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Full text of "Geschichte Russlands unter Kaiser Nikolaus I."

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GESCHICHTE  ßUSSLANDS 


UNTER  KAISER  NIKOLAUS  I. 


VON 


THEODOR  SCfflEMANN. 


BAND  II. 

VOM  TODE  ALEXANDER  I.  BIS  ZUR 
JULI-REVOLUTION. 


BERLIN 

DRUCK  UNI»  VERLACi  VON  GEORG  REIMKP 

1  Hoa. 


VOM  TODE  ALEXANDER  I. 


BIS  ZUR  JULI-REVOLÜTION 


VON 


THEODOR  SCHIEMANN. 


BERLIN. 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  GEORG  REIMER. 

1908. 


Inhalt. 


Vorwort 

Kapitel  I.     Das  Interregnum 1 — 35 

YerfuguDgen  Alexanders  vor  seiner  Reise  nach  Taganrog  1.  Der  Reichsrat 
und  die  Mitglieder  des  Kaiserhauses  2.  Miloradowitsch  4.  Die  Nachricht  von 
Erkrankung  und  Tod  des  Kaisers  7.  Die  erste  Entscheidung  über  die  Nachfolge 
14.  Verhalten  des  Reichsrats  15.  des  Großfürsten  Nikolaus  18.  Moskaus  20. 
Großfürst  Constantin  22.  Der  sogenannte  Großmutsstreit  24.  Die  zweite  Ent- 
scheidung 30.  Kaiser  Nikolaus  I.  34. 

Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung 

der  Revolution 35—  85 

Verhalten  der  Verschworenen  36.  Der  Plan  des  Aufstandes  39.  Rostow- 
zew  41.  Der  Morgen  des  14.  Dezember  43.  Miloradowitschs  Ausgang  46. 
Nikolai  Tor  dem  Senatsplatz  48.  Jacubowitsch  und  Bulatow  49.  Kritische 
Stunden  51.  Beginn  des  Kampfes  und  Niederlage  der  Meuterer  54.  Erste 
Verhaftungen  und  die  Verhöre  57.  Die  moskauer  Verschworenen  60.  Pestel 
und  der  Südbund  62.  Ssergej  Murawjew  64.  Die  Verdächtigen  71*  Verfahren 
der  Untersuchungskommission  72.  Das  Oberkriminalgericht  75.  und  das 
Urteil  81.    Geistesrichtunsr  der  Dekabristen  84. 


Kapitel  III.  Reformgedanken  und  Reformanläufe  .  .  .  85 — 109 
Reformgedanken  der  Dekabristen  81.  Borowkows  Denkschrift  86.  Uni- 
formierung der  Beamten  und  der  Zuglinge  in  Schule  und  Universität  91. 
Kontrolle  nnd  Einschränkung  der  ßildungsanstalten  92.  Zensur  93.  Benken- 
dorfTs  Polizeiprojekt  96.  Die  dritte  Abteilung  der  höchsteigenen  Kanzlei  97. 
Die  Kommission  vom  6.  Dezember  1826  100.  Die  vollständige  Sammlung 
russischer  Gesetze  105.     Neuuniformierung  der  Truppen  106. 

Kapitel  IV.   Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.   Die 

orientalische  Frage 109 — 154 

Das  Ausland  und  der  Großmutsstreit  109.  Graf  ßombelles  in  War- 
schau 112.  Der  Kaiser  und  die  fremden  Diplomaten  114.  Graf  La  Ferron- 
nays  115.  Verstimmung  der  Petersburger  Gesellschaft  120.  Der  Leichenzug 
Alexanders  I.  123.  Tod  der  Kaiserin  Elisabeth  125.  Wellington  in  Petersburg 
126.  Das  Protokoll  vom  4.  April  137.   Die  Verhandlungen  von  Akkerman  140* 


181050 


VI  Inhalt. 

Polnische  Angelegenheiten  143.  Menschikows  Sendung  nach  Persien  Hf). 
Hinrichtung  der  Dekabristen  und  Reise  des  Kaisers  nach  Moskau  147.  Die 
Krönung  149. 

Kapitel  V.     Der  Perserkrieg 154 — 17s 

Der  Friede  von  Gulistan  154.  General  Jermolow  155.  Scheitern  der 
MissioD  Menscbikow,  Beginn  des  Krieges  157.  Paskiewitscb  158.  Die  Schlacht 
bei  Jelissawetpol  159.  Paskiewitschs  Abschiedsgesuch  160.  Diebitsch  in 
Tiflis  163.  Verabschiedung  Jermolows  165.  Der  Feldzug  Paskiewitschs  160. 
Einnahme  von  Eriwan  172.  Weite  Pläne  174.  Der  Friede  von  Turkmau- 
tschai  176. 

Kapitel  VI.  Vorstadien  des  Turkenkrieges.  Navarino  .  178 — 20H 
Tätigkeitsdrang  des  Kaisers  179.  Neuorganisation  des  Marineministeriums 
\/  183.  Die  neue  Flotte  186.  Die  Tripelalli&ns  vom  6.  Juli  1827  187.  Capo 
d'Istria  in  Petersburg  192.  Tod  Cannings  195.  Auslaufen  des  russischen  Ge- 
schwaders 196.  Godrington  und  Ibrahim  198.  Vereinigung  der  russischen 
Flotte  mit  der  englischen  200.     Navarino  202. 

Kapitel  VII.  Von  Navarino  bis  zum  Ausbrach  des  Krieges  206 — 240 
Cannings  Politik  207.  Der  Kaiser  209.  Beziehungen  zu  Österreich  211. 
zum  Großfürsten  Constantin  212.  In  Erwartung  des  Krieges  213.  Sultan 
Mahmud  und  die  Protokollmächte  215.  Abreise  der  Botschafter  218.  Die 
Kundgebung  an  die  Ayans  219.  Haltung  Englands  222.  Die  Kriegsmacht 
der  Türkei  223.  Der  russische  Feldzugsplan  224.  General  Diebitsch  und 
Prinz  Eugen  von  Württemberg  224.  Wittgenstein  226.  Der  Kaiser  227.  Die 
«russische*'  und  die  „deutsche*'  Partei  228.  Die  diplomatische  Kampagne  230. 
Kriegserklärung  an  die  Pforte  231.  Illusionen  des  Kaisers  233.  Die  Vorbe- 
reitungen zum  Kriege  235.  Tod  der  Fürstin  Charlotte  Lieven  und  des  Grafen 
Lambsdorff  239.    Aufbruch  zum  Kriege  240. 

Kapitel  VIII.  Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828  .  240— 28S 
Die  Donaufürsteutümer  241.  Der  Kaiser  auf  dem  Kriegsschauplatz  243. 
Brailow  245.  Das  Urteil  des  Warschauer  Hochverratsgerichts  246.  Der  Cber- 
gang  über  die  Donau  bei  Satunovo  247.  Kapitulation  von  Isaktschi  und 
Brailow  248.  Anapa  250.  Der  Marsch  auf  Vama  250.  Constantin  verweigert 
Hilfe  252.  Änderung  der  Dispositionen,  Marsch  auf  Scbumla  253.  Erste  Er- 
folge 254.  Der  Ritt  des  Kaisers  nach  Varna  255.  Odessa  256.  Haltung 
der  Mächte  257.  Silistria  259.  Der  Cberfall  am  26.  September  262.  Be- 
drängnis Varnas  264.  Eintreffen  des  Kaisers  265.  Die  Niederlage  der  Garde- 
jagcr  266.  Prinz  Eugens  Niederlage  268.  Omer  Vriones  Versäumnisse  261». 
Der  Verrat  Jussuf  Paschas  270.  Fall  von  Vama  271.  Aufhebung  der  Be- 
lagerung von  Silistria  272.     Abmarsch  der  Russen  273.    Winterquartiere  275. 

Der  Feldzug  Paskiewitschs  in  Asien. 

Kriegsschauplatz  277.  Einnahme  von  Kars  279.  Kios  Pascha  in  Hassau 
Kaleh  280.  Die  Schlacht  vor  Achalzych  281.  Einnahme  der  Festung,  Fall 
von  Bajazet,  Diadin  nnd  Topra-Kale  282. 


Inhalt.  VII 

Kapitel  IX.  Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  283 — 337 
Rückkehr  Nikolais  nach  Petersburg  283.  Der  Tod  Maria  Feodorownas  284. 
Feldiugspläne  288.  Beratung  im  Komitee  289.  Wassiltschikows  Denkschrift  290. 
Der  neue  Feldzugsplan  Diebitscbs  292.  Seine  Ernennung  zum  Oberkomman- 
dierenden 293.  Der  dritte  Feldzugsplan  Diebitschs  293.  Toll,  Wittgenstein, 
Diebitscb  294.  Der  diplomatische  Feldzug  seit  Herbst  1828  295.  Die  ent- 
scheidenden Konferenzbeschlusse  299.  Polnische  Schwierigkeiten  300.  Der 
Spruch  des  Warschauer  „hohen  Gerichts*  302.  Der  Kaiser  bestätigt  das  Urteil 
nicht  303,  Die  Entscheidung  vom  7.  März  1829  304.  Die  Kronungsfrage  305. 
Kaiser  und  Großfürst  307.  Die  Nachrichten  vom  Kriegsschauplatz  308.  Gri- 
bojedows  Ermordung  310.  Politische  Wünsche  und  Sorgen  311.  Der  Kaiser 
in  Warschau  312.  Eindruck  der  Kronungsfeierlichkeiten  313.  Weitere  Nach- 
richten vom  Kriegsschauplatz  314.  Aufbruch  Nikolais  nach  Berlin  316.  Die 
Mission  Müfflings  318.  Rückkehr  nach  Warschau  319.  Nachricht  von  der 
Schlacht  bei  Kulewtscha  320.  Der  Fall  von  Silistria  327.  Die  Dispositionen 
zum  Obergang  über  den  Balkan  328.  Der  Feldzug  in  Asien  329.  Entsatz  von 
Achalzych  331.  Niederlage  des  Seraskiers  332.  Vernichtung  der  türkischen 
Feldarmee  bei  Kain-Li  und  Millehdasu  336.     Kapitulation  von   Erzerum  337. 

Kapitel  X.     Der  Übergang   über    den   Balkan  und  der 

Friede  von  Adrianopel 338 — 379 

Staff  von  Reitzensteiu  und  Diebitschs  großer  Plan  338.  Der  Kaiser  in 
Südnißland  339.  Die  Operationen  am  Kamtschyk  341.  Der  Überganjr  über 
den  Balkan  343.  Kapitulation  von  Misivri,  Achiolo,  ßurgas  343.  Ibraiiim 
Pascha  vor  Aidos  344.  Weitere  Erfolge  von  Diebilsch  345.  Waffenstillstands- 
verhandlungen, Marsch  auf  Sliwno  346.  Die  Russen  vor  Adrianopel  348.  Ge- 
fährliche Lage  Diebitschs  349.  Die  Botschafter  Guilleminot  und  Gordon. 
Müffling  350.  Obergabe  Adrianopels  350.  MuflTlings  Tätigkeit  351.  Chosrew 
Pascha  351.  Gährung  in  Konstantinopel  352.  Müffling,  Royer  und  der  Reis- 
Efendi  354.  Anerkennung  des  Londoner  Traktats  355.  Die  Konferenz  am 
24.  August  355.  Eintreffen  der  Bevollmächtigten  des  Sultans  in  Adrianopel  356. 
Geschickte  Haltung  Diebitschs  358.  Die  Frage  der  Kriegsentschädigungen  359. 
Der  Pascha  von  Skodra  360.  Panik  der  fremden  Botschafter  361.  Abschieds- 
audienz  von  Müffling  362.  Der  Friede  von  Adrianopel  363.  Haltung  des 
Kaisers,  die  Konferenz  am  16.  September  1829  367.  Würdigung  des  Friedens- 
schlusses 368.  Nachträgliche  Schwierigkeiten  369.  Ualils  Sendung  370.  Die 
Note  der  Pforte  vom  25.  September  371.  Der  Pascha  von  Skodra  372.  Pas- 
kiewitscbs  Sieg  bei  Beiburt  375.  Diebitsch  verläßt  Adrianopel  376.  Orlow 
und  die  Pforte  377.     Sturz  des  Keis-Efendi  378. 

Kapitel  XI.     Nach  dem  Kriege 379 — 399 

Die  öffentliche  Meinung  Rußlands  und  der  Friede  380.  Reformgedanken 
382.  Chosrew  Pascha  in  Petersburg  383.  Poliguaes  Teilungsplan  383.  Algier  384. 
Die  griechische  Frage  385.  Erkrankung  des  Kaisers.  Halil  Pascha  386.  Halils  Ab- 
scbiedsaudienz  390.   Der  Reis-Efendi  und  die  Botschafter  der  Aliierten  391.    Fest- 


VIII  Inhalt. 

Setzung  des  russischen  Einflusses  auf  der  Balkanbalbinsel  393.    Die  Donau- 
förstentumer  394.    Asiatische  Beziehungen  396.   Die  Mission  nach  China  398. 

Kapitel  XII.     Aufsteigende  Gewitter 399 — 411 

Steigende  Willkür  des  Kaisers  399.  Wiederum  die  polnische  Frage  401. 
Berufung  des  polnischen  Reichstags  404.  Gonstantin  406.  Der  Verlauf  des 
Reichstages  407.  Meuterei  in  Sewastopol  409.  Die  Cholera.  Revolution  in 
Frankreich  411. 

Anlagen. 

Rapport  sur  les  Colonies  militaires  en  Russie 415 

König  Friedrich  Wilhelm  III.  an  Kaiser  Nikolaus.     18.  I.  1826    ....  423 

Möffling  an  Diebitsch.    6.  II.  1826 424 

Erzherzog  Ferdinand  an  Kaiser  Franz.    5.  II.  1826 425 

Kaiser  Franz  an  Großfürst  Gonstantin.     19.  I.  1826 427 

Aus  einem  Briefe  G.  von  Benkendorffs.     17.  XI.  1827 427 

Lieven  an  Nesselrode.     13.  VII.  1827 429 

Laferronnays  an  Mortemart.    7.  VII.  1828 430 

Fontenay  an  Laferronnays.    29.  II.  1828 431 

Nikolaus  I.  an  Kari  X.    22.  III.  1828 435 

Kari  X.  an  Nikolaus  I.    30.  IV.  1828 437 

Aufzeichnung  Diebitschs  über  eine  Teilung  der  Türkei 439 

Schreiben  Mettemichs  an  den  Prinzen  Philipp  von  Hessen-Homburg    .    .  439 

Prinz  Eugen  an  Diebitsch  nach  der  Schlacht  bei  Kurtepe 440 

Diebitsch  an  Wittgenstein.     12.  IX.  1828 441 

Wittgenstein  an  Diebitsch.     13.  IX.  1828 441 

Diebitsch  an  Wittgenstein.     13.  IX.  1828 442 

Nicolai  an  Gonstantin.     13.  X.  1828 442 

Diebitsch  an  Wittgenstein.     13.1.1829 444 

Aufzeichnung  Tolls.     28.  XI.  1828  st.  v 445 

Supplement  zur  Haupt- Instruktion  für  Fiquelmont.     17. 1.  1829     ....  452 

Heytesbury  an  Lord  Cowley      453 

Gonstantin  an  Nicolai      5.  X.  1827 455 

Instruktion  Sultan  Mahmuds  an  den  Seraskier.    27.  III.  1828 457 

Nicolai  an  Gonstantin.    23.  IX.  1828 460 

Nicolaus  I.  an  Kari  X.    LV.  1829st.v. 461 

4  Briefe  Nicolaus  L  an  Friedrich  Wilhelm  IIL     4.  IV.  — 19.  VIL  1829  .    .  4G2 

Roth  an  Diebitsch.     6.  V.  1829  st.  v -404 

Konzept  der  undatierten  Instruktion  Bernstorffs  für  Müffling 4C5 

Fürst  Trubetzkoi  an  Diebitsch.     9.  VI.  1829  st.  v 467 

Diebitsch  an  Nesselrode.    8.  VI.  1829  st.  v 468 

Der  Marsch  gen  Schumla-Kulewtscha 469 

Die  Mission  des  Major  von  Staff  gen.  v.  Reitzenstein.    IV.— VII.  1829    .  480 

Die  Truppen  der  aktiven  Armee  am  14.  VIL  1829 494 

Diebitsch  an  Nesselrode.    Memorandum.     15.  VIIF.  1829  st.  v 503 


Inhalt.  IX 

Antwort  Diebitschs.    23.  VIII.  1829 504 

Nikolaus  I.  an  Friedrich  Wilhelm  III.    23.  IX.  1829 505 

Auszug  aus  der  2.  Instruktion  Halil  Paschas 507 

Nesselrode:  Mission  du  Comte  OrlofT 508 

Affaire  de  la  Blonde      510 

Der  Seraskier  an  Halil  Pascha.    5.11.1830 511 

Das  Polignacsche  Teilungsprojekt.    4.  VII.  1829. 

Brief  und  Note  an  Mortemart      51 1 

Antwort  Mortemarts.    22.  XII.  1829 519 

Aus  der  Relation  Bourgoings.    30.  VII.  1830 520 


Anmerkung.  Die  p.  177  angekündigte  Anlage  ist  nicht  gedruckt 
worden,  da  das  russische  Ministerium  des  Auswärtigen  inzwischen  den  offi- 
ziellen französischen  Text  des  Friedens  von  Turkmentschai  Teröffentlicbt  hat 
Sammlung  noch  geltender  Vertr&ge  usw.    Band  I.    Petersburg  1902. 


Vorwort. 

Der  erste  Band  der  „Geschichte  Rußlands  unter  Nikolaus  i.^ 
hat  die  Verhältnisse  geschildert  unter  denen  der  Großfürst  Nikolaus 
zum  Mann  heranwuchs  und  gezeigt,  wie  furchtbar  schwer  das  Erbe 
an  Mißbräuchen  und  politischen  Fehlern  war,  das  er  von  Kaiser 
Alexander  I.  übernehmen  mußte. 

Der  zweite  Band,  den  wir  dem  Urteil  der  Leser  und  der  Kritik 
der  Fachgenossen  vorlegen,  umfaßt  nur  einen  Zeitraum  von  fünf 
Jahren,  aber  es  sind  die  Jahre,  in  denen  sich  der  Charakter  des 
Kaisers  gebildet  und  in  den  Panzer  der  Prinzipien  gehüllt  hat,  die 
fortan  sein  Tun  und  sein  Lassen  so  völlig  bestimmt  haben,  daß 
sich  in  allen  Fragen  der  inneren  wie  der  äußeren  Politik  mit 
fast  völliger  Sicherheit  vorhersehen  ließ,  welche  Wege  er  ein- 
schlagen werde. 

Gerade  über  diese  bedeutsame  Zeit  ist  aber  von  Freund  und 
Feind,  von  Bewunderern  und  Verächtern  ein  Kreis  von  Legenden 
gewoben  worden,  der  die  historische  Wirklichkeit  verhüllt  und  ent- 
stellt hat.  Es  wurde  notwendig,  ein  fast  völlig  neues  Bild  zu  ge- 
stalten. Sowohl  der  sogenannte  Großmutsstreit  der  kaiserlichen 
Brüder  Constantin  und  Nikolaus,  als  der  Verlauf  und  die  Würdi- 
gung  der  Tragödie,  die  sich  an  den  Namen  der  Dekabristen  knüpft, 
wue  die  AnPänge  der  polnischen  und  der  orientalischen  Frage  mußten 
Schritt  für  Schritt  nachgeprüft  und  vielfach  zurechtgestellt  werden. 
Dasselbe  gilt  auch  von  den  wichtigen  politischen  und  militärischen 
Ereignissen  jener  Jahre  der  Begründung  des  nikolaitischen  Regiments. 
Trotz  der  ausgezeichneten  Darstellung,  w^elche  der  Türkenkrieg  von 
1828  und  1829  aus  der  Feder  eines  Moltke  gefunden  hat,  war  das 
politische  Bild  von  Grund  aus  umzuformen.  Die  Zeitgenossen 
konnten  den  verschlungenen  Gang  einer  hinter  den  Kulissen  spie- 
lenden  Diplomatie    nicht    verfolgen,    auch    standen    sie,    wie    dio 


XII  Vorwort. 

späteren,  unter  dem  Eindruck  der  blendenden  Erscheinung  des 
Kaisers,  der  zudem  durch  das  geflissentliche  Hervorkehren  seiner 
„Grundsätze^  und  seiner  „Konsequenz^  Bewunderung  heischte  und 
gewann.  Endlich  waren  die  inneren  Verhältnisse  Rußlands  im 
„Auslände^  so  gut  wie  gar  nicht  bekannt.  Nur  sehr  wenige  haben, 
einen  Einblick  in  die  Realität  der  russischen  Zustände  gewonnen. 
Eine  politische  russische  Literatur  aber,  die  dem  Abendlande  diese 
fremde  Welt  hätte  erschließen  können,  gab  es  um  diese  Zeit  noch 
nicht.  Die  literarischen  Talente  die  sich  emporzuringen  versuchten, 
erstickten  unter  dem  Druck  einer  ebenso  rücksichtslos  wie  geistlos 
gehandhabten  Zensur. 

Was  man  sah,  waren  äußere  Erfolge,  was  man  hörte,  Prinzipien 
und  die  Verherrlichung  einer  Politik  von  unerschütterlicher  Konse- 
quenz. 

Nun  hat  freilich  der  Fürst  Bismarck  gesagt  (1887  22.  April): 
„Konsequenz  für  einen  Politiker,  für  einen  Staatsmann,  ist  um  so 
leichter,  je  weniger  er  politische  Gedanken  hat.  Wenn  er  nur  einen 
bat,  dann  ist  es  ein  Kinderspiel,  und  wenn  er  den  immer  wieder 
vorbringt,  so  ist  er  der  Konsequenteste.*'  Man  konnte  diesen  Aus- 
spruch unseres  großen  Staatsmannes  als  Motto  der. Geschichte  des 
Kaisers  Nikolaus  voransetzen. 

Er  ist  allerdings  der  Konsequenteste  geblieben,  aber  an  der 
Konsequenz  seines  Systems  spitzten  sich  die  Schäden  zu,  an  denen 
das  heutige  Rußland  so  schwer  krankt,  und  erstickten  die  Keime 
gesunder  Entwicklung,  deren  Ausreifen  ein  Glück  für  die  Nation 
gewesen  wäre. 

Was  der  Kaiser  im  Innern  erreichen  wollte,  war  „Ordnung"^ 
—  was  er  erreichte,  war  ein  Schein  äußerer  Korrektheit.  Nach 
außen  erstrebte  er  „Wahrung  der  Verträge",  in  Wirklichkeit  verfolgte 
er  eine  Politik  der  Stagnation,  die  eine  Neubildung  der  politischen 
Lebensformen,  wie  die  Zeit  sie  verlangte  und  verlangen  mußte,  ver- 
geblich aufzuhalten  bemüht  war.  Er  ist  sich  aber  nach  beiden 
Richtungen  bis  ans  Ende  treu  geblieben:  Der  „konsequenteste"  aller 
Autokraten. 

Als  Kaiser  Nikolaus  seine  Regierung  antrat,  lebten  noch  die 
Ideen  fort,  mit  denen  sein  geistvoller  und  hochstrebender  Bruder  sich 
bis  etwa  1820  getragen  hatte.  Auch  der  Ehrgeiz»  den  die  Kaiserin 
Katharina  II.  ihren  politischen  und  militärischen  Paladinen  in  die 
Seele  zu  gießen  verstand,  war  keineswegs  erstorben.   Aber  je  länger 


Vorwort.  XIII 

je  mehr  verschwanden  die  glänzenden  Fähigkeiten,  um  bequemen 
Mittelmäßigkeiten  und  schließlich  der  verknöcherten  Routine  Platz 
zu  machen.  Nach  Verlauf  der  fünf  ersten  Regierungsjahre  Nikolaus 
hat  dieser  Prozeß  geistiger  Erstarrung  bereits  den  größten  Teil  der 
Nation  erfaßt.  Ein  allgemeiner  Niedergang  des  geistigen  Lebens 
und  ein  Verstummen  aller  idealistischen  Regungen  kennzeichnet  diese 
Periode.  Die  Hochflut  mystisch  religiöser  Erhebung,  welche  die 
letzten  Lebensjahre  Alexanders  charakterisiert,  verrinnt  fast  spurlos 
und  ein  geräuschvoller,  praktischer  Materialismus  beherrscht  die 
„Gesellschaft^.  Diese  Gesellschaft,  das  ist  der  Hof,  die  Garde  und 
die  Bureaukratie,  deren  Verzweigungen  die  Nation  wie  mit  ehernen 
Klammern  umschlossen,  hat  wohl  nach  wie  vor  kritisiert  und  me- 
disiert,  aber  niemals  dem  Zaren  zu  widersprechen  gewagt.  Er 
war  der  Mittelpunkt,  und  die  Suggestion,  die  von  ihm  ausging,  so 
unwidei-stehlich,  daß  selbst  eine  so  wenig  disziplinierte  Natur,  wie 
die  Puschkins,  ihr  schließlich  willenlos  erlag.  Es  hat  bis  zum 
Ausbruch  des  polnischen  Aufstandes  nur  eine  Selbständigkeit  neben 
dem  Kaiser  in  Rußland  gegeben,  und  das  war,  zum  Unheil  des 
Reiches,  sein  Bruder  Constantin.  Die  anderen  alle  waren  stumme 
Werkzeuge  und  wahrten  sich  ihren  Willen  nur  nach  unten  hin, 
wo  ihnen  der  Spielraum  für  eine  fast  schrankenlose  Willkür  offen 
blieb. 

Auch  für  die  Geschichte  Nikolais  liegt  ein  ungeheures  Material 
vornehmlich  in  den  russischen  Zeitschriften  verstreut  vor.  Von  den 
zusammenfassenden  Dai*stellungen  verdient  nur  die  leider  nicht 
vollendete  Biographie  Nikolais  von  Schilder  hervorgehoben  zu  werden. 
Von  ihr  gilt,  was  wir  von  seiner  Geschichte  Alexanders  L  sagen 
mußten.  Schilders  Arbeiten  ruhen  auf  dem  Untergrunde  sehr 
fleißiger  Studien  in  den  russischen  Archiven  und  in  der  russischen 
Literatur.  Sie  sind  chronologisch  zuverlässig  aufgebaut,  aber  ihr 
Fehler  liegt  in  der  ungenügenden  historischen  Schulung  des  Ver- 
fassers. Er  schreibt  als  Amateur,  nicht  als  Historiker,  ohne  Be- 
rücksichtigung der  großen  politischen  Zusammenhänge.  Trotzdem 
wird  ihm  jeder  dankbar  sein,  der  auf  dem  Felde  arbeitet,  das  er 
durchackert  hat. 

Mir  sind  für  den  vorliegenden  Band  das  Staatsarchiv  in  Berlin 
und  das  königliche  Hausarchiv  in  Charlottenburg  zugänglich  ge- 
wesen, ebenso  das  Archiv  des  Großen  Generalstabes  und  die  Archive 
in  Wien,  Paris  und  Petersburg.     Ich  spreche  hiermit  ihren  Leitern 


XIV  Vorwort. 

und  Beamten  meinen  ergebensten  Dank  aus.  Der  gleiche  Dank 
gilt  dem  Freiherrn  W.  v.  ^lüiTling  auf  Ringhofen  und  S.  Exz. 
General  Fr.  von  Bernhardi,  die  mir  gütigst  gestattet  haben  ihre 
Familienarchive  zu  benutzen.  In  den  Anlagen  ist  ein  durchweg 
neues  urkundliches  Quellenmaterial  mitgeteilt  worden.  Für  die 
beiden  ersten  Kapitel  sind  die  Belege  in  meinem  Buch  über  ^die 
Thronbesteigung  Nikolaus  I."  (Berlin  1902  Verlag  von  Georg  Reimer) 
zu  linden. 

Berlin,  im  März  1908. 

Theodor  Schiemaniu 


z 


Kapitel  I.    Das  Interregnum. 

Kaiser  Alexander  hatte,  als  er  seine  verhängnisvolle  Reise  nach 
Taganrog  autrat,  die  Verwaltung  des  Reiches  in  die  Hände  des 
Ministerkomitees  gelegt,  wie  er  seit  1805  zu  tun  pflegte').  Aber 
es  war  nur  ein  Schein  von  Macht,  der  damit  dieser  hohen  Körper- 
schaft zufiel.  Alle  wichtigen  Angelegenheiten  mußten  dem  Grafen 
Araktschejew  nach  Grusino  zugeschickt  werden,  und  er  traf  dann 
die  Entscheidung,  nach  der  das  Ministerkomitee  sich  zu  richten 
hatte.  Nur  die  auswärtige  Politik,  die  Alexander  nach  wie  vor 
persönlich  leitete,  war  von  dieser  Regel  ausgeschlossen.  Als  nun, 
noch  nicht  14  Tage  nach  Alexanders  Abreise,  Araktschejew  infolge 
der  Ermordung  seiner  Maitresse  in  fassungslosem  Schmerz  und 
Grimm  plötzlich  seine  gesamte  Tätigkeit  einstellte  und  die  Führung 
der  ihm  zugewiesenen  Geschäfte  Männern  überwies,  die  weder  die 
Autorität  genossen  noch  den  Mut  hatten,  die  ungeheuere  Verant- 
wortung zu  tragen,  die  ihnen  zufiel,  arbeitete  die  Staatsmaschine  zwar 
mechanisch  weiter,  aber  alle  wichtigeren  Angelegenheiten  gerieten 
ins  Stocken.  Der  mit  der  Leitung  der  Zivilkanzlei  Araktschejews 
und  mit  den  vom  Ministerkomitee  einlaufenden  Geschäften  betraute 


>)  conf.  Bd.  I  S.  368.  Volle  Sammlung  russischer  Gesetze  Nr.  29553, 
30314,  30315,  30469.  Der  letzte  dieser  Ukase  datiert  vom  31.  August  1825, 
dem  Tage  der  Abreise  Alexanders.  Die  Geschäftsordnung  war  durch  Ukas 
vom  10.  August  1823  festgesetzt:  „über  die  Ordnung  bei  Fübning  der  Ge- 
schäfte, zur  Zeit  Allerhöchster  Abwesenheit*',  conf.  daselbst  das  Memoir 
Araktiicbejews  vom  gleichen  Datum. 

Ein  Ukas  vom  10.  September  1823  bestimmte,  daß  über  Angelegenheiten, 
welche  der  Entscheidung  des  Kaisers  vorbehalten  waren,  diesem  Denkschriften 
vom  Ministerkomitee  einzureichen  seien.  Handele  es  sich  um  Angelegenheiten, 
die  keinen  Aufschub  duldeten,  so  solle  man  ihn  nachträglich  davon  in  Kenntnis 
setzen.  (Die  Kenntnis  dieses,  nicht  in  der  V.  S.  R.  G.  aufgenommenen  Ukases, 
danke  ich  dem  Kammerherrn  v.  Schtscheglow,  Direktor  des  kaiserlichen  Uaus- 
archivs.) 

Schiemano,  Geschichte  Rußlands.  II.  1 


2  Kapitel  I.     Das  Interregnum. 

Staatssekretär,  Nik.  Nasarjewitsch  Murawjew,  durfte  dem  Grafen 
weder  schriftlichen  Bericht  erstatten,  noch  ihm  Vortrag  halten. 
Die  Sachen  blieben  einfach  liegen.  Es  machte  sich  in  verhängnis- 
vollster Weise  geltend,  daß  das  persönliche  Regiment  Alexanders 
neben  Araktschejew  keine  andere  Selbständigkeit  hatte  aufkommen 
lassen. 

Die  Leitung  des  Ministerkomitees  gehörte  dem  Präsidenten 
des  Reichsrats,  Fürsten  Paul  Wassiljewitsch  Lopuchin,  einem 
72jährigen  fast  ganz  tauben  alten  Herrn,  dem  die  Last  seiner 
Jahre  und  die  Erfahrungen  seines  Lebens  jede  Kraft  der  Initiative 
geraubt  hatten.  Von  den  Ministern  war  nur  Cancrin  eine  wirk- 
liche Kapazität,  trotz  seiner  51  Jahre  nächst  Nesselrode  der  jüngste 
in  der  erlauchten  Versammlung,  die  übrigen  waren  alt  und  müde^). 
Sie  alle  fühlten  sich  durch  das  Wegfallen  des  Druckes,  der  von 
Araktschejew  ausgegangen  war,  entlastet,  fast  wie  Schüler,  die  ein 
verhaßter  Lehrer  ohne  weitere  Kontrolle  sich  selbst  überläßt. 

Von  den  Mitgliedern  des  Kaiserhauses  hatte  keines  Anteil  an 
der  Reichsverwaltung  und  Regierung. 

Konstantin,  der  eben  erst  von  einem  längeren  Aufenthalt  im 
Auslande  heimkehrte,  dachte  nur  an  seine  polnischen  und  littaui- 
schen  Angelegenheiten.  Die  Kaiserin-Mutter')  hatte  vollauf  mit  der 
Verwaltung  der  ihr  unterstellten  Institute  für  Mädchenerziehung  zu 
tun  und  lebte  im  übrigen  nur  den  Äußerlichkeiten  ihrer  Stellung 
und  einer  Korrespondenz  von  erstaunlicher  Ausdehnung.  Sie  war 
wenig  beliebt,  dem  Volke  fast  unbekannt,  ohne  jede  Kühlung  mit 
den  geistigen  und   politischen  Strömungen  Rußlands.     Trotz  ihrer 


0  Der  durch  eine  Intrigue  Araktäcbejews  1823  emporgekommene  Kriegs- 
minister  A.  J.  Tatischtschew  war  1763  geboren,  der  unfähige  Marinemiuister 
Marquis  de  Traverse  war  schon  1791  aus  der  französischen  Flotte  als  Konter- 
admiral übernommen  worden,  der  Chef  des  Marinestabes  Moller  61  jährig,  der 
Justizministcr  Fürst  D.  J.  Lobanow  Rostowski  73,  der  Minister  der  Volksauf- 
klärung Schischkow  71  Jahre  alt  Der  Minister  des  Innern  Lanskoi  war  eine 
völlige  Nichtigkeit,  die  Vorsitzenden  der  Departements  des  Reichsrats  Fürst 
Jacob  J.  Lobanow  Rostowski  und  Fürst  A.  B.  Kurakin,  von  denen  der  letzte 
Lopuchin  zu  vertreten  pflegte,  wenn  dieser  krank  war,  65  bzw.  6G  Jahre  alt 
und  beide  herzlich  unbedeutend. 

^  conf.  die  Tagebücher  ihres  Privatsekretärs  G.  W.  Willamow,  Russkaja 
Starina  1899  Januar  bis  März.  Sie  sind  für  die  Zeit  vom  November  1825  bis 
März  1826  eine  unserer  zuverlässigsten  und  reichsten  Quellen.  Zitiert  als 
«Willamow**. 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  3 

hohen  Apanage  war  sie  stets  geldbedürftig  und  gewohnt,  daß 
diese  Bedürfnisse  von  Alexander  widerspruchslos  befriedigt 
wurden.  Einen  EinHuß  im  weiteren  Sinne  des  Wortes  übte  sie 
nicht  aus.  Trotz  der  ostentativen  Verehrung,  die  man  ihr  im  Kreise 
der  Familie  entgegentrug  und  die  sie  verlangte,  war  ihre  naive 
Selbstsucht  und  Rücksichtslosigkeit  gefürchtet.  In  kritischen  Zeiten 
verlor  sie  regelmäßig  Fassung  und  Selbstbeherrschung,  so  daß  sie 
ganz  unPähig  war,  eine  leitende  Rolle  zu  spielen.  Sie  lähmte  durch 
die  Maßlosigkeit,  mit  der  sie  ihren  Empfindungen  freien  Lauf  gab, 
auch  die  anderen  und  konnte  selbst,  wo  eine  echte  Empfindung 
zum  Ausdruck  kam,  die  angeborene  und  durch  ihr  Leben  geförderte 
Neigung  zu  schauspielerischer  Ostentation  nicht  unterdrücken*). 

Noch  weit  geringer  war  der  Einfluß  der  Großfürsten  Nikolai 
und  Michail.  Sie  lebten  beide  ausschließlich  ihren  militärischen 
Pflichten  und  Neigungen.  Nikolai  war  vom  Kaiser  am  3.  Mai  1825 
zum  Chef  der  2.  Garde-Infanteriedivision  ernannt  worden,  die  aus 
der  2.  und  3.  Garde-Infanteriebrigade  bestand.  Es  waren  lauter 
Eliteregimenter:  die  Ismailower,  Pawlowsker,  die  Leib-Garde- Jäger 
und  Finnländer  und  das  Leib-Garde-Sapeurbataillon.  Er  war 
ein  unbeliebter,  faßt  könnte  man  sagen  verhaßter  Chef,  und  über 
seine  kleinliche  und  peinlich-formalistische  Unduldsamkeit  liefen 
die  schlimmsten  Erzählungen  um'),  aber  Kaiser  Alexander  war 
damit  nicht  unzufrieden.  Er  sah  es  nur  ungern,  wenn  ein  Chef 
bei  seinen  Untergebenen  populär  war,  und  machte  in  dieser  Hin- 
sicht mit  seinen  Brüdern  keine  Ausnahme.  Die  aber  hatten  nie 
einen  anderen  Gedanken  gehabt,  als  den,  dem  Kaiser  zu  Willen 
zu  sein.  In  dieser  Hinsicht  herrschte  in  der  kaiserlichen  Familie 
eine  unübertreffliche  Disziplin.  Es  ist  kein  Fall  bekannt,  daß 
Alexander  je   auf  einen  Widerstand   bei  seinen   Brüdern   gestoßen 

^)  Willamow  passim.  die  Briefe  der  Kaiserin  Elisabeth,  aber  auch  die 
Tagebücher  der  Kaiserin  Alexandra  und  des  Prinzen  Eugen  von  Württemberg 
geben  dafür  charakteristische  Belege,  conf.  Geschichte  Rußlands  unter  Kaiser 
Nikolaus  L  Bd.  I  S.  69  flF. 

^  Brief  der  Gräfin  Nesselrode  an  ihren  Bruder  Nicolas  Guriew  vom  2.  De- 
zember 1825:  „II  est  triste  pour  le  Grand  Duc  Nicolas  d'avoir  si  peu  raisonne 
sa  conduite,  de  s^etre  fait  detester,  execrer  par  la  troupe;  on  le  dit  empörte, 
severe,  vindicatif,  avare  .  .  ." 

Nikolai  war  erst  am  20.  September/2.  Oktober  von  einer  Inspektion  in 
ßobruisk  zurückgekehrt  und  siedelte  am  2./14.  Oktober  von  Gatschina  nach 
Petersburg  in  das  Anitschkow-Palais  über. 


4  Kapitel  I.     Das  Interregnum. 

wäre.  Selbst  der  eigenwillige,  geistreiche  und  selbstbewußte  Kon- 
stantin hatte  sich  ihm  stets  unbedingt  untergeordnet.  Der  Großfürst 
Nikolaus  aber  hätte,  selbst  wenn  es  sein  Wunsch  gewesen  wäre, 
in  die  Reichsregierung  nicht  eingreifen  können.  Er  kannte  weder 
Rußland  noch  die  Zusammenhänge  der  großen  Politik.  Sogar  von 
den  Funktionen  und  Kompetenzen  der  obersten  Reichsbehörden 
hatte  er  nur  ungenaue  und  lückenhafte  Kenntnisse,  und  obgleich 
sein  Streben  stets  dahin  ging,  gerecht  zu  sein,  war  ihm  der  Begriff 
des  Rechts  fremd  geblieben.  Der  ging  ihm  völlig  in  der  Vorstellung 
auf,  die  er  von  der  unumschränkten  zarischen  Selbstherrlichkeit 
hatte,  und  da  ihm  Kaiser  Alexander,  als  er  nach  Taganrog  reiste, 
keine  anderen  Aufgaben  gestellt  hatte,  als  nach  wie  vor  seinem 
„Dienst^  nachzugehen,  ist  ihm  der  Gedanke,  daß  er  während  der 
Abwesenheit  des  Bruders  eine  politische  Rolle  spielen  könnte,  über- 
haupt nicht  in  den  Sinn  gekommen.  Dasselbe  gilt  in  noch  höherem 
Grade  von  dem  Großfürsten  Michail  Pawlowitsch,  nur  daß  seine 
militärische  Pedanterie  durch  Humor  und  einen  Zug  liebenswürdiger 
Gutmütigkeit  gemildert  wurde.  Michails  Ideal  war  der  Bruder 
Konstantin,  an  dem  er  mit  schwärmerischer  Verehrung  hing.  Auch 
hatte  er  sich  die  Erlaubnis  erbeten,  während  Alexanders  Abwesen- 
heit zu  diesem  Lieblingsbruder  nach  Warschau  zu  ziehen,  so  daß 
er  in  der  kritischen  Woche,  die  dem  Tode  des  Kaisers  vorherging, 
gar  nicht  in  Petersburg  war. 

v/  Es  blieben  daher,  seit  Araktschejew  von  der  politischen  Bühne 
zurückgetreten  war,  nächst  dem  durch  den  Fürsten  Lopuchin  ver- 
treteneu Ministerkomitoe,  nur  drei  Personen  in  Petersburg  übrig, 
in  deren  Händen  sich  tatsächlich  die  Macht  konzentrierte.  Der 
General-Kriegsgouverneur  Michail  Alexandrowitsch  Graf  Milorado- 
witsch,  der  Kommandeur  der  Garde  General  Alexander  Lwowitsch 
Woinow  und  der  General  du  jour  Aloxej  Nikolajewitsch  Po- 
tapow.  Woinow')  und  Potapow')  waren  jedoch  zu  unbedeutend 
um  eine  über  ihre  amtliche  Stellung  hinausgreifende  Rolle  zu  spielen, 
auch  faktisch  dem  Grafen  Miloradowitsch  untergeordnet,  so  daß 
die  entscheidende  Stimme  ihm,  und  man  darf  wohl  sagen,  nur  ihm 

')  Nikolai  nennt  ihn  in  einem  Brief  an  den  Großfürsten  Konstantin  vom 
23.  Februar  1826  ^le  triste,  mais  bon  diable  Woinow**. 

'-')  Potapow  hatte  als  General  du  jour  die  Leitung  des  Inspektionsweseus 
im  Kriei^sministerium  und  das  gesamte  Dujourwesen  der  Armee  unter  sich. 
Alle  Befehle  gingen  von  seiner  Kanzlei  aus. 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  5 

zufiel.  Er  ist  es  gewesen,  der  in  verhängnisvollster  Weise  die  Ent- 
scheidung über  die  Nachfolge  im  Reiche  beeinflußt  hat,  und  ihm 
fällt  die  Verantwortung  dafür  zu,  daß  der  Aufstand  des  14./26.  De- 
zember überhaupt  möglich  wurde. 

Michail  Alexandrowitsch  Miloradowitsch  gehörte  der  Generation 
an,  die  ihre  entscheidenden  Eindrücke  unter  der  glänzenden  Re- 
gierung Katharinas  II.  erhalten  hatte.  Er  war  25  Jahre  alt,  als  die 
Kaiserin  starb.  Seine  weltmännische  Bildung  hatte  er  sich  in  den 
Petersburger  Salons,  die  nicht  oberflächlichen  wissenschaftlichen 
Interessen  auf  den  Universitäten  Königsberg  und  Göttingen  er- 
worben, in  Straßburg  und  Metz  war  er  militärischen  Studien  nach- 
gegangen. Dann  nahm  er  den  Dienst  in  der  Armee  auf,  der  er 
von  früher  Jugend  an  zugeschrieben  war.  Ein  junger  Offizier  von 
lebhafter  Begabung^ngewöhnlicher  Schönheit  und  von  unverwüst- 
licher Lebenslust,  Kraft  und  Gesundheit.  Den  Feldzug  Ssuworows 
in  Italien  und  in  der  Schweiz  hat  er  als  Chef  des  Apscheronschen 
Musketierregiments  mitgemacht.  Unter  Alexander  kämpfte  er,  stets 
vom  Glück  gefördert,  in  der  Türkei,  bereits  als  SSjähriger  wird  er 
zum  General  der  Infanterie  avanciert.  Seine  Tapferkeit  scheute  ^ 
vor  keiner  Gefahr,  sein  leichter  Sinn  vor  keinem  Abenteuer  zurück. 
Einen  großen  Namen  und  echten  Ruhm  gewann  er  jedoch  erst  in 
den  napoleonischen  Kriegen.  Er  war  Goneralgouverneur  von  Kiew, 
als  die  französische  Armee  in  Rußland  einrückte,  und  machte  sich 
zunächst  durch  Formierung  der  Reserven  im  Kalugaschen  verdient. 
Nach  der  Schlacht  bei  Borodino  führte  er  zeitweilig  die  Avantgarde 
der  russischen  Armee,  dann  wieder  die  Nachhut.  Seine  glänzend- 
sten Tage  aber  hat  er  auf  deutschem  Boden  1813  und  1814  in 
Frankreich  erlebt^).  Die  Schlacht  bei  Leipzig  trug  ihm  das  An- 
dreaskreuz ein,  der  Friede  den  Grafentitel,  die  Rückkehr  nach 
Rußland  erst  das  Kommando  des  Gardekorps,  danach  die  Ernennung 
zum  General-Kriegsgouverneur  von  Petersburg.  Nur  die  komman- 
dierenden Generale  der  Nord-  und  Südarmee,  Sacken  und  Wittgen- 
stein, sowie  Araktschejew  standen  im  Rang  über  ihm.  Aber 
ohne  Zweifel  war  seine  Stellung  die  angenehmste,  vor  allem  die 
seinen  Neigungen  meist  entsprechende.  Er  war  der  eigentliche  Gebieter 
der  Stadt  und  aller  in  ihr  stehenden  Truppen,  und  es  gab  keinen 

0  ^^r  gehen  auf  seinen  Anteil  an  den  Freiheitskriegen  nicht  ein.  In 
den  Memoiren  des  Dekabristen  Wolkonski  finden  sich  köstliche  Züge  zu  seiner 
Charakteristik. 


6  Kapitel  I.     Das  Interregnum. 

Zweig  städtischer  Verwaltung,  der  nicht  direkt  oder  indirekt  in  Ab- 
hängigkeit von  ihm  gestanden  hätte.  Von  der  ungeheueren  Macht, 
die  sich  so  in  seinen  Händen  konzentrierte,  einen  vollen  Gebrauch/ 
zu  machen,  lag  jedoch  nicht  in  seiner  Art.  Dazu  war  er  auch  in 
späteren  Lebensjahren  zu  genußsüchtig.^  Was  ihm  fehlte,  war  der 
Ehrgeiz,  der  in  rastloser  Arbeit  —  wie  Araktschejew  tat  —  Be- 
friedigung sucht.  Der  Schein  und  der  theoretische  Anspruch  ge- 
nügten ihm.  Seine  Gutmütigkeit  und  seine  persönliche  Liebens- 
würdigkeit schlössen  ein  energisches  undS'ücksichtsloses  Eingreifen 
aus.  Auch  war  er  kein  Menschenkenner.  Abenteurer  und  geist- 
reiche Nichtigkeiten  fanden  leichten  Zugang  bei  ihm,  und  dieser 
russische  Bayard,  wie  ihn  seine  Freunde  wohl  nannten,  war  zugleich 
ein  „Fanfaren"  ').  Er  liebte  mit  großen  Worten  um  sich  zu  werfen 
und  war  stets  in  Geldverlegenheiten  und  in  Schulden,  die  ihm  der 
Kaiser  bezahlen  mußte.  Er  verstehe  nicht  —  sagte  er  einmal  — 
wie  man  ohne  Schulden  leben  könne;  aber  Alexander  konnte  ihm 
nie  gram  werden.  Er  kannte  seine  unbedingte  Treue  und  sah  ihm 
nach,  was  er  bei  anderen  nicht  geduldet  hätte.  Miloradowitsch 
hat  sich  weder  der  mystischen  noch  der  reaktionären  Richtung^n- 
gepaßt,  die  in  den  letzten  liObensjahren  Alexanders  in  den  leitenden 
Kreisen  vorherrschte.  Er  blieb  ein  Liberaler')  und  ein  Freigeist. 
So  war  dieser  ruhmgekrönte  und  populäre  Soldat,  der  keine  ernsten 
Sorgen  und  keine  Pflichten  kannte,  die  ihm  den  Genuß  des  Lebens, 
wie  er  ihn  verstand';  verkümmern  durften,  gewiß  nicht  die  Persön- 
lichkeit, um  ein  Werkzeug  zu  ersetzen,  wie  Kaiser  Alexander  es 
in  Araktschejew  besessen  hatte.  Als  der  politische  Wille  des 
Tyrannen  von  Grusino  plötzlich  ausschied,  \»üd  die  Notwendigkeiten 
des  Augenblicks  tatsächlich  in  die  Hände  von  Miloradowitsch  den  ent- 
scheidenden Einfluß  legten,  ließ  sich  vorhersehen,  daß  er  wohl  einen 
großen  Einfluß  ausüben,  aber  überall  da  versagen  würde,  wo  gewissen- 
hafte Arbeit  und  sichere  Menschenkenntnis  di^A^orbedingung  des  Er- 
folges waren.  Wenn  er  auch  stets  bereit  war,  seine  Person  einzusetzen. 


^)  Schreiben  des  Prinzen  Eugen  von  Württemberg  an  den  General  von 
Hofmann.     Petersburg,  18./30.  März  1826. 

')  1819  reichte  Miloradowitsch  dem  Kaiser  eine  Denkschrift  gegen  die 
Mißbräuche  ein,  die  mit  dem  Verkauf  von  Leibeigenen  getrieben  wurden.  Er 
vertrat  die  Meinung,  daß  Leibeigene  nie  ohne  das  Land,  zu  dem  sie  gehurten, 
verkauft  werden  sollten.  Der  Polenpolitik  des  Kaisers  war  er  entschieden 
abhold. 


Kapitel  I.     Das  Interregnum.  7 

konnte  er  doch  nicht  mehr  bieten,  als  was  den  Inhalt  seiner  Per- 
sönlichkeit ausmachte,  und  dieser  Inhalt  war  ohne  allen  Zweifel 
unzulänglich. 

So  waren  zur  Zeit,  da  ein  nicht  vorherzusehendes  Verhängnis 
dem  russischen  Reich  sein  Haupt  nahm,  die  politischen  Rollen 
möglichst  ungünstig  verteilt.  Es  wäre,  im  Hinblick  auf  die  gären- 
den  Elemente  im  Innern,  ein  Wunder  gewesen,  wenn  der  Übergang 
zu  einem  neuen  Regiment  und  einem  neuen  System  ohne  tief- 
greifende Erschütterung  vor  sich  gegangen  wäre. 

Die  erste  Nachricht  von  der  Erkrankung  des  Kaisers  ging  auf  ihn 
selbst  zurück.  Alexander  schrieb  der  Mutter  von  einem  leichtea-Un- 
wohlsein,  das  ihn  betroffen  habe.  Sein  Brief  war  gleich  nach  seiner 
Rückkehr  aus  der  Krim  in  Taganrog  am  5./17.  November  geschrieben 
und  am  17./29.  in  Petersburg  eingetroffen*).  Am  18.  bestätigte 
ein  Schreiben  der  Kaiserin  Elisabeth  an  ihre  Schwägerin,  die  Groß- 
fürstin Helene'),  diese  Nachricht.  Besorgt  wurde  man  in  Peters- 
burg erst,  als  am  22.  ein  zweiter  Brief  Elisabeths  eintraf,  der  weit 
weniger  zuversichtlich  klang.  Gleichzeitig  hatte  der  Leibarzt  der 
Kaiserin-Mutter,  Dr.  Rühl,  von  Wylie,  dem  Leibarzt  Alexanders, 
eine  ausführliche  Darlegung  der  Krankheitsgeschichte  vom  4.  bis 
12.  November  erhalten.  Das  Leiden  des  Kaisers  sei  ein  gastrisch- 
galliges Fieber  und  die  Begleiterscheinungen  beunruhigend.  In 
der  kaiserlichen  Familie  begann  man  sich  ernste  Sorgen  zu  machen. 
Der  am  21.  November  nachts  in  Petersburg  eingetroffene  Prinz 
Eugen  von  Württemberg  fand  seine  Tante,  die  Kaiserin-Mutter,  in 
großer  Erregung,  den  Großfürsten  Nikolaus  weniger  besorgt,  die 
Hofkreise  mit  anderen  Dingen  beschäftigt.  Graf  Miloradowitsch 
empfing  ihn  mit  den  Worten:  Aliens,  Monseigneur,  Constantinople 
vous  attend!  So  lebendig  war  die  Hoffnung  auf  einen  Türkenkrieg 
wieder  erstanden ! 

Der  24.  ging  ohne  Nachrichten  hin,  aber  am  25.  um  4  Uhr 
nachmittags  traf  eine  Reihe  offizieller  Schreiben  Diebitschs  ein,  der 
als  Chef  des  Generalstabes  den  Kaiser  begleitete.  Sie  datierten 
vom  15.  November  und  waren  an  den  Privatsekretär  der  Kaiserin- 
Mutter,  Geheimrat  Willamow,  an  Miloradowitsch,  den  Fürsten  Lo- 


0  Die  Daten  sind  weiterhin  nach  nissischem  Stil  angeführt  worden. 
Briefe  von  Taganrog  nach  Petersburg  gingen  mindestens  neun,  höchstens  zwölf 
Tage.     Die  Wege  waren  im  November  besonders  schlecht. 

')  Abgesandt  am  9.  November. 


8  Kapitel  I.    Das  Interregnum. 

puchin  und  an  den  General  Woinow  gerichtet.  Merkwürdigerweise 
scheint  Araktschejew,  der  damals  immer  noch  in  Nishny-Nowgorod 
seiner  Verzweiflung  über  den  Tod  der  Minkina  lebte,  keinerlei 
Nachricht  erhalten  zu  haben ').  Auch  die  Fürstin  Wolkonski  hatte 
von  ihrem  Gemahl,  dem  Hausminister  Peter  Michailowitsch,  einem 
intimen  Freunde  Alexanders,  Nachricht  erhalten.  Diese  Briefe 
ließen  kaum  einen  Schimmer  von  Hoffnung  übrig.  Der  Kaiser 
hatte  das  Abendmahl  genommen,  und  seine  Kräfte  versagten. 

Der  Oberpostmeister  Constantin  Jakowlewitsch  Bulgakow,  an 
den  der  Kurier  wie  üblich  gewiesen  war,  übergab  zunächst  die  an 
Miloradowitsch,  Woinow  und  Lopuchin  gerichteten  Briefe  und  traf 
erst  um  8  Uhr  abends  im  Winterpalais  ein,  um  auch  das  Schreiben 
an  Willamow  persönlich  abzuliefern.  Inzwischen  hatte  Milorado- 
witsch, der  wie  es  scheint  in  seinem  Bureau  war,  mit  Woinow, 
Potapow  und  dem  ebenfalls  anwesenden  General  Neidhardt  beraten, 
was  geschehen  solle.  Sie  beschlossen  noch  Lopuchin  heranzuziehen 
und  bis  auf  weiteres  die  Nachricht  geheimzuhalten').  Milorado- 
witsch ging  darauf  gegen  6  Uhr  ins  Anitschkowpalais,  teilte  dem 
Großfürsten  mit,  was  er  wußte,  und  legte  ihm  die  Briefe  von 
Diebitsch  und  Wolkonski  vor.  Für  Nikolaus  war  damit  die  FVage 
gestellt,  wie  er  sich  für  den  wahrscheinlichen  Fall,  daß  der  nächste 
Kurier  den  Tod  Alexanders  melden  sollte,  zu  verhalten  habe.  Es 
scheint  aber,  daß  damals  von  der  Nachfolge  im  Reich  nicht  ge- 
sprochen, sondern  ein  späteres  Zusammentreffen  im  Winterpalais 
verabredet  wurde.  Es  kam  vor  allem  darauf  an,  Maria  Feodorowna 
schonend  auf  den  ihr  drohenden  Verlust  vorzubereiten,  und  der 
Großfürst    sowohl    wie    Miloradowitsch    hielten    es    für    das    beste. 


*)  Die  Erklärung  ist  vielleicht  darin  zu  finden,  daß  Alexander  nicht 
schreiben  konnte,  den  übrigen  aber  der  Günstling  verhaßt  war. 

2)  Neidhardt  an  den  Baron  Diebitsch  den  28.  November.  Der  Text  dieses 
deutsch  geschriebenen  Briefes  ist  in  der  Russkaja  Starina  1882  S.  201  mit 
dem  falschen  Datum  28.  Dezember  in  russischer  Obersetzung  gedruckt.  Er 
lautet  in  der  Rückübersetzung:  „Am  25.  abends  (wobei  in  Betracht  zu  ziehen 
ist,  daß  es  Ende  November  in  Petersburg  um  4  Uhr  bereits  dunkel  wird)  haben 
wir  von  Ihnen  die  erste  Nachricht  von  dem  schrecklichen  Unglück  erhalten. 
Woinow  und  Miloradowitsch  haben,  nachdem  sie  sich  von  dem  ersten  Schlage 
erholt  hatten,  in  meiner  und  Potapows  Gegenwart  beschlossen  die  Nachricht 
geheimzuhalten,  nachdem  sie  darüber  noch  mit  Lopuchin  beraten  hatten*". 
Wann  die  Beratung  mit  Lopuchin  stattfand  wird  uns  nirgends  überliefert. 
Wahrscheinlich  vor  dem  Besuch  Miloradowitschs  bei  Nikolaus. 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  9 

Willamow  unter  Assistenz  von  Dr.  Rühl  den  ersten  Schritt  zu  über- 
lassen. So  fuhr  der  Großfürst,  nachdem  er  noch  seiner  Gemahlin  die 
Schreckensbotschaft  mitgeteilt  hatte,  zur  Mutter  ins  Winterpalais  ^). 
Als  er  eintraf,  wußte  Maria  Feodorowna  bereits  von  allem. 
Willamow  war  mit  seinem  Brief  in  der  Tasche  zur  Kaiserin  ge- 
gangen und  wollte,  wie  er  zu  tun  pflegte,  beginnen,  ihr  die  Abend- 
andacht') vorzulesen,  als  Rühl  gemeldet  wurde.  Nun  verließ 
Willamow,  obgleich  die  Kaiserin  ihm  sagte,  er  könne  bleiben,  das 
Zimmer,  und  im  Vorzimmer  erklärte  er  Rühl,  um  was  es  sich 
handele,  er  bat  ihn,  die  Kaiserin  vorzubereiten,  während  er  selbst 
die  Freundin  der  Kaiserin,  die  Gräfin  Charlotte  Lieven,  holen 
wollte.yl  Aber  Maria  Feodorowna  war  unruhig  geworden  und  hatte 
ihre  Gemächer  verlassen;  sie  T)egegnete  beiden,  als  sie  im  Begriff 
waren,  das  Vorzimmer  zu  verlassen,  erfuhr,  daß  schlechte  Nachrichten 
eingetroffen  seien,  und  ging  darauf  mit  ihnen  zur  Gräfin.  Hier  erst 
hörte  sie  die  volle  Wahrheit.  Sie  kehrte  nach  den  ersten  lebhaften 
Äußerungen  des  Schmerzes  in  ihre  Gemächer  zurück,  ließ  sich 
noch  einmal  den  Brief  vorlesen  und  behielt  ihn  bei  sich.  Sie  wollte 
allein  bleiben.  Dann  aber  wurde  Willamow  nochmals  gerufen. 
Die  Kaiserin  fragte,  ob  nicht  noch  andere  Briefe  gekommen  seien, 
und  als  sie  von  dem  Briefe  an  Miloradowitsch  hörte,  verlangte  sie 
auch  ihn  zu  seh^n.  Als  Willamow  das  Zimmer  verließ,  traf  er 
den  eben  angelangten  Großfürsten  Nikolaus,  dem  seine  Gemahlin 
bald  folgte.  Nachdem  sie  der  Kaiserin,  die  jetzt  alle  Fassung 
verloren  hatte '),  die  Hilfe  geleistet  hatten,  nach  der  sie  verlangte,  ließ 

0  Sie  hatte  ihn  durch  einen  Boten  rufen  lassen,  als  er  im  Begriff  war 
ins  Palais  zu  fahren. 

Die  Chronologie  (d.  h.  in  diesem  Fall  die  Stunden),  macht  hier  Schwierig- 
keiten. Daß  Miloradowitsch  gegen  6  Uhr  im  Anitschkowpalais  eintraf,  steht 
fest  Willamow  hatte  erst  nach  8  Uhr  seinen  fkief  erhalten;  bis  er  Maria 
Feodorowna  Mitteilung  machte,  muß  es  mindestens  9  Uhr,  wahrscheinlich 
später  geworden  sein,  weil  Maria  Feodorowna,  nachdem  sie  ihn  entlassen  hatte» 
noch  einen  Besuch  beim  Prinzen  Eugen  machte.  Da  Nikolai  erst  danach  im 
Winterpalais  eintraf,  mußten  drei  Stunden  zwischen  seinem  Gespräch  mit 
Miloradowitsch  und  seiner  Ankunft  im  Palais  liegen.  Die  Fahrt  konnte  nur 
wenige  Minuten  beanspruchen.  Das  legt  den  Schluß  nahe,  daß  die  Unter- 
redung mit  Miloradowitsch  von  läugerer  Dauer  war,  als  unsere  Quellen  zeigen. 

2)  Maria  Feodorowna  las  Zschokkes  Stunden  der  Andacht,  conf.  Willa- 
mow passim. 

^)  Prinz  Eugen  1.  1.  S.  117  „Der  Zustand  der  Kaiserin  war  auffallend 
und  ihr  Bestreben,   nun,    wo  sie  den  ganzen  Umfang  der  Gefahr  kannte,    mit 


10  Kapitel  I.     Das  Interregnum. 

Nikolaus  sie  alleinN--Miloradowitsch  und  Woinow,  vielleicht  auch 
Lopuchin  waren  eingetroffen,  und  mit  ihnen  fand  eine  Beratung 
darüber  statt,  welche  Maßregein  zu  ergreifen  seien,  wenn  die  Nach- 
richt vom  Tode  Alexanders  eintreffen  sollte.  Es  kann  nun  nach 
den  uns  erhaltenen  Zeugnissen  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  der 
Großfürst  Nikolaus  unter  Berufung  auf  die  Abdankung  Konstantins 
und  auf  das  Testament  Alexanders,  das  auch  die  Zustimmung  seiner 
Mutter  gefunden  habe,  seine  Ansprüche  auf  die  Nachfolge  im  Reich 
geltend  machte.  Aber  Miloradowitsch  widersprach  mit  großem 
Nachdruck.  Er  verwies  den  Großfürsten  auf  die  Reichsgesetze, 
d.  h.  auf  die  vom  Kaiser  Paul  promulgierte  Thronfolgeordnung,  die 
keine  andere  Nachfolge  als  die  Konstantins  zulasse.  Auch  sei  das 
Testament  Alexanders  nie  bekannt  gemacht  worden,  und  nur  wenige 
Personen  wüßten  von  ihm.  Endlich  könne  durch  testamentarische 
Anordnungen  ein  Reichsgesetz  nicht  aufgehoben  w  erden.  Es  scheint, 
daß  Miloradowitsch  zugleich  auf  die  dem  Großfürsten  abgeneigte 
Stimmung  der  Garden  aufmerksam  gemacht  hat.  Weder  das  Volk 
noch  die  Armee  werde  die  Abdankung  Konstantins  verstehen  *)• 
Man  werde  an  einen  Verrat  glauben,  und  zwar  um  so  mehr,  als 
weder  der  Zar  noch  der  durch  das  Erstgeburtrecht  bestimmte 
Thronfolger  in  der  Stadt  seien;  endlich  werde  die  Garde  sich  be- 
stimmt weigern\|inter  solchen  Umständen  Nikolai  zu  huldigen,  und 
die  Folge  werde  ganz  sicher  ein  Aufstand  sein.  Komme  die 
Nachricht  vom  Tode  Alexanders,  so  sei  Konstantin  der  rechte 
Herrscher  und  ihm  müsse  dann  sofort  gehuldigt  werden.  Wenn 
aber  der  Kaiser  Konstantin  freiwillig  und  öffentlich  der  Krone4«nt- 
sage,  könne  die  Thronbesteigung  Nikolais  sich  in  aller  Ordnung 
und  Gesetzmäßigkeit  vollziehen. 


der  ihr  eigenen  Würde  die  vom  Anstände  geforderte  Fassung  zu  zeigen,  über- 
stieg ihre  Kräfte**. 

^)  Eiu  merkwürdiges  Zeugnis  dafür,  daß  Konstantin  in  weiten  Kreisen 
der  Petersburger  Gesellschaft  nicht  unbeliebt  war,  Anden  wir  in  einem  Schreiben 
Puschkins  au  Kantemir  vom  4.  Dezember  1825.  (Westnik  Jewropy  1895,  lieft  V. 
S.  754  zitiert  von  Pypin)  „Ais  getreuer  Untertan  muß  ich  natürlich  über  den 
Tod  des  Kaisers  trauern,  aber  als  Dichter  freue  ich  mich  auf  die  Thron- 
besteigung Konstantins  1.:  in  ihm  steckt  viel  Romantik,  seine  stürmische 
Jugend,  die  Feldzüge  mit  Ssuworow,  die  Feindschaft  gegen  den  Deutschen 
Barklay  de  Tolly  erinnern  au  Heinrich  IV.  —  mit  einem  Wort,  ich  erwarte 
von  ihm  viel  Gutes." 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  11 

Auf  den  Großfürsteri  Nikolaus  machten  diese  Einwendungen 
einen  tiefen  Eindruck.  Sie  entsprachen  im  Grunde  seinen  eigenen 
Wünschen.  Er  wußte  sehr  wohl,  daß  die  Truppen,  und  die  kamen 
doch  vor  allem  in  Betracht,  ihn  nicht  liebten..^Vurde  Konstantin 
proklamiert  und  kam  er  dann,  wie  Nikolai  voraussetzte,  persönlich 
nach  Petersburg,  um  feierlich  die  Krone  auf  ihn  zu  übertragen,  so 
schien  jede  Schwierigkeit  beseitigt.  Ohne  weiter  auf  seinen  An- 
spruch zu  bestehen,  erklärte  er,  daß  er  als  erster  dem  Kaiser 
Konstantin  huldigen  wolle  und  daß  die  Garnison  auf  Konstantins 
Namen  zu  vereidigen  sei,  sobald  die  Nachricht  vom  Tode  Alexanders 
eintreffe./^  Dabei  blieb  es,  und  von  dem  gefaßten  Beschluß  wurde 
auch  Willamow  Mitteilung  gemacht. 

Die  Nacht  vom  25.  auf  den  26.  ging  ganz  in  der  Sorge  um 
Maria  Feodorowna  hin.  Sie  ließ  nicht  nur  ihren  Hofmeister  Baron 
Albedyll,  Willamow  und  Rühl  die  Nacht  über  in  ihren  Gemächern yL^ 
bleiben,  auch  der  Großfürst  Nikolaus  mit  seinem  Jugendfreunde 
und  Adjutanten  Adlerberg  verbrachten  die  ganze  Nacht  in  der 
Nähe  ihres  Schlafgemaches,  im  Zimmer  des  Kammerdieners.^i^ie 
war  wie  stets  nur  mit  sich  beschäftigt,  ihr  Zustand  „schreck- 
lich^, was  wohl  so  auszulegen  ist,  daß  sie  in  hysterischen  %iße- 
rungen  ihres  Schmerzes  sich  würdelos  gehen  ließ.  So  war  nun 
einmal  ihre  Art.  Das  dauerte  bis  6  Uhr  morgens.  In  der  Nacht 
aber  hatte  sie  mehrmals  den  Großfürsten  an  ihr  Bett  gerufen,  um 
sich  von  ihm  tröstet^  zu  lassen.  Es  ist  schwer  glaubhaft,  aber 
immerhin  möglich,  daß  dabei  die  Frage  des  Thronwechsels  mit 
keinem  Worte  zwischen   ihnen  zur  Sprache  gekommen  sein  sollte. 

Die  schlimmen  Nachrichten  waren  trotz  der  von  Miloradowitsch, 
Woinow,  Potapow  und  Neidhardt  getroffenen  Vereinbarung  schon 
am  25.  in  Petersburg  allgemein  bekannt  geworden.  „Wie  ein  Lauf- 
feuer verbreitete  sich  die  Kunde  in  der  Stadt  —  schreibt  Prinz 
Eugen  —  und  es  herrschte  bald  ein  Treiben^im  Palaste,  wie  ich 
es  mir  noch  nie  zu  erinnern  wußte.  Es  wurden  alsbald  daselbst 
Messen  gelesen  und  für  die  Erhaltung  des  Kaisers  gebetet.  Von 
allen  Seiten  strömte  die  Menge  nach  den  Kirchen  zu  gleichem  Zwecke; 
alle  Gedanken  schienen  nur  auf  den  einen  Gegenstand  gerichtet, 
und  es  verschwand  jedes  Gefühl  der  Persönlichkeit  in  der  allge- 
meinen Spannung."  Das  war  auch  das  Bild  am  26.  November,  der 
bessere  Nachrichten  brachte,  nur  daß  an  die  Stelle  der  Fürbitten 
Dankgebete   traten.     Nun    hätte   der  Großfürst  Nikolaus    alle  Ge- 


12  Kapitel  I.    Das  Interregnum. 

legenheit  gehabt  mit  der  Mutter  zu  reden,  und  ebenso  Maria 
Feodorowna  die  Initiative  ergreifen  können,  um  in  die  Frage  der 
Nachfolge  Klarheit  zu  bringen.  Aber  gerade  über  den  Verlauf 
dieses  Tages  gehen  die  Quellen  rasch  hinweg,  und  die  späteren 
Darstellungen,  die  den  Zusammenhang  geflissentlich!^  verwischen 
bemüht  sind,  schweigen  ebenfalls. 

Am  Abend  des  26.  erhielt  Rühl  ein  Schreiben  Wylies  welches 
zeigte,  daß  der  Kaiser  am  16.  im  Sterben  lag,  aber  da  man  bereits 
wußte,  daß  am  17.  eine  Besserung  eingetreten  war,  legte  man  kein 
Gewicht  darauf,  und  namentlich  Maria  Feodorowna  ging  wie  gewöhn- 
lich ihren  Beschäftigungen  nach.  Da  traf  am  27.  früh  um  7  Uhr  die 
Nachricht  vom  Tode  des  Kaisers  ein*);  sie  ist  von  Miloradowitsch, 


0  So  nach  dem  einmütigen  Zeugnis  der  ausländischen  Diplomaten,  die  stets 
über  das  Eintreffen  der  Kuriere  ^t  unterrichtet  waren.  Der  sächsische  Gesandte 
Rosenzweig  gibtß  Uhr  alsStunde  der  Ankunft  des  Kuriers  an.  Auch  ausWiilamows 
Aufzeichnungen  ergibt  sich,  daß  der  Kurier  geraume  Zeit  vor  der  Mitteilung  an 
den  Großfürsten  Nikolaus  angelangt  sein  muß.  Er  erzählt,  wie  er  morgens, 
nach  einem  Besuch  bei  Nesselrode,  im  großen  Empfangssaal  des  Winterpalais 
eine  Menge  Leute  getroffen:  ,,man  sagte,  ein  Kurier  sei  eingetroffen.  Fürst 
Chilkow  (zweiter  Sekretär  der  Kaiserin  Maria  Feodorowna)  kam  aus  der  Kirche 
und  bestätigte  mir  dasselbe,  wobei  er  sich  auf  den  Fürsten  Dmitri  Lobanow 
(den  Justizminister)  berief.  Endlich  traf  Miloradowitsch  ein,  er  ergriff  meine 
Hand,  umarmte  mich  und  sagte:  „nun,  jetzt  gilt  es  Festigkeit  zu  zeigen*'. 
Seine  Augen  standen  in  Thränen.  Ich  verstand  endlich,  daß  das  Unglück  ge- 
schehen war.  Er  sagte  mir,  ich  würde  Potapow  in  den  Gemächern  des  Groß- 
fürsten finden;  man  müsse  sich  bemühen  ihn  (den  Großfürsten)  von  dem,  was 
geschehen  sei,  zu  benachrichtigen.  Ich  fand  Potapow  im  Gespräch  mit  dem 
Kriegsminister,  danach  schloß  Rühl  sich  uns  an.  Wir  wußten  nicht,  wie  diese 
schreckliche  Nachricht  der  Kaiserin  beizubringen  sei.  Rühl  schlug  vor,  es  zu 
tun,  solange  die  Kaiserin  noch  in  der  Kirche  sei,  weil  sie  dort,  wo  sie  ihre 
Seele  zu  Gott  erhebe,  eher  die  Kraft  finden  werde,  den  Schlag  zu  ertragen. 
Den  Weg  zur  Kirche  nahmen  wir  in  zwei  Gruppen:  Graf  Miloradowitsch  Tu- 
tischtschew  und  Potapow  gingen  durch  den  Vorsaal,  Rühl  und  ich  durch  die 
Gemächer  der  Kaiserin.  In  ihrem  Kabinett  fanden  wir  den  Großfürsten  in  Er- 
wartung der  schrecklichen  Nachricht.  Wir  bestätigten  sie  ihm.  Der  Großfürst 
verlangte,  daß  ihm  die  Originalnachricht  vorgelegt  werde.  Ich  antwortete,  sie 
sei  bei  Potapow.  Da  sagte  der  Großfürst  zu  Rühl,  er  solle  gehen  die  Kaiserin 
zu  benachrichtigen,  er  sei  selbst  nicht  imstande  es  zu  tun.  Darauf  ging  Rühl 
uns  voraus  in  das  an  den  Altar  stoßende  Zimmer  der  Kirche,  wo  die  Kaiserin 
sich  während  der  Messe  befand;  dann  hörten  wir  einen  Schrei  der  Kaiserin 
und  erkannten  daraus,  daß  sie  die  Trauerkunde  erfahren  hatte.  Sie  verlor 
die  Besinnung.  Als  sie  zu  sich  gekommen  war,  näherte  sie  sich,  während  ihr 
Beichtiger  voranging,  dem  Altar.     Die  Großfürstin  Alexandra  stützte  sie.    Der 


K&pitel  I.     Das  Interregnum.  13 

offenbar  um  die  Vorbereitungen  für  die  Vereidigung  zu  treffen, 
mehrere  Stunden  lang  geheimgehalten  worden.  Die  Vereidigungs- 
formulare  mußten  fertiggestellt  werden,  auch  war  dafür  zu  sorgen, 
daß  die  Spitzen  der  Reichsregierung  und  Verwaltung,  Senat,  Reichs- 
rat, Generalität  leicht  erreichbar  waren.  Ihnen  allen  ging  früh  am 
27.  der  Befehl  zu,  in  den  Kirchen  an  Messe  und  Fürbitte  für  die 
Gesundheit  des  Kaisers  teilzunehmen.  Die  Kaiserliche  Familie,  das 
ist  Maria  Feodorowna,  der  Großfürst  Nikolaus  und  Gemahlin  sowie 
der  Prinz  Eugen  waren  gegen  11  Uhr  in  der  Hofkapelle  des  Winter- 
palais in  einer  kleinen  Parterreloge  in  der  Nähe  des  Altars  bei- 
sammen. Eine  Glastür  führte  auf  den  Korridor,  der  die  Gemächer 
des  Palastes  mit  der  Loge  verband.  An  dieser  Glastür,  mit  dem 
Gesicht  zum  Innern  der  Loge  gewandt,  stand  der  Großfürst,  ihm 
gegenüber,  so  daß  er  den  Korridor  überschauen  konnte,  Prinz 
Eugen.     Der  Großfürst  hatte  mit  dem  Kammerdiener  Grimm  ver- 


GroUförst  verließ  die  Kirche,  um  dem  Kaiser  Konstantin  den  Eid  zu  leisten: 
ihm  folgten  die  Generale;  Potapow  aber  bändigte  mir  drei  Briefe  ein:  von 
der  Kaiserin  Elisabeth,  von  Wolkonski,  von  Diebitscb.  Die  Kaiserin  kehrte 
von  uns  allen  begleitet  in  ihre  Gemächer  zurück,  wobei  sie  von  Zeit  zu  Zeit 
sich  in  einem  der  Sessel  erholte.  Wir  ließen  sie  im  Kabinett  zurück,  und 
als  wir  in  den  großen  Empfangssaal  zurückkehrten,  fanden  wir  dort  die  Garde, 
die  den  Eid  leistete.  Da  wir  erfuhren,  daß  dasselbe  in  der  großen  Kirche  ge- 
schehe, gingen  wir  auch  bin  und  unterschrieben  das  Vereidigungsformular.* 

Willamow  erzählt  hier  als  durchaus  unverdächtiger  und  einzig  gleich- 
zeitiger Zeuge.  Nur  für  die  Szene  in  der  Kirche  und  die  Eidesleistung  des 
Großfürsten  ist  er  nicht  Zeuge  gewesen. 

Sein  Bericht  ist  zu  ergänzen  durch  die  Aufzeichnung  Nikolais  für  Kon- 
stantin vom  3./15.  Dezember,  die  eine  bestimmte  Tendenz  zeigt,  die  auf  Korft 
übergegangen  ist,  und  durch  den  Bericht  des  Prinzen  Eugen  (beides  gedruckt  in 
meinem  Buche:  die  Thronbesteigung  Nikolais)  den  Schilder  nicht  berücksichtigt 
und  nur  in  der  Helldorfschen  Fassung  kannte.  Der  bekannte  Brief  Shukowskis 
ist  1848  geschrieben,  also  23  Jahre  nach  dem  Ereignis,  und  gibt  eine  Version, 
die  sich  ihm  im  Laufe  der  Zeit  als  ein  verschobenes  Bild  der  Wirklichkeit 
festgesetzt  hat.  Sie  ist  unvereinbar  mit  zweifellosen  Tatsachen.  Auch  eine 
spätere  Aufzeichnung  Nikolais  ist  erhalten,  die  Korff  benutzt  hat  und  Schilder 
im  Wortlaut  zitiert.  Sie  eliminiert  durchweg  alles,  was  auf  den  Prinzen  Eugen 
Bezug  hat,  und  fälscht  dadurch  den  Zusammenhang,  während  sie  andererseits 
die  Richtigkeit  der  Darstellung  Eugens  bestätigt.  Endlich  ist  der  schon  er- 
wähnte Brief  Neidhardts  heranzuziehen,  der  gleichfalls  als  Augenzeuge  schreibt. 

Aus  dem  Tagebuch  Diwows  R.  St.  1897,  I,  S.  459  ergibt  sich,  daß  die 
Nachricht  vom  Tode  Alexanders  um  11  Uhr  50  Minuten  dem  Großfürsten  mit- 
geteilt wurde  und  daß  die  Vereidigung  des  Militärs  um  3V2  Uhr  beendet  war. 


14  K&pitel  I.    Das  Interregnum. 

einbart,  daß  dieser  ihm  Nachricht  geben  würde,  wenii  ein  Kurier 
aus  Taganrog  eintreffen  sollte.  Ob  nun  Grimm,  Prinz  Eugen  oder 
Miloradowitsch  den  6roßfursten>U>ewogen,  die  Loge  zu  verlassen, 
steht  nicht  unbedingt  fest.  Der  Großfürst  selbst  widerspricht  sich. 
Aber  Prinz  Eugen  erzählt  mit  großer  Bestimmtheit,  daß  er  auf 
einen  Wink  Miloradowitschs  Nikolai  leise  berührte,  dieser  dann 
sich  umblickte  und,  als  er  Miloradowitsch  sah,  sofort  die  Loge 
verließ  und  mit  ihm  in  das  Kabinett  der  Kaiserin  ging.  Der  Prinz 
folgte  langsam.  Im  Kabinett  fand  er  den  Großfürsten,  Milorado- 
witsch und  den  Feldjäger,  auch  Rühl  und  Willamow  traten  gleich 
danach  ein.  Nikolai  verlor  anfangs  alle  Fassung,  entschloß  sich 
aber  endlich  Rühl  zu  folgen,  der  der  Kaiserin  die  Nachricht  vom 
Tode  Alexanders  bringen  solltev.  Auf  ein  Zeichen  des  Großfürsten 
brach  die  gottesdienstliche  Handlung  plötzlich  ab;  die  Kaiserin- 
Mutter  verstand,  was  geschehen  war,  als  der  Großfürst  mit  ver- 
störtem Gesicht  in  die  Loge  trat.  Sie  verlor  die\|Besinnung  und 
wurde,  als  sie  wieder  zu  sich  gekommen  war,  in  ihre  Gemächer 
zurückgeführt.  Auch  der  Großfürst  verließ  die  Kirche  und  ging 
mit  dem  Prinzen  Eugen  und  den  Herren,  die  gefolgt  waren,  an  das 
andere  Ende  des  Palastes  „wo  er  in  der  zweiten  Hofkapelle,  nach 
dem  kurzen  Vortrag  eines  Geistlichen,  seinen  Namen  in  ein  großes 
Buch  unter  die  in  der  Eile  darin  aufgezeichnete  Eidesformel  für 
den  Kaiser  Konstantin  niederschrieb".  Der  Prinz  Eugen  unter- 
zeichnete als  zweiter,  darauf  alle^wesenden  höheren  Beamten.  Eine 
Kompagnie  des  Preobrashenski- Leibgarderegiments,  das  die  innere 
Wache  hatte,  sprach  der  Großfürst  persönlich  an  und  ließ  sie  da- 
nach, ohne  daß  ein  Widerspruch'4aut  geworden  wäre,  schwören. 
General  Potapow  wurde  beauftragt,  die  Hauptwache  und  die  übrigen 
Wachen  schwören  zu  lassen,  General  Neidhardt  in  das  Alexander- 
Newsky-Kloster  geschickt,  wo  sämtliche  Generale  der  Garde  zum 
Gottesdienst  versammelt  waren.  Er  sollte  dem  General  Woinow 
den  Befehl  überbringen,  alle  Garderegimenter  zu  vereidigen.  Den 
übrigen  Kommandos  und  Regimentern  in  und  um  Petersburg  gingen 
gleiche  Befehle  zu.  Um  37:«  Uhr  hatte  das  gesamte  Militär  dem 
Kaiser  Konstantin  den  Treueid  geleistet. 

So  war  eine  tatsächliche  Entscheidung  über  die  Nachfolge  im 
Reich  getroffen,  die  sich  kaum  rückgängig  machen  ließ,  die  aber 
unter  allen  Umständen  schwerevVerwicklungen  nach  sich  ziehen 
mußte.     Weder  Miloradowitsch  noch  der  Großfürst  Nikolaus  waren 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  15 

berechtigt  gewesen,  die  Befehle  zu  erlasäen,  die  die  Vereidigung 
der  Truppen  auf  den  Namen  des  Kaisers  Konstantin  zur  Folge  ge- 
habt hatten.  Die  Iniative  gehörte  den  drei  obersten  Körperschaften 
des  Reiches,  dem  Reichsrat,  dem  Senat  und  dem  heiligen  Synod. 
In  ihren  Archiven  waren  die>^versiegelten  Pakete  niedergelegt, 
welche  die  Abschriften  des  Testaments  Alexanders  I.  enthielten,  und 
die  eigenhändige  Aufschrift  des  verstorbenen  Kaisers  sagte  aus- 
drücklich, daß  auf  die  Nachricht  von  seinem  Tode,  „ehe  zu  irgend 
einer  anderen  Handlung  geschritten  werde"  —  also  auch  vor  der 
Eidesleistung  an  den  Thronerben  —  jene  Pakete  zu  öffnen  seien. 
Aber  weder  der  Justizminister  Fürst  Lobanow  Rostowskijdem  im 
Senat  diese  Pflicht  zufiel,  noch  der  Oberprokurator  des  heiligen 
Synods  Fürst  Meschtscherski,  fanden  Entschluß  und  Mut  zu  tun, 
was  ihre  Amtsstellung  verlangte.  Trotzdem  hätte  noch  alles  zum 
Besten  gekehrt  und  die  Thronbesteigung  Nikolais  vor  vollzogener 
Vereidigung  der  Truppen  proklamiert  werden  können,  wenn  dem 
Reichsrat,  den  der  alte  Präsident  Fürst  Lopuchin  rechtzeitig  be- 
rufen hatte,  ge^ttet  worden  wäre,  seine  richtig  erkannte  Pflicht 
zu  tun  und  mif^bergehung  Konstantins  den  Großfürsten  Nikolaus 
als  den  rechtmäßigen  Thronerben  der  Nation  vorzustellen.  Aber 
auch  hier  setzte  man  sich  schließlich  gegen  besseres  Wissen  über 
das  klare  Recht  hinweg,  um  den  Impulsen  zu  folgen,  die  Milorado- 
witsch  gegeben  hatte.  Der  Reichsrat  war  eine  Stunde  nach  der 
offiziellen  Kundgebung  der  Todesnachricht  im  Winterpalais  zu- 
sammengetreten, um  12  Uhr  Ö5  Minuten,  und  es  ist  doch  höchst 
charakteristisch,  daß,  nachdem  die  versiegelten  Papiere  von  dem 
Reichssekretär  Olenin  in  die  Versammlung  gebracht  worden  waren, 
der  Justizminister(:vorschlagen  konnte,  sich  um  das  versiegelte 
Paket  nicht  weiter  zu  kümmern.  Es  sei  doch  alles  dummes  Zeug 
(wsdor),  nachdem  einmal  der  Großfürst  Nikolai  Pawlowitsch  dem 
Kaiser  Konstantin  gehuldigt  habe.  Daß  er  damit  nicht  durchdrang, 
war  das  Verdienst  des  alten  Freundes  Alexanders,  des  Fürsten 
A.  Nik.  Golitzyn  und  Olenins,  denen  sich  nach  einigem  Schwanken 
auch  Lopuchin  anschloß.  Aber  es  verging  noch  geraume  Zeit  im 
Hin-  und  Herreden,  weil  man  den  feierlichen  Akt  der  Öffnung 
des  letzten  Willens  Alexanders  in  Gegenwart  Miloradowitschs  vor- 
nehmen wollte,  dieser  aber  auf  sich  warten  ließ.  Als  er  endlich 
erschien,  suchte  er  noch  im  letzten  Augenblick  das  Öffnen  des 
Testaments    zu    verhindern.     „Ich    habe    die   Ehre,"     sagte    er. 


16  Kapitel  I.     Das  Interregnum. 

„dem  Reichsrat  zu  melden,   daß  Se.  Kaiserliche  Hoheit,  der  Groß- 
fürst Nikolai  Pawlowitsch  geruht  ^at,  seinem  älteren  Bruder,  dem 
Kaiser  Konstantin  Pawlowitsch,  deV-Untertaneneid  zu  leisten."     Er, 
der  Generalgouverneur  und  die  Truppen  hätten  seiner  Majestät  be- 
reits geschworen.     Er  rate  den  Herren  diesem  Beispiel  zu  folgen; 
nach  geleistetem  Eide  stehe  ihnen  frei  zu  tun,   was  ihnen  beliebe. 
Aber  der  Graf  drang  nicht  durch.    Das  versiegelte i^aket  wurde 
geöffnet  und  unter  tiefem  Schweigen,  das  zeitweilig  vom  Schluchzen 
der  Zuhörer  unterbrochen  wurde,  verlas  Olenin  den  letzten  Willen 
Alexanders.     Es    konnte    nun    nicht   mehr    zweifelhaft   sein,    daß 
Konstantin  auf  den  Thron^erzichtet  hatte  und  Nikolai  Pawlowitsch 
der  rechtmäßige  Kaiser  war .J  Als  trotzdem  Miloradowitsch  die  Ver- 
sammlung   nochmals    aufforoerte,    dem    „Kaiser"    Konstantin    zu 
schwören,  verständigte  man  sich  schließlich  dahin,  den  Großfürsten 
durch  den  Grafen  Miloradowitsch  zu  bitten,  den  Reichsrat  mit  seinem 
Besuch  zu  beehren,  damit  man  aus  seinem  Munde  höre,  daß  er  wirklich 
fest  entschlossen  sei,  die  Krone  nicht  anzunehmen.  Aber  Nikolai,  der 
sich  eben  erst  so  eigenmächtig  über  alles  geltende  Recht  hinweg- 
gesetzt hatte,  wurde  jetzt  seMlfeinfühlend.    Er  ließ  durch  Milorado- 
witsch  erklären,   daß  er  sich   nicht  füf^berechtigt  halte,  an  einer 
Sitzung  des  Reichsrats  teilzunehmen,  und  daher  auch  den  Sitzungs- 
saal nicht  betreten  könne,   dagegen  war  er  auf  eine  neue  Anfrage 
hin  bereit,  die  Herren  in  corpore  zu  empfangen.^Nun  gingen  alle, 
von    dem    alten   Fürsten   Lopuchin  geführt,   zum  Großfürsten,    der 
schnellen  Schrittes    an  sie  herantrat  und  gleich  zu  reden  begann. 
„Er  blieb"   —  so  schildert  Olenin  die  Szene  —  „in  unserer  Mitte 
stehen,  die  rechte  Hand  mit  ausgestrecktem  Zeigeflngcr  über  seinen 
Kopf  emporhebend,    als   wollte   er  Gott  zum  Zeugen  seiner  Auf- 
richtigkeit anrufen,  er  war  bleich  und  die  Spuren  der  Tränen,  die  er  ver- 
gossen hatte,  noch  sichtbar.    „Meine  Herren,"  sagte  er,  „ich  bitte  Sie 
und  flehe  Sie  an,  um  der  Ruhe  des  Reiches  willen,  sofort  meinem 
Beispiele  und  dem    des  Heeres    folgend,    dem  Herrn    und   Kaiser 
Konstantin  Pawlowitsch  den  Treueid  zu  leisten.     Ich  werde  keinen 
anderen  Vorschlag  annehmen  und  will  nichts  anderes  hören."    Hier 
unterbrach    ihn    das  Schluchzen  der  Anwesenden    und   man   hörte 
einige  Stimmen   sagen:    welche  großmütige  Tat.     „Hier  ist  nichts 
großmütig,"  rief  der  Großfürst.    „Meine  Handlung  entspringt  keinem 
anderen  Antrieb,   als  dem,   die  heilige  Pflicht  zu  erfüllen,  die  ich 
meinem  älteren  Bruder  schulde.    KeineClirdische  Macht  kann  meine 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  17 

Gedanken  in  dieser  Frage  und  über  diese  Angelegenheit  wandeln. 
Ich  werde  mit  niemandem  beraten  und  sehe  nichts,  was  Lob  ver- 
dient. Ich  erfülle  meine  Pflicht,  weiter  nichts,  und  es  wäre  mir 
sehr  schmerzlich,  wenn  einer  von  Ihnen,  meine  Herren,  denken 
könnte,  daß  ich  auch  nur  einen  Augenblick  bei  einem  anderen 
Gedanken  stehen  bleiben  könnte,  als  bei  dem,  Konstantin  Pawlo- 
witsch  Treue  zu  schwören,  der  nach  dem  Tode  meines  Bruders 
und  Wohltäters  Alexander  mein  angestammter  Kaiser  ist  wie  der 
Ihrige.^L^  Hier  drängten  alle  auf  den  Großfürsten  zu,  um  ihm 
nach  russischer  Sitte  Rock  und  Ärmel  zu  küssen.  VAber  er  kam 
ihnen  zuvor,  umarmte  und  küßte  die  einen,  drückte  anderen  die 
Hand  und  wiederholte  dabei  immer  aufs  neue,  was  er  vorhin  ge- 
sagt hatte.  Nur  mit  vieler  Mühe  konnte  er  bewogen  werden,  den 
letzten  Willen  Alexanders  und  die  Thronentsagung  Konstantins  zu 
lesen.  „Er  wisse  bereits  alles,  diese  Sache  sei  ihm  nicht  ver- 
borgen geblieben,  aber  er  habe  sich  schon  damals  geschworen, 
wenn  das  Unglück  eintreten  sollte,  zu  handeln  wie  er  jetzt  getan. 
\^iemand  könne  seinen  Willen  brechen,  und  seine  erhabene  Mutter, 
der  diese  Sache  ebenso  vollständig  bekannt  gewesen  sei  wie  ihm, 
billige  seine  Handlungsweise  durchaus.^  Schließlich  nahm  er  dann 
die  Dokumente  aus  Olenins  Händen  und  las  sie  leise  für  sich,  wo- 
bei er  durch  den  Ausdruck  seines  Gesichts  und  durch  seine  Be- 
wegungen erkennen  ließ,  wo  er  mit  dem  Manifest  nicht  über- 
einstimmte, und  ebenso  sein  Bedauern  über  die  Abdankung 
Konstantins  zeigte.  Dann  bat  er  die  Anwesenden  nochmals,  den 
Eid  zu  leisten,  und  erbot  sich,  sie  zur  Kirche  zu  führen. 

Nun  erklärten  die  Herren  sich  einstimmig  bereit,  den  Eid  zu 
leisten,  und  so  haben  sie  in  Gegenwart  des  Großfürsten  in  der 
großen  Palastkirche  geschworen.^ 

>^Der  Empfang  der  Reichsratsmitglieder  durch  die  Kaiserin- 
Mutter,  der  gleich  danach  erfolgte,  trug  einen  ähnlich  dramatischen, 
fast  möchte  man  sagen,  theatralischen  Charakter.  Maria  Feodorowna 
saß  „in  völliger,  aber  majestätischer  Verzweiflung^  auf  ihrem  Sessel. 
Auch  sie  hielt  eine  Ansprache,  dieVon  demASchluchzen  der  An- 
wesenden begleitet  wurde,  und  auch  hier  bildeten  Küsse,  Tränen 
und  lautes  StöhneifYden  Abschluß.  Dann  kehrten  die  Herren  in 
ihren  Sitzungssaal  zurück  und  vertagten  sich,  um  das  inzwischen  vom 
Reichssekretär  fertigzustellende  Protokoll  zu  unterzeichnen.  Olenins 
Protokoll  ist  um  7  Uhr  abends  verlesen  und  gutgeheißen  worden  wor- 

Schiemann,  Geschichte  Rußlands.  II.  2 


18  Kapitel  I.     Das  luterregnum. 

auf  die  Reinschrift   von  sämtlichen  Reichsräten,  mit  Ausnahme  des 
Grafen  Miloradowitsch,  der  nicht  erschienen  war,  unterzeichnet  wurde. 

Nachträglich  ließ  auch  der  Großfürst  sich  das  Protokoll  vor- 
legen. Es  ist  für  seine  Geistesart  charakteristisch,  daß  er  sich  be- 
rechtigt glaubte,  den  Satz  zu  streichen,  der  von  seinem  „groß- 
mütigen Entschluß"  sprach.  Es  mußte  daher  eine  neue  Rein- 
schrift angefertigt  werden,  die  an  Stelle  der  anstößigen  Worte 
„seinen  unerschütterlichen  Willen"  setzte.  In  dieser  Fassung  wurde 
am  anderen  Morgen  das  Protokoll  nochmals  unterzeichnet  und  nun- 
mehr vom  Großfürsten  ausdrücklich  gutgeheißen. 

Diese  endgültige  Formulierung  aber  enthielt  den  Satz:  „dort 
geruhte  Se.  Kaiserliche  HoheiÄ^vor  dem  versammelten  Reichsrat 
selbst  mündlich  zu  bekräftigen,  daß  er  von  keinem  anderen  Vor- 
schlage hören  wolle,  als  von  dem,  Sr.  Kaiserlichen  Majestät  dem 
Herrn  und  Kaiser  Konstantin  Pawlowitsch  den  Eid  zu  leisten,  wie 
er  solchen  schon  selbst^bgelegt  habe;  daß  die  im  Reichs  rate 
vorgelesenen  Papiere  ihm  längst  bekannt  seien,  seinen  Ent- 
schluß aber  nicht  hätten  ei^schüttern  können." 

Die  Eidesleistung  aller  Zivilbeamten  machte  nun  weiter  keinerlei 
Schwierigkeiten;  für  Petersburg  war  die  endgültige  Entscheidung 
gefallen,  so  mußte  man  wenigstens  glauben.  Senat  und  heiliger  Synod 
erfuhren  zunächst  überhaupt  nichts  von  der  Existenz  des  Testaments, 
aber  es  konnte  doch  zweifelhaft  sein,  wie  Konstantin  sich  verhalten 
werde,  und  ob  in  Moskau,  wo  das  Original  des  kaiserlichen 
Testamentes  lag,  die  mit  Öffnung  desselben  betrauten  Personen, 
das  ist  der  Metropolit  und  der  Generalgouverneur,  nicht,  wie  es 
ihre  Pflicht  war,  auf  die  erste  Nachricht  vom  Tode  des  Kaisers 
ihrerseits  digH^ldigung  für  Nikolai  würden  vornehmen  lassen? 

Dem  Großfürsten  und  dem  Grafen  Miloradowitsch  wäre  es  wohl 
das  Liebste  gewesen,  wenn  die  versiegelten  Pakete  mit  dem  letzten 
Willen  Alexanders  bis  auf  weiteres  uneröffnet  liegen  geblieben 
wären.  Beide  rechneten  darauf,  daß  Constantin  nach  Petersburg 
kommen  und  dort  die  Regierung  in  aller  Feierlichkeit  von  sich  aus 
und  aus  kaiserlicher  Machtvollkommenheit  auf  den  Bruder  über- 
tragen werde.  Geschah  das,  so  war  an  eine  Opposition  der  Garden, 
wie  man  sie  fürchtete,  nicht  weiter  zu  denken,  und  der  Regierungs- 
wechsel konnte  sich  in  aller  Ruhe  vollziehen. 

Prinz  Eugen  von  Württemberg,  der  von  den  eigentlichen 
Motiven  Nikolais    ebensowenig    wußte    wie  die    übrige  Welt,    sie 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  19 

aber  mit  richtigem  Instinkt  an  iliren  Symptomen  erkannte,  wies 
die  Hauptschuld  an  den  Wirren  dem  Kaiser  Alexander  zu.  Eine 
Neuregelung  der  Thronfolge  hätte  sogleich  zu  öftentlicher  Kenntnis 
gebracht  werden  müssen.  ^Man^^chaltet  mit  der  Sukzession  der 
Regenten  nicht  wie  mitPrivattestaraenten.\^r  konnte  nicht  wissen, 
daß  der  Kaiser  ursprünglich  die  Veröffentlichung  schon  1823  hatte 
vornehmen  wollen,  und  nur  auf  Bitten  Nikolaus  davon  vorläufig 
Abstand  genommen  hatte.*)  Da  nun  aber  Alexanders  Mißgrift* ein- 
mal Tatsache  war,  hätte  man  nach  Meinung  des  Prinzen  folgender- 
maßen verfahren  müssen:  „Der  Reichsrat  legt  die  Abdikations- 
urkunde  Konstantins  dem  Großfürsten  Nikolaus  vor  und  dieser 
übernimmt  die  Regierung  mit  dem  Vorbehalt  erneuter  Anfrage  an 
den  rechtmäßigen  Thronerben  und  mit  der  Bitte,  dieser  letztere 
möge  seinen  früheren  Entschluß  widerrufen  und  seinen  ihm  ge- 
bührenden Platz  einnehmen.  Bis  zur  Entscheidung  führt  Großfürst 
Nikolaus  den  Vorsitz«im  Reichsrat  und  sorgt  für  Erhaltung  der 
Ruhe  und  für  die  vülTlge  Publizität  der  sich  auf  die  Thronfolge 
beziehenden  Aktenstücke."  Das  war  gewiß  richtig  gedacht  und 
hätte  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  dem  Großfürsten  eine  ruhige 
Thronbesteigung  gesichert  und  dem  Reich  eine  Erschütterung 
erspart,  die  von  lange  nachwirkenden  Folgen  sein  sollte.  Der  Groß- 
fürst Nikolaus  hatte  sich  in  eiuQ^iderspruchsvolle  und,  wie  ihm 
selbst  wohl  bewußt  war,  unhaltbare  Lage  versetzt.  Während  er 
sein  positives,  legitir^erworbenes  Recht  auf  den  Thron  verleugnete,  i — 
usurpierte  er  zugleich  Machtvollkommenheiten,  die  ihm  ohne  Zweifel 
nicht  zukamen.  Er  war  weder  berechtigt,  selbst  den  Bruder  zu 
proklamieren  und  ihm  zu  schwören,  noch  von  Reichsrat  und  Senat 
den  Eid  zu  verlangen,  zu  dem  er  sie  schließlich  fortriß  und  den 
sie  aus  Charakterlosigkeit  leisteten,  noch  auch  die  Truppen  ver- 
eidigen zu  lassen.  Da  Alexander  so  plötzlich  gestorben  war, 
Konstantin  als  präsumtiver  Erbe  des  Thrones  in  Warschau  weilte, 
Nikolai  als  designierter  Erbe  sich  weigerte,  die  Krone  anzunehmen, 
hatten  nur  Reichsrat  und  Senat  das  Recht,  die  Maßregeln  zu  er- 
greifen und  die  Befehle  zu  erteilen,  durch  welche  Rußland 
wiederum  in  geordnete  und  allgemein  anerkannte  staatsrechtliche 
Verhältnisse    zurückgeführt   werden  konnte.     So  urteilt  der  fran- 


0  conf.  unten  den  Bericht  des  Generals  Baron  Toll. 

2^ 


20  Kapitel  I.     Das  Interregnum. 

zösische  Botschafter  Graf  La  Ferronnays ')  durchaus  zutreffend,  und 
das  wird  auch  das  geschichtliche  Urteil  bleiben. 
Vsl      Nun  war  aber  die  Entwicklung  bereits  in  falsche  Bahnen  ge- 
idnkt  und  die  Kurzsichtigkeit  und  Eigenwilligkeit  Konstantins  mußten 
die  Verwirrung  und  Unsicherheit  der  Lage  noch  steigern. 

Schon  am  27.  gingen  Feldjäger  und  Kuriere  an  alle  Spitzen 
der  Verwaltungen  und  an  die  militärischen  Autoritäten  des  Reichs 
ab,  um  sie  von  der  in  Petersburg  gefallenen  Entscheidung  zu  unter- 
richten. Die  Vereidigung  auf  den  Namen  Konstantins  sollte  im 
j-  größten  Teil  des  Reiches  als  vollendete  Tatsache  dem  Cäsarewitsch 
^^ntgegengetragen  werden  und  ihm  dadurch,  wenn  er  bei  seinem 
Entschluß  beharrte  und  die  Krone  ablehnte  —  wie  sowohl  Milorado- 
witsch  als  Nikolai  annahmen  —  die  Notwendigkeit^Vauferlegen, 
feierlich  und  öffentlich  seinen  Ansprüchen  oder  vielmehr  der  ihm 
oktroyierten  Stellung  zu  entsagen.     Auch   schien  anfanglich  alles 


')  Depesche  vom  5./17.  Dezember  1825  Nr.  6  durch  französischen  Kurier 
conf.  auch  die  Depesche  vom  2./10.  Dezember,  welche  die  wichtige  Nachricht 
enthält,  daB  der  Kurier  mit  der  Nachricht  vom  Tode  Alexanders  am  27.  No- 
vember um  6  Uhr  morgens  in  Petersburg  eingetroffen  sei.  Ebenso  der  öster- 
reichische Botschafter  Lubzeltern  d.  d.  Petersb.  18./1.  Dezember  durch  preußischen 
Kurier  «le  27  Novembre,  jour  oü  le  funeste  evenement  fut  appris  ici  ä  7  heures 
du  matin  par  le  Feldjäger  Vimer,  expedie  de  Taganrog  le  19  Novembre  le 
matin."  Beide  Berichte  bestätigen,  daß  Nikolai  im  Reichsrat  erklärt  habe,  daß 
ihm  der  Inhalt  der  Akten  bekannt  sei.  Daß  Nikolai  auch  von  Alexander  selbst  über 
das  Manifest  unterrichtet  worden  war,  hat  der  Großfürst  Michail  am  9.  Dezember 
dem  General  Toll  folgendermaßen  erzählt:  „Als  der  Kaiser  davon  (von  der 
Abfassung  des  Manifests  und  der  Ernennung  Nikolais  zum  Thronerben)  dem 
Großfürsten  Nikolai  Pawlowitsch  Mitteilung  machte,  bat  seine  Hoheit  ihn 
dringend,  dieses  Testament  zu  vernichten,  da  nach  dem  Naturrecht  die  Nach- 
folge seinem  Bruder  Konstantin  gehöre,  aber  der  Kaiser  achtete  nicht  auf  seine 
Worte  und  wollte  das  Manifest  sofort  veröffentlichen  und  ihn  als 
Nachfolger  proklamieren.  Nikolais  und  der  Großfürstin  Alexandra  Feodorowna 
wiederholte  Bitten  bewogen  den  Kaiser  endlich,  das  Testament  dahin  zu 
modifizieren,  daß  es  erst  nach  dem  Tode  Alexanders  zur  Ausfuhrung  gebracht 
werden  sollte.^  Aufzeichnung  Tolls  vom  22.  Dezember  1825  in  60  Exemplaren 
als  Manuskript  gedruckt  in  der  Typographie  des  Kriegsministeriums  1898. 
Dieser  Zusammenhang  läßt  Nikolais  Verfahren  noch  bedenklicher  erscheinen. 
Auch  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  Konstantin,  vor  dem  Michail  keine  Ge- 
heimnisse hatte,  diese  Tatsachen  kannte.  Korff  (Die  Thronbesteigung  des  Kaisers 
Nikolaus  I.  Frankfurt  a.  M.  1857),  dem  das  ToIIsche  Manuskript  vorgelegen 
hat,  unterschlug  die  Wahrheit,  um  die  Fabel  von  der  Unkenntnis  Nikolais  auf- 
recht zu  erhalten. 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  21 

nach  Wunsch  zu  gehen.  Petersburg  blieb  ruhig.  Die  Militär- 
kolonien, um  deren  Verhalten  man  nicht  ohne  Sorge  war,  huldigten 
ohne  Zögern,  dann  folgte  die  Nachricht,  daß  die  finnländischen 
Stande  geschworen  hätten,  ohne  auf^-^rherige  Bestätigung  ihrer 
Privilegien  zu  dringen,  am  3.  Dezember  endlich ^fuhr  man,  daß 
auch  in  Moskau  sich  alles  nach  Wunsch  vollzogen  hatte.  Die 
Nachricht  vom  Tode  Alexanders  war  in  der  alten  Residenz  am 
28.  November  zunächst  als  Gerücht  verbreitet,  beunruhigte  den 
Metropoliten  Philaret  jedoch  so  sehr,  daß  er  am  29.  zum  General- 
gouverneur Fürsten  Dmitri  Wladimirowitsch  Golitzyn  ging  und 
ihm  von  den  in  der  Himmelfahrtskathedrale  liegenden  Dokumenten 
Mitteilung  machte.  Dabei  stellte  sich  heraus,  daß  Golitzyn,  der 
dem  Prälaten  bestätigte,  daß  der  Kaiser  allerdings  gestorben  sei, 
von  der  Xgüfägung  Alexanders  über  die  Thronfolge  und  von  der 
Existenz  des  Testamentes  nichts  wußte.  Das  Ergebnis  ihrer  Ver- 
handlungen war,  auf  jede  eigene  Initiative  zu  verzichten.  Die 
vom  verstorbenen  Kaiser  deponierten  Papiere  ließ  mau  ruhig  im 
Kirchenschrein  weiter  ruhen.  Sollte  ein  'Manifest  aus  Warschau 
eintreffen,  so  wollte  man  es  zunächst  geheim  halten  und  sich  unter 
allen  Umständen  der  Entscheidung  anschließen,  die  in  Petersburg 
getroffen  wurde.  Auch  hier  bestätigte  sich  derErfahrungssatz,  daß 
man  in  Rußland  gewohnt  ist,  weit  eh^  die  Verantwortung  für 
eine  Unterlassung,  als  für  eine  selbständige  Handlung  auf  sich  zu 
nehmen.  Offenbar  abdizjerte  Moskau  damit  politisch,  und  das  trat 
noch  deutlicher  zutage^y^ls  am  29.  abends  —  so  rasch  war 
Miloradowitschs  Kurier  gefahren  —  die  sehr  bestimmte  Anordnung 
des  Petersburger  Kriegsgouverneurs  eintraf,  der  zufolge  Moskau 
dem  Kaiser  Konstantin  huldigen,  das  Testament  Alexanders  aber 
nicht  erbrochen  werden  sollte.  So  wolle  es  der  Großfürst  Nikolai, 
der  dem  Kaiser  Konstantin  bereits  gehuldigt  habe.  Philaret  hat 
nur  noch  einige  schwächliche  Versuche  gemacht,  den  General- 
gouverneur von  einer  übereilten  Entscheidung  zurückzuhalten,  in- 
dem er  darauf  hinwies,  daß  das  Schreiben  Miloradowitschs 
nicht  den  Charakter  einer  Staatsurkunde  trage.  Golitzyn 
bestand  jedoch  auf  seinem  Willen.  Das  Äußerste,  wozu  er  sich 
bereit  fand,  war,  den  Moskauer  Senat  für  den  nächsten  Morgen 
zu  berufen,  ihm  den  Brief  Miloradowitschs  vorzulegen  und  einen 
Beschluß  der  Senatoren  herbeizuführen.  Philaret  versprach  da- 
gegen, sich  dieser  Entscheidung  zu  fügen.     Und  so  ist  dann  auch 


22  Kapitel  I.     Das  Interregoum. 

der  schließliche  Verlauf  gewesen.  Die  Senatoren  —  denen  von 
den  in  der  Ilimmelfahrtskathedrale  liegenden  Papieren  keinerlei 
Mitteilung  gemacht  wurde,  —  einigten  sich  dahin,  dem  Beispiele 
Petersburgs  Folge  zu  leisten.  Am  30.  vormittags  hat  ganz  Moskau 
dem  neuen  Kaiser  geschworen,  aber  erst  am  Abend  dieses  Tages 
traf  der  Senatsukas  aus  Petersburg  ein,  der  die  Vereidigung  in 
offizieller  Weise  anordnete.  So  haben  auch  hier  politische  Feigheit 
un(l4^ewissenlosigkeit  den  Ausschlag  gegeben.  Aber  Golitzyn  ist 
dafür  später  mit  dem  Andreasorden  und  Philaret  mit  einem 
Diamant-Brustkreuz  belohnt  worden.  Sie  hatten  beide  den  Zwecken 
gedient,  die  man  in  Petersburg  verfolgte.  Daß  damit  der  unzwei- 
deutige Befehl  des  verstorbenen  Kaisers  umgangen,  und  durch  die 
Huldigung  vor  Eintreffen  des  Senatsukases  eine  durchaus  ungesetz- 
liche Handlung  begangen  wurde,  die  unter  anderen  Verhältnissen 
als  ein  Staatsverbrechen  geahndet  worden  wäre,  kam  dem  gegen- 
über nicht  in  Betracht.  Wie  in  Petersburg,  ließ  man  die  Mittel 
durch  den  Zweck  heiligen. 

Weit  korrekter  und  jedenfalls  ehrlich,  wenn  auch  nicht  ohne 
Anllug  von  Donquichotterie,  die  all  seinem  Tun  anhaftet,  ist  der 
Großfürst  Konstantin  Pawlowitsch  verfahren. 

Er  war  seit  dem  19.  November  durch  fast  täglich  eintreffende 
Briefe  des  Generals  Diebitsch  erst  von  der  Erkrankung  des  Kaisers, 
dann  von  der  gefährlichen  Wendung  unterrichtet  worden,  die  das 
.^tückische Fiebergenommen  hatte, dasam Leben  Alexanderszehrte.  Seine 
steigende  Sorge  hatte  der  Großfürst  zunächst  für  sich  behalten.  Als  er 
am  25.  um  7  Uhr  abends  die  Nachricht  vom  Tode  des  Bruders  erhielt 
und  seinen  ersten  Schmerz  mit  der  Fürstin  Lowicz  und  Michail 
Pawlowitsch  geteilt  hatte,  berief  er  zum  Morgen  des  26.  seine 
nächsten  Vertrauten:  General  Kuruta,  den  Adjutanten  Kolsakow 
und  Nowossilzew,  weniger  um  Rats  zu  pflegen  als  um  ihnen  seine 
Entschlüsse  mitzuteilen.  Den  Titel  Majestät,  mit  dem  sie  ihn  auf 
die  Kunde  vom  Tode  Alexanders  anredeten;^wies  er  mit  leiden- 
schaftlicher Heftigkeit  zurück^).  Er  befahl,  den  Tod  Alexanders 
bis  auf  weiteres  geheim  zu  halten.  Was  er  selbst  zu  tun 
hatte,  wußte  er.  Seiner  Meinung  nach  gebührte  Maria  Feodo- 
rowna  in  Petersburg  die  formelle  Leitung  des  Übergangs  der  Re- 


^)  Er  hat  Kolsakow  deshalb  sogar  arretieren  lassen,  ihm  aber  bald  danach 
seineu  Degen  wieder  zurückgegeben. 


Kapitel  I.     Das  Interregnum.  23 

gierung  auf  Nikolai.  An  sie  richtete  er  ein  offizielles  Schreiben, 
in  dem  er,  unter  Berufung  auf  das  Reskript  Alexanders  vom 
2.  Februar  1822,  welches  ihn  von  seinem  Recht  auf  die  Thronfolge 
entband,  ausdrücklich  dieses  sein  Anrecht  dem  Großfürsten  Nikolai 
Pawlowitsch  und  dessen  Erben  abtrat.  jJJugleich  bat  er  die  Kaiserin, 
sein  Schreiben  gehörigen  Orts  (das  kann  nur  heißen  im  Reichsrat) 
bekannt  zu  machen  und  in  Ausführung  bringen  zu  lassen.  Ein 
zweites,  an  Nikolai  gerichtetes  Schreiben,  das  ebenfalls  für  die 
Öffentlichkeit  bestimmt  war,  wiederholte  den  Verzicht  und  brachte 
dem  Bruder  zugleich  den  Untertaneneid  des  Großfürsten.  Endlich 
schrieb  der  Großfürst  noch  einen  herzlich  gehaltenen  Privatbrief  an 
den  Bruder,  und  forderte  ihn  nochmals  auf,  den  Willen  Alexanders 
zu  ehren  und  genau  zu  erfüllen. 

Die  Oberbringung  dieser  Briefe  nahm  der  Großfürst  Michail 
Pawlowitsch  auf  sich.  Am  26.,  bald  nach  Mittag,  verließ  er 
Warschau.  Gleichzeitig  benachrichtigte  Konstantin  Diebitsch  und 
W'olkonski  von  dem,  was  geschehen  war.  Er  selbst  bleibe  als 
ihr  Dienstkamerad  auf  seinem  „bisherigen  Platze".  Befehle 
habe  er  ihnen  nicht  zu  erteilen,  die  seien  aus  Petersburg  zu  er- 
warten. 

A Damit  meinte  Konstantin  getan  zu  haben,  was  von  ihm  abhing, 

das  weitere  mußte  von  Petersburg  her  geschehen.  Wie  groß  war 
aber  das  Erstaunen  und  die  Entrüstung  des  Großfürsten,  als  am 
2.  Dezember  ihm  Lasarew  den  uns  bekannten  Brief  Nikolais,  das 
Protokoll  des  Reichsrats  und  Begleitschreiben  von  Olenin  und  Lo- 
puchin  überbrachte,  die  an  ihn  als  an  den  Kaiser  gerichtet  waren. 
Er  war  außer  sich  und  expedierte  sofort  einen  Feldjäger  an  Lo- 
pucbin.  Der  Reichsrat  sei  dem  Eide  untreu  geworden,  den  er  dem 
verstorbenen  Kaiser  geleistet,  auch  habe  er  keinerlei  Recht  gehabt, 
ihn,  den  Großfürsten,  ohne  sein  Wissen  und  ohne  seine  Zustimmung 
zu  proklamieren.  Der  Eid,  den  man  ihm  geschworen  und  zu  dem 
der  Reicbsrat  andere  verführt  habe,  sei  unrechtmäßig  und  ungesetz- 
lich, er  müsse  daher  annulliert  und  statt  dessen  ein  neuer  Eid  dem 
Kaiser  Nikolaus  geleistet  werden.  Dem  Bruder  aber  schrieb  Kon- 
stantin durch  Lasarew,  der  erst  am  3.  Dezember  Warschau  verließ, 
daß  er  von  seinem  Entschluß  nicht  abstehen,  auch  nicht  nach 
Petersburg  kommen  werde,  vielmehr,  wenn  nicht  alles  geordnet 
werde,  wie  Alexander  bestimmt  habe,  sich  ohne  Zögerung  „noch 
weiter"  entfernen  werde. 


24  Kapitel  I.    Das  Intorregnum. 

An  eben  diesem  3.  Dezember,  um  ö  Uhr')  morgens,  traf  Mi- 
chail, der  schon  unterwegs  erfahren  hatte  was  inzwischen  geschehen 
war^  in  Petersburg  ein.  ^Mit  ihm  jener  General  Opotschinin,  den 
man  am  27.  nach  Warschau  geschickt  hatte,  um  Konstantin  zur 
Annahme  der  Krone  zu  bewegen,  und  den  Michail,  weil  er  von 
der  Fruchtlosigkeit  dieser  Bemühungen  überzeugt  war,  veranlaßt 
hatte,  umzukehren.  Er  stieg  in  seinem  Palais  ab,  wo  ihn  Nikolai 
und  Miloradowitsch,  „der  in  diesen  Tagen  überall  und  fast  ununter- 
brochen sich  beim  Großfürsten  befand^,  sofort  aufsuchten-^^ber 
Miloradowitsch  wurde  bald  abgerufen,  weil  Feuer  in  den  Gebäuden 
des  Alexander-Newskiklosters  ausgebrochen  war,  und  beide  Groß- 
fürsten fuhren  nun  zusammen  ins  Winterpalai§.  Michail  mußte 
einige  Zeit  warten,  ehe  er  von  Maria  Feodorowna^Iempfangen  wurde, 
da  sie  schlief.  Dann  fand  eine  lange  Unterredung  zwischen  ihnen 
unter  vier  Augen  statt').  Zu  einem  bestimmten  Rat  wußte  die 
Kaiserin  sich  nicht  zu  erheben  und  auch  Michail  schwankte.^Beide 
neigten  der  Meinung  zu,  daß  mit  der  entschiedenen  Erklärung 
Konstantins,  daß  er  den  Thron  an  Nikolai  abtrete  und  diesem 
seinen  Treueid  übersende,  die  Frage  entschieden  sei,  und  gewiß 
hatten  sie  Recht.  Fand  man  den  Mut,  diese  Schreiben  und  dazu 
das  Testament  Alexanders  zu  veröffentlichen,  so  ließ  der  Fehler, 
der  mit  den^bereilten  Huldigung  begangen  war,  sich  wieder  gut 
machen.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hätte  es  wohl  scharfe 
Kritik,  aber  keinerlei  Widersetzlichkeit  gegeben.  Als  aber  der 
Großfürst  Nikolaus,  der  in  einem  Nebenzimmer  wartete,  heran- 
gezogen wurde,  zeigte  sich  dieser  durch  die  Botschaft  Konstantins 
wie  durch  die  mündliche  Botschaft  Michails  aufs  tiefste  enttäuscht.  *^' 
Er  hatte  mit  Sicherheit  erwartet,  daß  Konstantin  persönlich  nach 
Petersburg  kommen  und  die  Regierung  förmlich  auf  ihn  übertragen 
werde.  Die  beiden  offiziellen  Schreiben,  die  Michail  -ittb^rbracht 
hatte,  schienen  ihm  nicht  ausreichend,  um  eine  neue  Vereidigung 
vorzunehmen.  Er  fürchtete,  daß  Unruhen  zum  Ausbruch  kommen 
könnten,  und  hoffte  noch  immer,  daß  es  möglich  sein  werde,  den 

*)  So  Potapow  in  seinem  Brief  an  Diebitscb  vom  3.  Dezember.  Willamow 
gibt  6  Uhr  morgens  als  Stunde  des  Eintreffens  an. 

^)  So  nach  der  eigenhändigen  Aufzeichnung  des  Großfürsten  Michail 
Pawlowitsch.  Original  im  Petersb.  Reichsarchiv.  Der  Großfürst  setzt  die 
Unterredung  irrtümlich  auf  den  1.  statt  auf  den  3.  Dezember.  Er  war  damals 
noch  unterwegs. 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  25 

Bruder  zu  bewegen,  durch  sein  persönliches  Erscheinen  in  Peters- 
bürg  den  schweren  Übergang  zu  erleichtern./ Dazu  scheint  gerade 
damals  Miloradowitsch  ihn  mit  der  unsicheren  und  unzufriedenen 
Stimmung  der  6arder\geängstigt  zu  haben.  Auch  konnte  Michail 
sich  der  Tatsache  nicht  verschließen,  daß  seit  der  Vereidigung  der 
Truppen  auf  den  Namen  Konstantins,  die  Lage  eine  andere 
geworden  war^  als  an  jenem  26.  November,  da  er  mit  den  Briefen 
des  Großfürsten  Warachau  verlassen  hatte.  Aber  er  hielt  mit  seiner 
^lißbilligung  der  Handlungsweise  Nikolaus  nicht  zurück.  Als  er 
mit  dem  Bruder  allein  war,  fragte  er  ihn,  weshalb  hast  du  das 
alles  getan,  da  dir  doch  der  Verzicht  des  Zesarewitsch  und  die 
Akten  (akty)  des  verstorbenen  Kaisers  bekannt  waren  ?4-Die  Antwort 
Nikolais  war  ein  Hinweis  auf  die  Schwierigkeiten  seiner  Lage  und 
auf  seine  Hoffnung,  daß  Konstantin  nach  Petersburg  kommen  werde. 
Und  damit  mußte  Michail  sich  zufrieden  geben.  Vielleicht  spielte 
bei  Michail  auch  der  still -gehegte  Wunsch  mit,  daß  Konstantin 
trotz  allem  bereit  sein  könnte,  die  Last  der  Krone  auf  sich  zu 
nehmen*).  Jedenfalls  stimmte  auch  er  zu,  als  Nikolai  und  Maria 
Feodorowna  sich  dahin  verständigten,  im  Hinblick  auf  die  inzwischen 
erfolgten  Eidesleistungen  dem  Zesarewitsch  noch  einmal  zu  schreiben, 
und  ihm,  nach  Darstellung  der  Verhältnisse,  nahe  zu  legen,  durch 
sein  Erscheinen  in  Petersburg  oder  durch  Erlaß  eines  Manifestes 
die  Krisis  zu  günstigem  Ausgang  zu  führen.  Der  Großfürst  Niko- 
laus verfaßte  nun  ohne  allen  Zeitverlust  eine  umfassende  Denk- 
schrift in  russischer  Sprache,  welche  die  Ereignisse  vom  25.  No- 
vember bis  zum  3.  Dezember  in  historischer  Folge  erzählt  und 
mit  der  Nachricht  schließt,  daß  die  Militärkolonien,  Finnland  und 
MoskaudemKaiser  Konstantin  gehuldigt  hätten.  Diese  Denkschrift,  die 
eine  Reihe  kleinerUnwahrheiten  enthält  und  Wesentliches  verschweigt, "^ 
war  sehr  geschickt  abgefaßt  und  gibt  eine  nicht  geringe  Vorstellung 
von  den  Fähigkeiteir^des  Großfürsten ').  Der  französisch  geschriebene 
Privatbrief  ist  überaus  leidenschaftlich  im  Ton  und  darauf  berechnet, 
das  Verhalten  Nikolais  zu  entschuldigen.  Er  habe  zwar  vorher- 
gewußt, daß  Konstantin  an  seiner  Entsagung  festhalten 

1)  Das  glaubte  z.  B.  die  Gräfin  Nesselrode.  Das  oben  angeführte  Gespräch 
ist  in  einer  Yon  Nikolai  ausdrücklich  bestätigten  Aufzeichnung  Michails  ent- 
halten. 

3)  Zum  erstenmal  gedruckt  in  meinem  Buch:  Die  Thronbesteigung  Niko- 
laus I.     Berlin  1902. 


\ 


26  Kapitel  I.     Das  Interregnum. 

werde,  aber,  um  den  Staat  nicht  zu  geHihrden,  nicht  anders 
handeln  können.  Sein  Pflichtgefühl  sei  das  entscheidende  Motiv 
gewesen,  aber  er  werde  sich  dem  Willen  Konstantins  unterwerfen 
und  gehorchen,  das  schwöre  er  vor  Gott,  so  schwer  es  ihm  auch 
falle  0.  1 

Dagegen  sagtNikolai  in  keineinder  beiden  Schreiben,  daß  er  Kon- 
stantin in  Petersburg  erwarte,  und  ebensowenig  ist  von  dem  Manifest 
die  Rede,  das  in  zweiter  Reihe  als  Mittel  ins  Auge  gefaßt  war,  um 
den  Regierungswechsel  zu  erleichtern.  Opotschinin,  den  man  nun 
zum  zweitenmal  nach  Warschau  schickte,  sollte  mündlich  mit  diesen 
Vorschlägen  hervortreten.  Die  Kaiserin-Mutter  soll  ihm  bei  seiner 
Verabschiedung  gesagt  haben:  Führen  Sie  uns  Konstantin  her'). 

Noch  am  3.  abends  gingen  die  Briefe  Nikolais  nach  Warschau 
ab.  Michail  blieb  vorläufig  in  Petersburg,  aber  seine  Lage  wurde 
peinlich.  Man  wußte  bereits  in  Petersburg  von  dem  Verlauf  der 
Reichsratssitzung  und  zog  aus  der  Tatsache,  daß  Michail  dem 
Kaiser  Konstantin  nicht  gehuldigt  hatte,  naheliegende  Schlüsse. 
Jedenfalls  schien  die  endgültige  Entscheidung  über  das  künftige 
Schicksal  Rußlands  noch  nicht  getroflen  zu  sein.\/iline  Partei,  die 
für  Nikolai  war,  und  eine  andere,  die  zu  Konstantin  hielt,  begann 
sich  zu  bilden.  Überhaupt  wurde  die  Stimmung  unsicher.  iNachdem 
die  ersten  Tage  der  Trauer  über  den  Tod  Alexanders  dahingegangen 
wareu^regte  sich  die  Kritik.  Als  der  Minister  des  Innern,  Lanskoi, 
in  der  Plenarversammlung  des  Senats  am  4.  Dezember  den  Antrag 
stellte,  eine  Subskription  zu  einem  Denkmal  zu  veranstalten,  das 
die  Unterschrift  tragen  solle:  „Alexander  I.  dem  Gesegneten  das 
Volk",  verharrte  die  Versammlung  in  so  eisigem  Schweigen,  daß 
er  die  Sitzung  verließ.  Der  Antrag  wurde  danach,  wie  es  anders 
nicht  möglich  war,  zwar  einstimmig  angenommen,  aber  der  Senat 
strich  die  Worte  „der  Gesegnete"  und  setzte  dagegen^  Alexander  dem 
Ersten.  Rußland".  Es  bedurfte  des  Eingreifens  der  offenbar  tief  ver- 
letzten Kaiserin-Mutter,  um  den  ursprünglichen  Wortlaut  herzustellen. 
Unzweifelhaft  gärte  es  auch  in  den  Kreisen,  die  der  Regierung 
am  nächsten  standen.  Es  kam  daher  darauf  an,  die  Entscheidung 
nach  Möglichkeit  zu   beschleuniget^^  So  entschloß  man  sich  denn 


')  Das  Wort  „ich  habe  meine  Pflicht  erfüllt*    kehrt  regelmäßig  wieder, 
wo  Nikolai  von  den  Ereignissen  des  27.  November  spricht. 

^)  „amenez  moi  Constantin"  Gräfin  Nesselrode  d.  6.  Dez.  1.  I. 


Kapitel  I.     Das  Interregnum.  27 

am  5.  Dezember  nachmittags,  den  Großfürsten  Michail  wieder  nach 
Warschau  abzufertigen,  und  zwar  mit  einem  ganzen  Stabe  von 
Beamten,  damit  er  für  den  Fall,  daß  Konstantin  nach  Petersburg 
kommen  sollte,  ihn  inzwischen  vertreten  könne').  Auch  drei  Feld- 
jäger wurden  ihm  mitgegeben  und  die  Vollmacht,  alle  von  Kon- 
stantin einlaufenden  an  die  Adresse  Maria  Feodorownas  gerichteten 
Schreiben  den  Kurieren,  die  ihm  etwa  unterwegs  begegnen  könnten, 
abzunehmen  und  zu  öffnen. 

In  einem  Brief  vom  6.  Dezember*)  wird  uns  die  Stimmung,  die 
damals  in  den  Kreisen  herrschte,  die  Konstantins  drohende  Re- 
gierung fürchteten,  sehr  anschaulich  folgendermaßen  geschildert: 
„Unbegreiflich  ist  es,  daß  diese  ganze  so  überaus  wichtige  Angelegen- 
heit im  Schoß  der  Kaiserlichen  Familie  verhandelt  wird,  und  daß 
man  niemanden  um  Rat  fragt,  obgleich  es  der  Mühe  wohl  wert 
wäre.  Der  einzige,  dem  ein  gewisses  Vertrauen  zuteil  wird,  ist 
—  ich  schäme  mich,  es  zu  sagen  —  Miloradowitsch!  Sein  Einfluß 
geht  offenbar  darauf  zurück,  daß  man  ihm  die  Ruhe  zu  danken 
glaubt,  die  jetzt  herrscht.  Man  hat  aber  dafür  jedem  einzelnen 
dankbar  zu  sein  und  nicht  diesem  herzlosen  Polichinel.  Wahr- 
scheinlich hält  er  ihnen  stets  vor,  daß  alles  die  Herrschaft  Kon- 
stantins wünsche,  und  vielleicht  schreckt  er  sie  mit  den  Gefahren 
einer  neuen  Vereidigung,  welche  drohen,  wenn  Konstantin  dabei 
bleibt,  daß  er  nicht  regieren  wolle.  Das  ergibt  sich  aus  einigen 
Äußerungen  des  Großfürsten  Nikolaus,  die  man  mit  Sicherheit  aus 
dem  Palais  erfahren  hat.  Und  so  wird  dieser  Prinz,  den  der 
Kaiser  Alexander  in  seiner  Weisheit  von  dem  Regiment  ausschloß, 
von  der  Familie  und  der  öffentlichen  Meinung  gerufen.  Man 
fragt,  woraufhin?  Auf  nichts  hin,  behaupte  ich.  Er  ist  seit  zwölf 
Jahren  fern,  man  wünscht  ihn,  weil  es  heißt,  daß  er  sich  ver- 
ändert habe;  ich  aber  bin  fest  überzeugt,  daß  er  der  alte  geblieben 
ist,  und  ich  zittere  vor  dem  Gedanken,  daß  er  dem  süßen  Reiz, 
sich  gekrönt  zu  sehen,  nachgeben  könnte.  Ganz  abgesehen  davon, 
daß  schon  seine  Persönlichkeit  eine  ungeheuere  Ungelegenheit  be- 
deutet,  braucht  man  nur  an  die  Fürstin   Lowicz  und   deren   Um- 


')  Relation    des    preußischen   Geschäftsträgers    Küster    vom  12./24.  De- 
zember 1825. 

-)  Von    der   Gräfin   Nesselrode    an    ihren    Bruder   Nikolai  Graf  Guriew. 
ReicbsarcbiY  III  Nr.  43.    Sie  gehörte  zu  den  Gegnern  der  Partei  Konstantins. 


28  Kapitel  I.    Das  Interregnum. 

gebung  zu  denkeD,  die  aus  Lumpen  besteht  (crapuleux).  Eben  die 
Leute,  die  ihn  wünschen,  werden  blutige  Tränen  vergießen.  Man 
wird  ihn  nicht  im  ersten  Monat  kennen  lernen,  aber  vor  Ablauf 
eines  Jahres  wird  man  es  bitter  bereuen,  und  um  den  verstorbenen 
Kaiser  noch  heißere  Tränen  vergießen  als  jetzt,  denn  es  wird  die 
Regierung  des  Mißtrauens,  der  Spionage  und  tausend  kleiner,  er- 
bitternder Quälereien  sein.  ^Es  ist  traurig,  daß  der  Großfürst  Niko- 
laus sich  so  töricht  verhalten"  hat.  Die  Truppen  verabscheuen  ihn, 
es  heißt,  daß  er  heftig,  streng,  nachtragend  und  geizig  sei.  Man 
fürchtet,  für  den  Fall,  daß  er  regieren  sollte,  seinen  Mangel  an 
Erfahrung,  eine  starke  Neigung  zum  Kriegführen,  und  gewiß  möchte 
er  sich  einen  großen  Namen  verdienen.  Er  sagt  oft,  daß  es  eine 
i  Schande  sei,  eine  ruhmgekrönte  Armee  zu  befehligen,  wenn  man 
selbst  kein  Pulver  gerochen  habe.  Aber  er  ist  29  Jahre  alt;  viel- 
leicht hätte  er  als  Kaiser  die  militärischen  Kleinlichkeiten  aufgegeben, 
vielleicht  sich  als  Regent  ausgezeichnet,  den  Rat  erfahrener  Männer 
gehört,  und  ich  behaupte,  daß  man  unter  seinem  Regiment  freier  geatmet 
und  mehr  sein  eigener  Herr  gewesen  wäre,  als  unter  dem  Prinzen, 
den  wir  bald  den  Thron  besteigen  sehen  werden,  und  den  man  nur 
einem  despotischen  Orkan  vergleichen  kann.  Er  liebt  den  Groß- 
fürsten Nikolaus  nicht,  und  ich  bezweifle  sehr,  daß  sich  das  Ver- 
hältnis dadurch  bessert,  daß  er  ihm  den  Thron  zu  danken  hat  .  .  .^ 
Es  kommen  hier  nicht  alle  Sorgen  zum  Ausdruck,  die  sich  an 
den  Namen  Konstantins  knüpften. ^\^uch  seine  Vorliebe  für  die  Polen 
wurde  gefürchtet^),  während  andererseits  die  Besorgnis  bestand, 
daß,  wenn  Nikolaus  Kaiser  werden  sollte,  ein  selbständiges  Polen 
unter  Konstantin  als  König  die  Folge  sein  könnte.  So  schwankten 
die  Stimmungen  hin  und  her.  Der  Justizminister  und  der 
General  du  jour  Potapow  waren  entschieden  für  Konstantin,  ebenso 
Willamow,  der,  wie  er  sagte,  Konstantins  Thronbesteigung  wünschte, 
damit  Nikolai  Zeit  finde  auszureifen,  in  der  Armee  alles,  was  in 
Beziehung  zu  Nikolaus  getreten  war,  und  so  ist  es  begreiflich, 
daß  die  gut  bezeugte  Tatsache,  daß  Miloradowitsch  die  Stimmung 
der  Garden  benutzte,  um  auf  Nikolaus  zu  drücken,  ihre  einschüch- 
ternde Wirkung  nicht  verfehlte*).     So  ging  der  6.  Dezember,   der 

*)  Dewows  Tagebuch  1.  1. 

^)  Gespräch  des  Prinzen  Eugen  mit  Miloradowitsch.  Noch  am  10.  De- 
zember, als  es  bereits  wahrscheinlich  war,  daß  die  Krone  Nikolai  zufallen  mußte, 
flüsterte  Miloradowitsch  dem  Prinzen  zu:  Ich  fürchte  für  den  Erfolg,  denn  die 


Kapitel  I.     Das  Interregnum.  29 

Namenstag  Nikolais,v traurig  hin,  am  7.  brachte  ein  Feldjäger  aus 
Warschau  die  Nachricht,  daß  Konstantin  die  Vereidigung  der  littaui- 
schen  Armee,  trotz  des  ihm  zugesandten  Senatsukases,  nicht  gestattet 
habe.  Ohne  Rücksicht  darauf  wurden  von  Petersburg  aus  noch  immer 
alle  auf  den  Namen  des  Kaisers  adressierten  Papiere  nach  Warschau 
geschickt,  doch  hatte  der  Großfürst  Befehl  gegeben,  daß  alle  aus 
Warschau  eintreffenden  Feldjäger  direkt  zu  ihm  ins  Winterpalais 
dirigiert  werden  sollten.  Privatbriefe  aus  Warschau  ließ  er  von 
den  Adressaten  in  seineivGegenwart  öffnen.  So  unruhig  wartete 
man  auf  jedes  Symptom  der  bevorstehenden  Entscheidung.  Auch 
Araktschejew  hatte  es  nicht  ertragen,  länger  dem  Schauplatz  der 
Ereignisse  fernzubleiben.  In  der  Nacht  vom  6.  auf  den  7.  war  er 
in  Petersburg  eingetroffen  und  in  seiner  Wohnung  abgestiegen. 
Aber  er  ließ  niemanden  bei  sich  vor,  und  es  schien  sich  auch 
niemand  weiter  um  ihn  zu  kümmern,  worüber  er  sich  bei  Milo- 
radowitsch  schriftlich  bitter  beklagte.  Offenbar  waren  die  Tage 
seiner  Allmacht  dahin,  weder  zu  Nikolai  noch  zu  Konstantin  stand 
er  in  erträglichen  Beziehungen. 

Am  8.  langte  auch  der  Stabschef  der  ersten  Armee,  Baron 
Toll,  in  Petersburg  an.  Der  Graf  Osten-Sacken,  der  sein  Haupt- 
quartier in  Mohilew  hatte,  wo  die  Vereidigung  auf  den  Namen 
Konstantins  am  2.  Dezember  geschehen  war,  hatte  ihn  beauftragt, 
dem  Kaiser  Konstantin  davon  Meldung  zu  erstattem^Da  man  Kon- 
stantin in  Petersburg  vermutete,  sollte  er  dahin  reisen,  sich  aber 
so  einrichten,  daß  er  erst  zwei  Tage  nach  Eintreffen  des  Kaisers 
anlange.  Toll  verfuhr  danach,  erhielt  aber  am  7.  Dezember,  als 
er  in  Woronitschi,  240  Werst  von  Petersburg,  war,  von  Sacken  den 
Befehl,  nicht  länger  zu  zögern,  vsondern  möglichst  rasch  nach 
Petersburg  zu  reisen  und,  wenn  Konstantin  nicht  dort  sein  sollte 
den  Kaiser  in  Warschau,  oder  wo  sonst  immer  er  sei,  aufzusuchen. 
Toll  traf  am  8.  um  4  Uhr  nachmittags  in  Petersburg  ein,  und 
stattete  dort  dem  Großfürsten  Nikolaus  über  den  Inhalt  seines 
Auftrages  Bericht  ab.  Der  Großfürst  sowohl  wie  Maria  Feodorowna 
fertigten    ihn    mit    einigen    nichtssagenden  Worten  ab,   so  daß  er 

Garden  lieben  Nikolaus  nicht!  Und  auf  des  Prinzen  Entgegnung,  daß  die 
Garden  doch  nicht  mitzusprechen  hätten:  „Ganz  recht,  sie  sollten  nicht  mit- 
sprechen; haben  sie  es  aber  bei  Katharina  iL  und  bei  Alexander  I.  nicht 
getan?  Die  Lust  dazu  fehlt  diesen  Prätorianern  nie."  Schiemann:  Thron- 
besteigung Nikolaus  L  S.  123  u.  124. 


30  Kapitel  I.    Das  Interregnum. 

schon  nach  drei  Stunden  aufbrach,  um  seine  Reise  nach  Warschau 
wieder  aufzunehmen.  So  gelangte  er  am  9.  Dezember  nach  Jewe 
und  erfuhr  dort,  daß  der  Großfürst  Michail  schon  seit  einigen 
Tagen  auf  der  benachbarten,  auf  seinem  Wege  liegenden  Station 
Nennal  (in  Estland)  sei.  Dort  traf  Toll  um  9  ühr  abends  ein, 
und  der  Großfürst  überreichte  ihm  sofort  ein  Schreiben  Nikolais, 
daß  durch  einen  unmittelbar  nach  Tolls  Abreise  aus  Petersburg 
expedierten  Feldjäger  vof  ihm  in  Nennal  abgeliefert  worden  war. 
Der  Inhalt  sagte,  daß  die^Veiterfahrt  nach  Warschau  gegenstandslos 
sei.  Der  Großfürst  Michail  werde  ihm  alles  nötige  mitteilen.  Das 
geschah  denn  auch,  und  wir  danken  diesem  Umstände  einen  ganz 
unverdächtigen  Bericht  über  die  Petersburger  und  Warschauer  Er- 
eignisse, der  eine  unserer  wichtigsten  Quellen  geworden  ist. 

Michail  hatte  am  8.  Dezember  glücklich  den  Feldjäger  getroffen, 
der  die  fulminante  Antwort  Konstantins  auf  das  Schreiben  des 
Präsidenten  des  Reichsrats  Lopuchin  brachte,  und  schon  aus  dem 
Vermerk  auf  dem  Kuvert  „von  Sr.  Kaiserlichen  Hoheit  dem  Ze- 
sarewitsch'^  erkannt,  daß  Konstantin  in  seinen  Entschlüssen  nicht 
wankend  geworden  wart^In  Nennal  war  er  dann  mit  dem  zurück- 
kehrenden Lasarew  zusammengetroffen  und  hatte,  wie  es  ihm  seine 
Vollmacht  gestattet^  das  Antwortschreiben  Konstantins  an  Niko- 
laus geöffnet.  Es  war  der  Brief  vom  2.  Dezember,  dessen  Inhalt 
wir  bereits  kennen,  eine  Ablehnung,  aber  keine  Entscheidung. 

So  entschloß  sich  denn  Michail,  in  Nennal  zu  bleiben  und 
entweder  die  Antwort  auf  die  Schreiben  Nikolais  vom  3.  Dezember 
abzuwarten,  oder  aber,  wenn  Nikolai  es  befehlen  sollte,  nach  Peters- 
burg zurückzukehren.  In  diesem  Sinne  schrieb  er  dem  Bruder. 
Er  mußte  noch  vier  volle  Tage  warten.  Erst  am  12.,  um  4  Uhr 
nachmittags,  traf  ein  Feldjäger  mit  dem  Befehl  ein,  daß  Michail 
und  Toll  sofort  nach  Petersburg  j^isen  sollten.  „Endlich  ist  alles 
entschieden,  und  ich  muß  dieM^ürde  des  Kaisertums  auf  mich 
nehmen",  das  waren  die  Worte  Nikolais. 

Im  Grunde  war  man  schon  am  10.  in  Petersburg  völlig  darüber 
im  klaren,  wie  die  Entscheidung  fallen  werde,  und  des'^Vartens 
herzlich  müde  geworden^).  Auch  hatte  Nikolai  durch  Miloradowitsch 
in  aller  Stille  die  Vorbereitungen  für  eine  neue  Vereidigung  treffen 


0  „II    est   temps    que    ces    honnetet^s    finissent^    schreibt    die    Gräfin 
Nesselrode  am  10.  Dezember. 


Kapitel  I.    Das  Interregoum.  31 

lassen.  Die  Manifeste,  durch  welche  Nikolai  seinen  Regierungs- 
antritt ankündigen  wollte,  waren  bereits  fertiggestellt.  Man  wartete 
nur  noch  auf  die  ofüzielle  Beantwortung  der  Briefe  vom  3.  Dezember 
und  hoffte  zugleich,  ein  von  Konstantin  unterzeichnetes  Manifest 
zu  erbalten,  das  seine  Abdankung  feierlich  bestätigte.  Nikolai 
sprach  bereits  davon,  wie  er  als  Kaiser  handeln  wolle.  Er  wisse, 
daß  er  ein  unangenehmer  Brigadegeneral  und  ein  unerträglicher 
Divisionär  gewesen  sei.  Damals  habe  er  so  handeln  müssen.  Jetzt 
aber  sei  seine  Stellung  eine  andere,  und  er  werde  sich  anders  ver- 
halten *).  Dem  Grafen  Nesselrode  aber  hatte  er  gesagt,  in  der  aus- 
wärtigen Politik  sei  er  entschlossen,  sich  aller  Einmischung  in  die 
inneren  Angelegenheiten  anderer  Staaten  zu  enthalten.^  Er  werde 
weniger  Ratschläge  erteilen  als  Alexander,  und  so  viel  wie  irgend 
möglich  für  die  Erhaltung  des  Friedens  eintreten.  So  gingen  in 
Sorgen  und  Spannung  die  Tage  hin. 

Da,  am  12.  Dezember  um  7  Uhr  morgens,  wurde  der  Groß- 
fürst mit  der  Meldung  geweckt,  daß  der  Kommandant  von  Taganrog, 
Oberst  Frederiks  vom  Ismailowschen  Regiment,  mit  einem  Paket 
„höchst  bringender"  Depeschen  eingetroll'en  sei.  Sie  waren  zwar 
zu  eigenen  Händen  Sr.  Majestät  des  Kaisers  adressiert,  aber  Fre- 
deriks war  ausdrücklich  beauftragt,  wenn  Konstantin  nicht  in  Peters- 
burg sein  sollte,  sie  dem  Großfürsten  zu  übergeben.  Es  war,  von 
General  Diebitsch  übersandt,  der  Bericht,  den  der  Unteroffizier  des 
3.  Bugschen  Ulanenregiments,  Sherwood,  über  den  Zusammenhang 
der  von  ihm  entdeckten  Verschwörung  eingesandt  hatte'),  eine 
zweite  gegen  die  Verschwörer  gerichtete  Denunziation,  die  vom 
Kapitän  des  Wjatkaschen  Infanterieregiments,  Maiboroda,  verfaßt 
war,  drittens  endlich  Angaben  über  die  Verschwörung,  welche  auf 
den  General  Grafen  Witt  zurückgingen,  der  das  Oberkommando 
über  die  Kolonien  im  Süden  hatte.  Alexander  hatte,  wie  wir  ge- 
sehen haben,  auf  die  Angaben  hin,  die  ihm  Sherwood  und  Graf 
Witt  gemacht  hatten,  weitere  Untersuchungen  anstellen  lassen,  und 
das  Resultat  lag  nunmehr  vor.  Maiborodas  Enthüllungen  waren  ganz 
neuen  Datums  und  betrafen  vornehmlich  Pestel  und  Nikita  Mu- 
rawjew,  auch  meinte  er  angeben  zu  können,  wo  der  Pestelsche 
Verfassungsentwurf,  die  sogenannte  „Russkaja  Prawda",  liege.     Die 


0  Die  Gräfin  Nesselrode  1.  1. 
^)  conf.  Bd.  I  S.  503  ff. 


32  Kapitel  I.     Das  Interregnum. 

Summe  dieser  Nachrichten  gab  ein  allerdings  sehr  beunruhigendes 
Bild  von  den  Gefahren,  die  dem  Staat  und  der  kaiserlichen  Familie 
drohten,  und  es  ist  begreiflich,  daß  der  Großfürst  erschrak.^ Es 
lag  auf  der  Hand,  daß  er  handeln  mußte.  Auch  hat  er  nunmehr, 
was  an  ihm  lag,  getan.  Er  berief  Miloradowitsch,  „der  als  General- 
Kriegsgouverneur  hier  alles  macht"  —  wie  Nikolai  noch  am  12. 
dem  General  Diebitsch  schrieb  — ,  den  Fürsten  Golitzyn  und  den 
Grafen  Benkendorif,  um  mit  ihnen  Rats  zu  pflegen.  Da  Arak- 
tschejew,  den  der  Großfürst  am  10.  zum  erstenmal  gesprochen  hatte, 
im  Verlauf  des  Gesprächs^uch  auf  das  Bestehen  einer  Verschwörung 
hingewiesen  hatte,  wurde  Miloradowitsch  zu  ihm  geschickt,  um  Näheres 
zu  erfahren.  Aber  Araktschejew Weigerte  sich,  ihn  zu  empfangen, 
obgleich  Miloradowitsch  ausdrücklich  sagen  ließ,  daß  er  im  Auftrage 
des  Großfürsten  komme,  „weil  er  sich  zur  Regel  gesetzt  hatte,  nie- 
manden, weder  bei  sich  noch  sonstwo,  zu  sehen,  selbst  nicht  in 
dienstlichen  Angelegenheiten".  Unzweifelhaft  hä^tte  Miloradowitsch, 
sobald  er  seine  volle  Autorität  einsetzte,  sich  den2utritt  erzwingen 
können,  wie  es  unter  den  vorliegenden  Verhältnissen  seine  Pflicht 
war,  aber  gerade  in  diesen  Tagen  äußerster  Spannung  hat  er  es 
an  Energie  und  Umsicht  fehlen  lassen. 

Aus  den  von  Diebitsch  eingesandten  Berichten  ergibt  sich, 
daß  die  Namen  der  Hauptführer  fast  sämtlich  bekannt  waren: 
Pestel,  Rylejew,  Ssergej  Murawjew,  Bestushew-Rjumin,  Michail 
Orlow.\J}riff  man  rasch  und  entschlossen  zu,  so  war  es  durch- 
aus möglich,  das  ganze  Nest  der  Petersburger  Verschwörer  auf- 
zuheben und  damit  jeden  Versuch  einer  Erhebung  und  jede 
wirkliche  oder<j^ermeintliche  Gefahr  im  Keime  zu  ersticken. 
Aber  Miloradowitsch  begnügte  sich  damit,  auf  die  in  Peters- 
burg nicht  anwesenden  Personen  Jagd  zu  machen,  auf  die  An- 
wesenden wollte  er  „seine  besondere  Aufmerksamkeit  richten" '). 
In  Wirklichkeit  geschah  nichts,  obgleich  Rylejew  ihm  persönlich 
wohlbekannt  war  und  er  in  dessen  Wohnung  fast  den  ganzen 
Petersburger  Kreis  der  Verschworenen  beisammen  gefunden  hätte. 
Während  er  bisher  Nikolai  mit  der  Stimmung  der  Garden  für  Kon- 
stantin geängstigt  hatte,  wiegte  er  ihn  jetzt  in  trügerische  Sicher- 
heit. „Ich  halte  es  für  meine  Pflicht"  —  schrieb  Nikolai  in  dem 
oben  erwähnten  Briefe  an  Diebitsch  —  „zur  Ehre  unserer  Garde  zu 


^)  Schreiben  Nikolais  an  Diebitsch   vom   12.  Dezember,  das  unsere   zu- 
verlässigste Quelle  für  diese  Frage  ist. 


Kapitel  I.     Das  Interregnum.  33 

sagen,  daß  ich  fest  überzeugt  bin,  daß  hier  sehr  wenig  Teilnehmer 
an  dem  Verbrechen,';!. vielleicht  gar  keine,  vorhanden  sind.  Das  be- 
weist anwiderleglich>  die  musterhafte  und  einzigartige  Ordnung,  die 
hier  überall  seit  dem  schrecklichen  27.  November  eingehalten  wurde. 
Man  kann  vielleicht  sagen,  daß  bei  Lebzeiten  des  Kaisers  hier  nie 
gleiche  Ordnung  herrschte;  ich  würde  vor  Gott  und  mir  selber 
^sündigen,  wenn  ich  anders  reden  wollte.  Aber  Gott  vertrauen  und 
selbst  nichts  unterlassen,  das  war  und  wird  bis  ans  Ende  unser 
Wahlspruch  sein  —  und,  wir  legen  die  Hände  nicht  in  den  Schoß." 
Diese  erstaunliche  Selbsttäuschung  wird  noch  unfaßbarer,  wenn 
man  sich  erinnert,  daß  Nikolais  intimster  Freund  Benkendorif,  den 
der  Großfürst  mit  Tierangezogen  hatte,  der  Verfasser  jener  Denk- 
schrift von  1821.  war,  die  dem  Kaiser  Alexander  den  Zusammen- 
bang der  Verschwörung  bis  in  das  Detail  hinein  enthüllt  hatte,  und 
die  zum  Teil  dieselben  Personen  als  verdächtig  bezeichnete,  die 
Diebitsch  genannt  hatte. 

Auch  mußte  Nikolai  die  Illusion,  daß  er  von  Petei*sburg  nichts 
zu  fürchten  habe,  bald  fahren  lassen.  Am  Abend  jenes  ereignis- 
reichen 12.  Dezember  teilte  ihm  der  Adjutant  des  Generals  Bistramb 
von  der  Gardeinfanterie,  Sekondeleutnant  Jakob  Rostowzew,  erst 
brieflich,  dann  mündlich  mit,  daß  bei  der  neuen  Eidesleistung  eine 
Empörung  ausbrechen  werde,  und  daß  Grusien,  ßessarabien,  Finn- 
land und  Polen,  vielleicht  auch  Littauen,  sie  nutzen  würden,  um 
sich  von  Rußland  loszureißen.  Er  nannte,  weil  er  kein  Denunziant 
sein  könne,  keine  Namen,  aber  seine  Angaben  waren,  so  weit  es 
sich  um  den  in  Petersburg  drohenden  Aufstand  handelter^o  bestimmt, 
daß  ein  Zweifel  nicht  möglich  war.  Es  hat  dann  zwischen  Nikolai 
und  Rostowzew  eine  pathetische  Szene  mit  Küssen  und  Freund- 
schaftsbeteuerungen gegeben,  einen  realen  Nutzen  brachten  jene 
halben  Enthüllungen  nur  indirekt:  weder  hat  Rostowzew  seine 
Freunde  und  Bekannten  dadurch  gerettet,  noch  den  Ausbruch  des 
Aufstandes  verhindert.  Das  Verhängnis  nahm  seinen  Lauf,  weil 
Nikolai  und  Miloradowitsch  nicht  zu  den  Maßregeln  zu  greifen  ver- 
standen, die  allein  helfen  konnten.  Und  doch  hätte  Nikolai  jetzt 
mit  ganz  anderer  Autorität  einschreiten  können  als  ihm  bisher, 
wegen  der  Schranken,  die  er  sich  selbst  gesetzt  hatte,  möglich  ge- 
wesen war.  Wenige  Stunden  vor  Rostowzews  Enthüllungen  war 
endlich  die  Antwort  auf  die  Briefe  vom  3.  Dezember  eingetroffen.  Der 
Kurier,  der  sie  überbrachte,  hatte  seinen  Weg  von  Warschau  aus  nicht 

Schicmann,  Geschieht«  Rußlands.  IL  3 


34  Kapitel  I.     Das  Interregnum. 

über  Riga  und  Estland  genommen,  wo  er  notwendig  mit  dem  Groß- 
fürsten Michail  zusammengetroffen  wäre, sondern  über  Brest — Litowsk. 
Was  er  brachte,  war  die  nochmalige  feierliche  Entsagung  Konstantins 
and  das  heiß  ersehnte  Manifest,  in  dem  er  „seinen  geliebten  Lands- 
leuten**  die  Geschichte  seiner  Verzichtleistung  auf  den  Thron  zu- 
gunsten Nikolais  als  ein  persönlich  von  ihm  in  Rücksicht  auf  die 
Ruhe  und  Wohlfahrt  Rußlands  gebrachtes  Opfer  ausführlich  dar- 
legte. Auch  die  Aktenstücke,  die  den  Zusammenhang  seiner  Dar- 
stellung belegten,  waren  dem  Manifest  angeschlossen.  Das  Ganze 
würdig  gehalten,  im  Vollgefühl,  daß  er  während  der  ganzen  Krisis 
als  einziger  von  Anfang  bis  zu  Ende  korrekt  gehandelt  habe. 

So  war  endlich  aller  Zweifel  beseitigt;  Nikolai  war  Kaiser  von 
Rußland,  und  es  handelte  sich  jetzt  nur  noch  um  die  Frage,  wie 
der  Übergang  zum  neuen  Regiment  zu  vollziehen  sei.  Auch  Nikolai 
mußte  mit  einem  Manifest  an  die  Öffentlichkeit  treten.  Es  ist, 
nachdem  er  selbst  den  historischen  Teil  an  Benkendorif  diktiert 
hatte  und  ein  erster  Entwurf  Karamsins  verworfen  worden  war, 
von  Speranski  redigiert  worden.'J  Zu  Mitwissern  der  nun  unmittelbar 
bevorstehenden  Proklamierung  waren  außer  den  schon  genannten 
Personen  und  Milorado witsch  noch  der  Metropolit  Seraphim,  Fürst 
Lopuchin  und  General  Woinow  herangezogen  worden*^  Man  fand 
es  nicht  möglich,  schon  am  13.  den  feierlichen  Akt  vorzunehmen. 
Nikolai  wollte,  da  Konstantin  nochmals  auf  das  bestimmteste  er- 
klärt hatte,  daß  er  nicht  kommen  werde,  wenigstens  Michail  an 
seiner  Seite  sehen.  Auch  wurde  sofort  ein  Kurier  nach  Nennal 
expediert,  um  ihn  und  Toll  nach  Petersburg  zurückzurufen.  Man 
berechnete,  daß  er  am  13.  etwa  um  8  Uhr  eintreffen  könne,  und 
berief  auf  diese  Stande  den  Reichsrat.  Infolge  der  von  Rostowzew 
angekündigten  Revolte  setzte  Nikolai  nachträglich  fest,  daß  die 
Vereidigung  von  Senat  und  Synod  am  14.  schon  um  7  Uhr  morgens 
stattfinden  solle.  Gleichzeitig  sollten  auch  alle  Zivilbehörden  den 
Huldigungseid  schwören,  das  Militär  um  6  Uhr  morgens  zum 
Schwur  bereit  sein,  die  Offiziere  sich  um  7  Uhr  bei  ihren  Regiments- 
kommandeuren versammeln,  und  um  12  Uhr  vor  dem  Winterpalais 
eine  Parade  abgehalten  werden.  Für  2  Uhr  mittags  war  dann  der 
Empfang  der  Glückwünsche  durch  das  Kaiserpaar  angesetzt. 

Das  war  das  Programm,  das  zum  Teil  erst  am  13.  festgestellt 
wurde.  Dieser  Tag  war  ein  Sonntag,  und  Nikolai  hätte  auch  jetzt 
noch  alle  Zeit  gehabt,  durch  rechtzeitiges  Eingreifen  den  erwarteten 


Kapitel  I.    Das  Interregnum.  35 

Aufstand  im  Keim  zu  ersticken.  Aber  unbegreiflicherweise  konnte 
er  den  Entschluß  dazu  nicht  finden,  obgleich  der  Kriegsminister 
Tatischtschew,  dem  er  nun  auch  von  der  entdeckten  Verschwörung 
Mitteilung  machte,  ihn  um  die  Erlaubnis  bat,  die  Verdächtigen  zu 
verhaften.  „Nein,**  antwortete  er  ihm,  „ich  will  nicht,  daß  der  Ver- 
eidigung Arretierungen  vorausgehen,  das  würde  auf  alle  einen 
schlechten  Eindruck  machen.^  Komme  es  zu  Unordnungen,  dann 
sei  der  rechte  Augenblick,  und  man  werde  ihm  dann  nicht  Unge- 
rechtigkeit oder  Willkür  vorwerfen  können. 

Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  auch  hier  die  falsche  Weis- 
heit und  Leichtfertigkeit  Miloradowitschs  aus  Nikolai  spricht.  Aber 
selbst  dann  trifft  die  Verantwortung  ihn.  Daß  die  Lage  ernst  war, 
und  daß  er  einer  Entscheidung  auf  Leben  und  Tod  entgegenging, 
wußte  er  wohl.  Der  Gedanke  kommt  in  den  Briefen  zum  Aus- 
druck, die  er  am  12.  und  IB.  schrieb.  Auch  hat  er  gleich  damals 
sein  Testament  gemacht.  Im  übrigen  aber  blieb  es  bei  Worten. 
Als,  wie  verabredet  war,  um  8  Uhr  der  Reichsrat  sich  zu  einer 
außerordentlichen  Sitzung  versammelte,  war  Michail  noch  nicht 
eingetroffen.  Man  wartete  bis  12  Uhr  nachts,  da  endlich  entschloß 
sich  Nikolai,  die  Sitzung  eröffnen  zu  lassen.  Sie  nahm  einen 
würdigen  und  feierlichen  Verlauf.  Nikolai  begann  mit  Verlesung 
des  Manifestes,  das  Speranski  verfaßt  hatte;  danach  ließ  er  nur 
noch  das  Schreiben  Konstantins  an  Lopuchin  vortragen,  in  welchem 
das  Verhalten  des  Reichsrats  am  27.  November  so  rücksichtslos  und 
scharf  verurteilt  wurde.  Dann  schloß  er  die  Sitzung.  Das  Inter- 
regnum hatte  seinen  Abschluß  gefunden,  Nikolai  Pawlowitschs 
Regierung  begonnen. 


Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  der 

Revolntion. 

Es  war  keineswegs  eine  notwendige  Folge  der  Tätigkeit  der 
geheimen  Gesellschaften,  daß  die  Regierung  des  neuen  Herrschers 
durch  eine  Militärrevolte^-eingeleitet  wurde.  Vielmehr  spricht  alle 
Wahrscheinlichkeit  dafür^  daß,  selbst  wenn  die  Regierung  keinerlei 
Kunde  von  den  Plänen  der  Verschworenen  gehabt  und  sie  sich 
selber  überlassen  hätte,  ihre  ganze  Organisation  über  kurz  oder 
lang  tatenlos  zusammengebrochen  wäre.     Denken  wir  uns,  daß  der 

3* 


3ß        Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

27.  November  nach  vorausgegangener  Veröffentlichung  der  letzwilligen 
Bestimmungen  Alexanders  über  die  Thronfolge  statt  mit  der  Pro- 
klamierung Konstantins  mit  dem  Treueid  für  den  Kaiser  Nikolaus 
seinen  Abschluß  gefunden  hätte,  so  war  nicht  zu  erwarten,  daß  die 
schlecht  organisierten  Verschwörer  die  Neigung  gezeigt  hätten,  sich 
wider  ihn  zu  erhebeniJ  Auch  lag  es  im  Interesse  der  Regierung,  das 
durch  die  Enthüllungen,  welche  Diebitsch  ihr  zutrug,  gesammelte 
Material  geheim  zu  halten  und  sich  mit  Beobachtung  der  Verdäch- 
tigen zu  begnügen.  Es  genügte,  die  Führer  unschädlich  zu  machen, 
etwa  Pestel,  Obolenski  und  Rylejew,  und  das  ließ  sich  sehr  wohl 
ohne  jedes  Aufsehen  erreichen.  \^\Venn  dann  Nikolai,  der  Stimme 
der  öffentlichen  Meinung  folgend,  sein  Regiment  mit  der  Entlassung 
Araktschejews  und  der  Aufhebung  der  Militärkolonien  begann,  so 
daß  sich  die  Hoffnung  auf  bessere  Tage  als  unter  Alexander  richten 
konnte,  läßt  sich  voraussehen,  daß  ihm  die  Herzen  ebenso  enthu- 
siastisch zugefallen  «wären,  wie  vor  einem  Vierteljahrhundert  dem 
jungen  Alexander,  ^^exander  hatte  den  Schleier  der  Vergebung 
über  einen  vollzogenen  Kaisermord  decken  und  mit  den  Mord- 
genossen und  zahlreichen  Mitwissern  des  Anschlages  leben  und 
regieren  müssen  bis  ans  Ende.  Sie  saßen,  zum  Teil  noch  mit  Ehren 
und  Würden  geschmückt,j^m  Reichsrat  —  Nikolai  brauchte  nur 
über  Pläne  und  freche  Reden  vornehm  hinwegzusehen,  deren  Wurzel 
irregeleitete  und  verbitterte  Vaterlandsliebe  war.  Daß  Pläne  und 
Worte  in  den  Versuch  ausmündeten,  mit  schlechten  Mitteln  eine 
Staatsrevolution  herbeizuführen,  ist  vornehmlich  seine  Schuld  und 
die  der  Männer  gewesen,  die  ihn  beraten  haben. 

Am  27.  November  traf  die  Nachricht  vom  Tode  Alexanders 
die  Petersburger  Verschworenen  völlig  fassungslos  und  ohnmächtig. 
Die  Truppen  ließen  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  ohne  jeden  Wider- 
spruch vereidigenA^lle  Mitglieder  der  Gesellschaft  haben  den  Treu- 
eid geleistet,  und  genau  so  hätten  sie  auch  Nikolai  ohne  Schwanken 
geschworen.  Das  hat  uns  einer  ihrer  besten  Männer  ausdrücklich 
bezeugt').  Daß  sie  aber  nach  geleistetem  Eide  sich  zu  einer  Er- 
hebung gegen  ihn  entschlossen  hätten,  darf  schwerlich  angenommen 
werden.  Unter  allen  Umständen  hätte  man  gewartet,  wahrschein- 
lich sogar  gesucht,  sich  dem  neuen  Herrscher  zu  nähern  und  ihn 
für  den  idealen  Kern,    der  den  Bestrebungen    der  Verschworeneu 


')  Der  ßaron  Rosen.     Russische  Ausgabe  seiner  Denkwürdigkeiten  S.  82. 


Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        37 

zugrunde  lag,  zu  gewinnen  0-  Die  Verzweiflung  darüber,  daß  es 
unmöglich  war,  einen  Einfluß  auf  Alexander  zu  gewinnen,  hatte 
die  geheimen  Gesellschaften  ins  Leben  gerufen  und  bestimmte  bis 
zuletzt  ihr  Tun.  Gegen  seine  Person  und  gegen  sein  System  waren 
alle  Anschläge  gerichtet  gewesen.  Mit  dem  Augenblick  seines  Todes 
verloren  die  Verschworenen  ihr  nächstes  Ziel,  und  die  Illusion  mußte 
schwinden,  daß  mit  der  Beseitigung  Alexanders  jene  Tage  des 
Glücks  angebrochen  seien,  die  man  für  Rußland  erträumt  hatte. 
Rylejew,  der  erst  zu  Anfang  1825,  kurz  bevor  der  Fürst  Tru- 
betzkoi  nach  Kiew  fuhr,  um  mit  der  südlichen  Gesellschaft  Fühlung 
zu  finden,  in  die  oberste  Leitung  des  Petei*sburger  Verschworenen- 
kreises  gewählt  worden  war,  erhielt  die  erste  Nachricht  vom  Tode 
des  Kaisers  durch  Nikolai  Bestushew.  Er  mußte  diesem  gestehen, 
daß  nichts  vorbereitet  sei,  um  jetzt  mit  einer  politischen  Aktion 
hervorzutreten,  von  der  man  eine  Verfassungsänderung  erwarten 
könne.  Die  tätigsten  Mitglieder  waren  nicht  in  Petersburg  und 
die  geheime  Gesellschaft  überhaupt  wenig  zahlreich. -<Er  habe  sich 
selbst  getäuscht,  auch  keinen  Plan,  aber  vielleicht  finde  sich  am 
Abend,  wenn  man  wieder  zusammentreffe,  ein  Ausweg.  Von  den 
Verschworenen  waren  inzwischen  noch  der  Kapitänleutnant  Torson, 
Batenkow  und  Alexander  Bestushew  hinzugekommen.  Aber  man 
gelangte  zu  keinem  Entschluß.  Erst  als  Rylejew  und  die  beiden 
Brüder  Bestushew  aliein  waren,  einigten  sie  sich  dahin,  die  Sol- 
daten aufzuwiegeln.  VSie  sind  in  der  Nacht  auf  den  28.  und  in 
der  nachfolgenden  Nacht  durch  die  Straßen  Petersburgs  gezogen, 
haben  jeden  Soldaten,  dem  sie  begegneten,  angehalten  und  jede 
Wache  angesprochen.4^  Man  habe  sie  betrogen  und  ihnen  das  Testa- 
ment des  verstorbenen  Zaren  vorenthalteövdas  den  Bauern  die 
Freiheit  und  den  Soldaten  die*Verkürzung  oer  Dienstzeit  um  zehn 
Jahre  zugesichert  hatte.  Die  Soldaten  hätten  diese  Versicherungen 
mit  unbeschreiblicher  Gier  aufgenommen.  Es  scheint  nicht,  daß 
das  geringste  moralische  Bedenken  wegen  dieses  schändlichen  Be- 
truges sich  unter  den  drei  Genossen  geregt  hätte.    Die  Vorstellung, 

^)  Einer  tod  ihnen,  Sawalyschin,  bat  es  später  versucht  und  hätte  wahr- 
scheinlich eine  große  Karriere  gemacht,  wenn  nicht  schließlich  erdrückende 
Beweise  seiner  Mitschuld  ihn  mit  den   übrigen  dem  Verderben  geweiht  hätten. 

Alexander  Bestushew  hat  später  vor  der  Untersuchungskommission  aus- 
gesagt, man  habe  beschlossen,  jedes  aktive  Vorgehen  auf  mindestens  zwei 
Jahre  zu  verschieben. 


38        Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

daß  nicht  das  Mittel,  sondern  das  Ziel  den  sittlichen  Wert  einer 
Handlung  bestimme,  ließ  keine  Zweifel  aufkommen,  und  erst  später, 
als  die  Richter,  denen  sie  gegenübergestellt  wurden,  auf  denselben 
Boden  traten  und  wegen  des  Zieles,  dem  sie  nachgestrebt  hatten, 
ihr  hartesvJürteil  sprachen,  mag  ihnen  ein  Zweifel  an  ihrer 
Theorie  aufgekommen  sein.  Auch  erreichten  sie  insoweit  ihren 
Zweck,    als   es    nunmehr    unter    den  Soldaten  zu    gären    begann. 

^^Doch  ging  noch  einige  Zeit  hin,  ehe  sich  die  Wirkungen  fühlbar 
machten.  Erst  als  allmählich  bekannt  wurde,  daß  die  Thronfolge 
noch  keineswegs  gesichert  sei,  kam  neues  Leben  in  den  Kreis  der 
Petersburger  Verschworenen.  A^rch  die  Mitglieder,  die  den  Hof- 
kreisen angehörten,  wie  den  Fürsten  Trubetzkoi,  erfuhr  man 
alles,  was  im  Palais  vorging;  was  im  Reichsrat  geschehen  war, 
ist  nur  wenige  Tage  geheim  gehalten  worden.  Die  Rückkehr 
Michails  und  danach  seine  Abreise,  ohne  daß  er  vorher  dem 
Kaiser  Konstantin  geschworen  hatte,  ließ  es  beinaheVals  Ge- 
wißheit erscheinen,  daß  eine  neue  Vereidigung  auf  den  Namen 
Nikolais  bevorstehe;  die  Unsicherheit  in  der  Haltung  der  Regierung 
und  die  Untätigkeit  Miloradowitschs  steigerten  die  Hoffnung  auf 
den  möglichen  Erfolg  einer  militärischen  Erhebung.V^eit  dem 
6.  Dezember  etwa  läßt  sich  eine  regere  Tätigkeit  der  Ver- 
schworenen verfolgen,  die  durch  den  Obersten  Glinka,  der  der  ge- 
heimen Kanzlei  Miloradowitschs  vorstand,  von  allem  unterrichtet 
wurden,  was  in  den  Regierungskreisen  geschah.  Weit  deutlicher 
als  bisher  trat  zutage,  daß  Rylejew  der  eigentliche  Mittelpunkt 
derjenigen  war,    die    einen  Umsturz  der  Staatsordnung  erstrebten. 

4t^Es  fanden  täglich  Versammlungen  in  seiner  Wohnung  statt.  Die 
Kreise  der  Agitation  wurden  weiter;  zahlreiche  junge  Offiziere,  aus 
der  Marine  wie  aus  fast  allen  Garderegimentern,  wurden  heran- 
gezogen, und  die  Stimmung  erhitzte  sich  nun  von  Tag  zu  Tage.  Unter 
den  zu  einer  entschlossenen  Aktion  Drängenden  traten  drei  Offiziere 
des  finnländischen  Leibgarderegiments  in  den  Vordergrund,  der  Fürst 
E.  P.  Obolenski,  Leutnant  und  Adjutant  des  Generals  Bistramb,  dazu 
Stabskapitän  Repin  und  Leutnant  Baron  Rosen.  Von  ihnen,  dem 
Stabskapitän  im  Moskauer  Leibgarderegiment  Fürsten  Schtschepin- 
Rostowski  und  den  drei  Brüdern  Bestushew,  Alexander,  Michail 
und  Nikolai,  von  denen  die  beiden  ersten  Stabskapitäne  im  Leib- 
gardedragoner-, bzw.  Moskauer  Leibgarderegiment  waren,  Nikolai 
als  Kapitänleutnant  in  der  Marine-Equipage  diente,  ist  am  10.  De- 


Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.       39 

zember  in  der  WohnuDg  Rylejews  der  Plan  des  Aufstandes  in  seinen 
Umrissen  festgestellt  worden. 

Die  eigentliche  Entscheidung  erfolgte  aber  erst  am  12.  De- 
zember in  zwei  Versammlungen,  von  denen  eine  im  Quartier  des 
Fürsten  Obolenski  stattfand,  die  zweite,  an  welcher  fast  alle  Führer 
teilnahmen,  bei  Ryiejew.  \  Man  war  nicht  mehr  im  Zweifel  darüber, 
daß  Konstantin  die  Krone^ablehnen  werde,  und  verständigte  sich 
dahin,  daß  die  neue  Vereidigung  auf  den  Kaiser  Nikolaus  den  Vor- 
wand für  eine  Militärrevolution  geben  solle/\^uch  dabei  scheute 
man   vor  einer  gröblichen  Täuschung  der  Soldaten  nicht  zurück. 

^^ie  sollten  im  Glauben,  die  Rechte  Konstantins  zu  vertreten,  be- 
wogen werden,  den  Eid  zu  verweigern;  was  danach  zu  tun  sei, 
war  der  Gegenstand  heißer  Erwägungerfl^  Der  Fürst  Trubetzkoi 
stellte  den  Antrag,  daß  das  erste  Regiment,  das  sich  weigere  zu 
schwören,  unter  Trommelschlag  seine  Kaserne  verlassen,  zur  nächst- 
gelegenen Kaserne  ziehen  und  das  dort  liegende  Regiment  zum 
Anschluß  bewegen  solle.^So  hoffte  er,  durch  die  anwachsenden 
Scharen  fast  die  gesamte  Garde  zu  gewinnen.\Auch  die  außerhalb 
der  Stadt  quartierenden  Bataillone  würden  sich  anschließen.  \J  Das 
Leibgrenadierregiment  solle  das  Arsenal,  das  finnländische  Leib- 
garderegiment die  Peter-Pauls-Festung  besetzen.  Der  Reichsrat 
werde,  wie  einige  seiner  Mitglieder  versprochen  hätten,  dann  im 
Sinne  der  Verschworenen  wirken,  wenn  das  Heer,  nachdem  es  sich 
vereinigt  habe,  zur  Verhütung  von  Unordnungen  die  Stadt  verlasse. 

Jßf)  hat  Trubetzkoi  selbst  in  seinen  Denkwürdigkeiten  seine  Ab- 
sichten erläutert.  J  Es  steht  aber  fest,  daß  er  einen  Druck  auf  den 
Senat  auszuüben  oachte  und  durch  dessen  Vermittelung  ein  Mani- 
fest erlassen  wollte,  das  aus  allen  Gouvernements  des  Reiches 
ständische  Vertreter  nach  Petersburg  berief,  um  über  die  künftige 
Verfassung  Rußlands  zu  entscheiden.  Bis  dahin  aber  solle  eine 
provisorische  Regierung  walten.  Als  Anführer  der  militärischen 
Emeute\^atte  er  den  General  Michail  Feodorowitsch  Orlow  ins 
Auge  gefaßt,  ihm  auch  nach  Moskau,  wo  er  sich  aulhielt^^e- 
schrieben.  Die  Versammlung  hat  sich  jedoch  nur  zum  Teil  seinem 
Programm  angeschlossen>\  Man  vereinigte  sich  dahin,  die  Truppen 
auf  den  Senatsplatz  zu  führen;  dort  solle,  wenn  General  Orlow  nicht 
komme,  Trubetzkoi  den  Oberbefehl  übernehmen.  War  die  Über- 
macht  auf  ihrer  Seite,  so  wollten  sie  den  Thron  für\rledigt  erklären 
und  sofort  eine  provisorische  Regierung  von  fünf  Personen  einsetzen, 


40        Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

deren  Wahl  dem  Reichsrat  und  dem  Senat  überlassen  sein  sollte. 
>  Daß  diese  höchsten  Körperschaften  des  Reiches  ein  solches  Ansinnen 
mit  Entrüstung  zurückweisen  könnten,  scheint  niemandem  in  den 
Sinn  gekommen  zu  sein.  So  gering  war  die  Achtung,  die  man 
ihnen  entgegentrug.^^uch  glaubte  man  drei  Namen  der  proviso- 
rischen Regenten  bereits  nennen  zu  können:  den  Admiral  Grafen 
Mordwinow,  Speranski  und  Pestel,  auch  den  General  Jermolow  scheint 
man  genannt  zu  haben.  Das  definitive  Bestimmungsrecht  über 
die  künftige  Verfassung  Rußlands  wurde  dagegen  jener  allgemeinen 
Volksvertretung  des  Trubetzkoischen  Antrages  vorbehalten.>jJ)anach 
einigte  man  sich  über  einige  Detailbestimmungen:  das  Palais,  die 
Banken  und  die  Post  sollten  besetzt  werden,  um*^'nordnungen  zu 
verhüten.  Auf  wieviel  Truppen  mit  Sicherheit  gerechnet  werden 
könne,  wußte  niemand;  im  Notfalle  gedachte  man  in  die  Nowgo- 
roder Militärkolonien  abzumarschieren,  deren  gegen  die  Regierung 
erbitterte  Stimmung  allbekannt  war. 

Es  ist  sehr  merkwürdig,  daß  eine  genaue  Durcbberatung  des 
doch  sehr  komplizierten,  von  tausend  Zufälligkeiten  abhängigen 
Planes  nicht  durchzusetzen  war.  Der  Fürst  Obolenski  und  der 
Oberst  Bulatow  bemerkten  höhnisch,  man  könne  doch  nicht  eine 
Generalprobe  abhalten. 

Im  Grunde  war  wenig  Zuversicht  bei  den  beiden  Persönlich- 
keiten, die  zumeist  in  Betracht  kamen:  Rylejew  machte  seinen 
Vertrauten  gegenüber  kein  Hehl  daraus,  daß  er  an  einen  Erfolg 
nicht  glaube;  Trubetzkoi  war  innerlich  bereits  schwankend  gewor- 
den, hatte  aber  nicht  den  Mut,  es  sich  selbst  zu  gestehen,  und 
noch  weniger  seinen  Kameraden  rechtzeitig  zu  erklären,  daß  er^die 
ihm  zugedachte  Führerstellung  nicht  auf  sich  nehmen  könne^_Sie 
waren  alle,  abgesehen  von  einigen  Feuerköpfen  unter  den  jüngsten 
Leutnants,  nicht  Männer  selbständiger  Tatkraft,  sondern  Schön- 
redner, die  sich  an  den  eigenen  Wörter^  berauschten  und  in  der 
Großartigkeit  der  Ziele  bespiegelten,  die  sie  gern  verwirklicht  hätten. 
Passive,  nicht  aktive  Naturen,  ohne  Ausnahme  tapfere  Soldaten, 
fast  alle  Schwärmer  für  das  Schöne  und  Gute,  einige  von  ihnen 
Dichter  von  hohenr^chwung,  keiner  ein  kühler,  das  Mögliche 
richtig  erkennender  Staatsmann. 

An  eben  jenem  12.  Dezember  hatte  Rostowzew  dem  künftigen 
Kaiser  die  uns  bekanntc^Anzeige  gemacht,  aus  der  Nikolai  erfuhr, 
daß    seine   Proklaraierung    zum  Zaren    die    Meuterei    eines  Teiles 


Kapitel  IL     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        41 

seiuer  Garden  zur  Folge  haben  werde.  Man  hat  Rostowzew 
diesen  Schritl  als  einen  Verrat  bitter  vorgeworfen.  Gewiß  mit  Un- 
recht. Er  tat  seine  Pflicht  und  folgte  seinem  Gewissen.!;^  Daß  seine 
Weigerung,  die  Namen  der  ihm  bekannten  Verschworenen  zu  nennen, 
nicht  ohne  Gefahr  war,  liegt  zudem  auf  der  Hand.  Es  ist  höchst 
unbillig,  bei  ihm  nach  niedrigen  Motiven  zu  suchen,  er  hoffte  viel- 
mehr durch  sein  Vorgehen  auch  seine  verblendeten  Kameraden  zu 
retten.  Daß  Nikolai  gewarnt  sei,  teilte  er  am  anderen  Morgen, 
Sonntag  d6n  13.,  duroii  einen  Brief,  den  er  noch  am  Abend  vorher 
geschrieben  hatte,  und  der  die  ausführliche  Wiedergabe  seines  Ge- 
sprächs mit  Nikolai  enthielt,  in  aller  Frühe  Rylejew  mit,  und  zwar 
indem  er  persönlich  diesen  Brief  zu  Rylejew  trug:  ^jtat  jetzt  mit 
mir,  was  ihr  wollt!,  sagte  er  ihm  dabei.  Auch  das  war  nicht  ohne 
Gefahr,  und  Rylejew  hat  allen  Ernstes  daran  gedacht,  ihn  zu  töten, 
aber  auf  den^uspruch  Steinheils,  eines  der  merkwürdigsten  Männer 
in  den  Reihen  der  Verschworenen,  ist  er  bewogen  worden  davon 
abzustehen.  Ob  das  Unternehmen  nicht  aufzugeben  sei,  hat  man 
bei  alledem  keinen  Augenblick  erwogen,  obgleich  Männern,  wie  der 
Fürst  Obolenski  einer  war,  vorübergehend  Zweifel  an  der  moralischen 
Berechtigung  des  geplanten  Umsturzes  auftauchten^ebensowenig 
aber  daran  gedacht,  die  Ausführung  zu  beschleunigen,  wie  es  die 
Umstände  gebieterisch  verlangten.  Es  scheint,  daß  die  Führer  sich 
durch  ein  Versprechen  gebunden  fühlten,  das  sie  Pestel  gegeben 
hatten:  einen  Regierungswechsel  oder  jedes  andere  wichtige  politi- 
sche Ereignis  nicht  ungenützt  vorüberziehen  zu  lassen.  Dieses 
Versprechen  wollte  man  einlösenJ  Aber  es  fehlte  an  Einsicht  und 
Klarheit  des  Urteils.  Rylejew  begnügte  sich  damit,  Steinheil  mit 
der  Abfassung  eines  Manifestes  zu  betrauen,  das  im  Namen  der  zu 
gemeinsamer  Sitzung  versammelten  Körperschaften  des  Senats  und 
des  heiligen  Synods  darauf  hinwies,  daß,  da  sowohl  Konstantin  wie 
Nikolai  dem  Thron  entsagt  hätten,  das  Volk  sich  einen  Herrscher 
wählen  müsse.  Bis  zum  Eintreffen  von  Deputierten,  die  man  zu 
diesem  Zweck  berufen  werde,  ernenne  der  Senat  eine  provisorische 
Regierung,  der  alle  Treue  zu  schwören  hätten.  Innerhalb  dreier 
Monate  seien  aus  jedem  Gouvernement  zwei  Vertreter  jeden  Standes 
zu  wählen,  bis  dahin  aber  solle  jedermann  der  Obrigkeit  gehorchen 
und  seinem  Berufe  nachgehen.  Die  so  gefaßte  Proklamation  wurde 
jedoch  erst  am  Morgen  des  14.  fertig,  als  es  bereits  zu  spät  war, 
und  sie  ist  dann  als  nutzlos  von  Steinheil  vernichtet  worden. 


42        Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  uud  die  Niederwerfung  usw. 

Am  Abend  des  13.  aber  fand  noch  eine  letzte  stürmische 
Versammlung  der  Verschworenen  bei  Rylejew  statt, '  in  der  viel 
und  leidenschaftlich  „wie  in  der  iErregung  eines  hitzigen  Fie- 
bers" geredet,  aber  nichts  beschlosseoLwurde,  was  über  die  Ab- 
machungen des  12.  hinausgegangen  wäre.  Man  wollte  die  Truppen 
davon  abhalten,  Nikolai  zu  schwören,  und  sie  auf  den  Senats- 
platz führen.  Die  Kompagnie,  die  zuerst  dort  anlangte,  war  nach 
einer  vereinzelt  stehenden  Nachricht  bestimmt,  sofort  gegen  das 
Winterpalais  vorzugehen.  Ergriff  dann  Nikolai  und  mit  ihm  die 
kaiserliche  Familie  die  Flucht,  so  stieg  die  Wahrscheinlichkeit, 
daß  die  gesamte  Garde  zu  den  Meuterern  übergehen  werde.  Es 
ist  auch  der  Vorschlag  gemacht  worden,  sich  durch  einen  nächt- 
lichen Anschlag  des  Winterpalais  zu  bemächtigen,  endlich  steht 
fest,  daß  Rylejew  bemüht  gewesen  ist,  K'achowski  zu  bewegen, 
Nikolai  zu  ermorden.  Er  sah  in  dem  Leidenschaftlichen  einen 
russischen  Sand  und  erkannte  nicht  den  Untergrund  dieser  nie- 
drigen Seele. 

Michail  Alexandrowitsch  Bestushew  hat  uns  in  seinen  Denk- 
würdigkeiten den  faszinierenden  Eindruck  geschildert,  den  Rylejew 
an  jenem  Abend  auf  ihn  und  wohl  ebenso  auf  die  anderen  Ver- 
schworenen machte:  „Wie  herrlich  war  Rylejew  an  jenem  Abend. 
Er  war  nicht  schön,  er  sprach  einfach  und  nicht  fließend;  wenn 
er  aber  auf  sein  Lieblingsthema  kam,  auf  die  Liebe  zum  Vater- 
lande —  dann  belebte  sich  sein  Gesicht.sySeine  pechschwarzen 
Augen  leuchteten  in  überirdischem  Glanz  und  seine  Rede  floß  wie 
feurige  Lava,  dann  konnte  man  nicht  anders,  als  sich  an  ihm  be- 
geistern. So  war  es  auch  an  jenem  Schicksalsabend,  der  über  das 
„to  be  or  not  to  be"  entschied.  Sein  Gesicht  war  bleich  wie  der 
Mond,  aber  von  mehr  als  natürlichem  Licht  verklärt;  so  sah  man 
ihn  in  den  stürmischen  Wellen  dieses  Meeres,  das  von  den  ver- 
schiedensten Leidenschaften  und  Antrieben  kochte,  bald  auftauchen, 
bald  verschwinden!"  Gewiß,  an  Begeisterung  fehlte  es  nicht  und 
auch  nicht  an  dem  Willen,  die  eigene  Person  für  den  Anschlag 
einzusetzen,  den  man  nun  einmal  in  törichter  Verblendung  für  not- 
wendig, für  groß  gedacht  und  für  patriotisch  hielt.  \  Aber  es  hat 
allen  Teilnehmern  an  organisatorischer  Kraft  gefehlt,  und  wenn  nicht 
völlige  Unfähigkeit  von  seiten  der  Regierung  gezeigt  wurde,  mußten 
sie  kläglich  zugrunde  gehen.  Mit  ihnen  die  betrogenen  Soldaten 
und  auch  jene  patriotischen  Pläne,  durch  deren  gewaltsame  Durch- 


Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  und  die  NiederwerfUDg  usw.        43 

führuDg  sie  Rußland  einer  neuen,  besseren  Entwicklung  zuführen 
wollten. 

Nicht  auf  solchen  Wegen  und  nicht  durch  solche  Männer  voll- 
zieht sich  der  Fortschritt  der  Menschheit. 

Es  hat  aber  wenig  daran  gefehlt,  daß  trotz  aller  Halbheiten 
und  Unklarheiten  in  der  Anlage  ihrer  Pläne  die  Verschworenen 
ihr  nächstes  Ziel  erreicht  und  eine  allgemeine  militärische  Erhe- 
bung herbeigeführt  hätten.  Was  dann  weiter  geschehen  konnte, 
und  ob  die  Verschworenen  nach^Entfesselung  der  wilden  Instinkte 
der  Massen  der  Bewegung  noch  Herr  geblieben  und  sie  in  die  von 
ihnen  vorgedachten  Bahnen  zu  lenken  stark  genug  gewesen  wären, 
entzieht  sich  aller  Kombination,  "f  Die  Wahrscheinlichkeit  spricht 
für  das  Eintreten  eines  Chaos,  sobald  Nikolai  fiel.  Polen  hätte 
sich  ohne  Zweifel  erhoben,  die  Militärkolonie,  die  nur  Furcht  vor  Strafe 
zusammenhielt,  das  verhaßte  Joch  abgeworfen,  das  sie  drückte,  die 
Militärrevolte  im  Süden  ihr  Haupt  erjioben,  der  alte  Groll  der 
Bauern  eine  Agrarrevolution  gezeitigt,  und  Konstantin,  wenn  er 
auch  der  ihm  drohenden  Gefahr  entrann,  war  die  Persönlichkeit 
gewiß  nicht,  um  ein  zerfallenes  Reich  mit  kraftvoller  Hand  wieder 
zu  staatlichem  Rechts-  und  Einheitsleben  zurückzuführen J  Auch 
er  schöpfte  seine  Macht  nur  aus  der  Autorität  des  Selbstherrschers 
an  der  Spitze  des  Staates.  Der  14.  Dezember  mußte  eine  Ent- 
scheidung von  ungeheuerer  Tragweite  bringen;  daß  es  nicht  ein 
Tag  unermeßlichen  Unheils  wurde,  lag  im  wesentlichen  daran, 
daß  den  Verschworenen  die  Anordnungen  nicht  bekannt  wurden, 
die  nach  der  Anzeige  Rostowzews  Nikolai  am  Abend  des  12.  und 
am  Morgen  des  13.  getroffen  hatte:  die  Eidesleistung  von  Senat 
und  Synod  um  7  Uhr  morgens  und  die  Konsignierung  der  Truppen 
in  ihren  Kasernen  von  6  Uhr  ab,  um  sie  für  die  Vereidigung  bereit 
zu  halten,  sobald  der  Kaiser  Generale  und  Regimentskommandeure 
damit  beauftragte. 

Der  14.  Dezember  war  ein  Montag,  nach  allgemeinem  Aber- 
glauben in  Rußland  ein  Unglückstag,  ^ber  zunächst  ließ  sich^ 
alles  glücklich  an.  General  Woinow  meldete  dem  Kaiser,  gleich 
nachdem  dieser  aufgestanden  war,  daß  Generale  und  Regiments- 
kommandeure seiner  Befehle  harrten.  Nikolai  trat  in  den  Saal, 
in  dem  sie  versammelt  waren.  Es  folgte  eine  sehr  bestimmt 
gehaltene  Ansprache:  erst  die  Darlegung  der  Tatsachen,  die 
ihn    nunmehr    bewogen    hätten,    die    Krone    anzunehmen,    dann 


44        Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

die  Erklärung,  daß  sie  ihm  mit  ihrem  Kopi  für  die  Ruhe  der 
Residenz  einzustehen  hätten').  Dann  kam  die  Nachricht,  daß 
Senat  und  Synod,  wie  befohlen,  um  7  Uhr  zusammengetreten  wären 
und  ihren  Treueid  geleistet  hätten  und  danach  auseinandergegangen 
wären.  Uamit  war  der  Plan  der  Verschworenen,  sich  durch  die 
Autorität  dieser  Körperschaft  zu  decken,  gescheitert,  ^^'icht  mehr, 
wie  sie  gern  gewollt  hätten,  im  Namen  Rußlands,  sondern  im 
eigenen  Namen  und  auf  eigene  Gefahr  mußten  sie  handeln.  Es 
ist  aber  nicht  unwahrscheinlich,  daß  gerade  dieser  Umstand  den 
Fürsten  Trubetzkoi  bewog,  sich  den  Genossen  zu  entziehen,  so  daß 
von  Anfang  an  jede  Leitung  und  jeder  Zusammenhang  fehlte. 

Im  Palais  aber  ordnete  der  Kaiser  an,  daß  alles,  was  hoffähig 
war,  um  II  Uhr  zum  Gottesdienst  in  der  Hauptkirche  des  Winter- 
palais zu  erscheinen  habe.  Gleich  danach  traf  Miloradowitsch  ein.  Er 
war  bester  Zuversicht,  die  Stadt  sei  ruhig,*  auch  habe  er  für  alle 
Fälle  die  erforderlichen  Anordnungen  getroffen.J^Er  fühlte  sich 
seiner  Sache  so  sicher,  daß  er  direkt  vom  Kaiser  zum  Theater- 
direktor Markow  fuhr,  der  seinen  Namenstag  feierte  und  eine 
lustige  Gesellschaft  um  sich  gesammelt  hatte*).  Die  Tatsache  ist 
um  so  erstaunlicher,  als  Miloradowitsch  wußte,  daß  die  Vereidigung 
der  reitenden  Artillerie  auf  Schwierigkeiten  gestoßen/^ war!  Aber 
dergleichen  entsprach  seinem  leichtfertigen  Wesen.  Das  sei,  meinte 
er,  nur  eine  Bagatelle.  Er  hatte  sich  aber  noch  andere  verhängnis- 
voll^Versäumnisse  zuschulden  kommen  lassen.  Das  Manifest,  wel- 
ches die  Thronbesteigung  Nikolais  verkündete  und  erklärte,  war 
in  einer  ganz  ungenügenden  Zahl  von  Exemplaren  gedruckt  und 
der  Geistlichkeit  nicht  einmal^mitgeteilt  worden.  In  den  Kirchen 
wurde  daher  bei  der  Fürbitte  für  die  kaiserliche  Familie,  ohne 
jede  Tlrläuterung,  nur  der  Name  Nikolai  an  die  Stelle  von  Kon- 
stantin gesetzt,  für  den  man  in  den  letzten  17  Tagen  gebetet  hatte. 
Kein  Wunder,  daß  im  Volk   die  Stimmung   unruhig  und  unsicher 


')  Hauptquelle  für  das  folgende  ist  eine  eigenhändige  Aufzeichnung  des 
Kaisers.  Nur  zum  Teil  veröffentlicht  von  Schilder:  Nikolai  Bd.  I;  vollständig 
in  der  Zeitschrift  Byloje,  Oktober  li>07. 

^)  Die  Tatsache  ist  von  verschiedenen  Seiten  bezeugt,  die  in  keiner  Ab- 
hängigkeit voneinander  stehen:  von  SJartechensko,  Sotow  und  Michailowski- 
Danilewski,  bei  letzterem  mit  der  Variante,  dali  es  sich  um  den  Namenstag 
der  Tänzerin  Teleschewa  gehandelt  habe.  Michailowskis  Quelle  ist  der  Adjutant 
von  Miloradowitsch,  Baschutzki. 


Kapitel  JI.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        45 

wurde,  zumal  man  auf  den  Straßen  nur  die  neue  Eidesformel,  nicht 
das  Manifest  verteilte. 

Inzwischen  ging  dem  Kaiser  Botschaft  auf  Botschaft  über  die 
Fortschritte  in  der  Vereidigung  der  Truppen  zu.  Als  erster  konnte 
General  Alexander  Orlow  dem  Kaiser  melden,  daß  die  Garde-Ka- 
vallerie geschworen  habe.  Schon  die  zweite  Meldung  war  beun- 
ruhigend. General  Suchosanet  konnte  zwar  berichten,  daß  die 
Garde-Artillerie  ihren  Ei<if  geleistet  habe,  doch  in  der  Garde  zu 
Pferde  hatte  er  alle  Offiziere  arretieren  müssen,  weil  sie  die  Authen- 
tizität des  Manifestes  bezweifelten.S-Zum  Glück  sei  der  Groß- 
fürst Michail  eben  eingetroffen  und  habe  durch  sein  persönliches 
Eingreifen  alles  wieder  in  Ordnung  gebracht.  Eine  Hiobspost  brachte 
darauf  der  General  Neidthard:  das  Regiment  Moskau  sei  in  ofi'ener 
Revolte,  die  Generale  Frederiks  und  Schenschin  waren  verwundet, 
Oberst  Chwoschtschinsky  mißhandelt  worden.  Von  den  Leutnants 
Michail  und  Alexander  ßestushew  und  dem  Fürsten  Schtschepin 
Rostowski  geführt,  waren  die  Moskauer  als  erste  auf  dem  Senatsplatz 
erschienen  und  hatten  sich  dort  zum  Karree  formiert  in  Erwartung 
des  Anmarsches  der  übrigen  Regimenter.  Rylejew,  der  hinzukam, 
blieb  nur  wenige  Augenblicke  auf  dem  Platze;  er  eilte  hinweg,  um 
den  fehlenden  Oberbefehlshaber,  den  Fürsten  Trubetzkoi,  aufzu- 
suchen. Es  muß  gegen  11  Uhr  gewesen  sein,  als  diese  Dinge  ge- 
schahen, denn  die  zu  Hof  eilenden  Equipagen  begannen  bereits 
sich  auf  dem  Schloßplatz  zu  drängen.\^Sie  sind  zum  Teil  über 
den  Senatsplatz  an  den  Moskauern  vorbeigefahren  und  fast  bis 
zuletzt  ließen  die  Aufrührer  für  den  Verkehr  der  Wagen  einen 
Raum  frei.  Der  Kaiser  befahl,  das  erste  Bataillon  der  Preobra- 
shensker  gegen  sie  zu  führen  und  die  Garde  zu  Pferde  satteln  zu 
lassen,  dann  führte  er  selbst  die  erste  Schützenkompagnie  des 
Finnländischen  Garderegiments,  das  bei  der  Schloßhauptwache  stand, 
an  die  Haupteinfahrt  des  Palais.  Erst  in  diesem  Augenblick  traf 
Miloradowitsch  ein.  Der  Polizeiagent  Vogel  hatte  ihn  vom  Früh- 
stück stisch  seiner  Theaterfreunde  weggerufen.  ^Cela  va  mal,  ils 
marchent  au  Senat"  sagte  er  dem  Kaiser,  „mais  je  veux  leur  parier"; 
das  ist  die  Erinnerung  Nikolais,  so  wie  sie  ihm  nach  10  Jahren 
noch  lebendig  war.     Wahrscheinlicher   ist    eine    andere  Version  ') 

')  Micbailowski  Danilewski,  nach  der  Erzählung  von  Miloradowitschs 
Adjutanten  Bascbutzki,  in  dem  Tagebuch  v.  1826.  Rußkaja  Starina  18U0 
Novemberheft  S.  505  ff. 


46        Kapitel  II.     Der  14./2().  Dezember  und  die  Niederwerfvmg  usw. 

Danach  sei  Miloradowitsch  von  Markow  aus  gleich  zum  Senatsplatz 
geeilt,  um  die  Empörer  zum  Gehorsam  zurückzuführen,  sie  hätten 
ihn  aber  zurückgedrängt  und  einer  ihn  sogar  am  Kragen  gepackt. 
£rst  danach  sei  er  zum  Kaiser  gekommen  und  habe  ihn  auf  dem 
Schloßplatz  getroffen,  vom  Volke  umringt.  „Miloradowitsch  meldete, 
daß  man  zu  strengen  Maßregeln  greifen  müsse,  und  fügte  hinzu: 
voyez  dans  quel  etat  ils  m'ont  mis.  Darauf  antwortete  ihm  der 
Kaiser,  daß  der  Generalgouverneur  für  die  Ruhe  der  Stadt}^erant- 
wortlich  sei,  und  befahl  ihm,  mit  der  Garde  zu  Pferde  gegen  die 
Moskauer  Grenadiere  vorzugehen.  Graf  Miloradowitsch  fuhr  in 
einem  Mietschlitten  zu  den  Kasernen  der  Garde  zu  Pferde  und 
befahl  die  Pferde  zu  satteln,  aber  es  verging  mehr  als  eine  halbe 
Stunde,  und  die  Kürassiere  erschienen  immer  noch  nicht.J  Wie  man 
später  erfuhr,  hatte  einer  der  Offiziere,  Fürst  Odojewski,  der  zur 
Verschwörung  gehörte,  den  Soldaten  in  den  Ställen  gesagt,  es  sei 
falscher  Lärm,  sie  sollten  nicht  satteln.  Schließlich  verlor  Graf 
Miloradowitsch  die  Geduld!  Er  ließ  sich  ein  Pferd  geben,  um  zu 
den  Empörern  zu  reiten.  Unterwegs  sagte  er  seinem  Adjutanten, 
er  sei  im  Grunde  froh,  daß  die  Gardereiter  sich  nicht  mit  ihrem 
Ausritt  beeilten:  ich  werde  ohne  sie  die  Moskauer  bereden,  das 
können  nur  polissons  sein,  auch  soll  kein  Blut  am  Tage  der  Thron- 
besteigung des  Kaisers  fließen.  Da  die  Meuterer  salutierten  und 
Hurra  riefen,  zog  der  Graf  seinen  Degen,  zeigte  ihn  und  sagte, 
diesen  Degen  habe  der  Zesarewitsch  Konstantin  Pawlowitsch  ihm 
zum  Zeichen  seiner  Freundschaft  geschenkt.  Er  gebe  ihnen  die 
Versicherung,  daß  der  Zesarewitsch  entsagt  habe  und  durchaus 
nicht  regieren  wolle.  „Glaubt  ihr,"  so  schloß  er,  „daß  ich  meinen 
Freund  verraten  kannP^A^ber  alles  war  vergeblich.  „Gibt  es  denn 
unter  euch  keine  alten  Soldaten,  die  mit  mir  gedient  haben  und 
mich  kennen?"  Und  als  alles  still  blieb:  „Ich  sehe,  das  sind  nur 
Jungen!"  Und  nun  befahl  er  und  bat  sie  zugleich,  die  Waffen  nieder- 
zulegen und  um  Vergebung  zu  bitten,  er  versicherte,  daß  man 
ihnen  verzeihen  werde.  Die  Soldaten  schienen  doch  schwankend 
zu  werden,  da  rief  einer  aus  ihrer  Mitte:  „Das  ist  dummes 
Zeug",  und  „man  soll  ihm  nicht  glauben";  gleichzeitig  hörte 
man  einen  Pistolenschuß,  und  von  einer  Kugel  getroffen  fiel 
der  Graf  vom  Pferde  in  die  Arme  Baschutzkis;  in  der  Verwirrung, 
die  nun  folgte,  hat  er  noch  einen  Stich  mit  dem  Bajonett  er- 
halten. 


Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        47 

Man  wollte  ihn  in  seine  Wohnung  tragen,  aber  er  sagte,  daß 
er  sich  zum  Tode  verwundet  fühle,  und  ließ  sich  auf  einer  Sol- 
datenpritsche in  die  nahe  gelegene  Kaserne  der  Garde-Kürassiere 
tragen,  .^icht  ohne  Entrüstung  notiert  Michailowski,  daß,  während 
man  ihn  an  dem  schon  aufgestellten  Regiment  vorübertrug,  keiner 
der  Generale  und  Offiziere  an  den  verwundeten  Helden  herantrat, 
obgleich  Leute  darunter  waren,  „die  sich  seine  Freunde  nannten.^ 
Er  erwähnt  noch  die  empörende  Tatsache,  daß,  während  Miloradowitsch 
entkleidet  wurde,  man  ihm  seine  Uhr  stahl,  dazu  einen  Ring,  den 
die    Kaiserin-Mutter   ihm    vor    wenigen    Tagen  geschenkt    hatte.*) 

Etwa  eine  Stunde  mag  so  hingegangen  sein.  Für  den  Kaiser 
eine  überaus  peinvolle  langsam  ^bleichende  Zeit,  die  ihm  mit 
Verlesung  und  Erläuterung  des  Manifestes  vor  den  sich  um  ihn 
drängenden  Volkshaufen  hinging.  „Ich  gestehe,^  schreibt  er,  „daß 
mir  das  Herz  erstarrte,  Gott  allein  hat  mich  aufrechterhalten^, 
li^ugenzengen  berichten  übereinstimmend,  er  sei  totenbleich  gewesen, 
aber  äußerlich  vollkommen  ruhig.  Gewiß  ein  Zeichen  großer 
Selbstbeherrschung,  wenn  man  sich  erinnert,  wie  nervös  er  von 
Natur  war.  Unter  der  Menge  war  viel  betrunkenes  Volk,  obgleich 
der  Finanzminister  Cankrin  schon  am  13.  dafür  gesorgt  hatte,  daß 
die  Branntweinläden  geschlossen  waren.  Die  Lage  war  ohne  Zweifel 
höchst  kritisch.  Der  Kaiser,  ursprünglich  zu  Fuß,  wurde  erst  vom 
Prinzen  Eugen  bewogen,  zu  Pferde  zu  steigenJ^Er  beauftragte  den 
Prinzen,  für  die  Sicherheit  von  Frau  und  Mutter  zu  sorgen;  den 
Thronfolger  und  die  kleinen  Großfürstinnen  ließ  er  aus  dem  Anitschkow- 
Palais  in  den  Winterpalast  überführen.  Als  endlich  das  erste 
Bataillon  der  Preobrashensker  marschfähig  war,  stellte  der  Kaiser 
sich  an  die  Spitze  und  führte  sie  langsam  durch  die  trotz  aller 
Befehle  drängende  Masse  bis  zum  Admiralitatsboulevard.  Erst 
dort  erfuhr  er,  daß  die  Gewehre'Wicht  geladen  seien.  Das  brachte 
neuen  Aufenthalt,  und  der  Kaiser  gab  nun  auch  den  Gardekürassieren 
den  Befehl,  sich  auf  dem  Senatsplatz  mit  ihm  zu  vereinigen.  In 
diesem  Augenblicke  hörte  man  Schüsse,  und  gleich  danach  wurde 
dem  Kaiser  der  tragische  Ausgang  Miloradowitschs  gemeldet.  vDas 
Volk  drängte  in  immer  größeren  Massen,  so  daß  Schützen  vorgeschickt 

')  Nikolai  bat  ihn  nicht  mehr  gesehen.  Er  schickte  den  Prinzen  Eugen 
zum  Sterbenden,  und  dieser  hat  uns  ein  ergreifendes  Bild  von  den  letzten  Augen- 
blicken Miloradowitschs  hinterlassen.  Auch  Michailowski-Danilewski  berichtet 
über  sein  Ende. 


48        Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

werden  mußten,  um  rechts  und  links  den  Preobrashenskern  Platz 
zu  machen.  So  erreichte  man  die  Ecke  der  Himmelfahrtsstraße^) 
von  der  aus  der  Senatsplatz  sich  übersehen  ließ.  Die  Garde  zu 
Pferde  war  noch  immer  nicht  da,  die  Lage  entschieden  ^^efährlich. 
Man  hörte  deutlich  vom  Platze  her  „Hurra  Konstantin''  rufen 
und  sah,  daß  eine  Schützenkette  weiterab  den  Zugang  sperrte.  Die 
Aufrührer  waren  um  diese  Zeit  nur  etwa  500  Mann  stark  und 
standen  zwischen  der  berühmten  Statue  Peters  des  Großen  und  dem 
Senat,  mit  der  Front  zum  Admiralitätsgebäude.  In  ihrer  Mitte 
waren  einige  Zivilisten  bemerkbar  ,\^er  ganze  Jsaaksplatz  von 
einer  wogenden  Volksmasse  besetzt,  die  auch  die  in  den  Platz  aus- 
mündenden Straßen  füllte.  Wahrscheinlich  hätte  ein  entschlossener 
Angriff  der  Preobrashensker  genügt,  das  alles  auseinanderzu- 
sprengen. Aber  eben  dazu  fehlte  der  Entschluß.  Man  wollte  sicher 
gehen  und  mit  erdrückender  Übermacht  die  Meuterenzum  Nieder- 
legen der  Waffen  zwingen.  Ebensowenig  aber  dachten  die  Moskauer 
daran  anzugreifen,  auch  sie  warteten  auf  Verstärkung. 

Das  war  die  Lage,  als  sich  an  den  Kaiser  ein  Mann  in 
Tscherkessenuniform  drängte,  ein  schwarzes  Tuch  um  die  Stirn;  er 
sah  mit  seinen  großen  schwarzen  Augen  und  dem  schwarzen 
Schnauzbart  wild  und,  wie  Nikolai  in  seiner  Aufzeichnung  sagt, 
abschreckend  aus.  Es  war  Jacubowitsch.  Am  13.  abends  hatte  er 
sich  erboten,  mit  dem  Bataillonschef  der  Garde-Marine,  Arbusow, 
das  Palais  zu  besetzen,  seine  eigentliche  Aufgabe,  auf  deren  Aus- 
führung mit  Bestimmtheit  gerechnet  wurde,  ging  dahin,  das  Ismai- 
lowsche  Regiment  den  Aufständischen  zuzuführen.  Am  Morgen 
des  14.,  früh  um  6  Uhr,  aber  war  er  bei  Rylejew  erschienen  und 
hatte  ihm  erklärt,  er  habe  sich  anders  besonnen^(und  werde  sich 
nicht  beteiligen.  Trotzdem  schloß  er  sich  den  Moskauern  an,  als 
sie  an  seiner  Wohnung  in  der  Erbsenstraße  *)/yorüberzogen  und 
ihn  anriefen.  Er  blieb  aber  nur  kurze  Zeit  auf  dem  Platz,  und 
als  die  Preobrashensker  angerückt  waren,  meldete  er  sich  dem 
General  du  jour  Potapow.  Offenbar  suchte  er  sich  nach  beiden 
Seiten  zu  sichern,  sein  Verhalten  und  seine  Erscheinung  waren  jedoch 
so  auffallend,  daß  der  Kaiser  ihn  heranwinkte  und  fragte,  was  er 
wolle.    Er  antwortete  frech:  ich  war  mit  jenen,  als  ich  aberhörte, 

^)  Wosnessenskaja. 
-)  Ciorochowaja. 


Kapitel  IL     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.         49 

daß  sie  für  Konstantin  seien,  verließ  ich  sie  und  kam  zu  Ihnen'). 
Nikolai  reichte  ihm  darauf  die  Hand  und  dankte:  „wSie  wissen  was 
Ihre  Pflicht  ist."  Erst  von  Jacubowitsch  erfuhr  er,  daß  jetzt  fast 
das  ganze  moskausche  Regiment  auf  dem  Platze  sei.  Das  Gespräch 
mündete  in  den  Auftrag  aus,  die  Meuterer  durch  Überredung  zur 
Ordnung  zurückzuführen.  jDer  Prinz  Eugen,  der  in  diesem  Augen- 
blick an  den  Kaiser  heranritt,  hörte  noch,  wie  Jacubowitsch  sagte: 
^Ich  will  es  versuchen,  aber  sie  werden  mich  umbringen."  Damit 
ritt  er  auf  den  Senatsplatz  zu,  ein  weißes  Tuch  an  seinem  Säbel 
sollte  ihn  gleichsam  als  Parlamentär  bezeichnen.  ^Is  er  das  Karree 
der  Moskauer  erreicht  hatte,  rief  er  ihnen  nur  zu:  „Haltet  aus! 
man  fürchtet  sich  gründlich  vor  euch!"  Damit  verschwand  er. 
Der  Mann  hat  weiter  keinerlei  Anteil  an  den  Ereignissen  gehabt. 
Er  ritt  nach  Hause,  und  ist  am  anderen  Morgen  verhaftet  worden. 
Er  war  eine  gemeine  Seele,  worüber  seine  späteren  Bekenntnisse 
keinen  Zweifel  lassen.  Er  rühmte  sich,  daß  gerade  sein  Verhalten 
am  meisten  dazu  beigetragen  habe,  die  Pläne  seiner  Genossen  zum 
Scheitern  zu  bringen!  Und  das  sei  sein  eigentliches  Ziel  gewesen'). 
Gewiß  war  aber  an  Nikolai  ein  Augenblick  großer  persönlicher 
Gefahr  glücklich  vorübergegangen.  In  Jacubowitsch  steckte  ein 
Mörder,  und  die  Impulse,  die  ihn  trieben,  hätten  leicht  die  Richtung 
zum  Kaisermorde  nehmen  können.  Und  noch  eine  andere  Hand 
ist  damals  gegen  den  Kaiser  gerichtet  gewesen.  Der  Oberst  Bulatow, 
vom  Armee-Jägerregiment,  derselbe,  dem  man  neben  Trubetzkoi  das 
Kommando  auf  dem  Senatsplatz  angetragen  hatte,  ein  ausgezeichnet 
kühner  und  unerschrockener  Soldat,  der  früher  bei  den  Leib- 
Grenadieren  gestanden  hatte,  und  dessen  wohlbegründeter  militärischer 
Ruf  aus  den  Freiheitskriegen  stammte,  stand  zwei  Stunden  lang  in 
der  Nähe  des  Kaisers,  fest  entschlossen,  ihn  niederzuschießen,  f  Er 
hat  es  später  selbst  dem  Kaiser  ins  Gesicht  bekannt,  „aber,"  fügte 
er  hinzu,  „jedesmal  wenn  ich  nach  der  Pistole  griff,  versagte  mein 
Herz."     Der  Prinz  Eugen')  merkte  die  Gefahr  wohl,  es  war  jedoch 

')  Aufzeichnung  Nikolais. 

')  Aussagen  Jacubowitschs  vor  der  Untersuchungskommission. 

')  Die  ganze  sehr  bedeutsame  Tätigkeit  des  Prinzen  ist  nicht  nur  aus  allen 
offiziellen  Darstellungen  eliminiert  worden,  sondern  sogar  in  den  Aufzeichnungen 
Nikolais  unerwähnt  geblieben,  als  ob  er  gar  nicht  dagewesen  sei.  Das  Miß- 
tranen, das  Alexander  in  Krinnerung  an  die  Ereignisse  von  1801  gegen  ihn 
hegte,  lebte  in  Nikolai  fort,  der  kurze  Zeit  nach  den  von  uns  geschilderten 
Schiemann,  Geschichte  Rußlands.  II.  4 


50        Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

unmöglich,  Nikolai  zu  bewegen,  sich  auf  einen  sicheren  Posten 
zurückzuziehen.  Sein  kaiserliches  und  militärisches  Ehrgefühl  sträubte 
sich  dagegen,  klüger  wäre  es  sicher  gewesen,  wenn  er  vom  Schloß- 
platze aus  die  Meldungen  entgegengenommen  und  den  Angriff  geleitet 
hätte.  Da  es  nun  an  Infanterie  in  ausreichender  Stärke  fehlte  und 
die  Artillerie  noch  gar  nicht  herangezogen  war,  riet  der  Prinz,  die 
Reiterei  angreifen  zu  lassen.  Sein  Gedanke  war,  daß  die  Pöbel- 
massen, von  der  Brücke  und  von  den  rückliegenden  Ausgängen  ab- 
geschnitten, infolge  eines  Angriffs  auf  die  Meuterer  drängen  und  sie 
in  Unordnung  bringen  würden.  Aber  man  hörte  ihn  nicht.  Inzwischen 
hatte  die  Zahl  der  Meuterer  sich  erheblich  durch  den^Anschluß  der 
Garde-Equipage  vermehrt,  die  ein  zweites  Karree  bildete.  Das 
Kommando  über  diese  Masse  war  in  Ermangelung  höherer  Offiziere 
fast  gewaltsam  dem  Leutnant  Fürsten  Obolenski  aufgenötigt  worden, 
eine  einheitliche  Leitung  hat  während  der  ganzen  Dauer  des  Auf- 
standes nicht  bestanden,  und  vor  allem  kam  es  nicht  zu  einem 
Angriff  von  Seiten  der  Meuterer.  Sie  blieben  bis  zuletzt  des 
Glaubens,  daß  die  gegen  sie  ^fgebotenen  Truppen  Gesinnungs- 
genossen seien,  die  nur  eines  günstigen  Anlasses  harrten,  um  zu 
ihnen  überzugehen.  Das  zeigte  sich,  als  endlich  die  Garde  zu 
Pferde  unter  Führung  des  Generals  Orlow  eintraf;  sie  konnte  sich 
fast  unbehelligt  in  nächster  Nähe  beider  Karrees,  ihnen  direkt 
gegenüber,  aufstellen,  wobei  sie  im  Anmarsch  einen  Augenblick 
nur  10 — 12  Schritte  von  ihnen  entfernt  war,  fast  wehrlos,  denn 
als  einzige  Wafl'e  trugen  sie  die  alten,  durch  häufiges  Putzen  kurz 
gewordenen,  stumpfen  Pallasche.  Aber  nur  einige  Reiter  und  der 
Oberst  Velho  wurden  verwundet.  Die  Meuterer  schössen  meist 
über  die  Köpfe  der  Reiter  hinweg,  ohne  anzulegen.  Es  klingt  kaum 
glaublich,  daß  die  Kürassiere  nun  etwa  eine  Stunde  den  Meuterern 


Ereii^nissen  durch  Diebitsch  erfuhr,  daß  der  Württemberger  ein  Konkurrent 
der  (lOttorpcr  hätte  werden  können.  Die  folgende  Darstellung  schließt  sich 
an  die  Aufi^eichnunf^en  des  Prinzen  an  und  ergänzt  sich  aus  den  Aufzeichnungen 
Nikolais  und  dem  gegen  die  Korffsche  Darstellunfr  gerichteten  Aufsatz  des 
Harons  Kaulbars,  (Schiemann,  Thronbesteigung  Nikolais  S.  148  ff.)  die  auf  ein 
gleichzeitig  geführtes  Tajrcbuch  zurückgeht.  Puschtschin  und  die  anderen 
Memoirenschreiber  unter  den  Dekabristen,  haben  ihre  Aufzeichnungen  erst  Jahr- 
zehnte nach  diesem  Ereignis  niedergeschrieben,  so  daß  sie,  auch  wo  sie  von 
eigenen  Erlebnissen  erzählen,  unter  dem  Eindruck  einer  legendariscben  Um- 
bildung stehen,  wie  die  Jahre  sie  zu  bringen  pflegen. 


Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        51 

gegeauberstanden,  ohne  daß  von  beiden  Seiten  das  geringste  ge- 
schehen wäre.  Nur  der  Pöbel  amüsierte  sich  vom  Dach  des  Senates 
aus  mit  Holzscheiten  die  „Kaiserlichen^^  zu  bombardieren  und  hatte 
seine  Freude  daran,  wenn  hie  und  da  einer  der  Kürassiere  plötzlich 
mit  seinem  Pferde  stürzte.  Denn  es  war  eine  Kälte  von  7 — 8 
Grad  und  infolge  des  Glatteises  glitten  die  Pferde,  die  keine  Stollen 
am  Hufeisen  hatten,  bei  der  geringsten  Bewegung  aus.  Als  dann 
endlich  der  Befehl  zur  Attacke  kam  —  sie  ist  auf  eine  Entfernung 
von  20  bis  30  Schritt  dreimal  versucht  worden  —  fiel  sie  kläglich 
genug  ans;  die  Reiter  mußten,  ohne  ihr  Ziel  erreichen  zu  können, 
in  Unordnung  kehrt  machen.  Ähnlich  giug  es  den  inzwischen  ein- 
getroffenen Pionieren  zu  Pferde,  nur  daß  gegen  sie  wirksamer  ge- 
schossen wurde,  während  die  Meuterer  nicht  einen  Verwundeten 
hatten.  Der  Umzingelungsplan^es  Kaisers  hätte  bei  der  Lang- 
samkeit und  Ungeschicklichkeit  der  Ausführung  in  ein  Desaster 
ausmünden  können,  wenn  ein  entschlossener  Kopf  mit  militärischer 
Einsicht  die  Aufständischen  zum  Angriff  geführt  hätte.  Es  kann 
gar  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  der  Pöbel  mit  seinen  Sympathien 
auf  ihrer  Seite  stand,  und  eben  jetzt  kam  neue  Hilfe.  Die 
8  Kompagnien  der  Leibgrenadiere  waren  unter  Führung  der  Leut- 
nants Suthof  und  Panow,  mitten  durch  die  Festung,  deren  sie  sich 
ohne  jede  Mühe  hatten  bemächtigen  können,  in  zwei  Abteilungen 
auf  das  Winterpalais  zu  marschiert,  das  ihnen  gleichfalls  keinen 
irgend  erheblichen  Widerstand  hatte  entgegensetzen  können,  und 
dessen  Besetzung  alle  Dispositionen  des  Kaisers  zuschandeu  machen 
mußte.  Aber  sie  ließen  sich  ablenken.  „Eure  Kameraden,"  rief 
man  ihnen  zu,  „sind  auf  dem  Senatsplatz,''  und  so  zogen  sie  weiter 
die  Newa  entlang  dem  Sammelpunkt  zu').    Ihr  tapferer  Hegiments- 


1)  Das  ist  die  Tradition  der  Dekabristeu.  Der  Kaiser  erzählt  den  Hergang 
anders:  ,die  Barmherzigkeit  Gottes  zeigte  sich  noch  deutlicher,  als  ein  lluufe 
Leibgrenadiere,  von  dem  Offizier  Panow  geführt,  herankam,  um  sich  des  Palais 
zu  bemächtigen  und,  wenn  Widerstand  geleistet  werden  sollte,  unsere  ganze 
Familie  umzubringen.  Sie  gelangten  zur  Ilauptpforte  des  Palais  in  einiger 
Ordnung,  so  daß  der  Kommandeur  glaubte,  ich  hätte  sie  geschickt  das  Palais 
zu  besetzen.  Da  bemerkte  Panow  das  eben  eingetroffene  Bataillon  der  Leib- 
garde-Sappeure,  das  sich  im  Schloßhof  in  Kolonnen  richtete,  und  rief:  das  sind 
ja  nicht  unsere  Leute!  Damit  ließ  er  die  bereits  Einrückenden  kehrt  machen, 
und  führte  sie  auf  den  Schloßplatz  zurück.  Hätten  die  Sappeure  sich  um 
wenige  Minuten  verspätet,  so   wäre   der  Palast  und  unsere  ganze  Familie  in 

4* 


52        Kapitel  IL     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

kommandeur  Stürler  lief  ihnen  zur  Seite,  vergeblich  bemüht,  sie 
zur  Umkehr  zu  bewegen.  Diese  ganze  wild  erregte  Schar  sah  der 
Kaiser,  und  im  Glauben,  daß  sie  auf  seinen  Befehl  zur  Bekämpfung 
der  Meuterer  erschienen  seien,  ritt  er  an  sie  heran,  um  sie  halten 
zu  lassen  und  zu  ordnen.  Auf  sein:  Halt!  antwortete  man  ihm 
aber:  wir  sind  für  Konstantin!  „Darauf,^  so  erzählt  Nikolai  in  seinen 
Aufzeichnungen,  „wies  ich  sie  zum  Senatsplatz  hin  und  sagte:  wenn 
es  so  steht,  so  führt  euer  Weg  dahin,  und  nun  zog  dieser  ganze 
Haufe  an  mir  vorüber,  mitten  durch  alle  Truppen  konnte  er  sich 
unbehelligt  seinen  betörten  Kameraden  anschließen!^  Stürler  wurde, 
als  er  auch  auf  dem  Senatsplatz  seine  Bemühungen  fortsetzte,  von 
Kachowski  durch  einen  Pistolenschuß  niedergestreckt.  Um  diese 
Zeit  erschienen  völlig  unerwartet  einige  Seekadetten  und  Kadetten 
des  ersten  Kadettenkorps  bei  den  Aufrührern,  für  sich  und  ihre 
Kameraden  um  die  Erlaubnis  zu  bitten,  gegen  die  Truppen  des  neuen 
Kaisers  z^u  kämpfen');  man  war  menschlich  genug,  es  ihnen  abzu- 
schlagen.^J)enn  nun  mußte  endlich  eine  Entscheidung  fallen.  Wenn 
auch  nicht  überall  ohne  Schwierigkeiten,  waren  die  treu  gebliebenen 
Regimenter  in  Bewegung  gesetzt  worden.  Die  Bataillone  der 
Ismailower,  mit  denen  der  Großfürst  Michail  Pawlowitsch  war, 
und  der  Garde-Jäger  hatten  den  Platz  von  der  Himmelfahrtsstraße 
bis  zur  blauen  Brücke  eingenommen.  Die  Gorochowaja  (Erbsen- 
straße) hielten  die  Semenower,  hinter  den  Preobrashenskern,  bei 
denen  noch  immer  hoch  zu  Roß  der  Kaiser  stand,  war  die  Chevalier- 
Garde  in  Reserve  aufgestellt,  die  Sappeure  deckten  das  Winterpalais, 
endlich  standen  im  Rücken  der  beiden  Karrees  die  Pawlowsker.') 
Dazu  hatte  der  Kaiser  Befehl  gegeben,  die  Garde-Artillerie  heran- 
zuziehen. Er  hielt  den  Augenblick  für  geeignet,yum  nochmals  die 
Meuterer   zu  bewegen  die   Waffen   zu  strecken,    und   schickte  den 

die  Hände  der  Meuterer  gefallen,  während  ich,  mit  dem  beschäftigt,  was  auf 
dem  Senatsplatze  geschah  und  ohne  jede  Kenntnis  Yon  der  im  Röcken  dro- 
henden weit  größeren  Gefahr,  gar  nicht  in  der  Lage  war,  etwas  dagegen 
zu  tun/  £ine  andere  Überlieferung,  nach  der  Oberst  Moller  durch  seine  Geistes- 
gegenwart  das    Palais    gerettet   haben    soll,    Russ.    Starina    1890.     II  S.  332. 

^)  Diese  Nachricht  findet  sich  nur  in  den  Aufzeichnungen  von  Michail 
Bestushew,  ist  aber  gewiß  nicht  erfunden. 

^)  Das  finnländische  Leibgarderegiment  war  auf  der  Newabrucke  stehen 
geblieben,  auf  Kommando  eines  der  Verschworenen,  des  Barons  Rosen,  der 
die  Kompagnie  führte,  die  die  Spitze  bildete,  und  dadurch  das  ganze  Regiment 
zurückhielt. 


Kapital  IL    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfaog  usw.       53 

Metropoliten  von  Petersburg  und  Nowgorod,  Sseraphira,  zu  ihnen. 
Der  Prälat,  dem  der  Metropolit  von  Kiew  und  einige  Priester 
beigegeben  waren,  hat  keinerlei  Erfolg  gehabt.  „Sein  Auftreten 
zeugte  von  Mangel  an  Entschiedenheit  und  Mut,  was  mit  dem 
Kreuz  des  Erlösers  in  der  Hand  wohl  überaus  traurig  war."  So 
schildert  ein  Augenzeuge  den  Eindruck,  den  er  gewann').  Weit 
mutiger,  aber  gleich  wirkungslos,  war  das  Eingreifen  des  Großfürsten 
Michail  Pawlo witsch;  auch  wäre  er  fast  ein  Opfer  seiner  Kühnheit 
geworden.'^Der  Leutnant  Küchelbecker  fürchtete,  daß  Michail  die 
Soldaten  zu  sich  hinüberziehen  könnte,  und  zielte  mit  der  Pistole 
nach  ihm,  aber  sie  wurde  ihm  zur  Seite  geschlagen'),  der  Großfürst 
mußte  unverrichteter  Sache  umkehren.  Nun  war  inzwischen  auch 
eine  Batterie  Garde-Artillerie  unter  Führung  des  Obersten  Nestorowski 
eingetroffen,  jedoch  —  man  sollte  es  nicht  für  möglich  halten  — 
ohne  Kartätschen!  Zum  Glück  war  ihm  unterwegs  der  General 
Baron  Toll  begegnet,  der  den  Befehl  gab,  sie  sofort  holen  zu  lassen. 
Aber  es  ging  noch  geraume  Zeit  hin,  ehe  die  Kartätschen  eintrafen ; 
denn  die  Kasernen  der  Artillerie  waren  fünf  Werst  entfernt.  Auch 
war  der  Kaiser  schwankend  geworden.  Es  gab  in  seiner  Umgebung 
Leute,  welche  rieten,  nichts  zu  tun.  Die  Aufrührer  würden  bis 
zum  nächsten  Morgen  von  selbst  auseinanderlaufen  und  in  ihre 
Kasernen  zurückkehren.  Wirklich  schickte  er  auch  den  General 
der  Artillerie  Ssuchosanet  vor,  um  die  Empörer  zum  letzten  Male 
aufzufordern,  sich  zu  ergeben.  Man  empGng  ihn  mit:  Hurra, 
Konstantin!  Nun  schrie  ihnen  Ssuchosanet  entgegen:  „So  sollt  ihr 
den  Nikolai  kennen  lernen  1^  Auch  Toll  riet  dringend,  nicht  länger 
zu  zögern').  Der  Pöbel  an  dem  Gerüst,  das  die  Isaakskirche  umgab, 
die  gerade  repariert  wurde,  gebärdete  sich  immer  frecher,  und  unter 


')  Rskadronschef  von  Grünewaldt.  Der  Metropolit  war  nach  der  ersten 
Salve  umgekehrt,  aber  der  Kaiser  zwang  ihn,  seinen  Auftrag  auszuführen. 
Darauf  setzte  er  sich  in  seinen  Wagen  und  fuhr  auf  den  Senatsplatz.  Aussage 
des  Platzadjutanten  Tunzelmann.     Russki  Archiv  1905  S.  310  ff. 

^  Rosen  berichtet:  durch  Peter  Bestushew,  die  Aufzeichnung  des  Kaisers 
sagt,  es  seien  drei  Matrosen  gewesen. 

*)  Aufzeichnungen  eines  der  Dekabristen,  SuthofT,  behaupten,  Ssuchosanet 
sei  mit  dem  Ruf  „Podletz*,  d.  i.  Schuft,  empfangen  worden.  (Byloje.  April  1907.) 
Nach  Nikolais  Erinnerungen  hat  General  Wassiltschikow  ihm  zuerst  geraten, 
das  Geschütz  wirken  zu  lassen.  „Yous  voulez  que  je  verse  le  sang  de  mes 
Sujets  }e  Premier  jour  de  mon  regne,''  antwortete  ich  Wassiltschikow.  „Pour 
sauver  votre  empire/  sagte  er  mir. 


54       Kapitel  IL    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

den  Soldaten  auf  dem  Senatsplatz  herrschte  Trunkenheit  Es  war 
unerläßlich,  endlich  zu  handeln^).  Von  den  vier  vorhandenen  Kanonen 
schickte  der  Kaiser  eine  seinem  Bruder,  die  drei  anderen  wurden  vor 
den  Preobraschenskern  aufgestellt  und  mit  den  inzwischen  herbei- 
geschafTten  Kartätschen  geladen,  so  daß  die  Meuterer  deutlich  die 
Vorbereitungen  sehen  konnten.  Aber  auch  das  machte  keinen 
Eindruck,  sie  wurden  nur  noch  lärmender,  aber  sie  taten  nichts, 
der  Gefahr  vorzubeugen,  die  ihnen  drohte,  üa  gab  der  Kaiser  das 
Kommando  Feuer.  Der  erste  Schuß  ging  über  die  Köpfe  hinweg 
und  wurde  mit  einer  Salve  beantwortet,  aber  drei  darauf  folgende 
Schüsse  trafen  mitten  in  die  Haufen  hinein,  und  nun  stob,  ohne 
jeden  weiteren  Versuch  des  Widerstandes,  alles,  das  Volk  wie  die 
Meuterer,  in  blindem  Schrecken  auseinander.  Die  meisten  flohen, 
die  Reihen  der  Garde-Pioniere  durchbrechend,  der  Newa  zu;  während 
Ismailower  und  Preobrashensker  den  Senatsplatz  besetzten,  nahmen 
die  Garde  zu  Pferde,  die  Garde-Pioniere  und  Chevaliergardisten  die 
Verfolgung  auf.   Es  steht  fest,  daß  auch  die  Artillerie  den  Fliehenden 

General  Toll,  dessen  Aufzeichnung  vom  22.  Dezember  1825  datiert,  schreibt 
dagegen,  daß,  als  er  an  den  Kaiser  herantrat,  dieser  ihm  sagte:  „Voyez  ce 
qui  se  passe  ici.  Voilä  un  joli  commencement  de  regne.  Un  trone  teint  de 
sang.  Je  crois  mettre  fin  a  ce  desordre  en  faisant  mitrailler.''  »Sire,''  antwortete 
ich,  „dans  la  supposition  que  cela  devra  avoir  Heu,  j'ai  demande  au  colonel 
Nestorowski,  sUl  avait  des  cartouches  a  mitraille,  il  m*a  dit  que  non,  je  lui 
ai  conseille  d'en  faire  chercher."  Darauf  wurde  der  Befehl  von  Sr.  Majestät 
wiederholt.  Der  Kaiser  ritt  selbst  zur  Batterie  Nestorowskis,  die  am  Boulevard 
in  Kolonne  stand.  Der  neben  mir  reitende  General  Wassiltschikow  sagte  mir: 
„Mon  eher  general,  vous  venez  de  conseiller  la  mitraille,  pensons  un  moment, 
si  cela  vaut  la  peine  d'employer  le  canon."  —  „General,"  antwortete  ich,  „vous 
verrez  que  dans  l'espace  d'un  quart  d'heure  tout  sera  acheve." 

Baron  Rosen  in  den  „Memoiren  eines  Dekabristen"  wiederum  erzählt:  „Der 
Kaiser  konnte  sich  lange  nicht  zu  der  ultima  ratio  regum  entschließen.  Da 
sagte  ihm  .  .  .  Toll  .  .  .:  „Sire,  faites  balayer  la  place  par  la  mitraille,  ou 
renoncez  au  trone.*     Der  Kaiser  habe  ihm  das  nie  verzeihen  können." 

OiTenbar  gibt  die  ganz  unverdächtige  gleichzeitige  Aufzeichnung  Tolls 
den  wirklichen  Hergang. 

0  Daß  die  Meuterer  trunken  waren,  ergibt  sich  aus  den  Berichten  der 
Platzmajore,  die  im  Russki  Archiv  1905  S.  310  ff.  veröffentlicht  sind.  Auch  ist 
es  kein  Wunder,  wenn  man  bedenkt,  daß  die  Leute  seit  dem  frühen  Morgen  in 
der  Kälte  ohne  Nahrung  gestanden  hatten.  Offenbar  wurde  ihnen  vom  Volk 
Branntwein  zugetragen.  Der  Platzadjutant  Leonti  Meyer  bezeugt  zudem,  daß 
Toll  gegen  den  Plan  aufgetreten  sei,  die  Meuterer  mit  Feuerspritzen  auseinander 
zu  sprengen.    L.  c.  S.  321. 


Kapitel  II.    Der  14./2G.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        5Ö 

uoch  einige  EartätschenladuDgen  nachsandte,  und  daß  das  Eis  der 
Newa  infolgedessen  zusammenbrach  *).  Michail  Bestushew,  der 
überhaupt  in  den  Reihen  der  Verschworenen  der  Entschlossenste 
und  Kaltblütigste  war,  ist  dadurch  verhindert  worden,  seine  Leute 
zur  Peterpaulsfestung  zu  führen.  „Gefeng  es,"  —  so  schreibt  er 
in  seinen  Erinnerungen  —  „so  hatten  wir  einen  vortrefflichen  ,point 
d'appui^,  von  dem  aus  wir  durch  die  Kanonen,  die  auf  sein  Palais 
gerichtet  waren,  mit  Nikolai  unterhandeln  konnten."  In  der  Tat 
drohte  hier  noch  eine  ungeheure  Gefahr,  und  unverständlich  ist  nur 
das  eine,  daß  die  Meuterer  nicht  von  vornherein  die  Festung  zum 
Ausgangspunkt  ihrer  Aktion  machten,  statt  auf  dem  Senatsplatz 
nutzlos  zu  demonstrieren.  Aber  man  war  auf  beiden  Seiten  gleich 
kopflos,  und  der  Zufall  entschied.  Durch  eine  ungeheure  Eisspalte 
von  der  Festung  abgeschnitten,  retteten  die  Flüchtigen  sich  auf  das 
linke  Ufer  der  Newa,  gerade  gegenüber  der  Akademie  der  Künste. 
Der  Versuch,  hinter  ihren  festen  Mauern  Schutz  zu  finden,  mißglückte. 
Als  dann  eine  Eskadron  Chevalier-Garde  erschien,  hat  ein  Teil  sich 
ergeben,  anderen  gelang  es,  zu  entkommen,  unter  ihnen  auch 
Bestushew.  Auf  dem  Senatsplatz  lagen  56  Tote'),  darunter  keiner 
der  Offiziere.  Sie  sind,  infolge  eines  merkwürdigen  Zufalls,  sogar 
alle  unverwundet  geblieben.  Die  Entscheidung  ist  so  noch  kurz 
vor  Einbrechen  der  Dunkelheit  gefallen.     Um  6  Uhr')  konnte  der 


*)  Baron  Kaulbars  bestreitet  es  zwar,  aber  die  Aufzeichnungen  Tolls  und 
Michail  ßestushews  stimmen  darin  öberein.  Der  sehr  gut  unterrichtete  französische 
Botschafter  Graf  Laferronnays  schildert  in  seiner  „Relation  des  troubles  qui  ont 
eclate  a  St.  Petersbourg"  den  Schlußakt  folgendermaßen:  L'Rmpereur  ordonna 
a  la  cavalerie  de  demasquer  les  pieces  et  commanda  1e  feu.  Mais  les  artilleurs 
se  montrerent  irresolus,  ils  approcherent  ä  3  ou  4  reprises  la  meche  avant  de 
mettre  feu  ä  la  premiere  picce  qui,  comme  on  s'en  apercut  a  Tinstant,  etait 
dirigee  sur  le  toit  du  palais  du  st'nat,  et  non  contre  les  revoltes  qui,  enbardis 
par  cela,  se  disposerent  a  l'attaque.  Les  officiers  de  la  suite  de  l'empereur 
se  pr^cipiterent  sur  les  canons  et  en  changereut  la  direction  et  alors  commen^a 
un  feu  meurtrier  a  80  pas  de  distance.  Les  revoltes  tinrent  ferme  jusqu'au 
sixicme  coup,  mais  ils  se  precipiterent  ensuite  vers  le  lieu  occupe  par  le 
grand-duc  qui  les  re^ut  ä  mitraille  et  les  repoussa  vers  la  place  oü  Tartillerie 
ne  cessait  de  tonner.  Les  grenadiers  de  Paul,  arrives  sur  les  derrieres  des 
insurges,  firent  sur  eux  avec  le  plus  grand  efl'et  un  feu  ä  40  pas,  et  la  cavalerie 
les  chargea  de  nouveau,  et  cette  fois  avec  un  plein  succes. 

*)  Die  Zahl  der  Opfer  war  jedenfalls  großer.  Viele  der  Leichen  wurden 
in  die  Eislöcher  der  Newa  geworfen. 

*)  Die  Stunde  gibt  Willamow  in  seinem  Tagebuche  an. 


56       Kapitel  IL    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

Kaiser,  nach  allen  Aufregungen  des  Tages,  ins  Winterpalais  zurück- 
kehren. Die  Generale  Benckendorff  und  Wassiltschikow  erhielten 
den  Auftrag,  für  die  Ruhe  der  Stadt  Sorge  zu  tragen;  der  erste 
in  VVassili-Ostrow,  der  andere  diesseit  der  Newa.  Der  Senatsplatz 
wurde  gereinigt,  man  entfernte  die  Blutspuren,  schüttete  neuen 
Schnee  auf  und  walzte  ihn. 

Auf  dem  Schloßplatz  und  auf  dem  Senatsplatz  biwakierten 
Truppen  und  war  Artillerie  aufgefahren,  überall  brannten  große 
Scheiterhaufen,  an  denen  die  Soldaten  sich  in  der  kalten  Winter- 
nacht wärmen  konnten.  „Wir  waren",  schreibt  ein  Augenzeuge,  „wie 
im  Belagerungszustände;  ein  Anblick,  der  Entsetzen  erregte.  Aus 
diesen  Feuern  erhob  sich  majestätisch  die  Statue  des  großen  Urhebers 
der  russischen  Macht.  Konnte  sein  Geist  herabschauen  auf  die 
Ereignisse  dieses  Tages,  so  war  er  zugleich  Zeuge  eines  Verbrechens, 
das  seiner  Schöpfung  mit  dem  Umsturz  drohte,  und  Beobachter 
der  Seelengröße  eines  Urenkels,  dessen  heroischem  Benehmen  das 
Reich  seine  Rettung  aus  einem  unübersehbaren  Meere  von  Trübsalen 
dankte."  So  urteilte  damals  der  Prinz  Eugen,  und  gewiß  hat  er 
darin  recht,  daß  Nikolai  an  jenem  Tage  bewies,  daß  er  sich  furchtlos 
auszusetzen  und  in  gefährlichen  Augenblicken  feste  Haltung  zu 
zeigen  vermochte.  Aber  auch  die  Schwächen  seiner  Natur  waren 
zutage  getreten:  Mangel  an  Übersicht  und  Langsamkeit  im  Finden 
des  rechten  Entschlusses.  Schon  au  seinem  Verhalten  vor  dem 
Senatsplatz  hätte  man  erkennen  müssen,  daß  er  kein  Feldherr  sein 
werde.  An  der  Art,  wie  er  nun,  da  der  Erfolg  für  ihn  entschieden 
hatte,  von  seiner  Strafgewalt  Gebrauch  machte,  trat  ein  anderer, 
noch  weit  bedenklicherer  Mangel  zutage:  er  hatte,  wie  wir  schon 
bemerkten,  zwar  Gerechtigkeitsgefühl,  aber  keine  Vorstellung  vom 
Begriff  des  Rechts.  Mit  dem  24.  Dezember  1825  beginnt  ein  neues 
Regiment  der  Willkür. 

Die  nächste  Aufgabe  war  natürlich,  der  Meuterer  habhaft  zu 
werden.  Sie  ist  schnell  und  energisch  gelöst  w^orden.  Von  allen 
Seiten  her  wurden  eingefangene  Soldaten  eingebracht  und  in  Arrest 
geführt.  Die  Stimmung  war  unsicher;  im  Grunde  wußten  Sieger 
und  Besiegte  nur,  auf  wessen  Seite  der  Erfolg  war,  nicht,  wem  das 
Recht  gehörte.  Den  Ismailowern  w^urde  nicht  ohne  Bitterkeit 
vorgeworfen,  daß  sie  trotz  ihres  Versprechens  sich  auf  dem  Senats- 
platz den  Moskauern  nicht  angeschlossen  hatten.  Aber  bei  alledem 
war   die  Gefahr  überwunden,    und   es  entsprach   der  tatsächlichen 


Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        57 

Lage,  daß  Nikolai  um  7  Uhr  einen  Dankgottesdienst  begehen  ließ. 
Der  Ausgang  hätte  ein  anderer  sein  können. 

Bald  wurden  auch  die  ersten  gefangenen  Offiziere  dem  Kaiser 
vorgeführt.  Die  Generale  Baron  Toll  und  Lewaschew  waren  be- 
auftragt, das  erste  Verhör  vorzunehmen.  Der  Kommandant  von 
Petersburg,  General-Adjutant  Baschutzki,  führte  sie  unter  starker 
Bedeckung  ihnen  zu.  Allen  waren  die  Hände  auf  den  Rücken 
gebunden.  Als  Erster  wurde  der  Fürst  Schtschepin-Rostowski  vor- 
geführt, danach  SuthoflF'),  als  dritter  Rylejew.  Am  Abend,  nachdem 
der  Aufstand  als  endgültig  gescheitert  gelten  mußte,  war  Rylejew  voll 
trüber  Ahnungen  in  seine  Wohnung  zurückgekehrt.  Puschtschin,  Stein- 
heil und  noch  einige  der  Verschworenen  hatten,  in  kaum  verständlicher 
Sorglosigkeit  sich  bei  ihm  eingefunden,  um  über  die  Ereignisse  des 
Tages  zu  reden.  Er  verbrannte  seine  Papiere  und  legte  sich  schlafen. 
Gegen  11  Thr  wurde  er  vom  Oberpol izeimeister  verhaftet  und 
sofort  in  das  Winterpalais  geführt.  Eine  halbe  Stunde  später  stand 
er  vor  dem  Zaren.  Es  ist  nichts  von  dem  Verhör  bekannt  geworden, 
dem  der  Kaiser  ihn  unterzog.  Wir  wissen  nur,  daß  er  über  den 
Fang  hoch  erfreut  w^ar,  und  daß  die  Offenheit  Rylejews  ihm  nicht 
mißfiel.  Aber  gewiß  ist  ihm  keinen  Augenblick  der  Gedanke  ge- 
kommen, diesen  Führer  der  Aufständischen  zu  schonen.  Daß 
Rylejew,  der  nun  bis  zu  seiner  Todesstunde  in  der  Kasematte 
Kr.  17  des  sogen.  Alexander-Ravelins  der  Peterpaulsfestung  blieb, 
sich  dennoch  fast  bis  zuletzt  mit  der  Hoffnung  tragen  konnte,  begna- 
digt zu  werden,  zeigt  wohl,  daß  Nikolai,  ebenso  wie  Alexander,  es 
verstand,  seine  Gedanken  zu  verbergen.  Dann  folgte  ein  Unschuldiger, 
der  Sohn  des  berühmten  Professors  Storch,  dem  wir  die  Materialien 
zur  Geschichte  des  russischen  Reiches  und  die  Zeitschrift  Rußland 
unter  Alexander  I.  zu  danken  haben.    Als  Fünfter  wurde  Sherebzow 


')  Ich  folge  den  Angaben  des  Generals  Toll  in  seinem  als  Manuskript  ge- 
druckten Tagebucbe,  dessen  Aufzeichnungen  Yom  22.  Dezember  datieren.  Der 
Prinz  Eugen  gibt  eine  andere  Reihenfolge  an.  Er  nennt  als  zweiten  Gorski.  Das 
ist  aber,  wie  sich  aus  dem  Schreiben  Nikolais  an  Konstantin  (Ermordung 
Pauls  usw.  S.  104)  ergibt,  bestimmt  ein  Irrtum.  Toll  war  besser  unterrichtet, 
er  hat  alle  Gefangenen,  bevor  sie  dem  Zaren  vorgeführt  wurden,  verhört. 
Wahrscheinlich  hat  Toll  seine  Aufzeichnungen  auf  Grund  des  Berichts  oder 
zum  Zweck  des  Berichts  gemacht,  den  er  seinem  Chef,  dem  späteren  Feld- 
marschall Sacken,  abstatten  mußte.  Toll  verließ  Petersburg  am  15./27.  Dezember 
und  traf  am  19./31.  Dezember  in  Mobile w  bei  Sacken  ein. 


58        Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

vorgeführt,  dann  Bodisko,  Küchelbecker,  Jacubowitsch,  Kornilowitsch, 
Swetschin  und  so  weiter,  zuletzt  der  Fürst  Trubetzkoi.  Das  Verhör 
geschah  in  der  Weise,  daß  die  Generale  Toll  und  Lewaschew  in 
Gegenwart  des  Kommandanten  Baschutzki  die  Aussagen  der  ein- 
gebrachten Gefangenen  zu  Protokoll  nahmen  und  unterzeichnen 
ließen.  Dann  ging  Toll  zum  Kaiser  und  las  ihm  die  Aussagen  vor. 
Dieser  bestimmte,  wo  die  Gefangenen  interniert  werden  sollten,  und 
ließ  sie  sich  zu  einem  zweiten,  von  ihm  persönlich  geführten  Verhör 
vorführen.  Diese  Verhöre  begannen  am  14./26.  Dezember  um  7  Uhr 
abends,  sie  gingen  durch  die  ganze  Nacht  und  dauerten  bis  12  Uhr 
mittags  am  15.  Es  ist  daher  kein  Wunder,  daß  der  Kaiser  nach 
den  furchtbaren  Aufregungen,  die  ihm  der  Tag  gebracht  hatte,  in 
hohem  Grade  nervös  war.  Das  \Vesentlichsto  aber  war  doch,  daß 
ihm  jede  Vorstellung  von  einem  regelmäßigen  gerichtlichen  Ver- 
fahren und  alle  juristische  Bildung  abging.  Er  trat  an  die  ihm 
vorgeführten  Gefangenen  mit  dem  Ansinnen  heran,  daß  sie  ihm 
in  voller  Aufrichtigkeit  und  in  vollem  Umfang  ihre  Schuld  bekennen 
sollten,  und  ebenso  verlangte  er  rückhaltlose  Angabe  der  Mit- 
schuldigen. Jedes  Leugnen  und  jedes  Verschweigen  erschien  ihm 
als  höchst  verächtliche  Unwahrhaftigkeit  und  zugleich  als  eine  ihm 
persönlich  angetane  Beleidigung*).  Er  pflegte  mit  freundlichen 
Fragen,  meist  unter  Betonung  seiner  persönlichen  Teilnahme,  zu 
beginnen,  und  wo  er  dann  auf  vorsichtiges  Verschweigen,  auf  Halb- 
wahrheiten oder  auf  direkte  Unwahrheiten  stieß  oder  zu  stoßen 
meinte,  mit  Drohungen  zu  schließen.  Noch  bedenklicher  war,  daß 
von  vornherein  nicht  nur  nach  strafbaren  Handlungen,  sondern  nach 
der  politischen  Gesinnung  jedes  einzelnen  inquiriert  wurde  und  daß 
diese  vom  Kaiser  eingeschlagene  Inquisitionsmethode  von  der  Unter- 
suchungskommission, mit  deren  Organisation  er  den  Kriegsminister 


^)  Eine  Charakteristik  Nikolais  während  der  Dauer  der  Verhöre  gibt 
Scbtschegolew  in  seiner  lehrreichen  Studie  über  Peter  Grigorjewitsch  Eachowski 
in  der  Zeitschrift  ßyloje,  Januar  und  Februar  1906.  Gewiß  bat  er  darin  recht, 
dali  das  große  Schauspielertalent  des  Kaisers  auch  bei  diesen  Verhören  zur 
Geltung  kam.  Aber  während  Scbtschegolew  ohne  jede  Billigkeit  an  Nikolai 
alles  verurteilt  und  jede  menschliche  Regung  in  ihm  als  Heuchelei  brandmarkt, 
urteilt  er  über  Kachowski  entschieden  zu  milde.  Es  sind  von  diesem  Mann 
Denunziationen  ausgegangen,  für  die  es  keine  Entschuldigung  gibt,  und  die 
in  ihrer  Gewissenlosigkeit  sich  nur  durch  die  Todesangst  und  die  üoffnung 
Kachowskis  erklären,  daß  er  vielleicht  doch  sein  Leben  retten  könnte. 


Kapitel  IL     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        59 

Tatischtschew  am  15./27.  Dezember  beauftragte,  aufgenommen 
wurde'). 

Durch  einen  als  geheim  bezeichneten  Ukas  vom  17./29- 
Dezember  ernannte  der  Kaiser  zu  Mitgliedern  dieser  Kommission 
den  General -Feldzeugmeister  Golitzyn,  die  General -Adjutanten 
Golenitschew-Kutusow,  Benckendorft'  und  Lewaschow,  zum  Ge- 
schäftsführer den  Kriegsrat  Borowkow,  zu  denen  dann  später  noch 
die  Generale  Potapow,  Diebitsch,  Tatischtschew,  Tschernyschew 
und  der  Großfürst  Michail  Pawiowitsch  als  Vorsitzender  traten.  Es 
waren  also  lauter  höhere  Ofliziere,  kein  einziger  Jurist  in  dieser 
Cntersuchungskommission,  so  daß  es  wohl  begreiflich  ist,  daß  bei 
dem  Bildungsstande  dieser  Herren  alle  rechtlichen  Schranken,  die 
den  Angeklagten  zum  Schutze  hätten  dienen  müssen,  rücksichtslos 
beiseite  geschoben  wurden.  Es  soll  damit  keineswegs  der  Vorwurf 
erhöben  werden,  als  hätten  die  Mitglieder  der  Kommission  wider 
bessere  Überzeugung  gehandelt,  sie  wußten  es  nicht  besser;  aber 
unzweifelhaft  war  es  eine  geistige  Tortur,  durch  welche  die  Aussagen 
der  Dekabristen  erpreßt  wurden. 

Gleich  die  ersten  Verhöre  hatten  bestätigt,  w^as  durch  Diebitschs 
Bericht  und  Rostowzews  Bekenntnisse  dem  Zaren  bereits  bekannt 
war:  sowohl  in  Moskau,  wie  namentlfch  in  der  zweiten  Armee,  gab  es 
Teilnehmer  an  der  Verschwörung,  und  da  man  durchaus  nicht 
wußte,  wie  dort  die  Führer  den  Thronwechsel  für  ihre  Zw^ecke 
nutzbar  gemacht  hatten,  ist  es  begreiflich,  daß  Nikolai  das  Schlimmste 
fürchtete.  Auch  hier  lag  ein  Versäumnis  seinerseits  vor.  Schon 
am  12.  hätte  er  die  Autoritäten  in  Moskau  auf  den  unmittelbar 
bevorstehenden  Thronwechsel  und  auf  die  Gefahr  einer  Erhebung 
der  Verschworenen  aufmerksam  machen  können.  Aber  erst  am  15. 
wurde  der  General-Adjutant  Graf  Komarowski    nach   Moskau    ab- 


^)  conf.  Alexander  Dmitrijewitsch  Borowkow  und  seine  autobiographischen 
Aufzeichnungen.  Petersburg  1899.  Russisch.  Wir  verzichten  auch  hier  um  des 
Raumes  willen  auf  näheres  Eingehen  in  das  Detail.  Eine  ausführliche  Dar- 
legung, die  aber  trotzdem  keineswegs  als  vollständig  bezeichnet  werden  kann, 
bringt  Schilder,  Nikolai  Bd.  I.  Eine  sehr  wertvolle  Publikation  haben  die 
Herren  W.  J.  Ssemewski,  W.  Bogutscharski  und  P.  J.  Schtschegolew  unter 
dem  Titel:  Die  gesellschaftliche  Bewegung  Rußlands  in  der  ersten  Hälfte  des 
XIX.  Jahrhunderts,  begonnen.  Bd.  I,  Petersburg  1905,  4.  Kap.  behandelt  die 
Dekabristen  von  Wisin,  Obolenski  und  Steinheil. 

Die  Bezeichnung  war  ursprünglich  „Comite,**  erst  5./17.  Januar  1826 
wird  die  Bezeichnung  „Untersuchungskommission"  gebraucht. 


60        Kapitel  II.    Der  14./2G.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

gefertigt,  wo  er  am  Abend  des  17.  eintraf.  Überholt  hatte  ihn 
ein  Kurier,  der  dem  Erzbischof  Philaret  den  Befehl  brachte,  da« 
auf  dem  Sucharewturm  befindliche  Marinekommaudo  zu  vereidigen, 
dessen  Kommandant  ein  gedrucktes  Manifest  über  den  Thronwechsel 
erhalten  habe.  Dann  war  am  Morgen  des  17.  ein  eigenhändiges 
Reskript  des  Kaisers  an  den  General-Gouverneur,  Fürsten  Dmitri 
Wladimirowitsch  Golitzyn  eingetroffen,  das  aber  einen  ganz  per- 
sönlichen, nicht  offiziellen  Charakter  trug,  so  daß  Golitzyn  sich  nicht 
berechtigt  glaubte,  daraufhin  eine  Vereidigung  vorzunehmen.  Erst 
die  Ankunft  Komarowskis  löste  die  Zweifel,  und  am  18.  früh  wurde, 
nachdem  in  der  Nacht  das  Manifest  Nikolais  mit  seinen  Anlagen 
gedruckt  worden  war,  der  Senat  versammelt  und  von  dem  unterrich- 
tet, was  geschehen  war,  danach  ward  die  Vereidigung  von  Zivil-  und 
Militärautoritäten  in  der  Himmel fahrtskathedrale  vorgenommen. 
Die  Vereidigung  des  Volkes  erfolgte  auf  dem  Kremlplatz.  Der 
Erzbischof  öffnete  unter  großer  Feierlichkeit  das  versiegelte  Paket 
mit  dem  Testament  Alexanders,  verlas  den  letzten  Willen  des 
Zaren  und  die  Abdankungsurkunde  Konstantins,  danach  das  Manifest 
Nikolais.  Dann  sprach  er  den  neuen  üntertaneneid  vor,  der  mit 
den  Worten  begann:  „Nachdem  Kraft  und  Wirkung  des  früheren 
Eides  durch  Verzicht  desjenigen  nichtig  geworden,  dem  er  geleistet 
worden,  schwöre  ich,  der  sündige  usw."  Es  schloß  sich  daran  ein 
Gebet  und  der  Gesang  der  Hymne,  die  dem  neuen  Herrscher  ein 
langes  Leben  und  eine  glückliche  Regierung  wünscht  (die 
mnogoletije).  Als  Komarowski  am  22.  Dezember  wieder  in  Peters- 
burg eintraf,  konnte  er  berichten,  daß  in  Moskau  alles  in  bester 
Ordnung  sich  der  neuen  Regierung  angeschlossen  habe.  Die  Nachricht 
von  den  Ereignissen,  die  sich  am  14.  auf  dem  Senat^platz  abgespielt 
hatten,  war  von  der  Moskauer  Bevölkerung  mit  Erbitterung  auf- 
genommen worden.  Man  gab  dem  Adel  die  Schuld,  und  ähnliche 
Nachrichten  liefen  aus  den  Provinzen  ein.  Und  doch  hatte  auch 
Moskau  vor  der  Gefahr  eines  Aufstandes  gestanden. 

Die  Nachricht  vom  Tode  Alexanders  war  den  Moskauer  Ver- 
schworenen durch  den  Kapitän  Jakuschkin  am  8.  Dezember  gebracht 
worden.  Es  fanden  Versammlungen  bei  dem  Generalmajor  von 
Wisin  und  dem  Obersten  Mitkdw  statt,  und  der  eben  damals  aus 
dem  Süden  eintreffende  Oberst  Naryschkin  vom  Tarutinschen 
Infanterieregiment  brachte  übertriebene  Nachrichten  von  dem  Um- 
fang  und    der   militärischen   Macht   des  Südbundes.     Dann    liefen 


£apitel  II.     Der  14./^6.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        61 

weitere  Nachrichten  aus  Petersburg  ein.  Man  staud  in  Erwartung 
großer  Ereignisse,  wollte  aber  die  eigenen  Entschlüsse  in  Ab- 
hängigkeit von  den  Entscheidungen  der  Petersburger  Verschworenen 
stellen,  die,  wie  man  glaubte,  über  die  Mehrzahl  der  Garderegimenter 
verfügen  konnten.  In  der  Nacht  auf  den  17.  Dezember*)  wurde 
durch  einen  Brief  aus  Petersburg  bekannt,  daß  Konstantin  abdanken 
und  Nikolai  die  Regierung  übernehmen  werde,  daß  die  Verschworenen 
die  Eidesleistung  der  Garderegimenter  verhindern  und  auch  selbst 
nicht  schwören  würden,  man  rechne  auf  die  Hilfe  Moskaus. 
Jakuschkin  hat  darauf  versucht,  seine  Gesinnungsgenossen  zu  einem 
kräftigen  Entschluß  fortzureißen.  Von  Wisin,  der  bereits  außer 
Dienst  stand,  sollte  seine  Generalsuniform  anlegen  und  die  Garnison- 
truppen unter  irgendeinem  Verwände  zum  Aufstande  bewegen, 
den  Oberst  Ilurko,  Stabschef  des  5.  Korps,  früheres  Mitglied  des 
„Tugendbundes",  hoffte  man  ebenfalls  zu  gewinnen;  dann  wollte 
man  den  Korpsgeneral  Grafen  Tolstoi  und  den  General-Gouverneur 
Fürsten  Golitzyn  sowie  andere  Offiziere  verhaften,  die  nicht  zu 
gewinnen  waren.  Durch  den  Grafen  Scheremetjew,  den  Oberst 
Naryschkin  und  andere  ehemalige  Ssemenower  hofl'te  man  die 
außerhalb  Moskaus  stehenden  Truppen  zu  sich  herüberzuziehen. 
Traf  dann,  wie  erwartet  werden  konnte,  günstige  Nachricht  aus 
Petersburg  ein,  so  mußte  die  Erhebung  Moskaus  die  dort  gewonnene 
Stellung  der  Verschworenen  stärken,  andernfalls  war  man  bereit, 
die  Folgen  auf  sich  zu  nehmen.  Über  diesen  Plan  haben  Jakuschkin, 
Scheremetjew,  von  Wisin  und  Mitkow  bis  4  Uhr  morgens  zu  Rat 
gesessen  —  schließlich  aber  die  Entscheidung  auf  eine  neue  Be- 
ratung am  folgenden  Abend  verschoben. 

Das  Eintreffen  Komarowskis  —  den  die  Verschworenen  im 
ersten  Schrecken  für  Nikolai  hielten  — ,  die  Nachricht  von  der 
Niederlage  der  Petersburger  und  die  danach  folgende  Eidesleistung 
machten  all  diese  Pläne  unausführbar,  zumal  der  General  Michail 
Feodorowitsch  Orlow,  auf  den  die  Verschworenen  gleichfalls  ge- 
rechnet hatten,  keinerlei  Neigung  zeigte,  sich  für  das  aussichtslose 
Unternehmen  zu  opfern.  Ein  Antrag  des  aus  Petersburg  ein- 
getroft'enen  Stabskapitäns  Muchanow,  nach  Petersburg  zu  ziehen 
und  Nikolai   zu    ermorden,    wurde  unter  diesen  Umständen    nicht 


^)  Jakuschkin,  dessen  Memoiren  hier  unsere  Quelle  sind,  verschiebt  die 
Daten  um  einen  Tag. 


62         Kapitel  II.    Der  14./*26.  Dezember  uQd  die  Niederwerfung  usw. 

ernst  genommen.  Es  war  ein  verlorenes  Spiel,  man  ging  ratlos 
auseinander,  gefaßt,  hinzunehmen,  was  das  Verhängnis  bringen 
werde.  Bald  danach  begannen  auch  in  Moskau  die  Verhaftungen. 
Als  Ersten  trafen  sie  den  General  Michail  Orlow,  Von  Wisin  hatte 
am  20.  dem  Kaiser  Nikolaus  gehuldigt.  Er  und  Jakuschkin  wurden 
aber  mit  anderen  Vej-dächtigon  in  den  folgenden  Tagen  ebenfalls 
verhaftet,  ohne  daß  auch  nur  einer  versucht  hätte,  sich  zu  retten. 
Ebenso  ruhmlos  war  damals  bereits  das  eigentliche  Haupt  der 
gesamten  Verschwörung,  Oberst  Paul  Pestel,  in  die  Hände  der 
Regierung  gefallen. 

Wir  erinnern  uns,  daß  der  Fürst  Trubetzkoi,  der  Anfang 
November  nach  Petersburg  zurückkehrte'),  nachdem  er  vorher  mit 
den  Führern  des  Südbundes  in  Beziehung  getreten  war,  dem  Norden 
einen  Aktionsplan  mitbrachte,  der  verwirklicht  werden  sollte,  wenn 
die  Petersburger  Verschworenen  sich  bereit  fanden,  ihn  anzunehmen. 
Der  Gedanke  war,  den  Kaiser  Alexander  auf  der  angesagten  In- 
spektion des  3.  Armeekorps  in  Bjelozerkow^  im  Mai  1826  zu  ermorden, 
was  durch  Vertrauensmänner,  welche  die  südliche  Gesellschaft  zu 
stellen  übernahm,  geschehen  sollte.  An  diesem  Tage,  dessen  Datum 
auch  in  Petersburg  rechtzeitig  bekannt  sein  mußte,  sollte  die 
Revolution  des  Nordbundes  dort  zum  Ausbruch  kommen,  und  zwar 
dachte  man  die  Garde  und  die  Flotte  zu  gewinnen,  die  kaiserliche 
Familie  ins  Ausland  zu  verschicken,  und  durch  den  Senat,  an  dessen 
Willfährigkeit  nicht  gezweifelt  wurde,  zwei  Proklamationen:  an  das 
Heer  und  an  das  Volk,  zu  erlassen  und  so  die  Notwendigkeit  einer 
Änderung  der  Regierungsform  zu  rechtfertigen.  Gleichzeitig  sollte 
dann  das  3.  Armeekorps  gegen  Moskau  marschieren  und  dort  den 
Senat  zu  gleichen  Kundgebungen  nötigen,  während  der  Rest  der 
Verschworenen  im  Süden  ein  Lager  bei  Kiew  aufzuschlagen,  die 
Militärkolonien  im  Charkowschen  zu  gewinnen  und  das  Hauptquartier 
in  Tultschin  aufzuheben  bestimmt  war.  Aber  das  waren  eben  nur 
Pläne,  und  ehe  eine  Antwort  aus  Petersburg  erfolgte,  erhielt  alles 
durch  die  Nachricht  vom  Tode  Alexanders  ein  anderes  Ansehen. 
Auch  war  Pestel  schon  seit  geraumer  Zeit  mißtrauisch  geworden. 
Er  hatte  in  Umany  eine  Zusammenkunft  mit  dem  Fürsten  Wolkonski 
und  dem  Gutsbesitzer  Dawidow,  einem  der  tätigsten  Mitglieder  des 
Südbundes,  gehabt.     Durch  einen  der  Agenten  des  Generals  Witt, 


»)  conf.  Bd.  I  S.  485  und  505. 


Kapitel  H.     Der  14./26.  Dezember  und  die  NiederwerfuDg  usw.        63 

den  Kollegienassessor  Boschnjak,  der  sich  in  ihr  Vertrauen  ein- 
geschlichen hatte,  aber  Spionendienste  leistete,  war  ihnen  zugetragen 
worden,  daß  der  geplante  Anschlag  gegen  das  Leben  Alexanders 
von  der  Regierung  entdeckt  sei^). 

Die  zwischen  Tagaurog  und  Peteraburg  hin  und  her  gehenden 
Feldjäger  steigerten  den  Verdacht,  und  daraufhin  wurde  beschlossen, 
daß  im  Fall  der  Not,  auch  ohne  vorausgegangene  Zustimmung 
Petersburgs,  Pestel  handeln  und  sich  des  Hauptquartiers  in  Tultschin 
bemächtigen  solle.  Damit  kehrte  Pestel  nach  Linzy,  dem  Standort 
seines  Regiments,  südlich  von  Kiew,  zurück.  Kier  erhielt  er  am 
28.  oder  29.  November  die  Nachricht  vom  Tode  Alexanders,  Sie 
hat  auf  ihn  geradezu  lähmend  gewirkt.  Der  Vereidigung  seiner 
Trappen  für  den  Kaiser  Konstantin,  die  am  2.  Dezember  erfolgte, 
setzte  er  keinerlei  Widerstand  entgegen,  auch  machte  er  keinen 
Versuch,  sein  Regiment  für  später  eintretende  Möglichkeiten  vor- 
zubereiten. Inzwischen  aber  nahte  das  Verhängnis.  Am  11.  Dezember 
traf  aus  Taganrog  der  General-Adjutant  Tschernyschew  in  Tultschin 
ein.  Er  brachte  im  Auftrage  Diebitschs  dem  Grafen  Wittgenstein 
die  Nachrichten,  die  ihm  über  die  in  der  2.  Armee  bestehende 
Verschwörung  zugegangen  waren.  Im  wesentlichen  war  es  das 
von  Maiboroda  gelieferte  Material.  Der  Stabschef  der  2.  Armee 
General  Kisselew  und  der  Uberkommandierende  Feldmarschall 
Graf  Wittgenstein  haben  dann  sofort  eine  erste  Untersuchung 
vorgenommen,  am  13.  Dezember  fuhren  Tschernyschew  und 
Kisselew')  nach  Linzy.  Pesteis  Papiere  wurden  durchsucht,  aber 
man  fand  nichts  Wesentliches,  da  er  schon  im  November  alles 
belastende  Material  fortgeschafft  oder  verbrannt  hatte.  Aber  das 
Verhör,  das  mit  ihm  angestellt  wurde,  führte  zu  seiner  Verhaftung, 
an  die  sich  bald  die  Verhaftung  mehrerer  anderer  Mitglieder 
des  Südbundes  anschloß.  Am  25.  Dezember  leistete  die  ge- 
samte 2.  Armee  dem  Kaiser  Nikolaus  den  Treueid,  am  27.  wurde 
Pestel  unter  großen  Vorsichtsmaßregeln  nach  Petersburg  geschaift. 
Dort  verfiel  er  der  Untereuchungskommission  und  einem  Inquisitions- 
system,   das  ihn,    wie  so  viele  andere,   zur   Verleugnung  der  ße- 


>)  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  Witt  ihnen  diese  Nachricht  zugehen 
ließ,  um  sie  zur  beschleunigten  Ausführung  ihrer  Pläne  zu  veranlassen. 

^)  Daß  Kisselew  ein  heimlicher  Gönner  des  Südbundes  gewesen  sei,  ist 
ohne  Zweifel  falsch.  Aber  er  urteilte  menschlich  frei  und  war  mit  mehreren 
der  Dekabristen  in  den  besten  gesellschaftlichen  und  dienstlichen  Beziehungen. 


64       Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

strebungen  seines  Lebens  und  zu  einer  Offenheit  in  seinen 
Bekenntnissen  führte,  die  hart  an  Denunziation  streift.  Sein 
theoretischer  Republik anismus  ging  in  volle  Anerkennung  der  höheren 
Mission  des  Absolutismus  auf,  und  wenn  er  schließlich  als  Märtyrer 
der  Freiheit  sein  Ende  am  Galgen  fand,  so  war  er  doch  nur  der 
Märtyrer  einer  verleugneten  Freiheit. 

Mannhafter  als  Pestel  hat  Ssergej  Murawjew  Apostel  versucht, 
die  im  Norden  gescheiterte  Erhebung  durch  eine  Erhebung  des 
Südens  zu  retten.  Auch  hätte  der  von  ihm  geplante  und  nur 
teilweise  verwirklichte  Aufstand  in  der  Tat  zu  einer  Gefahr  für 
die  Dynastie  werden  können.  Denn  im  Süden  hatten  die  der 
Verschwörung  zugefallenen  Offiziere  auch  Fühlung  mit  den  Soldaten 
gefunden  und  die  eigene  revolutionäre  Gesinnung  unter  ihnen  ver- 
breitet. Namentlich  unter  den  vereinigten  Slaven  war  die  Stimmung 
der  Regierung  feindselig,  und  die  Führer  Andrejewitsch,  Borissow, 
Gorbatschewski,  alle  drei  Leutnants  in  der  8.  Artilleriebrigade, 
waren  entschlossene  Männer.  Es  ist  nur  einer  Reihe  glücklicher 
Zufälligkeiten  zu  danken,  daß  die  überall  bestehende  Unzufriedenheit 
hier  nicht  einen  tatkräftigen  Mittelpunkt  fand.  Die  für  eine  Er- 
hebung in  Aussicht  genommenen  Regimenter  des  3.  Armeekorps 
hatten  zudem  ihre  Standquartiere  ziemlich  nahe  beieinander  auf 
dem  rechten  Ufer  des  Dnjepr.  Es  waren  die  8.  und  9.  Artillerie- 
brigade und  die  Infanterie-Regimenter  Pensa,  Tschernigow  und 
Ssaratow.  Aber  man  rechnete  auch  auf  die  Regimenter  Wjätka, 
Tambow  und  Pultawa,  auf  die  Achtyrschen  und  die  Alexander- 
Husaren  und  die  Jäger  zu  Pferde.  Setzte  sich  diese  ganze  Masse 
in  Bewegung,  so  lag  jedenfalls  die  Gefahr  eines  Bürgerkriegs  vor, 
in  welchem  ein  großer  Erfolg  der  Aufständischen  von  unberechen- 
barer Tragweite  sein  konnte. 

In  Wirklichkeit  hat  es  auch  hier  nicht  mehr  als  eine  Emeute 
gegeben,  die  schnell  niedergeworfen  wurde,  und  die  nur  einen 
geringen  Bruchteil  derjenigen  Truppen  umfaßte,  auf  welche  ursprüng- 
lich gerechnet  worden  war.  Denn  hier,  wie  überall,  fehlte  im  entschei- 
denden Augenblick  jede  einheitliche  Leitung.  Der  Mann,  auf  den  in 
diesen  Kreisen  alles  blickte,  der  Oberstleutnant  des  Tschernigower  In- 
fanterie-Regiment«, Ssergej  Murawjew  Apostel  war,  als  am  23.  De- 
zember die  Nachricht  von  dem  Verlauf  des  Petersburger  Aufstandes  in 
Wassilkow  eintraf  —  wo  sein  Regiment  stand  — ,  ohne  jeden  Zeit- 
verlust nach   Shitomir  gereist.     Er  wollte  für  seinen  Freund   und 


Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  uud  die  Niederwerfung  usw.        65 

Gesinnangsgenossen  Bestushew  Rjumin  vom  Eorpskommandeur 
General  Roth  einen  Urlaub  nach  Petersburg  erwirken,  um  in 
Fühlung  mit  dem  Norden  zu  bleiben.  Als  daher  am  24.  Dezember 
die  Vereidigung  aller  Truppen  auf  den  Namen  des  Kaisers  Nikolaus 
angeordnet  wurde,  war  er  nicht  am  Platz,  und  alle  Regimenter 
leisteten  am  25.  den  Treueid;  auch  das  Tschernigower  Regiment, 
obgleich  der  Regimentskommandeur  Oberstleutnant  Goebel  verhaßt 
war  und  die  Offiziere  fast  ausnahmslos  der  Verschwörung  an- 
gehörten. 

Der  Gedanke  zu  handeln,  ohne  Murawjews  Rückkehr  abzu- 
warten und  durch  eine  Erhebung  des  Südens  die  in  Petersburg 
gescheiterte  Revolution  zu  retten,  ist  von  ihnen  allerdings  erwogen, 
aber  schließlich  aufgegeben  worden.  Ohne  Murawjew  meinten  sie 
es  nicht  wagen  zu  dürfen.  Als  am  Abend  des  25.  Goebel  zu  Ehren 
der  Thronbesteigung  Nikolais  einen  Ball  gab,  sind  sie  alle  seine 
Gäste  gewesen,  und  der  äußere  Schein  konnte  an  der  Loyalität 
dieser  Offiziere  keinen  Zweifel  aufkommen  lassen.  Da  trafen, 
während  noch  die  Gesellschaft  beisammen  war,  zwei  Gendarmerie- 
offiziere ein.  Sie  brachten  Goebel  den  Befehl,  Murawjew  zu  ver- 
haften. Es  wurden  nun,  ohne  Zeitverlust,  Murawjews  Papiere  mit 
Beschlag  belegt;  dann  machte  sich  Goebel  in  Begleitung  der 
Gendarmen  auf,  um  ihn  auf  seinem  Rückwege  nach  Wassilkow  zu 
verhaften.  Bestushew  Rjumin,  der  davon  erfahren  hatte,  jagte 
ihm  nach,  um  den  Freund  zu  warnen. 

Inzwischen  hatte  Murawjew  durch  den  General  Roth,  bei  dem 
er  in  Shitomir  zu  Gast  gewesen  war,  ausführlich  von  den  Peters- 
burger Ereignissen  erfahren.  Er  zog  daraus  den  richtigen  Schluß, 
daß  die  ganze  Verschwörung  entdeckt  sei,  aber  sein  erster  Gedanke 
war  nun  keineswegs,  einen  Aufstand  zu  organisieren,  auch  er  wollte  vor 
allem  die  Mitverschworenen  im  Süden  warnen.  Offenbar  glaubte  er 
noch  Zeit  zu  haben.  Die  Shitomir  zunächst  stehenden  Alexander- 
Husaren  erreichte  er  noch  an  demselben  Nachmittag,  dann  fuhr 
er  nach  Ljubar,  wo  sein  Bruder,  der  Oberstleutnant  Matwej  Mu- 
rawjew Apostel,  ein  Bataillon  der  Achtyrschen  Husaren  kommandierte 
und  der  Regimentskommandeur  Oberst  Artamon  Murawjew  Mitglied 
des  Südbundes  war.  Hier  erreichte  ihn  Bestushew  mit  der  Nachricht, 
daß  Goebel  ihm  unmittelbar  folge,  und  gewiß  charakterisiertes  diese 
Männer  und  die  Zeit,  daß  Matwej  den  Vorschlag  machte,  Champagner 
kommen  zu  lassen  und  sich  dann  „fröhlich^  zu  erschießen.     Ssergej, 

Schiemann,  Geschichte  Kußlands.  IL  5 


66        Kapitel  IL     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

der  weder  sich  noch  sein  Ziel  so  leicht  verloren  geben  wollte, 
dachte  durch  schnelles  Handeln  noch  alles  zu  retten.  Ihm  stand 
das  Bild  des  weiten  Zusammenhanges  der  Verschwörung  lebendig 
vor  Augen.  Wohin  er  blickte  fand  er  Gesinnungsgenossen  unter 
den  Offizieren.  So  hat  er  denn  eilig  eine  Reihe  von  Briefen  ge- 
schrieben  und  dann  alle  Überredung  daran  gesetzt,  um  Artaraon 
Mnrawjew  mit  seinen  Husaren  zu  sofortigem  Aufstand  zu  bewegen. 
Aber  Artamon  lehnte  jede  Beteiligung  ab,  so  daß  Ssergej  sich  ent- 
schloß, nach  Wassilkow  zurückzukehren,  wo  er  seiner  Tschernigower 
sicher  zu  sein  glaubte.  Er  kam  aber  nur  bis  Trilesi  und  nächtigte 
dort,  um  die  Ankunft  einiger  Tschernigower  Offiziere,  die  er  ge- 
rufen hatte,  abzuwarten.  In  kaum  begreiflicher  Sorglosigkeit  ließ 
er  sich  hier  von  Goebel  überraschen  und  verhaften,  der  seinerseits 
wiederum  versäumte,  die  beiden  Brüder  Murawjew  sofort  nach 
Wassilkow  zu  führen.  Er  streckte  sich  auf  eine  Bank,  um  nun 
ebenfalls  der  Nachtruhe  zu  pflegen.  So  haben  ihn  die  jetzt  ein- 
treffenden, von  Ssergej  gerufenen  vier  Tschernigower  Offiziere  ge- 
funden. Nach  kurzem  und  heftigem  Wortwechsel  wurde  Goebel 
überwältigt,  grausam  mißhandelt  und  schließlich  für  tot  auf  der 
Straße  liegen  gelassen.  Wie  durch  ein  Wunder  ist  der  tapfere 
Mann  schließlich  doch  gerettet  worden  und  genesen'). 

Nach  der  blutigen  Szene  in  Trilesi  gab  es  für  Murawjew  und 
die  anderen  Beteiligten  keine  Wahl.  Sollte  nicht  alles  für  sie 
verloren  sein,  so  mußte  jetzt  ohne  jede  Zögerung  entschlossen  ge- 
handelt werden.  Murawjew  schickte  Boten  an  die  Regimenter,  auf 
deren  Teilnahme  er  rechnete,  und  gewann  durch  sein  persönliches 
Eingreifen  eine  Kompagnie  Grenadiere,  die  in  der  Nähe  von  Tri- 
lesi kantoniert  waren.  Aber  seine  Boten  kamen  nicht  an  ihr 
Ziel.  Sie  versäumten  die  rechte  Zeit,  sie  konnten  sich  nicht  ent- 
schließen, ein  begonnenes  Kartenspiel  abzubrechen').  Das  wurde 
verhängnisvoll,     weil     dadurch     der     Anschluß     der     17.    Jäger 


^)  Goebel  wurde  durch  einen  Soldaten  gerettet,  der  ihn  aufnahm.  Nach 
▼iermonatiger  Pflege  war  die  Gefahr  für  sein  Leben  überwunden.  Ihm 
fehlten  an  jeder  Iland  mehrere  Finger,  die  Ssergej  Murawjew  ihm  mit  dem 
Kolben  abgeschlagen  hatte,  dazu  hatte  er  30  schwere  Stichwunden.  Nach 
anderer  Quelle  gar  160.  Memoiren  eines  Unbekannten.  R.  Arch.  1882  I. 
Thronbesteigung  Nikolais  S.  210. 

'^  Es  waren  der  Hauptmann  Fuhrmann  und  der  Leutnant  Baschmakow 
vom  Tschernigower  Regiment.     Beide  wurden  25  Werst  von  Wassilkow  arretiert 


Kapitel  IL     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.         67 

versäumt  wurde.  Von  Trilesi  marschierte  Murawjew  mit  den  zu 
ihm  stehenden  Truppen  nach  Kowalewka,  das  er  erst  am 
30.  morgens  verließ,  um  das  noch  35  Werst  entfernte  VVassilkow, 
sein  nächstes  Ziel,  zu  erreichen.  Als  seine  Avantgarde  hier  um 
3  Uhr  nachmittags  eintraf,  versuchte  der  Major  Truchin  mit  der 
4.  Musketierkompagnie  sich  ihr  entgegenzuwerfen.  Aber  er  wurde 
arretiert,  und  Murawjew  konnte  sich  zum  Herrn  der  Stadt  machen. 
Er  ließ  sofort  aus  Goebels  Hause  die  Fahnen  und  die  Regiments- 
kasse holen  und  traf  in  der  Nacht  zum  Hl.  die  Vorbereitungen 
zum  Feldzug,  der  nun  folgen  sollte.  Im  ganzen  war  es  ihm  ge- 
lungen hier  sechs  Kompagnien  zu  gewinnen,  mit  Musketieren  und 
Musikanten  zusammen  970  Mann,  darunter  jedoch  weder  Kavallerie 
noch  Artillerie.  Er  versammelte  diese  doch  recht  schwache  Truppe 
am  31.  früh  auf  dem  Marktplatze  der  Stadt  und  ließ  dort  von 
einem  Geistlichen  den  von  ihm  verfaßten  Revolutionskatechismus 
vorlesen,  der  an  der  Hand  der  Heiligen  Schrift  (l.Sam.  8)  zu  be- 
weisen suchte,  daß  die  monarchische  Regierung  wider  Gott  sei,  und 
mit  der  Aufforderung  schloß,  sich  gegen  die  Tyrannei  zu  erheben 
und  Glauben  und  Freiheit  wiederherzustellen^).  Danach  hielt 
Murawjew  noch  selbst  eine  Ansprache  an  die  Soldaten:  wer  ihm 
nicht  folgen  wolle,  könne  noch  jetzt  zurücktreten,  er  wolle  nie- 
mand hindern!  Aber  die  Suggestion  des  Augenblicks  war  zu 
stark  fiir  diese  einfältigen  Gemüter.  Sie  sind  alle  geblieben  und 
haben  danach  andächtig  an  dem  Gottesdienst  teilgenommen,  den 
der  Pope  abhielt.  In  diesem  Augenblick  traf  Hippolit  Murawjew 
Apostel,  der  jüngste  der  drei  Brüder,  ein.  Er  hatte  Petersburg 
am  13.  verlassen  und  brachte  die  Nachricht  von  der  bevorstehenden 
Erhebung  der  Petersburger,  und  daß  die  Moskauer  versprochen 
hätten  zu  helfen.  Erst  unterwegs  hatte  er  von  der  Tragödie  auf  dem 
Senatsplatze  erfahren,  aber  er  wollte  sein  Schicksal  von  dem  der 
Brüder  nicht  trennen.  Als  die  Brüder  sich  umarmten,  sahen  die 
Soldaten  wohl,  daß  ihre  Offiziere  auf  Leben  und  Tod  zu  ihnen 
stehen  würden.  Unter  lauten  Hurrarufen  erfolgte  der  Ausmarsch 
aus  Wassilkow.  Murawjew  hatte  gleichzeitig  den  Leutnant  Mosa- 
lewski,  der  Zivilkleider  anlegte,  an  die  Gesinnungsgenossen  in  Kiew 
abgefertigt;  als  dieser  dort  eintraf,  war  jedoch  die  gesamte  Garnison 


1)  Thronbesteigung  Nikolais   S.  256  ff.     Der  Geistliche    hatte    200  Rubel 
^fnr  seine  Frau"  erhalten. 


68        Kapitel  IL    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

bereits  alarmiert  worden,  um  gegen  Wassilkow  geführt  zu  werden. 
Mosalewski,  dem  es  noch  glückte,  aus  der  Stadt  wieder  zu  ent- 
kommen, wurde  verfolgt  und  eingeholt. 

Inzwischen  erlebte  Murawjew  Enttäuschung  auf  Enttäuschung. 
In  Motilowka,  das  er  am  31.  erreichte,  marschierten  die  dort 
stehenden  Kompagnien  Musketiere  und  Grenadiere  ab,  ohne  sich 
ihm  anzuschließen.  Der  1.  Januar  war  ein  Rasttag.  Er  wartete 
auf  die  17.  Jäger;  am  2.,  als  er  den  Marsch  fortsetzte,  und  seine 
Avantgarde  Bjelaja  Zerkow,  das  Gut  der  reichen  Gräfin  Branicka  und 
Kantonnement  der  Jäger  erreichte,  während  er  selbst  in  dem  nahen 
Pologi  lag,  erfuhr  er,  daß  sie  seit  zwei  Tagen,  man  wisse  nicht 
wohin,  ausmarschiert  seien.  Nun  änderte  Murawjew  seinen  Plan. 
Er  verließ  am  3.  Januar  Pologi,  um  über  Kowalewka  und  Trilesi 
nach  Powolotsch  zu  marschieren  und  die  dort  stehende  fünfte 
Kavallcrieschwadron  an  sich  zu  ziehen;  so  verstärkt  wollte  er  Shi- 
tomir  erreichen,  wo,  wie  er  bestimmt  erwartete,  die  „vereinigten 
Slaven"  ihm  zufallen  mußten. 

Aber  es  gab  bereits  keine  Rettung  mehr  für  ihn.  Schon  am 
2.  Januar  hatte  der  kommandierende  General  des  vierten  Armee- 
korps, Fürst  Schtscherbatow,  den  Befehl  erhalten,  die  Meuterer  zu 
verfolgen,  auch  hatte  der  Kaiser  dem  Großfürsten  Konstantin  Paw- 
lowitsch  den  Oberbefehl  über  das  dritte  Armeekorps  übertragen. 
Nikolai  hielt  die  Lage  für  so  ernst,  daß  er  den  Bruder  ausdrück- 
lich bevollmächtigte^  wenn  nötig,  auch  alle  Truppen  seiner  beiden 
polnischen  Armeekorps  marschieren  zu  lassen.  Er  fürchtete  nicht 
mit  Unrecht  den  Anschluß  des  Regiments  Poltawa,  der  Achtyr- 
schen  Husaren  und  einer  reitenden  Batterie.  Es  sei  möglich,  daß 
die  Zahl  der  Aufrührer  auf  6000  bis  7000  Mann  steige  0-  Daß 
es  nicht  dahin  kam,  ist  vornehmlich  das  Verdienst  des  Generals 
Roth  gewesen,  der  schneller  als  Schtscherbatow*)  ohne  jede  Zöge- 


0  Nikolai  an  Konstantin.  Petersburg,  5.  Januar  1825.  Archiv  des 
Reichsrats.  Die  offizielle  Korrespondenz  über  den  Aufstand  Murawjews.  Russ- 
kaja  Starina  Mai  1905,  S.  375  bis  391. 

')  Nikolai  war  über  die  Haltung  des  Fürsten  Schtscherbatow  sehr  auf- 
gebracht, wie  es  scheint  nicht  mit  Unrecht.  Als  der  Bote  Murawjews,  Mosa- 
lewski, dem  Fürsten  gefangen  vorgeführt  wurde,  nahm  er  ihn  in  sein  Kabinett 
und  sagte  ihm  mit  trauriger  Stimme:  „Ihr  habt  zu  früh  angefangen  zu  ban- 
deln; ich  kenne  Ssergej  Murawjew,  achte  ihn  und  bedaure  von  Herzen,  daß 
ein  solcher  Mann  untergehen  muß  mit  allen,  die  an  seinem  nutzlosen  Unter- 


Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  uod  die  Niederwerfung  usw.        69 

rung  die  zweckmäßigen  Maßregeln  getrofien  hatte.  Schon  am  3. 
um  3  Uhr  morgens  hatte  er  den  General-Major  Geismar  mit  zwei 
Geschützen  und  drei  Schwadronen  nach  Ustimowka  geschickt,  wäh- 
rend er  selbst  mit  fünf  Schwadronen  und  sechs  Geschützen  durch 
Fastow  marschierte,  um  Murawjew  den  Rückzug  abzuschneiden, 
und  zwölf  Kompagnien  mit  vier  Geschützen  gegen  ßjelaga  Zerkow 
dirigierte.  Die  Aufständischen  waren  dadurch  von  allen  Seiten 
umschlossen  und  konnten  bei  der  ungeheueren  Übermacht,  die  gegen 
sie  aufgeboten  war,  ihrem  Verderben  nicht  entrinnen.  Um  1  Uhr  mittags 
erreichte  sie  General  Geismar  bei  Ustimowka  und  hier  fiel  die  Ent- 
scheidung. Murawjew  hatte  seine  Mannschaft  im  Karree  aufgestellt 
und  erwartete,  ganz  wie  die  Moskauer  auf  dem  Senatsplatz,  den 
Angriff  der  anderen^).  Auf  dieses  Karree  richtete  sich  nun  das 
Feuer  der  Kartätschen  Geismars.  Gleich  der  zweite  Schuß  verwun- 
dete Ssergej  Murawjew  am  Kopfe  und  da  nun  einmal  alles  an 
seiner  Person  hing,  warf  die  erste  Reihe  des  Karrees  die  Flinten 
fort  und  versuchte  zu  fliehen,  ebenso  die  zweite  Reihe;  als  die  an- 
deren Miene  machten  sich  trotzdem  zu  behaupten,  folgten  neue 
wohlgezielte  Kartätschenlagen  und  gleichzeitig  fielen  die  Husaren 
ein  —  es  waren  die  Husaren,  auf  deren  Hilfe  Murawjew  so  sicher 
gerechnet  hatte  —  und  nun  war  bald  alles  verloren.  Hippolit  Mu- 
rawjew erschoß  sich,  Matwej  wurde  gefangen,  ebenso  die  anderen  Offi- 
ziere, soweit  sie  nicht  gefallen  waren.  Der  schwer  verwundete  Ssergej 
Murawjew  war  wie  verstört.     Einer  seiner  Soldaten  trat  auf  ihn  zu 


nehmen  teilnahmen.  Ich  bedaure  Sic  sehr,  Sie  sind  jung  und  müssen 
untergehen."  Erst  danach  verhörte  er  ihn  in  Gegenwart  von  Zeugen.  So  die 
ausgezeichnet  unterrichteten  „Memoiren  eines  Unbekannten''.  Russki  Ar- 
chiv 1882. 

*)  Anders  stellt  Michailowski-Danilewski  den  Hergang  dar:  „Als  das 
Tschernigower  Regiment  die  Notwendigkeit  erkannte,  sich  durch  die  Husaren 
durchzuschlagen,  bildete  es  ein  Karree  und  griff  sie  mit  vorbildlichem  Mut 
an.  Die  Offiziere  hatten  vorne  Stellung  genommen.  Ich  habe  das  von  dem 
Oberstleutnant  gehört,  der  die  gegen  Murawjew  vorgeschickte  Schwadron  kom- 
mandierte; er  fügte  hinzu,  er  habe  die  Tapferkeit  der  Tschernigower  bewun- 
dert und  sogar  befürchtet,  daß  sie  die  gegen  sie  wirkenden  Geschütze  nehmen 
könnten,  denn  sie  hatten  sich  ihnen  auf  eine  ganz  geringe  Entfernung  ge- 
n&hert*  Die  Entscheidung  sei  nicht  durch  die  Artillerie,  sondern  durch  den 
völlig  unerwarteten  Angriff  der  Husaren  gegeben  worden,  auf  deren  Anschluß 
sie  gerechnet  hatten.  Als  die  Husaren  zum  Angriff  schritten,  warfen  sie  so- 
fort die  Flinten  weg  und  ergaben  sich. 


70        Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  und  die  NiederwerfuDg  usw. 

und  nannte  ihn  Betrüger!  Murawjew  hätte  ihn  beinah  erstochen,  so 
fest  glaubte  er  auch  jetzt  noch  an  die  Gerechtigkeit  der  Sache,  der 
sein  Leben  gehörte.  Aber  schwerlich  wird  er  verkannt  haben,  daß 
sie  nunmehr  endgültig  verloren  war.  60  Mann  und  12  Bauern 
vom  Train  Murawjews  waren  gefallen,  alle  übrigen  hatten  die 
Waffen  gestreckt.  Die  Truppen  Goismars  hatten  nicht  einen  Toten. 
Man  brachte  die  Gefangenen  erst  nach  Trilesi,  am  4.  nach  Bjelaja 
Zerkow,  und  dort  fand  am  5.  das  erste  Verhör  statt,  worauf  die 
Gefangenen  in  Ketten  nach  Mohilew  geschafft  wurden.  Hier  stellte 
man  alle  Offiziere  vor  ein  Kriegsgericht,  auch  die  Gefallenen 
sollten  kein  christliches  Begräbnis  erhalten  und  ihre  Namen  an 
den  Galgen  geschlagen  werden;  drei  wurden  zum  Tode  durch 
Erschießen,  einer  zur  Zwangsarbeit  in  Sibirien,  die  übrigen  zu  ge- 
ringeren Strafen  verurteilt.  Nikolai  setzte  an  Stelle  des  Todes- 
urteils ewige  Zwangsarbeit,  im  übrigen  ließ  er  den  Spruch  des 
Kriegsgerichts  bestehen.  Nur  die  Brüder  Murawjew  Apostol,  Be- 
stushew  Rjumin  und  Fuhrmann  wurden  nach  Petersburg  geschickt, 
um  dort  gleich  den  Petersburger  Dekabristen  der  Untersuchungs- 
kommission überwiesen  zu  werden.  Sie  trafen  bereits  am  14.  Ja- 
nuar in  Petersburg  ein,  in  den  nächstfolgenden  Tagen  auch  die 
nicht  mit  den  Waffen  in  der  Hand  verhafteten  Angehörigen  der 
südlichen  Verschwörung.  Es  hat  sich  ein  vom  Kommandanten 
der  Peter-Paulsfestung,  Generaladjutanten  Ssukin,  geführtes  Register 
erhalten,  in  welches  er  die  eigenhändigen  Verfügungen  Nikolais 
über  die  Behandlung,  die  den  Gefangenen  zuteil  werden  sollte,  ein- 
trugt). Diese  Aufzeichnungen  sind  überaus  charakteristisch.  Sie 
lassen  das  System  erkennen,  nach  dem  der  Kaiser  verfuhr,  um 
möglichst  vollständige  Aussagen  von  den  Gefangenen  zu  erhalten. 
Diejenigen,  die  willig  bekannten,  wurden  in  besseren  Räumen  unter- 
gebracht und  milder  behandelt,  auch  durch  kleine  Vergünstigungen 
zu  weiteren  Geständnissen  ermutigt.  Nur  dieses  Motiv  entschied, 
die  Größe  der  Schuld  spielte  dabei  keine  Rolle.  Kachowski  z.  B. 
erhielt  den  Vermerk:  Man  soll  ihn  besser  halten  als  sonst  üblich 
ist,  und  ihm  Thee  und  was  er  sonst  wünscht  geben,  aber  mit  nötiger 
Vorsicht;  die  Kosten  seines  Unterhalts  werde  ich  selbst  tragen. 
Auch  Pestel  und  Rylejew  genossen  Vergünstigungen,  ebenso  Ssergej 
Murawjew.     Solche  dagegen,  die  schwiegen  und  sich  weigerten  ihre 

0  Veröffentlicht  von  Schtschegolew  in  der  Zeitschrift  Byloje.    Mai  1906, 
S.  195  ff. 


Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        71 

Mitschuldigen  zu  nennen,  erhielten  Hand-  und  Fußschellen,  schlech- 
tere Nahrung  und  dunklere  Kasematten.  So  ging  es  lakuschkin, 
Artamon  Murawjew  und  anderen,  die  sich  scheuten,  ihre  Kame- 
raden zu  kompromittieren.  Nach  Niederwerfung  des  Aufstandes 
der  Tschernigower  aber  steigerte  sich  die  Zahl  der  Verhaftungen; 
was  irgend  in  Beziehungen  zu  den  kompromittierten  Persönlich- 
keiten gestanden  hatte,  wurde  eingezogen  und  nach  I^etersburg  ge- 
schafft; da  die  Aussagen  von  Pestel  und  Bestushew  bald  dahin 
führten,  daß  der  Zusammenhang  des  Südbundes  mit  der  polnischen 
Geheimorganisation  sich  erkennen  ließ,  dehnte  die  Untersuchung  sich 
auch  auf  die  Machtsphäre  des  Großfürsten  Konstantin  aus.  Nikolai 
war  unermüdlich  in  Verfolgung  der  Verdächtigen.  Nach  Berlin, 
Dresden,  Wien  gingen  seine  Gesuche  um  Auslieferung  der  Affi- 
liierten,  und  er  war  fest  überzeugt,  daß  auch  das  Ausland,  speziell 
die  Revolutionspartei  in  Italien,  Posen  und  Ungarn,  eine  Mitschuld 
an  der  Verschwörung  trage.  Verdächtig  war  ihm  der  in  Paris 
lebende  Graf  Bobrinski,  der  angeblich  die  Verschworenen  durch 
große  Geldmittel  unterstützt  haben  sollte,  verdächtig  der  im  Kau- 
kasus kommandierende  General  Jermolow,  er  fürchtete,  daß  die 
kaukasische  Armee  ein  Werkzeug  der  Revolution  werden  könnte, 
und  beruhigte  sich  erst,  als  die  Nachricht  eintraf,  daß  der  Kau- 
kasus ohne  alle  Zwischenfälle  den  Treueid  geleistet  habe.  In 
diesen  abgelegenen  Gebieten  erfuhr  man  von  der  Quasiregierung 
des  Kaisers  Konstantin  erst  nachträglich. 

Höchst  verdächtig  erschienen  dem  Kaiser  auch  Speranski  und 
der  Graf  Mordwinow,  w^eil  nach  den  Aussagen  der  Gefangenen  in 
der  Peter- Panlsfestung  nach  den  phantastischen  Plänen  der  „Gesell- 
schaft'^  beide  bestimmt  waren,  als  Mitglieder  der  provisorischen 
Regierung  zu  fungieren,  die  man  nach  dem  Sturz  der  Romanows 
einzusetzen  dachte.  Da  jedoch  nichts  darauf  hinwies,  daß  sie  von 
diesen  Plänen  etwas  gewußt  hatten^),  begnügte  sich  der  Kaiser,  sie 
zu  Mitgliedern  des  Obersten  Gerichtshofes  zu  machen,  der  das 
Urteil  über  die  von  der  Untersuchungskommission  nicht  freigegebe- 

*)  In  Betreff  Speranskis  ist  es  nicht  unbedingt  sieber.  Sawalischin  erzählt  in 
Memoiren  I  374,  Komilowitsch  sei  zu  Speranski  geführt  worden,  um  ihn  vom 
bevorstehenden  Umsturz  zu  unterrichten  und  von  ihm  die  Annahme  einer 
Stellung  in  der  geplanten  Regentschaft  zu  erlangen.  „Ihr  seid  wohl  von 
Sinnen",  antwortete  Speranski.  „Macht  man  vorzeitig  solche  Vorschläge? 
Siegt  erst,  dann  wird  alles  zu  Euch  stehen.*' 


72        Kapitel  IL     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

nea  Verhafteten  zu  sprechen  hatte.  Jermolow  aber,  von  dem 
Nikolai  glaubte,  daß  er  bestimmt  war,  Begründer  einer  neuen 
Dynastie  zu  werden,  wurde  unter  dem  Verwände  militärischer 
Unzulänglichkeit,  wie  wir  in  anderem  Zusammenhange  noch  aus- 
führlicher erzählen  werden,  aus  Amt  und  Stellung  gedrängt  und 
bis  an  sein  Lebensende  von  aller  Teilnahme  am  öffentlichen  Leben 
ferngehalten.  Erfolglos  blieben  die  Bemühungen,  sich  der  Person 
Nikolai  Turgenjews  zu  bemächtigen'),  der  im  Auslande  weilte. 
Eine  Auslieferung  war  nicht  zu  erlangen,  und  den  Geleitbrief,  den 
Turgenjew  forderte,  wenn  er  sich  freiwillig  der  Untersuchungs- 
kommission stellen  solle,  wollte  der  Kaiser  ihm  nicht  gewähren. 
So  ist  er  denn  jenseit  der  russischen  Grenzen  geblieben  in  Eng- 
land, Frankreich,  Deutschland,  jedoch  ohne  sich  der  Heimat  zu  ent- 
fremden: der  erste  Russe,  der  als  Emigrant  durch  seine  politisch- 
literarische  Tätigkeit  auf  die  inneren  Verhältnisse  Rußlands  einzu- 
wirken versucht  hat.  Aber  er  ist  allezeit  auf  dem  Boden  der 
Wirklichkeit  und  des  Möglichen  geblieben,  kein  Utopist  und  kein 
Revolutionär,  wie  die  große  Mehrzahl  der  späteren  russischen 
Emigranten,  sondern  ein  Staatsmann,  der  unter  anderen  Verhältnissen 
der  Reformator  Rußlands  hätte  werden  können. 

Die  Untersuchungskommission  hat  fünf  Monate  lang  ihres  Amtes 
gewaltet,  und  diese  ganze  Zeit  über  haben  die  Gefangenen  in  den 
Kasematten  der  Peter-Paulsfestung,  die  meist  kompromittierten  im  so- 
genannten Alexejewschen  Ravelin,  einer  Festung  in  der  Festung,  ver- 
bracht. Das  Verfahren  war,  wie  bei  den  ersten  Verhören  im  Winter- 
palais, teils  ein  schriftliches,  teils  ein  mündliches.  Beide  Verfahren 
widersprachen  allen  Grundsätzen  einer  geordneten  Rechtspflege.  Die 
schriftlich  zu  beantwortenden  Fragen  waren  darauf  angelegt,  die  Ange- 
klagten zur  Selbstbeschuldigung  und  zur  Denunziation  ihrer  Mitschul- 
digen zu  veranlassen,  das  mündliche  Verhör  legte  ihnen  Fallstricke 
durch  die  Art  der  Fragestellung  und  durch  die  Vorspiegelung  oft  will- 
kürlich erfundener  angeblicher  Geständnisse  ihrer  Genossen.  Um  Mitter- 
nacht, ohne  vorherige  Ansage,  öffneten  sich  den  Gefangenen  die  Tore 
ihres  Kerkers.  Man  verdeckte  ihnen  das  Gesicht  und  führte  sie  über 
die  Fallbrücke  des  Alexejewschen  Ravelin  und  dann  schweigend 
durch  die  Treppen,  Korridore  und  Höfe  der  Festung,  bis  sie 
endlich  im  Sitzungssaal  der  Untersuchungskommission  sich  befanden. 


*)  Auch  Jacob  Tolstoi,  der  in  Paris  weilte,  entging  dem  Gericht. 


Kapitel  IL    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        73 

Nahm  man  ihnen  nun  die  Binde  von  den  Augen,  so  standen  sie 
geblendet  vor  der  Versammlung  jener  Würdenträger,  die  ihren 
Eifer  durch  listige  Überrumpelung  der  Angeklagten  zu  betätigen 
suchten.  Die  Fragen,  die  ihnen  vorgelegt  wurden,  gingen  um  Leben 
und  Tod.  Man  mußte  sofort  und  mit  größter  Umständlichkeit 
antworten.  Die  Richter  stellten  die  Gnade  des  Kaisers  bei  voller 
Aufrichtigkeit  in  Aussicht,  ganz  wie  Nikolai  selbst  es  getan  hatte, 
dasselbe  versicherte  der  Priester,  den  man  ihnen  in  den  Kerker 
schickte  und  dessen  Aussagen  dann  in  den  Protokollen  der  Kom- 
mission als  schweres  Belastungsmaterial  dienten.  Man  schrie  sie 
an,  kurz,  es  wurde  nichts  unterlassen,  um  Belastung  anderer  und 
Preisgebung  des  eigenen  Geheimnisses  zu  erreichen.  Wer  schwieg, 
weil  er  nichts  zu  gestehen  hatte  oder  nicht  Angeber  sein  wollte, 
wurde  in  seiner  Kasematte  mit  Entziehung  des  Lichts  oder  Minderung 
der  Nahrung  bestraft.  Man  ängstigte  sie  durch  ärztliche  Unter- 
suchungen, die  scheinbar  bestimmt  waren  festzustellen,  ob  sie  eine 
schwere  körperliche  Züchtigung  ertragen  könnten.  Namentlich 
scheint  die  Aussicht  auf  die  verheißene  kaiserliche  Gnade  für  die 
rückhaltlos  Aufrichtigen  verwirrend  gewirkt  zu  haben.  Lange 
Unterredungen,  die  vor  vielen  Jahren  stattgefunden  hatten,  wurden 
ausführlich  wiedererzählt,  und  aus  der  naturgemäß  unzuverlässigen 
Wiedergabe  dieser  Gespräche  das  Material  zu  neuen  Verhören  und 
neuen  Quälereien  genommen.  Viele  konnten  diese  psychische 
Marter  nicht  ertragen  und  verloren  darüber  den  Verstand,  wie 
Andrejewitsch,  Fuhrmann,  Fahlenberg,  Branitzky,  Vogt;  andere 
starben,  wie  Bulatow,  der  freiwillig  verhungerte,  und  Poliwanow. 
Dagegen  mußte  die  Kommission  aus  dem  Munde  der  Gefangenen 
oft  bittere  Wahrheiten  hören.  Nicht  nur  wurden  von  ihnen 
mit  rücksichtsloser  Schärfe  die  Schäden  des  alexandrinischen  Re- 
giments bloßgelegt,  sie  scheuten  sich  nicht  darauf  hinzuweisen, 
daß  unter  jenen  Untersuchungsrichtern  Personen  waren,  die  am 
Untergange  Peters  IIL  und  Pauls  mitgewirkt  hatten^).  Aber  das 
trug   natürlich    nur    dazu    bei,    das  Schicksal  der  Angeklagten   zu 


*)  So  Sawalischin  Memoiren  II  37.  Von  welchem  seiner  Richter  er  glaubte, 
daß  er  an  dem  Untergang  Peters  III.  teil  hatte,  habe  ich  nicht  feststellen 
können.  Die  Tatsache  scheint  zweifelhaft.  Alexandre  Murawjew:  Mon  Jour- 
nal S.  175.  An  der  Ermordung  Pauls  waren  Tatischtschew  und  Kutusow 
beteiligt. 


74        Kapitel  IL    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

verschlimmeru.  Wo  widersprechende  Aussagen  einander  gegenüber- 
standen, erfolgten  Konfrontationen,  doch  kam  es  auch  vor,  daß  sie 
verweigert  wurden.  Überhaupt  ist  der  Gesamteindruck  der  regel- 
loser Willkür,  juristischer  Unbildung  und,  wie  namentlich  im  Ver- 
halten des  Generals  Tschernyschew,  offener  Niedertracht').  Unter 
den  Dekabristen  hat  es  freilich  auch  nicht  an  kläglicher  moralischer 
Schwäche  gefehlt.  Die  Angst  um  das  liebe  Leben  ließ  alle  an- 
deren Regungen  zurücktreten.  Das  gilt  zumal  von  den  drei  haupt- 
sächlichsten Leitern  der  Verschwörung:  Trubetzkoi,  Rylejew, 
Pestel,  dazu  von  Obolenski  und  von  Kachowski.  Man  kann 
es  erklären  und  entschuldigen,  aber  diese  Männer  verherrlichen 
kann    nur    blinde    Voreingenommenheit').      Im    Grunde   war   das 


')  Alex.  Murawjew  1.  1.  S.  175.  In  der  Verdammung  des  Verhaltens 
You  Tschernyschew  stimmen  alle  näheren  Berichte  überein.  Kr  betrieb  die 
Verurteilung  seines  Vetters  Sachar  Tschernyschew,  um  dessen  Majorat  an 
sich    zu    reißen.     Bilbassow:    Mordwiuow  Archiv  Bd.  VIL  S.  VI — VII. 

')  Wir  besitzen  einen  Brief  Pesteis,  geschrieben  in  den  Kasematten  am 
31.  Januar  1826  an  den  Generaladjutanten  Tschernyschew.  Der  Unglückliche 
glaubte  noch  damals  nicht  nur  sein  Leben,  sondern  seine  Freiheit  zu  erhalten. 
Man  fühlt  beim  Lesen  die  Todesangst  nach,  die  ihn  erfüllte.  „Voila  dix-huit 
jours  de  passes,  depuis  que  j'ai  eu  Thonneur  de  vous  voir  pour  la  derniere 
füis  et  en  voila  ciuquante  que  je  suis  arrete.  Ce  temps  a  ete  pour  moi  une 
t'ternite.  J'ai  compte  les  heures,  j*ai  compte  les  minutes.  Vous  n^avez  pas 
dMdoe  comme  elles  sont  terribles  les  angoisses  de  la  prison,  et  comme  eile  est 
horrible  Tincertitude  de  son  sort.  Sa  Majeste  TEmpereur  a  voulu  que  je  dise 
tout  avec  la  plus  grande  franchise:  je  Tai  fait  avec  une  plenitude  entiere  et 
complete.  Je  n'ai  rien  cache,  mais  absolument  rien.  J^ai  non  seulement 
repondu  avec  la  plus  stricte  et  la  plus  exacte  verite  u  toutes  les  questions, 
mais  encore  j*ai  de  moi-meme  annonce  tout  ce  que  j*ai  seulement  pu  rappeler 
a  ma  memoire.  J'ose  me  flatter  que  Sa  Majeste  TEmpereur  aura  ete  contento 
de  moi  sous  ce  rapport.  J'ai  voulu  roontrer  par  la  a  Sa  Majeste  toute  la 
sinci'rite  de  mes  sentiments  actuels.  C'est  le  seul  moyen  que  j^avais  de  lui 
prouver  le  chagrin  cuisant  et  profond  que  jVprouve  d^avoir  appartenu  ä  la 
societti  secrete.  Croyez,  mon  general,  que  ce  chagrin  me  navre  de  douleurs 
et  de  soufTrances  continuelles:  heureux  du  moins  de  n'avoir  pris  part  ä 
aucune  action.  .  .  .  Je  ne  puis  pas  me  justifier  devant  Sa  Majeste,  aussi  je 
ne  cherche  pas  a  le  faire :  je  ne  demande  que  griice.  .  .  .  Chaque  moment  de 
mon  existence  sera  consacre  a  Une  reconnaissance  et  un  attachement  sans 
bornes  pour  sa  personne  sacree  et  son  auguste  famille.  Je  sens  bien  que  je 
ne  puis  pas  rester  au  Service,  mais  du  moins  si  Ton  me  rendait  la  liberte."  .  .  . 
Mir  liegt  auch  die  erste  schriftliche  Aussage  Pesteis  vor.  Er  hat 
schonungslos  alle  seine  Kameraden  preisgegeben. 


Kapitel  II.     Der  IA./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        75 

Schicksal  aller  bereits  mit  Abschluß  der  Arbeiten  der  Unter- 
suchungskommission  entschieden.  Das  oberste  Kriminalgericht,  dem 
der  Kaiser  durch  einen  Ukas  vom  1.  Juni  1826  die  Aufgabe 
zuwies,  auf  Grund  dieses  Materials  Schuld  und  Strafe  der  einzelnen 
zu  fixieren,  war,  recht  betrachtet,  eine  große  Schaustellung,  die 
dem  unregelmäßigen  Vorverfahren  nachträglich  den  Charakter  einer 
unparteiischen  Gerechtigkeit  verleihen  sollte. 

Zum  Vorsitzenden  dieses  Gerichts  hatte  der  Kaiser  den  Wirkl. 
Geheimen  Rat  Fürsten  Lopuchin,  zu  seinem  Stellvertreter  den 
Fürsten  Kurakin  ernannt.  Der  Justizminister  sollte  die  Obliegen- 
heiten eines  Generalstaatsanwaltes  übernehmen. 

Als  Richter  fungierten  sämtliche  Mitglieder  des  Reichsrats,  des 
Senats,  des  heiligen  Synod  und  eine  Reihe  von  Würdenträgern, 
die  der  Kaiser  ad  hoc  ernannt  hatte:  der  Wirkl.  Geheime  Rat 
Graf  Golowkin,  General  Graf  Langeron,  Baron  Stroganow,  General- 
adjutant Woinow,  Ingenieur  General  Opperraan,  die  Generaladju- 
tanten Graf  de  Lambert,  Senjawin,  Borosdin,  Paskiewitsch,  General- 
leutnant Emanuel,  Generaladjutanten  Graf  Komarowski,  Baschutski, 
Zakrewski,  Bistramb  und  der  Senator  des  Moskauer  Departements 
Geheimer  Rat  Kuschnikow,  im  ganzen  72  Personen,  unter  denen 
wir  als  Mitglied  des  Reichsrats  auch  Sperauski  finden,  der  vor 
15  Jahren  die  Verfassung  ausgearbeitet  hatte,  mit  der  damals 
Alexander  ganz  Rußland  zu  beglücken  dachte!  Den  Mitgliedern  des 
hohen  Gerichts  war  eine  von  dem  Generalstabschef  Baron  Diebitsch 
verfaßte  Geschäftsordnung  vorgeschrieben  worden,  die  höchst 
charakteristisch  ist  und  deren  Kenntnis  zu  richtigem  Verständnis 
des  Ausganges  unerläßlich  ist.  Die  im  Senat  stattfindenden  Sitzun- 
gen sollten  mit  Verlesung  des  Allerhöchsten  Manifests  über  Ein- 
setzung des  „obersten  Kriminalgerichts'^  und  der  anschließenden 
Ukase  an  Senat  und  Justizminister  eröffnet  werden.  Danach  hatte 
der  Justizminister  die  Akten  der  Untersuchungskommission  in  ihrem 
vollen  Umfange  verlesen  zu  lassen,  ohne  daß  dabei  irgendwelche 
Unterbrechung  erlaubt  war.  War  das  geschehen,  so  hatte  das 
Gericht  auf  die  Frage  zu  antworten,  in  welcher  W^eise  die  vom 
Gesetz  verlangte  Beglaubigung  der  erfolgten  Untersuchung  vor  sich 
gehen  solle.  Werde  nach  früherem  Gebrauch  eine  Revisionskom- 
mission für  notwendig  erachtet,  so  sei  sie  aus  der  Zahl  der  Mit- 
glieder zu  wählen.  Endlich  sollten  Fragen,  welche  der  Vorsitzende 
an    das    Gericht    stellte,    entweder    einstimmig  oder  mit  einfacher 


76        Kapitel  II.     Der  14./*26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

Majorität  beantwortet  werden,  wobei  abweichende  Vota  auf  Verlangen 
protokolliert  werden  durften.  Die  Sitzungen  dieses  hohen  Gerichts 
wurden  mit  Verlesung  der  für  Maj es täts verbrechen  und  Meuterei 
geltenden  Gesetze  eröffnet.  Sie  beginnen  mit  der  Uloshenije  des 
Zaren  Alexei  Michailowitsch  vom  Jahre  1649,  die  eine  andere  als 
die  Todesstrafe  für  derartige  Verbrechen  nicht  kennt  und  deren 
Paragraphen  eintönig  in  den  Refrain  ausmünden:  und  einen 
solchen  Verräter  soll  man  hinrichten  ohne  jede  Barmherzigkeit. 
Dann  folgt  der  Artikel  19  eines  Ustaws  Peter  I.  vom  Jahre 
1716,  der,  den  besonderen  Liebhabereien  des  großen  Tyrannen 
Rechnung  tragend,  Vierteilung  der  Verbrecher  und  Einziehung 
ihres  Vermögens  befiehlt  und  dazu  ausdrücklich  bestimmt,  daß 
die  gleiche  Strafe  auch  alle  diejenigen  treffen  soll,  „die  zwar 
ein  solches  Verbrechen  nicht  ausgeführt,  aber  den  Willen 
oder  die  Absicht  dazu  gehabt  oder  davon  gewußt  und  es  nicht 
angezeigt  haben^.  Auch  solle  die  gleiche  Strafe  alle  diejenigen 
treffen,  welche  die  kaiserliche  Familie  (Kaiserin  und  Thronerben) 
mit  ihren  Anschlägen  bedrohen.  Beleidigende  und  tadelnde  Worte 
oder  Schriften  sind  mit  dem  Tode  zu  bestrafen,  jede  Art  Meuterei 
mit  dem  Galgen.  Der  Marine-Ustaw  vom  Jahre  1720  wiederholt 
dieselben  Strafandrohungen;  das  geistliche  „Reglement*  vom 
25.  Januar  1721  verpflichtet  die  Beichtväter  zur  Anzeige  und  be- 
droht sie  im  Falle  der  Unterlassung  mit  Todesstrafe  und  Güter- 
einziehung. 

Der  Ukas  vom  10.  April  1730  setzt  wieder,  ohne  des  Vier- 
teilens zu  erwähnen,  als  Strafe:  den  Tod  ohne  jedes  Erbarmen; 
die  Kaiserin  Elisabeth  beseitigte  dann  in  praxi  die  Todesstrafe  und 
setzte  statt  dessen  „starke  Bestrafung  mit  der  Knute,  Ausschneiden 
der  Nasenflügel,  Brandmarkung  und  Verschickung  in  die  Berg- 
werke". 

Das  sich  in  der  Reihenfolge  nunmehr  anschließende  Manifest 
Peters  III.  vom  21.  Februar  1762  bedeutet  insofern  eine  AVendung 
in  der  Praxis  des  russischen  Kriminalrechts  und  der  Ilochverrats- 
prozesse  im  besonderen,  als  es  die  berüchtigte  „Geheime  Kanzlei 
in  Kriminalsachen"  aufhob  und  damit  tatsächlich  die  Folter  be- 
seitigte^), auch  die  Denunziationen  auf  Hochverrat,   wie  sie  bisher 


0  Formell  ist  sie  von  Katharina  IT.  durch  die  ükase  vom  15.  Januar  1763 
und  vom  11.  November  1767  erst  in  den  Gerichten  der  Kreisstädte  aufgehoben» 


Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        77 

durch  die  furchtbaren  Worte:  slowo  i  djelo  (Wort  und  Tat)  von 
jedermann  erhoben  werden  konnten,  ausdrücklich  beseitigte.  Die 
guten  Absichten  Peters  und  die  scheinbare  Weichherzigkeit  der 
Kaiserin  Elisabeth  wurden  jedoch  von  Katharina  II.  wieder  un- 
wirksam gemacht. 

Den  Mitgliedern  des  „hohen  Gerichts^  lagen  Manifeste  und 
Sentenzen  der  Kaiserin  vor,  aus  denen  sich  ergibt,  daß  sie  die 
Gesetze  Peters  des  Großen  als  noch  in  voller  Kraft  bestehend  ansah. 
Am  24.  Oktober  1762  begnadigte  sie  den  Leutnant  Peter  Chruscht- 
schow, „obgleich  nach  allen  Staatsgesetzen  man  ihn  .  .  .  vierteilen  und 
ihm  danach  das  Haupt  abschlagen  müßte^,  zur  Verbannung  nach 
Kamtschatka,  am  19.  September  1764  den  Unterleutnant  Wassili 
Mironitsch  (der  den  unglücklichen  Zaren  Iwan  Antonowitsch  be- 
freien wollte),  „obgleich  man  ihn  wegen  der  Wichtigkeit  seines 
Verbrechens  hätte  vierteilen  müssen",  zur  Enthauptung. 

Die  volle  Barbarei  des  russischen  Strafrechts  aber  kam  in  der 
Sentenz  vom  10.  Januar  1775  gegen  Pugatschew  und  seine  Ge- 
nossen zur  Anwendung,  ohne  daß  die  Kaiserin  Gnade  hätte  walten 
lassen.  Auch  diese  Sentenz  war  dem  „hohen  Gericht"  zur  Richt- 
schnur und  als  geltendes  Recht  vorgelegt  worden:  Pugatschew  ge- 
vierteilt, sein  Haupt  auf  den  Pfahl  gesteckt,  die  zerrissenen  Glieder 
in  vier  Stadtteilen  aufs  Rad  geflochten  und  danach  dort  verbrannt, 
sein  Hauptvertrauter  Perfiljew  in  Moskau  gevierteilt,  sein  Liebling, 
der  falsche  Graf  Tschernyschew,  enthauptet,  danach  der  Kopf  ge- 
pfählt, der  Körper  mit  dem  Schafott  verbrannt,  drei  andere  gehängt, 
fünf  geknutet,  die  Nasenflügel  aufgerissen,  Stirn  und  Backen  ge- 
brandmarkt und  endlich  in  die  Bergwerke  verschickt,  wieder  drei 
gestraft  wie  die  vorigen  ohne  Brandmarkung,  und  so  fort,  wobei 
noch  in  Betracht  zu  ziehen  ist,  daß  alle  diese  Leute  während  der 
Untersuchung  gefoltert  worden  sind.  Der  nun  folgende  Entwurf 
der  Kaiserin  für  eine  neue  Krimiualordnung  (20.  Juli  1767)  ist 
nie  verwirklicht  worden  und  verlor  schon  dadurch  an  Bedeu- 
tung, daß  er  älter  war  als  die  Sentenz  über  Pugatschew  und 
Genossen.  Die  humanen  Grundsätze,  die  Katharina  hier  ausspricht, 
konnten  demnach  nur  geringen  Eindruck  machen.     Auch  hier  hielt 


dann  in  den  Qouvernementsgerichten  erschwert  worden.  Die  „unglückliche 
Notwendigkeit^,  sie  in  besonderen  Fällen  anzuwenden,  hat  sie  ausdrücklich 
anerkannt 


78        Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

jedoch  die  Kaiserin  an  der  Notwendigkeit  der  Todesstrafe  ent- 
schieden fest. 

Von  Katharina  wird  dann  nur  noch  der  dem  russischen  Adel 
verliehene  Gnadenbrief  vom  21.  April  1785  aufgeführt,  der  die  Ver- 
brechen herzählt,  welche  den  Verlust  des  Adels  nach  sich  ziehen, 
und  ausdrücklich  betont,  daß  der  Adel  keiner  Körperstrafe  verfällt 
und  daß  Erbgüter  auf  den  rechtmäßigeo  Erben  des  Verurteilten 
übergehen.  Es  berührt  alledem  gegenüber  überraschend,  wenn 
sich  an  die  Reihe  dieser  Ukase  ein  Ukas  Kaiser  Pauls  I.  vom 
20.  April  1799  anschließt,  der  die  auf  Grund  der  allgemeinen 
Reichsgesetze  bestehende  Aufhebung  der  Todesstrafe  auch  auf  die- 
jenigen Gouvernements  ausdehnt,  in  denen  Kraft  alter  Privilegien 
anderes  R«cht  galt. 

Diese  gewiß  merkwürdige  Sammlung  der  in  Anwendung  zu 
bringeoden  Gesetze  schließt  mit  einem  Auszuge  aus  dem  Journal 
des  Reichsrates  vom  16.  November  1814,  durch  welches  bestimmt 
wird,  daß  das  vom  Kaiser  aus  Anlaß  des  Friedensschlusses  er- 
lassene Gnadenmanifest  Verbrechern,  die  zum  Tode  verurteilt  seien, 
nur  insofern  zugute  kommen  dürfe,  als  ihnen  die  der  Hinrichtung 
vorausgehende  Körperstrafe  zu  erlassen  sei!^) 

Man  kann  wohl  die  Frage  aufwerfen,  welchen  Schluß  die  Mit- 
gieder  der  Kommission  aus  den  schreienden  Widersprüchen  dieser 
Gesetzesstellen  ziehen  sollten.  Galt  die  Todesstrafe  zu  recht?  Und 
wenn  das  der  Fall  war,  welche  Form  der  Todesstrafe  durfte  in  An- 
wendung kommen?  Vierteilen,  Hängen,  Köpfen  oder,  wo  es  sich 
um  Militärs  handelte,  das  Standrecht?  Alles  war  möglich,  und  die 
Entscheidung  hing  ab  von  der  Umsicht  oder,  sagen  wir  besser,  von 
der  Willkür  jener  Richter,  deren  ungeheuere  Mehrzahl  ohne  jede 
juristische  Bildung  war,  und  deren  Phantasie  durch  die  Aufzählung 
der  entsetzlichen  Sentenzen  früherer  Jahre  vergiftet  sein  mußte! 

Nach  Beendigung  dieser  Rechtsbelehrung  wurde  dem  hohen 
Gericht  der  Bericht  der  Revisionskommission  vorgelegt.  Man  hatte 
sich  aber  nicht  bemüht,  eine  besondere  Ausarbeitung  fertigzustellen, 
sondern,  da  der  Kaiser  drängte,  die  zur  Publikation  in  den  Zei- 
tungen  von  einem  Beamten  des  Auswärtigen  Amtes,    dem  Wirkl. 

*)  Das  Gericht  erhielt  noch  auf  besonderem  Blatt  eine  Ergänzung  lu 
jenen  Gesetzen,  die  wesentlich  Deserteure  und  Meuterer  betrifft  und  die  Kriegs- 
artikel von)  12.  Januar  1812  für  die  aktive  Armee  enthält,  die  selbshrerständ- 
lich  überall  mit  der  Todesstrafe  operieren. 


Kapitel  IL     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        79 

Staatsrat  Bludow,  ausgearbeitete  Darstellung  vorgelegt.  Sie  war 
darauf  berechnet,  im  Publikum  und  im  Auslande  die  Vorstellung 
von  der  Ruchlosigkeit  der  Vei*schworenen  und  zugleich  von  dem 
Unsinnigen  ihres  Unternehmens  recht  lebendig  hervoi-zurufen,  und 
überging  natürlich  alles,  was  sie  zu  ihrer  Verteidigung  vorgebracht 
hatten,  vor  allem  die  Motive  ihres  Handelns  und  die  Zeichnung  der 
Zustände,  die  sie  hatten  beseitigen  w^ollen.  Wo  unlösbare  AVider- 
sprüche  der  Aussagen  einander  gegenübergestanden  hatten,  war  die 
Hand  des  Redaktors  ausgleichend  und  verwischend  über  sie  hinweg- 
gegangen, so  daß  das  eigentliche  Bild  des  historischen  Zusammen- 
hanges sich  kurzweg  als  gefälscht  bezeichnen  läßt.  Auch  über  den 
Umfang  der  Verschwörung  gewann  man  eine  falsche  V^orstellung; 
denn  das  Interesse  der  Regierung  verlangte,  die  Zahl  der  Ver- 
schworenen möglichst  geringfügig  erscheinen  zu  lassen.  Wir  kenneu 
weder  genau  die  Zahl  der  wirklichen  Mitglieder  der  beiden  großen 
Geheimbünde,  noch  auch  die  Zahl  derjenigen,  die  im  Laufe  jener 
fünf  Monate  zur  Untersuchung  ihres  Verhaltens  herangezogen  worden 
sind.  Jedenfalls  war  sie  weit  größer  als  die  der  Verurteilten,  noch 
größer  aber  die  Zahl  der  überhaupt  nicht  offiziell  verdächtigton, 
aber  heimlich  unter  Aufsicht  der  Polizei  stehenden  Offiziere*). 

Vor  den  „hohen  Gerichtshof"  wurden  nur  121  Personen  ge- 
stellt und  in  erstaunlich  summarischer  Weise  in  der  Zeit  vom  3.  Juni 
bis  zum  12.  Juli  1826  ist  das  Verfahren  zum  endgültigen  Abschluß 
gebracht  worden.  Nach  Verlesung  des  Bludowschen  Berichts  und 
der  Aussagen  der  Angeklagten  erklärte  der  Gerichtshof,  daß  es  un- 
möglich sei,  die  Arbeit  der  Untersuchungskommi^^sion  vor  dem  Plenum 
zu  verifizieren.  So  begnügte  man  sich,  eine  Revisionskommission 
von  neun  Personen  zu  wählen  (drei  Mitglieder  des  Reichsrats,  drei 
Senatoren  und  drei  von  den  übrigen  Mitgliedern  des  Gerichts).  Diesen 
wurden  die  Akten  der  Untersuchungskommission  zur  Nachprüfung 
überwiesen.  Sie  wiederum  gaben  sich  damit  zufrieden,  festzustellen, 
daß  die  Unterschriften   unter  den  Protokollen  der  Untersuchungs- 

^)  Der  Dekabrist  Sawalischin,  dessen  Angaben  weit  mehr  Beachtung  ver- 
dienen, als  ihnen  bisher  zuteil  geworden  ist,  sagt,  es  seien  2500  Mann  wegen  Be- 
teiligung am  Aufstande  des  14.  Dezember  oder  an  der  Erhebung  der  Tscber- 
nigower  in  Untersuchung  gezogen  worden.  Tatsache  ist,  daD  eine  lange  Reihe 
administrativer  Maßregelungen  stattgefunden  und  noch  während  des  Türken- 
kriegs 1828/29  ein  sehr  beträchtlicher  Prozentsatz  der  aktiven  Offiziere  unter 
Aufsicht  der  geheimen  Feldpolizei  stand. 


80        Kapitel  IL     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

kommission  authentisch  und  freiwillig  abgegeben  waren,  und  rich- 
teten dann  noch  die  Frage  an  die  Angeklagten,  ob  Konfrontationen 
stattgefunden  hätten.  Es  fand  weder  ein  Verhör  noch  eine  Ver- 
handlung statt.  Verteidiger  gab  es  nicht,  und  selbst  der  Hinweis 
der  Angeklagten  darauf,  daß  ihre  Aussagen  nicht  vollständig  auf- 
genommen seien  und  daß  in  den  Akten  wichtige  Dokumente 
fehlten,  blieb  ohne  jede  Berücksichtigung^). 

Die  üngenauigkeiten  und  Fehler  der  Untersuchungskommission 
wurden  unverändert  übernommen.  Es  war  eine  leere  Formalität, 
der  Schein  einer  Revision,  und  zwei  Tage  reichten  aus,  das  ganze 
Geschäft  zu  erledigen.  Dann  wurde  eine  neue  Kommission  von 
neun  Mitgliedern  gewählt,  um  die  Angeklagten  nach  dem  Grad 
ihrer  Verschuldung  zu  verschiedenen  Kategorien  zusammenzufassen. 
Es  waren  die  Mitglieder  des  Reichsrats  General  der  Infanterie  Graf 
P.  A.  Tolstoi,  der  Generaladjutant  I.  W.  AVassiltschikow  und  Spe- 
ranski,  die  Senatoren  General  Kutaissow,  Baranow  und  Engel, 
endlich  der  Moskauer  Senator  Kuschnikow,  Baron  G.  A.  Stroganow 
und  der  Generaladjutant  Graf  Komorowski.  Von  ihnen  standen 
Speranski  und  Baranow  unter  geheimer  polizeilicher  Aufsicht.  Ni- 
kolai wollte  sie  offenbar  nötigen,  sich  recht  nachdrücklich  von  den 
ihnen  zugeschriebenen  liberalen  Anschauungen  loszusagen.  In 
dieser  Kommission,  die  bis  zum  28.  getagt  hat,  ist  nun  in  der 
Tat  um  das  Schicksal  jedes  einzelnen,  wie  um  da^  Strafmaß  über- 
haupt, lebhaft  gestritten  worden.  Da  die  Angeklagten  sämtlich 
dem  russischen  Adel  angehörten,  viele  den  ersten  Familien  des 
Landes,  machten  sich  Einflüsse  geltend,  um  einzelneu  ihr  Los 
möglichst  erträglich  zu  gestalten.  Wie  immer  in  Rußland,  haben 
Geld  und  Protektion  auch  hier  einen  großen  Einfluß  ausgeübt,  sie 
haben  zu  Verschiebungen  geführt,  die  nur  möglich  waren,  wenn 
mit  zweierlei  Maß  gemessen  wurde. 

Die  Verteilung  der  Angeklagten  in  die  verschiedenen  Katego- 
rien war  in  zahlreichen  Fällen  eine  durchaus  willkürliche,  wobei 
unzweifelhaft  die  den  Kommissaren  bekannten  Ansichten  und  Ab- 
sichten des  Kaisers  sehr  wesentlich  mitgespielt  haben;  nur  so  läßt 
es  sich  erklären,  daß  die  Fürsten  Trubetzkoi  und  Obolenski  nicht 
der  Kategorie  der  Meistschuldigen  zugezählt  wurden.  Die  Klassi- 
fizierung und  die  Festsetzung  des  Strafmaßes  der  Angeklagten  ergab, 


»)  Sawalischin  1. 1.  II  S.  53. 


Kapitel  IL    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.       81 

daß  von  den  121  PersoDon,  die  dem  hohen  Gerichtshof  überwiesen 
waren,  nach  den  geltenden  Gesetzen  alle  mit  dem  Tode  zu  be- 
strafen seien '),  da  jedoch  Abstufungen  der  Schuld  unverkennbar 
beständen,  erlaubte  sich  das  Gericht,  dem  Kaiser  für  den  Fall,  daß 
er  einigen,  trotz  der  Klarheit  der  gesetzlichen  Bestimmungen,  das 
Leben  schenken  wolle,  auch  für  die  Minderschuldigen  andere 
Strafen  in  Vorschlag  zu  bringen.  Als  Meistschuldige  aber  wurden 
fünf,  Pestel,  Rylejew,  Ssergej  Murawjew,  Bestushew  Rjumin  und 
Kachowsky,  außerhalb  aller  Kategorien  gestellt  und  lür  sie  Vierteilung 
beantragt.  Das  hohe  Gericht  empfahl  ferner  31  Personen,  an  ihrer 
Spitze  Trubetzkoi  und  Obolenski,  zum  Tode  durch  Enthauptung,  17 
zum  politischen  Tode  und  ewiger  Zwangsarbeit,  2  zu  ewiger  Zwangs- 
arbeit, 38  Personen  zum  Verlust  aller  Standesrechte,  zu  zeitlich 
begrenzter  Zwangsarbeit  und  danach  zur  Ansiedlung  in  Sibirien,  15 
Personen  zum  Verlust  der  Standesrechte  und  zu  ewiger  Ansiedlung 
3  zur  ewigen  Verbannung  nach  Sibirien,  1  zum  Verlust  der  Standes- 
rechte und  zur  Degradierung  zum  Gemeinen,  mit  dem  Recht  des 
Avancements,  endlich  11  zu  derselben  Strafe,  ohne  Verlust  ihres 
Adels. 

\  Der  Admiral  Mordwinow  hatte  weit  mildere  Strafen  in  Vor- 
schlag gebracht.  Auch  er  war  dafür,  die  fünf  erstgenannten  und 
außerdem  als  Gleichschuldige  die  Fürsten  Trubetzkoi')  und  Obo- 
lenski, also  die  eigentlichen  Führer,  außerhalb  aller  Kategorien  zu 
stellen,  was  wohl  so  zu  verstehen  ist,  daß  er  ein  Todesurteil 
als  die  ihnerijfLgebnhrende  Strafe  für  gerecht  empfand.  Die  dann 
folgende  erste  Kategorie  wollte  er  mit  Verlust  von  Rang  und  Adel 
und  ewigem  Gefängnis  in  Sibirien  bestraft  wissen,  die  zur  zweiten 
Kategorie  Gezählten  mit  Verlust  von  Rang  und  Adel  nach  Sibirien 
verschicken,  die  Schuldigen  dritter  Kategorie  nach  Sibirien  ver- 
bannen, die  übrigen  teils  zu  Soldaten  degradieren,  teils  auf  ihre 
Güter  verschicken,  die  Mindestschuldigen  mit  drei  bis  einem  Jahr 
Festung  bestrafen. 


^)  Bei  der  Abstimmung  hatten  die  Geistlichen  (es  waren  die  hinzugezo- 
genen Mitglieder  des  heiligen  Synod)  kein  Votum  abgegeben. 

')  In  den  Papieren  des  späteren  Feldmarschalls  Paskiewitsch,  der  gleich- 
falls als  Richter  fungierte,  findet  sich  die  Notiz,  daß  nur  ^ß  Stimmen  für 
die  Todesstrafe  Trubetzkois  abgegeben  wurden,  es  müssen  also  sechs  Mitglieder 
dagegen  gestimmt  haben,  conf.  Schtscherbatow:  Generalfeldmarschall  Paskie- 
witsch,  Bd.  I,  S.  391. 

Schiemann,  Geschichte  RaßUnds.    ü.  6 


S2       Kapitel  IL    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

Damit  wäre  gewiß  genug  geschehen,  und  ein  solches  Urteil 
hätte  auch  die  Billigung  der  öffentlichen  Meinung  des  Landes  um 
so  mehr  gefunden,  als  jedermann  wußte,  daß  die  Regierung  ab- 
sichtlich zahlreichen  Gleichschuldigen  gegenüber  beide  Augen  ge- 
schlossen und  sich  mit  ihrer  heimlichen  Beaufsichtigung  begnügt 
hatte.  Aber  Mordwinow  drang  nicht  durch,  und  es  blieb  beim 
Spruch  der  Majorität  des  hohen  Gerichts.  Die  Formulierung  und 
Rechtfertigung  dieses  Urteils  war  Speransky  übertragen  worden, 
von  dem  wir  nicht  wissen,  wie  er  gestimmt  hat,  der  aber  seiner 
ganzen  politischen  Vergangenheit  nach  das  Urteil  nicht  billigen 
konnte.  Aber  wir  kennen  die  Charakterschwäche  des  Mannes: 
wie  er  sich  bereit  gefunden  die  Araktschej ewschen  Militärkolonien 
zu  preisen,  so  nahm  er  jetzt  auch  keinen  Anstand,  die  harte 
Verurteilung  von  Männern  zu  vertreten,  deren  Schuld  zum  Teil 
nur  in  Worten  und  Gedanken  bestand,  wie  er  sie  selbst  oft  genug 
ausgesprochen  und  gehegt  hatte. 

Als  der  Spruch  des  hohen  Gerichts  dem  Kaiser  vorgelegt 
wurde,  hat  niemand  daran  gedacht,  daß  er  in  vollem  Umfange 
ausgeführt  werden  könnte.  Die  Strafe  des  Vierteilens  konnte  un- 
möglich im  10.  Jahrhundert  in  Anwendung  kommen.  Es  war  eine 
Schmach,  daß  sie  überhaupt  in  Vorschlag  gebracht  wurde.  Man 
rechnete  darauf,  daß  Nikolai  milde  sein  werde,  und  in  der  Tat 
hat  er  Gnade  geübt.  An  die  Stelle  des  Vierteilens  wurde  der  Tod 
am  Galgen  gesetzt*),  den  31  zum  Tode  Verurteilten  schenkte  er 
das  Leben,  sie  wurden  zu  ewiger  Zwangsarbeit  in  den  sibirischen 
Bergwerken  verurteilt,  und  entsprechend  wurden  auch  die  Strafen 
in  den  meisten  der  anderen  Kategorien  gemildert.  Am  12.  Juli 
begaben  alle  Mitglieder  des  hohen  Gerichts  sich  in  die  Peter-Pauls- 
festung, und  dort,  in  der  Wohnung  des  Kommandanten,  wurde 
das  Urteil  erst  den  fünf,  dann  den  übrigen  mitgeteilt.  Sie  haben 
es  bis  auf  einen,  der,  wie  sich  herausstellte,  wahnsinnig  geworden 


1)  Es  ist  neuerdings  ein  Schreiben  Diebitschs  vom  10.  Juli  1826  an  den 
Fürsten  Lopuchin  veröffentlicht  worden  (Byloje,  Februar  1906,  S.  212),  das 
keinen  Zweifel  darüber  läßt,  daß  der  Kaiser  diese  Todesstrafe  von  sich  aus 
bestimmt  hat,  aber  die  Verbäugung  derselben,  dem  Gericht  zuwies,  dem  er 
ausdrücklich  die  Vollmacht  erteilte,  über  die  fünf  endgültig  zu  entscheiden, 
ohne  daß  eine  Bestätigung  durch  ihn  selbst  weiter  erforderlich  sein  sollte. 
Zugleich  erklärte  er  aber,  daß  er  weder  das  Vierteilen,  noch  Erschießen  oder 
Köpfen  gestatte.     So  blieb  nur  das  Erhängen  übrig. 


Kapitel  II.    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        83 

war,  ruhig  hingeDoramen.  Arzt  und  Geistliche,  die  man  vorsorg- 
lich bereit  gehalten  hatte,  wurden  nicht  in  Anspruch  genommen. 
Und  doch  hatte  keiner  der  Verurteilten  eine  Ahnung  davon  gehabt, 
daß  bereits  der  Spruch  über  sie  gefällt  sei*).  Sie  wußten  nicht 
einmal  von  der  Einsetzung  des  hohen  Gerichtshofes  und  hatten  ge- 
meint, daß  die  letzten  Verhöre,  denen  man  sie  unterzogen  hatte, 
nur  weitere  Ausläufer  jener  Untersuchungskommission  waren,  vor 
der  sie  schon  so  oft  gestanden  hatten. 

Die  Degradierung  der  Verurteilten  fand  in  der  Peter-Pauls- 
festung auf  dem  Wall  des  Kronwerks  statt,  im  Angesicht  der  be- 
reits aufgerichteten  Galgen  unter  großen  Vorsichtsmaßregeln.  Ein 
aus  Finnland  verschriebener  Henker  riß  ihnen  die  Epauletten  und 
Uniformen  ab  und  zerbrach  darauf  den  Degen  über  ihrem  Kopfe. 
Dann  wurden  sie  zur  Peter-Paulsfestung  zurückgeführt,  und  erst 
danach  fand  die  Hinrichtung  der  fünf  statt.  Pestel  und  Kachowsky 
waren  sofort  tot.  Dagegen  rissen  die  Stricke,  welche  Rylejew,  Mu- 
rawjew  und  Bestushew  trugen,  und  die  durch  den  Sturz  schwer 
Verletzten  mußten  den  Todeskampf  zum  zweitenmal  erdulden.  Erst 
in  der  darauffolgenden  Nacht  wurden  die  Leichen  vom  Galgen  ab- 
genommen und  auf  einer  der  anliegenden  Newainseln  (wahrschein- 
lich auf  Golodai)  verscharrt. 

*d^Dio  Degradation  der  verurteilten  Marineoffiziere  wurde  in 
Kronstadt  vollzogen,  und  als  alles  vollendet  war,  wurden  die  nun- 
mehrigen Sträflinge  durch  Feldjäger,  in  Abteilungen  von  je  vier 
Mann,  an  ihren  Bestimmungsort  geschafft.  Auch  hier  fanden  Will- 
kürlichkeiten statt.  Norow,  Batenkow,  W.  Küchelbecker  und  Diwow 
wurden  nicht,  wie  ihr  Spruch  lautete,  verschickt,  sondern  in  die 
Festung,  in  Einzelhaft,  gesperrt.  Dort  hat  Batenkow  15  Jahre 
lang  gesessen,  und  Norow  ist  im  Gefängnis  gestorben.  Ihr 
Los  war  zweifellos  härter,  als  das  der  zu  Arbeit  in  den  Berg- 
werken und  zur  Ansiedlung  in  Sibirien  Verurteilten.     Wir  wissen 


*)  Das  ist  vielfach  bezeugt,  unter  anderem  in  der  vortrefflichen  Publi- 
kation: Soziale  Bewegungen  in  Rußland  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts, Bd.  I,  die  Dekabristen  von  Wisin,  Obolenski,  Steinheil.  ed.  Sseraew- 
«ki,  Bogutscharski.  Schtschegolew  1. 1.  4®,  Petersburg  1905,  S.  416  (Steinheil 
^Ich  versichere  eidlich,  daß  ich  bis  zur  Verkündigung  der  Sentenz  weder  wußte 
noch  ahnte,  daß  über  uns  zu  Gericht  gesessen  wurde").  Auch  er  glaubte,  daß 
es  sich  um  Fortsetzung  der  Untersuchung  handele.  Das  gleiche  bezeugen 
auch   Rosens  Memoiren,  russische  Ausgabe  S.  140. 


84        Kapitel  II.     Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw. 

jetzt  ^),  daß  das  Schicksal  der  letzteren  verhältnismäßig  güustig  sich 
gestaltete.  Einzelne  von  ihnen  verfügten  über  große  Geldmittel,  und 
das  half  ihnen  über  die  Strenge  der  gesetzlichen  Bestimmungen  und  die 
Ungunst  der  Verhältnisse  hinweg.  Vielen  folgten  ihre  Frauen,  ob- 
gleich der  Kaiser  auf  jede  Weise  bemüht  war,  sie  davon  abzu- 
bringen, und  die  in  Sibirien  geborenen  Kinder  für  illegitim  erklären 
ließ.  Sie  sind  erst  nach  Jahrzehnten  legalisiert  worden.  Im  all- 
gemeinen galt  nach  russischem  Gesetz  die  Ehe  durch  die  Verurtei- 
lung des  Mannes  für  gelöst.  Aber  nur  drei  der  Dekabristenfrauen 
haben  davon  Gebrauch  gemacht  und  sich  wieder  verheiratet'). 

Für  die  Geistesrichtung  der  Dekabristen  ist  ungemein  bezeich- 
nend, daß  sie  fast  ausnahmslos  tief  religiös  gestimmt  waren.  Aber 
diese  Religiosität  trug  einen  ^eigentümlichen,  man  könnte  sagen 
sektiererischen  Charakter  spezifisch  russischer  Art,  der  in  anderer 
Färbung  in  der  revolutionären  Bewegung  Rußlands  bis  in  die  Ge- 
genwart hinein  wiederkehrt.  Es  ist  die  Rechtfertigung  der  ver- 
brecherischen Tat  durch  das  ideale  Ziel,  um  dessentwillen  die  Tat 
begangen  wurde,  also  im  letzten  Ende  das  Bekenntnis  zum  Satz, 
daß  der  Zweck  die  Mittel  heilige.     Ssergej  Murawjew  Apostel  kann 


I)  Das  beweisen  die  doch  sehr  merkwürdigen  Angaben  in  den  Memoiren  von 
Sawalischin  Bd.  II,  S.  83ff.,  101  IT.  Truhetzkoi  und  Wolkonski  hatten  je  25 
leibeigene  Bediente;  an  Geld  fehlte  es  nie.  In  eine  einzige  Kasematte  in 
Tschita  flössen  gegen  400000  Rubel  jährlich.  Die  Arbeit  wurde  durch  be- 
zahlte Arbeiter  besorgt.  Viele  verschrieben  sich  aus  Rußland  ihre  Bibliotheken, 
80  daß  in  Petrosawodsk  schließlich  gegen  500000  Bände  beisammen  waren!! 
Darunter  waren  fast  alle  in  Rußland  verbotenen  Bucher  zu  finden,  auch  an 
Zeitungen  fehlte  es  nicht.  Die  Sträflingskolonie  hatte  sich  nicht  weniger  als 
acht  Fortepianos  aus  Rußland  kommen  lassen  usw.  Wirklich  schwer  waren 
die  vier  ersten  Jahre  und  das  Schicksal  einzelner  Unbemittelter. 

*-;  Wir  verfolgen  die  Geschichte  der  Dekabristen  nicht  weiter.  Es  hängt 
viel  verherrlichende  Legende  an  ihr.  So  hohe  Anerkennung  das  Verhalten 
einzelner  von  ihnen  in  den  Jahren  der  Gefangenschaft  und  der  sibirischen 
Nöte  verdient,  der  menschlichen  Schwäche  haben  die  meisten  ihren  vollen 
Tribut  gezollt.  Was  sie  aufrecht  erhielt,  war  das  sich  steigernde  Bewußtsein, 
als  Märtyrer  eines  politisch-idealen  Gedankens  eine  unzweifelhaft  in  ihrer 
beabsichtigten  Härte  ungerechte  Strafe  zu  tragen.  Aus  dieser  Oberzeugung 
heraus  sind  die  Memoiren  der  Dekabri^iteu  geschrieben.  Sie  sind  nur  mit 
Vorsicht  zu  benutzen.  Erst  durch  Sawalischin  haben  wir  die  außerordentlich 
günstigen  äußeren  Bedingungen  kennen  gelernt,  unter  denen  sie  lebten.  Alle 
übrigen  Memoirenschreiber  haben  diese  doch  sehr  wichtige  Tatsache  ver- 
schwiegen. 


Kapitel  IL    Der  14./26.  Dezember  und  die  Niederwerfung  usw.        85 

in  dieser  Hinsicht  als  Typus  gelten.  Es  hat  sich  eine  Eintragung 
erhalten,  die  er,  nachdeih  ihm  das  Todesurteil  verkündigt  war,  in 
seiner  Bibel  machte.  Sie  lautet:  „Die  Absicht  allein  bedingt 
die  Schuld.  Taten,  soweit  sie  bloß  Taten  sind,  beweisen  nichts, 
denn  man  kann  mit  den  reinsten  Absichten  viel  Böses  tun,  und 
andererseits  mit  den  perversesten  Absichten  das  Beste  schaffen. 
Daraus  folgt  unzweifelhaft,  daß  alle  Urteile  der  Menschen  dem 
Irrtum  unterworfen,  schwankend  und  nur  bedingt  richtig  sind,  und 
daß,  je  entschiedener  sie  auftreten,  sie  um  so  mehr  als  Frucht  der 
Flüchtigkeit  und  Faulheit  und  dem  Irrtum  verwandt  erscheinen, 
Das  Evangelium  kündigt  ein  großes  Gericht  an,  das  alle  anderen 
Gerichte  zurechtstellen  wird.  Es  kündigt  uns  an,  daJ3  unser  gött- 
licher Erlöser  (der  einzige  unfehlbare  Richter,  weil  er  die  Herzen 
prüft  und  die  Tat  nach  der  Absicht  beurteilt),  umstrahlt  von  aller 
Glorie,  kommen  wird,  um  jedem  nach  seinen  Werken  zu  vergelten 
aber  es  kündigt  ihn  uns  an  als  nachsichtig  in  seiner  Allmacht, 
voller  Liebe  und  Barmherzigkeit,  und  nur  unerbittlich  gegen  ün- 
wahrhaftigkeit  (mauvaise  foi)  und  Egoismus.  Diesen  Tag  wollen 
wir  erhoffen  und  fürchten,  er  wird  die  Absichten  jedes  einzeloen 
offenbaren***). 


V      Kapitel  III.    Reforrn^edanken  nnd  Reformanlänfe. 

In  den  zahlreichen  Aufzeichnungen,  welche  die  Dekabristen 
während  der  Zeit  ihrer  Untersuchungshaft  in  der  Peter-Paulsfeslung 
machten  und  in  ihren  protokollierten  Aussagen  vor  der 
Kommission,  war  ein  ungeheures  Anklagematerial  gegen  die  russische 
Verwaltung  der  Tage  Alexanders  I.  zusammengetragen  und 
ebenso  eine  Reihe  notwendiger  Reformen  in  Vorschlag  gebracht 
worden  ')*    Der  Kaiser  hat  sich  darüber  regelmäßig  referieren  lassen 


^)  Russki  Archiv  1887,  I,  französisch  geschrieben,  wie  denn  einem  großen 
Teil  der  Dekabristen  das  Französische  geläufiger  war  als  das  Russische.  Da- 
selbst auch  der  Brief  von  Ssergej  Murawjew  an  seinen  Vater.  Nikolai  hatte 
ihm  und  seinem  Bruder  Matwej  gesagt,  der  Vater  habe  sie  verflucht!  Wenn 
das  ^ahr  sein,  und  Nikolai  nicht  von  den  Brüdern  Murawjew  mißverstanden 
sein  sollte,  läge  hier  eine  wirkliche  Niedertracht  vor. 

*)  conf.  Schtschegolew,  Byloje  S.  205  ff.,  der  drastische  Beispiele  anführt. 
Der  Dekabrist  Komilowitsch  hat  jahrelang  aus  der  Peter-Paulsfestung  seine 
Gutachten  über  Fragen  der  inneren  Verwaltung  Rußlands  abgegeben,  ebenso 
Batenkow. 


86  Kapitel  III.     Heformgedanken  und  Reformanläufe. 

und  es  steht  fest,  daß  dieses  Material  und  die  Kritik  der  Regierung 
des  Bruders,  der  er  bisher  völlig  kritiklos  und  nur  bewundernd 
gegenübergestanden  hatte,  auf  ihn  einen  tiefen  Eindruck  machten. 
Die  Dekabristen  sind  so  die  Ersten  gewesen,  die  ihm  einen  Einblick 
in  die  russische  Wirklichkeit  gewährten  ^).  Der  Kaiser  hat  sich 
von  dem  Geheimrat  Borowkow  aus  diesen  Äußerungen  und  Denk- 
schriften seiner  „Freunde  vom  14.  Dezember",  wie  er  sie  nannte, 
ein  zusammenfassendes  Memoir  fertigstellen  lassen,  das  stets  in 
seinem  Kabinett  liegen  mußte  und  von  dem  er  Abschriften  dem 
Zesarewitsch  Konstantin  Pawlowitsch  und  dem  Präsidenten  des 
Reichsrats  Grafen  Kotschubej  zuschickte.  Es  ist  das  nicht  ausge- 
führte Programm  seiner  Reformpolitik  und  das  verwirklichte  Pro- 
gramm seiner  Irrtümer.  Als  solches  verdient  es  besondere  Be- 
achtung. 

Der  nachfolgende  Satz  dieser  Denkschrift,  der  seine  Schatten 
auf  den  ganzen  Verlauf  der  Regierung  des  Kaisers  warf,  ist  aber 
gewiß  nicht  Eigentum  der  Dekabristen  gewesen,  sondern  gehört 
Borowkow  an,  der  ihn  an  die  Spitze  seiner  Ausführungen  stellte: 
Die  liberale  Erziehung  der  Jugend  habe,  von  der  Regierung  und 
der  Gesellschaft  gefördert,  zu  allgemeiner  republikanischer  Frei- 
geisterei geführt  und  diese  an  den  tatsächlichev^chäden  der  herr- 
schenden Zustände  Nahrung  und  neue  Vorwände  gefunden.  V^ar 
dann  an  Mißständen  hergezählt  wird,  entspricht  dem  Bilde  russischer 
Mißwirtschaft,  das  wir  kennen  gelernt  haben.  Das  Fehlen  einer 
klaren  Gesetzgebung,  die  Mängel  des  Gerichtswesens,  die  veraltete, 
seit  den  Tagen  Katharinas  nicht  reformierte  Gouvernementsver- 
fassung, die  Herabdrückung  der  Bedeutung  des  Senats,  die  schlechte 
Organisation  der  Ministerien,  die  ohne  rechten  Zusammenhang  mit 
den  Gouvernementsregierungen  von  diesen  behindert  werden  und 
sie  wiederum  lähmen,  endlich  die  Einrichtung  des  Ministerkomitees, 
das  gleichsam  erdacht  sei,  um  alle  Unordnungen  zu  vertuschen 
und  dem  Volke  als  den  allein  für  alles  Übel  verantwortlichen,  den 
Kaiser,  preiszugeben.  Die  ganze  Geschäftsführung  sei  geheim  ge- 
wesen, und  durch  Formalitäten  habe  man  alle  Unterlassungen  und 
Willkürlichkeiten  verdeckt.     In  Wirklichkeit  habe  die  Kanzlei  des 


')  Das  belegen  u.  a.  die  beiden  merkwürdigen  Briefe  Steinbeils  an  den 
Kaiser  Nikolaus  vom  1.  und  29.  Januar  1826.  ..Soziale  Bewegungen  in 
Rußland^  1.  1.  S.  475  ff. 


Kapitel  III.    Reformgedanken  und  Reformanläufe.  87 

Komitees  getan,  was  ihr  gat  schien,  und  an  die  Stelle  der  verheißenen 
Verantwortlichkeit  jedes  einzelnen  sei  eine  Gesamtverantwortlichkeit 
getreten,  die  sich  mit  dem^chirm  einer  allerhöchsten  Willens- 
äußerung deckte,  so  daß  wiederum  der  Person  des  Kaisers  die 
Last  und  die  Vorwürfe  aller  Mißgriffe  zufielen.  Das  hatte,  so 
fährt  die  Denkschrift  fort,  drei  wichtige  Folgen:  eine  Masse  Baga- 
tellsachen gingen  durch  das  Komitee  an  den  Kaiser,  jeder  Ministerial- 
direktor konnte  seine  Fehler  leicht  verbergen  und,  ohne  sich  einer 
Gefahr  auszusetzen,  seinem  persönlichen  Vorteil  nachgehen,  endlich, 
die  allerhöchsten  Befehle  verloren  ihre  Kraft  und  Bedeutung.  Dazu 
kam,  daß  für  besondere  Fälle  innerhalb  des  Ministerkomitees  Komitees 
mit  gleicher  Machtvollkommenheit  eingesetzt  wurden,  daß  ein 
Komitee  das  andere  behinderte,  und  häufig  in  ein  und  derselben 
Angelegenheit  einander  widersprechende  allerhöchste  Befehle  erlassen 
wurden.  In  den  letzten  Regierungsjahren  Alexanders  hatte  die 
höchste  Regierungsinstanz  sich  daher  sozusagen  lyerzettelt  und 
alle  Einheit  verloren.  Es  war  ein  völliges  Chaos.  Überhaupt 
war  die  Zivilverwaltung,  die  doch  den  Eckstein  eines  wohlgeord- 
neten Staatswesens  bilden  sollte,  gleichsam  geächtet.  Der  Kaiser 
sah  das  Übel,  aber  er  hielt  es  für  unheilbar  und  beschränkte 
sich  darauf,  seine  Mißachtung  nicht  zu  verbergen.  Es  fehlte  ihm 
an  Männern  in  seiner  Umgebung,  mit  denen  er  an  eine  Reform 
hätte  schreiten  können. 

Als  weiteres  Übel  wurden  dann  die  gänzlich  ungleichen  Ge- 
hälter der  Beamten  bezeichnet.  Ein  Zivilgouverneur,  der  doch  der 
eigentliche  Herr  im  Gouvernement  sein  solle,  beziehe  weniger  als 
der  Vizegouverneur,  der  nur  der  Gouvernementsrentei  vorstehe^und 
alle  Beamten  eines  ganzen  Kreises  zusammengenommen  weniger 
als  ein  einziger  Akzisedirektor.  In  einzelnen  Händen  häuften  sich 
die  Ämter,  die  ungeheure  Mehrzahl  der  Beamten  aber  sei  mit 
Arbeit  überbürdet  und  leide  dabei  die  äußerste  Not.  Bemit- 
leidenswert sei  namentlich  die  Stellung  der  Kanzleibeamten,  die 
30—40  Rubel  Banko  jährlich  beziehen,  vom  Morgen  bis  zum 
Abend  arbeiten  müssen  und  in  den  Gouvernements  in  Elend  ver- 
gehen. 

Es  folgt  ein  Hinweis  auf  die  Ungleichheit  und  Willkür  bei 
Verteilung  der  Abgaben^  zumal  der  landschaftlichen,  die  ohne 
jede  Kontrolle  von  den  Lokalobrigkeiten  auferlegt  würden  und 
steten  Anlaß  zu  Mißbräuchen  gäben,    auf  die   drückende  Last  der 


88  Kapitel  III.     Reform gedanken  und  Reformanläufe. 

WegeausbesseruDg,  die  ganz  auf  die  Rauern  falle  und  so  geordnet 
oder  vielmehr  absichtlich  so  systemlos  verteilt  werde,  daß  sie 
Gelegenheit  biete,  von  den  Bauern  Geld  zu  erpressen.  Die  Wege 
aber  seien  nach  wie  vor  unfahrbar.  So  erklärten  sich  die  Steuer- 
räckstände,  deren  rücksichtslose  Beitreibung  die  Bauern  vollends  zu- 
grunde richte.  Der  Ausdruck  Röckstände  l „herausschlagen"  sei 
ganz  buchstäblich  zu  nehmen.  In  den  inneren  Gouvernements  sei 
zudem  kein  bares  Geld  zu  haben,  da  alles  Kapital  in  der  Residenz 
zusammenfließe.  Die  Reichsfmanzen  aber  seien  auf  ein  Svstem  von 
Monopolen  gegründet:  das  Branntweinmonopol  habe  den  Adel 
r  ruiniert,  die  Akzisebearaten  bereichert  und  das  Volk  systematisch 
^korrumpiert  und  zum  Trünke  erzogen;  das  Salzmonopol  zumeist 
die  ärmsten  Volksklassen  getroffen  und  den  Preis  des  Salzes  so 
erhöht,  daß  der  Bauer  kaum  Salz  für  seine  dürftige  Nahrung,  ge- 
schweige denn  für  sein  Vieh  erschwingen  könne.  Die  vom  Finanz- 
ministerium beliebten  erbarmungslosen  Beitreibungen  von  den 
Monopolpächtern  und  Lieferanten  aber  ruinierten  nicht  nur  die  an- 
gesehensten Kaufleute,  sondern  auch  deren  Kreditoren  und  Bärgen, 
und  von  einer  geregelten  Volks-  und  Finanzwirtschaft  könne  über- 
haupt nicht  die  Rede  sein.  Der  Handel  Rußlands  liege  darnieder, 
seit  der  Tarif  von  1819  zur  Überschwemmung  des  Landes  mit 
ausländischen  Waren  gefuhrt  habe,  er  sei  auch  durch  den  Schutz- 
tarif von  1823  nicht  gehoben  worden;  eine  russische  Flotte  gebe 
es  nicht,  der  Marquis  de  Traverse  habe  zwar  alljährlich  Schiffe 
gebaut,  aber  sie  faulten  im  Hafen  von  Kronstadt,  ohne  auch  nur 
eine  Kampagne  gemacht  zu  haben.  Die  Einrichtung  der^  Militär- 
kolonien habe  das  Volk  mit  Erstaunen  und  Murren  aufgenommen. 
Erst  nachträglich  habe  man  erfahren,  daß  das  Ziel  sei,  die  Bauern 
von  der  Militärlast  zu  befreien.  Aber  weit  zweckmäßiger  wäre  es 
gewesen,  die  Dienstpflicht  auf  zwölf  Jahre  herabzusetzen,  auch  hätte 
man  dann  in  ganz  Rußland  einen  kräftigen  militärischen  Geist 
entwickeln  können.  Denn  der  Bauer  werde  bei  verkürzter  Dienst- 
zeit sich  ebenso  leicht  von  seinen  Kindern  trennen  wie  der  Edel- 
mann; der  zu  seiner  Familie  heimkehrende  Soldat  könnte  heiraten, 
Ackerbauer  werden,  seine  Kinder  früh  zu  Soldaten  erziehen  und 
selbst  als  Landwehrmann  dienen.  Wenn  ein  solches  System  in 
Widerspruch  mit  der  geltenden  Leibeigenschaft  stehe,  so  werde  ein 
Ausweg  sich  doch  finden  lassen.  Auch  sei  es  nicht  wahr,  daß  die 
Anlage  der  Militärkolonien  einen  finanziellen  Vorteil  für  die  Krone 


Kapitel  IIL    Kcformgedanken  und  Reformanläufe.  89 

bedeute^).  Weder  die  Barauslagen,  noch  der  Wert  von  Land,  Wald 
und  Arbeit  seien  dabei  in  Anschlag  gebracht  worden.  Stelle  man 
eine  richtige  Schätzung  an,  so  ergebe  sich  vielmehr,  daß  das  bisher 
aufgewandte  Kapital  bei  fünfprozentiger  Anlage  genügen  würde,  um 
ein  beliebiges  Regiment  der  1.  Grenadierdivision  durch  die  Zinsen 
für  ewige  Zeiten  zu  unterhalten. 

Hieran  schließt  sich  eine  kurze  Charakteristik  der  einzelnen 
Stände.  Der  besitzliche  Adel  gehe  in  unverantwortlicher  Weise  mit 
seinen  Bauern  um.  Es  gelte  für  kein  Vergehen,  einzelne  Glieder 
einer  Bauernfamilie  zu  verkaufen,  die  Unschuld  zu  verführen  und 
Frauen  zu  mißbrauchen;  das  geschehe  vielmehr  offenkundig  und  ebenso 
die  übermäßige  Belastung  mit  Frondienst  und  Geldleistungen'T^Die 
schlimmsten  seien  die  kleinen  Gutsbesitzer,  die  über  ihre  Mittel 
leben,  die  Bauern  erbarmungslos  aussaugen  und  dazu  stets  unzu- 
frieden seien.  Die  persönlichen  Edelleute  ohne  Grundbesitz  ent- 
sprächen der  polnischen  Schlachta  und  nehmen  an  Zahl  stetig  zu, 
da  sie  jede  Arbeit  und  jedes  Gewerbe  für  schimpflich  hielten,  lebten 
sie  von  allerlei  Schlichen.  -  Sie  bildeten  eine  Klasse  von  Menschen, 
die  nichts  zu  verlieren  haben  und  bei  jedem  Umsturz  zu  gewinnen 
hoffen.  Elend  sei  der  Zustand  der  Landgeistlichen.  Da  sie  kein 
festes  Gehalt  bezögen,  hingen  sie  von  der  Gnade  der  Bauern  ab 
und  seien  genötigt,  ihnen  den  Willen  zu  tun.  Sie  verfielen  daher 
in  Laster,  besonders  ergäben  sie  sich  dem  Trunk  in  dem  Maße, 
daß  die  Regierung  durch  die  Zivilgouverneure  einen  Ukas  ver- 
öffentlichen mußte,  der  den  Bauern  untei^sagte,  die  Geistlichen 
trunken  zu  machen.  Während  aber  die  Dorfgeistlichkeit  bettelarm 
sei,  habe  der  Ukas  über  die  Kleidung  der  Frauen  von  Geistlichen 
unter  der  reichen  städtischen  Geistlichkeit  Murren  und  Aufregung 
hervorgerufen. 

Die  von  den  Gilden  geschädigte  und  in  ihrem  Erwerb  be- 
drängte Kaufmannschaft  habe  durch  das  Jahr  1812  eine  schwere 
Einbuße  erlitten.  Viele  Kapitalisten  seien  umgekommen,  andere 
ruiniert  worden.  Die  schweren  Geldverhältnisse  hätten  das  Übrige 
getan.  So  sei  der  reiche  ehrliche  Kaufmann  ohne  eigene  Schuld 
herabgekommen,  und  die  Regierung  habe,  statt  ihm  aufzuhelfen, 
ihn  in    eine    niedrigere  Kategorie    versetzt.      Der   unredliche    und 


0  Ober  die  Zustände  in  den  Militärkolonien  ist  der  Bericht  Laferronays 
vom  22.  April  1827  in  der  Anlage  zu  vergleichen. 


90  Kapitel  III.     Reformgedanken  und  Reforroanläufe. 

reiche  erhalte  dagegen  Rechte,  die  ihn  dem  angesehensten  Adel 
gleichstellten.  Einen  eigentlichen  Bärgerstand,  wie  in  anderen 
Staaten,  gebe  es  nicht.  Die  Kronsbauern  wurden  durch  die 
Gouvernementsverwaltungen  und  Kronsrenteien  zugrunde  gerichtet. 
Um  ihr  Gedeihen  kümmere  sich  niemand.  Es  gäbe  zwar  eine 
ökonomische  Abteilung  im  Kameralhof,  aber  Landschaftspolizei, 
Kreisgericht  und  Gouvernementsverwaltung  hätten  gleiche  Rechte 
und  größeren  Einfluß.  Von  den  Beamten  der  Behörden  gehe  die 
Plünderung  dieser  Bauern  aus.  Besser  stehe  es  mit  den  Apanage- 
bauern, da  sie  Schutz  vor  der  Gewalttätigkeit  der  Landpolizei  und 
der  übrigen  Beamten  fänden. 

Fasse  man  das  alles  zusammen,  so  seien  die  folgenden  Maß- 
nahmen nicht  zu  umgehen:  „Erlaß  klarer  und  bestimmter  Gesetze, 
Einführung  einer  gerechten  und  schnellen  Justiz,  Hebung  der  sittlichen 
Bildung  der  Geistlichkeit,  Kräftigung  des  Adels,  der  durch  Anleihen 
bei  den  Kreditinstitutionen  völlig  ruiniert  ist,  Wiederbelebung  von 
Handel  und  Gewerbe  durch  feste  Tarife,  Anpassung  des  ünterrichts- 
wesens  an  die  Bedürfnisse  der  einzelnen  Stände,  V^erbesserung  der 
Lage  der  Landwirte,  Abschaffung  des  unwürdigen  Verkaufs  von 
Menschen,  Erneuerung  der  Flotte,  endlich  Beseitigung  der  zahllosen 
Unordnungen  und  Mißbräuche." 

Nun  gibt  diese  Borowkowsche  Denkschrift  gewiß  nur  einen 
Teil  der  von  den  Dekabristen  gerügten  Mißstände  und  vorgeschla- 
genen Reformen  wieder,  und  einige  Sätze  stehen  ohne  Zweifel  in 
offenem  Widerspruch  zu  ihren  Anschauungen.  Daß  aber  gerade 
diese  im  Grunde  doch  recht  oberflächlichen  Grundstriche  dem 
Kaiser  gleichsam  als  Leitfaden  dienten,  ist  ebenso  charakteristisch 
wie  wichtig.  W^as  ihm  einleuchtete,  war  die  Notwendigkeit  einer 
Kodifikation  der  geltenden  Gesetze,  die  völlige  Neugestaltung  der 
russischen  Flotte,  die  Besserung  der  Straßen  innerhalb  des  Reiches 
und  eine  Prüfung  der  Reformpläne,  die  in  den  Jahren  der  Re- 
gierung des  „Engels"  zurückgestellt  waren. 

Es  ist  nun  ungemein  interessant,  die  Gesetzgebung  Nikolais 
in  den  beiden  ersten  Jahren  seiner  Regierung  zu  verfolgen,  da  die 
Eindrücke  noch  frisch  waren,  die  ihm  der  Aufstand  des  18.  Dezem- 
ber und  die  sich  daran  schließenden  Ereignisse  gebracht  hatten. 
Unzweifelhaft  war  es  ihm  ernst,  mit  denjenigen  Mißbräuchen  der 
Regierungszeit  Alexanders  aufzuräumen,  die  er  als  solche  erkannte, 
und  die  ihm  angeborene  und  anerzogene  Ordnungsliebe  bedeutete 


Kapitel  IIL    Reformgedanken  und  Reformanläafe.  91 

für  den  Staat,  an  dessen  Regierung  er  nun  herantreten  mußte, 
ebenso  sicher  eine  Wohltat;  auch  läßt  sich  ihm  der  Vorwurf  nicht 
machen,  daß  er  es  an  Fleiß  habe  fehlen  lassen.  /  Er  war  vielmehr 
redlich  bemüht,  zu  tun,  was  er  als  Pflicht  betriichtete,  und  in 
dieser  Hinsicht  stand  er  hoch  über  der  großen  Mehrzahl  seiner 
Mitarbeiter,  mit  denen  er  nun  einmal  zu  rechnen  hatte.  Aber  die 
ungeheuren  Lücken  seiner  Bildung  machten  sich  überall  geltend. 
Er  war,  um  ein  Beispiel  anzuführen,  in  seinem  Kursus  des  russischen 
Staatsrechts  nicht  über  die  Tage  Peters  des  Großen  hinausgekom- 
men und  verfiel  darüber  in  die  wunderlichsten  Irrtümer ^).^[\Va8 
ihn  an  den  inneren  Angelegenheiten  interessierte,  waren  nächst 
dem  Prozeß  der  Dekabristen,  der  bis  in  das  Frühjahr  1826  den 
größten  Teil  seiner  Zeit  in  Anspruch  nahm,  Äußerlichkeiten,  denen 
er  jedoch  eine  große  Bedeutung  beilegtey^  Vor  allem  die  Frage  der 
üniformierung  der  Zivilbeamten,  der  Studenten,  Schüler,  Lehrer 
und  Professoren,  wobei,  wie  beim  Militär,  die  Uniform  anzeigen 
sollte,  wen  man  vor  sich  habe,  v^r  meinte,  und  das  Ministerkomitee, 
dem  schon  im  September  1825,  also  zu  Lebzeiten  Alexanders, 
der  alte  reaktionäre  Minister  der  Volksaufklärung,  Schischkow, 
einen  entsprechenden  Antrag  vorgelegt  hatte,  bekräftigte  ihn 
darin,  daß  die  Einführung  einiger  militärischer  Formen  und  mili- 
tärischer Disziplin  in  den  Zivillehranstalten,  die  Erziehung  der 
Zöglinge  erleichtern  und  überhaupt  diesen  Anstalten  einen  Charakter 
der  Ordnung  und  des  Anstandes  verleihen  werde,  der  schwer  zu 
erreichen  sei,  wenn  Zöglinge  und  Beamte  sich  nach  eigenem  Er- 
messen kleideten.  ^Das  beständige  Tragen  der  Uniform  und  eine 
strenge  Beobachtung  vorgeschriebener  Ordnungen  sei  ein  wesent- 
liches Mittel,  eine  gute  staatliche  Gesinnung  zu  erzielen ').  Im 
Mai  des  folgenden  Jahres  schloß  sich  hieran  ein  Reskript  des  Kaisers 
an  Schischkow,  das  darauf  hinwies,  daß  in  der  Einrichtung  von 
Lehranstalten  nicht  die  unerläßliche  Gleichförmigkeit  herrsche. 
Unter  dem  Vorsitz  des  Ministers  wurde  daher  ein  Komitee  von  sieben 
Personen  eingesetzt,  dessen  Aufgabe  es  sein  sollte,  alle  Statuten 
und  Lehrpläne  von  den  Kirchenschulen  bis  zu  den  Universitäten, 

J)  Tagebuch  des  Staatssekretärs  Diwow.  R.  Starina  1897, 1,  S.  459  ff.  Ein- 
tragung vom  14.  März  1826. 

^)  Volle  Sammlung  russischer  Gesetze,  Ukas  vom  29.  Dezember  1825. 
dazu  die  Sammlung  der  Verordnungen  des  Ministeriums  der  Volksaufklärung. 
Petersburg  1866. 


92  Kapitel  III.    Reformgedanken  und  Reformanläufe. 

sowie  die  in  den  Lehranstalten  benutzten  Schulbücher  zu  revidieren 
und  dafür  Sorge  zu  tragen,  daß  überall  die  gleichen  Ordnungen, 
die  gleichen  Lehrmethoden  und  die  gleichen  Lehrmittel  in  Anwen- 
dung kämen./  Nur  für  den  Dorpater  und  Wilnaer  Lehrbezirk 
wurden  Abweichungen  gestattet.  Beide  Verfügungen  sind  ungemein 
charakteristisch  und  für  die  Entwicklung  der  russischen  Schulen 
und  Universitäten  um  so  verhängnisvoller  geworden,  als  die  äußer- 
liche „Ordnung^  nach  den  Anschauungen  militärischer  Disziplin 
und  Uniformität  je  länger  je  mehr  jeden  anderen  Gesichtspunkt 
zurückdrängte.\pie  am  8.  Dezember  1828  allerhöchst  bestätigten 
Arbeiten  der  Scnischkowschen  Kommission  haben,  wie  nicht  anders 
möglich  war,  diesen  Ausführungen  Rechnung  getragen.  Es  kam 
hinzu,  daß  der  Kaiser  die  höhere  Bildung  im  wesentlichen  dem 
Adel  vorbehalten  und  die  anderen  Stände  nicht  aus  dem  Berufs- 
kreise  ihrer  Eltern  hinausheben  wollte.  Namentlich  war  er  gegen  das 
Eindringen  bäuerlicher  Elemente  in  die  Gymnasien  und  in  die  anderen 
höheren  Lehranstalten,  obgleich  Persönlichkeiten  wie  Speranski, 
oder,  wenn  er  weiter  zurückblickte,  wie  Menschikow,  der  Günst- 
ling Peter  des  Großen,  oder  wie  das  Universalgenie  Lomonossow 
ihn  eines  besseren  hätten  belehren  müssen.  Die  Gleichförmigkeit, 
die  er  schließlich  erzielte,  wurde  zur  Eintönigkeit  und  führte  zu 
einer  oberflächlichen  und  mangelhaften  Bildung,  zugleich  aber 
dahin,  daß  höher  strebende  Jünglinge  zu  Autotidakten  wurden  und 
in  die  Fehler  verfielen,  die  nur  zu  leicht  einem  ungeregelten,  nach 
dem  Verbotenen  mit  Begierde  strebenden  Bildungsgang  eigen 
sind.v^ine  der  Wurzeln  späterer  politischer  Krankheiten  läßt  sich 
hier  erkennen,  wobei  dann  freilich  die  wesentlichste  Schuld  die 
Männer  trifft,  die  an  dem  Werk  dieser  einseitigen  und  verfinsternden  4« 
Maßregelung  des  Bildungswesens  gearbeitet  haben.  Auch  hier  finden 
wir  den  Namen  Speranskis,  der,  wie  bei  dem  Dekabristengericht, 
keinen  Anstand  nahm,  seine  ganze  Vergangenheit  zu  verleugnen.  W 
Dagegen  bat  der  Kaiser  in  einer  Hinsicht  die  Sünden  Alexanders  L 
an  dem  russischen  Schul-  und  Bildungswesen  gut  zu  machen  gesucht. 
Ihm  lagen  die  religiösen  Anschauungen  des  Bruders  durchaus  fern, 
und  die  pietistischen  und  mystischen  Kegungen,  welche  in  der 
Mitte  der  zwanziger  Jahre  nach  dem  Beispiel  Alexanders  die 
Gemüter  zu  beherrschen  schienen,  waren  ihm  nicht  mit  Unrecht  ver- 
dächtig. Den  großen  Intriganten  und  Heuchler  Magnitzki,  den 
Kurator    des    Kasaner  Lehrbezirks,    hatte    er  schon    während    des 


Kapitel  III.     Reformgedanken  und  Reformanläufe.  93 

InterregDums  eioraal  aus  Petersburg  fortgeschickt.  Jetzt  ließ  er 
durch  den  Generalmajor  Sheltuchin  den  Lehrbezirk  revidieren, 
und  auf  dessen  Bericht  hin  wurde  Magnitzki  durch  einen  höchst 
ungnädigen  Ukas  vom  6.  Mai  1826  seiner  Stellung  enthoben^  Als 
er  trotzdem  in  Kasan  blieb  und  durch  den  Einfluß,  den  er  sich 
auf  einzelne  Professoren  erworben  hatte,  weiter  intrigierte,  hat 
der  Kaiser  ihn  durch  einen  Feldjäger  nach  Reval  schaffen  lassen. 
In  der  protestantisch-deutschen  Welt  der  Grenzmarken  schien  er 
unschädlich.i^Auch  der  stellvertretende  Kurator  des  Petersburger 
Lehrbezirks,  Runitsch,  ein  Obskurant  aus  Überzeugung,  wurde  ab- 
gesetzt, und  damit  hörte  das  offizielle  Frömmeln  endgültig  auf.  Es 
brachte  keinen  Vorteil  mehr  und  war  bald  nicht  mehr  Mode  der 
vornehmsten  Kreise.  Von  einem  Einfluß  des  Archimandriten  Photi 
konnte  weiter  keine  Rede  sein*),  und  im  April  1826  sistierte  der 
Kaiser  auf  einen  Bericht  des  Metropoliten  Eugenius  hin  die  weitere 
Tätigkeit  der  Bibelgesellschaft,  „in  AnbetracW  ihrer  schädlichen 
Wirkungen",  wie  es  in  dem  Reskript  an  den  Metropoliten  in  Now- 
gorod und  Petersburg  heißt.  Nur  die  bereits  gedruckten  Bibeln 
durften  weiter  verkauft  werden.  Auch  ward  das  bewegliche  und 
unbewegliche  Vermögen  der  Gesellschaft  aufgenommen;  offenbar 
war  der  Kaiser  entschlossen,  ein  Ende  zu  machen;  wenige  Monate 
danach  übertrug  er  die  Verwaltung  dem  heiligen  Synod  (15.  Juli). 
Daß  religiöse  Stimmungen  nicht  gegen  politische  Ketzereien 
und  Versuchungen  schützen,  hatten  die  Bekenntnisse  der  Deka- 
bristen deutlich  gezeigt,  es  schien  zweckmäßiger,  die  Wurzeln  dieser 
Übel  an  anderer  Stelle  abzugraben.  Am  10.  Juni  1826  bestätigte 
der  Kaiser  ein  neues  Zensurstatut,  das  ihm  der  Minister  der  Volks- 
aufklärung Schischkow  vorlegte,  dessen  eigentlicher  Verfasser  aber 
der  Fürst  Schirinsky-Schichmatow  war.  Es  ist  im  Geiste  äußerster 
Unduldsamkeit  abgefaßt  und  darauf  berechnet,  jede  freie  Meinungs- 
äußerung zu  unterdrücken,  die  dem  neuen,  dem  Minister  verhaßten 
Zeitgeist  Rechnung  trug,  und  führte  allerdings  zu  ganz  unerträg- 
lichen Zuständen.  Alles  Gedruckte,  Typographierte,  Gezeichnete, 
Gemalte  und  in  Noten  Gesetzte,  was  innerhalb  des  russischen 
Reiches  erschien,    unterlag  der  Zensur,    deren  Pflicht    es  war,    die 

*)  Russkaja  Starina  1895,  II  431 — 38,  Brief  Photis  an  den  Kaiser 
Nikolaus  vom  4.  Februar  1826.  Es  ist  ein  Versuch,  die  Revolution  durch 
den  schädlichen  Einfluß  der  protestantischen  Mystiker  zu  e|;klären.  Nikolaus 
hat  das  Schreiben,  soviel  wir  wissen,  ganz  unberücksichtigt  gelassen. 


94  Kapitel  III.    Reformgedanken  und  Reformanläufe. 

Heiligtümer,  den  Thron,  die  von  ihm  gesetzte  Obrigkeit,  die  vater- 
ländischen Gesetze,  die  Sitten  und  die  Ehre  des  Volkes  und  jedes 
einzelnen  zu  schützen,  nicht  nur  vor  böswilliger  und  verbreche- 
rischer, sondern  auch  vor  unbeabsichtigter  Schädigung,  wobei  natür- 
lich alles  auf  die  Interpretation  ankam,  die  diese  Begriffe  fanden. 
Schischkow  hatte  aber  Sorge  getragen,  daß  seine  Auffassung  auch 
die  aller  Organe  der  Zensur  wurde.  Die  Hauptverwaltung  der 
Zensur  ruhte  in  Händen  des  Ministers  der  Volksaufklärung.  Ein 
Oberzensurkomitee,  zu  dem  nur  noch  die  Minister  des  Innern  und 
des  Auswärtigen  gehörten,  stand  ihm  helfend  zur  Seite,  und  unter 
diesem  die  vier  Abteilungen,  welche  die  eigentliche  Arbeit  besorgten. 
Es  waren  das  Ilauptzensurkomitee  in  Petei*sburg  und  die  Zensur- 
komitees in  Moskau,  Dorpat  und  Wilna^).  Diese  Komitees  standen 
unter  den  Kuratoren  der  Lehrbezirke,  während  der  Vorsitzende  des 
Hauptzensurkomitees  auf  Vorschlag  des  Ministers  der  Volksauf- 
klärung vom  Kaiser  direkt  ernannt  und  entlassen  wurde.^VSo  hoch 
wurde  die  Bedeutung  dieses  Postens  eingeschätzt.  Hat  doch  der 
Kaiser  gelegentlich  selbst  die  Funktionen  eines  Zensors  auf  sich 
genommen.  Auch  die  Instruktionen,  die  alljährlich  vom  Ober- 
zensurkomitee den  Komitees  zugingen,  bedurften  seiner  Bestätigung. 
Diese  Komitees  hatten  jeden  Monat  durch  den  Kurator  ihre  Be- 
richte dem  Minister  einzusenden,  der  wiederum  monatlich  dem 
Oberzensurkomitee  einen  zusammenfassenden  Bericht  vorlegte. 
Ein  Verzeichnis  verbotener  Bücher  wurde  alljährlich  der  Polizei 
und  allen  Buchhändlern  und  Bibliotheken  mitgeteilt,  endlich  be- 
stimmt, daß  Schriftsteller  ihre  Manuskripte  vor  dem  Druck  dem 
Zensor  vorzulegen  hätten.  Nur  die  von  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften und  dem  Ministerium  des  Auswärtigen  veröffentlichten 
Schriften  unterlagen  keiner  Zensur.  So  wurde  für  eine  sorgfaltige 
Filtrierung  aller  für  die  Öffentlichkeit  bestimmten  Gedanken  gesorgt, 
es  war  kaum  möglich,  daß  dem  lesenden  Publikum  Anschau- 
ungen zugetragen  wurden,  die  im  Widerspruch  zu  der  Weltan- 
schauung standen,  die  den  Hütern  der  Ordnung  notwendig  und 
allein  heilsam  erschien.     Da  selbstverständlich  alle  Zeitungen  einer 

')  Das  Ilauptzensurkomitee  bestand  aus  sechs  Personen  und  hatte  seine 
eigene  Kanzlei,  die  Zensurkomitees  in  Moskau,  Dorpat,  Wilna  aus  je  drei  Zen- 
soren. Einer  der  Wilnaer  Zensoren  mußte  vollkommen  die  hebräische  und 
rabbinische  sowie  die  jüdisch-deutsche  Sprache  beherrschen,  denn  Nikolai 
war  voll  Mißtrauen  und  Verachtunff  gegen  seine  jüdischen  Untertanen. 


Kapitel  III.     Reformgedauken  und  Reformanläufe.  95 

Zensur  im  Manuskript  unterlagen  und  außerdem  über  den  Geist 
der  erlaubten  Zeitungsnummern  allwöchentlich  referiert  werden 
mußte,  konnte  von  einer  politischen  Bedeutung  der  Presse  natur- 
gemäß keine  Rede  sein ').  Das  Tollste  aber  war,  daß  der  Zensur 
nicht  nur  das  Recht  erteilt  wurde,  Worte  der  Verfasser  durch 
andere  zu  ersetzen  und  einzelne  Ausdrücke  zu  streichen,  sondern 
daß  die  Fürsorge  sich  auch  auf  den  Stil  und  die  Reinheit  der 
Sprache  erstreckte,  Dinge,  über  welche  der  Admiral  Schischkow 
seine  besonderen  Ansichten  hattey  Er  war  Archaist  und  Purist. 
Zum  Glück  behauptete  er  sich  nur  bis  zum  April  1828.  An  seine 
Stelle  trat  der  frühere  Kurator  des  Dorpater  Lehrbezirks,  General 
der  Infanterie  Fürst  Lieven,  ein  zwar  nicht  gelehrter,  aber  gerechter 
und  einsichtiger  Mann  von  tief  religiöser  Gesinnung,  aber  freier 
nnd  duldsamer  Weltanschauung.  Das  Schischkowsche  Zensurstatut 
wurde  von  ihm  beseitigt,  das  Oberzensurkomitee  aufgehoben  und 
durch  eine  aus  Fachmännern  bestehende  Hauptverwaltung  ersetzt, 
der  die  Lokalzensoren  unterstellt  waren.  Aufgabe  der  Zensoren 
aber  sollte  nur  sein,  darüber  zu  entscheiden,  ob  ein  Buch  oder  ein 
Artikel  schädlich  sei  oder  nicht.  Nur  im  ersten  Falle  griff  die 
Zensur  ein,  und  Lieven  dachte  groß  genug,  um  dem  geistigen  Leben 
ausreichenden  Spielraum  zu  freier  Entfaltung  zu  lassen.  Von 
1828  bis  1830  konnte  die  russische  Zensur  als  liberal  gelten,  jeden- 
falls war  sie  es  weit  mehr  als  die  österreichische.  Aber  die  Juli- 
revolution änderte  danach  alles  zum  Schlimmeren,  und  zwar  für  die 
ganze  fernere  Dauer  der  Regierung  Nikolais  L 

Kann  es  zweifelhaft  erscheinen,  wie  weit  der  Zar  eine  Mitschuld 
an  dem  Zensurstatut  Schischkows  trägt'),  und  wie  weit  ihm  ein  Ver- 


^)  Nach  diesem  Statut  —  schreibt  der  Zensor  Glinka  —  hätte  man  auch 
das  Vaterunser  als  jakobinisch  verbieten  können.  Alle  Artikel  oder  Bücher, 
welche  Fragen  der  Staatsverwaltung  berührten,  durften  nur  nach  eingeholter 
Genehmigung  des  Ressortministers  gedruckt  werden.  Direkt  verboten  waren 
alle  Vorschläge  auf  Änderung  bestehender  Ordnungen,  alles,  was  den  von 
der  heiligen  Allianz  proklamierten  Grundsätzen  widersprach,  usw.  Ganz  uner- 
träglich waren  die  Beschränkungen  wissenschaftlicher  Freiheit,  sie  erinnern 
lebhaft  an  die  von  Magnitzki  in  Kasan  eingeführte  Praxis.  Jetzt  aber  wurde 
Prinzip  und  geltendes  Recht,  was  früher  Willkür  gewesen  war.  Im  Lehrfach 
wie  in  der  Presse  herrschte  fortan  die  gleiche  „Ordnung". 

^  Russkaja  Starina  1901  3  und  1905  Iff.  Die  anonymen  Aufsätze 
über  die  Zensur  unter  Nikolaus  I.  Die  betreffenden  Gesetze  in  der  V.  S.  R.  G. 
2.  Serie  Bd.  I  und  folgende  zu  den  betreffenden  Jahren. 


96  Kapitel  III.    Reformgedanken  und  Reformanläufe. 

dienst  an  der  Haltung  Lievens  beizumessen  ist,  so  kann  die  Einführung 
des  Instituts  der  geheimen  Polizei  als  sein  eigenstes  Werk  bezeichnet 
werden.  Unter  Alexander  I.  hatte  acht  Jahre  lang ')  ein  Polizei- 
ministerium bestanden,  dem  ungeheure  Befugnisse  zugewiesen 
waren,  unter  anderem  auch  die  Beaufsichtigung  und  die  Exekutive 
in  allen  Ministerien,  die  Vornahme  aller  Untersuchungen  und  eine 
Polizeigerichtsbarkeit,  die  so  unsicher  begrenzt  war,  daß  nach  allen 
Richtungen  hin  Konflikte  und  Kompetenzstreitigkeiten  entstanden. 
Das  war  der  Grund,  der  1819  zur  Aufhebung  des  Polizeiministeri- 
ums führte  und  den  Kaiser  veranlaßte,  das  Ministerium  des  Innern 
zur  Zentralinstanz  aller  Polizeiorgane  zu  machen.  Es  bestand  zn 
diesem  Zweck  im  Ministerium  eine  besondere  Kanzlei  für  Polizei- 
angelegenheiten. Trotzdem  aber  wurde  eine  einheitliche  Leitung 
nicht  erreicht,  weil  Alexander  es  allezeit  liebte,  durch  ein  System 
der  Spionage  und  Gegenspionage  sogar  seine  nächststehenden  Ver- 
trauensmänner zu  kontrollieren,  die  eigentliche  Geheimpolizei  aber 
von  ihm  selbst  durch  ad  hoc  benutzte  Persönlichkeiten  geführt 
wurde.  Nur  Araktschejew,  und  auch  er  nicht  immer,  konnte  auf 
unbedingtes  Vertrauen  rechnen. 

Nun  hatte  die  Untersuchungskommission  das  unleugbare  Er- 
gebnis gebracht,  daß  trotz  aller  Feinheit  Alexanders  und  aller  Bru- 
talität und  Rücksichtslosigkeit  Araktschejews  die  weitverzweigten 
Verschwörungen  des  Nord-  und  Südbundes,  der  Vereinigten  Slaven 
und  der  Polen  dem  Spürsinn  der  Polizei  völlig  entgangen  waren. 
Die  Tatsache,  daß  nach  Verurteilung  der  121  in  Petersburg  vor 
Gericht  Gezogenen  und  der  Tschernigower  ungezählte  Mitwisser  und 
Verdächtige  ungestraft  geblieben  waren,  machte  es  für  den  Kaiser 
zur  Notwendigkeit,  das  Treiben  eben  dieser  Leute  zu  überwachen. 
Er  wandte  sich  an  Benckendorff,  denselben,  der,  wie  er  Jetzt  wußte, 
bereits  1821  dem  Kaiser  Alexander  die  Mitglieder  der  Verschwörung 
genannt  und  ihre  Ziele  dargelegt  hatte,  und  beauftragte  ihn,  die 
Grundzüge  für  eine  Organisation  der  Geheimpolizei  zu  entwerfen. 
Im  Januar  1826  legte  Benckendorff  eine  Denkschrift  vor,  die  seine 
Gedanken  dahin  zusammenfaßte,  daß  eine  eigentliche  Geheimpolizei 
(wie  Alexander  sie  gehabt  hatte)  nicht  zum  Ziele  führe.  Man 
habe  bereits  eine  wirksame  Gegenspionage  an  der  Post,  welche  die 
Briefe  perlustriere,  es  komme  nur    darauf  an,    geeignete  Personen 


')  Begründet  am  26.  Juni  1811,  aufgehoben  1819. 


Kapitel  III.     Reformgedanken  und  Reformanläufe.  97 

an  die  Spitze  der  hauptsächlichsten  Postämter,  also  in  Petersburg, 
Moskau,  Kiew,  Wilna,  Riga,  Charkow,  Odessa  und  Tobolsk,  zu  stellen  ^). 
Die  hohe  Polizei  selbst  müsse  sich  über  das  ganze  Reich  erstrecken 
und  kein  geheimes,  sondern  ein  bekanntes  Zentrum  haben,  das 
sowohl  Furcht  als  Ächtung  einflöße.  An  die  Spitze  sei  ein 
Polizeiminister  zu  stellen,  der  zugleich  die  Oberaufsicht  über  Militär- 
und  Provinzialgendarmen  haben  müsse').  Die  politische  Polizei 
solle  besonders  uniformiert,  gut  bezahlt  und  für  ihre  Dienst- 
leistungen reichlich  durch  Orden  und  Titel  ausgezeichnet  werden, 
damit  die  Karriere  anziehe.  Vor  allem  komme  es  darauf  an,  daß 
diese  Polizei  ein  hohes  moralisches  Ansehen  genieße;  man  werde 
daher  in  der  Wahl  der  Persönlichkeit  des  Ministers  besonders  vor- 
sichtig sein  müssen,  »^on  seiner  Person  und  von  der  Organi- 
sation dieses  Ministeriums  wird  der  Anstoß  abhängen,  den  diese 
Polizei  erhält,  und  darauf,  sowie  auf  das  Ansehen,  das  sie  im  Publi- 
kum genießt,  kommt  es  vornehmlich  an.^  Der  Kaiser  hat  dieses 
Memoire  dem  Grafen  P.  A.  Tolstoi*)  mit  dem  Befehl  übergeben, 
ihm  persönlich  ein  Gutachten  darüber  einzureichen.  Offenbar  lehnte 
Tolstois  Gutachten  den  Polizeimiuister  ab,  denn  am  3.  Juli  erschien 
ein  Ukas,  der  die  dritte  Abteilung  der  Kanzlei  des  Ministers 
des  Innern  aufhob  und  ihre  Funktionen  einer  neubegründeten 
dritten  Abteilung    der    höchsteigenen  Kanzlei    des  Kaisers    zuwies. 


>)  Warschau  wird  nicht  genannt,  weil  in  Kongreßpolen  der  Großfürst 
Konstantin  die  Korrespondenzen  sorgsam  kontrollieren  ließ,  was  freilich  den 
Polen  wohlbekannt  war  und  zu  gleich   sorgsamen  Vorsichtsmaßregeln  führte. 

^)  Das  Korps  der  Gendarmen  bestand  aus  dem  Regiment  Gendarmen, 
das  den  Polizeidienst  bei  den  Truppen  besorgte,  und  aus  den  Gendarmen  der 
inneren  Wache.  In  der  Armee  war  die  Gendarmerie  1815  von  Harclay  de 
Tolly  eingeführt  worden,  und  zwar  hatte  er  je  einen  Offizier  und  fünf  Gemeine 
aus  jedem  Kavallerieregiment  dazu  bestimmt.  Aber  schon  nach  zwei  Monaten 
wurde  das  Borissoglebsche  Dragonerregiment  zum  Regiment  Gendarmen  um- 
benannt und  mit  dem  Polizeidienst  in  der  Armee  betraut.  Das  Korps  der 
inneren  Wache  war  1810  gebildet  worden.  Es  hatte  die  Reserverekruten  ein- 
zuüben und  der  Polizei  behilflich  zu  sein,  speziell  beim  Eintreiben  von  Ab- 
gaben und  Rückständen.  Jeder  Gouverneur  hatte  ein  Polizeidragoner-Kom- 
mando, das  zur  inneren  Wache  zählte.  Geschichte  des  Ministerium  des  Innern 
Petersburg  1902. 

')  General  der  Infanterie  und  Mitglied  des    Reichsrats,  damals  65  Jahre 
alt.     Das  Memoire   BenkendorfTs  und  die  noch   zu  erwähnende  Instruktion  für 
Bibikowist  in  der  postbumen  Geschichte  Nikolais,  von  Schilder,  gedruckt,  jedoch 
ohne  die  dazugehörigen  Kanzleivermerke  und  die  Randglossen  Nikolais. 
Schiemann,  Geschichte  Rußlands.    II.  7 


98  Kapitel  IIL    Reformgedanken  und  Reformanläufe. 

Sie  bestand  anfangs  aus  vier  Expeditionen,  deren  erste  die  eigent- 
liche hohe  Polizei  besorgte  und  bei  der  sich  die  aus  den  Provinzen 
einlaufenden  Nachrichten  konzentrierten.  Die  zweite  umfaßte  das 
Sekteuwesen,  den  Raskol  *),  Falschmünzer,  Fälscher  von  Dokumenten 
und  hatte  die  Orte  zu  kontrollieren,  in  denen  politische  Gefangene 
interniert  waren.  Die  dritte  Sektion  beaufsichtigte  die  in  Rußland 
lebenden  Ausländer;  der  vierten  endlich  gingen  Korrespondenzen 
aus  allen  Teilen  des  Reiches  zu,  die  bestimmt  waren,  den  Kaiser 
über  alles  zu  orientieren,  was  im  Reiche  geschah.  Sämtliche  Be- 
richte mußten  den  Vermerk  tragen  „zu  eigenen  Händen  des 
Kaisers". 

Die  Leitung  dieser  dritten  Abteilung  wurde  Benkendorff  über- 
tragen, den  der  Kaiser  schon  vorher,  am  25.  Juni,  zum  Chef  der 
gesamten  Gendarmerie  gemacht  hatte.  Sein  nächster  Untergebener, 
auf  dem  die  eigentliche  Last  der  Arbeit  ruhte,  war  der  General 
von  Fock*),  neben  ihm  zählte  die  Kanzlei  nur  noch  zehn  Beamte, 
lauter  Persönlichkeiten,  auf  deren  unbedingte  Diskretion  gerechnet 
werden  konnte'). 

Unzweifelhaft  hat  Benkendorff  gemeint,  durch  die  Organisation 
der  hohen  Polizei  eine  Maßregel  staatsmännischer  Weisheit  zu  voll- 
ziehen. Er  war  auf  sein  Werk  stolz  und  hat  dafür  Sorge  getragen, 
daß  die  Instruktion,  die  er  dem  Chef  der  Gendarmerie  in  Moskau, 
dem  Obersten  Bibikow,  erteilte*),  bekannt  wurde.  Es  kam 
ihm  darauf  an,  die  „dritte  Abteilung"  womöglich  populär  zu  machen 
und  ihr  freiwillige  Mitarbeiter  zu  werben.  „Die  edlen  Gefühle  und 
Prinzipien,  die  Ihnen  eigen  sind"  —  so  heißt  es  in  dieser  Instruk- 
tion —  „müssen  Ihnen  ohne  allen  Zweifel  die  Achtung  aller  Stände 
erwerben,  so  daß  dann  Ihr  Amt,  durch  das  allgemeine  Vertrauen 
gehoben,  sein    wahres  Ziel    erreichen    und    dem  Staat    wirklichen 


*)  Der  Raskol  wurde  nicht  als  Sekte  oder  besondere  Religion  anerkannt. 
Seine  Anbänger  galten  als  Abtrünnige  von  der  rechtgläubigen  Kirche  und 
unterlagen  den  Krirainalgesetzen. 

^)  Maxim  Maximowitsch. 

3)  1829  stieg  die  Zahl  auf  20,  1841  auf  28,  1842  kam  eine  fünfte  Ex- 
pedition hinzu,  beim  Tode  Nikolais  zählte  die  dritte  Abteilung  bereits  40  Be- 
amte.    Ober  die  ungeheure  Zahl  ihrer  Agenten  gibt  es  keine  Statistik. 

*)  Eine  Abschrift  dieser  handschriftlich  in  Moskau  zirkulierenden  In- 
struktion wurde  dem  Kaiser  am  6.  Dezember  aus  Moskau  zugeschickt  Er 
notierte  dazu  eigenhändig:  „Je  ne  me  souviens  pas  si  c'est  la  note  qu*il  a 
ete  permis  de  faire  circuler?** 


Kapitel  III.     Reformgedanken  und  Reformanläufe.  9<) 

Nutzen  bringen  wird.  In  Ihnen  wird  jedermann  einen  Beamten  er- 
kennen, der  durch  meine  Vermittlung  die  Stimme  der  duldenden 
Menschheit  dem  Throne  vernehmlich  macht  und  den  wehrlosen  und 
stummen  Bürger  unmittelbar  unter  den  allerhöchsten  Schutz  des 
Herrn  und  Kaisers  stellt.  ^^Wie  viele  ungesetzliche  und  endlose 
Beschwerden  können  durch  Ihr  Eingreifen  erledigt,  wieviel  böse 
Menschen  verhindert  werden,  ihre  schändlichen  Anschläge  gegen  das 
Eigentum  anderer  auszuführen,  wenn  sie  wissen,  daß  den  unschul- 
digen Opfern  ihrer  Habsucht  ein  direkter,  kürzester  Weg  offen  steht, 
um  den  Schutz  des  Kaisers  zu  ßnden.  Auf  dieser  Grundlage 
werden  Sie  in  kürzester  Zeit  zahlreiche  Mitarbeiter  und  Helfer 
finden,  denn  jeder  Staatsbürger,  der  sein  Vaterland  und  die  Ge- 
rechtigkeit liebt  und  der  wünscht,  daß  überall  Stille  und  Ruhe 
herrsche,  wird  es  sich  zur  Ehre  machen,  Sie  bei  jedem  Schritte  zu 
schützen,  Ihnen  mit  seinen  nützlichen  Ratschlägen  beizustehen  und 
so  zum  Mitarbeiter  bei  Ausführung  der  edlen  Ansichten  seines 
Kaisers  werden.  Sie  werden  ohne  Zweifel,  schon  aus  dem 
eigenen  Antrieb  Ihres  Herzens,  sich  bemühen,  zu  erkennen,  wo  arme 
oder  schutzlose  Beamte  sind,  die  in  Uneigennützigkeit  schlicht  und 
recht  dienen  und  doch  von  ihrem  Gehalt  allein  nicht  leben 
können;  von  solchen  vornehmlich  sollen  Sie  mir  ausführlich  be- 
richten, damit  ihnen  geholfen  und  so  der  heilige  Wille  Sr.  Maje- 
stät erfüllt  werden  kann,  der  die  treuuntertänigen,  bescheidenen 
Diener  aufsuchen  und  auszeichnen  will.^ 

Natürlich  machte  das  pathetisch  Gekünstelte  dieses  Aufrufes 
überall  den  schlechtesten  Eindruck.  Jedermann  wußte,  daß  die  un- 
eigennützigen Helfer,  auf  die  Benkendorff  hoffte,  nicht  zu  finden 
waren.  Was  man  erkannte  und  täglich  spürte,  war  eine  lästige  Be- 
aufsichtigung, und  da  die  Vorteile,  welche  die  neue  Karriere  bot, 
gerade  zweideutige  Elemente  lockten,  die  in  der  Zugehörigkeit  zu  der 
patriotischen  Gemeinschaft  der  Gendarmerie  und  in  ihren  Beziehungen 
zu  der  bald  fast  allmächtigen  dritten  Abteilung  einen  starken  Schutz 
und  ein  offizielles  Ansehen  fanden,  wurde  schließlich  das  Gegenteil 
von  dem  erreicht,  was  die  Benkendorffsche  Instruktion  bezweckte. 
Die  dritte  Abteilung  wurde  weder  geliebt  noch  geachtet,  wohl  aber 
fürchtete  man  sie,  und  so  hat  sie  mehr  als  alles  übrige  dazu  bei- 
getragen, der  Regierung  des  Kaisers  Nikolaus  den  Charakter  des 
harten  Despotismus  zu  geben,  der  sie  kennzeichnet.  Sie  wurde 
SU  einer  politischen  Inquisitionsbehörde,  die  sich  über  alle  Formen 


100  Kapitel  III.    Refonngedanken  und  Reformanläufe. 

des  geltendeu  Rechts  hinwegsetzte,  willkürlich  und  gewalttätig  ein- 
griff und,  je  länger  je  mehr,  sich  zum  schrecklichsten  Werkzeug 
einer  mit  Edelmut  drapierten  Tyrannei  umbildete,  die  von  der 
Nation  getragen  ward  wie  ein  Fatum,  das  man  hinnimmt,  weil  es 
keine  Möglichkeit  gibt,  ihm  zu  entrinnen. 

Es  gehört  zu  den  merkwürdigen  Widersprüchen  im  russischen 
Staatsleben  jener  Tage,  daß,  während  die  Organisation  der  neuen 
Geheimpolizei  mit  Ostentation  der  Öffentlichkeit  preisgegeben  wurde, 
gleichzeitig  im  tiefsten  Geheimnis  eine  Kommission  tagte^der  der 
Kaiser  die  Aufgabe  gestellt  hatte,  alle  Keformprojekte  früherer  Zeit 
durchzusehen.  Die  Entstehung  der  berühmten  Kommission  vom 
6.  Dezember  1826  ist  darauf  zurückzuführen,  daß  im  Kabinett 
Alexanders  I.  eine  lange  Reihe  von  Entwürfen  gefunden  wurde,  die 
wohl  als  die  Summe  seiner  gescheiterten  Lebenspläne,  soweit  die 
Umbilduüg  der  Verfassung  und  Verwaltung  Rußlands  zu  ihnen  ge- 
hörte, betrachtet  werden  muß.  Es  ist  eine  der  ersten  Beschäfti- 
gungen des  Kaisers  Nikolaus  gewesen,  an  die  Durchsicht  dieser  Papiere 
zu  gehen,  und  man  darf  wohl  mit  Bestimmtheit  annehmen,  daß 
er  einen  Teil  sekretierte.  Von  den  historischen  Aufzeichnungen, 
wie  den  Memoiren  Poniatowskis  und  der  Kaiserin  Katharina^ 
sowie  von  den  Tagebüchern  Kaiser  Alexanders,  die  in  einer  Reihe 
von  Bänden  vorlagen,  wissen  wir  es,  da  er  sie  dem  Zesarewitsch 
Konstantin  Pawlowitsch  auf  dessen  Bitte  zur  Durchsicht  schickte. 
Ebenso  bestimmt  wissen  wir  aber,  daß  der  bedeutsamste  der  Re- 
formpläne Alexanders,  die  sogenannte  Nowossilzewsche  Verfassung, 
der  Kommission  nicht  vorgelegt  worden  ist,  obgleich  der  Kaiser^ 
wie  nicht  zweifelhaft  sein  kann,  auch  über  diese  Pläne  des  Bruders 
aus  den  Papieren  des  Kabinetts  unterrichtet  war.  Nur  war  unter 
den  gegenwärtigen  Verhältnissen,  da  jeder  Gedanke  an  eine  Ver- 
fassung als  Hochverrat  verfolgt  wurde,  nicht  daran  zu  denken,  sie 
zur  Diskussion  zu  stellen.  Aber  indirekt  hat  die  Kommission, 
wahrscheinlich  ohne  es  zu  ahnen,  auch  darüber  ihr  Gutachten  ab- 
gegeben. Was  ihre  Aufgabe  sein  sollte,  darüber  hatte  der  Kaiser 
Nikolaus  eine  eigenhändige  Aufzeichnung  gemacht,  auf  welche  hin 
Graf  Kotschubej,  der  Präsident  des  Komitees,  ihm  am  30.  No- 
vember 1826  eine  Denkschrift  einreichte,  die  den  Geschäftsgang  der 
Kommission  genauer  zu  formulieren  bestimmt  war.  Die  Auf- 
zeichnung des  Kaisers  verlangte:  Durchsicht  und  Prüfung  der  im 
Kabinett  Alexanders  gefundenen  Papiere,  Prüfung  der  bestehenden 


Kapitel  III.     Reformgedanken  und  Reformanlaufe.  101 

Reichs  Verfassung,  Gutachten  über  das,  was  an  Reformen  „beabsichtigt 
wurde,  über  das,  was  ist,  und  was  zu  vollenden  wäre".  Es  soll,  wieder- 
holt er  etwavS  ausfuhrlicher, \dargelegt  werden,  was  heute  gut  ist,  was 
nicht  fortbestehen  darf  und  wodurch  es  ersetzt  werden  soll.  Außer 
den  im  Kabinett  vorgefundenen  Papieren  sollte  dazu  als  Material 
dienen,  „was  Herrn  Balaschow  aufgetragen  ist",  und  Vorschläge,  die 
aus  dem  Schoß  der  Kommission  selbst  hervorgingen.  J  Anträge  auf 
Veränderung  des  Bestehenden  waren  jedoch  nur  nach  voraiTsgegangener 
Befragung  der  Fachminister  gestattet,  namentlich  wo  es  sich  um 
Finanzfragen  handelte.  Endlich  will  der  Kaiser  wöchentlich  „bei 
unseren  Zusammenkünften"  von  dem  Gang  der  Arbeiten  unterrichtet 
werden.  „Ich  werde  das"  —  schließt  er  —  „für  eine  meiner  wichtigsten 
Pflichten  und  Beschäftigungen  halten.  Der  Erfolg  wird  der  beste  Lohn 
für  die  Arbeitenden  und  mir  eine  Beruhigung  meiner  Seele  sein." 
Es  folgt  wohl  daraus,  daß  es  dem  Kaiser  mit  dieser  Arbeit  voller 
Ernst  war,  und  daß  er  nicht  geringe  Hoffnungen  auf  sie  setzte.  Sie 
ist  trotzdem  fast  ganz  unfruchtbar  gewesen,  obgleich  die  Kommission 
fleißig  und  einsichtig  und,  wie  sich  nicht  verkennen  läßt,  soweit 
möglich,  auch  in  liberalem  Geist  gearbeitet  hat.  Sie  bestand  außer 
dem  Vorsitzenden  Grafen  Viktor  Pawlowitsch  Kotschubej,  aus  dem 
General  der  Infanterie  P.  A  Tolstoi,  dem  Generaladjutanten  I.  \V. 
Wassiltschikow,  dem  Fürsten  G.  A.  Golitzyn,  dem  Chef  des  General- 
stabes Baron  Diebitsch  und  Speranski;  Geschäftsführer  wurden 
nacheinander  die  Staatssekretäre  A.  Bludow  und  D.  W.  Daschkow, 
seit  1831  der  Baron  Modeste  Korif. 

Die  Arbeit  begann,  wie  der  Graf  Kotschubej  vorgeschlagen 
hatte,  mit  einer  Durchsicht  und  Prüfung  der  sich  auf  Reform  der 
drei  Zentralbehörden,  Ministerkomitee,  Reichsrat  und  Senat,  be- 
ziehenden Projekte,  und  ging  dann  auf  die  Organisation  der  Gou- 
vemementsverwaltungen  über.  Das  alles  wurde  sehr  gründlich 
bearbeitet,  so  daß  zunächst  von  der  Geschichte  dieser  Reichsinsti- 
tutionen ausgegangen  und  dann  in  eingehenden  Memoires  die  vor-» 
zunehmenden  Änderungen  dargelegt  wurden.  Das  Komitee  konsta- 
tierte vor  allem,  daß  Verwaltung  und  Justiz  nicht  scharf  genug 
geschieden  seien,  Justizsachen  kämen  an  Ministerkomitee  und 
Reichsrat,  Verwaltungsangelegenheiten  an  den  Senat.  Namentlich 
werde  die  Tätigkeit  des  Senats  durch  das  Ministerkomitee  beein- 
trächtigt, das  doch  ursprünglich  nur  eine  Beratung  der  Minister 
über   gemeinsame  Angelegenheiten   darstellen   sollte.     Man  müsse, 


102  Kapitel  III.    Reformgedanken  und  Reformanläufe. 

um  Klarheit  uod  Ordnang  zu  schaffen,  den  Senat  zur  obersten 
Justizinstanz  machen,  die  in  das  erste  Departement  des  Senats 
fallenden  Verwaltungsangelegenheiten  abtrennen  und  sie  einem 
besonderen  „dirigierenden  Senat**  übertragen,  der  aus  den  Direk- 
toren der  verschiedenen  Verwaltungszweige  und  aus  Personen  be- 
stehen solle,  die  der  Kaiser  dazu  ernenne.  Über  alle  diese  vor- 
läufigen Beschlüsse  der  Kommission  wurden  dem  Kaiser  Protokolle 
vorgelegt,  die  er  bestätigte.  Sie  sind  aber  nie  dem  Reichsrat  vor- 
gelegt worden,  dem  der  Kaiser  die  Durchsicht  zur  endgültigen  For- 
mulierung zuweisen  wollte.  Sie  blieben  daher  „schätzbares  Material", 
das  nur  die  eine,  freilich  sehr  wesentliche,  Bedeutung  hatte,  den 
Kaiser  mit  der  Verfassung  seines  Reiches  gründlich  bekannt  zu 
machen.  Eine  Lücke  seiner  Erziehung  ist  so  ausgefüllt  worden, 
und  es  muß  ausdrücklich  anerkannt  werden,  daß  er  es  seinerseits 
an  Fleiß  nicht  fehlen  ließ. 

^^_  Danach  schritt  das  Komitee  an  die  Prüfung  der  Gouvernements- 
verwaltung, wobei  die  vom  Kaiser  erwähnten  Balaschowschen  Pa- 
piere durchgesehen  und  von  Balaschow  selbst  erläutert  wurden. 
^Lßalaschow  ist  der  frühere  Polizeirainister  Alexanders  I.,  der  an  dem 
\  Sturz  Speranskis  so  regen  Anteil  genommen  hatte;  seit  dem  4.  No- 
vember 1819  bekleidete  er  den  Posten  eines  Generalgouverneurs 
in  den  fünf  Gouvernements  Rjäsan,  Tula,  Orol,  Tambow  und  Woro- 
nesch.  Der  Kaiser  hatte  ihm  diese  Gouvernements  übertragen,  um 
an  ihnen  zu  prüfen,  wie  die  in  der  Nowossilzewschen  Verfassung 
geplanten  Statthalterschaften  (Lieutenances)  in  der  praktischen  An- 
wendung funktionierten.  Aber  offenbar  war  Balaschow  in  die  weiteren 
Pläne  des  Kaisers  nicht  eingeweiht.  VEr  konnte  niemals  eine  schrift- 
liche Instruktion  erhalten,  sondern  nur  gelegentliche  Befehle,  die 
zudem  meist  mündlich  erteilt  wurden.  Dennoch  läßt  sich  erkennen^ 
daß  es  sich  in  der  Tat  um  die  Nowossilzewsche  Verfassung  in  ihren 
vorbereitenden  Stadien  handelte. iJJalaschow  mußte  die  dort  vor- 
gesehenen conseils  d'administration  für  die  Gouvernements  und 
Kreise  einführen,  dazu  Vorsitzende  der  Gouvernementsverwaltungen 
und  Gouvernementspolizeimeister.  Die  Vereinigung  der  fünf  Gou- 
vernements zu  einer  Verwaltungseinheit  war  von  Alexander  ursprüng- 
lich nur  auf  drei  Monate  als  Versuch  angeordnet  worden;  er  ließ 
aber  diesen  Versuch  volle  fünf  Jahre  fortdauern,  ohne  je  das  ent- 
scheidende Wort  zu  sprechen  und  die  gleichfalls  geplanten  Kreis-, 
Gouvernements-  und  Statthalterschaftsversammlungen  ins  Leben  zu 


Kapitel  III.    Reformgedanken  und  Reformanläufe.  103 

rufen.  Vor  dem  Komitee  fand  der  Gedanke,  das  System  der  Statt- 
hai tei^schaften  auf  ganz  Rußland  auszudehnen,^wenig  Gnade  und 
keinen  einzigen  Vertreter.  Balaschow  selbst  verleugnete  seine 
Schöpfung. 

Er  habe  die  von  Alexander  verlangten  Änderungen,  erklärte 
er,  nur  ganz  äußerlich  eingeführt,  sie  ließen  sich  mit  einem  Feder- 
strich beseitigen j^Es  genüge,  die  conseils  aufzuheben  und  den  Prä- 
sidenten der  Gouvernementsverwaltung,  sowie  die  Gouvernements- 
polizeimeister zu  versetzen,  so  sei  alles  wieder  beim  alten.  Das 
aber  wünschte  sowohl  das  Komitee  wie  der  Kaiser.  Nur  für  Sibirien, 
Orenburg,  den  Kaukasus,  Neurußland  und  die  Ostseeprovinzen 
sollten  Generalgouvernements'^eibehalten,  die  fünf  Balaschowschen 
Gouvernements  aber  nach  den  Verwaltungsprinzipien,  die  vor  1819 
bestanden,  verwaltet  werden^  Dabei  ist  es  denn  auch  geblieben, 
da  der  Kaiser  zustimmte,  so  daß  von  den  weitangelegten  Plänen 
Alexanders  bis  auf  weiteres  nur  das  Institut  der  Militärkolonien 
übrig  blieb. 

Die  Aufgabe  jedoch,  auf  welche  das  Komitee  das  eingehendste 
Studium  und  die  meiste  Arbeit  verwendete,  war  die  Ausarbeitung 
eines  neuen  Ständerechts.  Das  Ziel  ging  dahin,  vor  allem  dem 
Adel,  als  erblichem>lStand,  seine  besondere  Stellung  im  Reiche  zu 
sichern  und  das  Eindringen  heterogener  Elemente  in  den  Kreis  der 
Adelsgeschlechter  nach  Möglichkeit  zu  verhindern.VDie  mechanische 
Wirkung  der  Rangordnung  Peters  des  Großen  sollte  durchbrochen 
und  in  Zukunft  ein  Dienstrang  (Tschin)  stets  nur  mit  der  faktischen 
Ausübung  einer  bestimmten  Amtstätigkeit  verbunden  sein,  der 
Adel,  der  persönliche  wie  der  erbliche,  nicht  wie  bisher  durch 
lange  Dienstzeit  ersessen,  sondern,  wo  er  nicht  bereits  als  Erb- 
adel bestand,  nur  durch  ausdrückliche\^erleihung  im  Zivil-  wie 
im  Militärdienst  auf  Grund  besonderer  Verdienste  erworben  werden. 
Auf  diesem  Wege  hoffte  man,  daß  der  russische  Adel  wieder  den 
tatsächlich  edelsten,  ehrenhaftesten  und  auserwählten  Teil  der 
Nation  darstellen  und  seine  frühere  „Reinheit"  wiedergewinnen 
werde. 

Die  Geistlichkeit,  die  an  dem  Emporsteigen  der  übrigen  Stände 
nicht  gleichen  Anteil  genommen  habe,  sollte  materiell  und  geistig 
gehoben  werden,  der  Bürgerstand  nach  oben  wie  nach  unten  fester 
abgegrenzt,  der  Bauernstand  durch  bessere  Verwaltung  auf  den 
Kronsgütern    und    schärfere    Kontrolle     der    Gutsherrn     geschützt 


104  Kapitel  III.     Reformgedanken  und  Reform  anlaufe. 

werden.  Man  dachte  an  Regelang\(der  Frone,  genaue  Bestimmung 
der  Pflichten  und  Rechte  der  Hofbauern,  Verbot  des  Verkaufs 
einzelner  Bauern  und  überhaupt  von  Bauern  ohne  Land. 

Das  waren  die  hier  nur  in  den  allerwesentlichsten  Zügen 
skizzierten  Hauptgesichtspunkte,  deren  zum  Teil  retrograde  Ten- 
denz nicht  zu  verkennen  ist,  und  in  den  Einzelbestimmungen  der 
verschiedenen  Entwürfe  noch  deutlicher  zum  Ausdruck  kommt, 
wenn  auch  nicht  zweifelhaft  sein  kann,  daU  die  Gesetzgeber  sich 
dabei  von  humanen  Gedanken  leiten  ließen. 

Die  Absicht  des  Kaisers,  die  Lage  der  Bauern,  speziell  der 
sogenannten  Hofbauern,  zu  erleichtern/^  hat  in  einer  eigenhändigen 
Aufzeichnung  Nikolais,  die  am  31.  August  1827  im  Journal  des 
Komitees  erwähnt  wird,  Ausdruck  gefunden.  Man  solle,  schreibt 
er,  1.  verbieten,  Güter  mit  Angabe  der  Seelenzahl  zu  ver- 
kaufen, sondern  die  Zahl  der  Deßjätinen  und  Appertinentien  an- 
geben. 2.  Die  Banken  sollen  Güter  nicht  auf  Grund  ihrer  Seelen- 
zahl in  Pfand  nehmen,  sondern  ebenfalls  nach  Maßgabe  der  Zahl 
der  Deßjätinen  und  anderen  Zugehörigkeiten,  ohne  daß  die  Seelen 
erwähnt  werden.  3.  Über  die  Hofleute  sind  besondere  Revisionslisten 
zu  führen.  4.  Nach  Aufstellung  dieser  Listen  soll  ein  Ukas  erlassen 
werden,  durch  den  verboten  wird,  Bauern  zu  Hofleuten  zu  machen. 
5.  Von  Hofleuten  ist  die  dreifache  Kopfsteuer  zu  entrichten. 

Dieser  auf  Minderung  des  Hofgesindes  berechnete  Befehl  ist 
auch  tatsächlich  ausgeführt  worden,  aber  das  ist  auch  der  einzige 
praktische  Erfolg  der  Arbeiten  der  Kommission  vom  26.  Dezember 
1826.  Als  zu  Anfang  des  Jahres  1830  die  Entwürfe  des  neuen 
Ständerechts  dem  Reichsrat  zur  Durchsicht  vorgelegt  wurden  und 
von  diesem  bis  Ende  Juni  1830  einer  gründlichen  Prüfung  unter- 
zogen worden  waren,  so  daß  nur  noch  die  Unterschrift  des  Kaisers 
fehlte,  um  den  Entwurf  zum  Gesetz  zu  machen,  hielt  der  Kaiser  es 
für  notwendig,  vor  entgültiger  Bestätigung  die  Meinung  des  Groß- 
fürsten Konstantin  Pawlowitsch  einzuholen,  und  daran  ist  schließlich 
alles  gescheitertoDer  Großfürst  erschrak  vor  allem  vor  dem  Ge- 
danken, daß  das  neue  Ständerecht  als  ein  zusammenhängendes 
Ganzes  auf  einmal  eingeführt  werden  sollte.  Zwischen  ihm  und 
dem  Grafen  Kotschubej  kam  es  darüber  zum  Austausch  zahlreicher 
Denkschriften.  Der  Graf  suchte  das  Werk  der  Kommission  zu 
verteidigen,  aber  der  Großfürst  versteifte  sich  je  länger  je  mehr 
auf  seinen  Widerspruch.     Und  nun  wurde  auch  der  Kaiser  bedenk- 


Kapitel  III.    Reformgedanken  und  Reformanläufe.  105 

lieh.  Schon  der  Ausbruch  der  Julirevolution  ließ  ihm  die  Ein- 
führung von  Neuerangen  als  unzeitgemäß  erscheinen,  die  polnische 
Revolution  aber  hat  entgültig  alle  Reformarbeit  zum  Stillstand  ge- 
bracht. Die  Kommission  vegetierte  noch  eine  Zeitlang,  dann  geriet 
sie  gleichsam  in  Vergessenheit.  Sie  ist  formell  niemals  aufgelöst 
worden.  Die  langjährigen  Arbeiten  blieben  völlig  ergebnislos,  sogar 
der  Einzelverkauf  der  Bauern  dauerte  fort^). 

^  Ähnlich  ist  es  mit  der  Wirksamkeit  anderer  Kommissionen 
gewesen,  die  der  erste  Eifer  ins  Leben  rief.  i/Von  wirklicher  Be- 
deutung wurde  nur  die  Kommission,  der  die  Aufgabe  zufiel,  die 
unter  Alexander  ganz  in  Verfall  geratene  Flotte  neuzubilden*),  und 
die  Arbeiten  der  neubegründeten  Abteilung  der  eigenen  Kanzlei 
des  Kaisers  zur  Kodifikation  der  Reichsgesetze ').\/ Da  diese  Arbeit 
dem  Geheimrat  Speranski  übertragen  wurde  und  der  Kaiser,  bei 
dem  der  Ordnungssinn  außerordentlich  lebendig  war,  sich  für  die 
möglichst  schleunig^  Beendigung  der  Kodifikation  lebhaft  inter- 
essierte, ist  hier  in  der  Tat  eine  ungeheure  Arbeit  zur  Zufrieden- 
heit aller  Teile  beendigt  worden  (1830),  wenn  auch  nicht  ohne 
Willkür  bei  der  Auswahl  verfahren  wurde.  Der  Titel  „Vollständige 
Sammlung  russischer  Gesetze"  sagt  mehr  als  der  Wirklichkeit  ent- 
spricht*). Aber  was  nicht  aufgenommen  war,  galt  als  nicht  exi- 
stierend, und  es  bedeutete  einen  ungeheueren  Fortflehritt,  daß  fortan 

0  Sbornik  Bd.  74  und  90,  wo  das  gesamte  Arbeitsmaterial  und  die  Jour- 
nale der  Kommission  mit  den  zugehörigen  Denkschriften  wiedergeben  wird. 

-)  Ukas  yom  31.  Dezember  1825,  23.  Januar  und  vom  11.  März  1826. 
Mitglieder  waren  die  Vizeadmirale  Ssenjawiu,  Pustoschkin,  Greigh,  der  Kontre- 
admiral  Roshnow  und  die  Kapitänkommandeure  Krusenstern,  Hatmanow, 
Dellingsbausen.  Ihre  Instruktion  ging  dahin,  die  Flotte  so  groß  und  so  stark 
wie  die  der  übrigen  Großmächte  zu  gestalten,  Zahl  und  Größe  der  Schiffe 
zu  bestimmen,  die  Etats  festzusetzen  und  die  Reglements  etc.  zu  entwerfen, 
wobei  die  Gesetzgebung  Peters  des  Großen  znm  Vorbild  dienen  sollte.  Auch 
die  Marine-ßildungsanstalten  waren  der  Prüfung  der  Kommission  zugewiesen. 

')  Ukas  yom  31.  Januar  1826.  Die  bisher  unter  dem  Fürsten  Lopuchin 
stehende  ,,Kommission  zur  Sammlung  der  Gesetze**  wurde  gleichzeitig  auf- 
gehoben. 

*)  Auch  die  jedem  Bande  beigegebenen  Inhaltsverzeichnisse  sind  zwar 
mit  großem  Fleiß  gearbeitet,  aber  nicht  immer  zuverlässig.  Für  die  Zeit  bis 
zum  Regierungsantritt  Nikolais  existiert  ein  zusammenfassendes  Generalregister. 
Das  nächste  umfaßt  die  Jahre  1825  bis  1879  in  vier  Bänden. 

Das  Reskript,  das  dem  Justizminister  die  Beendigung  der  Arbeit  ankün- 
digte, datiert  vom  5.  April  1830. 


106  Kapitel  III.     Reformgedanken  und  Reformanläufe. 

die  geltenden  Gesetze  für  jedermann  zugänglich  waren.  Auch  das 
war  eine  Wohltat,  daß  der  Kaiser  darauf  drang,  daß  die  vom  Senat 
ausgegangenen  Ukase  nunmehr  tatsächlich  Gehorsam  fanden.  Es  hatte 
sich  nämlich  auf  eine  Anfrage  des  Justizministers  an  den  Senat 
herausgestellt,  daß  bis  1824  inklusive  nicht  weniger  als  2749  Senats- 
akase  unausgeführt  geblieben  waren.  Gewiß  ein  Beweis  für  die 
entsetzliche  Unordnung,  die  in  den  letzten  Lebensjahren  Alexanders 
in  allen  Zweigen  der  Verwaltung  eingerissen  war.  Der  Kaiser 
stellte  zur  Ausführung  der  Ukase  einen  dreimonatigen  Termin  und 
drohte  bei  Wiederholung  ähnlicher  Unordnungen  die  Gouverneure 
unter  Gericht  zu  stellen*).  \  Ebenso  energisch  räumte  der  Kaiser 
mit  den  nichterledigten  Sacl^n  auf,  so  daß  in  dieser  Hinsicht  in 
der  Tat  eine  neue  Zeit  anzubrechen  schien.  Wenn  nur  der  Eifer 
nicht  so  bald  erkaltet  wäre  und  die  Hand  des  Kaisers  weiter  ge- 
reicht hätte!  Die  Routine  und  die  Trägheit  der  Beamten  wußten 
sich  nur  zu  bald  wieder  der  Kontrolle  zu  entziehen. 

Können  diese  Bestrebungen,  denen  noch  die  nicht  nachlassenden 
Bemühungen  des  Zaren,  den  trostlosen  Stand  der  W^ege  und  des  Post- 
wesens zu  verbessern,\ngereiht  werden  müssen,  in  Zusammenhang 
mit  den  Eindrücken  gebracht  werden,  welche  die  Aussagen  der  Deka- 
bristen über  die  Schäden  der  Regierung  Alexanders  in  ihm  hervorriefen, 
so  machten  seine  besonderen  Neigungen  und  Anlagen  sich  auf  einem 
anderen  Gebiete,  das  mit  den  Reformfragen  nichts  zu  tun  hatte, 
von  vornherein  in  charakteristischer  Weise  geltend.  Schon  wenige 
Tage  nach  seinem  Regierungantritt  begann  er  an  die  Uniformierung 
seiner  Beamten  und  an  die  Umänderung  der  Uniformen  der  Truppen 
zu  schreiten.  Welche  Folgen  damit  für  die  Schulen  und  Universi- 
täten verknüpft  waren,  haben  uns  dieSchischkowschen  Erlasse  gezeigt. 

Gleichzeitig  wurde  die  Neuuniformierung  der  Truppen  und  Be- 
hörden   fast   zum  Abschluß   geführt^).     Der  Kaiser    hat   sich    mit 

1)  Ukas  vom  31  März  1826.  Nicht  ausgeführt  waren  660  Ukase  im  Goa- 
vernement  Kursk,  239  in  Moskau,  192  in  Woronescb  usw.  In  zahlreichen  Fällen 
hatten  die  Gouverneure  überhaupt  nicht  angeben  können,  weshalb  sie  die  Be- 
fehle nicht  erfüllt  hatten.  In  der  Bittschriftenkommission  lagen  4000  uner- 
ledigte Bittschriften.  Der  Kaiser  ordnete  am  21.  Dezember  1826  an,  daB  die 
Mitglieder  der  Kommission  sich  während  der  beyorstebenden  Feiertage  täglich 
zu  versammeln  hätten,  um  diese  Restanzen  zu  erledigen,  was  nicht  wenig 
Arger  verursacht  haben  mag,  aber  zum  Ziel  fährte. 

''^)  Schon  am  30.  Dezember  1825  bestimmte  der  Kaiser,  daß  die  Generale 
der  Marinelinie  und  Marineartillerie  die  Uniform  der  Armeegenerale  anzulegen 


Kapitel  III.     Reform gedanken  und  Reformanläufe.  107 

außerordentlichem  Eifer  dieser  Aufgabe  hingegeben  und  im  wesent- 
lichen für  das  Militär  zwei  durchschlagende  Veränderungen  vorge- 
nommen: mit  Ausnahme  der  Kavallerie  erhielten  alle  Waffengattungen 
lange  Beinkleider^rdie  über  die  Stiefel  gezogen  wurden,  und  statt 
der  zwei  Reihen  von  je  sechs  Knöpfen  an  der  Uniform  wurden 
eine  Reihe  von  je  neun  Knöpfen  eingeführt.  Der  Kaiser  meinte 
dadurch  große  Ersparnisse  zu  machen,  und  verwahrte  sich  seinem 
Schwiegervater,  König  Friedrich  Wilhelm  III.,  gegenüber  ausdrück- 
lich dagegen,  durch  eine  Manie  für  Neuerungen  dazu  getrieben 
worden  zu  sein.  Einen  großen  Teil  der  von  ihm  vorgenommenen 
Veränderungen  habe   bereits  Kaiser  Alexander   einzuführen    beab- 

bätten,  und  zwar,  was  eine  der  wesentlichsten  Neuerungen  war,  mit  nur  einer 
Reihe  von  neun  Knöpfen.  Am  14.  Januar  1826  erhielten  die  Beamten  der 
eigenen  Kanzlei  des  Kaisers  Uniformen,  dunkelgrün  mit  bellblauem  Kragen 
und  Umschlägen.  Von  diesen  Uniformen  gab  es  vier  Variauten,  je  nach  dem 
Rang  des  Trägers.  Am  15.  Januar  folgten  neue  Bestimmungen  über  die  Uni- 
form der  Adjutanten  in  der  Marine,  am  27.  der  strenge  Befehl,  daB  Flotten- 
offiziere nie  in  Zivil  gehen  sollten,  am  18.  Februar  ein  Erlaß,  der  in  gleichem 
Sinne  den  verabschiedeten  Offizieren  Vorschriften  erteilt,  am  10.  Februar  er- 
hielten die  Beamten  der  Kanzlei  des  Ministerkomitees  Uniformen,  die  Stabs- 
offiziere zu  besonderen  Aufträgen  bei  den  Kommandierenden  die  Uniformen 
der  du  jour-Offiziere,  aber  ohne  Achselbänder.  Der  llaupterlaß  erschien 
am  11.  Februar.  Durch  ihn  wurde  mit  der  Uniformierung  Alexanders  I.  end- 
gültig gebrochen.  Er  beseitigte  die  kurzen  Hosen  und  Lederkragen  bei  der 
Garde,  der  Infanterie,  den  Jägern,  bei  allen  Garnisonregimentern,  der  Fuß- 
artillerie, den  Pionieren,  den  Militär  Arbeiter-Kompagnien,  den  mobilen  In- 
validenkompaguien  und  den  Etappenkommandos.  An  die  Stelle  traten  lange 
Beinkleider  von  der  Farbe  der  Uniform  mit  roter  Seitennabt  (bei  der  Marine 
weiß,  bei  den  littauischen  Regimentern  gelb,  bei  den  mobilen  invaliden  fiel  die 
Naht  weg),  die  innere  Wache,  und  was  sonst  graue  Uniform  trug,  erhielt  graue 
Hosen  mit  gelber  Naht  usw.  Der  13.  Februar  brachte  der  Gardemarine,  den 
Marinekadetten,  allen  Kadettenkorps  und  den  Flottenoffizieren  neue  Uniformen, 
der  26.  Februar  den  Generalen,  Stabs-  und  Oberoffizieren  eine  neue  Form  von 
Litzen,  dazu  den  Generalstabsoffizieren  drei  Knöpfe  mehr  als  früher. 

Am  11.  April  erließ  der  Kaiser  eine  Verordnung  über  die  Farbe  des 
Tuches  unter  den  Epauletten  der  Oberoffiziere  des  Kadettenkorps,  am  12.  wurde 
die  Uniform  der  Gendarmerie  modifiziert,  am  14.  erhielten  die  Beamten  des 
Marineministeriums  ebenfalls  lange  Beinkleider  und  eine  Reihe  von  neun 
Knöpfen,  am  15.  die  Uralische  Leib-Ssotnja  weiße  Pompons  und  weiße  Riemen, 
am  28.  wurden  die  sogenannten  Tschechly,  eine  Art  Wetterkappe,  eingeführt. 
Dann  folgte  am  17.  Mai  eine  Uniformierung  der  Zivilmitglieder  des  Reichsrats, 
am  24.  eine  neue  Vizeuniform  für  die  Beamten  des  Ministeriums  der  Volks- 
aufklärung.   Am  25.  Juni  wurden  für  die  Stabs-  und  Oberoffiziere  der  Flotten- 


108  Kapitel  III.    Reformgedanken  und  Reformanläufe. 

sichtigt*).  Das  letztere  wird  wohl  auf  eine  gelegentliche  Äußerung 
Alexanders  zurückzuführen  sein,  nicht  auf  bereits  formulierte  An- 
ordnungen, von  denen,  so  viel  sich  erkennen  läßt,  keine  Spur  er- 
halten isti  Auch  spricht  die  Erbitterung  dagegen,  mit  der  der 
Groiifttrst  Konstantin  den  Absichten  des  Bruders  entgegentrat.  In 
der  polnischen  Armee  durfte,  abgesehen  von  den  langen  Bein- 
kleidern, von  irgendwelchen  Neuerungen  keine  Rede  sein,  und  daß 
trotz  seines  Widerspruches  die  Reform  in  den  littauischen  Korps 
durchgeführt  wurde,  hat  der  Großfürst  außerordentlich  übel  ge- 
nommen'). Die  Uniformierung  aller  Zivilbeamten  der  verschiedenen 
Ressorts  aber  entsprach  dem  Ordnungssinn  des  Kaisere.  Er  wollte 
auf  den  ersten  Blick  erkennen,  wen  er  vor  sich  habe,  und  verband 
mit  der  Uniform  auch  den  Begriff  einer  militärischen  Disziplin, 
von  der  er  sich  die  heilsamsten  Folgen  versprach.  Daß  er  Zivil- 
beamte für  kleine  Vergehen  auf  die  Hauptwache  zu  schicken  pflegte 
und  sie  dort  oft  mehrere  Tage  in  Arrest  hielt,  ist  eines  der  Sym- 
ptome jenes  besonderen  „nikolaitischen"  Geistes,  der  fortan  die 
Äußerlichkeiten  des  russischen  Staatslebens  bestimmte  und  gleichsam 
durchtränkte.  Eine  Wandlung  in  der  Gesinnung  der  Beamtenschaft 
konnte  natürlich  durch  solche  Mittel  nicht  erreicht  werden.  Man 
fürchtete  den  neuen  Herrn  und  begnügte  sich  damit,  ihm  den 
Schein  von  Ordnung  und  Eifer  zu  zeigen,  den  er  verlangte.  Auch 
unter  den  neuen  Uniformen  behauptete  sich  die  hergebrachte  Rou- 


und  Marineartillerie  Kiever  eingeführt  und  die  Leibkürassiere  neu  uniformiert, 
am  1.  Juli  das  Wattieren  der  Marineuniformen  und  am  14.  das  Tragen  von 
Achselbändern  den  verabschiedeten  Offizieren  yerboten.  Ebenfalls  am  14. 
wurde  den  Beamten  der  ßittschriftenkommission  eine  Uniform  verliehen,  am 
26.  begrenzte  der  Kaiser  das  Recht,  im  Sommer  weiße  Leinwandbeinkleider 
zu  tragen,  am  30.  wurde  angeordnet,  den  Mantel  gerollt  über  dem  Ranzen  zu 
tragen,  am  10.  August  erhielten  in  der  ganzen  Armee  die  Kiever  Überzüge 
(Tschechly).  Damit  war  im  wesentlichen  erreicht,  was  der  Kaiser  bezweckte. 
Eine  neue  Periode  der  Uniform -Variierungen  begann  nach  Beendiguog  des 
polnischen  Aufstandes. 

^)  Nikolai  an  Friedrich  Wilhelm  IlL,  10.  April  1826.  Original  im  Haus- 
archiv  zu  Charlottenburg. 

^)  Brief  Konstantins  an  Nikolai  vom  15.  Februar  1826  „j'oserai  simplement 
Yous  supplier  de  nous  laisser  tels  que  nous  sommes  dans  le  corps  de 
Lithuanie*.  Dazu  die  Berichte  des  Generalkonsuls  Schmidt  ans  Warschau  im 
Berliner  Geh.  Staatsarchiv,  passim.  Nikolai  berechnete  seine  Ersparnisse  an 
der  Uniformierung  auf  640000  Rubel.  Brief  an  Konstantin  vom  10./22.  Fe- 
bruar 1826. 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  109 

tine.  Man  paßte  sich  in  erstaunlich  kurzer  Zeit  dem  System  der 
neuen  Ära  an,  befriedigte  den  Ordnungssinn  des  Zaren  durch  eine 
papierene  Geschäftigkeit  und  ging  im  übrigen  in  den  alten  Bahnen 
weiter.  Es  waren  im  Grunde  die  alten  Potemkinschen  Kulissen, 
die  wieder  hervorgeholt  und  sorgsam  so  aufgestellt  wurden,  daß 
sie  die  Wirklichkeit  mit  all  ihren  Schäden  verdeckten.  Der  Anlauf 
des  Zaren,  zu  einer  wirklichen  Reform  zu  gelangen,  konnte  schon 
nach  wenigen  Monaten  als  abgeschlagen  gelten.  Der  Kern  des 
alexandrinischen  Rußland  blieb  unverändert  der  alte. 


Wäl 

)erall  1 


Kapitel  lY.    Innere  nnd  auswärtige  Schwierigkeiten. 

Die  orientalisctie  Frage. 

ährend  im  Innern  Rußlands  die  Hand  des  neuen  Herrn  sich 
überall  fühlbar  machte,  aber  im  wesentlichen  doch  nur  äußerliche 
Modifikationen  althergebrachter  und  schwer  getragener  Verhältnisse 
herbeizuführen  vermochte,  war  die  Stellung  Rußlands  in  seinen 
Beziehungen  zu  den  Mächten  der  großen  Allianz  und  zu  den  bisher 
in  der  Schwebe  erhaltenen  Problemen  der  europäischen  Politik  seit 
dem  Tode  Alexanders  eine  durchaus  andere  geworden.  Gerade 
weil  die  Politik  des  so  unerwartet  gestorbenen  Herrschers  eine  aus- 
schließlich persönliche  war,  mußte  sein  Ausscheiden  aus  der  Reihe 
der  rivalisierenden  Mächte  von  entscheidender  Bedeutung  werden. 
Alles  kam  darauf  an,  wie  sein  Nachfolger  den  Zusammenhang  der 
russischen  und  der  europäischen  Interessen  verstand,  und  deshalb 
bedeutete  die  Zeit  des  Interregnums  eine  Periode  größter  Verlegen- 
heit für  alle  europäischen  Höfe. 

s^^^A)ie  Nachricht  vom  Tode  Alexanders  war  zunächst  in  Frank- 
furt a.  M.  bekannt  geworden.  Fünf  Kuriere  hatten  sie  Rothschild 
zugetragen  —  so  vortrefflich'^ar  für  alle  denkbaren  Eventualitäten 
der  Nachrichtendienst  der  emporstrebenden^finanziellen  Großmacht 
organisiert.  Sie  hat  sich  dann  auch  ihren  Vorsprung^iiutzbar  zu 
machen  verstanden.  Auch  in  Berlin  war  die  Finanz  der  Diplo- 
matie voraus;  der  Schwiegersohn  des  Warschauer  Bankiers  Fränkel 
erhielt  die  erste  Meldung,  obgleich  der  Generalkonsul  Schmidt 
keinen  Augenblick  versäumt  hatte,  um  König  Friedrich  Wilhelm  III. 
aus  Warschau  die  folgenschwere  Nachricht  zu  übersenden.  Aus  un- 
aufgeklärten Gründen  blieb  Schmidts  Stafette  in  Posen  liegen  und 
traf  erst  am    12.  Dezember  abends  in    Berlin    ein.      Am  13.  früh 


110  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

brachte  Bernstorflf  dem  Könige  die  Trauerbotschaft.  Der  Nachricht 
vom  Tode  Alexanders  folgte  dann  die  andere  von  der  Vereidigung 
der  Truppen  in  Petersburg  auf  den  Namen  des  Kaisers  Konstantin. 
Dann  wurde  der  sogenannte  „Großmutsstreit"  der  beiden  Brüder 
bekannt,  und  das  gab  eine  zunächst  völlig  undurchsichtige  Lage, 
die  noch  dadurch  kompliziert  wurde,  daß  der  Großfürst  Konstantin 
den  Tod  Alexanders  immer  noch  verheimlichte  und  in  seinen 
Schreiben  an  Alopäus,  den  russischen  Gesandten  in  Berlin,  die 
Fiktion  aufrecht  erhielt,  daß  die  Regierung  Alexanders  fortdauere, 
auch  seine  Briefe  nicht  schwarz,  sondern  rot  siegelte,  ^an  wußte, 
daß  er  am  29.  Dezember  einer  polnischen  Dame  befahl,  die 
Trauergewänder  abzulegen,  die  sie  angetan  hatte.  Noch  am 
1.  Januar  1826  war  man  in  Berlin  ohne  entscheidende  Nach- 
richt; es  konnte  weder  ein  Kreditiv  für  den  Gesandten  Schöler 
ausgefertigt  werden,  noch  auch,  wie  beabsichtigt  war,  Prinz 
Wilhelm  seine  Reise  zur  Begrüßung  des  neuen  Kaisers  antreten. 
\  Erst  am  2.  Januar  brachte  ein  aus  Petersburg  eintreffender  Kurier 
durch  einen  eigenhändigen  Brief  des  Kaisers  die  endgültig  ge- 
fallene Entscheidung^).  Die  Freude  war  um  so  größer,  als  der 
König,  der  schon  seit  zwei  Jahren  wußte,  daß  Konstantin  auf 
sein  Erbrecht  verzichtet  hatte,  mit  anderen  die  Befürchtung 
teilte,  daß  der  Großfürst  schließlich  sich  der  vollzogenen  Tatsache 
der  ihm  geleisteten  Huldigung  fügen  und  die  Krone  annehmen 
könnte.     Bei  seiner  entschiedenen  Abneigung  gegen  Preußen  hätte 

')  Er  datierte  Petersburg  vom  14.  Dezember  und  war  offenbar  früh 
morgens  geschrieben  und  expediert  worden.  Er  lautet:  „Sire.  La  nouvelle 
Position  ou  il  a  plu  ä  la  Provideuce  et  a  mes  freres  de  me  placer,  ne  peut 
cbanger  les  seutiments  que  vos  bontes  pour  moi  mWt  toujours  inspires  pour 
vous.  C'est  a  vos  bons  conseils,  ä  votre  tendre  amitie  que  j'ose  me  recom- 
mander,  daignez  uc  jamais  me  les  refuser  et  croire  que  je  serai  toujours  pour 
vous  le  meme  fils  tendre  et  respectueux,  que  je  me  suis  efforce  d'etre  jus- 
quMci.  C^est  avec  ce  sentiment  la  que  j^ai  Thonneur  de  me  nommer  pour  le 
reste  de  mes  jours,  Sire,  de  Votre  Majeste  le  tres  respectueux  et  tendrement 
attacbe  beau-fils  Nicolas.*  Der  Brief  trug  einen  Trauerrand.  Gedruckt  bei 
Bailleu.  Briefwechsel  Kaiser  Alexanders  p.  144  Nr.  443.  Die  Antwort 
des  Königs  (nach  eigenhändigem  Konzept)  ist  sehr  herzlich  empfunden  und  weist 
auf  das  große  Vorbild  hin,  das  Alexanders  Regierung  biete.  Es  ist  schwer  zu 
sagen,  ob  der  Konig  wirklich  geglaubt  hat,  daß  Alexanders  Regierung  ein  Segen 
fär  dasrussische  Volk  gewesen  sei.  Wahrscheinlich  dachte  er  an  die  großen 
Jahre  des  Freiheitskampfes,  und  in  jenen  Jahren  war  Alexander  allerdings  „b^ni 
par  (ses)  peuples  et  par  Thumanite  entiere". 


Kapitel  IV'.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  Hl 

das  mindestens  eine  große  Verlegenheit  bedeutet,  die  unter 
anderem  auch  eine  gesteigerte  Abhängigkeit  von  der  öster- 
reichischen Politik  zur  Folge  haben  mußte.  Das  alles  schwand 
nun,  und  der  Ton  des  ersten  Briefes  des  Zaren  ließ  das  Beste  er- 
warten. Am  3.  früh  kam  dann  die  Nachricht  von  den  blutigen 
Ereignissen  auf  dem  Seuatsplatz,  die  trotz  des  glücklichen  Aus- 
gangs erschreckten.  Es  war  doch  eine  furchtbare  Gefahr  an  geliebten 
Häuptern  vorübergezogen.  Prinz  Wilhelm  wurde  beauftragt,  die 
Glückwünsche  Preußens  dem  Kaiser  zu  überbringen.  Am  6.  Januar 
hat  er  Berlin  verlassen,  um  über  Warschau  nachPeteraburgzu  reisen. 
Sein  Adjutant  Leopold  von  Gerlach  und  General  Thile  begleiteten  ihn. 
In  Wien  waren  die  russischen  Ereignisse  weit  später 
bekannt  geworden.  Vom  Tode  Alexanders  erfuhr  Metternich 
um  Mitternacht  vom  13.  auf  den  14.  Aber  er  wollte  die  nicht 
genügend  beglaubigte  Nachricht  nicht  wahr  haben.v  l^i^st  am  18. 
schwand  ihm  jeder  Zweifel,  dann  aber  folgte  bis  zum  6.  Januar 
auch  für  ihn  eine  Zeit  peinlichster  Ungewißheit.  In  Österreich 
waren  alle  Sympathien  für  Konstantin.  Metternich  rühmte  die 
Korrektheit  der  politischen  Prinzipien  des  Großfürsten,  dessen  Ver- 
achtung der  Griechen  und  unbedingteLFriedensliebe  ihm  wohlbekannt 
war.  \Er  rechnete  außerdem  darauf,  in  ihm  einen  Bundesgenossen 
gegen  alle  die  umstürzenden  liberalen  und  revolutionären  Elemente 
zu  linden.  Von  dem  Geheimnis  seiner  Thronentsagung  war  ihm 
nichts  bekannt;  um  so  schmerzlicher  wurde  die  spätere  Wendung 
empfunden,  und  nur  die  Tatsache,  daß  der  junge  Zar  gleich  am 
ersten  Tage  seiner  Regierung  mit  der  Revolution  hatte  kämpfen 
müssen,  gab  dem  Fürsten  Metternich  neue  Hoffnung.  Er  hatte 
ursprünglich  den  Erzherzog  Ferdinand  Este,  den  Vetter  des  Kaisers, 
denselben,  der  in  den  ünglücksjahren  1805  und  1809  eine  nicht 
unrühmliche  Rolle  spielte,  bestimmt,  Österreichs  Glückwünsche 
dem  Kaiser  Konstantin  zu  überbringen.  Als  die  Haltung  Konstan- 
tins den  Ausgang  zweifelhaft  erscheinen  ließ,  wurde  die  Reise  des 
Erzherzogs  natürlich  verschoben.  Metternich  fand  Nikolais  Hal- 
tung höchst  korrekt,  so  lange  sie  auf  dem  Boden  der  Thronfolge- 
ordnung Kaiser  Pauls  blieb  ^),  später,  als  die  Entscheidung  zugunsten 
Nikolais  gefallen  war,  hatte  er  nur  Hohn  für   den  Großmutsstreit 


1)  „Weisung^    Metternichs  an  Lebzeltem  vom  2.  Januar   1826  und   die 
reservierte  Depesche  vom  10.  Januar. 


112  Kapitel  IV.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

^dieser  beiden  Brüder,  die  sich  nicht  selbst  zu  helfen  und  zu  raten 
wüßten".  Aber  er  hielt  es  doch  für  geboten,  dem  neuen  Kaiser 
das  geflissentlichste  Entgegenkommen  zu  zeigen  und  den  Erzherzog 
direkt  nach  Petersburg  reisen  zu  lassen,  a  Er  sollte  Warschau  gar 
nicht  berühren  und  dadurch  gleichsam  die"  auf  die  Wahl  Konstan- 
tins gesetzten  Hoffnungen  ofßziell  verleugnen.  ^.Das  schien  um 
so  notwendiger,  als  in  Petersburg  die  Verstimmung  über  den  durch 
seinen  Schwager,  den  Fürsten  Trubetzkoi,  auf  das  schwerste  kom- 
promittierten österreichischen  Botschafter  Grafen  Lebzeltern,  sehr 
groß  war.  Schon  am  1./13.  Januar  mußte  der  Botschafter  berichten, 
daß  der  Graf  Nesselrode  ihm  nicht  als  Staatssekretär,  sondern  als 
Freund  geraten  habe,  Petersburg  zu  verlassen;  auch  der  schwedische 
Gesandte  Graf  Blome  gab  ihm  im  Auftrage  Nikolais  denselben  Rat. 
Metternich,  der  den  Wink  nicht  übersehen  durfte,  auch  selbst  über 
,^ebzeltern  wegen  seiner  irreführenden  Relationen  ärgerlich  war, 
ließ  ihn  nur  anstandshalber  noch  einige  Monate  auf  seinem  Posten. 

Erst  am  ^-^^^  1826  hat  er  Petersburg  für  immer  verlassen. 

Der  Erzherzog  Ferdinand  wurde  am  11.  Januar  aus  Wien 
mit  einer  Instruktion  abgefertigt,  die  ihn  beauftragte,  eine  mög- 
lichst klare  Vorstellung  von  dem  Charakter  und  den  Prinzipien  des 
Zaren  zu  gewinnen;  acht  Tage  danach  wurde  eine  andere  Gesand- 
schaft nach  Warschau  geschickt.  Sie  war  dem  Grafen  Bombelles 
übertragen  worden  und  erregte  viel  böses  Blut,  weil  man  allgemein 
annahm,  daß  Bombelies  beauftragt  sei,  dem  Großfürsten  die  Unter- 
stützung Österreichs  für  den  Fall  zu  versprechen,  daß  er  sich,  trotz 
allem  geneigt  zeigen  sollte,  die  Regierung  zu  übernehmen.'4H3as 
war  natürlich  falsch,  weil  es  außerhalb  des  Bereichs  des  Möglichen 
lag.  Aber  noch  1829  wurde  es  mit  großer  Bestimmtheit  in  Peters- 
burg kolportiert*).     In  W'irklichkeit  ging  Bombellos'  Auftrag  dahin. 


>)  Relation  Schüler  vom  27./15.  Febniar  1829  durch  Baron  Vitzthum 
uberbracht:  „Und  vor  kurzem  habe  ich  in  Erfahrung  gebracht,  daß  Graf  Bom- 
belles im  Jahre  1825  bei  der  Durchreise  durch  Warschau  den  Auftrag  gehabt 
hat,  den  Cäsarewitsch  zur  Beibehaltung  des  Thrones  dringend  aufzufordern 
und  sogar  Österreichs  Unterstützung  erforderlichenfalls  ihm  hierzu  anzubieten. 
Graf  Bombelles  hat  sich  dahin  bringen  lassen,  am  Endo  diesen  Antrag  schrift- 
lich zu  machen,  und  der  Großfürst  hat  nicht  verfehlt,  dies  Dokument  seinem 
Bruder  mitzuteilen,  der  hochherzig  genug  gewesen  ist,  sich  damit  zu  begnügen, 
den  Erzherzog  Ferdinand,  bei  dessen  Hiersein,  von  dem  ganzen  Hergang  in 
Kenntnis    zu   setzen.''      Die  Quelle   Schülers   ist    wahrscheinlich   Diwow,    der 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  113 

dem  Großfürsten  die  österreichische  Auffassung  der  orientalischen 
Frage  darzulegen  und  ihn  zu  ersuchen,  im  Sinne  der  Prinzipien, 
die  Österreich  mit  dem  Kaiser  Alexander  gemein  gehabt  habe, 
auf  den  jungen  Kaiser,  seinen  Bruder,  einzuwirken.  Zugleich  wurde 
ihm  ein  neuer  Vertreter  des  Generalkonsulats  in  Aussicht  gestellt, 
der  dem  diplomatischen  Dienst  angehören  sollte  und  daher  besser  in 
der  Lage  sein  werde,  den  Großfürsten  auf  dem  Laufenden  der 
wichtigen  politischen  Fragen  zu  erhalten.  Konstantin,  der  dieses 
Vertrauen  der  österreichischen  Regierung  sehr  gut  aufzunehmen 
schien  und  sich  Bombelies  gegenüber  äußerst  gnädig  zeigte,  schickte 
jedoch  einen  ausführlichenVneun  Seiten  langen  Bericht  über  seine 
Unterredungen  mit  dem  Grafen  nach  Petersburg,  und  die  Wirkung 
führte  germu  zu  dem  den  Wünschen  Metternichs  entgegengesetzten 
Resultat,  was  Mißtrauen  gegen  die  Haltung  Österreichs,  das  schon 
bei  Lebzeiten  Alexanders  durch  eine  aufgefangene  Depesche  des 
Internuntius  Guilleminot  lebhaft  erregt  war  *),  setzte  sich  noch  tiefer 
fest.  Als  nun  der  Bericht  Konstantins  einlief,  gab  ihn  der  Kaiser 
dem  Erzherzog  Ferdinand,  den  er  vorher  und  auch  danach  mit  größter 
Auszeichnung  behandelte,  zu  lesen,  und  ließ  dabei  deutlich  merken, 
daß  er  sich  durch  das  Mißtrauen  verletzt  fühle,  das  in  der  Sendung 
Bombelles'  seinen  Ausdruck  gefunden  habe.  Noch  weit  schärfer 
aber  sprach,  offenbar  im  Auftrage  des  Kaisers,  sich  Nesselrode  dem 
Grafen  Lebzeltern  gegenüber  aus*). 

^Als  die  Gäste  des  Kaisers,  seine  beiden  Schwäger,  Prinz  Wilhelm 
von  Preußen,  Prinz  Wilhelm  von  Oranien,  sein  Neffe  Paul  Friedrich 
von  Mecklenburg-Schwerin,  sein  Oheim  Markgraf  Leopold  von  Baden 
und  als  einziger  Nichtverwandter  Erzherzog  Ferdinand  von  Modena- 
Este  in  Petersburg  eintrafen,  fanden  sie  eine  Lage  vor,  die  bereits 
erkennen  ließ,  daß  der  neue  Herrscher  selbst  zu  regieren  ent- 
schlossen war.  Nahm  die  Untersuchung  der  Militärverschwörung 
auch  die  Zeit  des  Kaisers  noch  immer  sehr  stark  in  Anspruch,  so 


Stelhertreter  Nesselrodes.     Wir  geben   den  wahren  Sachverhalt  an  der  Hand 
der  Instruktion  und  der  Berichte  Bombelles',   sowie    der  Korrespondenz  Kon- 
stantins mit  dem  Zaren.     Bombelles  blieb  vom  23.  bis  27.  Januar  in  Warschau. 
*)  Depesche  Lebzelterns    vom  19.  Oktober  1825.     Guilleminot  habe  ge- 
schrieben „pourvu  que  Ton  enchainät  TOurs  du  Nord,  il  r^pondait  du  reste''. 
Man  hatte  keinen  Anstand  genommen,  dem  österreichischen  Botschafter  davon 
Hitteilung  zu  machen,  und  Nesselrode  hatte  lebhafte  Vorwurfe  daran  geknüpft 
')  Bericht  des  Erzherzogs  vom  5.  Februar  1826  in  der  Anlage. 
Schiemann,  Geschichte  Rußlands  U.  8 


114  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

hatte  er  doch  auch  begonnen,  sich  mit  großem  Fleiß  in  die  Zu- 
sammenhänge der  äußeren  und  inneren  Politik  einzuarbeiten.  Er 
hatte  ein  sehr  lebhaftes  Gefühl  für  die  Lücken  seiner  Bildung, 
aber  zugleich  ein  hohes  Selbstgefühl,  das  ihn  keinen  Augenblick  an 
den  eigenoA^ähigkeiten  zweifeln  ließ.  Dazu  .kam  die  Freude  an 
seiner  oratorischen  und  dialektischen  Begabung  und  sein  fester 
Glaube  an  die  Lauterkeit  und  Unanfechtbarkeit  der  von  ihm  ver- 
tretenen Prinzipien.  In  religiöser  Beziehung  lagen  ihm  zwar,  wie 
wir  wissen,  alle  pietistischen  Regungen  fern,  aber  er  fühlte  sich  in 
seinem  Glauben  sicher  und  wurde  nicht  durch  Zweifel  beunruhigt. 
Gerlach  berichtet,  daß  der  Zar  sowohl  wie  der  Großfürst  Michael 
abends  regelmäßig  in  der  Bibel  zu  lesen  pflegten,  wasf^beiläufig 
bemerkt,  an  die  Vorliebe  Nikolais  für  protestantische  Auffassungen 
erinnert.  Die  Erfüllung  aller  rituellen  Bräuche  der  griechischen 
Kirche  fiel  für  ihn  in  den  Kreis  der  Pflichten,  denen  er  gerecht 
wurde,  und  seine -.äußere  Stellung  vertrat  er  mit  Würde  und 
Liebenswürdigkeit.  ^^  war,  wie  Alexander,  ein  „Charmeur",  be- 
müht, durch  den  persönlichen  Eindruck,  den  er  machte,  zu 
gewinnen,  oder  wo  er  es  für  nützlich  hielt,  zii\imponieren  und  zu 
schrecken.  Aber  unter  vier  Augen  liebte  er  sich  gehen  zu  lassen, 
ohne  jedoch  das  Ziel,  das  er  verfolgte,  darüber  aus  den  Augen  zu 
verlieren.  ^^Er  weinte  leicht  und  pflegte,  wenn  er  etwas  nachdrück- 
lich-betonen  und  jeden  Widerspruch  zum  Schweigen  bringen  wollte, 
sein  Ehrenwort  zu  geben,  womit  dann  jede  fernere  Diskussion  zur 
oft  nicht  geringen  Verlegenheit  der  mit  ihm  verhandelnden  Diplomaten 
abgeschnitten  wurde. 

Gleich  die  erste  Ansprache,  die  er  dem  versammelten  diplo- 
matischen Corps  am  Neujahrstage  neuen  Stils  hielt,  imponierte  durch 
die  Geläufigkeit  und  Sicherheit,  mit  der  er  den  ganzen  Verlauf  und 
die  bisher  bekannt  gewordenen  Ziele  der  großen  Verschwörung  dar- 
legte'). Der  Kaiser  Alexander,  so  sagte  er,  habe  mit  ihm  oft  von  den 
drohenden  Gefahren  gesprochen,  aber  er  gestehe,  nicht  recht  daran 
geglaubt  zu  haben.     Hieran   knüpfte  er  die  Darlegung  der  Ereig- 

0  Relatiou    Lebzeltern     vom     ;,t-t.  — ^^ — *-^..i  überbracht  durch  Ribeau- 

22.   Dezember  1825^ 

pierre.  „11  nous  tint  uu  discours,  dont  j'espere  que  ma  memoire  me  retracera 
fidelement  les  paroles,  mais  auquel  il  m'est  impossible  d'imprimer  la  noblesse, 
la  candeur,  et  le  ton  touchant,  qu^y  a  mis  TEmpereur.  Ses  expressions  et  Tordre 
meme  dans  lequel  il  les  a  dolivrees  nous  prouverent  bien  que  c'etait  8on  coeur 
qui  les  dictait  avec  abandon.^ 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  115 

nisse,  deren  Zeugen  die  Herrn  Gesandten  gewesen  seien,  und  die 
Erklärung,  daß  er  milde  gegen  die  Verirrten,  aber  streng  gegen 
die  Urheber  des  Aufstandes  —  er  nannte  Trubetzkoi  und  Obolenski 
—  sein  werde.  VJIan  habe  in  Petersburg  die  Ereignisse  von  Turin 
und  Spanien  wieolerholen  wollen,  aber  er  habe  an  sich  die  große 
Wahrheit  erfahren,  daß  man  bei  entschlossener  Erfüllung  der  von 
Gott  gesetzten  Pflichten  der  Bösewichter  Herr  werden  könne. j^j)ie 
Richtschnur  seiner  Regierung  werde  das  Vorbild  sein,  das  Alexander 
ihm  hinterlassen  habe,  und  er  bitte  sie,  das  ihren  Regierungen  mit- 
zuteilen, ^ann  nahm  er  den  französischen  Botschafer  Grafen  La 
Ferronnays  unter  den  Arm  und  führte  ihn  in  sein  Kabinett,  wo  er 
eine  Stunde  lang  sich  mit  ihm  in  einem  intimen  Gespräch  erging, 
das  dem  Grafen  wichtig  genug  schien,  um  es  durch  einen  Kurier 
nach  Paris  mitzuteilen  ^).  Und  in  der  Tat,  es  ist  von  außerordent- 
licher Wichtigkeit  und  gibt  besser  als  was  wir  sonst  von  diesen  Tagen 
wissen,  ein  treues  Bild  vom  Wesen  des  Kaisers.  C/Ich  hatte,  erzählt 
La  Ferronnays,  kaum  die  Tür  des  Kabinetts  geschlossen,  als  seine 
Majestät  mich  kräftigl^  umarmte  und  unter  Tränen  sagte:  „Wie 
glücklich  bin  ich,  mit  Ihnen  allein  zu  sein  und  einem  Freunde,  der 
mich  versteht,  mein  Herz  auszuschütten,  i^  Haben  Sie  eine  Vorstellung 
von  den  Aufregungen  und  Empfindungen,  die  mich  seit  einem 
Monat  drücken:  jung  und  ohne  Erfahrung,  ohne  je  die  höchste  Stellung 
gewünscht  oder  nur  von  ihr  geträumt  zu  haben'),  mußte  ich  unter 
solchenXyorzeichen  den  Thron  besteigen  — ,  urteilen  Sie  über  den 
Zustand  meiner  Seele!  Ich  spreche  in  voller  Aufrichtigkeit  und 
Offenheit.  Unsere  Stellung  zueinander  hat  sich  verändert,  aber  meine 
Achtung  und  meine  Freundschaft  für  Sie  werden  sich  immer  gleich- 
bleiben. Ich  weiß  ja  nicht  und  kann  auch  nicht  vorhersehen, 
welche  Beziehungen  die  Politik  zwischen  dem  Kaiser  von  Rußland 
und  dem  Botschafter  des  Königs  von  Frankreich  schaffen  wird, 
aber  ich  kann  Ihnen  mein  Ehrenwort  geben,  daß  Nikolai  für  den 
Grafen  La  Ferronnays  immer  derselbe  bleiben  wird.  Sie  haben  ja 
gesehen,  was  eben  geschehen  ist,  und  nun  stellen  Sie  sich  vor,  was 
ich  empfand,  als  ich  verurteilt Vwar,  bevor  der  erste  Tag  meiner 
Regierung  zu  Ende  ging,  das  Blut  meiner  Untertanen  zu  vergießen. 
Niemand,  außer  vielleicht  meine  Frau,  kann  das  verstehen.     Vor- 

*)  Relation  La  Ferronnays.    Petersburg,   5.  Januar   1826  No.  14.    Paris 
Depot  des  affaires  etrangeres  Russie  1826. 

^  Wohl  eine  Gefühlstäuschung  Nikolais! 

8* 


116  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

über  sind  meine  glücklichsten  Tage,  lieber  La  Ferronuays.  Ich 
wußte  vorher,  wie  drückend  die  Last  einer  Krone  sein  kann,  und 
Gott  ist  mein  Zeuge,  daß  alle  meine  Wünsche  dahin  gingen,  die 
Krone  abzulehnen,  die  mir  durch  unerhörte  LTmstände  aufgezwungen 
worden  ist.  ^Aber  die  Elenden,  die  dies  abscheuliche  Komplott 
geschmiedet  haben,  nötigen  mich,  so  zu  handeln,  als  hätte  ich  sie 
dem  entreißen  wollen,  dem  sie  gehörte,  ^ch  weiß,  daß  viele  die 
Überstürzung  tadeln  werden,  die  ich  in  dem  Augenblick  zeigte, 
da  ich  die  Nachricht  vom  Tode  des  Kaisers  erhielt.  Und  in  der 
Tat  schienen  die  Ereignisse  die  Eile  zu  verdammen,  mit  der  ich 
meinen  Bruder  Konstantin  anerkannte  und  ihm  huldigte,  d^ünd 
doch  würde  ich  in  gleicher  Lage  auch  jetzt  nicht  anders  handeln, 
und  ich  mache  Sie  zum  Richter  meiner  Lage.  Ich  war  allein  in 
Petersburg,  als  der  Kaiser  starb;  konnte  und  durfte  ich  die  Rechte 
geltend  machen,  die  mir  ein  Schreiben  verlieEh^  das,  abgesehen  von 
wenigen  Personen,  Isiemand  im  Reich  kannte?  Nein,  ich  durfte  es 
nicht,  namentlich  nicht  in  Abwesenheit  meines  Bruders  ....  Ich 
rufe  den  Himmel  zum  Zeugen  und  schwöre  es  Ihnen  bei  meiner 
Ehre,  daß  ich  nur  die  Stimme  meines  Gewissens  gehört  und  nur 
die  Empfindungen  zu  Rat  gezogen  habe,  die  stets  in  meiner  Seele 
leben  werden  *).  4lch  glaubte  und  glaube  noch  jetzt,  daß,  wenn 
mein  Bruder  Konstantin  meinen  dringenden  Bitten  Gehör  geschenkt 
hätte  und  nach  Petersburg  gekommen  wäre,  wir  die  furchtbaren 
Szenen  vermieden  hätten,  deren  Zeuge  Sie  gewesen  sind.VEr  hat 
nicht  geglaubt,  meinen  Bitten  nachgeben  zu  können.  Die  Unmög- 
lichkeit, sofort  bekannt  zu  machen,  was  sich  zwischen  uns  beiden 
abspielte,  die  Notwendigkeit,  die  lange  und  gefährliche  Ungewißheit 
des  Publikums  zu  beseitigen,  haben  mich  gezwuugeiv^den  Thron 
anzunehmen.  Aber  die  Verschwörer  glaubten,  daß  sie  die.  Gelegen- 
heit und  die  Mittel  zum  Handeln  gefunden  hätten.  Sie 'sprengten 
geschickt  aus,  daß  zwischen  mir  und  meinem  Bruder  Feindschaft 
herrsche,  sie  haben  meine  Handlungsweise  mit  den  abscheulichsten 
Farben  gezeichnet.  Nur  durch  Verleumdungen,  und  indem  sie  den 
Soldaten  einredeten,  daß  der  Herrscher,  an  den  ihr  erster  Eid  sie 
band,  gefangen  sei  und  von  ihnen  gerächt  sein  wolle,  vermochte 
man  es,  einige  von  ihnen  zu  verführen.     Und  das  war  es,  was  am 


0  Auch  hier  liegt  eine  Geföhlstäuschung  vor,  zugleich  aber  das  Bekennt- 
nis  Nikolais,  daß  er  das  Testament  des  Bruders  kannte. 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  117 

vorigen  Montag  meine  Lage  tausendmal  schwerer  machte,  als  ich 
sagen  kann.  Die  Notwendigkeit  trieb  mich,  und  um  die  Haupt- 
stadt, vielleicht  das  Reich,  vor  einer  schweren  Katastrophe  zu  retten, 
mußte  das  Blut  von  Unglücklichen  fließen,  die  meist  gerade  durch 
ihre  Rebellion  bewiesen,  daß  sie  ihrem  Eide  und  ihrem  Herrn  treu 
waren." 

Als  der  Kaiser  dies  sagte,  flössen  seine  Tränen  reichlich,  und 
Schluchzen  erstickte  fast  seine  Stimme.  Nach  einer  kleinen  Pause 
fuhr  er  fort.  „Verzeihen  Sie,  lieber  Graf,  ich  weiß,  daß  meinem 
Freunde  gegenüber  meine  Seele  sich  ergehen  und  alle  ihre  Leiden 
zeigen  darf,  ohne  mißverstanden  zu  werden"  ....  Übrigens  sei  er 
nur  traurig,  nicht  gebeugt.  C  Auch  werde  er  nicht  mißtrauisch 
werden.  „Ich  weiß,  daß  nichts  mich  vor  einem  Mörder  schützen 
kann  und  daß  ein  Herrscher  dieser  Gefahr  Trotz  bieten  muß.  Auch 
fürchte  ich  nicht  Verschwörungen  ....  Aber  ich  habe  ein  Vor- 
gefühl von  meinen  Pflichten,  ich  werde  sie  rasch  kennen  lernen 
und  sie  zu  erfüllen  wissen.  "^  Mit  29  Jahren  darf  man,  zumal  in 
Verhältnissen  wie  den  jetzigen,  vor  der  Aufgabe  erschrecken,  von 
der  ich  niemals  glaubte,  daß  sie  mir  zufallen  werde  und  für  die 
ich  mich  infolgedessen  auch  nicht  vorbereitet  halte  ^).  Ich  habe 
den  Himmel  nie  inbrünstiger  um  etwas  gebeten,  als  mir  diese 
Prüfung  zu  ersparen.  Da  er  andere  bestimmt  hat,  werde  ich  mich 
bemühen,  nicht  unter  den  Pflichten  zu  stehen,  die  mir  auferlegt 
sind.  Ich  werde  sie  zu  erfüllen  wissen.^  Ich  werde  milde,  sehr 
milde,  man  wird  vielleicht  sagen  zu  milde  sein.  Aber  die  Führer 
und  Anstifter  des  Komplotts  werden  ohne  Mitleid  und  ohne  Er- 
barmen behandelt  werden  ....  Ich  werde  unerbittlich  sein,  das 
bin  ich  Rußland  und  Europa  schuldig.  Mein  Herz  aber  ist  zerrissen, 
und  ich  habe  das  schreckliche  Schauspiel  des  ersten  Tages  meiner 
Regierung  stets  vor  Augen."  La  Ferronnays  sagt,  die  Erregung  des 
Kaisers  sei  außerordentlich  gewesen ').  Er  versuchte  ihn  zu  beruhigen, 
und  das  Gespräch  wandte  sich  nun  dem  Detail  der  Verschwörung 
zu.  Der  General  Graf  Michail  Woronzow  habe  nach  seiner  Rück- 
kehr aus  Frankreich,  wo  er  die  Okkupationstruppen  kommandierte, 
auf  den  gefährlichen  Geist,  der  unter  den  Offizieren  herrschte,  durch 
eine  Denkschrift   aufmerksam   gemacht,    die    mit   großer  Offenheit 


1)  Das  letztere  nur  ist  wahr. 

^)  1.  1.  yL'emotion  de  l'Empereur  etait  extreme''. 


u 


113  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

und  Energie  geschrieben  war.  Aber  der  damals  noch  in  liberalen 
Ideen  befangene  Kaiser  habe  diese  Denkschrift  sehr  übel  aufge- 
nommen und  ihn  lange  seine  Ungnade  fühlen  lassen.  Und  nun 
kam  der  Zar  auf  den  eigentlich  praktischen  Zweck  dieser  merk- 
würdigen Unterredung.  Er  glaube  nicht,  daß  Ausländer  an  der 
V^erschwörung  beteiligt  seien;  sollten  unglücklicherweise  Franzosen 
sich  als  Mitschuldige  erweisen,  so  werde  er  La  Ferronnays  sofort 
benachrichtigen,  er  hoffe,  daU  Frankreich  ihm  den  Gegendienst 
leisten  werde,  ihn  über  die  Russen,  die  auf  französischem  Boden 
lebten  und  am  Komplott,  wahrscheinlich  als  Leiter,  beteiligt  seien, 
die  für  die  Ruhe  Europas  und  Rußlands  unerläßlichen  Auskünfte 
zu  erteilen*).  Beim  Abschied  küßte  der  Kaiser  den  Grafen  und 
bat  ihn,  er  möge  sich  jederzeit  an  ihn  wenden,  wenn  er  etwas 
mitzuteilen  habe,  wie  er  denn  hoft'e,  sich  häufig  mit  ihm  zu  unter- 
halten.    Nesselrode  wisse  bereits  davon. 

>^^  Es  ist  begreiflich,  daß  La  Ferronays  durch  den  ganz  unge- 
wöhnlichen Charakter  dieser  Unterredung  lebhaft  angeregt  wurde. 
Er  glaubte  bereits  mit  der  Möglichkeit  einer  französisch-russischen 
Allianz  rechnen  zu  müssen  und  schrieb  dem  französischen  Minister 
des  Auswärtigen,  Baron  Damas,  daß  er  unter  diesen  Umständen 
nicht  weiter  auf  seine  Bitte  um  Abberufung  aus  Petersburg  bestehe'). 
Er  hielt  die  innere  Lage  Rußlands  keineswegs  für  unbedenklich^ 
denn  auch  jetzt  noch  könne  man  sich  keine  Vorstellung  von  der 
Kühnheit  der  Äußerungen  und  der  Extravaganz  der  Ansichten  der 
Gardeoffiziere  machen.  Sie  alle  rühmten  sich  „Söhne  der  Minerva" 
zu  sein  und  lebten  in  Bewunderung   der   französischen  Revolution 


')  I«  1*  »j'espere  en  retour,  que  si  la  poIice  de  France  decouvrait  que 
parmi  les  Russes  etablis  chez  vous,  il  s^en  trouvait  qui  fussent  lies  au  complot, 
comme  probablemeut  ils  en  seraient  les  directeurs,  j'espere  que  Votre  Gou- 
vernement nous  les  ferait  connaitre  et  nous  foumira  des  renseignements  qui 
importent  autant  a  la  tranquillite  de  TEurope  qu'a  celle  de  la  Russie."  Nikolai 
dachte  dabei  vornehmlich  an  den  Grafen  Bobrinski,  wie  spätere  Relationen  La 
Ferronnays'  beweisen  I 

^)  I.  I.  „Si  Ton  pense  que  mes  relations  avec  lui,  en  supposant  qu'elles 
pussent  se  maintenir  sur  le  memo  pied,  doivent  me  donner  les  moyens  d'etre 
utile,  ce  qui  ne  pourrait  jamais  etre  que  dans  le  cas  oü  Ton  voudrait  se 
rapprocher  de  la  Russie  et  pm^voir  eventuellement  la  possibüite  d^une 
alliance  avec  eile,  alors,  Monsieur  le  Baron,  toutes  les  demandes  que  j^avais 
cru  pouvoir  prendre  la  liberte  de  faire  ä  votre  Excellence,  restent  non  avenues. 
Je  resterai  ici,  j'y  resterai  seul  .  .  .  .* 


Kapitel  IV.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  119 

und  Bonapartes.  ^Törichterweise  werde  jetzt  die  Verschwörung  auf 
Rechnung  der  Österreicher  gesetzt*).  Er  riet,  zur  Begrüßung  des 
Kaisers  eine  Persönlichkeit  „de  haute  distinction^  zu  senden,  etwa 
den  Herzog  von  Mortemart.  Da  dieser  Botschafter  wahrscheinlich 
eine  Einladung  zur  Krönung  erhalten  werde,  empfehle  es  sich,  es 
ihm  möglich  zu  macheu,  mit  großem  Prunk  aufzutreten. 

Nikolaus  nahm  es  sehr  hoch  auf,  daß  La  Ferronuays  ihm  als  erster 
seine  neuen  Krcditiveüberreichen  konnte.  Die  französische  Regierung 
war  so  klug  gewesen,  für  alle  Eventualitäten  ihren  Botschafter  mit 
Kreditiven  für  Kikolai  wie  für  Koustantin  zu  verseheu.  Am  9./21. 
ließ  der  „Großfürst  Nikolas"  den  „Grafen  La  Ferrounays",  also 
nicht  der  „Kaiser"  den  „Botschafter",  zu  einer  zweiten  Unter- 
redung „en  frac",  nicht  in  Uniform,  bitten.  Er  kam  nochmals  auf 
die  weitenJ^Verzweigungen  der  Verschwörung  zurück,  die  nach 
Dresden,  vielleicht  auch  nach  Paris')  und  Italien  hineinreichten, 
aber  er  gab  sein  Ehrenwort,  daß  er  weiter  keinerlei  Befürchtungen 
hege.  Die  ausländischen  Gäste  freilich  haften  andere  Eindrücke. 
Dem  Adjutanten  des  Prinzen  Wilhelm,  Leopold  von  Gerlach,  fiel 
der  wilde  Fremden-  und  speziell  der  Deutschenhaß  der  Gesellschaft 
auf,  der  sich  sogar  gegen  das  Kaiserhaus  richte.  „In  welcher 
schwankenden  Lage  befindet  sich  der  arme  Kaiser  mit  seiner 
^  glühenden  Kaiserkrone  auf  dem  Kopfe,  von  Verrätern  umgeben;  nicht 
alle  Übeltäter  seien  in  der  Festung,  hat  jemand  neulich  dem  General 
Thile  gesagt,  einige  von  ihnen  sind  alle  Tage  mit  uns  im  Vor- 
zimmer des  Kaisers,  und  er  hat  die  Beweise  dafür  in  Händen". 
Ein  andermal  vergleicht  ^r  die  Stellung  Nikolais  mit  der  eines 
Mannes,  der  auf  einer  dünnen  hohen  Säule  stehe,  an  der  jeder 
Unzufriedene  rüttele,  „um  entweder  den  Herrn  von  oben  herabzu- 
stürzen und  einen  anderen  hinaufzusetzen,  oder,  wie  das  jetzt  hat 
geschehen  sollen,  die  Säule  selbst  und  für  immer  über  den  Haufen 
zu  werfen".  Die  kaiserliche  Familie,  schreibt  der  hannoversche 
Gesandte  von  Reden,  ist  gleichsam  von  aller  Gesellschaft  sequestriert, 
sie  sieht,  von  den  Garden  beschützt,    nur  was    zum  inneren  Kreis 

*)  Auch  Gerlach,  Denkwürdigkeiten  J,  17  weiß  davon  zu  berichten:  »Die 
Russen  hier  glauben  zum  Teil,  daß  die  Verschworung  von  Metternich  hier 
angezettelt  worden,  um  die  russische  Macht  zu  sprengen  und  Rußland  dann 
durch  die  Jesuiten  der  romischen  Kirche  zu  unterwerfen". 

■-')  Nikolai  glaubte  irrtümlicherweise,  daß  Benjamin  Constant  den  Ver- 
schwörern ihre  „Verfassung"  entworfen  habe. 


]20  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

der  Familie  gehört.     Das  Palais  ist  wie  eine  belagerte  Fcstuog  von 
Truppen  umringt,  stets  erwartet  man  neue  Unruhen.     Die  Festung 
und  die  Gefängnisse  sind  voll  Gefangener,  deren  Zahl  täglich  zu- 
nimmt."    In  der  Stadt  kursierte  das  Gerücht,  daß  in  dem  Keller- 
raume  der  Isaakskirche  ein  Faß  voll  Pulver  gefunden^)  sei,  offenbar 
um  die  kaiserliche  Familie  in  die  Luft  zu  sprengen,  und  die  Vor- 
sichtsmaßregeln,   die   von    dem  Mißtranen    des  Kaisers    gegen    die 
eigenen  Truppen  zeugten,    delen  allgemein  auf.  ^uch  machte  die 
Medisance  der  Petersburger  Gesellschaft    sich  allen  Maßregeln  des 
neuen  Kaisers  gegenüber  geltend,    was  ja    bei  der  Sorge    und  Er- 
bitterung begreiflich  ist,   die  die  zahlreichen  Verhaftungen  in  den 
Kreisen,  die  zur  „Gesellschaft"  gehörten,  hervorgerufen  hatten.     So 
lange  das  Los  der  Inhaftierten   ungewiß  war  und  sich  auf  Gnade 
hoffen  ließ,  hatte  man  geschwiegen;  nach  gesprochenem  Urteil  ließ 
die  Erbitterung  sich  nur  durch  die  Furcht  zügeln,  welche  die  neue 
Geheimpolizei  erregte,    vor  der  sich  niemand  sicher  fühlte.     Schon 
im  August  berichtete  der  zuverlässigste  der  Agenten  Benkendorffs, 
daß  die  Stimmung  von  Tag  zu  Tag  schlechter  werde').     An  eine 
Reformära   glaubte  bereits  nach  wenigen  Monaten  niemand  mehr; 
die  Neuuniformierungen  wurden  scharf  kritisiert  und  ebenso  die  zahl- 
reichen Ernennungen  von  Generaladjutanten.    Am  15./27.  Dezember 
waren  nicht  weniger  als  13  neue  (ieneraladjutanten  kreiert  worden, 
meist  Offiziere,  die  sich    am  14.  Dezember  in  irgendwelcher  Weise 
hervorgetan  hatten  und    deren  sonstige  Verdienste    zweifelhaft    er- 
schienen.    Man  war  von  den  Zeiten  Alexanders  her  daran  gewöhnt, 
daß  diese  Stellungen  nur  ganz  besonders  hervorragenden  Persönlich- 
keiten verliehen    wurden.      Die    einzige    Ernennung  Nikolais,    die 
ungeteilten    Beifall    fand,    war    die    des    Admirals  Ssenjawin,    den 
Alexander  aus  nicht   klargelegten  Gründen  von   jeder    praktischen 
Tätigkeit  ferngehalten  hatte.     Auch  die  Gunst,    die  der  Kaiser  in 
der  ersten  Zeit  dem  Grafen  Araktschejew  zuteil  werden  ließ,  wurde 
sehr  mißgünstig    aufgenommen.     Ein    Reskript  vom  20.  Dezember 
1825  hatte  der  Hoffnung  Ausdruck    gegeben,    daß    der  Graf   auch 

0  Tagebuch  Divows  zum  11.  Februar. 

^  Berichte  von  M.  M.  Fock  an  den  Grafen  Benkendorff.  Russ.  Starina 
XXXII.  183—94,  305—336,  519—560.  Diese  Berichte  reichen  leider  nur  vom 
17.  Juli  bis  25.  September  1826.  Fock  war  Direktor  der  Kanzlei  Benken- 
dorffs. Es  ist  nicht  ohne  Humor,  daß  Fock  seinerseits  von  der  stadtischen 
Polizei  beaufsichtigt  wurde,  weil  sie  in  ihm  einen  Konkurrenten  sah. 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  121 

ferner  seine  dem  Kaiser  und  dem  Vaterlande  so  notwendigen 
Dienste  nicht  versagen  werde,  den  Grafen  aber  auf  seine  Bitte 
von  der  Stellung  als  Leiter  der  eigenen  Kanzlei  des  Kaisers')  und 
von  der  Direktion  der  Kanzlei  des  Ministerkomitees  entbanden; 
seine  Stellung  in  den  Militärkolonien  war  ihm  gelassen  worden. 
Man  schloß  daraus,  daß  das  verhaßte  System  der  Militärkolonien 
fortbestehen  werde,  und  iu  der  Tat  war  das  die  Absicht  Nikolais. 
Er  konservierte  den  Grafen  nur  vorläufig,  weil  er  wußte,  wie 
gefürchtet  der  Mann  war,  und  weil  er  sich  scheute,  nach  den  un- 
ruhigen Anfängen  seiner  Regierung  Anzeichen  von  Schwäche  und 
Nachgiebigkeit  zu  geben.  Aber  er  zog  sich  in  der  Person  des 
Vertrauten  und  Stabschefs  von  Araktschejew,  in  General  Klein- 
michel einen  Nachfolger  heran,  der  in  häufigen  Audienzen  dem 
Kaiser  die  Sünden  Araktschejews  rücksichtslos  bloßlegte.  Auch 
verbreitete  sich  schon  Ende  Januar  in  Petersburg  das  Gerücht,  daß 
„der  Drache"  nach  Karlsbad,  vielleicht  nach  Italien  reisen  werde. 
Man  hoffte  auf  Nimmerwiederkehr.  ^Erfüllt  hat  sich  nur  der  erste 
Wunsch,  und  auch  dieser  später  als  man  hoffte;  denn  erst  am  30.  April 
hat  der  Kaiser  ihm  den  erbetenen  Urlaub  gewährt  und  Klein- 
michel mit  der  Stellvertretung  Araktschejews  betraut').  Kurz 
vorher  hatte  Araktschejew  dem  Kaiser  noch  den  Dienst  geleistet, 
ihm  einen  Landstreicher  auszuliefern,  der  in  den  Kolonien  die 
Bauern-Soldaten  durch  seine  Reden  aufgewiegelt  haberf— In  Wirklich- 
keit war  der  Mann  nicht  von  den  Leuten  Araktschejews,  sondern 
vom  Gouverneur  von  Nowgorod  gefangen  und  verhört  worden.  Aber 
Araktschejew  schickte  einen  Feldjäger  an  den  Kaiser  und  gab  den 
Fang  als  sein  Werk  aus.  Später  wußte  er,  aus  Furcht,  von  ihm 
verraten  zu  werden,  den  Gouverneur  so  zu  verleumden,  daß 
er  seinen  Abschied  erhielt.  Jener  Mann  war  offenbar  ein 
Altgläubiger,  der  die  Kolonisten  bewegen  wollte,  von  der  Obrigkeit 
die  Erlaubnis  zu  erwirken,  Barte  zu  tragen  und  zu  leben  wie  iu 
früheren  Zeiten.  Er  demonstrierte  ihnen  das  an  der  Apokalypse 
und  las  ihnen  die  Stellen  über  die  Nikolaiten  vor.  Der  Kaiser 
legte  der  Sache  große  Wichtigkeit  bei,  und  in  der  Tat  konnte  bei 
der  Erregung,  die  sich  damals  der  Bauernschaft  bemächtigt 
hatte,  jede  Agitation,  die  an  den  religiösen  Sinn   und   die  Leicht- 


*)  „Sie  wird  von  mir  selbst  geleitet  werden,"  schrieb  der  Kaiser. 
^  Wojenno  Utschennij  Archiv  1048. 


122  Kapitel  IV.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

gläubigkeit  der  Massen  appellierte,  gefährlich  werden.  Der 
„Prophet"  aber  war  gekleidet  wie  die  griechischen  Heiligenbilder 
Christus  darstellen.  In  seidenem  Überwurf,  grauen  Safianschuhcn, 
und  da  es  im  März,  als  er  auftrat,  kalt  war,  mit  einem  Fuchspelz 
von  feinem  blauen  Tuch.  Er  hatte  zudem  ein  Heiligenbild  in 
Brillanten  und  ein  Exemplar  der  Apokalypse.  Der  „Prophet"  ist 
danach  in  den  russischen  Gefangnissen  verschollen.  Woher  er  ge- 
kommen war,  ist  bis  heute  nicht  klargelegt  worden  *).  Vor  seiner 
Abreise  konnte  Araktschejew  dem  Kaiser  als  Fond  der  Militär- 
kolonien ein  Kapital  von  über  32  Millionen  Rubel  bar  überweisen '). 
Wer  konnte  die  Tränen  und  das  Blut  schätzen,  die  an  diesem 
Gelde  hingen?  Aber  unzweifelhaft  kam  die  Thesaurierungspolitik 
des  Grafen  Araktschejew  dem  Kaiser  sehr  erwünscht. 

Es  gab  noch  vielerlei  Stoff  für  die  Petersburger  Gesellschaft 
zum  räsonnieren:  Die  unerträgliche  Pedanterie  und  Härte,  mit  der 
sich  der  Großfürst  Michail  zur  Qual  der  Garde  seinen  militärischen 
Liebhabereien  hingab,  die  Krankheit  und  bald  danach  der  Tod  des 
Historikers  Karamsin,  von  dem  man  gehofft  hatte,  daß  sein  Einfluß 
den  Kaiser  zur  Ausführung  der  von  Alexander  geplanten  Reformen 
führen  werde*),  die  Catalani,  die  trotz  ihrer  46  Jahre  noch  immer 
sang  wie  eine  Nachtigall,  der  Tod  des  81jährigen  Grafen  Peter 
Pahlen,  einst  der  mächtigste  Mann  im  Reiche,  seit  einem  Viertel- 
jahrhundert wie  vergessen  —  der  Mann,  an  den  sich  die  schwerste 
Erinnerung  Alexanders  knüpfte^),  endlich,  und  das  hätte  doch  die 
größte  aller  Sensationen  sein  sollen,  am  25.  Februar  traf  die  Leiche 
Alexanders  in  Zarskoje  Sselo    ein!^)     Die  Kaiserin  Elisabeth    war 


»)  Schreiben  Nikolais  an  Araktschejew  vom  6./20.  April  1826.  W.  T.  A.  1048. 
2)  Rus8.  Starina  XXXVI  S.  187  ff. 

')  Er  starb  am  24.  Mai  1826.  K.  Bulgakow  meint,  die  Strafen,  welche 
die  Dekabristen  trafen,  wären  weniger  schrecklich  ausgefallen,  wenn  Karamsin 
am  Leben  geblieben  wäre  (Brief  vom  28.  Juni).  Die  letzte  Korrespondenz 
Nikolais  mit  Karamsin    ist  im  Russki  Archiv  1906  I  S.  126  ff.  gedruckt. 

^)  Er  starb  am  13./25.  Februar  in  Mitau.  Konstantin  Bulgakow  schreibt 
darüber  seinem  Bruder:  „also  wieder  ein  Andreasritter  weniger!*  Als  ob 
darin  die  historische  Bedeutung  des  Mannes  gelegen  hätte. 

^)  Die   letzte  Marschroute   Alexanders  war  folgendermaßen   angeordnet: 
Dezember  26.  Ausfahrt  aus  Taganrog. 

„         31.  Ankunft  in  Bachmut. 
Januar         2.         „         „   Isjum. 
„  6.        „         ,   Charkow. 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  123 

zunächst  in  Taganrog  zurückgeblieben.  Aber  mit  Unwillen  hatte 
sie  verfolgt,  wie  wenig  liebende  Fürsorge  sich  in  den  Anordnungen 
zeigte,  die  für  die  Überführung  der  Leiche  des  verstorbenen  Kaisers 
—  dessen  Namen  man  doch  stets  im  Munde  führte  —  getroffen 
waren,  ^'e  hat  sich  darüber  recht  rückhaltlos  ihrer  Mutter,  der 
Markgräfin  von  Baden,  gegenüber  ausgesprochen.  „Die  Verwirrung 
und  die  geringe  Sorge  für  die  Erfüllung  der  Pflichten  gegen  den 
verstorbenen  Kaiser  war  so  groß,  daß  man  niemand  mit  Führung 
des  Leichenkondukts  betraut  hatte,  denn  der  dazu  bestimmte  Fürst 
Trubetzkoi  wurde  augenblicklich  krank,  was  ihn  nicht  verhinderte, 
alsbald  die  Notifikation  (des  Regierungsantritts  Nikolais)  nach 
Berlin  zu  bringen.  So  kamen  zwar  eine  Anzahl  Flügeladjutanten 
in  Taganrog  an,  aber  keine  mit  der  Führung  betraute  Persönlich- 
keit.^ Auf  Veranlassung  der  Kaiserin  ersuchte  deshalb  der  Fürst 
Wolkonski,  der  der  Kaiserin  als  Chef  de  Maison  beigegeben  war, 
den  in  der  Nähe  von  Taganrog  stationierten  General-Adjutanten 
Grafen  Orlow-Denissow,  dem  feierlichen  Kondukt  der  Leiche  des 
Kaisers  von  Taganrog  nach  Petersburg  vorzustehen.  Und  Orlow 
hat  dann  das  ehrenvolle  Amt  „mit  heiliger  Freude'',  wie  die 
Kaiserin  schreibt,  auf  sich  genommen  *). 

Dieser  Leichenzug,  zu  dem  das  Volk  von  allen  Seiten  drängte, 
wurde  von  wunderbaren  Gerüchten  geleitet,  die  unter  den  Bauern, 


Januar       13.  Ankunft  in  Kursk. 


» 

20. 

» 

„  Mzensk. 

» 

26. 

» 

n  Tula. 

» 

31. 

bruai 

1. 

n 

„  Moskau. 

» 

2. 

n 

8. 

n 

„  Twer. 

» 

20. 

n 

„   Nowgorod. 

» 

25. 

» 

„   Zarskoje  Sselo. 

')  Schreiben  aus  Taganrog  begonnen  den   10./22.  Februar,  beendigt  den 
20.  Februar 


1826. 


4.  März 

„Je  Yous  dis  tout  cela  sans  amertume,  ma  bonne  Maman,  mais  pour 
vous  faire  Toir  Tetat  des  choses.  II  y  a  plus  d^une  cbose  de  ce  genre,  et  il  y  en 
aura  encore  journellement,  non  par  mauvaise  intention,  mais  par  absence  de 
ce  tact  de  cceur  qui  guido  toujours  bien,  et  dont  I'absence  fait  faire  les 
maladresses  et  les  indelicatesses."  Dazu  gehört  wohl  auch,  daß,  als  in  Preußen 
bereits  die  Armee  um  Alexander  Trauer  angelegt  hatte,  in  Rußland  darüber 
noch  keinerlei  Verfugungen  erlassen  waren! 


124  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

aber  auch  in  Moskau  und  Petersburg  Entsetzen  erregtenr  Es  hieß, 
Alexander  sei  gar  nicht  gestorben,  der  Sarg  sei  leer.  Dann  wieder 
hieß  es,  daß,  sobald  die  Leiche  eine  bestimmte  Stadt  erreiche 
(und  man  nannte  verschiedene  Namen)  ein  Aufstand  ausbrechen 
werde.  Als  die  Leiche  in  Moskau  eintraf,  hielt  man  es  für 
nötig,  die  Truppen  scharf  laden,  die  Wirtschaften  schließen 
und  von  der  Polizei  alle  Vorkehrungen  treffen  zu  lassen,  um  den 
befürchteten  Aufstand  zu  erstickenA  Dem  General  Kwinetzki,  der 
mit  seiner  Brigade  dem  Leichenzuge  von  Orel  bis  Sserpuchow  das 
Geleite  gab,  vertraute  der  in  Tula  kommandierende  General  Chrapo- 
wicki,  als  man  sich  der  Stadt  näherte,  im  tiefsten  Geheimnis  an, 
daß  man  in  Tula  und  in  Moskau  Verbrechern  auf  die  Spur  ge- 
kommen sei,  die  entschlossen  seien  in  einem  der  Nachtquartiere 
den  Leichnam  des  Kaisers  zu  verbrennen!  Graf  Orlow  Denissow 
traf  daher  die  größten  Vorsichtsmaßregeln.  \-Man  marschierte  wie 
in  Feindesland,  mit  Vorhut  und  Nachhut,  Rekognoszierungen  und 
Patrouillen  an  den  Flanken.  Auch  in  Petersburg  war  die  Sorge 
groß.JDie  Ankunft  des  Leichenzuges  in  Zarskoje  verzögerte  sich 
bis  zum  1.  März.  Der  Kaiser,  Maria  Feodorowna  und  die  übrigen 
Glieder  der  kaiserlichen  Familie,  sowie  der  Hof  waren  hingefahren, 
um  dem  Leichnam  die  ersten  Ehren  zu  erweisen.  Es  war  ein 
kleiner  Zug.  Alexanders  alter  Leibkutscher  fuhr  den  sechsspännigen 
Leichenwagen.  Kosaken  vom  Don,  die  von  Taganrog  mitgekommen 
waren,  „ausgezeichnet  schöne  Leute",  setzten  den  Sarg,  an  dem 
alle  Generaladjutanten  mit  anfaßten,  unter  den  Chorgesängen  der 
Hofsänger  auf  den  in  der  Kirche  aufgerichteten  bunten  Katafalk. 
Während  des  Heraufhebens  legte  der  alte  Ostermann  seinen  einen 
Arm  auf  die  Krone,  den  anderen  hatte  er  bei  Kulm  verloren.  Es 
fiel  unangenehm  auf,  daß  Konstantin  und  die  Kaiserin  Elisabeth 
fehlten*).  Als  der  Sarg  geöffnet  wurde,  küßte  Maria  Feodorowna 
dem  Sohne  mehrmals  die  Hand:    „Ja,    das    ist    mein  lieber  Sohn. 


^)  Gerlach,  Denkwürdigkeiten  I,  19  ff.  Diwows  Tagebuch  1.  1.  476  ff. 
Korrespondenz  der  Brüder  Bulgakow  1826.  Russ.  Archiv  1903,  II,  S.  424ff. 
Über  die  Oberführung  der  Leiche  zur  Kasanschen  Kathedrale  schreibt  Diwow: 
,Es  ließ  sich  kein  Ausdruck  der  Trauer  auf  den  Gesichtern  erkennen,  die 
Prozession  glich  eher  einem  Triumphzuge  .  .  ."  Die  Angaben  Diwows  über 
die  Ordensträger  sind  falsch.  Die  richtigen  Angaben  linden  sich  Russkaja 
Starina  XXXVI,  S.  186.  Es  waren  unerquickliche  Eifersüchteleien  voraus- 
gegangen. 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  125 

mein  lieber  Alexander,  ach,  wie  mager  er  geworden  ist."  Sie 
sagte  es  auf  französisch,  und  dreimal  kehrte  sie  um,  noch  einen 
letzten  Blick  auf  ihn  zu  werfen.  Auch  Prinz  Wilhelm  von  Preußen 
war  tief  ergriflfon  von  diesem  letzten  Wiedersehen. 

\üie  Beisetzung  in  der  Kasanschen  Kirche  fand  am  18.  März 
statt,  unter  ungeheurem  Gedränge  des  Volkes.  Auf  ausdrücklichen 
Befehl  Nikolais  wurde  der  Sarg  wider  den  Landesbrauch  nicht 
geöffnet,  weil  das  Gesicht  zu  sehr  entstellt  und  ganz  schwarz 
geworden  war*).  Aber  es  ging  alles  ohne  Störung  hin;  am  26. 
folgte  dann  die  meistgefiirchtete  Überführung  in  die  Peterpauls- 
kirche; man  hatte  die  Truppen  so  verteilt  und  gemischt,  daß  sie 
sich  gegenseitig  im  Zaum  hielten.  \§o  hat  denn  auch  hier  kein 
störender  Zwischenfall  stattgefunden,  und  der  Sarg  konnte  zur 
letzten  Ruhe  in  die  schwarz  ausgeschlageneVenge  Gruft  eingesenkt 
werden.  Kanonenschüsse  verkündeten  der  Residenz,  daß  nunmehr 
alles  vorüber  war.  Die  Uhr  schlug  2,  und  wie  bei  jeder  neuen 
Stunde  spielte  das  Glockenspiel  der  Festungskirche  sein:  „God  save 
the  king!"  Den  ganzen  Vormittag  über  war  heftiges  Schneewehen 
gewesen.  Erst  am  7./19.  April,  fand  auch  in  Warschau  eine 
Trauerfeierlichkeit  statt.  Sie  galt  dem  Mann,  der  den  Polen  die 
Verfassung  des  Jahres  1815  geschenkt  hatte. 

W^enig  über  ein  Vierteljahr  danach  wurde  auch  die  Kaiserin 
Elisabeth  in  der  Peterpaulsfestung  an  der  Seite  ihres  Gatten  bei- 
gesetzt. Sie  war  auf  der  Heimkehr  von  Taganrog  am  4./10.  Mai 
in  Bjelew')  sanft  entschlafen.  Die  Kaiserin  Mutter,  die  ihr  nach 
Kaluga  entgegengefahren  war,  traf  sie  nicht  mehr  unter  den 
Lebenden  und  begab  sich  nunmehr  direkt  nach  Moskau,  um  dort  die 

Ol      1       * 

Krönung  zu  erwarten.     Die  Beisetzung  erfolgte  am       '  ,  ..     1826. 

D.  Juli 

Ein  Hofbauer  Fedor  Fedorow  hat  die  Gerfichte  aufgezeichnet, 
die  in  jenen  Tagen    im  Volke    umliefen/).     Diese  Auswüchse   der 


')  Der  Brief  des  Fürsten  Wolkonski  an  Willamow  aus  Taganrog  vom 
7./ 19.  Dezember  1825  bezeugt  diese  Veränderung.  Er  schreibt  sie  dem  Einfluß 
des  Klimas  in  Taganrog  zu.  Zitiert  von  Schilder.  Russkaja  Starina  1897, 
II,   S.  17. 

^  Gouvernement  Tula. 

')  Es  wird  genügen,  von  seinen  Aufzeichnungen  eine  herzusetzen:  „Als 
Alexander  Pawlowitsch  in  Taganrog  war  und  dort  für  Jelissaweta  Alexejewna 
der  Palast  gebaut  wurde,  fuhr  der  Kaiser  an  der  Hintertreppe  vor.    Da  sagte 


126  Kapitel  lY.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

Volksphantasie  aber  wucherten  weiter  und  leben  noch  heute  in  der 
Legende  von  dem  Knecht  Gottes  Feodor  Kusniitsch  fort,  der  am 
20.  Januar  1864  in  Tomsk  starb,  ohne  daß  seine  Herkunft  und 
sein  wirklicher  Name  bekannt  geworden  wäre.  Das  Volk  aber 
glaubte,  er  sei  der  büßende  Alexander  gewesen. 

Während  so  Alexander  und  seine  Kaiserin  zur  ewigen  Ruhe 
versenkt  wurden  und  die  Erinnerung  an  sie  im  Volke  als  Legende, 
im  Kaiserhause  im  Licht  einer  künstlichen,  aber  anempfundenen 
Verklärung  fortlebte,  hatte  der  Kaiser  Nikolaus  seine  erste  große 
politische  Aktion  mit  Gluck  und  Geschick  durchgeführt. 

Am  ^^j^^^T^  war  Lord  Wellington  in  Petersburg  eingetroffen. 

Wie  die  übrigen  außerordentlichen  Gesandten  mit  dem  ostensibelen 
Auftrage,  den  neuen  Kaiser  zu  seiner  Thronbesteigung  zu  beglück- 


ihm  der  dort  auf  Wache  stehende  Soldat:  Geruhen  Sie  diese  Treppe  nicht 
hinaufzugehen,  man  wird  Sie  dort  mit  einer  Pistole  erschießen.  Und  der 
Kaiser  sagte:  Willst  Du,  Soldat,  für  mich  sterben?  Du  wirst  beerdigt  werden, 
wie  man  mich  beerdigen  muß,  und  Dein  ganzes  Geschlecht  wird  belohnt 
werden.  Der  Soldat  ging  darauf  ein  und  kleidete  sich  um;  der  Kaiser  zog 
die  Soldatcnuniform  an  und  stand  auf  der  Wache;  der  Soldat  aber  legte  des 
Zaren  Uniform,  Mantel  und  Hut  an  und  ging  in  den  abliegenden  Palast  und 
bedeckte  sein  Gesicht  mit  dem  Mantel.  Wie  er  aber  in  das  erste  Zimmer 
trat,  schoß  plötzlich  ein  Herr  aus  der  Pistole  auf  ihn,  traf  aber  nicht  und  fiel 
selbst  iD  Ohnmacht;  da  kehrte  der  Soldat  um,  weil  er  zurückgehen  wollte, 
aber  ein  zweiter  schoß  auf  ihn  und  traf,  und  plötzlich  ergriff  man  ihn  und 
trug  ihn  in  den  Palast,  wo  seine  Gemahlin  lebte,  und  meldete  ihr,  daß  der 
Kaiser  sehr  krank  sei,  und  danach  ist  er  später  gestorben  als  Kaiser.  Der 
wirkliche  Kaiser  aber  warf  die  Flinte  weg  und  lief  von  der  Wache  fort,  man 
weiß  aber  nicht  wohin.  Und  er  schrieb  an  Jelissaweta  Alexejewna,  sie  solle  den 
Soldaten  beerdigen  „wie  mich**. 

Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,    daß    sich    aus    dieser  Yolksphantasie  die 
Legende  von  Feodor  Kusmitsch  aufgebaut  hat. 

Schilder  hat  die  Legende  ausführlich  wiedererzählt.  Sie  ist  1891  in  Peters- 
burg im  Ton  eines  Heiligenlebens  gedruckt  worden.  Es  gibt  über  Kusmitsch 
nach  Aufzeichnungen  des  Bischofs  Peter.  Russ.  Starina  ßd.  LXXII,  LXXIII, 
LXXXIV.  Ein  Bild  von  ihm  1. 1.  Bd.  LXXIV.  Eine  ungemein  interessante 
und  die  ganze  Frage  erschöpfende  Abhandlung:  »Die  Legende  vom  Tode 
Kaiser  Alexanders  in  Sibirien  in  der  Gestalt  des  Einsiedlers  Feodor  Kusmitsch* 
hat  der  Großfürst  Nikolai  Michailowitsch  von  Rußland  neuerdings  in  den 
mir  gewidmeten  „Beiträgen  zur  russischen  Geschichte^  veröffentlicht.  Berlin, 
Verlag  von  A.  Dunker,  1907.  Noch  weiter  ergänzt  und  mit  einem  Bildnis 
Kusmitschs,  sowie  mit  einem  facsimile  seiner  Handschrift  vom  Großfürsten 
auch  in  russischer  Sonderausgabe,  Petersburg  1907  veröffentlicht 


Kapitel  IV.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  127 

wünschen,  in  Wirklichkeit  als  Träger  einer  hochpolitischen  Mission, 
deren  Ziel  kein  geringeres  war,  als  Rußland  von  der  Allianz  zu 
lösen  und  es  unter  Benutzung  der  griechischen  Frage  in  die  Gefolg- Ah 
schalt  der  englischen  Politik  zu  führen.  Der  Gegenstand  meiner 
Verhandlung,  so  schrieb  Wellington  in  einem  Memorandum  vom 
26.  Januar  1826  an  George  Canning,  ist,  den  Kaiser  von  Kußland  zu 
veranlassen,  sich  in  unsere  Hände  zu  begeben  *).  Wie  das  ge- 
schehen solle,  ist  zwischen  ihm  und  Canning  sehr  eingehend  er- 
wogen worden.  ^Irrtümlicherweise  meinten  beide  Staatsmänner, 
daß  die  griechische  Frage  die  eigentliche  Hauptsache  sei,  und  an 
ihr  dachten  sie  Rußland  zu  fassen.  Wenn,  wie  wahrscheinlich 
sei,  Wellington  beim  Kaiser  auf  kriegerische  Absichten  stoße,  solle  er 
entweder  die  englische  Intervention  anbieten,  oder,  wenn  diese  abge- 
lehnt werde,  eine  gemeinsame  englisch-russische  Intervention,  voraus- 
gesetzt, daß  die  Türkei  willig  sei,  sie  anzunehmen.  Auf  das  letztere 
müsse  bestanden  werden,  damit  der  Kaiser  nicht  die  türkische  Ableh- 
nung zu  einem  Kriegsgrund  aufbausche^n  beidenFällen,  der  einzelnen 
wie  der  gemeinsamen  Intervention,  solle  Wellington  nicht  zugeben, 
daß  das  Scheitern  zu  einem  Kriegsgrund  werde.  %inen  Krieg 
aber,  der  nicht  die  griechische  Frage  betreffe,  werde  England  als 
einen  Krieg,  der  aus  Ehrgeiz  und  Eroberungslust  unternommen 
sei,  ansehen').  Den  KonTereuzgedanken  wieder  aufzunehmen  sei 
aussichtslos,  um  so  vorteilhafter  dagegen  eine  geheime  Verständi- 
gung zwischen  Rußland  und  England,  durch  welche,  als  einziges 
Mittel  die  kriegerischen  Absichten  Rußlands  zu  zügeln,M)eide 
Mächte  sich  zu  aktivem  Vorgehen  gegen  die  Pforte  verpflichten, 
um  sie  zu  zwingen,  die  Ausschreitungen  des  gegenwärtigen  Krieges 
mit  Griechenland  zu  beschränken.  Durch  eine  vertrauliche  Mit- 
teilung Lievens  vom  letzten  Oktober  wisse  er,  Canning,  daß  Ruß- 
land mit  der  Haltung  der  Alliierten  unzufrieden  sei  und  daß  die 
Pforte  sich  mit  der  Absicht  trage,    die  Griechen    ganz    aus  Morea 

^)  „The  object  of  my  negociation  will  be  to  induce  the  Emperor  of  Russia 
to  put  himself  in  our  hands*^.  Wellington,  Despatches  etc.  Bd.  3 
unter  dem  angeführten  Datum.  Der  Satz  wird  dann  nochmals  wiederholt  in 
dem  Memorandum  Wellingtons  vom  29.  Januar  über  die  zweite  eingehende 
Unterredung,  die  er  in  dieser  Frage  mit  Canning  gehabt  hat.  Punkt  8 
des  Memorandums.  Ober  die  Verhandlungen  zwischen  Canning  und  Wellington 
ist  namentlich  die  Denkschrift  Cannings  vom  10.  Februar  1826  zu  vergleichen, 
die  den  Charakter  einer  Instruktion  trägt. 

^  LI.  «a  war  of  ambition  and  conquest^. 


\ 


128  Kapitel  IV.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

ZU  vertreiben,  um  sie  als  Sklaven  nach  Afrika  zu  verpflanzen 
und  Mohammedaner  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Sei  das  wahr,  so 
könnten  christliche  Völker  eine  solche  Kriegführung  nicht  dulden, 
und  England  müsse  einschreiten,  um  russisches  Einschreiten  zu 
verhinderiMfc  Auch  werde  man  in  solchem  Falle  die  öffentliche 
Meinung  und  das  Parlament  hinter  sich  haben.  Die  der  Pforte 
aufzunötigende  Verständigung  mit  Griechenland  könne  außer  von 
Rußland  auch  von  Österreich,  Preußen  und  Frankreich  garantiert 
werden.  Wellington  solle  erklären,  daß  England  weder  darauf 
ausgehe,  das  Territorium  der  jonischen  Inseln  zu  vergrößern,  noch 
auch  seinen  politischen  Einfluß  zu  steigern.  Man  wolle  nur  mit 
dem  russischen  Einfluß  auf  die  Griechen  den  englischen  verbinden 
und  durch  ihr  Zusammenwirken  erreichen,  daß  die  Griechen  an- 
nehmen, was  der  Sultan  ihnen  biete*).  Gleichzeitig  wurde  Stratford 
Canning^enachrichtigt,  daß  für  die  Zeit  von  Wellingtons  Aufent- 
halt in  Rußland  die  gesamte  Verhandlung  über  die  orientalische 
Frage  in  Händen  des  Herzogs  ruhen  solle.  Diesem  war  zudem 
eine  französische  Denkschrift  mit  auf  den  Weg  gegeben,  die  Lord 
Granville  übersandt  hatte  und  die  nun  benutzt  werden  sollte,  um 
das  Mißtrauen  Rußlands  gegen  Frankreich  wachzurufen.  ^Es  war 
das  französische  Projekt  einer  englisch- französischen  Allianz,  als 
Gegengewicht  gegen  die  erschreckende  Macht  Rußlands^).  Die 
Denkschrift  wies  auf  die  Gefahr  einer  Invasion  Europas  durch  die 
russische  Übermacht  und  darauf  hin,  daß  der  Dauphin  im  Hinblick 
auf  diese  Gefahr  jenem  englisch-französischen  Bündnis  geneigt  sei. 
Die  griechische  Frage  sei  so  zu  regeln,  daß  der  zweite 
Sohn  des  Herzogs  von  Orleans  König  von  Griechenland  werde, 
England  aber  für  die  Dauer  seiner  Minderjährigkeit  die  Regent- 
schaft führen  solle. 

Es  liegt  keinerlei  Anzeichen  dafür  vor,  daß  Cauning  und 
Wellington  auch  nur  einen  Augenblick  diese  Phantasien  der  fran- 
zösischen Politiker    ernst  genommen  hatten.     Wohl  aber  boten  sie 


')  Dies  ist  der  wesentliche  Inhalt  der  sehr  ausführlichen  Instruktion, 
von  der  alles  nicht  absolut  Notwendige  hier  übergangen  ist. 

')  Es  ist  erstaunlich,  wie  sehr  die  Franzosen  die  Kriegsmacht  Rußlands 
überschätzten.  Der  Verfasser  der  Denkschrift  gibt  sie  auf  850000  Mann 
aktiver  Truppen  und  1 200000  Soldaten  in  den  Militärkolonien  an,  die  dem 
Staat  nichts  kosteten.  Wir  werden  sehen,  daß  Nikolaus  mit  denselben  fiktiven 
Zahlen  agierte. 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  129 

ein  kostbares  Material,  um  den  russischen  Hof  von  Frankreich 
fernzuhalten.  Nach  wie  vor  hielt  die  englische  Politik  daran  fest, 
daß  Griechenland  Vasall  der  Türkei  bleiben  müsse.  In  einem 
Königreich  Griechenland  erblickte  man  einen  lästigen  Konkurrenten, 
und  Wellington  machte  kein  Hehl  daraus,  daß  die  Lage  im  Mittel- 
meer, so  wie  sie  augenblicklich  sei,  für  England  die  bestdenkbare 
Kombination  darstelle.  Halte  die  Pforte  die  Meerengen  geschlossen, 
so  bleibe  England  Herr  des  Mittelmeeres').  Unter  allen  Um- 
ständen wollte  man  eben  deshalb  ein  Festsetzen  der  Ägypter  in 
Morea  verhindern,  um  nicht  eine  zweite  mohammedanische  Seemacht, 
deren  Unternehmungslust  man  nicht  mit  Unrecht  fürchtete,  in 
diesen  Gewässern  aufkommen  zu  lassen.  Das  waren  ^  die  eigent- 
lichen Gründe  der  geplanten  Annäherung  an  Rußland.^n  Rußland 
war  man  über  die  Ziele  der  Mission  Wellingtons  durch  den  Grafen 
Lieven  aufgeklärt  worden,  der  diese  Dinge,  soweit  es  ihm  möglich 
war,  verfolgte,  das  Wesentliche  an  Tatsachen  von  Canning  selbst 
erfahren  und  die  Motive  der  englischen  Politik  richtig  kombiniert 
hatte.  Man  wußte  außerdem  durch  ihn,  daß 'Canning  gerade 
Wellington  gewählt  hatte,  um  in  kritischer  Zeit  nicht  durch  ihn 
in  seiner  inneren  Politik  behindert  zu  werden*);  auch  daß  der 
Vorschlag  einer  gemeinsamen  Aktion  Rußlands  und  Englands  in 
der  griechischen  Frage  bevorstand,  war  wohlbekannt,  ebenso,  daß 
der  Botschafter  Lord  Strangford  mit  seinem  Antrage  auf  eine 
Kollektivaktion  der  Mächte  die  ihm  erteilten  Instruktionen  über- 
schritten habe.  Nebenher  war  Lieven  bemüht  gewesen,  möglichst 
nachdrücklich  auf  die  Identität  der  russischen  und  englischen 
Interessen  in  den  griechischen  Angelegenheiten  hinzuweisen  und 
das  gegen  Canning  bestehende  Vorurteil  zu  beseitigen*).       y 

Von  einer  Überraschung  konnte  also  keine  Rede  sein.  Viel- 
mehr fand    Kaiser    Nikolaus    alle    Muße,    sich    auf   die    politische 

0  «we  are  in  fact  the  masters  of  itä  (des  Mittelmeeres)  navigation**. 

^)  Canning  hatte  ursprünglich  Wellington  für  die  Zeit  von  5  Monaten 
in  Rußland  festhalten  wollen,  wozu  die  bevorstehende  Krönung  einen  guten 
Vorwand  geboten  hätte,  aber  der  Feldmarschall  hatte  die  Absicht  durchschaut 
und  bedang  sich  aus,  den  Tag  seiner  Rückreise  selbst  zu  bestimmen. 

*}  In  Betracht  kommt  namentlich  der  als  sekret  bezeichnete  Privatbrief 
Lievens    an    Nesselrode    aus  London,   i)./21.  Januar    1826,   und   ein   zweiter 

Privatbrief  Lievens  vom  ii  v  brua  *  Petersburg.  Archiv  der  auswärtigen  Ange- 
legenheiten. 

SchiemanD,  Geschichte  RuBlands.  II.  9 


130  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

Gegenaktion,  die  er  plante,  vorzubereiten.  Durch  eine  ausführliche 
Denkschrift  Nesselrodes  über  den  historisch-politischen  Zusammen- 
hang der  orientalischen  Frage  genau  unterrichtet,  kannte  er  auch 
die  Absicht  Alexanders,  im  Frühjahr  1826  in  die  Donaufürstentümer 
einzurücken,  um  die  Pforte  zu  nötigen,  den  Ansprüchen  endlich 
gerecht  zu  werden,  die  Rußland  auf  Grund  des  Bukarester  Friedens 
geltend  machte.  Diese  Absicht  Alexanders  machte  der  Kaiser  sich 
zu  eigen,  und  noch  bevor  Wellington  eintraf,  war  der  Text  eines 
Ultimatums  festgestellt  worden,  dessen  Ablehnung  durch  die  Türkei 
als  casus  belli  gelten  sollte. 

Der  Kaiser  war  fest  entschlossen,  diese  russisch-türkischen 
Diifereuzen  allein  zu  regeln.  Als  wahrscheinlich  nahm  er  ein 
Nachgeben  der  Türkei  an,  aber  er  fürchtete  den  Krieg  nicht  und 
traf  auch  dazu  seine  Vorbereitungen.  Der  damals  noch  in  Peters- 
burg weilende  Prinz  Eugen  von  Württemberg  erhielt  den  Auftrag, 
einen  Operationsplan  auszuarbeiten,  ebenso  der  Generalstabschef 
Baron  Diebitsch.  Beide  waren  darin  einig,  daß  es  sich  im  wesent- 
lichen um  die  Okkupation  der  Fürstentümer  handeln  werde,  und 
der  Prinz  Eugen  sollte,  um  den  dadurch  in  Konstantinopel  erregten 
Schreck  zu  steigern,  bei  Ismail  mit  vier  Divisionen  die  Donau 
überschreiten  und  einen  Vorstoß  nach  Süden  unternehmen.  Wenn, 
wie  erwartet  wurde,  der  alte  General  von  Sacken  seinen  Abschied 
nahm,  sollte  Graf  Wittgenstein  das  Kommando  der  1.,  Prinz  Eugen 
das  der  2.  Armee  erhalten  *).  Alle  diese  Dinge  wurden,  wie  selbst- 
verständlich ist,  im  tiefsten  Geheimnis  betrieben.  Wenn  Wellington 
darauf  rechnete,  den  jungen  Herrscher  zu  veranlassen,  sich  mit 
gebundenen  Händen  den  englischen  Interessen  hinzugeben,  stand 
ihm  eine  ungeheuere  Enttäuschung  bevor,  '«^an  führte  in  Peters- 
burg eine  wohleinstudierte  Komödie  auf,  in  welcher  er,  ohne  es 
zu  ahnen,  die  komische  Figur  spielen  mußte.  Der  Generalfeld- 
marschall war  mit  allen  ihm  gebührenden  Ehrenbezeugungen 
empfangen  worden ').  Als  er  am  2.  März  mittags  in  Petersburg 
eintraf,  wurde  ihm  Quartier  in  einem  Palais  angewiesen,  das  der 
frühere    Finanzminister    Graf  Guriew    als    Dienstwohnung    benutzt 

^)  Nachgelassene  Korrespondenz  zwischen  dem  Herzog  Eugen  von 
Württemberg  und  dem  General  von  Hofmann.  Cannstadt  1883.  Die  Briefe 
des  Prinzen  vom  4.  Juli  1826  und  vom  11.  April  1829. 

*)  •ITo  yCTany*  ganz  nach  Vorschrift,  schreibt  der  Kaiser  dem  Groß- 
fürsten Konstantin. 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  131 

hatte  und  in  dem  eben  damals  der  Markgraf  Leopold  von  Baden 
untergebracht  war.  Noch  an  demselben  Abend  machte  Nesselrode 
seinen  Besuch,  am  3.  früh  wurde  Wellington  sehr  gnädig  vom 
Kaiser  empfangen;  aber  gleich  diese  erste,  zweiständige  Unter- 
redung*) verdarb  dem  Herzoge  völlig  sein  Konzept.  Der  Kaiser 
wollte  von  den  griechischen  Angelegenheiten  überhaupt  nichts 
wissen.  Die  Griechen  seien  Rebellen  gegen  ihren  rechtmäßigen 
Herrn,  den  Sultan,  und  er,  der  eben  eine  Meuterei  niedergeworfen 
habe,  könne  unmöglich  für  sie  eintreten'). 

Zwischen  Rußland  und  der  Türkei  sei  die  Verletzung  des 
Friedens  von  Bukarest  der  einzige  Streitpunkt,  und  den  sei  er  ent- 
schlossen allein  zu  erledigen,  j^  Das  einzige  Tröstliche,  was 
Wellington  zu  hören  bekam,  war,  daß  Nikolai  erklärte,  es  sei 
ihm  eine  Ehrensache,  in  den  orientalischen  Angelegenheiten  mit 
seinen  Alliierten  auf  dem  Kontinent  in  keinerlei  Verhandlung  zu 
treten').  Das  schien  die  Möglichkeit  einer  besonderen  Verständi- 
gung mit  England  offenzulassen. 

Wie  der  Zar  selbst  diese  einleitende  Verhandlung  ansah  und 
welches  Vergnügen  es  ihm  gemacht  hat,  den  Herzog  außer  Fassung 
zu  bringen,  erzählt  er  selbst  in  einem  Briefe  an  den  Großfürsten 
Konstantin*):  „Seit  Donnerstag  ist  Wellington  hier,  sehr  alt  und 
zusammengefallen  (cassc).  Gleich  bei  der  ersten  Zusammenkunft 
sagte  er  mir  unter  anderem,  er  sei  ausdrücklich  von  seiner 
Regierung  beauftragt,  mir  Vorschläge  zu  machen,  damit  wir  — 
England  und  Rußland  —  zu  zweien  die  griechische  Sache  (histoire) 
ordnen.  Ich  spielte  den  Überraschten,  ließ  ihn  reden  und 
sagte  darauf,    ich  könne,    was  er  vorbringe,    nur  als    etwas    völlig 


0  Nikolai  liebte  es  überhaupt,  den  Diplomaten  stundenlange  Audienzen 
zu  gewähren.  Er  freute  sich  seiner  eigenen  überlegenen  Konversationskunst 
und  Scblagfertigkeit  und  des  Eindrucks,  den  er  machte.  Auch  Wellington 
nahm  einen  großen  Eindruck  „of  his  Majestys  talents"  mit. 

')  „I  confess  I  should  have  doubtet  that  I  had  perfectly  understood  him*^ 
schreibt  Wellington,  aber  der  Kaiser  habe  dem  Erzherzog  Ferdinand  und  dem 
französischen  Botschafter  dasselbe  gesagt. 

*)  „that  he  considered  it  a  point  of  honour  to  have  nothing  more  to  da 
with  his  Continental  allies  upon  this  subject,  on  the  way  of  consultation.** 
Despatches  III,  108  ff. 

*)  Petersburg,  20.  Februar  1826.  Neuerdings  auch  gedruckt  bei  Schilder. 
Nikolaus  I.,  Band  2.  Franzosisch,  wie  denn  die  Brüder  niemals  russisch 
korrespondiert  haben. 


132  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

Neues  auffassen.  Deun  was  die  Interessen  Rußlands  in  der  Türkei 
angehe,  d.  h.  unsere  Beschwerden,  so  habe  S.  M.  der  Kaiser 
(Alexander)  alle  Mitteilungen  oder  Verhandlungen  mit  den  anderen 
Höfen  in  dieser  Angelegenheit  abgebrochen,  und  ich  würde  der 
letzte  sein,  daran  etwas  zu  ändern  und  dem  Gedächtnis  unseres 
Engels  ein  Unrecht  zu  tun  oder  mein  Wort  zu  brechen  und  von 
der  Politik  abzuweichen,  die  er  mir  gleichsam  vermacht  habe. 
Das  werde  also  meine  besondere  Angelegenheit  sein,  die  ich  mit 
Gottes  Hilfe  allein  zu  Ende  zu  führen  hoifte.  Bei  alledem  handele 
es  sich  nicht  um  die  Griechen;  solange  das  türkische  R^ich  be- 
stehe, seien  sie  für  mich  rebellische  Untertauen. 
w'"  Er  antwortete,  er  verstehe  mich  vollkommen  und  gestehe  mir 
das  Recht  zu,  mit  jenen  Herren  ein  Ende  zu  machen^),  er  sei 
aber  nur  in  der  griechischen  Angelegenheit  beauftragt  und  werde 
mich  nach  einigen  Tagen  eingehend  über  seine  Instruktionen  und 
Vorschläge  unterrichten;  er  gehe  aber  davon  aus,  daß  wir  der 
Türkei  befreundete  Mächte  seien,  von  denen  keine  Beschwerden 
gegen  sie  zu  erheben  habe.  Darauf  antwortete  ich  ihm,  er  müßte 
schlecht  unterrichtet  sein,  unsere  Beschwerden  seien  keineswegs 
erledigt,  sondern  genau  in  dem  Stande,  wie  vor  vier  Jahren.  Er 
schien  darüber  erstaunt  und  brach  kurz  ab." 

Der  weitere  sehr  merkwürdige  Gang  der  Verhandlungen*)  ist 
nun  der  gewesen,  daß  Wellington  Schritt  für  Schritt  über  seine 
Instruktion  hinaus  zu  Konzessionen  gedrängt  wurde.  Sein  Versuch, 
Nesselrode  gegen  den  Kaiser  auszuspielen,  mißglückte  völlig,  im 
Zaren  selbst  aber  fand  er  einen  ihm  in  den  Künsten  der  Diplomatie 
weit  überlegenen  Gegner.  Das  angeborene  Talent  Nikolais  machte 
sich  gerade  auf  diesem  Boden  geltend,  und  von  der  Erhabenheit 
seiner  Prinzipien  prallten  alle  Angriffe  und  Überredungskünste  des 
alten  Herzogs  ab.  Vergebens  bat  er,  die  Absendung  des  Ultimatums 
an  die  Pforte  aufzugeben  oder  doch  wenigstens  den  Wortlaut') 
abzuschwächen.     Der  Kaiser  bestand   auf  seinem  guten  Recht  der 


*)  ^d'en  linir  avec  ces  Messieurs.* 

2)  Despatches  usw.  III,  3;  Nr.  527,  531,  533,  535,  536,  537,  538,  539, 
542,  545,  547. 

')  Wellington  lernte  ihn  am  10.  März  kennen.  Der  Kaiser  selbst  hat 
ihm  die  Note  vorgelesen,  die  Minciaky  der  Pforte  überreichen  sollte,  und  sie 
noch  an  demselben  Tage  nach  Konstantinopel  expediert,  wo  sie  am  5.  April 
von  Minciaky  überreicht  wurde. 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  133 

Pforte  gegenüber  und  versicherte,  daß  er  nichts  anderes  wolle,  als 
dieses  Recht  zur  Geltung  bringen.  Um  das  zu  erreichen  aber 
müßte  er  drohen;  wirke  das  nicht,  so  werde  er  die  Donaufursten- 
tömer  besetzen,  aber  nichts  liege  ihm  ferner,  als  auch  nur  ein 
türkisches  Dorf  sich  zu  eigen  zu  machen  ^).  Schon  am  10.  März 
hatte  Wellington  so  viel  Boden  verloren,  daß  er  die  Berechtigung 
der  russischen  Forderungen  in  betreff  der  Donaufürstentümor,  aus 
denen  die  türkischen  Truppen  zurückzuziehen  seien,  und  in  betreff 
der  Befreiung  gefangener  serbischer  Deputierter,  zugeben  mußte. 
Dabei  ängstigte  ihn  der  Kaiser  durch  das  phantastische  Bild,  das 
er  von  seiner  ungeheueren  militärischen  Überlegenheit  entwarf. 
Sein  Heer  sei  1004000  Mann  stark.  75000  Mann  ständen  im 
Kaukasus,  15000  in  Finland,  50000  Mann  Garden  und  andere 
Truppen  in  Petersburg,  je  40000  in  Polen  und  in  russischen  Gar- 
nisonen und  so  fort,  er  wolle  nicht  alles  herzählen;  zum  Felddienst 
seien  600 — 700000  Mann  disponibel.  Erst  am  23.  März  erhielt 
Wellington  ein  Schreiben  Nesselrodes,  das  für  den  Kriegsfall  eine 
Uneigennützigkeitserklärung  bot '),  allerdings  nur  in  betreff  der 
europäischen  Besitzungen  der  Türkei.  Von  den  Griechen  aber 
wollte  der  Kaiser  nach  wie  vor  nichts  hören^  so  daß  die  Mission 
W^ellingtons  definitiv  in  einen  Mißerfolg  auszumünden  schien.  Am 
2.  April  war  er  entschlossen,  unverrichteter  Sache  nach  England 
zurückzureisen.  -Damals  war  aber  in  Petersburg  eine  politische 
Schwenkung  vollzogen  worden,  die  es  dem  Herzog  schließlich  doch 
möglich  machte,  mit  dem  Schein  eines  Erfolges  heimzukehren,  in 
Wirklichkeit  aber  die  englische  Politik  auf  geraume  Zeit  in  völlige 


1)  ^to  add  even  a  Zulage  to  bis  dominions  or  to  augment  bis  influence 
by  any  political  arrangement.**  Aber  erst  am  23.  März  konnte  Wellington 
erreichen,  daB  ihm  darüber  eine  schriftliche  Versicherung  versprochen  wurde, 
dieses  Versprechen  aber  wurde  nicht  erfüllt. 

^  Der  Kaiser  habe  nichts  dagegen  zu  erklären,  „que  si  la  Porte  Ottomane 
se  refusait  k  faire  droit  aux  reclamations  qui  vout  lui  etre  presentees  par 
Tordre  de  TEmpereur,  Sa  Majeste  Imperiale,  qui  dans  ce  cas  se  yerrait  forcee,  ä  son 
plus  yif  regret,  d'adopter  contre  eile  des  mesures  coercitives,  n'hesite  point 
ä  assurer  qu'en  declarant  alors  la  guerre  ä  la  Porte,  eile  ne  nourrirait  ni  des 
Yues  de  conquete,  ni  Tintention  de  mettre  au  retablissement  de  la  paix  avec 
TEmpire  Ottoman  des  conditions  dont  le  resultat  düt  etre  d'accroitre  les 
possessions  de  la  Russie  en  Europe." 

Zunächst  hatte  diese  Erklärung  natürlich  noch  keinerlei  bindende  Kraft. 
Sie  war  ein  Angebot,  mehr  nicht. 


134  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

Abhängigkeit  von  den  Orientplänen  Rußlands  setzte.  Das  ist 
folgendermaßen  geschehen. 

Am  21.  März  war  der  russische  Botschafter  am  englischen  Hof, 
Graf  Lieven,  auf  Geheiß  des  Kaisers*)  in  Petersburg  eingetroffen. 
Er  verstand  es  nun,  Nikolai  davon  zu  überzeugen,  daß  es  für 
Rußland  vorteilhaft  sei,  der  selbständigen  Aktion  auf  Grundlage  des 
Bukarester  Friedens  eine  andere  zu  kombinieren,  durch  welche 
Rußland  in  Gemeinschaft  mit  England  auch  die  griechische  Frage 
zu  einer  gedeihlichen  Lösung  fähren  und  sie  damit  der  ausschließ- 
lichen Einwirkung  Englands  entziehen  könne.  So  wurde  Wellington 
durch  die  unerwartete  Mitteilung  überrascht,  daß  er  augenschein- 
lich den  Kaiser  mißverstanden  haben  müsse.  Wenn  dieser  auch 
prinzipiell  eine  Revolte  nicht  unterstützen  wolle,  so  habe  er  doch 
ein  menschliches  Interesse  für  die  Griechen.  Und  als  danach 
Wellington  vertraulich  mitteilte,  daß  England  durch  Stratford  Canning 
mit  den  griechischen  Deputierten,  dem  Staatssekretär  Maurokordatos 
und  dem  Abgeordneten  Zographos,  Verhandlungen  angeknüpft  habe, 
legte  ihm  Nesselrode  am  25.  März  den  Entwurf  zu  einer  eventuellen 
Vereinbarung  vor').  Der  Kaiser  werde,  wenn  er  der  Pforte  gegen- 
über zu  Zwangsmaßregeln  greifen  müßte,  nicht  darauf  ausgehen, 
die  russischen  Grenzen  in  Europa  zu  erweitern,  wohl  aber  werde 
er  dann  seinen  anderen  Forderungen  die  einer  Kriegsentschädigung 
hinzufügen.  England  solle  auf  die  Pforte  drücken,  ^m  sie  zum  Nach- 
geben zu  bewegen,  und  so  den  Ausbruch  eines  Krieges  verhindern. 
Komme  es  trotzdem  zum  Kriege,  so  sei  Rußland  bereit,  unter  Mit- 
wirkung Englands  seine  Stellung  zu  benutzen,  um  die  Pforte  zur 
Annahme  von  Bedingungen  zu  nötigen,  die  den  Griechen  des  Fest- 
landes wie  der  Inseln  einen  glücklichen  Frieden  sicherten. 

Gebe  dagegen  die  Pforte  nach  und  komme  es  nicht  zum  Kriege, 
so  sollten  beide  Mächte  sich  zusammentun,  um  durch  gemeinsame 
Mediation  die  griechischen  Angelegenheiten  in  Ordnung  zu  bringen, 
und  der  Pforte  erklären,  daß  sie  unter  keinen  Umständen  die 
Festsetzung  einer  neuen  mohammedanischen  Macht  im  Mittelmeere 
dulden    würden').      Einer    solchen    Mediation   sei  Rußland    unter 

^)  Das  ergibt  sich  aus  dem  Tagebuch  Diwows,  der  es  wissen  mußte. 
Russ.  Starina  1897.    Zum  14.  März  1826. 

^)  „Points  sommaires  d'un  arrangement  eventuel.*' 

^)  Wellington  hatte,  wie  wir  wissen  im  Auftrage  Cannings,  in  den  vor- 
ausgegangenen Verhandlungen  darauf   hingewiesen,  daß  die  Pforte  sich  mit 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  135 

allen  Umständen  bereit,  sich  zu  Dienst  zu  stellen.  Als  Basis 
könnten  die  Vorschläge  dienen,  welche  die  griechischen  Depu- 
tierten Stratford  Canning  gemacht  hatten.  Rußland  und  Eng- 
land würden  also  darin  übereinstimmen,  daß  die  Griechen  der 
Pforte  einen  jährlichen  Tribut  zahlen,  die  Besitzungen  der  Musel- 
männer in  Griechenland  käuflich  erwerben  und  endlich  volle  Ge- 
wissens-, Verwaltungs-  und  Handelsfreiheit  erlangen.  Ihre  Stellung 
werde  dann  derjenigen  gleich  sein,  deren  sich  die  ehemalige  Repu- 
blik Ragusa  erfreue.  Die  Grenzrichtung  und  alles  weitere  könne 
späterer  Vereinbarung  überlassen  bleiben.  Dieser  Eventual -Vertrag 
sei  den  übrigen  Alliierten  mitzuteilen  und  von  den  ihm  beitretenden 
Mächten  zu  garantieren. 

Wellington  legte  seine  Einwendungen  in  einem  Memorandum 
vom  26.  März  vor.  Er  protestierte  gegen  die  Kriegsentschädigung 
und  erklärte  sich  nur  in  dem  Fall  bereit,  über  die  griechische 
Frage  zu  verhandeln,  wenn  die  Suzeränität  des  Sultans  nicht  an- 
getastet werde.  Vornehmlich  aber  sträubte  er  sich  gegen  ein  Ein- 
greifen Rußlands  in  die  Angelegenheiten  des  Pascha  von  Ägypten. 
Er  nahm  dabei  den  eigentümlichen  Standpunkt  ein,  daß  der  Pascha 
zwar  von  England  als  eine  selbständige  Macht  behandelt  werden 
könne  wie  der  Dey  von  Algier,  der  Pascha  von  Tripolis  und  der 
Bey  von  Tunis,  weil  das  von  alters  her  geschehen  sei,  für  Ruß- 
land aber  seien  diese  Machthaber  Ofßziere  des  Sultans.  Er 
wünschte,  daß  ein  eventueller  Vertrag  Ibrahims  gar  nicht  Erwäh- 
nung tue. 

Es  folgte  nun  eine  Pause  in  den  Verhandlungen,  die  von  den 
russischen  Diplomaten  zu  erneuter  Erwägung  des  Problems  ge- 
nutzt wurde. 

Endlich,  am  31.  März  abends,  legten  Lieven  und  Nesselrode 
zwei  Protokollentwürfe  vor,  den  ersten  in  acht,  den  anderen  in 
zwei  Punkten '). 

Aber  beide  schienen  Wellington  in  Widerspruch  zu  den 
Instruktionen  zu  stehen,  die  er  zu  vertreten  hatte.  Die  Haupt- 
schwierigkeit lag  darin,  daß  Rußland  nicht  die  Verpflichtung  über- 
nehmen wollte,  einen  Gesandten  nach  Ronstantinopel  zu  schicken, 
wenn    die  Pforte  sich  dem  Ultimatum  füge.     Lieven  und   Nessel- 

der  Absicht  trage,  die  Griechen  nach  Asien  zu  verschicken  und  Ägypter  an 
ihre  Stelle  zu  setzen. 

')  Der  Text  in  den  Despatches  1.  1.  Nr.  547. 


136  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

rode  erklärten,  der  Kaiser  werde  es  zwar  tun,  übernehme  aber 
keine  formellen  Verpflichtungen*).  Wellington  dagegen  erwiderte, 
er  könne  die  „guten  Dienste"  Englands  weder  für  die  Verhinderung 
des  Krieges,  noch  für  die  Begrenzung  und  Kürzung  der  Dauer  der 
Feindseligkeiten  versprechen,  wenn  Rußland  diese  Verpflichtung 
nicht  auf  sich  nehme').  Es  war  unmöglich,  in  dieser  Frage  zu 
einer  Verständigung  zu  gelangen.  Nun  schlug  Wellington  vor, 
alles  fallen  zu  lassen,  was  die  guten  Dienste  des  einen  Teiles  und 
die  Herstellung  der  diplomatischen  Beziehungen  durch  den  anderen 
beträfe.  Er  wolle  sich  zufrieden  geben,  wenn  man  ihm  schriftlich 
verbürge,  was  ihm  der  Kaiser  mündlich  versprochen  habe,  daß  er 
nämlich  im  Kriegsfall  nicht  ein  türkisches  Dorf  beanspruchen  werde  *). 
Aber  die  russischen  Vertreter  verlangten  eine  entsprechende  Er- 
klärung von  Georg  IV.,  und  an  Wellingtons  Widerspruch  scheiterte 
darauf  jede  weitere  Verhandlung*).  Man  ging  ohne  Resultat  aus- 
einander, und  Wellington  wollte,  wie  wir  gesehen  haben,  am 
2.  April  bereits  abreisen,  als  der  Kaiser  ihn  zu  Mittag  befahl  und 
in  ihn  drang,  doch  gegen  seine,  Nikolais,  schriftliche  Erklärung, 
daß  er  im  Kriegsfall  nichts  fordern  werde,  wenigstens  den  Schein 
einer  entsprechenden  Verpflichtung  zu  übernehmen.  Wellington 
verstand  sich  darauf  zu  einem  Brief  an  Nesselrode,  in  welchem 
er  erklärte,  daß  der  König  die  Pforte  und  Ägypten  von  ihren  völker- 
rechtswidrigen Absichten  zurückhalten  wolle,  aber,  nicht  weiter 
gehen  werde,  als  die  Umstände  geböten.  Sollte  er  aber  zu  weitereu 
Maßregeln  genötigt  werden,  so  werde  er  vorher  seine  Absichten 
den  Bundesgenossen  kundtun.  „In  solchem  Fall"  —  so  schloß  der 
Brief  —  „kann  ich  es  auf  mich  nehmen,  Ew.  Exzellenz  die  Ver- 
sicherung zu  geben,  daß  der  König  nicht  darauf  ausgehen  wird, 
einen  Zuwachs  an  Einfluß  oder  Land  im  Mittelmeer  zu  erlangen."^ 

^)  Der  Grund  liegt  auf  der  Hand;  Rußland  hätte  den  Engländern  damit 
tatsächlich  einen  Einfluß  auf  die  mit  dem  Bukarester  Frieden  in  Zusammen- 
hang stehenden  Fragen  gestattet.  Das  aber  sollte  unter  allen  Umständen  nicht 
geduldet  werden. 

^  Unless  I  should  receive  a  positive  assurance  that  tbe  compliance  with 
specific  terms  would  be  followed  by  tbe  restauration  of  peace  and  its  usual 
relations. 

•)  „In  case  of  war  would  not  ask  for  a  village".  Wellington  übergeht 
dabei,  daß  der  Kaiser  seine  Zusage  auf  die  europäische  Türkei  beschränkt  hatte* 

^)  Er  sagte  ,»that  such  a  declaration  on  our  part,  would  render  the  whole 
proceeding  ridiculous*". 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  137 

Aber  diese  Zusage  wurde  nicht  als  ausreichend  anerkannt. 
Nesselrode  und  Lieven  wollten  die  schriftliche  Verpflichtung  des 
Kaisers  nur  geben,  wenn  England,  wie  sie  schon  am  31.  März 
verlangt  hatten,  seine  „good  offices**  verspreche,  worauf  dann 
Wellington  seinerseits  die  alte  Forderung:  Herstellung  der 
diplomatischen  Beziehungen,  wieder  aufnahm.  Beide  Teile 
wurden  heftig').  Eine  Rücksprache  mit  dem  Kaiser  löste  die 
Schwierigkeit  nicht,  er  erklärte,  an  seinem  früheren  Entschluß 
nichts  ändern  zu  können.  So  schien  wiederum  jede  Aussicht  auf 
eine  Verständigung  geschwunden.  Aber  Wellington  war  müde 
geworden;  auch  wissen  wir,  daß  der  Prinz  von  Oranien  eifrig  auf 
den  Herzog  einredete.  Er  verzichtete  jetzt  darauf,  in  der  türkischen 
Frage  weiter  zu  verhandeln,  und  schlug  vor,  an  die  Diskussion  der 
griechischen  Frage,  ohne  jeden  Bezug  auf  das  andere  Problem, 
zu  treten. 

Und  nun  verständigte  man  sich  bald.  Am  4.  April,  nach 
russischem  Stil  am  23.  März,  wurde  das  Protokoll  unterzeichnet, 
durch  welches  beide  Mächte  sich  verpflichteten,  auf  der  Basis  der 
von  Stratford  Canning  und  den  griechischen  Delegierten  formu- 
lierten Forderungen')  für  eine  Regelung  der  griechisch-türkischen 
Beziehungen  einzutreten.  Sollte  die  Pforte  ihre  Vermittelung  ab- 
lehnen, so  würden  sie  doch  die  einmal  festgesetzten  Grundlagen 
als  Basis  einer  künftigen  Versöhnung  betrachten  und  gemeinsam 
oder  einzeln  jede  Gelegenheit  benutzen,  um  ihren  Einfluß  auf  die 
Pforte  in  diesem  Sinne  geltend  zu  machen.  Den  alliierten  Mächten 
sollte  das  Protokoll  vertraulich  mitgeteilt  und  ihnen  vorgeschlagen 
werden,  die  schließliche  Übereinkunft,  wenn  sie  zwischen  OrFechen 
und  Türken  perfekt  geworden  sei,  in  Gemeinschaft  mit  Rußland  zu 
garantieren,  da  Se.  Großbritannische  Majestät  an  der  Garantie  nicht 
teilnehmen  könne. 

Auf  Bitten  der  Kaiserin-Mutter  hat  Wellington  seinen  Aufent- 
halt in  Petersburg  noch  bis  zum  6.  April  morgens  ausgedehnt. 
Am  5.  abends  machte  ihm  der  Kaiser  seinen  Abschiedsbesuch  und 


•)  ,Count  Nesselrode  was  very  violent,  as  indeed  was  Count  Lieven.* 
2)  Suzerinität  der  Pforte,  fester  Jabrestribut  der  Griecben.  Regierung 
durch  frei  von  ihnen  gewählte  Autoritäten  griechischer  Nationalität,  Gewissens- 
freiheit, Freiheit  des  Handels  und  eigene  Selbstverwaltung.  Ankauf  der  tür- 
kischen Ländereien  auf  dem  griechischen  Festlande  und  den  Inseln.  Es  ist 
im  wesentlichen  der  2.  Teil  des  englischen  Vorschlages  vom  25.  März. 


138  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

versicherte  nochmals,  daß  er  alles  halten  werde,  was  er  versprochen 
habe.  Überhaupt  war  der  Herzog  in  jeder  nur  möglichen  Weise 
gefeiert^)  und  ausgezeichnet  worden,  aber  er  kehrte  doch  in  etwas 
gedrückter  Stimmung  zurück.  Der  Versuch,  die  auf  Nichterfüllung 
des  Friedens  von  Bukarest  gegründeten  Beschwerden  Rußlands  als 
nichtexistent  beiseite  zu  schieben,  war  völlig  mißglückt.  Die  von 
ihm  verweigerten  „guten  Dienste",  um  die  Pforte  zum  Nachgeben 
zu  bewegen,  mußte  England  im  eigensten  Interesse  freiwillig  leisten, 
wenn  anders  es  einen  Krieg  verhindern  wollte;  und  ganz  in  der- 
selben Lage  befanden  sich  nach  Absendung  des  Ultimatums  die 
übrigen  Mächte. 

Eine  schriftliche  Verpflichtung  des  Kaisers,  keine  Eroberungen 
zu  machen,  hatte  er  nicht  erhalten,  das  Abkommen  über  die  Zu- 
kunft der  Griechen  aber  gab  Rußland  eine  Handhabe,  die  englische 
Politik  auf  einem  Felde  zu  kontrollieren,  auf  welchem  sie  bisher 
unfaßbar  gewesen  war. 

Auch  fühlte  Nikolai  sich  durchaus  als  der  Sieger  in  dem  diplo- 
matischen Zweikampfe  mit  Wellington.  Er  hat  dem  Schwieger- 
vater in  Berlin,  dem  französischen  Botschafter  und  dem  öster- 
reichischen Hofe  die  bündige  Erklärung  gegeben,  daß  er  nur  im 
Interesse  der  Allianz  England  an  sich  gefesselt  habe').  In  gleichem 
Sinne  sprach  er  sich  La  Ferronnays  gegenüber  aus,  nur  noch 
drastischer  und  unter  Entwicklung  eines  Planes,  der  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  die  Eventualität  einer  Teilung  der  Türkei  und 


0  Es  fiel  allerdings  auf,  daß  der  Herzog  gelegentlich  recht  taktlos  sein 
konnte.  So  fragte  er  den  Kaiser:  „Quels  etaient  les  sentiments  de  Yotre 
Majeste  pendant  la  journee  du  14  decembre?"  Er  erhielt  Tom  Kaiser  die 
schlagfertige  Antwort:  „Ceux  que  je  vous  suppose  avoir  eus  ä  Waterloo,  a^ant 
Parrivee  du  marechal  Blücher.^  Yarsovie:  Correspondance  avec  Mr.  Schmidt. 
Berlin.  Geh.  Staatsarchiv  A.  A.  I.  R.  I,  Polen  Nr.  16.  Relation  v.  20.  Mai 
1826.  Offenbar  nach  einer  Erzählung  des  Prinzen  von  Oranien  an  den  Groß- 
fürsten Kons  tan tiU' 

2)  Brief  Nikolais    an    Friedrich  Wilhelm    IIL    d.  d.    Petersburg,     '       ■ 

1826.  Charlottenburg,  Hausarchiv.  ,Votre  Majesto  verra  par  le  protocole 
arrete  entre  nous,  combien  est  importante  notre  Convention  actuelle,  combien 
Tengagement  formant  le  dernier  point  entre  la  Russie  et  PAngleterre  est  fait 
pour  rassurer  le  reste  de  l'Europe  sur  les  vues  que  l'on  suppose  ä  cette  der- 
niere  dans  tout  arrangement  pour  la  Grece,  en  un  mot,  quel  enorme  pas  de 
fait  pour  achever  ensemble  Paffaire,  que  l'Angleterre  jusquMci  n'a  jamais 
voulu  traiter  avec  les  Ailles**  (sie!). 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  139 

damit  verbanden  eine  radikale  Umgestaltung  der  Karte  Europas  ins 
Auge  faßte  ^).  Der  Gedanke  des  Kaisei*s  war  dabei^  sich  für  die 
Zukunft  die  Allianz  Frankreichs  zu  sichern,  und  an  diesem  Plan 
hat  er  bis  zum  Juli  1830  festgehalten. 

Es  war  vereinbart  worden,  den  Text  der  Konvention  bis  zum 
Eintreffen  der  türkischen  Antwort  auf  das  russische  Ultimatum 
geheim  zu  halten.  Aber  der  Kaiser  machte  gleich  nach  Wellingtons 
Abreise  den  Vertretern  der  alliierten  Mächte  vertrauliche  Mit- 
teilung. Man  war  in  England  sehr  aufgebracht,  als  dann  in  Paris 
der  Inhalt  der  Konvention  sehr  bald  bekannt  wurde.  In  Rußland 
glaubte  man,  daß  diese  Indiskretion  von  England  selbst,  und  zwar 
vom  Könige  ausgehe.  Canning  wiederum  war  überzeugt,  daß  Ruß- 
land das  Geheimnis  enthüllt  habe.  In  Wirklichkeit  war  Christoph 
Wilhelm  Hufeland  der  Schuldige.  Er  hat,  wir  wissen  nicht  wie, 
davon  erfahren  und  darüber  nach  Paris  geschrieben '),  wo  die  Presse 
sich  der  Sache  bemächtigte. 

Metternich,  der  sich  den  Anschein  gab,  als  habe  er  alles  vor- 
hergesehen, sprach  sich  dahin  aus,  daß  das  Protokoll  nicht  nur  ein 
Verbrechen,  sondern  ein  Fehler  sei.  Aber  die  Nachricht  vom  Fall 
Missolunghis  (23.  April),  von  der  Vernichtung  des  Fabierschen 
Korps  und  von  der,  wie  er  annahm,  endgültigen  Auflösung  der 
griechischen  Marine  richtete  seinen  Mut  wieder  auf.  Er  zweifelte 
nicht  daran,  daß  nunmehr  der  griechische  Aufstand  von  der 
Pforte  endgültig  in  der  Tat  werden  würde.  Ibrahim  werde  nicht 
auf  seinen  Lorbeeren  ruhen').  Aber  noch  ehe  dieser  Jubelruf 
Metternichs  in  Petersburg  dem  österreichischen  Botschafter  zuging, 
traf  ein  Kurier  Minciakys  ein^),  der  dem  Zaren  die  frohe  Nach- 


•)  Vertraulicher  Bericht  La  Ferronnays'  ▼om  19.  Mai  1826  itK  der  An- 
lage. Die  hier  entwickelten  Gedanken  scheinen  in  dem  berühmten  Polignac- 
sehen  Projekt  vom  September  1829  ihre  franzosische  Fassung  gefunden  zu 
haben.  Yergl.  meinen  Aufsatz  „Einige  Gedanken  über  die  Benutzung  und 
Publikation  diplomatischer  Depeschen''.  Historische  Zeitschrift.  Neue  Folge 
Bd.  47,  S.  243—54. 

^  Erlaß  Bemstorffs  an  Schöler  vom  9.  Juni  1826.    Durch  den  Prinzen 

Karl  fiberbracht.    Berlin  1. 1.    Bericht  Scholers  vom    ?^^       1828,    durch 

11.  April 

eigenen  Kurier.    Er  erzählt  die  Geschichte  der  Entstehung  des  Protokolls,  nicht 

ohne  Irrtümer. 

*)  Metternich  an  Lebzeltem.   Wien,  den  19.  Mai  1826,  geheime  Depesche. 

*)  Am  21.  Mai.     Ober  die  Rolle  Minciakys  vergleiche  Band  1,  Kap.  Vlll. 


140  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

rieht  brachte,  daß  die  Pforte  in  allen  Punkien  nachgegeben  habe. 
Der  Sultan  hatte  seinen  Polizei  trappen  den  Befehl  erteilt,  die 
Fürstentümer  zu  räumen  und  in  Moldau  und  Walachei  die  Ord- 
nungen herzustellen,  die  bis  1821  bestanden  hatten.  Die  serbischen 
Deputierten  hatten  ihre  Freiheit  wiedererhalten  und  Minciaky  die 
Versicherung  bekommen,  daß  mit  einer  neuen  Deputation  die  ser- 
bischen Privilegien  geregelt  werden  sollten.  Drittens  endlich  hatte 
die  Pforte  erklärt,  daß  sie  Bevollmächtigte  nach  Akkerman  gesandt 
habe.  Es  waren  von  türkischer  Seite  Seid  Mehmed  Hadi  Efendi, 
Defterdar  von  Anatolien  (controleur  general  d'Anatolie),  als  erster, 
und  Seid  Ibrahim  Yffet  Efendi,  Kadi  von  Sofia  ^),  als  zweiter  Be- 
vollmächtigter, während  Rußland  durch  den  Generaladjutanten 
General  der  Infanterie  Grafen  Michel  Woronzow  und  den  außer- 
ordentlichen Gesandten  bei  der  Pforte,  Alexander  von  Ribeaupierre, 
vertreten  war.  Am  6.  August  wurden  die  Verhandlungen  eröffnet, 
in  denen  die  türkischen  Delegierten  nicht  w^enig  von  dem  hoch- 
fahrenden Wesen  Woronzows  zu  leiden  gehabt  haben.  In  neun 
Sitzungen  gelangte  man  zum  Abschluß,  nachdem  die  Bevollmäch- 
tigten bis  zum  25.  September  (7.  Oktober)  getagt  hatten,  und  das 
Ergebnis  war,  daß  die  Pforte  alle  russischen  Forderungen  ohne 
jede  Einschränkung  bewilligte.  Die  russischen  Bevollmächtigten 
hatten  einen  fertigen  Konventionsentwurf  mitgebracht,  und  es  war 
ihnen  ausdrücklich  verboten  worden,  das  geringste  sachliche  Zu- 
geständnis zu  machen.  Es  sind  auch  in  der  Tat  nur  einige  unbe- 
deutende Worte  an  der  russischen  Vorlage  geändert  worden.  Noch 
nie  hatte  die  Pforte  so  völlig  nachgeben  und  fremdem  Willen  sich 
beugen  müssen.  Mit  Akkerman  beginnen  für  sie  die  Tage  des 
Niederganges  ').  Der  einmütige  Eifer  aller  Großmächte,  auf  den 
Sultan  im  Interesse  des  Friedens  einzuwirken,  die  drohende  Hal- 
tung, welche  die  Wittgensteinsehe  Armee  an  der  türkischen  Grenze 
einnahm,  und  die  Fama,  daß  der  neue  Zar  nicht  nur  kriegslustig 
sei,  sondern  auch  alle  Eigenschaften  eines  großen  Feldherrn  zeige, 
hatten  ihren  Eindruck  auf  den  Sultan  nicht  verfehlt.  Das  ent- 
scheidende Motiv   für  ihn  aber   war  doch  ein  anderes.     Er  hatte. 


^)  Mit  dem  Rang  eines  Moliah  von  Skutari. 

^)  Naradounghian :  Recueil  d'actes  internationaux  de  l'Empire  Otto- 
inan.  Vol.  IL  Paris  1900.  Nr.  38,  39,  40.  Die  beiden  letzten  Nummern  geben 
den  Text  der  Spezialkonveution  über  die  Donaufürstentümer  und  die  Serbien 
betreffenden  Separatartikel. 


Kapitel  IV.    Inoere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  141 

wenige  Tage  nachdem  er  seine  Zustimmung  zu  den  Verhandlungen 
von  Akkerman  erteilt  hatte,  eine  schon  lange  geplante  Reorgani- 
sation seiner  Armee  durch  Ilattischerif  vom  26.  Mai  1826  ange- 
ordnet*). Sein  Ziel  war,  sich  der  unbotmäßigen  Janitscharen  durch 
allmähliche  Umbildung  dieses  Korps  oder,  wenn  es  nicht  anders 
sein  sollte,  durch  Gewalt  zu  entledigen.  Im  Kampf  mit  europäischen 
Gegnern  war  diese  Truppe  nicht  zu  brauchen,  und  die  Möglichkeit 
eines  europäischen  Krieges  trat,  trotz  aller  Friedensbeteuerungen 
und  Friedensbemühungen,  immer  deutlicher  am  politischen  Horizont 
hervor.  Zunächst  also  brauchte  der  Sultan  Frieden.  Man  wird 
bei  Würdigung  dieser  Tatsachen  und  bei  richtiger  Schätzung  des 
gewaltsam  despotischen  Herrscherwillens  Sultan  Mahmuds  den 
Entschluß  nicht  ohne  weiteres  verurteilen  können.  Mit  den 
Janitscharen  einen  russischen  Krieg  aufzunehmen,  war  in  der  Tat 
gefährlich  —  und  deshalb  schickte  er  seine  Delegierten  nach 
Akkerman.  Als  nun  jener  Hattischerif  bestimmte,  daß  jede  der 
51  Ortas  oder  Bataillone  der  Janitscharen  150  Mann  für  die  neu- 
zuorganisierenden Truppen  abzugeben  habe,  konnte  zwar  die  Maß- 
regel zunächst  wirklich  ausgeführt  werden,  aber  in  der  Nacht  vom 
14.  auf  den  15.  Juni  kam  ein  furchtbarer  Aufstand  zum  Ausbruch. 
Er  ist  mit  unbarmherziger  Härte  niedergeschlagen  worden,  bei  nur 
geringen  Verlusten  der  kaiserlichen  Truppen,  und  mündete  erst  in 
die  rechtliche  und  danach  in  die  tatsächliche  Ausrottung  des  ganzen 
Janitscharenkorps  durch  den  Seraskier  Hussein  aus.  Sogar  ihr 
Name  sollte  für  ewige  Zeiten  vertilgt  bleiben.  Was  nicht  am  15. 
den  Kartätschen  zum  Opfer  gefallen  war,  ist  nachträglich  umge- 
bracht worden.  Neben  den  Janitscharen  auch  andere,  die  dem 
Sultan  verdächtig  erschienen.  Gegen  4000  Mann  wurden  in  den 
ersten  Tagen  nach  jenem  Blutgericht  erdrosselt  und  ins  Meer  ge- 
worfen, denn  Mahmud  wollte  die  Gelegenheit  nützen,  um  auch 
seiner  übrigen  Gegner  ledig  zu  werden.  Er  lebte  dem  Bewußt- 
sein, eine  notwendige  und  heilsame  Tat  zu  glücklichem  Ende 
geführt  zu  haben.  Erst  jetzt  konnte  er  die  Reorganisation  der 
Wehrkraft  des  Reiches  zum  Abschluß  führen.  Ging  es  nach  ihm, 
so  sollte  ein  europäisch  geschultes  Heer  dem  künftigen  Gegner  der 

0  Rosen,  Geschichte  der  Türkei,  Bd.  I,  Leipzig  1866,  S.  Uff.  Die 
offizielle  türkische  DarstelluDg  bringt  der  „Precis  historique  de  la  dostruction 
du  Corps  des  Janissaires  par  Assad  Effendi**.  Französisch  von  Coussin  de 
Perceval.    Paris  1833. 


142  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

Türkei  gegenüberstehen.  Und  wenn  er  in  Akkerman  zurückweichen 
mußte,  so  geschah  es  in  dem  Entschluß,  sobald  seine  Stunde  komme, 
und  er  glaubte  fest,  daß  sie  kommen  werde,  die  Scharte  mit  ge- 
schärftem Schwert  wieder  auszuwetzen. 

Auch  in  Rußland  war  der  erste  Gedanke  auf  Krieg  gerichtet, 
als  die  gänzlich  unerwartete  Kunde  einlief,  daß  der  Sultan,  um 
seine  Armee  zu  reorganisieren,  die  Janitscharen  vernichtet  habe. 
„Man  kann^,  sagte  einer  der  Generaladjutanten  des  Kaisers  dem 
französischen  Botschafter,  „einen  schwachen  und  entwaffneten  Feind 
leben  lassen;  wenn  er  aber  erstarkt  und  schaden  kann,  wäre  es 
Schwachheit  und  Torheit,  ihn  nicht  zu  zermalmen.  Da  nun 
die  Türken  das  Exerzieren  lernen  wollen,  haben  wir  ihnen  den 
ersten  Unterricht  zu  erteilen  *)."  Der  Kaiser  war  zurück- 
haltender. Er  wollte  eine  Zeitlang  Ruhe  haben,  um  die  inneren 
Angelegenheiten  in  Ordnung  zu  bringen.  Eine  Reihe  von  Bauern- 
unruhen') war  ausgebrochen,  weil  das  Gerücht  allgemein  verbreitet 
war,  daß  Alexanders  Testament  allen  Leibeigenen  die  Freiheit 
geschenkt  habe.  Dieses  Testament  aber  sei  unterschlagen  worden. 
Ein  anderes  Gerücht  wollte  wissen,  daß  den  Bauern  alle  Abgaben 
«riassen  seien.  Sie  wandten  sich  zunächst  gutgläubig  an  den 
Zafen,  aber  er  befahl,  die  Bittsteller  vor  Gericht  zu  stellen,  und 
hat  die  Aufstände  unbarmherzig  niederschlagen  lassen.  Nebenher 
begannen  die  polnischen  Angelegenheiten  ihm  immer  ernstere 
Sorgen  zu  machen.  Daß  Polen  Mitwisser  der  Dezemberverschwörung 
waren,  hatte  die  Untersuchung  in  Petersburg  so  klärlich  erwiesen, 


*)  La  Ferronnays.  23.  Juli  1826.  Die  Nachricht  war  am  22.  in  Petersburg 
eingelaufen.  Auch  Lebzeltern  berichtet,  daß  Petersburg  kriegerisch  ge- 
stimmt sei.  Wenn  er  im  Gegensatz  dazu  betont,  daß  „il  n'y  a  aucun  motif 
pour  croire  que  l'Empereur  partage  cette  maniere  de  voir^,  so  ist  das  nur 
halb  wahr.  Nikolai  fürchtete  im  ersten  Augenblick,  daß  die  Verhandlungen  in 
Akkerman  dadurch  ins  Stocken  kommen  konnten,  wie  wir  aus  seiner  Korre- 
spondenz mit  Konstantin  wissen,  und  wollte  für  den  Augenblick  keinen  Krieg. 
Seine  Lust  zu  einem  Türkenkriege  hat  er  aber  keinen  Augenblick  fallen  lassen, 
wenn  er  sie  auch  nach  Abschluß  des  Friedens  Ton  Akkerman  so  ostentativ 
wie  irgend  möglich  verleugnete. 

^0  V.  S.  R.  G.  1826,  Nr.  300,  30.  April.  Nr.  330,  20.  Mai.  Nr.  399, 
8.  Juni.  Nr.  515,  9.  August.  Alle  fremden  Gesandten  berichten  von  diesen 
Aufständen,  deren  Gefahr  sie  jedoch  meist  überschätzten.  Diese  Gerüchte 
lebten  noch  lange  fort  und  konnten  während  der  ganzen  Regierung  Nikolais 
nicht  zum  Verstummen  gebracht  werden. 


Kapitel  IV.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  143 

daß  schließlich  auch  dem  Großfürsten  Koustantin  nichts  übrig  blieb, 
als  es  zuzugeben.  Ausschlaggebend  wurde  die  Verhaftung  des 
Fürsten  Anton  Jablonowski,  der  von  Pestel,  Bestushew  und 
Ssergej  Murawjew  rücksichtslos  preisgegeben  worden  war,  und  der 
nun  seinerseits  dem  Zaren  alle  erwünschte  Auskunft  über  die  Pläne 
der  polnischen  .Verschworenen  gab,  auch  eine  Reihe  seiner  Mit- 
verschworenen nannte.  Unter  diesen  war  der  Obristleutnant  des 
polnischen  6eneralstabes,  Pradzinski,  den  der  Großfürst  Konstantin 
nach  Warschau  kommen  ließ,  um  ihn  persönlich  zu  verhören.  Er 
wurde  geständig,  als  Konstantin  ihm  sein  Ehrenwort  gab,  daß  er 
bereits  durch  Jablonowski  von  allem  unterrichtet  sei,  doch  behielt 
Pradzinski  die  eigentlich  gravierenden  Tatsachen  für  sich,  so  daß 
der  Großfürst  bei  der  Fiktion  bleiben  konnte,  daß  es  sich  im 
wesentlichen  um  eine  aus  edler  Regung  entsprossene,  von  Alexander 
selbst  gepflegte  patriotische  Verirrung  handele. 

Nach  einigen  Tagen  wurde  dann  Pr{\dzinski  verhaftet  und 
noch  in  derselben  Nacht  der  Major  Severin  Krzyzanowski,  der 
Kastellan  Stanislaus  Soltyk,  Roman  Zaluski,  ein  früherer  Adjutant 
des  Großfürsten,  der  Referendar  Woicech  Grzymala,  der  Sekretär 
A.  Plychta,  Cichowski,  Ludwig  Sobanski  und  viele  andere.  Noch 
zahlreicher  waren  die  Verhaftungen  in  Wolhynien  und  Podolien.  Nach 
einer  Aufstellung,  die  1826  gemacht  worden  ist,  berechnete  man 
die  Zahl  der  bekannt  gewordenen  Mitglieder  der  geheimen  Gesell- 
schaften auf  228^).  Die  angesehensten  Familien  des  Landes,  die 
Sobanski,  Tarnowski,  Moszczinski,  Worcel,  Ossolinski,  Chotkiewicz, 
wurden  durch  die  Verhaftung  eines  oder  mehrerer  ihrer  Angehörigen 
getroffen.  Die  französische  Regierung  lieferte  den  General  Uminski, 
Matheus  Melszinski  und  Joseph  Krzyzanowski  aus').  Ein  blinder 
Schrecken  ging  durch  das  Land,  zumal  diejenigen  der  Verhafteten, 
die  nicht  im  Königreich  Polen  ansässig  oder  angestellt  waren,  nach 


*)  CnncoK'b  MJieHOB-b  TaftHWX'b  iio.ibCKiiX'b  oömecTBT)  (Verzeichnis 
der  Mitglieder  der  geheimen  polnischen  Gesellschaften),  darunter  149  An- 
gehörige der  „Gesellschaft  des  Patriotenbundes^.  Petersburg,  Archiv  des 
Reichsrats,  nach  einer  Abschrift,  die  ich  der  Liebenswürdigkeit  des  kurzlich 
verstorbenen  Professors  ßilbassow  danke.  Sehr  interessantes  Material  für  die 
Geschichte  der  polnischen  Bewegung  im  Jahre  1826  geben  die  Memoiren  von 
Kolaczkowski:  Wspomnenija  generala  Klementa  Kolaczkowskiego.  Krakow  1900. 

^)  Sie  wurden  als  preußische  Untertanen  in  Thorn  interniert  und  dort 
verhört,  später  aber  zur  Konfrontation  nach  Warschau  geschickt. 


144  Kapitel  IV.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

Petersburg  geschickt  wurden  und  russischer,  nicht  polnischer  Justiz 
entgegensehen  mußten.  Das  1.  Departement  des  Petersburger 
Senats  war  dazu  bestimmt  worden. 

Die  öffentliche  Meinung  in  Polen  war  aufs  äußerste  erregt,  sie 
stand  mit  all  ihren  Sympathien  auf  Seiten  der  Verhafteten,  sie 
nahm  zugleich  leidenschaftlich  Partei  gegen  diejenigen,  deren  Aus- 
sagen andere  kompromittiert  hatten.  Namentlich  hart  war  das 
Urteil  über  Jablonowski,  aber  auch  Pr^dzinskis  Geständnis  wurde 
sehr  übel  aufgenommen,  was  diesen  gewiß  nicht  lauen  polnischen 
Patrioten  auf  das  tiefste  verletzte.  Zunächst  wollte  er  sich  aus 
Verzweiflung  darüber  das  Leben  nehmen,  und  nur  auf  die  Zu- 
spräche des  Großfürsten  stand  er  davon  ab.  Um  ihn  zu  trösten 
und  ihm  seine  persönliche  Achtung  zu  bezeugen,  beauftragte  ihn 
Konstantin,  einen  Feldzugsplan  gegen  Österreich  in  seinem  Arrest- 

Ml  

lokal  auszuarbeiten.  Übrigens  verstanden  die  Polen  es  bald,  der 
ganzen  Angelegenheit  eine  möglichst  harmlose  Wendung  zu  geben 
und  ihre  Aussagen  vor  der  Untersuchuugskommission  auf  Grund 
vorausgegangener  Vereinbarung  in  Einklang  zu  bringen*).  Immer- 
hin fand  man  es  nützlich,  eine  Deputation,  an  deren  Spitze  der 
Finanzminister  Graf  Lubecki  stand,  nach  Petersburg  zu  schicken, 
um  dem  neuen  Herrscher  die  Versicherung  der  unverbrüchlichen 
Treue  seiner  polnischen  Untertanen  zu  überbringen.  Der  „konsti- 
tutionelle König^  hat  sie  denn  auch  gnädig  empfangen  und  seine 
tiefe  Abneigung  gegen  das  polnische  Wesen  wohl  zu  verbergen  ver- 
standen. Er  war  entschlossen,  sich  in  aller  Form  in  Warschau  zum 
Könige  von  Polen  krönen  zu  lassen,  und  hatte  auch  die  Verfassung 
Alexanders  bereits  beschworen.  Die  Verhandlungen  über  die 
Krönung  haben  schon  im  Sommer  1826  ihren  Anfang  genommen*), 


^)  Dafür  sorgten  die  polnischen  Damen,  speziell  die  Gräfin  Ljubenska 
geb.  Ossolinska  und  die  Fürstin  Zajonczek,  die  Gattin  des  Yizekönigs.  Sie 
bestachen  die  Wärter,  so  daß  die  Arretierten  nichts  entbehrten,  Bücher,  Zei- 
tungen, Briefe  erhielten,  ihre  Frauen,  Schwestern  und  Freunde  empfingen  und 
miteinander  verkehren  konnten.  Die  russischen  Wachtsoldaten  waren  ihre 
eifrigen  Diener.  Verdächtiger  Besuch  wurde  durch  eine  Glocke  gemeldet,  so 
daß  alles  rechtzeitig  in  Ordnung  gebracht  werden  konnte.  Das  blieb  so  während 
der  ganzen  Dauer  der  Untersuchung,  so  daß  in  der  Tat  ein  himmelweiter 
Unterschied  zwischen  der  Petersburger  und  der  Warschauer  Untersuchungs- 
methode bestand,    conf.  Kolaczkowski.   1.  1. 

^)  Es  ist  fast  unbegreiflich,  daß  Nowossilzew,  der  die  Vorlagen  zu  ent- 
werfen hatte,  den  Antrag  stellen  konnte,  daß  Nikolai  sich  auf  dem  Felde  von 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  145 

und  Nikolai  war  bereit,  alles  zu  leisten,  was  die  Verfassung  ihm 
vorschrieb,  mehr  aber  nicht,  und  dabei  ist  es  geblieben.  Auf  die 
polnische  Delegation  aber  machte  es  außerordentlichen  Eindruck, 
als  die  junge  Kaiserin  sie  dem  Thronfolger  vorstellte  und  dabei  sagte: 
„Er  lernt  schon  Polnisch!"^)  Die  Polen  sind  in  der  Oberzeugung 
heimgekehrt,  daß  von  Nikolai  keine  Gefahr  drohe;  was  aber  den 
Zusammenhang  zwischen  der  russischen  und  der.  polnischen  Ver- 
schwörung betraf,  so  rechnete  man  einerseits  auf  den  Einfluß  des 
Großfürsten  Konstantin,  der  mit  voller  Naivität  an  der  Überzeugung 
festhielt,  daß  es  sich  nur  um  entschuldbare  Verirrungen  einzelner 
Persönlichkeiten  handeln  könne,  und  die  Nation  als  Ganzes  treu 
und  zuverlässig  sei,  anderseits  auf  die  beruhigende  Wirkung 
der  Zeit.  Es  war  nicht  zweifelhaft,  daß  die  Untersuchung  sich 
lange  hinziehen  werde,  war  sie  aber  beendigt,  so  fiel  der  Spruch 
einem  obersten  polnischen  Gerichtshof  zu,  der,  soweit  es  über- 
haupt möglich  war,  alles  zum  besten  kehren  werde. 

Dem  Kaiser  aber  lagen  jetzt  andere  Dinge  am  Herzen.  Er 
hatte  den  Generaladjutanten  Fürsten  Alexander  Ssergejewitsch 
Menschikow  nach  Persien  geschickt,  um  die  noch  von  Alexanders 
Zeiten  her  schwebenden  Grenzstreitigkeiten  endgültig  beizulegen. 
Die  Instruktionen  lauteten  außerordentlich  versöhnlich.  Der  Zar 
war  bereit,  einen  Teil  des  strittigen  Khanats  Taliche  auszuliefern, 
und  schickte  reiche  Geschenke.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß 
er  damit  die  Nebenabsicht  verband,  den  Oberkommandierenden 
General  Jermolow    abzurufen,   wenn    Friede    und    Eintracht    her- 


Wola  zum  Könige  wälilen  lassen  solle.  Natürlich  wollten  weder  Nikolai  noch 
Konstantin  davon  wissen.  Siehe  den  Brief  Nikolais  an  Konstantin  vom 
3.  August  1826  d.  d.  Moskau  und  den  vorausgegangenen  Brief  Konstantins 
vom  21.  Juli.  Nikolai  schreibt:  „Le  memoire  de  Nowossilzeff  m^a  bien  etonn^; 
j'ai  trouve  vos  remarques  parfaitement  justes  et  ne  puis  m'expliquer,  comment 
il  est  possible  qu\in  homme  d'csprit  puisse  me  faire  la  proposition  de  faire 
le  Quirogo  ou  le  Pepe  sur  la  plaine  de  Wola!     C'est  par  trop  fort." 

^)  «II  apprend  d<^ja  le  Polonais.''  Bericht  Schmidts.  Die  Tatsache  ist 
aller  Beachtung  wert,  da  sie  als  Beweis  dafür  dienen  kann,  daß  Nikolai  in 
der  Tat  die  Sonderstellung  Polens  als  etwas  dauerndes  ansah.  Erst  das  Jahr 
1830  brachte  die  verhängnisvolle  Wandlung.  In  den  polnischen  Angelegen- 
heiten wurden  die  Punkte,  über  welche  die  Meinungen  der  Brüder  auseinander- 
gingen, meist  nicht  direkt,  sondern  durch  die  Vermittlung  Opotschinins  ver- 
handelt, dem  Konstantin  in  voller  Offenheit  schrieb  und  der  dann  die  mündlichen 
Entgegnungen  Nikolais  dem  Grol^fürsten  brieflich  mitteilte. 

Schiemann,  Geschichte  Rußlands.  U.  10 


146  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Sebwierigkeiten. 

gestellt  wären.  Denn  der  Mann  war  ihm  verdächtig,  seit  die 
Dekabristen  ihn  als  einen  der  künftigen  Regenten  Rußlands  in 
Aussicht  genommen  hatten,  und  zugleich  verhaßt  vom  Jahre  181Ö 
her*).  Er  verzieh  aber  nie  eine  Beleidigung.  Dann  kam  die  Kot- 
wendigkeit,  die  Militärkolonien  in  andere  Hände  übergehen  zu 
lassen,  da  Araktschejew  den  Dienst  endgültig  quittierte  und  ins 
Ausland  reiste,  um  sich  der  ihm  neuen  und  ungünstigen  politischen 
Atmosphäre  zu  entziehen,  die  ihn  umgab  und  deren  Wirkung  er 
wohl  spürte,  obgleich  der  Kaiser  ihm  äußerlich  keine  Ehren- 
bezeugung versagte').  Aber  der  einst  Allmächtige  war  machtlos 
geworden  und  mochte  den  Triumph  seiner  Feinde  nicht  mit  an- 
sehen. Er  hatte  vor  seiner  Abreise  noch  gesucht,  durch  eine 
reiche  Stiftung  für  die  Institute  der  Kaiserin  Maria  Feodorowna 
die  Gunst  der  Kaiserin-Mutter  zu  erwerben.  Aber  sie  hatte  so 
gut  wie  keinen  Einfluß  und  mußte,  wie  in  den  Tagen  Alexanders, 
sich  damit  zufrieden  geben,  daß  ihr  mit  höchster  Ehrerbietung  be- 
gegnet wurde,  ohne  daß  sie  ihren  Willen  in  Regierungs-  oder  — 
was  ihr  meist  näher  lag  —  in  Personalfragen  hatte  geltend  machen 
können '). 

Auch  die  Notwendigkeit,  in  den  Fragen  auswärtiger  Politik 
Stellung  zu  nehmen,  ließ  sich  nicht  abweisen.     Doch  schien  hier  der 

0  Der  Kaiser  Alexander  hatte  damals  bei  einer  Parade  in  Paris  einige 
Regimentskommandeure  wegen  schlecht  ausgeführten  Parademarsches  arretieren 
lassen  und  als  Arrestlokal  die  englische  Hauptwache  bestimmt.  Jermolow,  der 
darüber  auf  das  äußerste  entrüstet  war»  traf  am  Abend  dieses  Tages  mit  den 
Großfürsten  Nikolai  und  Michail  zusammen  und  sagte  ihnen:  „Glauben  Euere 
Kaiserlichen  Hoheiteui  daß  die  russischen  Soldaten  dem  Kaiser  und  nicht  dem 
Vaterlando  dienen?  Sie  sind  nach  Paris  gezogen,  um  Rußland  zu  verteidigen, 
nicht  um  zu  paradieren.  Mit  derartigen  Torheiten  kann  man  die  Anhänglichkeit 
der  Armee  nicht  gewinnen." 

Aus  den  Tagebüchern  Michailowski  Danilewskis,  mitgeteilt  von  Schilder: 
Alexander.  111.«  S.  330. 

^)  Nikolai  gab  ihm  einen  Brief  an  König  Friedrich  Wilhelm  III.  mit,  in 
dem  es  u.  a.  heißt :  «Je  demande  les  bontes  de  Votre  Majeste  pour  le  porteur 
de  la  präsente.  Le  cri  de  la  haine  publique  sera  probablement  parvenu  a  ses 
oreillcs  —  co  u'est  pas  k  moi  a  elre  le  juge  du  passe  —  je  ne  puis  voir  dans 
Pindividu  qu'uu  otre  ({ui  fut  aimc  et  estimo  par  notre  ange.** 

*>  «11  ne  regne  point  encore  un  accord  amical  entre  flmperatrice  mere 
et  son  auguste  tils;  je  crois  qu'elle  aurait  touIu  etre  plus  consultee,  etre  plus 
intluente,  et  que  ce  quelle  excusait  dans  PEmpereur  defunt  est  regarde  ou 
pris  eu  mauvaise  part  de  celui-ci.    Sur  tous  les  points  il  regne  entre  eux  une 


Kapitel  iV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  147 

Kaiser  ernstlich  bemüht,  in  AngelegenheiteD,  welche  die  rassischen 
Interessen  nicht  direkt  berührten,  keinerlei  Verpflichtungen  auf 
sich  zu  nehmen.  Als  in  Portugal  die  große  Wandlung  eintrat, 
die  sich  an  die  Abdankung  Dom  Pedros  knüpfte,  wurden  die 
russischen  Vertreter  beauftragt,  zu  erklären,  daß  nach  der  Ansicht 
des  Kaisers  Dom  Pedro  als  legitimer  Souverän  von  Portugal  durch- 
aus berechtigt  gewesen  sei,  der  Krone  zu  entsagen.  Wenn  er  sie 
auf  seine  Tochter  Donna  Maria  da  Gloria  übertrug  und  deren  Ver- 
mählung mit  dem  Infanten  Don  Miguel  ins  Auge  faßte,  habe  er 
nur  getan,  was  allgemein  als  ersprießlich  angesehen  werde;  durch 
Verleihung  der  Verfassung  aber  habe  er  von  einem  Recht  Ge- 
brauch gemacht,  das  ihm  nicht  abgesprochen  werden  könne.  Die 
russischen  Gesandten  in  Portugal  und  Spanien  erhielten  die 
Weisung,  über  diesen  letzteren  Punkt  möglichst  zurückhaltend  zu 
sein.     Man  wollte  abwarten  und  sich  nicht  engagieren  *). 

Am  meisten  aber  lag  ihm  doch  an  der  bevorstehenden  Krönung 
in  Moskau.  Um  den  Augenblick  zu  beschleunigen,  war  von  ihm  so 
sehr  auf  den  Abschluß  des  Dekabristen prozesses  gedrungen  worden. 
Am  18./25.  Juli  hatte  die  Hinrichtung  der  fünf  stattgefunden,  am  16. 
verließ  der  Kaiser  Petersburg,  am  21.  traf  er  vor  Moskau  ein'); 
aber  es  gingen  noch  vier  Tage  hin,  ehe  er  seinen  Einzug  in  die  alte 
Residenz  hielt.  Das  geschah  am  25.,  unter  Aufwendung  unge- 
heuerer Pracht  und  militärischen  Prunkes.  Auch  die  fremden 
Höfe  hatten  durch  Wahl  und  Ausstattung  ihrer  Vertreter  das 
möglichste  getan,  um  dem  neuen  Beherrscher  Rußlands  zu 
zeigen ,  welchen  W^ert  sie  auf  gute  Beziehungen  zu  ihm  legten. 
Frankreich  hatte  den  Marschall  Marmont,  Herzog  von  Ragusa, 
(Österreich  den  Prinzen  Philipp  von  Hessen-Homburg,  Preußen  den 
Bruder  der  Kaiserin,  Prinz  Karl  von  Preußen,  England  den  Herzog 

^rande  contradiction,  ce  qui  fatigue  le  monarque  qui  a  Tesprit  constammeDt 
occupe  de  choses  serieuses.  11  fallait  prevoir  ce  genre  de  discussion,  ce  peu 
d^accord  par  le  manque  de  tact  de  la  mere.  Avec  des  qualites  angeliques, 
«lle  manque  totalement  d'esprit  de  conduite,  c'est  le  4^«  regne  oü  ce  defaut 
perce.  .  .  .^  Das  gilt  für  die  voiie  Dauer  ihrer  letzten  I^bensjahre.  Brief 
der  Gräfin  Nesselrode  an  ihren  Bruder,  den  Grafen  Nikolas  Guriew. 
19.  März  1826. 

0  Relation  La  Ferronnays  vom  16.  August  1826. 

^)  Er  logierte  inzwischen  im  sogenannten  Petrowski- Palais.  Dies  sind 
die  richtigen  Daten.  Journal  der  Allerhöchsten  Reisen  in  den  Jahren  1826 
und  1827.   Wojenno-Ütschenny-Archiv,  Abt.  I,  Nr.  619;   russisch. 

10* 


148  Kapitel  IV.     Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

von  Devonshire  geschickt.  Von  den  Vertretern  der  kleinen  Höfe 
fiel  der  Schwede  Baron  Stedingk  auf,  den  Nikolai  durch  besondere 
Gunst  auszeichnete;  Papst  Leo  XII.  hatte  den  Kardinal  Monsignore 
Bernoulli  gesandt,  der  keinen  Anstand  nahm,  sich  den  geistlichen 
Feierlichkeiten  anzuschließen,  die  einen  Teil  des  Festprogrammes 
bildeten. 

Dazu  kamen  die  Vertretungen  der  einzelnen  Gouvernements, 
Adel,  Bauerschaft,  Kaufleute  und  Prachtexemplare  der  verschie- 
denen halb  oder  ganz  barbarischen  Völkerschaften,  die  in  den  Kreis 
der  russischen  Herrschaft  bei  ihrem  Vorrücken  nach  Süd  und  Ost 
hineingezogen  worden  waren. 

Die  Bevölkerung  Moskaus  war  in  der  ersten  Zeit  etwas  zurück- 
haltend. Eine  Unpäßlichkeit  der  Kaiserin  bot  den  vielleicht  er- 
wünschten Anlaß,  den  Kreml  zu  verlassen  und  nach  Xeskutschnoje, 
dem  prachtvoll  gelegenen  Sommersitz  der  frommen  Fürstin  Anna 
Orlow  Tschesmenskaja'),  überzusiedeln.  Hier  wahrscheinlich  fand 
die  merkwürdige  Begegnung  zwischen  Nikolai  und  dem  Grafen 
Wladimir  Grigorjewitsch  Orlow  statt,  dem  Schwiegervater  jenes 
Grafen  Panin,  der  in  der  Vorgeschichte  der  gegen  Paul  I.  gerich- 
teten Verschwörung  einen  so  verhängnisvollen  Einfluß  geübt  hat. 
Orlow,  ein  83jähriger  Greis,  imponierend  durch  Gestalt  und  Größe, 
warf  sich  dem  Kaiser  zu  Füßen  und  bat  um  Aufhebung  der  Strafe, 
die  Alexander  I.  vor  mehr  als  20  Jahren  über  Panin  verhängt 
hatte').  Das  geschah  so  leidenschaftlich,  das  Nikolai  erst  erschreckt, 
dann  gerührt  wurde.  Aber  er  konnte  die  Bitte  nicht  bewilligen. 
Das  einzige  Versprechen,  das  seine  Mutter  ihm  vor  der  Thron- 
besteigung abgenommen  hattie,  war,  Panin  nicht  zu  begnadigen. 
Ebensowenig  Gehör  fanden  die  Bitten  derjenigen,  die  für  die  Deka- 


^)  Es  ist  die  bekannte  Freundin  des  Archimandriten  Photi,  der  in  den 
letzten  Jahren  durch  seinen  unduldsamen  Fanatismus  einen  so  verhängnis- 
vollen Einfluß  auf  Alexander  I.  ausgeübt  hatte.  Neskutschnoje  bedeutet  „nicht 
langweilig*',  und  in  der  Tat  waren  sowohl  das  Palais  wie  die  Landschaft  von 
außerordentlicher  Schönheit.  Kaiser  Nikolaus  schreibt  dem  Schwiegervater  in 
enthusiastischen  Ausdrücken  davon. 

'')  Die  endgültige  Ungnade  Panins  datiert  vom  19.  Februar  1805.  Er 
wurde  seiner  Ämter  enthoben  und  durfte  Petersburg  nicht  betreten.  Auch 
duldete  Alexander  ihn  in  keiner  üfTentlichen  Stellung.  Am  meisten  aber  haßte 
ihn  Maria  Feodorowna,  die  durch  Alexander  vom  Anteil  Panins  an  den  ersten 
Anschlägen  zum  Sturze  Pauls  wußte.  Brückner:  Nikita  Petro witsch  Panin,  Bd.  VI 
und  YII;    passim,    sowie  mein  Buch:    Die  Thronbesteigung  Nikolaus'  I,  S.  7» 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  149 

bristen  eiuzutreteu  versuchten.  Da  handelte  es  sich  um  Prinzipien, 
und  des  Kaisers  ganzer  Stolz  richtete  sich  darauf,  unerschütterlich 
in  seinen  Prinzipien  zu  sein. 

Auch  in  Moskau  war  der  Kaiser  arbeitsam  und  beschäftigt 
wie  immer.  In  den  ersten  Wochen  gab  es  keinerlei  Festlichkeiten; 
die  Fastenzeit,  das  Befinden  der  Kaiserin  Alexandra  diente  als 
Vorwand.  Dann  begannen  die  endlosen  Revuen  und  militärischen 
Exerzitien,  welche  die  Mannschaften  ermüdeten,  aber  den  Zweck 
verfolgten,  sie  in  Atem  zu  halten.  Denn  noch  traute  der 
Kaiser  der  Stimmung  seiner  Truppen  keineswegs^).  Die  nach 
Moskau  zur  Krönung  herangezogenen  Garden  wurden  sorg- 
fältigst beobachtet,  und  auch  über  das  Gerede  der  Mann- 
schaften ließ  sich  der  Kaiser  Bericht  erstatten.  Es  ist  be- 
greiflich, wenn  er  mit  Spannung  und  Bitterkeit  seine  Gedanken 
nach  Warschau  richtete;  das  Fernbleiben  des  Großfürsten  Konstantin 
konnte  den  glücklichen  Ausgang  der  Krönung  gefährden.  Wegen 
der  Bauernaufstände  erschien  die  Teilnahme  des  Zesarewitsch  fast 
wie  eine  Notwendigkeit.  Aber  Nikolai,  der  die  Hartnäckigkeit 
kannte,  mit  der  auch  der  Bruder  an  einmal  gefaßten  Entschlüssen 
festhielt,  hatte  die  Hoffnung  fast  aufgegeben.  Völlig  unerwartet 
traf  der  Ersehnte  dann  am  14./26.  August  spät  abends  in  Moskau 
ein.  Es  war  der  Fürstin  Lowicz  gelungen,  die  Abneigung  des 
Zesarewitsch  gegen  die  Fahrt  zu  überwinden,  und  wie  notwendig 
das  war,  zeigte  der  Umschlag  in  den  Massen  des  Volkes,  als  sie 
beide  Brüder  nebeneinander  sahen.  Erst  jetzt  glaubten  sie  daran, 
daß  Konstantin  freiwillig  zurückgetreten  sei.  Die  eigentliche  Gunst 
gehörte  aber  dem  Großfürsten. 

Es  haben  dann  alltäglich  militärische  Schaustücke  stattgefunden. 
Die  verschiedenen  Truppenteile  wurden  revidiert  und  exerziert, 
am  17.  und  18.  auch  manövriert,  am  22.  August  (3.  September 
n.  St.)  aber  fand  der  feierliche  Krönungsakt  statt.  Der  Kaiser  und 
die  Kaiserin  hatten  wenige  Tage  vorher  wieder  den  Kreml  bezogen. 
Alle  Teilnehmer  sind  darin  einig,  daß  es  eine  überaus  eindrucks- 
volle und  imponierende  Handlung  war.  „Die  Zeremonie,"  —  schreibt 
der  Prinz  Philipp  von  Hessen  —  „von  einer,  ich  möchte  sagen 
afrikanischen  Sonne  beleuchtet^  bot  einen  unbeschreiblich  herrlichen 


^)  Über  einen  Versuch,    die  Truppen   während    der  Krönung   zu   einem 
Aufstand  zu  verleiten,  Russkaja  Starina  1897,  Bd.  II,  S.  37. 


150  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

Anblick  dar.  Das  Lokal  zu  diesem  Zwecke  ist  wohl  einzig  in  der 
Welt.  Vier  nahe  aneinander  stehende,  zum  Schloß  gehörige,  außen 
mit  vergoldeten  Dächern,  inwendig  verschwenderisch  mit  Gold, 
Silber  und  Edelsteinen  versehene  Kirchen  waren  durch  rot  drapierte 
Gerüste  en  amphitheätre  verbunden.  Rund  herum,  über  den  Boden 
erhaben,  eine  für  den  Zug  bestimmte  Galerie  ...  5  bis  6000 
gatgekleidete  Personen,  die  Frauen  häufig  mit  Edelsteinen  geziert, 
füllten  das  Amphitheater.  Die  Kaiserin-Mutter  begab  sich  zuerst 
en  cortege  zur  Kirche  und  nahm  ihren  Thron  ein."  Später  folgten 
Kaiser  und  Kaiserin  mit  den  Reichsinsignien  und  großem  Zuge. 
Sie  nahmen  in  der  Mitte  der  Kirche  auf  erhöhtem  Throne  Platz, 
und  nun  waltete  die  Geistlichkeit  ihres  Amtes.  Der  Metropolit 
von  Nowgorod,  Seraphim,  unter  Assistenz  des  Metropoliten  von 
Kiew,  Jewgeni,  und  des  Erzbischofs  von  Moskau,  vollzogen  die 
kirchlichen  Kaiser  Riten,  währepd  dem  seine  beiden  Brüder  die 
Adjutantendienste  leisteten. 

Nach  der  eindrucksvollen  Rede  Seraphims  wurde  unter  Gebeten 
und  wunderbar  schönem  liturgischem  Gesang  dem  Kaiser  der 
Krönungsmantel  umgehängt,  dann  reichte  der  Metropolit  ihm  die 
Krone,  die  der  Kaiser  sich  selbst  aufs  Haupt  setzte.  Zepter  und 
Reichsapfel  ergriff  er  einen  Augenblick,  um  sie  darauf  wieder 
niederzulegen  und  mit  der  Reichskrone  der  vor  ihm  niederknienden 
Kaiserin  leise  das  Haupt  zu  berühren  und  ihr  eine  andere  kleinere 
Krone  aufzusetzen.  So  kehrte  sie  zu  ihrem  Thron  zurück.  Zu 
allgemeiner  Überraschung  schloß  sich  hieran  eine  im  Krönungs- 
programm nicht  vorhergesehene  pathetische  Szene.  Die  alte  Kaiserin 
hatte  den  kleinen  Thronfolger  Alexander  Nikolajewitsch  zu  sich 
gerufen  und  führte  ihn  nun  an  der  Hand  in  den  Raum  zwischen 
Kaiser  und  Kaiserin,  hier  beugte  sie  sich  vor  ihnen.  Der  über- 
raschte Kaiser  kniete  nieder  und  bat  um  den  Segen  der  Mutter, 
ebenso  die  Kaiserin  mit  dem  Thronfolger,  und  nun  erteilte  Maria 
Feodorowna  „mit  großer  Rührung  und  Würde"  auch  den  beiden 
Großfürsten  Konstantin  und  Michail  ihren  mütterlichen  Segen. 

„Dieser  Vorgang,"  erzählt  der  Prinz  Philipp  von  Hessen^),  „war 
von  unbeschreiblicher  Wirkung  auf  Einheimische  und  Fremde,  ohne 
Unterschied".  Es  folgte  noch  ein  zweites  Tedeum,  und  damit  schloß 
die  offizielle  Feier.     Der  Kaiser  und  die  Kaiserin   kehrten  in  ihre 


^)  Relation  vom  7.  September  1826.    Wien,  K.  K.  Staatsarchiv. 


Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  151 

Gemächer  zurück  und  zeigten  sich  noch  einmal  der  jubelnden,  viel- 
tansendköpfigen  Menge  von  der  roten  Treppe  aus.  Die  Krisis  des 
Thronwechsels  war  jetzt  tatsächlich  überwunden. 

Eine  Reihe  kaiserlicher  Manifeste')  folgte.  Das  erste  and 
wichtigste  regelte  die  Thronfolge  „mit  dem  Segen  unserer  geliebten 
Mutter  nach  vorausgegangener  Billigung  unseres  geliebten  Bruders, 
des  Zesarewitsch  Großfürsten  Konstantin  Pawlowitsch"  und  setzte 
für  den  Fall,  daß  der  Kaiser  vor  erfolgter  Mündigkeit  des  Großfürsten 
Thronfolgers  sterben  sollte,  den  Großfürsten  Michail  zum  Regenten 
und  die  Kaiserin  Alexandra  zur  Vormünderin  ein. 

Das  Krönungsmanifest  gewährte  eine  Reihe  von  Straferlassen 
und  Strafmilderungen,  die  den  Hoflnungen,  die  an  diesen  Tag  ge- 
knüpft waren,  nicht  entsprachen.  Es  waren  in  der  Tat  verhältnis- 
mäßig magere  Gnaden.  Speziell  die  Strafmilderung  für  die  Deka- 
bristen enttäuschte.  Der  Kaiser  hatte  den  zu  lebenslänglicher 
Strafarbeit  Verurteilten  die  Zeit  auf  20  Jahre  herabgesetzt,  auf  welche 
dann  dauernde  Ansiedlung  in  Sibirien  ohne  Herstellung  ihrer 
Standesrechte  folgen  sollte.  Ähnlich  war  mit  den  anderen  Kate- 
gorien der  Dekabristen  verfahren  worden.  Aus  20  Jahren  Zwangs- 
arbeit wurden  15,  aus  15  wurden  10  und  so  fort^  Es  war  keine 
einzige  volle  Begnadigung  darunter.  Auch  war  das  Manifest  so 
nachlässig  formuliert,  daß  an  einigen  der  Dekabristen,  wie  z.  B. 
an  dem  unglücklichen  Batenkow,  dieser  Gnadenerlaß  ganz  wirkungs- 
los vorüberging.  Am  meisten  befriedigten  noch  die  Vergünstigungen, 
welche  Geldangelegenheiten  betrafen:  Klagesachen,  welche  Schädi- 
gungen des  fiskalischen  Interesses  in  sich  schlössen,  oder  Kriminal- 
klagen, die  seit  zehn  Jahren  anhängig  waren,  wurden  annulliert, 
außerdem  alle  pekuniären  Benachteiligungen  der  Krone,  die  einen 
Wert  von  2000  Rubel  nicht  überstiegen,  sowie  gewisse  Kategorien 
von  Steuerrückständen. 

Außer  zahlreichen  Ordensverleihungen  und  Beförderungen,  unter 
welchen  die  Ernennung  Sackens  und  Wittgensteins  zu  General- 
Feldmarschällen,  und  Diebitschs  zum  General  der  Infanterie,  das 
meiste  Aufsehen  erregten,  fand  auch  eine  Reihe  von  Standes- 
erhöhungen statt.  Die  alte  Gräfin  Charlotte  Lieven  mit  ihrer  Des- 
zendenz    wurde     in     den     Fürstenstand    erhoben,     Tatischtschew, 


>)  V.  S.  Ruß.  Gesetze.    2.  Folge,  Nr.  537   bis  549.    Sie  datieren  sämtlich 
▼om  22.  August  russischen  Stils. 


152  Kapitel  IV.    Innere  und  auswärtige  Schwierigkeiten. 

Tscheroyschew,  Konstantins  Freund  und  Günstling  Kuruta^  Stro- 
ganow  and  Pozzo  di  Borgo  zu  Grafen  gemacht.  Graf  Nesselrode 
erhielt  einen  schönen  Besitz  im  Tambowschen,  Fürst  Peter  Michai- 
lowitsch  Wolkonski  50000  Rubel  geschenkt.  Endlich  wurde  der 
General  Klein michel,  bisher  die  rechte  Hand  Araktschejews,  zum 
Generaladjutanten  ernannt.  Es  war  der  Lohn  dafür,  daß  er  die 
Geheimnisse  seines  Protektors  dem  Kaiser  bloßgelegt  hatte.  Niko- 
lai konnte  ihn  nicht  achten,  aber  er  hatte  sich  davon  überzeugt, 
daß  der41ann  brauchbar  war:  ein  unbedingt  gefügiges  Instrument, 
wie  Araktschejew  es  heranzubilden  verstand. 

Schon  am  Tage  vor  der  Krönung  war  in  Ausführung  eines 
Lieblingsplanes  des  Kaisers  das  Ministerium  des  kaiserlichen 
Hofes  unter  dem  Fürsten  P.  M.  Wolkonski  als  Minister  begründet 
worden.  Es  umfaßte  außer  den  speziellen  Hofangelegenheiten  das 
Departement  der  Apanagen  und  das  Kabinett  des  Kaisers,  war  nur 
ihm  verantwortlich  und  hatte  ausschließlich  von  ihm  Befehle  ent- 
gegenzunehmen. Den  Direktor  der  Kanzlei  dieses  Ministeriums  er- 
nannte der  Kaiser  selbst,  alle  übrigen  Beamten  der  Minister^). 
Die  Bedeutung  dieses  Ministeriums  aber  ist  stetig  gewachsen.  Die 
kaiserlichen  Theater,  Schloß  und  Schloßgebiet  von  Gatschina,  die 
Akademie  der  Künste,  das  Palais  in  Bialystok,  der  Petersburger 
botanische  Garten,  gewisse  Zensurbefugnisse  usw.,  schließlich  auch 
noch  sehr  ausgedehnte  Polizeifunktionen  fielen  ihm  zu.  Dadurch, 
daß  dieses  Ministerium  jeder  Kontrolle  durch  den  Senat  entbehrte 
und  auch  nicht  unter  dem  Einflüsse  des  Ministerkomitees  stand, 
dessen  Aufgabe  es  war,  das  Verhältnis  der  Reichsinteressen  aus- 
zugleichen, mußte  es  allerdings  ein  singuläres  Instrument  des  Abso- 
lutismus werden,  ähnlich  wie  die  BenkendoriTsche  Geheimpolizei,  zwar 
unschädlicher  als  diese^  aber  ganz  außerordentlich  kostspielig.  Von 
den  mit  dem  Krönungstage  in  Zusammenhang  stehenden  Ereignissen 
der  inneren  Politik  ist  die  Errichtung  dieses  Ministeriums  un- 
zweifelhaft das  bedeutendste.  Nicht  etwa,  weil  an  sich  die  Er- 
richtung eines  Hofministeriums  bedenklich  gewesen  wäre,  sondern 
als  Symptom  jenes  besonderen  nikolaitischen  Absolutismus,  der  sich 
im  Laufe  der  Jahre  so  charakteristisch  ausbilden  sollte. 

Die  Festlichkeiten,  die  sich  an  die  „heilige^  Krönung  schlössen, 
dauerten  noch  bis  zum  4.  Oktober;  trotz  der  Aussicht  auf  weitere 


1)  S.  R.  G.  541.    Der  Etat  der  Kanzlei  Nr.  542,  er  betrug  19350  Rubel. 


Kapitel  IV.    lonere  und  auswärtige  Schwierigkeiten.  153 

Revuen  und  andere  Schaustellungen  militärischen  Charakters  ver- 
ließ Großfürst  Konstantin  schon  am  22.  August,  also  am  Tage 
nach  der  Krönung,  Moskau.  Er  war,  während  ihn  der  Kaiser  in 
jeder  denkbaren  Weise  ausgezeichnet  und  das  Volk  ihn  überall 
stürmisch  begrüßt  hatte,  die  ganze  Zeit  hindurch  außerordentlich  sar- 
kastisch gestimmt  gewesen.  Sein  liebster  Wunsch  sei,  so  sagte  er,  mög- 
lichst bald  seinen  Abschied  zu  nehmen  und  etwa  als  Platzmajor  in 
Mainz  oder  als  russischer  Vertrete*'  in  Frankfurt  a.  M.  sein  Leben  zu  be- 
schließen. Die  den  Großfürsten  genauer  kannten,  urteilten  anders. 
Der  Bruder  Nikolaus  war  ihm  keineswegs  sympathisch,  seine  Re- 
gierungsanfänge  und  seine  politischen  Anschauungen  schienen  ihm 
wenig  Keife  zu  beweisen.  Daß  das  Volk  von  Moskau  mehr  an 
ihm,  dem  Großfürsten,  hing,  als  an  dem  Kaiser,  hatte  der  Augen- 
schein erwiesen.  Wäre  es  da  nicht  vielleicht  doch  klüger  ge- 
wesen, zuzugreifen,  als  die  Krone  ihm  immer  wieder  geboten  wurde? 
Als  der  Zesarewitsch  wieder  in  Warschau  war,  sagte  er  seinem 
Freunde  Opotschinin:  „Nun  hat  man  meine  Seelenmesse  gefeiert!** 

In  Moskau  aber  gingen  die  eigentlichen  Vergnügungen,  die 
Bälle,  Feuerwerke  und  militärischen  Schaustellungen  erst  nach  der 
Abreise  des  Zesarewitsch  an.  Die  Festlichkeiten,  welche  der  Fürst 
Jussupow  und  danach  die  Gräfin  Anna  Orlow ')  dem  Kaiserpaar 
gaben,  waren  ganz  im  Stil  der  unter  Alexander  I.  verklungenen 
Tage  Katharinas;  „Feenmärchen  ähnlich",  schreibt  der  Prinz  von 
Hessen  dem  Fürsten  Mctternich.  Es  war  nicht  daran  zu  denken^ 
daß  die  fremden  Botschafter  mit  dieser  Pracht  rivalisierten;  nur 
auf  dem  Boden  der  Leibeigenschaft  konnte  sie  erstehen,  und  nur 
dort  konnte  man  Millionen  vergeuden,  ohne  für  die  Zukunft  zu 
sorgen.  Es  waren  doch  immer  nur  Zinsen  des  stetig  anwachsen- 
den Kapitals  der  Leibeigenen,  die  man  verausgabte. 

Während  die  meisten  der  Gäste  bereits  am  5.  Oktober  Moskau 
verlassen  hatten,  blieb  der  Kaiser  noch  bis  zum  12.  Oktober.  Erst 
hatte  er,    der  frommen  Sitte  alter  Zeiten  folgend,    dem  Troitzky 


1)  «La  fete  du  prince  Jussupow  a  ete  charmante  et  a  üclipse  Celles  des  am- 
hassadeurs  de  France  et  d'Angleterre,  celle  de  la  princesse  Orlow  a  ecrase  toutes 
les  fetes  par  sa  magnificence  et  son  bon  gont.  G'est  la  plus  belle  qu'on  ait 
Jamals  donnee;  les  proportions  depassaient  meme  celles  d^un  particulier;  le 
local  et  les  omements  appartenaient  au  luxe  d'un  souverain.*  Benkendorf  an 
Woronzow.  Moskau,  19.  September  1826.  Archiv  Woronzow  XXXV.  Moskau 
1889. 


154  Kapitel  V.    Der  Perserkrieg. 

Sergijew-KIoster  seinen  Resüch  gemacht,  danach  einen  Besuch  in 
der  Gewehrfabrik  zu  Tnia,  der  drei  Tage  in  Anspruch  nahm,  dann 
aber  drängten  die  Regierungssorgen. 

Während  der  Tage  des  Krönungsjubels  war  Rußland  wider 
Willen  und  Erwarten  durch  einen  treulosen  Anfall  der  Perser  auf 
russisches  Grenzgebiet  in  einen  Krieg  verwickelt  worden,  der  um 
so  mehr  Sorge  machte,  als  die  Verhandlungen  von  Akkerman  da- 
mals noch  nicht  ihren  Abschluß  gefunden  hatten  und  der  Kaiser, 
wie  wir  wissen,  dem  General  Jermolow  kein  Vertrauen  entgegen- 
brachte. Aber  die  glückliche  Lösung  der  türkischen  Schwierigkeiten 
bedeutete  nur  den  Abschluß  eines  Vorstadiums  des  sich  immer 
mehr  in  den  Vordergrund  drängenden  orientalischen  Problems. 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.*) 

Die  persische  Frage  hatte  den  Kaiser  Alexander  während  der 
ganzen  Dauer  seiner  Regierung  beschäftigt,  wenn  sie  auch  weniger 
au  die  Oberfläche  seiner  politischen  Bestrebungen  getreten  war,  als 
die  gegen  die  Türken  gerichtete  Aktion.  Aber  der  Friede  von 
Gulistan  vom  12./24.  Oktober  1813*)  enthielt  ebenso  strittige 
Punkte  wie  der  Friede  von  Bukarest,  und  die  Lage  wurde  noch 
dadurch  kompliziert,  daß  Persien  im  Bündnis  mit  England  stand. 
Unmittelbar  nach  Abschluß  des  Friedens  war  es  zwischen  Rußland 
und  dem  Statthalter  von  Aderbeidschan,  Abbas  Mirza,  dem  Sohn 
und  Thronfolger  des  alten  Schah  Fet  Ali  Khan,  zu  Grenzstreitig- 
keiten gekommen,  in  welchen  England  bemüht  war,  für  die 
persischen  Ansprüche  einzutreten.  Das  wurde  nun  freilich  von 
Alexander  mit  Entschiedenheit  zurückgewiesen,  aber  er  beauftragte 
den  Oberkommandierenden  im  Kaukasus,  General  Jermolow,  über 
die  Grenzrichtung  in  Verhandlung  zu  treten,  und  hoffte  dabei  durch 
Eintausch  der  von  ihm  okkupierten  Gebiete  jenseit  des  Araxes 
gegen  die  Khanate  Eriwan  und  Nachitschewan  Vorteile  zu  er- 
reichen,   die   dem  Handel  von  Astrachan  zugute  kommen  sollten. 

')  Fürst  Schtscherbatow:  Generalfeldmarschall  Fürst  Paskiewitsch.  Sein 
Leben  und  seine  Tätigkeit..  Nach  ungedruckten  Quellen  des  Generalstabes. 
Band  I  u.  II.    Petersburg  1888—1890.     Russisch. 

2)  Jusefowitsch:  |,Die  Verträge  Rußlands  mit  dem  Orient*.  Petersburg 
1869.  S.  208—214.    Russisch. 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  155 

Es  spielte  auch  die  Frage  der  Thronfolge  in  Persien  mit.  Der  von 
einer  freien  Kadscharin  geborene  Abbas  Mirza  hatte  zwei  ältere 
Brüder,  deren  Mütter  Sklavinnen  des  Harems  gewesen  waren.  Er 
wünschte,  zur  Sicherung  seines  Erbrechts,  Anerkennung  und  Gewähr- 
leistung desselben  durch  Rußland.  Zur  Anerkennung  war  Rußland 
bereit,  aber  es  lehnte  jede  Bürgschaft  ab,  und  das  hatte  die  Folge, 
daß  Abbas  Mirza  ganz  dem  englischen  Einfluß  verfiel  und  Jermolow 
sich  fortan  bemühte,  dem  älteren  Bruder,  M^hmed  Ali,  die  Nach- 
folge zu  sichern.  Schon  im  Jahre  1817  schien  ein  russisch-persischer 
Krieg  bevorzustehen.  Aber  der  Kaiser  wollte  nicht.  Darüber  ist 
Mehmed  Ali  im  Jahre  1822  gestorben,  und  Jermolow  warf  sich 
nun  zum  Beschützer  des  zweiten,  noch  lebenden  Bruders  Abbas 
Mirzas  auf,  des  gänzlich  unfähigen  Mehmed  Yali  Mirza,  der  eben- 
falls zahlreiche  Anhänger  fand.  So  dauerten  die  Gegensätze  fort, 
ohne  daß  Jermolow  sein  Ziel,  den  Krieg,  erreicht  hätte.  Nach 
wie  vor  traten  dem  Zaren  die  persischen  Angelegenheiten  hinter 
den  türkischen  zurück.  Jermolow  war  so  erbittert,  daß  er  am 
12./24.  Juli  1825  seine  Entlassung  anbot,  um,  wie  er  sein  Ge- 
such begründete,  als  Privatmann  während  des  unmittelbar  bevor- 
stehenden Krieges  die  Züchtigung  der  Perser  mit  anzusehen. 
Aber  der  Kaiser  lehnte  sein  Gesuch  ab.  Er  glaubte  nicht  an  die 
Notwendigkeit  eines  Krieges  und  beauftragte  Jermolow,  alles,  was 
an  ihm  liege,  zu  tun,  um  den  Frieden  aufrecht  zu  erhalten. 

Nun  hatte  Jermolow  gewiß  recht,  wenn  er  kriegerische  Ver- 
wicklungen für  bevorstehend  hielt*  aber  es  läßt  sich  nicht  übersehen, 
daß  er  selbst  wesentlich  dazu  beigetragen  hatte,  die  Spannung  zu 
steigern.  Er  hatte  in  den  Grenzprovinzen  eine  rücksichtslose  Russi- 
iizierungspolitik  verfolgt,  die  Khane,  die  sich  Rußland  unterworfen 
hatten,  abgesetzt  und  unfähigen  und  begehrlichen  Beamten  die  Ver- 
waltung übertragen.  Namentlich  die  Mißwirtschaft  des  Generals 
Madatow  hatte  die  Erbitterang  so  geschärft,  daß  die  Bevölkerung  nichts 
sehnlicher  wünschte,  als  die  Rückkehr  der  persischen  Oberherrlich- 
keit. Dazu  kam,  daß  Abbas  Mirza  das  russische  Militär,  das  von 
den  Generalen  mehr  für  den  eigenen  Vorteil  genützt,  als  für  den 
Krieg  ausgebildet  wurde,  nur  gering  schätzte  und  voll  Vertrauen 
auf  seine  eigenen  Truppen  blickte,  die  von  englischen  Instruktoren 
sorgfältig  geschult  waren.  Die  übertriebenen  Nachrichten,  die  nach 
Persien  über  den  Dezemberaufstand  drangen,  hoben  die  Zu- 
versicht.   Abbas  Mirza  setzte  seinen  ganzen  Einfluß  daran,  um  den 


156  Kapitel  V.     Der  Perserkrieg. 

alten  Schah  zu  bewegen,  Rußland  den  Krieg  zu  erklären.  Auch 
eine  Hofintrige  spielte  mit.  Der  erste  Minister,  Alla  Jar  Khan 
Assefudoule,  war  Schwiegersohn  des  Schah,  und  seine  Schwester 
Gemahlin  des  Thronfolgers.  Trotzdem  war  damals  seine  Stellung 
schwer  bedroht,  und  er  hoffte  durch  einen  glücklichen  Krieg  sie 
wieder  zu  befestigen.  Endlich  war  in  Teheran  ein  Scheik  aus 
Kerbala  erschienen,  der  den  heiligen  Krieg  predigte  und  dem 
Schah  eine  Bittschrift  überbrachte,  die  von  der  Mehrheit  der 
mohammedanischen  Geistlichen  der  Grenzprovinzen  unterzeichnet 
war,  und  ebenfalls  den  Krieg  verlangte.  Der  Summe  dieser  Ein- 
flüsse konnte  Fet  Ali  nicht  widerstehen.  Der  Krieg  war  bereits 
beschlossen,  bevor  Menschikow  aufbrach,  und  nur  die  Hab- 
sucht und  Neugier  des  Schah  hielt  den  Bruch  noch  einige  Zeit 
auf,  weil  er  sich  die  Geschenke  des  Zaren,  darunter  ein  kostbares 
Bett  aus  Kristall,  nicht  wollte  entgehen  lassen ').  So  konnte 
Menschikow  in  scheinbarem  Frieden  am  1./13.  Juli  nach  langen, 
vorausgegangenen  Verhandlungen  über  das  Zeremoniell,  seine  Audienz 
in  Sultanie,  der  Soramerresidenz  des  Schah,  erlangen.  Aber  schon 
während  des  Empfanges  kam  es  zu  Mißhelligkeiten,  und  bald 
konnte  Menschikow  sich  nicht  mehr  darüber  täuschen,  daß  die 
Perser  sich  zu  einem  Einfall  in  das  russische  Gebiet  vorbereiteten. 
Die  diplomatischen  Verhandlungen  wurden  von  den  Persern  trotz- 
dem fortgesetzt;  sie  wollten  den  Schein  einer  gütlichen  Verständi- 
gung erreichen,  um  die  Geschenke  des  Zaren  zu  erhalten.  Als 
schließlich  kein  Zweifel  mehr  über  die  feindseligen  Absichten 
Persiens  bestehen  konnte  und  der  Schah  nach  Ardebil  zog,  um 
dem  Schauplatz  der  bevorstehenden  Kämpfe  näher  zu  sein,  hatte 
er  noch  die  Schamlosigkeit,  zu  versichern,  daß  er  seinen  Frieden 
mit  dem  großen  Kaiser  nicht  breche,  es  handele  sich  nur  um  einen 
Streit  zwischen  Abbas  Mirza  und  General  Jermolow,  den  könnten 
diese  beiden  miteinander  ausfechten,  ohne  daß  darum  Schah  oder 

*)  Es  sind  neuerdings  zwei  interessante  Tagebucher  zur  Geschichte  des 
Perserkrieges  veröffentlicht  worden.  Das  eine  von  dem  englischen  Arzt 
Willich  war  schon  1828  in  der  »London  Literary  Gazette"  (Nr.  vom  5.  bis 
12.  April)  publiziert  worden,  und  ist  danach  in  russischer  Übersetzung  nebst 
Einleitung  von  J.  A.  Ssinowjew,  Russkaja  Starina  1897,  Oktober,  wiederholt 
worden.  Es  reicht  vom  24.  Oktober  bis  5.  November  1827.  Das  andere  ist 
das  Tagebuch  des  Generalleutnants  F.  F.  Bartholomei,  eines  der  Begleiter 
Menschikows,  und  reicht  vom  16.  Februar  1826  bis  zum  20.  Oktober  des 
Jahres.     Russkaja  Starina  1904,  April-Mai. 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  157 

Kaiser  einzugreifen  brauchten.  Die  Russen  ihrerseits  setzten  die 
Verhandlangen  fort,  ohne  sich  Illusionen  über  den  Ausgang  hinzu- 
geben. Die  persischen  Unterhändler  erhoben  Ansprüche  auf  das 
Khanat  Schugarei,  obgleich  es  nach  dem  nicht  mißverständlichen 
Wortlaut  des  Traktats  von  Gulistan  Rußland  abgetreten  worden  war^). 

Am  12./24.  Juli  brach  endlich  Menschikow  mit  seinem  Ge- 
folge auf,  ohne  daß  irgend  bindende  Vereinbarungen  getroffen  waren. 
Den  Austausch  der  Geschenke  aber  hatte  der  Schah  dadurch  er- 
zwungen, daß  er  seine  verhältnismäßig  geringen  Gaben  Menschikow 
zustellen  ließ.  Nur  unter  steter  Lebensgefahr  erfolgte  dann  der 
Rückzug  der  Gesandtschaft  nach  Tiflis,  das  erst  am  5./17.  September 
erreicht  w^urde.  Kurz  vor  der  Stadt  aber  traf  Menschikow  den 
Generaladjutanten  Paskiewitsch,  der  im  Begriff  war,  nach  Jelissa- 
wetpol  zu  reiten. 

Inzwischen  war  nämlich  das  Folgende  geschehen:  Abbas  Mirza 
hatte,  ohne  auf  Widerstand  zu  stoßen,  sich  Jelissawetpols  und  des 
ganzen  Khanats  Karabag  bemächtigt.  Am  20.  Juli,  das  ist  am 
Tage,  nachdem  Menschikow  in  Tabris  eingetroffen  war,  hatten  die 
Perser  Schuscha  umschlossen,  und  nun  fielen  ihnen  alle  die  ehemals 
persischen  Khanate  zu,  die  seit  1813  unter  russischer  Herrschaft 
standen.  Der  erste  Bericht  des  Generals  Jermolow,  datiert  vom 
22.,  traf  in  Moskau  während  der  Krönung  ein.  Er  erzählte  von 
diesen  Erfolgen  der  Perser  und  schrieb,  es  sei  nur  geschehen,  was 
er  längst  vorhergesagt  habe.  Was  aus  Menschikow  geworden  sei 
wisse  er  nicht,  auch  sei  er  (Jermolow)  für  einen  Krieg  nicht  vorbereitet, 
da  unmöglich  eine  solche  Verräterei  erwartet  werden  konnte  während 
eine  russische  Gesandtschaft  in  Persien  weilte.  Ein  zweiter  Brief 
vom  30.  meldete  neue  Erfolge  der  Pei-ser,  der  Oberst  Reut  werde 
in  Schuscha  belagert,  das  nur  schlecht  verproviantiert  sei ;  es  bleibe 
nichts   übrig,    als    auch    die  Khanate  Talyschin    und  Schirwan    zu 


»)  Jusefowitsch  1.  1.  S.  210  Artikel  III  des  Vertrages.  „S.  Majestät  der 
Schah  ....  erkennt  hiermit  feierlich  für  sich  und  seine  Nachfolger  an  ...  . 
daß  dem  russischen  Reiche  zu  eigen  gehören  die  Khanate  ....  dazu  ganz 
Daghistan,  Gnisien  mit  der  Provinz  Schugarei...." 

Es  haben  hier  bestimmt  englische  Intrigen  mitgespielt.  Persien  bezog 
Yon  der  Ostindischen  Kompagnie  eine  jährliche  Zahlung  von  800000  Rubel, 
die  Kompagnie  aber  hatte  gedroht,  diese  Pension  einzustellen,  wenn  Persien 
die  Russen  nicht  sofort  angreife.  Das  bezeugen  die  Aussagen  Ogurlu  Khans 
von  Jelissawetpol  vom  15./27.  September  1826.   Bei  Schtscherbatow  1. 1. 1.  Anlage. 


158  Kapitel  V.    Der  Perserkrieg. 

räumeu  und  Verstärkungen  abzuwarten.  Ein  Aufstand  aller  Musel- 
männer sei  wahrscheinlich,  selbst  Grusien  nicht  mehr  sicher.  Diese 
Berichte,  die  dem  Kaiser  durch  den  Chef  des  Generaistabs  Diebitsch, 
der  kein  Freund  Jermolows  war,  vorgelegt  wurden,  erregten  den 
höchsten  Zorn  Nikolais.  Er  schickte  dem  General  zwar  eine  Divi- 
sion Infanterie  und  eine  Ulanen-Division,  befahl  aber  zugleich  noch 
vor  ihrem  Eintreffen  offensiv  vorzugehen  und  teilte  Jermolow  mit, 
daß  der  General  Paskiewitsch  beauftragt  sei,  die  militärischen  Opera- 
tionen unter  der  Oberleitung  Jermolows  zu  führen,  während  Jermo- 
low selbst  dafür  sorgen  solle,  Unruhen  im  Innern  der  russisch-kau- 
kasischen Gebiete  zu  verhindern. 

Es  war  damit  für  Jermolow  eine  unhaltbare  Lage  ge- 
schaffen, und  das  tritt  noch  deutlicher  zutage,  wenn  man  die 
geheimen  Aufträge  kennt,  die  Paskiewitsch  mündlich  und 
schriftlich  vom  Kaiser  erhielt.  Das  Tagebuch  Paskiewitschs  gibt 
uns  über  die  ersteren  zuverlässige  Auskunft.  „Ich  meldete  mich 
beim  Kaiser"  —  notiert  Paskiewitsch  — ,  „er  empfing  mich  unter  vier 
Augen  in  seinem  Kabinett.  Ich  weiU,  sagte  mir  Seine  Majestät,  daß 
du  nicht  in  den  Kaukasus  ziehen  willst,  Diebitsch  hat  mir  alles 
erzählt.  Aber  ich  bitte  dich,  tue  es  für  mich.  Als  ich  dann  wieder- 
holte, was  ich  schon  Diebitsch  gesagt  hatte,  und  hinzufügte,  ich 
würde  Jermolow  untergeordnet  sein  und  deshalb  keinerlei  Anordnun- 
gen treffen  und  auch  keine  Verantwortung  für  die  Ausführung  über- 
nehmen können,  da  sagte  der  Kaiser:  ,Bin  ich  wirklich  so  unglücklich, 
daß,  da  ich  eben  erst  gekrönt  wurde,  die  Perser  mir  schon  einige 
unserer  Provinzen  entrissen  haben  sollen;  gibt  es  denn  in  Rußland 
keine  Männer,  die  die  Würde  des  Reiches  aufrechterhalten  können? 
Ich  bitte  dich,  ziehe  hin,  für  mich  und  für  Rußland.  Sieh  —  ich 
habe  hier  vierzig  Generale  — ,  zeige  mir  nur  einen,  dem  ich  diesen 
Auftrag  anvertrauen  und  auf  den  ich  mich  ganz  verlassen  könnte. 
Ich  weiß,  du  hast  meinen  Bruder  geliebt,  sein  Schatten  steht 
zwischen  uns,  er  bittet  dich  aufzubrechen.  Du  sprichst  von 
Schwierigkeiten,  die  Jermolow  machen  werde!  Das  alles  ist  richtig, 
aber  ich  schicke  ihm  Ukase,  daß  er  nichts  ohne  Beratung  mit  dir 
unternehmen  solle,  weder  in  militärischen,  noch  in  Zivil-Angelegen- 
heiten. Dir  aber  werde  ich  einen  besonderen  Ukas  geben,  ihn 
abzusetzen,  wenn  Unordnungen  entstehen,  oder  wenn  er  absichtlich 
Schwierigkeiten  machen  und  meine  Ukase  nicht  erfüllen  sollte,  die 
ihn  verpflichten    in  Gemeinschaft   mit    dir   zu   handeln.'      Diesen 


Kapitel  V.     Der  Perserkrieg.  159 

Ukas  schrieb  der  Kaiser  eigenhändig  nieder  und  übergab  ihn  mir 
persönlich*).  „Von  einer  Ablehnung  des  Kommandos  konnte  natür- 
lich weiter  die  Rede  nicht  sein." 

So  ausgerüstet  traf  Paskiewitsch  am  29.  August  (st.  v.)  in 
Tiflis  ein,  und  trotz  der  Schwierigkeiten,  die  der  auf  das  tiefste 
gekränkte  Jermolow  ihm  zunächst  machte,  gelang  es  ihm  durchzu- 
setzen, daß  die  ihm  übertragene  Führung  der  Truppen  durch  einen 
Armeebefehl  bekannt  gegeben  wurde.  Aber  er  mußte  sich  darin 
finden,  daß  Jermolow  ihm  für  seine  Operationen  Instruktionen 
erteilte,  und  die  gingen  dahin,  daß  er  den  Aras  nicht  überschreiten 
solle.  Da  die  Perser  wider  Erwarten  die  Belagerung  von  Schuscha 
aufgegeben  hatten,  das  der  Oberst  Reut  hartnäckig  und  heldenmütig 
anderthalb  Monate  behauptete,  richteten  sich  die  Operationen  der 
Russen  auf  Jelissawetpol,  das  der  große  Dieb  General  Madatow 
besetzt  hielt,  das  aber  nur  für  15  Tage  Proviant  hatte,  und  von 
Abbas  Mirza,  der  mit  40000  Mann  im  Anmarsch  war,  sehr  ernst- 
lich bedroht  wurde.  Gleich  hier  rechtfertigte  Paskiewitsch  die  Wahl 
des  Kaisers.  £r  kam  durch  Eilmärsche  den  Persern  zuvor  und 
erreichte  am  10./22.  September  die  Stadt,  fast  unmittelbar  vor  dem 
Eintreffen  des  Feindes.  Die  Truppen  von  Madatow  waren  in 
so  schlechtem  Stande,  daß  Paskiewitsch  sie  fast  im  Angesicht  des 
Feindes  exerzieren  lassen  mußte,  um  wenigstens  zu  erreichen,  daß 
sie  Kolonnen  und  Karree  formieren  lernten.  In  der  Nacht  auf  den 
13.  erfuhr  er,  daß  Abbas  Mirza  ihn  angreifen  wolle  und  zugleich, 
daß  der  Khan  von  Eriwan  aufgebrochen  sei,  um  ihm  während  der 
Schlacht  in  den  Rücken  zu  fallen.  Allein  Paskiewitsch  war  ent- 
schlossen, seinerseits  die  Offensive  zu  ergreifen.  Am  15.  um  7  Uhr 
morgens  verließ  er  mit  den  7000  Mann,  über  die  er  verfügen  konnte, 
seine  Wagenburg,  um  9  Uhr  begann  die  Schlacht.  Die  Perser 
hatten  achtzehn  Bataillone  Sarbasen  —  das  ist  reguläre  Infanterie 
—  in  der  Frontlinie  aufgestellt,  in  den  Intervallen  Batterien  von 
drei  und  vier  Geschützen,  während  hinter  ihnen  die  von  Kamelen 
getragene  Bergartillerie  geordnet  war.     Die  Kavallerie,  gegen  25000 

0  Generalfeldmarscball  Fürst  Paskiewitsch.  Sein  Leben  und  seine 
Tätigkeit.  Nach  imedierten  Quellen  vom  Generalmajor  des  Generalstabes 
Fürsten  Schtscherbatow.  Petersburg  1888.  Russisch.  Bd.  I  S.  394  und  395. 
Das  Tagebuch  Paskiewitscbs  vom  1.  August  bis  1.  September  (russ.  Stils)  182G 
Bd.  II  Anlagen  S.  46  ff.  Zu  vergleichen  sind  die  Memoiren  von  Murawjew- 
Karski,  Russki  Archiv  1889  August. 


160  Kapitel  V.    Der  Perserkrieg. 

Pferde,  hielt  beide  Flanken,  in  der  Reserve  hinter  der  ersten  Linie 
standen  zwei  Bataillone  der  Garde  des  Schahs  und  40UO  Mann 
regulärer  Infanterie.  So  standen  sie  länger  als  eine  Stunde  der 
kleinen  russischen  Heeresmacht  gegenüber,  bis  Paskiewitsch  den 
Augenblick  für  den  Angriff  geeignet  fand.  Er  ließ  seine  Infanterie 
in  drei  Linien  vorgehen,  verstärkt  durch  Artillerie,  Schützen  und 
Jäger,  und  hatte  zwischen  die  zweite  und  dritte  Linie  sechs  Schwa- 
dronen Dragoner  geschoben.  Jede  Linie  war  etwa  200  Schritt  von 
der  anderen  entfernt.  Die  rechte  Flanke  bildeten  vier  Sotnien 
Kosaken,  die  linke  die  grusinische  Miliz.  Das  Kommando  über 
die  Infanterie  hatte  General  Madatow,  während  General  Weljaminow 
die  Infanterie  kommandierte.  Die  Entscheidung  ist  dann  in  wenigen 
Stunden  gefallen.  Die  Perser  hielten  dem  russischen  Artilleriefeuer, 
das  den  Kampf  einleitete,  nicht  übel  stand  und  brachten  sogar  die 
erste  Linie  der  russischen  Infanterie  durch  ihre  Inianteriesalven 
ins  Schwanken,  während  gleichzeitig  ihre  Kavallerie,  durch 
eine  Schlucht  gedeckt,  sich  auf  die  grusinische  Miliz  stürzte  und 
sie  in  wilder  Flucht  auf  die  vor  Jelissawetpol  liegende  russische 
Wagenburg  zurückwarf.  Als  aber  Paskiewitsch  jetzt  seine  gesamte 
Artillerie  gegen  das  persische  Zentrum  richtete  und  dann  durch 
Madatow  einen  Bajonettangrilf  gegen  die  schon  stark  erschütterte 
persische  Aufstellung  ausführen  ließ,  gerieten  die  Feinde  in  Verwirrung 
die  Infanterie  wich  fechtend  zurück,  und  die  gesamte  Kavallerie 
ergriff  die  Flucht.  Die  von  dem  feindlichen  linken  Flügel  ange- 
griffene rechte  Flanke  der  Russen  (drei  Kompagnien  des  Chersonschen 
Infanterieregiments  und  zwei  Schwadronen  Nischegoroder  Dragoner 
mit  zwei  Geschützen)  verstärkte  Paskiewitsch  rechtzeitig  durch  sechs 
Kompagnien  des  7.  Karabinerregiments,  so  daß  auch  hier  die  per- 
sische Kavallerie  vor  dem  russischen  Feuer  die  Flucht  ergriff.  Die 
ganze  große  Masse  dieser  ersten  nach  den  Regeln  europäischer 
Kriegskunst  ausgebildeten  orientalischen  Armee  stob  schließlich  in 
wilder  Flucht  auseinander,  erst  von  den  Russen,  dann  von  den 
eigenen  Glaubensgenossen,  den  Tataren  von  Dscharsk  verfolgt;  wie 
einst  die  Beduinen,  die  wie  Raubvögel  die  Kämpfe  Napoleons  in 
Ägypten  begleitet  hatten,  witterten  auch  sie  die  ihnen  unter  allen 
Umständen  sichere  Beute.  Sobald  sie  erkannten,  daß  die  Schlacht 
für  die  Perser  verloren  war,  warfen  ihre  Haufen  sich  auf  die 
Fliehenden.  Sie  plünderten  sie  aus  und  brachten  ihre  Gefangenen 
in  das    russische    Lager.      Die    Räuberinstinkte    dieser   halbwilden 


Kapitel  V.     Der  Perserkrieg.  161 

Stämme  kamen  zum  Durchbrach,  und  gewiß  hätten  sie  sich  gegen 
die  Truppen  Paskiewitschs  gewandt,  wenn  diese  unterlagen.  Vier 
Fahnen,  80  Pulverkasten,  aber  nur  ein  Geschütz  fielen  den  Russen 
zur  Beute,  dazu  1000  Gefangene;  sie  selbst  hatten  gegen  300 
Tote  und  Verwundete,  darunter  11  Offiziere.  Das  Wesentliche  aber 
war  doch  der  moralische  Erfolg,  und  als  solchen  hat  ihn  auch  der 
Kaiser  empfunden.  Obgleich  Paskiewitsch  in  seinem  Bericht  nur 
der  Verdienste  Madatows  und  Weljaminows  gedacht  hatte,  schrieb 
er  den  Sieg  doch  ausschließlich  ihm  zu.  In  einem  überaus  gnädigen 
Briefe  verlieh  er  ihm  einen  Ehrensäbel  mit  Diamanten  und  zugleich 
forderte  er  ihn  auf,  nunmehr  den  Persern  ihren  Einfall  in  russisches 
Gebiet  durch  eine  „Gegenvisite^  zu  erwidern.  Er  dachte  an  einen 
Angriff  auf  Eriwan,  es  erwies  sich  aber  als  unmöglich  diesen  an  sich 
richtigen  Gedanken  zu  verwirklichen.  Hatte  Madatow  in  der  Schlacht 
seine  Pflicht  getan,  so  versagte  er  infolge  einer  Kombination  von 
Eigennutz  und  Neid  vollständig,  als  es  sich  darum  handelte,  die 
Verproviantierung  der  Armee  zu  besorgen.  Paskiewitsch  blieb  nichts 
übrig,  als  die  Aufgabe  einem  geriebenen  Armenier,  Kargauow,  zu 
überlassen,  der,  von  Madatow  geflissentlich  behindert,  das  Notwen- 
digste zusammenbrachte,  aber  die  Schwierigkeiten  blieben  auch 
dann  noch  groß.  Trotzdem  entschloß  er  sich  auf  die  Nachricht, 
daß  die  Perser  über  den  Aras  zurückgewichen  seien,  nun  auch 
seinerseits  den  Fluß  zu  überschreiten  und  einen  Vorstoß  nach 
Persien  hinein  zu  unternehmen.  Aber  es  war  mehr  eine  starke 
Rekognoszierung  als  ein  Feldzug.  Paskiewitsch  konnte  feststellen, 
daß  Abbas  seine  Infanterie  entlassen  hatte;  in  Persien  Fuß  zu 
fassen  war  ihm  nicht  möglich.  Eine*  reiche  Beute  an  Vieh  und  ein 
heilsamer  Schrecken  in  den  persischen  Grenzlandschaften  war  die 
Folge,  mehr  nicht;  unbehindert  von  den  Russen  konnte  Abbas  daran 
gehen,  seine  Truppen  für  die  nächste  Kampagne  zu  reorganisieren. 
Daß  keine  größeren  Erfolge  erzielt  wurden  und  auch  nicht  erlangt 
werden  konnten,  lag  ohne  Zweifel  an  der  Haltung  Jermolows.  Der 
General  war  der  Meinung,  daß  Paskiewitsch  die  Tragweite  seines 
Sieges  überschätze.  Er  hielt  sich  daran,  daß  die  Perser  nur  ein 
Geschütz  verloren  hatten,  und  war  der  Überzeugung,  daß  jeder 
Versuch,  sich  einer  der  persischen  Festungen  zu  bemächtigen,  nur 
zu  einem  Mißerfolge  führen  könne.  Die  kühnen  Pläne  Paskiewitschs, 
der  sofort  mit  ganzer  Macht  in  Persien  eindringen  und  den  Frieden 
erzwingen  wollte,  scheiterten  an  seinem  Widerspruch  und  an  der 

Schiemann,  Geschichte  KuBIands.  II.  H 


1(52  Kapitel  V.    Der  Perserkrieg. 

überaus  kläglichen  und  überall  lähmenden  Leitung  des  Verprovian- 
tieruugswesens  durch  den  General  Madatow.  Sogar  der  Angriff  auf 
Tabris  mußte  aus  solchen  Gründen  aufgegeben  werden.  So  blieb 
Paskiewitsch  nichts  übrig,  als  Anfang  November  über  den  Aras 
zurückzugehen.  Jermolow .  hatte  sieb  damit  begnügt,  die  aufstän- 
digen Chanate  wieder  zum  Gehorsam  zurückzuführen,  und  schickte, 
als  Paskiewitsch  mit  seinen  Truppen  zurückkehrte,  den  General 
Madatow  gegen  die  persischen  Nomaden  in  die  Mugansche  Steppe. 
Das  war  ein  Raubzug  ohne  jede  Bedeutung  für  die  weitere  Krieg- 
führung, den  Paskiewitsch  um  so  mehr  mißbilligte,  als  Madatow 
jene  Nomaden  erst  den  Untertaneneid  leisten  ließ  und  sie  danach 
unbarmherzig  ausplünderte.  Von  der  Muganschen  Expedition  aber 
war  Paskiewitsch  nicht  einmal  Mitteilung  gemacht  worden.  Er  war 
aufs  tiefste  erbittert.  „Die  Kampagne  dieses  Jahres^,  schrieb  er 
dem  Kaiser,  „ist  beendigt  und  ist  verdorben^.  Er  knüpfte  daran  die 
Bitte,  ihn  seiner  Stellung  zu  entheben  und  aus  dem  Kaukausus 
abzuberufen.  Es  sei  ihm  unmöglich,  mit  Jermolow  zu  dienen.  Am 
5.  Januar  1827  wiederholte  er  diese  Bitte. 

Es  ist  noch  nicht  klargestellt,  weshalb  Paskiewitsch  nicht  von 
den  Vollmachten  Gebrauch  machte,  die  der  Kaiser  ihm  erteilt  hatte. 
Es  lag  ja  in  seiner  Hand,  Jermolow  abzusetzen,  und  gewiß  hätte 
der  Kaiser  ihn  nicht  desavouiert.  Soweit  sich  aus  dem  bisher 
zugänglichen  Material  erkennen  läßt,  hat  Paskiewitsch  wahrscheinlich 
seine  Stellung  im  Kaukasus  nicht  für  ausreichend  gefestigt  gehalten, 
um  es  zu  wagen.  Er  war  von  Anhängern  Jermolows  umringt  und, 
obgleich  der  Sieg  bei  Jelisawetpol  auch  eine  Partei  Paskiewitsch 
geschaffen  hatte,  fühlte  er  sich  doch  nicht  sicher  genug,  um  den 
entscheidenden  Schritt  wagen  zu  können.  Seine  Abschiedsgesuche 
verfolgten  wahrscheinlich  den  Zweck,  den  Kaiser  zu  einer  neuen 
Initiative  zu  veranlassen,  und  darin  sollte  er  sich  nicht  täuschen. 

Nikolais  Absicht,  Jermolow  zu  beseitigen,  hatte  von  vornherein 
festgestanden.  In  den  schweren  Tagen  des  Dezembers  hatte  der 
Kaiser  ihn  und  seine  Armee  meist  gefürchtet.  Sein  Stolz  bäumte 
sich  dagegen  auf,  daß  ein  Untertan  ihm  überhaupt  gefährlich 
werden  könne.  Wie  einem  persönlichen  Feinde  stand  er  ihm  gegen- 
über. Als  daher  das  zweite  Abschiedsgesuch  Paskiewitschs  eintraf, 
war  sein  Entschluß  bereits  fertig.  Am  ^^^'/^^ar  ^^^^  kündigte  er 
in  einem  eigenhändigen  Briefe  Paskiewitsch  an,  daß  Diebitsch  in 
Grusien  eintreffen  werde.     Jermolow   solle  davon  nichts  erfahren, 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  163 

sondern  überrascht  werden.  Diebitsch  aber  hatte  den  Auftrag,  die 
zwischen  den  beiden  Rivalen  bestehenden  Gegensätze  zu  prüfen  und, 
wenn  er  sich  von  der  „Unfähigkeit  oder  von  dem  bösen  Willen*' 
Jermolows  überzeugen  sollte,  ihn  abzusetzen.  Daß  der  Kaiser 
diesen  Ausgang  wünschte,  konnte  Diebitsch  keinen  Augenblick 
zweifelhaft  sein.  Er  hat  aber  diese  Mission  nur  sehr  ungern 
übernommen.  Wenn  er  sich  auf  längere  Zeit  aus  Petersburg  ent- 
fernte, mußte  inzwischen  ein  anderer  seine  Stellung  als  Chef  des 
Stabes  des  Kaisers  übernehmen.  Der  Kaiser  hatte  dazu  inter- 
imistisch den  Grafen  P.  A.  Tolstoi  bestimmt  und  ihm  als  Gehilfen 
den  Grafen  A.  J.  Tschernyschew  beigegeben.  Diebitsch  traute  keinem 
von  beiden  *)  und  war  der  Überzeugung,  daß  es  sich  um  eine  feine 
Intrigue  handele,  die  einerseits  darauf  angelegt  sei,  den  Kaiser 
davon  zu  überzeugen,  daß  Diebitsch  entbehrlich  sei,  andererseits 
wenn  er  Jermolow  absetze,  ihm  diesen  und  dessen  Anhänger  zu 
Feinden  zu  machen,  wenn  er  ihn  aber  verteidige,  ihm  die  Un- 
gnade des  Kaisers  zuzuziehen*). 

Die  Dinge    nahmen    nun    einen   sehr   merkwürdigen  Verlauf. 

^^s  ®^  ^^  ^4  Mft'r'  in  Tiflis  eintraf,  hat  Diebitsch  ohne  Zögern 
erst  mit  Jermolow,  dann  mit  Paskiewitsch  über  die  Beschwerden 
verhandelt,  die  beide  gegeneinander  geltend  machten,  auch  zwischen 
ihnen  zu  vermitteln  gesucht.  Aber  er  stieß  bei  Paskiewitsch,  der 
sich  der  Unterstützung  des  Kaisers  sicher  wußte,  auf  den  ent- 
schiedenen Willen,  unter  keinen  Umständen  weiter  mit  Jermolow 
zu  dienen.  Es  scheint  nun,  daß  Paskiewitschs  bestimmte  und  rück- 
sichtslose Ali;,  die  Verhandlungen  zu  führen  und  auf  seinem  Recht 
zu  bestehen,  Diebitsch  verletzte.  Jermolow  hatte  ihn  dagegen  mit 
außerordentlichem  Geschick  anzufassen  verstanden.  Er  gab  von 
vornherein  zu,  daß  er  sein  Verhalten  nach  der  Schlacht  bei  Jeli- 
sawetpol  nur  dadurch  entschuldigen  könne,  daß  er  sich  in  der 
Beurteilung  der  Lage  getäuscht  habe,  nunmehr  aber  sei  er  durch- 
aus für  energisches  Vorgehen.  Auf  die  Gedanken  Diebitschs  ging 
er  eifrig  ein,  er  sprach  ihm  von  seinem  Einfluß  auf  die  benach- 
barten türkischen  Paschas  und  stellte    ihre  Mitwirkung  bei  Fort- 


0  Die  überaus  herzliche  Korrespondenz,  die  zwischen  ihnen  (Diebitsch, 
Tolstoi,  Tschernyschew)  hin  und  hergegangen  ist  (Wojenno  Utschenny 
ArchiT  1048)  darf  darüber  nicht  täuschen. 

*)  Mündliche  Erzählung  Diebitschs  an  Tiesenhausen.  Russkaja  Starina  1891* 


164  Kapitel  V.     Der  Perserkrieg. 

setzang  des  Krieges  gegen  Persien  io  Aussicht;  die  Härten,  die 
man  ihm  zum  Vorwurf  machte  (er  hatte  einen  Räuber  mit  dem 
Kopf  nach  unten  hängen  lassen),  entschuldigte  er  mit  der  Not- 
wendigkeit, die  wilden  Bergvölker  in  Schrecken  zu  halten,  vor 
allem  aber  verstand  er  durch  seine  persönliche  Liebenswürdigkeit 
Diebitsch  ganz  für  sich  zu  gewinnen.  Die  Berichte,  die  Diebitsch 
dem  Kaiser  schickte,  wurden  immer  günstiger  für  Jermolow,  und 
im  gleichen  Verhältnis  ungünstiger  für  Paskiewitsch.  Schon  am 
28.  Februar  erklärte  er,  daß  Paskiewitsch  für  ein  Oberkommando 
jedenfalls  noch  nicht  reif  genug  sei.  Müsse  Jermolow  ersetzt 
werden,  so  sei  ein  älterer  öeneral,  etwa  der  Feldmarschall  Wittgen- 
stein, besser  dazu  geeignet.  Sein  Gedanke  scheint  gewesen  zu  sein, 
Paskiewitsch  zu  opfern  und  selbst,  durch  einige  rasche  Schläge  als 
Stabschef  Jermolows,  den  Perserkrieg  zu  beendigen. 

Aber  der  Kaiser  war  mit  der  Auffassung  Diebitschs  keines- 
wegs einverstanden.  An  eben  jenem  28.  Februar,  an  dem  Diebitsch 
sich  so  entschieden  gegen  Paskiewitsch  ausgesprochen,  hatte  Nikolai 
dem  Grafen  Tschernyschew  gesagt,  daß,  wenn  Diebitsch  seine  Auf- 
gabe nicht  zu  lösen  verstehe,  ihm  nichts  übrig  bleiben  werde,  als 
selbst  nach  Grusien  zu  reisen  ^).  Dazu  ist  es  nun  freilich  nicht 
gekommen,  aber  der  Kaiser  schickte  ihm  seinen  Jugendfreund,  den 
Generaladjutanten  Konstantin  von  Benkendorif,  „zu  Hilfe^,  den 
Bruder  seines  intimsten  Vertrauten,  des  Chefs  der  3.  Abteilung  der 
höchsteigenen  Kanzlei,  und  das  bedeutete  ohne  Zweifel,  daß 
Diebitsch  über  den  eigentlichen  Zweck  seiner  Sendung  nach- 
drücklich aufgeklärt  werden  sollte. 

Auch  von  anderer  Seite  gingen  ihm  Winke  und  Warnungen 
zu.  Der  Graf  Suchtelen'),  gleichfalls  Generaladjutant  und  Ver- 
trauter Diebitschs,    schrieb  ihm  am  14./26.  Februar,    daß  die  Ab- 


^)  Tschernyschew  an  Diebitsch.  28.  Februar  1827.  „que  si  yous  ne  par- 
venez  pas  k  y  inettre  fin,  et  si  la  mesure  de  votre  envoi  ne  suffisait  poiot,  i\ 
paraitrait  quMl  o'y  aurait  plus  d'autre  moyen  a  prendre,  que  d*y  aller  soi- 
raeme.«     W.  U.  A.  1048. 

0  »\\  m'est  revenu  par  voies  que  je  crois  sures,  que  S.  M.  TEmpereur 
aurait  temoigne  de  plus  en  plus  son  mecontentement  a  T^gard  du  Genera) 
Jermolow  ....  Ton  espere  de  Vous,  mon  General,  un  parti  decisif.  .  .  .  oq 
parait  redouter  de  Vous  Yoir  mettre  un  exces  de  chevalerie  dans  vos  rapports 
avec  rhomme  qui  Vous  regarde  comme  son  ennemi  personel  ...  la  desti- 
tution  est  la  cbose  indispensable  autant  que  desiree,  tout  terme  moyen  ezigerait 
un  vrai  plaidoy^r  pour  etre  agre4  ici.**     W.  ü.  A.  1. 1. 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  165 

setzQDg  ebenso  unerläßlich  wie  erwünscht  sei,  schließlich  aber  hat 
der  Kaiser  selbst  in  einer  Reihe  von  Briefen  mit  steigender 
Deutlichkeit  seine  Absichten  kundgetan.  Diebitsch  hatte  seinen 
Auftrag  oflfenbar  mißverstanden  und  nicht  begriffen,  daß  es  sich 
weniger  um  eine  Untersuchung  und  um  eine  unparteiische  Ent- 
scheidung, als  um  die  möglichst  geschickte,  in  der  Form  schonende 
Ausführung  eines  feststehenden  Entschlusses  des  Kaisers  handele. 
Das  Urteil  war  schon  lange  vor  der  Sendung  Paskiewitschs  ge- 
sprochen, der  Perserkrieg  aber  hatte  einen  erwünschten,  auch  nach 
außen  hin  präsentabelen  Vorwand  gegeben:  eine  zehnjährige  schlechte 
Verwaltung,  Unentschlossenheit,  der  Haß  der  Indigenen  gegen  den 
Prokonsul  —  so  nannte  ihn  der  Zesarewitsch  — ,  seine  schlechten 
Beziehungen  zur  persischen  Dynastie,  das  alles  mache  ihn  zu  einem 
schädlichen  Diener,  so  formuliert  Tschernyschew  in  einem  Brief 
vom  26.  März,  oflfenbar  nach  einer  Unterredung  mit  dem  Kaiser^ 
die  Gründe,  welche  die  Absetzung  Jermolows  zur  Notwendigkeit 
machten.  Er  fügt  hinzu:  auch  raubt  er  dem  Kaiser  die  Gemüts- 
ruhe ^).  Die  Entscheidung  ist  am  27.  März  erfolgt  und  am  28. 
unterzeichnete  der  Kaiser  den  Ukas,  der  Paskiewitsch  zum  Ober- 
kommandierenden und  den  General  Ssipjagin  zum  Militärgouverneur 
von  Tiflis  ernannte.  An  demselben  Tage  aber  hatte  bereits  Die- 
bitsch,  nach  einem  nicht  mißverständlichen  Briefe  des  Kaisers,  den 
entscheidenden  Schritt  getan,  Jermolow')  die  Genehmigung  seines 
Abschiedsgesuches  und  Paskiewitsch  seine  Ernennung  mitgeteilt. 
Auch  die  Generale  Madatow  und  Weljaminow  wurden  verabschiedet, 
der  letztere  wegen  Krankheit.  So  hatte  Paskiewitsch  gesiegt  und 
der  glänzende  Feldzug,  der  nunmehr  folgte,  rechtfertigte  vor  der 
Welt  die  Entscheidung  des  Kaisers.  Am  30.  April  verließ  auch 
Diebitsch  Tiflis,  trotz  des  gnädigen  Schreibens,  durch  das  der 
Kaiser  ihn  zurückrief,  etwas  beunruhigt.  Aber  es  waren  unnötige 
Sorgen,  seine  Stellung  als  Chef  des  Stabes  blieb  ihm  gewahrt  und 


^)  „nuisible  pour  le  bien  du  service  et  meme  pour  la  tranquillite  de 
r£mpereur.'' 

^)  Jermolow  wurde  mit  einer  Pension  von  14000  Rubel  verabschiedet 
und  zog  auf  das  kleine  Gut  seines  Vaters,  aber  weder  Nikolaus  noch  Alexander  II. 
haben  ihm  je  ihre  Gunst  wieder  zugewandt.  Nikolai  hat  ihn  zwar  1837  in  den 
Reichsrat  berufen,  aber  diese  Tätigkeit  widerte  ihn  so  an,  daD  er  den  Kaiser 
im  März  1839  bat,  ihn  „wegen  Unfähigkeit''  seiner  Stellung  zu  entheben.  Das 
wurde  ihm  in  höchstem  Zorn  bewilligt.    Jermolow   ist   erst    1861    gestorben. 


166  Kapitel     Y.    Der  Perserkrieg. 

ebenso  das  weitere  Vertrauen  des  Kaisers,  der  ihn  zum  Dank  för 
die  Erledigung  der  kaukasischen  Mission  in  den  Grafenstand  erhob. 
Nachdem  einmal  Jermolow  ohne  den  vom  Kaiser  bis  zuletzt  be* 
fürchteten  Eklat  beseitigt  war,  mochten  ihm  die  Zögerungen  Die- 
bitschs  schon  deshalb  im  günstigen  Licht  erscheinen,  weil  sie  den 
Eindruck  eines  unparteiischen,  sorgPältig  abgewogenen  Vorgehens 
erweckten. 

Der  nunmehr  von  Paskiewitsch  in  voller  Selbständigkeit  ge- 
führte Feldzug,  entsprach  in  seinen  Anfangen  einem  noch  von 
Diebitsch  und  Jermolow  aufgestellten  Plan,  wurde  aber  wesentlich 
modifiziert,  da  sich  bald  herausstellte,  daß  die  Wirklichkeit  den 
Voraussetzungen  dieses  Planes  nicht  entsprach.  Auch  mußte 
Madatow  durch  den  Generalmajor  Pankratjew  ersetzt*)  und  eine 
Reihe  anderer  Personalveränderungen  vorgenommen  werden.  An 
Weljaminows  Stelle  trat  General  Krassowski,  zum  Generalquartier- 
meister wurde  Generalleutnant  Graf  Suchtelen  ernannt'). 

Der  Plan  der  Perser  ging  dahin,  den  Russen  das  Vordringen 
durch  Verwüstung  der  Gebiete  von  Nachitschewan  und  Eriwan 
unmöglich  zu  machen.  Sie  zwangen  die  Bevölkerung,  den  Aras 
zu  überschreiten  und  ließen  den  Russen  ein  gänzlich  verödetes 
und  menschenleeres  Land.  Bei  den  ungeheueren  Schwierigkeiten, 
welche  die  Verpflegung  eines  Heeres  in  diesen  Bergländern  bietet, 
bedeutete  das  allerdings  ein  Hindernis,  das  nur  durch  gewissenhafte 
Umsicht  und  durch  einen  eisernen  Willen  überwunden  werden 
konnte.  Nach  beiden  Richtungen  hin  erwies  Paskiewitsch  sich  seiner 
Aufgabe  gewachsen. 

Sein  Ziel  war  die  Einnahme  von  Eriwan.  Die  Absicht  des 
Zaren  ging  nicht  auf  größere  Eroberungen.  Was  er  wünschte,  war, 
den  Aras  als  Grenze  und  einen  sicheren  Frieden  mit  Persien  zu 
gewinnen.  Schon  der  Ausblick  auf  den  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  bald  bevorstehenden  Türkenkrieg,  schloß  weitere  Kombinatio- 
nen aus.  Aber  gewiß  haben  auch  hier  Alexanders  ursprüngliche 
Pläne  dem  Willen  des  Kaisers  die  Richtung  gegeben. 

Der  diplomatische  Agent,  der  Paskiewitsch  zugeordnet  wurde, 
( Jbreskow,  als  dessen  Gehilfe  der  Dichter  Gribojedow  fungierte,  war 
beauftragt,  keine  günstige  Gelegenheit  zu  versäumen,  die  sich  für 

\)  Das  geschab  erst  am  19.  April,  als  Madatow  bereits  über  14  Tage  im 
Vormarscb  war. 

2)  Am  14.  Juli. 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  167 

einen  Frieden  bot.  Nebenher  sollte  er  aber  jede  Einmischung  der 
Engländer  in  etwaige  Friedensverhandlungen  zurückweisen.  Man 
hatte  guten  Grund^  diesen  halben  Verbündeten  zu  naißtrauen,  da 
der  Engländer  Macdonald  als  vertrauter  Ratgeber  Fet-Ali  Shahs  in 
diesem  Kriege  fungierte  und  fortdauernd  bemüht  war,  den  Mut 
der  Perser  aufrechtzuerhalten  *). 

Der  wesentliche  Verlauf  des  Krieges  ist  nun  der  gewesen,  daß 
zunächst  General  Constantin  v.  Benkendorif  beauftragt  wurde,  das 
Kloster  Etschmiadzin  zu  besetzen.  In  der  Zeit  vom  2.  bis  zum  13.  April 
wurde  diese  Aufgabe  gelöst.  Kampflos  zwar,  aber  doch  insofern 
nicht  mit  dem  erhofften  Erfolge,  als  es  sich  ihm  bei  dem  völligen 
Mangel  an  Proviant  unmöglich  erwies,  das  Kloster  zum  Stützpunkt 
weiterer  Operationen  zu  machen.  Er  mußte  sich  daher  damit  be- 
gnügen, eine  kleine  Besatzung  und  seine  Kranken  im  Kloster  zurück- 
zulassen und  versuchte  selbst  die  Festung  Sardar  Abad  zu  nehmen, 
was  ihm  wegen  fehlenden  Belagerungsgeschützes  nicht  glückte.  Da- 
gegen gelang  es  ihm,  der  persischen  Reiterei,  die  Hassan  Chan, 
ein  Verwandter  Fet-Alis,  kommandierte,  eine  empfindliche  Schlappe 
beizubringen  und  sich  dann,  trotz  allem,  bei  Etschmiadzin  zu 
behaupten. 

Inzwischen  war  Paskie witsch  mit  seiner  Vorbereitung  soweit 
gediehen,  daß  er  Anfang  Mai  sich  in  Bewegung  setzen  konnte. 
Sein  Heer  bestand  aus  der  vom  Generalleutnant  Krassowski  kom- 
mandierten Eriwanschen  Armee  (8  Bataillone  Infanterie,  4  Kom- 
pagnien Pioniere,  26  Geschützen  und  12  Sotnien  Kosaken)  und  den 
zwei  Divisionen  der  Hauptarmee  (1.  Division  Generalmajor  Fürst 
Wadboljski,  2.  Division  Generalleutnant  Fürst  Eristow),  die  zu- 
sammen 4800  Mann  Infanterie,  800  Mann  reguläre  und  3000  Mann 
irreguläre  Kavallerie  mit  26  Geschützen  zählten.  Die  Perser  waren 
an  Zahl  weit  überlegen,  die  Angaben  über  die  gleichzeitig  zusammen- 
gezogenen Truppen  schwanken  zwischen  40  und  50000  Mann,  sind 
aber  wahrscheinlich  noch  höher  zu  setzen.  Ihre  Kavallerie  war 
weit  besser  beritten   als  die  russische,  die  Infanterie  zum  Teil  von 


^)  Auf  die  Kriegsoperationen  genauer  einzugehen,  wird  hier  nicht  beab- 
sichtigt. Sie  sind  mit  großer  Ausführlichkeit  von  dem  Fürsten  Schtscherbatow 
im  2.  Bande  seiner  Biographie  Paskiewitschs  nach  den  Akten  des  russischen 
Generalstabes  erzählt  worden.  Interessantes,  wenn  auch  oft  parteiisch  dar- 
gestelltes Detail,  bieten  die  Memoiren  von  Murawjew-Karski  in  dem  Russki 
Archiv,  Jahrgang  1889.     Pläne  und  Karten  bei  Schtscherbatow. 


168  Kapitel  V.    Der  Perserkrieg. 

eDglischeo  Instrukteuren  geschult,  die  Festungen  nach  orientalischen 
Vorstellungen,  mit  ihren  drei-  und  vierfachen  Mauern,  uneinnehmbar 
und  reichlich  versorgt.  Da  das  russische  Belagerungsgeschütz  erst 
in  den  letzten  Stadien  des  Kampfes  eintraf,  waren  sie  anfänglich 
auch  hier  den  Russen  überlegen,  aber  ihre  Artillerie  ist  nirgends 
wirksam  verwendet  worden,  während  die  russische  Artillerie 
ihren  sehr  wesentlichen  Anteil  an  der  schließlichen  Entschei- 
dung hat. 

Als  nun  Paskiewitsch  am  13.  Mai  vor  Etschmiadzin  eintraf, 
hatte  Benkendorif  das  Kloster  wieder  verlassen,  um  Eriwan  zu 
blockieren.  Er  hatte  die  Stadt  am  25.  erreicht  und  ein  erfolg- 
reiches Gefecht  mit  Hassan  Chan  gehabt,  der  sich  ihm  hier  zum 
zweiten  Male  mit  seinen  Reitern  entgegenwarf.  Aber  die  furchtbare 
Sommerhitze  dezimierte  Benkendorffs  Truppen  und  auf  Befehl  Pas- 
kiewitschs  hob  er  am  9.  Juni  die  Blockade  auf.  Seine  Truppen 
beobachteten  fortan  von  den  nächsten  Bergen  aus  die  Stadt  und 
wurden  später  durch  die  Armee  Krassowskis  ersetzt,  der  von 
Etschmiadzin  aus  verproviantiert  wurde.  Das  Hauptheer  führte 
Piiskiewitsch  nach  Nachitschewan,  wo  er  reichliche  Verpflegung 
durch  die  Nomadenstämme  fand,  die  alle  die  russische  Ober- 
hoheit anerkannten. 

Paskiewitsch  griff  aber  nicht  die  Festung  Nachitschewan  an, 
sondern  das  10  Werst  von  ihr  entfernte  Abbas  Abad,  am  linken 
Ufer  des  Aras.  Diese  von  europäischen  Ingenieuren  erbaute  Festung 
wurde  von  Mahmed  Emin  Khan  verteidigt  und  konnte  zudem  auf 
Entsatz  durch  Abbas  Mirza  rechnen,  der,  wie  man  bereits  wußte, 
mit  40000  Mann  im  Anmarsch  war.  Das  aber  gerade  hatte  den 
Entschluß  von  Paskiewitsch  bestimmt,  fir  hoffte,  den  Feind  zu 
einer  Schlacht  zu  bewegen  und  so  mit  einem  Streich  die  Ent- 
scheidung herbeizuführen.  Am  1.  Juli  hatte  er  die  Belagerungs- 
arbeiten begonnen  und  die  Höhen  besetzt,  welche  die  Stadt 
beherrschten.  Am  3.  zeigten  sich  die  ersten  Reiter  des  persischen 
Entsatzheeres.  Seine  Späher  meldeten,  daß  Abbas  Mirza  mit 
26000  Mann  und  40  Geschützen  bei  Tschors  stand,  und  daß  etwas 
über  6  Meilen  hinter  ihm,  in  Choi,  Fet-Ali  mit  einem  gleich  starken 
Heere  Aufstellung  genommen  habe.  Gleichzeitig  gehe  Hassan  Chan 
gegen  Nachitschewan  vor.  Bald  danach  folgte  die  Nachricht,  daß 
Fet-Ali  dem  Sohne  erhebliche  Verstärkungen  geschickt  habe,  und 
daß  ein  Angriff  der  Perser  unmittelbar  bevorstehe. 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  169 

Paskiewitsch  überschritt  nun  mit  seinen  Truppen  durch  eine 
Furt  den  Araxes.  Er  selbst  führte  die  Infanterie  und  die  Artillerie^ 
Benkendorff  die  Kavallerie,  Eristow  den  linken  Flügel. 

Der  Feind  hatte  15  Werst  vom  Fluß  seine  Stellung  auf  den 
Höhen  in  gekrümmtem  Bogen  genommen,  der  ein  steiniges  Tal 
umschloß.  Während  nun  Paskiewitsch  den  Persern  entgegen- 
marschierte, wurde  die  Benkendorflfsche  Kavallerie  zeitweilig  von 
dem  stärkeren  Feinde  arg  bedrängt.  Dann  aber  folgte  die  Ent- 
scheidung überraschend  schnell:  dem  vereinigten  Angriff  der 
Infanterie  Paskiewitschs  und  Eristows,  die  sich  durch  das  Feuer 
des  Feindes  nicht  aufhalten  ließ,  hielten  die  Perser  nicht  stand. 
Sie  stoben  in  wilder  Flucht  auseinander  und  wurden  von  der 
russischen  Kavallerie  und  von  der  ihr  nachrückenden  Infanterie 
8  Werst  weit,  bis  zum  Dorfe  Chumler  am  Flusse  Dshewan-Bulat 
verfolgt.  Nach  diesem  Fluß  erhielt  die  Schlacht  ihren  Namen. 
Von  Seiten  der  Perser  hat  nur  die  Kavallerie,  16000  Mann  stark, 
an  der  Schlacht  teilgenommen.  Die  Infanterie  stand  4  Meilen 
hinter  Dshewan-Bulat;  die  Verluste  auf  beiden  Seiten  waren  gering. 
Die  Perser  verloren  400  Tote,  100  Gefangene  und  2  Fahnen,  die 
Russen  9  Tote,  29  Verwundete  und  3  Vermißte. 

Eine  beiläufige  Bemerkung  der  aus  dem  Bericht  Paskiewitschs 
geschöpften  russischen  Darstellung  der  Schlacht  ^)  läßt  es  aber 
zweifelhaft  erscheinen,  ob  die  Schlacht  bei  Dschewan-Bulat  über- 
haupt als  eine  ernste  Niederlage  der  Perser  betrachtet  werden  darf. 
Abbas  Mirza  hoffte,  so  heißt  es,  die  ganze  Armee  Paskiewitschs  bis 
nach  Karasiadin,  wo  seine  Infanterie  in  bergiger,  befestigter  Stellung 
stand,  zu  locken.  Es  liegt  daher  die  Vermutung  nahe,  daß  die 
Flucht  der  Perser,  die  allerdings,  wie  die  russischen  Berichte  be- 
haupten, den  Charakter  einer  Panik  trug,  in  der  Absicht  Abbas 
Mirzas  eine  Kriegslist  nach  Parther  Art  sein  sollte.  Daß  die 
Russen  ihre  Verfolgung  so  zeitig  aufgaben,  verdarb  ihm  seinen  Plan. 

Trotz  alledem  hat  der  moralische  Erfolg  des  an  sich  wenig 
bedeutenden  Sieges  die  Kampagne  für  die  Russen  entschieden. 
Nach  kurzer  Beschießung  kapitulierte  am  8.  Juli  die  Festung  Abbas 
Abad  mit  der  ganzen  Garnison,  soweit  sie  nicht  schon  vorher  die 
Flucht  ergriffen  hatte;  18  Geschütze,  Pulver  und,  was  besonders 
wichtig    war,    500  Tschetwert  Getreide    fielen   in    die  Hände    der 


0  Bei  Schtscbcrbatow  1. 1.  II,  284. 


170  Kapitel  V.    Der  Perserkrieg. 

Russen,  und  das  ganze  Bataillon  Nachitschewan  sowie  ein  Teil  des 
Bataillons  Tabris  trat  in  russische  Kriegsdienste.  Dennoch  blieb  die 
Lage  kritisch.  Paskiewitsch  hatte  nur  6000  Mann  im  Lager  vor  Abbas 
Abad,  und  etwa  18  Meilen  weiter  stand  Fet  Ali  mit  angeblich  50000 
Mann  bei  Choi,  während  bei  Tschors,  in  einer  Entfernung  von  nur 
acht  Meilen,  Abbas  Mirza  mit  seiner  immer  noch  10000  Kopie 
zählenden  Infanterie  seine  Stellung  behauptete.  Vereinigten  sich  beide 
zu  einem  Angriff  auf  die  Russen,  so  schien  ein  Ruckzug  un- 
vermeidlich. 

Aber  gerade  jetzt  zeigte  sich  die  Wirkung  des  Erfolges  von 
Dschewan-Bulat.  Die  von  den  Persern  vertriebene  Bevölkerung 
kehrte  wieder  über  den  Araxes  in  das  Eriwansche  zurück,  Paskie- 
witsch setzte  Abbas  Abad  in  Verteidigungsstand  und  ernannte  den 
tapferen  Generalmajor  Baron  Sacken  zum  Kommandanten  der 
Festung.  Auch  entschlossen  sich  die  Perser  nicht  zum  AngrilT;  sie 
hofften,  daß  die  Rusyn  vor  den  Mauern  der  Festungen  Sardar 
Abad  und  Eriwan  sich  erschöpfen  würden,  zumal  ein  erster 
Versuch  des  Generals  Krassowski,  Eriwan  zur  Kapitulation  zu 
nötigen,  bereits  mißglückt  war.  Dabei  hielt  Paskiewitsch  den  Schah 
durch  die  Friedensverhandlungen  hin,  zu  denen  ihn  seine  Instruktion 
verpflichtete.  Daß  sie  scheitern  würden,  ließ  sich  vorhersehen, 
aber  die  Russen  gewannen  Zeit,  um  von  Tiflis  her  ihre  Belagerungs- 
artillerie heranzuziehen.  Auch  die  Perser  waren  nicht  ganz  untätig. 
Abbas  Mirza  hatte  Verstärkungen  erhalten;  er  rückte  mit  25000 
Mann  und  28  Geschützen  gegen  den  General  Krassowski,  der  sein 
Lager  vor  Etschmiadzin  hatte  und  nur  über  6000  Mann  verfugte. 
Aber  Krassowski  war  so  kühn,  mit  nur  2000  Mann  dem  Feinde 
entgegenzurücken,  und  auf  den  bergigen  Höhen  von  Uschagan  kam 
es  am  17.  August  zu  einer  blutigen  Schlacht,  die  von  7  ühr 
morgens  bis  4  ühr  nachmittags  währte,  in  der  die  Russen  700  Tote 
und  300  Verwundete,  also  jeden  zweiten  Mann,  die  Perser  gegen 
3000  Mann  verloren.  Beide  Teile  behaupteten  schließlich  ihre 
Stellung,  aber  die  Russen  hatten  ihr  wesentliches  Ziel  erreicht 
Der  Feind  wagte  nicht  weiter  vorzugehen,  sondern  befestigte  sein 
Lager  in  Uschagan.  Inzwischen  wurde  jedoch  Etschmiadzin  glucklich 
verproviantiert  und  das  Belagerungsgeschütz  wirklich  herangezogen. 
Immerhin  blieb  bei  der  ungeheuren  Übermacht  des  Feindes  die 
Lage  Krassowskis  gefährdet,  und  Paskiewitsch  hatte  sich  bereits  ent- 
schlossen, ihm  zu  Hilfe  zu  ziehen,  als  Abbas  Mirza  plötzlich  sein 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  171 

befestigtes  Lager  aufgab  und  auf  Eriwan  zu  marschierte.  Unter- 
wegs aber  machte  er  in  der  Nähe  der  Festung  Sardar  Abad  Halt, 
und  nun  entschloß  sich  Paskiewitsch,  dessen  Ziel  immer  die  Ein- 
nähme  von  Eriwan  blieb,  vorher  Sardar  Abad  zur  Übergabe  zu 
zwingen.  Er  rechnete  zudem  darauf,  daß  die  sehr  reichlich  ver- 
proviantierte Festung  ihn  von  der  lähmenden  Sorge  für  den  Unter- 
halt seines  Heeres  befreien  werde').  Die  mit  außerordentlicher 
Energie  angegriffene  und  durchgeführte  Belagerung  hat  dann  wirklich 
am  Abend  des  19.  September,  nachdem  die  Russen  eine  Bresche 
geschossen  hatten'),  die  Übergabe  der  Festung  zur  Folge  gehabt. 
Die  Perser  hatten  der  Wirkung  des  schweren  russischen  Geschützes 
nicht  standhalten  können;  die  letzte  Entscheidung  h^itte  ein 
Sturm  der  Infanterie  gegeben,  der  in  dem  Augenblick  erfolgte,  als 
die  Garnison  aus  der  Festung  zu  fliehen  begann.  Sie  wurde 
von  der  russischen  Kavallerie  verfolgt  und  zum  Teil  nieder- 
gemacht. Das  Wesentlichste  aber  war,  daß  in  der  Festung  14000 
Tschetwert  Getreide  gefunden  wurden.  „Das  ist"  —  notiert  Pas- 
kiewitsch in  seinem  Kriegstagebuch  —  „ein  wahrhaft  kostbarer 
Gewinn";  es  ist  sehr  fraglich,  ob  ohne  ihn  eine  Belagerung  von 
Eriwan  hätte  unternommen  werden  können.  Abbas  Mirza  hat 
nichts  getan,  um  die  Festung  zu  retten.  Sobald  feststand,  daß 
Paskiewitsch  nahe,  war  er  aufgebrochen,  um  in  die  Provinz  Nachi- 
tschewan  einzufallen.  Er  hoiTte  offenbar,  die  Russen  dadurch  von 
Sardar  Abad  abzulenken  und  nach  sich  zu  ziehen.  Aber  auch  das 
mißglückte.  Paskiewitsch  hatte  sich  nicht  beirren  lassen,  und  aus 
Nachitschewan  schlug  der  General  Eristow  die  Perser  hinaus. 
Ebenso  fruchtlos  waren  Abbas  Mirzas  Bemühungen,  durch  Gefähr- 
dung der  russischen  Kommunikationslinien  die  jetzt  drohende  Be- 
lagerung von  Eriwan  zu  verhindern.  Schon  am  23.  September  lag 
das  Heer  Paskiewitschs  zwei  Weist  vor  Eriwan,  und  am  3.  Oktober 
konnte  er  dem  Kaiser  melden:  „Die  Fahne  Ew.  Majestät  weht  von 


')  Beriebt  Paskiewitschs  an  den  Kaiser  aus  dem  Lager  yon  Sardar 
Abad,  den  14.  September  1827.  Anlage  I  zu  Band  II,  Kapitel  VII,  bei 
Schtscherbatow. 

*)  „Die  Festung  Sardar  Abad"  —  berichtet  Paskiewitsch  dem  Kaiser  — 
«ist  nach  asiatischem  Geschmack  ausgezeichnet  gebaut.  Sie  hat  an  drei  Seiten 
doppelte  Verteidigungsmauern,  nur  an  der  Südseite,  welche  wir  angriffen,  ist 
eine  einzige  Mauer.  Der  Umfang  des  länglichen  Karrees  ist  sehr  bedeutend.'* 
Bericht  vom  21.  September.    Festung  Sardar  Abad.    1.  1.  Nr.  3. 


172  Kapitel  V.    Der  Perserkrieg. 

den  Mauern  Eriwans.  Die  Schlüssel  dieser  berühmten  Festung,  die 
ganze  Garnison,  alle  Hauptanführer  mit  eingeschlossen,  sind  in  un- 
seren Händen,  auch  Hassan  Khan,  der  diesmal  weder  fliehen,  noch 
sich  durchschlagen  konnte;  dazu  als  Trophäen:  4  P'ahnen,  37  Kanonen, 
2  Haubitzen,  9  Mörser,  gegen  50  Falkonette,  endlich  die  üntertan- 
schaft  und  die  Dankbarkeit  aller  Einwohner,  die  wir  von  ihren  an- 
geblichen Beschützern,  in  Wirklichkeit  von  ihren  grausamen  Be- 
drängern, befreit  haben.  Das  alles  lege  ich  Ew.  Majestät  zu 
gnädiger  Berücksichtigung  vor.  Das  Heer  Ew.  Majestät  ist  wiederum 
durch  den  Glanz  eines  Sieges  gekrönt  worden.  Die  schnelle  Erobe- 
rung von  Sardar  Abad  entsetzte  den  Feind  und  das  mußte  genutzt 
werden." 

Auch  diesmal  entschied  die  Überlegenheit  der  russischen  Artillerie. 
Dazu  war  eine  Revolte  der  städtischen  Bevölkerung  und  die  Meuterei 
eines  Teils  der  Sarbasen  gekommen.  Fast  ohne  Opfer  sind  die  Russen 
Herren  dieser  stärksten  persischen  Festung  geworden,  „unser  Verlust" 
-^  schreibt  Paskiewitsch  in  dem  bereits  angezogenen  Berichte  —  „ist 
infolge  eines  Zusammenwirkens  vieler  glücklicher  Zufalle  äußerst 
gering.  Das  berühmte  Eriwan,  dessen  Erwerbung,  wie  man  glaubte  ^), 
Ströme  Blutes  kosten  sollte,  ist  vor  den  siegreichen  russischen 
Waffen  ohne  große  Opfer  unserseits  gefallen.  Jetzt  werden  die 
Lesghier,  Dagestaner  und  alle  Aufrührer  in  den  kaukasischen 
Bergen  durch  die  Unterwerfung  der  Stadt,  die  ihnen  stets  als 
Zufluchtsort  diente,  in  Schrecken  gesetzt  sein.  Von  dorther  er- 
hielten sie  Unterstützung  an  Geld,  Waffen  und  durch  alle  Tücken 
persischer  Politik.  Der  Ruhm  Eriwans  in  der  Türkei  und  in 
Persien  ist  unglaublich  groß,  noch  unglaublicher  aber  erscheint  ihnen 
der  Fall  der  Stadt  nach  sechstägiger  Belagerung.  1^000  Mann 
kriegsgefangener  Garnison  habe  ich  bereits  nach  Grusien  ab- 
gefertigt" '). 

Die  Antwort  des  Kaisers  datiert  aus  Reval,  den  29.  Oktober 
1827.  Er  hatte  die  Nachricht  in  Riga  erhalten  und  in  seiner 
Freude  sogleich  seinen  zweitgeborenen  Sohn  Konstantin  Nikola- 
jewitsch')  zum  Chef  des  grusischen  Grenadier-Regiments  ernannt. 

^)  Eine  nicht  mißzuverstehende  Hindeutung  auf  Jermolow. 

''^)  Scbtscherbatow  ].  1.     Auch  Schilder  zitiert  diesen  Brief. 

3)  Geboren  den  9./21.  September.  Da  der  Großfürst  Konstantin  Pawlo- 
witscb  sich  nicht  hatte  entschließen  können,  seine  Patenpflicht  persönlich  zu 
erfüllen,  vertrat  ihn  der  damals  neunjährige  Großfürst  Thronfolger  Alexander 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  173 

Den  Dolch  und  die  Lanze  Hassan  Khans  aber  schenkte  er  dem 
Generalgouverneur  von  Livland,  Marquis  Paulucci.  Sein  Schreiben 
an  Paskiewitsch  war  überaus  herzlich  und  traf  gleichzeitig  mit  den 
Insignien  des  Großkreuzes  des  Georgordens  2.  Klasse  ein. 

Die  Anerkennung  war  wohlverdient.  Es  konnte  einen  Augen- 
blick sogar  scheinen,  als  werde  der  Fall  von  Eriwan  das  Ende  des 
Feldzuges  zur  Folge  haben.  Fet  Ali  hatte  schon  nach  der  Einnahme 
von  Sardar  Abad  den  Thronfolger  beauftragt,  sofort  Frieden  zu 
schließen,  aber  keinen  Gehorsam  gefunden,  da  Abbas  Mii-za  auf 
den  Widerstand  Eriwans  und  auf  eine  Erhebung  der  Kaukasier  im 
Kucken  Paskiewitschs  rechnete.  Weil  sich  das  alles  als  trügerisch 
erwiesen  hatte,  erneuerte  der  Schah  seine  Anträge;  sie  scheiterten 
aber  von  vornherein,  als  Paskiewitsch  eine  Kriegsentschädigung  von 
10  Kurur,  das  ist  20  Millionen  Rubel  Silber,  verlangte. 

Fet  Ali  hätte  sich  ohne  viele  Einwendungen  zu  großen  Land- 
abtretungen bereit  gefunden,  denn  das  schädigte  weniger  ihn  als 
die  Khane,  denen  die  Verwaltung  der  einzelnen  Provinzen  über- 
geben war  und  die  zum  Teil  nur  in  scheinbarer  Abhängigkeit  von 
ihm  standen.  Der  Schatz  dagegen  war  sein  eigen,  und  da  es  in 
Persien  keinen  Unterschied  zwischen  Staatskasse  und  Schatz  des 
Schah  gab,  entsetzte  ihn  die  Forderung  der  Russen.  Sie  war  ihm 
unannehmbar.  So  mußte  der  Krieg  wieder  aufgenommen  werden, 
und  das  geschah  von  Seiten  Paskiewitschs  mit  ebenso  großer  Um- 
sicht wie  Energie,  während  die  Perser  nach  wie  vor  überall  ver- 
sagten. Das  Zusammenwirken  von  Eristow,  der  die  Vorhut  führte, 
mit  Benkendorff  und  Paskiewitsch,  während  General  Krassowski ') 
mit  der  vorläufigen  Verwaltung  der  Provinz  Eriwan  betraut  war 
und  Generaladjutant  Ssipjagin  die  türkische  Grenze  beobachtete, 
um  im  Fall  von  Feindseligkeiten,  die  schon  damals  gefürchtet 
wurden,  entsprechende  Gegenmaßregeln  zu  treffen,  brachte  Erfolge, 
die  dem  General  Paskiewitsch  bald  nicht  geringe  Verlegenheiten 
bereiteten.  Die  ganze  Provinz  Aderbeidjan,  das  ist  der  Nordwesten 
des  Reiches  südlich  vom  Aras,  machte  Anstalten,  sich  von  der 
Oberherrschaft  der  Kadscharen  zu  befreien  und  die  russische  Ober- 
herrlichkeit anzuerkennen.  Die  Khanate  Marag,  Ahar,  Ardebil, 
Chol  boten   ihre  Unterwerfung  an,   und  fast  alle  Nomadenstämme 


Nikolajewitsch.     Konstanstin  Nikolajewitsch  wurde  sofort  der  polnischen  Armee 
eingereiht. 

>)  Er  wurde  bald  danach  durch  Osten-Sacken  ersetzt 


174  Kapitel  V.     Der  Perserkrieg. 

der  Provinz  standen  in  offenem  Aufruhr.  Es  wäre  für  Paskiewitsch 
ein  leichtes  gewesen,  unter  diesen  Umständen  das  ganze  Ader- 
beidjan zu  gewinnen.  Auch  wäre  das  seiner  Meinung  nach  das 
Richtige  gewesen.  Ging  Aderbeidjan  in  russische  Hände  über,  so 
schien  der  Zerfall  des  persischen  Reiches  nur  eine  Frage  naher 
Zukunft  zu  sein,  und  der  russische  Einfluß  hatte  alle  Aussicht, 
unter  überaus  günstigen  Voraussetzungen  nach  Osten  hin  vorzu- 
dringen. Paskiewitsch  hat  damals  bereits  eine  Zukunft  ins  Auge 
gefaßt,  die  den  Weg  nach  Indien  erschloß.  Wie  die  Verhältnisse 
lagen,  war  er  leichter  über  Persien  und  Afghanistan  zu  gewinnen, 
als  durch  die  Turkmenensteppen,  die  Sandwüsten  Turkestans  und 
die  Pässe  des  Pamir.  Rußland  sollte  noch  dreiviertel  Jahrhundert 
brauchen,  um  sich  die  Straße  dahin  zu  bahnen. 

Aber  solche  Pläne  waren  unausführbar,    weil  sich  ihnen    der 
dynastisch-legitimistische  Standpunkt  des  Kaisers  entgegenstemmte. 
Die  Dynastie  der  Kadscharen  war  ihm   die  Vertreterin  des  Legiti- 
mitätsprinzips auf  persischem  Boden '),  und  den  Gedanken,  empörte 
Untertanen  gegen  den   rechtmäßigen  Landesherrn  zu  unterstützen, 
lehnte  er  mit  aller  Entschiedenheit  ab.     Auch  er  stand  ganz  auf 
dem    Boden    der    Prinzipien politik    Kaiser    Pauls.      Die    Integrität 
Persiens  sollte  gewahrt  bleiben,  doch  hielt  er  sich  für  berechtigt, 
infolge  des  Angriffs  der   Perser  die    persischen   Provinzen  Eriwan 
und    Nachitschewan,    die   jetzt    tatsächlich   in    russischen    Händen 
waren,  für  sich  zu  behalten,  so  daß  in  Zukunft  der  Aras  die  Grenze 
beider  Reiche  bilden  sollte.     Endlich  verlangte  er  unter  Berufung 
auf  den  Frieden  von  Gulistan  die  Rückgabe  des  Khanats  Talischin, 
das  ihm  die  Meeresküste  und  den  Hafen  von  Lenkoran  südlich  von 
der  Mündung  des  Aras  am  K aspischen   Meere  sicherte,  dazu  eine 
Kriegsentschädigung.    Danach  also  hatte  Paskiewitsch  sich  zu  richten, 
und  darum  ist  der   Krieg  weitergeführt  worden.     Er  hatte   zudem 
noch    mit  zwei  wichtigen   Faktoren  zu    rechnen:    mit    der  W^ahr- 
scheinlichkeit  eines  Türkenkrieges  und  mit  der  Sorge  der  Engländer 
um  die  Wahrung  ihres  überwiegenden  Einflusses  in  Persien.   Schon 
als   am    13./25.  Oktober  1827  Eristow,    ohne   auf  Widerstand   zu 
stoßen,  seinen  Einzug  in  Tabris  halten   konnte,  versuchten  sie  zu 
vermitteln,  aber  Paskiewitsch  bestand  auf  direkter  Verhandlung  mit 
Abbas  Mirza.     Als  dieser  dann  am  ^^:J^}^L   einen    Unterhändler 

2.  November 

0  Das  war   vom   persischen  Standpunkte    nicht    einmal    richtig,    da   die 
allen  Schuten  als  Usurpatoren  galten. 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  175 

schickte,  zeigte  sich  aber,  daß  dieser  Standpunkt  sich  nicht  be- 
haupten lasse.  Die  von  dem  Geheimrat  Obreskow,  dem  Diplomaten, 
der  dem  Hauptquartier  zugewiesen  war,  geführten  Verhandlungen 
zeigen  uns  bereits  den  englischen  Gesandten  Macdonald  an  der 
Seite  der  Perser,  und  wohl  dessen  Einfluß  ist  es  zu  danken,  daß 
sich  nunmehr  Abbas  Mirza  dazu  bequemte,  in  direkte  und  persön- 
liche Beziehungen  zu  Paskiewitsch  zu  treten.  Er  traf  am  6./18. 
November  mit  kleinem  Gefolge  in  Dei  Kargan  ein  und  zeigte  sich, 
obgleich  Paskiewitsch  inzwischen  die  von  ihm  geforderte  Kriegs- 
entschädigung auf  15  Kurur  (30  Millionen  Rubel  Silber)  erhöht 
hatte,  bereit,  alle  russischen  Forderungen  zu  bewilligen.  Nur  solle 
man  dem  englischen  Gesandten  gestatten,  nach  Teheran  zu  reisen, 
damit  auch  Fet  Ali  zum  Nachgeben  bewogen  werde.  Da  Paskie- 
witsch zustimmte,  schienen  sich  für  den  Abschluß  des  Friedens  die 
besten  Aussichten  zu  eröffnen,  denn  England  fürchtete  nicht  mit 
Unrecht  den  Zerfall  Persiens,  wenn  die  Russen  in  Teheran  ein- 
rücken sollten.  Daran  aber  hätte  nichts  sie  verhindern  können, 
sobald  sie  entschlossen  vordrangen.  Trotzdem  sind  noch  über  zwei 
Monate  hingegangen,  ehe 'der  Krieg  zu  endgültigem  Abschluß  kam*). 
Fet  Ali  konnte  den  Entschluß  nicht  finden,  seine  Millionen  her- 
zugeben. Lieber  werde  er,  sagte  einer  der  persischen  Unterhändler, 
drei  Aderbeidjans  abtreten. 

Erst  als  Paskiewitsch  trotz  des  harten  Winters  die  Kriegs- 
operationen wieder  aufnahm,  konnte  am  10./22.  Dezember  ein 
Waffenstillstand  abgeschlosseu  werden;  da  er  am  2./14.  Januar 
1828  ablief,  ohne  daß  die  von  Abbas  Mirza  im  Namen  des  Vaters 
versprochenen  Gelder   aus  Teheran    eintrafen,   gingen    am    10./22. 


*)  Ober  den  Gang  der  Verbandlungen,  die  Intrigen  am  Hof  des  Schah 
und  den  Einfluß,  den  die  drohenden  Kriegsgerüchte  aus  der  Türkei  auf  beide 
Teile  ausübten,  berichtet  Schtscherbatow  ausführlich  an  der  Hand  der  Akten 
des  russischen  Kriegsministeriums.   1. 1.  III,  Kap.  II  und  Anlagen. 

Die  Relation  Schölers  vom  16./28.  Februar  1828,  durch  französischen 
Kurier,  sagt:  soeben  habe  der  Kaiser  die  Nachricht  vom  Wiederausbruch 
der  Feindseligkeiten  in  Persien  erhalten.  Vorstellungen  aus  Konstantinopel 
und  die  Intrigen  eines  jüngeren  Sohnes  des  Schah,  des  Statthalters  von  Cho- 
rassan,  hätten  sie  veranlaßt  (gemeint  ist  Hassan  Ali  Mirza,  der  dritte  Sohn 
Fet  Alis).  Hassan  habe  Abbas  Mirza  des  Verrats  beschuldigt  und  versprochen, 
die  verlorenen  Provinzen  wiederzuerobem.  Darauf  seien  die  bereits  im  Beisein 
eines  russischen  Beamten  verladenen  Millionen  zurückgehalten  und  die  Friedens- 
verhandlungen abgebrochen  worden.   Berlin  G.St.A.  A.  A.  I  Rep.  I  Turquie  1828. 


176  Kapitel  V.    Der  Perserkrieg. 

Januar  die  Mitglieder  der  Friedenskonferenz  von  Dei  Kargan  un- 
verrichteter  Dinge  auseinander.      In  wenigen  Tagen   fielen    darauf 
Urmia,  das  Khanat  Marag,  Ardebil  in  die  Hände  der  Russen,  und 
im  ganzen  südwestlichen  Aderbeidjan  gab  es  bald  keinen  einzigen 
persischen  Soldaten  mehr.   Da  endlich,  am  1./13.  Februar,  wurden 
den  russischen  Vorposten  die   ersten    drei  Kurur   abgeliefert,    und 
Abbas    Mirza    meldete,    daß    er   vom  Schah    beauftragt    sei,    den 
Definitivfrieden  auf  die  Bedingungen  hin  abzuschließen,  die  in  Dei 
Kargan  vereinbart  waren.     Da  Paskiewitsch  sichere  Nachricht  hatte, 
daß  der  Schah  in  der  Tat  nicht  mehr  als  zehn  bis  elf  Kurur  auf- 
bringen könne,  setzte  er  seine  Forderungen  auf  zehn  Kurur  herab, 
und  das  gab  den  Ausschlag  für  den  Frieden.     Auch  dazu  verstand 
er   sich,    die    englische  Vermittlung  nunmehr    anzunehmen.      Fast 
alle  Räte  und  Minister  Fet  Alis  standen  im  Sold  der  Engländer,  und 
ebenso  beherrschte  ihr  Einfluß  den  Thronfolger  Abbas  Mirza.     Es 
war  unmöglich,  sie  zu  umgehen.     So  kam   um  Mitternacht^)  vom 
9.  auf  den  10./22.  Februar  in  Turkmantschai  der  Friede  zustande. 
Außer  Abbas  Mirza  waren  als  Vertreter  Fet  Alis  der  Minister  des 
Auswärtigen,  Abul  Hassan  Khan,  und  der  Ober-Eunuch  und  Schatz- 
meister   Manutscher  Khan    zugegen,    von   russischer  Seite    führten 
Obreskow   und  Paskiewitsch    die  Verhandlungen.     Das   wesentliche 
Ergebnis    war,    daß    die    Khanate    Eriwan    und  Nachitschewan    in 
genau  bestimmten  Grenzen,  wie  sie  gegen  Persien  noch   heute  be- 
stehen, für  ewige  Zeiten  mit  Rußland  vereinigt  wurden,  daß  Ruß- 
land   das    ausschließliche    Recht    erhielt,    Kriegsschiffe    auf    dem 
Kaspischen  Meere  zu  halten  und  daß  russische  Konsulate  in  Persien 
eingeführt  wurden.   Die  Kriegsentschädigung  wurde  auf  zehn  Kurur') 
festgestellt  und  vereinbart,  daß  nach  erfolgter  Zahlung  von  sieben 
Kurur  die  russischen  Truppen  Aderbaidjar  bis  auf  zwei  feste  Plätze') 
räumen  sollten,  die  nach  Zahlung  der  letzten  drei  Kurur  ebenfalls  den 
Persern  auszuliefern  waren.     Kaiser  Nikolaus  erkannte  Abbas  Mirza 
als  den  allein   berechtigten  Nachfolger  des  Schahs    an,    und    beide 
Herrscher  versprachen  einander,  für  sich  und  ihre  Nachfolger  gute 
Nachbarschaft  und  Freundschaft  zu  halten. 


^)  Diese  Stunde  war  vom  persischen  Astrologen  als  die  günstigste  be- 
zeichnet worden. 

')  20  Millionen  Rubel  Silber,  nach  dem  damaligen  Stand  des  Rubel- 
kurses 70  Millionen  Rubel  Papier. 

')  Choi  und  Urmia. 


Kapitel  V.    Der  Perserkrieg.  177 

]Nächst  den  Gebietsabtretungen  fällt  der  Schwerpunkt  des 
Friedensschlusses  auf  die  Einführung  der  Konsulargerichtsbarkeit, 
sowie  auf  die  den  Handel  betreffenden  Bestimmungen.  Sie  haben 
allen  späteren  Verträgen  Rußlands  mit  dem  Orient  zum  Vorbild 
gedient  *).  Es  charakterisiert  den  Schah  und  die  Politik  des  Orients, 
daß  Fet  Ali  sich  schließlich  noch  ein  Geschenk  von  5000  russischen 
Dukaten  in  Gold,  womöglich  neuer  Prägung  erbat  Die  russischen 
Abgeordneten,  die  nach  Teheran  geschickt  wurden,  um  ihn  zum 
Abschluß  des  Friedens  zu  beglückwünschen,  haben  ihm  am  moham- 
medanischen Neujahrstage,  dem  10.  März,  dieses  erbettelte  Geschenk 
zu  seiner  lebhaften  Freude  überreicht. 

Vierzehn  Tage  danach  traf  Paskiewitsch  in  Tiflis  ein.  Der 
Dank  des  Kaisera,  der  Titel  Graf  Paskiewitsch-Eriwanski  und  eine 
Dotation  von  einer  Million  Rubel  zeigten  ihm,  daß  er  trotz  aller 
Anfeindungen,  die  während  des  ganzen  Verlaufs  der  Kampagne 
gegen  ihn  am  Werke  gewesen  waren,  sich  der  Gunst  seines  Herrn 
sicher  fühlen  durfte.  Daß  er  Anlaß  zu  Beschwerden  gegeben  habe, 
wußte  Paskiewitsch  selbst  sehr  wohl.  In  einem  Brief  an  den  Groß- 
fürsten Michail  Pawlowitsch  hat  er  sich  darüber  —  was  ihm 
nur  zur  Ehre  gereichen  kann  —  ganz  rückhaltlos  ausgesprochen'): 
„Wenn  ich  jemals  gewürdigt  werde,  wieder  vor  Ew.  Hoheit  zu  er- 
scheinen, wird  es  Ihr  schwer  fallen,  mich  wiederzuerkennen.  Schlaf- 
lose Nächte  durch  lange  Zeiträume  hindurch,  die  fehlende  Ruhe, 
der  stete  Wechsel  der  Ereignisse,  Unannehmlichkeiten  aller  Art, 
die  durch  keine  menschliche  Voraussicht  abzuwenden  waren,  ein 
Klima,  in  welchem  auf  unerträgliche  Hitze  Schneestürme  folgten 
wie  in  Rußland,  das  alles  hat  mich  völlig  gewandelt,  und  ich  bin 
vorzeitig  alt  geworden.  Auch  mein  Charakter  hat  sich  völlig  ver- 
ändert. Wenn  man  von  Menschen  und  Verhältnissen  oft  das  Un- 
mögliche fordert,  läßt  sich  das  Gleichgewicht  der  Seele  nicht 
bewahren.  Der  Wunsch  mehr  zu  tun,  als  die  Pflicht  gebietet, 
treibt  zur  Maßlosigkeit.  Die  Hindernisse  erbittern,  man  straft  oft 
und  viel,  und  das  gefällt  niemandem.  .  .^  In  Petersburg  war  man 
durch  die  in  Moskau  perlustrierten  Briefe  der  kaukasischen  Oiiiziere 
über  die  Härten  Paskiewitschs  wohl  orientiert.  Auch  der  Kaiser 
wußte  von  ihnen.     Aber  das  machte  ihn  an   dem  Manne,   dem  er 

^)  Siehe  die  Anlage,  die  den  Wortlaut  des  Vertrages  in  deutscher  Ober- 
setzung bringt. 

»)  Bei  Schtscherbatow  1.1.111,8.96—97.  Schreiben  vom  11./23.  Februar  1828. 
Schiemann,  Geschichte  Rußlands.  U.  12 


178  Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino. 

einmal  sein  Vertrauen  geschenkt  hatte,  nicht  irre.  Das  ist,  im 
Gegensatz  zu  Alexander,  ein  großer  Zug  im  Charakter  Nikolais, 
der  freilich,  wie  die  Folge  zeigen  sollte,  durch  Mißbrauch  zur 
Schwäche  werden  konnte.  Gerade  die  schlimmsten  Schäden  in  der 
Verwaltung  des  Reiches  sind  auf  den  Mißbrauch  des  kaiserlichen 
Vertrauens  zurückzuführen.  Damals  aber  war  es  sicher  wohl- 
berechtigt, wenn  Nikolai  den  siegreichen  Feldherru  stützte  und 
hielt.  Er  hatte  in  entscheidender  Stunde  ihm  den  Rücken  gesichert. 
Der  Türkenkrieg  stand  unmittelbar  bevor.  Was  unter  diesen  Um- 
ständen der  günstige  Frieden  mit  Persien  zu  bedeuten  hatte,  zeigt 
uns  ein  Brief  Alexander  Benkendorffs  an  M.  S.  Woronzow  vom 
16./28.  März  1828.  „Endlich  ist  sichere  Nachricht  vom  Abschluß 
des  Friedens  eingetroffen.  .  .  Man  muß  gestehen,  daß  die  Musel- 
männer den  rechten  Augenblick  zu  wählen  verstehen.  Anno  1812 
beeilten  sich  die  Türken,  den  Frieden  gerade  in  dem  Augenblick 
zu  unterzeichnen,  da  Napoleon  und  ganz  Europa  in  das  Reich  ein- 
drangen: jetzt  folgen  die  Perser  ihrem  Beispiel,  um  uns  zu  helfen, 
ihre  Glaubensgenossen  zu  zermalmen.  .  .  .^  ^) 

Das  war  ganz  richtig,  denn  in  den  Tagen  zwischen  dem  9. 
und  14.  Februar  1828  (r.  St.)  hatte  Kaiser  Nikolaus  sich  endgültig 
entschlossen,  ohne  weitere  Zögerung  seine  Heeresmacht  gegen  die 
Türkei  zu  führen'). 


Kapitel  Tl.    Torstadien  des  Tfirkenkrieges.    Navarino. 

Der  Gedanke,  daß  ein  Krieg  gegen  die  Türkei  für  ihn  zur 
Notwendigkeit  werden  könne,  hat  den  Kaiser  Nikolaus  von  den 
ersten  Tagen  seiner  Regierung  her  lebhaft  beschäftigt.  Er  liegt 
nur  wenig  verhüllt  sowohl  den  Vereinbarungen  vom  4.  April  1826 
mit  England,  wie  den  Verhandlungen  zu  Akkerman  zugrunde, 
wenn  auch  hier  wie  dort  das  sichtbare  Ziel  die  Gewinnung  eines 
dauerhaften  Friedens  sein  sollte.  Das  war  der  notwendige  Schein. 
Schon  im  Frühling  des  Jahres  haben,  wie  wir  sahen,  sowohl  der 
Prinz  Eugen,  wie  General  Diebitsch  dem  Kaiser  Feldzugspläne 
ausarbeiten  müssen.  Der  Prinz  war  bestimmt,  die  vier  Divisionen 
zu    führen,    welche    bei    Ismail    die  Donau    überschreiten    sollten, 

^)  Woronzow  Archiv,  Bd.  35,  Nr.  114.  Schtscberbatow  III,  Anlage  zu 
Kapitel  II,  Nr.  12. 

2)  Relation  Schöler,  10./22.  März  1828  (durch  die  Post). 


Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino.  179 

«ventuell  sogar  das  Kommando  der  2.  Armee  zu  übernehmen. 
Das  Zurückweichen  der  Türken  hatte  diese  Pläne  vertagt,  aber 
nicht  beseitigt,  und  der  Kaiser  zweifelte  nicht  daran,  daß  trotz 
allem  die  Verhältnisse  den  im  Grunde  aus  Erwägungen  der  inneren 
wie  der  äußeren  Politik  hocherwünscbten  KonQikt  herbeiführen 
würden.  So  hat  er  dann  mit  großem  Geschick  in  zäher  Verfolgung 
seines  Zieles  eine  diplomatische  Aktion  eingeleitet,  deren  Grund- 
gedanke zunächst  dahin  ging,  in  Erfüllung  lange  gehegter  Pläne 
Alexanders  I.,  als  Mandatar  Europas  die  Exekution  an  der  Türkei 
zu  vollziehen  und  die  übrigen  Großmächte  zum  Anschluß  an  die 
Konvention  vom  4.  April  1826  zu  bewegen.  Aber  diese  Be- 
mühungen fanden  unter  dem  Schutz  des  Geheimnisses  der  Kanz- 
leien statt;  die  Petersburger  „Gescdlschaft^,  d.  b.  die  OfiGziere  des 
Gardekorps  und  der  kleine  Kreis  derjenigen,  die  in  direkter  oder 
indirekter  Beziehung  zum  Hofe  standen  und  von  ihm  den  Stoff 
für  ihre  Gedankenwelt  zu  empfangen  gewohnt  waren,  erfuhren  da- 
von nichts.  Die  Aufmerksamkeit  richtete  sich  auf  den  unruhigen 
Tätigkeitsdrang  des  Kaisers,  der  in  überraschenden  Revisionen  der 
öffentlichen  Institute,  in  Paraden  und  Inspektionen,  in  seiner 
hastigen  gesetzgeberischen  Tätigkeit  und  in  dem  Bestreben  seinen 
Ausdruck  fand,  durch  sein  persönliches  Eingreifen  den  Augiasstall 
bureaukratischer  Gewissenlosigkeit  und  Trägheit  gleichsam  über 
Nacht  zu  reinigen.  Da  er  dabei  naturgemäß  nur  oberflächliche 
Einsicht  gewinnen  konnte,  waren  seine  stets  impulsiven  Entschei- 
dungen oft  hart  und  ungerecht,  weil  sie  auch  Unmögliches  verlangten 
und  noch  häufiger  nicht  die  eigentlich  Schuldigen  trafen  *).  Aber 
unverkennbar  war  der  Kaiser  bemüht,  seine  Leidenschaften  nieder- 
zuhalten, namentlich  wahrte  er  sich  bei  Paraden  und  anderen 
militärischen  Schaustellungen  seine  kaiserliche  Würde.  Um  so 
rücksichtsloser  ließ  der  Großfürst  Michail  Pawlowitsch  seinem 
hitzigen  Temperament  freien  Lauf,  und  die  übertriebene  Wert- 
schätzung, die  er  den  formellen  Seiten  militärischer  Ausbildung 
und   militärischer  Disziplin   beilegte,    wurden  nachgerade  zu  einer 


^)  Am  10.  Januar  1827  setzte  der  Kaiser  den  Zivilgouverneur  von  Peters- 
burg Schtscherbinin  ab,  weil  ihn  eine  Kevision  der  beiden  groBen  städtischen 
Hospitäler  (Obuchow  und  Kalinkin)  nicht  befriedigt  hatte.  Am  23.  September 
1827  wurde  der  kuHändiscbe  Landbotenmarscball  ßaron  Rönne  abgesetzt,  weil 
«r  eine  Beschwerde  des  kurländischen  Landtags  über  den  Generalgouverneur 
Marquis  Paulucci  durch  Staffette  direkt  an  den  Kaiser  hatte  gelangen  lassen  etc. 

12* 


180  Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Kavarinö. 

Kalamität.  Er  war  im  November  1826  an  Stelle  des  alten  Generals 
Woinow  zum  Kommandeur  des  Gardekorps  ernannt  worden  und 
widmete  sich  seinen  neuen  Aufgaben  mit  einem  Eifer,  der  Soldaten 
wie  Offiziere  zur  Verzweiflung  brachte.  Michail  wollte  das  Vorbild, 
das  ihm  Konstantin  in  Warschau  stellte,  nicht  nur  erreichen, 
sondern  womöglich  übertreffen.  Das  führte  zu  so  unerträglichen 
Quälereien,  daß  schließlich  der  Kaiser  sich  genötigt  sah,  e  nzu- 
greifen  und  durch  Benkendorff  dem  Bruder  ernste  Vorstellungen 
zu  machen,  die  dann  für  einige  Zeit  halfen.  Aber  während  der 
Großfürst  von  den  unter  ihm  stehenden  Truppen  eine  fast  über- 
menschliche Selbstbeherrschung  verlaugte,  war  er  selbst  ganz  un- 
fähig, den  Impulsen  des  Augenblicks  zu  widerstehen.  Die  auf  drei 
Tage  angelegten  großen  Manöver  in  Krasnoje  Sselo  im  Sommer 
1827,  in  denen  der  bald  danach  zum  Kriegsminister  ernannte 
General  Tschernyschew  gegen  Michail  Pawlowitsch  operierte, 
wurden  von  diesem  in  einer  Stunde  zum  Abschluß  gebracht* 
Er  errang  einen  glänzenden  Sieg,  und  das  mochte  genial  erscheinen, 
aber  es  verdarb  die  Manöver  und  spottete  aller  Voraussetzungen, 
die  den  Operationen  zugrunde  lagen*).  Über  solche  Dinge  wurde 
gelacht;  anderes,  w^ie  namentlich  die  Art,  wie  der  Kaiser  seine 
Vorstellung  von  Ordnung  zur  Geltung  brachte,  erbitterte.  Den 
fremden  Beobachtern  fiel  die  Schärfe  auf,  mit  der  in  den  Kreisea 
der  Gardeoffiziere  über  den  Kaiser  geurteilt  wurde. 

Von  dem  ersten  Schrecken,  den  das  über  die  Dekabristen  er- 
gangene Strafgericht  hervorrief,  hatte  sich  die  „Gesellschaft^  bereits 
erholt,  und  man  begann  in  den  Verurteilten  Helden  zu  bewundern, 
die  für  die  „Freiheit''  aller  gekämpft  hatten.  Nikolai  wurde  um 
jene  Zeit  vom  russischen  Adel  nicht  geliebt,  und  seine  Geheim- 
polizei, die  ihm  regelmäßig  ihre  Berichte  über  das  Gerede  der 
Salons  in  beiden  Residenzen  zugehen  ließ,  machte  alle  Selbst- 
täuschung   darüber     unmöglich.      Er     suchte     deshalb    auf    jede 


*)  Relation  La  Ferronnays,  Petersburg,  31.  Juli. 

,Les  grandes  manoeuvres  de  Crasooje  Selo,  sont  termines  depuis  le  27; 
elles  devaient  durer  plus  longtemps,  mais  un  mouvement  bien  combioe  execute 
sous  les  ordres  du  G.  D.  Michel,  qui  commendait  les  troupes  opposees  au 
general  Czernichew  a  fini  dans  uue  heure  la  bataille  qui  devait  durer  trois 
jours.  On  a  eu  a  dt'plorer  plusieurs  gräves  accidents  ..."  Dieser  Bericht 
wurde  durch  die  Post  expediert,  war  also  darauf  berechnet,  in  Rußland  gelesen 
zu  werden. 


Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino.  181 

Weise  die  Soldaten  an  sich  zu  fesseln  und  verstand  es  in  der 
Tat  ihre  enthusiastische  Bewunderung  zu  gewinnen*).  Das  Ge- 
schwätz der  „Gesellschaft^  verachtete  er,  er  wußte  wohl,  daß  es 
in  diesen  Kreisen  beim  Heden  bleiben  werde,  und  daß  eine  Initia- 
tive, die  zur  Tat  fuhren  könnte,  von  ihnen  nicht  zu  fürchten  war. 
Aber  er  sorgte  für  genaue  Überwachung  der  Unzufriedenen.  Auch 
gab  ihm  das  Bewußtsein,  daß  er  das  Beste  wollte:  Ordnung,  Be- 
seitigung der  Mißbräuche,  Gerechtigkeit,  Erhöhung  der  Macht  Ruß- 
lands, ein  Gefühl  von  Sicherheit  und  Überlegenheit  diesen  Kritikern 
gegenüber.  Sie  machten  ihn  an  seinem  „System''  nicht  irre,  und 
er  war  entschlossen,  es  nach  innen  wie  nach  außen  hin  zu  be- 
haupten. Nur  überschätzte  er  nach  beiden  Seiten  hin  seine  tat- 
sächliche Macht  Im  Innern  dauerten  die  alten  Mißstände  fort*^), 
weil  er  die  Menschen  nicht  umwandeln  konnte  und  ihnen  keine 
Ideale  zu  bieten  hatte;  nach  außen  hin  aber  wurde,  wie  es  allezeit 
der  Fall  gewesen  ist,  das  Gewicht  der  russischen  Macht  höher  ver- 
anschlagt, als  nachträglich  die  Wirklichkeit  rechtfertigte. 

Die  russische  Diplomatie  arbeitete  mit  diesem  Schein  wie 
mit  einer  Realität  und  wurde  darin  durch  den  Kaiser  unter- 
stützt,   der   in  seinen  Vorstellungen    stets    mit   den   Machtmitteln 


^)  „Le  jeune  empereur  n'a  rien  neglige  pour  s^attacher  cette  importante 
portion  de  ses  sujets;  il  est  impossible  de  s^etre  montre  ä  son  armee  sous 
des  debors  plus  seduisants,  et  je  pense  qu'il  pourrait  compter  sur  Tenthou- 
siasme  quUI  a  su  inspirer  a  ses  sold&ts.''  Relation  La  Ferronnays.  Peters- 
burg, 18.  Oktober  1826.    Paris,  depot  des  off.  etrangeres.    Russie,  vol.  171,  no.  80 

'"^  Die  Gräfin  Nesselrode  charakterisiert  in  einem  Brief  vom  8.  November 
1827  die  Strömung  folgendermaßen:  ,11  serait  k  dt^sirer  que  Tinterieur  du 
pays  marchät  comme  Texterieur,  mais  cette  administration  ne  bat  que  d'une 
aile;  ce  sont  tonjours  les  memes  mächoires  qui  sont  ministres,  on  ne  peut 
point  manier  la  jeunesse,  le  complot  qui  a  eclate  le  14  a  deroute  sur  la  con- 
duite  quMl  fallait  avoir.  On  les  exaspere  et  depuis  les  pages  jusqu'ä  TUni- 
versite  il  est  constamment  question  d'insubordination  et  au  Heu  d^etoufTer  ces 
germes,  ce  sont  des  jeunes  gens  des  premiers  noms  que  Ton  fait  soldats,  ce 
qui  mecontente  les  parents,  les  aigrit.  .  .  C'est  dommage  de  voir  des  gen^- 
rations  entieres  se  detruire  et  puis  Ton  s*^tonne  que  les  hommes  comme  il 
faut  disparaissent.  C'est  la  parade,  Texercice  oü  tend  tout  le  but  des  combi- 
naisons  qui  detruit  chez  nous  les  Vi  de  la  jeunesse.  Jugez  que  toute  cette 
jeunesse  est  pervertie  tellement  que  la  bouche  se  refuse  de  citer  ce  quMls 
fönt,  et  c'est  k  toutes  les  institutions  publiques  que  cela  s'apprend,  y  compris 
le  lycee.  Malheureusement  il  n*y  a  aucune  exageration  dans  tout  ce  que 
je  vous  dis.* 


182  Kapitel  VI.     Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino. 

rechnete,  über  die  Rußland  hätte  verfügen  können,  wenn  die 
Maschinerie  der  Staatsverwaltung  in  Ordnung  gewesen  und  jeder- 
mann seinen  Pflichten  gegen  den  Staat  nachgekommen  wäre.  Das 
ist  aber  während  des  ganzen  Verlaufs  seiner  Regierung  niemals 
auch  nur  annähernd  der  Fall  gewesen.  Vielmehr  haben  die  Miß- 
bräuche, die  wir  als  charakteristisch  für  das  Rußland  Alexanders  I. 
kennen  lernten,  sich  entweder  behauptet  oder  eine  neue,  nicht 
minder  verderbliche  Gestalt  angenommen.  Der  Typus  der  Beamten 
Alexanders  I.  erhielt  sich  auch  unter  Nikolaus  I.,  nur  die  Uniformen 
wurden  andere,  nicht  die  Menschen.  Die  Jugend  aber  wurde 
gedankenärmer  und  verdorbener.  Auch  erschwerte  ihr  der  Kaiser 
die  Bildung,  indem  er  Gesuche  um  Bildungsreisen  abschlägig  zu 
bescheiden  pflegte.  Die  jungen  Leute,  sagte  er,  kommen  voll 
kritischen  Geistes  zurück  und  finden  —  vielleicht  mit  Recht  — 
die  Institutionen  ihres  Vaterlandes  mangelhaft.  Nun  hatte  der 
Kaiser  allerdings  einige  der  meistverhaßten  Werkzeuge  Alexanders 
beseitigt.  Die  Kuratoren  von  Kasan  und  Petersburg,  der  falsche 
Finsterling  Magnitzky  und  der  ehrliche  Mystiker  Runitsch  waren, 
wie  wir  sahen,  abgesetzt  worden,  Araktschejew  lebte  seit  seiner 
Rückkehr  aus  dem  Auslande  von  den  Geschäften  fem  in  Grusino, 
geriet  aber  in  völlige  Ungnade,  als  er  im  Januar  1827,  ohne  vor- 
her die  Genehmigung  des  Kaisers  eingeholt  zu  haben,  die  Briefe 
veröff'entlichte,  die  im  Lauf  der  Jahre  der  verstorbene  Kaiser  an 
ihn  gerichtet  hatte.  Er  hatte,  als  er  offiziell  über  die  Entstehung 
dieser  Publikation  befragt  wurde,  die  Stirn  zu  behaupten,  daß  sie 
ohne  sein  Wissen  erfolgt  sei,  und  mußte  durch  eine  danach  ange- 
stellte Untersuchung  erst  überführt  werden,  ehe  er  sich  dazu  be- 
quemte, die  Wahrheit  zu  gestehen  und  die  vorhandenen  Exemplare 
auszuliefern^).  Der  Kaiser  hat  ihn  nicht  weiter  bestraft,  aber  ihn 
auch  nicht  mehr  wiedergesehen. 

An  der  Organisation  der  Militärkolonien  wurde  zunächst  nur 
die  Änderung  vorgenommen,  daß  sie  dem  Generalstabe  des  Kaisers 
unterstellt  wurden.  Die  Leitung  aber  lag  tatsächlich  in  Händen 
des  Generals  Kleinmichel.  Er  war  es,  der  das  ihm  von  Arak- 
tschejew geschenkte  Exemplar  der  Briefe  Alexanders  dem  Kaiser 

^)  Es  waren  achtzehn,  die  bis  auf  zwei  vernichtet  wurden.  Araktschejew 
hatte  aber  zwölf  weitere  Exemplare  unter  dem  Glockenturm  Yon  Qrusino  ver- 
mauern lassen.  Nikolai  war  über  die  „infame  Lüge"  Araktschejews  entrüstet» 
aber  er  schonte  in  ihm  den  Freund  Alexanders. 


Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Torkenkrieges.    Navarino.  183 

auslieferte,  worauf  dann  der  Zesarewitsch  Konstantin  mit  der  ihm 
eigenen  Derbheit  in  einem  Schreiben  an  den  Kaiser  seiner  Ver- 
achtung unzweideutigen  Ausdruck  gab.  Nikolai  suchte  Klein- 
michel zu  entschuldigen,  schloß  jedoch  mit  der  Bemerkung,  als 
Kaiser  sei  er  nun  einmal  in  der  Lage,  auch  Leute  von  un- 
lauterer Gesinnung  zu  brauchen.  Kleinmichel  hat  Nikolais  be- 
sonderes Vertrauen  genossen,  war  aber  nicht  minder  hart  und 
nicht  minder  verhaßt  als  Araktschejew.  In  das  Präsidium  des 
Reichsrats  trat  nach  dem  Tode  Lopuchins  der  bisherige  Vorsitzende 
des  Ministerrats,  Graf  Viktor  Kotschubej  ^),  gleichfalls  ein  alter 
Herr.  Im  Oktober  1827  wurde  Fürst  Alexej  Dolgorukow  an 
Lobanow-Rostowskis  Stelle  Justizminister  und  kurz  vorher  zu 
Tatisch tsche WS  Nachfolger  der  Generaladjutant  Graf  Alexander 
Tschernyschew  ernannt.  Minister  des  Innern  wurde  der  kluge 
aber  harte  Generalgouverneur  von  Finland,  Sakrewski*).  In  ihren 
Stellungen  behaupteten  sich  der  wegen  seiner  Sachkenntnis  und 
Redlichkeit  unentbehrliche  Finanzminister  Graf)  Cancrin  und  der 
zum  Vizekanzler  erhobene  Minister  des  Auswärtigen,  der  Graf 
Nesselrode,  der  durch  Fleiß,  Geschmeidigkeit  und  Formgewandtheit 
sich  die  Gunst  seines  Herrn  zu  erhalten  verstand.  Gerade, 
daß  er  nicht  mit  eigenen  Ideen  auftrat,  machte  ihn  dem 
Kaiser  genehm,  der  seinen  Stolz  darin  setzte,  die  auswärtige 
Politik  selbst  zu  leiten.  Die  Vertretungen  Rußlands  im  Auslande 
blieben  bestehen,  wie  Alexander  sie  dem  Bruder  hinterlassen  hatte. 
Die  wichtigste  und  wie  es  schien  erfolgreichste  Veränderung 
war  jedoch  die  Neuorganisation  des  Marineministeriums,  mit  der 
der  Kaiser  den  nach  seiner  Rückkehr  aus  Persien  zum  General- 
adjutanten ernannten  Fürsten  Alexander  Menschikow  betraute,  ob- 
gleich dieser  niemals  Seemann  gewesen  war.  Aber  er  hatte  einen 
scharfen  Verstand,  eine  ungewöhnliche  Arbeitskraft,  den  Ehrgeiz 
seiner  Stellung  und  war  Bestechungen  unzugänglich.  Mit  dem  See- 
wesen hatte  er  sich  aus  Liebhaberei  beschäftigt  und  von  den  in 
der  russischen  Marine  herrschenden  Schäden  eine  sehr  deutliche 
Vorstellung  gewonnen.     Seit  den  Tagen  Peters  des  Großen  war  alles, 


1)  Den  ^^^  1827.    Kotschubej  war  schon  1802  Minister  des  Innern 

gewesen.    Er  ist  1768  geboren. 
V)  I^lAptII  1828. 

^     L  Mai 
3)  Er  wurde  1829  nach  Beendigung  des  Torkenkrieges  Graf. 


184  Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Tärkenkrieges.    Navarino. 

was  mit  der  Marine  in  Zusammenhang  stand,  dem  sogen.  Admira- 
litätskollegium unterstellt  Alexander  I.  hatte  daraus  ein  Marine- 
ministerium gemacht  und  in  den  ersten  Jahren  seines  Regiments 
auch  der  Flotte  ein  gewisses  Interesse  zugewandt.  Nach  Tilsit, 
als  Rußland  dem  System  der  Kontinentalsperre  beitrat  und  seine 
Flotte  der  Übermacht  Englands  nicht  entgegenzutreten  wagte, 
schwand  das  Interesse  für  die  fast  nutzlos  gewordene  Waffe,  und 
auch  nach  den  Freiheitskriegen  wurde  es  nicht  wieder  lebendig. 
Obgleich  noch  aus  den  Tagen  Katharinas  II.  und  Pauls  einige 
tüchtige  Seeleute  übrig  waren,  begann  die  Flotte  zu  verfallen.  Sie 
stand  seit  1811  unter  der  Leitung  eines  ehemaligen  französischen 
Emigranten,  des  Marineministers  de  Traverse  '),  der  seinerseits  nichts 
getan  hat,  um  dem  Niedergang  der  russischen  Seemacht  entgegen- 
zuwirken, so  daß  sie  bald  zum  Spott  der  seekundigen  Ausländer 
wurde,  die  in  Kronstadt  die  nutzlos  verkommenden  und  buch- 
stäblich verfaulenden  Kriegsschiffe  sahen.  Sie  dienten  nur  zur 
Bereicherung  der  Marinemannschaften^  vom  Minister  bis  hinab  zum 
Matrosen,  und  wurden  im  vollen  Sinne  des  Wortes  kapp  und  kahl 
gestohlen*).  Der  Zustand  dieser  Flotte  war  ein  so  kläglicher,  daß 
in  der  medisierenden  russischen  Gesellschaft  die  Rede  ging,  England 
habe  die  russische  Regierung  gezwungen,  ihre  Kriegsmarine  zu  ver- 
nichten, und  nur  mit  Mühe  sei  das  Zugeständnis  erlangt  worden, 
daß  diese  Vernichtung  der  Flotte  allmählich  und  in  einer  Weise 
stattfinden     dürfe,     die    der    Nation     den    darüber    geschlossenen 


*)  Prevost  de  Santac,  Marquis  de  Traverse.  Siehe  die  historische  Über- 
sicht über  Entwicklung  und  Tätigkeit  des  Kriegs ministeri ums  1802 — 1902 
von  Agorodnikow.     Petersburg  1902.     Russisch. 

2)  „Wenn  die  schlauen  und  treulosen  Vorgesetzten  sich  das  Ziel  gesteckt 
hätten,  unter  Ausnützung  der  Schwäche  der  Regierung  und  der  geringen  Auf- 
merksamkeit, die  sie  dem  Ileil  des  Vaterlandes  zuwendet,  auf  Antrieb  und  unter 
Unterstützung  unserer  Feinde  und  zum  eigenen  Vorteil  unsere  Flotte  bis  zur 
äußersten  Nichtigkeit  herabzudrücken,  so  hätten  sie  ihr  auch  dann  eine  ver- 
ächtlichere und  schwächere  Lage  nicht  schaffen  können  als  die  ist,  in  der  sie 
sich  befindet.  Die  verfaulten  Schiffe  sind  schlecht  und  ärmlich  bewaffnet  und 
noch  schlechter  und  ärmlicher  ausgerüstet,  die  Anführer  der  Flotte  Greise, 
kränklich,  unwissend,  Kapitäne  und  Offiziere  ohne  Erfahrung,  die  Matrosen 
Bauern,  die' man  Seeleute  nennt!  Wenn  das  eine  Flotte  macht,  ja,  dann 
haben  wir  eine  Flotte  I" 

Denkschrift  eines  alten  Seeoffiziers  vom  31.  Dezember  1824.  Manuskript. 
Russisch. 


Kapitel  VI.     Vorstadien  des  Turkenkrieges.    Navarino.  185 

Vertrag  verbarg!  Glaubte  doch  selbst  der  GeneralleutDant 
GoIovüLu,  daß  die  Regierung  einen  geheimen  politischen  Zweck 
verfolgen  müsse,  wenn  sie  einen  Teil  ihrer  Wehrkraft  so  systema- 
tisch zugrunde  richte^).  Das  war  natürlich  leeres  Geschwätz, 
aber  die  Tatsache  bleibt  bestehen,  daß  allerdings  von  Jahr  zu  Jahr 
der  Bestand  der  gesamten  Kriegsmarine  für  Kriegszwecke  unver- 
wendbarer wurde. 

Nun  war  der  alte  Marineminister  Marquis  de  Traverse  im 
Jahre  1821  schwer  erkrankt  und  Alexander  hatte  infolgedessen  die 
Geschäfte  auf  den  Chef  des  Admiralstabes  von  Moller  übertragen, 
so  daß  nunmehr  alle  Marineangelegenheiten  in  einer  Hand  konzen- 
triert wurden.  Es  wurde  aber  dadurch  uicht  besser,  sondern  noch 
schlimmer,  und  vollends  ward  infolge  der  großen  Überschwemmung 
vom  7./19.  November  1824  der  Bestand  der  Flotte  auf  das  empfind- 
lichste geschwächt.  Vier  Linienschiffe,  eine  Fregatte  und  drei 
kleinere  Schiffe  wurden  auf  eine  Sandbank  geworfen,  von  den  50 
Kanonenbooten  der  größte  Teil  schwer  beschädigt,  so  daß  zu  An- 
fang der  Regierung  Nikolais  die  baltische  Flotte  aus  nur  fünf 
Linienschiffen,  zehn  Fregatten  und  10  bis  12  kleinen  Schiffen 
bestand. 

Hier  nun  griff  der  Kaiser  mit  Energie  ein.  Er  ließ  zwar 
Moller  im  Amt,  aber  schon  am  31.  Dezember  1825  setzte  er  ein 
Komitee  zur  Begründung  einer  Flotte  ein,  zu  dem  die  Vizeadmirale 
Ssenjawin,  Pustoshkin  und  Greigh,  der  Kontreadmiral  Koshnow 
und  die  Kapitänkommandeure  Krusenstiern,  Ratmanow  und  Dellings- 
hausen befohlen  wurden.  Ihre  Aufgabe  war,  die  verschiedenen 
Zweige  der  Marineverwaltung  genau  abzugrenzen,  alles  Überflüssige 
auszuscheiden,  das  Nützliche  beizubehalten,  Unzureichendes  zu  ver- 
vollständigen, den  Geschäftsgang  zu  beschleunigen  und  die  Be- 
ziehungen der  Expeditionen  zum  Admiralitätskollegium  und  zum 
Admiralitätsdepartement  klar  zu  legen.  Da  der  Kaiser  selbst  an 
den  Sitzungen  regen  Anteil  nahm,  wurde  auch  wirklich  mit 
Erfolg  gearbeitet.  Aber  erst  nachdem  Fürst  Menschikow  hinzuge- 
zogen wurde,  schritt  die  Arbeit  energisch  und  mit  außerordentlicher 
Schnelligkeit  fort.  Am  27.  August  1827  bestätigte  der  Kaiser  die 
vorläufige  Organisation  des  Marineministeriums.  Es  ist  geradezu 
erstaunlich,  was  Menschikow  in  dieser  kurzen  Zeit  geleistet  hat. 


>)  Aus  der  oben  erwähnten  „Denkschrift". 


186  Kapitel  VI.    Yorstadien  des  Türkenkrieges.    Nayarino. 

Als  der  Kaiser  am  10.  JuDi  eine  Musterung  der  zur  Ausfahrt 
bestimmten  Flotte  hielt,  bestand  die  Avantgarde  unter  dem  Vize- 
admiral Lotuchin  aus  drei  Linienschiffen  und  drei  Fregatten,  das 
Corps  de  bataille  unter  Admiral  Ssenjawin  aus  drei  Linienschiffen 
drei  Fregatten,  einer  Brigg  und  einer  Korvette,  die  Arrieregarde 
unter  Kontreadmiral  Graf  Heyden  aus  zwei  Linienschiffen  und  vier 
Fregatten.  Wie  es  schien,  war  alles  in  bestem  Stand.  V^on  den 
Linienschiffen  hatte  der  Gangut  84  Kanonen,  die  übrigen  74,  die 
Fregatten  64,  48,  36  resp.  20  Geschütze.  Der  Kaiser  gab  seiner 
Zufriedenheit  lebhaften  Ausdruck,  lobte  die  Offiziere  und  beschenkte 
die  Mannschaften.  Er  glaubte  an  die  ruhmvolle  Zukunft  seiner 
Flotte.  Auch  der  preußische  Gesandte  berichtet,  daß  alles  vor- 
trefflich verlaufen  sei  und  von  diesem  Tage  wohl  eine  neue  Ära 
der  russischen  Marine  datieren  werde.  Wer  die  Geschichte  der 
russischen  Flotte  kannte,  mochte  weniger  optimistisch  urteilen.  Es 
war  doch  alles  Hastarbeit  gewesen,  was  man  geschaffen  hatte,  und 
vor  allem  mußte  es  von  vornherein  als  ausgeschlossen  gelten,  daß 
die  zum  Teil  ganz  unerfahrenen  Offiziere  und  die  des  Meeres  unge- 
wohnten Mannschaften  ihren  Aufgaben  gewachsen  sein  könnten')« 
Auch  mußte  der  Kaiser  sehr  bald  eine  böse  Erfahrung  über  die 
Leistungsfähigkeit  seiner  neuen  Schiffe  machen.  Er  stellte  kurz 
danach  dem  alten  Präsidenten  des  Reichsrats,  Kotschubej,  der  im 
Sommer  mit  seiner  Familie  in  Reval  baden  wollte,  die  für  den 
Revaler  Hafen  bestimmte  Fregatte  Westowoj  zur  Verfügung.  Der 
Kapitän  war  aber  seines  Schiffes  so  wenig  Herr,  daß  er  11  Tage 
vor  Reval  kreuzte,  ohne  in  den  Hafen  einfahren  zu  können,  so  daß 
Kotschubej  bat  und  schließlich  befahl,  ihn  wieder  nach  Kronstadt 
zurückzufahren.  Er  kam  auch  glücklich  dort  an  und  fuhr  nun  zu 
Lande  nach  Reval,  während  der  Westowoj  noch  einmal  sein  Glück 
versuchte.  Aber  die  Fregatte  scheiterte  an  der  estländischen  Küste, 
und  nur  mit  großer  Mühe  gelang  es  die  fast  ganz  aus  Neulingen 
bestehende  Mannschaft  zu  retten.     Da  mochte  der  Kaiser  wohl  mit 


')  Durch  Ukas  vom  18.  September  1827  (V.  S.  R.  G.  No.  1874)  wurde  die 
baltische  Flotte  in  Divisionen  und  Geschwader  geteilt  und  am  U.  März  1828 
bestimmt,  daß  die  Kommandeure  der  Geflchwader  auch  Brigadekommandeure 
der  drei  Equipagen  sein  sollten,  aus  denen  jedes  Geschwader  bestand.  Das 
ergab  die  folgende  Ordnung:  drei  Divisionen  (der  blauen,  weißen  und  roten 
Flagge)  mit  je  drei  Geschwadern  zu  je  neun  Equipagen.  Man  zählte  also 
Equipage  1—27. 


Kapitel  VI.    Vorstadieo  des  Türkenkrieges.    Nayarino.  187 

Sorge  au  das  große  Geschwader  denken,  das  unter  Ssenjawins 
Kommando  auf  dem  Wege  nach  England  war.  Es  war  bestimmt, 
eine  politische  Aufgabe  zu  lösen,  an  deren  Ausführung  der  Kaiser 
seinen  Ehrgeiz  und  sein  diplomatisches  Geschick  gesetzt  hatte. 
Seit  dem  6.  Juli  1827  bestand  eine  englisch-russisch-französische 
Tripelallianz,  die  aus  dem  Protokoll  vom  4.  April  1826  erwachsen,  der 
orientalischen  Frage  eine  Wendung  geben  sollte,  an  welche  der  Kaiser 
die  Hoffnung  knüpfte,  daß  sie  vor  allem  den  russischen  Interessen 
forderlich  sein  werde.  Der  Kaiser  hatte  gleich  nach  dem  Austausch 
der  Ratifikationen  von  Akkerman  alles,  was  an  ihm  lag,  getan, 
um  den  Beziehungen  zur  Türkei  eine  günstige  Wendung  zu  geben. 
Erst  Minciaky  und  danach  Kibeaupierre,  der  mit  dem  neuen  Jahr 
1827  nach  Konstantinopel  aufbrach,  wurden  beauftragt,  in  diesem 
Sinne  zu  handeln,  zugleich  aber  aufs  genaueste  darauf  zu  achten, 
daß  die  Stipulationen  von  Akkerman  auch  wirklich  ausgeführt 
würden.  Auch  zeigte  die  Pforte  zunächst  guten  Willen.  Sie 
stand  noch  unter  den  Nachwirkungen  der  Krisis,  die  durch  Ver- 
nichtung des  Janitscharenkorps  bedingt  war,  und  hatte  vollauf  zu 
tun,,  wenn  sie  die  Reorganisation  ihrer  Armee  zur  Wirklichkeit 
machen  wollte.  In  der  Moldau  und  Wallachei  begannen  nach  der 
Zurückziehung  der  türkischen  Polizeitruppen  die  Mißbräuche  zu 
schwinden  und  die  Hospodare  richteten,  durch  den  Erfolg  der 
russischen  Politik  belehrt,  ihre  Blicke  weit  mehr  nach  Petersburg, 
als  nach  Konstantinopel ').  Auch  in  Serbien  wurden  die  Zustände 
erträglich  und,  was  besondere  Befriedigung  erregte,  der  Handel 
von  Odessa  begann  wieder  aufzublühen,  auch  war  während  des 
persischen  Krieges  die  Haltung  der  Pforte  durchaus  korrekt  gewesen. 
Aber  der  Kaiser  glaubte  nicht  an  die  Lebensfähigkeit  der  Türkei 
und  hatte  sogar  von  seinem  Stabschef,  dem  General  Diebitsch,  einen 
Teilungsplan  für  den  Fall  des  Zusammenbruches  der  Türkei  aus- 
arbeiten lassen.  Doch  das  lag  noch  in  weiter  Ferne,  und  das 
nächste  Ziel  war,  aus  dem  Protokoll  vom  4.  April  den  möglichsten 


>)  Jorga,  Rapoarto  consulare.  Margotti  an  Kreuchel  9.  Januar  1827. 
„Le  consul  de  Russie  est  le  despote  de  son  Altesse,  11  n'a  qu'ä  ouvrir  la 
bouche  pour  etre  aveuglement  obei/  Man  behauptete,  daß  der  Uospodar 
Gbika,  um  sich  auf  dem  Thron  zn  behaupten,  vier  Millionen  Piaster  nach 
Rußland  geschickt  habe!  Ribeaupierre  traf  am  7.  Januar  1827  in  Jassy,  am  18. 
in  Bukarest  ein.  Unter  den  Bajoren  gab  es  neben  der  russischen  eine 
türkische  und  eine  österreichische  Partei. 


188  Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Tärkenkrieges.    Navarino. 

Nutzen  zu  ziehen.  Obgleich  mit  Wellington  vereinbart  war,  daß 
das  Protokoll  erst  nach  Lievens  Rückkehr  den  übrigen  Mächten 
mitgeteilt  werden  sollte,  hatte  mau  es  in  Rußland  für  nützlich  be* 
funden,  sich  darüber  hinwegzusetzen.  Die  Kabinette  von  Berlin, 
Wien  und  Paris  wurden  vertraulich  ins  Geheimnis  der  englisch- 
russischen  Vereinbarungen  gezogen.  Sehr  erbaut  war  man  über 
dieses  selbständige  Vorgehen  des  jungen  Zaren  an  keinem  der  drei 
Höfe.  Während  Friedrich  Wilhelm  trotz  mancher  Bedenken 
keinen  Widerspruch  erhob,  hielten  Frankreich  und  Österreich  mit 
ihren  prinzipiellen  Einwendungen  nicht  zurück.  Mettemich  klagte 
über  den  Bruch  Rußlands  mit  den  Maximen  der  großen  Allianz, 
Frankreich  fühlte  sich  verletzt,  weil  es  in  einer  Angelegenheit  von 
allgemeinem  europäischen  Interesse  nicht  befragt  worden  war.  Die 
besondere  Stellung,  welche  Nikolai  dem  Grafen  La  Ferronnays  ein- 
geräumt hatte,  machte  die  schließliche  Überraschung  durch  ein 
fait  accompli  um  so  empfindlicher.  Es  scheint  nun,  daß  der 
Kaiser  es  verstand,  durch  Aussichten,  die  er  dem  französischen 
Kabinett  für  den  Fall  eines  Zusammenbruchs  der  Türkei  eröffnete, 
jene  Empfindlichkeit  zu  überwinden.  Die  österreichischen  Ein- 
wendungen aber  konnte  er  durch  den  Hinweis  auf  die  Verträge 
von  1814,  15  und  18  abwehren.  Sie  enthalten  in  der  Tat  nichts, 
was  den  Schluß  berechtigt  hätte,  daß  die  türkischen  oder  griechi- 
schen Angelegenheiten  als  gemeinsame  Interessen  der  Allianz  auch 
gemeinschaftlich  zu  behandeln  wären. 

Der  Schwerpunkt  der  Aktion  aber  mußte  naturgemäß  nach 
London  fallen.  Sollte  das  Protokoll  vom  4.  April  die  Vorteile 
bringen,  die  Nikolai  erwartete,  so  mußte  England  bestimmt  werden, 
sich  mit  Rußland  womöglich  zu  gemeinsamen  Zwangsmaßregeln  zu- 
sammenzutun, wenn  die  Pforte  die  vereinbarte  Mediation  beider 
Mächte  nicht  annahm.  Es  kam  dem  Fürsten  Lieven,  dem  die  Ver- 
handlungen zufielen,  zu  gut,  daß  Canning  entschlossen  war,  unter 
keinen  Umständen  die  griechische  Frage  den  Russen  allein  zu  über- 
lassen. Da  nun  um  jene  Zeit  der  Ausgang  der  Verhandlungen  von 
Akkerman  noch  unsicher  war,  ein  russisch-türkischer  Krieg  demnach 
in  den  Kreis  der  politischen  Wahrscheinlichkeitsrechnung  gezogen 
wurde,  verlangte  Englands  Interesse  eine  weitere  Festigung  und  Aus- 
dehnung des  Protokolls.  Canning  unterrichtete  daher  Lieven  über  den 
augenblicklichen  Stand  der  englisch-griechischen  Beziehungen.  Strat- 
fort  Canning,  der  englische  Botschafter  in  Konstantinopel,  habe  der 


Kapitel  VI.    Vorstadieo  des  Türkeokrieges.    Nayarino.  189 

Pforte  bereits  kundgegeben,  daß  England  „und  die  übrigen  Mächte^  die 
Fortdauer  des  Unwesens  der  Piraten  im  Archipel  nicht  länger  dulden 
könnten,  und  daß  England  durch  seine  Flotte  jeden  Versuch  ver- 
hindern werde,  die  christliche  Bevölkerung  Griechenlands  auszu- 
rotten. Das  solle  Kußland  nicht  nur  den  übrigen  Mächten  mit- 
teilen, sondern  sie  auch  in  Gemeinsamkeit  mit  England  auffordern, 
dem  Protokoll  in  aller  Form  beizutreten.  Für  den  Fall  aber,  daß 
die  Verhandlungen  in  Akkerman  zum  Ziel  führten,  werde  es  nütz- 
lich sein,  sofort  die  griechische  Frage  anzugreifen  und  der  Pforte 
mit  einer  Annäherung  der  Mächte  an  Griechenland  zu  drohen. 
Gebe  sie  auch  dann  nicht  nach,  so  solle  man  die  Botschafter  aus 
Konstantinopel  abrufen.  Canning  legte  dieser  Frage  so  große 
Wichtigkeit  bei,  daß  er  am  18.  September  1826  nach  Paris  ging,  um 
mit  dem  Minister  des  Auswärtigen,  Damas,  zu  verhandeln.  Dort 
war  inzwischen  der  Bericht  La  Ferronnays  über  seine  Unterredung 
mit  Nikolai  eingelaufen  und  von  dem  Fürsten  Polignac,  dem  franzö- 
sischen Botschafter  in  London,  bereits  der  Gedanke  angeregt  worden, 
das  Protokoll  in  einen  Vertrag  zu  verwandeln,  dem  dann  mit  den 
übrigen  Mächten  auch  Frankreich  beitreten  werde*).  Man  hoffte, 
Paris  zum  Sitz  der  Verhandlungen  machen  zu  können.  In  diesem 
Sinn  ist,  dank  dem  Druck,  den  nunmehr  auch  Canning  ausübte, 
La  Ferronnays  am  22.  Dezember  1826  instruiert  worden.  In 
Petersburg  war  man  im  Prinzip  mit  den  englischen  Vorschlägen 
wohl  zufrieden,  aber  sie  schienen  dem  Kaiser  keine  ausreichende 
Bürgschaft  für  einen  durchgreifenden  Erfolg  zu  bieten.  Schon  im 
Juni,  als  Österreich  eine  Neutralitätserklärung  erließ,  die  bestimmt 
war,  den  österreichischen  Handel  vor  Griechen  und  Türken  zu 
schützen,  und  sich  erbot,  den  Schutz  seiner  Flotte  auch  den  russi- 
schen Kauffahrern  zu  gewähren,  hatte  Nikolai  erklärt,  daß  er  ein 
eigenes  Geschwader  in  den  Archipel  schicken  werde,  und  der  Eifer, 
mit  dem  er  an  der  Erneuerung  seiner  Flotte  arbeitete,  bewies,  daß 
es  ihm  ernst   damit   war,    möglichst    bald  die  russische  Flagge  in 


*)  Instruktion  für  La  Ferronnays  22.  Dezember  1826:  ,Sa  Majeste  a 
donne  son  adhesion  aux  propositions  faites  par  les  cabinets  de  Londres  et 
de  St.  P^tersbourg,  en  y  ajoutant  deux  restrictions  relatives,  Tune  au  rappel 
des  ambassadeurs,  et  Tautre  k  l'exercice  de  la  garantie;  mais  que  dans  la 
conviction  oü  eile  est  de  l'impossibilite  d'atteindre  le  but  sans  Paccord 
unanime  et  la  siroultaneite  des  demarcbes  de  toutes  les  puissances.  Elle 
propose  de  convertir  en  un  traitu  entre  les  cinq  Cours  les  bases  du  protocole*\ 


190  Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Törkenkrieges.    Nayarino. 

den  türkischen  Gewässern  zu  zeigen.  Jetzt  schlug  er  Canning  vor, 
von  Türken  und  Griechen  einen  Waffenstillstand  zu  verlangen 
wenn  aber  die  Piorte  sich  dazu  nicht  bereit  finden  und  ihren  Aus- 
rottuugskrieg  gegen  die  Griechen  fortsetzen  sollte,  zu  Zwangsmaß- 
regeln  zu  schreiten,  deren  Ausführung  er  den  im  Archipel  zu 
konzentrierenden  Flotten  der  alliierten  Mächte  übertragen  wissen 
wollte. 

Dieser  russische  Antrag  traf  in  London  fast  gleichzeitig  mit 
der  Nachricht  ein,  daß  die  Türken  in  Akkerman  in  allen  Stücken 
sich  den  russischen  Forderungen  gefügt  hätten.  Schon  das  wirkte 
insofern  ernüchternd,  als  die  Wahrscheinlichkeit  eines  russisch- 
türkischen Krieges  bis  auf  weiteres  beseitigt  schien,  und  damit 
auch  das  Interesse  Englands  an  einem  Mitwirken  Rußsands  an  der 
Faziftkation  Griechenlands  schwand.  Dazu  kam,  daß  in  den  spanisch- 
portugiesischen Differenzen  England  und  Frankreich  divergierende 
Interessen  vertraten,  so  daß  nach  einer  drohenden  Rede,  die 
Canning  am  11.  Dezember  im  Unterhause  gehalten  hatte,  zeitweilig 
die  Befürchtung  bestand,  daß  der  Ausgang  zu  einem  französisch- 
englischen  Kriege  führen  könnte*).  Endlich  wurde  im  Februar 
1827  Lord  Liverpool  vom  Schlage  getroffen,  und  vor  der  Frage  der 
Rekonstruktion  des  Kabinetts  traten  nunmehr  alle  anderen  Inter- 
essen in  den  Hintergrund.  Sowohl  England  wie  Frankreich  wurden 
zurückhaltend.  Preußen,  das  der  Kaiser  am  6.  Februar  aufgefordert 
hatte,  dem  Protokoll  beizutreten  und  die  Umwandlung  der  Verein- 
barungen vom  4.  April  in  einen  Vertrag  auf  einer  Londoner  Konferenz 
den  Vertretern  der  fünf  Mächte  zu  übertragen,  stellte  seine  Zu- 
stimmung in  Abhängigkeit  von  der  Beteiligung  aller  Mächte  an  der 
Konferenz,  oder  mit  anderen  Worten,  es  stellte  seine  Politik  in 
Abhängigkeit  von  der  Haltung  Österreichs.  Metternich  aber  wollte 
dem  Vertrage  nur  beitreten  wenn    vorher   vereinbart    wurde,    daß 


')  Compte  rendu  pour  1826.  Petersburg,  Minist,  des  Ausw.  „L'Angleterre 
exprimait  rintention  de  soatenir  la  Charte  de  D.  Pedro.  L^EspagDe  cessa  de 
l*attaquer.  Quel  devait  etre  dans  cette  conjoncture  le  role  de  la  France  dont 
les  troupes  occupaient  encore  une  partie  de  la  Peninsule?  ne  pouvait-elle  pas 
se  trouver  tout  d*un  coup  en  collision  avec  la  puissance  Britannique,  et  oü 
s^arreteraient  les  suites  de  ce  cboc  fatal  ?  Le  danger  d'une  guerre  europeenne 
planait  evidemment  sur  le  monde.*^  Siehe  auch  die  Memoires  du  chancelier 
Pasquier.  Bd.  VI.  Rußland  nahm  für  sich  das  Verdienst  in  Anspruch,  die 
Gefahr  beseitigt  zu  haben. 


Kapitel  VI.     Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino.  191 

vor  der  Anwendung  von  Zwangsmitteln  gegen  die  Pforte  neue  Be- 
ratungen der  Mächte  stattfänden.  Es  war  klar,  daß  er  die  türkisch- 
griechische  Frage  in  die  Bahnen  zurückführen  wollte,  in  die  er  sie 
seit  1821  gebannt  hatte.  Für  den  Kaiser  war  es  endlich  eine  große 
Enttäuschung,  als  La  Ferronnays  ihm  jetzt  erklären  mußte,  daß 
er  über  seine  Instruktionen  hinausgegangen  sei,  wenn  er  den  An- 
schluß Frankreichs  an  einen  Vertrag  auf  Grund  des  Protokolls 
versprochen  habe.  Seine  Regierung  müßte  auf  einheitliches  Ver- 
halten aller  Mächte  bestehen;  damit  schien  auch  Frankreich  in  das 
österreichische  Fahrwasser  einzulenken.  Aber  Nikolai  hielt  an 
seinen  Plänen  fest.  Er  gab  sich  den  Anschein,  als  ob  ein  Aus- 
scheiden des  französischen  Einflusses  der  russischen  Politik  größere 
Aussichten  für  die  Zukunft  eröffne,  unterließ  auch  nicht  mitzuteilen, 
daß  Metternich  ihm  für  den  Fall  eines  Zusammenbruchs  der  Türkei 
Andeutungen  über  eine  Teilung  der  Beute  gemacht  habe,  unter 
allen  Umständen  aber  werde  er  die  einmal  übernommenen  Ver- 
pflichtungen auch  erfüllen,  mit  England  oder  auf  eigene  Hand. 
Dazu  ist  es  zum  Glück  für  ihn  nun  nicht  gekommen.  Ein 
selbständiges  Eingreifen  der  russischen  Flotte  hätte  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  zu  einer  Katastrophe  geführt.  Der  weit  über- 
legeneren und  seetüchtigeren  Flotte  Ibrahims  war  sie  ohne  Zweifel 
nicht  gewachsen. 

Der  Sieg  Cannings  über  seine  Gegner  und  seine  Übernahme 
der  leitenden  Stellung  im  Ministerium  (10.  April  1827)  änderte 
die  Lage  und  führte  auch  in  Frankreich  zu  einem  Umschwung. 
Zwischen  Lord  Dudley,  dem  Freunde  Cannings,  jetzt  Staatssekretär 
der  auswärtigen  Angelegenheiten,  Lieven  und  Polignac  fanden  Ver- 
handlungen statt,  die  immer  mehr  einer  Verständigung  entgegen- 
führten. Die  Erfolge  der  Wafi'en  Ibrahims,  der  in  der  Tat  die 
Griechen  mit  Vernichtung  bedrohte,  und  die  hochmütige  Sprache 
der  Pforte  beschleunigten  diese  Wendung.  Der  Reis-Effendi  hatte 
das  Protokoll  vom  4.  April  „un  papier  blanc"  genannt  und  war 
offenbar  entschlossen,  sein  Verhalten  dementsprechend  zu  regeln.  Auch 
waren  weitere  Verstärkungen  für  Ibrahim  Pascha  angekündigt,  so 
daß,  wenn  nicht  bald  eingegriffen  wurde,  ein  ägyptisch-türkisches 
Griechenland  zur  Wirklichkeit  werden  konnte.  Daß  England  und 
Frankreich  dem  geplanten  Vertrage  beitreten  würden,  schien  nun 
immer  wahrscheinlicher,  während  andererseits  kein  Zweifel  mehr 
darüber  bestand,  daß  Preußen  und  Österreich  sich  nicht  beteiligen 


192  Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino. 

würden.  MetterDich,  der  in  Petersburg  erklären  ließ,  daß  er  an 
den  Verhandlungen  in  London  teilnehmen  werde  und  sogar  den 
geplanten  Vertrag  mitunterzeichnen  wolle,  instruierte  im  März  den 
Fürsten  Esterhazy,  die  russischen  Vorschläge  unter  der  Hand  zu 
bekämpfen  und  den  Gegenantrag  zu  stellen,  sofort  mit  der  Pforte 
zu  brechen,  wenn  sie  den  gemeinsamen  Vorstellungen  der  Mächte 
nicht  nachgeben  sollte,  was,  wie  er  wußte,  sowohl  den  englischen 
wie  den  französischen  Absichten  widersprach  und  keine  Aussicht 
hatte  durchzudringen.  Da  diese  Instruktion  bekannt  wurde,  war 
in  Petersburg  die  Erbitterung  groß.  Man  wußte  zu  genau,  daß  die 
österreichische  Politik  durch  ihre  Vorschläge  nur  Zwietracht  zwischen 
den  Mächten  säen  wollte  und  daß  sie  weit  davon  entfernt  war, 
direkt  oder  indirekt  an  einer  Aktion  teilzunehmen,  welche  die 
Türkei  demütigen  und  schwächen  und  wahrscheinlich  einen  Krieg 
zur  Folge  haben  mußte.  Auch  hatte  dieser  österreichische  Schach- 
zug nur  die  Folge,  daß  Rußland  zw^ar  den  immer  noch  höchst 
vorsichtig  gehaltenen  englischen  Vorschlägen  im  Prinzip  zustimmte, 
sie  aber  durch  eine  Reihe  sehr  wesentlicher  Anträge  in  ein  Fahr- 
wasser zu  leiten  bemüht  war,  das,  wie  sich  vorhersehen  ließ,  zu 
einer  entschlossenen  Lösung  des  griechischen  Problems  führen  mußte. 
Wenn  dann  die  Konsequenzen  zu  einem  Kriege  mit  der  Türkei 
führten,  war  der  diplomatische  Sieg  Rußlands  vollkommen,  und  es 
standen  nur  noch  die  militärischen  Maßnahmen  aus,  au  deren 
Erfolg  der  Kaiser  keinen  Augenblick  gezweifelt  hat.  Diese  Anträge 
verlangten  1.  Annäherung  an  Griechenland,  sobald  es  die  von  der 
Pforte  abgelehnte  Mediation  der  Mächte  annehme;  2.  Unterstützung 
Griechenlands  durch  Geld  und  durch  Entsendung  von  Agenten, 
deren  Aufgabe  es  sein  solle,  die  Neuorganisation  des  Landes  in  die 
rechten  Wege  zu  leiten;  3.  kombinierte  Operationen  der  ver- 
einigten Flotten,  um  Sendungen  von  Truppen  und  Kriegsmaterial 
zu  verhindern  und  so  tatsächlich  den  türkisch-griechischen  Feind- 
seligkeiten zu  Wasser  ein  Ziel  zu  setzen;  4.  endlich,  Vereinbarung 
von  Maßregeln  für  den  Fall,  daß  trotzdem  die  Bestimmungen  des 
bevorstehenden  Vertrages  nicht  die  erwünschte  Wirkung  haben 
sollten. 

Gleichzeitig  aber  hatte  Rußland  einen  anderen  Schritt  von 
großer  Tragweite  getan.  Am  24.  Mai  1827  traf  nach  fünfjähriger  Ab- 
wesenheit Graf  Capo  d'Istria  in  Petersburg  ein.  Die  Nationalver- 
sammlung  der  Griechen    in  Trözen  hatte  ihn  am  11.  April  zum 


Kapitel  VI.     Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino.  193 

xußepvTjTTjc  auf  sieben  Jahre  gewählt,  offenbar  nach  dem  sie  vorher 
Fühlung  mit  ihm  genommen  hatte.  Aber  erst  in  Petersburg  erfuhr  er 
von  der  Tatsache  der  erfolgten  Wahl.  Von  der  Entscheidung  Nikolais 
sollte  es  nunmehr  abhängen,  ob  er  sie  annehme  oder  nicht;  denn 
noch  stand  Capo  d'  Istria  in  russischen  Diensten,  wenn  auch  in 
zeitlich  unbegrenztem  Urlaub.  Nichts  konnte,  wie  die  Verhältnisse 
lagen,  dem  Kaiser  genehmer  sein,  als  Capo  d'  Istrias  Anerbieten, 
als  Organ  des  Willens  der  Mächte,  etwas  Ordnung  und  Zusammen- 
hang in  die  Politik  der  unsicher  tastenden  griechischen  National- 
regierung zu  bringen.  Es  ließ  sich  darauf  rechnen,  daß  er  den 
russischen  Interessen  unter  keinen  Umständen  entgegenwirken  werde. 
Aber  der  Kaiser  erkannte  ganz  richtig,  daß  eben  darin  eine 
Schwierigkeit  liege,  und  daß  Capo  d'  Istrias  politische  Vergangenheit 
in  Paris  und  London  Mißtrauen  erregen  werde.  Wenn  er  ihm  daher 
den  erbetenen  Abschied  in  Gnaden  bewilligte,  hütete  er  sich  sorgfaltig, 
ihm  vor  der  politischen  Öffentlichkeit  bestimmte  Direktiven  auf  den 
Weg  zu  geben;  das  geschah  zwar,  aber  —  im  tiefsten  Geheimnis.  Es 
war  nützlicher,  wenn  er  sich  seine  Instruktionen  in  Frankreich  und  Eng- 
land holte.  Soeben  war  ein  vom  20.  Mai  datierter  Bericht  des  Fürsten 
Lieven  eingetroffen,  der  nach  schwierigen  Verhandlungen,  auf  deren 
Verlauf  einzugehen  wir  verzichten,  den  schließlich  vereinbarten  Text 
eines  französisch-russisch-englischen  Vertrages  zur  Ausführung  des 
Protokolls  vom  4.  April  1826  enthielt.  Es  stand  also  nur  noch  die  Ge- 
nehmigung des  Textes  durch  die  drei  llegierungen  aus  und  danach  die 
endgültige  Redaktion  in  London.  Preußen  und  Österreich,  an  deren 
Anschluß  niemand  mehr  glaubte,  sollten  nachträglich  Mitteilung 
erhalten  und  ihnen  freigestellt  werden,  wenn  es  ihnen  so  gefalle, 
auch  dann  noch  beizutreten.  Kaiser  Nikolaus  stimmte  ohne  Verzug 
den  getroffenen  Vereinbarungen  zu,  aber  er  erklärte  zugleich,  daß, 
da  der  Erfolg  der  gegen  die  Pforte  vereinbarten  Zwangsmaßregeln 
nicht  sicher  sei,  er  nur  unterzeichnen  werde,  wenn  eine  geheime 
Klausel  oder  eine  besondere  Deklaration  die  Maßregeln  festsetze, 
zu  denen  in  solchem  Fall  geschritten  werden  solle.  In  Anlaß  der 
Vorschläge,  die  er  daran  knüpfte,  haben  sich  dann  doch  noch  neue 
Schwierigkeiten  gezeigt').  Sie  gingen  namentlich  auf  den  franzö- 
sischen Botschafter  in  London,  Fürsten  Polignac,  zurück,  der  Frank- 


0  Nesselrode  an  Lieven.    Petersburg,  9./21.  Juni  1827.   Bei  Wellington, 
Despatches  IV. 

SchiemanD,  Geschichte  Uoßlands.  IL  13 


194  Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino. 

reich  für  den  Kriegsfall  möglichst  wenig  zu  verpflichteu  bemüht  war. 
So  mußten  noch  einige  Textänderungen  im  Hauptvertrage  vorge- 
nommen  werden.  Er  ist  am  6.  Juni  unterzeichnet  worden.  Über 
den  angeschlossenen  Geheimartikel  aber  dauerten  die  Verhandlungen 
noch  bis  zum  13.  Juli,  erst  um  zwei  Uhr  morgens  setzten  Dudley 
und  die  beiden  Botschafter  Siegel  und  Unterschrift  unter  das  denk- 
würdige Dokument.  Uaß  das  Datum  auf  den  6.  Juli  zurückgesetzt 
wurde,  geschah  wohl,  um  der  Welt  keinen  Einblick  in  die  über- 
wundenen Schwierigkeiten  zu  geben'). 

Der  V^ertrag'),  oder  genauer  bezeichnet  die  Konvention,  ging  von 
der  auf  den  Inseln  des  Archipels  herrschenden  Anarchie  und  der  da- 
durch bedingten  Schädigung  des  europäischen  Handels  aus,  gedachte 
der  dringenden  Bitte  der  Griechen  um  Mediation  und  sprach  den  festen 
Entschluß  der  drei  Mächte  aus,  weiterem  Blutvergießen  Einhalt  zu  tun. 
Sie  werden  daher  der  Pforte  ihre  Mediation  durch  eine  Kollektiv- 
note anbieten,  die  ihre  Vertreter  in  Konstantinopel  überreichen 
sollen,  und  gleichzeitig  von  den  Griechen  wie  von  der  Türkei  den 
Abschluß  eines  Waffenstillstandes  fordern.  Es  schließen  sich  hieran 
die  Grundzüge  der  künftigen  Organisation  Griechenlands.  Der 
Sultan  wird  als  Suzerän  einen  bestimmten  jährlichen  Tribut  er- 
halten, Griechenland  durch  Wahl,  aber  unter  Mitwirkung  der 
Pforte,  sich  eine  Obrigkeit  setzen,  der  türkische  Grundbesitz  gegen 
Entschädigung  der  Eigentümer  oder  gegen  Zuschlag  zum  Jahres- 
tribut den  Griechen  zufallen.  Die  endgültige  Grenzrichtung  wird 
späterer  Vereinbarung  vorbehalten.  Den  Vertretern  der  Mächte 
sollen  ohne  Verzug  Instruktionen  zugehen,  wie  sie  zur  Durchführung 
der  getroffenen  Vereinbarungen  notwendig  sind.  Endlich  verpflichten 
sich  die  Mächte,  keinerlei  Sondervorteile  zu  suchen  und  stellen  die 
Garantie  des  zwischen  Griechenland  und  der  Pforte  herzustellenden 
Friedens  denjenigen  Mächten  frei,  die  diese  Verpflichtung  auf  sich 
nehmen  wollen. 

Der  angeschlossene  Geheimartikel  bestimmte  in  drei  Punkten, 
im  wesentlichen  nach  den  russischen  Anträgen,  was  geschehen  solle, 


0  Privatbrief  des  Fürsten  Lieven  an  Nesselrode  d.  d.  Londrea  1./13. 
juillet  1827  in  der  Anlage.  Dieser  Brief  ist  offenbar  erst  am  Abend  des  13. 
geschrieben. 

^)  Martens,  Recueil  des  traites  et  Conventions  etc.  XI,  No.  433 
Convention  und  traite  wird  merkwürdigerweise  im  Vertragsinstrument  promiscue 
gebraucht. 


Kapitel  VI.     Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino.  195 

wenn  Türken  oder  Griechen  die  Mediation  nicht  annehmen  sollten. 
Weigere  sich  die  Pforte,  so  werde  man  ihr  erklären,  daß,  da  sie 
in  sechs  Jahren  die  bestehenden  Übeistände  nicht  beseitigt  habe, 
die  drei  Mächte  sich  genötigt  sähen,  sofort  Maßregeln  zu  ergreifen, 
um  sich  den  Griechen  zu  nähern.  Gedacht  wurde  dabei  an  die 
Anknüpfung  von  Handelsbeziehungen  und  an  die  Einrichtung  von 
Konsulaten.  Nehme  die  Pforte  binnen  eines  Monats  den  Waffenstill- 
stand nicht  an,  oder  weigerten  sich  die  Griechen,  ihn  auszuführen,  so 
würden  die  Mächte  zu  Zwangsmaßregeln  greifen,  um  fernere 
Zusammenstöße  zwischen  den  Gegnern  zu  verhindern,  ohne  jedoch 
an  den  Feindseligkeiten  beider  gegeneinander  teilzunehmen.  Sollten 
auch  diese  Maßregeln  nicht  genügen,  um  dem  Willen  der  Mächte 
Anerkennung  zu  verschaffen,  oder  sollten  die  Griechen  auf  die  zu 
ihren  Gunsten  gestellten  Bedingungen  verzichten,  so  werden  die 
Mächte  trotzdem  ihr  Pazifikationswerk  fortsetzen.  Sie  bevollmäch- 
tigen schon  jetzt  ihre  Londoner  Vertreter,  über  alles  weitere  zu 
beraten  und  zu  bestimmen. 

Canning  hat  nun  gleich  nach  der  Unterzeichnung  des 
Geheimartikels,  aus  Rücksicht  auf  die  öffentliche  Meinung  Eng- 
lands, die  er  beruhigen  wollte,  den  vollen  Text  in  der  Times 
veröffentlichen  lassen,  zur  ungeheuren  Entrüstung  aller  Diplo- 
maten, die  ihm  mit  Recht  nicht  Glauben  schenkten,  als  er  jeden 
Anteil  an  dieser  Indiskretion  ablehnte.  Das  wesentliche  war, 
daß  in  der  Tat  die  Stimmung  in  England  umschlug;  so  lange 
Canning  am  Ruder  blieb,  konnte  er  sicher  sein,  daß  die  Nation 
sich  ihm  nicht  versagen  werde.  Sich  selbst  aber  traute  er  Kraft 
und  Klugheit  zu,  die  Dinge  so  zu  leiten,  daß  sie  schließlich  den 
Interessen  Englands  dienen  wurden.  Denn  das,  keinerlei  senti- 
mentale Erwägung,  ist  seine  Triebfeder  gewesen.  Ein  böses  Schicksal 
griff  dazwischen.  Nach  kurzer  Krankheit^  am  8.  August  1827,  ist 
Canning  gestorben,  und  damit  ging  die  Leitung  des  orientalischen 
Problems  in  Rußlands  Hände  über.  Kaiser  Nikolaus  hatte  sich 
seines  Erfolges  so  sicher  gefühlt,  daß  er  schon  am  13.  Juli  dem 
Kontreadmiral  Heyden  die  Instruktion  gab,  an  die  er  sich  bei  der 
Kooperation  mit  dem  englisch-französischen  Geschwader  zu  halten 
habe.  Er  legte  dabei  den  Hauptnachdruck  auf  den  Geheimartikel 
und  verschärfte  seinen  Inhalt  sehr  wesentlich  durch  den  Hinweis 
auf  den  Geist,  in  dem  der  Vertrag  geschlossen  sei,  d.  h.  auf  die 
russische  Seite  der  Frage.     Der  Kaiser  hielt  es  für  wahrscheinlich, 

13* 


196  Kapitel  VI.    Yorstadien  des  Tarkenkrieges.    Navarino. 

daß  Bosporus  und  Dardanellen  von  den  Mächten,  wie  er  vor- 
geschlagen habe,  blockiert  werden  würden.  Seine  Nachrichten  aus 
Konsiantinopel  ließen  einen  hartnäckigen  Widei*stand  der  Pforte 
vorhersehen,  so  daß  die  Anwendung  von  Gewalt  nicht  zu  ver- 
meiden sein  werde.  Ausdrücklich  wurde  Heyden  angewiesen,  Capo 
d'  Istria  eine  Brigg  zu  freier  Verfügung  zu  stellen,  und  ihm  jede 
Hilfeleistung  zu  gewähren,  die  er  erbitte.  Im  übrigen  habe  der 
Admiral  in  steter  Übereinstimmung  mit  den  Alliierten  zu  handeln, 
das  Oberkommando  aber  solle  dem  rangältesten  Admiral  der  ver- 
einigten Flotten  gehören  ^). 

Die  Ausfahrt  der  vereinigten  Geschwader  von  Ssenjawin  und 
Heyden  aus  Kronstadt  erfolgte  am  10./22.  Juni,  5  Uhr  morgens,  in 
Gegenwart  des  Kaisers,  der  seit  Mitternacht  an  Bord  war.  Seit 
den  Tagen  des  Kaisei*s  Paul  wehte  zum  erstenmal  wieder  die 
Kaiserstandarte  von  einem  russischen  Admiralsschiff.  Nachdem 
dann  die  beiden  Geschwader  in  wenig  geschicktem  Manöver  sich 
voneinander  gesondert  hatten,  kehrte  Nikolai  auf  seiner  Jacht 
„Freundschaft"  (drushba)  nach  Zarskoje  zurück.  Die  Würfel  waren 
gefallen  und  voller  Hoffnung  blickte  er  in  die  Zukunft. 

Die  Flotte,  die  in  Reval  und  Kopenhagen  Station  gemacht 
hatte,  gelangte  erst  am  8.  August,  am  Todestage  Cannings,  in 
Portsmouth  an,  und  zwar  in  kläglichem  Zustande.  Segel  und  Rahen, 
fast  die  gesamte  Takelage  mußten  erneuert  werden.  Die  englischen 
Schiffszimmerleute  haben  acht  Tage  gebraucht,  um  alles  wieder 
instand  zu  setzen.  Am  20.  August  endlich  war  man  so  weit, 
wieder  in  See  zu  stechen.  Am  4.  Oktober  wurde  Messina  erreicht, 
wo  Admiral  Heyden  die  erwarteten  weiteren  Instruktionen  vorfand. 
Von  einer  Blockierung  der  Meerengen  war  in  ihnen  keine  Rede, 
weder  England  noch  Frankreich  hatten  ihre  Zustimmung  dazu  geben 

^)  Zwei  Erlasse  Nikolais  aus  Zarskoje  Sselo,  1.  Juli  (r.  St.)  1827.  Ge- 
druckt in  den  Anlagen  zu  Kytschakow:  Das  Jahr  der  Kampagne  von  Navarino. 
Russisch.  Kronstadt  1877.  Daß  Heyden,  nicht  der  erfahrenere  Ssenjawin  das 
Kommando  des  russischen  Mittelmeergeschwaders  erhielt,  geschah  wahrschein- 
lich, um  dem  jüngeren  englischen  Admiral  Codrington  das  Oberkommando  za 
lassen.  Die  gleiche  Rücksicht  wird  auch  die  Wahl  des  franzosischen  Admirals 
bestimmt  haben.  Die  Instruktion  für  Heyden  maß  vordatiert  sein.  Am 
1.  13.  Juli  schwamm  sein  Geschwader  zwischen  Reval  und  Bomholm.  Das 
Geheimnis  der  Bestimmung  der  Flotte  wurde  so  gut  gewahrt,  daß  die  Offiziere 
erst  in  Portsmouth  erfuhren,  daß  es  nicht  den  spanisch-amerikanischen  Kolo- 
nien, sondern  den  Türken  gelte. 


Kapitel  VI.    Voretadien  des  Türkenkrieges.    Navarino.  197 

wollen.  Die  Versuchuug,  die  an  ein  vor  Konstantinopel  liegendes 
Geschwader  herantrat,  schien  ihnen  allzu  groß  zu  sein.  Aber  der 
Kaiser  war  entschlossen,  bei  günstiger  Gelegenheit  darauf  zurück- 
zukommen. Am  14.  Oktober  endlich  vereinigten  sich  die  Russen 
mit  den  schon  lange  im  Mittelmeer  kreuzenden  Engländern  und 
Franzosen ')  vor  dem  Hafen  von  Navarino. 

Capo  d^  Istria  war  um  diese  Zeit  noch  in  England.  Er  hatte  auf 
russischen  Rat  die  Annahme  der  ihm  gebotenen  Präsidentschaft  von 
der  Zustimmung  Englands  und  Frankreichs  abhängig  gemacht,  und 
Canning  hatte  diesen  Gedanken  mit  großer  Genugtuung  aufgenommen. 
Er  erleichterte  ihm  die  Verteidigung  seiner  Politik  vor  dem  Parlament. 
Zwischen  ihm  und  Lieven  hat  darüber  eine  Verständigung  statt- 
gefunden. Als  aber  Capo  d'  Istria  in  London  eintraf,  war  Canning 
nicht  mehr  unter  den  Lebenden.  Sein  Nachfolger,  Lord  Goderich, 
hielt  sich  zwar  an  die  getroffenen  Vereinbarungen,  war  aber  ohne 
jede  Initiative.  Dagegen  machte  der  Herzog  von  Wellington  aus  seiner 
Erbitterung  kein  Hehl.  Er  hat  sich  geweigert,  Capo  d^  Istria  zu 
empfangen,  und  als  dieser  sich  schriftlich  von  ihm  verabschiedete 
und  dabei  einflocht,  daß  der  Vertrag  vom  6.  Juli  eine  wahre 
Wohltat  für  Griechenland  und  für  Europa  sei,  antwortete  ihm  der 
alte  Herzog  mit  großer  Schärfe,  daß  der  Zweck  des  Protokolls 
vom  4.  April  der  Friede  gewesen  sei,  der  Vertrag  vom  6.  Juli  aber 
werde  in  einen  Krieg  ausmünden.  Er  protestiere  dagegen,  daß 
„dieser  Krieg  oder  seine  Folgen^  die  natürliche  Konsequenz  des 
von  ihm  unterzeichneten  Protokolls  sei').  In  Paris  ist  Capo 
d'  Istria  eine  bessere  Aufnahme  zuteil  geworden.  Man  war  dort 
von  Petersburg  aus  in  günstigem  Sinne  für  ihn  beeinflußt  worden. 
Aber  eine  Anleihe  ist  ihm  auch  in  Frankreich  nicht  bewilligt 
worden,  und  so  ging  er  nach  Italien,  um  aus  der  Nähe  die  offenbar 
bevorstehende  Krisis  zu  beobachten  und  im  günstigen  Moment 
einzugreifen. 

Als  am  14.  Oktober  die  Russen  sich  endlich  dem  englisch- 
französischen Geschwader  anschlössen,  war  es  fast  als  ein  Zufall 
zu  bezeichnen,  daß  die  Entscheidung  jener  Krisis  nicht  bereits  er- 
folgt war.  Codrington  hatte,  in  richtiger  Schätzung  des  damit 
begangenen  Fehlers,  der  kombiniert  türkisch -ägyptischen  Flotte 
gestattet,  in  den  Hafen   von  Navarino  einzulaufen.     Dann  war  er 

^)  Rigay  hatte  sich  mit  Codrington  am  21.  September  vereinigt. 
^  Wellington,  Despatches  IV.     12.  Oktober  1827. 


198  Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino. 

am  24.  September  selbst  im  Hafen  von  Navarino  eingetroffen*), 
um  mit  Ibrahim  zu  verbandeln,  und  das  bedeutete,  daß  er  ihm 
den  Willen  der  Mächte  kund  tun  wollte.  Am  25.  um  10  Uhr 
früh  hat  Ibrahim  ihn  und  den  Kommandeur  des  französischen 
Geschwaders, 'Admiral  Kigny,  empfangen.  Kapitän  Carzon  von  der 
„Asia"  nebst  einigen  Offizieren^  dazu  das  Gefolge  Rignys,  begleiteten 
die  Admirale.  Die  türkischen  und  ägyptischen  Offiziere,  mit  Aus- 
nahme des  kranken  Tahir  Pascha,  hatten  auf  einer  Seite  des  Ge- 
maches Platz  genommen,  in  dem  Ibrahim  die  unlieben  Gäste 
erwartete,  auf  der  anderen  die  Engländer  und  Franzosen*).  Sie 
fanden  in  dem  Pascha  eine  eindrucksvolle  Erscheinung.  Zwar  kurz 
und  wohlbeleibt,  aber  mit  großen  blauen  Augen,  hoher  Stirn  und 
braunrotem  Bart.  Die  scharfgeschnittenen  Züge  des  pockennarbigen 
Gesichts  ließen  einen  klugen,  unternehmenden,  wißbegierigen  Mann 
erkennen,  der  guten  und  bösen  Entschlüssen  gleich,"zugänglich  war'). 
Nach  Austausch  der  üblichen  Komplimente  teilte  Codrington  dem 
Ägypter  mit,  daß  infolge  eines  von  England,  Frankreich  und  Ruß- 
land unterzeichneten  Vertrages  sie  verpflichtet  seien,  zu  verhindern, 
daß  über  See  der  gegen  die  Griechen  gerichtete  Angriff  durch 
Mannschaft,  Waffen  oder  dergleichen  unterstützt  werde.  Er  verlas 
die  entsprechenden  Abschnitte  seiner  Instruktion.  Danach  würden 
sie  handeln.  Ibrahim  antwortete,  er  sei  Soldat  wie  sie  und  müsse 
seinen  Ordres  gehorchen.  Er  habe  Befehl,  Hydra  anzugreifen  und 
müsse  das  ausführen.  Es  sei  seine  Aufgabe  zu  handeln,  nicht  zu 
unterhandeln.  Sie  möchten  sich  an  den  Großherrn  wenden.  Die 
Admirale  entgegneten,  sie  seien  so  stark,  daß  jeder  Widerstand 
unmöglich  sei.  Steche  er  trotz  ihrer  freundschaftlichen  Warnung 
in  See,  so  müßten  sie  ihre  Instruktionen  ausführen  und  die  völlige 
Zerstörung  der  Flotte  werde  die  Folge  sein.  Sie  wollten  keinen 
Bruch,  sondern  seien  gekommen,  ihm  die  Augen  zu  öffnen.  Ibrahim 
erkannte  das  Gewicht  dieser  Mitteilungen  voll  an.  Er  gab  auch 
zu,  daß  ihm  seine  Instruktion  unter  Verhältnissen  erteilt  sei, 
die  andere  gewesen.     Er  wolle    es   daher   auf  sich   nehmen,    alle 


0  Wellington,  Despatchei  V,  S.  1—37. 

^  Ibrahim  hatte  sich  geweigert,  die  Admirale  anders  als  in  Gegenwart 
seines  Harinestabes  zu  empfangen.  Miltitz*  Bericht  Tom  5.  November  1827. 
Berlin,  Geheimes  Staatsarchiv,  Ä.  A.  I  Rep.  I.    Turquie. 

')  Nach  einem  Brief  Stratford  Cannings  vom  5.  September  bei  Staple- 
ton  I,  469. 


Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Tarkenkrieges.    NaTarino.  199 

Operationen  der  aus  Alexandria  gekommenen  Land-  und  Seemacht 
einzustellen,  bis  er  aus  Konstantinopel  und  Alexandria,  wohin  er 
sogleich  Kuriere  absenden  wolle,  Antwort  erhalten  habe.  Bis  zu 
ihrer  Rückkehr  wolle  er  mit  seiner  Flotte  vor  Navarino  bleiben. 
Er  bat  sodann  um  die  Genehmigung,  sofort  je  ein  Schiff  nach 
Alexandria  und  Prevesa  abzufertigen,  und  das  wurde  ihm  ohne 
alle  Schwierigkeit  gewährt.  Das  Anerbieten  der  Admirale,  diese 
Schiffe  geleiten  zu  lassen,  aber  wies  er  stolz  zurück:  er  wolle  die 
türkische  Flagge  nicht  kompromittieren.  Man  vereinbarte  einen 
Stillstand  von  20  Tagen.  Bis  dahin  müsse  eine  endgültige  Antwort 
den  Admiralen  erteilt  werden.  Die  so  getroffenen  Abmachungen 
getreulich  einzuhalten,  verpflichteten  sich  beide  Teile  mit  Ehren- 
wort. Ibrahim  hatte  schließlich  noch  den  Wunsch  geäußert,  daß 
nunmehr  auch  den  Griechen  alle  Feindseligkeiten  untersagt  würden; 
das  aber  wurde  abgelehnt,  weil  die  Griechen  die  Mediation  der 
Mächte  angenommen,  die  »Türken  sie  abgelehnt  hätten,  und  dabei 
blieb  es,  so  erstaunlich  auch  diese  Logik  war.  Der  Ägypter  konnte 
nur  das  Versprechen  erhalten,  daß  Lord  Cochrane  veranlaßt  werden 
würde,  die  von  ihm  organisierte  Insurrektion  der  Griechen 
nicht  über  den  augenblicklichen  Kriegsschauplatz  hinaus  auszu- 
dehnen. 

Damit  trennte  man  sich.  Ibrahim  hat  später  behauptet,  es 
sei  versprochen  worden,  daß  er  nicht  an  der  Proviantierung  von 
Patras  gehindert  werden  solle*),  und  das  scheint  richtig  zu  sein. 
Denn  schon  am  26.  kam  ein  Dolmetscher  Ibrahims,  Abro,  an  Bord 
der  „Asia^,  um  Codrington  mitzuteilen,  daß,  wie  Ibrahim  erfahren 
habe,  Cochrane  mittlerweile  vor  Patras  gelandet  sei.  Sein  erster  Impuls 
sei  gewesen,  den  Stillstand  zu  brechen  und  ohne  weitere  Rücksprache 
hinzusegeln;  jetzt  bitte  er  um  die  Erlaubnis,  einen  Teil  seiner  Flotte 
nach  Patras  schicken  zu  dürfen.  Das  wurde  ihm  mit  größter  Bestimmt- 
heit verboten,  und  Ibrahim  mußte  sich  überzeugen,  daß  er  wie  in 
einer  Falle  gefangen  sei.  Eine  Rettung  aus  der  demütigenden  Lage, 
in  der  er  sich  befand,  gab  es  für  ihn  nur,  wenn  er  den  Entschluß 
fand,  die  feindlichen  Flotten  anzugreifen  und  zu  vernichten,  bevor 
sich  das  russische  Geschwader  mit  ihnen  vereinigt  hatte.   Et  fühlte 


^)  Bericht  des  Kapitäns  Pujol,  Kommandanten  der  Goelette  «La  Fleche^, 
über  seine  Unterredung  mit  Ibrahim,  d.  d.  Navarino,  den  29.  Oktober  1827 
bei  Wellington,  Despatches  IV.  Dazu  die  Relationen  von  Miltitz  (Pera,  den 
5.  November). 


200  Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino. 

sich  jedoch  durch  sein  Wort  gebunden,  vielleicht  auch  zu  schwach 
dazu,  und  wollte  die  Entscheidung  der  Pforte  abwarten.  Das 
englisch-französische  Geschwader  hatte  sich  mittlerweile  vor  Zante 
gelegt,  um  die  türkische  Flotte  zu  überwachen.  Nun  schickte  am 
1.  Oktober  Ibrahim  seinen  Konvoi  unter  dem  Schutz  einiger  Kriegs- 
schiffe nach  Patras,  um,  wie  vereinbart  war,  die  Stadt  zu  ver- 
proviantieren, und  als  er  kurz  danach  die  Bestätigung  erhielt,  daß 
Cochrane,  der  inzwischen  die  zerstreuten  griechischen  Schiffe  zu 
einer  Flotte  gesammelt  hatte,  Patras  ernstlich  bedrohe,  brach  er, 
trotz  des  drohenden  Bescheides,  den  er  am  26.  September  erhalten 
hatte,  von  15  Fregatten  begleitet  selbst  auf,  um  die  Ankunft 
seines  Konvoi  zu  sichern;  so  stellte  er  den  Tatbestand  dar.  In 
Wirklichkeit  ging  seine  Absicht  dahin,  Cochrane  anzugreifen,  der 
vor  Missolunghi  lag.  Aber  schon  beim  Eingang  in  den  Kanal  von 
Zante  stieß  er  auf  seinen  heimkehrenden  Konvoi.  Die  Engländer 
hatten  ihn  durch  Kanonenschüsse  zur  Umkehr  genötigt.  Es  fand 
nun  ein  Kriegsrat  der  ägyptisch-türkischen  Offiziere  statt,  der  zu 
dem  Ergebnis  führte,  es  trotz  allem  mit  der  Fahrt  nach  Patras  zu 
versuchen.  Als  aber  die  englische  Flotte  sich  ihm  drohend  ent- 
gegenstellte und  ihn  aufforderte,  Kehrt  zu  machen,  wagte  er  nicht 
zu  widerstehen  und  segelte  nach  Navarino  zurück^). 

Die  Folge  war  ein  tatsächlicher  Stillstand  zur  See.  Die  englisch- 
französische Flotte  kreuzte  in  den  Gewässern  von  Zante,  Ibrahim 
operierte  gegen  die  Griechen  in  Morea  und  verwüstete  das  Land 
überall,  wo  ihm  Widerstand  entgegentrat. 

So  lagen  die  Dinge,  als  am  14.  Oktober  die  Vereinigung  der 
russischen  Flotte  mit  der  englischen  erfolgte*).  Am  folgenden 
Tage  begann  die  Blockade  der  Bucht  von  Navarino,  weil  die  Zeit 
abgelaufen  war,  die  Codrington  als  Termin  für  die  Antwort  der 
Türken  auf  das  Angebot  der  Mächte  gesetzt  hatte.  Zwei  öster- 
reichische Kriegsschiffe,  die  nach  Navarino  wollten,  mußten  nnver- 
richteter  Sache  wieder  umkehren,  ebenso  einige  Kauffahrer.  Der 
Admiral  Heyden  erklärte  schon  damals  seinen  Kapitänen,  daß 
Codrington  entschlossen  sei,  die  Türken  in  der  Bai  von  Navarino 

1)  Erzählung  Ibrahims  nach  Pujol  I.  I. 

^  Das  Folgende  nach  den  Tagebüchern  des  russischen  Leutnants 
A.  P.  Rytschakow,  geführt  auf  dem  aOanguf^,  einem  Linienschiff  Yon  84  Kanonen 
im  Geschwader  des  Admirals  Login  Petrowitsch  Heyden.  Gedruckt  unter  dem 
Titel:  Das  Jahr  der  Kampagne  von  Navarino.     Kronstadt  1877.   Russisch. 


Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Tärkenkrieges.    Navarino.  .201 

aDzagreifen,  weno  sie  hartnäckig  blieben.  Die  Aufgabe  sei  zwar 
schwierig,  aber  deshalb  um  so  rahmvoller. 

Die  Entscheidung  möglichst  bald  herbeizuführen,  wurde  nun 
der  kanalartige  Eingang  in  den  Hafen  stark  besetzt  und  von  den 
Admiralen  am  17.  ein  Schreiben  an  Ibrahim  Pascha  gerichtet,  das 
einem  Ultimatum  gleichkam.  Sie  hätten  sichere  Kunde,  daß  Morea 
barbarisch  verwüstet,  und  eine  Expedition  in  die  Maina  vorbereitet 
werde.  Das  geschehe  vor  ihren  Augen  unter  Mißachtung  des  Still- 
standes, dem  allein  Ibrahim  es  zu  danken  habe,  daß  er  am  26. 
seine  Flotte  nach  Navarino  habe  zurückfahren  können.  Sein  Ver- 
halten setze  ihn  außerhalb  des  Völkerrechtes  und  entziehe  ihm 
den  Schutz  der  Verträge,  auch  den  Interessen  seines  Herrn,  des 
Sultans,  entspreche  es  nicht;  er  laufe  Gefahr,  die  Vorteile  einzu- 
büßen, die  ihm  der  Londoner  Vertrag  sichere. 

Die  unterzeichneten  Admirale  verlangten  auf  diese  Notifikation 
„eine  schleunige  und  kategorische  Antwort^,  bleibe  sie  aus,  oder 
erfolgten  Ausfluchte,  so  würden  die  Konsequenzen  daraus  sofort 
gezogen  werden  *). 

Die  englische  Fregatte,  die  dieses  Schreiben  überbrachte,  kehrte 
spät  abends  ohne  Antwort  zurück.  Sie  hatte  Ibrahim  in  Navarino 
nicht  vorgefunden;  er  hatte  am  9.  den  Befehl  erhalten,  sich  mit 
dem  Seraskier  Reschid  Pascha  in  Einvernehmen  zu  setzen,  und 
alles  aufzubieten,  um  Morea  zu  unterwerfen.  Ibrahim  war  nun 
sogleich  nach  Modon  geeilt,  hatte  Kolonnen  nach  Kalamata  und 
Azkadhia  geschickt,  und  sich  selbst  an  die  Spitze  einer  dritten 
Kolonne  gestellt.  Seine  Generale  hatten  Befehl,  jeden  Widerstand 
mit  völliger  Verwüstung  des  Landes  zu  strafen.  Immerhin  bleibt 
es  schwer  verständlich,  wie  er  in  so  kritischer  Zeit  die  Flotte  im 
Stich  lassen  konnte;  sein  Stellvertreter,  Mukarem  Bey,  fand  den 
Entschluß  nicht,  die. Verantwortung  auf  sich  zu  nehmen  und  dieses 
Ultimatum  zu  beantworten.  Die  Alliirten  trafen  nun  alle  Vor- 
bereitungen zum  Kampf.  Der  18.  ging  in  Manövern  am  Eingang 
der  Bucht  und  in  Beratungen  der  Admirale  hin.  Am  19.  früh  war 
man  so  nahe  herangerückt,  daß  die  Schiffe  der  Feinde  gezählt 
werden  konnten.     Sie  waren  in  3  Reihen  halbkreisförmig  so  auf- 


^)  „Les  soussignes  demaDdent  a  Votre  Excellence  une  reponse  prompte 
et  cat^gorique  a  la  presente  notification  et  lui  laissent  ä  prevoir  les  conse- 
quences  immediates  d'nn  refus  ou  d*une  tergiTersation." 


202.  Kapitel  VI.     Vorstadien  des  Türkenkrieges.    Navarino. 

gestellt,  daß  der  eine  Flügel  sich  auf  die  Befestigungen  von  Nava* 
rioo,  der  andere  auf  die  Batterien  von  Sphakteria  stutzte.  Die 
Linienschiffe  und  großen  Fregatten  bildeten  den  vorderen  Halbkreis, 
die  kleineren  Fahrzeuge  den  zweiten  und  dritten.  Man  wußte,  daß  zahl- 
reiche Brander  unter  ihnen  waren.  Eine  türkische  Brigg,  die  aus 
Alexandria  kam,  wurde  von  Codrington  durchgelassen.  Er  be- 
auftragte sie,  in  Navarino  wissen  zu  lassen,  daß  die  Flotten  der 
Alliierten  in  den  Hafen  von^  Navarino  eindringen  würden,  um 
Ibrahim  nunmehr  zu  zwingen,  die  verlangte  Antwort  zu  geben. 
Dann  versammelten  die  Admirale  ihre  Kapitäne  und  bestimmten 
genau,   welche   Stellung  jedes   einzelne   Schiif   einzunehmen   habe. 

Die  Ordre  de  bataille  lautete:  „Asia".  Vor  Navarino,  den  19.  Ok- 
tober 1827.  „Es  ist  bekannt,  daß  die  ägyptischen  Schiffe,  aufweichen 
sich  französische  Offiziere  befinden,  mehr  gegen  SO.  liegen,  ich  wünsche 
deshalb,  daß  seine  Exzellenz  der  Konteradmiral  und  Ritter  de  Rigny 
sein  Geschwader  ihnen  gegenüber  stellt.  Da  das  folgende  ein 
Linienschiff  mit  der  Flagge  an  der  Großbramstange  ist,  so  will 
ich  mich  mit  den  Linienschiffen  „Genua^  und  „Albion^  ihm  gegen- 
überlegen. 

In  betreff  des  russischen  Geschwaders  ist  mir  erwünscht,  daß 
Konteradmiral  Graf  Heyden  es  unmittelbar  neben  die  englischen 
Linienschiffe  legt.  Die  russischen  Fregatten  können  in  solchem 
Fall  die  übrig  bleibenden  türkischen  Schiffe  beschäftigen.  Die 
englischen  Fregatten  werden  die  türkischen  Fahrzeuge  beschäftigen, 
die  sich  auf  der  westlichen,  den  englischen  Linienschiffen  gegen- 
überliegenden Seite  der  Bucht  befinden,  die  französischen  Fregatten 
aber  werden  die  ihren  Linienschiffen  gegenüberliegenden  türkischen 
Fregatten  und  anderen  Fahrzeuge  zum  Ziel  nehmen. 

Wenn  die  Zeit  es  gestattet,  soll,  bevor  die  türkische  Flotte 
etwas  Feindseliges  unternimmt,  das  vereinigte. Geschwader  sich  vor 
Anker  legen,  mit  Springtauen  an  den  Riemen  jedes  Ankers.  Kein  Ge- 
schütz darf  vor  gegebenem  Signal  von  der  vereinigten  Flotte  gelöst 
werden,  es  sei  denn,  daß  die  Türken  das  Feuer  eröffnen.  Die 
türkischen  Schiffe,  die  das  Feuer  eröffnen,  sollen  sofort  vernichtet 
werden. 

Die  Korvetten  und  Briggs  werden  unter  Befehl  des  Kapitäns 
Feilos,  Kommandeur  der  Fregatte  „Dartmouth^,  stehen.  Seine  Auf- 
gabe ist,  die  Brander  soweit  fortzuschaffen,  daß  sie  keinem  Schiff 
der  vereinigten  Flotte  schaden  können. 


Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Tärkenkrieges.    Navarino.  203 

Für  den  Fall  einer  wirklichea  Schlacht  und  möglicher  Unregel- 
mäßigkeiten, rate  ich  die  Worte  Nelsons  im  Gedächtnis  zu  be- 
halten: Je  näher  dem  Feinde,  um  so  besser.^ 

Am  20.  Oktober  um  12  Uhr  gab  die  ,,Asia^  das  Signal  zum  Auf- 
bruch. Die  drei  Geschwader  ordneten  sich  und  setzten  sich  in  Be- 
wegung. Voran  die  ,,Dartmouth"  mit  den  kleinen  Fahrzeugen,  dann  die 
„Asia^  mit  den  übrigen  Engländern,  die  Russen  und  die  Franzosen 
folgten.  Als  um  1 7,  Uhr  die  Engländer  in  den  Kanal  einliefen  und 
die  Festungswerke  von  Navarino  passierten,  wurde  von  der  Festung 
ein  blinder  Schuß  abgegeben,  der  aber  weiter  nicht  beachtet  wurde. 
Dagegen  trafen  I^ute  auf  der  „  Asia^  ein,  die  Mukarem  Bey  abgesandt 
hatte,  um  Codrington  zu  sagen,  daß  Ibrahim  nicht  in  Navarino 
sei,  sondern  in  Modon,  und  keinerlei  Befehle  hinterlassen  habe. 
Ein  Teil  des  Geschwaders  könne,  wenn  man  es  wünsche  oder 
wenn  die  Alliierten  etwas  brauchten,  einfahren,  aber  er  könne 
nicht  dulden,  daß  in  Ibrahims  Abwesenheit  eine  so  große  Flotte 
in  die  Bucht  einlaufe.  Codrington  antwortete,  er  sei  nicht  gekommen, 
um  Ratschläge  entgegenzunehmen,  sondern  um  Befehle  zu  erteilen, 
und  setzte  seine  Fahrt  auf  Navarino  zu  fort.  Dort  fuhr  er  um 
2  Uhr  ein  und  näherte  sich  sofort  auf  Pistolenschußweite  der  tür- 
kischen Flotte.  Inzwischen  hatte  die  „Dartmouth^  sich  von  der 
Flotte  abgetrennt  und  schräg  vor  zwei  Brandern  Anker  geworfen, 
die  am  Eingang  des  Hafens  lagen,  während  Franzosen  und  Russen 
dem  englischen  Admiral  folgten  und  die  vereinbarten  Manöver 
ausführten.  Mukarem  Bey  schickte  nun  neue  Boten  aus,  um  zu 
fragen,  was  diese  feindseligen  Maßnahmen  zu  bedeuten  hätten,  und 
in  diesem  Augenblick  sandte  die  vor  den  Brandern  liegende 
Fregatte  eine  Schaluppe  aus,  um  sich  der  Brander  zu  bemächtigen. 
Dann  begannen  Flintenschüsse,  die  wahrscheinlich  von  einem  der 
Brander  ausgingen  und  lebhaft  beantwortet  wurden.  Der  Leutnant, 
der  die  Schaluppe  kommandierte,  wurde  erschossen,  und  dies  war 
das  Signal  zum  allgemeinen  Kampfe,  an  dem  dann  auch  die 
Kanonen  der  Festung  und  die  Batterien  von  Sphakteria,  die  jedoch 
bald  zum  Schweigen  gebracht  wurden,  teilnahmen.  Aber  in  weniger 
als  vier  Stunden  war  die  Entscheidung  gefallen.  Die  Türken  sind  — 
was  nach  allem,  was  vorausgegangen  war,  kaum  glaublich  scheint  — 
durch  den  wohldurchdachten  Angriff  Codringtons  völlig  überrascht 
worden.  Trotzdem  haben  sie  tapfer  gefochten,  aber  Geschütz, 
Führung  und  Kaltblütigkeit  der  Alliierten  zeigten  sich  ihnen  über- 


204  Kapitel  VI.     Vorstadien  des  Tiirkenkrieges.    Navarino. 

legen.  Eines  der  türkisch-ägyptischen  Schiffe  nach  dem  andern 
wurde  in  Brand  geschossen  und  flog  in  die  Luft.  Ein  Augenzeuge 
und  Mitkämpfer,  der  Leutnant  Rytschakow  vom  ^^Gangut",  schildert 
den  Höhepunkt  der  Schlacht  in  seinem  Tagebuch  folgendermaßen: 
„Wir  lagen  vor  Anker  und  kämpften  mit  den  Batterien  unseres 
Steuerbords  gegen  drei  türkische  Fregatten,  von  denen  eine  ein  Zwei- 
decker war.  Wir  litten  schwer  durch  das  Feuer  der  sich  hinziehenden 
feindlichen  Linie,  bis  der  neben  uns  liegende  „Jesekiil^  die  quer  vor 
uns  liegenden  Schiffe  angriff.  Darauf  hatten  wir  nur  noch  mit  zwei 
Fregatten  und  den  Korvetten  der  zweiten  Linie  zu  schaffen.  Dichter 
Rauch  machte  es  unmöglich,  die  Operationen  der  alliierten  Flotten 
genau  zu  verfolgen.  Die  französische  Admirals-Fregatte  „Sirene" 
hatte  stark  gelitten,  aber  das  mit  ihr  kämpfende  ägyptische  Linien- 
schiff stand  bereits  in  Flammen.  Die  englischen  Linienschiffe 
„Albion"  und  „Genua"  feuerten  mit  entsetzlicher  Wirkung  auf 
zwei  sinkende  türkische  Linienschiffe  und  eine  Fregatte  (Zweidecker). 
Das  Admiralsschiff  „Asia"  unterstützte  sie  mit  den  Geschützen 
seines  Steuerbords  und  beschoß  aus  der  linken  einen  ägyptischen 
Zweidecker.  Unser  „Asow"  beschoß  mit  einem  Teil  der  Batterien 
des  Backbords  die  schon  erwähnten  Schiffe,  während  zugleich  seine 
Fernschüsse  in  ein  türkisches  Linienschiff  von  80  Kanonen  schlugen, 
das  mit  der  „Albion"  kämpfte  und  nach  Verlust  seines  Ankers  aus 
der  Linie  gefallen  war.  Gleichzeitig  setzte  die  „Asow"  ihr  Feuer 
gegen  die  Fregatte  Tahir  Paschas  fort,  wobei  sie  bis  zu  unserer 
Ankunft  stark  von  den  Schüssen  des  ganzen  türkischen  Halbkreises 
zu  leiden  hatte.  Die  übrigen  Schiffe  der  französischen  Linie  hatten 
ihre  Gegner  bezwungen.  Ein  Linienschiff,  „Breslau",  da.8  während 
des  Pulverdampfes  mitten  im  Kanal  Anker  geworfen  hatte,  kappte 
die  Taue,  fuhr  am  Steuer  unseres  Admiralsschiffes  vorüber  und 
brachte  den  Korvetten  der  zweiten  und  dritten  Linie  schwere  Ver- 
luste bei,  während  es  mit  den  Geschützen,  die  vorn  lagen,  ein 
türkisches  Linienschiff  beschoß.  Gegen  4  Uhr  sahen  wir  einen 
Brander,  der  direkt  auf  uns  los  kam.  Wir  wehrten  ihn  durch 
Kappen  des  Hintertaues  ab  und  bohrten  ihn  mit  einigen  wohl- 
gezielten Schüssen  in  den  Grund.  Eine  halbe  Stunde  danach  ver- 
sank die  mit  uns  kämpfende  Fregatte  ohne  die  Flagge  zu  senken. 
Bald  danach  flog  auch  die  andere  mit  ihren  64  Kanonen  in  die 
Luft.  Ein  lautes  Hurra  auf  unserer  ganzen  Linie  zeigte,  daß  der 
Sieg  offenbar   uns   zufallen    werde.     Ich   gestehe,    daß   schwerlich 


Kapitel  VI.    Vorstadien  des  Turkenkrieges.    Navarino.  205 

einer  von  uns  dieses  Auffliegen  der  türkischen  Fregatte  sein  Leben 
lang  vergessen  wird.  Von  der  Lufterscbütterung  erzitterte  unser 
Schiff  in  allen  Fugen.  Wir  wurden  mit  Geschossen  und  Feuer- 
bränden überschüttet,  an  zwei  Stellen  geriet  unser  Schiff  in  Brand, 
es  gelang  aber  bald,  das  Feuer  zu  löschen.  Nachdem  so  unser 
nächster  Gegner  in  die  Luft  geflogen  war,  setzten  wir  den  Kampf 
gegen  die  Korvetten,  die  hinter  den  Fregatten  der  zweiten  Linie 
lagen,  mit  Pelotonfeuer  fort.  Diese  Fahrzeuge  zerhieben  die  Anker- 
taue und  strebten  dem  Ufer  zu,  sie  versanken  aber,  bevor  sie  es 
erreichten.  Die  Mannschaften  retteten  sich  durch  Schwimmen. 
Um  diese  Zeit  flog  auch  ein  türkisches  Linienschiff  von  80  Kanonen 
auf,  das  mit  der  „Asia^  kämpfte. 

Damit  war  die  Schlacht  ganz  gewonnen.  Alles  ringsum  brannte. 
Die  fortwährenden  Explosionen  auf  den  türkischen  Schiffen  illumi- 
nierten die  triumphierende  alliierte  Flotte,  und  um  6  Uhr  wurde 
es  auf  der  ganzen  Linie  still.  Es  ergaben  sich  uns  zwei  Linien- 
schiffe von  90  Geschützen  und  drei  große  Fregatten,  tlin  Linien- 
schiff und  elf  Fregatten  flogen  auf.  Die  übrigen  Fahrzeuge  der 
herrlichen  Flotte  des  Ptischas  von  Ägypten  waren  teils  versunken, 
teils  aufs  Ufer  geworfen;  mit  einem  Wort:  Ibrahims  Flotte  war 
vernichtet" 

Was  übrig  geblieben  war,  haben  die  Türken  in  Wut  und 
Verzweiflung  selbst  in  die  Luft  gesprengt.  Rytschakow,  der 
von  7  Uhr  abends  bis  Mitternacht  auf  Wacht  stand,  zählte  in 
dieser  Zeit  sieben  aufeinander  folgende  Explosionen.  Eine  türkische 
Fregatte  machte  noch  den  Versuch,  unter  dem  Schutze  der  dun- 
kelen  Nacht  die  „Asow"  zu  überrumpeln;  die  Absicht  war,  sich 
mit  ihr  in  die  Luft  zu  sprengen,  was  mit  Mühe  vereitelt  wurde. 
Auch  die  in  der  Bucht  treibenden  ßrander  drohten  stete  Gefahr. 
Erst  um  6  Uhr  morgens,  als  die  Sonne  aufging,  ließ  sich  genau 
erkennen,  was  noch  übrig  war.  Heil  waren  nur  zwei  türkische 
Fregatten  und  zwanzig  Korvetten  und  Briggs,  die  am  Ufer  lagen, 
dazu  siebzig  Kauffahrer  und  Transportschiffe,  die  dem  Kampf  fern 
geblieben  waren. 

Die  englischen  Linienschiffe  „Asia"  und  „Genua^  hatten 
den  Besanmast  und  alle  Rahen  eingebüßt,  ebenso  die  „Sirene". 
Die  russischen  Linienschiffe  waren  so  zerschossen,  daß  sie 
Mastwangen  setzen  mußten,  etwas  weniger  gelitten  hatten  die 
Fregatten. 


^ 


206        Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

Ibrahim  gab  seinen  Verlust  auf  drei  Linienschiffe  und  fünfzehn 
Fregatten  an,  der  kleineren  Fahrzeuge  nicht  zu  gedenken').  Die 
Alliierten  hätten  zehn  Linienschiffe  und  auch  an  Fregatten  die 
Übermacht  gehabt.  Wie  könne  man  ihm  die  Schuld  an  der  Schlacht 
zuweisen?  Er,  Ibrahim,  werde,  wenn  es  nötig  sei,  nach  Paris  und 
London  gehen,  um  für  die  Wahrheit  zu  zeugen. 

Das  war  die  weltberühmte  Schlacht  bei  Navarino,  die  in  ihren 
Folgen  wichtiger  war,  als  die  Schlachten  bei  Lepanto  und  bei  Tschesme. 


Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Kriegs. 

Es  hieße  dem  politischen  Genius  von  Canning  unrecht  tun, 
wollte  man  annehmen,  daß  ihm  die  am  Tage  von  Navarino 
gefallene  Entscheidung  eine  Überraschung  gewesen  wäre,  wenn  er 
sie  noch  erlebt  hätte.  Daß  das  Londoner  Protokoll  in  einen  Krieg 
mit  der  Türkei  ausmünden  werde,  erkannte  er  ebenso  richtig  wie 
der  Zar,  der  sich  darüber  um  so  weniger  täuschte,  als  ja  all  sein 
Streben  dahin  ging,  gerade  diesen  Ausgang  herbeizuführen.  Canning 
wollte  aber  Rußland  weder,  wie  Nikolai  es  wünschte,  als  den  Be- 
vollmächtigten Europas  allein  handeln  lassen,  noch  überhaupt  einen 
russisch-türkischen  Krieg  dulden,  an  dem  die  beiden  anderen 
Unterzeichner  des  Londoner  Vertrages  nicht  teilnahmen.  Aller 
W^ahrscheinlichkeit  nach  hätte  er  nach  Navarino  die  Unabhängigkeit 
Griechenlands  anerkannt,  Morea  okkupiert  und  in  die  von  Nikolai 


^)  In  dem  Memorial  Codringtons  d.  d.  Malta,  den  9.  Dezember  1827,  das 
an  den  Großadmiral  William  Herzog  von  Clarence  gerichtet  ist,  wird  gegen 
alle  Wahrheit  angegeben,  daß  die  in  die  Bucht  von  Navarino  einfahrende 
Flotte  keinerlei  feindselige  Absiebten  gehabt  habe.  Nur  der  Angriff  der 
Türken  auf  die  ^Dartmouth"  habe  die  Schlacht  erzwungen.  Die  Verluste  der 
Türken  gibt  er  folgendermaßen  an:  3  Linienschiffe,  5  ägyptische  und  15  tür- 
1(ische  Fregatten,  26  Korvetten,  11  Briggs,  5  Brander,  51  bewaffnete  Transport- 
schiffe mit  2082  Kanonen.  Außer  einer  ägyptischen  Fregatte  sei  alles  Ter- 
nichtet  worden.  Von  den  18575  Köpfen  der  Mannschaft  seien  mindestens 
6000  umgekommen.  Die  Verluste  der  Verbündeten  betrugen  nach  Miltitz 
170  Tote,  478  Verwundete.  Die  beschädigten  Schiffe  der  Engländer  und 
Russen  gingen  nach  Malta,  die  französischen  nach  Toulon,  nur  einige  Fre- 
gatten blieben  zurück,  um  vor  Morea  zu  kreuzen.  Codringtons  erster  Bericht 
vom  21.  Oktober  1827,  bei  Prokesch-Osten,  S.  128  ff.,  entstellt  gleichfalls  den 
Ursprung  des  Kampfes. 


Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.        207 

beantragte  Blockade  von  Bosporus  und  Dardanellen  gewilligt,  die 
den  Sultan  zum  Nachgeben  führen  mußte,  und  eben  dadurch  Rußland 
auf  den  Boden  der  Abmachungen  von  Akkerman  zurückwarft).  Die 
Befreiung  Griechenlands  aber  wäre  dann  sein  Werk  gewesen,  und 
mit  einer  anerkannten  griechischen  Regierung  hätte  sich  auch  das 
überaus  lästige  Piratenwesen  der  Griechen  endgültig  beseitigen  lassen. 
Diese  Piraten  aber  hatten  als  wesentliches  Argument  dienen  müssen, 
um  diejenigen  zur  Politik  Cannings  hinüberzuziehen,  denen  das 
sentimentale  philhellenische  Argument  nicht  genügte. 

Was  Canning  tun  wollte,  wenn  es  ihm  nicht  gelingen  sollte, 
einen  Krieg  Rußlands  gegen  die  Türkei  zu  verhindern,  wußte  man 
in  Frankreich  aus  einem  Brief,  den  er  1824  einem  der  englischen 
Botschafter  schrieb  und  den  man  in  Frankreich  geöffnet  hatte. 
„Können  wir**,  schrieb  er  damals,  „diesen  Krieg  nicht  mehr  ver- 
hindern, über  dessen  Ausgang  keine  Illusionen  möglich  sind,  so  ist 
unser  Glaubensbekenntnis  das  folgende:  Vorausgesetzt,  daß  Rußland 
keinen  Fuß  am  Mittelmeer  faßt,  daß  den  Franzosen  keinerlei  Ent- 
schädigung gewährt  wird  und  Österreich  beträchtlich  an  Land  und 
Bevölkerung  gewinnt,  so  können  wir  unter  diesen  Bedingungen  die 
Zerstörung  des  Osmanischen  Reiches  zulassen;  wir  sind  dann  in 
der  Lage  zu  nehmen,  was  uns  beliebt').^ 

Mit  dem  Tode  Cannings  änderte  sich  die  ganze  Tendenz  der 
englischen  Politik.  Sie  wurde  in  der  Tat  „schüchtern,  springend 
und  schleppend^.     Als  die  Schlacht  von  Navarino  geschlagen  wurde, 


1)  Etwas  anders,  aber  im  Grundgedanken  mit  mir  übereinstimmend, 
urteilt  Finley  (A  bistory  of  Oreece  etc.)  „Englisb  interests  and  credit,  as 
well  as  tbe  cause  of  Oreece,  had  sufferd  a  disastrous  loss  in  the  deatb  of 
George  Canning.  The  firm  band  and  clear  eye  had  deserted  the  Foreign 
Office,  and  the  measures  adopted  to  coerce  the  Sultan  were  timid,  desultory 
and  dilatory.  A  bold  and  prompt  declaration  of  the  concessions  which  the 
Allies  were  determined  to  exact  in  favour  oi  the  Greeks  would  have  been 
tbe  most  effectual  mediation.  Wben  Russia  d  clared  war  with  Turkey,  Eng. 
land  ought  instantly  have  recognized  the  independence  of  Greece  and 
proceeded  to  carry  tbe  Treaty  of  tbe  6  July  into  execution  by  force.  As  France 
would  in  all  probability  have  acted  in  the  same  manner,  the  consent  of  the 
Sultan  would  have  been  gained,  and  a  check  might  have  been  placed  on  the 
ambition  of  Russia  by  occupying  the  Black  Sea  with  an  English  and  French 
fleet"    Stanley  Lane-Poole.    The  life  of  Stratford  Canning  I,  467. 

')  Privatbrief  La  Ferronnays*  an  Hortemart  den  9.  Juni  1828.  Paris 
Russie  Vol  174  f.  235,  durch  La  Ferronnays'  Sohn  Charles  überbracht. 


208        Kapitel  Vil.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

ruhten  die  Zügel  in  den  unsicheren  Händen  Lord  Goderichs,  aber 
die  Blicke  richteten  sich  bereits  auf  Wellington,  der  die  ganze 
Orientpolitik  der  letzten  Zeit  rückhaltlos  verurteilte  und  keinen 
Anstand  genommen  hatte,  den  König  zu  bitten,  Codrington  die 
Auszeichnung  zu  versagen,  zu  der  ihn  der  Lord  Großadmiral  vor- 
geschlagen hatte.  Wenn  Codrington  nicht  ausdrückliche  Instruktionen 
für  sein  Verhalten  nachweisen  könne,  werde  man  ihn  vielmehr 
zur  Rechenschaft  ziehen  müssen^). 

In  Rußland  war  die  Stimmung  der  leitenden  Kreise  wie  der 
Gesellschaft  begreiflicherweise  ganz  anders  gerichtet.  Der  Kaiser 
ist  in  den  Tagen,  da  die  große  Entscheidung  fiel,  zwar  in  Petersburg 
gewesen,  aber  noch  war  keine  Kunde  zu  ihm  gelangt,  als  er  die  Stadt 
am  31.  Oktober  verließ').  Am  3.  November  war  er  in  Dünaburg 
eingetroffen,  um  Festung  und  Truppen  zu  inspizieren  und  dann 
nach  Livland  und  Estland  gereist,  wo  er  von  den  baltischen  Ritter- 
schaften und  Städten  enthusiastisch  begrüßt  wurde.  Auf  diesem 
Boden  trug  die  Loyalität  der  deutschen  Bevölkerung  einen  ausge- 
sprochen persönlichen  Charakter;  was  man  dem  Kaiser  entgegentrug 
war  Vasallentreue,  und  gerade  dafür  hatte  er  ein  starkes  Ver- 
ständnis. Man  fühlte  sich  als  ein  Besonderes  in  dem  großen  Zu- 
sammenhange des  russischen  Reiches,  und  der  Kaiser  nahm  keinen 
Anstand  die  Tatsache  anzuerkennen.  Er  blieb  vom  6.  bis  zum  8.  in 
Riga.  Von  dort  fuhr  er  über  Pernau  nach  Reval,  wo  er  Hafeubauten, 
Festungswerke,  die  Garnison  und  die  städtischen  Anstalten  inspizierte 
und  im  ganzen  zwei  Tage  blieb,  was  bei  seiner  hastigen  Art  zu  reisen 
auffallend  lange  war.  Seine  besondere  Vorliebe  für  alles,  was  die 
Marine  betraf,  hielt  ihn  hier  fest.  Erst  am  13.  November  traf  er 
wieder  in  Petersburg  ein.  Die  Stimmung  die  er  in  der  Residenz 
vorfand,  war  kritisch  und  wenig  freundlich.  Man  murrte  über 
die  rücksichtslos  despotische  Art  des  Kaisers.  Er  hatte  vor 
seiner  Abreise  den  piemontesischen  Gesandten  de  Salles  seine 
Ungnade  fühlen  lassen,  weil  dieser  bei  einem  feierlichen  Tedeum 
in  der  Kirche  nicht  niedergekniet  war.  Es  war  sogar  die  Rede 
davon    gewesen,    die    Abberufung    de    Salles^    zu    verlangen,    und 


0  Wellington  Despatches  IV  763  13.  November  1827.  „The  Admiral 
will  be  held  responsible  unless  instructed  by  your  Majestys  ministers.*'  Der 
König  bat  Codrington  trotzdem  den  ßatborden  verlieben. 

^)  Journal  der  allerbocbsten  Reisen.  Woj.  Utscbenny  Archiv  I  Nr.  619. 
Russiscb. 


Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.         209 

Nesselrode  hatte  alle  Mühe  gehabt,  die  Sache  glücklich  beizulegen  '). 
Unmittelbar  danach  aber  war  ein  zweiter  schlimmer  Ausjbruch  der 
Willkür  des  Kaisers  gefolgt.  Die  Zöglinge  eines  vornehmen  Pensionats 
waren  mit  ihrem  Lehrer  in  die  Kirche  geschickt  worden,  und  gegen  den 
Brauch  des  griechischen  Ritus  hatte  der  Lehrer  sich  während  des 
Gottesdienstes  gesetzt.  Der  Militärgouverneur  hielt  es  für  nötig, 
dem  Kaiser  darüber  Bericht  zu  erstatten,  und  dieser  ließ  den  Un- 
glücklichen in  das  sogenannte  gelbe  Haus,  die  Petersburger  Irren- 
anstalt, sperren.  Erst  nach  24  Stunden,  die  er,  wie  behauptet 
wurde,  in  der  Zwangsjacke  verbrachte,  ließ  man  ihn  frei.  Aber 
er  mußte  Petersburg  und  Rußland  verlassen').  Dergleichen  hatte 
man  selbst  nicht  unter  Alexander  in  seinen  mystischen  Jahren  er- 
lebt! Auch  wurde  die  Strenge  viel  getadelt,  mit  der  der  Kaiser 
verhältnismäßig  unbedeutende  Ruhestörungen  unter  den  Moskauer 
Studenten  strafte  —  es  ist  das  erste  Symptom  der  später  so  be- 
deutsam gewordenen  russischen  Studentenbewegung  —  kompromit- 
tiert waren  ganz  junge  Leute  von  17  bis  21  Jahren.  Mit  wahrer 
Barbarei,  aber  wurde  die  Strafe  des  Spießrutenlaufens  gehandhabt. 
Ein  Soldat,  der  einen  Zettel  eines  der  verhafteten  Moskauer  Stu- 
denten weiterbefördert  hatte,  mußte  viermal  durch  1000  Spießruten 
laufen,  und  zwei  unglückliche  Juden,  die  den  Pestcordon  am  Pruth 
überschritten  hatten,  und  die  der  stellvertretende  Generalgouverneur 
am  Leben  strafen  wollte,  begnadigte  der  Kaiser  zu  12mal  tausend 
Ruten.  Er  fügte  dieser  Resolution  eigenhändig  hinzu:  Es  gibt,  Gott 
sei  Dank,  bei  uns  keine  Todesstrafe,  und  ich  werde  sie  nicht  ein- 
führen'). Daß  seine  Gnade  die  schrecklichste  Form  der  Todes- 
strafe  bedeutete,  ist  ihm  olTenbar  nicht  in  den  Sinn  gekommen; 
fast  schlimmer  noch  ist  es  wohl,  daß  sich  niemand  fand,  ihn  darauf 
aufmerksam  zu  machen.  Aber  seit  seiner  Krönung  hatte  der  Kaiser 
sich  gleichsam  isoliert.  Von  dieser  Zeit  ab  wurden,  mit  geringen 
Ausnahmen,  die  Immediatvorträge  der  Minister  und  Ministerial- 
direktoren, die  der  Kaiser  bis  dahin  regelmäßig  entgegenzunehmen 
pflegte,  immer  seltener,   so   daß  in  der  Zeit,  von  der  wir  reden, 


')  La  Ferronnays,  14.  September  1827. 

'^)  Die  Gräfin  Nesselrode  an  ihren  Bruder  Nikolas  Gurjew.  Petersburg, 
9./21.  September  1827.  „Ne  trouvez-vous  pas  que  c'etait  du  despotisme 
tout  pur?" 

')  Russkaja  Starina  1883  IV.  660.     Cber  die  Moskauer  , sötte  et  infame 
farce''  vergl.  den  Brief  Nikolais  an  Konstantin  vom  27.  September  1827. 
Schiern  an n,  Gescbichte  Kußlands.    IL  14 


210         Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

seia  Verkehr    in  Regierungsangelegenheiten    sich    bereits    auf   nur 
wenige  Personen  beschränkte*).     Weiteren  Stoff  zur  Unzufrieden- 
heit    gab    dann     die    immer    aufdringlicher    werdende    Geheim- 
polizei   Benkendorfs,     die     auch    in    der    Armee     ihre    Vertreter 
hatte,    denn    noch    wirkten    die    Eindrücke    des    26.    Dezember 
1825  nach.     Es  steht  fest,  daß  unter  den  Motiven,  die  den  Kaiser 
einen  Krieg  mit  der  Türkei   wünschen  ließen,  die  politischen  Ge- 
sinnungen seines  Offizierkorps  eine  wesentliche  Rolle  spielten.     Er 
wußte  besser  als  alle  andern,  daß  der  Geist  der  Dekabristen  keines- 
wegs  ausgestorben    war').     Nebenher    mußten    ihm    auch  Zweifel 
über  die  Leistungsfähigkeit  seiner  Marine  kommen,  wenn  er,  auch 
abgesehen    von    dem    Abenteuer    des    Westowoj,    der    Nachrichten 
gedachte,  die  ihm  aus  Portsmouth  zugegangen  waren.     Er  hatte, 
als  sich  herausstellte,    daß    das  Segelwerk    und    die  Takelage   der 
Flotte    in  England    völlig    erneuert    werden    mußte,    in   Kronstadt 
eine    Untersuchung    angestellt,    die    die    ungeheuerlichsten    Unter- 
schleife nachwies.       „In  der  Flotte**,   schrieb  er  unter  dem  ersten 
Eindruck  dem  Bruder  Konstantin,    „ist    nichts    als   Diebstahl   und 
Infamie  zu  finden.     Täglich    mache    ich    neue  Entdeckungen.      Es 
wird  eine  Herkulesarbeit,  hier  Ordnung  zu  schaffen"').     Das  Ein- 
laufen der  türkischen  Flotte  in  den  Hafen  von  Navarino  wurde  in 
Petersburg  zudem  als  grober  Mißgriff  der  Admiräle  bezeichnet,  ein 
Urteil,  das  wahrscheinlich  auf  den  Kaiser  selbst  zurückging.    End- 
lich machte  die  Haltung  ()sterreichs  dem  Kaiser  die  größten  Sorgen. 
Der  Hospodar  der  Walachei  hatte  Ribeaupierre,  dem  russischen 
Botschafter  in  Konstantinopel,  Abschriften  seiner  gesamten  Korre- 
spondenz mit  dem  Wiener  Kabinett  gegeben,  der  Sohn  des  Hospodars 
der  ebenfalls    um    die  Gunst  Rußlands    buhlte,    hatte    danach    im 
Oktober  dem  Vater    einen  Teil  der  Originale    entwendet    und    sie 
nach  Petersburg  geschickt.     Sie  waren  alle  von  der  Hand  Friedrichs 
von  Gentz,  ein  Schreiben  sogar  von  Metternich,  und  ließen  keinen 
Zweifel  an  der  Rußland   feindseligen  Haltung  der  österreichischen 
Politik.     Nikolai  aber  war  um  so  tiefer  verletzt  und  entrüstet,  als 
er  die  emphatischsten  Versicherungen  von  der  Loyalität  der  öster- 

0  Korflf  Denkwürdigkeiten  ad  1830. 

*)  Noch  am  27.  August  1827  wurde  eine  Anzahl  Offiziere  verhaftet  wegen 
Verbreitung  von  Gedichten  „revolutionären"  Inhalts  und  des  Briefes,  den 
Rylejew  vor  seiner  Hinrichtung  an  seine  Frau  geschrieben  hatte. 

»)  Schreiben  vom  18.  Juli  1827. 


Kapitel  Vif.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbrach  des  Krieges.         211 

reichischen  Politik  ebea  erst  aus  dem  Munde  des  neuen  öster- 
reichischen Botschafters,  Grafen  Zichy,  entgegengenommen  hatte 
und  dringend  um  eine  Zusammenkunft  mit  Kaiser  Franz  gebeten 
worden  war.  Er  sah  in  diesem  Verhalten  eine  unehrenhafte  Hand- 
lung Metternichs  und  einen  Verrat.  In  diesem  Sinne  schrieb  er 
seinem  Schwiegervater  Friedrich  Wilhelm*),  er  werde  zwar  äußerlich 
sein  Verhalten  Österreich  gegenüber  nicht  ändern,  seine  Antwort  sei 
Verachtung;  aber  Vertrauen  könne  er  diesem  „gouvernement  fourbe** 
nicht  mehr  schenken.  Dabei  ist  es  bis  in  den  Sommer  1830 
geblieben,  als  die  Julirevolution  die  Interessen  Rußlands  und 
Österreichs  wieder  verband.  Man  muß  diese  Tatsache  kennen, 
um  das  Mißtrauen  zu  verstehen,  mit  dem  der  Kaiser  jeden  Schritt 
der  österreichischen  Politik  begleitete. 

Auch  in  den  Nachrichten,  die  ihm  aus  Polen  zugingen, 
glaubte  er  die  Spur  österreichischer  Intrigen  zu  erkennen, 
und  darin  wurde  er  noch  durch  den  Großfürsten  Konstantin 
bestärkt.  Die  alten  napoleonischen  Sympathien  der  Polen 
würden  von  Galizien  aus  gepflegt,  und  der  Prinz  Napoleon  sei 
bereits  16  Jahre  alt.  Der  Großfürst  schickte  dem  Kaiser  eine 
Lithographie  zu,  welche  den  Statthalter  von  Galizien,  Fürsten 
F^obkowitz,  in  polnischer  Nationaltracht  darstellte,  und  bald  danach 
meldete  er,  daß  vier  neue  Jesuit^nkollegien  von  Metternich  in 
Galizien  zugelassen  worden  seien.  Die  Beziehungen  der  polnischen 
Patrioten  zum  Jesuitismus  aber  wurden  in  Rußland  von  jeher  miß- 
trauischen Auges  verfolgt.  Der  Kaiser  war  auf  das  Äußerste  gereizt') 
und  eben  deshalb  keineswegs  geneigt,  den  polnischen  Wünschen 
Rechnung  zu  tragen,  die  durch  die  Vermittelung  des  Großfürsten  an 
ihn  gelangten.  Denn  in  ihrer  Beurteilung  der  polnischen  Ange- 
legenheiten gingen  beide  nach  wie  vor  weit  auseinander.  Kon- 
stantin, dessen  stärkste  Abneigung  immer  gegen  Preußen  gerichtet 


0  Charlottenburg.  Hausarchiv.  Schreiben  Nikolais  an  den  König  vom 
30.  Oktober:  Die  Antwort  Friedrich  Wilhelms  datiert^vom  29.  November  und 
war  darauf  angelegt,  Metternich  zu  entschuldigen;  um  sein  Ziel,  den  Frieden 
zu  erreichen,  scheue  er  vor  keinem  Mittel  zurück.  Das  Ziel  aber  lag  dem 
Könige,  der  einen  europäischen  Krieg  um  jeden  Preis  verhindern  wollte, 
ebensosehr  am  Herzen,  wie  dem  österreichischen  Staatskanzler. 

^)  »im  übrigen  .  .  ich  auf  sie^  schreibt  er  am  27.  September  dem  Groß- 
fürsten Konstantin. 


212         Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

war,  hielt  an  der  Fiktion  fest,  daß  der  Kern  der  polnischen  Be- 
wegung in  Posen  und  in  Krakau  Hege,  und  daß  die  Verschwörung, 
über  welche  man  zu  Gericht  saß,  dort  ihren  Ursprung  gehabt  habe, 
daß  sie  auch  nicht  über  den  kleinen  Kreis  der  Verhafteten  hinaus- 
gehe; die  übrigen  Polen  des  Königreichs  seien  loyale  Untertanen 
ihres  konstitutionellen  Königs,  und  wenn  sie  eine  Vereinigung 
von  Polen  und  Littauen  erstrebten,  so  dürfe  man  ihnen  das  nicht 
verdenken,  da  Alexander  selbst  ihnen  dieses  Ziel  gesetzt  habe.  Be- 
sonders war  er  bemüht,  den  Geist  der  polnischen  Armee  als  muster- 
haft darzustellen,  obgleich  er  eben  damals  die  größten  Unannehm- 
lichkeiten mit  den  Generälen  Krasinski  und  Osharowski  hatte  und 
den  letzteren  sogar  seiner  Stellung  entheben  mußte ')  Das  tat  aber 
seinem  günstigen  Urteil  über  die  Gesamtheit  der  polnischen  Offiziere 
keinen  Eintrag,  und  da  das  littauische  Korps  unter  seinem  Ober- 
kommando stand,  erschien  ihm  die  Verbindung  Littauens  mit  Polen 
zu  einer  Verwaltungseinheit  nicht  nur  natürlich,  sondern  durchaus 
wünschenswert.  Der  Kaiser  dagegen  ist,  so  sehr  er  sich  bemühte 
in  polnischen  Angelegenheiten  den  Ansichten  des  Bruders  Rechnung 
zu  tragen,  allezeit  mißtrauisch  gegen  die  polnische  Nation  geblieben 
und  war  fest  entschlossen,  unter  keinen  Umständen  die  Vereinigung 
Polens  und  Littauens  zu  dulden.  Er  hat  es  Konstantin  auf  das 
nachdrücklichste  erklärt'),  Littauen  sei  eine  russische  Provinz,  die 
Verbindung  dieses  Gebietes  mit  Polen  würde  eine  Verletzung  der 
Integrität  Kußlands  sein.  Der  Gegensatz  der  Meinungen  wurde 
noch  schärfer,  als  der  Kaiser  vorschlug,  bei  der  nächsten  Rekruten- 
aushebung die  littauischen  Rekruten  in  russische  Gouvernements 
und  Russen  nach  Littauen  zu  versetzen.  Es  hat  darüber  schließlich 
eine  sehr  gereizte  Korrespondenz  zwischen  den  Brüdern  gegeben, 
die  zur  großen  Erbitterung  Konstantins  damit  abschloß,  daß  der 
Kaiser  seine  Absichten  doch  durchführte').  Einen  weiteren  Anlaß 
zu  gegenseitigen  Unzufriedenheiten  gab  der  Verlauf  des  langsam 
sich  dem  Abschluß  nähernden  polnischen  Hoch  Verratsprozesses. 
Fast  zwei  Jahre  waren  mit  der  Untersuchung  hingegangen,  ehe 
endlich  die  Anklageakte  fertig  wurde,  die  dem  hohen  Gerichtshof 
in  Warschau    zur   Unterlage    für  sein    Urteil    dienen    sollte.      Der 


^)  Er  wurde  durch  den  General  Baron  Rosen  ersetzt. 

'■^)  Schreiben  Nikolais  an  Konstantin  vom  9.  November  1827. 

*)  Siehe  die  Briefe  vom  8,  12,  14,  17,  24.  November  1827. 


Kapitel  Vif.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.        213 

Kaiser  war  mit  dieser  Anklageakte^)  sehr  anzafriedeD,  weil  sie  nur 
von  einer  ^tentative  eloignee^  der  Verschwörer  sprach,  während  doch 
feststehe,  daß  sie  um  die  Mordpläne  der  Dekabristen  gewußt  hätten. 
Konstantin  war  dagegen  mit  dieser  Formulierung  durchaus  einver- 
standen und  wies  darauf  hin,  daß  die  Kaiserin  Katharina  Polen  nicht  er- 
obert, sondern  geraubt  habe').  Die  Wünsche  und  Hoffnungen  der 
Polen  seien  daher  wohl  verständlich  und  zu  entschuldigen.  An 
den  Anschlägen  gegen  Alexander  und  das  kaiserliche  Haus  aber 
hätten  sie  niemals  einen  Anteil  gehabt.  Und  dabei  blieb  er,  trotz 
aller  Entgegnungen  des  Kaisers.  Es  ließ  sich  vorhersehen,  daß 
diese  Gegensätze  sich  noch  steigern,  nicht  mildern  wurden. 

Daß  dies  in  der  Tat  geschah,  dazu  hat  die  Katastrophe  von 
Navarino  und  der  sich  daran  schließende  Türkenkrieg  sehr  wesent- 
lich beigetragen. 

Die  Nachricht  von  der  Zerstörung  der  türkischen  Flotte  war 
über  Paris  am  18.  November  in  Petersburg  bekannt  geworden.  Die 
offizielle  Bestätigung  traf  am  20.  ein,  gleichzeitig  mit  der  Sieges- 
kunde von  der  Einnahme  Eriwans.  Sie  wurde  mit  ungeheurem 
Jubel  aufgenommen  und  lenkte  sowohl  die  Gedanken  des  Kaisers 
wie  der  „Gesellschaft^  in  Petersburg  in  eine  neue  Richtung.  Man 
hielt  den  sofortigen  Ausbruch  eines  Krieges  für  möglich  und  erwog 
die  politischen  und  militärischen  Aussichten.  Wurde  auch  von 
Nesselrode  zunächst  an  der  Vorstellung  festgehalten,  daß  England 
und  Frankreich  mit  Rußland  gemeinsame  Sache  machen  würden,  so 
wurde  doch  auch  nicht  ohne  Behagen  die  W^ahrscheinlichkeit  einer 
ausschließlich  russischen  Aktion  gegen  die  Türkei  erwogen,  denn 
wenn  die  beiden  Westmächte  Rußland  allein  die  Last  eines  türki- 
schen Krieges  tragen  ließen,  so  glaubte  man  die  lästigen  Ver- 
pflichtungen abschütteln  zu  können,  die  Eroberungen  auf  Kosten 
der  Türkei  ausschlössen.  In  diesem  Sinne  schrieb  Nesselrode  schon 
am  18.  November  dem  Feldmarschall  Wittgenstein,  der  als  Kom- 
mandierender der  zweiten  Armee  zunächst  berufen  war,  die  mili- 
tärischen Operationen    zu  leiten,    und    dem    der   Kaiser  auch   das 

^)  Sie  war  vom  Senator  ßielinski  abgefaßt,  unter  dem  Druck  der  ge- 
heimen Gesellschaften,  deren  Proklamation  die  schlechten  Patrioten  mit  der 
Rache  des  Volkes  bedrohten. 

')  „leur  pays  a  ete  spolie  et  non  conquis  par  Plmporatrice  Catherine* 
er  fügt  ^inzu,  die  Mittel,  die  sie  angewandt  habe,  seien  „les  plus  honteux 
et  dont  chaque  äme  honnete  aurait  repugn^^  1. 1.  12.  Dezember  1827. 


214        Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

Oberkommando  in  dem  bevorstehenden  Feldzuge  zugedacht  hatte'). 
Für  den  Fall  eines  Bruchs  mit  der  Türkei  sollte  ohne  jeden  Zeit- 
verlust der  Pruth  überschritten  werden,  damit  Rußland  die  Donau- 
Fürstentümer  besetzen  könne,  bevor  die  Österreicher  ihrerseits  die 
Okkupation  der  Walachei  vorgenommen  hätten.  Ihre  Truppen^ 
30000  Mann  stark,  ständen  schon  an  der  Grenze.  Sollte  Wittgen- 
stein wider  Erwarten  bei  seinem  Einrücken  die  Österreicher  be- 
reits in  der  Walachei  vorfinden,  so  solle  er  ihre  Generäle  auf- 
fordern abzuziehen  und  ihnen  im  Weigerungsfalle  sagen,  daß  er 
den  Auftrag  habe  zu  protestieren,  und  dem  Kaiser  dann  sofort 
Mitteilung  machen.  Inzwischen  aber  sollte  er  okkupieren  was 
noch  frei  sei,  die  Österreicher  jedoch  so  behandeln,  daß  sie  den 
Eindruck  gewinnen,  Rußland  wolle  trotz  allem  gute  nachbarliche 
Beziehungen  aufrechterhalten. 

Der  Feldmarschall  war  von  dieser  Instruktion  keineswegs  er- 
baut; er  wies  darauf  hin,  daß  es  eine  Partei  moldauischer  und 
walachischer  Bojaren  gebe,  denen  eine  österreichische  Schutzherrschaft 
hocherwünscht  wäre.  Wenn  auf  seinen  Protest  hin  die  Österreicher 
nicht  wichen,  werde  seine  Lage  so  schwierig  werden,  daß  ihm 
nichts  übrig  bleibe,  als  entweder  sie  zu  bekämpfen  oder  selbst 
zurückzugehen.  Seiner  Meinung  nach  wäre  das  Richtige,  den 
Österreichern  zu  erklären,  daß  ein  Einrücken  ihrer  Truppen  in  die 
Fürstentümer  als  Kriegserklärung  gelten  werde.  In  Petersburg 
wurde  diesen  Einwürfen  und  Vorschlägen  des  Feldmarschalls  wenig 
Aufmerksamkeit  geschenkt.  Trotz  alles  Mißtrauens  gegen  die 
Politik  des  Fürsten  Metternich  glaubte  man  nicht,  daß  er  kühner 
Entschlüsse  fähig  wäre.  Er  sei  kein  Bonaparte;  auch  rechnete 
Nesselrode  auf  den  Erfolg  der  Verhandlungen,  die  im  Gange  waren 
und  deren  Ziel  es  war,  nach  allen  Richtungen  hin  Rußland  mög- 
lichst freie  Hand  zu  sichern.  Die  sich  drängenden  Nachrichten 
aus  Konstantinopel  ließen  keinen  Zweifel  mehr,  daß  der  Krieg, 
und  zwar  der  Krieg  mit  Rußland,  dem  Sultan  Mahmud  als  eine 
politische  und  religiöse  Ehrenpflicht  erschien. 

Seit  dem  30.  Oktober  wußten  auch  die  türkischen  Staatsmänner 
von  den  Ereignissen  von  Navarino,  aber  erst  am  2.  November  wagten 
sie,  dem  Sultan  davon  Mitteilung  zu  machen.     Der  brauste  auf  in 


^)  Werki,    Wittgensteinsches,    jetzt    fürstlich     Hohenlohesche%  Archiv. 
Korrespondenz  Wittgensteins  mit  Diebitsch  und  Nesselrode.  1827 — 29. 


Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.         215 

wildem  Zorn*).  Durch  den  Reis-Efendi  ließ  er  den  Internunzias 
Ottenfels  wissen,  unter  welchen  Bedingungen  er  geneigt  sei,  zu  ver- 
zeihen. Er  verlange  binnen  24  Stunden  Entschuldigung  von  den 
drei  Mächten,  die  Zusage  einer  entsprechenden  Entschädigung  für 
die  bei  Navarino  erlittenen  Verluste,  einen  Verzicht  auf  jedes  Ein- 
greifen in  die  griechischen  Angelegenheiten,  und  das  ausdrückliche 
Aussprechen  ihres  Wunsches,  fortan  in  Frieden  mit  der  Pforte  zu 
leben.  Ottenfels  hat  es  nicht  möglich  gefunden,  die  zweite  und 
dritte  dieser  Forderungen  den  Gesandten  mitzuteilen.  Als  dann  die 
Vertreter  der  Mächte  durch  ihre  Dragomans  die  direkte  Frage  an 
den  Keis-Efendi  richteten,  ob  die  hohe  Pforte,  in  Übereinstimmung 
mit  den  Mächten  geneigt  sei,  die  Wiederkehr  von  Ereignissen  zu 
verhindern,  welche  sie  hätte  vermeiden  können,  die  aber  von  den 
Vertretern  der  Mächte  tief  beklagt  (deplorer)  würden,  und  zugleich 
eine  direkte  Antwort  verlangten,  ob  der  Sultan,  wie  sie  es  täten, 
den  Frieden  erhalten  wolle*),  entschied  Mahmud  folgendermaßen: 
Es  gäbe  zwischen  der  Türkei  und  den  Mächten  keine  .Beziehungen 
mehr,  seit  sie  mitten  im  Frieden,  unter  der  Maske  der  Freund- 
schaft, ihm  einen  tödlichen  Schlag  beigebracht  hätten.  Weder 
Freundschafts-  noch  Handelsvertrag,  noch  die  Konvention  von  Akker- 
man  bestehe  mehr  zu  Recht.  Er  erkläre  nicht  den  Krieg,  aber  er 
werde  ihn  mit  aller  Kraft  führen,  wenn  man  ihn  angreife.  Er  sei 
auf  alles  vorbereitet,  und  keine  Gefahr  werde  ihn  zurückweichen 
lassen.  Die  Botschafter  wolle  er  nicht  wiedersehen,  sie  könnten  fort- 
ziehen, wann  ea  ihnen  beliebe.  Auch  werde  er  niemand  belei- 
digen, aber  er  wolle  auch  nicht  dulden,  daß  man  ihn  ferner  be- 
schimpfe, und  werde  zeigen,  daß  er  nicht  gesonnen  sei,  sich  zum 
Narren  halten  zu  lassen. 

Der  Reis-Efendi  gab  dann  den  Dragomaus  eine  etwas  abge- 
schwächte offizielle  Antwort;  am  5.  November  aber  trat  an  der  Pforte 
ein  großer  Rat  zusammen,  zu  dem  die  Ulemas,  Ridgeals  und  alle  Mi- 
nister berufen  wurden.  Es  blieb  dabei,  daß  die  Pforte  auf  Er- 
füllung der  vier  Forderungen  bestehen  müsse,  die  sie  dem  Inter- 
nunzius  formuliert  hatte.     Den  Mächten  wurde  eine  Frist  von  vier 


*)  Für  das  Folgende  vergl.  Prokesch  Osten:  Geschichte  des  Abfalls  der 
Griechen  etc.  Bd.  V,  S.  130  ff.  Die  dort  mitgeteilten  Aktenstücke  sind  aber 
keineswegs  vollständig.  Sie  werden  hier  ergänzt  durch  die  Relationen  Ton 
Miltitz.     Berlin  G.  StA.  A.  A.  I  Rep.  I  Turquie  1827,  28. 

^)  Instruktion  an  die  Dragomans  vom  4.  November,  Prokesch  S.  130. 


216         Kapitel  YII.    Von  Navarino  bis  zum  Aasbruch  des  Krieges. 

Wochen  zur  Beantwortung  gesetzt;  bis  dahin  sollten  alle  Beziehungen 
zu  ihnen  ruhen,  der  Handelsverkehr  ins  Schwarze  Meer  hinein  so- 
fort abgebrochen  werden. 

Es  ist  nun  sicher,  daß  die  Pforte  einerseits  auf  Unterstützung 
von  Seiten  Österreichs,  andererseits  auf  eine  Abwendung  Englands 
von  der  Allianz  rechnete;  sie  hat  daher  eine  Kollektivnote  der  Mächte 
vom  10.  November,  welche  die  Forderungen  der  Pforte  kategorisch  ab- 
lehnte und  umgehende  Rücknahme  ihrer  den  Verträgen  widersprechen- 
den Maßregeln  verlangte,  zunächst,  in  Erwartung  günstiger  Nach- 
richten aus  Wien,  unbeantwortet  gelassen  und  am  14.  den  mageren 
Bescheid  gegeben,  sie  wolle  das,  über  die  Schiffe  der  Mächte  verhängte 
Embargo  teilweise  aufheben.  Die  Verhandlungen  zogen  sich  danach 
noch  acht  Tage  hin;  schließlich  blieb  kein  Zweifel  mehr  möglich,  daß 
an  ein  Nachgeben  der  Pforte  nicht  zu  denken  sei.  Schon  wurden 
die  Anstalten  zur  Abreise  der  Botschafter  getroffen,  und  eine  ge- 
meinschaftliche Konferenz,  die  sie  vom  Reis-Efendi  erwirkten,  führte 
gleichfalls  nicht  zu  greifbaren  Ergebnissen.  Immerhin  gaben  die 
Friedensfreunde  nicht  alle  Hoffnung  auf,  da  die  Botschafter  sich  be- 
reit gefunden  hatten,  noch  einige  Tage  auf  eine  endgültige  Antwort 
Mahmuds  zu  warten.  Der  Sultan,  der  eben  jetzt  Tahir  Pascha  em- 
pfangen und  von  diesem  eine  aufregende  Schilderung  der  schmerz- 
lichen Ereignisse  von  Navarino  gehört  hatte,  ließ  am  27.  November 
den  Dragomans  der  drei  Mächte  erklären,  daß  seine  Beschlüsse  un- 
wandelbar seien,  und  daß,  bevor  die  Griechen  sich  ihm  unterworfen 
hätten,  von  einer  Aufnahme  der  Beziehungen  zu  den  Mächten 
keine  Rede  sein  könne.  Wie  dann  am  28.  die  Gesandten  ihre 
Pässe  verlangten,  machte  der  Großvezier  noch  einen  letzten  Versuch, 
Mahmud  umzustimmen.  Als  der  Sultan  vom  Serail  in  das  Winter- 
palais übersiedelte,  warf  er  sich  ihm  zu  Füßen  und  bat  ihn  aus 
Rücksicht  auf  die  Bitten  der  drei  Botschafter  zu  sagen,  was  er  den 
Griechen  gewähren  könne.  Die  Autwort  konnte  unmöglich  be- 
friedigen. Er  wolle,  sagte  der  Sultan,  den  Griechen  den  Karatsch 
erlassen,  den  sie  ihm  für  die  letzten  sechs  Jahre  schuldig  geblieben 
seien,  dazu  noch  die  Abgaben  für  das  nächste  Jahr,  auch  keine 
Entschädigung  für  seine  Kriegskosten  verlangen.  Mehr  aber  werde 
er  nicht  gewähren.  Diese  Antwort  wurde  den  Botschaftern  mitge- 
teilt, die  noch  immer  vergeblich  auf  ihre  Pässe  warteten.  Ihre 
Lage  war  um  so  peinlicher,  als  sie  von  ihren  Regierungen  seit 
Navarino  keine  Instruktionen  erhalten  hatten  und  auf  eigene  Ver- 


Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.         217 

antwortung  handeln  mußten.  Die  nächstfolgenden  Tage  gingen  in 
Konferenzen  hin,  und  die  Wiederherstellung  des  Embargo  für  die 
Schiffe,  die  in  das  Schwarze  Meer  wollten,  bestätigte  die  Meinung, 
daß  der  Sultan  es  allerdings  auf  einen  Bruch  werde  ankommen 
lassen.  Die  letzte  Entscheidung  ist  dann  von  der  Pforte,  am  2. 
Dezember  1827,  auf  einer  außerordentlichen  Ratsversammlung  ge- 
troffen worden.  Alle  Minister,  Veziere,  Paschas,  die  Spitzen  der 
Behörden  und  160  Individuen,  die  aus  den  Ulemas,  Ridgeals  und 
Kodgeakians')  gewählt  waren,  sollten  ihr  Urteil  über  die  Lage 
abgeben.  3000  Zuschauer  hatten  sich  im  Hof  versammelt.  Der 
Sultan  selbst  aber  hörte  die  Verhandlungen  aus  einem  Kabinett 
an,  das  an  das  Beratungszimmer  stieß.  Man  trennte  sich  erst 
gegen  Abend,  nachdem  der  folgende  einstimmig  gefaßte  Beschluß 
vom  Sultan  bestätigt  worden  war:  da  die  Bitten  der  drei  Bot- 
schafter, sofern  die  künftige  Stellung  der  Griechen  in  Frage  komme, 
unannehmbar  seien,  da  ferner  die  drei  Höfe  den  Freundschafts- 
bund gebrochen  und  das  Blut  der  Osmanen  vergossen  hätten,  solle 
das  muselmännische  Volk  sich  zur  Verteidigung  des  Thrones,  der 
Religion  und  der  nationalen  Ehre  zusammenscharen! 

Dieser  Beschluß  ist  beschleunigt  und  wesentlich  mitbestimmt 
worden  durch  eine  Botschaft,  die  von  den  drei  Dragomans  in 
währender  Sitzung  überbracht  wurde.  Das  Verhalten  der  Pforte, 
ließen  die  Botschafter  sagen,  berechtige  sie  schon  jetzt,  Konstantinopel 
zu  verlassen.  Sie  hofften  aber  immer  noch,  daß  der  Divan  sein  poli- 
tisches System  ändere,  und  um  ihnen  möglich  zu  machen,  auf  ihrem 
Posten  zu  bleiben,  die  folgenden  Beschlüsse  fassen  werde:  Herstellung 
aller  Privilegien,  Immunitäten  und  Freiheiten,  auf  denen  die  Stellung 
der  Diplomaten  an  der  Pforte  ruhe,  sofortigen  Erlaß  eines  Hatti  Sheriff, 
der  einen  Waffenstillstand  zu  Wasser  und  zu  Lande  verkündigte, 
endlich  Gewährung  der  durch  den  Julivertrag  für  die  Griechen 
geforderten  Stellung.  Im  Fall  einer  abschlägigen  Antwort  müßten 
sie  nochmals  ihre  Pässe  fördern,  um  abzureisen.  Der  niederländische 
Gesandte  werde  den  Schutz  der  französischen,  englischen  und  russi- 
schen Untertanen  übernehmen ').    Die  Antwort,  die  den  Dragomans 


^)  Das  ist:  die  Vertreter  der  Armee  und  der  Korporationen,  die  der 
Sultan  nach  einer  ihm  Torg^elef^ten  Liste  bezeichnet  hatte. 

^  Relationen  von  Miltitz  Tom  10.  November  bis  10.  Dezember  1327, 
Berlin,    Geb.    Staatsarchiv.    1. 1.    Stanley    Lane-Poole:    The    life    of    Stratford 


218        Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

erteilt  wurde,  war  höhoisch  genug:  Da  die  Konzessionen  des  Sultans 
zurückgewiesen  worden  seien,  nehme  er  sie  nunmehr  auch  selbst 
zurück;  für  den  Schutz  der  fremden  Untertanen  aber  werde  er 
selbst  Sorge  tragen  und  ebenso  für  den  Schutz  der  katholischen 
Kirchen  und  Klöster,  die  der  Botschafter  Frankreichs  dem  Inter- 
nunzius  überweisen  wollte. 

Den  Reisefirman  erhielten  die  Botschafter  nicht;  erst  wenn 
sie  einen  ausdrücklichen  Befehl  ihrer  Regierungen  vorweisen  könnten, 
werde  ihnen  der  Firman  zugestellt  werden.  Der  englische  Bot- 
schafter Stratford  Canning  hat  in  seinen  Briefen  die  peinliche 
Lage  geschildert,  in  der  er  und  seine  beiden  Kollegen  sich  befanden: 
„Wir  handelten  unter  schwerer  Verantwortlichkeit  vor  unseren  Re- 
gierungen. Wir  mußten  für  den  Schutz  der  Kaufleute,  für  Be- 
förderung der  Korrespondenz  und  für  die  Sicherheit  des  zurück- 
bleibenden Eigentums  der  Krone  Sorge  tragen.  Wir  konnten  nicht 
vorhersehen,  wohin  die  fanatische  Erregung  des  muselmännischen 
Pöbels  bei  unserer  Abreise  treiben  werde.  Zwar  hatten  wir  guten 
Grund  zur  Annahme,  daß  im  letzten  Augenblick  die  Pforte  nach- 
geben werde,  aber  wir  mußten  uns  doch  auch  auf  den  Fall  vorbereiten, 
daß  es  nicht  geschehe.  Am  8.  Dezember  schiffte  ich  mich  an  Bord 
eines  kleinen,  vorher  gemieteten  Kauffahrers  ein.  Meine  Frau  be- 
gleitete mich.  Wir  hatten  zahlreiche  Gefährten:  Sekretäre,  Attaches, 
Konsuln,  die  Dolmetscher  und  die  Dienerschaft.  Ein  weiter  Vfeg 
mußte  durch  die  Straßen  der  Stadt  zurückgelegt  werden.  Es  war 
schon  dunkel,  als  wir  aufbrachen,  ein  starker  Nordwind  und  heftiger 
Regen  hielt  uns  die  Straßen  frei  und  so  konnten  wir  unbehindert 
abfahren.  Der  WMnd  war  stark  aber  günstig.  Der  französische 
Botschafter,  der  ein  oder  zwei  Stunden  vor  uns  die  Anker  gelichtet 
hatte,  wurde  von  uns  überholt  und  wir  passierten  als  erste  die 
Dardanellen." 

Ribeaupierre  hat  mit  Gefolge  und  zahlreichen  Russen  erst  am 
16.  Dezember  Konstantinopel  verlassen;  er  nahm  seinen  Kurs  nach 
Triest,  weil  widrige  Winde  ihm  den  Weg  nach  Odessa  ver- 
sperrten. Er  vereinigte  sich  später  auf  Befehl  von  Petersburg  her 
mit  seinen  französischen  und  englischen  Kollegen  in  Korfu.  Die 
Pfortesetzte  nach  Abreise  der  Botschafter  eine  Kommission  unter  Vorsitz 


Canning  Cap.  XII,  wo  die  letzten  Tage  der  Knsis  sehr  anschaulich  geschilderl 
werden. 


Kapitel  Yil.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbrach  des  Krieges.        219 

des  Reis-Efendi  zum  Schutz  der  Fremden  eia,  nahm  aber  zugleich 
zahlreiche  Ausweisungen  vor.  Namentlich  die  ihr  verdächtigen 
„Jonier"  mußten  die  Stadt  verlassen  und  wurden  auf  vier  dazu 
gemieteten  Schiffen  nach  dem  Archipel  geschafft.  Daß  der  Ver- 
dacht der  Pforte  gegen  die  Griechen  nicht  unbegründet  war,  zeigten 
zwei  glücklich  vereitelte  Versuche,  die  türkischen  Kriegsschiffe  durch 
Brander  im  Hafen  von  Eonstantinopel  in  Flammen  zu  setzen. 

Am  15.  Dezember  führte  die  Pforte  bei  den  drei  Höfen  Be- 
schwerde über  die  Botschafter,  weil  diese  unzulässige  Forderungen 
gestellt  und,  anstatt  die  Gegenvorstellungen  des  Divans  zur  Kennt- 
nis ihrer  Höfe  zu  bringen,  Konstantinopel  verlassen  hätten.  Einen 
ausdrücklichen  Befehl,  diesen  Schritt  zu  tun,  hätten  sie  nicht  vor- 
bringen können.  Daher  ließe  es  sich  bezweifeln,  ob  sie  wirklich 
im  Auftrag  ihrer  Höfe  handelten.  Dieser  Brief  habe  den  Zweck, 
die  wahre  Sachlage  den  Höfen  bekannt  zu  geben. 

Schon  vorher  aber  war  eine  Kundgebung  der  Pforte  an  die 
Ajans  von  Rumili  und  Natoli  ergangen,  die  der  russischen  Regie- 
rung den  äußeren  Anlaß  bot,  mit  der  Pforte  zu  brechen. 

Es  war  ein  Reskript  (Bayan-Nehme)  des  Sultans,  das  in  der 
Tat  einer  Herausforderung  gleichkam.  Es  begann  mit  der  folgen- 
den allgemeinen  Betrachtung:  „Wenn  es  wahr  ist,  daß,  wie  jeder- 
mann zugestehen  muß  der  mit  Vernunft  begabt  ist,  die  Musel- 
männer von  Natur  die  Ungläubigen  hassen,  so  ist  es  nicht  weniger 
gewiß,  daß  jene  die  geborenen  Feinde  der  Muselmänner  sind. 
Namentlich  aber  gilt  das  von  den  Russen,  deren  Reich  der  Haupt- 
feind der  hohen  Pforte  ist')."  Das  Charakteristische  dieser  Kund- 
gebung liegt  wohl  vornehmlich  darin,  daß  sie  alle  Zugeständnisse, 
die  seit  1821  den  christlichen  Mächten  von  der  Pforte  gemacht 
worden  seien,  namentlich  aber  die  Vereinbarungen  von  Akkerman, 
als  eine  politische  List  bezeichnete,  deren  Zweck  dahin  ging,  Zeit 
zu  gewinnen,  um  sich  zum  Kampf  gegen  die  Ungläubigen  vorzu- 
bereiten.  Auch  nach  dem  verräterischen  Überfall  von  Navarino 
habe  der  Sultan  an  sich  gehalten  und  sich  damit  begnügt,  von  den 
Vertretern  der  drei  Mächte  zu  verlangen,  daß  sie  endlich  aufhören 
sollten,  für  die  Griechen  einzutreten.    Er  habe  sogar,  um  Zeit  bis  zum 


')  Nach  der  DberseUung  von  Miltitz,  ein  etwas  abweichender  Text, 
der  die  Schärfen  zu  mildern  sucht,  bei  Prokesch-Osten  1.  1.  Vlll.  44,  Bd.  V 
S.  140  fiF. 


220        Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

Sommer  zu  gewinnen,  mit  ihnen  noch  verhandelt,  und  versprochen, 
den  Griechen,  wenn  sie  um  Gnade  bäten,  erhebliche  Vorteile  zu 
gewähren.  Aber  alles  sei  vergeblich  gewesen,  und  schließlich 
hätten  alle  drei  Gesandten  angezeigt,  daß  sie  fortziehen  würden. 

Hätte  er,  der  Sultan,  ihnen  nachgegeben  und  den  Griechen 
wirklich  die  Freiheit  geschenkt,  so  wäre  ein  Aufstand  der  Griechen 
in  Rumili  und  Natoli  die  sichere  Folge  gewesen,  und  nach  einem 
Jahre  oder  zwei  würden  sie  dann  das  großmütige  muselmännische 
Volk  unterjocht  haben.  Das  solle  nimmermehr  geschehen.  Alle 
Ungläubigen  seien,  wie  der  Koran  sage,  nur  ein  Volk,  aber  wenn 
sie  sich  gleich  alle  zusammentun  sollten,  um  ihre  Forderungen 
durchzusetzen,  so  würden  die  Moslems,  ohne  die  Zahl  der  Feinde 
zu  achten,  sich  alle  erheben,  um  geschart  um  die  Fahne  des 
Propheten  für  ihren  Glauben  zu  kämpfen.  Denn  es  sei  kein  Krieg 
um  die  Grenzen  des  Reiches.  Die  Ungläubigen  hätten  (wovor  Gott 
in  Gnaden  bewahre)  den  Plan  gefaßt,  die  Nation  der  Muselmänner 
von  dem  Antlitz  der  Erde  zu  vertilgen,  und  die  Religion  Moham- 
meds mit  F'üßen  zu  treten^).  Dieser  Krieg  werde  ein  National- 
und  Religionskrieg  sein  und  daraus  folge  die  Pflicht  für  jeden 
Muselmann,  ohne  Anspruch  auf  Sold  und  Gewinn,  für  Recht  und 
Glauben  zu  kämpfen  bis  zum  jüngsten  Tage!  „So  liegen  die  Dinge. 
Wer  von  Euch  noch  einen  Funken  von  Eifer  für  seinen  Glauben, 
für  sein  Heil  in  dieser  und  jener  Welt  hat,  der  schließe  sich  uns 
an  mit  Herz  und  Seele  und  entziehe  sich  keiner  Pflicht  des  Krieges. 
Gebt  ihr  Euch  ganz  dem  Besten  des  Reichs  und  der  Religion  hin, 
so  kommt  die  Hilfe  von  Gott*"). 


^)  Im  österreichischen  Translat  weit  schwächer:  „tendraient  a  renyerser 
notre  religioa  et  notre  empire."^ 

3)  Text  von  Miltitz:  Äctuellement  qu'on  yous  a  expose  la  Situation  des 
choses,  que  tous  ceux  qui  ont  quelque  ^tincelle  de  zele  pour  la  foi  et  pour 
leur.  salut  dans  ce  monde-ci  et  dans  Tautre,  s^unissent  ensemble  de  coeur  et 
d*äme,  ne  se  refuseut  a  aucun  Service,  et  se  devouent  entierement  pour  lo  bien 
de  Tempire  et  de  la  religion.     Et  Paide  vient  de  Dieu. 

Text  von  Prokesch-Osten:  Tel  ctant  Tetat  v^ritable  des  choses,  il  est 
certain  que  tout  homme  qui  a  conserve  dans  son  äme  la  moindre  trace  de 
sentiment  religieux  confirmera  de  cocur  et  d'äme  le  pacte  qui  le  lie  a  la  de- 
fense de  tout  ce  qui  doit  lui  etre  eher,  et  consacrera  a  cette  defense  les  forces 
et  les  moyens  dont  il  dispose.  Dieu  est  notre  soutien.  Neben  dem  Stilgefühl 
der  Dragomans  spielt  auch  die  politische  Tendenz  in  den  Obersetzungen 
türkischer  Aktenstücke  eine  sehr  merkliche  Rolle. 


Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.         221 

AU  später  der  preußische  DragomanBosgiowitsch  deinReis-Efendi 
wegen  dieser  Kundgebung  Vorstellungen  machte,  soll  seine  Antwort 
gewesen  sein:  „Dieses  Dokument  gehe  die  fremden  Mächte  nichts 
an,  so  müsse  man  zu  dem  türkischen  Volke  sprechen.'^  Das 
war  vom  türkischen  Standpunkte  aus  gewiß  richtig  und  der  Auf- 
ruf eine.  Notwendigkeit,  wenn  Sultan  Mahmud,  wie  es  in  der  Tat 
der  Fall  war,  an  dem  Entschluß  festhielt,  das  Londoner  Protokoll 
nicht  zur  Richtschnur  seiner  Politik  den  Griechen  gegenüber  zu 
nehmen. 

Daß  aber  Rußland  als  der  eigentliche  Gegner  bezeichnet  wurde, 
war  fast  selbstverständlich.  Nach  allem  was  vorhergegangen  war, 
hatte  die  Vorstellung,  daß  die  Gefahr  von  dieser  Seite  drohe,  in 
der  europäischen  wie  in  der  asiatischen  Türkei  auch  im  Volke 
Fuß  gefaßt  und  selbst  Navarino  erschien  vornehmlich  als  der  Aus- 
druck russischer  Feindseligkeit.  Den  Russen  schrieb  man  die  Er- 
regung des  griechischen  Freiheitskampfes  und  überhaupt  alles  Un- 
heil zu,  das  die  Türkei  seit  bald  einem  Dezennium  zu  tragen 
hatte.  Das  war  nicht  nur  die  Meinung  des  Sultans  und  seiner 
Staatsmänner,  sondern  auch  das  instinktive  Gefühl  der  Massen. 
Sultan  Mahmud  aber  trug  den  Haß  gegen  den  russischen  Gegner 
in  rachsüchtigem  Herzen.  Wenn  er  1826  in  Akkerman  hatte  nach- 
geben müssen,  so  war  es  geschehen,  weil  er  nicht  anders  konnte, 
und  weil  die  große  Frage  der  Umbildung  des  osmanischen  Kriegs- 
wesens ihm  für  die  Zukunft  des  Islam  wichtiger  schien,  als  alles 
übrige.  Er  hatte  gehofft,  Zeit  zu  gewinnen.  Zehn  Jahre  Ruhe 
sollten  die  schmerzlichen  Zugeständnisse,  die  er  widerwillig  ge- 
macht hatte,  ihm  eintragen.  Bis  dahin  wollte  er  die  Griechen 
unterworfen  oder  vernichtet,  sein  Heer  nach  dem  Muster,  das  die 
Gegner  ihm  boten,  umgebildet  haben  und  dann  die  Verträge,  die 
sie  ihm  aufgenötigt  hatten,  ihnen  zerrissen  vor  die  Füße  werfen. 
Die  Ereignisse  von  Navarino  hatten  ihm  diesen  Plan  zerstört, 
und  er  stand  nunmehr  vor  der  Notwendigkeit,  den  Krieg,  den 
er  ganz  richtig  als  unvermeidlich  erkannte  und  dem  er  ohne  Preis- 
gebung seiner  Autorität  im  Reich  und  seiner  Selbständigkeit  dem 
Auslande  gegenüber  nicht  entrinnen  konnte,  auf  sich  zu  nehmen. 
Aus  dieser  Einsicht  erklären  sich    alle  Schritte    des  Sultans    nach 


Übrigens  bemerkt  Miltitz  ansdrücklich,  daß  das  im  diplomatischen  Korps 
zirkulierende  Exemplar  des  Aufrufes  nicht  einmal  vollständig  gewesen  sei. 


222         Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbrach  des  Krieges. 

Navarino.  Er  hoflfte  dabei  von  Österreich,  das  ja  seit  1821  stets 
die  Rolle  des  besten  Freundes  und  Ratgebers  der  Türkei  gespielt 
hatte,  Unterstützung  zu  finden,  und  rechnete  anderseits  darauf, 
England  von  Rußland  und  Frankreich  zu  trennen.  Auch  sind 
diese  Hoffnungen  nicht  als  chimärisch  zu  bezeichnen.  Am  8.  Januar 
1828  hatte  Wellington,  der  seit  dem  Vertrage  vom  6.  Juli  1827  als 
ein  entschiedener  Widersacher  der  russischen  Politik  gegenüberstand 
und  mit  dem  Botschafter  Fürsten  Lieven  und  seiner  Gemahlin  ver- 
feindet war,  ein  Ministerium  mit  Lord  Aberdeen  als  Minister  des 
Auswärtigen  gebildet,  aus  dem  die  alten  Freunde  Cannings  aus- 
scheiden mußten,  and  die  Rede,  mit  der  er  sein  erstes  Parlament 
eröffnete,  hatte  die  Politik,  die  zur  Schlacht  bei  Navarino  führte, 
ausdrücklich   verleugnet. 

Aber  die  Nachwehen  der  großen  wirtschaftlichen  Krisis  der 
Jahre  1825  und  1826')  machten  sich  immer  noch  drückend  fühl- 
bar und  zudem  wurde  das  Interesse  Wellingtons  durch  innere 
Probleme,  speziell  von  der  wiederauftauchenden  Frage  der  Katho- 
likenemanzipation')  so  stark  in  Anspruch  genommen,  daß  ihm 
große  auswärtige  Verwicklungen  im  höchsten  Grade  unerwünscht 
sein  mußten.  Dazu  kamen  dann  die  portugiesischen  Schwierig- 
keiten. Die  Haltung  Englands  während  der  ganzen  orienta- 
lischen Krisis  ist  dadurch  beeinflußt  worden.  Wellington  hat 
mit  der  Feder,  nicht  mit  den  Machtmitteln  Englands  die  Pforte 
zu  stützen  versucht,  so  daß  alle  Hoffnungen,  welche  die  Pforte  auf 
ihn  setzte,  zuschanden  wurden*).  Ungünstig  für  die  Türkei  war 
es  ferner,  daß  in  Frankreich  am  4.  Januar  1828  das  Ministerium 
Villele  zusammenbrach  und  durch  das  liberale  Kabinett  Mar- 
tignac  ersetzt  wurde,  in  dem  La  Ferronnays,  der  Freund  Nikolais, 


')  Tugan  ßaranowski:  Studien  zur  Theorie  und  Geschichte  der  Handels- 
krisen in  England.  Jena  1901  S.  84.  Schöler  in  seinen  Relationen  weist 
mehrfach  auf  diese  inneren  Schwierigkeiten  Englands  hin. 

')  Die  Katholikenemanzipations-Bill  war  zwar  im  Unterhause  durchge- 
gangen, stieß  aber  bei  den  Lords  auf  heftigen  Widerstand. 

')  Brief  der  Fürstin  Lieven  an  ihren  Bruder  Alexander  Benkendorf  von 
16./28.  März  1828.  „England  is  a  coward,  and  nothing  less.  She  is  afraid  to 
go  with  US,  afraid  to  go  against  us,  and  she  thinks  herseif  safe  by  holding 
mid-way  between  her  two  fears.  The  attitude  is  not  very  dignified  for  her, 
but  it  is  not  harmfull  to  us,  and  that  is  the  essential  matter.*  Letters  of  Do- 
rothea Princess  Lieven.     London  1902,  S.  125. 


Kapitel  VII.     V^on  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.         223 

das  Ministeriutn  des  Auswärtigen  übernahm.  Österreich  endlich 
stand  zwar  nach  wie  vor  mit  all  seinen  Sympathien  auf 
türkischer  Seite,  aber  direkte  Hilfe  konnte  und  wollte  es  nicht 
bieten.  Metternich  hat  durch  eine  Depesche,  die  er  am  6.  Januar 
1828  an  den  Großvezier  richtete,  noch  einmal  versucht,  die  Pforte 
zu  Zugeständnissen  zu  bewegen,  um  weiteren  Maßregeln  der  Ver- 
bündeten vorzubeugen  und  wenn  irgend  möglich  einen  Krieg  zu 
verhüten;  aber  schon  Ende  des  Monats  stand  fest,  daß  diese  Be- 
mühungen keinen  Erfolg  haben  würden.  Alle  Wahrscheinlichkeit 
sprach  dafür,  daß  die  Pforte  nur  auf  die  eigenen  Machtmittel  im 
Kampf  gegen  ihre  Feinde  werde  rechnen  können.  Auch  zögerte 
sie  nicht  mit  ihren   Vorbereitungen. 

Schon  vor  der  Abreise  der  Gesandten  hatten  die  Rüstungen 
begonnen  und  die  Versammlung  der  Ajans  hatte  nur  bestätigt,  was 
schon  lange  dem  Sultan  feststand:  daß  nunmehr  der  Krieg  den 
Streit  zwischen  den  Europäern  und  der  Pforte  entscheiden  solle. 
Selbst  wenn  alle  Mächte  gegen  ihn  zusammenständen,  werde 
er  nicht  nachgeben').  Es  kann  aber  nicht  zweifelhaft  sein, 
daß  trotz  des  Hasses,  mit  dem  man  auf  Rußland  blickte,  weder 
religiöser  Fanatismus  noch  Kriegsbegeisterung  bei  der  Bevölkerung 
vorhanden  waren.  Sie  fügte  sich  dem  harten  Despotismus  des 
Großherrn  und  zog  ins  Feld,  weil  es  kein  Entrinnen  gab. 
Es  war,  abgesehen  von  den  regulären  Truppen,  elendes  bettel- 
haftes Volk,  das  jetzt  zusammenströmte;  die  Provinzialjanitscharen 
zeigten  sich  unbotmäßig  und  unzuverlässig,  zumal  zum  Seraskier 
eben  jener  Hussein  Pascha  ernannt  wurde,  der  ihre  Brüder  1826 
so  erbarmungslos  niedergemetzelt  hatte.  Der  Sultan  selbst  aber 
war  ihnen  verhaßt  als  ein  gottloser  Neuerer.  Trotzdem  mußten 
sie  seinen  Fahnen  folgen.  Als  Mitte  Mai  die  Pforte  ihre  Ausrüstung 
beendet  hatte,  rückten  aus  dem  Lager  von  Daud  Pascha  mit  dem 
Seraskier  10000  Reiter  und  40  Geschütze,  während  Halil  Pascha 
6000  Mann  regulärer  Infanterie  führte.  An  europäischen  Milizen 
und  von  der  waffenfähigen  Bevölkerung  Bulgariens  wurden  gegen 
20000  Mann  aufgebracht,  an  asiatischen  Milizen  zu  Fuß  und  zu 
Pferde  gegen  15000  Mann.  Die  Albaner  hatten  jede  Leistung  ver- 
weigert.    Das  gab  für  den  europäischen  Kriegsschauplatz  in  Summa 


^)  Bericht  des  franzosischen  Botschaftssekretärs  Degranges  vom  22.  Januar 
1828.    Paris,  Depot  des  Äff.  etr.  Uussie. 


224         Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

etwa  ÖOOOO  Mann,  die  alle  die  Direktion  auf  Schumla  erhielten. 
Außerdem  standen  15000  Mann  in  Widdin  und  ebenso  viele  in  den 
Donaufestungen ').  Mit  diesen  Truppen,  die  nach  den  Erfahrungen 
früherer  Kriege  ausreichend  erschienen,  wollte  man  die  90  deutsche 
Meilen  lange  Linie  Varna,  Schumla,  Tirnowo,  Widdin,  Oreowa 
verteidigen.  Die  Stellung  der  Türken  war  eine  rein  defensive. 
Moldau  und  Walachei  überließ  man  dem  Feinde,  wobei  einerseits 
auf  die  Eifersucht  Österreichs  gegen  Kußland  gerechnet  wurde,  an- 
dererseits die  Erwägung  mitgespielt  zu  haben  scheint,  daß  die 
Aufstellung  des  linken  türkischen  Flügels  bei  Widdin  die  Russen 
nötigen  werde,  die  ganze  Walachei  zu  besetzen  und  dadurch  ihre 
Kräfte  »u  zersplittern.  Die  Pforte  hatte  außerdem  eine  Flotille 
fast  unbrauchbarer  Kanonenboote  auf  der  Donau  und  die  Reste  der 
türkisch-ägyptischen  Flotte,  61  Fahrzeuge,  darunter  nur  zwei  Li- 
nienschiffe und  vier  Fregatten,  sowie  28  ägyptische  Transportschiffe. 
Admiral  Rigny  konnte  mit  Leichtigkeit  diese  geringe  Macht  ver- 
hindern, irgend  welche  Operationen  vorzunehmen;  in  das  Schwarze 
Meer  aber  durfte  sie  sich  nicht  hinauswagen,  so  daß  sie  so  gut 
wie  nicht  existent  war.  Sie  lag  in  der  Bucht  von  Bujukdere,  ein 
kümmerlicher  Schutz  der  Hauptstadt.  Auch  vom  Pascha  von 
Ägypten  war  Hilfe  nicht  zu  erwarten.  Zwar  Ibrahim  Pascha  mit 
seinem  Heere  war  nach  wie  vor  in  Morea,  aber  es  war  nur  eine 
Frage  der  Zeit,  wann  er  die  Halbinsel  würde  räumen  müssen. 

Schon  am  9.  Februar  1828  warMehemed  Ali  aufgefordert  worden, 
ihn  abzurufen,  und  am  3.  März  hatte  der  Lord-Kommissar  der 
Jonischen  Inseln,  Sir  Frederik  Adam,  eine  englische  Fregatte  nach 
Navarino  geschickt,  um  Ibrahim  mitzuteilen,  daß  er  Morea  zu  ver- 
lassen habe.  Der  aber  erwiderte,  daß  er  nur  nach  den  Befehlen 
Mehemed  Alis  handeln  könne.  Er  ist  erst  später,  als  die  Fran- 
zosen unter  Admiral  Maison  in  Morea  landeten,  abgezogen. 

Über  die  Erwägungen,  die  in  Rußland  zur  Feststellung  eines 
Feldzugsplanes    führten,    sind   wir  nur  schlecht  unterrichtet.     Der 

')  Moltke,  Der  russisch-türkische  Feldzug  in  der  europäischen  Türkei. 
II.  Aufl.  Berlin,  G.  Reimer  1877,  gibt  die  gesamte  disponible  Kriegsmacht  der 
Türkei  auf  zirka  180000  Mann  an.  Unsere  Zahlen  berechnen  die  zu  Anfang 
der  Kampagne  disponiblen  Truppen.  Das  Werk  Moltkes  wurde  1876  Tom 
Obersten  Schilder  ins  Kussische  übersetzt  und  mit  wertvollen  Anmerkungen 
versehen,  die  auf  das  Archiv  des  russischen  Generalstabes  fundiert  sind  und 
stets  Berücksichtigung  verdienen. 


Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.        225 

General  Diebitsch  hatte  1821  dem  Kaiser  Alexander  einen  Entwurf 
vorgelegt,  der  Konstautinopel  zum  Ziel  nahm  und  außerordentlich 
kühn  gedacht  war.  Er  wollte  in  einem  Feldzuge  vom  März  bis 
zum  1.  August  KoDstantinopel  unter  Mitwirkung  der  Flotte  nehmeo, 
während  gleichzeitig  Jermolow  Erzerum  und  Trapezunt  bewältigen 
sollte.  Als  1826  infolge  des  russischen  Ultimatums  die  Gefahr 
eines  Krieges  wieder  drohte,  hatte  der  Prinz  Eugen  von  Württem- 
berg*) einen  Operationsplau  auf  Wunsch  des  Kaisers  ausgearbeitet, 
bei  dessen  Überreichung  er  ausdrucklich  bemerkte,  „daß  Zeit  und 
Umstände  manche  Bestimmungen  verändern  könnten  und  demnach, 
was  heute  gut  sei,  morgen  nichts  mehr  tauge,  überhaupt  aber  in 
einem  Kriege,  in  dem  man  nicht  erobern,  sondern  nur  einen 
wesentlichen  Zweck  erreichen  wollte,  alles  auf  schnelle  Entschei- 
dung, Imponieren  und  Zuvorkommen  fremder  Einsprache  durch 
rasche  Erfüllung  des  vorgesetzten  Zweckes  ankomme.  Diese  An- 
sichten" —  so  fährt  der  Prinz  fort  —  „und  zumal  die  von  mir 
vorgeschlagenen  Mittel  fanden  sich  in  vollkommener  Überein- 
stimmung mit  denen,  welche  der  Chef  des  kaiserlichen  General- 
stabes, General  Diebitsch,  ohne  mein  Vorwissen  auch  von  seiner 
Seite  vorgelegt  hatte;  da  mir  aber  die  Truppenzahl  von  selten  des 
Kaisers  bereits  deünitiv  bestimmt  war,  so  hatte  ich  hierauf  meine 
Berechnungen  gefußt,  Diebitsch  dagegen,  wie  ich  das  ganz  ver- 
nünftig fand,  beinah  ein  Drittel  mehr  gefordert.  .  .  .  Mir  war  bei 
dem  bevorstehenden  Feldzuge  das  Kommando  der  vier  Divisionen 
bestimmt,  welche  bei  Ismail  über  die  Donau  gehen  und  von  dort 
aus  den  ersten  Schlag  zu  einer  Zeit  ausführen  sollten,  wo  die 
Türken  durchaus  noch  keine  Verteidigungsmaßregeln  getroffen 
haben  konnten.  Im  Fall  Graf  Wittgenstein  durch  den  damals 
vermuteten  Abgang  des  Generals  Sacken  zum  Kommando  der 
ersten  Armee  berufen  worden  wäre,  sollte  mir  überdies  das  der 
zweiten  zufallen."  Auch  1828  wurde  Prinz  Eugen  nach  Petersburg 
berufen,  aber  von  einem  Kommando  für  ihn  war  weiter  nicht  die 
Rede,  seine  Anstellung  war  in  eine  Begleitung  des  Kaisers  umge- 
wandelt und  um  die  Feststellung  des  Kriegsplanes  wurde  er  nicht 
weiter  befragt.  Dagegen  erfuhr  er,  daß  statt  der  früher  bezeich- 
neten Truppenzahl  „unendlich  weniger"  aufgeboten  werden  sollte. 


^)  Nachgelassene   Korrespouilenz   zwischen  Herzog  Eugen  von  Württem- 
berg und  General  von  HoiTmann.     Kannstadt  1883.     Brief  vom  11.  April  1829. 

ScbiemanD,  Geschichte  KuBIands.  II.  15 


226        Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

und  daß  von  seinen  Vorschlägen  nur  „das  Tadelhafteste",  auf  die 
veränderten  Verhältnisse  nicht  mehr  Anwendbare,  übernommen 
worden  war.  Der  neue  Feldzugsplan  aber  ging  auf  Diebitsch  zu- 
rück, der,  um  sich  den  Anschauungen  des  Kaisers  anzupassen,  die 
kühnen  Pläne,  mit  denen  er  sich  1821  trug,  völlig  aufgegeben 
hatte.  „Euere  Majestät  wissen,"  —  schrieb  er  am  23.  März  1828 
dem  Kaiser  —  „daß  ich  eine  weitere  Vergrößerung  Kußlands  nie- 
mals für  nützlich  gehalten  habe.^ 

Schließlich  ist  der  endgültige  Feldzugsplan  durch  einen  Kom- 
promiß zwischen  den  Anschauungen  Wittgensteins,,  dessen  Er- 
nennung zum  Oberkommandierenden  definitiv  beschlossen  wurde, 
und  denen  Diebitschs  festgesetzt  worden.  Im  Grunde  ist  es 
der  Kaiser  gewesen,  der  in  allen  entscheidenden  Fragen  den 
Ausschlag  gab.  Wittgensteins  Generalstabschef,  General  Kisselew, 
der  in  Petersburg  mit  Diebitsch  verhandelte,  hat  ohne  Zweifel 
gleichfalls  auf  die  Feststellung  des  Feldzugsplanes  eingewirkt, 
aber  nicht  den  Einfluß  besessen,  die  Gedanken  des  Feldmarschalls 
durchzusetzen.  Wittgenstein  war  der  Meinung,  daß  es  eine  halbe 
Maßregel  sei,  wenn  man  sich  zunächst  nur  auf  die  Besetzung  der 
Donaufürstentümer  beschränke.  Man  müsse  energisch,  nicht  tastend 
vorgehen  und  daher  erstens  die  Truppen  so  aufstellen,,  daß  Pruth 
und  Donau  gleichzeitig  überschritten  werden  könnten,  zweitens 
Tultscha  und  Isaktschi  nehmen,  Braila  belagern  und  das  Land  bis 
zum  Trajanswall  besetzen;  drittens  rasch  gegen  Bukarest  marschieren 
und  es  okkupieren,  weil  sonst  die  Türken  die  Donau  überschreiten 
und  das  Land  verwüsten  würden;  viertens  starke  Reserven  bereit 
halten,  um  die  aktive  Armee  zu  unterstützen.  Solle  endlich  fünftens 
das  alles  gleichzeitig  geschehen,  so  könne  er  mit  seinen  Operationen 
nicht  vor  dem  13./25.  Mai  beginnen,  er  werde  aber  trotzdem  in 
den  ersten  Junitagen  am  Fuße  des  Balkans  stehen,  was  ganz  un- 
erläßlich sei  *).     Kisselew  war  außerdem  beauftragt,  die  Aufstellung 


^)  Kisselew  war  Tom  23.  März  bis  zum  13.  April  in  Petersburg  und 
arbeitete  yorDehmlich  mit  Diebitsch,  aber  auch  einigemal  mit  dem  Kaiser 
und  mit  Nesselrode.  Sablotzki-Dessjätkowski:  Graf  Kisselew  und  seine 
Zeit.  Bd.  1.  Petersburg  1882.  Die  Korrespondenz  Wittgensteins  benutze 
ich  nach  den  Originalen,  die  Fürst  Chlodwig  Hohenlohe  aus  Werki  in  sein 
Privatarchiv  überführte.  Diebitschs  Feldzugsplan  hat  außerdem  dem  General- 
major Berg  vorgelegen,  der  darauf  hinwies,  daß  der  späteste  Termin  für  die 
Überschreitung    der   Donau    der    10.  Mai    sei.     Beginne    man   den    Krieg    am 


Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.         227 

einer  Armee  von  160000  Mann  zu  verlangen,  da  30  bis  40000 
Mann  zur  Besetzung  von  Moldau  und  Walachei  unerläßlich  seien; 
aber  der  Kaiser  und  Diebitsch  bestanden  darauf,  daß  106000  Mann 
ausreichen  müßten  und  dabei  ist  es  geblieben*).  Das  Schlimmste 
aber  war,  daß  der  Kaiser  beschlossen  hatte,  den  Feldzug  mitzu- 
machen, ohne  zugleich  das  Oberkommando  zu  übernehmen,  und 
Während  Wittgenstein  mit  seinem  Generalstabschef  Kisselew  die 
nominelle  Leitung  und  die  tatsächliche  Verantwortung  für  die  bevor- 
stehenden Operationen  tragen  sollte,  sich  in  dem  Grafen  Diebitsch 
als  Chef  des  kaiserlichen  Generalstabes  einen  Berater  an  die  Seite 
zu  setzen,  der  ihm  als  Autorität  galt,  der  aber  in  Wirklichkeit 
sich  geschmeidig  den  Absichten  und  Anschauungen  des  Kaisers  an- 
zupassen verstand,  und  dessen  Ehrgeiz,  durch  den  Namen  des 
Kaisers  gedeckt,  von  dem  bedenklichsten  Einfluß  auf  den  Gang 
der  militärischen  Operationen  werden  konnte  und  auch  tatsächlich 
wurde').  Eine  Einheitlichkeit  des  Kommandos  war  damit  im 
Prinzip  ausgeschlossen.  Überhaupt  gewinnen  wir  den  Eindruck, 
daß  den  wichtigen  Entscheidungen,  die  bis  zur  russischen  Kriegs- 
erklärung am  26.  April  getroffen  wurden,  ein  Intrigenspiel  neben- 
hergeht, das  namentlich  in  allen  Personalfragen  seine  schädlichen  Wir- 
kungen zeigte.  Am  kaiserlichen  Hof  bekämpften  sicheine  „russische^ ') 
und  eine  „deutsche''  Partei,  wobei  die  letztere,  die  keineswegs  aus- 
schließlich aus  Deutschen  bestand,  die  stärkere  war,  weil  ihre  Ver- 
treter dem  Kaiser  zunächst  standen.  Man  bekommt  eine  Vorstellung 
von  den  herrschenden  Stimmungen  und  Verstimmungen,  wenn  man 


1./13.  April  und  überschreite  man  die  Donau  am  10./22.  Mai,  so  lasse  sich 
der  Krieg  1828  beendigen. 

>)  Schilder  gibt  nach  den  Akten  des  Generalstabes  einen  nominellen  Be- 
stand von  113920  Mann  mit  884  Geschützen  an.  Kisselew  106000  Mann  mit 
468  Geschützen,  darunter  48  Belagerungsgeschütze,  Moltke  rund  100000  Mann. 
Die  Flotte  im  Schwarzen  Meer  bestand  aus  16  Linienschiffen  mit  1254  Ge- 
schützen, 6  Fregatten  mit  286  und  7  Korvetten  mit  139  Geschützen.  Sie  er- 
hielt unter  Admiral  Menschikow  den  Befehl,  Anapa  zu  nehmen. 

^  Prinz  Eugen  erteilt  Auskunft  darüber  in  dem  bereits  iangezogenen  Briefe 
an  General  von  Hoffmann :  n  Von  da  ab  (d.  h.  vom  Beginn  des  Feldzuges)  bis  Ende 
des  Monats  Juli  bei  Schumla  geschah  nun  nichts,  als  das  widersinnigste  Zeug, 
und  niemand  war  darüber  anzuklagen,  als  immer  Diebitsch,  der  jeden  bei  der 
Armee  Geltenden  zu  verdrängen  suchte.*' 

')  Über  die  Stimmung  dieser  .russischen  Partei*  vergl.  in  der  Anlage 
den  Brief  La  Ferronays'  an  Mortemart  vom  7.  Juli  1828. 

15* 


228        Kapitel  Yll.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

im  Tagebuch  des  Geheimrats  Divow,  der  im  MiDisterium  des  Aus- 
wärtigen der  Stellvertreter  Nesselrodes  während  dessen  Abwesenheit 
zu  sein  pflegte,  unter  dem  12.  April  die  folgende  Aufzeichnung  liest: 
„Wer  umgibt -den  Kaiser?  Der  anständige,  aber  charakterlose 
Nesselrode,  den  Alexander  zur  Passivität  erzogen  hat.  Einfluß  auf 
Nesselrode  haben:  seine  Frau  als  Diktator,  der  Direktor  des  asiati- 
schen Departements  Rodofinikin,  der  Nesselrodes  persönliche  An- 
gelegenheiten leitet,  Senator  Poletika,  der  ihm  das  Geklatsch  in 
Stadt  und  Hof  sammelt.  Der  Kaiser  ist  ihm  nicht  wegen  seiner 
Fähigkeiten  geneigt,  sondern  wegen  der  Freundschaft  Alexander 
Golitzyns,  der  dem  Kaiser  der  Liebste  ist,  seit  der  berühmten  Szene 
im  Reichsrat  nach  dem  Tode  Kaiser  Alexanders.  Seit  Graf 
Kotschubej  zum  Vorsitzenden  des  Reichsrats  ernannt  ist,  hat  sich 
Graf  Nesselrode  ganz  seinem  Einfluß  ergeben.  .  .  .  Kotschubej  ist 
keineswegs  von  Natur  besonders  begabt,  aber  er  hat  im  Lauf  der 
Zeit  die  verschiedensten  Stellungen  bekleidet  und  dadurch  große 
Geschäftskunde  erworben.  Er  ist  höchst  ehrgeizig,  und  die  Er- 
nennung zum  Präsidenten  des  Reichsrats  hat  ihm  vollends  den 
Kopf  verdreht.  Aber  er  ist  von  großem  Einfluß  auf  den  Kaiser. 
Die  Funken  von  Geist  und  Einsicht,  die  er  gelegentlich  zeigt,  sind 
auf  Rechnung  seines  Verwandten,  des  Generals  Jlarion  Wassiljewitsch 
Wassiltschikow,  zu  setzen,  der  auch  den  Petersburger  General- 
gouverneur Kutusow  beherrscht. 

Der  Chef  der  Gendarmerie  und  der  Geheimpolizei,  Benkendorf, 
ist  auch  in  den  Augen  des  Kaisers  von  großem  Gewicht.  Man 
hält  ihn  für  einen  anständigen  Menschen:  ich  wünsche  von 
ganzem  Herzen,  um  des  allgemeinen  Bestens  willen,  daß  es  wahr 
sein  möge. 

Der  Chef  des  Generalstabes,  Diebitsch,  genießt  mit  vollem 
Recht  das  Vertrauen  des  Monarchen.  Man  wollte  ihn  beseitigen 
und  an  seine  Stelle  den  Grafen  Peter  Alexandrowitsch  Tolstoi 
setzen,  der,  als  die  Truppen  Petersburg  verließen  und  während 
Diebitschs  Abwesenheit  in  Persien,  ihn  vertreten  hat. 

Der  Kriegsminister,  Graf  Tschernyschew,  ist  höchst  einfluß- 
reich, seit  er  am  Prozeß  in  der  Sache  der  Verschworenen  vom 
14.  Dezember  so  tätigen  Anteil  genommen  hat.  Er  ist  sehr  be- 
fähigt, aber  man  liebt  ihn  nur  wenig  und  man  hat  alle  denkbaren 
Anstrengungen  daran  gesetzt,  um  seinen  Einfluß  zu  paralysieren. 
Da  Diebitsch  sich    als  Chef  des  Generalstabes    in   seiner  Stellung 


Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.        229 

behauptet  hat,    so   hat  Tschernyschew  sein  Ministerium   mit  den- 
selben Beschränkungen  übernommen,  wie  sein  Vorgänger. 

Das  sind  die  einflußreichsten  Personen.  Der  Kaiser  sieht 
täglich  den  Fürsten  Wolkonski '),  den  Füraten  Golitzyn,  den  Grafen 
Diebitsch,  den  Petersburger  Gouverneur  und  den  Ober- Polizeimeister.*' 

Von  diesen  Persönlichkeiten  gehörten  Alexander  Iwanowitsch 
Tschernyschew  und  Graf  Peter  Alexandrowitsch  Tolstoi,  der  Chef 
des  Stabes  der  Militärkolonien  und  während  der  Abwesenheit  des 
Kaisers  1828  Kommandant  von  Petersburg  und  Kronstadt,  dessen 
Trägheit  sprichwörtlich  wurde'),  zur  russischen  Partei,  die  zudem 
eine  wesentliche  Stütze  im  Minister  des  Innern,  Sakrewski,  fand, 
der  mit  seiner  Stellung  zugleich  die  eines  Generalgouverneurs  von 
Finland  einnahm.  Er  war  ein  ehrgeiziger  Nationalist,  der  erste, 
der  den  Versuch  machte,  Finland  zu  russifizieren.  Auch  kannte 
er  nur  eine  Sprache  und  seine  Bildung  war  wenig  ausreichend. 
Aber  er  war  ein  großer  Arbeiter  und  ein  tüchtiger  Beamter.  Auch 
Kisselew  ist  dieser  Gruppe  anzuschließen,  die  in  Jermolow  ihren 
bedeutendsten  Kopf  verloren  hatte.  Außerhalb  beider  Gruppen  stand 
der  allgemein  gehaßte  Nachfolger  Araktschejews  in  der  Leitung  der 
Militärkolonien,  General  Kleinmichel,  den  die  Überzeugung  des 
Kaisera  hielt,  daß  er  ein  zuverlässiges  und  gefürchtetes  Werkzeug 
seines  auf  Erhaltung  der  Militärkolonien  gerichteten  Willens  sei. 
Aber  dem  Mann  fehlte  jeder  große  Zug  und  seine  nächsten  Unter- 
gebenen, wie  General  W' itt,  der  Chef  der  Militärkolonien  des  Südens, 
hatten  unter  seiner  Herrschsucht,  die  sich  mit  nicht  ausreichender 
Sachkenntnis  kombinierte,  viel  zu  leiden').  Dagegen  hielt  der 
Kaiser  einen  so  bedeutenden  Mann,  wie  der  Admiral  Mordwinow 
es  war,  von  sich  fern.  An  ihm  haftete  die  Erinnerung,  daß  die 
Dekabristen  ihn  auf  den  Schild  hatten  heben  wollen,  und  das  wurde 
ihm  ebensowenig  verziehen  wie  dem  General  Jermolow.  Nur  eine 
so  geschmeidige  und  im  Grunde  charakterlose  Natur  wie  Speranski, 


')  Peter  Michailowitsch,  Minister  des  kaiserlichen  Hofes.  Auch  der  General 
Adlerberg  ist  hier  anzuschließen. 

^)  Er  pflegte  alles  Geschäftliche  mit  der  Motivierung  liegen  zu  lassen: 
3to,  öaTTOiiiKa,  n-icBoe  Ji'hjio  n  uoprb  an  uto  oho  nponesKHTb  JiHiiiuift 
M'bCHUb,  d.  b.  „Auf  diese  Sache,  mein  Freund,  kann  man  spucken,  es  kommt 
den  Teufel  darauf  an,  daß  sie  noch  einen  Monat  liegen  bleibt  (Korff,  Memoiren 
ad.  1844. 

')  Vgl.  dafür  die  Korrespondenz  zwischen  Diebitsch  und  Witt. 


230         Kapitel  YII.    Von  XaTarino  bis  zum  Ausbrach  des  Krieges. 

verstand  das  Mißtrauen  des  Kaisers  zu  überwinden.  Die  Charaktere 
mußten  weichen  und  die  biegsamen  aber  formgewandten  Mittel- 
mäßigkeiten ruckten  in  den  Vordergrund. 

Zu  alledem  kam  noch  der  Einfluß  iu  Personenfragen,  der  vom 
Großfürsten  Michail  und  von  der  Kaiserin-Mutter  ausging,  endlich 
die  gelegentliche  Einwirkung  der  zahlreichen  jungen  Fingeladjutanten, 
die  den  Kaiser  umgaben.  Das  waren  Elemente,  mit  denen  immer 
gerechnet  werden  mußte,  wenn  es  auch  dabei  blieb,  daß  die  Haupt- 
ratgeber Nesselrode,  Diebitsch,  Menschikow,  Kotschubej  und  Benken- 
dorff,  und  in  allen  finanziellen  Fragen  Cancrin,  waren.  Auch  auf 
die  schließliche  Feststellung  des  Feldzugsplanes  hat  Nesselrode 
wesentlichen  Einfluß  gehabt,  gewiß  nicht  zum  Vorteil  der  Sache. 
Um  so  größer  war  sein  Verdienst  bei  Durchführung  der  diplomati- 
schen Kampagne  des  Kaisers. 

Die  Bemühungen  des  russischen  Kabinetts  gingen  dahin,  von 
den  Höfen  von  London,  Paris,  Wien  und  Berlin  eine  formelle  Er- 
klärung zu  erlangen,  daß  Rußland  berechtigt  sei,  der  Pforte  den 
Krieg  zu  erklären.  Das  ist  denn  auch  von  allen  Mächten  geschehen. 
Am  zufriedensten  war  man  mit  der  Antwort  Frankreichs.  Der 
Kaiser  hatte  sich  direkt  an  Karl  X.  gewandt  und  die  Zusage  er- 
halten, daß  Frankreich  nicht  nur  nach  wie  vor  auf  dem  Boden 
des  Londoner  Vertrages  stehe,  sondern  auch  guten  Grund  habe  zu 
glauben,  daß  es  ihm  gelingen  werde,  das  von  Nikolai  gefürchtete 
Zusammengehen  Englands  mit  der  Pforte  zu  verhindern.  Sollte 
aber  ein  Zusammenbruch  der  Türkei  die  Folge  des  russisch- 
türkischen Krieges  sein,  so  sei  der  König  entschlossen,  seine 
Politik  in  Einklang  mit  der  russischen  zu  halten^).  Preußen  er- 
kannte das  Recht  Rußlands  rückhaltlos  an  und  versprach,  für  den 
Fall  von  Verwickelungen  eine  Haltung  einzunehmen,  die  den  russi- 
schen Interessen  in  steigendem  Maße  forderlich  sein  werde.  Aber 
das  Angebot  einer  Allianz  hatte  der  König  „verdrießlich''  abgelehnt, 
auch  dem  Prinzen  Wilhelm  nicht  gestattet,  am  Kriege  teilzunehmen. 
Er  glaubte  die  Verantwortung  nicht  auf  sich  nehmen  zu  dürfen, 
wenn  dem  Prinzen  in  einem  nichtpreußischen  Kriege  etwas  zu- 
stoßen sollte.  Österreich  machte  noch  einen  letzten  Versuch,  durch 
den  Hinweis  auf  die  von  den  revolutionären  Elementen  im  Kriegs- 
fall drohenden  Gefahren,  den  Kaiser  zu  schrecken,  erhielt  aber  die 

0  Siehe  in  der  Anlage  das  Schreiben  Nikolais  Tom  28.  März  und  die 
Antwort  Karls  X.  Tom  30.  April. 


Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.        231 

Antwort,  daß  Rußland  trotz  des  Krieges  immer  Truppen  bereit 
haben  werde,  um  seine  Alliierten,  namentlich  aber  Österreich,  gegen 
die  Revolution  zu  schützen').  Daraufhin  erklärte  dann  Zichy, 
daß  seiner  Regierung  nichts  ferner  liege,  als  das  Recht  Rußlands, 
zu  den  Waffen  zu  greifen,  bestreiten  zu  wollen.  Aber  erst  einige 
Zeit  danach  folgte  die  offizielle  Erklärung,  daß  Österreich  strikteste 
Neutralität  einhalten  würde.  So  blieb  nach  dieser  Seite  das  Miß- 
trauen lebendig.  Die  Antwort  Englands,  das  bisher  die  meisten 
Schwierigkeiten  gemacht  hatte  und  noch  Ende  März  erklärte,  daß 
die  Überschreitung  der  Donau  durch  russische  Truppen  einer  Kriegs- 
erklärung an  England  gleichkäme,  auch  die  Besetzung  Moreas  durch 
die  Franzosen  nicht  hatte  dulden  wollen,  lautete  schließlich  über- 
raschend günstig:  Die  guten  Gründe  und  das  gute  Recht  Rußlands, 
zum  Schwert  zu  greifen,  ließen  sich  nicht  verkennen,  aber  es  werde 
schwierig  sein,  für  den  Fall  des  Krieges  zusammenzugehen,  obgleich 
England  seinerseits  entschlossen  sei,  nicht  vom  Londoner  Traktat 
abzuweichen. 

Trotz  der  merklichen  Verschiedenheit  in  der  Haltung  der 
Mächte,  konnte  der  Kaiser  mit  dem  Ergebnis  zufrieden  sein.  Er 
hatte  freie  Hand  und  brauchte  nicht  zu  fürchten,  daß  die  Tatsache 
des  Krieges  zum  Verwand  genommen  werde,  um  einen  Koalitions- 
krieg gegen  Rußland  zu  organisieren.  Erst  jetzt  erfolgte  am 
26.  April  die  Kriegserklärung,  die  der  Pforte  durch  ein  offizielles 
Schreiben  an  den  Großvezier  zugestellt  wurde').  Dieses  Dokument, 
das  gleichzeitig  allen  Höfen  zuging,  zählte  die  Gründe  auf, 
die  Rußland  nötigten,  sich  sein  Recht  gewaltsam  zu  holen  und 
war  von  einer  Deklaration  begleitet,  welche  die  Vorschriften  mit- 
teilte, die  das  russische  Mittelmeergeschwader  erhalten  hatte.  Ruß- 
land werde  die  Prinzipien  der  Neutralität  zur  See  aufrecht  erhalten 
und  bemüht  sein,  dem  europäischen  Handel  in  der  Levante  allen 
Schutz  zu  gew^ähren.  Die  befreundeten  Mächte  und  die  Neutralen 
wurden  aufgefordert,  diese  maßvolle  und  wohlwollende  Politik  Ruß- 
lands nach  Möglichkeit  zu  fördern. 


0  Relation  Schoelers  vom  6.  Mai  1828  über  die  Audienz  von  Zichy 
am  21.  April.  Kaiser  Nikolaus  lieB  aber  den  Verlauf  der  Audienz  sofort 
eine  Aufzeichnung  machen,  die  auch  durch  Alopäus  offiziell  dem  preußi- 
schen Kabinett  mitgeteilt  wurde.  Zichys  Bericht  findet  sich  in  Metternichs 
nachgelassenen  Papieren  Bd.  II,  Nr.  896. 

2)  V.S.R.Ges.  1947,  1948,  1949. 


232        Kapitel  VH.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbrach  des  Krieges. 

Der  englischen  und  französischen  Regierung  gegenüber  aber 
erbot  sich  Rußland,  im  Mittelmeer  seine  Rechte  als  kriegführende 
Macht  unter  der  Bedingung  ruhen  zu  lassen,  daß  die  zwischen  den 
drei  alliierten  Mächten  zur  Ausführung  des  Vertrages  vom  6.  Juli 
1827  vereinbarten  Maßregeln  dadurch  nicht  beeinträchtigt  werden 
sollten.  Es  wurde  damit  ein  Plan  zunichte  gemacht,  der  von  Eng- 
land und  Österreich  ausging  und  der  dahin  zielte,  Rußland  von  jeder 
Teilnahme  an  der  Ausführung  des  Londoner  Vertrages  auszuschließen. 
Vielmehr  wurden  die  seit  Abreise  der  Gesandten  aus  Konstantinopel 
ruhenden  Konferenzverhandlungen  wieder  aufgenommen,  die  Instruk- 
tionen für  die  Operationen  zur  See  gemeinsam  festgestellt  und  nicht 
nur  den  Admiralen,  sondern  auch  den  in  Korfu  residierenden  Ge- 
sandten mitgeteilt.  Endlich  scheiterte  auch  ein  letzter  Versuch 
Metternichs  ^),  den  drohenden  Krieg  dadurch  zum  Stehen  zu  bringen, 
daß  die  Pforte  durch  die  Vertragsmächte  zur  öffentlichen  Zurück- 
nahme des  Hattischerifs  vom  20.  Dezember  und  der  darauf  folgenden 
Gewaltsamkeiten  aufgefordert,  und  im  Fall  der  Ablehnung  dieser 
kategorisch  zu  stellenden  Forderung,  die  volle  Unabhängigkeit 
Griechenlands  anerkannt  werden  sollte.  Aber  davon  wollte  England 
nichts  wissen,  so  daß  ein  russischer  Widerspruch  nicht  einmal  not- 
wendig wurde.  So  blieb  in  allen  wesentlichen  Fragen  die  diplomatische 
Aktion  Rußlands  siegreich.  Mißlungen  war  es  ihr,  den  Feldzug  im 
Namen  und  als  Mandatar  der  Allianz  aufzunehmen'),  dagegen  blieb 
der  russische  Einfluß  auf  die  Entwicklung  der  griechischen  An- 
gelegenheiten gewahrt,  während  der  Einmischung  der  Mächte  in 
den  jetzt  um  Aufrechterhaltung  der  von  der  Pforte  in  Akkerman 
übernommenen  Verpflichtungen  zu  führenden  Krieg  glücklich  vor- 
gebeugt war.  Nach  wie  vor  hatte  der  Kaiser  die  Uneigennützigkeit 
seiner  Absichten  beteuert  und  die  Versicherungen  wiederholt,  die 
dem  Vertrag  vom  4.  April  vorhergegangen  waren.  In  Europa 
werde  er  keine  Eroberungen  machen   und   es  liege  ihm   fern,   den 

')  Wellington,  Despatches  IV.   Eszterhazy  an  Wellington,  9.  April  1828. 

')  Bericht  Bülows  aus  London,  11.  Januar  1828,  über  seine  Unterredung 
mit  Lord  Dudley.  „Le  prince  de  Lieven  avait  mis  a  la  disposition  de  Palliance 
toutes  les  armees  Russes  reunies  sur  les  bords  du  Pruth  afin  de  s^en  servir 
pour  briser  la  resistance  de  la  Porte  Ottomane.  Mais  comme  cette  offre  avait 
^te  declinee,  les  armees  n^avanceraient  pas  —  et  dans  tous  les  cas  TAngleterre 
n^y  consentirait  jamais  comme  mesure  d'alliance.*'  Berlin,  Geh.  Staatsarchiv, 
Kep.  81,  England.  I,  114.  Es  kann  übrigens  zweifelhaft  sein,  ob  dieser  rus- 
sische Vorschlag  ernst  gemeint  war. 


Kapitel  VII.    Von  NaTarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.         233 

Sturz  des  türkischen  Reiches  herbeiführen  zu  wollen.  Aber  es 
konnte  kaum  zweifelhaft  sein,  daß  große  Erfolge  ihn  über  dieses 
Programm  hinausfuhren  würden*).  Offiziell  sollte  der  Krieg  um 
die  Verwirklichung  und  Aufrechterhaltung  der  Stipulationen  von 
Akkerman  geführt  werden,  ganz  wie  Alexander  den  Türkenkrieg, 
den  zu  führen  er  sich  entschlossen  hatte,  durch  die  Notwendigkeit 
rechtfertigte,  den  Friedensschluß  von  Bukarest,  den  die  Türkei  ge- 
brochen habe,  zu  verteidigen.  Im  Grunde  war  der  Kaiser  überzeugt, 
daß  das  bloße  Erscheinen  eines  russischen  Heeres  auf  türkischem 
Boden  genügen  werde,  um  ein  Nachgeben  der  Pforte  zu  bewirken. 
Hatte  mau  doch  in  Akkerman  mit  Aufwendung  eines  weit  ge- 
ringeren Apparates  das  Ziel  erreicht.  Und  nun,  da  er  selbst 
an  der  Spitze  eines  Heeres  in  die  Türkei  einzudringen  im  Begriff  war, 
sollte  der  Sultan  es  wagen,  sich  seinem  Willen  zu  widersetzen?  Es 
schien  ihm  undenkbar;  sollte  es  aber  dennoch  geschehen,  so  zweifelte 
er  nicht  an  einem  schnellen  und  glänzenden  Erfolge,  und  die  Vor- 
stellung blieb  ihm  lebendig,  daß  dann  der  völlige  Zusammenbruch 
der  Türkenherrschaft  unvermeidlich  sein  werde.  Er  hatte  seinen 
Botschafter  in  London  beauftragt,  wenn  der  Anlaß  von  englischer 
Seite  dazu  geboten  werden  sollte,  einer  Verhandlung  nicht  aus  dem 
Wege  zu  gehen'),  Frankreich  gegenüber  aber,  dem  der  Kaiser 
größeres  Vertrauen  entgegentrug,  war  in  immer  deutlicheren  An- 
spielungen und  zuletzt  ganz  unverblümt  in  einem  Schreiben  an  König 
Karl  X.  das  Problem  so  nahe  gelegt  worden,  daß  es  die  politische 
Phantasie  der  französischen  Staatsmänner  ganz  gefangen  nahm. 
Auch  vom  österreichischen  Botschafter  suchte  der  Kaiser  zu  er- 
fahren, welches  die  Gedanken  seiner  Regierung  seien,  falls  jene 
Katastrophe  eintreten  sollte').   Zu  Leopold  von  Gerlach,  der  1828  bis 


^)  In  diesem  Sinne  hat  sich  auch  Diebitscb  Gerlach  gegenüber  aus- 
gesprochen. 

2)  Martens,    Recueil    Bd.    XI,    S.   372.      Instruktion    Nesselrodes     Yom 

ö^ezern^  er^^27     Lj^y^^  ^^j^  nicht  in  die  Lage,  diesen  Auftrag  auszufahren. 
6.  JtQoar  li<28 

')  Im  Verlauf  der  schon  erwähnten  Audienz  Zichya  am  21.  April.  Der 
betreffende  Passus  lautet  nach  der  russischen  Aufzeichnung:  »L'Empereur 
aborda  Thypothese  de  la  chute  de  TEmpire  Ottoman,  reprcsentee  par  le  cabinet 
Autrichien  comme  une  consequence  immanquable  de  la  guerre  actuelle.  Sa 
Majeste  declara  que  jamais  eile  n'^tait  entree  dans  ses  vues,  et  qu'elle  regar- 
dait  m(*me  une  si  grande  catastrophe  comme  nuisible  aux  vrais  iuterets  de 
son  Empire.     Comme  cependant  il  serait  impossible  de   l'exclure   entierement 


234        Kapitel  VIT.     Von  NaTarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

zum  Mai  als  Adjutant  des  Prinzen  Wilhelm  von  Preußen  in  Peters- 
burg weilte,  sagte  der  Kaiser,  wenn  man  den  Türken  Zeit  ließe, 
wärde  Konstantinopel  sehr  fest  werden,  die  Belagerung  müsse  ein 
Bombardement  sein.  Am  11.  November  1827  aber  hatte  Nikolai 
dem  Fürsten  Menschikow  gesagt,  daß  er  sich  für  den  Fall  eines 
Türkenkrieges  bereit  halten  solle,  um  nach  Nikolajew  zum  Admiral 
Greigh  zu  reisen,  den  er,  der  Kaiser,  beauftragen  werde,  in  den 
Bosporus  einzufahren  und  Konstantinopei  zu  verbrennen^). 

Mit  diesem  Schweifen  in  reizvolle  Möglichkeiten  kombinierte 
sich  aber  in  seltsamem  Widerspruch  eine  durch  die  Prinzipien  des 
Kaisers  gebotene  Selbstbeschränkung,  die  die  Erreichung  des  Zieles 
so  gut  wie  unmöglich  machte.  Er  hatte  versprochen,  in  Europa 
keine  Eroberungen  zu  machen,  und  war  entschlossen,  sein  Wort 
zu  halten.  Was  er  zu  fordern  für  berechtigt  hielt,  war  die  volle 
Herstellung  seiner  Vertragsrechte,  Ersatz  seiner  Rustungs-  und 
Kriegskosten  und  in  Asien  die  Erwerbung  von  Anapa  und  Poti. 
Dagegen  galt  es  ihm  als  völlig  ausgeschlossen,  daß  er  die  christ- 
lichen Untertanen  der  Türkei  gegen  den  Sultan  gebrauchen  könnte, 
was  um  so  auffallender  ist,  als  er  diese  prinzipiellen  Bedenken, 
soweit  die  Griechen  in  Betracht  kamen,  bereits  preisgegeben  hatte. 
Der  Gedanke,  einen  Befreiungskrieg  zu  führen,  hat  ihm  durchaus 
ferngelegen,  obgleich  dadurch  der  Krieg  in  Rußland  populär  ge- 
worden und  die  gesamte  Rajah  in  der  Türkei  ihm  zugefallen  wäre. 
Die  Serben  wünschten  nichts  sehnlicher^  als  sich  ihm  anzuschließen, 
und  ebenso  Montenegriner  und  Bulgaren,  während  in  Moldau  und 
Walachei  der  österreichische  Einfluß  dem  russischen  entgegenwirkte. 
Statt  die  Hoffnungen  dieser  geknechteten  christlichen  Völkerschaften 
zu  ermutigen,  hat  der  Kaiser  sie  vielmehr  niedergehalten.  Er 
wäre  sich  wie  ein  Bundesgenosse  der  Revolution  erschienen,  wenn 
er  anders  gehandelt  hätte.  Es  sollte  ein  Krieg  um  das  gute  Recht 
Rußlands  sein,  nicht  mehr  und  nicht  weniger.  W'enn  dabei  die 
Vorsehung  ihm  unerwartete  Vorteile  in  die  Hand  spielte,  dann 
freilich  wollte  er  zugreifen  und  sich  den  „decrets  de  la  Provi- 
dence''  beugen. 


des  chances  que  les  decrets  de  la  ProTidence  pourraient  faire  naitre,  TEmpe-, 
reur  t^moigna  au  Comte  Zichy  le  desir  de  savoir:  si  sa  cour  avait  arrete  ses 
pensees  sur  cette  hypotbese  et  de  connaitre  ses  intentions  dans  le  cas  ou 
contre  toute  attente,  eile  de?rait  se  r^aliser.* 

I)  Schilder,  Nikolai  Bd.  11,  S.  122.     Ohne  Angabe  der  Quelle. 


Kapitel  VII.    Vod  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.        235 

Der  Kriegserklärung  waren  die  Vorbereitungen  für  den  Krieg 
naturgemäß  geraume  Zeit  vorausgegangen.  Die  Anstalten,  die 
bereits  1826  in  Hinblick  auf  die  Möglichkeit  eines  Ttirkenkrieges 
getroffen  worden  waren,  sind  nur  insoweit  ruckgängig  gemacht 
worden,  als  die  nach  Bessarabien  vorgeschobenen  Truppenteile  der 
zweiten  Armee  wieder  in  ihre  bequemeren  Standquartiere  zurück- 
geführt wurden.  Die  Korrespondenz,  die  nach  Diebitschs  Ruckkehr 
aus  Persien  zwischen  ihm  und  Kisselew  geführt  worden  ist,  betrifft 
ausschließlich  die  Vorbereitung  zum  Kriege.  Admiral  Greigh  wurde 
beauftragt,  eine  Pontonbrücke  zum  Übergang  über  die  Donau  an- 
zufertigen ^),  Kisselew  überzeugte  sich  durch  eine  Reise  nach  Reni, 
daß  der  Übergang  nur  drei  Werst  unterhalb  Isaktschi  möglich  sei, 
und  vertrat  die  Ansicht,  daß  man  sich  dieser  wenig  bedeutenden 
Festung  durch  einen  Handstreich  werde  bemächtigen  können.  Auch 
die  Frage  des  Transports  von  Truppen  und  Lebensmitteln  zur  See 
wurde  erwogen,  und  der  Oberst  S.  P.  Liprandi  mit  der  Aufgabe  betraut, 
in  Moldau  und  Walachai  Nachrichten  über  die  Vorbereitungen  der 
Türkei  und  Österreichs  zu  sammeln.  Man  war  gleichsam  stets  auf 
dem  Sprung,  wurde  aber  allmählich  müde,  da  Monat  auf  Monat 
hinging  und  der  Friede  erhalten  blieb.  Eine  neue  Periode  der 
militärischen  Vorbereitung  begann  gleich  nach  der  Schlacht  bei 
Navarino.  Mitte  Dezember  1827  erhielt  Kisselew  die  offizielle 
Mitteilung,  daß  die  Donaufürstentümer  besetzt  werden  würden  und 
daß  der  Senator  Awakumow ')  das  gesamte  Proviantwesen  in  seine 
Hände  nehmen  werde.  General  Witt  sollte  aus  den  Siedelungen 
der  kolonisierten  Kavallerie  für  Furage  sorgen  und  wurde  zum 
Chef  des  Reservekorps  der  zweiten  Armee  ernannt.  Kisselew  trug 
darauf  an,  eine  große  Zahl  alter  und  unfähiger  Offiziere  abzurufen '). 
Ende  Januar  1828  bereits  wußte  man,  daß  die  Türken  sich  an 
der  Donau  verstärkten  und  die  Ungeduld  über  das  stete  Hinaus- 
schieben des  geplanten  Feldzuges  stieg. 

Wir  haben  gesehen,  wie  die  Entscheidung  während  der  An- 
wesenheit Kisselews  in  Petersburg  fiel.  Vom  7.  Mai  ab  sollte 
Wittgenstein  mit  seinen  Operationen  beginnen.     Die  aktive  Armee 

0  Sie  sollte  spätestens  im  November  1827  vor  Ismail  bereit  liegen,  ein 
Befehl,  der  aus  nicht  kontrollierbaren  Gründen  nie  ausgeführt  worden  ist. 

^  Die  offizielle  Ernennung  erfolgte  erst  am  24.  April. 

*)  Sablotzki-Dessjätkowski,  Graf  Kisselew  und  seine  Zeit.  Bd.  I,  Kap. 
XI  und  XII. 


236        Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

bestand  aus  dem  dritten,  sechsten  und  siebenten  Infanterie-Armee- 
korps und  dem  vierten  Kavallerie-Reservekorps  unter  den  Generalen 
Rudzewitsch,  Roth,  Woinow  und  Borosdin.  Erstaunlicherweise  war 
diesen  Truppen  nur  ein  Belagerungspark  angeschlossen  worden, 
obgleich  nach  dem  Feldzugsplan  die  Belagerung  und  Einnahme  der 
Donaufestungen  die  Voraussetzung  des  Erfolges  sein  sollte').  Man 
bewegte  sich  immer  noch  in  den  erstaunlichsten  Illusionen.  Nessel- 
rode sagte  dem  französischen  Geschäftsträger  Fontenay,  es  werde 
ein  Feldzug  werden,  wie  der  der  Franzosen  in  Spanien  oder  der 
Österreicher  in  Neapel,  und  der  Kaiser  erklärte  dem  Prinzen 
von  Oranien  noch  am  18.  April:  „Im  Augenblick,  da  die  türkischen 
Bevollmächtigten  kommen,  mache  ich  Halt!  und  wenn  ich  mitten 
auf  der  Donau  sein  sollte,  werde  ich  den  Ruderern  sagen: 
ich  will  die  türkischen  Bevollmächtigten  anhören!^  Also  ein 
militärischer  Spaziergang  wurde  vorgesehen.  Der  Abmarsch  der 
Garden  begann  am  13.  April  und  war  darauf  berechnet,  sie 
in  97  Tagen,  d.  h.  bis  zum  6.  August,  in  Feindes  Land 
zu  führen.  Früher  glaubte  man  ihrer  nicht  zu  bedürfen.  Mit 
Karten  des  mutmaßlichen  Kriegsschauplatzes  war  man  leidlich  ver- 
sorgt, da  die  diplomatische  Korrespondenz  Rußlands  mit  der  Pforte 
seit  dem  Regierungsantritt  des  Kaisers  durch  Kuriere  besorgt  wurde, 
in  deren  Begleitung  sich  OiTiziere  befanden,  die  beauftragt  waren, 
Terrainaufuahmen  zu  machen  und  die  vorhandenen  Karten  und 
Pläne  zu  verifizieren.  So  waren  namentlich  die  Balkanpässe  genau 
studiert  worden*).  Das  Pferdematerial  der  Leibgarde- Pioniere 
wurde  erneuert  und  verbessert,  d.  h.  sie  erhielten  schwerere  Pferde, 
was  sich  später  bei  ihnen  wie  bei  der  gesamten  russischen  Kavallerie 
den  leichten  türkischen  Reitern  gegenüber  um  so  mehr  als  ein  Mangel 
erwies,  als  die  der  Heu-  und  Grünfütterung  ungew^ohnten  Tiere  sehr 
bald  von  Kräften  kamen.  Nur  mit  vieler  Mühe  setzte  Kisselew 
durch,  daß  bei  den  Armeeparks  Gewehre  und  Gewehrteile  in  Reserve 
bereit  gehalten  wurden.  Die  Kommission,  der  die  Beurteilung 
dieser  Frage  zufiel,  war  der  Ansicht,  daß  Beschädigungen  der  Ge- 
wehre nicht  vorkommen  dürften,  wenn  man  sie  sorgfältig  halte, 
aber  der  Kaiser  hatte  für  Kisselew  entschieden.  Im  letzten  Augenblick 


1)  ükas  vom  24.  Februar  1828.     V.  S.  R.  G.  1826. 

2)  Für  das  Folgende    die  ükase  in   der  V.  S.  R.  G.    No.  1845,   66,  74, 
89,  1931,  38,  45,  49,  50,  51,  59,  89,  2039  und  2117. 


Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.         237 

(6.  Mai)  befahl  Nikolai,  in  allen  Infanterie-Regimentern  Kiwer  (Helme) 
einzuführen,  wie  bei  der  Kavallerie,  eine  Maßregel,  die  grx)ße  Un- 
zufriedenheit bei  den  Soldaten  erregte,  die  während  des  Feldzuges 
mit  Neid  auf  die  leichte  Kopfbekleidung  der  Türken  blickten,  die 
zudem  durch  ihren  bequemen  Feldsack  den  schweren  russischen 
Ranzen  gegenüber   im  Vorteil    waren.     Für    die    Einrichtung   von 

25«  Mftrz 

Kriegshospitalern  war  zwar  durch  ein  Statut  vom  ^  .  ^.^  in  nicht 
weniger  als  536  Paragraphen,  die  alles  denkbare  Detail  zu  er- 
schöpfen suchten,  scheinbar  die  beste  Fürsorge  getroffen,  in  Wirklich- 
keit erwiesen  sich  alle  Vorbereitungen  als  ganz  unzureichend,  und 
namentlich  die  ungenügende  Zahl  der  Ärzte  sollte  während  des 
Feldzuges  zu  einer  der  schlimmsten  Kalamitäten  werden.  Es  war 
die  Bestätigung  der  alten  Wahrheit,  daß,  was  in  den  Verordnungen 
der  Regierung  wie  ein  Muster  landesväterlicher  Fürsorge  erschien, 
in  der  praktischen  Ausführung  ein  Bild  wahrhaft  unerhörter  Ver- 
nachlässigung der  Pflichten  zeigte,  die  auf  dem  Papier  so  nach- 
drücklich und  so  pathetisch  gepredigt  wurden.  Die  Musterlazarette, 
die  von  der  Verordnung  des  6.  April  geboten  waren,  sind  stets  nur 
vorhanden  gewesen,  wo  der  Kaiser  persönlich  inspizierte  und  so 
lange  er  zugegen  war.  Man  darf  wohl  sagen,  daß  das  gleiche  von 
allen  übrigen  Zweigen  der  Verwaltung  gilt,  die  für  die  Versorgung 
der  Armee  in  Tätigkeit  gesetzt  wurden.  Für  die  Zeit  der  Okku- 
pation der  Fürstentümer  war  eine  Extrapost  mit  dreimal  wöchent- 
licher Expedition  von  Shitomir  nach  Dubassar  am  Dnjestr  und 
nach  Odessa  eingerichtet  worden,  und  sie  funktionierte  nicht  übel, 
dazu  eine  Feldpost,  welche  die  Briefe  der  Soldaten  kostenlos  beior- 
derte. Aber  es  war  allbekannt,  daß  sämtliche  Briefe  von  der 
Polizei  geöffnet  wurden,  und  selbst  dabei  war  die  Nachlässigkeit  so 
groß,  daß  die  Soldaten  Klage  erhoben,  weil  die  Spuren  der  Öffnung 
allzu  kenntlich  waren.  Die  fremden  Diplomaten  und  militärischen 
Begleiter  des  Hauptquartiers  richteten  ihre  Korrespondenz  stets 
darauf  ein,  daß  sie  dem  Kaiser  vorgelegt  werden  konnte').  Die 
„Perlustration"  der  Privatkorrespondenz  der  Soldaten  und  Ofliziere 
aber  erschien  unerläßlich,  weil  der  Kaiser  voller  Mißtrauen  wegen 
der  politischen  Gesinnung  der  Armee  war.  Er  hat  einen  unge- 
heueren Apparat  politischer  Polizei  mit  ins  Feld  genommen,  ob- 

1)  Daher  der  ungeheuere  Unterschied  zwischen  den  durch  die  Post  und 
den  durch  Kurier  oder  sichere  Gelegenheit  beforderten  Briefen.  Alle  Archive 
Europas  bieten  dafür  die  drastischsten  Beispiele. 


23d         Kapitel  VII.    Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

gleich,  wie  jede  nüchterne  Betrachtung  ergibt,  auch  von  den  unzu- 
friedensten Elementen  nichts  zu  fürchten  war.  Es  handelte  sich 
schlimmstenfalls  um  unehrerbietige  Reden  über  die  Vorgesetzten 
bis  zum  Kaiser  hinauf.  Aber  derartiges  hätte  er  auch  in  der 
Privatkorrespondenz  seiner  Minister  und  seines  Bruders,  des  Groß- 
fürsten Konstantin,  finden  können.  Das  Medisieren  gehörte 
zu  den  althergebrachten  Gewohnheiten  der  Armee  wie  der  Gesell- 
schaft, und  sowohl  die  Kaiserin  Katharina  wie  Alexander  hatten 
getan,   als  ob  sie  nichts  davon  wüßten. 

Am  26.  April  war  dann  durch  kaiserliches  Manifest  eine 
Rekrutenaushebung  angeordnet  worden,  die  sich  auf  das  ganze  Reich 
erstreckte,  mit  Ausnahme  von  Grusien,  Bessarabien  und  den  sechs 
Gouvernements,  die  dem  Kriegsschauplatz  zunächst  lagen: 
Cherson,  Jekaterinoslaw,  Poltawa,  Slobodo-Ukrainsk,  Kiew  und 
Podolien.  Hier  sollte  auch  ein  Teil  der  Abgaben  durch  Natural- 
leistungen ersetzt  werden.  Es  wurden  von  je  500  Seelen  zwei 
Rekruten  ausgehoben,  wobei,  was  charakteristisch  ist,  der  Kaiser 
bestimmte,  daß  die  jüdischen  Rekruten  in  die  Marine  überzuführen 
seien,  offenbar  weil  er  so  Desertionen  zu  erschweren  hoffte.  Die 
vier  angesiedelten  Kavalleriedivisionen  wurden  mit  herangezogen, 
weil  sie  nach  den  für  die  Militärkolonien  geltenden  Bestimmungen 
in  üblicher  Weise  ihre  Reihen  zu  komplettieren  hatten. 

Diese  Anordnungen  und  dazu  die  zahllosen  Befehle,  und  In- 
struktionen, die  erforderlich  waren,  um  die  Kriegsmaschine  in  Be- 
wegung zu  setzen,  sind  meist  unter  direkter  Mitwirkung  des  Kaisers 
zustande  gekommen.  Er  war  täglich  sieben  bis  neun  Stunden  in 
seinem  Kabinett  an  der  Arbeit^)  und  dabei  von  peinlicher  Gewissen- 
haftigkeit und  Ordnungsliebe.  Was  ihm  von  Geschäften  zuging, 
wurde  auch  erledigt.  Dazu  kamen  dann  die  täglichen  Wacht- 
paraden  und  Besichtigungen  und  die  Festlichkeiten,  denen  er  sich 
nicht   entziehen    konnte,    zumal    die  Kaiserin    ihre   Freude   daran 


^)  Gerlach  1.  I.  ßd.  I.:  „Der  Kaiser  steht  vor  8  Uhr  auf,  arbeitet  bis  12, 
dann  abends  von  9—12,  1 — 2  Uhr,  so  daß  er  täglich  7 — 9  Stunden  arbeitet.** 
Micbailowski-Danilewski  detailliert  die  Tagesarbeit  Nikolais  noch  genauer; 
8 — 9^3  Uhr  Empfang  der  Minister.  Bis  12  Lesen  amtlicher  Berichte,  um  12 
Empfang  yon  Militärgouverneur  und  Kommandanten,  Parade,  ungemeldeter 
Besuch  irgend  einer  Anstalt,  um  3  Uhr  Mittag.  Zweimal  wöchentlich  Diner 
von  12  Personen,  nachmittags  einige  Zeit  in  der  Familie,  darauf  bis  zur  Nacht 
Arbeit  im  Kabinett. 


Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.        239 

hatte.  Es  fiel  auf,  daß  beide  Majestäten  viel  in  Privatkreisen  ver- 
kehrten und  in  dieser  Hinsicht  dem  Beispiel  folgten,  das  Alexander 
gegeben  hatte.  Die  strenge  Etikette  lebte  nach  wie  vor  nur  am 
Hofe  von  Maria  Feodorowna.  Zwei  Todesfälle  haben  in  dieser 
Zeit  politischer  Spannung  die  Kaiserfamilie  getroffen.  Am  24. 
Februar  st.  v.  starb  die  Fürstin  Charlotte  Lieven,  die  Freundin 
der  alten  Kaiserin  und  wohl  diejenige  Person,  die  seit  einem  halben 
Jahrhundert  alle  Geheimnisse  des  Kaiserhauses,  auch  die  intimsten, 
kannte.  Gewiß  eine  bedeutende  und  vortreffliche  Frau,  die  ihren 
großen  Einfluß  nie  zum  Schaden  anderer  mißbraucht  hatte.  Aber  die 
„russische  Partei"  sah  in  ihr  die  Deutsche  und  warf  ihr  vor,  daß 
sie  Livländer  und  Deutsche  begünstige.  Die  kaiserliche  Familie 
verehrte  in  ihr  eine  unbedingt  zuverlässige,  erfahrene  Freundin 
und  behandelte  sie  wie  eine  Verwandte^).  Es  war  ein  echter 
Kummer,  als  sie  starb.  Weniger  echt  war  Nikolais  Trauer,  als  einen 
Monat  danach  auch  der  Graf  Lambsdorff,  sein  Lehrer  und  Erzieher, 
verschied.  Er  hatte  ihm  seine  Strenge  nie  vergessen  können.  Aber 
er  nahm  an  der  Beerdigung  teil.  Beide,  die  Füratin  Lieven  und 
Graf  Lambsdorff,    starben  als  Lutheraner.     Der  Tod  des  letzteren 

^)  Diwow  entwirft  folgende  recht  gehässige  Charakteristik  von  ihr:  Am 
24.  Februar  7  Uhr  abends  ist  die  Fürstin  Lieven  gestorben.  Am  Abend  vor- 
her hatte  sich  die  ganze  kaiserliche  Familie  an  ihrem  Bette  versammelt,  um 
Abschied  zu  nehmen  von  dieser  ältesten  Dienerin  des  Hofes.  Da  sie  gegen 
50  Jahre  am  Hofe  gelebt  hatte,  war  sie  dem  Zarenhause  wie  verwandt.  Unter 
Katharina  war  sie  Erzieherin  der  Großfürstinnen.  Der  Kaiser  Paul  schenkte 
ihr  große  Güter  und  ebenso  Alexander,  er  verlieh  außerdem  ihr  und  ihren 
Kindern  den  Grafentitel,  Kaiser  Nikolaus  machte  sie  zur  Fürstin.  Unter 
Katharina  hatte  die  Lieven  keine  besondere  Geltung,  unter  Paul  wurde  sie 
die  Vertraute  Maria  Feodorownas,  die  jeden  Kummer  mit  ihr  teilte.  Unter 
Alezander  war  sie  der  Mittelpunkt  aller  Intrigen,  und  das  Schicksal  der 
Staatsdiener  hing  von  ihr  ab.  Unter  dem  Schein  der  Güte  und  Aufrichtigkeit 
verbarg  sich  ihr  klarer  Verstand,  der  Wunder  tun  konnte,  wenn  ihre  persön- 
lichen Interessen  oder  der  Vorteil  ihrer  Freunde  es  verlangte.  Ihr  hohes 
Alter  und  daß  sie  für  alle  Glieder  des  kaiserlichen  Hauses  von  ihrer  frühesten 
Jugend  an  gesorgt  hatte,  gaben  ihr  einen  Einfluß,  den  nichts  erschüttern 
konnte,  und  sie  nahm  schließlich  im  Zarenhause  eine  Stellung  ein,  als  wäre 
sie  die  Großmutter.  Die  Hofintrigen  hatten  ein  Nest  in  ihren  Gemächern, 
in  denen  sich  täglich  die  Hofleute  begegneten,  was  von  den  fremden  Gesandten 
bei  ihren  Besuchen  ausgenutzt  wurde,  besonders  vom  Grafen  Blome,  dem 
dänischen  Gesandten.  Sie  protegierte  fast  ausschließlich  Livländer  und 
Deutsche,  die  in  den  russischen  Untertanenverband  getreten  waren.  Russ. 
Starina  1898  I,  S.  500. 


240        Kapitel  VII.     Von  Navarino  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges. 

fiel  in  die  Osterzeit,  die  einen  ungewöhnlich  reichen  Ordenssegen 
und  dem  Grafen  Nesselrode  seine  Ernennung  zum  Vizekanzler 
brachte.  Dann  begann  der  Ausmarsch  der  Garden,  ein  prächtiges 
Schauspiel,  bei  welchem  den  fremden  Beobachtern  der  ungeheure 
Luxus  auffiel,  den  die  Gardeofdziere  entfalteten.  Eine  große 
Parade  auf  dem  Schloßplatz  zeigte  sie  dem  Kaiser  noch  einmal 
in  all  ihrer  Pracht.  Auch  das  Kaiserhaus  rüstete  zum  Aufbruch. 
Die  Großfürstin  Helene,  die  Gemahlin  Michails,  fuhr  nach  Ems, 
während  der  Großfürst  auf  den  Kriegsschauplatz  nach  Ismail  eilte, 
die  Kaiserin  Alexandra  sollte  nach  Odessa,  während  die  alte 
Kaiserin  mit  den  kaiserlichen  Kindern,  dem  zehnjährigen  Thron- 
folger und  den  Großfürstinnen  Maria,  Olga  und  Alexandra,  in 
Petersburg  blieb.  Der  Kaiser  übertrug  ihr  keinerlei  Regierungs- 
befugnisse. Für  die  Reichsregierung  während  seiner  Abwesen- 
heit hatte  er  einen  besonderen  Rat  gebildet,  zu  dessen  Mit- 
gliedern der  Graf  Kotschubej,  Fürst  Alexander  Golitzyn  und  Graf 
Peter  Alexandrowitsch  Tolstoi  ernannt  wurde.  Auch  sein  Testament 
hatte  der  Kaiser  gemacht*).  Für  den  Fall  seines  Todes  sollte  der 
Großfürst  Michail  Pawlowitsch  die  Regentschaft  für  Alexander 
Nikolajewitsch  führen.  Endlich  in  der  Nacht  vom  7.  auf  den 
8.  Mai  erfolgte  die  Abreise  des  Kaisers,  den  bis  nach  Witebsk  der 
Prinz  von  Oranien  begleitete.  Am  Tage  vorher  hatte  die  ganze 
kaiserliche  Familie  in  der  Kasanschen  Kathedrale  an  einem  feier- 
lichen Gottesdienste  teilgenommen.  An  ebendiesem  Tage  über- 
schritt Wittgenstein  mit  seiner  gesamten  Armee  an  drei  Punkten 
gleichzeitig  den  Pruth.     Die  Kampagne  hatte  begonnen. 


Kapitel  VIII.    Der  Tflrkenkrieg'),  Kampagne  von  1838. 

I.  Der  Feldzug  in  Europa. 

Der  Feldmarschall  Wittgenstein  hatte  die  nächsten  der  ihm 
gestellten  Aufgaben  mit  Geschick  und  ohne  Zeitverlust  ausgeführt. 

^)  Es  wurde  am  Tage  Dach  seiner  Versammlung  in  feierlicher  Plenar- 
versammlung  des  Senats  verlesen,  olTenbar  um  Irrungen  vorzubeugen,  wie  sie 
nach  Alexanders  Tode  entstanden  waren,  da  ja  sehr  wohl  denkbar  war,  daß 
Konstantin  als  der  zur  Regentschaft  näher  berechtigte  angesehen  werden 
konnte. 

2)  Eine  ausführliche  Darstellung  der  Operationen  wird  nicht  beabsichtigt 
Läßt  sich  auch  die    klassische  Moltkesche  Geschichte    des  Krieges   durch    das 


Kapitel  VIIl.     Der  Turkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  241 

Das  6.  and  7.  Korps  unter  den  Generalen  Roth  und  Woinow 
konnten  sich  unbehindert  der  Moldau  und  Walachai  bemächtigen, 
Jassy,  Galacz,  Bukarest  und  als  westlichster  Punkt  Krajowa  wurden 
besetzt  und  die  gesamte  Verwaltung  beider  Fürstentümer  sofort 
dem  Geheimrat  Fahlen  übertragen,  der  den  Titel  „bevollmächtigter 
Präsident  der  Divans  von  Moldau  und  Walachai^  annahm.  Er 
war  instruiert,  die  beiden  Hospodare  Fürsten  Sturdza  und  Ghika^ 
die  Rußland  verdächtig  waren,  von  der  Regierung  zu  entfernen, 
ihnen  aber  zu  gestatten,  zu  leben,  wo  immer  es  ihnen  gefallen 
sollte.  An  der  Verfassung  der  Fürstentümer  sollte  nichts  geändert 
und  die  Einkünfte  der  Regierung,  wie  bisher  üblich  gewesen  war^ 
beigetrieben,  auch  alle  Beamten  in  ihren  Stellungen  belassen  werden. 
Pahlens  Auftrag  ging  außerdem  dahin,  für  die  Ruhe  des  Landes 
Sorge  zu  tragen,  und  seine  Hilfsmittel,  vor  allem  Mehl,  Korn, 
Futter  und  V^orspann,  der  Armee  zu  Dienst  zu  stellen,  soweit 
möglich  aber  aller  Willkür  entgegenzuwirken.  Die  Anlage  von 
Magazinen  und  Uospitälern,  Korrespondenz  mit  dem  Feldmarschall 
und  mit  dem  Geheimrat  Fonton,  so  weit  es  sich  um  politische  An- 
gelegenheiten handelte,  Beseitigung  der  Mißbräuche  im  Polizei-  und 
Abgabendienst,  das  waren  die  wesentlichsten  Pflichten,  die  ihm  auf- 
erlegt   wurden').     Die    Schwierigkeit,    ihnen   gerecht   zu    werden, 


weitschichtige  Material,  das  teils  gedruckt  Yorliegt,  teils  yon  mir  aus  den 
Archiyen  von  Paris,  Wien,  Petersburg  und  Berlin  zusammengetragen 
wurde,  nicht  unwesentlich  ergänzen,  so  wird  in  allen  entscheidenden  Fragen 
sein  Urteil  doch  bestehen  bleiben.  Es  kommt  für  unsere  Zwecke  vornehmlich 
darauf  an,  die  für  die  Charakteristik  russischer  Zustände  und  für  die  Psycho- 
logie des  Kaisers  wichtigen  Tatsachen  in  das  rechte  Licht  zu  setzen  Von 
den  Quellen  Moltkes  liegen  mir  die  Berichte  von  Küster,  die  handschriftliche 
Geschichte  der  Kriegsereignisse  bis  zur  Schlacht  bei  Kulewtschi  vom  Obersten 
Staff  und  die  wichtigen  Tagebücher  des  Majors  Panzer  vom  großen  General- 
slabe vor.  Eine  interessante  Quelle  ist  außerdem  in  den  seit  1896  veröffent- 
lichten Memoiren  Alexander  Benkendorffs  erhalten.  Sie  waren  1832  fran- 
zösisch  geschrieben,  sind  aber  in  russischer  Übersetzung  publiziert.  Der  Kaiser, 
dem  sie  vorlaugen,  hat  Anmerkungen  (die  in  der  russischen  Ausgabe  nur  zum 
Teil  wiedergegeben  sind)  daran  geknüpft.  BenkendorfT  ist  während  des 
Feldzuges  von  1828  dem  Kaiser  nicht  von  der  Seite  gewichen  und  bekannt- 
lich auch  später  in  seinem  engsten  Vertrauen  gehlieben.  Ich  habe  den  unge- 
druckten Teil  der  Memoiren  bis  1834  inkl.  kopieren  können.  Sie  tragen 
Tagebuchcbarakter  und  begleiten  die  Ereignisse. 

*)  Ukas  an  Wittgenstein  vom  28.  Februar  st.  v.  und  die  darangeschlossene 
Instruktion  für  Pahlen.     Russkaja  Starina  1897,  Bd.  4,  S.  628—630. 
Schiemann,  Geschichte  Rußlands.   II.  16 


242  Kapitel  VIII.     Der  Turkenkrieg,  Kampagne  von  1828. 

lag  vornehmlich  in  der  Korruption  der  französisch  gebildeten  höhereu 
Stände  und  in  dem  elenden  Zustande  des  Landes,  das,  an  Knecht- 
schaft und  Vergewaltigung  gewöhnt,  kein  Mittel  scheute,  sich  seinen 
Bedrängern  zu  entziehen,  mochten  es  nun  die  eigenen  Landsleute, 
Türken  oder  Russen  sein.  Es  war  nicht  daran  zu  denken,  Moldauer 
und  VValachen  gegen  die  Türken  zu  verwenden,  das  Volk  war  ganz 
unkriegerisch,  auch  hatte  der  Sultan  niemals  Soldaten  aus  den 
Fürstentümern  gezogen.  Dagegen  hatten  die  Türken  im  Laufe  des 
Jahres  1827  bereits  große  Lieferungen  erpreßt,  um  die  Donau- 
festungen zu  verproviantieren,  und  schon  vor  dem  Einrücken  der 
russischen  Truppen  war  das  Land  von  einem  kontagiösen  Fieber 
infiziert,  das  erfahrungsmäßig  in  Pest  auszuarten  pflegte.  Diese 
Krankheiten  haben  sich  dann  sehr  bald  einerseits  bis  in  die  kau- 
kasischen Steppen,  andererseits  durch  Podolien  bis  in  die  Pripet- 
sümpfe  verbreitet,  all  der  primitiven  Vorsichtsmaßregeln  spottend, 
durch  die  man  ihren  Fortschritt  aufzuhalten  bemüht  war'). 

Den  Übergang  über  die  Donau  sollte  das  3.  Korps  Rudsewitsch 
vollziehen,  und  es  lag  in  der  Absicht  des  Kaisers,  durch  seine  Gegen- 
wart dem  Einrücken  seiner  Armee  auf  direkt  türkischen  Boden  noch 
eine  besondere  Bedeutung  zu  geben.  Noch  niemals  war  ein  russischer 
Herrscher  so  weit  vorgedrungen,  uud  in  der  Tat  haben  die  Türken 
aus  seiner  persönlichen  Teilnahme  am  Kriege  den  Schluß  gezogen, 
daß  es  sich  dieses  Mal  um  einen  Kampf  auf  Leben  und  Tod 
handele.  Der  Kaiser  war  am  11.  Mai*)  in  Mohilew  eingetrofl'en,  wo 
der  Feldmarschall  Graf  Sacken  sein  Hauptquartier  hatte,  am  15. 
in  Jelissawetgrad,  am  19.  in  Belgrad,  wo  ihn  das  Hauptquartier 
des  3.  Korps  empfing,  zu  Mittag  desselben  Tages  überschritt  er 
die  russische  Grenze  bei  Wodolui  Isaktschi,  auf  einer  Brücke, 
die  über  den  Pruth  geschlagen  war.     Es  fiel  auf,  daß  er  sich  von 


^)  Anhang  zu  Moltkes  „russisch-türkischem  Feldzug*'  mit  dem  Motto': 
„Gluckselig,  dem  der  Tod  im  Siegesglanze  den  blut'gen  Lorbeer  um  die  Stime 
windet."  Nach  den  Aufsätzen  der  Doktoren  Seydiitz  und  Petersen,  sowie  des 
Kollegienassessors  Rinck  in  den  medizinisch- praktischen  Abhandlungen. 
Hamburg  1835.  Alle  drei  haben  die  Pest  1828  und  1829  auf  dem  Kriegsschau- 
platz bekämpft.  Die  von  ihnen  mitgeteilten  Tatsachen  sind  erschütternd  und 
empörend. 

^)  Nach  dem  Journal  der  «Allerhöchsten  Reisen  des  Kaisers  Nikolai  in 
den  Jahren  1826—1828«.  Wojenno  Utschenny  Archiv  Abt.  1  Nr.  619.  Dieses 
Journal  gibt  den  zuverlässigsten  Anhalt  für  alle  Daten  des  Feldzuges,  soweit 
der  Kaiser  Anteil  an  den  Ereignissen  hat. 


Kapitel  VIII.    Der  Tärkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  243 

Moldauern  eskortieren  ließ,  von  Feinden  im  Feindeslande.  Sie 
führten  ihn  nach  Brailow,  und  dort  nahm  er  um  Mitternacht 
Quartier  in  dem  weitläufigen  Schloß  des  Pascha,  das  fast  mitten 
im  Lager  vor  der  seit  dem  19.  Mai  bereits  blockierten  Festung 
lag.  Der  Großfürst  Michail,  dem  die  Einnahme  der  Festung  über- 
tragen war,  der  Chef  seines  Stabes  General  Ssuchosanet,  Feld- 
marschall Graf  Wittgenstein,  General  Woinow  und  der  ganze  Stab 
der  2.  Armee  erwarteten  den  Kaiser  bei  seinem  Einzüge.  Es  war 
bereits  vorher  ein  Teil  des  kaiserlichen  Hauptquartiers  hier  einge- 
troffen; der  Rest  und  das  Gefolge  an  Diplomaten  und  fremden 
Offizieren  folgte  bald.  Schließlich  war  es  ein  ungeheurer  Hofstaat 
vornehmlich  militärischen  Charakters,  300  Personen  mit  gegen  500 
Pferden,  ein  vornehmer  Troß  der  eine  nicht  geringe  Last  bedeutete  und 
dessen  Verpflegung  und  Beschäftigung,  zumal  die  Ansprüche  hoch 
waren,  während  des  ganzen  Verlaufs  des  Feldzuges  eine  stete  Sorge 
des  Hauptquartiers  war.  Die  Aufgabe  des  Ober-Zeremonienmeisters 
Grafen  Potocki,  der  für  Marstall,  Zelte,  Küche  und  Bagage  zu 
sorgen  hatte,  war  gewiß  keine  Sinekure,  und  der  Troß  an  Bedien- 
ten, der  sich  diesem  kaiserlichen  Hauptquartier  anschloß,  eine 
Quelle  vou  Mißbräuchen,  die  keinem  der  fremden  Beobachter  ent- 
gangen sind.  Von  den  russischen  Diplomaten,  die  den  Vizekanzler 
Nesselrode  begleiteten,  war  Graf  Matuszewic  der  vornehmste,  dazu 
Sacken,  Panin,  Stroganow,  Godenius,  Müller,  Struve,  Kudrjawski  ^). 
Man  hat  dann  später  einige  dieser  Herren  nach  Bukarest  abge- 
schoben. Dem  Grafen  Wittgenstein  waren  ebenfalls  zwei  diplo- 
matische Handlanger  zugeordnet,  Sturdza  und  Handjeri;  Jomini 
und  Prinz  Eugen  von  Württemberg  standen  im  Gefolge  des  Kaisers 
ohne  besondere  Funktionen.  Der  Prinz  wurde  erst  später  und  stets 
in  kritischen  und  unglücklichen  Momenten  verwandt.  Dazu  kamen 
dann  die  Vertieter  der  fremden  Mächte,  Diplomaten  wie  Offiziere, 
denen  gestattet  worden  war,  an  der  Kampagne  teilzunehmen. 
Graf  Mortemart  und  Baron  Bourgoing  für  Frankreich,  mit  ihnen 
einige  glänzende  junge  Offiziere  aus  den  ersten  französischen  Fa- 
milien, für  England  Lord  Heytesbury,  „der  Herkules  der  britischen 
Diplomatie,  schlau  und  falsch  wie  Ulysses",  so  charakterisiert  ihn 
der  damalige  französische  Minister  des  Auswärtigen  La  Ferronnays; 
der  Hannovraner  General  Dörnberg  war  vom  Kaiser   ausdrücklich 


1)  Bulgakow  1.  I.  21.  AprU  1828  st.  ▼. 

16^ 


244  Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828. 

mitgenommea  worden,  um  ein  Gegengewicht  gegen  Heytesbury  zur 
Hand  zu  haben,  wenn  die  englische  Politik  eine  feindselige  Richtung 
einschlagen  sollte.  Österreich  war  durch  den  Prinzen  Philipp  von 
Hessen  vertreten,  der  für  den  Fall  eines  russisch-österreichischen 
Krieges  als  der  wahrscheinliche  Oberkommandierende  galt*).  Er 
traf  erst  Ende  Juni  im  Hauptquartier  ein  und  war  den  Russen 
gewissermaßen  eine  Geisel  für  das  Wohlverhalten  des  mißtrauisch 
beobachteten  österreichischen  Nachbars.  Preußen  hatte  den  Stell- 
vertreter des  Gesandten  General  von  Schöler,  Baron  Küster,  ge- 
schickt, dazu  waren  dem  Hauptquartier  des  Kaisers  Oberstleutnant 
von  Thun,  Generalmajor  von  Nostitz  und  Rittmeister  Moliere  vom 
Generalstabe  der  Garde  angeschlossen.  Dänemark  endlich  hatte 
seinen  Gesandten  Grafen  Blome  geschickt. 

Nächst  dem  Kaiser  aber  war  unzweifelhaft  die  Hauptperson 
sein  Generalstabschef  Graf  Diebitsch,  und  ihn,  dessen  Ratschlägen 
der  Kaiser  unbedingt  folgte,  trifft  die  Verantwortung  für  den  Ver- 
lauf des  Feldzuges,  nicht  den  Feldmarschall  Wittgenstein  und 
Kisselew,  denen  nur  in  der  ersten  Zeit  der  Schein  der  Leitung 
überlassen  wurde.  In  seiner  Summe  gab  das  ein  merkwürdiges 
Netz  sich  durchkreuzender  Intrigen,  deren  Gegenstand  der  Wille 
des  Kaisers  war  und  unter  deren  Wirkung  und  Gegenwirkung 
die  Klarheit  und  Einheit  der  militärischen  wie  der  parallel  laufenden 
diplomatischen  Kampagne  auf  das  schwerste  geschädigt  worden  ist. 

„Der  Kaiser  Nikolai  Pawlowitsch^,  erzählt  einer  der  Offiziere, 
die  ihn  vor  Brailow  sahen'),  „war  damals  32  Jahre  alt,  von  hohem 
Wuchs,  hager,  mit  breiter  Brust.  Die  Hände  waren  etwas  lang, 
das  Gesicht  oval  und  rein,  die  Stirne  offen,  der  Mund  proportioniert 
Sein  Blick  war  rasch,  die  Stimme  tönend,  in  der  Klangfarbe  fast 
ein  Tenor,  aber  er  sprach  etwas  zu  rasch.  Im  ganzen  war  er 
ebenmäßig  gebaut  und  gewandt.  In  seinen  Bewegungen  sah  man 
weder  anmaßliche  Gewichtigkeit,  noch  leichtfertige  Eile,  wohl  aber 
eine  ungemachte  Strenge.  Die  Frische  des  Gesichtes  und  sein 
ganzes  Wesen  zeugten  von  eiserner  Gesundheit  und  bewiesen,  daß  er 


1)  J'oubliais  de  Vous  dire  que  l'Empereur  Fran^ois  vient  de  me  faire 
demander  si  je  ne  desirais  pas  avoir  pres  de  moi  pour  le  temps  de  la 
guerre  an  göneral  autrichien?  J'ai  demande  le  Prince  Philippe  de  Hombourg. 
Nikolai  an  Konstanstin.     Odessa,  16./28.  Mai  1828. 

^)  Memoiren  von  Josif  Dubecki.  2.  Teil.  Russkaja  Starina  1895, 
Maiheft.     1855  geschrieben. 


Kapitel  VIII.    Der  Tarkenkrieg,  Kampagne  Ton  1828.  245 

in  der  Jugend  nicht  verzärtelt  worden  war  und  daß  er  nüchtern 
und  mäßig  gelebt  hatte.  In  physischer  Hinsicht  übertraf  er  alle 
Generale  und  Offiziere,  die  ich  je  in  der  Armee  gesehen  habe,  und 
ich  kann  in  Wahrheit  sagen,  daß  man  in  unserer  aufgeklärten 
Zeit  äußerst  selten  in  den  Kreisen  der  Aristokratie  einen  solchen 
Mann  sieht." 

Aber  gleich  der  erste  Befehl,  den  der  Kaiser  gab,  befremdete.  Er 
schickte  alle  Türken,  die  bei  derBIockierungBrailows  gefangen  worden 
waren,  reich  beschenkt  in  die  Festung  zurück.  Er  wollte  dadurch  einen 
Eindruck  auf  die  türkische  Besatzung  machen;  die  heimkehrenden 
sollten  erzählen,  daß  sie  wirklich  den  Kaiser  gesehen  hätten  und  wie 
unermeßlich  seine  Macht  und  sein  Reichtum  sei.  Er  war  nach  wie  vor 
der  Überzeugung,  daß  es  nur  eine  Frage  nächster  Zukunft  sei,  wann 
die  Türkei  um  Frieden  bitten  werde.  Aber  gerade  Brailow  hat  die 
erste  Enttäuschung  gebracht.  Zunächst  gingen  noch  zwei  Wochen 
hin,  ehe  überhaupt  die  wirkliche  Belagerung  in  Angriff  genommen 
wurde.  Während  dieser  Zeit  lag  der  Kaiser  drei  Tage  lang  am 
Fieber  zu  Bett,  aber  seine  kräftige  Natur  überwand  den  Anfall, 
und  seither  ist  er  während  der  ganzen  Dauer  des  Feldzuges  gesund 
geblieben.  Erst  am  21.  trafen  Belagerungstrain  und  Geschütze  ein, 
und  als  am  24.  ein  türkischer  Parlamentär  im  Hauptquartier  er- 
schien, um  für  die  Rücksendung  der  Gefangenen  im  Namen  Soliman 
Paschas,  des  Festungskommandanten,  zu  danken,  blieb  die  drohende 
Aufforderung  des  Kaisers,  spätestens  bis  um  3  Uhr  nachmittags 
am  nächsten  Tage  zu  kapitulieren,  widrigenfalls  er  keinerlei  Gnade 
üben  werde,  ohne  jeden  Erfolg.  Die  Türken,  welche  bisher  die 
russischen  Arbeiten  am  Bau  der  Redouten  und  Parallelen  nur 
wenig  gestört  hatten,  begannen  in  der  Nacht  auf  den  25.  ihr 
Artilleriefeuer  gegen  die  russischen  Befestigungen  zu  richten,  und 
die  Antwort  der  russischen  Geschütze  vermochte  weder  ihren  Mut 
noch  die  Werke  der  Festung  zu  erschüttern.  Der  Kaiser,  der  sich 
zur  Verzweiflung  seiner  Umgebung  mehrmals  rücksichtslos  exponiert 
hatte  und  von  den  feindlichen  Geschützen,  wo  er  sich  mit  seiner 
stets  zahlreichen  Suite  zeigte,  zum  Ziel  genommen  wurde,  mußte 
erkennen,  daß  eine  längere  Belagerung  bevorstehe.  So  entschloß 
er  sich,  Brailow  zu  verlassen  und  die  Kaiserin,  die  zwei  Tage  nach 
ihm  aus  Petersburg  aufgebrochen  war,  in  Bender  zu  begrüßen  und 
persönlich  nach  Odessa  zu  geleiten.  Hier  erhielt  er  die  Nachricht, 
daß  es  dem  Admiral  Greigh  glücklich  gelungen  war,  einen  türkischen 


246  Kapitel  Vni.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  182a 

Transport  abzufangen,  der,  aus  Trapezunt  abgegangen,  Anapa  ver- 
stärken sollte.  Es  waren  940  Mann,  2  Paschas  und  6  Fahnen,  ein 
Erfolg,  der  große  Freude  hervorrief.  Dagegen  verstimmte  es  den  Kaiser 
aufs  tiefste,  als  ihm  eben  damals  der  Großfürst  Konstantin  den  Spruch 
des  Warschauer  Hochverratsgerichts  schickte.  Fast  alle  Angeklagten 
waren  freigesprochen  worden,  nur  wenigezu  Gefängnisstrafen  verurteilt. 
„Ich  habe^,  schrieb  Nikolai  dem  Bruder,  „wahrhaften  Kummer 
empfunden,  als  ich  den  unerhörten  Ausgang  unseres  infamen 
Prozesses  kennen  lernte.^ ')  Er  hielt  damit  die  Sache  noch 
nicht  für  entschiedisn  und  dachte  sie  weiter  zu  verfolgen.  Aber 
zurzeit  gingen  ihm  die  türkischen  Angelegenheiten  vor.  So 
kehrte  er  über  Ismail  zur  Armee  zurück,  um  in  Belgrad,  wo  die 
3.  Armee  ihr  Lager  hatte,  die  Truppen  zu  inspizieren.  Die  7., 
8.,  9.  und  10.  Infanteriedivision  und  die  5.  Grenadierdivision  mit  ihrer 
Artillerie  zogen  im  Parademarsch  an  ihm  vorüber.  Er  war  mit 
dem  Zustande  der  Truppen  im  höchsten  Grade  zufrieden,  aber 
diese  Paraden,  die  der  Kaiser  im  Felde  überall  wiederholte,  wurden 
zu  einer  wahren  Plage  der  Armee  und  haben,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  in  kritischen  Stunden  ganz  direkt  schädigend  auf  den 
Verlauf  der  militärischen  Operationen  eingewirkt.  Am  5.  Juni  traf 
er  vor  Satuno  wo  ein,  das  inzwischen  zum  Übergangspunkt  aus- 
ersehen war.  Der  gunstige  Zeitpunkt  zum  Überschreiten  des 
Stromes  war  aber  bereits  versäumt  und  die  Donau  weit  über  ihre 
Ufer  ausgetreten.  Auch  beherrschten  die  Kanonen  der  Festung 
Isaktschi  und  eine  Reihe  geschickt  angelegter  kleiner  Redouten 
und  Schanzen  den  Strom.  Man  hatte  unter  Überwindung  großer 
Schwierigkeiten  durch  Sumpf  und  Schilf  einen  Damm  von  7000 
Schritt  Länge  ziehen  müssen,  um  an  die  Stelle  zu  gelangen,  die 
für  das  Schlagen  der  Brücke  bestimmt  war.  Der  Kaiser  hatte 
Wittgenstein  und  Kisselew,  die  immer  noch  vor  Brailow  lagen, 
nach  Satunowo  „eingeladen^,  damit  sie  den  Übergang  mit  „ansehen^ 
sollten.  In  Wirklichkeit  sind  die  entscheidenden  letzten  Vor- 
bereitungen jedoch  von  Kisselew  getroffen  worden.  Die  ganze 
Unnatur  der  geltenden  militärischen  Ordnungen  aber  wurde  noch 
dadurch  gekrönt,  daß  am  5.  Juni  ein  Armeebefehl  des  Kaisers 
kund  tat,  daß  trotz  seiner  Anwesenheit  Macht  und  Verantwortung 
des  Höchstkommandierenden  dem  Feldmarschall  Wittgenstein  ge- 


I)  Nicolai  an  Konstantin  16./28.  Mai.    Odessa. 


Kapitel  VIII.     Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  247 

hören  sollten.  Trotzdem  ist  der  Übergang  über  die  Donau  nach 
einer  eigenhändig  vom  Kaiser  geschriebenen  Disposition  und  gegen 
die  bessere  Überzeugung  seiner  Generale  geschehen.  Es  war  in 
der  Tat  ein  ungeheuer  gewagtes  unternehmen,  das  bei  einiger 
Entschlossenheit  und  Umsicht  der  Türken  mit  der  Vernichtung 
der  russischen  Truppen  hätte  enden  müssen,  auch  den  Kaiser  per- 
sönlich den  größten  Gefahren  aussetzte. 

Bevor  die  Brücke  zum  Übergang  geschlagen  werden  konnte, 
mußte  ein  türkisches  Fort  auf  dem  rechten  Donauufer  genommen 
werden,  das  die  Position  beherrschte.  Ein  glücklicher  Zufall  half 
über  diese  Schwierigkeit  hinweg.  Saporogische  Kosaken,  die  seit 
den  Tagen  der  Kaiserin  Katharina  in  die  türkische  Untertanenschaft 
übergetreten  waren,  um  der  Gewalttätigkeit  Potemkins  zu  entgehen, 
hatten,  als  der  russische  Zar  türkischen  Boden  betrat,  sich  ihm  in  Ismail 
wieder  unterworfen  und  waren  in  Gnaden  angenommen  worden. 
Diesen  Leuten,  die  ihren  frischen  Patriotismus  beweisen  wollten, 
gelang  es,  auf  dem  rechten  Ufer  der  Donau  einen  Platz  ausfindig 
zu  machen,  der  geeignet  war,  unbemerkt  vom  Feinde  Landungs- 
truppen aufzunehmen.  Die  russische  Donauflottille  ward  beauftragt, 
diese  Stelle  vor  den  türkischen  Fahrzeugen  zu  schützen  und  mit 
ihrem  Feuer,  wenn  nötig,  die  russischen  Batterien  des  linken  Donau- 
ufers zu  unterstützen.  Am  8.  Juni  früh  morgens  ist  das  Aben- 
teuer —  denn  das  war  es  —  gewagt  worden.  Auf  42  Booten  der 
Saporoger  wurde  glücklich  eine  Brigade  Jäger  hinübergebracht,  die 
dann  ohne  jeden  Zeitverlust  unter  Musik  und  Trommelschlag  gegen 
die  den  Übergang  beherrschende  Befestigung  der  Türken  anstürmte 
und  sie  fast  ohne  Widerstand  nahm.  Um  11  Uhr  vormittags  war 
alles  entschieden.  Der  Kaiser  hatte  nicht  die  Geduld,  den  Über- 
gang seiner  Truppen  über  die  jetzt  in  aller  Eile  geschlagene  Floß- 
brücke abzuwarten,  und  ließ  sich  am  anderen  Morgen  von  dem 
Hetmann  der  Saporoger,  Ossip  Miohailowitsch  Gladki,  auf  das 
türkische  Ufer  übersetzen').  Hier  erwarteten  ihn  Wittgenstein 
und  Kisselew.  Er  war  sehr  gnädig  und  kehrte  bald  auf  das  linke 
Ufer  zurück,  wohl  ohne  sich  Rechenschaft  darüber  zu  geben,  daß 
er  sich  einer  ungeheuren  Gefahr  ausgesetzt  hatte.  In  Isaktschi 
lagen  10 — 12000  Mann,    und    unter   einem    entschlossenen  Führer 


')  Die  Biographie  Gladkis  von  seiDem  Sohn,  Russkaja  Starina,  XXX, 
S.  381,  l&ßt  den  Kaiser  bereits  am  8.  Juni  das  türkische  Ufer  betreten  und 
dort  die  Kapitulation  von  Isaktschi  entgegennehmen.    Das  ist  Kosakenlegende. 


248  Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  Ton  1828. 

hätten  sie  die  „Handvoll'^  Russen  und  mit  ihnen  den  Kaiser  leicht 
in  ihre  Gewalt  bringen  können.  Aber  es  war  ein  Schrecken  über 
sie  gekommen.  Am  11.  Juni  kapitulierte  die  Festung,  die  sofort 
von  den  Russen  besetzt  wurde;  doch  durfte  auf  Befehl  des  Kaisers  die 
russische  Flagge  in  Isaktschi  nicht  gehißt  werden,  die  Stadt  sei  nur 
okkupiert  und  gehöre  ihm  nicht.  Ebenso  verbot  er  die  Errichtung  einer 
Kapelle  auf  dem  rechten  Ufer  der  Donau.  Der  Offizier,  der  den 
Vorschlag  gemacht  hatte,  erhielt  einen  öffentlichen  Verweis.  Doch 
wurden  hier  die  ersten  Hospitäler  eingerichtet.  Man  hatte  85  Ge- 
schütze und  18  Fahnen  erbeutet,  aber  keine  Gefangenen  gemacht, 
sondern  die  Besatzung  unbehindert  abziehen  lassen,  ein  verhängnis- 
voller Präzedenzfall,  der  auf  dem  europäischen  Kriegsschauplatz 
zum  schweren  Nachteil  der  Russen  überall  Nachahmung  finden 
sollte.  Der  Kaiser  glaubte,  daß  diese  „Großmut^  die  Türken  nach- 
giebig stimmen  werde,  woran  natürlich  nicht  zu  denken  war;  vielmehr 
ließ  der  Sultan  den  Festungskommandanten  und  den  Pascha,  die  an 
der  Kapitulation  von  Isaktschi  teilgenommen  hatten,  in  Konstantinopel 
köpfen.  Ebenso  charakteristisch  war  es,  daß  der  Kaiser  russischen 
Kolonisten,  den  sogenannten  Nekrasowzen,  die  im  Jahre  1708 
vor  den  zornigen  Augen  Peters  des  Großen  in  die  Dobrudscha 
geflüchtet  waren  und  sich  ihm  gleichfalls  unterwerfen  wollten,  erklärte, 
daß  sie  nur  durch  Übersiedelung  auf  russischen  Boden  seine  Unter- 
tanen werden  könnten,  denn  er  wolle  keinen  fußbreit  türkischen 
Landes  erobern! 

Am  13.  Juni  setzte  die  3.  Armee  mit  dem  Hauptquartier  sich 
in  Marsch.  Aber  gleich  anfangs  wurden  die  Verbindungen  unter- 
brochen, da  man  vergessen  hatte,  für  Kurierpferde  zu  sorgen. 
Ebenso  hatte  man  vergessen,  Salz  mitzunehmen  und  auch  an 
Fleisch  fehlte  es  bald.  So  wurde  unter  Entbehrungen  aller  Art 
über  Babadagh  am  18.  der  Trajanswall  erreicht  und  das  Haupt- 
quartier erst  in  Karatai,  dann  in  Karain  aufgeschlagen,  wo  es  bis 
zum  6.  Juli  blieb.  Inzwischen  war  am  17.  Brailow  gefallen,  nach- 
dem die  Türken  am  15.  einen  ungeschickt  ausgeführten  Sturm  der 
Russen  mit  großen  Verlusten  für  die  Angreifer  zurückgeschlagen 
hatten.  Sie  kapitulierten,  weil  sie,  durch  die  Explosion  von  Minen 
erschreckt,  fürchteten,  daß  die  Russen  die  ganze  Festung  in  die 
Luft  sprengen  könnten,  und  weil  ihnen,  nach  längeren  Verhandlungen, 
ihre  Forderung,  freier  Abzug  mit  Hab  und  Gut,  bewilligt  wurde. 
Sie  sind  unter  russischem  Geleit,   nachdem  man  ihnen  zehn  Tage 


Kapitel  VIII.    Der  Törkenkrieg,  Kampagne  Ton  1828.  249 

Zeit  gelassen  hatte,  sich  zum  Abmarsch  vorzubereiten,  nach  Silistria 
gezogen  und  haben  durch  ihren  tapferen  Widerstand  wesentlich 
dazu  beigetragen,  daß  diese  Festung  während  der  ersten  Kampagne 
nicht  genommen  werden  konnte.  Die  Schuld  an  den  großen 
russischen  Verlusten^)  trifft  den  Großfürsten  Michail,  und  es  ist 
gewiß  kein  Zufall,  daß  der  Kaiser  ihm  während  des  ganzen 
weiteren  Verlaufs  des  Feldzuges  kein  Kommando  mehr  anvertraute*). 
Am  18.  kapitulierte  unter  gleichen  Bedingungen  wie  Brailow  die 
kleine  Festung  Matschin,  am  23.  Hirsowa,  am  24.  Küstendje,  am 
1.  JuliTuItscha,  und  überall  haben  die  türkischen  Truppen  frei  abziehen 
können.  Silistria,  das  zu  Beginn  des  Feldzuges  in  dürftigstem  Zu- 
stande war,  ist  so  in  wenigen  Tagen  um  gegen  17000  Mann  verstärkt 
worden.  Die  fremden  Diplomaten  und  Militärs,  die  im  Haupt- 
quartier mit  ihrer  Kritik  vorsichtig  zurückhielten,  gaben  ihrem 
Erstaunen  über  diese  „Großmut^  des  Kaisers  in  ihren  Berichten 
recht  drastischen  Ausdruck.  Auch  auf  eine  andere  Eigentümlich- 
keit des  Kaisers  machten  sie  aufmerksam:  er  wolle  möglichst  jedes 
Blutvergießen  vermeiden  und  instruiere  in  diesem  Sinn  seine 
Generale.  Endlich  hielt  es  der  Kaiser  für  seine  Pflicht,  mit  den 
Truppen  auch  im  Felde  Parade  abzuhalten.  In  der  Zeit  vom  21. 
bis  27.  Juni  fanden  drei  große  Paraden  statt  und  am  30.  sogar  ein 
Manöver,  in  welchem  die  1.  Division  Jäger  zu  Pferde  gegen  das 
3.  Infanteriekorps  operieren  mußte.  Solche  Manöver  und  Paraden 
in    der   glühenden    Hitze   der   Dobrudscha,    bei    dem   schon  jetzt 


^)  Sie  verloren  gegen  3000  Mann.  Die  Sturmleitern  waren  zu  kurz,  und 
der  Sturm  wurde  an  falscher  Stelle  unternommen,  statt  da,  wo  die  russischen 
Geschütze  eine  Bresche  geschlagen  hatten. 

')  Konstantin  gegenüber  hat  Nikolai  den  Bruder  entschuldigt,  Brief 
Tom  21.  Juni:  „Je  veux  vous  faire  partager  mon  bonheur  des  succ^s  de 
notre  eher  Michel:  Brailow  s^est  rendu  enfin.  En  cette  occasion  la  bonte 
Divine  s^est  prononcee  d'une  mani^re  visible  sur  nous  par  une  circonstance 
irappante.  Avant-hier  soir,  revenant  de  Kistendji,  j'ai  re^u  par  Dolgorouki, 
aide  de  camp  de  Michel,  la  fäcbeuse  nouvelle  que  I'assaut  donne  k  la  breche 
a  manque  avec  une  perte  tres  considerable  et  par  suite  de  dispositions  tres 
bien  faites,  mais  fort  mal  executees  par  trop  de  zele,  de  bravoure  et  de 
precipitation,  Ton  a  escalad^  sans  echelles  lä  oü  il  n*y  avait  pas  de  breche, 
tandis  qu'elle  existait  a  cote  et  que  personne  n'a  pu  la  distinguer  dans  la 
fumee  et  la  poussiere  ....  Et  hier  juste  24  heures  apres  cette  triste  nouvelle, 
ßibikow  m^est  arrive  porteur  de  la  premiore  clef  de  la  ville.^  Er  gibt  die 
Verluste  auf  „plus  de  1600  blesses  et  80  officiers  tues  et  blesses"  an.  Darunter 
die  Generale  Wolflf  und  Pimrot. 


250  Kapitel  VIII.    Der  Turkenkrieg,  Kampagne  von  1828. 

vielfach  fühlbaren  Mangel  an  gutem  Wasser,  bei  dem  Putzen  von 
Waffen  und  Knöpfen  und  all  den  kleinen  Quälereien,  die  mit 
einer  Parade  in  den  Tagen  Nikolais  verbunden  waren,  machten 
die  Truppen  mehr  müde  als  der  angestrengteste  Marschtag.  Dieses 
Nebeneinander  von  Krieg  und  Kriegspielen  wurde  nachgerade 
unerträglich. 

Eine  glückliche  Nachricht  brachte  der  2.  Juli.  Anapa  war 
gefallen^)  und  damit  die  Flotte  des  Schwarzen  Meeres  frei  ge- 
worden, so  daß  sie  fortan  mit  der  russischen  Invasionsarmee 
kooperieren  konnte.  Anapa  war  der  letzte  Stützpunkt  der  Pforte 
an  der  nordöstlichen  Küste  des  Schwarzen  Meeres,  und  nur  von 
dort  aus  stand  sie  noch  in  unmittelbarem  Verkehr  mit  den  unab- 
hängigen und  kriegerischen  Völkerschaften  des  westlichen  Kaukasus. 
Die  Türken  hatten  hier  eine  Besatzung  von  6 — 7000  Mann, 
während  die  Russen  unter  Perowski  nicht  über  4500  Mann  geboten 
und  erst  nach  dem  Eintreffen  Menschikows  durch  das  schwere  Ge- 
schütz der  Flotte  ein  Übergewicht  erhielten,  das  dann  am  12.  Juni 
zur  Kapitulation  der  Festung  führte.  Die  Besatzung  betrug  noch 
4000  Mann,  und  von  diesen  wurden  die  verheirateten  Offiziere  und 
Mannschaften  in  die  Berge  entlassen,  die  übrigen  kriegsgefangen 
in  die  Krim  geführt;  die  Donquichotterie  von  Brailow  wurde  also 
nicht  in  vollem  Umfange  wiederholt. 

Das  W^esentliche  aber  war,  daß  jetzt  ein  Angriff  gegen  Varna 
gleichzeitig  zu  Wasser  und  zu  Lande  unternommen  werden  konnte, 
und  das  ist  denn  auch  die  ursprüngliche  Absicht  der  russischen 
Heeresleitung  gewesen.  Vor  Mangalia  sollte  sich  die  Flotte  mit 
der  Armee  in  Fühlung  setzen.  Aber  erst  am  7.  Juli  war  das 
Hauptquartier  aus  Karain  aufgebrochen,  um  über  Bazardschik  nach 
Varna  zu  marschieren.  Es  waren  54  Bataillone,  48  Eskadrons  und  etwas 
über  250  Geschütze.  Gleichzeitig  marschierte  der  General  Swetschin 
mit  einer  Brigade  Infanterie  und  6  Eskadrons  von  Mangalia  auf 
Varna  zu,  während  der  Generaladjutant  Benkendorffll  detachiert 
wurde,  um  eineStellungzwischenSilistria,  dessen  Blockierung  begonnen 
hatte,  und  dem  Hauptquartier  einzunehmen.  Er  sollte  das  6.  Korps 
unter  General  Roth,  das  bei  Hirsowa  seinen  Übergang  über  die 
Donau  vollzogen  hatte,  erwarten.  Der  General  Witt  aber,  der  in- 
zwischen 60  Bataillone  Reserven  organisiert  hatte,  wurde  beauftra|2:t, 


*)  Hansen,  G.  v.t  Zwei  Kriegsjabre.    Berlin  1881. 


Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  251 

die  eingenommenen  türkischen  Festungen  zu  besetzen  und  so  eine 
weitere  Division  Infanterie  für  das  Hauptquartier  freizumachen. 
Endlich  wurde  Generaladjutant  Graf  Suchtelen  Swetschin  nach- 
geschickt, um  ihn  mit  einer  Brigade  Infanterie  und  6  Eskadrons 
(unter  General  Akinfiew)  zu  verstärken  und  den  Versuch  zu 
machen,  Varna  zu  überraschen.  Die  Flotte  war  bereits  von 
Mangalia  dahin  abgesegelt.  Gelang  die  Überrumpelung  nicht,  so 
sollte  die  Hauptarmee  ihr  Werk  tun. 

Dieser  Plan  ist  jedoch  nicht  ausgeführt  worden.  Zunächst 
hatte  ein  Kosakenpikett  der  Vorhut  der  in  Eilmärschen  nahenden 
Hauptarmee  in  der  Nähe  von  Bazardschik  ein  ungünstiges  Gefecht, 
das  schließlich  dank  herbeieilender  Verstärkungen  zwar  mit  dem 
Rückzug  der  Türken  endete,  aber  doch  zeigte,  daß  man  einen 
tapferen  Feind  vor  sich  habe.  Als  dann  General  Rüdiger  am 
12.  Juli  in  das  von  den  Einwohnern  verlassene  Kosludji  einrückte, 
kam  es  auf  der  Straße,  die  nach  Jenibazar  fährte,  zu  einem 
zweiten  Gefecht,  das  ebenfalls  mit  dem  Rückzuge  der  Türken 
endete,-  aber  noch  empfindlichere  Verluste  brachte  als  das  erste 
Treffen.  Das  gegen  Varna  vordringende  russische  Heer  zählte  nach 
den  Detachierungen,  die  der  Kaiser  angeordnet  hatte  ^),  nur  noch 
24000  Mann,  davon  gegen  2500  Reiter.  Das  war  allerdings  sehr 
wenig,  wenn  man  bedenkt,  daß  der  Seraskier  Hussein  Pascha  mit 
über  30000  Mann  und  100  Geschützen  in  Schumla  lag  und  weitere 
Verstärkungen  erwartete.  Der  Kaiser  wurde  bedenklich  und 
erinnerte  sich  eines  Vorschlages,  den  der  Großfürst  Konstantin 
ihm  vor  Beginn  der  Kampagne  gemacht  hatte,  die  polnischen 
Reserven  und  die  Hälfte  der  polnischen  Armee  aller  Waffen 
am  Bug  aufzustellen,  damit  dadurch  bei  den  Polen  die  Vor- 
stellung erweckt  werde,  daß  sie  bestimmt  seien  die  russische 
Armee  zu  verstärken.  Der  Kaiser  schrieb  nun  in  den  Ausdrücken 
emphatischer  Verehrung,  die  seine  Korrespondenz  mit  dem  Bruder 
charakterisiert,  daß  er  sich  alle  Tage  mehr  davon  überzeuge,  daß 
Verstärkungen  für  seine  Armee  unerläßlich  seien.     Das  7.  Korps 


*)  Siehe  Moltke  pag.  110  und  111.  Dazu  die  Relationen  Rüsters  vom 
7.,  11.  15.  und  22.  Juli.  Es  lagen  11750  Mann  in  der  Walachei,  10750  vor 
Silistria,  5500  auf  Eskorte,  auf  der  Flotte  und  auf  Etappen  rückwärts;  5100 
Mann  vor  Varna,  6000  als  Avantgarde  in  Kosludji,  2000  vor  Anapa.  Vgl. 
auch  die  Korrespondenz  Nikolais  mit  Konstantin,  die  Briefe  vom  1S„  21., 
27.  Juni  1828.    Petersburg.  Archiv  des  Reichsrats. 


252  Kapitel  VIII.    Der  Tarkenkrieg,  Kampagpie  Ton  1828. 

habe  vor  Brailow  über  5000  Mann  eingebüßt,  das  Verteidigungs- 
system der  Türken,  die  jedes  armselige  Nest  zu  behaupten  suchten, 
habe  ihn  zu  Blockaden  und  Belagerungen  genötigt,  durch  welche 
zwei  Brigaden  der  7.  Division  gefesselt  würden;  mit  zwei  Brigaden 
der  10.  Division  blockiere  er  Küstendje  und  beschütze  er  die  Zufuhr 
der  über  das  Meer  kommenden  Lebensbedürfnisse.  In  Summa 
gebe  das  einen  Ausfall  von  10000  Mann  und  noch  habe  er  Silistria, 
Rustschuk,  Giurgewo  und  Varna  zu  blockieren  oder  zu  belagern. 
Schon  habe  er  dem  2.  Korps,  das  auf  Friedensfuß  stehe,  befehlen 
müssen,  ohne  Zeitverlust  das  6.  Korps  in  der  Moldau,  vielleicht 
auch  in  der  Walachei  zu  ersetzen,  um  wenigstens  im  August 
sechs  Divisionen  bei  der  Hauptarmee  zu  haben.  Aber  das  alles 
sei  sehr  spät,  und  er  bitte  ihn  daher,  ob  er  ihm  nicht  je  eine 
Division  Infanterie  und  Kavallerie  schicken  könne,  die  als  Feld- 
reserve dienen  sollten  *).  Die  Antwort,  die  er  von  Konstantin 
erhielt'),  brachte  eine  bittere  Enttäuschung.  Der  Großfürst  erklärte, 
er  habe  seinen  Vorschlag  nur  gemacht,  um  die  polnischen  Truppen 
zu  beschäftigen.  Es  sei  ihm  unmöglich,  vor  Ende  September  oder 
Anfang  Oktober  zu  kommen.  Auch  könne  Rußland  unmöglich 
seine  westliche  und  südwestliche  Grenze  entblößen.  Jedenfalls 
werde  er  einen  direkten  Befehl  abwarten,  auch  um  die  Truppen, 
wie  er  vorgeschlagen,  an  den  Bug  zu  verlegen.  Endlich  könne  er 
die  polnischen  Truppen  doch  nur  marschieren  lassen,  wenn  er 
selbst  an  ihre  Spitze  trete,  das  aber  schien  ihm  ausgeschlossen 
zu  sein.  Einige  bittere  Bemerkungen  über  das  unnütze  Stürmen 
leiteten  den  Brief  ein.  Damit  war  auch  entschieden,  daß  die  polnische 
Armee  am  Türkenkriege  nicht  teilnehmen  werde.  Der  Kaiser') 
machte,  so  tief  ihn  die  Antwort  verletzen  mußte,  dem 
Großfürsten  seine  Entschuldigung  und  sagte  ihm  seinen  Dank 
für  die  Übersendung  einiger  polnischer  Flügeladjutanten  und 
Offiziere*).     Diese  Frage   sei  jetzt  für  ihn  endgültig  erledigt.     Er 


^)  Mainteoant  c'est  ä  yous  a  decider,  eher  Constantin,  si  vous  croyez 
pouvoir  nous  envoyer  une  division  d^infanterie  et  ane  de  cavallerie  polonaise 
pour  former  de  suite  notre  reserve  de  campagne. 

3)  Aus  Warschau«  den  27.  Juni.  Dem  Großfürsten  erschien  sogar  die 
Haltung  Preußens  verdächtig! 

')  Nikolai  an  Konstantin  aus  Bazardschik.  den  10.  Juli  1828. 

*)  £s  waren  im  ganzen  18  Offiziere  die  unter  Führung  des  General- 
quartiermeisters    Obersten     Hauke    sich    Diebitsch    zur    Verfügung    stellten. 


Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  2Ö3 

hatte  Die  vermocht,  dem  Bruder  gegenüber  den  Kaiser  auszuspielen, 
und  wagte  es  auch  jetzt  nicht,  obgleich  die  bittere  Ver- 
legenheit, in  der  er  sich  befand,  und  das  Interesse  des  Reiches  ihn 
wohl  verpflichtet  hätten,  es  zu  tun.  Wir  wissen,  daß  der  Großfürst 
um  jene  Zeit  äußerst  gereizt  war.  Er  sprach  mit  höchster  Leiden- 
schaft gegen  den  Türkenkrieg,  den  er  für  gefahrbringend  und  un- 
gerecht hielt.  Nichts  lag  ihm  ferner,  als  sich  seine  schöne  polnische 
Armee  durch  ihn  verderben  zu  lassen.  „In  den  letzten  14  Jahren^, 
schreibt  der  deutsche  Generalkonsul  Schmidt^),  „ist  keine  Epoche 
so  langen  bitteren  Grimmes  eingetreten.  Die  Äußerungen  über 
den  Kaiser  und  über  den  General  Diebitsch  sind  wahrhaft  er- 
schreckend.^ Von  einer  Verschiebung  der  polnischen  Armee  näher 
zum  Kriegsschau  platze  hin  durfte  weiter  nicht  die  Rede  sein,  sie 
bezog  ihr  gewöhnliches  Lager  in  der  Nähe  von  Warschau. 

Nun  hätte  man  annehmen  sollen,  daß  diese  Absage  Konstantins 
eine  beschleunigte  Durchführung  der  gegen  Varna  gerichteten  Pläne 
zur  Folge  haben  mußte,  zumal  die  Festung  noch  nicht  die  er- 
warteten Verstärkungen  erhalten  hatte.  Aber  der  General  Diebitsch 
verstand  es,  trotz  Wittgensteins  Widerspruch  und  obgleich  der 
Preuße  Nostitz  und  der  Herzog  von  Mortemart  auf  die  Gefahren 
des  Unternehmens  aufmerksam  machten,  den  Kaiser  für  den  Ge* 
danken  zu  gewinnen,  den  Marsch  gegen  Varna  aufzugeben  und 
statt  dessen  mit  der  Hauptarmee  gegen  Schumla  zu  rücken.  Sein 
Gedanke  scheint  gewesen  zu  sein,  daß  es  gelingen  werde, 
Hussein  Pascha  zu  offener  Feldschlacht  zu  verlocken  und  ihm  eine 
vernichtende  Niederlage  beizubringen.  Schumla  und  Varna,  so 
konnte  man  hoffen,  würden  dann  kapitulieren.  Aber  auch  die 
Aussichten  einer  Belagerung  ohne  vorausgegangene  Niederlage  der 
Türken  hielt  Diebitsch  für  günstig,  während  Wittgenstein  meinte, 
sie  könne  ein  ganzes  Jahr  lang  dauern.  Der  Kaiser  entschied  lür 
Diebitsch  *).  Es  blieb  dabei,  daß  sich  Suchtelens  schwache 
Abteilung    mit    der  Beobachtung  Varnas  begnügen  solle,   während 


Wojenno  Utscbenny  Arch.  Nr.  2597.  Nikolai  hatte  den  Bruder  bereits  am 
14.  Mai  gebeten,  ihm  einige  polnische  Offiziere  zu  schicken. 

^)  Warschau,  den  26.  Mai,  also  bereits  einen  Monat,  bevor  der  Kaiser 
um  Unterstützung  durch  die  polnische  Armee  bat  Berlin,  Geh.  St.  A.  A.  A.  I. 
Rep.  I  Nr.  20.    Pologne  n.  27  I. 

^  Die  Details  bei  Schilder  und  in  der  Biographie  Kisselews  gehen  auf 
den  ganz  unzuverlässigen  Lacroix  zurück  und  verdienen  keine  Beachtung. 


254  Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828. 

das  Hauptquartier  am  15.  Juli  aus  Bazardschik  aufbrach  und  unter 
steten  Gefechten  der  von  General  Rüdiger  geführten  Vorhut,  am  18. 
in  Jenibazar  anlangte,  15  Werst  von  Schumla,  während  Benken- 
dorf weiter  sudlich  Pravodi  besetzte,  ohne  auf  erheblichen  Wider- 
stand zu  stoßen. 

Am  20.  erreichte  die  Armee  Schumla.  Das  Korps  Rudzewitsch 
mit  dem  Kaiser  und  Wittgenstein  marschierte  auf  dem  geraden 
Wege  auf  das  befestigte  Lager  von  Schumla  zu,  das  Korps  Woinow 
mit  dem  General  Diebitsch  längs  dem  Gebirge,  um  der  türkischen 
Stellung  in  die  Flanke  zu  kommen.  Hier  ist  es,  als  die  Russen 
unter  dem  persönlichen  Kommando  des  Kaisers  die  Höhen  vor 
Schumla  besetzten,  an  den  Ufern  des  Balanlyk  zu  lebhaften 
Kämpfen  mit  der  türkischen  Kavallerie  gekommen,  wobei 
die  Türken  geworfen  wurden  und  sich  in  die  Verschanzungen 
von  Schumla  zurückzogen^).  „WMr  haben",  schrieb  der  Kaiser 
am  30.  dem  Großfürsten  Konstantin,  „eine  sehr  schöne 
Affäre  mit  gegen  10000  Pferden  gehabt.  Es  war  nach  Disposition 
und  Ausführung  wirklich  ein  schönes  Manöver.  Wir  haben  hier 
unsere  Position  eingenommen  und  nur  16  Tote  und  einige  50  Ver- 
wundete verloren."  Er  war  in  bester  Laune.  Paskiewitsch  hatte 
ihm  die  Einnahme  von  Kars  gemeldet,  die  russische  Flotte  war 
vor  Varna  eingetroffen,  Ibrahim  durch  die  bei  Navarin  vereinigten 
Truppen  genötigt  worden,  Morea  zu  räumen').  Hussein  Pascha 
schien  sich  ruhig  verhalten  zu  wollen,  und  die  Russen  rückten  mit 
der  Anlage  ihrer  Redouten  Schumla  immer  näher.  Aber  die  Lage 
war  weniger  günstig,  als  Nikolai  glauben  wollte.  Die  Besetzung  der 
in  zu  großer  Zahl  und  in  zu  großer  Nähe  vom  Feinde  angelegten 
Redouten  schwächte  den  Bestand  der  Bataillone;  die  Kavallerie, 
deren  Pferde  bereits  schlaff  wurden,  mußte  sich  die  Furage  aus 
großer  Entfernung  holen,  jeder  Transport  erforderte  militärische 
Deckung,  und  die  ungemein  rührige  und  vorzüglich  berittene  tür- 
kische Kavallerie  brachte  durch  AufTangen  der  russischen  Kuriere, 

^)  Eine  sehr  lebendige  Schilderung  dieser  Kämpfe  gibt  der  Herzog  von 
Mortemart,  Relation  vom  24.  Juli  1828  aus  dem  Lager  vor  Schumla.  Weniger 
ausfahrlicb  Käster.  Auch:  Graf  Kisselew  und  seine  Zeit  ist  heranzuziehen. 
Kisselew  schlug  die  Brücken  ober  den  Balanlyk.  Der  Kaiser  verlieh  ihm  einen 
Degen  mit  Brillanten  und  der  Aufschrift  «Für  Tapferkeit*.     Bd.  I,  S.  279. 

')  Eine  «m  6.  August  von  Codrington  und  Mehemed  Ali  in  Kairo  abge- 
schlossene Konvention  regelte  die  Räumung  Moreas. 


Kapitel  VIII.     Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  2ÖÖ 

durch  Plünderung  der  Transporte,  Überfälle  der  an  Redouten  und 
Trancheen  arbeitenden  Soldaten  den  Russen  die  empfindlichsten 
Verluste  bei.  Dazu  kam,  daß  die  Krankheiten  in  immer  bedenk- 
licherem Maße  zunahmen,  und  die  Transportochsen  zu  Hunderten 
fielen,  so  daß  die  regelmäßige  Verproviantierung  des  russischen  Lagers 
in  Frage  gestellt  wurde. 

„Mit  einem  Wort,  als  wir  daran  gingen,  Schumla  zu  belagern, 
boten  wir  vielmehr  selbst  das  Bild  eines  belagerten  Platzes.^  So 
urteilt  Benkendorf  ^),  der  am  2.  August  den  Kaiser  begleitete,  als 
dieser  das  Lager  von  Schumla  verließ,  um  nach  Varna  zu  fahren, 
wo  er  den  Stand  der  Belagerung  in  Augenschein  nehmen  und  die 
Flotte  besichtigen  wollte,  die  er  überhaupt  noch  nicht  gesehen  hatte. 
Von  dort  wollte  er  nach  Odessa  zur  Kaiserin,  denn  im  Grunde  war 
er  des  Krieges  bereits  müde').  Auch  den  Großfürsten  Michail,  die 
Generaladjutanten  Wassiltschikow,  Nesselrode  und  Potockl  nahm  der 
Kaiser  mit  sich. 

Den  Convoi  bildeten  ein  wenig  vollzähliges  Regiment  Jäger  zu 
Pferde,  zwei  Bataillone  Infanterie,  eine  Batterie  reitender  Artillerie 
und  drei  Eskadrons  Leibkosaken').  Die  letzteren  ritten  als  Vor- 
hut. Der  Kaiser  hatte  bereits  befohlen,  daß  Infanterie  und  Artillerie, 
die  mit  seiner  vorwärts  drängenden  Ungeduld  nicht  Schritt  halten 
konnten,  nach  Schumla  zurückkehren  sollten,  als  die  Kosaken  mel- 
deten, daß  bei  Jenibazar  türkische  Reiterei  im  Hinterhalt  liege. 
Wie  der  Feind  sah,  daß  die  Russen  sich  zum  Kampf  ordneten,  wich 
er  zwar  zurück,  aber  bei  Kosludji  erschlug  er  die  Fuhrleute  des 
Trains  und  trieb  die  Zugtiere  fort.  Mit  vieler  Mühe  wurde  Nikolai 
bewogen,  in  Kosludji  Halt  zu  machen,  um  den  General  Dellings- 
hausen abzuwarten,  der  dem  bei  Kovarna  gelandeten  Fürsten 
Menschikow  entgegengeschickt  war  und  Befehl  hatte,  die  Verbin- 
dung zwischen  Kosludji  und  Varna  zu  sichern.  Schon  am  23.  verlor 
der  Kaiser  jedoch  die  Geduld,  er  hob,  ohne  Dellingshausen  abzuwarten, 
das  Lager  von  Kosludji  auf  und  ritt  auf  Varna  zu  in  den 
Wald  hinein.  Unter  nicht  geringen  Fährlichkeiten  wurde  das  Ufer 
des  Schwarzen  Meeres  erreicht.  Dellingshausen  hatte  sich  schließ- 
lich mit  Menschikow  vereinigt,  nachdem  er  vorher  einen   heftigen 

^)  Tagebücher.     Russkaja  Starina  Juni  1896,  S.  488. 
^  Relation  Küsters  vom  12./24.  August  durch  sicheren  Kurier. 
')  In  Summa  700  Mann  Infanterie  und  600  Pferde,  dazu  ein  Train,  der 
den  Reisepro viant  fährte. 


256  Kapitel  VIII.     Der  Törkenkrieg,  Kampagne  von  1828. 

Kampf  mit  den  Türken  bestaDden  hatte,  die  aus  Varna  ausgefallen 
waren.  So  lief  das  Abenteuer  des  Kaisers,  denn  so  ist  dieser  Ritt  zu 
beurteilen,  noch  glücklich  ab.  Zeugt  es  von  seinem  persönlichen  Mut, 
so  doch  nicht  minder  von  unbesonnener  Unterschätzung  wirklicherGe- 
fahren.  Er  schien  zu  vergessen,  daß  er  in  Feindesland  sei.  Andererseits 
aber  scheute  er  vor  Unternehmungen  zurück,  die  einen  Erfolg  ver- 
sprachen, sobald  ihm  die  Möglichkeit  oder  Wahrscheinlichkeit  großer 
Opfer  an  Menschen  vor  die  Seele  trat.  Als  ihm  Menschikow  vorschlug, 
mit  Hilfe  der  aus  Anapa  angelangten  Truppen,  der  1300  Mann, 
die  den  Kaiser  begleitet  hatten,  und  unter  Assistenz  der  Flotte 
Varna  mit  Sturm  zu  nehmen,  lehnte  er  ab.  Die  Festung  werde 
in  spätestens  acht  Tagen  kapitulieren  ^),  man  solle  zu  einer  regel- 
rechten Belagerung  schreiten.  Dann  inspizierte  er  die  Flotte  und 
segelte')  auf  der  Fregatte  „Flora''  nach  Odessa  ab,  wo  er  nach 
dreitägiger  glücklicher  Fahrt  anlangte  und  bis  zum  2.  September 
blieb.  Auch  der  ganze  Stab  der  Diplomaten,  Hofleute,  Beamten 
und  fremden  Bevollmächtigten  folgte  ihm  nach.  Mit  ihnen  zogen 
die  Intrigen  der  europäischen  Politik  in  Odessa  ein.  Prinz  Philipp 
von  Hessen  war  beauftragt,  den  Kaiser  gegen  die  französische 
Politik  mißtrauisch  zu  machen.  General  Maison  hatte  unter  lautem 
Jubel  der  öffentlichen  Meinung  Frankreichs  am  19.  August  die 
Fahrt  angetreten,  die  seine  Truppen,  zum  Teil  auf  englischen 
Schiffen,  nach  Morea  führen  sollte,  was  Metternich  im  höchsten 
Grade  beunruhigte.  Aus  den  Betrachtungen  der  Pariser  Presse 
gehe  deutlich  hervor,  daß  das  Unternehmen  gegen  Morea  von  den 
revolutionären  Parteien  in  Frankreich  als  erster  Schritt  betrachtet 
werde,  der  sie  zu  dem  System  zurückführen  solle,  das  1813  und 
1814  von  den  Mächten  erdrückt  wurde.  Die  Befreiung  Griechen- 
lands werde  zu  einer  französischen  Tat  gestempelt  werden,  was 
doch  umöglich  den  Russen  lieb  sein  könne').  Ebenso  mißtrauisch 
waren,  obgleich  sie  der  Morea-Expedition  schließlich  zugestimmt 
hatten,  Wellington  und  Aberdeen.  Die  Franzosen,  meinte  Aberdeen^), 

1)  Denkschrift  des  Fürsten  Menschikow.  Woj.  Utsch.  Archiv.  Zitiert  von 
Schilder.    Nikolai,  Bd.  II,  Anm.  221. 

^)  «Um  nicht  Zeuge  einer  zweiten  erfolglosen  Unternehmung  sein  zu 
müssen",  sagt  Moltke  S.  144. 

')  Privatschreiben  des  Fürsten  Metternich  an  den  Prinzen  von  Hessen- 
Homburg  d.  d.  Woltersdorf,  den  14.  August  1828  in  der  Anlage. 

^)  An  Wellington,  den  30.  August:  „The  french  will  surely  uever  be 
happy  unless  tbey  can  manufacture  divers  touchiug  paragraphs  about  the  white 


Kapitel  YIII.     Der  TärkeDkrieg,  Kampagne  von  1828.  257 

werden  gewiß  nicht  glücklich  sein,  bevor  sie  einige  rahrsame  Artikel 
über  die  weiße  Fahne,  die  auf  den  Türmen  der  Akropolis  von  Athen 
weht,  schreiben  können. 

In  der  Tat  trug  das  französische  Kabinett  sich  mit  großen 
Plänen  und  Hoffnungen.  „Ich  bin  sicher,"  schrieb  La  Ferronnays 
am  30.  Juli  dem  Herzog  von  Mortemart,  „daß  Frankreich  in  weniger 
als  drei  Jahren  wieder  das  erste  Land  der  Welt  werden  kann').^ 
Man  wünschte  in  Paris  leidenschaftlich  die  Trennung  der  griechischen 
Frage  von  der  russisch-türkischen,  aber  gleichzeitig  auch  die  Be- 
seitigung des  englischen  Einflusses  aus  Morea  wie  aus  Ägypten. 
Dazu  begannen  sich  die  französischen  Blicke  auf  Algier  zu  richten, 
und  nach  wie  vor  wurde  der  Gedanke  einer  besonderen  französisch- 
russischen Allianz  gepflegt,  an  die  sich  die  ausschweifendsten  Pläne 
knüpften.  Seit  den  Tagen  Napoleons  hatte  der  französische  Ehrgeiz 
keinen  höheren  Flug  genommen.  Mortemart  war  angewiesen,  mit  allen 
Mitteln  dem  Einfluß  Lord  Heytesburys  entgegenzuarbeiten,  der  in 
Odessa  schnell  das  Vertrauen  des  Kaisers,  oder  doch  wenigstens 
den  Schein,  eines  Vertrauens,  zu  gewinnen  verstand.  In  Wirklich- 
keit hatten  nur  die  geringen  Erfolge  Rußlands  England  zeitweilig 
beruhigt.  Die  Sympathien  der  britischen  Politik  galten  den  Türken 
und  Österreichern'),  während  Nesselrode  —  der  kleine  Minister, 
wie  ihn  Metternich  nannte  —  und  der  Kaiser  sich,  je  länger  je  mehr, 
in  der  Überzeugung  festigten,  daß  Österreich  der  heimliche  Ver- 
bündete der  Türken  sei').     Es  ist  dann  ein  Moment  ernster  poli- 


flag  floating  on  the  towers  of  tbe  Akropolis  of  Athens.''  Wellington,  Des- 
patches  V. 

^)  Particuliere. 

^  ^Malgre  ies  dispositions  personnelles  tres  conciliantes  de  Lord  Heytes- 
bury,  et  malgre  la  nature  assez  satisfaisante,  k  certains  egards,  des  explications 
transmises  par  le  prince  de  Lieven,  il  etait  ais^  de  pen^trer  que  la  politique 
du  ministere  an^lais  . .  .  se  rapprochait  de  plus  en  plus  de  celle  de  rAutricbe.** 
Compte  rendu  du  Ministere  des  affaires  etrangeres  pour  Ies  annees  1827 
et  1828.  Petersburg.  Ministerium  des  Auswärtigen.  Ebendort  die  Klagen 
über  die  Intrigen  Österreichs. 

*)  Entzifferung  der  Depesche  28  Küsters  d.  d.  Odessa,  14./26.  September 
1828.     Durch  sichere  Gelegenheit. 

La  meüance  et  l'animosite,  qui  regnent  ici  contre  rAutriche,  ont,  pendant 
Ies  derniers  moments  du  sejour  de  TEmpereur  ä  Odessa,  augmente  ä  un  degre, 
qui,  dans  d^autres  circonstances,  donnerait  Heu  aux  plus  justes  alarmes.  Heu- 
reusement  la  positition  des  deux  cours,  dont  Tune  ne  parait  pas  en  ^tat  de 
soutenir  actuellement  une  guerre  et  dont  Tautre  sent  trop  Ies  embarras  de 
Seh  lern  ann,  Geschichte  Kußlands.   IT.  17 


258  Kapitel  VIH.     Der  Türkenkrieg,  Kampagne  Ton  1828. 

tiscber  Krisis  eingetreten,  als  Rußland  seine  Absicht  kundtat,  den 
Bosporus  und  die  Dardanellen  zu  blockieren;  die  Verhandlungen, 
die  damals  im  englischen  Kabinett  stattfanden,  trugen  einen  direkt 
feindseligen  Charakter.  Man  erwog,  ob  nicht  d«r  Vertrag  vom 
6.  Jnli  gekündigt  werden  solle,  und  sprach  es  unverblümt  aus, 
daß  die  Minderung  der  russischen  Macht  das  wahre  und  legitime 
Ziel    der    englischen   Politik  sei  *).     Wellington    aber   gab    in    der 

Celle  qui  pese  sur  eile,  pour  entreprendre  une  nouTelle  sans  des  motifs  pressants, 
doit  pour  le  inoment  rassurer  sur  les  consequences  de  cet  etat  des  choses  .... 
Le  cabinet  de  Vienne  a  cru  que  des  protestations  et  quelques  demonstrations 
d^apparence  suffiraient  pour  lui  regagner  la  confiance  de  la  cour  de  Russie, .... 
mais  le  gouvernement  de  Russie  pretend  aToir  acquis  la  certitude  (je  crois  quMl 
a  en  partie  ä  cet  egard  des  preuves  iirecusables  eutre  ses  mains)  que  la  cour 
d*Autriche,  peudant  qu*elle  protestait  de  sa  ferme  intention  de 
maintenir  la  plus  stricte  neutralite,  a  con^u  et  enroye  a  Con- 
stantinople  un  plan  de  campagne,  que  les  Turcs  ont  suivi  jusqu^ici: 
que  des  officiers  de  genie  autrichiens  eoactivite  de  Service  et  en- 
Toy^s  ad  hoc  ontaide  de  leursconseils  Hussein  Pascha,  et  que  quel- 
ques uns  d'entre  eux  dirigent  encore  aujourd^hui  en  personne  les  travaux  entrepris 
pres  de  Daoud  Pascha*. . . .  Dazu  komme  die  Nachricht  von  der  Verstärkung  der 
österreichischen  Truppen  an  der  Grenze.  Man  habe  dem  Kaiser  gemeldet, 
„qu^une  armee  autrichienne  de  160000  h.  sera  incessament  reunie**,  es  würden 
vier  Korps  sein  und  als  Generale  wurden  Ginlay,  Hadik  und  der  Prinz  von 
Hessen-Homburg  genannt.  Gewiß  seien  diese  Nachrichten  falsch.  Küster 
hat  in  diesem  Sinne  auf  Nesselrode  einzuwirken  gesucht. 

Diese  Gerüchte  hätten  den  Anlaß  zur  Ungnade  des  Prinzen 
von  Hessen  gegeben.  „Ce  prince  avait  ete,  k  son  arrivee  au  quartier  general, 
invite  par  PEmp.  a  Taccompagner  et  ä  s'em barquer  avec  lui  lorsque  S.  M.  se 
rendait  de  Schoumla  ä  Odessa,  traversee,  pendant  laquelle  aucun  autre  etranger 
ne  se  trouvait  dans  sa  suite.  Mais  au  dernier  retour  du  Monarque  k  Tarmee, 
il  n'a  plus  et^  question  du  Prince  et  l'Emp.  a  seul  emmene  avec  lui  le 
general  (Nostitz)  que  Votre  M.  a  envoye  ici.  Le  Prince  n*a  pas  meme  ete 
averti  du  retard  mis  dans  le  depart  des  diplomates  et  militaires  etrangers, 
et  la  communication  faite  tout  recemmeot  a  ce  sujet  par  le  C^  de  Ness. 
a  l'Ambas.  de  France  et  au  Corps  diplomatique  ne  lui  a  point  ete  adressee*.  Der 
Prinz  habe  das  sehr  wohl  empfunden,  habe  sich  aber  begnügt,  Nesselrode  zu 
schreiben:  »qu'il  avait  ^te  envoye  au  quartier  general  dans  le  but  d^accompagner 
l'Emp.  dans  la  guerre  de  Turquie  et  que  comme  S.  M.  avait  agr^e  cette 
mission,  il  esperait  qu^on  lui  permettrait  de  la  remplir.  II  n'a  pas  encore 
re^u  de  reponse  a  cette  lettre".  .  .  . 

*)  „The  true  and  legitimate  object  of  our  policy.*  Memorandum  by  Lord 
Ellenborough,  14.  September  1828.  Wellington,  Despatches  V.  Auch  gegen 
Preußen  war  die  Erbitterung  in  London  groß.  Das  englische  Kabinett  besaß 
die    preußische  Chiffre  und  interzipierte  die  Depeschen  Hernstorffs  an  Bülow. 


Kapitel  VIIL     Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  259 

Londoner  Konferenz  der  Botschafter  zu  Protokoll,  daß,  falls  die 
dem  Admiral  Ileyden  erteilten  Befehle  nicht  suspendiert  werden 
könnten,  der  König  es  als  seine  Pflicht  ansehe,  der  Pforte,  seinen 
Untertanen  und  der  Welt  zu  verkünden,  daß  das  Mittelmeer  nicht 
mehr  neutral  sei.  Nesselrode  meinte,  daß  nur  die  guten  Dienste 
Frankreichs  einen  völligen  Bruch  verhindert  hätten. 

Es  ist  begreiflich,  daß  alle  diese  Dinge  den  Kaiser  erregten. 
Ging  ihm  auch  der  Tag  in  Paraden  und  Revuen  und  jeder  Art 
von  Besichtigungen,  in  Gesprächen  mit  den  Diplomaten  und  Mili- 
tärs und  in  der  Arbeit  in  seinem  Kabinett  hin,  der  Abend  am 
Teetisch  der  Kaiserin,  an  dem  er  Scharpie  zupfte  *),  so  verzehrte 
ihn  doch  die  Unruhe  über  den  weiteren  Verlauf  des  Feldzuges. 
Denn  statt  der  erwarteten  Siegesnachrichten  traf  eine  Hiobspost 
nach  der  anderen  ein,  und  die  Türken  zeigten  nicht  die  geringste 
Neigung,  die  Initiative  zu  den  vom  Kaiser  heiß  ersehnten  Friedens- 
verhandlungen zu  ergreifen.  Alle  Berichte,  die  uns  aus  dieser  Zeit 
erhalten  sind,  stimmen  darin  überein,  daß  der  Wunsch  des  Kaisers, 
möglichst  Menschenleben  zu  schonen,  auf  den  bisherigen  Verlauf 
des  Feldzuges  lähmend  eingewirkt  habe.  „Wenn  dadurch^  — 
schreibt  der  Baron  Küster  —  „vielleicht  auch  hier  und  da  ein 
kleiner  Vorteil  unbenutzt  geblieben  ist,  so  kann  Europa  wenigstens 
daraus  die  Beruhigung  schöpfen,  daß  es  in  dem  Kaiser  Nikolaus 
nie  einen  Eroberer  zu  fürchten  haben  wird')." 

Auf  dem  Kriegsschauplatze  hatte  inzwischen  die  Lage  sich 
folgendermaßen  gestaltet. 

Zur  Ei&schließung  von  Silistria  war  General  Roth  am  21.  Juli 
geschritten,  aber  mit  unzureichenden  Mitteln.  Er  hatte  noch  kein 
Belagerungsgeschütz  und  wagte  deshalb  nicht,  in   den  Bereich  der 

In  Anlaß  der  entschieden  russenfreundlicben  Haltung  des  Berliner  Kabinetts, 
die  sich  aus  der  Einsicht  in  diese  Papiere  ergab,  schrieb  Aberdeen  an  Wellington: 
,1  have  always  been  afraid  of  expecting  anything  of  Prussia,  beeing  of  opinion 
that  it  is  tbe  most  rascally  government  in  Europe,  the  most  selfish  and  ra- 
pacious.  Tbe  same  reason  which  induced  them  to  make  peace  with  regicide 
France,  before  any  other  power,  would  make  them  willingly  to  deliver  over 
the  independence  of  Europe  to  Russia,  if  anything  could  be  obtained  by  it. 
The  Short  possession  of  Hanover  is  not  forgotten!*' 

0  Rapports  du  Prince  de  Hesse-Homburg.  Odessa,  2.  September  1828. 
Wien,  Staatsarchiv. 

>)  Relation  Kästers  aus  Odessa,  den  12./ 24.  August  1828.  Durch  den 
Major  von  Dieskau. 

IT 


260  Kapitel  VIIL    Der  Tärkenkrieg«  Kampagne  Ton  1838. 

türkischeD  Kanonen  zu  kommen.  Die  durch  den  Zuzug  aas  Brailow 
und  aus  den  anderen  kleinen  Festungen  wesentlich  verstärkte  Garnison 
von  Silistria  aber  machte  einen  Ausfall  nach  dem  anderen,  und 
ihre  Reiterei  war  der  russischen  entschieden  überlegen  *).  Am  10. 
August  legte  sich  die  russische  Donauflottille  vor  die  Festung'), 
aber  sie  richtete  wenig  ans  und  vermochte  nicht  einmal  die  elenden 
zwölf  Donauboote  der  Türken  zu  verjagen,  auch  die  Verbindung 
der  Festung  mit  Kustschuk  und  Turtukai  konnte  nicht  verhindert 
werden.  Den  23000  Mann  der  Türken  standen  nur  10000  Russen 
gegenüber,  zwar  wohlverschanzt,  aber  tatsachlich  in  der  Defensive. 
Roth  meinte  bereits  damals,  daß  die  Kampagne  schwerlich  in  einem 
Jahre  beendigt  werden  könne,  und  sprach  sich  bitter  über  die 
fehlende  Einheit  der  Heeresleitung  aus.  Die  Hoffnung  richtete  sich 
hier,  wie  in  Odessa,  auf  das  Eintreffen  der  Garden,  deren  Vorhut 
endlich  am  30.  Juli  die  Donau  erreicht  hatte.  Man  berechnete,  daß 
sie  zwischen  dem  12.  und  20.  August  vor  Schumla  eintreffeu 
würden ').  Aber  man  hatte  falsch  gerechnet.  So  lagen  die  Russen 
ziemlich  untatig  bis  zum  15.  September  vor  der  Festung;  an  diesem 
Tage  traf  der  General  Schtscherbatow  mit  der  zweiten  Armee  ein, 
um  die  Fortfuhrung  der  Belagerung  zu  übernehmen,  so  daß  nun 
auch  die  numerische  Übermacht  auf  russischer  Seite  war.  Trotzdem 
und  in  Mißachtung  wiederholter  Befehle  blieb  er  untatig,  »weil  er 
ohne  Grund  seine  Mittel  für  unzureichend  hielt,  z.  B.  statt  20000 
Kugeln,  die  er  hatte,  60000  verlangte''  ^).     Als  Schtscherbatow  bald 


1)  Paul  de  Bourgoing  an  Mortemart.  Au  camp  de  Siiistrie  23  juillet 
18iS.  ^Cette  caTalerie  etait  d^uoe  plus  l>elie  apparenc«  quaucune  de  oelles 
qui  se  soient  montrees  depuis  TouTerture  de  la  campagne.  La  beaute  des 
chevaux,  IVtat  des  armes  et  des  costumes  couverts  d*or  et  d^argent  nous  fait 
penser  qae  ce  corps  est  IVlite  de  la  garnison  de  Siiistrie.'  Paris,  Depot  dea 
äff.  etraog.  Rassie  vol.  176  fol.  111.  Der  Bericht  gibt  eine  sehr  eingehende 
Schilderung  der  Kämpfe,  die  bei  der  Investierung  Ton  Silistria  durch  Roth 
stattfanden. 

^  36  Fahrzeuge,  darunter  16  mit  je  drei  Geschützen  schweren  Kalibers. 
Moltke  1.  1. 

'y  Bourgoing  an  Mortemart,  4.  August,  kontidentiell.  Bourgoing  hat  sich 
um  die  Anlage  der  russischen  Investieningsarbeiten  sehr  Terdient  gemacht. 

^)  Relation  Scbölers  d.  d.  Petersburg,  28.  Januar  1829.  Sie  enthält  eine 
sehr  t>eacbtenswerte  Kritik  des  Feldzuges  Ton  1828.  Befördert  durch  den 
Bruder  des  engliscben  Botschafters^  Capitain  a  Court.  Berlin,  A.  A.  I,  Rep.  I, 
Rußland  Nr.  9i».     Auch  Moltke  1.  1.  S.  213. 


Kapitel  YIII.    Der  Törkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  261 

darauf  erkrankte,  trat  General  Langeron  an  seine  Stelle,  der  seit 
Beginn  der  Kampagne  mit  13000  Mann  die  Walachei  gegen  die 
Türken  gedeckt  hatte,  wobei  namentlich  General  Geismar,  der  mit 
etwa  4000  Mann  vor  Krajowa  lag,  die  wirksamste  Hilfe  leistete. 
Aber  bei  einiger  Initiative  hätten  die  Türken  leicht  bis  nach 
Bukarest  dringen  können.  Sie  begnügten  sich  jedoch,  ihre  Stellung 
hinter  den  Werken  der  Donaufestungen  zu  behaupten ').  Am  be- 
drohlichsten erschien  ihre  Stellung  Widdin-Kalafat,  aber  auch 
Rnstschuk  und  Giurgewo  machten  Sorge.  Das  Schlimmste 
war,  daß  Skorbut  und  Krätze,  vor  allem  aber  die  Pest  in  uner- 
hörtem Maße  unter  den  russischen  Truppen  in  der  Walachei  um 
sich  griffen  und  von  dort  aus  überallhin  verschleppt  wurden,  wo 
russische  Truppen  standen.  So  wurde  auch  die  Belagerungsarmee 
vor  Schumla  von  diesen  Plagen  getroffen  und  ihre  ohnehin  schwierige 
Lage  dadurch  noch  mehr  gefährdet. 

Der  Kaiser  hatte,  als  er  am  3.  August  Schumla  verließ,  den  Prinzen 
Eugen  zum  Chef  des  VIL  Korps  und  den  General  Woinow  zum  Befehls- 
haber der  gesamten  Kavallerie  ernannt,  während  der  Oberbefehl  nach 
wie  vor  bei  Wittgenstein  blieb.  Aber  Diebitsch  stand  ihm  als  Berater 
zur  Seite  und  war  von  Nikolai  ausdrücklich  angewiesen,  in  Meinungs- 
verschiedenheiten mit  Wittgenstein  rücksichtslos  die  kaiserliche 
Autorität  geltend  zu  machen.  Es  ist  kein  Wunder,  daß  Wittgen- 
stein unsicher  wurde  und  schwer  an  der  Verantwortung  trug,  die 
trotz  allem  auf  ihm  ruhte.  Er  hat  mehrfach  versucht, 
den  Türken  ihre  Verbindung  mit  Konstantinopel  abzuschneiden, 
ohne  daß  man  dabei  zum  Ziel  gelangte*),  aber  jedesmal  sind  be- 
trächtliche Verluste  damit  verbunden  gewesen.  Das  lag  zum  Teil 
an  der  Überlegenheit  der  türkischen  Gewehre  über  die  russischen. 
Die  Türken  schössen  sehr  gut  und  waren  mit  gezogenen  Gewehren, 
allerdings  verschiedendsten  Kalibers,  bewaffnet.  Die  russischen 
Flinten,    teils   neue,    teils   alte,   taugten  dagegen  alle  nichts.     Die 


0  Der  Chevalier  Bourgoing,  der  Ende  September  mit  LaDgeron  die 
wichtigsten  Punkte  besichtigte,  sagt,  daß  die  Türken:  „ont,  depuis  la  demiere 
guerre  remplace  partout  dans  leurs  forteresses  d^Europe,  les  murailles  flanquees 
de  tours  par  des  remparts  en  terre  a  bastions  bien  proportionnes;  mais  ils 
ne  fönt  encore  que  peu  d'emploi  des  ouvrages  exterieurs  et  presque  toutes 
les  courtines  de  leurs  fronts  sont  ä  decouvert.^  An  Mortemart.  Bukarest, 
25.  September.     Moltke  S.  218—227. 

2)  Für  das  Detail  vgl.  Moltke  1.  i. 


262  Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828. 

Läufe  waren  durch  das  häufige  gewaltsame  Putzen  und  Reiben 
abgebraucht  und  verbogen,  alle  Beschläge,  sogar  das  Bajonett,  ab- 
sichtlich gelockert,  damit  beim  Exerzieren  jedes  Tempo  und  jeder 
Griff  recht  klangvoll  hervortrete  .  .  .  .,  es  war  ganz  unmöglich,  mit 
diesen  Gewehren  einen  richtigen  Schuß  abzugeben.  Dabei  wurde 
das  Scheibenschießen  vernachlässigt.  Erst  aus  der  Praxis  des 
Feldzuges  lernten  die  Soldaten  allmählich  die  Fehler  ihrer  Gewehre 
kennen.  Die  besten  waren  noch  einige  französische  Gewehre  aus 
dem  Feldzuge  von  1812').  Dazu  kam,  daß  das  Mustern  und  Exerzieren, 
nach  dem  Beispiel,  das  von  allerhöchster  Stelle  gegeben  wurde, 
auch  im  Lager  vor  Schumla  eine  wesentliche  Beschäftigung  der 
Truppen  bildete.  Als  am  26.  September  Hussein  Pascha  völlig 
unerwartet  um  Mitternacht  gleichzeitig  die  rechte  und  die  linke 
Flanke  des  7.  Korps  überfiel*),  hatte  zwei  Tage  vorher  Eisselew 
dem  Brigadegeneral  Wrede  einen  scharfen  Verweis  erteilt,  weil  die 
Flinten  nicht  rein  waren  und  die  Leute  durch  den  Nachtdienst  zu 
sehr  ermüdet  würden.  Man  hatte  danach  zwei  Tage  lang  die  Ge- 
wehre geputzt,  und  als  der  Überfall  stattfand,  waren  die  Gewehre 
zwar  blank,  aber  nicht  geladen,  und  sorgfaltig  in  ihren 
Überzügen  eingeknöpft,  die  Leute  schliefen  mit  Ausnahme 
der  spärlichen  Wachtposten.  Die  Wachen  aber  wurden  durch 
Nekrasowzen  getäuscht,  die  russische  Soldatenmäntel  angelegt 
hatten  und  die  Gräben  mit  Faschinen  füllten,  um  den  türkischen 
Truppen  das  Eindringen  in  die  Redoute  5  zu  erleichtern.  Während 
auf  dem  linken  Flügel  Hussein  Pascha  schließlich  mit  nicht  allzu- 
großen Opfern  abgeschlagen  wurde '),  führte  der  Angriff  des  tapferen 
Halil  Pascha  auf  Redoute  5  zu  einer  schweren  Niederlage.  Die 
Türken  machten  die  ganze  Besatzung,  ein  Bataillon  Infanterie,  den 
General  Wrede  und  alle  Stabs-  und  Oberoffiziere  nieder,  erbeuteten 


')  Hansen:  Zwei  Kriegsjahre.    Berlin  1881,  S.  56. 

^)  Es  bestand  aus  den  Infanteriedivisionen  18  und  19,  aber  alle  Regi- 
menter der  Division  19  waren  nach  Varna  detachiert  worden.  In  den  von 
Hussein  angegriffenen  Tranchen  bei  Morasch  lagen  nur  die  vier  Regimenter 
der  18.  Division,  ein  Bataillon  Sappeure  und  zwei  Batterien.  Vgl.  die  Auf- 
zeichnungen von  Dubecki,  der  bei  dieser  Affäre  Divisionsadjutant  der  18. 
Infanteriedivision  war.  Die  120  Nekrasowzen,  von  denen  er  erzählt,  bildeten 
einen  Teil  jener  emigrierten  Russen,  deren  Unterwerfung  der  Kaiser  abgelehnt 
hatte ! 

*)  Die  Russen  verloren  117  Tote  und  132  Verwundete  und  ein  leichtes 
Geschütz. 


Kapitel  VIII.    Der  TürkeDkrieg,  Kampagne  von  1828.  263 

fünf  BelageruDgs-  und  vier  Feldgeschütze,  scheiterten  aber  schließlich 
unter  beiderseitig  großen  Verlusten  bei  dem  Versuch,  noch  eine 
zweite  Redoute  zu  nehmen.  Aber  volle  12  Stunden  blieben  sie 
Herren  der  Redoute  5. 

Der  Kaiser  erhielt  die  Nachricht  von  dieser  unglücklichen  Über- 
raschung am  2.  September  in  Odessa,  unmittelbar  vor  seiner  Abreise 
nach  Varna.  Er  war  außer  sich  und  hat  seinem  Zorn  in  einem 
Briefe  an  Diebitsch  schneidenden  Ausdruck  gegeben.  Ob  denn  der 
Feldmarschall  wisse,  daß  er  eine  russische  Armee  kommandiere. 
Auch  ängstigte  ihn  ein  Bericht  des  Senators  Abakumow,  der,  wie 
wir  uns  erinnern,  an  der  Spitze  des  Verpflegungswesens  der  Armee 
stand.  „Alles  kann  noch  gut  werden,  aber  was  fangen  wir  an, 
wenn  wir  die  Armee  nicht  ernähren  können?  Wir  werden  so 
schnell  wie  möglich  nach  Hause  marschieren  müssen,  und  das  gibt 
ein  schönes  Resultat  nach  all  den  Opfern,  die  wir  gebracht  haben." 
Er  ordnete  an,  daß  Wittgenstein  mit  seinem  Stabe  bei  dem  in 
Jenibazar  stehenden  Korps  bleiben  solle,  er  werde  in  Varna,  wohin 
er  am  Nachmittag  fahre,  ohne  ihn  auskommen.  Es  schloß  sich 
daran  der  Befehl  für  Diebitsch,  mit  dem  Rest  des  3.  Korps  und 
den  20.  Jägern  in  Varna  zu  ihm  zu  stoßen  *).  In  Varna  aber 
schienen  die  Dinge  eine  nicht  minder  bedenkliche  Wendung  nehmen 
zu  wollen.  Das  erste  Unglück  war,  daß  bei  einem  Ausfall  der 
Türken  am  21.  August  der  Fürst  Menschikow  schwer  verwundet 
wurde.     Das   Oberkommando   übernahm   danach  interimistisch  der 


^)  Der  Brief  des  Kaisers  an  Diebitsch  ist  gedruckt  bei  Schilder:  Nikolai, 
Bd.  II  S.  539.  Wir  fügen  hier  aus  dem  Briefe  Wittgensteins  (Wojenno 
Utschenny  Arch.  5322)  einen  Abschnitt  an,  der  charakteristisch  genug  ist:  „Lager 
vor  Schumla,  den  27.  August  (8.  September)  1828  (russisch).  Mit  großer 
Betrübnis  habe  ich  aus  dem  Briefe  Ew.  Kais.  Majestät  an  den  Grafen  Diebitsch 
gesehen,  daJß  ich  das  Unglück  gehabt  habe,  die  Unzufriedenheit  und  den  Zorn 
Ew.  Majestät  auf  mich  zu  ziehen  wegen  der  Af^ren  vom  14.  bis  20.  dieses 
Monats.  Ich  wage  zu  meiner  Rechtfertigung  nichts  anzuführen,  als  daß  die 
Ursache  des  Mißerfolges  die  Nachlässigkeit  der  in  der  Redoute  befindlichen 
Tnippen  war.  Sie  hatten  ihre  Flinten  in  den  Zelten,  und  zwar  mit  Ober- 
zügen, denn  eine  Besichtigung  der  Flinten  war  vom  Regimentskommandeur 
auf  den  nächsten  Tag  angesagt,  wie  Ew.  Majestät  aus  den  Akten  der  Unter- 
suchung sehen  können,  die  General  von  Dellingshausen  angestellt  hat  ....** 
Übrigens  habe  er  nichts  getan,  ohne  sich  mit  Graf  Diebitsch  zu  beraten,  wie 
dieser  bezeugen  werde.  Der  Schluß  des  Briefes  mündete  in  ein  Abschieds- 
gesuch aus,  das  der  Kaiser  ablehnte. 


264  Kapitel  VIII.    Der  Tärkenkrieg,  Kampagne  Ton  183S. 

General  Perowski,  bis  am  27.  Graf  Woronzow  aus  Odessa  eintraf. 
Er  fand  bereits  eine  schwierige  Lage  vor. 

Am  5.  AagQst  hatte  Sultan  Mahmud  dem  Großwesir  Mehemed 
Selim  den  Befehl  erteilt,  zum  Heere  abzugehen.  Es  wurde  sogleich 
seine  Fahne  vor  dem  Pfortenpalast  aufgepflanzt,  aber  der  Aufbruch 
nach  Adrianopel,  wo  sich  mit  seinem  Heer,  das  10 — 12000  Mann 
zählte,  eine  gleich  starkeTruppe  unter TschapanOglu  vereinigen  sollte, 
wurde  verschoben,  um  das  Ende  des UnglucksmonatsSefer abzuwarten. 
Da  es  nicht  für  schicklich  galt,  daß  der  Großwesir  an  einem  nur 
defensiven  Kriege  teilnahm,  mußte  angenommen  werden,  daß  die 
Türken  eine  Hauptschlacht  zu  schlagen  entschlossen  waren.  Am 
20.  erfolgte  der  Aufbruch  nach  Adrianopel.  Die  plötzliche  Abreise 
des  Kaisers  nach  Odessa  sowie  die  Nachrichten  aus  Schumla, 
Silistria,  den  Fürstentümern,  hatten  die  Zuversicht  der  Türken  er- 
heblich gesteigert.  Anfang  September  waren  mehrere  Hundert 
russische  Gefangene,  darunter  sieben  bis  acht  Offiziere,  nach  Kon- 
stantinopei  gebracht  worden ;  über  die  französische  Expedition  nach 
Morea  schien  man  sich  keine  Sorgen  zu  machen;  man  hoiTte,  des 
eigentlichen  Feindes,  der  Russen,  Herr  zu  werden.  Seit  dem  Beginn 
des  Feldzuges  hatten  die  Streitkräfte  der  Türken  sich  zudem  etwa  ver- 
doppelt. Die  böse  Seuche,  welche  die  russischen  Reihen  lichtete, 
hat  sie  kaum  getroffen.  Sie  waren  den  Beschwerden  des  Klimas 
besser  gewachsen  und  wurden  besser  genährt.  Namentlich  aber 
war  ihr  Pferdematerial  dem  russischen  weit  überlegen.  Auch  in 
Varna  machte  sich  mehr  Initiative  geltend.  In  der  Nacht  auf 
den  30.  August  gelang  es  den  Türken,  sich  einer  Redoute  zu  be- 
mächtigen, und  obgleich  sie  schließlich  wieder  verdrängt  wurden, 
blieben  sie  doch  den  folgenden  Tag  vor  der  Festung  liegen,  ohne 
daß  Woronzow  es  gewagt  hätte,  sie  anzugreifen.  Weder  das  Be- 
lagerungsgeschütz noch  die  heiß  ersehnte  Verstärkung  durch  die 
Garden  war  eingetroffen.  Auch  am  3.  und  5.  September  ist  es  zum 
Kampf  Mann  gegen  Mann  gekommen.  Im  ganzen  rückten  aber 
die  russischen  Belagerungsarbeiten  der  Festung  immer  näher. 
Endlich,  am  8.  September,  traf  der  Kaiser  vor  Varna  ein*).  Er 
hatte  auch  diesmal  allerlei   Fährlichkeiten   bestehen  müssen.     Erst 


1)  Korrespondenz  zwischen  dem  Kaiser  und  Diebitsch  R.  St  XXXII. 
Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  wie  dec  Kaiser  Diebitsch  gegenüber  sein  Er- 
scheinen Yor  Varna  motiviert.  Er  sei  gekommen,  «pour  eviter  tonte  collision^ 
zwischen  Michail    und    Woronzow:    ,c'est    moi    qui    commande  ici,   et    tous 


Kapitel  VIII.    Der  T&rkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  265 

war  es  ein  furchtbarer  Sturm,  der  die  Fregatte,  die  ihn  trug, 
nötigte,  nach  Odessa  zurückzufahren,  wollte  sie  nicht  an  das  türkische 
Ufer  geworfen  werden  *).  Er  entschloß  sich  darauf,  zu  Lande  nach 
Varna  zu  fahren,  obgleich  er  durch  unsichere  und  von  der  Pest 
verseuchte  Gegenden  mußte.  An  der  Brücke  von  Satunowo  hatte 
er  über  Nacht  halten  müssen,  weil  sie  zum  Teil  unter  Wasser  lag. 
Nur  zwei  Feldjäger  dienten  als  Begleitung.  Auch  die  weiteren 
Eindrücke  waren  schwer.  In  Babadagh  fand  er  im  Hospital  fast 
alle  Ärzte  krank,  die  Sterblichkeit  entsetzlich  hoch.  Tn  Eosludji 
wo  er  gleichfalls  in  der  Nacht  eintraf,  sah  es  ebenso  aus,  aber  vor 
der  Stadt  stieß  er  auf  das  Lager  der  endlich  eingetroffenen,  nach 
Varna,  nicht,  wie  ursprünglich  beabsichtigt  war,  nach  Schumla 
marschierenden  Garden,  denen  der  Großfürst  Michail  entgegengereist 
war.  Natürlich  brachte  der  andere  Morgen  eine  Parade,  dann  eine 
Besichtigung  der  Hospitäler  und  Magazine;  endlich  ging  es  über 
Mangalia  und  Kowarna,  die  das  gleiche  trübe  Bild  boten,  nach 
Varna.  Am  9.  trafen  die  2.,  3.  und  4.  Brigade  der  Gardeinfanterie 
mit  ihrer  Artillerie  ein.  Das  Belagerungsgeschütz  langte  jedoch 
erst  am  15.  September  an.  Es  ist  dann  von  beiden  Seiten  mit 
außerordentlicher  Hartnäckigkeit  gekämpft  worden '),  und  die  Aus- 
sichten, der  Festung  bald  Herr  zu  werden,  schwanden  sichtlich, 
als  die  Türken  endlich  Anstalten  machten,  Varna  zu  entsetzen. 
Wie  vor  Silistria  und  Schumla  waren  sie  auch  bald  vor  Varna  in 
der  Überzahl.  Der  Großwesir  war  über  Aidos  vorgerückt  und 
hatte  aus  Schumla  Omer  Vrione,  berüchtigten  Andenkens  von 
Morea  her,  an  sich  gezogen,  so  daß  er  im  ganzen  über  ungefähr 
30000  Mann  gebot.  Auf  ausdrücklichen  Befehl  des  Kaisers 
beauftragte  darauf  General  Golowin,  der  zum  Korps  des  Prinzen 
Eugen  gehörte,  den  Obristen  Grafen  Zaiuski,  einen  der  polnischen 
Offiziere,  die  Konstantin  geschickt  hatte,  die  Stellung  Omer  Vriones 
zu  rekognoszieren.  Er  gab  ihm  das  Regiment  Gardejäger,  zwei 
Kanonen  der  Artillerie  zu  Pferde  und  ein  Detachement  Infanterie.  Der 


commandez  labas,  et  tenez  tete  ä  votre  vieux  Marechal  et  employezmon 
Dom  quand  on  ne  vous  ob^it  pas."  Brief  vom  27.  August  abends,  ä  bord 
du  Paris. 

0  Nikolai  an  Konstantin  21.  Oktober  (2.  November):  „tempete  ...  qui 
a  failli  nous  faire  le  voyage  de  Constantinople^. 

^  Moltke,  Abschnitt  8,  der  das  technische  Detail  dieser  Belagerungs- 
kämpfe gibt,  deren  Darstellung  nicht  in  unsere  Aufgabe  f&llt. 


266  Kapitel  YIII.    Der  TürkeDkrieg,  Kampagne  von  1828. 

General  Härtung,  dem  als  älteremOffizier  das  Kommando  gehörte,  wurde 
dabei  übergangen.  Ein  junger  Offizier,  der  die  Affäre  mitmachte, 
erzählt  den  weiteren  Verlauf  folgendermaßen'):  „Ohne  eine  Avant- 
garde auf  hinreichende  Entfernung  vorauszasenden,  ohne  die  not- 
wendigen Vorsichtsmaßregeln,  zog  das  unglückliche  Regiment  auf 
einem  schmalen  Wege  durch  das  kupierte,  dicht  bewaldete 
Terrain  und  stieß,  nachdem  es  zwölf  Werst  zurückgelegt  hatte, 
ganz  unvorbereitet  auf  die  bedeutend  überlegene  Vorhut  Omer 
Vriones,  welche  auf  einer  von  dichtem  Gehölz  umgebenen  Fläche, 
in  nächster  Entfernung  vor  dem  sorglos  heranmarschierenden 
Regiment  ihr  Lager  aufgeschlagen  und  sich  bereits  verschanzt  hatte 
Der  ebenso  sorglos  ohne  Vorposten  lagernde  Feind,  durch  das  un- 
erwartete Erscheinen  unserer  Truppen  alarmiert,  warf  sich  auf 
seine  gesattelten  Pferde,  brach  in  großen  Massen  aus  seinem  Lager 
hervor,  umfaßte  die  von  Zaluski  unbegreiflicherweise  aus  dem 
schützenden  Walde  in  die  offene  Fläche  vorgeschobenen  Kolonnen, 
die  kaum  Zeit  hatten,  Karree  zu  formieren,  brachte  sie  durch 
wiederholte  ungestüme  Angriffe  in  Unordnung,  und  das  überraschte, 
von  allen  Seiten  bedrängte  Regiment,  gleich  zu  Anfang  seiner  hohen 
Offiziere  beraubt,  trat  seinen  verhängnisvollen  Rückzug  an,  der  bald 
unter  dem  Anstürmen  der  feindlichen  Kavallerie  in  eine  völlige 
Auflösung  und  regellose  Flucht  einzelner  Teile  des  Regiments  aus- 
artete. W^as  nicht  gleich  im  Kampfe  fiel,  wurde  abgeschnitten  und 
später  niedergemetzelt.  Nur  einer  geringen  Schal*  gelang  es,  unter 
dem  Schutz  des  bewaldeten  Terrains  sich  der  Verfolgung  der  Türken 
zu  entziehen.  Vollständig  erschöpft,  zum  Teil  verwundet  und  ohne 
Waffen,  erreichten  sie  die  vor  wenigen  Stunden  verlassene  Position. 
Als  Oberst  Zaluski  die  verzweifelte  Lage  erkannte,  in  die  er  das 
Detachement  gebracht  hatte,  das  ihm  anvertraut  war,  war  er  zu 
kleinmütig,  das  Schicksal  seiner  Truppen  zu  teilen.  Er  zog  sich, 
noch  ehe  das  Regiment  vom  Feinde  angegriffen  und  umzingelt 
war,  mit  den  ihm  beigegebenen  zwei  Geschützen  der  Donschen 
Artillerie  und  mit  zwei  Kompagnien  zu  ihrer  Deckung,  die  er  dem 
Regiment  entnahm,  eilig  zurück  und  erreichte  mit  dieser  kleinen 
Abteilung,  die  übrigen  ihrem  Schicksal  überlassend,  wohlbehalten 
unsere  Aufstellung."  General  Härtung  übernahm  den  Befehl  über 
das  Regiment  erst,  nachdem  Zaluski  sich  Rettung  suchend  entfernt 


')  Bei  Hansen,  Zwei  Kriegsjahre,  S.  117  fr. 


Kapitel  YlII.    Der  Tärkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  267 

hatte.  Härtung  fiel  als  einer  der  Ersten.  Außer  ihm  verlor  das 
Regiment  zwei  Obersten,  15  Offiziere  und  gegen  500  Unteroffiziere 
und  Mannschaften,  auch  die  Fahne  des  2.  Bataillons  wurde  ver- 
mißt. Wenn  man  bedenkt,  daß  das  Regiment  Gardejäger  eines 
der  vornehmsten  Regimenter  war,  dessen  Offiziere  fast  ausnahmslos 
der  russischen  Hofaristokratie  angehörten,  ist  das  ungeheure  Auf- 
sehen verständlich,  das  diese  klägliche  Niederlage  machte.  Man 
warf  dem  Obersten  Zaluski  nicht  nur  Feigheit,  sondern  Yerräterei 
vor,  und  der  alte  Haß  zwischen  Russen  und  Polen  wurde  wieder 
lebendig. 

Der  Zorn  des  Kaisers  richtete  sich  wie  immer  gegen  Wittgen- 
stein, und  Diebitsch,  der  dem  Feldmarschall  davon  Nachricht  gab, 
kam  jetzt  endlich  zur  Einsicht,  daß  es  nicht  möglich  sein  werde, 
gleichzeitig  gegen  Schumla  und  Varna  zu  operieren  und  daß  Varna 
vor  allem  genommen  werden  müsse').  So  entmutigend  die 
Niederlage  der  Gardejäger  auf  die  Russen  wirkte,  so  sehr  hob  sie 
die  Zuversicht  der  Türken.  Die  Besatzung  von  Varna  verteidigte  sich 
trotz  des  Minenkrieges,  der  gegen  sie  geführt  wurde,  und  trotz  der 
jetzt  mit  furchtbarer  Wirkung  spielenden  Belagerungsartillerie,  mit 
bewunderungswürdigem  Heldenmut.  Der  Großwesir  aber  verstärkte 
das  Korps  Omer  Vriones,  der  sich  nach  einer  Reihe  für  ihn  günstiger 
Gefechte  schließlich  südwestlich  von  Varna  bei  Kurtepe,  d.  h.  Wolfs- 
berg, in  drei  Lagern  verschanzte.  Der  Kaiser,  der  von  der  Fregatte 
„Paris''  aus  die  Kriegsereignisse  verfolgte  und  zu  leiten  versuchte, 
mußte  von  Wittgenstein  hören,  daß  seine  Stellung  vor  Schumla 
sich  nicht  mehr  behaupten  lasse,  es  fehle  an  Fourage,  Brot  und 
Fleisch,  auch  bereite  ihm  Omer  Vrione  Sorge,  der  jetzt  sogar  in 
seiner  starken  Stellung  die  Einnahme  Varnas  zweifelhaft  mache. 
Die  Antwort  Nikolais  war,  daß  Wittgenstein  sich  trotz  allem  bis 
aufs  äußerste  behaupten  solle;  der  Prinz  Eugen  aber  erhielt  den 
Befehl,  mit  den  6000  Mann  und  46  Geschützen  über  die  er  ver- 
fügte, Omer  Vrione  über  den  Kamtschyk  zurückzuwerfen.  Der  Prinz, 
dem  dieser  Befehl  am  29.  September  zuging,  beschloß,  um  die  nötigen 
Vorbereitungen  zu  treffen,  den  Angriff  an  diesem  Tage  noch  nicht 
vorzunehmen  und  bat  den  Kaiser  um  Verstärkung  durch  die  in  Pra- 
vody    zurückgebliebene    Brigade   Madatow,    sowie    durch    die    vor 


0  Vgl.  in  der  Anlage  die  Briefe  Diebitscbs  vom  12.  und  13.  September  1828 
und  die  Autwort  Wittgensteins  vom  13.  September. 


26S  Kapitel  VIII.    Der  Törkenkrieg,  Kampagae  Ton  1828. 

Varna  stehende  1.  Gardebrigade;  als  er  auch  verlangte,  daß  General 
Bistram b,  mit  dem  er  kooperieren  sollte,  seinem  Oberbefehl  unter- 
stellt werde,  ließ  der  Kaiser,  der  schon  einmal  angefragt  hatte, 
weshalb  seine  Befehle  nicht  sofort  erfüllt  würden,  ihm  am  30. 
früh  durch  den  General  Diebitsch  sagen,  daß  der  Angriff  „unver- 
züglich^ erfolgen  solle.  Die  erbetenen  Verstärkungen  aber  versagte 
er,  und  dem  Prinzen,  der  inzwischen  durch  eine  Rekonoszierung 
sich  davon  überzeugt  hatte,  daß  er  es  mit  20 — 30000  Türken  zu 
tun  haben  werde,  blieb  nun  nichts  übrig,  als  zu  gehorchen  und 
sofort  zum  Angriff  zu  schreiten.  Auf  ausdrückliche  Anfrage  hatte 
er  dem  Kaiser  sagen  lassen,  daß  er  um  2  Uhr  vor  dem  Feinde 
stehen  werde.  Seine  Operationen  hatten  bereits  begonnen,  als  ein 
Billett  des  Kaisers  eintraf,  das  nochmals  zu  kräftigem  Angriff  auf- 
forderte und  Unterstützung  durch  Bistramb  versprach.  Es  unter- 
liegt keinem  Zweifel,  daß  Diebitsch  und  Suchosanet  in  unerhörter 
Weise  gegen  den  Prinzen  intrigirt  und  ihn  im  Stich  gelassen 
haben  ^).  Das  Regiment  Asow  griff  eigenmächtig  an  ungünstiger 
Stelle  und  zu  unrechter  Zeit  das  türkische  Lager  an  und  wurde 
trotz  seiner  glänzenden  Bravour  und  trotz  des  Sukkurses,  den  der 
Prinz  schickte,  unter  ungeheueren  Verlusten  geworfen.  Der  Versuch, 
in  die  türkischen  Verschanzungen  einzudringen  und  des  übermäch- 
tigen Feindes  Herr  zu  werden,  mißglückte,  die  vom  Kaiser  ver- 
sprochene Unterstützung  von  Galata  aus  kam  nicht,  und  schließ- 
lich mußte  der  Prinz,  um  einer  völligen  Niederlage  zu  entgehen, 
den  Kampf  abbrechen,  was  er  mit  bewunderungswürdiger  Umsicht 
ausführte.  Er  hatte  1400  Mann  verloren,  darunter  den  Brigade- 
general Dnrnowo  und  den  Obersten  des  Regiments  Asow.  Moltke 
hat  den  Angriff  auf  Kurtepe  gewiß  mit  Recht  „eine  der  glänzendsten 
Waffenhandlungen  dieser  Kampagne"  genannt').  Dem  Prinzen 
Eugen,  der  selbst  durch  einen  Streifschuß  am  Arm  verwundet 
war,  brachte  sie  keinen  Dank.     Der  Stratege  an  Bord  der  „Paris" 


*)  Eine  klassische  Schilderung  der  Schlacht  findet  sich  in  den  Memoiren 
des  Prinzen.     Vgl.  auch  die  Anlage. 

^  Moltke  1.  1.  S.  196:  „wider  seinen  Willen  zu  einer  Unternehmung  ge- 
zwungen, deren  Erfolg  er  bezweifeln  mußte,  fahrte  der  Prinz,  als  ihm  nur  das 
blinde  Gehorchen  übrig  blieb,  die  gegebenen  Befehle  mit  allem  Nachdruck 
aus.  Nur  zwei  Bataillone  blieben  in  Reserve,  alle  übrigen  bestanden  ein 
blutiges  Gefecht,  wobei  die  Infanterie,  der  Unterstützung  der  Kavallerie  und 
Artillerie  fast  gänzlich  entbehrend  und  gleichzeitig  im  Dunkeln  tappend,   mit 


Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  269 

sah  nur  das  Scheitern  seiner  Absichten,  und  das  erschien  ihm  als 
Schuld  desjenigen,  der  das  Unmögliche  nicht  möglich  gemacht  hatte. 
Die  Lage  war  nunmehr  allerdings  von  höchster  Gefahr  für  die 
Russen.  Wäre  der  Großwesir  ein  Mann  gewesen,  so  hätte  er  die 
ganze  Kampagne  zugunsten  der  Türkei  entscheiden  können.  Omer 
Yrione  konnte  in  Varna  eindringen,  er  konnte  den  Prinzen  Eugen, 
der  auch  jetzt  vergebens  um  Verstärkungen  gebeten  hatte,  verfolgen 
und  erdrücken  und  dann  im  Rücken  der  vor  Varna  stehenden  Be- 
lagerungsarmee —  die  damals  kaum  lOüOO  Mann  zählte  —  auch 
ihr  das  Verderben  bringen.  Das  ganze  Kartenhaus  des  Scheins 
russischer  Übermacht  mußte  zusammenbrechen  —  in  Schumla, 
Silistria,  vielleicht  gar  in  den  beiden  Fürstentümern,  die  eben  erst 
durch  die  Umsicht  des  Generals  Geismar  (am  26.  September  durch 
seinen  Sieg  bei  Bojeleschti  über  Ibrahim  Pascha,  den  Seraskier  von 
Widdin^))  von  einer  Invasion  befreit  worden  waren,  welche  Bukarest 
bedrohte.  Aber  von  alledem  geschah  nichts.  Omer  Vrione  blieb 
in  seinem  Lager  elf  Tage  lang.  Varna  ward  nicht  entsetzt,  gegen 
Schumla  wurde  nichts  unternommen,  und  die  Russen  konnten  unge- 
achtet ihrer  Schwäche  die  Belagerung  von  Varna  mit  aller  Energie 
fortsetzen.  Am  6.  Oktober  fand  auf  Befehl  des  Kaisers  ein  Sturm 
gegen  die  Festung  statt,  aber  er  wurde  von  der  tapferen  Besatzung 
abgeschlagen,  was  ihr  jedoch  schwerlich  gelungen  wäre,  wenn  nicht 
im  kritischen  Augenblicke  ein  allerhöchster  Befehl  die  Einstellung 
des  Sturmes  befohlen  hätte.  Der  Kaiser  konnte  das  viele  Blut- 
vergießen nicht  ansehen.  Er  bedachte  dabei  nicht,  daß  jeder  Tag, 
den  seine  Truppen  länger  vor  Varna  lagen,  die  Hospitäler  füllte, 
und  daß  die  Opfer,  die  er  durch  seine  langsame  und  schlecht  vor- 
bereitete Kriegführung  den  Dämonen  der  Pest  und  ihren  Begleitern 


wahrem  Löwenmute  focht.  Uöheren  Orts  scheint  man  allerdings  den  Zweck 
ohne  die  Mittel  gewollt  zu  haben."  Auch  General  y.  Nostitz,  der  die  20.  Jäger 
und  einige  Schwadronen  Ulanen  ins  Feuer  führte,  focht  mit  hoher  Aus- 
zeichnung. 

1)  Ober  diese  nicht  unwichtigen,  aber  nicht  entscheidenden  Ereignisse 
siehe  Moltke  1.  I.  Abschnitt  11  S.  218  if.  und  die  Biographie  Geismars,  Russ- 
kaja  Starina  1881  ßd.  XXXII  S.  736  ff.  Eine  der  Folgen  des  nächtlichen 
Überfalls  des  türkischen  Lagers  war  der  Fall  von  Kalafat.  Ibrahim  war  vom 
Sultan  beauftragt,  die  russischen  Truppen  in  Moldau  und  Walachei  zu  schlagen, 
alle  Garnisonen  der  Donau  festun  gen  zusammenzuziehen  und  die  Rückzugslinie 
der  Russen  abzuschneiden.  Der  Kaiser  ernannte  Geismar  zum  Generaladju- 
tanten. 


270  Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828. 

Fieber,  Dysenterie,  Skorbut  zuführte,  weit  zahlreicher  waren,  als 
alles,  was  Schwert  und  Geschoß  niedergestreckt  hatten  ^).  So  schlich 
die  Belagerung  weiter,  und  die  Stimmung  des  Kaisers,  der  von  seiner 
optimistischen  Beurteilung  der  Lage  in  das  entgegengesetzte  Extrem 
verfiel,  wurde  immer  trüber,  denn  Omer  Vrione  lag  noch  immer 
im  Walde  von  Kurtepe  und  konnte,  wenn  er  nur  wollte,  jeder- 
zeit die  belagernde  Armee  in  die  äußerste  Bedrängnis  bringen. 
Noch  am  8.  Oktober  lehnte  der  Kommandant  von  Varna  die  ihm 
angetragene  Kapitulation  ab. 

Da  geschah  etwas  völlig  Unerwartetes.  In  der  Nacht  vom^S. 
auf  den  9.  Oktober  fand  in  Varna  „eine  Art  Aufstand^  statt. 
Jussuf  Pascha,  der  Kommandant,  hatte,  wir  wissen  nicht  wie,  in 
Erfahrung  gebracht,  daß  der  Sultan  beschlossen  habe,  ihn  abzu- 
setzen und  seine  Guter  zu  konfiszieren.  Eine  Intrige  des  Serail 
hatte  sich  gegen  ihn  gewandt,  und  es  scheint,  daß  er  Rache  nehmen 
wollte.  Er  verlangte  mit  dem  größten  Teil  der  Einwohner,  daß 
der  Kapudan-Pascha,  Izzet  Mehmed,  die  Stadt  den  Russen  äbergebe. 
Es  ist  nicht  sicher,  ob  ihm  der  Kapudan-Pascha  die  Genehmigung 
erteilte,  in  Kapitulationsverhandlungen  mit  den  Russen  zu  treten'), 
wahrscheinlich  ist  es  nicht.  Doch  wie  dem  auch  sei,  am  10. 
abends  erschien  Jussuf  Pascha  im  Lager  Woronzows,  um  die  L^ber- 
gäbe  der  Stadt  anzubieten.  Man  bewilligte  ihm  einen  Stillstand  von 
sechs  Stunden ').  Der  Kapudan-Pascha  weigerte  sich  aber,  die  von 
Jussuf   Pascha    angenommenen    Kapitulationsbedingungen    anzuer- 

>)  1828  starben  während  der  Monate  September,  Oktober,  November  in 
den  stehenden  Hospitälern  von  100  Kranken  je  18,9,  22,3,  23,4!  Seydlitz  1. 1. 
S.  47.  Moltke  S.  410  kommt  zu  folgendem  Schluß:  «Man  darf  ohne  Über- 
treibung annehmen,  daß  die  Russen  der  erste  Feldzug  fast  die  Hälfte  ihrer 
ganzen  Effektivstärke  an  wirklichen  Kombattanten  kostete.* 

^  Nikolai  in  seinem  Brief  an  Konstantin  vom  l./ld.  Oktober  behauptet 
es.  „Jussuf  Pascha  est  venu  lui-meme  au  nom  du  Capitaine-Pascha*,  aber 
dieses  Schreiben  enthält  auch  andere  Unrichtigkeiten,  wie  z.  B.,  daß  Izzet  Pascha 
in  Kriegsgefangenschaft  geraten  sei:  ,.le  capitaine  Pascha  se  rendit  prisonnier 
de  guerre  avec  tout  ce  qui  lui  restait**,  was  notorisch  falsch  ist  Daß  Jussuf 
am  Abend  im  russischen  Lager  erschien,  bezeugt  außer  Nikolai  auch  Küster. 
Relation  vom  11.  Oktober. 

*)  Auch  das  wird  vom  Kaiser  falsch  wiedergegeben.  Er  schreibt  1. 1^  daß 
die  Feindseligkeiten  nicht  eingestellt  worden  wären:  „les  hostilites  durant,  ce 
qui  expressement  avait  ete  stipule.**  Gewiß  ein  merkwürdiges  Beispiel  dafür, 
wie  sich  ihm  die  Wirklichkeit  schon  48  Stunden  nach  den  Ereignissen  ver- 
schieben konnte. 


Kapitel  VIIL    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  271 

kennen.  Jussuf  blieb  nun  im  russischen  Lager  und  ergab  sich  für 
seine  Person  der  Gnade  des  Kaisers.  Seinen  Truppen  aber  ließ 
er  den  Befehl  zugeben,  ihm  zu  folgen ;  das  ist  dann  auch  geschehen, 
und  eine  große  Zahl  anderer  Truppen  schloß  sich  ihnen  an.  Es 
waren  in  Summa  2 — 3000  Mann.  Da  Izzet  Pascha  trotzdem  von 
einer  Kapitulation  nichts  wissen  wollte,  wurde  die  Kanonade  gegen 
Varna  sofort  von  allen  Seiten  mit  großer  Heftigkeit  wieder  aufge- 
nommen, nur  ließ  der  Kaiser  auf  Bitten  Jussufs  die  schon  gefüllten 
Minen  nicht  sprengen.  Der  Kapudan-Pascha  aber  schloß  sich  in 
der  Zitadelle  ein,  einem  alten  Bau  aus  den  Tagen  Justinians,  den 
die  Genuesen  wieder  instand  gesetzt  hatten,  und  drohte,  sich  mit 
seinen  Leuten  und  der  Stadt  in  die  Luft  zu  sprengen,  wenn  ihm 
nicht  freier  Abzug  gewährt  werde.  Das  ist  ihm  dann  schließlich 
bewilligt  worden,  und  mit  BOO  seiner  Helden  zog  er,  wenngleich 
ohne  Waffen,  dem  Großwesir  zu.  Dann  folgte  der  Einzug  der 
Russen  in  die  verwüstete  Stadt.  Sie  hatte  sich  89  Tage  lang  be- 
hauptet. „Es  ist^,  schreibt  der  Baron  Bourgoing  dem  Herzog  von 
Mortemart  am  12.  als  Augenzeuge,  „es  ist  unmöglich,  eine  schönere, 
längere  und  unbegreiflichere  Belagerung  in  einem  schlechteren  Platz 
zu  bestehen.     Man  würde  ihn  bei  uns  für  unhaltbar  erklären.'^ 

Moltke  aber  urteilt,  daß  die  Verteidigung  von  Yarna  wohl 
verdiene,  unter  den  ruhmreichsten  genannt  zu  werden,  welche  die 
Geschichte  kenne. 

Er  hat  auch  reiches  Lob  für  die  Tapferkeit  der  Russen.  Die 
höchste  Anerkennung,  sagt  er,  gebührt  den  Generalen  Menschikow 
und  Woronzow,  den  Ingenieurgeneralen  Trousson  und  Schilder,  den 
tapferen  Soldaten  der  Marine  und  des  Landheeres. 

über  die  Schuld,  die  der  Kaiser  an  den  Fehlern  und  Ver- 
lusten des  Feldzuges  hat,  geht  er  leise  andeutend  hinweg  ^).  Omer 
Vrione  verließ  am  12.  seine  Stellung  in  Kurtepe  in  höchster  Eile, 
um  nach  Burgos  zurückzugehen.  Die  Möglichkeit  war  damit  ge- 
geben, über  ihn  mit  den  vor  Varna  freigewordenen  Truppen  auf 
dem  Marsch  herzufallen.     Aber    der  Kaiser    begnügte   sich    damit. 


*)  Im  Jahre  1845,  als  Moltkes  Russisch-türkischer  Feldzng  erscbieo,  war 
es  undenkbar,  daß  in  einem  Werk,  das  von  einem  preußischen  Generalstabs- 
offizier verfaßt  und  gezeichnet  war,  offener  Tadel  gegen  den  Kaiser 
Nikolaus  ausgesprochen  wurde.  Die  Ausgabe  von  1877  bringt  einige  nicht 
unwesentliche  Änderungen,  auf  welche  Schilder  in  seiner  russischen  Ausgabe 
1876 — 1883  gelegentlich  aufmerksam  macht. 


272  Kapitel  VIII.    Der  Turkenkrieg,  Kampagne  yoq  1828. 

den  Prinzen  Eugen  zu  beauftragen,  mit  seinem  schwachen  Korps 
Omers  Rückzug  zu  belästigen,  und  das  ist,  so  weit  es  möglich  war, 
geschehen.  Es  war  jedoch  eher  eine  Demonstration  als  eine  wirkliche 
Gefährdung  der  Türken,  der  Prinz  Eugen  hatte  die  Mittel  nicht, 
um  ihnen  dauernd  an  den  Fersen  zu  bleiben;  mit  verhältnismäßig 
kleinen  Verlusten  brachte  der  Pascha  sein  Heer  in  Sicherheit^). 
Es  wurde  nun  ein  feierlicher  Dankgottesdienst  im  russischen  Lager 
abgehalten.  Am  13.  Oktober  ritt  der  Kaiser  in  das  verwüstete 
Varna  ein. 

Damit  hatte  die  Kampagne  von  1828  ihr  Ende  gefunden.  Es' 
wurden  in  aller  Eile  Anordnungen  getroifen,  um  die  russischen 
Truppen  in  ihre  Winterquartiere  zu  bringen.  Man  beschloß,  die 
Blockade  von  Schumla  aufzugeben,  und  die  Truppen  teils  bei 
Satunowo  über  die  Brücke,  auf  der  die  Russen  so  voller 
Illusionen  ihren  Einmarsch  in  die  Türkei  vollzogen  hatten, 
teils  bei  Silistria,  das  man  noch  zu  nehmen  hoffte,  bevor 
die  Donau  sich  mit  Eis  bedeckte,  in  die  Fürstentümer 
zu  führen.  Die  Garde  sollte  gleichfalls  unter  Führung  des 
Großfürsten  Michail  die  Donau  überschreiten  und  in  der  Umgegeud 
von  Tultschin,  wo  in  Friedenszeiten  das  Hauptquartier  der  zweiten 
Armee  war,  überwintern,  in  Varna  eine  starke  Garnison  gelegt 
und  in  Bulgarien  Pravodi,  Basardschik,  Küstendsche  und  die  kleinen 
Festungen  an  der  Donau  besetzt  werden.  Für  das  Hauptquaiiier 
wurde  Bukarest  bestimmt,  es  ist  jedoch  nach  Jassy  verlegt  worden, 
da  Bukarest  durch  die  Pest  allzusehr  verseucht  war.  Diebitsch 
wurde  beauftragt,  beim  Feldmarschall  Wittgenstein  zu  bleiben. 
Den  Kaiser  drängte  es,  möglichst  bald  nach  Petersburg  zurückzu- 
reisen. Am  15.  Oktober  segelte  er  auf  dem  Linienschiff  „Kaiserin 
Maria^  nach  Odessa.  Wiederum  hätte  ein  furchtbarer  Sturm,  der 
26  Stunden  andauerte  und  die  „Kaiserin  Maria"  10  Meilen  von 
ihrem   Kurs   abführte,    ihn   beinahe    auf  das    türkische   Ufer    ge- 


0  BourgoiDg  besichtigte  noch  Tor  dem  14.  Oktober  die  Lager  von 
Kurtepe  und  schreibt  darüber:  „L'infection  de  ce  camp  ne  peut  se  decrire,  et 
dans  la  terreur  de  sa  retraite  precipitee,  Omer  avait  abandonne  toutes 
les  tetes  Russes  que  j'ai  rencontrees  en  grand  nombre  dans  les  bois;  on  les 
reconnaissait  ä  la  chevelure  blonde.  J^ai  trouve  aussi  des  malades  turcs 
morts  ou  expirants,  ce  qui  prouve  mieux  que  tout  la  crainte  dont  ils  ont  ete 
saisis.^  Er  vergrub  im  russischen  wie  im  türkischen  Lager  zu  ewigem  Andenken 
Münzen  mit  dem  Bildnis  Karls  X. 


Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  182a  273 

worfen  *),  aber  schließlich  erreichte  er  doch  sein  Ziel.  Am  20.  Okto- 
ber verließ  er  Odessa,  am  26.  endlich  traf  er  in  Petersburg  ein. 

Der  Abmarsch  der  Rassen  in  ihre  Winterquartiere  vollzog  sich 
unter  großen  Schwierigkeiten.  General  Rudzewitsch,  der  bestimmt 
war,  den  Teil  der  Armee  von  Schumla,  der  nach  Silistria  sollte, 
also  das  3.  Korps,  zu  decken,  wurde  von  Hussein  Pascha  an- 
gegriffen und  erlitt  empfindliche  Verluste,  dagegen  gelangten  die 
Trümmer  des  6.  und  7.  Korps  unbehelligt  nach  Varna,  wo  sie  die 
entsetzlichsten  Quartiere  fanden.  Graf  Langeron,  der  den  Ober- 
befehl über  die  Belagerungstruppen  von  Silistria  fährte  und  die 
Festung  zu  Fall  bringen  sollte,  hielt  es  schon  am  2.  Oktober  für 
wahrscheinlich,  daß  er  sich  nicht  werde  behaupten  können.  Vom 
3.  bis  5.  fielen  dann  wolkenbruchartige  Regengüsse,  die  den  Auf- 
enthalt im  Lager  fast  zur  Unmöglichkeit  machten.  Langeron  mußte 
eine  Kanonenschaluppe  zu  seinem  Hauptquartier  machen.  Als  der 
Regen  aufhörte,  folgte  ein  Schneesturm,  danach  eisige  Kälte.  Alles 
Schlachtvieh  kam  um,  und  die  unglücklichen  Soldaten  mußten  sich 
von  den  Kadavern  der  gefallenen  Tiere  nähren.  Da  ordnete  Lan- 
geron die  Aufhebung  der  Belagerung  und  den  Abmarsch  an.  Am 
7.  November  überschritten  die  ersten  drei  Divisionen  die  Donau. 
Aber  in  welchem  Zustande!  Ermattet  und  entmutigt,  fast  völlig 
abgestumpft;  denn  es  gibt  einen  Grad  von  Unglück,  bei  dem 
schließlich  Denk-  und  Empfindungsvermögen  versagen.  Das 
Schlimmste  war  das  Fehlen  fast  jeder  ärztlichen  Hilfe  und  der 
unerhörte  Zustand  der  Feldlazarette  und  Hospitäler.  Selbst  in 
Odessa,  wo  doch  das  Auge  von  Kaiser  und  Kaiserin  hinreichte, 
waren  die  Mißstände  in  den  Hospitälern  ganz  unerträglich'),  aber 
der    Zustand    der    dort    liegenden    Kranken    war    beneidenswert 

*)  Fast  noch  schlimmer  erging  es  der  militärischen  und  diplomatischen 

Suite  des  Kaisers,  die  auf  dem  „Panteleimon^  nach  Odessa  geführt  wurde.   Der 

'Herzog  von  Mortemart    bat   darüber   einen    höchst   drastischen    Bericht   (vom 

19.  Oktober)  nach  Paris  geschickt,    der  von    der   unerhörten  Unfähigkeit    des 

russischen  Kapitäns  zeugt. 

^)  „Les  fievreux,  les  blesses,  les  amputes  meme  n^ont  pas  de  matelats, 
pas  de  draps,  pas  de  paillasses;  ils  sont  couches  sur  des  lits  de  camp 
immenses  sur  lesquels  le  Chirurgien  doit  grimper  pour  faire  ses  pansements, 
un  tres  petit  nombre  seulement  a  des  couvertures,  le  linge  ä  pansement,  la 
charpie,  les  medicaments  manquent  tres  souvent  etc."  Relation  Chassage  aus 
Odessa,  den  17.  November.  Paris  Depot  des  äff.  etrang,  Russie  vol.  176 
fol.  250. 

Schiemanii,  Geschichte  Rußlands  IL  18 


274  Kapitel  VIH.    Der  Türkeokrieg,  Kampagne  von  1828. 

im  Vergleich  zu  dem,  was  die  Kranken  in  den  Hospitälern  Bul- 
gariens und  der  Fürstentümer  ertragen  mußten.  Es  spottet  jeder 
Beschreibung.  In  Jassy^)  trafen  z  .B.  Mitte  November  aus  Silistria 
500  Kranke  und  Verwundete  ein,  die  nur  von  einem  Feldscher 
geleitet  wurden,  darunter  Soldaten,  die  vor  14  Tagen  amputiert 
waren  und  noch  ihren  ersten  Verband  trugen,  während  andere 
überhaupt  noch  nicht  verbunden  waren. 

Wittgenstein,  Kisselew  und  Diebitsch  trafen  am  19.  November 
in  Jassy  ein;  dort  blieb  Wittgenstein  mit  der  Verantwortung  für 
die  in  den  Winterquartieren  liegenden  Truppen  zurück,  während  erst 
Kisselew,  dann  auch  Diebitsch  nach  Petersburg  berufen  wurden, 
wo  große  Entscheidungen  zu  treffen  waren. 

Benkendorff  faßt  die  Resultate  der  Kampagne  folgendermaßen 
zusammen.  Wir  haben  gewonnen  in  der  Türkei:  „Die  Moldau,  die 
große  und  kleine  Walachei,  einen  bedeutenden  Teil  von  Bulgarien, 
8  Festungen,  957  Kanonen,  180  Fahnen,  9  Paschas  und  über 
22000  Kriegsgefangene'). 

In  der  asiatischen  Türkei:  6  Festungen,  3  Befestigungen, 
313  Kanonen,  195  Fahnen,  8  Paschas  und  über  8000  Ge- 
fangene . .  . 

Aber  Krankheit,  Kälte  und  der  Feldzug  in  einem  verwüsteten 
Lande  haben  die  Reihen  der  Truppen  stark  gelichtet.  Die  Kavallerie 
hat  fast  alle  ihre  Pferde  verloren.  Die  Artillerie,  die  weniger  ge- 
litten hat,  konnte  sich  gleichfalls  nicht  mehr  im  Felde  behaupten. 
Alle  Teile  der  Armee  sind  völlig  desorganisiert.  Zum  Glück  haben 
die  Türken  es  nicht  verstanden,  unsere  traurige  Lage  auszu- 
nutzen." 

Die  Pforte  hatte  die  Nachricht  von  der  Einnahme  Varnas 
einige  Tage  geheim  gehalten.  Als  sie  bekannt  wurde,  war  die 
Aufregung  groß,  aber  dem  Sultan  steigerte  sie  nur  den  Kriegseifer. 
Er  schickte  den  Bostandji-Baschi,  den  Chef  seiner  Leibgarde,  in 
das  Lager  des  Großwesirs,  ließ  ihm  die  Reichssiegel  abnehmen 
und  verbannte  ihn  vorläufig  nach  Gallipoli*).  An  seine  Stelle 
trat  der  tapfere  Izzet  Pascha,   der  in  Varna   die  Ehre  der  Türken 

»)  Relation  Lugan.    Jassy,  20.  November  1828.     Paris  1. 1.  fol.  254. 

3)  Diese  unglucklicben  türkischen  Gefangenen  sind  zum  großen  Teil  auf 
dem  Marsch  in  die  ihnen  bestimmten  Quartiere  umgekommen,  was  gewiß  eine 
der  schmählichsten  Tatsachen  dieses  elenden  Krieges  war. 

')  Die  Absetzung  des  Großwesirs  wurde  am  27*  Oktober  bekannt  gegeben. 


Kapitel  VIII.     Der  Türkenkrieg,  Kampagne  Ton  1828.  275 

bis  zuletzt  behauptet  hatte,  zum  Kapudan-Pascba  wurde  Ahmed 
Bey  ernanot.  Gleichzeitig  wurden  große  Aushebungen  in  Asien 
befohlen  und  in  Konstantinopel  30000  Rekruten  der  Bevölkerung 
abgezwungen.  Sie  sollten  nach  Adrianopel  geführt  werden.  Ein 
Regiment  Kavallerie  und  drei  Regimenter  regulärer  Infanterie 
wurden  in  das  Lager  von  Kara  Bunar^)  geschickt.  Der  Sultan 
selbst  dachte  sich  an  die  Spitze  seiner  Truppen  zu  stellen,  wurde 
aber  durch  die  Ratschläge ')  seiner  Minister  und  der  Ulemas  zurück- 
gehalten. Dieser  kriegerische  Eifer  erlahmte  auch  bald,  man  kam 
bei  der  Pforte  zur  Erkenntnis,  daß  ein  Winterfeldzug  nicht  möglich 
sei.  Die  schwachen  russischen  Besatzungen  in  ihren  bösen 
Quartieren  blieben  unbelästigt.  Übrigens  wurden  die  Truppen  gut 
verpflegt.  Die  Offiziere,  denen  der  Kaiser  bei  seinem  Erscheinen 
auf  dem  Kriegsschauplatz  das  Kartenspielen  verboten  hatte,  ent- 
schädigten sich  jetzt  nach  der  langen  Entbehrung.  Der  Divisions- 
adjutant Joseph  Dubecki,  der  in  Basardschik  lag,  schreibt  darüber: 
„Die  gewöhnliche  Beschäftigung  in  unserem  Kreise  war:  Karten- 
spielen, Mittagessen,  Wein;  Kartenspielen,  Abendessen,  W^ein; 
Karten  überall,  Tag  und  Nacht,  Karten  und  wieder  Karten  —  und 
selten,  sehr  selten  hie  und  da  ein  Buch  oder  ein  Briefe  ^).  Es  wurde 
sehr  stark  getrunken,  noch  mehr  freilich  während  des  Feldzuges,  als  die 
Karten  fehlten.  Trunkenheit  der  Offiziere,  sogar  der  Generale,  wird 
mehrfach  bezeugt.  In  den  Winterlagern  in  der  Moldau  und  Walachei 
wurden  mit  den  galanten  Frauen,  die  in  W^agenladungen  zugeführt 
wurden,  wüste  Orgien  gefeiert.  DieAufgabe,  Disziplin  und  Ordnung  auf- 
recht zuerhalten  und  die  Truppen  für  den  bevorstehenden  Feldzug  vor- 
zubereiten, war  unter  diesen  Umständen  ganz  außerordentlich 
schwierig.  Ein  wahres  Glück,  daß  die  Türken  stille  hielten.  „Aber 
—  schreibt  Dubecki  —  „die  Türken  lieben  den  Winterfeldzug 
ebensowenig  wie  wir  sündige  Menschen.^  Sie  taten  nichts,  um 
die  Russen  aus  ihrem  leichtfertigen  Treiben  aufzurütteln.  Die 
Türkei  schien  in  Apathie  zu  verfallen,  und  nur  auf  dem  Felde 
der  Diplomatie  zeigte  sie  die  alte  Entschlossenheit,  von  ihren  An- 
sprüchen und  Rechten  kein  Titelchen  aufzugeben. 

1)  An  der  Maritza  südlich  von  Adrianopel. 

2)  Tatischtschew  an  Wittgenstein.     Wien,  8./20.  November  1828.  Wojenno 
ü.  Arch.  2714. 

«)  Russkaja,  Starina  1895  II  S.  100. 

18* 


276 


Kapitel  VIII.    Der  Tarkenkrieg,  Kampagne  von  1828. 


2.  Der  Feldzug  Paskiewitschs  in  Asien.^) 
Während  in  der  europäischen  Türkei  der  Feldzug  der  Russen 
nur  dank  der  Unfähigkeit  der  Türkei  nicht  in  eine  völlige 
Katastrophe  ausgemündet  war,  hatte  in  der  asiatischen  Türkei  Pas- 
kiewitsch  in  der  Zeit  von  2  7s  Monaten  eine  Reihe  glänzender 
Erfolge  errungen,  die  durch  keinen  Fehlgriff  getrübt  wurden. 


^Kutaä 


Erovurv 
o 


^BSERUM 


Maßstab  1.3000000. 

'^ff  I  ■  ■  I  y 


HB» 


';  Fürst  Schtscherbatow,  Generalleutnant  im  Oeneralstabe:  Generalfeld- 
marschall Fürst  Paskiewitsch,  sein  Leben  und  seine  Tätigkeit.  Nach  unge- 
druckten Quellen.  Bd.  III,  Petersburg  1891.  Russisch.  Wir  begnügen  uns 
mit  einem  raschen  Oberblick  über  die  [wesentlichsten  Kriegsereignisse.  Auf 
den  Krieg  in  der  europäischen  Türkei  ist  dieser  asiatische  Feldzug  fast  ohne 
EinfluB  gewesen. 


Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  277 

Das  Charakteristische  des  zwischen  Russen  und  Türken  in 
Asien  damals  möglichen  Kriegsschauplatzes  ist,  daß  alle  Straßen, 
die  aus  dem  russischen  Georgien  in  das  türkische  Territorium 
führen,  in  Erzerum  zusammentreffen,  während  umgekehrt  alle 
Straßen  die  aus  Tärkisch-Asien  nach  Georgien  hineinführen,  in 
Tiflis  zusammentreffen.  So  mußten  Tiflis  und  Erzerum  die  Objekte 
der  beiderseitigen  Kriegführung  werden.  Verbunden  waren  sie 
durch  drei  Straßen,  von  denen  die  nördlichste  durch  das  Tal  des 
Kur  über  Achalzych  führt,  die  südliche  über  Eriwan  und  Topra 
Kaie,  die  mittlere  in  zwei  Verzweigungen  in  Kars  zusammentraf: 
Tiflis — Gumri  und  Tschalka — Achalkalaki.  Diese  mittlere  Straße, 
die  Paskewitsch  wählte,  war  auf  türkischem  Boden  durch  Kars 
und  in  einer  Verzweigung  durch  Achalkalaki  gedeckt,  auf  russischem 
durch  das  befestigte  Dorf  Gumri  und  das  Fort  Tschalka.  Der 
einzig  mögliche  Stützpunkt  für  eine  russische  Armee  war^ Eriwan, 
während  die  Türken  zwei  solcher  Punkte  in  Kars  und  Achalzych 
hatten.  Bei  Beginn  des  Feldzuges  lagen  alle  strategischen  Vorteile 
auf  Seiten  der  Türken,  und  auch  an  Truppenzahl  waren  sie  den 
Russen  weit  überlegen,  da  auf  den  ersten  Ruf  jederStadtbewohner  völlig 
bewaffnet  in  die  Reihen  der  Truppen  eintreten  mußte.  Er  wurde 
dafür  von  allen  Abgaben  befreit.  Brach  ein  Krieg  aus,  so  wurden  die 
Beys  mit  der  ihnen  untergebenen  Mannschaft  aufgeboten,  so  daß 
das  ganze  Volk  am  Kriege  teilnehmen  mußte.  Ein  manövrier- 
fähiges Heer  ergab  sich  daraus  freilich  nicht,  und  das  bedingte  die 
große  Überlegenheit  der  Russen'). 

Als  die  russische  Kriegserklärung  an  die  Türkei  erfolgte, 
hatten  die  Türken  in  Kars,  Achalzych  und  Erzerum  gegen 
40000  Mann.  Ihre  gesamte  Kriegsmacht  in  den  vier  in  Betracht 
kommenden  Paschaliks  Kars,  Bagdad,  Erzerum,  Trapezunt  läßt 
sich  auf  zirka  100000  Mann  schätzen.  Am  18.  April  rückten 
weitere  10000  Mann  in  Achalzych,  6000  in  Kars  ein.  Der  Seras- 
kier von  Erzerum,  Galib  Pascha,  mehr  Administrator  als  Militär, 
sorgte  dafür,  daß  diese  Festungen  für  6 — 8  Monate  verproviantiert 
wurden.  Den  Oberbefehl  übertrug  er  dem  tapferen  Kios  Mahmud 
Pascha,  der  alle  zu  den  nächsten  russischen  Festungen  führenden 
Straßen  durch  seine  Kavallerie  besetzen  ließ. 

')  Baeyer,  Der  Feldzug  der  Russen  in  Asien  1828/29.  Manuskript  im 
Archiv  des  preußischen  Generalstabs.  Ausgeführt  ist  nur  der  Abschnitt  über 
den  Feldzug  von  1829. 


278  Kapitel  VIII.    Der  Türkenkrieg,  Kampagne  yon  1828. 

Paskiewitsch,  in  dessen  Absicht  es  lag,  sich  zunächst  gegen  Kars 
zu  wenden  und  eine  Konzentrierung  der  Türken  zwischen  Kars 
und  Achalzych  zu  verhindern,  war  entschlossen  seinen  Feldzug 
nicht  vor  Anfang  Juni  zu  beginnen.  Die  aus  Persien  zurück- 
kehrenden Truppen  sollten  sich  erholen  und  neu  ausgerüstet 
werden,  auch  wollte  er  eine  Militärstraße  nach  Gumri*)  fertig- 
stellen, wo  er  seine  Proviantmagazine,  die  Hospitäler  und 
Artillerieparks  konzentrierte.  Mitte  April  war  die  russische  Grenze 
gegen  Überraschungen  gesichert.  In  Imeretien  und  Guriel  stand 
Generalmajor  Hesse,  in  Karthalinien  General  Popow,  der  General- 
leutnant Fürst  Wadbolski,  auf  der  Linie  Zulki,  Sardarabad,  Talyn; 
in  Eriwan  der  Fürst  Tschawtschawadse.  Es  wurden  außerdem 
14000  Mann  Infanterie,  2000  Pferde  und  42  Geschütze  diesseits  des 
Kaukasus  zurückgelassen,  weil  die  Stimmung  der  mohammedanischen 
Bevölkerung  Aufstände  befürchten  ließ.  Da  in  Teheran  ein 
türkischer  Pascha  erschienen  war  und  Paskiewitsch  englische  Intrigen 
fürchtete,  legte  er  auch  einige  Bataillone  nach  Urmia  und  Nahi- 
tschewan.  Damit  meinte  er  allen  Überraschungen  vorgebeugt  zu 
haben.  Für  die  aktive  Armee  blieben  ihm  freilich  nur  14000  Mann.  *) 
Aber  sie  lagen  in  seiner  Hand,  und  er  hatte  nicht  zu  befürchten, 
daß  ihm  jemand  seine  Zirkel  stören  werde.  Am  22.  Juni  traf  er 
in  Gumri  ein,  mit  Generalmajor  Baron  Osten-Sacken,  einem  un- 
gewöhnlich tüchtigen  Offizier  als  Stabschef,  und  am  26.  wurde  die 
Grenze  überschritten.  Paskiewitsch  schlug  die  Straße  gegen  Kars 
ein.  In  dieser  Festung  lagen  6000  Mann  Infanterie  und  7000  Mann 
vorzüglicher  Kavallerie,  auch  wußte  Paskiewitsch,  daß  Kios  Mahmud 
Pascha  mit  15000  Mann  im  Anmarsch  war.  Aber  er  vertraute 
seinen  Truppen  und  der  Überlegenheit  seiner  Kriegskunst.  16  Werst 
vor  Kars  hatte  er  die  erste  Fühlung  mit  der  Vorhut  des  Feindes. 
Als  er  darauf  eine  forzierte  Rekognoszierung  unternahm,  wurde  er 
von  5 — 6000  Reitern  angegriffen;  das  brachte  ihm  seinen  ersten 
wichtigen  Erfolg.  Paskiewitsch  ließ  sein  Zentrum  zurückweichen, 
umklammerte  darauf  den  Feind  mit  beiden  Flügeln  und  warf  ihn 
schließlich  in  die  Flucht.    Die  Türken  ließen  300  Tote  und  Ver- 

')  Hart  an  der  russischen  Grenze,  östlich  von  Kars. 

^)  Die  Gesamtstärke  der  Russen  berechnet  Major  ßaeyer,  Hauptmann  im 
preußischen  Generalstabe,  in  seiner  Arbeit  die  wahrscheinlich  gleich  nach  dem 
Kriege  entstand  folgendermaßen:  Infanterie  38250  Mann,  Kavallerie  7150 
Mann,  Artillerie  12  Batterien  =  144  Geschütze. 


Kapitel  VIII.    Der  Törkenkrieg,  Eampagae  Ton  1828.  279 

ivundete  zurück,  während  die  rassischen  Verlaste  nur  ganz  gering- 
fügig waren.  Das  geschah  am  30.  Juni,  und  die  Russen  schlagen 
nun  ihr  Lager  drei  Werst  von  Kars  auf  der  Straße  nach  Erzerum 
auf.  Da  diese  Festung,  die  den  Orientalen  für  unüberwindlich  galt, 
nach  Süden  nur  schwache  Befestigungen  hatte,  beschloß  Paskie witsch 
seinen  Angriff  dahin  zu  richten.  Er  besetzte  am  1.  Juli  eine 
Position  gegenüber  den  die  Festung  beherrschenden  Höhen  von 
Scharach,  ließ  Batterien  herstellen,  und  nach  längerem  Geschütz- 
kampf nahm  er  schließlich  die  Höhen,  auf  denen  die  ganze  Garnison 
von  Kars  stand,  mit  Sturm,  ohne  daß  ein  Schuß  abgegeben  wurde; 
auch  Karadagh,  die  äußerste  türkische  Befestigung  auf  den  Höhen 
östlich  von  Kars,  fiel  in  gleicher  Weise  in  seine  Hände.  Als  nun 
die  Truppen  auch  in  die  Stadt  zu  dringen  begannen,  wurde  eine 
weiße  Fahne  über  der  Festung  gehißt,  und  nach  zweistündigen 
Verhandlungen,  in  deren  Verlauf  Paskiewitsch  alle  seine  Geschütze 
gegen  die  Zitadelle  richten  ließ,  kapitulierte  die  Festung,  und  der 
Kommandant  Mahmud  Pascha  mit  der  ganzen  Garnison  gab  sich 
kriegsgefangen. 

Während  des  Sturmes  der  Russen  hatte  Kios  Mahmud  Pascha 
80  Werst  von  der  Festung  gestanden.  Es  war  seine  Absicht  ge- 
wesen, die  Höhen  von  Scharach  zu  besetzen,  aber  er  war  24  Stunden 
zu  spät  aufgebrochen,  und  Kars  blieb  den  Türken  verloren.  Auch 
traf  sie  ein  anderer  empfindlicher  Schlag.  Schon  vorher,  am 
27.  Juni,  hatte  Generalmajor  Hesse  die  Küstenfestung  Poti  ohne 
jeden  Kampf  eingenommen  und  besetzt.  Die  Garnison  wurde  in 
die  Heimatsdörfer  entlassen.  Schon  jetzt  war  dadurch  der  türkische 
Feldzugsplan  unausführbar  geworden. 

Die  Absicht  des  SeraskiersGalib  war  ursprünglich  mit  zwei  Heeren 
in  russisches  Gebiet  einzudringen:  aus  Achaizych  in  Imeretien 
und  aus  Bajazet  in  das  Eriwansche.  Aber  übertriebene  Gerüchte 
von  der  in  Gumri  konzentrierten  russichen  Macht  hatten  ihn  ver- 
anlaßt sich  auf  die  Verteidigung  von  Kars  zu  beschränken,  die,  wie 
wir  wissen,  ein  so  klägliches  Ende  nahm.  Aus  Erzerum  waren  15000 
Mann  mit  18  Geschützen  unter  Kios  Mahmud  und  hinter  ihm  Mustafa 
Aga  mit  12000  Reitern  aufgebrochen.  Auf  die  Nachricht  vom  Fall 
von  Kars  blieb  nun  Kios  Pascha  bei  Ardahan  stehen,  um  seine 
Vereinigung  mit  Mustafa  zu  vollziehen.  Das  wurde  auch  glücklich 
erreicht,  und  die  Türken  nahmen  darauf  bei  Hassan  Kaleh  30  Werst 
vor  Erzerum  Stellung. 


280  Kapitel  VIII.     Der  Tärkenkrieg,  Kampagne  Ton  1828. 

Paskiewitsch  ließ  in  Kars  den  General  Bergmann  mit  1500  Mann 
zurück  and  wollte  am  8.  Juli  gegen  Achalkalaki,  Achalzych  und 
Ardahan  vorgehen.  Da  zeigten  sich  am  7.  Pestfälle  unter  den 
gefangenen  Türken,  am  8.  auch  unter  den  Russen.  Es  wurde  nun 
sofort  eine  strenge  Quarantäne  gegen  Kars  verordnet,  und  das 
russische  Heer  bezog  ein  Lager  bei  Tykma  in  der  Nähe  der  Stadt, 
das  völlig  von  ihr  abgeschieden  war.  Dort  lag  es  20  Tage  lang.  Aber 
zum  Glück  nahm  die  Seuche  bald  ab,  und  endlich  erlosch  sie  ganz. 
Den  Türken  kam  dieser  gebotene  Stillstand  zustatten.  Kios  Pascha 
verstärkte  sich  in  Hassan  Kaleh  auf  20000  Mann,  und  in  Achalzych 
konzentrierte  sich  ein  Heer  von  10000  Mann.  Trotzdem,  und  ob- 
gleich jetzt  die  Pest  im  Eriwanschen  ausbrach,  gab  Paskiewitsch 
seinen  Kriegsplan  nicht  auf  Er  beauftragte  Bergmann  im  Fall 
eines  Angriffs  auf  Kars,  sich  auf  die  Höhen  und  in  die  Zitadelle 
zurückzuziehen  und  dort  Entsatz  abzuwarten,  dagegen  die  Stadt 
und  die  im  Tal  liegenden  Befestigungen  nicht  zu  verteidigen,  und 
rückte  selbst  gegen  das  zirka  100  Werst  entfernte  Achalkalaki  vor. 
Dort  stieß  er  anfangs  auf  entschlossenen  Widerstand;  als  aber 
eine  Bresche  in  die  Mauer  geschossen  war  und  Oberst  Borodin 
und  Baron  Osten-Sacken  in  die  Stadt  eindrangen,  kapitulierte  der 
Kommandant  Forchat  Bey  mit  den  noch  übrigen  300  Mann.  Auch 
hier  kamen  türkische  Entsatztruppen  zu  spät.  Am  6.  August 
mußten  sie  kehrt  machen.  Nun  wandte  sich  Paskiewitsch  am 
13.  August  gegen  Achalzych,  unter  dessen  Mauern  Kios  und 
Mustafa  mit  30000  Mann  standen,  dazu  kam  noch  die 
Festnngsgarnison  von  10000  Mann.  Am  17.  August  näherten  sich 
ihnen  die  Russen.  Sie  legten  sofort  ein  befestigtes  Lager  an. 
Paskiewitsch  wollte  den  Feind  in  seinem  Lager  aufsuchen  und 
gleichzeitig  gegen  die  Ostseite  von  Achalzych  stark  demonstrieren. 
Aber  dieses  nicht  unbedenkliche  Wagnis  blieb  ihm  erspart.  Kios 
Pascha  hatte  beschlossen,  seinerseits  das  russische  Lager  anzu- 
greifen. Er  rückte  von  der  Festung  ab,  verließ  sein  Lager,  und 
marschierte  direkt  auf  die  russische  Position  zu.  Sobald  Paskie- 
witsch die  Absicht  des  Feindes  erkannte,  besetzte  er  in  ungemein 
günstiger  Stellung  ein  Hochplateau,  dessen  eine  Seite  durch  den 
Kur  gedeckt  wurde.  Es  war  der  21.  August.  Als  nun  die  Türken 
anstürmten,  wurden  sie  unter  großen  Verlusten  zurückgeschlagen. 
Aber  Kios  Pascha  brachte  den  Rückzug  seiner  Leute  zum  Stehen 
und  führte  sie  noch  einmal  gegen  den  Feind;  sie  fochten,  wie  es 


Kapitel  VIII.     Der  Türkenkrieg,  Kampagne  von  1828.  281 

im  Kriegsjournal  von  Paskiewitsch  heißt,  „mit  rasender  Tapfer- 
keit^, aber  das  Kreuzfeuer  der  russischen  Artillerie  zermalmte 
ihre  Reihen,  und  schließlich  löste  sich  alles  auf  in  wilder,  regel- 
loser Flucht.  Paskiewitsch  ersparte  seinen  ermüdeten  Truppen  zunächst 
eine  längere  Verfolgung.  Als  er  nach  einigen  Stunden  der  Er- 
holung gegen  das  türkische  Hauptlager  vorging,  dessen  Redouten 
von  nur  1500  Mann  verteidigt  wurden,  konnte  es  mit  geringer  Mühe 
genommen  werden,  ebenso  drei  andere  Lager,  zwischen  denen  die 
türkische  Reiterei  sich  zu  behaupten  versuchte.  Die  Türken  waren 
durch  die  Schnelligkeit  des  russischen  Vorgehens  so  verwirrt,  daß 
sie  sich  in  keiner  der  von  ihnen  sorgfältig  befestigten  Positionen 
zu  geschlossener  Verteidigung  zusammenzufinden  vermochten.  Nur 
5000  Mann  retteten  sich  in  die  Festung,  unter  ihnen  auch  Kios 
Pascha,  der  am  Fuß  verwundet  war,  alles  übrige  stob  auseinander 
und  wurde  jetzt  noch  30  Werst  weit  von  der  russischen  Kavallerie 
verfolgt.  Es  war  in  der  Tat  ein  glänzender  Erfolg.  10  Fahnen, 
10  Geschütze,  die  vier  Lager  mit  all  ihrem  Bedarf  fielen  den 
Russen  zur  Beute.  Sie  hatten  den  General  Koroljkow  und  7  Ober- 
offiziere an  Toten,  22  an  Verwundeten  verloren.  Von  der  Mann- 
schaft waren  nur  80  gefallen  und  375  verwundet. 

Die  Lage  von  Achalzych  war  trotzdem  keineswegs  verzweifelt. 
Die  Festung  hatte  70  Geschütze  und  jetzt  15000  Mann  Besatzung, 
dazu  stand  50  Werst  von  Achalzvch  der  Pascha  von  Meidan  mit 
einem  Heere  von  10000  Mann.  Paskiewitsch  aber  hatte  nur  noch 
für  sieben  Tage  Proviant,  und  es  war  fast  unmöglich,  aus  Georgien 
Zufuhr  zu  erhalten.  Es  charakterisiert  diesen  Mann,  daß  er  unter 
solchen  Umständen  beschloß,  die  Festung  zu  stürmen.  Noch  am 
Abend  des  Schlachttages  wurden  die  ersten  Vorbereitungen  dazu 
getroffen.  In  der  Nacht  vom  26.  auf  den  27.  August  begann  die 
Beschießung  der  Festung,  und  nachdem  eine  Bresche  geschossen 
war,  um  Mittagszeit  ein  wilder  Sturm.  Die  Russen  drangen  in 
die  Stadt,  die  von  Straße  zu  Straße  in  schrecklichem  Gemetzel 
erobert  werden  mußte.  Aber  mit  furchtbarer  Erbitterung  wehrten 
sich  die  Türken.  Da  ließ  um  7  Uhr  abends  Paskiewitsch  die  Stadt 
in  Brand  stecken.  „Das  Feuer  nahm  bald  einen  solchen  Umfang 
an,  daß  die  Verteidiger  sich  zurückziehen  mußten.  Die  Nacht  bot 
das  schrecklichste  Schauspiel.  Die  Flammen  verschlangen  den 
sudlichen  und  westlichen  Stadtteil,  der  verzweifelte  Feind  setzte 
das   Feuergefecht   fort,    rettete   sich  in  die  Zitadelle    oder  suchte 


282  Kapitel  VIII.    Der  Turkenkrieg,  Kampagne  Ton  1828. 

eine  Zuflucht  in  den  Häusern  und  fand  dort  den  Tod  in  den 
Flammen.  Granaten  aus  den  Mörsern  und  Raketen  steigerten  das 
Entsetzen  der  Verteidiger  von  Achalzych.  Die  Bewohner  in  großer 
Zahl,  vornehmlich  die  Frauen,  verließen  die  Stadt  und  flohen  zum 
Lager  hin,  ein  Teil  der  Garnison  ergriff  die  Flucht".  So  lautet 
die  Aufzeichnung  in  Paskiewitschs  Kriegsjournal*).  Trotzdem  hielt 
sich  der  Feind  noch  in  der  östlichen  Vorstadt.  Sie  wurde  vom 
grusinischen  Regiment  erobert  und  unter  anderem  zwei  Einhörner 
erbeutet,  die  vor  18  Jahren  General  Tormasow  hier  verloren  hatte. 
Der  Straßenkampf  dauerte  noch  durch  die  ganze  Nacht.  Der 
Überrest  der  Garnison  hatte  sich  in  die  Zitadelle  zurückgezogen, 
es  waren  nur  noch  4000  Mann.  Als  sie  am  Morgen  des  22.  um 
Anknüpfung  von  Verhandlungen  baten,  gewährte  ihnen  Paskiewutsch 
freien  Abzug,  nicht  nur  aus  Anerkennung  der  tapferen  Verteidigung, 
auch  das  eigene  Interesse  trieb  ihn  dazu.  Er  konnte  unmöglich 
lange  vor  der  Zitadelle  liegen,  und  es  ließ  sich  nicht  vorhersehen, 
wie  lange  sie  von  den  Verzweifelten  noch  gehalten  werden 
konnte. 

Der  Erfolg,  der  moralische  wie  der  materielle,  war  zudem  un- 
geheuer. Er  erbeutete  52  Fahnen,  70  Geschütze,  alle  Vorräte  an 
Kriegsmaterial  und  Proviant,  soweit  sie  nicht  von  den  Flammen 
vernichtet  waren.  Seine  Verluste  betrugen  600  Gemeine  40  Ober- 
offiziere  und  2  Stabsoffiziere. 

Da  auf  diesen  Höhen  der  Winter  früh  einbricht,  ließ  sich  an 
ein  Vorgehen  gegen  Erzerum  nicht  mehr  denken.  Paskiewitsch 
begnügte  sich,  Achalzych  sorgfältig  zu  befestigen,  um  es  gegen 
einen  Überfall  zu  sichern.  Bald  danach  kapitulierte  ohne  Kampf 
Azkur,  danach  ergaben  sich  ebenfalls  kampflos  auch  Bajazet, 
Diadin  und  Topra-Kale  dem  Fürsten  Tschawtschawadse.  Der  um 
Erzerum  besorgte  Seraskier  hatte  diese  kleinen  Festungen  fast  ohne 
Garnison  gelassen. 

Am  5.  Oktober  konnte  Paskiewitsch  dem  Kaiser  melden:  daß 
die  Fahnen  Sr.  Majestät  von  den  Höhen  des  Euphrat  wehen. 

Die  letzte  Tat  Paskiewitschs  war  die  Vertreibung  der  Fürstin 
Sophie  von  Gurien,  die  des  Einverständnisses  mit  dem  Pascha  von 
Trapezunt  beschuldigt  wurde.  Ihr  Gebiet  wurde  dem  russischen 
Reiche  einverleibt. 


')  Schtscherbatow  1.  1.  Ill,  135. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  283 

So  endete  für  Asien  die  Kampagne  des  Jahres  1828. 
Aber  mit  wieviel  größerer  Genugtuung  konnte  Paskiewitsch  auf 
sein  Werk  blicken  als  die  unglücklichen  russischen  Feldherren  in 
der  europäischen  Türkei.  Auch  sie  wären  wahrscheinlich  glück- 
licher gewesen,  wenn  nicht  der  Kaiser  durch  sein  Erscheinen  und 
sein  stetes  Eingreifen  jede  Einheitlichkeit  der  Kriegführung  zerstört 
hätte.  Mit  dem  Prinzen  Eugen  als  Oberbefehlshaber  hätte  es  wohl 
einen  anderen  Ausgang  gegeben !  Die  Verluste  Paskewitschs  waren 
unvergleichlich  geringer,  trotz  seines  steten  Stürmens,  als  die  der 
europäischen  Armee.  Fast  unversehrt  konnte  er  sein  kleines  Heer 
in  die  Winterquartiere  führen  und  die  Vorbereitungen  zu  einem 
zweiten  Feldzuge  treffen,  der  auch  hier  unzweifelhaft  bevorstand. 

Sultan  Mahmud  setzte  auf  die  Nachricht  von  dem  Fall  von 
Achalzych  den  Seraskier  Gälib  Pascha  ab  und  ernannte  den  Pascha 
von  Meidan,  Saleh,  zu  seinem  Nachfolger.  Der  richtete  all  seine 
Energie  auf  die  Befestigung  von  Erzerum  und  auf  die  Ausbildung 
seiner  Truppen.  Im  Januar  1829  mußte  er  50000  Mann  bei- 
sammen haben. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

Kaiser  Nikolaus  traf  nach  sechstägiger  beschwerlicher  Fahrt 
auf  den  vom  Herbstregen  fast  uufahrbar  gewordenen  russischen 
Wegen  am  26.  Oktober,  frühmorgens,  in  Zarskoje  Sselo  ein.  Er 
hatte  noch  rechtzeitig  zum  Geburtstag  der  Mutter  in  Petersburg 
sein  wollen  und  liebte  es,  zu  überraschen.  Es  mag  noch  ein  an- 
deres Motiv  mitgespielt  haben.  Ihm  war  der  Einblick  in  die 
erbarmungslose  Wirklichkeit  des  Krieges,  die  alle  Illusionen  zer- 
störte, in  denen  er  sich  zu  bewegen  gewohnt  war,  schließlich  ganz 
unerträglich  geworden.  In  Petersburg  umgab  ihn  eine  andere 
Atmosphäre;  nicht  Blut,  Gestöhne  der  Verwundeten  und  Kranken, 
nicht  die  Unordnung,  die  die  Reihen  seiner  schönsten  Regimenter 
aufgelöst  hatte;  die  Wirklichkeit  widerlegte  nicht  so  rücksichtslos 
und  so  unmittelbar  die  Zweckmäßigkeit  der  Verfugungen,  durch 
die  er  persönlich  in  den  Gang  der  Ereignisse  eingriff.  Der  Feld- 
zug, der  hinter  ihm  lag,  hatte  sein  Selbstgefühl  schwer  getroffen. 
Ihm  war  zu  Mute,  wie  Alexander  nach  der  Schlacht  bei  Austerlitz. 
Er  konnte  sich  nicht  verhehlen  und  hat  es  auch  mehrfach  aus- 
gesprochen,   daß  seine  Anwesenheit   nicht   günstig   gewirkt   hatte. 


284  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

Erst  in  Petersburg  war  er  wieder  der  allmächtige  unumschränkte 
Herr,  hinter  dem  die  gemeinen  Sorgen  im  „wesenlosen  Scheine^ 
lagen  und  der  von  hoher  Warte  aus,  ohne  seine  Prinzipien  preis- 
geben zu  müssen,  die  Geschicke  Rußlands  und  den  Gang  der  großen 
Politik  in  die  Bahnen  leiten  konnte,  die  zu  seinen  Zielen  führten. 
Er  hielt  sich  in  Zarskoje  nur  so  lange  auf,  als  unerläßlich  war,  um 
die  Spuren  der  angestrengten  Reise  zu  beseitigen,  dann  brach  er 
nach  Petersburg  auf.  Er  wollte  die  beiden  Kaiserinnen  bei  dem 
Morgengottesdienst  überraschen,  wenn  der  ganze  Hof  in  all  seinem 
Glänze  sie  umgab.  Als  er  sich  dem  Winterpalais  näherte,  erkannten 
ihn  die  Soldaten  der  Chevalier-Garde,  die  am  Ufer  der  Newa  in 
zwei  Eskadrons  aufgestellt  standen,  um  die  Trophäen  von  Varua 
zu  empfangen  und  sie  im  Triumph  durch  die  Straßen  der  Residenz 
z\x  führen.  Das  war  doch  ein  anderes  Bild,  als  das  der  todmüden 
Truppen,  die  er  über  Leichen  und  Trümmer  in  das  verwüstete 
Varna  gefuhrt  hatte.  Aber  im  Winterpalais  empfing  ihn  die  Nach- 
richt, daß  statt  der  erwarteten  Festfeier  alles  in  banger  Sorge  war 
um  seine  Mutter,  die  alte  Kaiserin  Maria  Feodorowna. 

Sie  hatte  die  Illusionen  geteilt,  mit  denen  ganz  Rußland  den 
Beginn  des  Türkenkrieges  begleitete,  und  war,  als  schließlich 
immer  ungünstigere  Nachrichten  einliefen,  in  einen  Zustand  tiefer 
Erregung  geraten.  Die  Freude  über  den  Fall  von  Varua  zerrüttete 
dann  vollends  ihr  Nervensystem,  auch  hatte  sie  sich  während  des 
Dankgottesdienstes,  mit  dem  die  Nachricht  gefeiert  wurde,  erkältet. 
Drei  Tage  vor  dem  Eintreffen  des  Kaisers  erkrankte  sie.  Es  scheint 
nun,  daß  die  Ärzte  nicht  rechtzeitig  die  Natur  ihres  Leidens  er- 
kannten. Es  war  ein  Schlaganfall,  und  bald  konnte  kein  Zweifel 
sein,  daß  sie  an  ihrer  letzten  Krankheit  darniederlag.  Sie  hat  noch 
einige  Tage,  teils  delirierend,  teils  in  klarem  Bewußtsein  gekämpft, 
schließlich  ist  sie,  nachdem  sie  sich  von  den  Ihrigen  verabschiedet 
hatte,  am  2.  November,  7»^  Uhr  nachts,  sanft  entschlafen.  Der 
Kaiser,  die  Kaiserin  und  ihre  Enkelkinder  umstanden  ihr  Lager, 
als  sie  verschied*).    Sie  hatte  eben   ihr  69.  Lebensjahr  vollendet, 


*)  Die  Gräfin  Nesselrode  an  ihren  Bruder  Nikolai  Gurjew.    Petersburg, 

•»•^  Oktober 

~ r —  1828.    .J'apprends  que  dans  la  soiree  du  lundi  au  mardi,  S.  M.  avait 

4.  November  >»      ri-  t 

eu  une  Irritation  inquietante,  qu^a  1 1  heures  on  avait  ete  forcö  de  1a  saigner,  que  la 

langue  avait  ete  embarrass^e,  son  menton  etait  tomb^,  et  que  le  delire  s'em- 

parait  souvent  d'Elle.    La  nuit  apres  la  saignee  avait  et^  assez  calme,  cepen- 


Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  285 

immer  noch  eine  schöne  Frau.  Sie  war  niemals  in  ihrem  Leben 
krank  gewesen.  Unzweifelhaft  war  ihr  Tod  ein  Ereignis  von  tief- 
greifender Bedeutung.  Hatte  sie  auch  nie  in  ihrem  Leben  einen 
politischen  Einfluß  ausgeübt,  so  war  sie  doch  seit  dem  Tode  Pauls 
das  Haupt  der  Familie;  sowohl  Alexander  wie  Nikolaus  hatten  ihr 
die  Entscheidung  in  allen  Familienangelegenheiten  überlassen,  und 
sie  hat,  speziell  in  allen  Ehefragen,  schließlich  den  Ausschlag  ge- 
geben. Wo  es  sich  um  wirklich  ernste  Entscheidungen  handelte, 
versagte  sie  jedoch  regelmäßig,  und  beide,  Alexander  wie  Nikolaus, 
haben  es  verstanden,  unter  den  Formen  der  Ehrerbietung  sie  von 
den  Geschäften  fernzuhalten.  Dagegen  war  ihre  Protektion  von 
großem  Gewicht,  und  unzweifelhafte  Verdienste  hatte  sie  sich  um 
das  Erziehungswesen,  vornehmlich  der  aristokratischen  weiblichen 
Jugend  Rußlands  erworben.  Die  „Institute  der  Kaiserin  Maria^, 
Erziehungsanstalten,  Hospitäler,  Findelhäuser  usw.  sind  dank  der 
ernsten  und  gewissenhaften  Fürsorge,  die  sie  ihnen  seit  1796  ge- 
widmet hatte,  die  besten  gewesen,  die  Rußland  aufweisen  konnte. 
Ihr  war  die  Wohltätigkeit  nicht  nur  treu  erfüllte  Pflicht,  sondern 
Herzenssache,  und  sie  kannte  nicht  nur  die  Leiter  all  dieser  An- 
stalten persönlich,  sondern,  wenngleich  nicht  alle,  so  doch  die 
meisten  Zöglinge.     Ihr  Testament  vom  21.  Januar  1827*)  gibt  da- 

dant  hier,  mardi,  Tinquietude  allait  croissant;  oa  appliqua  beaucoup  de  remedes, 
tardifs,  malheureusement  ....  ä  7  h.  du  soir  on  d^clara  Tauguste  malade 
Sans  espoir,  la  paralysie  s'etait  declaree  daos  les  boyaux  et  avait  gagne  la 
gorge.  .  .  .  L'Empereur  jugeant  l'etat  tres  alarmant  se  decide  ä  Pentretenir 
du  devoir  de  tout  chretien,  eile  voujut  le  remettre  au  leodemain  pour  s'y  pre- 
parer,  mais  S.  Bl.  .  .  la  decida  ä  le  faire  a  l'instant,  ce  qu'elle  fit  dans  un 
moment  tres  lucide;  apres  eile  voulut  voir  les  enfants,  on  les  lui  amena,  ce 
qui  etait  une  scene  tr^s  touchante;  comme  il  etait  tres  tard,  les  petits  enfants 
sur  les  bras  ä  moiti^  endormis,  eile  ne  reconnut  que  l'h^ritier,  le  benit.  .  .  . 
Elle  termina  son  existence  toute  vertueuse  la  nuit  passee  ä  2 Vi  h-  tranquille- 
ment,  comme  c'est  le  cas  dans  les  paralysies  .  .  .  c'etait  bien  la  femme  de 
Tevangile;  une  bonte,  une  charite  plus  etendue  est  sans  exemple,  sa  vie  etait 
bien  necessaire  encore  pour  toute  la  famille.  ...  Je  suis  persuadee,  et  c'est 
Topinion  generale  que  Ruhl  .  .  aura  meconnu  la  maladie.  C'est  un  sort  que 
notre  famille  imperiale  s'entoure  de  medecins  d^testables  et  les  aiment  (siel) 
tellement  qu'elle  n'en  vcuille  pas  d'autres,  et  ce  Ruhl  a  meconnu  la  maladie.** 
Petersburg.     Reichsarchiv  III,  Nr.  43. 

1)  Aus  dem  Nachlaß  Storchs  veröffentlicht  Russ.  St.  Bd.  XXXIV,  S.  319 
bis  388.  Es  ist  nebenher  interessant,  als  Inventar  ihres  Schmuckes  und  der 
in   ihrem   Besitz  befindlichen  Gemälde.    Erwähnt  mag  werden,   daO   sie   die 


286  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

von  Zeuguis.  Seit  dem  März  1801  hat  nichts  sie  mehr  in  Anspruch 
genommen,  als  diese  segensreiche  Tätigkeit.  Nebenher  ging  dann 
eine  unglaublich  ausgedehnte  Korrespondenz,  die  nicht  nur  ihre 
Kinder  und  Enkel  sowie  ihre  weite  Verwandtschaft  betraf,  sondern 
zahlreiche  Privatpersonen,  an  deren  Geschick  sie  Anteil  nahm*). 
Sie  hat  auch  Tagebücher  geführt,  aber  sie  wurden  auf  ihre  testa- 
mentarische Verfügung  hin  vom  Kaiser  verbrannt').  Sie  war  die 
Hüterin  der  Etikette  des  18.  Jahrhunderts,  wie  die  Kaiserin  Katha- 
rina sie  so  imponierend  vertreten  hatte.  Wenn  sie  in  ihrer  ver- 
goldeten, von  acht  Pferden  gezogenen  Equipage  ausfuhr,  geleitet 
von  ihren  Husaren,  hatte  das  Volk  eine  Vorstellung  von  der  Er- 
habenheit der  Inhaber  des  Thrones  über  dem  Profanum  vulgus. 
Aber  trotz  allem  war  sie  nie  populär  geworden.  Sie  verließ  nur 
selten  Petersburg  und  kannte  außer  Moskau  nur  wenig  von  Ruß- 
land. Auch  hat  sie  niemals  die  Sprache  ganz  beherrschen  gelernt. 
Sie  schrieb  französisch  und  deutsch,  und  an  ihrem  Hofe  wurde  fast 
ausschließlich  französisch  gesprochen. 

Mit  ihrem  Scheiden  tritt  die  Generation  der  Tage  Katharinas 
endgültig  von  der  historischen  Schaubühne.  Man  sprach  wohl  von 
der  Bourgeoisie-imperiale*)  Alexanders  und  Nikolais.     Beiden  war 


Bibel  Alexanders  I.,  in  der  der  Kaiser  seine  Lieblingsstellen  angestrichen 
hatte,  der  Großfürstin  Maria  Pawlowna  vermachte.  Diese  Bibel  muß  in  Weimar 
liegen.  1.  1.  S.  329.  Die  betreffende  Stelle  lautet:  „Je  donne  a  ma  chere  Fille 
la  Grande-Duchesse  Marie  la  Bible  de  feu  l'Empereur:  Notre  Ange  y  a  trace 
de  sa  main  les  passages  qui  Tont  frappe  davantage.** 

0  Mir  liegt  ihre  Korrespondenz  mit  der  Familie  des  Feldmarschalls 
Wittgenstein  vor,  die  als  typisch  gelten  kann.  Die  Kaiserin  ist  die  Vertraute 
der  intimsten  Familienangelegenheiten.  Während  der  Feldzüge  von  1812 — 14 
schickte  ihr  Wittgenstein  zudem  regelmäßig  Berichte  über  seine  militärischen 
Operationen.     Archiv  des  Fürsten  Hohenlohe,  früher  in  Werki. 

-)  Am  26.  Januar  1829  schickte  der  Kaiser  dem  Großfürsten  Constantin 
Papiere  der  Mutter.  Eine  Reihe  von  Bänden,  die  eine  Art  Tagebuch  von  1770—1800 
enthielten,  habe  er  auf  Wunsch  der  Mutter  verbrannt.  „J'avoue  que  cela  m'a 
fait  beaucoup  de  peine.^  Es  sei  unbegreiflich,  wie  sie  Zeit  gefunden  habe, 
so  viel  zu  schreiben.  Es  ist  jedoch  nicht  unwahrscheinlich,  daß  Tagebücher 
aus  späteren  Jahren  noch  existieren. 

2)  Brief  des  Moskauers  Bulgakow  an  seinen  Bruder,  den  Postdirektor  in 
Petersburg,  vom  29.  Oktober  1828.  Russki  Archiv  1901,  Bd.  3,  S.  191. 
Diwow  notiert  in  seinem  Tagebuch,  einer  der  [Hofleute  habe  ihm  gesagt, 
man  werde  in  Zukunft  das  Wort  „consideration"  aus  der  Hofetikette  streichen 
müssen. 


;  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bi:^  zum  Juli  1829.  287 

die  Etikette  lästig,  aber  Nikolai  liebte  es,  bei  besonderen  Gelegen- 
heiten sich  mit  all  ihrem  Prunk  zu  umgeben,  und  es  läßt  sich 
verfolgen,  daß  es  seit  dem  Tode  der  Mutter  häufiger  geschah 
als  vorher. 

Es  gingen  nun  sofort  Kuriere  nach  Weimar,  Brüssel,  Berlin, 
Stuttgart,  Oldenburg.  Am  15.  November  traf  der  Großfürst  Kon- 
stantin in  Petersburg  ein,  am  17.  Michail.  Am  25.  November 
endlich  fand  die  Beerdigung  statt,  mit  allem  Aufwand,  den  die  Ver- 
storbene hätte  wünschen  können.  Der  Kaiser  hatte  ursprünglich 
die  Absicht,  für  die  Leitung  der  „Institute  der  Kaiserin  Maria 
Feodorowna"  ein  besonderes  Ministerium  zu  begründen,  mit  Willa- 
mow  als  Staatssekretär;  es  wurde  jedoch  für  rationeller  befunden, 
eine  „4.  Abteilung  der  eigenen  Kanzlei^  des  Kaisers  mit  dieser 
Aufgabe  zu  betrauen  und  der  Kaiserin  Alexandra  sowie  der  Groß- 
fürstin Helene  die  oberste  Aufsicht  zu  übertragen.  Das  Komitee 
vom  1.  Dezember  1825  wurde  mit  der  Ausarbeitung  der  Geschäfts- 
ordnung betraut. 

Diese  Dinge  haben  mehr  äußerlich  als  innerlich  die  Auf- 
merksamkeit des  Kaisers  in  Anspruch  genommen.  Es  drängte 
sich  eine  Reihe  von  Entscheidungen  von  höchster  Wichtigkeit  an 
ihn  heran,  und  die  nahenden  Feste  der  Weihnachtszeit  und  des 
Neujahrs  ließen  bald  rauschende  Vergnügungen  an  die  Stelle  der 
stillen  Trauer  treten.  Schon  am  30.  Oktober  hatte  der  Kaiser  sich 
vom  Senat  sein  Testament  zurückgeben  lassen  und  das  Komitee 
aufgelöst,  dem  er  die  Verwaltung  des  Reiches  übertragen  hatte. 
Auch  machte  die  Hand  des  Kaisers  sich  sofort  fühlbar;  einige 
Gouverneure  wurden  ihrer  Stellung  enthoben,  andere  in  Anklage- 
stand versetzt.  Auch  das  Militär  spürte  die  Rückkehr  des 
Herrn,  schon  im  November  wurden  die  täglichen  Paraden,  ganz 
wie  vor  Ausbruch  des  Krieges,  wieder  aufgenommen. 

Das  Wesentliche  aber  war  die  Feststellung  des  Kriegsplanes 
für  die  nächste  Kampagne  und  damit  zusammenhängend  die  Ent- 
scheidung der  Frage,  ob  das  Oberkommando  bei  Wittgenstein  bleiben 
solle,  von  dem  der  Kaiser  noch  Ende  August  1828  geschrieben 
hatte:  „En  general  la  betise  et  l'inconsequence  du  Marechal  se 
fait  voir  en  tout"  und  über  dessen  „ineptie**  er  nicht  genug  Worte 
finden  konnte,  oder  aber,  was  danach  selbstverständlich  schien,  ob 
ein  anderer,  und  wer,  an  seine  Stelle  zu  setzen  sei.  In  Petersburg 
ging  die  Meinung  dahin,  daß  die  Hauptschuld  an  dem  Mißerfolg 


288  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

den  Kaiser  treffe,  der  kein  Blut  sehen  könne,  und  das  wurde  recht 
drastisch  ausgedrückt^).  Man  fürchtete  nichts  mehr,  als  daß  der 
Zar  nochmals  selbst  ins  Feld  ziehen  könnte. 

Nun  hatte  Wittgenstein  bereits  am  17.  Oktober  sein  Abschieds- 
gesuch wiederholt.  Wenige  Tage  danach  erhielt  der  Kaiser  einen 
von  Diebitsch  und  Kisselew  gemeinsam  ausgearbeiteten  Feldzugs- 
plan, der  im  wesentlichen  ausführte,  daß  die  Armee  schwach  und 
erschöpft  sei,  daß  große  Mittel  und  längere  Zeit  unerläßlich  seien, 
um  sie  wieder  aktionsfahig  zu  machen.  An  eine  ernstgemeinte 
Invasion  jenseit  des  Balkans  sei  nicht  zu  denken,  möglich  sei  da- 
gegen zweierlei,  entweder  längs  der  Küste  bis  Burgas  vorzudringen, 
oder  aber  die  Donau  entlang  zu  ziehen  und  sich  mit  den  Serben 
zu  vereinigen.     Sie  empfahlen  das  letztere. 

Es  steht  wohl  im  Zusammenhang  damit,  daß  der  Kaiser 
Wittgensteins  Abschiedsgesuch  ablehnte').  Für  einen  so  vorsichtig 
gedachten  Feldzug  schien  ihm  das  Genie  des  Feldmarschalls  aus- 
zureichen. Doch  machten  sich  bald  andere  Einflüsse  geltend.  Am 
1.  Dezember,  abends,  berief  der  Kaiser  auf  den  ausdrücklichen  Antrag 
des  Generaladjutanten  Fürsten  Wassiltschikow  den  Grafen  W.  P.  Kot- 
schubej,  den  Vorsitzenden  des  Reichsrats,  den  Kriegsminister  Grafen 
A.  J.  Tschernyschew  und  die  Generaladjutanten  Baron  Toll  und 
Fürsten  Wassiltschikow  zu  sich,  um  mit  ihnen  über  die  Frage  des 
Feldzugsplanes  zu  Rat  zu  sitzen').  Hier  wurde  zunächst  ein  zu- 
sammenfassender Bericht  über  den  Verlauf  des  Feldzuges  verlesen, 
danach  eine  Berechnung  der  an  Mannschaft  und  Material  erlittenen 
Verluste,  ein  Anschlag  über  die  zur  Verproviantierung  der  Armee 


»)  Brief  der  Grafin  Nesselrode  1. 1.  vom  13.  Februar  1829. 

„L'on  raconte  k  quel  point  un  blesse  faisait  efTet  sur  TEmpereur;  il  en 
pulissait,  frissonnait,  et  ce  Vama  qui  etait  tout  ebranle,  etait  pret  ä  etre 
abandonne,  rien  que  parce  qu'on  perdait  du  monde,  et  que  Toti  n'avait  pas 
le  courage  de  faire  avancer  la  garde,  et  de  livrer  un  assaut;  c'est  ä  D.  que 
Ton  doit  de  s'y  etre  maintenu;  quelle  honte  si  Ton  avait  fait  autrement,  j'en 
aurais  fait  une  maladie.  Je  me  demande  de  quo!  est  petri  un  homme  qui 
sacrifie  sa  gloire  plutot  que  voir  couler  du  sang;  vaut-il  mieux  qu'il  reste^ 
ce  serait  un  malheur  que  la  phantaisie  lui  vienne  de  reprendre  le  quartier 
general.'^     Korrespondenz  der  Gräfin  Nesselrode  1. 1. 

^  Am  22.  November. 

•)  Memoire  sur  les  discussions  du  19  november  1828.  Von  der  Hand 
Tschernyschews  mit  dem  Datum  26.  November  1828  (9.  Dezember).  Wojenno 
ütschenny  Archiv  Nr.  44,  45.    Das  Memoir  wurde  dem  Kaiser  eingereicht. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  289 

unerläßlichen  Hilfsmittel  and  endlich  eine  Darlegung  der  augen- 
blicklichen militärischen  Lage.  Dann  ergriiT  der  Kaiser  das  Wort 
und  erinnerte  daran,  daß  weder  die  Eroberung  Konstantinopels 
noch  der  Sturz  des  Sultans  sein  Ziel  gewesen  sei,  sondern  die  Not- 
wendigkeit, die  Türkei  zum  Frieden  zu  zwingen.  Deshalb  und  im 
Hinblick  auf  die  politische  Lage  Europas,  glaube  er  nicht  für  die 
nächste  Kampagne  mehr  als  110  bis  120000  Mann  höchstens  auf- 
wenden zu  dürfen.  Er  stellte  dann  die  direkte  Frage,  wie  dem- 
nach das  Ziel,  das  er  bei  der  Kriegserklärung  an  die  Türkei  ver- 
folgt habe,  am  besten  zu  erreichen  sei.  Die  (vielleicht  schon  vor- 
her vereinbarte)  Antwort,  deren  Wortführer  Toll  war,  lautete:  daß 
weder  die  Einnahme  der  Donaufestungen,  noch  die  Erfolge  Paskie- 
witschs  in  Asien  den  Sultan  zum  Nachgeben  zwingen  könnten. 
Man  müßte  suchen  ihm  empfindliche,  starke  und  unerwartete 
Schläge  beizubringen,  die  dafür  gebrachten  Opfer  würden  durch  die 
Beendigung  des  Krieges  mehr  als  aufgewogen  werden,  während  ein 
Kampf,  der  noch  mehrere  Jahre  dauern  sollte,  das  Reich  erschöpfen 
und  es  Europa  gegenüber  in  eine  schwere  Laga  versetzen  würde. 
Man  müsse  daher  für  den  nächsten  Feldzug  200000  oder  mindestens 
170000  Mann  aufbringen.  Der  Kaiser  wandte  ein,  daß  es  fast 
unmöglich  sei,  ein  so  großes  Heer  jenseits  der  Donau  zu  ernähren, 
man  solle  daher  die  Frage  diskutieren,  wie  ein  Heer  von  120000 
Mann  am  besten  zu  verwenden  sei.  Diese  Diskussion  ergab  dann 
das  folgende  Resultat,  dem  der  Kaiser  zusustimmen  schien:  In  den 
ersten  Tagen  des  März  solle  General  Roth  mit  etwa  30000  Mann 
Schumla  überfallen  und  einnehmen.  Sollte,  was  unwahrscheinlich 
sei,  Roth  zurückgeschlagen  werden,  so  könne  er  sich  auf  seine 
jetzigen  Positionen:  Varna,  Bazardjik,  Pravody,  Hirsowa,  Babadagh 
zurückziehen.  Zweitens  müsse  während  der  neuen  Kampagne  jede 
Zersplitterung  der  Kräfte  vermieden  werden.  Von  den  elf  Divisionen 
Infanterie  und  sechs  Divisionen  Kavallerie,  über  die  man  verfügen 
könne,  würden  zwei  Divisionen  Infanterie  und  eine  Division  Kavallerie 
genügen,  die  große  und  kleine  Walachei  zu  decken  und  die  Donau 
zu  beobachten.  Mit  dem  Rest,  der  möglichst  durch  Kosaken  zu 
verstärken  sei,  solle  man  auf  dem  rechten  Ufer  operieren.  Die 
Belagerung  von  Silistria  müsse  früh  unternommen  werden,  damit  sie 
vor  Eintreten  der  Hitze  beendet  werden  könne.  Seien  beide  Festungen, 
Silistria  und  Schumla,  gefallen,  so  sollen  die  russischen  Streitkräfte 
sich  auf  einer   inneren  Linie   zwischen  Schumla   und  Varna  ver- 

Schiemanu,  Geschichte  Rußlands.  II.  1 9 


290  Kapitel  IX.    Diplomatie  uod  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

einigen,  so  daß  sie  von  der  See  aus  versorgt  werden  und  nach  Be- 
darf überall  hingeworfen  werden  können,  wo  die  Umstände  es  er- 
heischen. Die  Flotte  solle  vornehmlich  der  Sicherung  russischer 
Transporte  dienen  und  nicht  zu  entfernten  asiatischen  Expeditionen 
verwandt  werden,  damit  sie,  wenn  es  nötig  werde,  mit  der 
Armee  kooperieren  könne.  Als  letztes  Ziel  wurde  die  Einnahme 
von  Burgas,  Abydos  und  Karnabat  hingestellt  Seien  diese  drei 
Punkte  genommen,  so  müsse  man  sich  dort  festsetzen  und  nicht 
weitergehen  *).  Der  dadurch  erregte  Schrecken  werde  in  Konstanti- 
nopel zur  Annahme  der  russischen  Forderungen  führen  und  zugleich 
den  europäischen  Mächten  beweisen,  daß  nur  die  Hartnäckigkeit 
des  Sultans,  nicht  Blutdurst,  Rußlands  Vorgehen  bestimmt  habe. 
Gebe  aber  der  Sultan  nicht  nach,  so  sei  eine  letzte  große  An- 
strengung zu  machen,  zu  der  die  für  die  Besetzung  Schumlas  be- 
stimmten 10000  Mann  herangezogen  werden  könnten. 

Auf  eine  Unterstützung  der  Serben  endlich  wurde  zunächst 
verzichtet,  um  nicht  die  Eifersucht  Österreichs  zu  erregen.  Sei  der 
Feldzug  von  Erfolg  gekrönt  und  die  Pforte  trotzdem  nicht  zum 
Frieden  geneigt,  so  könne  dieses  Zwangsmittel  benutzt  werden, 
ohne  daß  jemand  berechtigt  wäre,  dagegen  zu  protestieren. 

Diese  Verhandlung  hat  eine  endgültige  Entscheidung  nicht 
gebracht.  Doch  gestattete  der  Kaiser  auf  Kotschubejs  Bitte  den 
Herren,  ihm  nochmals  schriftlich  ihre  Meinung  dai-zulegen. 

So  entstand  die  Denkschrift  Wassiltschikows  über  die  Ursachen 
des  geringen  Erfolges  der  Kampagne  von  1828'),  die  mit  großem 
Nachdruck  darauf  hinwies,  daß  die  Gegenwart  des  Kaisers  und 
die  dadurch  bedingte  Zwiespältigkeit  im  Oberkommando  an  den 
Fehlern  der  Kampagne  die  Hauptschuld  trage.  Allerdings  formu- 
lierte er  es  so,  als  liege  der  Fehler  in  der  Ernennung  eines  Mar- 
schalls, da  doch  der  Kaiser  in  Person  als  oberster  Kriegsherr  zugegen 
war.  Aber  es  ist  unmöglich,  Wassiltschikows  eigentlichen  Gedanken 
zu  verkennen.  Dazu  kritisierte  er  unbarmherzig  die  Wahl  der 
Divisionsgenerale  und  Stabschefs.  Weshalb  sei  Toll  nicht  berufen 
worden,  weshalb  habe  Pahlen  die  Kavallerie  nicht  erhalten?  An 
tüchtigen  Männern  habe  es  nicht  gefehlt,  aber  es  sei  nur  nach  der 
Anciennität  gewählt  worden,  und  das  habe  einen  Kreis  von  Gene- 


*)  ,et  ne  point  s'aventurer  au  dela." 

')  Apercu   sur   la  campagne   de  Tannee    1828.    Gedruckt   bei   Schilder 
Nikolai,  Bd.  11,  S.  544—548.     Die  Denkschrift  ist  undatiert. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  291 

raien  ergeben,  deren  Fähigkeiten  sich  gleich  Null  erwiesen  ^).  Geradezu 
vernichtend  war  sein  Urteil  über  die  Unfähigkeit  derer,  welchen  man 
die  Administration  der  Armee  anvertraut  hatte.  Der  Stabschef 
unerfahren,  der  Generalquartiermeister  nicht  nur  noch  unerfahrener, 
sondern  träge  und  ohne  Überblick;  der  General  vom  Dienst  unter 
mittelmäßig,  unordentlich,  ohne  Eifer  und  ohne  jede  Voraussicht; 
der  Generalintendant  unwissend,  großer  Kombinationen  unfähig, 
ohne  Umsicht  und  ohne  jede  Idee  vom  Kriege.  Gewiß  hat  diese 
freimütige  Denkschrift  auf  den  Kaiser  einen  großen  Eindruck  ge- 
macht, zumal  Wassiltschikow  den  schließlichen  Fall  von  Varna 
ausschließlich  der  Energie  Nikolais  zuschrieb,  was,  wie  wir  wissen, 
der  Wahrheit  nicht  entsprach,  aber  den  Schein  der  Wahrheit  für 
sich  hatte.  Auch  war  der  Gedanke  dem  Kaiser  nicht  unsympathisch, 
dem  nächsten  Feldzuge  fern  zu  bleiben.  Damit  aber  stellte  sich 
sofort  die  Frage  ein,  wer  das  Oberkommando  führen  werde,  und  die 
Entscheidung  mußte  davon  abhängen,  ob  der  Krieg  zu  einer  kühnen 
Offensive  führen  oder  einen  rein  defensiven  Charakter  tragen  solle. 
In  den  jetzt  allmählich  einlaufenden  Feldzugsplänen  sind  beide  An- 
sichten vertreten  gewesen.  Kotschubej  und  der  Finanzminister 
Caucrin,  der  merkwürdigerweise  auch  befragt  wurde,  erklärten 
sich  für  bloße  Defensive  (3.  Dezember),  General  Baron  Toll') 
wiederholte,  was  er  bereits  im  Komitee  ausgeführt  hatte.  Mit  nur 
100000  Mann  sei  ein  entscheidender  Erfolg  nicht  möglich,  man 
müsse  mindestens  150000  jenseits  der  Donau  haben.  Es  bleibe 
nach  den  Beschlüssen  des  Komitees  demnach  nichts  übrig,  als 
Schumla  und  Silistria  zu  nehmen,  den  Vorstoß  bis  Karnabat  zu 
richten  und  dann  stehen  zu  bleiben  und  das  W^eitere  abzuwarten. 
Diebitschs  Feldzugsplan  (aus  Jassy,  den  4.  Dezember)  war  der  klein- 
mütigste von  allen.  Er  erschöpft  sich  durch  den  erten  Satz,  in 
dem  es  heißt:  „Unser  Ziel  ist,  uns  des  mittleren  Laufes  der  Donau 
bis  Rustschuk  und  Nikopolis  zu  bemächtigen.  Besonders  günstige 
Umstände  könnten  noch  zur  Einnahme  von  Schumla  führen,  un- 
günstige dagegen  uns  auf  die  Einnahme  von  Rustschuk  und  Silistria 
beschränken."  Das  stimmte  genau  mit  den  Gedanken,  die  ihm  der 
Kaiser  kurz  vorher  brieflich  entwickelt  hatte.  „Dieser  Plan**,  so  er- 
läuterte der  Kaiser  sein  eigenes,  rein  defensives  Projekt,  „wird  der  Welt 


*)  „une  reunion  d'hommes  d'une  capacite  aussi  nuUe.^ 
3)  Siehe  die  Anlage:  St.  Petersbourg,  le  28  novembre  1828. 

19» 


292  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

beweisen,  daß  wir  den  Krieg  nicht  als  Eroberer  führen,  sondern 
wie  kluge  und  vorsichtige  Leute,  die  einen  Plan  ver- 
folgen, der  nicht  zu  großen  Resultaten  führen  kann.^ 
Es  ist  das  vielleicht  die  ungeheuerlichste  Ansicht,  die  je  von  einem 
Feldherm  ausgesprochen  worden  ist. 

Aber  nach  der  Beratung  im  Komitee  und  nach  der  Denkschrift 
Wassiitschikows  war  der  Kaiser  doch  an  der  Weisheit  dieser 
Doktrin  irre  geworden.  Als  Diebitsch^)  auf  Befehl  des  Kaisers  in 
Petersburg  eintraf,  fand  er  bereits  eine  ganz  andere  Stimmung 
vor,  der  er  sich  schnell  anzupassen  verstand.  Der  Kaiser  hatte 
den  Gedanken,  die  nächste  Kampagne  selbst  zu  leiten,  aufgegeben. 
Es  sei,  sagte  er,  nicht  Gottes  Wille,  daß  er  sich  an  der  Spitze 
seiner  Truppen  auszeichne.  Als  er  jetzt  von  Diebitsch  einen  neuen 
Feldzugsplan  verlangte,  mündete  dieser  dahin  aus,  daß  man  Silistria 
nehmen,  die  Fürstentümer  säubern,  dann  über  den  Balkan  bis 
nach  Aidos  dringen  könne,  um  dort  zu  überwintern,  doch  sei  es 
auch  denkbar,  daß  große  Erfolge  bis  nach  Karnabat  führen  könnten. 
E3  liegen  noch  Pläne  von  W'assiltschikow  (27.  Januar)  und  vom 
General  Witt  vor,  die  beide  für  eine  kühne  Kriegführung  eintreten, 
aber  während  Wassiltschikow  von  der  Einnahme  von  Silistria  absah, 
dagegen  die  Eroberung  Schumlas  für  unerläßlich  hielt  und  erst 
danach  den  Balkan  überschreiten  wollte,  riet  Witt  zu  prinzipieller 
Aufgabe  des  Festungskrieges.  Man  solle  vielmehr  gleich  über  den 
Balkan  ziehen  und  die  Entscheidung  in  den  Ebenen  von  Rumili 
suchen*).  Aber  bereits  hing  die  Entscheidung  über  den  endgültigen 
Feldzugsplan  von  einer  anderen  Frage  ab.  Wurde  der  Gedanke 
eines  bloß  defensiven  Feldzuges  aufgegeben  und  nahm  der  Kaiser 
an  der  Kampagne  nicht  teil,  und  beides  stand  nunmehr  wohl  fest, 
so  lag  keinerlei  Grund  mehr  vor,  dem  Feldmarscball  Grafen  W' ittgen- 
stein,  dem  Sünden  bock  des  Jahres  1828  das  Oberkommando  zu  lassen, 
es  bot  sich  jetzt  die  Aussicht  auf  große  Erfolge,  und  Diebitsch,  dessen 
ganzer  Ehrgeiz  dahin  ging,  nunmehr  das  Kommando  zu  erhalten,  hat 
ilm  durch  eine  etwas  plumpe  Intrige  tatsächlich,  wie  man  wohl 
sagt,  herausgebissen.     Von  den   übrigen   in   Betracht  kommenden 


')  Er  verließ  Jassy  am  25.  Dezember  und  traf  am  4.  Januar  in  Peters- 
burg ein. 

-)  Ich  übergehe  die  Feldzugspläne  von  Kisselew,  d'Auvray,  einem  An- 
onymus und  Nesselrode!  Der  letztere  sprach  sich  für  eine  Winterkampagne  in 
Verbindung  mit  den  Serben  aus. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  and  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  293 

Kandidaten  wurde  an  den  alten  Feldmarschall  Sacken  zwac  die 
Anfrage  gestellt,  ob  er  bereit  sei,  das  Kommando  zu  übernehmen, 
auf  seine  bestimmte  Zusage  aber  bald  der  Verwand  gefunden  von 
ihm  abzusehen.  Paskiewitsch  wollte  den  Schauplatz  seiner  Erfolge 
nicht  verlassen,  fürchtete  außerdem  auf  europäischem  Boden  nicht 
gleich  selbstherrlich  schalten  und  walten  zu  können,  wie  in  Asien. 
Der  General  Graf  Woronzow  war  dem  Kaiser  persönlich  unangenehm 
und  wurde  übergangen,  obgleich  die  „russische  Partei"  alles  daran- 
setzte, um  die  Wahl  des  Kaisers  auf  ihn  zu  lenken,  vom  Grafen 
Tolstoi  aber  wollteNikolai  sich  nicht  trennen,  und  so  istschließlichnur 
Diebitsch  übrig  geblieben.  Er  wurde,  nachdem  vorher  Toll  sich  bereit 
gefunden  hatte,  sein  Stabschef  zu  werden  und  die  alten  Gegensätze,  die 
zwischen  ihnen  bestanden;  ruhen  zu  lassen,  am  21.  Februar  zum 
Oberkommandierenden  ernannt  und  gleichzeitig  Wittgenstein  „wegen 
völlig  zerrütteter  Gesundheit"  auf  seine  Bitte  in  Gnaden  seinerStellung 
enthoben^).  Kisselewwurdezum Kommandeur de84. Reservekavallerie- 
korps ernannt.  General  Langeron,  der  im  Dienst  älter  war,  nahm  seineu 
Abschied  und  wurde  durch  Pahlen  ersetzt.  Aus  einem  Brief 
Diebitschs  an  Kisselew  vom  10.  Januar  1828  kennen  wir  die 
großen  Züge  des  Feldzugsplanes,  der  demnach  zwischen  dem  4.  und 

10.  Januar  definitiv  festgestellt  wurde.  Die  später  eingelaufenen 
Entwürfe  haben  daran  nichts  geändert.  Sie  wurden  als  schätzbares 
Material  Diebitsch  mit  auf  den  Weg  gegeben.  Der  endgültige  Beschluß 
aber  ging  dahin,  daß  die  Armee  bis  Mitte  März  20000  Rekruten 
an  Infanterie  und  20  komplette  Eskadrons  Kavallerie  erhalten  solle. 
Die  Ankäufe  von  Pferden,  die  außerdem  notwendig  wären,  sollten  von 
der  Armee  selbst,  nach  Anordnung  Wittgensteins  geschehen.  Von 
den  sechs  Gouvernements,  die  zum  Kriegsrayon  gehörten,  war  je 
ein  fliegendes  Lazarett  mit  Bedarf  für  14  Tage  zu  stellen.  Der 
Kaiser  gestatte  unter  keinen  Umständen  die  Reservebataillone  über 
die    russischen  Grenzen    hinauszuführen,    dafür   sollte   jedoch    die 

11.  Infanteriedivision  der  Armee  einverleibt  werden,  damit  sie  die 
festen  Plätze  und  das  eroberte  (conquis!)  Gebiet  besetze.  Der  Kaiser 
ist  überzeugt,  daß  diese  Vermehrung  der  Streitkräfte  genügen 
werde,    um    erstens   Silistria   und   danach    Ginrgewo    zu   nehmen, 

^)  Siehe  die  Anlage.  Wittgensteiu  hatte  durch  Schreiben  vom  13./25 
Januar  1829  ausdrücklich  erklärt,  daß  er  sich  gesund  und  kräftig  fühle,  aber 
da  der  Feldzug  über  den  Balkan  führen  solle,  um  Verstärkung  der  Armee 
bitte.     Man  fand  ihn  mit  einer  Pension  von  70000  Rubel  ab. 


294  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

zweitens  Schumla  zu  beobachten  and  die  Streitkräfte  Roths,  die, 
wenn  nötig,  durch  zwei  Divisionen  vermehrt  werden  sollen,  über 
den  Balkan  zu  fahren,  damit  sie  Burgas,  Aidos,  Karnabat  nehmen. 
Die  Einnahme  von  Schumla  ist  zu  versuchen,  wenn  der  Feind  sich 
solche  Blößen'  gibt,  daß  Roth  die  Festung  durch  einen  Handstreich 
nehmen  kann,  oder  wenn  sie  während  des  Feldzuges  so  schwach 
besetzt  sein  sollte,  daß  gute  Aussicht  sei,  ihrer  Herr  zu  werden. 

Es  mußte  sich  nun  entscheiden,  wieweit  die  Wirklichkeit 
sich  diesen  Absichten  günstig  erweisen  werde.  Diebitsch  verließ 
Petersburg  ohne  jeden  Zeitverlust  und  traf  am  25.  Februar  in 
Jassy  ein. 

„Die  neuen  Vorgesetzten  sind  eingetroffen '^ ,  so  schreibt  ein 
Augenzeuge^),  „zuerst  vor  vier  Tagen  der  Chef  des  Generalstabes, 
Baron  Toll.  Ein  stämmiger  Mann  von  mittlerer  Größe  mit  breitem, 
vollem  Gesicht  und  klarem,  hartem  Blick.  Man  sieht  ihm  an,  daß 
er  sich  nicht  beugen  lassen  und  die  Augen  vor  niemandem  nieder- 
schlagen wird.  Der  gesamte  Stab  hatte  sich  beim  General  Kisselew 
versammelt,  um  ihm  vorgestellt  zu  werden.  .General  Kisselew  nannte 
jeden  von  uns  mit  Namen.  Als  das  geschehen  war,  dachten  alle, 
daß  der  neue  Chef  einige  Worte  sagen  werde.  Es  kam  aber 
anders.  Er  stand  am  Ende  des  Saales  und  sagte  mit  fester 
Stimme:  Ja,  was  soll  ich  Ihnen  sagen?  Wir  wollen  uns  kennen 
lernen.    Adieu. 

Gestern  war  ein  Schauspiel  anderer  Art.  Wir  gingen  zum 
Feldmarschall  Wittgenstein,  uns  dem  neuen  Oberkommandierenden 
vorzustellen.  Ich  habe  Dir  den  Grafen  Iwan  Iwanowitsch 
(Diebitsch)  schon  beschrieben.  Aber  ich  habe  Dir  noch  nicht 
gesagt,  daß  er  zwar  aufbrausend,  aber  voll  Gefühl  und  Herz  ist. 
Er  sprach  warm  und  lange,  war  aber  schwer  zu  hören.  Wir  ver- 
standen mehr  aus  seinen  Gesten  als  durch  seine  Worte,  daß  er  von 
seiner  Ergebenheit  für  seinen  ruhmvollen  Vorgesetzten  sprach 
(Diebitsch  war  1812  Stabschef  von  Wittgenstein  gewesen),  wie 
schwer  es  sei,  ihn  zu  ersetzen  usw.     Darauf  küßten  sie  sich  usw. 

,Und  doch  hat  er  den  Alten  gründlich  geprellt!*  sagte  jemand 
mit  leiser  Stimme.     Das  war  alles.^ 

Gewiß  war  Toll  der  bedeutendere  von  beiden,  als  Mensch  wie 
als  Feldherr,  aber  der  bevorstehende  Feldzug  sollte  Eigenschaften 

0  Fonton. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  295 

verlangen,  in  denen  Diebitschs  besondere  Gaben  zu  glänzender 
Geltung  kamen;  denn  nie  ist  ein  Feldzug  mehr  durch  alle  Kunst* 
griffe  einer  fein  berechnenden,  niemals  beirrten,  aber  alle  Welt 
täuschenden  Diplomatie  zu  glucklichem  Ende  geführt  worden,  als 
Diebitschs  berühmte  Kampagne  von  1829. 

Es  ist  unerläßlich,  den  Zusammenhang  der  diplomatischen 
Aktion  nachzutragen,  die  seit  dem  Herbst  1828  dem  Feldzuge  der 
Russen  parallel  gegangen  war. 

Die  Besetzung  Moreas  durch  die  Franzosen  war  von  den 
Türken  ziemlich  apathisch  hingenommen  worden.  Sie  fügten  sich 
der  vollendeten  Tatsache,  zumal  ihre  Hoffnung  sich  immer  noch 
darauf  richtete,  daß  der  Gegensatz  der  Interessen,  denen  die 
Alliierten  nachgingen,  Rußland  isolieren  werde.  Nun  hatten 
schon  aniang  August  die  Vertreter  Frankreichs  und  Englands  von 
ihrem  interimistischen  Sitz,  Porös,  aus,  die  Pforte  aufge- 
fordert, über  ihren  Beitritt  zum  Londoner  Vertrag  in  Verhandlung 
zu  treten,  vorläufig  die  Mediation  der  drei  Mächte  anzuerkennen 
und  den  Griechen  einen  Stillstand  zu  gewähren.  Der  Sultan,  der 
damals  bereits  von  der  bevorstehenden  französischen  Expedition 
wußte,  ließ  eine  ausweichende  Antwort  erteilen,  forderte  jedoch 
die  Botschafter  von  England  und  Frankreich  auf  nach  Konstantinopel 
zurückzukehren.  An  einer  Verhandlung,  von  der  Rußland  nicht 
ausgeschlossen  sei,  könne  er  aber  unter  keinen  Umständen  teil-* 
nehmen.  Das  war  in  Porös  als  eine  Ablehnung  aufgefaßt  worden  und 
unbeantwortet  geblieben.  Anders  faßten  die  Kabinette  von  England 
und  Frankreich,  von  (Österreich  dazu  angespornt,  die  Sach- 
lage auf.  Die  Antwort  der  Pforte  schien  ihnen  trotz  allem 
die  Möglichkeit  einer  Verständigung  zu  bieten.  Sie  dachten 
sich  der  Pforte  zu  nähern,  zwischen  ihr  und  Rußland  zu  inter- 
venieren und  dadurch  dem  Kriege,  der  weder  in  Euglaud  noch 
in  Frankreich  populär  war,  ein  Ende  zu  bereiten.  Nachdem  General 
Maison  sich,  ohne  auf  Widerstand  zu  stoßen,  Moreas  bemächtigt 
hatte,  beschloß  am  16.  November  die  Londoner  Konferenz, 
der  Pforte  in  aller  Form  zu  erklären,  daß  nunmehr  Morea  und 
die  Zykladen  unter  gemeinsamer  Garantie  der  drei  Mächte 
ständen,  und  daß  sie  nochmals  aufgefordert  werden  solle,  dem 
Vertrage  vom  6.  Juli  1827  beizutreten.  Unmittelbar  danach 
und  ehe  noch  eine  Antwort  aus  Konstantinopel  eingetroffen  war, 
zeigten    England    und    Frankreich    dem    russischen   Kabinett   an. 


296  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zam  Juli  1829. 

daß  sie  die  diplomatischen  Beziehungen  zur  Pforte  wieder  auf- 
nehmen würden.  Rußland  solle  seine  Vollmachten  ihren  Vertretern 
delegieren.  Zugleich  wurde  angedeutet,  daß  eine  Intervention  der 
Mächte  den  Frieden  zwischen  Rußland  und  der  Pforte  herstellen 
könnte.  Das  gab  einen  Augenblick  ernster  Krisis.  Man  glaubte 
im  Hauptquartier  des  Kaisers  mit  Recht  zu  erkennen,  daß  Rußland 
von  der  Regelung  der  griechischen  Frage  ausgeschlossen  werden 
solle,  und  daß  die  geplante  Mediation  sich  das  Ziel  setze,  die 
Friedensbedingungen,  die  Rußland  der  Pforte  schon  bei  der  Kriegs- 
erklärung kundgetan  hatte,  nach  dem  Interesse  der  anderen 
Mächte  zu  modifizieren.  Auch  hatte  England  nicht  nur  gegen  die 
im  August  verkündete  Blokierung  von  Bosporus  und  Dardanellen 
protestiert,  sondern  dazu  verlangt,  daß  alle  von  Rußland  zur  Be- 
freiung Kretas  getroffenen  Maßregeln  rückgängig  gemacht  würden  *), 
und  Mehemet  Ali  nicht  verhindeii;  werden  solle,  dem  Sultan  Hilfe 
zu  leisten.  Der  Kaiser,  der  den  Ausbruch  eines  europäischen  Krieges 
fürchtete,  wenn  er  die  von  England  ausgegangenen,  von  Frankreich  und 
Osterreich  unterstützten  Forderungen  verwarf,  und  mit  Sicher- 
heit nur  auf  Preußens  Unterstützung  rechnen  konnte,  hat  von  Peters- 
burg aus*)  mit  großem  Geschick  diesen  Angriff  abgeschlagen.  In 
der  Frage  der  Blockade  hatte  er  sich  bereits  vorher  zu  einem  Kom- 
promiß bereit  gefunden,  indem  er  das  Zugeständnis  machte,  daß  die 
Blockade  für  diejenigen  Schiffe  unter  englischer  und  französischer 
Flagge    nicht    gelten   solle,    die    vor   dem    1./13.    resp.    vor   dem 

Lieferungen  nach  Konstantinopel  oder  für  die  türkischen 


11.  November 

Häfen  des  Mittelmeeres  übernommen  hätten.  Fahrzeugen  mit 
Kolonialwaren  aber  solle  die  Durchfahrt  durch  die  Dardanellen 
überhaupt  nicht  verwehrt  werden.  Die  Blockade  von  Kandia 
wurde  aufgehoben*).  Was  aber  die  Rückkehr  der  Botschafter 
betraf,  so  befand  sich   der  Kaiser  sowohl  bereit  ihr  zuzustimmen, 

^)  Wellington  an  Aberdeen,  2.  September  1828.  „It  was  never  intended 
tbat  the  Allies  sbould  conquer  a  Greece  for  tbe  Greeks  *"  Am  14.  September 
schrieb  Wellington,  daß  die  Blockade  als  „a  breach  of  treaty*'  angesehen 
werden  müsse,  conf.  oben  S.  258.  Am  23.  Oktober  schreibt  Aberdeen  an 
Wellington,  die  Frage  von  Kandia  sei  wichtiger  als  die  griechische. 

^  Am  22.  Dezember  1828. 

')  Auch  für  Saros,  Enos  und  Contessa,  die  ebenfalls  von  Rußland 
blokiert  wurden,  sind  dieselben  Erleichterungen  zugestanden  worden,  wie  für 
die  Dardanellen.    Mehemet  Ali  wurde  durch  ein  Abkommen  beschwichtigt,  das 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  297 

als  auch  seine  Vollmachten  auf  sie  zu  delegieren.  Doch  stellte  er 
die  Bedingung,  daß  man  sich  vorher  über  folgende  Punkte  ver- 
ständige: erstens,  welche  Grenzen  Griechenland  erhalten  solle, 
zweitens,  welches  die  künftige  Regierungsform  und  drittens,  welches 
die  künftigen  Beziehungen  Griechenlands  zur  Türkei  sein  sollten. 
Habe  man  sich  in  der  Londoner  Konferenz  darüber  geeinigt,  so 
sei  auch  Österreichs  und  Preußens  Zustimmung  zu  erwirken. 

Das  war  ohne  Zweifel  außerordentlich  geschickt,  d^is  Gegen- 
spiel zu  der  Politik  der  Verhandlungen,  durch  welche  Metternich 
vier  Jahre  lang  den  Kaiser  Alexander  düpiert  hatte.  Kußland 
wollte  Zeit  gewinnen,  bis  es  seine  neue  Kampagne  aufgenommen  habe. 

Kurz  vorher  hatte  der  Reis-Efendi  sich  an  den  dänischen 
Gesandten  in  Konstantinopel,  Baron  Hübsch,  gewandt  und  ihm  sagen 
lassen,  daß  die  Pforte  bereit  sei,  in  direkte  Verhandlungen  mit 
Rußland  zu  treten,  daß  sie  aber  vorher  wissen  müsse,  ob  die  Be- 
vollmächtigten, die  sie  schicken  wolle,  angenommen  werden  würden, 
und  ob  der  Kaiser  während  der  Verhandlungen  alle  Feindseligkeiten 
einstellen  werde.  Die  schlecht  verhüllte  Absicht  war,  ebenfalls  Zeit 
zu  gewinnen,  denn  in  Wirklichkeit  dachte  Sultan  Mahmud  weniger 
als  je  an  Frieden.  Auch  hier  aber  zeigte  sich  der  Kaiser  entgegen- 
kommend. Er  wünsche,  ließ  er  antworten,  dem  Baron  Hübsch  besten 
Erfolg  und  sei  bereit,  vom  Eintreffen  der  Gesandten  bis  zum  Februar  alle 
militärischen  Operationen  ruhen  zu  lassen.  Das  war  dieZeit,in  welcher 
sich  jedes  militärische  Vorgehen  Rußlands  von  selbst  verbot,  und 
da  so  beide  Teile  es  auf  Täuschung  des  Gegners  abgesehen  hatten, 
zerging  dieser  Anfang  einer  Verhandlung  in  nichts.  Die  Pforte 
erklärte,  sie  könne  keinen  Schritt  tun,  bevor  sie  die  Basis  kenne, 
die  Rußland  den  Unterhandlungen  zugrunde  legen  wolle,  Rußland, 
daß  diese  Basis  seit  dem  26.  April  1828  durch  das  Schreiben  an 
den  Großwesir,  das  die  Kriegserklärung  begleitete,  allbekannt  sei. 
Von  einer  Sendung  türkischer  Bevollmächtigter  war  danach  weiter 
keine  Rede.  Nun  hatte  inzwischen  die  Botschafterkonfereuz  in  Porös 
gerade  die  Fragen  im  Prinzip  beantwortet,  die  das  russische  Gegen- 
projekt vom  22.  Dezember  zur  Diskussion  gestellt  hatte:  die 
Grenzen  Griechenlands  sollten  vom  Golf  von  Arta  bis  zum  Golf 
von  Volo  gehen,  Euböa  einschließen  und  alle  Kykläden  umfassen, 

ihm  die  Rückgabe  der  von  Rußland  genommenen  SchifTe  sicherte  und  die 
Mannschaften  sofort  freigab.  Diese  Dinge  fallen  bereits  in  das  Frühjahr  1829 
und  können  hier  nicht  näher  erörtert  werden. 


298  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

mit  Ausnahme  von  Samos  und  Kandia,  die  jedoch  dem  besonderen 
Wohlwollen  der  Mächte  zu  empfehlen  seien.  Die  Zentralgewalt  sei 
erblich  in  die  Hände  eines  Mannes  zu  legen.  Die  Pforte  solle 
einen  Tribut  von  IVj  Millionen  Piaster  erhalten,  und  die  türkischen 
Grundbesitzer  in  Griechenland  enteignet  und  entschädigt  werden. 
Diesen  Vorschlägen  stimmte  Rußland  ruckhaltlos  zu,  und  auch  die 
Londoner  Konferenz  nahm  sie  gunstig  auf,  aber  England  blieb 
feindselig  gestimmt,  und  im  Januar  erkrankte  der  Graf  La  Ferronnays 
so  ernstlich,  daß  er  sein  Amt  niederlegen  mußte,  was  in  Petersburg 
um  so  lebhafter  bedauert  wurde,  als  nun  der  feindselige  Einfluß 
Polignacs  in  London  wie  in  Paris  unter  dem  schwachen,  Karl  X. 
nicht  genehmen  Kabinett,  Martignac  sich  noch  mehr  geltend 
machte.  Am  21.  Januar  meldete  Lieven,  daß  England  und  Frank- 
reich ihre  Botschafter  nach  Konstantinopel  schicken  würden,  ohne 
eine  andere  Bedingung  daran  zu  knüpfen,  als  daß  der  Sultan  den 
Waffenstillstand  mit  den  Griechen  annehme,  was  nach  englischer 
Anschauung  bereits  geschehen  war.  Lieven  glaubte  infolgedessen 
von  seiner  Instruktion  keinen  Gebrauch  machen  und  überhaupt  in 
den  griechischen  Angelegenheiten  nicht  verhandeln  zu  können^). 
Es  kam  dazu,  daß  zwischen  den  Lievens,  dem  Füraten  und  zumal  der 
Fürstin,  und  dem  Herzog  von  Wellington  bittere  Feindschaft  bestand. 
Der  Herzog  war  fest  überzeugt,  daß  die  Fürstin  mit  dem  Herzog 
von  Cumberland  zu  seinem  Sturz  verschworen  sei,  und  verfolgte 
auch  mißtrauisch  ihren  Verkehr  mit  dem  Könige')  und  allen 
Freunden  Cannings,  speziell  mit  Huskisson.  So  entschloß  sich 
Nikolai  Anfang  Januar  einen  seiner  tüchtigsten  Diplomaten,  den 
ersten  Sekretär  Nesselrodes,  Grafen  Matusewicz,  zur  Unterstützung 
Lievens  nach  London  zu  schicken. 

Diese  Sendung  erwies  sich  als  höchst  erfolgreich  und 
kam  zu  günstiger  Zeit.  Schon  Ende  Januar  1829  stand  fest, 
daß      Wellington     eine     Katholikenemanzipationsbill     einbringen 

0  Vergl.  für  das  Detail  der  Verhandlungen,  die  hier  nicht  erschöpft 
werden  können,  Prokesch-Osten  1.  1.,  Metternicbs  nachgelassene  Schriften, 
Wellington  Despatches  IV.  und  Martens  Recueil  des  traitt'S  Bd.  XI  Nr.  436. 
Dazu  den  Compte  rendu  von  Nesselrode  für  1829. 

^  Der  König  stand  während  des  Türkenkrieges  mit  seinen  Sympathien  auf 
russischer  Seite  und  der  Kaiser  pflegte  diese  Stimmung  durch  stete  Auf- 
merksamkeiten und  Geschenke.  Vergl.  die  überaus  lehrreiche  Korrespondenz 
der  Fürstin  Lieven  mit  ihrem  Bruder  Alexander.  Robinson;  Lettres  of 
Dorothea  Princess  Lieven.    London  1902. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  299 

werde,  und  vor  dieser  Frage  traten  alle  übrigen  politischen 
Probleme  zurück^).  Die  russischen  Diplomaten  stießen  auf  einen 
erheblich  geschwächten  Widerstand.  Am  30.  Januar  wurde  ihnen 
zugestanden,  daß  die  Ruckkehr  der  Botschafter  erst  nach  einer 
Entscheidung  der  Konferenz  erfolgen  solle,  und  daß  unter  keiner 
Voraussetzung  die  griechische  Frage  vor  vorausgegangener  Ver- 
ständigung und  ohne  direkten  Anteil  Rußlands  an  den  Ver- 
handlungen angegriiTen  werden  solle.  Dagegen  fand  das  Programm 
von  Porös  lebhaften  Widerspruch,  man  wollte  den  Griechen  als 
Maximum  die  Grenze  bis  zum  Golf  von  Korinth  gewähren.  Auch 
Polignac  machte  seinen  Einfluß  in  diesem  Sinne  geltend.  Dennoch 
gelang  es  nach  peinlichen  und  schleppenden  Verhandlungen  am 
22.  März  einen  Konferenzbeschluß  zu  Protokoll  zu  bringen,  der  in 
der  Hauptsache  dem  russischen  Interesse  entsprach.  Die  Bot- 
schafter von  England  und  Frankreich  sollten  nunmehr  wirklich 
nach  Konstantinopel  zurück  und  dort  im  Namen  der  drei  alliierten 
Mächte  der  Pforte  das  Programm  von  Porös  zur  Annahme  vorlegen, 
dabei  aber  begründeten  Einwendungen  der  Pforte  Rechnung  tragen '), 
auch  solle  ihnen  freistehen,  andere  Vorschläge  zu  vereinbaren.  Außer- 
dem wurde  den  Griechen  vorgeschrieben,  ihre  Truppen  auf  das 
Gebiet  zurückzuziehen,  das  das  Protokoll  vom  11.  November  ihnen 
garantiert  hatte,  also  auf  die  südlich  vom  Golf  von  Korinth  liegen- 
den Territorien. 

Im  wesentlichen  war  damit  erreicht,  was  Rußland  wollte.  Die 
Allianz  war  trotz  der  Neigung  Wellingtons,  sie  zu  lösen '),  bestehen 

0  ,Ttls  impossible  to  describe  tbe  excitement  and  agitation  in  London. 
Tbere  is  no  longer  any  thought  of  Europe,  sbe  is  at  tbe  bottom  of  tbe  sea, 
and  for  a  long  spell.^     Lettres   of  D.  Lieven   S.  180  (vom  6.  Februar  1829). 

^  Siebe  den  Text  bei  Härtens,  Recueil  des  trait^s,  yoI.  XI  Nr.  466.  „II 
reste  bien  entendu  toute  fois  que  chacune  des  Cours  alliees  se  reserve  le 
droit  de  peser  le  merite  des  objections  que  ferait  la  Porte  Ottomane  aux 
propositions  qui  lui  seront  communiquees  en  vertu  du  present  Protocole,  et 
que,  dans  le  cas  oü  ces  objections  s'eleyeraient,  il  pourrait  etre  concerte  entre 
les  trois  Puissances  d'autres  propositions  fondees  sur  le  desir  qui  les  animera 
toujours  de  terminer  promptement  la  question  dont  elles  s'occupent  en  ce 
moment.^ 

Polignac  lag  zur  Freude  der  russischen  Unterhändler  an  den  Röteln 
krank.  Ein  Mr.  de  Roth  vertrat  ihn.  Auch  war  es  günstig,  daß  nicht 
Polignac,  sondern  Portalis  Minister  des  Auswärtigen  geworden  war. 

')  Schon  am  13.  September  hatte  Aberdeen  diese  Frage  aufgeworfen. 
Well.  Desp.  V. 


300  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  mm  Juli  1829. 

geblieben,  das  Recht  Rußlands,  an  den  Verhandlangen  über  das 
Schicksal  Griechenlands  teilzunehmen,  war  ausdrücklich  an- 
erkannt worden,  und  schließlich  ließ  sich  darauf  rechnen,  daß  die 
Türkei  sich  wiederum  unnachgiebig  zeigen  werde.  Dann  aber 
konnte,  wenn  das  Glück  günstig  war,  die  letzte  Entscheidung  den 
russischen  Waffen  zufallen. 

So  war  das  Ergebnis  der  mit  großem  Geschick  und  in  feiner 
psychologischer  Beurteilung  der  für  die  Entscheidung  ins  Gewicht 
fallenden  Persönlichkeiten  geführten  Verhandlungen,  in  der  Haupt- 
sache erreicht.  Rußland  hatte  Zeit  gewonnen  und  brauchte  zunächst 
nicht  zu  fürchten,  daß  seine  Alliierten  ihm  in  den  Arm  fallen 
könnten  ^),  wenn  es,  wie  jetzt  geschehen  sollte,  zum  entscheidenden 
Schlage  gegen  die  Türkei  ausholte.  Der  Kaiser  konnte  daran  denken, 
jetzt  eineandere  Frageanzufassen,  die  ihn  aufdas  lebhafteste  beschäftigte 
und  die  durchaus  nicht  länger  ruhen  durfte,  das  war  die  polnische. 

Wir  haben  sie  schon  mehrfach  streifen  müssen  und  der  Unter- 
suchung gedacht,  welche  gegen  die  Polen  eingeleitet  wurde,  die  durch 
die  Aussagen  der  Dekabristen  kompromittiert  waren,  auch  gesehen, 
(laß  schließlich  der  ganze  Zusammenhang  der  Verschwörung  auf- 
gedeckt worden  war.  Man  hatte  diejenigen  der  Angeklagten,  die 
russische  Untertanen  waren,  das  ist  aus  den  ehemals  polnischen  Provinzen 
Rußlands,  nicht  aus  dem  Königreich,  stammten,  nach  Petersburg  ge- 
schafft, um  dort  nach  russischem  Gesetz  und  nach  den  Methoden,  die 
beim  Dekabristenprozeß  angewandt  waren,  mit  ihnen  zu  verfahren. 

Am  3.  Januar  1827  hatte  nun  die  Warachauer  Untersuchungs- 
kommission ihren  Bericht  fertiggestellt  und  nach  Petersburg  ein- 
gesandt. Dort  fand  man  es  erforderlich,  zur  Vervollständigung 
der  Prozeßakten  und  bevor  ein  endgültiges  Urteil  gefallt  werde, 
jene  russischen  Polen  nach  Warschau  zurückzusenden  und  sie  mit 
ihren  polnischen  Leidensgenossen  zu  konfrontieren.  In  Warschau 
aber  sollte  das  Urteil,  wie  die  Verfassung  es  für  Hochverratsprozesse 
verlangte,  von  dem  als  haute  cour  konstituierten  Senat  gefällt 
werden.  Der  Kaiser,  der  in  diesen  Angelegenheiten  von  seinem 
Staatssekretär  für  Polen,  Grabowski,  beraten  wurde,  hatte  einen 
Vorschlag  Konstantins,  ein  Kriegsgericht  fungieren  zu  lassen,  ab- 
gelehnt.    Er  wollte  durchaus  korrekt  und  „konstitutionell"  vorgehen. 


0  Nesselrode  an  Diebitsch.    Petersburg,  9./21.  April  1829:    „Nous  avons 
acquis  une  securite  complete  pour  la  campagne  qui  va  s'ouvrir."    W.  U.  A.  5329. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  301 

Das  Projekt,  das  Lubecki,  der  Finanzminister  des  Königreichs,  über 
die  OrgaDisatioQ  dieses  Gerichtshofes  ausgearbeitet  hatte,  billigte 
Nikolai^).  Sämtliche  Senatoren,  mit  Ausnahme  derjenigen,  die 
in  naher  Verwandtschaft  zu  den  Angeklagten  standen,  sollten  ais 
Richter  fungieren,  Verhör  und  Verteidigung  öffentlich,  die  Rede- 
freiheit unverkürzt  sein.  Ein  himmelweiter  Unterschied  trennte  so 
die  polnische  Praxis  von  der  russischen.  In  Wai*schau  schien  der 
Absolutismus  seine  Schranke  gefunden  zu  haben.  Als  jedoch  im 
September  eine  Delegation  russischer  Senatoren  in  Warschau  eintraf, 
um  bei  der  Konfrontation  der  Angeklagten  zugegen  zu  sein  und 
im  Zusammenhang  damit  zur  Feststellung  des  Tatbestandes  auch 
Verhöre  anzustellen,  bestritt  ihnen  der  inzwischen  als  Gerichtshof 
konstituierte  Senat  das  Recht,  die  Angeklagten  polnischer  Unter- 
tanenschafc  zu  vernehmen.  Der  Vorsitzende  der  russischen  Dele- 
gation, Senator  Fürst  Trubetzkoi,  hatte  verlangt,  daß  ihm  der 
Oberstleutnant  Krzyzanowski  zur  Konfrontation  gestellt  werde,  der 
Großfürst  Konstantin  dementsprechend  verfügt  und  den  Präsidenten 
des  polnischen  Gerichtshofes,  den  alten  Woiwoden  Bielinski,  auf- 
gefordert, einen  polnischen  Senator  zu  beauftragen,  als  Zeuge 
dieser  Konfrontation  beizuwohnen.  Allein  Bielinski  lehnte  in  einer 
für  den  Großfürsten  beleidigenden  Form  die  Delegation  eines  pol- 
nischen Senators  ab  und  blieb  dabei,  obgleich  Konstantin  ihm  dreimal, 
und  zuletzt  in  drohender  Form,  den  Befehl  wiederholte.  Nun  wurde 
Krzyzanowski  trotzdem  von  Trubetzkoi  verhört,  aber  er  verweigerte 
jede  Antwort,  auch  als  der  Großfürst  durch  Absendung  seines 
Stabschefs  und  nächsten  Vertrauten,  des  Generals  Grafen  Kuruta, 
ihn  zur  Nachgiebigkeit  zu  bewegen  suchte.  Erst  nachdem  Kon- 
stantin mit  ausdrücklicher  Zustimmung  des  Kaisers  den  Senatoren 
einen  Verweis  erteilt  hatte,  erkannten  sie,  daß  sie  nachgeben 
müßten,  und  Bielinski  machte  reuig  dem  Großfürsten  seine  Ent- 
schuldigung. Mitte  November  war  endlich  der  Tatbestand  fest- 
gestellt und  die  Anklageakte  formuliert  worden.  Sie  warf  den 
Beschuldigten  vor,  daß  sie  Kenntnis  von  einem  Komplott  gehabt 
hätten,  das  den  Umsturz  der  Reichsverfassung  und  die  Ermordung 
des  Herrscherhauses  zum  Ziele  nahm.  Das  sei  eine  „tentative 
eloignee",  an  diesem  Verbrechen  teilzunehmen.  Der  Kaiser,  der 
über  diese    gelinde  Bezeichnung  nicht    wenig   entrüstet    war,    sich 


')  Ende  April  1827. 


302  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

aber  durch  KoDstantin  beruhigen  ließ,  hat  nun  zunächst  nicht 
weiter  in  den  Lauf  des  Prozesses  eingegriffen.  Die  „haute  cour^ 
konnte  darangehen,  ihr  Urteil  zu  sprechen.  Nun  hatte  sich 
inzwischen  die  patriotische  Erregung  der  Polen  stetig  gesteigert. 
Die  Angeklagten  erschienen  gleichsam  als  die  Vertreter  der  Ge- 
sinnungen und  der  Wünsche  der  Nation,  d.  h.  der  polnischen 
Aristokratie,  denn  sie  aliein  dachte  im  Königreich  politisch,  da.« 
Bürgertum,  soweit  es  vorhanden  war,  und  vollends  die  in  dumpfer 
Armut  vegetierende. polnische  Bauernschaft  standen  allen  politischen 
Fragen  in  vollkommener  Gleichgültigkeit  gegenüber.  Mit  dem  neuen 
Jahre  1828  begannen  die  Sitzungen  des  hohen  Gerichtshofes.  Die 
Senatoren  waren  —  ein  seltener  Fall  —  vollzählig  beisammen, 
sogar  der  Fürst  Adam  Czartoryski  war  mit  Kurierpferden  ad  hoc 
aus  Italien  nach  Warschau  zurückgekehrt  Im  Juni  endlich  erfolgte 
der  Spruch.  Der  Bischof  von  Sendomir  Werzinski  hatte  als  erster 
zu  stimmen.  Mit  lauter  Stimme,  das  Kreuz,  das  ihm  über  der 
Brust  hing,  hoch  emporhebend,  rief  er:  Ich  schwöre  im  Namen  des 
gekreuzigten  Gottes:  Sie  sind  unschuldig.  Diesem  Votum  haben 
sich  dann  alle  Senatoren  mit  Ausnahme  Vinzent  Krassinskis  an- 
geschlossen. Mit  kaum  zu  beschreibendem  Jubel  ist  das  Urteil  in 
Warschau  aufgenommen  worden ').  „Alle,  selbst  Unbekannte,  um- 
armten einander  und  beglückwünschten  sich,  als  seien  sie  von  einer 
großen  Gefahr  befreit  worden,  man  konnte  die  Senatoren  nicht 
genug  rühmen  und  war  einmütig  in  der  Verurteilung  Krassinskis.'' 
Um  so  größer  war  die  Entrüstung  des  Großfürsten,  und  sie  wurde 
noch  gesteigert  durch  die  vom  Präsidenten  Bielinski  ihm  über- 
reichte Motivierung  des  Urteils.  Hier  wurde  deutlich  ausgesprochen, 
daß  die  Verletzung  der  Verfassung  durch  Alexander  die  ganze 
Bewegung  hervorgerufen  habe,  und  daß  die  Treue  der  Polen  zu 
ihrem  „ Könige '^  in  Abhängigkeit  stehe  von  der  Aufrechterhaltung 
ihrer  Charte. 

Der  Großfürst  hat  darauf  die  Publikation  des  Urteils  und  die 
Freilassung  der  Angeklagten  untersagt.     Es  sei  zunächst  die  Be- 


')  Vergl.  Kolaczkowski  ErinneruDgen.  Diese  sehr  anschaulichen  Me- 
moiren bedürfen  steter  Kontrolle.  Dem  Verfasser  haben  die  Daten  und  Zu- 
sammenhänge sich  Tielfach  verschoben.  Eine  sichere  chronologische  Grundlage 
gibt  die  Korrespondenz  des  Großfürsten  mit  dem  Kaiser. 

Noch  im  Februar  1829  schreibt  Konstantin,  daß  „ces  messieurs  du  Senat** 
triumphieren  und  durch  Bälle  und  Feste  ihrer  Freude  Ausdruck  geben. 


Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Jali  1829.  303 

statigung  durch  den  Kaiser  abzuwarten.  Am  24.  Juni  schickte  er 
ihm  das  Dekret  des  Senats  und  die  aus  dem  Polnischen  ins 
Französische  übersetzten  Akten  des  Prozesses.  In  dem  Schreiben, 
das  diese  Sendung  begleitete,  wies  er  darauf  hin,  daß  eine  Änderung 
der  polnischen  Verfassung  unerläßlich  sein  werde'). 

Der  Kaiser  hat  mit  der  Antwort  lange  gezögert;  sie  erfolgte 
erst  am  23.  September  aus  Odessa.  Er  bestätigte  das  Urteil  nicht, 
sondern  beauftragte  den  Warschauer  Verwaltungsrat'),  zu  dem 
außer  den  fünf  polnischen  Ministern  auch  der  kaiserliche  Kommissar 
Nowossilzew  gehörte,  den  Prozeß  nochmals  zu  prüfen  und  fest- 
zustellen, ob  das  Urteil  des  Senats  den  geltenden  Gesetzen  ent- 
spreche'). Im  Oktober  trat  dieser  Verwaltungsrat  an  die  Durch- 
sicht des  Prozesses.  Aber  hier  kam  es  zu  den  heftigsten  Aus- 
einandersetzungen zwischen  dem  Finanzminister  Fürsten  Lubecki  und 
Nowossilzew'),    und    da    das    schiießliche    Ergebnis^)    weder    den 


1)  II  est  de  toute  urgence  que  ce  pays  soit  considere  non  comme  inde- 
pendant,  mais  inherent  ä  la  Russie  et  regi  simplement  par  d^autres  institutions 
que  le  souyerain  se  platt  ä  accorder,  jusqu'ä  ce  quUl  (le  pays)  n^en  abuse  pas. 

^)  Oder  Staatsrat,  „Conseil  d^administration". 

^)  conf.  die  Anlage. 

^)  Nowossilzew  benutzte  den  Anlaß,  um  die  Finanzpolitik  Lubeckis  leiden- 
schaftlich anzugreifen.  Merkwürdigerweise  schützte  der  Kaiser  Lubecki,  er 
könne  den  Mann  nicht  entbehren  und  könne  niemanden  an  seine  Stelle  setzen. 
Konstantin  dagegen  trat  für  Nowossilzew  ein.  Auch  die  literarische  Bewegung 
begann  mitzuspielen.  Nowossilzew  schickte  dem  Kaiser  einen  sehr  eingehenden 
Bericht  über  den  „Wallenrod*'  von  Mizkiewicz  und  bemühte  sich  nachzuweisen, 
daß  die  Spitze  nicht  gegen  Preußen,  wie  man  in  Warschau  behaupte,  sondern 
gegen  Rußland  gerichtet  sei.  Aber  die  Polenfreunde  in  Petersburg,  speziell 
der  damals  noch  ganz  im  polnischen  Lager  stehende  Bulgarin,  legten  aus- 
führlich dar,  daß  es  sich  überhaupt  um  keine  Tendenz,  sondern  um  ein 
poetisches  Problem  handle,  und  der  Kaiser  hat  darauf  die  weitere  Verfolgung 
der  Sache  unterdrückt.  In  Wirklichkeit  richtet  sich  der  «Wallenrod'*  ebenso 
gegen  die  Deutschen,  wie  gegen  die  Russen,  auch  ist  er  in  Posen  anders  aus- 
gelegt worden,  wie  in  Warschau.  Es  war  ein  zweischneidiges  Schwert,  be- 
stimmt, hier  wie  dort  zu  verwunden  und  die  Lehre  zu  predigen,  daß  Verrat 
und  schnödeste  Undankbarkeit  dort  erlaubt  seien,  wo  die  Ideale  des  polnischen 
Patriotismus  in  Frage  kommen.  Vergleiche  die  Korrespondenz  Nowossilzews 
mit  Kuruta  und  den  Bericht  Konstantins  über  Mizkiewicz«  Russki  Archiv, 
Jan.  1908,  S.  64  ff. 

^)  Die  Resolution  sagte:  »Daß  der  Urteilsspruch  des  Nationalgerichtshofes 
zwar  nicht  völlig  der  Sache  gemäß  ausgefallen,  der  Grund  hiervon  jedoch 
keineswegs  in  der  üblen  Gesinnung  jenes  Gerichtshofes  zu  finden  sei,  sondern 


304  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

Wünschen  des  Kaisers  noch  des  Großfürsten  entsprach,  wurde  Mitte 
Januar  1829  eine  nochmalige  Prüfung  der  Akten  in  Petersburg  durch 
ein  Komitee  vorgenommen,  das  aus  Kotschubej,  Tolstoi,  Golitzyn, 
Wassiltschikow,  Speranski,  Nesselrode  und  Diebitsch  bestand,  und 
dem  der  Staatssekretär  Grabowski  assistierte.  Es  war  beauftragt, 
die  Stnafen  der  Polen  möglichst  denen  gleich  zu  setzen,  welche  die 
russischen  Teilnehmer  an  der  Verschwörung  getroffen  hatten.  Zu- 
gleich sollte  es  den  Entwurf  eines  Verweises  für  die  Mitglieder  des 
polnischen  Gerichts  ausarbeiten.  Nun  hatte  das  fünfte  Departement 
des  Senats  die  russischen  Polen  Anfang  März  in  corpore  zu  Zwangs- 
arbeit verurteilt  und  der  Kaiser  im  Reichsrat  die  Strafe  auf  Degra- 
dation und  Verbannung  herabsetzen  lassen.  Dieser  Entscheidung, 
die  bestätigt  wurde,  paßte  die  Kommission  auch  das  Urteil  über 
den  polnischen  Prozeß  an').  Am  7.  März  unterzeichnete  Nikolai 
alle  Papiere  des  nunmehr  glücklich  beendigten  Prozesses.  Jablo- 
nowski  wurde  in  Hinblick  auf  sein  ofl^enes  Geständnis  völlig  be- 
gnadigt. Er  warf  sich,  als  ihm  der  Freispruch  verkündigt  wurde, 
vor  dem  Bilde  des  Kaisers  auf  die  Knie  und  küßte  es  inbrünstig. 
Dagegen  erklärte  der  gleichfalls  begnadigte  Sobanski,  daß  er  sein 
Recht,  keine  Gnade  haben  wolle;  der  Kaiser,  dem  er  in  diesem 
Sinne  schrieb,  erklärte  ihn  für  irrsinnig  und  schickte  ihm  einen 
Arzt  ins  Haus.  Krzyzanowski  und  Majewski  wurden  aus  den 
Reihen  der  polnischen  Armee  gestrichen,  und  da  der  erstere  aus 
Wolhynien,  der  andere  aus  Russisch-Galizien  stammte,  den  russi- 
schen Polen  gleichgestellt;  die  übrigen  Angeklagten  erhielten  ver- 
hältnismäßig   leichte    Strafen.      Diese    Entscheidung    wurde     am 


lediglich  durch  die  Unregelmäßigkeit  der  Arbeiten  des  früheren  Untersuchungs- 
komitees und  der  unzweckmäßigen  Abfassung  der  kaiserlichen  Instruktion 
für  den  Nationalgerichtshof  erklärt  werden  müßte.^ 

Relation  Schmidt:  Warschau,  den  21.  Dezember  1828.  Berlin,  G.  St.  A 
A.  A.  I.  Varsovie  correspond.  de  Mr.  Schmidt.     Rep.  I,  Nr.  20. 

1)  ^La  grande  afTaire  Polonaise  est  enfin  terminee,  premierement  jugee 
au  s«.'nat  oü  eile  Ta  ete  avec  haine,  injustice.  L'empereur  pen^tre  de  cette 
Idee,  a  forme  un  comite,  le  meme  qui  se  rassemble  pour  Forganisation  du  pays; 
il  a  ajouti'i  mon  mari,  ils  se  sont  rassembles  souvent.  Apres  leur  decision  on 
a  portö  cette  affaire  au  conseil:  comme  il  a  ete  d'accord  avec  le  comite^ 
c'est  fini.**  Die  Gräfin  Nesselrode  an  Nikolai  Gurjew.  Petersburg,  13./25. 
Februar  1829.    Archiv  des  Reichsrats  III,  Nr.  43. 

Die  Polen  sahen  in  dem  Eingreifen  des  Kaisers  in  ihre  Angelegenheiten 
eine  Verletzung  der  Verfassung.    Schmidt  1.  1.  23.  Februar  1829. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  305 

18.  März  1829  in  Warschaa  publiziert  und  sofort  in  Kraft  gesetzt. 
Gleich  danach  warde  auch  der  Oberstleutnant  Prondzinski,  der 
vier  Jahre  lang  in  einem  Karmeliterkloster  in  Haft  gelegen  hatte, 
freigegeben.  Ebenso  Soltyk,  Sobanski  I  und  Cichowski.  Die  Sena- 
toren erhielten  vor  versammeltem  Staatsrat  einen  scharfen  Verweis, 
von  dem  jedem  einzelnen  eine  beglaubigte  Kopie  eingehändigt 
wurde,  dann  wurde  noch  ein  Protokoll  aufgenommen,  und  damit 
war  diese  aufregende  und  peinliche  Angelegenheit  endgültig  erledigt. 
Ganz  gewiß  ist  die  verhältnismäßig  nachsichtige  Haltung  des 
Kaisers  mit  dadurch  bestimmt  worden,  daß  er  im  BegrUT  war  nach 
Warschau  zu  reisen  und  sich  dort  zum  König  von  Polen  krönen 
zu  lassen.  Es  haben  über  die  Krönungsfrage  langwierige  und  ein- 
gehende Verhandlungen  stattgefunden,  deren  Widerhall  sich  in  der 
Korrespondenz  des  Kaisers  mit  dem  Großfürsten  verfolgen  läßt. 
Im  wesentlichen  vermochte  der  Kaiser  schließlich  seinen  Willen 
durchzusetzen.  Das  Resultat  war,  daß  die  Krönung  vor  dem  Zu- 
sammentritt des  damals  falligen  polnischen  Reichstages  stattfinden 
solle.  Nikolai  hätte  am  liebsten  dieses  Trugbild  von  Krönung^) 
umgangen.  Sein  Standpunkt  war,  daß  er  bei  seinem  Regierungs- 
antritt die  polnische  Verfassung  bereits  beschworen  habe,  und  die 
Kaiserkrönung  in  Moskau  die  Krönung  zum  Könige  von  Polen  in 
sich  schließe;  auch  widerstrebte  ihm  der  Gedanke,  das  bei  der 
Krönung  schwer  zu  umgehende  katholische  Ritual  an  sich  vollziehen 
zu  lassen.  In  diesen  beiden  Punkten  kam  es  zu  einem  Kompromiß. 
Die  Krönung  sollte  stattfinden,  aber  mit  einer  in  Petersburg 
angefertigten  neuen  Krone,  und  die  Geistlichkeit  nicht  mehr 
hervortreten,  als  unbedingt  notwendig  wäre.  Auch  der  Großfürst 
liebte  die  polnische  Geistlichkeit  keineswegs.  Redete  er  ihr  in 
dogmatischen  Fragen  nicht  darein,  so  hatte  er  um  so  mehr  gegen 
die  einzelnen  Persönlichkeiten  einzuwenden.  „Ich  finde  sie"  — 
schrieb  er  bald  danach  —  „so  interessiert  und  in  betreff  der  Tem- 
poralien  so  habgierig,  daß  sie  mir  keinerlei  Vertrauen  einflößen." 
Er  hat  sogar  gemeint,  daß,  wenn  sie  in  weltlichen  Dingen  der 
Regierung  opponierten,  es  nützlich  sein  könnte,  wenn  man  gelegent- 
lich einige  Bischofssitze  vakant  ließe  oder  gar  die  Zahl  der  Bischofs- 
stühle vermindere.    Bei  einer  Bevölkerung  von  37,  Millionen  Köpfen 

1)  „Ce  simulacre  de  corouation"  lasse  sich  vielleicht  umgehen  „en  se 
seryant  du  pretexte  que  la  couronne  n^existait  pas".  Nikolai  an  Konstantin, 
den  '28.  Januar  1829. 

Schiemann,  Gecbicbtc  Kußlands  II.  20 


306  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

aller  Konfessionen  gebe  es  acht  Bischöfe,  von  denen  sechs  je 
50000  Gulden,  einer  65000  und  einer  gar  100000  Gulden  beziehe. 
Wenn  man  die  russischen  Verhältnisse  damit  vergleiche,  ergebe 
sich  der  Schluß,  der  daraus  zu  ziehen  sei,   von  selbst. 

Aber  auf  diese  Gedanken  ging  der  Kaiser  nicht  ein.  Die 
schließliche  Verständigung  erfolgte  dahin,  daß  Nikolai  am  5.  Mai 
Petersburg  verlassen  werde,  um  zur  Krönung  nach  Warschau  zu 
fahren,  mit  ihm  die  Kaiserin  und  der  Großfürst-Thronfolger.  Fremde 
Diplomaten  sollten  nicht  mitgenommen  werden,  wohl  aber  Nessel- 
rode mit  seinem  Stabe  an  Beamten. 

Man  wollte  dem  Auslande  keinen  Einblick  in  die  Warschauer 
Stimmungen  gewähren^).  Die  Krone  werde  der  Kaiser  sich  selbst 
aufs  Haupt  setzen  und  dann  seiner  Gemahlin  die  Kette  des  Weißen 
Adlerordens  um  den  Hals  legen*),  das  sollte  aber  nicht,  wie  der 
Großfürst  gewünscht  hatte,  in  der  katholischen  Kathedrale,  sondern 
im  Prunksaale  des  Senats  geschehen  und  mit  einem  Tedeum  seinen 
Abschluß  finden.  Danach  war  ein  großes  Diner  und  am  anderen  Tage 
ein  Ball  für  die  polnischen  Damen  vorgesehen.  Die  Reichstagsabge- 
ordneten sollten  einzeln,  nicht  als  Körperschaft  eingeladen  werden.  So 
ist  das  Programm  der  Hauptaktion  geregelt  worden.  Im  ganzen  sollte 
der  Aufenthalt  der  kaiserlichen  Familie  vierzehn  Tage  dauern,  der 
Reichstag  aber  erst  vier  Monate  nach  ihrer  Abreise,  am  1.  Oktober, 
zusammentreten*).     Das  Wesentliche   war   für   den    Kaiser,    einen 


0  »Die  Entfremdung  zwischen  Russen  und  Polen  kann  hier  nicht  mehr 
wachsen,  sie  ist  größer  als  1813.  Jede  Spur  von  Geselligkeit  ist  seit  drei 
Jahren  verschwunden,  und  es  dürfte  schwer  sein,  einen  traurigeren  Aufent- 
haltsort zu  finden  als  Warschau.^  So  charakterisiert  der  preußische  General- 
konsul  Schmidt  die  Lage  in  seinem  Bericht  vom  21.  November  1828.  Der  Groß- 
fürst klagte  über  die  jeunesse  oiseuse,  speziell  über  die  Insolenz  der  Studenten 
seit  Erledigung  des  Prozesses.  Der  schlimmste  Einfluß  komme  aus  Kaiisch 
und  aus  Posen.  Konstantin  an  Nikolai,  21.  März  1829.  Kolaczkowski 
erzählt,  daß  damals  die  geheimen  Gesellschaften  ihre  Tätigkeit  wieder  auf- 
genommen hätten.  Man  dachte  daran,  die  kaiserliche  Familie  während  der 
Krönung  zu  überfallen,  die  Garde  zu  entwaffnen  und  einen  Aufstand  zu  machen. 
Konstantin  scheint  davon  gewußt  zu  haben.     1.  1.  S.  554. 

^  Auch  diese  Kette  war  in  Petersburg  ad  hoc  verfertigt  worden.  Sie 
bestand  alternierend  aus  polnischen  und  russischen  Reichsadlern. 

^)  Detail;  20.  Mai:  Ankunft.  24.  Mai:  Krönung.  25.  Mai:  Bai  part*. 
27.  Mai:  Beglückwünschung  durch  die  Herren  um  1  Uhr,  durch  die  Damen  um 
7  Uhr  abends.  28.  Mai,  um  l  Uhr:  Volksfest;  abends:  Ball  der  Stadt.  29.  Mai: 
Ball  des  Senats,    der  Nunzien   und  Deputierten.     30.  Mai:    Ball   des  Senats- 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  307 

Einblick  in  diese  polnische  Welt  zu  erhalten  und  sich  unter  allen 
Umständen  korrekt  und  konstitutionell  zu  zeigen,  damit  das 
moralische  Recht  auf  seiner  Seite  bleibe.  Aber  er  hatte  wohl  die 
Empfindung,  daß  er  sich  auf  vulkanischem  Boden  bewegen  werde, 
und  nichts  wäre  ihm  lieber  gewesen,  als  rücksichtslos,  wie  er  es 
in  Rußland  zu  tun  pflegte,  mit  den  Schäden  aufzuräumen,  die  er  zu 
erkennen  glaubte. 

Alexander  Benkendorff,  der  seine  Gedanken  kannte  wie  nur 
wenige,  meinte,  die  nächste  Notwendigkeit  sei,  Nowossilzew  und 
Lubecki  zu  beseitigen  und  durch  andere  geeignete  Persönlichkeiten 
zu  ersetzen,  in  den  polnischen  Provinzen  des  Reiches  überall  die 
für  Rußland  geltenden  Ordnungen  einzuführen  und  endlich  dafür 
Sorge  zu  tragen,  daß  im  Königreich  Polen  ohne  willkürliche  Er- 
schütterung regiert  werde  *).  Aber  wie  schwer  war  es,  diese  au 
sich  durchaus  vernünftigen  Absichten  durchzuführen?  Möglich 
war  es  nur,  wenn  der  Kaiser  sich  entschloß,  mit  dem  Bruder 
zu  brechen,  und  daran  war  durchaus  nicht  zu  denken.  Seit 
dem  Tode  des  Vizekönigs  Zajonczek  hatte  der  Großfürst  den 
Umkreis  seines  Einflusses  im  Königreich,  wie  in  den  sogenannten 
polnischen  Provinzen,  in  denen  ihm  das  militärische  Oberkommando 
gehörte,  immer  mehr  erweitert,  so  daß  sich  schließlich  kein  Zweig 
der  Verwaltung  ihm  ganz  entziehen  konnte.  Dabei  empfanden  die 
Polen  die  Willkür  seines  Vorgehens,  die  Russen  dagegen  fühlten 
sich  hintangesetzt,  so  daß  beide  murrten.  Auch  in  der 
Armee  wiederholte  sich  dieselbe  Erscheinung,  und  dem  Kaiser 
war  es  durch  die  Aussagen  der  Dekabristen  wohlbekannt,  wie 
wesentlich  die  Polenpolitik  Alexanders,  die  in  Konstantin  fort- 
lebte, dazu  beigetragen  hatte,  die  Verschwörung  großzuziehen,  die 
er  auf  dem  Senatsplatz  niederschlagen  mußte.  Er  hatte  aber  seit 
seinem  Regierungsantritt  die  stets  erneute  Erfahrung  gemacht,  daß 
jeder  Versuch,  an  den  polnischen  Dingen  zu  rühren,  den  höchsten 
Zorn  Konstantins  erregte,  der  in  solchen  Fällen  mehr  oder  minder 
deutlich  mit  Niederlegung  seiner  Ämter  drohte.  Ob  die  Ausfuhrung 
dieser  Absicht  nicht  einen  geheimen  Wunsch  des  Kaisers  erfüllt 
hätte,   mag  dahingestellt  bleiben.     Tatsache  ist,  daß  die  Drohung 


Präsidenten.     «31.  Mai:  Diner  für  die  Nunzieo  und  Deputierten.     I.Juni:  Hof- 
ball.    2.  Juni:  Abreise  der  Majestäten.     Schmidt  1.  I. 

1)  Korrespondenz  Benkendorffs  mit  Diebitscb.  Wojenuo  Utschenuy  Archiv 
1048.     Der  Brief  vom  13./25.  April  1829. 

20» 


308  Kapitel  IX.    Diplomatie  uod  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

fast  immer  ihren  Zweck  erreichte  und  daß  der  Kaiser  dem  Bruder 
gegenüber  nie  nachgiebiger  gewesen  ist,  als  während  der  beiden 
Kampagnen  des  Türkenkrieges. 

Nun  ließ  sich  der  Aasgang,  den  der  Feldzug  Diebitschs  nehmen 
werde,  im  Mai  1829  noch  keineswegs  vorhersehen.  Der  Winter 
1829  war  ungewöhnlich  streng  und  anhaltend.  In  den  sudrassischen 
Steppen,  in  Bessarabien  und  in  den  Fürstentümern  gingen  durch 
furchtbare  Schneewehen  und  orkanartige  Stürme  die  Zugochsen  der 
Proviantkolonnen  und  der  Viehbestand  der  Bewohner  zugrunde. 
Diebitsch  erklärte  gleich  nach  seinem  Eintreffen,  daß  es  schwer 
sein  werde,  den  Feldzug  noch  im  Lauf  des  April  zu  eröffnen.  Die 
Sorge  für  die  Verproviantierung  der  Armee,  die  Ordnung  der  Personal- 
fragen, der  Kampf  mit  der  wiederausgebrochenen  Pest  und  die 
Vorbereitungen  für  die  Belagerung  von  Silistria  nahmen  zunächst 
seine  und  seines  Stabes  Arbeitskraft  voll  in  Anspruch.  Zur  großen 
Freude  des  Kaisers  gestalteten  sich  die  Beziehungen  zwischen  Toll 
und  Diebitsch  auf  das  günstigste.  Dagegen  reichte  der  General 
Langeron  sofort  nach  Diebitschs  Ernennung  seinen  Abschied  ein,  was 
eine  Reihe  von  Verschiebungen  in  den  Spitzen  zur  Folge  hatte. 
Der  provisorische  Oberbefehl  in  Bukarest  wurde  dem  Grafen  Pahlen, 
dem  Kommandierenden  des  zweiten  Infanteriekorps,  übertragen,  je- 
doch mit  der  Bestimmung,  daß,  wenn  er  zur  Belagerung  Silistrias 
vorgehe,  Kisselew,  der  das  Kommando  des  vierten  Reservekorps 
erhalten  hatte,  die  Truppen  in  der  großen  und  kleinen  Walachei 
übernehmen  solle.  Obreskow  wurde  zum  General  du  jour  des 
Hauptquartiers,  Sheltuchin  zum  Chef  der  Zivilverwaltung  in  den 
Fürstentümern  ernannt.  Das  siebente  Armeekorps  wurde  dem 
Generalleutnant  Rüdiger  gegeben,  von  einer  nochmaligen  Verwendung 
des  Prinzen  Eugen  ist  überhaupt  nicht  die  Rede  gewesen.  Der 
Kaiser  konnte  ihm  nicht  verzeihen,  daß  die  Niederlage  bei  Kur- 
tepe  durch  seine,  des  Kaisers,  Schuld  erfolgt  w^ar.  Proprium  est 
humani  generis  odisse  quem  laeseris!  An  die  Stelle  von  Rudze- 
witsch  erhielt  General  Krassowski  das  Kommando  des  dritten  Korps 
mit  General  Berg  als  Stabschef,  während  Generalmajor  Buturlin 
Generalquartiermeister  der  zweiten  Armee  wurde.  Die  Türken,  die 
unter  der  Härte  des  Winters  noch  mehr  litten  als  die  Russen, 
hatten  sich,  wahrscheinlich  wegen  Futtermangels,  an  der  oberen 
Donau  konzentriert,  wo  sie  von  Österreich  her  verproviantiert 
wurden.      Eine    wesentliche    Besserung    bedeutete    für    Diebitschs 


Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  309 

materielle  Lage  Anfang  März  das  Eintreffen  von  sechzig  rassischen 
Lastschiffen  mit  40000  Tschetwert  Getreide  und  20000  Päd  Heu. 
Sie  waren  von  Odessa  her  in  den  kleinen  bulgarischen  Häfen  gelandet 
worden,  und  General  Roth  hatte  die  hocherwünschte  Ladung  durch 
die  Pferde  seiner  Offiziere  nach  Bazardschik  geschafft,  das  er  sonst 
hätte  aufgeben  müssen.  Die  Einnahme  von  Sizeboli^)  durch  den 
Admiral  Kumani,  dem  Roth  zu  diesem  Zweck  neun  schwache  Kom- 
pagnien überließ,  hatte  die  Fahrt  der  Transporte  gesichert. 
Übrigens  war  Sizeboli  schon  am  28.  Februar  gefallen;  Diebitsch 
erhielt  erst  am  7.  März  die  Schlüssel  der  Stadt.  Es  war  der  erste 
Punkt  jenseit  des  Balkans,  der  in  russische  Hände  fiel,  und  Die- 
bitsch ließ  sofort  die  Festungswerke  erneuern,  ein  Fort  anlegen, 
die  Besatzung  verstärken  und  die  Stadt  mit  türkischen  Geschützen 
und  mit  Munition  versehen.  Kumani  hat  dann  noch  zwei  kleine 
türkische  Fahrzeuge  genommen  und  durch  Wegnahme  eines  großen 
Prahms,  der  über  die  Bucht  von  Foros  fährte,  den  Angriff  auf 
Sizeboli  sehr  erschwert.  Dagegen  blieb  der  Versuch,  Achialos 
durch  ein  Bombardement  zu  nehmen,  erfolglos. 

Die  ungewöhnlich  weitgreifende  Überschwemmung  der  Donau 
hemmte  die  Anstalten  zur  Belagerung  Silistrias;  auch  das  gegen- 
überliegende Kalarasch  war  überschwemmt,  ebenso  Hirsowa,  so  daß 
Diebitsch  den  von  ihm  in  Sicht  genommenen  Angriffspunkt  gegen 
Silistria  verlegen  mußte.  Dazu  gab  es  in  den  ersten  Tagen  des 
April  noch  kein  Gras.  Unter  diesen  Umständen  dachte  Diebitsch 
sein  Hauptquartier  nach  Galacz  zu  verlegen.  Er  ließ,  um  die 
Türken  über  seinen  Operationsplan  zu  täuschen,  das  Gerücht  aus- 
sprengen, daß  er  nach  Bukarest  und  von  dort  wahrscheinlich  nach 
Krajowa,  also  in  die  westliche  Walachei,  ziehen  werde').  Als 
aber  Diebitsch  den  Kaiser  um  die  Erlaubnis  bat,  die  11.  Division 


1)  1090  Albaner,  die  in  der  Festung  lagen,  ergrifTen  während  des  Bom- 
bardements die  Flucht. 

^  Diebitsch  an  den  Kaiser.    Jassy,  den  ^^~  1829.    Die  gesamte  Kor- 

öm  April 

respondenz  Diebitschs  mit  dem  Kaiser  ist  in  der  Russkaja  Starina  Bd.  XXX 
und  folgende  veröfTentlicht.  Die  Briefe  Diebitschs  leider  in  russischer  Ober- 
setzung. Die  Korrespondenz  ging  französisch.  Auf  diese  Quelle  ist  meine 
Darstellung  vornehmlich  gegründet,  dazu  benutze  ich  die  noch  ungednickte 
Korrespondenz  Diebitschs  mit  Nesselrode,  BenkendoriT  und  den  russischen 
Generalen.  Für  das  technisch -militärische  Detail,  das  übergangen  wird,  ist 
überall  Moltkes  russisch-türkischer  Feldzug  zu  Rate  zu  ziehen. 


310  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

zur  VerstärkuDg  der  aktiven  Armee  heranzuziehen,  erhielt  er  einen 
ablehnenden  Bescheid,  und  noch  weniger  war  Nikolai  bereit  zu 
gestatten,  daß  die  Reserven  schon  im  Juni  in  das  dann  wahr- 
scheinlich eroberte  Gebiet  einrückten. 

So  ging  die  Zeit  hin.  Von  wesentlicher  Bedeutung  war  nun, 
daß  es  dem  Ingenieur-Oberst  Schilder  glückte,  aus  dem  Ardzis  das 
Material  für  einen  Brückenbau  an  die  Donau  zu  schaffen  und  ober- 
halb Ralarasch  in  Sicherheit  zu  bringen,  so  daß  sich  darauf  rechnen 
ließ,  daß  hier  die  Brücke  zum  Übergang  über  die  Donau  recht- 
zeitig fertig  werden  könne.  Auch  war  es  dem  General  Wachten, 
dem  Stabschef  des  sechsten  Korps,  gelungen,  einen  Angriff  abzu- 
schlagen, den  Hussein  Pascha  von  Rustschuk  aus  gegen  Kalarascb 
unternommen  hatte.  Das  war  alles,  was  der  Kaiser  an  Tatsachen 
kannte,  als  er  am  ö.  Mai  seine  Reise  nach  Warschau  antrat.  Er 
wußte  außerdem,  daß  entscheidende  Aktionen  bald  bevorstanden. 
Die  provisorische  Avantgarde  unter  General  Krassowski  und  die 
Donauflotille  waren  im  Begriff,  gegen  Silistria  vorzugehen,  und 
Diebitsch  dachte,  sobald  sich  sichere  Aussicht  auf  Erfolg  bot,  das 
Gros  der  Armee  mit  Roth  zu  vereinigen,  um  womöglich  den  Großw^esir 
zu  schlagen,  wenn  dieser  eine  Schlacht  anbiete,  anderenfalls  aber, 
von  der  Flotte  und  Landungstruppen  unterstützt,  den  Übergang 
über  das  Gebirge  bei  Pravody  zu  forcieren*).  Von  der  Stärke  des 
Feindes  hatte  auch  Diebitsch  damals  noch  keine  sichere  Kunde. 
Aus  Persien  aber  hatte  der  Kaiser  die  schlimme  Nachricht  erhalten, 
daß  am  15./27.  Februar  der  außerordentliche  russische  Gesandte 
Gribojedow,  der  bekannte  und  mit  Recht  gefeierte  russische  Dra- 
matiker, in  Teheran  vom  Pöbel  erschlagen  worden  war.  Glücklicher^ 
weise  diskulpierte  sich  die  persische  Regierung,  und  da  man  die 
bündigste  Ursache  hatte  gläubig  zu  scheinen,  begnügte  sich  Pas- 
kiewitsch,  der  die  Verhandlungen  führte,  mit  der  Forderung,  daß 
eine  Sühnegesandtschaft  nach  Petersburg  abgefertigt  werden  solle. 
Da  ein  Sohn  des  Schahs  bestimmt  war,  die  Botschaft  zu  über- 
bringen, gewann  Rußland  dadurch  gleichsam  eine  Geisel  für  das 
Wohlverhalten  Persiens.  Der  Feldzug  gegen  die  Türken  in  Asien 
aber  konnte  erst  Anfang  Juni  beginnen.  Auch  hier  standen  alle 
Entscheidungen  noch  bevor.    Es  ist  daher  begreiflich,  daß  der  Kaiser 


*)  Kaiser  Nikolaus  an  König  Friedrich  Wilhelm.   Petersburg,  den     '  J^[ 
1829.     Cbarlottenburg,  Hausarchiy. 


Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  311 

in  nervöser  Spannung  seine  Reise  antrat.  Er  wollte  damit  einen 
Besuch  in  Berlin  verbinden,  das  er  seit  dem  Februar  1825  nicht 
wiedergesehen  hatte,  und  bat  in  seiner  faszinierend  liebenswürdigen 
Art  den  König,  ihn  „wie  einen  alten  preußischen  Diener^  zu 
empfangen.  Nebenher  verband  sich  damit  der  Wunsch,  die  preu- 
ßische Hilfe  anzurufen,  um  einen  Druck  auf  den  Sultan  auszuüben 
und  ihn  zu  baldigem  Friedensschluß  zu  bewegen.  Denn  nach 
Frieden  sehnte  er  sich  und  ebenso  nach  einer  Stütze  in  seinen 
Beziehungen  zu  den  europäischen  Mächten.  Hatte  er  doch,  un- 
mittelbar vor  seiner  Abreise,  dem  französischen  Botschafter  Grafen 
Mortemart  Anträge  machen  lassen,  die  von  diesem  als  das  Angebot 
einer  russisch-französischen  Allianz  ausgelegt  wurden^),  was  offenbar 
in  der  Absicht  geschah,  den  König  von  der  immer  noch  möglichen 
Anschließung  Frankreichs  an  die  feindselige  Politik  Englands  ab- 
zulenken. 

Endlich  kam  zu  alledem  eine  steigende  Beunruhigung  über  die 
Entwicklung  der  inneren  Verhältnisse  Frankreichs.  Nikolai  fürchtete 
schon  damals,  daß  sie  zu  gefahrlichen  Erschütterungen  führen  werde, 
und  war  in  dieser  Überzeugung  durch  den  ihm  sympathischen, 
kürzlich  eingetroffenen  neuen  österreichischen  Botschafter  Grafen 
Fiquelmont  noch  bestärkt  worden.  Dagegen  war  ihm  die  Sorge, 
daß  Österreich  etwa  zugunsten  der  Türken  eingreifen  könne,  ge- 
schwunden, aber  er  glaubte  an  die  Fortdauer  der  politischen 
Intrigen  Metternichs,  und  seit  Wellington  die  Emanzipation  der 
Katholiken  durchgesetzt  hatte'),  ließ  sich  vorhersehen,  daß  ihm  von 
England  dabei  sekundiert  werden  würde. 

So  ist  er  gleich  nach  Schluß  der  Festlichkeiten,  welche  die 
Osterzeit  mit  sich  brachte,  und  nachdem  er  am  2.  Mai  noch  eine 
große  Parade  abgenommen   hatte,  am  5.  Mai  aus  Petersburg  auf- 

^)  Petersburg,  den  2.  Mai.  Chiffre.  „Le  laugage  de  TEmpereur  et  des 
personnes  influeDtes  qui  Tentoureut,  devient  chaque  jour  plus  amical  pour 
la  France.  Sa  Majeste  a  discut^  avec  moi  les  avantages  et  les  dangers  d^une 
alliance  avec  un  Gouvernement  representatif,  comme  une  personne  qui  songerait 
a  en  former  une.  Enfin  le  mot:  une  alliance  entre  nous,  a  ete  dit  par  une  per- 
sonne qui  a  toute  la  confiance  du  souverain.**  Relation  Mortemart.  Russie  177. 
Siehe  in  der  Anlage  den  Brief  Nikolais  an  König  Karl  X. 

^  Am  5.  April  nach  dreitägiger  Debatte  mit  217  gegen  112  Stimmen. 
^Parliament  will  give  him  an  absnlutely  free  hand  in  tbose  questions  of  foreign 
policy  which  he  now  proposes  to  take  up  and  push  forward  vigorously'^  schreibt 
die  Fürstin  Lieven  am  7.  April  aus  London. 


312  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

gebrochen.  Der  Oberzeremonienmeister  Potocki  war  ihm  voraus- 
geeilt, um  die  neue  polnische  Königskrone  nach  Kowno  zu  bringen, 
wo  sie  vom  Zeremonien meister  des  polnischen  Hofes  und  von 
einem  Detachement  der  polnischen  Gardejägerkavallerie  abgeholt 
und  nach  Warschau  gebracht  wurde.  Die  Kaiserin  und  der  Groß- 
fürst-Thronfolger reisten  gleichfalls  über  Kowno,  der  Kaiser  über 
Dünaburg,  Grodno,  Wilna,  Bialystok.  Bei  Tykotschin  erreichte  er 
die  polnische  Grenze,  und  in  Pultusk  traf  er  mit  der  Kaiserin 
wieder  zusammen,  um  mit  ihr  gemeinsam  in  Warschau  einzuziehen. 
Der  Kaiser  war  mit  unerhörter  Schnelligkeit  gereist,  eine  deutsche 
Meile  in  20  Minuten,  und  hatte  in  allen  Städten,  die  er  passierte, 
Trnppenbesichtigungen  vorgenommen  und  die  öiTentlichen  Anstalten 
besucht.  ,Das  heißt^  schreibt  Benkendorff,  der  wie  stets  mit  dem 
Kaiser  fuhr,  ,wir  sahen  nichts.'  Aber  es  wurde  alles  gelobt,  der 
Kaiser  wollte  nicht  sehen,  um  nicht  tadeln  zu  müssen.  Es  sollte 
ihm  ein  gutes  Gerücht  vorhergehen.  Am  18.  Mai  traf  er  in 
Warschau  ein.  Der  Großfürst  war  ihm  mit  der  Fürstin  Lowicz  bis 
Sablonna,  einem  Poniatowskischen  Besitz  zwei  Meileu  vor  War- 
schau, entgegengefahren.  Mit  ungeheuerem  Prunk  ist  dann  das 
Programm  der  Festlichkeiten  durchgeführt  worden.  Die  Krönung 
im  Senatssaale  fand  am  24.  Mai  statt^),  es  war  alles  so  angeordnet 
worden,  daß  der  polnische  Klerus  dabei  doch  eine  größere  Rolle 
spielte,  als  dem  Kaiser  lieb  war.  Trotz  allen  offiziellen  Apparats 
zeigte  der  polnische  Adel  eine  eisige  Kälte.  Als  der  Primas  nach 
vollzogener  Krönung  sein  dreimaliges  Vivat  Rex  in  aeternum  rief, 
stimmten  nur  die  anwesenden  Russen  in  den  Ruf  ein.  Der  Primas 
und  der  Hofstaat  verloren  darüber  alle  Fassung.  Später  schien  die 
Stimmung  sich  etwas  zu  heben.  Es  gefiel  den  Polen,  daß  der 
Kaiser  und  die  Kaiserin  sich  so  furchtlos  ohne  Begleitung  in  den 
Straßen  derStadt  bewegten,  auch  schmeichelte  das  sichtliche  Bestreben 
Nikolais  zu  gefallen  der  nationalen  Eitelkeit.  Aber  es  wurden 
überspannte  Erwartungen  daran  geknüpft.     In  der  Krönung  sahen 


0  Vergl.  die  eingehenden  Berichte  der  Vossischen  und  Spenerschen  Zeitung. 
Überhaupt  verdienen  die  Beriiner  Zeitungen  für  diese  Zeit  Beachtung.  Sie 
dienten,  da  ihre  Berichte  schnell  einliefen,  vielfach  in  Petersburg  zur  In- 
formation. Auch  dem  Kaiser.  Besonders  beachtenswert  sind  die  Korre- 
spondenzen der  Vossischen  vom  Kriegsschauplatz  und  der  Spenerschen  von  der 
türkischen  Grenze.  Beide  Blätter  hatten  Korrespondenten  in  Petersburg  und 
Warschan.     Die  Tendenz  allem  Russischen  gegenüber  war  panegyrisch. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  313 

die  Polen  eine  ihrer  Verfassung  dargebrachte  Huldigung.  Sie  er- 
warteten eine  Ära  streng  konstitutionellen  Regiments  und  hielten 
sich  nach  wie  vor  berufen,  den  Kern  eines  künftigen,  selbständigen 
Polens  zu  bilden')*  Aber  die  geflissentliche  Zurücksetzung  der 
Landboten  und  Deputierten,  die  von  jedem  Anteil  an  der  Krönungs- 
zeremonie ausgeschlossen  und  nicht  einmal  zur  Tafel  an  den  Hof  ge- 
laden wurden,  verstimmte  sichtlich.  Die  Ordensverleihungen  trafen 
lauter  mißliebige  Persönlichkeiten,  und  als  später  durch  zahlreiche 
neue  Verleihungen  der  Fehler  ausgeglichen  werden  sollte,  wußte 
man  dem  Kaiser  dafür  keinen  Dank.  Die  Amnestie,  die  verliehen  wurde, 
erschien  höchst  dürftig,  und  der  Erlaß  der  aus  den  Tagen  des 
ödtereichischen  Besitzes  von  Westgalizien  stammenden  Steuerröck- 
stände machte  niemandem  Freude,  man  hätte  sie  doch  nicht  gezahlt. 
Ebensowenig  dankte  man  dem  Kaiser  die  Ernennung  von  elf  neuen 
Senatoren,  weil  nach  der  Verfassung  die  Ernennung  der  Senatoren 
dem  Reichstage  vorbehalten  war'). 

Der  Großfürst  war  die  ganze  Zeit  über  ernst  und  konnte  seine 
Mißstimmung  nur  wenig  verbergen').    Ihn  drückte  die  Gegenwart 


1)  Memoire  des  Grafen  Raczynski.  Anlage  zur  Instruktion  für  Küster. 
Raczynski  schildert  die  Zustände  in  Galizien  und  bemerkt  dazu,  die  Galizier 
wurden  eine  Vereinigung  mit  dem  Königreich  gern  sehen:  La  le^on  yient 
de  Varsovie,  eile  a  ete  comprise  partout,  et  eile  porte  Tavis:  qu'avant  tout 
il  faut  chercher  a  se  reunir  pour  etre  en  mesure  de  profiter  des  chances 
favorables  au  retablissement  d'une  Pologne  ind^pendante.  On  ne  peut  pas 
mieux  parier  dans  Tinteret  de  la  Russie.  On  disäit  que  le  Royaume  de  Pologne 
donne  a  la  Russie  le  droit  d^alluvion.  Le  nom  est  la  qui  etablit  le  prinicpe 
et  le  droit. 

^  Wiener  Staatsarchiv.  Warschau.  Bericht  des  Generalkonsuls  Oechsner 
vom  5.  Juni  1829.  Auch  Schmidt,  der  anfänglich  optimistisch  urteilt,  schreibt 
am  13.  Juni:  Der  Enthusiasmus  hat  sich  beträchtlich  abgekühlt,  indem  eigent- 
lich   keine    von    den    sehnlichst   erwünschten  Veränderungen  eingetreten  ist 

')  Es  ist  möglich,  daß  ein  kleiner  Unfall  dazu  beigetragen  hat  Als 
beim  Einzüge  der  Kaiser  die  Brücke,  die  von  Praga  nach  Warschau  führt, 
betrat,  machte  das  Pferd  des  Großfürsten  plötzlich  kehrt  und  war  trotz  aller 
Anstrengungen  des  Reiters  nicht  zum  Gehorsam  zu  bringen.  Der  Großfürst 
sah  sich  genötigt,  abzusteigen  und  zu  Fuß  über  die  Brücke  und  durch  einen 
Teil  der  Stadt  zu  gehen.  Selbst  als  ihm  ein  anderes  Pferd  vorgeführt  wurde, 
und  er  nun  die  Parade  kommandierte,  die  dem  Kaiser  die  glänzenden  und 
unvergleichlich  gedrillten  polnischen  Truppen  vorführte,  konnte  er  seine 
Fassung  nicht  wiedergewinnen.  „Die  Züge  seines  Gesichts  hatten  sich  völlig 
verändert,  und  die  an  seinen  Jähzorn  gewöhnten  Untergebenen  des  Großfürsten 


314  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

des  Bruders,  der  sichtlich  unter  diesen  Launen  litt.  Es  war  nicht 
zu  verkennen,  daß  hier  zwei  grundverschiedene  Naturen  einander 
gegenüberstanden,  und  daß  für  beide  gleichzeitig  in  Warschau  keine 
dauernde  Stätte  war.  Den  Kaiser  verfolgten  zudem  seine  militärischen 
Sorgen.    Er  hatte  schon  am  19.  Mai  einen  Brief  von  Diebitsch  erhalten 

der  vom  ^' ^^!    aus  Tschernowody  datiert  war,  wo  Krassowski  seine 

Truppen  konzentriert  hatte.  Diebitsch  klagte  über  die  Zunahme  der 
Pest  und  über  den  kläglichen  Zustand  der  Hospitäler.  Die  Belagerung 
von  Silistria  sollte  mit  25 — 27000  Mann  begonnen  werden  und  Pahlen 
seine  12 — 13000  Mann  ihnen  anschließen.  Am  13.  Mai  wollte  Diebitsch 
selbst  marschieren.  Das  Land  bis  zur  Straße,  die  nach  Schumla 
und  Rasgrad  führe,  sei  ganz  leer,  die  Garnison  von  Silistria  solle 
schon  vor  zwei  Monaten  Verstärkung  erhalten  haben.  Die  Mehrzahl 
der  türkischen  Truppen,  die  bei  Aidos  und  Burgas  standen,  hätte 
am  Kamtschyk  Fuß  gefaßt.  In  Schumla  lägen  30 — 50000  Mann, 
10 — 12000  zwischen  Rasgrad  und  Tirnowa,  ebensoviele  in  Rust- 
schuk,  wo  Hussein,  und  in  Nikopolis,  wo  Halil  Pascha  kommandiere. 
In  Silistria  ständen  15000  unter  Achmet  Pascha.  Die  Reserve 
bilde  sich  in  Adrianopel,  wo  der  Sultan  erwartet  werde,  auch  aus 
Bosnien  und  Albanien  rechneten  die  Türken  auf  Zuzug,  und  diese 
Truppen  seien  bestimmt,  über  Sophia  nach  Schumla,  Rustschuk 
und  Silistria  zu  ziehen.  In  Rumili  aber  sei  alles  aufgeboten,  was 
Waffen  tragen  könne ').  Diebitsch  wollte  sich  für  die  Zuverlässig- 
keit dieser  Angaben  nicht  verbürgen,  richtig  sei  jedoch,  daß  die 
Türken  eifrig  und  erfolgreich  rüsteten.  General  Roth,  der  mit  ihm 
die  Truppen  in  Tschernowody  besichtigte,  habe  mit  24  Bataillonen'), 
mit  der  Kavallerie  und  den  meisten  Kosaken  sein  Lager  bei  Turk- 
Arnautlar  aufgeschlagen.  GeheReschidMehmed Pascha,  derneueGroß- 
wesir,  gegen  Silistria  vor,  so  werde  Roth  die  Garnison  in  Pravody  ver- 
stärken, und  sich  über  Konary  und  Aflotar  mit  dem  Hauptheer 
vereinigen.  Sollte  dagegen  der  W^esir  sich  gegen  ihn  wenden,  so 
werde  Roth  trotzdem  die  Garnisonen  von  Pravody  und  Varna  ver- 
stärken    und    sich    in    der    Richtung    auf   Konary    zurückziehen. 

konnten  leicht  erraten,  was  ihnen  bevorstand.^  So  berichtet  Renkendorf!  in 
seinen  vom  Kaiser  durchgesehenen  Memoiren.  Die  Zeitungen  und  die  Berichte 
der  Ausländer  haben  den  Vorfall  verschwiegen. 

^)  Das  gab,  Bosnier,  Albaner  und  Rumelioten  nicht  gerechnet,  ino 
Minimum  75000,  im  Maximum  101000  Mann. 

^)  Die  Bataillone  waren  sehr  schwach,  14  bis  24  Reihen. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  315 

Diebitsch  wollte  ihm  dann  mit  der  Kavallerie  und  dem  3.  Korps 
zu  Hilfe  eileo  und  die  Türken  von  Schumla  abschneiden. 

Also  eine  Schlacht  schien  bevorzustehen.  Am  Mittwoch, 
28.  Mai,  erhielt  aber  der  Kaiser  einen  zweiten  Brief,  der 
seine  Unruhe  in  ernste  Besorgnis  verwandelte.  Am  17.  Mai,  als 
Diebitsch  eben  vor  Silistria  eingetroffen  war,  hatte  Roth  bei  Eski- 
Arnautlar,  wo  er  in  Verschanzungen  lag,  statt  wie  vereinbart  war, 
dem  Feinde  auszuweichen,  zwar  mehrfache  Angriffe  des  Großwesirs 
abgeschlagen,  auch  bereits  die  Verfolgung  des  weichenden  Feindes 
aufgenommen,  aber  das  Regiment  Ochotsk  und  das  32.  Jäger- 
regiment unter  General  Rynden,  denen  die  Verfolgung  übertragen 
war,  gerieten  dabei  im  Felstal  von  Pravody  in  eine  Art  Falle. 
Die  türkischen  Reserven  mit  10  Geschützen  fielen  über  sie  her. 
Die  Russen,  deren  6  Geschütze  gleich  zu  Anfang  ihre  Bedienung 
verloren,  wären  ganz  vernichtet  worden,  hätte  sie  nicht  der  Oberst 
Fiischin  durch  einen  Bajonettangriff  der  32.  Jäger  gerettet.  Erst 
danach,  um  8  Uhr  abends,  hatte  der  Großwesir  den  Rückzug 
mit  seinem  Heere  angetreten.  Diebitsch  schätzte  das  Heer  Reschid 
Mehmeds  auf  20000  Mann  meist  regulärer  Infanterie,  8000  Reiter 
und  10  Geschütze.  Aber  Roth  hatte  unverhältnismäßig  schwere  Ver- 
luste erlitten.  General  Rynden,  14  Offiziere  und  480 Unteroffiziere  und 
Gemeine  waren  gefallen,  28  Offiziere  und  gegen  600  Unteroffiziere  und 
Gemeine  meist  schwer  verwundet,  auch  waren  4  Geschütze  ver- 
loren gegangen  ').  Diebitsch  bedauerte,  daß  Roth  nicht  dem  Kampf 
ausgewichen  war.  Am  Tage  nach  dem  Treffen  stießen  3  Regimenter 
der  18.  Infanteriedivision  und  die  38.  Jäger  zu  ihm.  Diebitsch  meinte, 
es  habe  Nachlässigkeit  beim  Vorpostendienst  vorgelegen').  Nun 
konnte  er  freilich  auch  einige  günstige  Nachrichten  geben.  Roth 
hatte  zwei  Fahnen  erobert,  ein  Angriff,  den  der  Großwesir  gleich- 
zeitig mit  dem  Treffen  bei  Eski-Arnautlar  gegen  Pravody  hatte 
unternehmen  lassen,  war  tapfer  abgeschlagen  worden.  Bei  Silistria 
war  die  Brücke  über  die  Donau  glücklich  fertiggestellt  worden,  und 
in  3 — 4  Tagen  sollten  die  Trancheen  eröffnet  werden,  morgen,  den 
21.,  werde  die  Batterie  der  falschen  Attacke  ihr  Feuer  beginnen. 
Seine    Vorposten     ständen    auf    den    Straßen    nach    Bazardschik, 

')  Die  etwas  abweichenden  Angaben  bei  Mohke  geben  wohl  auf  den 
offizielleD  russischen  Bericht  zurück. 

^)  Siehe  die  Anlage.  Das  Schreiben  Roths  an  Diebitsch  unmittelbar 
nach  dem  Treffen. 


316  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

Schumla,  Rasgrad,  Rustschuk.  Vom  Feinde  sei  nichts  zu  sehen. 
General  Kreuz  (4.  Ulanendivision)  habe  sich  am  19.  in  Jenibazar 
mit  Roth  in  Verbindung  gesetzt.  Der  Großwesir  setze  seinen 
Marsch  nach  Schumla  fort.  Der  Brief  schloß  mit  der  Ankündigung, 
daß  der  nächste  Kurier  erst  in  acht  Tagen  abgehen  werde. 

Der  Kaiser  war  erschreckt  und  bekümmert,  er  fürchtete  den 
Eindruck,  den  diese  Nachrichten  im  Auslande  machen  würden  *). 
und  glaubte,  daß  der  Großwesir  sich  gegen  Diebitsch  wenden  werde. 
Die  acht  Tage,  die  nun  ohne  Nachricht  vergehen  sollten,  erschienen 
ihm  fast  unerträglich.  Am  30.  Mai  traf  Prinz  Wilhelm  von  Preußen 
in  Warschau  ein.  Er  brachte  die  Nachricht,  daß  der  König  infolge 
leichter  Erkrankung  nicht,  wie  vereinbart  war,  in  Sibyllenort  mit 
dem  Kaiser  zusammentreffen  könne.  Die  Reise  der  Kaiserin  nach  Berlin 
wurde  dadurch  nicht  getroifen,  sie  verließ  Warschau  am  31.  Mai. 
Aber  auch  den  Kaiser  duldete  es  bei  seiner  inneren  Unruhe  nicht 
länger  in  seiner  polnischen  Umgebung.  Am  2.  Juni  in  aller  Frühe 
verließ  er  mit  kleinem  Gefolge  die  Stadt.  Er  wollte  den  Schwieger- 
vater überraschen  und  dann  in  Berlin  sich  frei  über  die  Sorgen 
aussprechen  die  ihn  bedrückten.  Mehr  als  je  verlangte  ihn  nach 
einem  baldigen  Frieden.   Vielleicht  konnte  Friedrich  Wilhelm  helfen. 

Am  ß.  Juni  in  Frankfurt  a.  0.  holte  der  Kaiser  seine  Gemahlin 
ein,  die  schon  zwei  Tage  vor  ihm  Warschau  verlassen  hatte;  in 
Friedrichsfelde  begrüßte  sie  der  durch  den  Besuch  Nikolais  völlig 
überraschte  König'),  um  7  7,  Uhr  abends  hielten  sie  unter  dem 
Jubel  der  Bevölkerung  ihren  Einzug  in  Berlin.  Man  kann  sich 
schwer  eine  Vorstellung  von  der  schwärmerischen  Verehrung 
machen,  die  dem  russischen  Kaiserpaar  in  der  preußischen  Haupt- 
stadt entgegengetragen  wurde.  An  der  „Prinzessin  Charlotte^  hatte 
von  jeher  das  Herz  der  Berliner  gehangen.  Den  Kaiser  be- 
wunderte alles.  Man  fand  den  schönen  Mann  etwas  gealtert  und 
abgemagert.  Die  Stirn  war  höher  geworden,  die  Züge  schärfer. 
Aber  man  kannte  seine  Vorliebe  für  die  Preußen  und  gab  ihm  die 


1)  „Sur  nos  amis  a  retranger.**  Brief  an  Diebitsch  vom  29.  Mai  aus 
Warschau.  Der  Brief  schließt  mit  den  Worten:  ,,Redoublez  dVtention  et  de 
vigueur,  et  que  le  Christ  vous  guide." 

^)  Nikolai  an  Diebitsch.  Berlin  („du  eher  Berlin''),  den  7.  Juni.  »Je 
suis  venu  tellement  inattendu,  que  je  me  tenais  derriere  le  Roi,  qui  ne  me 
Yoyait  pas  et  qui  ne  s'en  doutait  pas  encore;  il  est  presque  tombe  ä  la 
renverse  en  m'apercevant." 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  317 

gleiche  Zuneigung  wieder.  Vor  allem  galt  das  vom  preußischen 
Militär.  Der  Kaiser  hatte  sich  auch  für  den  Feldzug  von  1829 
preußische  Offiziere  für  sein  Hauptquartier  gewünscht  und  um  den 
General  Grolmann  gebeten').  Den  hatte  der  König  ihm  abge- 
schlagen, aber  er  schickte  ihm  drei  hervorragende  Generalstabs- 
offiziere, Panzer'),  Wildermeth  und  Staff  von  Reitzenstein,  von 
denen  die  ersteren  leider  in  Adrianopel  starben,  *  Staff  dagegen  die 
ganze  Kampagne  mitmachte.  Panzer  notiert  in  seinem  Tagebuche, 
das  von  Abschnitt  zu  Abschnitt  durch  Kurier  dem  Könige  zu- 
geschickt wurde,  über  den  Empfang,  der  ihm  am  19.  Mai  zu 
Warschau  vom  Kaiser  zuteil  wurde,  daß  er  und  seine  Gefährten 
nach  der  Parade  dem  Kaiser  vorgestellt  und  von  ihm  aufs  Schloß 
beschieden  wurden.  „Dann  kamen  wir  ins  Arbeitszimmer  des 
Kaisers,  der  uns  merkwürdig  empfing:  „Dort  draußen  war  ich  König 
von  Polen,  hier  bin  ich  nur  Kamerad  und  freue  mich  herzlich, 
Euch  zu  begrüßen.^  Er  gab  uns  die  Hand,  fragte  nach  unserem 
National  und  erzählte  uns  dann  den  Hergang  der  vorigen  Kampagne, 
wobei  er  sich  des  Passus  bediente:  „Dann  machten  wir  hier  bei 
Schumla  die  Dummheiten.^  Von  dem  bevorstehenden  Feldzuge 
sagte  er  uns,  daß  140000  Mann  dazu  bestimmt  wären,  von  denen 
nach  Abzug  der. Kranken  und  Detachierten  jedoch  nur  60 — 80000 
Mann  zur  Operation  übrig  blie'ben,  die  aber  hinreichen  würden, 
den  beabsichtigten  Zweck  zu  erreichen.  Ferner  meinte  er,  daß 
wir  in  einigen  Monaten  den  größten  Teil  der  Armee  in  den 
Lazaretten  haben  und  die  Kavallerie  um  ihre  Pferde  gebracht  sein 
werde.^  Das  zeigt  an  einem  typischen  Beispiel  die  Art,  wie  der 
Kaiser  mit  den  preußischen  Offizieren  zu  verkehren  pflegte,  und 
erklärt  den  Widerhall  enthusiastischer  Verehrung,  der  ihm  aus  den 
Reihen  der  preußischen  Armee  entgegen  klang.  Aber  wir  finden 
hier  auch  die  Sorgen  wieder,  die  ihm  die  Ruhe  raubten  und  die 
ihn  nach  Berlin  geführt  hatten.  Unter  all  den  Festlichkeiten  die 
ihm  nun  während  der  Pfingstwoche  in  Berlin  bereitet  wurden 
oder    der    Vermählung   seines    Schwagers,    des    Prinzen    Wilhelm, 


*)  Nesselrode  an  Diebitsch  den  9./21.  April  1829. 

^  Von  Panzer  ist  ein  höchst  interessantes  Tagebuch  erhalten,  das  vom 
14.  Mai  bis  18.  August  1829  reicht.  Er  starb  am  17.  November.  Sein  Tagebuch 
ist  eine  der  vornehmsten  Quellen  Moltkes  geworden,  speziell  in  betreff  des 
Übergangs  über  den  Balkan.  Staff  reiste  in  besonderer  politischer  Mission. 
Vergl.  die  Anlage,  die  zum  erstenmal  über  diese  Dinge  Auskunft  gibt 


318  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

mit  der  Prinzessin  Aagusta  von  Weimar  galten,  verlor  er  sein 
Ziel,  durch  Preußens  Hilfe  den  Sultan  zum  Abschluß  eines 
baldigen  Friedens  zu  bewegen^  keinen  Augenblick  aus  den 
Augen.  So  reifte  in  den  vertrauten  Unterredungen  mit  König 
Friedrich  Wilhelm  III.  der  Gedanke,  den  Chef  des  preußischen 
Generalstabes,  Generalleutnant  von  Müffling,  nach  Eonstantinopel 
zu  senden  und  durch  ihn  die  Hohe  Pforte  wissen  zu  lassen,  daß 
es  weder  in  den  Absichten  noch  in  den  Wünschen  des  Kaisers 
liege,  Eroberungen  zu  machen  oder  gar  der  Selbständigkeit  des 
osmanischen  Reiches  zu  nahe  zu  treten,  daß  er  vielmehr  gern 
durch  einen  baldigen  Frieden  den  jetzigen  Krieg  beenden  wolle. 
Sei  der  Sultan  anders  gesinnt,  so  werde  Rußland  dagegen 
den  Krieg  mit  aller  Kraft  bis  zum  letzten  Ende  fuhren.  Für  die 
Pforte  aber  sei  der  gegenwärtige  Augenblick  günstig,  um  den  Krieg 
„auf  eine  mit  ihrer  Ehre  und  Selbständigkeit  bestehende  und  ihre 
wahren  Interessen  nicht  gefährdende  Weise  zu  Ende  zu  bringen  *)**. 
Müfflings  Sendung  bezwecke,  dieser  Überzeugung,  die  die  des  Königs 
sei,  „bei  dem  Divan  Eingang  zu  verschaffen  und  in  dem  Sinne 
derselben  die  Pforte  zu  einem  annähernden  Schritt  gegen  Rußland 
zu  bewegen.^  Das  Eingreifen  Preußens  sollte  durchaus  nicht  den 
Charakter  einer  versuchten  Mediation  tragen,  sondern  als  der  Aus- 
druck des  freundschaftlichen  Interesses  gelten,  das  der  König 
persönlich  für  die  Pforte  hege.  Nesselrode'),  der  über  die  Mission 
Müfflings  nicht  zu  Rat  gezogen  wurde,  ist,  wie  sich  aus  seiner 
Korrespondenz  mit  Diebitsch  ergibt,  nachher  voll  Mißtrauen  und 
Eifersucht  gegen  Müffling  gewesen.  Diebitsch  erhielt  erst  später 
Nachricht  von  der  Mission  Müfflings. 

Der  Kaiser  war  bester  Stimmung  als  er  Berlin  verließ  um  nach 
Wai*schau  zurückzukehren.  Er  hatte  sich,  wie  er  schrieb,  nach  vier 
Sorgenjahren  einmal  erholt.    Den  Rückweg,  auf  dem  nur  Orlow  und 

1)  Instruktion  Müfflings,  Konzept  ohne  Datum,  in  der  Anlage.  Sie  kann 
spätestens  am  13.  Juni  entstanden  sein. 

')  In  dem  Compte  rendu  von  Nesselrode  findet  sich  über  die  Mission 
Müfflings  die  folgende  Darstellung:  „Durant  son  sejour  a  Berlin,  Votre  Majeste 
Imperiale  avait  eu  Toccasion  d^exposer  de  nouveau  les  vues  qui  seules  La 
dirigeaieut  dans  la  guerre  de  Turquie,  et  le  but  qu'Elle  poursuivait  invariable- 
ment.  La  mission  du  Gent'ral  Müffling  fut  une  consequence  de  ces  explications. 
II  etait  specialement  cbarge  d'attester  aupres  de  la  Porte  les  dispositions 
personnelles  de  Votre  Majeste  et  d^exhorter  le  sultan  ä  s^en  prevaloir  et  a 
solliciter  la  paix  par  des  plenipotentiaires  envoyes  au  quartier  general  russe.^ 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  319 

Benkendorff  ihn  begleiteten,  nahm  er  über  Schlesien.  In  Sibyllenort 
ward  ihm  der  Genuß  einer  Parade  des  Kürassierregiments  Kaiser 
Nikolaus  zuteil.  Am  16.  Juni  um  4  7,  Uhr  nachmittags  traf  er 
wieder  in  Warschau  ein. 

Wahrscheinlich  unterwegs  war  ihm  eine  Depesche  Diebitschs 
vom  4.  Juni  zugegangen,  durch  welche  der  General,  der  vor 
Silistria  lag,  ankündigte,  daß  er  sich  Roth  nähere  und  daß  dadurch 
die  Einnahme  von  Silistria  um  8  bis  14  Tage  verzögert  werden 
könne.  Sein  Vormarsch  sei  ein  Fehler,  wenn  Roth  in  seinen  Be- 
richten über  die  wahrscheinlichen  Absichten  des  Großwesirs  sich 
getäuscht  haben  sollte.  Sei  es  aber,  wie  Roth  sage,  und  ziehe  der 
Großwesir  wirklich  mit  ganzer  Macht  aus  Schumla  heran,  um 
ihn  anzugreifen,  so  könnten  entscheidende  Resultate  erreicht  werden, 
wenn  es  zur  Schlacht  komme,  und  die  Aussichten  seien  zu  günstig, 
als  daß  er  sie  versäumen  dürfe.  Am  5.  werde  er  nach  Kutschuk — 
Kainardschi  marschieren.  General  Madatow  habe  sich  mit  Roth 
vereinigt,  und  die  3.  Brigade  der  11.  Division  sei  beauftragt,  auf 
Bazardschik  loszugehen,  von  wo  sie  nur  30  W^erst  entfernt  sei. 
Diebitsch  meldete  zugleich,  daß  er  die  Instruktion  erhalten  habe, 
die  ihm  Xesselrode  für  den  Fall  geschickt  hatte,  daß  Friedens- 
verhandlungen angeknöpft  werden  könnten.  Es  waren  drei  Ent- 
würfe, die  das  Maximum  und  Minimum  der  russischen  Forderungen 
formulierten.  *) 

Es  stand  also,  darüber  war  kaum  ein  Zweifel  möglich,  eine 
große  Entscheidung  vor,  und  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  war  sie 
bereits  gefallen.  Der  Kaiser  harrte  in  Sorgen  der  Boten,  die  ihm 
Gewißheit  bringen  mußten  und  wurde  durch  den  Großfürsten  Kon- 
stantin noch  nervöser  gemacht,  der  „unablässig  riet,  den  Frieden 
auf  jede  nur  mögliche  Weise  herbeizuführen  und  dabei  sogar  alle 
Rücksichten  auf  das  point  d'honneur  beiseite  zu  lassen^*).  Die 
Spannung  war  fast  unerträglich  geworden,  da  traf  am  19.  gegen 
Mittag  ein  Adjutant  Diebitschs,  der  Fürst  Trubetzkoi,  mit  einem 
Brief  Diebitschs  ein,  der  die  Siegesnachricht  von  einer  großen  am 
11.  Juni  bei  Kulewtschi  gewonnenen  Schlacht  enthielt.  Dieser 
denkwürdige   Brief  lautete:   ,,Lager   bei  Madara  bei  Schumla,  den 


^)  Sie  waren  schon  am  Tage  vor  der  Abreise  des  Kaisers  aus  Petersburg 
genehmigt  worden.  Ich  habe  nicht  feststellen  können,  woran  es  liegt,  daß  sie 
80  spät  in  Diebitschs  Hände  gelangten. 

^  Relation  Schmidt.     Warschau,  den  19.  Juni. 


320  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

31.  Mai  (12.  Juni).  Der  Allerhöchste  hat  gestern  die  heroischen 
Anstrengungen  Ew.  Majestät  siegreichen  Truppen  gesegnet.  Der 
Großwesir  ist  aufs  Haupt  geschlagen;  er  hat  seine  ganze  Artillerie 
verloren,  dazu  alle  Bagage,  und  seine  vollkommen  demoralisierte 
Armeer  wird  ohne  Train  und  Kanonen  nur  mühsam  (wie  ich 
hofTe)  auf  Feldwegen  Schumla  erreichen.  Ich  gehe  noch  heute 
mit  dem  Korps  von  Roth  und  zwei  Kavalleriedivisionen  in  der 
Richtung  nach  Eski-Stambul  vor,  um  zerstreute  Trümmer  des 
Heeres  abzuschneiden.  Graf  Pahlen  ist  dem  Feinde  auf  den  Fersen 
gefolgt,  jetzt  ist  er  zurückgekehrt  und  hat,  nachdem  er  40  Kanonen 
erbeutete,  die  Fortsetzung  (der  Verfolgung)  dem  General  Kuprejanow 
überlassen.  Unser  Verlust  ist  auch  groß,  obgleich,  nach  Aussage 
aller  Gefangenen,  er  höchstens  ein  Drittel  des  Verlustes  beträgt, 
den  der  Feind  erlitten  hat.  Er  ließ  2000  Tote  auf  dem  Schlachtfelde. 
Wir  haben  über  2000  Mann  verloren,  davon  zwei  Drittel  an  Toten. 
So  stark  hat  fast  nur  die  6.  Division  gelitten,  dazu  die  Irkutsker 
Husaren.  Die  ersten  Bataillone  der  12.  Jäger  und  des  Muromscheu 
Regiments  fielen  bis  auf  den  letzten  Mann,  ihre  Fahnen  verteidigend. 
Die  Menge  türkischer  Leichen,  die  zwischen  ihnen  liegen,  zeugt 
flafür,  daß  sie  ihr  Leben  teuer  verkauft  haben.  Die  Fahnen  des 
12.  Jägerregiments  wurden  dem  Feinde  in  Stücken  entrissen,  man  riß 
sie  in  dem  Augenblick  von  der  Stange,  als  diese  in  die  Hände  der 
Türken  fiel.  Die  Fahne  des  Muromschen  Regiments  ist  bisher  noch 
nicht  aufgefunden,  aber  ich  wage  E.  M.  zu  bitten,  dem  zu  bildenden 
Bataillon  eine  neue  Fahne  zu  schenken,  denn  dieses  ausgezeichnete 
Regiment  hat  es  vollauf  verdient.  Die  Regimenter  Newsky  und 
12.  Jäger  haben  gleichfalls  bei  der  Abwehr  der  rasenden  Angriffe 
der  Türken  die  Hälfte  ihrer  Mannschaft  verloren,  aber  dieser  Ver- 
lust verteilt  sich  gleichmäßiger  auf  die  Bataillone.  Die  19.  reitende 
Batterie  gab  die  Entscheidung  und  war  die  Veranlassung,  daß  der 
Feind  den  größten  Teil  seiner  Artillerie  verlor.  Ich  wage  für  sie 
bei  E.  M.  als  Auszeichnung  (Kiver)  Helme  und  für  die  Offiziere 
Litzen  zu  erbitten.  Wenn  ich  mir  persönlich  eine  Gnade  erbitten 
dürfte,  wäre  es  die  Erhebung  meines  ausgezeichneten  würdigen 
Gehilfen  Toll  in  den  Grafenstand,  zur  Erinnerung  an  diesen  denk- 
würdigen Tag;  ich  weiß,  daß  es  ihn  sehr  beglücken  würde,  und 
wegen  seiner  ausgezeichneten  Dienste  ist  er  dessen  würdig.  Ich 
wage  ferner  zu  erbitten:  das  Wladimirband  für  Pahlen,  das  Annen- 
band  für  die  Generale  Arnoldi  und  Obrutschew  nnd  den  Wladimir 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  321 

zweiter  Klasse  für  Buturlin.  Es  ist  Toll  selbst,  der  der  ersten  Ver- 
folgung des  Feindes  eine  so  große  Energie  gab.  Graf  Pahlen  hat 
sich  während  des  Kampfes  durch  die  glänzendste  Haltung  ausge- 
zeichnet, den  Feind  15  Werst  weit  getrieben  und  ihm  in  den 
Defileen  des  Gebirges  den  Rest  der  Artillerie  und  des  Trains  ge- 
nommen. Mit  diesem  Briefe  und  zwei  dem  Feinde  abgenommenen 
Fahnen  (die  eine  gehört  der  regulären  Kavallerie,  die  andere  der 
regulären  Infanterie)  schicke  ich  meinen  Adjutanten,  den  Fürsten 
Trubetzkoi.     Er  dient  stets  mit  größtem  Eifer. 

Ich  erdreiste  mich,  E.  M.  zu  bitten,  mich  Ihrer  Majestät  der 
Kaiserin  zu  Füßen  zu  legen. ^ 

Der  Eindruck,  den  auf  den  Kaiser  der  plötzliche  Übergang 
von  quälenden  Befürchtungen  zu  höchster  Siegesfreude  machte,  ist 
schwer  zu  beschreiben.  Er  umarmte  und  küßte  Trubetzkoi. 
w*arf  sich  dann  auf  die  Knie,  um  Gott  zu  danken,  und  gratulierte 
darauf  Trubetzkoi  zu  seiner  Ernennung  zum  Flügeladjutanten  und 
Oberst,  dann  führte  er  ihn,  ohne  einen  Augenblick  zu  verlieren, 
in  seinem  Wagen  zum  Großfürsten,  in  dessen  Gegenwart  Trubetzkoi 
den  Verlauf   der  Schlacht    ausführlich    erzählen    mußte.') 

Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  aus  Diebitschs  eigenem  Munde 
zu  hören,  welches  der  Verlauf  dieses  folgenreichen  Schlachttages 
gewesen  ist').  „Nachdem  ich  Silistria  eingeschlossen  und  ziemlich 
lange  unter  den  Mauern  dieser  Festung  gestanden  hatte,  erhielt 
ich  vom  General  Roth  die  Meldung,  daß  die  Türken  in  großen 
Massen  Schumla  verlassen  hätten  und  durch  den  Balkan  gegen  ihn 
anmarschierten.  Ich  berechnete  die  Entfernung  zwischen  Schumla 
und  dem  Feinde  und  überzeugte  mich,  daß  durch  eine  schnelle 
Bewegung  der  Hauptmacht  unseres  vor  Silistria  liegenden  Heeres 
ich  auf  der  kürzesten  Linie  zum  Balkan  hin  eine  Position  ein- 
nehmen könnte,  die  den  Wesir  veranlassen  werde  sich  einer  Schlacht 
diesseit  des  Balkans  nicht  zu  entziehen,  denn  er  mußte  voraussetzen, 
daß  er  nicht  unsere  ganze  Armee  vor  sich  habe.  Auch  hielt  ich 
es  für  möglich,  ihm  in  den  Rücken  zu  kommen  und  mich  auf  der 


0  Vergl.  die  Anlage. 

^  Nach  den  Aufzeichnungen  des  Generals  von  Tiesenbausen,  den  der 
Kaiser  im  März  1830  nach  ßurgas  zu  Diebitscb  schickte,  dessen  nächster  Ver- 
wandter Tieseuhausen  war.  Am  13./25.  März  war  Diebitschs  Gemahlin  in 
Petersburg  gestorben,  und  Tiesenbausen  sollte  Diebitscb  trösten  und  zerstreuen. 
Vgl.  Russ.  Stariua  Bd.  LXIX,  S.  519ff. 

Schiemann,  Geschichte  Rußlands.    IL  21 


322  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

Straße,  die  nach  Schumla  führt,  aufzustellen.  Iq  beiden  Fällen 
glaubte  ich  einen  Vorteil  und,  wenn  meine  strategischen  Berech- 
nungen von  Zeit  und  Entfernung  richtig  waren,  einen  völligen 
Erfolg  zu  erringen.  Nachdem  ich  mich  nun  überzeugt  hatte,  daß 
diese  Rechnung  stimmte,  befahl  ich  der  Armee  ohne  den  geringsten 
Zeitverlust  in  möglichster  Stille  aufzubrechen,  zugleich  aber  ließ 
ich  so  viel  Truppen  vor  Silistria  zurück,  daß  die  Belagerten  den 
Abmarsch  der  übrigen  nicht  bemerken  konnten.  Dem  General 
Roth  aber  befahl  ich,  alle  nur  möglichen  Kriegsmittel  anzuwenden, 
um  den  Wesir  immer  mehr  auf  sich  heranzuziehen;  wenn  es  not- 
wendig sei,  solle  er  sogar  einen  für  uns  ungünstigen  Kampf  an- 
nehmen, damit  ich  mich  inzwischen  nähern  oder  auf  der  Straße 
nach  Schumla  Stellung  nehmen  könne.  Unsere  Tapferen  erreichten 
in  größter  Stille  in  forciertem  Marsch,  voll  Kampfeslust  und  Hoffnung, 
fast  ohne  Hindernis  das  ihnen  gestellte  Ziel.  General  Buturlin 
machte  dabei  einen  unverzeilichen  Fehler^),  aber  der  Erfolg  der 
Schlacht  bei  Kulewtschi  gab  mir  den  angenehmen  Vorwand,  diesen 
Fehler  ohne  strenge  Strafe  hingehen' zu  lassen. 

Unsere  Armee  umging  am  Abend  vor  der  Schlacht  auf  unserem 
rechten  Flügel  die  Vorposten  des  Feindes  in  solcher  Nähe,  daß 
ich  fürchtete,  daß  sie  unseren  Abmarsch  entdecken  könnten.  Die 
Reihenfolge  unserer  Kolonnen  hatte  ich  vorher  bestimmt.  Die 
Hauptaufgabe  fiel  dem  Korps  des  Grafen  Peter  Fahlen  zu:  er  sollte 
auf  unserer  rechten  Flanke  stehen  und  den  linken  Flügel  der  feind- 
lichen Armee  umfassen,  um  ihren  Rückzug  auf  der  Straße  nach 
Schumla  zu  verhindern.  Durch  diesen  Auftrag  zeigte  ich  mein 
schrankenloses  Vertrauen  zu  seinen  militärischen  Fähigkeiten.  Die 
übrigen  Kolonnen  standen  in  festbestimmter  Entfernung  vonein- 
ander, jedoch  so,  daß  sie  unmittelbar  miteinander  kommunizieren 
konnten.  Sie  hatten  Befehl  nach  verschiedenen  Richtungen  so 
vorzugehen,  daß  sie,  sobald  sie  ihre  Position  erreichten,  einen 
Halbkreis  um  den  Feind  bildeten,  der  den  Diameter  oder  die  Chorde 
dieses  Halbkreises  einnahm. 

Die  erste  Position  dieser  Kolonnen  lag  so  weit  ab,  daß  der 
Feind  ihre  Annäherung  nicht  früher  bemerken  konnte,  als  bis  Graf 
Pahlen  mit  seinem  Korps  in  seine  Position  einrückte.  Um  dies  zu 
erreichen,    mußte    ich     den    Feind     durch    ein    Vorpostengefecht 


»)  Vgl.  Moltke  1.  1.  S.  316. 


Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Jali  1829.  323 

beschäftigen  und  zugleich  die  Stärke  und  die  Stellung  seiner  Armee 
rekognoszieren,  um,  sobald  die  Nachricht  vom  Eintreffen  aller 
Kolonnen  mich  erreichte,  den  entscheidenden  Kampf  aufzunehmen. 

Die  Stellung  der  feindlichen  Armee  in  ihren  Positionen  war 
in  taktischer  Hinsicht  fast  unangreifbar,  obgleich  die  Berge  des 
Balkan  in  ihrem  Rücken  lagen.  Aber  sie  hatte  keine  geeigneten 
Pässe  zum  Rückzug.  Die  Schlachtordnung  war  in  einer  weiten 
Ebene  am  Abhang  oder  an  den  Vorbergen  des  Balkans  aufgestellt. 
Vor  dem  rechten  Flügel  lagen  steile  Felsen  und  tiefe  unzugängliche 
Abgründe,  das  Zentrum  und  ein  Teil  des  rechten  Flügels  hatte 
einen  ziemlich  abschüssigen  Abhang  vor  sich,  .der  zu  uns  ins  Tal 
führte,  das  widerum  sich  an  eine  umfangreiche  amphitheatralische 
Terrasse  lehnte.  Von  dieser  Terrasse  führte  ebenfalls  ein  Abhang 
wie  der  erste  ins  Tal.  Hier  war  meine  Vorhut  aufgestellt,  und 
von  hier  aus  sollte  im  entscheidenden  Augenblick  der  Angriff 
unserer  Kolonnen  stattfinden.  Die  linke  Flanke  des  Feindes  aber 
stützte  sich  auf  einen  sehr  steilen  Abhang,  der  ins  Tal  nach  der 
Richtung  der  Straße  von  Schumla  abfiel.  Auf  der  Ebene  vor 
diesem  ersten  Abhang  mußte  von  der  Avantgarde  die  Schlacht 
begonnen  und  so  lange  gehalten  werden,  bis  die  Ankunft  des 
Pahlenschen  Korps  auf  seiner  Position,  im  Angesicht  des  Feindes 
das  Signal  zum  allgemeinen  Angriff  gab.  Daß  Pahlen  auf  der 
Straße  nach  Schumla  gleichzeitig  mit  unseren  Kolonnen  erschien, 
sollte,  wie  ich  berechnete,  Entsetzen  und  Verzweiflung  beim  Feinde 
erregen  und  ihm  die  Niederlage  früher  bringen  als  die  tödlichen 
Geschosse  unserer  vortrefflichen  Artillerie. 

Der  schwache  Strahl  von  Hoffnung  auf  Erfolg  bei  der  er- 
warteten Niederlage*)  verschwand  aus  dem  Antlitz  der  mich  um- 
gebenden Generale  meiner  Suite,  als  bei  der  von  der  Avantgarde 
begonnenen  Schlacht  neue  türkische  Scharen  sich  unaufhörlich,  wie 
ein  Wasserfall,  oben  von  der  ungeheuren  Ebene  hinab  ins  Tal  des 
Schlachtfeldes  stürzten,  die  Karrees  unserer  Infanterie  sprengend 
und  fast  vernichtend,  wobei  wir  einige  Kanonen  verloren.  Das 
Blut  strömte  mir  zum  Herzen,  als  ich  unsere  Verluste  sah.  Durch 
eine  krampfhafte  Bewegung  suchte  ich  meine  Gefühle  zu  verbergen 
und  mit  unbeschreiblicher  Ungeduld  erwartete  ich  die  Meldung 
vom  Eintreffen  des  Grafen  Pahlen  und  ermunterte  die  kleine  Schar 


*)  se.  beim  Kampf  der  Vorhut. 

2V 


324  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

der  weichenden  Avantgarde  durch  Hoffnung  auf  baldigen  Erfolg. 
Der  Kampf  im  ersten  Tal  hörte  auf,  der  Feind  zog  die  Truppen, 
die  im  Kampf  gewesen  waren,  zu  sich  auf  das  obere  Plateau. 

Nach  Beendigung  der  Hauptschlacht  erfuhr  ich  von  einigen 
Türken,  daß  der  Wesir  um  diese  Zeit  einen  Kriegsrat  versammelt«, 
•  um  darüber  zu  entscheiden,  ob  er  eine  Schlacht  mit  uns  auf- 
nehmen solle  oder  nicht.  Denn  das  Gerücht  war  zu  ihm  gedrungen, 
daß  unsere  ganze  Armee  von  Silistria  her  hier  erschienen  sei.  Aber 
er  wollte  es  nicht  glauben  und  entschloß  sich  deshalb  nicht  zum 
Rückzug,  der  noch  möglich  war.  Da  trafen  neue  Eilboten  bei 
ihm  ein,  welche  die  Richtigkeit  der  früheren  Meldungen  bestätigten, 
und  schließlich  sah  er  selbst  an  mehreren  Stellen  unsere  Kolonnen,  die 
von  verschiedenen  Richtungen  her  einem  Mittelpunkt  zustrebten. 
Erstaunen  und  ein  Vorgefühl  seines  Unglücks  bewältigten  ihn  nun, 
wie  die  gefangenen  Offiziere  erzählten,  vollständig.  Er  verstummte 
einige  Augenblicke,  dann  gab  er  den  Befehl  sich  zu  verteidigen. 
Verwirrung  und  Unordnung  übertrugen  sich  auf  das  ganze  türkische 
Heer,  das,  in  dichten  Scharen  im  Zentrum  zusammengedrängt, 
unseren  AngriiT  erwartete.  Gerade  um  die  Zeit  erhielt  ich  vom 
Grafen  Pahlen  die  lange  erwartete  Nachricht,  und  da  ich  sah,  daß 
meine  übrigen  Kolonnen  sich  näherten,  gab  ich  sofort  den  Befehl  das 
Feld  zu  besetzen,  auf  dem  die  Avantgarde  ihre  Schlacht  geschlagen 
hatte.  General  Arnoldi  bat  ihm  die  Disposition  und  Wirkung 
unserer  Artillerie  anzuvertrauen. 

Durch  das  Fernrohr  ließ  sich  erkennen,  daß  unter  den  Türken 
Unentschlossenheit  und  Verwirrung  herrschte;  die  ersten  Granaten, 
die  General  Arnoldi  warf,  ließen  mehrere  Pulverkasten  mitten  im 
dichten  Haufen  der  Muselmänner  explodieren.  Diese  glücklichen 
Schüsse  und  die  Nachricht,  daß  ein  Korps  unserer  Truppen  die 
Straße  nach  Schumla  auf  der  linken  Flanke  des  Feindes  besetzt 
habe,  führte  zu  völliger  Bestürzung  und  Verwirrung;  weitere  gleich 
glückliche  Kanonenschüsse  und  Granaten,  das  laute  Hurra  unserer 
tapferen  Truppen,  von  dem  an  verschiedenen  Stellen  des  Tales  die 
Luft  erdröhnte,  bewirkten,  daß  jeder  Widerstand  der  Türken 
aufhörte.  Entsetzen  ergriff  sie  alle.  Einige  Schüsse,  die  ohne 
Schaden  anzurichten  g^en  uns  gerichtet  wurden,  waren  die  letzten 
Zeichen  ihres  Widerstandes.  Die  ganze  Armee  ergriff  ohne  jede 
Ordnung  die  Flucht.  Das  Knattern  unseres  Gewehrfeuers  aus  dem 
Gebüsch,  das  die  Stellung  des  Feindes  umgab,  die  Siegesrufe  unserer 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  325 

Soldaten,  das  Auftaachen  der  Massen  unserer  Kolonnen  an  den 
flachen  Abhängen  unseres  linken  Flügels  mit  fliegenden  Fahnen 
und  Musik  um  das  obere  Plateau  zu  besetzen,  verdoppelte  die 
Eile  der  Türken  aus  ihrer  Position  zu  entkommen.  Sie  ließen 
alles  zurück:  Kanonen,  Munitionskasten,  Zelte,  Waffen  aller  Art, 
den  ganzen  Train.  Die  Türken  wandten  ihre  Flucht  in  die  Wälder 
des  Balkans,  die  hinter  ihnen  lagen,  in  einer  halben  Stunde  war 
das  obere  Plateau  von  unseren  Truppen  besetzt,  die  im  Halbdunkel 
des  Abends  die  dort  zurückgebliebenen  Türken  niederhieben,  bis 
endlich  die  Nacht  dem  entsetzlichen  Blutvergießen  ein  Ende  machte. 
So  wurde  der  glänzendste  Sieg,  dessen  ich  Zeuge  gewesen  bin,  dank 
meiner  strategischen  Berechnungen  gewonnen.  Dieser  Sieg,  der 
uns,  abgesehen  von  den  Verlusten  der  Avantgarde,  fast  kein  einziges 
Opfer  kostete,  gewann  mir  das  Vertrauen  meiner  Generale  und 
meiner  Soldaten  zurück  .  .  .  ."  ^). 

Ziehen  wir  auch  in  Betracht,  daß  wir  hier  nur  ein  Idealbild 
der  Schlacht  haben,   deren   strategischen  Grundgedanken  Diebitsch 

0  Vergleiche  Moltke  S.  321  if.,  der  die  hier  von  Diebitsch  dargelegten 
strategischen  Gedanken  seines  Schlachtenplanes  trefflich  kombiniert  hat. 
Diebitsch  gibt  gleichsam  ein  Idealbild.  Wie  die  Schlacht  einem  Teilnehmer 
erschien,  zeigt  die  Anlage,  die  namentlich  die  in  der  Erzählung  Diebitschs 
übergangenen  Verdienste  Tolls  sehr  nachdrücklich  hervorhebt.  Für  die  Vor- 
geschichte ist  der  Bericht  Staffs  in  der  Anlage  zu  vergleichen.  An  der  Schlacht 
bei  Kulewtschi  nahmen  teil: 

Die  Avantgarde  unter  Generalmajor  Omtroschtscbenko 

3.  Brigade  der  6.  Infanteriedivision 2002  Mann 

Irkutsker  Ilusarenregiment 550      „ 

Leichte  3.  Kompagnie  der  9.  Artilleriebrigade 114      „ 

Reitende  3.  Kompagnie  mit  4  Geschützen 84      „ 

Corps  de  Bataille: 
1.  und  2.  Brigade  der  5.  Infanteriedivision •    •   •    4<'759      „ 

1.  Brigade  und  Koporsches  Infanterieregiment  der  6.  Division    .    3,127      „ 

2.  Husarendivision 1,851      „ 

Batterie  Nr.  1  und  leichte  Nr.  2  Kompagnie  der  5.  Artilleriebrigade  279  „ 
Batterie  Nr.  1  und  leichte  Nr.  2  Kompagnie  der  9.  Artilleriebrigade  235  „ 
Reitende  Batterie  Nr.  19  Kompagnie 199      „ 

4  Geschütze  der  reitenden  Batterie  Nr.  3 84      „ 

Summa  18,767  Mann,  52  Geschütze. 
Reserve  der  Schlachtlinie: 
16.  und  18.  Infanteriedivision  mit  Artillerie 9,215  Mann 

3.  Husarendivision  mit  reitender  Artilleriekompagnie  Nr.  6     .    .     2270      „ 

Summa  1 1 ,485  Mann. 


326  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

mit  so  UDvergleichlicher  Klarheit  exponiert,  so  wird  doch  auch  die 
schärfste  an  der  Ausführang  geübte  Kritik  —  und  allerdings  haben 
allerlei  Menschlichkeiten  mitgaspielt  —  die  Bedeutung  des  Tages  von 
Kulewtschi  nicht  herabsetzen  können.  Es  war  das  entscheidende 
Ereignis  des  Feldzuges,  und  alles  was  folgte,  eine  notwendige  Kon- 
sequenz, wenn  man  die  besonderen  Eigentümlichkeiten  der  krieg- 
führenden Parteien  mit  in  Anschlag  bringt.  Die  Niederlage  traf 
zumeist  den  Sultan;  sein  Stolz  und  seine  Hoffnung,  die  regulären 
Truppen,  an  deren  Heranbildung  er  so  ungeheure  Opfer  gesetzt 
hatte,  waren  zur  Hälfte,  wenn  auch  nicht  vernichtet,  so  doch  zer- 
sprengt und  demoralisiert,  und  dem  gebotenen  Fatalismus  der 
Türken  mußte  der  Gedanke  nahe  treten,  daß  vielleicht  zur  Strafe 
der  Sünden  ihres  Herrn,  der  von  dem  alten  Herkommen  abgefallen 
war  und  die  vielhundertjährige  sicherste  Stütze  der  Türkei,  das 
Korps  der  Janitscharen,  auf  grausame  Weise  vernichtet  hatte,  Allah 
dem  Feinde  den  Sieg  beschieden  habe.  Dann  aber  war  ja  jeder 
Widerstand  Torheit.  Schon  am  Tage  nach  der  Schlacht  brachte 
General  Roth,  der  unterwegs  nach  Marasch  war,  einer  Abteilung 
türkischer  Kavallerie,  die  1500 — 2000  Mann  stark  war,  eine  völlige 
Niederlage  bei,  die  für  die  Türken  mit  dem  Verlust  von  12  Fahnen 
und  16  Geschützen  verbunden  war,  der  Großwesir  aber,  dem 
Diebitsch  gestattete,  die  in  Kulewtschi  Gefallenen  zu  begraben, 
benutzte  die  Gelegenheit,  um  durch  seinen  Sekretär  Andeutungen 
zu  machen,  die  den  Wunsch  erkennen  ließen,  Verhandlungen  über 
einen  möglichen  Friedensschluß  anzuknüpfen.  Aber  obgleich  Die- 
bitsch den  Geheimrat  Fonton  mit  einem  höchst  liebenswürdig  ge- 
haltenen Brief  nach  Schumla  schickte  und  die  Türken  durch  Fonton 
von  den  Bedingungen  unterrichtet  wurden,  unter  denen  Rußland 
bereit  sei,  Frieden  zu  schließen  *),  erfolgte  weiter  keine  Antwort. 
Offenbar  waren  aus  Konstantinopel  Nachrichten  über  die  Stimmung 
des  Sultans  eingelaufen,  die  den  Beginn  von  Verhandlungen  nicht 


Nach  den  Daten  des  Stabes  von  Toll. 

Ein  interessanter  summarischer  Bericht  von  der  Schlacht  bei  Kulewtschi 
aus  der  Feder  Bolotows,  der  beim  Stabe  des  Generalquartiermeisters  erst  bei 
Krassowski  vor  Silistria  war,  am  11.  Juni  aber  in  gleicher  Stellung  unter 
Pahlen  stand,  findet  sich  in  der  Zeitschrift  „Altes  und  neues  Rußland''  1877 
Nr.  9.  Brief  an  seine  Eltern  vom  18.  Juni,  also  unmittelbar  nach  der  Schlacht. 
Beim  Obergang  über  den  Balkan  wurde  er  zu  Roth  kommandiert 

')  Siehe  die  Anlage. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  327 

ratsam  erscheinen  ließen.  Dagegen  trafen  von  General  Geismar 
günstige  Nachrichten  ein.  Er  hatte  im  Laufe  des  Winters  aus 
Walachen  und  Griechen  sieben  Bataillone  Infaoterie  und  350  Mann 
Kavallerie  formiert  und  mit  ihnen  die  wichtigsten  Punkte  an  der 
Denan  besetzt.  Am  9.  Juni  überschritt  er  auf  einer  schwimmen- 
den Brücke  den  Strom  und  umlagerte  Rahowa,  das  er  erst  beschoß 
und  dann  mit  Sturm  unter  verhältnismäßig  geringen  Verlusten 
nahm.  Damit  war  die  Verbindung  zw^ischen  Widdin  und  Nikopoli 
für  die  Türken  unterbrochen,  was  von  großer  Wichtigkeit  war. 
Silistria  hoflfte  Diebitsch  etwas  optimistisch  am  22.  Juni  spätestens 
zu  Fall  zu  bringen,  und  danach  wollte  er  gleich  den  Übergang  über 
den  Balkan  vorbereiten.  Die  Kapitulation  erfolgte  jedoch  erst  am 
30.,  als  Krassowski  sich  anschickte,  die  Festung  zu  stürmen. 
Mehmed  Pascha  von  Adrianopel,  der  die  eigentliche  Seele  der 
hartnäckigen  Verteidigung  Silistrias  gewesen  war,  und  drei  an- 
gesehene Bürger  der  Stadt  wurden  den  Russen  bis  zum  Einzug  ihrer 
Truppen  als  Geiseln  übergeben.  Dieser  Einzug  fand  am  1.  Juli 
statt.  10000  Gefangene,  220  Geschütze  und  80  Fahnen  wurden 
Krassowski  übergeben.  Auch  dieser  bedeutsame  Erfolg  war  der 
Schlacht  von  Kulewtschi  zu  danken.  Am  7.  Juli  schickte  Diebitsch, 
der  seit  dem  21.  Juni  vor  Schumla  lag,  dem  Kaiser  die  Schlüssel  von 
Silistria.  Das  Schreiben,  das  diese  Sendung  begleitete,  legte  auch 
den  Plan  dar,  den  Diebitsch  und  Toll  für  den  Übergang  über  den 
Balkan  ausgearbeitet  hatten.  Diebitsch  mußte  den  Beginn  des 
Ausmarsches  etwas  verzögern,  weil  Krassowski  erklärte,  erst  am 
10.  Juli  von  Silistria  abziehen  zu  können.  Er  sollte  die  Beobach- 
tung Schumlas  übernehmen  und  dadurch  Diebitsch  die  Möglichkeit 
bieten,  unbemerkt  vom  Großwesir  seinen  Abmarsch  von  Schumla 
zu  vollziehen.  Reschid  Pascha  war  nämlich  der  festen  Überzeugung, 
daß  das  nächste  Unternehmen  des  Feindes  die  Umschließung  und 
Belagerung  von  Schumla  sein  werde,  und  zog  von  allen  Seiten  her 
Truppen  heran,  auch  aus  Burgas  und  Aldos,  was  die  Ausführung 
des  Überganges  über  den  Balkan  ungemein  erleichtern  mußte. 

Diebitschs  Dispositionen  waren  nun  die  folgenden:  Sobald  die 
sehnlichst  erwartete  3.  Husarendivision  eintrifft,  marschiert  General 
Roth  mit  der  16.  Infanteriedivision  nach  Dewno  und  zieht  dort  die 
Regimenter  der  7.  Division  an  sich.  Mit  der  4.  Division  Ulanen 
bildet  diese  Abteilung  das  6.  Armeekorps  und  den  linken  Flügel  des 
zum  Balkanübergang  bestimmten  Heeres. 


328  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

Den  rechten  Flügel,  der  aus  der  18.  Infanteriedivision,  den 
Jägern  der  19.  Division  und  drei  Kosakenregimentern  zusammen- 
gesetzt wird,  führt  General  Rüdiger  über  Markowitschi  nach  Pravody. 
Beide,  Roth  und  Rüdiger,  beginnen  ihren  Abmarsch  in  der 
Nacht. 

Nach  der  Ankunft  Krassowskis  (dem  er  noch  eine  Husaren- 
brigade abgibt)  zieht  Graf  Pahlen,  ebenfalls  nachts,  nach  Jenibazar 
und  bildet  dort  die  Reserve,  um  jeden  gefährdeten  Punkt,  sobald 
die  Umstände  es  verlangen,  zu  unterstützen.  Dieser  Reserve  schließt 
sich  der  Oberkommandierende  zunächst  an. 

Krassowskis  Aufgabe  ist,  mit  fünf  Infanteriebrigaden  des 
3.  Korps  und  mit  fünf  Brigaden  Kavallerie  (Husaren  und  Ulanen) 
einen  bis  zwei  Tage  vor  Schumla  zu  bleiben,  d.  b.  bis  Roth  den 
Paß  von  Derwisch  Kioi  und  Rüdiger  den  Paß  von  Köprikioi  besetzt 
haben.  Wenn  an  diesem  Tage  der  Großwesir  nichts  unternimmt, 
soll  Pahlen  am  folgenden  Tage  nach  Dewno,  und  wenn  möglich, 
nach  Hassansaklar  gehen,  in  derselben  Nacht  aber  Krassowski  nach 
Jenibazar  abmarschieren  und  dort  eine  ihm  angegebene  Position 
einnehmen. 

Bei  Köprikioi  läßt  Rüdiger  die  Jäger  der  19.  Division  in  ver- 
schanzter Stellung  zurück  und  geht  selbst  über  Derwisch  Kioi  nach 
Aiwadschik  vor.  Roth  eilt  möglichst  rasch  der  Küste  zu  und  kann 
am  20.  Juli  bei  Monastyr  Kioi  am  südlichen  Fuß  des  Balkans 
stehen.  Dort  soll  er  sich  befestigen,  oder  mit  Hilfe  der  Flotte 
Misiwri  nehmen. 

Sollte  wider  Erwarten  der  Großwesir  hinter  Krassowski  her- 
ziehen, so  eilt  Diebitsch  mit  dem  2.  Korps  zur  Unterstützung  heran; 
wenn  dagegen  Reschid  Pascha  gleichfalls  den  Balkan  überschreitet, 
um  vor  den  Russen  in  Aidos  einzutreflfen,  so  folgt  das  2.  Korps 
ohne  Zögerung  den  Kolonnen  von  Roth  und  Rüdiger,  so  daß  sich 
jenseit  des  Balkans  40000  Mann,  davon  28000  Infanterie,  ver- 
einigen. Krassowski  aber  zieht  inzwischen  gegen  Schumla,  um 
womöglich  dem  Großwesir  die  Straße  durch  Eski  Stambul  zu 
sperren  oder  aber  ihn  zu  nötigen,  beträchtliche  Streitkräfte  in 
Schumla  zurückzulassen. 

Das  war  der  sorgfältig  durchdachte  Plan  Diebitschs.  Den 
Gedanken  Truppen  in  Burgas  zu  landen  hatte  er  aufgegeben;  ein- 
mal, weil  die  bulgarischen  Häfen,  die  man  zur  Einschiflfung  hätte 
benutzen  müssen,  von  der  Pest  verseucht  waren,  dann  aber,  weil 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  329 

er  es  für  bedeDklich  hielt,  Greigh  von  der  BeobachtuDg  der  türki- 
schen Flotte  abzuziehen  0* 

Aber  der  Aufbrach  -der  russischen  Armee  verzögerte  sich,  weil 
Krassowski  bis  zum  15.  Juli  in  Silistria  blieb  und  dann  immer 
größere  Scharen  regulärer  Truppen  dem  Großwesir  zuzogen.  So 
blieb  Diebitsch  bis  zum  18.  Juli  abends  mit  Krassowski  vor  Schumla 
liegen,  dann  aber  marschierte  er  mit  dem  Pahlenschen  Keservekorps 
direkt  auf  Dewno  zu,  da  der  starke  Zuzug,  den  der  Großwesir  aus 
dem  südöstlichen  Bulgarien  erhalten  hatte,  es  unwahrscheinlich 
machte,  daß  Roth  und  Rüdiger  auf  erheblichen  Widerstand  stoßen 
könnten.  Es  war,  abgesehen  von  der  Verspätung  Krassowskis  und 
von  der  furchtbar  zunehmenden  Pest,  die  aber  zunächst  die  aktive 
Armee  nicht  traf,  alles  nach  Wunsch  gegangen.  Am  11.  Juli  hatte 
Rüdiger  noch  ein  erfolgreiches  Kavalleriegefecht  bei  Marasch  gegen 
3000  türkische  Reiter  bestanden,  die  erwarteten  Reserven  trafen 
glücklich  ein,  am  14.  war  Roth,  am  15.  in  aller  Frühe  Rüdiger 
aufgebrochen,  ohne  daß  in  Schumla  das  geringste  geargwöhnt  wurde. 
Der  Großwesir  war  nach  wie  vor  der  Überzeugung,  daß  er  die 
russische  Hauptarmee  vor  sich  habe.  Auch  daß  Krassowski  sich 
auf  Jenibazar  zurückzog,  machte  ihn  nicht  irre. 

Unter  den  günstigsten  Auspizien  wurde  so  der  Übergang  über 
den  Balkan  begonnen. 

Wir  halten  hier  einen  Augenblick  inne,  um  uns  über  die 
wesentlichen  Ereignisse  zu  orientieren,  die  sich  inzwischen  auf  dem 
asiatischen  Kriegsschauplatze  abgespielt  hatten'). 

Paskiewitsch  hatte  durch  die  Erfolge  seiner  Kampagne  gegen 
die  Perser  und  durch  die  Schnelligkeit  und  Energie,  mit  der  er 
den  Feldzug  des  Jahres  1828  gegen  die  Türken  geführt  hatte,  im 
Kaukasus  und  sogar  in  den  anstoßenden  türkischen  und  peraischen 
Gebieten,  die  von  tatsächlich  unabhängigen  Stämmen  bewohnt 
wurden,  nicht  nur  großen  Ruhm,  sondern  auch  eine  gewisse 
Popularität  erworben.  Es  war  entschieden  vorteilhaft,  mit  dem 
„rassischen  Serdar"  in  Freundschaft  oder  gar  in  Bündnis  zu  stehen, 
denn    Sieg    und    Beute   lockten   unter  seine  Fahnen.      Schon    am 


0  Brief  Diebitscbs  au   den  Kaiser    aus  dem   Lager  von  Schumla,   den 


l.m^  »829. 


^)  Schtscherbatow:  Geoeralfeldmarschall  Graf  Paskiewitsch  Bd.  III,  Kap. 
4—6,  und  Baeyer,  Hauptmauu  im  Generalstabe:  Feldzug  der  Russen  in  Asien, 
1828—29.     Manuskript.     Archiv  des  Generalstabes  in  Berlin. 


330  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

8.  Januar  1829  hatten  die  letzten  russi^ichen  Truppen  den  persischen 
Boden  geräumt,  und  es  schien,  daß  von  Persien  nichts  zu  furchten 
sei,  als  die  Ermordung  Gribojedows  in  Teheran  plötzlich  eine  neue 
höchst  unbequeme  Krisis  heraufbeschwor.  Es  ist  gewiß  der  festen 
Haltung  Paskiewitschs  zu  danken,  daß,  wie  wir  bereits  gesehen 
haben,  Fet  Ali  sich  bereit  fand,  die  von  ihm  verlangte  Sühne  zu 
leisten').  Zum  Kommandanten  der  Truppen  an  der  persischen 
Linie  wurde  Generalmajor  Fürst  Tschawtschawadse  ernannt,  der 
zugleich  stellvertretender  Gebietsbefehlshaber  in  Armenien  war. 
Diese  Territorien  blieben  während  des  Jahres  1829  friedfertig. 
Noch  wichtiger  aber  war  es,  daß  der  General  der  Kavallerie  Emanuel 
es  vermochte,  nicht  nur  die  an  Anapa  grenzenden  Stämme  zur 
Stellung  von  Geiseln  zu  bewegen,  sondern  auch  Daghestaner  und 
Lesghier  zur  Anerkennung  der  russischen  Oberhoheit,  die  letzteren 
sogar  zur  Stellung  eines  kleinen  Hilfskorps  gegen  die  Türken  zu 
veranlassen.  Überhaupt  hat  Paskiewitsch  1829  auch  mit  musel- 
männischen Truppen  operieren  können'),  was  sich  wohl  aus  alten 
Stammesfeindschaften  und  daraus  erklärt,  daß  der  Sultan  seit  Ver- 
nichtung der  Janitscharen  als  Neuerer  verrufen  war.  Wie  im  vorigen 
Jahre  sollte  auch  diesmal  Gumri  der  Punkt  sein,  von  dem  die 
russischen  Operationen  ausgingen.  Paskiewitsch  schätzte  die  türki- 
schen Truppen,  die  ihm  gegenübertreten  würden,  auf  80 — 100000 
Mann,  auch  erwartete  er,  daß  ein  Versuch  zur  Wiedereroberung 
von  Kars  erfolgen  werde. 

Wie  es  seiner  Natur  entsprach,  war  er  entschlossen  den  Türken 
zuvorzukommen  und  durch  schnelle  und  nachdrückliche  Schläge 
dem  Feinde  seine  Feldzugspläne  zunichte  zu  machen.  Dennoch 
ist  es  den  Türken  gelungen,  ihn  zu  überraschen.  In  den  ersten 
Tagen  des  März  erhielt  Paskiewitsch  die  Meldung,  daß  Achaizych 
von  türkischen  Truppen  belagert  werde.  Achmed  Beg  von  Adschar, 
dem  für  den  Erfolg  das  Paschalik  von  Achaizych  versprochen  worden 

')  Nesselrode  war  mit  der  stolzen  Haltung  des  Generals  keineswegs  ein- 
verstanden und  fürchtete,  daß  ein  persisch- türkisches  Bündnis  die  Folge  sein 
werde.  Auch  haben  persisch -türkische  Verhandlungen  über  Abschluß  eines 
Bündnisses  allerdings  stattgefunden,  aber  gerade  die  Festigkeit  des  russischen 
Feldherrn  hat  die  Verwirklichung  dieser  Plane  unmöglich  gemacht  Schreiben 
Nesselrodes  aus  Warschau,  11.  Mai  1829.  Schtscherbatow  1.  I.  Anlage  2  zu 
Kapitel  4. 

^)  Aus  Karabagh  wurden  vier  Reiterregimenter  organisiert,  in  ganz 
Guryan  eine  muselmännische  Landwehr,  die  sich  gut  bewährte. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  331 

war,  hatte  sich  in  der  Nacht  auf  den  4.  März  der  Vorstädte  der 
Festung  bemächtigt  und  auch  gleich  den  Versuch  gemacht,  die 
Zitadelle  mit  Sturm  zu  nehmen.  Als  das  dank  der  tapferen  Ver- 
teidigung des  Fürsten  Bebutow  mißglückte,  begann  er  eine  mit 
großer  Energie  geführte  reguläre  Belagerung.  Nun  hatte  Paskiewitsch 
zwar,  sobald  er  von  diesen  Dingen  erfuhr,  den  General  Murawjew 
beauftragt,  Bebutow  zu  entsetzen;  es  vergingen  aber  gegen  14  Tage, 
ehe  er  eintreffen  konnte.  Achmed  bedrängte  inzwischen  die  Festung 
durch  ein  starkes  Bombardement,  versuchte  ihr  das  Wasser  abzu- 
schneiden und  legte  drei  Minen  an,  deren  Sprengung  einem  erneuten 
Sturm  vorhergehen  sollte.  Am  13.  und  danach  peremptorisch  am 
14.  forderte  er  die  Russen  auf,  zu  kapitulieren,  teilte  ihnen  aber 
dabei  mit,  daß  sein  Bruder  die  russischen  Entsatztruppen  in  den 
Klüften  von  Borshom  geschlagen  habe.  Aber  gerade  das  ermutigte 
Bebutow,  obgleich  die  Pest  in  Achalzych  ausgebrochen  war,  zum 
Ausharren.  Er  hatte  bisher  daran  gezweifelt,  daß  Paskiewitsch 
von  seiner  Not  erfahren  habe,  daß  aber  russische  Truppen  vor 
Türken  zurückweichen  könnten,  glaubte  niemand.  So  wies  er  jede 
Verhandlung  ab,  die  Türken  aber  stürmten  nicht,  und  in  der  Nacht 
vom  16.  auf  den  17.  merkte  Bebutow,  daß  sie  eilig  ihr  Lager  ab- 
brachen. Er  richtete  sofort  alle  Geschütze  der  Festung  auf  die 
Weichenden  und  machte  am  17.  in  aller  Frühe  einen  Ausfall  mit 
fünf  Kompagnien  Infanterie  und  zwei  Kanonen.  Doch  schon  zwei  Werst 
hinter  der  Stadt  kehrte  er  um.  Er  hatte  zwei  Kanonen  erobert 
und  75  Gefangene  gemacht,  war  aber  zu  schwach,  um  sich  weiter 
zu  wagen.  Wenige  Stunden  später  rückte  die  Vorhut  Murawjews 
in  Achalzych  ein.  Sie  hatte  sich  unter  steten  Kämpfen  den  Weg 
durch  den  tiefen  Schnee  der  Berge  bahnen  müssen.  Auch  der 
Pascha  von  Trapezunt  hatte  an  der  Wiedereroberung  von  Achalzych 
teilnehmen  wollen,  aber  der  General  Hesse  erstürmte  nach  heftigem 
Kampf  sein  Lager  und  überließ  die  gesamte  Beute  den  Milizen 
aus  Guriel,  die  mehr  als  die  Hälfte  seines  kleinen  Heeres  bildeten; 
als  dann  Anfang  Mai  Achmed  von  Adschar  abermals  einen  Versuch 
machte,  in  das  von  den  Russen  okkupierte  Gebiet  einzudringen, 
wurden  die  5000  Mann,  über  die  er  gebot,  von  Oberst  Burzow 
geschlagen  und  zerstreut.  Das  war  der  rühmliche  Anfang  der 
Kampagne  von  1829. 

Paskiewitsch  war  um  diese  Zeit  noch  in  Tiflis;  er  wollte  das 
Ende  der  Frühlingsstürme  abwarten  und  den   durch  die  Schnee- 


332  Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

schmelze  zu  reißenden  Strömen  angeschwollenen  Gebirgsbäcben 
Zeit  lassen^  in  ihr  gewohntes  Bett  zurückzukehren.  Auch  war 
er,  wie  immer,  mit  größter  Sorgfalt  bemüht,  die  Verproviantierung 
des  Heeres  zu  sichern.  Am  28.  Mai  war  er  so  weit,  seine  AngrilTs- 
bewegung  beginnen  zu  können.  Er  traf  am  31.  Mai  aus  Tiflis 
im  Lager  der  Brigade  Murawjew  ein  und  am  3.  Juni  marschierte 
er  mit  ihr  auf  Ardahan  zu.  Als  seine  Rekognoszierungen  ergaben, 
daß  der  Feind  in  den  Adscharischen  Bergen  ein  festes  Lager  bezogen 
hatte,  beauftragte  er  den  Generalmajor  Burzow,  sich  dem  Feinde 
80  zu  nähern,  daß  dieser  die  verhältnismäßig  schwache  russische 
Abteilung  angriflf,  die  Burzows  Vorhut  bildete,  während  inzwischen 
General  Murawjew  den  Feind  von  Ardahan  aus  umgehen  und  ihm 
in  den  Rücken  fallen  sollte.  Dieser  Plan,  der  ähnlich  fast  in  allen 
Schlachten  dieses  Feldzuges  wiederkehrt,  ist  dann  auch  glücklich 
ausgeführt  worden.  Die  Türkon  stiegen  von  ihren  Höhen  ins  Tal 
hinab  und  kämpften  fünf  Stunden  lang  gegen  die  drei  Kompagnien 
und  vier  Geschütze,  die  ihnen  als  Vorhut  Burzows  beim  Engpaß 
von  Pozchan  gegenüberstanden.  Als  aber  gegen  Abend  Burzow 
mit  seinem  ganzen  Detachement  in  den  Kampf  eingriff  und 
Murawjew  im  Rücken  der  Türken  erschien,  zogen  sie  sich  eilig 
auf  ihr  Lager  zurück.  Aber  die  Russen  ließen  ihnen  keine  Zeit 
zu  ruhiger  Überlegung.  Noch  in  der  Nacht  vom  14.  auf  den 
15.  Juni  erstürmten  die  nunmehr  vereinigten  Truppen  von  Burzow 
und  Murawjew  das  Lager  und  sprengten  den  Feind  nach  allen 
Richtungen  auseinander.  Er  hatte  1200  Verwundete  und  Tote, 
400  Gefangene  und  das  Lager  mit  vier  Geschützen,  dem  Kamel- 
transport und  großen  Vorräten  an  Proviant  verloren  ^). 

Dieser  Erfolg  war  um  so  bedeutsamer,  als  die  Niederlage  den 
Stabschef  des  Seraskiers,  Kegia  Beg  getroffen  hatte*).  Paskiewitsch, 
der  inzwischen  gegen  Kars  vorrückte,  befahl  Murawjew  und  Burzow 
sich  sofort  wieder  mit  ihm  zu  vereinigen.  Am  23.  Juni  hatte  er 
12700  Mann  Infanterie,  6000  Reiter  und  60  Geschütze  beisammen. 
Er  hatte  die   Nachricht  erhalten,   daß  der  Seraskier  von  Erzerum 


0  Bericht  Paskiewitscbs  an  den  Kaiser.  6./18.  Juni  1829.  Schtscher- 
batow  III,  S.  181. 

'0  In  dem  erbeuteten  Lager  waren  Papiere  gefunden  worden,  welche  die 
Verhandlungen  zwischen  Persern  und  Türken  betrafen,  und  Briefe,  die  Achmet 
Beg  des  Verrats  beschuldigten.  Paskiewitsch  schickte  sie  Achmet  zu.  Schtscher- 
batow  1. 1. 


Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  3^3 

mit  30000  Mann  und  52  Geschützen  gegen  ihn  anrücke.  Am  26. 
brach  nun  Paskiewitsch  sein  Lager  ab  *),  am  28.  entdeckten  seine 
Patrouillen  ein  großes  türkisches  Lager.  Eine  forcierte  Rekogno- 
szierung, die  Oberst  Fredericks  mit  Glück  und  Geschick  ausführte, 
zeigte,  daß  es  unmöglich  war,  das  Lager  in  der  Front  und  auf  dem 
linken  Flügel  anzugreifen,  und  so  entschloß  sich  Paskiewitsch  zu 
einer  überaus  beschwerlichen  und  kühnen  Umgehung  des  Feindes. 
Das  türkische  Lager,  in  dem  Hagki  Pascha  den  Oberbefehl  führte, 
war  8  Werst  von  seinen  Kommunikationen  entfernt,  er  selbst 
aber  mußte  sich  30  Werst  von  ihnen  entfernen,  im  ganzen  einen 
Marsch  von  50  Werst  zurücklegen  und  dabei  einen  Troß  von  3000 
Wagen  mit  sich  führen,  auf  schlechtesten  Wegen,  über  zwei  Berg- 
rücken, die  von  tiefen  Schluchten  durchschnitten  waren,  immer  in 
der  Gefahr,  daß  Kücken  und  Flanke  ihm  vom  Feinde  bedroht 
würden.  Aber  auch  diesmal  glückte  das  Wagestück.  Er  lenkte 
die  Aufmerksamkeit  Hagki  Paschas  auf  den  von  General  Pankrat- 
jew  geführten  linken  Flügel  ab,  überschritt  ohne  bemerkt  und  be- 
hindert zu  werden,  am  1.  Juli  den  Hauptabhang  des  Bergrückens, 
und  nachdem  gegen  Mittag  Pankratjew  sich  wieder  mit  ihm  ver- 
einigt hatte,  befand  sich  die  ganze  Streitmacht  Paskiewitschs  in  dem 
welligen  Tal  von  Kain-Li,  das  sich  etwa  fünf  Werst  weit  aus- 
dehnte und  durch  eine  am  Fuß  eines  Berges  abfallende  Schlucht 
begrenzt  wurde.  Um  1  Uhr  traf  Paskiewitsch  seine  Dispositionen: 
Die  Verteidigung  des  Gepäcks  wurde  General  Pankratjew  zugewiesen, 
der  zugleich  den  Feind  beobachten  und  ihn  verhindern  sollte,  die 
linke  Flanke  der  Russen  anzugreifen.  Zu  dem  Zweck  sollte  er  den 
Generalmajor  Burzow  mit  zwei  Bataillonen  Infanterie,  zwei  Regimen- 
tern Kavallerie  und  12  Geschützen  so  weit  vorschicken,  daß  er  den 
linken  Flügel  der  Armee  bildete.  Im  ganzen  gebot  Pankratjew  über 
7  Bataillone  Infanterie,  drei  Regimenter  Kavallerie  und  24  Geschütze. 
General  Murawjew  wurde  im  Tal  aufgestellt  mit  sechs  Ba- 
taillonen Infanterie,  zwei  Regimentern  Kosaken  und  20  Geschützen. 
Zu  seiner  Unterstützung  waren  drei  Bataillone  Jäger,  das  achte 
Pionierbataillon,  vier  Regimenter  Kosaken  und  20  Kanonen  be- 
stimmt '). 


>)  Eine  Schlacht  unter  dem  Schutz  der  Mauern  von  Kars  anzunehmen 
war  nicht  möglich,  weil  die  Pest  in  der  Stadt  wütete.  Paskiewitsch  hatte  sein 
Lager  bei  Kotanli,  25  Werst  von  Kars,  aufgeschlagen. 

^)  Nach  Baeyer.     Schtscherbatow  berichtet  summarisch. 


334  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

Als   nun  Paskiewitsch   una    1   Uhr   gegen   den  Feind  vorging, 
wartete  dieser  den  Angriff  nicht  ab,  sondern  stürzte  sich  auf  den 
rechten  Flügel  der  Russen,  und  obgleich  einmal  durch  das  furcht- 
bare Feuer  der  russischen  Batterien  zurückgeworfen,  drangen  immer 
neue  Scharen  türkischer  Reiter  vor,  so  daß  sie  schließlich  einen 
Halbkreis  um  die  russische  Stellung  bildeten  und  sich    besonders 
ihrem  linken  Flügel  näherten.    Sie  suchten  den  Generalmajor  Burzow 
zu  umgehen  und   ihm  in  den  Rücken  zu  fallen.     Es   wurde  von 
ihnen  mit  bewunderungswürdiger  Tapferkeit  gefochten,  und  nur  müh- 
sam konnten  die  Karrees  der  russischen  Bataillone  sie  abwehren. 
Ihre  Stellung  begann  bereits  kritisch  zu  werden,  als  Paskiewitsch 
durch  ein  geniales  Manöver  mit  einem  Schlage  eine  neue  Wendung 
herbeiführte').     Er  ließ  vier  halbe  Bataillone  Infanterie  und  acht 
Kanonen  seines  Zentrums  eine  halbe  Schwenkung  rechts   machen 
und    durch   die  so  entstandene  Öffnung  von  seiner  gesamten  Ar- 
tillerie ein  furchtbares  Feuer  gegen  das  türkische  Zentrum  eröffnen. 
Er  wollte  den  Feind  gleichsam  spalten  und  die  eine  Hälfte  links 
über  die  steilen  Berge  und  Schluchten  nach  dem  acht  Werst  weiter 
aufwärts  liegenden   Lager  Hagki   Paschas  treiben,  die   andern    auf 
die  Höhen  rechts  jagen.    Trotz  aller  Tapferkeit  der  Türken  mußten 
sie  schließlich  vor  dem  entsetzlichen  Feuer,  wie  Paskiewitsch  wollte, 
rechts  und  links  weichen,  und  nun  warf  er  ihnen  in  zwei  Abtei- 
lungen, von  denen  General  Rajewski  den   linken   Flügel,  General 
Osten -Sacken    den  rechten    angriflf,    seine   gesamte  Kavallerie    auf 
die  Fersen.     Dem  stark   bedrängten  Generalmajor  Burzow  wurden 
der  General  Murawjew  und  der  von  Pankratjew  detachierte  General- 
major Ssergejew    zu  Hilfe  geschickt.     Ein  durchschlagender  Erfolg 
wurde  jedoch  nicht  erreicht,    da  Sacken  wegen  der  Moräste   und 
Schluchten,   die    er    passieren    mußte,  nicht   rechtzeitig   eingreifen 
konnte,  und  so  begannen  die  Türken  sich  wieder  zu  sammeln.    Die 
einen  kehrten  links  in  ihr  Lager  zurück,  die  anderen  fanden  sich 
auf  einer  Höhe  gegenüber  dem  russischen  Zentrum  zusammen  und 
verschanzten   sich    dort.     Um  diese  Zeit  —  es  war  4  Uhr  nach- 
mittags —  erfuhr  Paskiewitsch  durch  einen  gefangenen  türkischen 
Offizier,  daß  auf  eben  dieser  Höhe   der  Seraskier  sich   befinde;   er 
sei  mit  seiner  Avantgarde  tags   zuvor   eingetroffen  und  habe  sein 
Lager,  12-15000  Mann  stark,  in  der  Nähe.     Seine  übrigen  Truppen 


*)  Baeyer  1. 1. 


Kapitel  IX.    Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  335 

träfen  rasch  Dacheioander  ein.     Auch  erwarte  er  noch  eine   Ver- 
stärkung von  20000  Mann  aus  Erzerum. 

Um  die  drohende  Vereinigung  des  Seraskiers  mit  Hagki  Pascha 
zu  verhindern,  beschloß  Paskiewitsch  nun  sofort  anzugreifen.  „Ich 
darf",  schreibt  er  in  dem  von  diesem  Tage  datierten  Bericht 
dem  Kaiser,  „nicht  zögern.  Denn  lasse  ich  einen  Tag  hingehen, 
so  stiehlt  sich  der  Seraskier  fort,  vereinigt  sich  mit  Ilagki  Pascha 
und  ich  werde  von  einer  Armee  von  50000  Mann  in  der  Front, 
von  der  Flanke  her  und  im  Rücken  angegriffen"  ').  Kaum  hatte 
der  Kiaja  sein  Lager  erreicht,  so  ließ  Paskiewitsch  die  verfolgenden 
Truppen  zurückrufen  und  bildete  in  der  Schlucht  eine  Kolonne 
von  8  Bataillonen  Infanterie,  8  Regimentern  Kavallerie  und  40  Ge- 
schützen. 

Auf  den  Höhen  gegenüber  dem  Lager  ließ  er  den  Generalmajor 
Pankratjew  mit  6  Bataillonen  Infanterie,  2  Kosakenregimentern 
und  16  leichten  Geschützen  zurück.  Er  war  beauftragt,  während 
des  30.  Juni  den  Feind  in  der  Vorstellung  zu  erhalten,  daß  er  ihn 
angreifen  wolle.  Paskiewitsch  aber  marschierte  mittlerweile  mit  der 
ganzen  Armee  auf  das  Lager  des  Seraskiers  zu.  Hagki  Pascha 
wurde  völlig  getäuscht,  er  blieb  ohne  etwas  zu  unternehmen  in 
seinem  Lager.  In  der  Nacht  vom  30.  Juni  auf  den  1.  Juli  verließ 
auch  Pankratjew  seine  Stellung.  Er  hatte,  um  den  Feind  zu  tauschen, 
weithin  Lagerfeuer  brennen  lassen  und  konnte  sich  unbehindert  am 
1.  gegen  Mittag  mit  der  Hauptarmee  vereinigen.  In  drei  Kolonnen 
erfolgte  nun  der  Angriff  auf  das  Lager  des  Seraskiers,  der  völlig 
überrascht  wurde  und  dessen  Truppen,  sobald  sie  sich  umgangen 
sahen,  in  die  Berge  zurückzuweichen  begannen.  Als  die  Russen 
die  Höhen  erstiegen  hattten,  war  in  kurzer  Zeit  der  lahme  Wider- 
stand des  Feindes  gebrochen.  Paskiewitsch  hatte  seine  Infanterie 
selbst  unter  Trommelschlag  zum  Sturm  geführt.  In  wilder  Flucht 
gaben  die  Türken  ihr  Lager  preis,  von  der  russischen  Kavallerie 
bis  9  IThr  abends,  30  Werst  weit,  verfolgt.  Die  Armee  des  Seras- 
kiers war  damit  zersprengt.  300  Gefangene,  12  Kanonen,  3  Fahnen 
fielen  in  die  Hände  Paskiewitschs.  Es  wird  ihm  stets  zum  Ruhm 
gereichen,  daß  er  sich  mit  diesem  Erfolge  nicht  begnügte,  sondern 
die  Gunst  der  Stunde,  trotz  der  ungeheuren  Anstrengungen,  die  er 
seinen  Truppen  zugemutet  hatte,  zu  nützen  verstand.     Er  schlug 


')  Schtscherbatow  I.  1.  187. 


336  Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829. 

sein  Biwak  an  der  Stelle  auf,  wo  die  Straßen  sich  vereinigen,  die 
vom  Lager  Hagki  Paschas  in  das  Dorf  Zewina  führten.  Dieser 
Punkt  lag  nur  15  Werst  vom  Lager  Hagki  Paschas  entfernt,  und 
die  Russen  standen  durch  Okkupierung  des  Tales  von  Zewina 
bereits  im  Rücken  des  Feindes.  Mit  dem  ersten  Morgengrauen  auf- 
brechend, erreichte  Paskiewitsch  am  2.  Juli  bereits  um  9  Uhr  früh 
die  Höhen  im  Rücken  des  Lagers  von  Hagki  Pascha.  Als  dieser 
den  Feind  in  Schlachtordnung  sah,  schien  er  zunächst  entschlossen 
den  Kampf  aufzunehmen.  Mit  einer  Batterie  von  3  Kanonen  be- 
schoß er  die  russische  Stellung.  Während  nun  Paskiewitsch  noch 
auf  das  Eintreflfen  von  Burzow  wartete,  um  seinen  Angriff  zu  be- 
ginnen, erfuhr  er  von  einem  gefangenen  türkischen  Offizier,  daß 
Hagki  Pascha  noch  nichts  von  der  Niederlage  des  Seraskiers  wußte. 
Man  gab  dem  Manne  die  Freiheit,  und  von  ihm  erfuhr  nun  der 
Pascha,  daß  Paskiewitschs  ganzes  Heer  in  seinem  Rücken  stand, 
und  daß  auf  Verstärkungen  nach  der  Niederlage  des  Seraskiers 
nicht  mehr  zu  rechnen  sei.  Das  nahm  ihm  den  Mut.  Er  sah 
weder  die  Möglichkeit  zum  Rückzuge  noch  zum  Widerstände  und 
ließ  durch  denselben  Offizier  Paskiewitsch  erklären,  daß  er  bereit 
sei,  sich  mit  seinem  Korps  zu  ergeben.  Das  wurde  ihm  bewilligt, 
vorausgesetzt,  daß  alle  Truppen  ihre  Waffen  niederlegten  und 
aus  dem  Lager  ins  Tal  hinabstiegen.  Aber  bevor  noch  diese 
Autwort  ins  türkische  Lager  gelangte,  hatte  dort  eine  Sinnes- 
änderung stattgefunden.  Die  türkischen  Geschütze  erneuerten  ihr 
Feuer  auf  die  russische  Stellung,  und  nun  rückte  Paskiewitsch 
ohne  Zögern  zum  Angriff  vor,  in  fünf  Kolonnen,  wobei  er  selbst 
unter  Trommelschlag  die  Hauptkolonne  gegen  das  feindliche  Lager 
führte.  Pankratjew  führte  die  zweite  Kolonne  mit  dem  Auftrage  die 
linke  Flanke  des  Feindes  zu  umgehen,  um  ihm  den  schon  von  einigen 
Truppenteilen  begonnenen  Rückzug  durch  den  Wald  und  die  Berge 
abzuschneiden;  drei  andere  Kolonnen,  unter  Sacken,  Murawjew  und 
Leonow,  besetzten  die  Straßen  die  einen  Ausweg  bieten  konnten, 
und  drangen  von  dort  in  die  Verschanzungen  der  Türken.  Pas- 
kiewitschs Heerestoil  erreichte  zuerst  das  Lager  und  bemächtigte 
sich  der  noch  rauchenden  Geschütze.  Hagki  Pascha  mit  seinem 
ganzen  Stabe  wurde  gefangengenommen*).  Die  Türken  verloren 
19  Geschütze,  16  Fahnen,  das  Lager  mit  allen  Vorräten  und  sämt- 
lichem  Kriegsmaterial,    gegen   3000  Tote,    1500  Verwundete,    der 

')  Vom  Oberstleutuant  Werselin. 


Kapitel  IX.     Diplomatie  und  Krieg  bis  zum  Juli  1829.  337 

Rest  war  in  wilder  Flucht  auseinander  gestoben.  Es  war  ein  un- 
geheurer Erfolg.  Binnen  24  Stunden  hatte  Paskiewitsch  bei 
Kain  Li  den  Seraskier,  bei  Millehdusu  (russisch  Milidjus)  Hagki 
Pascha  geschlagen.  Zunächst  hatten  die  Türken  ihm  keine  weitere 
Armee  entgegenzustellen.  Er  konnte  daran  denken,  die  Fruchte 
seiner  Siege  zu  pflücken. 

Die  bei  Hassan  Kaleh  stehenden  Truppen  liefen,  als  Paskiewitsch 
sich  am  4.  Juli  der  Stadt  näherte,  auseinander,  und  der  Pascha  der 
Festung  ergriflf  mit  seinen  Schätzen  die  Flucht  in  das  nahegelegene 
Erzerum;  Paskiewitsch  fand  die  Tore  von  Hassan  Kaleh  offen  als 
er  um  9  Uhr  abends  dort  eintraf.  29  Geschütze,  ein  Pulvermagazin 
und  große  Vorräte  fielen  ihm  zu.  Bei  der  sofort  aufgenommenen 
Verfolgung  des  Paschas  wurden  ihm  noch  50  armenische  Familien 
und  2000  Stück  Vieh  abgejagt.  Das  für  uneinnehmbar  gehaltene 
Erzerum  mit  seinen  150  Geschützen  kapitulierte  am  7.  Juli  nach 
kurzem  Geschützkampf,  als  Paskiewitsch  Anstalten  traf,  die 
Festung  zu  stürmen.  Der  Seraskier  und  vier  Paschas  wurden 
seine  Gefangenen,  nur  einer  Abteilung  von  7000  Reitern  gelang  es, 
sich  durch  die  Flucht  zu  retten. 

Es  waren  in  der  Tat  glänzende  Erfolge,  und  man  durfte 
sie  wohl  denen  Diebitschs  mindestens  an  die  Seite  stellen,  bei 
Abwägung  der  Leistung  des  Feldherrn  sie  wohl  noch  höher 
einschätzen.  Paskiewitsch  hatte  keinen  Mißgriff  gemacht,  keine 
Stunde  verloren,  keine  Gunst,  die  der  Augenblick  bot,  unbe- 
nutzt gelassen.  Die  Schrecknisse  des  Balkanüberganges  waren 
Phantome  gewesen,  die  Abgründe  und  Bergriesen  in  den  Quell- 
gebieten des  Aras  und  Euphrat  Realitäten,  die  von  der  eisernen 
Energie  Paskiewitschs  überwunden  wurden.  Auch  ihm  war  in 
der  Pest  der  gefährlichste  aller  Feinde  erstanden  —  aber  er  hatte 
durch  kluge  Vorsichtsmaßregeln  seine  Truppen  ihr  fast  ganz  zu 
entziehen  verstanden.  Vor  allem  aber,  er  war  auch  sein  eigener 
Stabschef  gewesen,  soweit  das  überhaupt  möglich  ist.  Seine  Kom- 
binationen sind  alle  sein  Eigentum;  wir  w^erden  aber  wohl  niemals 
feststellen  können,  wie  groß  der  Anteil  ist,  der  Toll  an  den  Er- 
folgen Diebitschs  zukommt.  Trotz  alledem  treten  aber  Paskiewitschs 
Erfolge  an  historisch-politischer  Bedeutung  weit  hinter  denen 
Diebitschs  zurück.  Die  Entscheidung  des  F^eldzugs  lag  nicht  in 
Asien,  sondern  in  Europa,  nicht  vor  Erzerum,  sondern  vor  den 
Toren  Konstantinopels.  

Schiemann,  Geschichte  Rußlands.    II.  22 


338  Kapitel  X.     Der  Übergang  über  den  Balkan  usw. 

Kapitel  X.    Der  Übergang  über  den  Balkan  und  der  Friede 

von  AdrianopeL 

Kurz  Dachdein  der  Kaiser  aus  Berlin  nach  Warschau  zurück- 
gekehrt war,  traf  auch  Major  Staflf  vonReitzenstein  aus  dem  Hauptquar- 
tier Diebitschs  dort  ein.  Er  war  Träger  eines  mündlichen  Auftrags 
des  Grafen  an  den  Kaiser,  der  in  der  offiziellen  Korrespondenz 
keinen  Ausdruck  gefunden  hat,  aber  uns  zeigt,  wie  hoch  der  Flug 
war,  den  der  politische  und  militärische  Ehrgeiz  Diebitschs  ge- 
nommen hatte,  und  wie  unbefangen  er,  ohne  jede  Rücksicht  auf 
alle  politischen  Tugendprinzipien,  mit  denen  der  Türkenkrieg  ein- 
geleitet worden  war,  die  Gunst  der  Lage  zu  benutzen  wünschte. 
Sein  Gedanke  war,  sich  mit  Mustafa  Pascha  von  Skodra  von  Al- 
banien^), der  mit  30000  Mann  in  Nissa  stand,  zu  verbinden. 
Vereinigte  sich  Mustafa  mit  einem  Teil  der  russischen  Avantgarde 
und  half  er  mit  dem  Rest  seiner  Truppen  Schumla  blockieren, 
schloß  sich  die  christliche  Bevölkerung  in  Serbien  und  Bulgarien, 
die  nur  der  Erlaubnis  harrte,  den  Russen  au,  und  wurde  Diebitsch 
ermächtigt,  ihnen  eine  Garantie  gegen  die  spätere  Räche  der  Türken 
zu  geben,  so  könne  er  „dem  Skandal  der  Türkenherrschaft"  endlich 
ein  Ende  machen.  Von  England  sei  nichts  zu  fürchten,  die  englische 
Botschaft  in  Konstantiuopel  sei  mit  dem  allmächtigen  Chosrew 
Pascha')  brouilliert,  und  England  habe  bestimmt  erklärt,  es  könne  im 
Lauf  dieses  Jahres  nichts  für  die  Pforte  tun.  Canitz  und  Guilleminot 
seien  zwar  plötzlich  türkisch  gesinnt  geworden,  aber  Diebitsch 
schätzte  ihren  Einfluß  nur  gering  ein.  Major  von  StafT  solle  ihm 
die  Genehmigung  des  Kaisers  bringen,  ungehindert  zu  agieren,  dann 
wolle  er  den  Balkan  überschreiten  und  StaflT  könne  ihn  noch  vor 
Adrianopel  einholen,  um  mit  ihm  in  Stambul  einzurücken! 

Als  StaiT  mit  diesen  Aufträgen  in  Warschau  eintraf,  war  die 
Siegesnachricht  von  Kulewtschi  noch  nicht  bekannt.  Der  Kaiser 
war  in  Berlin  auf  die  von  Frankreich  drohenden  Gefahren  auf- 
merksam gemacht  worden  und  zu  kühnen  Unternehmungen  wenig 
geneigt.  Er  wiederholte,  daß  er  selbst  im  Falle  der  Vernichtung 
des    türkischen  Reiches    nicht    eine  Spanne    breit  Landes  für  sich 

')  „Ein  alter  Janitschar  und  eifriger  Gegner  der  Reform,  (er)  stand  in 
naher  Verbindung  mit  den  aufrührerischen  ßosniaken.*'  Moltke  1.  I.  372. 
Die  Mission  Staflfs  von  Reitzenstein  ist  ihm  nicht  bekannt  geworden.  Auch 
Panzer  und  Wildermeth  wurden  nicht  in  das  Geheimnis  eingeweiht. 

^)  Dem  Günstling  des  Sultans. 


Kapitel  X.    Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  339 

habeu  wolle,  und  daß  Konstaniinopel  eine  freie  Handelsstadt  unter 
gemeinsamem  Schutze  werden  solle.  Alles  übrige  solle  ein  Kongreß 
bestimmen,  der  die  früheren  Verträge  zur  Basis  behalten  könne. 
Auf  die  Frage  der  Revolutionierung  der  Slaven  und  Albaner  ging 
er  nicht  ein.  Der  Großfürst  Konstantin  aber  meinte,  Diebitsch 
müßte  ganz  verrückt  geworden  sein,  wenn  er  den  Balkan  über- 
schreiten wollte.  Er  freute  sich,  daß  „seine  Polen''  dieser  Tollheit 
nicht  zum  Opfer  gebracht  würden.  Auch  in  Berlin  haben  Diebitschs 
Gedanken  nur  erschreckt,  vor  allem  BernstorfT,  der  mehr  als  je 
sich  im  Metternichschen  Fahrwasser  bewegte.  Staff  wurde  nicht 
in  das  russische  Hauptquartier  zurückgeschickt,  und  damit  waren 
auch  Diebitschs  Pläne  gescheitert').  Es  blieb  bei  der  Mission 
Müfflings,  der  doch  die  kleinmutige  Stimmung  der  ersten  Warschauer 
und  der  Berliner  Tage  zugrunde  lag. 

Aber,  wie  Nessolrode  dem  Grafen  Diebitsch  schrieb,  seit 
Kulewtschi  und  Silistria  hatte  sich  die  Gesamtlage  geändert,  die 
Haltung  der  Mächte,  die  Gemütsstimmung  des  Kaisers,  der  nun- 
mehr den  kühnsten  Plänen  zugänglich  wurde  und  zeitweilig  die 
noch  zu  überwindenden  großen  Schwierigkeiten  kaum  zu  beachten 
schien,  war  günstig,  auch  der  ängstliche  Nesselrode  wurde  kühn  und 
gab  Diebitsch  völlig  freie  Hand.    Bei  ihm  liege  die  Entscheidung'). 

Der  Kaiser  aber'  reiste  nach  Tultschin,  wo  der  Großfürst 
Michail  mit  den  Garden  stand,  und  hatte  die  Freude,  daß  die 
Musterung  erwies,  wie  völlig  diese  Elite-  und  Paradetruppe  sich 
von  den  Beschwerden  des  letzten  Feldzuges  erholt  hatte.  Er  war 
fest  entschlossen,  sie  nicht  zum  zweitenmal  der  demoralisierenden 
Wirkung  des  Krieges  auszusetzen,  wohl  aber  sollte  Diebitsch  an 
Reservetruppen  erhalten,  was  sich  sonst  irgend  aufbringen  ließ. 
In  Kiew,  Koscelsk,  Bobriusk  besichtigte  er  die  für  die  Kampagne 
bestimmten  Truppen;  wie  immer  unermüdlich  tätig,  aber  ohne  sich 

^)  Staff  I.  I.  „Wie  mir  befohlen  war,  meldete  ich  Diebitsch  bloß  mit 
russischer  Kuriergelegenheit,  daß  die  Verhältnisse  mir  nicht  gestatteten  zu 
ihm  zurückzukehren.  Ich  woßte,  daß  er  daraus  lesen  maßte,  man  wolle  nichts 
für  seine  Pläne  tun.  Weiteres  zu  schreiben  hätte  aber  meine  Dienstpflicht 
verletzt".    Siehe  die  Anlage. 

^  Nesselrode  an  Diebitsch,  3.  August  1829.  Wojenno  Utschenny  Archiv 
5329.  «Toutes  les  questions  sont  entre  vos  mains,  vous  resoudrez  seul  celle 
de  la  Grece,  comme  vous  imposerez  ä  la  Porte  les  conditions  que  reclament 
nos  interets  directs  ....  Depuis  la  bataille  de  Eoulevtscha  et  la  prise  de 
Silistria  les  choses  ont  chang4  de  tout  en  tout  ....'* 

22» 


340  Kapitel  X.    Der_ObergaDg  über  den  Balkan  usw. 

die  Zeit  zu  gönDen,  die  für  einen  Einblick  in  die  ungeschminkte 
Wirklichkeit  nun  einmal  unerläßlich  ist.  In  Kiew,  wo  er  sich 
(den  Abend  der  Ankunft  als  vollen  Tag  angerechnet)  drei  Tage 
aufhielt,  musterte  er  die  Reservebataillone  und  was  sonst  an 
Truppen  in  der  Stadt  war,  besuchte  zweimal  das  Uöhlenkloster, 
die  bedeutendsten  Kirchen,  die  städtischen  und  sonstigen  öffent- 
lichen Institute,  das  Arsenal,  die  Festungsarbeiten,  endlich  die 
türkischen  Gefangenen,  über  deren  Verhältnisse  er  genaue  Er- 
kundigungen einzog  und  die  er  beschenkte.  „Für  alle  diese  Be- 
sichtigungen", schreibt  Benkendorff*),  „bei  denen  doch  viele  Be- 
fehle über  Veränderungen  und  Verbesserungen  erteilt  wurden,  ge- 
nügten ihm  bei  seiner  stets  gleichen  Tätigkeit  zwei  Tage,  obgleich 
er  die  laufenden  Geschäfte  dabei  nicht  im  geringsten  aufhielt. 
Die  während  der  Reise  des  Kaisers  täglich  aus  Petersburg  oder 
von  der  Armee  eintreflfenden  Kuriere  wurden  in  derselben  Nacht 
wieder  abgefertigt.  Der  Kaiser  ging  nicht  vor  3  Uhr  nachts  zu 
Bett,  um  alle  eingelaufenen  Papiere  ohne  jede  Ausnahme  erledigen 
zu  können.  So  wurden  die  Berichte  des  Reichsrats,  des  iMinister- 
komitees,  der  Ministerien  des  Auswärtigen,  des  Krieges  und  der 
Finanzen  so  pünktlich  erledigt,  als  ob  er  in  Petersburg  wäre  und 
frei  über  seine  Zeit  verfügen  könne.  Außerdem  schrieb  er  täglich 
der  Kaiserin  lange  Brieie,  las  die  Bericht^  über  die  Gesundheit 
und  über  den  Unterricht  der  Kinder,  durchblätterte  die  Zeitungen 
und  durchflog  dazu  häufig  noch  die  neu  erschienenen  Bücher  in 
russischer  und  französischer  Sprache."  Es  liegt  auf  der  Hand, 
daß  dabei  ein  wirkliches  Eindringen  in  die  Fragen,  die  seiner 
Entscheidung  vorgelegt  wurden,  nicht  möglich  war.  Wie  schreck- 
liche Dinge  trotz  dieser  redlichen  Absicht,  alles  persönlich  zum 
Rechten  zu  führen,  ohne  sein  Wissen  geschehen  konnten,  hatte 
kurz  vorher  ein  Aufstand  in  den  Tschugujewschen  Militärkolouien 
gezeigt,  der  infolge  der  Unfähigkeit  der  nächst  berufenen  Autoritäten 
vom  Militär  blutig  niedergeschlagen  werden  mußte  und  die  in 
solchen  Fällen  üblichen  Exekutionen  durch  Knutenstrafen  nach  sich 
gezogen  hatte').  Man  verstand  es  jedoch  diese  böse  Sache  so 
geheim  zu  halten,  daß  in  den  Berichten  der  ausländischen  Ge- 
sandten,  die  sich   dergleichen  schwer  entgehen  ließen,   keine  Spur 

1)  Russkaja  Starina,  1896  Juliheft  S.  19. 

^  Siehe    deu    untertänigen   Bericht    des  Grafen   Tscbernyschew  an   den 
Kaiser  d.  d.  Petersb.  9./21.  Juni  1829.     W.  U.  A.  Nr.  649. 


Kapitel  X.     Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  341 

voD  ihr  zu  findea  ist.  Wir  wissen  aber'),  daß  der  Kaiser  gleich 
nach  seiner  Rückkehr  in  die  Residenz  eine  Reihe  von  Maßregeln 
traf,  um  das  Schicksal  der  Militärkolonisten  einigermaßen  zu  er- 
leichtern. Zur  Aufhebung  der  Kolonien  aber  vermochte  er  sich 
nicht  zu  entschließen,  weil  das  in  die  Bauten  gesteckte  Kapital 
eine  ungeheuere  Summe  darstellte,  auch  der  Zeitpunkt  ihm  nicht 
geeignet  erscheinen  mochte;  erst  spätere  und  weit  schwerere  Er- 
fahrungen sollten  ihn  dazu  führen.  Am  25.  Juli  kehrte  er  nach 
Petersburg  zurück.  Er  hatte  kurz  vorher,  bei  Narva  die  aus 
Berlin  heimkehrende  Kaiserin  überraschen  können.  Wenige  Tage 
danach  erfuhr  er,  daß  Diebitsch  in  der  Nacht  auf  den  16.  mit 
Krassowski  von  Enshikioi  hatte  aufbrechen  wollen'),  dann  blieb  er 
bis  zum  16.  August  ohne  alle  Nachrichten  vom  europäischen  Kriegs- 
schauplatze. Für  ihn  waren  es  Tage  höchster  Sorge  und  Unruhe; 
in  kritischen  Zeiten  pflegte  seine  Phantasie  zu  arbeiten  und  ihm 
erschreckende  Möglichkeiten  vorzuführen,  während  anderseits  der 
errungene  Erfolg  ihn  leicht  in  Überschätzung  des  Möglichen  über 
die  Grenzen  des  Erreichbaren  hinausführte.  In  diesen  Extremen 
hat  der  Kaiser  sich  während  des  ganzen  Verlaufs  seiner  Regierung 
bewegt. 

Mittlerweile  waren  auf  dem  Kriegsschau  platze  die  Operationen 
in  Angriff  genommen  worden,  welche  die  Entscheidung  bringen 
sollten.  Wir  erinnern  uns  der  Dispositionen,  die  Graf  Diebitsch 
getroffen  hatte,  um  den  Übergang  über  den  Balkan  zu  forcieren. 
Das  erste  ernste  Hindernis,  das  überwunden  werden  mußte,  war 
der  Übergang  über  den  reißenden  nur  auf  seltenen  Furten 
zu  passierenden  Kamtschyk.  General  Rüdiger,  der  den  rechten 
Flügel  der  Vorhut  bildete,  wurde  gegen  Kiöprikioi  dirigiert,  Roth 
war  beauftragt  den  unteren  Lauf  des  Flußes  zu  überschreiten. 

Sie  waren  unbemerkt  aufgebrochen,  und  ihre  freigewordenen 
Lagerstätten  vor  Schumla  hatten  die  Krassowskischen  Truppen  in 
aller  Stille  besetzt.  Erst  in  der  Nacht  vom  17.  auf  den  18.  Juli 
marschierten  auch  das  Krassowskische  Korps  und  die  Reserve  Pahlens 
nach  Jenibazar  ab,  ohne  dabei  vom  Großwesir  belästigt  zu  werden; 
er  begnügte  sich,  die  Vorposten  der  Kosaken  im  Auge  zu  behalten. 
Roth  und  Rüdiger  erreichten  inzwischen  den  Kamtschyk,  dessen 
rechtes  Ufer  die  Türken  befestigt  und  mit  Geschütz  besetzt  hatten. 

»)  Benkendorff  1. 1.  S.  21  und  22. 
^)  Es  geschah  erst  am  17. 


342  Kapitel  X.    Der  Übergang  über  den  Balkan  usw. 

Rüdiger  umgiDg  diese  Position  bei  Tschalamaly,  warf  eine  dort 
im  Lager  liegende  türkische  Abteilung  von  1000  Mann  und  über- 
schritt in  der  Nacht  auf  den  18.  den  Fluß,  so  daß  er  am  19.  im 
Rücken  der  Hauptposition  der  Türken,  Kiöprikioi,  stand.  Der 
Kommandant  Jussuf,  Pascha  von  zwei  Roßschweifen,  stellte  sich 
zwar  in  Schlachtordnung  den  Russen  gegenüber,  ergriff  aber  die 
Flucht,  als  sie  unter  Trommelschlag  ohne  einen  Schuß  abzu- 
geben gegen  ihn  anruckten.  Rüdiger  verlor  nicht  einen  Mann 
und  nahm  nicht  nur  das  Lager  des  Feindes  ein,  sondern  gewann 
bei  der  Verfolgung  Jussufs  noch  vier  Kanonen.  Dann  ließ  er  in 
Kiöprikioi  eine  kleine  Besatzung  zurück  und  führte  seine  Kolonnen 
das  rechte  Ufer  des  Kamtschyk  entlang,  um,  wenn  nötig,  Roth  zu 
unterstützen.  Nun  hatte  der  von  Roth  kommandierte  linke  Flügel 
den  Kamtschyk  an  der  Stelle  erreicht,  wo  die  Straße  von  Varna 
nach  Burgas  ihn  schneidet.  Die  Türken  hatten,  wie  vor  Kiöprikioi, 
ihre  Befestigungen  am  rechten  Ufer  errichtet.  Es  kam  zu  einer 
heftigen  Kanonade,  und  Roth  entschloß  sich,  da  ein  Frontangriff 
bedeutende  Opfer  gekostet  hätte,  wie  Rüdiger  es  getan  hatte, 
die  Stellung  des  Feindes  zu  umgehen.  Er  ließ  einen  Teil  seiner 
Truppen  dem  Feinde  gegenüber  auf  dem  linken  Ufer  und  führte 
selbst  vierzehn  Bataillone  etwa  eine  Meile  stromaufwärts  nach 
Dnlgnew,  wo  er  zwar  ebenfalls  auf  türkische  Verschanzungen  stieß, 
aber  ohne  Geschütz.  Der  Übergang  über  den  Fluß  konnte  wegen 
der  schlechten  Wege  und  weil  vier  Brücken  über  die  Arme  des 
Kamtschyk  geschlagen  werden  mußten,  erst  am  19.  früh  erfolgen. 
Auch  hier  ergriff  der  Feind  sofort  die  Flucht,  und  Roth  ging  nun 
ohne  weiteren  Zeitverlust  gegen  Derwisch  Jowan,  das  Hauptlager 
der  Türken,  vor.  Sie  rückten  ihm  zwar  entgegen,  wurden  aber 
geworfen  und  ihre  Verschanzungen  mit  stürmender  Hand  genommen. 
Erst  jetzt  begann  der  eigentliche  Balkanübergang,  während  das 
Hauptquartier  mit  der  Reservearmee  Pahlens  über  Hassanlar  und 
Derwisch  Jowan  nachrückte. 

Die  Türken  waren  durch  das  überraschende  Erscheinen  der 
Russen  und  durch  ihre  Niederlagen  am  Kamtschyk  von  solcher 
Panik  ergriffen,  daß  weder  Roth  noch  Rüdiger  in  den  Bergen  auf 
Widerstand  stießen.  Sie  haben  den  Russen  nur  einmal  einen  der 
Pässe  streitig  zu  machen  gesucht.  Es  war  dieser  Balkanübergang 
ein  militärischer  Spaziergang  durch  Eichen-  und  Ahornwälder  auf 
meist  breiten  Straßen;   weder  durch  Engen  noch  durch  Schluchten 


Kapitel  X.    Der  Cbergaog  über  den  Balkan  usw.  343 

oder  durch  besonders  jähe  Abgründe  behindert,  erreichte  dielnvasions- 
armee  den  Kamm  des  Emineh  Balkan,  und  von  hier  aus  sahen  die 
Küssen  die  fruchtbaren  Ebenen  von  Rumili  vor  sich  liegen.  In  der  Ferne 
das  Meer,  auf  dem  die  russische  Flotte  sich  wiegte,  drei  Linienschiffe, 
mehrere  Fregatten  und  zahlreiche  schwer  beladene  Transport- 
schiffe. Admiral  Greigh  richtete,  wie  sich  deutlich  erkennen  ließ, 
seine  Geschütze  gegen  Misivri.  Auch  Sizeboli  am  Horizont 
und  näher  Burgas  und  Achiolos  waren  sichtbar.  Das  Zusammen- 
wirken von  Flotte  und  Armee  war  damit  gesichert  und  alle  Sorge 
um  eine  reguläre  Verpflegung  beseitigt. 

Es  ging  nun  rasch  bergab,  Rüdiger  auf  Erketsch,  General 
Roth  auf  das  Kap  Emineh  zu,  am  21.  Juli  hatte  auch  das  Haupt- 
quartier Aruautlar  erreicht.  Wir  verfolgen  den  Abstieg  nicht 
weiter,  er  ist  zu  glücklichem  Ende  geführt  worden.  Als  die  Russen 
aber  die  Ebene  erreicht  hatten,  schien  ihnen  ein  ernsterer  Kampf 
bevorzustehen.  Der  Seraskier  Abdul  Rahman,  Pascha  von  drei 
Roßschweifen,  dessen  Truppen  unter  Ali  und  Jussuf  am  Kamtschyk 
auseinander  gelaufen  waren,  hatte  die  Flüchtlinge  an  sich  heran- 
gezogen und  sich  durch  die  Garnisonen  von  Misivri,  Achiolos 
und  Burgas,  sowie  durch  das  Observationskorps  vor  Sizeboli  ver- 
stärkt, etwa  7000  Mann  stark  am  Ufer  des  Nadir  aufgestellt,  um 
die  Russen,  wenn  sie  bei  Monastyrkur  debouchierten,  zurückzu- 
werfen. Als  aber  General  Roth  sofort  zum  Angriff  überging, 
dauerte  der  Widerstand  des  Seraskiers  nur  wenige  Augenblicke. 
Roth  ließ  ihn  von  seinen  Kosaken,  den  Ulanen  und  der  reitenden 
Artillerie  10  Werst  weit  verfolgen  und  richtete  seine  Operationen  gegen 
Misivri,  wohin  ein  Teil  der  Türken  geflohen  war,  während  die 
anderen  sich,  so  viel  ihrer  übrig  waren,  nach  Burgas  gerettet  hatten. 
Misivri  kapitulierte^),  dann  fielen  mehrere  kleine  Ortschaften  dem 
General  Rüdiger  mit  reichen  Vorräten  in  d  ie  Hände.  Achiolos  und  Burgas 
ereilte  ruhmlos  das  gleiche  Schicksal.  Am  24.  konnte  Diebitsch 
dem  Admiral  Greigh  auf  seinem  Flagschiff  Paris  einen  Besuch  ab- 
statten. Es  war  dasselbe  Linienschiff,  von  dem  aus  der  Kaiser  im 
Oktober  1828  den  Fall  von  Varna  mit  angesehen  hatte.  Am25.Julischlug 
Diebitsch  überRumelikioi  den  Wog  nach  Aidos  ein;  hier  endlich  machte 
sich  der  Großwesir  fühlbar.    Er  hatte  vom  Übergang  der  Russen  über 


')  Die  Russen  erbeuteten  dabei  eine  Korvette  von  22  Kanonen,  die  ganz 
fertig  auf  dem  Stapel  gelassen  war.    Panzer  1. 1. 


344  Kapitel  X.    Der  Übergaog  über  den  Balkaa  usw. 

den  Kamtschyk  erst  erfahreo,  als  er  bereits  vollzogen  war.  .  Sein 
Hochmut  hatte  ihm  vorgespiegelt,  daß  Diebitsch  and  Krassowski 
ihre  beobachtende  Stellung  vor  Schumla  aufgegeben  hätten,  weil 
sie  daran  verzweifelten  dieStadt  zu  nehmen,  und  daß  sie  beabsichtigten 
zwischen  Jenibazar,  Pravodi  und  Varna  zu  kantonieren.  Wie  dann 
die  Wirklichkeit  sich  nicht  mehr  verkennen  ließ,  schickte  er  Ibrahim 
Pascha  mit  9  Regimentern  regulärer  Infanterie  und  je  1500  Mann 
regulärer  und  irregulärer  Kavallerie  gegen  Kiöprikioi.  Als 
aber  Ibrahim  sich  davon  überzeugen  mußte^  daß  der  Ort  gefallen 
sei,  blieb  er  erst  auf  der  Straße  nach  Aidos  stehen  und  ging  dann 
gegen  den  kleinen  Ort  vor.  Da  traf  ihn  die  neue  Hiobspost  von 
den  Niederlagen  am  Kamtschyk  und  vom  Fall  der  Festungen  am 
Golf  von  Burgas,  die  der  Seraskier  Abdurrahman  hatte  behaupten 
sollen.  Jede  Aussicht  auf  Verstärkung  war  ihm  damit  genommen. 
Es  war  immerhin  noch  ein  Rest  von  Selbstvertrauen,  daß  er  Aidos 
zu  retten  versuchte.  Aber  seine  10000  Mann  zeigten  sich  der 
weit  schwächeren  Abteilung  Rüdigers  nicht  gewachsen  ^).  Eine 
Niederlage,  die  in  wilde  Flucht  ausartete,  führte  die  Trümmer  des 
türkischen  Heeres  erst  nach  Karnabad,  dann  weiter  auf  die  Straße, 
die  nach  Adrianopel  führte.  So  wurde  auch  Aidos  russisch,  und 
Diebitsch  konnte  nunmehr  alle  Vorbereitungen  treffen,  um  in 
Adrianopel,  wie  er  hoffte,  den  entscheidenden  Schlag  zu  führen. 
Die  Verproviantierung  der  Armee  war  für  45  Tage  gesichert.  2000 
Kamele  folgten  dem  Heer,  ein  ungeheurer  Troß,  dazu  Herden  von 
Hornvieh  und  Hammeln  und  die  fliegenden  Magazine,  die  durch 
W^oronzow  aus  Odessa  versorgt  wurden.  Häufige  Regenfalle 
hatten  zudem  der  Kavallerie  das  Grünfutter  gesichert.  Schon  am 
30.  Juli  war  das  zweite  Korps  nach  Karnabad  aufgebrochen,  die 
Hauptbewegung  war  auf  Kirkilissa  gerichtet.  Diebitsch  setzte 
voraus,  daß  der  Feind  sich  in  Adrianopel  befestigen  werde,  und 
glaubte,  daß  sich  dort  die  Trümmer  der  geschlagenen  türkischen 
Heere,  vielleicht  auch  die  Garde  des  Sultans  zusammenfinden 
würden.  Verließ,  wie  er  hoffte,  der  Feind  Adrianopel,  um  ihm  in 
Lule-Burgas  zuvorzukommen,  so  wollte  er  ihn  in  offener  Feldschlacht 
vernichten. 


')  Rüdiger  hatte  8  schwache  Bataillone  mit  20  Geschützen,  2  Brigaden 
der  4.  Ulanendivision  und  2  schwache  Kosakenregimenter.  Diebitschs  Brief 
an  den  Kaiser  vom  18./30.  Juli.    1. 1. 


Kapitel  X.    Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  345 

Die  Dinge  sind  aber  doch  Dicht  so  einfach  verlaufen.  Diebitsch 
war  in  Sorge,  weil  die  letzterwarteten  Reserven  noch  immer  nicht 
eingetroffen  waren,  und  verzettelte  seine  kaum  25000  Mann  starke 
kleine  Armee  durch  Entsendungen.  Als  er  sein  Hauptquartier  in 
Aidos  hatte,  okkupierte  er  gleichzeitig  die  100  Werst  weite  Strecke 
von  Sisepolis  bis  Jamboli  und  die  fast  gleichlange  Strecke  von 
Tschenge  bis  Faki.  Es  war  ein  Glück,  daß  die  Türken  nicht 
wußten,  wie  schwach  der  Feind  war,  der  ihnen  gegenübei-stand  *). 
Sie  schätzten  Diebitschs  Macht  auf  80-  bis  100000  Mann,  und  die 
geschlagenen  Paschas  bestärkten  den  Sultan  in  dieser  Vorstellung, 
um  ihre  Köpfe  zu  retten.  So  konstruierten  sie  selbst  das  Phantom, 
vor  dessen  eingebildeter  Übermacht  ihre  Truppen  die  Flucht  er- 
griffen. Einmal  aber  hätte  die  zur  Tollkühnheit  gesteigerte  Ver- 
achtung, mit  der  die  Russen  ihren  türkischen  Gegner  angriffen, 
ohne  seiner  Zahl  zu  achten,  fast  eine  Katastrophe  herbeigeführt. 
Am  31.  Juli  wurde  General  Scheremetjew  aus  dem  vom  Feinde 
besetzten  Jamboli  hinausgeworfen,  er  hatte  mit  800  Mann  ein  Korps 
von  15000  Türken  angegriffen,  die  von  Krassowski  unbemerkt  aus 
Schumla  eingetroffen  waren.  Nur  die  Nacht  entzog  ihn  einer  Ver- 
folgung, der  er  unweigerlich  hätte  erliegen  müssen*).  Aber  die 
Türken  gaben,  offenbar  in  der  Vorstellung,  daß  hinter  Scheremet- 
jew jene  russische  Übermacht  herziehe,  die  nur  in  ihrer  Vor- 
stellung lebte,  in  eben  dieser  Nacht  Jamboli  mit  all  seinen  unge- 
heuren Vorräten  auf.  Die  Reiterei  jagte  nach  Schumla  zurück, 
und  die  Infanterie  schlug  die  Straße  nach  Adrianopel  ein.  Es  ist 
kein  Wunder,  daß  die  Russen  von  Erfolg  zu  Erfolg  schritten. 
Jamboli  wurde  von  Kosaken  besetzt,  Tschalikawak  im  Norden  und 
Kirkilissa  östlich  von  Adrianopel  waren  von  den  Türken  bereits 
geräumt,  als  Diebitsch  diese  Orte  durch  schwache  Abteilungen 
besetzen  ließ.  General  Krassowski  schlug  einen  Ausfall  des  Groß- 
wesirs aus  Schumla  siegreich  bei  Eski  Stambul  ab,  und  Diebitsch 
dachte  nun  daran,    seine  Macht  wieder  zu   konzentrieren.     Er  zog 


^)  „Wenn  die  Türken  nicht  ungeheure  Ochsen  wären  und  nicht  von  unserer 
Stärke  eine  ganz  falsche  Vorstellung  hätten,  so  würde  unsere  jetzige  Lage  uns 
teuer  zu  stehen  kommen.^'  Panzers  Tagebuch  1.  August  1829.  Archiv  des 
Generalstabes. 

O  Diebitsch  hat  dem  Kaiser  den  Hergang  so  dargestellt,  daß  dieser  für 
Scheremetjew  nur  Lob  übrig  hatte,  wie  denn  die  Korrespondenz  des  Ober- 
kommandierenden mehrfach  bemüht  ist,  kleine  Mißgriffe  zu  verdecken. 


346  Kapitel  X.    Der  C  bergaog  über  den  Balkan  usw. 

alle  Truppen  des  6.  and  7.  Korps  sowie  die  5.  Division  und  drei 
Husarenregimenter  unter  Pahlen  an  sich  und  marschierte  am 
10.  August  4  Uhr  morgens  von  Karnabat  auf  Sliwno  los,  wohin, 
wie  er  erfahren  hatte,  der  Sohn  des  Großwesirs  Hussein,  Pascha 
von  drei  Koßschweifen,  mit  einigen  tausend  Albanern  im  Anmarsch 
war.  AVährend  seine  Truppen  nach  anstrengendem  Marsch  ihre 
Mittagsrast  hielten,  traf  um  1  Uhr  von  Krassowski  ein  Kurier  ein, 
der  einen  Brief  des  Großwesirs  brachte.  Es  war  die  Antwort  auf 
den  Friedensantrag,  den  Diebitsch  ihm  gleich  nach  der  Schlacht 
bei  Kulewtschi  gemacht  hatte.  Der  Inhalt  sagte,  daß,  da  die  Bot- 
schafter von  England  und  Frankreich  nach  Konstantinopel  zurück- 
gekehrt, die  Frage  von  „Morea^  fast  erledigt  und  damit  der 
schwierigste  Punkt  der  russischen  Forderungen  erfüllt  sei,  er,  der 
Großwesir,  es  für  seine  Pflicht  halte,  einen  Waffenstillstand  vorzu- 
schlagen. Zugleich  bat  er,  ihm  anzugeben,  wohin  die  Kommissare, 
die  für  die  Verhandlung  bestimmt  seien,  sich  begeben  sollten. 
Obgleich  nun  im  russischen  Hauptquartier,  wo  alles  des  Krieges 
herzlich  satt  war^),  die  lebhafteste  Neigung  bestand,  dem  Groß- 
wesir entgegenzukommen,  wies  Diebitsch  doch  den  Gedanken, 
jetzt  mit  seinem  Vormarsch  innezuhalten,  mit  Entschiedenheit 
zurück.  Es  war,  wie  er  wohl  wußte,  für  ihn  eine  Lebensfrage, 
die  Türken  nicht  zu  ruhiger  Besinnung  kommen  zu  lassen.  So 
antwortete  er  denn,  daß,  da  er  erst  jetzt  auf  sein  Schreiben 
eine  Antwort  erhalte,  er  sich  für  das  vergossene  und  vielleicht 
noch  zu  vergießende  Blut  nicht  verantwortlich  fühle.  Das 
Schweigen  der  Türken  habe  ihn  genötigt,  den  Balkan  zu  über- 
schreiten; jetzt  seien  alle  Festungen  am  Meere  in  seiner  Hand,  seine 
Vorposten  ständen  vor  Adrianopel.  Seine  Pflicht  gestatte  ihm 
nicht,  stehen  zu  bleiben,  bevor  er  Garantien  in  Händen  habe.  Er 
werde  also  seinen  Marsch  fortsetzen.  Doch  sei  er  bereit,  in  Burgas, 
Achiolos  oder  in  einer  anderen  von  seinen  Truppen  besetzten  Stadt 
die  gewünschten  Verhandlungen  aufzunehmen. 

Diese  Antwort  wurde  durch  einen  russischen  Offizier  nach 
Sliwno  gebracht,  und  am  13.  August  in  der  Frühe  brach  Diebitsch  gegen 
diese  Stadt  auf.  Er  schnitt  dadurch  dem  Feinde  den  Weg  nach 
Kasan  ab,  während  Rüdiger  mit  der  gesamten  Kavallerie  und  28. 
Geschützen    der  Feldartillerie,    gegen  Jamboli    und   Jenisagra  vor- 


')  Panzer  1.  I. 


Kapitel  X.     Der  Übergang  aber  den  Balkan  usw.  347 

ging,  um  so  dem  Feinde  alle  Stra&en  mit  Ausnahme  des  von  un- 
zugänglichen Bergen  umgebenen  Tales  von  Kasanlyk  zu  sperren. 
Auch  hier  ist  die  Niederlage  der  Türken  bald  entschieden  worden. 
Einige  Kanonenschüsse  Rüdigers  warfen  die  feindliche  Kavallerie, 
die  schnell  hinter  die  verschanzte  Infanterie  zurückwich.  Gegen  diese 
Verschanzungen  richtete  sich  darauf  das  Feuer  der  russischen  Feld- 
artillerie, während  gleichzeitig  Diebitsch  seine  Infanterie  <;egen 
die  Stadt  vorgehen  ließ.  Es  waren  die  18.  Division  und  die 
13.  Jäger,  die  am  Tage  vorher  50  Werst  zurückgelegt  und  in  drei 
Tagen  zweimal  den  Hauptkamm  des  Balkans  überschritten  hatten. 
Jetzt  rückten  sie  im  Laufschritt  an,  und  der  schon  durch  das 
Geschützfeuer  in  Unordnung  geratene  Feind  verlor  nun  allen  Halt. 
Die  Paschas  gaben  selbst  das  Signal  zur  Flucht,  und  alles  drängte 
auf  die  Bergstraße  nach  Kasanlyk  zu,  verfolgt  von  Roths  Infanterie, 
die  ihre  Ranzen  abgeworfen  hatte,  sowie  von  Kosaken  und  Ulanen 
in  wilder  Jagd.  Inzwischen  aber  stürzte  sich  die  ganze  christliche 
Bevölkerung  von  Sliwno,  von  den  Russen  nicht  gestört,  auf  das 
türkische  Lager,  um  es  zu  plündern.  Diebitsch  hat,  als  er  in 
Sliwno  einrückte,  dort  einen  feierlichen  Gottesdienst  abgehalten, 
der  mit  einer  Weihe  des  Wassers  verbunden  wurde,  eine  Zeremonie, 
die,  wie  die  Bulgaren  versicherten,  seit  400  Jahren  bei  ihnen  nicht 
stattgefunden  hatte. 

So  waren  im  Laufe  von  wenig  über  14  Tagen  alle  Truppen 
geschlagen  und  auseinandergesprengt  worden,  die  Reschid  Mehmed 
aufgeboten  hatte,  um  den  Vormarsch  der  Russen  gegen  Adrianopel 
aufzuhalten.  Er  hatte  weiter  kein  Heer  ihnen  entgegenzuwerfen  ^) 
und  war  in  Schumla  bis  auf  weiteres  vornehmlich  auf  die  bewaff- 
nete Bevölkerung  der  Stadt  angewiesen.  Diebitsch  konnte  jetzt 
gegen  Adrianopel,  diese  älteste  Residenz  der  Türken  auf  europä- 
ischem Boden,  fast  unbehindert  vorgehen'). 

Schon  in  Sliwno  war  ihm  bekannt  geworden,  daß  Ibrahim  und 
Halil  Pascha  den  Auftrag  erhalten  hatten,  die  Trümmer  ihrer 
Heeresabteilungen  nach  Adrianopel  zu  ziehen.  Einige  Regimenter 
und  12  Feldgeschütze  waren  bereits  dort,  und  wie  es  hieß,  wurde 

•)  Vgl.  Moltke,  S.  361. 

')  Die  Korrespondenz  Diebitscbs  mit  dem  Kaiser  ist  für  die  Zeit  vom 
1)./:21.  August  ab  in  der  Zeitschrift  „Altes  und  neues  Rußland"  (Nowaja  i 
drewnaja  Rossija)  Jabrgang  1879  Dez.  iF.  abgedruckt  Sie  ist  auch  für  den 
folgenden  Abschnitt  unsere  vornehmste  Quelle. 


348  Kapitel  X.    Der  Übergang  über  den  Balkan  nsw. 

• 

aD  den  Befestigaogen  der  Stadt  gearbeitet.  Aach  wurde  Osman 
Pascha  mit  6—8000  Mann  erwartet,  und  die  Einwohner  hatten 
Befehl,  sich  zu  bewaffnen,  was  weitere  10000  Mann  ergeben  konnte. 
Das  alles  drängte  zu  beschleunigter  Aktion.  Obgleich  von  den 
Reserven  nur  die  Bataillone  der  18.  Division  den  Regimentern 
hatten  eingereiht  werden  können,  zögerte  Diebitsch  nicht  länger. 
Er  verließ  Jamboli  am  16.  August  und  erreichte  nach  einem  Marsch 
von  60  Werst  auf  Wegen,  die  beschwerlicher  waren  als  die  des 
Balkan^),  Bujuk  Derbent.  Seit  dem  7.  August  war  eine  furchtbare 
Hitze  eingetreten,  die  zahlreiche  Erkrankungen  zur  Folge  hatte, 
namentlich  aber  im  Hauptquartier.  Am  18.  gab  es  einen  Ruhetag, 
am  19.  endlich  standen  die  Russen  vor  Adrianopel.  Es  war  nur 
eine  geringe  Macht,  die  dieses  nächste  Ziel  erreicht  hatte,  unter 
normalen  Verhältnissen  viel  zu  schwach  für  eine  Unternehmung, 
wie  die  Notwendigkeit  sie  Diebitsch  jetzt  zuwies.  Es  galt  für  ihn 
nunmehr,  entweder  die  Türken  einzuschüchtern  und  zu  einem 
Frieden  nach  dem  Willen  Rußlands  zu  bestimmen,  oder  aber  unter- 
zugehen. Denn  die  Machtmittel,  den  Frieden  zu  erzwingen,  hatte 
er  nicht  mehr.  Ein  Augenblick  klarer  Einsicht  in  Konstantinopel, 
und  er  war  verloren.  Schon  jedes  längere  Festliegen  an  einem  Ort 
mußte  ihm  verderblich  werden,  denn  von  Tag  zu  Tag  lichteten 
sich  die  Reihen  seiner  Regimenter  mehr,  die  doch  schon  allzu  große 
Lücken  aufwiesen.  Am  19.  August  zählte  das  2.  Korps  noch 
1000  Pferde,  4000  Mann  Infanterie  und  36  Geschütze,  das  6.  In- 
fanteriekorps 2000  Pferde,  3000  Mann  Infanterie  und  42  Geschütze, 
das  7.  Korps  1500  Pferde,  5200  Mann  Infanterie  und  32  Geschütze. 
Das  Regiment  Kamtschatka  hatte  als  pestverdächtig  zurückgelassen 
werden  müssen.  Erwartet  wurden  noch  die  35.  Jäger  und  acht 
Geschütze  vom  Balkan  her.  Zur  Hand  hatte  Diebitsch  nur  4500 
Pferde,  12200  Infanteristen  und  100  Geschütze,  gewiß  viel  zu 
wenig,  um  eine  Stadt  von  über  800000  Seelen,  wie  Konstantinopel, 
zu  Fall  zu  bringen.  Es  war  unerläßlich,  daß  durch  die  Einnahme 
von  Adrianopel  ein  neuer  noch  stärkerer  Druck  auf  die  Pforte  aus- 
geübt werde,  damit  sie  freiwillig  zugestand,  was  nicht  erzwungen 
werden  konnte.     Am  19.  abends  rekognoszierten  mit  nur  kleinem 


^}  Das  bestätigt  auch  Panzer  1.  I.  Sein  Tagebuch  bricht  mit  dem 
18.  August,  mitten  in  einem  Satz  ab  —  auch  er  erkrankte  und  starb  in 
Adrianopel. 


Kapitel  X.    Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  349 

Gefolge  Diebitsch  und  Toll,  der  sich  von  den  Fieberanfällen,  die 
ihn  quälten,  einigermaßen  erholt  hatte  und  seit  seiner  Krankheit 
zum  erstenmal  wieder  zu  Pferde  saß,  persönlich  die  Umgegend  von 
Adrianopel.  Es  wurden  sofort  die  Dispositionen  zum  Angriff  ge- 
troffen, dann  aber  schickte  Diebitsch  einen  Parlamentär  zum  Eaimakam 
von  Adrianopel,  Mehmed  Pascha,  der  in  Abwesenheit  von  Ali  Pascha, 
dem  Stellvertreter  des  Seraskiers,  das  Überkommando  führte;  er 
verlangte  Übergabe  der  Stadt  und  bot  dagegen  freien  Abzug  der 
Truppen,  wenn  sie  vorher  die  Waffen  niedergelegt  hätten.  Am 
20.  um  4  Uhr  morgens  spätestens  müsse  er  eine  bestimmte  Antwort 
haben.  Der  Kaimakam  suchte  eine  Gnadenfrist  zu  erhalten.  Er 
bat  erst  um  eine  Woche,  dann  um  drei  Tage  Zeit.  Er  sei  über- 
zeugt, daß  bis  dahin  der  Friede,  um  den  der  Großwesir  gebeten 
habe,  abgeschlossen  sein  werde,  auch  müsse  er  auf  Befehle  aus 
Konstantinopel  warten.  Aber  gerade  das  wollte  Diebitsch  ver- 
hindern. Weil  er  seine  Truppen  nicht  früher  zum  Angriff  führen 
konnte,  fand  er  sich  bereit,  die  Frist  bis  um  9  Uhr  morgens  zu 
verlängern,  danach  aber  werde  er  sich  nicht  eine  Minute  länger 
aufhalten  lassen.  Schon  um  ö  Uhr  setzten  die  russischen  Kolonnen 
sich  in  Bewegung,  die  Infanterie,  von  Diebitsch  geführt,  ging 
geradezu  auf  die  Stadt  los,  die  Kavallerie  unter  Toll  zog  links 
über  einen  Bergrücken  und  durch  Weinberge  nach  der  Maritza  hin- 
unter, um  die  Straße  von  Konstantinopel  nach  Kirkilissa  zu  besetzen 
und  jede  dahin  gerichtete  Flucht  zu  verhindern.  Da  um  ö*/^  Uhr 
erschienen  türkische  Parlamentäre!  Sie  seien  bereit,  die  Bedingungen 
Diebitschs  anzunehmen,  und  bäten  nur,  daß  den  Paschas  und  den 
vornehmsten  Offizieren  gestattet  werde,  ihre  Waffen  zu  behalten. 
Das  wurde  ihnen  bewilligt,  und  sie  fanden  sich  nun  bereit,  um 
8  Uhr  die  Kasernen  zu  räumen,  die  für  8000  Mann  Infanterie 
bequeme  Unterkunft  boten,  und  auch  die  Schlüssel  der  Zitadelle 
und  des  alten  Serail,  des  Eski  Serai,  in  dem  von  den  Tagen 
Murads  I.  bis  1453  die  türkischen  Sultane  residiert  hatten,  auszu- 
liefern. Das  Schloß  lag  auf  einer  Insel  der  Maritza,  zu  der  zwei 
steinerne  und  eine  hölzerne  Brücke  hinüberführten,  unter  dem 
Schatten  uralter  Platanen.  Hier  nahmen  später  Diebitsch  und  Toll 
ihr  Quartier,  und  an  diesem  historisch  so  denkwürdigen  Orte  sollten 
all  die  entscheidenden  Verhandlungen  stattfinden,  die  schließlich 
den  heiß  ersehnten  Frieden  herbeiführten.  Aber  bevor  Diebitsch 
seinen  Einzug  in  die  Stadt    halten    konnte,    hat   es   in   Adrianopel 


HoO  Kapitel  X.    Der  Übergang  über  den  Balkan  usw. 

noch  Aagenblicke  des  Schwankens  gegeben.  Um  7  Uhr  brachte  der 
Pascha-Kommandant  persönlich')  ein  Paket,  das  Schreiben  des  Bot- 
schafters Guillemlnot  und  Sir  Robert  Gordons  enthielt.  Durch  ein  Be- 
gleitschreiben wurde  Diebitsch  gebeten,  zwei  Pakete  an  den  eng- 
lischen und  an  den  französischen  Botschafter  in  Petersburg  zu  befördern, 
zugleich  wurde  ihm  gemeldet,  daß  General  von  Müffling  bald  in 
Konstantinopel  eintreffen  werde,  üa  der  Kurier  den  Türken  mit- 
geteilt hatte,  daß  Bevollmächtigte  des  Sultans  unterwegs  seien,  um 
mit  Diebitsch  über  den  Abschluß  eines  Friedens  zu  verhandeln, 
glaubten  sie,  daß  die  Russen  auf  die  Besetzung  der  Stadt  ver- 
zichten würden.  Aber  Diebitsch  gab  seiner  Infanterie  sofort  Befehl, 
sich  auf  Flintenschußweite  der  Stadt  zu  nähern,  und  damit  hörte 
jeder  Widerstand  auf.  Um  10  Uhr  erfolgte  die  Übergabe.  Der 
Seraskier  Halil  und  Ibrahim,  der  Pascha  von  Tultscha,  überlieferten 
die  Waffen  von  3 — 4000  Mann  regulärer  Truppen.  Sie  versuchten 
dann  auf  der  Straße  nach  Konstantinopel  abzumarschieren,  fielen 
aber  in  die  Hände  des  Generals  Kreutz,  der  sie  ganz  entwaffnete, 
einige  Stunden  aufhielt  und  sie  danach  nötigte,  die  südlich  nach 
Demotika  führende  Straße  einzuschlagen. 

Kaum  hatte  Diebitsch  seinen  Einzug  in  Adrianopel  gehalten, 
so  erhielt  er  durch  den  Leutnant  Clor  vom  preußischen  General- 
stabe ein  offizielles  Schreiben  und  einen  Privatbrief  von  Müffling, 
der  inzwischen  eingetroffen  war,  sowie  Briefe  von  Guilleminot  und 
Sir  Robert.  Es  war  ihnen  ein  Memorandum*)  angeschlossen, 
welches  die  Voraussetzungen  enthielt,  unter  denen  die  Pforte  bereit 
war,  über  einen  Friedensschluß  zu  verhandeln.  Sie  waren,  da  weder 
Abtretungen  an  Land  in  Europa  und  Asien,  noch  eine  Kriegs- 
entschädigung in  Aussicht  genommen  wurden,  für  Diebitsch  völlig 
unannehmbar,    und  in    diesem    Sinne  hat   er   am   23.  auch    seine 


*)  So  in  dem  Schreiben  Diebitscbs  an  Nesselrode,  wäbrend  in  dem  Be- 
richt an  den  Kaiser  nur  von  einem  „Parlamentär*'  die  Rede  ist.  Oberhaupt 
ist  die  Korrespondenz  Diebitschs  mit  Nessel  rode  stets  heranzuziehen.  Sie 
ergänzt  und  korrigiert  vielfach  die  Korrespondenz  Diebitschs  mit  dem  Kaiser, 
in  der  z.  ß.  die  heikle  Frage  der  Erregung  eines  Aufstandes  nur  leise  an- 
deutend gestreift  wird,  während  sie  mit  dem  Vizekanzler  ganz  unverblümt 
diskutiert  wurde.  Diebitschs  Korrespondenz  mit  Nesselrode  ist  noch  unge- 
druckt. Sie  liegt  im  Petersburger  Archiv  der  historischen  Abteilung  des 
GeneralsUbes  (W.  U.  A.  Nr.  5329). 

^  Vgl.  die  Anlage. 


Kapitel  X.    Der  Übergang  über  den  Balkan  usw.  351 

Antwort  beiden  Botschaftern  zugehen  lassen^).  Weit  genehmer 
war  ihm  dagegen,  was  Müifling  ihm  in  einem  vom  17.  Augast  aus 
Pera  datierten  Schreiben  in  Vorschlag  brachte.  Es  gäbe,  schrieb 
MüfTling,  für  üiebitsch  zwei  Wege,  zum  Abschluß  des  Friedens  zu 
gelangen.  Der  eine  könne  durch  endlose  Verhandlungen  und  Un- 
annehmlichkeiten zu  Zugeständnissen  führen,  die  der  Mühe  nicht 
wert  seien  und  nur  um  der  Ehre  willen  gefordert  würden.  Der 
andere  Weg  aber  wäre,  ihm  zu  schreiben,  daß  er,  Diebitsch,  bereit 
sei,  Friedenspräliminarien  zu  unterzeichnen,  wenn  die  Pforte  den 
fünf  von  ihr  vorgeschlagenen  Punkten  als  sechsten  hinzufüge: 
Als  Entschädigung  für  die  Kriegskosten  werden  Rußland  die  festen 
Plätze  Anapa  und  Poti  abgetreten,  dazu  sechs  Linienschiffe  und 
Bauholz,  um  sechs  weitere  Schiffe  ersten  Ranges  zu  bauen. 

Sei  Diebitsch  bereit,  darauf  einzugehen,  so  hoffe  er  alles  in 
Ordnung  zu  bringen  *),  und  in  wenigen  Tagen  könnten  dann  die 
Verhandlungen  ihren  Abschluß  finden.  Fordere  Rußland  dagegen 
mehr,  so  könne  er  weder  für  Diebitsch  verhandeln,  noch  irgend- 
einen Erfolg  garantieren. 

Die  gleichfalls  vom  23.  August  datierte  Antwort  von  Diebitsch 
war  entgegenkommend,  aber  nicht  ohne  Vorbehalt  und  nicht  ver- 
pflichtend. Müfflings  Vorschlag,  schrieb  er,  gebe  eines  der  Mittel 
an,  die  Sache  endgültig  zu  erledigen,  und  er  werde  sein  Vertrauen 
nicht  mißbrauchen. 

Es  kam  jetzt  alles  darauf  an,  welche  Haltung  der  Sultan  ein- 
nehmen werde. 

Wir  wissen  bereits,  daß  der  mächtigste  Mann  in  Konstantinopel 
der  Vertraute  des  Sultans,  der  Seraskier  Chosrew  Pascha  war,  ein 
Kaukasier  wie  der  Großwesir  Reschid  und  wie  Halil,  die  ebenfalls 
einst  Sklaven  gewesen  waren.  Was  die  Pforte  bisher  an  Energie 
entwickelt  hatte,  ist  wesentlich  sein  Werk  gewesen.  Die  Nieder- 
lage bei  Kulewtschi  hatte  ihn  nicht  entmutigt;  er  glaubte,  wie 
Reschid,  an  die  Widerstandskraft  von  Schumla  und  an  den  Gegen- 
satz der  Interessen  der  europäischen  Mächte,  der  schließlich  doch 
der  Pforte  zugute  kommen  müsse.  Auf  Slaven  und  Griechen  sah 
er  mit  stolzem  Hochmut  herab,  und  das  Reformprogramm  des 
Sultans  war  von   ihm  mit   aller   Energie   gestützt   und    gefördert 


^)  Vgl.  die  Anlage 

-)  „Alors  je  crois  que  je  serais  ä  mesure  d'arranger  Votre  affaire.*' 


352  Kapitel  X.     Der  Obergang  über  den  Balkan  usw. 

worden.  Aber  die  Bevölkerung  empfand  anders.  Der  Mufti,  mit 
dem  was  an  Janitscharen  der  Vernichtung  entgangen  war,  hatte 
sich  bald  nach  der  Schlacht  —  das  Datum  ist  nicht  festzustellen  — 
zum  Sultan  begeben,  um  ihn  für  einen  Friedensschluß  und  für  die 
Abschaffung  der  verhaßten  Neuerungen  zu  gewinnen.  Die  Gefahr 
einer  Revolution  schien  dadurch  so  nahe  gerückt,  daß  der  Sultan 
seinen  Sohn  zu  ermorden  beschloß,  um  dadurch  seine  Stellung  zu 
sichern,  denn  die  Erhaltung  der  Dynastie  Osmans  war  so  sehr 
eine  religiöse  und  politische  Notwendigkeit,  daß,  wenn  sie  nur  auf 
seinen  Augen  ruhte,  kein  Moslem  gewagt  hätte,  ihn  anzutasten. 
Zu  diesem  Äußersten  aber  ist  es  doch  nicht  gekommen ;  der  Thron- 
folger blieb  am  Leben,  aber  es  kennzeichnet  die  Lage,  daß  Keschid 
bereits  im  Begriff  war,  Schumla  zu  verlassen,  um  seinem  Herrn 
zu  Hilfe  zu  kommen,  als  er  die  Botschaft  erhielt,  daß  die  Gefahr 
—  wir  wissen  nicht  wie  —  gehoben  und  der  Sultan  seiner  Feinde 
mächtig  geworden  sei').  Es  gärte  indessen  fort.  In  der  Nacht  vom 
26.  auf  den  27.  Juni  fand  eine  furchtbare  Feuersbrunst  in  Pera  statt, 
die  wohl  auf  Brandstiftung  zurückging  und  als  Symptom  kommender 
Gefahren  erschreckte.  Aber  der  Sultan  blieb  bei  seinem  Programm. 
Er  ließ  am  28.  Juli  in  seiner  Gegenwart  eine  Sitzung  des  Divau 
abhalten,  die  in  eine  Reihe  kriegerischer  Beschlüsse  ausmündete. 
Mahmud  war,  dem  Drängen  der  Mächte  nachgebend,  zwar  bereit  zu 
dulden,  daß  die  Griechen  einen  Fürsten  zum  Oberhaupt  erhielten, 
aber  unter  keinen  Umständen  wollte  er  auf  seine  Festungen  in 
Morea  verzichten.  Der  Gedanke  an  einen  Friedensschluß  mit 
Rußland  wurde  weit  zurückgewiesen.  Wer  ihn  wolle,  wolle  auch 
den  völligen  Untergang  der  Türkei'). 

Aber  mit  dem  weiteren  Vordringen  der  Russen  nahm  die 
Unruhe  zu.  Man  sprach  laut  davon,  daß,  wenn  das  Korps  der 
Janitscharen  noch  bestände,  die  Russen  nimmermehr  den  Balkan 
überschritten  hätten;  der  Haß  und  die  Erbitterung  schienen  sich 
gegen  alle  Fremden  wenden  zu  wollen.  Man  war  in  den  Kreisen 
der  Diplomaten  froh,  daß  die  Fregatten,  die  Gordon  und  Guille- 
minot  nach  Konstautinopel  geführt  hatten,  noch  im  Goldenen  Hörn 
vor  Anker  lagen.     Im  äußersten  Falle  boten  sie  eine  Zuflucht. 


')  Tagebuch  von  Panzer:  Die  Nachricht  geht  auf  den  russischen  Stabs- 
kapitän du  Ilamel  zurück,  der  in  Schumla  gefaugen  gelegen  hatte,  und  Mitte 
August  vom  Großwesir  freigelassen  wurde. 

^  Berichte  des  preußischen  Gesandten  Royer  l.  1. 


Kapitel  X.    Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  353 

Am  4.  August,  als  die  Russen  bereits  Achiolos  bedrohten,  fand 
wiederum  eine  Sitzung  des  Üivan  in  Therapia  statt.  Auch  jetzt 
noch  war  die  Stimmung  höchst  kriegerisch.  Unter  dem  Einfluß 
des  Seraskiers  wurde  ein  allgemeines  Aufgebot  beschlossen.  Man 
glaubte  allein  aus  Konstantinopel  80000  Mann  aufbringen  za 
können  und  wollte  4000()  von  ihnen  unter  die  Waffen  rufen. 
Chosrew  Pascha  selbst  erbot  sich,  sie  in  Kara  Burnu,  auf  der 
europäischen  Seite  des  Bosporus,  zu  organisieren.  10000  wurden 
zur  Verteidigung  Konstantinopels  bestimmt,  die  übrigen  dachte 
man  gegen  den  Feind  zu  führen.  Diese  tapferen  Entschlüsse  er- 
wiesen sich  aber  bald  als  unausführbar.  Als  die  Nachricht  von 
der  Einnahme  von  Adrianopel  in  der  Hauptstadt  einlief,  ward  alles 
von  blindem  Entsetzen  ergriffen.  Wilde  Gerüchte  liefen  um.  Die 
Franken,  die  einen  Aufstand  fürchteten,  ergriffen  die  Flucht  nach 
Pera  und  suchten  Schiffe  zu  mieten,  um  ihre  Familien  und  ihr 
Eigentum  zu  sichern.  Auch  Angehörige  der  fremden  Gesandt- 
schaften begannen  die  gleichen  Vorsichtsmaßregeln  zu  ergreifed, 
was  die  allgemeine  Panik  noch  steigerte.  In  Bujukdere  und  in 
Pera  waren  alle  christlichen  Läden  geschlossen.  Ein  Ausbruch  der 
Volkswut  schien  unmittelbar  bevorzustehen.  Da  aber  griff  der 
Sultan  ein.  Er  sah  sehr  wohl,  daß  es  sich  auch  um  seine  per- 
sönliche Sicherheit  handelte,  und  zeigte  nun  dieselbe  furchtbare 
Energie  wie  bei  Vernichtung  der  Janitscharen.  Der  Kommandant 
der  Schlösser  am  Bosporus,  Achmed  Aga,  der  im  Verdacht  stand, 
die  Erregung  zu  schüren,  wurde  verhaftet  und  auf  der  Flotte  des 
Kapudan-Pascha  hingerichtet.  Sein  Kopf  (la  peau  de  sa  tete) 
wurde  am  Serail  mit  einer  bezeichnenden  Inschrift  ausgestellt. 
Dann  wurde  eine  Reihe  zweckmäßiger  Maßregeln  ergriffen,  um  zu 
verhindern,  daß  die  Scharen  der  fliehenden  Truppen  in  Konstanti- 
nopel eindrangen.  Alle  Asiaten  wurden,  sobald  sie  einen  Hafen 
erreichten,  nach  Asien  hinübergeschafft,  die  Irregulären  bei  ihrem 
Eintreffen  sofort  entlassen.  Sie  waren  glücklich,  in  ihre  lleimats- 
dörfer  zurückzuziehen.  Die  regulären  Truppen  aber  reorganisierte 
man,  so  gut  es  eben  ging,  in  den  großen  Lagern,  die  bestimmt 
waren,  Konstantinopel  zu  decken;  durch  die  Straßen  der  Stadt 
zogen  Patrouillen,  und  reguläre  Truppen  waren  beauftragt,  überall 
nach  Waffen  zu  fahnden  und  sie  zu  vernichten.  Es  war  jetzt 
weniger  die  Rede  davon,  Konstantinopel  gegen  die  Russen,  als 
gegen  die  inneren  Feinde,  die  Janitscharen,  zu  verteidigen.     Dana 

Scliiemann,  Geschichte  KuBlands.    II.  23 


354  Kapitel  X.     Der  Obergang  über  den  Balkan  usw. 

folgten  masseohafte  Hiarichtungen  von  Verschwörern.  „Man  kennt 
die  Zahl  der  nächtlichen  Hinrichtungen  nicht,  einige  schätzen  sie 
sehr  hoch.  Aber  es  ist  sicher,  daß  heute  in  verschiedenen  Stadt- 
vierteln sieben  Hinrichtungen  stattgefunden  haben.  Man  köpfte 
die  Unruhestifter,  wo  sie  ergriffen  wurden,  und  stellte  die  Leichen 
am  Platz  der  Hinrichtung  aus.  Das  Cafe,  in  dem  die  Unzufriedenen 
sich  zu  versammeln  pflegten,  aber  wurde  heute  morgen  dem  Erd- 
boden gleichgemacht."  So  berichtet  der  preußische  Gesandte  Royer 
am  29.  August.  Wie  sollte  da  von  einem  allgemeinen  Aufgebot 
noch  die  Rede  sein.  Der  Sultan  fürchtete  seine  Soldaten  und  die 
„getreue"  Bevölkerung  seiner  Residenz  mehr  als  den  Feind. 

Dieser  Stimmung  kam  dann  die  Aktion  der  europäischen  Di- 
plomatie entgegen,  und  die  Festigkeit  Diebitschs  tat  das  Übrige.  Es 
konnte  nicht  mehr  zweifelhaft  sein,  daß,  wie  Nesselrode  gesagt  hatte, 
das  Schicksal  der  Türkei  in  seinen  Händen  lag. 

Als  MüfHing  am  4.  August  in  Konstantinopel  eintraf,  fand  er 
den  Boden  zwar  vorbereitet,  aber  die  Erwartungen,  die  sich  an 
seine  Mission  knüpften,  außerordentlich  hoch  gespannt*).  Durch 
Guilleminot  wußte  die  Pforte  von  einem  Gespräch,  das  der 
Kaiser  in  Berlin  mit  dem  französischen  Gesandten,  Grafen 
d'Agont  gehabt  hatte,  wonach  die  Pforte  darauf  rechnen  könne, 
einen  Frieden  zu  erhalten,  wenn  sie  Anapa  abtrete.  Geldentschä- 
digungen werde  Rußland  nicht  fordern,  oder  doch  nur  ganz  gering- 
fügige. Es  ist  begreiflich,  daß  der  Reis-Efendi  sich  höchst  enttäuscht 
zeigte,  als  Müffling,  den  er  am  6.  August  empfing,  andere  Töne 
anschlug  und  auf  das  russische  Kriegsmanifest  und  die  der  Pforte 
bekannten  Forderungen  Rußlands  hinwies,  auch  erklären  mußte, 
daß  er  keineswegs  zum  Abschluß  eines  Friedens  bevollmächtigt 
sei.  Der  Reis-Efendi  wollte  durchaus  nicht  glauben,  daß  Müffling 
nicht  noch  geheime  Aufträge  habe,  mit  denen  er  nur  vorläufig  zu- 
rückhalte. Die  Bedingungen,  an  deren  Erfüllung  Rußland  die  Ge- 
währung eines  Friedensschlusses  knüpfte,  konnte  man  in  Konstan- 
tinopel schon  durch  die  Verhandlnugen,  die  nach  der  Schlacht  bei 
Kulewtschi  Fonton  geführt  hatte,  und  trotz  der  großen  Erfolge,  die 

')  Vergl.  die  kurze  aber  vortreffliche  Ausführung  bei  Heinrich  von  Treitschke: 
Deutsche  Geschichte,  Bd.  III  S.  743  ff.  Nach  den  Akten  des  Geheimen  Staats- 
archivs. Eine  wesentliche  Ergänzung  bietet  die  Korrespondenz  Diebitschs  mit 
dem  Kaiser,  Nesselrode  und  Royer.  Die  letztere  liegt  teils  im  Archiv  des  Peters- 
burger Generalstabes  (W.  ü.  A.  5330),  teils  im  Archiv  des  Reichsrats  Nr.  690. 


Kapitel  X.     Der  Cbergang  über  den  Balkan  ubw.  355 

Kußland  seither  zugefallen  waren,  glaubte  man,  auf  Guilleminots 
Mitteilungen  fußend,  noch  weitere  Zugeständnisse  erlangen  zu 
können.  Offenbar  bewegte  sich  die  Pforte  in  Illusionen.  So 
ging  eine  Reihe  von  Tagen  nutzlos  hin.  Aber  am  15.  Augast 
gelang  es,  die  Pforte  zur  Anerkennung  des  Londoner  Traktats  zu 
bewegen.  Sie  trat  ihm,  wenngleich  unter  Vorbehalten,  formlich  bei 
und  meinte  dadurch  sich  der  Unterstützung  der  Mächte  gegen  die 
russischen  Forderungen  zu  versichern  und  ihre  Mediation  zu  er* 
langen;  Müffling  mußte  ihr  erst,  unter  Beihilfe  der  englischen, 
österreichischen  und  französischen  Botschafter,  begreiflich  machen, 
daß  sein  Auftrag  nur  dahin  gehe,  die  Anknüpfung  von  Verhand- 
lungen zu  vermitteln,  nicht  selbst  zu  verhandeln.  Schließlich  hat 
der  Reis-Efendi  doch  den  möglichen  Nutzen  einleitender  Schritte 
von  Seiten  Müfllings  erkannt  und  den  Auftrag  gebilligt,  der  den 
Leutnant  Cler  in  das  russische  Hauptquartier  führte.  Als  darauf  am 
22.  August  die  Nachricht  vom  Einzug  der  Russen  in  Adrianopel 
eintraf  und  die  Stimmung  in  der  Hauptstadt  die  größten  Besorg- 
nisse erregte,  fand  eine  Versammlung  des  Divan  statt,  die  zur  Folge 
hatte,  daß  der  Reis-Efendi  Müffling  und  die  Botschafter  von  Eng- 
land und  Frankreich  einlud,  sich  bei  ihm  zu  einer  Konferenz  ein- 
zufinden. Diese  Konferenz  fand  am  24.  statt,  da  aber  Müffling 
erkrankt  war,  beauftragte  er  den  preußischen  Gesandten  Küster, 
ihn  zu  vertreten '). 

Der  Reis-Efendi  eröffnete  die  Sitzung  mit  der  Mitteilung,  daß 
er  Bevollmächtigte  zu  Diebitsch  zu  schicken  bereit  sei,  auch  be- 
reits den  Finanzminister  Sadik  Efendi  und  den  Überrichter  von 
Konstantinopel  und  Asien  Abdul  Kador  Bey*)  dazu  bestimmt  habe. 
Beide  waren  zugegen  und  nahmen  mit  Genehmigung  der  Botschafter 
und  Küsters  an  der  Sitzung  teil. 

Er  habe,  fuhr  dann  der  Reis-Efendi  fort,  Nachricht  vom  Ein- 
rücken der  Russen  in  Adrianopel  und  wünsche  daher,  den  Ab- 
schluß des  Friedens,  nachdem  die  ersten  Schritte  dazu  geschehen 
seien,  nach  Möglichkeit  zu  beschleunigen.  Sadik  und  Kador  hätten 
den  Auftrag,  sobald  wie  irgend  möglich  die  Präliminarien  zu  unter- 
zeichnen.    Er  bitte  die  Bevollmächtigten  der  drei  Mächte  um  ihren 


')  Relation  Küsters  an  den  Grafen  Bernstorff  d.  d.  Eski  Serai  zu  Adria- 
nopel, den  29.  August  1829.  Dabei  der  Vermerk:  sorgßiltig  zu  sekretieren. 
')  Küster  nennt  ihn  falschlich  Gadir. 

23* 


356  Kapitel  X.    Der  Übergang  über  den  Balkan  usw. 

weiteren  Rat.  Es  ist  wohl  das  wesentlichste  Verdienst  Mufflings, 
daß  er  schon  vor  der  Sitzung  ein  vollkommenes  Einverständnis  mit 
den  Vertretern  Frankreichs  und  Englands  zu  gewinnen  vermochte.  Sie 
hatten,  ebenso  wie  er  selbst,  keine  Vorstellung  davon,  daß  die  Russen 
des  Friedens  mindestens  ebenso  bedürftig  waren  wie  die  Türken. 
So  konnte  es  geschehen,  daß  Sir  Robert  als  Wortführer  der  übrigen 
erwiderte,  das  beste  wäre,  daß  die  Pforte  bestimmt  und  klar  aus- 
spreche, was  sie  tun  wolle,  um  den  Frieden  zu  erlangen,  und  als 
der  Reis-Efendi  sich  auf  die  früheren  fünf  Punkte  beziehen  wollte, 
hinzufugte:  es  scheine  dabei  der  Punkt  zu  fehlen,  ohne  welchen 
Rußland  voraussichtlich  nicht  bereit  sein  werde,  den  Frieden  ab- 
zuschließen: die  Entschädigung  wegen  der.  Rriegskosten.  Der  Kaiser 
Nikolaus  habe  allen  Mächten  die  bestimmtesten  Versicherungen  ge- 
geben, nur  mäßige  Kriegskosten  zu  fordern,  so  daß  die  Pforte  wohl 
nichts  Besseres  tun  könne,  als  die  Bestimmung  darüber  der  Groß- 
mut (magnanimite)  des  Zaren  zu  überlassen.  Der  Reis-Efendi  ver- 
sprach, seine  beiden  Bevollmächtigten  in  diesem  Sinne  zu  instru- 
ieren, und  bat  die  drei  Gesandten,  auch  ihrerseits  Diebitsch  zu  be- 
schicken, damit  der  Friede  ohne  jeden  Zeitverlust  geschlossen 
werden  könne.  Küster  erklärte  darauf,  daß  Müffling  einen  Offizier 
zu  Diebitsch  senden  werde,  was  sehr  dankbar  aufgenommen  wurde, 
aber  die  Türken  baten,  daß  Küster  selbst,  als  Zeuge  und  Teil- 
nehmer, die  Mission  auf  sich  nehme.  Die  beiden  Botschafter  be- 
gnügten sich,  durch  kurze  Schreiben  das  Anliegen  der  türkischen 
Bevollmächtigten  zu  empfehlen,  Müffling  aber  fand  sich  bereit, 
nachdem  er  über  den  A^erlauf  der  Sitzung  unterrichtet  worden  war, 
Küster  ins  russische  Hauptquartier  zu  senden,  und  gab  ihm  ein 
Beglaubigungsschreiben  an  den  Grafen  Diebitsch  mit;  in  der  Nacht 
vom  24.  auf  den  25.  schiffte  sich  Küster  mit  Sadik  Efendi  und 
Kador  Bey,  einem  türkischen  Sekretär  und  dem  Pforteodolmetscher 
auf  einem  Dampfer  des  Sultans  nach  Rodosto  (Tekirdagh)  ein.  Sir 
Robert  Gordon  hatte  ihm  außerdem  eine  englische  Kriegsbrigg  zur 
Verfügung  gestellt,  um  seine  Rückehr  von  Rodosto  nach  Konstanti- 
nopel  unter  allen  Umständen  zu  sichern.  So  wenig  zuversichtlich 
blickte  man  der  Zukunft  entgegen. 

Am  27.  abends  traf  Küster  in  Adrianopel  ein,  etwas  früher 
als  die  beiden  türkischen  Minister,  die  absichtlich  auf  der  letzten 
Station  vor  Adrianopel  zurückgeblieben  waren.  Sie  laugten  erst  am 
anderen  Morgen  im  russischen  Hauptquartier  an. 


Kapitel  X.    Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  357 

Uiebiisch  war  zunächst  von  Müfflings  Vorgehen  keineswegs  er- 
baut^). Es  wäre  ihm  lieber  gewesen,  wenn  er  sich  begnügt  hätte,  die 
Absendung  türkischer  Bevollmächtigter  zu  bewirken,  ohne  auf  den 
Inhalt  der  Verhandlungen  einzugehen,  und  ohne  ihm  einen  immer 
lästigen  Zeugen  in  das  Hauptquartier  zu  schicken.  Er  hatte 
allen  Grund,  vor  jedermann  die  tatsächlichen  Zustände  im  Haupt- 
quartier wie  in  der  Armee  zu  verbergen.  „Einen  wahrhaft  trau- 
rigen Anblick  bot  in  dieser  Zeit  unser  Hauptquartier,^  —  so 
schrieb  damals  einer  von  Tolls  Adjutanten  —  „außer  dem 
Grafen  Diebitsch  und  einigen  wenigen  Personen  war  alles  krank, 
vom  Bedienten  bis  zum  höchsten  Herrn.  Wie  Geister  schlichen 
wir  umher,  täglich  wählte  sich  das  Fieber  neue  Gegenstände  seiner 
Wut,  und  so  manchen  führte  es  unbarmherzig  in  eine  neue  Welt. 
Von  den  4000  Kranken  im  Hospital  starben  täglich  vierzig.  Zu- 
letzt hatte  die  Artillerie  so  wenig  Leute,  daß  Infanteristen  die 
Kanonen  bewachten  .  .  .'").  Aber  Diebitsch  verstand  es  meister- 
haft, das  alles  zu  verbergen;  man  sah  weder  die  Schwäche  seiner 
Heeresmacht,  noch  die  Sorgen,  die  ihn  quälten,  noch  endlich  ver- 
riet er  die  Eifersucht,  die  er  gegen  Müffling  hegte.  Er  empfing 
Küster  nicht  nur  mit  Freundlichkeit,  sondern  auf  das  herzlichste 
und  zeigte  „die  besten  Dispositionen^.  Als  Küster  ihm  die  Lage 
in  Konstantinopel  darlegte  und  darauf  hinwies,  daß  ein  weiteres 
Vorrücken  der  Russen  eine  Revolution  und  den  Zusammenbruch 
des  Reiches  zur  Folge  haben  könnte,    erklärte  er  sofort,    daß  es 

^)  Diebitsch  an  Nesselrode,  den  25.  August.  y,Je  n^arreterai  pas  Votre 
attention  sur  le  desir  quMl  montre  de  s'^riger  en  m^diateur  pour  la  paix.* 
Petersburg,  Archiv  des  Ministeriums  des  Auswärtigen,  12969. 

Ganz  ähnlich  urteilte  Nesselrode  in  seinem  Antwortschreiben  vom 
9.  September  (W.  U.  A.  5329).  »Je  crains  bien  que  Müffling  n'ait  abus^  des 
confidences  que  l'Empereur  a  faites  au  roi,  en  faisant  esp^rer  a  la  Porte  des 
conditions  plus  favorables  que  Celles  que  nous  pouvons  et  devons  lui  accorder 
Au  reste  daus  ces  confideDces  S.  M.  n^est  entree  dans  aucun  detail,  et  il  n*a 
M  au  fond  question  que  de  Tarticle  de  Tindemnite  snr  lesquelles  (sie  I)  le  Roi 
temoignait  de  vives  inquietudes,  et  alors  PEmpereur  a  parle  d'une  somme  de 
150  millions  roubles  en  papier  et  de  cessions  territoriales  en  Asie  quMl  serait 
pret  ä  recevoir  en  compensation,  si  la  Porte  etait  hors  dVtat  d'acquitter  en 
argent  la  totalite  de  cette  somme.  Or  c*est  lä  le  pivot  sur  lequel  doit  rouler 
toute  la  ni'gociation.^  Dem  Kaiser  gegenüber  wagte  Diebitsch  nicht,  mit 
seinem  Ärger  hervorzutreten.  Er  hat  vielmehr  die  Verdienste  von  Müffling 
und  danach  von  Royer  rühmend  heiTorgehoben. 

')  Aus  den  Tagebüchern  Wildermeths.    Bernhardischer  Nachlaß. 


358  Kapitel  X.     Der  Übergang  über  den  Balkan  nsw. 

auch  seiner  Überzeugung  nach  notwendig  sei,  dem  Kriege  schleu- 
nigst ein  Ende  zu  machen.  Obgleich  Graf  Orlow  und  Graf  Pahlen, 
der  Bruder  des  Generals,  die  für  die  Führung  der  Friedensverhand- 
lungen von  Petersburg  her  bestimmt  waren  und  Instruktionen  über 
einige  minder  wichtige  Punkte  bringen  sollten,  noch  nicht  ein- 
getroffen waren,  ernannte  er  den  General  Fürsten  Gortschakow  und 
den  Staatsrat  Anton  Fonton  zu  Unterhändlern.  Er  versprach,  nicht 
weiter  gegen  Konstantinopel  vorzurücken,  doch  sei  es  zu  spät,  um 
zu  verhindern,  daß  Admiral  Greigh,  der  eben  Inada  und  Samokowo 
genommen  habe,  nicht  auch  Midia  besetze.  Als  aber  Küster  der 
Hoffnung  der  Türken  Ausdruck  gab,  daß  Rußland  in  seinen  Forde- 
rungen mäßig  sein  werde,  antwortete  er,  daß  die  Hartnäckigkeit, 
mit  der  die  Türken  bisher  alle  Friedensanträge  zurückgewiesen 
hätten,  den  Befehl  zur  Folge  gehabt  habe,  eine  höhere  Kriegs- 
entschädigung zu  fordern,  als  ursprünglich  geplant  wurde.  Die 
Friedensbedingungen,  die  er  vertraulich  mitteilte,  gaben  das  Maxi- 
mum der  Nessel  rodeschen  Instruktion,  im  übrigen  verwies  er  auf 
die  Gnade  des  Kaisers,  die  vielleicht  nachträglich  dieses  oder  jenes 
Zugeständnis  machen  werde.  Er  war  weit  entfernt,  dem  Preußen 
mit  wirklichem  Vertrauen  entgegenzukommen,  sondern  wollte 
ihn  benutzen,  um  einen  weiteren  Druck  sowohl  auf  die  Pforte, 
wie  auf  die  Botschafter  Englands  und  Frankreichs  auszuüben.  Das 
letztere  zeigte  sich  namentlich  in  der  Art,  wie  er  die  griechische 
Frage  anfaßte.  Der  Beitritt  der  Pforte  zum  Juli -Traktat  genüge 
nicht,  sie  müsse  auch  das  Protokoll  vom  22.  März  1829  anerkennen, 
und  er  werde  gerade  diesen  Punkt  als  einen  integrierenden  Teil 
des  Friedenstraktats  ansehen  und  darauf  bestehen,  daß  die  noch 
nicht  erledigte  Grenzfrage  dahin  entschieden  werde,  daß  die  künf- 
tige Grenze  Griechenlands  vom  Golf  von  Volo  bis  zu  dem  von 
Arta  reiche. 

Den  Befehl  zum  sofortigen  Einstellen  der  Feindseligkeiten  er- 
teilte Diebitsch  noch  am  28.  August,  auch  versprach  er,  Kuriere 
an  Paskiewitsch  abzufertigen,  um  in  Asien  gleichfalls  einen  Still- 
stand herbeizuführen.  Am  29.  hatten  die  beiden  türkischen  Be- 
vollmächtigten ihre  erste  Zusammenkunft  mit  dem  siegreichen 
Feldherrn,  der  bald  eine  zweite  folgte.  Die  wirklichen  Verhand- 
lungen begannen  erst  nach  dem  Eintreffen  von  Orlow  und  Pahlen 
am  2.  September.  In  den  meisten  Fragen  zeigten  sich  die  türkischen 
Delegierten  sofort  nachgiebig,  auch  in  betreff  der  Abtretungen  auf 


Kapitel  X.    Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  359 

asiatischem  Boden  erhoben  sie  keinerlei  Einwendungen.  Erst  als 
die  Frage  der  Kriegsentschädigung  zur  Verhandlung  kam,  wurden 
sie  hartnäckig.  Sie  dürften,  erklärten  sie,  trotz  ihrer  Vollmachten 
der  Türkei  nicht  Verpflichtungen  auflegen,  die  der  Sultan  unmög- 
lich erfüllen  könne.  Schließlich  baten  sie  um  eine  Frist  von  zehn 
Tagen,  um  nach  Konstantinopel,  speziell  wegen  der  Kriegsentschädi- 
gungen, zu  schreiben. 

Diebitsch  gestand  diesen  Aufschub  zu,  erklärte  aber  mit  großer 
Bestimmtheit,  daß  seine  Truppen  sofort  nach  Ablauf  der  Frist, 
wenn  keine  oder  eine  unbefriedigende  Antwort  einlaufe,  sich 
gegen  Konstantinopel  in  Marsch  setzen  würden  und  daß  dann 
keiner  der  bisher  gemachten  Vorschläge  weiter  Geltung  haben  sollte. 
Bis  dahin  aber  würde  er  natürlich  seine  Operationen  fortsetzen, 
jedoch  nicht  weiter  als  bis  Silivri,  das  ist  bis  70  VS^erst  vor  Konstan- 
tinopel, vorrücken.  Auch  unterblieb  nun  die  Absendung  der  Kuriere 
an  Paskiewitsch.  Da  der  türkische  Kurier  am  5.  abreiste,  mußte 
die  Entscheidung  am  13.  September  fallen. 

Es  waren  auch  für  Diebitsch  Tage  der  Spannung  und  Auf- 
regung. Er  erwog  die  Möglichkeiten,  die  sich  ihm  boten.  Konnte 
die  Pforte  in  der  Tat  nicht  zahlen,  so  hätte  er  am  liebsten  die 
Donaufürstentümer*)  an  Zahlungsstatt  genommen,  und  allerdings 
wäre  dies  ein  Opfer  gewesen,  das  die  Pforte  verschmerzen  konnte. 
Man  gab  in  Konstantinopel  Moldau  und  Walachei  ohnehin  verloren, 
wußte  auch  sehr  wohl,  daß  durch  diesen  Gewinn  Rußland  in 
dauernden  Gegensatz  zu  Österreich  geraten  werde.  Was  in  Peters- 
burg gegen  diese  Erwerbung  sprach,  war  das  Versprechen  des 
Kaisers,  in  Europa  keine  Eroberungen  zu  machen;  aber  es  hätte 
sich  immer  ein  Ausweg  finden  lassen,  darüber  hinwegzukommen. 
Wurden  die  Fürstentümer  russisch,  so  bot  sich  eine  völlig 
neue  Lage  für  Rußland,  im  Orient  wie  in  Europa.  Der  Traum, 
den  vor  bald  900  Jahren  Swjatoslaw  geträumt  hatte,  wäre  in  Er- 
füllung gegangen,  und  was  Alexander  I.  so  heiß  ersehnt  hatte, 
verwirklicht  worden.  Aber  Diebitsch  glaubte  selbst  nicht  daran, 
daß  es  möglich  sein  werde,  den  Kaiser  dafür  zu  gewinnen;  sein 
Wort  war  zu  feierlich,  zu  häufig  und  zu  öffentlich  abgegeben 
worden.      Nach    anderer   Richtung    hin   glaubte    Diebitsch   freiere 


^)  Korrespondenz  zwischen  Diebitsch  und  Nesselrode.    Er  kommt  mehr- 
fach auf  diesen  Gedanken  zurück. 


360  Kapitel  X.     Der  Obergang  über  den  Balkan  osw. 

Hand  zu  haben.  Schon  im  Juni  hatte  der  Kaiser  ihm  gestattet, 
die  Bulgaren,  wenn  es  unbemerkt  geschehen  könne,  zu  bewaffnen. 
Davon  hatte  er  zunächst  abgesehen,  aber  er  war  durch  Milosch  von 
Serbien  in  Beziehung  zum  Pascha  von  Skodra  getreten,  und  eben 
jetzt  war  ein  neuer  Brief  von  Milosch  eingelaufen,  der  ihm  meldete, 
daß  Albanien  und  Bosnien  nur  seines  Rufes  harrten,  um  sich  gegen 
den  Sultan  zu  wenden.  Von  den  Grenzen  Serbiens  bis  nach 
Philippopel  hin  werde  sich  keine  Hand  für  die  Rettung  Mahmuds 
erheben.  Mustafa  Pascha  von  Skodra,  der  gegen  Widdin  nur 
zum  Schein  demonstriert  habe,  sei,  als  Diebitsch  in  Adrianopel 
einzog,  mit  seinem  Heere  nach  Sofia  vorgedrungen,  nicht  um 
Diebitsch  zu  bedrohen,  sondern  um  ihm  näher  zu  sein  und 
sich  mit  ihm  darüber  zu  verständigen,  ob  er  in  Sophia  bleiben 
oder  nach  Albanien  zurückkehren  solle. 

Für  die  Aufrichtigkeit  und  Zuverlässigkeit  des  Paschas  ver- 
bürgte sich  Milosch.  Die  2000  Albaner,  die  in  Widdin  zurück- 
blieben, seien  bestimmt,  zu  verhindern,  daß  Ibrahim  Pascha  diese 
Festung  und  Orsowa  den  Österreichern  übergebe,  wenn  Diebitsch 
in  Konstantinopel  einziehe.  Falle  der  Thron,  so  wolle  Mustafa 
beide  Städte  (Widdin  und  Orsowa)  den  Serben  überlassen,  dazu 
Nissa  und  Sofia,  und  sich  selbst  zum  Beherrscher  Albaniens 
machen.     Auch  wolle   er   dann    dem  Zaren  tributpflichtig  sein '). 

Für  Diebitsch  waren  diese  Anerbietungen  insofern  wichtig,  als 
er  sich  völlig  klar  darüber  war,  daß  seine  Streitkräfte  nicht  hin- 
reichten, um  Konstantinopel  zu  nehmen.  Lehnte  aber  die  Pforte  die 
russischen  Forderungen  ab  und  mußte  er  den  Frieden  erzwingen, 
80  war  es  für  ihn  ein  Gebot  der  Selbsterhaltung,  auch  vor  diesem 
Äußersten  nicht  zurückzuschrecken.  Dann  allerdings  brach  die 
Türken herrschaft  in  Europa  zusammen,  und  der  Raum  wurde  frei 
für  all  die  ehrgeizigen  Kombinationen,  die  bereits  an  diese  t-eils 
gefürchtete,  teils  ersehnte  Katastrophe  sowohl  von  Rußland  wie 
von  anderen  Mächten  geknüpft  wurden. 

So  weit  aber  sollte  es  nicht  kommen.  Zwei  Tage  vor  Ablauf 
der  Frist  erhielt  Diebitsch  ein  vom  9.  September  datiertes  Schreiben 
der  Botschafter  von  England   und  Frankreich').     Es  war  die  fast 


')  Petersburg,  Archiv  d.  M.  d.  A.  13053.  Der  Brief  von  Milosch  datiert 
vom  20.  August  r.  St.  und  ist  russisch  geschrieben. 

^  In  deutscher  Obersetzung  veröffentlicht  von  Rosen:  Geschichte  der 
Türkei  I,  114.    Der  französische  Text  in  der  Anlage. 


Kapitel  X.     Der  Übergang  über  den  Balkan  usw.  361 

fleheode  Bitte,  nicht  gegen  Eonstantinopel  zu  marschieren,  da  sonst, 
wie  die  Pforte  ihnen  offiziell  erklärt  habe,  and  wie  sie  bestätigen 
müßten,  das  türkische  Reich  aufhören  werde,  zu  existieren.  Nun 
ließ  sich  annehmen,  daß  die  türkischen  Bevollmächtigten  auf 
jede  Forderung  eingehen  würden,  die  Diebitsch  stellte.  Seine 
Kampagne,  die  politische  wie  die  militärische,  war  damit  wirklich 
gewonnen. 

„Ich  bin  glücklich,  Herr  Graf,"  schrieb  Diebitsch  dem  Vize- 
kanzler, „daß  ich  durch  die  Festigkeit  meiner  ersten  Antwort  den 
Herren  Botschaftern  gezeigt  habe,  daß  sie  über  eine  unwiderruflich 
gesetzte  Grenze  nicht  hinausgehen  dürfen,  und  daß  sie  dadurch  in 
die  Notwendigkeit  versetzt  worden  sind,  selbst  als  Bittende  zu  er- 
scheinen, um  von  der  Güte  unseres  erhabenen  Herrn  Gnade  und 
Kettung  für  das  Osmanische  Reich  zu  erflehen.  Dies,  Herr  Graf, 
ist  in  meinen  Augen  die  größte  und  wichtigste  Errungenschaft 
dieser  Kampagne,  und  für  mein  Herz  die  schönste  und  glorreichste 
Belohnung.'' ') 

Diebitschs  Haltung  in  den  Tagen,  die  bis  zum  9.  September  hin- 
gegangen waren,  hatte  wesentlich  dazu  beigetragen,  den  Botschaftern 
die  Vorstellung  zu  erwecken,  daß  er  in  der  Tat  entschlossen  sei, 
im  Fall  der  Ablehnung  seiner  Forderungen  gegen  Konstantinopel 
vorzugehen.  Fahlen  war  beauftragt  worden,  Wisa  und  Sarai  zu 
besetzen,  die  von  den  türkischen  Truppen  geräumt  waren,  General 
Sievers  war  mit  1000  Mann  Kavallerie  und  vier  Kanonen  nach 
Enos  geschickt  worden,  um  durch  Einnahme  der  Stadt  die  Ver- 
bindung der  Armee  mit  der  Mittelmeerflotte  zu  sichern.  Auch 
Ipsala  und  Lule-Burgas  sollten  besetzt  und  die  Kosaken  gegen 
Tschurla  vorgeschickt  werden.  Krassowski  endlich  führte,  mit 
größerer  Energie  als  bisher,  den  Bau  der  Redouten  und  Trancheen 
fort,  die  sich  immer  mehr  den  Befestigungen  von  Schumla  näherten. 

0  »Je  m'estime  heureux,  M.  le  comte,  qiie  la  fermete  de  ma  premiere 
reponse  aux  Ambassadeur^,  ait  pu  leur  montrer  comme  tracee  d'one  mani^re 
irnWocable  la  ligne  de  reserve  sur  laquelle  ils  devaient  se  tenir,  et  que  ce 
laogage  les  ait  mis  dans  la  necessitö  de  se  präsenter  eux-memes  en  suppliants 
aün  d'implorer  de  la  clemence  de  notre  Auguste  Maitre  la  gräce  et  le  salut 
de  PEmpirc  Ottoman.  Ce  r^sultat,  M.  le  comte,  est  a  mes  yeux  le  plus  grand, 
le  plus  precieux  de  la  campagne  actuelle;  il  est  pour  mon  coeur  la  plus  belle 
et  la  plus  glorieuse  des  recompenses.** 

Im  gleichen  Sinne  schrieb  Diebitsch  dem  Kaiser.  Altes  und  neues  Ruß- 
land 1. 1.  S.  555. 


362  Kapitel  X.    Der  Obergang  über  den  Balkan  usw. 

Man  mußte  anoehmen,  daß  er  im  Begriff  sei,  einen  Sturm  auf  die 
Festung  zu  unternehmen.  Als  dann  die  Türken  in  der  Nacht  vom 
5.  auf  den  6.  September  einen  Ausfall  machten,  wurden  sie  zwar 
zurückgeschlagen,  aber  die  Russen,  die  bei  der  Verfolgung  zu  weit 
vorgedrungen  waren,  erlitten  gleichfalls  so  empfindliche  Verluste, 
daß  die  Türken  bald  danach  einen  zweiten  Ausfall  wagten,  der 
diesmal  für  sie  sehr  unglücklich  auslief,  aber  noch  keine  Entschei- 
dung brachte. 

Das  alles  hatte  eine  weitere-  Spannung  der  Lage  zur  Folge, 
die  in  Konstantinopel  zu  beschleunigtem  Abschluß  drängen  mußte. 
Es  kam  hinzu,  daß  Müffling,  der  seit  dem  Eintreffen  der  türkischen 
Bevollmächtigten  in  Adrianopel  seine  Mission  als  beendigt  ansah 
und  am  3.  September  seine  Abschiedsaudienz  beim  Sultan  gehabt 
hatte,  Konstantinopel  verließ,  nachdem  er  kurz  vorher  noch  ärger- 
liche Verhandlungen  mit  den  Engländern  gehabt  hatte,  die  darüber 
erbittert  waren,  daß  er  mit  Nachdruck  die  russische  Forderung 
einer  Kriegsentschädigung  befürwortete.  Damit  dem  Sultan,  den 
diese  Forderung  meist  schreckte,  ein  Schimmer  von  Hoffnung  bleibe, 
war  dann  vom  Reis-Efendi  beantragt  worden^),  eine  besondere 
Gesandtschaft  nach  Petersburg  zu  schicken,  um  dadurch  eine  Herab- 
setzung der  geforderten  Summen  zu  erreichen.  Der  Sultan  ging 
sofort  auf  den  Gedanken  ein,  aber  die  Krisis  dauerte  noch  bis  zum 
9.  September,  und  die  Entscheidung  fiel  zugunsten  rückhaltsloser 
Annahme  der  russischen  Forderungen,  wahrscheinlich')  infolge 
neuer  Unruhen  in  Konstantinopel.  Royer,  der  jetzt  zugleich  als 
Vertrauensmann  Rußlands  wie  der  Türkei  in  den  Vordergrund  tritt, 
traf  mit  den  türkischen  Bevollmächtigten  in  Adrianopel  ein.  Die 
Verhandlungen  wurden  nun  sofort  aufgenommen  und  führten  am 
Abend  des  14.  September  zu  glücklichem  Abschluß. 

„Der  Friede  von  Adrianopel"  —  schrieb  Diebitsch  dem  Kriegs- 
minister Tschernyschew  —  „ist  heute  unterzeichnet  worden,  siebzehn 

^)  So  sagt  ausdrücklich  Müfflings  geheimer  'Bericht  vom  5.  September 
1829.  In  Petersburg  glaubte  man,  daß  Müffling  selbst  den  Gedanken  angeregt 
habe,  und  war  keineswegs  erbaut  davon.  Auch  ist  dieser  Verdacht  wohl  nicht 
unbegründet,  da  Royer  in  einem  Schreiben  an  Diebitsch  vom  24.  September 
▼on  dem  „conseil  du  general  Müffling  relatif  ä  Tambassade  ^  envoyer  ä  Votre 
Auguste  Maitre'  spricht.    Petersburg,  W.  U.  A.  Nr.  5330. 

^)  Schreiben  Müfflings  an  den  Grafen  Bernstorif  d.  d.  Spezzia,  den 
9.  Oktober  1829.  Am  8.  September  sei  in  Konstantinopel  der  große  Alarm 
erfolgt,  der  vorauszusehen  gewesen.     Berlin,  A.  A.  I  G.  St  Russie  I,  Nr.  44. 


Kapitel  X.    Der  Übergang  über  den  Balkan  usw.  363 

Jahre  nach  dem  Einzüge  der  Franzosen  in  Moskau,  und  fünf  Monate 
nach  Aufbruch  des  Hauptquartiers  der  zweiten  Armee  aus  Jassy. 
Das  Maximum  der  Bedingungen,  die  mir  als  Grundlage  für  die 
Friedensverhandlungen  mitgegeben  wurden,  ist  das  Resultat,  und 
gewiß  wird  ganz  Europa  darin  ein  Übermaß  der  Großmut  unseres 
geliebten  Herrn  erkennen.  Denn  nichts  hätte  seine  siegreichen 
Armeen  verhindern  können,  sich  Eonstantinopels  und  des  Bosporus 
.zu  bemächtigen.  Die  Pforte  aber  hat  durch  den  Mund  der  fremden 
Botschafter  zugestanden,  daß  sie  aufhören  würde  zu  existieren, 
wenn  wir  unseren  Marsch  fortsetzten.  Die  Einzelheiten  finden 
Sie  in  meinen  Berichten  an  den  Kaiser  und  an  Nesselrode,  es  ist 
mir  unmöglich,  heute  mehr  zu  schreiben.  Die  Preußen  haben 
als  wahre  und  treue  Freunde  an  uns  gehandelt.  Sie  werden 
verstehen,  wie  glücklich  mich  das  macht. ^ 

Mit  der  denkwürdigen  Urkunde  des  Friedensinstruments  schickte 
Diebitsch  den  Flugeladjutanten  Tschewkin  nach  Petersburg,  wo  er 
am  23.  September  eintraf. 

Der  Kaiser  empfing  die  Nachricht  vom  Friedensschluß  mit 
aller  denkbaren  Freude.  Er  ließ  sogleich  die  Kaiserin  rufen,  die 
mit  dem  Thronfolger,  den  jungen  Großfürstinnen  und  sogar  mit 
dem  kleinen  Großfürsten  Konstantin  eiligen  Schrittes  herbeikam. 
Es  folgte  eine  Szene  schwer  zu  beschreibender  gegenseitiger  Beglück- 
wünschungen, Liebkosungen  und  allseitigen  Entzückens.  Danach 
erst  vertiefte  sich  der  Kaiser  in  das  Studium  des  Friedensinstruments. 
Es  waren  drei  an  demselben  Tage  unterzeichnete  Verträge^),  die 
der  Ratifikation  des  Kaisers  und  des  Sultans  harrten,  von  denen 
der  zweite  und  dritte  als  actes  separes  bezeichnet  waren. 

Der  erste,  der  die  spezifisch  russischen  Interessen  regelte,  be- 
stand aus  15  Artikeln. 

Artikel  1  bestimmte,  daß  für  ewige  Zeiten  zwischen  dem 
Kaiser  und  Padischah  aller  Reußen  und  dem  Kaiser  und  Padischah 
der  Osmanen,  ihren  Nachfolgern  und  Staaten  Friede  und  Freund- 
schaft bestehen  und  der  gegenwärtige  Vertrag  gehalten  und  weder 
direkt  noch  indirekt  verletzt  werden  solle.  Artikel  2  gab  den 
Türken  alle  Eroberungen  wieder  zurück,  die  Rußland  auf  türkischem 

')  Gedruckt  bei  Naradoungbian  1. 1.  11,  Nr.  53  und  54.  Die  dort  fehlende 
Konvention  über  die  Entschädigungen  bei  Sturdza,  Acte  si  Documente  I, 
Nr.  64,  und  bei  Prokesch  Osten  VI,  116 ff.  Die  russischen  Texte  bei  Jusefo- 
witsch:  Verträge  Rußlands  mit  dem  Orient. 


364  Kapitel  X.     Der  Obergang  über  den  Balkan  usw. 

Bodeo  gemacht  hatte:  die  Fürstentümer  Moldau  und  Walachei  und 
das  Banat  Krajowa,  ohae  jede  Mindernng,  Bulgarien  und  das  Land 
Dobrudscha  von  der  Donau  zum  Meer,  dazu  die  Städte  Silistria, 
Hirsowo,  Matschin,  Isaktschi,  Tultscha,  Babadagh,  Bazardschik, 
Varna,  Pravody')  und  die  anderen  Städte,  Ortschaften  und  Siede- 
lungen des  Landes,  das  ganze  Gebiet  am  Kamm  des  Balkan,  \'on 
Emine-Burnu  bis  Kasan  und  vom  Balkan  zum  Meer,  dazu  Selimno, 
Jamboli,  Aidos,  Karnabat,  Misimbria,  Achiolos,  Burgas,  Sisepol,« 
Kirkilissa,  Adrianopel,  Lule-Burgas,  sowie  alles,  was  die  russischen 
Truppen  in  Rumelien  besetzt  hatten. 

Artikel  3  konstatierte,  daß  der  Pruth  von  der  Stelle  aus,  wo 
er  die  Moldau  berühre,  bis  zu  seiner  Mündung  in  die  Donau  der 
Grenzfluß  beider  Reiche  bleiben  solle.  Diese  Grenze  führte  weiter 
zum  St.-Georgs-Arm  der  Donau '),  wobei  alle  links  davon  liegenden 
Inseln  des  Donaudeltas  zu  Rußland  gehören,  aber  soweit  sie 
zwischen  der  Sulina-  und  der  St.-Georgs-Mündung  lagen,  zwei  Meilen 
Wegs  vom  Ufer  unbesiedelt  bleiben  sollten,  auch  keinerlei  Anlagen 
und  Befestigungen,  mit  Ausnahme  der  Quarantänegebäude,  errichtet 
werden  durften.  Die  Schiffahrt  auf  der  Donau  wurde  beiden  Teilen 
freigegeben,  doch  sollten  russische  Kriegsschiffe  nicht  über  die 
Pruthmündung  hinausdringen. 

Artikel  4  zog  die  Grenze  der  asiatischen  Besitzungen  beider 
Mächte  so,  daß  sie  von  der  alten  Grenze  Gurions  am  Schwarzen 
Meer  bis  zur  Grenze  von  Imeretien  und  von  da  in  möglichst  gerader 
Linie  bis  zu  dem  Punkt  führen  sollte,  wo  die  Grenzen  der  Paschaliks 
Achalzych  und  Kars  an  Grusien  stoßen,  und  zwar  so,  daß  die  Stadt 
Achalzych  und  die  Festung  Achalkalaki  nicht  mehr  als  zwei  Stunden 
nördlich  von  dieser  Linie  bleiben. 

Alles  Land  südlich  und  westlich  von  dieser  Grenzlinie  in  der 
Richtung  zu  den  Paschaliks  Kars  und  Trapezunt  mit  dem  größten 
Teil  des  Paschaliks  Trapezunt  bleibt  für  ewige  Zeiten  bei  der 
Hohen  Pforte;  was  aber  nördlich  und  östlich  davon  gegen  Grusien, 


1)  Sie  waren,  wie  schon  Napoleon  zu  tun  pflegte,  wohl  ausdrücklich  her- 
gezählt worden,  um   die  Großmut  Rußlands  recht  nachdrücklich   zu  betonen. 

*)  Das  war  ein  Gewinn.  Der  Friede  von  Bukarest  hatte  die  Kiliamündung 
als  Grenze  bestimmt.  Vgl.  Bd.  I  S.  278.  Durch  die  Sulinamündung  aber  ging 
der  eigentliche  Verkehr,  der  jetzt  unter  russischer  Kontrolle  stand,  was 
namentlich  in  Osterreich  schmerzlich  empfunden  wurde.  Schreiben  des  Inter- 
nuntius an  Metternich  d.  d.  25.  September   1829.    Prokesch  -  Osten   VI.   147. 


Kapitel  X.    Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  3GÖ 

Imeretien  uud  Gurien  liegt,  dazu  das  gaoze  Ufer  des  Schwarzen 
Meeres  von  der  Mündung  des  Kuban  bis  zum  Posten  St.  Nikolai 
inkl.  soll  zu  ewigem  Besitz  Rußland  gehören.  Rußland  gibt  danach 
der  Pforte  den  übrigen  Teil  der  Paschaliks  Achalzych,  Kars,  Bajasid 
und  Erzerum  zurück,  nebst  den  gleichnamigen  Paschaliks 
und  dem,  was  Rußland  außerhalb  der  ihm  zugefallenen  Zone  be- 
setzt hat. 

Artikel  ö  sichert  den  Fürstentumern  Moldau  und  Walachei 
alle  ihre  Privilegien  und  Freiheiten.  In  betreff  Serbiens  bestimmt 
Artikel  6,  daß  die  Pforte  die  zu  Akkerman  übernommenen  Ver- 
pflichtungen ohne  Zeitverlust  ausführen  und  namentlich  den  Serben 
die  ihnen  1813  entrissenen  sechs  Bezirke  wiedergeben  werde. 

Es  folgte  ein  sehr  ausführlich  gehaltener  Artikel  7 '),  der  dem 
russischen  Handel  die  weiteste  Freiheit  auf  türkischem  Boden,  die 
Durchfahrt  durch  Bosporus  und  Dardanellen  und  die  unbehinderte 
Fahrt  durch  das  Schwarze  Meer  sicherte.  Die  Meerengen  wurden 
gleichzeitig  allen  Mächten  erschlossen,  mit  denen  die  Pforte  nicht 
im  Kriege  lag. 

Die  Entschädigung  für  die  Verluste,  die  der  russische  Handel 
seit  1806  und  namentlich  während  des  letzten  Krieges  erlitten 
hatte,  wurde  durch  Artikel  8  auf  IV,  Millionen  holländischer 
Dukaten  festgestellt,  und  sollte  in  bestimmten  Fristen  im  Lauf  von 
18  Monaten  befriedigt  werden. 

In  Artikel  9  erkennt  die  Pforte  an,  daß  sie  eine  den  großen 
Ausgaben  Rußlands  entsprechende  Kriegsentschädigung  zu  zahlen 
habe,  wogegen  Rußland  sich  bereit  zeigt,  die  geringe  Landabtretung 
in  Asien  mit  in  Anrechnung  zu  bringen.  Was  die  Türkei  außer- 
dem zu  zahlen  habe,  wird  gegenseitiger  Vereinbarung  vorbehalten. 

Artikel  10  brachte  die  Regelung  der  griechischen  Frage.  Die 
Pforte  verpflichtete  sich,  dem  Londoner  Vertrag  vom  6.  Juli  1827 
und  dem  Protokoll  vom  22.  März  1829  beizutreten.  Sie  wird  un* 
mittelbar  nach  Ratifikation  des  Vertrages  Bevollmächtigte  ernennen, 
um  mit  den  Bevollmächtigten  von  Rußland,  England  und  Frank- 
reich sich  über  die  Ausführung  der  durch  Vertrag  und  Protokoll 
gefaßten  Beschlüsse  zu  verständigen. 

')  „celui  de  tous  qui  renferme  le  plus  de  matiere  ä  des  chicanes  et  des 
discussioQS*'  Otteufels  1.  I.  Daß  die  Rechte  der  Großmächte  ohne  ihr  Zutun 
durch  diesen  Artikel  erweitert  wurden,  empfand  man  in  Östereich  wie  eine 
Beleidigung.     Prokesch  Osten  VI.  149. 


36G  Kapitel  X.     Der  Übergang  über  den  Balkan  usw. 

Die  folgenden  Artikel  11  bis  14  betrafen  die  alimähliche 
Räumung  der  Türkei  und  vereinbarten  eine  Amnestie,  sowie  Frei- 
heit der  Auswanderung  für  die  beiderseitigen  Untertanen. 

Endlich  wurden  alle  früheren  russisch-türkischen  Verträge  im 
Schlußartikel  (15)  ausdrücklich  bestätigt. 

Von  den  beiden  Nebenverträgen  ordnete  der  erste  die  Ver- 
hältnisse von  Moldau  und  Walachei.  Das  Wesentlichste  war,  ab- 
gesehen von  der  in  den  Hauptvertrag  aufgenommenen  Bestätigung 
der  früheren  Verträge,  die  Ernennung  der  Hospodare  auf  Lebens- 
zeit und  die  Bestimmung,  daß  allen  Mohammedanern  der  Aufenthalt 
in  beiden  Fürstentümern  endgültig  untersagt  wurde  *),  endlich  daß 
alle  Befestigungen  auf  dem  linken  Donauufer  geschleift  und  niemals 
wieder  hergestellt  werden  sollten.  Der  zweite  Separatvertrag 
ordnete  die  Räumung  Giurgewos  und  die  Schleifung  seiner  Festungs- 
werke an  und  gab  die  Bestimmungen  über  den  Abmarsch  der 
türkischen  Truppen  an.  Danach  wurde  genau  fixiert,  in  welcher 
Weise  die  Zahlung  der  Entschädigungssumme  von  1 500000  hollän- 
dischen Dukaten  erfolgen  solle.  Die  auf  Wunsch  der  Türken  in 
den  Hauptvertrag  nicht  aufgenommene  Höhe  der  Kriegsentschädigung 
wurde  auf  10  Millionen  holländische  Dukaten  festgesetzt,  wobei 
ausdrücklich  bemerkt  wurde,  daß  in  betreff  des  Zahlungsmodus 
die  Pforte  an  die  Großmut  und  Hochherzigkeit  des  Kaisers  appelliere. 
Auch  sei  vereinbart  worden,  daß,  um  die  Schwierigkeit  der  Zahlung 
in  Gold  zu  erleichtern,  Rußland  sich  bereit  finden  werde,  Kompen- 
sationen in  natura  anzunehmen,  die  dann  von  der  Hauptsnmme  in 
Abzug  gebracht  werden  könnten.  Der  Schlußartikel  gab  die  genauen 
Bedingungen  an,  nach  welchen  die  russischen  Truppen  das  türkische 
Territorium  in  Europa  und  Asien  räumen  sollten. 

Der  Kaiser  ist  mit  diesen  von  ihm  sofort  in  der  Hauptsache 
als  Definitivum  anerkannten  Verträgen  überaus  zufrieden  gewesen. 
Das  Wesentliche  war  ihm  die  Beendigung  des  Krieges,  dessen  Er- 
gebnisse doch  weit  über  das  hinausgingen,  was  ihm  noch  vor 
wenigen  Monaten  bestenfalls  erreichbar  schien.  Später  freilich 
waren  seine  Wünsche  weiter  gegangen.     Aber  die  in  Aussicht  ge- 

')  „II  est  invariablement  arrete  que  ....  dans  la  grande  et  petite  Valacbie 
comme  aussi  en  Moldavie,  aucun  Mohametan  ne  pourra  jamais  avoir  son  domicile." 
Wie  Rußland  diese  Zugeständnisse  benutzte,  um  eine  völlige  Neuordnung  der 
inneren  Verhältnisse  der  Fürstentümer  herbeizuführen,  zeigt  die  Biographie 
Kisselews  ßd.  I. 


Kapitel  X.    Der  Übergang  über  den  Balkan  usw.  367 

nommenen  KompeosatioDen  schienen  doch  noch  die  Möglichkeit  zu 
einem  weiteren  Landerwerb  auf  asiatischem  Boden  zu  bieten,  wobei 
er  an  Batum  und  Kars  dachte').  Alles  übrige  entsprach  seinen 
Wünschen.  Der  Gedanke,  den  Zusammenbruch  der  Türkei  herbei- 
zuführen, war  endgiltig  von  ihm  aufgegeben  worden.  Er  hatte  in 
den  Tagen,  die  der  Entscheidung  unmittelbar  vorausgingen,  ein 
Komitee  eingesetzt,  das  über  die  wichtige  Frage  entscheiden  sollte, 
ob  die  Erhaltung  oder  der  Zusammenbruch  der  Türkei  für  Rußland 
vorteilhafter  sei.  Der  Graf  Kotschubej,  Fürst  Alexander  Golitzyn, 
Graf  Peter  Tolstoi,  also  die  Männer,  denen  der  Kaiser  während 
seiner  Abwesenheit  die  Reichs  Verwaltung  übertragen  hatte,  dazu 
Nesselrode,  Dmitri  W.  Daschkow  und  Tschernyschew,  der  Kriegs- 
minister, die  Quintessenz  des  Reichsrats '),  waren  unter  Vorsitz  des 
Kaisers  am  16.  September  zusammengetreten,  um  ihm  ihre  Meinung 
vorzutragen.  Nesselrode  und  Daschkow  verlasen  Denkschriften,  die 
sie  verfaßt  hatten  und  die  den  Nachweis  erbrachten,  daß  die  Er- 
haltung des  Osmanischen  Reiches  für  Rußland  vorteilhafter  sei, 
als  ein  Zusammenbruch,  dessen  Folgen  unberechenbare  Verwicke- 
lungen und  Schwierigkeiten  bringen  könnten'),  wenn  auch  im 
Augenblick  der  Schein  eines  glorreichen  Erfolges  sich  damit  ver- 
binde und  alle  Kabinette  zunächst  überrascht  seien.  Dieser  An- 
schauung schloß  sich  das  Komitee  einmütig  an,  und  auch  der 
Kaiser  machte  sie  sich  zu  eigen.  Aber  die  Sitzungen  des  Komitees 
dauerten  noch  fort,  als  die  Nachricht  vom  Abschluß  des  Friedens 
eintraf;  man  hatte  bis  zum  letzten  Augenblick  das  Eintreten  einer 
Katastrophe  für  möglich  gehalten  und  sich  mit  der  Frage  be- 
schäftigt, was  dann  geschehen  solle  ^).  Um  so  größer  war  der 
Jubel  über  den  Frieden  und  nicht  minder  über  die  politische 
Niederlage  Englands,  Frankreichs  und  Österreichs.  Nesselrode  war 
namentlich  glücklich  darüber,    daß  die  letzte  Entscheidung   in  der 

0  „ezigez  absolument  d'abord  Batoum,  et  meme  Kars  si  cela  est  possible.^ 
Nicolai  an  Diebitsch.    Alexandria  12./24.  September  1829. 

')  So  charakterisiert  Nesselrode  in  einem  Brief  an  Diebitsch  das  Komitee. 

^)  «plus  on  medite  Timmense  question  de  la  chute  de  TEmpire  Ottoman, 
plus  on  s'enfonce  dans  un  labyrinthe  de  difficultes  et  de  complications  ....** 
Nesselrode  an  Diebitsch  7./19.  September  1829. 

*)  Die  Protokolle  des  Komitees  sind  mir  nicht  zugänglich  gewesen.  Be- 
kannt geworden  sind  zwei  Briefe  vom  7./19.  September,  in  denen  Nesselrode 
und  Tschernyschew  Diebitsch  in  Kurze  über  den  Verlauf  der  ersten  Sitzung 
unterrichten.    Gedruckt  bei  Schilder  Nikolai  Bd.  II.  S.  548  und  549. 


368  Kapitel  X.    Der  Obergang  über  den  Balkan  usw. 

griechischeD  Grenzfrage  nun  doch  Rußland  gedankt  werden 
mußte  ^).  Der  reellste  Vorteil  aber  lag  darin,  daß  der  Artikel,  der 
dem  russischen  Handel  die  ganze  Türkei  erschloß,  in  der  Tat  das 
Maximum  der  russischen  Erwartungen  erfüllte.  Damit,  meinte  der 
Vizekanzler,  würden  sich  die  Kriegskosten  zehnfach  bezahlt  machen, 
auch  freute  er  sich,  daß  die  Öffnung  der  Dardanellen  für  die  Fahr- 
zeuge alier  Nationen  den  Schein  uneigennütziger  Großmut  trug, 
während  sie  in  Wirklichkeit  einen  ungeheuren  Vorteil  für  den 
russischen  Exporthandel  bedeutete.  Aber  auf  diesen  Schein  kam 
es  dem  Kaiser  sehr  wesentlich  an.  Er  wurde  nach  allen  Seiten 
hin  gewahrt  und  stellte  die  russische  Politik  um  so  mehr  in  ein 
glänzendes  Licht,  als  sich  nicht  verkennen  ließ,  daß  die  Politik 
der  Verbündeten  vom  6.  Juli  unsicher,  schwankend  und  von  Eifer- 
sucht bestimmt  gewesen  war').  Von  dem  diplomatischen  Spiel 
zwischen  den  Kulissen  ahnte  die  Welt  nichts.  Daß  Paskiewitsch 
heimlich  die  Janitscharen  unterstützt  und  den  Armeniern  Ver- 
heißungen gemacht  hatte,  die  er  nicht  halten  konnte  und  nicht 
halten  wollte,  daß  Diebitsch  die  Bulgaren  bewaffnete  und  durch 
Milosch  von  Serbien  mit  dem  Pascha  von  Skodra  über  dessen  Ab- 
fall von  der  Türkei  in  Verhandlung  getreten  war,  blieb  glücklich 
verborgen  und  ebenso  die  ungeheure  Gefahr,  in  der  3ich  Diebitsch 
während  seines  Aufenthalts  in  Adrianopel  befunden  hatte.  Was 
die  W^elt  sah,  war,  daß  die  halbe  Türkei  dem  Sultan  großmütig 
zurückgegeben  wurde,  daß  Rußland  der  Versuchung  widerstand 
den  Sultan  zu  stürzen,  und  daß  es  in  der  Tat,  wie  der 
Kaiser  versprochen  hatte,    in    der    europäischen  Türkei    keine  Er- 

1)  ,,]e  fameux  article  X,  pour  lequel  ....  je  vous  baise  les  pieds  et  les 
mains,  malgre  ce  que  pourront  en  dire  les  Gordou  et  les  Wellington.'^ 
Nesselrode  an  Diebitsch  23.  September  st  v.  W.  U.  A.  5329.  Schon  in  Porös 
hatte  Ribeaupierre,  sehr  gegen  Wellingtons  Absichten,  Stratford  Canning  be- 
wogen, auf  die  Grenze  Arta-Volo  einzugehen,  aber  bei  der  Abneigung  des 
englischen  Kabinetts  gegen  ein  lebensfähiges  Griechenland  war  es  zweifelhaft, 
ob  die  Stipulationen  von  Porös  Wirklichkeit  werden  wurden.  Jetzt,  da  die 
Pforte  sie  als  einen  integrierenden  Teil  des  Friedens  von  Adrianopel  anerkannt 
hatte,  ließ  sich  nicht  mehr  daran  rütteln.     So  schien  es  wenigstens. 

')  „Que  la  politique  de  nos  allies  est  mesquine  au  milieu  de  ces  grands 
4venementsl  Gordon  et  Guilleminot  qui  se  contentent  d^une  promesse  si 
vague  quand  ils  pouvaient  tout  obtenir  et  tout  finir.  Mais  c'est 
eucore  Dieu  qui  a  voulu  que  leur  pauvre  Jalousie  fut  confondue  et  que  la 
Grece  düt  son  salut  exciusivement  ä  un  Empereur  de  Russie.''  Nesselrode 
an  Diebitsch  12./24.  September  1.  1. 


Kapitel  X.    Der  Obergang  Aber  den  Balkan  usw.  369 

oberungen  machte.  Yod  den  meDSchenleeren  Inseln  an  den 
Donaumündungen,  die  niemanden  zu  interessieren  schienen,  die  aber 
doch  die  ganze  Mundung  des  größten  europäischen  Stromes  in 
russische  Hände  spielten,  ist  vor  der  Öffentlichkeit  weiter  keine 
Rede  gewesen. 

Mit  der  Unterzeichnung  des  Friedenstraktats  waren  freilich 
noch  keineswegs  alle  Schwierigkeiten  beseitigt.  Vielmehr  hat 
Diebitsch  noch  bis  zum  Schluß  des  Jahras  unter  überaus  schwierigen 
politischen  und  militärischen  Verhältnissen  alle  Hilfsmittel  seines 
zugleich  geschmeidigen  und  energischen  Geistes  daransetzen  müssen, 
um  die  Ausführung  der  Bestimmungen  des  Friedens  von  Adrianopel 
von  der  Pforte  zu  erlangen.  Diese  Schwierigkeiten  kamen  von 
verschiedenen  Seiten. 

Zunächst  mußte  geraume  Zeit  vergehen,  ehe  die  im  Felde  und 
in  den  Festungen  liegenden  Paschas  vom  Abschluß  des  Friedens 
Nachricht  erhalten  konnten.  Das  aber  war  um  so  peinlicher,  als 
die  russischen  Truppen,  sofern  sie  nicht  um  Adrianopel  konzentriert 
waren,  meist  in  schwachen  Abteilungen  im  Lande  verstreut  lagen 
So  ist,  um  ein  Beispiel  anzuführen,  Ali  Pascha,  der  mit  8000 
Mann  und  1500  Reitern  bei  Silivri  stand,  nur  durch  das  Eingreifen 
des  preußischen  Gesandtschaftssekretärs  ßrassier  verhindert  worden, 
über  die  wenigen  hundert  Kosaken  herzufallen,  die  bei  Tschorln 
standen '). 

Dazu  war  ganz  Konstantinopel  voller  Gerächte  in  Folge  der 
schließlich  eingetroffenen  Nachricht  über  die  ersten  türkischen  Erfolge 
vor  Schumla.  Auch  wußte  Diebitsch  durch  Royer,  daß  die  Bot- 
schafter von  England'  und  Frankreich  für  den  Fall,  daß  der  Friede 
im  letzten  Augenblick  noch  scheiterte,  ihre  Flotten  nach  Konstanti- 
nopel rufen  wollten.  Die  Marineoffiziere,  welche  den  Admiralen 
die  Befehle  überbringen  sollten,  warteten  bereits  in  Pera  auf  Ordre. 
Wurden  diese  Schwierigkeiten,  nachdem  die  Nachricht  vom  Abschluß 
des  Friedens  bekannt  geworden  war,  rasch  beseitigt,  so  brachte 
der  Entschluß  des  Sultans  Halil  Pascha,  den  Adoptivsohn  seines 
Günstlings,    des  Seraskiers  Chosrew    Pascha,    in    außerordentlicher 

^)  Brassier  war  von  Royer  mit  der  Meldung  nach  Konstantinopel  geschickt 
worden,  daß  der  Friede  eben  unterzeichnet  sei,  und  hatte  seineu  Weg  über 
Silivri  genommen.  Er  fand  den  Pascha  im  Begriff  aufzubrechen  und  brachte 
ihn  nur  dadurch  von  diesem  Entschluß  ab,  daß  er  ihm  sagte,  der  Friede 
würde  in  allernächster  Zeit  unterzeichnet  sein. 

Schiemann,  Geschichte  Rußlands.    IL  24 


370  Kapitel  X.    Der  Cbergang  über  den  Balkan  usw. 

Gesandtschaft,  wie  der  Reis-Efendi  und  Müffling  geraten  hatten, 
nach  Petersburg  zu  senden,  neue  Verlegenheiten.  Dem  Sultan  war 
von  allen  Seiten  her  so  dringend  vorgestellt  worden,  daß  er  sein 
Heil  nur  in  der  Gnade  des  Kaisers  finden  könne,  daß  ihm  die  Ent- 
sendung Halils  den  rettenden  Ausweg  zu  bieten  schien,  um  der 
unerschwinglichen  Forderung  der  Kriegsentschädigung  zu  entgehen, 
zu  der  er  sich  hatte  bekennen  müssen,  an  deren  Aufbringung  aber 
sowohl  er,  wie  seine  Staatsmänner  verzweifelten.  Er  rechnete  mit 
Bestimmtheit  darauf,  daß  der  Zar  sie  erheblich  ermäßigen,  vielleicht 
sogar  zum  größten  Teil  erlassen  werde,  und  war  daher  auf  das 
äußerste  bestürzt,  als  ihm  Diebitsch  durch  Royer,  der  auch  in 
dieser  heikelen  Angelegeoheit  die  Vermittelung  übernahm,  von  der 
Entsendung  Halils  abraten  ließ.  Dem  Kaiser  sowohl  wie  Nessel- 
rode war  der  neu  angekündigte  Besuch  nicht  genehm.  Abgesehen 
von  den  großen  Ausgaben,  welche  notwendig  mit  dem  Empfang 
eines  Abgesandten  des  Sultans  ^)  verbunden  waren,  war  der  moralische 
Druck  unbequem,  den  ein  so  ofienkundiges  Anrufen  der  Großmut 
des  Kaisers  in  sich  schloß.  Man  hätte  es  vorgezogen,  die  ganze 
lästige  Angelegenheit  in  Konstantinopel  zu  erledigen.  Der  General- 
adjutant Graf  Orlow,  der  als  außerordentlicher  Gesandter  nach 
Konstantinopel  geschickt  wurde,  um  die  Pforte  davon  zu  überzeugen, 
daß  ihr  Heil  im  engsten  Anschluß  an  Rußland  liege,  sollte  auch 
diejenigen  Ermäßigungen  der  Bedingungen  des  Friedenstraktats 
überbringen,  die  der  „Großmut^  des  Kaisers  mit  den  Interessen 
Rußlands  vereinbar  schienen.  Er  war  bereit,  die  Räumung  der 
Donaufürstentümer  schon  nach  18  Monaten  zu  vollziehen  und  sich 
mit  der  Besetzung  von  Silistria,  Kars  und  Satunowo  als  Garantien 
für  die  Erfüllung  der  Friedensbedingungen  zufrieden  zu  geben. 
Nach  zwei  Jahren  könne  der  Tribut  der  Donaufurstentümer,  auf 
den  die  Pforte  für  diesen  Zeitraum  hatte  verzichten  müssen,  direkt 
an  Rußland  entrichtet  und  von  der  Summe  der  Kriegsentschädigung 
in  Abzug  gebracht  werden.  Außerdem  wollte  der  Kaiser  zwei 
Millionen  Dukaten  ganz  erlassen  und  für  weitere  zwei  Millionen 
Batum,  vier  Linienschiffe  und  vier  Fregatten  entgegennehmen. 
Der    Rest    von    sechs    Millionen    Dukaten    sollte    in    sechs  Jahres- 


^)  Es  war  das  erstemal,  daß  ein  Sultan  sich  dazu  bequemte,  Abgesandte 
an  einen  auswärtigen  Herrscher  zu  schicken.  Mahmud  hatte  die  Vorstellung, 
damit  dem  Zaren  eine  ganz  ungewöhnliche  Ehrung  zu  erweisen. 


Kapitel  X.     Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  371 

terminen  vom  1.  April  1832  ab  entrichtet  werden^).  Diese  der 
Pforte  noch  nicht  bekannten  Zugeständnisse  gewährten  weit  weniger, 
als  sie  zn  erlangen  hoffte,  und  das  Bemühen  Diebitschs,  die  Sendung 
Haliis')  zu  verhindern  oder  doch  aufzuschieben,  bis  sie  durch  das 
Eintreffen  Orlows  unnötig  geworden  sein  werde,  steigerte  das  immer 
noch  lebendige  Mißtrauen  des  Sultans.  Er  zögerte  mit  der  Rati- 
fikation, und  es  bedurfte  eines  erneuten  starken  Druckes  von 
Diebitsch,  um  die  Unterschrift  Mahmuds  zu  erlangen.  In  der  Nacht 
vom  26./27.  September  wurde  die  Reinschrift  der  Ratifikations- 
urkunde fertiggestellt  und  diese  Tatsache  am  27.  vom  Reis-Efendi 
den  fremden  Botschaftern  mündlich  und  Royer  schriftlich  mitgeteilt. 
Gleich  danach  gingen  zwei  russische  Offiziere  auf  verschiedenen 
Wegen  mit  Briefen  von  Royer  an  Paskiewitsch  ab,  um  auch  in 
Asien  die  Einstellung  der  Feindseligkeiten  zu  veranlassen. 

Zwei  Tage  vorher,  am  25.  September,  hatte  jedoch  der  Reis-Efendi 
den  Botschaftern  von  England  und  Frankreich  eine  Note  übergeben, 
die  nicht  anders  als  ein  Protest  gegen  den  Frieden  von  Adria- 
nopel betrachtet  werden  konnte.  Sie  wurde  von  den  Botschaftern 
zunächst  geheim  gehalten,  aber  sie  hatten  die  Note  doch  ange- 
nommen und  übersandten  sie  später  der  Londoner  Konferenz.  Dort 
ist  sie  unter  den  inzwischen  veränderten  Verhältnissen  als  non 
avenue  betrachtet,  das  heißt  ignoriert  worden.  Aber  es  kann  nicht 
zweifelhaft  sein '),  daß  die  von  der  Pforte  entwickelten  Anschau- 
ungen denen  der  beiden  Kabinette  entsprachen.  Der  Schwerpunkt 
des  Protestes  fiel  dahin,  daß,  während  das  Protokoll  von  Porös  in 
betreff  der  Grenzen  Griechenlands  Bestimmungen  getroffen  hatte, 
die  noch  immer  Verhandlungen  unterzogen  werden  konnten,  der 
Friede  von  Adrianopel  ein  Definitivum  schuf,  durch  welches 
die  Interessen  der  Pforte  wie  der  Mächte  auf  das  schwerste  ge- 
schädigt würden.  Ebenso  standen  alle  Sympathien  des  Internunzius 
auf  Seiten  der  Pforte.  Die  bittere  Kritik,  der  er,  ebenfalls  am 
25.  September,  die  Friedensbedingungen  unterzog,   läßt   erkennen. 


0  Nesselrode  an  Diebitsch.  Petersburg,  den  23.  September  1829.  W. 
U.  A.  5329.    „Teiles  sont  ä  peu  pr^s  les  idees  de  l'Empereur^. 

>)  Die  Instruktion  Halil  Paschas  mit  den  später  an  ihr  vorgenommenen 
Änderungen,  bei  Prokesch-Osten  I.  1.  VI.  S.  154  ff. 

3)  Ottenfels  an  Metternich.    Prokescb -Osten  1.  1.  150.    „II  semblerait  que 

«et  Article  (X)  ne  saurait  etre  considere  comme  obligatoire  pour  les  deux  Cours 

alliees." 

24» 


372  Kapitel  X.     Der  Obergang  über  den  BalkaD  usw. 

in  welchem  Sinne  er  die  Pforte  beraten  hat  und  wie  sehr  Österreich 
die  Niederlage  der  Türkei  als  eigene  Niederlage  empfand^).  Dem- 
gegenüber war  die  Hilfe  Preußens  für  Diebitsch  von  unschätzbarem 
Wert,  und  es  ist  wohl  nicht  zu  viel  gesagt,  wenn  wir  Royer  ein 
Hauptverdienst  an  der  für  Rußland  günstigen  Wendung  zuschreiben, 
welche  die  lange  Reihe  der  schwierigen  Verhandlungen  nahm,  die 
sich  bis  Anfang  Dezember  hinzogen.  Erst  danach  sind  die  russisch- 
türkischen  Beziehungen  von  Regierung  zu  Regierung  durch  den 
Generaladjutanten  Orlow  ohne  fremde  Yermittelung  in  normale 
Bahnen  geleitet  worden. 

Eine  weitere  sehr  ernste  Schwierigkeit  bereitete  das  Ver- 
halten des  Paschas  von  Skodra  den  Russen.  Schon  vor  der 
Ratifikation  des  Friedensinstrumentes  hatte  Diebitsch  sichere  Nach- 
richt erhalten,  daß  der  Albaner  öffentlich  angekündigt  habe,  er 
werde  seine  Winterquartiere  in  Adrianopel  nehmen,  und  dieser 
Entschluß  schien  um  so  verdächtiger,  als  Diebitsch  sich  sagen 
konnte,  daß  Mustafa  sich  durch  den  Abschluß  des  Friedens 
tief  enttäuscht  fühlen  mußte.  Die  durch  Milosch  von  Serbien 
geführten  Verhandlungen  hatten  ihn  im  Glauben  bestärkt,  daß  er 
in  den  Russen  geheime  Verbündete  habe,  und  daß  seine  ehrgeizigen 
Pläne  nicht  in  Widerspruch  mit  ihren  Interessen  ständen.  Durch 
sein  Verhalten  vor  Widdin  war  er  in  den  Augen  des  Sultans 
kompromittiert,  und  da  er  sich  von  Diebitsch  im  Stich  gelassen 
sah,  bot  sich  ihm  die  Möglichkeit,  ein  großes  Verdienst  um  die 
Pforte  zu  erwerben,  wenn  er  mit  seinem  intakten  Heer  den  Russen, 
über  deren  Schwäche  er  wahrscheinlich  orientiert  war,  in  den 
Rücken  fiel'),  und  so  eine  Entscheidung  zugunsten  des  Islam 
herbeiführte,  die,  wenn  der  Erfolg  für  ihn  sprach,  mit  einem 
Schlage  alles  gut  gemacht  hätte,  was  bisher  an  Ruhm  und  Ansehen 
verloren  gegangen  war.     Reichte  der  Sultan  ihm  die  Hand,  so  war 


*)  Ottenfels  an  Metternicb  1.  1.  146 — 154.  „Dire  que  ce  Traite  est  le 
plus  dur,  le  plus  humiliant  qui  ait  jamais  ete  dicte  par  le  vainqueur  a  ud  eonemi 
faible,  est  une  verite  qui  saute  aux  yeux  k  la  premiere  lecture  de  ce  document . . . 
La  Russie  peut  trouver  dans  ce  Traite  tout  ce  qu'elle  veut  qu'il  y  soit;  si  la 
destruction  de  la  Porte  entre  dans  ses  vues,  eile  s^en  est  assure  les  preteztes 
et  les  moyens.**  Hieran  schließt  sich  die  bittere  Kritik  der  einzelnen 
Artikel. 

^  Vgl.  die  gut  orientierte  knappe  Darstellung  dieser  Episode  in  Rosens 
Geschichte  der  Türkei  S.  120. 


Kapitel  X.     Der  Übergang  über  den  Balkan  usw.  373 

der  Anschlag  keineswegs  aussichtslos  und  im  Fall  des  Erfolges 
auch  nicht  undenkbar,  daß  dem  Sieger  der  Thron  Mahmuds 
zufiel.  Denn  es  war  bekannt,  daß  Mustafa  und  seine  Albaner 
Anhänger  des  Alten  waren,  sie  mußten  in  den  immer  noch  zahl- 
reichen Janitscharen  der  Hauptstadt  Freunde  und  Helfer  finden. 
Das  aber  gerade  gab  Diebitsch  einen  Ausgangspunkt,  um  auf  den 
Sultan  einzuwirken.  £r  ließ  durch  Pablen  und  Orlow  zwei  Noten 
an  die  Pforte  richten,  durch  welche  der  Sultan  in  gebietendem  Ton 
aufgefordert  wurde,  dem  Pascha  von  Skodra  ein  weiteres  Vor- 
rücken zu  untersagen,  widrigenfalls  Diebitsch  seine  militärischen 
Operationen  sofort  wieder  aufnehmen  und  den  Frieden  von  Adria- 
nopel als  von  der  Türkei  gebrochen  und  deshalb  als  unverbindlich 
ansehen  werde.  Zugleich  verlangte  er  umgehenden  Austausch  der 
Ratifikationen  und  die  Zahlung  der  ersten  Rate  von  100000  Du- 
katen, eine  beglaubigte  Abschrift  des  Firmans,  der  die  Über- 
gabe von  Giurgewo  anordnete,  und  ebenso  eine  Abschrift  von 
Firman  und  Hat-i-Scherif,  durch  welche  die  Ausführung  der  für 
Serbien  ausbedungenen  Vorteile  befohlen  wurde.  Die  Kopien  beider 
Dokumente  mußten  vidimiert  sein.  Geschehe  das  alles,  so  werde 
er  mit  der  Räumung  des  türkischen  Gebietes  noch  vor  Ablauf  des 
festgesetzten  Termines  beginnen  ^).  An  Royer  aber  schrieb  Diebitsch, 
daß  hinter  Mustafa  die  Janitscharenpartei  stecke,  die,  indem  sie 
sich  der  zweiten  Hauptstadt  der  Türkei  zu  bemächtigen  suche, 
das  osmanische  Reich  zu  Fall  bringen  und  die  Trümmer  unter 
sich  verteilen  wolle.  Er  bat  ihn  zugleich,  dieses  Schreiben  dem 
englischen  Botschafter  vorzulegen  und  ihn  darauf  hinzuweisen,  daß 
es  jetzt  darauf  ankomme,  hier  im  barbarischen  Orient  dieselbe 
revolutionäre  Partei  zu  bekämpfen,  die  sich  in  Europa  die  liberale 
nenne,  und  in  der  Türkei  und  in  Indien  die  gleichen  Ziele 
verfolge  wie  in  Rußland  und  England.  Aus  dem  „dummen  Ge- 
schwätz'^  der  französischen  Zeitungen  ließe  diese  Tendenz  sich 
leicht  erkennen.  Er  könne  nicht  glauben,  daß  Gordon,  der  Bruder 
Lord  Aberdeens,  in  den  Tagen  eines  Ministeriums,  das  der  Herzog  von 
Wellington  leite,  nicht  als  aufrichtiger  Royalist  die  Prinzipien 
teile,  in  denen  Kaiser  Nikolaus  und  Friedrich  Wilhelm  eines 
Sinnes  seien. 


>)  Drei  Depeschen  Diebitschs  an  Royer  vom  ^^  ^q^^^^  1829.  W.  ü.  A. 
5330.    Die  dritte  Depesche  ist  in  der  Anlage  gedruckt. 


374  Kapitel  X.     Der  Übergang  über  den  Balkan  usw. 

Royer  hat  dann  jenen  Brief  Diebitschs  im  Original  dem  eng- 
lischen Botschafter  vorgelegt,  auf  den  Diebitschs  Bekenntnis  za 
Prinzipien,  die  mit  denen  der  Torys  identisch  waren,  einen  ebenso 
tiefen  Eindruck  machte  wie  seine  Drohungen.  Sir  Robert  stellte  sich 
ganz  auf  den  Boden  der  russischen  oder,  wie  er  glaubte,  der  allge- 
mein konservativen  Interessen  und  setzte  seinen  ganzen  Einfluß 
daran,  um  den  Reis-Efendi  zu  gewinnen.  Er  verhandelte  ohne 
Vermittelung  eines  Dragomans  persönlich  mit  ihm  und  berichtete 
jedesmal  über  den  Verlauf  seiner  Verhandlungen  an  Royer.  Die 
Rivalitäten  im  Orient  kamen  so  zeitweilig  zur  Ruhe,  und  Royer 
konnte  nach  Adrianopel  melden,  daß  sich  von  Gordon  jetzt  nur 
Gutes  erwarten  lasse'). 

Die  Folgen  zeigten  sich  sofort.  Die  beiden  Firmans  trafen  in 
Adrianopel  ein,  und  Diebitsch  erhielt  die  Anzeige,  daß  6000  Beutel 
(gleich  100000  Dukaten)  bereits  abgesandt  seien*),  um  die  erste 
Anzahlung,  wie  der  Friedenstraktat  es  verlangte,  zu  entrichten. 
Dagegen  konnte  Diebitsch  anzeigen,  daß  der  Kaiser  den  Vertrag 
gebilligt  habe  und  daß  die  Ratifikation  bald  eintreffen  werde. 
Gleich  nach  Austausch  der  Ratifikationen  werde  der  Generaladjutant 
Alexei  Orlow  nach  Konstantinopel  kommen  und  dort  bleiben,  bis 
der  Botschafter  Ribeaüpierre  wieder  seinen  Posten  antrete.  Im 
übrigen  werde  er  Adrianopel  und  Kirklissa  nicht  verlassen,  bevor 
er  die  Anzeige  erhalten  habe,  daß  Giurgewo  geräumt  und  in 
russische  Hände  übergegangen  sei.  In  betreff  des  Pascha  von 
Skodra,  der  „das  lächerliche  Gerücht^  von  seinem  Marsch  gegen 
Adrianopel  aufrechterhielt,  waren  Befehle  an  Geismar  und  Kisselew 
ergangen,  ihm  den  Weg  zu  verlegen. 

Geismar  hatte  am  10.  Oktober  von  den  Absichten  Mustafas 
erfahren  und  war  sofort  aufgebrochen  und  ihm  auf  der  Straße  von 
Wratza  nach  Sophia  gefolgt').     Nach  einem  beschwerlichen  Marsch 

^)  Darin  täuschte  er  sich,  gleich  nach  Beseitigung  der  ^von  Mustafa 
drohenden  Gefahr  trat  die  feindselige  Haltung  der  englischen  Politik  wieder 
deutlich  zutage. 

^)  Sie  trafen  am  22.  Oktober  in  Adrianopel  ein.  Petersburg  Reicbs- 
rat  690. 

')  Auszug  aus  dem  Bericht  Geismars  in  einem  Briefe  Diebitschs  an 
Royer  vom  24.  Oktober.  Hierher  gehört  auch  der  Brief  Diebitschs  an  den 
Kaiser  vom  15./27.  und  16./28.  Oktober.  R.  Starina  XXXVII  397.  Für  die 
Vorgeschichte  der  Aktion  Mustafas  Sablotzki-Dessjätowski :  Graf  Kisselew  und 
seine  Zeit.     Bd.  I  Kap.  XIII. 


Kapitel  X.     Der  Übergang  über  den  Balkan  usw.  375 

über  den  Balkan,  bei  dem  von  russischen  Truppen  zum  erstenmal 
der  Schipkapaß  besetzt  wurde,  erreichte  er  am  16.  das  Defilee  von 
Arnaut  Kalesi,  wo  er  1700  Albaner  mit  drei  Geschützen  in  starker 
Stellung  fand«  Dreimal  forderte  er  sie  vergeblich  auf,  ihm 
freien  Durchmarsch  zu  gewähren,  aber  die  Albaner  wichen  nichts 
vielmehr  trafen  sie  Anstalten  ihn  anzugreifen  und  begannen  die 
Vorposten  Geismars  zu  beschießen;  da  richtete  der  General  das 
Feuer  seiner  sechs  Geschütze  gegen  ihre  Redouten  und  ließ  den 
Geschützkampf  durch  die  ganze  Nacht  bis  in  den  Morgen  hinein 
fortsetzen,  während  gleichzeitig  ein  Teil  der  russischen  Truppen  die 
Stellung  der  Albaner  umging,  um  ihnen  in  den  Rücken  zu  fallen. 
Diese  mit  großer  Präzision  ausgeführte  Umgehung  brachte  dann  die 
Entscheidung.  Die  Albaner  wurden  durch  den  unerwarteten  Angriff 
im  Rücken  ihrer  Position  so  überrascht,  daß  sie  unter  Zurücklassung 
der  Geschütze  eilig  den  Rückzug  nach  Sophia  antraten.  Geismar 
verbot  seinen  Truppen,  die  Flüchtigen  zu  verfolgen  und  ließ  sogar 
den  Train  der  Türken  unbehindert  nach  Sophia  abziehen.  Noch 
großmütiger  zeigte  sich  Diebitsch.  Er  ließ  auch  die  drei  Kanonen  den 
Türken  zurückgeben,  hatte  aber  Kisselew  bis  Gobrowa  vorgehen 
lassen,  von  wo  aus  er  Reschid  Pascha,  der  noch  immer  in 
Schumla  lag,  und  dessen  Beziehungen  zu  Mustafa  verdächtig 
schienen,  die  Zufuhr  wesentlich  erschweren  konnte,  und  General 
Rüdiger  dem  Hauptkorps  Mustafas  entgegengestellt.  Da  gleichzeitig 
dem  Pascha  die  bündigsten  Befehle  aus  Eonstantinopel  zugingen, 
alle  Feindseligkeiten  zu  unterlassen,  erklärte  jetzt  Mustafa,  daß  es 
niemals  seine  Absicht  gewesen  sei,  Diebitsch  anzugreifen,  und  daß 
offenbar  Mißverständnisse  zu  falscher  Deutung  seiner  friedlichen 
Absichten  geführt  haben  müßten. 

Damit  war  diese  ganze  sorgenvolle  Episode  erledigt.  Die 
Kanonen  Geismars  haben  die  letzten  Schüsse  im  russisch-türkischen 
Kriege  abgegeben.  Acht  Tage  vorher  war  von  Paskiewitsch,  fast 
einen  Monat  nach  Unterzeichnung  des  Friedens,  ein  türkisches 
Heer  in  offener  Feldschlacht  bei  ßeiburt  geschlagen  worden.  Ein 
neuer  Kampf  schien  bevorzustehen,  als  am  11.  Oktober  der  Haupt- 
mann des  russischen  Generalstabes  Duhamel  die  ofßzielle  Nach- 
richt vom  Abschluß  des  Friedens  brachte,  und  nun  auch  dort  zur 
Freude  beider  Gegner  die  Waffen  endgiltig  niedergelegt  werden 
konnten.  Die  Nachricht  von  der  Übergabe  Giurgewos  erhielt 
Diebitsch  am  4./16.  November.     Schon  vorher  hatte  der  Sultan  in 


376  .  Kapitel  X.     Der  Übergang  aber  den  Balkan  usw. 

Folge  eiaes  Beschlusses,  der  in  voller  Versammlung  des  Divaa 
gefaßt  worden  war,  trotz  des  russischen  Widerspruches  Halil  Pascha 
nach  Odessa  abgefertigt,  von  wo  aus  dieser  seine  Fahrt  nach  Peters- 
burg antreten  sollte.  So  stand  man  einer  Tatsache  gegenüber,  und 
es  blieb  nichts  übrig,  als  sich  ihr  zu  fügen.  Diebitsch  glaubte  zu 
wissen,  daß  Sir  Robert  die  Pforte  zu  diesem  ungewöhnlichen 
Schritt  bewogen  habe').  Er  schickte  jedoch  sofort  einen  Kurier 
an  Woronzow,  um  „diese  Herren"  unter  dem  plausiblen  Verwände 
einer  Quarantäne  möglichst  lange  in  Odessa  aufzuhalten.  Der 
Abmarsch  der  russischen  Truppen  hatte  damals  bereits  begonnen. 
Diebitsch  lud  die  türkischen  Bevollmächtigten  noch  zu  einem 
Manöver  vor  den  Toren  Adrianopels.  Dann  ließ  er  ein  großartiges 
Feuerwerk  zur  Feier  des  Friedensschlusses  abbrennen,  das  die  ver- 
schlungenen Nameuszüge  des  Kaisers  und  desSultans  zeigte, ein  Symbol 
der  Freundschaft,  die  nunmehr  beide  Herrscher  verband.  Es  sollte 
der  Türkei  schwer  werden,  der  liebenden  Fürsorge  zu  entrinnen,  mit 
der  der  neue  Freund  alle  ihre  Schritte  zu  leiten  bemüht  war. 

Am  20.  November  verließ  Diebitsch  Adrianopel.  Er  hatte  auf 
Wunsch  des  Sultans  vorher  noch  eine  Proklamation  an  die  christ- 
liche Bevölkerung  der  Türkei  erlassen,  in  der  er  sie  aufforderte, 
Frieden  zu  halten  und  in  Ruhe  zu  ihren  Beschäftigungen  zurückzu- 
kehren. Orlow  traf  am  27.  November  in  Bujukdere  ein  und  wurde 
am  5.  Dezember  in  feierlicher  Audienz  empfangen.  Sein  Auftrug 
war,  das  Detail  der  Ausführungen  des  Friedenstraktates  festzustellen 
und  zu  überwachen  und  zugleich  alles  zu  tun,  um  dem  Sultan 
Vertrauen  zur  Person  des  Kaisers  einzuflößen.  Er  solle,  sagte 
Orlows  Instruktion,  dem  Sultan  die  Freundschaft  Nikolais  antragen. 
Am  8.  Dezember  begannen  die  offiziellen  Verhandlungen,  am  18. 
wurde  in  einer  Sitzung  des  Divan  die  wichtige  Frage  des  Durchzugs 
russischer  Handelsschiffe  durch  die  Meerengen  zu  vorläufigem  Ab- 
Schluß   gebracht').     Während    die  Übereinkunft   sich    ursprünglich 

1)  Der  Kaiser  bemerkte  dazu:  „L'aimable  Sir  Arthur  agit  d'une  maniere 
plus  infame  que  jamais,  dupe  par  Polignac,  sur  lequel  il  comptait,  il  en  est 
furieux.  Cependant  nous  avons  buit  mois  devant  nous,  pendant  lesquels  il  ne 
pourra  rien  entreprendre  de  serieux,  si  la  fantaisie  lui  en  Tenait,  ce  que 
je  ne  regarderai  pas  comme  impossible,  si  les  embarras  du  parlement  ne  Pen 
empechent.  Petersburg,  29.  Oktober  st  v.  —  an  Diebitsch.  Altes  und  neues 
Rußland  1879  III,  S.  582. 

'■^)  Orlow  an  Diebitsch  14./26.  Dezember  1829.  Petersburger  Archiv  des 
M.  d.  Ausw.  14049. 


Kapitel  X,     Der  Obergang  über  den  Balkan  usw.  377 

Dur  auf  Getreideschiffe  beschränkte,  erreichte  Orlow,  daß  die  6e- 
nehmiguDg  auch  auf  Schiffe,  die  andere  Waren  führten,  ausgedehnt 
wurde.  Wie  hier  hat  aber  die  Pforte  schließlich  in  allen  anderen 
strittigen  Fragen  nachgeben  müssen. 

Was  sie  in  Wirklichkeit  dabei  empfand,  zeigte  eine  zweite 
Instruktion,  die  Halil  nachgeschickt  worden  war,  und  die  Orlow 
vom  Reis-Efendi  selbst  sich  zu  verschaffen  wußte.  Sie  atmete  Haß 
und  Erbitterung').  Um  so  mehr  ist  die  Geschicklichkeit  anzu- 
erkennen, mit  der  Orlow  es  verstand,  in  Konstantinopel  Fuß  zu 
fassen.  Er  gewann  die  mächtige  Unterstützung  von  Chosrew 
Pascha,  der  seit  30  Jahren  sich  in  seiner  einflußreichen  Stellung 
behauptet  hatte.  Ein  listiger  Greis  und  als  Gegner  des  unter 
englischem  Einfluß  stehenden  Reis-Efendi  durchaus  geneigt,  die 
neue  Politik  der  Pforte  in  einem  Rußland  günstigen  Sinne  zu 
orientieren. 

Als  nun  Orlow  dem  Reis-Efendi  jene  Instruktionen  für  Halil 
zurückschickte  und  ihm  dabei  schriftlich  mitteilte,  daß,  wenn  Halil 
sich  nach,  solchen  Instruktionen  richten  sollte,  die  Pforte  seine 
Mission  als  gescheitert  betrachten  könne,  Portew  Reis-Efendi  aber 
phlegmatisch  erwiderte:  „Die  Instruktionen  sind  abgesandt  —  die 
Padischahs  werden  sich  verständigen'',  begann  Orlow  energisch 
auf  den  Sturz  Portews  hinzuarbeiten.  Er  knüpfte  Verbindungen 
mit  Ahmed  Bey,  einem  der  Adjutanten  des  Sultans,  an,  der  als 
Vermittler  zwischen  dem  Sultan  und  den  Ministern  diente,  die  von 
ihrem  Herrn  fast  niemals  empfangen  wurden,  und  teilte  ihm  den 
Eindruck  mit,  den  die  Instruktionen  Halils  auf  ihn  gemacht  hätten. 
Nun  wurde  der  Sultan  besorgt  und  schickte  seinen  vornehmsten 
Günstling  und  Sekretär  Mustafa-Efendi ')  zu  Orlow.  In  einer  ver- 
traulichen   Zusammenkunft   entwickelte    ihm    dieser   die   Richtung 


0  Siehe  in  der  Anlage  den  Auszug,  den  Orlow  anfertigen  ließ  und 
Diebitsch  zuschickte.  Orlow  bemerkt  hierzu:  ,,EIles  (die  Instruktionen)  sont 
assuremeut  trop  absurdes,  pour  que  la  Porte  elle-meme  espere  serieusement  que 
la  protestation  qu'elle  se  permet  ainsi  contre  tous  les  articles  du  traite 
d'Andrinople,  ratifi^  apres  de  longues  reflexions  par  le  Sultan,  puisse  porter 
S.  M.  l'Empereur  k  proclamer  Taneantissement  de  cette  transaction  glorieuse, 
monument  eternel  de  sa  moderation/* 

^)  »Jeune  homme,  tire  de  l'obscurite,  et  dont  le  credit  croissant  eclipsait 
tous  ses  competiteurs.^'  Apercu  sommaire  sur  la  mission  speciale  du  comte 
Orloff  a  Constantinople.  Mai  1830.  Pera.  Petersburger  Archiv  des  M.  d. 
Ausw.  327. 


378  Kapitel  X.     Der  Cbergaog  über  den  Balkan  usw. 

der  russischen  Politik.  Rußland,  das  jetzt  der  aufrichtigste  Freund 
der  Pforte  sei,  wolle  nur  direkt  ohne  jedes  Eingreifen  anderer 
Mächte  mit  ihr  verhandeln.  Am  Friedensinstrument  aber  dürfe 
nicht  gerüttelt  werden.  Er  gab  ihm  dann  das  Konzept  zu  einem 
offiziellen  Schreiben  an  Halil,  das  den  Inhalt  der  Instruktion  des- 
avouierte, damit  er  einen  begangenen  Mißgriff  gutmachen  und 
die  Interessen  der  Pforte  in  wirksamer  Weise  beim  kaiserlichen 
Hofe  vertreten  könne.  Der  Reis-Efendi  und  seine  Freunde  setzten 
noch  durch,  daß  diese  Instruktion  nicht  abgeschickt  wurde.  Aber 
es  war  ihr  letzter  Sieg.  Am  12.  Januar  1830  verlangte  Orlow  eine 
„Conference  ä  protocole"  die  ihm  auch  gewährt  wurde,  und  hier 
kam  der  Reis-Efendi  in  die  peinliche  Lage,  ein  eigenhändiges 
Schreiben  des  Sultans  verlesen  zu  müssen,  das  eine  fast  voll- 
ständige Zurücknahme  der  Instruktionen  Halils  enthielt  und  aus- 
drücklich erklärte,  daß  dem  Sultan  nichts  ferner  liege,  als  sich  der 
Ausführung  des  Friedens  von  Adrianopel  zu  entziehen. 

Das  Hat-i-Scherif  schloß  mit  dem  Ausdrucke  größten  Vertrauens 
für  Orlow  und  rühmte  sein  Verhalten  während  der  ganzen  Daner 
seines  Aufenthalts  in  Konstantinopel.  Als  dann  die  Konferenz 
bestimmte,  daß  die  Verhandlungen  in  Petersburg  zu  Ende  geführt 
werden  sollten,  gab  Orlow  der  Hoffnung  Ausdruck,  daß  Halil  neue 
Instruktionen  erhalten  haben  werde  und  genugende  Vollmachten, 
um  die  beiden  Fragen  zu  erledigen,  über  die  allein  Rußland  ver- 
handeln werde:  über  die  Frage  der  Kriegsentschädigung  und  über 
die  der  Garantien  für  die  Ausführung  des  Traktats. 

Vier  Tage  nach  dieser  Konferenz  wurde  Portew  Reis-Efendi 
entlassen  und  durch  Hamid  ßey  ersetzt,  der  1821,  als  die  grolk 
Krisis  begann,  denselben  Posten  bekleidet  hatte.  Um  diese  Zeit,  am 
9.  Februar  1830,  wurde  dem  Sultan  ein  zweiter  Sohn,  der  Prinz 
Abdul  Aziz,  geboren,  der  46  Jahre  danach  wegen  seiner  russen- 
freundlichen Politik  Thron  und  Leben  verlieren  sollte.  Zur  Feier 
seiner  Geburt  hat  Orlow  die  russischen  Schiffe  im  Bosporus  flaggen 
und  Freudensalven  schießen  lassen.  Diebitsch  war,  während  diese 
wichtigen  Entscheidungen  sich  vorbereiteten,  in  Burgas  beschäftigt, 
den  Abmarsch  der  russischen  Truppen  zu  leiten.  Er  hat  von  dort 
aus  die  gesammte  an  Halil  Pascha  gerichtete  Korrespondenz  regel- 
mäßig perlustriert  und  in  der  Übersetzung  nach  Petersburg  ge- 
schickt, so  daß  man  dort  über  alle  Pläne  der  Pforte  früher  unter- 
richtet war  als  ihr  Abgesandter. 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  379 

Erst  nachdem  am  11. /23.  März  1830  die  Zahlung  der  zweiten 
ßate  der  Kriegsentschädigung*)  erfolgt  war,  verließ  er  Burgas. 
Der  Kaiser  hatte  ihm  in  Gnaden  gestattet,  zu  seiner  Erholung  nach 
Schlesien  zu  reisen. 

Von  diesem  23.  März  kann  die  vorläufige  Beendigung  der 
orientalischen  Krisis  datiert  werden'). 


Kapitel  XL    Nach  dem  Kriege. 

Es  wäre  eine  irrtümliche  Anschauung,  wollte  man  annehmen,  daß 
der  immerhin  glänzende  Erfolg  des  Türkenkrieges  in  der  russischen 
Gesellschaft  Freude  und  Begeisterung  hervorgerufen  hätte.  Man 
dachte  mehr  an  die  Verluste  als  an  den  Gewinn,  der  nur  niedrig 
eingeschätzt  wurde.  Weder  die  „Großmutspolitik^  des  Kaisers, 
noch  die  politischen  Notwendigkeiten,  die  sie  bedingt  hatten,  waren 
verstanden  worden.  Ja,  wenn  Diebitsch  die  russischen  Fahnen  über 
dem  Palais  des  Sultans  gehißt  und  den  Halbmond  auf  der  Hagia 
Sofia  durch  das  russische  Doppelkreuz  ersetzt  hätte,  wäre  die 
Stimmung  eine  andere  gewesen').  Statt  dessen  aber  sei  vor  Kon- 
stantinopel haltgemacht  worden  und  in  der  Tat  nichts  in  russi* 
sehen  Händen  geblieben  mit  Ausnahme  der  öden  Inseln  an  den 
Mündungen  der  Donau  und  der  kärglichen  Abfindung  in  Asien. 
Besonders  schmerzlich  wurde  die  Rückgabe  von  Kars  und  Erzerum 
empfunden.  Man  wußte,  wie  schwer  es  Paskiewitsch  gefallen  war, 
nach  seinen  glänzenden  Siegen  diese  Festungen,  deren  Besitz  den 
Russen  in  Kleinasien  eine  unerschütterliche  Übermacht  gesichert 
hätte^  wieder  herauszugeben.  Die  Weisheit  des  Komitees  vom 
4.  September  wurde  keineswegs  anerkannt.  Dazu  kam,  daß  der 
Krieg  so  vielen  Familien  schmerzliche  Trauer  gebracht  hatte.     Die 


')  24800  Beutel  gleich  400000  Dukaten. 

^)  Cber  die  Mission  Orlows,  die  Gesandtschaft  Halils  und  die  Fahrt  der 
„Blonde**  ins  Schwarze  Meer  ist  der  Bericht  Nesselrodes  an  den  Kaiser  in  der 
Anlage  zu  Tergleichen. 

^  Wie  unsicher  die  Stimmung  war,  zeigt  die  ungemein  charakteristische 
Korrespondenz  der  Brüder  Bulgakow.  Auf  die  Nachricht  Ton  Diebitschs  Siege 
bei  Kulewtschi  schreibt  der  Moskauer  am  15.  Juni  29,  Sakrewski  und  Men* 
schikow  hätten  gesagt:  Gott  gebe  uns  Frieden:  il  faudrait  saisir  aux  cheveux 
Toccasion;  am  31.  August  variiert  er  das  Thema,  wie  schon  es  wäre,  wenn  die 
Geschichte  einst  sagen  wollte:  Alexander  nahm  Paris  ein,  Nikolai  Konstan- 
tinopel.    Russki  Archiv  1901. 


380  Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege. 

Regimenter,  die  allmählich  heimkehrten,  hatten  nur  noch  eine  Effektiv- 
stärke von  gegen  300  Mann*),  und  man  wußte  sehr  wohl,  daß 
eine  wesentliche  Schuld  an  den  ungeheueren  Verlusten  der  Armee 
die  elende  Verwaltung  der  Lazarette  und  Hospitäler  traf,  daß  die 
ärztliche  Pflege  ganz  unzureichend  gewesen  war,  und  daß  nament- 
lich während  der  ersten  Kampagne  die  Truppen  nur  zu  oft  am  Not- 
wendigsten Mangel  gelitten  hatten.  Es  kam  aber  noch  ein  anderer 
Anlaß  zur  Unzufriedenheit  hinzu.  Wir  haben  bereits  des  Gegen- 
satzes zwischen  der  russischen  und  der  „deutschen''  Partei  am  Hof 
und  im  Heere  gedacht.  Die  Ernennung  von  Diebitsch  zum  Ober- 
kommandierenden wurde  fast  wie  eine  Beleidigung  des  National- 
gefühls empfunden*).  Sah  mau  die  Reihen  seiner  Armee  durch, 
so  zeigte  sich,  daß  von  22  Generalen  11  Deutsche  waren,  von  69 
Generalmajoren  26.  Deutsche  waren  außer  dem  Oberkomman- 
dierenden der  Chef  des  Generalstabes,  Toll,  die  Korpskommandeure 
Pahlen,  Roth,  Rüdiger,  die  Divisionsgenerale  Nagel,  Geismar,  kurz 
alle  diejenigen,  denen  die  glänzendsten  Erfolge  zugefallen  waren. 
Die  russischen  Generale  waren,  mit  Ausnahme  von  Krassowski  und 
Kisselew,  in  Stellungen  2.  und  3.  Ranges  untergebracht  worden 
und  fühlten  sich  zurückgesetzt,  und  wenn  in  der  Armee  von  Paskie- 
witsch  die  Verhältnisse  anders  lagen,  so  zählte  man  auch  dort  eine 
lange  Reihe  deutscher  Namen.  Auch  die  Ernennung  Diebitschs 
zum  Feldmarschall  und  die  reiche  Dotation,  die  ihm  zuteil  wurde, 
erregte  Mißgunst.  Daß  diese  Deutschen  russische  Untertanen  waren 
und  ein  volles  Anrecht  hatten,  die  Stellungen  einzunehmen,  die 
sie  bekleideten,  kam  nicht  in  Erwägung  und  ebensowenig  die 
Frage,  ob  ein  gleichwertiger  kernrussischer  Ersatz  zu  haben 
war.  „Ein  Geist  des  Neides  und  der  Eifersucht''  sprach  aus  den 
Kreisen  der  „Gesellschaft",  und  als  die  Nachricht  eintraf,  daß  Roth 
bei  Prawody  4  Kanonen  verloren  hatte,  gab  es  ein  formliches 
Triumphgeschrei');    man    prophezeite    das    völlige    Mißlingen    des 


')  Schreiben  Nikolais  an  Friedrich'  Wilhelm  Tom  11./23.  Jan.  1830. 
Hausarcbiv. 

^  Bei  der  Truppe  wurde  Diebitsch  erst  nach  den  Erfolgen  der  zweiten 
Kampagne  beliebt.  Er  war  leicht  aufbrausend,  aber  seine  Gutmütigkeit  ver- 
söhnte. Die  Soldaten  nannten  ihn  Ssamowar  Pascha!  Michailowski-Dani- 
lewski  1.  1. 

')  Immediatbericht  Galens  an  Konig  Friedrich  Wilhelm  III.  vom  5.  August 
1829.     Durch  den  englischen  Botschaftssekretär  befordert. 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  381 

Feldzuges,  und  als  später  die  Ereignisse  den  Propheten  unrecht 
gaben,  machte  man  sich  über  die  Bulletins  lustig,  die  Diebitsch 
vom  Kriegsschauplatz  schickte.  Auch  die  Reise  des  Kaisers  nach 
Berlin  hatte  in  diesen  Kreisen  höchlichst  mißfallen  und  zu  lauten 
Spöttereien  und  sonstigem  Tadel  Anlaß  gegeben*).  Es  ist  nicht 
denkbar,  daß  der  Kaiser  von  dieser  Stimmung  nicht  gewußt  haben 
sollte.  Dazu  war  gerade  damals  seine  Geheimpolizei  zu  gut  be- 
dient, aber  es  ist  kein  Beispiel  bekannt,  daß  er  strafend  gegen 
die  bösen  Zungen  der  Salons  eingegriffen  hätte.  Das  Recht  zu 
medisieren  war  ein  Menschenrecht,  an  dem  in  Petersburg  nicht 
gerüttelt  wurde.  Weit  mehr  Sorge  machte  ihm  die  liberale  Ge- 
sinnung der  gebildeten  Gesellschaft,  in  der  der  Geist  der  Deka- 
bristen nach  wie  vor  lebendig  war,  und  wo  er  Spuren  dieses 
„Liberalismus''  entdeckte,  sorgte  er  dafür,  daß  die  Träger  solcher 
Überzeugungen  nicht  zu  einflußreichen  Stellungen  gelangen 
konnten.  Daß  so  ausgezeichnete  Militärs  wie  der  General  Michai- 
lowski-Danilewski  *)  oder  wie  der  Oberst,  Graf  Grabbe,  nicht  zur 
Geltung  kamen,  geht  offenbar  darauf  zurück ').  Auch  die  Hoffnung 
Jermolows,  der  immer  noch  der  nationale  Liebling  war,  Verwen- 
dung zu  finden,  schlug  fehl.  Für  ihn  und  seine  Gesinnungsgenossen 
gab  es  kein  Feld  der  Tätigkeit. 

Dagegen  konnte  es  zeitweilig  scheinen,  als  sei  der  Kaiser 
geneigt,  den  Weg  der  Reform  in  Fragen  der  inneren  Verwaltung 
wieder  aufzunehmen.  Das  Komitee  vom  6.  Dezember  1826  tagte 
noch  immer  und  als  der  Kaiser  von  dem  Feldzuge  von  1828 
nach  Petersburg  zurückkehrte,  hatten  die  Mitglieder  des  „ge- 
heimen Komitees'',  dem  die  Reichsverwaltung  während  seiner 
Abwesenheit  anvertraut    worden    war*),    ihm    einen    Bericht    vor- 


^)  Verunglimpfungen,  „die  man  sicli  nicht  entblödete,  laut  in  Gegenwart 
fremder  Diplomaten  zu  äußern.^     Galen  1.  1. 

^)  Er  wurde  erst  Ende  August  1829  ins  Hauptquartier  gerufen,  um  den 
erkrankten  General  du  jour  zu  ersetzen. 

<)  Das  Tagebuch  Grabbes  von  1828^1869  wurde  von  Bartenjew  1888  zu 
Moskau  ▼eröfTentlicbt.  Seine  Memoiren  im  Russki  Archiv  1873.  Jermolow 
der  Ende  Juli  1830  in  Moskau  mit  dem  Großfürsten  Michail  zusammeutraf, 
scheint  sich  noch  damals  mit  der  Hoffnung  getragen  zu  haben,  Diebitschs 
Nachfolger  oder  Generalgouverneur  von  Moskau  zu  werden.  Alexander  Bul- 
gakow  an  Konstantin  Bulgakow  3 I.Juli  1830. 

*)  Kotschubej,  Tolstoi,  Golitzyn. 


382  Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege. 

gelegt'),  der  mit  Nachdruck  darauf  hinwies,  daß  in  den  Be- 
ziehungen zwischen  Gutsherrn  und  Bauern  eine  Wandlung  herbei- 
geführt werden  müsse,  und  daß  der  Verfolgung  der  Raskolniken 
ein  Ende  zu  machen  sei.  Der  Bericht  hatte  auch  die  Lage  der 
Finanzen  und  die  Schäden  dargelegt,  die  am  Requisitionswesen 
hafteten,  und  den  Gedanken  einfließen  lassen,  daß  vom  Kaiser  eine 
Reform  im  großen  Stil  erwartet  werde').  Es  ist  aber,  obgleich 
der  Kaiser  ebenso  wie  Alexander  sich  in  der  Erwägung  solcher 
Gedanken  gefiel  und  auch  an  den  Arbeiten  des  großen  Komitees 
persönlichen  Anteil  nahm,  zu  keinerlei  durchgreifenden  Maßregeln 
gekommen.  Wir  wissen  bereits,  daß  der  Widerapruch  des  Groß- 
fürsten Konstantin  die  an  dieses  Komitee  geknüpften  großen  Hoff- 
nungen zuschanden  machte.  Nach  scheinbar  energischen  Anläufen 
blieb  im  wesentlichen  alles  beim  alten.  Im  Laufe  des  Winters 
1828  wurden  allerdings  drei  sehr  wohlgemeinte  Ukase  über  die 
Einrichtung  von  Volks-  und  Kreisschuleu  auf  den  Krön-  und 
Apanagegütern  erlassen,  auch  zwei  Volksschullehrerseminare  be- 
gründet'), aber  die  Ausführung  scheiterte  an  dem  Mangel  brauch- 
barer Lehrer.  Zu  der  geplanten  Einführung  des  gregorianischen 
Kalenders  aber  versagte  im  letzten  Augenblick  der  Entschluß,  weil 
man  einen  weiteren  Abfall  von  der  Kirche  fürchtete.  Schon  damals 
glaubte  man  zu  bemerken,  daß  der  Kaiser  der  Reformarbeit  müde 
geworden  sei.  Er  hatte  die  Gewalt  und  die  Befugnisse  seiner  Minister 
gestärkt  und  meinte  dadurch  in  der  Hauptsache  genug  getan  zu 
haben,  während  in  Wirklichkeit  Unordnung  und  Willkür  nur  noch 
mehr  um  sich  griffen  *).  Das  eigentliche  Interesse  des  Kaisers  ge- 
hörte der  großen  Politik  und  den  militärischen  Angelegenheiten. 
Er  plante  eine  Reorganisation  seiner  Armee,  wie  die  Erfahrungen 
der  beiden  Kriegsjahre  sie  als  notwendig  erwiesen  hatten,  dann 
aber    nahm    ihn  die  Erledigung    der  zahlreichen   und  verwickelten 

')  Gedruckt  bei  Schilder  Nikolai,  Bd.  IL  S.  551—555. 

^)  Jedermann  hegt  in  seinem  Herzen  die  Erwartung  . . .  daß  Sie,  Aller- 
gnädigster  Kaiser,  Ihre  wohlwollenden  Absichten  nicht  aufgeben  und  Ihren 
hohen  Beruf  durch  Maßregeln  von  allgemeiner  und  wesentlicher  Be- 
deutung erfüllen  werden.  Im  Verhältnis  dieser  Erwartungen  und  der  empfun- 
denen Dankbarkeit  ist  Ihnen  der  Segen  der  Gesamtheit  zuteil  geworden.  1.1.552. 

')  Besonders  wichtig  sind  die  Ukase  vom  5.  und  25.  Oktober  1828.  V.  S. 
R.  G.  IL  3,  Nr.  2376  und  77. 

*)  Tagebuch  Divows  1829  November  I.  und  1830  Januar  28.  Russkaja 
Starina  1897. 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  383 

Probleme  in  ÄDspruch,  die  mit  dem  Friedensschluß  und  mit  der 
durch. den  Frieden  geschaffenen  neuen  Weltlage  in  Zusammenhang 
standen.  Das  erste  Anzeichen  dafür  war,  noch  im  August  1829, 
der  Empfang  von  Ghosrew  Pascha,  der  die  Unterwerfung  Persiens 
unter  den  russischen  Einfluß  brachte,  sehr  zum  Ärger  Englands, 
das,  wie  wir  uns  erinnern,  die  persische  Politik  beherrschte.  Dann 
kam  die  Sorge,  welche  mit  der  Ernennung  Polignacs  zum  Minister 
der  auswärtigen  Angelegenheiten  an  Portalis'  Stelle  (8.  August) 
und  danach  zum  Ministerpräsidenten  (17.  November)  verbunden 
war.  Man  fürchtete  in  ihm  den  Anglomanen  und  zugleich  einen 
verhängnisvollen  Einfluß  auf  die  inneren  Angelegenheiten  Frank- 
reichs. Durch  Pozzo  di  Borgo  vorzüglich  unterrichtet,  hat  der 
Kaiser  früher  als  andere  vorhergesehen,  daß  Polignacs  Politik  zu 
einem  Staatsstreich  führen  könne,  und  ein  über  das  andere  Mal 
die  französischen  Staatsmänner  gemahnt,  nur  ja  nicht  vom  Boden 
der  Charte  abzuweichen.  Aber  nach  dieser  Richtung  hin  ist  es 
ihm  nicht  gelungen,  zu  Einfluß  zu  gelangen.  Dagegen  war  es  ihm 
eine  angenehme  Überraschung,  daß  die  auswärtige  Politik  Frank- 
reichs sich  merklich  der  russischen  anzupassen  bemüht  war.  Der 
von  Nikolai  selbst  angeregte  Plan  einer  eventuellen  Teilung  des 
Territoriums  der  europäischen  Türkei  ist  seit  1826  von  französischer 
Seite  scharf  im  Auge  behalten  worden  und  hat  seine  Spuren  in 
den  Instruktionen  für  die  französischen  Gesandten  in  Petersburg 
und  in  deren  Relationen  hinterlassen.  Unter  allen  Umständen 
glaubte  man  an  die  Möglichkeit  einer  französisch-russischen  Allianz, 
die  dann  neben  der  doch  nur  dem  Namen  nach  fortbestehenden 
großen  Allianz  und  im  Gegensatz  zu  der  ad-hoc-AlIianz  in  der 
griechischen  Frage  ein  besonderes  Einvernehmen  zwischen  Ost  und 
West  geschaffen  hätte  *).  Als  die  raschen  Erfolge  Diebitschs  dann 
den  völligen  Zusammenbruch  der  Türkei  wahrscheinlich  machten, 
hat  Polignac  es  für  nötig  gefunden,  im  Conseil  des  Königs  einen 
Plan  vorzulegen,  der  dahin  ging,  die  orientalische  Krisis  zu  be- 
nutzen, um  für  Frankreich  die  Grenzen  von  1814  zurückzugewinnen. 
Für  diesen  Plan,  der  die  politische  Karte  Europas  völlig  umwan- 
delte, sollte  der  Kaiser  gewonnen  werden,  aber  Mortemart  wurde 
ausdrücklich  angewiesen,  daß,  falls  der  Friede  bereits  unter 
den    vom  Kaiser   angekündigten    Bedingungen    geschlossen  sei,    er 


')  RelatioD  Mortemarts  d.  d.  Petersburg  2.  Mai  1829  Chiffre. 


384  Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege. 

keinerlei  Gebrauch  von  seinen  Instruktionen  machen  solle;  und 
das  ist  denn  auch  geschehen.  Der  Kaiser  hat  niemals  von  diesem 
Projekt  erfahren.  Wohl  aber  wurde  der  Gedanke  der  russisch- 
französischen Kombination  festgehalten,  und  der  Herzog  von  Morte- 
mart  baute  ihn  dahin  aus,  daß  er  für  die  Zukunft  eine  Heirats- 
allianz zwischen  dem  russischen  Kaiserhause  und  den  Bourbonen 
dringend  empfahl^).  Auch  dieser  Gedanke  ist  dem  Kaiser  nicht 
zugetragen  worden,  aber  das  sichtliche  Bemühen  Karls  X.  um  seine 
Gunst  blieb  nicht  ohne  Erwiderung,  und  er  hat  alles,  was  an  ihm 
lag,  getan,  um  die  auf  den  Gewinn  von  Algier  gerichteten  Pläne 
der  französischen  Politik  zu  fördern;  es  war  gewissermaßen  die 
Belohnung  für  den  Dienst,  den  ihm  Frankreich  durch  die  Okkupa- 
tion von  Morea  geleistet  hatte.  Der  Kaiser  ging  dabei  so  weit, 
daß  er  der  ursprünglichen  Absicht  des  französischen  Kabinetts,  die 
afrikanischen  Raubstaaten  durch  den  Vizekönig  von  Ägypten  unter- 
drücken zu  lassen,  zwar  nicht  widersprach,  aber  doch  darauf  hin- 
wies, daß  es  eines  Staates  von  Frankreichs  Machtstellung  würdiger 
sei,  sich  sein  gutes  Recht  selbst  zu  holen.  Die  zwischen  dem 
Kaiser  und  dem  Könige  gewechselten  Briefe  tragen  einen  fast 
herzlichen  Ton,  sehr  im  Gegensatz  zu  der  seltenen  und  trocken  ge- 
schäftlichen Korrespondenz,  die  zwischen  Nikolai  und  Franz  Joseph 
gewechselt    wurde.     Aber  dank  den  Bemühungen  des  österreichi- 


0  Privatbrief  Mortemarts  an  Polignac,  St.  Petersburg,  22.  Dezember  29. 
Gedruckt  in  der  Anlage,  daselbst  auch  die  Instruktion  Polignacs  für  Mortemart 
vom  4.  September  1829  und  die  gegen  das  Votum  des  Dauphin  in  dieser 
Angelegenheit  gerichtete  Note. 

Man  hat  die  Bedeutung  dieses  Poiignacschen  Projekts  überschätzt  Es 
war  an  sich  unausführbar,  selbst  wenn  die  200000  Mann,  über  die  Polignac 
KU  verfügen  behauptete,  wirklich  kriegsbereit  gewesen  wären.  Das  Teilungs- 
projekt hat  Stern  mit  einer  instruktiven  Einleitung  in  der  historischen  Viertel- 
jahrsschrift 1900,  Heft  1  veröffentlicht  Ein  österreichischer  Teilungsplau  bat 
allerdings  existiert,  ist  aber  von  Mettemich  verleugnet  worden.  Polignac  deutet 
an,  daß,  wenn  Rußland  sich  ihm  versagen  sollte,  der  König  genötigt  sein 
könnte,  ,ä  recevoir  d*une  autre  part  des  avances  que  jusqu'ä  present  il  a  mis 
tous  ses  soios  ä  ecarter  de  lui  (le  Roi)  et  a  ne  pas  apercevoir** ;  damit  ist 
wahrscheinlich  ein  Anschluß  an  Österreich  gemeint  In  Preußen  wußte  man 
von  den  französischen  Plänen  nichts,  aber  Schöler  war  gegen  den  imperali- 
stischen  Ehrgeiz  Mortemarts  fast  mißtrauisch. 

Vergleiche  meine  Ausführungen  über  die  Vorgeschichte  des  Poiignac- 
schen Projekte.  Uist  Zeitschr.,  Bd.  83,  S.  249  ff.  Ober  das  österreichische 
Projekt  gibt  die  Depesche  Mortemarts  vom  5.  Dezember  1829  Auskunft 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  385 

scheo  Botschafters  in  Petersburg,  des  Grafen  Fiqnelmont,  der  dem 
Kaiser  persönlich  sympathisch  war,  fand  nach  dieser  Seite  allmählich 
eine  Wendung  zum  Besseren  statt. 

Dagegen  blieben  die  Beziehungen  zu  England  noch  lange  sehr 
gespannt ')  Namentlich  machte  sich  das  auf  der  Londoner  Konferenz 
geltend,  die  nunmehr  vor  der  Aufgabe  stand^  sich  mit  den  Ergebnissen 
des  Friedens  von  Adrianopel  in  Einklang  zu  setzen  und  dem  jetzt  als 
politische  Selbständigkeit  anerkannten  Staat  einen  Souverain  zu  geben. 
Nach  langwierigen  und  peinlichen  Verhandlungen,  in  deren  Verlauf 
England  in  nicht  mißzuverstehender  Weise  zu  erkennen  gab,  daß  es 
ihm  lieb  wäre,  wenn  der  russische  Botschafter  Fürst  Lieven  ab- 
gerufen würde,  verständigte  man  sich  schließlich  dahin,  die  Linie 
von  der  Mündung  des  Aspropotamos  bis  zur  Spercheios-Mundung  als 
Grenze  Griechenlands  anzuerkennen,  was  für  die  Griechen  eine 
bittere  Enttäuschung  war,  und  „den  verschmitztesten  aller  Männer^  *), 
den  Prinzen  Leopold  von  Koburg,  zum  Souverän  des  Landes  zu 
machen.  Am  3.  Februar  1830  wurde  das  Protokoll  unterzeichnet, 
das  endgiltig  über  das  Schicksal  Griechenlands  bestimmt  zu  haben 
schien').  Der  Kaiser  Nikolaus  hätte  am  liebsten  seinen  Schwager, 
den  Prinzen  von  Oranien,  zum  Könige  von  Griechenland  gemacht, 
da  aber  der  Widerspruch  Frankreichs  nicht  zu  überwinden  war, 
gelb  er  sich  auch  mit  der  Wahl  Leopolds  zufrieden.  Man  wußte 
in  Petersburg,   daß    er   zu  klug  sein  werde,    um  Capo  d^Istria   zu 

*)  1d  einem  Brief  an  Konstantin  Tom  4.  November  1829  charakterisiert 
der  Kaiser  seine  Beziehungen  zu  den  drei  Mächten  folgendermaßen:  „Je  dois 
rendre  justice  au  Roi  (Carl  X.)  que  Ton  ne  peut  otre  ni  plus  aimable,  ni  plus 
fid^le  a  la  parole  en  tout  ce  qui  nous  regarde.  Je  dois  meme  rendre  la  justice 
a  Mr.  de  Polignac,  que  jusqu'ici  il  a  M  parfaitement  correct  a  notre  egard 
et  que  ce  qu^il  dit,  il  le  tient.  Dieu  veuille  que  cela  dure.  Quant  ä  PAutriche 
j^ai  une  lettre  des  plus  seches  de  la  part  de  l'Empereur  pour  nous  feliciter 
sur  la  paix  et  voilä  tout.  En  Angleterre  il  n*  y  a  en  er  et,  en  fait  de  recri- 
minations  et  de  menaces  que  le  mot  de  guerre  qui  n'ait  pas  ete  prononce  en 
toute  lettre;  esp^rons  que  ces  farces  d'Oreste  passeront  ä  Milord  Duc  depuis 
que  son  Pilate  (sie!)  a  Paris  est  devenu  plus  calme,  voyant  les  choses  telles, 
quelles  sont  et  non  que  Pimagination  les  presente  a  sa  grace  .  . . 

^)  »The  craftiest  of  men**.  Der  Ausdruck  stammt  von  der  Fürstin  Lieven. 
Brief  an  Eari  Greigh,  1830  Januar  13. 

^)  Wir  übergehen  das  in  die  Geschichte  Griechenlands  gehörende  Detail. 

Die    lange  Reihe    der  Thronkandidaturen ,    sowie    die    Darlegung   der  Gründe, 

die  zu  ihrer  Ablehnung  oder  zu  ihrem  Verzicht  führten,   wird  ausführlich  in 

dem  comte  rendu   Nesselrodes  für   1830/31   dargelegt,  doch  sei   beiläufig  be- 

Schiemann,  Geschieht«  Kußlands.    II.  25 


386  Kapitel  XI.     Nach  dem  Kriege. 

beseitigen.  Als  dann  nachträglich  (am  21.  Mai)  der  Prinz  Leopold 
seine  Zusage  wieder  rückgängig  machte,  ist  der  Kaiser  zwar  nicht 
wenig  entrüstet  gewesen,  aber  im  Grunde  war  man  in  Petersburg 
mit  dem  Provisorium  unter  Capo  d'Istrias  Leitung  nicht  unzufrieden  *). 
Es  bedeutete  jedenfalls  keine  Minderung  des  russischen  Einflusses. 
Während  diese  Verhandlungen  in  London  in  Gang  waren, 
erkrankte  Anfang  Janur  18B0  der  Kaiser  schwer  an  einem  Fieber, 
das  ihn  hart  an  den  Rand  des  Grabes  führte.  Nach  12  Tagen  erst 
konnte  dank  der  aufopfernden  PHege  der  Kaiserin  die  Gefahr  als 
überwunden  gelten,  und  er  kam  schnell  wieder  zu  Kräften.  Aber 
er  war  furchtbar  abgemagert,  und  seine  Züge  waren  noch  schärfer 
und  härter  geworden.  Als  dann  Anfang  Februar  endlich  Halil 
Pascha  eintraf,  war  der  Kaiser  bereits  soweit,  ihn  am  11.  in 
feierlicher  Audienz  im  Georgssaal  empfangen  zu  können.  Man 
war  sichtlich  bemüht,  den  Türken  durch  Entfaltung  großen  Prunkes 
und  militärischer  Schaustellungen  zu  imponieren,  und  dieser  Zweck 
ist  auch  erreicht  worden.  Halil  Pascha  benahm  sich  dabei  mit 
Würde  und  wußte  sie  auch  zu  behaupten,  als  der  Kaiser  ihn 
und  seine  Begleiter  gleich  danach  zu  einer  nicht  offiziellen  Unter- 
redung in  sein  Kabinett  lud.  Der  Kaiser  begann  damit,  seiner 
Freude  darüber  Ausdruck  zu  geben,  daß  der  Sultan  dem  Grafen 
Orlow  gegenüber  erklärt  habe,  daß  er  sich  gewissenhaft  an  die 
Bestimmungen  des  Friedens  von  Adrianopel  halten  wolle.  Aber 
er  wisse  auch,  daß  der  Reis-Efendi  ihnen  gewisse  Instruktionen 
gegeben  habe,  die  in  direktem  Gegensatz  zu  den  Versicherungen 
des  Sultans  ständen.  Trotzdem  hege  er,  im  Hinblick  auf  das  W^ort 
des  Sultans  volles  Vertrauen  und  erkläre  sich  seinerseits  bereit, 
gern  'alles  zu  tun,  um  ihm  angeuehm  zu  sein,  vorausgesetzt,  daß 
der  Friede  von  Adrianopel  die  Grundlage  der  gegenseitigen  Be- 
ziehungen bleibe.     Die  Instruktion  des  Reis-Efendi  aber  müsse  als 


merkt,  daß  unter  den  Kandidaten  auch  Prinz  Wilhelm  von  Preußen  aufgeführt 
wird;  auch  Wellington  Dospatches  VI.  Nr.  153,  S.  458 ff.  sind  heranzuziehen. 
Wie  Nesselrode  das  schließliche  Ergebnis  beurteilte,  zeigt  ein  Brief  an 
Diebitsch  vom  5.  März:  . .  ,  Les  arrangements  .  . .  sont  glorieux  pour  la 
Russie;  ils  augmentent  son  influence  et  garantissent  ses  interets  dans  le 
Levant,  soit  en  affaiblissant  la  Monarchie  Ottomane,  soit  en  assurant  h  la 
Grece  par  son  independance  et  par  Petendue  de  son  territoire,  une  prosp^rite 
qui  se  lie  essentiellement  a  celle  de  nos  provinces  meridionales  . .  . 
»)  Relation  Mortemart  10.  Juli  1830.     Chiffre. 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  387 

nicht  existent  betrachtet  werden,  und  von  ihr  dürfe  weiter  die 
Rede  nicht  sein. 

Halil  Pascha  beteuerte  nun  seinerseits,  daß  dem  Sultan  nichts 
ferner  läge,  als  an  dem  Friedenstraktat  zu  rütteln.  Er  sei  nach 
Rußland  geschickt  worden,  um  von  der  großmütigen  Freundschaft 
des  Kaisers  einige  Erleichterung  zu  erhalten,  durch  die  das  Friedens- 
instrument nicht  getroffen  werde,  und  nur  mit  ausdrücklicher  Er- 
laubnis Seiner  Majestät  wolle  er  die  Bitten  vorbringen,  deren  Träger 
er  sei. 

Diese  Antwort  wurde  vom  Kaiser  sehr  gnädig  aufgenommen. 
Er  knüpfte  daran  eine  lange  Ausführung  der  Ursachen,  die  ihn 
schließlich  gezwungen  hätten,  den  Krieg  gegen  die  Pfoi*te  zu  fuhren, 
und  betonte  sehr  nachdrücklich,  wie  er  auch  während  des  Krieges 
keine  Gelegenheit  habe  vorübergehen  lassen,  um  dem  Sultan  die 
Hand  zum  Frieden  zu  bieten.  Hussan  Pascha,  Ejub  Pascha  von 
Isaktschi,  der  Kapudan-Pascha  und  Jussuf  Pascha  könnten  es  be- 
zeugen. Zuletzt  habe  er  noch  seinen  Schwiegervater,  den  König 
von  Preußen  veranlaßt,  den  General  MöfHing  nach  Konstantinopel 
zu  senden,  damit  der  Sultan  erfahre,  welches  seine,  des  Kaisers, 
wahre  Gesinnungen  seien.  Dann  seien  die  russischen  Truppen  in 
Adrianopel  eingezogen  und  der  Friede  geschlossen  worden. 

„Und  nun  frage  ich",  fuhr  er  wörtlich  fort  „auf  welcher  Seite 
stehen  die  Freunde  und  die  Feinde?  Wer  bat  die  Pforte  aus  der 
Gefahr  erretten  wollen,  die  sie  bedrohte?  Diejenigen  etwa,  die 
durch  ihre  perfiden  Ratschläge  und  schändlichen  Anstachelungen 
bemüht  waren  zum  Widerstände  zu  ermutigen,  oder  diejenigen,  die 
durch  friedliche  Maßregeln  und  weise  Mahnungen  nicht  ermüdeten 
die  Gefahr  abzuwenden?  So  habe  ich,  mitten  im  Kriege,  mich 
bemuht  zu  beweisen^  daß  ich  nicht  der  unversöhnliche  Feind  der 
Türkei  bin,  für  den  man  mich  ausgeben  wollte.  Wo  immer  meine 
Truppen  waren,  haben  sie  es  unterla^ssen,  die  Völker  gegen  den 
Sultan  aufzuwiegeln.  Nirgends  haben  die  unzufriedenen  Jani- 
tscharen  Unterstützung  oder  Ermutigung  gefunden.  Wir  haben  so- 
gar die  Christen,  unsere  Glaubensgenossen,  stets  ermahnt  ruhig  zu 
bleiben  und  zu  gehorchen.  Überall,  wo  meine  Truppen  jetzt  noch 
bleiben,  kann  der  Sultan  sicher  sein,  daß  seine  Autorität  gewahrt 
bleibt.  So  mag  denn  Seine  Hoheit  (Hautesse!)  sich  davon  über- 
zeugen, daß  seine  Freunde  in  Petersburg  und  nur  dort  sind,  und 
daß  ich  sein  bester  Freund  bin.     Es  soll  niemand  zwischen  uns 

25* 


388  Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege. 

Stehen,  weder  EDgland,  noch  Österreich,  noch  Frankreich,  selbst 
nicht  der  Reis-Efendi  ^).  Gott  verhüte,  daß  es  einen  zweiten  Krieg 
zwischen  uns  gibt,  aber  wenn  die  Fremden  sich  in  unsere  Angelegen- 
heiten einmischen,  werden  sie  ans  schließlich  verfeinden.  Ich  will 
also  keine  Vermittler  zwischen  mir  and  dem  Sultan  haben.  Nicht 
einmal  den  Reis-Efendi  mit  seinen  Instruktionen.^ 

Die  Gesandten  erneuerten  nun  ihre  Versicherungen  von  dem 
guten  Willen  des  Sultans.  Mahmud  habe  volles  Vertrauen  zum  Kaiser, 
und  eben  deshalb  habe  er  sie  hergesandt.  Es  bleibe  ihnen  nichts 
übrig,  als  Seine  Majestät  zu  bitten,  der  großmütigen  Richtung  seiner 
Seele  freien  Lauf  zu  lassen,  der  Dank  werde  ihm  nicht  fehlen. 
„Ich  will^,  schloß  der  Kaiser,  „der  Freund  des  Sultans  sein  und 
werde  alles  tun,  was  möglich  ist.  Er  hat  wichtige  Reformen  und 
den  Wiederaufbau  seiner  Macht  in  Angriff  genommen.  Er  braucht 
Zeit  und  Ruhe,  um  sein  Werk  zu  Ende  zu  führen  und  zu  festigen; 
wenn,  unglücklicherweise,  es  zu  einem  neuen  Bruch  zwischen  uns 
kommen  sollte,  würde  alles  zu  Fall  kommen,  und  die  Folgen  wären 
für  die  Pforte  die  aller  verderblichsten.  Mag  der  Sultan  sich  und 
mir  selbst  dieses  Unglück  ersparen.  Auf  mich  kann  er  rechnen. 
Ich  wünsche,  daß  das  Osmanische  Reich  stark  und  in  Ruhe  sei. 
Aber  man  darf  nicht  vergessen,  daß  jeder  Herrscher  auch  Pflichten 
gegen  seine  Untertanen  hat.  Ich  muß  die  meinigen  erfüllen  und 
kann  nach  so  vielen  Opfern  und  Verlusten  nicht  auf  alle  Vorteile 
des  Friedens  von  Adrianopel  verzichten.^  Damit  schloß  die  Au- 
dienz. Der  Kaiser  sagte  den  türkischen  Gesandten  noch  einige 
freundliche  Worte,  entschuldigte  sich,  sie  so  lange  aufgehalten  zu 
haben,  und  entließ  sie. 

Er  hatte  keinerlei  bindende  Versprechungen  gemacht,  auch 
nicht  angedeutet,  in  welcher  Weise  er  seine  Großmut  betätigen 
wolle,  und  aus  seinen  freundlichen  Worten  klang  doch  recht  deut- 
lich auch  eine  Drohung  durch,  die  von  den  Gesandten  gewiß  ver- 
standen worden  ist').  Trotzdem  waren  die  Hoffnungen  Halils  auf 
das  höchste  gespannt.  Um  so  größer  war  die  Enttäuschung,  die 
der  Verlauf  der   Verhandlungen   brachte.     Bis  zum  Eintreffen   der 

1)  Hierzu  die  Randglosse  von  Diebitscbs  Iland,  namentlich  nicht  Portew ! 

')  Der  Bericht  über  diese  Unterredung  ist  unmittelbar  nach  der  Audienz 
auf  Befehl  des  KaiserSi  wahrscheinlich  nach  seinem  Diktat,  aufgezeichnet  worden. 
Schilder:  Nikolai  Bd.  11  S.  266-272  hat  ihn  in  russischer  Obersetzung  wieder- 
gegeben.    In  der  Anlage  wird  der  franzosische  Originaltext  geboten. 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  389 

Nachricht  von  der  Entlassung  Portew  Efendis  and  der  neuen  In- 
struktionen für  die  Gesandten  wurde  zunächst  durch  Formalitäten 
und  unter  allerlei  anderen  Vorwänden  die  Eröffnung  der  Konferenzen 
hingezogen.  Als  dann  Halil  zu  erkennen  gab,  daß  er  sehr  wesent- 
liche Zugeständnisse  erwarte:  Kürzung  der  militärischen  Okku- 
pation, Minderung  der  Abtretungen  in  Asien,  eine  gunstigere 
Stellung  für  Aufrechterhaltung  der  Autorität  des  Sultans  in  den 
Fürstentümern,  Einschränkung  der  Rechte  der  anderen  Nationen 
in  betreff  des  freien  Handels  im  Schwarzen  Meer,  endlich  erhebliche 
Herabsetzung  der  Kriegsentschädigung,  mußte  er  sich  bald  über- 
zeugen, daß  davon  keine  Rede  sein  könne,  daß  er  überhaupt  keine 
Vorschläge  zu  machen,  sondern  nur  mit  Dank  entgegenzunehmen 
habe,  was  die  Gnade  des  Zaren  ihm  gewähren  wolle.  Es  dauerte 
aber  bis  zum  14./26.  März,  ehe  Halil  erfuhr,  was  er  von  der  Gnade 
des  Zaren  zu  erwarten  habe,  und  das  war  weit  weniger,  als  er  er- 
wartet hatte.  Von  der  Kriegskontribution  sollten  zwei  Millionen 
Dukaten  erlassen  werden,  eine  weitere  Million,  wenn  die  Pforte 
ohne  jede  Zögerung  die  Entscheidungen  der  Londoner  Konferenz 
in  den  griechischen  Angelegenheiten  anerkenne.  Von  den  acht 
Millionen  Dukaten  sollten  zwei  sofort  bezahlt  werden,  die  übrigen 
in  jährlichen  Raten  von  je  einer  Million  von  Neujahr  1831  ab. 
Dagegen  erklärte  sich  Rußland  bereit,  auf  das  Recht  der  Okku- 
pation der  Donaufürstentümer  bis  zu  völliger  Tilgung  der  Kriegs- 
schuld zu  verzichten,  wobei  jedoch  der  Vorhalt  gemacht  wurde, 
daß,  falls  die  Pforte  die  von  ihr  eingegangenen  Verpflichtungen 
nicht  genau  (exactement)  erfülle,  der  Wiedereinmarsch  der  russi- 
schen Truppen  erfolgen  werde. 

Diese  als  äußerstes  Zugeständnis  bezeichneten  russischen  Vor- 
schläge wurden  von  den  türkischen  Bevollmächtigten  durch  ein 
Gegenprojekt  beantwortet,  das  als  Maximum  vier  Millionen  Du- 
katen bot,  wobei  in  diese  Summe  auch  die  Entschädigung  der  vom 
russischen  Handel  erlittenen  Verluste  mit  einbegriffen  werden  sollte. 
Außerdem  aber  forderten  sie  sofortige  Räumung  aller  türkischen 
Provinzen.  Sie  erklärten  sich  bereit  1600000  Dukaten  gleich  zu 
zahlen,  wollten  jedoch  den  Rest  in  Jahresraten  von  nur  400000 
Dukaten  tilgen.  Aber  schon  nach  wenigen  Tagen  mußte  sich  Halil 
davon  überzeugen,  daß  der  russische  Vorschlag  in  der  Tat  ein  Ul- 
timatum war.  Was  man  bot,  die  Wahl  zwischen  einer  jährlichen 
Zahlung   von  einer  Million  oder  aber  von   500000   Dukaten    bei 


390  Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege. 

fortdauernder  Besetzung  von  Silistria  und  noch  einer  anderen  tür- 
kischen Festung,  war  im  Grunde  nur  eine  kaum  versteckte  Drohung. 
Da  der  andere  Ausweg,  durch  neue  Abtretungen  in  Asien  die  Last 
der  Kriegsentschädigung  zu  mindern,  ebensowenig  annehmbar  war,  so 
entschlossen  sich  die  Türken  am  26.  April  den  Vertrag  zu  unter- 
zeichnen*). Am  29.  Mai  wurden  die  Ratifikationen  ausgetauscht. 
Rußland  erklärte  sich  bereit,  die  Donaufürstentiimer  zu  räumen, 
sobald  die  letzten  500000  Dukaten  der  Handelsentschädigung  ge- 
zahlt seien.  Als  Garantie  für  die  Zahlung  der  Kriegsentschädigung 
blieb  Silistria  nebst  einer  militärischen  Verbindungsstraße  über  die 
Donau  in  russischen   Händen'). 

Eine  Überlieferung  will  wissen,  daß,  als  der  Kaiser  Halil  die 
Abschiedsaudienz  gew^ährte,  und  der  Gesandte  die  Frage  stellte,  ob 
er  nicht  auch  mündliche  Aufträge  dem  Sultan  überbringen  solle, 
Nikolai  ihm  gesagt  habe:  das  sicherste  Mittel,  seiner  Herrschaft 
und  seiner  Dynastie  d<iuernden  Bestand  zu  geben,  wäre  für  den 
Sultan,  sich  dem  Glauben  der  Mehrzahl  seiner  Untertanen  anzu- 
schließen d.  h.  zum  Christentum  überzutreten')  Wenn  das  wahr 
sein  sollte  —  und  wir  wissen  bestimmt,  daß  Nikolai  im  Jahre 
1832  den  General  Murawjew  in  diesem  Sinne  instruierte  —  so 
hätten  wir  hier  einen  neuen  Beleg  dafür,  wie  sehr  trotz  seines 
scharfen  politischen  Verstandes  der  Kaiser  sich  über  Fundamental- 
fragen der  Politik  in  Wahnvorstellungen  bewegen  konnte.  Ganz 
abgesehen  davon,  daß  die  christliche  Bevölkerung  der  Türkei  nur 
einen  geringen  Bruchteil  der  Ga<^ammtbevö1kerung  des  türkischen 
Reiches  bildete,  das  doch  ein  mohammedanisches  Staatswesen  war, 
übersah  er,  daß  ein  übertritt  des  Sultans  zum  Christentum  wahr- 
scheinlich seine  Ermordung  zur  Folge  gehabt  hätte,  sicher  aber  den 
Abfall  aller  seiner  asiatischen   und   afrikanischen   Untertanen.     Es 


0  Nesselrode  an  Diebitsch.  Petersburg  18./30.  April  1830.  Goss. 
Arch.  681. 

')  Dagegen  erklärte  sich  Rußland  bereit,  die  Zahlung  in  Piaster  nach 
dem  Kurse  anzunehmen.  Die  Zahlungen  waren,  sobald  das  rassische  Haupt- 
quartier türkischen  Boden  verlassen  hatte,  in  Silistria  zu  leisten.  Auch  ge- 
stattete der  Kaiser,  daß  die  Türken  die  Geschütze  von  Giurgewo  zurückerhielten, 
womit  Diebitsch  sehr  wenig  zufrieden  war. 

3)  Schilder  Nikolai  Bd.  II  S.  272,  nach  „L'Angleterre  et  la  Russie  dans 
la  question  d'Orient,  par  un  ancien  diplomate.  Paris  1877.  Im  St.  Peters- 
burger Archiv  des  Ministeriums  des  Auswärtigen  hat  sich,  wie  es  scheint,  keine 
Spur  von  dieser  Unterredung  erhalten. 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  391 

ist  nicht  daran  zu  denken,  daß  Halil  es  wagen  konnte,  einen  solchen 
Auftrag  zu  überbringen.  Er  hatte  ihn  selbst  als  schwere  Beleidi- 
gung empfunden. 

In  Konstantinopel  nahm  man  die  gefallene  Entscheidung  als 
den  vorbestimmten  Willen  Allahs  mit  Ergebung  hin.  Die  Er- 
bitterung richtete  sich  nicht  gegen  Rußland,  von  dem  Sultan  Mahmud 
sich  jetzt  abhängig  wußte  und  an  dessen  Absicht,  die  Türkei  zu 
erhalten  wie  sie  war,  er  nunmehr  glaubte,  sondern  gegen  Frank- 
reich und  namentlich  gegen  England,  das  ihn  zum  Widerstände 
ermuntert  und  dann  im  Stich  gelassen  hatte. 

Am  23.  April  1830  fand  im  Palais  des  Reis-Efendi  die  letzte 
Konferenz  mit  den  Vertretern  der  drei  „alliierten"  Mächte  England, 
Frankreich,  Rußland  statt.  Auch  der  Amedgi-Eiendi  (der  Vize- 
kanzler) war  zugegen. 

Der  Reis-Efendi  begann  mit  der  Erklärung,  daß  die  Pforte 
die  in  der  griechischen  Angelegenheit  gefallene  Entscheidung  ent- 
gegengenommen habe.  Der  Divan  könne  nicht  verbergen,  welchen 
Schmerz  er  darüber  empfinde.  Er  frage  die  Botschafter,  ob  sie 
nicht  zugeben  müßten,  daß  die  Rechte  der  Pforte  geopfert  worden 
seien?  Danach  übernahm  der  Vizekanzler  selbst  die  Leitung  der 
Konferenz  und  fragte  nachdrücklich,  welche  Garantien  die  Pforte 
dafür  habe,  daß  nicht  neue  Opfer  von  ihr  gefordert  werden  würden; 
wer  bürge  ihr  dafür,  daß  die  europäischen  Mächte  nicht  aufs  neue 
in  ihre  inneren  Angelegenheiten  eingreifen  würden,  und  daß  aus 
der  Zustimmung  zu  den  jetzt  getroffenen  Maßregeln  nicht  ein 
Präzedenzfall  gemacht  werde,  um  ihr  neue  Zugeständnisse  abzu- 
nötigen? 

Die  Botschafter  antworteten:  die  Entscheidung  ihrer  Höfe  sei 
in  klaren  Ausdrücken  gefaßt;  die  Pforte  sei  berechtigt  ihre  Au- 
torität in  allen  Fragen  zur  Geltung  zu  bringen,  die  nicht  von 
dieser  Entscheidung  berührt  würden.  Die  Zustimmung  zu  den  ge- 
troffenen Vereinbarungen  werde  von  ihr  neue  Opfer  nicht  verlangen, 
Sondern  vielmehr  die  Achtung  und  Freundschaft  ihrer  Alliierten 
steigern. 

Es  schlössen  sich  hieran  Erläuterungen  einzelner  Ausdrücke, 
über  die  geraume  Zeit  disputiert  wurde,  dann  verlas  der  Dragoman 
der  Pforte  den  Entwurf  der  Antwort  des  Divans  auf  die  Dekla- 
ration der  Mächte.  Es  war,  wie  es  nicht  anders  sein  konnte,  eine 
rückhaltlose  Zustimmung.     Am  folgenden  Morgen  sollten  die  Dra- 


392  Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege. 

gomans  der  drei  Mächte  sich  unter  den  üblichen  Formalitäten  die 
offizielle  Antwort  holen  ^).  So  lantet  die  verblaßte  Form  des  Pro- 
tokolls, das  von  den  Dragomans  der  „Alliierten^  fertiggestellt 
wurde.  Wir  wissen  aber,  daß  die  Verhandlung  überaus  stürmisch 
war.  Die  türkischen  Minister  sagten,  es  sei  von  den  beiden 
Mächten  (England  und  Frankreich)  eine  Missetat  an  der  Türkei 
begangen  worden.  Sie  hätten  stets  versichert  Freunde  der  Pforte 
zu  sein,  in  Wirklichkeit  aber  alles  gefördert,  was  zu  ihrem  Ver- 
derben führte.  So  oft  der  französische  Dragoman  Chabert  die  Hal- 
tung seiner  Regierung  rechtfertigen  wollte,  unterbrach  ihn  der 
Seraskier  und  gebot  ihm  Schweigen.  Er  wisse  bereits  alles,  was 
gesagt  werden  könne,  und  jedes  beschönigende  Wort  sei  eine  neue 
Beleidigung.  Sowohl  Guilleminot  wie  Gordon  empfanden  das  Pein- 
liche ihrer  Lage  schwer.  Metternich  aber,  dem  wir  Glossen  zu 
dem  Bericht  des  Dragomans  danken,  bemerkte  höhnisch:  wer  sich 
zum  Diplomaten  ausbilden  wolle,  werde  wohl  nicht  in  London  oder 
Paris  Belehrung  suchen.  Er  triumphierte  nachträglich  über  seinen 
nun  im  Grabe  ruhenden  alten  Gegner  George  Canning').  Ob  er 
empfunden  hat,  daß  auch  Osterreich  eine  schwere  Niederlage  er- 
litten hatte?  Man  wird  auf  diese  Frage  mit  einem  bestimmten 
„nein^  antworten  müssen.  Was  geschehen  war,  erschien  ihm  als 
logische  Konsequenz  des  Protokolls  vom  4.  April  1826  und  des 
Julivertrages  von  1827.  An  beiden  hatte  er  keinen  Teil.  Wenn 
fortan  der  russische  Einfluß  der  entscheidende  in  Konstantinopel 
wurde,  so  stand  sein  Entschluß  fest,  jetzt,  da  die  Krisis  überwunden 
war,  an  Rußlands  Seite  zu  rücken  und  die  Prinzipien  des  Siegers 
seinen  Zielen  und  seinen  Prinzipien  dienstbar  zu  machen.  Aber 
im  Orient  hatte  auch  Osterreich  bis  auf  weiteres  ausgespielt. 

Die  russische  Diplomatie  ist  mit  großem  Eifer  und  vielem 
Geschick  daran  gegangen,  die  Vorteile  der  Lage  auszunutzen.  Sie 
begann  damit  einen  Konsul  in  Sliwno  einzusetzen,  der  den  Auftrag 
hatte,  die  Entwicklung  der  inneren  türkischen  Angelegenheiten  scharf 
im  Auge  zu  behalten  und  die  Bulgaren,  die  gleich  nach  Abschluß  des 


*)  Wiener  Archiv.  Rußland.  Weisungen,  Anlage  zur  Ordre  an  Fiquel- 
mont  vom  25.  Mai  1830 

^  „Tel  n'a  certes  ete  le  caicul  ni  de  feu  Canning  ni  celui  de  ses  suc- 
cesseurs;  mais  ce  resultat  est  la  consoquence  rigoureuse  des  fautes  incon- 
cevables  dont  Tun  comme  les  autres  se  sont  rendus  coupables,  avec  toute 
Papparence  d'un  veritable  raffinement.^     Weisung  an  Fiquelmont  22.  Mai  1830. 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  393 

Krieges  in  Massen  nach  Rußland  auszuwandern  begannen^),  zu 
bewegen,  im  Lande  zu  bleiben.  Es  entsprach  dem  russischen  Vorteil 
nicht,  daß  die  slavisch-christliche  Bevölkerung  in  der  Türkei  ab- 
nahm. Ihre  Existenz  bedeutete  eine  Stärkung  des  russischen  Ein- 
flusses. Einen  festen  Ilalt  fand  er  namentlich  an  Serbien,  dem 
unter  dem  Schutz  des  Artikels  VI  des  Friedens  von  Adrianopel 
nunmehr  alle  Forderungen  gewährt  wurden,  die  schon  durch  die 
Konvention  von  Akkerman  ausbedungen  waren.  Es  blieb  nur 
übrig,  durch  eine  Grenzrichtung  die  1813  verlorenen  Gebiete  dauernd 
zu  sichern.  Türkische  und  serbische  Kommissare  haben  unter 
Leitung  des  Kapitäns  vom  russischen  Gardegeneralstab  von  Kotzebue') 
diese  Aufgabe  gelöst.  Auch  eine  Reihe  serbischer  Emigranten 
kehrte  damals  in  die  Heimat  zurück.  Sie  waren  auf  Wunsch 
von  Milosch  Obrenowitsch  bisher  in  Rußland  zurückgehalten  und 
pensioniert  worden,  jetzt  versöhnte  man  sie  mit  dem  Fürsten,  und 
das  bedeutete  für  Rußland  eine  jährliche  Ersparnis  von  29000 
Dukaten. 

Der  Etat  der  griechischen  Mission  wurde  am  1.  April  1830 
bestätigt,  in  den  Dardanellen,  in  Saloniki  und  in  Ägypten  russische 
Konsulate  begründet,  während  die  früheren  Konsulate  in  Sinope, 
Enos  und  Ohio  aufgehoben  wurden.  Wahrhaft  epochemachend  aber 
war  die  Tätigkeit,  die  Kisselew  in  Moldau  und  Walachei  entfaltete. 
Alles,  was  später  geschehen  ist,  um  diese  gänzlich  verwahrloste 
Nation')  zu  heben,  ruht  auf  dem  Fundament  der  von  ihm  durch- 
geführten Reformen.  Er  begann  damit  in  allen  Kreisen  Revisions- 
kommissionen^) einzusetzen,  die  den  Auftrag  hatten,  alle  einlaufen- 
den Klagen  anzunehmen  und  sofort  zu  entscheiden.  Sie  stellten 
fest,  daß  36000  Familien  sich  unrechtmäßigerweise  den  Abgaben 
entzogen,  und  daß  zwei  Millionen  ungesetzlicher  Abgaben  von  den 
Bauern  erhoben  wurden.  Der  Verkauf  der  Ämter  ward  aufgehoben, 
alle  Binnenzölle  wurden  beseitigt,  dazu  die  Abgaben  für  „verirrtes 
Vieh"   und    eine  Reihe    anderer  Chikanen    und  Ungesetzlichkeiten. 


0  Es  sollen  im  ganzen  60—80000  Köpfe  gewesen  sein. 

'^  Es  ist  ein  Sohn  von  Aagust  von  Rotzebue. 

^)  Ober  die  inneren  Zustände  der  Färstentümer  ist  der  Geheimbericht 
Liprandis  vom  23.  September  1827  aas  Skuleni  zu  vergleichen.  Russki  Archiv 
1877  II  S.  470  ff. 

^)  Aus  je  drei  Bojaren  erster  Klasse  und  einem  russischen  Beamten  als 
Procureur. 


394  Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege. 

So  war  es  ein  Segen,  daß  den  Juden  verboten  wurde  Bauernland 
zu  arrondieren,  und  daß  die  Frondienste  der  Bauern  abgelöst 
wurden.  Maßregeln  gegen  Landstreicher  und  Räuber,  das  Verbot 
des  W äffen tragens,  die  Organisation  einer  Landpolizei  brachten 
eine  leidliche  Sicherheit  und  steuerten  der  kaum  glaublichen 
Verwilderung,  die  in  dem  letzten  Jahrzehnt  Eingang  gefunden  hatte. 
Es  war  nur  natürlich,  wenn  die  Partei  der  Bojaren  diesen  Reformen 
entgegenzuwirken  suchte.  Sie  minderten  ihren  Einfluß  und  ihre 
Einkünfte.  Aber  seit  langer  Zeit  zum  erstenmal  begannen  die 
kleinen  Leute  freier  aufzuatmen. 

Nebenher  gingen  die  Arbeiten  der  Kommission,  die  mit  Aus- 
arbeitung eines  ^organischen  Reglements^,  d.  h.  eines  Reglements 
für  die  innere  Verwaltung  des  Landes  beauftragt  war.  Sie  wurde 
Anfang  Mai  1830  mit  ihrer  Vorlage  fertig.  Minciaki  und  die 
Bojaren  Sturdza  und  Villori  brachten  sie  nach  Petersburg,  wo 
unter  dem  Vorsitz  des  Justizministers  Daschkow  eine  besondere 
Kommission  eingesetzt  wurde,  die  aus  den  beiden  Bojaren  Kantakazi 
und  Minciaki  bestand.  Ihre  Arbeiten  gingen  dann  an  Kisselew 
zurück,  und  dieser  legte  sie  den  Revisionsversammlungen  vor.  Sie 
wurden  ausdrücklich  berechtigt,  unter  dem  Vorsitz  Kisselews  mit 
Stimmenmehrheit  Veränderungen  vorzunehmen.  Der  Kaiser  wünschte, 
daß,  wenn  das  Reglement  durchgesehen  und  die  vorgenommenen 
Veränderungen  bestätigt  seien,  Maßregeln  getroffen  würden,  um  die 
neue  Ordnung  noch  vor  dem  Abzug  der  russischen  Besatzungs- 
truppen in  Wirksamkeit  zu  setzten.  Der  Pforte  blieb  dann,  laut 
den  Bestimmungen  von  Adrianopel  nichts  übrig,  als  die  Reform 
durch  einen  Hat-i-Scherif  zu  bestätigen. 

Wir  greifen  der  chronologischen  Folge  der  Ereignisse  voraus, 
wenn  wir  söhon  jetzt  die  weitere  Entwicklung  dieses  wichtigen 
rumänischen  Problems  in  aller  Kürze  verfolgen.  Es  zeigt  uns  die 
einzige  Reform  großen  Stils,  die  der  Kaiser  Nikolaus  durchgeführt 
hat,  und  es  ist  charakteristisch,  daß  sie  sich  auf  nichtrussischem 
Boden  vollzog  und,  wenn  auch  in  bescheidenem  Maßstabe,  konsti- 
tutionellen Prinzipien  Rechnung  trug.  Zum  20.  März  1831  in 
der  Walachei  und  zum  8.  Mai  in  der  Moldau  wurden  die  Stande 
berufen,  um  das  inzwischen  fertiggestellte  Reglement  zu  prüfen 
und,  nachdem  es  angenommen  war,  die  Hospodare  zu  wählen.  Die 
„Sobranije^  in  Bukarest  eröffnete  am  22.  März  Kisselew  mit 
einer  Rede,    die   mit   einer  Dankadresse    beantwortet   wurde;    am 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  -595 

11.  Mai  ist  das  Reglement,  wie  nicht  anders  möglich  war,  fast  ganz 
unverändert  angenommen  worden.  In  der  Moldau,  deren  Aristo- 
kratie mächtiger  und  unruhiger  war,  gab  es  größere  Schwierigkeiten 
zu  überwinden,  auch  wurden  die  Sitzungen  der  Sobranije  in  Jassy 
durch  eine  furchtbare  Choleraepidemie  unterbrochen.  Schließlich 
haben  die  Bojaren  auch  dort  das  Reglement  angenommen,  und  Anfang 

1832  waren  die  neuen  Institutionen,  oder  wie  wir  wohl  sagen  dürfen, 
die  neue  Verfassung  in  beiden  Fürstentümern  durchgeführt.  Die 
Absicht  aber,  die  beiden  Hospodare  durch  außerordentliche 
Tagungen  der  Sobranije  in  Moldau  und  Walachei  wählen  zu  lassen, 
wurde  aufgegeben.  Die  Beziehungen  zwischen  Rußland  und  der 
Pforte  hatten  mittlerweile  einen  so  freundschaftlichen  Charakter 
angenommen,  daß  man  es  dem  Sultan  überließ,  nach  einer  von 
Rußland  vorgelegten  Liste  die  Hospodare  zu   ernennen.     Im  April 

1833  wurden  Michael  Sturdza  in  der  Walachai,  der  Bojar  Ghika 
in  der  Moldau  als  Hospodare  auf  Lebenszeit  eingesetzt.  Beide 
galten  als  zuverlässige  Anhänger  Rußlands'). 

So  darf  man  wohl  sagen,  daß  Rußland  im  europäischen  Orient 
aus  dem  Frieden  von  Adrianopel  allen  Nutzen  gezogen  hatte,  der 
sich  irgend  erreichen  ließ:  freundschaftliche  Beziehungen  zur  Türkei, 
die  ihren  politischen  Kompaß  durch  den  Petersburger  Magneten  be. 
stimmen  ließ,  einen  alle  fremde  Konkurrenz  fast  ausschließenden  Ein- 
fluß in  Rumänien,  Serbien,  Montenegro*),  Griechenland,  die  dankbare 
Rolle,  als  Fürsprecher  aller  bedrängten  christlichen  Untertanen  der 
Türkei  auftreten  zu  können,  das  waren  die  Früchte  der  Politik  des 
Kaisers.  Es  ist  kein  Wunder,  wenn  er  mit  hohem  Selbstgefühl 
auf  sein  Werk  blickte. 

Auch  in  Asien  führten  die  moralischen  und  kriegerischen  Er- 
folge Rußlands  zu  einer  weiteren  Ausdehnung  seines  Einflusses. 
In  Persien  festigte  sich    die  Kadscharische  Dynastie    immer   mehr 


1)  Im  wesentlichen  nach  Sablozki-Dessjätowski.  Graf  Kisselew  und  seine 
Zeit.  Bd.  I  Kap.  15—31.  Für  eine  eingebende  Darstellung  sind  die  groß- 
artigen Quellenpublikationen  der  Bukarester  Akademie  der  Wissenschaften, 
speziell  die  Arbeiten  von  Jorga  heranzuziehen. 

^)  Anfang  1830  traf  der  monteneg^nische  Wojewode  Wutschewitsch  in 
Petersburg  ein,  um  Gesuche  des  Metropoliten  Negosch  beim  Zaren  zu  ver- 
treten. Als  Negosch  im  November  1830  starb,  folgte  ihm  auf  Grund  des 
väterlichen  Testaments  sein  Neffe  Rodiwoi  Petrowitsch,  den  Rußland  sofort 
anerkannte.  Es  war  eine  Art  freiwilligen  Vasallitätsverhältnisses,  in  dem  dieser 
kleine  Staat  zu  Rußland  stand. 


396  Kapitel  XI.    Nach  dem  Knege. 

in  der  Überzeugung,  daß  sie  nur  in  der  Anlehnung  an  Rußland 
sich  behaupten  könne.  Der  Kaiser  schickte  den  General  ad  jntanten 
Nikolai  Andrejewitsch  Dolgorukow  nach  Teheran,  um  den  Schah 
und  Abbas  Mirza  in  ihrer  Stellung  zu  festigen.  Es  gelang  Dolgo- 
rukow auch  nicht  nur  Abbas  Mirza  mit  seinen  Brüdern  zu  ver- 
söhnen, sondern  auch  zu  erreichen,  daß  ihm  zu  seiner  Provinz 
Aderbaidschan  noch  die  Verwaltung  anderer  Provinzen  übertragen 
wurde.  Die  letzten  im  Frieden  von  Turkmantschai  von  Persien 
übernommenen  Verpflichtungen  sind  jetzt  erfüllt  worden.  Von  den 
noch  ausstehenden  acht  Kurur  wurde  der  Rest  von  14000  Taman 
teils  in  Gold,  teils  durch  Getreidelieferungen  bezahlt.  Die  weit 
ins  Innere  des  Reiches  verschleppten  russischen  Gefangenen  kehrten 
endlich  in  die  Heimat  zurück,  und  für  den  Fall,  daß  der  alte 
Schah  sterben  sollte,  waren  militärische  Vorkehrungen  getroffen 
worden,  um  die  Nachfolge  von  Abbas  Mirza  zu  sichern.  Der 
englische  Einfluß  schien  um  diese  Zeit  völlig  zurückgedrängt;  wie 
in  Eonstantinopel,  gebot  auch  in  Teheran  Rußland.  Das  hatte 
eine  überaus  günstige  Wirkung  auf  die  russisch-persischen  Handels- 
beziehungen. Der  Schah  bequemte  sich  dazu,  bei  den  persischen 
Zollbehörden  den  in  Rußland  üblichen  Geschäftsgang  einzu- 
führen, wodurch  ein  System  von  Schikanen  beseitigt  wurde,  das 
überaus  lästig  empfunden  worden  war.  In  Enseli^),  dem  Hafen 
von  Rescht,  wurde  ein  russisches  Konsulat  begründet  und  regel- 
mäßig bei  Beginn  der  Schiifahrt  ein  Handelsagent  aus  Tabris 
hingeschickt,  um  den  russischen  Kaufleuten  mit  Rat  und  Tat  bei- 
zustehen. Auch  in  Nischni-Nowgorod  begannen  die  persischen 
Händler  sich  wieder  in  größerer  Zahl  zu  zeigen,  so  daß  man  bereits 
einen  Rückschlag  dieses  gesteigerten  Verkehrs  auf  der  Leipziger 
Messe  zu  bemerken  glaubte.  Die  Khanate  Kokan  und  Buchara 
schickten  ersteres  1829,  letzteres  1830,  Gesandtschaften  nach  Peters- 
burg, die  gnädig  empfangen  und  reich  beschenkt  entlassen  wurden. 
Kokan,  das  durch  seine  Lage  zwischen  dem  chinesischen  Ost- 
turkestan  und  Buchara  wichtig  war  und  von  beiden  Nachbarn  zu 
fürchten  hatte,  suchte  und  fand  Schutz  bei  Rußland,  was  dessen 
Handelskarawanen  zugut  kam;  in  Buchara  aber  hatte  damals 
Nasr  Ulla  Khan  sich  nach  Beseitigung  seines  Bruders  zum  Herrn 
des  ganzen  Khanats  gemacht.     Die  Möglichkeit,  daß  Rußland  sich 

^)  Der  compte  rendu,    schreibt  Sinsiii,    was   wohl  aaf  einen  Lesefehler 
zurückgebt. 


Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege.  397 

der  uDzufriedenea  Elemente  annehmeD  könnte,  ließ  auch  hier  gute 
Beziehungen  zum  Zarenreich  höchst  wünschenswert  erscheinen. 
Ein  Mitglied  der  bucharischen  Gesandtschaft  fand  sich  sogar  bereit, 
den  Versuch  einer  Vermittelung  zwischen  Rußland  und  dem  ihm 
feindseligen  Emirat  Chiva  zu  übernehmen.  Mit  Chiva  wurden  seit 
geraumer  Zeit  keine  politischen  Beziehungen  mehr  unterhalten, 
weil  die  Chivesen  eine  russische  Karawane  überfallen  und  geplündert 
hatten.  Der  Handel  mit  Chiva  aber  dauerte  fort,  wenn  auch  unter 
Behinderungen.  Wie  lebhaft  trotz  allem  die  Beziehungen  gewesen 
sein  müssen,  ergibt  sich  aus  der  Tatsache,  daß  1830  gegen  20000 
Russen  in  bucharischer  Gefangenschaft  Sklavendienste  leisteten. 
Um  deren  Freigebuug,  die  bereits  einmal  vom  Emir  zugesagt 
worden  war,  sollten  die  Bucharen  sich  bemühen.  Von  den  vier 
Kirgisenhorden,  der  großen,  mittleren,  kleinen  und  inneren,  stand 
die  mittlere  unter  Verwaltung  Rußlands.  Sie  war  in  Kreise  geteilt, 
an  deren  Spitze  Sultane  gesetzt  waren,  deren  Rivalität  die  russische 
Oberhoheit  sicherte.  Die  große  Horde  gehörte  zu  China,  die  innere 
war  ganz  unabhängig,  hatte  aber  lebhaften  und  friedlichen  Handel 
mit  Rußland.  Am  meisten  zu  schaffen  machte  die  sogenannte 
kleine  Horde,  in  Wirklichkeit  die  zahlreichste  und  zugleich  die 
unruhigste.  Aber  ihre  unermeßlichen  Herden  boten  reichen  Handels- 
gewinn, und  Rußland  hatte  auch  hier  die  ursprüngliche  Einheit  zu 
sprengen  verstanden,  so  daß  diese  mittlere  Horde  in  drei  Herr- 
schaften zerfallen  war,  an  deren  Spitze  von  Rußland  besoldete 
Sultane  standen.  Doch  gab  es  auch  noch  unabhängige  Aule.  Aus 
der  mittleren  Horde  waren  in  den  letzten  Jahren  zwei  ungeheure 
Karawanen  von  3000  und  1600  Kamelen  nach  Nishni  Nowgorod 
gekommen,  dem  Sammelpunkt  dieses  asiatischen  Handels. 

So  reichten  der  russische  Handel  und  die  russische  Politik  tief 
nach  Asien  hinein.  Der  Kaiser,  der  diesen  asiatischen  Problemen 
sein  lebhaftes  Interesse  schenkte,  hatte  außerdem  schon  1829  die 
Vorkehrungen  für  eine  Gesandtschaft  nach  China  treffen  lassen, 
die  am  11./23.  Januar  1830  ihre  Reise  antrat.  Sie  trug  den 
Charakter  einer  geistlichen  Mission^  und  bestand  unter  Leitung  des 
Erzpriesters  (Hieromonach)  Wenjamin  Moratsche witsch')  aus  neun 

0  ducbownaja  pekinskaja  missia,  d.  h.  geistliche  Pekinger  Mission. 

^  Er  kannte  China  gut  und  war  Lehrer  des  Russischen  an  einer 
chinesischen  Staatsschule  gewesen.  Nikolai  hatte  ihm  auf  ausdrückliche  Vor- 
stellung der  chinesischen  Regierung  (ein  unerhörtes  Ereignis!)   ein   goldenes 


398  Kapitel  XI.    Nach  dem  Kriege. 

Personen,  den  besten  Zöglingen  der  geistlichen  Akademien^  die 
bestimmt  waren,  an  der  russischen  Kirche  in  Peking  zu  amtieren 
und  sich  die  chinesische  Sprache  vollkommen  zueigen  zu  machen. 
Der  Hauptzweck  der  Mission  war  jedoch  ein  anderer.  Eine  ge- 
heime Instruktion  beauftragte  Moratschewitsch  nicht  nur  alles 
daran  zu  setzen,  um  die  bisherigen  Handelsbeziehungen  aufrechtzu- 
erhalten und  zu  kräftigen'),  sondern  auch  die  Genehmigung  zur 
Eröffnung  eines  neuen  Handelsmarktes  an  der  sibirischen  Grenze 
bei  der  Festung  Buchtarminsk  zu  erlangen,  die  2000  Werst  näher 
von  Moskau  lag  als  der  alte  Handelsplatz  Kiachta.  Der  Erzpriester 
sollte  sich  außerdem  bemühen,  den  russischen  Kaufleuten  die 
Schiffahrt  auf  dem  Amur  zu  öffnen,  damit  so  eine  bequemere 
Verbindung  mit  den  russisch-amerikanischen  Besitzungen  gewonnen 
werde,  als  ihn  die  alte  Straße  über  Jakutsk  bot.  Auch  neue 
Kontrakte  über  die  Ausfuhr  von  Rhabarber  sollten  abgeschlossen 
werden.  Dieser  Mission  waren  jedoch  zwei  Laien  angeschlossen, 
der  Major  Ladyshenski,  der  beauftragt  war,  topographische  Auf- 
nahmen zu  machen^  und   der  Estländer  Baron  Schilling,    dem  ein 


Brustkreuz  mit  RrillaDten  verliehen.  Jahresbericht  des  asiatischen  Departe- 
ments zum  Jahre  1830.    Petersburger  Archiv  des  Minist,  des  Ausw. 

*)  Der  letztabgeschlossene  russisch-chinesische  Vertrag  datiert  Ton 
Kiachta,  den  21.  Oktober  1727.  Jusefowitsch :  Verträge  Rußlands  mit  dem 
Orient  S.  239 — 247.  Durch  ihn  wurde  Kiachta  als  Handelsplatz  freigegeben. 
Der  für  unsere  Zwecke  in  Betracht  kommende  Punkt  5  des  Vertrages 
lautet:  „Das  Haus,  das  jetzt  für  die  Russen  in  Peking  erworben  wird,  soll 
auch  ferner  den  Russen  verbleiben,  und  die  Ankommenden  sollen  in  diesem 
Hause  wohnen.  Was  aber  der  Gesandte  Sawara  Wladislawitsch  vorgestellt 
hat  vom  Bau  einer  Kirche,  die  in  diesem  Hause  durch  Unterstützung  vor- 
nehmer Männer  angelegt  wurde,  denen  die  Aufsicht  über  die  russischen  An- 
gelegenheiten zusteht:  so  werden  in  diesem  Hause  wohnen  ein  Lama  (sc. 
nissischer  Prieser)  und  drei  andere  Lamas  (Priester),  die,  wie  beschlossen  ist, 
eintreffen  sollen.  Wenn  sie  eintreffen,  wird  man  ihnen  Unterhalt  geben 
wie  ihn  der  erhält,  der  vorher  eingetroffen  ist,  und  sie  werden  an  dieser 
Kirche  angestellt  werden.  Den  Russen  wird  nicht  verwehrt  sein,  zu  beten  und 
ihren  Gott  zu  verehren  nach  ihrem  Brauch;  außerdem  werden  in  diesem  Hause 
leben  vier  Knaben  als  Schüler  und  zwei  Ältere,  die  Russisch  und  Lateinisch  ver- 
stehen, und  die  der  Gesandte  ....  in  Peking  zum  Erlernen  der  Sprachen 
zurücklassen  will.  Unterhalt  werden  sie  auf  Kosten  des  Zaren  erhalten,  und 
wenn  sie  ausgelernt  haben  und  es  ihr  Wille  ist,  wird  man  sie  zurücknehmen.' 

Der  nächste  russisch-chinesische  Vertrag  wurde  am  25.  Juli  1851  in 
Kuldscha  abgeschlossen.    Jusefowitsch  1.  1.  S.  247  ff. 


Kapitel  XII.    Aufsteigende  Gewitter.  399 

reicher  wisseuschaftlicher  Apparat  zur  Verfügung  gestellt  wurde, 
um  botanische,  zoologische  und  mineralogische  Studien  zu  verfolgen. 
Er  sollte  aber  nicht  mit  nach  Peking,  um  nicht  das  Mißtrauen  der 
Chinesen  zu  erregen,  sondern  in  Ostsibirien  bleiben  und  speziell 
den  Handel  in  Kiachta  studieren,  auch  genauere  Auskunft  über 
die  Beziehungen  der  lamaitischen  Buräten  zum  Dalai-Lama  in 
Tibet  heimbringen  und  die  literarischen  Schätze  der  buddhistischen 
Klöster  durchforschen.  Die  Berichte  Schillings  haben  nach  all 
diesen  Richtungen  die  wertvollsten  Auskünfte  gebracht. 


Kapitel  XII.    Aufsteigende  Gewitter. 

Es  kann  kaum  wunder  nehmen,  daß  die  reichen  Früchte  der 
Sorgenjahre  1828  und  1829  das  Selbstgefühl  des  Kaisers  festigten 
und  die  herrische  Anlage  in  ihm  noch  mehr  in  den  Vordergrund 
treten  ließen,  als  bisher  geschehen  war.  Die  Willkür  seiner  spontanen 
Entscheidungen  machte  sich  unbequem  fühlbar.  Immer  häufiger 
wurden  Zivilisten  wegen  geringer  Vergehungen  auf  die  Hauptwache 
geschickt,  um  dort  einige  Tage  darüber  nachzudenken,  wie  der  Kaiser 
den  Begriff  der  „Ordnung"  verstanden  wissen  wollte.  Auch  nahm 
Nikolai  keinen  Anstoß  daran,  gelegentlich  über  Offiziere  Strafen 
zu  verhängen,  die  nur  für  Soldaten  bestimmt  waren*).  Er  zog 
seine  Minister  sehr  selten  zu  Rate  und  befragte  nur  zuweilen  den 
Grafen  Kotschubej  und  den  Fürsten  Golitzyn,  die  sich  vorsichtig 
ihre  Autorität  zu  bewahren  verstanden.  Sogar  Benkendorff,  der 
ihm  persönlich  am  nächsten  stand,  mußte  sich  gelegentlich  strenge 
Zurechtweisungen  gefallen  lassen,  wenn  er  die  Grenzen  der  von 
Nikolai  geforderten  höfischen  Zurückhaltung  überschritt,  und  selbst 
der  geschmeidigste  seiner  Staatsmänner,  Graf  Nesselrode,  ist  damals 
nahe  daran  gewesen,  in  Ungnade  zu  fallen,  weil  er  eine  durch  die 
Ereignisse  überholte  Depesche  dem  Kaiser  nicht  vorgelegt  hatte'). 
Besonders  peinliches  Aufsehen  erregte  die  folgende  Angelegenheit'). 

1)  Tagebuch  Diwows  I.  I.  Juli  1830. 

^  Graf  Nesselrode  ging  am  27.  April  st.  v.  auf  Urlaub  und  wurde  erst 
durch  Diwow,  später  durch  Liefen  vertreten,  der  am  28.  Juni  in  Petersburg 
eintraf  und  in  dem  man  bereits  den  Nachfolger  Nesselrodes  sah.  Aber  der 
Vizekanzler  behauptete  seine  Stellung. 

')  Bericht  des  Generalkonsuls  Schmidt  aus  Warschau,  den  2.  Mai  1830 
„Aus  durchaus  sicherer  Quellens  ^Il^r  Wahrscheinlichkeit  nach  ist  diese  Quelle 
der  Großfürst  Konstantin  Pawlowitsch. 


400  Kapitel  XII.     Aufsteigende  Gewitter. 

Auf  einem  Ball,  den  der  preußische  Gesandte  General  von  Schöler 
veranstaltet  hatte^  erhielt  der  Kaiser  einen  Bericht  der  Moskauer 
Geheimpolizei  über  lärmende  Demonstrationen,  die  im  dortigen 
französischen  Theater  stattgefunden  hatten.  Sie  iBvaren  von  jungen 
Leuten  des  Moskauer  Adels  ausgegangen  und  an  sich  wenig  er- 
heblich. Der  Kaiser  ließ  nun  sofort  den  gerade  in  Petersburg 
anwesenden  Generalgouverneur  von  Moskau,  Fürsten  Golitzyn,  rufen 
und  befahl  ihm,  die  Personen,  die  den  Lärm  verursacht  hatten, 
in  das  Zuchthaus  zu  stecken.  Auf  die  Vorstellung  Golitzyns,  daß 
durch  diese  Strafe  Mitglieder  der  ersten  russischen  Familien,  unter 
anderen  zwei  Grafen  Potemkin,  nach  den  geltenden  Gesetzen  ihrer 
Ehre  verlustig  gehen  würden,  antwortete  der  Kaiser  kurz  und 
heftig:  Vollziehen  Sie  meine  Befehle!  Der  Eindruck,  den  diese 
Entscheidung  in  Moskau  machte,  war  unbeschreiblich.  Der 
ganze  Adel  eilte,  die  so  Bestraften  zu  besuchen,  Reihen  von  Equi- 
pagen hielten  Tag  und  Nacht  vor  dem  Zuchthause,  und  als  ein 
Senator  in  seiner  Eigenschaft  als  Direktor  des  adligen  Klubs  den 
Antrag  stellte,  jene  Personen  auszuschließen,  wurde  er  ausgezischt 
und  gröblich  beleidigt.  Die  Gesellschaft  aber  beschloß,  den  Ver- 
hafteten gleich  nach  ihrer  Entlassung  —  die  wahrscheinlich  sehr 
bald  erfolgte  —  ein  großes  Fest  zu  geben. 

Es  scheint  nun,  daß  dem  Kaiser  bald  klar  wurde,  daß  er 
übereilt  gehandelt  hatte.  Am  3./15.  März  0  verließ  er  Petersburg, 
um  mit  dem  Prinzen  Albrecht  von  Preußen  die  Nowgoroder 
Militärkolonien  zu  besuchen.  Nach  geschehener  Besichtigung  ließ 
er  nicht  den  Rückweg  nach  Petersburg  einschlagen,  wie  allgemein 
erwartet  wurde,  sondern  in  die  Moskauer  Straße  einlenken.  Er 
traf  am  7.  (19.)  März  um  2  Uhr  nachts  in  der  alten  Residenz  ein, 
blieb  sechs  Tage  dort  und  machte  unter  anderem  einen  Ball  in  eben 
jenem  adligen  Klub  mit,  der  kurz  vorher  die  freigegebenen  Grafen 
Potemkin  gefeiert  hatte.  Er  war  nie  liebenswürdiger  gewesen  als 
in  jenen  Tagen,  und  in  Moskau  war  bald  nur  noch  davon,  nicht  von 


')  Das  von  Benlcendorfir  in  seinen  Memoiren  Russ.  St.  1896  Oktober 
S.  66  angegebene  Datum  1.  März  ist  nach  den  unbedingt  zuverlässigen  An- 
gaben des  Journals  der  Kammerfouriere  falsch,  wie  denn  bei  dieser  (telegen- 
heit  darauf  hingewiesen  sei,  daß  seine  Memoiren  mit  Vorsicht  zu  benutzen 
sind.  Ihre  Tendenz  zeigt  sich  im  Verschweigen,  und  die  Chronologie  ist  sehr 
häufig  zurecht  zu  stellen.  Ich  habe  ein  Exemplar  benutzen  können,  das 
Korrekturen  von  der  Iland  der  Kaiser  Nikolai  und  Alexander  11.  enthält. 


Kapitel  XII.    Aufsteigende  Gewitter.  401 

der  vorausgegangenen  Erregung  die  Rede.  So  rasch  wechselten 
auf  diesem  Boden  die  Stimmungen.  Vielleicht  ist  die  große  Reiz- 
barkeit des  Kaisers  auch  dadurch  zu  erklären,  daß  er  von  zwei 
Angelegenheiten  in  Anspruch  genommen  wurde,  die  ihn  fast  ohne 
Unterbrechung  beschäftigten  und  irritierten:  die  bevorstehende  Er- 
öffnung seines  ersten  Reichstages  in  Polen  und  die  Entwicklung, 
welche  die  Verhältnisse  in  Frankreich  nahmen. 

Der  Großfürst  Konstantin,  der  Mitte  August  1829  nach  Ems 
gereist  war,  um  sich  einer  Kur  zu  unterziehen  und  danach  längere 
Zeit  in  Brüssel  verweilte,  wo  er  vergeblich  bemüht  war,  die  häßlichen 
Ehehändel  der  Großfürstin  Anna  mit  ihrem  Gemahl,  dem  Prinzen 
Wilhelm  von  Uranien,  auszugleichen,  war  Anfang  Dezember  nach 
Warschau  zurückgekehrt.  Er  hatte  dort  den  heftigsten  Gegensatz 
zwischen  dem  polnischen  Finanzminister  Lübeck!  und  Nowossilzew 
vorgefunden  und  trotz  seiner  persönlichen  Abneigung  gegen  den 
letzteren  für  ihn  Partei  ergreifen  müssen,  da  Lubecki  sich  nicht 
nur  in  seiner  Leidenschaftlichkeit  gehen  ließ,  sondern  auch  grobe 
sachliche  Verstöße  in  seiner  Geschäftsführung  begangen  hatte,  die 
der  immer  kühle  und  exakte  aber  intrigante  Nowossilzew^)  ihm 
in  seiner  Eigenschaft  als  Vertreter  der  russischen  Interessen  nicht 
durchgehen  ließ.  Auch  die  literarische  Bewegung  der  Zeit  spielte  mit, 
speziell  der  schon  erwähnte  Kampf  um  den  Wallenrod  von  Mizkie- 
wicz,  den  BenkendorfT  und  Lieven  unter  dem  Einfluß  von  Bulgarin 
zu  diskulpieren  verstanden  hatten.  Der  Großfürst,  der  durch  das 
Treiben  Bulgarins  und  seiner  littauischen  Landsleute  auf  das  äußerste 
erbittert')  war,  fährte  beim  Kaiser  Klage  über  Benkendorff  und 
drohte  mit  seinem  Rücktritt.  Er  fühlte  sich  zudem  dadurch  ver- 
letzt, daß  Nesselrode  ihm  während  der  letzten  acht  Monate  keine 
politischen  Berichte  zugeschickt  hatte,  was  wohl  durch  seinen 
Aufenthalt  im  Auslande  zu  erklären  ist,  vielleicht  auch  einer  Ab- 
sicht des  Kaisers  entsprach,   der  ein  Lob  seiner  Politik,  nicht  die 

')  „Avec  son  exacte  et  taquine  maniere  de  traiter  les  affaires."  Kon- 
stantin an  Nikolai  den  2.  Januar  1830. 

^)  Konstantin  an  Opotscbinin  Ende  Januar  1830.  „Si  je  n^obtiens  pas 
justice  je  quitte  decidement  mon  service  ....  J^en  suis  las  et  puis  je  ne 
saurai  me  faire  ä  mon  äge  et  mes  pres  de  35  ans  de  Service  a  ce  nouvel 
etat  de  choses  qui  peut  etre  sublime  mais  auquel  je  n'entends  rien  ....  l'ou 
me  fait  des  chicanes  et  des  emboucbures  pour  me  mettre  hors  de  moi  et  me 
chasser  si  l'on  pouvait,  ils  croient  qu'ils  triompberont  une  fois  que  je  n*y 
suis  plus." 

Schiemaon,  Geschichte  Kußlands.    II.  26 


402  Kapitel  XII.     Aufsteigende  Gewitter. 

oft  verletzende  Kritik  des  Bruders  zo  hören  wünschte.  Konstantin 
war  mit  keiner  der  von  Petersburg  ausgehenden  Regierungsmaß- 
regeln zufrieden.  Er  meinte,  die  neue  Regierungsmetbode  möge  ja 
erhaben  sein,  aber  verstehen  könne  er  sie  nicht.  Über  diesen  Punkt 
war  natürlich  eine  Verständigung  zwischen  ihm  und  dem  Kaiser 
nicht  möglich.  Aber  Nikolai  verstand  es  doch,  ihn  zu  besänftigen  und 
in  den  polnischen  Angelegenheiten,  speziell  soweit  Lubecki  in  Frage 
kam,  gab  er  Konstantin  seine  volle  Zustimmung.  Er  hat  sich  darüber 
in  nicht  mißverständlicher  Weise  ausgesprochen.  Als  Lubecki  in 
Petersburg  gegen  den  Staatssekretär  für  polnische  Angelegenheiten, 
den  Grafen  Grabowski,  intrigierte,  wies  ihn  der  Kaiser  auf  das 
schärfste  zurück,  aber  er  hielt  es  doch  für  notwendig,  den  Mann 
nicht  fallen  zu  lassen.  Konstantin  dagegen  urteilte  über  die  Lage  im 
Königreich  folgendermaßen*):  Meine  15 jährige  Erfahrung  in  diesem 
Lande  hat  mir  zu  deutlich  bewiesen,  daß  diese  Herren  jeglicher 
Kategorie,  wenn  sie  eine  Art  Russomanie  affektieren,  nur  persön- 
lichen Interessen  nachgehen,  und  daß  hinter  all  den  schönen  Worten 
von  ihrer  Hingebung  geheime  Absichten  stecken.  Trotz  meiner 
Warnungen  haben  sich  hier  viele  dadurch  täuschen  lassen.  Ich 
aber,  der  ich  sie  genau  beobachtet  habe,  wußte,  woran  ich  war, 
und  die  Tatsachen  haben  mein  Urteil  bestätigt.  Das  gilt  auch 
vom  Fürsten  Lubecki:  in  Petersburg  ist  er  Russe  und  in  Warschau 
Pole  ä  outrance.  Hier  sucht  er  alle  Parteien  der  Liberalen  durch 
Schmeicheleien  zu  gewinnen,  um  ihr  Haupt  zu  werden  und  seine 
Finanzmaßregeln  auf  dem  Reichstage  durchzusetzen  ....  Er  ist 
der  beständige  Beschützer  aller  Litauer,  man  findet  sie  zahlreich 
in  seiner  Umgebung,  und  zwar  namentlich  solche,  die  sich  in  Polen 
kompromittiert  haben. ^  Auch  über  die  polnische  Geistlichkeit  war 
der  Großfürst  ungehalten.  Auf  Ehre,  Seele  und  Gewissen  sei  er  nicht 
imstande,  auch  nur  einen  von  den  sieben  polnischen  Bischöfen  zum 
Nachfolger  des  eben  gestorbenen  Erzbischofs  zu  empfehlen.  Er  dachte 
an  Verminderung  der  Zahl  der  Bischofssitze.  Ein  dahin  zielender 
Antrag  werde  im  Reichstage  gewiß  durchgehen,  weil  er  eine 
Änderung  der  Konstitution  involviere'). 

Es  scheint,  daß  dieser  Gedanke  auf  Lubecki   zurückgeht,   der 
seinem  Budget  die  Ersparnisse  zuführen  wollte,  die  sich   bei  Aus- 

0  Konstantin  an  Nikolai  12.  Januar  1830. 

')  d.  b.    die    Polen    hätten    darin    eine    Anerkennung   ihres   Anspruches 
gesehen,  bei  Verfassungsänderungen  befragt  zu  werden. 


Kapitel  XIT.     Aufsteigende  Gewitter.  '403 

führung  des  Planes  gewinnen  ließen.  Aber  der  Kaiser  wollte  nichts 
davon  wissen,  und  ohne  Zweifel  hatte  er  recht.  Aach  wenn  der 
Reichstag  zustimmte,  wäre  ihm  das  Odium  geblieben,  die  religiösen 
Freiheiten  der  Polen  gemindert  zu  haben;  die  Änderung  der  Ver- 
fassung aber,  an  deren  Charakter  als  bedingtes  Gnadengeschenk 
er  ebenso  fest  hielt  wie  Alexander,  hätte  einen  Präzedenzfall  ge- 
schaffen, der  eine  Steigerung  der  Befugnisse  des  Reichstags  und 
eine  Minderung  seiner  kaiserlichen  Rechte  zur  Folge  haben  mußte. 
Nichts  aber  lag  dem  Kaiser  ferner  als  in  solche  Bahnen  einzulenken. 
Den  Eid,  den  er  auf  die  Verfassung  geleistet  hatte,  wollte  er 
halten,  daran  kann  nicht  der  geringste  Zweifel  sein,  aber  darüber 
hinaus  das  ihm  verhaßte  konstitutionelle  Wesen  zu  stärken,  wider- 
sprach seinen  Überzeugungen.  Auch  sonst  machten  die  polnischen 
Angelegenheiten  ihm  Verdruß.  Cancrin  klagte  über  die  ungeheuren 
Ausgaben,  die  der  hohe  Sold  der  in  Polen  stehenden  russischen 
Truppen  verschlang,  zu  deren  Unterhält  das  „Königreich^  keinerlei 
Beiträge  leistete.  Er  forderte  die  Erstattung  aller  Summen,  welche 
von  1814  bis  1817  nach  Polen  geschickt  worden  waren,  um  die 
polnischen  Truppen  zu  organisieren  und  zu  unterhalten.  Wie 
Cancrin  berechnete,  handelte  es  sich  mit  den  Zinsen  im  ganzen  um 
140  Millionen  Gulden,  die  Rußland  zu  fordern  hatte,  er  mußte  sich 
itber  nach  langen  und  peinlichen  Verhandlungen  mit  Lubecki  zu- 
frieden geben,  als  die  Polen  schließlich  eine  Schuld  von  30  Millionen 
Gulden  anerkannten. 

Dann  kam  die  Notwendigkeit,  den  polnischen  Reichstag  jetzt 
-endlich  zu  berufen,  nachdem  über  vier  Jahre  seit  Beginn  der 
Tagung  des  letzten  Reichstages  hingegangen  waren.  Der  Kaiser 
hatte  sich  dazu  schon  im  November  1829  entschlossen  und  den 
Mai  1830  als  Termin  in  Aussicht  genommen.  Die  Wahlen  begannen 
^bereits  im  Februar.  Aber  die  von  der  Warschauer  Regierung  in 
Vorschlag  gebrachten  Regierungsvorlagen  befriedigten  den  Kaiser 
nicht.  Sie  betrafen  ein  Alexander  I.  in  Warschau  zu  errichtendes 
Monument,  ein  neues  Gesetz,  das  die  Ehescheidungen  erschweren 
sollte,  die  Fortsetzung  des  Zivilgesetzbuches  und  die  Reform  der 
Kriminalprozedur.  Nicht  mit  Unrecht  fand  der  Kaiser  dieses 
Arbeitsprogramm  höchst  dürftig,  er  wünschte  neue,  umfassendere 
Vorlagen  und  wollte  deshalb  die  Eröffnung  des  Reichstages  auf  den 
Oktober  verschieben.  Aber  ein  Bericht  des  Warschauer  Administra- 
tionsrats machte  ihn  anderen  Sinnes.     Man  könne  dem  Kaiser  in 

26* 


404  Kapitel  XII.     Aufsteigende  Gewitter. 

kürzester  Frist  neue  bedeutendere  Gesetzentwürfe  vorlegen^  hätte 
sich  aber  auf  jene  vier  Anträge  beschränkt,  weil  man  dem  ersten 
Reichstage,  den  der  Kaiser  versammele,  jede  Veranlassung  zu 
leidenschaftlichen  oder  gar  gehässigen  Äußerungen  entziehen  wollte. 
Jetzt  seien  die  Wahlen  fast  beendet,  und  sie  hätten  gezeigt,  daß 
die  Stimmung  keineswegs  der  Regierung  freundlich  sei.  In  der 
Wojewodschaft  Kaiisch  sei  auf  einer  Wahlversammlung  in  Warta 
der  Trinkspruch  ausgebracht  worden :  „Tod  einem  jeden,  der  unsere 
Verfassung  zu  verletzen  wagt^^).  In  einem  ausfuhrlichen  Bericht 
der  Minister  des  Königreichs  wurde  dann  darauf  hingewiesen,  daß 
ein  Reichstag  unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  vornehmlich 
den  Zweck  haben  mußte,  den  durch  die  Verfassung  gegebenen  Zu- 
sagen nachzukommen  und  der  Regierung  die  Möglichkeit  zu  geben, 
aus  den  von  der  Verfassung  vorgesehenen  Petitionen  des  Reichs- 
tages die  Wünsche  der  Nation  kenuen  zu  lernen.  Da  die  Sitzungen 
nur  30  Tage  dauerten,  blieben  nur  16  Tage  für  die  eigentlichen 
Beratungen  übrig,  was  die  Durchberatung  eines  umfassenden 
Arbeitsprogramms  fast  unmöglich  mache. 

Daraufhin  entschloß  sich  Nikolai,  den  Reichstag  auf  den  28.  Mai 
einzuberufen.  In  welcher  Stimmung  es  geschah,  zeigt  ein  Brief, 
den  er  am  8./20.  April  an  König  Friedrich  Wilhelm  III.  richtete: 
„Wir  bereiten  uns  jetzt  zur  Abreise  nach  Warschau  vor  ....  Sie 
kennen,  Sire,  meine  Leidenschaft  für  konstitutionelle  Formen  und 
werden  sich  sagen,  welche  Freude  es  für  mich  ist,  auf  einem  Reichs- 
tage Figur  zu  machen.  Da  ich  aber  einmal  diese  Institutionen 
geerbt  und  geschworen  habe,  sie  aufrecht  zu  halten,  gehe  ich  ehrlich 
ans  Werk*).  Ich  bitte  Gott,  mich  zu  leiten  und  diejenigen  vor 
Dummheiten  zu  bewahren,  die  berufen  sind,  für  das  Glück  eines 
Landes  zu  arbeiten,  das  alle  Voraussetzungen  dazu  besitzt.^  Er 
hatte  sich  alle  von  Alexander  in  Warschau  gehaltenen  Reden  vorlegen 
lassen  und  von  der  Rede,  mit  der  der  Kaiser  am  27.  März  1818  den 
ersten  polnischen  Reichstag  eröffnete'),  gesagt:  „Dies  hier  ist  eine 
der  vornehmsten  Ursachen  der  Ereignisse  des  14.  Dezember**  *). 

1)  Relationen  Schmidts,  Warschau,  den  12.  und  31.  März,  14.  April  und 
2.  Mai  1830. 

2)  „J'y  vais  de  bonne  foi." 

*)  Geschichte  Rußlands  unter  Kaiser  Nikolaus  i.  Bd.  1  S.  137 ff. 
^)   „Voilä    une     des    premieres    causes    des    evenements    du     14     De- 
cembre." 


Kapitel  XII.    Aufsteigende  Gewitter.  405 

Das  Einberufungsmanifest  datierte  vom  ^^^"  aus  Peters- 
burg und  lautete: 

„Senatoren,  Landboten  und  Deputierte!  Zwölf  Jahre  sind  be- 
reits verflossen,  seit  der  unsterbliche  Wiederhersteller  Eures 
Vaterlandes  Euch  zum  ersten  Male  um  seinen  Thron  versammelte 
um  Euch  in  den  Genuß  des  teuersten  der  Euch  verliehenen  Vorrechte 
zu  setzen.  Da  mit  seinem  Zepter  auch  seine  Gefühle  für  Euch 
auf  Uns  übergegangen  sind,  so  werdet  Ihr  ebenfalls  von  Uns  in 
dieser  Absicht  berufen. 

Durch  drei  abgehaltene  Reichstage  habt  Ihr  sowohl  den  Zweck 
Eurer  Bemühungen  als  dasjenige  kennen  gelernt,  was  Ihr  zu  ver- 
meiden habt.  Die  Erfahrung  hat  die  Vorteile  ruhiger  Beratungen 
sowie  die  nachteiligen  Folgen  der  Uneinigkeit  gezeigt.  Diese  Er- 
fahrungen werdet  Ihr  nicht  unbenutzt  lassen. 

Wir  zweifeln  demnach  nicht  daran,  daß  Ihr  bei  Euren  Bera- 
tungen das  öffentliche  Wohl  mit  eben  dem  Eifer  beachten  werdet, 
der  Euch  stets  beseelt,  und  zwar  mit  demselben  Geiste  der  Ord- 
nung und  Eintracht,  welchen  die  Arbeiten  Eurer  letzten  Sitzung 
bezeugt  haben. 

Wir  versichern  Euch  im  übrigen  Unserer  Königlichen  Ge- 
wogenheit und  empfehlen  Euch  dem  göttlichen  Schutze.^ 

Dieses  Manifest  gefiel  keineswegs.  Es  enthielt  keines  der  zün- 
denden Worte,  die  Alexander  so  geschickt  hinzuwerfen  verstand. 
Weder  in  Petersburg  noch  in  Warschau  sah  man  dem  Reichstage 
hoffnungsvoll  entgegen.  Man  rechnete  bestenfalls  darauf,  ohne  offenes 
Ärgernis  wieder  auseinanderzugehen. 

Am  20.  Mai  um  10  Uhr  vormittags  traf  der  Kaiser  mit  dem 
Großfürsten  Michail  in  Warschau  ein,  etwas  früher,  als  er  erwartet 
wurde.  Die  Kaiserin,  deren  Fahrten  nicht  das  rasend  schnelle 
Tempo  einschlagen  konnten,  das  Nikolai  liebte,  folgte  am  22. 
abends. 

Wie  immer,  machte  die  äußere  Erscheinung  des  Kaisers  einen 
großen  Eindruck.  Ein  Pole,  der  ihn  bald  danach  in  Skodno  sah ^), 
schildert  ihn  uns  folgendermaßen:  „Ich  muß  gestehen,  daß  kein 
Mensch  in  der  Welt  je  auf  mich  einen  größeren  Eindruck  gemacht 
hat  als  der  Kaiser  Nikolaus.  Er  war  damals  in  der  vollen  Blüte 
seiner  Schönheit  und  kaiserlichen  Majestät.     Wuchs,  Haltung  und 


0  Michael  Czajkowski.   R.  St.  1896  II  S.  172.    Der  spätere  Sadyk  Pascha. 


4<J6  Empitel  Xn.     Ansteigende  Gewitter. 

Gesicht  ließen  ihn  wie  einen  Herrn  der  Welt  erscheinen.  Sein 
Gesicht  war  verbrannt,  nur  die  vom  Schirm  des  Helms  geschützte 
Stirn  war  bleich.  Ich  kann  mir  den  Grand  nicht  erklären,  aber 
mein  Herz  flog  ihm  sofort  zn.  Ich  konnte  ihm  nicht  ins  Cresicht 
sehen,  so  überwältigend  majestätisch  sah  er  aos.^  Von  der  Kaiserin 
sagt  er,  sie  habe  die  Mazorka  so  schön  getimzt,  daß  keine  Polin 
sich  ihr  vergleichen  konnte.  Diesem  äußeren  Eindruck  haben  sich 
wohl  nor  wenige  entziehen  können.  Die  politische  Stimmnng  aber 
blieb  gereizt,  sowohl  bei  den  Polen,  wie  beim  Großfürsten.  Kon- 
stantin fühlte  unzweifelhaft,  daß  der  Boden,  auf  dem  er  stand, 
unterhöhlt  war,  aber  er  wollte  sich  nicht  zugestehen,  daß  wirklich 
die  Arbeit  seines  Lebens  vergeblich  gewesen  sei,  und  daß  er  nicht 
eine  Annäherung,  sondern  eine  Entfremdung  zwischen  Russen  und 
Polen  herbeigeführt  hatte.  Er  gab  einzelnen  unruhigen  Köpfen  am 
allem  schuld,  und  wenn  er  einmal  gesagt  hat,  ich  weiß  wohl,  daß 
ich  von  Mördern  umgeben  bin,  versäumte  er  nicht,  bei  jeder  Ge- 
legenheit auf  das  nachdrücklichste  hervorzuheben,  wie  unbedingt 
er  der  Treue  seiner  Armee  und  der  Ehrenhaftigkeit  des  polnischen 
Offizierskorps  vertraue.  Die  wurden  ihn  nie  in  Stich  lassen.  Aber 
mit  den  polnischen  Ministem  lag  er,  wie  wir  gesehen  haben,  in 
stetem  Hader,  und  ebenso  reizte  es  ihn  unaufhörlich,  seinen  Gegen- 
satz zu  den  Regierungsmaßregeln  Nikolais  vor  seiner  Umgebung 
ruckhaltlos  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Er  war  völlig  unfähig,  Wider- 
spruch zu  ertragen,  und  es  schien  sich  in  ihm  jene  Geistesrichtung 
vorzubereiten,  an  welcher  sein  unglücklicher  Vater  zugrunde  ge- 
gangen war.  In  seiner  Korrespondenz  mit  dem  Kaiser  tritt  diese 
Gemütsverfassung  gelegentlich,  wenn  auch  in  halb  verhüllter  Form 
hervor,  in  den  Briefen  an  seinen  Freund  den  General  Opotschinin 
ohne  jede  Maske.  Niemals  aber  ließen  diese  Gegensätze  sich  in  dem 
persönlichen  Verkehr  der  Brüder  erkennen,  obgleich  auch  Nikolai  mit- 
unter im  Kreise  seiner  Vertrauten  recht  ungeduldig  über  den  Groß- 
fürsten sprach.  In  jenen  Maitagen,  da  die  Brüder  sich  zum 
letzten  Male  gesehen  haben,  hätte  selbst  das  schärfste  Auge  kein 
Anzeichen  verborgener  Mißstimmungen  entdecken  können.  Sie 
wußten  beide  meisterhaft  aus  ihrem  Verkehr  die  Fragen  auszu- 
schalten, über  die  es  zwischen  ihnen  eine  Verständigung  nicht  geben 
konnte;  militärische  Schaustellungen,  Feste  und  andere  offizielle 
Veranstaltungen  halfen  dazu,  eingehende  Zwiegespräche  so  gut  wie 
unmöglich  zu  machen. 


Kapitel  XII.    Aufsteigende  Gewitter.  407 

Am  28.  Mai  wurde  unter  peinlicher  Beachtung  aller  konsti- 
tutionellen Formen  der  Reichstag  feierlich  eröffnet.  Die  Kammer  der 
Landboten  wählte  eine  Deputation,  die  mit  den  Abgeordneten  des 
Senats  den  „Könige  begriÜ3te  und  ihm  mitteilte,  daß  beide  Häuser 
bereit  seien,  ihn  zu  hören.  Unter  diesen  Deputierten  befand  sich  auch 
Konstantin  Pawlowitsch,  der  Landbote  für  Praga,  der  Warschauer 
Festung,  um  die  bald  so  viel  russisches  und  polnisches  Blut  fließen 
sollte. 

Vor  den  versammelten  Vertretern  der  polnischen  Nation  hat 
dann  der  König  Nikolaus  I.  von  Polen  seine  erste  und  letzte  kon- 
stitutionelle Rede  gehalten,  in  französischer  Sprache,  wie  Alexander 
zu  tun  pflegte.  Auch  die  dem  Reichstage  zugegangenen  Vorlagen 
der  Regierung  waren  französisch,  nicht  polnisch  abgefaßt. 

„Fünf  Jahre  sind  verflossen  —  so  sagte  Nikolai  —  seit  Ihr 
zuletzt  beisammen  wart.  Ursachen,  die  nicht  in  Abhängigkeit  von 
meinem  Willen  standen,  verhinderten  mich.  Euch  früher  einzu- 
berufen. Aber  die  Gründe,  die  diese  Verspätung  veranlaßt  haben, 
bestehen  zum  Glück  nicht  mehr,  und  heute  sehe  ich  mich,  mit 
nicht  erkünstelter  Freude,  zum  ersten  Male  von  den  Vertretern 
des  Volkes  umgeben. 

In  der  Zwischenzeit  hat  es  der  göttlichen  Vorsehung  gefallen, 
den  Wiederhersteller  Eures  Vaterlandes  zu  sich  zu  rufen.  Ihr  alle 
habt  die  große  Bedeutung  dieses  Verlustes  empfunden  und  darum 
tiefes  Leid  getragen.  Der  Senat,  der  Eure  Gefühle  zum  Ausdruck 
bringt,  hat  mir  Euren  Wunsch  vorgetragen,  das  Andenken  an  diese 
edlen  Wohltaten  und  an  Eure  Dankbarkeit  zu  verewigen.  Alle 
Polen  sind  berufen,  an  der  Errichtung  des  Denkmals  mitzuwirken, 
dessen  Entwurf  Euch  vorgelegt  werden  soll. 

Der  Allmächtige  hat  in  zwei  Kriegen,  die  wir  führen  mußten, 
unsere  Waffen  gesegnet.  Polen  hat  die  Lasten  nicht  getragen, 
aber  es  durfte  sich  der  Vorteile  mit  erfreuen,  dank  der  Brüder- 
schaft in  Ruhm  und  Interessen,  die  Polen  fortan  in  unzerstörbarer 
Einigung  mit  Rußland  verbinden  werden.  Die  polnische  Armee 
hat  sich  nicht  aktiv  am  Kriege  beteiligt.  Mein  Vertrauen  hatte 
ihr  einen  anderen  Posten  zugewiesen,  der  nicht  minder  wichtig 
war:  sie  bildete  die  Vorhut  und  war  bestimmt,  die  Sicherheit  des 
Reiches  zu  verteidigen  .  .  ." 

Es  schloß  sich  hieran  der  Hinweis  auf  die  übrigen  Vorlagen, 
unter  welchen  der  Kaiser  den  Hauptnachdruck  auf  das  neue  Ehe- 


408  Kapitel  XII.    Aufsteigende  Gewitter. 

scheiduDgsgesetz  legte,  das  den  frivolen  Scheidungen,  die  in  Polen 
mit  kaum  glaublicher  Leichtfertigkeit  vollzogen  wurden,  gesetzliche 
Schranken  setzen  sollte.  Dann  schloß  er  wörtlich:  „Vertreter  des 
polnischen  Volkes!  Indem  ich  in  vollem  Umfange  den  §  45  der 
Verfassung  erfüllte,  habe  ich  Euch  eine  Bürgschaft  meiner  Absichten 
gegeben.  Jetzt  ist  es  an  Euch,  das  Werk  des  Schöpfers  Eures 
Vaterlandes  zu  festigen,  indem  Ihr  maßvollen  und  weisen  Gebrauch 
macht  von  den  Rechten,  die  er  Euch  verliehen  hat.  Mögen  Rnhe 
und  Einhelligkeit  Eure  Arbeiten  begleiten!  Die  Verbesserungen, 
die  Ihr  an  den  Gesetzesvorlagen  vornehmt,  die  man  Euch  unter- 
breiten wird,  werden  eine  wohlwollende  Aufnahme  finden,  und  ich 
trage  mich  mit  der  Hoffnung,  daß  der  Himmel  ein  Werk  segnen 
wird,  das  unter  so  günstigen  Vorzeichen  beginnt." 

Die  Vorzeichen  waren  weniger  günstig,  als  der  Kaiser  zu 
glauben  vorgab.  Auch  erregte  die  Thronrede  keinerlei  Enthusias- 
mus. Man  hatte  es  günstig  aufgenommen,  daß  zum  ersten  Male 
das  Feld  der  auswärtigen  Politik  mit  berührt  wurde,  aber  der  Satz 
von  der  unzerstörbaren  Einigung  mit  Rußland  berührte  unaugenehm. 
In  diesem  Punkte  dachte  jeder  Pole  anders,  und  zudem  ließ  sich 
nicht  übersehen,  daß  es  kein  Zufall  sein  konnte  wenn  von  den  ehe- 
mals polnischen  Provinzen,  namentlich  aber  von  Litauen,  mit  keiner 
Andeutung  die  Rede  gewesen  war.  Endlich  zeigte  sich  keinerlei 
Neigung  auf  die  bequeme  Dehnbarkeit  der  geltenden  Ehegesetze 
zu  verzichten;  das  gehörte  zu  den  polnischen  Sitten,  die  man  nicht 
verkümmern  lassen  wollte. 

So  erhob  sich  bald  eine  lebhafte  Opposition,  die  vor  allem  das 
Ehegesetz  traf,  das  der  Senat  zwar  annahm,  die  Deputiertenkammer 
aber  ablehnte. 

Während  die  Verhandlungen  in  dem  polnischen  Parlament  in 
lebhafter  Erregung  ihren  Verlauf  nahmen,  hatte  der  Kaiser  eine 
Inspektionsreise  nach  Südrußland  unternommen,  um  die  aus  der 
Türkei  heimkehrenden  Truppen  zu  besichtigen^)  und  auf  dem  Rück- 
wege in  Brest-Litowsk  die  2.  Division  des  litauischen  Korps  nebst 
der  dazu  gehörenden  Grenadierbrigade  paradieren  zu  lassen.  Es 
fiel  ihm  dabei  unangenehm  auf,  daß  die  Soldaten,  die  übrigens  muster- 
haft ausgebildet  waren,  ausschließlich  aus  den  ehemals  polnischen 


0  Die  Route  war:  Jelisawetgrad  5.  Juni,  Adshalki,  Petrikow,  Krement- 
schug,  Koseletz  8.  Juni/  Kiew  12.  Juni,  Kodni  14.,  Brest-Litowsk  17.,  Warschau 
18.  Juni.     Die  Daten  bei  Benkendorff  sind  falsch. 


Kapitel  Xn.    Aufsteigende  Gewitter.  409 

Provinzen  stammten^  zahlreiche  Stabs-  und  Oberofßziere  aber  Polen 
aus  dem  Königreich  waren.  Wir  erinnern  uns,  daß  er  vergeblich 
bemüht  gewesen  war,  den  Großfürsten  zu  bewegen,  die  litauischen 
Truppen  in  das  nördliche  Rußland  zu  ziehen  und  in  Litauen  kern- 
russische Regimenter  unterzubringen.  Er  hatte  nachgeben  müssen, 
war  aber  durch  Nowossilzew  über  den  schlechten  Geist,  der  in 
Litauen  herrschte,  wohl  unterrichtet  und  sah  diese  Regimenter 
nicht  ohne  Sorge. 

Als  er  am  18.  Juni  in  Warschau  wieder  eintraf,  verstimmte  ihn 
die  Ablehnung  des  Ehegesetzes  aufs  tiefste.  Er  hatte  großen  Wert 
auf  die  Annahme  gelegt,  und  die  Fürstin  Lowicz  war  bemüht  ge- 
wesen, sein  gegen  die  polnische  Geistlichkeit  gerichtetes  Vorurteil  zu 
überwinden.  Nun  war  die  Ablehnung  gerade  unter  dem  Druck  geist- 
licher Einflüsse  erfolgt.  Er  glaubte  die  Neigung  zu  einer  Opposition 
ä  tout  prix  zu  erkennen,  und  all  die  Gnaden,  die  er  bei  der  Krönung 
verliehen  hatte,  schienen  ihm  verschwendet.  Als  er  jedoch  nach- 
träglich den  Gesetzentwurf  einer  nochmaligen  Prüfung  unterwarf, 
überzeugte  er  sich,  daß  die  Vorlage  schlecht  gearbeitet  war.  Er 
erteilte  darauf  dem  gesamten  Ministerium  einen  scharfen  münd- 
lichen Verweis  und  ließ  auf  den  Rat  des  Fürsten  Lubecki  durch 
ein  Dekret  die  ihm  notwendig  erscheinenden  Verfügungen  trefien. 

Die  Kammern  aber  entließ  er  recht  glimpflich.  Der  Vizekanzler 
Graf  Nesselrode  hatte  ihm  vorgestellt,  daß,  wenn  er  seine  Unzu- 
friedenheit öffentlich  ausspräche,  der  Eindruck  im  Auslande  ein 
ungünstiger  sein  werde. 

So  hat  er  seine  Schlußrede,  die  nach  dem  ursprünglichen 
Entwurf  nicht  ohne  Härten  war,  erheblich  gemildert.  Seine  letzten 
Worte  waren:  „Wenn  auch  fern  von  hier,  werde  ich  doch  stets 
über  Euer  wahres  Glück  wachen." 

Aber  der  Kaiser  und  die  Polen  verbanden  mit  dem  Begriff 
„wahres  Glück**  Vorstellungen,  die  einander  ausschlössen.  Nikolai 
dachte  an  das  endliche  Aufgehen  der  Polen  in  die  große  russische 
Völkerfamilie,  sie  aber  ersehnten  die  endgültige  Trennung  von  ihr 
und  glaubten  an  die  Verwirklichung  der  Hoffnungen,  die  sie 
während  der  Prozeßverhandlungen  der  letzten  Jahre  zwar  geleugnet, 
aber  niemals  aufgegeben  hatten. 

Kurz  vor  seiner  Abreise  aus  Warschau  erhielt  der  Kaiser  die 
Nachricht,  daß  in  Sewastopol  eine  Meuterei  ausgebrochen  und  der 
Festungskommandant   General    L.    Stolypin    ermordet    worden  sei. 


410  Kapitel  XII.    Aufsteigende  Gewitter. 

Der  GeneralgouverDeur  Graf  Woronzow  habe  Trappen  heranziehen 
müssen,  um  die  rasenden  Matrosen  zur  Vernunft  zu  bringen.  Das 
alles  bestätigte  sich,  aber  es  war  nur  ein  geringer  Teil  der  schreck- 
lichen Wahrheit.  Wie  so  häufig,  hatte  die  Unvernunft  und  Brutali- 
tät der  Beamtenschaft  eine  ursprünglich  friedfertige  und  loyale, 
aber  leichtgläubige  und  abergläubische  Masse  zur  Verzweiflung  ge- 
trieben. Es  handelte  sich  um  Quarantänemaßregeln  gegen  die  aus 
der  Türkei  eingeschleppte  Pest.  Sewastopol  war  schon  seit  einem 
Jahre  von  einem  Quarantänegürtel  umgeben,  der  die  Bevölkerung 
der  Vorstädte  der  Möglichkeit  beraubte,  ihren  Verdienst  außerhalb 
zu  suchen,  so  daß  bald  Not  und  Hunger  überhand  nahmen.  Da  die 
später  so  berühmt  gewordene  Vorstadt  Karabelnaja  für  meist  ver- 
seucht galt,  hatte  General  L.  Stolypin  Ende  Mai  den  dort  garni- 
sonierenden  Matrosen  und  der  gesamten  Einwohnerschaft  den  Befehl 
gegeben,  die  Slobode  (Vorstadt)  zu  verlassen  und  ein  Lager  zu 
beziehen,  in  dem  sie  einer  neuen  Quarantäne  unterworfen  werden 
sollten.  Inzwischen  wollte  man  ihre  Häuser  nach  den  damals 
üblichen  Methoden  ausräuchern.  Man  schickte  den  Leuten  einen 
Priester  *),  um  sie  zur  Übersiedelung  zu  bewegen.  Die  Bewohner  der 
Slobode,  Zivil  wie  Militär,  aber  gehorchten  nicht.  Sie  fielen  vor  dem 
Priester  auf  die  Knie  und  baten,  sie  nicht  länger  zu  quälen.  Sie  seien 
alle  gesund  und  ihre  Häuser  bereits  einmal  durchräuchert,  Kleider  und 
Vieh  hätten  sie  verkauft,  um  Brot  zu  erhalten,  kurz^  sie  könnten  es 
nicht  länger  ertragen.  Auch  behaupteten  sie,  einer  der  Quarantäne- 
beamten habe  gedroht,  daß  man  sie  im  Lager  kräftig  züchtigen,  was 
sie  besitzen  verbrennen  und  sie  selbst  an  Stricken  im  Meere  baden 
werde.  Es  gingen  nun  zwei  Tage  in  Verhandlungen  hin.  Am  3.  Juni 
brach  der  Aufstand  aus.  Erst  zwangen  die  völlig  verzweifelten 
Vorstädtler,  Matrosen  und  Volk,  jenen  Priester,  ihnen  einen  Gottes- 
dienst zu  halten  und  ihnen  eine  Urkunde  auszustellen,  daß  bei 
ihnen  keine  Pest  sei  und  auch  nicht  gewesen  sei,  dann  stürzten  sie 
sich  auf  den  Kommandanten  und  erschlugen  ihn,  dazu  den  Obersten 
Worobjew  und  einen  Beamten;  mit  Mühe  konnten  andere  sich  auf 
ein  im  Hafen  liegendes  Schiff  retten.  Erst  als  Woronzow,  dem,  wie 
es  scheint,  schon  am  31.  Nachricht  geschickt  war,  anrückte,  gelang 

^)  Diesem  Priester,  SsofroDi  Gawrilow,  danken  wir  eine  unverdächtige 
gleichzeitige  Darstellung  des  Herganges.  Russki  Archiv  S.  1867,  1375 ff.  Ein 
offizieller  Bericht  erschien  im  Journal  de  St  Petersbourg.  Auch  Benkeudorff 
berichtet  über  den  Hergang  in  seiner  glatten  Art. 


Kapitel  xn.    Aufsteigende  Gewitter.  411 

es,  das  Volk  und  die  Matrosen  zu  umzingeln  und  festzunehmen. 
Sie  wurden  alle  geknutet  oder  mit  Ruten  gestraft,  danach  hat  man 
sie  in  Bobriusk  und  in  andere  Festungen  gesteckt,  die  Matrosen, 
die  an  dem  Aufstande  teilgenommen  hatten,  wurden  nach  verbüßter 
Strafe  nach  Archangel  oder  Kronstadt  übergeführt  und  durch  Mann- 
schaften aus  diesen  Häfen  ersetzt.  Sieben,  die  als  Rädelsführer 
galten,  wurden  erschossen.  Es  war  ein  würdiges  Gegenstück  zu 
der  Tragödie  von  Tschugujew  ^) ,  wo  einst  Araktschejew  die 
„Ordnung^  herzustellen  verstanden  hatte.  Der  Kaiser,  der  Woronzow 
seinen  Dank  für  die  energische  und  erfolgreiche  Unterdrückung 
der  Meuterei  sagen  ließ,  erfuhr  bald  darauf,  daß  im  orenburgschen 
Kreise  die  Cholera  ausgebrochen  sei.  Eine  furchtbare  Krankheit, 
der  man  noch  wehrloser  gegenüberstand  als  der  Pest,  und  die 
damals  zuerst  ihren  Einzug  in  Europa  hielt.  Nichts  erschien  wahr- 
scheinlicher, als  daß  die  blutigen  Szenen,  die  sich  in  Sewastopol 
abgespielt  hatten,  bei  weiterem  Vorrücken  der  Krankheit  an  anderen 
Orten  des  Reiches,  namentlich  aber  in  den  Hauptstädten,  ihre 
Wiederholung  finden  würden.  Es  war  unzweifelhaft  eine  ernste 
Sorge,  die  hier  für  eine  nahe  Zukunft  auftauchte. 

Aber  das  alles  trat  in  den  Hintergrund,  als  am  27.  Juli  die 
Nachricht  vom  Staatsstreich  Karls  X.  eintraf.  In  der  Nacht  vom 
29.  auf  den  30.  folgte  die  weitere  Meldung,  daß  in  Paris  eine 
Revolution  ausgebrochen  sei,  und  am  2./14.  August  brachte  ein 
Kurier  Pozzo  di  Borges  einen  ausführlichen  Bericht  über  die 
„glorreichen  Tage^  der  Pariser.  Der  Kaiser  hatte  die  Empfindung, 
daß  ein  ungeheuerer  Wandel  in  der  Politik  Europas  sich  damit 
vollzogen  habe.  Er  war  fest  entschlossen,  nicht  untätig  beiseite 
zu  stehen.  Seine  Gedanken  richteten  sich  auf  die  Vergangenheit 
und  er  sah  sich  im  Geiste  bereits,  wie  einst  Alexander,  an  der 
Spitze  einer  Koalition  stehen,  deren  Ziel  es  sein  sollte,  das  euro- 
päische Recht,  das  in  der  Juli-Revolution  zusammengebrochen  war, 
wieder  aufzurichten  und  zu  Ehren  zu  bringen.  So  verlangten  es 
seine  Prinzipien!  Sie  standen  wie  stets  mit  seinem  Ehrgeiz  in 
vollem  Einklang. 

»)  Bd.  I  S.  465  ff. 


ANLAGEN. 


Die  urkundlichen  Belege  zu  Kapitel  I  und  II  finden  sich  in  meinem  Buch: 
Die  Thronbesteigung  Nikolaus  I.     Berlin   1902.     Verlag  von  Georg  Reimer. 


Kapitel  III. 
Rapport  snr  les  Colonies  militaires  en  Rnssie. 

Paris.    Dep.  d.  Äff.  Etrang.  Russie. 

St.  Petersburg,  22  Avril  1827. 
Monsieur  le  Baron! 

L*ambassade  du  Roi  ne  s^etait  encore  procura  jusqu'ici  et  n'avait  pu 
transmettre  au  Ministere  que  les  trois  parties  du  ^reglement  pour  la  colonisation 
de  rinfanterie  en  Russie  et  la  U^  partie  du  meme  reglement  pour  la  Cavalerie; 
je  crois  donc  utile  de  completer  ce  trayail  en  vous  •  adressant  aujourd^hui  trois 
cahiers  contenant  en  traduction; 

lo  la  2«  partie  du  reglement  pour  la  Gavalerie, 

2^  la  3®  partie  de  ce  meme  reglement, 

3°  enfin  un  recueil  de  formules  et  modMes  devant  servir  pour  les  diverses 
parties  de  la  correspondance  et  du  contentieux  de  Padministration  des  haras; 
avec  un  reglement  particulier  pour  Tadministration  des  magasins  ä  bl^  sur 
les  colonies  militaires. 

J'ai  deja  eu  l'honneur,  dans  ma  depeche  No  88,  en  date  du  6  d^cembre 
dernier,  de  soumettre  a  Yotre  Excellene  quelques  observations  sur  un  Ukase 

rendu  le-gQ^^^^^^^    concemant  le  projet  de  colonisation  militaire  en  Russie  et 

j'annon^ais  en  meme  temps  le  prochain  envoi  d^un  nouveau  reglement  d' Organi- 
sation ou  plutot  de  certaines  modifications  apportees  a  Pancien  reglement  et 
confirmees  par  TEmpereur,  le  19  novembre  n.  st.  1826.  Je  m^empresse, 
M.  le  Baron,  de  vous  adresser  ci-joint,  en  un  4«  cahier,  la  traduction  de  ce 
projet,  et  je  vais  m'appliquer  k  en  faire  ressortir  les  dispositions  les  plus 
remarquables,  en  y  joignant  quelques  reflexions  auxqueUes  la  marcbe  et  la 
tendance  de  ce  Systeme  semblent  devoir  donner  Heu. 

Le  projet  de  colonisation  militaire  en  Russie  n^y  avait  jamais  acquis  de 
popularite.  La  noblesse,  quMl  exposait  ä  un  impot  pecuniaire  en  remplacement 
du  recrutement  parmi  ses  serfs  et  k  laquelle  il  otait  par  lä  le  moyen  de  se 
defaire  de  ceux  des  paysans  que  leur  conduite  rendait  plus  nuisibles  qu  utiles 
sur  les  terres,  voyait  ce  Systeme  d^un  roauvais  oeil;  —  les  officiers  de  Tarmee, 
reduits  k  la  vie  d'agriculteurs  ou  plutot  ä  celle  d'inspecteurs  de  travaux  et 
condamnes,  sans  obtenir  aucun  interet  personnel,  k  Texistence  la  plus  monotone, 
s'en  trouvaient  humilies;  —  Le  soldat,  qui  ne  considere  guere  que  les  avan- 
tages  du  moment,  revenant  d'une  guerre  oü  il  avait  acquis  tant  de  gloire  et 
plein  encore  du  souvenir  des  helles  contrees  qu'il  venait  de  parcourir,  avait 
«gatement  mal   accueilli  un  Systeme  qui  Tabaissait  k  ses  propres  yeux,  qui 


416  Anlagen  zu  Kapitel  III. 

doublait  ses  peines  puisqu'il  le  for^ait  d^etre  ä  la  fois  soldat  et  laboureur,  et 
lui  destinait  sous  un  ciel  dont  il  counaissait  toute  la  rig:ueur,  des  travaux 
dont  il  ne  pouyait  guere  esperer  de  recueillir  lui-meme  les  fniits;  enfin,  la 
classe  tout  entiere  des  paysans  de  la  Couronne  sur  lesquels  ce  projet  faisait 
peser  tant  et  de  si  penibles  vexations;  presque  tout  le  monde  en  un  mot  et 
plusieurs  des  ministres  memes  de  PEmpereur  improuvaient  ce  Systeme,  per- 
sonne ne  s'en  dissimulait  les  inconvenients:  —  les  fmances  souffraient  sur- 
tout  des  depenses  enormes  qu'il  occasionnait,  et  il  suffisait  d^ailleurs  pour  la 
plupart  que  ce  projet  fut  Touyrage  du  Comte  Aracktscbeieff,  pour  qu*il  se 
ressentit  de  la  Jalousie  et  de  la  baine  presque  generales  que  Pon  portait  a 
cet  officier.  —  Cependant  l'influence  dont  jouissait  celui-ci  et  surtout  la 
crainte  qu'il  inspirait,  contenaient  les  plaintes;  et  tant  que  vecut  TEmpereur 
Alexandre,  la  plupart  des  faits  qui  auraient  pu  arreter  Texecution  de  cette 
entreprise,  ne  purent  arriyer  a  la  connaissance  du  Souverain,  auquel  au  contraire 
on  ne  cessait  de  faire  les  rapports  les  plus  flatteurs,  ainsi  que  le  prouye  bien 
Tukase  rendu  le  I4  feyrier  1823,  qui  en  parlant  de  la  reussite  extraordinaire 
du  projet  et  des  econoroies  deja  obtenues  dans  les  Colonies  de  Cayalerie,  accorde 
des  recompenses  considerables  ä  plusieurs  des  officiers  qui  y  ont  ete 
employes.  Mais  Tinfluence  du  Comte  AracktscheiefT  n'etant  plus  la  meme 
depuis  la  mort  d'Alexandre,  le  projet  de  la  Colonisation  militaire  fut  Tun  des 
Premiers  objets  sur  lesquels  se  porta  Pactive  sollicitude  du  nouvel  Empereur, 
et  aidee  des  lumieres  de  tout  ce  que  cette  entreprise  avait  d'adyersaires, 
S.  M.  ne  tarda  pas  k  decouyrir  ses  inconvenients  et  tout  ce  qui  lui  manquait 
encore  pour  en  assurer  la  reussite. 

Ainsi,  bien  qu'au  mois  de  juin  1824,  les  ordres  generaux  de  Farmee, 
comme  Votre  Excellence  a  pu  le  voir  par  la  depecbe  en  date  du  18  noyembre 
suivant,  aient  annonce  la  prochaine  colonisation  de  68  regiments  nouvaux  et 
elevaient  deja  le  nombre  des  troupes  dont  la  colonisation  etait  arretee  et 
entreprise,  k  plus  de  300000  hommes,  en  confirmant  en  outre  Tintention 
d'atteindre  avec  le  temps  tout  le  reste  de  Tarmee,  ä  Texception  des  corps 
speciaux,  et  bien  que  Ton  eüt  deja  compte  par  millions  les  pretendues  economies 
operees,  TUkase  du  IS./l^i*  novembre  1826  est  yenu  suspendre  Texecutlon  du 
projet  en  le  bomant,  du  moins  pour  le  moment,  aux  travaux  acheves  ou  pres 
de  Petre  et  en  le  limitant  ä  une  masse  d'bommes  qui  n^exede  guere  70000  0. 
—  Ce  meme  Ukase,  changeant  la  base  de  ce  Systeme  qui  jusqu'ici  avait  forme 
une  administration  entierement  independante,  conti ee  k  un  seul  homme  exer^ant 
une  autorite  presqu'illimitee   et  qui  ne  prenait  ses  ordres  que  de  l'Bmpereur, 


I)  On  ne  croit  pas  necessaire  d'adresser  cette  fois  au  Minist^re  l'etat 
des  troupes  actuellemant  colonisees,  parcequ'il  differe  en  fort  peu  de  chosea 
de  celui  qui  a  ete  transmis  le  18  novembre  1824  et  que  TUkase  du  mois  de 
novembre  deruier  suspend,  d^ailleurs,  jusqu*&  nouvel  ordre  les  travaux 
commences  par  la  colouisation  des  nouveaux  corps  mentionnes  dans  ce  meme 
Etat.  La  seule  cbose  digne  de  remarque  que  fournirait  cette  nouvelle  liste  et 
qui  vient  bien  a  Pappui  de  tout  ce  qui  sera  dit  ici,  est  que  depuis  cette  epoque, 
(en  pres  de  trois  ans  de  temps)  le  seul  accroissement  qu'ait  pu  recevoir 
le  Systeme  de  colonisation  consiste  en  ce  que  la  2'i^oie  Division  de   grenadiers 


Anlagen  zu  Kapitel  III.  417 

le  redoit  aujourd^bui  a  n'etre  plus  qu-une  brauche  de  radministration  mili- 
taire  soumise  an  Chef  de  Tfitat-major  geueral  de  Tarmee  et  recevaut  de  lui 
toutes  ses  directions. 

Afin  de  faire  mieux  ressortir,  d*une  part  les  principaux  incooTenieuU  du 
syeteme  de  colonisatlon,  tel  quMl  avait  d^abord  ^te  con^u  par  le  geueral 
Aracktscheieff  et  les  poiuts  sur  lesquels  il  s'est  trouve  etre  le  plus  defeetueuxy 
de  Pautre,  Tutilite  des  mesures  qui  vienneut  d'etre  ordonuees,  il  u'est  peut- 
etre  pas  inutile  de  rappeler  eu  peu  de  mots  les  fius  priucipales  que  Ton  s^etait 
proposees  eu  adoptant  ce  projet  gigautesque. 

Le  desir  de  conserver  sur  le  meme  pied  une  armee  formidable  qui  avait 
acr^uis  tant  de  gloire  et  assure  taut  d'iufluence  a  la  Russie,  mais  dont  les 
depeuses  sout  tout  ä  fait  hors  de  proportion  avec  les  reveuus  de  r£tat ;  — 
Le  besoiu  d^augmeuter  la  populatlou  et  d*eteudre  la  civilisation  avec  Tagri- 
culture,  la  uecessite  d^ameliorer  le  sort  du  soldat  pour  lequel  neu  n'avait 
eucore  ete  fait,  et  de  pourvoir  ä  son  avenir;  —  L'avautage  de  reudre  le 
recrutement  de  Tarmee  iudependaut  de  la  uoblesse,  principale  classe  k  m^nager 
et  dont  la  plupart  des  fortuues  sout  deja  tellemeut  eu  soufTrauce;  celui  de 
faciliter  ce  recrutement  eu  le  centralisant  et  en  Petablissant  daus  le  sein  de 
Tarmee  meme;  —  L'utilite  politique  d'avoir  sur  la  frontiere  de  TEmpire  une 
armee  toujours  prete  a  agir  et  eutouree  de  toutes  ses  ressources:  —  toutes 
ces  consideratious  fireut  adopter  un  projet  qui  4tait  aunoncö  comme  devant 
atteindre  les  principaux  buts  suivants: 

l^  L'armee  pourrait  etre  conservee  sar  le  meme  pied,  &  l'aide  de 
TaccroissemeDt  de  la  popuIation  et  des  economies  immenses  que  cette  eutreprise 
devait  produire,  les  Colons  militaires  ne  cessant  pas  d'ailleurs  d'etre  soldatä. 

2«  L'extension  donuee  ä  Tagriculture  sur  les  coDtrees  jusquMci  restees 
iucultes  et  destin^es  k  la  colonisation,  devait  en  meme  temps  faire  naitre  les 
ressources  süffisantes  pour  subvenir  k  tout  Tentretieu  de  cette  armee. 

3^^  L*accroissemeut  de  la  populatiou  et  la  propagatiou  des  lumieres 
devaient  surtout  etre  singulierement  favorises  par  ce  Systeme  qui  appelait  toute 
r armee  a  y  contribuer  et  ä  y  prendre  part  sur  ses  districts  de  Colonisation, 
et  qui,  en  bornant  ä  ces  districts  memes  tout  le  recrutement  de  Tarmee, 
exemptait  entieremeut  de  cette  Charge  les  autres  parties  de  Tfimpire. 

A^  Le  soldat,  qui  le  jour  quMl  est  appel^  sous  les  drapeaux  pour  y 
servir  25  annees,  perd,  avec  la  condition  d^esclave,  tout  droit  a  la  protection 
de  son  ancien  maitre,  devieut  etranger  a  sa  famille,  ne  retrouve  a  son  retour 
daus  son  pays,  si  toutefois  il  teute  d'y  reparaitre,  ni  moyens  d'existence  ni 
meme  une  habitatiou,  devait  par  l'effet  de  ce  Systeme  acquerir  une  propriet^ 
et  se  voir  une  retraite  assuree  pour  ses  vioux  jours,  saus  qu'il  en  coutät 
rien  a  TEtat. 


et  la  2^  division  de  Cuirassiers,  dont  les  bataillons  et  escadrons  de  coIons  se 
trouvaient  eu  1824  sur  les  districts  de  Colonisation,  y  sout  maiutenaut 
etablies  elles-memes  en  entier  et  que  le  district  destiue  k  la  troisi^me 
division  de  grenadiers  y  est  annouce  comme  ^galement  pret  k  recevoir 
les  bataillons  actifs  de  cette  division;  mais  Ton  sait  que  TUkase  du  mois  de 
novembre  dernier  eu  a  egalement  suspendu  T^tablissement  d^fiuitif. 

Schiemann,  Geschichte  RoBkods.    IL  27 


418  Anlagen  zu  Kapitel  III. 

5°  Enfin,  par  le  moyen  des  echauges  que  Ton  se-  proposait  de  faire  entre 
i;ertaines  possessions  de  particuliers  et  des  terres  de  la  couronne  situees  sur 
des  points  plus  eloignes,  i*armee  entiere  de  la  Russie,  etablie  chez  les  six 
millions  de  paysans  de  la  couronne,  aurait  occupe  une  zone  s*etendant  du 
Nord  au  Midi  et  formant  presque  sans  interruption,  la  frontiere  occideotale 
de  PEmpire^). 

Aucun  de  ces  buts  n*a  ete  atteint  et  Pexperience  de  dix  annees^)  semble 
au  contraire  avoir  demontre  que  loin  que  le  terme  de  15  ans,  d'abord  demande 
pour  completer  toute  la  colonisation,  put  etre  süffisant,  on  n^arriverait 
probablement  jamais  ä  aucun  resultat  utile,  si  de  grandes  modifications  n'etaient 
apportees  au  Systeme  suivi  jusqu^ä  ce  jour. 

£n  effet  on  a  Heu  de  s^etonner  que  Ton  n*ait  pas,  au  premier  abord, 
observe  qu'au  Heu  de  conserver  Tarrnee  sur  son  anciea  pied,  le  projet 
primitif  la  reduisait,  par  le  fait,  d^un  tiers  en  retirant  du  Service  actif 
les  bataiUons  et  escadrons  de  Colons  et  les  destinant  k  la  culture  des  terres, 
quelque  soin  que  Ton  pul  prendre  d'ailleurs  pour  entretenir  ce  corps  dans 
leurs  anciennes  habitudes  militaires.  Mais  la  fin  principale  qu'on  se  proposait, 
celle  du  succes  de  laquelle  devaient  dependre  toutes  les  autres,  n'a  pu  encore 
etre  atteinte  dans  aucun  district  d'infanterie.  —  Nulle  part  (excepte  dans 
quelques  Colonies  de  Cavalerie  au  Midi  de  la  Russie)  les  produits  du  sol 
assigne  aux  Colonies,  n^ont  pu  fournir  a  la  consommation;  les  districts  les 
plus  fertiles  et  les  plus  favorises  ont  ä  peine  produit  les  approvisionnements 
necessaires;  partout  la  Couronne  a  du  continuer  d^y  subvenir  et  de  solder  meme 
les  Corps  colonises.  On  a  reconnu  que  les  charges  imposees  aux  Colons 
^taient  beaucoup  trop  fortes,  tandis  que  leur  nombre  et  la  quantite 
de  terrain  qui  leur  etait  accordee  etaient  de  beaucoup  trop  faibles; 
i)u  du  moins,  qu^ou  avait  commis  une  grande  erreur  en  leur  donnant  des  les 
premieres  annees  de  leur  etablissement,  des  defrichements  a  operer.  —  C^es 
terres,  denuees  de  betail  et  qui  consistaient  en  grande  partie  en  forets  a  abattre 
ou  en  marais  ä  defricber,  necessitaient  de  grands  travaux  et,  faute  d'engrais 
suffisans,  devaient  rester  longtemps  steriles.  On  a  reconnu  ögalement  qu'en 
supposant  meme  toutes  les  terres  en  etat  de  rapport,  jamais  les  Colons  ne 
pourraient  conveuablement  les  faire  valoir,  sUls  continuaient  a  etre  sans  cesse 


')  Cette  idee  peut  avoir  pris  naissance  dans  celle  attribuee  par  plusieurs 
auteurs  a  Pierre  l^i*,  qui,  avaut  de  bien  connaitre  toutes  les  ressources  de  son 
immense  Empire,  plus  embarrasse  que  Her  de  Tetendue  de  ses  frontieres  et 
dirigeant  toute  sa  politique  vers  l'Europe  et  vers  les  moyens  d'y  acquerir  de 
rinfiuence,  aurait,  dit-on,  pense  ä  refouler  toute  la  popuIation  de  ses  Etats 
dans  les  contrees  situees  entre  Petersbourg,  Moscou,  et  TUkraine;  laissant 
ainsi  entre  lui  et  les  Turcs,  les  Persans  et  les  Tatares,  un  vaste  desert  qui 
leur  aurait  servi  de  barriere  süffisante. 

^)  C'est  en  18 IC  que  fut  fait  le  premier  essai  de  Colonisation  militaire, 
d'apres  le  plan  du  general  AracktscheiefT,  avec  un  bataillon  de  son  propre 
Regiment  de  Grenadiers.  Cependant,  des  Tannee  1810,  on  avait  eu  Tidee  de 
coloniser  Tarmee  sur  les  immenses  domaines  de  la  Couronne  et  cette  idee 
re<;ut  meme  un  commencement  d'ex^cution;  mais  la  guerre  survenant,  il  n'y 
fut  pas  donne  suite. 


Anlagen  zu  Kapitel  III.  419 

distraits  de  leurs  travaux  par  les  exercices,  les  re^ues,  les  insp^tions  e^ig^s 
d'eux,  s'ils  etaient  toujours  genes  dans  leur  tenue,  dans  les  habitudes  de  la 
vie  et  josque  dans  la  maniere  de  cultiver  leurs  champs  (ear  la  r^gularit^  et 
la  sym^trie  militaires  avaient  etä  introduites  dans  le  labourage  meme  et  ont 
ete  obsenrees  pendant  plusieurs  ann^es  avec  une  pedanterie  difficile  k  concevoir). 
—  Ges  vexations  etaient  dejä  bien  penibles  pour  les  soldats  devenus  culti- 
vateurs,  mais  on  a  du  reconnailre  combien  elles  Tetaient  d'avantag^e  encore 
pour  rhabitant  primitif  que  Ton  arrachait  ainsi  a  toutes  ses  habitudes 
et  dont  il  fallait,  pour  ainsi  dire,  former  un  homme  nouveau.  On  s'est  assuie 
en  outre  de  la  faussete  du  calcul  fait  pour  le  recrutement  des  Corps  colonises 
aussi  longtemps  que  le  nombre  de  Colons  ne  serait  pas  augmente  et  leur  sort 
amelior^,  car  fort  peu  de  mariages  avaient  encore  eu  Heu  dans  les 
bataillons  actifs,  les  Colons  ayant  peine  a  se  suffire  k  eux-memes,  ne 
faisaient  rien  pour  encourager  ces  unions;  et  le  nombre  des  naissances  sur 
les  etablissements  des  bataillons  colonises  aurait  k  peine  suffi  pour  alimenter  la 
Colonie,  loin  de  pouvoir  foumir  un  jour  en  aucune  maniere  au  recrutement. 
Enfin,  il  n'etait  que  trop  prouve  que  si  les  charges  actuelles  imposees  aux 
Colons  etaient  dejä  trop  onereuses,  il  leur  serait  tout  k  fait  impossible 
de  subvenir  en  outre  ä  l'entretien  des  invalides  qui  devaient  avec 
le  temps  revenir  sur  les  Colonies  et  y  augmenter  le  nombre  des  bouches 
inutiles  ^). 

L'Empereur  Nicolas  voulant  remedier  autant  que  possible  a  tous 
ces  inconvenients,  sans  cependant  abandonner  enti^rement  cette  entreprise  et 
le  fruit  de  tant  de  millions  dejä  absorb^s,  a  commence  par  en  arreter 
Textension.  —  Suivant  ensuite  des  vues  aussi  humaines  que  säges,  S.  M.  I. 
s'est  empressee  d*ordonner  les  modificatlons  importantes  que  contient 
le  nouveau  reglement,  et  si  leur  resultat  n^est  pas  encore  de  mettre 
bientot  a  meme  de  donner  plus  d'^tendue  ä  ce  Systeme,  du  moins  elles  le 
rendront  sürement  moins  impopulaire  et  feront  atteindre  en  parlie,  dans  les 
Colonies  d^jä  etablies,  le  but  que  Ton  s'etait  d'abord  propose. 

Le  nouveau  reglement  ajoute  donc  un  bataillon  ou  des  escadrons  dits 
de  r^serye,  ä  chaque  regiment  d'infanterie  ou  de  Cavalerie  colonise.  —  Ces 
bataillons  composes  des  premieres  classes  d'eleves  dits  Cantounistes,  et 
d'anciens  sous - officiers  et  soldats  non-colons  destines  specialement  k 
Tinstruction  des  Cantonnistes  et  des  recrues,  demeureront  sur  la  Colonie  et 
remplaceront  les  bataillons  de  Colons  dans  toutes  les  branches  du  service 
militaire  dont  ils  etaient  restes  charges.  Mais  tous  les  hommes  qui  les 
composent  et  qui  ne  sont  ni  Colons  ni  Cantonnistes,  seront  loges,  vetus 
entretenus  et  soldes  aux  frais  de  la  Couronne.   Ces  bataillons  de  reserve 


*)  On  assure  que  le  general  Aracktscheieff  lui-meme  n'avait  pas  tarde  a 
s^apercevoir  de  toutes  ces  d^fectuosites,  mais  que,  peu  dispos^  k  s'^mouvoir 
k  la  vue  des  difficultes  et  des  soufTrances,  doue  d^une  äme  farouche  et 
despote,  accoutume  non  ä  surmonter  mais  a  remuer  les  obstacles,  il  esp^rait 
y  remedier  avec  le  temps  et  n'avait,  d*ailleurs,  jamais  pu  se  d^cider  k  dedarer 
les  defauts  d'un  Systeme  sugger^  par  lui  et  dont  la  direction  lui  donnait  tant 
de  moyens  d'acces  et  dUnfluence  pres  de  son  maitre. 

27» 


420  Anlagen  zu  Kapitel  IIL 

fourniront  tont  le  recrutement  de  lenre  Corps  respectifo,  ils  ne  se  completteront 
en  temps  de  paix  qu^au  für  et  k  mesure  par  les  Kleves  ou  cantonnistes 
devenant  en  iiaX  de  porter  les  armes  et  existant  en  sus  du  nombre  de  sujets 
necessaires  pour  tenir  au  complet  les  bataillons  de  Colons.  —  £n  temps  de 
guerre,  lorsque  la  classe  des  Cantonnistes  n^aura  pas  suffi  an  recrutement, 
on  continuera  de  faire  des  lev^es  seien  l'ancien  usage  et  les  recrues  seroot 
enToyees  ä  cette  moitie  du  bataillon  de  reserve  qui  restera  sur  les  Colonies  et 
qui  sera  cbargee  de  les  former,  tandis  que  l'autre  moitie  suivra  les  bataillous 
actifs  en  campagne.  Par  ce  moyen,  l'armee  sera  tenue  a  peu  pres  sur  le 
meme  pied  oü  eile  est,  sans  quHl  seit  necessaire  de  diminuer  le  nombre 
des  agriculteurs  ni  de  les  distraire  de  leurs  occupations. 

D^un  autre  cote,  pour  mettre  les  Colonies  a  meme  de  subvenir  aux 
charges  qui  leur  sont  imposees,  le  nombre  des  Colons  militaires  ainsi  que  la 
quantit^  de  terrain  assigne  ä  chaque  district,  sont  doubles;  et  ce  ne 
sont  plus  cette  fois  des  pays  incultes  qu'on  leur  donne,  mais  des  terres 
depuis  longtemps  en  rapport,  chargees  de  betail  et  süffisant  ä  Texistence  de 
leurs  habitants*).  Ce  ne  sont  plus  des  soldats  sans  aucune  connaissance 
de  Pagriculture  qu'on  ajoute  au  bataillon  de  Colons,  mais  des  paysans  vivant 
depuis  plusieurs  gen^rations  sur  leurs  terres  et  qui  en  connaissent  deja  toutes 
les  ressources.  Par  ce  moyen,  les  gens  des  bataillons  actifs  et  toutes 
les  bouches  inutiles,  ä  la  Charge  de  la  Colonie,  se  trouvent 
repartis  sur  ua  nombre  d'etablissements  double  de  ce  quUl  etait 
autrefois:  c''est-ä  dire  que  le  Colon  militaire  n'aura  plus  qu^un  soldat  ä 
entretenir  au  Heu  de  deux. 

Les  Colons,  deja  affranchis  de  tout  impot  et  des  corvees  si  penibles 
pour  les  habitants  des  campagnes,  seront  a  Pavenir  exempts  de  tout  Service, 
de  tout  exercice  et  inspections  militaires,  ils  pourront  d^sormais  vaquer  uni- 
quement  ä  leurs  travaux  d 'agriculteurs,  leur  tenue  sera  appropriee  ä  leur 
vocation;  leurs  enfants,  formant  les  diverses  classes  de  Cantonnistes,  ceux- 
memes  destines  au  recrntement  de  Tarmee,  leur  seront  laisses,  tandis  qu*au 
moment  oü  ils  pouvaient  devenir  utiles  ä  leurs  familles,  on  les  envoyait  au 
quartier  gen^ral  de  la  Colonie  oü  ils  ^taient  casernes.  Ils  pourront  maintenant 
continuer  de  vivre  chez  leurs  parents  et  meme  les  aider  dans  leurs  travaux, 
pendant  le  temps  qui  ne  sera  pas  employe  aux  exercices  militaires,  aux  etudes 
et  aux  roetiers  que  Ton  continuera  de  leur  enseigner  dans  les  ecoles  desormais 
etablies  pres  de  chaque  Compagnie  de  Colons. 

Ceux-ci  n'auront  meme  plus  le  sein  ni  la  responsabilite  d'un  armement 
qui  ne  sera  laisse  qu^ä  une  tres  petite  partie  des  gens  du  bataillon  de  reserve 
pour  servir  ä  Tinstruction  des  recrues. 

11  est  vrai  que  les  Colons  militaires  ne  recevront  plus  de  solde,  et  que  la 
mesure  ordonnce  par  TEmpereur  en  faveur  des  bataillons  colonises  de  la 
Ire  Division  de  Grenadiers  et  des  Regiments  d'Infanterie  de  Polotzk  et  de 
Jeletzk,  est  tout  a  fait  exceptionnelle  et  temporaire;  mais  delivres  ainsi  de  la 
plus   grande   partie  de  leurs  charges,  cette  perte  est  amplement  compensee. 

0  Ce  n^est  que  plus  tard  que  Ton  y  joindra  des  d^frichementa  a  faire. 


Jkülägeii  zii  Kapitel  HL  421 

Jouissant  d^ormais  des  toos  1«8  aväntages  de  la  propri^tä,  acqu^rant 
la  faculte  de  tenir  et  de  choisir  lenrs  8acceflsear«v  le8  Colons  craindront  moins 
d'augmenter  lenrs  familles  et  seront  plns  dtaposea  i  former  des  mariages  entre 
leurs  filles  et  les  gena  des  bataillona  actifs.  La  couronne  se  propbse  d^ailleurs 
de  favoriser  ces  unions  plus  qa'EUe  n'avait  cru  pouvoir  le , faire  aussi  lo&g- 
temps  qu'elle  reconnaissait  que  le  Colon  ne  pouvait  suffire  a  son  propre 
entretieo. 

En  outre  de  ces  demieres  dispositions  TEmpereur  a  encore  ordonne 
plusieurs  autres  mesures  qui  tendent  ä  rendre  ce  Systeme  moins  impopulaire. 

Le  paysan  habitant  primitif  des  districts,  ne  sera  plus  geni  daus  sa 
mise  ni  dans  sa  tenue,  il  pourra  meme  continuer  de  laisser  croitre  sa  barbe. 

Le  temps  du  senrice  effectif  des  hommes  servant  dans  les  corps  colonises 
est  abrege  de  cinq  ans  et  par  consequent  reduit  a  20  annees  a  compter  de 
son  entree  dans  les  bataillons  actifs.  Sur  ces  20  ans,  quinze  doivent  etre 
passes  dans  les  bataillons  actifs,  et  cinq  ans  dans  ceux  dits  de  r^serve. 

La  solde  des  officiers  des  bataillons  colonises  et  de  r^serve  est  augmentee 
de  moitiö;  celle  des  soldats  qui  continueront  volontairement  0  &  servir  apres 
leurs  vingt  annees  de  Service  sera  triplee. 

On  a  vu  aussi  que  le  quartier  general  des  Colonies  d*Infanterie 
est  transportä  de  Staro-Rouss  a  Novogx>rod  oü  il  genfsra  bien  moins  les 
habitants,  vu  la  grandeur  et  les  ressources  de  cette  demiere.viUe;  tandis  qu'a 
Staro-Rouss,  ville  tres  commer^ante,  mais  de  pen  d'etendue,  cet  etablissement 
etait  une  cbarge  pour  les  habitants,  presque  tous  de  la  caate  des  Rascolnics, 
entravait   quelquefois   leurs   Operations  et  y  etait  vu  d'un  tr^s  mauvais  oeil. 

Tant  il  est  vrai,  Monsieur  le  Baron,  que  ces  nouvelles  ordonnances  de 
TEinpereur  ont  ete  accueilües  ay^c  joie  par  tout  le  monde  et  que  partout 
eiles  ont  excite  les  louanges.  — Mais  il  est  peut-etre  aussi  permis  de  se 
demander  si,  dans  les  hautes  classes,  ces  demonstrations  proviennent  bien 
d*un  sentiment  d'humanit^,  ou  si  elle^  ne  sont  pas  plutot  dictees  par  la  haine 
generale  que  l'on  portait  au  Comte  Aracktscheieff  dont  ces  changements  ont 
Signale  la  chute,  ou  bien  encore  par  la  probabilit4  que  ces.modifications  elles- 
memes  fönt  naitre,  que  ce  Systeme  juge  si  vexatoire  et  si  dangereux  par  la 
Majorite,  sera  bientut  tout  a  fait  abandonne;  ou  que,  du  moins,  il  ne  recevra 
pas  de  longtemps  une  plus  grande  extension. 

II  ne  faut  pas  en  effet  perdre  de  vue  que  si  ce  nouvean  reglement 
allege  considerablement  le  sort  du  Colon  militaire,  il  change  entierement 
le  but  i'conomique  du  Systeme  en  laissant  au  gouvernement  presque 
toutes  ses  anciennes  charges^),  tandis  qu'il  emploie  deux  fois  plus  de  terrain 


^)  II  y  a  encore  dans  Tarmee  russe  des  delits  qui  entrainent  avec  eux 
comme  punitions  des  prolongations  de  Service  plus  ou  moins  considerables 
jusqu'ä  la  duree  illimitee,  suivant  la  gravit^  des  faütes. 

3)  La  solde  des  corps  colonis4s,  bien  qn'elle  ne  sera  plns  per^e  par 
les  Colons  militaires,  continuera  n^anmoins  jusqu'ä  nouvel  ordre  et  probable- 
ment  encore  longtemps  d^etre  portee  au  Budget  et  versee  en  entier  dans  la 
caisse  des  Colonies  militaires  pour  entretenir  le  capital  destine  ä  couvrir  les 
autres  depenses  de  cette  administration. 


422  Anlägen  zu  Kapitel  IlL 

et  de  paysans.qui  —  cesseot  d'etre  d'aucuo  reyenu  pour  la  CoatOBUe,  da 
moment  qu'ils  se  trouyent  compris  dans  cette  entreprise. 

On  peut,  d'ailleurs,  obser? er  ^galement  que  ces  modifications  apportees  ä 
Tancien  projet,  sont  bien  plutot  en  faveur  de  Tancien  militaire  devenu  Colon, 
qu'elles  ne  rem^dient  eneore  aux  inconvenients  et  aux  vexations  auxquels  le 
paysan  demeure  expose  par  ce  Systeme  et  qui  Tont  si  souvent  porte  a 
la  r^ volle  avant  de  s*y  soumettre.  —  C*est  toujours  pour  lui  une  veritable 
spoliation  que  cette  mesure  qui  associe  un  etranger  ä  tous  ses  interets,  k 
ses  affaires  de  famille  et  memo  k  la  propri^te  d'une  terre  qu'il  a  recue  de 
ses  peres  et  fertilisee  de  ses  sueurs. 

Son  aversion  pour  T^tat  militaire  restant  la  meme,  11  continue  de  voir 
avec  douleur  sa  posterite  convertie  en  une  pepiniere  de  soldats  toujours 
renaissante,  et  son  village  en  place  d'armes.  —  II  cesse  d^etre  administre  par 
les  anciens  de  sa  classe,  pour  etre  soumis  ä  une  legislation  toute  militaire, 
il  perd  enfin  toute  son  independance  domestique  et  s'expose,  s'il  se  plaint,  a 
des  vexations  d^autant  plus  cruelles  qu*elles  le  sui?ent  jusque  dans  son 
interieur  et  peuvent  se  rep^ter  k  chaque  instant  du  jour. 

S'il  fallait  donc  entreprendre  de  nouvelles  creations,  on  pourrait  prevoir  de 
nouvelles  resistances,  et  la  main  de  fer  qui  jusquHci  les  avait  renversees  ne 
se  retrouvera  plus.  Oes  acte»  de  rigueur  deviendraient,  d'ailleurs,  ceux  du 
Gouvernement,  depuis  que  ce  n^est  plus  un  seul  homme  qui  dirige  cette 
entreprise  et  qu^elle  dopend  de  TEtat-major  genöral  de  TEmpereur.  —  L'on 
peut  donc  croire  qu^il  repugnerait  au  Souverain  de  renouveler  de  pareils  actes  — 
Ne  peut-on  pas  aussi  supposer  que  ce  Souverain,  instruit  par  les  derniers 
evenements  survenus  dans  son  armee,  averti  par  la  difference  de  caractere  et 
de  dispositionts  dejä  observee  cbez  les  jeunes  Colons  qu'une  certaine  education 
porte  au  mepris  de  Tignorance  dans  laquelle  ont  vecu  leurs  peres,  ainsi  qu'ä 
un  esprit  de  mutinerie  tendant  ä  substituer  ä  cette  ancienne  obeissance  et  a 
cette  intr^pidit^  si  passives,  un  courage  plus  eclaire,  mais  moins  propre  ä  se 
laisser  diriger,  ne  peut-on,  dis-je,  supposer  que  TEmpereur  craigne  de  changer 
eneore  davantage  et  trop  promptement  Tesprit  de  ses  soldats, -et  qu'il  ne  desire 
avoir  recours  a  des  mesures  intermediaires,  avant  d'etablir  au  sein  d'une  nation 
aussi  retardee  que  la  sienne,  une  population  a  la  fois  eclairee  et  munie  de 
tous  les  moyens  d'entreprise  ? 

En  r^sum^,  Monsieur  le  Baron,  Popinion  generale  sur  les  mesures 
que  vient  d^ordonner  TEmpereur,  est  qu^elles  indiquent  le 
procbain  abandon  du  Systeme  de  la  colonisation  militaire  tel  quMl 
avait  d'abord  ete  con^u  pour  toute  Tarmee  Russe,  et  que  l'Empereur  se  bomant 
a  completer  Torganisation  des  corps  dont  la  colonisation  est  dejä  commencee 
ättendra  au  moins  les  resultats  de  cette  experience,  avant  de  songer  k 
entreprendre  de  nouveauz  Etablissements. 

Agreez,  je  vous  prie,  Monsieur  le  Baron,  les  assurances  de  ma  haute 
consid^ration. 

Comte  de  la  Ferronnays. 


Anlagen  zu  Kapitel  IV..  428 


Kapitel  IV. 
KonigFriedrich  Willielm  an  Kaiser  Nikolaus,  wohlJaii;18.1826. 

(Ancillon  hatte  ein  Konzept  des  Königs  erhalten  und  durchgelesen.  Er 
spricht  seine  Bewunderung  aus  und  verfaßt  darauf  zwei  Konzepte,  von  welchen 
das  folgende  Korrekturen  von  der  Hand  des  Königs  trägt.) 

Si  ce  que  j'ai  ecrit  ä  Votre  chere  femme  a  trouve  le  chemin  de  votre 
c<rur,  c*est  que  cela  est  parti  du  cccur,  et  que  lui  seul  Pavait  dicte.  Votre  lettre 
est  l'expression  d^une  douleur  si  profonde  et  si  vraie,  qu'elle  a  renouvele  toute 
la  mienne  et  j'ai  mele  mes  larmes  aux  votres. 

Vous  avez  ete  appel4  ä  faire  des  le  d^but  de  votre  regne  de  cruelles 
experiences.  Plus  Votre  äme  etait  dans  ce  moment  solennel  pleine  de  Pamour 
de  Dieu  et  de  vos  devoirs,  et  plus  il  a  ete  triste  pour  vons  de  rencontrer 
IVgarement  et  le  crime. 

Mais  le  ciel  a  voulu  que  des  le  debut  de  Votre  regne  Vous  fussiez  appele 
a  connaitre  la  fidelite  de  la  grande  maase  de  Votre  peuple  et  donner  ä  la 
Russie  et  ä  PEurope  des  gages  et  des  garants  de  Votre  avenir.  Celui  que 
vous  appelez  &  si  juste  titre  Votre  ange  doit  avoir  applaujdi  k  Votre  courage 
cahne  et  fenne,  comme  k  votre  noble  delicatesse.  Pour  ma  part,  j*en  ai 
eprouve  une  joie  et  une  satisfaction  toute  patemelles. 

Dieu  qui  Vous  a  si  visiblement  prot^gä,  Vous  soutiendra  dans  Votre 
penible  täche.  Vous  etes  sans  doute  place  dans  des  circonstances  difficiles, 
mais  les  bonnes  et  grandes  pens^es  viennent  du  ca^ur,  et  le  votre  vous 
inspirera  toujours  bien.  Les  dangers  auxquels  vous  avez  echappe  en  les 
conjurant  doivent  vous  attacher  fortement  ä  Talliance  et  aux  principes  cou* 
servateurs  que  feu  TEmpereur  d*immortelIe  memoire  regardait  avec  raison  comme 
Tancre  du  salut  commun.  Ost  dfiniB  Tinteret  de  vos  peuples,  bien  plus  que 
dans  le  notre,  que  nous  devons  defendre  les  droits  du  trone  afin  de  pouvoir 
remplir  les  devoirs. 

Vous  me  demandez  des  conseils  et  je  vous  exprime  des  voeux  et  des 
esperances  qui  ne  seront  pas  deines.  Je  n'ai  pas  besoin  de  Vous  dire  que  mon 
coQur  vous  sera  toujours  ouvert,  et  que  je  repondrai  toujours  avec  empresse» 
ment  aux  marques  de  confiance  que  Vous  voudrez  bien  me  donner. 

J'ai  appris  avec  une  vive  satisfaction  que  ma  fille  cherie  avait  dans  ces 
jours  de  deuil  e|  d'angoisse  et4  digne  d'elle  meme  et  du  rang  auquel  la 
providence  Ta  elevee.  Puisse-t-elle  dans  toutes  les  circonstances  de  la  vie 
etre  pour  vous  ce  que  la  mere  a  ete  pour  moi. 

Vous  m^avez  fait  un  triste  mais  pr^cieux  present  en  m'envoyant 
Tuniforme  de  Tempereur.  Ce  sera  pour  moi  un  touchant  souvenir,  une  sainte 
relique  et  un  signe  d'honneur  pour  l'armee  prussienne  et  en  particulier  pour 
le  Regiment  de  Grenadiers  qui  porte  le  nom  Alexandre. 

Puissent  les  benedections  du  Tr^s-Haut  reposer  sur  vous  et  sur  tout  ce 
qui  vous  est  eher.  •      .  .  


424  Anlagen  zu  Ka^ntel  IV. 

Müffling  an  Diebitsch.    Original  in  Petersb.  Wojenno 

Utsch.  A.  964. 

Berlin,  den  6.  Februar  1826. 

E.Ex.  erlaube  ich  mir  durch  einesichere  Hand  ein  Wort  der  innigen  Teilnahme 
zu  sagen  und  daran  zu  knüpfen,  wie  oft  ich  in  dieser  Zeit  an  Sie  gedacht  und 
das  Leiden  mitgefühlt  habe,  was  Sie  bei  dem  Verlust  des  herrlichen  Kaisers 
(der  uns  allen  zu  früh  entrissen  worden  ist)  empfunden  haben.  Ich  leugne 
es  nicht,  daß  ich  zu  denen  gehorte,  welche,  bekannt  mit  der  Ab- 
sicht des  Großfürsten  Konstantin,  sich  sagten:  Welch  schwere  Auf- 
gabe, als  Nachfolger  eines  so  hochverehrten,  ganz  Europa  bekannten  Monarchen 
als  Kaiser  Alexander  aufzutreten.  Doppelt  schwer  für  den  Kaiser  Nikolaus 
dadurch,  daß  Mangel  an  Gelegenheit  ihn  weder  als  Staatsmann  noch  als 
Militär  besonders  bekannt  gemacht  hat.  Welch  lange  Zeit  wird  dazu  ge- 
hören, ihm  das  Vertrauen  Yon  Europa  zu  gewinnen? 

Das  Schicksal  hat  es  anders  gewollt!  Der  neue  Kaiser  hat  in  einem 
wichtigen  Augenblick  Mut,  Besonnenheit,  Kraft  und  Milde  gezeigt;  er  hat  ein 
Vertrauen,  eine  Zuneigung  gewonnen,  wozu  es  nach  dem  Lauf  der  Zeiten 
Jahre  bedurft  hätte!  Gott  sei  gelobt  dafür  und  segne  sein  edles  Bestreben 
und  Handeln. 

Wenn  uuser  König,  wenn  wir  alle  dem  Kaiser  aufs  tiefste  ergeben  sind, 
von  hier  aus  seine  Schritte  mit  dem  höchsten  Interesse,  aber  nicht  ohne  Be- 
sorgnis für  die  Zukunft  verfolgen,  so  werden  Sie  dies  weder  tadeln,  noch 
befremdend  finden,  und  unser  Teilnehmen  und  Ihre  alte  mir  bewiesene  Freund- 
schaft führen  mich  noch  weiter.  Der  Beschluß,  den  der  Kaiser  jetzt  faßt,  ist 
für  die  Zukunft  von  der  höchsten  Wichtigkeit.  Wir  waren  nach  dem  Kriege 
von  1815  in  einer  viel  schlimmeren  Lage  als  Rußland.  Unser  ganzes  Volk 
hatte  Krieg  gemacht,  wenigstens  alles,  was  tüchtig  war.  Der  Rückschritt  zum 
Zivilstand  hatte  für  viele  seine  Unbequemlichkeit,  manche  verderbliche  Flammen 
loderten  da  auf,  und  viel  verderblicher  Zunder  lag  in  der  Armee.  Das  System, 
das  man  damals  ergriff,  wird  noch  heute  unerschütterlich  befolgt,  und  die 
zehnjährige  Erfahrung  hat  es  bewährt.  Wir  zerlegten  die  Armee  in  zwei 
Elemente,  in  das  physische  und  das  geistige.  Das  physische,  durch  den  ge- 
roeinen Mann  repräsentiert,  mußte  physisch  befriedigt  werden  durch  einen 
erträglichen  Zustand,  der  aber  keineswegs  in  Luxus  ausartete.  Die  Nahrung, 
die  Kleidung  und  Wohnung  des  Soldaten  mußte  so  sein,  daß  er  sich  wohl 
befand,  d.  h.  besser  als  die  des  gemeinen  Tagelöhners.  Das  geistige  Element, 
durch  die  Offiziere  repräsentiert,  mußte  durch  eine  ewige  Beschäftigung  eine 
Ableitung  von  Verirmngen  erhalten,  allein  eine  Beschäftigung  welche  nicht 
entwürdigt,  nicht  bloß  die  gemeinsten  Kräfte,  sondern  auch  die  besseren, 
den  Verstand,  die  Vernunft,  in  Anspruch  nimmt.  Diese  Beschäftigung-  haben 
wir  in  der  Ausbildung  des  Soldaten  zum  wahren  Zwecke  des  Krieges  gefunden, 
in  einer  höheren  Ausbildung  seiner  Vernunft  und  seines  Urteils,  indem  diese 
Quelle  unerschöpflich  ist,  so  ist  auch  die  Uhr  ewig  angezogen  und  bedarf  nur 
von  Zeit  zu  Zeit  einiger  Tropfen  Öl.  Die  Offiziere  schrien  über  zu  große 
Anstrengung  —  wir  zucken  die  Achseln  und  schieben  die  Notwendigkeit  vor, 


Anlagen  zu  Kapitel  IV.  425 

denn  wir  wissen,  wann  das  Jahr  um  ist,  tind  sie  auf  das  zurückblicken,  was 
sie  geleistet  haben,  so  freuen  sie  sieb  ihrer  Werke  und  gehen  mit  ihrer  Er- 
fahrung und  Tätigkeit  im  nächsten  J«ihre  noch  weiter.  Ich  habe  mir  die 
Pflicht  auferlegt,  mit  großer  Aufmerksamkeit  den  Zustand  der  geistigen  Be- 
schäftigung ZQ  verfolgen,  dafür  zu  sorgen,  daß  die  Sache  nicht  zu  weit  geht 
und  das  Handwerksmäßige  darüber  vernachlässigt  wird,  aber  auch  dafür,  daß 
der  Verstand  und  die  Vernunft  immer  ihre  gehörige  Beschäftigung  behält.  Wenn 
iu  dem  maschinenmäßigen  Treiben  eine  Ermüdung  eintritt,  so  werden  die 
Geister  durch  höhere  Aufgaben  des  Krieges  wieder  geweckt,  ihre  Urteilskraft 
geübt,  und  gezeigt,  wie  vieles  noch  mangelt,  wie  vieles  noch  besser  sein  konnte. 
Fern  sei  es  von  mir,  zu  sagen,  daß  die  Armee  auf  dem  hoben  Standpunkt 
steht,  [auf  den  sie  kommen  kann,  aber  daß  sie  treu  ihrem  König  und  ihrer 
Pflicht  ist,  und  daß  ein  Ausbruch  ungesetzlicher  Handlungen,  woran  die  große 
Masse  teilnehme,  unmöglich  ist,  das  ist  meine  innige  Überzeugung.  Ebenso 
bestimmt  aber  habe  ich  auch  die  Oberzeugung,  daß  ein  Verlassen  dieser 
G  rundsätze  leicht  zu  al  len  den  Greueln  führen  könnte,  welche  wir  in  Neapel,  Sardinien 
und  Spanien  gesehen  haben.  Was  ich  Ihnen  hier  als  einem  verehrten  Freunde 
in  allem  Vertrauen  gesagt  habe,  werden  Sie  nicht  mißdeuten.  Ich  sehe  Ruß- 
lands Macht  und  Größe  als  die  unsrige  an,  ich  glaube,  daß  unsere  Suveräne 
nach  ihren  Grundsätzen  immer  gemeinschaftlich  handeln  werden,  und  so  darf 
ich  wohl  auch  die  Meinung  aussprechen,  daß  eine  treue  und  zufriedene  russische 
Armee  die  höchste  militärische  Macht  ist  und  es  dabei  auf  1000  Mann  mehr 
oder  weniger  gar  nicht  ankommt.  Nach  der  heutigen  Stellung  von  Europa  kann 
ich  den  Grundsatz,  daß  eine  Armee  sich  immer  nach  Krieg  sehnen  müsse, 
nicht  billigen.  Sehnt  sie  sich  nach  Krieg,  um  einen  unerträglichen  Zustand 
abzuschütteln,  so  ist  sie  auch  allen  Verirmngen  des  Geistes  der  Zeit  ausgesezt. 
Leben  Sie  wohl,  verehrter  Herr  General,  und  erhalten  Sie  mir  ein  freund- 
schaftliches Wohlwollen,  auf  welches  ich  einen  so  großen  Wert  lege. 

Müffling. 

.  An  8e.  Majestät  den  Kaiser  und  König. 

St.  Petersburg,  den  5.  Februar  1826. 

Eure  Majestät! 

Vorgestern  den  3.  war  hier  die  Nachricht  von  der  Sendung  des  Grafen 
Bombelles  nach  Warschau  angelangt,  der  Kaiser  erwähnte  derselben  nur  mit 
einigen  Worten  gegen  mich.  Gestern  den  4.  aber,  als  der  Kaiser  Seiner  Ge- 
wohnheit nach  durch  meine  Zimmer  kam,  um  mich  zur  Kaiserin-Mutter  ab- 
zuholen, ging  er  mit  den  Worten  auf  mich  zu:  „Mon  Frere  Constantin  a  ete 
tres  flatt4  de  Tattention  que  Lui  a  fait  TEmpereur  en  Lui  envoyant  Bom- 
belles*" und  indem  er  mir  einen  offenen  Brief  gab,  setzte  er  hinzu:  „Mais  vous 
allez  voir  ce  que  Constantin  m*ecrit  au  sujet  de  cette  mission,  je  veux  avec 
cette  confiance  qui  doit  regner  entre  nous  que  vous  le  lisiez.^  Ich  las  nun 
den  mir  mitgeteilten  Brief,  eine  Piece  von  mehreren  Folioseiten  —  so  auf- 
merksam, als  es  mit  der  Unmöglichkeit  vereinbar  war,  den  Kaiser  lange  wartend 
stehen  zu  lassen.    Der  Großfürst.  Konstantin  meldet  Seinem  Kaiserlichen  Bruder, 


426  Anlagen  zu  Kapitel  IV. 

daß  die  Mission  des  Grafen  Bombelles  nicht'  bloß  eine  peraönlicbe  Auf- 
merksamkeit  Eurer  Majestät,  sondern  auch  von  der  Absicht  begleitet  gewesen 
sey,  Ihn,  den  Großfürsten  —  dahin  tu  vermögen,  daß  Er  Seinen  Einfloß  auf 
den  Kaiser  für  die  Erhaltung  des  Friedens  im  Orient  geltend  machen  möge. 
Der  Großfürst  beschreibt  hierauf  wie  Er  Sich,  um  diese  Aufforderung  von  sich 
abzulehnen,  in  Sein  Verhältnis  als  Soldat,  als  Chef  eines  von  dem  möglichen 
Schauplatz  weit  entfernten  Armeecorps,  als  Gouverneur  von  Provinzen,  die  die 
westliche  Grenze  des  Russischen  Reichs  bilden,  verschießen;  und  wie  Er  gegen 
den  Grafen  Bombelles  nebst  Seiner  innigen  Überzeugung  von  den  friedliebenden 
Gesinnungen  des  Kaisers,  Seines  Bruders  und  Herrn,  zugleich  die  Versicherung 
ausgesprochen  habe,  daß  er  die  politischen  Beschlöße  desselben  weder  zu 
influencieren  noch  voraus  zu  sehen  berufen  sey.  —  Während  der  Lesung  des 
Briefs  hatte  sich  der  Kaiser  neben  mich  gestellt,  und  als  er  mich  an  eine 
Steile  gekommen  glaubte,  wo  der  Großfürst  vom  Orient  spricht,  sagte  der 
Kaiser  auf  das  Wort  „la  Grece**  mit  dem  Finger  hindeutend:  «Eh  bien>  vous 
voyez  de  quoi  il  etait  question.''  In  dem  ganzen  Benehmen  des  Kaisers 
schien  der  Ausdruck  eines  gewißen  Befremdens  zu  liegen,  daß  ich  Seinem 
Vertrauen  und  seinen  Aufforderungen  zum  Vertrauen  nicht  durch  Berührung 
eines  Gegenstandes  entgegengekommen  sey,  über  welchen  er  doch  durch  den 
Canal  eines  an  seinen  Bruder  abgefertigten  Abgeordneten  Mitteilungen  erhielt 
und  also  umsomehr  von  mir  welche  erwarten  zu  können  glaubte.  Um  also 
die  Idee,  als  ob  ich  Sein  Vertrauen  durch  Reticenzen  erwiedere,  oder  als  ob 
in  dem  bei  Gonstantin  getbanen  Schritt  ein  Mißtrauen  gegen  ihn  läge,  zu  be« 
gegnen,  und  um  zugleich  nach  dem  vom  Fürsten  Metternich  aufgestellten 
Grundsatz,  den  diplomatischen  Verhandlungen  in  der  orientalischen  Frage  auf 
keine  Weise  vorzugreifen,  sagte  ich  dem  Kaiser  auf  die  oben  angeführten 
Worte:  Eh  bien,  vous  voyez  de  quoi  il  etait  question  — :  „Oui  Sire;  ceci  est 
une  affaire  de  diplomatie;  l'Empereur  auquel  j*en  ai  parle  avant  mon  depart 
comme  d'une  affaire  dans  laquelle  j^ai  mon  opinion  comme  militaire  saus  Pavoir 
suivie  dans  ces  rapports  politiques,  m'a  dit  que  cette  question  continuait  a 
etre  Tobjet  de  transactions  diplomatiques  entre  les  cours;  eile  ne  fait  donc 
pas  Tobjet  de  ma  mission  essentiellement  amicale,  et  si  Votre  Majeste  me 
fait  Thonneur  de  m'en  parier,  ce  sera  comme  militaire,  que  j^exposerai  avec 
franchise  mon  opinion  ä  cet  egard.^  Der  Kaiser  gab  diesem  Gespräche  keine 
Folge,  und  so  mußte  ich  denn,  um  Ihn  nicht  warten  zu  lassen,  zu  der  Lesung 
des  Briefes  zurückkehren. 

Nachdem  ich  ihn  beendet  und  dem  Kaiser  Zurückgestellt  hatte,  sagte  er 
mir  —  in  isolierter  Beziehung  auf  jenen  Teil  des  Briefes,  wo  der  Großfürst 
seine  Überzeugung  von  des  Kaisers  friedliebenden  Gesinnungen  an  den  Tag 
legt  — :  ,Eh  bien,  vous  voyez,  que  cela  s*accorde  parfaitement  avec  ce  que 
je  vous  disais  hier.  Je  ne  veux  point  la  guerre;  Constantin  me  juge  de 
meme,  et  certainement,  il  est  impossible  que  nous  ayons  pu  nous  entendre 
r^ciproquement  sur  ce  que  nous  disions^  Lui  ä  Bombelles,  et  moi,  en  m*abouchant 
avec  vous.**  Ich  antwortete  durch  Wiederholung  von  Versicherungen,  wie 
glücklich  ich  mich  schätze,  die  Gesinnungen  des  Kaisers  mit  den  Erwartungen 
und    den  W^ünschen  Eurer  Majestät   so   ganz   im  Einklang  tu   finden.    Der 


Anlagen  zu  Kapitel  IV;  427 

Kaiser  nahm  mich  bei  der  Hand  und  mit  den  Worten:  »Allons,  il  faut  aller 
chez  ma  mere^  brach  er  das  Oesprach  ab.  —  Ich  glaube  aber  nicht  bezweifeln 
zu  mäßen,  daß  der  Kaiser  auf  diesen  Gegenstand  noch  zurückkommen  wird, 
und  im  entgegengesetzten  Falle  hoffe  ich  Gelegenheit  zu  finden,  Ihn,  ohne 
Absichtlichkeit  zu  verrathen,  auf  denselben  zurückzuführen. 

Heute  bei  der  Parade  sagte  mir  der  Kaiser,  daß  Er  den  Herzog  von 
Wellington  hier  erwarte. 
Eurer  Majestät 

unterth&nigst  gehorsamster  Diener  und  Vetter 

Eh.  Ferdinand, 
m.  p. 

In  dorso:  „Nr.  4  B.  St  Petersburg,  den  5.  Februar  1826.  Äußerungen 
des  Kaisers  über  die  Sendung  des  Grafen  Bombelles  nach  Warschau.*' 

Wien.  K.  u.  K.  Staatsarchiv.  Instructions  et  d^peches  ä  TArchidue 
Ferdinand. 

Original  mit  eigenh.  Unterschrift. 

Lettre  de  8.  M.  l'Emp.  d'Autriche  k  S.  Alt.  Imp.  le  granü 

Duc  Constantin  de  Bussle. 

Vienne,  le  19  janv.  1826. 

Monsieur  Mon  Frere  et  tres-cher  Neveu.  J'ai  du,  aussi  longtemps  qu^a 
dure  l'honorable  lutte  de  generosite  dont  Thistorie  ne  nous  avait  pas  jusqu'a 
present  offert  d'exemple,  differer  d^exprimer  ä  V.  Alt  Imperiale  les  sentimentä 
que  M'  a  fait  eprouver  la  perte  de  notre  frere  et  ami  commun.  Personne  n'a 
mieux  connu  que  V.  Alt  Imp.  les  rapports  si  intimes  de  confiance  qui  ont 
exist^  entre  Moi  et  le  Monarque  que  Je  ne  cesserai  de  pleurer.  Ce  n^est  pas 
ä  Elle  que  Je  Me  sens  le  besoin  de  dire  ce  que  ce  cruel  ^venement  M*a  fait 
ressentir  de  peine  et  d'affliction.  Je  connais  d*un  autre  cote  les  liens  de 
coßur  qui  attachaient  si  ^troitement  V.  Alt  Imp.  a  Son  auguste  frere.  Elle 
sait  de  memo  Tancienne  amitie  que  Je  lui  porte.  II  Lui  suffira  de  cette 
double  conviction  pour  evaluer  k  sa  veritable  hauteur  la  part  que  J'ai  prise 
en  tous  points  a  sa  propre  douleur,  eile  est  aussi  sincere  que  profonde.  Mon 
Chambellan  le  Comte  de  Bombelles  est  Charge  de  remettre  a  V.  Alt  Imp.  la 
presente  lettre.  II  a  deja  Thonneur  de  lui  etre  connu  personneliement,  et  Je  Me 
flatte  qu'Elle  voudra  bien  ajouter  foi  ä  tout  ce  qu*ie  s^empressera  de  Lui  dire 
des  sentiments  d'attachement  et  d'amitie  inyiolable  ayec  lesquels  je  suis 

Monsieur  Mon  frere  et  tres  eher  Neveu  de  V.  Alt.  Imp. 

Le  bon  Frere  et  Oncle. 

Kapitel  Y. 
Extralt  d'nne  lettre  du  g^n^ral  aide  de  camp  Benkendorff 

5/17  Noyembre  1827. 

J'ai  vu  hier  Abbas  Mirza,  et  j*ai  ete  le'  premier  qui  devais  iui  montrer 
des  troupes  russes  en  parade. :  La  rencontre  se  fit  &  quelques  verstes  au.  del» 
iie  Schehiste,  sur  une  raste  pjaine,  non  loin  des  bords  du  lac  Oürmia;  pr^venu 


4^8  Anlagen  zu  Kapitel  V. 

4e  ma  marche,  le  prince  vint  a  ma  rencontre,  accompagn^  seulement  par  Fet- 
Ali-kan  de  Tauris  (venu  aussi  a  sa  rencontre  de  cette  Capitale)  de  deuz  offi- 
ciers  anglais  de  la  L^gation  a  Tauris,  et  de  deux  valets  teneurs  d'etrillers 
marchant  a  ses  c6t4s. 

Je  m^etais  fait  preceder  par  la  division  des  Dragons,  qui,  soiis  les  ordres 
du  Comte  Tolstoy,  devait  former  son  escorte;  il  passa  devant  ses  raogs  disant 
bon  jour  aux  soldats,  a  notre  maniere;  puis  me  voyant  arriver,  il  me  dit  aussi- 
tot:  „Je  suis  bien  aise  de  voir  que  le  premier,  qui  a  tir4  Tepee  contre  moi 
cette  ann^e,  soit  le  premier  aussi  qui  me  rencontre  ä  la  yeille  de  la  paix*' ;  puis 
il  igouta  avec  une  dignite  et  une  contenance  remarquables:  ,Chaque  peuple  a 
besoin  de  temps  pour  se  discipliner  a  la  guerre;  nous  ne  faisons  que  com- 
mencer;  tous  ayez  aussi  eu  vos  temps  d'epreuve  avant  de  devenir  ce  que  vous 
etes,  quoi  qu'il  en  soit,  „ajouta-t-il'',  nous  allons  de  nouveau  yivre  en*paix;  en 
attendant  il  est  assez  etrange  que  ce  soit  moi  qui  sois  votre  convie  dans  ce 
pays.*'  II  me  pria  ensuite  de  lui  montrer  la  troupe.  Elle  etait  rangee  en 
ligne  a  une  demie  yerste  du  Heu  de  notre  rencontre,  le  long  de  la  route: 
avant  tout,  Abbas  Mirza  me  pria  de  lui  presenter  et  de  lui  nommer  toutes 
les  personnes  de  ma  suite. 

Les  Cosaques,  places  en  ayant-garde,  furent  les  premiers  que  nous  appro- 
cbämes.  11  youlut  faire  la  connaissance  de  leur  cbef  le  Colonel  SchaebmatofiT, 
me  disant  tres  baut,  et  le  saluant  ainsi  que  sa  troupe:  ce  doit  etre  yotre 
meilleure  cavalerie. 

La  tenue  de  Tinfanterie  le  frappa  beaucoup;  en  voyant  les  bavresacs, 
il  branla  la  tete,  et  s'ecria:  „comment  marche-t-on  sous  un  pareil  fardean? 
C^est  la  Charge  de  nos  chevaux." 

L'artillerie  attira  particulierement  sa  curiosite;  il  alla  derri^re  le  front 
pour  mieux  Pöxaminer,  en  saluant  toujours  la  troupe  qui,  de  son  cöt^,  lui  re- 
pondait  bravement:  „Je  te  soubaite  de  la  sante",  comme  ä  un  de  ses  inspec- 
teurs.  Le  peuple  des  villages  voisins  courait  derri^re  les  rangs  de  uon  de- 
tacbement,  pendant  que  300  «heVaux  Persans,  composant  la  suite  du  Prince, 
bordaient  le  cote  oppos^  de  la  route,  sous  les  ordres  de  son  fils  aine,  äge  de 
15  ans  et  beau  comme  les  amours.  Cette  troupe  avait  Tair  morne,  et  on  li- 
sait  sur  ses  traits  combien  eile  se  trouvait  humili^e.  Le  Prince  conserva  une 
mine  riante  jusqu^a  la  fin.  II  me  pria  de  faire  defiler  devant  lui  un  des  ba- 
taillons;  et  avant  de  me  quitter,  il  m'ezprima  son  ardent  d^sir  de  voir  PEm- 
pereur  et  toute  sa  famille,  il  me  dit  qu'il  espi'rait  que  la  paix  se  ferait  bientot 
et  qu'il  esperait  me  rencontrer  un  jour  en  Russie.  Puis,  apres  avoir  pris 
conge  de  moi,  avec  les  plus  grandes  marques  d^affection,  il  me  renvoya  Feth- 
Ali-Kan  pour  me  demander  la  liste  des  personnes  a  ma  suite,  et  pour  me 
renouveier  ses  t^moignages  d'amitie.  Je  vous  transmets  ses  paroles  litterale- 
ment,  mais  ce  dont  il  me  serait  plus  difficile  de  vous  donner  une  idee  exacte, 
c^est  sa  tournure  noble,  aisee,  cet  air  de  politesse  et  de  reconnaissance  avec 
ce  ton  de  souverain,  cet  coil  penetrant  et  ce  sourire  constant  et  non  force,  au 
milieu  de  traits  annon^ant  le  cbagrin  et  le  depit.  Sa  pbysionomie  meridionale 
est  remarqoable  par  la  regularite  de  ses  traits;  ses  yeux  sont  grands,  vifs  et 
son  regard  penetrant,  sa  denture   est  süperbe,  son  teint  basane  et  p&ie,  sa 


Anlagen  zu  Kapitel  VL  429 

lon^e  barbe  noire  comme  da  jais,  sa  taille  baute  et  elancee ;  son  costume  tres 
simple,  a  son  poignard  pres  enrichi  de  pierreries.  II  a  l'air  d^ayoir  40  a  5(> 
ans.  Le  cheral  qaMl  montait  est  un  des  plus  beaux  que  j'aie  tu;  tont  blanc, 
richement  capara^onne  et  orn4  de  piaques  eu  or  massif.  En  un  mot,  rapparition 
de  ce  priace  fut  eropreinte  de  tont  le  cbarme  du  pittoresque  oriental.  li  est 
bien  a  regretter  quMl  seit  entoure  de  gens  si  peu  k  la  hauteur  de  son  esprit, 
et  je  dirais  meme  aux  elans  de  son  coeur,  auquel  las  Strängen  ici  rendent 
surtout  un  hommage  g^n^ral.  Son  plus  ardent  desir  est  de  se  ciyiliser  et  de 
citiliser  sa  nation;  mais  ce  qui  lui  manque  essentiellement  poor  cela,  c^est 
I'energie,  et  ce  qui  manque  ä  son  peuple,  c'est  1a  religion  chretienne.  Le 
peuple  persan  coupera  encore  longtemps  les  tetes  d^ennemis  prisonniers, 
comme  les  successeure  d'Abbas  Mirza  creveront  encore  longtemps  les  yeux  d'un 
favori  <lisgracie. 

Je  vous  ecris  par  un  temps  des  dieux,  ma  tente  est  sur  le  bord  d'un  lac 
qui  fait  l'efTet  de  la  mer.  II  a  plus  de  150  verstes  de  longueur  sur  80  de 
largeur;  il  est  couvert  d^iles  montagneuses,  et  Ton  aper^oit  au  loin,  sur  Tautre 
bord,  la  chaine  des  montagnes  du  Courdistan. 

Paris,  Depot  des  äff.  etraug.  Russie  Vol.  173  fol.  75. 

Kapitel  YI. 
Lieven  ä  Nesselrode.    Particnlifere. 

Londres  ler/13  Juillet  27. 

Je  viens  de  passer  trois  semaines,  mon  cber  Ct«,  dans  les  alternatives 
les  plus  penibles  de  decouragement,  de  degont  et  de  craintes;  luttant  contre 
des  poltronneries  d'un  cote,  des  fourberies  de  Tautre,  et  voyant  avec  un  yeritable 
chagrin  que  ces  deux  mobiles  diiTirents  amenaient  un  resultat  uniforme  —  celui 
de  la  perte  d'un  temps  bien  precieux.  J'ai  fait,  pour  menager  les  jours  et 
meme  les  heures,  tous  les  efforts  imaginables;  et  je  vous  en  donne  pour  preuve, 
que  ce  n'est  que  cette  nuit  ä  2^^  que  nous  avons  signe  au  Foreign-office  les 
pieces  qui  servent  de  complement  et  d*ex^cution  au  Traite. 

Si  cette  dernicre  phase  de  notre  negoeiation  a  fait  subir  des  change- 
ments  aux  formes  de  nos  engagements,  au-moins  tout  a-t-il  ete  obtenu  pour  le 
fond.  Ce  qui  avait  ete  primitivement  arrete  dans  le  projet  de  Traite,  se  trouve 
scrupuleusement  reproduit  et  fixe  dans  Temsemble  des  pieces  dont  nous  venons 
de  convenir.  Apres  tant  de  tribulations,  je  puis  cependant  me  feliciter  dVtre 
parvenu  ä  abr^ger  les  intervalles  exigees  par  les  formes  habituelles  et  fix^es 
par  les  premieres  stipulations;  car,  si  la  demiere  proposition  que  j^ai  faite  et 
qui  a  ete  agree  par  le  Cabinet  anglais,  rencontre  egalement  Passentiment  de 
la  France,  les  mesures  d^execution  statuees  dans  Tart.  secret  peuveüt  avoir 
leur  effet  quinze  jours  apres  que  M.  de  Ribeaupierre  aura  ete  muni  des  ins« 
tructions  de  notre  cour.  C^est  dans  ce  but  que  je  me  h&te  de  Vous  expedier 
mon  eher  Gomte,  Tensemble  des  donnees  necessaires  pour  que  ces  instructions 
soient  au  complet,  et  que  Texecution  immediate  puisse  s'en  suivre. 

Notre  Escadre  n'est  point  arrivee  encore  en  Angleterre,  et  il  ent  ete  tres 
important  qu'elle  se  troctvät  deja  dans  la  Mediterrann^e.    Je  ferai  tout  pour 


430  Anlagen  zu  KApitel  VI. 

que  les  Vaisseaux  qui  doivent  en  etre  detaches  se  rendent  au  plus  tot  a  lear 
destination. 

Qu'allez-vous  dire,  mon  eher  Comte,  de  la  publication  ci-jqinte  dans  le 
Times!  Le  -fait  est  si  insolite  dans  les  fastes  de  la  Diplomatie,  que  je  suis 
a  peine  revenu  de  la  surprise  qu'il  m'a  causee.  —  Vous  cooceyez  si  j'ai  parle 
si  j^ai  Proteste!  Canning  joue  la  surprise  et  la  colere.  Le  Courrier  que  je 
Vous  envoie  aussi  porte  egalement  la  parole  dans  le  seps  du  Ministejre.  Tout 
cela  ne  me  detoume  point  de  la  conviction  oü  je  suis,  que  Canning  est  Tauteur 
de  la  pretendue  trahison,  parce  que  le  fait  est  trop  fort  pour  pe  pas  ?enir 
d'autorite. 

Jamais  on  n'a  bless^  les  convenances  diplomatiques  d'une  fa^on  plus 
outrageante.  Mais  apres  avoir  dit  cela,  j*examine  ses  motifs;  et  autant  que 
j'ai  eu  le  temps  d^y  penser  encore,  les  voici,  tels  que  je  me  les  figure.  —  Le 
bruit  d'un  Traite  signe  est  repandu;  le  fait  de  Tenvoi  d'une  Escadre  ne  peut 
tarder  a  etre  public;  les  commentaires  seront  de  toutes  les  couleurs;  on  y 
▼erra  bien  au  dela  de  la  realite;  le  public  en  sera  inquiete,  surtout  la  classe 
marchande;  Topposition  semera  tous  les  soup^ons;  I'arene  du  Parlement  n*est 
plus  ouYerte  pour  des  explications:  Canning  lache  tout,  Traite,  article  secret; 
on  y  trouve  moins  qu'on  a  craint  et  apres  quelques  jours  de  bavardage,  Tint^ret 
cesse  avec  les  inquietudes  et  le  Ministre  n^st  plus  tourmente. 

J'en  viens  aux  consequences.  La  publicite  donnee  au  Traite,  engage 
TAngleterre  dans  une  route  dont  eile  ne  peut  plus  revenir.  L^independance 
de  la  Grece  est  prononcee,  et  il  est  loisible  au  Gouvt.  anglais  de  prendre  des- 
ormais  dans  ce  |but  teile  mesure  qu^il  lui  eüt  ete  impossible  d'adopter  en 
face  d'un  public  soup^^onneux. 

Enfin,  mon  eher  Comte,  et  pour  terminer  cette  lettre,  si  TEmpereur  approuve 
ce  qui  vient  d^etre  fait,  un  grand  avenir  s^ouvre  pour  TEurope  civilisee;  et 
ayec  Taide  de  la  Providence,  tout  marchera  a  bien.  —  La  resolution  du  Pacha 
d^Egypte  est  dVne  augure  favorable  pour  nos  succ^s. 

Je  Vous  renouvelle,  mon  eher  Comte,  Tassurance  de  tous  les  sentiments 
bien  sinceres  que  Vous  me  connaissez  pour  Vous. 

Lieven. 
Petersburg.    Minist  des  Auswärtigen. 

Kapitel  Ylf. 

Aus  einem  Privatbrief  Laferronnays'  an   den  Herzog  von 

Mortemart. 

Paris,  7  juillet  1828. 

„II  est  donc  etabli  parmi  tous  ceux  qui  le  desirent,  d^abord:  qu'il  existe 
dans  Parmee  russe  un  tres  grand  mecontentement  et  une  conspiration  perma- 
nente. Nul  enthusiasme  pour  la  guerre.  On  cite  les.propos  tenus  par  plu« 
sieurs  officiers  superieurs.  La  guerre  actuelle,  leur  fait-on  dire,  est  faite 
uniquement  pour  detourner  Tattention  des  bons  patriotes  Russes,  qui  tous 
Sans  s'etre  entendus,  sont  d'accord  que  Fautocratie  actuelle  n^est  bonne  qu'a 
prolonger  l'etat  de  barbarie  sous  lequel  nous  gemissons.    On  yeut  gourerncr 


Anlagen  zu  Kapitel  VlI.  431 

de  la  meme  maniere  40  nation$  differentes,  et  Ja  patienee  de  ces  40  nations 
est  ä  bout. .  On  ne  nous  paye  pas^,  et  Ton  nous  envoie  egorger  des  Turcs 
et  ruiner  lea  Vajaques.  On  nous  donne  pour  general  un  Tieux  Qtranger, 
courtisan  decr^pit,  pour  intendant  le  fils  de  Tassassin  d'un  de  nos  £mpereurs 
(Pablen).  .  L'Empereur  est  gouveme  par  ane  yingtaine.  de  fr^Iuquets  igno- 
rants.  La  Russie  est  trop  vaste.  Elle  doit  etre  diyisee  en  cinq  ou  six  sou- 
verainetes  adaptees  aux  besoins  des  peuples.  On  dit  que  les  soldats  russes 
disent  aux  Valaques  et  aux  Moldayes  qu*ils  d^testent  TEmpereur  Nicolas  et 
que  Constantin  est  leur  Y^ritable  souverain.'* 

Fontenay  an  den  Grafen  Laferronnays. 

St.  Petersbourg,  29  fevrief  1828. 
Monsieur  le  Comte. 

Par  sa  lettre  en  date  du  11  fevrier  demier  no  126,  Votre  Excellence 
me  cbargeait  de  soiimettre  confidentiellement  au  Cabinet  de  St.  Petersbourg 
un  nouveau  moyen  de  proceder  äTexecution  du  traitä  de  Londres, 
dans  Pespoir  quMl  sentit  plus  facilement  adopte  par  la  Porte  Ottomane  et 
qu*il  obtiendrait  le  suiTrage  du  Ministere  Britannique. 

Je  n'ai  point  perdu  de  temps  pour  remplir  les  intentions  de  Votre 
Excellence. 

J'ai  donne  coonaissance  ä  M.  le  Comte  de  Nesselrode  de  la 
depeche  que  m'avait  apportee  le  courrier  Christophe.  S.  E.,  apres  en  avoir 
pris  lecture,  Ta  mlse  sous  les  yeux  de  PEmpereur,  et  oe  matin,  M.  le  Comte 
de  Nesselrode  m'a  fait  une  reponse  que  je  vais  avoir  Thonneur  de  transmettre 
actuellement  ä  Votre  Excellence: 

^L'Empereur  a  lu  ayec  le  plus  vif  interet  et  un  vrai  sentiment  de 
reconnaissance  la  depeche  de  M.  le  Comte  de  la  Ferronnays  en  date  du 
11  fevrier. 

Le  langage  que  ce  Ministre  a  tenu  lui-meme  et  a  fait  tenir  ä  Vienne 
et  h  Londres  en  reponse  aux  ouvertures  du  Cabinet  Autricbien  remplit  tous 
les  vceux  de  Sa  Majeste  Imperiale. 

Declarer  que  le  Gouvernement  Fran^ais  demeure  fidele  au  traite  du 
6  Juillet,  prouver  quMl  en  d^sire  sincerement  Texecution,  temoigner  qu'il  n*ad- 
mettra  pas  d'arrangement  hors  des  stipulations  de  cet  acte,  c^^tait  s'expliquer 
ayec  la  loyautä  qui  distingue  la  politique  de  la  France,  c^etait  utilement 
seryir  la  cause  commune,  en  demontrant  que  les  decisions  du  Ministere  de 
Sa  Majest^  Tres  Chretienne  porteront  toujours  le  caractere  que  les  circonstances 
reclament. 

11  etait  impossible  de  mieux  concilier  la  fermete  et  la  franchise 
ayec  les  egards  dus  aux  demarches  d*une  cour  amie  et  alliee. 

Aureste,  le  Cabinet  Autrichien  a  completement  trahi  son  r^el  objet. 
PuisquMl  n'a  pas  adresse  les  memes  ouyertures  ä  la  Russie  (nous  n'en  ayons 
re^u  aucune  de  sa  pari),  puisqu'il  ne  les  a  pas  adressees  a  PAogteterre,  il  ne 


1)  Pas  war  gewiß  falsch. 


432  Anlagen  zu  Kapitel  VIL 

cherchait  visiblement   qu'ä  entrainer  la  France   dans   une   nego- 
ciation  Isolde,  ä  avoir  la  mesure  de  ses  dispositions  Teritables. 

M.  le  Comte  de  la  Ferronnays  Signale,  d'autre  part,  im  nouveau  moyen 
de  proceder  a  Texecution  du  Traite  de  Londrea,  dans  l'espoir .  qa*il  lera  plus 
facilement  adopte  par  la  Porte  Ottomane  et  qu^il  obtiendra  le  suffrage  du 
Ministere  Britannique. 

Les  Yoeux  qu^exprime,  sous  ce  rapport,  le  Ministre  des  Affaires 
Etrangeres  de  Sa  Majeste  Tres  Chretienne,  ne  pouvaient  qu*etre  profondement 
apprecies  par  r£mpereur,  et  les  termes  dans  lesquels  cette  communication  est 
con^ue  ajoutent  k  la  gratitude  de  Sa  Majeste  Imperiale.  Les  intentions  sont 
les  memes:  comme  la  France,  laKussie  souhaite  ardemment  que  le 
traite  de  Londres  s'accomplisse  le  plus  tot  possible. 

Comme  la  France,  Elle  souhaite  quHl  s'accomplisse  par  la  Cooperation 
unanime  des  trois  Cours  qui  Tont  signe.  Ainsi  tout  ce  qui  peut  faciliter, 
soit  a  la  Porte,  soit  a  la  Grande-Bretagne,  la  realisation  des  clauses  de  ce 
traite,  est  conforme  ä  la  pensee  constante  de  la  politique  du  Cabinet  Russe. 

Toutefois  dans  Texamen  de  la  proposition  meme  que  developpe  la 
depeche  de  M.  le  Cte  de  la  Ferronnays,  plusieurs  consid^rations 
graves  ont  fixe  Tatteution  de  TEmpereur. 

Les  unes  se  rattachent  aux  moyens  de  rendre  efficace  toute  expli- 
catiou  catbegorique  ou  negociation  nouvelle  avec  le  Divan  de  Constantinople 
et  de  lui  donner  pour  resultat  une  paix  solide.  Les  autres,  au  changement 
survenu  dans  Tetat  des  choses  entre  la  Russie  et  la  Porte  par  la  publication 
du  dernier  manifeste  de  cette  Puissance,  et  par  le  redoublement  de  rigueur 
avec  lequel  eile  poursuit  aujourd'bui  des  mesures  qui  ruinent  le  commerce 
d'une  partie  des  domaines  de  Sa  Majeste,  violent  les  Privileges  de  son  pavillon, 
lui  ferment  le  Bosphore,  enfreignent  les  droits  de  ses  sujets  et  aneantissent 
tous  ses  traites  avec  l'Empire  Ottoman. 

En  songeant  aux  moyens  d'eviter  des  hostilites  motivees  par  les 
affaires  de  la  Grece,  nous  avous  nous-memes,  dans  les  propositions  que  con- 
tiennent  nos  depeches  au  Prince  de  Lieven  en  date  du  25  Decembre  1827, 
fait  la  part  des  prejuges  et  de  la  repugnance  qui  empechent  la  Porte  — 
d^acceder  purement  et  simplement  a  la  transaction  de  Londres  et  d'accepter 
une  mediation  etrangere. 

Nous  avons  pense  et  nous  pensons  encore  que  les  Grecs  ayant 
adbere  a  cette  transaction,  ont  le  droit  d^exiger  la  p leine  jouissance  de  tous 
les  avantages  qu'elle  leur  promet.  La  loyaute  des  Puissances  contrac- 
tantes  et  Tobligation  morale  que  leur  impose  Tadhesion  de  la 
Grece  a  leurs  desirs,  nous  ote  donc  le  pouvoir  de  changer  lea  con- 
ditio ns  du  traite  du  6  Juillet.  Mais  nous  avons  pense  aussi  que  dans 
le  cas  oü  les  formes  de  cet  acte  et  le  mot  de  mediation  dussent  effaroucber 
la  Porte,  une  autre  voie  directe,  prompte  et  sure,  pourrait  encore  nous  con- 
duire  au  meme  but  sans  guerre. 

Nous  avous  propose  a  cet  effet,  par  nos  depeches  du  25  de- 
cembre, de  resumer  dans  un  office,  qui  serait  envoye  a  la  Porte^ 
les  conditions  d'existence  que  le  Traite  de  Londres  stipule  pour  la  Grece,  et 


Anlagen  zu  Kapitel  VII.  433 

qui  reduites  a  leur  ezpression  la  plus  simple,  doiveni  lui  assurer  une 
entiere  liberte  religieuse,  administrative,  commerciale,  et  d^offrir 
au  divan  un  delai  de  huit  jours,  pour  nous  faire  savoir,  sMI  consent 
ä  accorder  aux  Grecs  tous  ces  Privileges. 

C'etait  lui  presenter  Tocoasion  d^exaucer  nos  voeux,  et  lui  sauver 
Tembarras  d'acceder  formellement  a  nos  transactions. 

Nous  avons  propose,  en  outre,  de  mettre  ä  profit  la  crise  qui 
etait  survenue  dans  les  relations  des  trois  Puissances  avec  la  Porte  et  la 
crainte  salutaire  qu'elle  devait  eproaver,  pourtrancber  d^un  seul  coup 
les  difficultes  qui  auraient  pu  amener  une  nouvelle  rupture,  telles  que 
Tevacuation  des  forteresses  de  laMoree  parlesTurcs  etleslimites 
futures  de  la  Grece.  C^etait  placer  dans  leur  vrai  jour  nos  intentions 
pacifiques,  c'etait  assurer  au  Divan  le  moyen  d^operer  en  peu  de  temps  avec 
nous  et  avec  les  Grecs,  une  reconciliation  d'autant  plus  utile  qu'elle  aurait 
ete  plus  complete  et  plus  durable. 

Nous  avons  propose  enfin  une  negociation  ult^rieure,  pour 
arreter  les  articles  reglementaires  et  mots  sujets  a  discusion  de  Tarrange- 
ment  dont  les  bases  auraient  ete  dejä  etablies.  C'etait  offrir  a  la  Porte  la 
faculte  d*adherer  au  principe  de  cette  negociation  et  a  la  presence  des 
plenipotentiaires  allies  sur  les  lieux  oü  eile  s'ouvrirait,  c'est-ä>dire  d^admettre 
une  mediation  de  fait,  sans  prononcer  le  mot  qui  coüte  a  son  orgueil. 

Null  doute  que  la  mediation  de  fait  des  plenipotentiaires  allies  dans 
ces  conferenes  ne  soit  toujours  indispensable,  car,  sans  eile,  les  Turcs  et  les 
Grecs  ne  parviendraient  jamais  a  s'entendre. 

11  nous  avait  paru  egalement  necessaire  de  stipuler  la  garantie  de 
la  transaction  finale  qui  rendrait  la  paix  k  ses  malheureuses  contrees;  car, 
Sans  cette  garantie,  on  peut  etre  certain  que  des  infractions  reciproques 
aux  Conventions  qui  auraient  ete  conclues,  ne  tarderaient  pas  ä  rallumer 
la  guerre. 

Nous  avions  ajoute  ä  ces  propositions  celle  de  borner  la  duree  des 
negociations  a  un  espace  de  deux  mois;  car,  des  le  25  Decembre, 
nous  nous  trouvions  dans  une  Situation  qui  nous  condamne  ades 
sacrifices,  que  la  France  et  TAngleterre  ne  partagent  pas  avec  nous,  ä 
Pentretien  d'une  armee  toujours  prete  a  se  mettre  en  mouvement, 
a  celui  de  deux  flottes,  ä  la  cessation  de  notre  commerce  du  Midi,  k  la 
Suspension  des  avantages  que  nous  offrait  la  Convention  d'Akkerman  et  a  la 
cloture  du  seul  debouche  qui  existe,  pour  nos  provinces  meridionales.  Nous 
etions  trop  convaincus  de  la  justice  de  nos  allies  pour  n'etre  pas  sürs 
qu'ils  seraient  les  premiers  a  reconnaitre  qu'une  teile  position  n'est  pas 
tenable. 

Cette  marebe  difTere  bien  peu  de  celle  que  M.  le  Comte  de  la  Ferronnays 
indique  dans  sa  depeebe  du  11  fevrier;  mais  eile  aurait  l'avantage  de  nous 
procurer  des  resultats  plus  prompts  et  plus  complets.  Elle  nous  semblait 
donc  la  seule  quHl  fut  possible  de  suivre. 

Aujourd'bui  la  question  a  cbange  de  face.     Les  communicationsque 

le  Comte  Pozzo  di  Borgo  est  cbarge  de  faire  au  Cabinet  des  Tuileries,  lui 
Schiemann,  Geschichte  Rufilands.  II.  28 


434  ÄDlagen  zu  Kapitel  VII. 

prouveront  que  des  actes  hostiles,  des  provocations  quo  nous  pouvons 
envisager  comme  une  declaration  de  guerre,  la  resolution  bautement  annoncee 
de  rompre  des  traites  solenneis  et  leur  rupture  effective  par  les  atteintes 
portoes  aiix  droits  du  commerce  et  des  sujets  Russes,  forcent  TEmpereur 
d^employer  de  son  cote  des  moyens  coercitifs,  noQ  en  vertu  du 
traite  de  Londres,  ou  pour  son  execution,  mais  par  le  redresse- 
ment  de  griefs  directs  et  speciaux,  qui  autorisent  et  commandeut  meme 
Sans  retard  ces  mesures  dont  la  Russie  annonce  Tadoption  immediate. 

Cependant,  quant  a  la  pacification  de  la  Gerce,  c*est  encore  la  marche 
rappelee  ci-dessus  que  TErapereur  propose  aux  Cours  de  France  et 
d'Angleterre. 

Elies  eprouvaient  des  scrupules  dont  Sa  Majeste  Imperiale  counait  et 
apprecie  les  motifs,  a  fonder  sur  la  transaction  du  6  Juillet  des  d(.Hermi- 
nations  que  noanmoins  Taveuglement  de  la  Porte  avait  rendues  peut-etre 
int'vitables. 

Aujourd'hui  ces  dcterminations  seront  prises  par  d'autres 
raisons,  qui  regardent  principalement  la  Russie.  La  Rassie  seule 
en  portera  donc  la  responsabilite,  mais  ce  qu^elle  demande  a  ses 
Allies,  c'est  de  les  utiliser   pour  le  succes  de  la  cause  commune. 

Nous  avons  retrace  plus  haut  les  propositioos,  qui  en  sauvant  meme 
Tamour-propre  du  grand  seigneur,  termineraient  les  affaires  grecques  le  jour 
oü  les  Turcs  voudraient  y  souscrire.  Soutenues  par  les  Operations  mili- 
taires,  que  la  violation  ouverte  de  tous  nos  traites  avec  TEmpire 
Ottoman  nous  oblige  a  commencer,  elles  seraient  consenties  en  meme 
teuips  que  ces  traites  seraient  remis  en  vigueur,  et  gräce  ä  la  sagesse  des 
principales  Cours,  la  crise  du  moraent  servirait  encore  au  retablissement  d'une 
paix  qui  mettrait  fin,  dans  peu  de  semaines,  aux  seuls  troubles  dont  TEurope 
ait  ä  deplorer  Texistence. 

L'Empereur  espere,  en  faveur  de  ces  ouvertures,  cet  accueil  bienveillant 
auquel  nous  ont  accoutumes  les  dispositions  si  amicales  du  Ministere  de 
Sa  Majest^  Tres  Chn*  ienne.  II  espere,  d'apres  le  noble  langage  du  Roi  et 
les  opinions  de  Son  Cabinet,  qu^elles  seront  appuyees  par  la  France  aupres 
de  la  Grande  Bretagne. 

Nous  ne  saurions  terminer  le  present  expose  sans  exprimer  iterativement, 
corabien  Sa  Majeste  a  eto  sensible  aux  temoignages  de  confiance  que  lui  offre 
la  d<*peche  de  M.  de  la  Ferronnays. 

Ce  sentiment  est  celui  qne  la  nature  des  choses  doit  faire  naitre  entre 
les  deux  Etats.  L'intimite  croissante  de  leur  union  est  pour  eux  un  besoin, 
et  nous  osons  nous  en  flatter,  Tobjet  d'un  mutuel  desir.  Toutes  les  fois 
qu'ils  ont  res^serre  ces  liens  salutaires,  tous  les  obstacles  se  sont  aplanis 
devant  leurs  justes  intentions.  Dans  ce  peu  de  mots  est  la  politique  de 
TEmpereur  a  Tegard  de  la  France,  et  mainteoant,  sans  nul  doute,  celle  de 
la  France  ä  Tegard  de  la  Russie.** 

Tel  est,  Monsieur  le  Comte,  la  reponse  textuelle  que  M.  le 
(•omte  de  Nesselrode  m'a  ecrite  lui -meme  et  que  je  ne  perds  pas  un 
instant  ä  transmettre  a  Votre  Excellence. 


Anlagen  zu  Kapitel  VII.  435 

J'ai  l'honneur  d'etre  avec  un  profond  respect 

De  Votre  Excellence 

le  Tres  Humble  et  tres  obeissant  serviteur 

G.  de  Fontenay. 
Paris  1. 1.  Russie  vol  173,  f.  284. 

Nikolai  an  Karl  X. 

Russie    1828   avril  ä  juillet.     Le  Duc  de  Mortemart   ambassadeur^ 

Vol.  174. 

Copie  d'une  lettre  de  Cabinet  a  S.  Maj.  le  Roi  de  France,  en  date  de  St. 
Petersbourg  le  22  Mars  1828. 

Monsieur  mon  frere.  Des  evenements  que  je  n*ai  pas  provoques  et 
qui  portent  a  mes  yeux  tous  les  caracteres  des  arrets  de  la  diviue 
Providence,  m'ont  place  dans  une  position  oa  la  diguite  et  le  bien-etre 
de  la  Russie  ne  me  permettent  pas  de  rester  plus  longtemps.  J'ai  cbarg6 
mon  Ambassadeur,  le  Comte  Pozzo  di  Borge,  d'exposer  au  Ministere  de  V.  Mt^  les 
motifs  imperieux  qui  me  forcent  aujourdbui  a  prendre  des  mesures  dont  je 
deplore  Purgente  necessite.  Mais  arriv^  au  moment  decisif  oü  ces  mesures 
vont  exciter  une  vive  alteration  et  peut-etre  des  inquietudes  injustes  et  vaines, 
quoique  difficiles  k  prevenir,  j^eprouve  le  besoin  d^avoir  avec  V.  Mt<^*  une 
explication  plus  intime  et  de  lui  adresser  directement  Texpression  confiante 
de  mes  desirs,  de  mes  regrets  et  de  mes  esperances.  Je  meconnaitrais  la 
noble  loyaute  dont  le  Gment  de  V. Mt^  m'a  donne  tant  de  gages  dans 
les  affaires  du  Levant,  si  j'insistais  ici  sur  le  droit  que  possede  la 
Russie  d^assurer  ä  son  Pavillon  le  respect  qui  lui  est  da,  ä  son  commerce  de 
la  Mer  noire  la  liberte  des  seules  Communications  que  la  Nature  lui  presente, 
a  ses  traites  les  garanties  d^observation  scrupuleuse  qu^ils  reclament.  Quand 
des  transactions  pareilles  sont  declarees  niilles,  quand  des  pertes  tous  les  jours 
plus  graves  menacent  d'une  complete  ruine  des  Provinces  toutes  enti^res,  et 
Phonneur  et  les  plus  chers  interers  de  mon  Empire  me  tracent  la  ligne  de 
conduite  que  j^ai  a  suivre,  et  certes,  ce  n'est  pas  aupres  de  Votre  M^e  que 
des  resolutions  fondees  sur  Pbonneur  d^un  etat  et  sur  une  active  sollicitude 
pour  sa  prosperite  demandent  une  apologie.  Je  devrais  m^attendre  au 
meme  suffrage  de  la  part  des  autres  cours,  car  loin  de  mediter  la 
chute  d'un  gouvernement  qu^elles  regardent  comme  utile,  je  ue  desire 
moi-meme  que  Sa  conservation;  loin  de  lui  imposer  de  grands  sacriüces, 
je  ne  veux  que  la  reparation  des  dommages  qu'il  a  causos  d  mes  sujets  et  le 
renouvellement  des  promesses  qu'il  a  faites  depuis  un  demi-siecle,  avec  la 
certitude  de  les  voir  desormais  fidelement  tenues;  loin  de  donner  au  Traite 
de  Londres  une  interpretation  au  sujet  de  laquelle  il  s^eleve  des  doutes,  je 
base  mes  decisions  sur  des  raisons  independantes  des  actes  du  6  Juillet,  mais 
dont  la  justice  me  parait  incontestable,  et  neanmoins  ces  decisions,  j'offre  de 
les  faire  servir  encore  ä  Pexecution  des  engagements  que  j^ai  pris  avec  mes 
Alli^s  a  la  face  du  monde,  sans  mVcarter  des  principes  de  desinteressement 
quMls  consacrent,  sans  fermer  d'autres  va^ux  que  ceux  quMls  m^obligent 
d'enoncer  et  de  remplir.    Je  sais  que  la  force  des  cboses  peut  amener 

28* 


436  Anlagen  zu  Kapitel  VII. 

un  resultat  contraire  a  nos  desirs  ou  ä  nos  previsions,  mais  je  crois  qu'il 
sera  bien  plus  probable  si  Tespoir  d'un  secours,  meme  indirect,  encourage 
la  resistance  de  la  Porte,  et  plus  tous  les  Cabinets  la  convaincront,  en 
approuvant  mes  resolutions,  qu'elle  compterait  vainement  sur  leur  appui, 
moins  la  lutte  se  prolongera,  moins  eile  menacera  de  legitimer  les  apprehen- 
sions  quMIe  occasionne.  Enfin,  pour  le  cas  meme  oü  le  ciel  aurait 
marque  le  terme  de  TEmpire  qui  contraint  la  Russie  k  lui 
declarer  la  guerre,  c'est  la  moderation  dont  je  crois  avoir  foumi  assez  de 
temoignages,  ce  sont  les  interets  bien  entendus  de  mes  peuples  que  je  pre- 
sente  comme  garantie  de  mes  vues  et  de  mon  empressement  ä  souscrire  aux 
combinaisons  qui  prouveront  le  mieux  que  je  n'ai  jamais  admis  de  pensees 
ambitieuses.  Avec  cette  purete  d'intentions,  avec  la  bont^  de  ma  cause, 
Tobligation  oü  je  me  trouve  d'agir,  j'agirai  sans  crainte  et  je  ne  me 
laisserai  arreter  par  aucun  obstacle;  mais  je  vous  le  confie,  Mr.  mon 
frere,  je  vois  non  sans  douleur,  que  roa  Politique  n'est  point  appreci^e,  que 
ma  Situation  est  meconnue,  et  qu'on  me  prepare  des  oppositions  qui  auront 
pour  effet  d'accelerer  ce  qu'elles  ont  pour  but  de  prevenir.  Mon  Ambassadeur 
communiquera  a  V.  M.  les  observations  de  mon  cabinet  sur  le  memoire, 
par   lequel    le    Ministere    anglais   vient    de   repondre    a   mes    ouvertures 

25  D6c   1827 
du    6  Jan  182» '    ^^*®®    developpent  les  motifis    qui    m'empechent    de  partager 

Topinion  du  cabinet  de  St  James  et  j'ose  me  flotter  que  V.  Mte  les  accueillera 
avec  une  juste  bienveillance.  II  a  ete  facile  a  la  Russie  de  demontrer  que  les 
nouvelles  propositions  du  Minist.  Britannique  ne  conduisent  pas  a 
Paccomplissement  du  traite  de  Londres,  et  qu^au  lieu  d'etre  analogues  a  Tesprit 
de  cet  acte,  elles  tendent  ä  renouveler  des  negociations  qui  n'offrent 
aucune  perspective  de  succes  et  dont  je  ne  puis  desormais  attendre  le  terme. 
Ces  propositions  toutofois,  jointes  ä  des  indices  sur  lesquels  on  ne  sau- 
rait  se  meprendre,  fönt  assez  connaitre  le  Systeme  que  la  Grande  Bretagne 
suivra  dans  les  affaires  du  Levant,  et  me  forcent  a  prevoir  la  possibi- 
lit(^  d'une  action  commune  dirigee  contre  la  Russie,  action  que 
naguere  encore,  je  me  plaisais  ä  rejeter  dans  le  domaine  des  hypotbeses  les 
moins  vraisemblables.  C'est  sur  ce  point  devenu  si  essentiel,  que 
mon  Ambassadeur  a  ordre  d'attirer  l'attention  particuliere  de 
V.  Mt^.  II  indiquera  sans  detour  les  cas  divers  qu'un  prochain  avenir  peut 
vous  donner  a  resoudre;  je  le  cbarge  dMnviter  V.  M^  a  me  communiquer  ses 
determinations  eventuelles.  Je  ne  lui  demanderai  jamais  de  compromettro 
des  interets  de  premier  ordre,  puisque  je  declare  aujourdbui  quMl  en  est  que 
je  ne  puis  sacrifier  moi-meme.  Mais  il  existe  une  si  visible  affinit^ 
de  bien  entre  la  Russie  et  la  France;  ces  deux  etats  ont  eu,  depuis 
12  ans,  le  bonheur  de  se  rendre  tant  de  Services  reciproques,  ils  ont  Tun  et 
Tautre  tant  de  motifs  de  s^entreaider,  de  se  soutenir  et  de  desirer  le  maintien 
de  rEquilibre  et  du  repos  de  PBurope,  que  je  regarde  leur  union  in- 
time comme  la  consequence  necessaire  de  leur  position  relative 
et  comme  une  des  plus  fortes  garanties  de  la  paix  generale.  Les  affaires 
d^Espagne  ont  donne  il  y  a  cinq  ans  une  preuve  de  cette  verite  constante. 


Anlagen  zu  Kapitel  VII.  437 

Qu^il  me  seit  permis  de  croire  que  Celles  de  Turquie  la  renouvelleront. 
Dans  tous  les  cas,  en  me  faisant  informer  de  ses  intentions  avec  une  entiere 
francbise,  V.  Mt^  ne  pourra  que  m'inspirer  une  vive  gratitude.  Je  lui  dois 
dejä  le  tribut  de  ce  sentiment  pour  le  langage  plein  d^energie  que  le  Oouv. 
fran^ais  vient  de  tenir«  ä  la  suite  de  mes  Communications,  et  il  me  serait 
difficile  d'exprimer  a  V.  M.  avec  quelle  satisfaction  j'ai  trouve,  dans  ses 
decisions  secretes  et  dans  la  reconnaissance  publique  des  Droits  que  je  fais 
valoir,  une  nouvelle  preuve  de  son  amitie  et  de  sa  justice. 

C*est  toujours  avec  un  vrai  plaisir  que  je  saisis  Toccasion  de  Lui  reiterer 
Tassurance  de  Tattacbement  inviolable  et  de  la  baute  consideration  avec  les- 
quels  je  ne  cesserai  d'etre  Monsieur  mon  frere 

de  Votre  Majeste 
(signe)  le  bon  frere  et  allie 

St  P^tersbourg,  28  Mars  1828.  Nicolas. 

Carl  X.  an  Nicolaus  I. 

Minute  de  la  reponse  ä  la  lettre  de  l'Emp.  de  Russie. 

30  Avril  1828. 
Monsieur  mon  Frere. 

J'ai  re^u  et  lu  avec  un  vif  int^ret  et  la  plus  sincere  reconnaissance  la 
lettre  en  date  du  22  Mars  que  Votre  Majeste  Imperiale  m'a  fait  remettre  par 
son  Ambassadeur.  En  me  faisant  connaitre  les  motifs  de  la  determination 
qu^Elle  vient  de  prendre  et  ses  pensees  sur  les  consequences  graves  qui  peu- 
vent  en  resulter,  Elle  m'a  donne  une  preuve  de  confiance  et  d^amitie  dont  je 
sais  apprecier  toute  la  valeur.  Je  lui  repondrai  avec  la  sinc^rite  dont  Elle 
me  donne  le  noble  exemple.  J'ai  compris  la  puissance  et  la  justice  des 
motifs  qui  ont  determine  Votre  Majest^  ä  prendre  une  r^solution  qui,  sous 
quelques  rapports,  pourrait  modifier  Tetat  de  cboses  fixe  par  le  trait^  que 
j*ai  signe  avec  Elle  et  TAngleterre. 

J'ai  prevu  Tapprebension  que  ferait  naitre  dans  Tesprit  de  quelques 
Cabinets  Pimminence  d^une  guerre  directe  entre  la  Russie  pleine  de  force  et 
de  puissance,  et  cet  Empire  Ottoman  menace  par  tant  de  dangers  ä  la  fois,  et 
dont  Texistence,  cependant,  parait  toujours  indispensable  ä  Tequilibre 
et  par  consequent  a  la  tranquillit^  de  TEurope.  Connaissant  mieux  que 
personne  la  moderation  et  le  noble  d4sint6ressement  de  Votre  Majeste,  la 
scrupuleuse  fidelit^  qu'Elle  apporte  k  ses  engagements,  je  ne  pouvais  concevoir 
ni  partager  aucun  doute  sur  ses  intentions.  Je  savais  qu'elevee  par  son 
caractere  au  dessus  des  seductions  de  Tambition,  Elle  etait,  dans  tous  les  cas, 
incapable  d'ecouter  les  conseils  de  Tinteret  personnel.  La  con- 
duite  de  la  Porte  u*a  que  trop  justifie  le  ressentiment  de  Votre  Majeste  et  les 
mesures  qu'Elle  a  cru  devoir  adopter.  Je  me  borne  ä  regretter  que  des 
circonstances  imperieuses  n'aient  pas  permis  que  le  traite  du  6  Juillet  re^üt 
prealablement  son  entiere  ex^cution.  Votre  Majeste  Signale  elle-meme  lobjet 
des  craintes  qui  peuvent  s'attacher  ä  la  determination  qu'Elle  a  prise,  quand 
Elle-meme  me  dit  »qu'Elle  sait  que  la  force  des  cboses  peut  amener  un 
resultat  contraire  ä  ses  desirs  et  ä  ses  previsions«.  Cette  seule  supposition 
peut,  en  effet,  inquieter  TEurope  prompte  a  s'alarmer    de   tout   ce   qui  peut 


438  Anlagen  zu  Kapitel  VII. 

menacer  1a  paix  dont  eile  jouit  et  qu'elie  doit,  en  grande  partie,  ä  la  gene- 

reuse    Intervention   de    la   Russie.      Pour   moi,    qiii  place  une  confiance  sans 

bornes  dans  la  parole  de  Votre  Majeste,  je  suis  persuade  que  sa  sagesse,  qui 

aura  prevu  toutes  les  cbances  de  la  grande  entreprise  dans  laquelle  Elle  se 

trouve  engagi'e,  saura  prevenir  ou  ecarter  toutes  Celles  qui  pourraient  devenir 

dangereuses   pour  le  repos  general.     C^est  par  suite  de  cette    conviction  que 

j'ai  employt'  tous  mes  efforts  pour  determiner  TAngleterre  a  accepter   l'offre 

de  Votre  Majeste   de  faire  concourir  ä  Pexecution  du    traite    de  Londres    les 

mesures    qu'Elle    etait    forcee    de    prendre    dans    Pinteret   particulier  de  son 

empire.    Je  regrette   de  n'avoir  pu  faire  encore  prevaloir  cette  opinion,  et  je 

ne  partage  point  celle  que  le  Cabinet  de  Saint-James  a  exprime  en  reponse 

aux     propositions    preseutces    par    ordre    de    Votre    Majeste    et  en  dato    du 

25  decembre,  ä  la  Conference  de  Londres.     Je  n'en  mets  pas  moins  tous  mes 

soins  ä  maintonir  le  Cabinet  anglais  sur  la  ligne  du  traite  du  6  Juillet,  et  je 

conserve  Tespoir  d^y  reussir.     Mais  quelle  que  soit  la  conduite  que   des  cou- 

sideratious  particulieres  peuvent  imposer  au  Ministere  britannique,  je  me  plais 

k  penser  que  Votre  Majeste  etend  peut-etre   trop   loin    sa    prevoyance  quand 

Elle  calcule  la  possibilite  d'une  action  commune    dirigee    contre 

eile.    J'ai   Heu  de  croire  que  je  pourrais  la  prevenir.    Mais  si  jamais 

une    pareille    supposition    devait   se    realiser,  si,    par  Teffet  de  combinaisons 

fächeuses,  TEurope  se  trouvait  exposoe  aux  dangers  d'une    guerre    qui    Tem- 

braserait  d'une  extremite  a  Tautre,  une  politique  sage  et  eclairee  prevaudrait 

indubitablement  dans   la  plupart  des  Cabinets,   et  previendrait  un  choc  dont 

les  consequences  seraient  incalculables.      J*aime  a  me   flatter   d'ailleurs    que 

les   Premiers  mouvements  des  armees  de  Votre  Majeste  Imperiale  ou,  du  moins 

leurs   Premiers  succes  decideront  la  Porte  a  reconuaitre  Pinutilite  de  sa  resis- 

tance.     Le    maintien    de    cet  Empire    etant  pour   la  France  comme 

pour  PEurope  un  interet  de  premier  ordre,  je  ne  me  crois  pas  permis 

de  porter,  des  ä  present,  mes  regards  sur  l'bypotbese  de  sa  chute.     Mon  am- 

bassadeur  est  Charge  de  developper  ä  Votre  Majeste  toute  ma  pensee  sur  cette 

grave  question;  mais  il  lui  fera  connaitre,  en  meme  temps,  ma  forme  r^solution 

de  continuer  a  concerter,    comme   je    Tai    fait  jusqu'ici,   la    marche   de    mon 

Cabinet  avec  la  politique  de  Votre  Majeste.     Je    suis    convaincu    que    notre 

intime  union  est  le  moyen  le  plus  eflicace  d'assurer  la  tranquillite  de  PEurope 

et  qui  si,  malgre  nos  efforts,  eile  venait  a  etre  troubl^e,  cette  union  pourrait 

seule  la  retablir  sur  des  bases  solides.    En  me  rappelant  les  affaires  d'Espagne, 

Votre  Majeste   reveille   un    souvenir  que  je  me  k  plais    conserver.    Je    serais 

heureux  dans   des  circonstances    siuon    semblables,    du    moins   analogues,    de 

m'acquitter  de  Tobligation  que  mon  frere,    a  cette    epoque    memorable,    avait 

contractee  envers  I'auguste    predecesseur    de    Votre   Majeste.    J'eprouve    une 

veritable  satisfaction  a  lui  en  donner  l'assurance  et  a  lui  renouveler  celle  de 

l'attachement  inviolable  et  de  la  haute  consideration  avec  lesquels  je  suis  et 

ne  cesserai  jamais  d'etre,  Monsieur  mon  frere, 

de  Votre  Majeste  Imperiale,  etc. 
Paris,  AvrU  1828. 

Paris  1.  1.  Russie  vol.  174  f.  150 


Anlagen  zu  Kapitel  YIII.  439 

Aufzeichnung  Diebitschs  über  eine  Teilung  der  Türkei. 

1827  ohne  Tagesdaium.    Wojenno  Utschenny  Archiv  177  Abteilung  4,  russisch. 

Rußland:    Moldau    und  Walachei,    Bulgarien  und  Rumelien,  Anapa  und 
Poti. 

Österreich:   Serbien,  Bosnien,  Dalmatien,  Albanien,  Thessalien  Livadia. 

Preußen:  Österreichisch-Schlesien  und  einen  Teil  von  West-Galizien. 

Frankreich:  Cypern. 

England:  Morea,  Candia,  Archipel  und  Rhodos. 


Rußland:  Walachei  und  Moldau. 

Österreich:  Bosnien  und  Dalmatien. 

Preußen :  Osterreichisch-Schlesien. 

England:  Candia  und  Rhodos. 

Frankreich:  Cypern. 

Unter  gemeinsamen  Schutz:  1.  Serbien,  Albanien,  Thessalien  vornehmlich 
unter  Österreich.  2.  Livadia  und  Morea,  Negroponte  und  alle  Inseln  vornehm- 
lich  unter  Frankreich.    3.  Bulgarien  und  Rumelien  vornehmlich  unter  Rußland. 

Kapitel  VIII. 

Sehreiben  des  Fürsten  Metternich  an  8e.  D.  den  Prinzen 

Philipp  von  Hessen-Homburg. 

Waltersdorf,  den  14.  August  1828. 
Euer  Durchlaucht 

habe  ich  in    meinem    beutigen  Schreiben   von    der   französischen    Expedition 

nach  der  Morea  kurze  Erwähnung  gethan.  — 

Hätte  ich  die  Sache  in  ihrem  vollen  Werthe  beleuchten  wollen;  so  würde 
ein  Buch  über  selbe  zu  schreiben  seyn. 

In  der  Anlage  finden  Sie  mehrere  französische  Zeitungen,  der  letzten  Tage. 
Ich  bitte  Sie,  die  mit  NB.  bezeichneten  Artikel  zu  lesen;  jeder  Commentar 
über  deren  Tendenz  ist  unnötig.  Es  liegt  deutlich  vor,  daß  das  Unter- 
nehmen gegen  die  Morea  von  den  revolutionären  Partheien  in 
Frankreich  wie  der  erste  Schritt  in  einem  System  betrachtet  wird, 
welches  die  Mächte  in  den  Siegesjahren  1813  u.  1814  erdrückten. 
Kann  ein  solches  Aufblasen,  ein  so  gefährlicher  Aufschwung  Frankreichs  dem 
wahren  Sinne  des  Kaisers  Nicolaus  angemessen  seyn?  In  der  Auflösung  dieser 
Frage  liegt  eine  ganze  Reihe  künftiger  Ereignisse. 

Ich  schicke  E.  D.  diese  Blätter,  damit  Sie  eines  Theils  Selbst  wissen,  wie 
die  Dinge  sich  stellen  und  in  Betracht  der  großen  und  folgenreichen  Wichtigkeit 
des  Gegenstandes  Sich  mit  voller  Kenntniß  ausgerüstet  dem  Kaiser  und  Seinem 
Minister  gegenüber  stellen  können.  In  dem  anliegenden  Auszuge  einer 
Depecbe,  welche  ich  nach  Berlin  erlassen  habe,  merken  Sie  schon,  wie  ich 
die  Sache  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Welt  betrachte.  Daß  ich  mich  in  dem 
Werthe,  den  ich  ihr  selber  beilege,  nicht  irre,  dafür  bürgt  mir  meine  alte 
Erfahrung  und  meine  genaue  Kenntniß  des  Ganges  der  menschlichen  Dinge  und 
besonders  jene  des  Geistes  der  Franzosen. 


440  Anlagen  zu  Kapitel  VIII. 

Die  Expedition  nach  der  Morea  wird  —  wenn  sie  auch  keine  andern 
Folgen  hat  —  die  Befreiung  Griechenlands  auf  einige  Zeit  zur  französischen 
That  stempeln.  Dieß  kann  den  Russen  unmöglich  lieb  seyn.  Sie  entfernt  statt 
sie  zu  beschleunigen  die  Beendigung  des  ganzen  Haders,  denn  jene  wirft 
eine  neue  Gomplication  in  das  Meer  der  bereits  bestehenden.  Hätte  man  aus 
selber  ein  Drohungsmittel  gegen  Ibrahim  Pascha  gemacht,  so  hätte  ich  nichts 
gegen  selbe  einzuwenden  gefunden;  so  wie  sie  stattfindet  wird  der  wahre 
Zweck  unter  Privatabsichten  erdrückt  und  diese  sind  höchst  geföhr- 
licher  Art. 

Den  Unterschied  zwischen  französischer  Prahlerei  und  wirklicher  Irruption 
über  die  Gränzen  des  Königreichs  mache  ich  allerdings,  wie  sich  gebührt. 
Aber  kann  eine  Macht,  wie  die  unsrige  solches  Zeug  geschehen  lassent  ohne 
sich  wenigstens  in  eine  Lage  zu  versetzen,  welche  ihr  Recht  und  Pflichten 
der  Selbsterhaltung  gebieten?  Sicher  nicht!  Sollten  E.  D.  dennoch  von  unseren 
sogenannten  armemens  reden  hören,  so  finden  Sie  in  dieser  Noth wendigkeit 
stets  die  beste  Antwort. 

Wenn  das  Erstere,  welches  aus  dem  Gange  der  kriegerischen  Ereignisse 
ergeht,  nicht  auf  den  Grafen  Nesselrode  gewirkt  hat  so  wird  das  was  in 
Frankreich  vorgeht,  keinen  Eindruck  auf  ihn  machen;  er  wird  mich  vielmehr 
beschuldigen,  mich  abermal  sehr  ungemessener  Ängstlichkeit  hinzugeben  und 
durch  meinen  obskuren  Sinn  verhindert,  das  ganz  Natürliche  und  selbst 
Kindische  in  der  Sache  zu  übersehen.  Ist  dieD  der  Fall,  so  bedauere  ich 
den  kleinen  Minister  und  beinebst  die  Welt,  denn  ihr  schaden 
die  kleinen  Minister  gewaltig.  Ich  bitte  E.  D.  den  Offizieren, 
welche  Ihnen  geschickt  werden,  recht  strenge  große  Discretion 
zu  empfehlen.  Sie  dürfen  weder  bei  der  russischen  Armee  noch 
bei  ihrer  Rückkehr  nach  Hause  sprechen. 

In  dorso:  Privat-Schreiben  an  Prinz  Ph.  v.  HessenHomburg.  Waltersdorf 
den  14.  August  1828.  Die  französische  Expedition  nach  Morea  betr.  Wien 
k.  u.  k.  Staatsarchiv:  Expeditions  au  Prince  de  Hesse  Homburg  1828. 

Brief  des  Prinzen  Engen  an  Diebitsch  nach  der  Schlacht 

bei  Kurtepe. 

„Monsieur  le  comte:  voilä  donc  les  suites  d^un  manque  de  confiance 
dans  les  rapports  d'un  ancien  goneral  de  Sa  Majestel  Vous  venez  d^acheter 
une  fächeuse  conviction  par  la  perte  de  trois  mille  braves  et  de  deux  des 
plus  vaillants  generaux.  Votre  Excellence  me  parlait  dans  sa  lettre  de  13-ä 
15  000  Turcs.  Je  vous  en  avais  annonce  40000.  Vous  me  disiez:  il  faut 
preparer  Pattaque,  les  hauteurs  favorisant  l'emplacement  de  l'artillerie!  Je 
connais  Temploi  des  armes;  mais  je  savais  aussi  que  le  terrain  ne  permettait 
ni  Tusage  du  canon,  ni  Papproche  r^glee  des  troupes  au  milieu  du  bois. 
C'est  que  je  me  trouvais  alors  sur  les  lieux,  et  Vous  a  bord  du  „Paris". 

Je  vous  observais  qu'il  me  fallait  deux  jours  de  temps  pour  reconnaitre, 
et  un  nombre  süffisant  de  troupes  pour  combattre.  Mon  plan  etait  la,  il 
garantissait    le  succes;    vous  aviez  le  cboix  entre  la  victoire   et  le  malheur. 


Anlagen  za  Kapitel  VIII.  441 

Malgre  cela,  nous  aatres,  nous  avons  ete  au  camp  tarc.  II  ne  dependait 
que  de  vous  de  venir  nous  y  trouver,  ainsi  que  vous  en  aviez  Pordre  et 
comme  vous  me  l'aviez  promis. 

Au  contraire,  vous  m'avez  abandonnel 

Cependant,  le  general  Souchozanet  cachait  dans  sa  pocbe  un  ordre, 
signe  de  votre  main,  qui  lui  indiquait  de  prendre  le  commandement  apres  ma 
mort  Le  choix  etait  bon.  Ge  general  s'etait  retire  dans  le  bois  durant 
Taffaire,  et  est  venu  me  rejoindre  apres  le  combat,  en  reconnaissant  que  son 
attente  avait  ete  vaine.  Je  lui  pardonne  depuis  que  je  connais  le  motif  de 
sa  conduite,  et  je  regrette  sincerement  de  lui  avoir  d'abord  impute  la  lächete. 
Vous  voyez  donc  que  je  suis  au  fait.  Mais  quoiqu  il  en  soit,  j'aime  ä  oublier, 
je  dedaigne  la  vengeance.  Cependant  prenez-y  gardeJ  Le  poids  du  general 
et  du  parent  contrebalance  le  major-g^neral.  L*Empereur  est  surtout  honn^te 
homme.     On  pourrait  trahir  sa  confianee,  mais  jamais  son  coeur. 

Diebitsch  an  Wittgenstein  d.  d.  Koslon^i,  12  Sept.  1828. 

Die  Niederlage  der  Garde  Jäger. 
Monsieur  le  Marechal 

Je  viens  de  rencontrer  entre  Jenibazar  et  Kosloudji  mon  aide  de  camp 
Kouscheleff:  vous  verrez  par  la  lettre  de  Tempereur  que  je  Vous  envoie  en 
original  la  malbeureuse  affaire  des  chasseurs  de  la  garde  et  que  TEmp. 
attend  la  15^  division.  J'envoie  l'ordre  au  20  de  chasseurs  de  marcher  de 
suite  et  ferai  dire  a  celui  d^Ukraine  de  forcer  autant  que  possible  la  marcbe. 
Comme  tout  depend  de  la  prise  de  Varna,  je  crois  qu'on  ne  peut  pas  besiter 
de  faire  marcher  le  prince  Eugene  avec  le  reste  de  la  Ib^^  division  vers 
Devno,  en  lui  soumettant  Madatoff  et  Dellingshausen,  mais  comme  cela  ne  pourra 
etre  qu'en  rasant  les  redoutes,  cela  ne  pourra  ainsi  s'effectuer  que  demain 
la  nuit  entre  le  13 — 14. 

Si  je  trouve  chez  Dellingshausen  quelque  chose  de  plus  rassurant,  je 
Vous  enverrai  un  expres,  sinon  je  ne  Vous  ecrirai  que  de  Varna.  II  y  a  ici  los 
bataillons  de  marche  de  la  8«  et  18c  Division,  celui  de  la  19^  est  parti  deja 
en  partie,  je  crois  quMl  faudrait  lui  donner  Vordre  de  s'arrcter  a  Jenibazar 
et  renforcer  le  poste  d*ici  de  Bazardschik,  car  il  n'y  a  que  250  hommes. 

Kouscheleff  vous  dira  le  reste  de  bouche,  car  je  dois  me  depecher,  on 
n^attend  (sie!  für  n'entend)  pas  tirer  du  cote  de  Varna.  C*est  avec  le  plus 
profond  respect  que  j'ai  l'bonneur  d'etre 

Monsieur  le  Marechal 
Votre  tres  humble  et  tres  obeissant  serviteur  J.  Diebitsch. 

Kosloudji  le  12  sept.  a  lOheures  du  matin. 

Ganz  orginal.  Werki. 

Wittgenstein  an  Diebitsch. 

pres  de  Choumla,  13  sept.  1828. 

Je  viensde  recevoir  Votre  lettre,  eher  ami,  qui  m^a  fait  bien  de  la  peine,  c'- 
est  bien malheureux  que  tous  les  echecs  quenous  avons  eus  proviennent 


442  Anlagen  zu  Kapitel  VIII. 

toujours  des  fautcs  impardonnabies  des  chefs  ä  qui  Ton  confie 
le  comro  an  dement.  Comment  est-ce  que  M.  Zaiuski  a  pu  abandonner 
Pinfanterie  a  eile  seule  Sans  canons.  Cela  a  du  causer  du  chagrin  ä  S.  M. 
l'Emp.  voyant  perdre  mal  ä  propos  une  grande  partie  d^un  de  ses  plus 
beaux  regiments.  Du  reste  se  sout  les  choses  de  la  guerre,  Ton  a  du  boo 
et  du  mauvais,  et  quoique  c'est  tres  desagreable,  cela  n'aura  aucune  influence 
sur  nos  Operations.  L'essentiel  est  qui*l  faut  accelerer  la  prise  de  Varna. 
Je  suis  dans  Popinion  de  tenir  la  position  devant  Cboumla  comme  eile  est 
dans  ce  moment.    (Das  Weitere  militärisches  Detail.) 

Votre  tres  devoue  Comte  Wittgenstein. 
Wojenno  utschenny  archiv.    5322. 

Diebitsch  an  Wittgenstein^  a  bord  dn  Paris^  13  Sept  1828* 

Monsieur  le  comte. 

Vous  verrez  par  le  contenue  de  mon  office  ci-joint,  que  nos  esperances 
sur  le  resultat  du  mouvement  du  Prince  Eugene  ont  echoue.  Sa  Majeste  ne 
voulant  pas  risquer  d'employer  de  Tautre  cut^  du  Liman  le  reste  de  la  Garde 
qui  se  trouve  devant  Varna,  on  ne  saurait  renouveler  pour  le  moment  notre 
tentative;  et  Parrivee  ici  de  la  d^  brigade  de  la  Id^  division  devient  de  la  plus 
vive  urgence. 

Notre  non-reussite  contre  Omer-Vrione,  de  meme  que  la  Prolongation 
si  inattendue  du  siege  de  Varna,  obligeront  probablement  a  nous  contenter 
de  la  prise,  avec  Taide  de  Dieu,  de  cette  place  et  a  remettre  nos  desseins 
sur  Cboumla. 

Mon  office  Vous  exposera  les  ordres  de  TEmp.,  il  est  surtout  a  desirer  que 
les  mesures  les  plus  efficaces  soient  prises  pour  faire  passer  prealablement 
nos  malades,  nos  parcs  et  tout  notre  train,  de  meme  que  Tartillerie  de  reserve 
trop  faible. 

Veuillez,  Je  Vous  prie,  nous  donner  le  plus  tot  et  le  plus  souveot  que  Vous 
pourrez  des  nouvelles  sur  vos  dispositions,  tant  pour  le  mouvement  de  la 
brigade  de  la  19®  Division  et  posterieurement  de  tonte  la  18®  division,  que 
pour  les  autres  articles.  Je  ne  puis  Vous  ecrire  en  detail,  car  venant  de  revenir 
de  notre  detacbement  de  Galata,  je  suis  bien  fatigue,  et  dans  une  heure  il 
me  faudra  y  retourner. 

Agreez  etc. 

de  Votre  Excellence 
le  tres  devoue  serviteur 
I  Diebitsch. 

Nur  die  Unterschrift  autograph.  Werki. 

Nikolai  an  Constantin. 

vom  Linienschiff  Paris,  1/13  Oct.  1828. 

Meldet  die  Einnahme  Varnas.  L'effet  de  la  derniere  attaque  a  teile- 
ment  frappe  par  son  hardiesse  la  garnison  que  des  le  soir  meme  ils  ont 
demande  ä  capituler,  et  cela  s^est  passe  de  la  maniere  la  plus  extraordinaire 


Anlagen  zu  Kapitel  VIII.  443 

possible.  L'un  des  cömmandants,  Joussuf  Pascha,  est  venu  luimeme  au  nom 
du  Capitaine  Pascha  traiter  dans  notre  camp  les  hostilites  durant,  ce  qui 
expressement  avait  ete  stipule:  il  se  rendit  prisonnier  de  guerre  avec  tous 
les  siens  et  fit  communiquer  la  chose  au  Capitaine  Pascha,  qui  fit  des  diffi- 
cultes  et  desavoua  son  camarade;  celui-ci  indigne  de  se  voir  traite  ainsi, 
refusa  de  rentrer  dans  la  place  et  vint  la  nuit  meme  s'ctablir  cbez  uous,  et 
envoya  Tordre  ä  ses  troupes  de  sortir  immediatement  de  la  place;  elles 
obeirent  avec  empressement,  et  furent  suivies  de  presque  la  totalite  des  autres 
troupes.  Le  Capitaine  Pascha  fut  attaquö  en  attendant  par  les  sollicitations 
des  habitants  qui  ne  voulaient  plus  ni  se  defendre,  ni  voir  la  defense  finir 
par  leur  entiere  destruction;  alors  il  s^enferma  dans  la  citadelle  avec  ce  qui 
lui  restait  de  son  propre  monde.  Le  matin,  quand  j^arrivais  au  camp,  je  vis 
la  scene  la  plus  eztraordinaire  possible:  Joussuf-Pascha  avec  un  tas  des  siens 
etabli  dans  notre  quartier  general  le  plus  amicalement  du  monde;  puis  plus 
loin,  un  corps  de  pres  de  3000  Turcs  armes  a  pied  et  a  cheval,  approchant 
tranquillement,  escorte  par  des  Hussards  de  la  garde  et  quelques  peletons 
d'infanterie,  s'arreterent  devant  la  \^^^  brigade  de  la  garde,  sous  les  armes; 
puis  un  officier  de  Joussouf  Pascha,  assis  sur  une  caisse  de  tambour  a  nous, 
faisant  approcher  un  ä  un  tout  ce  monde  et  rendre  les  armes  a  un  bas 
officier  Preobrajenskij  et  cela  avec  le  plus  grand  calme  et  Tordre  le  plus  par- 
fait.  Pendant  ce  temps,  les  ]3>ne  et  14me  chasseurs  garnissaient  les  breches  et 
le  front  d'attaque,  et  les  regiments  Simbirsk  et  Nisofskij  avec  les  sapeurs  de 
la  garde  et  le  regiment  Ismaiiow  entraient  par  les  autres  ouvertures  et  portes! 
Enfin  apres  quelques  pourparlers,  le  Capitaine  Pascha  se  rendit  prisonnier 
de  guerre  avec  tout  ce  qui  lui  restait  So  sei  Varna  gefallen;  bien  plus  forte 
et  plus  grande  que  nous  ne  le  supposions  et  qui  nous  eut  coüte  un  monde 
prodigieux  si  meme  nous  eussions  pu  reussir  ä  un  assaut  reel,  ce  qui  presque 
eut  ete  impossible.  160  Kanonen,  dazu  60  Fahnen  erbeutet.  Je  fais  hommage 
k.  Varsovie  de  12  pieces  comme  Souvenir  historique  remarquable,  car  il  est 
particulier  que  ce  fut  une  armee  russe  avec  un  Roi  de  Pologne  qui  fut  venue 
venger  la  mort  d'un  autre  Roi  de  Pologne;  j'ai  cru  la  chose  convenable  et 
pouvant  faire  plaisir  au  public:  Gestern  tedeum  vor  dem  türkischen  Lager,  es  sind 
etwa  5000,  ils  sont  tranquilles  et  amicals  avec  nous.  lls  m'ont  dit  avoir  ete 
22  m  et  ils  ont  perdu  20  m  tues  morts  et  blosses.  Der  Anblick  der  Stadt 
fait  horreur  et  pitie  et  Ton  ne  peut  ne  pas  les  admirer,  car  la  defense  a  ete 
süperbe.  J'y  ai  ete  a  Feglise  cathedrale  et  avec  un  sentiment  difficile  k 
decrire.     II  y  a  7  eglises  grecques. 

Hauke,  mit  dem  N.  sehr  zufrieden  ist,  wird  ihm  von  den  kühnen  russi- 
schen Belagerungsarbeiten  erzählen.  Auch  alle  anderen  polnischen  Offiziere  führen 
sich  vortrefflich.  Notre  voisin  Omer-Vrione,  voisin  qui  nous  a  assez  inquietes, 
est  parti  hier  dans  la  nuit  et  a  repasse  le  Kamtschik.  Notre  campagne  parait 
finir,  du  moins  nous  ne  pouvons  plus  rien  entreprendre  qu'ä  finir  le  siege 
de  Silistria,  remettre  en  etat  de  defense  Yarna  et  retablir  les  troupes.  Je 
pars  demain  pour  tacher  d'arriver  ä  Petersbourg  pour  la  fete  de  ma  mere. 
Michel  reconduit  la  garde  jusqu'au  Danube  d'oü  il  va  nous  arriver.  Je  vous 
renvoie    Rudukin    avec    un    tambour    des    troupes    regnlieres    du    Capitaine 


444  Anlagea  za  Kapitel  VIII. 

Pascha;  il    vous  amusera  un  moment .  . .     Möge  Oott   nous    dispenser    d  une 
seconde  campagoe.  Freut  sich,  die  Kinder  wiederzusehen.  Große,  Versicherungen. 

Nicolas. 

intwort  Diebitschs  auf  den  Brief  des  Grafen  Wittgenstein 

vom  13.  Januar  1829. 

Pet  s.  d.  nach  dem  Konzept.    Wojenno  utschenny  arebiv.    5322. 

Mr.  le  Cte. 

Des  la  reception  de  Vtre  lettre  du  13  Janvier  je  me  suis  empresse  de 
la  soumettre  a  S.  M.  l'Emp. 

S.  M.  bien  loin  d'etre  fache  de  la  franchise  avec  laquelle  Vous  parlez, 
M.  le  C^,  vous  en  sait  d'autant  plus  gre,  quelle  Vous  l'avait  demand^.  Mais 
S.  M.,  tout  en  rendant  justice  a  plusieurs  raisons  deployees  dans  Votre  plan 
de  Campagne,  croit  cependant:  qu'en  reduisant  les  garnisons  des 
place s  couvertes  deja  par  les  mouvements  de  Tarmee  au  strict  necessaire, 
ainsi  que  le  nombre  des  troupes  destin^es  pour  les  Principautes, 
qui  auront  une  ligne  beaucoup  plus  courte  ä  defendre  des  que  Silistrie  sera 
prise  —  on  pourrait  considerablement  augmenter  les  troupes  destiuees  a  agir 
au  dela  du  Balkan.  Elle  ne  voit  pas  non  plus  le  moyen  de  remplir 
dans  Tetat  actuel  des  choses  Votre  desir  de  completer  les  forces  de  l'armee 
active  par  l'envoi  de  la  garde  dans  les  principautes  et  ne  peut  pas 
abondoDuer  le  desir  de  se  procurer  dans  le  cours  de  la  campagne  un  pied 
ferme  au  delä  du  Balkan. 

Gomme  donc  Votre  lettre,  M.  le  Cte,  prononce  une  r^solution 
definitive  de  Votre  part  de  ne  pas  pouvoir  prendre  la  responsabilite  de  la 
campagne  avec  les  moyens  que  S.  M.  ne  saurait  augmenter  actuellement 
d'apres  Ses  vues  gcnerales,  cette  resolution  paraissant  clairement  indiquer 
Votre  d^sir  de  se  voir  decharge  du  commandement  sous  de  pareilles  circon- 
stances,  S.  M.  se  voit  avec  peine  forcee  de  penser  a  organiser  un 
nouveau  commandement  de  l'armee,  tout  en  rendant  pleine  justice  a  Votre 
franchise  et  k  la  loyaute  de  Vos  sentiments,  pour  lesquelles  Elle  m'a  or- 
donne  de  Vous  exprimer  ses  sioceres  remerciements.  Les  arrangements  neces- 
saires  a  prendre  pour  un  changement  aussi  iroportaut  ne  permettent  pasä 
S.  M.  de  Vous  en  faire  part  a  present,  et  je  serai  vraisemblablement  le 
porteur  de  seS  resolutions  definitives,  esperant  pouvoir  partir  dans  le  cours 
de  la  semaine  prochaine. 

S.  M.  est  persuädee  qu'en  attendant  tous  les  pröparatifs  pour  la  cam- 
pagne prochaine  seront  pousses  avec  la  plus  grande  vigueur  et  d^sire  surtout 
que  Vos  soins  particuliers  se  portent  sur  les  approvisionnements  dans  les 
Principautes,  sur  les  moyens  k  se  rendre  maitre  de  la  peste,  et  sur  les  mesures 
necessaires  pour  le  passage  du  Danube  et  le  siege  de  Silistrie. 

Esperant  en  peu  de  semaines  Vous  parier  sur  tout  avec  plus  de 
details,  je  Vous  prie,  M  le  Cte,  de  bien  vouloir  agr^er  les  assurances  de 
l'estime  profonde  et  du  devouement  sincere  etc. 


Anlagen  xu  Kapitel  IX.  445 

Kapitel  IX. 
Aufzeichnung  Teils.    Bemhardlscher  Nachlaß. 

a  St  Petersbourg  le  28  de  Novembre  1828. 

Ayaut  ete  appele  par  Sa  Majeste  TEmpereur,  lore  de  son  retour  de  la 
2me  armee  au  mois  d*Octobre  1828,  pour  me  rendre  ä  Petersbourg,  j^y  fus 
invite  le  19  de  Novembre  a  une  Conference  qui  eut  Heu  chez  S.  M.  l'Empereur 
ä  son  palais  d'Anitzkoff.  —  En  m^y  rendant  vers  les  9  heures  du  soir,  j*y 
rencontrais  le  C^  Ketsch ubey,  le  C^  Nesselrode,  le  Ct«  Tolstoy,  le  G^ 
Wassiltschikoff  et  le  C^^  Gzernyscheff.  —  Apres  une  demi-heure  de  temps, 
nuus  fümes  introduits  dans  le  cabinet  de  TEropereur.  Sa  Majest^  en  nous 
adressant  la  parole,  nous  parla  du  but  de  noire  reunion,  et  nous  recapitula 
avec  une  clarte  et  une  franchise  vraiment  touchante,  la  campagne  qui  venait 
de  se  terminer  et  Tetat  desastreuz  de  notre  armee.  Ge  noble  langage  et  la 
confiance  que  Sa  Majeste  mettait  en  nous,  desirant  savoir  notre  opinion  sur 
les  moyens  et  les  mesures  a  prendre  pour  la  campagne  procbaine,  nous 
imposaient  un  saint  devoir  de  repondre  k  son  attente.  Les  discussions  qui 
s'entamerent  la  dessus  ne  furent  d'aucun  r^sultat  decisif.  J'avais  Tbonneur 
d'exposer  mes  idees,  dont  le  principal  sens  etait  d*employer  de  grands  moyens 
pour  terminer  la  guerre  dans  une,  ou  tout  au  plus  dans  deux  campagnes,  de 
tächer  de  passer  les  Balkans  et  menacer  Constantinople.  Kotschubey,  Nessel- 
rode et  WassiltschikofT  se  rangerent  de  mon  cote  et  soutinrent  la  meme  cbose. 
L'Empereur  s*opposa  ä  ces  id^es,  croyant  qu'en  s*eloignant  au  dela  des 
Balkans,  nous  nous  exposions  ä  revenir  sur  nos  pas,  puisque  TAutriche,  qui  faisait 
des  preparatifs  de  guerre,  pourait  tomber  dans  la  Podolie  et  la  Moldavie,  et  qu*en 
coDsequence,  etant  oblige  d'avoir  une  forte  armee  sur  les  fronti^res  d'Autriche, 
il  serait  a  son  avis  beaucoup  plus  sage  de  se  bomer  aux  sieges  des  places  du 
Danube  avec  les  moyens  qui  sont  k  notre  disposition.  Les  comtes  Tolstoy  et 
Czernytscheff  parurent  goüter  ce  raisonnement.  Nesselrode  prit  la  parole  en 
exposaot  a  TEmpereur  les  suppositions  peu  fondees  sur  les  armements  de 
TAutricbe.  Je  continuais  k  soutenir  le  defaut  d'une  guerre  defensive  a  laqnelle 
on  se  r^duisait  en  se  bomant  aux  sieges  des  places  du  Danube,  et  citait  pour 
exemple  la  deruiere  guerre,  dans  laquelle  six  campagnes  consecutives,  le  change- 
ment  de  deux  souverains,  la  brillante  defaite  de  Batyu,  n'out  pu  ameuer  la  paix 
sans  Pintervention  de  TAngleterre,  et  que  pour  eviter  une  guerre  de  ce  genre,  il 
faudra  francbir  les  Balkans  et  menacer  la  capitale;  seul  moyen  d'atteindre  par  une 
guerre  courte  une  paix  glorieuse.  L'Empereur  ne  voulant  pas  prendre  mes  raison- 
nements  en  consideration,  soutint  qu'avec  le  peu  de  moyens  on  ne  pouvait  pas 
hasarder  des  exp^ditions  si  lointaines.  —  Peu  apres  tomba  la  conversation  sur  les 
nouvelles  de  Parmee  d'apres  lesquelles  Schoumla  ne  comptait  plus  que 
10,000  h.  de  garnison,  que  les  maladies  dans  notre  armee  augmentaient  d'un 
jour  ä  l'autre,  et  que  le  total  des  combattants  sous  les  armes  d^passait  ä  peine 
105,000  hommes;  que  le  premier  complettement  ne  pourait  arriver  avant  le 
]er  de  Mars,  ce  qui  ferait  monter  nos  bataillons  ä  la  force  de  700  h.  et  nos 
escadrons  a  1.50  hommes  tout  au  plus.  Eofin  le  Cte  Kotschoubey  se  reposant 
sur  les  discussions  qui  eurent  lieu,  demanda  ä  S.  M.  L'Empereur  la  permission 


446  Anlage  zu  Kapitel  IX. 

de  permettre  a  cbacun  de  nous,  d'exposer  ses  idees  separement  par  ecrit,  k 
quoi  Sa  Majeste  coDsentit.  Peu  de  minutes  apres  oq  se  separa  et  chacun  de 
nous  songea  ä  faire  son  memoire  pour  1e  presenter  a^Sa  M.  L'Empereur. 

Trois  jours  apres,    ayant  acheve    mon    travail,    accompagne    d'une    lettre, 
j'adressais  mon  memoire  a  L'£mpereur,  dont  voici  le  contenu. 
Sire! 

Obeissant  aux  ordres  de  Votre  Majeste  Imperiale,  j'ai  l'honneur  de  Lui 
soumettre  le  sommaire  de  mes  idees  sur  les  Operations  futures  de  la  guerre. 
—  J'aurais  cru  manquer  au  plus  sacre  des  devoirs  si  dans  des  circonstances 
aussi  graves  je  ne  tenais  le  langage  que  je  crois  etre  celui  de  la  verite.  Que 
Votre  Majeste  daigne  ne  l'attribuer  qu'ä  mon  devouement  a  son  Auguste 
personne  et  ä  mon  zele  pour  le  Service  de  la  patrie.  Ces  deux  sentiments 
sont  mes  seuls  guides  dans  la  carriere  que  le  sort  m'a   reserv^   de   parcourir. 

Je  suis  avec  veneration,  Sire,  de  Votre  Majeste  Imperiale  le  tres  humble, 
tres  soumis,  et  tres  fidele  serviteur  et  sujet  H.  C.  de  Toll. 

St.  Petersbourg  le  24  Novembre  1828. 

Resume  sur  les  Operations  de  la  campagne  procbaine  contre 

les  Turcs. 
Ayant  eu  Thonneur  d'etre  admis  a  la  Conference  que  Sa  Majeste  L'Em- 
pereur a  juge  a  propos  de  reunir  pour  discuter  sur  les  Operations  de  la 
campagne  procbaine  contre  les  Turcs,  j'y  ai  acquis  la  triste  certitude  que  la 
campagne  qui  vient  de  se  terminer  a  laisse  notre  armee  dans  un  delabrement 
fäcbeux,  tant  ä  cause  des  pertes  du  materiel  de  Tartillerie  et  de  la  cavalerie, 
que  pour  le  vide  dans  les  cadres  produit  par  les  maladies.  11  ne  m'a  pas 
ete  moins  penible  d'appreudre  que  le  gouvernement  ne  se  croit  pas  en  etat 
de  mettre  sur  pied  pour  Tete  procbain  une  armee  de  plus  de  —  a  —  hommes, 
et  cela  uniquement  parce  que  les  moyens  de  faire  subsister  une  plus  grande  armee 
semblent  lui  manquer  entierement.  —  L'on  ne  me  contestera  pas  qu'en  principe 
general  ce  n'est  qu'avec  de  grands  moyens  bien  diriges  que  Ton  peut  se  flatter 
d'obtenir  de  grands  resultats;  les  demi-mesures  ne  menent  jamais  qu'ä  faire  des 
depenses  dWtant  plus  ruineuses  qu'  elles  se  fönt  en  pure  perte;  d'ailleurs  ä  la 
longue  la  somme  de  ces  depenses,  si  eile  ne  depasse  pas,  atteint  asseurment  Celles 
des  moyens  dont  une  expedition  vigoureuse  et  decisive  necessiterait  la  mise  en 
jeu  une  seule  fois.  —  Nous  n'avons  que  trop  d'antecedents  pour  justifier 
cette  opinion.  —  Que  Ton  songe  que  dans  la  derniere  guerre  meme  ni  la 
perte  de  toutes  les  forteresses  du  Danube  (k  Texception  de  Widdin),  resultats 
de  six  campagnes  cousecutives,  ni  le  changement  de  deux  Souverains,  occasione 
par  des  rt'volutions  survenues  a  Constantinople,  ni  la  defaite  eclatante  de 
Hatine,  ni  la  capitulatiou  du  corps  d^armee  passe  ä  Slobodzea,  n^ont  pu  lasser 
la  constance  de  la  Porte  Ottomane  a  soutenir  la  lutte;  et  si  eile  a  consenti 
enfin  k  couclure  la  paix  en  1812,  il  ne  serait  pas  raisonnable  d'en  faire  bonneur 
ä  nos  succes  ci-dessus  enouces,  mais  on  doit  Tattribuer  uniquement  ä  Tentremise 
de  TAngleterre,  et  a  fombrage  que  la  puissance  colossale  de  Napoleon  donnait 
a  la  Porte  eile -meme.  Si  Ton  examine  avec  attention  les  causes  de  la 
Prolongation  si  ruineuse  pour  nous  de  cette  lutte,  l'on  reconnaitra  qu'  elles  ne 


Anlage  zu  Kapitel  IX.  447 

tienuent  qu'  a  la  faiblesse  des  moyens  que  Ton  n'a  dcployes  que  successivement. 
Les  memes  causes  produiront  encore  infaiiliblement  les  memes  resultats.  — 
Les  Turcs  envisagent  les  Balkans  comme  une  barriere  invincible  contre  toute 
invasioQ  serieuse  de  notre  part.  Tant  que  cette  barriere  sera  intacte,  les  Turcs 
ne  songeront  certainement  pas  ä  la  paix.  11s  auront  d^autant  moins  de  raison 
de  le  faire  que  roälheureusement  notre  declaration  ipeme  les  rassure  sur  les 
consequences  fatales  que,  dans  tout  autre  etat  de  cboses,  leur  obstination 
aurait  pu  avoir  pour  eux.  Ainsi  toute  menace  d^une  guerre  de  longue  baieine 
minerait  nos  ressources  sans  offrir  aucune  cbance  de  compensation.  Ne 
serait-il  pas  plus  avantageux  de  faire  quelques  eiforts  de  plus,  avec  Tespoir 
fonde  d'en  finir  promptement  et  avant  que  les  commerages  europeens  aient 
miiris  au  point  d'amener  quelque  dangereuse  coalition?  Or  une  guerre 
conduite  avec  vigueur  et  decision  exigerait  les  conditions  suivantes:  —  1^)  un 
grand  dveloppeement  de  forces  militaires  respectables,  pour  etre  ä  meme  de 
porter  des  coups  decisifs. 

2^)  Un  approvisionnement  de  tout  genre  bien  organise,  en  raison  de  ces 
forces. 

3^)  Le  cboix  d\ine  bonue  ligne  d^operation,  et  Pemploi  des  forces  princi- 
pales  sur  le  point  decisif. 

Dans  la  Conference  qui  a  eu  lieu,  j'ai  pu  remarquer  que  le  93°*^  recrute- 
ment  ne  suffira  pas  pour  mettre  les  bataillons  de  Parmee  de  Turquie  au  grand 
complet  de  1,000  h.  par  bataillons,  et  que  Ton  n'etait  nullement  intentionne 
de  faire  renforcer  la  2®  armee  par  les  13^0^  I4me  et  15n»e  divisions  du  b^^  corps 
et  par  la  \2"^^  du  4^^  corps;  de  sorte  que,  les  bataillons  ne  pouvant  etre  au 
printemps  qu'a  700  hommes  et  les  escadrous  a  150,  le  total  des  forces  ne 
repondrait  guere  ä  la  premiere  condition. 

Le  second  point  ä  mon  avis  ne  devrait  pas  souffrir  de  difficulte,  si  Ton 
se  prenait  d'avance  pour  organiser  un  Systeme  d'approvisionnement  sur  de  larges 
bases.  Les  provinces  meridionales  de  la  Russie  ofTrent  d'immenses  ressources, 
et  la  mer  Noire,  oii  nous  dominous  sans  partage,  nous  procure  une  voie  de 
communication,  qui  (ne)  pourrait  etre  que  momentanemeut  troublee  par  les 
vents  contraires.  Les  points  de  Varna  et  de  Kistendgi,  et  plus  tard  celui  de 
Bourgas,  serviraient  de  priocipaux  entrepots  pour  alimenter  Tarmee.  Quoique 
cette  circonstance  mette  ä  notre  disposition  la  bonne  ligne  d'operation  qui 
longo  le  littoral  entre  Varna  et  Bourgas,  il  serait  de  la  plus  grande  importance 
d'en  ouvrir  une  seconde,  de  Silistria  sur  Schoumla.  La  possession  de  ces 
deux  places,  sous  le  rapport  strat^gique,  deviendrait  fort  interessante,  puisque 
non  seulement  eile  nous  procureraient  une  seconde  ligne  d'operation,  mais 
eile  couvriraient  encore  tout  le  pays  compris  entre  Tourtoukay  et  Varna,  et 
assureraient  parfaitement  nos  Communications  avec  notre  base  du  Danube. 
En  outre,  notre  garnison  de  Schoumla,  qui  serait  forte  de  10,000  h.,  tiendrait 
en  respect  tout  le  pays  entre  Roustschouk,  Ozmanbazar  et  Kasane,  et  nous 
debarrasserait  de  la  necessit^  d^assieger  Roustschouk,  place  qui  d'apres  mon 
avis  sort  entierement  du  cercle  des  Operations  de  l'armee  agissante  au  dela 
du  Danube.  Sous  le  rapport  moral,  le  point  de  Schoumla  est  bien  plus 
important,  puisque  les  Turcs  l'envisagent  comme  le  principal  boulevard  de  leur 


448  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

Empire.  II  est  meme  tres  probable  que  la  chute  de  cette  place  ebranlerait 
Tenflezible  Mahmout  lui-meme  et  peut-etre  nous  procurerait-elle  la  paiz.  Si 
au  contraire  il  s'obstinait  ä  poursuivre  la  guerre,  la  nouvelle  base  d'op^ration 
qui,  s'appuyant  sur  Varna  et  Schoumia^  et  qui  serait  bien  preferable  a  celle 
du  Danube,  puisqu'elle  s'alimenterait  plus  facilement  du  point  de  Varna,  nous 
donnerait  encore  les  moyens  de  faire  hiverner  une  partie  de  notre  armee  au 
delä  des  Balkans,  entre  Bourgas  et  Karnabat 

L'opcration  proposee  dans  la  Conference,  de  prendre  a  revers  la  ligne 
de  defense  du  Kamtschik,  en  faisant  descendre  la  flotte  avec  une  division 
d'infanterie  vers  Bourgas,  serait  d^apr^s  mon  avis  completement  infructucuse. 
Toute  Operation  isolee,  dirigee  sur  les  derrieres  de  Tennemi  par  un  faible 
Corps  Sans  communication  avec  l'armee  principale,  ne  peut  etre  dangereuse  que 
pour  ce  Corps,  qui  s'expose  au  peril  les  plus  imminent.  Si  Bourgas  a  ete  mis  en 
etat  de  defense,  il  est  probable  quMl  s'y  trouve  une  garnison  de  4  ä  5  mille 
bommes.  Supposons  meme  qu'en  operant  une  descente  pr^s  de  cette  ville 
Ton  s'en  rendrait  maitre.  Le  detacbement  qui  en  deboucberait  pour  prendre 
ä  revers  Pennemi  poste  sur  le  Kamtschik  aurait  encore  une  distance  de  pres 
de  70  werstes  ä  parcourir,  et  pendant  cette  marche  il  risquerait  d'etre  ^crase 
par  les  forces  superieures  que  Tennemi  dirigerait  contre  lui.  Si  Tetat  de  la 
cote  le  permettait,  il  serait  plus  avantageux  d^op^rer  le  debarquement  dans  le 
voisinage  ä  4  ou  5  verstes  de  Tembouchure  de  Kamt^cbik  afin  que  Tarmee 
principale  put  agir  simultanement  avec  la  division  detacbee.     Quoique  pour 

operer  avec  avantage  il  ne    faudrait    pas  moins  de  —  bommes    au    delä   du 

Danube,  malheureusement  il  parait  que  pour  la  campagne  procbaine  Ton  ne 
doit  compter  que  sur  120,000  combattants.  En  d^duisant  de  ce  nombre  le 
Corps  de  Langeron  compose  des  5«»«  et  17™«  divisions  d'iofanterie  et  la  1«"© 
des  Dragons  avec  leur  artillerie,  Tarmee  au  delä  du  Danube  serait  ä  peu  pres 
de  100,000  bommes.  II  ne  resterait  plus  alors  pour  remedier  ä  la  faiblesse 
des  moyens  qui  seraient  ä  notre  diposition,  que  de  se  tenir  constamment  bien 
ensemble  et  eviter  sur  toutes  choses  la  faute  grave  de  la  dissemination  des 
forces,  qui  a  ete  l'une  des  causes  les  plus  iofluentes  du  mauvais  succes  de  la 
campagne  qui  vient  de  se  terminer.  Si  les  nouvelles  que  Ton  a  sur  la  faiblesse 
de  la  garnison  de  Schoumla  se  confirmaient,  et  que  dans  les  premiers  jours  de 
Mars  eile  nVtait  pas  plus  de  10,000  bommes,  ce  point  deviendrait  le  premier 

but  de  nos  Operations.     A  cet  effet  Ton  reunira  en  toute  diligence  de  —  ä  — 

bommes,  et  sans  atteudre  le  reste  des  forces  qui  doivent  composer  l'armee, 
Ton  marchera  sur  Scboumla,  que  Ton  tächera  d'emporter  de  vive  force.  Je 
crois  meme  quMl  ne  serait  peut-etre  pas  impossible  d^emporter  Schoumla  par 
surprise  pendant  Phiver.  Les  consequence  de  la  reussite  d^une  teile  entreprise 
seraient  d'une  si  haute  importance  pour  uous,  quUl  ne  faudrait  pas  negliger 
de  la  tenter,  pour  peu  que  Pon  trouve  jour  ä  pouvoir  le  faire.  Ainsi  je  pense 
qu'il  serait  convenable  de  faire  passer  sur-Ie-cbamp  des  ordres  eventuels  au 
G<^1  Rott  pour  quMI  guette  Toccasion  favorable  d'executer  ce  coup  de  main. 
Afin  de  ne  pas  risquer  de  laisser  echapper  le  bon  moment,  il  faudrait  accorder 
une  grande  latitude  ä  ce  general,   qui   agirait  ou  n^agirait   pas,    comme    il  le 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  449 

jugerait  ä  propos,  et  sans  etre  astreint  a  demander  de  nouveaux  ordres. 
Seulement  il  ne  serait  pas  inuüle  de  lui  rappeler  quMl  n'est  pas  question 
d'occuper  momentane ment  Schoumla,  mais  de  s'y  etablir  solidement,  et  que 
consequ^ment  il  ne  doit  pas  perdre  de  vue  d'apporvisionner  abondamment  la 
garnison  qu'il  laisserait  ä  Schoumla. 

Si  Schoumla  n^etait  pas  pris  pendant  Thiver,  et  qu*  ä  Touverture  de  la 
campagne  larmee  qui  s'en  approcherait  y  trouverait  l'ennemi  tellement  en 
force  qu'il  serait  hasardeux  de  l'y  attaquer,  eile  qiiitterait  les  environs  de 
Schoumla,  et  se  dirigerait  vers  Silistria  qu'elle  assiegerait  ayec  20,000  h., 
tandis  qu'un  autre  corps  de  20,000  h.  couvrirait  le  siege.  Les  20,000  restants 
se  replieront  sur  Pravody  et  demeureront  en  attitude  defensive  bas^e  sur 
Varna,  en  attendant  la  jonction  des  40,000  hommes  qui,  venant  de  llirsova, 
oü  il  faudra  etablir  un  pont,  devront  completer  l'armee  active.  Ces  60,000  h., 
independamment  de  l'aile  droite  occupee  devant  Silistria,  laisseront  un  corps 
d'observatiou  de  10,000  h.  entre  les  routes  de  Pravody  et  de  Kosloudgi,  et 
detacheraient  une  division  sur  la  flotte  pour  la  descente  dont  il  a  ete  mentionn^ 
plus  haut  Le  gros  des  forces  d^boucherait  vers  le  Kamtschik  par  les  deux 
routes  de  Pravody  sur  Aidos  et  de  Varna  sur  ßurgas.  L'on  tächera  de 
s'emparer  le  plus  promptement  possible  de  ce  dernier  point,  afin  d'y  etablir 
sans  delai  le  grand  entrepot  destine  a  alimenter  l'armee  qui  franchirait  le 
Balkan.  La  flotte  secondera  les  Operations  de  cette  arm^e,  et  aura  a  sa  suite 
une  grande  quantite  de  bätiments  de  transport,  pour  verser  dans  Bourgas  tous 
les  approvisionnements  necessaires  (tout  au  rooins  pour  un  mois)  pour  une 
armee  de  50,000  hs.  —  Les  evenements  subsequents  de  la  campagne  dependront 
de  l'epoque  de  la  reddition  de  Silistria,  qui,  d'apres  les  donnees  recueiilies  dans 
la  Conference,  ne  ])eut  avoir  Heu  avant  un  mois  de  tranch^e  ouverte. 

11  est  k  supposer  qu'au  mois    de  Mai  la    garnison   de  Schoumla  pourra 

etre    renforcee   jusqu'a  '—  ä  —   hommes  par  les  contingents  que  les  differents 

Paschas  seront  a  portee  d'y  envoyer.  Assieger  cette  place  avec  les  faibles 
moyens  que  nous  possedons,  serait  une  Operation  sans  chance  de  succes 
probable.  Apres  la  prise  de  Silistria,  un  corps  de  25,000  plac^  entre  Pravody 
et  Jeoybazar  serait  süffisant  pour  observer  Schoumla.  Ce  corps  devra  avant 
tout  choisir  un  bon  camp,  qu'il  retranchera  avec  soin.  Toutefois  il  ne  devra 
pas  s'y  teoir  constamment  enferme,  mais  il  manoeuvrera  continuellement  dans 
les  environs,  atin  de  conserver  une  attitude  offensive.  Le  camp  retranche  lui 
servira  pour  ainsi  dire  de  base  d'operation,  et  il  s'y  retirera  toutes  les  fois 
que  les  circonstances  l'exigeront.  Les  10,000  h.  laisses  a  Pravody,  aiusi  que 
l'excedant  des  corps  precedemment  employes  devant  Silistria,  rejoindront  le 
gros  de  l'armee  en  marche  sur  Karnabat,  que  l'on  mettra  en  etat  de  defense 
ainsi  qu'  Aidos. 

Observation.  Comme  le  succes  d'une  guerre  repose  en  grande  partie  sur 
un  approvisionnement  bien  orgfanisc,  il  faudra  —  P)  profiter  de  Thiver  pour 
amasser  une  graude  quantite*  de  vivres  en  biscuit,  ^ruaux  et  avoine  a  Odessa 
Nikolaieff  et  Sewastopol  et  —  2^)  Se  procurer  sur  ces  trois  points  pour  le 
moius  GO.  batiments  de  transport,  qui  seraieut   destiues  a   rameuer  k  l'armee 

Schiern  an  n,  Geschieht«  Rußlands.    II.  29 


450  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

)es  soldats  sortis  des  hopitaux  et  a  ravitaiiler  les  magazins  etablis  ä^Kistenji, 
Yarna,  et  plus  tard  ä  Bourgas.  Outre  ces  mesures,  les  2,000  cbameaux  que 
l'on  possede  d^ja,  avec  les  voitures  bouvi^res,  composeront  les  magazins 
ambulants  de  l'armee. 

Les  presses  hydrauliques ')  pour  le  foin  seront  ctablies  k  üirsova  et  a 
Odessa,  oü  l'on  amassera  d'avance  tout  le  foin  qu'on  poura  se  procurer,  afin 
que  ces  presses  arrivees  sur  place,  puissent  sans  delai  commencer  leur  trayail* 
D'Odessa  on  expediera  le  foin  presse  ä  Varna  et  plus  tard  a  Bourgas,  et  de 
Hirsoya  sur  les  points  de  notre  principales  ligne  d'operation  basee  sur  le 
Danube. 

Dans  une  guerre  contre  les  Turcs  les  partisans  sont  indispensables. 
Non-seulement  ils  assureraient  nos  propres  Communications,  mais  ils  nous 
procureraient  encore  Timmense  avantage  d'avoir  des  renseignements  sur  les 
moayements  de  l'ennemi  et  nous  mettraient  ä  mcme  de  le  prevenir  partout 
en  conservant  Toffensive  sur  lui.  On  n'a  qu'a  conüer  le  commaodement  des 
partis  k  des  officiers  experimentes  et  entreprenants.  Ces  partis  seront 
compos^s  de  1,000  ä  2,000  chevaux  avec  quelques  pieces  d'artillerie  a  cheval 
et  quelques  fantassins  montes  sur  des  chevaux  du  pays  ou  pris  sur  l'ennemi. 
—  N'oublions  pas  les  beaux  faits  d'armes  de  Seslavin,  Davidoff,  Madatoff  et 
de  tant  d^autres,  auxquels  notre  armee  dans  la  guerre  europeenne  a  du  une 
partie  de  ses  succes. 

Gonclusion.  Puisque  1' Antriebe  ne  cesse  de  nous  inquioter  par  les 
armements  qu'eile  continue  a  faire,  je  pense  qu'il  est  de  la  dignite  comme  de 
la  suret^  de  la  Russie  de  lui  prouver  que  nous  sommes  preis  partout  de 
repousser  la  force  par  la  force.  A  cet  effet  l'armee  polonaise  ne  bougera  pas 
de  ses  cantonnements  actuels.  Le  corps  de  Lithuanie  se  concentrera  en 
Volhynie.  Le  l^^  corps  dans  le  gouvernement  de  Grodno.  Les  2^^  et  3™<^ 
divisions  des  grenadiers,  la  U^  des  cuirassiers,  dans  les  environs  de  Vilna  et 
de  Minsk.  Les  2°>o  et  5°^^  corps  de  cavalerie  de  reserve  dans  les  environs 
de  Jitomir  et  de  Berdytcheff.  Les  13™«,  14™«  et  15™«  d'infanterie  du  5™« 
Corps  d'armee  et  la  12™«  du  4™«  corps  avec  leur  artillerie  fourniraient  la 
reserve  de  cette  armee,  qui  monterait  a  une  masse  de  200,000  combattants. 

Les  bataillons  de  reserve  du  l«r  et  2™«  corps,  formant  un  total  de  36 
bataiilons  (ä  600  hommes)  d'une  force  de  21,600  h.,  et  la  1er«  division  des 
lanciers  renforceraient  en  partie  le  corps  de  Finlande,  et  occuperaient  Reval, 
Riga  et  les  autres  points  de  la  cote.  Aux  deux  regiroents  de  cosaques  qui  se 
trouvent  maintenant  en  Finlande  on  pourrait  joindre  encore  deux    regiments. 

Les  Operations  de  l'armee  victorieuse  du  Caucase  sous  les  ordres  du 
C^  Pask^vitsch  d'Erivan,  bien  qu'accessoires  dans  la  grande  lutte  oü  nous 
nous  sommes  engages  contre  la  Porte  Ottomane,  doivent  neanmoins  conserver  le 
caractere  offensif.  11  faudra  donc  mettre  cette  armee  au  grand  complet,  afin 
que  non  -  seulement  eile  puisse  garder  ses  conquctes,  mais  qu'eile  ne  cesse  pas 
meme  de  se  montrer  mena^ante  en  Asie. 


*)  conf.  ßlaramberg:  Erinnerungen.     Berlin  1872.     Bd.  1. 


n 

9 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  451 

D'apres  ud  calcul  aproximatif,  en  comptant  les  bataillons  a  700  bommes, 
les  regicnents  de  cavalerie  a  4  escadrons  de  150  b.,  les  compagnies  d'artillerie 
h  8  pieces  de  100  ä  150  b.,  la  force  de  l'armee  sera: 

2me  Corps  d'armee 

2me  de  Uussards 2,400  hommes 

4nie  d'Infanterie 8,400        „ 

Gme  idem 8,400         , 

4me  et  6me  brigades  d'artillerie  ä  pied 720        ,, 

une  brigade  d'artillerie  ä  cheval 320        „ 

total  20,240  bommes 

3me  Corps  d'armee 

3mo  di Vision  de  Uussards 2,400  bommes 

7nie  d'Infanterie 8,400 

8n»e         idem         8,400 

9me         idem         8,400 

7me,  8me  9me  brigade  d'artillerie  a  pied 1,080 

une  brigade  d'artillerie  ä  cbeval 320        „ 

total  29,000  bomoöes 
4ine  Corps  d'armee 

Ire  di  Vision  de  cbasseurs  a  cbeval 2,400  bommes 

lOme  division  d'Infanterie 8,400 

llme               idem                 10,800 

lOme  et  llme  brigades  d'artillerie  ä  pied 720 

une  brigade  d'artillerie  a  cbeval 320 

total  22,640  bommes 
6me  Corps  d'armee 

4me  division  des  Lanciers 2,400  bommes 

16me  division  d'Infanterie 8,400 

16me  brigade  d'artillerie  ä  pied 3C0 

une  brigade  d'artillerie  ä  cbeval 320 

total  11J480  hommes 

7me  Corps  d'armee 

division  des  Lanciers  du  Boug 2,400  bommes 

18»e  division  d'Infanterie 8,400 

19me  division  d'Infanterie 8,400 

18nie  et  19nie  brigades  d'artillerie  a  pied 720 

une  brigade  d'artillerie  a  cbeval 320 

total  20,240  hommes 

Corps  du  C^  de  Langeron 

Ire  division  des  Dragons 2,400  bommes 

5me  division  d'Infanterie 8,400        „ 

17nie  division  d'Infanterie 8,400        „ 

5me  et  17me  brigades  d'artillerie  a  pied 720        „ 

une  brigade  d'artillerie  k  cbeval 320         „ 

Oosaques  du  Don,  4  regiments 1,600        „ 

total  21,840  bommes 

29* 


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452  Anldgen  zu  Kapitel  IX. 

Equipages  de  pontons,  sappeurs  et  pionniers  5  bataillons  .      4,50()  hommes 

20  regiments  de  Cosaques 8,000        ^ 

total     12,500  bommes 
R^capitulation 

2ine  Corps  d'arm^e 20,240  bommes 

3me  idem  29,000        „ 

6me  idem  22,640        „ 

7ine  idem  11,480 

Corps  de  Langeron 20,240        „ 

pontons,  sappeurs  pioniers 4,500 

Cosaques 8,000 

total  137,940  bommes 

En  deduisant  la  T^e  partie  pour  les  malades  ....      19,705        „ 

il  en  reste  118,235  bommes 

Wiener  Archi?.    Rußland.    Weisnngen.    1829. 
(Hanpt-Instrnktlon)  1829.    17  Janrier. 

Supplement  zur  Haupt-Instruktion  für  den   Grafen 
Fiquelmont  vom   17.  Januar  1829. 

Seconde    Note    supplcmentaire    aux    Instructions    pour    S.    E.    M. 

le  comte  de  Fiquelmont. 

Je  crois  devoir  vous  signaler  encore  deux  difficultes  ä  une  procbaine 
paix  eutre  les  puissances  belligeraotes;  Tuoe  reutre  dans  le  domaine  de  la 
politique,  —  Pautre  dans  celui  des  amours-propres;  ceux-ci  ont  joue  un  trop 
grand  role  dans  les  evenements  des  dernieres  annees  pour  que  nous  puissions 
les  ^Carter  de  nos  calculs. 

La  premiere  difficulte  tient  h  la  pretention  du  Divan,  instruit  par  Tex- 
perience  d'un  siede,  de  ne  conclure  desormais  de  trait4  avec  la  Russie  que 
sous  une  espece  de  garantie  generale  de  PEurope;  c'est-a-dire  un  traite  oü 
les  comptes  des  deux  cotes  se  trouveraient  detinitivement  soldes,  oü  il  n'en 
restät  point  ä  re viser  par  d'ult^rieures  n^gociatious,  oü  la  Turquie  n^eüt  pas 
ä  redouter  de  querelle  ou  de  nouveaux  empietements  de  la  part  de  la  Russie. 
Cr,  Tempire  de  la  necessit^,  exercera-t-il  un  tel  ascendant  sur  les  conseils  du 
Cabinet  de  Saint- Pete rsbourg  quMl  se  prete  ä  une  deviation  de  son  Systeme 
ancien  et  inyet^r^,  —  d'un  Systeme  qui  lui  a  valu  d'innombrables  avantages,  — 
d^un  Systeme  dont  la  conservation  est  peut-etre  le  seul  et  yeritable  but  de  U 
guerre;  qu'il  se  prete  enfin  a  conclure  une  paix  finale  et  ä  associer  les 
gouvernements  europ^ens  k  des  int^Tets  et  a  des  transactions  qu^il  a  ^te  aussi 
jaloux  jusqMci  ä  derober  meme  a  leur  connaissance?  II  faudrait  mienx  con- 
naitre  que  nous  ne  le  faisons,  jusqu'ä  quel  degre  dVtendue  et  d^urgence 
s'elevent  ces  necessites,  pour  juger  si  leur  ?oix  predominerait  sur  une  autre 
marcbe,  —  sur  une  marche  injuste  et  vicieuse  saus  tloute,  mais  a  laquelle  la 
sanction  de  pres  d'un  siecle  a  imprime  aux  yeux  d^une  grande  majorit^  des 
Kusses  un  certain  caractere  de  legalite,  dont  cependant  tout  esprit  dn»it  con- 
teste  l'existence. 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  453 

La  seconde  difficulte,  qui  porte  sur  les  amours-propres,  tiendrait  a  Tini- 
tiativo  que  devrait  prendre  une  des  deux  puissances  pour  se  rapprocher  de 
Tautre.  —  Esperer  une  premi^re  demarche  du  cote  de  la  Porte,  serait,  je  le 
crains,  caresser  une  Illusion;  l'espörer  du  cote  de  la  Russie,  serait  viser 
a  rimpossibilite;  car  ce  serait  une  tacbe  que  Torgueil  national  pardonnerait 
moins  que  la  perte  d^une  province  et  qu'il  chercherait  bientut  a  effacer.  Et 
cependant  jusqu'ici  la  Russie  d^clare  ne  point  youloir  d'intervention  etrangere. 
Si  cependant  eile  etait  serieusement  decidee  ä  la  repousser,  s^ouvrirait  —  eile 
comme  eile  le  fait,  enyers  la  France  sur  les  conditions  d'une  paix?  II  sW- 
suit,  ou  bien  qu'elle  ne  se  refuserait  pas  ä  une  Intervention  de  fait,  pourvu 
qu'elle  ne  fut  pas  nominale,  et  qu'elle  la  desire  meme;  —  ou  bien  que  ces 
demonstrations  pacifiques  n'ont  d'autre  but  que  d'apaiser  les  inqui^tudes  de 
TAngleterre  et  de  la  France  sur  une  seconde  campagne,  jusqu'a  ce  que  la 
Russie  ait  gagne  les  six  mois  dont  eile  a  besoin  pour  se  refaire  de  ses  pertes, 
et  de  se  menager  a  la  fois  la  r^putation  de  generosite,  qui  est  si  ^minemment 
utile  pour  voller  ses  veritables  vues. 


Wiener  Archi?.    Bnßland.    Weisungen.    1839.     20  Ferner. 

AnDexe  a  la  depeche  secrete  an  Fiquelmont  in  Petersburg 

vom  28.  März  1829. 

L.  Heytesbury  to  lord  Cowley  in  Vienna. 
Private  and  confidential. 

St.  Petersburg,  20.  Februay  1829. 
By  the  Chancery  of  State. 

I  have  to  acknowledge  and  thank  you  for  two  letters;  the  one  forwarded 
by  Fiquelmont,  the  other  by  an  austrian  Courier. 

To  begin  with  the  first,  and  first  with  the  Memoire.  It  is  very 
possible,  that  we  may  have  been  technically  wrong  in  the  denomination  of  the 
paper;  but  1  presume,  it  will  hardly  be  denied  at  Vienna,  that  two  severe 
attempts  were  made,  to  lead  the  greater  courts  to  a  general  Intervention  betweeu 
Russia  and  the  Porte.  I  do  not  mean  an  armed  intervention,  nor  was  the 
Word  armed  ever  made  use  of  in  any  complaint  from  hence,  but  such  an 
intervention,  as  would  enable  Austria,  to  play  a  part  in  the  negociation,  and 
exactly  that  part,  which  Russia  will,  with  difficulty,  grant  her. 

The  exhibition  of  official  correspondence  is  never  conclusive.  You  and 
1  have  been  too  long  in  the  trade  to  be  Ignorant  of  this.  I  have  no  doubt 
but  that  every  thing  was,  as  it  ought  to  be,  in  the  letters  to  and  from  the 
Intemuncio,  which  were  communicated  to  you;  but  can  you  be  sure,  that 
every  letter  was  communicated?  1  pray  you  however  not  to  run  away 
with  the  idea,  that  this  government  suspects  Austria  of  wishing  to 
proloug  the  war.  On  the  contrary  it  is  persuaded,  that  no  government  has  a 
greater  interest  in  the  restablishmeot  of  peace,  or  a  greater  desire  to  procure 
it.     What   it    does    suspect   is,    that  Austria    wishes  a  peace  after   her   own 


454  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

fashion,  and  above  all  to  be  first  in  tbe  negociation.  Is  this  a  ^ery  unna- 
tural supposition? 

I  can  hardly  belieye  you  serious,  wben  you  talk  of  tbe  force  of  public 
opinion  in  Austria,  and  its  influence  upon  tbe  public  Journals;  and  wben 
you  compare  tbe  articles  pubiisbed  at  Vienna  witb  tbose  publisbed  at  London 
and  Paris.  In  London  and  Paris  tbe  press  is  independent  of  tbe  goyemment, 
and  its  production  carry  no  weigbt,  but  in  as  mucb  as  tbey  may  be 
supposed  to  ezpress  tbe  opinions  of  tbe  many.  At  Vienna  not  acomma 
is  inserted  in  a  gazette  witbout  tbepreyious  approbation  ofHess. 
Qentz,  Lebzeltern  and  Pilate,  and  consequently  all  articles,  publisbed 
tbere  assume  quite  a  different  cbaracter.  You  say  tbe  Anti-russian  feeling 
is  beyond  tbe  control  of  tbe  government?  It  may  be  so,  and  equally  so  is 
tbe  Anti-austrian  feeling  bere.  But  surely  tbat  would  not  be  beld  to  justify 
tbe  publication  of  articles  tending  to  tbrow  discredit  on  tbe  austrian  arros,  or 
on  tbe  goyemment  of  its  italian  proyinces,  or  on  any  otber  subject,  wbere  a 
yulnerable  or  sore  side  is  offered? 

As  to  tbe  armaments  of  Austria  a  great  deal  more  bas  been  said  by 
tbe  russian  agents  tban  by  tbe  govemment  itself.  Tbey  baye  neyer  caused 
any  real  alarm  bere. 

Your  second  letter  is  of  tbe  bigbest  interest.  Tbe  Gonstantinople  news, 
wbicb  it  contains,  is  yery  curions,  but  tbe  Reis-Effendi  bas  entirely  misrepre- 
sented  tbe  late  attempt  to  negociate.  Tbe  first  oyertures  came  from 
Constantinopel.  Tbe  danisb  minister  was  formally  instructed 
by  tbe  Reis-Effendi,  to  ask:  1)  Wbetber  plenipotentiaries  would  be  well 
receiyed?  2)  To  wbat  place  tbey  sbould  be  sent?  3)  Wbetber  an  armistice 
wonld  be  granted  duriog  tbe  progress  of  tbe  negociation? 

Tbe  flag  of  truce  was  dispatcbed  witb  tbe  answer  to  tbese  queries  — 
an  answer  of  tbe  most  fayorable  nature;  and  so  persuaded  was  tbis  goyem- 
ment of  tbe  sincerity  of  tbe  Turcs,  tbat  it  bad  actually  named  two 
plenipotentiaries,  to  proceed  to  Akerman.  Tbe  Instructions  of 
tbese  gentlemen  were  already  signed  by  tbe  Emperor,  and  tbey  were 
drawn  up  in  so  liberal,  so  moderade  a  sense,  tbat  in  all  probability  tbe  Turks 
would  not  baye  besitated  an  bour  in  subscribing  to  tbe  conditions  tbey 
contained. 

All  tbe  bopes,  we  entertained,  feil  to  tbe  ground  from  a  yery  unaccount- 
able  change  in  tbe  ottoman  Councils;  but  tbe  negociation  was  not  taken  off 
as  tbe  Reis-Effendi  seems  to  baye  insinuated  to  Mr.  Hussar,  for  tbe  want  of 
sufficient  guaranties;  nor  was  tbe  sligbtest  objection  started  to  Ackerman  as 
tbe  place  of  meeting  Tbe  Porte  merely  declared,  tbat  its  plenipotentiaries 
could  not  proceed  to  Ackerman  'tili  tbe  Emperor  of  Russia  bad  fully  ez- 
plained  tbe  conditions,  upon  whicb  he  was  prepared  to  make  peace  —  in 
otber  words,  tbat  tbe  peace  must  be  roade  before  tbe  plenipotentiaries  started. 

Tbe  britisb  govemment  was  fully  a wäre  of  all  tbat  was  going  on.  Tbe 
days  of  jealousy  are  gone  by.  I  am  yery  mucb  obliged  to  you  for 
requesting  Prince  Metternicb  to  instruct  Fiquelmont,  to  sbow  me  Mr.  Hussar's 
report,  whicb  is  extremely  interesting  and  curious;  and  I  beg  you,  to  be  so 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  455 

kind  as  to  tbank  Bis'  Highness  for  the  communication.  We  roust  now  wait 
to  see,  whetber  Mr.  Jaubart's  own  account  of  his  Conference  tallies  with  that 
given  by  the  Reis-Effendi  to  Mr.  Husaar.  I  suspect,  that  it  will  be  found  to 
▼ary  from  it  very  considerably.  But  the  Turcs  must  be  very  much  altered 
since  I  had  any  thing  to  do  with  them,  if  they  indulge  in  such  long  speaches, 
as  that  put  into  the  mouth  of  the  Reis-EiTendi.  Three  or  four  pithy  sentences 
generaily  formed  the  wole  of  a  turkish  harangue.  I  suspect,  that  Mr.  Hussar 
arranges  his  dish  to  suit  the  plate  öf  tbose,  who  are  to  feed^)  on  it.  There 
is  notbing  very  turkish  in  it.     It  is  more  of  a  saut^  than^  a  pilau'). 

It  is  remarkable  with  wbat  pertinacity  Mr.  Hussar  sticks  to  his  text, 
that  the  Porte  will  never  consent  to  the  intervention  of  Russia 
in  the  affairs  of  Greece.  It  will  not  have  escaped  you,  that  this  is  in 
direct  contradiction  to  wbat  you  lately  stated,  to  be  the  result  of  the  prussian 
ministers  interview  with  the  Reis-EfFendi. 

Prince  Mettemich  will  probably  have  told  you,  that  the  progress  of 
liberal  principles  in  France  and  in  other  countries  has  excited  a  certain  degree 
of  attention,  not  to  say  alarm,  here.  He  will  bowever,  I  think,  deceive 
himself,  if  be  expects,  to  found  upon  this  an  influence  over  the  Councils  of 
this  country  of  the  nature  of  that  which  he  possessed  in  tbe  time  of  the 
Emperor  Alexander.  Tbere  is  a  great  wish  here,  to  be  well  with 
Austria,  but  none  wbatever  to  go  further.  A  more  intimate  cönnexion  with 
US  is  the  general  desire,  both  uf  the  nation  and  the  govemment.  This  will 
not  be  believed  at  Vienna  Hill  proofs  be  given. 

A  number  of  military  echange»  have  taken  place.  Diebitsch  has  been 
appointed  to  the  command  of  the  army  with  Toll,  as  chief  of  the  staff,  and 
Boutourlin  quartermaster  general.  The  several  corps  are  to  be  commanded 
by  Pahlen,  Rudiger,  Roth,  Geismar,  Rudzewity^)  and  Kischelew.  Wittgenstein 
and  all  the  cid  twaddlers  are  put  upon  tbe  shelf. 

Tbe  Emperor  is  going  for  a  few  days  to  Finnland.  A  joumey  to  War- 
saw  for  the  purpose  of  holding  a  Diet,  and  taking  the  baths,  is  contemplated 
in  the  spring.  1  hope,  to  profit  of  the  moment  to  run  home  for  a  few  weeks 
for  my  family.  Matuszewic  is  dellghted  with  the  manner,  in  which  he  has 
been  received. 

Believe  me  p.  p. 

Konstantin  an  Nikolai. 

Warschau,  den  2Si^P!fE^  1827. 

'  5.  Oktober 

Dank  für  den  Brief  vom  15./27.  Schickt  offiziellen  Bericht  über  die 
Prozeßangelegenbeit:  „vous  verrez  la  conduite  ind^cente,  pour  ne  pas  dire 
seditieuse,  de  la  delegation  du  Senat  d'ici  et  du  President  de  la  Haute  Cour 


I)  Vorlage:  feel,  mit  Blei  in  feed  geändert 
^  Vorlage:  sante  und  pillace. 
')  oder  pilow  =  turk.  Reisbrei. 
*)  Sic! 


456  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

nationale;  je  vous  ai  dej4  fait  mon  rapport  anteriearement  de  ce  que  la  dite 
delegation  trouvait  inutile  l'envoi  de  la  dolegation  de  notre  senat  et  de  nos 
prisonniers  d'etat  pour  les  confrontations,  pretendant  que  Ton  pouYait  s'en 
passer.  Des  que  ia  dite  delegation  est  arrivce  ici,  la  delegation  de  ce  pays-ci, 
s'est  sentie  comme  de  raison  controlee  par  la  notre,  et  la  voyant  entrer  tout  de 
suite  en  besogne  activement  et  avec  energie,  a  chercbe  tous  les  moyeus  pour 
ralentir  sa  marche,  et  trainer  l'enquete  au  long,  d'apres  ce  qu'elle  fait  depuis 
4  mois,  les  documents  leur  ayant  ete  repris  et  rendus  ä  la  notre,  celle-ci  a 
pousse  son  travail  de  teile  sorte  qu'elle  est  ä  la  veille  d'achever.  II  fallait  des 
confrontations,  le  Pce  Troubetskoi  requit  de  moi  le  L.  Col.  Kryjanowski:  je 
fais  un  papier  a  son  sujet  au  president  de  la  haute  Cour,  et  en  l'invitant  de 
nommer  un  senateur  pour  l'assister  et  etre  temoin  des  interrogations  qu'on 
lui  ferait  subir.  Au  Heu  de  cela  le  President  me  repond  d'une  maniere  tres 
peu  respectueuse  et  me  dit  entre  autre,  qu'ayant  prete  serment  il  ne  pouvait 
l'enfreindre  sans  etre  coupable,  comme  si  moi  je  pouvais  chercher  ä  le  lui 
faire,  et  plus  bas,  il  s'exprime  avec  un  ton  de  möpris  sur  le  compte  de  notre 
delegation  qui  eut  et^  de  meme  inconvenant  envers  le  plus  petit  tribunal.  Lui 
ayant  fait  faire  par  le  G.  Kourouta,  ä  trois  reprises,  des  remontrances  des  plus 
serieuses,  cette  vieille  ganache  n'a  pas  demordu  de  son  opiniätret^  meme  lorsque 
je  Tai  averti  qu'il  peose  aux  suites  et  que  j'en  ferai  mon  rapport.  En  attendant 
j'ai  dit  au  Pc«  Troubetzkoi  de  passer  outre,  et  de  faire  comparaitre  Kryja- 
nowski, ce  qui  fut  fait.  Ce  meebant  drole  repondit  qu'il  ne  repondrait  pas, 
ne  se  reconnaissant  pas  justiciable  par  un  autre  tribunal  que  la  haute  cour 
de  ce  pays  et  surtout  n'etant  pas  accompagne  par  un  senateur.  Aujourd'bui 
je  Tai  fait  interroger  par  le  Gl.  Kourouta,  il  a  donne  la  meme  reponse  et  le 
President  a  donne  une  semblable  au  dit  gem'ral.  II  en  resulte  que  les 
Senateurs  ne  veulent  pas  venir  et  que  le  prevenu  ne  v^eut  pas 
repondre  sans  le  senateur. 

Notre  delegation  est  ici  d'ordre  et  poursuit  sa  marche  d'apres  vos  in- 
structions:  le  senat  dMci  ne  la  reconnait  pas  et  commeuce  par  vous  manquer 
et  n'obeit  pas  k  Vos  volontes,  de  plus  manque  d'egard  a  un  s^nat  Imperial 
d'un  pays  auquel  celui-ci  est  Joint  et,  en  un  mot,  desobeit  et  montre  l'exemple 
d'un  etat  de  choses  qu'il  ne  faut  pas  laisser  impuni  ou  meprise;  de  plus,  la 
vieille  ganache  de  President  m'a  manque  d'i'gards  d'une  facon  trop 
evidente.  La  delegation  du  senat  d'ici  travaille  scule  et  interroge  les  accuses 
a  huit-clos  et  sans  meme  que  le  procureur  s'y  trouve,  et  Ton  voit  par  les  faits 
que  ces  messieurs  sont  de  connivence,  puisque  les  reponses  des  senateurs  et 
des  accuses  sont  les  memes.  Veuillez  vous  ressouvenir  de  ce  que  je  vous  ai  dit 
ä  mon  depart  de  Petersbourg  et  de  ce  qui  arriverait,  les  faits  vous  le  prouvent 
maintenant  que  trop  evidemment;  c'est  un  parti  pris  chez  eux  et  puis  le  sot 
patriotisme,  la  popularite  et  l'opinion  publique  d'apres  leur  entente  fönt 
le  reste.  Michel  Radziwil,  le  president  de  la  delegation,  est  le  beau  fils  de 
K(niazewicz)  Tischewicz  (sie!)  et  plus  ou  moins  parent  avec  tout  le  gouveme- 
ment  de  Grodno  et  proprietaire  de  Swislocz  ou  il  y  a  un  gymnase,  dont  les 
eleves  ont  eu  plusieurs  des  societes  secretes  entr'eux.  Ces  deux  sont  de  nos 
provinces  et  d'un  tres  mauvais  esprit;  les  3  autres  membres,  je  ne  les  counais 


•J 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  457 

pas  meme  de  Yue,  dont  Tun  Rembilinski  passe  pour  un  drole.  II  faut  un 
exerople  et  un  des  plus  s^veres;  je  vous  en  offre  un  projet  dans  mon 
rapport  d'office  et  je  vous  assure  que  la  radiation  de  Kryjanowski  de 
l'armee  polonaise,  ainsi  que  de  Majewski  ne  serait  que  trop  salutaire 
puisqu'etant  des  gouveroements  de  Kiew  et  de  Volhynie,  ils  ne  seraient  plus 
justiciables  par  la  Haute  cour  de  ce  pays,  mais  par  notre  senat.  Je  yous  en 
conjure  de  donner  ces  ordres.  De  plus,  si  la  mercuriale  que  je  Vous  propose 
de  faire  donner  au  S^nat  par  mon  organe  serait  agreee  par  Vous  je  leur  ressou- 
Yiendrai  que  c'est  eux  qui  sont  joints  a  nous  et  non  nous  k  eux;  de  jour  en 
jour  les  insolences  deYiennent  plus  fortes  et  il  faut  y  mettre  le  hola.  J'attends 
Yos  ordres  sur  tous  ces  points,  daignez  ne  pas  me  les  faire  attendre  .... 

Instrnktion  Sultan  Mahnmds  an  den  Seraskier. 

Wenn  (sie!)  der  Sultan  Mahmud  am  27.  März  (1828),  als  er  es  erfuhr, 
daß  er  unvermeidlich  einen  Krieg  mit  Rußland  zu  bestehen  hat,  folgende 
Instniktion  an  seine  Seraskier  gab: 

Ich  habe  die  Gesandten  der  drei  Mächte  benachrichtigt,  daß  ich  ihre  Vor- 
schläge zur  Pazifikation  von  Griechenland  angenommen  habe,  ihnen  Waffen- 
stillstand bewillige,  und  alle  Truppen  aus  Griechenland  ziehe.  Du  hast  nun 
die  Armee  folgendermaßen  zu  beordren: 

1.  Heschid  Pascha  formiert  aus  10000  Mann  Linientruppen  und  20000 
Albanesem  des  1.  Armeekorps  bei  Salonichi  und  rückt  damit  nach  Adrianopel. 

2.  Infolge  unserer  sehr  freundschaftlichen  Verhältnisse  mit  Osterreich 
wird  aus  den  serbischen,  bosnischen  und  rumelischen  Kontingenten  nebst 
asiatischer  Kavallerie  das  2.  Armeekorps  in  Philippopolis  aus  30000  Mann 
gebildet. 

3.  Das  3.  und  4.  Armeekorps  aus  den  Zaims  und  Timaristen,  jedes  aus 
30000  Mann  bestehend,  ist  zum  Teil  bei  Adrianopel,  zum  Teil  auf  dem 
Marsch  dahin. 

4.  Das  5.  Armeekorps  aus  asiatischer  Kavallerie  und  18000  Mann  Linien- 
truppen steht  in  Konstantinopel. 

5.  Das  6.  Armeekorps  aus  asiatischen  Truppen  ist  im  Marsch  auf  seinem 
Versammlungspunkt  Skutari. 

6.  Die  Donaufestungen  von  Widdin  bis  zum  Ausfluß  der  Donau  sind 
durch  die  Granitzer  besetzt  und  vollständig  ravitailliert. 

7.  Die  Donauflottille  liegt  bei  Ruschtschuk. 

8.  Die  schleunige  Vertigstellung  der  Festung  Konstantinopel  ist  mit 
10000  Arbeitern  begonnen. 

9.  Der  Kapudan-Pascha  ist  zum  Auslaufen  bereit,  um  eine  feste  Stellung 
am  Eingang  des  Bosporus  gegen  das  Schwarze  Meer  zu  nehmen.  Seine  Flotte 
wird  auf  70  Kriegsfahrzeuge  gebracht. 

10.  Die  gesamte  Kavallerie  ist  nach  den  Ufern  der  Donau  beordert. 
Hier  hast  du  die  vorläufige  Aufstellung  der  Armee.     Betrachte  nun  die 

möglichen  Operationen  unserer  Feinde.  Sie  können  vernünftigerweise  nach 
ihrem  Obergang  über  die  Donau  ihren  rechten  Flügel  nicht  über  Tirnova  aus- 
dehnen.    Ihr  linker  Flügel  wird  an  der  See  bleiben,  und  dann  haben  sie  eine 


458  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

Ausdehnung  von  80  Meilen.  Rücken  sie  weiter  vor,  so  kann  ihr  rechter  Flügel 
sich  nicht  über  Adrianopel  ausdehnen.  Dann  ist  ihre  Front  bis  zur  See  nur 
15  Meilen  lang.  Wenn  sie  noch  weiter  vordringen,  in  der  Absicht,  meine 
europäischen  Streitkräfte  nach  Asien  zu  drängen,  so  kann  dies  nur  in  zwei 
Spitzen  geschehen,  einzeln,  oder  zugleich,  nach  Konstantinopel  oder  Gallipolis. 

Abschnitte  der  russischen  Operationen. 

Die  Operationen  der  russischen  Armee  zerfallen  daher  in  drei  Abschnitte: 

a)  Vorrucken  bis  in  die  Linie  Tirnova— Vama. 

b)  Vorrücken  bis  in  die  Linie  Adrianopel — Midia. 

c)  Vorrücken  bis  an  den  Bosporus. 

Ich  werde  dir  nun  genau  vorschreiben,  was   du  in  jedem   der  drei  ver- 
schiedenen Abschnitte  zu  tun  hast. 
Benehmen  der  türkischen  Armee  während  des  ersten  Abschnittes. 

ad  a.  Während  dieses  Abschnittes  sind  alle  entscheidenden  Gefechte  zu 
vermeiden ;  die  Kavallerie  wird  den  Marsch  des  Feindes  beobachten»  um  Nach- 
richten über  die  Richtung  und  Stärke  der  Kolonnen  zu  verschaffen.  Sie  wird 
sich  aber  nicht  auf  die  Infanteriekorps,  sondern  in  die  Linie  Nikopolis — 
Gabrova,  als  eine  Verlängerung  unseres  linken  Flügels  bis  an  die  Donau  zu- 
rückziehen. 

Auf  die  erste  Nachricht  von  dem  Obergange  der  feindlichen  Armee  über 
die  Donau  rückt: 

das  2.  Korps  nach  Eski-Sagra, 
das  3.       ,         „     Karnabat, 
das  5.      „         ,     Nadir-Derbend, 
das  G.      „         „     Araba  (auch  Tschatal)  Burgas, 
so  daD  drei  Armeekorps  an  den  Gebirgspässen  des  Balkan  und  drei  Armee- 
korps als  Reserve  dahinter  bei  Adrianopel  und  Araba- Burgas  stehen. 

Die  erste  Linie  verdirbt  alle  Wege  in  den  Gebirgspässen  und  schickt 
sich  zu  ihrer  Verteidigung  an,  während  die  Einwohner  in  dem  ganzen  Land- 
strich zwischen  der  StraDe  von  Schumla  nach  Adrianopel  und  der  Küste  des 
Schwarzen  Meeres  von  Varna  bis  Midia  mit  ihrem  Vieh  und  Lebensmitteln 
nach  Asien  getrieben  und  ihre  Wohnungen  abgebrannt  werden. 

Während  des  zweiten  Abschnittes. 

ad  b.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  die  russischen  Armeekorps  des  linken 
Flügels  vorzüglich  mit  aller  Anstrengung  über  Paravady  vordringen,  um  die 
Verfeindung  mit  dem  Schwarzen  Meere  zu  gewinnen. 

Das  5.  Armeekorps  wird  die  Defileen  zwischen  Nadir  Derbend  und 
Paravady  hartnäckig  verteidigen,  sich  aber  dabei  immer  an  das  8.  Armeekorps 
und  nicht  an  das  Schwarze  Meer  halten.  Im  Falle  es  bis  Karabunar  zurück- 
gedrängt werden  sollte,  wird  es  sich  auf  die  Straße  von  Schumla  nach  Adria- 
nopel nach  Papasken  zurückziehen. 

Das  3.  Armeekorps  verteidigt  ebenso  die  Pässe  zwischen  Dobroly 
und  Karnabat  hartnäckig  und  zieht  sich  nur  notgedrungen  nach  Papasken 
zurück. 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  459 

Das  2.  Armeekorps  wird  schwerlich  ernsthaft  und  mit  Obermacht  an- 
gegriffen werden,  in  welchem  Fall  es  sieb  jedoch,  insofern  eine  Unterstützung 
von  Adrianopel  noch  nicht  über  Czirpan  angekommen  sein  sollte,  gegen  Phi- 
lippopolis  zurückzieht 

Wird  es  jedoch  nicht  angegriffen  und  rückt  keine  bedeutende  feind- 
liche Macht  von  der  Donau  über  Tirnova  vor,  so  ergreift  dieses  Korps  die 
Offensive,  es  sei  über  Selimno  und  Starka  oder  über  Selimno  und  Kazan,  um 
den  Feind  in  den  Rücken  zu  gehen.  Die  sämtliche  Kavallerie  des  linken 
Flügels  schließt  sich  an  diese  Offensive  zwischen  dem  Balkan  und  der  Donau 
an.  Das  2.  Korps  behält  für  diesen  Fall  immer  eine  doppelte  Basis:  auf 
Philippopolis  oder  die  oberen  Donaufestungen.  Denn  in  diesem  Falle  wird 
immer  ein  Korps  von  Adrianopel  bis  Eski  Sagra  nachrucken.  Cbrigens  liegt 
in  diesem  feindlichen  Operationsabschnitt  folgende  Absicht  der  türkischen 
Armeen  zugrunde: 

Dem  feindlichen  linken  Flügel  den  geringsten  Widerstand  entgegenzu- 
setzen und  ihn,  wenn  er  die  Schwierigkeiten  und  Verluste  beim  Cbergang 
über  den  Balkan  überwunden  hat,  ruhig  eindringen  zu  lassen;  dagegen  den 
feindlichen  rechten  Flügel  aufzuhalten  und  nach  Umständen  noch  ein  Korps 
der  beiden  bei  Adrianopel  stehenden  zu  verwenden,  um  ihn  zu  schlagen  und 
der  feindlichen  Armee  durch  eine  Umgehung  zwischen  dem  Balkan  und  der 
Donau  alle  Kommunikation  mit  der  Donau  abzuschneiden. 

Der  Entsatz  etwa  belagerter  Donaufestungen  ist  die  natürliche  Folge 
dieser  Bewegung. 

Wenn  diese  Operation  gelingt,  so  treten  für  den  Feind   drei  Fälle  ein: 

1.  er  muß  rückwärts  gegen  die  Donau  detachieren,  um  sich  die  Kom- 
munikationen wieder  zu  eroffnen  und  überhaupt  mit  der  ganzen  Armee  sich 
den  Punkten  wieder  nähern,  von  welchen  er  sich  verpflegen  kann,  oder 

2.  er  muß  die  Kommunikation  mit  der  Donau  ganz  aufgeben  und  sich 
von  der  See  her  verpflegen,  oder 

3.  er  muß  bis  über  die  Linie  hinaus  vorrücken,  welche  wir  verwüstet  haben. 
Dieses  letzte  wäre  bereits  als  ein  Schritt  der  höchsten  Verzweiflung  an- 
zusehen und  wurde  mit  dem  völligen  Untergang  der  feindlichen  Armee  endigen. 

Im  zweiten  Falle  würde  die  türkische  Flotte  einzutreten  haben  und  ent- 
weder in  einer  Seeschlacht  die  russische  Flotte  des  Schwarzen  Meeres  schlagen 
oder  das  Landen  von  russischen  Verpflegungsschiffen  längs  der  Küste  von 
Vama  bis  Midia  verhindern. 

Im  ersten  Falle  würde  die  Kampagne  ziemlich  entschieden  sein,  und 
wenn  der  Feind  gegen  die  Donau  zurückgeht,  durch  lebhaftes  Verfolgen  und 
rastlose  Angriffe  noch  entscheidender  gemacht  werden  können. 

Wenn  jedoch  diese  Hauptidee  der  Umgehung  des  Feindes  während  des 
zweiten  Abschnittes  mißlingen  sollte,  wenn  der  Feind  bis  in  die  Linie  von 
Adrianopel — Midia  vordringen  sollte,  so  würden: 

während  des  dritten  Abschnittes 

ad  c.  das  6.  Korps,  zur  Verteidigung  von  Konstantinopel  bestimmt 
alle  ernsten  Gefechte  vermeidend,  sich  vor  dem  drängenden  Feinde  von  Araba- 
(Tschatal-)  Burgas  zurückziehen; 


460  Anlagen  za  Kapitel  IX. 

die  übrigen  5  Armeekorps,  insofern  nicht  bereits  ein  Teil  dieser  Macht 
sich  zwischen  der  Tundja  und  Maritza  befände,  bei  Adrianopel  an  das  rechte 
Ufer  der  Maritza  gehen,  um  eine  feste  Stellung  mit  zwei  Rückzugslinien  nach 
PhilippopoHs  und  nach  Salonichi  zu  nehmen. 

Würde  der  Feind  gegen  diese  Stellung  vorrücken,  uro  sie  anzugreifen, 
so  würde  die  Armee  ihm  bis  Philippopolis  ausweichen,  um  dem  6.  Armeekorps 
Zeit  zu  geben,  Adrianopel  im  Rücken  des  Feindes  zu  erreichen.  Dann  käme 
es  also  7  Märsche  von  Adrianopel  in  der  Gegend  von  Philippopolis  zur 
Schlacht. 

Ginge  der  Feind  mit  einem  Teil  oder  mit  allem,  was  er  hätte,  auf  Kon- 
stantinopel, so  würde  die  türkische  Armee  von  Adrianopel  aus  die  Offensive 
in  dem  Rücken  des  Feindes  ergreifen. 

Bliebe  der  Feind  der  türkischen  Armee  gegenüber  vor  Adrianopel  stehen, 
80  würden  die  Detachierungen  um  seinen  rechten  Flügel  herum  (nach  Um- 
ständen von  1  bis  2  Korps)  bis  auf  die  Straßen  von  Paravady  nach  Kirklissa 
und  von  Schumla  nach  Adrianopel  sogleich  eingeleitet  und  dieselbe  Operations- 
idee wie  im  zweiten  Abschnitt  angenommen. 

Zentralpunkt  während  des  Krieges. 

Aus  diesem  Operatiousplan  ergibt  sich,  daß  Philippopolis  der  Zentral- 
punkt  des  ganzen  Krieges,  aller  Magazine  und  der  Sitz  der  Regierung 
werden  muß. 

Ich  werde  mich  daher  an  diesen  Ort  begeben,  sobald  der  Feind  den 
Balkan  überschreitet. 

Berlin,  den  25.  Mai  1828,  von  Witzleben  dem  Generalstabschef  Müffling 
zur  Obersendung  an  Diebitsch  zugeschickt.     Müfflingsches  Familienarchiv. 

Nicolai  an  Constantin. 

Odessa,  11/23  Septembre  1828. 

Hat  nicht  früher  antworten  können.  Die  Prozeßangelegenheit  Je  partage 
la  chose  en  deux:  1)  la  sentence  avec  tout  ce  qui  l'a  pr^cedee;  2)  le  rapport 
du  President. 

Parti  d'un  faux  principe,  d'un  faux  point  de  vue,  le  r^sultat  ne  pouvait 
etre  autre  et,  avec  plus  ou  moins  de  sottises,  devait  terminer  par  un  resum» 
et  des  conclusions  pareilles;  voila  qui  est  pour  la  sentence. 

Le  rapport  du  President  est  tout  nutre  chose  —  c'est  l'apologie  des 
sottises  de  la  haute  cour,  apologie  oü  l'on  a  reüni 

Iment  des  offenses  envers   la  memoire  du  bienfaiteur  du  pays; 

2inent  des  indices  d'intentions  coupables  de  changer  une  fois  l'etat 
politique  du  pays  par  des  empietements  sur  ce  qui  appartient  aux  allies  du 
sou verain  et  sur  ce  qui  est  la  propriete  de  l'Empire; 

3mont  enfin,  oifense  personnelle  contre  le  souveraln,  en  faisant  croire 
qu'il  pouvait  desirer  plus  de  severite  ou  plus  d'indulgence,  en  un  mot 
influencer  la  libre  opinion  des  jugesi  et  pour  couronner  le  tout,  une  espece 
d'avertissement  que  ce  n'otait  que  l'observation  de  la  Charte,  qui  etait  le  gage 
ou  le  lien  de  fidelite  entre  ies  Polonais  et  leur  Roi. 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  461 

J'en  conclus  que  le  pr^sident  par  ce  rapport  a  manqu^  ä  ses  devoirs 
envers  son  Roi,  envers  sa  Patrie,  et  qu'il  doit  etre  accuso  de  crime  d'etat. 
Mais  comment  le  juger?  Er  kommt  zam  Schluß,  es  maßte  durch  die  haute  cour 
geschehen.  Wenn  sie  sich  weigere  es  zu  tun,  stehe  sie  in  offener  Rebellion, 
si  eile  a  de  l'esprit,  eile  sentira  qu'elle  doit  partager  la  honte  de  Bielinski  et 
devra  faire  d*abord  amende  honorable  et  puis  commencer  a  juger.  Er  will  C's 
Urteil  darüber.  Quant  ä  la  senteuce,  je  ne  la  con firme  pas,  tout  peut 
rester  in  statu  quo,  l'affaire  a  Petersbourg  va  son  train  et  quand  il  en  sera 
temps,  nous  y  ferons  traduire  les  autres,  mais  il  me  faut  une  epreuve, 
c'est  Celle  de  la  cour  d'administration.  II  est  curieux  de  savoir 
quelle  sera  son  opinion  sur  toute  l'affaire,  et  je  vais  lui  renvoyer  tout  sans 
aucune  Observation;  ils  n'ont  qu'ä  dire  ce  qu'ils  veulent;  apres  qu'ils  auront 
repondu,  nous  passerons  aux  determinations. 

Grace  a  cet  incroyable  rapport  de  Bielinski  l'affaire  devieut  toute  simple, 
Selon  moi,  et  peut  tourner  a  bien,  mettant  fin  a  jamais  aux  fausses  inter- 
pretations,  aux  fausses  esperances  et  au  faux  patriotisme  .... 

Kaiser  Nicolans  an  König  Karl  X.    Original. 

Petersbourg,  1.  Mai  1829. 

Monsieur  mon  Frere,  J'ai  a  m'acquitter  d'un  devoir  bien  doux  a  remplir, 
en  exprimant  a  Votre  Majeste  ma  sincere  reconnaissance  pour  la  lettre 
qu'Elle  a  bien  voulu  m'adresser  par  le  Duc  de  Mortemart.  Si  quelque  chose 
pouvait  ajouter  au  prix  que  j'attache  aux  seutiments  qui  l'ont  dictee,  c'est  assu- 
roment  la  voie  par  laquelle  j'en  ai  re^u  ce  nouveau  temoignage.  Uonore  de 
toute  la  confieuce  de  Votre  Majeste,  si  bien  fait  pour  la  reprosenter,  par  la 
noble  loyaute  de  son  caractere,  le  Duc  de  Mortemart  a  pu  juger  des  son 
retour,  combien  je  me  plais  ä  le  voir  appele  a  resserrer  les  liens  de  l'amitie 
qui  nous  unit,  Monsieur  mon  Frere,  comme  a  cimenter  Theureuse  alliance  de 
la  France  et  de  la  Russie.  Mes  entretiens  avec  cet  Ambasasdeur  et  les 
Communications  qu'il  a  adressees  ä  mon  ministere,  m'ont  fourni  de  nouveaux 
motifs  de  me  feliciter  de  cette  union,  dont  les  salutaires  effets  viennent  de 
se  manifester  encore  dans  une  occasion  recente.  Consacrees  ä  l'ex^cution 
d'engagements  solennels  et  a  un  but  de  sollieitude  commune,  les  negociations 
de  Londres  n'en  ont  pas  moins  ete  environuees  de  difficultes  de  plus  d'une 
espece.  C'est  ä  la  haute  sagesse  de  Votre  Majeste,  qu'appartient  essentielle- 
ment  le  merite  de  les  avoir  en  grande  partie  apianies  et  d'avoir  amene  des 
resultats  tres  satifai^ants  ä  plusieurs  egards.  Votre  Majeste  puisera,  j'en  ai 
la  convictiou,  dans  la  magnanimito  de  Ses  intentions,  le  besoin  de  continuer 
la  puissante  protection  a  une  cause  a  laquelle  eile  a  rendu  de  si  grands  Services, 
et  d'y  consacrer  la  bienfaisante  et  euertrique  influence  de  sa  politique.  Porte 
a  m'y  associer  par  mes  sentiroents  autant  que  par  mes  principes,  je  reconnais 
plus  que  j'amais  la  baute  importance  de  notre  ^troite  union  dans  un  moment 
oü  de  nouvelles  difficultes  semblent  s'^lever  a  mesure  que  la  crise  des  affaires 
de  Orece  approche  ä  son  dc'nouement  et  oü  nos  intentions  pures  et  loyales 
devraient  ä  si  juste  titre  etre  partout  appreciees  comme  elles  meritent  de  l'etre. 


462  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

Le  et«  Pozzo  di  Borgo  est  specialement  Charge  d'avoir  Tbonneur  de  faire 
connaitre  ä  Votre  Majeste  la  nature  de  mes  apprehensions,  ainsi  que  mes 
vceiix  et  mon  opinion  sur  ies  moyens  que  je  croirais  les  plus  propres  a 
ecarter  les  obstacles  qui  pourraient  retarder  ou  entraver  raccomplissement  du  but 
de  la  triple  alliance.  11  m'est  permis  d^esperer  que  Votre  Majest^  honorera 
cette  opinion  de  Son  suffrage  et  qu'Elle  y  retrouvera  l'impulsion  de  Ses  propres 
dispositions. 

En  appreciant,  comme  Votre  Majest^  a  bien  voulu  le  faire  dans  Sa  lettre, 
les  vues  qui  President  ä  la  conduite  de  la  guerre  que  j'ai  ä  poursuiTre,  Elle 
m'a  rendu  justice  et  m'a  fait  ^prouver  la  satisfaction  la  plus  Tive.  Force 
d'entreprendre  contre  la  Porte  Ottomane  une  nouvelle  campagne,  mon  yoeu  le 
plus  eher  est  de  la  voir  servir  &  accelerer  To^uvre  d'une  paix  solide,  equitable 
et  conforme  au  prix  que  je  mettrai  toujours,  a  offrir  a  mes  Alli^s  un  gage  de 
plus  des  intentions  conciliantes  et  moderees  dela  Russie.  Ce  n'est  pas  aupres  de 
Votre  Majest^  que  j'ai  besoin  de  les  faire  valoir.  Je  c^de,  en  me  liyrant  a 
cet  epanchement,  a  l'appel  de  cette  amitie  sincere  et  de  cette  confiance  reci- 
proque  que  je  suis  heureux  de  voir  presider  a  nos  rapports. 

C'est  avec  empressement  que  je  profite  de  cette  occasion,   pour  joindre 

k  des  assurances    si  vivement  senties,   Celles  de  la  haute  consideration  et  de 

l'inalterable  amitie  avec  lesquelles  je  suis 

Monsieur  mon  Frere 

de  Votre  Majeste 

le  bon  frere  et  ami 

Nicolaj. 
St  Petersbourg  le  19  Avril/l  Mai  1829. 

N.  an  Fr.  W.  IIT  autogr. 

Petersb.    ^^^"    1829. 
4  April 

Der  Konig  werde  schon  durch  Alexandra  (die  Kaiserin)  den  Termin  der  An- 
kunft in  Warschau  kennen,  und  daß  sie  auf  einige  Zeit  nach  Berlin  kommen 
würde.  Je  suis  heureux  de  pouvoir  lui  procurer  ce  grand  bonheur  et  j*aurai  ete 
heureux  de  pouvoir  comme  par  le  passe  l'y  suivre  et  me  retrouver  pres  de  Vous, 
Sire,  dans  ce  lieu  oü  tous  mes  Souvenirs  les  plus  chers  m'attachent  a  Jamals  et  oü 
j^appris  par  vos  bontes  que  Ton  pouvait  etre  heureux  hors  de  sa  patrie.  Helas, 
ces  heureux  temps  pour  moi  ne  sont  plus;  V.  Maj.  m^en  voudrait-elle  donc 
si  j'ose  lui  emettre  le  voeu  d^avoir  le  bonheur  de  Tentrevoir,  ne 
füt-ce  que  pour  un  ou2jours  sur  tel  point  de  la  frontiere  ou  pres 
de  la  frontiere  qu'elle  d^signerait  et  de  pouvoir  lui  presenter  moi 
meme  mon  fils  ainel  Ce  serait,  Sire,  un  vrai  instant  de  felicit^  pour  moi, 
que   de  Tapprocher  apres  tant  de  malheurs  et  d'epreuves  de  tout  genre. 

Si  V.  M.  daigne  y  consentir,  oserai-je  la  supplier  de  me  donner  ses  ordres 
au  plus  tot  et  vouloir  bien  me  promettre  de  me  traiter  en  vieil  enfant  adop- 
tif  de  sa  famille  und  wie  einen  alten  Preußischen  Diener;  ce  seront 
de  courtes  illusions  du  passe.  —  Me  ber^ant  dans  Tespoir  que  V.  M.  ue  me 
refusera  ce  bonheur,  permettez  etc. 

Charlottenburg,    llausarchiv. 


Anlftgen  zu  Kapitel  IX.  463 

N.  an  Fr.  W.  III.  antogr. 

Varsovie,  13/25  Mai  1829. 
Dank  für  den  durch  Rauch  überbrachten  Brief.  Hofft,  daß  die  Zu- 
sammenkunft genau  so  erfolgen  werde  wie  geplant.  Hier,  le  couronnement  a 
eu  Heu  et  tout  s^est  passe  le  mieux  du  monde  et  il  parait  ä  la  satisfaction 
commune;  je  me  reserve  d'en  entretenir  de  bouche  V.  M.  et  de  la  mettre  au 
fait  de  tout  ce  qui  Ta  motive  et  precede.  J^ai  ressu  (sie!)  hier  matin  le  rapport 
du  comte  Diebitsch  pour  m^annoncer  la  reussite  complette  de  Pinvestissement 
de  Silistrie;  malgre  Tenorme  crue  des  eaux  et  la  marche  penible  que  Tarmee 
a  du  faire,  l'on  a  reussi  h  enlever  ä  la  bayonnete  tous  les  ouvrages  de  l'annce 
derniere,  de  fa^on  que  12  heures  apres  l'arrivee  des  troupes  devant  la  place, 
Ton  s'est  trouve  maitre  non  seulement  de  toutes  ;Ies  hauteurs  qui  entoureut 
Silistrie,  mes  aussi  de  tous  les  ouvrages  de  Tan  demier,  et  le  soir  nos  tirailleurs 
gamissaient  dejä  les  logements  des  Turcs  a  300  toises  de  la  place;  en  meme 
temps  la  flotille  complette  Tinvestissement,  et  la  nuit  un  courrier  euToye  par 
le  commandant  au  Vezir  fut  pris  et  ses  depeches  nous  ont  decouvert  la  detresse 
oü  les  chefs  se  trouvent.  Un  pont  sur  le  Danube  etait  d^ja  presque  termine 
pres  du  camp,  et  avec  cclui  de  Giurjewo  et  de  Sotounovo  fait  le  troisieme  que 
nous  possedons  sur  ce  fleuve.  Erwartet  ungeduldig  Nachrichten  vom  Admiral 
Greigh,  qui  a  fait  voile  pour  chercher  ä  combattre  la  Flotte  turque  effective- 
ment  entrce  dans  la  mer  Noire.  Wartet  mit  Ungeduld  auf  den  Augen- 
blick de  pouvoir  me  jeter  dans  vos  bras,  Sire,  et  de  pouvoir  vous  reiterer  alors 
moi-meme  les  seutiments  etc.  Cbarlottenburg.     Uausarchiv. 

N.  an  Fr.  W.  III  antogr. 

Kaiisch  3/15  Juin  1829. 

Je  ne  puis  m'eloigner  des  etäts  de  V.  M.  sans  vous  exprimer  encore  une 
fois,  Sire,  le  bonbeur  que  j'ai  eprouve  de  vous  revoir  et  de  vous  approcher 
pendant  de  courts  instants;  c^est  une  heureuse  epoque  de  ma  vie  qui  ue  peut 
jamais  s'elTacer  de  mon  c(pur.  Recevez  aussi  avec  bonte  toute  ma  reconnaissauce 
pour  Taccueil  que  vous  avez  bien  voulu  me  faire  et  toutes  les  bontes  dont  vous 
avez  daigne  me  combler.  J'ai  ete  bien  charme  de  revoir  le  6d>o  de  Guirassiers 
que  j'ai  trouve  dans  le  plus  bei  etat.  Le  Comte  Nostitz  aura  Fbonneur  de 
vous  rendre  compte,  Sire,  de  Texercice  qui  a  parfaitement  reussi.  Je  prends  la 
liberte  d'offrir  au  regiment  une  remonte  de  cent  chevaux,  si  vous  deignez  le 
permettre,  Sire.  Gute  Nachricht  v.  d.  Armee.  Dans  un  engagement  assez  sorieux 
pres  de  Tourtoukay  avec  un  corps  envoye  pour  insurger  le  pays,  le  gen.  Kreutz 
a  enleve  un  Drapeau,  une  centaine  de  prisonniers  et  tue  250.  Le  Vezir  est 
de  nouveau  sorti  avec  a  peu  pres  30/m  hommes  et  s'est  place  pres  de  Essitepe, 
que  V.  M.  trouvera  sur  la  carte  au  coufluent  des  routes  de  Cboumla,  Pravady 
et  Kaliandgy;  dans  un  engagement  avec  son  avant-garde  nos  hulans  du  Boug 
ont  pris  un  drapeau.  La  troisieme  parallele  etait  dejä  commencee  pres  de 
Silistrie.  Le  Gen.  Diebitsch  etait  parti  avec  le  2  Corps  d'armee  pour  tächer 
de  tomber  dans  le  flanc  du  V^zir,  mais  je  doute  fort  quMI  puisse  y  reussir,  les 
Turcs    probablement  rentreront  dans  la  place  ä  la  premiere  nouvelle  de  sa 


464  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

marche.  Nous  avons  eu  le  malhear  de  perdre  une  fregatte  prise  par  les  Turc^ 
pendant  un  calme  plat  au  milieu  de  leur  flotte.  Par  contre  un  de  nos  brigs 
s^est  battu  contre  2.vaisseaux  amiraux  et  s^en  est  tire  d'une  maniere  beroique. 
Le  fils  d'Abbas  Mirza  vient  enfin  d^arriver  dans  nos  frontieres,  ce  qui  vous  ras- 
Sure  beaucoup  sur  les  intentions  des  Persans. 

Charlotten  bürg.     Hausarchiv.  Gruß  u  P  S. 

N.  an  Fr.  W.  III  autogr. 

Varsovie  7/19  Juin  1829. 

Que  Dieu  seit  mille  fois  beni,  Sire!  Le  Vezir  est  completement 
battu.  56  pieces  de  canon  au  depart  du  courrier  et  1500  prisonniers  sont 
le  fruit  d'une  victoire  due  ä  la  manoeuvre  habile  du  brave  Dibitsch  et  des 
beros  qu^il  a  conduits;  V.  Maj.  verra  que  Paifaire  a  ete  des  plus  cbaudes,  et  nous 
avons  perdu  deux  bat.  en  entier,    les   l^rs  de  MypOMl>  et   du  12  chasseurs. 

Je  n'ai  pas  besoin  de  vous  dire,  Sire,  et  mon  bonheur  et  ma  reconnaissance 
au  bon  Dieu  auteur  de  tout  ce  qui  nons  arrive  d^beureux  ici  bas!  —  Ne  m*en 
Youlez  pas  Sire,  si  j'ose  vous  faire  part  de  cettegrande  nouvelle  pour  moi  par 
un  de  mes  aides  de  camp.  Le  Comte  KymeJieB'b  aura  Thonneur  de  lui  re- 
mettre  la  presente  et  je  le  recommande  a  vos  bontes  s'il  en  est  digne.  Puisse 
cet  heureux  evenement  nous  en  faire  prevoir  et  obteuir  d'autres,  a  la  tele  des- 
quels  je  mets  celui  que  j'attends  de  Vous,  Sire! 

Devouement,  fidelite  et  reconnaissance   Vous  sont  voues   k  jamais    par 

votre  beau-fils 

Charlottenburg.     Hausarchiv.  Nicolas. 

Roth  an  Diebitsch. 

Lager  von  Eski  Arnautlar,  6.  Mai  1829. 
Eingetroffen  9.  Mai  (Toll). 
M.  le  Comte. 

Par  le  rapport  que  mon  aide  de  camp  Ooubaroff  aura  Thonneur  de 
remettre  a  V.  E.  avec  deux  drapeaux  pris  sur  Tennemi,  eile  verra  que  nous 
avons  perdu  hier  4  pieces  de  canon,  malgre  que  Tennemi  a  ete  repousse. 
Cette  perte  m'est  plus  sensible  que  tout  ce  qui  aurait  pu  m'arriver  de  fäcbeux; 
quoique  je  croie  lui  etre  en  grande  partie  redevable  que  le  graud  Vezir,  vu 
Topioiätrete  des  combats  livres  hier,  tres  sensibles  pour  lui  par  la  grande 
perte  d'hommes  qu'il  y  a  faite,  vraisemblablement  n'a  plus  voulu  sVxposer  a 
renouveler  aujourd'hui  ses  attaques,  et  s'est  decide  ä  la  retraite,  n^ayant  pu 
gagner  un  pouce  de  terrain  sur  nous,  malgre  son  enorme  superiorite  en 
nombre. 

Si  nous  nous  etions  retires  dans  notre  position,  a  quoi  je  me  serais  peut- 
etre  decide  si  les  chevaux  d^artillerie  en  grande  partie  u^avaient  pas  ete  tues, 
nous  aurions  immanquablemeot  ete  pris  en  dos  par  des  masses  d^ufanterie, 
ce  qui  avait  deja  ete  execute  par  uue  masse  de  cavalerie,  mais  sans  succes, 
qui  nous  aurait  force  d'evacuer  la  position,  et  en  ce  cas  il  aurait  ete  difticile 
de  caiculer  les  suites  qui  en  seraient  resultees. 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  465 

Quoique  je  regarde  cette  perte  comrae  un  malheur  pour  moi,  j'ose  cepen- 
dant  assurer  Y.  E.  que  la  journee  d^hier  fait  infiniment  d*bonneur  aux  troupes 
qul  y  ont  combattu,  vu  que  Tennemi  ayant  eto  six  fois  plus  fort  que  nous, 
a  ete  repoussc  avec  une  perte  tres  considerable,  et  que  par  cela  meme  il  a 
echoue  dans  son  entreprise.  Sa  position  serait  defenue  plus  difficile,  si  de 
Pravody  on  sV'tait  decide  de  Tattaquer  ä  revers,  de  concert  avec  moi. 

Daignez  agreer  etc. 
Louis  de  Roth.    Woj.  Utscb.  Arch.  2708  A. 

Konzept  der  undatierten  Instruktion  Bemstorffis  f&r  Muffling, 

Ton  Mflffllngs  eigener  Hand. 

1.  Seine  Majestät  der  König  haben  in  den  mit  Sr.  Majestät  dem  Kaiser 
von  Rußland  bei  höchstdero  Anwesenheit  in  Berlin  gehabten  Unterredungen 
die  volle  Bestätigung  der  schon  längst  von  Ihnen  gehegten  Überzeugung  er- 
halten, daß  der  Kaiser  nur  ungern  sich  in  einen  Krieg  mit  der  Pforte  ver- 
wickelt gesehen  hat,  daß  es  weder  in  den  Absiebten  noch  Wünschen  desselben 
liegt,  Eroberungen  zu  machen  oder  gar  der  Selbstständigkeit  des  Osmaniscben 
Reiches  zu  nahe  zu  treten,  daß  dieser  Monarch  vielmehr  gern  durch  einen 
baldigen  Frieden  den  jetzigen  Krieg  beendigen  wird.  Seine  Majestät  haben 
in  diesen  Unterredungen  ebenso  sehr  die  feste  Ansicht  gewonnen,  daß,  falls 
von  Seiten  des  Sultans  keine  Neigung,  die  Feindseligkeiten  beizulegen,  ge- 
äußert wird,  Rußland  dieselben  mit  aller  Kraft  und  allem  Nachdruck  bis  zum 
letzten  Ziele  fortführen  werde,  als  daß  die  Pforte,  wenn  sie  dem  Russischen 
Ilofe  entgegengeht  und  sich  unmittelbar  an  denselben  wendet,  in  dem  gegen« 
wärtigen  Augenblick  den  Krieg  auf  eine  mit  ihrer  Ehre  und  Selbstständigkeit 
bestehende  und  ihre  wahren  Interessen  nicht  geföhrdende  Weise  zu  Ende 
bringen  kann. 

2.  In  dem  Wunsche,  möglichst  zur  Wiederherstellung  des  Friedens  mit- 
zuwirken, glauben  Seine  Majestät  diese  von  Ihnen  gewonnene  Ansicht  und 
Überzeugung  der  hohen  Pforte  offen  mitzuteilen  und,  wenn,  wie  zu  erwarten 
ist,  ein  solcher  Beweis  von  Vertrauen  und  Theilnahme  Ruckäußerungen  von 
Seiten  der  letzteren  herbeiführt,  diese  Gelegenheit  benutzen  lassen  zu  müssen, 
um  derselben  nochmals  dringend  vorzustellen,  wie  sehr  es  ihr  eigenes  Interesse 
erheischt,  nicht  länger  zu  säumen,  sich  Rußland  zu  nähern.  Somit  ist  es  der 
Zweck  der  außerordentlichen  Sendung  des  General  Lieutenants  Frh.  von  Müflling 
nach  Constantinopel,  jener  von  Seiner  Majestät  dem  Könige  gehegten  Über- 
zeugung bei  dem  Diwan  Eingang  zu  verschaffen  und  in  dem  Sinne  derselben 
die  Pforte  zu  einem  annähernden  Schritt  gegen  Rußland  zu  bewegen. 

3.  Vielleicht  wird  die  Pforte,  ehe  sie  sich  zu  einem  solchen  Schritte 
bereit  erklärt,  näher  zu  erfahren  wünschen  und  suchen,  unter  welchen  Be- 
dingungen sie  den  Frieden  von  Rußland  zu  erhalten  hoffen  darf.  Preußen 
kann  aber  derselben,  ohne  dem  Zwecke  selbst,  den  es  verfolgt,  zu  schaden, 
keine  speziellen  Angaben  darüber  mittheilen,  noch  weniger  aber  die  Erlangung 
dieser  oder  jener  Bedingung  verbürgen;  es  muß  sich  im  allgemeinen  darauf 
beschränken,  auf  die  in  dem  Manifeste  des  Russischen  Hofes  aufgestellten 
Forderungen  hinzuweisen.    Sollte  die  Pforte  jedoch  die  Besorgnis  äußern,  daß 

Scbiemann,  Geschichte  RnlUan48.   II.  30 


466  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

unter  diesen  Forderungen  Zumutungen  versteckt  seien,  deren  Gewährung  mit 
der  Ehre  und  der  Unabhängigkeit  des  Türkischen  Reiches  unverträglich  sein 
würde,  oder  sollte  dieselbe  in  Bezug  auf  einen  einzelnen  Gegenstand  der 
künftigen  Friedensunterhandlungen  eine  übermäßige  und  durch  die  Absichten 
Rußlands  nicht  gerechtfertigte  Besorgniß  aussprechen,  so  wird  es  angemessen 
sein,  ihr  eine  solche  Besorgniß  durch  allgemeinere,  nicht  weiter  bindende  Ver- 
sicherungen und  ohne  in  nähere  Details  einzugehen,  zu  benehmen.  In  dieser 
Beziehung  wird  also  im  Ganzen  ein  mehr  negatives  Verfahren  beobachtet 
werden  müssen,  in  der  Art,  daß  der  Pforte  nicht  entgegengegangen  wird, 
sondern  nur  dann,  wenn  eine  bestimmte  Äußerung  derselben  es  nötig  macht, 
ihre  Ansichten  in  dem  eben  angeführten  Maaße  berichtigt  werden;  es  kann 
jedoch  im  Verlauf  der  Besprechungen  vielleicht  nützlich  werden,  hinsichtlich 
der  von  Rußland  gestellten  Forderungen  einer  Entschädigung  für  die  auf- 
gewandten Kriegskosten,  die  Pforte  gelegentlich  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
daß,  je  länger  der  Krieg  dauert,  desto  größer  der  Kostenaufwand  für  Ruß- 
land und  desto  größer  also  auch  dessen  Ansprüche  auf  Ersatz  sein  müssen 
und  werden. 

4.  Alles  muß  vermieden  werden,  was  besonders  bei  den  Gesandten  der 
anderen  Mächte  in  Constantinopel  den  Glauben  entstehen  lassen  könnte,  als 
suche  oder  beabsichtige  Preußen,  eine  Vermittelung  zwischen  den  beiden 
Krieg  führenden  Mächten  zu  übernehmen;  nichts  destoweniger  kann,  wenn 
die  Pforte  zu  einem,  Behufs  der  Annäherung  an  Rußland,  bei  dieser  Macht  zu 
thuenden  Schritte  die  Mitwirkung  des  General  Lts.  von  Müffling  in  Anspruch 
nimmt,  einem  derartigen  Antrage  unbedenklich  entsprochen  werden.  —  Ohne 
eine  direkte  Einladung  von  Seiten  der  Pforte  wird  der  preußische  Abgesandte 
sich  nicht  in  Verbindung  mit  dem  Russischen  Hauptquartier  setzen  können; 
erfolgt  eine  solche,  so  bleibt  es  demselben  lediglich  überlassen,  auf  welche 
Weise  er  diese  Verbindung  zu  bewirken  für  angemessen  erachtet. 

5.  Die  dem  General  Lieutenant  von  Müffling  anvertraute  Sendung  ist  an 
sich  eine  selbstständige  und  muß  es,  zur  Sicherung  ihres  Erfolges,  auch  in 
der  Ausführung  bleiben.  Es  kann  daher  weder  von  Verabredungen  und  von 
einem  gemeinschaftlichen  Handeln  mit  den  andern  in  Constantinopel  an- 
wesenden Diplomaten  die  Rede  sein,  noch  kommt  es  darauf  an,  die  Unter- 
stützung und  Mitwirkung  derselben  für  den  Zweck  der  Sendung  in« Anspruch 
zu  nehmen.  Höchst  wichtig  aber  ist  es,  daß  diesen  Gesandten  die  Oberzeu- 
gung beigebracht  werde,  daß  Preußen  keinen  Zweck  verfolgt,  der  nicht  mit 
den  Wünschen  ihrer  eigenen  Höfe  übereinstimmt,  keinen  sogar,  der  nicht  der 
ausgesprochene  Wunsch  aller  Europäischen  Mächte  ist.  Die  Gesandten  in 
Constantinopel  müssen  daher  erfahren,  daß  ihre  Höfe  von  der  Sendung  des 
Gen.  Lts.  von  Müffling  und  ihrem  Zwecke  vollständig  in  Kenntniß  gesetzt 
worden  sind,  und  es  muß  ihnen  mit  aller  der  Offenheit  und  dem  Vertrauen 
entgegengegangen  werden,  welche  erforderlich  sind,  um  bei  ihnen  die  erwähnte 
Überzeugung  hervorzubringen.  Die  Offenheit  und  dieses  Vertrauen  finden  ihre 
Gränze  nur  da,  wo  das  besondere  Zutrauen,  welches  der  Russische  Hof  dem 
Preußischen  geschenkt  hat,  verletzt,  oder  dem  Zweck  der  Sendung  geschadet 
würde,  es  darf  daher  namentlich  zu  einem  jeden  einzelnen  von  den  Gesandten 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  467 

in  Constantinopel  über  die  Bpeciellen  von  Rußland  verlangten  Friedensbedin- 
gungen nur  in  solchem  allgemeineren  Sinne  gesprochen  werden,  als  bekannt 
ist,  daß  Rußland  selbst  sich  darüber  gegen  die  eigenen  Hofe  jener  Gesandten 
geäußert  hat. 

6.  Die  Einhaltung  des  besten  Einverständnisses  mit  den  Königlichen 
Gesandten,  Kammerherrn  von  Royer  ist,  wie  es  kaum  der  Erwähnung  bedarf, 
vorzüglich  zu  empfehlen.  Grf.  v.  Royer  ist  schon  vor  seinem  Abgang  von 
hier  auf  die  Möglichkeit  vorbereitet  worden,  daß  Seine  Majestät  der  Konig  in 
Beziehung  auf  die  jetzigen  Verwickelungen  im  Orient  eine  außerordentliche 
Sendung  nach  Constantinopel  anbefehlen  konnten;  er  wird  noch  besonders  an- 
gewiesen werden,  alles  zu  thun,  um  dem  General  Lieutenant  von  MüfTling  zur 
Ausführung  des  ihm  ertheilten  Auftrages  behülf  lieh  zu  sein,  dagegen  wird  dem- 
selben auch  in  Hinsicht  auf  diesen  Auftrag  das  volleste  Vertrauen  bewiesen 
werden  können  und  müssen. 

Müfflingsches  Familienarehiv. 


Fflrst  Trubetzkoi  an  Diebitscb. 

Warschau,  9.  Juni  1829. 

...  Je  suis  arrive  le  7  de  ce  mois  entre   1 1  h  et  midi,  le  7™*  jour   de 
mon  depart  du  quartier  general.     II  serait  difficile   de  depeindre  a  V.  E.  la 
Sensation  que  la  nouvelle  dont  Vous  avez  bien  voulu  me  faire  le  porteur  a  pro- 
duite  sur  PEmp.  Au  comble  de  la  joie  ou  plutöt  du  bonheur,  il  m'a  couvert 
de  baisers,  s'est  jete  a  genoux  pour  rendre  gruce  a  Dieu  et  m'a  tout  de  suite 
felicite   comme  son  Aide  de  camp  et  Colonel,  deux  gräces  auxquelles  je  ne 
m'attendais  nullement  ä  la  fois;   puls  sans  me  laisser  le  temps  de  me  recon- 
naitre,  m'a  enleve  pour  ainsi  dire  dans  son  drocbky,  pour  aller  communiquer 
cette  agreable  nouvelle  au  Gr.  Duc  Constantin;  j*ai  ajoute   de  vive  voix  tout 
ce  que  je  savais  en  fait  de  dotails  sur  la  journee,  ainsi  que  sur  tout  le  temps 
de  notre  marche  de  Silistrie.     L^Emp.  ne  se   lassait  pas  dVcouter  et  de  te- 
moigner  son  extreme  satisfaction  sur  tout  ce  qui  sVtait  pass«^,  Tartillerie  du 
Vezir  surtout  entre  nos  mains  le  rendait  heureux.     II  n'a  pas  manque  cepen- 
dant  de  faire  Fobservation   que  V.  E.  avait  prevue  par  rapport  a  la  petite 
quantite  de  drapeaux  que  nous  avions  pris,  sur  quoi  j'ai  rt'pondu  que  Tennemi 
ayant  ete  poste  dans  une  position  boisee  et  entrecoupce  de  d(^files,  de  ravins, 
les  avait  vite  enleves  dans  des  endroits  foures  et  inaccessibles,  des  qu'il  avait 
vu  que  les  affaires  allaient  mal  pour  lui;  que  du  reste  les  50  canons  que  nous 
avions  entre  nos  mains,  etaient  a  ce  qui  me  semble  de  meilleures  trophees  que 
des  drapeaux  turcs  que  Ton  obtient  quelquefois  a  si  bon  marche,  sur  quoi 
TEmp.  a  ete  tout  a  fait  de  mon  avis. 

Abends  lud  der  Kaiser  ihn  zum  Thee  und  fragte  ihn  2  Stunden  lang 
aus,  namentlich  über  die  rapports  existänts  entre  les  differents  membres  du 
quartier  general.  Schien  befriedigt  und  beruhigt.  Nach  Preußen  ist  Gen.  Kou- 
cheleff  mit  der  Siegesbotschaft  geschickt. 

30» 


468  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

Diebitsch  an  Nesselrode. 

8.  Juni.    Im  Lager  Ton  Jendji-Kieni  bei  Scbumla 

Auszug. 

Er  habe  nach  dem  glänzenden  Siege  vom  30.  Mai  die  Gelegenheit  benutzt, 
welche  die  Rücksendung  Ton  Frauen  und  Kindern  und  die  Beerdigung  der 
in  den  eroberten  Redouten  liegenden  Türken  bot,  um  Ponton  mit  einem  Brief 
au  den  Oroßvezir  zu  schicken;  dessen  Antwort  habe  dann  eine  zweite  Sendung 
Fontons  zur  Folge  gehabt.  Das  Schreiben  an  den  Vezir  war  Yom  2.  Juni 
und  teilt  mit,  daß  er  Fonton  schicke,  um  laut  seinen  Vollmachten  faire  cesser 
les  maux  de  la  guerre.  Rapport  Fontons  vom  7.  Juni:  der  Brief  wurde  ent- 
gegengenommen und  nach  zwei  Stunden  ein  Offizier,  der  sich  Nouri  EflTendi 
nannte,  geschickt:  der  Vezir  wünsche  zu  wissen,  auf  welcher  Basis  Verhand- 
lungen stattfinden  könnten. 

Auf  Fontons  Gegenfrage,  ob  der  Vezir  ausdrucklich  Vollmachten  zu  Ver- 
handlungen habe,  kam  nach  einigem  Zögern  die  Antwort:  ad  hoc,  pour  la 
paix  nicht;  dann  erklärte  er,  daß  er  dem  Großvezir  berichten  und  am  anderen 
Tage  schriftliche  Antwort  senden  werde.  Darauf  trennten  sie  sich.  Die  Antwort 
forderte  auf,  Fonton  nochmals  zu  -schicken,  was  am  6.  geschah.  Er  fand  bei 
den  türkischen  Vorposten  ein  Zelt  zu  seiner  Aufnahme  und  einen  Offizier, 
um  ihn  zu  empfangen;  dann  meldete  man  ihm,  daß  der  Tchaouche-Bachi 
kommen  werde.  Er  hieß  Nachid  Bey  und  war  eine  Art  Kanzler  (Nichandji) 
und  stelWertretender  Tchaouche  -  Bachi  (Groß -Marsch all),  er  war  Fonton  aus 
Constantinopel  her  bekannt,  mit  ihm  Nouri  Effendi.  Nach  Cafe,  Pfeife  und 
Höflichkeiten  erklärte  der  Tchaouche-Bachi,  auch  der  Großvezir  sei  friedlich 
gesinnt,  er  wünsche  den  point  de  depart  seiner  Unterhandlung  kennen  zu 
lernen,  danach  werde  sich  des  Vezirs  späteres  Verhalten  richten. 

Fonton  wies  noch  einmal  auf  die  Unerläßlichkeit  von  Vollmachten  hiu 
und  fügte  hinzu,  daß  der  Kaiser,  als  er,  um  seine  bedrohten  Rechte  zu  wahren, 
zu  den  Waffen  griff,  am  14.  April  1828  eine  Deklaration  erlassen  habe,  welche 
im  Voraus  die  Bedingungen  ankündigte,  die  allein  den  Krieg  beendigen 
könnten.  Darin  habe  sich  nichts  geändert,  man  möge  also  die  Declaration 
lesen. 

Nachid-Bey  erklärte,  ihm  sei  die  Declaration  nicht  genau  in  Erinnerung, 
der  Großvezir  neu  in  den  Geschäften,  er  wisse  nicht,  ob  die  Declaration  sich 
im  Lager- Archiv  befinde.  Bitte  um  Angabe.  Fonton,  der  im  Voraus 
dazu  autorisiert  war,  that,  als  ob  er  dem  Nachid  eine  besondere  Gefälligkeit 
erweise,  und  formulierte  die  Bedingungen  so  wie  die  Instruktion  des  Kaiser- 
lichen Cabinets  an  Diebitsch  vom  23.  April  1829  es  thut. 

1.  Beachtung  und  Wirksamkeit  der  Verträge,  speziell  des  Vertrages  von 
Akkerman. 

2.  Entschädigung  für  die  Verluste  russischer  Unterthanen  und  Kriegs- 
kosten. 

3.  Handelsfreiheit  im  Schwarzen  Meer  und  Bosporus. 

4.  Beitritt  der  Pforte  zum  Vertrage  vom  6.  Juli  29. 

Das  wurde  schriftlich  aufgesetzt.  Die  türkischen  Unterhändler  schienen 
angenehm  erstaunt.     Daran  knüpfte  sich  ein   Gespräch  über  die  Leiden  des 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  4(]g 

Krieges,  das  einen  intimen  Charakter  annahm,  worauf  Fonton  sagte,  er  wolle 
auf  Grund  ihrer  alten  Freundschaft  ihm  noch  einige  nützliche  Wahrheiten  sagen. 
Nachid  Bey  bat  darum  mit  lebhaften  Versicherungen. 

„Eh  bien",  ai-je  continue,  ,nous  savons  parfaitement  que  la  guerre  actuelle 
a  donne  lieu  chez  vous  a  un  dechainement  haineuz,  a  une  ezplosion  Tiolente 
des  sentiments  les  plus  exageres  contre  nous.  On  a  crie  et  täche  de  per* 
suader  tont  le  monde  que  la  Russie  en  voulait  ä  Texistence  de  la  puissance 
Ottomane,  qu'elle  ne  cberchait  que  Foccasion  et  les  moyens  pour  la  detruire 
etc.  Neid,  Intrigue  etc.  habe  diese  odieuses  et  infames  inculpations  gegen 
Rußland  gehäuft.  „Elles  creusent  un  abime  qui  peut  s'ecrooler  sous  vos  pieds 
et  vous  engloutir.  Eh  bien,  croyez  *  en  a  ma  parole,  je  vous  le  jure  sur  mon 
Dieu:  il  n^y  a  pas  un  mot  de  vrai  dans  tout  ce  qu*on  impute  ä  la  Russie. 
La  guerre  actuelle  n'a  ete  pour  cette  puissance  que  le  produit  d'une  imperieuse 
necessite!*"  Ob  er  das  leugnen  könne?  Rußland  führe  Krieg,  aber  um  zu 
einem  festen  und  sicheren  Frieden  zu  gelangen,  teile  que  l'exigent  les  interets 
politiques  et  commerciaux  de  ses  sujets.  Vous  venez  d'en  recevoir  aujourd'hui 
une  preuve  irrefragable. 

Voila  ce  que  j^avais  a  vous  dire,  faites  -  en  votre  profit,  et  rappelez  -  vous 
quelque  jour  ce  que  vous  a  dit  un  ami^.  Nachid  Bey  drückte  ihm  stark  die 
Hände  und  dankte  gerührt:  „Je  vous  comprends  tres  bien,  ce  n'est  que  trop 
Trai,  l'intrigue  et  la  passion  ont  jete  leur  venin.  Vos  paroles  me  sont  preci- 
euses,  je  tächerai  de  les  faire  utiliser.  Que  Dieu  couronne  vos  efforts!  Darauf 
cherbet  (boisson  de  conge  dans  les  visites  de  c^remonie)  und  sie  schieden. 

Nachid  Bey  sagte,  wie  sich  aus  einer  Depeche  Diebitschs  an  Nesselrode 
ergiebt,  beim  Abschied:  er  hoffe  ihn  bientot,  longuement  et  agr^ablement 
wiederzusehen. 


Der  Marsch  gen  Schnmla-Knlewtscha« 

Der  Vizir  war  durch  einen  Erfolg  am  5ten  May  über  den  General  Roth, 
bethört,  aus  Schumla  gen  Pravodi  gezogen,  welches  er  belagerte.  Da 
faßten  die  beiden  Chefs  den  merkwürdigen  Entschluß  mit  dem  größten  Theil 
der  Truppen  auf  zu  brechen,  ihn  zu  umgehen,  und  sich  zwischen  Uly  M.ia  und 
Pravodi  aufstellend,  zu  einer  entscheidenden  Schlacht  zu  zwingen.  Ganz 
gegen  diesen  Plan  stimmte  der  General  Buturlin.  Im  Hauptquartier  waren 
die  Meinungen  getheilt,  doch  die  meisten,  unter  denen  auch  ich,  glaubten  nur 
an  eine  militärische  Promenade,  da  bei  unserer  Annäherung  der  Vizir  sich 
zurück  ziehen  und  in  seinem  Schlupfwinkel  Schumla  sich  verbergen  werde.  Der 
Befehl  zum  Aufbruch  erging,  —  und  wieder  der  unglücklichen  Brücke 
wegen  zwei  Tage  später,  indem  beinahe  noch  die  Hälfte  des  zweiten 
Corps  am  jenseitigen  Donauufer  sich  befand.  Die  Armee  marschierte 
in  zwei  Colonnen  aus.  Die  linke  unter  Gen.  Kreutz  den  23ten,  die  rechte 
unter  dem  Befehl  des  Grafen  Diebitsch  selbst,  den  24ten  May.  Die  Nacht 
vor  unserem  Ausmarsch,  durch  ein  regnichtes  und  stürmisches  Wetter  begünstigt 
thaten  die  Belagerten  einen  hartnäckigen  Ausfall  auf  dem  linken  Flügel,  der 
ihnen  aber  so  schlecht  bekam  daß  sie  nie  wieder  einen  ähnlichen  versuchten. 


470  Anlagen  lu  Kapitel  IX. 

Zerrissene  Wolken  ihre  Wasser  mit  Ungestüm  berabgießend,  flogen  über  den 
düsteren  Horizont  und  drohten  uns  mit  einem  beschwerlichen  Marsche.  Doch 
beim  ersten  Trommelwirbel,  wie  durch  einen  Zauber  schwanden  die  Nebel  und 
eine  freundliche  Sonne  blickte  auf  uns.  Mit  dem  steigenden  Tage  stieg  auch 
die  Hitze,  die  wir  aber  nicht  sehr  empfanden,  da  unser  Marsch  mehrentheils 
durch  waldigte  Gegenden  ging,  die  seit  der  Halbmond  in  Europa,  zum  ersten- 
mal russische  Truppen  betreten.  Die  Wege  waren  schlecht,  oft  nur  enge  Fuß- 
steige und  mußten  mit  vieler  Mühe  in  Stand  gesetzt  und  mit  Brücken  yersehen 
werden.  Auf  diesem  Marsche  haben  sich  die  Pioniere  des  6^n  Bataillons  be- 
sonders ausgezeichnet.  Am  schwersten  hatte  es  die  Artillerie,  die,  wie  der 
ganze  Train,  nie  anders  als  ä  la  file  passiren  konnte,  und  alle  Augenblicke 
anhielt,  bis  die  vordem  entweder  einen  hohen  Berg  hinauf  oder  herab,  oder 
auch  über  eine  gebrechliche  Brücke  gekommen  waren.  Dieses  war  Ursache 
daß  unsere  Obose,  die  hinter  den  Truppen  folgte,  spät  des  Abends,  und  am 
Tage  des  Ausmarsches  von  Silistria  erst  am  anderen  Morgen  ankam,  wir  also 
weder  Bediente,  Tbee,  Betten,  noch  andere  Bequemlichkeiten  hatten,  und  glücklich 
waren  ein  Obdach  unter  des  Generalen  Zelt  zu  finden» 

Den  26ten  mangelte  es  an  Wasser  bei  der  Mittagsrast;  die  Hitze  wurde 
drückender  und  die  Truppen  waren  diesen  Tag  sehr  angegriffen.  Hieran  war 
der  General-Quartiermeister  Buturlin  schuld,  denn  als  wir  weiter  marschirten, 
fanden  wir  anderthalb  Werst  vom  Lag')rplatz  ein  Dorf  mit  den  schönsten 
Fontainen.  (Oberhaupt  hat  gerade  in  dieser  Zeit  Buturlin  bewiesen  daß  er 
das  Praktische  seines  Amtes  nicht  verstand,  wie  er  denn  15  Werst  vor 
Kaurgu  den  Standpunkt  der  Armee  auf  der  Karte  nicht  anzugeben  wußte, 
und  man  sich  fast  verirrt  glaubte.  Wenigstens  machten  wir  zwischen  Silistria 
und  Kaurgu  einen  Umweg  von  15  Werst.) 

Einen  Tagemarsch  hinter  Kaurgu,  de.  28ten^  blieben  die  Equipagen  mit 
der  ganzen  Obose  zurück.  Alle  unsere  Bedürfnisse,  ein  Soldaten  Zelt,  selbst 
Hafer  auf  ungefähr  5  Tage,  mußten  wir  auf  unsere  Reit-  und  Handpferde 
packen.  Um  Mittag  hatten  wir  eine  lange  Rast;  in  der  Ferne  horte  man 
dumpfe  Kanonenschüsse,  die  allgemeine  Freude  verursachten;  der  Vizir  stand 
noch  vorPravodi;  jetzt  eine  der  feierlichsten  Sceneu.  Von  allen  Regimentern 
und  Compagnien  versammelten  sich  die  Truppen  zum  Te  Deum,  und  stellten  sieb 
vors  Hauptquartier  in  ein  großes  Quarree  auf.  In  der  Mitte  die  Geistlichkeit, 
die  Chefs  und  übrigen  Offiziere.  Tiefe  Stille  in  welcher  sich  nur  das  laute 
(iebet  des  Ober-Priesters  erhob.  Es  war  ein  herzerhebender  Anblick  den 
ergrauten  wie  den  jungen  Krieger  dem  Sieg  oder  dem  Tode  sich  weihen,  sein 
letztes  Gebet  mit  entblößtem  Haupt  verrichten  zu  sehn.  Nach  Besprengung 
mit  dem  geweihten  Wasser,  und  dem  Seegen  des  Kreutzes,  erscholl  wieder  das 
Commando,  der  Graf  Diebitsch  trat  in  die  Mitte  des  Quarrees,  theilte  in 
einigen  Worten  den  Truppen  seinen  Plan,  seine  gewissen  Hoffnungen  mit, 
und  ein  dreimaliges  fröhliches  Hurrah  I  erfüllte  die  Luft. 

Gegen  Abend  in  starker  Dämmerung  rückte  auch  das  Detaschement  des 
G.  Kreutz  in  die  Hauptdirection  des  Marsches  und  formirte  die  Avantgarde. 
Erst  um  Mittemacht  lagerte  die  Armee  hinter  Arnautlar  und  vor  dem  Eingang 
ins  Thal  von  Newscba.    Ob  es  wirklich  Absicht  war  durch  dieses  den  Feind 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  471 

zu  umgehen,  ist  mir  unbekannt,  eben  so  wer  für  oder  gegen  den  Plan  war, 
dal)  er  aber  nicht  ausgeführt  wurde,  wenn  er  existirte,  glaube  ich  aufs  aller  ein- 
fachste und  naturlichste  aus  folgendem  erklären  zu  können:  der  General  Dellings- 
bausen  nemlich  war  am  Morgen  des28ten  ms  Hauptquartier  gekommen,  und  hatte 
da  erklärt  daß  das  deboucbe  des  Thals  von  Newscha  für  die  Infanterie  nicht 
anders  als  a  la  file,  und  für  die  Artillerie  gar  nicht  passirbar  sei.  Hierin 
scheint  mir  der  Schlüssel  zu  unseren  weiteren  Operationen  zu  liegen.  — 
Übrigens  bey  der  Nacht  war  auf  unserer  Position  eine  ziemliche  Unordnung; 
die  Truppen  standen  unter  einander,  überall  drängten  sich  die  Trainpferde, 
keiner  wußte  recht  wohin.  Mit  vieler  Mühe  ordnete  sich  endlich  alles  in  so 
weit,  daß  die  Regimenter  sich  absonderten  und  die  verschiedenen  Abteilungen 
ihre  Plätze  einnahmen.  Feuer  durfte  nicht  angemacht  werden;  um  so  schwerer 
war  es  beim  schwachen  Mondlicht  sich  zu  finden.  Wie  Geister  erschienen 
jetzt  in  ihren  weiDen  Kitteln  die  Kavaleristen  die  mit  blanker  Sense  das 
Gras  im  Thale  mähten.  Bald  lag  alles  im  tiefen  Schlaf;  man  hörte  nur  das 
Fressen  und  Schnauben  der  Pferde,  man  sah  von  den  20.  tausend  Mann  nichts 
als  die  dann  und  wann  im  Mondschein  funkelnden  Bajonette  der  Schildwachen. 
Nicht  sobald  überließ  man  sich  der  Ruhe  im  Hauptquartier;  gegen  2.  erst 
waren  die  Dispositionen  für  den  folgenden  Tag  angefertigt,  und  um  4.  Uhr 
Morgens  rückten  wir  gen  Jenibazar. 

Bis  hierher  hatten  wir  die  Dörfer  zwar  verlassen,  aber  unversehrt  ge- 
funden; in  einigen  waren  die  Einwohner  wenige  Tage  vor  uns  weg  gezogen, 
und  mit  solcher  Eile  daß  auf  den  frisch  geackerten  Feldern  die  Pflüge  ausge- 
spannt standen,  und  vor  den  Häusern  Hunde  bellend  uns  empfingen.  Von 
Arnautlar  an  aber  zeigten  nur  Steinhaufen  und  einzelne  Schorsteine  die  Stellen 
det  früheren  Dörfer,  und  unzählige  Ochsengerippe  den  Weg  unserer  Armee  im 
vorigen  Jahre.  In  Jenibazar  stieß  unsere  Avantgarde -auf  den  Feind,  denr 
wir  unerwartet  wie  ein  Donnerwetter  am  klaren  Horizont  erschienen.  Mit  der 
größten  Bestürzung  stäubten  die  Türken  auseinander,  und  wurden  wie  Haasen 
von  unseren  Kosacken  gehetzt  und  gerennet.  Nachdem  die  Truppen  einige 
Stunden  ausgeruht,  zog  sich  die  Infanterie  mehr  links  nach  Madera,  während 
die  1^  Brigade  der  4^®«  Uhlanen-Division  in  gerader  Richtung  nach  IIIyM.ia 
die  Fliehenden  verfolgte.  Mit  Leichen,  Körben,  Kleidern,  Wagen  in  denen 
flüchtige  Landleute  mit  ihren  Weibern  und  Kindern  sich  befanden,' war  der  Weg 
bedeckt.  Diese  letzteren  fielen  alle  unseren  Kosacken  in  die  Hände;  eine 
Menge  halbreifer  Kirschen  mit  denen  die  Wagen  größtentheils  beladen  waren, 
theilten  die  unglücklichen  Familien  scheinbar  gerne  unter  die  Soldaten  aus, 
und  waren  sehr  erstaunt  von  den  Offizieren  dafür  mit  Geld  beschenkt  zu  werden. 
Schwer  zu  beschreiben  war  ihre  Freude  als  sie  bald  darauf  mit  allem  Hab 
und  Gut  nach  Schumi a  geschickt  wurden.  Gleich  hinter  Jenibazar  er- 
blickten wir  in  der  Ferne  die  blauen  Balcan  Berge,  und  den  Rand  von  Schumla's 
Kessel;  etwas  weiter  zwei  halbverfallene  Redouten  aus  der  vorigen  Campagne. 
Nichts  freundliches  lag  in  der  Gegend,  obgleich  der  Frühling  eben  erst  seinen 
Teppich  über  sie  ausgebreitet  hatte;  oder  war  es  vielleicht  ein  lange  genährtes 
Vorurtheil  gegen  Schumla?  —  Um  4.  Uhr  ungeföhr  nahmen  wir  die  Position 
hei  Madera    (Maderda)    ein.     Unterdessen   scharmützelten   die  Uhlanen  am 


472  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

Bulanik  mit  der  Garnison  die  ihnen  entgegen  gerückt  war,  die  sich  aber 
schleunigst  zurück  zog  als  die  Artillerie  auffuhr  und  die  2t«  Hasmren  Difision 
ihr  in  die  Flanke  zu  kommen  drohte.  Als  der  Tag*  sich  neigte  standen  alle 
Truppen  an  den  bestimmten  Plätzen;  die  äußerste  Rechte  bildete  das  Elisabeth- 
gradsche  Husaren  Regiment,  dessen  Patrullen  bis  über  M arasch  hinaus  das 
Land  durchspäten.  Die  Waffen  ruhten;  von  Schumla  her  kamen  die  Kosacken 
mit  ihrer  Beute,  mit  Gewehren,  Pferden  und  Mauleseln,  die  sie  feil  boten.  Im 
Lager  herrschte  ein  unglaublicher  Jubel  und  Frohsinn  vom  Oberbefehlshaber  bis 
zum  letzten  Soldaten.  Das  schönste  Manoeuvre  war  gelungen,  der  Vizir  in 
der  Falle,  von  seiner  Basis  abgeschnitten  und  gezwungen  entweder  die  Waffen 
zu  strecken  oder  sich  durch  zu  schlagen.  Das  war  der  einzige  Lohn  den  wir 
für  unsere  Mühen,  für  den  beschwerlichen  Marsch  verlangten;  an  den  Erfolg 
der  Schlacht  dachte  niemand,  denn  jeder  trug  die  Zuversicht  des  Sieges  in 
seiner  Brust!  — 

Noch  am  Morgen  des  29^^  hatte  der  Vizir  nicht  die  geringste  Kenntniß 
von  unserem  Marsch,  welches  in  einem  Lande  wo  alles,  sogar  die  Weiber 
unsere  Feinde  waren,  beinahe  unbegreiflich,  and  nur  durch  militairische  Un- 
wissenheit der  Torken  und  ihre  Sorglosigkeit  erklärbar  ist.  Noch  an  eben  dem 
Tage  hatte  er  sich  aus  IIIyM.la  Munitions-Vorräthe  kommen  lassen,  von 
denen  selbst  einige  Kisten  bei  unserer  Ankunft  von  den  Kosacken  genommen 
wurden.  — 

Das  Hauptquartier  stand  auf  einer  Anhohe  die  von  der  Fronte  in  einer 
sanften  Abdachung  bis  zu  einem  sumpfigen  Flüßchen  sich  erstreckte.  Links 
ebenfalls  von  einem  Flüßchen  durchschnitten,  lag  das  zerstörte  Dorf  Madera 
(Maderda)  über  welches  sich  in  Gestalt  eines  Vorgebirges  ein  hober  steiler 
Felsen  fast  perpendiculair  erhob;  von  diesem  Felsen  zog  sich  die  Bergkette 
bis  zum  Kamtschik  herunter,  zerrissen  von  jähen  Ravins  und  mit  undurchdring- 
lichem Wald  bewachsen.  Auf  dieser  Bergkette,  drei  Werst  von  Madera,  wo 
die  letzten  Spitzen  des  Felsens  mit  Erde  sich  bedecken  stand  Kulewtscha 
längst  welchem  aus  einem  engen  Defilee  sich  ziehend,  die  grade  Communi- 
cations Straße  von  Pravodi,  über  mehrere  Bergstufen,  und  unter  denselben 
über  das  erwähnte  Flüßchen,  nach  Schumla  hinunter  ging.  Zwischen  Madera 
und  Kulewtscha  war  also  an  gar  keinen  Durchgang  zu  denken,  indem  die 
natürliche  Felsmauer  mit  Mühe  höchstens  von  einem  einzelnen  Mann  über- 
stiegen werden  konnte.  Rechts  vom  Lager  auf  6—8  Werst  sah  man  in  den 
Balcanen  Schumla^s  Werke.  Zwischen  diesen  und  den  Pravodischen  Bergen 
war  das  Terrain  voll  leichter  Anhöhen  die  sich  mehr  erhoben  je  näher  sie  an 
letztere  sich  anschlössen,  in  verschiedenen  Richtungen  sich  schlängelnde,  meist 
moorige  Flüßchen,  unter  diesen  als  Haupt  der  Bulanlik,  und  einzeln  stehende 
Bäume  und  dornichte  Sträuche  coupirten  dieselben.  —  Uns  im  Rücken  war  die 
Gegend  frei  und  eben.  Um  vom  Lager  nach  Kulewtscha  zu  kommen  mußte 
man  durch  Madera,  des  sumpfigen  Flusses  wegen,  —  über  den  zur  Eröffnung 
einer  geraden  Communikation  mehrere  Brücken  geschlagen  wurden. 

Denselben  Abend  noch,  nach  Sonnenuntergang,  ritt  Toll  mit  uns  auf 
die  Position  von  Kulewtscha,  um  sie  zu  recognosciren.  Bei  den  Anordnungen 
die  der  General  traf  war  ich  nicht  zugegen,  indem  ich  nach  der  3t«u  leichten 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  473 

Oompagnie  der  Tten  Artillarie  Brigade  geschickt  wurde,  welche  aber  auf  dem 
halben  Wege  vom  Oberbefehlshaber  Contre-ordre  erhielt  und  umkehrte.  Ich 
kam  also  beinahe  in  TöUiger  Dunkelheit  zum  General  zurück,  und  habe  nichts 
von  der  damaligen  Stellung  der  Truppen  gesehn. 

Im  heiteren  Glanz  erhob  sich  die  Sonne  des  30^^"  Mai  am  unbewölkten 
Horizont.  Die  Nachricht  vom  Aufbruch  des  Yizir  war  eingegangen,  doch  mit 
ihr  keine  Gewißheit  über  die  Direction  seiner  Bewegungen.  Auf  dem  Felsen 
über  Madera  sah  man  einige  bewaffnete  Gestalten  die  mit  Aufmerksamkeit 
iinser  Lager  zu  betrachten  schienen.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich  daß 
gerade  das  Hauptquartier  mit  seinen  Zelten  dazu  beigetragen  hat  den  Türken 
unsere  Armee  als  sehr  klein  zu  zeigen,  weil  diese  ganz  frei  campirte,  folglich 
nicht  so  bemerkbar  war.  Von  den  Piquets  vor  Kulewtscha,  des  Obersten 
Richter  wurde  raportirt  man  werde  feindliche  Oolonnen  und  Haufen  von  ungefähr 
4000.  Mann  gewahr,  die  auf  dieses  Dorf  heran  rückten.  Zwei  in  Madera 
Gefangene  sagten  indeß  aus  der  Vizir  ziehe  sich  nach  M arasch,  und  beab- 
sichtige auf  Kulewtscha  bloß  eine  Diversion;  diese  Leute  aber  schienen 
Terdächtig,  konnten  Spione,  oder  mit  dieser  Aussage  abgeschickt  worden  sein. 
Um  sich  genauer  davon  zu  überzeugen,  rückte  der  Graf  Diebitsch  mit  dem 
General  Toll  und  dem  übrigen  Gefolge  bis  zum  debouche  aus  d«n  Pravodischen 
Bergen  nach  Marasch,  wo  das  Elisabethgradsche  Husaren  Regiment  stand. 
Allein  hier  ließ  sich  kein  Feind  blicken.  Bey  unserer  Zurückkunft  war  noch 
immer  nichts  gewisses  über  denselben;  man  glaubte  selbst  ob  nicht  etwa  der 
Vizir  über  Kiuprikioi  in  den  Balcan  sich  zurück  gezogen  habe.  Eine  halbe 
Stunde  darauf  begaben  sich  die  Generale  Diebitsch  und  Toll  nur  von  den 
<Jejourirenden  Adjutanten  begleitet,  auf  die  Position  von  Kulewtscha.  Ich 
muß  es  erstaunend  bedauern,  auch  dieses  Mal  bei  den  ausführlichen  An- 
ordnungen nicht  zugegen  gewesen  zu  sein.  Über  manches  hätte  ich  ein 
größeres  Licht.  Kaum  aber  waren  wir  in  die  Nähe  des  Dorfes  Kulewtscha 
gekommen,  so  wurde  ich  in  die  6^«  Infanterie  Division  geschickt,  ihr  den 
Befehl  zu  bringen  Ranzen  und  Mäntel  abzulegen,  die  Feldflaschen  mit  Wasser 
zu  füllen,  und  dann  ihre  Stellung  auf  einer  Anhöhe  neben  und  rechts  von  der 
Kulewtschaer  Position  ein  zu  nehmen.  Nach  Vollstreckung  dieses  Befehls 
fand  ich  die  beiden  Generale  schon  auf  dem  Rückwege.  Die  Avantgarde  bey 
Kulewtscha  erhielt  Ordre  anzugreifen;  man  wollte  sich  überzeugen  ob  die 
vor  dem  debouche  des  Defilees  sich  sammelnden  Truppen  nur  zur  Diversion 
bestimmt  wären,  oder  ob  sie  wirklich  die  ganze  Armee  des  Vizir's  masquirten. 

Gegen  10.  zeigte  an  den  Bergen  sich  rollender  Pulverdampf,  daß 
<das^Gefecht  bereits  begonnen,  und  zugleich,  da  immer  mehr  einzelne  Rauch- 
wolken sich  erhoben,  daß  die  Türken  ihre  Massen  entwickelten  und  die 
unsrigen  zurück  drängten.  Bald  gingen  auch  Nachrichten  ein  die  dieses  be- 
stätigten und  um  Secours  baten.  Da  erhielt  der  General  Arnold!  den  Befehl 
mit  der  19^^^  reitenden  Batterie  Compagnie  (aus  lauter  Einhörnern  bestehend) 
dahin  auf  zu  brechen,  und  ich,  weil  er  die  Gegend  und  den  Weg  nicht  kannte, 
ihn  auf  den  mir  bezeichneten  Punkt  der  Position  zu  fähren.  Bis  hinter 
Madera  marschirten  wir  Schritt;  als  wir  aber  in  der  Ferne  ängstliche  Be- 
wegung, ja  flüchtige  Packpferde  und  Troßknechte  sahen,  und  auf  den  Gesichtern 


474  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

Niedergeschlagenheit  und  Bewegung,  da  hieß  es  Trab!  und  im  vollen  Trabe 
rasselten  die  Geschütze.  Je  näher  wir  dem  Schlachtfelde  kamen,  desto  blutiger 
der  Anblick;  venrundete  Soldaten  von  denen  viele  sterbend  am  Wege  lagen, 
Pferde,  theils  angeschossen,  theils  ohne  Reiter  wild  herum  irrend,  Lazareth- 
wagen  im  Gedränge  auf  und  ab  fahrend,  alles  zeigte  daß  es  heiß  her  ging. 
Gerade  in  die  Position  auf  die  bezeichnete  Anhöhe  führte  ich  glücklich  die 
Compagnie,  ohne  mich  auf  eine  Linie  zu  irren.  Ich  weiß  nicht  ob  ich  dieses 
meinem  mich  nicht  leicht  trügenden  Auge  oder  dem  Glück  zuschreiben  soll; 
die  reinste  Freude  aber  empfand  ich  den  richtigen  Punkt  im  Augenblick  ge- 
troffen zu  haben.  War  es  Absicht  den  Feind  durchaus  innerhalb  der  Position 
von  Eulewtscha  zu  halten,  und  überhaupt  nothwendig  unsere  Avantgarde  zu 
degagiren,  so  durfte  unsere  Ankunft  um  keinen  Augenblick  verzögert  werden 
ohne  dem  Gefecht  vielleicht  einen  ganz  anderen  Ausgang  zu  geben.  Wie  wir 
die  bestimmte  Anhöhe  hinanfuhren  sahen  wir  auch  in  der  Niederung  vor 
derselben  unsere  zusammengeschmolzenen  Truppen  zurückziehend  mit  Mühe 
nur  gegen  die  auf  sie  eindringenden  Türken  sich  halten.  Diese,  in  zahlreichen 
Haufen,  ströhmten  von  den  Bergen  herab;  das  Dorf  Kulewtscha  war  schon 
in  ihren  Händen  und  unser  Centrum,  die  6to  Infanterie-Division  engagirt.  Im 
ganzen  feindlichen  Treffen  waren  ungefähr  15—20  Colonnen  aufgeführt,  von 
denen  die  Hälfte,  so  wie  sie  uns  gewahr  wurde,  ihre  Mündungen  gegen  uns 
richteten.  In  einem  Nu  waren  unsere  Einhörner  abgeprotzt,  nepean!  und  Tod 
und  Schrecken  säend  flogen  die  Kartätschen  in  die  feindlichen  Schaaren.  Zu 
gleicher  Zeit  zeigten  sich  hinten  die  heran  rückenden  Reserven.  (Die  3^^  Bri- 
gade der  Uten  Division??!!)  —  Beim  vierten  Kartätschen-Schuß  bemerkte 
man  wie  gleich  Wogen  des  Meeres  die  Türken  zurück  prallten.  Auch  wir 
befanden  uns  in  einem  starken  Feuer,  doch  thaten  uns  die  Granaten  mit 
welchen  wir  beschüttet  wurden  nur  wenig  Schaden.  Mit  der  Nachricht  daß 
der  Feind  nicht  weiter  vordringe,  sondern  auf  den  genommenen  Höhen  sich 
fest  setzte,  ritt  ich  zurück.  Bald  nach  Abstattung  dieses  Rapports  zeigten 
die  immer  seltener  werdenden  Schüße  daß  das  Gefecht  aufhöre,  und  gegen 
zwölf  trat  eine  völlige  Ruhe  ein.  Unterdessen  zogen  sich  das  6te  u  7te  Corps, 
die  in  der  Nacht  zu  uns  gestoßen  und  hinter  dem  Hauptquartier  aufgestellt 
waren,  nach  unserer  rechten  Flanke,  das  7te  Corps  voraus. 

Um  2.  Uhr  nach  Mittag  begab  sich  der  Graf  Diebitsch  mit  seinem  Stabe 
zu  den  Truppen  des  6^^^  Corps  die  in  Colonnen  gegen  den  Feind  geführt 
wurden,  von  dem  sie  aber  wenigstens  noch  3  Werst  sich  befanden.  Rothe 
Linien,  terassenartig  eine  über  die  andere,  säumten  von  Kulewtscha  an  die 
Höhen  der  vor  uns  liegenden  Berge.  Hie  und  da  stieg  aus  dem  Gebüsche 
Rauch  empohr;  die  Türken  im  Siegeswahn  bereiteten  ruhig  ihren  Mittag.  Nun 
war  es  klar  daß  die  ganze  Armee  des  Vizir's  vor  uns  stand.  Unsere  Bewe- 
gungen waren  durch  das  coupirte  Terrain  beinahe  ganz  cachirt.  Gegen  4 
endlich  fingen  unsere  Truppen  an  die  dem  Feinde  gerade  über  liegende  untere 
Anhöhe  zu  erreichen,  während  die  5t*)  Infanterie  Division  die  am  Morgen  er- 
müdete 6t«  ersetzte.  Bis  dahin  müssen  die  Türken  der  Meinung  gewesen  sein, 
nur  die  aus  Pravodi  in  der  Nacht  ihnen  im  Rücken  gekommenen  Truppen 
des  ßteu  Corps  gegen  sich  zu  haben.     Als   sie    aber   plötzlich   in   imposanter 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  475 

Gestalt  unsere  Truppen  vor  sich  erblickten,  und  dadurch  die  Aussage  der  Ge- 
fangenen daß  die  ganze  Armee  hier  sey,  bestätigt  fanden,  da  bemerkte  man 
daß  sie  eiligst  zu  den  Waffen  griffen,  und  nicht  recht  wußten  ob  sie  bleiben 
oder  fliehen  sollten.  Inzwischen  hatten  wir  uns  zur  6tcn  Division  begeben. 
Hier  sah  ich  meinen  jüngsten  Bruder  mit  der  Freude  wieder  die  man  empfindet 
wenn  man  eines  geliebten  Wesens  wegen  aus  drückender  Ungewißheit  gezogen 
wird,  das  Pawlogradsche  Husarenregiment  hatte  den  ganzen  Morgen  mitge- 
fochten.  Nach  einer  Unterredung  mit  dem  Grafen  Diebitscb  gab  der  General 
Toll  der  5*«»^  Infant.  Div.  —  die  2^^  Brigade  cn  tete  —  den  Befehl  vor  zu 
rücken,  und  führte  sie  gerade  gegen  den  Feind,  der  hinter  Kulewtscha,  das 
unbesetzt  war,  in  starken  Massen  stand,  vom  Vizir  selbst  befehligt.  ^-  Während 
die  Infanterie  den  Berg  hinauf  marschirte,  sprengte  der  Gen.  Toll  zur 
lOtcn  Artillerie  Compagnie  die  unter  der  Bedeckung  des  Irkutzkischen  Husaren- 
Regiments  ihre  anfönglicbe  Stellung  nicht  verändert  hatte. 

Auf  den  Zügen  des  Gen.  Toll  laß  man  den  Sieg;  die  Ruhe  und  Bestimmt- 
heit mit  welcher  er  seine  Befehle  gab,  und  doch  das  Feuer  in  seinem  ganzen 
Wesen  flößte  Vertrauen  und  Begeisterung  ein.  In  dieser  Stunde  war  er  gant 
der  Held,  er  dachte  an  nichts  irdischem  weiter  als  seinem  Kaiser  und  Vaterland 
den  Sieg  zu  erringen.  Immer  an  der  Spitze,  keine  Gefahr  scheuend,  trotzte 
er  dem  Tod  der  vor  ihm  zu  fliehen  schien. 

Ein  Granat-Schuß  der  braven  19teu  Compagnie  erneuerte  die  Schlacht; 
der  General  Toll  selbst  bezeichnete  einem  jeden  Geschütz  seine  Richtung. 
Die  feindlichen  Kanonen  antworteten,  und  noch  schien  es  als  ob  die  Türken 
entschlossen  wären  sich  standhaft  zu  vertheidigen.  Alle  feindlichen  Kugeln 
aber  gingen  über  uns  weg  und  schlugen  hinter  dem  Irkutzkischen  Regiment  in 
die  Erde.  Bey  der  Gten  Granate  die  wir  warfen  erhob  sich  in  der  Mitte  der 
feindlichen  Position  ein  dicker  weißer  Rauch  und  mit  einer  furchtbaren  Explosion 
flogen  zwey  türkische  Pulverwagen  in  die  Luft.  Jetzt  überfiel  ein  panischer 
Schrecken  den  Feind;  man  sah  wie  seine  Linien  sich  lösten  und  alllessich  zu 
flüchten  suchte.  Noch  ein  paar  Kanonenschüsse  wurden  auf  uns  gemacht,  als 
wir  aber  immer  näher  vorrückten  und  unsere  Granaten  immer  verwühstender  in 
die  zusammen  gerotteten  Haufen  fielen,  als  der  dritte  Pulverkasten  aufflog  und 
als  der  General  die  Infanterie  mit  gefölltem  Bayonet  unter  lautem  Hurrah  I 
vorführte,  da  dachte  kein  Türke  mehr  sich  zu  vertheidigen,  die  Flucht  war 
allgemein.  Auf  der  ersten  feindlichen  Stellung  fanden  wir  6.  Kanonen,  wie 
wir  aber  auf  der  Spitze  des  Berges  vor  dem  debouche  des  Defiles  kamen, 
kaum  glaubten  wir  unseren  Augen,  die  ganze  feindliche  Artillerie  lag  verlassen 
vor  uns,  und  mit  ihr  zwei  Kanonen  die  wir  den  Morgen  verlohren  hatten.  Mit 
dieser  Nachricht  und  dem  Glückwunsch  zum  Siege  wurde  ich  an  den  Ober- 
befehlshaber geschickt.  Schwer  ist  der  Jubel  zu  beschreiben  der  jetzt  ertonte, 
der  schönste,  köstlichste  Augenblick  für  den  Krieger  ist  der  Augenblick  des 
Sieges.  Es  wäre  wohl  überflüssig  den  Empfang  zu  schildern  mit  welchem 
man  dem  General  Toll  entgegen  kam;  zwey  ausgezeichnete  Männer  wurden 
einander  Schuldner;  Schuldner  der  Freundschaft  auf  dem  Felde  von  Kulewtscha. 

Die  weitere  Verfolgung  des  Feindes  wurde  dem  Grafen  Pahlen  über- 
lassen, zu  welchem  außer  der  5t<^u  Division  das  Pawlogradsche  und  Ferdinandsche 


476  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

Husaren-Regiment  stießen;  letzteres  war  ganz  frisch  und  hatte  den  Feind  nur 
von  weitem  gesehen.  —  Während  dieses  bei  Kulewtscha  vorging  war  die 
Garnison  Schumla's  ausgerückt,  konnte  aber  bei  ihrer  Schwäche,  und  durch  den 
General  Kreutz  in  Zaum  gehalten,  nichts  unternehmen  und  mußten  unter  den 
Kanonen  der  Festung  bleiben. 

Ermüdet  kamen  wir  mit  dem  Abendroth  zu  unseren  Zelten;  mein  sonst 
so  rüstiger  Tscherkesse  konnte  kaum  traben.  Es  ist  mir  unmöglich  hier  der 
Scene  nicht  zu  gedenken  die  mich  in  diesem  Augenblick  erwartete  und  die  nie 
aus  meinem  Gedächtniß  schwinden  wird.  Wir  waren  eben  von  den  Pferden 
gestiegen  und  sprachen  in  verschiedenen  Gruppen  stehend  über  die  frohen 
Tagesereignisse.  Da  trat  zu  mir  der  brave  General  Arnoldi,  nahm  mich  bei 
der  Eand  und  dankte  mir  in  herzlichen  Worten,  ihn  mit  der  ]9tcu  Compagnie 
so  richtig  geführt  und  ihm  aufrichtig  das  Glück  gewünscht  zu  haben  das  ihn 
begünstigt  hatte.  —  Diese  öfTentlicbe  Auszeichnung  meines  Dienstes  über- 
raschte und  erfreute  mich  um  so  mehr  da  ich  gar  nicht  daran  dachte;  ich  hatte 
meine  Pflicht  erfüllt  und  war  nur  froh  im  Bewußtsein  an  diesem  merkwürdigen 
Tage  gut  gedient  zu  haben,  und  von  meinen  Generalen  mehr  gebraucht  worden 
zu  sein  als  die  meisten  meiner  Cameradeu. 

In  unsere  Mäntel  gehüllt  hatten  wir  uns  auf  die  Erde  niedergelegt  um 
frische  Kräfte  zum  folgenden  Tage  zu  sammeln;  doch  ich  sollte  noch  nicht 
an  Ruhe  denken.  Kaum  hatte  ich  die  Augen  geschlossen  so  ließ  der  General 
mich  kommen  und  beauftragte  mich  mit  Befehlen  zu  Grafen  Fahlen  zu  reiten, 
der  nach  einem  eben  angekommenen  Bericht  15  Werst,  den  Feind  verfolgend, 
vom  Hauptquartier  stand.  Mit  5  Kosacken  und  eben  so  viel  Pawlogradschen 
Husaren  machte  ich  mich  auf  den  Weg.  Die  Nacht  war  schön,  ein  beller 
Mondschein,  nur  dann  und  wann  von  einzelnen  vorbeistreifenden  Wolken  ver- 
dunkelt, begleitete  mich.  Die  friedliche  Ruhe  der  ganzen  Natur  lag  auch  auf 
dem  blutgetränkten  Felde  von  Kulewtscha;  schnaubend  gingen  die  Pferde  an 
den  Leichen  vorüber  die  rechts  und  links  vom  Wege  lagen.  Wie  wir  auf  der 
Höhe  von  Kulewtscha  und  vor  dem  Eingange  ins  Pravodische  Defile  kamen, 
theilte  ich  meine  Eskorte  in  mehrere  Abtheilungen,  ließ  die  Säbel  unter  das 
linke  Bein  nehmen,  und  befahl  an  den  engen  und  buscbigten  dunklen  Stellen  im 
vollen  Trabe  zu  gehen,  beim  ersten  Schuß  aber  rechts  und  links  aus  Pistolen  zu 
feuern.  Diese  V^orsicht  war  um  so  nöthiger  da  bey  der  Debandade  der 
türkischen  Armee  wahrscheinlich  eine  Menge  Traineurs  in  den  Schluchten  und 
Wäldern  sich  verborgen  hielten,  um  über  einzelne  kleine  Detaschements, 
Fourageurs,  Couriere  u.  s.  w.  herzufallen,  was  in  der  vorigen  Campagne 
so  häufig  der  Fall  war,  in  der  jetzigen  aber  nicht  gelang,  weil  zahlreiche 
Partheien  von  Cavalerie  und  Infanterie  das  Land  zwischen  unserer  Basis  und  den 
von  ihr  ausgehenden  Linien  und  Punkten  beständig  durchstrichen  und  säuberten« 
Daß  aber  meine  Vermuthung  damals  nicht  falsch  war,  bewiesen  die  einige 
Tage  später  eingebrachten  Gefangenen.  Indeß  kaum  war  es  möglich  das 
Detile  im  Trabe  zu  passiren.  Alles  was  die  türkische  Armee  an  und  mit  sich 
hatte,  lag  in  demselben.  Zelte,  Proviant-  Munitions  und  Lazareth  Wagen, 
Flinten,  Säbel,  Patronen,  Kugeln,  Uniformen,  Muntel,  Schuhe,  Teppiche,  Lebens- 
mittel jeder  Art,  alles  lag  bunt  durcheinander.     Ein  panischer  Schreck  in  der 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  477 

höchsten  Potenz  hatte  die  Türken  ergriffen,  unglaublich,  unbegreiflich  für  den, 
der  nicht  Augenzeuge  gewesen.  Nachdem  wir  6.  Werst  durch  das  Defile  ge- 
ritten, kamen  wir  auf  eine  freie  Ebene  über  welche  links  der  Weg  nach 
Pravodi  geht.  Zwischen  diesem  Wege  und  dem  Saum  der  Gebüsche  die  sieb 
rechts  am  Rande  der  Berge  fortzogen,  gegen  2.  Werst  vor  dem  Defile  standen 
die  Truppen  des  Grafen  Pahlen  an  Feuer  gelagert.  In  der  Ferne,  etwas 
rechts,  sah  man  deutlich  in  den  waldbewachsenen  Bergen  nach  Marasch  zu 
ebenfalls  acht  bis  zehn  Wachtfeuer.  Auf  diese,  nach  Überreichung  der  De- 
peschen, machte  ich  den  Grafen  Pahlen  aufmerksam.  „11  faut  croire  que  ce 
sont  les  feux  de  KouprianofT,  antwortete  er  mir,  j*y  avais  envoye  un  officier 
qui,  arrete  par  un  ravin  trop  escarpe,  a  entendu  ehanter  au  dela  des  chansons 
russes.**  —  „Permettez,  Monsieur  le  Comte,  que  j'ose  en  douter;  je  serais 
plutot  persuade  que  ce  soient  (sont)  les  debris  de  Parmee  du  Vizir  que  nous 
Yoyons  et  qu*en  leur  donnant  la  chasse  dans  le  moment  meme,  leur  ruine 
serait  complete.*'  —  Dieser  Meinung  jedoch  wollte  der  Graf  Pahlen  nicht 
ganz  beistimmen;  die  Truppen  wären  zu  müde  um  auch  nur  einen  Schritt 
weiter  zu  gehn.  Dann  wolle  er  die  Offiziere  abwarten,  die  ausgeschickt  waren 
um  Kundschaft  ein  zu  ziehen.  Die  Truppen  blieben  also  ruhig  um  ihre 
Feuer.  —  Unterdessen  war  der  Mond  untergegangen,  die  Nacht  dunkel  und  ich 
zu  erschöpft  um  auf  der  Stelle  ohne  dringende  Noth  um  zu  kehren.  Ich  legte 
mich  mit  meinen  Kosacken  unter  einen  Baum,  ließ  die  Pferde  weiden  und  nach 
einer  kurzen  wohlthätigen  Ruhe  eilte  ich,  wie  es  in  Osten  sich  färbte,  ins 
Hauptquartier  zurück.  Jetzt  zeigte  mir  der  Tag  deutlich  was  ich  in  der 
Nacht  nur  verworren  gesehen,  die  Trümmer  einer  Armee  von  40. T.  Mann! 
An  mehreren  Stellen  lagen  schwer  verwundete  türkische  Soldaten,  an  die  ich 
gefühllos  vorüber  ritt,  beinahe  ihres  Wimmems  mich  freuend,  denn  verstümmelt^ 
ohne  Nase  und  Ohren  hatten  die  Unmenschen  unsere  gefangenen  Jäger  auf 
ihrer  Flucht  niedergemetzelt.  Schrecklich  war  nun  der  Anblick  des  Schlacht-* 
feldes  selbst;  am  widerlichsten  die  schwarzen  blutigen  Korper  der  türkischen 
Neger.  Viele  ihrer  Leichen  hatten  die  Türken  mit  sich  geschleppt  oder  am 
Morgen  verscharrt;  an  den  weit  aufklaffenden  Säbel  wunden,  an  den  tiefen 
ßayonetstichen  der  Gebliebenen,  aber  sah  man  die  Erbitterung  mit  welcher 
unsere  Truppen  gefochten,  und  an  den  zerstreut  liegenden  Haufen  dafi  unsere 
Kartätschen  ihr  Ziel  nie  gefehlt  hatten.  Nicht  ohne  tief  ergriffen  zu  sein  rief 
ich  unseren  vor  und  in  Kulewtscha  im  Heldentod  gefallenen  Jägern  ein  letztes 
Lebewohl  zu.  Schon  übergab  man  ihre  entseelten  Körper  der  Erde!  —  Es 
waren  die  Jäger,  die  ich  vor  Silistria  kennen  gelernt!  — 

Ehe  ich  zu  den  weiteren  Begebenheitnn  übergehe  werfe  ich  noch  einmal 
einen  Blick  auf  den  dO^^ten  May.  Ich  will  es  wagen  meine  Meinung  über  diesen 
Tag  nieder  zu  schreiben,  nicht  weil  ich  sie  für  richtig  halte,  sondern  weil  ich 
einst  zu  sehen  wünsche  in  wiefern  ich  richtig  oder  falsch  geurtheilt  habe. 
Was  ich  also  sagen  werde  gehurt  nur  mir  an,  und  ist  in  mir  schon  damals 
entstanden;  ich  mag  nun  Recht  oder  Unrecht  haben,  beides  fallt  auf  mich 
allein.  —  Bis  zu  dem  Augenblick  da  unsere  Avantgarde  den  Befehl  erhielt 
eine  forcirte  Reconaissance  zu  machen,  erscheinen  alle  unsere  Bewegungen  als 
die   größte   Vollkommenheit   militairischer  Combinationen.    Eine   forcirte  Re* 


478  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

conaissance  war  nothwendig  um   über  die  wahren  Absiebten  des  Vizirs  Licht 
zu  erbalten.     Wollte  man  dagegen  einwenden    daß,    um    dahin    zu    gelangen, 
man  schon  in  der  Nacht,  oder  wenigstens  mit  den  ersten  Strahlen  des  Morgens 
Cavalerie-Patrouillen   unter  erfahrenen  Offizieren  des  General-Stabs  hätte  aus- 
schicken müssen,  die  der  feindlichen  Armee  sich  möglichst   nähernd    dieselbe 
beobachten,  uud  über  ihre  Bewegungen  genaue  Nachrichten  hätten  geben  können, 
so  war  dieses  wenn  nicht  unmöglich,  so  doch  sehr  unverlässig^  da  bei  dem  so 
äußerst  coupirten  Terrain,  das  uns  dabei  noch  gänzlich  unbekannt  war,  unsere 
zu  weit  vorgeschobenen  Posten  leicht  in  feindliche  Hände  fallen,  und  statt  des 
gehöhten  Vortheils,    durch  Ungewißheit    und  Aufdeckung   unseres  Plans    dem 
Feinde,  den  größten  Nachtheil  uns  bringen    konnten.      Gesetzt   also    daß  die 
Attaque    unserer  Avantgarde    auf   die    vor    dem    debouche    des    Defile^s    sich 
zeigenden  Truppen   unumgänglich  war,    so    bleibt   es    unerklärbar  warum    sie 
sich  mit  der   äußersten  Hartnäckigkeit    gegen    einen  ihr  20.  Mal    überlegenen 
Feind  hielt,    besonders  da    der  General    Otroschtschenko    aus    der   immer 
wachsenden,  ihn  zurückdrängenden  Überzahl  eiisehen  mußte,    er  habe  es  mit 
der  ganzen  Armee  des  Vizirs  zu  thun;  unerklärbar,  warum  das  Dorf  Kulew- 
tscha  mit  dem  Aufgebot  aller  Kräfte  vertheidigt  wurde,    da    die  Behauptung 
desselben  uns    durchaus    von    keinem  Nutzen    sein    konnte,    indem    das  Dorf 
sowohl  als  die  dabei  liegende  Position  von  den  oberen  Anhöhen  völlig  dominirt 
wurde;    Zeit  zu    gewinnen    aber   keine  Nothwendigkeit    vorhanden    war,   weil 
unsere  Truppen  schon  seit  unserer  Ankunft  in  bester  Ordnung  ihre  Stellungen 
eingenommen  hatten.     Auch  kann  dieser  Widerstand  unmöglich  im  Plane  des 
Commandirenden,  sondern  nur  an  der  Schuld  des  Generalen  Otroschtschenko 
gelegen  haben,  denn  sonst  wäre   die  Avantgarde    wenigstens    von    einem    be- 
deutenden Tbeil    der  Armee    unterhalten  und   nicht    wie  geschah,    durch  ihre 
Schwäche  einer  beinahe  gänzlichen  Aufreibung  ausgesetzt  gewesen.     War  das 
Ziel  unseres    unvergleichlichen  Manoouvres  den  Vizir  von  seiner  Basis   ab    zu 
schneiden  und  seine  Armee  in  einer  Generalschlacht  mit  allen  unseren  Kräften 
zu  vernichten,  so  mußte  es  auch  wünschenswerth  scheinen  diese  Armee  ganz 
vor  sich  zu  haben,   um  über  sie  mit  unserer  ganzen  Macht  her  zu  fallen  und 
sie  zu  erdrücken.     Der  erste  Punkt  des  Plans  war  meisterhaft  erreicht;  unsere 
Truppen   standen    perpendiculair   auf   der    feindlichen  Communications-Linie. 
Wie  sollte  aber  das  zweite  Resultat  vollkommen  erlangt  werden,  als  man  dem 
Feinde  nicht  erlaubte  sich  zu    entwickeln,    sondern    ihn  vor    einem  Defile    in 
«iner  solchen  Position  hielt,  in  welcher  wir  gegen  ihn  nicht  einmal  mit  10  T. 
Mann  mana?uvriren  und  Cavalerie  gar  nicht  gebrauchen  konnten,  und  dabei  von 
der  Gegend  völlig  dominirt  wurden?  —  Hätte  sich  die  türkische  Armee  gleich 
damals  in  guter  Ordnung  nach  dem  Kamtschik,  selbst  auf  Umwegen,  hinunter 
gezogen,  so  wären  wir  wahrscheinlich  des  größten  Theils    der  durch    unseren 
Marsch  erlangten  Vortheile  verlustig    gegangen.    \Venn  aber    die  Avantgarde, 
nachdem  sie  sich  von  dem  wirklichen  Dasein    des  Vizirs    überzeugt,    mit  ge- 
hörigen Soutiens  sich  leicht  vertheidigend,  die  Armee  des  Vizirs    durch    eine 
falsche  Retirade  von  den  Anhöhen  gelockt,  und  sie  zwischen  Madera  und  unseren 
rechten  Flügel,  auf  unsere    fast  in    einer  Ebene    stehenden   Truppen    geführt 
hätte,  die  durch  das  Terrain  masquirt  waren,  so  ist  es  nicht  unwahrscheinlich 


Anlagen  zu  Kapitel  JX.  479 

daß  der  Vizir  selbst  mit  seiner  ganzen  Armee  uns  in  die  ITände  gefallen  wäre, 
indem  ihm  zu  gleicher  Zeit  der  General  Kuprianoff  aus  Pravodi  kommend, 
auf  den  Yon  ihm  verlassenen  Bergen  im  Rücken  erscheinen,  und  jede  Möglichkeit 
zur  Flucht  benehmen  mußte.. —  Daß  dieser  am  Morgen  einen  Echec  erleiden, 
und  dem  von  Pravodi  abziehenden  Vizir  zu  eilig  nachfolgen  wurde,  war  natürlich 
nicht  voraus  zu  sehen  und  ein  unverzeihlicher  Fehler.  Il&tte  man  ihm  aber 
nicht  ein  stärkeres  Detaschement  geben. sollen?  —  So  bleibt  mir  das  Vor- 
mittags-Gefecht völlig  dunkel;  unsere  Fronte  wurde  um  2  T.  Mann  schwächer 
die  wir  durchaus  nicht  verlieren  mußten  ohne  dafür  auch  die  geringste  Ent- 
schädigung zu  haben.  Denn  gewiß  nicht  durch  den  Verlust  der  2,000  Mann 
ward  der  Sieg  des  Nachmittags  erkauft.  Daß  bei  dem  was  geschah  der 
General  Toll  einen  anderen  Plan  gehabt,  beweiset  die  am  Abend  vorher  von 
ihm  bestimmte,  aber  nicht  ausgeführte  Commandirung  der  dt«u  leichten 
Compagnie  der  7tcn  Art.  Brigade.  —  Um  nach  diesen  Ereignissen  den  Sieg 
doch  noch  zu  erlangen,  war  das  einzige  Mittel  den  Vizir  trotz  seiner  vortheil- 
haften  Stellung  mit  allen  Kräften  an  zu  greifen.  Wem  allein  hier  der  Ruhm 
gebührt,  wer  die  Siegesfahne  auf  den  Bergen  von  Kulewtscha  gepflanzt  hat, 
ist  bereits  gesagt.  -^  Nach  Entscheidung  der  Schlacht  hat  Graf  Pablen  den 
Feind  durchaus  ohne  Energie  verfolgt,  da  er  ihm  nur  einige  Gefangene  machte, 
ihn  einen  Vorsprung  von  10.  Werst  nehmen  ließ,  und  zuletzt  nicht  einmal  genau 
die  Direction  seiner  Flucht  wußte,  obgleich  er  außer  dem  Pawlogradschen 
Husaren  Regiment  gaüz  frische  Truppen  hatte,  welche  aber  statt  der  Ver- 
folgung des  Feindes  mehr  mit  der  Plündernng  seines  verlassenen  Lagers  sich 
abgaben.  Wo  ist  da  der  gepriesene  General !  —  Selbst  dem  angeächtet  wäre 
der  Vizir  mit  seiner  zertrümmerten  Armee  schwerlich  nach  Schumla  gekommen, 
wenn,  als  der  Sieg  schon  nicht  mehr  zweifelhaft  war,  der  General  Rüdiger 
mit  dem  7t«n  Corps  in  möglichster  Schnelle  nach  Marasch  zu  aufgebrochen 
wäre,  und  vor  dem  Kamtschik  sich  aufstellend,  dem  Feind  die  letzte  Rietraite 
abgeschnitten  hätte.  Freilich  geschah  dieses,  aber  spät,  und  dann  muß  G. 
Rüdiger  ebenfalls  Fehler  begangen  und  nicht  entschlossen  genug  verfahren 
haben,  denn  sonst  hätte  der  Feind  nicht  durchschlüpfen  können.  —  Wer 
wollte  nach  diesem  bezweiflen  daß  das  Resultat  unseres  gelungenen  Marsches 
und  der  Schlacht  von  Kulewtscha  ungleich  wichtiger  hätte  sein  müssen!  — 
Unsere  Trophäen  waren  50  Canonen,  3  Mörser,  eine  Menge  Artillerie-Munition 
und  Flinten,  das  ganze  Lager  mit  der  Bagage,  und  selbst  die  Equipagen  des 
Vizirs;  am  ehrenvollsten  aber  gewiß  die  am  Morgen  verlohrenen  und  Nach- 
mittags zurückeroberten  4  Canonen  und  1  Fahne.  Gefangene  hatten  wir  kaum 
.^00.  Mann.  —  Demungeachtet  war  die  Schlacht  von  Kulewtscha  von  dem 
größten  Gewicht;  sie  erhob  die  Bravour  unserer  Soldaten  bis  zum  Enthusias- 
mus, flößte  ihnen  das  festeste  Vertrauen  zu  den  oberen  Chefs  ein,  und  vertilgte 
die  üblen  Eindrücke  der  vorigen  Campagne;  sie  gab  Rußland  eine  russische 
Armee  wieder.  —  Die  Türken  verlohren  ihre  ganze  Feldartillerie,  ihre  Armee, 
die  einzige  Stütze  des  Sultans  hörte  auf  zu  sein,  nach  allen  Seiten  hin  zer- 
streuten sich  die  Flüchtigen,  in  der  entlegendsten  Hütte  den  Schrecken  des 
russischen  Namens  verbreitend.  Kaum  die  Hälfte  erreichte  Schumla,  und  zwar 
in  einer  solchen  Demoralisation  daB   die  Türken  es   nie   wieder  wagten  sich 


480  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

uns  entgegen   zu    stellen.     Hei   Kulewtscha   ward   das   türkische  Reich  in 
seinen  Grundfesten  erschüttert. 

Aus  dem  Bernbardischen  Nachlaß,  Ton  einem  Anonymus,  wahrscheinlich 
vom  Baron  v.  d.  Hoven,  vom  Generalstabe  ToUs. 


Die  Mission  des  H^'or  Ton  StafT  genannt  ron  Beitzenstein 
in  das  Hauptquartier  des  russischen  General  en  chef  Grafen 

Diebitsch.     April  —  Juli  1829. 

Sonnabend,  den  11.  April  1829  erhielt  ich  abends  ein  Billet  folgenden 

Inhalts: 

Wenn  pp.  morgen  zur  Parade  bei  mir  vorbeigehn,  bitte  ich  vorher  zu 

mir  heraufzukommen. 

Müffling. 

Das  war  öfters  geschehen.  —  Wie  überraschte  es  mich  also  am  12.  April 
früh  zu  hören,  daß  ich  bestimmt  sei,  mit  einem  selbständigen,  sorgfldtigst  ge- 
heim zu  haltenden  Auftrag  in  das  Hauptquartier  der  russischen  Armee  nach 
der  Türkei  abzugehn. 

Auf  mein  Erwidern,  daß  es  doch  übel  sei,  daß  ich  hiezu  so  ganz  und 
gar  nicht  vorbereitet  sei,  entgegnete  Müffling  „Dies  müsse  er  widerstreiten  — 
ob  ich  denn  die  Lektion  vergessen  hätte,  welche  er  mir  bei  Einführung  des 
Kriegsspiels  gegeben  habe?  —  Wenn  nur  der  Mann  in  sich  vorbereitet  wäre, 
so  werde  er  die  Sache,  um  die  es  sich  speziell  handele,  um  so  besser  nur  auf- 
fassen, je  weniger  vorgefaßte  Meinung  darüber  er  in  sich  aufgenommen  und 
erst  wieder  zu  bekämpfen  habe.  Getrost  solle  ich  nur  auf  mich  selbst  bauen, 
das  werde  mich  nicht  im  Stich  lassen.  Nun  möchte  ich  Nachmittags  nach 
Cbarlottenburg  zu  Gl.  W(itzleben)  fahren,  da  werde  ich  das  Weitere  hören,  wa» 
er,  Müffling,  selbst  nicht  könne  und  villeicht  auch  ihm  geheim  bleiben  werde.  — 

Was  er  wisse,  sei  folgendes:  Es  sei  festgestellt  vom  Kaiser,  daß  kein 
Fremder  diesmal  bei  der  Armee  sein  solle.  Vielen  sei  die  Teilnahme  abge- 
schlagen. Die  Form  von  1828,  nach  welcher  der  Krieg  offen  vor  den  Augen 
von  ganz  Europa  und  im  Interesse  von  ganz  Europa  geführt  werde,  sei  auf- 
gegeben. Dies  errege  sehr  verschiedenartige  Ansichten.  Einige  Kabinette 
meinten,  Rußland  wolle  seine  Schwäche  nicht  sehen  lassen,  andere  meinten, 
es  wolle  nur  seine^habsüchtigen  Absichten  so  lange  verbergen,  als  es  möglich 
und  nötig  sei.  —  Nur  dem  König  v.  Pr.  wolle  der  Kaiser  offene  Einsicht  in 
Alles  gewähren.  Deshalb  solle,  nach  des  Kaisers  Wunsch,  ein  Stabsoffizier 
des  Generalstabs  mit  noch  ein  oder  zwei  Offizieren  ganz  insgeheim  und  nur 
wie  um  wissenschaftlichen  Zweckes  wegen,  dem  Hauptquartier  folgen.  Diesem 
Offizier  solle  aber  auch  noch  ein  bestimmter  Auftrag  zu  teil  werden,  welchen 
er,  M.,  eben  nicht  kenne.  Doch  glaube  er,  daß  sich  dieser  Auftrag  darauf  be- 
ziehen würde,  Herbeiführung  eines  baldigen  Friedens  zu  befördern.  Dies 
schließe  er  auch  daraus  mit,  daß  S.  M.  der  König  geäußert  hätten,  meine  Ab- 
wesenheit werde  nicht  von  langer  Dauer  sein  und  die  Beendigung  meines 
Auftrags  nächst  den  Ereignissen  müßte  mit  in  meiner  Hand  liegen.  -^ 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  481 

General  Witzleben,  der  allseitige  Vertraute  des  Königs,  war  schon 
krank  und  halb  aufgegeben.  Von  mächtigen  Gegnern  angefeindet*  Er  äußerte 
Folgendes: 

Witzleben.  Das  wahrhafte  Resultat  des  Feldzugs  Yon  1828  sei  un* 
klar.  Die  Gesandten  und  Offiziere,  die  in  so  sehr  großer  Menge  den  Feldzug 
von  1828  mitgemacht  hätten,  schilderten  die  ganze  Unternehmung  als  ge* 
scheitert  und  die  Türken  im  Besitz  aller  Vorteile  für  den  Wiederbeginn  der 
Feindseligkeiten. 

Bei  den  Russen  handle  es  sich  nach  ihnen  nur  darum,  wie  man  mit 
Ehren  wieder  aus  der  Patsche  herauskommen  könne.  — 

Ganz  anders  lauteten  aber  die  russischen  Mitteilungen  und  Schilderungen* 
Nach  ihnen  sollte  der  Frieden  jenseits  den  Balkan  diktiert  werden.  Sowohl 
an  diese  Ansicht  als  wie  an  jene  knüpften  sich  Besorgnisse,  dafi  der  Frieden 
von  Europa  gestört  werden  wurde.  An  das  Resultat  des  Feldzugs  von  1828^ 
wie  es  durch  die  Gesandten  u.  s.  w.  aufgefaßt  werde,  knüpfte  sich  eine 
nachteilige  Geringschätzung  Rußlands.  Ein  Teil  sehe  Rußland  überhaupt  ala 
zu  schwach  an,  ein  anderer  Teil  halte  es  für  stark  u.  eroberungslustig. 

Es  komme  dem  König  darauf  an,  zu  wissen,  wie  der  faktische 
Zustand  der  Verhältnisse 

1)  an  Ort  und  Stelle  sei?  —  Danach  erst  ließe  sich  das  Weitere  er- 
wägen, ob  der  Friede  von  Europa,  der  jedenfalls  erhalten  werden  müsse; 

2)  erheische,  daß  möglichst  schnell  Friede  zwischen  Rußland  und 
der  Pforte  vermittelt  werde  oder  ob  die  Lage  der  Dinge 

3)  gestatte,  daß  ein  für  Rußland  möglichst  glanzvoller,  das  Dberge* 
wicht  gegen  die  Pforte  klar  und  offenbar  herausstellender  Friede  abgewartet 
und  sich  preußischerseits  für  dies  Gewährenlassen  bei  den  anderen  Mächtea 
(namentlich  England  und  Österreich)  verwendet  werden  könne?  — 

Dies  Dreierlei  bilde  den  Umfang  meiner  Aufgabe: 

Das  Erste  sei  durchweg  das  zunächst  Wichtigste,  dasjenige,  worin  S.  M« 
auf  meinen  ganz  unbefangen  freien  Blick  vertrauten  und  zuversichtlich  volle, 
ganz  offne  Mitteilung  meiner  individuellen  Ansicht  und  meines  Urteils  über 
die  Sache  erwarteten.  Direkt  an  S.  M.  solle  ich  berichten.  Dahin  nur  die 
<^uintessens,  das  Resultat  und  kurz  angedeutet  das  Warum.  Ein  Tagebuch 
solle  außerdem  an  ihn,  Gl.  Witzleben  oder  falls  er  behindert  sein  solle,  an 
Gl.  Müffling  geschickt  werden.  Das  solle  die  Belege  zu  meinen  Ansichten 
enthalten.  Mit  niemand  weiter  dürfe  korrespondiert  werden  über  die  Ereignisse 
und  über  das  Politische. 

Nach  der  eignen  Ansicht,  die  ich  mitteilen  würde,  sollte  ich  auch  selbst 
stets  so  lange  handeln,  als  bis  mir  nicht  etwa  das  Gegenteil  bestimmt  auf- 
gegeben würde.  Demnach  also  stünde  es  mir  im  Falle  ad  2)  völlig  frei,  Friedens- 
vermittlungeu  bei  Diebitsch  anzubieten,  bei  ihm  Eingang  zu  verschaffen  und 
mir  seine  Genehmigung  dazu  zu  verschaffen,  daß  ich  als  neutraler  OiHzier  und 
lieisender  vermittelnd  zwischen  beiden  Parteien  aufträte.  Deshalb  solle,  mit 
Wissen  der  Russen,  meine  Anwesenheit  den  Türken  bekannt  gemacht  und  auch 
ihnen  anempfohlen  werden,  sich  in  allen  Dingen  friedlicher  Natur  an  mich«  in- 
direkt oder  direkt,  zu  wenden«  Verkehr  mit  der  preußischen  Gesandtschaft  m 
Schiern auD,  Geschichte  KuOlandä.    II.  31 


482  Aulagen  zu  Kapitel  IX. 

Pera  sei  mir  von  den  Russen  offen  einger&umt,  doch  hätte  ich  alles  vertraiilicb 
mit  Diebitsch  selbst  zu  beraten  und  ihm  offen  vorzulegen.  Auch  in  dem  Falle, 
daß  ich  anders  zu  handeln  und  mich  auszusprechen  verpflichtet  fühle,  als  es 
nach  der  Ansicht  und  den  Plänen  von  Diebitsch  sein  möchte. 

Wenn  aber  nach  meiner  Überzeugung  Alles  dahin  sich  gestalte,  daß  3) 
Stattfindung  eines  glänzenden  Ausgangs  für  den  Waffenruhm 
Rußlands  sich  absehen  ließe,  ohne  daß  dadurch  sofortiger  Ausbruch  eines 
Krieges  mit  England  zur  See  oder  mit  Österreich  zu  Lande  entstünde,  so  sollte 
ich  nicht  störend  einwirken,  sondern  ruhig  gewähren  lassen.  In  diesem  Falle 
wären  aber  die  entscheidendsten  Beweise,  die  nur  zu  geben  möglich  wären, 
als  Belege  meiner  Ansichten  einzusenden. 

Dieser  mein  im  Vorstehenden  angegebene  Auftrag  sei  ein  Direktiv  S.  M. 
des  Königs.  Da  aber  die  Kenntnis  der  sämtlichen  diplomatischen  Verhältnisse 
Preußens  mit  den  Cabineten  Englands,  Frankreichs  und  Ostreichs  sowie 
Rußlands  mir  dabei  notwendig  sei,  so  habe  S.  M.  dem  Minister  der  auswärtigen 
Angelegenheiten  Grafen  Bernstorf  befohlen,  mir  einen  Abriß  davon  zu  geben. 
Ich  solle  also  den  Grafen  gleich  morgen  früh  schriftlich  anfragen,  wann  er 
mich  sprechen  wolle. 

Auch  der  Graf  Bernstorf  war  krank  und  verlebt  Nach  ihm 
wäre  der  Feldzug  1828  für  die  Ruhmsucht  und  das  Eroberungsstreben  des 
Kaisers  Nikolaus  eine  wohlthätige  Abkühlung  gewesen.  Das  was  der  Kaiser, 
wie  die  übrigen  Mächte,  für  den  Handel  im  Schwarzen  Meere  von  der  Pforte 
zu  fordern  hätten,  sei  auch  ohne  Krieg  abzumachen  gewesen.  Da  der  Kaiser 
dies  wohl  gefühlt  haben  möchte,  hätte  er  den  Krieg  von  1828,  als  im  Interesse 
aller  Großmächte  als  einen  europäischen  Feldzug  dargestellt  Alle  Gesandten, 
Offiziere  aller  Nationen  hatten  daran  teilgenommen.  Diese  hätten  kein  im 
ganzen  rühmliches  Resultat  gesehen.  Den  Kaiser  habe  dieser  Feldzug  vom 
Kriegführen  degoutiert.  Jetzt  solle  nun  ein  einziger  von  den  Generalen, 
Diebitsch,  mit  diplomatischer  wie  militärischer  Generalvollmacht,  diesen  von 
Rußland  begonnenen  Krieg  weiterführen.  Die  Maske  falle;  es  sei  ein  rein 
russisches  Unternehmen.  Dabei  brauche  man  keinen  Zuschauer.  Man  wolle 
sich  nicht  vor  und  während  dem  Spiele  in  die  Karten  sehen  lassen.  An  die 
Stelle  der  kaiserlichen  Ruhmsucht  sei  der  Ehrgeiz  und  die  Eitelkeit  der  Deutschen 
in  der  russischen  Armee  getreten.  Ihr  Chef,  Diebitsch,  träume  sich  schon 
der  Vemichter  des  türkischen  Reichs,  der  Verdränger  des  Halbmonds  zu 
werden.  —  Solche  thörichte  Ideen  und  chimärische  Träume  setzten  aber  den 
Frieden  von  ganz  Europa  auf  das  Spiel.  Sie  bedrohten  die  Verträge  zu  zer- 
reißen auf  welchen  Europas  Frieden  beruhe.  Rußland  verletzte  Ostreichs 
und  Englands  Interesse  und  setze  Preußen  in  die  peinlichste  Lage.  Preußen 
laufe  Gefahr,  in  einen  Krieg  mit  Frankreich  verwickelt  zu  werden.  Bourgoing 
predige  die  Schwäche  Rußlands,  das  Kommen  der  gelegenen  Zeit,  nun  zu 
vervollständigen,  was  der  Westfälische  Friede  begonnen  habe.  Nämlich 
Frankreich  seine  Naturgrenze  bis  zum  Rhein  zu  verschaffen.  Weder 
England  noch  Österreich  noch  der  Deutsche  Bund  würden  1830  Preußen  bei- 
stehen, wenn  es  verblendet  in  Vorliebe  für  Rußland  die  Hand  zu  dessen 
Krafterweiterung  auf  Kosten  des  Interesses  von  Ostreich  und  England  biete. 


Anlagen  lu  Kapitel  IX.  483 

Preußen  habe  das  gewichtigste  und  direkteste  Interesse  auf  Frieden 
in  der  Türkei  zu  dringen.  Dazu  müsse  meine  Mission  benutzt  werden.  Schon 
sei  die  Spannung  zwischen  Rußland  einerseits  und  Ostreich  und  England 
andererseits  sehr  groß.  Meine  Sendung  könne  benutzt  werden,  vertraulich  den 
letzteren  Mächten  mitgeteilt  u«  so  Preußens  Absicht  und  Stellung  zur  Sache 
Kund  zu  geben.  Aber  deu  Frieden  auch  so  bald  als  nur  möglich  zu  vermitteln, 
das  einzig  und  allein  sei  Preußens  Pflicht  und  Rolle  bei  der  Sache. 

Als  Repräsentant  Preußens  bei  Diebifscb  sei  Anmahnung  zum  Frieden 
mein  Hauptwerk.  Ein  neutrales  Element  für  beide  Krieg  führende  Mächte, 
welche  des  Friedens  bedürftig  wären  und  ihn,  offiziell  ausgesprochen, 
wünschten,  müsse  ich  bilden.  Jede  Gelegenheit  ergreifen,  Friedensverhand- 
lungen anzuknüpfen.  Ein  Militär  sei  nur  gewählt,  um  einen  Vorwand  des 
Auftretens  und  die  Eigenmächtigkeit,  welche  im  Orient  wohl  vorkomme  zu 
mehrerer  Freiheit  her  der  Sache  zu  benutzen.  Dann  sei  es  auch  Diebitsch's 
Wunsch,  nur  mit  einem  Militär  zu  tun  haben  zu  wollen. 

Die  Differenz  zwischen  dem,  was  mir  der  General  Witzleben  gesagt 
und  dem  was  Graf  Bernstorf  wolle,  stand  mir  klar  vor  Augen.  Ersterer 
wollte  erst  sehen  und  danach  zwei  Fälle  des  Benehmens  ableiten.  Letzterer 
glaubt  schon  alles  Notige  zu  wissen  und  nur  einen  einzigen:  FaH  als  schon 
völlig  konststirt  erkennen  zu  müssen. 

Ein  Versuch,   diese  Differenz    gänzlich    zu   heben,  mißlang. 

Auf  wesentliche  Erläuterung  wurde  sich  nicht  weiter  eingelassen,  als  daß 
mir  S.  Majestät  der  König  tor  Tafel  in  Charlottenburg  sagte:  Was  Ihnen 
Wif ziehen  gesagt  hat,  ist  meine  Metnnng.  Was  Ihnen  Graf  Bemstorf  gesagt 
hat,  verdient  Berücksichtigung.  Sie  werden  noch  formell  mit  dem  Erforder- 
lichen versehen  werden.  Zu  Ihrer  Umsicht  und  zu  Ihrem  richtigen  Takt  habe 
ich  volles  Vertrauen  und  so  reisen  Sie  mit  Gott,  um  bald  wieder  zu  kommen, 
denn  lauge  kann  wohl  die  Sache  nicht  dauern. 

Das  Formelle,  wovon  der  König  sprach,  bestand  darin,  daß 

1)  Graf  Bemstorf  ganz  außer  Verhältnis  zu  mir  gestellt  wurde, 

2)  daß  ich  eine  unter  Umständen  ostensible  Information  schriftlich  auf 
Befehl  des  Königs  durch  den  Kriegs  minister  erhielt  und 

3)  daß  mir  die  Briefe  an  Seine  Majestät  den  Kaiser  von  Rußland,  Minister 
und  Excellenz  Gf.  Nesselrode  und  an  Diebitsch,  welche  ich  mitbekam  oder 
sonst  wegen  mir  ergangen  wären,  dem  Wesentlichsten  nach  mitgeteilt  erhielt. 


In  Warschau  eröffnete  der  Kaiser  N,  dem  General  Ranch  Prinzen 
und  mir 

Es  sei  ein  schauderhafter  Krieg  wegen  der  Beschaffenheit  und  Leere  des 
Landes,  der  Krankheiten  mit  Einschluß  der  Pest,  die  Diebitsch  zu  verheim- 
lichen suche  und  sich  nicht  an  sie  kehren  könne,  so  wie  wegen  der  vielen 
festen  Punkte  und  der  vielen  Hindernisse  des  Terrains.  Friede,  aber  nur  ein 
Rußlands  würdiger  d.  h.  einer  der  Alles  das  gewähre,  um  weshalb  den  Krieg 
zu  beginnen  Rußland  von  der  Pforte  gezwungen  worden  sei  —  wäre  der 
Zweck  dieses  Krieges.  Inwieweit  aber  Garantieen  für  die  Dauer  des  zu  er- 
ringenden Friedens  gefunden  und  vermittelt  werden  könnten,  das  sei  freilich 

31» 


484  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

vom  Gange  der  Ereignisse  abhängig,  —  Constantin  sagte:  M.  faites  la  paix 
ou  allez  vout  faire  foutre.    Dieu  vous  preserve  de  la  peste.  — 

Wir  reisten,  am  Tage  yof  der  Krönung  des  K.  als  König  von  Polen,  ab. 
Am  Pruth  fanden  wir  dje  Pest  —  die  Pestilenz  aller  Art  in  Kalarasch  seit- 
witrts,  (iiurgiewo,  Silistria,  schräg  gegenüber  am  linken  Ufer  der  Donau.  Die 
hier  IVs  d.  M.  breite  Donau-Niederung  war  überschwemmt  Ein  Gewitter 
hatte  das  Wasser  unruhig  gemacht;  niemand  wollte  übersetzen.  Alle  Welt 
aber  sagte  unst  morgen  früh  breche  Diebitsch  nach  Schumla  auf.  Nachzu- 
reisen erlaube  die  Unsicherheit  nicht.  Für  hohen  Preis  wurden  wir  beide 
und  einer  unserer  drei  Diener  auf  einem  kleinen  Kahn  nicht  ohne  Gefahr  vor 
dem  Sturm  und  vor  den  wallachiscben  Schiffern  übergesetzt  (am  4.  Juni). 
Mit  der  ersten  Frühstückszeit  hielten  wir  in  voller  Uniform  unsern  glorreichen 
Einzug  zu  Fuß.  —  Noch  stand  das  ganze  Lager.  Doch  um  10  Uhr  hieß  es» 
CS  werde  abmarschiert.  Dem  war  nicht  so.  Nur  zum  Schein  war  die  Nach- 
richt verbreitet  worden.  Auf  Nachmittag  hieß  es,  es  sei  der  Abmarsch  ver- 
schoben; auch  das  war  nur  Schein.  Zum  Schein  rückten  die  Truppen  aus 
um  von  Diebitsch  besichtigt  zu  werden.  Sie  marschierten  dazu  brigadeweise 
ab  und  zogen  aber  still  wieder  gegen  Abend  in  das  Lager  ein.  Die 
List  glückte.  Der  Ausfall,  welcher  erkundschaftet  war  für  den  Fall  des  Ab- 
zuges, um  die  Armee  znm  Verbleiben  zu  bewegen,  wurde  Abends  erst  weit 
herausgelassen,  dann  kräftig  angehalten.  Viele  Gefangene  gemacht  Die 
Nacht  hindurch  hatten  wir  das  Jammergeschrei  im  Zelte  nebenan  zu  hören.  — 

Wir  wurden  an  diesem  Tage  noch  vom  Sachstand  informiert,  offen  und 
wahr.  Wir  berichteten  mit  einem  andern  Jtigs  nach  Warschau  abgehenden 
Courier,  an  den  dortigen  Preußischen  Konsul  Schmidt  zur  Staffetten-Expedition 
der  Feldpost. 

Resultat  des  Feldzuges  1828.  Die  Dobrutscha  das  Land  zwischen 
Meer  und  Donau  bis  zum  Wall  des  Trajan  und  alles  Land  links  der  Donau 
war  völlig  in  Rußlands  Gewalt  gebracht 

Vom  Trajanswall  bis  Warna  waren  die  Russen  Herren  der  Küste. 
Warna  und  Prawodi  waren  die  Endpunkte  einer  verschanzten  Postenlinie 
längs  dem  Terrainabschnitt  der  Dewna  und  Nebenflüsse.  Wie  links  an  der 
Küste,  so  sollten  rechts  noch  Verschanzungen  bei  Eskl-Amautlar,  Dewna,  Kos- 
ludschi, Jenikioi,  Tschamurla  und  Bazardschik  Deckung  geben.  Diese  Punkte 
waren  unter  Ol.  Roth  den  Winter  über  schwach  besetzt  (der  Verpflegoiig 
wegen)  behauptet  worden. 

Die  Armee  war  den  Winter  über  in  der  Wallache!  und  Moldau  organi- 
siert worden,  kriegsmäßig  auf  das  Bestmöglichste.  Gl.  Kiseleff  organisierte  die 
Wallachei.  Serbien  und  alle  Slaven  bis  zur  Adria  standen  zu  Gebote. 
.\nfangs  Mai  waren  401XX)  Mann  Operationstruppen  2.  und  3.  Armeekorps  iu 
der  Dobrutscha  bei  Tschornivoda  versammelt  worden.  Kosacken  hatten 
unteniessen  schon  das  ganze  I^ind  von  Prawodi  über  Jenibazar  zur  Beo^Mcb- 
tung  von  Schumla  Rasgrad  bis  Rustschuk  besetzt  und  Silistria  schon  anfangs 
Mai  jTAuz  umschlossen  gehabt. 

Von  der  v^^ee  her  war  sich  des  Golfs  von  Burgas  bemeistert  worden 
Zuerst  SizeboH   schon   im  März^   dann  Emineb,  Misivri,  Burgas   kamen   nach 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  485 

und  nach  in  russische  Hände.  Dadurch  wurden  \on  den  drei  Verbindungs- 
«traßen  zwischen  Konstantinopel  und  Schumla,  die  eine  über  Burgas  gesperrt, 
die  beiden  andern  aber  über  Aidos  und  Carnabat  sehr  bedroht.  Zur  Deckung 
dieser  Straßen  hatte  der  neue  Oroßvezier  Reschid -Pascha  den  Hussein-Pascha 
von  Rustschuk  (Aga  der  Cavallerie)  mit  10000  Mann  zurückgelassen.  Die 
Bevölkerung  der  Orte  war  empört  gegen  die  Türken,  welche  unter  Izzet 
Mehmet-Pascha  dem  bisherigen  Großvezier  und  vormaligen  Capudan-Pascba  hier 
schrecklich  gewirtschaftet  hatten.  -^  Die  Empörung  in  seinen  Truppen,  Ge- 
fechte zwischen  Reguliren,  Asiaten  und  Albanesen,  Auseinanderlaufen  der 
Banden,  Fehlschlagen  der  Absicht,  in  einem  Winterfeld zug  sich  der  Debouches 
aus  dem  Balkan  auch  außer  Schumla  zu  bemeistern,  hatten  Izzet's  Absetzung 
herbeigeführt.    Doch  war  er  Pascha  von  Rumili  in  Adrianopel  geworden. 

Der  neue  GroDvezier  Reschid-Pascba  hatte  in  Griechenland  Ruf  erworben. 
£r  war  seit  dem  21.  März  in  Schumla  bemüht,  die  neue  Armee  zu  sammeln, 
nur  mit  ungewöhnlichen  Mitteln  der  Versprechung  und  durch  Bewaffnung  aller 
Rajas,  die  nur  wollten,  gelang  dies.  Reschid  hatte  in  Bosnien  und  Albanien 
einigen  Anhang.  Seinem  Sohne  Vali  Pascha  wurde  der  3.  Roßschweif  ver- 
sprochen, wenn  er  viele  Völker  versammle.  Reschid  bot  alles  Mögliche  auf. 
Die  gänzliche  Nahrungslosigkeit  im  Lande,  andrerseits  Handgeld,  Nahrung  und 
Aussicht  auf  Beute  machten,  dal^  das  Volk  zuströmte.  Hätte  Rußland  Geld  geboten, 
so  hätte  es  leicht  eine  Armee  von  50000  Rajahs  sammeln  können  —  30000  Servier 
und  15000 Wallachen,  5000  Moldauer  desgleichen.  Was  Izzet-Mehmet  im 
•Winter  nicht  hatte  zustande  bringen  können,  das  hätte  Reschid 
gleich  im  Frühjahr,  sobald  als  nur  irgend  fortzukommen  war, 
auszuführen  gedacht.  —  Ehe  noch  Diebitsch  die  Donau  überschreiten 
könne,  die  ihr  Thal  im  Frühjahr  überschwemmt,  glaubte  Reschid  schon  am 
Hange  der  Höhen  die  schwachen  Postierungen  an  der  Dewna,  Prawody  und 
Varna  nehmen  zu  können. 

Aber  die  Debarkation  im  Golf  von  Burgas,  welche  den  Geist  des  Auf- 
standes nach  Rumelien  brachte,  setzte  den  Sultan  in  Sorge.  Die  türkische 
Flotte  bewirkte  nichts.  Vergeblich  hatte  Hussein  am  9.  April  Sizebol  an- 
gegriffen. Um  seinen  Kopf  zu  retten,  schilderte  er  die  russische  Macht  hier 
als  enorm.  Er  wurde  nach  Hause  geschickt,  um  Rustschuk  zu  verteidigen. 
Man  glaubte  in  Gonstantinopel  und  Schumla,  daß  ein  starkes  russisches  Korps 
hier  gleich  landen  und  der  Aufstand  dieser  bevölkerten  Gegenden  allgemein 
werden  würde.  Zu  einem  solchen  Unternehmen  waren  aber  die  russischen 
Marinemittel  nicht  ausreichend.  Als  Reschid  erfuhr,  daß  die  russische  Haupt- 
armee sich  in  den  ersten  Tagen  des  Mai  bei  Tschemawoda  sammelte,  daß  ein 
anderes  russisches  Corps  bei  Ralarasch  eine  Schiffsbrücke  bauen  wolle,  gab 
er  die  Besorgnisse  für  Carnabat  und  die  Bereithaltung  seiner  Armee  zu  einem 
Rückmarsch  über  den  Balkan  auf. 

Die  Kosaken  hatten  einen  Tartaren  und  seine  Begleitung  gefangen.  Er 
war  vom  Großvezier  aus  Schumla  an  Hussein  nach  Rustschuk  bestimmt.  Der 
Großvezier  wollte  mit  40000  Mann  die  Russen  unter  Gl.  Roth  aufrollen. 

Unterdessen  sollte  Hussein  mit  wohl  10000  Mann  bis  in  die  Gegend  von 
Turtukai  scheinbar  zum  Entsatz  von  Silistria  vorrücken  und  die  Aufmerksamkeit 


486  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

des  General  Diebitsch  fesseln.  Achmet  Pascha  in  Silistria  solle  die  Russen  durch 
Ausfälle  festhalten,  wozu  seine  über  10000  Mann  starke  Garnison  stark  genug 
sei.  Diese  20000  Mann  und  die  den  Russen  nötige  Festung  Silistria  sollte 
selbige  an  der  Donau  fesseln,  bis  vor  Mitte  Juni  Reschid  heranrücken  und 
Diebitsch  über  die  Donau  jagen  werde.  Daß  der  Großyezier  die  Ausführung 
dieses  Planes  begonnen  habe,  unterlag  keinem  Zweifel.  Diebitsch  hatte  am 
18.  Mai  1829  Silistria  berannt.  Unterdessen  hatte  Reschid  am  17.  Mai  gleich- 
zeitig das  Lager  von  Eski  Amautlar  und  den  befestigten  Ort  Prawody  mit 
seiner  ganzen  Macht  in  zwei  getrennten,  in  sich  wieder  zerteilten  Colonnen, 
angegriffen.  Gl.  Roth  hatte  mit  3000  Mann  im  Lager  gegen  15000  Mann  zu 
fechten,  bis  ihn  Gl.  M.  v.  Wachten  mit  2000  Mann  Infanterie,  einer  Batterie 
und  Gavallerie  von  Dewna  aus  entsetzte.  Prawodi  war  durch  Gl.  Kuprianow 
mit  wenig  über  2000  Mann  gegen  andere  16000  Mann  gebalten  worden.  Noch 
ein  starker  türkischer  Reservetrupp  (circa  10000  Mann)  hatte  bei  Kirimna  zur 
Verbindung  gestanden.  Auf  40000  Mann  mindestens,  ohne  die  Garnison  von 
Schumla,  ließ  sich  die  Armee  des(Großveziers)  Reschid  berechnen.  —  Ungewöhnliche 
Ordnung  hatte  bei  den  Türken  stattgefunden.  Verfolgt  als  sie  abzogen,  waren 
sie  umgekehrt,  und  Gl.  Rinden  war  mit  1500  Mann  auf  dem  Platze  geblieben. 
Seitdem  belagerte  Reschid  das  Nest  Prawodi  seit  über  14  Tagen.  —  Nach- 
richten hatten  Russen  und  Türken  durch  Bulgaren  gegen  Geld  zur  Genüge 
und  mit  Genauigkeit.  Eine  verschanzte  Position  bei  Kaorgu  war  durch  GL 
Madatow  auf  selbem  Weg  zwischen  dem  Lager  von  Silistria  und  des  Gl.  Roth 
Truppen  bei  Kosludschi  besetzt.  Kavallerie-Postierungen  und  Relais  machten 
die  Zwischenverbindung. 

Zur  Belagerung  von  Silistria  war  das  3.  Armeekorps  unter  GL 
Krassowski  (15000  Mann  Infanterie,  2(XX)  Mann  Gavallerie,  1(XX)  Mann  Artillerie, 
zusammen  18000  Mann).  Es  bestand  aus  30  Bataillonen  und  16  Eskadronen 
Husaren,  circa  (per  Bat.  500  Mann,  per  Gavallerie- Regiment  desgl.  500  Mann) 
2000  Mann  Infanterie  verstärkten  das  2.  Corps  unter  Pahlen. 

Mit  dem  2.  Armeekorps  unter  Gl.  Lt.  Gf.  Pahlen,  circa  22000  Mann 
stark,  werde  Diebitsch  am  6.  Juni  aus  dem  Lager  vor  Silistria  abmarschieren, 
um  eine  Schlacht  zu  suchen  oder  falls  ihm  ausgewichen  werde,  weiteres  nach 
den  Umständen  beschließen. 

Die  40000  Mann,  welche  wir  am  4.  Juni  teils  in  den  Transcheen,  teils 
ausgerückt  und  abends  im  Gefecht  gesehen  hatten,  waren  im  hasten  Zustand 
von  der  Welt,  pie  Organisation  aller  Dienstxweige  zeigte  sich  ganz  vor^ 
trefflich.  Enthusiasmus  für  Diebitsch  war  allgemein.  Nur  der  Gl.  Quartier- 
meister Toll  brummte  und  grollte.  Gl.  Butturlin  sprach  klug  und  lobte  auf 
das  Üppigste.  Er  stand  an  der  Spitze  der  russischen  Intelligenten,  Toll  an 
der  der  inländischen  Deutschen  und  Beamten.  Diebitäcb,  Roth,  Rüdiger  und 
die  Chefs  der  (leneralstäbe  der  Corps,  Generäle  Uerrmann,  Wachten,  Dellings- 
hausen, Generalstab  und  Adjutanten  waren  ganz  für  Diebitsch.  Weniger  Pahlen.  — 
Das  Diplomatische  Corps  dirigierte  der  Staatsrat  Ponton,  ein  Penrot').  Er 
sprach     sich    entschieden   aus,    daß  erst  ein   kriegerischer  Schlag   geschehen 


>)  D.  h.  aus  Pera. 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  487 

müsse,  ehe  man  an  irgend  Weiteres  anders  als  Materialien  sammelnd  denken 
könne. 

Die  große  Frage  sei,  ob  man  pure  Frieden  schließen  solle  oder  ob  denn 
gar  nichts  für  die  Bulgaren,  die  es  kaum  verdienten,  oder  für  die  Rumelioten, 
für  alle  Slaven  und  Griechen  jenseits  des  Balkan  —  die  es  gar  sehr  ver- 
dienten —  zur  Besserung  ihrer  Lage  geschehen  könne  und  müsse.  In  einem 
Werke  der  Humanität  und  Christenpflicht  läge  zugleich  die  beste  Garantie 
gegen  jedes  fernerweite  übergreifen  der  Pforte.  Die  große  Frage  sei,  ob  man 
die  Streitkräfte  der  Moldau,  Serviens,  Montenegros,  der  Bulgaren,  Rumelioten, 
mit  einem  Worte  aller  Slaven  aufbieten  wolle  oder  nicht.  Das  wichtigste 
Verhältnis  dabei  sei  das  zu  dem  Pascha  Mustapha  in  Scodra.  Er,  dann  der 
Pascha  von  Bagdad  und  Ali  in  Ägypten  wären  die  drei  mächtigsten  Ver- 
bündeten Rußlands  —  nicht  gegen  Mahmud  den  Säufer,  sondern  gegen  den 
eigentlichen  Herrscher  in  Gonstantinopel,  gegen  den  Kaukasier  Chosrew  mit 
seinen  Landsleuten  und  ehemaligen  Sklaven  Reschid,  Hallil  usw.  Ihm 
dienten  alle  Personalitäten  von  Bedeutung.  Er  sei  die  Seele,  welche  noch 
dem  morschen  W^esen,  welches  nur  nominel  Türkei  heiße,  Halt  gäbe.  Diese 
Kaukasier  wären  durch  die  Behauptung  ihrer  Macht  die  achtbaren  Feinde  aller 
Slaven  wie  aller  Griechen.  Ihre  bedeutenden  Persönlichkeiten  überwältigten  die 
entnervten  Türken  und  herrschten  dadurch  über  sie.  Sie  wären  ein  edles  Ele- 
ment, aber  eine  große  Erschwerung  der  Entwicklung  der  Interessen  sowohl 
der  Griechen  als  Slaven.  Wäre  die  Vielweiberei  mit  dem  Christentum 
zu  verbinden,  so  wären  längst  keine  Türken  mehr,  auch  nur  dem 
Namen  nach,  regierend.  Kaukasischer  Herrschaftssinn  oder  Freiheit  und 
Vielweiberei  hielten  im  Innern  noch  vor,  während  Diplomatie  von  außen  ein- 
reiße. Für  ihre  Sitten  dem  alten  Wesen  noch  Halt  zu  verschaffen,  das  sei 
fast  das  einzige  Interesse  aller  dieser  Machthaber.  Ali  und  der  Pascha  von 
Bagdad  kommen  hier  zunächst  nur  maritim  und  abziehend  in  Betracht  Ihr 
Gold  aber  wirke  zu  Durazzo  wie  zu  Gonstantinopel  und  selbst  in  Schumla. 
Dies  Gold  sei  Rußlands  Alliierter.  Mustapha  sei  der  Erste,  der  in  Europa 
einen  muhamedanischen  neuen  Staat  zu  gründen  hoffe.  Dies  fände  vielen 
Anstand.  Slaven  und  Griechen  wären  bigotte  Christen.  Ihnen  erscheine  der 
Islam  nur  als  eine  gräuliche  Verwilderung.  Dieser  könne  Rußland  nicht  wohl 
die  Hand  bieten.  Mustapha  und  seine  islamitischen  Anhänger  würden  gleich 
Christen  werden,  wenn  sie  nur  ihre  Weiber  behalten  könnten.  Dies  würde 
sich  wohl  auch  arrangieren.  Aber  die  Entstehung  eines  neuen  lebensfrischen  vor- 
herrschend slavischen  Staates  in  den  ausgedehnten  Ländern  zwischen  Servien, 
Montenegro,  Griechenland,  Bulgarien  und  dem  dereinstigen  griechischen  Frei- 
staat von  Gonstantinopel  sei  der  Gegenstand,  welcher  Mettemichs  ganze  Ab- 
geneigtheit  errege.  Man  fürchte,  daß  ein  allgemeiner  Föderalismus  aller  sla- 
vischen Nationalitäten  mit  Rußland  an  der  Spitze  auch  tief  in  das  incohärente 
Wesen  des  österreichischen  Kaiserstaates  eingreifen  werde.  Den  Pascha  Ali 
von  Janina  habe  man  zwar  mit  ähnlichem  Versuche  früher  gewähren  lassen, 
sich  aber  damit  getröstet,  daß  er  ein  Rebell  sei,  mit  dem  wohl  zu  rechter 
Zeit  die  Pforte  wieder  fertig  werden  würde.  —  Anders  sei  das  jetzt.  Mustapha 
sei  ein  verständiger,  worthaltiger,  achtbarer,  mächtiger  und  energischer  Mann. 


^HH  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

I^itlrlit  wnrde  or  'M)  bi»  40000  Mann  aufbringen,  die  ihm  weit  wehr  er- 
KiitMiii  wiren,  uIn  die  Truppen  des  QroBveziers  Reschid,  welche  nur  aus  Mangel 
All  Nahrung,  Oewalt  und  durch  leere  Vorspiegelungen  zusammengebracht  und 
gtihültnn  würden.  Mustapba  sei  schon  seit  dem  Winter  mit  Rufiland  in 
liniorhaiidlung.  P>  vorlango  nichts  als  des  Kaisers  von  Rußland  einfaches 
Wort,  ihm  Nolnen  jetzigen  Machtbezirk  erblich  zu  belassen  bei  dem  Falle  des 
iiirklMohon  Uniohos  oder  auch  nur  bei  dem  Frieden  zwischen  Rußland  und 
il0r  Pforto.  Mit  einem  jeden  Staat,  welcher  sonst  noch  entstehe,  etwa  in 
lluluarton  und  Itumelien,  sowie  mit  Montenegro  und  Servien,  werde  er  unter 
HuUlnndN  Vormittlung  Frieden  beschworen.  Bis  jetzt  habe  Mustapha  kein 
NoIoh^N  Wort  dos  Kaisers,  er  begnüge  sich  mit  den  bloßen  Schilderungen  des 
ltl«»(ohon  Interesses,  welches  er  und  die  russische  Kriegsmacht  hätten.  Auch 
dln  llotrachtung,  daß  er  doch  schon  kompromittiert  sei  und  keine  Macht  mehr 
htihi«,  möchte  ihn  wohl  für  Rußland  geneigt  halten.  Persönliche  Feindschaft 
mit  Hussein  Pascha  in  Rustschuk,  der  sowohl  für  den  Groß vezier  Reschid  wie 
für  Mustapha  Lebensmittel,  Geld  usw.  schaffen  solle  und  selbst  nichts  kenne 
«Im  Habsucht,  käme  dazu.  —  Wenn  man  aber  über  den  Balkan  wolle, 
N(i  müsse  die  Sache  mit  Mustapha  und  mit  dem,  was  man  mit  der 
christlichen  Bevölkerung  jenseits  dem  Balkan  anfangen  wolle, 
wohl  überlegt  und  im  Voraus  diplomatisch  festgestellt  werden.  Sei  nun  dies 
der  Fall,  so  wäre  es  militärisch  ein  Leichtes,  der  Macht  Ghosrews  ein  Ende 
zu  machen.  Dieser  schlaue  Alte  sehe  dies  Alles  wohl  ein.  Während  er  in 
Pera  allen  andern  europäischen  Gesandten  vorerzähle,  wie  Rußlands  Herrsch- 
sucht und  Einfluß  auf  alle  Slaven  und  Griechen  das  Gleichgewicht  von  Europa 
und  alle  Verträge  zerreiße,  unterhandle  er  stets  im  Geheimen  mit  Rußland 
und  lasse  anbieten,  daß  wenn  man  nur  einen  Frieden  mache,  in  welchem 
die  Pforte  fortbestehe,  er  ja  doch  nur  deren  Regierung  unter  russischem  Ein- 
fluß fortsetze,  weil  er  es  ja  müsse  und  nicht  anders  könne.  —  Denn  jetzt  sehe 
auch  jeder  Türke  ein,  daß  Rußland  die  einzige  Macht  wäre,  welche  ihrem 
Reiche  ein  Ende  machen  könne  und  werde,  wenn  man  türkischerseits  nicht 
die  nötige  Rücksicht  für  Rußland  habe.  —  Es  fehle  nicht  an  mächtigen  Zu- 
stimmungen hierfür  bei  dem  Kaiser  Nikolaus  selbst,  und  kein  Zweifel  sei,  daß, 
wenn  es  zu  einem  (paix  a  demi)  Halbfrieden  komme,  so  werde  bei  der  ganzen 
Sache  nur  Rußland  allein,  nicht  aber,  wie  der  Kaiser  wohl  gewollt  und  wie 
sich  jetzt  die  schönste  Gelegenheit  ergebe,  ganz  Europa  und  die  allgemeine 
Weltsache  der  Humanität  und  Civilisatiou  für  immer  entschieden  gewinnen. 
Man  fürchte  in  Europa  Krieg  und  dadurch  Wiedererwachung  des  kaum  ge- 
bannten und  durch  den  Fürstenbund  der  Verträge  niedergehaltenen  Geistes 
der  Revolution.  Diese  Hydra  eben  könne  man  aber  nicht  besser  vernichten, 
als  wenn  man  wahrhaft  human  und  nicht  blos  engherzig  diplomatisch 
handele.  Man  möge  nur  dem  civilisationsübervollen  Europa  die  Türkei 
und  mit  ihr  Asien  und  Afrika  zum  Tummelplatz  der  Interessen  aller 
Art  eröffnen.  Dadurch  würde  aller  Revolutionsstoff  im  Innern  der 
Länder  einen  wohlthätigen  Abfluß  und  Beschäftigung  erhalten.  Dies 
weite  Feld  sei  völlig  zur  Emp^inglichkeit  vorbereitet,  die  hier  nur  nut;Ben 
könne. 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  489 

Dies  Vorstehende  alles  wurde,  so  frisch  wie  es  sich  mir  erschloß,  nach 
Berlin  berichtet.  Nach  einem  Dejeuner  ä  la  fourchette  bei  Diebitsch  wurde 
den  5.  Juni  Mittags  aufgebrochen;  der  Marsch  war  nur  kurz  bis  nach  Kut- 
schuk  Kainardschi. 

Den  6.  Biwak  bei  den  3  Quellen  nach  30  Werst  Marsch. 

Den  7.  über  Kaorgu  ins  Biwak???  —  r>en  8.  wird  18  Werst  marschiert: 
dann  Mittags  Halt. 

Entsehlnß:  —  Gl.  Wachten  kommt  an  und  schildert  das  Spezielle  der 
Stellung  des  General  Roth  und  des  Veziers,  schlägt  Yor,  demselben  von  der 
Seite  von  Schumla  her  in  den  Rucken  zu  gehen,  sodaß  man  dazwischen  stehe. 
Das  Terrain  sei  dazu  gut  und  schon  bekannt.  Butturlin  opponiert,will,daß  man  den 
Yezier  maskieren  und  gleich  entschieden  Schumla  erstürmen  solle.  Schumla  sei 
nun  einmal  der  moralische  und  strategische  Schlüssel  des  ganzen  Feldzugs.  Ich 
erkenne  Letzteres  an,  erkläre  aber  mit  Wachten,  daß  dies  noch  nicht  der  Moment 
^ci>  gegen  Schumla  zu  operieren.  Intime  Freundschaft  (mit  Wachten)  als  Gleich- 
stehender.  Diebitsch  entscheidet,  daß  sich  zwischen  den  Vezier  uud  Schumla 
geschoben  und  die  Schlacht  gesucht  werden  solle.  —  Wachten  weiß  gewiß, 
daß  bis  zum  7.  Nachmittags  3  Uhr  der  Yezier  keine  Ahnung  des  Anmarsches 
hatte.  Nach  Schumla  sind  6000  Albanesen  zurückgegangen,  1000  Einwohner 
und  Landleute  sind  darin  und  zum  Garnisondienst  organisiert.  Bei  Kysly- 
tschilar  ins  Biwak. 

Den  9.  Bis  Alexkaie,  Mittagsruhe.  General  Dellingshausen,  Chef  des 
Oeneralstabs  von  General  Rüdiger  (der  in  Sizibol  ist)  berichtet  von  der  Zeit 
von  vorgestern  3  Uhr  bis  zu  seinem  Wegritt.  Nichts  Neues;  detaillierte 
Stellungsangabe.  Ordre  an  Roth  zur  Vereinigung  in  der  Nacht  bei  Tausch 
Kosludschi  unweit  Januskioi.  Schöner  3Ioment.  Biwak  ohne  Feuer  und  in 
größter  Stille. 

Zweite  Beratschlagung.    Diebitsch,  Toll,  ßutturlin.  Wachten  und  ich, 

Toll  will  den  Tag  und  weitere  Nachrichten  abwarten.  Man  werde 
villeicht  zwischen  dem  Vezier  und  Schumla  eine  feste  Stellung  nehmen 
müssen.  — 

Butturlin:  Entweder  man  überfalle  die  GOOO  Albanesen  in  Schumla 
und  verspreche  den  Christen  Freiheit,  damit  sie  nicht  stritten,  oder  man  solle 
so  abmarschieren,  daß  man  mit  Tagesanbruch  mit  einer  Reserve  bei  Markowtscba, 
mit  dem  Gros  zwischen  Kusowtschi  und  Rowno  auf  dem  buschigen  Terrain 
des  Plateaus  zum  Angriff  bereit  stehe.  Die  Verfolgung  des  Sieges  müsse  zu 
dem  entscheidensten  Resultate  führen,  denn  die  Wege  nach  Schumla  und 
Karnabat  würden  alle  abgeschnitten.  Von  denen  nach  Aidos  führenden 
Wegen  wären  die  im  Prawodi-Bach-Tal  gar  nicht  einzuschlagen,  ohne  sofortige 
Vernichtung,  die  Bahn  nach  Komarowna  zu  sei  aber  von  Markowtscha  und 
Kusowtschi  her  sehr  leicht  zu  flankieren.  —  Das  Projekt  hatte  etwas  Kühnes 
und  Geniales.  Toll  verwarf  es  aber  mit  Härte  als  unreif  und  vorschnell. 
Diebitsch  fühlte  sich  hierdurch  für  Butturlin  angeregt  und  verletzt,  gab  dies 
nicht  zu,  opponierte  mit  Animosität  gegen  Tolls  ewiges  Abwarten.  Der 
Moment  sofortigen  Entschlusses  sei  da.  Es  solle  nicht  gezaudert  werden.  — 
Diebitsch  war  zu  aufgeregt,  als  daß  es  durch  offnes  Widersprechen  thunlich  er-' 


490  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

schien,  ihn  auf  andere  Meinung  zu  bringen.  —  Wachten  fragte  mich  halb 
leise:  „was  ist  denn  Ihre  Meinung?"  «Die  des  Entschlusses  (yom  Preval  am  8.) 
von  gestern,  der  Karte  nach  bei  Maderda.''  „Ja  Maderda  ist  der  Punkt,'' 
sagte  Wachten  mehr  als  halblaut.  „Was  sprecht  Ihr  Herren  von  Maderda?* 
fragte  uns  Diebitscb.  —  Wachten  schwieg.  Ich  mußte  das  Wort  nehmen.  — 
„Euer  Exzellenz  bestimmten  gestern  auf  dem  Preyal  das  Zwischenschieben. 
Auf  dem  Weitermarsch  hatten  Sie  die  Gnade«  mir  auseinanderzusetzen,  daB 
man  wohl  eine  drei  bis  vierfach  stärkere  Macht  Türken  ohne  alle  Gefahr 
angreifen  könne,  wenn  man  nur  entwickelt  sei;  daß  man  aber  in  Marsch- 
kolonne und  getrennten  Teilen  von  ihrer  ersten  Impetuosität  Alles  zu  ris- 
kieren hätte.  Dem  eingedenk  habe  ich  mir  gedacht,  daß  das  Rendezvous  der 
Armee  hinter  der  Kuppe  bei  Maderda  in  der  Gabel  des  Bulanlykbaches  sein 
würde. **  —  Da  haben  Sie  recht;  man  kann  das  Newschathai  nur  in  vielen  Fron- 
talkolonnen  passieren.  Ebenso  nur  die  Linksschwenkung  machen.  Bei  Dunkel- 
heit, Gebüsch,  Zerrissenheit  des  Terrains  bedarf  es  anderer  Detailleführer  als 
wir  sie  haben,  und  langsamere  Gegner  als  die  Türken.  Fallen  sie  auch  nur 
uuf  einzelne  Kolonnen,  so  ist  schon  die  ganze  Sache  verpfuscht,  dem  Zufall 
preisgegeben.  „Das,  Euer  Erlaucht,  ist  auch  meine  Meinung,  fügte  Toll  hin- 
zu.'' —  »Nun  gut!  In  Zeit  von  IV2  Stunden  wird  der  Marsch  der  Tete  des 
2.  Armee-Corps  nach  dem  Rendezvous-Plateau  von  Maderda  angetreten.  So  viel 
Parallelkolonnen  wie  möglich  nebeneinander.  So  kurz  wie  möglich  und  alles 
dicht  auf.  Das  Hauptquartier  bricht  mit  der  Tete  auf.  General  Kreutz  wird 
die  Avantgarde,  aus  Kavallerie  bestehend,  kommandieren.  General  Otroschenko 
soll  mit  seiner  Jägerbrigade  durch  noch  2  Bataillon,  2  Eskadrons,  4  reitende 
Geschütze  verstärkt  als  Infanteneavantgarde  folgen,  ihnen  beiden  werde  ich 
jenseits  Jenibazar  weitere  Befehle  erteilen.  Die  Truppen  der  6.  und 
7.  Armee-Corps  folgen  den  Bewegungen  des  Zweiten.  General  Kuprianow 
muß  von  Allem  benachrichtigt  werden.  Er  soll  sich  dem  Vezier  zeigen» 
wenn  er  abzieht.  Auf  Wiedersehn,  meine  Herren*  —  Toll  und  Wachten 
traten  zu  mir  und  gaben  mir  die  Hand.  Butturlin  schnitt  mir  eine 
Grimasse.  — 

Der  Marsch  wurde  so  ausgeführt  Es  ergab  sich,  daß  die  Türken  be- 
deutend viel  Cavallerie  vor  Schumla  heraushatten.  Eine  Rekognoscierung  der 
Türken  aus  dem  Newtschathale  veranlaßte  das  Stehenbleiben  des  6.  und  7. 
Corps,  welches  noch  mit  Prawodi  in  Verbindung  blieb,  und  sogar  einen  tür- 
kischen Wagenzug  über  Rowno  im  Thale  gegen  Prawodi  Abteilungen  in  die 
Flanke  schickte. 

Am  11.  Juni  1829  kam  es  in  dem  Terrainwinkel  von  Kulewcza  zur 
Schlacht  und  gänzlichen  Zersprengung  der  türkischen  Armee.  —  Der  Vezier 
mit  einem  kleinen  Trupp  Reiter  hatte  sich  auf  einem  Umwege  über  Maraach 
nach  Schumla  geflüchtet.     Abends  geht  der  Courier. 

Am  12.  Juni  geht  General  Roth  bis  Marasch,  General  Rüdiger  aber  bis  Eski- 
Stambul.  Redouten  im  vorjährigen  großen  Lager  der  Türken,  hinter  Schumla, 
werden  genommen. 

Dritte  Beratung  (NB.  ohne  Zusammenkunft):  Butturlin  dringt  auf 
sofortigen  Sturm   von  Schumla.    Diesmal  vereinige  ich  mich  mit  ihm. 


Anlagen  zu  Kapitel  IX.  491 

Umsonst  —  Toll  ist  nicht  ganz  dagegen,  aber  auch  nicht  dafür.  Diebitsch 
behauptet,  das  sei  ein  unnützes  Blutvergießen.  Er  werde  über  den  Balkan 
gehen  und  Schumla  liegen  lassen.  Auch  Silistria  nun  loslassen. 
Jetzt  würden  die  Truppen  von  Achmet  auch  das  Hasenpanier  er- 
greifen, so  wie  sie  dazu  nur  trei  Feld  erhielten.  Ich  bitte  Diebitsch 
um  ungestörtes  Gehör  zu  Gunsten  meiner  Instruktion.  Daß  ich  dies  tun 
soll  nach  einer  Schlacht  oder  Eroberung  einer  bedeutenden  Festung  steht 
darin  ausdrücklich;  ich  soll  dann  selbst  Auskunft  geben.  Dies  faßt  Diebitsch 
mit  Lebhaftigkeit  auf.  Er  sagt  mir:  „so  ist  es  recht.  Oberzeugen  Sie  zu- 
nächst den  Kaiser,  daß  mich  nichts  Militärisches  hindert,  über  den  Balkan 
und  bis  ins  Lager  von  Daud  Pascha  auf  den  Höben  von  Constantinopel  zu 
gehen.  Nur  die  politischen  Hindemisse  müssen  von  mir  genommen  werden. 
Ich  muß  dem  Mustapha,  der  mit  30000  Mann  bei  Nissa  steht,  bestimmte  Er- 
klärungen geben  dürfen,  die  ihn  zu  meinem  Alliierten  machen.  Er  muß  mit 
einem  Teile  meine  Avantgarde  werden,  mit  einem  andern  Schumla  mit  blo- 
kieren.  Eigene  Corps  der  christlichen  Bevölkerung  müßten  sich  unsem  Truppen 
anschließen.  Dazu  aber  muß  ich  ermächtigt  sein,  ihre  Zukunft  vor  der  Rache 
der  Türken  sichern  zu  können.  Mit  England  stehen  wir  gut.  Ali  Pascha 
und  Mustapha  sowie  der  Pascha  von  Bagdad  haben  Gehör  bei  den  Engländern 
gefunden.  Ich  werde  einen  Flottenkapitän  zu  unserer  und  zur  englischen 
Flotte  schicken.  Die  englische  Gesandtschaft  in  Pera  ist  mit  Chosrew  brou- 
illiert.  England  hat  bestimmt  erklärt,  daß  es  im  Laufe  dieses  Jahres  nichts 
für  die  Pforte  tun  werde.  Nach  Wien  werde  ich  Budberg  schicken.  Unsere 
dortige  Gesandtschaft  soll  ihn  unterstützen.  Metternich  wird  doch  einsehen, 
daß  der  Friede  von  Europa  nur  gesichert  nicht  geföhrdet  wird,  wenn  dem 
Skandal  dieser  Turkenmacht  endlich  ein  Ende  gemacht  wird.  —  Sie  werden 
in  Berlin  nur  bei  dem  König  und  bei  Witzleben  einigen  Anklang  finden,  bei 
Müffling  villeicht  Alle  andern  dort  einflußreichen  Leute  sind  im  Schlepptau 
von  Metternich.  Canitz  in  Pera  hat  sich  an  Guillemiuot  angeschlossen,  welcher 
Gott  weiß  warum  auf  einmal  sehr  türkisch  gesiunt  geworden  ist  und  sich  ein- 
bildet, die  Türkei  bleibend  für  Frankreich  zu  gewinnen,  sie  zu  vergrößern 
und  Gott  weiß,  was  er  sich  denkt.  Canitz  soll  von  ßernsdorf  angewiesen 
sein,  gutes  V'ernehmen  mit  Guilleminot  zu  erhalten  und  mit  ihm  Hand  in 
Hand  zu  geben  und  die  Pforte  zum  Frieden  zu  stimmen.  Auch  meine 
offiziellen  Instruktionen  schreiben  vor,  daß  ich  in  dem  Fall,  wie  er  jetzt  ist, 
Friedensschritte  thun  muß.  Sie  könnten  jetzt  vermitteln,  wenn  Ihre  Instruktion 
nicht  nun  grade  mir  nach  Wunsche  Ihre  Rückreise  zur  Vermittlung  des  Gewähren- 
lassens  vorschriebe.  Ich  werde  nun  direkt  an  den  Vezier  schreiben,  allen 
(iesandten  in  Pera  Abschriften  zugehen  lassen.  —  So  wie  der  Kaiser  mir  nur, 
nach  Ihrer  Ankunft  in  Warschau,  ein  Wort  darüber  sagt,  daß  ich  ungehindert 
agieren  darf,  gehe  ich  über  den  Balkan,  dachen  Sie,  daß  Sie  mich  vor  drei 
Wochen  noch  eher  einholen  als  ich  Adrianopel  erreiche.  Wir  wollen  zusammen 
vor  Stambul  rücken.  Warten  Sie  morgen  noch  den  Entschluß  von  Toll  ab,  ob 
er  in  Folge  einer  Rekognoscierung,  die  er  vornimmt,  und  der  Nachrichten  die 
wir  heute  aus  Schumla  erwarten.  Gründe  von  Gewicht  für  einen  brüsken  Angriff 
findet.    Ich  halte  ihn  nicht  für  nötig  —  für  ein  nutzloses  Wagnis.    Glückts,  so 


492  Aulagen  zu  Kapitel  IX. 

hilfts  wenig  und  macht  wohl  nicht  einmal  moralischen  Effekt.  Mißlingtii,  so 
thuts  in  vieler  Hinsicht  Schaden.  ^ 

Am  13.  Juni  kehrte  Toll  Mittags  zurück ;  er  war  nicht  abgeneigt,  für  die 
Unternehmung  eines  gewaltsamen  Angriffs  zu  stimmen,  doch  müssen  noch 
erst  einige  Erörterungen  vorgenommen  werden.  Diebitseb  äußerte,  daß 
wenn  der  Kaiser  den  Sturm  nicht  beföhle,  was  er  nicht  glaube,  werde 
er  nicht  umsonst  Hlut  vergießen.  Schumla  ohne  Armee,  dabei  im 
verschanzten  Lager,  sei  zu  umgehen.  Es  frage  sich  nur,  ob  von  Silistria 
ohne  weiteres  weg  zu  ziehen  sei  oder  wie  sonst  Alles  an  der  Donau  zu 
ordnen  sein  dürfte.  Dies  mußte  sich  binnen  wenigen  Tagen  übersehen  lassen. 
Nachmittags  ritten  wir  drei  Abgeschickten  über  das  Schlachtfeld  nach  Prawodi 
^nd  von  da  nach  Varua,  wo  die  Pest  fürchterlich  hauste.  In  Warschau  ange- 
kommen eröffnete  mir  der  Kaiser,  daß  als  er  vor  kurzem  in  Berlin  gewesen 
sei  u.  ersehen  habe,  wie  sorglich,  in  Beziehung  auf  Frankreich,  man  die  Sache 
ansehe  u.  wie  sie  den  König  beunruhige,  er  offeriert  habe,  daß  Preußen  direkt 
in  Konstantinopel  Frieden  vermittelnd  auftreten  möge.  Zu  dem  Ende  sei 
Gl.  Müffling  abgereist.  Ob  der  König  nun  noch  darauf  eingehen  werde,  sich 
für  (rewährenlasseu  zu  interessieren  u.  dies  bei  Ostreich  zu  befürworten,  stehe 
dahin?  —  Witzlebens  Abwesenheit  sei  hierbei  ungünstig.  Mit  mehr  Erfolg 
noch  sei  jetzt  vielleicht  in  Wien  als  in  Berlin  auf  diesen  jetzt  wünschenswert 
gewordenen  Zweck  hinzuwirken.  Den  Frieden  von  Europa  wolle  der  (sc  d. 
Kaiser)  nicht  zu  brechen  Veranlassung  geben.  Wolle  man  aber  Rußland 
gewähren  lassen,  so  sei  es  zu  jeder  nur  irgend  thunlichen  Garantie  darüber  bereit, 
daß  selbst  im  Falle  der  Vernichtung  des  türkischen  Reichs  Ruß- 
land für  sich  nicht  eine  Spanne  breit  Land  haben  wolle,  und  daß 
Konstantinopel  eine  freie  Handelsstadt  unter  gemeinschaftlichem 
Schutze  werden  solle.  Alles  übrige  möge  ein  Congreß  bestimmen, 
welcher  die  früheren  Verträge  zur  Basis  behalten  könne. 

In  Berlin  herrschte  lediglich  noch  die  Ansicht  Mettemichs  und  nach  ihm 
die  des  Grafen  Bernstorf.  Seit  Müfflings  Abreise  hatte  man  die  Sache  bereits 
als  abgemacht  angesehen.  Man  war  verdrießlich  über  neue  Behelligung  damit. 
Meinen  Mitteilungen  über  die  Haltlosigkeit  des  ganzen  türkischen  Wesens,  die 
ich  sehr  speziell  ausführte  u.  auf  genaue  Fakta  basierte,  standen  die  Guille- 
minot-Canitzschen  wie  die  östreichischen  Berichte  aus  Pera  entgegen. 

Die  uralte  Meinung,  als  habe  die  Pforte  eine  kriegerische  Macht,  stand 
noch  zu  fest.  Daß  es  sich  blos  darum  handelte,  Gesindel  zusammen  zu  bringen, 
welches  nur  auf  den  Moment  harre  wieder  aus  einander  zu  laufen,  war  noch 
nicht  bekannt  genug.  Die  Absicht  von  Diebitsch  über  den  Balkan  zu  gehen, 
wurde  als  eine  Tollheit  betrachtet. 

Großfürst  ConstantiD  hatte  mir  gesagt:  Diebitsch  ist  nun  ganz 
verrückt  geworden.  Seien  Sie  froh,  nicht  mehr  bei  ihm  zu  sein  u.  s.  w. 
ich  freue  mich  nur,  daß  er  meine  Polen  nicht  zu  verschwenden  hat.  — 

Graf  Bernsdorf  sagte: 

Diebitsch  ist  durch  seine  Eitelkeit  im  Begriffe,  alles  zu  zertrümmern, 
was  zum  Frieden  und  Wohle  Europas  seit  15  Jahren  mit  Mühe  u.  Not  erlangt 
worden  ist.  — 


Aulagen  zu  Kapitel  IX«  49):) 

Sr.  Majestät  dem  Köuig  hatte  ich  2  Mal  die  Ehre,  uDgesturten  Vortrag 
machen  zu  dürfen.  Hier  blieben  meine  Schilderungen  nicht  ohne  Erfolg. 
Nach  dem  1.  Vortrage  stellte  sich  als  wahrscheinlich  heraus,  daß  ich  über 
Neapel  und  Griechenland  dem  Gl.  MüfÜing  nachgesendet  werden  würde,  um 
ihn  zu  minderer  Eile  zu  veranlassen  u.  Ton  den  Türken  zu  den  Russen  als 
Vorläufer  Müfflings  zu  gehen. 

Dies  wurde  aufgegeben.  Mein  Friedensvermitteluugsauftrag  wurde  ent- 
schieden durch  den  weit  kräftigeren  des  Gl.  M.  als  aufgelost  erklärt.  Minister 
Gf.  Bernsdorf  sab  in  mir  nur  den  Soldaten,  der  zur  Fahne  des  Diebitsch  aus 
Passion  geschworen  habe  u.  entfernt  werden  müsse.  Er  eröffnete  mir,  man 
brauche  nur  einen  Berichterstatter  bei  Diebitsch.  Alles  das  aber,  was  ich 
nun  wisse 

1)  Sendung  des  Gl.  Muff  fing, 

2)  Standpunkt    des  Wollens    des  Kaisers,    der    Geneigtheit   des  Königs 
hierzu  u.  s.  w. 

müsse  für  Diebitsch  so  lange  ein  Geheimnis  seiu,  bis  Müffling  dies  Geheimnis 
zu  brechen  an  der  Zeit  finden  würde.  —  Es  sei  an  mir,  zu  erwägen,  ob  ich 
mit  diesem  momentanen  Geheimnis  zu  Diebitsch  zurück  gehen  wolle?  —  Meine 
Antwort  war  entschieden,  daß  ich  nur  dann  zu  Diebitsch  zurück 
kehren  könne,  wenn  ich  völlig  offen  gegen  ihn  bleiben  dürfe,  daß 
ich  ihn  aber  bestimmt  dazu  bewegen  würde,  nur  auf  den  Höhen 
vor  Konstantinopel  Frieden  anzunehmen. 

Der  Minister  erwiderte,  daß  er  dies  von  mir  erwartet  habe  und  nach 
Diebitsch  Briefen  kein  Zweifel  sei,  daß  meine  Rückkehr  nur  für  Diebitsch 
der  Schlüssel  zu  gewagterer  Unternehmung  sein  werde.  Nach  Anhörung 
meines  Berichts  u.  nach  den  Mitteilungen  des  Kaisers  in  den  Depeschen,  die 
ich  mitgebracht  hätte,  sei  der  Entschluß  S.  M.  des  Königs  nun  dahin  gefaßt, 
mit  dem  Kaiser  darin  übereinzustimmen,  'daß  man  die  Ereignisse  ihren  Gang 
geben  lassen  wolle.  Dergestalt  ist  sowohl  Diebitsch  für  Fortsetzung  des 
Krieges,  als  Müffling  für  dessen  Beendigung  nach  den  Umständen  zu  handeln 
ganz  freie  Hand  gelassen  worden. 

Unter  diesen  Umständen  sei  es  am  Besten,  wenn  ich  gar  nicht  wieder 
auf  diesen  Schauplatz  ginge,  auf  dem  sich  keine  für  mich  passende  Rolle 
fände.  Denn  als  Teilnehmer  u.  Berater  von  Diebitsch  verlange  Preußens 
Politik,  daß  ich  nicht  erscheinen  dürfe.  Und  deshalb  sei  auch  der  König  ver- 
hindert, mir  den  Orden  pour  le  m^rite  zu  geben  u.  habe  mir  den  Johanniter- 
Orden  mit  der  Äußerung  erteilt,  daß  mir  der  Grund  gesagt  u.  mir  bemerkt 
werden  solle,  es  werde  mich  interessieren,  daß  ich  doch  wohl  der  Letzte  sein 
würde,  welcher  den  S.  J.  0.  seiner  eigentlichen  Bestimmung  nach  im  Kampfe  , 
gegen  die  Ungläubigen  erhalten  habe. 

Demnach  ging  ich  zur  Erholung  nach  Ems  und  Major  Wildermeth  reiste 
mit  der  Weisung  zu  Diebitsch,  daß  er  und  Rittmeister  Panzer  fortan  sich  auf 
nichts  mehr  als  auf  Berichterstattung  einzulassen  hätten. 

Wie  mir  befohlen  war,  meldete  ich  an  Diebitsch  blos  mit  russischer 
Couriergelegenheit,  daß  die  Verhältnisse  mir  nicht  gestatteten  zu  ihm  zurück 


494  Anlagen  zu  Kapitel  IX. 

zu  kehren.  Ich  wußte,  daß  er  daraus  lesen  mußte,  raan  wolle  nichts  für  seine 
Pläne  thun.     Weiteres  zu  schreiben  hätte  aber  meine  Dienstpflicht  verletzt.  — 

Außer  blindem  Glück  giebt  es  ein  auch  einsehendes. 

Das  Glück  ist  meist  nichts  anderes  als  Benutzung  des  Gegebenen  zur 
Herbeiführung  oder  Ersehen  einer  günstigen  Situation,  in  der  man  den  rechten 
Moment  erfaßt  u.  die  geeigneten  Mittel  auf  die  richtige  Weise  in  Anwendung 
bringt.  Solch  Glück  hatte  Diebitsch  durch  die  Schlacht  von  Kulewtschi 
gehabt.  Was  eine  Schlacht  u.  was  eine  Festung  bedeute?  Das  trat  nun 
interessanter  Weise  auf  die  Spitze  gestellt  ernstlich  heraus. 

Alle  Diplomaten  und  Juden  fragten  nur,  ob  Diebitsch  Schumla  ge- 
nommen habe.  Militärs  hielten  die  Schlacht,  die  Vernichtung  der  türkischen 
Armee  für  das  Wesentliche.  Wohl  war  sie  es  auch  —  aber  nur  als  ein 
Schlüssel,  nur  als  der  Beginn  zu  einem  Weiteren.  Aber  wie  nach  der  Schlacht 
von  Cannae  nur  die  Phantasie  der  erschrockenen  Romer  «Hannibal  ante  portas*" 
sah,  so  nur  sehen  auch  die  erschrockenen  Bewohner  des  Serai  und  deren 
Erhalter  in  Pera  „Diebitsch  vor  ConstantinopeP.  Kr  wurde  nur  Sabalkansky 
nicht  Gonstantioopolsky.  Daß  er  letzteres  nicht  wurde,  brach  den  innersten 
Lebenskeim  dieses  großartigen  Geistes  u.  edeln  Charakters,  dem  körperliche 
Unform  viel  Erschwerendes  in  den  Weg  gelegt  hatte. 

Fünf  Wochen  war  Diebitsch  vor  Schumla  stehn  geblieben.  (11.  Juni  bis 
16.  Juli.)  Nun  erst,  nachdem  Silistria  genommen,  brach  er  in  der  heißesten 
Jahreszeit  auf,  um  über  den  Balkan  zu  gehen.  Dies  war  nun  nicht  mehr 
ohne  große  Schwierigkeiten.  Ihre  Beseitigung  und  Cberwindung  kostete  große 
Sorge,  Anstrengung  und  Verluste.  Das  Detail  dieser  Operationen  bis  Adria- 
nopel  und  das  Vorschieben  der  Kosaken  bis  IV2  Meilen  über  Araba  Burgas 
bietet  des  Interessanten  und  Lehrreichen  die  Menge.  Verderblich  wäre  ein 
Aufenthalt  von  mehreren  Tagen  bei  Aldos  geworden,  wo  ungesunde  Luft  das 
böse  Fieber  in  die  Armee  brachte,  dem  auch  unsere  beiden  Kameraden  Wilder- 
meth  und  Panzer  in  Adrianopel  erlagen.  Sie  ruhen  neben  einander,  auf 
christlichem  Kirchhofe;  einen  Stein  mit  Einschrift  ließ  ihnen  Diebitsch  setzen 
und  schickte  die  lithograüscbe  Abbildung  in  vielen  Exemplaren  nach  Berlin 
zur  Verteilung. 

Concept  des  Major  von  Staff,  genannt  von  Reitzenstein. 

Kriegsarchiv  des  großen  Generalstabes  V  A.  Nr.  7. 

Kapitel  X. 
Die  Truppen  der  aktiren  Armee  am  2./U.  Juli  1829. 

Aufstellung  des  Grafen  Toll. 
Generalstab  der  Armee: 

Stabschef  Generaladjutant  Graf  Toll. 

Chef  des  Ingenieurwesens  Generalmajor  Lechner. 

Chef  der  Artillerie  General  der  ArtiTlerie  Baron  Löwenstem. 

Hauptverwaltung  des  Proviantwesens  Senator  3.  Klasse  Obakumow. 

General -Intendant  G.  M.  Kometadius. 

General-Quartierraeister  Generalmajor  Buturlin. 


Anlagen  zu  Kapitel  X.  495 

General  du  jour  Generalmajor  Obrutschew. 

Chef  der  Belagerangsartillerie  Generalmajor  Arnoldi   (steht   beim  Chef 

der  Artillerie  und  Oberst  Eriks  II  besorgt  seine  Geschäfte). 
Chef  des  Parks  Oberst  Ladysbinski. 
Kriegs- Generalpolizeimeister  Oberst  Dobrowoijski. 
Kommandant    des    Hauptquartiers    Major    des    Gendarmerie-Regiments 

Sajatschnewski. 
General -Wagenmeister  Oberst  Melnikow. 
Direktor  der  Hospitäler  Staatsrat  Kurik. 
Feld-Generalstabsarzt  wirkt.  Staatsrat  Witt. 
Feld-Postdirektor  der  Beamte  5.  Klasse  Pohl. 
Feld-Obergeistlicher  Protohierej  Janowitzki. 
Vorsitzender  des  Feld-Auditariats  Generalmajor  Wolkow. 
Verwalter  der  von  der  Armee  besetzten  Stellen: 

In    Moldau   und  Walachei:   Bevollmächtigter  Vorsitzender   der   Divans 

Generalleutnant  Sheltuchin  (später  abgelöst). 
In  Bulgarien  Kriegs-Generalgouvemeur  Generaladjutant   Golowin   (ab- 
gelöst). 
Im    Gebiet    Bazardschik    Tschukmatscbew,    Direktor    der   Kanzlei   des 

Oberkommandierenden. 
Zum  Konvoi  des  Hauptquartiers  gehören:  Die  3.  und  6.  Eskadron  des 

Gendarmerie-Regiments. 
Das    Doltina-Kosaken-Regiment,    eine    halbe    Kompagnie    der   mobilen 

Invalidenkompagnie  Nr.  62. 

Das  2.  Infanterie-Korps. 

Korpskommandeur  Generaladjutant  Graf  Pahlen. 
Korpsstab:  Chef  des  Stabes  Hermann  (abgelost). 

Chef  der  Artillerie  Generalmajor  Polosow. 
Oberquartiermeister  Oberst  Rennenkampf  I. 

Dnjourierender  Stabsoffizier  Mjässojedow  vom  Leib-Garde-Dragoner- 
Regiment. 
4.  Infanterie-Division  Generalmajor  Stegmann.    Divisions-Qoartiermeister 
vom  Generalstabe  Martinau. 

1.  Brigade  Generalmajor  lefimow. 

Wologdasche  j  " 

2.  Brigade  Generalmajor  Michailowski-Danilewski. 
Kostromasche  \ 
Galitzsche        j    ^^J*' 

3.  Brigade  Generalmajor  Schalaschnikow. 

7.  Jäger  S.  Petri  bei  Daja. 

8.  Jäger  6.  Komp.  bei  S.  Petri,  2.  bei  Altiniza  und  Karnodschi. 

4.  Artillerie-Brigade. 
Batterie  Komp.  Nr.  1  5  Geschütze  bei  Petri,  3  bei  Banjas. 
Leichte  Batterie  Nr.  2  Daja. 


Archangelgrodsche  ,        ^ 

in  Garnison  in  Silistria. 


496 


Anlagen  zu  Kapitel  X, 


in    Reserve   unter   Kommando   des 
Grafen  Pablen. 


Nr.  3  6  Geschütze  bei  Petri,  2  bei  der  Batteri» 
an  der  Mündung  des  Ardschis. 

i).  Infanterie-Division.     Generalleutnant   Ssumima.      Quartiermeister    der 

Division  Uschakow,  Hauptmann  im  Generalstabe. 

1.  BrijQ^ade  Generalmajor  Lutkowski. 

ßieloserski     ) 

Olonetzki       1   *"  Reserve  unter  Kommando  des  Grafen  Fahlen. 

2.  Brigade  Generalmajor  Malinowski  (beim  Regiment  Ladoga). 

.Schlüsselburg  —  zur  Zeit  in  Silistria. 
Ladoga. 

3.  Brigade  Generalmajor  Frolow. 

9.  Jäger 

10.  Jäger 

5.  Artilleriebrigade 

Batterie  Kompagnie  Nr.  1 

leichte  Nr.  2 

Nr.  3 

0.  Infanterie-Division.  Generalmajor  Fürst  Lubomirski.  Beim  Chef  der 
Division  Generalmajor  Parensow,  Divisionsquartiermeister  Hauptmann  Spore 
vom  Generalstab. 

1.  Brigade  Generalmajor  Warpochowski 

Newski 
Sofiiski 

2.  Brigade  Generalmajor  Kasnakow 

Narwski 
Koporski 

3.  Brigade  Generalmajor  Otroschtschenko 

11.  und  12.  Jäger 

6.  Artilleriebrigade 


in  Reserve  unter   Kommando 
des  Grafen  Pahlen. 


in  Reserve  unter  Kommando  des 
Grafen  Pahlen. 


Batterie  Kompagnie  Nr.  1 
leichte  Nr.  2 

Nr.  3 

2.  Husaren- Division  bleibt  auf  Befehl  in  Dewno.  Generalleutnant  Baron 
Budberg.  Zu  ihm  kommandiert  Generalmajor  Petresehtscbew,  Quartiermeister- 
Hauptmann  im  Generalstabe  Ssobolewski. 

1.  Brigade  (leneralmajor  Soldau  (abgelost,  vakant). 

Erzherzog  Ferdinand,  Pawlograd  in  Reserve  unter  Kommando  de» 
(irafen  Pahlen. 

2.  Brigade  Generalmajor  (ila^>nap. 

Jelisawetzgrader,  Irkutzker  im  Beobachtungskorps  Generalleutnant 
Krassowskis.  , 

Brigade  Artillerie  zu  Pferde. 

Keitende  Kompagnie  Nr.  3  in  Reserve  beim  Grafen  Pahlen. 
Reitende  Kompagnie  Nr.  4  im  kleinen  Beobachtungskorps  General- 
leutnant Krassowskis. 
5.  Vorstadtsche  (Furschtadskaja)  Brigade,  4  Bataillone. 


Anlagen  zu  Kapitel  X.  497 

8.  Infanterie-Korps. 

Kommandiert  vom  Generalleutnant  Krassowski. 
Korpsstab:  Stabschef  Generalmajor  Forst  Gortschakow. 
Chef  der  Artillerie  Generalmajor  Essaulow. 
Oberquartiermeister  Hauptmann  Stich  vom  Generalstabe. 
Dujourierender  Stabsoffizier  Oberst  Chandakow  vom  4.  Ukrainschen 
Ulanenregiment. 

7.  Infanterie-Division.  Generalleutnant  Juschkow,  Divisionsquartiermeister 
Hauptmann  Ladysbinski  vom  Generalstabe. 

1.  Brigade  Generalmajor  Kolen  (krank  in  Kalarasch). 

Muromer,  Niscbegoroder  in  der  linken  Kolonne. 

2.  Brigade  Generalmajor  Laschkewitsch. 

Nisowsche  Regiment  in  Varna. 
Simbirskische  in  der  linken  Kolonne. 

3.  Brigade.    13.  und  14.  J&ger  in  der  linken  Kolonne. 
7.  Artilleriebrigade. 

Batterie  Kompagnie  Nr.  1  in  der  linken  Kolonne. 

Batterie  leichte  Nr.  2  in  Dewno. 

Batterie  leichte  Nr.  3  wird  bei  der  Bergartillerie  Nr.  2  gebraucht 

werden. 

8.  Infanterie-Division.  Generalleutnant  Sass  II,  zu  ihm  kommandiert: 
Generalmajor  Ssafianow;  er  kommandiert  die  Reservebrigade  dieser  Division 
Divisionsquartiermeister  Hauptmann  Hastfer  vom  Generalstabe. 

1.  Brigade  Generalmajor  Löwenhof  (krank,  es  kommandiert  der  Oberst 

des  Pensascben  Regiments  Ssawostjanow. 
Troitzker,  Pensaer 

2.  Brigade  Generalmajor  Shilenkow 

Tambower,  Ssaratower 

3.  Brigade  Generalmajor  GersdoriT. 

15.  und  16.  Jäger  in  Garnison  in  Silistria. 

9.  Infanterie-Division.  Generalleutnant  Bartholome.  Divisionsquartier- 
meister vakant. 

1.  Brigade  Generalmajor  Tschebyschew 

Tschcrnigower,  Poltawaer 

2.  Brigade  Generalmajor  Helwig 

Alexopolsker,  Krementschuger 

3.  Brigade  Generalmajor  Melgunow 

17.  und  18.  Jäger  (3.  Bataillon) 
Das  Bataillon  der  18.  Jäger,  das  in  Fokschani  liegt,  hat  Befehl  erhalten, 
sich  dem  Regiment  anzuschließen. 

9.  Artillerie-Brigade  Batterie  Kompagnie  Nr.  1 1    im  Beobachtungskorps 

leichte  Nr.  2  und  3        f  Generalleutn.  Krassowski. 

3.  Husaren-Division.    Generalleutnant  Fürst  Madatow.    Zu  ihm  komman- 
diert  Generalmajor   Montresor  (zur    Zeit    bei    General    Woinow),    Divisions- 
<iuartiermeister  Hauptmann  Jakowlew  vom  Generalstab  der  Garde. 
Schiemann,  Geschichte  Rußlands.    IL  32 


im    Beobaehtongskorps    General- 
leutnant KrasBowskis. 


im  Beobachtungskorps 
Generalleutnant  Krassowskis. 


498  Anlagen  zu  Kapitel  X. 


im  BeobacbtuDgskorps 
Generalleutnant  Krassowskia. 


1.  Brigade  Generalmajor  Murawjew 

Achtyrsche  und  Alexandrisker 

2.  Brigade  Generalmajor  Brinken 

Regiment  Feldmarscball  Wittgen- 
stein, Prinz  von  Oranien 
Brigade  der  Artillerie  zu  Pferde. 

Reitende  Kompagnie  Nr.  4  befindet  sich  beim  Gardekorps. 

Nr.    6    beim    Beobachtungskorps     General- 
leutnant Krassowski. 

3.  Vorstadtbrigade  (Furschtadskaja),  4  Bataillone. 

Truppen  des  4.  Infanterie-Korps,  die  bei  der  2.  Armee  stehen. 

10.  Infanterie-Division.    Generalleutnant  Nagel.     Divisionsquartiermeister 
Oberstleutnant  Dluski  vom  Generalstabe. 

1.  Brigade  Generalmajor  Ssemischin. 

Rgt.  G.-Feld-M.  Herzog  Wellington,  Mohilewer  in  Vama. 

2.  Brigade  Generalmajor  Kuprianow. 

Witebsker  in  Vama,  Polozker  in  Prawodi. 

3.  Brigade  Generalmajor  Rall. 

19.  und  20.  Jäger  in  Prawodi. 

10.  Artillerie-Brigade. 

Batterie  Kompagnie  Nr.  1  in  Vama. 
leichte  Nr.  2  in  Prawodi. 

Nr.  3  in  Vama. 

11.  Infanterie-Division.     Generalmajor  Kusmin.    Divisionsquartiermeister 
Hauptmann  Bergenheim  vom  General  Stabe. 

1.  Brigade  Generalmajor  Andrashekowitsch  (abgelost). 

Eletzker,  Sewsker  —  bei  Bukarest 

2.  Brigade  Vakanz. 

Brjansker.     1  Bataillon   auf  der  Flotte   und  je  eine  Kompagnie 
in  Brailow,  Babadagh,  Hirsowa  und  Tschemowodi. 
Orlower.     1  Bataillon  in  Kästendschi,  8  Kompagnien  in  Kowaraa 
und  1  in  Mangalia. 

3.  Brigade  Generalmajor  Swjetschin. 

21.   und    22.  Jäger  in  der  Reserve   des  Beobachtungskorps   (zur 
Zeit  zum  Heumachen  verwendet). 

11.  Artilleriebrigade. 

Batterie  Kompagnie  Nr.  1.    Ssemteschti  in  der  großen  Walachai. 
leichte       Nr.  2  in  Silistria. 

Nr.  3  auf  dem  Marsch  nach  Kosludschi,  um  sich 
der  Jägerbrigade  der  11.  Infanteriedivision  anzuschließen. 

0.  InfSanterie-Korps. 

Kommandierender  General  der  Infanterie  Roth. 
Korpsstab:  Stabschef  Generalmajor  Wachten. 

Chef  der  Artillerie  Generalmajor  Diterich. 
Oberquartiermeister  Oberst  Vietinghof  vom  Generalstabe. 
Dujourierender  Stabsoffizier  Oberstleutnant  Woronkowski. 


Anlagen  zu  Kapitel  X.  499 

16.  Infanterie-Division.    Generalmajor  Weljaminow.     Oberquartiermeister 
Oberstleutnant  Nioberg  vom  Generalstabe. 

1.  Brigade  Generalmajor  Herken  (unter  Gericht). 

Selinginsker,  Jakutzker,  in  der  linken  Kolonne. 

2.  Brigade  Generalmajor  Gabbe  (fungiert  als  Stabschef  bei  General- 
adjutant Kisselewy  die  Brigade  kommandiert  Oberst  Bjelogushew  vom 
Ochotzker  Regiment. 

Ochotzker,  Kamtschatkaer  —  in  der  linken  Kolonne. 

3.  Brigade  Generalmajor  Kladyschtschew. 

31.  und  32.  Jäger  —  in  der  linken  Kolonne. 

16.  Artilleriebrigade. 

Batterie  Kompagnie  Nr.  1,   leichte  No.  2  in  der  linken  Kolonne, 
No.  3  in  Dewno. 

17.  Infanterie-Division.     Generalmajor  Prigara,   Divisionsquartiermeister 
Stabskapit.  Baron  Rehbinder  vom  Generalstabe. 

1.  Brigade  Generalmajor  Schirmann. 

Jekaterinenburger  —  Kaie  und  Turno. 
Tobolsker  —  bei  Krajowa. 

2.  Brigade  Generalmajor  Eismont. 

Tomsker  —  bei  Tschars 

Kolywaner  —  1.  Bataillon  in  Kalafat,  das  2.  an  der  Donau  von 

S.  Rasti  bis  zur  Mündung  der  Olta. 

3.  Brigade  Generalmajor  Kusmin. 

33.  Jäger  —  3.  Kompagnien  in  Poljana  und  2  beim  Wall  Alenilar, 
und  je  eine  in  Ssaltscba  und  Dessa. 

34.  Jäger  ~  1  Bataillon   in  der  Festung  Rahowa  und  2  Komp. 
in  Tschernitza  und  Tscherescbti. 

17.  Artilleriebrigade. 

Batterie  Kompagnie  Nr.  1  bei  Krajowa. 

leichte    Nr.    2    6    Geschütze    bei   Tscharoja,    4   bei 

Kalafat   und  2  am  Wall  Alenilar,  je  2   in  Tscherescbti    und   in 

der  Festung  Rahowa. 
4.  Ulanen-Division.     Generalleutnant  Baron  Kreutz,  kommandiert  zu  ihm 
Generalmajor  Graf  Suchtelen,  Divisionsquartiermeister  Hauptmann  des  General- 
stabes Bielokurski. 

1.  Brigade  Generalmajor  Nabel 

St.  Petersburger,  —  Charkower 

2.  Brigade  Generalmajor  Scheremetjew 

Smolensker,  Kurländer 

Reitende  Artillerie  Kompagnie  Nr.  28  ^ 


^  linke  Kolonne. 


7.  Infanterie-Korps. 

Generalleutnant  Rüdiger. 
Korpsstab:  Stabschef  Generalmajor  Baron  Dellingshausen. 

Chef  der  Artillerie  Generalmajor  Tschereroissinow. 
Oberquartiermeister  Oberst  Richter. 

32» 


in  der  rechten  Kolonne. 


500  Anlagen  zu  Kapitel  X. 

Dejourierender   Stabsoffizier  Oberst   Paulan  von   den    Leib-Garde- 
Grenadieren. 

18.  Infanterie-Division.  Generalmajor  Gortscbakow  II,  Divisionsquartier- 
meister  Hauptmann  Jemolow  vom  Generalstabe. 

1.  Brigade  Generalmajor  Ssobolewski  (ist  nicht  eingetroffen). 

Kasaner  in  Garnison  in  Bazardschik. 
Regiment  Wjatka 

2.  Brigade  Generalmajor  Lappa 

üfimer,  Permer 

3.  Brigade  Timann. 

35.  und  36.  Jäger. 

18.  ArtiUeriebrigade. 

Batterie  Kompagnie  Nr.  1  rechte  Kolonne. 

leichte        Nr.  2   4    Geschütze   in   Bazardschik,     4    in 

Prawodi. 

„  Nr.  3  rechte  Kolonne. 

19.  Infanterie-Division.  Generalad^utant  Golowin  (Kriegsgouvemeur  in 
den  Gebieten  von  Babadagh  und  Bazardschik.)  Die  Division  kommandiert 
Generalmajor  Rogowski.  Divisionsquartiermeister  Hauptmann  des  General- 
stabes Ehrenkron. 

1.  Brigade  Generalmajor  Forst  Unissow. 

Asower,  Dniepr  —  in  Ssisopol« 

2.  Brigade  Generalmajor  Swobodski. 

Ukrainer  —  in  Ssisopol. 

Odessaer  —  zur  Zeit  in  Gibedsbi  und  Kosludschi.  Schließt  sich  in 

Dewno  an,  um  die  Wagenburg  zu  decken. 

3.  Brigade    Generalmajor    Rogowski,    kommandiert    die    Division,    die 
Brigade  kommandiert  Oberst  Lüders  von  den  37.  J&gem. 

37.  und  38.  Jäger  —  in  der  rechten  Kolonne. 

19.  ArtiUeriebrigade^ 

Batterie  Kompagnie  No.  1  und  leichte  No.  2,  je  Vs  Kompagnie 
in  der  rechten  Kolonne  und  in  Ssisopol  (die  Pferde  sollen  auf 
vollen  Bestand  gebracht  werden),  leichte  No.  3  in  der  Befestigung 
bei  Koprikioi. 
Bugsche  Ulanen-Division.  Generalmajor  Reutern.  Divisionsquartier- 
meister Hauptmann  des  Generalstabes  Luginin. 

1.  Brigade  Generalmajor  Akinfiew  (krank,  Ersatz  Generalmajor  Paachkow. 

1.  und  2.  Bugsche  ^ 

2.  Brigade  Generalmajor  Sievers  |  beim  Beobachtungskorps  Krassowskis. 

3.  und  4.  Bugsche  J 

Reitende  Kompagnie  Nr.  27  beim  Beobachtungskorps  Krassowskis. 

4.  ReserTe-KaTallerie-Korps. 

Korpskommandeur  Generaladjutant  Borosdin. 
Das  Kor)»s  kommandiert  General adjutant  Kisselew  (unter  dem  Kommando 
stehen  alle  Truppen  auf  der  linken  Seite  der  Donau  und  die  Festung  Silistria, 
als  Stabschef  steht  bei  ihm  Generalmajor  Gabbe). 


Anlagen  zu  Kapitel  X.  501 

Korpsstab:  Kommandeur  der  Artillerie  Generalmajor  Glinka. 

Oberquartiermeister  Stabskapit&n  Weimam  vom  Generalstabe. 

Dujourierender  Stabsoffizier  Oberstleutnant  Olenitsch-Gnenenko. 
1.  Dragoner- Di  Vision.      Generaladjutant    Baron    Geismar;    unter    seinem 
Kommando  stehen  die  Truppen  in  der  kleinen  Walachei,  als  Stabschef  fungiert 
Generalmajor  Grabbe,  dujourierender  Stabsoffizier  Stabskapitän  Muchanow  von 
der  Garde,  Divisionsquartiermeister  Stabskapit&n  Baron  Korff  vom  Generalstabe. 

1.  Brigade  Generalmajor  Plochow. 

Moskauer  bei  Studeni. 
Kargopoler  bei  Tscharoja. 

2.  Brigade  Generalmajor  Kwitnitzki. 

Kinbumer,  Noworossiisker  1        •  r    • 

Reitende  Artillerie  Kompagnie  Nr.  3     J     *^®*  Krajowa. 
l.  Division    Jäger    zu    Pferde.     Generalmajor    Laschkarew    II,    zu   ihm 
kommandiert   Generalmajor    Gordejew,    Divisionsquartiermeister   Stabskapitän 
Weimam  vom  Generalstabe. 

1.  Brigade  Generalmajor  Lobko  (abgelost,  Vakanz). 

Sewersker  —  Tschemigower  bei  Banjasa. 

2.  Brigade  Generalmajor  Saborinski 

Neshnisker,  Division  bei  Katzawan, 

Dorpater,  Division  bei  Simnitza  in  Daja. 

Reitende  Artillerie  Kompagnie  No.  22  je  eine   halbe  Kompagnie 

bei  Daja  und  Banjasa. 

Kosaken -Regimenter.     Kriegs-IIetmann  Generalleutnant  Ssissojew. 

Generalmajor  Begidow       ^ 

Oberstleutnant  Popow  II     !  zu  Generaladjutant  Geismar  gehörig. 

Oberst  Solotarew  i 

Oberstleutnant  Rykowyk  l\  ^         ,,.  ^.,  ,.. 

Oberstleutnant  Platow        1    ^"^  Generaladjutant  Kisselew  gehörig. 

Alexandrin  3  Sotnen  in  Prawodi,  1  in  Dewna,  1  in  Gebedshi. 

Kargin  in  Silistria,  Dmitrow  auf  der  Kriegsstraße. 

9.  Orenburger  bei  Krassowski. 

Solotarew  2  rechte  Kolonne. 

Karpow  4  auf  der  Kriegsstraße  von  Kaurga  nach  Silistria. 

Iljin  auf  der  rechten  Kolonne. 

5.  Tsehemomorisehel   .     „  ^      rr  j     t>  li 

I  in  Reserve  unter  Kommando  Pahlens. 

b.        »  »»         i 

4.  Uralsche  bei  Krassowski. 

Borissow  1.  beim  Beobachtungskorps  Generalleutnant  Krassowskis. 

Grekow  2  \  .     ^.,.  ^  . 
_-  o  Mn  Silistria 

Karpow  3| 

Baklanow  in  der  linken  Flanke. 

Kuteinikow  in  Varna. 

Jeschow  linke  Kolonne. 

Amanski,  Kordonstation  am  Djnepr. 

Dolotin  beim  Hauptquartier. 


'    im  Reservekorps  des  Grafen  Witt. 


502  Anlagen  zu  Kapitel  X. 

Tschernuscbkin  in  der  rechten  Kolonne. 

Andrijanow,  2  Sotnen  in  Prawodi,  die  anderen  beim  Heu  machen. 

Ssekreti 

Stupatschewski 

8.  Orenburger 

1.  Baschkiren 

2. 

Ingenieur-Ressort  Stellvertretender  Chef-Ingenieur  Generalmajor  Lechner. 
Die  Pionierbrigade  und  die  militärische  Arbeiterkompagnie  unter  Führung^ 
des  Generalmajor  Rupert. 

2.  Pionierbrigude  Generalmajor  Kruse. 

Sapeurbataillon,    3.    Pionierbataillon    —    in   Silistria.    Die    zugehörige 
Pontonabteilung  in  Galacz. 

3.  Pionierbrigade  Generalmajor  Oldenberg 

4,  Pionierbataillon  —  in  Varna. 

6.  Pionierbataillon  —  V4  bo>  ^^r  linken  Kolonne,  V4  ^^i  der 
Reserve  Pahlens,  die  Pontonabteilung  in  Silistria. 

7.  Pionierbataillon  —  V4  ^^i  ^^^  rechten  Kolonne,  V4  i^  Prawodi. 
Von  der  zugehörigen  Pontonabteilung  28  Pontons  bei  der  linken, 
14  bei  der  rechten  Kolonne. 

Militär- Arbeiterkompagnie    Nr.    27    in   Bazardschik,    Nr.    30    in 
Vama,  Nr.  31   in  Köstendschi,   Nr.  49    in  Kowama,    Nr.    50   in 
Varna,  Nr.  51  in  Küstendschi. 
Belagerungs-Ingenieur- Parks. 

Abteil.  1  in  Küstendschi,  Abteil.  2  in  Silistria,  Abteil.  3  in  Silistria, 
Abteil.  4  in   Varna.     Pionier-Eskadron   zu  Pferde   bei  Krajowa» 
Artillerie-Ressort.      Chef   der  Belagerungsartillerie  Generalmajor  Amoldi 
(befindet  sich  beim  Chef  der  Artillerie,  sein  Stellvertreter  Oberst  Erik.) 
Belagerungskompaguie  Abteilung  1  in  Silistria. 
Belagerungskompagnie  Abteilung  2  in  Varna. 


Belagerungskompagnie  Abteilung  31   .        . 
Belagerungskompagnie  Abteilung  4  j 


Fliegender  Artilleriepark.    Oberst  Ladyshenski. 

No.    4  bei  Bukarest.  No.  11  bei  Babadagh,  soll  nach  Varna. 

No.    7  bei  Janibazar.  No.  12  bei  Krajowa. 

No.    8  auf  dem  Marsch  nach  Schumla.      No.  17  bei  Kalarasch. 

No.    ^1  L  •  rp.         ,  No.  18  bei  Janibazar. 

No.  10/  ^    '  No.  19  auf  dem  Marsch  nach  Schumla. 

Laboranten  Halbkompagnie  bei  Tiraspol. 

Raketenkompagnie  auf  dem  Marsch  nach  Schumla. 

Fliegendes  Arsenal  No.  8  bei  Silistria. 
Bergartillerie. 

Abteilung  l  aus  12  Einhornern  bei  der  linken  Kolonne. 

Abteilung  2  aus  12  Kanonen  bei  der  rechten  Kolonne. 
Schlachtartillerie-Reserve  der  Armee. 

Reitende  Batterie  No.  19  beim  Beobachtungskorps  Krassowskis. 


Anlagen  zu  Kapitel  X.  503 

Donsche   reitende  Artillerie   Kompagnie  Nr.  1  in   der  Reserve  Pahlens. 
Nr.  2  in  Giurgewo. 
Donauflottille.    Chef  Kontreadmiral  Patanioti. 

3  Geschwader  unter  Kommando  1)  des  Kapitän  2.  Ranges  Resanow. 

2)  des  Kapitänleutnant   Niemtschenow. 

3)  Kapitänleutnant  Gamaleja. 

Jedes  besteht  aus  8  Kanonenbooten  und  6  Jollen  —  14  Fahrzeuge;  in 

Summa  stehen  also  42  Fahrzeuge  bei  Silistria  und   kreuzen   zwischen 

Silistria  und  Turtukai. 
Transport  flotte.   Die  Flotte  soll  bestehen  aus  32  Schiffen  und  16  Kirlaschen. 
Davon  sind  bestimmt  zum  Transport  des  Proviants  24  Schiffe,  der  Artillerie- 
Munition  8  Schiffe,   der  Kranken    16  Kirlaschen.     Zur   Zeit   sind    vorhanden 
18  Schiffe,  16  Kirlaschen. 

Zum  Ersatz  der  fehlenden  Schiffe  werden  aus  Sewastopol  9  Prisen- 
schiffe, aus  Odessa  ein  Prisenschiff  erwartet 

Zum  Bestand  dieser  Flotte  sollen  hinzukommen  Mitte  Juni  2  Dampf  boote, 
die  vom  Kaufmann  Sserebrenny  und  Graf  Woronzow  gekauft  werden.  Außerdem 
ist  der  Flottenkapitän  2.  Ranges  Kalamatjano  beauftragt  10  Barken  zu  bauen. 
Anm.  1.  Die    Transportflotte    steht   unter   Kommando    des   Kapitänleutnants 

Balasaglo. 
Anm.  2.  4  Schiffe  der  Transportflotte  und  2  Prisenschiffe  (Kauffahrer)  stehen 
zur  Verfügung  des  Chefs  der  Artillerie. 

Diebitsch  an  Nesselrode. 

Memorandum  annexe  a  la  depeche  de  MM.  les  ambassa- 
deurs  de  France  et  d'Angl.    Constant     15  Aoüt.  1829. 

La  sublime  Porte  desirant  mettre  un  terme  aux  maux  de  la  guerre,  et 
se  confiant  dans  les  vues  pacifiques  de  l'Emp.  de  Russie,  est  prete  ä  traiter 
de  la  paix  aux  conditions  suivantes: 

1<>)  Integrite  de  TEmpire  Ottoman  dans  les  frontieres  de  l'Europe  et   de 

TAsie  Sans  exceptiun. 
2*>)  La  sublime  Porte  prend  sur   eile  d'excuter   completement  les  anciens 

traites  et  specialement  celui  d'Ackerman. 
3°)  Adhäsion  au  traite  de  Londres,  avec  negociation  sur  les  bases  du  meme 

trait^. 
4«)  Libre  navigation  de  la  mer  noire  pour  les  bätiments  marchands  Russes 
garantie  de  la  maniere  la  plus  solenneile,  sans  cependant  porter  atteinte 
H  l'independance  territoriale  de  l'Empire  Ottoman. 
5°)  Les  interets  des  negociants  des  deux  nations,  ainsi  que  les  autres  demandes 
qui  de  part  et  d'autre  seraient  reconnues  fondees,  seront  reglees  ä  Gonst. 
d'un  commun  accord. 

Conclusion.  Pour  venir  a  Taccumplissement  de  la  Paix,  d^apres  les 
cinq  articles  qui  precedent,  il  sera  adresse  des  pouvoirs  et  des  Instructions 
au  Grand  Yezir,  et  a  cette  fin  S.  A.  se  mettra  irom^diatement  en  communi- 
cation  avec  le  Feld-Marschall  de  Russie. 


504  Anlagen  zu  Kapitel  X. 

Traduit  pour  la  France  par  U^  Amedee  Joabert,  poor  FAngleterre  par 
Ifr  Francois  Cbabert. 

ÄDtwort  Dfebitscltö. 

Andrinople,  ll/i3.  Aoüt.  1829. 

J'ai  eu  l'honnear  de  recevoir  la  depecbe  qae  Vos  Exc*«^  ont  bien  touIu 
m'adresser  sous  la  date  du  17  Aoüt  n.  st^  et  a  laquelle  etait  jöint  le  Memo- 
randum enonciatif  des  conditions  quelaPorte  se  montre  aujourd- 
hui  disposee  d^admettre  comme  bases  de  la  paix.  EnVousexprimant  tonte 
ma  sensibilite  pour  la  forme  obligeante  que  Voos  atez  mise  dans  cette  communi- 
cation,  je  me  crois  en  deToir  de  presenter  quelques  obserrationa  qoi  me 
semblent  indispensables  pour  eclaircir  et  preciser  la  Situation  respectiTe  des 
deux  Empires  belligerants. 

Au  moment  ou  la  guerre  a  eclate  entre  la  Russie  et  la  Portet  S.  II. 
TEmp.  a  par  sa  declaration  du  14  Avril  1828  fait  connaitre  d^a?ance  a  toos 
]ea  cabinets  et  au  Divan  lui-meme,  les  conditions  auxquelles  il  serait  dispose 
k  conclure  la  paix.  L'Europe  entiere  les  a  trouvees  justes  et  modere««,  et  a 
rendu  hommage  a  la  genereuse  magnanimite  de  TEmpereur  Nicolas.  A  chaque 
occasion  üiTorable  le  cabinet  imperial  n*a  cesse  de  &ire  entendre  a  la  Porte 
des  paroles  de  paix.  Nous  nous  en  reportons  volontiers  au  temoignage  des 
autres  pour  saroir  comment  elles  ont  ete  repoussees. 

Enfin  [aussitot  apres  la  rictoire  de  Kouleftscba,  j'ai  juge  le 
moment  propice  pour  tenter  une  deroarcbe  directe.  Le  6/18  Juin  j*ai  ecrit 
au  grand  Vezir  de  mon  camp  devant  Choumla  et  j^ai  autorise  II.  le  cons. 
d'R.  Act.  Fonton  a  entamer  des  pourparlers  toujours  d^apres  les  bases  de  la 
declaration  du  14  AYril  1828. 

Mes  propositions  prises  ad  referendum  par  le  grand  Vezir,  avec  dem  an  de 
d^un  delai  de  15  ä  20  jours  pour  en  ecrire  ä  Const.  sont  pourtant  restees 
Sans  reponse  aucune. 

Une  obstinatiou  ainsi  opiniätre,  un  tel  oubli  dVgards  et  de  conTenances, 
Sans  exemple  dans  les  rapports  entre  Puissances,  meritaient  sans  doute  une 
punition  prompte  et  severe.  Le  sou verain  dispensateur  de  la  justice  Celeste 
s^est  Charge  de  Tinfliger.  Jl  n^y  a  plus  d^armee  Turque  devant  nous. 
Les  troupes  victorieuses  que  j^ai  l'bonneur  de  Commander  sont  maitresses  de 
toute  Tetendue  du  pays  depuis  les  Balcans  j'usqu'a  Andrinople;  tandis  que  le 
comte  Paskewitsch  d'Eriwan  a  occupe  Erzeroum,  la  premiere  ville  de  la  haute 
Asie,  apres  avoir  defait  et  fait  prisonnier  le  Seraskier  qui  y  commandait  Cest 
apres  tant  et  de  si  grands  desastres  que  la  Porte  consent  a  parier  de  paix; 
mal»  je  nMmagine  pas  qu'elle  puisse  se  croire  ni  en  droit,  ni  en 
Position  d'en  dicter  les  conditions.  Elle  compte  sur  la  g^nerosite 
magnanime  de  l'Emp.  Nicolas  et  eile  ne  sera  pas  trompee  dans  son  attente, 
pourvu  qu^elle  s'y  livre  avec  confiance.  S.  M.  L  dont  les  sentimenta  et  les 
dispositions  restent  toujours  les  memes,  veut  une  paix  forte  et  solide,  qui 
porte  avec  eile  la  garantie  de  sa  duree.  Elle  tendra  une  main  amicale  au 
Sultan  Mahmoud  en  retablissant  entre  les  deux  Empires  tous  les  rapports  de 
bon  voisinage  et  de  parfaite  harmonie. 


Anlagen  zu  Kapitel  X.  505 

Juatement  penetre  de  ces  bautes  intentions  de  mon  Auguste  Maitre, 
«t  conformement  aux  Instructions  dont  je  suis  muni,  je  m'empresserai  de  mon 
cote  d'entrer  en  negociatioas  avec  les  Plenipotentiaires  Turcs  des  qu'ils 
se  presenteront  a  mes  avant-postes  autorises  en  bonne  et  due  forme,  et  je  mets 
ma  confiance  en  Dieu  qui  daignera  benir  nos  efforts  pour  faire  cesser  les  maux 
de  la  guerre. 

J'ai  une  trop  haute  idee  de  la  justice  de  Vos  Excellences  et  de  la  noblesse 
de  Votre  caractere  pour  ne  pas  etre  convaincu  que  Vous  saurez  apprecier  a  sa 
juste  valeur  le  langage  contenu  dans  la  presente  depecbe. 

Je  Vous  prie  MM.  les  Ambassadeurs  de  Youloir  bien  aggr^er  etc. 
Die  Depesche  Gordons  und  Guilleminots  vom  9.September  lautet. 

Dans  les  circonstances  actuelles,  11  est  un  devoir  imperieux  que  nous  ne 
saurions  nous  dispenser  de  remplir,  c'est  d'informer  V.  E.  des  consequences 
infaillibles  qu^entraineräit  la  marche  des  armees  imperiales  sur  Constantinople. 
La  sublime  Porte  nous  a  formellement  declare,  et  nous  n'hesitons  point  ä 
attester  la  v^rite  de  sa  declarätion,  que  dans  ce  cas  Elle  cessera  d^ex ister  et 
que  la  plus  terrible  anarcbie,  en  aneantissant  son  pouvoir,  livrera  indistincte- 
ment  sans  defense  aux  chances  les  plus  deplorables  Texistence  des  popula- 
tions  chretiennes  et  musulmanes  de  TEmpire. 

En  Yous  täisant  cet  etat  des  choses,  Mr.  le  Comte,  nous  eussions  assume 
sur  nous  vis  a  vis  de  nos  Cours,  de  Sa  Maj.  Imperiale  Elle-meme,  en  un 
mot,  de  TEurope  entiere,  une  responsabilito  que  nous  deTons  repousser  avec 
toute  r^nergie  dont  nous  sommes  capables:  ce  devoir,  nous  le  remplissons 
aujourd^hui,  en  vous  adressant  la  presente  lettre.  Nous  n'avons  plus  desor- 
mais  qu'a  nous  occuper  des  moyens  qui  pourraient  encore  dependre  de  nous, 
pour  chercber  ä  preserver  autant  que  possible,  les  chretiens  de  cette  capitale 
du  desastre  imminent,  qui  plane  en  ce  moment  sur  leurs  tetes. 

Nous  avons  Thonneur  de  renouveler  a  V.  E.,  Mr.  le  Cömte,  Tassurance 
de  notre  haute  consideration.  R.  Gordon. 

Comte  Guilleminot. 

Kaiser  Nikolaus  yon  RuBland  an  König  Friedrich  Wilhelm  III. 

von  PrenBen. 

Eigenhändige  Ausfertigung. 
Königliches  Hausarcbiv.     Rep.  XLIX.  J. 

Alexandrie  le  11/23.  Septembre  1829. 
Au  moment  oü  il  parait  que  la  divine  Providence  nous  fait  entrevoir 
d^une  maniere  presque  certaine  la  conclusion  d^une  paix  si  longtemps  et  si 
sincerement  desiree,  il  m'est  bien  doux  de  penser  que  je  le  dois  en  partie 
au  Service  minent  que  je  tiens  de  votre  amitie  Sire;  Tenvois  du  General 
Muffling  a  parfaitement  repondu  ä  vos  nobles  intentions,  et  le  succes  le  plus 
complet  couronne  les  peines  de  ce  digne  et  respectable  officier.  Que  ne  dois- 
je  pas  d^actions  de  grace  ä  Votre  Majeste,  pour  ce  Service  si  r^el,  si  digne 
d^Elle,  qu'Elle  a  daigne  rendre  ä  la  Russie,  je  puis  dire  a  TEurope, 
car  sans  cette  demarche.  Von  peut  ce  Tavouer,  les  suittes  d*une  Prolongation 
de  la  guerre,  eussent  ete  incalculables. 


500  Anlagen  zu  Kapitel  X. 

Encore  une  fois  Sire,  veuiilez  pemettre  que  je  vous  en  offre  toute  ma 
vive  et  sincere  reconnaissance. 

Ce  luatin  meme  un  Courier  parti  d'Andrinoples  le  H  g^pt.    ^o'^   porte  la 

nouvelle  de  l'arrivee  au  quartier  general  de  Mr.  de  Royer,  avec  une  notte 
favoräble  de  la  porte,  quelle  le  chargeait  de  nous  annoncer  qu'elle  consentait 
a  tout.  —  Mr.  de  Royer  a  Tinsfar  de  ses  collegues  confirme  Tetat  desespere 
011  se  trouve  la  Porte,  et  ses  craintes  de  Toir  tout  crooler  a  notre  apparition 
sous  les  murs  de  Constantinople.  —  Gomme  il  n'a  jamais  ete  de  notre 
intention  de  faire  crouler  cet  Empire  le  Comte  Sabalkansky  a  arrete  ou  pour 
mieux  dire  arrete  son  mouvement  autant  q^uil  est  possible  de  le  faire  militaire- 
ment,  dans  Tespoir  que  le  terme  fixe  par  lui  echn,  les  preliminaires  seront 
signes.  —  Votre  Majeste  connait  deja  Tinprudente  Ouvertüre  faitte  par  Hr. 
de  Guilleminot:  il  parait  qu'elle  a  complettement  abuse  la  Porte  sur  les  con- 
ditions  les  plus  raisonnables  et  proclames  df^s  le  debut  de  la  guerre;  cependant 
il  parait  que  la  necessite  la  fait  ceder.  —  Je  tacberais  le  plus  tot  possible 
de  faire  rentrer  nos  trouppes  dans  nos  frontieres:  mais  ce  ne  poura  etre  de 
si  tot  que  je  le  desirerais,  tant  a  cause  de  Karriere  saison  que  de  la  peste.  — 
En  attendant  je  fais  revenir  les  gardes  et  rapprocher  le  reste  des  trouppes  de 
leurs  quartiers  permanents.  —  Sous  peu  je  soumettrais  ä  Votre  Majeste  la 
nouvelle  Organisation  que  Tarmee  Ta  subir  dans  le  partage  des  trouppes  eile 
est  nxaivee  tant  sur  Teconomie  que  sur  le  manque  de  Chef  de  Corps,  qui 
reponde  bien  a  ce  nom. 

Depuis  nos  demiers  succes  nos  rapports  avec  PAngleterre  sont  de?enas 
plus  a  l'eau  de  rose  que  par  le  passe,  et  le  Duc  de  Wellington  parait 
vouloir  cbercber  a  etre  le  plus  amicalement  que  possible  avec  nous;  il  en  est 
jusqu'a  present  de  meme  de  Mr.  de  Polignac,  quoique  je  TaTOue  franchement 
a  Votre  Majeste,  je  ne  lui  ajoute  pas  beaucoup  de  foi.  —  Je  n'entends  plus  rien 
de  TAutricbe,  car  je  crois  qu'elle  n'a  plus  rien  a  dire.  En  resnme  je  tache 
dVtre  bien  avec  tous,  et  avec  laide  de  I>ieu  et  votre  amitie  si  constante,  si 
efficace  Sire,  je  ne  crains  plus  rien. 

Ma  femme  vous  aura  deja  annonc  Sire,  qu'il  parait  que  le  t>on  Dieu 
nous  a  accorde  un  huitieme  enfant:  jusquMci  tout  va  bien,  mais  j'oses  tous 
supplier  Sire  d'exiger  de  ma  femme  qu^elle  se  soigne  bien  et  plus  qu'elle  n'en 
a  l'habitude,  car  cela  lui  est  essentiel. 

J'ais  encore  mille  grace  a  rendre  a  Votre  Majeste  pour  Tenvois  de 
TEveque  de  Pomeranie:  je  me  tiatte  qu'avec  son  assistance  sous  la  direction 
que  vous  daignerez  lui  douner,  nous  panriendrons  ä  remettre  l'ordre  dans 
Teglise  Protestante  en  Russie,  dont  TCtat  actuel  et  presque  scandaleox. 

Veuillez  Sire  me  continuer  votre  indulgence,  vos  bontes  et  votre  amitie 
et  croire  au  devouement  inviolable  et  k  la  reconnaissance  sincere  de  celui 
qui  est   pour  la  vie  Sire! 

de  Votre  Majeste 

le  tfUt  deToue  et  fidele 

beau-fils 

Nicolas. 


Anlagen  zu  Kapitel  X.  507 

Joses  prier  Votre  Majeste  de  me  mettre  aux  pieds  de  Madame  la  Prin- 
cesse  de  Liegnitz. 

Ayant  appris  que  Madame  la  Princesse  desirait  un  scbawl  bleu,  j^ose 
en  mettre  un  a  ses  pieds. 

Cbarlottenburg.  Hausarcbiv  Orthographie  des  Originals. 

Auszng  ans  der  2.  Instrnktion  Halil  Paschas. 

Le  Caimacam  accuse  reception  des  lettres  de  Ualil  chiffrees  et  non 
chiffrees,  accompagnees  de  quelques  traductions  que  le  Comte  lui  a  reroises'. 
Dans  ces  lettres  Halil  annonce  qu'il  a  ete  tres  bien  accneilli  en  Russie  et 
demande  qu*on  l'instruise  dos  evenements  actueis  et  des  troubles  d^Aidin  et  du 
Systeme  et  des  relations  anterieures,  suivies  par  la  cour  de  Russie  envers  la  Porte. 

II  lui  donne  tous  les  details  de  Taudience  du  Comte  Orloff  avec  le 
Grand  Seigneur,  en  citant  ce  que  le  sultan  lui  a  dit  II  lui  parle  de  la  reception 
de  BouteniefT  ä  la  Porte,  et  de  la  nomioation  dW  Bintachi-Arif  Bey,  Charge 
d'aller  au  devant  de  Ribeaupierre,  auquel  on  a  accorde,  dit-il,  la  faveur 
d'entrer  a  Gonstantinople  avec  une  fregatte  et  une  conrette. 

U  dit  que  le  comte  Orloff  n'est  encore  entre  dans  aucune  discussion 
relative  a  sa  mission;  que  son  langage  est  caressant  pour  le  moment,  mais 
qu'il  parait,  d'apres  ce  qu'il  dit  aux  autres  ministres,  attendre  des  Instructions 
de  TEmpereur,  a  cause  du  depart  de  Halil  pour  Petersbourg,  et  ne  s^occuper 
pour  le  moment  que  des  affaires  de  bagatelle.  Qu'on  n'a  pas  encore  re^u 
de  Londres  une  reponse  sur  Taffaire  secrete.  Quant  aux  relations  de  la  Russie 
avec  la  Porte,  il  dit  qiie  pour  ce  qui  regarde  le  Systeme  actuel  et  les  circon- 
stances  presentes,  ses  Instructions  pourraient  suffire  pour  le  guider;  mais  afin 
de  donner  aussi  une  idee  exacte  du  passe,  il  lui  envoie  copie  du  manifeste 
publie  dans  le  temps  par  la  Porte,  en  reponse  ä  celui  de  la  Cour  de  Russie 
et  au  langage  qu'elle  a  tenu  sur  les  causes  de  la  guerre,  en  ajoutant  que  les 
mauvais  procedes  de  la  Russie  envers  la  Porte  sont  incalculables,  et  tandis 
que  c'est  eile  qui  a  donne  toujours  Heu  a  la  roeiiance  entre  les  deux  Cours, 
eile  n'a  cesse  d'en  attribuer  la  cause  :i  la  Porte,  ce  qui  est  un  mensonge  evi- 
dent; que  Torigine  de  la  mefiance  de  la  Russie  a  pour  motif  les  nouveaux 
reglements  militaires  et  administratifs,  adoptes  par  la  Porte  ce  que  n^osant 
pas  avouer,  eile  a  recours  a  des  subterfuges.  II  lui  enjoint  de  conformer  son 
langage  quant  au  passe  au  contenu  de  ce  manifeste  en  Tadaptant  äux  circon- 
stances  presentes  et  ä  la  nature  des  discussions  qu'il  pourrait  avoir  et  en 
donnant  autant  que  possible  du  relief  k  ses  discours;  mais  il  ne  pourrait  pas, 
dit-il,  lui  preciser  ce  qu^il  doit  repondre,  ne  sachant  pifts  ce  que  son  adversaire 
avancerait  et  quel  pourrait  etre  son  langage;  quMI  doit  pourtant  dans  ses 
rcponses  ne  jamais  oublier  la  dignitä,  la  force  et  la  loyaute  de  la  Porte,  et 
les  faire  valoir  en  temps  et  Heu. 

II  lui  communique  que  le  Dragoman  de  (fehlt)  s^est  present^  derniere- 
ment  ä  la  Porte,  et  partant  de  Tentretien,  que  son  ministre  a  eu  avec  Orloff, 
il  a  mis  en  avant  la  question  de  faire  cesser  la  mefiance  entre  les  deux  cours. 
Le  Reis  Effendi  lui  a  repondu:  faut-il  donc  que  ce  seit  toujours  la  Porte  qui 
tache  de  tranquilliser  la  Russie?    Cette  puissance  aussi  ne  doit-elle  pas  tucher 


508  Anlagen  zu  Kapitel  X. 

de  faire  de  meme  de  son  cote?  Que  la  Russie  modifie  les  articles  du  traite 
de  paix  au  point  que  la  Porte  puisse  les  accepter  et  les  executer,  et  Ik  con- 
üance  s^atablit  ensuite  naturellement.  Das  solle  Halil  als  Instruktion  dienen. 
Die  Unruhen  in  Aidin  und  Ancora  seien  erledigt,  henrorgerufen  durch  das 
Gerücht  von  den  Zahlungen  an  Rußland  und  die  Furcht  der  Einwohneri  noch 
mehr  belastet  zu  werden,  que  si,  Dieu  preserve,  il  y  a  de  nouveau  une  guerre, 
peut  etre  contribuerait-elle  ä  apaiser  les  troubles  et  calmer  les  esprits. 
II  Ini  enjoint  de  tenir  dans  les  Conferences  un  langage  doux,  roais  propre  a 
fuire  de  l'effet  et  a  convaincre  Tadversaire  et  h  sa  mission  d'adopter  le  Systeme 
qu'il  jugerait  a  propos  sur  les  lieux  pour  obtenir  le  plus  d'avantages  possible. 
II  lui  donne  des  details  sur  la  demande  du  Comte  Orloff  des  instructions  de 
Halil,  communiquees  aux  Ministres  des  quatre  PuiaslEinces  et  de  Tentretien  que 
Frankini  a  eu  la  dessus  avec  le  Reis  EflTendi,  a  la  fin  duquel  ce  demier  a  dit 
que  les  affaires  en  question  doivent  etre  traitees  entre  les  deux  Souverains. 
et  que  par  consequent  eux  ne  doivent  pas  s'en  meler  .  . . 
Frankini  habe  das  lächelnd  zugegeben. 

Ans  dem  Bericht  des  Grafen  Nesselrode  Aber  die  auswärtige 

Politik  Rnfilands  im  Jahre  1829. 

Petersburg.     Archiv  des  Ministeriums  des  Auswärtigen. 

Mission  du  Comte  Orloff. 

Independamment  des  assurances  amicales  dont  le  Comte  Orloff  devait 
etre  Porgane  de  la  part  de  Votre  Majeste,  sa  mission  avait  plus  particuliere- 
roent  pour  objet  de  surveiller  de  pres  Texecution  du  traite  d'Andrinople,  de 
regier,  si  la  Porte  lui  en  offrait  Toccasion,  —  les  termes  de  payement  ainsi 
que  le  mode  de  garantie  des  indemnites  pour  les  frais  de  la  guerre,  enfin  de 
faciliter  par  son  entremise  les  relations  du  Gouvernement  Ottoman  avec  nos 
autorites  militaires. 

Des  la  signature  de  la  paix,  Votre  Majeste  Imperiale  avait  fait  lever  le 
blocus  des  Dardanelles,  et  ses  Plenipotentiaires  avaient  demande  et  obtenu 
Touverture  du  Bosphore  a  nos  bätiments  marchands.  140  commerce  d'Odessa, 
malgre  la  saison  avancee  et  la  gene  qu'amenait  Tetat  sanitaire  de  cette  Tille, 
ne  tarda  pas  a  profiter  des  facilites  qui  lui  etaient  offertes.  Les  arrangements 
de  detail  relativement  aux  Privileges  du  pavillon  Russe,  furent  arretes  presque 
Sans  discussion. 

D'autres  points,  tels  que  le  libre  passage  accorde  aux  pavillons  de  toutes 
les  nations  aroies,  les  affaires  serviennes,  la  reddition  de  Giurgevo,  furent 
regles  successivement;  s'ils  eprouverent  quelques  delais,  auxquels  la  coinci- 
dence  des  mouvements  hostiles  du  Pacha  de  Scutarl  devait  naturellement 
donner  un  caractere  equivoque,  il  fallait  moins  s'en  prendre  ä  une  Intention 
arretee  de  la  Porte  de  se  soustraire  ä  une  clause  quelconque  d'un  Traite 
auquel  eile  devait  son  salut,  qu^aux  lenteurs,  aux  prejuges  et  en  general  aux 
vices  incurables  de  son  administration.  Aussi  les  demarches  pressantes  qui 
eurent  Heu  a  cet  egard  a  Constantinople,  n'avaient-elles  d'autre  but,  que  celui 
de  garantir  le  Gouvernement  Türe  de  ses  propres  inconsequences. 


Aulagen  zu  Kapitel  X.  501) 

Quant  a  rindemoite  de  guerre,  un  acte  separe  du  Traitu  d'AndrinopIe 
avait  reserve  a  Votre  Majeste  le  droit  d'en  regier  le  mode  de  payement  sur 
le  recours  que  la  Porte  ferait  a  sa  generosite.  Le  meme  acte  stipulait  que 
les  troupes  Russes  garderaient  les  Principautes  de  Moldavie  et  de  Valachie 
en  depot  jusqu'a  Tentier  acqulttemeat  de  cette  dette. 

Mais  Votre  Majeste  reconnut  tous  les  incooTenients  qu^une  occupation 
si  longtenps  prolongee  deTait  necessairement  faire  naitre.  Prejudiciable  h 
ces  provinces  meme,  sans  nous  ofTrir  aucune  garantie  veritablement  utile,  eile 
aurait  ete  cousideree  comme  un  acheuinement  a  une  incorporation  definitive 
et  n^aurait  pas  manque  de  foumir  a  la  malveUlanee  et  a  la  Jalousie  une  am- 
ple  matiere  anx  plus  fausses  interpretations.  Votre  Migtste  prefera  donc  de 
renoDcer  a  Texercice  du  droit  que  Lui  reservait  l'acte  separe,  et  Elle  decida 
que  I'occupation  des  Principautes  cesserait  apres  l'acquittement  de  l'indem- 
nite  commerciale,  le  terme  de  dix-huit  mois  fixe  a  cet  egard,  ^tant  suffisaut 
pour  rintroduction  du  nouvel  ordre  de  choscs  que  Votre  Majeste  se  proposait 
d'y  etablir. 

U  s'agissait  donc  de  regier  tout  a  la  fois  les  garanties  qui  detaient  etre 
substituees  a  Toccupaiion  des  Principautes,  et  le  mode  d'acquittement  des 
sommes  a  payer  par  la  Porte  apres  les  remises  que  Votre  Migeste  avait  Tin- 
tentioD  de  lui  accorder.  Le  Comte  Diebitscb-Zabalkansky  füt  muni  ä  cet  ^gard 
des  instructions  necessaires.  Plus  d'un  motif  nous  faisait  desirer  de  voir  cette 
affaire  terminee  soit  a  son  Quartier-General^  soit  a  Constautinople,  sous  ses 
auspices  immediats.  Mais  dirige  par  les  conseils  de  la  diplomatie  de  Pera, 
le  Grand-seigneur  avait  resolu  d'envoyer  une  Ambassade  a  St  Petersbourg. 
II  se  promettait  des  resultats  si  marquants  de  cette  demarche,  il  7  attachait 
tant  d'importaoee,  qu'aucune  representation  ne  put  L'y  faire  renoncer  ni  meme 
l'engager  a  la  retarder  jusqu'a  une  saison  oü  le  voyage  de  ses  Envoyes  ren- 
contrerait  moins  de  difficult^s  en  Russie.  Tout  ce  que  Ton  put  obtenir,  ce 
fut  que  les  personnes  designees  pour  cette  Missioti,  arriveraient  ici  sans  le 
caractere  d' Ambassadeurs.  Tontefois,  le  Ministere  Imperial  acquit  bieotot  la 
certitude  que  c'etait  a  St  Petersbourg  que  le  Sultan  voulait  faire  regier 
TafTaire  des  indemnites.  C'est  ainsi  que  cedant  avec  trop  de  complaisance 
aux  suggestions  des  Ministres  etraugers,  il  recula  lui-meme  Taccomplisseme- 
ment  des  coDcessions  qu'il  esperait  de  la  generosite  de  Votre  Majeste  Impe- 
riale, et  qu'il  etait  si  impatient  d'obtenir. 

L'influence  de  Sir  Robert-Gordon  ne  fut  que  trop  visible  dans  la  precipi- 
tation  du  depart  de  Halil-Pascha.  Elle  ne  se  manifesta  pas  moins  par  d'autres 
iudices.  Les  instructions  dont  l'Envoy^  Türe  fut  muni,  etaient  une  veritable 
protestation  contre  chaque  articie  du  Traite  d'Andrinople,  tant  la  Porte  s'aveu- 
glait  encore  sur  sa  Situation,  tant  il  lui  etait  difficile  de  renoncer  a  des  erre- 
ments,  qui  l'avaient  mise  ä  deux  doigts  de  sa  perte.  Ces  instructions  ayant 
<''te  communiquees  aux  Ambassadeurs  de  France  et  d'Angleterre,  ainsi  qu'ä 
rintemonce  d' Antriebe,  dans  Tespoir,  sans  doute,  que  leurs  cours  appuyeraient 
h  St  Petersbourg  des  demarches  que  desävouait  le  plus  simple  raisonnement, 
le  Comte  Orloff  re^ut  l'injonction  de  demander  a  en  prendre  connaissance 
a  son  tour.    La  communication  qui  lui  en  fut  faite,  lui  fournit  l'occasion  de 


510  Anlagen  zu  Kapitel  X. 

declarer  qu'aucune  demarcbe  tendant  a  invalider  une  claiise  quelconque  du 
traite  d'Andrinople,  ne  serait  admise  par  Votre  Majeste  Imperiale,  qu'EUe  ne 
souffrirait  non  plus  les  bons  offices  ou  la  mediation  d'une  Puissance  tierce 
entre  la  Russie  et  la  Porte,  enfin  que  c'etait  de  la  ^enerosite  seule  de  Votre 
Majeste  et  non  d'une  intervention  etrangere  que  le  Sultan  devait  esperer  des 
adoucissements  aux  charges  que  lui  impose  le  Traite.  Des  sa  premiere  au- 
dience,  Halil-Pascha  recueillit  ces  memes  declarations  de  la  beuche  de  Votre 
Majeste  Imperiale.  Elles  ont  eu  pour  effet  d'ecarter  h  jamais  les  Instructions 
8ur  lesquelles  cet  EuToye  avait  ordre  de  regier  ici  sa  conduite  et  son  lan- 
gage,  de  couper  court  a  tonte  reclamation  qui  aurait  eu  pour  but  de  revenir 
sur  le  Trait4  du  2/14  septembre,  enfin  de  placer  les  rapports  du  Cabinet 
Imperial  avec  le  Sultan  sur  le  seul  terräin  oü  il  Vous  fut  permis,  Sire,  de 
lui  accorder  quelques  allegements. 

La  Porte  s'etait  prevalue  dans  cette  conjoncture  de  la  connivence  des 
repr^sentants  etrangers  qui  avaient  accepte  la  communication  des  instructions 
de  Ilalil-Pacha,  et,  par  leur  silence,  en  avaient  pour  le  moins  approuve  la 
teneur.  Mais  eile  a  du  se  convaincre  que  loiu  de  lui  indlquer  les  vrais 
Dioyens  de  consolider  ses  relations  avec  la  Russie,  les  conseils  et  les  allures 
de  ces  representants  ne  lui  attiraient  que  des  mecomptes  et  des  embarras. 
D'autres  circonstances  encore  ont  du  ajouter  a  cette  conviction. 

Affaire  de  la  Blonde. 

IIuDiilie  du  role  auquel  les  demiers  evenements  de  la  guerre  l'avaient 
condamne,  et  impatient  de  donner  une  preuve  publique  de  son  credit,  Sir 
Robert  Gordon  avait  obtenu  pour  la  fregate  Anglaise«  la  Blonde,  la  permission 
de  la  Porte  de  faire  une  course  dans  la  mer  noire.  Cette  demarche  impr^- 
voyante,  outre  qu'elle  fut  bautement  desapprouvee  par  le  Gouvernement  Anglais, 
fournit  de  justes  motifs  de  regret  a  la  Porte  elle-meme.  Car  pour  s'etre 
c'cartee  des  principes  constaroment  suivis  par  eile,  en  autorisant  le  passage  de 
la  Blonde  par  le  Canal  de  Constantinople,  eile  subit  la  n^cessite  d'y  laisser 
entrer  un  vaisseau  de  ligne  de  la  flotte  de  la  mer  noire,  tandis  que  deux 
batiments  de  notre  escardre  dans  la  M^diterranee  venaient  le  rejoindre  sous 
les  murs  du  Serail. 

Par  les  directions  donnees  a  Halil-Pascha,  la  Porte  avait  essaye  de 
mettre  au  n^ant  le  Traite  qui  la  liait  a  la  Russie.  Par  une  note  remise  aux 
Ambassadeurs  de  France  et  d'Angleterre,  eile  essaya  de  meme  de  protester 
contre  le  Protocole  du  22  mars,  que  lui  imposait  l'Art  10  du  Traite  d'An- 
drinople. Cette  tentative  accueillie  comme  la  premiere  par  les  deux  Arobassa- 
deurs, n'eut  pas  plus  de  succes.  La  Conference  de  Londres  la  considora 
comme  non  avenue.  et  Votre  Majeste  Imperiale  daigna  consentir  a  ne  pas  y 
donner  suite  pour  le  moment. 

Au  reste,  la  ratification  inconditionnelle  et  definitive  dont  le  Sultan  s'etait 
bäte  de  revetir  le  Traite  d'Andrinople,  l'accueil  distingue  qu'il  fit  aux  Repr^en- 
tants  de  Votre  Majeste  Imperiale,  les  assurances  qu'il  leur  prodigua  de  son 
desir  de  cultiver  dosormais  des  relations  de  paix  et  d'amiti^  avec  la  Russie,  — 
son  empressement  meme  a  en  foumir  des  temoignages  par  Tenvoi  de  Halil- 
Pascha  et  l'eclat  dont  il  environnait  sa  mission,  les  honneurs  rendus  a  notre 


Anlagen  zu  Kapitel  X.  511 

pavillon  de  guerre  par  les  forls  des  Dardanelles,  —  et  plus  que  ces  demon- 
strations  exterieures,  la  disgräce  du  Reis-EfTendi,  qui,  ayant  toujours  temoigno 
de  la  malveillance  pour  la  Russie,  pouvait  etre  considere  comme  un  des 
principaux  instigateurs  de  la  derniere  guerre,  —  l'exactitude  avec  laquelle  a 
ete  paye  le  premier  tiers  de  l'indemnite  commerciale,  —  eniin  le  ürman 
d'amnistie  accorde  aux  sujets  Chretiens  de  la  Porte,  en  vertu  du  Traite  d'anr 
drinople,  et  la  maniere  dont  cette  amnistie  est  observee,  —  semblent  etre  autant 
de  preuves,  si  non  de  la  bonne  foi  du  Gouvernement  Türe  et  de  la  sincerite 
de  ses  intentions  pacifiques,  au  moins  de  la  conviction  oii  il  est  que,  pour 
le  moment,  il  ne  lui  reste  pas  d'autre  voie  de  salut  qu'une  soumission  entiere 
aux  lois  d'ane  imperieuse  necessite,  seules  lois  que  sa  politique  a  jusqu'ä 
present  considerces  comme  inviolables. 

Premiere  lettre  chUfr^e  du  Serasqnier  a  Halil-Pacha 

da  5  «TT.  1830. 

Parmi  les  lettres  que  vous  m'avez  adressees  par  votre  tartare  Osman, 
il  y  en  a  une  dans  laquelle  vous  faites  allusion  a  des  changements.  Cette 
lettre  a  ete  soumise  a  S.  H.  Personne  autre  n'en  a  eu  connaissance.  Le  fruit 
de  ce  que  Vous  avez  ecrit  daxfs  cette  lettre,  a  ete  la  deposition  de  Reis  Pertew 
Effendi,  qui  a  eu  pour  successeur  Hamid  Bey,  ceiui-ci  a  ete  remplace  aupres 
du  Grand  Vezir  par  Hadi  Effendi.  Hamid  Bey  arrivera  dans  quelques  jours 
et  Hadi  Effendi  se  mettra  alors  en  route  pour  Andrinople.  Voilä  mon  üls, 
mon  bien  aime.  tächez  de  ne  pas  me  confondre  aupres  de  notre  Souverain. 
Vous  avez  un  champ  libre  ä  present;  consultez-  vous  tete  a  tete  avec  Nedgib 
Effendi  et  faites  tout  ce  que  Vous  jugerez  convenable  et  utile  ä  l'affaire. 

Petersb.  Archiv  d.  M.  d.  A.  14475 


Kapitel  XI. 
Le  Prince  de  Polignac  an  Dne  de  Morteniart^  Confldentielle. 

Paris,  4.  7.  1829. 
Russie  178. 

Les  progres  des  armees  Russes  produisent  en  Europe  une  vive  Sensation : 
quelques  puissances  ont  paru  s*en  alarmer;  mais  le  Roi,  plein  de  confiance 
dans  les  promesses  et  la  loyaute  de  TEmp.  Nicolas,  n^y  a  vu  que  le  develop- 
pement  du  seul  moyen  qui  put  vaincre  la  resistance  du  Sultan  et  le  decider 
enfin  k  accepter  une  paix  qui  etablisse  sur  des  bases  solides  la  tranquillite 
de  rOrient.  Le  Roi  aime  a  se  rappeler  les  intentions  que  TEmp.  a  manifestees 
a  cet  egard  ä  Berlin:  ces  intentions  sont  entierement  conformes  au  voou  de 
S.  M.  qui  ne  d^sire  que  le  maintien  de  tout  ce  que  les  traites  anterieurs  ont 
etabli,  et  qui  craindrait  que  les  acquisitions  que  la  Russie  pourrait  faire  dans 
8on  arrangement  avec  le  Sultan,  ne  laissassent  dans  plusieurs  cabinets  des 
germes  de  mecontentement  qui  comprometteraient  plustard  le  repos  de  PEurope. 

Cependant,  M.  le  Duc,  le  Roi  ne  s^est  pas  dissimule  que  de 
circonstances    independantes    de    la   volonte    de    TEmp.    Nicolas 


512  Anlagen  zu  Kapitel  XI. 

peuvent  mettre  obstacle  ä  raccomplissement  des  vues  moderees 
de  ce  Prince;  telles  ser&ient  Tobstination  aveugle  da  Sultan  ä  se  refuser 
a  tout  arrangement  raisonnable,  une  insurrection  a  Constantinople»  la 
prise  de  cette  capitale  par  les  Russes:  c'est  dans  la  preTision  de 
semblables  evenemens  que  S.  M.  a  desire  qua  Vous  fussiez  instruit  de  sea 
intentions. 

L'Empiie  Türe  une  foia  detruit  en  Europe,  il  ne  peut  entrer 
dans  la  pensee  d'aucun  cabinet  de  le  retablir.  Un  etat  de  choaes  tel 
que  celui  qui  existe  en  Turquie  a  bien  pu  se  conserver  josqu'  ä  present  par 
la  force  des  traditions  et  des  babitudes,  mais  s'il  tenait  a  etre  brise  violemment 
pai  la  conquete,  il  ne  serait  plus  possible  d*en  reunir  les  elemens  disperses. 
Onnesait  quelles  sont  les  dispositions  de  la  population  de  la  Turquie  d'Europe^ 
sa  resistance  aux  innoYations  introduites  par  le  sultan,  les  passions  qui 
l^agitent,  la  diflerence  de  langue,  de  religion^  d'interSts  qui  la  diTisent  On 
en  Yoit  dejä  une  partie  combattre  les  armes  ä  la  main  contre  la  Porte; 
d'autres  n'obeissent  plus  qu^ä  un  prix  d'argent,  d^autres  se  sont  assure  une  ind^ 
pendance  presque  complete.  Comment  une  teile  population,  laissee  ä  eile 
meme,  se  formerait-elle  en  un  etat  regulier?  Comment  une  fois  le  joug  bris4, 
des  Sujets,  quatre  fois  plus  nombreux  que  leurs  maitres,  rentreraient-ils  sous  un» 
domination  dont  une  guerre  malbeureuse  aurait  detruit  le  prestige?  Comment 
avec  de  tels  elemens  1* Empire  turc  reprendrait-il  en  Europe  la  consistanee 
(|u'il  doit  y  avoir  pour  que  requilibre  entre  les  differents  etats  ne  se  trouTe 
pas  entieremeut  rompu? 

La  dissolution  de  PEmpire  Ottoman  amenerait  la  necessite  d'un  autre  ordr» 
de  choses;  il  faudrait  ou  que  la  Russie  en  gardät  les  d^bris  comme  sa  conquete^ 
ou  que  toutes  les  Puissances  sVcordassent  pour  y  former  un  nouveau  etat 
chretien. 

Le  Premier  de  ces  partis  est  evidemment  inadmissible:  la  Russie  ne 
peutsonger  äs'approprier  Constantinople  sans  s*attirer  une  guerre 
avec  presque  toutes  les  puissances  Europeennes;  et  eile  considerera 
d^ailleurs  que  cette  acquisition,  si  eloign^e  du  centrt  de  sa  puissance,  aurait 
l'inconvenient  d*inquieter  les  autres  etats,  sans  avoir  Pavantage  d'ajouter 
Yi'Titablement  a  sa  force. 

Ce  parti  etant  ecarte,  il  ne  reste  plus  que  la  formation  d'ua 
i'tat  chretien,  concerto  entre  les  puissances  et  avec  des  disposi- 
tions propres  acalmer  les  inquietudes  et  a  satisfaire  aux  intereta 
et  anx  pretentions  des  diverses  Cours. 

Dans  cette  entente,  la  Russie  doit  avoir  evidemment  Pinitiative^ 
et  la  France  est  de  tous  les  allies  de  cette  puissance  celui  auquel  eile  peut 
s'adresser  avec  le  plus  de  confiance  pour  lui  faire  part  de  ses  vues;. 
les  intert'ts  des  cabinets  de  Paris  et  St.  Petersbourg  6tant  pour  ainsi  dire 
identiques  dans  la  <]uestion  actuelle. 

Vous  devez  donc,  Mr.  le  Duc,  commencer  par  reconnaitre  quelle» 
sont  les  dispositions  de  FEmp.  et  par  les  sonder  avec  adresse  et  menage- 
ment.  Vous  vous  efTorcerez  d'amener  de  sa  part  des  ouvertures  de  maniere 
a  ce  que  les  explications  qui  pourront  s'en  suivre  paraissent  etre  plutot  une 


Anlagen  zu  Kapitel  XI.  513 

reponse  aux  avances  et  aux  confidences  de  ce  Prince,  qae  des  propositions 
faites  par  nous  et  qui  ponrraient  nons  compromettre  avee   nos  aatres  alliea. 

Inyite  par  Tfimp.  ä  lui  faire  connaltre  les  arrangemena  qoi  entrtraient 
dans  les  vues  de  la  France,  Vous  pourrez,  M.  le  Duc,  indiquer  les 
dispositions  suitantes.  Elles  reposent  sur  Tidee priaeipalt  d*etablir  uae 
Organisation  qni  ne  soit  dirigee  par  un  es]>rit  hostile  k  persoona  et  dans  la- 
quelle  chacon  tronve,  autant  que  possible,  la  satisfaetiM  des  pretentiona  qu'il 
peut  raisonnablement  former. 

Dans  une  reorganisation  combine«  par  siüte  du  d^oMabra ment  de  1' Em- 
pire Ottoman,  la  France  desire  avoir  paar  sa  part  les  proYinces 
beiges  telles  qne  la  Hollande  les  possede  jnsqu'ä  la  ligae  de  la 
Meuse  et  du  Rhin,  et  recouvrer  en  Alsace  la  ligne  de  frontier 
qu'on  lui  a  enlevee  en  1815.  La  Russie  ne  peat  qv'etre  inleress^  k  ce 
qne  nous  fassions  une  acquisition  qui  nous  donnera  de  nouYeauz  moyeDs  de 
resister  a  I'ascendant  d'une  preponderance  voisine  qui  ne  lui  est  pas  moins 
k  Charge  qu'a  nous  memes. 

Si  la  Saxe  est  abandonnee  a  la  Prasse,  la  conaenratios  des  prio' 
cipes  de  la  legitimite,  l'espece  de  solidarite  qui  eziate  tntre  les  Baisona  re 
gnantes,  la  dignite  du  Roi,  demandent  que  le  prince  qui  regne  a 
Dresde  retrouve  ailleurs  nne  compensation:  les  provinees  Prasaieaaes 
situees  entre  le  Rhin  et  la  Heuse,  erigees  en  Royaume,  pourraieat 
la  lui  fourair.  On  detaeberait  toutefois  en  fa?eur  de  la  Bati^ro  qaelque  per- 
tion  de  ce  territoire  qui  est  plus  etendu  et  plus  people  que  ne  Test  celui  de 
la  Saxe. 

La  Prusse  trouverait  un  riebe  dedommagement  a  cette  ceasion  en  obte- 
nant  eile-  meme  les  proTinces  hollaadaises  depuisla  merdiNord 
jusqu'au  Rhin:  cette  acquisition  en  ferait  une  poiaaaace  nahtime,  ce  qui 
doit  repondre  egalement  aux  Yues  de  la  France  et  de  la  Rasaie. 

Les  Colon ies  hollandaises  pourraient  dans  cet  arrangament  4tre 
assignees  ä  l'Angleterre,  en  partie  du  moins  pour  son  lot.  Le  roi  des 
Pays-Bas  irait  r^gner  a  Constantinople:  son  empire  serait  forme  das 
possessions  de  la  Turquie  d'£urope;  on  en  detacherait  la  cession  ä  faire  k  la 
Russie,  de  meme  que  la  SerYie  et  la  Bosnie  qui  seraient  donnees  k  rAutriehe 
pour  senrir   de  «ontrepoids  a  l'acquisition  nouvelle   de  son  puissant  Yoisiii. 

Les  acquisitions  delaRussie  pourraient  consister,  enEurope,  dansla 
Valachie  et  la  Moldavie.  Cette  puissance  augmenterait  aussi  soa  territoire 
en  Asie:  c'est  surtout  de  ce  cote  plutot  qu'en  Europe,  qu'il  serait  important 
de  I'inYiter  a  s'agrandir. 

Sans  pretendre  que  ces  bases  d'arrangement  soient  exactement  celles 
qui  dussent  etre  adoptees,  le  Roi  Yerrait  avec  plaisir,  M.  le  Duc,  qu'on 
tendit  le  plus  possible  ä  s'en  rapprocber.  Je  joins  iciun  memoire 
qui  a  re^u  l'approbation  de  S.  M.  et  de  son  Gonseil  et  qui  indiqne 
le  point  de  Yue  general  sous  lequel  le  Roi  considererait  une  nouYelle  Organi- 
sation de  l'Europe,  et  les  principales  dispositions  que  nous  devrions  chercher 
ä  y  introduire  dans  Tiuteret  de  la  France.  Vous  n'aurez  aucun  usage  k 
en  faire,  mais  Vous  pourrez  le  consulter  ayec  fruit  pour  arrSter  yos  propres 
S chie man n».  Geschichte  Bußlands.    II.  33   < 


514  Anlagen  zu  Kapitel  XI. 

idees,  et  pour  Vous-en  servir  de  document  et  de  direction  dans  les  conversations 
que  Yous  aarez  a  ce  sujet  avec  TEmpereur  et  avec  ses  Ministres. 

Si  la  Russie  donnait  a  entendre  qu'un  congres  deviendrait 
nece  ssair  pour  sanctionner  des  combinaisons  de  la  nature  de  Celles  que  je 
-viens  de  Vous  indiquer,  le  Roi  consentirait  a  acceder  aoeu  vu  de  son 
allie;  mais  ce  ne  serait  qu'apres  qu'une  entente  prealable  aurait  eu 
lieu  entre  les  deux  cabinets  relativement  ä  la  cession  future  de  la  Belgique 
ä  la  France. 

Je  dois  cep^ndant,  M.  le  Duo,  Yous  faire  obsenrer  a  ce  sujet  que  les 
dispositions  generales  de  Torganisation  dont  je  Yous  ai  expose  la  base  etant 
plus  favorables  a  la  France,  a  la  Russie  et  ä  la  Prusse,  qu'elles  ne  le  sont  a 
TAngleterre  et  a  l'Autriche,  nous  devrions  prevoir  bien  des  difficultes  a  la 
realiser  au  moyen  des  discussions  d'un  congres:  ces  discussions  se  prolonge- 
raient  necessairement  tr^s  longtemps,  et  peut-etre  auraient-  elles  pour  r^sultat 
d'aigrir  les  esprits,  de  laisser  ä  chacun  le  temps  de  se  pr4parer  ä  la  guerre, 
de  former  dans  les  differents  pays  une  opinion  passionnee  qui  dominerait  la 
sagesse  des  cabinets,  et  d 'amener  enfin  une  rupture  entre  les  puissances. 
L'Empereur  jugera  probablement  que  le  moyen  le  plus  efficace  de  prevenir 
rette  rupture  et  en  meme  temps  de  realiser  un  plan  qui  reponde 
aux  interets  et  aux  voeux  des  deux  conrs  serait  un  accord  seeret  et 
epare  entre  elles  deux,  dans  lequel  elles  entraineraient  ensuite  la 
Prusse  et  la  Baviere.  L' Antriebe  alors  press^e  entre  la  France,  la  Russie 
et  l'Allemagne,  s'estimerait  heureuse  de  sortir  d'une  teile  Situation  en  accep- 
tant  le  lot  que  les  cours  alliees  auraient  jug^  convenable  de  lui  attribuer,  et 
r Anglet.,  abandonnee  de  tout  le  continent,  n'oserait  pas  entreprendre  seule 
lä  guerre  pour  s'opposer  ä  une  combinaison  dans  laquelle,  d'ailleurs,  on  lui 
assignerait  aussi  une  part  convenable. 

Apres  etre  tombe  d'accord  avec  l'Empereur,  yous  concerterez  aussi  avec 
Lui  les  moyens  qu'il  y  aura  k  empioyer  pour  en  faire  part  aux  cabinets 
de  Berlin  et  de  Munich,  et  pour  s'assurer  de  leur  prompte  adh^sion.  II 
sera  necessaire  aussi  de  conyenir  du  genre  de  communication  que  nous  devons 
faire  a  ce  sujet  a  l'Autriche  et  a  I'Anglet.  Yous  pourrez  enfin  regier  imme- 
diatement  quel  sera  le  nombre  des  troupes  que  chaque  Puissance  devra 
mettre  sur  pied  de  guerre  pour  appuyer  les  arrangements  arrStes.  Le  Roi, 
M.  le  Duo,  s'en  remet  entierement  pour  les  moyens  d'execution  ä  Yotre  habilite 
et  a  Yotre  pnidence,  ainsi  qu'a  Tamitie  et  a  la  baute  sagesse  de  son  Allie: 
en  les  reglant  il  importe  que  vous  ne  perdiez  pas  de  vue  que  la  promptitude 
et  le  seeret  peuvent  seuls  en  assurer  le  succes  et  que  le  concourt  de  la  Prusse 
nous  est  indispensable  et  celui  de  la  Baviere  necessaire.  Le  Roi  porte  cette 
conviction  si  loin,  qu'il  ne  vous  autorise  k  rien  conclure  que  dans  la  suppo- 
sition  de  Tadbesion  de  la  Prusse.  Ce  n'est  qu'en  presentant  inopinement  a 
TEurope  une  alliance  compacte  et  toute  formee,  et  une  reunion  de  forces,  a 
laquelle  les  autres  puissances  n'auront  rien  d'^gal  ä  opposer,  que  nous  previen- 
drons  une  guerre  generale  et  ferons  adopter  ä  toutes  les  cours  une  combinai- 
suu  que  les  circonstances  forcent  ä  former  et  ä  realiser  en  pen  de 
moments. 


Anlagen  zu  Kapitel  XL  515 

Je  dois  ajouter  un  mot  sur  la  part  qui  est  attribuee  k  la  France  dans 
la  supposition  d'un  partage:  il  se  peiit  qu'elle  paraisse  considerable  au  cabinet 
de  St.  Pet.  Si  Vous  observiez,  M.  I.  D.,  qu^elle  produisit  cette  Impression,  Vous 
pourriez  faire  valoir  les  titres  que  nous  avons  h  etre  traitcs  avec 
quelque  fateur,  Vous  rappellerez  les  sacrifices  que  nous  ayons  faits  dans 
Tafifaire  de  la  Gr^ce,  notre  expedition  de  Moree,  les  subsides  et  les  secours  de 
tout  genre  que  nous  avons  donnes  aux  Grecs.  Lorsqu  un  arrangement  definitif 
termine  les  affaires  d'Orient,  il  est  juste  que  les  2  puissances  qui  ont  fait 
les  plus  grands  sacrifices,  s^y  trouTent  plus  ayantageusement  trait^es  que  les 
autres.  Vous  feriez  aussi  observer  qu'etant  les  seuls  qui  n'ayons  re^u  aucune 
augmentation  de  territoire  en  1815,  nous  nous  trouvons  dans  une  Situation 
comparatiTement  tres  inferieure  a  ce  que  nous  etions  avant  la  ruTolution. 
Vous  ajouteriez  enfin  que  la  France  et  la  Russie  sont  placees  de  maniere  a 
ce  que  tous  les  avantages  politiques  que  nous  pouvons  recevoir  se  trouvent 
devenir  utiles  ä  la  Russie,  et  ont  pour  effet  d'augmenter  sa  force  federative 
en  Europe. 

Dans  aacun  cas  la  France  ne  pourrait  soufTrir  que  PAngl.,  la  Prusse  ou 
TAutriche  s'agrandissent,  si  elle-meme  n'augmentait  sa  puissance  territoriale; 
Sans  cela  eile  regarderait  comme  entierement  rompu  requilibre  politique,  d^ja 
tellement  affaibli  ä  son  desayantage  au  Congres  de  Vienne;   ce  serait  la  faire 
descendre  du  rang  que  non-seulement  la  dignite  du  trone  et  Fbonneur  national 
mais  Tinteret  meme  de  la  conservation  lui  commandent  de  maintenir.    S.  M. 
ne  veut  d'aucune  augmentation  du  coto  de  Tltalie:  ce  ne  pourrait 
etre  qu^aux  depens  du  Roi  de  Sardaigne  son  beau-frere;  et  ce  serait  seulement 
nous  faire  acheter  une  guerre  contre  TAutricbe.    Ce  ne  sont  pas,  M.  1.  D,  des 
vues  d'ambition  qui  dirigent  la  politique  du  Roi:  S.  M.  ne  rechercbe,  dans 
les  acqiiisitions  sur  lesquelles  eile  a  jete  les  yeux,  qu'un  simple  int^ret  de 
preservation :  eile  ne  fait  que  satisfaire  a  la  necessite  et  au  devoir  qui  lui  est 
impose  de  pourvoir,  autant  que  les  circonstances  le  lui  permettent,  a  la  sürete 
de  son  peuple,  de  sa  capitale,  de  son  trone.    Lorsque  la  guerre  se  faisait  par  de 
lentes  combinaisons  et  que  la  rigueur  des  Saisons  en  suspendait  cbaque'  annee  la 
poursuite,  le  Roi  poutait  voir  sans  inquietude  entre  les  mains  d'une  puissance 
etrangere  une  province  teile  que  la  Belgique  aussi  rapproch^e  de  sa  capitale,  mais 
qui  etait  alors  ouverte,  sans  defense,  separee  par  de  longs  intervalles  du  centre  de 
'Empire   dont  eile  dependait;   aujourd'hui  tout  est  change:  la  guerre  se  fait 
par    des    invasions    subites   et   impetueuses,    dirigöes    contre   les   capitales. 
A  la  place  d'une  province  detachee  de  TAutriche  se  trouve  un  royaume  com- 
pact, guerrier,  defendu  pour  tous  les  travaux  de  Tart  militaire.    La  Belgique, 
l'Allemagne,  le  Piemont  se  sont  couverts  de  fortresses  qui  augmentent  la  con- 
fiance  d'une  armee  envahissante  en  lui  ofTrant  des  refuges  en  cas  de  revers: 
une  armee  Prussienne  campe  a  70  lieues  de  Paris:    une  armee    Beige,    qui 
peut    en    quelques    instans    devenir  une    armee    anglaise,   n'en  est   que   60 
lieues. 

Dans  cet  etat  des  cboses  le  Roi  ne  saurait  penser  a  des  conquetes 
uloignees.  S.  M.  ne  peut  vouloir  et  ne  veut  que  sortir  de  la  Situation  tres 
defavorable  oü  le  congres  de  Vienne  nous  a  pldces. 


516  Anlagen  zu  Kapitel  XI. 

Ce  sont  des  consid^rations,  M.  I.  D.,  que  tous  aurez  ä  faire  valoir  aupres 
d«  ]'£m  p.  Vous  pourrez  d'ailleurs  faire  connaitre  a  ce  Prince  que  le  deaavan- 
tage  meme  de  notre  position  nous  a  fait  sentir  plus  vivement  la  necessite 
de  noas  menager  des  meyens  de  defense:  le  Roi  aura,  avant  3  mois,  s'ii  est 
necessaire,  nne  arm^  de  plus  de  200000  h.  de  disponible  pour  faire  valoir 
ses  droits  ou  garantier  l'execution  des  anangemens  consentis  par  luL 

11  n'est  pas  besoin  M.  I.  D.^  de  tous  faire  observer  que  cette  depeche 
est  de  la  nature  la  plus  confidentielle.  11  sera  bien  que  vous  vous  en 
reserviez  la  connaissance  pour  vous  seul,  et  ne  la  classiez  pas 
dans  leg  archives  de  TAmbassade,  afin  qu'il  n'en  reste  pas  de 
trace  en  Russie  et  que  vous  puissiez  me  la  rapporter  vous-meme 
lors  de  votre  retour  en  France.  Comme  vous  n'aurez  a  en  ftdre  usage 
qu'eventuellement,  dans  le  cas  d'uu  demembrement  de  la  Turquie,  et  si  vous 
trouviez  les  intentions  de  la  Russie  favorables,  je  n'ai  pas  cru  devoir  en 
donner  connaissance  ä  M.  le  O^  Pozzo  di  Borgo.  La  negociation  que 
vous  etes  Charge  d'ouvrir  n'admet,  d'ailleurs,  que  des  Communi- 
cations verbales,  et  eile  ne  permettra  de  dresser  aucune  note 
ecrite  qu'apres  q'un  engagement  d'honneur  aura  ete  pris  prealable- 
ment.  II  est  bien  entendu  que,  dans  le  cas  oü  vous  apprendriez 
que  la  paiz  est  signee  sur  les  bases  annonci'es  parTEmp.  Nico- 
las, vous  n'auriez  aucuu  usage  a  faire  de  tout  ce  que  je  vous  ecris 
aujourd'bui,  et  le  regarderiez  comme  non  avenu. 

Teute  cette  negociation,  M.  1.  D,  demande  de  vortre  part  un  langage  plein 
dlntimito  et  de  confiance  et  qui  reponde  aux  sentimens  qui  uniseent  si  inti- 
mement  le  Hol  ä  son  noble  allie;  vous  pourrez  toutefois,  si  vous  en  voyez  la 
necessite,  faire  sentir  a  ce  Prince  qu'en  se  rapprocbant  ainsi  de  lui  d'ane 
maniere  plus  particuliere,  le  Roi  obc'it  autant  a  un  sentiment  d'amitie  qu'ä 
des  considerations  tir^es  de  Tintervt  de  ses  peuples,  et  que  nous  repoussons 
pour  ceJa  d'autres  combinaisons  oü  nos  interets  trouveraient  egalement  a  se 
satitfaire.  Le  Roi  regretterait  vivement  que  des  exigeances  tout  a 
fait  inattendues  de  la  part  de  son  allie  le  for^assent  a  recevoir 
d'une  autre  part  des  avances  que  jusqu'a  present  iJ  a  mis  tous 
ses  soiAB  ii  ecarter  de  lui  et  ä  ne  pas  apercevoir. 

En  vous  remettant  entre  les  mains  une  negociation  aussi  importante,  le 
Roi«  M.  le  D.,  aime  k  vous  donner  la  preuve  la  plus  eclatante  que  vous  puistiez 
recevoir  de  la  confiance  qu'il  met  en  vous  et  de  l'estime  qu'il  fait  de  vos  talents 
et  de  votre  caractere:  S.  M.  verra  avec  plaisir  votre  nom  attacbe  a  une 
traasaction  qui  remettra  ia  France  au  rang  qu'elle  a  si  longtemps 
tenu  et  qu'elie  doit  recouvrir  en  Europe. 

Je    chai^e,    avec   Tapprobation   du  Roi,   M de  vöus  porter  cette 

ez^dition.  Je  lui  en  ai  Jaiss^  prendre  lecture  avant  de  ia  Jui  remettre.  Je 
r«i  parfaitement  mis  au  courant  des  intentions  de  S.  M.  et  des  vues  de  soa 
gouvernement,  et  les  renseignemens  qu'il  vous  foumira  pourront  servir  de 
developpement  a  mes  instructions.  II  sera  entierement  a  vos  ordres,  et  vous 
pMirrei  le  oonsiderer  comme  votre  secretaire  pour  ime  importante  negociaAion. 
Je  desire,  M.  le  Duc,  ((u'il  vous  soit  utile  et  Je  ne  doute  pas  qu'il  ne  josti^«. 


Anlagen  zu  Kapitel  XI.  517 

ä  tous  egards  la  confiance  que  je  vous  prie  de  lui  accorder.  Vous  pourrez  me 
le  reexpedier  quand  cette  affaire  sera  termiuee;  les  renseignemens  que  j'en  recevrai 
a  mon  tour,  completeront  ceux  (|iie  vous  me  donnerez  par  ecrit  dans  votre 
correspondance.  Je  desire  que  pour  tout  ce  que  vons  aurez  a  m'adresser  a 
ce  sujet,  vous  ne  fassiez  pas  usage  du  chiffre,  afin  de  ne  pas  etre  force  de 
mettre  un  trop  grand  nombre  de  personnes  dans  la  confidence.    Vous  aurez 

pour    m'ecrire   Toccasion   que   vous    ofTrira  le  retour  de  Mr et  vous 

pourrez  ensuite  coufier  vos  dvpecbes  aux  personnes  qui  vous  paraitront  ofTrir 
le  |>lus  de  garanties  et  de  siirete  par  leur  caractere  et  leur  existence. 

Ohne  Unterschrift. 


Note. 

Cette  note  a  ete  redigee  pour  combattre  Topinion  du  dauphin,  qui 
voulait  attribuer  a  la  France  les  provinces  Rhenanes  Pnxssiennes  au  Heu  de 
la  Belgi<iue.    Elle  a  revu  Tapprobation  de  S.  A.  R. 

Septembre  1829. 

Les  provinces  Beiges  jusque  a  la  Meuse  ont  une  etendue  de  760  mille 
carres  d^AlIemagne,  une  population  de  3  700000  umes.  Chaque  habitant  y 
apporte  a  TEtat  26  frs.  C'est  un  des  pays  de  TEurope  les  plus  ricbes  et 
les  plus  peuples.  I^s  mceurs  et  le  langage  y  sont  fran^ais.  Les  provinces 
entre  la  fronti^re  Beige  et  le  Rhin  ont  une  etendue  de  500  milles  carres,  une 
population  de  2  millions  d^Hmes;  chaque  habitant  y  rapporte  a  I'etat  20  fr. 
elles  sont  riches  et  florissantes,  mais  moins  que  la  Belgique.  Les  mocurs,  les 
Souvenirs,  le  langage,  tout  y  est  allemand.  Si  les  provinces  Beiges  ^taient 
reunies  ix  la  France,  elles  augmenteraient  notre  force  defensive,  elles  mettraient 
;i  couvert  notre  capitale:  en  rendant  la  monarchie  plus  compacte,  elles  en 
fortifieraient  a  la  fois  toutes  les  parties.  Elles  ajouteraient  aussi  beaucoup 
u  notre  force  maritime,  en  nous  donnant  un  port  sur  la  mer  du  Nord:  ce 
port  rendrait  la  sürete  a  uos  cotes,  qui  actuellement  restent  tres  expos^es 
depuis  Cherbourg  jusqu'a  la  Hollande,  faute  d^offrir  un  abri  a  nos  vaisseaux. 

Les  provinces  du  Rhin  augmenteraient  plutot  notre  force  agressive: 
elles  porteraient  nos  armees  au  ca*ur  de  l'Allemagne;  Majence  serait  entre 
nos  mains  un  vaste  camp  retranche  d'oü  nous  pourrions  envahir  a  notre  gre 
teile  partie  de  l'Allemagne  oii  nous  voudrions  porter  nos  armes.  Mais  pendant 
ce  temps,  notre  capitale  resterait  u  decouvert,  et  Ton  prendrait  Paris  pendant  que 
nous  marcherions  sur  Berlin.  Les  provinces  Beiges,  en  nous  donnant  une 
frontiere  plus  forte,  nous  permettraient  de  diminuer  le  nombre  de  nos 
troupes,  ce  qui  nous  procurerait  une  grande  economic.  Les  provinces  Rhenanes« 
isolees  du  reste  de  la  monarchie,  se  trouveraient  pressees  entre  les  armees 
prussiennes  et  les  armees  Beiges:  nous  devrions  donc  entretenir  un  nombre 
de  troupes  considerable,  et  cependant  nous  ne  pourrions  pas  diminuer  la 
force  de  Celles  que  nous  ienons  en  Flandre. 

11  en  est  de  memo  pour  Tadministration:  Pacquisition  des  provinces 
beiges   n'eiendrait   que   peu  la  ligne    des    frontieres.     Gelle   des  provinces 


518  Anlagen  zu  Kapitel  XL 

Rhenanes  les  prolonger&it  comparativement  beaucoup  plus  envers  rAllemagne 
d'un  cote  et  la  Belgique  de  l'autre:  aussi  seraient-elles  plus  difficiles  ä 
garder,  et  plus  dispendieuses  ä  administrer. 

L'acquisition  de  la  Belgique,  en  tournant  nos  forces  vers  la  mer  et 
contre  FAngleterre,  rassurerait  l'Europe  centrale  plutot  qu'elle  n«  reffacerait. 
Quand  nous  nous  montrons  a  TEurope  comme  puissance  continentale  et 
envahissante,  les  souTenirs,  encore  si  recents,  de  nos  dernieres  guerres  se 
reveillent;  tout  le  monde  s'inquiete,  et  Ton  est  encore  pret  ä  s'unir  contre 
nous.  Quand  au  contraire  nous  nous  presentons  comme  puissance  maritime, 
comme  la  seule  puissance  qui  puisse  un  jour  se  mettre  ä  la  tete  d'une  grande 
ligue  Europeenne  formee  pour  affranchir  les  mers,  alors  toutes  les  puissances 
voient  en  nous  une  force  amie  et  conservatrice.  Elles  se  sont  toutes  liguees 
avec  nous  pour  briser  le  joug  que  les  Anglais  fönt  peser  sur  les  mers. 
ü'est  une  perspective  que  nous  devons,  de  tems  en  tems  leur  laisser  entrevoir, 
et  qui,  si  nous  savons  la  menager,  nous  reportera  invinciblement,  sans  qu'on 
le  remarque,  sans  qu'on  nous  jalouse,  a  la  tete  de  l'Europe. 

L'acquisition  des  provinces  rhenanes  produirait  un  tout  autre  effet:  eile 
nous  donnerait  une  position  toute  mena^ante  et  agressive  enyers  TAUemagne; 
l'Allemagne  sentirait  sa  liberte  et  son  ind^pendance  menac^es,  et  nous  reuni- 
rions  de  nouveau  contre  nous  la  Prusse,  l'Autriche  et  toutes  les  puissances 
Sdcondaires,  qui  pendant  pres  de  2  siecles,  avant  les  jours  sanglans  de  la 
revolution,  etaient  accoutumees  k  Toir  dans  la  France  une  puissante  protec- 
trice,  gardienne  de  leur  independance  et  de  leur  liberte:  ce  sentiment  com- 
mence  u  renaitre  cbez  la  plupert  d'entre-elles,  et  nous  ne  saurions  trop  le 
menager. 

Si  donc  nous  demandons  la  Belgque,  nous  pouvons  avoir  favorables  a 
nos  voDux  la  Russie,  la  Prusse  et  toutie  l'Allemagne.  Si  nous  demandons  les 
provinces  Rhenanes,  nous  rencontrons  une  Opposition  inviacible  dans  la 
Prusse,  dans  PAllemagne  entiere,  dans  l'Autriche  et  dans  la  Russie  eile  -  meme, 
qui  ne  se  trouve  plus  int^ressee  ü  soutenir  nos  pretentions;  car  ce  n'est  que 
contre  l'Angleterre  que  la  Russie  desire  nous  voir  nous  renforcer.  On  ne 
parle  pas  de  l'idee  d'appuyer  Pacquisition  des  provinces  Rhenanes  sur  la  voix 
de  l'Angleterre:  si  eile  nous  l'accordait,  c*est  qu'elle  aurait  acquis  une  con- 
viction  bien  profonde  que  cette  acquisition  n'aurait  d'effet  que  de  nous  mettre 
en  hostilite  permanente  avec  le  reste  de  l'Europe.  Nous  terminons  cet 
examen  par  une  considoration:  Si  nous  demandons  la  Belgique,  la  Russie  et 
la  Prusse  y  voient  l'indice  d'une  resolution  forme  et  arretee  de  faire  la 
guerre  k  l'Angleterre  dans  le  cas  oü  cette  demande  entrainerait  la  guerre;  cea 
puissances  nous  accordent  alors  la  confiance  qui  a  toujours  ^te  accordee  ä 
ceux  en  qui  l'on  croit  reconnaitre  de  la  volonte  et  de  l'^nergie,  et  elles  ne 
craignent  pas  de  se  cumpromettre  en  se  liant  avec  nous. 

Si  nous  demandons  les  provinces  Rhenanes,  comme  chacun  en  Europe 
a  la  conviction  que  c'est  la  Belgi(jue  que  nous  d^sirons  et  qui  nous  convient 
veritablement,  on  ne  verra  dans  uotre  demande  que  la  preuve  d'une  timidit^ 
extreme  envers  l'Angleterre,  et  de  notre  crainte  de  nous  engager  avec  eile  dans 
une   guerre.    Une   fois  que  l'on  nous  croira  dominus  par  ce   sentiment,   qui