indischen  Kosmogonie,  und  die 
einzelnen  Erscheinungen  sind  daher  nur  wechselnde  Modi- 
fikationen, ein  Werk  der  Täuschung.  Jedes  Daseiende  ist  nur 
gewissermassen  ein  Durchgangspunkt,  welchen  das  Urwesen 
hindurchzieht. 


Der  Buddhismus. 

In  der  spätem  Zeit,  nachdem  der  Buddhismus  die  ab- 
stracte  Brahmanenreligion  an  der  Wurzel  angefasst,  die 
starren  Schranken  des  Kastenwesens  zu  durchbrechen  gesucht 
und  den  traditionellen  Dogmatismus  der  Brahmanen  aufzu- 
heben, sonach  auch  eine  Umwandlung  der  socialen  Ver- 
hältnisse anzubahnen  gestrebt  hatte,  was  auch  nicht  ohne 
liesultat  geblieben,  wie  die  weite  Verbreitung  der  Buddha- 
lehre bestätigt,  bildete  sich  im  indischen  Volke,  dem  der  rein- 
spiritualistische  Gottesbegriff  des  Brahma  nie  ganz  zugänglich 
geworden,  eine  concreto  Form  religiöser  Anschauung  aus. 
Der  alte  thatkräftige  Sinn  der  Arier  am  Indus,  die  Kriegslust 
und  Kampf bereitwilligkeit,  die  in  dem  alten  Dämonentödter 
Indra  das  eigene  Wesen  angeschaut  hatte,  wurde  nach  lan- 
gem! Aufenthalte  unter  geordneten  Verhältnissen,  bei  einem 
stillen  duldsamen  Leben,  umgeben  von  einer  üppig  wuchernden 
Natur,   gänzlich  verwischt  und  mithin  auch  die  religiöse  An- 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.   1 15 

schauung  modificirt,  welche,  gegenüber  dem  abstracten  Spiri- 
tualismus der  Brahmapriester  und  der  seeptischen  Lehre  des 
Buddhismus,  in  der  realistischen  Anschauung  des  Volks  neue 
Formen  hervorbrachte. 

In  den  Anrufungen  des  Rigveda,  im  Gesetzbuche  Mauu's 
und  im  Epos  wird  Vishnu  einigemal  als  ein  den  Menschen 
wohlthätiger  Licht-  und  Luftgeist  erwähnt.  Diesen  Vishnu 
ergriff  das  Volksbewusstsein  und  eignete  ihm  jegliche  Wohl- 
thaten,  die  der  Mensch  von  der  Natur  empfängt.  Die  helle 
Luft,  der  blaue  Himmel,  das  Wachsthum  der  Pflanzen,  der 
erquickende  Thau,  das  befruchtende  Wasser,  kurz  alles  Gute 
geht  von  Vishnu  aus  als  der  Macht,  die  Leben  gibt  und 
Leben  erhält.  In  Vishnu  sieht  das  Volk  seinen  grössten 
Wohlthäter,  seinen  besten  Helfer,  und  er  wird  vornehmlich 
von  den  Bewohnern  des  friedlichen  Gangesthaies  verehrt. 
Hingegen  in  den  Thälern  des  Himalaja  und  an  den  Küsten 
des  Dekhan,  wo  der  vernichtende  tropische  Sturmwind  jedem 
Widerstände  trotzt,  wo  das  Naturleben  gewaltig  und  unbän- 
dig erscheint,  da  tritt  der  Cultus  des  Qiva  auf.  (piva  ist  zwar 
auch  Gott  der  Befruchtung,  wie  Vishnu,  aber  gemäss  den 
Gegenden ,  wo  der  Gewittersturm  unter  Donner  und  Blitz 
den  befruchtenden  Regen  herbeiführt  und  neues  Leben  aus 
der  Zerstörung  hervorbringt,  da  wird  Qiva  als  Gott  des 
Wachsthums,  aber  zugleich  als  der  Zerstörung  gefasst.  Wo 
die  stürmischen  Naturerscheinungen  überwiegen,  stellt  sich  die 
verderbliche  Seite  des  Qiva  heraus  und  er  wird  zum  Gott 
des  Schreckens ,  der  Verwüstung,  des  Todes,  dessen  Hals  eine 
Kette  von  Todtenschädeln  umgibt,  der  Schmerz  und  Thränen 
bringt.  *  Er  ist  der  Vater  des  Kriegs.  2  Als  Repräsentant 
der  verderblichen ,  unbändigen,  stürmischen  Macht,  bietet  Qiva 
den  Gegensatz  zum  friedlichen  Vishnu.  Qiva  der  Vernichter 
heisst  auch  Devadeva,  Gott  der  Götter,  Mahadeva,  grosser 
Gott,  Icvara,  Herr,  als  lebensfeindliche  Macht.  Als  Tödter 
des  Selbst  ist  er  der  Patron  der  vernichtenden  Ascese,  selbst 
Ascet.  So  ist  er  der  Ausdruck  des  Grundgedankens  der 
indischen  Weltanschauung,  wonach  das  Dasein  auf  Erden  für 


1  Bohlen,  Ind.,  206  fg. 

2  Lassen,  Ind.  Alterth.,  I,  782. 


jl(j  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

ein  Unglück    gilt    und    die  Selbstvernichtung  als   die  höchste 
Bestimmung  erachtet  wird. 

Indem  die  Brahmanen  der  spätem  Zeit  neben  ihren 
Brahma  den  Vishnu  der  Gangesbewohner  hinstellten ,  wobei 
jenem  die  Schöpfung  der  Welt,  diesem  deren  Erhaltung  zu- 
fiel, während  Qiva  vorzugsweise  das  zerstörende  Princip 
repräsentirte,  ward  eine  Dreiheit  der  Götter  erzielt,  die  im 
Epos  zwar  schon  berührt,  aber  erst  später  ausgebildet  er- 
scheint. ' 

Die  Arier  in  Iran. 

Baktrer.     Perser. 

In  der  Gegend,  wo  heute  Perser,  Beludschen,  Afghanen 
und  andere  Volksstämme  hausen,  zwischen  dem  Industhale 
und  dem  Stromgebiete  des  Euphrat  und  Tigris,  nach  deren 
Vermischung  als  Scha-tel-Arab  in  den  persischen  Golf  mün- 
dend, im  Süden  vom  Persischen  (Arabischen)  Meer  begrenzt, 
gegen  Norden  vom  Kaspischen  Meere  und  den  Steppen  am 
Oxus  umgeben,  ist  das  Hochland  von  Iran.  Die  heftigen 
Stürme,  die  im  Frühjahre  toben,  schweigen  vom  Mai  bis 
September,  und  während  dieser  Pause  ist  die  Luft  äusserst 
trocken  und  klar,  dass  die  Berge  sich  scharf  abheben  und  die 
Landschaft  in  eigenthümlicher  Helligkeit  erscheint.  Der  rasche 
Temperaturwechsel  entspricht  dem  gegensätzlichen  Charakter 
des  Landes,  aus  den  glühend  heissen  Ebenen  erheben  sich 
schneebedeckte  Terrassen.  Während  der  Norden  im  Winter 
unter  eisigen  Winden  erstarrt,  die  über  das  Kaspische  Meer 
einherstürmen ,  durch  die  endlosen  Steppen  hinbrausen  und 
Weideplätze  und  Felder  auf  mehrere  Wochen  mit  Schnee 
bedecken,  thürmen  die  Glutwinde  im  Süden  den  ausgebrannten 
Wüstensand  zu  Hügeln  auf,  die  in  wechselnder  Gestalt  die 
Bodenfläche  den  Meereswogen  ähnlich  machen  und  den  Flug- 
sand auf  Aecker  und  in  Brunnen  treiben,  wodurch  diese 
unbrauchbar  werden. 

Der  Mensch  hatte  in  Iran  zu  kämpfen  mit  der  Kälte  des 
Winters,  „welcher  herbeischleicht,  die  Heerden  zu  tödten  und 
voller  Schnee   ist,  —  am  Wasser,    an    den    Bäumen    und  am 


1  Lassen,  I,  TS."!  fg. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.    117 

Acker",  wie  das  Gesetzbuch  der  Iranier  sagt.1  Anderwärts 
umschwärmten  stechende  Wespen  die  Rinderheerden  und 
mussten  „fressende  Raubthiere"  abgewehrt  werden.  a  An  den 
niedrigen  Ufergegenden  hausten  Schlangen,  Eidechsen,  Unge- 
ziefer aller  Art,  und  die  sumpfige  Luft  erzeugte  Fieber  und 
andere  Krankheiten;  an  den  Hochebenen  beeiste  die  strenge 
Kälte  den  Gebirgsweg,  an  dessen  Rande  dem  Reisenden  tiefe 
Abgründe  heraufgähnten.  Dabei  bot  aber  die  Gegend  auch 
lachende  Oasen  mit  dem  üppigsten  Wiesengrün,  schattigen 
Baumgruppen,  prachtvollen  Wäldern. 

Den  Gegensätzen  des  Landes  entsprechend  war  die 
Lebensweise  seiner  Bewohner.  Während  ein  Theil  der  Be- 
völkerung im  Schweisse  des  Angesichts  schwer  arbeitete,  den 
dürren  Boden  mühsam  bewässerte,  den  Flugsand  vom  Acker 
abwehren  musste;  zog  ein  anderer  frei  mit  den  Heerden  um- 
her, und  zur  Muse  des  Hirtenlebens  gesellte  sich  häufig 
Kampflust  und  Wegelagerung. 

Am  schneidendsten  tritt  die  Gegensätzlichkeit  hervor  in 
den  Thälern  des  Nordrandes,  die  gegen  die  Steppen  des 
Kaspischen  Meeres  hin  oifen  liegen,  in  den  einstigen  Gebieten 
von  Margiana  (Merv),  Baktrien  (Bakhdhi)  und  Sogdiana 
(Sugdha).  Fruchtbare  Thäler,  die,  dank  dem  herabfliessenden 
Gebirgs wasser,  der  üppigsten  Vegetation  sich  erfreuen,  stossen 
hart  an  die  öde,  unfruchtbare  Wüste.  Während  auf  den 
Hochflächen  die  Sterne  in  der  reinen  Atmosphäre  blinkend 
die  Nacht  erleuchten,  lagern  über  den  Steppen  dicke  Nebel 
und  Sandwolken.  Im  Winter  bringen  die  Winde  vom  Kas- 
pischen Meere  schneidende  Kälte,  im  Sommer  treiben  sie  den 
heissen  Wüstensand  auf  die  Fruchtfelder.  Während  die  Aecker 
in  den  Niederungen  nur  mit  grösster  Anstrengung  vor  dem 
Sonnenbrande  durch  Bewässerung  geschützt  werden  müssen, 
herrscht  auf  den  Höhen  des  Belurtag  und  Hindukuh  ewiger 
Winter. 

Ausser  diesem  Kampfe,  den  die  iranischen  Arier  mit  den 
Gegensätzen  der  Landesbeschaffenheit  zu  bestehen  hatten, 
mussten  sie  überdies  die  Einfälle  wilder  turanischer  Räuber- 
scharen   abwehren,     die    vom    Norden    her    das    Gebiet    von 


1  Vendidad  Vil,  G'J,  1,  9—12. 

2  Vendidad  I,  24. 


11$  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Baktrien  und  Sogdiana  heimzusuchen  pflegten.  Der  Fleiss 
der  Arier  konnte  nur  gedeihen,  wenn  nicht  vom  Norden 
Kälte,  Schneefälle,  Wüstenwinde  oder  Einbrüche  der  tura- 
nischen  Horden  die  fruchtbaren  Thäler  verwüsteten,  wenn 
nicht  das  Kaspische  Meer  vom  Westen  her  die  starken  Winde 
schickte,  wodurch  die  Gefilde  in  Baktrien  und  Sogdiana  mit 
dem  verheerenden  Triebsand  verschüttet  wurden.  Hieraus 
erklärt  sich,  warum  der  Bewohner  der  Thäler  des  iranischen 
Landes  im  Norden  und  Westen  den  Sitz  der  bösen  Geister 
erblickte.  Vom  Norden  kam  Frost,  Schnee,  Wüstenwind, 
die  Schar  der  Räuber;  im  Westen  ging  die  Sonne  unter, 
da  war  der  Sitz  der  Finsterniss ,  des  Todes ;  wo  aus  den 
vulkanischen  Gipfeln  des  Eiburs  die  Rauchsäulen  emporstiegen, 
wo  verwüstende  Wolkenbrüche  niedergingen ,  wo  Fieber  und 
Krankheit  herrschte.  Im  Osten  dagegen,  wo  die  Sonne  auf- 
geht, da  wohnten  die  guten  Geister,  hier  war  der  Ort  des 
Lichts,  auf  der  hohen  Kette  des  Belurtag  der  „Berg  der 
Höhe",  d.  h.  der  heilige  Berg,  auf  welchen  sich  der  Sonnen- 
gott Mithra  zuerst  mit  siegreichem  Glänze  setzte.  1 

Die  Verehrung  der  Gottheiten  des  Lichts  und  der  heitern 
Luft,  des  Sonnengottes  Mithra,  Anrufung  des  Feuers  als 
Verscheuchers  der  bösen  Dämonen,  Darbringung  des 
Haomaopfers,  die  Mythen  von  Verethragna,  dem  Kämpfer 
gegen  die  bösen  Geister,  von  Vivanghvat,  von  Jima,  von  dem 
Drachentödter  Thraetaona,  bilden  die  religiöse  Grundlage,  die 
den  Iraniern  mit  den  Indern  vor  ihrer  Entzweiung  gemein- 
schaftlich war. 

Im  Lande  der  grellen  Gegensätze  musste  sich  auch  bei 
seinen  Bewohnern  die  Vorstellung  von  dem  Kampfe  des  Him- 
mels gegen  die  Dämonen  der  Dürre  und  Unfruchtbarkeit 
scharf  entwickeln  und  in  die  Vorderlinie  treten. 

Zarathustra  (Zoroaster),  der  in  diesem  Lande  der  Gegen- 
sätze auftrat,  fand  den  dualistischen  Glauben  an  ein  Lichtreich 
und  Dunkelreich,  an  gute  und  böse  Geister  und  deren  Einfluss 
auf  Land  und  Mensch,  an  ein  lichtes  Iran  und  ein  böses  Turan 
gewiss  vor,  als  er  sein  Reformationswerk  begann.  Er  fand  die 
den  Iraniern  und  Indern  gemeinschaftliche  religiöse  Grundlage, 
nämlich    eine   Naturanschauung,   welche   die   freundlichen  Er- 


1  Vendidad  XIX,  92,  XXI,  20. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.   119 

scheinungen  der  Aussenwelt  auf  die  wohlthätige  Wirkung 
höherer  Machte  zurückführte,  besonders  die  Erscheinungen 
des  Lichts  als  unmittelbare  Manifestationen  des  Göttlichen 
verehrte,  wogegen  sie  in  der  i'insterniss  eine  feindliche  Macht 
wirksam  glaubte.  Die  Bedeutsamkeit  der  Zarathustra'schen 
Reformation  beruht  darauf,  dass  sie  den  Gegensatz  wohlthätiger 
und  verderblicher  Kräfte  in  der  Natur  zu  sittlicher  Bedeu- 
tung entwickelt,  indem  sie  den  Gegensatz  nicht  nur  in  der 
Aussenwelt,  durch  den  Kampf  der  göttlichen  Wesen  veran- 
lasst, beibehält,  sondern  die  Gegensätzlichkeit  mit  dem  Men- 
schen in  engste  Beziehung  setzt,  denselben  nicht  nur  in  die 
Mitte  des  Kampfplatzes  stellt,  sondern  ihn  selbst  zum  Kampf- 
objecte  macht.  * 

Die  guten  und  bösen  Geister  zusammenfassend,  nannte 
Zarathustra  das  Oberhaupt  der  guten  Geister  Ahuramasda, 
Herr  (Ormuzd),  den  Vieles  wissenden,  Grossesgewährenden, 
(nach  Roth:  „ewige -Weise"),  häufig  auch  Qpentamainju  den 
Heiliffeesinnten,  im  Gegensatz  zum  Oberhaupt  der  bösen  Geister 
Angramainju  (Ahriman),  dem  Uebelgesinnten.  Ormuzd  ist 
der  Schöpfer  und  Herrscher  der  Welt.  „Niemand  hätte  diese 
Erde  schaffen  können,  wenn  ich  sie  nicht  geschaffen  hätte."  2 
Er  hat  die  Welt  mit  Lieblichkeit  ausgestattet  und  seine  Rein- 
heit in  die  Geschöpfe  gelegt,  darnm  ruht  in  der  Erde,  in 
Bäumen,  Gewässern  eine  heilige  Kraft,  welche  der  Mensch 
zu  seiner  Hülfe  rufen  kann.  (So  heisst  es  oft  in  den  Jesclit.) 
Ueberall,  wo  Ormuzd  Gutes  gepflanzt  hat,  säet  Ahriman  das 
Arge,  er  ist  der  Urheber  alles  Uebels.  3  Dieser  kommt  mit 
seinen  Geisterscharen ,  welche  die  „Verletzer,  Reinheitsver- 
wirrer,  Quäler"  heissen,  aus  den  nördlichen  Gegenden;  die 
Scharen  des  Lichts  hingegen  sollen  aus  Osten  kommen,  um 
ihn  und  sein  Reich  zu  vernichten. 

Wie  der  Bewohner  des  iranischen  Landes  auf  Thätigkeit 
und  Kampf  angewiesen  war,  wenn  er  sich  seiner  Existenz 
erfreuen  wollte,  so  waren  auch  die  iranischen  Götter  und 
Geister  sowol  vor  als  nach  Zoroaster  als  thätige  gefasst.  Die 
guten  förderten  die  Arbeit   der  Menschen   und  lohnten  deren 


1  Roth,  Zur  Gesch.  d.  Rclig.,  in  Theulog.  Jahrb.,  VIII,  1841). 

2  Heisst  es:    Veudid.,  Färg.,  1. 

3  Fargard,  1,  22  u.  a. 


12Q  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Fleiss,  die  bösen  waren  stets  beflissen,  ihnen  zu  schaden.  Die 
vor  Zoroaster  verehrten  Dämonenkämpfer  Qraosha  und  Vere- 
thraghna  waren  nach  der  Reformation  auf  directen  Kampf 
gestellt;  nach  Zarathustra's  Lehre  ist  der  Kampf  ein  indirecter 
um  den  Menschen,  um  Leben  und  Tod,  um  Wohlsein  oder 
Schaden  des  Menschen,  und  nach  seinem  Tode  kämpfen  die 
guten  und  bösen  Mächte  um  seine  Seele.1 

Ein  sicherer  Fingerzeig,  dass  zwischen  den  Indern  und 
Iraniern  religiöse  Feindschaft  stattgefunden  und  wahrschein- 
lich nebst  andern  Ursachen  zur  Trennung  der  Stämme  mit- 
gewirkt habe,  liegt  darin:  dass  ausser  dass  einige  Götter  der 
alten  gemeinschaftlichen  arischen  Religion  zu  den  Dämonen 
herabgedrückt  wurden,  z.  B.  Indra,  die  Acvinen 2,  auch  der 
Gattungsname  Daeva,  der  ursprünglich  die  „Götter"  be- 
zeichnet hatte,  bei  den  Iraniern  die  Bedeutung  böser  Geister 
erhielt. 

Diese  Erscheinung  zeigt  sich  auf  dem  Gebiete  religiöser 
Anschauungen  überall  da,  wo  zwischen  den  betreffenden 
Völkern  ein  feindseliger  Gegensatz  platzgegriffen  hat. 

Im  Zendavesta,  dem  heiligen  Urkundenbuche  der  Iranier 
(Perser),  das  allmählig  und  innerhalb  eines  weiten  Zeitraums 
von  Jahrhunderten  entstanden  und  erst  nach  Zarathustra  zum 
Abschluss  gekommen  ist,  findet  sich  der  Opferdienst  schon 
mehr  in  den  Hintergrund  gedrängt.  Haoma  ist  zum  göttlichen 
Wesen  erhoben,  und  das  Gebet  wird  zur  wesentlichsten  Pflicht 
gemacht.  Neben  Ahuramasda  wird  auch  der  Sonnengott 
Mithra  angerufen,  Haoma  als  Gott,  der  das  Leben  erhält, 
Verethraghna,  bei  den  alten  Ariern  ein  Dämonenkämpfer  wie 
Indra  Vritraghna,  wird  im  Zendavesta  als  Gott  gepriesen,  der 
den  Sieg  verleiht  und  den  Glanz  der  Könige  erhöht 3  ;  ebenso 
wird  das  Feuer  als  der  beste  Schutz  gegen  die  Daeva  gefeiert. 
Auch  die  kleinern  Lichter  des  Himmels  werden  als  wohl- 
thätige  Mächte  gepriesen,  wie  auch  das  Wasser,  das  nach  dem 
Gesetzbuch  stets  heilig  zu  halten  und  nicht  zu  verunreinigen 
ist,  ebenso  die  Erde. 

Das  Zendavesta  stellt  überdies  noch  ein  Heer  von  Geistern 


'  Veudidad  VII,  132— 136;  XIX,  90—100;  Jescht  Sade,  15,  18. 

2  Farg.,  10,  19. 

J  Jescht  Behrara,  12. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Altertmims.   121 

als  Jazada,  „Verehrungs würdige",  auf,  die  sich  theils  als 
Pcrsonificationen  von  Tugenden  und  moralischen  Eigenschaften, 
theils  als  allegorische  Figuren  zu  erkennen  geben,  z.  B. 
Geister  der  Zeit,  der  Jahreszeiten,  der  Monate  u.  s.  w. 

Diese  Schar  von  guten  Geistern  ist  um  Ahuramasda  ver- 
sammelt, das  Heer  der  bösen  Daeva  um  Angramainju.  Die 
guten  Geister  walten  im  Lichte  des  Sonnenaufgangs,  im 
Osten,  im  hellen  Glänze  des  reinen  Himmels,  überall  wo 
Leben,  Fruchtbarkeit,  Wohlsein  herrscht;  die  bösen  herrschen 
im  kalten  Norden,  im  Westen,  wo  die  Sonne  untergeht,  wo 
Stürme  brausen,  wo  Finsterniss,  Tod  und  Verderben  ist. 
Besonders  merkbar  macht  sich  im  Zendavesta  der  Geist  des 
kalten  Winters  Zemana1,  Azis,  der  den  Menschen  das  Leben 
und  das  Feuer  zu  rauben  sucht2,  der  Daeva  Bushjankta,  der 
zur  Trägheit  verführt3,  Buiti,  der  Daeva  der  Lüge.4  Unter 
andern  bösen  Geistern  lässt  das  Zendavesta  auch  den  Indra 
erscheinen5,  der  von  den  Indern  und  Iraniern  unter  dem 
Namen  Verethragna  verehrt  ward. 

Ausser  den  Daeva  gibt  es  noch  Drudscha  und  andere 
untergeordnete  Arten  von  Unholden. 

Ahuramasda  ist  der  Schöpfer  des  Guten,  und  seinen 
guten  Geistern  eignet  das  Licht,  Leben,  die  reine  That,  die 
fruchtbare  Erde,  das  erquickende  Wasser,  die  glänzenden 
Metalle,  die  Bäume,  die  Weiden.  Angramainju  hingegen 
schafft  das  Böse,  dessen  Keim  er  in  die  guten  Schöpfungen 
legt,  er  bringt  den  Winter,  die  Hitze,  die  Stürme,  Krank- 
heiten, ist  Urheber  der  Sünden,  Ausschweifungen,  wodurch 
das  Leben  Abbruch  leidet,  der  Lüge,  der  Trägheit.  Auch 
die  Thiere  theilen  sich  zwischen  die  guten  und  bösen  Geister. 
Ahuramasda  bringt  die  dem  Menschen  nützlichen  Thiere  her- 
vor; Angramainju  dagegen  ist  der  Schöpfer  der  schädlichen, 
der  giftigen  Schlangen,  der  Raubthiere,  aller,  die  in  dunkeln 
Höhlen  und  Lochern  wohnen,  die  dem  Acker  schaden,  alles 
Ungeziefers.  6    Angramainju  hat  somit  theil  an   der  Schöpfer- 

i  Vendidad  IV,  139. 

*  Vendidad  XVIU,  45. 
s  Vendidad  XVIII,  38. 

*  Vendidad  XIX,  G,  146. 
s  Vendidad  X,  17. 

6  Vendidad  XVIII. 


122  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

kraft,  ist  nicht  durch  Selbstbestimmung  böse  geworden,  son- 
dern war  von  Anbeginn  böse.  „Aber",  fragt  Döllinger,  „ist 
er  von  Anbeginn  böse?  Die  parsisehe  Lehre  kennt  keinen 
abstracten  Dualismus;  nach  einer  Stelle  wäre  sogar:  „der  gute 
wie  der  schlechte  Geist  von  Ormuzd  erschaffen"  und  immer 
wird  Ahuramasda  tief  unter  Ormuzd  gesetzt;  während  jenem 
Allwissenheit  zukommt,  hat  Ahuramasda  nur  ein  Nachwissen, 
d.  h.  er  sieht  die  Wirkungen  seiner  Thaten  nicht  vor- 
her". Wir  sehen  in  dieser  Ueberlegenheit  Ormuzd's  den- 
selben Trieb  nach  Einheit,  wie  er  sich  in  allen  polytheistischen 
Religionen  mehr  oder  weniger  an  den  Tag  legt.  Damit  stimmt 
überein ,  was  Döllinger  aus  einer  Pehlvi-Handschrift  eines  par- 
sischen  Lehrbüchleins  anführt:  „Es  war  eine  Zeit,  da  er 
nicht  war  (nämlich  Ahuramasda);  es  wird  eine  Zeit  sein,  da 
er  nicht  sein  wird  in  den  Geschöpfen  Ormuzd's,  und  am  Ende 
wird  er  verschwinden."  x  Soll  man  diese  Stelle  nicht  eine 
prophetische  nennen,  zu  vergleichen  jenem  Ausspruch  der 
hebräischen  Propheten  vom  messianischen  Reiche?2  —  Was 
Zervan-Akarana,  die  ungeschaffene  Zeit,  das  Eine  Urwesen 
betrifft,  von  welchem  Ormuzd  und  Ahriman  erst  hervor- 
gebracht worden  ist,  wird  dies  als  eine  durch  Anquetirs 
Misverständniss  in  die  Zeitschriften  hineingetragene  Meinung3 
erklärt.  Könnte  man  es  nicht  für  eine  spätere  speculative 
Zurückleitung  auf  die  Einheit  betrachten,  die  allerdings  dem 
Volksbewusstsein  fern  gelegen?  Damit  stimmt  überein,  dass 
in  den  altem  Theilen  des  Zend  Zervan  nirgends  über  Ormuzd 
gesetzt  wird,  dass,  wie  auch  Döllinger  behauptet,  Zervan  ein 
der  altiranischen  Lehre  ursprünglich  fremdes  Wesen  ist. 

Gemäss  dieser  Anschauung  von  thätigen  Gottheiten  und 
Geistern  bestimmt  sich  die  sittliche  Aufgabe  des  Menschen 
dahin,  im  Guten  thätig  zu  sein  durch  Abwehr  der  Macht  des 
Angramainju  und  seiner  Geister,  die  nur  da  eingreifen,  wo 
der  Mensch  die  heiligen  Gesetze  aus  dem  Auo;e  lässt.  Das 
Gesetz  Ahuramasda's  bietet  die  Mittel  gegen  die  Gewalt  An- 
gramainju's.  Die  Daeva  walten,  wo  der  Tod  herrscht,  also  muss 
der  Mensch  sein  und  anderer  Leben  zu  fördern   trachten  da- 


1  J.  Müller  iu  den  Müncliener  Gel.  Anzeigen,  XX,  541. 

2  Vgl.  Döllinger,  Heidenth.  und  Judenth.,  357  fg. 

3  Vgl.  Joh.  Müller,  Spiegel,  Roth,  Brockhaus,  Ilaug. 


•  4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  123 

durch,  dass  er  den  Acker  bebaut,  den  Boden  urbar  macht, 
Viehzucht  treibt,  schädliche  Thiere  vertilgt.1  Da  schlechte 
Thaten  auf  der  Wirksamkeit  Angramainju's  beruhen,  so  wird 
dessen  Macht  vermindert  durch  gute  Handlungen.  Ahura- 
masda  und  seine  Geister  werden  als  die  Reinen  gepriesen, 
jener  ist  die  Reinheit  selbst2 ;  demnach  ist  Reinerhaltung  eine 
der  vornehmsten  Pflichten.  Unrein  ist  aber  alles,  was  dem 
Leben  des  Leibes  und  der  Seele  hinderlich  ist,  als:  Unrath, 
Todtes,  das  den  Däva  angehört;  auch  Unzucht,  Faulheit, 
Lüge,  Verleumdung  gelten  für  Verunreinigung  der  reinge- 
schaffenen Menschenseele.  Die  Reinhaltung  wird  durch  eine 
Menge  von  Vorschriften  geboten  und  die  Reinigungen  sind 
bis  zur  Aengstlichkeit  detaillirt. 

Beim  Vergleich  des  gegensätzlichen  Dualismus  zwischen 
der  indischen  Religionsanschauung  und  der  Zendreligion 
springt  der  Unterschied  in  die  Augen.  Während  in  jener 
der  Gegensatz  von  Leib  und  Seele,  Geist  und  Materie  auf- 
gestellt wird,  der  Leib  als  das  Unreine  gilt,  demnach  die 
Zerarbeitung  und  Vernichtung  desselben  angestrebt  werden 
soll,  hat  sich  der  Zendmensch  gegen  die  schlimme  Seite  der 
Natur  als  von  bösen  Geistern  herrührend  zu  wehren,  die  gute 
Seite  hingegen  soll  von  ihm  gefördert  werden,  um  eines  ge- 
sunden Lebens  sich  zu  erfreuen.  Der  Brahmaanbeter  stellt 
sich  die  Aufgabe,  sich  selbst  zu  vernichten,  der  Ormuzddiener 
hingegen  sich  zu  behaupten.  3 


1  Vendidad  XIV,-  9—18;  XII,  65-71  u.  a. 

2  Vendidad  X,  35—37. 

3  Da  Iran ,  auch  nach  dem  Schachnameh  zu  urtheilen ,  lange  Jahre 
unter  assyrischer  Oberhoheit  stand,  so  findet  es  Kruger  natürlich,  dass 
auch  sein  Glaube  kein  anderer  war  als  die  assyrische  Reichsreligion,  in 
der  Darstellung  des  Firdusi  trete  ferner  noch  das  sabäische  Element 
mächtig  hervor.  (Jak.  Kruger,  Gesch.  d.  Assyrer  und  Iranier  vom  13. 
bis  5.  Jahrh.  v.  Chr.,  51.)  Auch  Spiegel  macht  auf  etliche  semitische  Ele- 
mente im  zoroastrischen  Glauben  aufmerksam ,  hält  sie  aber  für  später 
eingedrungen.  (Zend-Avesta,  Leipzig  1852,  S.  269.  Erster  Exkurs :  Ueber 
die  Einwirkung  semit.  Religionen  auf  die  altpersische  Religion.)  Spiegel 
führt  eine  Stelle  eines  persischen  Autors  an:  „Nachdem  Zerduscht  die 
sabäische  Religion  abgeschafft  und  den  Feuerdienst  eingeführt  hatte,  ver- 
fasste  er  das  Buch  Avesta."  Spiegel  erklärt  diese  Stelle  für  ein  Zeugniss 
fremder  Einmischung  in  die  Religion  Zoroasters;  Kruger  dagegen  für 
ein  Zeugniss  der  Entstehung  der  letztern  aus  dem  Sabäismus   und  weist 


124  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Griechen. 

Die    griechische    Halbinsel,    von    den    Gebirgszügen    des 
Hämus  herab  bis  zum  Mittelmeere  sich  erstreckend,   ist  ganz 
geeignet,    die  Cnltnr  Asiens   mit   Europa  zn   vermitteln.     Die 
hellespontische  Meerenge,  der  Archipelag,  die  Inselreihe  gegen 
Westen   bilden   eine  Brücke  znr  Weiterforderung  des  Ueber- 
kommenen.     Die  überallhin  verzweigten  Berge,  die  das  Land 
bedecken,    waren    zwar   einer   Vereinigung   der   Bewohner   zu 
einem   fcstgeschlossenen   Ganzen   hinderlich;    dagegen    musste 
die    individuelle    Ausbildung    in    den    abgegrenzten    Gebirgs- 
auen  um  so  ungestörter  gedeihen.     Die  Nähe  des  Meeres  half 
dem  zu  Lande  gehemmten  Verkehre,  reizte  zu  Schiffahrt  und 
Handel,  schützte  vor  Erstarrung,  und  von  den  Höhen   erhielt 
der  Hellene  die  kräftigende   Bergluft.      Die    grösste   Mannig- 
faltigkeit herrscht  sowol  in  der  Formirung  der  Oberfläche  des 
Landes   als   in   der  Uferbildung.     Dort   der  verschiedene  An- 
blick von  Alpenlandschaften  mit  schneebedeckten  Gipfeln,  ab- 
wechselnd mit  Mittelgebirgen,  Laubwälder  mit  Wiesengründen, 
hohe  Felsenrücken   sich  erhebend   aus  Niederungen,    die   mit 
Oliven  und  Lorberen  bedeckt  sind,  und  wieder  kahle,  wasser- 
arme Landschaften,  zahllose  Buchten,  fruchtbare  Thäler,  schat- 
tige Wälder.     Ebenso  mannigfaltig  ist  das  Klima  des  Landes. 


auf  eine  schriftliche  Quelle  vorzoroastrischer  oder  assyrischer  Religion 
hin,  die  bisher  beiseite  geblieben.  Est  ist  der  Dabistan  des  Scheikh 
Mohammed-Jani  oder  Mohsan-Jani,  aus  dem  17.  Jahrhundert  stam- 
mend, im  Anfang  unsers  Jahrhunderts  nach  Europa  gebracht.  Der  Ver- 
fasser, ein  Mohammedaner  aus  Kaschmir,  beschäftigte  sich  mit  dem  Stu- 
dium aller  bekannten  Glaubensbekenntnisse  und  legte  das  Resultat  in 
seinem  Werke  nieder.  Das  erste  Buch  handelt  von  der  ältesten  ihm  be- 
kannten Sekte,  den  Jezdianen  oder  Huschianen,  die  den  Zoroaster 
nicht  als  Propheten,  sondern  nur  als  Reformator  anerkennen,  bis  auf  die 
Zeiten  der  Araber  mitten  unter  den  Dienern  der  Feuerreligion  ihr  vor- 
zoroastrisches  Gesetz  bewahrten,  von  Persern  und  Mohammedanern  ver- 
folgt nach  Indien  auswanderten,  sich  dort  in  der  Stille  erhielten  und  eine 
eigene  Literatur  erzeugten,  aus  der  Mohsan  das  Wesentliche  mittheilt. 
Kruger  gebraucht  diese  Schrift  zur  Unterstützung  seiner  obenerwähnten 
Ansicht;  uns  hingegen  liefert  sie  einen  Beweis  mehr  für  die  Annahme 
eines  durchgängigen  Dualismus,  der  auch  bei  den  Jezdianen  stattfindet. 
Diese  erweisen  dem  bösen  Wesen  oder  Scheitan  sogar  eine  so  hohe  Achtung, 
dass  sie  die  blose  Nennung  seines  Namens  für  die  verwegenste  Hand- 
lung halten. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     125 

Die  Rauheit  Huf  den  Höhen  mildert  sich  nach  der  Senkung 
und  Richtung  der  Berge  bis  zu  jener  Wärme,  in  welcher  die 
Olive,  Feige,  Traube  zur  Reife  gelangt,  und  die  Hitze  an  der 
Ostküste  wird  wieder  vom  Seewinde  gekühlt.  Den  im  Som- 
mer fehlenden  Regen  ersetzt  der  Herbst  und  der  Frühling  in 
reichlichem  Masse.  Der  Boden,  obschon  fruchtbar,  erheischte 
doch  einen  fleissigen  Anbau,  und  die  nothige  Arbeit  schützte 
den  Hellenen  unter  dem  milden  Himmel  vor  Erschlaffung  und 
üppiger  Sinnlichkeit.  In  einem  Lande  ohne  die  schroffe 
Gegensätzlichkeit  von  nordischer  und  tropischer  Zone,  konnte 
sich  in  den  Bewohnern  Phantasie,  Gefühl  und  Verstand  wol 
harmonisch  entwickeln.  Daher  wird  es  erklärlich,  dass  die 
schneidenden  Gegensätze  in  der  religiösen  Anschauung  der 
Arier,  welche  die  Hellenen  aus  ihrer  arischen  Heimat  mit- 
brachten, in  der  Erinnerung  allmählich  verwischt  wurden,  und 
der  griechische  Genius,  seiner  künstlerischen  Natur  gemäss, 
auch  fremde  Vorstellungen,  die  durch  Ansiedelungen  von 
Aegyptern  und  Phöniziern  in  seinen  Kreis  kamen,  um-  und 
durchbildete,  indem  er  aus  speculativen  Begriffen  religiöse 
Kunstgebilde  schuf  und  die  Ideen  zu  schönen,  lebensvollen 
Individualitäten  verkörperte.  So  wurde  die  griechische  Götter- 
welt zu  einem  Kunstwerke  des  künstlerischen  Genius  von 
Hellas,  die  ungeheuerlichen  Personificationen  des  Orients  er- 
scheinen vermenschlicht,  der  Mensch  wird  idealisirt  zum 
Göttlichen,  der  Himmel  ist  verirdischt  und  die  Erde  ver- 
himmelt, die  physische  und  menschliche  Natur  wird  durch- 
göttert  und  der  Hellene  stellt  in  seiner  Gottheit  die  idealisirt 
schöne  menschliche  Individualität  dar. 

Die  Sprachwissenschaft  hat  schon  längst  den  Beweis  ge- 
liefert, dass  die  Griechen  Verwandte  der  Arier  sind,  und  die 
Religionswissenschaft  gelangt  zu  derselben  Ansicht.  Von  der 
Trennung  des  hellenischen  Zweiges  vom  arischen  Urstamme 
haben  die  Griechen  selbst  keine  Erinnerung  aufbewahrt,  sie 
erzählen  nur  von  einem  goldenen  und  silbernen  Zeitalter,  auf 
welches  ein  drittes  Geschlecht  folgte,  das  sich  in  beständigem 
Kampfe  aufgerieben,  worauf  das  Zeitalter  der  Helden,  der 
Kämpfer  vor  Theben,  vor  Ilion,  gefolgt  sei.  Die  historische 
Tradition  der  Griechen  beginnt  mit  Pelasgos,  welchen  Homer l 


1  Ilias  Iß,  324. 


12(3  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

mit  dem  Hciligthume  zu  Dodona  in  Verbindung  stellt,  und 
dies  erscheint  als  der  älteste  Mittelpunkt  der  Religion. x  Hier 
wird  der  Gott  des  Himmels  verehrt,  dessen  Willen  man  im 
Rauschen  des  Windes  in  den  Zweigen  der  heiligen  Eiche 
vernahm.  Er  sammelt  die  Wetterwolken  und  führt  den  Bei- 
namen Naios,  der  Regner.  Ausserdem  wird  zu  Dodona  die 
fruchtbringende  Erde  verehrt.  Dodona  weist  auf  die  ersten 
Anfänge  hellenischen  Lebens  in  der  pelasgischen,  d.  h.  jener 
ältesten  Zeit  auf  der  Halbinsel,  hin,  und  die  Religion  gibt 
sich  als  Naturreligion  zu  erkennen.  Die  älteste  Form  reli- 
giöser Anschauung  der  Griechen  beruht  also  auf  der  mit  den 
Ariern  am  Indus  gemeinsamen  Grundlage.  Der  helle  Himmel, 
das  Licht,  die  Winde,  Wolken  werden  verschiedenartig  per- 
sonificirt,  und  als  freundliche  Mächte  angeschaut.  Die  empfun- 
dene Wirkung  setzt  der  Grieche  in  göttliche  Wirksamkeit 
um  und  schaut  in  der  Natur  Götter  und  Gestalten. 

Obschon  in  Griechenland  in  klimatischer  und  geographi- 
scher Beziehung  wie  auch  in  der  religiösen  Anschauung  keine 
schroffe  Gegensätzlichkeit  auftritt,  daher  auch  der  Dualismus 
von  guten  und  bösen  Wesen  weniger  scharf  ausgeprägt  er- 
scheint, so  ist  dieser  doch  nicht  gänzlich  verwischt,  und  Zeus 
schleudert  Donner  und  Blitz,  kämpft  mit  Dämonen  des  Dun- 
kels der  Nacht.  Aber  der  Kampf  ist  nach  den  Homerischen 
Gesängen  ein  längst  vergangener,  die  Dämonen  Japetos,  Kro- 
nos  sind  überwunden  und  an  die  äussersten  Grenzen  der  Erde 
oder  in  den  Tartaros  gebannt.  2  Auch  die  Giganten,  die  Riesen 
der  dunkeln  Region,  wo  die  Sonne  untergeht,  sind  bei  Homer 
schon  besiegt.  3  Die  Göttin  des  blauen  Himmels ,  die  „hell- 
äugige Pallas",  besteht  ihre  Kämpfe  mit  den  finstern  Dämo- 
nen, sie  überwindet  die  Unholdin  des  Dunkels,  Gorgo,  lässt 
hierauf  den  Gewitterregen  herabfallen  und  den  Himmel  wie- 
der in  klarer  Bläue  leuchten.  So  ist  Pallas  eine  befruchtende 
Göttin  und  zugleich  Göttin  des  Siegs.  In  Athen  streitet 
diese  Göttin  des  himmlischen  Wassers  mit  Poseidon,  dem 
Gott  des  irdischen  Wassers,  und  behauptet  den  Vorrang,  da 
Attika  mehr  auf  die  Bewässerung  durch  Regen  und  Thau 
als  auf  Fluss-  und  Quellenbewässerung  angewiesen  war. 

1  Vgl.  1  Mos.  10,  4. 

2  Ilias  14,  274.  278;  8,  478;  15,  224;  vgl.  Hesiod.,  Theog.,  625. 

3  Odyss.  7,  58;  10,  113.  129. 


4.  Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     127 

Apollon,  mit  dem  ältesten  Beinamen  Lykeios,  gibt  sich 
als  Lichtgott  zu  erkennen,  dass  er  als  Kämpfer  gegen  die  Dä- 
monen der  Finsterniss,  der  Nacht  auftritt.  In  der  Perseus- 
sage  hat  Hesiod  eine  alte  Auffassung  solcher  Kämpfe  des 
Lichtgottes  aufbewahrt,  wo  aber  Perseus,  der  Vernichter  der 
Unholde,  den  Apollon  vertritt.  Der  Lichtgott  haut  nicht  nur 
der  Gorgo  Medusa  den  Kopf  ab,  woraus  das  geflügelte  Wolken- 
pferd Pegasus  entspringt,  er  tödtet  auch  den  finstern  Drachen 
am  Parnassus,  die  dunkeln  Dämpfe,  die  aus  der  Schlucht  des 
Gebirges  aufsteigen.  '  Der  Lichtgott  überwältigt  das  stür- 
mische Meer  und  verjagt  die  dunkeln  Geister,  wo  die  Licht- 
strahlen auf  dasselbe  fallen.  Die  Lichtstrahlen  sind  die  Pfeile, 
die  der  siegreiche  Apollon  von  seinem  Bogen  gegen  die  Un- 
gethüme  der  Finsterniss  abschiesst. 

Da  von  dem  Lichtgotte  das  Reifen  der  Saaten  abhängt, 
so  wird  Appollon  in  den  ackerbautreibenden  Gegenden  als 
Erntegott  gefeiert. 

In  der  Anschauung  der  Griechen  von  der  Entstehung 
der  Dinge  und  dem  Ursprünge  der  Götter  findet  sich  der 
Dualismus  von  guten  und  bösen  "Wesen  erhalten;  jedoch 
treten  die  dunkeln  Mächte  und  übelthätigen  Gottheiten,  welche 
bei  den  Ariern  im  fortdauernden  Kampfe  miteinander  begriffen 
waren,  in  der  Kosmogonie  und  Theogonie  der  Griechen  nur 
in  der  Erinnerung  auf  und  es  bildete  sich  die  Vorstelluno-, 
dass  die  übelthätigen  Wesen  vor  den  wohlthätigen  die  Herr- 
schaft in  der  Welt  gehabt  hätten,  sodass  die  bösen  als  Väter 
der  guten  Götter  erschienen.  Diese  Auffassung  liegt  in  der 
Kosmogonie  der  Homerischen  Gedichte  vor.  Okeanos,  der 
grosse  Strom,  der  die  Welt  umgibt,  erzeugt  die  Götter  und 
ist  der  Urquell  aller  Dinge  überhaupt.  Seine  weibliche  Seite 
ist  Thetys.  *  Aus  dem  dunkeln  Schos  der  Gäa  (Erde)  gehen 
die  finstern  Mächte  Japetos,  Kronos,  Rheia  und  die  übrigen 
Titanen  hervor.  Der  finstere  Kronos,  als  schädliche  Macht 
betrachtet,  daher  ihn  die  Griechen  im  Moloch  der  Phönizier 
erkannten 2,  und  die  Rheia  erzeugen  den  lichten  Zeus ,  den 
Poseidon,  den  Gott  des  Wassers,  und  Hera,  die  Göttin  des 
Sternenhimmels.     Zeus,  der  lichte  Gott,  stösst  seinen  finstern 


1  Ilias  14,  200  fg. ;  21,  193  fg. 

2  Duncker,  III,  300,  Anm.  3. 


128  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Vater  Kronos,  sammt  den  übrigen  Wesen  der  Dunkelheit, 
vom  Himmel  in  das  Reich  der  Finsterniss  hinab  und  bannt 
sie  weit  unter  den  Hades  in  den  Tartaros.  l  Auch  Okeanos 
muss  sich  vor  dem  Blitzstrahl  des  Zeus  fürchten 2 ,  und  die 
dunkeln  Geister  des  Westens,  wo  die  Sonne  untergeht,  die 
Giganten,  werden  vertilgt.  Die  riesigen  Söhne  der  Erde,  die 
den  Pelion  auf  den  Ossa  gehoben,  um  den  lichten  Himmel 
zu  erreichen  und  ihn  zu  verdunkeln,  werden  von  den  Pfeilen 
des  Lichtgottes  Apollon  getroffen.  3 

Jn  diesem  Kampfe  der  lichten  Götter  mit  den  Titanen 
und  Giganten  wird  man  an  die  Kämpfe  des  indischen  Vri- 
traghna  und  des  iranischen  Veretraghna  mit  den  bösen  Geistern 
der  Finsterniss  erinnert.  Wie  hier  Naturmächte  personificirt 
auftreten,  so  auch  dort  in  den  kämpfenden  Gestalten  der  grie- 
chischen Anschauung,  nur  dass  die  Kämpfe  als  längstge- 
kämpfte  dargestellt  sind  und  die  Göttergestalten  zu  Trägern 
ethischer  Mächte  erhoben  werden,  von  denen  sich  die  Grie- 
chen zu  jener  Zeit  bewegt  fühlten.  Die  Naturbedeutung 
erscheint  sonach  mit  der  ethischen  ineinandergesetzt.  Eben 
darum,  weil  die  unterste  und  älteste  Grundlage  der  religiö- 
sen Vorstellungen  der  Griechen  auf  Naturanschauung  gestellt 
ist  und  die  Gestalt  der  Götter  mit  dem  sinnlichen  Eindruck 
in  Beziehung  steht,  kann  es  nicht  befremden,  dass  manche 
Gottheiten  den  Dualismus  an  sich  tragen,  und  von  der  einen 
Seite  als  wohlthätige  erscheinen,  andererseits  als  Urheber  des 
Uebels  sich  zeigen,  oder  durch  ihre  Abstammung  damit  in 
Zusammenhang;  gebracht  sind.  So  erscheinen  die  Titanen  als 
weltbildende  Mächte  und  zugleich  als  Urheber  des  Hasses 
und  der  Zwietracht  in  der  Welt,  indem  sie  zuerst  gegen 
ihren  eigenen  Vater  und  dann  gegen  Zeus  sich  empören.  In 
den  ältesten  Dichtungen  wird  die  Bedeutung  des  Wieder- 
spruchs und  des  Kampfes  gegen  die  bestehende  Ordnung  der 
Dinge  besonders  hervorgehoben.  4 

In  dem  vielfach  verschlungenen  Artemis-Mythus  wird  die 
Göttin  bald  mit  der  keuschen  Selene  verschmolzen,  bald  er- 
scheint sie  mit  der  furchtbaren  Hekate  identificirt. 


1  Ilias  8,  13.  479. 

2  Ilias  21,  199. 

3  Odyss.  11,  315. 

'  Ilias  8,  13  fg.,  478  fg.;  14,  200  fg.;  15,  224. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     129 

Kronos,  dessen  Cult  im  Sinne  der  heisseh  Jahreszeit  imd 
der  Ernte  in  Griechenland  weit  verbreitet  war,  ist  als  Ernte- 
gott zugleich  Herrscher  des  goldenen  Zeitalters,  wo  nichts 
als  Reife  und  Ernte  war.  l  Als  Gott  der  Reife  ist  er  aber 
auch  der  Gott  der  reifenden  Zeit  selbst,  der  schleichenden 
und  plötzlich  abschneidenden,  und  von  dieser  Seite  ist  er  als 
zerstörende,  böse  Macht  gefasst. 

Der  Tartaros,  in  der  altern  Mythologie  als  atisserwelt- 
liches,  tief  unter  der  Erde  und  dem  Meere  befindliches  Ti- 
tanengefängniss ,  wohin  die  abgesetzten  und  überwundenen 
Götter  einer  vergangenen  Weltordnung  Verstössen  sind,  steht 
im  Gegensatz  zum  Himmel  und  dem  Olympos,  wo  die  herr- 
schenden Götter  heiter  leben.  Die  Titanen  werden  aber  häufig 
mit  sinnverwandten  Unholden,  den  Repräsentanten  ungeregel- 
ter Naturkräfte,  in  eins  verschmolzen,  z.  B.  mit  Typhon,  und 
so  können  die  Titanen  als  böse  Mächte  erscheinen^ 

Im  Zusammenhang  damit  steht  die  Ansicht  des  Alter- 
thums über  die  Ursachen  von  vulkanischen  Naturumwälzungen, 
wonach  die  gasartigen  Dämpfe,  die  das  Innere  der  Erde  er- 
füllen, nach  auswärts  drängen  und,  wo  sie  keinen  Ausgang 
finden,  diesen  mit  Gewalt  erzwingen.  Der  allgemeine  mytho- 
logische Ausdruck  für  solche  Dämpfe  und  ihre  zerstörenden 
Wirkungen  ist  Typhon,  daher  er  späterhin  überall  hausend 
gedacht  wurde,  wo  der  Boden  vulkanische  Wirkungen  nach- 
wies. Sein  Name  wird  von  xv!po,  hauchen,  blasen,  abgeleitet2, 
besonders  vom  warmen  Hauche,  die  jüngste  Form  ist  T\)<pov, 
die  ältere,  die  bei  Homer  und  Hesiod  ausschliesslich  vor- 
kommt ,  ist  Tucposuc.  Er  ist  ein  Sohn  der  Gäa  oder  auch  der 
Hera,  und  zwar  aus  Hass  und  Grimm  erzeugt.  Gäa  gebar 
ihn,  um  den  Sturz  ihrer  Söhne ,  der  Titanen,  durch  Zeus,  die 
im  Tartaros  gefesselt  lagen,  zu  rächen  3;  Hera  aus  Rache  an 
ihrem  Gemahl,  der  die  Athena  allein  erzeugt  hatte.  4  Preller5 
sucht  beide  Versionen  dahin  zu  vereinen,  dass  Typhon  einmal 


1  Bergk,  Comment.  de  relig.  Com.  Antq.,  S.  188  fg.,  bei  Preller  S.  43. 

2  Hermann,  Opusc,  II,  88. 

3  Hesiod,    Theog.,    820  fg.;    vgl.  Schümann,    De  Typhoeo  Hesiodeo, 
Opusc.  I,  367. 

4  Homer,  Hymn.  in  Apoll.  Pyth.,  S.  366. 

5  I,  109. 

Koskoff,  Geschichte  des  Teufels.   I.  9 


130  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

als  Sturmwind  gedacht  die  Göttin  des  Wolkendunkels  ebenso 
gut  zur  Mutter  haben  könne  wie  die  Erde.  Nach  Diestel  \ 
der  Welcker  folgt2,  hat  vielmehr  Hera  die  Bedeutung  der 
Erde  als  olympische  Reproduction  der  Gäa,  und  zum  Tartaros 
stehe  Typhon  nur  darum  in  Beziehung,  weil  er  unter  der 
Erde  sein  Wesen  treibt.  Seine  Natur  sei  durch  und  durch 
vulkanisch,  worauf  sich  die  Schilderungen  bei  Hesiod  3,  Pin- 
dar,  Aeschylos  und  den  Spätem  beziehen.  „Er  liegt  unter 
grossen  Bergenv  welche  Feuer  speien,  überall  in  solchen  Ge- 
genden, die  durch  Erdbeben  zu  leiden  haben.  Das  mannich- 
fache  Getöse,  das  bald  wie  Löwengebrüll,  wie  Hundegeheul, 
wie  ein  schrilles  Pfeifen  klingt  und  vulkanische  Eruptionen 
begleitet,  kennzeichnet  ihn.  Die  Eruption  selbst  ist  ein  Kampf 
des  Himmels  (Zeus)  mit  diesen  irdischen  Mächten,  von  beiden 
Seiten  wird  mit  Donner  und  Blitz  (daher  die  Schlangen- 
häupter) gekämpft;  aus  seinem  ganzen  Körper  scheint  das 
Feuer  auszugehen.  Die  Berge  schmelzen  wie  Zinn-Geschmol- 
zenes, so  schildert  Hesiod  die  Lavaströme.  Daher  konnte 
Typhoeus  auch  den  Namen  rop9vp£ov  erhalten.  Erst  viel  später 
ist  diese  Naturbasis  mehr  zurückgetreten  und  die  Vorstellung 
einer  ungebändigten  Opposition  gegen  den  Weltenlenker  als 
geistiger  Niederschlag."  Von  Typhon  stammen  die  den  See- 
fahrern verderblichen  Winde  ab,  die  ihre  Schiffe  zerschellen. 4 
Endlich  vermengte  sich  die  Vorstellung  von  Typhon  mit  der 
schädlichen  Seite  der  Titanen  und  wurde  Repräsentant  des 
Wilden,  Unbändigen,  der  rohen  Naturkräfte.  Mit  der  schreck- 
lichen Echidna,  einem  Ungeheuer,  halb  Jungfrau  mit  schwar- 
zen Augen,  grässlich  und  blutgierig,  in  einer  Höhle  hausend, 
zeugt  er  den  mehrköpfigen  Orthus,  den  Cerberus,  die  Ler- 
näische  Hydra,  die  Chimäre,  die  Sphinx,  den  nemeischen 
Löwen.  5 

Als  Vater  von  allen  mythischen  Ungethümen,  welche  auf 
und  unter  der  Erde  das  menschliche  Geschlecht  bedrohen, 
bis  ihnen  Herakles  ein  Ende  macht,    steht   er  im  feindlichen 


1  Abhandlung  über  Typhon,  S.  191. 

2  Mythologie,  I,  362  fg. 

3  Theog.,  820-868. 

4  Hesiod,  Thcog.,  869. 

6  Hesiod,  Theog.,  295  fg.;  Apollodor,  II,  5.  11;  III,  5.  8. 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     131 

Gegensatz  zur  obersten  ordnenden,  die  Menschen  segnenden 
Gottheit,  Zeus,  der  ihn  am  Ende  mit  seinem  Blitzstrahle 
aufs  Haupt  trifft  und  in  den  Tartaros  wirft,  von  wo  er  nun- 
mehr nur  noch  zeitweise  verderbliche  Wirkungen  auf  die 
Oberwelt  sendet,  während,  wenn  er  als  Sieger  aus  dem  die 
Welt  bis  in  den  tiefsten  Grund  erschütternden  Kampfe  hervor- 
gegangen wäre,  er  sich  der  Herrschaft  über  Götter  und  Men- 
schen bemächtigt  haben  würde. 

Der  Schluss  dieses  Kampfs,  wie  der  Titanomachie  und 
Gigantomachie,  erklärt  sich  der  natürlichen  Bedeutung  nach 
dahin:  dass  aus  der  ordnungslosen  Wirksamkeit  der  Natur- 
mächte in  ihrer  Unbändigkeit  das  schöngeordnete  Leben  her- 
vorgeht; nach  der  ethischen  Seite:  der  vergebliche  Aufwand 
der  rohen  Gewalt  gegenüber  dem  göttlichen  Regiment  des 
Olympiers. 

Der  Dualismus,  der  in  diesen  Kämpfen  zur  Feindseligkeit 
gesteigert  ist,  tritt  auch  an  den  einzelnen  Gottheiten  auf, 
deren  Grundlage  auf  Naturbedeutung  zurückweist.  Die  Göt- 
ter der  Griechen  haben  eine  doppelte  Seite,  eine  milde  und 
eine  furchtbare,  obschon  letztere  in  der  Anschauung  des 
Volks  mehr  zurücktritt  und  die  ethische  Bedeutung  sich  vor- 
schiebt. Die  dualistische  Seite  lässt  sich  an  den  Hauptgott- 
heiten deutlich  wahrnehmen. 

Zeus,  der  Gott  schlechthin,  ist  der  Gott  des  Himmels, 
auf  den  höchsten  Bergen  verehrt,  wo  er  im  Lichtglanze  thront. 
Er  sammelt  Wolken,  schleudert  aber  auch  Blitze,  er  ist  der 
segnende,  aber  auch  der  schreckliche  Himmelsgott.  Leicht 
erkenntlich  ist  die  Naturbedeutung,  wonach  der  Witterunffs- 
process  dargestellt  ist.  Da  die  Erscheinung  und  Macht  des 
Blitzes  das  Gemüth  eines  Volks  ergreifen  muss,  ist  diese 
Seite  in  den  Mythen  gewöhnlich  mehr  hervorgehoben.  Die 
schreckliche  Seite  kehrt  Zeus  besonders  als  Zeus  [xat-jjLaxTr^, 
als  zürnender  Zeus  heraus.  Dieser  Seite  entsprechen  auch 
die  Menschenopfer,  die  dem  lykäischen  Zeus  in  Arkadien  fie- 
len. 1  Der  entwickeltere  humane  Sinn  war  aber  darauf  be- 
dacht, solche  Barbareien  zu  beseitigen,  und  brachte  daher 
Gebräuche  auf,  die  nur  mehr  die  Erinnerung  daran  auf- 
bewahrten, abgesehen  davon,  dass  solche  Greuel  ursprünglich 


Hermann,  Gottesdienstliche  Alterthümer,  827. 


132  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

aus  der  Fremde  eingeschlichen  waren,  die  durch  das  erstarkte 
hellenische  Gefühl  ausgetilgt  wurden. 

Hera,  als  älteste  Schwester  und  Gemahlin  des  Zeus  und 
Himmelskönigin,  stellt  die  weibliche  Seite  des  Himmels  dar, 
die  Luft,  das  weibliche  Fruchtbare  der  Elementarkraft.  Sie 
ist  lieblich,  die  Erde  befruchtend,  stiftet  und  behütet  unter 
den  Menschen  die  Ehe;  allein  sie  ist  auch  in  den  ehelichen 
Zerwürfnissen  mit  Zeus  als  finstere,  furchtbare,  verderbliche 
Göttin  dargestellt.  Obschon  ihre  vornehmliche  Bedeutung 
die  himmlische  Herrschaft  neben  Zeus  und  das  weibliche  ehe- 
liche Leben  bleibt,  so  verhilft  doch  die  Naturbedeutung  beider 
Gottheiten  zur  Erklärung  der  ehelichen  Zänkereien  zwischen 
ihnen,  von  welchen  die  Mythen  viel  zu  erzählen  haben.  In 
dem  Lande  der  Griechen,  wo  die  Gebirge  meistens  enge  Thä- 
ler  bilden,  bei  der  Nähe  des  Meeres  und  der  feinen  Atmo- 
sphäre, entstehen  liegen,  Sturm  und  andere  Lufterscheinungen 
gewöhnlich  plötzlich  mit  gewaltsamem  Auftreten.  Das  Bild 
des  ehelichen  Verhältnisses  ist  vom  griechischen  Himmel  her- 
genommen, und  in  dieser  Beziehung  erklären  sich  die  bekann- 
ten ehelichen  Scenen,  wie  sie  die  Ilias  erzählt  und  in  der 
Heraklessage  der  Streit  der  beiden  Himmelsmächte  allegorisch 
dargestellt  wird.  In  diesem  Sinne  fährt  Zeus  p.ai{j.axi:7)C 
im  Sturme  und  in  Wetterwolken  einher,  geiselt  die  Luft  und 
wirft  mit  Feuerstrahlen  um  sich;  Hera  verbindet  sich  mit  den 
finstern  Mächten  der  Tiefe,  um  weltverderbliche  Wesen  zu 
erzeugen  *,  sodass  sie  sogar  den  Typhon  von  den  Titanen 
empfangen  und  gebären  kann.  2  Hera  erscheint  demnach  als 
verderbliche  Sturmgöttin,  und  als  Mutter  des  Ares  nimmt  sie 
eifrig  theil  am  wilden  Kriege,  wo  sie  mit  solcher  Wuth  gegen 
die  Trojaner  erfüllt  ist,  dass  sie,  nach  der  Aussage  ihres  Ge- 
mahls, dieselben  am  liebsten  mit  Haut  und  Haar  auffrässe.  3 

Hephästos,  der  Gott  des  Feuers,  dieses  sowol  als  Ele- 
mentarmacht in  der  Natur  wirkend  als  auch  formbildend, 
also  das  Princip  der  Kunst,  ist  der  Sohn  des  Zeus  und  der 
Hera,  obschon  aus  dem  Streite  zwischen  beiden  hervorgegan- 
gen. 4     Die  civilisatorische  Bedeutung  in  Hephästos   ist  zwar 


1  Ilias,  8,  478  fg. ;  14,  270  fg. 

2  Apollodor,  127  fg. 

3  Ilias  4,  35;  5,  711  fg.;  8,  350  fg. 

4  Hesiod,  Theog.,  927. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     133 

die  überwiegende,  er  erscheint  aber  doch  auch  als  zerstörende 
Macht  der  Vulkane  *  und  streitet  mit  Dionysos  um  Naxos, 
und  mit  Demeter  um  Sicilien.  Nach  dieser  Seite  hat  Hephä- 
stos  einen  dämonischen  Anstrich,  daher  verbindet  sich  auch 
mit  seinen  Kunstwerken  eine  gewisse  Art  List  und  Tücke  2, 
wie  sich  an  die  Metallurgie  in  den  Sagen  gewöhnlich  etwas 
Dämonisches  anknüpft,  weswegen  die  Berg-  und  Schmiede- 
geister, die  Korybanten,  die  idäischen  Daktylen,  die  rhodischen 
Teichinen,  obschon  grosse  Künstler,  doch  auch  als  schlimme 
Kobolde  gedacht  werden. 

In  Athena  verschmilzt  Zeus  und  Hera  gewissermassen 
in  Eins,  in  ihr  verehrt  der  Grieche  den  reinen,  klaren  Him- 
mel, den  Aether,  als  höchste  Naturmacht  und  charakterisirt 
diese  Naturbedeutung  durch  Athena's  Jungfräulichkeit.  Sie 
ist  lieblich,  bodenbefruchtend,  Menschengeschlechter  erziehend, 
und  in  ihrer  ätherischen  Reinheit  wird  sie  die  Göttin  des 
Sinnens,  des  künstlerischen  Erfindens.  In  den  auf  ihren  Ur- 
sprung bezüglichen  Mythen,  in  welchen  kosmogonische  Ideen 
niedergelegt  sind,  erscheint  sie  aber  als  gewaltige  Himmels- 
macht, über  Wolken,  Blitz,  Sonne  und  Mond  gebietend,  in 
furchtbarer  Majestät  einherfahrend.  Der  unfreundlichen  Seite 
ihrer  Naturbedeutung  entsprechend,  erscheint  sie  als  Kriegs- 
göttin, und  in  diesem  Sinne,  der  besonders  in  der  altern 
Zeit  mehr  hervorgehoben  worden,  kommt  bei  den  Palladien 
die  Lanze  öfter  vor  als  der  Spinnrocken. 

Auch  Apollo n  vereinigt  einen  gegensätzlichen  Dualis- 
mus in  sich,  wie  schon  sein  Doppelname  <£otßo?  'AtoXXov  an- 
deutet. Während  <£><xßo£  das  strahlende  Licht,  Sonnenlicht, 
dann  die  ethische  Reinheit  seines  Wesens  bezeichnet,  ist  er 
als  'A7r6XXov  der  Verderber,  der  furchtbare  Gott  mit  Pfeil 
und  Bogen,  welcher  rächt,  straft,  aber  auch  verheerende 
Krankheiten  und  plötzlichen  Tod  sendet.  Der  furchtbaren 
Natur  des  Sonnengottes  entspricht  dessen  Symbol,  der  Wolf, 
daher  sein  Name  Xuxsio£.  Der  griechische  Mythus  lässt  Apol- 
lon  aber  bald  nach  seiner  Geburt  den  Kampf  mit  den  Mäch- 
ten der  Finsterniss  beginnen  (dem  Riesen,  dem  Drachen  Py- 
thon) und  als  Sieger  hervorgehen. 


1  Ilias,  21,  330  fg. 

s  Vgl.  Der  goldene  Sessel  der  Hefa. 


134  Erster  Abschnitt:  Der  religiöse  Dualismus. 

Artemis,  als  allgemeiner  Name  für  die  verschieden 
gestaltete  Mondgöttin,  weist  in  ihrem  Cultus  einen  Dualismus 
auf,  hergenommen  von  dem  theils  nützlich,  theils  schädlich 
gedachten  Einfluss  des  Mondes  auf  die  gesammte  Natur,  also 
auch  auf  den  Menschen.  Sie  ist  die  Göttin  des  schnellen 
Todes  und  tödtet  mit  Apollon  die  Niobiden.  Ueberall,  beson- 
ders wo  es  das  weibliche  Geschlecht  betrifft,  ist  sie  die  Ur- 
sache des  schnellen  Todes.  l  Ihr  werden  Acte  des  Blutdurstes 
und  der  Rache  zugeschrieben,  daher  der  blutige  Charakter 
ihres  frühern  Cultus,  wo  selbst  Kinderopfer  stattfanden,  die 
nachher  durch  Geiselung  vertreten  wurden,  und  noch  in  spä- 
terer Zeit  war  ihr  Dienst  zu  Paträ  ein  für  Griechenland  grau- 
samer. 2  Der  blosse  Anblick  ihres  Bildes  erfüllte  alles  mit 
Schrecken,  machte  Bäume  verdorren,  Früchte  vernichten.  3 

Obschon  gewöhnlich  von  ihr  getrennt,  erscheint  doch 
auch  in  ihrem  Zusammenhange  Hekate  als  früh  nach  Grie- 
chenland eingewanderte  Mondgöttin  in  grossem  Ansehen  und 
mit  weitverbreitetem  Dienste.  Sie  erscheint  als  wohlthäti£ 
dem  menschlichen  Leben,  der  Geburtshülfe,  der  Kinderzucht, 
der  Jagd,  der  Viehzucht,  ist  heimisch  auf  den  Strassen,  auf 
denen  sie  wandert,  wurde  vor  den  Häusern  der  Vornehmen  4, 
an  Pfaden  und  Scheidewegen  aufgestellt,  ihr  waren  die  Drei- 
wege geheiligt,  daher  Prothyräa,  Enodia,  Trioditis  genannt. 
Ihr  eignete  man  aber  auch  allen  geisterhaften  Spuk  und  die 
gespensterhaften  Erscheinungen  auf  den  mondbeleuchteten 
Strassen  und  Kreuzwegen,  gemäss  dem  unheimlichen  Ein- 
drucke der  huschenden  Gestalten  bei  Mondlicht.  Sie  ist  daher 
die  Göttin  der  Gespenster  und  der  magischen  Beschwörungen 
geworden.  Als  solche  ist  sie  die  grauenvolle  Mutter  des 
Scheusals  Scylla,  Tochter  des  Tartaros  und  der  Nacht,  Ob- 
walterin  des  Schattenreichs.  Sie  schwärmt  als  Geisterkönigin 
schwarz  verhüllt  und  begleitet  von  den  Seelen  der  Verstor- 
benen um  die  Gräber.  5     In  ihrer  grässlichen  Gestalt,  Fackel 


1  Ilias,  6,  205.  428;  Odyss.,  11,  172.  324;  15,  478;  18,  402. 

2  Pausan.,  7,  18.  7. 

3  Pkt.,  Arat.,  32. 

4  Aeschyl.,  Sept.  Theb.,  455. 

5  Apoll.  Khod.,  III,  8G2;  Orph.  Hymn.  in  Ilecat.  und  Hymn.  in  Tych., 
Vers  5. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     135 

und  Schwert  in  Händen,  von  schwarzen  grossen  Hunden  ere- 
folgt,  schreckt  sie  die  Reisenden  und  bezweckt  dasselbe  durch 
das  Gespenst  Empusa.  '  Sie  ist  die  Helferin,  die  bei  Berei- 
tung von  Zaubermitteln  angerufen  wurde 2,  und  überhaupt 
Vorsteherin  der  Zauberei. 

Ares  ist  Repräsentant  des  stürmischen  Himmels,  hat  seine 
Heimat  in  Thrazien,  dem  Lande  des  Nordens  und  des  Win- 
ters, wo  die  Stürme  zu  Hause  sind.  In  dieser  Beziehung 
steht  er  im  Gegensatz  zu  Apollon,  dem  Gotte  des  Lichts  und 
des  Frühlings ,  wie  auch  Athena,  als  Göttin  der  hellen,  reinen 
Luft,  sein  3  Gegnerin  ist.  3  Die  ursprüngliche  Naturbedeutung 
des  Ares,  als  Hervorbringers  schädlich  wirkender  Naturereig- 
nisse, auch  der  Seuchen,  wird  aber  überwogen  durch  die  des 
blutigen  Kriegs,  und  so  repräsentirt  Ares  den  Kriegssturm, 
den  wilden  Krieg  des  Todes  und  der  Wunden  4,  die  im  Kampfe 
sich  entzündende  Mordlust,  das  Blutvergiessen,  weshalb  auch 
der  Areopag  zu  Athen  als  Blutgericht  dem  Ares  geheiligt 
war.  Obschon  Sohn  des  Zeus  und  der  Hera,  ist  er  doch, 
nach  der  Aussage  des  Homerischen  Zeus,  dem  eigenen  Vater 
unter  allen  Olympiern  der  Verhassteste,  und  auch  bei  Sophok- 
les heisst  er  der  Misachtete  unter  den  Göttern.  5  Als  Gott 
des  tödtenden,  wilden  Krieges  ist  er  unterschieden  von  Athena, 
der  Repräsentantin  des  besonnenen  Muthes.  6 

Wie  Zeus  und  Hera  sammt  ihrem  Gefolge  oben  in  den 
himmlischen  lichten  Höhen  herrschen,  so  ist  Hades  (Pluton) 
und  Persephone  das  Herrscherpaar  über  die  Mächte  der 
dunkeln  Unterwelt.  Pluton's  Wohnung  ist  deshalb  56[xo£ 
"Ai"5o£,  er  selbst  'A'töoveüs.  Nach  der  Anschauung  des  Epos 
ist  dieses  Herrscherpaar  allem  frischen  Leben  feindlich  gesinnt, 
dem  es  unaufhörlich  Tod  und  Verderben  zusendet,  daher 
Göttern  und  Menschen  verhasst.  Dem  düstern  Charakter 
dieser  Gottheiten  entspricht  auch  ihr  Aufenthalt,  der  finster,  in 
seinen  weiten,  unheimlichen  Räumen  voll  dämonischer  Schrecken 


1  Schol.  Apoll.,  111,862;  Lobeck  Aglaoph.,  223.  121. 

2  Theoer.,  II,  15. 

3  Ilias,  5,  853  fg.;  21,  400  fg. 
*  Ilias,  17,  529;  13,  569. 

5  Oed.  Tyr.,  214. 

6  Ilias,  5,  3f  fg.;    15,  123. 


136  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

ist.  1  Der  finstere,  traurige,  schweigsame  Fürst  der  Unter- 
welt ist,  von  dieser  Seite  betrachtet,  der  gerade  Gegensatz  zu 
dem  heitern,  lichten,  gesangreichen  Apollon: 

„Des  Gesanges  Freud'  und  die  Spiele  liebt  vor  allem  Apollon; 
Sorgen  und  Seufzergetön  ist  des  A'ides  Theil."  2 

Pluton,  als  welcher  er  erst  bei  den  Tragikern  erscheint,  ist  als 
Aidoneus  der  gewaltsame  Todesgott,  bei  dem  kein  Opfer,  kein 
Gebet  gilt.  Er  ist  der  König  der  Schatten  weit,  der  finstere, 
unerbittlich  strenge  Herrscher.  Die  ihm  zur  Seite  hausende 
ernste  und  furchtbare  Persephone,  nach  ihrer  ursprünglichen 
Bedeutung  „die  Würgerin",  ist  die  alles  Lebendige  verschlin- 
gende Todesgöttin,  die  Führerin  der  schrecklichen  Erinyen  3, 
steht  ebenso  feindlich  dem  Leben  gegenüber.  Die  Erinyen, 
die  das  unterirdische  Herrscherpaar  umgeben,  sind  unerbitt- 
liche Straf-  und  Rachegeister,  eigentlich  „zürnende  Hader- 
göttinnen", die  Fluch  und  schrecklichen  Tod  bringen.  Sie 
haben  aber  auch  eine  freundliche  Seite,  wonach  sie  als  Gott- 
heiten des  ländlichen  Segens  erscheinen,  wie  auch  im  gewöhn- 
lichen Cultus  die  mildere  Naturbedeutung  von  Pluton  und 
Persephone  mehr  im  Auge  behalten  wurde,  die  in  dem  My- 
thus vom  Raube  der  Persephone  und  ihrem  Beilager  mit 
Pluton  sich  herauskehrt. 

Es  war  die  lebensvolle,  plastische  Phantasie  des  Hellenen, 
durch  die  jeder  Eindruck,  jede  Empfindung  eine  lebensvolle 
Gestalt  erhielt,  die  selbst  die  verführerische  Glätte  des  Mee- 
res, unter  welcher  Klippen  und  Sandbänke  Schiffbruch  und 
Tod  verursachen,  durch  die  Sirenen  vorstellte,  die  als  dämo- 
nische Wesen  der  See  erscheinen 4,  mit  ihrem  Gesänge  be- 
zaubern und  den  Schiffer  auf  ihre  Insel  locken,  deren  Ufer 
voll  sind  von  Leichen  und  Todtenknochen.  Der  lebensfrische 
Sinn  des  Hellenen  schob  auch  von  der  doppelten  Seite  der 
Gottheiten  die  düstere,  furchtbare  mehr  in  den  Hintergrund, 
wobei  die  ethische  Bedeutung  das  Uebergewicht  gewann  und 
die  Göttergestalten  eine  licht-  und  lebensvolle  Färbung  er- 
hielten. 

In    Uebereinstimmung    damit    steht    auch    die    ethische 


1  Odyss.,  11,  634. 

2  Stesichorus  bei  Plutarch  de  EJ  ap.  Delph.,  20. 

3  Ilias,  9,  569  fg. 

f  Odyss.,  12,  39  fg.;  Apollon.  Rh.,  4,  893. 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     137 

Aufgabe,  in  deren  Lösung  der  Grieche  seine  Bestimmung 
setzt.  Er  ist  weit  entfernt,  Geist  und  Natur,  Leib  und  Seele 
in  ihrer  Getrenntheit  einander  gegenüberzustellen,  daher  es 
ihm  weder  um  abstracte  Ascese,  noch  um  sinnlichen  Orgias- 
mus  zu  thun  sein  kann.  Vielmehr  strebt  er  nach  dem  Gleich- 
gewichte beider  Momente,  nach  Mässigung  und  Veredlung 
seiner  natürlichen  Seite,  Herrschaft  über  die  wilde  Leiden- 
schaft. Er  sieht  seine  Bestimmung  in  der  Harmonie  des 
Geistigen  und  Leiblichen  und  sucht  daher  die  edle  Ge- 
sinnung auch  leiblich  zum  schönen  Ausdruck  zu  bringen.  Er 
stellt  sich  die  Aufgabe,  nicht  nur  die  Heftigkeit  seines  Ge- 
müthes  zu  bezwingen,  sondern  auch  die  Herrschaft  über  die 
Glieder  seines  Leibes  im  vollen  Masse  zu  erlangen.  Indem 
er  den  Leib  als  die  sichtbar  gewordene  Seele  betrachtet,  wird 
sich  der  veredelte  Geist  auch  in  edeln  Formen  auszuprägen 
suchen ,  und  in  dieser  Harmonie  der  geistigen  und  leiblichen 
Seite  erscheinen  auch  die  hellenischen  Göttergestalten  in  pla- 
stischer Schönheit.  Denn  in  seiner  Götterwelt  hat  der  Grieche 
die  ethisch  verklärte  Menschenwelt  angeschaut. 

Die  Dämonen,  die  den  eigentlichen  Göttern  zunächst 
standen,  kennt  Homer  nicht  als  Mittelwesen,  ihm  ist  Dämon 
noch  das  göttlich  Waltende.  Hesiod  aber  spricht  vom  Da- 
sein unsterblicher  Dämonengeschlechter,  die  zwischen  Göttern 
und  Menschen  die  Mitte  einnehmen,  den  Menschen  als  Schutz- 
geister und  zur  Vertheilung  guter  Gaben  beigesellt  sind.  *. 

Der  Glaube  an  Personaldämonen  ist  bei  den  Griechen 
sehr  alt,  schon  Phokylides,  Pindar,  Menander  sprechen  von 
Schutzdämonen,  dass  jedem  Menschen  ein  Schutzdämon  als 
wohlthätiger  Mystagog  des  Lebens  zur  Seite  stehe. 2  Diese 
Vorstellung  wurde  mehr  in  den  philosophischen  Schulen  aus- 
gebildet, im  Volksglauben  hingegen  trat  mehr  die  Scheu  vor 
bösen  Dämonen  hervor.  Gewöhnlich  gilt  Empedokles  als  der 
erste,  welcher  den  Dualismus  von  guten  und  bösen  Dämonen 
gelehrt  haben  soll 3;  allein  schon  Hippokrates  spricht  von 
abergläubischen  Leuten,  die  sich  Tag  und  Nacht  von  übel- 
wollenden Dämonen  umgeben  glauben.     Dass  bei  den  Schrift- 


1  Hesiod,  Op.  et  dies,  V,  109—150.  250  fg. 

2  Plut.,  Qu.  gr.,  6. 

3  Clem.  Alex.,  Strom.,  5,  726. 


23g  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

stellern  bis  auf  Plutarch   (1.  Jahrhundert  n.  Chr.)  meist    nur 
gute  Dämonen  erwähnt  werden,    suchte    man    daraus  zu   er- 
klären: dass  die  Scheu,  um  keine  üble  Vorbedeutung  zu  geben, 
die  Erwähnung    der  bösen  Dämonen  vermieden  habe.  1     Die 
Ansicht  von  guten  und  bösen  Dämonen  wurde    allgemeiner, 
und   mit   ihr    trat    die  Vorstellung    von    der    Schicksalsmacht 
(Ananke,  A'isa,  Moira),   die  sich  nicht  zu  einer  abgeschlosse- 
nen Persönlichkeit  ausgebildet  hatte,   in  Verbindung,  und  es 
cribt  ein  Schwanken  zwischen  unabänderlicher   gesetzmässiger 
Ordnung,  wie  sie  die  Natur  aufweist,  und  einer  nach  persön- 
licher Neigung  oder  Willkür  verfahrenden   Macht.      Bei  den 
Tragikern  Aeschylos  und  Sophokles  gewinnt  das  Fatum  eine 
sittliche  Bedeutung,  es  ist  die  vorausbestimmte  Weltordnung, 
der  o-eo-enüber  die  übermüthige  Auflehnung  zu  Grunde  richtet. 
Nach  Theognis  ist  der  Mensch  ohne  Dämon  weder  gut  noch 
böse,  die  Gottheit  ist  es,    welche  ihm  die  Hybris  als  erstes 
Unheil  mitgegeben  hat.  2     In  dem  Werke  „Die  Gesetze",  das 
Piaton  als  letztes  schriftstellerisches  Product,  obschon  nicht  mit 
völliger  Gewissheit,  zuerkannt  wird,    ist  eine  Art  Dualismus 
von  einer   wohlthätigen  Weltseele   und   einer,    die   das   Ent- 
gegengesetzte bewirkt,  angedeutet 3.    Von  Platon's  Nachfolgern 
wurde  mit  der  pythagoräisirenden  Zahlenspeculation  eine  halb 
mythische,    halb    populäre   Theologie   verbunden,    wobei   der 
Dämonenlehre    eine    bedeutende    Rolle    zukam ,     die    beson- 
ders Xenokrates  ausbildete.     Ihm   sind   die  Dämonen  Mittel- 
wesen   zwischen    den    olympischen    Göttern    und    Menschen, 
wohnen   in   der   Region   unter    dem  Monde4,    vermitteln    den 
Verkehr   zwischen  Göttern  und  Menschen,   sind  theils  wohl-, 
theils  übelthätig.     Die  guten  Dämonen  sind  die  Urheber  alles 
Guten   und   Nützlichen,    die  bösen    alles   Widerwärtigen   und 
Unheilvollen  für  den  Menschen.  ft     Letztere   erfreuen  sich  an 
den  Festen,  wo  Schläge,  Geiselungen,  schmuzige  Reden  vor- 
kommen, besonders  an  Unglückstagen.     Er  scheint  auch  die 
Menschenseele    für    dämonisch    betrachtet   zu    haben.      „Eu- 
dämonie"  sagt  er,  „kommt  dem  zu,  der  eine  gute  Seele  hat, 

1  Petersen,  Hausgottesdienst  der  alten  Griechen,  S.  55. 

2  V.  65.  151.  540. 

3  Legg.,  10. 

*  Stob.,  1,  1;  Plut.  de  ls.  et  Os.,  c.  25  fg. 
5  Plut.  de  ls.,  1,  1,  adv.  Stoic,  c.  22. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     139 

Kakodämon  ist  derjenige,   welcher  eine   bösartige  als  Dämon 
in  sich  hat."  l 

Schon  Piaton   hatte  mythisch-mystische  Elemente  in  die 
Philosophie  aufgenommen,  um  durch  deren  Symbolisirung  eine 
Philosophie  der  Mythologie  darzustellen.    Den  Neuplatonikern 
dienten  Mythus    und   Mysterium   als   Ergänzung  ihrer  Philo- 
sophie, um  die  hellenische  Weltanschauung  aus  den  sinnlichen 
Vorstellungen  zum  Begriffe  zu  erheben,   wobei  aber  das  My- 
stische das  Uebergewicht  gewann.     Nach   dem  Vorgange  des 
platonischen  Dualismus  von  Gott  und  Hyle,  betrachteten  alle 
Neuplatoniker  das  leibliche,  sinnliche  Wesen  als  das  Nichtige, 
Böse;   die  Materie,    das    absolut  Willenlose,   war   der   Grund 
aller   sittlichen  Verkehrtheit,    obschon    keine   positive    Macht, 
wie  kein  Neuplatoniker  ein  eigentliches   böses  Urprincip  auf- 
stellt.    Bei   allen    findet  sich  neben   der  Vielgötterei  die  Dä- 
monlehre.    Philo,    der    für    den    ältesten    und    bedeutendsten 
Vorläufer  der  Neuplatoniker  gilt,    ist   an  einer  andern  Stelle 
berücksichtigt.     Plotinus  (geb.  205  n.  Chr.,  gest.  270)  spricht 
zwar  viel  von  Göttern  und  Dämonen,  fasst  sie  aber  viel  geisti- 
ger auf  als  die  spätem  Platoniker,  die  ihn  mis verstanden  ha- 
ben.   Die  Seelen  von  Dämonen  hält  er  für  höher  und  stärker 
als   die  Menschenseelen,  sie  sind  mit  grosser  Macht   begabt 
und  verwalten  gleichsam  im  Auftrage  der  Allseele  die  einzel- 
nen Theile  des  All.  2     Wenn  sie  zuweilen   unsere  Gebete  hö- 
ren,   so   ist    diese    Erhörung    nicht    Folge    unsers  Einflusses, 
sondern    der    grossen   Weltsympathie,    denn    nichts   geschieht 
gegen  die  Natur.  3     Die  Menschenseele,   ein   Bild   des   Welt- 
ganzen, ist  nicht  ganz  in  den  Körper  eingegangen,   sie  hängt 
noch  an  der  Allseele.  4    Auch  die  Dämonen,  die  gleichen  We- 
sens  mit  den  Menschen  sind,    hangen    mit  ihrem   Wesen   an 
Gott.  5    Porphyrius,  der  seinen  phönizischen  Namen  Malchus 
mit  dem  griechischen  vertauscht   hatte  (233 — 304),    vermochte 
nicht  überall   die   speculativen   Gedanken   seines  Lehrers  Plo- 
tinus  festzuhalten  und  verlor  sich  in  das   Gebiet  der  Magie 
und  der  orientalischen  Theologie.    Er  spricht  von  Engeln  und 


1  Aristot.,  Top.,  2,  6;  Clem.  Alex.,  Strom.,  II;  Stob.,  Serm.,  101,  24. 

2  V,  3,  6. 

3  IV,  4,  42;    7,  26. 

4  IV,  8,  8;   9,  4. 

8  Vgl.  Steinhart,  Art.  Plotinus  in  Pauly,  Realencyklopädie. 


140  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Erzengeln,  weist  erstem  den  Wohnsitz   im   Empyreum  an,   er 
weiss  von  Dämonen,   die   in   der  Lnft  wohnen1,   theilt  sie  in 
irdische    und   feurige,    und    redet   von    bösen    und   strafenden 
Dämonen.     Er    anerkannte    Zauberei    und    Beschwörung    von 
Dämonen,  sowie  schädliche  magische  Einwirkungen  der  Men- 
schen durch  theurgische  Künste.2     Jamblichus   (gest.  um  330 
— 333)  betonte  ganz  entschieden  das   orientalische  und  theur- 
gisch-mystische  Element  in  seiner  Lehre,  die  er  für  Platonis- 
raus  ausgab  und  durch  Aneignung  chaldäischer  und  ägyptischer 
Mythen  und  Philosopheme  im   Orient  herrschend   zu   machen 
und  zugleich  dem  Christenthum  entgegenzuarbeiten  suchte.    In 
einer  Schrift,  deren  Abfassung  ihm  zuerkannt,  aber  in  neuerer 
Zeit    angezweifelt  wurde:    „Ueber    die    ägyptischen    Geheim- 
nisse",  stellt  er   die  ägyptische  Geheimlehre    als  den   Gipfel- 
punkt  aller  Weisheit   dar.     Hier  kennt   er   eine   lange    Reihe 
von  Dämonen,  Engeln,  Erzengeln,  er  setzt  die  Merkmale  aus- 
einander,  an  welchen   die  Erscheinungen    der   Götter,    Engel 
und  Dämonen  unterschieden  werden  3,  er  kennt  die  besondern 
Wirkungen  der  guten  und  bösen  Dämonen,   deren  bestimmte 
Eigenschaften.  4     Die    meisten  der  Verehrer   und  Schüler  des 
Jamblichus  scheinen  weniger  seine  wissenschaftliche  Bedeutung 
als  den  damals  herrschenden  Glauben  an  magische  Wirkungen 
und    die    Dämonologie,    der    er    eine    philosophische    Grund- 
lage   geben  wollte,    ergriffen    und  verbreitet  zu   haben.     Die 
Lehre    von    den    Dämonen    erhielt    sonach    eine    grosse   Aus- 
bildung:, man  suchte  das  Geisterreich  wie  das  Naturreich  ein- 
zutheilen,  mehrere  Klassen  nach  dem  Element,  worin  sie  leb- 
ten, nach  ihrer  Natur  und  ihrem  Wirkungskreise  festzustellen. 
Das  Mystische  gewann  um  so   mehr  Werth,   als   es   geeignet 
war,    den  Berührungspunkt  abzugeben  für   orientalische  Vor- 
stellungen und  griechische  Ideen.    Obschon  die  Haupttendenz 
der   spätem  Platoniker    auf   das   Uebersinnliche ,    Begriffliche 
gerichtet  war,   war   sie  doch  von   dem  Hang  begleitet,   Vor- 
stellungen  zu  hypostasiren  und    die   Natur    zu   personificiren. 
Die  Neigung  sowol  als  die  Empfänglichkeit  dafür  lag  in  der 


1  Augustin,  De  civit.  D.,  X,  9. 

2  Augustin,  I,  1. 

5  De  myster.  Aegyp.,  II,  c.  3,  4. 
*  C.  6,  9. 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     141 

Zeit,  in  welcher  sich  die  morgenländische  Denkart  mit   der 
abendländischen  zu  vereinigen  suchte. 


Römer. 

Die  Grundlage  des  römischen  Götterglaubens  war,  wie 
die  des  griechischen,  ursprünglich  Naturreligion;  es  muss  sich 
aber  jener  Stamm  durch  eine  eigentümliche  Gemüthsrichtung 
besondert  haben,  sowie  auch  die  Factoren  bei  seiner  Ent- 
wickelung  andere  gewesen  sein  müssen,  weil  sich  der  wesent- 
liche Inhalt  der  römischen  religiösen  Vorstellungen  von  dem 
der  griechischen  als  verschieden  kennzeichnet.  Während  die 
frische  Sinnlichkeit  und  plastische  Phantasie  der  Griechen 
eine  Götterwelt  voll  schöner  Individualitäten  anschaut,  be- 
steht das  Wesen  des  religiösen  Bewusstseins  der  Römer  in 
Abstraction  und  Personificirung  der  Abstracta.  Ein  Beispiel 
des  Abstractions  -  und  Personificationstriebs  der  Kömer  liefert 
Mommsen  *,  wo  der  infolge  der  Einführung  des  Silbercourants 
im  Jahre  485  neuentstandene  Gott  „Silberich"  (Argentinus) 
als  Sohn  des  altern  Gottes  „Kupferich"  (Aesculanus)  gedacht 
wird.  Ein  anderes  Beispiel  haben  wir  an  den  Dieben,  d.  h. 
den  im  Dunkel  Schleichenden  (Fures,  auch  Caverniones  ge- 
nannt), die  in  Rom  eine  eigene  Schutzgottheit  abstrahirten, 
die  Laverna,  nach  welcher  ein  Thor  den  Namen  Porta  Laver- 
nalis  führte,  wobei  Laverna  augenscheinlich  mit  Laren  und 
Larven  zusammenhängt  und  ihr  die  Bedeutung:  Göttin  des 
Schweigens  und  der  Verborgenheit  zutheil  wird.  Alle  wich- 
tigen Begriffe  aus  dem  physischen,  ethischen  und  socialen 
Leben  wurden  von  den  römischen  Theologen  zu  Göttern  aus- 
geprägt und  in  die  Klassen  der  Götter  eingereiht,  um  ihre 
richtige  Anrufung  der  Menge  zu  weisen  (indigitare).  Vor- 
stellungen, als:  Blüte  (Flora) ,  Krieg  (Bellona),  Grenze  (Ter- 
minus), Jugend  (Juventus),  Wohlfahrt  (Salus),  Rechtschaffen- 
heit (Fides),  Eintracht  (Concordia)  u.  dgl.  m.,  rechnete  man 
zu  den  heiligsten  Gottheiten,  die  Intelligenz  ward  als  Mens 
verehrt,  eine  ganze  Reihe  von  Affecten,  Eigenschaften,  Zu- 
ständen wurden  vergöttert,  wie  Spes  die  Hoffnung,  Pudicitia 
die  Schamhaftigkeit,  Pietas  die  kindliche   Ehrfurcht,    Virtus 


1  Rom.  Geschichte,  I,  408. 


142  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

die  Tapferkeit,  Liberias  die  Freiheit,  Honor  die  Ehre,  Pax 
der  Friede,  u.  s.  f.  Die  mythologische  Abstractionsfertigkeit 
der  Römer  machte  Robigo  oder  Robigus  zu  einer  Gottheit, 
die,  als  Urheberin  des  Sonnenbrandes,  der  die  Fruchtfelder 
verheerte,  bei  land wirtschaftlicher  Calamität  um  Hülfe  an- 
gerufen wurde.  *  Das  Fieber,  Febris,  in  dem  feuchten  Tiber- 
thale  von  jeher  hausend,  hatte  als  personificirte  Gottheit  dieser 
Krankheit  drei  Heiligthümer ,  wovon  das  bedeutendste  auf 
dem  Palatinus  stand.  2 

Der  Römer  betrachtet  Natur  und  Leben  nur  von  der 
Seite  des  Nützlichen,  Zweckmässigen,  alles  wird  zum  Besten 
des  Gemeinwesens  ausgebeutet  und  in  Beziehung  darauf  als 
Anlass  zu  Opfern,  Weissagungen  und  Anrufungen  genommen. 
Die  Griechen  waren  künstlerisch  angelegt,  sie  gestalteten  ihr 
Leben  auch  so,  ihr  Gebiet  war  die  Kunst;  bei  den  Römern 
war  alles  auf  Nützlichkeit  und  Zweckmässigkeit  gestellt,  ihre 
Religion  hatte  nur  das  Praktische  im  Auge,  ihr  Lebensgebiet 
war  das  Reich  und  das  Recht.  Schon  die  Etrusker  waren 
auf  die  Entwickelung  der  Römer  von  Einfluss,  was  mit  der 
Verpflanzung  des  etruskischen  Gottesdienstes  nach  Rom  durch 
die  Tarquinier  angedeutet  ist;  von  weit  grösserm  Einfluss  war 
aber  die  griechische  Bildung,  deren  fruchtbares  Reis  auch  von 
den  Tarquiniern  durch  Einführung  der  Sibyllinischen  Sprüche 
aus  dem  griechischen  Kumä  in  den  römischen  Boden  einge- 
senkt wurde.  Die  Römer  waren  die  Erben  der  griechischen 
Cultur,  und  nachdem,  seit  dem  zweiten  Punischen  Kriege,  neben 
den  griechischen  Göttern  auch  syrische,  ägyptische,  kleinasia- 
tische Elemente  nach  Rom  gekommen,  ward  die  römische 
Religion  zu  einem  Pandämonismus. 

Die  Seele  des  Römerthums  war  Weltherrschaft,  die 
Idee  der  ewigen  Roma,  die  Religion  war  Religion  des 
Staats,  mit  dessen  Ausbreitung  alles,  bis  auf  den  Kalender 
herab,  das  Gepräge  der  Staatsreligion  erhielt.  Die  ursprüng- 
liche Grundlage  als  Naturreligion  bleibt  zwar  stets  kenntlich, 
obschon  sie  der  nüchterne  Sinn  der  Römer,  der  die  Töchter 
des  Hauses  numerirte,  durch  die  praktischen  Beziehungen 
des  bürgerlichen  Lebens  mehr  verdeckte. 

»  Gell.  N.  A.,  V,  12;  Plin.  bist,  nat.,  XVIII,  29.  69. 

2  Cic.  de  nat.  deor.,  III,  25.  63;  Val.  Max.,  II,  5.  6;   Plin.  h.  n.,  II, 

7.  5. 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     143 

Wie  in  allen  Naturreligionen  ein  Dualismus  auftritt,  sei 
es  im  feindlichen  Gegeneinander,  im  ergänzenden  Neben- 
einander, oder  im  Ineinander  beider  Momente  in  ein  und  dem- 
selben göttlichen  Individuum;  so  findet  sich  auch  bei  den  alten 
italischen  Gottheiten  eine  geschlechtliche  Zweiheit,  die  in 
den  altern  römischen  Gebeten  paarweise  und  ehelich  verbun- 
den erscheint,  wie:  Lua  Saturni,  Satalia  Neptuni,  Hora 
Quirini,  Mäia  Volcani,  Nerio  Martis.  1  Da  diese  Ehen  meist 
kinderlos  dargestellt  werden,  so  sind  die  italischen  Götter 
der  patriarchalischen  Vorstellung  gemäss  gewöhnlich  als  Va- 
ter und  Mutter  gedacht.  Daher  Pater  in  der  Zusammen- 
setzung wie  in  Jupiter,  Marspiter,  Diespiter,  oder  meist  als 
Zusatz,  wie:  Saturnus  pater,  Neptunus  pater,  Diva  mater  vor- 
kommt. 

Die  italische  Mythologie  hat  zwar  vorzugsweise  wohl- 
thuende,  ihrer  Erscheinung  nach  lichte  und  freundliche  We- 
sen; sie  kennt  aber  doch,  nach  dem  verschiedenen  Eindruck 
der  Natur  auf  das  Gemüth,  auch  finstere  und  unholde  Götter 
von  schrecklicher  Gestalt,  Götter  der  Tiefe,  des  Todes,  Dii 
aquili,  fusci,  atri,  deren  Cultus  grausam  und  trübselig  war.2 
Auch  die  Genien  unterscheiden  sich  in  lichte,  freundliche, 
gute,  und  dunkle,  feindliche,  böse.  Der  Glaube  an  zwei  Ge- 
nien für  jeden  Menschen,  der  zuerst  von  dem  Megariker 
Euklides  ausgesprochen  wird,  fand  bei  einigen  römischen 
Schriftstellern  Aufnahme.  3 

Die  Naturbeziehung  auf  den  Himmel  und  seine  Erschei- 
nungen ist  den  himmlischen  Göttern  eigen.  Jupiter  weist 
durch  die  erste  Sylbe  Ju  oder  Jov,  die  in  der  altern  Sprache 
als  Diovis,  Jovis  hervortritt  und  in  dem  indischen  djaus,  d.  h. 
Himmel,  im  Griechischen  Zsu£,  wo  £  aus  dj  entstanden,  sich 
erkennen  lässt,  auf  ein  Erbtheil  des  indogermanischen  Sprach- 
stammes und  mythologischen  Systems  hin.  Er  bedeutet  den 
lichten  Himmel,  die  Tageshelle.  In  Jupiter  erkannten  die 
alten  Völker  Italiens  einen  guten  Vater  des  Himmels,  des 
Lichts,  den  höchsten  Gott  aller  himmlischen  und  irdischen 
Natur.     Er  ist  der  Gott  der  lichten  Erscheinungen   am  Him- 


i  Gellius,  N.  A.,  XIII,  23. 

2  Augustin,  De  civ.  D.,  II,  11. 

3  Serv.,  V.  A.,  VI,  743. 


144  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

mel,  auch  des  Wetterstrahls  und  des  Gewitters,  Jupiter  ful- 
gurator,  fulminator.  Bekannt  ist  die  Blitztheorie,  die  aus  den 
Beobachtungen  der  etrurischen  Priester  herausgebildet,  durch 
die  Haruspices  in  Rom  ausgeübt  wurde,  da  die  Blitze  als 
Offenbarungen  des  göttlichen  Willens  galten.  Jupiter  war 
auch  Regengott,  Jupiter  pluvius,  als  solcher  vornehmlich  auf 
dem  Lande  verehrt.  Von  Jupiter  hing  die  Entscheidung  der 
Schlacht  ab,  J.  Stator  und  Feretrius,  und  war  Gott  des  Sieges. 
Nach  seiner  ethischen  Bedeutung  personificirt  sich  in  ihm  die 
Idee  des  Rechts  und  der  Treue,  J.  Fidius,  sowie  die 
höchste  Reinheit  und  Heiligkeit.  Im  Verlaufe  der  Zeit, 
wo  das  politische  Moment  das  Uebergewicht  erlangt,  wird 
Jupiter  optimus  maximus  auf  dem  Capitole  als  Rex,  als  ideales 
Oberhaupt  des  Staats  verehrt. 

Vejovis  (Vediovis,  Vedius),  in  dem  schon  durch  das 
aufhebende  Präfixum  etwas  Schädliches  angedeutet  wird,  ist 
ursprünglich  ein  Gott  von  schlimmer,  schädlicher  Wirksam- 
keit und  insofern  das  Gegentheil  von  Jovis,  als  ve  contra- 
dictorisch  negirt.  Das  Verderbliche  seiner  Blitze  empfanden 
diejenigen,  die  sie  treffen  sollten,  vorher  an  der  Taubheit.  1 
In  seinem  Tempel,  zwischen  der  Tarpejischen  Burg  und  dem 
Capitol,  stand  sein  jugendliches  Bild  mit  Pfeilen  bewaffnet, 
wobei  römische  Alterthümler  an  den  verderbenden  Apollon 
erinnerten.  Dass  dieser  altitalische  Gott  ursprünglich  böser 
Bedeutung  gewesen,  bestätigt  sich  dadurch,  dass  er  auch  den 
unterirdischen  Gottheiten  beigezählt,  ja  in  den  spätem  Zeiten 
mit  dem  Todesgotte  sogar  identificirt  erscheint  2,  weil  er  eben 
für  übelthätig  gehalten  wurde.  Auf  der  Tiberinsel  kommt 
im  Cultus  des  Vejovis  der  Name  abwechselnd  vor,  daher  die 
Vermuthung  naheliegt,  es  seien  in  diesem  Cultus  beide  Götter 
nebeneinander  verehrt  worden.  3  Auf  die  ursprünglich  schäd- 
liche Bedeutung  kann  auch  die  Ziege  bezogen  werden,  sein 
gewöhnliches  Opfer,  more  humano,  als  stellvertretendes  Sühn- 
opfer dargebracht 4,  das  ursprünglich  in  einem  Menschen- 
opfer bestanden  haben  mochte.     Für  die  verderbliche  Bedeu- 


1  Ammian.  Marc,  XVII,  10. 

J  Martian.  C,    I,  58;    II,  142.  1GG. 

3  Preller,  Rom.  Mythologie,  237. 

4  Gell.,  V,  12. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     145 

tung  dieser  Gottheit  spricht  ferner,  dass  man  tödtende  Blitze 
insbesondere  dem  Vejovis  zuschrieb  *,  sowie  die  herrschende 
Meinung,  dass  ihm,  gleich  den  Göttern  der  Unterwelt,  die 
Abendseite  eigne.  2  Eine  Spur  seiner  negativen  Wirksamkeit 
liegt  auch  darin,  dass  Vejovis  als  Gott  der  Sühne  zugleich 
ein  Gott  der  Zuflucht  ausgestossener  Verbrecher  war,  obschon 
er  in  dieser  Hinsicht  auch  die  positive  Seite  an  sich  trägt, 
demnach  beide  Bedeutungen  verschmelzen,  ja  die  letztere  so- 
gar überhandnimmt.  An  dem  jugendlichen  Jupiter,  der 
zugleich  Sonnengott  war  und  als  solcher  besonders  im 
Frühling,  wo  Epidemien  herrschten,  verehrt  wurde,  ist 
aber  doch  die  schädliche  Seite  der  Berührungspunkt,  und 
somit  bleibt  Vejovis  seiner  ersten  Geltung  nach  eine  schäd- 
lich wirkende  Gottheit,  und  erst,  als  bei  weiterer  Entwicke- 
lung  diese  Bedeutung  mehr  zurückgetreten  war,  konnte  Ve- 
jovis als  Gott  der  Sühne  und  der  Heilung  angeschaut  werden. 

Das  Seitenstück  zu  Jupiter  ist  Juno,  Jovino,  das  Weib- 
liche von  Jovis,  die  weibliche  Macht  des  Himmels,  des  himm- 
lischen Lichts,  des  neuerscheinenden  Mondes,  neben  Jupiter 
Rex  als  Regina  verehrt.  In  Italien  ist  sie  wesentlich  die  weib- 
liche Natur  überhaupt.  Als  Sospita  ist  sie,  nach  römischen 
Münzen,  eine  wehrhafte  Göttin  und  schleudert  wie  Jupiter 
Blitze.  3  Sie  ist  aber  auch  Mater,  Muttergöttin  der  weiblichen 
Natur,  der  Ehe,  Entbindung,  der  Kinderzucht,  nicht  zu  er- 
wähnen der  übrigen  verschiedenen  Beziehungen,  die  sie  dar- 
stellt. 

Einer  der  ältesten,  volksthümlichsten  Götter  Italiens  ist 
Faunus,  wie  schon  sein  echt  italischer  Name  zeigt:  der  Gute, 
Holde,  von  faveo.  Er  ist  ein  guter  Geist  der  Triften,  Berge, 
Fluren,  Befruchter  von  Acker,  Vieh  und  Menschen,  Stifter 
frommer  Sitte,  Urheber  vieler  alter  Geschlechter.  Faunus 
wird  oft  in  der  Mehrzahl  gedacht,  und  der  Glaube  an  diese 
guten  Geister,  die  auf  dem  Felde  und  im  Walde  hausen, 
war  im  Volke  so  tief  eingewurzelt,  dass  es  sie  oft  im  Freien 
zu  sehen  wähnte.  Faunus  als  Collectivbegriff'  gilt  für  das 
Geschlecht  der  Faune,   die    man  umherschleichend  dachte,   in 


1  Aramian.  Marc.,  XVII,  10. 

2  Vgl.  0.  Müller,  Etrusk.,  2.  Abtheil.,  140. 

3  Virg.  Aen.,  I,  42;  Liv.,  XXXII,  1. 

Eoskoff,    Geschichte  des   Teufels.    I.  IQ 


24G  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Begleitung  von  Hunden,  den  feinen  "Witterern ,  oft  einen  Ruf 
erschallen  lassend,  wodurch  die  Heerden  erschreckt  in  wilde 
Flucht  gejagt  werden.  Dies  deutet  schon  auf  das  dämonische 
Wesen  der  Faune,  denen  überdies  noch  verschiedene  Neckereien 
im  Schlafe  zugeschrieben  werden,  sodass  sie  zu  förmlichen 
Plasre£reistern  sich  umwandeln.  Die  Lüsternheit  der  Faune 
hat  es  vornehmlich  auf  das  weibliche  Geschlecht  abgesehen, 
das  sie  gern  im  Bette  beschleichen ,  wo  sie  dann  im  Volks- 
munde Incubi  heissen. 

Nicht  nur  der  geschlechtliche  Dualismus  findet  sich  bei 
den  römischen  Gottheiten,  wonach  sie  als  männliche  und  weib- 
liche auftreten,  sodass  einer  Tellus  ein  Tellumo,  dem  Sa- 
turnus  die  Ops  u.  s.  f.  entspricht,  wie  der  Erde  eine  zeugende 
und  empfangende  Kraft  zuerkannt  wird;  auch  die  Zweiheit, 
im  Sinne  des  Gegensatzes  von  wohl-  und  übelthätig,  erscheint 
sowol  in  getrennten  Gestalten  als  auch  in  ein  und  demselben 
Wesen,  das  bald  die  eine,  bald  die  andere  Seite  herauskehrt, 
wie  bereits  früher  berührt  wurde.  Schon  in  der  ältesten  Pe- 
riode findet  sich  der  römische  Glaube  an  eine  Menge  dämo- 
nischer Mächte,  und  der  praktische  Sinn  der  Römer  schuf 
für  die  günstigen  oder  ungünstigen  Fügungen  ein  ganzes  Re- 
gister von  Wesen,  die  unter  der  Rubrik  Fortuna,  Fors  u.  s.  w. 
die  ins  Leben  eingreifenden  Beziehungen  repräsentirten.  Plutarch 
in  seiner  bekannten  Schrift :  „Vom  Glauben  der  Römer",  führt 
eine  Sammlung  von  Beinamen  auf,  mit  welchen  die  Göttin 
Fortuna  von  Rom,  die  Fortuna  publica  oder  Fortuna  populi 
Romani,  erwähnt  wird,  gegenüber  der  Fortuna  privata,  der 
Glücksgöttin  des  Familienlebens,  abgesehen  von  den  Fortunen, 
die  als  individuelle  Schutzgöttinnen  oder  als  die  von  Körper- 
schaften, von  Gebäuden  u.  s.  w.  ins  Endlose  sich  zersplittern. 
Indem  sich  Fortuna  erhörend  oder  versagend  erweist,  erhält 
sie  die  Bedeutung  einer  guten  oder  schlimmen  Gottheit. 

Dass  der  Dualismus  von  guten  und  bösen  Wesen  bei 
den  Römern  vorhanden  war,  würde  schon  dadurch  zur  Ge- 
wissheit erhoben,  dass  sie  an  letztere  glaubten  und  daher  eine 
Mehrzahl  davon  annahmen.  Bekannt  sind  die  Strigen,  vor 
denen  sich  nicht  nur  die  Italer,  sondern  auch  die  Griechen 
fürchteten.  Unter  garstiger  Gestalt,  mit  grossem  Kopf,  star- 
renden Augen,  mit  dem  Schnabel  eines  Raubvogels  und  schar- 
fen Krallen   kommen  sie  des   Nachts,    um  den   Kindern  das 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alierthums.     147 

Blut  zu  entsaugen,  das  Mark  zu  verzehren,  die  Eingeweide 
zu  fressen  und  dann  durch  die  Luft  zu  rauschen.  Zur  Ab- 
wehr dieser  verderblichen  Scheusale  war  Carna  oder  Cardia, 
die  Schutzgöttin  aller  Thürangeln,  alles  Ein-  und  Ausgangs. 
Durch  einen  Weissdorn,  dem  auch  Asien  und  Griechenland 
eine  wohlthätige  Wirkung  gegen  dämonische  Einflüsse  zu- 
schrieb, daher  er  bei  Geburten  oder  Leichenbegängnissen  an 
die  Thüre  geheftet  oder  vor  dem  Eingange  verbrannt  wurde, 
sollte  diese  Schutzgöttin  das  Haus  sicherstellen. 

Bei  den  Etruskern  erscheint  der  furchtbare  Todesgott 
Mantus,  entsprechend  dem  römischen  Orcus,  der  aber  bei 
jenen  gewöhnlich  mit  .  dem  griechischen  Namen  Charun  be- 
zeichnet wurde,  nachdem  ersterer  zur  Schreckengestalt  des  Todes 
überhaupt  geworden  war.  Er  ist  der  Gott  des  gewaltsamen 
Todes,  der  alle  Bande  der  Liebe  zerreisst,  weder  Jugend  noch 
Schönheit  verschont,  unter  grauenhafter  Gestalt  mit  seinem 
wuchtigen  Hammer  oder  Schwerte  alles  gewaltsam  nieder- 
schlägt. Er  erscheint  auch  als  einer  der  höllischen  Dämonen 
der  Unterwelt,  und  die  etruskischen  Sculpturen  der  Todten- 
kasten  und  Grabgemälde  zeigen  noch  verschiedene  andere, 
sowol  männliche  als  weibliche  Genien  des  Todes,  bald  in 
freundlicher,  lichter,  bald  in  finsterer,  greulicher  Gestalt.  Mit 
Mantus  verwandt  und  gleich  schrecklich  an  Gestalt  erscheint 
den  alten  Italern  Mania1  als  furchtbare  Göttin,  der  man 
unter  Tarquinius  dem  Stolzen  in  Rom  die  Compitalien  feierte 
und  dabei  auch  Knaben  geopfert  haben  soll,  um  durch  ihre 
Sühnung  das  Wohl  der  Hausgenossen  zu  wahren. 2  Das 
Fest  der  Compitalien,  der  Mania  mit  den  Gottheiten  der 
Kreuzwege  (ubi  viae  competunt)  gemeinsam  geweiht,  soll  nach 
der  Vertreibung  des  Tarquinius  durch  einen  Orakelspruch 
Apollon1s  dahin  abgeändert  worden  sein,  dass  man  Knoblauch 
und  Mohnköpfe  opferte  und  die  Bilder  der  Mania  an  den 
Thüren  aufhängte,  wo  sie  als  Dea  avertens  die  Familie  vor 
Gefahren  beschützen  sollte.  Später  ward  Mania  zum  Schreck- 
gespenst, womit  man  schlimme  Kinder  bedrohte.  Mania  heisst 
auch  die  Mutter  oder  Grossmutter  der  Laren,  zu  welchen, 
nach  dem  spätem  Volksglauben,  gute  Menschen  wurden,  wo- 


1  Vgl.  0.  Müller,  Etrusk.,  III,  4,  11,  S.  101. 
-  Macrob.  Sat.,  I,  7. 

10 


148  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismas. 

gegen  böse  zu  Larven  und  Manien1,  in  der  Luft  umher- 
schweifende Gespenster,  sich  verwandelten,  als  deren  Mutter 
auch  die  Mania  genannt  wird.  Die  Vorstellung  von  den 
Larven  bildete  der  Volksglaube  immer  mehr  aus,  sie  galten 
als  absonderlich  scheussliche  Plagegeister,  die  als  abgezehrte 
Gestalten  oder  Gerippe  die  Lebenden  in  Wahnsinn  versetzten 
und  die  Verstorbenen  auch  in  der  Unterwelt  ängstigten. 2 
Der  Mania  verwandte  finstere  Göttinnen  waren  die  Furinae 
oder  Furrinae,  die  früher  angesehene  Cultusgöttinnen  gewesen, 
später  aber  verschollen  sein  sollen.  Cicero  vergleicht  sie  mit  den 
Furien,  deren  Name  allerdings  mit  demselben  Stamme  „fus" 
zusammenhängt,  wonach  sie  „die  dunkeln,  finstern"  bedeuten 
würden.  3  Den  Larven  und  Manien  verwandte  Spukgeister 
sind  auch  die  Lemuren,  die  von  einigen4  für  Geister  der 
Verstorbenen  gehalten  werden,  während  Augustinus  sie  den 
Larven  gleichsetzt,  wofür  sie  auch  im  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauche galten.  Auch  die  Lemures  schweifen  nächtlich 
umher,  um  die  Menschen  zu  necken  und  zu  quälen.  5  Sie  zu 
sühnen  und  das  Haus  zu  reinigen,  wurden  in  den  Nächten  des 
neunten,  elften  und  dreizehnten  Mai  gewisse  Ceremonien  voll- 
führt ,  die  Ovid  ausführlich  beschreibt.  6 

Germanen. 

Dank  der  Wissenschaft  ist  sowol  die  nahe  Verwandtschaft 
der  Sprache  als  auch  die  Gemeinschaftlichkeit  der  religiösen 
Anschauungen  der  Deutschen  und  Skandinavier  nachgewiesen, 
es  ist  klar  dargethan,  dass  die  Religionen  beider  in  ein  und 
demselben  Grundgedanken  wurzeln  und  selbst  bei  späterer 
Entwickelung,  ungeachtet  mancher  Abweichungen,  irr.  wesent- 
lichen übereingestimmt  bleiben.  Die  Sprache,  der  idealistische 
Zug  in  der  Weltanschauung,  die  Religion  leiten  auf  die  arische 
Urheimat  zurück,  und  dies  genügt,  die  physikalische  Grund- 


1  Augustin.  de  civ.  D.  IX,  11. 

2  Senec,  Ep.,  24;  Ammian.  Marc,  XXXI,  1,  3. 

3  Cic.  de  nat.  deor.,  III,  18,  46. 

1  Nach  Appul.  de  deo   Socrat.,   p.  237  ed.  Bip.;    vgl.  Seiv.   zu  Yirg. 
Aen.,  III,  63,  a.  a.  0. 

5  Horat.  Ep.,  II,  2,  209. 

6  Fast.,  V,  419  fg. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  149 

läge  der  religiösen  Anschauung  aller  germanischen  Stämme, 
den  Lichtbegriff  anzunehmen.  Es  liegt  im  Wesen  der  Natur- 
religion überhaupt,  sich  dualistisch  auszudrücken,  und  so  muss 
der  Begriff  des  Lichts  nothwendig  sein  Correlat,  den  der 
Dunkelheit,  hervorrufen,  daher  auch  die  ursprüngliche  religiöse 
Anschauung  der  Germanen  vom  Dualismus  nicht  frei  geblieben 
ist,  wenn  auch  keine  durchgreifende  Zertheilung  der  Götter- 
gestalten in  zwei  feindliche  Lager,  wie  im  Parsismus,  sich 
herausgebildet  hat.  l  Treffend  ist  daher  die  Bemerkung 
RückertVz,  dass  Cäsar' s  Reihe  der  deutschen  Götter  sich  schon 
dadurch  als  unvollständig  erweise,  „dass  der  Begriff  des  be- 
lebenden Lichts  und  der  segnenden  Wärme  mit  unabweisbarer 
Notwendigkeit  den  der  ertödtenden  Finsterniss  und  zer- 
störenden,  feindseligen  Kälte  voraussetzt".  Es  zeigen  sich  die 
Gegensätze  von  Licht  und  Dunkel,  Hitze  und  Kälte,  die  sich 
in  der  Naturreligion  wie  Sonne  und  Mond  personificirt  dar- 
stellen. Die  Nacht  als  feindliche,  böse  Gewalt  ist  mit  dem 
gütigen  Wesen  des  Tags  im  Streite  und  erlangt  erst  die 
Oberhand,  wenn  der  Tag  seinen  Kampf  aufgegeben  hat. 
Sommer  und  Winter  stehen  in  persönlicher  Feindschaft,  Reif 
und  Schnee,  als  personificirtes  Gefolge  des  letztern,  künden 
dem  erstem  den  Krieg  an,  ihr  Kampf  wird  jährlich  erneut 
und  ist  in  weitverbreiteten  Volksfesten  dramatisch  dargestellt, 
ja  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  Liedern  und  Gebräuchen  als 
Erinnerung  aufbewahrt,  wie  z.  B.  im  Todaustragen,  wo  der 
Tod  an  die  Stelle  des  Winters  tritt.  3  Weil  es  im  Ent- 
wickelungsprocesse  des  menschlichen  Geistes  liegt,  dass  er  die 
wahrgenommene  Vielheit  der  Eindrücke,  durch  die  er  von 
aussen  angeregt  worden,  zur  Einheit  erhebe:  darum  muss  in 
den  Religionen  der  Culturvölker  das  Streben  nach  einem  ein- 
heitlichen  Gottesbegriff  sich  kundgeben,  zunächst  dadurch, 
dass  die  Vielheit  der  Gottheiten  in  Einem  göttlichen  Wesen 
gipfelt  und  jene  als  Ausfluss  aus  diesem  erscheint.  Es  ist 
gemüthsvolle  Pietät  gegen  die  Urahnen,  welche  die  religiösen 
Vorstellungen  der  Germanen  aus  Einem  geistigen  Urwesen 
ableiten  und  die  Einheit  des  Gottesbegriffs  zur  Voraussetzung 


1  Vgl.  Grimm,  D.  M.,  3.  Ausg.,  414,  936,  942  u.  a. 

2  Culturgeschichte  des  deutschen  Volks,  I,  62, 

3  Vgl.  Grimm,  713  fg. 


150  Erster  Abschnitt :    Der  religiöse  Dualismus. 

einer  spätem  polytheistischen  Zersplitterung  machen  will; 
allein  der  geschichtliche  Vorgang  zeigt  der  unbefangenen 
Beobachtung,  dass  der  sinnliche  Mensch  durch  geistige 
Operation  von  der  sinnlichen  Vielheit  zur  geistigen  Einheit 
gelangt,  es  wird  durch  die  erfahrungsmässige  Wahrnehmung 
bestätigt,  dass  nicht  nur  der  abstracte  Monotheismus  der 
Hebräer  in  seiner  Reinheit  erst  das  Resultat  der  ganzen  Ge- 
schichte dieses  Volks  gewesen,  dass  der  reine,  einheitliche 
Gottesbegriff  überhaupt  erst  das  Ergebniss  eines  vorher- 
gegangenen Entwickelungsprocesses  sein  kann. 

Allerdings  waren  die  alten  Germanen  so  angelegt,  däss 
sie  leichter  als  mancher  andere  Volksstamm  der  polytheistischen 
Anschauung,  die  von  Naturreligion  unzertrennlich  ist,  sich 
entwinden  konnten,  um  sich  den  Einheitsbegriffen  von  Einem 
göttlichen  Urwesen  zu  nähern.  Der  sinnige  Ernst,  welcher 
deutsche  Art  kennzeichnet,  verband  mit  sich  zugleich  ein  reges 
Einheitsstreben  auch  in  religiöser  Beziehung,  das  in  anderer 
Hinsicht,  besonders  in  der  germanischen  Vorstellung  vom 
Königthum  zu  Tage  tritt,  das  mit  dem,  der  germanischen 
Natur  tiefeingeprägten  Fidelitätsverhältniss  des  Dienstgefolgs 
gegen  den  Dienstherrn,  mit  der  Kampfeslust  und  Kampfes- 
treue für  und  mit  dem  angestammten  und  erwählten  Herrn1, 
im  engsten  Zusammenhang  steht  und,  auf  das  Christenthum 
übertragen,  die  so  oft  besprochene  „natürliche  Prädisposition" 
der  germanischen  Völker  für  jenes  im  wesentlichen  ausmacht. 
Darin  liegt  der  positive  Grund,  aus  dem  sich  im  allgemeinen 
die  Neigung  der  germanischen  Völker  zum  Christenthum 
erklären  lässt,  obschon  auch  negative  Momente  bei  der 
schnellen  Bekehrung  der  Germanen  mitgewirkt  haben,  so 
namentlich  das  haltlos  gewordene  germanische  Hddenthum 
selbst ,  dem  bei  seiner  Uebersctzung  auf  fremden  Boden, 
unter  dem  unsteten  Völkergedränge  der  damaligen  Zeit, 
die  nöthige  Ruhe  versagt  blieb ,  um  neue  Wurzel  zu 
schlagen.  Sollte  nicht  vielleicht  in  der  grauenhaften 
Ahnung  von  der  Endlichkeit  dieser  Weltordnung,  die 
den  germanischen  Glaubenskreis  hindurchzieht,  ein  sollici- 
tirendes  Moment  für  die  Gemüthsvertiefung  und  den  idea- 
listischen Sinn  der  Germanen,  als  Tendenz  nach  einheitlichem 


1  Kurtz,  Ilandb.  d.  allgem.  Kirchengesch.,  II,  1.  Abtheil.,  S.  15. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.   151 

geistigem  Gottesbegriff  sich  offenbarend,  zu  suchen  sein? 
Nicht  zu  vergessen  ist  ferner  die  glimpfliche  Weise,  in  der 
die  Gebräuche  des  Heidenvolks  von  den  Kirchenlehrern  oft 
geschont  wurden,  sodass  die  heilige  Scheu  und  die  Vor- 
stellungen aus  dem  heidnischen  Glaubenskreise  leicht  in  das 
Christenthum  übertragen  werden  konnten.  Grimm l  erwähnt  ein 
Beispiel  aus  dem  Beginne  des  7.  Jahrhunderts ,  wonach  in  der 
„schon  christlichen  Kirche"  die  alten  heidnischen  Götterbilder 
in  der  Wand  eingemauert  waren,  um  dem  Volk,  das  an  ihnen 
hing,  sich  gefällig  zu  bezeigen. 

Die  Einheitstendenz  innerhalb  der  religiösen  Anschauung 
der  Germanen  zeigt  sich  in  der  Vorstellung  von  einem  „All- 
vater" (Allfadur),  einem  göttlichen  Urwesen,  das  alle  deutschen 
Mundarten  mit  „Gott"  bezeichnen.  Diese  Erscheinung  findet 
ihre  Analogie  auch  in  andern  Naturreligionen,  wo  an  der 
Spitze  der  Vielheit  von  Gottheiten  Eine  zu  stehen  kommt,  in 
der  sich  die  zersplitterte  Bedeutung  mehr  oder  weniger  merk- 
bar zusammenfasst.  Aus  diesem  starken  Drange  nach  geistiger 
Einheit,  der  in  der  germanischen  Natur  ursprünglich  begründet 
ist,  erklärt  es  sich,  dass  der  Dualismus  innerhalb  des 
nordischen  und  germanischen  Glaubenskreises  nicht  bis  in  die 
feinsten  Adern  des  Organismus  sich  durchgebildet  hat  und 
das  wohlthätige,  gute  Princip  in  dem  Göttlichen  vorwaltet. 
Allein  der  Dualismus  schweigt  doch  nicht,  wie  selbst  Meister 
Grimm  zugesteht,  und  ausser  dem  berührten  Gegensatze  in 
den  Mythen  von  Tag  und  Nacht,  Sommer  und  Winter,  macht 
er  sich  in  der  Vorstellung  von  Licht-  und  Schwarzeiben  gel- 
tend. Es  ist  ein  Dualismus,  wie  ihn  auch  andere  mythologische 
Systeme  zwischen  freundlichen  und  feindlichen,  wohl-  und 
übelthätigen  Engeln  des  Lichts  und  der  Finsterniss,  himm- 
lischen und  höllischen  Geistern  aufstellen.  Obgleich  alle  Eiben 
klein  und  neckhaft  gedacht  werden,  so  erscheinen  doch  die 
lichten  wohlgebildet,  von  zierlicher  Schönheit,  in  leuchtendem 
Gewände  gegenüber  den  misgestalteten,  hässlichen  schwarzen, 
die  auch  mit  den  Zwergen  vermengt  werden.  2 

Es  handelt  sich  hier  um  keine  Darstellung  der  nordisch- 
germanischen   Mythologie,    vielmehr    nur  um  die   Andeutung 


1  S.  97. 

2  Grimm,  414  fg. 


152  Erster  Abschnitt :    Der  religiöse  Dualismus'. 

derjenigen  Züge,  die  den  Dualismus  bezeigen,  und  solcher, 
die  sich  an  die  Vorstellung  des  mittelalterlichen  Teufels  an- 
gesetzt und  damit  verwachsen  haben,  an  dessen  späterer  Ge- 
stalt und  seiner  Umgebung  noch  kenntlich  sind. 

Das  Streben  nach  Anerkennung  einer  höchsten  Macht, 
die  von  Einem  Wesen  getragen  wird,  findet  seinen  Ausdruck 
in  dem  höchsten  Gott  unserer  Vorfahren,  in  Wodan  (Wuodan, 
Woden,  Guodan,  nord.  Odhin),  dem  Alldurchdringenden, 
unter  dem  die  Welt  steht,  in  den  ältesten  Liedern  Allvater  ge- 
nannt, insofern  die  Macht  und  die  Eigenschaften,  die  auf 
verschiedene  Götter  vertheilt  sind,  in  ihm  zusammengefasst  ge- 
dacht werden.  Nach  Vergleichung  der  Göttertrilogien 1  liegt 
der  ältesten  gemäss  dem  Wodan  die  Luft  zu  Grunde,  und 
zwar  vom  leisesten  Wehen  bis  zum  tobenden  Sturm.  Nach 
der  unmittelbaren  Anschauung,  des  Alterthums,  welche  Geist 
und  Natur  nicht  scheidet,  waltet  Wodan  wie  im  Geiste  so 
in  der  Natur,  er  erregt  die  zarte  Empfindung  der  Dichter  und 
Liebenden,  aber  auch  die  wilde  Kampfeswuth.  Wie  die  Luft 
alles  durchdringt,  so  ist  Wodan  der  alldurchdringende  Geist 
der  Natur.  Nach  seiner  physikalischen  Bedeutung  ist  Wodan 
Sonnengott,  welche  Eigenschaft  dann  auf  Freyr  überging.2 
Als  Sonnengott  wird  Wodan  einäugig  vorgestellt,  die  Sonne 
ist  sein  Auge,  von  der  die  Erde  beleuchtet  und  befruchtet 
wird;  er  ist  auch  der  Himmel,  der  die  Erde  umfängt;  er  ist 
die  schaffende  und  bildende  Kraft ,  die  Menschen  und  Dingen 
Gestalt  und  Schönheit  verleiht,  von  der  auch  die  Dichtkunst 
ausgeht.  Denn  von  Wodan  geht  alles  aus  und  hängt  alles  ab, 
ihm  kommt  nach  der  ethischen  Bedeutung  die  Allwissenheit  zu, 
wonach  er  von  seinem  hohen  Sitze  alles  überschaut,  er  ist  der 
weltlenkende,  weise,  kunsterfahrene  Gott,  der  auch  Kriege 
und  Schlachten  ordnet,  den  Sieg  lenkt,  also  zugleich  Kriegs- 
gott ist.  Sonach  konnte  er  mit  dem  eigentlichen  Kriegsgott 
Ziu,  Tyr  verwechselt  und  neben  Mars  und  Mercurius  ge- 
stellt werden.  3  Da  von  Wodan  alles  Heil  ausgeht,  ist  er 
auch  Gott  des  Glücks,  des  Spiels  und  in  dieser  Beziehung 
Erfinder    des  Würfelspiels,     Als  Oski   (Wunsch)  gibt   er 


1  Vgl.  Simrock,  Handb.  d.  deutsch.  Mythol.,  837  fg. 

2  Simrock,  225. 

3  Grimm,  9l>,  108,  122. 


4.    Dualismus  in  den  Beligionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  153 

nicht  nur  den  Schiffern  günstigen  Wind,  sondern  ist  über- 
haupt der  Spender  erwünschter  Gaben  und  kann  im  Sinne 
des  Wunsches  Gott  der  Sehnsucht  und  Liebe  sein.1 
Als  Gangleri  und  Gangradr  ist  er  der  unermüdliche  Wanderer, 
der  in  unscheinbarer  Gestalt  die  Menschenwohnungen  besucht 
und  die  Gastfreundschaft  auf  die  Probe  stellt;  Yggr  bezeichnet 
ihn  als  den  schrecklichen  Gott,  Glapwidr  als  den  in  Listen 
Erfahrenen,  Bölwerke  und  Bölwisi  gar  als  den  Verfeinder  der 
Fürsten  und  Zankerreger  unter  Verwandten.  Als  kriegliebender 
Gott  konnte  er  schon  die  Bedeutung  des  Stifters  von  Zwist 
und  Feindschaft  erhalten,  da  Wuotans  Name  von  selbst  in 
den  Begriff  von  Wuth  und  Zorn  umschlägt  und  aus  dem 
Sinne,  den  das  Alterthum  mit  Wuotan  verband,  sich  die 
Abstractionen  von  Wout  (furor),  Wunsch,  (Ideal)  und  voma 
(impetus,  fragor)  ergaben,  sodass  der  anmuthverleihende  Gott 
zum  schrecklichen  Stürmer  werden  konnte.2 

Als  Odhin  trägt  er  auf  dem  Haupte  den  Goldhelm,  in 
der' Hand  den  Spiess  Gungnir,  reitet  auf  dem  achtbeinigen 
Wunderross  Sleipnir,  dem  Symbole  der  Allgegenwart.  Zu- 
weilen erscheint  er  als  schlichter  Wanderer  mit  tief  herab- 
gedrücktem breitem  Hute.  Gewöhnlich  trägt  er  einen  weiten 
blauen  Mantel  (das  Symbol  des  Wolkenhimmels),  und  so 
zieht  er  als  Hakulberand  vor  dem  wilden  Heere  einher.  In 
der  Haddingssage3  kommt  er  als  einäugiger  Greis  dem 
fliehenden  Hadding  zu  Hülfe,  stärkt  diesen  durch  einen  Trunk, 
fasst  ihn  dann  in  den  Mantel  und  führt  ihn  durch  die  Luft 
nach  der  Heimat. 

Wenn  Odhin  seinen  Hochsitz  einnimmt,  hat  er  auf  jeder 
Schulter  einen  Raben,  die  ihm  zuflüstern,  was  in  der  Zeit 
vorgeht.  Er  selbst  bedarf  keiner  Nahrung,  reicht  aber  das 
für  ihn  bestimmte  Fleisch  des  Ebers  den  Wölfen  zu  seinen 
Füssen,  die  zuweilen  auch  Hunde  heissen,  wie  noch  Hans 
Sachs  die  Wölfe  „unsers  Herrgotts  Jagdhunde"  nennt.  Der 
Wolf  gebührt  ihm  als  Kriegsgott.  Odhin  ähnlicht  dem 
Apollon  darin,  dass  von  ihm  Seuchen,   aber  auch  deren  Hei- 


i  Grimm,  XLII. 

2  Grimm,  131  fg. 

3  Bei  Saxo,  I,  12. 


154  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

lung  ausgehen,  „jede  schwere  Krankheit  ist  Gottes  Schlag, 
und  Apollons  Pfeile  senden  die  Pest".  ' 

Kraft  seiner  kriegerischen  Eigenschaften  kommen  die  ge- 
fallenen Helden,  die  er  durch  seine  Todtenwählerinnen 
(Walküren)  erhält,  zu  ihm.  An  ihn,  als  Luft-  und  Kriegsgott, 
knüpft  sich  auch  die  Sage  vom  wüthenden  Heer  und  der 
wilden  Jagd,  wobei  wol  an  den  Gewittersturm,  zunächst  zur 
Zeit  der  Aequinoctien,  zu  denken  ist.  Er  ist  der  Erfinder  der 
Runenlieder,  der  Poesie,  überhaupt  aller  Bildung,  und  da  man 
sich  der  Runen  zum  Losen,  Weissagen  und  Zaubern  bediente, 
deren  Gebrauch  mit  allen  priesterlichen  Weihen  zusammen- 
hing, sowie  Opfer,  Poesie,  Weissagung  und  Zauber  unter- 
einander verwandt  sind,  steht  er  mit  diesen  in  Beziehung. 

Aus  seiner  Umarmung  der  Erde  geht  sein  gewaltigster 
Sohn  Donar  (Thunar,  nord.  Thörr)  hervor,  der  seine  Mutter 
Erde  und  deren  Bebauer  beschützt,  die  Feinde  der  Götter 
und  Menschen  bekämpft.  Als  Gott  des  Donners,  der  den 
Blitz  schleudert,  sollte  Thörr  als  oberster  der  Götter  er- 
scheinen, seine  Mutter  Jördh,  die  grosse  Lebensmutter,  wird 
auch  die  Mutter  der  Götter  genannt.  In  Norwegen  heisst  er 
auch  schlechthin  der  As,  und  in  der  ersten  Christenzeit  galt 
an  Thörr  glauben  für  gleichbedeutend  mit  Heide  sein.  War 
er  also  einstens  der  oberste  Gott,  so  hat  er  diesen  Rang  dem 
Odhin  räumen  müssen. 

Thörr  schleudert  seine  Blitze  nur  gegen  die  Riesen  als 
Feinde  der  Götter  und  Menschen,  er  spaltet  ihnen  mit  seinem 
Hammer  das  Haupt,  d.  h.  er  erschliesst  das  unfruchtbare 
Land  dem  Anbau.  Weil  die  kalten  Winde  von  Osten  her 
kommen,  darum  ist  Thörr  immer  im  Kampfe  mit  den  Berg- 
riesen, stets  auf  der  Ostfahrt.  Wenn  Thörr  nicht  wäre,  sagt 
ein  nordisches  Sprichwort,  würden  die  Riesen  überhand- 
nehmen. 2  Als  Freund  der  Menschen  schützt  er  diese  gegen 
alle  dem  Landbau  schädlichen  Naturkräfte,  vor  Frost  und 
Sturm,  schickt  seine  Blitze  gegen  die  Dämonen  der  Gluthitze 
und  wehrt  die  verderblichen  Gewitter  ab.  Er  ist  auch  der 
Gott  der  Brücken,  die  den  Verkehr  der  Menschen  fördern, 
überhaupt  Gott  der  Cultur. 


1  Grimm,  136. 
*  Grimm,  497. 


4<    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  155 

Als  Herr  des  Gewitters  führt  Thörr  den  zermalmenden 
Hammer,  der  aber  auch  eine  heiligende  Kraft  hat,  das 
Brautpaar  weiht,  Leichen  einsegnet,  dessen  Wurf  die  Grenzen 
des  Eigenthumes  bestimmt,  wonach  Thörr  als  Gott  der  Ehe, 
des  Eigenthums  erscheint.  Von  der  Farbe  des  Blitzes  ist  er 
rothbärtig.  Mit  Hindeutung  auf  die  sprunghafte  Bewegung 
des  Blitzes,  hat  Thörr  ein  Gespann  von  zwei  Böcken  vor 
seinem  Wagen,  auf  dem  er  zu  fahren  pflegt.  Der  eine  von 
den  Böcken  hinkt,  was  auf  die  Naturanschauung  bezogen 
wird.  Der  Bock  war  ein  dem  Donar  geheiligtes  Thier.  1 
Uhland  sieht  in  den  Ziegen  das  Sprunghafte  über  das  Gebirge 
versinnlicht,  andere  beziehen  sie  auf  das  Sternbild  der  Ziege, 
das  zur  Zeit  der  ersten  Gewitter  aufzugehen  pflegt. 

Von  seiner  Gemahlin  Sif  hat  Thörr  eine  Tochter  Thrudh, 
d.  h.  Kraft,  sein  Gebiet  Thrudh wang  bezieht  daher  Uhland 
auf  das  fruchtbare  Land  und  Thrudh  auf  das  Saatkorn.  2 

Ein  anderer  Sohn  Wodan's  ist  Zio  (Ziu,  sächs.  Sahsnot, 
Saxnot,  nord.  Tyr),  der  als  specifischer  Kriegsgott  alles, 
was  auf  Krieg  und  Schlacht  in  Beziehung  steht,  ausführt;  er 
ist  der  eigentliche  Seh  wert  gott,  den  die  jüngere  Edda  als 
kühn  und  mathig  schildert,  der  über  den  Sieg  im  Kriege 
wacht. 

Der  Name  Tyr,  dessen  Grundbedeutung  auf  „leuchten" 
zurückgeführt  worden  ist3,  weist  auf  einen  leuchtenden  Him- 
melsgott hin,  als  der  er  aber  in  der  Edda  nicht  mehr  vor- 
kommt. Als  Kriegsgott  wird  er  unter  dem  Symbole  des 
Schwertes  verehrt,  von  dem  der  Glanz  kriegerischer  Völker 
ausgeht.  Tyr  war  Himmelsgott  und  Kriegsgott  zugleich,  und 
in  letzter  Bedeutung  ist  sein  Andenken  im  Namen  des  dritten 
Wochentags  (dies  Martis)  Ertag,  Irtag,  der  in  Baiern  und 
einigen  Gegenden  Oesterreichs  gebräuchlich  ist,  aufbewahrt, 
indem  Tyr  durch  Er,  der  mit  jenem  zusammenfällt,  ver- 
treten ist. 

Nach  Leo4  haben  die  Sachsen  von  ihrer  Steinwaffe  Sahs 
ihren  Namen,  und  Saxnot,  der  von  dem  ostsächsischen  Volk 


1  Grimm,  947. 

2  Uhland,  Mythol.  vom  Thorr,  S.  2. 

3  Grimm,  176. 

4  Vorlesung.,  220. 


15G  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

in  Britannien  an  die  Spitze  gestellt  wird,  ist  ein  und  derselbe 
Gott,  den  die  „Abrenuntiatio"  als  Saxnot  anführt. 

Ein  dritter  Sohn  Wodan's  ist  Fro  (Froho,  nord.  Freyr), 
der  frohinachende  Gott,  Beschirmer  der  Ehe  und  des  Frie- 
dens, der  auch  die  Liebe  erzeugt  und  Gott  des  Ehesegens 
ist.  Wenn  Freyr,  um  in  Gerda's,  der  Tochter  des  Frost- 
riesen Gymir,  Besitz  zu  gelangen,  sein  Schwert  hingibt,  so 
ist  er1  als  Sonnengott  zu  fassen:  er  gibt  es  her  um  Gerda's 
Besitz,  d.  h.  die  Sonnenglut  senkt  sich  in  die  Erde,  um 
Gerda's  Erlösung  aus  der  Haft  der  Frostriesen  zu  bewirken, 
die  sie  unter  Eis  und  Schnee  zurückhalten.  „Freyr  gibt  sein 
Schwert  alljährlich  her,  er  erschlägt  alljährlich  den  Beli,  den 
Riesen  der  Frühlingsstürme,  alljährlich  feiert  er  seine  Ver- 
mählung mit  Gerda  im  grünenden  Haine."  Als  Sonnengott 
besitzt  er  den  goldborstigen  Eber  Gullinbursti ,  waltet  über 
Regen,  Sonnenschein  und  Wachsthum  der  Erde,  wird  daher 
um  Fruchtbarkeit  angerufen. 

Freyr  erscheint  in  einigen  Erzählungen  bei  Saxo  als 
Drachenkämpfer2,  und  wie  unter  dem  Drachen  das  die  Ernte 
vernichtende  Austreten  der  Flüsse  und  Bäche  verstanden 
wird,  so  steht  dies  mit  der  Bedeutung  des  Gottes  in  Ueber- 
einstimmung. 

Der  weise  und  gerechte  Paltar  (nord.  Baidur,  Baldr) 
ist  auch  ein  Sohn  Wodan's,  er  gibt  Recht  und  Gesetz,  wird 
der  weiseste  und  beste  aller  nordischen  Äsen  genannt,  darum 
von  allen  geliebt.  Ihm  zur  Seite  ist  sein  Sohn  Forasizzo 
(nord.  Forsetti),  der  Vorsitzer  der  Gerichte  und  Schlichter 
der  Händel,  in  welchem  nur  eine  Eigenschaft  Baldur's  per- 
sonilicirt  zu  sein  scheint.  3  Baldur's  Urtheile  kann  niemand 
schelten,  was  Simrock  daraus  erklärt,  dass  er  das  Licht  be- 
deutet. Er  ist  unverletzbar  durch  Wurf  und  Schlag,  die 
Mistel  ist  die  einzige  Waffe  gegen  ihn,  sie  ist  Symbol  des 
Winters,  da  sie  bei  ihrem  Wachsen  des  Lichts  nicht  bedarf.4 
Baldur's  Tod  bedeutet  die  Neige  des  Lichts,  des  Sommers  in 
der  Sommersonnenwende. 

Wol    (Phol,    nord.    Uli  er)    ist    die    winterliche    Seite 


1  Nach  Simrock,  73. 

2  W.  Müller,  Zeitschrift,  III,  43. 

3  Simrock,  343. 

1  ühland,  Mythol.  d.  Thörr,  146. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  157 

Odhin's,  ist  Gott  der  Jagd.  Als  Wintergott  ist  Uller  Sohn 
der  Sif,  der  Erdgöttin.  Indem  das  Jahr  ans  Sommer  und 
Winter  besteht,  steht  Baidur  als  Sommergott  mit  Ulier  im 
Zusammenhang. 

Den  männlichen  Gottheiten  parallel  stehen  weibliche, 
als:  Nerthus  (Nirdu,  nord.  Jördh)  die  fruchtbare  Erde,  welche, 
wie  fast  in  allen  Sprachen  weiblich,  im  Gegensatz  zu  dem  sie 
umfangenden  Himmel,  als  gebärende,  fruchtbare  Mutter  auf- 
gefasst  wird.  Sie  hält  Umzüge  unter  den  Völkern,  wird  von 
zwei  Kühen  gezogen  und  bringt  Frieden  und  Fruchtbarkeit.1 
Auf  einer  Insel  des  Weltmeers  lag  ihr  heiliger  Hain,  wo  ihr 
Wagen  aufbewahrt  ward,  woraus  geschlossen  wird,  dass  ihr 
Wagen  zugleich  ein  Schiff  gewesen  sei,  da  Nerthus  sonst 
nicht  von  ihrer  Insel  im  Ocean  zu  den  Völkern  hätte  gelangen 
können.  2  Den  Wagen  der  Nerthus  schirrt  der  Priester  und 
begleitet  sie  auf  ihren  Umzügen,  die  hinsichtlich  der  Götter 
überhaupt  zunächst  als  deren  Handlungen  erscheinen.  Das 
Volk  schmückt  sich  und  Haus  und  Hof  zum  festlichen  Empfang 
der  Göttin,  es  sind  frohe  Tage,  wo  Krieg  und  Arbeit  ruhen. 

Hol  da,  der  die  nordische  Freya  entspricht,  schützt  die 
Liebenden,  segnet  die  Ehebündnisse,  ist  die  herrlichste  der 
Asinnen,  hat  vor  ihren  Wagen  zwei  Katzen  gespannt,  die 
Symbole  starken  Geschlechtstriebs.  Sie  liebt  den  Minne- 
gesang, ist  daher  in  Liebesangelegenheiten  anzurufen.  Sie 
entspricht  auch  der  deutschen  Frouwa,  der  Anmuth  und 
Liebreiz  verleihenden  Schwester  des  holdseligen  Fro,  von 
welcher  der  Ehrenname  Frau  seinen  Ursprung  hat. 

Dem  Namen  Hol  da  ist  der  Begriff  der  milden,  gnädigen 
Göttin  eingedrückt  und  soll  der  gütigen  Frika  Beiname  sein.3 
Sie  berührt  sich  aber  auch  vielfach  mit  Hilda4,  selbst  mit 
Hei,  der  „Verborgenen",  als  Todtesgöttin.  Holda  ist  im  Nor- 
den tief  herabgewürdigt,  wenn  sie  langnasig,  hässlich,  gross- 
zahnig,  mit  struppigem,  verworrenem  Haar  vorgestellt  wird. 
Denn  obschon  der  jährliche  Umzug  Holda's  mit  ihrem  Gefolge 
von  Eiben,  die  nach  ihr  die  „guten  Holden"  heissen,  dem 
Lande  Fruchtbarkeit   bringt,    so   fährt   sie  doch  auch,    gleich 


1  Tacit.,  Germ.,  40. 

2  Simrock,  399. 

3  Grimm,  244. 

4  Simrock,  413. 


158  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Wuotan,  schreckenerregend  durch  die  Lüfte  und  gehört,  wie 
dieser,  zum  wüthenden  Heer.  Hieran  knüpft  sich  der  mittel- 
alterliche Glaube  von  den  Fahrten  der  Hexen  in  Gesellschaft 
der  Holda.  Der  christliche  Volksglaube  Hess  die  Seelen  der 
ungetauft  verstorbenen  Kinder,  da  sie  heidnisch  geblieben, 
dem  Wuotan  oder  der  Holda  verfallen. 

Berchta,   dem  Namen  nach  „die  leuchtende,    glänzende 
Göttin",  und  Holda  (aus  dem  altdeutschen:    hulda,  Dunkel- 
heit), den  Gegensatz  bildend,  findet  Simrock  in  der  Hei  ver- 
bunden, indem   diese   eine   lichte   und    eine    dunkle  Seite  hat, 
und  je  nachdem   sie  dem  Menschen  die  eine  oder   die  andere 
zukehrte,  als  lichte  (Berchta)  oder   als  dunkle  Göttin  (Hulda) 
erscheinen  konnte.  l    Letztere  Seite  ist  durch  christlichen  Ein- 
fluss    besonders    hervorgehoben    worden,    wo   sie    als   kinder- 
schreckendes   Scheusal    auftritt.      Nach    Grimm    ist    Berchta 
durch  die  christliche  Volksansicht  noch  tiefer  als  Holda  herab- 
gedrückt. 2      Holda  wird,    wie    Berchta,    auch    als    spinnende 
Frau    dargestellt,    sie    steht  dem   Flachsbau   vor    sowie    dem 
Feldbau,  beaufsichtigt  die  strenge  Ordnung  im  Haushalt,  be- 
schützt  den  weiblichen  Fleiss,    ist  demnach,    gleich  Nerthus, 
eine  bemutternde  Gottheit.      Ihr  und  Bertha's  Erscheinen  ist 
daher    dem    Neidischen    und   Faulen   ungünstig.      Der  Holda 
waren  die  Grenzen  heilig,  und  es  scheinen  auch  die  Gerichte 
unter   der  Obhut   dieser  hehren  Göttin   gestanden   zu  haben.3 
Daran  knüpft  sich  wol  der  Zusammenhang,  in  dem,  nach  dem 
Volksglauben,  die  Hexen  mit  den  Richtstätten  stehen. 

Holda,  welche  nach  Simrock  4  zwischen  Hei  und 
Ran  in  der  Mitte  steht,  empfängt  die  Ertrinkenden  auf  dem 
Grunde  ihres  Sees  oder  Brunnens  auf  freundlichen  Wiesen. 
Ran,  die  im  Wasser  wohnende  Todesgöttin  und  Gattin  des 
Wasserriesen  Oegir,  raubt  die  Ertrinkenden,  die  sie  im  Netz 
an  sich  zieht.  Sie  ist  eine  Nebenbildung  der  Hei,  und  die 
Unterwelt  scheint  in  dem  Schose  der  Erde  wie  in  der  Tiefe 
des  Meeres  gedacht  zu  sein. 

Frey  ja  und  ihr  Bruder  Freyr,  der  über  Regen  und 
Sonnenschein   und   das  Wachsthum    der   Erde  waltet,   Kinder 

1  Simrock,  414. 

2  Grimm,  250. 

3  Simrock,  419. 
i  S.  475. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.    159 

des   Äsen    Niordr,    repräsentiren    die    zur   Frühlingszeit    sich 
regende  Zeugungskraft   in  der  Natur.     Frey  ja    erscheint  als 
Göttin   der   schönen  Jahreszeit,    der  Liebe,   sie   ist  aber  auch 
Walküre,  der  die  Hälfte  in  der  Schlacht  Gefallener  angehört, 
in  welcher  Beziehung  sie  Odhin's  Gemahlin  ist.    Als  solche  reicht 
sie  den  in  Odhin's  Halle  eingedrungenen  Riesen  den  Trunk.   Im 
eddischen   Glaubenskreise    erscheint    sie    aber    als    Göttin   der 
schönen   Jahreszeit,    der  Liebe,    der  Ehe.      Neben   ihr  steht 
Friofor,  die  aber  dem  Begriffe  wie  dem  Namen  nach  nur  aus 
Freyja    hervorgegangen,    als    selbständige   Göttin    neben  jene 
hingestellt  erscheint,  hat  von  ihrer  Mutter  Nerthus  die  gleiche 
Würde  der  Freyja  angeerbt,  ist  Wodan's  Gemahlin  und  theilt 
mit   diesem   die  Allwissenheit,    steht  der  Ehe   vor,   wird   von 
Kinderlosen  angefleht.    In  Niedersachsen  hat  Frigg  den  Namen 
Fru  Freke  und  spielt  häufig  Rollen  der  Frau  Holle.  1    Nach 
Simrock2     schied     sich     Odhin     von     der     Mutter     Thörf's, 
Njördh,  als  er  sich  der  Frigg  verband,   und  wenn  diese  jetzt 
wol  auch  Tochter  Fiörgyn's  heisst,  so  soll  sie  dies  mit  der  ersten 
Gemahlin  des  Gottes  identificiren,  sie  konnte  auch  nicht  mehr 
Njördh's  Tochter  heissen,  seit  sie  von  der  Freyja  unterschieden 
ward.    Frigg,  als  Verjüngung  der  Erdmutter,  personificirt  den 
Zeugungstrieb  der  Natur,    worauf  sich   ihre  Buhlschaften   bei 
Saxo   und    in   der    älteren  Edda  beziehen.     Freyja    fährt   auf 
einem    mit   zwei  Katzen   bespannten   Wagen,    den    Symbolen 
des   starken  Zeugungstriebs.     Grimm3  anerkennt  die  Identität 
der    Freyja   und  Frigg    mit  Hera    und  Aphrodite    und    sieht 
ausser    verschiedenen    andern    Zügen    auch    darin    eine    Ver- 
mengung der   Frigg    und  Freya,    dass    eine  Göttin   Jolla    als 
Schwester  der  letztern,  die  altnordische  Julia  als  Dienerin  der 
erstem  erscheint,  indem  Jolla  und  Julia  dem  Namen  wie  dem 
Amte  nach  zusammenfallen. 

Die  der  Freya  geheiligte  Katze  macht  das  Mittelalter  zum 
Thiere  der  Hexen  und  Nachtfrauen. 

Da   die   ursprüngliche  Form  der  germanischen  Religions- 
anschauung Naturreligion  war4,   schaute  die   gläubige   Phan- 


1  Vgl.  Grimm,  245,  280. 

2  S.  379. 

3  S.  285. 

4  Ueber  den  Sonnendienst  der  Germanen,  vgl.  J.  Caesar,  B.  G.,  VI,  21; 
Grimm,  D.  Myth.  a.  versch.  0.;  dessen  R.-Alt.,  278. 


1(3(J  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

tasie  in  den  waltenden  Naturkräften  noch  eine  Menge  götter- 
hafter  Wesen  an,  bei  welchen  sich  der  Dualismus  von  wohl- 
und  übelthätig  mehr  oder  weniger  herausstellt.  Jener  Nord- 
mann dürfte  daher  nicht  unrecht  haben,  wenn  er  behauptet: 
dass  seine  Vorfahren  die  ganze  Welt  mit  Geistern  verschie- 
dener Art  erfüllt  glaubten,  wovon  einige  den  Menschen  zu- 
gethan  waren,  daher  Licht-Asen,  gute  Äsen  genannt  wurden; 
andere,  die  nach  ihrem  Aufenthalte  in  Wäldern,  Höhlen,  auf 
Bergen  und  Felsen,  in  der  Luft  oder  im  Wasser  benannt 
waren,  als  böse  Dämonen  betrachtet  wurden.  l  Es  wurde 
schon  erwähnt,  dass  den  Lichtelben  die  schwarzen  Eiben 
gegenüberstehen,  und  obschon  das  Eibenvolk  im  allgemeinen 
als  gutmüthig  angenommen  wird,  und  die  Gegensätzlichkeit 
im  religiösen  Bewusstsein  der  Germanen  überhaupt  nicht  im 
vollen  Geichgewicht  steht,  indem  die  gute  Seite  überwiegt,  so 
suchen  doch  die  Eibinnen  gerne  schöne  Jünglinge,  die  Zwerge 
schöne  Jungfrauen  in  ihre  gefährliche  Umarmung  zu  locken. 

Die  Gegensätzlichkeit  zeigt  sich  an  den  im  deutsch- 
nordischen Glaubenskreise  häufig  vorkommenden  Riesen,  deren 
einige  zwar  mit  den  guten  Äsen  im  friedlichen  Verhältniss 
stehen,  meist  aber  doch  einen  feindlichen  Dualismus  bilden, 
wie  ihre  Kämpfe  mit  ihnen  klar  beweisen.  Die  Eintheilung 
n  Fr  ostriesen,  Bergriesen,  Wasserriesen,  Feuerriesen  gibt 
eine  deutliche  Erklärung  ihrer  urelementaren  Bedeutung.  Die 
altern  Urkunden  erkennen  sie  als  die  Urgeborenen,  die  älter 
als  die  Äsen  erscheinen,  zu  denen  sie  das  gegensätzliche  Ver- 
hältniss des  Unorganischen  zum  Organischen  bilden,  wozu  die 
griechische  Mythologie  eine  Analogie  bietet.  Die  Kiesen  sind  als 
die  älteste  Götterdynastie  zu  betrachten,  an  deren  Stelle,  nach 
dem  Volksglauben,  die  spätem  Götter  getreten  sind,  also 
eine  entwickeltere  Stufe  bilden,  und  mit  jenen,  die  in  der  Er- 
innerung aufbewahrt  worden,  in  Gegensatz  zu  stehen  kommen. 
Die  Riesen  werden  zu  Feinden  der  Götter,  und  da  es  im 
Begriffe  der  letztern  liegt,  gut  zu  sein,  so  können  erstere 
nicht  anders  als  böse  dargestellt  werden.  Es  ist  ein  Ver- 
nichtungskrieg, in  dem  sie  begriffen  sind,  wobei  die  Welt 
untergehen  soll. 

Der  Urriese  Ymir  verdankt    sein  Leben   dem  Zusammen- 


1  Thorlacius  im  Skandinav.  Museum  v.  1803,  II,  33. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  161 

wirken  von  Licht  und  Wärme  auf  das  Wasser,  den  Grund- 
stoff* alles  Seins.  Die  Riesen  sind  hiernach  Repräsentanten 
der  vom  Geiste  noch  ungeformten  Materie.  Den  Riesen  eignet 
daher  Plumpheit,  Ungeschicklichkeit,  Ungeschlachtheit ;  in  den 
deutschen  Sagen  wird  ihnen  meistens  Dummheit  zugeschrieben, 
die  bald  mit  Gutmüthigkeit,  bald  mit  Bosheit  vereint  ist.  Im 
Norden  hat  sich  der  ursprüngliche  Gegensatz  mehr  zum 
ethischen  von  gut  und  böse  entwickelt.  Die  Äsen  erscheinen 
als  Träger  des  Guten,  der  schaffenden  und  erhaltenden  Cultur; 
die  Riesen  hingegen  als  ein  Geschlecht,  das  auf  Zerstörung  sinnt 
und  das  uranfängliche  Chaos  herbeiführen  will.  Wie  die  Ur- 
wälder und  die  Ungeheuern  Thiere  der  Vorzeit  ausgerottet  wer- 
den ,  so  erliegen  die  Riesen  den  gegen  sie  kämpfenden  Helden. 

Andern  Ursprungs  sind  die  Götter ,  sie  werden  durch  die 
Kuh  Audhumbla  aus  den  salzigen  Eisblöcken  geleckt;  es  ist 
hiemit  ein  bildender  Process  angedeutet,  wobei  das  Salz  die 
Bedeutung  des  geistigen  Princips  hat.  Aus  der  Vermählung 
Böt's,  des  Sohnes  Buri's,  mit  der  Tochter  des  Riesen  Bölthorn 
gehen  die  Söhne  üdhin,  W^ili  und  We  hervor.  Durch  die 
Abstammung  mütterlicherseits  hängen  also  die  Götter  mit  dem 
Riesengeschlechte  verwandtschaftlich  zusammen,  d.  h.  sie  sind 
ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  nach  elementarische  Natur- 
götter, aber  zu  sittlichen  Mächten  entwickelt,  bilden  sie  ein 
edleres,  vergeistigtes  Geschlecht.  So  stehen  die  Riesen  nicht 
nur  neben  den  Göttern,  sie  stellen  sich  ihnen  gegenüber,  und 
wenn  es  zum  Streite  kommt,  so  ist  dies  eben  ein  Streit 
zwischen  geistig  waltenden  Wesen  und  rohen  Naturkräften, 
der  Geistigkeit  mit  der  Natürlichkeit.  Es  ist  im  Grunde 
dasselbe  dualistische  Princip,  auf  welchem  der  Dualismus  in 
den  Naturreligionen  beruht,  der  Gegensatz  von  Geist  und 
Materie,  der  bei  verschiedenen  Völkern  einen  mannichfaltigen 
mythischen  Ausdruck  gefunden  hat. 

Ausser'  diesem  Gegensatze  tritt  ein  feindlicher  Dualismus 
innerhalb  der  religiösen  Anschauung  der  Germanen  besonders 
in  dem  männlichen  Lokho,  (nordisch)  Loki,  und  der  weiblichen 
Hei  hervor. 

Loki  (Lodhur,  Lodhr)  hat  im  Verlaufe  der  Zeit  manche 
Wandlung    erlebt.  x      Seine    Grundbedeutung    ist    das    Feuer 


1  Vgl.  Rückert,  Culturgesch.  des  deutseben  Volks,  I,  108—173. 

Koskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  Jj 


162  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

nach  dem    doppeltem   Sinne   als  wohlthätige   und    zerstörende 
Macht.      Die  ältere  Edda   zählt   ihn  zwar  zu  den  Äsen,  lässt 
ihn  aber  zugleich  vom  Riesen  Farbauti  und  der  Mutter  Laufey 
oder  Nal  abstammen.    Sein  Name ,  wie  Logi,  wird  von  liuhan, 
lucere  hergeleitet,  womit  lux,  Licht,  Lynceus,  Xsyxo?  urverwandt 
ist.    Logi  ist  nach  Grimm1  der  im  Laut  vorgeschobene  Loki, 
zugleich    eine   Fortschiebung   des  Begriffs ,   wonach    aus    dem 
plumpen  Riesen   ein   schlauer   verführerischer  Bösewicht    ge- 
worden  ist.      Nach  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  als   ele- 
mentare Macht    des  Feuers    kann   er    füglich   unter   die  Äsen 
gestellt   werden,    und    so    erscheint    er    auch    in   den   ältesten 
Trilogien  neben  seinem  Bruder  Odhin,  der  Luft.2   Die  Doppel- 
sinnigkeit seines  Wesens   entfaltet  sich  in  den  Mythen  dahin, 
dass   seine  List  und  Tücke   immer  mehr  betont  wird,  bis  im 
Mythus   von  Baldur's  Tod   die   verderbliche   Seite  von  Loki's 
Wesen  ganz  in  den  Vordergrund  tritt;    von  hier  auf  das  Ge- 
biet  des  Ethischen   versetzt,    erscheint   er,    wie  Uhland   sagt, 
als  „das  leise  Verderben",  das  ohne  Rast  unter  den  Göttern 
einherschleicht;    sein  verderbliches    Wesen    wird    poetisch  als 
List  und  Trug   dargestellt,  wodurch  er  den  Göttern  Schaden 
bereitet.       Er  wird   nachgerade  zum   Urheber   alles  Uebels  in 
der  Welt,   seit   die    Götter    sündig   geworden   sind,    nachdem 
Loki    den   Brudermord,    nach    germanischer   Anschauung  das 
grösste  Verderben,    unter    die    Götter  gebracht  hat.      Er    ist 
nunmehr  Odhin's  Feind   und   erscheint   nicht  mehr  als  dessen 
Bruder.     Neben  Loki  besteht  aber  Logi,  das  Elementarfeuer, 
noch  fort,  mit  welchem  ersterer  einmal  sogar  einen  Wettkampf 
eingeht.      Bei    derselben  Gelegenheit    zeigt    sich    neben  Loki 
noch  Utgardhloki,   ein  unterweltlicher  Loki,    dessen  Verhält- 
niss  zu  jenem  wie  das  Pluto's    zu  Hephästos  befunden  wird.3 
Von    der  wohlthätigen   Seite  Loki's   wissen   die   Mythen 
wenig  zu  berichten,  vielmehr  schieben  sie  seine  Zweideutigkeit 
immer  mehr  in  den  Vordergrund.    Wenn  er  auch  die  Kleinode 
der    Götter    durch    die    ihm    verwandten    Zwerge    schmieden 
lässt,    um   sie  jenen  als  Geschenke  darzubringen,  so  wird  als 
Motiv   Diebstahl   angegeben,  indem    er   der  Sif  hinterlistiger- 


1  S.  220. 

2  Simrock,  837. 

3  Simrock,  114. 


4.  Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  ]  63 

weise  das  Goldhaar  abschert.  Der  Hammer,  den  er  dem 
Thörr  schenkt,  hat  einen  zu  kurzen  Stil,  da  Loki  in  Fliegen- 
gestalt den  Blasebalg  tretenden  Zwerg  Brock  während  der 
Arbeit  gestochen  hat.  Die  Zweideutigkeit  zeigte  Loki  schon 
bei  der  Schöpfung  des  Menschen,  indem  er  diesem  Blut  und 
blühende  Farbe  als  Lebenswärme,  zugleich  aber  auch  als 
Sinnlichkeit  gab.  Ebenso  zweideutig  erscheint  er  im  Mythus 
vom  Baumeister,  indem  er  den  Göttern  den  Übeln  Rath  gibt, 
die  Freyja  nebst  Sonne  und  Mond  dem  Baumeister  als  Lohn 
zu  überlassen,  um  welchen  aber  jener  wieder  durch  Loki  ge- 
bracht wird,  indem  er  als  Stute  dem  beim  Baue  nöthigen 
Rosse  Swadilfari  erscheint  und  es  dadurch  von  der  Arbeit  ab- 
hält, wodurch  er  freilich  in  der  Bedeutung  des  warmen  Süd- 
windes das  Wintereis  schmelzen  macht  und  die  Welt  vom 
Erstarren  befreit  hat. 

Da  Loki  die  Götter  wider  sich  aufgebracht  sah,  flüchtete 
er  sich  auf  einen  Berg,  verwandelte  sich  am  Tage  in  einen 
Lachs,  um  sich  in  dem  Wasserfall  Franangr  zu  bergen.  Als 
die  Äsen  ihn  mit  einem  Netze  fangen  wollen,  springt  er  über 
dasselbe,  wird  aber  dabei  von  Thörr  ergriffen  und  am  Schwänze 
festgehalten.  Der  Gefangene  wird  hierauf  mit  den  Därmen 
seines  Sohnes,  die  zu  Eisen  wurden,  über  drei  Felsen  ge- 
bunden, ein  über  ihm  befestigter  Giftwurm  träufelt  ihm  Gift 
ins  Gesicht,  wogegen  er  sich  sträubt  und  dabei  die  Erde 
erschütternd  Erdbeben  verursacht,  und  so  muss  er  bis  zur 
Götterdämmerung  gefesselt  liegen. 

Die  Deutung  der  Erzählung,  wie  der  mit  dem  Zorn  der 
Götter  beladene  Loki  der  hereinbrechenden  Strafe  zu  entfliehen 
sucht,  auf  das  „böse  Gewissen"  ist  durch  Simrock1  bekannt- 
lich in  sinniger  Weise  entwickelt  worden.  Bei  Oegir's  Gast- 
mahl, wo  Loki  die  Götter  verhöhnt,  erscheint  er  noch  als  das 
böse  Gewissen  der  Götter;  er  repräsentirt  aber  das  böse 
Gewissen  selbst,  wo  er  die  Rache  der  Götter  herausge- 
fordert hat,  als  Verbrecher  umherschweift,  aus  seinem  Hause 
mit  vier  Oeffnungen  die  nahende  Strafe  zu  erspähen  sucht, 
von  dem  Gedanken  gequält,  wie  er  von  den  Äsen  gefangen 
werden  könnte,  sich  selber  das  Netz  knüpft,  womit  er  ge- 
fangen und  durch  seine  eigenen  Bande  gebunden  wird.    Loki, 


1  S.  125  fg. 

11* 


Iß4  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

der  zuerst  als  Verführer  der  Götter  aufgetreten,  erscheint  als 
die  Schuld,  das  Böse  selbst,  das  durch  die  sittlichen 
Mächte  in  .Bande  geschlagen  wird;  würde  es  die  Oberhand 
gewinnen,  träte  die  Götterdämmerung  ein,  eine  Verwirrung 
aller  Begriffe,  dann  wäre  allem  Erdenleben  der  Menschen  ein 
Ende  gesetzt.  Die  Götter  sind  aber  die  Gewähr  für  die 
sittliche  Weltordnung.'  In  Loki  ist  das  in  Fessel  gelegte 
Böse  dargestellt,  während  Fenrir  den  durch  die  Götter  hin- 
gehaltenen Weltuntergang  darstellt. 

Loki  ist  auch,  nach  dem  Vorgange  Uhland's,  als  Endiger 
der  Dinge  aufgefasst,  im  Gegensatz  zu  Heimdall  als  dem  An- 
fang, von  dem  die  Geschlechter  der  Menschen  ausgehen. 
Loki  ist  auch  der  Endiger,  weil  er  das  Feuer  ist,  worin  die 
Welt  untergehen  soll;  als  Endiger  hat  er  auch  den  letzten 
Wochentag  zu  dem  seinigen  erhalten.1  Simrock2  meint, 
das  teuflische  Ansehen,  das  Saturnus  im  Mittelalter  erlangt, 
sei  daraus  zu  erklären,  weil  er  sich  als  Wochentagsgott  mit 
Loki  berührte. 

Grimm 3  bringt  mit  Loki  den  im  Beovulf  auftretenden 
sumpfbewohnenden  Riesen  Grendel,  einen  feindseligen,  teuf- 
lischen Geist,  in  Beziehung,  und  seine  Mutter4  erkennt  er 
als  wahre  Teufelsmutter  und  Riesenmutter,  mit  Herbeiführung 
des  angs.  grindel,  ahd.  krintil,  mhd.  grintel,  repagulum, 
possulus,  wonach  der  Name  Grendel  mit  Grindel,  obex,  ver- 
wandt ist,  wie  Loki  mit  loka;  das  ahd.  grind  bedeutet  ein 
Gitter,  das  gleich  dem  Riegel  einschliesst.  Hierzu  wird  noch 
ein  englischer  Feuerdämon,  Namens  Grant,  nachgewiesen,  so- 
wie noch  ein  dritter  synonymer  Ausdruck  zur  Bezeichnung 
eines  teuflischen  Wesens  in  der  Zusammensetzung  mit  Hölle, 
nämlich  Höllriegel,  wobei  die  Vorstellung  von  der  mit  Riegeln 
versperrten  Hölle  zu  Grunde  liegt:  „als  Christus  mit  Löwen- 
kraft zur  Unterwelt  fuhr ,  mussten  die  Grintel  brechen". 5 
Loki  als  Utgardhloki,  als  Vater  der  Hei  und  Narvi's  (der 
auch  als  Riese  erscheint  und  die  Nacht  zur  Tochter  hat) 
wurde  zum  Todtengott,  vermöge  der  zerstörenden  Kraft  des 


1  Grimm,  114  fg. 
-  S.  346. 

3  S.  222. 

4  Grendeles  modor  Beov.,  4332,  4274. 

5  Fundgrub.,  I,  17H,  bei  Grimm. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.   165 

Feuers,   und   als  Todtengott  konnte  er  auch  mit  Sumpf-  und 
Wassergeistern  in  Beziehung  treten.  * 

Ausser  dem  Narvi  hat  Loki  noch  andere  Kinder:  mit 
der  Riesin  Angurboda  zeugt  er  den  Wolf  Fenris,  die  Mid- 
gardschlange  Jörmungardr  und  die  Hei,  an  die  sich  die 
Vorstellungen  von  der  Unterwelt  knüpfen.  Schon  als  Vater 
dieser  drei  Kinder  ist  Loki  als  Urheber  alles  Verderblichen 
gekennzeichnet:  die  heisshungrige  Hei  verschlingt  alle  Leben- 
den; Fenriwolf  soll  im  letzten  Weltenkampfe  den  Weitenvater 
selbst  verschlingen;  die  Midgardschlange,  das  Symbol  des 
Weltmeers,  soll  um  diese  Zeit  die  ganze  Erde  bedecken,  also 
alles  Menschendasein  zernichten. 

Nachdem  die  Äsen  erkannt,   dass  ihnen  durch  diese  drei 
Kinder  Loki's  Unheil  drohe,  liess  Allvater  sie  holen,  warf  die 
Schlange  in  das  Meer,  wo  sie  so  gross  wächst,   dass  sie  alle 
Länder   umliegend  sich   in   den   Schwanz  beisst.      Hei  wurde 
nach  Niflheim  hinabgestürzt,    wo   sie  die  Herrschaft  über  die 
neunte  Welt  erhält,  die  an  Alter  oder  Krankheit  Verstorbenen 
zu  beherbergen.      Ihre  grosse  Wohnung   ist  mit  einem  mäch- 
tigen Gitter  umgeben,    ihr  Saal  heisst  Elend,    ihre   Schüssel 
Hunger,  ihre  Magd  Langsam,  ihre  Schwelle  Einsturz,  ihr  Bett 
Kümmerniss,    ihr  Vorhang  drohendes  Unheil.2      Sie  ist  halb 
schwarz,  halb  menschenfarbig,  also  von  furchtbarem  Aussehen. 
Es  wurde  schon  von  Grimm   bemerkt,    dass    der  Vorstellung 
von  Hei  und  den  Thüren  der  Hölle  biblische  Stellen  zunächst 
zu  Grunde  liegen  3,   weiche   aber  das   mascul.   aSvj^  oder  in- 
fernus  haben.     Die  deutsche  Sprache  musste  daher  ein  weib- 
liches Wort  gebrauchen.    Die  Vorstellung  von  der  Thüre  zum 
Abgrund,    vom    gähnenden  Schlund,   wurde    durch    die  Vor- 
stellung von  einer  Unterwelt  hervorgerufen,  und  aus  der  per- 
sönlichen Vorstellung   von  der   Göttin   wurde   allmählich   eine 
räumliche  Vorstellung  von   einem  Aufenthalt   der  Todten,    so 
dass  das  Wohnen  der  Verstorbenen,    das  anfänglich  bei  ihr 
vorgestellt  worden   war,    nun    in    ihr   stattfand.      Schon    die 
heidnische   Hellia  ward   tief  unten   nach   Norden   hin   liegend 
gedacht,  denn  als  Hermodhr  zu  Baldr  gesandt  wird,  muss  er 


1  Vgl.  Sini.,  34(3. 

2  Jung.  Edda,  33—34. 

3  Proverb.  27,  20;  30,  IG;  Hiob  26,  6;  Jes.  5,  14. 


1(36  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

neun  Nächte  lang  durch  dunkle,  tiefe  Thäler,  den  Durchgangs- 
ort zur  Göttin ,  wo  die  Dunkelelben  wohnen ,  reiten.  ]  Nun 
war  von  der  Unterweltgöttin  zur  Todesgöttin  „nur  noch  ein 
Schritt",  wie  Simrock  bemerkt,  womit  die  lebenspendende 
Seite  der  Göttin,  die  sie  nach  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung 
hatte,  da  von  der  Unterwelt  alles  Sein  ausströmt  und  wieder 
dahin  zurückfliesst2,  verdunkelt  wurde.  Die  heidnische  Scheu 
vor  dem  Tode  hielt  nur  das  vernichtende  Moment  fest,  und  es 
erklärt  sich,  dass  dem  Dichter  des  Hyndlalieds  Hei  als  das 
abscheulichste  Scheusal  erscheinen  konnte.  Der  Unterwelt- 
göttin, die  im  tiefsten  Schos  der  Erde  wohnt,  eignet  als  sol- 
cher die  schwarze  Farbe,  und  auch  diese  bietet  einen  An- 
knüpfungspunkt, sie  als  böse  zu  denken,  wie  es  bei  Wolfram 
der  Fall  ist.  Der  spätere  Volksglaube  lässt  sie  zur  Zeit  der 
Pest  als  dreibeiniges  Pferd  umhergehen.  3 


Slawen. 


Obschon  es  den  anerkennenswerthen  Bemühungen  sla- 
wischer  und  deutscher  Gelehrten  bisher  nicht  gelungen  ist, 
das  Dunkel  des  slawischen  Alterthums  bis  ins  einzelne  aufzu- 
hellen und  das  altslawische  Religionssystem  wissenschaftlich 
wieder  aufzubauen,  hat  sich  aus  den  sprachlichen  Forschungen 
doch  die  Gewissheit  ergeben,  dass  die  Wiegen  der  ger* 
manischen  und  slawischen  Stämme  nahe  beieinander  gestanden, 
woraus  schon  die  Vermuthung  sich  aufstellen  Hesse,  dass  in 
religiöser  Beziehung  die  dualistische  Anschauung  bei  diesen 
wie  bei  jenen  anzutreffen  sein  dürfte.  Es  ist  erwiesen,  dass 
die  Mythologie  aller  slawischen  Stämme  eine  gemeinsame  ist4; 
gewiss  ist,  dass  die  altslawische  Religion  Naturreligion  war, 
von  welcher  der  Dualismus  unzertrennlich  ist;  endlich  weisen 
die  Trümmer,  die  als  Götternamen  auf  uns  gekommen  sind, 
auf  die  Grundform  der  slawischen  Religion  als  Li  cht  dienst 
hin.  Es  kann  dahingestellt  bleiben,  ob  selbst  der  Name 
Slawe,    auf   die  ursprüngliche  Bedeutung   „Licht"   zurückge- 


1  Grimm,  762. 

2  Simr.,  14.  41.  226.  349. 

3  Grimm,  290.  1135. 

4  Schafarik,  Slaw.  Alterth.,  I,  57. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  167 

führt,  einen  „Licht-  und  Feuerverehrer"  bezeichne  * ;  aber  die 
Annahme,  dass  der  Lichtbegriff  sein  Correlat,  die  Dunkelheit, 
hervorrufen  inuss ,  findet  in  der  slawischen  Vorstellung  von 
einem  weissen,  lichten  Gott,  Bjelbog,  und  einem  schwarzen 
oder  finstern  Gott,  Zschernibog,  ihre  feste  Begründung,  und 
der  Gegensatz  des  Lichtprincips  zu  dem  Principe  der  Finster- 
niss  findet  im  allgemeinen  in  dem  Gegensatz  des  Bjelbog 
(Belboh,  Bilybuh)  und  Czernybog  (Czerny-Buh)  den  treffend- 
sten Ausdruck.  Die  alten  Slawen  waren  also  ursprünglich 
Licht-  oder  Feuer-  oder  Sonnendiener,  und  der  Dualismus, 
der  sich  mit  „weiss"  und  „schwarz"  bezeichnet,  zieht  sich 
durch  alle  slawischen  Religionen,  und  hat  man  darin2  ein  be- 
stimmtes Kennzeichen  slawischer  Religionen  erblicken  wollen. 
Dieser  Anschauung  gemäss  erscheinen  die  Ausdrücke  Bjelbog 
und  Zschernibog  oft  nur  als  Eigenschaftswörter,  wodurch  jede 
wohlthätige  Gottheit  als  Bjelbog  und  jede  übelthätige  als 
Czernybog  bezeichnet  werden  kann. 

Wenn  Mickiewicz 3  behauptet :  die  Slawen  hätten  den 
Begriff  vom  alleinigen  Gott  gehabt,  und  hinzufügt,  sie  Hessen 
aber  auch  die  Existenz  eines  bösen  oder  schwarzen  Gottes 
zu,  welcher  mit  dem  weissen  Gotte  kämpfte,  so  hat  es  den 
Anschein,  als  ob  die  Thesis  durch  die  Antithesis  aufgehoben 
würde,  und  der  Satz  dürfte  dahin  zu  verstehen  sein:  dass 
auch  innerhalb  der  dualistischen  Anschauung  der  Slawen  die 
Tendenz  nach  Einheit  bemerkbar  ist,  wie  sie  auch  bei  andern 
polytheistischen  Religionen  aus  psychologischem  Grunde  auf- 
tritt. Dieser  Drang  nach  Einheit  zeigt  sich  bei  den  Slawen 
darin,  dass  sie  den  Bjelbog  als  obersten  Lichtgott  an  die 
Spitze  ihrer  Glaubenslehre  stellen,  dem  gegenüber  freilich  der 
oberste  Finstergott  als  Czernibog  vorzugsweise  genannt  er- 
scheint, indem  beide  oft  selbständig  vorkommen,  und  zwar 
als  Spitzen  der  übrigen,  ihnen  untergeordneten  Gottheiten. 

Der  Gegensatz  von  Weiss-  und  Schwarzgöttern  be- 
zeichnete ursprünglich  allerdings  nur  die  beiden  Seiten  des 
Naturlebens,  nämlich  Licht  und  Finsterniss,  Tag  und  Nacht, 
Sommer  und  Winter,    wie    dies  im   Sinne  der   unmittelbaren 


1  Hanusch,  Die  Wissenschaft  des  slaw.  Mythus,  39. 

2  Mone,  Gesch.  des  Heidenth.  im  nördl.  Europa,  I,  133. 

3  Vorl.  über  slaw.  Lit.  u.  Zust.,  I,  49. 


168  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Anschauung  liegt;  allein  auch  innerhalb  der  Naturreligion 
entwickelt  sich  der  physische  Dualismus  zu  einem  moralischen 
von  gut  und  böse,  und  wenn  auch  in  Beziehung  auf  den 
Glaubenskreis  der  Slawen  der  directe  Beweis  auf  historischem 
Wege  nicht  herbeigeschafft  werden  könnte,  so  liegt  es  in  der 
Natur  des  menschlichen  Geistes,  vom  rein  Natürlichen  zum 
Ethischen  fortzuschreiten,  und  die  Iranier  oder  andere  Völker 
als  Beweise  anzuführen,  ist  kaum  ein  Bedürfniss.  Der  Fort- 
gang von  kosmischen  Begriffen  zu  socialen  und  sittlichen 
findet  in  den  Mythen  der  Slawen  wie  anderer  Völker  statt, 
wie  auch  die  Einheitstendenz  auf  dieselbe  Weise  sich  kund- 
gibt, dass  die  untergeordneten  Gottheiten  als  Emanationen 
von  Einem  Gotte  betrachtet  werden  und  jene  dadurch  in  ver- 
wandtschaftliche Verhältnisse  zu  stehen  kommen  müssen.  So 
finden  wir  bei  den  Russen  eine  Lado  (Ledo)  als  Göttin 
der  Schönheit,  der  Huld,  von  welcher  die  Lei  (Liebe),  Did 
(Zweifel,  Eifersucht),  Polel  (Polelja)  abstammt. 

Obschon  alle  slawischen  Stämme  eine  gemeinschaftliche 
Mythologie  haben,  kann  es  doch  nicht  befremden,  dass  der 
oberste  Weissgott,  der  Himmelskönig,  bei  den  verschiedenen 
Stämmen  unter  verschiedenen  Namen  verehrt  wird,  indem  die 
verschiedenen  Namen  die  mannichfältigen  Seiten  seines  Wesens 
hervorheben. 

Bjelbog,  sowie  der  Dualismus  von  weissen  und  schwarzen, 
ober-  und  unterweltlichen  Gottheiten  findet  sich  bei  den 
Küssen,  wird  aber  in  Kiew  als  Blitz-  und  Donnergott  Perun 
genannt,  zugleich  als  Segengeber  und  Fruchtbringer  ver- 
ehrt, der  eigentlich  das  Leben  gibt.  Als  Personification  des 
Lebensprocesses,  der  mit  der  Zeugung  beginnt  und  im  Tode 
sich  abschliesst,  zertheilt  sich  sein  Wesen  in  zwei  Seiten,  und 
Perun  kann  sonach  als  wohlthätiger  Gott,  als  Bjelbog,  wie 
auch  als  übelthätige  Gottheit,  als  Czernybog  erscheinen,  wie 
er  schon  als  Donnergott  furchtbar  erscheinen  konnte.  Es 
dürfte  aber  zu  gewagt  sein,  die  heute  noch  üblichen  Redens- 
arten der  Slowaken:  „kde  tarn  ides  do  Paroma",  wo  gehst  du 
zum  Teufel  hin!  „kde  si  bol  u  Paroma",  wo  warst  du  zum 
Teufel!  dafür  anführen  zu  wollen1,  da  der  christliche  Einfluss 
kaum    zu   verkennen    ist,    wonach   der   heidnische  Perun   zum 


Kollur,  Spiewanky,  407. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Altertimms.  1G9 

christlichen  Teufel  umgewandelt  ist.  Der  Grund  davon,  dass 
ein  einzelner  Gott  bald  weiss,  bald  schwarz  gefasst  werden 
konnte,  ist  darin  zu  suchen,  dass  in  der  Vorstellung  des 
Slawen  die  Natur  als  von  einem  Geiste  belebt  erschien ,  den 
er  personificirte  und  als  Gottheit  anschaute,  nach  den  ver- 
schiedenen Natur-  und  Lebensäusserungen  in  eine  Vielheit 
von  Göttern  zerlegte,  von  denen  einer  wohl-  oder  übelthätig 
erschien,  je  nachdem  er  dem  Menschen  oder  einem  ganzen 
Stamme  die  wohl-  oder  übelthätige  Seite  zuwendete.  Daher 
kann  öfter  dasselbe  Wesen  bei  einem  Stamme  als  Bjelbog 
gelten,  während  es  bei  dem  andern  als  Czernybog  auftritt. 

Die  Russen  verehrten  ausser  den  erwähnten  Weissgöttern 
noch  Led  und  Koleda  als  Gott  und  Göttin  des  Kriegs  und 
des  Friedens;  Pogoda,  den  hellen  Frühlingshimmel,  und  seine 
Geliebte,  die  mit  Blumen  bekränzte  Simzerla,  die  als  Früh- 
linffslicht  den  Winter  verscheucht;  Kupalo,  die  fruchtreifende 
Sommerzeit;    Korscha  (Kors),  die  Fülle   des   Herbstes,  als 
slawischen  Bacchus,  dickleibig,  nackt,  lachen  dauf  einem  Fasse 
reitend,    nach  Mone1    die   Sinnenlust   bedeutend;    den  Adler- 
gott Tschurs,  als  Hüter  der  Feldarbeiten,  des  Masses,  Be- 
schützer   der   Ordnung   der  Dinge;    Wolosz    als  Patron  des 
Grossviehs;  Woko seh  als  Beschirmer  des  Kleinviehs ;  Zosim 
als   Vorsteher   der  Bienenzucht.      Feld,   Wald,   Wasser   sind 
von  männlichen  und  weiblichen  Geistern  bevölkert,   die  bald 
als    Licht-,     bald    als    Dunkelwesen     sich     geltend    machen. 
Morskoi  Czar  steht  als  Herrscher  des  Meers  an  der  Spitze 
der    Rusalki,    der  Wassergeister,     die    als    liebliche,    grün- 
haaricre  Mädchen   an   den  Wassern   ihren  Muthwillen  treiben. 
Dagegen  hat   Miklosich2  nach   genauer   Prüfung   sämmtlicher 
Nachrichten    über    die    unsern    Nixen    verglichenen    Rusalky 
behauptet:    dass  der  Ausdruck  durch  das  griechische  pouaaX'.a 
mit  dem  lateinischen  rosa  im  Zusammenhang  nur  den  Slowenen, 
Serben,  Weiss-   und  Kleinrussen   und  Slowaken  bekannt,   in 
älterer  Zeit  stets  ein  Fest   bezeichne,  und   zwar  ursprünglich 
wol  ein  christlich- kirchliches  bedeute,    das   im  Laufe  der  Zeit 
wahrscheinlich    mit    einem     in    dieselbe   Zeit    fällenden    heid- 


1  I,  156. 

2  Beitrag  zur  slaw.  Mythologie.    Aus  d.  Sitzungsbericht,  der  k.  Akad. 
der  Wissenschaften,  18G4. 


170  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

nischen  Feste  verschmolz ;  von  einer  Personificirung  der  Rusalky 
sei  in  den  älteren  Quellen  keine  Spur  zu  finden. 

Im  Hause  war  der  Russe  von  schützenden  Wesen,  Du- 
movie-duki,  umgeben,  denen  er  Gebete  und  Opfergaben  dar- 
brachte; die  Seelen  seiner  Verstorbenen  glaubte  er  als 
schützende  Genien,  Uboze,  thätig,  die,  als  Zwerge  vorgestellt, 
wie  jene  ihre  Speise-  und  Trankopfer  erhielten. 

Den  Weissgöttern,  in  welchen  der  Russe  die  schaffende, 
lebensfreundliche  Naturkraft  verehrte,  standen  die  Schwarz- 
götter als  die  zerstörende,  lebensfeindliche  Macht  gegenüber. 
Das  Entstehen  hat  zum  Correlat  das  Vergehen.  Auch 
Czernybog  mit  seinem  düstern  Cult  theilt  sich  in  eine  Mehr- 
heit von  Nacht-,  Sturm-  und  Frostwesen.  Die  Wind-  und 
Sturmgötter  Stribog  und  Pohvist  bilden  den  Gegensatz  zu 
den  Frühlingsgottheiten  Pogoda  und  Simzerla,  die  Winter- 
göttin Zemargla  zur  Gottheit  des  Sommers,  den  Dumovie- 
duki  stehen  die  Koltki  gegenüber.  Mone l  findet  den  Gegen- 
satz zu  den  Dumovie-duki  in  den  Waldgeistern  Lese  hie 
(Lesnie),  meist  böser  Natur  und  zwiegestaltet,  von  oben 
menschlich,  aber  mit  Hörnern,  hohen  Ohren  und  Ziegenbart, 
abwärts  den  Böcken  gleich,  konnten  aber  ihre  Grösse  ver- 
ändern, sodass  sie  im  Grase  nicht  höher  als  dieses  waren, 
im  Walde  aber  die  Bäume  überragten;  man  durfte  sie  nicht 
beleidigen,  denn  sie  jagten  entweder  durch  schrecklichen  Lärm 
Schrecken  ein  oder  brachten  den  Wanderer  auf  Irrwege, 
lockten  ihn  in  eine  Höhle,  wenn  die  Nacht  kam,  wo  sie  ihn 
zu  Tode  kitzelten. 

Die  preussisch-litauischen  Stämme  verehrten  als  höchstes 
Wesen  den  Donnergott  Perkuna,  dessen  feuerrothes  Gesicht 
in  Beziehung  zu  dem  von  ihm  beherrschten  Blitz  steht. 
Seine  Mutter  ist  die  altslawische  Erdmutter  Perkuna-tete,  die 
den  von  seiner  Tagesfahrt  ermüdeten  Sonnengott  abends  mit 
einem  Bade  im  Meere  erfrischt.  Es  scheint  diese  Erdmutter 
unter  dem  Namen  Perkuna-tete  und  Lada  als  Geberin  und 
Amme  alles  Lebens  verehrt  worden  zu  sein,  daher  sie  auch 
Zlota-Baba,  goldene  Hebamme,  genannt  wurde2,  zugleich  aber 
als  Bewahrerin  der  Todten  und  Beherrscherin  der  Unterwelt 


1  I,  145. 

2  Vgl.  Schwenk,  Slaw.  Mythologie,  214. 


4.    Dualismus  in  den  Keligionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.   171 

galt.  In  dieser  letztern  Bedeutung  hat  die  Erdmutter  die 
Gewalt  über  das  Lebensende  des  Menschen  und  über  sein 
Schicksal.  Als  eigentliche  Todesgöttin  ist  sie  die  Wila,  von 
der  die  Wilen  als  Todes1-  und  Schicksalsgöttinnen  hervor- 
gehen, jungfräuliche  Wesen,  die  auf  Bergen  und  in  Wäldern 
wohnen,  mit  schwarzen  Augen,  flatterndem  Haar,  in  weissem, 
langwallendem  Gewände,  mit  blitzschneller  Bewegung.  Ihr 
Walten  in  der  Natur  und  über  dem  menschlichen  Schicksale 
ist  unheimlich,  sie  sammeln  Wolken,  erregen  Wind  und 
Wetter,  in  der  Luft  schwebend  schiessen  sie  tödliche  Pfeile 
auf  die  Menschen  und  holen  diese  in  die  Unterwelt.  Bald 
stehen  sie  den  Menschen  hülfreich  bei,  besonders  ausgezeich- 
neten Helden,  bald  zeigen  sie  sich  äusserst  bösartig  und 
stiften  Mord  und  Todtschlag  unter  Brüdern. 

Die  nördlichen  und  östlichen  Slawen  nennen  die  Todes- 
göttin auch  Jaga-Baba,  die  in  Volksmärchen  als  scheussliches 
Weib  erscheint. 

Wie  der  Tod,  so  wurden  auch  Krankheiten  personificirt. 
Der  russische  Volksglaube  kennt  neun  Schwestern,  welche  die 
Menschen  mit  Fiebern  plagen.  Die  Litauer  glauben  an  die 
Pestjungfrau  (Morawa  dziewicza). 

Die  Wila  hat  namentlich  die  Phantasie  der  Serben  in 
Anspruch  genommen;  ihr  verfällt  das  Kind,  das  die  Mutter 
mit  unbesonnener  Rede  dem  Teufel  übergab.  1  Sie  reitet  auf 
einem  mit  Schlangen  aufgezäumten  Hirsch. 

Neben  den  Wilen  haben  die  Südslawen  noch  eine  Menge 
gespenstischer  Wesen:  das  Bergmännlein  Skratelj  ,  den  Wald- 
geist Divjimos,  den  Wassermann  Povodni  mos,  die  Dämonen 
Vrag,  Slodev,  Studir,  nach  heutigem  Sprachgebrauch  alle 
auf  den  Teufel  übertragen.  2 

Neben  Perkim  verehrten  die  preussisch-litauischen  Stämme 
noch  Potrimpos  als  Gott  des  Erntesegehs,  den  unterweltlichen 
Pikulos,  der  bei  Tage  als  oberweltlicher  Sonnengott  erscheint. 

Die  Wenden  verehrten  den  grossen  Swantowit  (Swia- 
towit),  der  sich3  blos  um  das  Himmlische  kümmern  und  allen 
übrigen    Gottheiten    an    Macht    überlegen     sein    soll.      Saxo 


1  Vuk,  Nr.  394. 

2  Vgl.  Grün,  Volksl.  aus  Krain,  155. 

3  Nach  Helmold,  Chron.  Slav.,  I,  53. 


172  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Grammati cus 1,  der  den  vom  Dänenkönig  Waldemar  zer- 
störten Tempel  zu  Arkona  beschreibt,  schildert  die  riesenhafte 
Bildsäule  des  Swantowit  als  vierköpfig,  den  linken  Arm  in 
die  Seite  gestemmt,  in  der  Rechten  ein  metallenes  Hörn,  das 
der  Priester  beim  grossen  Erntefest  jährlich  mit  Wein  füllte. 
In  diesem  Tempel  wurde  auch  das  weisse  Ross  gefüttert,  auf 
welchem  der  Gott  in  den  Krieg  zog.  Von  den  vielerlei  Er- 
klärungen2 nennt  Mone3  die  richtigste  die  durch  Sonnen- 
gott mit  dem  Nebenbegriff  der  Heiligkeit,  wonach  die  vier 
Häupter,  nach  den  vier  Weltgegenden  gerichtet,  dem  Begriffe 
des  Allvaters  entsprechen,  und  das  Füllhorn,  das  nie  ver- 
siegt, ein  Zeichen  des  Segens  wäre.  Nach  der  Ableitung  des 
Namens  Swiatowit  von  swjat,  Licht,  Welt,  adjeetivisch  swjaty, 
heilig4,  liegt  die  physische  und  ethische  Bedeutung  in  dem 
Ausdrucke. 

Neben  Swantowit  bestand  auf  der  Insel  Rügen  der  Cultus 
des  Rugiewit,  wahrscheinlich  eines  Kriegsgottes;  des 
Porewit  und  Porenut,  in  welchem  letztern  Zeuss5  den 
Perun  der  Slawen ,   Schafarik  6  aber   den  Czernobog    erkennt. 

Zu  Rethra  wurde  als  Hauptgottheit  Radegast  verehrt, 
der  mit  seiner  Doppelaxt  an  der  Linken  auf  einen  Kriegsgott 
hindeutet,  von  Schafarik7  als  Czernobog  ausgelegt  wird. 
Mone8  sieht  in  der  Doppelbildung  des  Angesichts  vom  Men- 
schen und  Löwen  die  doppelte  Natur  des  Gottes,  als  Bjelbog 
und  Czernobog,  ausgedrückt. 

In  Stettin  hatte  der  dreiköpfige  Triglaw  seinen  Haupt- 
cultusort.  Bekannt  ist  die  Bocksheiligung  unter  den  Slawen; 
Triglaw  wird  deshalb  mit  drei  Ziegenköpfen  dargestellt.9 

In  Jüterbogk  war  der  Morgensonnengott  Jutribog 
(jutro,  jitro,  der  Morgen)  heimisch. 

Die   Czechen  verehrten  nach   Palacky10  einen    höchsten 


1  Hist.  Dan.,  lib.  XIV. 

2  Frentzel  de  diis  sor.,  101—105. 

3  I,  198. 

4  Zeuss,  Die  Deutschen  und  ihre  Nachbarstäinuie,  35. 

5  A.  a.  0.,  41. 

6  Alterth.,  II,  614. 
'  II,  (515. 

8  I,  200. 

9  Hanka  zbjrka,  23. 
10  Gesch.  v.  Böhmen,  I,  57. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.  173 

Gott  Boh  (Beibog)  als  Schöpfer  der  Welt,  Urgrund  des 
Blitzes  und  des  Lichts,  der  hiernach  mit  Perun,  Perkuna, 
Svvantowit  zusammenfällt.  Als  Gegensatz  tritt  der  Czernobog 
der  Czechen  auf,  der,  obsehon  erst  später  in  der  Bedeutung 
eines  Höllengeistes  im  christlichen  Sinne  gefasst,  unter  dem 
Beinamen  Czart  (der  Schwarze)  doch  schon  früher  den  Dua- 
lismus beurkundet.  Nach  Hanusch1  bedeutet  Czernybog 
nicht  nur  etymologisch  den  schwarzen  Gott,  sondern  auch  im 
mythischen  Sprachgebrauch  den  bösen  Gott,  ja  im  slawischen 
Mythus  sind  Czernyboh  und  Zlyboh  nur  Synonyma.  Czerny- 
boh  ist  der  ursprüngliche  und  Zlyboh  der  daraus  gefolgerte, 
nicht  nur  das  moralisch  Böse,  sondern  vorzugsweise  physische 
Uebel;  Sturm,  Wind,  Erdbeben  sowie  Finsterniss  und  Kälte 
sind  seine  Aeusserungen.  Das  Andenken  Czernoboh's  in 
dieser  Beziehung  ist  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten. 
„Wenn  der  Sturmwind  im  Kreise  wirbelt  und  trockenen  Sand 
in    die    Höhe    treibt,    hält    der    böse    Geist    Zlyduch    seinen 

Tanz."2 

Dem  Czernybog  als  Gegensatz  zum  Beibog  wurden  blu- 
tige Opfer  dargebracht,  und  die  Schwarzgötter  wurden  unter 
der  Erde  wohnend  vorgestellt.  So  wie  Swantowit  an  der 
Spitze  der  slawischen  Lichtgötter  stand,  so  stellt  der  slawische 
Mythus  auch  einen  höchsten  Gott  der  Finsterniss  und  des 
Bösen  voran,  bei  verschiedenen  Stämmen  unter  verschiedenen 
Namen.      Bei   den  krainischen   Slawen   heisst  er  Vrag,  Ver- 

üster,  Tödter;  bei  den  WTenden:  Chaudak  oder  Chundak. 
Obsehon  der  Name  Vrag  nur  bei  einzelnen  Stämmen  in  der 
eigentlichen  Beziehung  auf  Czernobog  erhalten  ist,  so  ist  doch 
der  Ausdruck  Wrog  (Wrag,  Vrah)  ein   allgemein  slawischer, 

it  dessen  „Bedeutung  sich  die  Bedeutungen  des  Ausdrucks 
Kakodämon ,  Czart,  Diabel  stets  verknüpfen".  3 

Bei  allen  westlichen  Slawen  wurde,  nach  der  Behauptung 
Mone's4,  Pya,  auch  schlechtweg  Czernobog,  als  oberster 
Schwarzgott  erkannt,  dessen  Bild  ein  stehender  Löwe  war; 
ihm  zur  Seite  steht  der  Todesgott  Flins,  als  Gerippe  oder 
als  magerer  Mann  abgebildet,  einen  Löwen   auf  der  Schulter, 


1  S.  184. 

2  Klechdy,  I,  89. 

3  Hanusch,  184. 
*  I,  209. 


174  Erster  Abschnitt:  Der  religiöse  Dualismus. 

eine  brennende  Fackel  in  der  Hand.  Pya  und  Flins  deutet 
Mone  auf  gewaltsamen  Tod  in  der  Sohlacht,  auf  den  allein 
die  Auferstehung  folge,  mit  Beziehung  auf  die  Sachsenchronik  \ 
wo  der  Löwe  mit  seinem  Gebrülle  die  Todten  erweckt.  Sie 
wären  also  Schwarzgötter,  „weil  sie  das  Leben  gewaltsam 
zerbrachen,  aber  auch  gute  Götter,  Todtenerwecker,  und 
so  war  selbst  im  Czernobog  das  gute  Princip  nicht  zer- 
stört". 

Was  die  Thiergestalt  Czernobog's  betrifft,  der  aber  auch 
menschlich  abgebildet  wrurde  mit  charakteristischem  Drachen- 
oder Schlangenschwanze,  pflegt  ihm  gewöhnlich  die  Löwen- 
form zugeeignet  zu  werden ;  man  hat  aber  in  den  Abbildungen 
eher  die  Wolfs-  oder  Hundsgestalt  erkannt.  Grimm2  findet 
zwar  in  den  slawischen  Benennungen  des  Teufels,  polnisch  wrog, 
böhmisch  wrah,  serbisch-slowenisch  vrag,  die  Bedeutung  Uebel- 
thäter,  Bösewicht,  latro,  ausgedrückt,  führt  sie  aber  auf  das  alt- 
hochdeutsche warg  (lupus)  zurück.  Unter  den  obotritischen  Alter- 
thümern  liegt  Czernobog  in  Hundegestalt  auf  einer  schlangen- 
umwundenen Stange,  den  Mone  als  Mita  anführt  und  mit  dem 
deutschen  Höllenhund  vergleicht,  der  im  Dienste  der  Heia 
die  Schwelle  ihrer  Todeswohnung  bewacht. 

Hanusch  spricht  die  Vermuthung  aus,  Czernobog  sei  bei 
den  alten  Slawen  auch  in  Bocksgestalt  dargestellt  worden, 
weil  heutzutage  das  Heimschicken  zum  Bocke  (gdi  ke  kozlu) 
im  slawischen  Sprachgebrauch  die  Bedeutung  einer  Verwün- 
schung hat.  3 

Im  altpreussischen  Mythus  führt  der  oberste  Czernobog 
den  besondern  Namen  Puszczecz,  Verwüster;  im  Littaui- 
schen:  Puskaitis,  der  im  Finstern  unter  der  Erde  wohnt  und 
ein  unterirdisches  Reich  von  Dämonen  beherrscht,  welche  in 
Zwerggestalt  vorgestellt  und  Parstuki  (von  prst,  Daumen) 
Däumlinge,  aber  auch  Koltky  heissen,  im  Dunkeln  die  Men- 
schen mit  Neckereien  quälen  und  besonders  unter  Holunder- 
sträuchen ihr  Unwesen  treiben. 

Der  Gegensatz  zwischen  dem  frühlinghaften  Weben  und 
der  winterlichen  Erstarrung  wird  durch  die  Göttinnen  Ziewona 


1  Bogen,  S.  ö  a. 

2  D.  Mythologie,  3.  Ausg.,  94S. 

3  Dan.,  186. 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     175 

und  März  an  a  dargestellt,  wie  Wesna  und  Morana  den  Gegen- 
satz von  Leben  und  Tod  ausdrücken. 


Hebräer. 1 

Gegenüber  der  Ansieht,  welche  für  die  bedeutenden 
Zweige  des  Heidenthums  einen,  im  Verlaufe  der  Zeit  in  poly- 
theistische Vielheit  sich  zersplitternden  Monotheismus  in  An- 
spruch nimmt,  sucht  eine  andere  sich  geltend  zu  machen,  welche 
die  Bedeutsamkeit  des  Hebräervolks  darin  erblickt,  dass  dieses 
den  Monotheismus  zuerst  zum  Ausdruck  gebracht  und  ihm 
in  der  Geschichte  Raum  verschafft  habe.  Es  ist  schon  er- 
wähnt und  gezeigt  worden,  dass  erstere  Behauptung  theo- 
logische Sätze  mit  dem  Glaubensinhalt  verwechselt,  dass  alle 
altern  Speculationen  die  Frage  über  die  Entstehung  der  Welt 
zum  Gegenstande  haben  und  bei  ihrer  Lösung  auf  ein  Grund- 
princip  zurückkommen ;  in  Bezug  auf  die  andere  Annahme  ist 
zu  bemerken:  dass  sie  die  numerische  Einheit  als  das  primi- 
tive und  allein  wesentliche  Moment  betont,  das  doch  nur 
die  nothwendige  Folge  des  im  Gottesbegriffe  der  Hebräer 
gelegenen  Grundes  ist.  Die  hohe  Bedeutsamkeit  des  hebräi- 
schen Glaubensinhalts  liegt  in  dem  kennzeichnenden  Wesen 
des  hebräischen  religiösen  Bewusstseins,  welches  die  Gottheit 
als  rein  geistiges,  sittliches  Wesen  fasst  und  ihm  allein  be- 
rechtigte Macht  zuerkennt.  Ist  Gott  die  allein  berechtigte 
geistige  Macht,  so  folgt  nothwendig,  dass  neben  diesem  Ewi- 
gen, Heiligen,  der  darum  „der  Einzige"  ist,  kein  anderes 
Wesen  auf  Berechtigung  Anspruch  machen  kann,  und  so  hat 
die  numerische  Einheit,  der  hebräische  Monotheismus  den 
Grund  in  dem  Gottesbegriffe  selbst,  durch  den  sich  die  Religion 
der  Hebräer  von  allen  andern  vorchristlichen  Religionen  licht- 
voll abhebt  und  ihren  specifischen  Charakter  erhält.  Wenn 
auch  gesagt  werden  mag:  der  reine  Monotheismus  der  He- 
bräer sei  das  Resultat  ihrer  Geschichte,  so  liegt  doch  darin 
ausgesprochen,  dass  sich  dieses  Volk  habe  sauer  werden  lassen 
die  vergeistigte  religiöse  Anschauung  aus  sich   heraus  zu  ge- 


1  Wegen  des  engen  Zusammenhangs  zwischen  dem  Alten  und  dem 
darauffolgenden  Neuen  Testamente  werden  die  Hebräer  erst  hier  er- 
wähnt. 


17f>  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

baren,    um    hiermit    seine  weltgeschichtliche   Sendung  zu   er- 
füllen.    Die  vorzüglichen  Organe   bei  dieser  historischen  Ar- 
beit    waren    die    hebräischen    Propheten,     die    mit    keinen 
Sehern  anderer  Völker  des  Alterthums,  mit  deren  Mantik  und 
Orakeln  zu  vergleichen  sind,   weil  sie  weder   an   eine  äussere 
Stellung    gebunden,    noch    durch    äussere   Bevorrechtung    ihr 
Amt  verwalten,  sondern  mit  tiefster  Erregung  und  innerlicher 
Gewissheit  das  Höchste  und  Heilige,  was  sie  empfinden,   mit 
sittlicher   Reinheit   in   Jahve    concentriren    und   zum  höchsten 
göttlichen  Princip  erheben.    Von  diesem  übernatürlichen,  sitt- 
lichen Inhalte  erfüllt,  geht  ihr  Mund  über  und  sie  verkünden 
die  ewigen  Wahrheiten  im  Namen  des  ewigen,  heiligen  Einen 
Gottes,  als  dessen  Dolmetscher  sie  auftreten.     Diesem  supra- 
naturalen Gesichtspunkte  gegenüber  musste  die  sinnliche  An- 
schauung   der    syrischen    Culte    zermalmt    werden,    und    die 
Prophetie  konnte    den  Kern   der   sittlichen  Elemente,    die  im 
hebräischen  Volke   lagen,  herausentwickeln  und  zur  sittlichen 
Norm   zusammenfassen,    wonach   dem  heiligen   Gotte  ein   ge- 
rechtes  heiliges   Leben   zu  weihen   ist,    und   der   Gottesdienst 
nicht    durch    blose    äussere   Darbringung    von   Opfern    erfüllt 
wird.    Dies  ist  der  Endpunkt,  in  Avelchen  das  Jahvethum  aus- 
läuft.     Mit    dem    vorgeschichtlichen    Anfangspunkte    wurzelt 
dasselbe  allerdings  in  dem  Boden  der  Naturreligion,  aber  die 
o-anze   Geschichte   des   hebräischen   Volks   weist    deutlich    auf 
die   geistige,    sittliche  Fassung  des  Gottesbegriffs  hm,    denn 
überall,  wo  die  Menge  durch  die  Berührung  mit  andern  nicht- 
jahvistischen  Völkern  verleitet  wird,   ist  dies  als  Abfall  von 
Jahve,  als  theokratisches  Verbrechen  bezeichnet. 

In  der  vormosaischen  Zeit  verehrten  die  Söhne  Jakob's 
ihren  Schutz-  und  Stammgott,  wie  die  übrigen  semitischen 
Stämme,  deren  jeder  den  seinen  für  den  stärksten  erachtete. 
Es  wird  berichtet,  dass  die  Söhne  Jakob's  den  Herrn  ihres 
Stammes  anriefen,  der  im  Himmel  wohnt,  der  sich  im  Donner 
und  Blitz  verkündet,  der  in  der  Feuerflamme  erscheint,  ja 
selbst  wie  fressendes  Feuer  ist.  1  Es  ist  ein  starker  Gott, 
und  die  ältesten  Urkunden  bezeichnen  ihn  mit  El  „die  Macht".2 


'  2  Mos.  3,  2;  19,  16—18;  24,  17;    4  Mos.  16,  35;    3  Mos.  10,  2. 
2  Vgl.  Ewald,  Ueber  den  Gott  der  Erzväter,  in  Jahrbücher  der  bibl. 
Wissenschaft,  IX,  102;  X,  11,  Kote  1. 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     177 

Darin,  dass  jeder  der  semitischen  Stämme  seinen  Schutzgott 
für  den  mächtigsten  hielt ,  wie  der  Hebräer  den  seinigen  *, 
liegt  schon  angedeutet,  dass  der  Monismus  nur  in  relativer 
Weise  hinsichtlich  der  Kraft  existirte,  daher  noch  nicht  von 
einem  monotheistischen  Gottesbegriffe  die  Rede  sein  kann. 
Damit  in  Verbindung  steht  die  Anerkennung  anderer  gött- 
licher Wesen  neben  dem  Gott  in  der  Höhe,  wie  unter  anderm 
aus  dem  Gebrauche  der  Teraphim,  aus  den  übriggebliebenen 
Namen  der  Cherubim,  Seraphim  hervorgeht,  und  selbst  Ezechiel2 
versichert,  dass  die  Hebräer  in  der  Wüste  den  Götzen  ihrer 
Väter  gedient  haben.  So  gehört  der  Name  Elohim,  der  von 
überirdischen  Wesen,  .von  heidnischen  Göttern,  von  guten 
Engeln,  selbst  von  Menschen,  die  als  Fürsten  über  andere 
die  Macht  haben ,  gebraucht  wird ,  einer  Zeit  an ,  wo  die 
Stammväter  noch  Göttern  dienten.  3  Obschon  die  Götter 
des  Heidenthums  auch  Elilim,  nichtige  Wesen,  genannt  wer- 
den, denen  kein  wahres  göttliches  Sein  zukommt,  so  ist  ihnen 
anderwärts  doch  wieder  Realität  zuerkannt,  und  Jahve  wird 
in  dieser  Beziehung  zum  „Gott  aller  Götter".4  Es  ist  un- 
zweifelhaft, dass  die  ältesten  Vorfahren  der  Hebräer  eine 
Mehrheit  göttlicher  Wesen  anerkannt  und  verehrt  haben,  deren 
verblasste  Spuren  wir  in  der  spätem  Religionsanschauung 
Israels  als  Erinnerungszeichen  an  die  Urzeit  antreffen.  Für 
den  vorliegenden  Zweck  ist  der  aus  vormosaischer  Zeit  her- 
stammende Azazel  zu  erwähnen,  der  besonders  dadurch 
merkwürdig  erscheint,  dass  er  trotz  dem  ernsten,  die  Ge- 
schichte der  Hebräer  hindurchziehenden  Streben  den  supra- 
naturalen Monotheismus  zur  Geltung  zu  bringen,  auf  einen 
Dualismus  hinweist,  der  freilich  ebenso  leise  und  undeutlich 
hindurchklingt,  als  die  Conturen  des  Azazel  selbst  unklar  und 
verwischt  erscheinen. 

"  Bevor  das  Hebräervolk  der  allgemeinen  Freude  am  Laub- 
hüttenfeste sich  hingab,  sollten  nach  dem  Gesetze,  am  grossen 
Sühntage,  dem  Versöhnungsfeste,  am  zehnten  Tage  des  sieben- 
ten Monats,  alle  Missethaten,  wodurch  die  Gemeinde  Jahve's 


1  Vgl.  2  Mos.  18,  11;  15,  11:  4  Mos.  14,  15;  Rieht.  11,  24. 

2  20,  8.  13.  24. 

3  Jos.  24,  2.  14  fg. 

4  5  Mos.  10,  17;    Ps.  136,  2.  3. 

Roskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  -J2 


178  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

das  Jahr  hindurch  verunreinigt  worden,  getilgt  werden.     Das 
Gesetz  macht  diesen  Tag   nicht  nur   zu  einem  vollkommenen 
Sabbat,    wo  alle  gewöhnlichen  Geschäfte  abseits  liegen  blei- 
ben mussten,  es  fordert  auch  ein  gänzliches  Fasten  vom  Abend 
des  neunten  bis  zu  dem  des  zehnten,  das  einzige  vom  Jahve- 
thum    vorgeschriebene    Fasten.      Das    Gesetz    fordert    hiermit 
vom  Jahvediener  ein  möglichst  vollkommenes  Fallenlassen  der 
Sinnlichkeit  und  des  irdischen  Getriebes,   rein   geistiges  Ver- 
halten seiner  Gottheit  gegenüber,    ein   gänzliches  Abstrahiren 
von  aller  Weltlichkeit,  wie  es  nur  einem  rein  geistigen,  über- 
weltlichen   göttlichen   Wesen   gegenüber  zur   Pflicht   gemacht 
werden  kann,   wo   dies    den   Gottesbegriff  ausmacht,    da    die 
Summe    der    religiösen  Pflichten    stets    das   Correlat   ist   zum 
religiösen  Bewusstsein  und  zu  dessen  Gottesbegriff.    Am  Sühn- 
tage, diesem  potenzirten  Sabbat,  war  auch  ein  ausserge wohn- 
liches  Sühnopfer    darzubringen.     Da    auch    die    Priester    und 
selbst    das    Heiligthum    der    Sühne    bedürftig    erschienen,    so 
sollte  der  Hohepriester,  die  übrigen  Priester   und    auch    der 
Tempel  an  diesem  Tage  gereinigt  werden.     Der  Hohepriester 
musste   über   zwei   vor   das   Heiligthum   gestellte  Ziegenböcke 
das  Los  werfen,  von  denen  der  eine  dem  Jahve,   der   andere 
dem  Azazel  bestimmt  war.     Hierauf  ward  vom  Hohenpriester 
für  sich  und  sein  Haus  ein  Opfer  gebracht,    er  trat  mit  dem 
Opferblute   in   das   innere   Heiligthum   des   Tempels,  sprengte 
es   gegen    die   Bundeslade    und    opferte   hierauf   nach    seinem 
Austritte  den  Ziegenbock,  den  das  Los  „für  Jahve"  getroffen 
hatte,    mit    dessen   Blute    er    abermals    die   Besprengung   des 
Heiligthums  vollführte.    Nach  dieser  Entsühnung  des  Priester- 
thums  und  Heiligthums  legte   er   seine   Hände  auf  den  Kopf 
des  „für  Azazel"  bestimmten  Bocks,   unter  dem  Bekenntniss 
aller    Vergehungen    und    Uebertretungen    des    Volkes    Israel, 
die   er   hiermit    auf   diesen   Bock  übertrug,    der  durch    einen 
bereit  stehenden  Mann   in  die  Wüste   gebracht  wurde.  l     Mit 
Uebergehung  des  übrigen,  dem  Mosethum  entsprechenden  Bei- 
werks,   sowie    der    Bedeutung    der   Einzelheiten    des    Festes, 
das  von  den  meisten  als  echt  mosaische  Einrichtung  gehalten 
wird,  soll  hier  nur  der  Brauch  mit   dem  durch   das   Los    für 
Azazel  bestimmten  Bocke  herausgehoben  werden. 


1  3  Mos.  IG. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     1 79 

Die  Annahme,  dass  unter  Azazel,  dessen  Name  nur 
3  Mos.  IG,  3 — 10.  27  erwähnt  wird,  ein  persönliches  Wesen 
zu  verstehen  sei,  hat  heutigentags  so  ziemlich  die  Oberhand 
gewonnen,  sowie  dass  als  dessen  Aufenthalt  die  Wüste  ge- 
dacht sei  und  der  Bock  die  Bestimmung  habe,  dahin  gebracht 
zu  werden.  Ersteres  geht  aus  der  Stellung  hervor,  in  welche 
Azazel  dem  Jahve  gegenüber  gebracht  wird,  welche  ein  diesem 
gegensätzliches,  also  böses  Wesen  nothwendig  macht.  Die 
Bedenklichkeiten  gegen  diese,  als  dem  monotheistischen  Jahvis- 
mus  widerstreitende  Erklärung  sind  von  einem  Dogmatismus 
ausgegangen,  der  kein  Auge  für  geschichtliche  Entwickelnng 
zu  haben  pflegt  und  das  Ergebniss  der  Geschichte  gewöhnlich 
schon  am  Anfange  derselben  als  fertig  und  abgeschlossen  zu 
erblicken  wähnt.  Aus  dogmatischer  Scheu  deuteten  die  Ael- 
tern  das  Wort  Azazel  auf  eine  Oertlichkeit  in  der  Wüste, 
ein  rauhes  Gebirge  oder  Einöde  überhaupt,  was  aber  wegen 
des  erheischten  Gegensatzes  zu  Jahve,  der  ein  persönliches 
Wesen  verlangt,  mit  Recht  als  antiquirt  betrachtet  wird,  ab- 
gesehen davon,  dass  die  Wüste  a.  a.  O.  und  V.  22  mit  an- 
dern Wörtern  ausdrückliche  Erwähnung  findet.  Der  noth- 
wendige  Gegensatz  gefährdet  auch  die  Deutung  des  dunkeln 
Wortes  Azazel  durch  „zu  gänzlicher  Wegschaflung",  welche 
an  der  Hand  der  Philologie,  nach  dem  Vorgange  Ewald's  *, 
Eingang  gefunden  hat,  wo  das  Wort  als  eine  Steigerungsform 
von  bTN,  weggehen,  betrachtet,  gleichbedeutend  mit  a7C07Cou.7calo? 
(wie  die  LXX  übersetzen)  einen  Unhold  bezeichnen  würde, 
den  man  von  sich  weist.'2  Nach  dieser  Fassung  wäre  unter 
Azazel  der  Bock  selbst  gemeint  und  so  genannt,  wogegen 
dieser  doch  durch  das  Los  bestimmt  wird,  mit  der  Sündenlast 
nach  der  Wüste  zu  gehen  zu  Azazel. 3  Abgesehen  von  dieser 
Verwechselung  des  Bocks  mit  dem  Kakodämon  in  der  Wüste, 
der  bei  dem  Gebrauche  doch  vorschwebt,  wäre  diese  Erklä- 
rung mit  dem  Zwecke  des  Festes  allerdings  im  Einklänge, 
wo  es  sich   um   gänzliche  Wegschaffung   aller  Unreinheit   aus 


1  Krit.  Grammatik,  S.  243 ;  Ausführliches  Lehrbuch  der  hebräischen 
Sprache,  G.  Aufl.,  §.  158  c. 

2  Vgl.  Ewald,  Alterthümer,  1.  Aufl.,  370,  Note  1;  E.Meier,  Wurzel- 
wörterbuch: hw  =  Vts  abwenden,  wobei  aber  die  Endsylbe  bx  kaum 
die  Erledigung  findet  wie  durch  die  Ewald'sche  Etymologie. 

3  V.  29. 


1 


o* 


180  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

der  Gemeinde  handelt.  Es  stünde  die  Annahme  zur  Hand, 
Azazel  habe  sich  aus  infinitiver  Steigerungsform  im  Verlaufe 
der  Zeit  zu  einem  Nomen  proprium  herangebildet  oder  viel- 
leicht umgekehrt,  wofür  das  Schwankende  der  alexandrini- 
schen  Uebersetzung  angeführt  werden  konnte,  die  das  Wort 
bald  als  Concretum  l,  bald  als  Abstractum  2  überträgt.  Hier- 
bei müsste  aber  auch  eine  Uebertragung  des  Wortes  auf  den 
Dämon  in  der  Wüste  angenommen  werden.  Indess  der  Hin- 
weis auf  analoge  Wortbildungen,  welche  Concreta  bezeich- 
nen 3,  wonach  auch  unser  Wort  Azazel  als  Concretum  aufzu- 
fassen ist,  nimmt  der  Hypothese  von  einem  Umwandlungs- 
processe  den  Haltpunkt,  und  so  bleibt  nur  zu  bekennen  übrig, 
dass  das  dunkle  Wort  Azazel  von  sprachlicher  Seite  kaum 
eine  genügende  Beleuchtung  zu  erwarten  hat. 

Sprachliche  Schwierigkeit  macht  auch  das  vb3>  nesb,  V.  10, 
wobei  die  Exegese  die  Bedeutung  des  Piel  mit  der  Präposi- 
tion V5>  nach  dem  üblichen  Gebrauche  „sühnen"  urgiren  zu 
müssen  glaubt,  wonach  im  vorliegenden  Falle  der  Bock,  und 
nicht  mit  oder  durch  ihn  gesühnt  werden  soll.  Liesse  es 
sich  sprachlich  rechtfertigen,  den  Steigerungsstamm  in  der 
Bedeutung  von  Kai  zu  fassen 4  und  mit  b$  construirt  die 
Stelle  zu  übersetzen:  „und  zudecken  über  ihn",  d.  h.  ihn  zu 
bedecken,  nämlich  mit  den  Sünden  des  Volks,  dann  wäre  die 
Schwierigkeit  gehoben  und  der  Ritus  der  Bestimmung  des 
Bocks,  mit  den  Sünden  bedeckt  nach  der  Wüste  zu  gehen, 
ganz  angemessen.  Denn  der  Sinn  des  Vorgangs  mit  dem 
Bocke  kann  doch  kein  anderer  sein,  als  dass  dieser,  mit  der 
Sündenlast  des  Volks  bedeckt  oder  belastet,  diese  davontrage, 
nämlich  aus  der  Mitte  der  Gemeinde  Jahve's  nach  der  Wüste. 5 
Darin  liegt  die  Wirkung  der  Sendung  des  Bocks,  dass  er  die 
Gesammtsünde  des  Volks  hinwegschafft  aus  der  Gemeinde, 
die  am  Versöhnungstage  alles  Unreine   aus   ihrer  Mitte  ent- 


1  V.  8.  10. 

2  V.  26. 

3  Gesenius,  Lelirgeb.,  S.  497.  24.  535  fg.;  Gramm.  §.  83,  23;  Ewald, 
Ausführl.  Lehrb.,  a.  a.  0. 

*  Vgl.  1  Mos.  6,  14,  wo  es  in  der  Bedeutung  „bestreichen,  über- 
ziehen" steht. 

5  So  auch  Diestel  in  seiner  Abhandlung,  Set-Typhon  etc.,  S.  195, 
Note  127. 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     181 

fernen  will.  In  diesem  Sinne  kann  Winer  x  und  Vaihinger 2 
allerdings  auf  das  Analogon  des  Reinigungsopfers  3  hinweisen, 
wo  der  Sperling  losgelassen  wird,  um  die  Unreinheit  des 
Aussätzigen  symbolisch  wegzunehmen.  Der  Bock  ist  also 
kein  Opfer,  welches  dem  in  der  Wüste  hausenden  Azazel  ge- 
bracht werden  soll,  sonst  müsste  er  geschlachtet  werden,  er 
bleibt  lebendig  und  muss  es  bleiben,  um  das  Botengeschäft 
verrichten  zu  können,  er  wird  nur  in  dem  Sinne  geopfert, 
d.  h.  dahingegeben,  um  diese  Bestimmung  zu  erfüllen.  Nur 
der  durch  das  Los  für  Jahve  bestimmte  Bock  fällt  als  wirk- 
liches Opfer,  er  wird  geschlachtet  und  mit  seinem  Blute  die 
Sühnungsceremonie  unternommen.  Welcher  der  beiden  Böcke 
hinweofffeschafft  werden  soll,  um   mit  ihm  und  durch   ihn  die 

Do  ' 

Sündenlast  zu  beseitigen,  kann  immerhin  durch  das  Los  be- 
stimmt werden,  ohne  dessen  heilige  Bedeutung  dadurch  zu  be- 
einträchtigen. So  entscheidet  Jahve,  welchen  Bock  er  sich 
zum  Opfer  geschlachtet  und  welchen  er  aus  der  Gemeinde 
mit  der  Gesammtsünde  entfernt  wissen  will.  4 

Die  Vorstellung  vom  Azazel  erscheint  in  der  biblischen 
Stelle  „als  eine  sehr  verblasste,  wie  eine  Ruine"  *,  und  sie  ist 
auch  eine  solche,  wie  sie  auch  Ewald6  für  einen  „Rest  vor- 
mosaischer Religion"  betrachtet.  Die  Frage  aber:  woher  die- 
ser Ueberrest  stamme?  wird  verschieden  beantwortet.  Movers7 
sieht  einen  Rest  phönizischen  Molochdienstes  in  Aegypten, 
der  sich  im  Hebraismus  erhalten  habe,  wo  Movers  den  phö- 
nizischen Moloch  mit  dem  ägyptischen  Set  in  Zusammenhang 
setzt  auf  Grund  der  Sühnungsweise  8,  wonach  dem  Typhon 
zu  Ehren  jährlich  ein  Opfer  dargebracht,  wie  der  Bock  dem 
Azazel  in  die  Wüste  zugeschickt  wurde,  um  den  Moloch  zu 
sühnen.     Es  braucht  nicht  wiederholt  zu  werden,  dass  in  der 


1  Biblisches  Realwörterbuch,  Art.  Versöhnungsfest,  660. 

2  Herzog,  Realencyklopäd.,  Azazel. 

3  3  Mos.  14,  6.  7,  bei  Herzog  durch  einen  Druckfehler   4  Mos.  an- 
gegeben. 

4  Hiermit   verliert    Hengstenberg's    Einwand   jede   Stütze,    vgl.   die 
Bücher  Mose's  und  Aegypten,  169,  Nr.  1.  2.  3. 

8  Diestel  a.  a.  0.,  195. 

6  Alterth.  370. 

7  Phönizien,  I,  367. 

8  Plut.  de  Is.,  c.  73 ;  Macrob.,  Sat,  III,  7. 


182  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

biblischen  Schilderung  des  Sühntags  vom  Opfern  des  Sünden- 
bocks   im   theokratischen    Sinne   keine   Rede   ist,    daher   auch 
die  von  Movers  angestrebte  Vereinbarung  mit  dem  Sühnopfer 
dem   Set   oder  Moloch   dargebracht,    als    ein   Misgriff  zu  be- 
trachten sein  dürfte.     Hengstenberg,   der   in  Azazel    den  fer- 
tigen Teufel  erkennen  will,  aber  weder  die  specifischen  Merk- 
male des  Satans  bei  Hiob,  noch  die  des  spätem  jüdischen  oder 
des  neutestamentlichen  hafioXoc,  mit  dem  des  Azazel  nachweist, 
was    mit  Diestel    gefordert   werden   muss,    bezieht    denselben 
ebenfalls  auf  den  ägyptischen  Set-Typhon,  mit  dem  er  ebenso 
weit    zu    reichen    meint    als    mit    dem    persischen    Ahriman.  1 
„Der  Bock  wird  lebendig  in  die  Wüste  entsandt",  sagt  Heng- 
stenberg.    „Nach  alttestamentlichen  Begriffen   aber  kann  kein 
animalisches   Opfer   ohne  Blutvergiessen    stattfinden."  -     Dies 
ist  ganz    richtig;    unklar  ist   aber   die  von   Hengstenberg   an- 
genommene    „polemische"    Beziehung.       „Im     Gegensatze 
gegen  die  ägyptische  Ansicht,  welche  das  Eingehen  eines  Ver- 
hältnisses  auch   zu    den   bösen   Mächten   durchaus   für   nöthig 
hielt,    wenn  man  sich  gegen   sie   sichern   wollte,    sollte   Israel 
durch  diesen  Ritus  zum  tiefsten  Bewusstsein  gebracht  werden, 
dass  alles  Leid  Strafe  des  gerechten   und  heiligen  Gottes  sei, 
den  es  durch  seine  Sünden  erzürnt  habe,  dass  es  nur  mit  ihm 
sich  abfinden  müsse  u.  s.  f."  —  „Der  ganze  Ritus  steht  doch 
deutlich  in  Beziehung  auf  eine  bestimmte  Praxis,  sich  mit  der 
bösen  Macht  abzufinden,  setzt  förmliche  Opfer  voraus,  die  ihr 
dargebracht  wurden,  dergleichen  aus  israelitischem  Boden  nie 
erwachsen  ist."  3     Das  Widersprechende  in  dieser  Erörterung 
liegt  auf  der  Hand:  der  Bock  soll  kein  Opfer  sein,  und  doch 
soll  sich  Israel  durch  ihn  mit  dem  Satan  abfinden,  d.  h.  doch 
nichts  anderes  als:  er  soll  dem  Satan  als  Opfer  zur  Sühnung 
zugesendet    werden.      Auch  Diestel    findet  Widerspruch    und 
Dunkelheit  in  Hengstenberg's  Raisonnement,    und   so  wird  es 
wol  jedem    ergehen.     Man   kann    nur    vermuthungsweise  den 
Sinn  darin  finden:   dass  im  israelitischen  Bewusstsein  die  Er- 
innerung aus  Aegypten   an  Set   und    das  ihm  darzubringende 
Sühnopfer  aufbewahrt   und   in   dem   Ritus    dargestellt  worden 


1  Hengstenberg  a.  a.  0.,  S.  175. 
-  S.  172. 
3  S.  17!)  fg. 


4.    Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     183 

sei,  worin  aber  durchaus  nichts  Polemisches  liegt.  Polemisch 
konnte  man  höchstens  finden,  dass  die  ägyptische  Gottheit 
Set  im  israelitischen  Azazel  zu  einem  bösen  Dämon  herab- 
gedrückt ist,  welche  polemische  Wirkung  in  allen  religiösen 
Anschauungen,  die  mit  andern  in  Conflict  gerathen,  stattzu- 
finden pflegt.  —  Mit  Uebergehung  der  übrigen  Vertreter  der 
Ableitung  des  israelitischen  Azazel  aus  Aegypten,  sowie  der- 
jenigen, welche  die  unhaltbare  Ansicht  vom  Satan  hegen,  soll 
auf  die  in  neuerer  Zeit  von  Fürst  l  und  Diestel 2  hervorge- 
hobene Ansicht  hingewiesen  werden,  wonach  Azazel  als  „Rest 
früherer  Bildungsepochen"  des  Semitismus  aufgefasst  wird.  Hier- 
nach ist  Azazel  zusammengesetzt  aus  TT?,  der  Starke,  und  bfct, 
der  Bezeichnung  für  höhere  Wesen,  nach  Fürst  „die  Kraft" 
oder  „Macht  Gottes",  im  spätem  Sinne  „Trotz  gegen  Gott". 
Es  wird  hingewiesen:  auf  den  phönizischen  Gott  nr,  dem 
die  gewaltsamen  Einwirkungen  der  Sonne  zugeschrieben  wur- 
den; den  Eigennamen  Belesys,  der  als  n«Haö,  d.  h.  Bei  der 
Starke,  zu  deuten  sei;  auf  das  Promontorium  Martis,  Rusaziz, 
d.h.  rT^-iD&n,  das  Haupt  des  Starken,  an  der  punischen  Küste; 
auf  den  Mars  zu  Edessa,  der  "A£i£os,  der  Starke,  Gewaltige, 
genannt  wurde;  auf  eine  Gottheit  der  Harranier,  Azur,  wor- 
unter eine  männliche  Gottheit  zu  verstehen  sei,  deren  Gült 
als  ein  sehr  alter  erscheint.  Das  Stammwort  TT?,  das  auch 
zur  Bildung  der  Namen  weiblicher  Gottheiten  diente,  er- 
scheine in  der  Gottheit  Uzzah  im  Hedjaz,  deren  Cult  sich 
bis  auf  die  sinaitische  Halbinsel  ausdehnte.  Azazel  hiesse 
demnach  „der  Starke  Gottes"  und  müsse  früher  ein  engel- 
artiges Wesen  bezeichnet  haben  und  „nur  eine  Vermittelung 
gewesen  sein  zwischen  dem  höchsten  Gott  und  seiner  Wirk- 
samkeit auf  die  Welt".  3  Diese  Erklärung,  die  sich  sowol 
in  sprachlicher  als  religionsgeschichtlicher  Hinsicht  empfiehlt, 
übersieht  ein  charakteristisches  Merkmal,  das  in  der  trümmer- 
haften biblischen  Schilderung  erhalten  und  als  wesentlich  zu 
betrachten  ist.  Es  ist  die  Wüste  als  Aufenthalt  des  Azazel, 
als    Stätte    der    Unreinheit    gedacht.      Diese    gehört    zu    den 


1  Hebr.-chald.  Handwörterbuch  s.  v.  Azazel. 

2  In   der   öfter   angeführten  Abhandlung:  „Set-Typhon,   Asahel   und 
Satan"  in  der  Zeitschrift  für  historische  Theologie,  1860. 

3  Diestel,  S.  20. 


184  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus 


6 


wesentlichen  Zügen  in  der  Zeichnung  des  Sühnacts  und  hängt 
mit  der  Bedeutung  des  ganzen  Versöhnungsfestes  zusammen. 
An  diesem  soll  ganz  Israel  sich  gründlich  reinigen,  die  Ge- 
sammtunreinheit wird  dem  Bocke  aufgeladen,  damit  er  sie  an 
die  Stätte  trage,  wo  die  Unreinheit  herrscht,  nämlich  die 
"Wüste.  Eben  die  Wüste  leitet  auf  die  Spur,  woher  die  Dar- 
stellung vom  Azazel  als  eine  verblasste  Erinnerung  abzuleiten 
sein  dürfte.  Diese  Spur  leitet  nach  Aegypten  zu  Set,  der  in 
der  Wüste  haust,  dort  den  Glutwind  hervorbringt,  überhaupt 
alles  Uebel  im  Natur-  und  Menschenleben  verursacht.  In 
dem  hebräischen  Azazel  ist  dieses  Attribut  ganz  abgestreift, 
nirgends  eine  Erwähnung,  dass  er  natürliches  oder  ethisches 
Uebel  bewirke;  die  Kraft  des  jahvistischen  Princips,  das  ge- 
rade am  Sühntage,  diesem  erhöhten  Sabbat,  zum  Ausdruck 
kommt,  hat  die  naturalistische  Bedeutung  des  ägyptischen 
Set  ganz  abgethan  und  den  Azazel  als  schemenhafte  Er- 
innerung stehen  gelassen.  Bei  der  Vorstellung  von  der  Wüste 
als  Aufenthalt  oder  Stätte  der  Unreinheit  bildet  nun  Azazel 
nur  die  Staffage  in  der  Landschaft.  In  dieser  Schemenhaftig- 
keit  liegt  auch  der  Grund,  warum  dem  Azazel  nirgends  die 
Fähigkeit,  gewisse  Uebel  oder  Plagen  hervorzubringen,  zuge- 
schrieben werden  kann,  warum  er  in  den  Reinheitsgesetzen 
nicht  erwähnt  wird,  da  er  nicht  als  Hervorbringer  der  Un- 
reinheit auftritt.  Er  ist  keine  Macht,  sondern  nur  eine  in 
der  Erinnerung  stehen  gebliebene  skizzenhafte  Gestalt,  er  kann 
höchstens  die  personificirte  Unreinheit  genannt  werden,  und 
nur  als  solche  steht  er  Jahve  gegenüber.  Da  Azazel  keine 
Macht  ist,  welche  zu  versöhnen  wäre,  wird  ihm  auch  kein 
Opfer  dargebracht.  Nur  unter  dieser  Voraussetzung  konnte 
der  Brauch  in  die  Feier  des  Festes  gesetzlich  aufgenommen 
werden,  welches  letztere,  ausser  von  George  und  Valke,  doch 
als   ein  mosaisches   betrachtet  wird.  l     Nach  Azazel's  Aufent- 


1  R.  Dozy  (Die  Israeliten  in  Mekka  von  David's  Zeit  bis  in  das  5.  Jahrb., 
aus  dem  Holländischen,  18G4)  sieht  in  Azazel  eine  Umsetzung  der  Buch- 
staben J  und  x,  die  nichts  anders  ist  als  eine  Aenderung  der  spätem  Ju- 
den, die  es  anstössig  fanden ,  dass  ;s  im  Namen  eines  Kakodämon  vor- 
kommen sollte.  (S.  8,  Note  2.)  Der  Name  bedeutet  also:  Gott  ist  mäch- 
tig, oder  mächtiger  Gott.  —  Dozy,  der  in  Azazel  einen  bösen  Geist  der 
Wüste  sieht,  sucht  die  Schwierigkeit,  dass  dieses  „gewiss  nicht  unbedeu- 
tende Wesen"  nur  hier  vorkommt,  sonst  nirgends  erwähnt  wird,  auf  be- 
queme Weise  dadurch   zu   beseitigen,    in    Erwägung,    dass    die  jüdische 


4.   Dualismus  in  den  Religionen  der  Culturvölker  des  Alterthums.     185 

halt,   der  Wüste,    wird    die  angesammelte   Sündenlast  hinge- 
schafft,   da  Unreinheit    und   Sünde    verwandte   Begriffe   sind. 
Selbst    in   der  hebräischen   Vorstellung    von   der   Wüste,    als 
Aufenthalt  Azazel's,    die   in   Aegypten   ihren  natürlichen  An- 
knüpfungspunkt hat,  ist  die  natürliche  Bedeutung  abgestreift. 
Sie  bekommt    die   Bedeutung   der   Gegensätzlichkeit  zur   Ge- 
meinde Jahve's  und  dessen  Heiligthum.    Wie  bei  dem  hebräi- 
schen Centralisirungsstreben  die  Gottheit  im  Heiligthum,  be- 
sonders   in    der    Bundeslade    gegenwärtig   gedacht    wird,    im 
weitern   Sinne  innerhalb    des   Landes  Palästina,    in    der  vor- 
palästinischen  Zeit    innerhalb    des  Lagers    der  Kinder  Israel, 
des  reinen  Volks  par-excellence:  so  ist  die  Wüste  die  Stätte, 
wo  die  Gegenwart  Jahve's  vermisst  wird,  wo  also  nicht  Rein- 
heit,  sondern  Unreinheit  herrscht.     Daher  konnte   später  die 
Wüste   mit    mancherlei   Unholden    bevölkert    und    im    Neuen 
Testament  als  der  Tummelplatz  der  Dämonen  betrachtet  wer- 
den.    Wird  Azazel   als    blose  Personifikation    der   Unreinheit 
2-efasst,  der  daher  auch  in  der  Wüste,  der  Stätte  der  Unrein- 
heit,  haust,  nicht  aber  als  böses  Princip,   als  Veranlasser  der 
Sünde:    so  fällt  auch  die  Schwierigkeit,    auf  welche  Diestel  1 
aufmerksam  macht,   wonach  „die  Fassung  Typhon's  als  böses 
Princip   in   voller  Ausschliesslichkeit"    viel    später   zu    setzen 
wäre   als  Mose.     Wie   derselbe  Gelehrte  annimmt,   mag   „der 
überwiegend  allgemeine  Hass  gegen  Set  in  Aegypten"  immer- 
hin „erst  nach    der  Kamessidenzeit"  platzgegriffen   haben,  so 
lieo-t  es  in  der  Natur  der  Sache,    dass    die   natürliche  Bedeu- 
tuno-  des  Set,  als  Veranlasser  des  verderblichen  Wüstenwindes, 
der  ethischen  Bedeutung  vorausgeht  und   älter  sein  muss  als 
diese,     demnach    zur    Zeit    des    Aufenthalts    der    Hebräer    in 
Aegypten  schon   gangbar  war  und  ihnen,    die  gerade   in  der 
Nachbarschaft  der  Gegend  siedelten,  wo  Set  hauste,  bekannt 
werden  musste.     Diese  Vorstellung  von  Set  und   der  Wüste, 
die   zur  Zeit  des  Auszugs   aus  Aegypten    (der    nach  Diestel 
wahrscheinlich  schon  1493,  also  längere  Zeit  vor  den  Rames- 
siden,    stattgefunden   hat)    noch    nicht   zum  ausschliesslichen 


Dämonologie  aus  Babylon  heranstamme,  dass  man  mit  George  (Aeltere 
jüdische  Feste,  291)  und  Vatke  (Bibl.  Theologie,  I,  548)  den  grossen  Ver- 
söhnungstag als  in-  oder  nach  exilisch  anerkennen  müsse  und  somit  auch 
die  betreffenden  Gesetze  in-  oder  nachexilisch  geschrieben  worden  seien. 
1  S.  197. 


Igß  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

bösen  Princip  ausgebildet  war,  konnte  in  der  Erinnerung  der 
Hebräer  unter  dem  mosaischen  Rigorismus  um  so  eher  er- 
blassen, sodass  nur  eine  schemenhafte  Persönlichkeit  in  dem 
Azazel  der  Wüste  übrigblieb,  ohne  bestimmte  Farbe  und 
Umrisse.  Die  Vorstellung  vom  Azazel  bringt  es  in  der  That 
auch  nicht  „zu  einem  entschiedenen  Dualismus",  denn  er  ist 
weder  Ursache  der  Uebel  noch  Urheber  der  menschlichen 
Sünde,  weil  er  beim  Versöhnungsfeste  überhaupt  nicht  als 
eine  Macht  dargestellt  ist,  deshalb  ihm  auch  der  Bock  nicht 
als  Sühnopfer  wird,  wie  Diestel  richtig  bemerkt:  „dass  der 
Israelit  bei  jenem  Ritus  unmöglich  an  eine  Opferhandlung 
denken  konnte,  sondern  nur  an  Ausstossung  und  Verbannung. 
Denn  keines  der  Merkmale,  welche  ein  israelitisches  Opfer 
bildeten,  findet  sich  bei  dem  Wüstenbocke,  nur  der  Jehova- 
bock  ist  ein  rechtes  und  eigentliches  Opfer".  1 

Nach  unserm  Erklärungsversuche  erscheint  Azazel  am 
Versöhnungsfeste  lediglich  als  personificirte  Unreinheit  und 
steht  mit  der  Sünde  Israels  in  demselben  verwandtschaftlichen 
Verhältniss,  in  welchem  diese  zu  jener  steht.  Azazel  ist  keine 
Macht,  zu  deren  Sühne  ein  Opfer  dargebracht  würde,  und  der 
Dualismus,  der  durch  ihn  sich  herausstellt,  ist  eben  nur  ein 
schattenhafter.  Er  ist  nur  die  Personification  der  abstracten 
Unreinheit   gegenüber  der   absoluten  Reinheit  Jahve's,    er   ist 

DO  J 

nur  ein  Schattenbild  ohne  Realität   gegenüber   der  allein  rea- 
len Macht  Jahve's. 


5.   Der  Satan  im  Alten  Testament. 

In  deutlichem  Umrissen  steht  der  Satan  im  Buche  Hiob, 
das  nicht  nur  in  dieser  Beziehung,  sondern  auch  darum  merk- 
würdig ist,  weil  es  in  der  hebräischen  Anschauung  einen  be- 
deutsamen Wendepunkt  aufweist.  Die  Wahrnehmung  des 
letztern  macht  es  allein  schon  unmöglich,  diese  Schrift  für 
eine  der  ältesten  der  hebräischen  Literatur  zu  halten.  Der 
althebräische  Glaube  setzt  alle  Macht  nur  in  Jahve  und  alles 
in  schlechthinige  Abhängigkeit  von  ihm,  also  auch  die  äussern 

O  DO  ' 

Umstände    des   Menschen,    welche    dem   Verhalten    desselben 
der  Gottheit  gegenüber  entsprechend  gedacht  werden.    Erfreut 

1  S.  204. 


5.    Der  Satan  im  Alten  Testament.  187 

sich  der  Israelit  der  Gnade  Jahve's,  so  bringt  diese  auch 
äusseres  Wohlergehen  mit  sich;  hat  er  den  göttlichen  Zorn 
durch  Sünde  erregt,  so  muss  er  diesen  in  Leiden  und  Uebeln 
büssen.  Wie  Glück  und  Heil  nur  Ausfluss  der  göttlichen 
Gnade  ist,  so  fühlt  der  Unglückliche  in  seinen  Leiden  die 
strafende  Hand  Jahve's,  den  göttlichen  Grimm,  den  er  durch 
Schuld  auf  sich  geladen  hat.  Wie  sehr  sich  die  Vorstellungen 
von  Leiden  und  Strafe  durchdringen,  zeigt  sich  nicht  nur  in 
mehrern  hebräischen  Ausdrücken,  welche  beide  Bedeutungen 
begreifen  *,  auch  die  Anschauung  der  drei  Freunde  Hiob's, 
welche  dessen  unglückliche  Lage  nach  seinem  moralischen 
Werthe  bemessen,  vertreten  die  herrschende  Meinung.  Die 
weitere  Entwickelung  bringt  einen  Riss  in  diese  Vorstellung, 
die  Erfahrung  weist  auf  Beispiele  hin,  wo  der  Schuldige 
günstiger  äusserer  Umstände  sich  erfreut,  während  der  fromme 
Jahvediener  von  Unglück  betroffen  wird.  Das  moralische  Be- 
wusstsein  geräth  in  Conflict  mit  der  bisherigen  Anschauung, 
welche  das  Uebel  als  Strafe  auffasste,  und  aus  diesem  Con- 
flicte  entstand  das  Buch  Hiob,  wobei  der  Dichter  einen  sagen- 
haften Stoff  zur  Durchführung  seiner  Idee  benutzte.  Das 
Ergebniss  des  Buches  ist,  dass  das  äussere  Uebel  seine  Be- 
deutung ändert,  nicht  mehr  nur  als  Strafe,  sondern  als  Läu- 
terungsmittel zu  fassen  ist,  wodurch  der  Mensch  angeregt,  zur 
Geistigkeit  emporgehoben,  durch  beharrliche  Ausdauer  in  der 
Gewissheit  seines  geistigen  Inhalts  den  Sieg  davontragen  soll. 
Obschon  der  Satan  im  Buche  Hiob  noch  nicht  in  so 
scharfgezeichneter  Gestalt  auftritt,  als  wir  ihn  in  späterer  Zeit 
finden  werden,  ist  doch  hervorzuheben,  dass  er  hier  schon 
eine  bestimmte  Function  zu  verrichten  hat.  Er  erscheint  in 
der  Mitte  der  EPn'bN  "?ä,  der  Gottessöhne,  nicht  als  Wider- 
sacher des  göttlichen  Willens,  denn  sonst  dürfte  er  nicht  mit 
den  übrigen  Engeln  vor  Gott  erscheinen,  er  ist  an  sich  ohn- 
mächtiges Werkzeug  des  göttlichen  Rathschlusses,  da  es  ausser 
Jahve  keine  wirkliche  Macht  geben  kann.  Er  zeigt  nicht  ge- 
radezu Freude  am  Bösen,  sondern  er  stellt  die  Reinheit  der 
Frömmigkeit  Hiob's  in  Zweifel ,  indem  er  das  Motiv  zu  der- 
selben in  den  Eigennutz  setzt.  Die  Lauterkeit  Hiob's  muss 
demnach  auf  die  Probe  gestellt  werden   und  wird  Gott  dazu 


1  Vgl.  Ewald,  Die  poet.  13b.  des  alten  Bundes,  III,  1.  6. 


188  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

durch  den  Satan  veranlasst,  und  die  Prüfung  geschieht  durch 
herbeigeführte  Leiden  und  Uebel.  Der  Satan  erscheint  also 
im  Buche  Hiob  nicht  als  Versucher  zum  Bösen,  sondern  als 
Veranlasser  des  Versuchs:  ob  Hiob's  Gottesfurcht  über  die 
zu  erduldenden  Uebel  den  Sieg  das^ontragen  werde.  Wenn 
im  Buche  Hiob  auch  nicht  ausdrücklich  gesagt  wird,  dass 
alle  Uebel  unmittelbar  durch  den  Satan  herbeigeführt  werden, 
so  ist  es  doch  ganz  klar,  dass  dieser  die  Veranlassung  dazu 
gibt.  Zunächst  wird  dem  Satan  die  Erlaubniss  ertheilt,  den 
Versuch  mit  Hiob  anzustellen,  wobei  aber  dessen  Leben  ge- 
schont bleiben  müsse  \  hierauf  verliert  Hiob  seinen  Viehbesitz 
durch  einen  räuberischen  Einfall  der  Schabäer2;  es  fällt  „Feuer 
Gottes"  vom  Himmel,  allerdings  eine  Machtäusserung  des 
Höchsten,  die  aber  durch  den  Zweifel  Satans  hervorgerufen 
ist,  und  darin  liegt  auch  die  Ursache,  dass  Jahve  dem  Hiob 
nimmt,  was  er  ihm  früher  gegeben  hatte.3  Wenn  hingegen 
Hiob  unmittelbar  vom  Satan  mit  dem  Aussatz  geschlagen 
wird4,  so  ist  hiermit  ein  Berührungspunkt  angedeutet,  der 
auf  Satan  als  den  Repräsentanten  der  Unreinheit  und  später 
der  Sündhaftigkeit  hinweist,  da  der  Aussätzige  im  Alterthum 
bekanntlich  für  unrein  galt.  Im  Buche  Hiob  erscheint  der 
Satan  als  Werkzeug,  die  Lauterkeit  des  Mannes  zu  prüfen, 
und  gibt  zugleich  den  Anstoss  zu  diesem  Versuche,  wogegen 
der  ältere  hebräische  Glaube  in  ähnlichen  Fällen  die  Macht 
Jahve's  unmittelbar  auftreten  lässt,  der  selbst  einen  Abraham 
auf  die  Probe  stellt  5,  der  in  seinem  Zorne  einen  David  zur 
sündhaften  Volkszählung  reizt. 6  In  der  Parallele,  1  Chron.  21, 
hat  die  Exegese  die  spätere  Vorstellung  richtig  erkannt  7,  wo 
die  zerstörende  Eigenschaft  Jahve's  schon  von  diesem  ge- 
trennt erscheint,  während  sie  in  den  frühern  Stellen  noch  mit 
ihm  identificirt  auftritt.  8  Die  verderbende,  rächende  Macht 
Jahve's,    die    alle    Uebertretungen    ahnt,    erscheint    auch    in 


1  Hiob,  1,  12. 

2  V.  15. 

3  V.  21. 

1  Kap.  2,  7. 

5  1  Mos.  22,  1. 

6  1  Sam.  26,  19;  2  Sani.  24,  1. 

7  Vgl.  Bertheau,  B.  der  Chronik, 

8  Vgl.  1  Kön.  22,  23.  24. 


5.    Der  Satan  im  Alten  Testament.  189 

rpfiffiftii  l3&tf?w,  der  die  Erstgeburt  Aegyptens  würgt  x,  Feuer 
und  Schwefel  über  Sodom  regnen  lässt  2,  die  Pest  über  David 
verhängt.3  Auch  der  nsn-rnn,  von  dem  Saul  geplagt  wird4 
oder  der  zwischen  Abimelech  und  die  Sichemiten  kommt 5, 
sind  als  keine  bösen  Dämonen  zu  fassen,  sowenig  als  „der 
Geist  des  Schwindels",  der  über  die  Aegypter  kommt  6,  oder 
„der  Geist  der  Eifersucht"7,  „der  Schlafsucht"8,  „der  Wol- 
lust" 9,  der  Lügengeist,  der  die  Propheten  Ahab's  bethört.  10 
Es  sind  hiermit  gewisse  Seelenzustände,  Gemüthslagen  und 
Geistesrichtungen  gemeint,  die  der  Herr  eintreten  lassen  will, 
um  zu  strafen  oder  um  seinen  Namen  zu  verherrlichen,  über- 
haupt um  seinen  Rathschluss  auszuführen,  es  sind  Manifesta- 
tionen Jahve's,  die,  obschon  von  ihm  ausgehend,  doch  als 
Mittel  seiner  verderblichen  Strafgerechtigkeit  von  ihm  getrennt 
gedacht  sind. 

Verschieden,  obgleich  verwandt,  ist  der  Satan  im  Buche 
Hiob,  dieser  erscheint  als  Individuum,  als  Bote,  um  den  gött- 
lichen Rathschluss  ausführen  zu  helfen,  wie  sich  die  Gottheit 
auch  sonst  der  Boten  bedient,  daher  der  Satan  füglich  unter 
den  Gottessöhnen  erscheinen  kann.  Sein  charakteristischer 
Zug  igt  lediglich  der  Zweifel  an  der  sittlichen  Lauterkeit 
Hiob's,  die  er  daher  verdächtigt;  von  einem  Zusammenhange 
mit  der  Sünde  oder  von  einer  Freude  am  Bösen  ist  keine 
Spur  vorhanden,  sowenig  überhaupt  erwähnt  wird,  wie  der 
Satan  das  geworden,  was  er  ist. 

Weiter  entwickelt  ist  die  Vorstellung  bei  Zacharia,  wo 
der  Satan  als  bestimmter  Ankläger  auftritt,  Die  Bedeutung 
des  Satan  wird  nicht  geändert,  ob  eine  Verleumdung  am  per- 
sischen Hofe  durchschimmert,  die  in  der  Anklage  vor  Jahve 
sich  abspiegeln  soll  u,  oder  ob  diese  Unterlage  nicht  angenom- 


1  2  Mos.  12,  23. 

2  1  Mos.  19,  24. 

3  2  Sam.  24,  16. 

4  1  Sam.  16,  14;  18,  10;  19,  9. 
0  Rieht.  9,  23. 

6  Jes.  19,  14. 

7  4  Mos.  5,  14. 

8  Jes.  29,  10. 

9  Hos.  4,  12. 

10  1  Kön.  22,  21  fg.;  2  Chron.  18,  20  fg. 

11  Ewald,  Propheten  des  Alten  Bundes,  II,  528. 


IQ0  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

men  wird.  x  In  jedem  Falle  erscheint  Satan  als  Widersacher 
der  Menschen,  dem  es  daran  gelegen  ist,  Strafe  und  Unglück 
herbeizuführen.  Indem  Josua  als  Repräsentant  seines  Volks 
vor  dem  Gerichte  erscheint,  bezieht  sich  die  Anklage  auf 
jenes,  und  der  Satan  erscheint  sonach  als  Widersacher  des 
Volkes  Israel.  Der  Ankläger  wird  abgewiesen  und  Josua  für 
frei  erklärt,  da  Jahve  das  aus  dem  Exil  erlöste  Volk  wieder 
in  Gnaden  aufgenommen  hat 2  und  diesem  die  Ankunft  des 
Messias  verkündigt  wird. 

Nach  der  geläufigen  Annahme,  dass  die  Hebräer  durch 
das  Exil  mit  den  Ostasiaten  in  Berührung  gekommen  und 
deren  religiöse  Anschauung  kennen  gelernt,  hat  man  im 
Satan  bei  Zacharja  den  persischen  Ahriman  oder  doch  eine 
Nachbildung  3  desselben  erblickt ,  und  letztere  wird  kaum  zu 
verkennen  sein,  obschon  zugleich  die  Wirkung  des  jahvistischen 
Princips  dabei  in  die  Augen  springen  muss.  Infolge  der 
überwältigenden  Kraft  dieses  Princips  bringt  es  der  Zacharia- 
sche  Satan  zu  keinem  directen  Gegensatz  zu  Jahve,  dessen 
Macht  allein  eine  wirkliche  ist,  sondern  er  tritt  nur  als  An- 
kläger des  Bundesvolks  auf,  dem  sich  Jahve's  Gnade  zuge- 
wendet hat,  welcher  Satan  hindernd  in  den  Weg  treten  möchte.4 
Es  handelt  sich  aber  hier  um  keinen  Kampf  wie  zwischen 
Ormuzd  und  Ahriman  um  den  Menschen,  und  Satan  ist  auch 
bei  Zacharia  noch  kein  Feind  des  Guten  an  sich,  es  ist  ihm 
vielmehr  um  die  Strafe  zu  thun,  um  Beifügung  von  Leiden, 
und  nur  insoweit  steht  er  in  Beziehung  mit  dem  Uebel, 
als  dessen  Verwirklichung  zu  seinem  Wesen  gehört.  Er  ist 
also  wesentlich  Strafengel,  Vollstrecker  des  göttlichen  Zorns, 
der  aber  bei  eingetretener  Gnade  weichen  und  dieser  gegen- 
über ganz  ohnmächti";  erscheinen  muss.  Er  ist  ein  durchaus 
von  Jahve  abhängiges,  ihm  untergebenes  Wesen  und  seine 
Wirksamkeit  durch  die  göttliche  Zulassung  bedingt.  5 

Weiter  entfaltet  sich  die  Satansidee  in  den  apokryphischen 
Büchern,  wo  er  ausser  Sirach  21,  27,  welche  Stelle  aber  nicht 


1  Hitzig,  Kleine  Propheten,  301. 

2  Vgl.  Zach.  1,  17;  2,  16. 

3  Hitzig  a.  a.  0. 

4  Vgl.  Schenkel,  Dogm.,  II,  267. 

5  V.  Colin,  Biblische  Theologie,  I,  420. 


5.    Der  Satan  im  Alten  Testament.  191 

massgebend  ist,  im  Buche  der  Weisheit  l  auftritt.  Hier  findet 
sich  schon  die  Vorstellung,  dass  der  Tod  9^0'vo  SiaßoXou  in 
die  Welt  gekommen  sei,  und  es  ist  bemerkenswerth,  dass  der 
Satan  hier  zuerst  unter  dem  Namen  StaßoXos  vorkommt.  Be- 
deutsam ist  ferner,  dass  als  Motiv  seiner  Wirksamkeit  der 
Neid  angegeben  ist  und  überhaupt  der  Gegensatz  eine  stren- 
gere Spannung  erhält,  indem  der  Verfasser  des  Buchs  der 
Weisheit,  V.  23,  ausdrücklich  hervorhebt:  Gott  habe  den 
Menschen  zur  Unvergänglichkeit  und  zum  Bilde  seines  eige- 
nen Wesens  geschaffen.  Dem  Satan  wird  hier  schon  Einfluss 
auf  die  Sünde  des  Menschen  zugeschrieben,  deren  Folge  der 
Tod  ist.  Es  kann  nicht  überraschen,  hierbei  an  den  mosai- 
schen Sündenfall  zu  erinnern2  mit  Beziehung  auf  die  eigen- 
thümliche  Auslegung,  welche  unter  der  Schlange  den*  Satan 
verstellt. 

Die  oberasiatische  Färbung  der  biblischen  Darstellung 
des  Sündenfalls  ist  längst  erkannt.  3  Nach  Zendavesta  4  springt 
der  todesschwangere  Angramainju  in  Schlangengestalt  vom 
Himmel,  in  der  er  gewöhnlich  oder  doch  häufig  zu  erscheinen 
pflegt.5  Er  selbst  heisst  „der  Todreiche,  sein  Gebiet  ist 
neben  der  Finsterniss  der  Tod".  6  Die  Stammeltern  des 
Menschengeschlechts  werden  im  Zend  wie  in  der  Genesis  zur 
Glückseligkeit  bestimmt  solange  sie  mit  ihrem  Schöpfer  in 
Einheit  sind,  hier  wie  dort  essen  sie  von  einer  Frucht.  Nach 
der  Zoroastrischen  Speculation  ist  die  Finsterniss  aus  Neid 
über  das  Licht  erst  böse  geworden,  Meschia  und  Meschiane, 
die  von  Ahuramazdao  rein  geschaffen  waren,  werden  aus 
Neid  verführt  und  auf  Angramainju's  Seite  gezogen. 

Die  gleiche  Grundlage  beider  Mythen  und  ihre  cultur- 
historische  Bedeutung  ist  anzuerkennen,  zugleich  aber  auch 
der  kennzeichnende  Unterschied,  der  durch  die  Entwickelung 


1  2,  24. 

2  V.  Colin,  I,  42 ;  Stendel,  Theologie  des  Alten  Testaments,  235,  u.  a. 

3  Bauer,  Mythol.,  S.  100;  Rosenmüller,  Altes  und  neues  Morgenland, 
S.  12  fg.;  Hartmann,  Aufklärung  über  Asien,  I,  133;  Hengstenberg, 
Christologie,  I,  29;  von  Bohlen,  Genesis;  Tuch,  Genes.,  51,  u.  a. 

«  Bei  Kleuker,  III,  62. 

5  Z.  A.  II,  217.  299.  333;   III,  384. 

6  Roth,  Zur  Geschichte  der  Religion,  Theologische  Jahrbücher,  1849, 

VIII. 


192  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

des  religiösen  Sinns  beider  Völker  bedingt  ist,  nicht  zu  ver- 
kennen. Im  parsischen  Mythus  setzt  sich  Angramainju  dem 
Ahuramazdao  als  selbständige  Macht  entgegen,  und  so  kann 
sich,  nachdem  das  Uebel  und  nach  weiterer  Entwickelung 
das  Böse  wirklich  vorhanden  ist,  ein  Kampf  entspinnen.  Der 
Mensch,  als  Geschöpf  Ahuramazdao's,  wird  selbst  Gegenstand 
des  Streites  und  hat  die  Pflicht,  dem  Angramainju  zu  wehren. 
In  der  hebräischen  Anschauung  dagegen  findet  die  Vorstellung 
von  einem  solchen  Kampfe  keinen  Raum,  und  in  dem  Uebel, 
das  über  den  Jahvediener  hereinbricht,  erblickt  dieser  eine 
von  der  Gottheit  über  ihn  verhängte  Strafe  oder,  nach  der 
spätem  im  Buche  Hiob  entwickelten  Vorstellung,  eine  Prü- 
fung, während  der  Parse  durch  die  Sünde  Ahriman's  Werke, 
als:  Krankheit,  Tod  u.  dgl.,  auf  sich  ladet.  Im  hebräischen 
Sündenfalle  ist  das  punctum  saliens  der  Sünde  darein  gesetzt, 
dass  der  Mensch  seinem  eigenen  Willen  folgt  und  dadurch 
gegen  den  göttlichen  handelt,  indem  er,  die  ihm  gesetzten 
Schranken  durchbrechend,  höher  strebt,  als  ihm  zugestanden 
wird.  Nach  der  Genesis  ist  der  Ursprung  des  Bösen  in  den 
Menschen  selbst  gelegt,  der  vom  Baume  der  Erkenntniss 
nicht  essen  soll,  dessen  Neigung  darnach  durch  die  Schlange 
angeregt  wird  und  der  sich  durch  diese  verführen  lässt.  Die 
physischen  Uebel,  die  über  die  Protoplasten  verhängt  werden, 
stellen  sich  hiermit  als  Folge  der  Sünde  dar.  Nach  der  Zend- 
sage  ist  die  Schlange  das  böse  Princip  selbst  und  das  Motiv 
zur  Verführung  des  Menschen  der  Neid.  Davon  weiss  die 
Genesis  noch  nichts,  erst  im  Buche  der  Weisheit 1  ist  diese 
Theorie  aufgenommen,  was  aus  der  Bekanntschaft  der  Israeli- 
ten im  Exil  mit  der  Religion  der  Parsen  erklärt  wird.  Das 
alexandrinische  Judenthum,  aus  dem  das  Buch  der  Weisheit 
hervorgegangen,  hatte  sich  das  Theoretisiren  der  Griechen 
angeeignet  und  auch  die  parsische  Theorie  über  den  Ursprung 
der  Sünde  aufgenommen,  und  so  wurde  die  ursprünglich  natür- 
liche Schlange  der  Genesis  zum  Repräsentanten  oder  we- 
nigstens zum  Werkzeug  des  Bösen  umgemodelt,  der  Neid  als 
Beweggrund  zur  Verführung  zum  Bösen  hingestellt  und  der 
Tod  von   der   Sünde  abgeleitet. 2     Diese  Auffassung  war    zu 


1  2,  23.  24. 

2  Für  Josephus  (Antiqu.,  I,  1.  4)  ist  zwar  die  Schlange  heim  Sünden- 


5.   D«r  Satan  im  Alten  Testament.  193 

Jesu  Zeit  die  allgemein  gangbare,  wie  aus  den  neutestament- 
lichen  Schriftstellern  hervorgeht;  sie  wurde  von  den  altern 
jüdischen  Lehrern  festgehalten  und  durch  die  christlichen 
Kirchenväter,  namentlich  durch  Augustinus  den  Reformatoren 
übermittelt. 

Die  Frage  nach  der  Ursprünglichkeit  der  Vorstellung, 
ob  die  Hebräer  sie  von  den  Persern  herübergenommen  haben, 
wie  von  den  meisten  behauptet  wird,  oder  ob  hebräischer 
Einfluss  auf  den  parsischen  Mythus  sich  geltend  gemacht 
habe,  wie  schon  Tychsen  l,  von  Colin2  und  neuerer  Zeit 
Spiegel 3  auf  die  semitischen  Elemente  im  Zoroastrischen  Glau- 
ben aufmerksam  gemacht  hat  und  nach  Kruger  4  der  jüdische 
Einfluss  „unverkennbar"  wahrgenommen  wird,  diese  Frage 
könnte  hier  offen  bleiben  mit  der  Hindeutung  auf  ein  „ge- 
schwisterliches Verhältnis»,  hervorgegangen  aus  einer  Ursage, 
die  sich  in  verschiedenen  Anklängen  über  den  alten  Orient 
verbreitet  hat".  5  Handelt  es  sich  aber  um  die  Wahrschein- 
lichkeit des  Zeitpunkts,  so  spricht  allerdings  dafür,  dass 
die  Hebräer  erst  seit  dem  Exil  durch  die  Berührung  mit 
den  parsischen  Vorstellungen  zur  weitern  Entwickelung  der 
Satansidee  angeregt  wurden,  indem  sie  einen  ausgebildeten, 
streng  gespannten  Dualismus  kennen  lernten,  der  aber  im 
hebräischen  Bewusstsein  unter  dem  monotheistischen  Principe 
einer  Modifikation  unterliegen  musste.  Den  Beweis  gibt  die 
hebräische  Literatur,  wo  der  Satan  in  seiner  Aehnlichkeit  mit 
dem  parsischen  bösen  Principe  erst  in  den  nachexilischen 
Schriften  auftritt. 

Beim  Suchen  nach  der  Ursage  verliert  sich  die  Spur  in 
die  nebelgraue  Ferne  der  Vorgeschichte.  Welche  Richtung 
soll  die  Forschung  einschlagen,  da  sie  auf  ihrem  Wege  Ele- 
menten begegnet,  die  im  parsischen,  im  hebräischen  Mythus 
sowie  in  dem  vieler  anderer  Völker  verflochten  sind?  Die 
Schlange,  deren  Gestalt  der  parsische  Angramainju  annimmt, 


falle  nur  eine  gewöhnliche  Schlange,   aber  das  Motiv  ihrer  Handlung  ist 
doch  auch  der  Neid. 

1  Comment.  Götting.  XI,  113  fg. 

-  A.  a.  0. 

3  Zendavesta,  Leipzig,  1852,  S.  269. 

4  Geschichte  der  Iranier  und  Assyrer,  1856,  S.  425. 

5  Tuch,  Genesis,  S.  54. 

Boskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  13 


194  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

die  im  hebräischen  Sündenfalle  später  die  Bedeutung  des  bö- 
sen Princips  gewinnt,  ist  auch  in  Iran  zu  finden,  wo  der 
„Böses  Sinnende"  die  Schlange  Dahaka,  die  Verderbliche,  ge- 
schaffen hat,  um  die  Reinheit  in  der  bestehenden  Welt  zu 
vernichten1,  „die  Schlange,  welche  voll  Tod  ist".2  In  Aegyp- 
ten  droht  die  böse  Schlange  Apep  als  Dunkelheit  die  Sonne 
zu  verschlingen;  in  Indien  kämpft  der  Sonnengott  Krishna 
mit  dem  Drachen,  überwindet  ihn  und  zertritt  ihm  den  Kopf. 
Auf  ähnliche  Vorstellungen  unter  den  rohesten  Völkern  des 
nordöstlichen  Asien,  den  Schlangenkampf  des  Odin  in  der 
Voluspa,  hat  schon  von  Bohlen  3  hingewiessen.  Im  nordischen 
Mythus  nagen  auch  Schlangen  an  der' Lebenswurzel  unter  der 
Esche  Ygdrasil4;  in  der  deutschen  Mythologie  erzeugt  Loki 
„der  böse  von  Sinnesart"  5,  voll  von  Schlauheit,  List  und 
Schadenfreude,  der  Urheber  alles  Verderblichen  in  der  Welt, 
die  Midgarschlange ,  das  „Symbol  des  Weltmeers,  das  am 
Jüngsten  Tage  aus  seinen  Ufern  treten  und  die  ganze  Erde 
überfluten,  die  letzten  Spuren  menschlichen  Daseins  vertilgen 
wird".  6  Bei  den  Griechen  tödtet  Apollon  den  Drachen  Py- 
thon, Herakles  die  Lernäische  Hydra,  nicht  zu  gedenken  der 
vielen  andern  Mythen,  in  welchen  die  Schlange  als  Trägerin 
des  Verderbens  mitspielt. 

Das  Motiv  zur  Feindschaft  des  Bösen  gegen  die  Gott- 
heit, der  Ursprung  des  Bösen  in  der  Welt,  ist  sowol  nach 
der  hebräischen  Vorstellung  vom  nachexilischen  Satan  als  auch 
in  den  Mythen  anderer  Völker,  namentlich  der  Parsen  auf 
den  Neid  zurückgeführt,  der  in  der  Ich-  und  Selbstsucht 
wurzelt.  Der  Hellene  steigert  letztere  auf  menschlicher  Seite 
zur  ußpic,  welche,  die  Götter  nicht  achtend,  zur  Sünde  wird; 
er  verlegt  aber  den  Neid  auf  die  Seite  der  Götter,  welche 
infolge  der  Ueberhebung  des  Menschen  Neid  empfinden  und 
dafür   strafen.     Unter   verschiedenen  Modificationen   wird  im 


1  Vendid.  I,    60;    Roth,    Zeitschrift    der  Deutsch -morgenländischen 
Gesellschaft,  II,  218  fg. 

2  Vendid.  XXII,  6;   XIX,  7. 

3  Indien,  I,  248. 

4  Mone,  Geschichte  des  Heidenthums,  I,  339. 
6  Grimm,  D.  Mythologie,  3.  Aufl.,  I,  225. 

6  Simrock,  D.  Mythologie,  I,  117. 


5.    Der  Satan  im  Alten  Testament.  195 

ganzen  Alterthum  das  Uebel  und  die  Sünde  aus  der  endlichen 
Grundlage  des  Einzelwesens  abgeleitet,  indem  dieses  seine 
ihm  gesetzte  Schranke  zu  überschreiten  sucht,  und  alle  Mythen 
setzen  die  endliche  Seite  der  menschlichen  Natur  mit  dem 
Uebel  und  der  Sünde  in  gewisse  Beziehung.  Dies  gilt  von 
dem  bösen  Principe,  das  im  parsischen  Angramainju  zur 
selbständigen  Persönlichkeit  hypostasirt  ist,  vom  ägyptischen 
Set,  dem  bösgesinnten  Loki  der  Germanen,  dem  nachexilischen 
Satan  der  Hebräer,  bei  den  Hellenen  von  der  Personification 
der  axTj,  welche  doppeldeutig  in  den  Homerischen  Gesängen 
als  böser  Dämon  der  Menschen  erscheint,  bei  den  griechischen 
Tragikern  als  Unglück  der  unrechten  Handlung  auf  dem 
Fusse  folgt  oder  als  Unverstand  auftritt,  der  in  den  Augen 
des  Griechen  und  nahezu  des  Menschen  des  Altertimms 
überhaupt  mit  dem  Unrechte  für   nahe  verwandt    gilt. 

Nach  dem  Vorgange  Philo's  machte  die  allegorische  Inter- 
pretation die  Schlange  im  hebräischen  Sündenfalle  zum  Bilde 
der  bösen  Lust  und  das  Weib  zur  Trägerin  der  Sinnlich- 
keit. Diese  Auslegung  ward  von  den  Kirchenvätern  Clemens 
Alexandrinus,  Origenes,  Ambrosius  und  den  jüdischen  Leh- 
rern angenommen,  obschon  sie  anerkanntermassen  dem  bibli- 
schen Referenten  fremd  ist,  sowie  die  Deutung,  welche  unter  der 
Schlange  den  parsischen  Ahriman  versteht.  Selbst  im  Buche 
der  Weisheit  unterscheidet  sich  der  SuxßoXoc  von  jenem  ausser 
andern  auch  dadurch,  dass  er  nicht  an  der  Spitze  böser  Dä- 
monen steht.  Diese  amtliche  Stellung  Satans  findet  sich 
überhaupt  noch  nicht  im  Alten  Testament,  obwol  die  Bücher 
Tobi  und  Baruch  die  Vorstellung  von  8a(.jxov(.a  reichlich  ent- 
halten. Im  Pentateuch  und  allen  altern  Schriften  des  alt- 
testamentlichen  Kanons  ist  vom  Satan  überhaupt  keine  Spur 
zu  finden. 

Die  Vorstellung  von  gespenstischen  Wesen,  wie  sie  auch 
bei  andern  Völkern  vorhanden  ist,  findet  sich  schon  vor  dem 
Exile  im  hebräischen  Volksglauben.  Die  in  den  kanonischen 
Büchern  erwähnten  D^sto,  die  zu  verehren  den  Israeliten 
verboten  ist  \  deren  Aufenthalt  in  Wüsteneien  gedacht  wird  2, 


'  3  Mos.  17,  7;    2  Chron.  11,  15;  vgl.  5  Mos.  32,  17;  Ps.  106,  37. 
*  Jes.  13,  21;  34,  14;  Jer.  15,  39. 

13* 


|9G  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

weisen  auf  abgöttische  Naturreligion  hin,  wo  der  Bock  als 
Symbol  der  Zeugungskraft  gilt.  Die  Vermuthang,  dass  diese 
Seirim  aus  Aegypten  herstammen,  erscheint  annehmbar,  weil 
da  der  Widder  und  Widderkopf  bei  der  Darstellung  mytho- 
logischer Figuren  häufig  angewendet  ist.  WTas  dort  als  gött- 
liches Wesen  erscheint  *,  wird  vom  monotheistischen  Princip 
des  Hebräismus  zum  unsaubern  dämonischen  Wesen  herab- 
gedrückt und  in  der  Erinnerung  des  Volks  aufbewahrt.  Der 
Volksglaube  macht  sie  zu  feindseligen  Wesen,  die  durch  Ver- 
ehrung besänftigt  werden  können,  daher  die  LXX  §ai[xov.a 
übersetzen.  Erwähnt  werden  auch  D^nuJ 2,  aber  als  Gegen- 
stand heidnischen  Cultus  im  Zusammenhange  mit  Zauberei 
und  Wahrsagrerei  sind  sie  ausserhalb  des  religiösen  Glaubens- 
kreises  der  Hebräer  gelegen.  Bei  Jesaja 3  wird  rpyb,  ^die 
Nächtliche",  erwähnt,  ein  weibliches  Nachtgespenst,  das  in 
Einöden  umherirrt,  dem  die  Talmudisten  die  Gestalt  eines 
geputzten  Weibes  mit  langen  Haaren  geben,  das  besonders 
den  Kindern  nachstellt.  Schon  Gesenius  4  hat  das  hohe  Alter 
des  Glaubens  an  ein  Nachtgespenst  im  Hinblick  auf  sein  Vor- 
handensein bei  fast  allen  übrigen  Völkern  nachgewiesen.  Der 
Volksglaube  an  dämonische  Wesen  findet  sich  in  den  Büchern 
Tobi  und  Baruch  ausgebildet.  Es  sind  böse  Wesen,  aber  be- 
schränkter Natur,  die  in  Wüsteneien  wohnen  5,  den  Menschen 
nachstellen  und  die  tödten,  welche  in  ihre  Gewalt  gerathen, 
aber  durch  Gebet  und  Zaubermittel  vertrieben  werden  kön- 
nen. 6  In  der  Geschichte  Tobi's  spielt  Asmodi ,  'Ac;j.o5alos  7, 
eine  bedeutende  Rolle,  der  die  Ehe  Sara's  verhindern  will, 
weil  er  selbst  in  sie  verliebt  ist  8.  Im  Talmud  erscheint  er 
als  wollüstiger  Dämon.  Obwol  die  durch  das  Exil  angeregte 
Entwicklung  der  hebräischen  Dämonologie,  wie  sie  in  dem 
apokryphischen  Buche  Tobi  enthalten  ist,  anerkannt  werden 
muss,  ist  es  doch  ein  von  Eisenmenger  9  und  noch  von  andern 

1  Vgl.  Baruch  4,  7. 

2  5  Mos.  32,  17;  Ps.  106,  37. 

3  34,  14. 

4  Comment.  zu  Jes.  34,  14. 

5  Tob.  8,  3;  Bar.  4,  35. 

6  Tob.  3,  8;  6,  8. 

7  Tob.  3,  8. 
6  6,  15. 

6  Entdecktes  Judenthum,  II,  440. 


5.    Der  Satan  ira  Alten  Testament.  197 

gethaner  Misgriff,  den  Asmodi  nicht  als  Plagegeist,  sondern 
als  den  obersten  der  Dämonen,  als  den  Satan  selbst  fassen  zu 
wollen,  wogegen  schon  der  Gegensatz  zu  Asmodi,  sein  Ueber- 
wältiger  Rafael,  einer  der  guten  Engel,  spricht.  Bemerkens- 
werth  ist  übrigens  der  Zug:  dass  Asmodi  durch  widrigen 
Geruch  vertrieben,  in  den  obersten  Theil  Aegyptens,  also  wol 
in  die  Wüste  flieht,  wo  er  von  Rafael  gefesselt  wird.  *  Sollte 
hier  nicht  ein  Ueberrest  der  Erinnerung  an  die  Wüste  als 
Stätte  der  Unreinheit,  wie  sie  uns  bei  Azazel,  dem  Repräsen- 
tanten derselben  begegnet  ist,  zu  erblicken  sein?  An  Asmodi 
und  seinem  Gegner  und  Bändiger  Rafael  ist  der  Einfluss  des 
parsischen,  feindlich  gespannten  Dualismus  kaum  zu  verkennen, 
der  sammt  dem  Ueberbleibsel  der  Erinnerung  an  die  Wüste 
von  der  Tradition  aufbewahrt  worden  ist. 

Bei  einem  Ueberblicke  des  Entwickelungsganges  von  der 
Bedeutung  des  Azazel  bis  zu  der  des  ot,aßoXo?   im  Buche  der 
Weisheit  ergibt  sich:  dass  eine  Weiterbildung  der  Vorstellung 
von  einem  bösen  Wesen  und  hiermit  zugleich  eine  Entwicke- 
lung  des  Dualismus  im  Alten  Testament  zwar  vor   sich  geht, 
dieser  aber  unter  der  Herrschaft  des  monotheistischen  Princips 
zu  keinem   directen  Gegensatz    gedeihen   kann,    wie   der   alt- 
testamentliche  Satan   nirgends   dem  Jahve  feindlich  entgegen- 
tritt.    Darin  zeigt  sich   die  Faralysirung   des  parsischen   Ein- 
flusses   und    die    Suprematie    des    Jahvismus.     Ein    Fortgang 
aber  findet  statt.    Während  Azazel  nur  die  Personificirunsr 
der  abstracten  Unreinheit  ist,  in  der  Wüste  haust,  der  Stätte 
der  Unreinheit,   dem  passenden  Orte    für   die  Sündenlast  Is- 
raels ,  erscheint  der  Satan  im  Buche  Hiob  in  concreterer  Form 
als  Verdächtiger,    der  hinter   der  Frömmigkeit   Eigennutz 
wittert  und  Anlass  gibt,  die  Lauterkeit  durch  schwere  Leiden 
zu  prüfen.     Bei  Zacharia  tritt  Satan  unter  Voraussetzung  der 
Schuld   schon  als  Ankläger   auf,    um   die  Strafgerechtigkeit 
Jahve's    herauszufordern.      In    der    Tendenz,    die    von   Jahve 
etwa  verhängte  Strafe  auszuführen,    zeigt   sich  in  diesem  Sa- 
tan auch  noch  die  Idee  des  Strafengels,   welche   in  andern 
angeführten  Stellen  des  Alten  Testaments   zwar  auftritt,   wo 
aber   die   strafende    Macht    noch   nicht    zu    einem   Satan   ver- 
dichtet ist,  daher  auch  keine  Spur  von  einem  Verdächtiger, 


1  1  Tob.  8,  3. 


198  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

wie  im  Buche  Hiob ,  noch  von  einem  Ankläger  oder  An- 
feinder, wie  bei  Zacharia.  Das  Verlangen  Satans  geht  noch 
immer  nur  dahin,  Uebel  zuzufügen  infolge  angeblich  voran- 
gegangener Schuld;  sein  Element  ist  nicht  das  moralisch 
Böse,  sondern  die  Bewirkung  des  äussern  Uebels.  Am  con- 
cretesten  ist  die  Vorstellung  von  Satan  im  Buche  der  Weis- 
heit, wo  das  Motiv  seines  Auftretens  der  Neid  und  als 
Folge  seiner  Wirksamkeit  der  Tod  angeführt  wird.  Der 
Neid  gehört  also  zum  Wesen  dieses  Satans,  und  sein  Ziel- 
punkt ist  der  Tod.  Beide  Momente  finden  sich  im  parsischen 
Angramainju.  Das  Object  des  Neides  ist  der  Mensch,  als 
Träger  des  göttlichen  Ebenbildes  zur  Unvergänglichkeit  ge- 
schaffen. l  Auch  im  Parsismus  ist  der  Mensch  Gegenstand 
des  Streites  zwischen  Ormuzd  und  Ahriman;  allein  der  wesent- 
liche Unterschied  ist  eben:  dass  der  alttestamentliche  Satan 
nicht,  wie  der  parsische  Ahriman,  dem  göttlichen  Wesen  feind- 
selig gegenübersteht,  sondern  vielmehr  den  Menschen  beneidet 
und  ihm  daher  das  Uebel  zuzuziehen  bestrebt  ist.  Im  vor- 
zoroastrischen  Parsismus  steht  das  böse  Princip  dem  guten 
kämpfend  gegenüber  und  sucht  seine  Macht  durch  Verbrei- 
tung des  Uebels  zu  bethätigen,  das  auch  über  den  Menschen 
sich  ausdehnt.  Der  alttestamentliche  Satan  sucht  das  Uebel 
herbeizuführen,  aber  im  Sinne  der  Strafe;  er  beneidet  den 
Menschen,  aber  nicht  das  göttliche  Wesen  um  dessen  Macht, 
wie  Ahriman  den  Ormuzd.  Im  Parsismus  nach  Zoroaster  er- 
weitert und  vertieft  sich  der  Begriff  Ahriman's  nach  der 
Innerlichkeit  des  Menschen,  sein  Bereich  wird  das  moralische, 
und  Ahriman  trachtet  den  Menschen  auf  seine  Seite  zu  ziehen 
durch  Eingebung  böser  Gedanken,  durch  moralische  Ver- 
derbtheit. Der  Kampfplatz  Ormuzd's  und  Ahriman's  wird 
durch  Zoroaster  in  die  menschliche  Brust  verlegt,  wo  das 
böse  Princip  die  Wahlstatt  zu  behaupten  sucht.  Von  einem 
solchen  Kampfe  des  moralisch  Guten  mit  dem  moralisch  Bö- 
sen im  Innern  des  Menschen  ist  im  Alten  Testamente  keine 
Spur  und  kann  keine  sein,  weil  Satan  als  Träger  des  Bösen 
auf  dem  Boden  des  Jahvismus  keine  Realität  erlangen  kann, 
weil  ein  directer  Gegensatz  zu  Jahve  nicht  möglich  ist,  da  in 
diesem  allein  die  berechtigte,    geistige  Macht  beruht.     Dieser 


Buch  der  Weisheit  2,  23. 


6.   Der  Teufel  im  Neuen  Testament.  199 

oberste  Hauptgrundsatz  des  Jahvismus  bestätigt  sieh  auch 
durch  den  Sprachgebrauch,  wo  die  Ausdrücke  für  „gottlos, 
sündig"  von  der  Bedeutung  des  „Abweichens,  Abfallens", 
nämlich  von  Jahve,  ausgehen  (üw,  Nüri,  Stjsi,  t|3rl,  tnb-tibs  SM©)., 
die  Begriffe:  Gottlosigkeit,  Frevel,  mit  dem  Nichtigen,  Eiteln 
sich  durchdringen,  ("pN  toui u. a. m.),  so  dass  Gottloser  zugleich 
den  Thoren  bedeuten  kann  (V^öä).  Allerdings  gewinnt  im 
Parsismus  das  gute  Princip  schliesslich  die  Oberhand,  allein 
erst  nach  vorangegangenem  Kampfe,  während  im  Jahvismus 
die  Suprematie  des  göttlichen  Wesens  als  Axiom  dasteht  und 
alle  Erscheinung  nur  dazu  dient,  dieses  zu  bestätigen.  Dem- 
nach kann  auch  der  Satan  nur  die  Bedeutung  erlangen,  als 
Mittel  zu  dienen.  "Dem  alttestamentlichen  Satan  kann  es 
nicht  daran  gelegen  sein,  Neid  oder  böse  Eigenschaften  über- 
haupt anzuregen,  ihn  moralisch  zu  verderben,  wie  im  zo- 
roastrischen  Parsismus ;  er  veranlasst  nur  das  äussere  Uebel  und 
nähert  sich  hierin  dem  vorzoroastrischen  Angramainju,  nur 
dass  dieser  als  Urheber  des  Unheils  dasteht,  während  im 
Hebräismus  die  Urheberschaft  des  Todes  auch  in  Jahve  fällt. 


6.   Der  Teufel  im  Neuen  Testament. 

Innerhalb  der  alttestamentlichen  Anschauung  hat  sich 
eine  Entwickelung  der  Vorstellung  vom  Satan  gezeigt,  obschon 
die  Stellen,  wo  er  auftritt,  nur  sporadisch  erscheinen;  im  Neuen 
Testamente  hingegen  hat  die  Satausidee  das  religiöse  Be- 
wusstsein  schon  ganz  durchdrungen  und  tritt  als  entwickelter 
Teufelsglaube  beinahe  auf  jedem  Blatte  entgegen.  Besonders 
häufig  findet  sich  der  Teufel  bei  den  Synoptikern  erwähnt, 
unter  den  Aposteln  oft  bei  Paulus,  weniger  in  der  Apostel- 
geschichte, desto  öfter  in  der  Apokalypse.  Er  tritt  unter 
verschiedenen  Benennungen  auf:  einmal  unter  dem  Namen 
carav1,  häufig  heisst  er  o  Garava«;2  oder  o  StaßoXos 3 ,  5  iyfipoc, 4 ; 
an  einigen  Stellen  führt  er  den  Titel:  BssX^sßouX  oder  BssX^s- 

»  2  Kor.  12,  7. 

2  Matth.  12,  26;  Luc.  10,  18. 

3  Matth.  13,  19.  38. 

*  Matth.  13,  25;  Luc.  10,  19. 


200  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

ßouß1,  einmal  heisst  er  BsXiaX2;  oder  sein  Wesen  wird  um- 
schrieben durch:  8  tou  xccjj.o-j  ap/wv  und  o  ap'/wv  tou  xoc[j.o\> 
toutou3,  apx«v  rov  Satfiov'ov4,  6  Spaxov  6  |J.£Yas,  o  09t?  6  ap- 
Xalo^5,  ap/ov  x%  £§ou<Jia;  tou  aspo?6,  oder  auch  mit  einem 
einfachen  Worte  bezeichnet:  0  TCötpo^ov7,  b  xar^-yop8.  Aus 
der  Mannichfaltigkeit  dieser  Bezeichnungen  dürfte  ersichtlich 
sein:  dass  die  Vorstellung  vom  Satan  in  jener  Zeit  sehr  ge- 
läufig, ja  vorherrschend  war,  dass  sie  einestheils  an  die 
alttestamentliche  Satansidee  sich  anlehnt,  anderntheils  aber 
auch  schon  weiter  entwickelt  ist.  Vorweg  ist  zu  bemerken, 
dass  trotz  der  häufigen  Erwähnung  des  Satans  im  Neuen 
Testamente  doch  nie  von  seinem  Aussehen,  seiner  äussern 
Gestalt  die  Rede  ist.  In  der  Darstellung  beim  Apokalyptikcr  9 
ist  das  hergebrachte  Symbol  des  Drachens  oder  der  Schlange 
festgehalten  und  kann  daher  nicht  in  Betracht  kommen,  ab- 
gesehen davon,  dass  das  entworfene  Bild  als  visionäre  Er- 
scheinung nicht  aus  dem  Volksbewusstsein  hervorgegangen  ist. 
Im  Anschlüsse  an  den  alttestamentlichen  Satan  erscheint 
der  neutestamentliche  zunächst  als  Feind  und  Versucher 
der  Frommen,  daher  er  in  dieser  Beziehung  auch  den  her- 
gebrachten Namen  führt10,  oder  als  Ankläger  der  Men- 
schen.11 Er  wird  ferner,  wie  im  Alten  Testamente,  mit  dem 
Tode  in  Zusammenhang  gebracht12,  zugleich  aber  auch  mit 
der  Sünde.  13  Die  weitere  Entwicklung  zeigt  sich  aber  darin, 
dass  die  Feindschaft  des  neutestamentlichen  Teufels  in  ihrer 
Beziehung  zu  der  vom  Messias  gestifteten  Gemeinschaft  spe- 
cifisch  wird.  Er  wird  der  speciell  erbitterte  Feind  Christi 
und  besonderer  Widersacher  und  Verderber  der  Christus- 


1  Matth.  10,  25;  12,  27;  Marc.  3,  22;  Luc.  11,  15. 

2  2  Kor.  6,  15. 

3  Joh.  12,  31;  14,  30;  16,  11. 

4  Matth.  9,  34;  12,  24. 

5  Offenb.  12,  9;  20,  2. 

6  Ephes.  2,  2. 

7  Matth.  4,  3;  l  Thess.  3,  5. 

8  Offenb.  12,  10. 

9  Offenb.  12  und  16. 

10  Luc.  22,  31;  1  Petr.  5,  8. 

11  Offenb.  12,  10. 

12  Hebr.  2,  14;  vgl.  Buch  der  Weisheit,  2,  24. 

13  Rom.  5,  12. 


6.    Der  Teufel  im  Neuen  Testament.  201 

gläubigen,  die  er  zum  Abfall  zu  verleiten  sucht,  auf  deren 
Untergang  er  sinnt.  Sonach  zerfällt  die  Welt  in  ein  dop- 
peltes Reich:  das  Reich  Gottes,  durch  Christus  gestiftet,  und 
das  Reich  des  Teufels.  Dem  Reiche  Christi ,  das  als  Reich 
Gottes  eine  Macht  und  Herrschaft  des  Lichts  ist,  steht  das  Reich 
des  Teufels  als  eine  Macht  und  Herrschaft  der  Finsterniss  feind- 
lich gegenüber.  Dieser  fällt  anheim  und  verfällt  der  Gewalt  des 
Teufels,  wer  aus  der  Gemeinschaft  Christi  ausgestossen  wird ', 
der  Teufel  verfinstert  den  Verstand  und  verkehrt  den  Willen 
der  Menschen.  2  Als  von  Christus  Abgefallene  werden  nicht 
nur  grobe  Sünder3,  sondern  auch  Irrlehrer  betrachtet.  4  Wer 
hingegen  an  Christus  glaubt,  entrinnt  der  Gewalt  des  Teufels 
und  wird  in  das  göttliche  Reich  versetzt.5  Der  Teufel  sucht 
der  Stiftung  und  Ausbreitung  des  Reiches  Christi  zerstörend 
entgegenzuwirken  6 :  Christus  dagegen  ist  erschienen,  das  Reich 
des  Satans  zu  vernichten.  7  Die  Glieder  des  messianischen 
Reichs  sind,  wie  einst  dessen  Stifter  selbst8,  des  Teufels  Ver- 
suchungen ausgesetzt.  9  Der  Teufel  bedient  sich  dabei  der 
List,  gibt  sich  den  Anschein  des  Guten,  verstellt  sich  zu 
einem  Engel  des  Lichts10,  sucht  die  Schwachen  durch  Zeichen 
zu  überwältigen11  und  selbst  den  Aposteln  in  ihrer  Wirksam- 


1  1  Kor.  5,  5. 

2  2  Kor.  4,  4;  Ephes.  2,  1  fg.;  2  Tim.  2,  26. 

3  1  Kor.  5,  5. 

i  1  Tim.  1,  20. 

5  Apostelg.  26,  18;  Kol.  1,  13. 

6  Luc.  8,  12;  2  Kor.  4,  4. 

7  Matth.  12,  19;  Joh.  12,  31;  1  Job.  3,  8. 

8  Matth.  4,  1  fg.;  Marc.  12,  13;  Luc.  4,  1—13. 

9  In  der  Versuchungsgeschichte  Jesu  liegt  die  Vorstellung  von  einem 
Bündnisse  mit  dem  Teufel,  die  im  Mittelalter  eine  grosse  Rolle  spielt, 
im  Grunde  angedeutet,  was  Soldan  (Gesch.  der  Hexenproc,  138)  richtig 
erkannt  hat.  Es  sind  beide  Momente  des  Vertrags  darin  enthalten: 
einerseits  die  Anerkennung  der  Hoheit  des  Teufels,  das  Homagium,  anderer- 
seits das  vom  Teufel  Versprochene.  Am  nächsten  ist  wol  die  Er- 
klärung in  der  alttestamentlichen  Vorstellung  von  einem  Bunde  Gottes 
mit  seinem  Volke  zu  suchen,  wo  auch  die  beiderseitige  Leistung  der 
Paciscenten  das  Pactum  vollständig  macht.  Diese  Vorstellung  ist,  wie  so 
manche  andere,  in  das  Neue  Testament  übertragen  und  auf  den  Teufel, 
zunächst  nur  andeutungsweise,  angewendet;  später  aber  weiter  ausgebildet, 
tritt  sie  in  der  Legende  von  Theophilus  fest  geformt  hervor. 

10  2  Kor.  2,  11.  14;  2  Tim.  2,  26. 

11  2  Thess.  2,  9.  10. 


2<)2  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

keit  hinderlich  zu  sein.  1      Dieser  finstern  Macht  können  aber 
die  Gläubigen   mit   dem  Worte  Gottes   und   dem  Glauben   an 
Christus  Widerstand  leisten,   daher  sie,    Kriegern  gleich,  mit 
der  Waffe   des  Evangeliums   ausgerüstet  sein   sollen. 2      Denn 
der  Teufel   ist   ein   starker  Geist3  und    als  Beherrscher  eines 
widergöttlichen  Reichs  der  Gegner  Gottes  und  der  Wahrheit, 
und    die    Menschen,    welche   Gott    und   der  Wahrheit  wider- 
streben  oder   diese  in  Lüge   verkehren,    gehören    dem  Teufel 
an   als   seine   Kinder.4      Als   Feind   Gottes    ist    er    auch    der 
Feind    alles    Guten,    sucht    ohne    Unterlass    den    Samen    des 
Bösen   zu  streuen5  und   das   Wort   Gottes    aus    dem  Herzen 
zu  reissen.  6     Seine   erste  That  war  die  Verführung   der  Eva 
zur  Sünde7,   seine  zweite  die  Verleitung  Kain's  zum  Bruder- 
morde; er  ist  daher  av^poTroxrovoc  caz    appj?8,  der  Urmörder, 
der  nach   dem  Blute   der  Heiligen   dürstet  und   blutige  Ver- 
folgungen ihrer  veranlasst  9,  darum  ist  die  Farbe  des  Drachen, 
unter  dem  er  vom  Apokalyptiker  dargestellt  wird 10,  die  rothe, 
die  Farbe  des  Zornes  und  Blutes.  ll    Er  ist  der  Urheber  der 
Sünde  und  des  Todes  geworden.  12    Seine  besondern  Attribute 
sind  Lüge,  Mord,  Hass;  er  ist  der  Urlügner,  der  nie  in  der 
Wahrheit    steht,    der    von    Beginn    gesündigt    hat    und    stets 
sündigt. 

Die  Macht  und  Wirksamkeit  des  Teufels  zeigt  sich  im 
allgemeinen  in  dem  Abfall  der  Welt  von  Gott13,  im  besondern 
im  Götzendienst14,  im  heidnischen  Orakel  und  Wahrsager- 
wesen15,   wie  auch  im  abtrünnigen  oder  widerspenstigen   und 


i  1  Thess.  2,  18. 

2  Matth.  4,  4  fg.;    Ephes.  6,  11—20;    Jac.  4,  7;    1  Joh.  5,  18;    vgl. 
Tim.  2,  26;  2  Kor.  2,  11. 

3  Matth.  12,  29. 

*  Joh.  8,  44;  1  Joh.  3,  10;  Apostelg.  13,  10. 

*  Matth.  13,  25.  39. 
«  Matth.  13,  19. 

i  Offenb.  12,  9;  20,  10;  vgl.  2  Kor.  11,  3;  12,  7. 
8  Joh.  8,  44. 
»  Vgl.  Joh.  3,  22. 
K>  Offenb.  12,  3. 

11  Joh.  6,  4. 

12  1  Kor.  15,  26;  Hebr.  2,  14. 

»  Offenb.  12,  9;  20,  10;  1  Joh.  5,  19. 

14  1  Kor.  10,  20. 

15  Apostelg.  16,  16. 


6.    Der  Teufel  im  Neuen  Testament.  203 

christusfeindlichen    Judenthum x ,    welches    die    auvayoyT]    toü 
aaxava  genannt  wird2;  in  der  Verblendimg  gegen  die  Wahr- 
heit des  Evangeliums3,   der  Feindschaft  gegen  Christi  Lehre, 
in  der  Sittenverderbniss  in  der  Welt.  4    Der  Teufel,  der  seine 
Macht  selbst  an  einem  Jünger  des  Herrn  bethätigt  hat5,  weiss 
auch  Eingang  zu  finden  in  die  Gemeinde  Christi,  wo  er  Un- 
kraut unter  den  Weizen  säet,  Verfälschung  der  Wahrheit  und 
Verbreitung  falscher  und  widerchristlicher  Lehren 6,  oder  des 
gleisnerischen  Afterchristenthums    anstrebt. 7     Paulus   und   be- 
sonders   Johannes    modificiren    die    Vorstellung    vom    Teufel, 
indem   sie  ihn  als  Fürsten  und  Gott  dieser  Welt   hinstellen8, 
als  das  böse  Princip,  das  die  Welt  beherrscht  und  der  Wahr- 
heit   widerstrebt.  9      Die    Welt,    als    Inbegriff    alles    Unvoll- 
kommenen, wird  im  Gegensatz  zum  Göttlichen  gedacht,  und 
wie  die  Guten  Kinder  Gottes  sind,    so   erscheinen   die  Bösen 
als  die  Kinder  des  Teufels.      Das  Wesen   dieser  Welt  setzen 
Johannes   und  Paulus    in  die   sinnliche,   vergängliche   Lust.  10 
In  der  Sinnlichkeit  (crap£)  beruht  auch  das  Wesen  der  Sünde 
und  in  dieser  die  Vergänglichkeit,  das  Nichtige,  daher  sie  der 
Treiberstachel  des  Todes,(xb  xevrpov  tou  ^avaxou)  genannt  wird.11 
Wenn    schon    der   Kampf   zwischen   dem  Reiche  Christi   und 
dem  des  Satans,  der  im  Alten  Testamente  kein  Analogon  hat, 
an    den   Parsismus   erinnert,   so  noch  mehr,   wenn   nach   neu- 
testamentlicher    Anschauung    der    Teufel    als    Oberhaupt 
von   bösen   Geistern  auftritt,    die    ihm    als    seine  a-y^eXot.12 
dienstbar    sind,    welche    Vorstellung    dem    Alten    Testamente 
auch  ganz   fremd  ist.      Es  scheint   bei  Paulus  sogar  eine  ge- 
wisse Rangordnung  unter  den  bösen  Geistern  angenommen  zu 


1  Joh.  8,  44  fg. 

2  Offenb.  2,  9. 

3  2  Kor.  4,  4;  Matth.  13,  19. 
*  Eph.  2,  3. 

5  Joh.  6,  70;  13,  2.  26. 

6  2  Kor.  11,   3;    vgl.  13—15;    1  Tim.  4,  1;    1  Joh.  4,  1.  3;    2,  18; 
Offenb.  2,  24. 

7  2  Thess.  2,  3  fg.;  Matth.  24,  24;  Marc.  13,  22. 
8'0  3eo?  tou  aüuvos  tovtou,  2  Kor.  4,  4. 

9  Ephes.  2,  2. 

10  Joh.  2,  16;  Ephes.  2,  31.  —  ^TuSujna  rrj;  aapxa?. 

11  1  Kor.  15,  56. 

12  Matth.  25,  41;  Offenb.  12,  7.  9;  2  Kor.  12,  7. 


9Q4  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

sein,  wie  sie  unter  den  guten  Engeln  gedacht  wird x  und  auch 
im  Alten  Testament,  namentlich  bei  Daniel  vorkommt,  von 
dem  aber  der  Satan  unerwähnt  bleibt.  Die  bösen  Geister, 
deren  Beherrscher  der  Teufel  ist,  sind  nicht  nur  Plagegeister, 
sondern  auch  ethisch  versuchende  Mächte,  und  ihr  Wirken 
zielt  daher  auch  auf  das  Verderben  der  Christusgläubigen. 2 
Mit  ihrem  Oberhaupte  an  der  Spitze  kämpfen  sie  gegen  die 
himmlischen  Mächte.  Die  Untergebenen  des  Teufels  bilden 
den  Gegensatz  zu  den  Engeln  Gottes 3 ,  und  wie  diese  Mächte 
sind,  durch  die  sich  Gott  offenbart,  und  die  Auserwählten 
heissen,  so  sind  jene  verworfene  Organe  der  satanischen 
Macht.  Die  Dämonologie  ist  zwar  weder  im  Alten,  noch  im 
Neuen  Testament  so  ins  einzelne  ausgebildet  zu  finden  wie 
die  Angelologie;  da  aber  die  bösen  Geister  mit  ihrem  Herr- 
scher dem  Satan  ausdrücklich  zum  Gottesreiche,  also  zu  Gott 
und  seinen  Engeln  in  Gegensatz  gestellt  werden,  so  ergibt 
sich  wol  von  selbst,  dass  jene  ihrem  Wesen  nach  als  die 
Kehrseite,  als  die  umgekehrte  Analogie  gedacht  wurden.  Da 
die  Engel  Gottes  als  dessen  Organe,  durch  die  er  seinen 
Rathschluss  ausführt,  (mehr  oder  weniger)  die  besondern 
Wirksamkeiten  der  Weltregierung  repräsentiren ,  so  werden 
die  Untergebenen  des  Teufels  keine  andere  Bedeutung  haben 
können,  als  dessen  Handlanger  zu  sein,  die  der  satanischen 
Tendenz  entsprechen.  Wie  die  Engel  nur  auf  das  Geheiss 
Gottes  erscheinen  und  Engelwirkungen  eigentlich  Gottes- 
wirkungen sind,  so  können  die  Untergebenen  des  Teufels  auch 
nur  auf  Grund  der  satanischen  Macht  werkthätig  sein.  Die 
Engel  erscheinen  in  bestimmten  Gestalten,  als  schöne  Jüng- 
linge4, selbst  von  ihren  lichten,  glänzenden  Gewändern  ist 
die  Rede. ä  Ueber  die  Gestalt  des  Satans  sowol  als  seiner 
Untergebenen  schweigen  die  biblischen  Schriftsteller,  denn 
das  visionäre  Bild  in  der  Offenbarung  erlaubt  keine  Ver- 
muthung,  in  welcher  Form  das  Volksbewusstsein  jener  Zeit 
den  Satan  und  seine  Helfershelfer  gefasst  habe. 


1  Ephes.  6,  12;  vgl.  Ephes.  1,  21;  Kol.  1,  16. 

2  Ephes.  6,  12. 

3  Matth.  28,  41;  Offenb.  12,  7.  9;  Kor.  12,  7. 
•  1  Mos.  19,  5  fg.;  Matth.  16,  5;  28,  2  fg. 

5  Offenb.  4,  4;  Joh.  40,  12;  Matth.  28,  3. 


6.    Der  Teufel  im  Neuen  Testament.  205 

Der  Fürst  der  bösen  Geister  ist  der  Urheber  alles  Uebels 
und  aller  Sünde.  Die  Bedeutung  der  Dämonen  als  Plage- 
geister wird  besonders  bei  den  Synoptikern  und  in  der 
Apostelgeschichte  hervorgehoben.  Als  solche  nehmen  sie  Be- 
sitz von  den  Menschen  und  machen  sie  zu  Dämonischen. 
Die  Synoptiker  erzählen  von  Besessenen,  die  an  Epilepsie1, 
an  paralytischer  Verkrümmung2,  an  Taubstummheit3  mit 
Blindheit  verbunden4  litten.  Solche  Zustände,  die  für  das 
Alterthum  etwas  Geheimnissvolles  an  sich  trugen,  von  den 
Hellenen  auf  die  Einwirkung  des  Göttlichen,  auf  das  Dämo- 
nion5, später  wol  auch  auf  Dämonen  zurückgeführt  wurden, 
brachten  die  Juden  mit  der  Sünde  in  Zusammenhang  und 
hernach  mit  den  bösen  Geistern.  Im  Hintergrunde  steckt 
aber  der  Satan  als  Veranlasser  solcher  Uebel,  da  ihm  selbst 
zugeschrieben  wird ,  was  einer  seiner  bösen  Geister  thut. 6 
Gemäss  der  Vorstellung  von  einem  Kampfe  des  Reiches 
Christi  mit  dem  Reiche  des  Teufels  gehört  es  zum  Zwecke 
der  Sendung  Christi,  die  Werke  des  Teufels  zu  zerstören,  zu 
welchen  auch  die  Besitznahme  der  Menschen  durch  böse 
Dämone  gezählt  wird.  Ein  Theil  der  Werkthätigkeit  des  Hei- 
lands besteht  demnach  (besonders  nach  den  Synoptikern)  in 
der  Heilung  der  Besessenen.  Die  Heilung  vollzieht  Jesus 
sv  7cveij[j.aT!.  ^sou7,  gemäss  dem  Gegensatze,  in  welchem  das 
Reich  des  Teufels  zu  dem  Gottes  gefasst  wird.  Die  Frage: 
ob  Jesus  die  Vorstellung  seiner  Zeit  vom  Teufel  und  den 
bösen  Geistern  getheilt,  oder  sich  derselben  blos  accommodirt 
habe,  deren  Beantwortung  Theologen  und  Nichttheologen  so 
viel  zu  schaffen  gemacht  und  noch  macht,  kann  uns  hier  nicht 
belästigen,  da  in  beiden  Fällen  der  Glaube  an  den  Teufel  und 
seine  böse  Schar  als  im  Volksbewusstsein  jener  Zeit  vor- 
handen unzweifelhaft  feststeht,  welche  Thatsache  wir  allein 
vom    culturgeschichtlichen  Gesichtspunkte  festzuhalten  haben. 


1  Luc.  9,  39;  Matth.  17,  15. 

2  Luc.  13,  11. 

3  Matth.  12,  22. 
*  Matth.  8,  28. 

5  Eigentlich    das  Waltende,   daher   die   Fallsucht  vovao;  Ipiij  heissen 
konnte,  Herodot,  III,  33. 

6  Luc.  13,  16. 

7  Matth.  12,  28. 


206  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Indem  der  Teufel  der  Urheber  alles  Bösen,  alles  Uebels l  und 
der  König  des  Todes  ist2,  so  erstreckt  sich  die  Heilsthätig- 
keit  Jesu  auf  die  Hebung  des  Uebels  überhaupt,  und  er  heilt 
auch  gewöhnliehe  Krankheiten  und  erweckt  Todte.  Seine 
Erscheinung  bezweckt  auch  die  Werke  des  Teufels  in  ethischer 
Beziehung  zu  zerstören,  da  durch  ihn  die  Menschen  zu  Kin- 
dern Gottes  gemacht  werden  sollen.  3  "Wo  der  Teufel  als  Fürst 
dieser  Welt  gefasst  wird,  das  Wesen  dieser  Welt  auf  ver- 
gängliche eitle  Lust  gestellt  ist,  da  gilt  es  einen  Kampf 
mit  dieser,  und  wer  als  Sieger  daraus  hervorgeht,  hat  auch 
den  Teufel  überwunden. 4  Im  Gegensatz  zum  Evangelium 
sind  die  Dämonen  Götter  der  Heiden,  durch  Götzendienst 
tritt  man  in  Verbindung  mit  ihnen5,  und  das  heidnische 
Orakelwesen  und  Wahrsagerthum  wird  daher  auf  dämonische 
Wirksamkeit  zurückgeführt.  6  So  gross  indess  die  Macht  des 
Teufels  und  der  bösen  Geister  auch  sein  mag,  ist  das  sata- 
nische  Reich  doch  nur  auf  Schein  und  Täuschung  gestellt; 
an  dem  Reiche  Christi  hat  es  seine  Grenze,  und  seine  Macht 
findet  an  Christus  ihren  Meister.  Ueber  den  Zeitpunkt  der 
Bewältigung  sind  die  Andeutungen  verschieden.  Nach  einigen 
Stellen  ist  Christus  als  der  Stärkere  erschienen  und  hat  über 
den  Starken  den  Sieg  davongetragen7;  nach  Johannes  ist  der 
Fürst  dieser  Welt  schon  gerichtet8,  ist  ausgestossen9;  damit 
übereinstimmend  heisst  es :  er  ist  wie  ein  Blitz  vom  Himmel 
gestürzt10;  der  Apokalyptiker  hingegen  erwartet  diesen  Sturz 
erst  in  der  Zukunft.  1X  Der  Satan  und  seine  Geister  liegen 
in  der  Unterwelt  gebunden  und  harren  auf  das  Gericht12; 
nach  einer  andern  Stelle13   geht  der  Teufel  wie  ein  brüllender 


1  Luc.    10,    19;     13,    16;    22,   31;    Apostelg.  5,  3;    2  Kor.    11,    3 
Ephes.  2,  2. 

2  1  Kor.  15,  26;  Hebr.  2,  14. 

3  1  Joh.  3,  8—10;  Job.  12,  31;  14,  30;  16,  11;  8,  44. 

4  1  Job.  2,  13.  15. 

5  1  Kor.  10,  20. 

6  Apostelg.  16,  16. 

7  Mattb.  12,  29;  vgl.  d.  Parallel. 

8  Joh.  16,  11. 

9  Job.  12,  31. 
10  Luc.  10,  18. 
n  Offenb.  12,  9. 

>2  2  Petr.  2,  4.  # 

13  1  Petr.  5,  8. 


6.    Der  Teufel  im  Neuen  Testament.  207 

Löwe  frei  umher;  bald  ist  durch  Christi  Tod  seine  Macht 
besiegt1,  und  dann  wieder  dauert  der  Kampf  fort  bis  zur 
Wiederkunft  Christi.  2  Die  Aussprüche  über  die  Machtstellung 
des  Teufels  sind  ebenso  schwankend  wie  über  seinen  und  der 
bösen  Geister  Aufenthalt.  Letztere  werden  in  den  Luftkreis 
versetzt 3,  daher  ihr  Oberhaupt  ap/ov  tü\$  s|cuaia<;  xou  as'po£ 
heisst;  anderwärts  zittern  sie  in  der  Unterwelt  dem  Gerichte 
ento-egen,  wie  schon  erwähnt  wurde.  Das  Wesentliche  ist: 
dass  sie  Gott  schlechthin  unterworfen  und  dem  Messias  gegen- 
über machtlos  sind. 

Ueber  den  Ursprung  der  bösen  Geister  gibt  das  Neue 
Testament  Andeutungen:  es  wird  ihnen  der  Glaube  an  Gott 
und  die  Furcht  vor  seiner  Macht  zugesprochen4,  sie  sind 
Engel,  die  aber  gesündigt  haben5  und  aus  ihrer  ursprünglichen 
Stellung  herausgetreten  sind.  6  Hiernach  wären  sie  allerdings 
als  ursprünglich  gut  geschaffen,  aber  als  abgefallen  gedacht. 
Es  ist  hierbei  an  den  mythischen  Zug  in  der  Genesis7  zu  er- 
innern, wo  die  tttjbN  y?2  als  höhere  Geisterwesen  gedacht 
werden,  wie  sie  im  Alten  Testament  öfter  vorkommen,  als 
Jahve  lobpreisend8,  oder  um  seinen  Thron  stehend  der  Befehle 
harrend9,  im  Dienste  Gottes  als  D"obu  auf  Erden  erscheinend.  In 
der  Genesis  vermischen  sich  die  Gottessöhne  mit  den  Menschen- 
töchtern und  thun  damit  etwas  der  Gottheit  Misfälliges.  Die 
Fassung  der  Kirchenväter  und  Kabbinen,  welche  in  dieser  Er- 
zählung der  Genesis  den  Fall  der  Engel  erblickt,  wird  gewöhnlich 
als  richtige  Tradition  angenommen.  Der  Fall  des  Teufels,  der  in 
der  Bibel  nirgends  erörtert  wird,  reducirt  sich  also  nur  auf 
die  Vermuthung  einer  Analogie  zu  dem  der  Engel.  Die  Stellen 
Jes.  4,  12;  Ezech.  28,  13  fg.  stehen  in  gar  keiner  Beziehung 
auf  den  Gegenstand.  Die  Berufung  auf  die  Tradition  dürfte 
auch  kaum  einen  sichern  Halt  gewähren,  da  nach  einer  andern 


1  Hebr.  2,  14. 

2  1  Kor.  15,  24—26;  Ephes.  6,  12. 

3  Ephes.  3,  10;  6,  12. 

4  Jac.  2,  19. 

6  2  Petr.  2,  4. 

6  Jud.  6. 

7  1  Mos.  6. 

8  Ps.  69,  7;  29,  1. 
Hiob  1,  6;  2,  1. 


i 


208  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

rabbinischen  Behauptung  der  Satan  mit  dem  Weibe  zugleich 
erschaffen  worden  sein  soll.  Hingegen  Hesse  sich  ein  Zug 
von  den  Gottessöhnen  der  Genesis  ableiten  und  als  Charakter- 
zug  der  bösen  Geister  herausheben,  nämlich  die  Sinnlichkeit, 
Wollust,  die  in  der  alttestamentlichen  Dämonologie  durch 
Asmodi  besonders  vertreten  ist.  Am  neutestamentlichen  Teufel 
ist  dieser  Zug  zwar  noch  nicht  deutlich  ausgeprägt,  zunächst 
nur  angedeutet,  durch  seine  Eigenthümlichkeit  die  Sinnenlust 
bei  den  Menschen  anzuregen1;  ganz  deutlich  tritt  dagegen 
das  Moment  der  Wollust  im  Wesen  des  Dämonischen  und 
des  Teufels  in  der  spätem  Zeit,  im  Mittelalter  hervor. 

Obschon  die  Gegensätzlichkeit  zwischen  dem  Reiche  Christi 
und-  dem  Satansreiche ,  wie  sie  das  Neue  Testament  aufstellt, 
an  den  parsischen  Antagonismus  zwischen  Ormuzd  und 
Ahriman  erinnern  muss,  wäre  es  doch  ein  Irrthum,  in  ersterer 
nur  einen  Abklatsch  des  letztern  sehen  zu  wollen.  Bei  solcher 
Annahme  müsste  es  auffallen,  dass  die  Satansidee  in  den 
nachexilischen  Büchern  des  Alten  Testaments  so  wenig,  im 
Neuen  Testament  so  überwiegend  im  Vordergrund  steht,  wo 
doch  zu  erwarten  wäre,  dass  nach  der  Rückkehr  aus  der 
Verbannung  diese  Vorstellung,  noch  im  frischen  Andenken 
stehend,  auch  innerhalb  der  hebräischen  Literatur  sich  mehr 
vorgedrängt  haben  sollte.  Der  neutestamentliche  Satan  ist  als 
specifisches  (wenigstens  specifisch  modificirtes)  Product  der  neu- 
testamentlichen  Anschauung  zu  betrachten  und  steht  im  engsten 
Zusammenhang  mit  der  Messiasidee  und  der  Vorstellung  vom  mes- 
sianischen  Reiche.  Die  messianischen  Erwartungen,  schon  im  Alten 
Testament  ausgesprochen,  gründen  sich  auf  den  festen  Glauben, 
dass  der  religiös- sittliche  Inhalt  des  Jahvethums  nicht  nur  nicht 
zerstört  werden  könne,  sondern  schliesslich  zur  Verwirklichung 
gelangen  müsse.  Daher  tritt  der  Messiasglaube  in  Form  der 
Weissagung  auf,  da  es  im  Wesen  des  alttestamentlichen  Pro- 
phetenthums  liegt,  Träger  des  geistigen  Inhalts  der  Jahve- 
religion  zu  sein.  Verheissungen,  unter  der  vorausgesetzten 
Bedingung  des  festen  Glaubens,  erhalten  schon  die  Erzväter 
Israels,  und  alte  Verheissungen  geben  den  Stoff  zu  messia- 
nischen Weissagungen.  Die  Zeit,  wo  die  messianische  Er- 
Wartung  lebendig  rege  wird,  ist  die  Zeit  der  Noth,  aus  welcher 

1  1  Kor.  7,  5. 


6.    Der  Teufel  im  Neuen  Testament.  209 

das  Volk  auf  Erlösung  hofft.  Noth  und  Verlangen  nach 
Erlösung  gehen  Hand  in  Hand,  und  an  sie  rankt  sich  die 
messianische  Hoffnung,  die  zur  Zeit  der  Bedrängniss  aus  dem 
Munde  der  Propheten  dem  Volke  zum  Trost  gereichte,  in 
ihm  feste  Wurzel  schlug.  Am  sichersten  wurde  der 
Messias  stets  erwartet,  wenn  fremde  Herrschaft  auf  dem 
Volke  lastete.  In  der  römischen  Zeit,  wo  die  Juden  unter 
dem  Drucke  der  tiefsten  politischen  Erniedrigung  lagen, 
mussten  die  messianischen  Erwartungen  am  höchsten  gespannt 
werden1,  daher  der  Name  Messias  zu  Jesu  Zeit  im  gewöhn- 
lichen Gebrauch  war.  Unter  den  Verrichtungen,  die  man 
vom  Messias  erwartete,  stand  obenan:  die  Befreiung  vom 
Joche  fremder  Herrschaft,  Wiederherstellung  des  reinen  Mose- 
thums,  überhaupt  eine  gänzliche  Umbildung  der  Dinge  und 
Uebernahme  der  Weltherrschaft.  Der  Ruf  von  einem  grossen 
König-,  den  die  Juden  erwarteten,  um  die  Weltherrschaft  zu 
erlangen,  drang;  bis  an  die  Ohren  der  Römer.2  Diese  Vor- 
Stellung  vom  Messias  trägt  noch  entschieden  die  alte  theo- 
kratische  Farbe.  Nach  dem  entwickeitern,  ethisirten  Begriffe 
vom  Messias  sollte  seine  Aufgabe  sein:  als  Heiland  (ccjrrjp) 
überhaupt  aufzutreten3,  sein  Volk  von  den  Sünden  zu  befreien, 
es  mit  Gott  zu  versöhnen,  die  Sündenstrafen  aufzuheben.4 
Dass  vom  Messias  auch  die  Heilung  der  Kranken  erwartet 
wurde,  geht  daraus  hervor,  dass  die  von  Jesus  geheilt  werden 
wollten  oder  geheilt  worden  waren,  ihn  deshalb  für  den 
Messias  erklärten5,  und  Kranke  überhaupt  Hülfe  bei  ihm 
suchten.  6  Die  Zeitgenossen  Jesu  erwarteten  vom  Messias  die 
Beglaubigung  seiner  Messianität  durch  Wunder. r  Da  der 
Glaube  an  den  Satan  als  den  Inbegriff  böser  Kräfte  im  Volke 
gang  und  gebe  war,  und  man  kein  Bedenken  trug,  selbst 
Wunderhan diungen   auf   diesen   zurückzuführen 8,    so   suchten 


1  Luc.  2,  25.  26. 

2  Sueton.,  Vespas.,  c.  4;  Tacit.,  Hist.  lib.  V,  c.  13.  In  Bezug  auf 
die  damals  gehegte  Erwartung  vgl.  Joseph,  de  hello  jud.,  lib.  VI,  c.  3, 
II,  13,  13;  Antiqu.,  XX,  5,  1. 

3  Apostelgesch.  1,  6. 

i  Luc.  1,  77;  Joh.  1,  29. 

5  Luc.  4,  41 ;  Marc.  3,  11 ;  Matth.  8,  29. 

6  Matth.  9,  27;  15,  22. 

7  Joh.  7,  31. 

8  Matth.  12,  24.  27. 

Boakoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  14 


210  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

die  Gegner  Jesu  seine  Heilungen  unter  diesen  Gesichtspunkt 
zu  stellen.  Nach  ihrer  Ansicht  wären  die  Uebel  durch  die 
bösen  Mächte  verursacht  und  verhängt  worden  und  Jesus 
heile  die  Krankheiten  durch  satanischen  Beistand.  Diesen  gegen- 
über weist  Jesus  auf  die  Ungereimtheit  hin,  dass  die  satanischen 
Mächte  auf  diese  Weise  ihr  eigenes  Werk  zerstören  würden, 
und  behauptet,  dass  seine  Wunderthaten  sv  Kvex>\Hxxi  ^Teou1 
vollbracht  werden,  weil  sie  den  Zweck  haben,  die  Macht  des 
Bösen  unter  den  Menschen  aufzuheben.  Wie  sehr  der  Glaube 
eingewurzelt  war,  dass  die  Macht  des  Messias  im  directen 
Gegensatz  zur  Macht  des  Satans  stehe  und  jener  berufen  sei, 
diese  zu  brechen,  geht  daraus  hervor,  dass  dem  Exorcisten, 
der  nicht  zur  Begleitung  Jesu  gehörte  und  einen  Dämonischen 
im  Namen  des  Messias,  also  mit  Berufung  auf  die  im  Messias 
wirkende  Kraft  heilte,  die  Wundercur  nicht  streitig  gemacht 
wurde,  weil  sie  auf  Grund  der  riaxiQ  an  den  Messias  voll- 
zogen ward.  2  Während  Jesus  im  Matthäus-Evangelium  noch 
als  jüdischer  Messias  gefasst  wird,  ist  er  im  Lucas-Evangelium 
schon  als  Erlöser  und  Heiland  der  Menschen  gedacht;  als 
Gottes  Sohn  ist  er  mit  übermenschlicher  Macht  ausgerüstet 
und  bethätigt  dieselbe  namentlich  in  der  Heilung  der  Dä- 
monischen. Nach  der  synoptischen  Christologie  ist  Christus 
alle  Gewalt  gegeben  im  Himmel  und  auf  Erden3;  zu  seiner 
messianischen  Würde  gehört  ferner:  dass  in  ihm  die  Macht 
des  Todes  aufgehoben  wird,  da  er  der  Fürst  des  Lebens  ist.4 
Gott  hat  ihn  vom  Tode  auferweckt,  weil  er  durch  den  Tod 
nicht  überwältigt  werden  kann5,  und  ist  durch  die  Auf- 
erstehung über  das  Menschliche  erhöht.  Wie  durch  Adam, 
den  Einen  Menschen,  die  Sünde  und  der  Tod  in  die  Welt 
gekommen,  so  ist,  nach  der  paulinischen  Fassung,  durch 
Jesus  Christus  die  Gnade  Gottes  den  vielen  Menschen  zu 
Theil  geworden.  6  Der  geistigen  Natur  Gottes  angemessen 
ist  es,  sich  in  seiner  Lichtnatur  zu  spiegeln,  und  so  wird 
auch  Christus  wesentlich  als  Geist  und  Licht  gefasst;  Christus 

1  Matth.  12,  28. 

2  Matth.  17,  19.  20. 

3  Matth.  28,  18. 

4  Apostelg.  3,  15. 
6  Apostelg.  2,  23. 
6  Rom.  5,  25. 


6.    Der  Teufel  ira  Neuen  Testament.  211 

ist,  nach  der  paulinischen  Christologie,  dem  physischen  Men- 
schen Adam  gegenüber,  der  geistige,  himmlische  Mensch;  er 
ist  unsündhaft,  in  ihm  ist  die  sündige  menschliche  Natur  auf- 
gehoben.  Nach  dem  Ausgangspunkte  ist  Christus  David's 
Sohn1,  als  solcher  trägt  er  die  sterbliche  Hülle,  durch  die 
Auferstehung  ist  er  aber  geistig  geworden,  durch  sie  ist  seine 
Messianität  realisirt,  das  Tcvsu^a  a.y.oowrfc  erweist  sich  in  ihm 
als  das  7tvsü[j.a  £uotoioüv.2  Der  Auferstandene  ist  zum  Sieger 
über  den  Tod  geworden,  wird  in  unmittelbarer  Nähe  Gottes 
gedacht,  ist  zum  xuptos  erhoben  und  steht  an  der  Spitze  des 
Reiches  Gottes,  wodurch  auch  seine  unmittelbare  Theilnahme 
an  der  göttlichen  Macht  und  Weltregierung  zum  Ausdrucke 
kommt. 

Dem  messianischen  oder  göttlichen  Reiche  gegenüber  ist, 
wie  schon  erwähnt,  des  Satans  Reich  und  Thätigkeit  der  ge- 
rade Gegensatz.  Alle  Hemmnisse,  die  der  Messias  bei  der 
Stiftung  und  Ausbreitung  seines  Reichs  zu  überwinden  hat, 
machen  den  Inbegriff  des  satanischen  Reiches  aus.  Dieses  ist 
die  hervorgerufene  verkehrte  Spiegelung  des  messianischen 
Reichs,  in  düstern  Farben  auf  dunkelm  Grunde.  Den  ver- 
schiedenen Seiten  des  Messias  entsprechen  auch  die  ver- 
schiedenen Seiten  des  Satans,  aber  in  umgekehrter  Bedeutung. 
Ist  Wahrheit  und  Licht  auf  der  Seite  des  Messias,  so  ist 
Falschheit,  Lüge,  Täuschung  und  Finsterniss  auf  der  Seite 
des  Satans;  dort  ist  Leben,  hier  Tod,  dort  Geist  und  ewiges 
Leben,  hier  Fleisch  und  Vergänglichkeit;  dort  Sündlosigkeit, 
hier  Sünde,  dort  Heil,  hier  Unheil. 

Wie  die  messianische  Idee  specifisch  biblisch  und  die 
Vorstellung  vom  messianischen  Reiche,  von  den  an  die  alt- 
testamentliche  Anschauung  sich  anlehnenden  neutestament- 
lichen  Schriftstellern  bis  zur  paulinischen  weiter  entwickelt, 
specifisch  neutestamentlich  genannt  werden  muss:  so  ist  auch 
der  neutestamentliche  Satan  nach  seiner  physischen  und 
ethischen  Bedeutung  eine  specifisch  neutestamentliche  Vor- 
stellung, weil  der  neutestamentliche  Satan  und  sein  Reich  das 
Correlat  zum  Messias  und  seinem  Reiche  bildet.  Daraus  er- 
klärt es  sich  auch,    warum  im  Neuen  Testamente  des  Satans 


1  Vgl.  Rom.  1,  3  fg. 

2  1  Kor.  15,  45. 

11 


219  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

und  seines  Reiches   so  häufig  Erwähnung  geschieht,   weil  das 
Messiasreich  der  Hauptgegenstand  des  Neuen  Testamentes  ist. 


7.   Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten 
christlichen  Jahrhunderte. 

Durch  Alexander  d.  Gr.  war  der  Orient  mit  dem  Occident 
in  Verbindung  gebracht  worden,  der  Völkerverkehr  war  er- 
öffnet, griechische  Sprache  und  Bildung  hatte  angefangen  über 
alle  Theile  der  damaligen  Welt  sich  zu  verbreiten.  Die  er- 
obernde Macht  der  Römer,  die  verschiedene  Völker  unter 
Ein  Oberhaupt  gebracht  und  dadurch  die  Scheidungslinie  ver- 
wischt hatte,  war  zur  Weltmacht  geworden,  in  welcher  die 
nach  Universalismus  strebende  Zeit  ihren  Ausdruck  fand. 
Dieser  politische  Universalismus  war  die  geeignete  Vorbe- 
reitungsstufe zum  geistigen  Universalismus  des  Christenthums, 
und  nachdem  die  römische  Herrschaft  durch  römische  Civi- 
lisation  und  Gesetzgebung  die  Völker  zur  politischen  Einheit 
erhoben  hatte,  fand  das  Christenthum  bei  seinem  Erscheinen 
für  seine  universalistische  Tendenz  den  Boden  gelockert,  um 
zum  weltbeherrschenden  Principe  zu  erwachsen  und  die  Völker 
zur  geistigen  Einheit  zu  erheben. 

Das  polytheistische  Heidenthum  hatte  sich  ausgelebt. 
Der  Götterglaube  ward  von  den  Gebildeten  zur  Fabelwelt 
herabgedrückt  oder  nur  zur  Einkleidung  philosophischer  Ideen 
benutzt,  als  religiöser  Glaube  vegetirte  es  nur  noch  im  Volke 
fort,  und  als  Staatsreligion  behauptete  es  sich  nur,  insofern  es 
mit  den  staatlichen  Einrichtungen  unzertrennlich  verflochten 
war.  Nachdem  seit  Livius  Andronicus  (240  v.  Chr.)  in  Rom 
die  griechische  Literatur  bekannt  geworden  war,  verbreitete 
sich  der  Unglaube,  die  Staatsmänner  suchten  die  vaterländische 
Religion  nur  als  Stütze  des  Staats  aufrecht  zu  erhalten,  und 
unter  den  Kaisern  herrschte  neben  dem  Unglauben  der  dickste 
Aberglaube.  Der  Verfall  der  Wissenschaft  ging  mit  dem 
sittlichen  Verderben  Hand  in  Hand,  und  die  Mathematici, 
Trauindeuter  u.  dgl.  zogen  ihren  Vortheil  durch  ihre  „geheime 
Wissenschaft  des  Orients",  die  schon  früher  bei  den  Römern 
Eingang  gefunden  hatte.  Das  Judenthum,  in  eine  Vielheit 
von    Sekten   und   Parteien   zerklüftet ,    war   in   der  Auflösung 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrb..    213 

begriffen,  konnte  keinen  Haltpunkt  geben,  sowenig  als  die 
griechische  Religion,  „die  Religion  für  Glückliche ",  im  Un- 
glück Trost  zu  gewähren  vermochte. 

Zwischen    Unglaube    und    Aberglaube,     die    beide    keine 
dauernde  Befriedigung  schaffen,  erwuchs  das  Bedürfniss  nach 
Ausgleichung    des   Zwiespalts,    die    Sehnsucht    nach    Versöh- 
nung und  Gemeinschaft  mit  dem  höchsten  Wesen,  und  inmitten 
des    Verfalls     der    vorchristlichen    Religionen    war    für     das 
Christenthum  Platz  gemacht.     Durch  das  Judenthum  war  die 
einheitliche  Fassung   des  Gottesbegriffs   zur  Geltung  gebracht 
Morden,    die   griechische   Bildung  hatte   das   menschliche   Be- 
wusstsein   dahin  entwickelt,    um  empfänglich  zu  sein  für  den 
sittlichen  Gehalt   des  Christenthums,    dass   der  Mensch   seiner 
als  sittliches  Subject  sich  bewusst  werde.    In  dieser  Beziehung 
ist   Sokrates    unter  den    grossen    Philosophen   epochemachend 
gewesen,  indem  er  den  Weg  weist,  den  das  menschliche  Sub- 
ject   einzuschlagen    hat,    nämlich    in    sich    einzukehren,    den 
Schwerpunkt  und  Masstab  des  Handelns  in  seinem  sittlichen  Be- 
wusstsein  zu  finden,  wobei  die  Selbsterkenntniss  zur  notwen- 
digen Bedingung  wird.      Auf  Grund  dieser  Forderung  haben 
die   spätem    ethischen  Systeme  der   griechischen  Philosophen, 
Stoiker,    Epikuräer,    Skeptiker    und    Eklektiker    die    sittliche 
Natur    des    Menschen    zum   Hauptgegenstand    der   denkenden 
Betrachtung  gemacht.     Daher  kann  es  nicht  befremden,  wenn 
in  der  eklektischen  Popularphilosophie,    die  zur  Zeit  der  Er- 
scheinung Christi  landläufig  war,   Ansichten  und  Lehren  auf- 
treten,   die    den  Ergebnissen   der  christlichen  Religions-   und 
Sittenlehre    ähnlichen.      Das    Zeitbewusstsein    war    von    den 
praktischen   Resultaten    der    griechischen    Philosophie   durch- 
drungen  und   der  Mensch   dahin  gelangt,   seiner  Bestimmung 
als  einer  sittlichen  Lebensaufgabe  sich  bewusst  zu  werden. 

Das  Christenthum,  in  welchem  die  verschiedenen  Rich- 
tungen der  griechischen  Philosophie  zusammentreffen  und 
ihren  Ausdruck  finden,  steht  aber  in  engster  Beziehung  mit 
dem  Judenthume,  aus  dessen  alttestamentlichem  Boden  das 
Neue  Testament  herauswächst.  Der  alttestamentliche  Gottes- 
begriff erscheint  geläutert,  trifft  aber  durch  die  monotheistische 
Fassung  zusammen,  im  Widerspruch  steht  nur  der  particu- 
laristische  Charakter  jenes  mit  der  universalistischen  Tendenz 
des  Christenthums.  Das  Anthropomorphistische  und  Anthropo- 


214  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

pathische  der  alttestamentlichen  Anschauung  wurde  schon 
durch  den  Einfluss  der  alexandrinischen  Philosophie  abge- 
streift, nachdem  die  Juden  durch  die  Berührung  mit  andern 
Völkern  Elemente  in  sich  aufgenommen  hatten,  die  bei  ihrer 
Entwickelung  von  Wichtigkeit  wurden.  Das  alexandrinische 
Judenthum  hatte  vermittels  der  allegorischen  Interpretation 
neue  Ideen  in  seinen  Glauben  bereits  aufgenommen,  die  alt- 
testamentlichen  Lehren  erhielten  eine  freiere  Gestalt,  der  alt- 
testamentliche  Gottesbegriff  wurde  erweitert  und  somit  der 
Particularismus  durchbrochen.  Die  hohe  Bedeutung  der 
alexandrinischen  Philosophie,  die  in  den  Schriften  Philo's 
niedergelegt  ist,  wird  seit  lange  in  ihrer  Tragweite  bis  in  die 
christliche  Theologie  anerkannt.  Besonders  hatte  unter  den 
Ptolemäern  in  Alexandrien  bei  den  Juden  infolge  ihres  Stu- 
diums  der  griechischen  Philosophie  eine  philosophische  Be- 
handlung ihrer  Religion  Eingang  gefunden,  deren  Spuren  im 
Buche  der  Weisheit  zu  Tage  liegen  und  auf  Philo,  den  vor- 
nehmsten Repräsentanten  der  alexandrinischen  Bildung,  zu- 
rückweisen. 1 

Nach  dem  ursprünglichen  Wesen  des  christlichen  Princips 
gibt  die  Gesinnung  allein  den  sittlichen  Massstab  für  das 
Handeln,  für  das  Leben.  Indem  die  Gesinnung  das  Gesetz 
in  sich  aufgenommen  haben  soll,  berührt  sich  das  christliche 
Princip  eben  durch  das  Gesetz  mit  dem  Mosaismus;  während 
aber  dem  Mosaismus  die  That  als  Erfüllung  des  Gesetzes  gilt, 
setzt  sich  das  Christenthum  in  Gegensatz  zum  Gesetz,  indem 
es  die  Gesinnung  als  Innerlichkeit  der  Handlung  als  reiner 
Aeusserlichkeit  gegenüberstellt.  Das  neue  Princip  unter- 
scheidet sich  daher  wesentlich  vom  alten  dadurch,  dass  es  auf 
die  Innerlichkeit,  die  Gesinnung  zurückweist,  von  dieser 
Lauterkeit  und  Freiheit  verlangt  und  nur  in  diese  den  sitt- 
lichen Werth  des  Menschen  setzt.  Die  sittliche  Reinheit  der 
Gesinnung,  die  allein  Werth  verleiht,  bringt  den  Menschen 
auch  in  das  adäquate  Verhältniss  zu  Gott,  das  Subject  setzt 
seine  Bestimmung  darein,  vollkommen  zu  werden  wie  Gott, 
die  absolute  Vollkommenheit.  Die  gemeinsame  Aufgabe,  an 
deren  Erfüllung  der  Beitrag  von  jedem  einzelnen  gefordert 
wird,   ist:    den  Willen  Gottes  zu  verwirklichen,    und  dies  ist 


Vgl.  Gfrörer,  Philo,  II;  Dähne,  Jüd.  alex.  Religionsphilosophic,  II. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    215 

auch  das  Wesentliche  bei  dem  Reiche  Gottes.  Das  Reich 
Gottes  nach  der  Lehre  Jesu  ist  die  vergeistigte  Theokratie 
des  Alten  Testaments  und  fusst  lediglich  auf  sittlichen 
Bedingungen,  von  deren  Erfüllung  die  Aufnahme  in  das  Reich 
Gottes  abhängig  ist.  Dem  üppigen  Heidenthume  gegenüber 
gestaltete  sich  das  christliche  Leben  zum  schroffen  Gegensatz, 
es  verabscheute  nicht  nur  dessen  sinnliche,  sondern  auch 
geistige  Genüsse1,  in  denen  es  nur  Selbstsucht  erblickte,  es 
erhob  Selbstdemüthigung,  die  aufopfernde  Bruderliebe,  den 
freudigen  Todesmuth  zum  Kennzeichen  eines  echten  Anhän- 
gers Christi.2  Das  Zeitalter  nahm  die  Richtung  der  frommen 
Ascese.  Die  Erde  ward  zum  Jammerthal,  und  die  Sehnsucht 
nach  einer  andern  Welt  erfüllte  die  edeln  Gemüther. 

Das  Christenthum  blieb  aber  nicht  blosse  Religions-  und 
Sittenlehre,  sondern  erhielt  eine  concrete  Form  dadurch,  dass 
es  in  der  Person  seines  Stifters  einen  festen  Mittelpunkt  nahm, 
der  zugleich  den  historischen  Berührungspunkt  abgab  zwischen 
der  Religion  des  Alten  und  Neuen  Testaments,  oder  zwischen 
Judenthum.  und  Christenthum,  und  zwar  dadurch,  dass  die 
jüdisch-nationale  Idee  des  Messias  in  der  Person  Jesu  ange- 
schaut, Jesus  zum  Träger  derselben  ward. 

In  Bezug  auf  das  messianische  Reich  unterschieden  sich 
die  Christen  von  den  Juden,  dass  jene  die  Zukunft  des  Mes- 
sias mit  der  Erscheinung  Christi  als  vollzogen  betrachteten, 
diese  hingegen  das  zu  errichtende  Messiasreich  noch  erwarteten; 
beide  aber  trafen  zusammen  in  der  Hoffnung  einer  zweiten 
herrlichen  Zukunft  desselben. 3  Dieses  bevorstehende  Reich 
des  Messias,  von  den  meisten  Christen  gehofft  und  mit  sinn- 
lichen Vorstellungen  ausgestattet,  bildete  den  Glaubenssatz  des 
Chiliasmus.  Der  chiliastische  Glaube,  der  dem  Boden  der 
apokryphischen  Weissagungen  entsprossen,  der  schon  unter 
den  Juden  herrschend  gewesen  ist,  findet  seine  Erklärung 
darin ,  dass  mit  dem  Tode  Jesu  die  Hoffnung  auf  die  Wieder- 
herstellung des  jüdischen  Staats  und  auf  ein  glänzendes  ir- 
disches   Reich    des    Messias    vernichtet    war,    ferner    in    dem 


1  Tertull.  de  spectaculis,  c.  23 ;  de  cultu  femin.,  II,  2. 

2  Minuc.  Felix,  c.  8;  Euseb.  H.  eccl.,  VII,  22. 

3  Justin.  M.,  Dial.  c.  Tryphone,  §.  31 :  r\  toü  uaSov;  o?xovotjt.(a  —  ■?)  t'v- 
8o£o;  Ttapouaia.     C.  1,  §  110:  8uo  Tiapouaicu. 


210  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Drucke,  dem  Hasse  und  der  Verachtung1,  welchen  die  eisten 
Christen  ausgesetzt  waren.  In  der  traurigen  Lage,  welcher 
gegenüber  die  Feinde  des  Christenthums  nicht  nur  an  Macht, 
sondern  auch  an  Zahl  bei  weitem  überwogen,  sollten  seine 
Anhänger  durch  den  Hinblick  auf  die  geistige  Seligkeit  des 
Himmels  getröstet  werden,  welche  Hoffnung  aber  erst  die 
Bedeutung  eines  Gegengewichts  zu  den  irdischen  Leiden  der 
Christen  dadurch  erhielt,  dass  diese  das  Moment  der  Sinn- 
lichkeit mit  hineinzogen.  Sonach  sollte  das  Eintreten  des 
Reiches  der  Herrlichkeit,  wo  die  Feinde  des  Christenthums 
gedemüthigt,  auf  den  Trümmern  des  übermüthigen  Rom 
Jesus  seinen  Einzug  halten  würde,  obschon  erst  in  der  Zu- 
kunft, doch  hier  auf  Erden  noch  stattfinden.  Dieser  Glaube 
vom  Chiliasmus  erfreute  sich  in  den  ersten  Jahrhunderten 
des  Christenthums  einer  so  allgemeinen  Ausbreitung,  dass 
nicht  nur  fast  alle  christlichen  Lehrer  darin  übereinstimmten, 
sondern  selbst  einige  Häretiker  denselben  theilten.  Die  Gno- 
stiker  waren  zwar  Gegner  des  Chiliasmus,  den  sie  für  jü- 
dischen Aberglauben  erklärten;  desto  eifriger  hingen  ihm  da- 
gegen die  Montanisten  an,  deren  Prophetinnen  die  zu 
erwartenden  grossen  Weltveränderungen  mit  glühender  Phan- 
tasie als  theils  schauerliche,  theils  freudige  ausmalten,  wobei 
sie  ihren  Pinsel  stark  in  Sinnlichkeit  tauchten  und  die 
grellsten  Farben  dick  auftrugen.  Namentlich  ist  Tertullian 
durch  seine  ausführliche  Darstellung  des  chiliastischen  Glau- 
bens berühmt,  wonach  ein  neues  Reich  auf  Erden  verheissen 
wird,  „ehe  wir  in  den  Himmel  kommen,  in  einem  neuen  Zu- 
stand, nämlich  tausend  Jahre  hindurch  nach  der  Auferstehung 
in  der  von  Gott  geschaffenen  Stadt  Jerusalem,  welche  sich 
vom  Himmel  herabsenken  wird,  welche  der  Apostel  die  Mutter 
aus  der  Höhe2  und  unsere  himmlische  Bürgerschaft-  nennt. 
Diese  schaute  Ezechiel,  diese  sah  Johannes  und  der  neue 
Geist  der  Weissagung,  welcher  in  unsern  Gläubigen  wohnt, 
bezeugt  sie  und  malt  ein  Bild  von  ihr,  wie  es  sich  einst 
unsern  Blicken  darstellen  wird".4      Der  Chiliasmus   herrschte 


1  Man   erinnere    sich  nur    an    die    Aeusserungen    eines   Tacitus  über 
die  Christen  Ann.  15,  44. 

2  Gal.  4,  26. 

3  Phil.  3,  20. 

4  Tertull.  contra  Marc,  III,  c.  24. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    217 

bis  auf  Origenes,  der  ihn  eifrig  bekämpfte,  wonach  die  chi- 
liastische  Glut  gegen  die  Mitte  des  4.  Jahrhunderts  erkaltete. 
Eine  Nebenbildung  des  Glaubens  an  ein  zukünftiges  herr- 
liches Messiasreich  ist  der  Glaube  an  ein  unübersehbares 
mächtiges  Geisterreich  und  an  dessen  unaufhörliche  Ein- 
Wirkung  auf  die  Erde  und  deren  menschliche  Bewohner.  Es 
ist  eine  Vorstellung,  durch  welche  die  Christenheit  mit  dem 
Heidenthum  und  Judenthum  sich  auf  gemeinschaftlichen  Boden 
stellte.  Man  glaubte  allgemein  an  Engel,  deren  Ursprung 
von  Gott  abgeleitet  ward,  obschon  man  die  Art  und  Zeit 
ihrer  Entstehung  verschieden  bestimmte.  Origenes  führt  die 
Lehre  von  den  Engeln  besonders  häufig  an,  obgleich  er  ver- 
sichert, dass  die  erste  Kirche  kein  förmliches  Dogma  darüber 
festgestellt  habe.  1 

Der  Glaube  an  das  Dasein  der  Engel  und  ihrer 
Wirksamkeit  war  nicht  nur  allgemein  angenommen,  sondern 
die  Lehre  davon  sogar  ein  Lieblingsgegenstand  der  altern 
Kirchenlehrer.2  Diese  Lehre  ist  aber  darum  von  cultur- 
historischer  Wichtigkeit,  weil  durch  sie  die  christliche  An- 
schauung mit  dem  Heidenthum  sowol  als  dem  Judenthum 
durch  sehr  viele  Fäden  zusammenhängend  sich  darstellt.  Die 
jüdische  Religion  hatte  in  ihre  Engellehre  altorientalische  Re- 
lio-ionsvorstellungen  aufgenommen,  und  die  christlich-kirchliche 
Lehre  von  den  Engeln  (guten  und  bösen)  ist  sonach  die 
Brücke,  über  welche  die  heidnische  Anschauungsweise  in  die 
christlich-kirchliche  den  Uebergang  fand  und  dadurch  einen 
Einfluss  auf  die  christliche  Kirchenlehre  erlangte. 

Ihrer  Stellung  nach  nehmen  die  Engel  die  Mitte  zwischen 
Gott  und  den  Menschen  ein,  demgemäss  ist  auch  ihre  Natur 
gedacht  und  theils  nach  dem  Muster  des  hierarchischen 
Systems  (Diakonat,  Presbyteriat,  Episkopat)  und  nach  Mass- 
gabe der  biblischen  Stellen3,  theils  nach  der  Vorstellung  der 
heidnischen  Götterwelt,  in  welcher  die  verschiedenen  Gott- 
heiten einer  höchsten  untergeordnet  erscheinen,  sprechen  schon 
die    ersten    Kirchenlehrer    von   verschiedenen    Rangordnungen 


1  Orig.,  de  princ.  prooem.,  10. 

2  Münscher,  Dogmengesch.,  II,  57;  Semisch,  Just.  M. ,  II,   339;  vgl. 
Athenag.  leg.,  27. 

3  Koloss.  1,  16;  Ephes.  1,  21. 


218  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

der  Engel. x  Ihre  Natur  ist  über  die  menschliche  erhaben,  da 
aber  reine  Immaterialität  ein  Vorzug  des  Schöpfers  bleibt,  so 
sind  die  Engel,  obschon  unkörperlich,  doch  mit  ätherischem 
Leibe  versehen,  der  feiner  ist  als  der  menschliche.2  _  Da 
nichts  Feineres  als  Luft  und  Licht  bekannt  war,  so  wurde  den 
Engeln  ein  luft-  und  lichtartiger  oder  aus  Luft  und  Licht  ge- 
webter Körper  beigelegt,  indem  die  Clementinischen  Homilien3 
selbst  Gott  einen  feinen  Lichtkörper  von  höchster  Schönheit 
zuerkennen.  Sie  erfreuen  sich  vollkommener  Freiheit  und 
können  Gutes  und  Böses  thun.  4 

Gegenüber  der  Emanationslehre,  wonach  die  Engel  als 
göttliche  Kräfte  gefasst  wurden,  wie  schon  bei  Philo  und 
selbst  noch  bei  Lactantius5  wahrzunehmen  ist,  gewann  diese 
Ansicht  die  Oberhand.  6 

Ueber  die  Thätiffkeit  der  Engel  stimmen  die  Kirchen- 
lehrer  überein,  dass  Gott  als  Regent  denselben  die  Besorgung 
der  einzelnen  Geschäfte  überwiesen  habe.  Schon  die  ersten 
Kirchenlehrer  Hermas  r,  Papias 8  haben  den  Gedanken  von  der 
Aufsicht  der  Engel  über  die  Welt,  und  er  findet  sich  auch  bei 
Justinus9,  Athenagoras10,  Clemens  Alexandrinus11, 
Methodius12,  Ori genes,  unter  Berufung  auf  5  Mos.  32, 
8.  9,  wo  die  LXX  die  bNnto"?  "53  durch  afysXot  ^sou  übersetzt 
haben,  dieser  spricht  aber  die  Ansicht  aus,  dass  die  Aufsicht 
über  Israel  Gott   selbst  geführt  habe.  13      Die  Weissagungen 


1  Clem.  Alex.,  Strom.,  VI,  13;  Ignat.,  Ep.  ad  Trall.,  c.  5. 

2  Orig.  de  trin.,  c.  1 ;  de  princ,  c.  6;  Damascen.  de  orthod.  fide,  II, 
c.  3;  Fulgentius  Ituspens.  de  trin.,  c.  8;  Aug.  de  divers,  quaestion.,  83, 
qu.  47;  Just.  dial.  c.  Trypli.,  c.  57. 

3  XVII,  §  7—11. 

4  Iren.,  IV,  c.  37;  Athenag.,  legat.  pro  Christian.,  27;  Origen.  de 
princ.  prooem.,  I,  c.  5,  c.  8,  alibi. 

5  Institut,  div.  1.,  IV,  c.  8. 

ü  Justin,  dial.  c.  Tryph.,  c.  128. 

7  Visio  III  in  partit.  Op.  ed.  Cotel.  I,  79. 

8  Grabii  spicileg.  Patrum  sect.  2,  p.  331. 

9  Apolog.  min.,  44. 

10  Legat,  pro  Christian.,  11,  27. 

11  Strom.,  V,  650;  VI,  822. 

12  Photii  biblioth.  cod.  235,  p.  907. 

13  Adv.  Cels.  V.  Üpp.,   Tom.  I,   p.  598  sequ.;    Homil.  VIII  in  Num., 
Tom.  II,  p.  157. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    219 

Daniel's,  in  welchen  von  einem  Engel  der  Perser  und  Meder 
die  Rede  ist,  festigten  die  Meinung,  dass  jedes  Volk  seinen 
besondern  Engel  zum  Aufseher  habe. *  Bei  einigen  Kirchen- 
lehrern findet  sich  eine  nähere  Angabe  der  besondern  Ge- 
schäfte der  Engel.  Nach  Origenes  hat  Raphael  die  Aufsicht 
über  die  Kranken,  Gabriel  über  die  Kriege,  Michael  über  das 
Gebet,  wie  auch  christliche  Gemeinden  unter  der  Aufsicht 
besonderer  Engel  stehen.2  Schon  Hermas3  spricht  von  einem 
Bussengel,  und  Tertullian4  erwähnt  eines  besondern  Betengels. 
Selbst  über  leblose  Dinge,  über  die  Erde,  das  Wasser,  die 
Thierklassen  sind  besondere  Engel  als  Aufseher  bestellt.5  Die 
Vorstellung  von  den  Schutzengeln  der  Menschen ,  die  sich  an 
die  mythische  Vorstellung  von  den  Genien  anschloss,  musste 
ganz  nahe  liegen,  und  sie  findet  sich  daher  schon  bei  Hermas.6 
Selbstredend  bezweckt  die  Thätigkeit  der  Engel  nur  das  Wohl 
der  Menschen:  sie  verschaffen  diesen  das  Gute,  das  ihnen 
Gott  bestimmt  hat,  bringen  zu  diesem  ihre  Gebete7,  sind  die 
Urheber  guter  Gedanken,  verschaffen  die  Kraft,  gegen  Ver- 
führungen anzukämpfen8,  erweisen  überhaupt  den  Menschen 
vielfache  Wohlthaten9,  wie  Gott  durch  die  niedern  Engel 
auch  den  Griechen  ihre  Philosophie  hat  zukommen  lassen10, 
sie  bewachen  die  Frommen11  und  fördern  auf  Gottes  Anlass 
die  Tugend.12  Es  hat  also  jeder  Mensch  seinen  besondern 
Schutzengel,  der  das  Böse  von  ihm  abwehrt,  das  Gute  hin- 
gegen in  ihm  anregt.  Da  aber  das  Uebel  trotzdem  auf  den 
Menschen  einwirken  und  gelegentlich  auch  Uebles  von  ihm 
ausgehen  kann,  so  wird  es  nicht  befremden,  wenn  schon  bei 
Hermas  die  Vorstellung  von  zwei  dem  Menschen  zugetheilten 


1  Orig.,  Homil.  XXXV  in  Luc.,  Tom.  III,  p.  974. 

2  De  princ,  I,  c.  8. 

3  Pastor,  Mand.,  1  et  4. 

4  De  oratione,  c.  12. 

5  Orig.,  Hom.  X  in  Jerem.,  Hom.  XIV  in  Num.;  adv.  Cels.,  VIII. 

6  Pastor,  lib.  II,  mand.  VI,  2. 

7  Orig.  adv.  Cels.,  V. 

8  In  Cant.  canticor. ;  de  princ,  III,  c.  2. 

9  Strom.,  VI,  c.  17. 

10  Strom.,  VII. 

11  Paed.,  II,  c.  9. 
1S  Strom.,  VI. 


220  Erster  Abschnitt :   Der  religiöse  Dualismus. 

Genien,  einem  guten  und  einein  bösen,  auftaucht.1  Tertullian 
stellt  schon  die  Behauptung  auf:  dass  fast  kein  Mensch  ohne 
unreinen,  bösen  Dämon  sei2,  und  Lactantius:  dass  die  unrei- 
nen Dämonen  sich  einzelnen  Menschen  anhängen,  ihren  Sitz 
in  ihnen  aufschlagen  und  sich  für  gute  Genien  ausgeben.  3 

Nach  der  biblischen  Vorstellung  steht  das  Dasein  böser 
Dämonen  und  ihres  Überhauptes,  des  Teufels,  fest  und  diesen 
Glauben  finden  wir  daher  bei  allen  Christen  dieser  Periode. 
Obschon  im  Neuen  Testament  der  Satan  bisweilen  der  Feind 
Gottes  genannt  wird,  so  wird  doch  kein  ursprünglicher  Gegen- 
satz in  den  ersten  christlichen  Jahrhunderten  aufgestellt,  und 
der  Dualismus  erscheint  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Mo- 
notheismus, wonach  der  Teufel  als  von  Gott  geschaffen,  aber 
als  freiwillig  abtrünnig  geworden  gedacht  wird.  Die  Kirchen- 
väter schlössen  sich  im  allgemeinen  der  biblischen  Vorstellung 
an.  Einige  Gnostiker  ausgenommen,  die  einige  Geister  nicht 
von  Gott  erschaffen  und  ihrer  Natur  nach  böse  sein  Hessen 4, 
deren  Ansichten  auf  die  Entwickeluno;  der  Vorstelluno-  vom 
Teufel  besonders  sollicitirend  wirkten,  galt  der  Teufel  bei  den 
übrigen  Christen  gewöhnlich  als  ein  von  Gott  ursprünglich 
gut  geschaffenes,  aber  durch  eigene  Schuld  böse  gewordenes 
Wesen,  das  seine  Freiheit  misbraucht  habe  und  dadurch  ge- 
fallen sei.  5  Die  Polemik  der  christlichen  Kirchenlehrer  gegen 
die  Gnostiker  betraf  ausser  dem  Doketismus,  wonach  die  Er- 
scheinung Christi  (vornehmlich  nach  Marcion's  System)  blosser 
Schein  war,  die  sittliche  Freiheit  des  Willens  und  das  darauf 
beruhende  Verhältniss  des  Menschen  zu  Gott,  und  endlich 
den  Demiurg  oder  Weltschöpfer,  den  die  Gnostiker  vom  ab- 
soluten Gott  trennten.  Die  Kirchenlehrer  sahen  in  diesem 
Dualismus  einen  grellen  Widerspruch  mit  dem  Monotheismus, 
daher  sie  der  gnostischen  Ansicht  von  der  Bedingtheit  der 
Einzelnen  durch  den  allgemeinen  Naturzusammenhang  die 
Idee  der  sittlichen  Freiheit  entgegensetzten.  6     Der  Gnosticis- 


1  Tastor,  Mand.  VI  in  rast.  App.  ex  ed.  Cotel.  I,  93.  94. 

2  De  anima,  c.  57. 

3  Institut,  div.,  II,  14. 

*  Marcionita  in  Dial.  de   recta    in  Deum   fide  in  Orig.  opp.,    I,  835 ; 
vgl.  Tertull.,  adv.  Marcion.,  II,  c.  10. 

5  Orig.  de  princ.  prooem.,  §.  6. 

6  Auch  in  den  Recognitionen.  die,  obschon  nicht  von  Clemens,  doch 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  chrisü.  Jahrb.    221 

mus,  der  nicht  nur  im  nahen  Verwandtschaftsverhältniss  zur 
alexandrinischen  Philosophie  steht,  sondern  wesentlich  eine 
Fortbildung  derselben,  also  Religionsphilosophie  ist,  nahm 
ausser  den  Erörterungen,  die  das  apostolische  Zeitalter  be- 
wegt hatten,  auch  andere  auf.  „Der  Wissensdurst,  der  inner- 
halb des  Christenthums  erwacht  ist,  das  Bedürfniss  nach  tie- 
fern Erkenntnissen  über  das  Verhaltniss  des  endlichen  und 
unendlichen  Geistes,  der  unsichtbaren  und  der  sichtbaren  Welt, 
nach  welchen  alles  menschliche  Denken  von  jeher  gerungen 
hat"  *,  bestimmt  das  Wesen  des  Gnosticismus.  Es  werden 
philosophische  Fragen  innerhalb  des  Christenthums  aufgewor- 
fen und  dieses  unter  den  Gesichtspunkt  des  Denkens  gestellt, 
wodurch  dieses  über  die  bisherige  Schranke  des  Heilsprincips 
zum  Weltprincip  erweitert  wird.  2  So  hoch  die  gnostischen 
Systeme  die  Idee  Gottes  stellten,  so  kommen  sie  doch  nicht 
über  den  Gegensatz  von  Geist  und  Materie  hinaus,  daher 
ihnen  allen  dieser  Dualismus  eigen  ist.  Die  Religionsphilo- 
sophie  der  Gnostiker  glaubte  die  Weltschöpfung  von  der 
höchsten  Idee  der  Gottheit  trennen  zu  müssen,  um  das  un- 
vollkommene Gute  in  der  Welt  von  einem  weniger  vollkom- 
menen Wesen,  dem  Weltschöpfer,  abzuleiten.  Denn  es  han- 
delte sich  hierbei  um  die  uralte  Frage:  tojsv  to  xocxgv.  3 
Durch  diesen  Dualismus  suchten  die  Gnostiker  das  Böse  in 
der  Welt   zu    rechtfertigen,    wogegen    die   Kirchenlehrer    mit 


aus  dem  2.  Jahrb..  herstammen,  wird  'auf  die  Freiheit  der  Nachdruck  ge- 
legt: „Praescius  omnium  Deus  ante  constitutionem  mundi,  sciens,  quod  futuri 
homines,  alii  quidem  ad  bona,  alii  vero  ad  contraria  declinaturi  essent,  eos, 
qui  bona  elegerint,  suo  principatui  et  suae  curae  sociavit:  atque  haeredi- 
tatem  sibi  eos  propriam  nominavit;  eos  qui  ad  mala  declinarent,  Angelis 
regendis  permisit:  bis,  qui  non  per  substantiam  sed  per  propositum  cum 
Deo  permanere  noluerunt,  superbiae  et  invidiae  vitio  corrupti,  dignos 
ergo  dignorura  principes  fecit.  Ita  tarnen  eos  tradidit,  ut  non  habeant 
potestatem  in  eos  faciendi  quod  volunt:  nisi  statutum  sibi  ab  initio  ter- 
minum  transeant.  Hie  est  autem  statutus  terminus,  ut  nisi  quis  prhis 
fecerit  daemonura  voluntatem:  daemones  in  eo  non  habeant  potestatem." 
(Recognit.  Divin.  Clementis  ad  Jacobum  fratrem  Domini,  lib.  IX;  Bibl.  Patr. 
max.,  II,  1  fg.,  466.    C.) 

1  Lipsius,   Der  Gnosticismus,  bei  Ersch  und  Grub.,  Sect.  1,  Bd.  71, 
Separatabdr.,  S.  18  fg. 

2  Vgl.  Baur,  Das  Christentum  der  drei  ersten  Jahrhunderte,  159. 

3  Tertull.,  de  praescript.  haeret.,  c.  7. 


222  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

dem  Unterschiede  von  mala  culpae  und  mala  poenae  antwor- 
teten x,  und  der  Verfasser  der  Homilien  findet  auch  in  dem 
Bösen  nur  das  Gute,  indem  jenes  theils  zur  Bewährung  des 
Guten ,  theils  zur  Bestrafung  des  Bösen  dienen  soll.  2  Dem 
Weltschöpfer,  dem  Demiurg,  wird  von  den  Gnostikern  eine 
dem  höchsten  Gotte  untergeordnete  Stelle  gegeben  und  mit 
dem  Gott  des  Alten  Testaments,  der  vorzugsweise  als  Schöpfer 
und  Regent  der  Welt  namhaft  gemacht  ist,  identificirt,  womit 
der  alttestamentlichen  Religion  innerhalb  des  religiösen  Ent- 
wickelungsprocesses  zugleich  ihre  Stufe  angewiesen  ist.  Der 
Demiurg  erscheint  den  Gnostikern  als  beschränktes,  mensch- 
lichen Leidenschaften  unterworfenes  Wesen,  das  keine  voll- 
kommenen Geschöpfe  hervorzubringen  vermag.  Er  unter- 
scheidet sich  vom  höchsten  Gott  dadurch,  dass  er  nur  Träger 
der  Gerechtigkeit  sein  kann,  auf  das  Amt  eines  Gesetzgebers 
beschränkt  ist,  während  jener  die  vollkommene  höchste  Güte 
in  sich  begreift.  Entsprechend  der  Stufenfolge  von  Heiden- 
thum,  Judenthum  und  Christentimm,  hatte  sich  im  Heiden- 
thum  die  üXt],  die  Materie,  als  Princip  offenbart,  die  jüdische 
Religion  wurde  durch  den  Demiurg  dargestellt,  der,  wie  seine 
endliche  Schöpfung,  ein  Ende  nehmen  muss,  während  der 
ganze  Weltverlauf  in  Christus  seinen  Abschluss  findet.  Die 
heidnische  Religion  steht  sonach  auf  der  untersten  Stufe,  da 
die  Materie  als  äusserster  Gegensatz  zum  höchsten  Gott  be- 
trachtet wird  und  die  heidnischen  Gottheiten  nur  für  Personi- 
ficationen  der  Naturkräfte  oder  der  sinnlichen  Triebe  des 
Menschen  selten.  Das  Judenthum  steht  zwischen  dein  Heiden- 
thum  und  Christenthum,  wie  der  Demiurg,  der  als  Judengott 
gilt,  als  Weitschöpfer  und  Weltregent  die  adäquate  Stelle 
einnimmt.  So  konnten  die  Gnostiker  Valentin  und  Marcion 
die  Juden  für  das  Reich  des  Demiurg  erklären,  die  Christen 
als  das  Volk  des  höchsten  Gottes  betrachten,  die  Heiden  für 
das  Reich  der  uatj,  mit  welcher  die  Idee  des  Satans,  als  Be- 
herrscher der  Materie  und  Fürsten  der  Finsterniss,  enge  zu- 
sammenhängt.  Nach  der  Ansicht  der  Gnostiker  geht  der 
Entwickelungsprocess  von  der  Materie  als  dem  Reiche  der 
Finsterniss  aus,  muss  durch  das  Psychische,  welches  das  Ge- 


1  Tertull.  :ulv.  Marcion.,  II,  14. 

2  Hom.  II,  36;  III,  4. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    223 

biet  des  Demiurgos  ist,  hindurchgehen,  um  zum  Pneumati- 
schen aufgelöst  zu  werden.  Dies  wird  durch  Christus  vermittelt, 
in  dem  sich  die  höchste  Gottheit  offenbart  hat,  und  durch  den 
die  ganze  Weltordnung  wiederhergestellt  werden  soll. 

Der  dualistische  Charakter,  obschon  allen  gnostischen 
Systemen  eigen,  findet  bei  Saturnin  den  entschiedensten  Aus- 
druck, wonach  von  dem  höchsten  Gott  Engel,  Erzengel  und 
Mächte  hervorgebracht  sind.  Unter  die  Sieben,  welche,  unter 
dem  höchsten  Gott  stehend,  die  Welt  gemacht  haben,  und 
unter  sich  die  Herrschaft  darüber  theilen,  o-ehört  auch  der 
Judengott.  Gegenüber  steht  aber  der  Satan,  und  dieser  Gegen- 
satz stellt  sich  auch  in  einem  Dualismus  des  Menschen- 
geschlechts dar,  das  in  ein  gutes  und  böses  zerfällt. 

Der  gnostische  Dualismus  ist  ein  principieller,  und  indem 
er  ein  principiell  Böses  aufstellt,  nimmt  er  eine  Zweiheit  von 
Grundprincipien  an,  ein  gutes  und  ein  böses,  wogegen  die 
Kirchenlehre  das  Böse  aus  dem  Willen  ableitete.  Eine  ver- 
mittelnde Theorie  ist  in  den  Homilien  aufgestellt ],  wonach 
der  Teufel  zwar  schon  mit  seiner  Entstehung,  aber  doch  durch 
seine  eigene  That  böse  ist.  Er  ist  aus  der  Mischung  der  aus 
Gott  hervorgetretenen  Grundstoffe  entstanden  mit  dem  Triebe, 
die  Bösen  zu  vernichten,  wodurch  er  aber  gerade  die  Zwecke 
Gottes  fördert.  Als  Bestrafer  des  Bösen  und  Vollstrecker 
des  Gesetzes  herrscht  er  in  der  gegenwärtigen  Welt,  wie 
Christus  in  der  künftigen. 

Bei  dem  engen  Anschlüsse  dieser  Ansicht  an  den  gnosti- 
schen Dualismus  konnte  sich  auch  die  Weltanschauunor  der 
Kirchenlehrer  auf  dem  Grunde  ihrer  Dämonenlehre  füglich 
nicht  anders  als  echt  dualistisch  gestalten.  Dem  Heiden- 
thum  noch  nicht  so  fern  gerückt,  um  dessen  Gottheiten  als 
mythische  Wesen  begreifen  zu  können,  sprach  man  diesen 
die  Existenz  nicht  ab,  aber  sie  sollten  nur  täuschende,  falsche, 
keine  wahren  Götter  sein,  wie  die  heidnische  Religion  nur 
als  eine  falsche,  als  Betrug  und  Blendwerk  der  Dämonen  be- 
trachtet wurde.  Auf  Täuschung  beruht  die  Macht  der  heid- 
nischen Götter,  welche  sich  nur  in  die  Form  des  Göttlichen 
hüllen,  um  von  den  Menschen  göttliche  Verehrung  zu  erlan- 
gen.     Wie   Falschheit    und   Betrug    der  Wahrheit    entgegen- 


1  Homil.  XIX,  12  fg.;  vgl.  III,  5;  XV,  7. 


224  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

gesetzt  ist,  so  sind  die  heidnischen  Götter  als  Repräsentanten 
jener  auch  gegen  die  Wahrheit  des  Christenthums  feindlich 
gerichtet  und  somit  Anstifter  aller  die  Wahrheit  verfälschen- 
den Häresien,  die  Urheber  der  Christenverfolgungen,  wo  die 
christlichen  Märtyrer  und  Dämonen  sich  feindlich  bekämpfen. 
Ihre  Wirksamkeit  erstreckt  sich  auch  auf  das  Leben  des  Ein- 
zelnen, indem  sie  denselben  leiblich  und  geistig  quälen,  aber 
nichts  gegen  die  Freiheit  des  Menschen  vermögen,  der  in 
sich  und  in  dem  Namen  Jesu  die  Kraft  zum  Widerstand 
findet.  l  Der  Teufel  ist  bemüht,  dem  Göttlichen  ein  Gegen- 
stück aufzustellen,  er  carikirt  jenes,  äfft  es  nach  und  erscheint 
daher  als  Affe  Gottes.2  Nach  Tertullian  3  ahmt  der  Teufel 
in  seinem  Dienste  den  Dienst  des  wahren  Gottes  nach:  vom 
Bade  verspricht  er  die  Tilgung  der  Sünden,  die  an  ihn  glau- 
ben und  ihm  anhängen,  weiht  er  ein  und  bezeichnet  seine 
Streiter  an  der  Stirne,  er  feiert  die  Darbringung  des  Opfer- 
todes und  führt  das  Bild  einer  Auferstehung  auf,  ja  er  spielt 
bei  Ehegelöbnissen  den  Hohenpriester.  4 

Wie  im  allgemeinen  das  christliche  Dogma  zum  grössten 
Theile  seine  Ausbildung  in  dem  Kampfe  mit  den  häretischen 
Richtungen  gewonnen,  die  Satansidee  durch  die  Gegensätze 
der  in  dieser  Periode  von  der  katholischen  Kirche  abwei- 
chenden Ansichten  sich  weiter  entwickelt  und  in  dem  christ- 
lich kirchlichen  Glaubenskreis  festgestellt  hat,  so  ist  insbeson- 
dere der  sollicitirende  Einflnss  des  Gnosticismus  auf  die  Lehre 
von  der  Versöhnung  durch  den  Tod  Jesu  von  Bäur  nach- 
gewiesen worden.  5 

Im  Neuen  Testament  ist  der  Tod  Jesu  als  ein  Sieg  über 
den  Teufel  dargestellt.  6  Nach  der  Vorstellung  der  Gnostiker 
betrachtete  der  Demiurg  die  Wirksamkeit  Jesu  als  einen 
Eingriff  in  seine  Herrschaft,  daher  er  ihm  hinderlich  zu  sein 
trachtete.  Der  Demiurg  und  seine  Dämonen  veranlassten 
daher  den  Tod  Jesu;    allein   dieser  Sieg  war   nur   ein   schein- 


1  Orig.  c.  Cels.,  III,  29;   IV,  92;   VII,  3.  69;   VIII,  36.  44;    de  princ., 
III,  2,  2.  . 

*  Justin.  Mart.  dial.  c.  Tryphone.  Lft'i««r  fc««**. 

3  Lib.  de  praescript.  haeret. 

4  Tertull.,  de  exhortat.  cast,,  13:   „Dei  Sacramenta  Satanas  affectat." 

5  Siehe  dessen  Lehre  von  der  Versöhnung. 

6  Koloss.  2,  15. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrb.   225 

barer,  denn  durch  Jesu  Tod  ward  gerade  der  göttliche  Plan 
realisirt,  und  der  weltschöpferische  Demiurg  erlitt  somit  eine 
Täuschung.  Im  Systeme  der  Ophiten  und  Marcioniten  be- 
steht der  Erlöser  einen  Kampf  mit  dem  ihm  feindlichen  De- 
miurg, in  welchem  jener  siegt,  dieser  aber  seine  Absicht  ver- 
eitelt sieht. 

Indem  der  Demiurg  von  den  Gnostikern  zugleich  als  das 
Gesetz  der  äusserlich  gefassten  Gerechtigkeit,  also  von  dem 
Gott  der  Liebe  getrennt  dargestellt  wird,  muss  jener  es  selbst 
gerecht  finden,  dass  er,  nachdem  er  Jesum  getödtet,  nun  selbst 
von  diesem  vernichtet  und  der  Herrschaft  beraubt  werden 
müsse.  Durch  den  Tod  Jesu  ist  also  dem  Gesetze  der  Ge- 
rechtigkeit, das  der  Demiurg  repräsentirt,  Genüge  gethan, 
was  nicht  der  Fall  gewesen  wäre,  wenn  Gott  ohne  Tod  Jesu 
die  Sündenvergebung  hätte  erfolgen  lassen.  Der  Tod  Jesu 
war  also  bedingt  durch  die  Rücksicht  auf  den  Demiurg,  den 
Repräsentanten  des  Gesetzes  der  Gerechtigkeit.  Die  Gerech- 
tigkeit ist  das  Princip,  nach  welchem  dieser  erste  Versuch 
einer  Versöhnungslehre  von  der  ältesten  Häresie  gemacht 
wurde.  Um  der  Gerechtigkeit  willen  musste  der  Tod  Jesu 
erfolgen,  und  um  derselben  willen  war  der  Demiurg  unter- 
legen. 

Irenäus,  einer  der  eifrigsten  Bekämpfer  des  Gnosticismus, 
war  es,  der  zuerst  an  die  Stelle  des  Demiurg  den  Teufel 
setzte  und  den  von  den  Häretikern  überkommenen  Beo-rifi" 
von  der  Versöhnung  nach  dem  Principe  des  Rechts  auf  den 
Boden  der  christlichen  Dogmatik  verpflanzte.  Hiermit  war 
ein  Wendepunkt  eingetreten,  infolge  dessen  das  Verhältniss 
zwischen  Gott  und  dem  Erlöser  gegenüber  dem  Teufel  aus 
dem  Gesichtspunkte  des  Rechtsverhältnisses  betrachtet  wurde. 
Nach  der  Ansicht  des  Irenäus  *  war  der  Mensch  durch  Ueber- 
tretung  des  göttlichen  Gebotes  in  die  Gewalt  des  Teufels  ge- 
kommen, in  der  er  sich  von  Adam  an  bis  Christus  befand. 
Dieser  befreite  die  Menschen  daraus  durch  den  vollkommenen 
Gehorsam,  den  er  am  Kreuze  geleistet  und  durch  sein  Blut 
ein  Lösegeld  gezahlt  hatte.  Wie  nach  dem  Gnostiker  Marcion 
der  Demiurg  als  Schöpfer  der  Menschen  und  Beherrscher  der 
Welt  ein  ursprüngliches  Recht  auf  dieselben  hatte,  so  erkannte 


1  Adv.  haeres.,  V,  1,  1. 
Boskoff,  Geschichte  des  Teufels.   I.  ,  r 


29(5  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

■ 

Irenäus  dem  Teufel  einen  Rechtsanspruch  auf  die  Menschen 
zu  infolge  der  von  ihnen  begangenen  Sünde.  Allerdings 
müsse  die  Verführung  der  Menschen  zur  Sünde  als  das  grösste 
Unrecht  und  gewaltsamster  Eingriff  in  Gottes  Gebiet  betrachtet 
werden,  da  ja  Gott  der  Schöpfer  der  Menschen  sei;  allein 
da  sich  einmal  die  Menschen  vom  Teufel  hatten  überreden 
lassen,  also  durch  eigene  Einwilligung  zum  Ungehorsam  gegen 
Gott  verleitet  waren,  so  hatte  der  Teufel  die  Menschen  von 
Rechts  wegen  in  seiner  Gewalt.  x  Obschon  Gott  die  Macht 
gehabt  hätte,  den  ursprünglich  unrechtmässig  vom  Teufel  be- 
gangenen Raub  demselben  zu  entreissen;  so  Hess  doch  Gottes 
Liebe  zur  Gerechtigkeit  nicht  zu,  gewaltsam  zu  verfahren, 
vielmehr  sollte  der  Weg  des  Rechts  selbst  dem  Teufel  gegen- 
über eingehalten  werden,  da  dessen  Rechtsanspruch  auf  den 
Menschen  einmal  anerkannt  werden  musste.  Es  kam  nun 
darauf  an,  dass  es  einen  Menschen  gebe,  der  das  vom  Men- 
schen dem  Teufel  einst  freiwillig  eingeräumte  Recht  wieder 
aufhebe,  dadurch,  dass  er  ebenso  freiwillig  dem  Teufel  ent- 
gegentrat und  dessen  Macht  sich  entzog,  sodass  dieser  sein 
Recht  erlöschen  sehen  musste.  So  würde  das  ursprüngliche 
Rechtsverhältniss  wiederhergestellt  und  somit  die  Besiegung 
des  Teufels  erzielt  werden,  indem  dieser  den  bisher  in  seiner 
Macht  befindlichen  Menschen  nicht  mehr  von  Rechts  wegen 
festhalten  könnte.  Auf  rechtlichem  Wege  konnte  der  Mensch 
nur  dann  aus  der  Gewalt  des  Teufels  befreit  werden,  wenn 
jener  Mensch  mit  freiem  Willen  von  diesem  sich  lossagte. 
Hier  tritt  nun  der  Erlöser  ein,  der  Mensch  gewesen  sein 
musste,  wenn  die  Befreiung  des  Menschen  auf  dem  Wege 
des  Rechts  vor  sich  gehen  sollte2;  er  musste  aber  wieder 
auch  mehr  als  Mensch  sein,  wenn  er  für  die  Menschen  das 
leisten  sollte,  was  diese  als  solche  für  sich  selbst  nicht  im 
Stande  waren.  Das  rechtliche  Mittel  zur  Befreiung  der  Men- 
schen aus  der  Gewalt  des  Teufels  konnte  nur  der  vollkom- 
mene Gehorsam  Jesu  sein,  mit  dem  er  dem  Teufel  ent- 
gegentrat. Durch  die  Sünde  des  Einen  Menschen  waren  alle 
Menschen  Sünder  geworden,  durch  den  vollkommenen  Ge- 
horsam Eines  Menschen    sind  alle   Menschen   wieder  gerecht 


i  Adv.  haeres.,  V,  21,  3. 
»  Adv.  haeres.,  III,  18,  7. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    227 

worden.  Indem  Jesus  für  die  Menschen  sein  Blut  vergoss, 
wurden  sie  durch  seinen  Tod  aus  der  Gewalt  des  Teufels  be- 
freit und  dieser  dafür  gefangen  gesetzt.  l  Das  Unrecht  war 
dadurch  auf  der  Seite  des  Teufels,  dass  er  Jesum,  der  ohne 
Sünde  war,  wie  einen  sündhaften  Menschen  behandeln  wollte. 
Da  Jesus  selbst  als  Lösegeld  für  die  aus  der  Gewalt  des 
Teufels  zu  befreienden  Menschen  sich  hingegeben  hatte,  er- 
hielt er  diese  mit  vollem  Rechte  zurück,  und  da  der  Teufel 
ursprünglich  kein  Recht  auf  sie  gehabt,  so  nahm  der  göttliche 
Logos  eigentlich  nur  zurück,  was  ihm  vom  Anfange  an  eigen 
gewesen  war.  Die  Ueberwindung  des  Teufels  war  aber  zu- 
gleich eine  Vernichtung  des  Todes.  Diese  Theorie  erhielt 
eine  weitere  Ausbildung  durch  Origenes,  der  den  Teufel  aus- 
drücklich getäuscht  werden  lässt.  Nach  seiner  Ansicht  sind 
die  Dämonen  in  stetem  Kampfe  mit  dem  Christenthum  als 
dem  Reiche  Gottes.  Alles  was  diesem  nachtheilig  ist,  ist  ein 
Sieg  der  Dämonen,  was  es  fördert,  eine  Niederlage  derselben. 
Märtyrer,  die  aus  Frömmigkeit  für  das  Christenthum  sterben, 
schmälern  die  Gewalt  der  Dämonen,  indem  sie  deren  Angriffe 
auf  die  Menschen  schwächen,  und  was  der  Märtyrertod  im 
kleinen,  ist  Jesu  Tod  im  grossen.2  Zur  Bestätigung  seiner 
Ansicht  weist  Origenes  auf  den  Glauben  unter  den  Heiden, 
wonach  Völker  oder  Städte  durch  freiwilligen  Opfertod  Un- 
schuldiger von  Unglück  und  Gefahren  befreit  worden  seien. 
Jesus  habe  sich  aber  allein  für  die  ganze  Welt  aufgeopfert, 
die  ganze  Last  der  Sünden  auf  sich  genommen  und  seine 
ganze  Kraft  als  Gegengewicht  entgegengesetzt.  3  Denn  das 
Recht,  das  der  Teufel  durch  die  Sünde  auf  die  Menschen 
erlangt  hatte,  erforderte  auch  ein  rechtliches  Verfahren  gegen 
ihn,  was  ihm  eigen  geworden  war,  durfte  ihm  füglich  nicht 
mit  Gewalt  entrissen  werden,  er  musste  also  für  das  Ver- 
lorene ein  Aequivalent  erhalten,  denn  nur  unter  dieser  Vor- 
aussetzung konnte  er  den  Tausch  eingehen.  Der  Lösepreis 
war  das  Blut  Christi,  das  von  so  grossem  Werthe  war,  dass 
es  zur  Loskaufung  aller  hinreichte.  4     Auf  Veranlassung  der 


1  Adv.  haeres.  V,  21,  3. 

2  Contra  Cels.,  VIII,  44. 

3  In  Johann.  28,  14. 

4  In  Epist.  ad  Roman.  2,  13. 

15 


228  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Stelle  Matth.  17,  22  erörtert  Origenes  die  Frage:  von  wem 
Christus  den  Händen  der  Menschen  übergeben  Morden  sei? 
und  antwortet:  zuerst  sei  der  Sohn  von  Gott  dem  Fürsten 
dieser  Welt  und  seinen  Dämonen,  und  von  diesen  den  Men- 
schen ausgeliefert  worden,  die  ihn  tödteten.  Die  Menschen 
seien  nur  das  Werkzeug  der  Dämonen,  die  ihn  in  die  Gewalt 
des  Todes  bringen  wollten,  aus  Besorgniss,  dass  er  ihnen  durch 
seine  Lehre  die  Herrschaft  über  die  Menschen  entreissen 
werde.  Der  Teufel  herrschte  aber  über  die  Menschen  bis 
ihm  zum  Lösegeld  die  Seele  Jesu  gegeben  ward,  unterlag 
aber  der  Täuschung,  indem  er  meinte,  er  könne  sie  in  seiner 
Gewalt  behalten,  während  er  die  Qual  bei  seinem  Streben 
sie  festzuhalten,  nicht  ertragen  konnte.  Origenes  schreibt  die 
Täuschuno:  des  Teufels  der  Absicht  Gottes  selbst  zu.  '  Indem 
der  Kreuzestod  Jesu  durch  den  Teufel  bewerkstelligt  ward, 
den  Gott  zuliess,  wurde  der  Teufel  selbst  als  Werkzeug  zur 
Zerstörung  seiner  Macht  gebraucht,  und  so  wurde  der  Tod 
zum  Mittel  die  Macht  des  Todes  aufzuheben.  Nach  Origenes 
hat  der  Tod  Jesu  die  Bedeutung  eines  Versöhnungsopfers 
Gott  dargebracht,  zugleich  aber  auch  die  eines  Lösegeldes, 
das  dem  Teufel  bezahlt  werden  sollte,  und  zwar  auf  Grund 
der  Selbständigkeit  des  Teufels,  die  ihm  Gott  gegenüber  ein- 
geräumt wird.  2 

Bis  zum  Anfange  des  Mittelalters  wurde  im  wesentlichen 
diese  Theorie  festgehalten.  Dass  der  Teufel  durch  die  Sünde, 
zu  der  er  die  Menschen  verführt  hatte,  ein  Recht  auf  diese 
erlangt  habe,  wurde  von  den  bedeutendsten  Kirchenlehrern 
hervorgehoben,  obschon  nicht  mit  gleicher  Entschiedenheit. 
Während  Augustinus  3  dem  Teufel  das  volle  Recht  auf  den 
Menschen  zuerkennt,  nennt  es  Leo  der  Grosse4  ein  tyranni- 
sches Recht,  und  Gregor  der  Grosse  spricht  einmal  von  einem 
Scheinrecht  5,  erklärt  sich  aber  das  anderemal  für  die  Reali- 
tät des  Rechts.  6 


1  In  Matth.  13,  9. 

2  Ep.  ad  Roman.  4,  11. 

3  De  lib.  arb.,  III,  10. 
*  Sermon.,  XXII,  3. 

6  In  Evang.  Luc.  II;  Hom.  XXV,  8. 
s  Moral.,  XVII,  18. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    229 

Nach  der  Ansicht  der  Kirchenlehrer  bestand  die  Herr- 
schaft des  Teufels  so  lange,  bis  er  einen  Gerechten  tödtete, 
in  dem  er  selbst  nichts  Todeswürdiges  finden  konnte.  Da 
nun  Christus  sowol  von  der  Sünde  als  auch  von  der  Erbsünde 
(nach  Augustin)  frei  war,  so  beging  der  Teufel  an  ihm  ein 
Unrecht  und  wurde  hiermit  seines  Rechtes  verlustig. 

Die  Veranstaltung  Gottes,  den  Menschen  aus  der  Gewalt 
der  Sünde  zu  befreien,  nannten  die  spätem  Kirchenlehrer  in 
naiver  Offenheit  einen  Betrug,  der  dem  Teufel  gespielt  wurde x, 
und  sie  gingen  so  weit,  zu  dessen  Ausführung  die  Mensch- 
werdung als  unentbehrliches  Mittel  darzustellen,  worin  Gregor 
von  Nyssa  voranging. 2  Nach  ihm  war  die  Menschheit  die 
Lockspeise  für  den  Satan,  indem  sich  das  Göttliche  unter  der 
Hülle  des  Menschlichen  verborgen  habe,  und  da,  wie  von 
lüsternen  Fischen  der  Köder,  vom  Teufel  mit  dem  Fleische 
zugleich  die  Angel  Gottes  verschlungen  worden  sei,  wurde 
jener  durch  die  ihm  vorgehaltene  Hülle  betrogen,  ebenso  wie 
er  einst  den  Menschen  durch  die  Lockspeise  der  Lust  zuerst 
bethört  hatte. 

Gregor  der  Grosse  vergleicht  den  Teufel  mit  dem  Levia- 
than,  der  mit  dem  Hamen  vom  Erlöser  gefangen  worden  und 
indem  er  nach  dem  Sterblichen  gegriffen,  um  ihn  zu  tödten, 
die  Sterblichen,  die  er  in  seiner  Gewalt  gehabt,  verloren  habe. 3 

Joh.  Damascenus  lässt  den  Teufel  daran  zu  Grunde  gehen, 
dass  er  alles,  was  er  verschlungen  hatte,  wieder  von  sich  geben 
musste,  als  er  den  unsündlichen ,  lebendigmachenden  Leib 
schmeckte,  den  er,  durch  den  Köder  verlockt,  von  der  Angel 
Gottes  erschnappt  hatte. 4  Dieses  Bild  wird  unter  verschie- 
denen Formen  bis  auf  Peter  Lombard  fortgeführt,  der  den 
Leviathan  bald  als  einen  in  der  Schlinge  gefangenen  Vogel 
darstellt  5,  bald  mit  einer  Maus  vergleicht,  wobei  der  Erlöser 
mit  seinem  Kreuze  die  Mausfalle  abgibt.  6 

Die  Vorstellung  vom  Teufel  als  einem  selbständigen  Herr- 


1  Gregor  von  Nyssa,  Orat.  catech.,  c.  23 ;  Ambros.,  Expos,  in  Evang. 
Luc.,  lib.  IV;  Leo  d.  Gr.,  Serm.,  XXII,  4. 

2  Orat.  catech.,  c.  22—26. 

3  Gregor  d.  Gr.,  Moral.,  XXXIII,  c.  7 ;  über  Hiob,  c.  40. 

4  Joh.  Damascenus,  De  orthod.  fide,  III,  1,  27. 

5  Sent.  I,  14. 

6  Sent,  III,  diss.  19. 


230  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

scher  mit  seinem  Reiche  gegenüber  dem  göttlichen  Reiche 
hatte  sich  bereits  so  sehr  in  den  Vordergrund  gedrängt,  dass 
der  Begriff  der  Erlösung  im  dogmatischen  Bewusstsein  nur 
mehr  als  Befreiung  aus  der  Gewalt  des  Teufels  fixirt  war. 
Wie  sehr  jene  Zeit  mit  dieser  Lieblingsvorstellung  verwachsen 
war,  beweist,  dass  der  von  den  Marcioniten  dialogieirte  Rechts- 
streit zwischen  Christus  und  dem  Teufel1  in  einer  im  15.  Jahr- 
hundert erschienenen  Schrift  behandelt  wurde :  „Reverendi  pa- 
tris  domini  Jacobi  de  Theramo  Compendium  perbreve  conso- 
latium  peccatorum  nuncupatum  et  apud  nonnullos  Belial 
vocitatum  ad  Papam  Urbanum  sextum  conscriptum.  Impres- 
sum est  fol.,  anno  Mcccclxxxiiij."  Die  deutsche  Ueber- 
setzung  führt  den  Titel:  „Belial,  zu  deutsch,  Ein  gerichtz- 
handel  zwischen  Belial  hellischem  Verweser,  als  kleger  einem 
tail  vund  Jesu  Christo,  hymmelischen  got,  antwurter,  anderem 
teile,  Also  obe  Jhesus  dem  hellischen  Fürsten  rechtlichen  die 
Helle  zerstöret,  beraubet,  vnn  die  teufel  darin  gebunden  habe  etc. 
Alles  mit  clag,  antwurt,  widerred,  appellierung,  rechtsagung  etc. 
Strasburg  MDjij." 

Ein  Rückblick  auf  die  Anfänge  der  Erlösungslehre,  die 
im  Streite  zwischen  den  Kirchenlehrern  und  den  Gnostikern 
zum  Dogma  sich  herausbildete,  zeigt,  dass  es  vornehmlich 
Irenäus  ist,  der  mit  dieser  Theorie  zugleich  den  Teufel  in 
die  kirchliche  Dogmatik  eingeführt  hat.  Nach  dem  Vorgange 
des  Athenagoras  2  hatte  den  Gnostikern  gegenüber  auch  die 
Ansicht  Festigkeit  gewonnen:  dass  der  Teufel  gleich  den 
übrigen  Engeln  geschaffen  und  zwar  als  gut,  ihm  wie  jenen 
der  freie  Wille,  Gutes  oder  Böses  zu  thun,  verliehen,  dass  er 
aber  durch  eigene  Schuld  böse  geworden  sei.  3  Dem  gnosti- 
schen  Dualismus  gegenüber,  wonach  der  Mensch  von  Natur 
eine  materielle  Befleckung  an  sich  trägt,  betonten  die  Kirchen- 
lehrer das  Sittliche  als  Sache  der  eigensten  Selbstbestimmung 
des  Menschen  und  legten  auf  alles,   was   sich  auf  die  subjec- 


1  Vgl.  Baur,  Chr.  Gnosis,  S.  275. 

2  Legat.  27. 

3  Iren.,  Adv.  haeres.,  IV,  c.  41,  §.  1,  2;  Tertull.,  Adv.  Marcion.,  II, 
c.  10;  Orig.,  Comm.  in  Joh.  —  Die  Dämonen  sind  nicht  von  Natur  böse, 
sondern  erst  durch  den  Fall  der  Engel  so  geworden.  (Dionys.  Areo- 
pagita,   De  div.  nominib.,  c.  IV;   in  Bibl.  patr.  max.  II,  1  f.  268,  A.  B.) 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    231 

tive  Aneignung  des  Heils  bezog,  das  grösste  Gewicht.  Wie 
die  Sünde  Adam's  als  eine  ihm  selbst  zuzurechnende  Schuld 
betrachtet  wurde,  so  ward  die  Sünde  überhaupt  auf  die  Frei- 
heit gegründet,  durch  welche  die  Wahl  des  Guten  oder  Bösen 
bedingt  gedacht  wurde.  Demgemäss  war  auch  der  Teufel 
durch  Misbrauch  seiner  Freiheit  gefallen,  worin  die  Kirchen- 
lehrer übereinstimmen,  aber  die  nähere  Veranlassung  des 
Falls  verschieden  erklären.  Wenn  Athenagoras  1  die  erste 
Sünde  des  Teufels  in  die  Untreue  und  Vernachlässigung  seines 
Amtes,  „die  Materie  und  deren  Formen  zu  überwachen",  setzt, 
so  scheint  er  dabei  die  Stelle  2  Petri  2,  4  vor  Augen  zu 
haben.  Nach  Dionysius  Areopagita  masst  sich  der  Teufel  an, 
Gott  gleich  zu  sein,  weiss  aber  nicht  diese  Gleichheit,  die  er 
affectirt,  zu  erlangen.  2 

Auch  Origenes  findet  die  Hauptsünde  des  Teufels  im 
Hoehmuth  und  in  der  Anmassung,  derentwegen  er  aus 
dem  Himmel  gestossen  worden  ist.3  Andere,  wie  Irenäus  4, 
Tertullian  5,  Cyprian  6,  sehen  den  Grund  im  Neide;  während 
Methodius r  zwar  alle  diese  Angaben  zu  verbinden  sucht, 
sich  aber  am  meisten  an  Athenagoras  anschliesst.  Bei  Lac- 
tantius  sündigt  der  Teufel  aus  Verdruss  über  den  Vor- 
rang des  ersten  Geistes,  also  aus  Neid  um  das  Ebenbild 
Gottes  im  Menschen. 8  Nach  Theophilus  9  ist  der  Neid 
des  Teufels  dadurch  angeregt,  dass  er  Adam  und  Eva  am 
Leben  und  Kinder  bekommen  sieht,  daher  er  den  Kain  zum 
Morde  seines  Bruders,  der  Gott  angenehm  war,  antrieb.  Da- 
durch ward  der  Teufel  zugleich  der  Urheber  des  Todes,  der 
sich  bis  auf  unsere  Zeit  unter  dem  Menschengeschlechte  ver- 
breitet hat. 


1  A.  a.  0. 

2  Dion.  Areopagita,  De  divinis  nominib.,  c.  VII;  in  Bibl.  p.  max.  II, 
p.  2,  fol.  312,  B. 

3  Homil.  IX,  2,  in  Ezech. :  Inflatio,  superbia,  arrogantia  peccatum  dia- 
boli  est  et  ob  haec  delicta  ad  terras  migravit  de  coelo. 

4  Adv.  haeres.,  IV,  c.  40. 

5  Adv.  Marcion.,  II,  c.  10. 

6  De  dono  patientiae. 

7  Bei  Photius  in  biblioth.  cod.,  824,  lib.  13. 

8  Instit.  div.,  II,  c.  8. 

9  Ad  Autolycum,  Lib.  II  in  Bibl.  p.  max.  II,  p.  2,  fol.  185,  B. 


232  Erster  Abschnitt:  Der  religiöse  Dualismus. 

Die  Summe  dieser  Erklärungen  lässt  sich  also  doch  auf 
Egoismus  als  letzten  Grund  zurückführen. 

Auf  den  Fall  der  übrigen  bösen  Engel  wurde  schon  von 
jüdischen  Schriftstellern  l  die  Stelle  1  Mos.  6,  2  nach  der 
Lesart  oü  ajy&koi  toü  ^eoO  statt  uCoi  roü  'ä'eoTj  bezüglich  der 
Vermischung  derselben  mit  den  Töchtern  der  Menschen  an- 
gewendet, und  die  meisten  Kirchenlehrer,  Justinus  Martyr2, 
Tatian  3,  Athenagoras4,  Irenäus5,  Tertullian  6,  Minucius  Felix7, 
theilen  die  Ansicht,  dass  die  Engel  durch  den  Umgang  mit 
Weibern  schuldig  und  deshalb  aus  dem  Himmel  gestossen 
worden  seien.  Nach  der  hergebrachten  Deutung  dieser  Stelle 
war  also  die  Ursache  des  Falls  der  Engel  in  die  selbst  höhere 
Geister  nach  unten  ziehende  Fleischeslust  gesetzt,  oder  tiefer 
gefasst,  in  den  unerklärlichen  Zug  des  Geistes  zur  Materie. 
Clemens  Alexandrinus  sieht  daher  den  Grund  des  Engelfalls  in  der 
Lüsternheit,  die  sie  nicht  überwinden  konnten  8,  oder  weil 
sie  nicht  nach  Vollkommenheit  strebten  und  demzufolge  aus 
dem  Himmel  geworfen  wurden.  9  Aus  der  Vermischung  der 
Engel  mit  den  "VVeibern  auf  der  Erde  sind  jene,  des  Himmels 
unwürdig,  zu  Genossen  des  Teufels  geworden  und  bilden  in 
dessen  Reich  die  Klasse  der  Unzucht-  oder  Buhlteufel,  die 
in  der  Welt  herumschwärmen  und  die  Menschen  ins  Unglück 
zu  bringen  suchen,  die  Seelen  mit  List  angreifen,  aber  auch 
in  den  menschlichen  Leib  schleichen  und  da  verderblich  wir- 
ken.10 Im  Zusammenhange  mit  der  Vorstellung  von  der  Ver- 
mischung der  Dämonen  mit  den  Weibern  steht  die  Ansicht 
vom   heidnischen    Cultus    und    der  Verführung    zur   Wollust. 


1  Joseph.  Antiqu.,  I,  8,  1 ,  vgl.  mit  dem  Targ.  des  Jonathan ;  Philo, 
De  gigantib.,  p.  286  (Francof.);  Buch  Henoch  bei  Fabricius  cod.  pseud- 
epigr.,  V.  T.,  p.  179  fg.;  Testament  der  zwölf  Patriarchen,  Rüben  §.  5; 
Naphtali  §.  3. 

2  Apolog.,  II,  c.  5. 

3  Orat.  ad  Graec,  c.  12. 

4  Legat. 

5  Adv.  haeres.,  lib.  4,  c.  16,  21. 

6  De  virg.  veland.,  c.  7;  de  hab.  mul.,  c.  2  et  4;  de  cultu  femin.,  c.  10; 
de  idol.,  c.  8  u.  9,  und  a.  a.  0. 

7  Octavius,  c.  26. 

8  Strom.,  III,  7. 

9  Strom.,  VII,  859. 

10  Lactant.,  Just,  div-,  II,  14. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    233 

Die  gefallenen  Geister  sollten  die  göttliche  Offenbarung  ent- 
stellt, an  die  Menschentöchter  verrathen  und  von  diesen  wieder 
die  Heiden  ihre  Philosophie  erhalten  haben.  l  Da  man  den 
Abfall  des  Teufels  selbst  aber  aus  Neid  und  Hochmuth  ab- 
leiten zu  müssen  glaubte,  tritt  jener  schon  bei  Tertullian  und 
Origenes,  nach  der  allegorischen  Deutung  der  Stellen  Jes.  10, 
12  fg.,  14,  12,  u.  a.,  als  der  infolge  seiner  Ueberhebung  ge- 
fallene Lucifer  auf. 

Ueber  die  Zeit,  wann  der  Fall  stattgefunden,  sind  die 
Meinungen  verschieden.  Nach  der  Annahme,  dass  der  Teufel 
die  Uraltem  verführt  habe ,  sollte  man  erwarten ,  dass  sein 
Fall  früher  als  der  der  Menschen  geschehen  sei;  allein  nach 
Tatian  2  ist  der  Fall  des  Teufels  als  Strafe  für  die  Verführung 
der  Menschen  zu-  betrachten,  und  nach  Irenäus  3  und  Cyprian  4 
scheint  sein  Fall  zwischen  der  Schöpfung  des  Menschen  und 
dessen  Verführung  vor  sich  gegangen  zu  sein. 

Da  schon  die  guten  Engel  körperlich  vorgestellt  werden, 
so  haben  die  bösen  einen  noch  gröbern  Leib  als  jene,  wie 
auch  der  Teufel  nach  seinem  Falle  mit  einem  Leibe  versehen 
worden  ist  5,  obschon  die  Leiber  der  bösen  Engel  doch  noch 
feiner  sein  sollen  als  die  menschlichen.  6  Nach  Tatian  sind 
die  Dämonenleiber  von  der  Art  der  Luft  oder  des  Feuers.  7 
Ohne  Körper,  heisst  es  in  den  Auszügen  des  Theodoret,  wären 
die  Dämonen  für  keine  Strafe  empfänglich,  sie  heissen  aber 
unkörperlich  im  Vergleich  mit  den  geistigen  Leibern  der 
Seligen,  wogegen  sie  nur  wie  Schatten  sind.  8  Aus  der  Vor- 
Stellung  von  der  Leiblichkeit  der  Dämonen  folgt,  dass  sie 
auch  Nahrung  bedürfen.  Origenes  lässt  sie  den  Dampf  der 
Weihrauchopfer  gierig  einsaugen 9,  und  ähnlicher  Meinung 
sind  die  andern  Kirchenlehrer. 10 


1  Strom.,  VI,  1. 

2  Orat.,  c.  11. 

3  Adv.  haeres.,  IV,  40,  3. 
*  De  dono  pat.,  218. 

5  Orig.,  Coment.  in  Joh. 

6  Adv.  Cels.,  IV. 

7  Orat.  ad  Graecos,  154. 

8  In  Opp.  Clem.,  971. 

9  Exhort.  ad  Martyr.  Opp.  Tom.  1,  p.  304. 

10  Tertull.,  Apolog.,  c.  22.  23;  Athenag.  Legat,  30;  Cyprian,  De  idolol. 
vaiiit.,  13;  Minucius  Felix,  Octav.,  c.  27. 


934  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Ignatius  behauptet  wiederholt,  dass  dem  Teufel  vieles  von 
der  Geburt  Christi  unbekannt  geblieben  sei ] ;  im  allgemeinen 
wurden  aber  die  bösen  Dämonen,  sowol  an  Macht  als  an 
Kenntnissen,  den  Menschen  überlegen  gedacht,  woraus  Tatian 
beweist,  dass  sie  nicht  für  Seelen  verstorbener  Menschen  zu 
halten  seien.2  Besonders  findet  Origenes  ihr  Voraussehen 
künftiger  Dinge  weit  über  den  menschlichen-  Scharfsinn  rei- 
chend 3,  indem  sie  das  Zukünftige  aus  der  Bewegung  der 
Gestirne  absehen.  4  Sie  sind  auch  im  Besitze  geheimer  Kennt- 
nisse, die  sie  gern  Weibern  entdecken.5  Die  Recognitionen 
sehen  den  Grund  davon,  dass  den  Dämonen  zugestanden  ist 
bisweilen  Wahres  vorauszusagen,  darin:  dass  sie,  wenn  sie 
dies  nicht  thäten,  nicht  als  Dämonen  erkannt  zu  werden  ver- 
möchten. 6  Ihr  Aufenthalt  ist  nach  Origenes 7  in  der  dicken 
Luft. 

Die  ihnen  zuerkannte  Macht  verwenden  sie,  in  Gemein- 
schaft mit  ihrem  Oberhaupte,  um  überhaupt  Uebles  zu  stiften 
und  zu  verbreiten,  da  der  Teufel  selbst  niemals  Ruhe  hat  und 
auch  die  Menschen  nicht  in  Ruhe  lassen  kann.  8  Athenagoras 
leitet  alle  Unordnung  in  der  Welt  vom  Teufel  und  den  Dä- 
monen ab  9,  denn  nach  Cyprian's  Angabe  wünschen  sie  Ge- 
fährten ihres  Elends  und  der  Sünde  zu  gewinnen.  10  Sie 
suchen  den  Menschen  allerlei  physische  Uebel  zuzufügen,  in- 
dem sie  Landplagen  aller  Art,  Miswachs,  Dürre,  Pest,  Vieh- 
seuchen ll,  Krankheiten  und  sonstige  Leibesübel  hervorbrin- 
gen 12,  selbstverständlich  aber  nicht  ohne  Zulassung  Gottes, 
dessen   Scharfrichter  sie  sind.     Sie   nehmen   auch  Besitz  von 


1  Ignat.    Episc.     et    Martyris    ad    Philadelpbiens.    epist.    VIH;     Ad 
Epbesiens.  epist.  XIV  in  Bibl.  patr.  max.,  II,  p.  1,  f.  81,  F.,    f.  91,  G. 

2  Orat.  ad  Graec.,  154. 

3  Adv.  Cels.,  IV. 

4  Comment.  in  Genes. 

5  Clem.  Alex.,  Strom.,  V,  650. 

6  Lib.  IV  in  Bibl.  patr.  max.,  II,  p.  1,  f.  422,  F. 

7  Exhort.  ad  martyr.  Opp.,  Tom.  I,  303. 

8  Iren.,  Adv.  haeres.,  lib.  V,  c.  24. 

9  Legat.,  c.  24. 

10  De  vanit.  idol.,  13. 

11  Orig.  contra  Cels.,  VIII,  §.  31.  32.; 
»  Tertull.,  Apol.,  c.  22. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    235 

den  Leibern,  wovon  alle  Kirchenlehrer  überzeugt  sind,  ob- 
schon  Origenes  die  Bemerkung  macht,  dass  manche  Aerzte 
solche  Zufälle  für  natürliche  Krankheiten  erklärten.  *  Auch 
moralische  Uebel  rühren  von  den  Dämonen  und  ihrem  Meister 
her.  Sie  sind  die  Stifter  der  Abgötterei  und  lassen  sich  von 
den  Heiden  als  Götter  verehren ;  von  ihnen  kommen  die 
Wunderzeichen,  die  zur  Bestätigung  der  Abgötterei  dienen 
sollen,  sie  sind  die  Urheber  der  Orakel,  womit  sie  die  Men- 
schen täuschen 2,  wie  des  ganzen  Heideuthums  überhaupt, 
dessen  Mythologie  und  Cultus.  3  Sie  haben  sich  in  die  heid- 
nischen Götzenbilder  geflüchtet,  aus  denen  sie  im  Namen  Jesu 
vertrieben  werden  können.  4  Mit  Hülfe  der  Dämonen  werden 
die  magischen  Künste  ausgeübt  5,  auch  Astrologie  wird  von 
dämonischem  Einfluss  abgeleitet.  6  Als  Feinde  aller  wahren 
Gottesverehrung  und  Gotteserkenntniss  sind  die  Dämonen  die 
heftigsten  Widersacher  der  christlichen  Lehre,  von  deren  Be- 
kennern  ihnen  natürlich  keine  Anerkennung  und  Verehrung, 
vielmehr   Vertreibung    kraft    des    Namens   Jesu    zu    erwarten 


1  Comment.  in  Matth.  17,  5;    De  princ.,  II,  2. 

2  Athenag.,  Legat.,  29;  Tertull.,  Apol.,  c.  22. 

3  Ep.  Barnab.  16,  18;  Justin.,  Apol.,  I,  12;  II  et  al.;  Tatian,  c.  12, 
20  et  al.;  Athenag.,  Legat.,  c.  26;  Tertull.,  De  praescript.  c.  40;  Minuc. 
Felix,  Oct.,  c.  27,  1;  Clem.  AI.,  Cohort.,  7;  Orig.  contra  Cels.,  III,  28. 
37.  69;    IV,  36.  92;    VII,  64;    VIII,  30. 

4  S.  Martialis  Episc.  ad  Tholosanos  epist.  II,  c.  VI,  VIII,  in  Bibl. 
patr.  max.  p.  1.  f.  100,  G.  H.  —  Als  die  heilige  Jungfrau  Martina,  die 
unter  Kaiser  Alexander  gelebt  haben  soll,  einer  Statue  der  Artemisia,  in 
welcher  ein  Dämon  hauste,  sich  näherte,  merkte  dieser,  dass  es  auf  seinen 
Sturz  abgesehen  sei  und  schrie:  „Weh  mir!  wohin  soll  ich  fliehen  vor 
deinem  Geist;  das  Feuer  des  Himmels  verfolgt  mich."  Die  Heilige  be- 
kreuzt sich,  blickt  das  vom  Dämon  bewohnte  Idol  an,  und  sofort  folgt 
Donner  und  Blitz,  und  das  Feuer  vom  Himmel  verzehrt  alles.  (Acta  SS. 
Boll.  1.  Jan.) 

5  Clem.  AI.,  Cohort.  ad  gent.,  52;  Tertull.,  Apol.,  c.  23,  28;  Orig., 
Hom.  XVI  in  Ezech. 

6  Clem.  AI.,  Strom.,  I,  17.  —  Dieser  Glaube  wurde  durch  den  Um- 
stand unterstützt,  dass  um  die  Zeit  Hadrian's  und  der  Antonine  unter 
Christen,  Juden  und  Heiden  in  Asien  wie  in  Rom  die  alten  ägyptischen 
Priesterkünste,  verschiedene  Zweige  der  Magie  und  sogenannte  geheime 
Wissenschaften,  die  den  Menschen  mit  der  Dämonenwelt  in  Verbindung 
setzen  und  durch  Amulete,  Talismane,  gewisse  Sprüche  u.  dgl.  zum  Ge- 
walthaber über  die  Natur  machen  sollten ,  mit  grösster  Theilnahme  wieder 
in  Aufschwung   gekommen  waren. 


236  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

steht.  l  Sie  sind  daher  nicht  nur  die  Urheber  der  Christen- 
verfolgungen 2,  sondern  auch  bemüht,  die  Menschen  zum  Un- 
glauben, zur  Ketzerei  und  zur  Sünde  zu  verführen 3,  und 
Cyprian  erklärt  den  Teufel  geradezu  für  den  Erfinder  der 
Ketzerei  und  der  Schismen.  4 

Wie  in  der  christlichen  Kirche  die  Rede  von  einem  Alten 
und  Neuen  Bunde  und  dessen  Mysterien  geläufig  war,  so 
wurde  diese  Vorstellung  auch  auf  das  Verhältniss  der  Ketzer 
zu  dem  Teufel  übertragen.  Tertullian  weiss  schon  5,  dass  der 
Teufel  beim  Götzendienste  die  Sakramente  nachahme,  seine 
Gläubigen  und  Getreuen  taufe  und  seine  Krieger  auf  der 
Stirne  zeichne.  Die  Ketzer,  von  den  Kirchenvätern  als  Kinder, 
Diener  und  Krieger  des  Satans  betrachtet,  wurden  mit  den 
Götzendienern  auf  gleiche  Linie  gestellt.  Man  fand  den  Grund 
der  Ketzerei  und  des  Heidenthums  im  gegnerischen  Willen 
und  erklärte  beide  als  Eingebung  des  Teufels,  der  darüber 
ergrimmt  sei,  dass  seinem  Reiche  durch  die  christliche  Reli- 
gion Abbruch  geschehe  und  daher  sich  zu  rächen  suche.  Aus 
demselben  Grunde  müssen  diejenigen,  die  sich  einer  ascetischen 
Lebensweise  gewidmet,  um  eine  gottgefällige  Heiligkeit,  so- 
mit eine  höhere  Stufe  christlicher  Vollkommenheit  zu  erlangen, 
dem  Teufel  ein  ganz  besonderer  Greuel  sein.  Schon  in  den 
ersten  christlichen  Jahrhunderten  hatte  der  Glaube,  durch 
Enthaltsamkeit,  überhaupt  durch  Unterdrückung  sinnlicher 
Triebe  mit  Gott  in  nähere  Verbindung  treten  zu  können, 
grosse  Verbreitung  gewonnen,  und  Athenagoras  6  spricht  von 
einer  Menge  von  Männern  und  Frauen,  welche  diesem  Glau- 
ben gemäss  lebten.  Es  ist  begreiflich,  dass  der  Teufel  auf 
solche  Personen  seine  besondere  Aufmerksamkeit  wirft  und 
sie  zum  Gegenstand  seiner  Versuchungen  und  Neckereien  be- 
sonders gern  wählt.  Ein  Beispiel,  unter  vielen  andern,  liefert 
das  Leben  des  heiligen  Macarius  des  Alexandriners  (von  der 
Legende  ins  2.  Jahrhundert  versetzt),  der,  hungrig  und  durstig, 


1  Justin.,  Apol.  maj.,  55  fg.,  Min.  4G  et  al. 

2  Justin.,  Apol.,  c.  5,  12.  14;  Minuc.  Fei.  1;  Orig.,   Exhort.  ad  Martyr., 
§.  18.  32.  42. 

3  Justin,  dial.  c.  Tryph.,  332;    Clem.  Alex.,  Strom.,  II,  48fJ. 

4  De  unit.  eccles.,  105 ;  vgl.  Justin.,  Apol.,  I,  56.  58. 

5  De  praescript.  hacr.,  c.  40. 

6  Apolog.,  c.  18. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.  237 

in  der  Wüste  vom  Teufel  verfolgt  wird,  zunächst  mit  der 
Frage:  warum  er  nicht  Gott  um  Speise  bitte?  dann  aber  da- 
durch, dass  der  Teufel  ein  Kamel,  mit  allem  'Notlügen,  woran 
der  Heilige  Mangel  leidet,  beladen,  vor  ihm  erscheinen  lässt. 
Macarius,  der  die  teuflische  Vorspiegelung  als  solche  erkennt, 
fängt  zu  beten  an,  worauf  sie  verschwindet.  Der  Heilige 
hatte  sich  auf  seiner  "Wanderung  durch  die  Wüste,  um  den 
Rückweg  wieder  zu  finden,  Zeichen  von  Rohr  aufgestellt. 
Der  Teufel,  als  steter  Gegner  der  Streiter  Christi,  zieht  diese 
Wegezeichen,  während  der  Heilige  schläft,  heraus,  woraus 
sich  dieser  die  Lehre  nimmt:  dass  auf  Rohr  kein  Verlass  ist. 
Es  erscheinen  ihm  gegen  siebzig  Dämonen  in  verschiedener 
Gestalt,  die  tanzend,  schreiend,  zähnefletschend  ihn  zu  necken 
suchen.  Als  Macarius  zum  Monument  der  Magier  kommt, 
das  er  besehen  will,  erscheint  der  Teufel,  mit  einem  zwei- 
schneidigen Schwerte  drohend,  aber  der  Heilige  lässt  sich 
nicht  abschrecken,  geht  in  das  Monumentum  Magorum  und  be- 
sieht sich  alles.  l 

Nach  der  allgemeinen  Ansicht  der  Kirchenväter  dieser 
Periode  standen  die  Excommunicirten  unter  der  Herrschaft 
des  Teufels,  indem  man  das  icapaScuvat  tu  Saxava,  1  Kor.  5,  5; 
1  Timoth.  1,  20,  auf  die  Excommunication  deutete2;  ebenso 
auch  die  Un getauften,  bei  deren  Taufe  daher  am  Ende 
des  2.  Jahrhunderts  der  Exorcismus  in  Anwendung  kam.  3 
Auch  einzelne  besondere  Laster  sah  man  für  specifische  Wir- 
kuniren einzelner  böser  Geister  an.4  Clemens  Alexandrinus  hält 
den  leckermauligen  Bauchteufel  für  den  bösartigsten  der  Dä- 
monen, der  mit  dem  in  den  Bauchrednern  wirksamen  Dämon 
verwandt  sein  sollte.  5  Schon  Hermas,  nach  ihm  Clemens  von 
Alexandrien  und  Origenes,  ordnen  die  Dämonen  nach  den  ver- 
schiedenen Lastern,  die  jene  bewirken.  6  Jedes  Laster  erhält 
seinen  besondern  Dämon,  und  jeder  Lasterhafte  ist  von  einem 
besondern  Dämon  besessen,  der  im  Dienste  des  Obersten  der 


1  Acta  SS.  Boll.  2  Jan. 

2  Orig.  in  libr.  Judic.  Hom.  II,  §.5;  in  Jerem.  Ilom.  XVIII,  §.  14. 

3  Vgl.  Kurtz,  Handbuch  der  allgemeinen  Kirchengeschichte,  I,  1.  Abth. 
S.  198. 

4  Herrn.,  II,  6.  2. 

5  Paed.,  II,  1,  174. 

6  Vgl.  Hom.  XV  in  Jes.  Nave. 


238  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

Dämonen  steht.  Ausser  sittlichen  Gebrechen  wurden  von 
einigen  sogar  natürliche  Triebe,  wie  der  Geschlechtstrieb,  vom 
Teufel  abgeleitet,  wogegen  aber  Origenes  Einwand  erhebt.  l 
Nach  den  Recognitionen  2  erregen  die  Dämonen  durch  Un- 
mässigkeit  in  Speise  und  Trank  die  Wollust  und  reizen  zur 
Sünde,  aber  nur  solche,  die  den  Vorsatz  (propositum)  zu  sün- 
digen haben  und,  indem  sie  unmässig  sind,  den  Dämonen  einen 
Platz  einräumen.  Die  Dämonen  haben  also,  dank  ihrer  feinen 
Natur,  die  Macht  sowol  die  Seele  als  auch  den  Leib  der 
Menschen  anzugreifen,  und  einige  Kirchenlehrer  behaupteten, 
dass  dem  Menschen  schon  bei  seiner  Geburt  ein  oder  meh- 
rere Dämonen  sich  zugesellen,  welche  durch  die  Taufe  aus- 
getriaben  werden  müssten,  was  nicht  nur  der  Gnostiker 
Valentin  3  gelehrt  haben  soll,  sondern  auch  Tertullian  4,  Lac- 
tantius 5,  Origenes6  aufstellt;  wogegen  aber  Clemens  von 
Alexandrien  7  nach  dem  Vorgange  des  Barnabas  die  Bemer- 
kung macht:  dass  die  Dämonen  selbst  nicht  im  Menschen 
wohnen,  den  aber  eine  ihnen  gemässe  Handlung  schuldig 
mache. 

Gegen  die  von  allen  Seiten  einwirkende  Macht  der  bösen 
Wesen  geben  die  Kirchenväter  auch  Schutzmittel  an.  Schon 
Hermas  findet  in  der  Gottesfurcht  Sicherheit  vor  der  Wirk- 
samkeit des  Teufels8;  auch  in  den  Recognitionen  heisst  es: 
„Daemones  fides  fugat"  und  die  Dämonen  fürchten  sich  vor 
den  wahrhaft  Gläubigen.  9  Der  Teufel  ergreift  die  Flucht, 
wenn  er  auf  starken  Widerstand  stösst 10,  indem  der  Gottes- 
f ürchtige  Gewalt  über  ihn  hat,  vor  der  seine  Macht  zu  nichte 
wird  J  \  daher  nur  die  Ungläubigen  den  Teufel  zu  fürchten 
haben.12    Dieser  flieht  auch  vor  dem  Gebete  der  Christen  I3 


1  De  princ.,  III,  2.  2. 

2  Lib.  IV,  Bibl.  patr.  max.  II,  p.  1,  f.  421,  F. 

3  Clem.,  Strom.,  II,  489. 

4  De  anima,  c.  39,  57. 

5  Instit.  div.,  II,  c.  14. 

6  Homil.  XIII  in  Exod. 

7  Strom.,  II,  490. 

8  Mandat.,  VII,  95. 

9  Lib.  IV,  Bibl.  patr.  max.  II,  p.  1,  f.  421,  H;  423,  H. 

10  Mandat.,  VII,  §.  5. 

11  Herrn,  pastor.  Hb.  II,  Bibl.  patr.  max.  IL,  p.  1,  fol.  31,  C.  et  33,  F. 

12  Pastor,  IL,  Mandat.  XII. 
»s  Iren.,  II,  c.  32.  41. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    239 

oder  dem  ausgesprochenen  Namen  Christi. l  Auch  des  Kreuzes- 
zeichens soll  man  sich  gegen  die  Gewalt  des  Teufels  bedienen.2 
Wenn  Gott  teuflische  Versuchungen   zulässt,   so  thut  er 
es,    um    dem  Menschen  Gelegenheit    zu  geben,   durch  eigene 
Wahl  die  Seligkeit  zu  erlangen  und  den  Versucher  zu  Schan- 
den  zu   machen,    den    christlichen   Bekenner    aber    in  seinem 
Glauben  zu  befestigen  und  das  Gewissen  anderer  zu  erwecken  3, 
daher  sich  niemand  mit  der  teuflischen  Verführung  entschul- 
digen  dürfe.4     Denn   die   Dämonen  können,    nach   der  allge- 
meinen Kirchenlehre,  wol  zur  Sünde  reizen,  aber  nicht  zwin- 
gen. 5     Origenes  bestreitet  die  Meinung  mancher  Einfältigen, 
die    jede   Neigung    zum   Bösen  vom  Teufel   ableiten  möchten 
und  glauben,   dass  es  ohne  Teufel  gar  keine  Sünde   gebe;    er 
behauptet  vielmehr,  es  seien  die  eigenen  Begierden,   die   zum 
Bösen   reizen  und  von   den   Dämonen   nur  gefördert   werden. 
Wer    im    Kampfe    mit    den    Dämonen    unterliegt,     trage    die 
eigene  Schuld,  da  Gott  bei  niemand  eine  solche  Versuchung 
zulasse,   die   über  seine  Kräfte  ginge   und  der   einzelne  nicht 
gegen  alle  bösen  Geister  zu  kämpfen  habe,  überdies   auf  den 
göttlichen  Beistand  rechnen  dürfe.  6     Origenes,  der  sich  gern 
mit  diesem  Gegenstand  beschäftigt,  hat  seine  eigene  Meinung 
und  behauptet:  jeder  der  im  Kampfe  mit  den  Dämonen  siegt, 
erlange  damit  die  Stelle,  die  sie  selbst  eingenommen  haben.  7 
Ein    von  Christen    überwundener    böser    Geist  werde   in   den 
Abgrund  gestossen  und   verliere    das   Recht,    andere  zu  ver- 
führen.    Von  den  verschiedenen  Arten  derselben  suchen  einige 


1  Tertull.,  Apolog.,  c.  23. 

2  Tertull.  ad  Marcion.,  III,  18;  De  cor.  mil.  c.  3,  11;  De  idol.,  c.  2. 
—  S.  Ignatii  Episc.  et  Martyr.  ad  Philadelphienses  Epist.  VIII:  „Prin- 
ceps  enim  muncli  hujus  gaudet,  cum  quis  crucem  negarit,  cognoscit  enim 
crucis  confessionem  suum  esse  ipsius  exitium.  Id  enim  trophaeum  est 
contra  ipsius  potentiam;  quod  ubi  viderit,  horret,  et  audiens  timet,  et 
antequam  fabricaretur  crux,  studebat  ut  fabricaretur,  et  operabatur  in 
filiis  inobedientiae,  operabatur  in  Juda  et  Pharisaeis  etc.",  in  Bibl.  patr. 
max.  II,  p.  1,  fol.  81,  B. 

3  Clem.  Alex.,  Strom.,  IV,  G01;  Recognit.,  lib.  II,  Bibl.  p.  m.  II,  p.  1, 
fol.  401,  D,  et  sequ. 

4  Strom.  VI,  789.  * 

5  Orig.  de  princ,  §.  5. 

6  De  princ.  III,  c.  2. 

7  Homil.  in  Jes.  Nave  I,   Opp.  T.  II,  399. 


240  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

zum  Geiz,  andere  zur  Unkeuschheit,  zum  Stolz  und  zu  ver- 
schiedenen andern  Lastern  zu  verführen.  Jede  Art  habe  ihr 
Oberhaupt.  Je  mehr  die  Siege  der  Christen  über  die  Dämo- 
nen zunehmen,  desto  geringer  wird  die  Zahl  der  verschiedenen 
bösen  Geister  und  desto  leichter  wird  es  den  Heiden,  dem 
Unglauben  zu  entsagen.  l 

Die  meisten  Kirchenväter  dieser  Periode  haben  die  An- 
sicht, dass  Gott  das  Böse  nicht  wolle,  sondern  nur  zulasse, 
dass  es,  obschon  nicht  durch  Gottes  Willen,  doch  nicht  ohne 
diesen  geschehe.  Sie  erklären  es  theils  aus  der  Freiheit  des 
Menschen,  theils  aus  der  Wirksamkeit  des  Teufels  und  seiner 
bösen  Geister,  letzteres  besonders  Tertullian.  2  Gott  lasse  das 
Böse  zu,  das  nicht  verhindert  werden  konnte,  ohne  eine  grössere 
Vollkommenheit  zu  verhindern;  seine  Strafgerechtigkeit  schränke 
es  aber  ein  oder  lenke  es  zum  Guten. 3  Das  physische  Uebel, 
das  auch  mehrere  Kirchenväter  vom  Teufel  herleiten,  dem 
Gott  zulasse,  die  Menschen  durch  Leiden  zu  prüfen,  wird 
aber  auch  auf  die  Nachlässigkeit  der  Engel,  denen  Gott 
die  Aufsicht  über  die  einzelnen  anvertraut,  zurückgeführt, 
auch  auf  die  Sünde,  da  die  Thiere  und  alles  übrige  nach 
dem  Falle  der  Menschen  schlechter  geworden. 4  Auch  die 
Fassung  der  Dämonen  als  Strafvollzieher  findet  sich  in  dieser 
Periode.  Indem  Gott  die  Schuld  der  Geschöpfe  voraussah 
und  die  Gerechtigkeit  wie  auch  die  Besserung  Strafe  erheischt, 
sei  es  nothwendig,  dass  es  Strafdiener  (ministri  poenarum) 
gebe,  und  dies  wären  die  Dämonen.  5 

Ueber  das  Schicksal  des  Teufels  und  seiner  Dämonen 
erklären  sich  die  kirchlichen  Lehrer  dieser  Periode  ziemlich 
übereinstimmend  dahin,  dass  die  über  sie  verhängte  Strafe 
einst  beim  Weltgerichte  vollstreckt  werden  soll. 6  Wenn 
Origenes,  aus  Matth.  8,  29  und  Luc.  8,  32  folgernd,  die  Be- 
strafung der  Dämonen  noch  nicht  eingetreten  sieht,  so  meint 


1  Homil.  in  Jes.  Nave  XV. 

2  Adv.  Marcion.  II,  c.  14;   de  testim.  animae,  c.  3. 

3  Orig.  contra  Geis.,  IV;  de  princ,  II,"  c.  9;  Clem.  Alex.,  Strom.,  G02. 

4  Justin.,    Apol.    Maj!,  46.  47;    Min.,   94;   Athenag.  Legat.,  31  squ. ; 
Theopliilus  ad  Autolyc.,  II,  §.  17. 

5  Recognit.,  Hb.  IV;    Bibl.  patr.  raax.  II,  p.  1,  fol.  422,  II. 

6  Tertull.,  Orat.  ad  Graec,  157. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrb.    241 

er:   Gott  lasse  denselben  noch  ihre  Macht,   um   den  Christen 
zum  Kämpfen  und  Hingen  Gelegenheit  zu  geben,  er  lasse  aber 
die  Dämonen  doch  auch  jetzt  schon  grosse  Pein  leiden,  indem 
sie  wahrnehmen  müssen,    dass   die   Menschen    sich  bessern.  * 
Nach  Irenäus  und  Justinus  soll  der  Teufel  seine  Verdammung 
vor  der  Erscheinung  Christi   nicht  gewusst,   sondern  sie  erst 
aus  den  Reden  Jesu  erfahren  haben.2     Die  Frage:    ob  beim 
Teufel  und  den  Dämonen  auf  Besserung  zu  hoffen  sei,   wird 
von    den    Kirchenvätern    verschieden    beantwortet.      Tatian 3 
gönnt  den  Dämonen   keinen  Raum  zur  Busse;    auch   Irenäus, 
Tertullian  und  Cyprian  verdammen  den  Teufel  und  seine  Ge- 
nossen zu  ewigen  Strafen;  wogegen  andere  den  bösen  Geistern 
Aussicht  auf  einen  bessern  Zustand  gewähren,   indem  sie  die 
Besserung  des  Teufels  für  möglich  halten4,    da   er  Freiheit 
besitze.  *     Nach  Origenes   ist  auch   dem  Teufel  die  Hoffnung 
auf  Besserung  nicht  abgeschnitten,  was  er  indess  bald  als  Ver- 
muthung    aufstellt 6,    bald    aber    bestimmt    erklärt,    dass    der 
Teufel,  obschon  nicht  seiner  Substanz  nach,  doch  seinem  bö- 
sen Willen  nach  vernichtet  werden  soll.  7 

Ein  flüchtiger  Ueberblick  dieser  Periode  lenkt  auf  die 
Wichtigkeit  der  Lehre  von  den  Engeln,  den  Dämonen  und 
dem  Teufel  hin,  indem  erstere,  nach  der  herrschenden  Ansicht, 
als  Werkzeuge  der  Vorsehung  erscheinen,  letztere  mit  der 
Lehre  vom  physischen  und  moralischen  Uebel,  von  der  Sünde 
und  der  Erlösung  und  dadurch  mit  der  vom  Tode  Jesu  in 
die  engste  Beziehung  gesetzt  werden.  Die  Satansidee,  die 
schon  im  Neuen  Testamente  mit  der  Person  Jesu  und  seinem 
Reiche  parallel  geht,  daher  der  Teufel  und  sein  Anhang  von 
den  neutestamentlichen  Schriftstellern  so  häufig  erwähnt  wird, 
findet  in  dieser  Periode  ihre  weitere  Entwickelung,  vornehm- 
lich veranlasst  durch  die  Gegensätze,  in  welche  das  Christen- 
thum  zum  Judenthum  und  Heidenthum  zu  stehen  kam.  Die 
alexandrinische    Bildung,    dies    Ferment    im    Entwickehmgs- 


1  Hom.  XXVIII  in  Num. 

2  Adv.  haeres.,  V,  c.  26. 

3  Orat.  ad  Graec,  154. 

*  Justin,  dial.  c.  Tryph.,  370. 

5  Clem.  Alex.,  Strom.,  I,  367  fg.;  Orig.  de  princ.,   III,  c.  6,  §§.  5.  6. 

6  De  princ,  I,  c.  6,  §.  3. 

»  De  princ,  III,  c  6,  §.  5. 

Koskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  JQ 


242  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

processe  der  kirchlich-christlichen  Lehre,  das  seinen  Einfluss 
schon  auf  einige  neutestamentliche  Schriftsteller,  namentlich 
die  Logoslehre  betreffend,  ausgeübt  hatte,  wirkte  in  gewisser 
Beziehung  vermittels  des  Gnosticismus,  der  sich  der  Kirchen- 
lehre entgegenstellte,  auch  auf  die  Weitergestaltung  der  Vor- 
stellung vom  Teufel  mit.  Ganz  besonders  wurde  aber  der 
Glaube  an  den  Teufel  und  seine  Helfershelfer  im  Bewusstsein 
der  Christen  gefestigt  und  verbreitet  durch  den  Gegensatz 
des  christlichen  Lebens  zu  dem  der  Heidenwelt.  Hier  hatte 
die  Ueppigkeit,  der  Verfall  der  Wissenschaften  und  grösstes 
sittliches  Verderben  platzgegriffen,  worüber  die  Satiriker 
Persius,  Juvenal  und  der  Philosoph  Seneca  1  Zeugniss  ab- 
legen. Unglaube  und  Aberglaube  gingen  Hand  in  Hand;  die 
Sucht  nach  dem  Geheimnissvollen,  angeregt  durch  Genuss- 
sucht, die  übernatürliche  Kräfte  sieh  dienstbar  zu  machen 
strebte,  fand  ihren  Unterhalt  durch  die  fremden  Culte,  die 
immer  mehr  aufgenommen  und  ineinandergesetzt  worden  wa- 
ren; geheime  Culte  oder  Mysterien,  als  der  Dea  Syra,  der 
Isis,  des  Mithras,  hatten  sich  im  2.  Jahrhundert  immer  mehr 
ausgebreitet.  Das  Leben  innerhalb  des  Heidenthums  war 
ganz  von  Sinnlichkeit  durchdrungen  und  schien  wie  von  centri- 
fugalen  Kräften  getragen  zu  werden.  Die  Schilderung  des 
christlichen  Lebens,  durch  die  Apologeten  entworfen,  zeigt 
den  geraden  Gegensatz,  und  sie  hätten,  wie  von  Baur  ganz 
richtig  bemerkt  worden  ist,  nicht  mit  solchen  Reden  zur  Ver- 
teidigung und  Charakteristik  des  Christenthums  auftreten 
können,  wenn  die  Wirklichkeit  widersprochen  hätte,  wenn 
jene  lautere  Frömmigkeit,  jene  Scheu  vor  allem  Unsittlichen, 
jene  Ilechtschaffenheit  im  geselligen  Leben,  jene  von  aller 
sinnlichen  Lust  abgekehrte  Sittenreinheit,  jene  aufopfernde 
Menschenliebe  nicht  wirklich  die  Eigenschaften  gewesen  wä- 
ren,  wodurch  sich  die  christliche  Gemeinschaft  von  der  heid- 
nischen Welt  unterschied.  2  Die  nackte  Sinnlichkeit  des  heid- 
nischen Lebens  steigerte  die  gegensätzliche  christliche  An- 
schauung zu  jener  Schroffheit,  die  sich  in  der  Verachtung 
auch  der  geistigen  Freuden  des  Heidenthums  kennzeichnete, 
der  die  Erde  als    ein  Jammerthal  erschien  und  nur  in   from- 


1  De  ira,  II,  8. 

2  Vgl.  Justin.,  Apol.,  I,  c.  12  fg.;  Athenag.,  Leg.,  c.  31;  Tertull.,  Apol., 
c.  39. 


7.  Der  Teufel  bei  den  Kirchenlehrern  der  drei  ersten  christl.  Jahrh.    243 

nier  Ascese  ihr  Genüge  suchte.  Während  innerhalb  des 
Heidenthums  ein  charakteristischer  Zug  nach  aussen  sich  kund- 
gab, die  herrschende  Richtung  auf  das  Aeussere,  das  öffent- 
liche politische  Leben  ging,  war  im  geselligen  Leben  der 
Christen  der  Zug  nach  innen,  sich  in  sich  selbst  zu  vertiefen, 
wodurch  alles  eine  innerliche  Bedeutung  gewann.  Die  Christen 
fühlten  sich  nicht  nur  fremd  gegenüber  dem  öffentlichen  Leben 
der  Heiden,  sie  hatten  auch  Scheu  vor  vielem,  an  dem  sie 
aus  sittlichen  Gründen  nicht  theilnehmen  konnten.  Diese 
Scheu  müsste  noch  vergrössert  werden  durch  den  Glauben, 
dass  ihnen  in  der  heidnischen  Welt  lauter  Dämonen  entgegen- 
treten, dass  wo  der  Christ  mit  Heidnischem  in  Berührung 
kommt,  er  von  Dämonen  umgeben  imd  umlauert  sei.  Da  er 
vor  cl^ren  Nachstellungen  und  feindlichen  Angriffen  nicht  ge- 
nug vorsichtig  sein  zu  können  glaubte,  griff  er  in  seiner 
Aengstlichkeit  zur  Vertreibung  der  Dämonen  selbst  zu  Mit- 
teln, die  keine  sittliche,  -  sondern  nur  magische  Bedeutung 
hatten,  wie  z.  B.  der  Name  Christi  u.  dgl.  Im  täglichen 
Verkehr  begegnete  dem  Christen  das  Dämonische  in  Gestalt 
des  Heidenthums,  jede  Berührung  damit  musste  als  Verun- 
reinigung gelten,  und  da  sein  Leben  mit  dem  heidnischen 
in  naher  Beziehung  stand,  war  der  Christ  in  seiner  Bewegung 
so  beschränkt  wie  in  seiner  Anschauung.  In  welche  Collisio- 
nen  musste  er  gerathen,  da  Tertullian  l  jeden  für  einen 
Götzendiener  erklärt,  der  Geschäfte  treibt,  die  zur  Aufstellung 
und  Ausschmückung  der  Idole  beitragen;  wenn  nach  seiner 
Ansicht  das  Amt  der  Ludi  magistri  und  Professores  literarum 
mit  dem  Christenthume  unvereinbar  sein  sollte,  weil  sie  die 
heidnischen  Götter  beschreiben,  deren  Namen,  Genealogien 
u.  dgl.  erläutern.  Die  im  Judenthum  tief  haftende  Abneigung 
von  bildenden  Künsten  erfasste  das  Gemüth  des  Christen 
und  fand  in  seiner  durch  Verfolgungen  verdüsterten  Welt- 
anschauung einen  gedeihlichen  Boden.  Nach  dieser  beruhte 
ja  die  ganze  Verfassung  des  heidnischen  Staats  auf  Verehrung 
der  Dämonen;  das  Staatsoberhaupt,  das  den  heidnischen  Cultus 
unterhielt  und  förderte,  konnte  in  den  Augen  des  Christen 
kaum  eine  andere  Bedeutung  haben,  als  Stellvertreter  des 
Teufels  zu  sein. 


1  De  idol.,  c.  11  fg. 


IG 


244  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Die  religiös  -  sittliche  Lebensaufgabe  des  Christen  ward 
vom  Anfang  an  dahin  bestimmt1,  mit  dem  Fleische  sowol  als 
mit  den  Mächten  der  Finsterniss  zu  kämpfen,  und  die  Christen 
betrachteten  sich  als  eine  militia  Christi  zum  Streite  gegen 
die  "Welt  und  den  Teufel.  Der  Dualismus  von  Geist  und 
Fleisch  war  in  der  Vorstellung  des  Christen  von  grosser 
Wichtigkeit,  er  glaubte  sich  bestimmt,  das  Fleisch  zu  tödten. 
Schon  vor  und  neben  den  Anfängen  des  Christenthums  hatten 
sich  ascetische  Bestrebungen  durch  die  äusserste  Beschränkung 
der  sinnlichen  Bedürfnisse  geltend  gemacht  infolge  der  dua- 
listischen Anschauung,  die  in  der  Materie  idas  Princip  des 
Bösen,  in  der  Sinnlichkeit  den  Grund  der  Sünde  erkannte: 
innerhalb  des  Heidenthums  im  Pythagoräismus  und  Stoieis- 
mus,  innerhalb  des  Judenthums  im  Essenismus  und  Thera- 
peutismus. Gegenüber  der  vorherrschenden  Sinnlichkeit  im 
heidnischen  Leben,  das  den  Christen  umgab  und  vor  dem  er 
Scheu  trug,  als  vor  dämonischer  Unreinheit,  dessen  öffentliche 
Lustbarkeiten  er  als  pompa  diaboli,  als  Schaugepränge  des 
Teufels,  sorgfältigst  vermeiden  musste:  identificirte  sich  in 
seiner  Vorstellung  das  Heidnische  mit  dem  Fleischlichen,  und 
der  Dualismus  von  Geist  und  Fleisch  wurde  ihm  gleichbe- 
deutend mit  Christlichem  und  Heidnischem  oder  Teuflischem. 
Es  dürfte  daher  kaum  eine  waghalsige  Behauptung  sein:  der 
Gegensatz  des  kirchlichen  Christenthums  zum  Heidenthum 
sei  einer  der  Hauptfactoren,  wodurch  die  christliche  Sittlich- 
keit schon  in  dieser  Periode  ein  wesentlich  ascetisches  Ge- 
präge erhielt  und  zugleich  die  Vorstellung  vom  Teufel  zu 
fördern  und  zu  verbreiten  half.  Dieser  galt  ja  als  Träger 
und  Repräsentant  des  sinnlichen  Moments,  stand  im  nächsten 
Zusammenhang  mit  der  Sünde,  aber  eben  so  mit  dem  Heiden- 
thum,  als  dessen  Stifter  und  Oberhaupt  er  betrachtet  wurde. 


8.   Der  Teufel  im  Talmud  und  in  der  Kabbala. 

Vor  dem  Eintritte   in  das  Mittelalter  wird   ein   Blick  auf 
den   Talmud   und   die   Kabbala   zu   werfen    sein,    um    zu    er- 


1  Vgl.  Ephes.  6,  12. 


8.  Der  Teufel  im  Talmud  und  in  der  Kabbala.  245 

innern,  dass  der  ins  Judenthum  eingedrungene  Dualismus  sich 
weiter  ausbildete,  und  weil  besonders  die  Kabbala  im  Mittel- 
alter und.  weiter  hinaus  ihre  Anhänger  zählte  und  auf  die 
Zeitanschauung  nicht  ohne  Einfluss  war. 

Nach  der  Rückkehr  aus   dem   babylonischen  Exil   musste 
dem   Hebräervolke    das   mosaische  Gesetz,   auf  Grund   dessen 
der    neue    Staat    und    das   Leben    eingerichtet  werden    sollte, 
wieder   zum   Bewusstsein    gebracht  werden.      Der    hebräische 
Text    musste    dem   Volke,    das    seine    Muttersprache  verlernt 
hatte,  in  die  gangbare  Sprache,  die  es  sich  angeeignet,  über- 
setzt   und   erklärt   werden,    wobei    in    die   Erläuterungen   des 
Inhalts   mancherlei  Erzählungen  von  Beispielen,   sittliche  Er- 
mahnungen, naturhistorische  Bemerkungen,  Erörterungen  bür- 
gerlicher Einrichtungen   und    anderer    für   wichtig    erachteter 
Anweleo-enheiten  u.  dd.   mit  hinein  verflochten  wurden.      Die 
Rabbinen    oder   Schriftgelehrten,    deren    Geschäft  es   war    im 
Gesetze   zu   unterrichten,    thaten   es    auf  Grund   eigener   For- 
schung; es  pflanzten   sich  aber  die  mitgetheilten  exegetischen, 
legislativen,    durch    allerlei   Allegorien   und   Anspielungen   er- 
weiterten Bemerkungen   auch   mündlich  von   einem  Rabbi   auf 
den   andern    fort,    und    der   spätere  berief  sich   gern  auf  das 
Wort    seines    angesehenen    Vorgängers.      Die    Scheu,    durch 
schriftliche    Fixirung    der    Erklärung    die    heiligen    Schriften 
herabzusetzen,   hatte  den  Grundsatz  aufgestellt,   nichts  davon 
niederzuschreiben.      Bei    dem  während    einiger    Jahrhunderte 
sich  stets  mehrenden  Traditionsgute  erwachte  endlich  das  Be- 
dürfniss,  es  zu  sammeln  und  aufzuzeichnen,  und  Rabbi  Jehuda, 
genannt  Hakadosch,  der  Heilige,  unterzog  sich  zu  Tiberias  in 
Palästina   dieser  Arbeit  im  3.  Jahrhundert.     Diese  Sammlung 
der    bisher    mündlich    fortgeerbten    Gesetzesauslegung    erhielt 
den   Namen   Mischna,   als  "Wiederholung   des  Gesetzes  oder 
als  zweites  Gesetz.     Von  nun  ab  drehte   sich  die  ganze  Thä- 
tigkeit    der    Rabbinen    um    die    Mischna,    die    zum    höchsten 
Ansehen  gelangt  war,  auf  sie  concentrirte   sich  ihr  Studium, 
das  sie  Gemara  nannten,  denn  in  ihr  meinten  sie  das  wahre 
Mosethum  zu  besitzen.    Die  Gemara,  als  weitere  Entwicklung 
der  Mischna,    brachte   wieder   Erläuterungen,    Begründungen 
des  Gesetzes   und  neue  Zusätze.      In  der  zweiten  Hälfte   des 
4.  Jahrhunderts  fasste  ein  Unbekannter  alles,  was  seit  Jehuda 
dem  Heiligen  vorgetragen  worden  war,  zusammen  und  fügte 


24G  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

es  der  Mischna  als  Commentar  bei,  und  daraus  besteht  der 
Talmud.  Später  wurde  dieses  Werk  Talmud  jeruschalmi, 
jerusalemischer  Talmud,  genannt,  zum  Unterschied  von  dem 
babylonischen,  dessen  Abfassung  um  das  Jahr  500  fällt  und 
dem  Rabbi  Asche  nebst  seinem  Gehülfen  und  Freunde  Abina 
zu  Sura  zuerkannt  wird. 

Die  Tradition  stand  im  hebräischen  Alterthume  im  höchsten 
Ansehen,  weil  man  auf  sie  den  Bestand  der  göttlichen  Wahr- 
heit begründet  glaubte,  sodass  neben  der  im  Gesetze,  den 
Propheten  und  dem  Talmud  schriftlich  fixirten  Lehre  der 
nebenhergehende  mündliche  Unterricht  grosse  Autorität  behielt 
und  die  freudigste  Aufnahme  fand,  ob  er  sich  auf  die  Ge- 
setzeserklärung beschränken  oder  auch  darüber  hinausgehen 
mochte.  Da3  Wort  Kabbala  bezeichnet  zunächst  Ueber- 
lieferung  im  Sinne  des  Empfangs,  daran  knüpfte  sich  aber 
später  die  besondere  Bedeutung  der  Geheimlehre,  weil  die 
metaphysischen  und  theosophischen  Anschauungen,  die  sich 
in  den  rabbinischen  Schulen  gebildet  hatten,  nur  einigen  mit- 
getheilt  wurden  und  das  Eigenthum  von  wenigen  Eingeweihten 
blieben.  Alte,  ans  Aegypten  herstammende  Elemente,  zoro- 
astrische  Weisheit,  aus  dem  Exile  mitgebracht,  griechische 
Ideen,  namentlich  aus  der  alexandrinischen  Philosophie,  die 
sich  die  Rabbinen  angeeignet  hatten,  übten  ihren  Einfluss  so- 
wol  auf  den  Stoff  als  die  Methode  des  Unterrichts,  den  die 
Lehrer  nur  ihren  fähigsten  Schülern  mittheilten.  Die  alle- 
gorische und  typisch-mystische  Interpretationsweise,  die,  aus 
dem  Widerspruche  der  Zeitbildung  mit  dem  Buchstaben  der 
Urkunden  hervorgegangen,  sehr  alt,  daher  auch  im  Talmud 
vertreten  ist,  wird  bekanntlich  von  Philo  mit  genialer  Meister- 
haftigkeit  gehandhabt,  und  da  sie  auch  in  der  kabbalistischen 
Exegese,  Kosmologie  und  Theosophie  in  die  Augen  springt, 
hat  man  in  den  Schriften  Philo's  die  Hauptquelle  der  Kab- 
balisten  zu  finden  geglaubt.  Wenigstens  als  einflussreicher 
Vorläufer  der  Kabbalisten  kann  Philo  gewiss  darin  betrachtet 
werden,  dass  er  sich  gern  in  der  platonisch -pythagoräischen 
Zahlensymbolik  bewegt,  dass  er  in  den  alten  Geschichten  be- 
deutsame Vorbilder  der  Sittlichkeit  nach  ihren  verschiedenen 
Formen  und  Stufen  erblickt,  den  Buchstaben  als  das  Todte 
betrachtet,  im  verborgenen  Sinne  den  Geist,  das  Leben  er- 
kennt, alles  zum  Symbol  der  höchsten  Wahrheit  macht.    Seine 


8.   Der  Teufel  im  Talmud  und  in  der  Kabbala.  247 

Unterscheidung  eines  verborgenen  Gottes  von  einem  ge- 
offen harten  erinnert  an  die  später  mit  orientalisch-  und 
griechisch-polytheistischen  Elementen  versetzte  Unterscheidung 
der  Kabbalisten ;  die  bei  Philo  häufig  wiederkehrenden  Bilder 
von  einem  allmählichen  Ueberströmen  des  Göttlichen  in  die 
Welt,  von  einer  successiven  Gliederung  der  Offenbarungen 
aus  dem  dunkeln,  unverkennbaren  Urgründe  des  Seins  er- 
innern an  die  absteigende  successiv  abgeschwächte  Emanation 
der  Gotteskräfte,  an  die  Sephiroth  der  Kabbala.  Seine  An- 
schauung, wonach  Gott  alles  durch  das  Wort  wirkt,  seine 
Logi  als  Thaten  Gottes,  die  er  auch  Engel  nennt,  die  im 
Lufträume  unter  dem  Monde,  dem  Himmel  zunächst,  weilen 
als  Diener  und  Werkzeuge  Gottes,  als  Mittler  und  Richter 
der  Menschen,  finden  in  der  Kabbala  ihre  Analogien. l 

Manche  Kabbalisten  leiten  den  Ursprung  ihrer  Lehre  bis 
auf  den  Anfang  der  Welt  zurück,  indem  Gott  selbst  das  Ge- 
heimniss,  wie  er  diese  durch  die  Thora  erschaffen,  sie  er- 
halte und  regiere,  dem  Adam  gleich  bei  der  Schöpfung  mit- 
getheilt  habe,  das  dann  auf  Abraham,  Mose  und  andere 
Lieblinge  Gottes  bis  auf  Esra  in  ununterbrochener  Reihe 
fortgepflanzt  worden  sei.  Vorstellungen  und  Redensarten  bei 
Daniel  und  Ezechiel  mit  persischem  Gepräge,  die  in  den 
Schriften  vorkommende  Symbolik  reizten  die  Sucht  nach  dem 
geheimen  Sinne,  den  man  in  jedem  Satze,  jedem  Worte  und 
Zeichen  zu  finden  hoffte,  und  der  allegorisch-mystischen  Aus- 
legung eröffnete  sich  ein  unabsehbarer  Ocean.  In  Aegypten, 
dem  Lande  der  Mysterien  und  des  beschaulichen  Lebens,  wo- 
hin nach  der  Zerstörung  des  ersten  Tempels  viele  Juden 
wiederholt  eingewandert  waren  und  hernach  theils  hingeführt, 
theils  hingelockt  wurden,  fand  der  jüdische  Mysticismus  einen 
gedeihlichen  Boden,  und  die  lebhafte  Phantasie  des  Semiten 
brachte  das  Conglomerat  von  ägyptischen,  persischen  und  grie- 
chischen Elementen  mit  den  heiligen  Schriften  in  Verbindung. 
Der  stete  Verkehr  zwischen  ägyptischen  und  palästinischen 
Juden  pflanzte  die  Geheimlehre  auf  diese  fort,  und  bildete 
sich  im  Verlaufe  der  Zeit  eine  Art  Lehrgebäude. 

Die  Annahme,    dass    der    blosse    Wortsinn   der    heiligen 


1  Vgl.    den  lichtvollen    Art.    „Philo"    von  Steinhart   in   Pauly   Real- 
Encyklop. 


248  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Schriften    nur  eine  Hülle   sei,    unter  welcher    der  wahre  Sinn 
für  den  Profanen  verborgen  liege,    den   nur  der  Eingeweihte 
zu  entdecken  vermöge,  wurde  von  den  Kabbalisten  zum  Grund- 
satz  erhoben.      Die   Kabbala  soll   eben   den   in  den   Schriften 
niedergelegten  geheimen  Sinn  entziffern  lehren,    den  Gott  bei 
der  Uebergabe  der  Thora  auf  dem  Sinai  in  Bezug  auf  jeden 
Buchstaben    und    jeden    Punkt    mitgetheilt    habe.      Die    Ent- 
zifferung des  geheimen  Sinnes  geschieht  nach  den  Kabbalisten 
mittels    Gematria     (Geometria),    welche    aus     Buchstaben, 
Zeilen  u.  a.  in.  verschiedene   Zahlenverhältnisse   herausbringt, 
die  in  der  Kabbala  überhaupt  eine  grosse  Rolle  spielen;   oder 
durch  Notarikon,   durch    Bildung   bedeutsamer  Wörter  aus 
Anfangs-  und  Endbuchstaben;  oder  durch  Themurah,  welche 
die  mannichfaltigsten  Buchstabenversetzungen  lehrt.  Die  Buch- 
staben,  Punkte  und  andere  sichtbare  Zeichen,    aus  denen  die 
heiligen  Schriften  zusammengesetzt  sind,  stehen  mit  den  himm- 
lischen Emanationen  der  Gottheit,  deren  Wirkungen  sie  vor- 
stellen,   in  engster  Verbindung,    und  schon  durch  das  blosse 
Aussprechen    der    sinnlichen    Zeichen,    in    welchen    eine  ver- 
borgene Kraft  liegt,  werden  jene  geistigen  Wesen  in  Bewegung 
gesetzt,  und  ihre  Thätigkeit  wird  noch  mehr  angeregt,  wenn 
der  Kabbaiist   die   Zeichen   in   seinen  Gedanken   zu  verbinden 
versteht.    Dadurch  kann  er  auf  die  mit  den  Buchstabenbildern 
correspondirende  Geisterwelt  seinem  zu  erfüllenden  Wunsche 
gemäss  einwirken.     Auch  fromme  Handlungen,    nach  Angabe 
der  heiligen  Schriften  geübt,  wirken  nicht  nur  auf  die  materielle 
Welt,  sondern  auch  auf  die  höhern  spirituellen  Welten  bis  in 
die  höchsten  Regionen  der  Geister  und  bringen  die  Harmonie 
heterogener   Wesen    hervor,    worauf   der   eigentliche   Bestand 
des  Weltganzen  beruht.     Der  Mensch,    die  Welt   im   kleinen, 
ist  selbst   mit  allen   seinen  Theilen,    den   in  ihm  vorgehenden 
Processen,  seiner  Ausdünstung,  die  eine  Atmosphäre   um  ihn 
bildet,    der    Prototyp    der    obern    Welten.      Die    gesammten 
Aeusserungen  sowol   seines    leiblichen  als  geistigen  Lebens  in 
der   untern  WTelt    stehen   in  Beziehung   zu   den   obern  Welten 
bis  zur  Gottheit  hinauf,   der  sie  untergeordnet   sind.  ,   Dieses 
Geheimniss    finden   die  Kabbalisten   durch   Hiob   angedeutet1, 
es  wurde  d  em  Erzvater  Jakob  durch  die  von  der  Erde  bis  in 

1  19,  26. 


8.    Der  Teufel  im  Talmud  und  in  der  Kabbala.  249 

den  Himmel  reichende  Leiter  gezeigt.  1  Darin  bestehen  die 
Geheimnisse  der  Thora,  dem  Zweck  der  ganzen  Schöpfung; 
darum  ist  in  den  heiligen  Schriften  nichts  unwesentlich  oder 
ohne  Bedeutung,  wie  es  dem  Uneingeweihten  scheinen  mag; 
unter  allem  liegt  ein  tiefes  Geheimniss,  und  die  Kabbala 
bietet  den  Schlüssel  zu  dessen  Lösung. 

Nach   der    kosmologischen   Ansicht   der  Kabbalisten   gibt 
es  keine  Substanz,  die  aus  Nichts  hervorgegangen  wäre,  daher 
auch  keine  Materie  an  und  für  sich  existiren  kann.    Alles  ist 
geistiger  Natur,  und  diese  ist  ewig  lebend,  aus  sich  selbst  vor- 
handen,   sich    selbst    bewegend.      Aus    diesem    Unendlichen, 
Schrankenlosen,  von  den  Kabbalisten  Ensoph  genannt,  ema- 
niren  alle  Dinge  und  bestehen  nur  in  ihm.     Die  Welt  ist  die 
immanente  Wirkung   dieses    absoluten  Wesens,    das   in  jener 
seine   Eigenschaften    nach    mannichfaltigen    Stufen    dargestellt 
hat.     Je  näher   das  Emanirte   seinem  unendlichen  Urquell  ist, 
um  so  mehr   trägt  es   die  Heiligkeit  und  Vollkommenheit  an 
sich,    je   entfernter  von   ihm,    um   so   mehr   mangelt  ihm  die 
Göttlichkeit.      Die   Welt    ist    demnach    die    Offenbarung    der 
Gottheit,    aber   nicht  ihres   innern   verborgenen  Wesens,   das 
die  Kabbalisten  das  Verborgenste  aller  Verborgenheiten   nen- 
nen,  sondern  nach  ihrer  sichtbaren   Herrlichkeit.      Die  Welt 
ist  nur  ein  Schleier,   sagen  sie,   der  die  Abbildung  der  aller- 
höchsten  göttlichen   Kraft    und  Weisheit,    die    über   alles   er- 
habenen Eigenschaften  durchblicken  lässt.      Sie  selbst   ist  die 
absolute  Einheit  über  der  Welt,  das  Urerste  vor  der  Schöpfung, 
die  Urquelle  alles  Lichts,   Geistes,   Lebens.      Die  erste  Be- 
wegunff   der   sich   offenbarenden  Gottheit  nennen   die  Kabba- 
listen  Memra,    das  Wort  (Logos),    auch  Chochma,  Weisheit, 
essentiell  genommen,  auch  Kraft,  Jah.      Durch  Jah  ist  Gott 
Schöpfer  der  Welten.    Den  ersten  Ausfluss  der  Gottheit  nen- 
nen sie  auch  Adam  Kadmon,   den  Urmenschen,   dessen  gött- 
liche Kraft  in  alle  Grade  des  Lichts,  alle  Stufen  der  Geister, 
alle  Arten  der  Geister,  alle  Arten  des  Lebens  reicht.      Nach 
dem  geschaffenen  Worte,    dem  Logos,    seinem  erstgeborenen 
Sohne,    dem  Adam  Kadmon,    entschloss   sich   das   unendliche 
Wesen  Welten  ins  Dasein   zu   setzen,    auf  die    jener  Einfluss 
haben  sollte.    Es  geschah  durch  eine  Zurückziehung  und  Con- 


1  1  Mos.  28,  12. 


250  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

centratioD  (Zimzum)  seines  eigenen  Wesens,  wodurch  Raum 
für  die  Schöpfung  ward.  Diese  Zurückziehung,  sagen  die 
Kabbalisten,  liess  Spuren  der  Emanation  hinter  sich,  gleich 
den  kreisförmigen  Bewegungen  nach  einem  ins  Wasser  ge- 
worfenen Steine.  Diese  Spuren  nennen  sie  Sephiroth,  deren 
Zahl  sie  auf  zehn  bestimmen.  l  Mit  den  zehn  Sephiroth  wur- 
den die  Eigenschaften  Gottes,  zehn  göttliche  Namen  aus  den 
heiligen  Schriften,  zehn  Engelordnungen,  drei  Himmel  mit 
sieben  Planeten,  zehn  Hauptglieder  des  menschlichen  Leibes, 
die  zehn  Gebote  in  Verbindung  gebracht.  Die  Sephiroth 
bilden  vier  Welten,  die  in  verschiedenen  Abstufungen  als 
allmählich  absteigende  Emanationen  mit  immer  gröbern  Ver- 
körperungen gedacht  werden.  Die  der  Gottheit  nächste  Welt, 
Azilah,  als  die  vollkommenste  Offenbarung,  enthält  die  un- 
mittelbaren, daher  vollkommensten  Ausflüsse  (Sephiroth).  Die 
nächste  Emanation  ist  Beriah,  die  erschaffene  Welt,  deren 
Sephiroth  zwar  keiner  so  hohen  Potenz  mehr  theilhaftig,  aber 
immer  noch  rein  geistiger  Art  sind.  Hierauf  folgt  Jezirah, 
deren  Substanzen  zwar  schon  individualisirt,  aber  doch  im- 
materiell gedacht  werden.  Dies  ist  die  Welt  der  Engel,  ver- 
ständiger, aber  unkörperlicher  Wesen  mit  leuchtender  Hülle 
umgeben,  die  nur,  wenn  sie  den  Menschen  erscheinen,  eine 
gröbere  Materie  annehmen.  Die  vierte  Welt  Assiah,  die  ge- 
machte, besteht  aus  den  gröbsten  Substanzen,  die  materiell, 
räumlich  beschränkt,  unter  mancherlei  Formen  wahrnehmbar, 
in  immerwährendem  Entstehen  und  Vergehen  begriffen,  einem 
steten  Wechsel  unterzogen  sind.  Jede  dieser  Welten  hat  also 
ihr  eigenes  Sephiroth-System,  das  aus  Adam  Kadmon  emanirte, 
der  die  Monas  von  diesen  Dekaden  ist.  2 

So  unzulänglich  diese  Skizze  kabbalistischer  Anschauung 


1  „Sephiroth"  wird  verschieden  abgeleitet.  Einige  finden  in  dem  Aus- 
drucke am  wahrscheinlichsten  das  griechische  Sphaera  (so  auch  Beer, 
Geschichte,  Lehren  und  Meinungen,  II,  63).  Andere  bleiben  bei  der 
hebräischen  Etymologie  und  denken  an  Zahlen  im  Hinblick  auf  die  da- 
mit vorgenommenen  arithmetischen  Combinationen,  so  Reuss  (in  Herzog, 
Real-Encyklop.,  Art.  Kabbalah),  anderer  Ableitungen  von  Kabbalisten,  die 
auf  "Wortspielerei  hinauslaufen,  nicht  zu  erwähnen. 

2  Ueber  eine  Mehrheit  von  Welten  bei  den  frühern  Griechen  vgl. 
Plato  de  republ. ,  lib.  VI.  Ueber  die  Idee  der  Emanation  aus  der  Gott- 
heit bei  den  spätem  Griechen  und  Kabbalisten  vgl.  Buhle,  Geschichte 
der  Thilos.,  IV,  1G9  fg. 


8.   Der  Teufel  im  Talmud  und  in  der  Kabbala.  251 

erscheinen  mag,  wobei  vornehmlich  solche  Momente  heraus- 
gehoben sind,  die  wir  bei  den  christlichen  Kabbalisten  ver- 
wertet,  manche  in  der  mittelalterlichen  Anschauung  über- 
haupt wiederfinden;  dürfte  vielleicht  doch  bemerklich  sein, 
dass  in  der  Kabbala  auch  speculative  Ideen,  meist  in  Form 
von  Vorstellungen  dargestellt,  enthalten  seien,  dass  also  der 
kabbalistischen  Geheimlehre  eine  philosophische  Tendenz  zu 
Grunde  liege  und  sie  nicht  in  Bausch  und  Bogen  für  baren 
Unsinn  gehalten  werden  sollte.  Die  Kabbala  hat  mit  der 
Scholastik  ein  gleiches  Schicksal,  beide  sind  um  der  Aus- 
schreitungen und  Kleinlichkeitskrämerei  wegen,  in  die  sie  sich 
verloren,  in  Verruf  gekommen,  beide  haben  aber  trotzdem 
ihrer  Tendenz  wegen  ihre  Bedeutung.1 

Abgesehen  von  den  ägyptischen,   persischen  und   alexan- 
drinisch-griechischen  Elementen,  die  in  die  Kabbala  verwoben 
sind  und  einen  Dualismus  mit  sich  führen,  der  natürlich  auch 
im    Talmud    vertreten    ist,    könnte    auch    die    aufgenommene 
Emanationslehre    eine    kabbalistische    Dämonologie    erwarten 
lassen.      Die    Kabbalisten    blieben    bei     philosophischen    Er- 
örterungen nicht   stehen,   sie  personificirten  die  ganze  Natur, 
die    Ursachen    der    physischen    Erscheinungen ,    die    Seelen- 
zustände  und  brachten  dadurch  eine  ungeheuere  Menge  guter 
und   böser  Dämonen   hervor,    die   sie  in   der  ausgedehntesten 
Vereinzelung  thätig  dachten  und   bei  jeder  noch  so  unbedeu- 
tenden Verrichtung    beachten    zu    müssen    glaubten,    um    die 
übelthätigen  zu  bannen,  die  wohlthätigen  anzuziehen.     Dieses 
lehrt  die   kabbalistische  Theurgie,   jenes   die  Goetie.      Die 
Beschwörung  guter  oder  böser  Geister  geschieht   durch  Aus- 
sprechen gewisser  Verse  oder  einzelner  Wörter  aus  der  Schrift, 
welche  die  mannichfaltigen  Gottes-  und  Engelnamen  bedeuten, 
oder  durch  verschiedene  Versetzungen  des  hebräischen  Alpha- 
bets   hervorgebracht    werden,    oder    durch    Anmiete,    worauf 
Verse,    einzelne   Wörter    in    Zusammensetzungen    angeblicher 
Gottes-  und  Geisternamen  geschrieben  und  mit  verschiedenen 
Figuren  bezeichnet  sind.    Die  Wirksamkeit  der  kabbalistischen 
Geisterbeschwörungen  bezeugt  der  Talmud2,  indem  Kabba  nach 


1  In  Beziehung  auf  die  Kabbala,   hinsichtlich   ihres  ideellen  Inhalts, 
ist  der  schätzbare  Artikel  von  Reuss,  a.  a.  0.,  zu  vergleichen. 

2  Tract.  Sanhedrin. 


252  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

den  Kegeln  des  kabbalistischen  Buches  Jezirah  sich  einen 
Diener,  Rabbi  Chaninah  und  Rabbi  Hoscheah  (Oschaja)  Frei- 
tags sich  Kälber  geschafien  haben  sollen,  die  sie  zur  Ehre 
des  Sabbats  verzehrten.  Neuere  Kabbalisten,  selbst  R.  Luria, 
bestätigen  die  Kraft  der  Beschwörungen,  warnen  aber  davor, 
und  die  spätem  wollen  sie  gar  verbieten,  da  ein  verfehlter 
Buchstabe  grosse  Verwirrung  in  den  obern  Regionen  hervor- 
bringen, und  den  Beschwörer  unten  in  die  grösste  Gefahr 
stürzen  könne,  wofür  auch  der  Talmud  Beispiele  anzu- 
führen weiss.  1 

Die  Kabbalisten  erfüllen  alle  Räume  der  Schöpfung  mit 
guten  und  bösen  Geistern,  theilen  sie  in  bestimmte  Ord- 
nungen, setzen  ihnen  Oberhäupter  vor,  unterscheiden  diese 
wie  jene  durch  besondere  Namen  und  weisen  ihnen  gewisse 
Aemter  zu.  In  Azilah,  dem  reinsten  Ausfluss  des  Urwesens, 
gibt  es  keine  Unterscheidung,  also  auch  keinen  Raum  für 
Subjecte  oder  Individuen.  In  der  nächst  reinen  Beriah  sind 
die  der  Gottheit  zunächst  stehenden  reinsten  Geister,  die  immer 
Lebenden  (Chajoth).  In  die  Jezirah  versetzen  die  Kabbalisten 
schon  Geister,  die  verschieden  an  Gestalt  und  Rang  sind, 
welche  die  Elemente  regieren.  Die  vom  Urwesen  am  weitesten 
abstehende  Assiah  ist  ausser  mit  thierischen  und  menschlichen 
Geschöpfen  zugleich  mit  mehr  materiellen  Geistern  bevölkert, 
die  stets  zu  den  höhern  Geistern  hinaufstreben  oder  diese  zu 
sich  herabzuziehen  suchen.  Die  untere  Welt  ist  daher  beson- 
ders stark  mit  Dämonen  besetzt,  da  jedem  materiellen,  intel- 
lectuellen  und  moralischen  Gegenstande  in  dieser  Welt  ein 
solcher  vorsteht,  der  seinen  Namen  hat. 

Die  vornehmsten  und  einflussreichsten  guten  Dämonen 
sind:  Metatron,  der  Engel  des  Angesichts,  Vorsteher  der 
Stärke,  Weisheit,  Herrlichkeit,  überhaupt  alles  Grossen  und 
Erhabenen  im  Himmel  und  auf  Erden.  In  ihm  erkennen  die 
Kabbalisten  den  Henoch,  der  nach  seiner  Himmelfahrt  diese 
Würde  erlangt  haben  soll.  Von  diesem  Metatron  erfuhr 
R.  Ismael2  die  arithmetische  Berechnung  der  Grösse  Gottes: 
„Ich  betheure  es  vor  mrr  dem  Gotte  Israels,  dem  lebendigen 
und  beständigen  Gott,  diesem  Herrn  und  Beherrscher:    dass 


1  Tract.  Bcraclioth. 

2  Im  Buche  Rasiel,  Fol.  IG,  bei  Beer,  II,  101. 


8.   Der  Teufel  im  Talmud  und  in  der  Kabbala.  253 

von  dem  Orte  des  Sitzes  seiner  Herrlichkeit  aufwärts 
1,180000  Meilen,  und  von  diesem  Sitze  abwärts  ebenso  viele 
Meilen  sind.  Seine  Höhe  beträgt  2,300000  Meilen,  und  von 
seinem  rechten  Arm  bis  zum  linken  ist  eine  Entfernung  von 
77000  Meilen.  Die  Entfernung  von  seinem  rechten  bis  zum 
linken  Augapfel  beträgt  30000  und  der  Umfang  seines  Schä- 
dels 3000  Meilen.  Auf  seinem  Haupte  hat  er  60000  Kronen, 
und  daher  wird  er  auch  mit  Recht  der  grosse,  starke  und 
furchtbare  Gott  genannt."  Ein  andermal  beschrieb  Metatron 
dem  R.  Ismael  die  Grösse  Gottes  folgendermassen:  „Seine 
Fusssohlen  erfüllen  die  ganze  Erde,  die  Höhe  der  Fusssohlen 
beträgt  30000  Meilen.  .  Von  den  Fusssohlen  bis  zum  Knöchel 
ist  die  Entfernung  hundert  Millionen,  von  den  Knöcheln  bis 
zu  den  Hüften  10000  Millionen,  von  den  Hüften  bis  zum 
Halse  aber  240000  Millionen  Meilen.  Sein  Hals  ist  38,000800 
und  sein  Bart  11500  Meilen  lang.  Jeder  Augapfel  hat  einen 
Umfang  von  11500  Meilen,  und  jede  Hand  hat  die  Länge 
von  240002  Meilen.  Zwischen  seinen  Schultern  misst  er 
16  Millionen,  zwischen  den  Armen  12  Millionen  Meilen  und 
jeder  Finger  ist  1,200000  Meilen  lang."1  —  Dem  Metatron 
zunächst  steht  Sandalphon,  der  einst  der  Prophet  Elias  ge- 
wesen sein  soll,  der  ursprünglich  ein  Engel,  von  Gott  auf  die 
Erde  gesandt,  nach  Beendigung  seines  Prophetenamts  in  den 
Himmel  wieder  aufgenommen  wurde.  Metatron  und  San- 
dalphon, mit  Zuziehung  eines  dritten,  Akathriel,  haben  die 
Gebete  der  Menschen  in  Empfang  zu  nehmen,  daraus  Kronen 
zu  flechten,  um  sie  auf  das  Haupt  Gottes  zu  setzen.  Wir 
müssen  uns  wol  auf  das  bisher  über  die  guten  Geister  Ange- 
führte beschränken,  da  R.  Nathan  Spira  in  seinem  Buche 
„Megalleh  Amukboth"  versichert,  dass  Gott  von  nicht  weniger 
als  9,000000  umgeben  sei,  deren  Zahl  aber  ins  Endlose  steigt,  da 
jeder,  der  ein  Gebot  der  Thora  ausübt,  einen  guten  Engel  schaffe, 
wie  im  Uebertretungsfalle  einen  bösen.  Die  bösen  Dämonen 
haben  im  allgemeinen  verschiedene  Namen :  Satanini,  Schedim, 
Seirim,  auch  Malache  Chabbalah  (Engel  des  Verderbens)  u.  a.m. 
Ueber  ihre  Entstehung  theilen  sich  die  Ansichten  der  Kabba- 
listen.  Einige  glauben,  Gott  habe  sie  am  Freitag  Abend  im 
letzten  Augenblicke   der  Schöpfungswoche  geschaffen,   wegen 


1  Fol.  38  ebendas. 


254  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

des  eintretenden  Sabbats  aber  nicht  ganz  fertig  bringen 
können,  daher  sie  weder  zu  der  Vollkommenheit  ganz  reiner 
Geister  gediehen,  noch  mit  einem  Leibe  wie  die  menschliche 
Seele  bekleidet  worden  seien.  Nach  Andern  soll  Gott  eine 
weibliche  Teufelin  Lilith  erschaffen  und  Adam  mit  dieser 
die  übrigen  unzähligen  bösen  Geister  erzeugt  haben.  Mit 
Uebero-ehuno-  übriger  Ansichten  der  Kabbalisten  ist  zu  be- 
merken,  dass  ausser  den  nach  der  Schöpfung  entstandenen 
bösen  Wesen  mehrere  männliche  und  weibliche  mit  jener  zu- 
gleich erschaffen  worden  sind.  Die  am  meisten  genannten  männ- 
lichen sind:  Samael,  der  die  Eva  zum  Sündenfalle  gereizt 
hat,  die  Menschen  noch  immer  zu  Uebelthaten  verführt,  ist 
zugleich  der  Satan,  der  als  Referent  über  die  Missethaten 
der  Menschen  dem  himmlischen  Käthe  Bericht  erstattet,  auch 
der  Melach  hammaveth,  der  die  von  oben  verhängte 
Todesstrafe  vollzieht.  Manche  Kabbalisten  nennen  ihn  auch 
Azazel,  dem  am  Yersölmungstage  ein  Opfer  zugeführt  wird; 
auch  Adam  Beliaal,  im  Gegensatz  zu  Adam  Kadmon.  — 
Aschmedai  oder  Aschmidai,  auch  im  Buche  Tobi1  erwähnt, 
soll  sehr  verliebter  Natur  gewesen  sein.  Bedargon,  nur 
eine  Spanne  lang,  dafür  aber  mit  50  Köpfen,  65  Augen  ver- 
sehen, trägt  auf  seinem  Leibe  die  Buchstaben  des  hebräischen 
Alphabets  verzeichnet,  ausser  s  und  n,  weil  diese  den  Tod 
bedeuten.  Nach  kabbalistischer  Annahme  hat  Gott  vier  weib- 
liche Teufelinnen  erschaffen:  Lilith,  als  erste  Eva  mit  Adam 
zugleich  entstanden,  der  sich  aber  wegen  ihrer  Unverträglich- 
keit von  ihr  schied  und  hierauf  die  aus  seiner  Rippe  gebildete 
Eva  heirathete.  In  Lilith  soll  sich  Samael  verliebt  und  sie 
zum  Weibe  genommen  haben,  dem  ihr  düsteres  mürrisches 
Wesen  wol  auch  viel  Verdruss  machen  durfte.  Naamah, 
die  Gattin  eines  Teufels  Schemeron,  mit  dem  sie  den  Asch- 
medai gezeugt  hat.  Eben  Maschkith,  nach  andern  Ma c li- 
la th,  ist  sehr  muntern  Temperaments,  im  Gegensatze  zu  Lilith, 
daher  es  zwischen  beiden  Teufelinnen  oft  zu  Reibungen  und 
Thätlichkeiten  kommt.  Lilith  soll  über  480,  Machlath  über 
478  Rotten  böser  Geister  zu  befehlen  haben.  Iggereth  wird 
weniger  häufig  hervorgehoben.  Nach  R.  Salomon  Luria  (in 
seinem  Buche  „Menorath  Sahab")  soll  sie  alle  Mittwoch  und 


>,  b. 


8.   Der  Teufel  im  Talmud  und  in  der  Kabbala.  255 

Freitag  des  Nachts  mit  18000  bösen  Dämonen  herumsehwärmen, 
die  Menschen  schädigen,  daher  ein  Ausgang  um  diese  Zeit 
gefährlich  ist.  Die  Zahl  der  bösen  Geister  ist  unaussprechlich; 
sie  sind  um  den  Menschen  angehäuft,  gleich  der  aufgewor- 
fenen Erde  um  einen  Wall,  denn  jeder  hat  ihrer  1000  zur 
Hechten  und  10000  zur  Linken.  Ihr  gewöhnlicher  Aufenthalt 
ist  ein  düsterer  Raum  unter  dem  Monde.  Ihr  Leib  wurde  in 
der  untersten  Erde  aus  Wasser,  Feuer  und  Luft  zusammen- 
gesetzt. Sie  theilen  sich  in  Ordnungen  mit  je  einem  Ober- 
haupt, dessen  Befehlen  die  untergebenen  gehorchen  müssen.1 
Nach  dem  kabbalistischen  Buche  Sohar  setzen  sich  die  un- 
reinen Geister  auf  die  Hände  des  Menschen,  wenn  er  schläft2, 
auch  wenn  er  sich  auf  das  heimliche  Gemach  begibt,  daher 
er  sich  in  beiden  Fällen  waschen  muss.  Die  bösen  Geister 
können  sich  in  einem  Augenblick  von  einem  Ende  der  Welt 
zum  andern  begeben  und  wissen,  wie  die  Engel,  im  voraus, 
was  in  der  Zukunft  geschehen  soll.3  Sie  gemessen  Speise 
und  Trank  und  pflanzen  sich  auch  nach  menschlicher  Art 
fort. 

Der  Talmud  erwähnt  zwar  der  Kabbala  nur  sporadisch, 
es  sind  aber  manche  talmudische  Theile  ganz  im  kabba- 
listischen Geiste  abgefasst,  und  die  talmudische  Dämonologie 
läuft  mit  der  kabbalistischen  so  ziemlich  auf  eins  hinaus4, 
daher  wir  sie  nicht  besonders  darzustellen  brauchen.  Es  ge- 
nügt zu  erinnern,  dass  der  Talmud  sowol  als  die  Kabbala 
die  dualistische  Vorstellung  von  guten  und  bösen  Dämonen 
aufrecht  gehalten  und  weiter  ausgesponnen  hat. 

Die  Geheimlehre,  anfänglich  nur  mündlich  und  nur  den 
fähigsten  Schülern  mitgetheilt,  wurde  im  Verlaufe  der  Zeit 
auch  schriftlich  abgefasst,  und  das  Streben  zu  systemisiren, 
durch  die  gangbare  Aristotelische  Philosophie  angeregt,  zeigten 
auch  die  Anhänger  der  Kabbala,  um  ihre  Lehren  mindestens 
in  eine  Art  von  Form  zu  bringen.  Die  Entstehung  der  ersten 
kabbalistisch  -  literarischen  Producte  liegt  bislang  im  Dunkel, 
Die   Sage    setzt  wol    die  Zeitpunkte    der  Abfassung    der    be- 


1  Jalkut  Chadasch. 

2  Abschnitt  Bereschith. 

3  Abschnitt  Therumah. 

4  Vgl.  Tract.  Baba  Bathra;  Tr.  Gittin;  Tr.  Berachoth  u.  a. 


25G  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

rühmtesten  kabbalistischen  Bücher,  z.  B.  des  Buches  Jezirah, 
mit  Abraham  in  Verbindung,  des  Buches  Sohar  wenigstens 
in  das  hohe  Alterthum  zurück;  allein  die  Kritik  rückt  sie 
uns  bedeutend  näher,  obschon  ihre  Ergebnisse  bisher  nur  als 
Vermuthungen  gelten  können.  Bei  aller  Ungewissheit  lässt 
sich  indess  doch  annehmen,  dass  manche  kabbalistische  Schriften 
sehr  alt  sein  mögen,  da  schon  der  Talmud  ein  Buch  Jezirah 
erwähnt,  das  mit  wunderbaren  Kräften  ausgestattet  gewesen, 
wie  er  auch  hin  und  wieder  von  einer  Geheimlehre  spricht, 
in  die  nur  wenige  eingeweiht  worden  seien.  !  Wenn  schon 
das  Alterthum  überhaupt  einer  kritiklosen  Zeit,  wie  das 
Mittelalter  war,  eine  scheue  Ehrfurcht  einzuflössen  vermochte, 
um  so  mehr  das  hebräische  Alterthum,  von  dessen  Offen- 
barungen die  Kirchenväter  alle  Weisheit  der  Völker  ableiteten 
und  diesen  Glauben  der  Nachwelt  als  Erbe  hinterliessen. 
Das  Interesse  an  der  Kabbala  musste  aber  noch  mehr  ge- 
steigert werden  dadurch,  dass  sie  eben  Geheimlehre  war,  und 
deren  Glaubwürdigkeit  fand  starke  Stützen  an  mancherlei 
Andeutungen  von  Kirchenlehrern,  z.  B.  einem  Hilarius,  der 
überzeugt  war,  dass  Mose  den  Inhalt  des  alten  Bundes  zwar 
schriftlich  verzeichnet,  aber  noch  ausserdem  wichtige  Geheim- 
nisse aus  den  verborgenen  Tiefen  des  Gesetzes  den  Aeltesten 
seines  Volks  mitgetheilt  und  sie  als  Lehrer  für  die  Zukunft 
eingesetzt  habe.  Der  Durst  nach  geheimer  Weisheit  trieb 
nach  der  kabbalistischen  Quelle  und  diese  bot,  nachdem  sich 
der  Aristotelismus  ausgelebt  hatte  und  man  sich  dem  Alexandri- 
nismus  hinzuneigen  anfing,  in  den  Platonisch-Pythagoräischen, 
mit  orientalischen  Vorstellungen  versetzten  Ideen  der  Kabba- 
listen  verwandte  und  leicht  assimilirbare  Elemente.  Aber 
nicht  nur  in  theosophischer  Hinsicht  fühlte  sich  das  Mittel- 
alter von  den  Kabbalisten  angezogen,  auch  die  erwrachende 
Neiiiuns  zum  Studium  der  Natur,  das  in  den  Windeln  der 
Astrologie  und  Alchemie  gebunden  lag,  suchte  in  der  Kabbala 
Befriedigung  und  fand  eine  dem  Kindesalter  angemessene 
Nahrung.  Die  Kabbala  gewann  daher  im  Verlaufe  der  Zeit 
auf  die  verschiedenen  Wissenszweige  Einfluss,  und  wir  er- 
innern nur  an  Gelehrte,  wie  Joh.  Bonaventura,  Thom. 
von  Aquino,  Raymund  Lullus,  Pico  della  Mirandola,  Johann 


1  Vgl.  Tract.  Chagiga  passim. 


8.   Der  Teufel  im  Talmud  und  in  der  Kabbala.  257 

Reuchlin  u.  a.  ra.  Da  Geheimlehre  und  Zauberei  gewöhnlich 
miteinandergehen ,  die  Kabbala  ausdrücklieh  den  engsten  Zu- 
sammenhang zwischen  der  irdischen  Welt  und  den  obern  Re- 
gionen als  Axiom  aufstellte,  die  schaffende  Macht  des  Wortes 
lehrte  und  ihre  Eingeweihten  in  der  Handhabung  dieser 
Macht  unterwies  und  ihnen  zuerkannte,  so  erhielt  der  sach- 
kundige Kabbaiist  die  Bedeutung  eines  Zauberers  und  Hexen- 
meisters. Mittels  der  Kabbala  war  also  nicht  nur  der  Schatz 
der  Weisheit  zu  heben ,  es  war  auch  materielles  Gut  zu  er- 
langen und  diese  Anwendbarkeit  überirdischer  Kräfte  zur 
Verbesserung  des  irdischen  -Lebens,  die  durch  die  Kabbala 
zu  erlernen  war,  verschaffte  ihr  auch  bei  dem  ungelehrten 
Volke  Eingang  und  weite  Verbreitung. 

Weil  Vorstellungen  vom  Satan,  von  Hexen,  deren  Verkehr 
mit  Dämonen,  Teufelsbeschwörungen,  Wettermacherei ,  zau- 
berische Hass-  und  Freundschaftstiftung,  Bewirkung  von  Un- 
geziefer in  kabbalistischen  Schriften  vorkommen,  hat  man  den 
ganzen  Teufels-  und  Hexenglauben  des  Mittelalters  aus  jenen 
ableiten  wollen;  allein  diese  Ansicht  trifft  gewiss  nicht  die 
ganze  Wahrheit,  da  vielmehr  ein  wechselseitiger  Einfluss  an- 
zunehmen ist,  und  wenn  auch  die  fördernde  Wirkung  der 
Kabbalisten  auf  die  Verbreitung  des  Teufels-  und  Hexen- 
glaubens kaum  bezweifelt  werden  kann,  so  ist  ebenso  gewiss, 
dass  der  unheimliche  Zug,  der  durch  das  Mittelalter  geht,  in 
den  zeitgenössischen  Producten  der  kabbalistischen  Literatur 
sich  abspiegelt. 


9.   Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert. 

Konstantin  hatte  mit  seiner  Annahme  des  Christenthums 
dasselbe  auf  den  weltlichen  Thron  erhoben  und  dadurch  der 
Welt  ein  anderes  Ansehen  gegeben.  War  bisher  das  Christen- 
thum  dem  Heidenthum  gegenüber  als  das  unterdrückte  er- 
schienen, so  hatte  es  nunmehr  der  römischen  Weltherrschaft 
sich  bemächtigt,  und  der  christliche  Lehrbegriff  sowie  die 
kirchliche  Anordnung  der  Christen  erhielten  die  Sanction  der 
Regierung.  Konstantin  hatte  zwar  noch  viel  Heidnisches 
stehen     gelassen;     Konstantins    hingegen    dictirte    schon    die 

Koskoff,    Geschichte  des  Teufels.   I.  J7 


258  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Todesstrafe  auf  die  Darbringung  heidnischer  Opfer1  und 
gebot  zugleich  die  Schliessung  der  Tempel,  wenngleich  das 
Gesetz  nicht  zur  Ausführung  gekommen  sein  soll.  *2  Die 
kurze  Periode  des  christenfeindlichen  Julian  abgerechnet,  ist 
das  Christenthum  in  seiner  ;  Stellung  als  Staatsreligion  ge- 
festigt. Der  Sieg  des  Christenthums  über  das  Heidenthum 
war  hiermit  zwar  ausgesprochen,  aber  er  war  doch  noch  keine 
vollendete  Thatsache,  da  dieses  noch  immer  so  viel  Lebens- 
kraft hatte,  um  als  Feind  gelten  zu  können  der  bekämpft 
werden  müsse,  und  als  Träger  der  damaligen  Cultur  seine 
Elemente  auch  in  das  Christenthum  hineinzutragen  vermochte. 
Dem  Heidenthum  gegenüber  wurde  zwar  der  grösste  Kraft- 
aufwand bei  der  Entwickelung  des  Dogmas  hervorgerufen, 
aber  diese  Kraft  in  den  dogmatischen  Kämpfen,  an  welchen 
oft  selbst  die  Kaiser  Partei  nahmen  und  denselben  dadurch 
eine  staatliche  Bedeutung  aufdrückten,  die  im  4.  und  bis  zur 
Mitte  des  5.  Jahrhunderts  eine  grosse  Productivität  an  den 
Tag  legte,  nahm  im  weitern  Verlaufe  der  Zeit  immer  mehr 
ab,  um  in  den  monophysitischen  und  semipelagianischen 
Streitigkeiten  zu  erlahmen  und  schliesslich  in  geistloser  Mono- 
tonie  zu  ersterben.  Mit  der  in  fester  Gliederung  ausgebil- 
deten  Kechtgläubigkeit  war  die  Freiheit  der  Dogmenbildung 
aufgehoben. 

Die  christliche  Kirche  hatte  nun  ein  neues  Streben.  Sie 
war  mit  der  Erhebung  des  Christenthums  zur  Staatsreligion 
selbst  eine  Macht  geworden  und  sollte  eine  über  aller  welt- 
lichen Macht  stehende  Kirche,  der  Lehrstand  der  nunmehrigen 
Staatsreligion  mit  Vorrechten  ausgestattet,  sollte  mit  diesen 
zugleich  vermehrt  und  erweitert  werden.  Ein  in  dieser  Be- 
ziehung günstiger  Umstand  war  die  Verlegung  der  kaiserlichen 
Residenz  von  Rom  nach  Konstantinopel,  wodurch  das  Papst- 
thum  in  Rom  Platz  gewann ,  während  Kaiserthum  und 
Hierarchie  im  Orient  sich  immer  mehr  beschränkten,  sodass 
es  keiner  dieser  Mächte  zu  einer  vollen  Selbständigkeit  zu 
bringen  gelang. 

Der  Einbruch  fremder  Völker  innerhalb  dieser  Periode 
brachte  allgemeine  Verwirrung,    die    alten  Verhältnisse  lösten 


1  Vgl.  Cod.  Theodos.,  I,  16,  tit.  10,  2,  a.  341. 

2  Vgl.  Gieseler,  Kirchengesch.,  I,  2,  S.  8. 


9.   Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  259 

sich,  die  wissenschaftliche  Bildung  erlosch,  sodass  gegen  Ende 
dieses  Zeitabschnitts  die  weltliche  Wissenschaft  mit  mönchischer 
Verachtung  aus  der  Kirche  geworfen  wurde.  So  bedauerte 
Basilius  die  Zeit  seiner  Jugend,  die  er  auf  weltliche  Studien 
verwendet  hatte,  unter  Lobpreisung  des  Mönchslebens  *,  Hie- 
ronymus  wurde  im  Traume  wegen  seines  Lesens  heidnischer 
Bücher  verurtheilt  und  nur  unter  der  Bedingung  begnadigt, 
dergleichen  nie  wieder  zu  thun.  2  Gregor  der  Grosse  konnte 
sich  seiner  Unwissenheit  rühmen  und  die  Beschäftigung  mit 
Grammatik  schon  für  einen  Laien  als  unschicklich,  für  einen 
Bischof  nachgerade  als  verwerflich  erklären.  3  Der  ermat- 
tenden geistigen  Kraft"  gegenüber  gewann  der  Autoritäts- 
glaube um  so  festern  Boden,  die  Tradition  hatte  eine  so 
hohe  Autorität  erlangt,  dass  sie  neben  der  Bibel  als  zweite 
Erkenntnissquelle  betrachtet  und,  an  deren  Seite  gesetzt,  die 
Bedeutung  des  Beweismittels  für  die  Glaubenslehre  gewann, 
eine  Regel  für  die  Bibelerklärung  wurde  und  nur  was  auf 
Tradition  gegründet  galt,  zum  Glaubensartikel  gestempelt  wer- 
den konnte.  Die  kirchliche  Macht  wuchs  überdies  durch  die 
Bekehrung  der  heidnischen,  namentlich  der  germanischen 
Völker. 

Je  fester  die  kirchliche  Rechtgläubigkeit  sich  gestaltete, 
wozu  die  Autorität  der  Aussprüche  der  ökumenischen  Sy- 
noden, die  sie  in  diesem  Zeitabschnitte  erlangt  hatten,  be- 
deutend beitrug,  nachdem  sie  schon  früher  unter  besonderer 
Leitung  des  Heiligen  Geistes  zu  stehen  glaubten4,  um  so 
grösser  wurde  die  Gefahr,  häretisch  zu  werden,  und  alle  theo- 
logische Untersuchung,  wenn  sie  nicht  von  vornherein  ver- 
dächtig erscheinen  wollte,  musste  von  der  Kirchenlehre  aus- 
gehen. Diese  Periode  liefert  daher  schon  ein  Beispiel  blutiger 
Ketzerverfolgung  an  den  Priscillianisten,  nachdem  Konstantin 
der  Grosse  zuerst  mit  Gewaltsamkeit  vorangegangen  war,  in- 
dem er  die  Donatisten  in  Afrika  hatte  verfolgen  lassen,  den 
zu  Nicäa  verurtheilten  Arius  mit  Landesverweisung  bestrafte 
und  seine  Schriften  dem  Feuer  übergab.  Schon  an  den 
Gnostikern,     welche    die    Häretiker    schlechthin    waren,    ent- 


1  Ep.  223. 

2  Ep.  22  ad  Eustach. 

3  Ep.  IX,  ep.  48. 


*  Nach  Actor.  15,  28;  Concil.  Carthag.  v.  J.  252. 

17 


2G0  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

wickelte  sich  der  Begriff  der  Häresie,  unter  welcher  man 
alles,  was  vom  einzelnen  für  wahr  gehalten  ward,  verstand 
gegenüber  der  in  der  Tradition  enthaltenen  Wahrheit.  Der 
vornehmliche  ernste  Gegensatz,  der  sich  in  dieser  Periode  der 
allgemeinen  kirchlichen  Lehre  entgegenstellte,  und  den  die 
Kirche  vom  Ende  des  3.  Jahrhunderts  eigentlich  bis  zum 
Ende  des  Mittelalters  zu  bekämpfen  hatte,  war  der  mani- 
chäische  Dualismus. 

Wie  Irenäus  und  Tertullian  dem  Gnosticismus  gegenüber 
gekämpft  hatten,  so  war  Augustinus  der  Hauptgegner  des 
Manichäismus,  dieser  wichtigen  Erscheinung  auf  dem  Gebiete 
der  ältesten  christlichen  Religionssysteme,  gegen  welche  dieser 
Kirchenlehrer  kaum  weniger  als  zehn  polemische  Schriften 
verfasste.  Schon  von  dieser  Seite  ist  der  Manichäismus  wich- 
tig, weil  die  von  Augustinus  demselben  gegenüber  befestigte 
Ansicht  die  Grundlage  für  die  ganze  abendländische  Dogmatik 
geworden  ist. 

Durch  den  aufs  höchste  gespannten  Dualismus  schliesst 
sich  der  Manichäismus  an  den  Parsismus,  in  welchem 
Manes  als  Perser  erzogen  worden  war.  Wie  im  Parsismus 
der  Gegensatz  von  Licht  und  Dunkel  sich  hindurchzieht,  und 
die  Welt  in  die  Bereiche  des  guten  Ahuramasda  und  des 
bösen  Angramainju  sich  theilt;  so  stellt  auch  Manes  diese 
Zweiheit  der  Principien  an  die  Spitze  seines  Systems. x  Dem 
guten  Gott,  dem  Vater  des  Lichts,  dessen  Wesen  lauterer 
Lichtglanz,  Wahrheit,  Heiligkeit,  Grösse,  Herrlichkeit,  Ueber- 
fluss,  Seligkeit  ist2,  wobei  das  Licht  als  das  Hauptsymbol 
des  göttlichen  Wesens  gefasst  ist,  aber  auch  unter  der  Gestalt 
eines  durch  die  ganze  Natur  ausgedehnten  menschlichen 
Leibes,  dessen  Glieder  sich  überall  darstellen,  wo  sich  eine 
besondere  Manifestation  des  göttlichen  Lichtwesens  zu  er- 
kennen gibt;  diesem  Lichtreiche  gegenüber  steht  das  Reich 
der  Finsterniss  mit  seinem  Fürsten.  Wie  jener  von  seinen 
Aeonen,  die  im  Lichtreiche  die  erste  Stelle  einnehmen;  so 
lebt  dieser  inmitten  des  Volks  der  Finsterniss.  Diesem  Dä- 
mon, wie  die  Manichäer  den  Herrscher  der  Finsterniss  gern 
nennen ,    wird    auch    der  Name  uXir)   gegeben 3 ,    und  diese  ist 

1  Epiphan.  adv.  haeres.  LXVI,  14;  Augustin.  contra  Fausturn,  XI,  1. 

2  Augustin.  contra  Epist.  Manich.,  c.  7. 

3  August,  contra  Faustum,  XXI,  1. 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  2GI 

keine  platonisirende  Modification ,  wie  Baur1  bemerkt  hat; 
sondern  die  Materie  wird  durchaus  als  etwas  Positives,  Leben- 
diges gedacht.  Von  diesen  beiden  Reichen,  wo  das  eine  im 
Guten  völlig  dasselbe  ist,  was  das  andere  im  Bösen,  ist  das 
eine  so  absolut  selbständig  als  das  andere.  In  dem  Reiche 
der  Finsterniss  hat  alles  materielle  Leben  seinen  Sitz,  Alles, 
was  durch  Entwickelung  aus  einem  Keime  entsteht,  was  durch 
Zeugung  und  Fortpflanzung  sein  Dasein  hat,  gehört  in  seine 
Regionen,  in  die  es  abgetheilt  ist.2 

Das  Charakteristische  des  Manichäisinus  liegt  darin,  dass 
die  Materie  als  selbständiges  Princip  des  Bösen  auftritt,  so- 
dass die  Begriffe  Materie  und  Böses  sich  vollständig;  decken. 
Dadurch  unterscheidet'  er  sich  zugleich  vom  Parsismus,  wo 
jedes  nützliche  Thier,  jede  brauchbare  Pflanze  als  Werke 
Ahuramasdao's  einen  Gegensatz  hat  in  den  Werken  Angra- 
mainju's.  Nach  der  manichäischen  Lehre  hingegen  sind  nicht 
einzelne  Thierarten,  sondern  alle  Thierleiber  eine  dämonische 
Schöpfung,  da  das  ganze  materielle  Substrat  dem  bösen  Prin- 
cip angehört. 

Wie  das  Lichtreich,  in  welchem  dessen  Beherrscher 
wohnt,  nicht  von  diesem  geschaffen,  sondern  absolut  ist,  so 
ist  auch  das  Reich  der  Finsterniss  ewig.  Dem  Fürsten  der 
Finsterniss,  dem  zweifüssigen  Dämon3,  wird  eine  riesenhafte 
menschliche  Gestalt  zugeschrieben.  Da  nämlich  der  materielle 
Leib  das  Werk  des  Fürsten  der  Finsterniss  ist,  da  Erzeugung, 
wodurch  das  materielle  Leben  fortgepflanzt  wird,  ein  dämo- 
nisches Werk  ist  und  der  Erzeuger  dem  Erzeugten  sowol  das 
eigene  Wesen  als  die  eigene  Gestalt  mittheilt,  so  musste  folge- 
richtig der  Fürst  der  Finsterniss  die  menschliche  Gestalt 
tragen,  da  das  Erzeugte  das  Ebenbild  des  Erzeugers  ist.  In- 
dem Manes  die  Stelle  Genes.  1 ,  26.  27  auf  den  Dämon  oder 
Archon  anwandte,  war  die  menschliche  Gestalt  demselben  so 
eigenthümlich  wie  dem  Urmenschen.  In  dem  manichäischen 
Systeme  gibt  es  keinen  Begriff  der  Schöpfung,  sondern  die 
bestehende  Welt  geht  aus  der  Mischung  und  Ineinandersetzung 


1  Das  manich.  Religionssystem,  S.  20. 

2  August,   de  haeres.,    c.  46;    contra  Epist.  Manich.,  c.  10;    contra 
Faustum,  XXI,  14;  contra  Epist.  fund.,  c.  31. 

3  August,  contra  Faust.,  XX,  14. 


262  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

beider  Principien  hervor.  In  der  endlichen  Erscheinung  ist 
daher  das  absolut  Gute  und  absolut  Böse  gemischt,  und  jene 
ist  nur  eine  Modifikation  der  Einen  absoluten  Substanz,  des 
unendlichen  Seins.  Der  Anfang  zur  Mischung  der  beiden 
Principien  (zur  Weltschöpfung)  geht  von  der  Hyle  und  deren 
Beherrscher  aus,  indem  diese  eine  Begierde  nach  dem  Licht- 
reiche bekommt1,  daher  die  Mächte  der  Finsterniss  auf  das 
Lichtreich  einen  Angriff  machen ,  wogegen  die  angegriffene 
Lichtgottheit  zur  Thätigkeit  angeregt  wird.  Diese  sendet  eine 
Kraft  aus,  welche  die  Grenze  des  Lichtreichs  nicht  sowol  be- 
wachen, als  die  Hyle  vielmehr  täuschen  soll,  aber  von  der 
Begier  derselben  verschlungen  und  diese  dadurch  gewisser- 
massen  gebunden  wird. 

Auf  diese  Weise  ward  das  böse  Princip  vom  guten  über- 
listet und  dieses  dadurch  Weltschöpfer,  konnte  aber  das  ein- 
gedrungene Böse  nicht  mehr  aus  der  W^elt  entfernen,  das  sich 
nun  in  der  Menschenwelt  durch  Ungleichheit  unter  den  Men- 
schen als  reich,  arm  u.  dgl.  zu  erkennen  gibt. 

Die  beiden  Principien  verhalten  sich  wie  Leib  und  Seele, 
aus  denen  auch  der  Urmensch  besteht,  der  seiner  Seele  nach 
aus  dem  Lichtreiche  stammt,  durch  die  Materie  jedoch  als 
dem  Elemente  des  Reichs  der  Finsterniss  verunreinigt  und 
dessen  Einfluss  unterzogen  ist.  3  Seele  und  Materie  werden 
sonach  als  gute  und  böse  Grundkräfte  gedacht,  die,  in  ent- 
gegengesetzter Wirksamkeit  begriffen,  in  der  Mitte  des  Gegen- 
satzes sich  begegnen.  Der  Urmensch,  als  Repräsentant  der 
als  Weltseele  mit  der  Materie  sich  mischenden  göttlichen 
Kraft,  ist  also  im  Kampfe  begriffen  mit  dem  Fürsten  der 
Finsterniss. 

Wie  nach  Manes  die  Weltschöpfung  dadurch  zu  Stande 
kommt,  dass  die  von  Gott  ausgehende  allgemeine  Seele  mit 
der  Materie  vermischt  wird,  aus  welcher  Ineinandersetzung 
das  Weltganze  hervorgeht,  so  verhält  es  sich  auch  mit  dem 
menschlichen  Individuum.  Denn  was  von  der  allgemeinen 
Weltseele  gilt,  gilt  auch  von  den  menschlichen  Seelen  ins- 
besondere. 3     Der  Gegensatz,   den  der  Mensch    an  sich  trägt, 


1  August.,  de  nat.  boni,  c  42. 
'■  Vgl.  Epiph.  adv.  haeres.,  LXVI,  44. 
August.,  de  uat.  boni,  c.  42. 


a 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  263 

ist  der  vorn  Guten  und  Bösen,  Geist  und  Materie,  Seele  und 
Leib.  Wie  der  Urmensch  als  Inbegriff  der  Seelen  den  finstern 
Mächten  kämpfend  entgegengestellt  wird,  so  steht  auch  der 
Mensch  inmitten  des  Gegensatzes  von  Geist  und  Materie, 
Gutem  und  Bösem.  Alle  Lichtwesen  haben  aber  den  natür- 
lichen Drang  aus  dem  Finstern  ans  Licht  emporzustreben, 
somit  auch  der  Mensch,  dessen  physisches  Element,  das  seinem 
materiellen  entgegensteht,  ein  Ausfluss  des  Lichtreichs,  aus 
dem  ursprünglich  vollkommenen  Zustande  in  das  Zeitliehe 
herabgekommen  ist.  Seine  sittliche  Aufgabe  ist  daher:  aus 
den  Banden  der  Materie  sich  zu  befreien.  Denn  obschon  der 
Fürst  der  Finsterniss  alles  Böse  seiner  Natur  dem  Menschen 
eingepflanzt  hat,  sagt  Manes,  hat  die  göttliche  Lichtnatur  in 
seiner  Seele  doch  das  Uebergewicht.  1 

Der  Mensch  zeichnet  sich  zwar  vor  den  übrigen  Ge- 
schöpfen  dadurch  aus,  dass  ihm  die  mit  der  Materie  ver- 
mischte göttliche  Kraft  in  höherm  Masse  mitgetheilt  und  er 
sich  seiner  Lichtnatur  bewusst  ist;  da  aber  sein  Leib  doch 
ein  Werk  des  Fürsten  der  Finsterniss  bleibt,  so  betrachtet 
die  manichäische  Lehre  die  Erzeugung,  die  geschlechtliche 
Vermischung,  wodurch  das  materielle  Leben  des  Menschen 
fortgepflanzt  wird,  als  etwas  Dämonisches.2  Ungeachtet  ihrer 
Lichtnatur  kann  daher  die  Seele  der  Verführung  zur  Sünde 
(der  concupiscentia)  unterliegen,  und  zwar  auf  materiellen 
Anlass  der  Sinnlichkeit.  3 

Die  Punkte,  wo  sich  der  Manichäismus  mit  dem  Parsis- 
mus,  Gnosticismus  und  andern  Systemen  berührt  und  wo- 
durch er  abweicht,  sind  bereits  von  Baur4  tiefsinnigerweise 
hervorgehoben  worden,  und  soll  hier  nur  noch  auf  die  Gegen- 
sätzlichkeit des  Manichäismus  zu  der  allgemeinen  kirchlichen 
Anschauung  und  die  Wirkung  davon  auf  die  Teufelsvorstel- 
lunff  hingedeutet  werden. 

Es  handelt  sich  beim  Manichäismus  wie  beim  Gnosticis- 
mus um  den  Ursprung  des  Uebels  und  des  Bösen.  Schon 
in   der   frühern  Periode  ward   die  Sünde    als  Thatsache  aner- 


1  August,  in  Op.  imperf.  contra  Jul.,  III,  172. 

2  August,  contra  Faustum,  XIX,  29;  vgl.  ebendas.,  VI,  3. 

3  August.  Op.  imperf.,  III,  186. 

4  Das  manich.  Religionssystem,  S.  149  fg.;  vornehml.  334  fg. 


9(34  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

kannt,   über  ihr  Wesen   schwankten  aber  die  Anschauungen. 
Die   Häretiker   verlegten    den   Sitz    derselben    in   die   Materie 
oder  leiteten  sie  vom  Demiurg  her,   es  schrieben  auch  ortho- 
doxe Lehrer   das  Böse    der  Sinnlichkeit  zu1;    im   allgemeinen 
drang  aber  die  Lehre  der  Kirchenväter  durch,  dass  die  Sünde 
durch  den  menschlichen  Willen  bedingt,  daher  Gott  von  aller 
Schuld  frei  sei.     Aus  diesem  Gesichtspunkte  konnte  Origenes 
das  Böse   als    eine   blose  Negation    auffassen. 2      Die  Antwort 
auf  die  Fra^e:   welches  der  Anlass  und  worin  die  Sünde  der 
ersten  Menschen   bestanden  habe,   schattirt   sich  verschieden. 
Justinus 3    leitet    den    Fall    der    Menschen    von  der   schlauen 
Bosheit  des  Satans  ab;  nach  Clemens  Alexandrinus4  ist  es  die 
Wollust  gewesen,  die  den  Menschen  verführte,  indem  der  an 
sich  zwar  nicht  sündliche  Coitus  zu  früh  stattgefunden  habe5; 
darin   traf  man  aber  zusammen:    dass   die  Verführung  durch 
die    Schlange   in    der   That   eine  Verführung   zum   Bösen  ge- 
wesen sei  und  dadurch  der  Mensch  Schaden  genommen  habe. 
In  dieser  Periode  (vom  4.  bis  Ende  des  6.  Jahrhunderts)  wird 
nach    der    allo-emeinen   Lehre  das  Wesen  der  Sünde  in    den 
Willen    des    Menschen    verlegt,    und    Augustinus    stimmt    in 
seinen    frühern    Aeusserungen    mit  der   allgemeinen   Kirchen- 
lehre überein,    wonach   die  Sünde   mit   der   sittlichen  Freiheit 
zusammenhängt6,  wogegen  Lactantius  den  Körper  als  Sitz  und 
Organ    der    Sünde    bezeichnet. 7      Im    allgemeinen    wird    die 
Sünde  als  Widerstreben  gegen  Gottes  Gesetz,  als  Auflehnung 
gegen    seinen  Willen   dargestellt,   analog    der    Sünde  Adam's, 
die  jetzt  durchaus,  gegen  die  allegorische  Erklärung  des  Ori- 
genes,   als    historisches  Factum   angenommen   wird.      Gregor 
der  Grosse,  der  die  Geschichte  auch  buchstäblich  fasst,  macht 
schon  eine  dreifache  Weise  namhaft,    in  welcher    der  Teufel 
den     ersten    Menschen     versuchte:     gula,    vana    gloria    und 
avaritia.  8 


1  Justin.,  Apol.,  I,  40. 
s  De  princ.,  II,  2. 

3  Dial.  c.  Tryph.,  c.  119,  p.  205. 

4  Coh.  p.  86. 

5  Strom.  II,  19. 

6  De  duab.  anim.  contra  Manich.,  §.  12;  de  lib.  arbitr.,  III,  49. 

7  Instit.  div.,  II,  12;  VI,  13;  de  ira  Dei,  15. 

8  Moral.  XXXI. 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  265 

Augustinus,   der  später  das  Hauptgewicht   auf  die  Erb- 
sünde legt l ,  macht   den  Manichäern  den  Vorwurf,   dass   sie, 
gleich  den  Pelagianern,   keine   solche  annehmen,   sondern  die 
Natur  des  Menschen  als  vom  Anfang  an  böse,  nicht  aber  als 
eine    erst  böse    gewordene   betrachten,    da    der  Manichäismus 
das  Böse  nicht  blos  als  negatives,  sondern  als  selbsttätiges 
Princip  auffasst.    Augustinus,  dem  überall  der  Gegensatz  von 
Sünde  und  Gnade  vor  Augen  schwebte,    berührte    sich   zwar 
in  seiner  Lehre  von  der  Erbsünde  mit  den  Manichäern,  indem 
er  bei  den  Kindern  das  Verdammliche  ihrer  Sünde  in  die  vor 
der  thatsächlichen  oder  vollzogenen  Sünde  vorhandene  concu- 
piscentia   carnis   setzte-,   mithin   auch  ein  malum  naturale   an- 
nahm,   wie   die  Manichäer   ein   derartiges   Princip   des  Bösen 
aufstellen;    der  Hauptunterschied    der    Lehre  Augustin's   von 
der  Erbsünde  und  der  manichäischen  Anschauung  besteht  aber 
darin:    dass  jener  eine  die  menschliche  Natur  durchdringende 
Verdorbenheit  annahm,  wodurch  der  Mensch  aller  Kraft  zum 
Guten  und  aller  Freiheit  ermangelt,  was  die  Manichäer  nicht 
lehrten,   nach   deren  Ansicht  in   dem  durch  die  Materie  ver- 
dunkelten   Bewusstsein    des    Menschen    stets    so    viel    Licht 
zurückblieb,    dass  es   sich  zur  ursprünglichen  Reinheit  wieder 
erheben  konnte.     Dagegen  dehnten  die  Manichäer  den  Begriff 
des  Bösen  weiter   aus    als    die   allgemeine  Kirchenlehre,    und 
betrachteten    das  Böse   als  etwas  Selbständiges,    das    ausser- 
halb  der  Menschennatur   seinen   Grund  hat,    als  eine   selbst- 
tätige   Substanz,    von  welcher    der    Spiritus    concupiscentiae 
ausgeht.  2 

Die  Polemik  Auo-ustin's  sowie  des  Titus  von  Bostra 
gegen  die  Manichäer  dreht  sich  daher  vorzüglich  um  den 
Beweis,  dass  das  Böse  keine  Substanz,  nichts  für  sich  Be- 
stehendes sei,  sondern  nur  im  Gegensatz  zum  Guten  zum 
Vorschein  komme,  dass  die  ganze  Welt  in  der  Idee  der  gött- 
lichen Weisheit  begründet,  das  physische  Uebel  vom  ethischen 
Bösen  zu  unterscheiden  sei,  letzteres  in  der  Freiheit  des  Men- 
schen beruhe,  ohne  welche  der  Mensch  aufhören  würde  zu- 
rechnungsfähig zu  sein,  und  der  Unterschied  von  Tugend  und 
Laster  aufgehoben  wäre. 


1  Contra  duas  ep.  Pelag.,  IV,  4. 

2  Disput.  II  contra  Faustum. 


206  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

Den  Manichäern  nahe  verwandt  waren  die  Priscillianisten, 
die  Hieronymus1,  Augustinus'2  und  Kaiser  Maximinius  3  ge- 
radezu Manichäer  nennen.  Es  waren  die  ersten  Sektirer,  die  von 
Bischöfen  verfolgt,  von  der  Obrigkeit  verurtheilt,  mit  ihrem 
Stifter  Priscillian  (gest.  385)  ihre  Häresie  mit  dem  Leben  be- 
zahlen mussten.  Auch  die  Priscillianisten  setzten,  gleich  den 
Manichäern,  dem  guten  Principe,  Gott,  ein  selbständiges  böses 
Princip  entgegen,  das  nicht  erst  böse  geworden,  sondern  durch 
sich  selbst  aus  dem  Chaos  entstanden  gedacht  wurde.  Auch 
sie  leiteten  die  Seelen  aus  dem  einen,  die  Leiber  aus  dem 
andern  ab,  daher  sie  in  der  Doppelnatur  des  Menschen,  wie 
im  Naturleben,  das  gute  und  böse,  das  lichte  und  dunkle 
Princip  miteinander  verwebt  erblickten  und  in  dieser  Ge- 
bundenheit und  Beschränkuno;  die  Bedino-uug-  des  Daseins 
fanden.  Den  Menschen  sahen  sie  nach  der  einen  Seite  unter 
das  Chirographum  der  materiellen  Natur,  daher  auch  unter 
siderischen  Einfluss  gestellt,  nach  der  andern  Seite  sahen  sie 
ihm  das  Chirographum  der  geistigen  Natur  aufgedrückt,  das, 
von  den  Engeln  und  sämmtlichen  Lichtseelen  entworfen,  aus 
der  höhern  Lichtregion  stammt.  Die  Aufgabe  des  Menschen 
sei  daher,  beide  Chirographa  auseinanderzuhalten  und  zu  be- 
stimmen, was  dem  einen  und  dem  andern  zugehört.  Wie  die 
Manichäer  betrachteten  auch  die  Priscillianisten  die  ganze 
Weltentwickelung  als  einen  allmählich  sich  entwickelnden 
Process. 

Der  Manichäismus  wTurde  als  Todfeind  der  christlichen 
Kirche  betrachtet  und  zu  diesem  Hasse  trug  die  strenge  Lebens- 
weise der  Manichäer,  die  zu  der  lax  werdenden  klerikalen  Disci- 
plin  im  schrillen  Gegensatz  stand,  nicht  wenig  bei.  Bemerkens- 
werth  und  hervorzuheben  ist  die  Erscheinung:  dass,  obschon 
die  Manichäer  vornehmlich  zu  dem  kirchlichen  Dogma  von 
der  Sünde,  die  im  allgemeinen  als  ein  Widerstreben  gegen 
das  göttliche  Gebot  gefasst  wurde,  im  schroffen  Gegensatz 
gestanden  hatten,  die  kirchliche  ascetische  Praxis  sich  doch 
stillschweigend    zu    der    von    Lactantius4    angebahnten,    zum 


1  Ep.  43  ad  Ctesiphonem. 

2  Ep.  36  ad  Casul. 

3  Ep.  ad  Siricium  bei  Baronius  387,  Nr.  66. 
<  Instit.  div.,  II,  12;  VI,  13;  de  ira  Dei,  15. 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  267 

Manichäismus  sich  hinneigenden  Ansicht  bekannte,  und  den 
Gegensatz  von  Geist  und  Materie,  Seele  und  Leib  offen  hielt, 
wenngleich  der  Gegensatz  nicht  auf  manichäische  Weise  als 
absoluter  hingestellt  ward. 

Die  Polemik  gegen  die  Manichäer  rief  seitens  der  Kirchen- 
lehre eine  genauere  Bestimmung  des  Bösen  in  der  Welt  her- 
vor sowie  die  Scheidung  des  physischen  Uebels  vom  sittlich 
Bösen,  und  es  festigte  sich  die  Ansicht:  dass  die  Uebel  in 
der  Welt  als  Strafe  oder  als  unbegreifliche  Besserunjrsmittel 
zum  heilsamen  Fortschreiten  in  der  Erkenntniss',  zur  Uebung 
in  der  Geduld  im  Hinblick  auf  eine  bessere  Zukunft  zu  be- 
trachten seien.  1 

Auch  die  Ansicht,  dass  die  Engel  Geschöpfe  und  keine 
aus  dem  Wesen  Gottes  emanirte  Aeonen  seien,  wurde  immer 
fester,  wie  es  auch  allgemeine  Annahme  war,  dass  dieselben 
gleich  den  Menschen  mit  freiem  Willen  begabt,  sonach  der 
Sünde  fähig  seien.  Den  Manichäern  und  Priscillianisten 
gegenüber  erklärten  die  Kirchenlehrer  nach  dem  Vorgange 
der  frühern  Periode  selbst  den  Teufel  für  ein  Geschöpf  Got- 
tes, der  aus  eigenem  Willen  von  Gott  abgefallen,  böse  ge- 
worden sei  und  viele  andere  Engel  zum  Abfall  verleitet  habe.2 
Athanasius3  will  den  Fall  des  Teufels  aus  Jesaia  14,  12  be- 
weisen, indem  er  die  betreffenden  Worte:  „Wie  bist  du  vom 
Himmel  gefallen  u.  s.  w."  auf  den  Teufel  bezieht;  dieser 
Kirchenvater  ist  aber  nicht,  wie  Bekker4  gemeint  hat,  der 
erste  Urheber  dieser  Auslegung,  wonach  der  Teufel  auch  Lu- 
cifer  genannt  ward,  da  schon  Eusebius 5  darin  vorangegangen 
war.  Die  Ursache  des  Abfalls  wurde  von  der  herrschenden 
Meinung   in    dem   Hochmuthe  gefunden6  oder  im  Neide7, 


1  Greg.  Nyss.  orat.  catech.,  c.  6;  Gregor.  Naz.  orat. ,  XIV,  30; 
August,  de  civ.  D.  I,  8 — 10;  XI,  9;  de  vera  relig.,  c.  12;  de  mor.  eccl. 
cath.,  c.  11. 

2  Theodoret,  Haeres.  fab.  epit.,  V,  c.  8. 

3  Contra  Arian.  I  u.  II. 

4  !  ezaub.  Welt,  I,  146. 

5  Demonstr.  Evang.,  IV,  9. 

6  Euseb.  demonstr.  evang. ,  IV,  9;  August,  de  vera  relig.,  1,  13;  de 
catechis.  rudib.,  §.  30;  de  civ.  D.,  XII,  c.  6;  Greg.  d.  Gr.  Mor.,  XXI, 
c.  2 ;  XXXIV,  c.  21. 

7  Greg.  Naz.  orat.,  XXXVI,  5;  Gregor.  Nyss.  orat.  catech.,  c.  6; 
Lactant.,  Instit.  d.,  II,  8. 


268  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

oder  in  beiden  zugleich.  1  Dagegen  tritt  in  dieser  Periode 
die  Vorstellung  von  der  sinnlichen  Lüsternheit,  welche  von 
frühern  Lehrern  auf  Grund  der  Auslegung  von  Genes.  6,  2  als 
Anlass  zum  Falle  angenommen  worden,  in  den  Hintergrund 
zurück,  und  obschon  sie  von  einigen2  noch  vorgebracht  wird, 
ist  sie  von  der  Mehrzahl  doch  verworfen.  3  Cyrill  von 
Alexandrien4,  Augustinus5  und  Philastrius  setzen  diese  An- 
sicht geradezu  unter  die  Ketzereien.  6 

Die  Meinung,  dass  die  Dämonen  Körper  haben,  ist  auch 
in  dieser  Periode  aufrecht  erhalten ,  und  nannte  man  sie  auch 
Geister,  so  geschah  dies,  weil  ihre  Leiblichkeit  keine  grobe 
sei.7  Diese  soll  vor  ihrem  Abfall  noch  feiner  gewesen  sein 
und  erst  danach  sich  verdichtet  haben.8 

In  dieser  Zeit  wird  auch  schon  der  Glaube  an  Incuben 
erwähnt,  und  zwar  ausser  bei  Augustinus  und  Chrysostomus 9, 
der  ihn  aber  darum  verwirft,  weil  sich  geistige  Naturen  mit 
körperlichen  nicht  vermischen  können,  auch  bei  Philastrius  10, 
wo  er  den  Fabeln  der  Heiden  und  Dichter  von  ihren  Göttern 
und  Göttinnen  überwiesen  wird.  Bemerkenswerth  ist,  dass 
diese  Vorstellung  von  Incuben,  die  beim  christlichen  Volke 
allgemeine  Aufnahme  gefunden,  auf  der  Südseeinsel  Hamao 
ihre  Analogie  findet,  wo  der  Glaube  herrscht,  dass  die  bösen 
Geister  des  Nachts  den  Frauen  Besuche  machen,  die  nicht 
ohne  Folgen  bleiben  sollen. 1X 

Mehre  Kirchenlehrer  dieser  Periode  behaupten,  dass  die 
Dämonen   den   Dampf  der   ihnen   dargebrachten  Opfer   gierig 


»  Cassian.  Collat.  VIII,  10. 

2  Euseb.   praep.   evang.,  V,   c.  4;    Arabros.,   de   Noe   et  arca,   c.  4; 
Sulpicius  Severus,  Histor.  sacr.,  I,  c.  3. 

3  Cbrysostom.,  Homil.  in  Genes.,  XXII;  Theodoret.  in  Genes,  quaest. 
47;  Haeret.  fab.  epit.,  V,  c.  7. 

4  Contra  Anthropomorphitas,  c.  17 ;  contra  Julianuni,  IX. 

5  De  civ.  Dei,  XV,  c.  23;  Quaest.  in  Genesin. 

6  Phil.  Haer.,  LIX. 

'  Cyrill.  Hieros.  Cat.  XVI,  251  fg. 

8  Augustin.,  De  genes,  ad  lib.  III,  c.  10. 

9  Homil.  XXII  in  Genes. 

10  De  hacres.,  c.  CVII. 

11  Klemm,  Culturgesch.,  IV,  350. 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  0.  Jahrhundert.  269 

einsaugen1,  dagegen  bemerkt  Augustinus:  dass  sie  sich  an  den 
Vergehungen  der  Menschen  ergötzen.  2 

Münscher3  nennt  es  eine  Wiederholung  der  in  der 
vorigen  Periode  herrschenden  Vorstellung;  allein  der  Fort- 
schritt in  der  weitern  Ausbildung  ist  nicht  zu  verkennen, 
der  darin  besteht,  dass  die  Kirchenlehrer  in  diesem  Zeitab- 
schnitte schon  von  Dämonen  opfern  sprechen,  während  im 
vorigen  nur  noch  von  heidnischen  Opfern  die  Rede  war. 

Daneben  werden  die  bösen  Geister  wie  ehedem  noch  im- 
mer als  die  Urheber  des  heidnischen  Cultus  betrachtet,  der 
einer  Anbetung  der  Dämonen  gleichgestellt  wird,  die  auch 
falsche  Orakel  und  betrügerische  Wunderzeichen  veranstalten.4 
Die  Magie,  die  mit  Hülfe  des  Teufels  geschieht,  also  eine 
dämonische  Kunst  ist,  fällt  sonach  mit  dem  Heidenthum  zu- 
sammen, das  mit  dem  Ketzerwesen  sich  deckt,  da  beide  auf 
Abfall  vom  oder  Gegensatz  zum  Christenthum  beruhen.  Die 
Kirche  wirft  daher  alle  zusammen  und  fasst  auch  ihre  Be- 
schlüsse dagegen.  So  das  Concil  von  Illiberi  in  Spanien  im 
Jahre  305;  die  Synode  in  Laodicea  in  Phrygien  im  Jahre  343.5 

Die  Heiden  gelten  also  für  Unterthanen  des  Teufels,  von 
dessen  Herrschaft  Christus  die  Menschen  zwar  erlöst  habe, 
aber  doch  bei  der  Taufe  durch  Exorcismus  ausgetrieben  wer- 
den müsse.  Selbst  die  Tugenden  der  Heiden  sind  nur  glän- 
zende Laster,  behauptete  Augustinus,  was  schon  vor  ihm 
Lactantius  gelehrt  hatte.  6  Der  Teufel  blieb  auch  in  dieser 
Periode  der  Anstifter  zu  Christenverfolgungen7,  der  Ketzereien 
und  deren  Verbreitung  zur  Schädigung  der  christlichen  Kirche 
und  zum  Verderben  derjenigen,  die  des  Teufels  Verführungen 
folgen.  Denn  darüber  war  nur  Eine  Stimme,  dass  der  Teufel 
und  seine  Helfershelfer  ihr  Absehen  darauf  haben:  den  Men- 


1  Firmic.  Matern,  de  errore  profan,  religionum,  p.  456;  Euseb. 
praepar.  evangel.,  V,  c.  2  ;  Basil.  M.  Comment.  in  Jes.  Opp.,  I,  398.  658; 
Chrysost.  de  S.  Babyla  orat.  Opp.  I,  672  fg.;  Cyrill.  Alex,  contra  Jul., 
IV,  124. 

2  Contra  Faust.  Man.,  XX,  e.  22. 

3  Dogmengesch.,  II,  345. 

4  Euseb.  praep.  evang.,  III,  c.  16;  August.,  de  civ.  D.,  II,  c.  24  et  al. 

5  Burchard,  lib.  VI;  Decret.,  c.  26;  Gratian.  can.  4,  0.  XXVI.  qu.  5. 

6  Instit.  div.,  VI,  c.  9;  V,  c.  10. 

7  Augustin.,  de  civ.  D.,  X,  c.  21. 


270  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

sehen  mannichfach  zu  schaden,  theils  durch  Krankheiten,  theils 
durch  deren  Besitznahme,  und  die  einzelnen  Stimmen,  die 
letztere  Erscheinung  medicinisch  zu  erklären  suchten  *,  fanden 
kein  Gehör. 

Von  den  besondern  Arten  teuflischer  Verführungen  wird 
die  Eingebung  böser  Begierden  hervorgehoben.2 
Solcher  Versuchung  war  der  heilige  Victorinus  in  seiner 
Höhle  ausgesetzt,  indem  ihm  der  Teufel  in  Gestalt  eines 
Mädchens  erschienen  war  unter  dem  Vorwande,  sich  im  Walde 
verirrt  zu  haben  und  mit  der  Bitte  um  Herberge  nur  für 
eine  Nacht.  „Denn",  sagte  dieses,  „die  Wölfe  heulen  draussen, 
ich  bin  ein  schwaches  Geschöpf,  und  wenn  ich  von  den  wil- 
den Thieren  zerrissen  werde,  kommt  die  Schuld  auf  dich." 
Der  Heilige  fühlt  Erbarmen  mit  der  Verirrten,  räumt  ihr 
einen  Winkel  seiner  Höhle  ein,  während  er  den  andern  ein- 
nimmt. Allein  der  Heilige  lässt  sich  von  der  in  ihm  rege 
gewordenen  Begierde  hinreissen  und  fällt.  Darauf  tritt  nun 
der  Böse,  nachdem  er  dem  Heiligen  die  Scham  geraubt  hat, 
als  Ankläger  auf  und  macht  dem  Gefallenen  Vorwürfe  über 
seine  That,  woranf  der  Heilige  sich  einer  qualvollen  Busse 
unterzieht.3  Im  Anhange  zu  der  Legende  wird  der  heilige 
Victorinus  durch  das  schöne  Frauenzimmer  zwar  gereizt,  aber 
als  er  im  Begriffe  zu  fallen  ist,  verhöhnt  ihn  der  Teufel 
wegen  seiner  Schwäche,  worauf  der  Heilige  sich  mit  Nesseln 
und  dergleichen  zu  bearbeiten  anfängt.4 

Diese  Wendung,  dass  der  Teufel,  nachdem  ihm  die  Ver- 
führung gelungen  ist,  die  Eolle  des  Anklägers  übernimmt, 
wiederholt  sich  in  den  Legenden  sehr  häufig.  Die  Bedeutung 
des  Anklägers  hat  schon  der  Satan  im  Alten  Testament, 
namentlich  im  Buche  Hiob;  der  christliche  Teufel  erhält  nun 
auch  die  des  Versuchers,  da  die  Verzweiflung  des  Gefallenen 
das  Element  des  Teufels  ausmacht. 

Der  Gewalt  der  Dämonen  verleiht  diese  Periode  eine  um 
so  grössere  Tragweite,  da  sie  ihnen  die  Macht  zuschreibt,  in 
jedem  Augenblicke   an   jedem  Ort  der  Welt  sein  zu  können.5 


1  Der  Arzt  Posidonius  bei  Philostorgius  hist.  eccles.,  VIII,  c.  10. 

2  Cyrill.,  Hierosolym.  Cat.,  II,  24. 

3  Acta  SS.  Boll.  8  Jan. 

4  A.  SS.  Tom.  I,  1105;  10.  Addenda.  Vita  S.  Severini  et  Victorini. 

5  Hilar.  Pictav.  Tract.  in  Psalm.  LXVII,  p.  205.  247. 


9.   Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  271 

Der    berühmte    Canon    episcopi,    der    bald    von    der    im 

4.  Jahrhundert  zu  Ancyra  in  Galatien  abgehaltenen  Synode, 
bald  vom  Papste  Damasus  abgeleitet  wird,  liefert  schon  eine 
Skizze  vom  Hexenwesen,  dessen  Erfindung  dem  Teufel  zu- 
erkannt wird.  Es  heisst:  „Die  Bischöfe  und  ihre  Beigeord- 
neten sollen  mit  allem  Fleisse  dahin  arbeiten,  die  verderblichste, 
vom  Teufel  erfundene  Magie  und  Zauberkunst  in  ihren 
Sprengein  gänzlich  auszutilgen,  und  wenn  sie  ein  Weib  oder 
einen  Mann  darin  finden,  die  diesem  Laster  ergeben  sind,  sie 
austreiben."  „Auch  das  darf  nicht  ausser  Acht  bleiben,  dass 
einige  lasterhafte  Weiber  sich  rückwärts  zum  Satan  wendend 
und  durch  seine  Täuschungen  und  Vorspiegelungen  verführt 
glauben  und  bekennen,  wie  sie  des  Nachts  mit  der  Diana,  der 
Göttin  der  Heiden,  oder  der  Herodias,  im  Gefolge  einer  un- 
zähligen Menge  anderer  Frauen,  auf  gewissen  Thieren  reiten 
und  in  der  Stille  der  Mitternacht  weitausgedehnte  Landstriche 
durchziehen;  dem  Befehle  derselben  als  ihrer  Herrin  dabei  in 
allem  gehorchend  und  in  bestimmten  Nächten  zu  ihrem 
Dienste  aufgerufen  werden."  Der  Kanon  fügt  noch  hinzu: 
Viel  Volks  habe  sich  durch  die  falsche  Meinung  berücken 
lassen,  als  gebe  es  neben  dem  Einen  Gott  noch  andere  Götter, 
da  es  doch  der  Satan  sei,  der,  wenn  er  des  Gemüths  einer 
Frau  sich  bemächtigt,  in  einen  Engel  des  Lichts  sich  um- 
wandelnd, die  Gestalten  verschiedener  Personen  annehme 
und  den  Sinn,  in  dem  er  herrscht,  im  Schlafe  berückend  und 
ihm  bald  Freudiges,  bald  wieder  Trauriges  vorführend,  ihn 
glauben  mache,  alles  das  begebe  sich  nicht  in  der  Seele, 
sondern  am  Leibe.  1 

Dieser  Kanon,  der  die  Nachtfahrten  zwar  für  heidnischen 
Unsinn  erklärt,  wogegen  die  Inquisitoren  des  spätem  Mittel- 
alters die  Realität  der  Hexenfahrten  behaupten,  ist  für  unsern 
Zweck    insofern    schätzbar,    als    er    uns    den    schon    um    das 

5.  Jahrhundert  herrschenden  Volksglauben  kundgibt,  den  die 
Kirche  zwar  als  Aberglauben  bezeichnet,  diesen  aber  doch 
auf  den  Teufel  zurückleitet. 

Schon  regte  sich  auch  die  Vorstellung,  dass  überhaupt  alles 
Böse,   das   der  Mensch   begeht,   vom  Teufel   eingegeben  sei2, 


1  Decret,  Gratian.  P.  II,  Caus.  XXVI,  Qu.  V,  c.  12. 

2  Hilar.  Pictav.  in  Psalm.  CXLI,  p.  542. 


272  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

obgleich  sie  noch  auf  Widerspruch  stiess l ;  dass  der  Teufel 
nach  seinem  Belieben  zwischen  Menschen  unerlaubte  Liebe, 
unbändige  Begierde  anregen  oder  Familienliebe  zerstören,  den 
Muth  zu  Dingen  einflössen  könne,  die  nur  durch  seine  Macht 
zu  vollführen  seien,  Versperrtes  ohne  Schlüssel  zu  öffnen,  den 
Mund  mit  Stillschweigen  zu  schliessen  u.  dgl.2 

Die  grosse  Gewalt,  die  dem  Teufel  von  der  Kirchenlehre 
zugestanden   wurde,    die    nach  Gregor    dem  Grossen   auch  in 
seinem   verdammten   Zustande    als  potentia    sublimitatis    fort- 
wirke, da  er  an  der  Verbreitung  des  Bösen  noch  immer  seine 
Freude  habe3,   erhielt  aber  wieder  eine  Beschrankung   durch 
die  kirchliche  Annahme:    dass   die   Gedanken   des  Menschen 
dem  Teufel  nicht  bekannt   seien  und   er   sie   nur  den   körper- 
lichen   Bewegungen    oder     andern    äussern    Zeichen    absehen 
könne4,    da    er    und    seine    Genossen    den    guten  Engeln  an 
Kenntniss   bei  weitem  nachstehen.  5      Auch   über  die  Zukunft 
eigne  ihm  blosse  Vermuthung,   daher   er  der  Täuschung  aus- 
gesetzt sei.  6      Es   sei  aber   kein  Zweifel,    dass   die   Dämonen 
auf    unsere    Gedanken    und    deren    Beschaffenheit    einwirken 
können,  da  sie  aus  unsern  Aeusserungen ,  Worten  oder  Hand* 
lungen     unsere     Neigungen     abmerken,     die     sie     einflössen, 
und  die  Weise,  wie  dieselben  erweckt  werden,   erkennen  sie 
wieder     aus     unsern     Geberden,     Bewegungen     und     andern 
Aeusserungen.7     Dieselbe  Ansicht,  dass  der  Teufel  unser  In- 
neres nicht  aus  praescientia,  sondern  aus  unsern  Aeusserungen, 
Beweo-un<ien  kenne,  hat  auch  Isidorus  Pelusiota.8 

Die  Macht  des  Teufels  über  den  Menschen  findet  ausser- 
dem an  dessen  Willen  eine  Schranke,  da  es  von  diesem  ab- 
hänge, jenem  zu  folgen  oder  ihn  durch  Widerstand  zu  be- 
siegen.    Besondere  Mittel  dazu  sind  das  Zeichen  des  heiligen 


1  Gennad.  Massil.  de   eccles.  dogmat.  c.  48;    Chrysost.  de  provid.  ad 
Stagirium,  c.  5;  August,  de  advers.  leg.  II,  12  et  al. 

2  Arnobius  adv.  gentes  lib.  I,  eine  Schrift  aus  dem  4.  Jahrh. 
»  Moral.  XXIV,  c.  20;  XXXII,  c.  12.  15. 

4  Gennad.,  I,  c.  48. 

5  August,  de  civ.  D.,  IX,  c.  22. 

c  August,  de  divinit.  daem.,  c.  3  fg. 

7  Abbatis    Sereni     de    mobil,    animae    et    spirit.   nequit.   Collat.  VII, 
c.  XV;  in  Biblioth.  patr.  max.  Tom.  VII,  f.  143.  B. 

8  Epistol.  lib.  III. 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  273 

Kreuzes,  die  Anrufung  des  Namens  Christi,  die  eine 
magische  Kraft  auf  den  Teufel  ausüben.1 

Als  der  Presbyter  Pannichius  mit  seinen  Freunden  beim 
Mahle  sassund  eine  Fliege  seinen  Becher  verunreinigen  wollte  und, 
obschon  er  sie  wiederholt  mit  der  Hand  abwehrte,  doch  immer 
wiederkehrte,  merkte  er,  dass  dies  eine  Nachstellung  des  bösen 
Feindes  sei.  Sofort  machte  er  mit  der  Rechten  ein  Kreuz  über  den 
Becher,  dessen  Inhalt  hierauf  wie  eine  Welle  aufstieg,  dass  der 
Becher  überging  und  die  Flüssigkeit  sich  auf  den  Boden  ergoss. 
Nun  war  es  klar,  dass  der  Teufel  sein  Spiel  getrieben  hatte.2 
Ein  Presbyter  hört,  über  eine  Brücke  gehend,  Stimmen :  „Merge, 
merge,  ne  moreris!"  Eine  andere  antwortet:  „Ich  würde  es 
auch  ohne  deine  Mahnung  thun,  wenn  nicht  etwas  Heiliges 
hinderte;  denn  wisse:  er  ist  mit  dem  heiligen  Segen  versehen, 
und  kann  ich  ihm  darum  nichts  anhaben".  Der  Presbyter 
merkt  nun,  dass  von  ihm  die  Rede  sei;  er  schlägt  ein  Kreuz 
und  die  Gefahr  ist  vorüber.3  Einem  gewissen  Landolphus 
erscheint  der  Teufel  als  heiliger  Martinus.  Als  jener  verlangt, 
er  solle  über'  ihn  das  Kreuz  machen,  verschwindet  dieser  wie 
Rauch.4  Der  Sohn  eines  gewissen  Aquilinus  wird  vom  Teufel 
besessen,  Zaubertränke,  Ligamina  u.  dgl.  wollen  nicht  ver- 
fangen; als  er  aber  zur  Basilika  des  heiligen  Martinus  ge- 
bracht wird,  erfolgt  die  Heilung  sogleich.5 

Hagenbach 6  führt  ein  Gedicht  des  Severus  Sanctus  Ende- 
lechius  de  mortibus  boum7  an,  das  die  magischen  Wirkungen 
des  Kreuzes  gegen  die  dämonischen  Einflüsse  auf  die  Thier- 
welt  anschaulich  macht: 

Signum  quod  perhibent  esse  crucis  Dei, 
Magnis  qui  colitur  solus  in  urbibus 
Christus,  perpetui  gloria  numinis, 
Cujus  filius  unicus. 


1  Athanas.  contra  gentes,  p.  2;  de  incarnat.  verbi  D.,  c.  48;    Cyrill., 
Hieros.  Catech.  IV,  XIII,  36. 

2  Gregor.  Turon.  Mir.  in  glor.  Martyr.,  I,  107. 

3  Greg.  Tur.  de  glor.  confess.,  31. 

*  Greg.  Tur.  Mirac.  Martini,  II,  c.  18. 

5  A.  a.  0.,  c.  27. 

6  Lehrb.  der  Dogmengesch.,  S.  287,  4.  Aufl. 

7  Ed.  Piper  (Gott.  1835),  p.  105. 

Eoakoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  Jg 


274  Erster  Abschnitt:   Per  religiöse  Dualismus. 

Hoc  signum  mediiß  frontibus  additum 
Cunctorum  peeudum  certa  salus  fuit. 
Sic  vero  Deus  hoc  nomine  praepotens 
Salvator  vocitatas  est. 

Fugit  continuo  saeva  lues  greges, 
Morbis  nil  lieuit.     Si  tarnen  hunc  Deum 
Exorare  velis,  credere  sufficit: 
Votum  sola  fides  juvat. 

Nebst  ,den  aus  der  vorigen  Periode  bekannten  Schutz- 
mitteln gegen  den  Teufel  wird  besonders  das  Taufwasser, 
der  Heilige  Geist1  und  die  Wachsamkeit  empfohlen.2 
In  dieser  Periode  wird  auch  den  Reliquien  von  Heiligen 
grosse  Kraft,  den  Teufel,  seine  Dämonen  und  deren  Wirk- 
samkeit abzuwehren,  zuerkannt,  und  die  Legende  weiss  davon 
Gebrauch  zu  machen.  Gregor  von  Tours  erzählt  in  dieser 
Beziehung  von  einem  Stückchen  Wachs  vom  Grabe  des  hei- 
ligen Martinus.  Als  durch  den  Neid  des  Teufels  ein  Haus 
in  Brand  gerathen,  warf  der  Besitzer  der  Reliquie  das  Stück- 
chen Wachs  in  die  Flammen,  welche  sofort  erloschen.3  Dass 
der  Exorcismus  in  dieser  Zeit  in  Gebrauch  war,  ist  be- 
kannt, dass  er  aber  auch  schriftlich  geübt  und  der  Teufel 
selbst  brieflich  ausgetrieben  werden  konnte,  will  die  Legende 
vom  heiligen  Eugendus  aus  dem  6.  Jahrhundert  bestätigen. 
Einer  Besessenen  wurden,  bemerkt  die  Legende,  „wie  es  der 
Brauch  war,  exorcismorum  scripta"  zur  Heilung  um  den 
Nacken  gehängt.  Allein  der  Teufel  will  nicht  weichen,  son- 
dern verräth  vielmehr  die  geheimen  Sünden  derjenigen,  von 
welchen  die  Schriften  herrühren.  Er  gibt  aber  selbst  an,  dass 
er  sich  nur  durch  einen  Brief  des  heiligen  Eugendus  vertreiben 
lasse.  Dieser  wird  davon  benachrichtigt  und  schreibt  wie 
folgt:  „Eugendus  servus  Christi,  in  nomine  Dei  nostri  Jesu 
Christi,  patris  et  Spiritus  saneti,  praeeipio  per  scripturam  istam, 
Spiritus  gulae  et  irae  et  fornicationis  et  amoris  et  Lunatice 
et  Dianatice,  et  meridiane  et  diurne  et  nocturne  et  omnis  Spi- 
ritus immunde,  exi  ab  nomine,  qui  istam  scripturam  secum 
habet.     Per  ipsum  te  adjuro  verum  filium  Dei  vivi,  exi  velo- 

i  Greg.  Naz.  Orat.  XI,  10;  XXIV,  10. 

2  Antiochi  Homil.  CIV,  in  Bibl.  patr.  max.  Tom.  XII,  275,  C:  „Opti- 
mum contra  daemones  scutum  vigilia". 

s  Gregor.  Türen.  Mirac.  Martini,  II,  c.  26. 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert,  275 

eiter  et  cave  ne  amplius  introeas  eam,  Amen  et  Alleluja." 
Der  Ueberbringer  des  Briefes  hatte  kaum  den  halben  Weg 
der  Reise  zurückgelegt,  als  der  Teufel  zähneknirschend  und 
heulend  ausfuhr,  bevor  man  das  Haus  betreten  hatte.1 

Die  Existenz  des  Uebels  und  des  Bösen,  das  unablässig 
fortwirkende  Getriebe  des  Teufels  und  seiner  Dämonen,  suchte 
die  katholische  Kirchenlehre  mittels  der  göttlichen  Zu- 
lassung zu  erklären,  was  schon  in  der  frühern  Periode 
Clemens  von  Alexandrien2  und  Origenes3  gethan  hatten,  auf 
Grund  der  gänzlichen  Unterworfenheit  des  Teufels  und  seiner 
Dämonen  unter  die  göttliche  Macht,  wogegen  kein  Zweifel 
zu  erheben  sei.4  Diese  Erklärung  steht  in  Verbindung  mit 
der  Lehre  von  Gott,  wonach  dieser  der  Urheber  des  Bösen 
nicht  sein*  könne,  indem  das  moralisch  Böse  als  das  ow  b'v 
nicht  von  Gott,  dem  Seienden,  abgeleitet  werden  dürfe.5  Es 
sei,  wenn  es  unter  Gottes  Zulassung  geschieht,  durch  den 
freien  Willen  des  Menschen  bedingt,  und  das  physische  Uebel 
werde  zum  Besten  desselben  verhängt,  wo  es  allerdings  nach 
der  vorgänglichen  Auffassung  des  Origenes6  die  Bedeutung 
eines  Strafübels  haben  könne.  Die  Frage:  woher  das  Böse 
in  der  Welt  und  wie  es  mit  der  Weisheit  und  Güte  Gottes 
zu  vereinigen  sei,  war  auch  innerhalb  dieser  Periode  ein 
Hauptgegenstand  der  Untersuchung  der  Kirchenlehrer.  Sie 
stimmten  mit  Philosophen  der  Griechen  und  Römer  darin 
überein,  dass  der  Grund  des  Bösen  nicht  in  der  Gottheit  ge- 
legen sein  könne,  wie  auch  die  Manichäer  und  einige  Gno- 
stiker  die  unvollkommene  Welt  nicht  von  dem  vollkommenen 
Gott  ableiten  wollten;  die  Kirchenlehrer  bestritten  aber  die 
Ansicht,  das  Böse  von  einem  selbständigen  bösen  Wesen  her- 


1  Acta  SS.  Boll.  2  Jan. 

2  Strom.,  IV. 

3  De  princ,  III,  c.  2.  7. 

4  Chrysost.  in  2  Timoth.  Homil.  VIII;  Augustin.,  Enchirid.,  c.  95: 
„Nee  dubitandum  est  Deum  faeere  bene  etiam  sinendo  fieri  quaeeun- 
que  fiunt  male";  Cyrill.,  Hierosolym.  Catech.,  VIII,  4;  S.  P.  N.  Maximini 
Cap.  Oeconomicorum,  de  virt.  et  vitio,  Centuria  I,  c.  LXXXIII:  „Sine 
permissu  Dei  ne  ipsi  quidem  daemones  ulla  in  re  possunt  inservire  dia- 
bolo";  in  Bibl.  patr.  max.,  Tom.  XII,  445. 

5  Orig.  in  Joann.,  Tom.  II,  7;  Athanasius  contra  gentil.;  Basil.  M.  in 
Hexaem.  Hom.  II,  4;  Greg.  Nyss.  Orat.  Catech.,  e.  6. 

6  De  prinr.,  II,  c.  5. 

18* 


276  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

rühren  zu  lassen,  wollten  es  jedoch  auch  nicht  aus  der  Materie 
hervorgegangen  wissen.  Sie  fanden  daher  den  Ausweg,  auf 
dem  sie  sich  den  Stoikern  näherten:  das  Böse  für  scheinbar 
zu  erklären,  für  blosse  Abwesenheit  des  Guten.  Nach  dieser 
Fassung  erschien  das  Böse  in  der  besten  Welteinrichtung 
nothwendig,  damit  das  Gute  wirklich  werden  könne,  und  zu 
diesem  Zwecke  konnte  es  auch  die  Weisheit  Gottes  zulassen. 
Die  Kirchenväter  fixirten  daher  den  Unterschied  zwischen 
physischem  Uebel  und  moralisch  Bösem,  und  mehrere  erklärten, 
gleich  den  Stoikern,  nur  die  der  Tugend  widersprechende 
Gemüthsbesehaffenheit  für  das  wirklich  Böse,  alles  übrige, 
wie  Armuth,  Krankheit,  Tod  u.  dgl.  nur  für  scheinbar  böse.1 
Auch  die  irdischen  Güter:  Reichthum,  Ehre  u.  dgl.,  seien 
keine  wahren  Güter  zu  nennen,  daher  auch  deren  Mangel 
nicht  böse  genannt  werden  solle.  Wie  es  zur  Vollkommenheit 
des  W eltganzen  gehört,  dass  Geschöpfe  mancherlei  Art,  höhere 
und  niedere,  vorhanden  seien2,  so  sei  auch  das  Böse  in  der 
Welt  nothwendig,  da  sie  aus  entgegengesetzten  Dingen,  aus 
Licht  und  Finsterniss,  Leben  und  Tod  zusammengesetzt  ist. 
Dies  gelte  von  der  physischen  wie  von  der  moralischen  Welt. 
Die  Tugend  könnte  nicht  erkannt  werden,  wenn  es  keine 
Laster  gäbe,  sie  könnte  nicht  vollkommen  sein,  wenn  sie  nicht 
durch  das  Entgegengesetzte  geübt  w7ürde.  Wir  können  die 
Beschaffenheit  des  Guten  nur  aus  dem  des  Bösen  und  umge- 
kehrt erkennen.  Gott  hat  darum  das  Böse  nicht  ausge- 
schlossen, damit  die  Tugend  möglich  werde.  Denn  wenn  die 
Tugend  darin  besteht,  mit  dem  Bösen  und  dem  Laster  zu 
kämpfen,  so  leuchtet  ein,  dass  es  keine  Tugend  gäbe,  wenn 
nicht  das  Böse  und  das  Laster  vorhanden  wären.  Eben  da- 
mit die  Tugend  kämpfen  und  vollkommen  werden  könne, 
lässt  Gott  ihren  Gegensatz  stehen:  Wie  wäre  die  Geduld 
ihrem  Wesen  und  Namen  nach  möglich,  wenn  es  nicht  zu 
dulden  gäbe?  Wie  würde  die  Gott  allein  sich  weihende 
Frömmigkeit  Lob  verdienen,  wenn  kein  Wesen  existirte,  das 
von  Gott  abtrünnig  zu  machen  suchte?  Daher  gestattete  Gott, 
dass  es  mehrere  mächtigere  Ungerechte   gebe,  damit  sie  zum 


1  Basilius   Homil.   Quod   Deus  non  sit  auctor  peccati.      Nemesius  de 
natura  hominis,  c.  44,  p.  352. 

2  August,  de  lib.  arb.,  III,  c.  9. 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  277 


Bösen  nöthigen  könnten  und  die  Tugend  durch  ihre  Selten- 
heit einen  desto  grössern  Werth  erhalte.  l  Das  moralisch 
Böse  hat  also  seinen  Grund  in  der  Freiheit  des  Menschen, 
und  wenn  dieser  böse  ist,  so  fällt  die  Schuld  auf  ihn.  Auch 
der  Teufel  ist  aus  freiem  Willen  abgefallen.  Dies  war  die 
allgemeine  Ansicht.2  Ueber  den  Willen  hinaus  darf  man 
keine  Ursache  der  Sünde  suchen.  3  Die  Verführungen  und 
Gelegenheiten  zur  Sünde  sind  aber  da,  um  unsern  Gehorsam 
gegen  Gott  zu  üben  und  uns  durch  Besiegung  solcher  Reizun- 
gen vollkommener  zu  machen. 

Dieser  Punkt  wird  von  den  Kirchenvätern  besonders  auf 
die  Verführungen  des  Teufels  bezogen:  Gott  habe  den 
Teufel  deswegen  nicht  vertilgt,  damit  wir  mit  ihm  kämpfen, 
in  beständiger  Wachsamkeit  erhalten  werden,  um  nicht  in 
Trägheit  zu  versinken.  4  Dem  Teufel  Widerstand  leisten  hat 
gleiche  Bedeutung  mit:  aller  Art  Sünden  widerstehen,  die  als 
seine  Werke  zu  betrachten  sind.  Zur  Pompa  Diaboli  ge- 
hören: „in  theatris  spectacula,  in  hypodromo  cursus  equorum, 
et  venationes,  et  reliqua  ejus  modi  vanitas".5  Die  Kraft  zu 
widerstehen  ist  aber  der  Beschaffenheit  des  Herzens  angemes- 
sen, die  von  Gott  verliehen  ist.  Denn  Gott  weiss,  was  einer 
leisten  kann ,  und  danach  muss  die  feindliche  Macht  gespannt 
oder  nachgelassen  werden.  6 

Merkwürdig  sind  die  Kämpfe  des  heiligen  Antonius,  weil 
sich  die  Vorstellungen  vom  Teufel,  die  bereits  im  3.  und 
4.  Jahrhundert  gangbar  waren,  darin  abspiegeln.  Athanasius 
hat  seine  Nachrichten  über  den  Heiligen,  dessen  Leben  er 
ausführlich  beschreibt,  von  Mönchen,  die  ihn  persönlich  ge- 
kannt haben. r  Der  Heilige  schildert  zuerst  den  lieblichen 
Anblick  der  heiligen  Engel,  die  sanft  und  still  einherkommen 


i  Lactant.  div.  iustit.,  II,  c.  8.  12;  V,  c.  7. 

2  Tit.  Bostrens.  contra  Manich.  II,  in  Canisii  lectionib.  antiqu.  Basil.  II; 
Augustin.  de  lib.  arb.,  III. 

3  August,  de  lib.  arb.,  III,  c.  17. 

*  Cyrill.  Hierosolym.  Catech.  VIII;   vgl.  Chrysost.  de  provid.  ad  Sta- 
girium,  I,  c.  4. 

5  Cyrill.  Hierosolym.  Catech.  mystagogica,  I. 

6  Macarii   Senioris   Aegyptii  Homilia  XXVI;    Bibl.   max.,    Tom.    IV, 
f.  137,  B. 

7  Athanas.,  Vita  S.  Antonii  M.,  c.  VI— XI. 


278  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

und  dem  Herzen  ein  freudiges  Vertrauen  einflössen.    Dagegen 
ist  das  Angesicht  der  bösen  Geister  grauenhaft,  ihre  Stimme 
schrecklich,  ihre  Bewegungen  gleichen  denen  von  verbrecheri- 
schen  Menschen    und    jagen    der  Seele   Furcht,    den    Sinnen 
aber  Verdruss   und  Trägheit  ein.     Den  Einsamen   überkommt 
der    Hass    des    Christenthums ,    die  Erinnerung    an   die  Welt, 
böse  Begierde,  Erschlaffung  in  aller  Tugend  und  Stumpfheit 
des  Herzens.     Folgt  auf  den  Schrecken  Freudigkeit  und  Ver- 
trauen zu  Gott   und   unaussprechliche  Liebe:    so   ist   dies    ein 
Zeichen,   dass  Hülfe  von  oben   gekommen,    da   die  Sicherheit 
der  Seele  ein  Beweis  der  gegenwärtigen  Majestät  Gottes  ist; 
bleibt    aber   die  Furcht   un wandelbar,    so   ist    der   Feind    zur 
Stelle,  der  nicht  ablässt,  den  Menschen  ins  Verderben  zu  brin- 
gen.    Der    heilige  Antonius    erörtert   weiter    das  Wesen    und 
die  Art  der  bösen  Geister,    wie   sie   sich    nach    ihrer   Bosheit 
vielfach  abstufen,  besonders  allen  Christen  feindselig  sind,  alle 
Fallstricke   legen,    nach    jeder   Niederlage    um    so    grimmiger 
wiede.rkehren,  bald  mit  Drohungen,  bald  mit  Versprechungen, 
bisweilen   in  Engel   des   Lichts    verkleidet   mit  lieblichem  Ge- 
sänge nahen,   bald  zu  übertriebenen  Tugendübungen   aneifern, 
.bald   auf  mannichfache   Art  stören,    zuweilen  Künftiges  weis- 
sagen,   um  sich  Zugang   zu   verschaffen,    aber   stets   betrügen 
und  nie  Wahrheit  reden.    Zuletzt  erzählt  der  heilige  Antonius: 
in  welchen  Gestalten   und  Weisen   der  Teufel   ihn   selbst  ver- 
sucht  habe.     Zuerst  wollte   er    den   Heiligen   von   der  Ascese 
abhalten,  indem  er  ihn  an  seinen  frühern  Besitz,  an  die  Sorge 
für  seine  Schwester,  an  seinen  vornehmen  Stand,  an  den  Ge- 
nuss  erinnerte.     Denn  der  Heilige  war  aus  edelm  Geschlechte 
und  reich,  hatte  aber  seine  Güter  freiwillig  verschenkt.    Dann 
suchte  ihn   der  Teufel   in   Gestalt    eines   schönen   Weibes   zur 
Wollust   zu    verführen.      Ein   andermal   warf    ihm    der  Teufel 
eine    ungeheure  Menge  Gold   auf  den  Weg,    worüber  jedoch 
der  Heilige  mit  Abscheu  hinwegsprang.     In  einer  Nacht  um- 
ringte   ihn   eine    ganze    Schaar    von  Höllengeistern,    die    ihm 
eine    Menge    Wunden    beibrachte,    sodass    er    ganz    erschöpft 
auf  dem  Boden  liegen  blieb.     Dann   hörte   er    ein   furchtbares 
Getöse,    die   Mauern   thaten    sich    auf  und    eine   Schaar   von 
Teufeln    unter    der   Gestalt    von   Löwen,    Bären,    Leoparden, 
Schlangen  u.  dgl.    stürmte    auf  ihn    ein    und    packte   ihn    an. 
Der  Heilige  erwiderte  aber  nur:    „Das  Vertrauen  auf  Gott  ist 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  270 

unser  Siegel  und  Sehutzwehr."  Da  drang  durch  das  geöff- 
nete Dach  ein  Lichtstrahl  auf  ihn  herab  als  Offenbarung 
Gottes,  welche  den  Teufel  verscheuchte.  Er  richtete  an  die 
Erscheinung  die  Frage:  „Warum  erschienst  du  nicht  gleich 
anfangs  und  lindertest  meine  Schmerzen?"  Eine  Stimme 
antwortete:  „Ich  war  zugegen,  Antonius,  zögerte  aber,  um 
deinen  Kampf  anzuschauen ,  und  da  du  nicht  unterlegen  bist, 
so  werde  ich  stets  dein  Helfer  sein  und  deinen  Namen  an 
allen  Orten  berühmt  machen."  —  Auch  dem  heiligen  Martinus 
erschien  der  Teufel  oft  und  in  verschiedener  Gestalt,  der  dem 
Heiligen  zwar  nichts  anhaben  konnte,  ihn  aber  doch  neckte. 
Er  sah  ihn  zuweilen  in  der  Gestalt  des  Jupiter,  meistens  als 
Mercur,  sehr  oft  als  Venus  oder  Minerva.  Der  Heilige  schützt 
sich  immer  mit  dem  Zeichen  des  Kreuzes.  Einmal  kommt 
der  Teufel  mit  einem  blutigen  Ochsenhorn  in  der  Hand  mit 
ungeheuerm  Getöse,  zeigt  die  blutige  Rechte  schadenfroh 
rufend:  „Wo  ist,  Martin,  deine  Tugend;  einen  von  den  Deini- 
gen  habe  ich  eben  getödtet."  Es  stellt  sich  heraus,  dass  von 
den  Mönchen  einer  fehlt,  ein  gedungener  Bauer,  der  mit 
seinem  Wagen  Holz  herbeiführen  sollte  aus  dem  Walde,  wird 
halbtodt  gefunden;  er  kann  nur  noch  aussagen,  dass  einer 
der  vorgespannten  Ochsen  ihn  gespiesst  habe,  worauf  er  stirbt. 
„Videtis  quod  judicio  Domini  diabolo  data  fuerit  potestas." l 
Bemerkenswerth  ist  das  Hineinragen  des  römischen  Heiden- 
thums  in  die  christliche  Legende. 

Nach  der  in  dieser  Periode  herrschenden  Ansicht  kann 
zwar  Gott  nicht  Urheber  des  Bösen  sein,  es  kann  aber  auch 
nicht  ohne  Gottes  Zulassung  geschehen.  2  Die  Kirchenväter 
bedienen  sich  daher  der  Unterscheidung  zwischen  Wirkung 
und  Zulassung  (svspyeia  und  auyx.wp^ö'-?)?  wonach  Gott  alles 
ordnet  und  zwar  einiges  wirkend,  anderes  zulassend,  sodass 
alles  Böse  aus  unserm  Willen,  das  Gute  aus  seinem  und  un- 
serm  Willen  geschehe,  dass  Gott  nicht  alles  wirke,  obschon 
er  alles  wisse.  3  Leiden  werden  von  den  Kirchenvätern  als 
Uebungsmittel  zur  Tugend  vorgestellt,  und  die  Zulassung  des 


1  Sulp.  Sev.  V.  Mart. 

2  August,  de  divers,  quaestiou.  qu.  3. 

3  Chrysost.  Hom.  VIII   in   2  eap.   ad  Thnoth. ;    Augustin.  Enchir.   ad 
Laur.,  c.  94. 


280  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Bösen  ist  daher  heilsam,  theils  zur  Entwiekelung  der  Tugend, 
theils  um  durch  den  Abstand  des  Guten  vom  Bösen  den 
Werth  des  erstem  deutlicher  in  die  Augen  springen  zu 
lassen. ' 

In  dieser  Periode  finden  wir  auch  schon  den  Glauben: 
dass  den  verschiedenen  Ordnungen  der  höllischen  Geister  ge- 
mäss eine  entsprechende  Kraft  zu  deren  Austreibung  ange- 
wendet werden  müsse.  Die  bösen  Geister  niedern  Rangs 
können  von  den  Starken  im  Glauben  verscheucht  werden, 
die  der  obersten  Stufe  weichen  aber  nur  den  Demut  Ingen. 
Es  hängt  diese  Anschauung  mit  dem  bereits  herrschenden 
Mönchsgeiste  des  Zeitalters  zusammen.  Hieronymus  erzählt  2 
einen  Fall,  wo  der  heilige  Paulus  einen  Teufel  austrieb,  der 
selbst  vor  dem  heiligen  Antonius  nicht  hatte  fliehen  wollen. 
Als  dieser  den  Besessenen  angesehen,  sagte  er  zu  denen, 
die  den  Patienten  führten:  dies  ist  nicht  meine  Sache,  gegen 
diese  Klasse  von  Dämonen  habe-  ich  keine  Gewalt ,  das  ist 
Sache  der  Gnade  Paul's  des  Einfältigen.  Er  führte  hierauf 
die  Leute  zu  diesem  hin,  Paulus  verrichtete  ein  wirksames 
Gebet  und  befahl  im  Namen  des  heiligen  Antonius  dem  un- 
reinen Geiste  auszufahren.  Dieser  aber  rief:  „Mitnichten, 
Trunkenbold,  Lügner,  Wackelkopf,  werde  ich  ausfahren!" 
Paulus  wiederholte  die  Aufforderung,  erhielt  aber  nur  Schimpf- 
worte gegen  sich  und  den  heiligen  Antonius.  Da  sagte  der 
Alte  zum  dritten  mal:  „Entweder  du  gehst,  oder  ich  sage  es 
Christo,  und  der  wird  machen,  dass  dir  weh  geschieht."  Da 
der  Dämon  hartnäckig  blieb,  ging  Paulus  aus  seiner  Zelle  in 
die  brennende  Mittagshitze  des  ägyptischen  Himmels  und 
gleich  einer  Säule  stehend  betete  er  zum  Herrn,  ihm  be- 
theuernd: „Wahrlich  ich  wrerde  nicht  von  der  Stelle  gehen 
noch  Speise  oder  Trank  nehmen  und  sollte  ich  darüber  des 
Todes  werden,  bis  du  den  bösen  Geist  ausgeworfen  hast." 
Die  Folge  war,  dass  der  Böse  wich,  mit  dem  Rufe:  „Ich  gehe, 
ich  gehe,  ich  leide  Gewalt ;  ich  eile  und  werde  nimmer  wieder- 
kehren." 

Von   der    grossen   Menge   heidnischer   Elemente,    die   im 


1  August.  Enchir.,  c.  27;  vgl.  De  lib.  arb.  III,  c.  5— (I. 

2  Vita  S.  Pauli  simplic.  VII,  Mart.  II. 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  G.  Jahrhundert,  281 

Volke  herrschten,  wo  Amulette  zur  Heilung  von  Krankheiten, 
Abwehr  von  Unglücksfällen  üblich  waren,  wurden  viele  ins 
Christliche  übersetzt.  So  entstand  der  Brauch,  bei  einer  wich- 
tigen Unternehmung,  deren  Ausgang  man  vorherwissen  wollte, 
die  Bibel  aufzuschlagen  und  die  erste  sich  darbietende  Stelle 
oder  die  Worte  der  Heiligen  Schrift,  die  beim  Eintritte  in 
die  Kirche  eben  gesungen  oder  vorgelesen  wurden  als  Orakel 
zu  deuten.  Als  Chlodwig  (466 — 511)  die  Westgothen  in  Gallien 
bekriegen  wollte,  bat  er  Gott,  ihm,  wenn  er  die  Martinkirche 
betreten  werde,  den  glücklichen  Ausgang  des  Kriegs  zu  offen- 
baren, und  da  eben  die  Worte  Ps.  18,  40.  41  gesungen  wur- 
den, so  betrachtete  dies  der  König  als  ein  sicheres  Orakel, 
wodurch  ihm  der  Sieg  verheissen  werde,  und  der  Sieg,  den 
er  errang,  bestärkte  ihn  in  seinem  Glauben.  J  Auf  den  Grä- 
bern der  Heiligen  pflegte  man  auch  Bücher  der  Heiligen 
Schrift  niederzulegen,  nach  vorhergegangenem  Beten  und 
Fasten  aufzuschlagen  und  die  zuerst  wahrgenommene  Stelle 
als  ein  durch  den  Heiligen  gegebenes  Orakel  zu  betrachten. 
Dies  waren  die  sogenannten  Sortes  sanctorum.  Der  Glaube 
niuss  tief  im  Volke  gewurzelt  haben,  da  die  Synoden  wieder- 
holt Beschlüsse  dagegen  fassten  2,  und  gibt  den  Beweis,  dass 
man  den  heiligen,  sowie  den  biblischen  Schriften  eine  magische 
Kraft,  und  zwar  eine  der  teuflischen  Gewalt  entgegengesetzte, 
zuschrieb.  Daher  der  ätzende  Antagonismus  des  Teufels  geo-en 
die  Heiligen  und  die  sollicitirende  Wechselwirkung  auf  die 
Ausbildung  des  Glaubens  an  beide. 

Der  einst  von  Origenes  geäusserten  Meinung:  dass  der 
Teufel  schliesslich  noch  sich  bessern  könne  und  hiermit  diesem 
die  Aussicht  auf  einen  glücklichen  Zustand  eröffnet  ward, 
welcher  Ansicht  auch  Gregor  von  Nyssa 3,  Didymus  von 
Alexandrien  u.  a.  beigestimmt  hatten,  stellte  sich  nun  die 
Behauptung  der  ewigen  Bestrafung  des  Teufels  schroff  ent- 
gegen und  wurde  in  dieser  Periode  zur  herrschenden  Kirchen- 
lehre erhoben.  So  konnte  Orosius  klagen:  dass  einige  den 
Origenianischen    Irrthum     wieder    aufwärmen    wollten 4    und 


1  Gregor.  Turonens.  hist.,  II,  c.  37. 

2  Das  erste  Concil  zu  Orleans  511,    das  zu  Auxerre  578,  und  andere 
späterer  Zeit, 

3  Orat.  Catech.,  c.  26. 

*  Opp.  Aug.,  Tom.  VIII,  609. 


2,^2  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Döulismus. 

Cyrill  hält  den  Teufel  für  unbeugsamen  Herzens  und  unver- 
besserlichen Willens  *,  womit  alle  andern  Kirchenlehrer  über- 
einkommen. Schon  Theophilus  führt  in  seinem  Sendschreiben 
unter  den  verschiedenen  Irrthümern  die  Befreiung  des  Teufels 
an  2,  Hieronymus  3  und  Augustinus  4  bekämpften  die  Orige- 
nianische  Irrlehre,  und  im  6.  Jahrhundert  wurde  sie  durch  den 
Kaiser  Justinian  und  die  von  ihm  veranstaltete  Synode  nach- 
gerade verdammt.  5 

Bei  einer  vergleichenden  Uebersicht  dieses  Zeitraums  mit 
dem  vorhergehenden  wird  die  Weiterentwickelung  des  Glau- 
bens an  den  Teufel  nicht  entgehen.  Die  katholische  Kirchen- 
lehre, die  in  der  vorigen  Periode  blos  Schulen  gegenüber, 
als  welche  die  gnostischen  Systeme  zu  betrachten  sind,  zu 
kämpfen  hatte,  musste  in  diesem  Zeitabschnitte  sich  gegen 
den  Manichäismus  zu  behaupten  suchen,  der  ihr  als  wirk- 
liches Religionssystem,  ja  nahezu  als  eine  Gegenkirche  gegen- 
überstand. Aus  der  Polemik  der  Kirchenlehre  mit  dem 
Manichäismus  ging  die  begriffliche  Bestimmung  der  Existenz 
des  physischen  Uebels  und  dessen  Unterscheidung  vom  mora- 
lisch Bösen  hervor.  Im  Zusammenhange  damit  steht  die  Vor- 
stellung vom  Teufel,  und  die  Lehre  über  ihn  war  in  dieser 
Periode  besonders  in  soteriologischer  Beziehung  von  Wichtig- 
keit. Die  Ansicht  der  frühern  Periode  von  einem  betrügeri- 
schen Tausche,  den  Gott  mit  dem  Teufel  getroffen  habe,  die 
zwar  auch  noch  in  diesem  Zeiträume  Vertreter  fand,  nament- 
lich an  Gregor  von  Nyssa  6  und  besonders  durch  Augustin 
modificirt  wurde  7,  ward  doch  allmählich  in  den  Hintergrund 
gedrängt  durch  die  Vorstellung:  dass  durch  den  Tod  Jesu 
die  Schuld  der  Menschen  an  Gott  abgetragen  und  zwar  noch 
mehr  als  das  Schuldige  gebüsst  worden  sei,  welche  Ansicht 
nach  dem  Vorgange  des  Athanasius  in  dieser  Zeit  sich  fest- 
setzte. 8 


i  Cyrill.  Hieros.  Catech.,  IV,  51. 

2  Mansi  Coli.  Conc,  III,  982. 

3  Ep.  ad.  Avitum,  Opp.,  Tom.  II,  102;  ad  Pammach.,  p.  112. 

4  Ad  Orosium  contra  Priscill.  et  Orig.,  c.  5  sequ. ;  de  civ.  Dei,  XXI, 
17. 

5  Mansi  ampliss.  coli,  conc,  Tora.  IX,  399.  518. 

6  Orat.  Catech.,  c.  22—26. 

7  Augustin.  de  trinit.,  XIII. 

s  Athanas.,  De  incarnat.  c.  G  sequ. 


{).    Der  Teufel  vom  4.  bis  0.  Jahrhundert.  283 

Ein  anderes  Moment  in  der  Entwickelung  der  Vorstellung 
vom  Teufel,  das  sich  in  dieser  Periode  bemerklich  macht,  ist: 
dass  die  in  der  Bibel  noch  unbestimmten  und  schwankenden 
Vorstellungen  sich  fester  zusammenfassen  und  bestimmte  Ge- 
stalt gewinnen.  Die  Kirchenlehrer  der  vorigen  Periode  hatten 
den  Teufel  zwar  schon  mit  einem  Leibe  ausgestattet,  der  dem 
Stoffe  nach  zwischen  der  Feinheit  der  Engelsleiber  und  dem 
groben  menschlichen  Körper  in  der  Mitte  stehen  sollte;  die 
gegenwärtige  Periode  hingegen  verleiht  ihm  schon  ausdrück- 
lich die  menschliche  Gestalt,  in  weiche  auch  die  Mani- 
chäer  ihren  Dämon,  den  Repräsentanten  der  Materie,  des 
Bösen,  kleideten.  Es  soll  nicht  behauptet  werden,  dass  die 
christlich-kirchliche  Anschauung  die  menschliche  Gestalt,  in 
der  sie  den  Teufel  existiren  Hess,  einfach  dem  manichäischen 
Dämon  abgeborgt  habe,  da  die  menschliche  Vorstellung  stets 
Elemente  vom  Menschen  an  sich  tragen  muss,  und  ein  Wesen, 
das  ursprünglich  mit  Freiheit  begabt,  durch  den  Abfall  von 
Gott  böse  geworden,  wie  der  Mensch,  als  Träger  des  vom 
Menschen  ausaehenden  Bösen  oder  des  den  Menschen  betref- 
fenden  Bösen,  unmöglich  in  eine  andere  als  die  menschliche 
Gestalt  o-efasst  werden  konnte.  Die  Ansicht  wird  aber  stehen 
können:  dass  der  Kampf  mit  dem  Manichäismus  in  dem  Sinne 
sollicitirend  auf  die  Gestaltung  des  christlichen  Teufels  ge- 
wirkt habe,  als  sich  gerade  von  dieser  Zeit  ab  die  Vorstellung 
von  dessen  menschlicher  Gestalt  festsetzte. 

Nach  Sulpicius  Severus  1  erscheint  der  Teufel  dem  Heili- 
gen Martinus  als  Christus  in  pomphaftem  Gewände,  und  da 
dieser  Heilige  seines  Scharfsinns  wegen,  mit  dein  er  den 
Teufel  „qualibet  imagine"  zu  erkennen  vermochte,  besonders 
gerühmt  wird,  so  muss  zu  der  Zeit 3  die  Vorstellung  von  der 
Vielgestaltigkeit  des  Teufels  schon  sehr  verbreitet  gewesen 
sein.  Er  nimmt  auch  oft  die  Gestalt  eines  Engels  des  Lichts 
an,  um  Unschuldige  zu  hintergehen.  3  Dem  Diakonus  Secun- 
dellus  erscheint  der  Teufel  ebenfalls  in  der  Gestalt  des  Herrn, 
und  sagt:  „Ego  sum  Christus  quem  quotidie  deprecaris,  jam 
enim  sanetus  effectus    es  et  nomen  tuum  libro    vitae   cum   re- 


1  Dial.  I,  24. 

2  Sulpicius,  363  bis  Anfang  des  5.  Jahrhunderts. 

3  Gregor.  Turon.  vitae  patr.,  c.  IV;  de  S.  Patroclo. 


234  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

liquis  Saudis  meis  adscripsi."  Worauf  der  Diakonus  von 
eitelm  Hochmuth  erfüllt  wird.  l  Ein  sehr  altes  Datum  über 
das  Aussehen  des  Teufels  findet  sich  bei  Theodoret2,  wonach 
der  Bischof  Marcellus  von  Apamea  in  Syrien  (4.  Jahrhundert) 
mit  Hülfe  des  Präfecten  einen  Tempel  Jupiters  verbrennen  will, 
ein  schwarzer  Teufel  aber  das  angezündete  Feuer  immer 
wieder  auslöscht.  Da  setzt  Marcellus  ein  Gef äss  mit  Wasser 
auf  den  Altar  und  nach  einem  Gebete  und  dem  Zeichen 
des  Kreuzes  brennt  das  Wasser  wie  Oel  und  es  gelingt  nun, 
das  Götzenhaus  zu  verbrennen.  Die  schwarze  Farbe  des 
Teufels  findet  sich  auch  in  einer  Notiz  bei  Movers  3  angegeben, 
wo  Corippus  in  seinem  dichterischen  Werke  über  die  Mauren- 
kriege im  6.  Jahrhundert  die  Hautfarbe  der  Mauren  mit  der 
Satans  vergleicht:  „Maura  videbatur  facies  nigroque  colore 
malianus  angelus  ille  fuit."  —  Von  dieser  Zeit  an  wird  der 
Teufel  immer  sinnlich  wahrnehmbarer  vorgestellt  und  erscheint 
im  Verlaufe  der  Zeit  sehr  körperlich. 

Hervorzuheben  ist  ferner,  dass  auser  den  von  Dämonen 
unfreiwillig  Besessenen,  deren  das  Neue  Testament  so  oft  er- 
wähnt, von  dieser  Periode  ab  die  Vorstellung  von  einem  frei- 
willigen Bündniss  mit  dem  Teufel  auftritt.  Diese  Vor- 
Stellung,  wonach  der  Mensch  freiwillig  mit  dem  Teufel  ein 
Bündniss  schliesst,  ist  als  eine  weitere  Entwickelung  im  Ver- 
hältniss  zur  unfreiwilligen  Besessenheit  zu  betrachten  und 
musste  sich  im  Zusammenhange  mit  dem  Dogma,  wonach 
das  moralisch  Böse  vom  freien  Willen  des  Menschen  abhängig 
ist,  herausstellen.  Auf  diese  Vorstellung  von  einem  freiwilli- 
gen Bündniss  mit  dem  Teufel,  die  immer  festere  Gestalt  und 
weitere  Verbreitung  erlangte,  gründet  sich  der  mittelalterliche 
Begriff  von  Hexerei,  als  dem  Inbegriff  solcher  Künste,  die 
unter  Mitwirkung  des  Teufels  geübt  werden,  zum  Unterschiede 
von  den  Zauberkünsten  der  Griechen  und  Römer,  mit  Hülfe 
von  verehrten  Göttern  und  Göttinnen  vollzogen.  Schwager 4 
führt  aus  den  Dialogen  von  Basilius  dem  Grossen  (4.  Jahrhun- 
dert)  ein   förmliches  Bündniss   mit  dem   Teufel   an,   das  Pro- 


1  Ibid.  c.  X ;  de  S.  Friardo  recluso. 

a  Hist.  eccles.,  Lib.  V,  c.  21;  Fabric.  bibl.  gr.,  vol.  VII,  450  sequ. 

3  Phöniz.,  II,  372. 

4  Versuch  einer  Geschichte  der  Hexenproc,  S.  20. 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  285 

terius,  der  Diener  des  Kirchenvaters,  geschlossen  hatte,  von 
diesem  aber  wieder  in  integrum  restituirt  wurde.  Das  früheste 
Beispiel  eines  Bündnisses  mittels  Verschreibung  an  den 
Teufel  bietet  die  Geschichte  des  Theophilus,  welcher  aber 
infolge  seines  Gebetes  mit  Hülfe  der  Heiligen  Jungfrau  die 
gefährliche  Handschrift  wieder  zurückbekam.  1  Nach  der  älte- 
sten Erzählung  von  Eutychianos,  lebte  Theophilus,  der  ein 
überaus  frommer  Mann  war,  in  Adana,  einer  Stadt  in  Cilicien 
(Cilicia  secunda)  als  Oeconomus  oder  Vicedominus  der  Kirche 
„zur  Zeit  der  Persereinfälle  in  das  Reich".2  Nach  des  Bi- 
schofs Tode  wurde  er  zum  Bischof  erwählt,  lehnte  aber  die 
Wahl  aus  Demuth  ab,-  die  daher  auf  einen  andern  fällt.  Der 
neue  Bischof,  durch  Verleumdung  geblendet,  entsetzt  den 
Vicedominus  seines  Amtes,  der,  hierdurch  bitter  gekränkt, 
sich  an  einen  als  gewaltigen  Zauberer  bekannten  Juden  wen- 
det, durch  dessen  Beistand  er  wieder  zu  seinem  Amte  zu 
kommen  hofft.  Der  Zauberer  führt  den  Theophilus  am  näch- 
sten Tag  in  den  Circus  der  Stadt  und  mahnt  ihn,  vor  keiner 
Erscheinung  zu  erschrecken,  sich  mit  dem  Zeichen  des  Kreuzes 
zu  beschützen.  Dort  treffen  sie  eine  Menge  Männer  mit  bren- 
nenden Fackeln  umherziehend ,  Loblieder  singend ;  in  ihrer 
Mitte  thront  Satanas,  der  die  Huldigungen  seiner  getreuen 
Unterthanen  gnädig  entgegennimmt.  Auch  Theophilus  fällt 
auf  die  Knie  und  küsst  des  Teufels  Füsse.  Da  Satanas  sich 
nicht  erinnert  den  Theophilus  je  gesehen  zu  haben,  verwun- 
dert er  sich  über  die  Dreistigkeit  des  Eindringlings.  Auf  die 
barsche  Frage:  was  er  wolle?  erwidert  Theophilus  mit  tiefer 
Verneigung:  den  Befehlen  gehorchen.  Da  erhebt  sich  Satanas 
ein  wenig,  streichelt  dem  Theophilus  den  Bart,  küsst  und 
begrüsst  ihn  freundlich  als  seinen  lieben  Unterthan.  So  be- 
mächtigt sich  der  Teufel  des  Theophilus,  der  hierauf  Jesus 
und  der  Maria  entsagt  und  dem  Teufel  die  von  ihm  selbst- 
geschriebene und  mit  Wachs   versiegelte  Urkunde  überreicht. 


1  Acta  SS.  Boll.  4  Febr. 

2  Sigibertus  Gemblac.  setzt  in  seinem  Chronikon  das  Jahr  537  an; 
Albericus  Trium  fontium  monachus  das  Jahr  538;  ihm  stimmen  Bollandus 
und  die  Spätem  bei,  da  540  der  Perserkrieg  wieder  anfing.  Martinus 
Polonus  sagt  blos,  Theophilus  habe  unter  Justinian  II.  sein  Bündniss  mit 
dem  Teufel  geschlossen. 


286  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Am  folgenden  Tage  wird  Theophilus  vom  Bischof  auf  die 
ehrenvollste  Weise  in  sein  Amt  wieder  eingesetzt  und  führt 
fortan  als  des  Teufels  Lehnsmann  ein  übermüthiges  Leben. 
So  geht  es  eine  Zeit  lang;  später  wird  aber  Theophilus  von 
Reue  ergriffen.  Da  fleht  er  40  Tage  und  Nächte  in  einer 
Kirche  der  Panhagia  diese  um  ihren  Beistand  an.  Sie  lässt 
sich  erweichen ,  bewegt  auch  ihren  Sohn  dem  Sünder  zu  ver- 
zeihen, schafft  dann  die  von  Theophilus  ausgestellte  Urkunde 
wieder  herbei  und  legt  sie  ihm  auf  die  Brust,  während  er  in 
der  Kirche  eingeschlafen  war.  Nachdem  er  erwacht,  die 
Schrift  findet,  bekennt  er  öffentlich  seine  Sünde,  rühmt  die 
Gnade  der  ihm  dreimal  erschienenen  Gottesmutter,  verbrennt 
die  ihm  zurückgestellte  Schrift  und  stirbt  drei  Tage  darauf 
eines  seligen  Todes.  Die  spätere  Zeit  versetzte  ihn  unter  die 
Heiligen. 

Das  Bündniss  mit  dem  Teufel,  das  auch  mündlich  ab- 
geschlossen wurde,  bezweckte,  die  Glieder  des  Reiches  Christi 
für  das  satanische  zu  gewinnen,  um  sie  ganz  satanisch  zu 
machen,  das  Böse  in  ihnen  zur  Natur  werden  zu  lassen.  Im 
Verlaufe  der  Zeit  tritt  Christus  mehr  zurück,  der  von  den 
Kirchenlehrern  gewöhnlich  dem  Satan  gegenübergestellt  ward, 
und  dieser  steht  Gott  selbst  feindlich  entgegen  und  sonach 
auch  die  mit  ihm  Verbündeten.  Der  Mensch,  der  sich  dem 
Teufel  ergeben,  mit  dem  Versprechen,  ihn  als  seinen  Herrn 
anzuerkennen  und  zu  verehren,  erlangt  dafür  die  Erfüllung 
seines  Wunsches,  also  Geld  und  mancherlei  andere  Gaben,  die 
sich  freilich  nachträglich  oft  in  Mist ,  in  eine  Kröte  u.  dgl. 
verwandeln,  da  der  Teufel  als  Lügner  vom  Anbeginn,  auch 
beim  Vertrage  seine  Tücke  nicht  verleugnet,  die  contra  et  - 
mässig  stipulirten  Zahlen  herabmindert,  auskratzt  u.  dgl.  m. 
Der  Teufelsbündler  hatte  aber  als  Unterthan  des  Teufels  die 
Pflicht  übernommen,  im  Sinne  seines  Herrn  so  viel  Unheil 
als  möglich  zu  stiften ,  wobei  er  von  diesem  mit  gewissen 
manischen  Künsten  ausgerüstet  wurde.  Die  christliche  oder 
weisse  Magie,  die  besonders  im  17.  Jahrhundert  in  grosser 
Verbreitung  stand,  unterschied  man  von  der  teuflischen  Hexerei 
dadurch,  dass  jene  im  Namen  des  dreieinigen  Gottes,  diese 
aber,  die  sogenannte  schwarze,  kraft  Bündnisses  mit  dem 
Teufel  geübt  wurde.  Von  dem  allgemein  herrschenden  Glau- 
ben   an    solche   mngische  Künste   und   den   Umgang   mit   dem 


9.    Der  Teufel  vom  4.  bis  6.  Jahrhundert.  287 

Teufel  schon  in  dieser  Periode  geben  die  gleichzeitigen  staat- 
lichen und  kirchlichen  Satzungen  den  klaren  Beweis.  Denn  es 
soll  nicht  geleugnet  werden,  dass  „wie  die  Kirche  durch  alle 
Zeiten  dem  Zauberwesen  unausgesetzte  Aufmerksamkeit  zu- 
gewendet, so  nicht  minder  auch  die  Gesetzgebung"  *-,  und 
Soldan2  führt  die  Concilien  an,  nach  welchen  die  Weiber,  die 
mit  den  Dämonen  auf  gewissen  Thieren  zu  reiten  behaupteten, 
mit  dem  Banne  belegt3,  oder  Zauberei,  Wahrsagerei  u.  dgl. 
verboten  werden4;  auch  muss  zugestanden  werden,  dass  die  Mit- 
tel, deren  sich  die  Kirche  bediente,  um  die  zauberischen  Künste 
zu  unterdrücken,  bis  ins  13.  Jahrhundert  nächst  der  Belehrung 
meist  nur  in  Disciplinarstrafen,  in  Pönitenzen  bestanden ;  allein 
ebenso  gewiss  ist:  dass  die  Kirche  durch  ihre  ausgesprochene 
Anerkennung  des  Zusammenhangs  dieser  Zauberei  mit  dem 
Teufel  die  Entwicklung  der  Vorstellung  von  letzterm  und 
deren  Verbreitung  förderte  und  dem  Glauben  an  seine  Macht 
Vorschub  leistete.  Indem  die  Kirche  die  teuflischen  Zauberer 
und  Zauberinnen  verstiess,  wurde  der  Glaube  an  den  Teufel 
ihr  Pflegekind,  welches  grosszuziehen  sie  sich  angelegen 
sein  liess. 

In  der  staatlichen  Gesetzgebung  hatte  schon  Konstantin 
im  Jahre  321  den  Anfang  gemacht,  die  Ausübung  aller  magi- 
schen Künste  unter  Androhung  der  härtesten  Strafen  zu  unter- 
sagen, die  Anwendung  magischer  Mittel  nur  zur  Heilung  von 
Krankheiten,  gegen  Hagelschlag  und  verderblichen  Regen  in 
der  Ernte  gestattend.  5  Konstantius  verhängte  die  Todesstrafe 
(im  Jahre  357)  über  den,  der  Astrologen,  Zeichendeuter, 
Auguren,  Chaldäer  oder  Magier  um  die  Zukunft  befragen 
würde.  Theodosius  ist  auf  diesem  Wege  fortgeschritten  und 
hat,  nachdem  im  Jahre  389  Valentinianus  und  Arcadius  jede 
Selbsthülfe  bei  Maleficien  untersagten,  im  Jahre  392  als  Ver- 
brechen erklärt:  „Wenn  jemand  sich  über  die  Gesetze  der 
Natur    zu   erheben,    Unerlaubtes    zu   erforschen,    Verborgenes 


1  Görres,  Die  christl.  Mystik,  III,  58. 

2  Geschichte  der  Hexenproc,  S.  84. 

3  Conc.  zu  Agde,  506. 

4  Orleans  511;  Auxerre  570;  Braga  572;  Narbonne  579;  Rheims  G30; 
Toledo  630,  u.  a. 

5  Cod.  Theod.,  Lib.  III;  Cod.  Just,  de  maleficis,  Lil».  IV. 


288  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

zu'erkunden,  Verbotenes  zu  versuchen,  einem  andern  Verder- 
ben zu  bereiten  oder  die  Schädigung  desselben  einem  Dritten 
zu  versprechen  sich  unterfange."  i  Dies  sind  Thatsachen. 
Dadurch  wird  aber  eben  bestätigt,  dass  bei  der  angenommenen 
Voraussetzung,  Zauberei,  Wahrsagerei  u.  dgl.  geschehe  nur 
mit  dem  Beistande  des  Teufels,  durch  die  Massregeln  der 
staatlichen  Gesetzgebung,  wie  durch  die  der  Kirche,  der 
Teufelsglaube  im  Volke  immer  mehr  befestigt  und  verbreitet 
werden  musste.  Merkwürdig  ist,  dass  in  der  Konstantinischen 
Verordnung  vom  Jahre  321  die  Ausübung  der  magischen 
Künste  nach  Massgabe  der  Intention  unterschieden  ist,  sodass 
die  Magie  bei  böser  Absicht  verurtheilt,  bei  wohlthätiger  hin- 
gegen erlaubt  wird.  Hierauf  bestimmte  sich  der  schon  er- 
wähnte Unterschied  zwischen  der  „weissen"  und  „schwarzen" 
Magie,  erstere  unter  göttlichem  Beistand,  letztere  mit  Hülfe 
des  Teufels  geübt. 

Am  Anfange  des  5.  Jahrhunderts  wird  von  Honorius 
allen  Magiern,  schlechthin  Mathematici  genannt,  das  Hand- 
werk gelegt,  indem  er  sie  aus  allen  Städten  zu  vertreiben 
und  ihre  Bücher  zu  verbrennen  befiehlt.  2  Gegen  Ende  des 
5.  Jahrhunderts  wird  das  Schatzgraben  unter  Opfern  und . 
magischen  Gebräuchen  verboten. 

Es  ist  erklärlich,  dass  die  Gesetzgebungen  der  germani- 
schen Völker  von  da  ab,  wo  diese  zum  Christenthum  gelangt 
waren,  das  gleiche  Bestreben  mit  der  Kirche  theilen,  die 
Zauberei  zu  unterdrücken ,  da  diese  zunächst  als  heidnisch, 
dann  als  teuflisch  galt  und  im  Sinne  der  Kirche  ausgerottet 
werden  musste.  Das  Gesetz  der  Westgothen  in  Spanien  droht 
denen  mit  200  Stockschlägen,  Haarabscheren  und  schimpf- 
lichem Herumführen,  „die  Maleficia  üben,  Bindemittel  oder 
Geschriebenes  brauchen  zum  Nachtheil  eines  andern,  um  Men- 
schen, Thiere,  bewegliche  Habe,  Aecker,  Weinberge  zu  be- 
schädigen; allen,  die  als  Wettermacher  durch  ihren  Sang 
Hagel  herbeiziehen;  allen,  die  durch  Anrufung  böser  Geister 
den  Sinn  der  Menschen  verwirren  und  diesen  Geistern  nächt- 
lich Opfer  feiern,    sie   durch  Lieder  bannen."  3     Das  Gesetz 


1  Cod.  Theodos.,  Lib.  XII,  de  pagan.  sacrificiis. 

2  Cod.  Theodos.,  lib.  XII,  de  malefic,  lib.  X;  Cod.  Justin,  de  episc.  auct. 

3  Lex  Visigoth.,  Lib.  VI,  Tom.  I,  §  4;  Tom.  II,  §•  1-5. 


10.   Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.    Völlige  Ausbildung  des  Teufels.    289 

des  Ostgothen  Tbec-derich  verhängt  die  Todesstrafe  über  alle, 
die  böse  Künste  treiben,  Zeichen  deuten,  aus  dem  Schatten 
weissagen.  1  Dagegen  erklärt  das  Longobardische  Gesetz  die 
Anschuldigung,  als  könnten  die  Masken,  d.  h.  Hexen,  Men- 
schen bei  lebendigem  Leibe  aufzehren,  für  grundlos  und  ver- 
bietet, die  Magd  unter  dem  Vorwande,  sie  sei  eine  Hexe,  zu 
tödten. 2  Es  ist  dies  eine  der  Seltenheit  wegen  auffallende 
Ausnahme  für  die  damalige  Zeit. 

Im  allgemeinen  lässt  sich  bei  den  staatlichen  Verf  usruneren 
bemerken,  dass  die  durch  Zauberei  vollbrachte  Handlung 
mehr  vom  Standpunkte  des  Rechts  betrachtet  und  nach  ihrer 
Schädlichkeit  bestraft  wird,  ohne  den  Glauben  einem  Urtheile 
zu  unterziehen. 


10.  Vom  7.  "bis  zum  13.  Jahrhundert.  Völlige  Ausbildung 

des  Teufels. 

Die  dogmatisch  fixirte  Stellung  des  Teufels,  die  in  den 
vorhergehenden  Jahrhunderten  gesichert  worden  war,  behaup- 
tete sich  auch  innerhalb  dieses  Zeitraums.  Wir  wollen,  wie 
wir  es  bisher  gethan,  die  zeitgenössischen  Stimmen  und  Zeuo-en 
vernehmen,  durch  sie  selbst  ihre  Zeitanschauung  schildern 
lassen  und  zusehen,  wie  der  Teufel  immer  mehr  heranwächst 
und  seine  Macht  über  die  Gemüther  zunimmt.  Nach  einem  dem 
Isidorus  Hispalensis  zugeschriebenen  Buche  3  harrt  der  Teufel 
„in  hac  turbulenta  ac  nebulosa  aeris  mansione"  mit  Furcht  und 
Beben  bis  zur  Ankunft  des  Herrn,  wo  er  dann  härter  be- 
straft werden  soll,  indem  er  sammt  seiner  Genossenschaft  in 
die  äusserste  Finsterniss  geworfen  wird.  Bis  dahin  muss  er 
Gott  gehorchen,  obschon  er  es  nicht  freiwillig  thut,  sondern 
aus  Rücksicht  auf  die  Macht  Gottes.  Ohne  Gottes  Zulassuno- 
kann  er  daher  nichts  verüben.     Die   aus  den  Besessenen  aus- 


1  Edicta  Theoderici,  §.  108.  111.  154. 

2  Leges  Longobard.,  Lib.  I,  Tit.  2,  §.  9. 

3  Lib.    de    ordine   creaturarum    in    D'Achery   Spicileg      I.,  ed.  nova, 
VIII,  230. 

Roskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  *  q 


290  Ex*ster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

getriebenen  Dämonen  konnten  ohne  Gottes  Zulassung  nicht 
ausgetrieben  "werden,  konnten  aber  auch  ohne  diese  nicht  in 
die  Schweine  fahren.  Die  bösen  Geister,  mit  luftigen  Leibern 
versehen,  werden  nie  alt,  sind  mit  den  Menschen  stets  in 
Feindschaft,  blähen  sich  vor  Hochmuth  auf,  sind  trügerisch 
und  verschlagen,  erregen  die  Sinnlichkeit  in  den  Menschen, 
trüben  ihnen  das  Leben,  fingiren  Prästigien  und  Orakel,  er- 
wecken Begierden  im  Herzen,  Lüste  und  unerlaubte  Liebe, 
transformiren  sich  in  Gestalten  guter  Engel.  Wie  an  Bosheit 
unterscheiden  sie  sich  auch  durch  Grade  der  Gewalt. 

Die  im  Volke  gangbaren  Vorstellungen  vom  Teufel  wer- 
den immer  handgreiflicher  und  mehr  phantastisch  ausgestaltet, 
entsprechend  dem  Charakter  des  Mittelalters,  dessen  Wesen 
nicht  unrichtig  als  „phantastisch"  bezeichnet  worden  ist.  l 
Dass  der  uralte  Glaube  an  die  Wettermacherei ,  den  schon 
die  Zehntafeln  der  Römer  erwähnen  2,  fortherrschte,  lässt  sich 
erwarten.  Im  Heidenthum  war  es  irgendeine  Gottheit,  die, 
durch  Opfer  gewonnen,  dem  Wettermacher  den  Dienst  geleistet 
hatte;  in  der  christlichen  WTelt  war  der  Teufel  an  die  Stelle 
der  Gottheit  getreten,  der  durch  seine  verbündeten  Zauberer 
oder  Hexen  das  Geschäft  besorgen  Hess. 

Gregor  der  Grosse  soll  noch  bei  Lebzeiten,  unter  vielen 
andern  Wundern,  den  Teufel  mit  Reliquien  aus  einer  ariani- 
schen  Kirche  ausgetrieben  haben,  als  er  sie  zum  katholischen 
Gottesdienste  einweihte.  Man  sah  jenen  in  Gestalt  eines 
Schweines  hinauslaufen  und  des  Nachts  darauf  noch  besonders 
mit  grossem  Geräusch  seinen  förmlichen  Abzug  nehmen.  3 
In  dem  Buche4,  wo  Gregor  seinem  Kirchendiener  Petrus  ausser- 
ordentliche Schicksale  und  Wunder  einer  Anzahl  von  Bi- 
schöfen und  Mönchen  erzählt,  ist  auch  der  Teufel  sehr  populär. 
Ein  Jude,  der  sich  des  Nachts  in  einem  Tempel  des  Apollon 
befand,  sah  daselbst  eine  Menge  böser  Geister,  die  ihrem 
Oberhaupte  berichteten,  was  sie  alles  an  Frommen  verübt  hät- 
ten. Einer  davon  hatte  einen  Bischof  so  weit  verführt,  dass 
er  einer  Nonne,  die  bei  ihm  wohnte,  einen  zärtlichen,  sanften 


1  Leo,  Lehrbuch  der  Geschichte  des  Mittelalters,  I,  4. 

2  Tab.  VII,  lex  III. 

3  Joh.  Diacon.,  Lib.  II,  c.  31,  bei  Schroeckh,  XVII,  350. 

4  Dialog,  lib.  IV,  de  vita  et  miraculis  Patr.  Italicor. 


10.   Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.     Völlige  Ausbildung  des  Teufels.     291 

Schlag  auf  den  Nacken  gab.  Ein  Presbyter  ruft  seinem  Die- 
ner: J£omm,  Teufel,  und  zieh  mir  den  Stiefel  aus!  Da  erscheint 
der  wirkliche  Teufel,  um  das  Geschäft  zu  verrichten,  der  aber 
von  jenem  vertrieben  wird. 

(8.  Jahrhundert.)  Der  Teufel  und  sein  Anhang  wurde  im 
Volke  auch  etets  in  frischer  Erinnerung  erhalten  durch  die  Feier- 
lichkeiten der  Taufe,  mit  welcher  Exorcismus,  die  Austreibung 
des  Teufels  durch  den  Anhauch  des  Priesters,  das  Kreuzes- 
zeichen und  Anrufung  des  dreieinige»  Gottes  verbunden  war. 
Nach  der  Beschreibung  des  Dionysius  '  mussten  die  Catechu- 
menen  den  Teufel  dreimal  aushauchen ;  das  griechische  Eucho- 
logium  setzt  noch  eine  Anspeiung  des  Teufels  hinzu,  d.  h. 
die  Täuflinge  mussten  auf  die  Erde  speien.  Schon  Gregor 
von  Nazianz  erwähnt  einer  doppelten  Anhauchung,  Ephraem 
spricht  von  Aushauchungen  bei  den  Abschwörungen.  2 

Diese  Abschwörungen3  erfolgten  nach  der  Einsegnung  des 
Taufwassers,  und  die  Catechumenen  sollen  dabei  ganz  ent- 
blösst  gewesen  sein.  Binterim  4  führt  ein  äthiopisches  Ritual 
an,  in  welchem  der  Täufling  den  Satan  selbst  als  gegen- 
wärtig anspricht,  was  übrigens  bei  dem  Aushauchen  und 
Anspeien  auch  vorausgesetzt  wird.  Die  Formel  der  Ab- 
schwörung des  Teufels  erscheint  schon  im  6.  Jahrhundert  bei 
Salvianus  von  Marseille5:  „Quae  est  in  baptismo  salutari 
Christianorum  prima  confessio?  quae  scilicet'  nisi  est  renun- 
ciare  se  diabolo  ac  pompis  ejus  atque  spectaculis    et  operibus 

protestentur Abrenunciatio  enim,  inquis,  diabolo,  pompis, 

spectaculis  et  operibus  ejus.     Et  quid  postea?    Credo,  inquis, 
in   deum  patrem   omnipotentem   et   in   Jesum  Christum   filium 

ejus  etc." 

Den  Beschlüssen  der  Synode  zu  Leptinae  (Listinense) 
vom  Jahre  743  wurde  nebst  einem  Glaubensbekenntniss  auch 
eine  Formel   der  Entsagung   des    Teufels   (abrenunciatio)    an- 


1  Dessen   Schriften   im  G.   Jahrhundert  aufgetaucht  sind.     Hierarch. 
eccles.,  P.  2,  c.  2. 

2  Orat.  de  sec.  adv. 

3  Ambras.,  c.  II,  de  initial.;  Hieronym.,  Comment.  in  Matth.  c.  25  be- 
dienen sich  des  Wortes  „renunciatio". 

4  Denkwürdigkeiten,  I,  92. 

5  De  gubernatione  Dei,  lib.  VI. 

19* 


292  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

gehängt,  welche  deutlich  dem  deutschen  Heidenthum  abschwört, 
indem  sie  es  mit  der  höchsten  Götterdrei  Wotan  (Odin),  Thunar 
(Thörr)  und  Frö  (Sasnöt)  und  deren  Gefolge  zu  thun  hat, 
die  zu  dunkeln  Unholden  geworden  waren,  an  deren  Dasein 
aber  die  Bekenner  des  Christenthums  doch  glaubten.  Diese 
„altsächsische  Abschwörungsformel",  die  Massmann 
„die  altniederdeutsche"  nennt1,  ist  nicht  nur  als  eines 
der  ältesten  Denkmäler  der  deutschen  Literatur  sehr  schätzbar, 
sie  ist  auch  ein  Hauptbeweis  für  die  Quellengemeinschaftlich- 
keit  der  deutschen  und  nordischen  Götterlehre.  Der  Täufling 
wurde  gefragt: 

Forsachistu  diabolae  ? 

Antw.:  ec  forsacho  diabolae. 

Fr.:  end  allum  diabol  geldg?  (Genossenschaft,  Gilde.) 

Antw.:  end  ec  forsacho  allum  diabol  gelde. 

Fr.:    end  allum  diaboles  uuercum?  (Werken.) 

Antw. :  end  ec  forsacho  allum  diaboles  uuercum  end  uuor- 
dum  (Worten),  thunaer  (Thonar),  ende  uuoden  (Wodan),  ende 
saxnote-(Frö),  ende  allem  dem  unholdum  the  hira  genotas 
sint  (die  ihre  Genossen  sind). 

Massmann  liefert  bei  derselben  Gelegenheit  zum  ersten 
mal  eine  zweite  deutsche  Abschwörungsformel,  die  er  die 
„altoberdeutsche  nennt,  welche  die  frühere  zur  Voraus- 
setzung hat,  indem  die  in  jener  enthaltene  Götterstufung  unter 
dem  allgemeinen  Verdammungsnamen  „unholdum"  zasammen- 
gefasst  erscheint,  dafür  aber  wesentlich  gegen  die  ganze  ge- 
fährliche Menge  der  verbliebenen  Gebräuche  und  Opfer  der 
heidnischen  Leute  geeifert  wird. 

Forsachistu  unholdun. 

Forsachistu  indiuuillon. 

Forsachistu  allen  dem  bluostrom  then  heidine  man  hym 
zabluostrom  in  dizageldon  habent,  u.  s.  w. 

In  Bezug  auf  die  erstere  Abschwörung  bemerkt  Mass- 
mann: „Im  Volke  ist  noch  eine  schöne  Sage,  dass  wenn  der 
Wettersee  in  Schweden  braust,  auch  der  Bodensee  stürme, 
an  dem  einst  dem  Wuotan   zu   Ehren  ein  grosses  Fass  Bier 


1  Die  deutschen  AbschwÖrungs-,  Glaubens-,  Beicht-  und  Betformcln 
vom  8.  bis  12.  Jahrhundert,  herausgegeben  von  Massmann,  in  Biblioth. 
der  gesammten  deutschen  Nationalliteratur,  7.  Bd. 


10.    Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.     Völlige  Ausbildung  de3  Teufels.      293 

angestochen  und,  dass  die  bösen  Geister  ausführen,  auch  an- 
gehaucht wurde,  und  gewiss  waren  die  tres  deauratae  figurae  *, 
welche  fast  gleichzeitig  (im  Jahre  Gl 2)  und  nicht  fern  von 
derselben  Stelle  in  einer  wieder  für  die  alten  Götter  zurück- 
verwendeten Kapelle  der  heiligen  Aurelia  gefunden  und  im 
Glaubenseifer  zertrümmert  in  den  tiefen  Bodensee  geworfen 
wurden,  die  drei  goldenen  Upsaler  Göttergestalten  Thörr, 
Odhin,  Freyr,  oder,  mit  unserer  Abschwörungsformel  in  glei- 
cher Folge  der  Namen  zu  reden,  Thunaer  ende  Uuöden  ende 
Saxnöte.  Letzterer  ist  ohne  Zweifel  der  Sahsnoz  oder  Schwert- 
genosse, der  Seaxneat  der  angelsächsischen  Stammbäume,  der 
geliebte  Gott  der  Sachsen,  der  Freyr,  welcher  aus  Liebes- 
sehnsucht  einst  ein  gutes  Schwert  aus  der  Hand  gab." 

Auf  demselben  Concil,  auf  welchem  Bonifacius  gegen- 
wärtig war,  wurde  das  Gesetz  gebracht:  dass  wer  heidnische 
Gebräuche  beobachtete,  15  Solidi  als  Strafe  zu  bezahlen 
hätte. 2  Als  Anhang  zu  diesem  Concil  findet  sich  der  In- 
diculus  superstitionum  et  paganiarum:  1)  De  sacrilegio  ad 
sepulcra  mortuorum.  2)  De  sacrilegio  inter  defunetos,  Da- 
disas.  3)  De  spurcalibus  in  Februario.  4)  De  casulis  i.  e. 
Fanis.  5)  De  sacrilegiis  per  ecclesias.  6)  De  sacril.  silvarum 
quae  Nimidas  vocant.  7)  De  Ins  quae  faciunt  super  petras. 
8)  De  sacris  Mercurii  et  Jovis.  9)  De  sacrificio  quod  fit 
alieni  sanetorum.  10)  De  phylacteriis  et  ligaturis.  11)  De 
fontibus  sacrificiorum.  12)  De  mcantationibus.  13)  De  augu- 
riis  avium  vel  equorum  vel  boum  stercoribus  et  sternutatione. 
14)  De  divinis  vel  sortilegis.  15)  De  igne  fricato  de  ligno 
i.  e.  Notfyr.  16)  De  cerebro  animalium.  17)  De  observatione 
pagana  in  foco  vel  in  inchoatione  rei  alieujus.  18)  De  incertis 
locis,  quae  colunt  pro  sanetis.  19)  De  petendo  quod  boni 
vocant  Sanctae  Mariae.  20)  De  feriis  quae  faciunt  Jovi  vel 
Mercurio.  21)  De  lunae  defectione  quod  dieunt  Vinceluna. 
22)  De  tempestatibus  et  cornibus  et  cochleis.  23)  De  sulsis 
circa  villas.  24)  De  pagano  coneursu  quem  Yrias  nominant, 
scissis  pannis  et  calceis.  25)  De  eo  quod  sibi  sanetos  fingunt 
quoslibet  mortuos.  2G)  De  simulacro  de  conspersa  farina. 
27)  De  simulacris  de  pannis  factis.     28)   De    simulacro  quod 


1  Walafrid  Strabo  Vita  S.  Galli,  c.  6. 

2  Concilium  Listinense  743,  c.  4;  Pertz,  Monum.,  III,  18. 


294  Erster  Abschnitt :   Der  religiöse  Dualismus. 

per  campos  portant.  29)  De  ligneis  pedibus  vel  manibus  pa- 
gano  ritu.  30)  De  eo  quod  credunt,  quia  foeminae  lunam 
commendent,  quod  possint  corda  hominum  tollere,  juxta  pa- 
ganos. 

Diese  Verbote  ergehen  gegen  den  Cult  und  die  Feste  der 
alten  Götter,    wobei  unter   Jupiter  und  Mercur   die   germani- 
schen Götter  Donar  und  Wuotan  gerneint  sind  (8.  20);  ferner 
gegen  Opfer,  irgendeinem  Heiligen  dargebracht  (9.  25),  unter 
dem  sich  gewöhnlich  ein  heidnischer  Gott  oder  Held  zu  ver- 
stecken  pflegte,  für  welche  die  Pietät  der  christlichen  Germa- 
nen noch   nicht   ausgelöscht  war.     Verboten   wird   ferner   der 
Cultus  in  heiligen  Hainen  (4.  6),  an  Steinen  (7),  Quellen  (11), 
besonders   der  Todtendienst  (1.  2) l,   wobei   das  übliche  Ver- 
brennen der  Leichen  mit  Waffen  und  Ross,  die  Todtenmahle 
als   widerchristlich  erscheinen  mussten.     Verboten  werden  die 
Festlichkeiten  im  Februar  (spurcalia)  (3).     Die  Alten  nannten 
den  Februar  Spörkel,   woher   Spurcalia,   welcher  Name  noch 
heute  in  einigen  Gegenden  Niederdeutschlands  und  in  Belgien 
auftritt.     In  diesem  Monat  beging   man   das  alte  Julfest,    ein 
Naturfest  in  Beziehung  auf  die  Sonne,   die  höher   zu   steigen 
anfing.     Dies  Opferfest  war  mit   besonderer  Lustbarkeit   ver- 
bunden,   daher   das  Volk   sehr   daran   hing.     „Um    es   davon 
abzugewöhnen",  sagt  Fehr2,  „veränderten  die  Apostel  Deutsch- 
lands zuerst  die  Zeit,    indem  sie  diese  Lustbarkeit  am  Feste 
des  heiligen  Thomas  anfingen   und  am    13.  Januar   beendigen 
Hessen.    Statt  dem  Juel  wurden  der  Geburt  Jesu  die  Freuden- 
ta^e   gewidmet    und    so   veränderte  sich   der   abgöttische   Ge- 
brauch    in   einen   christlichen."     Verboten   werden   heidnische 
Dienste   in    der   Kirche  (5).      Binterim 3    versteht  auf  Grund 
von    verschiedenen    Verordnungen    des    Bonifacius    und    der 
Concilien    unter   diesem    Verbote    heidnische    Gebräuche,    die 
sich  in  den  christlichen  Kirchen  eingenistet  hatten,  namentlich 
Tanzspiele  und  Gastmahle,  ferner  Lose,  die  sie  aus  der  Hei- 
ligen Schrift  oder  Messbüchern  zogen,  die  ihnen  als  göttliche 
Entscheidungen    galten,    die    sogenannten   Sortes    sanetorum, 


1  Dadis-as    so  viel   als  Todesessen,    von  As,  Speise,    atzena,    essen; 
nach  Eckhard,  Francia  orientalis,  I,  fol.  408. 

2  Der  Aberglaube  und  die  katholische  Kirche  des  Mittelalters,  S.  57. 

3  Denkwürdigkeiten,  II,  2.  Thl. 


10.   Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.    Völlige  Ausbildung  des  Teufels.     295 

endlich  Opfer,  die  sie  vor  der  Kirche  den  Heiligen  darbrach- 
ten.     Verboten   werden    die    zu    dem    alten   Götzendienst  ge- 
hörigen verschiedenen  Figuren  in  Menschengestalt  aus  Mehl- 
teig, wahrscheinlich  als  Stellvertreter  für  Opferthiere.     Nach 
Binterim's    Erklärung  wären   Figuren   und  Bilder   der   Götter 
zu  verstehen,   die  in  den  Häusern  aufgestellt,    angebetet  und 
sogar    öffentlich  feilgeboten,    zu    kaufen    oder    zu    essen    den 
Christen  verboten  worden  sei,  und  bringt  den  noch  üblichen, 
in     mehrern    niederdeutschen    Gegenden    bekannten    Namen: 
„Heidenwecke"  damit  in  Verbindung.     In  jedem  Falle  ist  ein 
Stück    Heidenthum     darunter    verstanden,    sowie    unter    den 
Götzenbildern  von  Zeug,  die  dann  durch  die  Fluren  getragen 
wurden.     Binterim   bezieht    letztere    auf  den   Thorr   als  Vor- 
steher   und   Schützer    des    Ackerbaues    und    der    Feldfrüchte, 
und  vermuthet,  dass  sein  Bild  gleich  dem  der  Ceres  oder  Iris 
bei  den  Römern  in  den  Feldfluren  herumgetragen  worden  sei. 
„Statt  dieses  heidnischen  Umzugs  haben  nun  einige  deutsche 
Bischöfe  einen  christlichen  angeordnet,    der   beim  Aufkeimen 
der    Feldfrüchte    stattfand,    wobei    der   Pfarrpatron    in    einer 
Procession   durch    die  Feldwege   unter   heiligem   Gesang   und 
Gebet  herumgetragen  wurde.     An   einigen  Orten  wird   dieser 
Umzug  «Hagelfrei»  genannt,   damit  Gott  durch   die  Fürbitte 
des  heiligen  Pfarrpatrons  das  grünende  Feld   vor   dem  Hagel 
bewahren  möge."    Verboten  wird  die  Ansicht  von  den  Mond- 
finsternissen, wonach  man  diese  durch  Lärmen  mit  dem  Rufe 
Vince  luna!  verscheuchen  zu  können  glaubte  (21).     Verboten 
ist  die  Ansicht,  als  könnten  die  Weiber  mit  Hülfe  des  Mon- 
des die  Liebe  gewinnen,  den  Muth  benehmen  (30).    Verboten 
ist  der  Zauber   mit  Anmieten   und   andern  Anhängseln   gegen 
Krankheiten  (10),  das  Aufhängen  aus  Holz  verfertigter  Glieder 
auf  Kreuzwegen  zur  Heilung  (29) ;  Nothfeuer  durch  das  Rei- 
ben zweier  Hölzer  gegen  Krankheiten  (45);  Wahrsagerei  und 
verschiedene  Arten  der  Vorschau   aus   den   Vögeln,    Pferden, 
dem    Mist    der   Ochsen,    aus    dem   Gehirn    der    Thiere,    dem 
Niesen,    durch    Lose    (13.   14.  16),    Zauberei    (12);    Wetter- 
macherei  (22),  die  Beobachtung  des  Rauchs  und  des  Angangs, 
d.  h.  der  zuerst  begegnenden  Thiere  und  Menschen  (17),  Un- 
stätten,  deren  Betretung  Unheil  bringen  sollte  (18);  Furchen- 
ziehen   zu   zauberischen  Zwecken  (23).     Unklar    ist   das   (24) 
verbotene  heidnische  Zusammenlaufen,  wobei  zerrissene  Klei- 


29G  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

der  und  Schuhe  erwähnt  werden.  Binterim  versteht  darunter 
das  Faschingsfest  im  Januar,  das,  seines  Ursprungs  wegen 
Paganus  cursus  genannt,  von  den  ersten  Bischöfen  auf  das 
strengste  verboten  worden  sei.  Das  unbekannte  Wort  „Yrias" 
soll  nach  Eckhard  „Scyrias"  gelesen  werden,  Scy-scu,  d.  h. 
Schuh,  und  Rias,  Ries,  reissen,  mit  Beziehung  avif  den  Zusatz 
scissis  pannis  et  calceis,  das  Fest  der  zerrissenen  Schuhe. 
Diese  Vcrmuthung  sucht  ihre  Stütze  in  den  alten  Chroniken 
von  Hildesheim  und  Braunschweig,  wo  von  einem  Schodufel- 
lopen,  Schuhteufel-Laufen,  die  Rede  ist,  wobei  man  fremde 
Gestalten  annahm  und  manchen  Unfug  trieb.  Der  latei- 
nische  Text  des  Verbots  Artikel  19  ist  ganz  unverständlich. 
Binterim  findet  die  Vermuthung  Eckhard's  nicht  unbegründet, 
der  statt  des  lateinischen  petendo  das  altdeutsche  petenstro, 
Bettstroh,  wählt,  Galium  serpillum,  Meierkraut,  Hühnerklee 
oder  unserer  Frauen  Bettstroh  genannt,  wovon  die  Boni, 
d.  h.  einfältigen  Leute,  ein  Bündel  aufbewahrten  gegen  gif- 
tige Thiere. 

Wenn  wir  bei  diesem  Verzeichniss  der  von  der  Kirche 
verbotenen  heidnischen  Gebräuche  etwas  länger  verweilt  haben, 
so  soll  damit  weniger  der  frommen  Erbitterung  Fehr's  Rech- 
nung getragen  werden,  dessen  schon  angeführtes  Schriftchen 
(„Der  Aberglaube  und  die  katholische  Kirche  im  Mittelalter") 
gegen  die  allerdings  nicht  immer  aus  tiefer  Einsicht  hervor- 
gegangenen Beschuldigungen  gerichtet  ist:  als  habe  die  Kirche 
des  Mittelalters  dem  Aberglauben  gegenüber  sich  unthätig 
erwiesen.  Der  angeführte  Indiculus  würde  schon  genügend 
dagegen   zeugen,   abgesehen   von   den   in    diesem  Sinne  schon 

DO  O  /  ö 

angeführten  und  noch  anzuführenden  Massregeln,  sowol  von 
staatlicher  als  kirchlicher  Seite.  Dass  Staat  und  Kirche 
im  Mittelalter  absichtlich  dem  heidnischen  Aberglauben  ent- 
gegentraten, ist  demnach  actenmässig  nachgewiesen,  dass  sie 
aber  den  christlichen  auszumerzen  nicht  beflissen  waren,  dies 
zeigen  die  lebendigen  Acten  der  Geschichte,  ja  dass  sie  es 
gar  nicht  vermochten,  weil  sie  selbst  darin  befangen  waren. 
Letztere  Ansicht  wird  nicht  umgestossen  durch  einzelne  Bei- 
spiele  über  ihre  Zeit  hervorragender  Persönlichkeiten.  Den  Mass- 
stab für  die  Ilöhenmessung  der  Bildung  und  Strebung  einer  Ge- 
schichtsperiode nimmt  die  Geschichtsbetrachtung  von  der  Durch- 
schnittshöhe.     Da  selbst   die   hervorragenden   Persönlichkeiten 


10.    Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.     Völlige  Ausbildung  des  Teufels.     297 

mit  den  Sohlen  auf  dem  Boden  ihrer  Zeit  zu  haften  pflegen, 
so  kann  es  nicht  befremden,  dass  die  bestgemeinten  Vorkeh- 
rungen, die  im  Mittelalter  von  Staat  und  Kirche  getroffen 
wurden,  auch  das  Merkmal  ihrer  Zeit,  aus  der  sie  hervor- 
gegangen, an  sich  tragen.  Man  wird  bezweifeln  müssen,  dass 
durch  angeordnete  Umänderung  des  Tags  und  Namens  eines 
heidnischen  Festes  in  ein  christlich-kirchliches  zugleich  auch 
eine  plötzliche  Wandlung  im  Bewusstsein  des  Volks  vor  sich 
gegangen,  die  geistige  Bedeutung  der  christlichen  Feier  er- 
fasst  worden  sei.  Die  von  den  Heidenbekehrern  befolgte,  von 
den  Concilien  empfohlene  sich  anbequemende  Gregor'sche  Pä- 
dagogik musste  sich  ihrer  Milde  wegen  empfehlen,  abgesehen 
davon,  dass  ihnen  keine  andere  bekannt  war.  Von  dieser 
Accommodationstheorie  und  deren  Wirksamkeit  gibt  auch  der 
Indiculus  Beweise  und  ist  eben  dadurch  von  Interesse.  Die 
unzähligen  Ueberreste  aus  dem  classischen  sowol  als  auch 
dem  nationalen  Heidenthum  konnten  ihre  heidnische  Bedeu- 
tung erst  da  verlieren,  wo  das  Volksbewusstsein  ein  christ- 
liches geworden  war. 

Dem  Job.  Damascenus,  der  im  8.  Jahrhundert  den  Ver- 
such machte,  die  Dogmen  der  rechtgläubigen  Kirche  in  ein 
System  zu  bringen,  wurde  eine  Abhandlung  vom  fliegenden 
Drachen  zugeschrieben,  die  zwar  von  der  Kritik  für  unecht 
erklärt  wird,  uns  aber  doch  dienen  kann,  um  die  im  Volke  herr- 
schende Anschauung  zu  zeigen.  Der  Teufel  fliegt  da  in  Ge- 
stalt des  Drachens  durch  Fenster  und  Schornsteine,  zieht  bei 
seinen  Verbündeten  ein,  bringt  ihnen  mancherlei  Gaben,  pflegt 
mit  ihnen  verbotenen  Umgang.  Es  ist  die  Iiede  von  Hexen 
(aruf/at.,  auch  Gelludes  genannt),  die  in  der  Luft  umher- 
streifen, durch  Schloss  und  Riegel  nicht  abgehalten  werden, 
in  die  Häuser  kommen,  Kinder  im  Mutterleibe  oder  bei  der 
Geburt  tödten,  ihnen  die  Leber  im  Leibe  wegfressen  u.  dgl. l 

Der  Umfang  und  die  Popularität  des  Glaubens  an  den 
Teufel  im  8.  Jahrhundert  erhellt  auch  aus  dem  Zurufe  des 
Bonifacius  an  seine  Täuflinge:  „Ihr  habt  jetzt  dem  Teufel, 
seinen    Werken    und    all    seinem  Pompe  entsagt.     Was   aber 


1  Fabricii  BibL  gr.  V.  VIII     Acta  SS.  Maji,  Tom.  II,  723;  vgl.  Job. 
Dam.  Opp.,  I,  471. 


298  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

sind  des  Teufels  "Werke?  Götzendienst,  Giftmischerei,  Be- 
schwörer und  Loswerfer  befragen,  an  Hexen  und  Werwölfe 
glauben."  l 

In  den  Capitularien  Karlmann"  s  werden  allePhylakterien,  ge- 
heime Formeln  und  Wahrsagungen,  selbst  die  im  Namen  Gottes 
und  der  Heiligen,  verboten2;  von  Karl  dem  Grossen  wird  den 
Bischöfen  aufgetragen,  ihre  Aufmerksamkeit  auf  die  Belehrung 
des  Volks  zurichten,  heidnische  Bräuche  zu  verhindern.3  Eins 
der  Capitularien  Karl's  des  Grossen  verfügt:  „Was  die  Be- 
schwörungen, Augurien  und  Weissagungen  betrifft  und  die, 
welche  Unwetter  oder  andere  Maleficien  hervorbringen,  so 
hat  es  der  heiligen  Synode  gefallen  zu  verordnen:  dass  wo 
sie  ergriffen  werden,  der  Erzpriester  der  Diöcese  darauf  zu 
sehen  habe,  dass  sie  verhaftet,  verhört  und  belehrt  werden. 
Wenn  sie  hartnäckig  bleiben,  sollen  sie  verdammt  und  im 
Kerker  unter  Verschluss  bleiben,  bis  sie  Besserung  angeloben." 
Es  wird  aber  ausdrücklich  eingeschärft,  dass  sie  nicht  am 
Leben  bestraft  werden  dürfen.  4 

Den  Klerikern  wie  den  Laien  wird  aufs  strengste  verboten, 
Anmiete,  Ligaturen  u.  dgl.  zu  bereiten,  welche  von  Unverstän- 
digen für  heilkräftig  in  Fiebern  und  Seuchen  gehalten  werden. 
Ebenso  werden  alle  Beschwörungen  untersagt,  gewehrt  wird 
allen,  die  vorgeben,  dass  sie  durch  dieselben  die  Luft  zu  trüben, 
Hagelschlag  herbeizuführen,  Früchte  und  Milch  dem  einen 
wegzunehmen,  dem  andern  herbeizuführen  im  Stande  seien, 
ohne  jedoch  eine  bestimmte  Strafe  auszusprechen.  „Wenn 
jemand  vom  Teufel  verblendet  nach  Art  der  Heiden  glaubt, 
dass  ein  Mann  oder  Weib  eine  Striga  sei  und  einen  Menschen 
aufzehre  und  deshalb  ihn  oder  sie  verbrennt  oder  das  Fleisch 
derselben  zum  Aufessen  hingibt,  der  soll  des  Todes  sterben."5 
Im  3.  Capitul.  Karl's  des  Grossen  vom  Jahre  798,  c.  18,  heisst  es 
in  Beziehung  auf  die  Wettermacher:  „Ne  Chartas  per  perticas 
appendant  propter  grandinem."  Die  Kirchenväter  hatten  den 
Dämonen    eine    Einwirkung    auf    die    Luft    eingeräumt;    das 


1  Vgl.  Görres  Christi.  Mystik,  III,  47. 

3  Capit.  Karlomann.  vom  Jahre  742  u.  743. 

B  Carol.  M.  Capit.  ann.  769,  c.  7;  Capit.  ann.  789,  c.  4. 

4  Capitul.  eccles.  von  789. 

'  Capitul.  de  partit.  Saxon.  Baluz.,  I,  250. 


10.  Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.     Völlige  Ausbildung  des  Teufels.     299 

Poenitentiale  Romanum  1  verdammt  den  Glauben  an  die 
Wettermacher  in  Uebereinstimmung  mit  dem  Synodalbeschlusse 
von  Bracara;  später  hingegen  weiss  wieder  Thomas  von 
Aquino  die  widerstreitenden  Ansichten  dahin  zu  vereinigen: 
dass  der  Teufel,  obschon  nicht  „naturali  cursu",  doch  „arti- 
ficialiter"  Regen  und  Wind  hervorbringen  könne.  2 

Aus  diesen  wenigen  Anführungen  erhellt,  dass  sowol  die 
staatlichen  als  kirchlichen  Massregeln  von  dem  Glauben  aus- 
gehen, der  Teufel  sei  die  Grundursache,  wenn  das  Volk  dem 
sogenannten  heidnischen  Aberglauben  anhängt.  Daher  das 
Schwankende  in  den  Bestimmungen,  wonach  die  Macht  des 
Teufels  bald  grösser,  ba'ld  minder  erscheint,  daher  jene  wie  alle 
halben  Massregeln  die  das  Ziel  nicht  klar  sehen,  auch  keine  klare 
Wirkung  haben  konnten,  vielmehr,  ohne  dass  sie  es  wollten,  den 
Glauben  an  den  Teufel,  wie  er  bereits  im  Volke  geläufig  war, 
zu  bestärken  und  zu  verbreiten  halfen.  Man  suchte  den  heid- 
nischen Abererlauben  zu  vertreiben  und  öffnete  dem  christlichen 
Teufelserlauben  alle  Thüren;  indem  man  erstem  auszurotten 
bestrebt  war,  wucherte  letzterer  als  fette  Parasitpflanze  im 
Volke  und  umstrickte  dasselbe  in  allen  Lebenszweigen.  Ebenso 
ist  ersichtlich,  dass  in  dieser  Zeit  Heidnisches  und  Teuflisches 
für  gleichbedeutend  galt,  wie  schon  früher  Ketzerisches  da- 
mit in  eine  Linie  gestellt  worden  war.  Im  Laufe  der  Zeit 
wird  diese  Anschauung  immer  ständiger  und  geläufiger,  da- 
her auch  dieselbe  Strafe,  nämlich  der  Feuertod,  darüber  ver- 
hängt ist. 

Am  Anfange  des  9.  Jahrhunderts  finden  wir  noch  einen 
Mann,  der  gleichsam  von  der  Abendröthe  der  Karolingi- 
schen Sonne  erleuchtet,  gegen  den  Glauben  an  die  teuflische 
Wettermacherei  auftrat:  Agobard,  Erzbischof  von  Lyon 
(gest.  841),  der  mit  Recht  „der  aufgeklärteste  Kopf  sei- 
nes Jahrhunderts"  genannt  wird.  3  Er  erzählt  in  seiner 
Schrift  4  mit  Bedauern ,  dass  das  Volk  in  Frankreich  an  eine 


1  Burchard,  X,  8. 

2  Thom.  Aqu.  Comment.  in  Job.,  c.  1. 

3  Soldan,  S.  86. 

4  Agobardi  liber    contra    ineulsam   vulgi   opinionem    de   grandine  et 
tonitruis,  c.  II. 


3Q0  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

teuflische  Gesellschaft  glaube,  welche  das  Getreide  in  grossen 
Massen  fortstehle  und  auf  Schiffen  durch  die  Luft  nach  einem 
fabelhaften  Lande  Magoma  fortführe,  um  es  zu  verkaufen. 
Derselbe  Erzbischof  erwähnt  auch,  class  zu  seiner  Zeit  an 
manchen  Orten  den  Teufelskünstlern,  die  sich  mit  Wetter- 
machen  befassen,  jährlich  eine  gewisse  Abgabe  zu  entrichten 
üblich  sei.  *  Der  zweite  Kanon  der  Synode  von  Paris  vorn 
Jahre  829  erklärt  dagegen  schon  mit  Entschiedenheit  die 
Zauberer  und  Hexen  für  Werkzeuge  des  Teufels.  Auch 
glaubt  man,  heisst  es  daselbst,  sie  regen  die  Luft  auf,  ver- 
ursachen Hagel  und  Unwetter,  verwüsten  die  Feldfrüchte, 
benehmen  dem  einen  Vieh  die  Milch  und  geben  sie  dem  an- 
dern. Man  müsse  daher  mit  aller  Sfrenge  der  Gesetze  gegen 
solche  Leute  einschreiten,  da  sie  sich  nicht  scheuen,  in  ver- 
fluchten und  verwegenen  Unternehmungen  dem  Teufel  zu 
dienen.  Hincmar,  Erzbischof  von  Rheims,  einer  der  ange- 
sehensten Männer  im  Klerus  seiner  Zeit,  der  ums  Jahr  863 
in  einem  Buche2  dreissig  an  ihn  gestellte  Fragen  beantwortete, 
bejaht  die  eine3,  ob  es  Hexen  gebe,  die  zwischen  Ehegatten 
unversöhnlichen  Hass  oder  unaussprechliche  Liebe  stiften, 
oder  dieselben  zur  Vollziehung  der  Ehe  unfähig  machen  kön- 
nen, und  leitet  diese  Macht  vom  Teufel  ab.  Er  erklärt  das 
Nestelknüpfen,  wenn  dessen  Folge  der  geistlichen  Arznei 
nicht  weichen  will,  für  einen  gültigen  Scheidungsgrund.  4 

Es  lässt  sich  erwarten,  dass  die  schon  früher  herausgebil- 
dete Vorstellung  vom  grässlichen  Aussehen  des  Teufels  in 
diesem  Jahrhundert  festgehalten  und  noch  mehr  entwickelt 
wird.  Ein  Beispiel  aus  diesem  Zeitabschnitte  liefert  ein  Ueber- 
bleibsel  von  dem  altdeutschen  Liede  Ratpert's,  das  der  vierte 
Eckchard  ins  Lateinische  übertragen  hat.  Da  d3s  erstem 
Lebenszeit  in  den  Ausgang  des  9.  Jahrhunderts  fällt,  so  kön- 
nen die  Verse,  die  das  Aussehen  des  Teufels  schildern  und 
zum  Lobe  des  heiligen  Gallus  gedichtet  sind,  in  der  lateini- 
schen Uebersetzung  hier  wol  angeführt  werden: 


1  Fabricii  Bibl.  L.  m.  et  inf.  temp.,  I,  31  sequ. 

2  De  divortio  Lotharii  Regis  et  Tetbergae  Reg. 

3  Interrog.,  XV,  G33. 

J  Gratian.  Can.  IV,  c.  XXIII,  qu.  1* 


10.    Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.     Völlige  Ausbildung  des  Teufels.    301 

V.  10.    Panem  Gallus  bestig 
mirande.  dat  modestig 
mox  ut  hunc  uorauit, 
in  fugam  festinavit. 
Jussa  siluis  cedere, 
hie  nullam  post  hac  ledere. 
Diacon  jacebat 
soporans  et  uidebat, 
qua  uirtute  Gallus 
pollet  dei  famulus. 

V.  11.    Hinc  de  loco  demones 
abegit  et  serpentes 
Ducis  sanat  filiam, 
quam  satan  uexat  rabidam, 
Exit  ore  toruus 
colore  tanquam  coruus.1 

In  den  Acten  der  heiligen  Afra,  vor  der  Mitte  des 
9.  Jahrhunderts 2,  wird  der  Teufel  schon  ganz  in  der  Art 
aussehend  geschildert,  wie  er  im  spätem  Mittelalter  gewöhn- 
lich oder  häufig  aufzutreten  pflegt.  Er  erscheint  rabenschwarz, 
nackt  aber  mit  runzeliger  Haut  wie  von  der  Elephantiasis  be- 
deckt. Da  sich  nach  den  Untersuchungen  Rettberg's 3  heraus- 
stellt, dass  die  zwei  Documente,  aus  welchen  die  Acten  be- 
stehen, aus  Acta  conversionis  und  Acta  passionis  um  die 
Mitte  des  9.  Jahrhunderts  fertig  geworden  und  letztere 
sich  als  die  altern  erweisen,  sodass  Afra  als  Localsage  von 
Augsburg  schon  an  das  Ende  des  6.  Jahrhunderts  fällt,  ihr 
Cult  aber  noch  weiter  zurückweist,  so  lässt  sich  die  Vor- 
stellung vom  Teufel,  wie  sie  die  Legende  schildert,  auch  auf 
ein  älteres  Datum  setzen. 

Fehr 4  erzählt :  Noch  als  Abt  hatte  Rhaban  die  Frage 
zur  Beantwortung  erhalten;  was  von  jenen  Menschen  zu  hal- 
ten sei,  welche  durch  magische  Kräfte  oder  dämonische  Zauber- 
gesänge die  Menschen  täuschen  und  in  einen  andern  Zustand 
versetzen?  Die  Beantwortung  beginnt  er  mit  Anführung  der 
Gesetze  des  Alten  Testaments  gegen  die  Zauberer,  welche  er 


1  Lat.  Gedichte  des  10.  u.  11.  Jahrhunderts,  herausgeg.  von  J.  Grimm 
und  Schmeller. 

2  Act.  SS.  Boll.,  II,  55. 

3  Kirchengeschichte  Deutschlands,  I,  144  fg. 

4  Der  Aberglaube  und  die  katholische  Kirche  im  Mittelalter,  S.  98. 


3Q2  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

in  verschiedene  Klassen  eintheilt,  handelt  von  der  Magie,' 
Wahrsagerei;  erstere  treiben  die  eigentlichen  Magier,  die  ihrer 
bösen  Werke  wegen  auch  Malefiei  genannt  werden,  die  Ele- 
mente erschüttern  u.  s.  w.,  dann  die  Necromantici,  Hydro- 
mantici,  Geomantici,  Aeromantici  u.  s.  f.  „Die  Ansicht",  fügt 
Fehr  hinzu,  „welche  Rhaban  von  Zauberkräften,  Beschwörungen, 
Wahrsagerei  und  dergleichen  Dingen  hatte,  scheint  in  jenem 
Zeitalter  die  vorherrschende  gewesen  zu  sein."  Diese  Ansicht, 
dass  solche  Zauberkünstler  ihre  Werke  mit  Hülfe  des  Teufels 
üben,  scheint  nicht  blos,  sondern  war  in  der  That  die  der 
Zeit,  und  der  im  Jahre  847  zum  Erzbischof  von  Mainz  er- 
hobene Rhaban  theilte  diese  Ansicht.  Er  warnt  in  einer 
seiner  Homilien  vor  dem  Umgang  mit  Heiden,  um  nicht  deren 
Gebräuche  nachzumachen;  in  einer  andern  warnt  er  vor 
Zeichendeutern,  Zauberern  u.  dgl.,  überhaupt  vor  allem  heid- 
nischen Aberglauben,  weil  dieser  vom  Teufel  herrühre.  Wird 
aber  mit  der  Anerkennung  des  Teufels  als  einer  Macht  nicht 
der  heidnische  Aberglaube  ins  Christliche  übersetzt?' 

Im  Jahre  849  erliess  Papst  Leo  IV.  eine  väterliche  Er- 
mahnung an  alle  Bischöfe  des  britischen  Reichs,  wobei  er 
die  Sortes  als  Maleficien  erklärt,  die  bei  Strafe  des  Bannes 
ausgerottet  werden  sollen. 

In  den  Annalen  von  Fulda  zum  Jahre  857  ist  ein  schreck- 
liches Ungewitter  verzeichnet,  bei  dessen  Herannahen  die 
ganze  Volksmenge  auf  das  Geläute  in  die  Domkirche  zu  Köln 
sich  geflüchtet  hatte.  Das  Gewitter  habe  sich  über  der  Kirche 
entladen  und  der  Blitz  sei  in  der  Gestalt  eines  feurigen 
Drachen  durch  die  Dachrinne  gefahren v  habe  die  Gewölbe 
zerschmettert,  einen  Priester  am  Altar  des  heiligen  Petrus, 
einen  Diakon  am  Altar  des  heiligen  Dionysius  und  einen 
Laien  am  Altar  der  heiligen  Maria  erschlagen,  mehrere  zu 
Boden  geworfen. l  Verschiedene  Unglücksfälle  im  Jahre  858 
schreibt  der  Abt  Trithemius  dem  Teufel  zu,  der  sichtbar  er- 
schienen, Häuser  in  Brand  gesteckt,  vornehmlich  gegen  einen 
Bürger  arg  gewüthet  haben  soll,  wobei  er  die  Priester,  die 
dem  Bürger  mit  geistlicher  Hülfe  beistehen  wollten,  mit  Stein- 
würfen bediente  und  verwundete.  2 


1  Annal.  Fukl.  und  Annal.  Frudentii  Treens.  ad  ann.  857. 

2  Trithem.  Chronicon  Hirsau£.  ad  ann.  858. 


10.  Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.     Völlige  Ausbildung  des  Teufels.     303 

Fehr1  liefert2  ein  Beispiel,  wonach  eine  Synode  zu  Mainz 
gegen  die  Umtriebe  zweier  unwürdiger  Priester  aus  Sachsen 
gehalten  wurde,  die  sich  für  frömmer  und  heiliger  als  alle 
Bischöfe  ausgaben,  sich  göttlicher  Wundergaben  und  himm- 
lischer Visionen  rühmten,  daher  ihnen  die  gemeinen  Leute 
haufenweise  zuströmten,  Beichte  ablegten  und  Geschenke 
brachten.  Infolge  entstandener  Uneinigkeit  unter  ihnen  wur- 
den ihre  Betrügereien  entdeckt.  Den  einen  entsetzte  der 
Erzbischof  Luitbert  in  einer  Synode  seines  Amts,  des  andern 
bemächtigte  sich  aber  der  böse  Feind,  der  ihn  jämmerlich 
quälte. 

Dieser  Fall  ist  darum  merkwürdig,  weil  der  Teufel  hier 
im  Sinne  der  Strafgerechtigkeit  fungirt,  wovon  öftere  Bei- 
spiele vorkommen. 

Der  11.  Kanon  der  Synode  von  Worms  vom  Jahre  895 
verordnet:  „Gemäss  den  Statuten  der  heiligen  Väter  und  wegen 
der  wunderbaren  Ereignisse  verbieten  wir,  dass  fernerhin  ein 
Laie  in  der  Kirche  beerdigt  werde."  Der  Kanon  gibt  zugleich 
diese  wunderbaren  Ereignisse  an,  welche  das  Verbot  ver- 
anlassten. In  Genua  war  ein  gewisser  Valentinus  gestorben, 
dessen  Leichnam  in  der  Kirche  des  heiligen  Syrus  des  Mär- 
tyrers beigesetzt  wurde.  Um  Mitternacht  erhob  sich  ein 
Lärm  in  der  Kirche,  worauf  die  herbeigeeilten  Wächter  zwei 
Teufel  sahen,  welche  die  Füsse  des  Valentinus  mit  einem 
Stricke  zusammenbanden  und  ihn  aus  der  Kirche  heraus- 
schleppten.  Die  Wächter  ergriffen  die  Flucht,  und  als  am 
Morgen  die  Grabstätte  untersucht  ward,  war  die  Leiche  ver- 
schwunden, man  fand  sie  aber  ausserhalb  der  Kirche  mit  noch 
zusammengebundenen  Füssen.  Die  Synode  erklärt  dies  für  „eine 
wunderbare,  schreckliche  Geschichte,  die  für  alle  Zeiten  zu 
beobachten  sei". 

(10.  Jahrhundert.)  Görres  3  beruft  sich  auf  ein  Decret  des 
Bischofs  Eutychianus  (gegen  Ende  des  3.  Jahrhunderts),  worin 
Hirten  und  Jäger  als  solche  bezeichnet  werden,  die  über  Brot, 
Kräuter  oder  über  gewisse  Vernestelungen  (ligamina)  teuflische 


1  In  seiner  angeführten  Schrift,  S.  109. 

2  Aus  Annal.  Xantens,  ad  ann.  8G9. 

3  Mystik,  III,  48. 


304  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Verse  sprechen  und  das  Besprochene  in  Bäumen  oder  an 
Kreuzwegen  verstecken,  den  eigenen  Herden  zum  Heil,  den 
fremden  zum  Schaden.  Obschon  die  Kritik  dieses  Decret 
dem  Eutychianus  abgesprochen  hat,  kann  es  dem  vorliegenden 
Zwecke  doch  dienen,  insofern  es  die  Anschauungsweise  vor 
der  Zeit  der  Decretensammlung  darlegt. 

Die  Furcht  vor  dem  Teufel  und  seiner  Macht  hatte  den- 
selben bereits  im  9.  und  10.  Jahrhundert  so  hoch  erhoben, 
dass  die  göttliche  Allmacht  daneben  beschränkt  erschei- 
nen musste,  daher  Ratherius,  Bischof  zu  Verona,  um  die 
Mitte  des  10.  Jahrhunderts  zum  Widersprechen  sich  genöthigt 
fühlte.  1  Selbst  Päpste  wurden  mit  dem  Teufel  in  Verbin- 
dung gebracht,  wie  die  Synode  vom  Jahre  963,  6.  November 
in  Rom  gehalten,  beweist,  wo  der  Process  gegen  Johann  XII. 
begonnen,  welchem  unter  anderm  auch  der  Vorwurf  gemacht 
ward:  er  habe  auf  die  Gesundheit  des  Teufels  getrunken, 
beim  Spiele  die  Hülfe  der  Juno,  Venus  und  anderer  heid- 
nischer Götter  angerufen.  2  Es  schien  die  Welt  wie  auf  einer 
Wrage  schwebend,  sodass  aber  die  Schale  des  Bösen  überwog. 
Alles  Aussergewöhnliche  wurde  dem  Teufel  zugeschrieben, 
und  der  Enge  des  damaligen  Gesichtskreises  musste  eben  sehr 
viel  ausserordentlich  erscheinen.  Die  Bemerkung  ist  daher 
richtig:  Papst  Sylvester  (999 — 1003)  sei  darum  für  einen 
Schwarzkünstler  gehalten  worden,  weil  er  kein  Alltagsleben 
geführt  habe.  3 

(11.  Jahrhundert.)  Wie  früher  die  Heiden,  dann  die  Ketzer 
für  Teufelsdiener  galten,  so  nunmehr  auch  die  Juden,  denen 
die  Schuld  von  mancherlei  Unheil  aufgebürdet  und  die  des- 
halb verfolgt  wurden.  Als  1066  Erzbischof  Eberhard  von 
Trier  inmitten  der  Osterfeier  plötzlich  gestorben  war,  schrieb 
man  den  Todesfall  den  Juden  zu,  die  sein  Bild  aus  Wachs 
gefertigt,  es  von  einem  abtrünnigen  Priester  Paulin  weihen 
lassen,    während    der    gottesdienstlichen  Handlung    verbrannt 


1  Mabillon,  A.  SS.  S.  V.,  p.  478;  vgl.  Görres,  Mystik,  III,  43  fg.,  wo 
die  Concilbeschlüsse  angeführt  werden. 

5  Vogel,  Ratherius,  I,  2S3. 

3  Horst,  Daemonom.,  S.  85. 


10.   Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.    Völlige  Ausbildung  des  Teufels.     305 

haben  sollten.  Sein  später  gesetzter  Grabstein  berichtet  die 
That.  J 

In  diesen  Jahrhunderten  ist  auch  der  Glaube  an  Thier- 
verwandlungen,  Werwölfe  und  dergleichen  Metamorphosen,  die 
mit  des  Teufels  Hülfe  vor  sich  gehen,  schon  allgemein  verbreitet. 
Die  Hexer  sollten  sich,  durch  ihre  Teufelskunst ,  besonders 
gern  in  Wölfe  verwandeln  und  als  solche  in  den  Heerden 
grossen  Schaden  anrichten,  selbst  Kinder  auffressen.  Ein 
Beispiel  liefern  bekanntlich  schon  Ovid's  Metamorphosen 2, 
wo  Jupiter  den  grausamen  König  der  Arkadier  in  einen  Wolf 
verwandelt.  Auch  unter  den  Indianern  erfreut  sich  der  Glaube 
an  Verwandlung  der  Menschen  in  Thiere  grosser  Verbreitung. 3 
Im  Mittelalter  wurde  besonders  Bulgarien  als  Sitz  der  Wer- 
wölfe betrachtet,  was  mit  den  Katharern,  den  Bogumilen  im 
Zusammenhange  steht.  Das  weibliche  Geschlecht  verwandelt 
sich,  nach  dem  gangbaren  Glauben,  gewöhnlich  in  Katzen, 
Kröten,  Hatten,  Mäuse,  Heuschrecken  u.  dgl.  Besonders  be- 
liebt in  der  teuflischen  Kunst  ist  die  Katze.  Auch  diese 
Metamorphose  ist  schon  im  heidnischen  Alterthum  vertreten. 
Als  Galinthia,  nach  Antonius  Liberalis4  von  den  Schicksals- 
göttinnen, nach  Pausanias  (in  Beoticis)  von  den  Zauberinnen 
in  eine  Katze  verwandelt  ward,  erbarmte  sich  Hekate  jener 
und  machte  sie  zu  ihrer  Priesterin.  Als  dann  Typhon  alle 
Götter  und  Göttinnen  gezwungen,  sich  in  Thiere  zu  verwan- 
deln, nahm  Hekate  selbst  die  Gestalt  einer  Katze  an. 

Nach  der  kirchlichen  Anschauung  der  Zeit  vollziehen  sich 
solche  Verwandlungen  selbstredend  nur  durch  die  Macht  des 
Teufels,  und  wenn  später  die  Verfasser  des  „Hexenhammers" 
diese  Metamorphosen  auf  ein  Blendwerk  des  Teufels  zurück- 
führen, so  zweifeln  sie  doch  nicht  an  ihrer  wirklichen  Existenz. 
Dies  war  auch  die  orthodoxe  Meinung,  dass  Gott  dem  Teufel 
zulasse,  aus  Menschen  wirkliche  Thiere  zu  machen,  und  ob- 
schon  man  diesen  die  menschliche  Seele  liess,  behauptete  man 
doch,  dass  das  Thier  keinen  Gebrauch  davon  mache.  Remigius 
führt   zur  Bestätigung  mehrere  Beispiele  von  Hexen  an,  die 


1  Brower,  Antiqu.  Trevir.  lib.  LXXV,  p.  539;  bei  Görres,  Mystik,  III,  53. 

2  Lib.  I,  Met.  VI. 

3  Waitz,  Anthropologie,  III,  215  u.  a. 

4  Metamorph.,  c.  XXIX. 

Rosko ff,  Geschichte  des  Teufels.   I.  20 


30(3  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

selbst  bekannten,  früher  in  Katzen  verwandelt  gewesen  zu  sein. 
Kaspar  Schott,  ein  berühmter  Physiker  seiner  Zeit,  verwirft 
diese  Behauptung,  -weil  nach  physikalischen  Gesetzen  kein 
Körper  in  den  andern  dringen  könne  ohne  mehr  Raum  ein- 
zunehmen, daher  in  den  andern  physisch  nicht  verwandelt 
werden  könne.  Er  wTeiss  die  Erscheinung  besser  zu  erklären : 
der  Teufel  geht  vor  den  Teufelskünstlerinnen  einher,  die  zwar 
Menschen  bleiben,  aber  durch  Illusion  der  Menschen  wie 
Katzen  aussehen.  Er  öffnet  ihnen  geschwind  und  ganz  leise 
Thüren  und  Fenster,  die  er,  sobald  er  jene  eingelassen  hat, 
ebenso  unmerklich  wieder  schließet.  *  Nach  der  Ansicht  des 
Grillandus 2  halten  sich  die  Hexen  nur  durch  Betrug  des 
Teufels  für  solche  Thiere,  denen  er  die  Fenster  öffnet,  Mauern 
durchbricht  u.  dgl. 

Nicht  nur  die  Macht,  Menschen  in  Thiere  zu  verwandeln, 
wurde  dem  Teufel  allgemein  zuerkannt,  sondern  auch  dass 
mit  seiner  Hülfe  durch  Hexer  und  Hexen  allerlei  Ungeziefer, 
Würmer,  Engerlinge  u.  dgl.  hervorgebracht  werden  können, 
war  herrschender  Glaube.  Ein  treffendes  Beispiel  in  dieser 
Richtung  bringt  Horst  aus  dem  mittelalterlichen  Glaubens- 
kreise. 3  „Als  einmal  Würmer  und  Engerlinge  in  der  Gegend 
von  Lausanne  Ungeheuern  Schaden  an  Feld-  und  Garten- 
früchten verursachten,  wurden  sie  auf  Befehl  des  Bischofs 
von  Lausanne  dreimal  von  der  Kanzel  citirt:  «bei  Kraft  und 
Gehorsamlichkeit  der  heiligen  Kirche,  den  sechsten  Tag  dar- 
auf, nachmittags,  so  es"  zur  Glocke  Eins  schlägt,  gen  Wiflis- 
bürg  zu  erscheinen,  selbst  oder  durch  Fürsprache».  Hierauf 
kniete  die  Gemeinde  nieder  und  betete  drei  Paternoster  und 
ebenso  viel  Ave-Maria  zu  Ehren  der  Dreifaltigkeit  um  Gnade 
und  Hülfe  wrider  die  abscheulichen  Inger  zu  erflehen.  Da  die 
Würmer  nach  abgelaufenem  Termine  zu  erscheinen  unter- 
liessen,  so  wurde  ihnen  ein  Vertheidiger  ihrer  Sache  bewilligt. 
Kläger  und  Beklagte  wurden  darauf  ordentlich  nach  gebräuch- 
lichem Rechtsgang  verhört  und  da  die  Engerlinge  den  Process 
verloren,  wurden  sie  feierlich  im  Namen  Gottes  des  Vaters, 
des  Sohnes  und  des  Heiligen  Geistes  verflucht,  dass  sie  sofort 


1  Physica  curiosa,  c.  XXIV,  p.  81  sequ. 

2  De  sortileg.  lib.  II,  qu.  8. 

3  Daemanom.  I,  81. 


10.     Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.     Völlige  Ausbildung  des  Teufels.     307 

von  allen  Feldern  weichen  und  zu  Grunde  gehen  sollten.  Die 
Engerlinge  fanden  es  aber,  nach  der  Versicherung  einiger 
Zeitgenossen,  bequem,  in  dem  guten  Boden  von  Lausanne 
fortzuleben,  dass  sie  ihrer  Verfluchung  ungeachtet  auch  das 
Jahr  darauf  nicht  weichen  wollten."  l 

Gfrörer2,  der  die  Bemerkung  macht,  es  habe  damals 
der  Teufelsglaube  eine  solche  Stärke  erlangt,  dass  eine  Menge 
Erscheinungen,  Krankheiten  u.  dgl.,  die  man  in  andern  Zeiten 
aus  natürlichen  Ursachen  ableitete,  nun  der  Bosheit  des  Erb- 
feindes zugeschrieben  wurden,  liefert  auch  einige  Fälle.  Der 
Kranke,  den  Erzbischof  Adelbert  am  Osterfeste  1065  zu 
Worms  geheilt  haben  .soll,  musste  ein  vom  Teufel  Besessener 
gewesen  sein.  Die  Zuckungen  und  Krämpfe,  unter  denen 
Reginger  starb,  waren  ein  Werk  des  Bösen.  3  Nach  dem 
Berichte  des  augsburger  Chronisten  überfielen  im  Jahre  1075 
Hölleno-eister  auf  einmal  mehrere  Weiber  aus  dem  Gesinde 
Herzogs  Wolf  von  Baiern.4  —  Dass  der  Satan  zuweilen 
selbst  leibhaftig  erschien,  bald  in  schreckenerregender  Grösse, 
bald  in  Zwerggestalt,  versteht  sich  von  selbst,  und  in 
der  Geschichte  der  Wunder  des  heiligen  Emeran  erzählt 
ein  Mönch  Arnold,  der  um  das  Jahr  1037  geschrieben, 
Selbsterlebtes. 5  Die  vor  dem  Concil  zu  Orleans  1022  ab- 
gelegten Zeugnisse  in  Beziehung  auf  die  Manichäer  sind 
wahre  Blocksbergsscenen,  die  Gfrörer  voll  Wahnsinn  und 
Unzucht  findet  und  dabei  bemerkt:  „Mag,  was  man  den 
Manichäern  schuld  gab,  wahr,  halb  wahr  oder  falsch  sein, 
gewiss  ist:  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Menschen  hielt 
solche  Dinge  für  wirklich.  6 

Das  eno-lische  Concil  von  Anham  um  1009  verordnet: 
wenn  Hexen,  Zauberer  oder  Wahrsager  sich  irgendwo  fin- 
den, so  sollten  sie  aus  dem  Lande  gewiesen  werden,  wenn 
sie  sich  nicht  bessern.7     Das  10.  Buch  im  „Magnum  Decre- 


1  Vgl.  Hottinger,  Histor.  eccles.;  Semmler,  Fruchtb:  Auszug  ans  der 
Kirchengeschichte,  II,  76. 

2  Gregor  VII.  und  seine  Zeit,  II,  107  fg. 

3  Pertz,  V,  207. 
*  Pertz,  II,  129- 

5  Pertz,  IV,  543. 

6  Gfrörer,  a.  a.  0-,  S.  108. 

7  Mansi,  Tom.  XIX,  1.  c.  p.  253. 

20* 


308  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

torium  volumen"  des  Bischofs  Burchard  (gest.  1025)  beginnt 
mit  der  ernstliehen  Ermahnung:  dass  die  Bischöfe  und  Priester 
mit  allen  Kräften  dahin  streben  sollen,  die  verderbliche,  vom 
Teufel  erfundene  Kunst  der  Wahrsagerei  und  Zauberei  mit 
Stumpf  und  Stiel  aus  ihren  Sprengein  auszurotten.  Einige 
Weiber,  die  sich  dem  Satan  zugewendet,  sind  durch  dessen 
Vorspiegelungen  irregeleitet  und  geben  vor,  dass  sie  mit 
Holda  und  einer  Menge  von  Weibern  auf  gewissen  Thieren 
ritten  und  nächtlicherweise  einen  grossen  Theil  der  Erde 
durchzögen,  von  andern  zu  ihren  Diensten  gerufen  würden. 
Und  wenn  nur  diese  allein  in  ihrem  Aberglauben  verdürben 
und  nicht  auch  andere  mit  in  den  Untergang  zögen!  Aber 
eine  unzählige  Menge  lässt  sich  durch  diesen  Wahn  bethören 
und  hält  ihn  für  Wahrheit,  irrt  vom  rechten  Wege  ab  und 
versinkt  in  heidnischen  Irrthum,  da  sie  glaubt,  es  gebe  ausser 
Gott  noch  ein  göttliches  Wesen.  Die  Priester  müssen  daher 
in  ihren  Gemeinden  dem  Volke  eindringlichst  predigen,  dass 
dies  alles  falsch  und  solches  Blendwerk  nicht  von  einem  gött- 
lichen Wesen,  sondern  von  einem  bösen  Geist  den  Seelen  der 
Menschen  eingegeben  werde.  Es  nimmt  nämlich  der  Teufel 
die  Gestalt  eines  Engels  des  Lichts  an  und  verwandelt  sich, 
sobald  er  den  Geist  irgendeines  Weibes  befangen  und  sich 
dieses  durch  seinen  Aberglauben  unterjocht  hat,  in  entgegen- 
gekehrte Gestalten  und  zeigt  der  von  ihm  befangen  gehaltenen 
Seele  im  Traume  bald  Freudiges,  bald  Trauriges,  bald  be- 
kannte, bald  unbekannte  Personen  und  führt  dieselbe  auf  alle 
Abwege;  der  Mensch  aber  wähnt,  alles  das  gehe  nicht  nur 
geistiger-,  sondern  auch  körperlicherweise  vor.  Daher  ist 
allen  öffentlich  zu  verkünden,  dass,  wer  solches  und  ähnliches 
glaubt,  den  Glauben  verliert,  und  dass  wer  den  rechten  Glau- 
ben an  Gott  nicht  hat,  nicht  diesem,  sondern  dem  angehört, 
an  den  er  glaubt,  nämlich  dem  Teufel.  —  Im  28.  Kapitel  ist 
die  Rede  von  Zauberern,  Wettermachern  und  solchen,  welche 
durch  Anrufuno;  der  Dämonen  die  Gemüther  der  Menschen 
verändern  zu  können  glauben  und  daher  aus  der  Kirchen- 
gemeinschaft ausgeschlossen  werden  sollen.  Weiber,  die 
solches  thun  und  vorgeben,  sie  können  die  Gesinnung  der 
Menschen,  den  Hass  in  Liebe,  Liebe  in  Hass  umändern,  und 
dass  sie  nachts  (in  der  schon  beschriebenen  Weise)  auf  Thie- 
ren  reiten,    sollen  aus   der  Pfarrei   ausgewiesen  werden.     Die 


10.    Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.     Völlige  Ausbildung  des  Teufels.     301) 

Priester  sollen  die  Gläubigen  belehren,  dass  Zauberkünste  den 
Menschen  in  einer  Krankheit  keine  Heilung  verschaffen,  ebenso 
wenig  die  Thiere  vor  Krankheit  und  Tod  schützen  können; 
sondern  dass  es  Nachstellungen  und  Stricke  des  alten  Feindes 
sind,  durch  welche  er  das  Volk  zu  berücken  strebt  (Kap.  40). 
Im  13.  Kapitel  wird  derjenige  mit  einem  Jahre  Busse  bedroht, 
der  auch  dem  kleinsten  der  Dämonen  opfert,  wer  grossen, 
soll  zehn  Jahre  Busse  thun. 

Aus  diesem  kleinen  Auszuge  ist  die  Beschaffenheit  des 
damals  herrschenden  Volksglaubens  ersichtlich,  und  welche 
Macht  der  Bischof  von  Worms  dem  Teufel  zueignet.  Das 
5.  Kapitel  enthält  einen  ganzen  Abschnitt  ,,de  arte  magica", 
worauf  eine  Menge  Fragen  an  das  Beichtkind  gerichtet  wer- 
den sollen.  Für  den  Fall  der  Bejahung  der  Frage:  ob  es 
sich  dieser  oder  jener  teuflischen  Zauberkunst  schuldig  ge- 
macht, wird  die  entsprechende  Busse  angegeben.  Der  Aber- 
glaube, Irrthum  wird  also  als  Sünde  behandelt,  insofern  latent 
ein  Abfall  darunter  gedacht  ist,  und  so  sehen  wir  den  alt- 
testamentlichen  Standpunkt  noch  immer  festgehalten,  wo  Zau- 
berei und  was  damit  zusammenhängt,  als  theokratisches  Ver- 
brechen, als  Abfall  von  Jahveh  bestraft  wird. 

Als  Zeugen  des  allgemein  verbreiteten  Glaubens,  dass  ein 
Bündniss  mit  dem  Teufel  zu  schliessen  möglich  sei,  und  ein 
solches  dem  daran  betheiligten  Menschen  ausserordentliche 
Macht  verleihe,  dass  diesen  Glauben  auch  gewisse  Häupter 
am  salischen  Hofe  theilten  und  selbst  beflissen  waren,  des 
Beistandes  dämonischer  Mächte  sich  zu  versichern,  führt 
Gfrörer1  den  bremischen  Geschichtschreiber  Adam  an,  der 
Selbsterlebtes  berichtet.  Dieser  erzählt2:  „Seit  der  Zeit,  da 
Adalbert  (der  hamburger  Bischof)  den  Staat  lenkte,  hat  man 
bemerkt,  dass  der  Charakter  des  Erzbischofs  eine  schlimme 
Wendung  erfuhr:  er  konnte  alle  diejenigen  nicht  mehr  aus- 
stehen, die  ihm  die  Wahrheit  sagten,  schenkte  Schmeichlern 
ausschliesslich  seine  Gunst,  umgab  sich  mit  Wunderthätern, 
Traumdeutern,  Wahrsagern.  Diese  Menschen  behaupteten, 
das,  was  sie  ihm  vorlogen,  sei  ihnen  durch  Engel  geoflen- 
bart  worden.    Oefientlich  prophezeiten  sie,  der  hamburger  Pa- 


1  Gfrörer,  Gregor  VII.,  110. 

2  Gesta  Hammaburg.,  III.,  37—38;  Pertz,  VII,  350. 


310  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

triarch  (diesen  Titel  hörte  Adalbert  am  liebsten)  werde  in 
kurzem  das  Papstthum  erlangen,  seine  Widersacher  vom 
Hofe  vertreiben,  werde  den  Staat  allein  und  lange  regieren, 
die  Jahre  seines  Patriarchats  werden  die  Zahl  fünfzig  über- 
schreiten und  zuletzt  werde  durch  ihn  das  goldene  Zeitalter 
auf  Erden  wiederkehren."  Weiter  unten  berichtet  Adam, 
dass  der  Erzbischof,  um  den  Ankauf  einer  Grafschaft  zu  be- 
streiten, alle  Kirchengefässe  eingeschmolzen  und  sich  gerühmt 
habe,  dass  er  in  kurzem  statt  silbergeschmückter  Kirchen 
eine  goldene  erbauen  und  alle  weggenommenen  Kleinodien 
zehnfach  ersetzen  werde.  Gfrörer  f  u£t  die  Bemerkuno;  hinzu: 
Adalbert  müsse  geglaubt  haben,  demnächst  über  einen  Zauber 
zu  verfügen,  alles  in  Gold  zu  verwandeln.  Gfrörer  bestätigt 
auch  *,  dass  Adalbert  die  Goldmacherkunst  nicht  als  Philo- 
sophie, sondern  als  Teufelswerk  betrachtet  habe,  und  sieht 
den  Beweis  in  dem  tiefen  Dunkel,  in  welches  der  Erzbischof 
seinen  Verkehr  mit  seinen  Genossen  geflissentlich  hüllte,  und 
in  der  sichtbaren  Aengstlichkeit,  mit  der  Zeitgenossen,  wie 
Adam,  von  dem,  was  in  den  verborgensten  Gemächern  des 
hamburger  Bischofshofes  vorging,  sprechen.  „Also",  ruft 
Gfrörer  aus2,  „der  Metropolit,  der  10G5  — 1066  das  Steuer- 
ruder des  Staats  führte,  beschäftigte  sich  mit  geheimen 
Künsten,  welche  die  Kirche  und  Mitwelt,  ja  er  selbst,  für 
höllische  hielt."  Bei  Gfrörer3  spricht  Benno4  den  Verdacht 
aus:  Gregor  VII.  habe  seine  grossen  Thaten  mit  Hülfe  eines 
nekromantischen  Buchs,  also  im  Einverständnisse  mit  dem 
Teufel  vollbracht. 

Das  Concil  von  London  im  Jahre  1075  verordnet:  dass 
keiner  Zeichendeuterei  oder  ähnliche  Künste  ausüben  dürfe, 
noch  die  Gebeine  getödteter  Thiere  aufhängen,  um  dadurch 
die  Viehseuche  abzuwehren.5 

Nach  der  herrschenden  Vorstellung  vom  Teufel,  dessen 
Wirksamkeit  bei  allem  Aussergewöhnlichen  wahrgenommen 
wurde,  hatte  derselbe  auch  überall  seine  Hand  angelegt,  wo 
es   Verhältnisse  gab   die   für   abnorm   galten,   weil   man   ihren 


1  S.  113. 

2  S.  114. 

3  Greg.  VII.,  II,  109. 

4  Goldasti,  6. 

5  Mand  Tom.  X,  c.  1,  p.  454. 


10.   Vom  7.  bis  13,  Jahrhundert.    Völlige  Ausbildung  des  Teufels.      311 

Grund  nicht  erkannte.  Dies  zeigt  sich  bei  Kaiser  Heinrich  IL 
und  seiner  Gemahlin  Kunigunde.  Die  mittelalterliche  Kirche 
hat  diesen  Kaiser  bekanntlich  unter  die  Heiligen  verzeichnet 
und  seine  Gemahlin  hat  ihre  Lobredner  gefunden,  die  sie  als 
Heilige  darzustellen  bemüht  sind.  Ungeachtet  dessen  hat  sich 
die  Sage  gebildet,  Kunigunde  sei  ihrem  Gemahl  untreu  ge- 
wesen, dass  ein  junger  Soldat  öfters  gesehen  worden,  als  er 
des  Morgens  die  Königin  verliess,  dass  Kunigunde  zur  Be- 
stätigung ihrer  Unschuld  die  Probe  des  glühenden  Eisens 
habe  bestehen  müssen.  Nach  der  Versicherung  eines  unbe- 
kannten Mönchs,  der  um  das  Jahr  1300  eine  weitläufige 
Lebensbeschreibung  Heinrich's  verfasste1,  war  die  Kaiserin 
unschuldig,  aber  der  leidige  Teufel  nahm  aus  Neid  über  die 
musterhafte  Keuschheit  derselben  die  Gestalt  eines  Soldaten 
an,  um  sie  zu  verderben.  Gfrörer2  macht  uns  auf  das 
hohe  Alter  dieser  Sage  aufmerksam,  mit  Hinweisung  auf 
die  Vita  Henrici  des  bamberger  Adalbert3,  und  wir  dürfen 
hiernach  annehmen,  dass  die  Einmengung  des  Teufels  von 
zeitgenössischen,  der  Kaiserin  geneigten  Interpreten  ins  Werk 
gesetzt  worden  ist.  Aus  der  Geschichte  von  Kunigunde, 
die  auch  Viti  Arnpeckhii  Chronicon  Bojoarioruni  enthält4, 
möge  nur  die  entscheidende  Stelle  aus  Kap.  XXIX  hier 
Raum  finden: 

Sub  modio  posita  fuit  ardens  illa  lucerna. 
Hanc  etenim  nuptam  prius  omnes  esse  putabant, 
Denique  corruptam  pro  adulterium  reputabant. 
Sed  quia  virgineum  florem  servavit  in  aevum , 
Judicio  teste,  satis  eminuit  manifeste. 
Quod  prius  Hainricus  fuerit  quoque  virgo  pudicus, 
Est  manifestatum  licet  haud  fuerit  sibi  gratum. 
Pessima  figmenta  Sathanae  sunt  adnihilata, 
Femina  dum  fragilis  Sathana  tentante  probatur 
Omnibus  odibilis  Zabulus  per  eam  reprobatur. 

Ein   Bild  vom  Teufelsglauben    aus   dem    12.  Jahrhundert 
erhalten  wir  durch  Fehr5,  der  den  Schluss  der  Rede  anführt, 


1  Vitae  Henrici  additam.,  c.  3;  Pertz  IV,  819  squ. 

2  Allgem.  Kirchengeschichte,  IV,  1.  Abth.,  197. 

3  Cap.  21;  Pertz  IV,  805. 

4  Lib.  IV,   cap.  XXVII;  in  Pezii  Thesaur.  anecdot.  noviss.,  Tom.  III, 
Part.  III. 

5  A.  a.  0.,  S.  135. 


312  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

die  der  heilige  Otto,  Bischof  von  Bamberg,  der  Missionar 
von  Pommern,  bei  seinem  Abschiede  (im  Jahre  1125)  daselbst 
gehalten:  „Vorerst  entsaget  euern  betrügerischen  Götzen,  den 
tauben  und  stummen  Bildern  und  unreinen  Geistern,  die  darin 
wohnen;  bewaffnet  mit  dem  Kreuzeszeichen  zerstört  die 
Tempel  und  Bildnisse  der  Götzen,  damit  nach  Verjagung 
dieser  euer  Gott,  der  Lebendige,  in  eurer  Mitte  wohnen  möge. 
Ihr  könnt  nicht  Gnade  bei  ihm  finden,  wenn  ihr  nicht  alle 
andern  verweiset,  denn  er  fliehet  davon  und  hält  die  Gesell- 
schaft anderer  Götter  für  seiner  unwürdig;  er  mag  keine  Ge- 
meinschaft mit  Götzen.  Aber  ich  weiss ,  ihr  habt  noch  kein 
rechtes  Zutrauen,  ich  weiss,  ihr  fürchtet  euch  vor  den  Teu- 
feln, den  Inwohnern  eurer  Götzenbilder,  und  deswegen  wagt 
ihr  es  nicht,  sie  zu  vernichten;  darum  will  ich  selbst  mit 
meinen  Brüdern,  den  Priestern  und  Klerikern,  in  eurer  Gegen- 
wart die  Götzenbilder  und  Tempel  angreifen,  und  wenn  ihr 
dann  sehen  werdet,  dass  wir,  bezeichnet  mit  dem  Kreuzes- 
zeichen, unverletzt  bleiben,  so  leget  auch  ihr  Axt  und  Beil 
an,  zerstört  Thüren  und  Wände,  werfet  sie  hinaus  und  ver- 
brennt sie."  Ehe  der  heilige  Otto  Hand  anlegte,  hielt  er,  wie 
alle  seine  Priester,  die  heilige  Messe,  wobei  die  übrigen  Theil- 
nehmer  communicirten.  Hierauf  ergriffen  sie,  unter  dem 
Schutze  des  Kreuzeszeichens,  Beile,  Aexte,  Hacken,  bestiegen 
die  Götzentempel  und  rissen  Dach,  Balken  und  Obergebäude 
zusammen.  Als  die  Pommern  sahen,  dass  der  heilige  Bischof 
mit  den  Seinigen,  ohne  den  geringsten  Widerstand  der  Götter 
zu  erfahren,  dies  vollzog,  machten  sie  gemeinschaftliche  Sache 
mit  ihnen  und  zerstörten  alle  Götzenbilder  und  Behälter  der- 
selben. Das  Holz  nahmen  sie  mit  nach  Hause,  um  den  Ofen 
damit  zu  heizen.  Nur  den  halbzerstörten  Triglaf  behielt  sich 
der  Bischof,  um  ihn  dem  heiligen  Vater  als  Siegeszeichen 
nach  Rom  zu  schicken.  Ueberall,  wo  früher  Götzenbilder 
waren,  auch  selbst  an  öffentlichen  Wegen,  wurden  jetzt  Kreuze 
mit  dem  Bildnisse  des  Erlösers  errichtet,  damit  der  Heiland 
von  allen  erkannt  werde.  Man  kann  die  Ueberzeugung  Fehr's 
theilen,  dass  es  dem  Bischof  Otto  um  Ausrottung  des  heid- 
nischen Aberglaubens  ernstlich  zu  thun  gewesen;  dem  Unbe- 
fangenen wird  aber  auch  nicht  entgehen,  dass  der  Heiden- 
apostel an  die  Existenz  einer  in  Triglafs  Tempel  hausenden 
Macht  fest   geglaubt,   daher   er  vor  Beginn   des   Zerstörnngs- 


10.    Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.     Völlige  Ausbildung  des  Teufels.     313 

werks  eine  Messe  zu  halten  für  nöthig  hält,  um  unter  dem 
Schutze  des  Kreuzeszeichens  die  Götzen-,  d.  h.  Teufelswohnuno: 
niederreissen  zu  können.  Es  gilt  eigentlich  einen  Wettkampf, 
um  die  grössere  Macht  des  christlichen  Gottes  siegreich  über 
die  des  pommerschen  Götzen  hervorgehen  zu  lassen,  und  als 
Trophäe  wird  der  überwundene  Triglaf  nach  Rom  gesandt. 
Es  ist  eine  Art  Wiederholung  des  Wettkampfs  zwischen  Mose 
und  den  ägyptischen  Zauberern,  wo  die  Existenz  der  ägyp- 
tischen Götter  vorausgesetzt  wird,  der  Hebräergott  aber  als 
der  mächtigere  sich  erweist.  Man  sieht  sich  unter  den  alt- 
mosaischen Gesichtspunkt  versetzt,  und  der  Bischof  Otto  theilt 
kaum  die  Anschauung  der  grossen  alttestamentlichen  Propheten, 
welchen  die  heidnischen  Götter  schon  als  Elilim,  als  Nichtip;- 
keiten  erschienen.  Würde  wol  ein  Bischof  unserer  Tacre  in 
einem  ähnlichen  Falle  durch  Abhaltung  einer  Messe  und  das 
Zeichen  des  Kreuzes  gegen  die  Macht  des  Götzen,  dessen 
Tempel  er  zerstören  wollte,  wie  Otto  sich  früher  kugelfest 
zu  machen  suchen?  Durch  die  Methode,  die  heidnischen 
Götter  und  das  ganze  Heidenwesen  zur  Teufelei  herabzu- 
drücken, die  wir  später  näher  betrachten  wollen,  musste  der 
Glaube  an  den  ganzen  Teufelapparat  bei  den  Bekehrten  leben- 
dig erhalten  werden  und  an  den  vielen  heidnischen  Ueber- 
resten  inmitten  der  Gläubigen  stets  Nahrung  erhalten.  Diese 
wurde  dem  Teufelsglauben  von  dem  frommen  Eifer  der 
Kirchenlehrer,  obgleich  unabsichtlich  und  unbewusst,  in  reich- 
lichem Masse  geboten. 

Dieselbe  Vorstellung  von  dem  Zusammenhange  des  Götzen- 
dienstes mit  dem  Teufel  finden  wir  in  der  Kaiserchronik. 
Massmann 1  theilt  aus  einem  lateinischen  Bruchstück  der  Stutt- 
garter Pergamentschrift,  die  den  Anfang  der  Kaiserchronik 
enthält,  einen  Abschnitt  mit,  dem  eine  Beschreibung  der 
sieben  Wochentage  und  Götter  der  Römer  beigefügt  ist. 
Dem  lateinischen  Texte  gegenüber  steht  der  Text  der  Kaiser- 
chronik, wonach  jener  gebildet  ist.  Wie  dem  früher  er- 
wähnten Bischof  Heidnisches  und  Teuflisches  gleichbedeutend 
ist,  so  wird  diesem  in  dem  Gedichte  Römisches  gleichge- 
achtet. 


1  Kaiserchronik,  Ged.  des  12.  Jahrh.,  S.  874. 


.314  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Septima  die  quae  sabbatum  dicitur 

romani  confluebant  ad  temjjlum 

quod  deo  consecraverunt  qui  saturnus   dicitur 

ibidem  orantes  et  sacrificia  deportantes  deo  saturno 

et  omnibus  diabolis. 

an  deme  samezdage  sä 

einiz  heizit  Rotunda 

daz  was  ein  herez  betehüs 

der  got  hiez  saturnus 

darnach  was  iz  allir  tiuvel  ere. 

Die  Kaiserchronik  erzählt1  von  dem  „helleviure"  in  Rom, 
dass  es  weder  Wasser  noch  Feuer  zu  löschen  vermochte  und 
niemand  zertreten  konnte,  viel  Rauch,  Geruch  und  dadurch 
viel  Krankheit  und  Sterben  hervorrief.  Bei  der  Erlangung 
der  Herrschaft  des  Gottesfeindes  Julianus  muss  selbstver- 
ständlich der  Teufel  mithelfen.  Zu  Rom  lebte  eine  fromme 
Frau,  die  den  Julian  wie  ihren  Sohn  erzog.  Als  ihr  Mann 
starb,  vertraute  sie  jenem  all  ihr  Vermögen  an;  als  sie  es 
aber  zur  Stunde  der  Noth  zurückforderte,  schwur  er,  es  nicht 
empfangen  zu  haben.  Da  eilte  die  Arme  zum  Papste  und 
klagte  über  Julian,  der  aber  neuerdings  abschwur.  Die  Frau 
musste  nun  aus  Noth  für  andere  Leute  waschen,  kochen  und 
backen.  Als  sie  eines  Tages  an  der  Tiber  waschen  wollte, 
fand  sie  im  Wasser  eine  Bildsäule,  welche  die  Heiden  dort- 
hin versteckt  hatten  und  alle  Morgen  anbeteten.  Die  Frau 
spottete  über  das  Gebilde  und  schlug  es  um  die  Ohren.  Da  sprach 
der  Teufel  aus  dem  Bilde  zu  ihr,  aber  sie  spottete  seiner; 
das  Bild  (Mercurius)  versprach,  ihr  das  Vermögen  wieder  zu 
verschaffen,  und  rieth  ihr,  morgen  Julian  abermals  zu  ver- 
klagen, man  werde  ihn  dann  zum  Schwur  auf  seinen  Heiligen 
nöthigen,  und  so  solle  sie  verlangen,  dass  er  auf  das  Mercur- 
bild  schwöre;  er  wolle  sorgen,  dass  sie  ihr  Vermögen  wieder 
erlange.  Die  Frau  that  es,  flehte  zum  Papste  klagend  über  Julian, 
seinen  Kapellan.  Dieser  ward  zum  Eide  verurtheilt;  da  ver- 
langte die  Frau  den  Schwur  auf  Mercurius.  Julian,  rasch 
bereit,  stiess  die  Hand  in  den  Mund  des  Gottes,  der  sie  aber 
festhielt,  dass  ihm  keiner  davon  helfen  konnte.  Da  sagte  Ju- 
lian die  Zurückgabe  des  Vermögens  zu,  das  Bild  aber  Hess 
nicht   ab  bis  zum  Abend.      Da  sprach   es   zu   ihm:    ich  habe 


»  Z.  1138  fg. 


■ 


10.   Vom  7.  bis  13.  Jahrhundert.    Völlige  Ausbildung  des  Teufels.       315 

dich  geschändet,  schwöre  zu  mir,  und  ich  mache  dich  zum 
Herrn  des  römischen  Reichs  u.  s.  w.  Julian  thut  es  und  ge- 
langt so  durch   des  Teufels  Hülfe  zur  römischen  Herrschaft. 

Die  althergebrachten,  von  den  Kirchenvätern  ererbten 
Ansichten  über  den  Fall,  das  Wissen  des  Teufels  u.  dgl.  sind 
auch  im  12.  Jahrhundert  aufrecht  gehalten.  Es  genügt,  aus 
Gottfried  von  Viterbo's  (gest.  1191)  Chronicon  universale  oder 
Pantheon,  das  bis  zum  Jahre  118G  geht,  einige  bezügliche 
Stellen  herauszuheben.  Ueber  Lucifer's  Fall  und  dessen 
Folge:  „Voluit  deo  aequalis  imo  major  apparere,  unde  a  coe- 
lesti  anla  in  carcerem  inferni  tanquam  malefactor  detrusus.  — 
Sicut  prius  pulcherrimus,  ita  factus  est  teterrimus,  prius  splen- 
didus,  postea  tenebrosus,  prius  honore  laudabilis,  postea  errore 
exsecrabilis,  mox  creatus  per  superbiam  intumuit  et  sese 
avertit  a  luce  veritatis.  Alii  qui  cum  eo  erant,  ejecti  sunt, 
principes  et  sequaces  ejus  cum  eo  projecti  sunt  in  internum 
et  in  hunc  aerem  tenebrosum.  —  Ad  hanc  altera  nobis  quae- 
stio  proponitur:  quomodo  diabolus  inter  angelos  bonos  ali- 
quando  scribitur  esse?  ut  in  libro  Job,  adfuit  inquit,  etiam 
Satana  ante  eos,  scilicet  inter  angelos.  Qualiter  cum  electis 
angelis  esse  potuit,  qui  damnatus  per  superbiam  a  coelis  et  a 
fönte  angelorum  dudum  exivit.  —  Sed  forte  dices  o  lector, 
quare  creavit  deus  diabolum,  cum  sciret  eum  malum  esse  fu- 
turum? Respondeo:  quia  propter  operis  sui  ornatum.  Sicut 
pictor  nigrum  colorem  substernit,  ut  albus  apparentior  fiat, 
sie  per  praevaricationem  malorum  justi  clariores  fiunt.  — 
Quaeritur,  si  daemones  omnia  sciant?  Dicimus,  quia  ex  sui 
natura  multam  habeant  scientiam,  non  tarnen  omnia  sciant. 
Sed  quanto  angelica  natura  subtilior  quam  humana,  tanto 
in  omnibus  artibus  sunt  peritiores.  —  Futura  nesciunt,  nisi 
quantum  de  astrorum  scientia  colligant  et  quantum  eis  a  deo 
permittitur.  —  Porro  cogitationes  et  voluntates  nemo  seit, 
nisi  solus  deus  et  cui  ipse  voluerit  revelare.  —  Daemones 
bonum  nee  sciunt  nee  possunt.  —  Casus  autem  malorum  ange- 
lorum minuit  numerum  eorum,  verum  homo  creatus  est,  ut 
impleatur  numerus  electorum."  * 


1  Bibliothek  d.  gesämmt.  deutseh.  Nationallit,,  4.  Bd.,  3.  Abth.,  3.  Tbl., 
S.  87  fg. 


3 IG  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Ilurter l  macht  die  Bemerkung :  „Obwohl  sie  (die  Kirche) 
einen  Einfluss  des  Teufels  und  der  bösen  Geister  auf  die 
Menschen  nicht  in  Abrede  stellte,  so  waren  ihr  doch  alle 
geheimen  Künste,  womit  man  sich  dieselben  zu  irgendwelchem 
Zwecke  dienstbar  zu  machen  wähnte,  ein  Greuel.  Alexander  III. 
(1159 — 89)  untersagte  einem  Priester,  welcher  mit  Hülfe  eines 
Astrolabiums  einen  Diebstahl  entdecken  wollte,  die  Feier  der 
Messe  auf  ein  Jahr.2  Die  allgemeine  Cistercienser- Versamm- 
lung von  1183  verfügte  schwere  Strafe  gegen  jedes  Mitglied, 
welches  Wahrsagerei  getrieben  hatte.3  Honorius  III.  (1206 
— 27)  sah  selbst  das  Los  bei  geistlichen  Wahlen  als  eine 
höchst  tadelnswerthe  Sache  an. 4  Am  klarsten  blickte  der 
ungarische  König  Koloman  (1095 — 1114),  denn  er  sagte:  „von 
Hexen  soll  niemand  reden,  weil  es  keine  gibt."  (De  strigis 
quae  non  sunt,  nulla  mentio  fiat.)5  Hiermit  bestätigt  uns  Hur- 
ter,  dass  auch  die  Oberhäupter  der  Kirche  den  Glauben  an 
die  Macht  des  Teufels  theilten,  und  ihre  Scheu  vor  den 
geheimen  Künsten  findet  eben  darin  ihre  Erklärung.  Dies 
zeigt  Hurter  deutlich,  indem  er  den  König  Koloman  als  den 
klarsten  Denker  aufstellt. 

Vom  Ausgange  des  11.  Jahrhunderts  an  zeigt  der  Teufel 
während  dieses  Zeitraums  häufig  ein  lachendes  Gesicht  und 
spielt  die  Rolle  der  lustigen  Person,  zugleich  eines  ge- 
riebenen Gesellen,  der  aber  schliesslich  doch  den  kürzern  zieht 
und  als  gefoppter,  dummer  Teufel  abziehen  muss,  worüber  er 
verlacht  wird.  Beispiele  hierzu  liefern  die  geistlichen  Schau- 
spiele, wo  der  Teufel  auf  der  Bühne  nebst  der  Nemesis  vor- 
nehmlich die  Komik  vertritt,  was  hier  zunächst  nur  berührt 
wird,  da  der  Teufel  auf  der  Bühne  später  näher  betrachtet 
werden  soll.  Als  zu  Schanden  gewordener  Teufel  erscheint 
er  auch  häufig  in  den  Heiligen-  und  Marienlegenden  in  dieser 
Periode,  in  welcher  die  schon  früher  der  Heiligen  Jungfrau 
gezollte  Verehruno;  nachgerade  die  Höhe  ausschliesslicher 
Abgötterei    erlangte.      Im    Zusammenhange    damit    steht    der 


1  Innocenz  III.,  Bd.  4,  S.  515. 

8  Decret.  Greg.  IX.,  L.  V.,  tit.  XXI. 

3  Holsten,  Cod.  regul.,  II,  402. 
*  Decret.  Greg.  IX.,  1.  cap. 

4  Engel,  Gesch.  v.  Ung.,  I,  20(J. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  dosidcrantes".       317 

Glaube  an  die  grosse  Macht  der  Reliquien  über  den  Teu- 
fel, der  vor  jenen  grosse  Angst  hat.  Dass  er  aber  darüber 
seine  höllische  Natur  nicht  abgethan ,  zeigt  er  in  der 
furchtbaren  Rolle,  die  er  während  des  11.,  12.  und  13.  Jahr- 
hunderts in  der  Geschichte  der  Beghuinen,  Lollharden  und 
Albigenser  spielt. 

Zauberei,  Hexerei  und  Ketzerei  werden  immer  mehr  in- 
einandergesetzt,  so  dass  sie  sich  endlich  ganz  decken.  Hexerei 
und  Zauberei  werden  nur  mehr  vermittels  teuflischer  Macht 
gedacht,  Ketzerei,  schon  früher  ihrem  Ursprünge  nach  vom 
Teufel  abgeleitet,  wird  mit  jenen  im  verbrecherischen  Sinne 
ganz  gleichgestellt. 


11.   Vom  13.  Jahrhundert  "bis  zur  Bulle  „Summis  desi- 
derantes"  von  Innocenz  VIII. 

Eigentliche  Teufelsperiode.. 

Alle  Schriftsteller,  welche  den  Teufelsglauben  des  Mittel- 
alters besprechen,  stimmen  in  der  Wahrnehmung  überein: 
dass  die  Vorstellung  vom  Teufel  und  die  Furcht  vor  seiner 
Macht  inner-halb  des  13.  Jahrhunderts  den  Gipfelpunkt  er- 
reicht und  von  da  ab  die  Gemüther  beherrscht.  Physisches 
Uebel,  moralisch  Böses,  Beschädigungen  am  Besitz,  geheimniss- 
volle Heilungen,  Wettermachen,  Liebeszauber  u.  dgl.  werden 
vom  Teufel  hergeleitet,  es  „sammeln  sich  alle  diese  Begehun- 
gen", sagt  Soldan1,  „und  noch  andere  neu  hinzutretende  von 
nun  an  als  Radien  um  einen  gemeinschaftlichen  Mittelpunkt, 
der  nichts  anderes  ist,  als  ein  vollendeter  Teufelscultus".  Der 
angegebene  Zeitraum  darf  also  wol  als  eigentliche  Teufels- 
periode bezeichnet  werden.  Da  wir  uns  bei  der  Verfolgung 
der  Geschichte  des  Teufels  auf  zeitgenössische  Zeugen  zu  be- 
rufen pflegen,  so  wird  unter  den  Gewährsmännern,  welche 
die  Anschauung  ihrer  Zeit  vergegenwärtigen  können,  Cäsa- 
rius  von  Heisterbach  willkommen  sein.  Als  Geschicht- 
schreiber   aus    der  ersten   Hälfte    des    13.  Jahrhunderts,    der 


1  Gesch.  d.  Hexenpr.,  99, 


318  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

„die  Sitten  der  Zeit  in  frommem  und  reinem  Geiste"  richtet ', 
eröffnet  er  uns  mit  deren  Erkenntniss  auch  den  Einblick  in 
den  herrschenden  Glaubenskreis  mit  der  Vorstellung  vom 
Teufel  darin.  „Wenn  sich",  sagt  Alexander  Kaufmann2, 
„jene  heitere,  sinnlich  verführerische  Seite  des  mittelalterlichen 
Lebens  dichterisch  verfeinert  nirgendswo  so  leicht  und  farben- 
prächtig entfaltet,  wie  im  «Tristan»  Gottfriede  von  Strasburg, 
dieses  lyrisch  so  duftigen  und  melodischen,  episch  so  frisch 
und  lebendig  veranschaulichenden  Dichters,  so  tritt  uns  die 
ernste,  strenge,  vielfach  auch  düstere  Seite  der  mittelalter- 
lichen Cultur  nirgendswo  so  klar  und  bestimmt,  so  ganz  als 
ein  den  Augen  des  Beschauers  nahe  gerücktes  Bild  der  Wirk- 
lichkeit  entgegen,  wie  in  dem  Werke  eines  andern,  mit  Gott- 
fried gleichzeitigen  Rheinländers,  im  Dialogus  des  Cäsarius 
von  Heisterbach.  .  .  .  Cäsarius,  der  zwischen  1240 — 50  starb, 
gehörte  also  noch  zu  der  alten  strengen  Schule  seines  Ordens ; 
das  Kloster,  in  welchem  er  lebte,  wurde  seiner  Zucht  und 
Sittenreinheit  wegen  besonders  gerühmt;  Männer  der  strengen 
Observanz  bildeten  seine  Umgebung  und  seine  Kritiker.  Ein 
Schriftsteller  von  solcher  Richtung  und  in  solche  Lebensweise 
versetzt  war  kein  eitler,  plauderhafter  Fabulist;  er  unterhielt 
nicht  um  zu  unterhalten,  sondern  um  zu  belehren,  und  selbst 
wo  sich  ihm  ein  Scherz  aufdrängt,  liegt  diesem  Scherz  der 
tiefste  Ernst  zu  Grunde."  3  Und  noch  eine  Bemerkung  Kauf- 
mann's  in  unserm  Sinne  und  für  unsern  Zweck  möge  hier 
stehen:  „Man  vergesse  nicht,  dass  in  der  Zeit,  da  Cäsarius 
schrieb,  die  Phantasie  des  Volks  noch  eine  überaus  lebendige, 
erregte,  schöpferische  gewesen  ist.  Wie  sich  die  Laien  Sagen 
und  Märchen  bildeten,  so  erwuchs  in  den  Klöstern,  deren 
Mitglieder  aus  dem  Volke  hervorgegangen  und  ihm  in  gewissem 
Grade  immer  noch  angehörten,  eine  Fülle  legendarischer 
Poesie,  die  weit  mehr  einen  literargeschichtlichen ,  mytho- 
logischen und  ästhetischen  als  einen  kirchlichen  und  theo- 
logischen  Standpunkt  der  Beurtheilung  erheischt." 

Wir  können   also   unsern   Cäsarius   als    Gewährsmann    in 
Betreff  der  Vorstellungen  seiner  Zeit  betrachten  und    ist   zu 


1  Sein   Eintritt  ins  Kloster  fand   gegen  Ende    des   12.  Jahrhunderts 
statt,  sein  Tod  ungefähr  1240—50. 

2  'Cäsar  von  Heisterbach,  Ein  Beitrag  zur  Culturgesch.  (2.  Aufl.),  S.  100. 

3  Ders.,  S.  7. 


11.   Vom  13.  Jahrb.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".        319 

erwarten,  dass  sein  „Dialogus  Miraculorum"  brauchbares  Ma- 
terial zur  Geschichte  des  Teufels  liefern  werde. 

Dieser  erscheint  bei  Cäsarius  unter  "Windgeheul  und 
Krachen  der  Bäume  *  und  bricht  sich  Bahn  durch  das  Dickicht.2 
Der  Gestalt  nach  zeigt  er  sich  bald  als  Pferd,  Hund,  Katze, 
Bär,  Affe,  Kröte,  Rabe,  Geier,  dem  Glöckner  zu  Köln  er- 
scheint er  sogar  in  Ochsengestalt3 ,  bald  in  menschlicher  Form 
als  anständig  gekleideter  Mann4  oder  als  schöner  Soldat5, 
wo  es  darauf  ankommt,  eine  Frau  zu  verführen ,  bald  als 
grosser,  dunkelgekleideter  Mann  von  hässlichem  Ansehen6, 
als  vierschrötiger  Bauer,  bald  mit  weiblichem  Gesicht,  schwar- 
zem Schleier,  schwarzem  Mantel;  auch  als  fliegender  Drache, 
als  schattenhafter  Körper,  als  Mohr.7  Die  Dämonen,  die  auf 
der  pomphaften  Schleppe  der  prunksüchtigen  Mainzerin  sitzen, 
sind  klein  wie  „Glires",  schwarz  wie  Mohren,  kichernd,  in 
die  Hände  klatschend,  wie  Fische  im  Netze  springend.8 
Eine  Eigenthümlichkeit  des  Teufels  ist,  dass  er  keine  Hin- 
terseite besitzt,  wie  er  selbst  bekennt:  „Licet  corpora  hu- 
mana  nobis  assumamus,  dorsa  tarnen  non  habemus."9  Es 
ist  hierbei  an  die  Frau  Welt10  und  die  nordischen  Waldroen, 
welche  hinten  wie  ein  hohler  Baum  oder  ein  Backtrog  an- 
zusehen sind,  erinnert  worden.11  Der  Teufel  kann  das  Vater- 
unser und  den  „Glauben"  nicht  fehlerfrei  beten,  und  auf  die 
Frage:  warum  seine  Stimme  so  rauh  sei,  antwortet  er:  weil 
er  immer  brenne.1*2 

Mittel  gegen  den  Teufel  sind:  Ausspeien,  Bekreuzen,  ge- 
weihtes Wachs,  Weihwasser,  Weihrauch,  Gebet  und  Bekennt- 
niss.13    Eine  Frau,   welcher  der  Teufel  als  schöner  Soldat  er- 


1  Dial.  V,  55. 

2  Dial.  V,  51. 

3  Dial.  I,  56. 

4  Dial.  III,  6. 

5  Ibid.  7. 

6  Dial.  V,  2. 

7  Dial.  V,  5. 

8  Ibid.  7. 

9  Dial.  III,  6. 

10  Konrad  von  Würzburg  in  „der  Welt  Lohn",  von  213 — 230. 

11  AI.  Kaufmann,  Cäs.  v.  II.,  S.  139. 

12  Ibid. 

13  Dial.  III,  6.  7.  13.  14;  V,  47. 


320  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

schienen  war  und  sie  oft  misbraucht  hatte,  während  ihr  Mann 
daneben  im  Bette  lag,  ward  im  siebenten  Jahre  fruchtbar, 
und  als  der  heilige  Bernhard,  Abt  von  Clairvaux,  in  die- 
selbe Stadt  kam,  legte  die  Frau  ein  reuiges  Bekenntniss 
vor  diesem  ab,  worauf  ihr  der  Teufel  nicht  mehr  nahe  kom- 
men konnte.  Er  verlegt  sich  nunmehr  darauf  die  Frau  zu 
ängstigen,  ihr  zu  drohen  und  wird  ihr  eifriger  Verfolger.  Die 
Frau  klagt  es  dem  Heiligen,  dieser  kommt  mit  zwei  Bischöfen, 
anathematisirt  den  Bösen,  und  nachdem  die  Frau  nochmal 
eine  Generalbeichte  abgelegt  hat,  wird  Ruhe. x 

Die  Grundnatur  des  Teufels  ist  Hochmuth  und  Selbst- 
überhebung. Es  wird  erzählt:  Ein  Teufel  sei  einst  zur 
Beichte  gegangen,  und  als  nach  der  Menge  seiner  Verbrechen 
und  Sünden  der  Beichtvater  gemeint,  jener  müsse  mehr  als 
tausend  Jahre  dazu  gebraucht  haben,  erklärt  der  Teufel,  dass 
er  eben  auch  älter  sei  als  tausend  Jahre,  denn  er  sei  einer 
jener  Dämonen,  die  mit  dem  Lucifer  gefallen.  Da  der  Priester 
die  Sündenlast  des  Dämons  für  unverzeihlich  erachtet,  fragt 
er  jenen:  wie  er  denn  zur  Beichte  komme?  Jener:  Er  habe 
den  Beichtenden  zugesehen  und  gehört,  dass  sie  selbst  nach 
schweren  Sünden  Ablass  erhielten,  in  der  Hoffnung,  diesen 
auch  zu  erlangen,  sei  er  in  den  Beichtstuhl  getreten.  Auf 
die  Frage  des  Beichtvaters:  ob  er  Busse  thun  wolle?  ant- 
wortet er:  Ja,  wenn  sie  ihm  nicht  zu  schwer  fallen  würde. 
Worauf  der  Beichtvater:  Geh!  wirf  dich  dreimal  des  Tags 
nieder  und  sprich:  Herr  Gott,  mein  Schöpfer,  ich  habe  gegen 
dich  gesündigt,  vergib  mir!  Dies  allein  sei  deine  Busse.  Allein 
der  Teufel  findet  diese  Aufgabe  zu  schwer,  da  er  sich  nicht 
so  tief  demüthigen  könne,  und  verlangt  eine  andere.  Da  ruft 
der  Beichtvater:  O  Teufel,  wenn  deines  Herzens  Hochmuth 
so  gross  ist,  dass  du  dich  vor  deinem  Schöpfer  so  wenig  er- 
niedrigen willst  noch  kannst,  so  weiche  von  mir,  da  du 
weder  jetzt  noch  in  Zukunft  Gnade  von  ihm  erlangen  kannst. 
Darauf  verschwindet  der  Teufel.2  Stolz  und  Hochmuth  bie- 
ten dem  Teufel  auch  Anhaltspunkte  zur  Verführung  der 
Menschen,  so  dass  selbst  Keuschheit  und  Jungfräulichkeit 
dagegen  nicht  aufkommen.3    Er  weicht  daher  selbst  nicht  dem 


>  Dial.  III,  7. 

2  Dial.  III,  26;  IV,  5. 

3  Dial.  III,  G. 


11.   Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".         321 

Geistlichen,  wenn  dieser  Hochmuth  besitzt.1  Die  Schlaf- 
trunkenheit der  Mönche  gibt  ihm  Anlass  zu  mancherlei 
Neckereien2,  sowie  Gefrässigkeit  und  Völlerei  für  den  Teufel 
eine  willkommene  Handhabe  ist.3 

Wie  die  Gestalt  des  Teufels  den  Umständen  angepasst 
zu  sein  pflegt,  so  ist  er  auch  in  geschlechtlicher  Beziehung 
bald  Incubus,  wo  er  es  mit  Weibern  zu  thun  hat,  bald 
Succubus,  wenn  es  auf  Männer  abgesehen  ist. 

Eines  Priesters  Tochter  zu  Bonn  wird  vom  Teufel  ver- 
führt. Als  diese  den  schändlichen  Umgang  gestanden,  schickt 
sie  ihr  Vater  über  den  Rhein.  Da  erscheint  der  Teufel  dem 
Priester  mit  dem  Vorwurfe:  „Male  sacerdos,  quäle  abstulisti 
mihi  uxorem  meam?"  stösst  ihn  dabei  auf  die  Brust,  dass  die- 
ser nach  drei  Tagen  stirbt. 4  Ein  Scholasticus  zu  Prüm  be- 
stellt ein  Weib  zu  sich,  an  dessen  Statt  aber  der  Teufel 
kommt.  Des  andern  Morgens  fragt  dieser:  „Cum  quo  putas 
te  hac  nocte  jacuisse?"  —  „Cum  tali  femina."  —  „Nequaquam, 
sed  cum  diabolo!"5  Zu  Soest  will  der  Teufel  mit  einem  Manne 
buhlen;  da  dieser  sich  weigert,  führt  ihn  jener  in  die  Luft, 
lässt  ihn  zu  Boden  fallen,  so  dass  dieser  nach  Jahresfrist 
sterben  muss.6 

Cäsarius  gibt  eine  ganze  Theorie  der  Zeugung  der  Dä- 
monen und  erklärt,  woher  diese  ihre  Leiber  erhalten.  „Cre- 
mentum  humanuni,  quod  contra  naturam  funditur,  daemones 
colligunt  et  ex  eo  sibi  corpora,  in  quibus  tangi  viderique  ab 
hominibus  possint,  assumunt;  de  masculino  vero  masculina,  et 
de  feminino  feminina.  Sicque  dicunt  magistri  in  his,  qui  de 
eis  nascuntur,  veritatem  esse  humanae  naturae,  easque  in  ju- 
dicio  ut  vere  homines  resurgere."  7 

In  demselben  Kapitel  leitet  Cäsarius  den  Ursprung  der 
Hunnen  von  den  hässlichen  Weibern  der  Gothen,  die  von 
ihnen,  da  sie  keine  hässlichen  Kinder  haben  wollten,  ausge- 
mustert worden  seien,   und  von  Incuben    ab,   die   sich  jenen, 


>  Dial.  III,  5.  10. 

2  Ibid.,  33.  34. 

3  Ibid.,  82. 

*  Dial.  I,  8. 

5  Ibid.,  10. 

6  Ibid.,  11. 

7  Dial.  V,  12. 

Koskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  21 


322  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

als  sie  im  Walde  herumirrten,  zugesellt  hatten  und  das  tapfere 
Volk  der  Hunnen  erzeugten.  Ebenso  wird  Merlin,  der  Pro- 
phet der  Briten,  von  einem  Incubus  und  einer  sanctimonialis 
femina  erzeugt. 

Die  Gaben,  die  der  Teufel  für  das  ihm  zu  leistende  Ho- 
magium  verspricht,  sind  nach  Umständen  verschieden.  Einem 
schwerbegreifenden  pariser  Studenten  gibt  er  scientiam  om- 
nium  literarum , ;  dem  Glöckner  von  Köln ,  den  er  auf  die 
Zinne  des  Schlosses  Isenburg  gestellt,  verspricht  er  für  das 
Homagium,  ihn  von  der  Höhe  hinabzubringen  2,  u.  dgl. 

Jedem  Menschen  sind  zwei  Engel  beigegeben:  ein  guter 
zum  Schutz  und  ein  böser  zur  Uebung.3  Keiner  von  beiden 
kann  jedoch  dem  menschlichen  Willen  Gewalt  anthun ,  wo- 
durch er  zum  Bösen  oder  Guten  genöthigt  werden  könnte. 
Denn  Gott  hat  dem  Menschen  freien  Willen  verliehen,  wo- 
nach das  Gute  mit  dem  Beistande  der  göttlichen  Gnade,  das 
Böse  aus  Mangel  derselben  gewählt  wird.4 

Hinsichtlich  der  guten  und  heiligen  Engel  hegt  der  No- 
vicius,  mit  dem  sich  der  Monachus  (Cäsarius)  unterhält,  kei- 
nen Zweifel;  was  die  bösen  betrifft,  weist  er  auf  die  bibli- 
schen Schriftsteller  hin.  Zunächst  auf  Jesaias  14,  12,  wo- 
nach der  Teufel  propter  decorem  suae  creationis  Lucifer  ge- 
nannt werde,  und  führt  ferner  an  Luc.  10,  18;  Hiob  1,  6; 
Ps.  108,  6;  Hab.  3,  5.  Dass  er  aber  nicht  allein  gefallen  sei, 
erhärtet  er  aus  Offenb.  12,  7.  Durch  seine  Bosheit  ist  der 
Draco  Lucifer  gloriosus  geworden,  laut  Ezech.  29,  12.  Cä- 
sarius theilt  die  Ansicht,  dass  der  zehnte  Theil  der  Engel  ge- 
fallen sei,  woher  der  Apostel  von  „Mächten  der  Luft"  spreche 
in  Bezug  auf  die  Menge,  Ephes.  2,  2.  Denn  im  Falle  er- 
füllten sie  die  Luft,  worauf  Ps.  73,  23  anspielen  soll. 

Dass  der  Teufel  den  Menschen  feindselig  sei,  geht  aus 
Joh.  8,  11 — 14  hervor,  und  auch  Hiob  40,  18  gibt  ein  Zeug- 
niss,  daher  1  Petri  5,  8.  9  zur  Wachsamkeit  ermahnt  werde. 
WTas  aber  von  einem  gilt,  das  gelte  von  allen  Dämonen. 
Dass  sie  in  Ewigkeit  verdammt  seien,  gehe  hervor  aus 
Matth.  25,  41. 


1  Dial.  I,  32. 

2  Ibid.,  56. 

3  Dial.  V,  1. 

4  Dial.  de  diversis  visionibus,  cap.  42,  Vol.  II,  ed.  2,  von  Strange. 


11.    Vom-  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".       323 

Dass  es  der  Teufel  eine  Menge  gebe,  kann  der  Monachus 
mit  Beispielen  belegen.  1  So  erzählt  er  von  einer  Nonne  in 
Frankreich,  die  der  Teufel  per  stimulum  carnis  gewaltig 
quälte.  Auf  ihr  inbrünstiges  Gebet  um  Befreiung  von  der 
Versuchung  erscheint  der  Betenden  ein  Engel  des  Herrn. 
Dieser  verordnet  ihr  einen  Vers  aus  einem  Psalm,  worauf 
diese  Art  Versuchung  ablässt.  Aber  nach  dem  Hurengeist 
stellt  sich  der  Spiritus  blasphemiae  ein  und  plagt  die  fromme 
Jungfrau.  Der  gute  Engel  erscheint  wieder,  und  da  er  ihr 
eröffnet:  eine  dieser  Versuchungen  müsse  sie  sich  schon  ge- 
fallen lassen,  entscheidet  sie  sich  für  die  erstere.  Sie  erhält 
wieder  ein  Sprüchlein,,  der  Gotteslästerliche  weicht,  aber  der 
Stimulus  carnis  kehrt  dafür  wieder  ein.  Unser  Monachus  er- 
klärt den  angelus  für  ihren  eigenen,  der  es  vorzieht,  dass  sie 
lieber  fleischlich  gequält,  als  nicht  selig  werde.  2 

Bei     Cäsarius     findet     sich     die    vollständige    Teufelsbe- 
schwörung vermittels  der  Nekromantie.  3 

Ein  Ritter  Henricus  von  Falkenstein,  der  an  keine  Dä- 
monen glauben  wollte,  bekommt  sie  per  nicromanticum  zu 
sehen.  Da  wird  bei  der  Teufelsbeschwörung  auf  einem 
Scheidewege  mit  dem  Schwerte  ein  Kreis  gezogen;  der  den 
Teufel  sehen  will,  stellt  sich  hinein,  darf  nicht  heraustreten, 
nicht  einmal  ein  Glied  darüber  hinausstrecken,  sonst  ist  er 
verloren.  Der  Teufelsbeschwörer  gibt  dabei  den  Rath,  nichts 
zu  geben  und  nichts  zu  versprechen.  Nach  verschiedenen 
schrecklichen  Erscheinungen,  als:  Wasserwogen,  Sturm- 
geheul u.  dgl.,  hörte  man  Schweine  grunzen,  dann  einen 
menschlichen  Schatten  über  die  Bäume  hervorragen.  Dies 
war  der  Teufel,  der  als  grosser  Mann,  ganz  schwarz,  mit 
dunkelm  Kleid  und  so  hässlichem  Gesicht  erschien,  dass  sein 
Anblick  nicht  zu  ertragen  war.  Er  begehrt  nach  mancher- 
lei Antworten,  die  er  auf  die  Fragen  des  Ritters  gegeben, 
Geschenke,  als:  das  Mäntelchen  desselben,  den  Gürtel,  ein 
Schaf  aus  dessen  Heerde,  einen  Hahn.  Auf  die  Frage  des 
Ritters,  der  alles  ablehnt,  woher  er  dies  alles  wisse?  ant- 
wortet der  Teufel :  es  geschehe  nichts  Böses  in  der  Welt,  da» 


1  Dial.  V,  1. 

2  Strange,  De  div.  visionib.,  Vol.  II,  eap.  42. 

3  Dial.  V,  2. 

21* 


324  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

ihm  verborgen  bliebe,  und  gibt  sogleich  den  Beweis,  indem  er 
dem  Kitter  eröffnet:  wo,  in  welcher  Stadt,  in  welchem  Hause 
er  die  virginitas  eingebüsst  habe.  Als  der  Novicius  wissen 
will,  woher  der  Teufel  das  gewusst  habe,  erklärt  der  Mona- 
chus:  „quia  cum  voluntate  iterum  peccandi  miles  confessus 
fuit."  Von  dieser  Teufelserscheinung  an  blieb  der  Ritter 
immer  blass  und  erhielt  nie  wieder  seine  natürliche  Gesichts- 
farbe. 

Von  der  Gefahr,  bei  der  Teufelsbeschwörung  aus  dem 
gezogenen  Kreise  herauszutreten,  gibt  Cäsarius  auch  Bei- 
spiele l,  wo  ein  Priester  vom  Teufel  aus  dem  Kreise  heraus- 
gezogen, zerschmettert  (confractus)  ward  und  am  dritten 
Tage  starb.  Ein  anderer  Kleriker  bei  Toledo,  der  durch  die 
List  des  Teufels  aus  dem  Kreise  gelockt  und  in  die  Hölle  ge- 
führt worden  war,  wurde  „magistri  sui  querimoniis"  wieder 
zurückgebracht. 2 

Gefährlich  ist  es  auch  den  Teufel  zu  sehen,  denn  durch 
den  Anblick  des  Urhebers  der  Finsterniss  und  des  ewigen 
Höllenfeuers  wird  die  menschliche  Natur  erschüttert,  er- 
schreckt und  zerstört,  sie  wird  zusammengezogen  und  stirbt 
ab.  Vollkommen  tugendhafte  Menschen  können  ihn  aber  oft 
ohne  Schrecken  und  Schaden  sehen.  3  Der  Monachus  erzählt 
mehrere  Beispiele,  womit  er  das  Gefahrvolle,  den  Teufel  zu 
schauen,  beweist.  So  von  dem  Abte  Sanct  Agathae,  einem 
Mönche  und  einem  conversus,  welche,  nachdem  sie  den  Teufel 
geschaut,  verschieden.4  Zwei  Jünglinge,  die  den  Teufel  in 
Gestalt  eines  Weibes  geschaut  hatten,  wurden  siech.5  Jede 
Berührung  oder  Annäherung  desselben  kann  Gefahr  bringen. 
So  starb  eine  Frau,  welcher  der  Teufel  in  Gestalt  eines  ihr 
bekannten  Dieners  nur  die  Hand  gedrückt  hatte,  nach  einigen 
Tagen.6  Ebenso  und  aus  derselben  Ursache  ein  Conversus.7 
Einem  Soldaten,  der  des  Nachts  mit  dem  Teufel  gespielt  hatte, 


1  Dial.  V,  3. 

2  Ibid.,  4. 

3  Ibid.,  28. 
*  Ibid.,  29. 
6  Ibid.,  30. 

6  Ibid.,  31. 

7  Ibid.,  32. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Suramis  desiderantes".        325 

wurden  die  Eingeweide  aus  dem  Leibe  gerissen.1  Eine  Frau, 
die  der  Teufel  umarmt  hatte,  starb.2 

Der  Teufel  gleicht  einem  Bären  oder  Löwen,  der  ange- 
bunden ist,  und  obwol  er  an  seiner  Kette  brüllt,  ist  seine 
Macht  durch  die  göttliche  Einschränkung  doch  so  gefesselt, 
dass  er  niemand  zur  Sünde  zwingen  kann,  ausser  wenn  er 
unter  Zustimmung  zur  Sünde  Eingang  erhält.  Er  schreckt 
und  belästigt  daher  auch  heilige  Männer,  kann  ihnen  jedoch 
nicht  schaden.3 

Da  die  Dämonen  immer  um  uns  herum  und  zwischen 
uns  sind4,  so  ist  Wachsamkeit  nöthig,  denn  ihre  Bosheit  ist 
sehr  gross.  Der  Monaehus  erzählt  ein  Beispiel,  wo  ein  Teufel 
versichert:  er  wolle  lieber  mit  einer  von  ihm  betrogenen  Seele 
zur  Hölle  fahren,  als  ohne  sie  in  den  Himmel  kommen.5 

Die  Dämonen  verstehen  durch  tausend  Künste  Schaden 
zuzufügen,  und  der  Monaehus  führt  einige  davon  an,  als: 
falsches  Versprechen,  dass  sie  den  Glauben  untergraben,  den 
Körper  verletzen,  Verleitung  zum  Verbrechen  des  Mordes.6  Der 
Teufel  täuscht  auf  verschiedene  Art,  als:  durch  die  Stimme  des 
Kukuks  r,  durch  mancherlei  phantastische  Mirakel 8  und  durch 
ähnliche  Weisen ,  wovon  Beispiele  angeführt  werden.  9  Aus 
dem  Neide  des  Teufels  findet  auch  die  Ketzerei  der  Albi- 
genser  ihre  Erklärung.10 

Wenn  gesagt  wird:  der  Teufel  ist  in  einem  Menschen, 
so  sei  dies  nicht  von  der  Seele  zu  verstehen,  sondern  vom 
Leibe,  in  dessen  Höhlungen  und  Eingeweiden,  wo  der  Unrath 
sich  befindet,  er  seinen  Sitz  aufschlage.11  Der  Mönch  erzählt 
ein  Beispiel,  wo  der  Teufel  in  ein  fünfjähriges  Kind  bei  Ge- 
legenheit als  es  Milch  ass,  hineingefahren  war  und  das- 
selbe bis   zum  reifen  Alter   quälte,    und    erst   durch  Kirchen- 


1  Dial.  V,  34. 

2  Ibid.,  33. 

3  Ibid.,  52. 
*  Ibid.,  42. 
6  Ibid.,  9. 

6  Ibid.,  15. 

7  Ibid.,  17. 

8  Ibid.,  18. 

9  Ibid.,  19. 

10  Ibid.,  21. 

11  Ibid.,  15. 


32(J  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

besuch  kraft  der  Verdienste  der  Apostel  Petri  und  Pauli  davon 
befreit  ward.      Denn  wenn   Besessene   ihre  Sünden  bekennen, 
beten  und  communieiren ,  lässt  der  Teufel  von  denen,    die  er 
durch  göttliche  Zulassung  in  seiner  Gewalt  gehabt  hat.1     So 
erkläre  sich  auch,  dass  ein  menschlicher  Leib  anstatt  von  der 
Seele  vom  Teufel   belebt  werden   könne,    wovon  Cäsarius  ein 
schlagendes    Beispiel    liefert.2      Ein    Kleriker    hatte    eine    so 
schöne  süsse  Stimme,  dass  sie  zu  hören  die  grösste  Lust  ge- 
währte.    Als   ein   Geistlicher    diese  Lieblichkeit    eines    Tages 
auch  gehört  hatte,    sagte  er:    das   ist   nicht  die  Stimme  eines 
Menschen,  sondern  des  Teufels.     In  Gegenwart  aller  Bewun- 
derer beschwor  er  den  Dämon,  der  auch  ausfuhr,  worauf  der 
Leichnam  zusammensank  und  stank.      Da    konnte  man  wahr- 
nehmen, dass  der  Leib  von  einem  Dämon  lange  Zeit  hindurch 
belebt  worden  war.     Stirbt  ein  Mensch,  so  streiten  die  Teufel 
mit  den  Engeln  um  die  auffahrende  Seele.3     Nach  dem  Tode 
kommen  die  Seelen  an  den  Strafort,  ein  tiefes,  schreckliches, 
schwefelduftendes   Thal,   wo    die  Teufel  mit   den   Seelen  Ball 
spielen.4      Dahin   führt   ein  Thor5,    inwendig   ein   mit    einem 
feurigen  Deckel   geschlossener   Brunnen,    woraus    die    Seelen 
emporsteigen  auf  das  Zeichen,  das  ein  Teufel  auf  einer  Tuba 
bläst.      Die  Qualen   der  Hölle   drückt    Cäsarius   in   folgenden 
Worten  aus:  Pix,  nix,  nox,  vermis,  flagra,  vincula,  pus,  pudor, 
horror.6 

Ueber  die  Sekte  der  Luciferianer  lassen  wir  uns  von  dem 
Mönche  Alberich  berichten,  der  um  diese  Zeit  lehie  und 
schrieb  und  die  herrschende  Meinung  darüber  kannte,  um  die 
es  uns  gerade  zu  thun  ist,  weil  wir  die  gangbare  Vorstellung 
vom  Teufel  erfahren.7  Nach  unserm  Chronisten  erzählte  man 
sich  über  die  Ausbreitung  dieser  Sekte  Folgendes:  „Ein  ge- 
wisser Meister  von  Toledo,  ein  Schwarzkünstler,  der  sich 
ganz   dem  Teufel   ergeben  hatte,    kam   nach   Mastricht.      Als 


1  Dial.  V,  26. 
-  Dial.  XII,  4. 

3  Ibid.,  5. 

4  Dial.  I,  32. 

5  Ibid.,  34. 

6  Dial.  XII,  1. 

7  Alberici   Chronic,   ad   ann.    1223,    Tom.  II.    access.   hist.   Leibnitz.; 
Magn.  Chron.  belgic.  III;  Script.  Germ.  Pistorii,  p.  255. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".        327 

er  dort  zwischen  Geistlichen  zu  Tische  sass,  machte  er  dass 
die,  so  er  wollte,  assen,  und  andere,  so  er  wollte,  schliefen, 
worauf  sich  ihm  alsbald  acht  nichtswürdige  Geistliche  an- 
schlössen und  von  ihm  begehrten,  dass  er  ihnen  zur  Befrie- 
digung ihrer  Lüste  behülflich  sei.  Er  antwortete,  er  könne 
dies  nicht  ohne  Zirkel  thun,  zeichnete  also  einen  grossen 
Kreis  und  stellte  die  acht  darein.  Auf  der  einen  Seite  des 
Kreises  hatte  er  drei  Sitze  bereitet,  worauf,  wie  er  sagte,  die 
drei  Weisen  des  Evangeliums  sitzen  würden.  Ausserhalb  des 
Kreises  stellte  er  einen  grossen  Stuhl,  der  mit  Blumen  ver- 
ziert und  schön  behängt  war.  Um  Mitternacht  fing  er  sein 
Werk  an,  zog  einer  Katze  die  Haut  ab  und  hieb  zwei  Tauben 
mitten  durch.  Dann  rief  er  drei  Teufel,  die  er  für  drei 
Könige  ausgab,  und  zuletzt  den  Grossfürsten,  Namens  Epa- 
namen, und  sagte:  er  habe  sie  zu  einem  kleinen  Abendmahle 
geladen,  damit  sie  den  drei  Geistlichen  ihre  Bitten  erhören 
möchten.  Hierauf  legte  er  den  drei  Teufeln  die  abgezogene 
Katze  vor,  die  sie  sogleich  auffrassen,  die  zwei  Tauben  aber 
stellte  er  dem  grossen  Teufel  vor,  der  sie  auch  sofort  ver- 
zehrte. Nun  beschwor  er  diesen,  dass  er  sich  klein  mache, 
damit  er  in  das  Glas  gehe.  Da  dies  geschehen  war,  ver- 
siegelte er  das  kleine  Glas  mit  Wachs  und  setzte  A  und  ß 
darauf.  Die  Geistlichen  sollten  nun  begehren,  was  sie  wollten. 
Der  eine  wünschte  die  Zuneigung  einer  gewissen  adelichen 
Frau,  und  es  ward  erfüllt;  der  andere  die  Bekanntschaft  des 
Herzogs  von  Brabant,  und  er  erhielt  sie;  und  so  bekamen  alle 
andern,  was  sie  begehrten,  ausser  einem,  der  die  Zustimmung 
eines  gewissen  adelichen  Jünglings  haben  wollte.  Der  Teufel 
antwortete:  dies  stünde  nicht  in  seiner  Macht  und  er  dürfe 
ihm  auch  nicht  zu  schändlicher  Lust  behülflich  sein,  er  möge 
sich  daher  nach  etwas  anderm  wenden.  Die  Geistlichen 
hörten  nun,  wie  sich  der  Meister  mit  den  Teufeln  unterhielt, 
vieles  gegen  Christus  und  die  Christen  sprach.  So  machte 
er  die  Geistlichen  zu  sehr  verkehrten  Menschen,  und  liess  sie 
nicht  eher,  als  bis  der  Morgen  anbrach,  aus  dem  Kreis  heraus- 
treten. Beim  Austritte  musste  jeder  sagen:  Gott  ist  Mensch 
geworden,  und  dieser  Ehre  lebe  ich.  —  Der  dies  berichtet 
hat,  gab  vor,  er  habe  es  von  drei  Geistlichen  empfangen. 
Durch  diese  Geistlichen  ist  die  Abgötterei  des  Lucifer  ver- 
breitet worden.     In  Köln  war  eine  Schule  dieser  Ketzer,  wo 


3^8  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

das  Bild  Lucifer's  Antworten  ertheilte,  wenn  aber  ein  katho- 
lischer Geistlicher  hinzukam  und  zog  von  seiner  Brust  die 
Büchse,  worin  der  Leib  des  Herrn  war,  so  fiel  das  Bild  zu- 
sammen. So  hat  der  Teufel  eine  gewisse  Geliebte  Lucifer's, 
als  sie  zum  Scheiterhaufen  geführt  wurde,  plötzlich  wegge- 
rissen, dass  sie  nicht  mehr  zum  Vorschein  kam.  Auf  diese 
Weise  ist  vieles  geplaudert  und  ausgestreut  worden.  Viele 
Adeliche  wurden  angeklagt,  viele  auf  ungerechte  Weise  ver- 
leumdet, viele  durch  das  Feuer  verzehrt." 

Nicht  unerwähnt  kann  die  Geschichte  der  Stedinger 
bleiben,  da  sie  zur  Kennzeichnung  des  Zeitalters  bedeutsame 
Züge  liefert.  Die  Bewohner  des  Gaues  Steding  im  Olden- 
burgischen lebten  seit  geraumer  Zeit  mit  ihren  Bischöfen  in 
Streit.  Sie  hatten  den  ihnen  von  der  Kirche  in  Bremen  auf- 
erlegten Zehnt  seit  jeher  sehr  ungern  entrichtet,  und  Anlässe 
zur  Erbitterung  fehlten  nicht.  Als  ein  Priester,  mit  dem  vQn 
der  Frau  eines  Hofbesitzers  erhaltenen  Beicht2Croschen  unzu- 
frieden,  diesen  ihr  beim  Abendmahl  anstatt  der  Hostie  in 
den  Mund  geschoben  hatte,  trug  sie  ihn  im  Munde  nach 
Hause  und  klagte  ihrem  Manne.  Dieser  wendet  sich  wegen 
des  seiner  Frau  angethanen  Schimpfs  an  die  Vorgesetzten  jenes 
Priesters,  erhält  aber  auf  seine  Beschwerde  nur  Vorwürfe.1 
Aufs  höchste  gereizt,  erschlägt  der  Mann  den  Diener  der 
Kirche.  Die  Geistlichen  bringen  die  Klage  an  den  Erzbischof 
Hartwig  II.  von  Bremen,  der,  gegen  die  landesüblichen  Ge- 
setze, ausser  der  Auslieferung  des  Mörders  noch  eine  über- 
mässige Genugthuung  unter  schweren  Drohungen  fordert. 
Die  Stedinger  verweigern  aber  beides.  Einige  Geistliche  des 
Erzbischofs,  der  in  manchen  ihrer  Wälder  das  Jagdrecht  und 
auf  ihren  Aeckern  das  Zehntrecht  in  Anspruch  nahm,  kamen 
im  Jahre  1197  des  Zehnts  wegen,  wurden  aber  von  den 
Stedingern  mishandelt.  Der  Erzbischof,  der  das  Zehntrecht 
von  Gott  eingesetzt  betrachtete,  erwirkte  sich  in  Rom  die  Er- 
laubniss,  einen  Kreuzzug  gegen  die  Widerspenstigen  zu  unter- 
nehmen2; es  kam  aber  zunächst  nur  zu  kleinen  Fehden,  die 
von  den  Stedingern  entweder  ertragen  oder  mit  Geld  ausge- 
glichen  wurden.    So  z.  B.  im  Jahre  1207,  wo  der  Erzbischof 


1  Vgl.  Wilhelmi  Monachi  Chron.  in  A.  Matth.  Analect.,  II,  501. 

2  Vgl.  Albert.  Stadens.  Chron.  ad  ann.  1197;  Chron.  Kastad.,  p.  182. 


11.    Vom  12.  Jabrh.  bis  zur  Bulle  „Sumniis  desiderantes".         329 

Hartwig  einen  Einfall  gemacht  hatte,  nach  einer  erhobenen 
Summe  Geldes  aber  mit  seinem  Heere  wieder  umkehrte.  1 
Die  Widersetzlichkeit  hatte  den  Zorn  des  Erzbischofs  so  sehr 
gereizt,  dass  er  schon  seit  1204  die  geistlichen  Strafen  immer 
mehr  schärfte.  Nach  dem  Tode  Hartwig's  II.  (1208)  wurden 
die  Fehden  fortgesetzt,  und  zwar  mit  wechselndem  Glücke. 
Als  Erzbischof  Gerhard  II.  seinem  Oheim  Gerhard  I.  im 
Jahre  1219  folgte,  wurde  dem  Kampfe  durch  die  Aufführung 
der  Burg  Schlutter  (castrum  Sluttere)  mehr  Nachdruck  und 
den  Unternehmungen  ein  Stützpunkt  gegeben.  Im  Jahre  1230 
versammelte  er  ein  starkes  Heer,  das  sein  Bruder  Graf  Her- 
mann von  der  Lippe  anführte.  Die  Stedinger  erfochten  aber 
einen  vollständigen  Sieg,  Graf  Hermann  fiel,  das  Heer  gerieth 
in  Verwirrung,  200  seiner  Streitgenossen  blieben  auf  dem 
Platze,  der  Rest  ergriff  die  Flucht,  die  Burg  Schlutter  ward 
dem  Boden  gleich  gemacht.2  Der  Erzbischof  war  hierdurch 
zu  der  Ueberzeugung  gekommen,  dass  den  Stedingern  von 
dieser  Seite  nicht  beizukommen  sei ;  sie  sollten  also  von  einer 
andern  angefallen  und  niedergeworfen  werden.  Der  mäch- 
tigste Verbündete  stand  ihm  hierbei  zur  Seite,  nämlich  der 
Geist  der  Zeit,  insbesondere  der  herrschende  Teufels- 
glaube. Die  Stedinger  hatten  es  gewagt,  der  Geistlichkeit 
.sich  zu  widersetzen,  sonach  konnten  sie  vom  Erzbischof  als 
Feinde  der  Kirche  betrachtet  werden.  Die  ärgsten  Beschul- 
digungen werden  ausgestreut,  geistliche  und  weltliche  Mächte 
aufgefordert,  die  gottlose  Brut  auszurotten.  Der  Bann  wird 
über  sie  ausgesprochen,  alle  Priester  und  Mönche  verlassen 
das  Land,  die  Stedinger  sehen  sich  gedrungen,  sich  selbst 
ihren  Gottesdienst  einzurichten.  3  Mit  der  Beschwerde  des 
Erzbischofs  bei  dem  Papste  Gregor  IX.  war  zugleich  eine 
Schilderung  der  Stedinger  als  Erzketzer  verbunden.  Es  ist 
möglich,  dass  von  den  Niederlanden  aus  manichäische  Schwär- 
merei unter  die  Stedinger  eingedrungen  war.  Der  Bericht 
über  ihre  Ketzereien  an  den  Papst,  worin  die  Hand  des 
Ketzerrichters  Konrad   von  Marburg   kenntlich   ist,    schildert 


1  Alb.  Stadens.  ad  ann.  1207;  Henr.  Wolteri  Chron.  Brem.  Meibom., 
Tom.  I,  55. 

2  Alb.  Stad.  ad  ann.  1230,  p.  306;  Vogt,  Monum.  ined.  II,  422. 

3  Alb.  Stad.  ad.  ann.  1234. 


330  Erster  Abschnitt:  Der  religiöse  Dualismus. 

die  Stedinger  nicht  nur  als  Verächter  der  Hostie,  sondern 
beschuldigt  sie  auch,  dass  sie,  gleich  den  Manichäern,  Lucifer 
als  den  Herrn  in  freventlichem  Teufelsdienst  verehren.  Der 
Papst,  der  die  Schilderung  für  wahrhaftig  nimmt,  äussert 
sein  Entsetzen  darüber  und  gibt  sie  nach  dem  Berichte  des 
Inquisitors  wieder  in  seiner  Bulle  vom  Jahre  1233.  Im  Ein- 
gange schreibt  Papst  Gregor  IX. :  „Ueber  die  Einweihung  in 
diese  Greuel  wird  uns  Folgendes  berichtet.  Wenn  ein  Neu- 
ling aufgenommen  wird  und  zuerst  in  die  Schule  der  Ver- 
worfenen eintritt,  so  erscheint  ihm  eine  Art  Frosch,  den 
manche  auch  Kröte  nennen.  Einige  geben  derselben  einen 
schmachwürdigen  Kuss  auf  den  Hintern,  andere  auf  das  Maul 
und  ziehen  die  Zunge  und  den  Speichel  des  Thieres  in  ihren 
Mund.  Dieses  erscheint  zuweilen  in  gehöriger  Grösse,  manch- 
mal auch  so  gross  als  eine  Gans  oder  Ente,  meistens  jedoch 
nimmt  es  die  Grösse  eines  Backofens  an.  Wenn  nun  der 
Noviz  weiter  geht,  so  begegnet  ihm  ein  Mann  von  wunderbarer 
Blässe,  mit  ganz  schwarzen  Augen,  abgezehrt  und  abgemagert, 
dass  alles  Fleisch  geschwunden  und  nur  noch  die  Haut  um 
die  Knochen  zu  hängen  scheint.  Diesen  küsst  der  Noviz 
und  fühlt  dass  er  kalt  wie  Eis  ist,  und  nach  dem  Kusse 
schwindet  alle  Erinnerung  an  den  katholischen  Glauben  bis 
auf  die  letzte  Spur  aus  seinem  Herzen.  Hierauf  setzt  man 
sich  zum  Mahle,  und  wenn  man  sich  von  diesem  wieder  er- 
hebt, so  steigt  durch  eine  Statue,  die  in  solchen  Schulen  zu 
sein  pflegt,  ein  schwarzer  Kater,  von  der  Grösse  eines  mittel- 
mässigen  Hundes  rückwärts  und  mit  zurückgebogenem 
Schwänze  herab.  Diesen  küsst  zuerst  der  Noviz  auf  den 
Hintern,  dann  der  Meister  und  sofort  alle  übrigen  der 
Reihe  nach,  jedoch  nur  solche,  die  würdig  und  vollkommen 
sind,  die  Unvollkommenen  aber,  die  sich  nicht  für  würdig 
halten,  empfangen  von  dem  Meister  den  Frieden,  und  wenn 
nun  alle  ihre  Plätze  eingenommen,  gewisse  Sprüche  hergesagt 
und  ihr  Haupt  gegen  den  Kater  hingeneigt  haben,  so  sagt 
der  Meister:  «Schone  uns!»  und  spricht  dies  dem  Zunächst- 
stehenden vor,  worauf  der  Dritte  antwortet  und  sagt:  «Wir 
wissen  es,  Herr»,  und  ein  Vierter  hinzufügt:  «Wir  haben  zu 
gehorchen».  Nach  diesen  Verhandlungen  werden  die  Lichter 
ausgelöscht  und  man  schreitet  zur  abscheulichsten  Unzucht 
ohne  Rücksicht   auf  Verwandtschaft.      Findet   sich   nun,   dass 


11.    Vom  13.  Jahrb.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".        331 

mehr  Männer  als  Weiber  zugegen    sind,   so  befriedigen  auch 
Männer   mit   Männern   ihre    schändliche  Lust.      Ebenso    ver- 
wandeln  auch  Weiber  durch   solche  Begehungen  miteinander 
den    natürlichen    Geschlechtsverkehr    in    einen    unnatürlichen. 
Wenn  aber  diese  Ruchlosigkeiten  vollbracht,  die  Lichter  wie- 
der angezündet  und  alle  wieder  auf  ihren  Plätzen  sind,  dann 
tritt   aus  einem   dunkeln  Winkel   der   Schule,    wie    ihn    diese 
verworfensten  aller  Menschen  haben,  ein  Mann  hervor,  ober- 
halb   der  Hüften    glänzender   und   strahlender   als   die   Sonne, 
wie  man  sagt,  unterhalb  aber  rauh,  wie  ein  Kater,  und  sein 
Glanz  erleuchtet  den  ganzen  Raum.     Jetzt  reisst  der  Meister 
etwas  vom  Kleide  des  -Novizen  ab  und  sagt  dem  Glänzenden : 
«Meister,  dies  ist  mir  gegeben  und  gebe  dir's  wieder» ;  worauf 
dei  Glänzende  antwortet:  «Du  hast  mir  gut  gedient,  du  wirst 
mir  mehr  und  besser  dienen;   ich  gebe  in  deine  Verwahrung, 
was  du  mir  gegeben  hast»    —  und  nach  diesen  Worten  ist  er 
verschwunden.     Auch  empfangen  sie  jährlich  um  Ostern  den 
Leib  des  Herrn  aus  der  Hand  des  Priesters,  tragen  denselben 
im  Munde    nach  Hause    und   werfen  ihn  in   den  Unrath   zur 
Schändung    des    Erlösers.     Ueberdies   lästern    diese  Unglück- 
seligsten aller  Elenden   den  Regierer  des  Himmels   mit    ihren 
Lippen  und  behaupten   in  ihrem  Wahnwitze,    dass    der  Herr 
der  Himmel  gewaltthätiger,  ungerechter  und  arglistiger  Weise 
den  Lucifer    in   die   Hölle    hinabgestossen   habe.      An    diesen 
letztern    glauben    auch    die   Elenden   und   sagen,    dass  er  der 
Schöpfer  der  Himmelskörper   sei  und   einst   nach   dem  Sturze 
des   Herrn   zu    seiner  Glorie  zurückkehren  werde;   durch  ihn 
und  mit  ihm  und  nicht  vor  ihm  erwarten  sie  auch  ihre  eigene 
Seligkeit.      Sie  bekennen,    dass  man   alles,    was  Gott  gefällt, 
nicht  thun  solle,  vielmehr  was  ihm  misfällt,  u.  s.  w.ul    In  der 
Bremer  Chronik  wird  Asmodi,  in  der  rastädter  aber  Ammon 
als  Gegenstand  der  Verehrung  der  Stedinger  genannt.      Man 
muss  Soldan's  Verwunderung  theilen,  „dass  alle  diese  Greuel 
den  Gläubigen,  die  den  Kreuzzug  machen  sollen,  vorgepredigt 
werden,  den  besiegten  Ketzer  aber  nur  Abgabe  und  Gehorsam 
zur  Pflicht  gemacht  wird,  ohne  ihrer  Frösche,  Kröten,  blassen 


1  Vgl.  Epist.  Gregorii  IX.  bei  Kaynald  ad  ann.  1233,  Nr.  42;  voll- 
ständig in  Thom.  Ripoll.  Bullarium  Ord.  praedicat.,  I,  52;  Epist.  Greg.  IX. 
ad  Henricum  Frid.  Imp.  fil.  in  Martene  Thes.  I,  950;  Alb.  Stad.  Chron. 
ad  ann.  1233. 


332  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

und  glänzenden  Männer,  Küsse,  ausgelöschten  Lichter,  Sym- 
pathien für  Lucifer  u.  s.  w.  mit  einem  einzigen  Worte  zu 
gedenken."1  Derselbe  weist  auch  daraufhin,  dass  in  einer 
im  vorhergehenden  Jahre  (1232)  erlassenen  Bulle  an  die 
Bischöfe  von  Minden,  Lübeck  und  Ratheburg  mit  dem  Be- 
fehle, das  Kreuz  predigen  zu  lassen,  den  Stedingern  nur 
Vorwürfe  gemacht  werden  übe?:  Geringschätzung  und  Feind- 
seligkeit gegen  die  Kirche,  wilde  Grausamkeit  gegen  die 
Geistlichen,  Herabsetzung  des  Abendmahls,  Verfertigung  von 
Wachsbildern  und  Befragen  der  Dämonen  und  Wahr- 
sagerinnen; in  der  zweiten  Bulle  sind  sie,  wie  wir  vernommen 
haben,  schon  vollständige  Teufelsverehrer,  was  aus  dem  von 
Konrad  gefertigten  Berichte,  auf  den  sich  die  zweite  Bulle 
bezieht,  sich  erklärt.  Im  Verlaufe  der  Stedinger  Angelegen- 
heit sind  also  folgende  Wandlungen  bemerklich:  Der  Erz- 
bischof von  Bremen  ist  über  die  Stedinger  erbost:  pro  suis 
excessibus  et  subtractionibus  decimarum2;  der  Streit  beginnt 
mit  Zehntverweigerung  und  Ungehorsam,  und  es  wird  ein 
Kreuzzug  gegen  die  Widerspenstigen  unternommen;  als  sie 
aber  auch  diesem  Widerstand  leisten,  werden  die  Zehntver- 
weigerer zu  Teufelsdienern  umgemodelt,  und  als  solche  müssen 
sie  dem  Kirchenfürsten  unterliegen.  Nachdem  heftige  Kreuz- 
prediger durch  Westfalen  und  das  ganze  nördliche  Deutsch- 
land gezogen  und  die  Christenheit  zur  Vertilgung  der  Teufels- 
diener aufgefordert,  erhoben  sich  auch  mehrere  weltliche 
Fürsten  zum  Beistande  der  Kirche  und  zur  Rettung  des  Heils. 
Einem  über  40000  Mann  starken  Heere  müssen  die  Ketzer 
in  der  entscheidenden  Schlacht  bei  Altenesch  im  Jahre  1234 
unterliegen,  deren  grössere  Hälfte  auf  der  Walstatt  blieb, 
der  kleinere  Rest  theils  zu  den  Friesen  floh,  theils  im  Lande 
blieb,  die  vom  Papste  vorgeschriebene  Genugthuung  leistete 
und  vom  Interdicte  losgesprochen  wurde.  Das  Land  der 
Stedinger  wurde  darauf  zwischen  dem  Erzbischof  von  Bremen, 
dem  Grafen  Otto  II.  und  Christian  III.  von  Oldenburg  ver- 
theilt,  und  theils  fremde  Anbauer,  theils  Familien  des  stif- 
tischen Adels  fanden  ihr  Gedeihen,  wo  die  Teufelsdiener  ver- 
tilgt worden  waren.    Die  Stedinger,   die  als  Zehntverweigerer 


1  Sold.,  a.  a.  0.,  S.  137. 

2  Godefr.  Monach.  ad  ann.  1232. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiclerantes".       333 

nicht  bezwungen   werden  konnten,    müssen   als   Teufelsdiener 
zu  Grunde  gehen.  ^ 

In  den  geschilderten  Vorgängen  bei  den  Versammlun- 
gen der  Stedinger,  deren  diese  beschuldigt  werden,  ist 
die  Travestie  gottesdienstlicher  Gebräuche  nicht  zu  verken- 
nen, wie  wir  sie  auch  im  Templerprocesse  erkennen.  Sie 
wiederholen  sich  im  Hexensabbat  und  den  Beschreibungen 
mancher  ketzerischer  Sekten.  Denn  der  Glaube,  dass  die 
Teufelsdiener  den  katholischen  Gottesdienst  nachäffen,  hatte 
allgemeine  Verbreitung  erlangt,  nachdem  der  Teufel  schon 
von  Kirchenvätern  der  ersten  christlichen  Jahrhunderte  für 
einen  Affen  Gottes  erklärt  worden  war.  Ueberhaupt  finden 
sich  am  mittelalterlichen  Teufel  alle  Züge  aufbewahrt,  die  ihm 
die  dogmatischen  Bestimmungen  der  ersten  Kirchenlehrer 
schon  verliehen  hatten.  Rudolf  von  Hohenems  (gest. 
wahrscheinlich  bald  nach  1254),  der,  wie  Massmann  nachge- 
wiesen hat,  im  Geleise  des  Gottfried  von  Viterbo  einhergeht, 
sagt  in  Bezug  auf  den  Teufel  in  seinem  Gedichte: 

Do  got  die  engel  werden  hiez 

und  in  den  wünsch  der  schoetfe  liez 

in  himmlischen  wünnen  gar 

do  was  ob  al  der  engel  schar  (710) 

der  schoenest  engel  Lucifer, 

den  truoc  sin  tumber  wän  daz  er 

gote  wolde  sin  gelich, 

mit  gewalte  und  ebenrich. 

als  des  gedäht  von  im  wart,  (715) 

do  warf  in  sin  höchvart 

von  himel  in  der  helle  grünt 

mit  im  vervielen  sä  zestunt 

sins  willen  volgaer  alle 

zem  ewiclichem  valle. 

und  als  er  e  der  schoenste  was 

in  aller  schoene  ein  Spiegelglas 

also  erger  wart  er  do 

und  sine  volgaer  alle  also.  — 


Nu  wundert  lihte  einen  man 
der  es  niht  wol  betrahten  kan, 
wie  müge  zuo  den  engein  komen ; 
bi  dem  sin  vreude  im  ist  benomen, 
der  tiuvel  der  durch  höchvart  (765) 
verstözen  von  dem  himel  wart. 


334  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Hie  nach  uns  wahset  vragen  vil 

ein  man  vil  lihte  vragen  wil 

und  sprichet  lihte,  wie  was  got 

so  wunderlich,  daz  sin  gebot 

den  Übeln  engel  werden  hiez  (845) 

daz  er  in  niht  wesen  liez 

ungeschepfet,  dö  er  in 

unrechten  weste  und  sinen  sin. 

daz  mueste  ergän  durch  selben  rät 

daz  diu  reine  hantgetät  (850) 

gezierde  mite  naeme 

so  jene  wiederzaeme 

wurden  unde  hin  getan ; 

da  mite  er  si  wolde  vertan 

deste  richere  klarheit  (855) 

mit  werndem  libe  sunder  leit. 

ein  maller  de  gemaelze  sin 

git  deste.  verrichtern  schin, 

so  daz  ez  schoene  richet. 

swenne  er  understrichet  (860) 

nach  gelichem  vlize 

mit  s warzer  varwe  daz  wize, 

so  hat  diu  wize  deste  me 

schoene  und  wirt  schoener  vil  dan  e. 

Aus  dem  früher  erwähnten  Umstände  erklären  sich  auch 
die  "Wiederholungen  in  den  Schilderungen  des  mittelalter- 
lichen Teufels,  seiner  Attribute,  Beziehungen  u.  s.  w.,  die 
ins  Endlose  variirt  werden.  In  Johann  Enenkel's  „Welt- 
chronik" erscheint  der  Teufel  schon  zur  Zeit  der  Noachischen 
Flut.  Noach  hatte  nämlich  den  Männern  und  Frauen  das 
Beisammensein  in  der  Arche  verboten;  aber  der  Teufel  führt 
Noach's  Sohn  doch  mit  seinem  W7eibe  zusammen,  fährt  dann 
durch  die  Arche  durch,  vor  deren  Loch  sich  eine  Kröte  legt. 

Die  Frechheit  des  Teufels  geht  so  weit,  dass  er  in  Ge- 
dichten des  13.  Jahrhunderts  selbst  die  geistlichen  Herren 
zum  Gegenstand  seiner  Laune  macht.  Unter  andern  Bei- 
spielen  nur  das  eine  bei  Ottokar,  wo  Lucifer  zu  jenen  Teu- 
feln, die  den  Christen  kein  Leid  mehr  zufügen  wollen,  sich 
folgendermassen  äussert : 

wollt  ir  baz  nicht  schaffen 
so  wil   ich  zuo  dem  pfaffen 
de  ze  Meinze  bischof  ist 
wenken  in  vil  kurzer  vrist 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".        335 

und  wil  in  setzen  über  iuch 
und  wil  daz  tuon  umbe  daz  (?) 
wand  er  gote  ze  haz 
unsern  vrumen  schaffet  baz 
dan  ir  alle  tuot.  ' 


Dieses  Zeitalter  kennzeichnet  sich  als  Teufelsperiode  da- 
durch, dass  die  Vorstellung  vom  Teufel  sich  überall  hinein- 
mengt, dessen  "Wirken  und  Streben  bis  ins  Kleine  und  Klein- 
liche ausgedehnt  und  allenthalben  vermuthet  wird.  Dies  be- 
urkundet ein  zuverlässiger  Zeuge,  der  ehrliche  Abt  Richalmus, 
mit  seinem  Buche  der  Offenbarungen  über  die  Nach- 
stellungen und  Tücken  des  Teufels.2  Nach  „Dissertatio 
LXXIII"  blühte  Richalmus  um  das  Jahr  1270.  In  der  Schrift 
wird  erörtert,  wie  der  Teufel  durch  mannichfaltigste  List, 
Täuschung  und  Schrecken  aller  Art  die  Priester  bei  der 
Messe  zu  plagen  sucht.  Der  Abt  Richalmus  belauscht,  nach 
eigenem  Geständniss,  sehr  häufig  Gespräche,  die  von  bösen 
Geistern  untereinander  geführt  werden.  Diese  Teufel  ver- 
ursachen Brechreiz,  nachdem  Einer  communicirt  hat.  Lassen 
wir  den  Abt  selbst  sprechen.  Er  sagt:  „Wenn  es  mir  be- 
gegnete, dass  ich  an  dem  Tage  der  Communion  des  Brechens 
halber  hinausgehen  musste,  so  liefe  ich  zum  Fischteich,  um 
hineinzuspeien  und  das  Gespiene  dann  abzuwaschen;  wäre 
aber  kein  Teich  in  der  Nähe,  so  würde  ich  es  in  ein  Gefäss 
thun,  und  wenn  auch  dieses  nicht,  so  in  mein  Gewand.  Ich 
sage  euch  aber,  das  beste  Mittel  gegen  das  Erbrechen  ist  das 
Zeichen  des  Kreuzes.  Bekreuzt  euch,  und  zwar  recht  häufig. 
Auch  mir,  wenn  ich  verdaue,  verursachen  die  Teufel  oft  Ekel 
—  denn  es  ärgert  sie,  dass  ich  den  Leib  stärke,  sie  sehen 
es  am  liebsten,  wenn  ich  übermässig  fastete;  aber  durch  das 
Kreuzeszeichen  vertreibe  ich  den  Ekel."  Richalmus  klagt,  dass 
er  heute  durch  die  boshaften  Teufel  an  der  Abhaltung  der 
Messe  verhindert  worden,  da   sie   ihm  Schwindel   zugeschickt 


1  Bibliothek  der  ges.  d.  Nationallit.,  IV,  3.  Abth.,  3.  Tbl.,  S.  281. 

2  Pezii  Thesaurus  Anecdot.  novissim.,  Tom.  I,  Pars  II,  Columna  376 
sequ.;  Beati  Richalmi  speciosae  vallis  in  Franconia  Abbatis  ord.  Cister- 
ciens.  über  Revelationum  de  insidiis  et  versutiis  Daemonum  adversus 
homines. 


3"j(3  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

hätten.  „In  derselben  Nacht",  fährt  er  fort,  „zur  Zeit  der  Vi- 
gilien,  hörte  ich  einen  Teufel  zum  andern  sagen:  er  solle 
mich  heiser  machen.  Dieser  antwortete:  ihm  fehle  die  Ge- 
legenheit, er  habe  sie  nur,  um  Blähungen  hervorzubringen. 
Zu  allem  suchen  sie  nämlich  Gelegenheit",  fügt  der  Abt  hinzu, 
„und  finden  sie  oft  bei  den  geringsten  Dingen.  Wenn  sich 
jemand  zur  Messe  vorbereitet,  so  pflegen  sie  dem  Priester 
allerlei  in  Erinnerung  zu  bringen,  wodurch  er  gestört,  betrübt, 
verwirrt  und  geärgert  wird,  und  dasselbe  thun  sie  auch  bei 
Empfang  des  Sakraments,  damit  er  vor  Gott  der  heiligen 
Communication  unwürdig  erscheine.1  Die  guten  Geister  sind 
zwar  auch  zu  unserm  Heile  um  uns,  sie  regen  uns  zu  Heiligem 
an;  aber  die  bösen  verleiten  ihrerseits  wieder  zu  weltlichen 
und  abscheulichen  Liedern."2  In  demselben  Abschnitte  be- 
hauptet der  Abt,  dass  es  die  Teufel  von  allen  besonders  auf 
die  Obern  und  Prälaten  abgesehen  haben.  Daher  suchen  sie 
ihn  selbst  auf  dem  Chore  in  Schlaf  zu  bringen  und  wollen 
ihm  durchaus  die  Augenlieder  schliessen.  Als  der  Novize, 
mit  dem  der  Abt  plaudert,  erinnert,  dass  dieser  auf  dem 
Chore  öfter  Töne  von  sich  gebe  wie  einer,  der  schlafe,  ja 
schnarche,  da  überzeugt  ihn  der  Abt,  dass  dies  die  Teufel 
seien,  liichalmus  fährt  fort:  „Wenn  man  sagt,  dass  nur  ein 
einziger  Teufel  dem  Menschen  nachstelle,  so  ist  dies  nicht 
wahr,  da  mehrere  einen  jeden  verfolgen.  Denn  wie  wenn 
jemand  ins  Meer  eingetaucht  ringsum  unten  und  oben  von 
Wasser  umgeben  ist,  gerade  so  umströmen  auch  die  Teufel 
von  allen  Seiten  den  Menschen.  Denn  woher  sonst  hat  der 
Frater,  der  gestern  das  Invitatorium  gesungen,  den  Mangel 
an  Stimme  gehabt,  als  von  den  Teufeln?  Da  ich  dies  wusste, 
machte  ich  sogleich  ein  Kreuz  gegen  den  Bruder  hin,  und 
sofort  gingen  die  übrigen  Verse  besser,  wie  ihr  gehört  habt. 
Ich  aber  lachte  über  die  Teufel,  da  sie  ohnmächtig  fliehen 
mussten,  obschon  sie  sehr  ungehalten  waren.  Aber  auch  gute 
Geister  sind  um  uns,  schlichten  Feindschaften  und  verschaffen 
uns  allerlei  Gutes.  Wenn  uns  die  guten  Geister  helfen  oder 
ermahnen,  dann  stellen  uns  die  bösen  um  so  mehr  nach.  Ein 
guter  Engel  verlässt  jedoch  nie  einen  Menschen,  der  ihm  an- 


1  Cap.  I. 
ü  Cap.  III. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  dcsiderantes".       337 

vertraut  ist,  sondern  bleibt  ihm  auch  bei  dem  abscheulichsten 
Laster  anhänglich  und  sucht  ihn,  soviel  er  vermag,  davon 
abzuhalten."  Auf  die  Frage  des  Novizen,  was  mit  dem  „so- 
viel er  vermag"  gemeint  sei  und  ob  denn  die  guten  Engel 
nicht  viel,  wenn  nicht  gar  alles  vermögen,  antwortet  Richal- 
mus :  er  glaube  nicht,  dass  ein  guter  Engel  alles,  was  er  will, 
bei  einem  sündhaften  Menschen  im  Stande  sei,  weil  bei  dem 
Sünder  die  Gnade  fehlt.  Der  Novize  erzählt,  dass  er  neu- 
lich in  der  Vigilie  des  Heiligen  Michael  das  Responsorium 
zur  Vesper  gesungen  und  dabei  etwas  gefehlt  habe,  er  wolle 
sich  daher  das  nächste  mal  bekreuzen.  Richalmus  bestärkt 
ihn,  da  das  Kreuz  viel  helfe,  obschon  es  bei  der  Menge  der 
Teufel,  die  den  Menschen  umlagern,  auch  nicht  immer  die 
gehörige  Wirkung  habe.  Wenn  deren  wenige  sind,  helfe  es 
aber  viel.  „Denn  bisweilen  umgeben  sie  den  Menschen  gleich 
einem  dichten  Gewölbe,  sodass  gar  kein  Luftloch  zwischen 
ihnen  Platz  hat.  Indessen  was  wir  Gutes  thun  und  sprechen, 
gehört  den  guten  Geistern,  und  alles  Böse  eignet  degi  bösen, 
sodass  ich   schliesslich  kaum  weiss,  was  mir  zukommt,   wenn 

ich  spreche Die  bösen  Geister  schädigen  die  Menschen 

leiblich  und  geistig,  sie  verursachen  Traurigkeit,  Mismuth  und 
ähnliche  Verstimmungen;  wenn  sich  nun  die  Menschen  zu 
zerstreuen  suchen,  so  weichen  die  Dämonen,  und  hierin,  nicht 
in  der  Zerstreuung,  liegt  der  Grund  des  Besserbefindens."1 
„Seht  her",  ruft  Richalmus,  „wie  mich  die  Teufel  während 
des  Sprechens  durch  Husten  plagen,  durch  den  Husten 
sprechen  die  Dämonen  miteinander."  Im  fünften  Kapitel  ver- 
sichert der  Abt  abermals,  dass  es  nicht  nur  einer,  sondern 
eine  grosse  Menge  von  Teufeln  sei,  die  Böses  gegen  uns  im 
Schilde  führen.  Wenn  einer  weniger  kräftig  auf  den  Men- 
schen eindringt,  gleich  stellen  sich  andere  ein,  die  denselben 
mehr  reizen,  seinen  Willen  gefangen  nehmen  und  ihn,  wohin 
sie  wollen,  fortreissen.  „Wenn  ich",  sagt  Richalmus2,  „bei 
der  geistlichen  Lektüre  sitze,  so  schicken  sie  den  Schlaf  über 
mich,  dann  pflege  ich  meine  Hände  herauszustecken,  dass  sie 
kalt  werden.  Aber  dann  stechen  sie  mich  unter  dem  Gewände 
gleich  einem   Floh,    ziehen    meine  Hand    dahin,    damit   diese 


1  Cap.  IV. 

2  Cap.  VI. 

Koskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  nn 


338  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

unter  dem  Gewände  sich  erwärme  und  ich  dadurch  zum  Lesen 
faul  werde.  Dieselben  legen  mir  auch  zuweilen  die  Hand 
unter  die  Backe,  damit  ich  um  so  besser  schlafe.  Sehet,  so 
stellen  uns  die  Teufel  auch  in  den  geringsten  Kleinigkeiten 
ein  Bein."  Die  Dämonen  bewirken  auch  die  Schläfrigkeit 
während  der  heiligen  Lektüre.  Richalmus  behauptet,  die 
Teufel  könnten  bewirken,  dass  sich  ein  Todter  mehrere  Tage 
hindurch  bewege.1  Sie  begleiten  und  umgeben  uns  immer- 
während.2 Sie  rauben  den  Schlaf.  Die  Dämonen,  die  inner- 
lich sind,  wissen  nicht ,  was  aussen  geschieht  und  umgekehrt, 
und  dabei  beruft  sich  der  Abt  auf  seine  eigene  Erfahrung.3 
Die  Menge  der  Teufel,  die  den  Menschen  umlagert,  ist  so 
gross  wie  die  der  Atome  der  Sonne,  und,  sagt  Richalmus, 
„ich  habe  sie  auch  in  solcher  Atomenform  gesehen".  Er 
vergleicht  ihre  Anzahl  mit  dem  Staube  und  dem  Sande.4  Sie 
bewegen  den  Leib  und  die  Glieder  der  Menschen,  denen  sie 
nachstellen,  zu  allem  Bösen.  Sie  machen  die  Nasen  der  Men- 
schen runzelig,  verzerren  die  Lippen.  Hat  jemand  eine 
hübsche  Nase,  so  machen  sie  dieselbe  oft  voll  Runzeln,  damit 
sie  hässlich  werde.  Sehen  sie,  dass  jemand  die  Lippen  ehr- 
bar schliessen  will,  so  machen  sie  zur  Verunstaltung  die 
untere  herabhängen.  „Sehet!  ein  Teufel  hing  zwanzig  Jahre 
hindurch  an  dieser  Lippe,  nur  um  sie  hängend  zu  machen." 
Die  Dämonen  setzen  den  Menschen  in  der  Art  zu,  dass  es 
ein  Wunder  ist,  wenn  unser  Einer  noch  lebt.  Beschützte 
uns  nicht  die  göttliche  Gnade,  so  würde  niemand  der  Wuth 
der  Teufel  entgehen  können.  „Seht !  ich  pflege  den  Hut  auf- 
zusetzen, weil  das  äussere  Licht  das  innere  bedeckt ;  da  könnt 
ihr  kaum  glauben,  wie  sehr  sie  mir  dabei  hinderlich  sind,  wie 
sie  mich  am  Kopfe  jucken,  damit  ich,  wenn  ich  mich  kratze,  den 
Hut  abnehme."  Als  der  Novize,  der  dem  Abt  zuhört,  er- 
wähnt, dass  es  in  seinem  Bauche  während  des  Schreitens 
geknurrt    habe,    ruft    Richalmus:    „Ah,     das    thun    sie    (die 

Teufel)  mir  täglich  an Nie  darf  jemand  sagen,  dass  die 

Teufel  auch  nur  einen  Augenblick  uns  zu  plagen  und  zu  ver- 


1  Cap.  VII. 

2  Cap.  X. 
»  Cap.  XI. 

*  Cap.  XLI. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".        339 


suchen  ablassen Wie  einer  an  der  Wage  immer  auf  das 

Zünglein  sieht,  ob  es  steige  oder  sinke,  so  beobachten  die 
Teufel  den  Menschen  unablässig.  Je  mehr  Christlichkeit  der 
Mensch  hat,  mit  desto  grösserer  Heftigkeit  greifen  sie  ihn 
an,  gleich  einem  Pferde,  das  im  Galop  zum  Angriff  in  die 
Schlacht  sprengt.  Ist  der  Mensch  weniger  christlich,  so  pau- 
siren  sie  und  lassen  von  der  Quälerei  ab."  Auf  die  Frage: 
ob  denn  die  Teufel  nicht  auch  müde  werden  von  dem  unab- 
lässigen Quälen  anderer,  antwortet  Richalmus:  Allerdings! 
und  erzählt,  dass  er  bei  einem  Laienbruder,  welcher  der  Er- 
klärung der  Ordensregel  zugehört,  die  Ohren  mit  einem  Pflaster 
verklebt  gesehen  und  sogleich  erkannt  habe,  dass  dies  einer 
jener  Teufel  gethan  habe,  die  das  Geschäft  und  die  Aufgabe 
haben,  die  Menschen  am  Hören  des  Wortes  Gottes  zu  ver- 
hindern, indem  sie  ihnen  die  Ohren  zustopfen.  Richalmus 
stellt  die  Behauptung  auf1,  dass  es  den  Teufeln  unangenehm 
sei,  wenn  jemand  seiner  Sünde  wegen  getadelt  oder  bestraft 
werde  und  sich  bessere,  und  zwar  aus  dem  Grunde,  weil 
derjenige,  der  Strafe  leidet,  das,  um  dessent willen  er  gestraft 
worden  ist,  vermeidet  und  nicht  nur  das,  sondern  auch  andere 
Uebertretungen,  wodurch  er  stärker  wird,  um  den  Teufeln  zu 
widerstehen.  Ausserdem  sei  es  diesen  auch  darum  zuwider, 
weil  die  Bestrafung  des  einen  auch  andere  von  der  Begehung 
der  Sünde  abschrecke.  Die  Teufel  stehen  auch  um  die  Betten 
herum.2  Sie  foppen  die  Menschen3;  Richalmus  hat  es  selbst 
erfahren ;  sie  haben  es  Tag  und  Nacht  auf  uns  abgesehen. 
Sie  machen  uns  alle  Arbeit  schwerer4,  und  der  Abt  erzählt 
ein  Beispiel:  „Als  wir  eines  Tages  zum  Bau  einer  Mauer 
Steine  zusammenlasen,  um  sie  auf  einen  Haufen  zu  werfen, 
hörte  ich  die  Teufel  hinter  den  Steinen  sagen:  Ist  das  eine 
schwere  Arbeit!  Dies  sagten  sie  aber  nur,  um  die  Kloster- 
brüder, wenn  sie  die  Worte  hörten,  zum  Murren  und  Auf- 
lehnen aufzureizen."  Die  Teufel  sprechen  durch  Geräusch, 
jedwedes  Geräusch  ist  ihre  Stimme.  „Seht!"  sagt  Richalmus, 
indem  ich  an  meinem  Aermel  ziehe  und  dadurch  ein  Rauschen 


n 


1  Cap.  XIV. 

2  Cap.  XV. 

3  Cap.  XX. 
*  Cap.'  XXI. 

22: 


340  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

entsteht,  sprechen  die  Teufel  durch  dieses  Geräusch.  Wenn 
ich  mich  kratze,  so  sprechen  sie  durch  das  Gekratze.  Jedes 
Geräusch,  das  es  gibt,  ist  ihre  Stimme."  x  Eine  ganz  beson- 
dere Wirkung  übt  das  Salz  und  das  Weihwasser.  „Die  Kraft 
des  Salzes  habe  ich  oft  erfahren",  sagt  Richalmus.2  „Bei 
Tische,  wenn  die  Teufel  meinen  Appetit  geholt  hatten  und 
ich  eine  Wenigkeit  vom  Salze  kostete,  so  war  er  wieder  da ; 
nach  kurzem  war  er  aber  wieder  weg,  wie  ich  auch  bezüg- 
lich des  Kreuzes  bemerkte,  dass  es  nur  eine  kleine  Weile 
Kraft  habe.  Wenn  ich  dann  wieder  etwas  Salz  nahm,  spürte 
ich  wieder  Esslust Oft  wenn  ich  mich  wieder  dem  Weih- 
wasser näherte",  fährt  Richalmus  fort,  „stürmten  die  Teufel 
auf  mich  ein,  sobald  ich  mich  aber  besprengt  hatte,  wichen 
sie  gleich  einem,  der  vor  dem  Untertauchen,  der  Ueber- 
schwemmung  und  der  Todesgefahr  flieht." 3  Als  Richalmus 
eines  Tags  den  Novizen  fragt:  warum  er  heute  nicht  wie  ge- 
wöhnlich gegessen  habe?  und  dieser  antwortet:  weil  er  voll 
und  satt  gewesen,  ruft  jener:  „Nehmt  Euch  in  Acht,  ich  habe 
gehört,  wie  die  Teufel  sich  gegen  Euch  verschworen  haben, 
Euch  die  Speise  zu  entziehen,  indem  sie  sagten:  wie  lange  er 
doch  lebt,  warum  haben  wir  ihn  auch  so  lange  geschont!" 
Mein  Gott!  ruft  der  Novize,  wie  kann  ich  mit  vollem  Bauche 
essen?  „Das  bewirken  sie",  erklärt  Richalmus,  „auch  mir 
haben  sie  oft  den  Bauch  gross  gemacht,  den  Mund  mit 
Schleim  gefüllt  und  auf  alle  Weise  den  Appetit  geraubt,  bis 
ich  mich  vor  Tische  mit  Weihwasser  sprengte,  wTas  dann  auch 
half.    Dasselbe  thaten  sie  einem  Frater  von  uns  während  des 

ganzen  Sommers,  bis   dass  er  starb Warum   zerknittert 

Ihr  den  Halm  zwischen  Euren  Fingern  und  zieht  ihn  un- 
nöthigerweise  durch  dieselben?  Seht,  auch  dies  vr ranlassen 
sie  Euch  zu  thun!4  ....  Wenn  die  Menschen  husten,  so  ruft 
damit  ein  Teufel  den  andern  an,  das  Husten  ist  nur  ein  Ge- 
spräch der  Teufel  miteinander."5  Richalmus  betrachtet  es  als 
Irrthum,  zu  meinen,  man  werde  von  Läusen  und  Flöhen  ge- 
bissen, da  es  eigentlich   die  Teufel  seien,    die  auch  in  dieser 


1  CaP.  XXII. 

2  Cap.  XXIV. 

3  Cap.  XXIV. 

*  Cap.  XXVI. 

•  Cap.  XXVIII. 


11.    Vom  13.  Jabrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".       341 

Art  die  Menschen  quälen.  Auf  die  Frage  des  Novizen,  wovon 
denn  jene  leben,  lehrt  Richalmus,  dass  sie  sich  vom  Schweisse 
nähren.1  Im  Kapitel  XLVI  bekennt  Richalmus,  dass  er  gegen 
die  Flöhbisse  das  Zeichen  des  Kreuzes  anwende,  und  räth 
dasselbe  zu  thun,  da  er  aus  Erfahrung  spreche.  Auch  durch 
die  Stimme  der  Vögel  unterhalten  sich  die  Teufel  miteinander 
sprechend.  Obschon  die  Teufel  durch  das  Zeichen  des  Kreu- 
zes sehr  gepeinigt  werden,  halten  sie  doch  Stand  und  suchen 
soviel  als  möglich  zu  schaden.  „Nach  meiner  Erfahrung", 
fügt  Richalmus  hinzu,  ist  aber  doch  nichts  wirksamer  als  das 
Kreuz,  wenn  seine  Kraft  auch  nicht  lange  andauert,  denn  sie 
kehren  bald  wieder,  gleich  einem  tapfern  Krieger,  der  sich 
verwunden  und  durchbohren  lässt,  bevor  er  weicht,  so 
machen  sie  es  auch.2  Zur  Messe  kommen  sie  mit  der  grössten 
Amrst,  wesren  der  Pein,  die  sie  kraft  des  Sakramentes  er- 
dulden."  Richalmus  macht  in  diesem  Kapitel3  dem  Novizen 
den  Vorwurf,  dass  er  und  alle  seine  Genossen  gewöhnlich 
nur  ein  halbes  Kreuz   machen.      Keiner   schlage   ein  vollstän- 


öv 


diges  Kreuz,  und  dadurch  würden  die  Teufel  erst  recht  zu 
Plackereien  aufgefordert.  Ueber  die  Wirksamkeit  des  Kreuzes 
lässt  sich  Richalmus  auch  im  siebenten  Hauptstück  aus. 
Er  betheuert,  dass  er  sicher  schon  ganz  zu  Grunde  gegangen 
wäre,  wenn  ihn  dieses  nicht  erhalten  hätte.  „Bevor  ich  die 
Macht  des  Kreuzes  recht  kannte",  sagt  er,  „wurde  ich  aufs 
ärgste  gepeinigt  und  ausgespannt."  Man  könne  das  Kreuz 
auch  geheim  machen,  ohne  dass  es  die  Teufel  wahrnehmen. 
Die  Teufel  sind  auch  die  Ursache  der  Blähungen.  „Oft", 
sagt  Richalmus,  „treiben  sie  mir  den  Bauch  dermassen  auf, 
dass  ich  den  Gürtel  ungewöhnlich  auflassen  muss,  wenn  sie 
dann,  vielleicht  vergessend,  abstehen,  ziehe  ich  den  Gürtel 
zusammen  in  gewohnter  Weise.  Wenn  sie  dann  wieder 
kommen  und  ihn  so  finden,  quälen  und  ängstigen  sie  mich  so, 
dass  ich  leide."4  Die  Teufel  bewirken  auch  den  Rausch.5 
„Heute  haben  wir  guten  Wein  getrunken",  sagt  Richalmus, 
„und  siehe!    es   gibt  eine  Menge  Betrunkener  im  Saale  über 


1  Cap.  XXIX. 

2  Cap.  XXX. 

3  Cap.  XXXI. 

^  Cap.  XXXVI. 
5  Cap.  XXXVII. 


342  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

und  um  uns.  So  war  es  auch  am  Tage  Allerheiligen,  wie 
ich  neulich  erwähnte,  wo  wir  den  guten  Wein  tranken  und 
die  Masse  der  Betrunkenen  so  gross  war,  dass  ich  sowol  im 
Kloster  als  im  Oratorium  im  Gehen  gehindert  war,  besonders 
aber  im  Kloster  um  den  Hörsaal  und  das  Refectorium  herum. 
Am  andern  Morgen  jedoch  waren  sie  alle  verschwunden  und 
das  Kloster  war  leer."  Auf  die  Frage  des  Novizen:  wohin 
sie  gekommen  seien?  antwortet  Richalmus:  „Es  waren  die- 
jenigen (Teufel),  die  sich  in  den  Weinhäusern  gewöhnlich 
aufzuhalten  pflegen,  gekommen  und  hatten  unsere  Zecher  zu 
ihrer  Verstärkung  dahingelockt."  „Was  machen  denn  die 
Teufel  daselbst?"  fragt  der  Novize.  Worauf  Richalmus  sagt: 
„Sie  machen  die  Leute  trunken,  und  zwar  können  sie  dies 
auch  ohne  Wein."  Im  folgenden  Kapitel  erzählt  Richalmus, 
wie  ihn  ein  Teufel  zur  Unzucht  habe  verleiten  wollen,  er 
demselben  aber  widerstanden  habe.  Die  Teufel,  namentlich 
die  hervorragenderen,  muntern  gegenseitig  zum  Bösen  auf1, 
denn  es  gibt  unter  ihnen  hervorragende  und  ausgezeichnete 
Teufel,  welche  die  untergeordneten  möglichst  anzueifern 
suchen.  Richalmus  klagt2,  dass  ihm  die  Teufel  häufig  Zahn- 
weh verursachen,  besonders  wenn  er  sich  vor  der  Messe  den 
Mund  Avasche.  Als  er  etwas  Wein  getrunken  und  darauf 
husten  musste,  behauptet  er,  dass  dies  auch  von  den  Teufeln 
herrühre,  die  ihm  den  Wein  verleiden  wollten,  weil  er  ihm 
schmecke  und  seiner  Natur  gemäss  sei.  Die  Teufel  nehmen 
diejenige  Gestalt,  welche  zu  ihren  Unternehmungen  passt.3 
Sie  suchen  die  Geistlichen  durch  Zerstreuung  von  ihrem  Be- 
rufe abzuhalten,  führen  z.  B.  einen  aus  dem  Kloster  in  die 
Stadt,  lassen  ein  Pferd  satteln  und  ihn  fortreiten. 4  Die 
Teufel  sprechen  auch  Latein.5  Die  guten  sowol  als  die  bösen 
Geister  haben  eine  bestimmte  Ordnung  nach  Rang  und  Amt. 
So  haben  die  bösen  Dämonen  in  allen  Klöstern  ihre  Beamte, 
welche  den  einzelnen  Berufspflichten  der  Menschen  entgegen- 
wirken; z.  B.  derjenige,  welcher  der  Abtei  entgegen  ist,  heisst 


1  Cap.  XLIII. 

2  Cap.  XLIV. 

3  Cap.  XLIX. 
*  Cap.  LIV. 

6  Cap.  LXIII. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".        343 

unter  ihnen  der  Abt,  der  Prior  u.  s.  w.  1  Sie  haben  ihre 
Freude  daran,  wenn  sie  das  Gute  verhindern  können.2  In 
der  Luft  gibt  es  noch  feinere  und  geriebenere  Teufel,  von 
denen  die  plumpen  unter  uns  unterwiesen  werden.3  Richalmus 
hörte  zu,  als  ein  Teufel  einem  andern  untergeordneten  die 
Weisung  gab:  Kleinherzige  und  Arme  solle  er  durch  Zorn 
und  Traurigkeit,  die  Reichen  oder  Starken  hingegen  durch 
Stolz  und  Hochmuth  zu  Grunde  richten.4  Liebe  und  Dank- 
barkeit gegen  Gott  ist  gegen  den  Sinn  des  Teufels5,  sowie 
auch  das  Festhalten  am  Guten  dem  Teufel  zuwider  ist.6  Ri- 
chalmus erörtert7,  wie  die  Teufel  bestrebt  sind,  die  Conven- 
tualen  von  der  leiblichen  Arbeit  dadurch  abzuhalten,  dass  sie 
dieselben  bedauern  und  sagen:  „Ihr  Armen!  müsst  ja  arbeiten 
wie  die  Sklaven!  welche  unerträgliche  Arbeiten!  Ist  es 
nicht  eine  Schmach,  so  angestrengt  arbeiten  zu  müssen!" 

Diese  Revelationes,  die  130  capitula  umfassen,  beweisen, 
dass  der  Teufel  im  13.  Jahrhundert  in  allen  Falten  des  ge- 
wöhnlichen Lebens  steckte.  Der  ehrliche  Abbas,  weit  ent- 
fernt blenden  zu  wollen,  spricht  seine  innerste  Ueberzeugung 
aus,  die  dem  Wesen  nach  zugleich  die  damals  allgemein  gang- 
bare Anschauung  ist.  Hiernach  streiten  die  bösen  Geister  mit 
den  guten  um  den  Menschen  wie  im  Parsismus,  und  der 
Mensch  erscheint  durchaus  selbst  und  haltlos.  Der  Aufzeichner 
dieser  Offenbarungen,  der  sich  nicht  nennt,  sagt  im  Prologus 
col.  375:  „Omnes  (revelationes)  vere  et  ad  os  mihi  narravit 
ita,  ut  ex  maxima  parte  eas  mihi  in  cera  et  transscriptas  a 
me  relegens  approbaverit.  Sed  ad  cautelam  vanae  gloriae 
ante  mortem  suam  (den  der  Schreiber  schon  im  2.  cap. 
meldet)  alicui  communicare  mihi  prohibuit."  Der  Aufzeichner 
glaubte  aber  dieses  Verbot  überschreiten  zu  dürfen:  „ stimu- 
latus  dilectione  fraterna  et  timens  proximos  defraudare  aedi- 
ficatione  salubri." 

Der  Mensch  dieser  Periode   ist   also   zu    keiner  Zeit  und 


1  Cap.  LXX. 

2  Cap.  LXXn. 
»  Cap.  LXXIV. 
*  Cap.  LXXIV. 
s  Cap.  LXXVU. 

6  Cap.  LXXXVIII. 

7  Cap.  CXXIII. 


344  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

an  keinem  Orte  vor  den  *  Nachstellungen  des  Teufels  sicher; 
überall,  selbst  in  der  Kirche  während  der  gottesdienstlichen 
Handlung,  stellt  er  sich  ein,  mit  Versuchen  seine  Herrschaft 
in  der  Welt  zu  erweitern.  Der  Jungfrau  Agnes  Blannbekin 
in  Wien  erscheinen  zwei  Dämonen  hinter  dem  Rücken  ihres 
Beichtvaters,  und  zwar  nachdem  er  das  Allerheiligste  in  der 
Messe  in  die  Höhe  gehoben  hat.  Jene  beiden  standen  zu 
beiden  Seiten  des  Priesters  und  nickten  sich  hinter  dessen 
Kücken  frohlockend  zu,  dass  sie  den  Celebrirenden  in  Furcht 
versetzt  und  dadurch  bei  der  heiligen  Handlung  hinderlich 
seien.  Denn  der  Frater,  setzt  der  Berichterstatter  hinzu, 
„war  etwas  ängstlich  vor  den  Erscheinungen  böser  Gedanken''. 
Die  erwähnten  bösen  Gedanken  verschwanden  aber,  als  das 
Vaterunser  hergesagt  wurde;  „heilige  Engel  harrten  aber  so 
lange  aus,  als  die  Messe  dauerte." 1  Diese  Wienerin  sieht  die 
Religiösen  von  Teufeln  in  so  dichter  Menge  umgeben,  wie 
die  Atome  in  den  Sonnenstrahlen.  Sie  berühren  jene  aber 
nicht,  sondern  sind  nur  nahe  herum  „quasi  ad  unum  cubi- 
tum"  und  beobachten,  ob  sie  nichts  sagen  oder  thun,  was  zur 
Versuchung  Anlass  böte.  Wenn  die  Teufel  an  einem  Reli- 
giösen Anzeichen  von  Ungeduld,  Stolz  oder  irgendeinem 
Laster  wahrnehmen,  dann  frohlocken  sie,  ergreifen  es  und 
wälzen  sich,  wie  eine  Kugel  zusammengekuäult,  darauf.2  Das 
Aussehen  des  Teufels,  wenn  er  hinter  ihrem  Rücken  erscheint, 
ist  schrecklich,  ein  Gesicht  gleich  einem  wilden  Stiere, 
schwarz,  gehörnt,  mit  glühenden  Augen,  einem  langen  Rüssel. 
Die  Jungfrau  erzählt  auch,  dass,  wenn  es  der  Teufel  auf 
Personen  abgesehen  hat,  die  durch  Ascese  geschwächt  sind, 
sie  leicht  einer  siebenfachen  Versuchung  verfallen,  mit  der  er 
sich  an  die  Frommen  zu  machen  pflegt.  Dann  erscheint  er: 
„indutus  lorica  de  corio  duro,  nigro  et  hispido,  de  lana  leni 
confiltura  in  longum  dependenti,  i.  e.  zotocht  (vox  germanica 
zoticht)  quod  significat  nimiam  austeritatem  corporalem  etc." 
Der  Teufel  bekennt  auch,  dass  er  nie  ablasse,  homines  spiri- 
tuales  zu  beobachten,  zu  verfolgen,  und  da  er  ihnen  nicht 
ins  Herz  sehen  kann,    so   beobachtet   er   um  so  schärfer  ihre 


1  Agnetis  Blannbekin,  quae  sub  Rudolphe-  Habsburgico  et  Alberto  I. 
Austriae  impp.  Viennae  floruit,  Vita  et  Revelationes,  ed.  Pez.,  p.  71. 

2  A.  a.  0.,  p.  250. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".       345 

äussern  Bewegungen,  woraus  er  auf  die  innern  Regungen 
schliesst  und  zu  Versuchungen  Anlass  nimmt.  Er  freut  sich 
über  die  Verführung  eines  Heiligen  zu  einer  leichten  Sünde 
mehr,  als  wenn  er  einen  sündigen  Mensch  zu  einer  Todsünde 
verleitet  hat.1  Die  Jungfrau  Agnes  pflegte  jede  Quadragesima 
5000  Paternoster,  ebenso  vielp  Ave-Maria  von  ebenso  vielen 
Kniebeugungen  begleitet  zu  beten,  so  dass  sie  am  Tage  Para- 
sceve  die  Zahl  der  Gebete  voll  hatte  und  dann  das  Opfer 
dieser  Gebete  als  Dank  für  die  Leiden  des  Herrn  darbrachte. 
Der  Teufel,  sehr  ärgerlich  darüber,  dass  sie  dem  Herrn  dar- 
bringe, verwandelt  sich  in  einen  Engel  des  Lichts  und  sucht 
sie  durch  Worte  davon  abzubringen;  aber  sie  erkennt  seine 
Bosheit  und  fährt  in  ihren  Danksagungen  gegen  den  Erlöser 
fort.  Der  Teufel  weicht  zwar,  aber  nicht  ohne  Spuren  seiner 
Bosheit  zurückzulassen.  Denn  bald  fängt  das  Fleisch  der 
Jungfrau  an  von  dem  Geiste  der  Unzucht  gequält  zu  werden 
wie  nie  zuvor;  allein  durch  die  Gnade  Gottes  lässt  das  Uebel 
bald  ab.2  Als  sie  eines  Morgens,  nachdem  sie  aufgestanden, 
noch  etwas  schläfrig  auf  einem  Stuhle  sass,  kam  der  Teufel 
und  wollte  ihr  leiblich  Gewalt  anthun,  zog  sie  vom  Sitze  zur 
Thüre,  als  wollte  er  sie  entführen.  Nachdem  sie  angefangen, 
den  Herrn  um  seiner  Auferstehung  willen  anzurufen,  hörte 
sie  eine  Stimme:  „Sage,  Herr  Jesu  Christ,  um  deiner  Liebe 
willen.  «Min  hieze  bluet»  hilf  mir!"  Nachdem  sie  dies 
gethan,  liess  sie  der  Teufel  vor  der  Kammer  los.3 

Die  Vorstellung  von  einem  Bunde  mit  dem  Teufel,  durch 
die  Legende,  namentlich  die  über  Theophilus  fortgepflanzt 
und  ausgebildet,  stand  von  dieser  Zeit  an  im  Vordergrunde 
und  erhielt  besonders  viel  Zuschuss  durch  das  Ketzerwesen, 
das  schon  von  den  Kirchenvätern  mit  dem  Teufel  in  Zusam- 
menhang gesetzt  ward.  Die  feierliche  Lossagung  der  Katharer 
von  der  römischen  Kirche  bekam  die  Bedeutung  der  Los- 
sagung von  der  christlichen  Religion  und  von  Gott  überhaupt, 
und  galt  als  Gegenstück  zur  Abrenunciatio  diaboli.  Die  dua- 
listische Anschauung  der  Katharer  bot  die  Handhabe  zur 
Beschuldigung,    dass    sie   dem   Teufel  dienen   und  ihre   Ver- 


1  Cap.  CLXXXVIII. 

2  Cap.  CG  und  CCI. 

3  Cap.  CCX. 


34G  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

ehrung  durch  den  skandalösen  Kuss  bezeigen,  von  dem  Alanus 
von  Ryssel  bemerkt :  „Catari  dicuntur  a  cato,  quia  osculantur 
posteriora  cati,  in  cujus  specie,  ut  dicunt,  apparet  Lucifer." 
Der  unter  den  Katharern  übliche  Bruderkuss  wurde  verdreht 
und  bekam  die  Bedeutung  eines  Zeichens  des  dem  Teufel  ge- 
leisteten Homagium,  wodurch  der  Ketzer  als  dessen  Vasall 
sich  darstellen  sollte.  Unzucht  und  Incest  sind  die  Laster, 
deren  Beschuldigung  schon  bei  den  altern  Ketzern  verbraucht 
worden  war;  hei  den  Stedingern  steigerte  sich  die  Anklage 
auf  Sodomie,  es  erübrigte  nur  noch  der  fleischliche  Umgang 
mit  dem  Teufel  selbst.  Im  Jahre  1275  wurde  zu  Toulouse 
unter  dem  Inquisitor  Hugo  von  Beniols  ein  grosses  Auto  da  Fe 
gehalten,  wo  unter  den  lebendig  Verbrannten  auch  die  Herrin 
von  Labarthe  den  Flammentod  erlitt.  Diese  56jährige  Ma- 
trone wusste  man  zum  Geständniss  zu  bringen,  dass  sie  all- 
nächtlich mit  dem  Satan  fleischlich  Umgang  gepflogen,  infolge 
dessen  sie  ein  Ungeheuer  mit  einem  Wolfskopf  und  Schlan- 
genschwanz geboren,  zu  dessen  Ernährung  sie  allnächtlich 
kleine  Kinder  habe  stehlen  müssen.1  Diese  und  ähnliche  Be- 
schuldigungen werden  im  Mittelalter  ständig  und  wiederholen 
sich  in  allen  Hexenacten.  Schon  um  1230 — 40  stand  beson- 
ders die  Gegend  von  Trier  unter  schwerem  Verdacht  der 
Hexerei  und  Ketzerei.  Einige  Dutzend  alter  Frauen,  welche 
nicht  gestehen  wollten,  die  Kröte  gesehen  zu  haben,  erlitten 
den  Feuertod.  Von  der  Zeit  ab  spielt  die  Kröte  überhaupt 
eine  hervorragende  Holle  in  den  gerichtlichen  Anklagen  auf 
Zauberei  und  Ketzerei;  es  wird  viel  von  Katern  und  Böcken 
gesprochen,  namentlich  wo  es  Hexer  betrifft,  während  die 
Hexen  häufig  mit  Kröten  und  Katzen  in  Verbindung  ge- 
bracht werden,  selbst  mit  Gänsen,  wie  auch  Gregor  IX.  in 
einem  Briefe  an  den  Prinzen  Heinrich  der  Kröte,  des  Frosches, 
der  Gans  erwähnt.2  Die  Kunst,  den  Teufel  zu  bannen  oder 
zu  vertreiben,  beschäftigte  natürlich  alle  Köpfe3  und  diese 
brachten  eine  Menge  Zauberbücher  hervor.  Bekannt  ist  die 
Aussage,   die  Raynald 4  nach  Ludwig   Param   anführt:    dass 


1  Lamothe  Langem,  Hist.  de  l'inquisition  en  France,  II,  614;  Hist.  de 
Languedoc,  IV,  17;  bei  Soldan,  S.  147. 

2  Vgl.  Semler,  Fruchtbarer  Ausz.,  II,  583. 

3  Vgl.  Chron.  belgic.  ad  ann.  1233. 
*  Ad  a.  c.  N.  XV.  XVI. 


11.    Vom  13.  Jahrb.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".       347 

von  dieser  Zeit  ganz  besonders  in  Deutschland  und  Italien  so 
viele  zur  teuflischen  Zauberei  verführt  worden  seien,  dass 
sie,  wenn  man  nicht  in  diesen  beiden  Ländern  ungefähr 
30000  verbrannt  hätte,  zuletzt  die  ganze  Erde  dem  Teufel 
unterworfen  hätten. l 

Bemerkenswerth  ist,  dass  in  diesem  Jahrhundert  das  erste, 
also  älteste  Beispiel  von  Schreiben  mit  Blut  bei  dem 
Bündnisse  mit  dem  Teufel  vorkommt,  soviel  uns  wenigstens 
bekannt  ist.  Als  um  das  Jahr  1276  Brun  von  Schönbecke 
sein  Gedicht  zur  Ehre  der  Maria  dichtete,  nahm  er  die  Theo- 
philussage  darin  auf.  Ausser  manchen  Abweichungen  von 
den  früheren  Bearbeitungen  dieses  Gegenstandes  ist  ihm  der 
Zug  eigen,  dass  Theophilus  die  Handfeste  mit  Blut  schreiben 
muss.  Ausser  diesem  sagt  nur  Rutebeuf2  ebenfalls:  „de  son 
san  les  escrist".  Die  Anwendung  des  Blutes  bei  der  Ver- 
schreibung  erklärt  sich  aus  der  Vorstellung  vom  Blute,  die  sich 
im  Alten  Testamente  und  bei  andern  Völkern  findet,  wonach 
im  Blute  der  Sitz  des  Lebens,  der  Kraft,  der  Empfindung 
gedacht  wird.  Die  Verschreibung  mit  Blut  deutet  sonach 
den  innigsten,  unverbrüchlichsten  Bund,  und  zugleich  die 
strengste  Verpflichtung  an.  Bei  den  Römern  verpflichtete 
Opferwein  mit  Blut  vermischt  getrunken  (vinum  assiratum) 
selbst  zu  grauenvollen  Handlungen,  was  noch  bei  Catilina's 
Verschwöruno;  stattgefunden  haben  soll.  3  Manche  wilde 
Stämme  haben  den  Brauch,  bei  Bündnissen  sich  zu  ritzen 
und  das  hervorströmende  Blut  zu  vermischen.  Es  ist  die 
völlige  Hingebung,  die  Aufopferung  seiner  selbst  durch  das 
Blut  symbolisirt.  So  hat  auch  die  hebräische  Beschneidung 
die  Bedeutung  eines  blutigen  Opfers  des  ganzen  Menschen  an 
Jahveh,  daher  sie  als  Zeichen  des  Bundes  zwischen  diesem  und 
dem  Sohne  Israels  betrachtet  wird,  das  dieser  zur  Mahnung 
an  seine  Verpflichtung  zur  Treue  gegen  Jahveh,  zugleich  aber 
auch  als  Adelsdiplom  hinsichtlich  seiner  vor  allen  Völkern 
ausgezeichneten  Stellung  an  sich  tragen  soll. 

Bei  der  Verwilderung  der  Sitten  im  14.  Jahrhundert 
(deren  wir  später  gedenken  wollen)  kann  es  nicht  befremden, 


1  Vgl.  Horst,  Daemonomag.,  94. 

2  Mystere  de  miracle  de  Theophile. 

3  Sallust.  Catil.,  cap.  22. 


348  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

wenn  Rachsucht  und  Bosheit,  um  ihre  Zwecke  zu  erreichen, 
sich  der  teuflischen  Mächte  bedienen  zu  können  glaubten. 
Man  gebrauchte  Bilder  aus  Metall  oder  Wachs,  durch  deren 
Zerstörung  man  mit  Hülfe  des  Teufels  denjenigen  Personen 
zu  schaden  beabsichtigte,  die  jene  darstellten.  Clemens  V. 
(1305 — 14)  stand  im  Geruch  der  teuflischen  Zauberei,  durch 
die  er  sich  Nachricht  von  dem  Schicksale  eines  Anverwandten 
in  der  andern  Welt  verschafft  haben  soll. 1 

In  diesem  Jahrhundert  spielt  auch  der  bekannte  Templer- 
process  (1312),  den  wir  einerseits  als  Spiegelung  des  Teufels- 
glaubens der  damaligen  Zeit,  andererseits  als  Förderungsmittel 
zu  dessen  Festigung  und  Verbreitung  anführen  müssen.  Die 
Hauptbeschuldigung  der  Templer  lautete  nämlich  ausser  auf 
Verleugnung    Gottes    und    Christi,    Verachtung    des    heiligen 

ö  O  '  *— '  K-' 

Kreuzes,  Beschimpfung  der  Sakramente  auch  auf  Huldi- 
gungskuss  und  Homagium  demselben  dargebracht 
und  Unzucht  mit  ihm.  Das  teuflische  Expediens  der  Thier- 
verwandlung  ward  in  Anwendung  gebracht.  Der  Teufel  soll 
nämlich  bei  den  Versammlungen  der  Templer  jedesmal  als 
Kater  erschienen  sein  und  schliesslich  einen  der  Versam- 
melten mit  sich  durch  die  Luft  hinweggeführt  haben.  Ueber- 
müthige  Anmasslichkeit  und  mancherlei  Ausschreitungen,  die 
Folgen  ihrer  Machtstellung  und  ihres  Reichthums,  ihr  zwei- 
deutiges  Verhalten  im  Morgenlande  gaben  den  äussern  Anlass, 
dem  Templerorden  den  Process  zu  machen,  Neid  und  Schel- 
sucht  führten  den  Process  mit  Grausamkeit,  Wilhelm,  der 
Inquisitor  haereticae  pravitatis,  wusste  die  Aussagen  in  Be- 
treff der  Verleugnung  Gottes  und  Christi  zu  erfoltern,  das 
Leugnen  der  unter  den  Martern  Sterbenden  oder  in  scheuss- 
lichen  Gefängnissen  Schmachtenden  blieb  unberücksichtigt. 
Die  Charakterschwäche  des  Papstes  Clemens  V.  war  nicht 
vermögend,  der  drängenden  Habsucht  Königs  Philipp  IV. 
von  Frankreich  Widerstand  zu  leisten,  über  welchem  der 
Teufel  die  düstere  Flamme  hoch  emporhielt,  um  damit  den 
Scheiterhaufen  Jakob  von  Molay's  in  Brand  zu  stecken  (1214). 
Unter  höllischer  Beleuchtung  wurde  der  Orden  geopfert ;  aber 
die  Nachwelt    hat    bei   klarem  Lichte  des  Urtheils   unter  der 


1  Villani  VI,  58,  bei  Horst,  Daemanom.,  115. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis'desiderantes".       349 

Asche    die    königliche   Habgier,    priesterliche  Eifersucht    und 
päpstliche  Schwäche  herausgefunden. 

Papst  Johann  XXII.,  selbst  der  Hexerei  beschuldigt, 
äussert  in  einer  Bulle  seinen  Schmerz  darüber,  dass  seine 
Aerzte,  seine  Hofleute  mit  dem  Teufel  im  Bunde  stehen  und 
durch  Ringe,  Spiegel  u.  dgl. ,  in  welche  teuflische  Macht  ge- 
bannt sei,  andere  Menschen  umzubringen  suchen,  dass  auch 
seine  Feinde  solcher  teuflischer  Mittel  sich  bedient  hätten,  um 
ihn  ums  Leben  zu  bringen. 1  Im  Jahre  1327  klagt  derselbe 
Papst  über  seine  Zeitgenossen,  dass  sie  mit  dem  Teufel  Bünd- 
nisse schliessen,  ihm  Opfer  darbringen,  ihre  Verehrung  er- 
weisen, zu  teuflischem  Gebrauche  Bilder  formen,  Ringe, 
Trinkschalen,  Spiegel  u.  a.  in.  2 

Bei  aller  Furchtbarkeit  des  Teufels  erscheint  er  aber  doch 
bisweilen  als  Spassmacher.  So  erhielt 3  Papst  Clemens  VI.  ein 
Jahr  vor  seinem  Tode  einen  eigenhändigen  Brief  des  Teufels, 
worin  dieser  ihn  seinen  würdigen  Statthalter  auf  Erden  nennt 
und  die  Hoffnung  ausspricht,  bald  mit  ihm  im  Reiche  der 
Finsterniss  zusammenzutreffen.  Der  Paj^st  hatte  Laune  genug, 
zu  erwidern:  er  müsse  dem  Teufel  danken,  dass  er  ihn  einmal 
lachen  gemacht,  wozu  ihm  seine  Amtsgeschäfte  ohnedies  keine 
Zeit  Hessen.  In  der  volksthümlichen  Poesie  hatte  die 
drastische  Figur  des  Teufels  schon  früher  Aufnahme  gefun- 
den. Anknüpfend  an  die  dogmatischen  Vorstellungen  der 
Kirchenväter  von  der  Versöhnung,  wonach  das  Menschen- 
geschlecht dem  Teufel  auf  dem  Wege  des  Rechtens  abgerun- 
gen und  die  Herrschaft  des  Teufels  bald  als  eine  rechtlich 
begründete,  bald  als  eine  durch  Ueberlistung  gewonnene  be- 
trachtet wird,  wird  in  dem  Vorspiele  zu  den  Passionsspielen 
die  Sache  der  sündigen  Menschheit  vor  dem  Throne  Gottes 
in  Form  eines  Processes  verhandelt.4 

Der  Satansprocess. 

In  ähnlicher  Weise,  wie  man  die  Versöhnungslehre  drama- 
tisch darzustellen  suchte,  entstand  ein  förmlicher  Process  des 

1  Raynald  ad  ann.  1317,  Nr.  53. 

2  Raynald  ad  ann.  1327,  Nr.  44. 

3  Nach  Raynald  ad  ann.  1357,  Nr.  7. 

4  Hase,  D.  geistl.  Schausp. ,  43  fg.;  Devrient,  Geschichte  der  Schau- 
spielkunst, I,  21  fg. 


350  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Satans,  welcher  zur  Norm  der  beliebtesten  processualischen 
Lehrbücher  wurde.  Die  Form  processualischer  Verhand- 
lung ward  auf  Angelegenheiten  rein  geistigen  Inhalts  über- 
tragen, eine  populär-dogmatische  Vorstellung  juristisch  be- 
handelt, was  sich  aus  der  engen  Verbindung  der  Theologie 
und  Jurisprudenz  im  Mittelalter  erklärt. 

Schon  seit  Papst  Alexander  III.  (1159 — 82)  finden  wir 
ausser  andern  die  Kanonisation  vorbereitenden  Ceremonien 
einen  förmlichen  Process,  worin  der  Teufel  durch  einen  be- 
stimmten Anwalt  (advocatus  diaboli)  als  Partei  auftritt,  und 
ähnlich  ist  der  Gedanke  einer  processualischen  Verhandlung 
zwischen  dem  Feinde  der  Menschheit,  dem  Tode,  und  dem 
Menschen  in  einer  alten  deutschen  Schrift  dargestellt,  ge- 
wöhnlich als  „Rechtsstreit  zwischen  Tod  und  Menschen"  be- 
zeichnet. 1 

In  der  ältesten  Form,  in  welcher  der  Satansprocess  er- 
halten ist,  findet  der  Rechtsgelehrte  die  Anschauung,  von 
welcher  dabei  ausgegangen  ist,  durchaus  unjuristisch;  da 
aber  ein  gewisser  Hergang,  in  dem  sich  das  Dogma  von  der 
Ueberwindung  des  Teufels  darstellte,  traditionell  festgestellt, 
und  von  vornherein  ein  gewisses  juristisches  Moment  in  die 
Lehre  von  der  Versöhnung  hineingerathen  war,  so  lag  es 
nahe,  dieses  weiter  auszubilden.  Das  Dogma  bot  Anknüpfungs- 
punkte zu  Rechtsdeductionen ,  um  den  Erfolg  desto  fester  zu 
begründen:  der  Hergang  erhielt  die  Gestalt  eines  förmlichen 
Processes,  aus  der  überlieferten  dogmatischen  Tradition  ent- 
stand durch  juristische  Ausstattung  eine  Schrift,  welche  den 
Processgang  an  einem  pikanten  Beispiele  zum  Muster  hin- 
stellte, und  indem  der  dogmatische  Inhalt  zurücktrat,  erhielten 
die  Satansprocesse  die  Bedeutung  processualischer  Lehrbücher. 
„Keinesfalls",  sagt  Stintzing  2,  „haben  wir  dabei  an  eine  Sa- 
tire zu  denken.  Denn  selbst  da,  wo  die  Vertheidigung  des 
Menschengeschlechts  an  Rabulisterei  streift,  findet  die  Ge- 
staltung der  Fabel  noch  ihre  Stütze  an  jener  dogmatischen 
Ueberlieferung,  welche  sogar  eine  Ueberlistung  des  Teufels 
in  sich  aufgenommen  hatte." 


1  Dr.  R.  Stintzing,  Geschichte  der  populären  Literatur  des   römisch- 
kanonischen  Rechts  in  Deutschland  (Leipzig  1867),  S.  259  fg. 

2  A.  a.  0.,  S.  261. 


11.  Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".        351 

Der  Processus  Sathanae  hat  mehrere  Bearbeitungen  er- 
lebt. Die  Fabel,  die  dieser  kleinen  Schrift  zu  Grunde  liegt,  ist 
nach  der  Angabe  Stintzing's  folgende: 

„Vor  Christo  erscheint  der  «procurator  nequitiae  infer- 
nalis»,  Satan  oder  Mascaron  und  verlangt  rechtliches  Gehör 
gegen  das  Menschengeschlecht  in  kürzester  Frist;  Christus 
jedoch  beraumt  den  Termin  erst  auf  den  folgenden  Freitag 
an.  Satan  wendet  ein,  der  Freitag  ist  ein  Festtag,  daher  die 
Ladung  ungültig.  Aber  Christus  weist  ihn  zurück  mit  der 
Erklärung:  «nos  jura  condidimus  et  auctoritatem  damus  juri- 
bus,  non  jura  nobis».  Satan  findet  sich  im  Termine  ein  und 
muss  bis  zum  Abend,  auf  Gehör  warten.  Als  endlich  die 
Ladung  verlesen  wird,  meldet  sich  für  das  Menschengeschlecht 
niemand,  und  Satan  verlangt  nun  eine  Bescheinigung  darüber, 
dass  er  rechtzeitig  erschienen,  die  Menschen  dagegen  unge- 
horsam ausgeblieben  sind.  Aber  Christus  erklärt,  dass  er 
kraft  richterlicher  Gewalt  und  Billigkeit  den  Termin  bis  zum 
folgenden  Tage  erstrecke.  Als  Satan  sich  polternd  über 
Ungerechtigkeit  beschwert,  wird  er  zum  Himmel  hinaus- 
geworfen. 

„Am  andern  Tage  tritt  Maria  als  «advocata  generis  hu- 
mani»  auf,  aber  der  Satan  bestreitet,  dass  sie  Procurator  sein 
könne,  denn  sie  sei  als  Weib  von  der  Procüratur  ausge- 
schlossen und  überdies  dem  Richter  zu  nahe  verwandt.  Dem- 
ungeachtet  entscheidet  Christus  für  ihre  Zulassung.  Satan 
erhebt  darauf  eine  Spolienklage,  welche  er  auf  die  Behauptung 
gründet,  dass  ihm  der  Besitz  des  Menschengeschlechts  durch 
die  Erlösung  gewaltsam  entrissen  sei.  Maria  deducirt  da- 
gegen, dass  die  Hölle  nur  Detentor  gewesen  sei,  indem  sie 
das  Menschengeschlecht  nur  für  Gott  in  Gewahrsam  gehabt 
habe;  ihrem  Besitze  würde  titulus  und  bona  fides  gefehlt  ha- 
ben. Hierauf  wird  die  Spolienklage  abgewiesen.  Satan  klagt 
nun  petitorisch,  indem  er  die  Verurtheilung  des  Menschen- 
geschlechts fordert,  unter  Berufung  auf  den  Sündenfall  und 
die  Worte  der  Genesis:  «welchen  Tag  du  von  diesem  Baume 
issest,  sollst  du  des  Todes  sterben».  Maria  wendet  ein:  die 
Hölle  sei  selber  Ursache  des  Sündenfalls  und  könne  aus  ihrem 
eigenen  dolus  kein  Recht  herleiten.  Satan  replicirt:  selbst 
wenn  das  richtig  wäre,  so  müsse  die  Verurtheilung  dennoch 
und   zwar    «officio    judicis»    erfolgen,    weil   die   Gerechtigkeit 


352  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

kein  Verbrechen  ungestraft  lassen  dürfe.  Dagegen  protestirt 
Maria  als  e;egen  einen  unzulässigen  Wechsel  des  Klagegrundes 
und  der  Klage,  bricht  dann  aber  in  ihrer  Sorge  um  das 
Menschengeschlecht  in  Thränen  und  Klagen  aus,  sodass  Satan, 
der  das  Herz  Christi  bewegt  sieht,  sich  beschwert:  er  habe 
von  Anfang  an  gesagt,  wie  nachtheilig  es  ihm  sei,  dass  die 
Mutter  des  Richters  als  Anwalt  seiner  Gegner  fungire."  In- 
dess  geht  die  Verhandlung  weiter;  jedoch  weichen  die  ver- 
schiedenen Bearbeitungen  von  nun  an  in  Einzelnheiten  ab. 

Stintzing  deutet  auf  die  zwei  Momente  hin,  die 
überall  hervortreten.  „Satan  sagt:  die  Gerechtigkeit  ver- 
lange, dass  das  Menschengeschlecht  verurtheilt  werde,  weil 
auch  die  abgefallenen  Engel  verurtheilt  seien ;  wogegen  Maria 
erwidert:  dass  die  Engel  aus  Bosheit,  die  Menschen  dagegen 
wegen  der  Schwäche  ihrer  Natur  gesündigt  hätten.  Ausser- 
dem macht  Maria  geltend:  dass  Christus  die  Strafe  für  die 
Menschen  erlitten  habe,  also  die  Gerechtigkeit  gesühnt  und 
die  Schuld  bereits  rechtskräftig  abgeurtheilt  sei.  Schliesslich 
wird  Satan  zur  Freude  der  himmlischen  Heerscharen  abse- 
wiesen." 

Stintzing  x  macht  die  richtige  Bemerkung:  „Betrachtet 
man  diese  Fabel  genauer,  so  erkennt  man  leicht,  dass  ebenso 
wenig  ihre  Gestaltung  wie  ihr  Kern  juristischer  Natur  ist. 
Der  Satan  tritt  mit  Klagen  gegen  das  Menschengeschlecht 
auf,  aber  die  Menschheit  ist  offenbar  weder  in  petitorio  noch 
in  possessorio  der  rechte  Beklagte,  denn  sie  ist  nicht  selbst 
der  Erlöser,  der  Befreier,  sondern  das  Object  der  Erlösung. 
Sowol  die  Spolienklage  wie  die  Vindication  musste  daher 
gegen  Christus  angestellt  werden,  die  Menschheit  nur  als 
Streitgegenstand  erscheinen;  Christus  selbst  konnte  id  diesem 

Streite  nicht  Richter  sein Ein  Jurist   würde    wol   das 

Menschengeschlecht  gleich  zu  Anfang  contumacirt,  dann  Maria 
als  Procurator  nicht  zugelassen,  den  Richter  nicht  durch 
Thränen  der  Maria  zum  Zorn  und  Mitleid  bewegt  gezeigt 
hab 


en. 


u 


Die  juristische  Ungehörigkeit  erklärt  sich  wol  daraus, 
dass  der  ganze  Hergang  eigentlich  gar  kein  juristischer  Fall 
ist,    sondern  vielmehr    einen   dogmatischen   Gedanken    veran- 


S.  263. 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".        353 

schaulichen  will,  und  die  juristischen  Bearbeiter  juristische 
Momente  verwenden,  um  dem  Dogma  eine  rechtliche  Basis 
zu  geben,  aber  die  Begründung  ist  „wie  eine  Ironie  auf  jenen 
Glaubenssatz". 

In  den  erhaltenen  Bearbeitungen  lassen  sich  nach  Stintzing 
die  Spuren  der  Umgestaltung  verfolgen;  eine  der  ältesten 
Bearbeitungen  ist  diejenige,  welche  sich  in  dem  kölner  Sammel- 
werk als  5.  Stück  und  zwar  mit  dem  Tractatus  judiciorum 
Bartoli  und  dem  Tractatus  renunciationum  durch  einen  Separat- 
titel verbunden  findet. 

Da  Bartolus  1  (geb.  1313,  gest.  1355)   nicht  der  Erfinder 
des  Processus  Satanae,   sondern  nur  ein  Bearbeiter   desselben 
ist,  wofür  Stintzing   als   Beweis   anführt,    dass  in   der  Folio- 
ausgabe   der  Definitivsentenz   die  Jahreszahl    1311    beigefügt 
ist,  vermuthlich  aus    dem  altern  Manuscripte,    aus   dem   Bar- 
tolus seine  Bearbeitung  verfasste,  herübergenommen,  so  muss 
die   Entstehung    des    Processus   Satanae  nothwendig    in    eine 
frühere  Zeit   fallen   (vielleicht  schon  in  das    13.  Jahrhundert). 
Ein  Zeugniss  für  den  Beifall,  den  der  Processus  Satanae  als 
Processlehrbuch    gefunden,    muss    man    mit    Stintzing    darin 
sehen,    dass   U.  Tenngier   eine  deutsche  Uebersetzung   oder 
richtiger  Bearbeitung,   und   zwar  mit  Abweichungen  vom  la- 
teinischen Original,  veranstaltet  und  seinem  Laienspiegel  ein- 
verleibt hat   unter   dem   Titel:    „Ein  kurtz    gedichter  process 
verdeutscht".     In  der  Einleitung  bemerkt  er,  dass  dieser  Pro- 
cess „durch  einen  hochgelahrten  zu  undericht  seinen  Jüngern 
im  latein  geformiret"  sei,  und  zwar  nach  der  Kandglosse  von 
Bartolus.     Naiv  ist  des  Uebersetzers  Bemerkung,   dass  nie- 
mand glauben  solle,  dieser  Process  sei  wirklich  vorgefallen. 

Eine  zweite  Schrift,  welche  Stintzing2  anführt,  ist  der 
sogenannte  „Belial"  von  Jacobus  de  Theramo  3  verfasst,  der 
am  Schlüsse  seines  Werkes  sagt:  „Actum  aversae  prope  Nea- 
polim  die  penultima  mensis  Octobris,  anno  Domini  1382."  Der 
Verfasser  bezeichnet  sein  Werk  als  „consolatio  peccatorum", 


1  Bartolus  de  Saxoferrato ,  geboren  in  der  Mark  Ancona,  lehrte  die 
Rechtswissenschaft  und  starb  zu  Bologna  1355. 

2  S.  271. 

3  Welcher  auch   den  Namen   de  Ancbarano  geführt  haben   soll.     Er 
ist  1350  oder  1351  geboren  und  scheint  1417  gestorben  zu  sein. 

Eoskoff,  Geschichte  des  Teufels.   I.  23 


354  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

womit  der  theologistische  Charakter  aufgeprägt  ist.  Seine 
Tendenz  ist  „eine  scholastische  Beweisführung  für  die  That- 
sache,  dass  Christus  die  Macht  des  Teufels  wirklich  überwunden 
und  die  Sünder  seiner  Gewalt  für  alle  Zeiten  entrissen  hat". 
Nach  einer  rein  theologischen  Darstellung  der  Heils- 
geschichte, die  mit  der  Erlösung  schliesst,  berichtet  der  Ver- 
fasser den  Beschluss  der  höllischen  Mächte,  eine  Klage  gegen 
Christus  zu  erheben,  weil  er  ihnen  die  Menschheit  widerrecht- 
lich entrissen  habe.  Der  „juris  peritus  Belial",  der,  in  förm- 
licher Weise  zum  Procurator  aufgestellt,  vor  Gott  erscheint, 
verlangt  rechtliches  Gehör  gegen  Christus.  Gott  ernennt  den 
König  Salomon  in  einem  förmlichen  Rescripte  zum  Richter, 
welcher  ein  ebenso  förmliches  Ladungsdecret  erlässt.  Christus 
wählt  Mosen  zu  seinem  Procurator,  der  aber  infolge  eines 
Misverständnisses  im  Termin  ausbleibt.  Belial  stellt  einen 
Contumacialantrag,  wird  aber  abgewiesen  und  der  Termin 
verlegt.  Hierauf  übergibt  Belial  ein  fömliches  Klagelibell 
worin  es  heisst:  „Quidam  dictus  Jesus,  filins  Joseph  et  Ma- 
riae,  quodam  ausu  temerario  ductus,  praedictam  universitatem 
infernalem  de  possessione  praedictarum  violenter  dejecit  ac 
etiam  spoliavit."  Im  Verlaufe  der  Verhandlung  droht  dieses 
Possessorium  einen  schlimmen  Ausgang  zu  nehmen,  und  so 
lässt  es  die  Hölle  fallen  und  beschliesst  geradezu  petitorisch 
das  Eigenthum  der  Welt  in  Anspruch  zu  nehmen,  Belial 
zeigt  es  dem  Richter  an,  übergibt  seine  Klageschrift,  worin 
es  heisst:  „Dictus  Jesus  temeritate  potius,  quam  juris  auctori- 
tate,  sibi  appropriavit,  imo  potius  usurpavit"  u.  s.  w.,  nämlich 
die  Hölle,  Erde  und  das  Meer  nebst  allem  was  darin  und 
darauf  wohnt,  Positionen  und  Responsionen  in  aller  Form 
werden  darin  aufgestellt,  der  Inhalt  der  Verhandlung  bleibt 
aber  doch  mehr  theologisch  als  juristisch.  Salomon  entscheidet 
in  förmlicher  Sentenz  gegen  Belial,  der  aber  Berufung  ein- 
legt und  um  Apostel  bittet.  Hierauf  wird  zum  Richter  in 
Appellatorio  von  Gott  „Joseph  natus  Jacob  regis  Aegypti 
vicarius"  delegirt.  In  der  Vorverhandlung  treten  die  Ge- 
rechtigkeit und  Wahrheit  einerseits,  die  Barmherzigkeit  und 
der  Friede  andererseits  auf,  da  sich  aber  diese  verständigen, 
wird  der  Rechtsstreit  zwischen  Belial  und  Mose  weiter  ge- 
führt.  Die  Parteien  schliessen  aber  ein  Compromiss,  wonach 
die  Sache  durch  Schiedsrichter  ausgetragen  werden   soll,  und 


11.    Vom  13.  Jahrh.  bis  zur  Bulle  „Summis  desiderantes".       355 

wählen  dazu:  „Illustrissum  virum  Octavianum  Romanorum 
Imperatorem;  Sanctissum  virum  Jeremiam;  naturalissum  virum 
Aristotelem  et  spiritu  plenum  Jesajam."  Unter  der  Leitung 
des  Joseph  als  Obmann  sollen  diese  den  Streit  „de  piano  et 
sine  strepitu  et  figura  judicii"  entscheiden.  Der  Schiedsspruch 
geht  nach  langer  Verhandlung  auf  Abweisung  der  Klage 
BeliaFs,  aber  zugleich  auf  Ausscheidung  der  Gerechten  von 
den  Ungerechten  am  Tage  des  Gerichts,  mit  Verstossung  der 
letztern  in  die  Hölle,  worüber  ein  öffentliches  Instrument  ab- 
gefasst  wird. 

Der  theologische  Zweck  ist,  wie  Stintzing  bemerkt,  nicht 
zu  verkennen.  Der  Verfasser  wählte  die  traditionell  gewor- 
dene Form  des  Processes,  wobei  ihm,  als  er  im  Jahre  1382 
schrieb,  die  Bartolus'sche  Bearbeitung  des  Processes  Satanae 
als  Vorlage  diente.  Dem  Juristen  entgeht  auch  nicht  die 
juristische  Verbesserung  des  Theramoschen  Werks,  worin  die 
Person  des  Beklagten  richtiger  gewählt  ist  als  im  Processus 
Satanae,  wo  die  Klage  gegen  das  Menschengeschlecht,  hier 
aber  gegen  Christus  erhoben  wird  und  nicht  dieser,  wie  in 
jenem,  sondern  Gott  Vater  als  Richter  fungirt.  Durch  diese 
Verbesserungen  hat  sich  der  Satansprocess,  ungeachtet  des 
theologischen  Zwecks  und  der  theologischen  Ausführungen, 
zu  einem  ausführlichen  processualischen  Lehrbuch  heraus- 
gebildet. 

Der  Gegenstand  muss  unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich 
ziehen,  theils  weil  er  uns  zeigt,  wie  in  diesem  Zeitalter  Theo- 
logie und  Rechtsgelehrtheit  ineinandergesetzt  waren,  wodurch 
letztere  eine  theologistische  Färbung  hatte,  theils  weil  er  be- 
stätigt, dass  die  Teufelei  auch  in  die  Fächer  des  Wissens  wie  in 
die  Gebiete  des  Lebens  hineinragte.  Sie  erfüllte  dermassen 
die  Welt,  dass  die  Sorbonne,  auf  Veranlassung  des  Kanzlers 
Gerson,  der  selbst  einen  Aufsatz:  „De  erroribus  circa  artem 
magicam"  schrieb  *,  im  Jahre  1398  zur  Belehrung  und  Be- 
ruhigung des  geängstigten  Volks  siebenundzwanzig  gegen  die 
teuflische  Zauberei  gerichtete  Artikel  veröffentlichte,  worin  der 
Glaube :  böse  Geister  in  Ringe  und  dergleichen  bannen  zu  kön- 
nen, unter  anderm  als  Irrthum    bezeichnet  wird. 


1  Vgl.  Meiners,    Historische  Vergleichung   der  Sitten   u.  Verfassung, 
der  Ges.,  III,  253. 

23* 


35G  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

(15.  Jahrhundert.)  Es  war  allgemeiner  Glaube:  der  Teu- 
fel beherrsche  nicht  nur  die  Gedanken  der  erwachsenen  Men- 
schen, sondern  bemächtige  sich  auch  des  Kindes,  sobald 
es  geboren  ist,  ihm  gehöre  es  zu  bis  zur  Taufe;  grosse  Ge- 
walt übte  er  über  es  aus  in  der  Stunde  der  Geburt,  da  er 
von  vornherein  weiss,  was  aus  demselben  werden  würde.  Nach 
Paracelsus  stellt  der  Teufel  dem  Kinde  nach,  sobald  die 
Zeichen  günstig  scheinen,  um  es  zu  verführen;  denn  er  sieht 
es  dem  Menschen  auswendig  an,  was  ihm  im  Herzen  liegt, 
theils  erfährt  er's  durch  Chiromantie,  Physiognomie,  theils  an 
des  Himmels  Lauf.  „Des  Fleisches  Natur  lässt  der  Teufel 
zunehmen,  er  reizt  zu  Neid,  Hass,  Untreue,  Lüsten  und  Rache, 
und  hat  er  endlich  die  Sucht  erzeugt,  den  Nebenmenschen 
zu  schaden,  so  bringt  er  dem  Menschen  die  Mittel  dazu  im 
Schlafe  bei,  und  der  Traum  ist  so  deutlich,  dass  einer  dar- 
nach Doctor  der  Zauberei  werden  könnte.  So  nun  aber  der 
Mensch  diesem  nachtrachtet,  so  ist  der  Teufel  bei  der  Hand 
und  führt  alles,  was  der  Mensch  für  Zauberkunst  hält,  zum 
Ziele,  und  der  Mensch  ist  sein,  ehe  er  noch  daran  denkt." l 

Auch  in  der  Natur  erblickt  der  Mensch  den  Teufel 
überall  da,  wo  die  Massenhaftigkeit  überwältigend  auftritt  und 
in  ihrer  Riese nhaftigkeit  erscheint,  oder  wo  die  zerstörende 
Kraft  das  menschliche  Mass  übersteigt.  Da  hat  der  Teufel 
gehaust,  und  die  Sage  überträgt  Thaten  der  alten  heidnischen 
Riesen  und  Titanen  auf  den  christlichen  Teufel.  Die  Gra- 
nite auf  der  Höhe  des  Nonnenbergs  sind  Ueberbleibsel  einer 
Mühle,  die  der  Teufel  dem  Müller  im  Thal  erbaute,  der  ihm 
seine  Seele  verschrieben  hatte;  die  Basalte  auf  der  Rhön  sind 
vom  Teufel  dahin  geschafft  worden,  als  man  unten  eine  Kirche 
daraus  bauen  wollte ;  „das  Teufelswehr  in  Wehran  vergisst  der 
Teufel  wegzureissen,  als  er  die  von  ihm  gebaute  Mühle  zer- 
stört, da  der  Müller,  der  sich  ihm  verschrieben,  ihn  dadurch 
überlistet,  dass  er  ins  Kloster  geht."  Im  Riesengebirge  baut 
sich  der  Teufel  eine  Lehrkanzel,  im  Harz  hat  er  einen  Tanz- 
platz. Teufelsmauern  hat  er  in  vielen  Gegenden  aufgeführt, 
ebenso  gibt  es  eine  Menge  Teufelsbrücken.  Den  Markgrafen- 
stein bei  Fürsten walde,   den   Teufelsstein   bei  Wehran   hat   er 


1  Bei  Schindler,  S.  23. 


11.    Vom  13.  Jabrh.  bis  zur  Bulle  „Stimmig  desiderantes".        357 

im   Zorne  hingeworfen,    ebenso  den  Riesenstein  bei  Stolzen- 
heiin  in  der  Mark,  wobei  er  plattdeutsch  gesprochen : 

Hebb  ik  mü  stooten  an  mäne  grote  Teh 

Wel  ik  du  ok  smteten  ever  da  Wentelitziscbe  See. 

Als  Feind   der  Kirche   macht   er   sich   gern   bei  Kirchen- 
bauten geschäftig,  und  zwar  meistens  um  dieselben   zu  hinter- 
treiben   und  zu   zerstören.     Beim   Bau    der    ersten   Kirche   in 
Camenz  verführt  er  den  Baumeister,  einen  Stein  zu  verwenden, 
den  er  seiner  Grösse  wegen  selbst  herbeizuschaffen  versprochen, 
den  er  aber,  da  er  ihm  zu  schwer  wurde,  fallen  liess,    daher 
der  Stein  heute  noch-  schief  liegt.     Den   Stein  bei  Sennewitz 
unweit    Halle    hat    der  Teufel    vom    Petersberge    herab    nach 
der    ersten    lutherischen    Kirche    in    der    Gegend    geworfen. 
„Bei  Limburg    in    der  Pfalz   liegt   ein  Stein,    den  der  Teufel 
herantrug,    um   ihn  nach  der  Kirche  zu   schleudern;    es   war 
aber  noch  ein  junger  Teufel,  der  Stein  ihm  zu  schwer,  er  er- 
müdete,   legte   sich   nieder  und  schlief  darauf  ein,    und  seine 
Gestalt  drückte  sich  in   dem  Felsen  ab.     Im   durlacher  Thale 
liegen   auf  einem   Hügel   des   Stellenwaldes   elf  grosse  Steine, 
den    zwölften   grössten   trug    der  Teufel  fort,    um    damit    die 
Wendelskirche  zu  zerschmettern.     Er  war  damit  schon  durch 
das  Rappenloch  bis  auf  die  Mitte  des  Schiebold  gefahren,  wo 
er  die  Last  ablegte  und   ausruhen   wollte,    wie    er    aber    den 
Stein  wieder  aufheben  wollte,   war   er  ihm  zu   schwer.     Man 
sieht  noch  das  runde  Loch  daran,   was  des  Teufels  Schulter- 
knochen hineingedrückt."     Mit   dem   Steine,    der    in    Angeln 
mitten    im  Felde  liegt,    und    der   60  Fuss    im  Umfange    hat, 
wollte     der    Teufel     die    Kirche    in    Quernen    zerschmettern. 
„Meister  Gerhard  wettet  mit  dem  Teufel,   den  Dom  in  Köln 
eher  zu  vollenden,    ehe   dieser  die  grosse   Wasserleitung  von 
Trier   nach   der  Rheinstadt  erbaut;    der  Teufel  gewinnt,   und 
der  Meister   stürzt   sich   vom  Thurme.     In   Regensburg  dreht 
sich  die  Wette  um  den  Münster  und  die  Brücke."     In  Prasr 
wettet  der  Priester,  die  Messe  eher  zu  beenden,  als  der  Teufel 
eine  Säule  aus  einer  Kirche  zu  Rom  nach  Prag  holen  würde. 
Als   der  Teufel   die  Säule   bringt,    hat  der  Priester   eben   die  ' 
Worte:  „Et  verbum  caro  factum  est"  beendet,  und  der  Teufel 
wirft  darüber  in  seiner  Wuth  die  Säule  zur  Erde,  dass  sie  in 
drei  Stücke    zerbricht.     Die    Dominicaner    zeigen   den    Stein, 


358  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

womit  der  Teufel  nach  dem  heiligen  Dominicus  geworfen,  und 
im  Dome  zu  Köln  wird  der  Stein  aufbewahrt,  mit  welchem 
der  Teufel  nach  den  heiligen  drei  Königen  gezielt  hat. 

O  ©  © 

Im  Jahre  1404  wird  zu  Langres,  grösstenteils  der  teuf- 
lischen Zauberei  wegen,  eine  Synode  gehalten,  um  jener  zu 
steuern.  J  Nach  der  allgemeinen  Zeitvorstellung  galten  die 
Sarazenen  für  Teufelsdiener,  wie  sie  in  mehrern  päpstlichen 
Bullen,  auch  im  Templerprocess,  ausdrücklich  genannt  wer- 
den, da  sie  nicht  an  den  dreieinigen  Gott  glauben  und  der, 
zu  dem  sie  sich  bekennen,  für  die  scharfausgeprägte  dua- 
listische Ansicht  nur  der  Teufel  sein  konnte,  um  so  mehr, 
da  die  Sarazenen  im  Gerüche  standen,  die  Tiefen  der  Zau- 
berei erschöpft  zu  haben.  In  Spanien,  wo  es  von  jeher  Mani- 
chäer  gegeben,  war  auch  von  jeher  der  Tummelplatz  für 
teuflische  Zauberei.  Es  ist  daher  erklärlich,  dass  das — an^ 
grenzende  Frankreich,  von  der  manichäischen  und  sarazenischen 
Nachbarschaft  angesteckt,  zum  Sitz  der  Teufelskünste  und  der 
Teufelsdienerei  werden  musste.  Erinnern  wir  ferner,  dass  die 
Katharer,  diese  manichäischen  Teufelsdiener,  im  südlichen 
Frankreich  ihren  Mittelpunkt  und  schon  in  der  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts  Languedoc,  die  Provence,  Guyenne,  die 
Gascogne  mit  ihrer  Lehre  beherrscht  hatten,  so  kann  es  nicht 
befremden,  wenn  die  wahrscheinlich  ältesten  Beispiele  vom 
Hexensabbat  in  diesem  Lande  vorkommen.  Berüchtigt  ist  der 
vom  Jahre  1459  verzeichnete  „Hexensabbat  von  Arras",  an 
dem  das  Küssen  des  Hintern  des  Teufels  hervorgehoben  wird, 
der  bald  als  Kater,  bald  als  Bock,  nach  andern  Berichten 
in  menschlicher  Gestalt  auftritt.  Hauber  ?  gibt  eine  Beschrei- 
bung aus  Enguerrand  de  Monstrelet's  Chronik:  „dass  es  ge- 
wisse Leute  wären,  Männer  und  Weiber,  welche  bei  Nacht 
durch  Hülfe  des  Teufels  weggeführt  werden  von  der  Stelle, 
wo  sie  wären,  und  plötzlich  an  gewisse  abgelegene  Oerter, 
in    Gehölze    oder  Wüsteneien   kämen,    wo    die   Versammlung 

1  © 

stattfinde.  Und  träfen  daselbst  einen  Teufel  in  Gestalt  eines 
Mannes,  dessen  Gesicht  sie  niemals  zu  sehen  bekämen.  Dieser 
Teufel  lese  oder  sage  ihnen  seine  Gebote  und  Verordnungen 
vor   und   auf  was    für   Weise    sie    ihn    anbeten    und    ihm   als 


1  Bochelli  decreta  etcles.  gallic,  Tit.  XIV,  c.  13. 

2  Bibl.  mag.,  1.  Stück,  S.  65. 


IL    Vom  13.  Jahrb.  bis  zur  Uulle  „Summis  desiderantes".        359 

Herrn  dienen  niüssten.  Hierauf  lasse  er  sich  von  einem  jeden 
den  Hintern  küssen,  zuletzt  theile  er  Wein  und  Essen  aus, 
auch  Geld;  darauf  käme  die  unzüchtige  Unterhaltung,  nach- 
dem die  Lichter  ausgelöscht  worden  u.  s.  w." 

Auch  in  der  Schilderung  von  Jakob  Meyer  *  wird  bei 
der  Gelegenheit  der  Teufel  in  menschlicher  Gestalt  aufgeführt, 
mit  der  Bemerkung:  dass  sein  Gesicht  von  den  Versammelten 
niemals  gesehen  werde.  Horst  9  lässt  den  Verfasser  des  „For- 
talitium  fidei",  Alphons  de  Spina,  einen  Inquisitor  haereticae 
pravitatis,  sprechen,  in  dessen  Erzählung  aber  der  Teufel  als 
Bock  erscheint:  „tales  perversae  midieres  in  Delphinatu  et 
in  Vasconta,  ubi  se  asserunt  concurrere  de  nocte  in  qnadam 
planitie  deserta,  ubi  est  caper  quidam  in  rupe,  et  quod  ibi 
conveniunt  cum  candelis  accensis  et  adorant  illum  caprum, 
oscnlantes  eum  in  ano  suo.  Idque  captae  plures  earum  ab 
Inquisitoribus  fidei  et  convictae  ignibus  comburuntur." 

Obschon  es  charakteristisch  ist',  dass  vornehmlich  das 
weibliche  Geschlecht  der  Hexerei  bezichtigt  wird,  liefert  diese 
Zeit  doch  auch  Beispiele  von  Hinrichtungen  männlicher  Zau- 
berer infolge  der  Anklage  auf  teuflische  Hexerei.  Der  plötz- 
liche Tod  Königs  Philipp  des  Schönen  im  Jahre  1314  ward 
schon  allgemein  teuflischen  Zaubermitteln  zugeschrieben,  und 
sein  Minister  Enguerrand  de  Marigny,  des  Verbrechens  ange- 
klagt, wurde  aus  Gnade  nur  gehängt.  Im  Jahre  1440  wurde 
ein  Marschall  von  Frankreich,  Aegid  von  Rez,  als  Hexen- 
meister hingerichtet.  Ueberwiegend  war  aber  das  weibliche 
Geschlecht  Gegenstand  der  Anklagen  und  Verfolgungen,  auf 
dem  schon  früher  der  Verdacht  geruht  hatte.  Schon  bei  der 
Krönung  Richard's  I.  von  England  im  Jahre  1189  sollten  sich 
keine  Frauen  sehen  lassen,  weil  sie  der  Zauberei  wegen  ge- 
fürchtet wurden.3 


12.   Der  Teufel  auf  der  Bühne. 

Solange    das   Heidenthum   die  drückende   Oberhand   über 
das  Christenthum  hatte,  erschien  das  sinnberauschende  Theater 

1  In  seinen  Annal.  Flandriae,  lib.  XVI,  ad  ann.  1459. 

2  Daemonornag.,  I,  105. 

3  Hume,  Geschiebte  von  England,  II,  c.  10. 


360  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

der  Heiden,  wo  gedungene,  vor  dem  römischen  Gesetze  für 
ehrlos  geltende  Histrionen  ihr  Spiel  trieben,  in  der  über- 
müthigen  Kaiserzeit  die  Lüsternheit  der  alten  Götter  lächer- 
lich machten,  der  christlichen  Märtyrerkirche,  als  Stätte  des 
Teufelsdienstes,  wie  sie  ja  alles  Heidnische  überhaupt  mit  dem 
Teufel  in  Verbindung  sah.  Es  ist  daher  begreiflich,  dass 
Kirchenväter  jener  Zeit,  wie  Tertullian1,  Lactantius2  und 
Chrysostomus  3  gegen  das  heidnische  Schauspiel  eifern,  dass 
die  Kirche  die  Theaterbesucher  aus  ihrer  Mitte  auszustossen 
droht  und  dem  Schauspieler  die  Aufnahme  in  ihren  Schos 
verweigert.  Muss  es  nicht  wie  eine  Ironie  des  Schicksals  er- 
scheinen, wenn  trotzdem  die  Schauspieler  an  einem  christ- 
lichen Heiligen  einen  Schutzpatron  erhalten?  Gervasius,  der 
nach  der  Legende  in  einer  Parodie,  worin  die  Christentaufe 
lächerlich  gemacht  werden  sollte,  auf  der  Bühne  in  possen- 
hafter Weise  getauft  wurde,  setzte  die  Travestie  in  Ernst  um, 
betrachtete  sich  von  da  ab  als  wirklich  getauft  und  soll  in  der 
Diocletianisehen  Christenverfolgung  den  Märtyrertod  erlitten 
haben. 4  Dafür  wurde  Gervasius  zum  Schutzheiligen  der 
Schauspieler  erhoben. 

Nachdem  das  Christenthum  über  das  Heidenthum  gesiegt 
hatte,  änderte  sich  mit  der  Stellung  auch  der  Gesichtskreis. 
Gemäss  der  sinnlichen  Anschauung  des  christlichen  Gedanken- 
inhalts erhielt  der  christliche  Gottesdienst  ein  symbolisches 
Gepräge.  Man  nennt  zwar  gewöhnlich  den  Orient  die  Hei- 
mat des  Symbols,  dies  findet  aber  überall  eine  Bildungsstätte, 
wo  der  geistige  Inhalt  im  Leben  eines  Volks  vom  sinnlichen 
Elemente  durchdrungen  wird.  Was  auf  das  Volksgemüth 
Eindruck  machen  soll,  muss  sich  ihm  in  sinnlicher  Form 
nähern,  und  jede  Aeusserung  seines  religiösen  Lebens  schafft 
sich  eine  plastische  Gestalt.  So  erhielt  der  christliche  Gottes- 
dienst die  Form  einer  sinnbildlichen  Handlung,  er  wurde 
zum  symbolisch-liturgischen  Drama,  worin  das  Erlösungswerk 
zur  Darstellung  kam.  Auch  die  dogmatischen  Vorstellungen 
der  Kirche  drängten  nach  einer  sinnlichen  Gestaltung,  der 
Sündenfall  und  seine  Folge,  das  Lehramt  Christi,  seine  Leiden 


1  „De  spectaculis." 

2  Institut.  VI,  20. 

3  Namentlich  in  6einer  Homilie  über  Matthäus. 
*  A.  SS.  Aug.,  Tom.  V,  119  sequ. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  361 

und  seine  Aufopferung  wurden  auf  dramatische  Weise  dar- 
gestellt. Daran  reihten  sich  später  Erzählungen  aus  den 
Evangelien,  und  die  Legenden  verschiedener  Heiligen  lieferten 
ihren  Stoff. 

Wie  das  Drama  der  Alten  aus  dem  Gottesdienste  des 
Dionysos  hervorgegangen  ist,  so  blickt  unser  Schauspiel  auf 
die  christliche  Kirche  als  seine  Mutter  zurück,  aus  deren 
liturgischem  Schose  es  sich  entwunden  hat.  Fast  jede  öffent- 
liche Erscheinung  im  Mittelalter  ging  von  der  Kirche  aus 
und  trug  deren  Gepräge,  also  auch  das  Schauspiel.  Es  ent- 
keimte dem  Boden  des  christlich-kirchlichen  Bekenntnisses 
und  trug  den  Stempel  der  ascetischen  Moral  jener  Zeit;  Ver- 
fasser und  Darsteller  waren  anfänglich  geistliche  Glieder  der 
Kirche.  Es  erscheint  daher  ursprünglich  als  geistliches  Schau- 
spiel, der  Gegenstand  ist  ein  religiöser,  der  Schauplatz  die 
Kirche,  sein  Zweck  ein  erbaulicher.  Dass  die  geistlichen 
Schauspiele  „als  lebendige  Biblia  pauperum"  wirkten,  wie 
Grüneisen  sagt  \  oder  wirken  sollten,  geht  daraus  hervor,  dass 
die  Kirche  mit  dem  Besuche  der  geistlichen  Schauspiele  Ab- 
lässe, und  zwar  in  England  bis  zu  1000  Tagen  verband. 
Eine  alte  Ueberlieferung  zuerkennt  schon  dem  Kirchenvater 
Gregor  von  Nazianz  eine  geistliche  Tragödie,  „Der  leidende 
Christus";  Augustinus  hat  sich  als  dramatischer  Dichter  ver- 
sucht2; zur  Zeit  KaiTs  des  Grossen  soll  der  Abt  Angilbert 
Dramen  in  friesischer  Sprache  geschrieben  haben;  aus  dem 
1).  und  den  folgenden  Jahrhunderten  finden  sich  Bruchstücke 
lateinischer  Dramen  über  die  Geburt  Christi  in  der  Münchner 
Bibliothek.  3 

Die  Neigung  zu  dramatischer  Darstellung  zeigte  sich  auch 
bei  den  Processionen,  die  von  alten  Zeiten  her  zur  Feier  ge- 
wisser Tage,  z.  B.  des  Sterbetags  eines  Schutzheiligen  oder 
denkwürdiger  Ereignisse,  als:  der  Rettung  aus  grosser  Ge- 
fahr u.  dgl.,  üblich  waren,  wo  man  in  der  Maske  Adam's  und 
Eva's,  Johannes  des  Täufers  mit  der  Christusfahne,  des  Judas 
mit  der  Geldbörse  in  Gesellschaft  des  Teufels  mit  der  Galgen- 
leiter u.  s.  f.  den  feierlichen  Umzügen  beiwohnte. 


1  Herzog,  Encyklopädie,  IV,  744. 

2  Confess.  II,  2;  III,  3. 

3  Hase,  Das  geistliche  Schauspiel. 


362  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Die  Kirche  beherrschte  alle  Geister  nicht  mir  durch 
ihren  Alleinbesitz  der  geistigen  Bildung,  sondern  auch  dass 
sie  den  geistigen  Inhalt  des  Christenthums  in  sinnlichen  For- 
men dem  vorstellenden  Bewusstsein  der  Menge  nahebrachte, 
dass  nicht  nur  die  Andacht,  sondern  auch  die  Schaulust  in 
ihr  und  durch  sie  Befriedigung  fand.  Ihre  Aufführungen 
sind  daher  treffend  „erbauliche  Volksfeste"  genannt  worden, 
„auf  die  jung  und  alt  sich  lange  vorher  freute  und  ihrer  noch 
lange  mit  Freuden  gedachte.  Man  hatte  den  Vortheil,  wie 
einst  bei  der  griechischen  Tragödie,  dass  der  Stoff  im  allge- 
meinen dem  christlichen  Volke  wohlbekannt  war,  daher  wenige 
derbe  Züge  genügten,  um  jede  Person  wie  einen  alten  Be- 
kannten einzuf ühren,  und  gern  mochte  das  Volk  diese  Per- 
sonen, deren  Reden  es  oft  in  der  Kirche  verlesen  gehört  und 
deren  Gestalten  es  vielleicht  auch  in  seinen  Kirchenbildern 
von  Kind  auf  andächtig  angeschaut  hatte,  wie  aus  dem  Rah- 
men heraus  in  seinen  eigenen  Kindern  sich  lebendig  gegen- 
über treten  sehn".  x  So  entstanden  die  sogenannten  Myste- 
rien, denen  die  Heilige  Schrift  den  Stoff  bot,  und  die  ihren 
Namen  entweder  von  den  Geheimnissen  des  Gottesreichs  der 
göttlichen  Menschwerdung  und  Erlösung,  die  veranschaulicht 
werden  sollten,  herleiten,  oder,  nach  Wackernagel ,  von  der 
Darstellung  der  ministri  ecclesiae  bekommen  haben. 2  In 
Deutschland  hiessen  sie  „ludi",  in  England  „plays  of  mirac- 
les",  in  Spanien  „autos".  Da  die  Aufführungen  der  Kirche 
zur  Zeit  der  hohen  Feste,  besonders  zu  Weihnachten  und 
Ostern,  stattfanden,  waren  es  Weihnacht-  und  Osterspiele. 
In  den  sogenannten  „Moralitäten"  erschienen  ursprünglich 
Tugenden  und  Laster  personificirt  auf  der  Bühne,  dann  aber 
auch  sittliche  Zustände  und  Eigenschaften,  selbst  abstracte 
Begriffe  mit  wirklichen  Personen  aus  der  heiligen  Geschichte 
durcheinander  gemengt,  um  durch  eine  Art  von  Streit,  theils 
kirchlich-dogmatische  Lehrsätze,  theils  die  biblische  Moral  in 
Beziehung  auf  das  Leben  darzustellen. 

Ursprünglich  wurden  die  geistlichen  Schauspiele  in  der 
Kirche  und  von  Geistlichen  aufgeführt,  und  erst  nachdem  im 
12.  Jahrhundert   die  Künste   sich   aufzuschwingen    angefangen 


1  Hase,  a.  a.  0.,  S.  85. 

2  Geschichte  der  Literatur,  S.  300. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  3Go 

hatten ,  auch  das  Schauspiel  eine  grössere  Ausdehnung  er- 
hielt, die  Zahl  der  geistlichen  Schauspieler  nicht  mehr  ge- 
nügte, wurden  auch  Laien  zu  Hülfe  genommen,  da  die  Zahl  der 
Darsteller  der  Passionsspiele  oft  auf  mehrere  Hunderte  stieg. 
Schauspielern  sowol  als  Zuschauern  ward  der  Raum  der 
Kirche  zu  eng,  um  aber  den  geweihten  Boden  nicht  zu  ver- 
lassen, verlegte  man  die  Aufführung  in  die  Kirchhöfe  oder 
doch  wenigstens  in  die  Nähe  der  Gotteshäuser  und  Klöster. 

Im  Jahre  1119  hat  Gottfried  von  Sanct-Alban  in  England 
das  Mysterium  der  heiligen  Katharina  aufführen  lassen  1 ;  die 
Aufführung  eines  Passionsspiels  zu  Padua  im  Jahre  1243 
führt  Wachsmuth  an.  2 

Die  Nachklänge  des  römischen  Possenspiels  hatten  in 
Italien,  Spanien  und  Frankreich  die  Neigung,  die  Mysterien 
durch  komische  Elemente  zu  würzen,  am  ersten  erweckt.  Na- 
mentlich Frankreich,  „dies  Land  der  geborenen  Schauspieler", 
wie  es  Devrient  nennt 3,  „das  in  der  Entwicklung  der  theatrali- 
schen Zustände  am  raschesten  vorschritt  und,  wenn  nicht 
das  erste  in  der  Erfindung,  doch  immer  das  gewandteste  in 
deren  Ausbildung  war,  zeigte  sich  schon  im  12.  Jahrhundert 
tonangebend."  Von  der  herrschenden  Sucht,  alles  ins  Possen- 
hafte zu  verkehren,  liefern  uns  die  französischen  Esels-  und 
Narrenfeste  den  schlagendsten  Beweis.  Im  jetzigen  Jahrhun- 
dert, dem  man  den  Vorwurf  der  Unkirchlichkeit  zu  machen 
pflegt,  würden  Vorgänge,  die  bei  diesen  Lustbarkeiten  statt- 
fanden, in  allen  Kreisen  allgemeine  Empörung  hervorrufen. 
Die  Kirche  der  damaligen  Zeit  war  nachgiebig,  aber  nicht, 
wie  man  gemeint  hat,  weil  sie  „sich  ihrer  Würde  und  Autorität 
zu  sehr  bewusst  war,  als  dass  sie  durch  dergleichen  beein- 
trächtigt werden  könnte"  4,  sondern  weil  die  Geistlichen  selbst 
von  dieser  Lust  am  Possenhaften  ergriffen  waren,  daher  an 
diesen  Festen  selbst  theilnahmen,  selbst  auf  den  Kirchen- 
altären tafelten,  Zotenlieder  sangen,  den  Dampf  von  verbrann- 
tem Schuhleder  aus  ihren  Rauchfässern  sich  unter  die  Nase 
schwenkten.     Bei  der  sonst  glücklichen  Erörterung  Alt's  über 


1  Eichhorn,  Geschichte  der  Literatur  und  Cultur,  II,  9. 

2  Culturgeschichte,  II,  358. 

3  Geschichte  der  Schauspielkunst,  I,  27. 

4  Alt,  Theater  und  Kirche,  S.  19. 


364  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

den  Ursprung  des  Narrenfestes  stellt  sich  die  Zulassung  der 
Ausgelassenheit  als  feine  Berechnung  von  Seiten  der  Geist- 
lichen heraus.  Gesetzt  aber,  dass  die  Kirche  in  diesem  Sinne 
verfahren  wäre,  da  ihre  Verordnungen  gegen  die  herrschende 
Neigung  nicht  verfangen  hätten;  wie  erklärt  sich  diese  Form 
der  Lustigkeit,  dass  die  Kirche  selbst  zur  eigenen  Verspot- 
tung sich  hergab,  dass  die  Geistlichkeit  selbst  persönlich 
theilnahm?  Wäre  der  Schade  grösser  gewesen,  wenn  die 
Kirche  in  ihrer  Connivenz  dem  Volke  zu  gewissen  Zeiten 
des  Jahrs  die  Zügel  der  Lach-  und  Spottlust  freigelassen 
hätte?  Diese  Ausbrüche  der  vorhandenen  Roheit  und  sinn- 
lichen Vergnügunglust  waren  vielmehr  hervorgerufen  und  ge- 
steigert worden  durch  die  gewaltsame  Abstraction  der  Ascese, 
in  welche  damals  der  ethische  Inhalt  der  christlichen  Kirche 
gefasst  ward,  wie  jede  gewaltthätige  Unterdrückung  eine 
Explosion  nach  sich  zieht.  Wie  hätten  sich  die  Geistlichen 
zur  Verspottung  ihres  eigenen  Berufes  hergegeben,  wenn  sie 
nicht  selbst  die  derbe  Sinnlichkeit  des  Volks  und  dessen  Aus- 
gelassenheit getheilt  hätten? 

Obschon  man  im  ernstern  Deutschland  Scheu  trug,  das 
Heilige  in  dieser  Weise  zu  verletzen,  wurden  die  geistlichen 
Schauspiele  doch  durch  Einmengung  des  Burlesken  viel  bun- 
ter, der  Gegensatz  zum  Heiligen  wurde  oft  pöbelhaft,  und 
unser  Geschmack  kann  daher  die  Vorstellungen  oft  nicht  an- 
ders als  roh  und  kindisch  finden.  In  den  Passionsspielen 
fehlt  fast  nie  die  volksthümliche  Figur  des  Quacksalbers,  der 
damals  auf  den  Märkten  sein  Wesen  zu  treiben  pflegte;  er 
verkauft  den  Marien  die  Specereien  zur  Einbalsamirung  des 
Leichnams  Christi,  und  neben  Gott  Vater  mit  seinen  Engeln, 
Jesus,  Maria  und  den  Heiligen  tummelt  sich  der  plumpe 
Spass  jener  Zeit  auf  der  Bühne  herum. 

Es  wäre  ganz  unbegreiflich,  wenn  in  einer  Zeit,  wo  die 
ganze  Welt  von  der  Vorstellung  vom  Teufel  erfüllt  war,  nicht 
auch  dessen  drastische  Figur  anf  den  Bretern,  welche  die 
Welt  bedeuten,  aufgetreten  wäre.  In  Frankreich  war  eine 
eigene  Art  von  Drama  beliebt,  Diabier ie  genannt,  wobei 
wenigstens  vier  Teufel  zu  spielen  hatten,  woher  man  auch 
den  Ausdruck    „le  diable  en  quatre"  ableitet. l    Die  Teufel 


1  Devrient,  a.  a.  0.,  S.  31. 


12,    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  3G5 

erschienen  in  möglichst  abschreckenden  Masken  von  Wolfs-, 
Hundefellen  u.  a.  mit  Thierköpfen,  grossen  Bachen,  fletschen- 
den Zähnen,  Hörnern  und  langen  Schwänzen.  Wie  gross 
der  Unfug  in  Frankreich  und  Italien  sein  musste,  der  mit 
teuflischen  Maskeraden,  obseönen  Roheiten,  womit  man  die 
heiligen  Spiele  pikant  zu  machen  suchte,  getrieben  wurde,  ist 
daraus  ersichtlich,  dass  Papst  Innocenz  III.  im  Jahre  1210 
sich  genöthigt  sah,  den  Gebrauch  der  Kirchen  und  Mess- 
gewänder und  die  Betheiligung  der  Geistlichen  an  den  Myste- 
rien in  Italien  zu  verbieten. 

Aus  Frankreich  kam  der  Teufel  nach  Deutschland  auf 
die  Bühne,  und  der  volksthümliche  Humor  gab  ihm  ausser 
der  Rolle  des  bösen  Princips  noch  die  der  grotesk-lächerlichen 
Figur,  die  er  bei  seiner  Höllenfahrt  spielen  musste.  Denn 
bis  zur  Höllenfahrt  wurde  das  Osterspiel,  das  als  das  wahr- 
scheinlich erste,  jedenfalls  als  das  am  reichsten  ausgebildete 
geistliche  Schauspiel  betrachtet  wird  *,  fortgeführt,  und  so 
war  dem  Teufel  seine  Rolle  gewiss.  Da  man  den  ganzen 
Verlauf  des  Erlösungswerks  vor  die  Augen  bringen  wollte, 
zog  man  auch  das  Alte  Testament  herbei,  griff  hinter  die 
Schöpfungsgeschichte  zurück  und  begann  die  Vorstellung  mit 
dem  Falle  Lucifers  und  seiner  Engel.  Hierdurch  ward  dein 
Teufel  ein  weiter  Spielraum  für  seine  dramatische  Thätigkeit 
eröffnet,  sodass  er  am  Anfang  und  zum  Schlüsse  des  Erlösungs- 
werks auf  der  Bühne  beschäftigt  sein  musste. 

Bisher  entdeckte  Spuren  der  Entwicklung  des  geistlichen 
Schauspiels  in  Frankreich  reichen  in  das  11.  Jahrhundert. 
Die  bislang  älteste  Urkunde  deutschen  Ursprungs  ist  das 
grössere  Drama,  ein  Osterspiel  des  12.  Jahrhunderts  aus  dem 
Kloster  Tegernsee  „Vom  Aufgange  und  Untergange  des  Anti- 
christ" 2,  welches  nach  den  bisherigen  Untersuchungen  dem 
Mönch  und  Diakon  in  Tegernsee,  Wernher,  als  Verfasser  zu- 
erkannt, in  die  Zeit  Friedrich's  I.  verlegt  wird,  und,  wie  Hase 
vermuthet,  „vielleicht  vor  unserm  Heldenkaiser  Friedrich  Bar- 
barossa  aufgeführt   worden"  ist.  3     Nach   Angabe   der  Scene, 

1  Hase,  a.  a.  0.,  S.  16. 

2  Ludus  paschalis  de  adventu  et  interitu  antichristi,  erutus  e  cod. 
manuscript.  Tegernseensi  a  P.  Bern.  Pez.  Thesaur.  aneedot.  uoviss.,  Tom.  II, 
P.  III,  p.  186  sequ. 

3  Hase,  a.  a.  0.,  S.  26. 


^ß(j  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

steht  im  Hintergründe  gegen  Morgen  der  Tempel  des  Herrn, 
die  Throne  der  Hauptpersonen  mit  ihren  Scharen   sind  davor 
nach    bestimmten    Weltgegenden     postirt,     die    Verhandlung 
zwischen    den    Throninhabern    wird    durch    Boten    vollzogen, 
das    Heidenthum    und    die    Synagoge    erscheinen    als    Frauen 
personificirt,    die   Kirche  tritt   mit  Harnisch  und  Krone   auf, 
an  der  einen  Seite  die  Barmherzigkeit  mit  dem  Oelzweige,  an 
der  andern  die  Gerechtigkeit  mit  dem  Schwerte  und  der  Wage; 
sie  spricht  die  Verdammung  über  alle  Andersglaubenden  aus. 
Hierauf  folgt   der  Papst   mit    dem   Klerus    zur    Linken,    der 
Kaiser  mit  seinem  Heere,  dann  die  Könige.     Nachdem  in  der 
ersten    Abtheilung    dem   Könige    von    Frankreich    gegenüber 
dem  Kaiser  von  den  übrigen  Königen  die  höchste  Obergewalt 
zuerkannt  worden,  und  von  dem  Vertheidiger  der  Kirche  der 
König  von  Babylon  überwunden  ist,  erscheint  in  der  zweiten 
Abtheilung  der  Antichrist,  der  Repräsentant  aller  dem  Christen- 
thum  feindlichen  Mächte,  mit  einem  Panzer  unter  den  Flügeln, 
umo-eben  von   der   Scheinheiligkeit  und   der  Ketzerei,   „comi- 
tantibus    eum    Hypocrysia    dextris    et    Haeresia    smistns,    ad 
quas  ipse  cantat: 

Mei  regni  venit  hora 

Per  vos  ergo  sine  mora 

Fiat,  ut  confundam  regni  soliura: 

Me  mundus  adoret  et  non  alium. 

Vos  adaptas  cognovi, 

Vos  ad  hoc  hucusque  fovi. 

Ecce  labor  vester,  et  industria 

Ad  hoc  mihi  sunt  necessaria. 

En  Christum  reges  honorant 

Venerantur  et  adorant 

Ejus  ergo  delete  memoriam 

In  me  summam  transferentes  gloriam. 

(Ad  Hypocrysim) 
In  te  pono  fundamentum. 

(Ad  Haeresim) 
Per  te  fiet  incremen  tum. 

(Ad  Hypocrysim) 
Tu  favorem  laicorum  exstrue. 

(Ad  Haeresim) 
Tu  doctrinam  clericorum  destrue. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  3ß 


H 


(Tunc  ille) 
Per  nos  mundus  tibi  credet 
Nomen  Christi  tibi  cedet. 

Hypocrysis: 
Nam  per  me  favorem  dabunt  Laici. 

Haeresis: 
Et  per  me  Christum  negabunt  Cleiici." 

Nachdem  Antichrist  von  den  Heuchlern  begrüsst,  sein 
Thron  im  Tempel  errichtet  worden  ist,  woraus  die  Kirche 
vertrieben,  sich  zum  Sitze  des  Papstes  zurückzieht,  will  er 
(der  Antichrist)  nach  -Abschaffung  des  alten  ein  neues  Recht 
einführen,  sendet  Boten  an  die  Könige,  dass  ihm  die  ganze 
Welt  als  Herrn  und  Gott  huldige.  Die  Könige  thun  es, 
ausser  dem  rex  Teutonicorum,  den  der  Antichrist  aus  Furcht 
vor  dem  furor  teutonicus  durch  Geschenke  zu  gewinnen  hofft, 
mit  dem  es  aber  zum  Kampfe  kommt,  wobei  das  antichristische 
Heer  unterliegt.  Nun  bringt  aber  Antichrist  die  Deutschen 
durch  Wunderthaten  auf  seine  Seite  und  besiegt  mit  ihrer 
Hülfe  den  König  von  Babylon;  die  Synagoge,  der  er  sich  als 
Messias  vorstellt,  gewinnt  er  durch  Schmeicheleien;  als  sie 
aber  durch  die  Erscheinung  des  Henoch  und  Elias  wieder 
von  ihm  abzufallen  im  Begriffe  ist,  lässt  er  sie  hinrichten. 
Nachdem  alle  Könige  gekommen  ihn  anzubeten  und  der  Welt- 
friede verheissen  ist,  erhebt  sich  ein  Getöse  „statim  fit  sonitus 
super  caput  Antichristi  et  eo  corruente  et  omnibus  suis  fugien- 
tibus  ecclesia  cantat:  Ecce  homo  etc.  Tunc  omnibus  redeun- 
tibus  ad  fidem,  Ecclesia  ipsos  suscipiens  incipit:  laudem  dicite 
Deo  nostro". 

In  dem  in  neuerer  Zeit  in  Tours  aufgefundenen  Drama 
aus  dem  12.  Jahrhundert  in  nordfranzösischer  Sprache,  worin 
Hase  ein  Bruchstück  eines  Weihnachtsspiels  vermuthet l,  spielt 
der  Teufel  auch  seine  Rolle.  Nach  Hase's  Angabe,  der  wir 
hier  folgen,  enthält  das  Stück  gleichfalls  drei  Acte:  den 
Sündenfall,  den  zweiten  blutigen  Sündenfall  und  die  Weis- 
sagung der  Propheten  auf  den  Erlöser  „in   ernster  liturgisch 


1  Hase,  a.  a.  0.,  S.  22;  Adam,  drame  anglo-normand  du  XII.  siecle,  publie 
pour  la  premiere  fois  d'apres  un  manuscrit  etc.   par  Victor  Luzarche. 


308  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

gehaltener  Sprache  und  doch  manches   seelenkundig  motivirt, 
womit  sich  sonst  die  Verfasser  solcher  Stücke  nicht  angegriffen 
haben,  so  die  Versicherung :  der  Teufel  versucht  erst  an  Adam, 
ihn    unzufrieden,    neugierig,    ehrgeizig    zu   machen   und   wird 
mit   einem    «hebe  dich  weg  von  mir»    abgewiesen.     Aber  mit 
schlauer    Schmeichelei    weiss    er   Eva's  Eitelkeit    aufzureizen. 
Er  führt  sich  ein  mit  der  Empfehlung,  dass  er  alle  Heimlich- 
keiten des  Paradieses  erforscht  habe  und  einen  Theil  derselben 
sie    lehren   wolle.     Sie   wünscht    das   sogleich    zu   hören.     Er 
verlangt  erst  das  Versprechen ,  dass  sie  niemand  etwas  davon 
entdecken   wolle.     Das   verheisst   sie.     Nun  tadelt    er   Adam, 
er  sei   zu   thöricht   (fols).     Sie   stimmt   ein,    er   sei   ein  wenig 
hart  (durs).    Der  Teufel  meint,  er  werde  schon  weich  werden. 
Eva:   II  est  mult  francs  (er  sei  sehr  frei).     Der  Teufel:   Ainz 
est  mult  serf  (vielmehr  sehr  unterthänig).    Du  bist  schwächlich 
und  ein  zartes  Wesen,  frischer  bist  du  als  die  Rose,  weisser 
als    Schnee.      Es   war  unrecht    vom    Schöpfer,    dich    so    zart, 
Adam  so  hart  zu  machen,   aber   trotzdem  bist  du  klüger  und 
hast   deinen  Sinn   auf  Hohes   gerichtet."  —  Kain,    Abel,    die 
Menschenältern  und  die  Propheten  werden,  sobald  sie  ihren 
Spruch   gethan,    von    den   Teufeln    mit    eisernen  Banden   zur 
Hölle  geführt;  bei  Abel  heisst  es  aber  in  der  Bühnenanweisung 
,,mitius".     Hase  erklärt  die  befremdende  Erscheinung  aus  der 
Zusammenwerfung  vom  Hades  und  der  kirchlichen  Vorstellung 
von  der  Hölle,  wonach  auch   die  Frommen  des  Alten  Testa- 
ments in  der  Unterwelt,   deren  Herrscher  der  Teufel  ist,  ge- 
fangen waren,  bis  Christus  sie  befreite. 

In  dem  Passionsspiele,  dessen  Handschrift  der  Fürsten- 
berg'schen  Bibliothek  zu  Donaueschingen  angehört,  daher  ge- 
wöhnlich „Donaueschinger  Osterspiel"  genannt1,  aus  der 
zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts,  sind  einige  Angaben  der 
Theatermaschinerie  enthalten.  Um  darzustellen,  dass  der 
Teufel  in  den  Judas  eingefahren  sei,  musste  dieser  einen 
lebendigen  schwarzen  Vogel  an  den  Mund  halten  und  flattern 
lassen.  Der  Selbstmord  des  Judas  erscheint  als  eine  förm- 
liche Hinrichtung  durch  den  Teufel,  der  den  Henker  dabei 
macht,  indem  er  auf  der  Leiter  voransteigt  und  den  Judas 
am  Stricke  nachzieht.     „Der  Teufel   soll   ihn   wol  am  Hacken 


Hase,  S.  40;  vgl.  Mone,  Schauspiele  des  Mittelalters,  II. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  369 

versorgen  und  sich  hinter  ihn  auf  den  Schwengel  setzen." 
Judas  soll  vorn  im  Kleide  einen  schwarzen  Vogel  und  Ge- 
därme von  einem  Thiere  haben,  sodass  der  Vogel  fortfliegt 
und  die  Gedärme  herausfallen,  wenn  ihm  der  Teufel  das 
Kleid  aufreisst,  worauf  beide  auf  einem  schräg  gespannten 
Seile  zur  Hölle  rutschen. 

Bei  der  Gelegenheit  kann   an  die  Bühneneinrichtung 
in  den  Mysterien  erinnert  werden,  wie  sie  zuerst  in  Frank- 
reich üblich   war  und   dann  den   ersten   Theatern,    später    an 
Höfen  von  Klöstern,   Hospitälern  und  Wirthshäusern   in   den 
übrigen  Ländern  zum  Muster  diente.    Man  suchte  das  Neben- 
einander   der   Scenen  .durch   ein   Uebereinander    zu    ersetzen, 
wodurch  eine  dreitheilige  Bühne  entstand,  indem  das  Reich 
der    Hölle,    als    die    Wohnstätte    der    gefallenen    Engel,    den 
untersten  Raum    einnahm,    darüber   die  mittlere  Region,    der 
menschlichen  Unvollkommenheit  angemessen,    und    zu   oberst 
das  Reich  der  ewigen  Vollkommenheit  veranschaulicht  wurde. 
Es  entsprach  diese  Einrichtung,  wie  Devrient  richtig  bemerkt l, 
dem   wir   die  nähere  Angabe   verdanken,    den   Erfordernissen 
jenes   Hauptgegenstandes    der  Mysterienspiele,    nämlich    dem 
ganzen  Inhalte  der  Urliturgie  von  der  Weltschöpfung  bis  zur 
Himmelfahrt  Christi.     Die  Hölle  war   oft   durch   einen  künst- 
lich gemachten  Höllenrachen  geschlossen,  der  sich  öffnete,  um 
die  Teufel  aus-  und  einzulassen,  die  Vorderbühne  war  neutrales 
Gebiet,  auf  dem  sich  auch  die  Teufel  aus  ihrer  Hölle  hervor- 
bewegen durften.     Devrient  führt   die  Scenirung   der   grossen 
Osterspiele,  diesen  eigentlichen  Kern  der  Mysterienaufführun- 
gen, in  ihren  wesentlichen  Momenten  vor,  wodurch  man  eine 
lebendige  Anschauung  der  Darstellung  gewinnt.     Die  Myste- 
rien beginnen  mit  der  Weltschöpfung.     Gott  Vater  im   obern 
Himmelsraum    mit    weiten    Gewändern    und    langem    weissem 
Barte,  spricht :  „Ego  sum  alpha  et  omega"  u.  s.  w.    Die  Aus- 
sprüche  desselben    sind   gewöhnlich   kürzer.      Darauf   werden 
die  Vorhänge  im  obern  und  mittlem  Räume  weggezogen,  man 
erblickt   die    grünende   Erde,    im    Himmel    die   Engelscharen, 
welche  „Gloria  in  excelsis"  anstimmen.    Hierauf  zeigt  das  Ge- 
dicht, wie  der  Fall  der  Menschen  durch   den  der  Engel  ver- 
anlasst wird.     Lucifer  in  seinem  Hochmuth  will  seinen  Thron 


1  Geschichte  der  Schauspielkunst,  I,  56  fg. 

Roskoff,  Geschichte  des  Teufels.    I.  24 


370  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

im  Himmel  neben  dem  Gott  Vaters  aufschlagen,  wird  aber 
sammt  seinem  Anhange  in  die  Hölle  Verstössen,  wo  man  ihn 
niederfahren  und  unten  mit  seinen  Genossen  Rache  brütend 
kauern  sieht.  Jetzt  erscheinen  die  Menschenältern  auf  der 
Mittelbühne,  Lucifer  schleicht  über  die  Treppe  zu  ihnen  hin- 
auf, verführt  sie,  was  deren  Vertreibung  aus  dem  Paradiese 
zur  Folge  hat.  Nun  schliesst  entweder  ein  Heix)ld  das  Tage- 
werk, auf  die  Verheissungen  der  Erscheinung  Christi  hindeu- 
tend, oder  es  folgt  ein  Nachspiel,  das  über  die  ganze  vor- 
christliche Geschichte  hinwegführt.  Gott  Vater  sendet  die 
Barmherzigkeit  und  Wahrheit  auf  die  Erde,  welche  durch 
Anführung  jüdischer  und  heidnischer  Weissagungen  das  Er- 
lösungswerk vorbereiten.  In  einer  nächsten  grossen  Abthei- 
lung wird  dann  die  Geburt  Christi,  die  Anbetung  der  Könige, 
der  bethlehemitische  Kindermord  und  die  Flucht  nach  Aegyp- 
ten  vorgestellt.  Darauf  folgt  Johannes  in  der  Wüste  und 
Christi  Taufe,  womit  kürzere  Osterspiele  auch  wol  beginnen. 
Das  Auferstehungsspiel,  das  auch  in  besondern  Gedichten 
vorkommt,  beginnt  gewöhnlich  damit,  dass  die  Juden  sich 
Wachen  von  Pilatus  holen,  die,  vor  dem  Grabe  aufgestellt, 
einschlafen.  Die  Engel  kommen  zum  Grabe  und  singen: 
„Exsurge,  Herr,  obdormis  domine"  u.  s.  f.  Jesus  erhebt  sich 
aus  dem  Grabe,  singt  „resurrexi"  u.  s.  w.  und  wird  von  den 
Engeln  die  Treppe  hinabgeführt.  Indess  weckt  Pilatus  die 
Wächter  unter  Schimpfen  und  Schelten  auf,  die,  einander  be- 
schuldigend, sich  schliesslich  fortprügeln.  Mittlerweile  ist 
Jesus  mit  den  Engeln  unten  vor  die  Höllenpforte  gelangt 
und  pocht  an : 

Tollite  portas  principes  vestras, 
Ihr  hollefürsten  thut  auf  das  thor 
Der  könig  der  ehren  ist  davor! 

Lucifer  (ruft  von  innen): 

Wer  ist  der  könig  lobelich 
Der  da  steht  so  gewaltiglich 
Mir  an  myne  höllenthor? 
Er  mochte  wol  bleiben  davor. 

Lucifer,  der  durch  ein  Fenster  neben  der  Höllenthür  gesehen 
wer  vor  ihr  ist,  ruft  mit  grimmiger  Stimme  dem  Satan  zu, 
den  Riegel  vor  das  Thor  zu  schieben ;  aber  der  Heiland  stösst 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  371 

die  Höllenpforte  unter  dem  Geheule  der  Teufel  ein,  ruft 
seine  Lieben,  Adam,  Eva,  Mose,  Jesaias  u.  a.  treten  hervor, 
sie  erkennen  den  Erlöser,  der  dem  Engel  Michael  befiehlt  den 
Höllenhund  festzubinden,  den  Lucifer  bedroht,  in  die  Vor- 
halle tritt  die  Seelen  zu  erlösen.  Die  erlösten  Seelen  werden 
von  Jesus  mit  Triumph  hinausgeführt,  die  verdammten  ab- 
gewiesen, welche  „Miserere"  singen;  jene,  „Jesus  redemptor 
noster"  anstimmend,  ziehen  nach  dem  Himmel  hinauf,  wäh- 
rend die  Teufel  ihre  Hölle  schliessen. 

An  diesen  Vorgang  hat  der  Volkshumor  mancherlei 
Teufelsspuk  angeknüpft,  der  mit  der  Qual  der  Verdammniss 
sein  Spiel  treibt.  Devrient  l  führt  aus  dem  Alsfelder  Manu- 
scripte  die  Scene  an,  wo  eine  der  verdammten  Seelen  über 
die  Thüre  der  Hölle  hinausguckt  und  dem  Heilande  nachruft: 

Aue  die  Tüfel  thun  vns  allzu  weh 
Lieber  herre  lass  vns  mit  dir  geh. 

Es  gelingt  ihr,  die  Thüre  zu  öffnen  und  zu  entwischen. 
Adam  warnt  die  arme  Seele :  „Wart,  dass  dich  niemand  wieder 
hole",  und  richtig  ist  der  Teufel  Leisegang  ihr  auf  der  Ferse 
und  erwischt  sie.  Devrient2  führt  auch  eine  Variante  dieser 
Scene  nach  einer  innsbrucker  Handschrift  an: 

Lucifer: 

Neyn,  neyn  du  buszer  wicht 
Du  kumest  von  hyhiien  nicht! 

Anima  dicit: 

Awe,  awe,  awe! 

Mir  thun  dy  tufel  allzo  we. 

Jesus  lyber  here 

Schal  ich  nicht  mit  dir  von  hynen  kere ! 

Gnade  here  Lucifer! 

Ich  waz  eyn  armer  becker 

Wen  der  teyg  was  zu  grosz 

Vnd  warf  en  in  dy  kligen 

Dez  muss  ich  enn  dy  helle  gedygen. 

Lucifer  aber  hat  kein  Erbarmen,  er  ruft  sogar  alle  seine  Ge- 
sellen  und  befiehlt    ihnen,    zum   Ersatz   für  Adam  und  Eva 


1  S.  67. 

2  S.  70. 

24: 


372  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

eine  Menge  anderer  Seelen  zu  holen,  wovon  er  ein  langes  Re- 
gister vom  Papst  bis  zum  niedrigsten  Stande  herabliest. 
Während  nun  der  Heiland  im  Himmelsraum  oben  mit  Adam 
und  Eva  vor  Gottes  Thron  erscheint  und  sein  Mittleramt  an 
der  sündigen  Menschheit  vollendet,  beginnt  unten  vor  der 
Hölle  ein  possenhaftes  Examen  der  Seelen,  welche  Satan  dem 
Lucifer  bringt.  Da  bekennt  ein  Schuster:  schlechte  Sohlen 
gemacht,  ein  Kaplan:  es  mit  hübschen  Weibern  gehalten, 
ein  Schneider:  Flicken  gestohlen  zu  haben  u.  s.  f.,  bis  Lucifer 
sie  alle  in  die  Hölle  sperrt  und,  seine  eigene  Hoffahrt,  die 
ihn  und  die  Seinen  gestürzt  hat,  beklagend,  die  Pforte 
schliesst. 

Aus  einem  Auferstehungsspiel,  das  Mone  herausgegeben: 
„Christi  Auferstehung"  !,  wollen  wir  die  Teufelsscene  ihrer 
Behandlung  wegen  hersetzen. 

Jhesus  dicit: 

Nue  kumt  myne  vil  lyben 

in  mynes  vater  rieh, 

daz  uch  bereit  ist  ewielich. 

Et    cantat:    venite   benedicti   patris   mei.     Tunc    anima   infelix 
volens  recedere  cum  deo,  tunc  diabolus  capit  eam  'et  dicit: 

Neyn  neyn,  due  buszer  wicht 

due  kumest  mir  von  hynnen  nicht. 

Anima  dicit: 

.  Awe,  awe,  awe, 
Mir  thon  dye  tufel  alzo  we, 
Jhesus  lyber  here, 
schal  ich  nicht  mit  dir  von  hynnen  kere? 

Item  Anima  dicit: 

Gnade  herre  (hirre)  Lucifer, 
ich  waz  eyn  armer  becker, 
wen  der  teyk  waz  czue  gruez, 
ich  brach  da  von  eynen  cloz 
und  warf  en  in  dy  kligen, 
dez  muz  ich  in  dye  helle  gedyge. 


1  Altdeutsche  Schauspiele.     Bibl.  der  gesammten  deutschen  National- 
literatur, Bd.  21. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  373 

Tunc  Lucifer  currit  ad  palatium  clamans  alta  voce: 

Gesellen,  liben  gesellen  alle 

kumt  mit  eyme  gruszen  schalle 

und  merket  myne  clage, 

dye  ich  will  sage, 

wir  waren  gewaldig  lange, 

ez  hat  uns  übel  ergangen, 

wir  haben  dye  hell  verloren, 

daz  (1.  des)  last  uch  allen  wesen  czoren. 

nue  wart,  waz  ir  müget  begriffen, 

daz  last  uch  nicht  entwichen, 

daz  muz  mit  uns  ewiclichen  wesen 

und  kan  nicht  genesen; 

Jhesus  der  gruszer  here 

gehindert  uns  nummermere. 

Sathanas  dicit: 

Lucifer,  lyber  here, 

din  Schade  riuvet  mich  sere, 

ez  werde  den  din  wille  vorbracht, 

so  geröge  wir  weder  tag  noch  nacht, 

ouch  wil  ich  dar  noch  ymmir  ringen 

ich  wulle  dir  vil  sele  brengen. 

.  Lucifer  dicit: 

Sathan,  Sathan 

min  vil  lyber  kumpan 

lauf  hen  keyn  Pullen  (Apulien) 

daz  wir  dye  sele  gefullen. 

Sathanas  dicit: 
Lucifer  lyber  here  myn, 
waz  due  gebutest,  daz  sal  sin. 

Lucifer  dicit: 

Sathan,  Sathan 

min  vil  lyber  kumpan, 

lauf  hen  keyn  Anian  (Avignon) 

brenge  mir  den  habest  und  (den)  kardenal, 

Patriarchen  und  legat, 

dye  den  luten  geben  bösen  rat, 

konig  und  keyser, 

dye  brenge  mir  allczue  male  her, 

grafen  und  fursten 

dye  darf  nicht  her  gelüsten, 

rittere  und  knechte, 

dye  sint  mir  alczuemal  rechte, 


374  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

brenge  mir  den  vogt  und  (den)  raczman, 

dye  den  luten  vil  unrechtes  haben  getan, 

brenge  mir  ouch  dye  wucherere, 

dye  sint  gote  gar  ummere 

dye  schepphin  mit  dem  orteyl 

dye  brenge  mir  her  an  dinem  seyl, 

den  phaffen  mit  der  blatten, 

den  monch  mit  der  kappen, 

brenge  mir  den  byerschenken, 

den  will  ich  in  dye  helle  vorsencken, 

brenge  mir  den  becken  mit  dem  wecke, 

dem  will  ich  machen  eyn  grusz  gelecke, 

den  fleyshewer  mit  der  kwe 

und  den  webir  dar  czue, 

brenge  mir  ouch  den  czymmerman, 

min  vil  lyber  kumpan, 

brenge  mir  den  schuester  mit  der  ole, 

den  altboszer  mit  der  sole, 

brenge  mir  ouch  den  byerschrotener 

und  dar  czue  den  botener, 

esser,  eyler,  spörer,  veyler, 

dretsnyder,  deler, 

trencker,  töppher,  spiler, 

dye  brenge  mir  al  czue  her, 

brenge  mir  ouch  den  truenckenbolt 

got  der  wert  em  nymmer  holt, 

brenge  mir  den  muller  mit  der  meczen, 

den  wil  ich  czue  hinderst  in  dye  helle  seczen, 

brenge  mir  ouch  den  beder  mit  der  questen  (Quaste), 

den  salezman  mit  der  mesten  (Mass), 

den  smet  mit  der  czangen, 

dez  hatte  ich  vergessen  lange, 

den  fischer  mit  den  hamen, 

brenge  den  phifer  und  den  rosther, 

den  pucker  und  den  fedeler 

und  aller  leyy  spilman, 

der  ich  dir  nicht  genennen  kann, 

brenge  mir  ouch  dye  Spinnerin, 

mit  der  wil  ich  ouch  vrouden  begin, 

brenge  mir  den  kemmer 

dar  czue  den  burstenbinder, 

brenge  mir  ouch  dye  klappermynne  (Klatschweib) 

dye  da  siezen  an  den  czynnen 

und  duncken  sich  alzo  heilig  sye 

alzo  dez  phaffen  mast  swin, 

noch  weiz  ich  eyn  geschlechte, 

der  schalt  due  nicht  brenge  her, 

so  tust  due  wol  noch  myner  ger  (Wunsch,  Begehren). 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  375 

Satanas  dicit: 

Lucifer  lyber  here  myn, 
waz  due  gebutest  daz  sal  sin, 
is  taug  nicht  lenger  gespart, 
ich  wil  mich  heben  uff  dye  fart. 

Angeli  cantant:  silete. 

Tunc  Sathanas  veniens  portans  multas  animas  dicit: 

Here  ich  han  ez  wol  bedacht 
ich  han  dir  vil  seien  bracht. 

Lucifer  dicit: 

Danck  schaltu  ymmir  han 
min  vil  lyber  kumpan. 

Prima  anima  dicit: 
Gnade  lyber  Lucifer, 
ich  waz  eyn  armer  schüster 
ich  saeze  den  lüten  büsze  solen  an, 
daran  hab  ich  nicht  recht  getan, 
und  swe  sye  wem  czwer  alzo  gut 
dez  muz  ich  in  der  helle  glüt. 

Secunda  anima  dicit: 
Ich  waz  eyn  armer  kapellan 
da  waz  nicht  wol  angethan, 
wen  ich  hürte  der  glocken  klang, 
so  hatte  ich  wunderlich  gedang, 
mit  czwen  schonen  wiben 
müst  ich  dye  czit  vortriben, 
wen  mir  dye  eyne  entrann 
soe  greif  ich  dye  andern  an. 

Tertia  anima  dicit: 

Gnade  here  Lucifer, 
ich  waz  eyn  armer  byerschencker, 
ich  gab  eyn  maz  daz  waz  czu  cleyne, 
dar  umm  müz  ich   ymmir  weyne. 

Quarta  anima  dicit: 

Gnade  here  Lucifer, 

ich  waz  eyn  armer  fleyschewer, 

ich  wandirte  an  dye  laut 

da  ich  eyne  vynnechte  swe  vant, 

ich  nam  sye  uff  minen  rücke, 

ich  trug  sye  in  dye  fleyszer  hütte, 

ich  swer  uff  dye  trwe  myn 

ez  wer  eyn  reynes  burgelin  (Ferkel). 


376  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Quinta  anima  dicit : 
Gnade  here  Lucifer, 
ich  waz  eyn  armer  schroter  (Schneider) 
ich  stal  dye  schroten, 
dye  grünen  und  dye  roten, 

dye und  dye  wiszen 

dez  muz  ich  dye  helle  beschiszen. 

Sexta  anima  dicit: 

Gnade  here  Lucifer, 
ich  waz  eyn  armer  heiser  (Lüstling) 
ich  helste  dye  mayt  umm  eyn  lot 
dye  frawen  umm  eyn  brot. 

Lucifer  dicit: 

Sathan  lyber  Geselle 

den  brenge  nicht  in  dye  helle, 

komt  her  in  dye  helle  myn 

wir  musten  alle  kebes  kinder  sin. 

Tunc  Sathan  ducat  animas  ad  infernum,  Lucifer  dicit: 

Awe,  awe  hoffart 

daz  din  ye  erdacht  wart, 

ich  waz  eyn  engel  klar 

und  lüchte  ubir  aller  engel  schar, 

ich  hatte  mich  dez  vormessen 

daz  ich  weide  hochir  han  geseszen 

wen  der  wäre  got 

der  da  ist  der  hoste  rat; 

dar  czue  brachte  mich  myn  hoffart, 

daz  ich  ernyder  gestossen  wart 

vil  tyff  in  dye  helle 

ich  und  alle  myn  gesellen, 

wye  dem,  der  (da)  tribet  hoffart, 

iz  wert  em  alles  czue  de  sele  gespart, 

ouch  muszen  sye  liden  grusze  not, 

we  dem,  der  da  hoffart  tuet. 

Der  Teufel  spielt  seine  Rolle  auch  in  den  sogenannten 
Mor alitäten,  z.  B.  in  der  auch  von  Hase1  angeführ- 
ten: vom  Cavalier,  der  seine  Frau,  die  er  liebt,  dem  Teufel 
übergibt.2  Der  Inhalt  ist  folgender:  Einem  heruntergekom- 
menen Edelmann  verspricht    der   Teufel   wieder   Reichthümer, 

1  S.  45. 

2  Le   mystere  du  Chevalier  qui   donna   sa  femme  au  diable;    mis  en 
ryme  francaise  et  par  personnaiges,  ohne  Jahr;   vgl.  Flögel  IV,  240. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  37  7 

wenn  er  ihm  nach  sieben  Jahren  seine  Frau  abtreten  wolle. 
Von  Noth  gedrängt,  unterschreibt  der  Edelmann,  obschon  mit 
Widerwillen,  den  Vertrag  und  willfahrt  auch  dem  Verlangen 
des  Teufels,  Gott  zu  verleugnen.  Als  aber  dieser  auch  die 
Verleugnung  der  Heiligen  Jungfrau  zur  Bedingung  setzt, 
weigert  sich  der  Edelmann  standhaft,  sodass  der  Teufel  davon 
abstehen  muss.  Nach  den  sieben  Jahren  dringt  der  Teufel 
auf  die  Erfüllung  des  Vertrags,  und  als  der  Edelmann  mit 
bekümmertem  Herzen  jenem  seine  Frau  zuführt,  kommen  sie 
an  einer  Marienkapelle  vorüber.  Die  Frau  verlangt  hinein- 
zugehen, und  während  sie  vor  dem  Altare  betet,  nimmt  die 
Heilige  Jungfrau  ihre  Gestalt  an,  tritt  hinaus  und  wird  dem 
Teufel  überliefert.  Diesem  bleibt  aber  der  Tausch  nicht  un- 
bemerkt, und  da  er  weiss,  dass  es  ausser  seiner  Macht  liegt 
die  Gottesmutter  festzuhalten,  macht  er  dem  Edelmanne  Vor- 
würfe über  Treubruch.  Da  dieser  die  Verwandelte  nicht 
erkennt,  erklärt  die  Heilige  Jungfrau  das  Räthsel,  der  Teufel 
wird  genöthigt  den  Contract  herauszugeben,  und  unter  mütter- 
lichen Ermahnungen  Maria's  werden  die  Eheleute  wieder 
vereinigt. 

Die  Macht  der  Maria  hervorzuheben  und  dadurch  ihre 
Verehrung  zu  fördern,  ist  die  Tendenz  der  Sage  vom  Theo- 
philus  und  seinem  Bündnisse  mit  dem  Teufel,  der  wir  schon 
früher  begegneten.  Aus  der  Zeitgemässheit  der  Tendenz  er- 
klärt sich  die  Beliebtheit  der  Sage  und  daher  deren  wieder- 
holte Bearbeitung.  Nach  der  gründlichen  Forschung  Sommer's 1 
ist  die  älteste  Erzählung  in  griechischer  Sprache,  deren  Ver- 
fasser sich  Eutychianos  nennt.  Paulus  Diaconus  verfertigte 
im  8.  Jahrhundert  eine  lateinische  Uebersetzung ,  wodurch 
die  Sage  im  Abendland  bekannt  und  durch  die  bekannte 
gandersheimer  Nonne  Hroswitha  im  10.  Jahrhundert  poetisch 
bearbeitet  wurde.  Mit  U.ebergehung  der  von  Sommer  ange- 
führten übrigen  Bearbeitungen  dieser  anatolischen  Sage,  soll 
hier  nur  der  dramatischen  Darstellung  gedacht  werden,  wo- 
von die  eine  von  Rutebeuf,  einem  Trouvere  des  13.  Jahrhun- 
derts, herrührt,  welche  Hase2  anführt,  und  deren  Inhalt  kurz 
zusammengefasst  folgender  ist:   Vicomte  Theophilus   tritt   auf 


1  De  Theophili  cum  diabolo  foedere  (Berol.  1844). 

2  Geistliches  Schauspiel,  S.  61. 


378  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

mit  der  Klage,  dass  er  ungeachtet  seiner  Verdienste  vom  Bi- 
schof dem  Hunger  preisgegeben  sei.  Da  er  zu  dem  unnah- 
baren Gott  nicht  gelangen  könne,  wendet  er  sich  an  einen 
Zauberer,  dass  er  sein  verlorenes  Amt  wieder  erhalte.  Dieser 
verspricht  es,  aber  unter  der  Bedingung,  dass  er  die  Heiligen 
verleugne  und  sich  dem  Teufel  als  Lehnsmann  verschreibe. 
Unter  Gewissensbissen  stellt  Theophilus  eine  mit  seinem  Blut 
geschriebene  Handfeste  aus,  da  es  der  Teufel  nicht  anders 
thut,  indem  er  schon  oft  betrogen  worden  sei.  Theophilus 
soll  reich  werden,  hat  aber  die  Armen  immer  abzuweisen  und 
nicht  zu  fasten.  Theophilus,  zur  Herrlichkeit  erhoben,  ist  an- 
fänglich übermüthig ,  wird  aber  nach  sieben  Jahren  reuig  und 
besucht  eine  Marienkapelle.  „Ich  wage  nicht,  mich  an  Gott 
zu  wenden,  noch  an  seine  Heiligen,  noch  an  seine  sehr  süsse 
Dame,  doch  weil  an  ihr  nichts  Bitteres,  schrei'  ich  zu  ihr  um 
Barmherzigkeit,  Reine  sainte  et  belle"!  Diese  weist  ihn  an- 
fänglich zurück,  lässt  sich  aber  doch  erweichen  und  fordert 
den  Satan  auf,  das  Papier  zu  suchen.  Dieser  antwortet :  „Dass 
ich's  Euch  zurückgebe!  Ich  will  lieber  gehangen  sein!"  Schliess- 
lich muss  er  Marien  doch  Folge  leisten,  welche  die  Schrift 
dem  Theophilus  zurückstellt  unter  der  Bedingung:  alles  dem 
Bischof  zu  melden,  dass  dieser  es  dem  Volke  verkünde,  was 
der  Bischof  mit  der  Versicherung  thut:  die  Sache  sei  so  wahr 
als  das  Evangelium.  Das  Mirakel  endet  mit  der  Auffor- 
derung, das  „Tedeum  laudamus"  anzustimmen. 

Eine  andere  dramatische  Bearbeitung  der  Sage  hat  Ett- 
müller  herausgegeben:  „Theophilus,  der  Faust  des  Mittel- 
alters", Schauspiel  aus  dem  14.  Jahrhundert  l,  dessen  nieder- 
deutscher Dichter  unbekannt  ist,  vor  dem  französischen  durch 
Einfachheit  sich  auszeichnet,  für  keine  Uebertragung  des  vori- 
gen betrachtet  werden  darf,  wol  aber  eine  lateinische  Grund- 
lage zu  haben  scheint.  Der  Franzose  lässt  den  Theophilus 
durch  den  Teufel  Seneschall  werden,  veranstaltet  im  Circus 
eine  ganze  Teufelei,  wovon  der  Niederdeutsche  nichts  weiss. 
Die  Scenen  reihen  sich  im  niederdeutschen  Schauspiel  fol- 
gendermassen  aneinander:  Theophilus  ist  allein,  er  sagt,  dass 
er  ein  kluger  Mann  genannt  worden  sei,  der  sich  in  die 
Welt  zu  schicken  wisse  und  sich  auf  sein  Amt  wie  auch  auf 


Bibliothek  der  gesammten  deutschen  Nationalliteratur,  Bd.  27. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  379 

lustige  Dinge   verstanden  habe.     Da   ihm  seine  Präbende  ge- 
nommen worden,   beschwört  er  den  Satanas,   dass    er  ihm  zu 
Gold   und  Silber  verhelfe.     Dieser    tritt  auf,    verlangt    einen 
Brief  und   eine  Handfeste:  dass  Theophilus  seinen  Leib  und 
seine  Seele  ihm  übergebe  und  des  Teufels  sein  wolle.     Theo- 
philus verlangt  Tinte,  Feder  und  Pergament,  der  Satan  reicht 
ihm    das    Verlangte    unter    Aufforderung:    Gott    und    dessen 
Mutter  sowie  allein ,  was  man  in  der  Kirche  singt  und  spricht, 
zu  entsagen.    Theophilus  sträubt  sich  vornehmlich  die  Mutter 
Gottes  abzuschwören,  er  thut  es  aber,  obschon  mit  schwerem 
Herzen,  schreibt  die  Urkunde,  hängt  das  Siegel  daran.    Satan 
geht    ab,    kommt   aber   gleich   wieder    mit  Gold,    Silber  und 
kostbaren  Kleidern,   welche  Theophilus  anzieht.     In  der  fol- 
genden Scene  ist  Theophilus  allein  in    der  Kirche  kniend  vor 
einem  Altare,    auf  dem   Maria    mit   dem   Kinde  sichtbar  ist. 
Theophilus   äussert  alle  Zeichen  der  Unruhe,    wirft  sich  auf 
sein  Angesicht   und  bleibt   so  liegen.     Inzwischen    erschallen 
die  Glocken,  die  Kirche  füllt  sich  mit  Leuten,    der   Gesang 
wird  angestimmt,   der  Geistliche   betritt  die  Kanzel,   predigt, 
und  erst  nachdem  der  Gottesdienst  beendigt  ist  und  die  An- 
dächtigen die  Kirche  verlassen  haben,  erhebt  Theophilus  sein 
Haupt  und  fleht,  kniend  zu  Maria  gewendet,  um  Gnade.    Diese 
tritt  aus   ihrer  Umgebung    von   dem   Altare   herab    und  sagt, 
nachdem  sie  ihr  Kind  vor  Theophilus  abgesetzt  hat,  zu  diesem: 
sie  habe  ihn  vernommen,   müsse  aber  zunächst  ihr  Kind   um 
Gnade  für  Theophilus  anflehen.     Sie  wendet  sich  zu  dem  auf 
dem    Altare    sitzenden  Jesuskinde    und    bringt    ihre  Fürbitte 
vor.     Anfangs  schweigt  das  Jesuskind,    und  nachdem  Maria 
dringender  wird,  sagt  es: 

Moder,  wes  biddest  du  so  sere 

for  dat  stinkende  äs 

dar  nie  renichet  inne  was? 

Als  aber  die  Mutter  vor  dem  Kinde  niederkniet,  wird 
dieses  erweicht,  Maria  kehrt  zu  Theophilus  zurück  und  ver- 
kündet ihm,  dass  er  seiner  Sünden  entbunden  sei  und  sie  ihm 
sein  Pfand  wieder  verschaffen  wolle.  Dieser  neigt  sein  Haupt 
auf  die  Stufen  des  Altars,  Maria  berührt  ihn  und  er  ent- 
schläft. Sie  spricht  dann  befehlend  den  Satan  an,  dass  er 
komme  und  den  Brief  hole.  Als  dieser  sich  dagegen  sperrt, 
wird  er  von  jener  hart  angefahren: 


3S0  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Du  lugnere  far  hin  snelle 
in  den  afgrund  der  helle, 
far  de  lenge  al  up  un  neder 
söke  mi  den  bref  weder. 

Satan  geht  ab,  kehrt  aber  bald  wieder  mit  der  Entschul- 
digung, er  könne  den  Brief  nicht  finden,  auch  Lucifer,  sein 
Herr,  habe  ihn  seit  Jahren  nicht  mehr  gesehen.  Da  droht 
Maria  mit  ihrer  Macht  und  Züchtigung,  befiehlt  bei  ihrem 
Namen  und  dem  ihr  schuldigen  Gehorsam,  dass  er  in  dieser 
Stunde  nach  der  schwarzen  Hölle  Grund  abfahre  und  den 
Brief  bringe,  der  hinter  Lucifer's  Rücken  liegt.  Satan,  ge- 
horchend, geht  in  die  Hölle  und  sagt  zu  dem  da  angefesselten 
Lucifer:  er  möge  Rath  schaffen,  die  Gottesmutter,  die  ihnen 
den  Theophilus  weggenommen,  wolle  den  Brief  durchaus 
haben : 

Si  is  frouwe  und  wi  sin  knechte 
wi  ne  mögen  nicht  weder  se  fechten 
jo  wi  ere  fan  u  komen 
jo  beter  is  unse  frome 
(je  eher  wir  von  ihr  kommen,   desto  besser  ist  es  für  uns). 

Satan  kommt  zurück,  und  den  Brief  überreichend  spricht  er: 
sie  möge  den  Brief  in  Gewahrsam  nehmen;  und  zu  den  Zu- 
schauern: dass  ihm  nun  niemand  mehr  kommen  dürfe.  Maria 
legt  hierauf  den  Brief  dem  Theophilus,  der  noch  immer  schläft, 
auf  die  Brust,  wendet  sich  gegen  den  Altar,  nimmt  ihr  Kind, 
tritt  in  ihre  frühere  Umgebung  zurück  und  erscheint  wieder 
als  Statue.  Als  Theophilus  erwacht  und  den  Brief  findet,  singt 
er  freudig:  „Alma  mater  deipara"  u.  s.  w.,  mit  dem  Gelöbniss, 
nimmermehr  von  der  hülfreichen  Maria  ablassen  zu  wollen. 

Im  Eisenacher  Spiel:  „Von  den  klugen  und  thörichten 
Jungfrauen",  das  im  Jahre  1322  vor  dem  Landgrafen  Friedrich 
mit  der  gebissenen  Wange  aufgeführt  und  in  dem  neuerer 
Zeit  in  Mühlhausen  aufgefundenen  geistlichen  Spiele  „Von 
den  10  Jungfrauen"  erkannt  worden  ist  *,  klagt  Lucifer  gegen 
den  Herrgott  den  viel  Lieben:  dass  er  und  sein  Herr  wegen 
dieser  Sünderinnen  (nämlich  der  thörichten  Jungfrauen),  die 
sein  Rath  verführt  hat,  mehr  Pein  leide,  als  Tropfen  im  Meere 


1  Vgl.  Hase,  S.  53.     Vom  mühlhäuser  Rathsmann  Friedrich  Stephan: 
Neue  Stofflieferungen  für  die  deutsche  Geschichte. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  381 

sind.  In  der  Schlussscene  werden  die  am  Boden  liegenden 
Frauen  vom  Satan  mit  einer  Kette  umschlungen  und  über  die 
Bühne,  dann  mitten  durch  die  Zuschauer  zur  Hölle  geschleift, 
während  sie  Wehe  und  Zeter  schreien. 

Mone1  bringt  aus  einer  Papierhandschrif't  des  Klosters 
Rheinau  bei  Schaffhausen  ein  Drama  vom  Jahre  1467:  „Der 
Jüngste  Tag",  wobei  er  auf  die  Uebereinstimmung  mit  alten 
Bildern  des  Jüngsten  Tags  im  allgemeinen  wie  in  besondern 
Zügen  aufmerksam  macht,  wie  der  Teufel  die  Verdammten 
an  einem  Seile  in  den  aufgesperrten  Drachenschlund  der 
Hölle  hinabzieht.  Auch  dies  Stück  spielt  darauf  an,  und  es 
heisst  dabei  ausdrücklich:  dass  die  Verdammten  an  ein  Seil 
gelegt  werden.  Dieses  Teufelsseil  kommt  auch  in  einigen 
andern  Stücken  vor,  und  von  dieser  Vorstellung  rührt  die 
Redensart  her:  „Der  Teufel  hat  ihn  am  Seile",  die  auch  den 
Franzosen  geläufig  ist.2 

Das  Allegorisiren ,  das  namentlich  in  den  Moralitäten 
platzgegriffen  hatte,  brachte  es  mit  sich,  dass  die  Teufel  unter 
verschiedenen  Namen  auftraten.  In  einem  Gespräch,  durch 
Mone  3  bekannt  gemacht,  das  aus  dem  15.  Jahrhundert  her- 
rührt, kommen  ausser  Asmodeus,  Beelzebub,  Sathanas  noch 
vor:  Krentzeleyn  (Rosenkranz),  vermuthlich  als  böse  Geister 
der  Eitelkeit,  Spiegelglanz,  vom  Begaffen  im  Spiegel; 
Federwisch,  von  den  Schmuckfedern  des  Kopfputzes;  Schor- 
brenth,  vom  Z.wietrachtstiften;  Hellekrugk,  von  der  Trink- 
sucht, u.  a.  Der  französische  Einfluss  auch  in  dieser  Beziehung 
ist  längst  anerkannt.  Die  Franzosen  gingen  voran  Namen  zu 
erfinden,  welche  den  Charakter  bestimmter  Personen  bezeich- 
nen sollten,  und  zwar  nicht  nur  in  den  Diablerien,  sondern 
auch  in  andern  Stücken  in  Beziehung  auf  andere  Personen, 
z.  B.  für  Räuber  der  Name  Tout-li-faut,  Soul-d'ouvrer  u.  s.  w.4; 
ähnlich  sind  dann  auch  deutsche  Teufelsnamen  gebildet  wor- 
den. Die  erwähnten  und  noch  andere  Teufelsnamen  kommen 
im  Alsfeld  er  Osterspiele    vor,    wo    die   Bekehrungsgeschichte 


1  Schauspiele  des  Mittelalters,  I,  265. 

2  Mysteres  par  Jubmal  II,  17. 


3  A.  a.  0.,  S.  196. 

4  Ebend.  II,  11. 


382  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

der  Magdalena  von  besonderer  dramatischer  Wirkung  ist, 
und  folgendermassen  beginnt: 

Lucifer  besteigt  das  Fass,  als  herkömmliche  Erhöhung 
auf  der  Vorderbühne,  und  ruft  seine  Teufel  zusammen: 

Woil  her,  woil  her  us  der  Hellen 
Sathanas  und  all  dyne  Gesellen  u.  s.  w. 

(Sie  kommen,  umtanzen  das  Fass  und  singen:) 

Lucifer  in  dem  Throne 
Der  war  ein  Engel  schone. 

Als  dieser  von  seinem  Sturze  und  seiner  Verdammniss  um 
seines  Hochmuths  willen  spricht,  schelten  ihn  die  Teufel  und 
schlagen  ihn  sogar,  weil  er  den  Prediger  machen  wolle.  Da 
erscheint  Maria  Magdalena  mit  ihrer  Magd,  hoff  artig  ge- 
schmückt, leichtfertig  scherzend  und  singend.  Der  Teufel,  der 
sein  Wohlgefallen  daran  hat,  tanzt  mit  ihr.  Ein  Soldat  vom 
Gefolge  des  Herodes  tritt  auf,  begrüsst  Magdalena,  die  sich 
sehr  willfährig  zeigt,  ihn  umarmt  und  nach  wenigen  Wechsel- 
reden sagt: 

Nu  nemt  hyn  das  krenzelein 

Dazu  will  ich  uwer  eygen  sein. 

Sie  tanzt  mit  ihm  und  ihre  Magd  zugleich  mit  dem  Teufel 
Notyr.  Nachdem  der  Soldat  abgetreten,  erscheint  Martha, 
ermahnt  die  Sünderin  zur  Umkehr;  dagegen  reizt  sie  Lucifer 
zur  Weltlust  an,  und  Magdalena  entscheidet  sich  für  letztern. 
Da  ertönt  der  Chor  der  Engel,  Christus  erscheint  mit  seinen 
Jüngern  und  predigt,  wovon  die  Magd  Magdalena' s  zuerst 
ergriffen  wird.  Als  Jesus  abermals  predigt:  Selig  sind  die 
Gottes  Wort  hören,  da  wird  auch  Magdalena  reumüthig.  In 
der  nächsten  Scene  erscheint  Magdalena  dem  Heiland  die 
Füsse  salbend.  Als  er  ihr  die  Sünden  vergeben  hat,  stimmt 
Lucifer  die  Klage  an: 

0  Maria  Magdalene 

Wie  warst  du  in  myn  äuge  so  schöne 

Nun  hastu  mich  so  gar  verlassen ! 

Auch  wo  das  Drama  über  die  heilige  Geschichte  hinaus- 
griff, fehlte  der  Teufel  auf  der  Bühne  nicht.  Dies  zeigt  das 
Stück,  das  Tilesius  im  Jahre  1565  zu  Eisleben  herausgab,  das 
aber  schon  1480  von    einem  Priester  Theodorich  Schernbeck 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  383 

(oder  Schernberk)  hochdeutsch  verfasst  worden  sein  soll  und 
lange  als  das  erste  deutsche  Originaltrauerspiel  gegolten  hat. 
Gottsched  »  stellt  es  den  französischen  Mysteres  gegenüber. 
Es  führt  den  Titel:  „Ein  schon  Spil  von  Fraw  Jutten,  welche 
Papst  zu  Rom  gewesen  und  aus  ihrem  päpstlichen  scrinio 
pectoris  auff  dem  Stuel  zu  Rom  ein  Kindlein  zeuget".  Es 
ist  eine  ganz  ernsthafte  Auffassung  der  bekannten  Fabel  von 
der  Päpstin  Johanna,  deren  Aufsteigen  und  Fall  als  ein  Werk 
teuflischer  Versuchung  dargestellt  und  die  zuletzt  als  buss- 
fertige Sünderin  durch  Maria's  Fürbitte  von  dem  ewigen 
Verderben  errettet  wird.  Die  Handlung  beginnt  in  der  Hölle, 
wo  Lucifer  all  sein  Liebes  Höllengesindel  zusammenruft,  mit 
allerlei  Namen,  theils  schon  erwähnten,  theils  in  Hexenacten 
vorkommenden,  als:  Unversün,  Spiegelglantz,  Fledderwisch, 
Astrot,  Krentzlein;  auch  des  Teufels  Grossmutter  Lillis  ist 
darunter.     Sie  beginnen  vor   der  Hölle  einen  Reigentanz   und 

Gesang: 

Luciper  in  deinem  throne 

Rimo,  Rimo,  Rimo 
Warstu  ein  engel  schone 

Rimo,  Rimo,  Rimo 
Nu  bistu  ein  Teufel  grewlich 

Rimo,  Rimo,  Rimo.  2 

Mitten  in  den  wüsten  Reigen  springt  Lillis,  des  Teufels 
Grossmutter,  hinein  und  äussert  ihr  besonderes  Wohlgefallen 
daran,  während  oben  im  Himmelsraume  der  Heiland  neben 
seiner  Mutter  umgeben  von  Heiligen  und  Engeln  still  thront, 
Hierauf  sendet  Lucifer  zwei  Teufel  auf  die  Erde  zu  der  ge- 
lehrten und  schönen  Frau  Jutta,  die  im  Begriffe  ist,  mit  einem 
Schreiber  auf  die  hohe  Schule  zu  Paris  zu  ziehen ,  um  sie  in 
ihrem  ehrgeizigen  Plane  zu  bestärken,  als  Mann  verkleidet 
die  höchsten  Ehrenstellen  zu  erstreben  und  sie  dem  höllischen 
Reiche  zu  gewinnen.  Die  Teufel  erscheinen  auf  der  Mittel- 
bühne, in  einigen  Wechselreden  verscheuchen  sie  Jutta's  Be- 
denken und  kehren  zur  Hölle  zurück,  wo  ihnen  Lucifer  ver- 
heisst: 


1  Nöthiger  Vorrath  u.  s.  w.,  II,  80  fg. 

2  Dieselbe  Version  hat  auch  das  Alsfelder  Spiel,  und  solche  Wieder- 
holungen sind  sehr  häufig. 


384  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

Zum  Lohne 

eine  fevrige  Krone 

die  ist  gar  wol  geflochten  und  behangen 

mit  Ratten  und  mit  Schlangen. 

Jutta  kommt  auf  den  päpstlichen  Thron,  sie  ist  eben  gekrönt 
worden  und  soll  aus  einem  besessenen  Sohn  eines  Senators 
den  bösen  Geist  austreiben.  Jutta  fürchtet  sich  „für  dem 
Teufel",  denn  es  ist  derselbe  Unversün,  der  sie  zu  ihrem 
Unternehmen  angeeifert  hat,  sie  fordert  daher  die  Cardinäle 
auf,  den  Geist  zu  bannen,  aber  er  widersteht  ihnen,  endlich 
muss  der  Teufel  dem  ausgesprochenen  päpstlichen  Banne 
weichen,  weil  Gott  es  so  haben  will,  wie  er  bemerkt,  ruft 
aber,  bevor  er  von  dannen  fährt,  das  betrügerische  Unter- 
nehmen vor  allem  Volke  aus.  Die  Päpstin  Jutta  stirbt  an 
der  Geburt,  wie  auch  die  Sage  berichtet,  das  Volk  läuft  her- 
bei und  hebt  das  Kind  auf.  „Mit  dieser  irdisch-sittlichen 
Rettung  hat  das  Drama  eigentlich  seinen  Abschluss",  wie 
Hase1  richtig  bemerkt,  „allein  das  ist  wie  vergessen."  Der 
Teufel  führt  Jutta' s  Seele  triumphirend  zur  Hölle  hinab,  und 
während  auf  der  Mitteibühne  das  Volk,  der  Klerus  mit  Kerzen 
und  Fahnen  feierlichen  Umzug  hält,  um  den  göttlichen  Zorn 
zu  beschwichtigen,  der  sich  durch  Blutregen  und  Erdbeben 
zu  erkennen  gegeben  hat,  spielt  das  Drama  in  der  Hölle  fort, 
wobei  es  sich  um  Jutta's  Seele  handelt.  Den  Anlass  hierzu 
gab  offenbar  die  Fortbildung  der  Sage.  Die  Päpstin  wird 
von  den  Teufeln  verhöhnt,  sie  wollen  sie  als  gelehrten  Mann 
zum  Singmeister  der  Hölle  machen.  Aufgefordert,  Gott  zu 
verleugnen  und  mit  allerlei  Martern  gepeinigt  wegen  ihrer 
Versündigung  an  Gott  und  seiner  Kirche,  ruft  sie  unablässig 
zum  grössten  Aerger  der  Teufel  Maria  an,  „ihres  Kindes  Hulde 
ihr  zu  erwerben",  und  den  heiligen  Bischof  Sanct  Nicolaus, 
und  lässt  sich  durch  keine  Drohungen  zum  Schweigen  brin- 
gen. Maria  erhebt  oben  im  Himmel  ihre  Fürbitte  beim  Er- 
löser, wobei  sie  von  Sanct  Nicolaus  unterstützt  wird.  Jesus 
schweigt  anfangs  still,  gibt  aber  endlich  so  werthen  Bitten 
nach  und  sendet  den  Erzengel  Michael  aus,  um  Jutta  aus  der 
Hölle  zu  erlösen.  Die  Teufel  wollen  sich  zwar  ihrer  Befreiung 
widersetzen,   aber  Michael   schlägt  mit   seinem  Schwerte  den 


1  A.  a.  0.,  S.  G8. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  385 

Widerstand  zurück  und  führt  die  Sünderin  zu  den  Seligen 
hinauf,  und  die  Teufel  müssen  es,  obschon  murrend,  geschehen 
lassen. 

Der  Teufel  spielt  seine  Rolle  oft  in  Stücken,  in  denen 
man  ihn  kaum  vermuthen  sollte.  So  wird  in  dem  „Mystere" 
von  Sanct-Peter  und  Paul  der  Kaiser  Nero  nach  Eintritt 
seines  Todes  von  Teufeln  geholt.  '  Hase's  Scharfblick  ist  es 
nicht  entgangen,  dass  nach  der  ausschliesslich  kirchlichen 
Auffassung  politischer  Ereignisse,  die  in  der  Weltanschauung 
des  Mittelalters  lag,  die  Empörung  gegen  Nero  unmittelbar 
als  Folge  der  Hinrichtung  der  Apostel  angesehen  worden, 
und  wir  fügen  hinzu:  dass  aus  eben  diesem  Grunde  der 
christliche  Teufel  in  die  rein  politische  Angelegenheit  hinein- 
gemengt wurde. 

Aus  den  bisher  angeführten  dramatischen  Beispielen  dürfte 
schon  ersichtlich  sein,  dass  die  Figur  des  Teufels  nicht  immer 
als  Organ  der  göttlichen  Strafgerechtigkeit  oder  als  Repräsen- 
tant des  bösen  Princips  auftritt.  Es  vereinigt  sich  in  dem 
Wesen  des  Teufels  ein  Complex  verschiedener  Elemente,  aus 
denen  er  erwachsen  ist.  Es  ist  zunächst  das  Possenhafte, 
das  sich  an  ihm  herausgestellt,  selbst  bei  Gelegenheiten,  wo 
er,  im  bittern  Ernste  der  Nemesis  handelnd,  dem  Zuschauer 
doch  Anlass  zum  Lachen  gibt,  namentlich  durch  seine  Kurz- 
sichtigkeit, infolge  deren  er  als  dummer  Teufel  abziehen 
muss  und  Gegenstand  des  Hohnes  wird.  Als  herzlich  dumm 
erscheint  der  Teufel  auch  in  Legenden  und  Sagen.  „Der 
Zauberer  Virgilius  kommt  in  eine  Berghöhle;  ein  Teufel,  der 
drinnen  in  ein  enges  Loch  gebannt  ist,  ruft  und  bittet 
ihn  zu  befreien,  wogegen  er  ihn  in  den  geheimen  Wissen- 
schaften zu  unterrichten  verspricht.  Virgil  lüftet  das  Siegel, 
erfährt  was  er  sucht,  äussert  dann  sein  Bedenken,  dass  der 
Teufel  in  einem  so  engen  Räume  Platz  gehabt  habe;  der 
Teufel  kriecht,  um  ihn  von  der  Wahrheit  zu  überzeugen, 
wieder  hinein  und  Virgilius  verschliesst  das  Loch  aufs  neue. 
Ein  Gleiches  erzählt  eine  appenzeller  Volkssage  von  Para- 
celsus."2  Eine  Pfarrwirthin  schwört  Jesum  ab,  behält  aber 
von  der  Maria  noch  das  „M",  und  der  Teufel,   mit  dem   sie 


1  Jubmal  I,  93  fg. 

2  Schindler,  Aberglaube,  S.  33. 

Bc-skoff,    Geschichte  des  Teul'eli.    I.  25 


386  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

in  der  Welt    herumzieht,    kann   ihrer   nicht  Meister  werden.1 
Diese  Tölpelhaftigkeit,  mit  der  er  erscheint,   ist  das  Element, 
das    der   Teufel  von   den   Riesen   überkommen    hat    und   dem 
Volkshumor  zum  Anhaltspunkte  dient,  den  Teufel  zum  Träger 
des  Possenhaften  zu  machen.     Von   der  Zwergennatur   hat 
er    die   Verschlagenheit,     womit    er    die   Menschen    zu    über- 
listen droht,   er  hat   von   daher    den   Witz,    wodurch    er    zur 
lustigen  Person  wird.     Merkwürdig  ist  in  dieser  Beziehung 
„Die  Kindheit  Jesu",  ein  Schauspiel  aus  dem  14.  Jahrhundert, 
das  Mone2  aus  einer  Sanct-Galler  Papierhandschrift  mitgetheilt 
hat.     Es  kommt  darin    eine    der    ersten   Spuren  der  lustigen 
Person  vor,    die   aber    hier    teufelhaft  ist.     In    der    siebenten 
Scene  meldet  der  Schalk  dem  Herodes  die  Ankunft  der  Drei 
Könige   mit    aufreizenden   Seitenbemerkungen,    womit    er   ihn 
über  sein  schwaches  Königthum  verhöhnt,    das   ihm  ein  neu- 
geborenes Kind  entreissen  könne,  worüber  Herodes  den  Boten 
verwünscht  und  todtschlagen  will,   daher  sich   dieser   zurück- 
zieht.   Als  er  wieder  auftritt,  begleitet  er  seine  Meldung:  dass 
die  Drei  Könige  nicht  mehr  zurückkommen  werden,  abermals 
mit  höhnischen  Glossen  und  spottet  selbst   der  Drohung  mit 
dem  Galgen.     Das  Teufelhafte  dieser  Figur  liegt  in  der  Ten- 
denz,   das  Erlösungswerk  durch  den  Kindermord,   wozu   der 
Schalk   den  Herodes  anreizen  will,    zu  hintertreiben.     In   der 
Figur    des  Schalks    ist    das  Teuflische    und    das  Possenhafte 
noch  in  Einheit  verbunden,    das   sich  später  voneinander  los- 
löst und  letzteres  als  selbständige  Figur,  vom  15.  Jahrhundert 
an   als  Narr   auf  der   Bühne   ständig   wird.     Aus    der  Figur 
des  Teufels  als  Lustigmacher  entwickelte  sich  der  Narr, 
aus  dem  der  deutsche  Hanswurst  hervorging,  der  die  Bühne 
so  lange  beherrschte.     Die  Wandlung  des  Teufels  in  den  Nar- 
ren oder  die  lustige  Person  erfolgte  von  da  ab,  wo  das  Schau- 
spiel von   der  Kirchlichkeit  sich   zu   trennen   angefangen,    der 
Schauplatz  nicht  mehr  die  Kirche  war,  die  Darstellung  nicht 
mehr  in   den  Händen   der   Geistlichkeit   lag,    sondern    in  die 
des   Volks   gekommen   war.     Mit    der   Loslösung   des   drama- 
tischen Gegenstandes   vom  kirchlichen    kamen   volksthümliche 
Elemente  auf  der  Bühne  zur  Darstellung,  was  namentlich  vom 


1  Schindler  a.  a.  Ü.  S.  97. 

2  Schauspiele  des  Mittelalters,  I. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  387 

16.  Jahrhundert  an  stattfand.  Zwar  sehen  wir  noch  in  den 
Dramen  von  H.  Sachs  den  Teufel  mitspielen,  aber  es  ist 
ihm  das  kirchliche  Gepräge  mehr  oder  weniger  abgestreift, 
und  er  hat  nur  mehr  die  Bedeutung,  das  Komische  zum  Aus- 
druck zu  bringen. 

Es  wäre  eine  unzulängliche  Auffassung,  die  Figur  des 
dummen  Teufels  lediglich  aus  dem  Element  des  Riesenhaften, 
das  sich  ihm  angehängt  hat,  erklären  zu  wollen.  Es  ist  viel- 
mehr zu  bemerken,  dass  er  schon  seinem  Wesen  nach  an- 
gethan  ist,  das  Riesenhafte,  Tölpische  anzunehmen,  wodurch 
er  zum  dummen  Teufel  wird,  der  den  Spott  und  die  Lach- 
lust herausfordert.  Der  Teufel  trägt  nämlich  in  seinem  innersten 
Wesen  den  Widerspruch,  er  tritt  als  ledige  Negation  auf 
und  muss  ebendarum  an  der  Negation  zu  Grunde  gehen. 
Er  wirkt  als  sollicitirende  Macht  auf  das  Positive,  das  Gute, 
dessen  Verwirklichung  er  fördert  und  gegen  seinen  Willen 
fördern  muss.  Er  ist  mit  Goethe's  Wort  treffend  bezeichnet 
als  „die  Macht,  die  stets  verneint  und  doch  das  Gute  schafft". 
Diesen  Widerspruch  im  Wesen  des  Teufels  fanden  wir  schon 
bei  den  Kirchenvätern  angedeutet,  die  seine  Existenz  mit  der 
des  Guten  in  nothwendige  Verbindung  brachten,  als  Correlat 
betrachteten.  Diesen  Widerspruch  stellen  eine  Menge  von 
Legenden  dar,  in  welchen  der  Teufel  auf  Befehl  oder  durch 
die  Macht  der  Heiligen  genöthigt  ist,  in  ihrem  Sinne,  also 
gegen  sich  selbst  zu  handeln.  In  dem  früher  erwähnten 
Stücke  von  der  Frau  Jutta  tritt  der  Widerspruch  zu  Tage, 
wo  diese  für  ihr  sündhaftes  Unternehmen  mit  Höllenpein 
durch  den  Teufel  bestraft  wird.  Eigentlich  ist  dies  überall 
da  der  Fall,  wo  der  Teufel  als  Werkzeug  der  göttlichen 
Straf gerechtigkeit  handelt.  Indem  er  den  Sünder,  der  die 
Existenz  des  Guten  verletzt  hat,  straft,  negirt  er  die  Ne- 
gation des  Guten,  d.  h.  die  Sünde.  Denn  darin  beruht  der 
Begriff  der  Strafe  und  des  Strafamts,  dass  die  Negation  negirt 
wird,  wodurch  das  Positive  zu  seiner  Berechtigung  gelangt. 

Indem  der  Teufel  die  Tragweite  seiner  Handlungen  nicht 
überblickt,  wie  auch  Ahriman  die  Wirkungen  seiner  Thaten 
nicht  vorhersieht,  weil  beide  das  Moment  des  Endlichen  an 
sich  tragen,  nur  negirende  Wesen  sind;  indem  damit  im 
Zusammenhange  steht,  dass  er  die  Gedanken  des  Men- 
schen nicht   weiss,    sondern   nur  aus  Aeusserungen    errat he n 


25 


* 


383  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

kann:  liegt  es  in  seiner  Natur,  überlistet  zu  werden,  und  die 
Rolle  des  dummen,  geprellten,  daher  verhöhnten  Teufels  spielen 
zu  müssen.  Dieser  Zug,  wonach  der  Teufel  das  Innere,  also 
den  geistigen  Inhalt  des  Menschen  nicht  wissen  kann,  den 
wir  ebenfalls  schon  bei  den  Kirchenvätern  verzeichnet  finden, 
deutet  wol  auf  die  Ueberleo-enheit  des  menschlichen  Geistes 
hin,  und  damit  im  Zusammenhange  steht  das  principielle  Fest- 
halten der  Freiheit  des  menschlichen  Willens,  das  bei  der 
dogmatischen  Ausbildung  der  Vorstellung  in  den  ersten  christ- 
lichen Jahrhunderten  so  viel  Anstrengung  gekostet  hat. 

Im  vollen  Sinne  als  recht  dummer  Teufel  spielt  er  in 
dem  Schauspiele  „Christi  Auferstehung"1,  das  nach  seiner 
Endanzeige  1464  geschrieben  ist. 

Da  Lucifer  fühlt,  dass  er  die  Seelen  der  Altväter  nicht 
halten  könne,  und  dadurch  offenbar  werden  müsse,  dass  der 
Tod,  den  er  durch  die  Sünde  in  die  Welt  gebracht,  die  gött- 
liche Schöpfung  nicht  zu  zerstören  vermöge,  beruft  er  sein 
Höllengesindel  in  die  Vorhölle,  um  diese  gegen  den  bevor- 
stehenden Angriff  durch  Jesum  zu  vertheidigen.  Dabei  erfährt 
Lucifer  von  Satan  die  Kreuzigung  Christi.  Satan  zeigt  sich 
hierbei  sogleich  als  dummer  Teufel,  denn  er  rühmt  sich,  Jesu 
Tödtung;  darum  veranlasst  zu  haben,  weil  er  sich  für  den 
Sohn  Gottes  ausgab.  Er  freut  sich,  dass  die  Seele  des  Judas 
gewonnen,  dass  Christus  bereits  todt  sei,  kann  aber  der  Frage 
Lucifer's:  wo  er  die  Seele  Christi  habe,  nur  ausweichend  be- 
gegnen. Satan  muss  ferner  eingestehen,  dass  Christus  derselbe 
sei,  der  den  Lazarus  erweckt  hat,  wodurch  dem  Lucifer  die 
Göttlichkeit  Christi  klar  wird.  Der  dumme  Satan  will  Jo- 
hannes den  Täufer  in  der  Hölle  zurückhalten,  und  begeht 
diesen  Misgriff,  da  er  nicht  glaubt,  dass  ein  Mann  in  so 
rauhem  Kleide  ein  Heiliger  sein  könne.  Puck  macht  daher 
mit  teuflischem  Hohne  dem  Lucifer  seine  Ohnmacht  zum  Vor- 
wurfe, und  dieser  muss  seine  Blamage  eingestehen,  dass  ihm 
die  Erlösung  ein  Geheimniss  gewesen,  dass  er  die  Geburt 
Jesu  von  einer  Jungfrau  ausser  Acht  gelassen,  und  die  Folge 
davon  ist:  dass  die  Seelen  der  Altväter  für  das  Teufelsreich 
verloren  gehen. 


1  Mone,  Schauspiele  des  Mittelalters,  Nr.  12. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  389 

Der  zweite  Theil  des  Schauspiels  ist  eigentlich  das  Teu- 
fels spiel,  womit  den  Teufeln  bewiesen  wird,  dass  sie  gegen 
Gott  nichts  vermögen,  die  Weltordnung  nicht  zerstören  kön- 
nen. Das  Erlösungswerk  ist  vollbracht,  Christus  ist  siegreich 
aus"  dem  Grabe  hervorgegangen,  und  hat  die  längst  verstor- 
benen Altväter  in  das  Himmelreich  geführt.  Lucifer  sitzt  mit 
Ketten  gebunden  in  einem  Fasse,  denn  durch  die  Erlösung 
ist  seine  Gewalt  beschränkt.  Hierbei  ist  der  satirische  Zug 
schon  von  Mone  l  bemerkt  worden,  dass  dem  Fass  der  Boden 
ausgeschlagen,  also  der  Wein  ausgelaufen,  d.  h.  die  Seelen 
aus  der  Vorhölle  entronnen  sind.  Lucifer  zeigt  in  einem  Mo- 
nologe die  grösste  Verzweiflung,  dass  er  die  Göttlichkeit 
Christi  anerkennen  müsse,  dass  durch  diesen  die  Vorhölle  zer- 
stört werde,  was  die  Wegführung  der  Seelen  der  Altväter 
beweist.  Die  Vorstellung,  dass  nun  durch  die  Erlösung  alle 
Menschen  zur  Seligkeit  berufen,  aus  welcher  die  gefallenen 
Engel  herausgestossen  sind,  macht  Lucifer  rasend;  er  jam- 
mert  um  die  verlorene  Seligkeit  und  leidet  von  dem  Hasse 
und  Neide  gegen  die  Menschen,  von  dem  er  erfüllt  ist.  Denn 
der  Mensch,  den  der  Teufel  vernichten  wollte,  kann  nun  durch 
die  göttliche  Barmherzigkeit  zur  Seligkeit  eingehen,  von  wel- 
cher der  Teufel  ausgeschlossen  bleibt,  der  schwache  Mensch 
ist  erlöst  und  der  Teufel  auf  ewig  verloren.  Satan,  der  die 
rechte  Hand  Lucifer's  ist,  spielt  auch  in  dieser  Abtheilung 
den  dummen  Teufel,  der  schon  bei  dem  Auftrage  von  seinem 
Herrn  die  Bemerkung  macht,  dem  Lucifer  müsse  jede  Seele 
recht  sein,  welche  die  Teufel  zur  Hölle  brächten,  wodurch  er 
diesen  ärgert,  von  ihm  ausgescholten  wird.  Nach  einer  Ermah- 
nung Satans  zur  Klugheit  zerstreuen  sich  die  Teufel,  um 
Seelen  als  Beute  zu  bringen;  allein  kaum  sind  sie  fort,  ruft 
sie  Lucifer  wieder  zurück,  sie  hören  aber  nicht,  so  dass  er 
über  Kopfweh  von  lauter  Rufen  klagt.  Endlich  kommt  Satan 
zurück,  um  zu  fragen,  was  Lucifer  wolle;  dieser  weiss  es 
selbst  nicht  mehr,  und  jener  macht  ihm  Vorwürfe,  dass  er 
nun  um  seine  Beute  gekommen  sei.  Auch  die  andern  Teufel 
sind  durch  den  Rückruf  gehindert  worden  einen  Fang  zu 
machen.  Der  Teufel  Funckeldune,  der  später  ohne  Beute 
zurückkommt,    entschuldigt    sich,    dass   er  vor  Zorn  darüber, 


S.  19. 


390  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

niemand  erhaschen  zu  können,  eingeschlafen  sei,  worüber  er 
von  Lucifer  derb  ausgescholten  wird.  Satan,  der  inzwischen 
wieder  abgegangen  war  und  am  längsten  ausbleibt,  erregt  Lu- 
eifer's  Besorgniss,  da  Satan  doch  immer  der  schlaueste  sei. 
Sollte  er  von  der  Gicht  überfallen  worden  sein  oder  von  der 
Sucht?  Lucifer  wünscht,  dass  er  ihn  das  Wasser  besehen 
lassen  könnte.  Sollte  er  vielleicht  gar  todtgeschlagen  worden 
sein?  Endlich  kommt  Satan  und  bringt  einen.  Geistlichen, 
den  er  während  des  Brevierlesens  am  Seile  weggeführt 
(Andeutung:  weltliche  Gedanken  bei  der  Andacht,  das  ist 
das  Seil).  Der  Geistliche,  der  anfangs  den  Verführer  nicht 
erkannt,  will  nun,  nachdem  er  den  Teufel  erkennt,  sich 
retten,  aber  er  wird  von  Satan  vor  Lucifer  gezogen,  wo  ihm 
Satan  seine  Sünden  vorwirft  und  Lucifer  ihn  verhöhnt:  dass 
die  Pfaffen  nun  selbst  in  die  Hölle  kämen,  die  doch  andere 
Menschen  zur  Seligkeit  führen  sollten.  Aber  die  Nähe  des 
Geistlichen  ist  dem  Lucifer  doch  unheimlich,  was  jener  ab- 
merkt und  Muth  bekommt,  den  Kampf  mit  dem  Teufel  zu 
wagen,  dem  schon  von  den  schlichten  Worten  des  Geistlichen 
die  Haare  versengt  werden,  und  der  fürchtet,  er  müsste  mit 
all  seinen  Teufeln  die  Hölle  verlassen,  wenn  der  Pfaffe  darin 
wäre.  Der  Geistliche  pocht  nun  auf  seine  Schulweisheit,  und 
Lucifer  befiehlt  dem  Satan,  ihn  gehen  zu  lassen,  denn  er 
mache  ihm  heiss.  Voll  Verdruss  lässt  Satan  den  Geistlichen 
gehen,  der  ihn  verflucht  und  ihm  andeutet:  man  müsse  mehr 
Macht  haben,  um  einen  Geistlichen  in  die  Hölle  zu  bringen. 
Satan  empfindet  die  Macht  des  Exorcismus  und  klagt,  dass 
ihn  derselbe  Geistliche  auch  aus  einer  Besessenen  vertrieben 
habe.  Das  geschehe  ihm  aber  recht,  meint  Lucifer,  denn  er 
hätte  den  Geistlichen  in  Ruhe  lassen  sollen.  Damit  bleibt 
Satan  dem  Bannflüche  des  Geistlichen  überlassen,  und  so  ist 
Satans  gerühmte  Klugheit  zu  Schanden  geworden.  Zum 
Schlüsse  besteigt  der  Redner  das  von  Lucifer  verlassene 
Fass,  ermahnt  die  Zuschauer  zu  einem  frommen  Leben  und 
stimmt  das  Osterlied  an:   „Christus  ist  erstanden!" 

„Das  Spil  fan  der  Upstandinge"  l  behandelt  denselben  Ge- 
genstand.    In   diesem  Drama  kommen  folgende  zwölf  Teufel 


1  Ged.  1464,  herausgeg.  v.  Ludw.  Ettmüller,  Bibl.  d.  ges.  deutschen 
Nationalliteratur,  31.  Bd. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  391 

vor:  Lucifer  als  der  oberste,  ihm  zunächst  stehend  Satanas, 
ferner  Noytor,  Puk,  Astarot,  Lepel,  Tuleville,  Beelsebuk, 
Krummnase,  Belial,  Likketappe,  Funkeldune. 

Es  lohnt  vielleicht,  den  Inhalt  vorzuführen,  da,  ausser 
der  Zeitanschauung,  die  sich  darin  abspiegelt,  die  Freiheit 
der  Behandlung  bemerkenswerth  ist. 

Jesus  ist  aus  dem  Grabe  auferstanden,  und  nachdem  er 
Resurrexi  gesungen,  kündet  er  seinen  Entschluss  an,  in  die 
Hölle  zu  fahren,  um  Adam  und  Eva  und  alle  seine  Lieben 
aus  Lucifer's  Gewalt  zu  befreien.  Hierauf  wird  die  Vorhölle 
dargestellt,  wo  Adam,  Abel,  Jesaias  und  Simeon  sich  über 
ihre  Befreiung  besprechen.  Johannes  der  Täufer  kommt  mit 
der  Ankündigung  der  nahen  Gegenwart  Jesu,  worüber  grosse 
Freude.  Lucifer  tritt  auf  und  ruft  seine  höllischen  Gesellen 
zu  sich,  worauf  Satan,  Noytor  und  Puk  erscheinen.  Satan, 
gefragt,  wo  er  gewesen  sei,  erzählt,  dass  er  einen  Mann  zum 
Tode  gebracht,  der  sich  für  Gott  und  Gottes  Sohn  erklärt 
habe.  Lucifer,  der  Zeichen  wahrgenommen,  die  ihn  ängstlich 
machen,  tadelt  ihn  wegen  seiner  Voreiligkeit,  da  Gott  nicht 
sterben  könne,  ihm  aber  nun  seine  Hölle  zerbrechen  werde. 
Satan  bezeugt:  er  habe  den  Mann  am  Kreuze  gesehen  sowie 
seinen  Todeskampf  wahrgenommen.  Die  Seele,  nach  welcher 
Lucifer  fragt,  habe  er  freilich  nicht,  und  als  er  bejaht,  es  sei 
derselbe,  der  den  Lazarus  erweckt,  geräth  Lucifer  in  grossen 
Schrecken  und  verbietet  die  Seele  nach  der  Hölle  zu  bringen, 
aus  Furcht  vor  unverbesserlichem  Schaden.  Lucifer  wird 
noch  ängstlicher,  als  er  durch  Noytor  hört,  die  Seelen  in  der 
Vorhalle  seien  über  ihre  nahe  Befreiung  in  grosser  Freude, 
und  Puk  verkündet,  Johannes  der  Täufer  habe  die  Verkün- 
diffunor  der  Erlösung  überbracht.  Der  Beschluss,  die  Hölle 
fest  zu  verschliessen,  wird  gefasst  und  ausgeführt.  Jesus  naht 
sich  den  Thoren  der  Hölle,  Gabriel  verlangt  Einlass  für  den 
Heiland,  Lucifer  sucht  Ausflüchte,  um  nicht  öffnen  zu  müssen; 
Jesus  aber  zerbricht  die  Pforten,  und  nachdem  er  eingetreten, 
bindet  er  den  Lucifer  mit  einer  Kette,  und  heisst  Adam,  Eva 
und  die  andern  Seelen  ihm  aus  der  Hölle  zu  folgen.  Beim  Abzüge 
ergreifen  die  Teufel  Satan  und  Tuleville  Johannes  den  Täufer 
und  wollen  ihn,  weil  er  ein  so  rauhes  Kleid  trägt,  nicht  mit 
abziehen  lassen.  Sie  können  ihn  aber  nicht  halten,  worüber 
Lucifer  von  Puk  geschimpft  wird.    Dieser  klagt  über  die  ihm 


392  Erster  Abschnitt:   Der  religiöse  Dualismus. 

angethane  Gewalt,  tröstet  sich  und  seine  Gesellen  damit,  dass 
sie  künftig  besser  zusehen  wollen. 

Im  zweiten  Theile,  dem  eigentlichen  Teufelsspiele,  bringen 
die  Teufel  den  gefesselten  Lucifer  aus  der  Hölle  heraus  und 
setzen  ihn  in  ein  Fass.  Dieser  fordert  seine  Genossen  in 
einer  langen  Rede  auf,  dass  sie  die  ausgeleerte  Hölle,  wieder 
zu  füllen  trachten;  sie  sollen  sich  auf  die  Erde  begeben,  um 
die  Menschen  zum  Bösen  zu  verführen.  Satan,  als  der  klügste, 
soll  die  andern  belehren,  wie  man  einen  Höllenbraten  bekomme. 
Satan  will  genauer  wissen,  was  für  Leute  sie  bringen  sollen, 
worüber  Lucifer  in  Zorn  geräth,  da  er  eine  Zögerung  darin 
sieht,  gibt  indess  doch  eine  genauere  Anweisung,  worauf  sie 
sich  forttrollen  müssen.  Lucifer,  allein  zurückgeblieben,  be- 
kommt Langeweile,  er  schreit  daher  gewaltig  nach  seinen 
Getreuen  und  ruft  sie  herbei.  Er  muss  lange  warten;  endlich 
kommt  Satan,  den  er  mit  grosser  Zärtlichkeit  empfängt;  dieser 
erzählt  nun,  dass  er  die  Seele  eines  Wucherers  beinahe  er- 
wischt, wenn  ihn  Lucifer  nicht  zur  Unzeit  zurückgerufen 
hätte.  Er  wird  von  Lucifer  belobt,  die  andern  aber  geschol- 
ten, weil  sie  nicht  zurückgekommen  seien.  Satan  sucht  sie 
zu  entschuldigen,  und  als  Lucifer  erklärt,  nicht  mehr  zu  zür- 
nen, geht  Satan  fort,  es  ihnen  zu  melden.  Lucifer  ruft  wieder 
und  sofort  erscheinen  alle;  sie  werden  mild  getadelt  und  er- 
mahnt, sich  künftig  besser  zu  halten.  Hierauf  werden  sie 
nach  Lübeck  gesandt,  wo  die  Pest  herrscht,  daher  manche 
Seele  zu  erbeuten  sei.  Sie  entfernen  sich  und  Lucifer  bleibt 
wieder  allein  zurück.  In  der  nächsten  Scene  ruft  Lucifer  nach 
seinen  Dienern ;  Puk  erscheint  mit  der  Anzeige,  dass  sogleich 
alle  mit  Beute  erscheinen  werden,  worüber  Lucifer  erfreut  ist 
und  befiehlt,  dass  ihm  die  Seelen  einzeln  vorgeführt  werden, 
um  jeder  die  Strafe  zu  dictiren.  Es  werden  nun  die  Seelen 
der  Reihe  nach  vorgeführt,  die  eines  Bäckers,  Schuhmachers, 
Schneiders,  Bierwirths,  Webers,  Bratwursters,  Krämers  und 
Räubers,  alle  bekennen  sich  schuldig  und  erhalten  die  ange- 
messene Strafe.  Nur  der  Teufel  Funkeldune  erscheint  mit 
leeren  Händen  und  wird  seiner  Trägheit  wegen  fortgejagt. 
Da  fällt  es  dem  Lucifer  ein,  dass  sein  kluger  Liebling  Satanas 
fehle.  Er  besorgt  anfänglich,  er  könne  erkrankt  sein  und 
wünscht,  dass  doch  einer  danach  lesen  möchte  (nämlich  in 
Zauberbüchern  oder   in  den  Sternen),   ob  er  daniederliege;   er 


\ 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  393 

fragt,  ob  nicht  jemand  da  sei,  der  ihm  das  Glas  besehen 
könnte.  Lucifer  äussert  die  Befürchtung,  Satan  könne  auf 
der  Seelenjagd  todtgeschlagen  worden  sein,  er  wolle  daher 
laut  nach  ihm  rufen.  Kaum  hat  Lucifer  seine  Stimme  er- 
schallen lassen,  so  hört  man,  wie  Satan  hinter  der  Scene  mit 
der  Seele  eines  Geistlichen  herumstreitet,  die  ihm  nicht  folgen 
will,  sondern  ganz  ruhig  in  ihrem  Psalter  fortliest  und  den 
drängenden  Satan  sogar  bedroht.  Lucifer  ist  ganz  obenaus 
vor  Freude,  die  Stimme  seines  geliebten  Satan  wieder  zu 
hören.  Nun  tritt  Satan  mit  dem  von  ihm  herbeigezogenen 
Geistlichen  auf,  rühmt  sich  seiner  Beute  gegen  Lucifer,  und 
dieser  ruft  dem  Geistlichen,  nachdem  ihm  Satan  alle  seine 
Sünden  vorgeworfen  hat,  höhnisch  zu:  ob  sich  Pfaffen  auch 
in  die  Hölle  ziehen  lassen?  er  hoffe,  dass  er  nicht  entwischen 
werde,  und  wenn  er  auch  noch  so  viel  Weihwasser  gesoffen 
haben  sollte.  Indess  Lucifer  kann  den  Weihrauchduft,  den 
der  Geistliche  an  sich  hat,  nicht  vertragen,  und  befiehlt  diesem, 
ein  wenig  beiseite  zu  treten,  da  er  Geistliche  in  der  Nähe 
nicht  leiden  könne.  Da  ruft  dieser:  „Was  sagst  du  da?  Du 
stehst  hier  sammt  deinem  Knechte,  und  ich  allein  euch  gegen- 
über, dennoch  graut  mir  nicht  allzu  sehr,  und  wenn  du  mich 
in  der  Hölle  haben  willst,  so  muss  ich  dir  noch  näher  gehen." 
Lucifer  bedrängt,  lässt  den  Satan  hart  an,  dass  er  einen 
Pfaffen  gebracht  habe,  der  ihm  schon  mit  schlichten  Worten 
das  Haar  versenge,  und  dem  sie,  wenn  er  in  ihren  Orden 
iäme,  die  Hölle  räumen  müssten.  Der  Geistliche  rückt  ihm 
aber  noch  näher,  indem  er  ihm  erklärt:  er  müsste  seine  Schule 
schlecht  benutzt  haben,  wenn  er  nicht  verstünde,  vor  der  Hölle 
sich  zu  bewahren,  er  habe  mit  dieser  nichts  zu  schaffen,  es 
seien  genug  Laien  da,  die  für  ihn  zur  Hölle  fahren.  Lucifer 
befiehlt  dem  Satan,  den  Geistlichen  sofort  gehen  zu  lassen, 
oder  er  würde  wie  sein  College  Funkeldune  fortgejagt  werden. 
Satan  händigt  sonach  dem  Geistlichen  sein  Psalterium  wieder 
ein  und  sagt  ihm  zu  gehen  wohin  er  wolle.  Aber  dieser 
spricht  seinen  Fluch  über  Satan  aus  und  befiehlt  ihm,  in 
einen  wilden  Sumpf  zu  fahren.  Satan  klagt,  dass  ihm  alle 
Knochen  beben,  dass  er  die  Zeit,  die  er  auf  den  Pfaffen  ver- 
wendet, lieber  hätte  verschlafen  sollen,  er  sei  von  ihm  schon 
einmal  aus  einem  alten  Weibe  vertrieben  worden,  da  habe 
ihn  jener  doch  wenigstens  im  Lande  gelassen,  aber  jetzt  solle 


394  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

er  in  einen  wilden  Sumpf  fahren.  Ob  er  da  Vogelnester  be- 
wahren werde?  Lncifer  schilt  ihn  auch  noch  dazu,  da  er  ihn. 
seinen  Herrn,  nicht  habe  hören  wollen;  er  könne  ihn  daher 
auch  nicht  beklagen,  wenn  er  in  den  Sumpf  fahren  müsse. 
Mit  höhnischen  Reden  überlässt  er  ihn  der  Gewalt  des  Geist- 
lichen und  sagt,  dass  er  sich  um  einen  andern  Höllenvogt 
umsehen  müsse,  da  Satan  ein  armer  Stümper  sei.  Den  Ueber- 
muth  Lucifer's  züchtigt  aber  der  Geistliche  mit  der  Drohung: 
wenn  Jesus  noch  einmal  kommt,  so  werde  er  ihm  seine  ganze 
Hölle  zerstören.  Lucifer  meint  aber  voll  Zuversicht:  er  hoffe, 
Jesus  sei  viel  weiser,  als  dass  er  alle  Tage  herlaufen  solle, 
und  er  wolle  immerhin  trachten,  seine  Hölle  mit  Pfaffen  und 
Laien  anzufüllen.  Aber  plötzlich  bricht  er  in  Klage  aus  über 
seinen  Hochmuth,  der  an  seinem  Unglück  schuld  sei,  er  würde 
gern  Busse  leiden.  Wenn  ein  Baum  von  der  Hölle  in  den 
Himmel  hinaufreichte  und  wäre  um  und  um  mit  Scheer- 
messern  bekleidet,  den  wollte  er  bis  zum  Jüngsten  Tage  auf- 
und  abreiten.  Da  nun  dies  nicht  möglich  ist,  wolle  er  bleiben 
was  er  ist,  und  alle  Menschen  zu  verführen  trachten.  Jetzt 
aber  wolle  er  mit  den  Seinigen  zur  Hölle  fahren,  um  sie  zu 
befestigen  gegen  eine  zweite  Ankunft  Jesu.  Schliesslich  klagt 
er  noch,  dass  er  vor  Kummer  krank  sei,  und  bittet  seine 
Knechte,  ihn  sanft  nach  der  Hölle  zu  tragen  und  ihm  ja  nicht 
wehe  zu  thun.  Die  Teufel  tragen  ihn  hierauf  unter  einem 
Spottliede  hinweg,  und  der  Nachredner  (Epilogus)  des  Stückes 
besteigt  das  Fass,  in  dem  Lucifer  zuvor  gesessen,  und  nimmt 
von  den  Zuschauern  in  geziemender  Weise  Abschied. 


Der   dumme   Teufel. 

Die  Erscheinung  des  Teufels,  wo  er  auf  der  Bühne  wie 
auch  in  Legenden  und  Sagen  als  dummer  Teufel  auftritt, 
der  bei  seinen  höllischen  Kniffen  schliesslich  doch  zu  kurz 
kommt  und  verlacht  wird,  erklärt  sich  aus  dem  Umstände, 
dass  inmitten  der  düstern,  grauenvollen  Nacht  voll  Furcht 
vor  der  Gestalt  des  Teufels,  wo  Verzagtheit  das  menschliche 
Gemüth  eingenommen  hatte,  der  Schimmer  des  Bewusstseins : 
dass  der  Mensch  aller  physischen  und  geistigen  Macht  des 
Teufels  überlegen   sei,  nicht  gänzlich   erlöschen  konnte.     Der 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  305 

Mensch  fühlte,  dass  er  über  dem  Teufel  stehe,  er  erkannte 
aber  den  Grund  noch  nicht  in  der  eigenen  Kraft,  daher  er 
wiederholt  von  Schrecken  ergriffen  werden  konnte;  ihn  leitete 
sein  Gefühl  auf  die  Gnade  Gottes  zurück,  auf  die  er  sich 
stützte,  und  als  deren  Ausfluss  er  diesen  Strahl  des  Bewußt- 
seins betrachtete.  Wie  hätte  auch  der  Mensch  das  Centrum 
einer  Schwere  in  sich  suchen  und  finden  sollen  in  einer  Zeit, 
wo  seine  ganze  Innerlichkeit  die  Form  der  Aeusserlichkeit 
angenommen,  wo  alle  Regungen  der  Innerlichkeit  eine  cen- 
trifugale  Bewegung  eingeschlagen  hatten?  Das  Gefühl  der 
menschlichen  Ueberlegenheit  sog  aus  äussern  Umständen 
seine  Nahrung  und  erstarkte  erst  allmählich  zum  Selbst- 
gefühl; das  menschliche  Gemüth  gewann  mehr  Federkräftig- 
keit,  und  der  Volkshumor  machte  sich  Luft  und  schnellte 
empor  über  die  Person  des  Teufels,  und  indem  er  diesen  als 
dummen,  gefoppten  Teufel  darstellte,  zeigte  er  seine  eigene 
Ueberlegenheit.  Das  Selbstgefühl  erwachte,  als  inmitten  des 
mittelalterlichen  Durcheinanders  feste  Krystalle  anzuschiessen 
begannen,  aus  denen  der  Strahl  eines  menschenwürdigem 
Daseins  hervorglänzte.  Es  ist  nicht  zufällig,  dass  der  Mensch 
von  der  Zeit  an  über  den  dummen  Teufel  zu  lachen  begann, 
und  dieser  mehr  zur  Belustigung  spielen  musste,  wo  die  ge- 
schichtliche Weltlage  eine  Wenduno;  zum  Bessern  zu  nehmen 
angefangen  hatte.  Diese  Wendung  ist  ungefähr  am  Ende  des 
11.  Jahrhunderts  bemerklich. 

Der  Same  der  Cultur,  den  zuerst  christliche  Mönche, 
namentlich  in  Deutschland,  ausgestreut  hatten,  indem  sie 
Wälder  ausrodeten,  Klöster  gründeten,  und  damit  die  An- 
fänge in  der  Landwirthschaft  und  in  Handwerken  unter  den 
Bewohnern  verbreiteten,  hatte  trotz  den  Unbilden  der  Zeit 
Wurzel  geschlagen.  Im  8.  und  9.  Jahrhundert  gab  es  im 
Kloster  zu  Constanz  Köche,  Walker,  Gärtner,  Schneider, 
Müller,  Degenschmiede,  Schildmacher,  Bierbrauer  und  Glas- 
brenner. *  Bischöfe  und  Fürsten  wurden  auf  ihren  Landsitzen 
und  Plätzen  von  demselben  Bedürfniss  getrieben.  Auf  den 
Meierhöfen  Karl's  des  Grossen,  deren  er  gegen  70  im  ganzen 
Lande  zerstreut  hatte,  finden  wir  Handwerker  der  verschie- 
densten Art,    die    freilich    in  jener  Zeit  noch    als  Leibeigene 


1  Rehlen,  Geschichte  der  Handwerke  und  Gewerbe  (2.  Ausg.),  S.  10. 


396  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

und  Hörige  unter  der  strengen  Aufsicht  des  Kaisers   ihr  Ge- 
werbe  trieben.     Zur  Zeit,    wo  die   deutsche  Krone   von   säch- 
sischen Kaisern    getragen  wurde    (919  — 1024),    war    mit    der 
Zunahme  der  Volksmenge  zugleich  das  Bedürfniss  nach  neuen 
Ernähruno-sweeren    erwachsen.     Es    entstanden    Städte,    darin 
wurden   die  HandAverker    rühriger,    der   Handel    fing    an    die 
ersten  Blüten  zu  treiben.    Unter  den  Kaisern  aus  dem  Jüngern 
fränkischen  Hause    (1024  — 1125)    wurde    der  Mittelstand  be- 
festigt,   der  seinen   bürgerlichen   Fleiss    entfaltete    und   damit 
zugleich  die  Verbreitung  der  Cultur  beförderte.     Den  Frieden, 
der    zur    Gesittung    und    Cultur    unbedingt    nothwendig    ist, 
durch    das  misbrauchte  Recht   der   Selbsthülfe,    die  endlosen 
Fehden    immer    gestört  wurde,    herzustellen,    ward  zuerst   in 
Frankreich  durch  das  Ansehen  der  Kirche  versucht,  die  Treuga 
Dei,  wonach  von  Mittwoch  Sonnenuntergang  bis  zum  Montag 
Sonnenaufgang  alle  Fehden   ruhen  sollten    (seit  1034),    wurde 
festgesetzt.   Der  Gottesfriede  nahm  aber  namentlich  in  Deutsch- 
land  durch  die  Anstrengungen   Heinrich's  III. ,    womit  dieser, 
wie  auch  sein  Vater,  denselben  aufrecht  zu  erhalten  suchten,  die 
Bedeutung  eines  Land-  und  Reichsfriedens.     Heinrich  III. 
(1039—1056),  fromm,  aber  tapfer  und  gerecht,  hob  das  König- 
thum  noch  einmal  empor;  es  schien,  als  sollte  seine  Macht  im 
Innern  Deutschlands  eine  feste  Grundlage  gewinnen;  die  Für- 
sten  und  Grossen  des  Reichs  mussten  sich  vor  dem   starken 
Sinne  des  Kaisers  beugen.     Die  Nachwelt  hat  das  Hauptver- 
dienst der  beiden  Salier    in   die  Festigung    des  Gottes-    oder 
Reichsfriedens    anerkennend     gesetzt,    denn     dieser    war    die 
Grundbedingung    einer    freiem    Entwicklung.       Die    Städte 
konnten  sich  heben,    die  Strassen  gewannen  mehr  Sicherheit, 
dadurch  der  Handel  mehr  Aufschwung,  der  besonders  in  den 
wohlgelegenen  Städten  am  Rhein  und  an  der  Donau  am  Aus- 
gang  des  11.  Jahrhunderts   schon   recht   ansehnlich  war;    der 
Bürger  entwickelte  eine  grössere  Betriebsamkeit,  denn  er  ver- 
mochte den  Lohn  seines  Fleisses  in  Behaglichkeit  zu  gemessen. 
Damit  ging  Hand  in  Hand  die  Regelung  der  rechtlichen  Ver- 
hältnisse innerhalb  des  Gewerbelebens.     Die  Marktordnungen 
von  Mainz,  Köln,  Dortmund  dienten  schon  im  11.  Jahrhundert 
andern  Marktplätzen   zum  Muster.     Auch  die  rechtliche  Ord- 
nung:   zwischen    Herren    und    Dienstleuten    wurde    in    diesem 
Zeitabschnitte    gefestigt,    und  Burchard  von  Worms   hat    sie 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  397 

1025  zusammengestellt.  Mit  den  Kreuzzügen  (1095)  wurde 
der  Handel  mit  entlegenen  Landen  erschlossen,  es  eröffneten 
sich  die  Wasserstrassen  der  Donau  hinab  nach  Konstanti- 
nopel und  die  Engpässe  der  Alpen  nach  Italien  zum  Mittel- 
meere; auf  fernen  Seeplätzen  wurden  kaufmännische  Nieder- 
lassungen gegründet.  Es  ist  kaum  zu  leugnen,  dass  die 
Kreuzzüge,  die  5  Millionen  Menschen  gekostet,  am  Ende 
nichts  von  dem  erreichten,  was  sie  beabsichtigten,  es  ist  aber 
auch  anerkannt,  dass  durch  sie  auf  allen  Gebieten  neue  An- 
schauungen platzgriffen,  neue  Bedürfnisse  erweckt,  und  damit 
zugleich  neue  Kräfte  in  Bewegung  gesetzt  wurden.  Es  war 
von  da  ab  ein  neuer  Geist  im  socialen  Leben  erwacht,  und 
eine  wesentliche  Veränderimg  bestand  darin,  dass  der  Grund- 
besitz seine  bisherige  Alleinherrschaft  verlor,  und  neben  ihm 
das  bewegliche  Vermögen  zur  Macht  gelangte.  Solange  der 
Besitz  auf  Grund  und  Boden  beschränkt  war,  waren  die 
Dienstleute  an  die  Herrschaft  gebunden,  glebae  adstricti;  ihr 
Lohn  bestand  in  der  Nutzniessung  eines  überlassenen  Grund- 
stücks. Mit  dem  zunehmenden  Städtewesen  entstand  die  Ent- 
schädigung durch  Geldlohn;  es  kam  hiermit  Beweglichkeit  in 
das  Volksleben,  die  Thätigkeit  durchbrach  die  Schranken  und 
errang  sich  mehr  Freiheit,  welche  der  Persönlichkeit  zugute 
kamen,  und  die  Leibeigenschaft  musste  abnehmen.  Es  er- 
wachte das  Selbstgefühl  des  Mittelstandes,  und  dieses  stei- 
gerte sich,  wo  die  aus  dem  Bedürfniss  des  Selbstschutzes 
entstandene  Genossenschaft  ihre  ursprünglich  rein  gewerbliche 
Bedeutung  zu  einer  kriegerischen  und  staatsbürgerlichen  er- 
weiterte, wenn  die  Bürgerschaft  durch  die  Noth  zu  einem 
Schutz-  und  Trutzbündniss  zusammengedrängt  ward  gegen 
die  Willkür  von  Machthabern,  wie  zu  Cambray  1076;  oder 
wenn  den  Bürgern  die  Waffen  in  die  Hände  gegeben  wurden, 
wie  von  Ludwig  IV. ;  oder  wenn  dem  Vorstande  der  Gemeinde 
die  Strafgerichtsbarkeit  bei  Verbrechen  gegen  ein  Mitglied 
der  Gemeinde  zugesichert  wurde,  wie  von  Ludwig  VII.  im 
Jahre  1144. 1  Zwar  waren  die  Handwerker  noch  nicht  überall 
Herr  ihres  Vermögens,  der  Vogt  oder  Leibherr  handhabte 
oft    das  Recht,    das  Beste    aus    ihrer  Verlassenschaft  heraus- 


1  Hüllmauu,  Städteweseu,  III,  15. 


398  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

zugreifen ;  es  lasteten  auch  noch  harte  Fronen  auf  den  Städte- 
bewohnern;  aber  die  Dienste  derselben,  die  sie  den  Kaisern 
in  den  Kämpfen  mit  den  Grossen  des  Landes  erwiesen, 
brachten  den  Städten  manchen  Gnadenbrief  ein.  So  wurden 
im  Jahre  1111  durch  Heinrich  V.  vermittels  eines  Gnaden- 
briefes alle  Bewohner  der  Stadt  Worms  von  der  Hörigkeit 
befreit.  Im  allgemeinen  gewannen  die  Städte  an  Bedeutung, 
dass  sie  immer  mehr  Freiheit  erlangten,  und  zwar  die  italie- 
nischen im  Bunde  mit  der  Kirche,  die  deutschen,  dass  sie 
für  das  Kaiserthum  gegen  das  Bischofthum  Partei  ergriffen. 
Viele  Städte  hatten  von  ihren  Grafen  das  Gemeinheitsrecht 
käuflich  erworben,  und  erlangten  dann  die  lehnsherrliche  Be- 
stätigung vom  Regenten. 

Das  erwachende  Selbstgefühl  beruhte  auch  auf  der  mate- 
riellen Basis  des  äusseren  Wohlstandes,  der,  wie  der  Geld- 
umlauf, vom  11.  Jahrhundert  an  im  Zunehmen  begriffen  war. 
Seit  dem  11.  Jahrhundert  wird  Goslar  durch  seinen  Gewürz- 
handel als  reicher  Platz  genannt;  Zürich  steht  durch  lebhafte 
Märkte  in  grossem  Rufe;  Regensburg  ist  schon  mit  Anfang 
des  11.  Jahrhunderts  als  grosse  und  reiche  Marktstadt  be- 
rühmt; in  Wien  finden  lebhafte  Märkte  statt,  namentlich 
wird  der  Verkehr  zwischen  den  nördlichen  und  südlichen 
Ländern  vermittelt;  in  Venedig  werden  seit  dem  12.  Jahr- 
hundert besonders  grosse  Märkte  gehalten;  Augsburg,  Nürn- 
berg sind  nicht  nur  ihres  Kunstfleisses  wegen,  sondern  auch 
des  einträglichen  Handels  wegen  berühmt;  in  Strasburg  und 
Ulm  legt  die  Industrie  die  Grundlage  zum  Handel;  Köln  ist 
als  grosser  Vermittelungsplatz  und  reiche  Handelsstadt,  die 
auf  eigene  Rechnung  und  mit  eigenen  Schiffen  Grosshandel 
treibt,  berühmt.  Als  grössere  Handelsplätze  sind  ausser  meh- 
rern andern  Mainz,  Magdeburg,  Quedlinburg  bekannt,  die 
schon  unter  den  salischen  Kaisern  mit  Vorrechten  ausgestattet 
wurden. 

Es  bedarf  wol  kaum  der  Vermehrung  der  Beispiele,  da 
ja  allgemein  bekannt  ist,  dass  vom  11.  Jahrhundert  an  das 
Städtewesen,  Handel,  Gewerbe  sowie  auch  Kunst  einen  Auf- 
schwung nahmen,  dass  dadurch  Wohlstand  in  den  Mittelstand 
kam;  es  ist  ebenso  bekannt,  dass  mit  diesem  auch  kostspieliger 
Verbrauch  im  häuslichen  wie  im  öffentlichen  Leben  einriss, 
dass  die  Prunksucht    sogar  Gesetze  gegen  den  Aufwand  her- 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  399 

vorrief,     die    schon    im    13.    und     14.    Jahrhundert    gegeben 
wurden. 

"Wir  haben  hier  nur  daran  erinnern  wollen,  dass  gegen 
Ausgang  des  11.  Jahrhunderts  ein  grosser  Theil  des  Volks 
von  Europa  in  AVohlstand  lebte,  dass  das  Selbstgefühl  rege 
war,  und  infolge  dessen  die  Ueberlegenheit  über  den  Teufel 
sich  dadurch  äusserte,  dass  dieser  zur  Belustigung  auf  der 
Bühne  als  armer,  geprellter,  dummer  Teufel  erscheinen 
musste. 

Der  Teufel  als  Lustigmacher, 

Der  Teufel  dient  zur  Belustigung  durch  seine  nega- 
tive Natur,  die  sich  in  seiner  Neigung  zum  Travestiren 
äussert.  Beispiele  davon  haben  Scenen  in  den  bisher  an- 
geführten Schauspielen  geliefert;  sie  zeigt  sich  in  den 
Bräuchen  am  Hexensabbat,  der  ja  selbst  im  ganzen  als 
Travestie  theils  der  alten  Volksversammlungen,  theils  des 
christlichen  Gottesdienstes  sich  zu  erkennen  gibt,  im  beson- 
deren alles  verkehrt  wird,  als :  das  Tanzen  mit  umgewendetem 
Gesicht,  dass  alles  links  geschieht,  was  gewöhnlich .  rechts  zu 
sein  pflegt  u.  dgl.  Stellt  sich  doch  eigentlich  die  ganze  Teu- 
felei als  eine  Travestie  heraus,  zunächst  des  Reichs  Christi, 
weiter  der  göttlichen  Weltordnung.  Das  Travestiren  hängt 
mit  dem  Grundwesen  des  Teufels  zusammen,  was  schon  die 
Kirchenväter  der  ersten  Jahrhunderte,  Justinus  Martyr  und 
Tertullian  andeuteten,  denen  das  Streben  des  Teufels  als 
Nachäffen  des  Göttlichen  und  er  selbst  als  Affe  Gottes  er- 
scheint. 

Aus  der  negativen  Natur  des  Teufels  erklärt  sich  auch, 
dass  er  als  witziger  Thor  auf  der  Bühne  erscheint,  welche 
Rolle  er  später  der  ständigen  Figur  des  Narren  überliess. 
Das  Wesen  des  Witzes  beruht  doch  wol  auf  Gegensätz- 
lichkeit, die  hervorgerufen  oder  in  der  Auffindung  eines  Ver- 
gleichungspunktes aufgehoben  wird.  Von  dem  damaligen  Zu- 
stande, der  derben  Sinnlichkeit,  der  ausgelassenen  Lustigkeit 
lässt  sich  erwarten,  dass  die  Spässe  und  Witze,  die  auf  der 
Bühne  vorfielen,  oft  das  Mass  bei  weitem  überschritten  und 
mit  dem  Schauplatze  in  der  Kirche  nicht  übereinstimmten. 
Innocenz  III.    erliess  daher  schon   im  Jahre  1210   ein  Verbot 


400  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

gegen  die  Schauspiele  in  der  Kirche  und  die  Theilnahme  der 
Geistlichen  daran.  Eine  Synode  von  Trier  vorn  Jahre  1225 
bestätigte  das  Verbot.  In  Spanien  untersagte  Alfons  X. 
(zwischen  1252  und  1257)  den  Geistlichen  die  Spottspiele  in 
den  Kirchen. 

Nachdem  die  Kirche  ihre  Thore  dem  Schauspiele  ver- 
sperrt hatte,  stieg  das  Volk  auf  die  Bühne,  es  rührte  sich 
der  Lebenskeim  unter  dem  Schutte  'der  Bildung  des  Alter- 
thums  und  trieb  neue  Sprossen  hervor;  die  weltliche  Bildung 
begann  ihrer  Berechtigung  sich  bewusst  zu  werden.  Damit 
ward  zugleich  mit  der  Trennung  des  Schauspiels  von  der 
Kirche  Ernst  gemacht.  Hiermit  war  aber  die  Figur  des  Teu- 
fels von  den  Bretern  keineswegs  verbannt,  er  behauptete  seine 
Existenz  das  Reformationszeitalter  hindurch  und  noch  weit 
darüber  hinaus;  bemerklich  wird  aber  eine  Wandlung  in  sei- 
ner Bedeutung  und  Stellung. 

Der  derbe  Volkshumor  tummelte  sich  durch  und  um  die 
Figur  des  Teufels  auf  der  Bühne  mit  keckem  Freimuth  herum; 
der  Teufel  ist  häufig  allegorischer  Bedeutung,  die  lustige 
Person  erscheint  schon  in  mannichfachen  Charakteren,  wie  bei 
Hans  Sachs,  wird  aber  später  zur  conventioneilen  ständigen 
Maske.  In  „Eine  Tragödi  mit  13  Personen  zu  recitiren,  die 
unglückliche  Königin  Jocaste,  vnnd  hat  fünff  actus"  ist  „Sa- 
thanas  der  Hofschmeichler"  unter  den  Personen  angeführt.1 
Dass  der  Teufel  bei  dem  nürnberger  Poeten  nicht  fehlt,  zeigen 
die  Titel  mancher  seiner  Stücke,  als :  „Der  Teufel  nahm  ein 
alt  Weib  zur  Ehe"  u.  a.  m.  Jakob  Ayrer,  bei  dem  Devrient 
einigen  Fortschritt  in  regelmässigerer  Gruppirung  wahrnimmt, 
aber  die  natürliche  Einfalt  und  Ehrbarkeit  des  Hans  Sachs 
vermisst,  nährt  die  Schaulust  durch  Greuel-  und  Bhuscenen, 
Erscheinungen  von  Riesen,  Zwergen,  feuerspeienden  Drachen 
und  Teufeln.  Der  Teufel  hat  bei  Ayrer  vornehmlich  die  Rolle 
des  Possenreissers.  In  der  „Comoedia  vom  getreuen  Ramo 
des  Soldans  von  Babylon  Sohn"  treten  drei  Teufel  als  Pro- 
logus  auf,  und  Lucifer  ermahnt  das  Publikum  folgendermassen 
zur  Ruhe: 

Ich  mein  zwar  nicht  dass  in  der  höll 
Wer  ein  solches  gethös  vnd  geschöll 


1  Gottsched,  Nöthiger  Vorrath  z.  Gesch.  d.  dram.  Dichtkunst,  S.  93. 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  401 

Als  diese  leut  anfangen; 

Bin  schier  mit  schrecken  herein  gangen 

Sollen  das  wohlgezogene  Christen  sein? 

Man  muss  wol  der  Bemerkung  Devrient's l :  bei  Ayrer  sei 
der  derbe  Volkshumor  in  gemeine  Unverschämtheit  ausgeartet, 
beistimmen,  wenn  man  erfährt,  dass  in  einem  der  Fastnacht- 
spiele der  Teufel  den  Leuten  mit  einem  Blasebalg  hinterrücks 
die  Schelmenstücke  einbläst,  oder  „dem  Bavr  mit  seinem  Ge- 
f'atter  Todt"  hinten  Raketen  anzündet,  weil  er  ihn  nicht  zu 
Gevatter  nehmen  will,  u.  dgl. 

Nachdem  infolge  des  wiederauflebenden  Studiums  die 
Schulkomödie,  die  in  der  Nachbildung  lateinischer  Muster 
bestand,  von  der  Volkskomödie  sich  getrennt  hatte,  nahm 
jene  unter  dem  Einflüsse  der  Zeitinteressen  einen  polemischen 
Charakter  an,  theils  gegen  die  katholische  Kirche,  theils 
lutherischerseits  gegen  die  Calvinisten  und  Anabaptisten.  In 
Beza's  „Opfer  AbrahamV  tritt  der  Satan  in  der  Mönchskutte 
auf,  und  freut  sich  über  das  Böse,  das  diese  in  der  Welt 
veranlasst  hat.2  Erwiderungen  von  der  Gegenpartei  stehen 
zu  vermuthen.  Selbst  an  den  Kämpfen  der  protestantischen 
Theologen  untereinander  wurde  dem  Teufel  thätiger  Antheil 
zugemuthet.  In  dem  Drama  zur  Feier  des  Sieges  des  witten- 
berger Lutherthums,  durch  die  Studenten  im  Jahre  1676  auf- 
geführt, musste  der  Teufel  als  Drache  mit  Hörnern,  Klauen 
und  feuerspeiend  dem  Calixtus  auf  der  Bühne  erscheinen. 

Aus  Gottsched's  „Nöthiger  Vorrath  u.  s.  w."  mögen  nur 
einige  Stücke  noch  hervorgehoben  werden:  vom  Jahre  1542  „Ein 
lustig  Gespräch  der  Teuffei  und  etlicher  Kriegsleute,  von  der 
Flucht  des  grossen  Scharrhansen  Herrn  Heinrich  von  Braun- 
schweig"; vom  Jahre  1606  „Eine  christliche  Comoedia  von 
dem  jämmerlichen  Fall  vnd  fröhlichen  Wiederbringung  des 
menschlichen  Geschlechts.  Aus  dem  h.  Bernhardo  genommen 
vnd  in  deutsche  Verse  gebracht.  Durch  M.  Georg  Mauricium 
den  Eltern".  In  diesem  Stücke  spielen  allegorische  Personen, 
Teufel,  Engel,  Menschen,  Thiere,  ja  Gott  und  Jesus  Christus 
selbst  ihre  Rolle.    Vom  Jahre  1608  „Tragödia  von  einem  vn- 


1  A.  a.  0.,  I,  156. 

2  Hase,  a.  a.  0.,  S.  103. 

Roskoff,  Geschichte  des  Teufels.   I.  26 


402  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

gerechten  Ritter.  Wie  derselbe  durch  Anstiftunge  der  Teuffei 
in  ein  vnordentlichs  wüstes  Wesen  verfürt,  darnach  aus  einem 
Laster  in  das  andere  gestürzt  und  endlich  ewig  verdammt 
worden:  den  Frommen  zum  Trost  vnd  der  Ruchlosen  wilden 
Welt  zum  schrecken  vnd  zur  Verwarnung  gestellt,  vnd  itzo 
in  Truck  geben  zu  Magdeburg  u.  s.  w."  Dieses  Stück  hat 
nicht  weniger  als  119  Personen,  die  meistens  aus  Tugenden 
und  Lastern,  zehn  Teufeln,  einem  Prädicanten,  vier  Narren 
u.  s.  w.  bestehen.  Vom  Jahre  1613  „Bona  nova  seu  deliciae 
Christi  natalitiae.  D.  i.  Weynachtfreud  vnd  gute  newe  mehre, 
von  dem  ländlich  grossen  vnd  göttlichen  Geheimniss  des 
sreoffenbarten  Sohnes  Gottes  im  Fleische  etc.  Aus  waren 
Evangelischen  Grunde  vnd  Englischem  Munde  in  fünff  actus 
comicos,  darinnen  allerley  theologische,  philosophische  vnd 
historische  vnd  astronomische  Sachen  vnterschiedlich  getractiret 
vnd  gehandelt  werden,  sampt  etlichen  lateinischen  Genethliacis 
vnd  meditationibus ,  mit  Fleisse  colligiret,  durch  Joann.  Se- 
gerum, Gryph.  Pom.,  d.  h.  Schrift  und  freyen  Künste  Studiosuni 
vnd  gekr.  keyserl.  Poeten".  Bemerkenswerth  ist  das  Kauder- 
welsch von  Latein  und  Französisch,  das  Lucifer  und  Beelze- 
bub darin  reden,  sowie  die  Vermengung  des  Heidnisch- 
Mythologischen  mit  der  christlichen  Hölle,   z.  B.: 

Lucifer    pergit. 

Nun  wolan  bistu  keck  kom  an 
Hie  soltu  findn  deinen  Gegenszman 
Ich  schwer  dirs  durch  Proserpinam 
Durch  mein  hellisch  geschlecht  vnd  Stam. 
Durch  mein  Cocyt  vnd  Phlegetont 
Durch  mein  Stygem  vnd  Acheront 
Durch  meins  vertrawten  Beelzebubs  bundt 
Durch  mein  dreykehlenden  hellhundt 
Den  Cerberum,  durch  die  Meger, 
Tisiphon,  Alecto  vnd  andre  mehr 
Durch  mein  Pech,  schwefl'l  vnd  hellisch  fewr 
Und  andre  monstra  vnd  vngehewr, 
So  du  mich  gedenkest  auszugeten 
Vnterstehst  dich  mir  den  Kopf  zu  tretten 
Inmassen  Moses  der  alte  Narr 
Verzeichnet  vor  etzlich  tausend  Jahr  u.  s.  w. 

Vom  Jahre  1645  „Johann  Klai,  gekrönten  Poetens  Engel-  und 
Drachenstreit."  Gottsched  vermuthet  aus  dem  Inhalt,  dass 
es   ein  Freudenspiel    sei.     Unter   den  Personen    sind   Lucifer, 


12.    Der  Teufel  auf  der  Bühne.  403 

Michael,  der  Drache,  Satans  Schildwache,  Lucifer's  Soldaten, 
englische  Trompeter  u.s.w.  bemerklich.  Vom  Jahre  1(352  „Kampf 
und  Sieg  oder  ganzer  Lebenslauf  eines  recht  christlichen 
Kreuzträgers,  in  cliss  Theatral-  Poetisch  -Musikalische  Werk 
gesetzt  durch  George  Webern.  Hamburg."  Nur  eine  kleine 
Probe  daraus.  In  der  7.  Scene,  wo  die  Gottesfurcht  betet, 
singt  sie  zuerst: 

Ich  danke  dir  mein  Gott,  dass  du  aus  lauter  Gnaden 

Mich  armen  diesen  Tag  behütet  hast  für  Schaden 

Durch  deinen  Geist  und  Wort  erhalten  und  ernährt, 

Auch  Noth  dürft  auf  den  Leib  mir  bis  hieher  bescheert,  u.  s.  w. 

Nun  kommen  die  Teufel  und  machen  ein  Geschrei: 

Ho  holla  Druder  hieher! 

Denselben  Weg  geh  nicht,  den  andern  in  die  Qver. 

Hierauf  gibt  ihnen  zwar  die  Gottesfurcht  einiges  Gehör,  geht 
aber  gleich  wieder  in  sich  und  spricht: 

Ach  was  für  böse  Phantasey  will  mich  jetzund  verstören 
Von  meiner  Andacht  mein  Gebeth  mir  endlich  gar  verwehren. 

Die  Teufel  schreien  noch  ärger,  und  der  eine  zupft  sie  sogar, 
worüber  sie  ganz  verwirrt  wird  und  spricht: 

Ich  weiss  gewiss  nicht  wie  mir  wird, 

Die  Zunge  redet  ungefähr 

Ohn  Andacht,  aber  weit  umher 

Schweif  ich  in  dieser  Welt  verwirrt,  u.  s.  w. 

Vom  Jahre  1679  „Der  Ertz -Verleumder  und  Ehe-Teuffel  von 
Schottland,  in  ein  Trauerspiel  abgefasst  von  Joh.  Riemern". 

Es  ist  eine  merkwürdige  Erscheinung,  dass  auch  die 
Oper,  die  im  17.  Jahrhundert  selbständig  zu  werden  anfing, 
zu  den  alten  Mysterien  zurüekgriff,  wobei  denn  auch  der 
Teufel  als  singende  Person  seine  Rolle  spielte.  Devrient l 
berichtet  über  die  Eröffnung  des  Opernhauses  in  Hamburg 
im  Jahre  1678,  wo  die  Oper  auf  die  bedeutendste  Höhe  ge- 
langte, dass  bei  der  Gelegenheit  eine  Originaloper  gegeben 
wurde,  die  der  kaiserl.  gekrönte  Poet  Richter  gedichtet  und 
Kapellmeister  Theil  componirt  hatte;  sie  hiess:  „Der  erschaf- 
fene, gefallene  und  aufgerichtete  Mensch."  Die  Bühne  stellt 
im  Vorspiel  das  Chaos  dar,  die  vier  Elemente  erscheinen  und 
zertheilen  es.  In  der  ersten  Handlung  stösst  ein  in  der  Luft 
schwebender  Engel   den  Lucifer    und    seine  Mitteufel    in   den 

1   I,  273. 


404  Erster  Abschnitt:    Der  religiöse  Dualismus. 

Abgrund,  Gott  Vater  schwebt  mit  der  grossen  „machina"  im 
.Chor  der  Elidel  nieder  und  beginnt  den  Adam  zu  schaffen. 
„Leider",  bemerkt  hierbei  Devrient,  „hat  der  Dichter  nicht 
angegeben,  wie  der  Darsteller  dies  anzufangen  habe.'4  Adam 
tritt  auf  und  singt,  darauf  Gott  der  Herr.  Lucifcr  ruft  in 
der  nächsten  Scene  seine  Teufel  zusammen,  die  sich  mit  mo- 
derner Artigkeit  „Monsieur"  tituliren.  Er  sendet  Sodin,  den 
Teufel  der  Heimlichkeiten,  in  Schlangengestalt  auf  die  Erde,  um 
die  Eva  zu  verführen;  diese  empfiehlt  dem  zaghaften  Adam 
die  verbotene  Frucht  in  folgendem  Duett: 

Eva. 

Iss  nur  mein  Herzchen,  sie  schadet  dir  nicht, 
Iss  nui",  sie  stärket  das  blöde  Gesicht, 
Glaube,   sie  wird  uns  noch  geben 
Ein  himmlisches  Leben. 

Adam   (nachdem  er  gekostet). 

Der  Schmack  ist  gut,  und  mein,  wer  brachte 
Mein  Kind  dazu,  dass  sie  sich  machte 
An  diesen  edlen  Baum? 

Eva. 
Die  Schlange. 

Adam. 
Ach  ach,  mir  wird  so  bange!  u.  s.  f. 

Ungeachtet  es  schon  eine  heilige,  geschichtliche,  mytho- 
logische, heroische  und  komische  Oper  gab,  blieb  die  Behand- 
lung der  heiligen  Geschichte  noch  immer  eine  äusserst  un- 
gelenke und  unbeholfene,  und  erinnert  an  die  ersten  Mysterien- 
aufführungen. Als  Beispiel  genügt  die  Oper  des  am  säch- 
sischen Hofe  sehr  beliebten  Dedekind:  „Der  sterbende  Jesus", 
wo  die  Kreuzigung  darin  mit  der  alten  bekannten  Umständ- 
lichkeit vorgenommen  wird.  Als  Judas  sich  erhenkt,  singt 
Satan  das  Echo  seiner  letzten  Worte,  und  als  er  endlich,  am 
Stricke  hängend,  gar  zerplatzt  ist,  rafft  Satan  seine  Einge- 
weide in  einen  Korb  zusammen  und  singt  eine  Arie  dazu. ' 

1  Devrient,  I,  277. 


Druck  von  F.  A.  Brockhaus  in  Leipzig. 


Berichtigungen. 


Seite     4,  Zeile  4  v.  u.,  statt:  oder,  lies:  und 

»      16,      »  1  v.  o.,  st.:  Ganze,  1.:   Ganzes 

»      27,      »  2  v.  o.,  st.:  Wesen,  1. :  Wesens 

»      41,      »  6  v.  u.,  st.:  Zauberei,  1. :  Zauberer 

»      67,  Note  1,  st.:  Scherz,  1. :  Scherr 

»      74,  Zeile  18  v.  u.,  st.:  Ouible,  1.:  Ombte 

»  118,      »  12  v.  o.,  st.:  des  Todes,  1. :  Todes, 

»  120,      »  11   v.  o.,  st.:  dass  einige  Götter,  1. :  einigen  Göttern 

»  120,      »  12  v.  o.,   st.:  zu   den  Dämonen,   1.:  die    zu  Dämonen 

»  129,  Note  1,  st.:  Antq.,  1. :  Antiqu. 

i)  160,  Zeile  16  v.  u.,  st.:  n,  1.:  in 

»  164,      »  17  v.  o.,  st.:  weil,  1. :  dass 

»  184,      »         2  v.  u.,  st.:  Valke,  1.:  Vatke 

»  191,  Note  2,  st.:  Stendel,  1.-.   Steudel 

»  297,  Seite  1 1  v.  u.,  st.:  Drachens,   1. :  Drachen 

»  355,      »  2  v.  o.,  st.:  naturalissum,  1. :  naturalissimum 

»  378,      »         3  v.  o.,  st. :  könne,  1. :  kann 

»  388,      »  16  v.  u.,  st.:  weil,  1.:  dass 


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