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Full text of "Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale"

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Dr. Carl Friedrich Bahrdts 
Geſchichte 
| 1 feines 
Lebens, feiner Meinungen 
und Schickſale. 


Von ihm ſelbſt geſchrieden. 


Dritter Theil. 


Berlin, 1791. 
bei Friedri Ngieweg, dem aͤlteren. 


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| Erſtes Kapitel. 


Der Auszug Iſraels aus Egypten. 


N. jezt ſchmerzt es mich, wenn ich das reis 
zende Bild des irdiſchen Paradieſes in meine Seele 
zuruͤkrufe, daß es mir bei meinem Sklavenleben 
so ungeniesbar geblieben iſt. Mein Herz war fo 
ganz fuͤr die Freuden der ſchoͤnen Natur geſtimt, 
und ich muſte mitten unter ihren bezauberndſten 
Gegenſtaͤnden mein Leben vertrauern. Nur mit 
fluͤchtigen Blikken konte ich von ferne die Herr⸗ 
lichkeiten des Landes betrachten. Nie war mir 
vergoͤnnt die prachtvollen Thaͤler, und Alpen zu 
bereiſen, und mich in die hohen Empfindungen zu 
ver ſezzen, welche die Seele des Beobachters der 
Natur beleben, wenn feierliche Stille auf ſeinem 
Pfade ihn umſchauert. Ich war zu dem harmvol⸗ 
len Schikſale beſtimt, an der Quelle der aͤchteſten 
Freuden zu ſizzen, und keinen Tropfen des auellen⸗ 


204295 


43 — 


den Rektars genieſſen zu koͤnnen. Ich mußte ſo 


gar froh ſeyn, daß ich noch in mir ſelbſt einige 
Ruhe und Zufriedenheit fand, und nicht ganz 
von dem Strohme der aͤuſſerlichen Leiden eva 
ſaͤuft wurde. | | 


Meines Vaters Tod hatte mich noch nicht 
genug Kampf gekoſtet: ich muſte auch noch durch 
eine Krankheit gepeiniget werden. — Ein perio⸗ 
diſches Kopfweh uͤberſiel mich, welches ich von ei⸗ 
ner Veraͤnderung meiner Kopfbedekkung herleitete. 
Ich hatte ſchon im Sommer angefangen, mir 
meine Haare wachſen zu laſſen, um die im Lande 
fo auslaͤndiſch ſehende Stuzperuͤkke ablegen zu koͤn⸗ 
nen. Gegen Michael that ich das, und ließ von 
nun an mir vom Friſeur eine runde Lokke um den 
Scheitel legen. Und da ich jezt mit dem täglichen 
Waſchen des Kopfes, daran ich gewoͤhnt war, 
inne hielt, und noch uͤberdies die Lokke in Papier 
ſchlagen, und brennen ließ; ſo entſtund, wie ich 
gewiß glaube, aus dieſer Veraͤnderung, das fuͤrch⸗ 
terlichſte Kopfweh, welches vier Wochen mich fol⸗ 
terte. Alle Morgen um zehn Uhr fieng es an, und 
dauerte bis Mittag in ſeiner ganzen Wuth. Alle 


. 
11 


81 


von unſerm Arzte angewandten Mittel waren ver⸗ 
geblich. Endlich kam ein Arzt aus Zuͤrich, den 
Miniſter zu beſuchen, und gab mir die wahre In⸗ 
dikation. Alle periodiſche Krankheiten, ſagte er, 
muͤſſen wie Fieber behandelt werden. Und ſo 
ſchmaußte ich taͤglich ein Loth China in kleinen 


Portionen, und mit dem fuͤnften Tage war ich von 


meiner Plage erloͤſet. 


Indem ich an dem Produkte meines Geiſtes 
arbeitete, und den Marſchlinzer, oder vielmehr, 
des Philanthropins im Monde Erziehungsplan 
niederſchrieb, lieferte mein liebes Weib ein koͤrper⸗ 
liches Produkt. Sie gebahr mir eine Tochter, 
welche ich leider nicht in der allein ſeligmachenden 
lutheriſchen Kirche, ſondern in der ſich auch fuͤr 
die alleinſeligmachende haltenden Reformirten Kir—⸗ 
che taufen ließ, ſo wie ich auch, ſo lange ich in 
der Schweiz lebte, mit dem leidigſten Indifferen— 
tiſmus kraſſus behaftet, bei den Reformirten kom⸗ 
municiret habe. 


Gegen Weinachten hatte ich meinen Plan vol, 
lendet, und der Miniſter, welcher Bogen für Bor 
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gen revidirt, und die noͤthigen Abänderungen und ö Br 


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Zuſaͤzze dabei vorgeſchrieben hatte, ſchien mit den 


47 


Arbeit zufrieden zu ſeyn, ob er es gleich unter ſei⸗ | 8 5 x 


ner Würde hielt, mie dafür zu danken, und ſei⸗ 


nen Beifall auf eine mir geniesbare Art zu erken⸗ 
nen zu geben. N: aich 


Jezt wendete ich alle meine Stunden, welche 
mir von der Menge der Lektionen uͤbrig blieben, 
die ich den Winter uͤber in den Klaſſen ſelbſt wieder 
uͤbernommen hatte, dazu an, um uͤber die Art und 


Weiſe nachzudenken, wie wenigſtens etwas von 


dem Plane, den ich der Welt vorgelogen hatte, 


realiſirt werden koͤnnte. Und wirklich hatte ich mir, 


obſchon von allen Seiten, und am meiſten durch 
die fpröde Begegnung des Miniſters, und die gs 
nußloſigkeit meines Lebens, muthlos gemacht, eine 
Menge Entwuͤrfe zu ſtande gebracht, welche dem 


Inſtitut Vortheil und Ehre erzeugt haben wuͤrden, 
als eines Tages Herr Salis auf mein Zimmer kam, 
und mir in dem ihm eignen Mark und Bein durch⸗ 


ſchneidenden Tone zu erkennen gab, daß er mit 
dem ganzen Inſtitut unzufrieden ſey, und das gar 
noch nicht finde, was er von den vereinigten Kraͤf⸗ 


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N ten des Direktors } und der eher erwartet 
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Es entſtand dabei ein a higziges * 
ſpraͤch, in welchem ich ihm mit Freimuͤthigkeit 
ſeine mannigfaltigen Verſchuldungen vor hielt, 
durch welche er ſelbſt die noch fo ſchlechte Beſchaf⸗ 
fenheit des Philanthropins veranlaßt hatte. Die— 
ſes Geſpraͤch endigte der Miniſter mit einigen Aus⸗ 
druͤkken, vom drohendſtem Blikee begleitet, welche 
mich noch weit kummerbollere Tage ahnden hieſſen, 
als ich bisher verlebt hatte. 


Seit dieſem Geſpraͤche war faſt keine Ruhe 
mehr in meiner Seele. Ich fühlte mehr als zu 
ſehr, daß meine Duldkraft e ſchoͤpft war. Ich 
ward mir deutlich bewußt, daß ich nur mit der 
groͤßten Anſtrengung des Geiſtes die marternden 
Bilder der Phantaſie bisher unterdruͤkt, und mich 
bei Heiterkeit und Ruhe zu erhalten geſucht hatte. 
Und ich ſahe es nun vor Augen, daß ich in dieſem 
Zuſtande, wie vielweniger in einem verſchlimmer⸗ 
ten, nicht länger wuͤrde aushalten koͤnnen. 


Nachdem ich mehrere Tage dieſe nagenden 


Grillen mit mir herumgetragen hatte, welche die 
A 4 


zunehmende Hypochondrie meines Weibes, und 
mein Heres noch vermehrte, ſo faßte ich wirklich RE 
den verzweifelnden Entſchluß, Marſchlinz heimlich 
zu verlaſſen, mit Weib und Kind bei Nacht und 


Nebel zu flüchten, und mich auf Gottes Barmher⸗ 
zigkeit nach Deutſchland zu begeben. 


36 fann hin und her, was ich anfangen, 


wovon ich meine Kinder unterhalten, welche Le⸗ 
bensart ich waͤhlen ſolte. Denn ich hielt es in der 


That nicht fuͤr moͤglich, daß noch ein deutſcher 


Fuͤrſt mich, bei der ſo großen Verſchrieenheit mei⸗ 
ner Kezzereien, zu einem Theologiſchen Amte beruf⸗ 
fen ſolte. Auf das Schriftſteller Leben verfiel ich 
damals gar nicht. Denn ich kante meine Kraft 
nicht, und wußte auch eben ſo wenig die Wege, 
wie dies Geſchaͤft lukrativ zu machen war. Denn 
von Verleger⸗Bezahlungen, wie ich ſie bisher ge⸗ 
habt hatte, fehle ich nicht leben. 


Mitten unter dieſen qualvollen umherſchwei⸗ 
fungen im Reiche der Moͤglichkeiten erhielt ich 
(es war einige Tage nach Weinachten) einen Brief 
von Diakonus Schoͤll, aus Tuͤrkheim an der 


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7 


Haard, welcher mir meldete, daß er Auftrag von 
einem ſeiner Vorgeſezten habe, bei mir anzufra⸗ 
gen, ob ich mich wol entſchlieſſen moͤchte, die dor⸗ 
tige Generalſuperintendur anzunehmen, mit mel 
cher ohngefaͤhr odo Gulden Gehalt verbunden 
wären. — — Das war die zweite große Ekſtaſe 


meines Lebens! 


Ich ſank halb ohnmaͤchtig auf meine Knie nies 
der, und ſchlug die Haͤnde zuſammen, mit auf⸗ 
gehabnem Blik zum Himmel. „Gott, du kanſt 
„uͤberſchwenglich thun!“ — Mein Weib kam 
eben zur Thuͤr herein. Sie erſchrak anfangs, 
da fie in dieſer Stellung mich fand. — „Mut⸗ 
„ter! freue dich, Gott hat uns errettet!“ Ich 
ſagte ihr den Inhalt des Briefes. Und wir ver: 
miſchten unſre Freudenthraͤnen. 


Bei dem Briefe, der meines Vaters Tod mir 
fündete, konte ich den ganzen Morgen meine Lek— 
tionen halten, aber bei dieſem, der meine Erloͤſung 
mir brachte, vermocht ichs nicht. Ich ließ mich 


N unpaß melden, ſchloß mich ein, und verſchwaͤrmte 


den ganzen Morgen in Wonnegefuͤhlen. Ich war 


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3 


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entzuft. Ich war auſſer mir vor Freude. — 0 
daß ich noch einmal in meinem Leben einen ſolchen 


Tag haben, noch einmal ſo erquikt, ſo ſelig mich 


fuͤhlen moͤchte — hier unter dieſem Monde! 


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Man denke ſich nur ganz die Hoͤlle, in der ich 
gelebt hatte. Man denke ſich meinen Deſpoten, 
unter deſſen Hartherzigkeit ich ſeufzte, meine Skla⸗ 
venarbeit die nicht einmal ein freundlich Geſicht 


mir vergalt, meine faſt gaͤnzliche Entbehrung des 


ſonſt gewohnten geſelſchaftlichen Lebens, und alles 
deſſen, was eigentliche Froͤhligkeit erzeugt, und 
durch ſie die Seelenkraͤfte in neue Spannung ver⸗ 
ſezt, und die Thaͤt'gkeit anfeuert, meine kaͤrgliche 
Lebensart im Hauſe, die ich fuͤhren mußte, um 
mit meiner Beſoldung auszureichen, meine Herab⸗ 
wuͤrdigung, die ich vom ſtolzen und fpröden Bes 
fehlshaber erdulden mußte, meine beftändige 
Furcht vor Mishandlungen des Tirannen, gegen 
welchen kein Richter mich ſchuͤzzen konte, meine 
harmvolle Hofnungsloſigkeit, die mir alle Aus⸗ 
ſichten zu kuͤnftiger Befoͤrderung verſchloß, meine 
tägliche Marter, die mir der Gedanke verurfachte, 
daß ich hier nie, auch mit dem unſaͤglichſten 


— 


Flkeiſſe, etwas volkomnes leiſten würde — man 
denke ſich das alles, und urtheile dann; wie mir 
jezt zu Muthe ſeyn mußte, da mich die Vorſehung 


ſo unerwartete Huͤlfe ſehen ließ, und mit einem 
Male alle dieſe Leiden endigte, und ſo veizende Aus⸗ 
ſichten mir eroͤfnete. — Ich ſag es noch einmal: 
O daß Gott mich nur noch eine ſolche erquikkung⸗ 
volle Stunde erleben laſſen möchte, wo ich ſo der 
Leiden Ende, und der ruhigern Zeiten Anfang ers 
blikken koͤnte. N | 


Was ich dem Herrn Schoͤll geantwortet 
habe, wird man ſich von ſelbſt vorſtellen koͤnnen. 
An demſelben Tage nachmittags erdfnete ich in eis 
nem Billet dem Herrn v. Salis, meine bevorſte⸗ 
hende Veraͤnderung. Ich meldete ihm, daß ein 
deutſcher Fuͤrſt mich vocirt habe, und daß ich in 
kurzem dieſem Rufe folgen würde, Mein Seres 
kam, da die Sache anfieng ruchtbar zu werden, 
vor Freuden völlig trunken, in mein Zimmer ge⸗ 
ſtuͤezt, und wußte vor Entzuͤkkung ſich nicht zu 
laſſen. Salis antwortete ganz kalt, daß er mir 
zu meiner Verſorgung Gluͤk wuͤnſche. 


1 


8 


12 rer seen 


Ich hätte nicht geglaubt, daß mich der Mi⸗ 


niſter ſo leicht, und willig entlaſſen wuͤrde, ohn⸗ 
geachtet wir auf keine gewiſſe Zeit und ohne alle 
Obliegenheit einer Aufkuͤndigung kontrahirt hatten. 
Aber es ſchien, daß er ſelbſt des laͤſtigen Verhaͤlt⸗ 
niſſes ſatt geweſen ſey, in welchem er mit mir 
hatte ſtehen muͤſſen. 


Meine einzige Sorge war jezt, wie ich wegen 
der Rechnung mit ihm auseinander kommen wol⸗ 
te. Denn noch hatte ich keine volftändige Rech⸗ 
nung von ihm erhalten koͤnnen. Und es waren 
doch bald vierzehn Monate verfloſſen. Denn gegen 
Pfingſten 1776 verließ ich ihn. 


Ich hatte zwar aͤuſſerſt karg gelebt, aber ich 
kante den Geiſt der Marſchlinzer Haushaltung. 
Ich wußte, daß mit ſtarker Kreide angeſchrieben 
wurde. Alſo dachte ich nicht, daß ich mit aller 
meiner Sparſamkeit viel eruͤbrigt haben wuͤrde. 
Aber da ich die Rechnungen erhielt, fand ich doch 
zu meinem Erſtaunen, daß ich, mit Einſchlieſſung 


deſſen, was ich mir fuͤr Verfertigung des Erzie⸗ 


hungsplans ausbedungen hatte, beinahe ſieben⸗ 
hundert Gulden fodern konte. 


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Indeſſen war nun die Frage, wie dieſes Geld 
zu erhalten ſey. Denn der Miniſter ſtelte ſich be— 


ſtaͤndig arm. Er that ſtaͤts, als ob das Philan⸗ 


thropin noch mehr koſte, als eintrage. Und ich 
hatte ſchon Winke erhalten, daß meine ganze Fo— 
derung nicht auf einmal werde getilgt werden koͤn— 
nen. Und abreiſen, ohne rein bezahlt zu ſeyn, 
wolte ich doch auch nicht gern. 

Ein Herzensguter Mann, den ich als einen 
der biederſten und rechtſchaffenſten Buͤndner hatte 
kennen lernen, der D. Bohner in Malanz half 
mir aus dieſer Verlegenheit. Er war ein Arzt, 
den ich zuweilen konſulirt hatte, und dem ich man— 
che Gefaͤlligkeit und ſelbſt manche eigentliche Wols 
that verdanke. Dieſer Menſchenfreund erbot ſich 
mir 400 Gulden zu geben, und dafür eine Aſſigna— 
tion auf den Miniſter anzunehmen. Nun war 
mir geholfen, und alle Verlegenheit, den Miniſter 
um Geld plagen zu muͤſſen, gehoben. Denn den 
Reſt der Summe, ließ ich den Miniſter nach und 
nach abzahlen, theils fuͤr noch noͤthige Lieferungen 


aus der Haushaltung, theils fuͤr Reiſebeduͤrfniſſe, 


theils fuͤr Frachtlohn bei Transportirung meiner 
Effekten, theils in baarem Gelde. 


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Ich machte mich jezt an meine Buͤndner 0 
Equipage, um ſie zur Reiſe einzurichten. Die Bu 
ſchmale Spur war nicht abzuaͤndern. Ich mußte 9 
mich alſo begnuͤgen, den kleinen Phaeton, der im 
Ruͤkſiz muſchelartig ſich ſchlos, und nur eine Pera 
ſon faßte, mit einer vollen Bedekkung zu verſehn. a 
Ich machte, nach meiner Gewohnheit, alles ſelbſt. 

Ich aptirte Vorhangsſtaͤbe zum Geſtell, und übers 
zog alles mit feinem Wachs tuch ſo meiſterhaft, daß 
man keinen Pfuſcher argwohnen konte. = 


Das ſchwerſte war die Erfindung der Metho⸗ 
de, wie auf dieſem kleinen dreiſizzigen Wagen, drei 
Kinder, und drei erwachſene Perſonen (denn ich 
nahm meinen eres mit, den ich gleich als Konz 

rektor an der Tuͤrkheimer Schule anbrachte) mit 

der noͤthigen Bequemlichkeit Raum haben ſolten. 
Denn es war unmoͤglich, vier und fuͤnfjaͤhrige 
Kinder auf einer fo langen Reife beſtaͤndig auf dem 
Schoße zu haben. 


Ich fand das Mittel. Mitten im Wagen 
ſtelte ich ein ſtarkes Holz perpendikular auf, und 
zapfte es unten und oben in ein ſtarkes Querholz 


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| ein. Das untere Querholz ließ ich mit Eifen an 
1 


dem Fußboden des Wagens feſtmachen, doch ſo 


daß es abgeſchraubt werden konte. Auf das obere 


aber legte ich ein ovales Bret, auf welchem die 
beiden großen Maͤdchen, mit den Ruͤkken gegen 
einander, und mit dem Geſichte zum Wagen hin— 
aus gekehrt, ſizzen konten. Dazu machte ich von 
den Vorhangsſtaͤben zwei halbe Bogen, und be— 
feſeigte fie auf dem ovalen Sitze dergeſtalt, daß 
jeder den Ruͤkken eines Kindes umſchloß. Dieſe 


Bogen uͤberzog ich mit Frieß, um die Härte und 


Reibung zu mindern, und den Siz polſterte ich. 
Endlich befeſtigte ich an jedem Bogen einen Ries 
men, mit welchem die Kinder vorn über die Bruſt 
her feſtgeſchnallt werden konten, ſo daß ſie bei ei— 
nem Stoffe des Wagens nicht herausſtuͤrzen kon— 


ten. Die Erfindung war herrlich. Mein Hanchen 


und Chrütel ſaſſen frei und hatten ſtäts Ausſicht, 
und wir konten nun mit dem dritten Kinde, wel— 
ches noch in den Windeln war, bequem wechſeln, 
fo daß bald ich, bald Heres, bald die Mutter es 


auf den Armen hatte. Zuweilen legten wirs 


auch zwiſchen unſere Fuſſe, und lieſſen es 
ſchlafen. ; 


.- 


Ich reifete nach Lindau am Bodenſee zu Here J 9 
Radern, und beforgte durch dieſen die Spedition 
meiner Effekten. Und darauf gieng ich ohne Sang 


und Klang, nach kurzem Abſchied nehmen, von 


»Marſchlinz, indeß das Herz vor Freuden mir 


klopfte, daß ich auf deutſchen Grund und Boden 


wieder fuſſen ſolte. 


Herr Salis ward am Ende noch freundſchaft⸗ 


lich. Er ſchien jezt die ſauere Laufbahn zu uͤber 


ſehen, die er mich geführt hatte, und er mußte 
beinahe uͤberzeugt ſeyn, daß all das Mistrauen 
unnuͤzze und grundlos geweſen war, welches ihn 
verleitet hatte, mich ſo zu quaͤlen. Er gab es mir 
ganz deutlich zu erkennen, daß er mir fuͤr meine 
vielen Arbeiten Dank ſchuldig ſey, und geſtand 
mir noch im Wirthshauſe, da wir beim Anſpan⸗ 
nen noch uns unterhielten, daß Deinet den Grund 
zu unſerm Mis vernehmen gelegt habe. Wir wa⸗ 


ren beide nun uͤberzeugt, daß wir haͤtten vergnuͤgt 


zuſammen leben koͤnnen, wenn er meinen Fleiß, 


und mein beſcheidenes und ehrerbietiges Betragen 


mit einiger Traulichkeit haͤtte erwiedern wollen. 


Mit 


— 


— — 2 17 


Mit lautem Jubel fuhren wir durch die Fel⸗ 


Sp. e, welche die Graͤnzen des Landes aus⸗ 


— 


machen, und wo mittelſt einer Zugbruͤkke, und ei⸗ 
ner Wache der Eingang verwahret wird. Man 
hielt uns für teiſende Studenten: fo laut war 


unſer Geſang. 


Aber jenſeit Lindau traf uns die ſchreklichſte 
Todesgefahr. Wir fuhren in einem lichten Walz 


4 de, auf einer Schoſſee, einen Berg hinauf und 


hatten zwei Poſtpferde Vorſpann. Mein Hans, 
welcher ſonſt ein geuͤbter Kutſcher war, wolte vom 
beftändigen Rutteln des Bokkes ſich erholen, und 
ſtieg ab, um neben her zu gehen. Er glaubte, 
meine Pferde wuͤrden, zumal da ſie zwei geduldige 
Roſſe vor ſich hatten, und es berg an gieng, tus 


hig fort ſchlendern. Ich ſelbſt glaubte es, warnte 
ihn aber doch, daß er ſich nahe bei den Pferden 


halten ſolte, weil ich meine Stute kante, die ich 
als Sattelpferd brauchte, daß ſie muthig und vol⸗ 


ler Mukken war. Aber der Menſch achtete des 


Warnens nicht. 


Er hing die Zuͤgel auf dem Bokke ein, und 
begann ſich eine Pfeiffe anzuſchlagen. Und ſiehe, 
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18 IR 1 — isn 


* 


auf einmal that die Stute einen Saz, und fing N 5 
an auszureiſſen. Das Handpferd ward ſcheu, 
und rannte mit. Der Kutſcher grif nach den Zuͤ . 


geln, konte ſie aber nicht erreichen, und waͤre bei⸗ 
nahe von den Vorderraͤdern geſchleift worden. Nun 
ertoͤnte ein Jammergeſchrei. Der Poſtillion that 
ſein moͤglichſtes, die Pferde in Ruhe zu bringen, 


oder wenigſtens auf geradem Wege zu erhalten. 


Aber die Thiere geriethen immermehr in Wuth, 
und ſezten eine volle Karriere an. Den Poſtpfer⸗ 
den kam die Deichſel in die Fuͤſſe, und wurden nun 
auch ſcheu, und rannten mit. Und nun brachen 
meine Pferde ſeitwaͤrts aus, weil mein Kutſcher ſie 
verfolgte, und die Zuͤgel zu erhaſchen ſuchte. Zum 
Ungluͤk war die Schoſſee hoch. 


Jh ſahe das ganze Ungluͤk mit völliger Bee 
ſonnenheit an, und machte mich gefaßt, die Kin⸗ 


der zu erhalten, und mich ſo anzuklammern, daß 


ich nicht auf ſie hinſtuͤrzen koͤnte, wenn der Wagen 
fiel. Indem ſahe ich die Pferde rechts hinabſprin⸗ 
gen. Nun ſchlug der Wagen hinunter in den Gra⸗ 


ben, und — ein Gluͤksfall rettete uns allen das 


Leben. 


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3 
— 19 


So wie der Wagen ſich uͤberſchlug, löͤſete ſich 
von ſelbſt der Schloßnagel, und die Pferde gingen 
mit den Vorderrädern ins Gebüͤſch, wo ſie ſich 
ſelbſt fiengen, und endlich ſtehen blieben. Mein 
Wagen lag auf ſeiner Dekke. Ich hielt mich in 


der Schwebe, um niemanden zu druͤkken. Mein 


Volk war todt. 


Mein erſtes war, das kleine Kind zu retten, 
welches unten lag. Das zog ich, ſelbſt noch ſchwe⸗ 
bend, an den Baͤndern herauf, mit welchen ſeine 
Bettchen zuſammen gebunden waren, und warf 
es heraus ins tiefe Graß. Nun konte ich fuſſen. 
Mein Heres kroch hervor, und wir zogen nun 
mein ohnmaͤchtig gewordnes Weib heraus, und 
legten ſie ebenfals auf den Raſen. Zulezt holten 
wir die andern Kinder nach. Gott fin Dank, 
es war auch nicht der geringſte Schade geſchehen. 
Das kleine Kind ſchrie nicht einmal. Die groͤſſern 
bruͤlten, als wenn ſie gebraten wuͤrden, aber es 
war der bloſſe Schrekken. Die Hanchen blutete 
am Munde, es fand ſich aber, daß ſie beim Sturz 
ſich blos in die Zunge gebiſſen hatte, davon das 
Blut herruͤhrte. Die Mutter erwachte wieder. 

B 2 


Sie war gon Leichenblaß i im Geſchte, ihr Kopf⸗ 1 
zeug war fort, ihre Haare hingen umher, toie : “a 
die Haare einer Furie. Ich war froh, daß kein 


unglüt weiter dabei war. 1 * 
j Tau 
Kaum, kaum konte ich mich halten, weinen | 


Hans die alten Knochen muͤrbe zu pruͤgeln, daß er 
meine Warnung ng nicht geachtet, und die Pferde, 
deren Feuer er kante, ſich ſelbſt uͤberlaſſen hatte. 
Aber es war als wenn die Dankbarkeit gegen die 
Schikkung Gottes mich ermweichte, durch welche 
dieſer Unfall fo gluͤklich abgelaufen war. 


Indeſſen mein armer Wagen war deſto wun⸗ 
denvoller. Als wir ihn wieder aufrichteten, wa⸗ 
ren alle Borhangsſtͤͤbe zuſammengebogen, und 
die ganze Form des Geſtelles zerſtoͤrt, das ich mit 
ſo vieler Kunſt und Muͤhe bereitet hatte. Ich holte 


indeſſen Hammer und Zange und Beil (was ich 


immer bei mir führe, ) und ſtellte den Vogelbauer 


ſo gut ich konte, in ſo weit her, daß wir wieder 


einſizzen konten. Im naͤchſten Orte, wo wir uns 
einquartirten, blieb ich die ganze Nacht auf, und 
benehte ihn mit neuem Wachstuch, ſo daß wir den 
andern Morgen in beſter Form weiter reiſen konten. 


„ AZoweites Kapitel. 


f 5 Türkheim an der Hard 


N. Reſt unſerer Reife enthielt nichts merkwuͤr⸗ 


diges. Wir kamen, nach dem uns der Ober— 


konſiſtorialraſh Hirſch in Heilbronn, noch am 


Ende dieſer Wallfarth, einen recht frohen Tag ge 
macht hatte — wolbehalten in Turfheim an, und 
wurden in der Superintendurwohnung, ganz an⸗ 


ders als im Marſchlinzer Wirthshauſe, empfan⸗ 


gen. Der Prediger Sc oͤll, und zwei Abgeordne⸗ 
te der Bürgerschaft, der Stadtſchreiber Roch, und 
der Gaſtwirth Specht, bewillkommten uns, und 
wir fanden, da es eben Mittag war, eine ſchon ver⸗ 


anſtaltete gute Mahlzeit. 


Meine ganze Seele heiterte ſich auf. Ich er⸗ 
blikte eine ſchoͤne vor kurzem erſt neugebaute Woh⸗ 
nung, mit einem Garten am Hauſe. Ich fand 
mich unter Menſchen, die mich im hoͤchſten Grade 
verehrten. Ich fahe mein Weib, meinen Heres 
und meine Kinder geſund und vergnuͤgt. — 


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Warhaftig ein Blik ruͤkwäͤrts, bei der vollen Aus⸗ 3 


ſicht in meine neue Lage, war wahre Himmels⸗ 
Wonne! 


Aber Geduld. Der Engel mit dem Schwerd 
iſt nicht weit. Er zukt ſchon, den ſchoͤnen Glüks⸗ 8 
faden wieder abzuhauen, den mein Schuzgeiſt an⸗ 
geſponnen hatte. Mein Gluͤk war das Gluͤk eines 
Trunkenen, dem nur ſo lange wohl iſt, als ſein 
Rauſch dauert. Es waͤhrte nur kurze Zeit. Dau⸗ 
erhafte Ruhe war nicht das Loos, das mir Gott 
beſchieden hatte. 


Ich machte am folgenden Tage meinem Lan⸗ 
desherrn, dem damaligen Grafen jezt Fuͤrſten von 
Leiningen Dachsburg meine Aufwartung, und 
fand einen Mann, der, nicht durch ein brillantes 
Genie ſich auszeichnete, aber mit einem ſchlichten f 
Verſtande ein recht vortrefliches Herz vereinigte. 
Guͤte und Freundlichkeit gegen Jederman, Ach⸗ 
tung gegen Talente und Verdienſte und Liebe zur 
Gerechtigkeit, machten feinen Karafter aus. Man 
hatte ihm fo viel ruͤhmliches von mir geſagt, daß 
er mich auf eine Art empfing, welche mir die er⸗ 


freulichſten Ausſichten verſprach. 


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Die Einwohner des Orts, waren, wie ich 
vernahm, zum Theil gegen mich eingenommen, 
weil der Ruf meiner Irglaubigkeit auch unter ihe 
nen bereits erſchollen war. Und es gingen unter 
dem Poͤbel ſonderbare Geruͤchte in den ſonderbar— 
ſten Ausdruͤkken. — He glebet mech kenen Gott, 
ſagte der eine. — Te, erwiderte der andere. 
He glebet mech nur kenen Vater. — Ei nicht 
doch, behauptete ein dritter, Er leegnet ja den 
Sohn. — Den Teubel glebet er hal' ich oh 
nich, ſezte ein vierter hinzu. — Indeſſen achtete 
ich dieſe Verſchrieenheit nichts, weil ich mit Zuver⸗ 
laͤſſigkeit rechnen konte, daß ich, wie in Gieſſen, 
alle boͤſe Geruͤchte durch meine Predigten nieder— 
ſchlagen, und den Poͤbel gewinnen wuͤrde. Es 
war mir genug, daß der Graf helle genug dachte, 
um mich zu ſchaͤzzen, und daß unter den Raͤthen 
und der Buͤrgerſchaft die meiſten, mich als einen 
gelehrten und nuzbaren Mann anſahen, und hoch⸗ 
achteten. Ich merkte ſo gar, daß der Hof und 
die Stadt ſtolz darauf war, einen Doktor Theolo— 
giaͤ und ehemaligen berühmten Profeſſor zum Pre⸗ 
diger zu haben, welches ſo lange Tuͤrkheim ſtand, 
ſich noch nicht ereignet hatte. Auch kam mir dies 
V 4 


— 


= 


„7° 


N * 


ſehr zu ftatten, daß mein Vorfahrer, ein gewiſſer 


Liernur, der jaͤmmerlichſte Saalbader, und das Be; 


bei ein aͤuſſerſt intriganter Mann geweſen war, 


und man an mir einen guten Kanzelredner und 
menſchenfreundlichen Mann zu beſizzen glaubte. 


Der Nachmittagsprediger Hartmann, mein 
Amtskollege, ließ mich, wenigſtens einen froͤhligen 
Geſelſchafter hoffen. Denn er war, durch ſeine 
Frau, ein reicher Mann, aß und trank gern etwas 
gutes, war gaſtfrei und immerdar vergnuͤgt. Das 
war aber auch ſeine einzige geniesbare Seite, von 
welcher er fuͤr einen Mann, der Geiſtesnahrung 


ſuchte, hoͤchſtens ein paar Stunden unterhielt. 


Denn er ſtund auf einer ſolchen Staffel der Stus 
piditat, und der Unwiſſenheit, daß auch nicht ein 
kluger Gedanke aus ihm herauszubringen war. 
Eſſen, Trinken und Lachen war alles, was er hatte 


und folglich auch alles, was er geben konte. Sei⸗ 


ne immerwoͤhrende Luſtigkeit entſprung zum Theil 
ſelbſt aus ſeiner Dumheit. Denn dieſe verſchafte 
ihm den hoͤchſten Grad der allerſeligſten Selbſtge⸗ 
nuͤgſamkeit. Unbekant mit allem, was in der ge⸗ 
lehrten Welt vorging, maß er alles nach ſich ſelbſt, 


PR. ul 7 N N N 
RS und duͤnkte ſich der volkommenſte Menſch zu ſeyn. 
5 5 Das, was er an ſich ſelbſt fand, gefiel ihm ſo wohl, 
5 daß er alles, was nicht von ihm praͤdikabel war, 
* verachtete. Wenn man ihm von einem Semler, 
> Sa Jeruſalem und dergleichen Leuten, ihren Stteitig⸗ 

keiten, Schriften, Entdekkungen u. ſ. w. etwas 
ſagte, fo grinzte er einem das allerzufriedenſte 

Hohnlachen entgegen, wie wenn er vom Gipfel der 
4 Volkommenheit auf Kinderſpiele herabſaͤhe, die er 

gar nicht einer Aufmerkſamkeit für würdig halten 
90 koͤnne. Er hielt alles fuͤr Lumperei, und ſein 
Geld und feinen gefüllten Keller für die einzige 
Realitaͤt. Und ſo war kein vergnuͤgterer Menſch 
in der Welt, als der Pfarrer Hartmann in 
Tuͤrkheim. 


Der Prediger Schoͤll erhob ſich unendlich 
uͤber jenen im moraliſchen Werth. Er war ein 
Mann von Genie, und recht vielen Keutaiſſen. 
Und er verband damit ein edles und freundſchaft⸗ 
liches Herz. Aber Ungluͤksſchlaͤge, Bedruͤkkungen 
und Verfolgungen hatten in ihm ein uͤbertriebnes 
Gefuͤhl ſeiner Herabwuͤrdigung unter ſeinen Werth 
hervorgebracht, daß er beſtaͤndig nur fein unver⸗ 

S 5 


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26 ze 77 i 
1 „ 4 
8 


dientes Schikſal beſeufzte, und dadurch im hoͤchſten 
Grade hypochondriſch wurde. Und daraus ent- 
ſtund zugleich ein gewiſſes Mistrauen gegen alle 
Menſchen, und ſelbſt gegen feine beſten Freunde, 

ſo daß er uͤberal entweder tuͤkkiſches Beſtreben, ihm 

zu ſchaden oder beabſichtete Demuͤthigungen ſeiner 
Perſon argwohnte, und ſich und andern damit 
läftig wurde, Er liebte mich von ganzer Seele, 
aber er verurſachte auch mir, durch dieſe Krank⸗ 
heit mehr truͤbe Stunden, als mir ſeine Talente 

und feine Freund ſchaft angenehme ſchuf. 


Einen reformirten Prediger hatte Tuͤrkheim 
aufzuweiſen, der in Kentniſſen und Grundſaͤzzen 
ganz ein Zollikofer war. Er lebte als wahrer Phi⸗ 
loſoph, ließ fein ſtilles Hohnlachen über die orthos 
doxen pecora campi, nie laut werden, hatte ſo 
wenig Beduͤrfniſſe, daß er ſtaͤts ſorgenlos und gu⸗ 
tes Muths war. Ich habe mehrere Stunden recht 
herzlich vergnuͤgt mit ihm zugebracht. 


In der Regierung gab es fuͤr mich keinen, 
den ich zu meiner Gluͤkſeligkeit gebrauchen konte. 
Der Geheimde Rath... . war ein alter, ſchuͤch⸗ 


BER 5 
terner, in fich ſelbſt verfhfoßner Mann, ohne alle 
Gelehrſamkeit, und ſelbſt ohne alle Talente. Er 
war nicht im Stande, ſechs Zeilen ex Tempore zu 
ſprechen, welche Sinn und Zuſammenhang hatten, 


Der Rath WTeubauer, war ehemals Bedien— 
ter geweſen, hatte als Schreiber hernach ein wenig 
praxin gelernt, wie die Juriſten es nennen, und 
hatte ſich zum Regierungsrath hinauf geſchmei— 
chelt. Er hatte gar keinen Karakter, aber viel 
Geld, und noch mehr Eigenliebe. 


Auſſer der Regierung gab es einen Rath 
Sandherr, welcher, wenn Gelehrſamkeit und Ein⸗ 
ſichten ihn zur Geiſtesnahrung fähig gemacht haͤt⸗ 
ten, ganz allein im Stande geweſen waͤre, meine 
Sehnſucht nach einem Freunde, (im erhabenſten 
Sinn des Worts — als volkomner geſelſchaftlicher 
Unterhalter, als Troͤſter im Leiden, als weiſer 
Rathgeber bei gewagten Unternehmungen, als 
warnender Gewiſſenrath bei Fehltritten) zu befrie— 
digen, und das Gluͤk meines Lebens zu erhoͤhen. 
Denn er beſaß den vortreflichften Karakter, den 
man ſich wuͤnſchen konte. Er hatte das aller⸗ 


28 


weiche den j welches vor Freuden aberſoß, 
wenn er Gelegenheit fand, einen Menſchen froh 
zu mach en, und eben ſo in Theilnehmung zer⸗ 
ſchmolz, wenn er einen leidenden Mitmenſchen 
ſahe. Seine ganze Seele war Güte, Treue, Red⸗ 
lichkeit und Nach ſicht. Und er war dabei immer 


zur Freude oder wenigſtens zur Theilnehmung am 


Voergnuͤgen geſtimmt. Seine Gattin war, ein we— 
nig eigenfinnige Laune abgerechnet, ein eben fo 
fiebenewürdiges Weib. Und beide waren die eins 
zigen Freunde, die ich in Tuͤrkheim hatte, und 
durch alle Stuͤrme des Lebens behielt. 


Aber nun komme ich auf die Zeichnung eines 


Mannes, welcher auf mein Gluͤk und Ungluͤk den 


entſcheidendſten Einfluß gehabt hat, und den ich 
eben darum ausfuhrlich ſchildern muß. Er war 
das eigenrlichfte Original, das ich je habe kennen 
lernen. Ich habe in der kleinen Samlung meiner 


Gedichte ihn mit dieſen Verſen verewigt. 


Der Menſchheit ſag ich es zur Ehre: 

Du biſt die groͤſte Seltenheit! 

Und wenn, in jedem Volk, mehr, als ein 
einzger waͤre, 


4 


N „ bein Teufel, gau te wie Du, 


19 25 9:2 Ich zweifelte, zu meiner Ruh, | 


An en und Fe f 


Der Mann hatte bei Auficffer em Theo⸗ 
logie Audit, wor bei dem Grafen v. Grumbach 
Hofmeiſter geweſen, und hatte endlich, nach 


mancherlei tollem Streichen, das Rektorat in Türks 


heim erhalten. Als Schulmonarch war er dem 


Grafen vorgeſchlagen worden, das Archid in Or⸗ 


dnung zu bringen, und zugleich durch bzuſehn, was 
ſich in demſelben zum Behuf eines Proceſſes aufs 
finden lieſſe, welchen der Graf mit der ſogenannten 
Linange d' Italie führte, welcher Anſpruͤche auf 
einen Theil feiner Länder machte, und ſolche bes 
reits beim Reichshofraih mit vielem Nachdruk 
geltend zu machen ſuchte. Bei dieſer Arbeit fand 


er Gelegenheit, viel mit dem Grafen zu ſprechen, 


und ihn in die Meinung von ſich zu ſezzen, daß 
Genie und ausgebreitete Kentniſſe ihn eines ehr⸗ 
vollern Poſtens wuͤrdig machten. So ward er 
endlich Hofrath, und einz ger Theilnehmer an als 
len Geſchaͤften des Landesherrn. Er verwaltete 


die Finanzen des Grafen. Er gubermirte die Re 


13 7 


30 —— EERO| 


gierung. Er befahl im Konſiſtorio. Kurz er 
ward bei dem Grafen v. Leiningen Dachsburg das 
im kleinen, was ein erſter Staatsminiſter und Fa⸗ 
vorit eines Monarchen im Großen iſt. 


Die Grundlage ſeines Karakters war Stolz 
und Eigenliebe, und zwar eine Eigenliebe, welche 
alle Weſen in dem Weltall ausſchloß. Seine Seele 
war raſtlos im ewigen Dichten und Trachten nach 
Erweiterung und Erhoͤhung ſeiner aͤuſſerlichen 
Größe. Dieſem Goͤzzen opferte er alles, und 
wenn Gluͤk und Leben aller Menſchen dazu erfor— 
derlich geweſen waͤre, und er es in ſeiner Gewalt 
gehabt haͤtte. Er hielt ſich fuͤr den ſchoͤnſten Mann 
in der Welt. Er glaubte, ſein Genie ſey das ein⸗ 
zige wahre Genie, gegen welches die andern, die 
dieſen Namen fuͤhrten, Kindskoͤpfe waͤren. Er 
fand ſich uͤberzeugt, daß ſeine Urtheile die unfehl⸗ 
barſten, feine Anſchlaͤge die weiſeſten, feine Anſtal⸗ 
ten und Einrichtungen die volkommenſten waͤren. 
Mit einem Worte, er war ganz in ſich ſelbſt verliebt. 


Bei dieſem graͤnzenloſen Stolze hatte er einen 
Grad von Hartherzigkeit, der mir, Gottlob, nie 


— 31 


wieder in der Welt vorgekommen iſt. Menſchen⸗ 


elend ruͤhrte ihn nicht nur nicht, ſondern es mach⸗ 
te ihm ſo gar Wolluſt. Ich bin Zeuge, daß der 
Hofrath Michaelis, ein graͤflicher Beamter einmal 
zu ihm kam, und ihm auf die ruͤhrendſte Art die 
Armuth einer Gemeine vorſtellte, und für die 
armen Bauern um Nachſicht bat. Es war eine 
ſeltene Erſcheinung. Der Beamte vergoß ſelbſt 
eine Thraͤne bei der Schilderung des Elendes der 
Unterthanen. Er erinnerte ihn, daß das Dorf 
durch Ungluͤksfaͤlle verarmt ſey: daß fie die Abga— 
ben nicht auftreiben koͤnten: daß er auf ſeinen 
(des Ruͤhl) Befehl ſchon die zweite Exekution ae= 
geben hätte: (die erſte traf Betten und Kleider, 
die zweite das Hausgeraͤth, die dritte das Vieh 
aus den Staͤllen:) daß die von ihm anbefohlne 
dritte die armen Leute noͤthigen wuͤrde, als Bettler 
davon zu gehen, und die Haͤuſer ſtehen zu laſſen: 


daß ſchon jezt ihr Elend auf den hoͤchſten Grad gez 


ſtiegen ſey: daß die Kinder in den benachbarten 
Ortſchaften umherliefen, und um Brod winſelten: 
daß kein Bauer mehr ein Bett im Hauſe, und ei⸗ 
nen Sonntagsrok haͤtte, um in die Kirche zu 
gehen u. ſ. w. Bei dieſer Vorſtellung ſaß der 


der längft gewuͤnſchte Fall feines Feindes berichtet 
wuͤrde. Und als der Beamte endlich ſelbſt eine 
Thraͤne fallen ließ, und den Hofrath um Gottes⸗ 
willen bat, den armen winſelnden Unterthanen 
wenigſtens Nachſicht zu geben, und den Befehl zur 
lezten Auspfaͤndung zuruͤkzunehmen, lachte er hoch 


auf und ſagte: „Herr, ſie ſind ein altes Weib. 


„ Laſſen Sie die Kanaillen zum Teufel gehen. Ha, 
„ha, ha, ha! Ich möchte das Lumpengeſindel 


„ ſehn. Treiben Sie mir die Exekution aufs hoͤchſte. 


„Und wenn die Hunde ganz ausgezogen ſind, dann 
„kommen Sie wieder und amuſiren mich noch ein⸗ 
„mal mit Ihrer Relation, und einem ſolchen 
„Thraͤnchen. Ich mags gar zu gerne ſehn, wenn 


„die Leute fo weichherzig ſind.' Und nun lachte 


er noch einmal aus vollem Halſe, und hieß ee Ber 
amten marſchiren. 


Mir iſt nie ein aͤhnliches Beiſpiel von Men⸗ 
ſchenhaß aufgeſtoſſen. Aber ich bin gewiß, daß 
dieſe ſcheusliche Geſinnung nicht in ſeiner Natur 
lag. Denn eigentlich ſteht ſie mit der menſchlichen 

| Natur 


Hofrath Nuͤhl auf feinem gchgſuuhl, ſpielte an 115 19 
ner Hemdenſtriefe, und lächelte, wie wenn ihm | 


„ 33 


Nälur im geradeſten Widerſpruch! Sein Stolz 
hatte fie etſt erzeugt; und herbotgebracht. Denn 
da er ſo uͤberttieben von "feinem perſdnlichen Wer⸗ 
the dachte Fo wär die ganze weite Welt nicht · ver⸗ 
moͤgend, ihn zu befriedigen. Er betrachtete alles 
Geld, alle Ehre, alle Geſundheit, kurz alle Güter 
der Erde, die er in den Händen anderer Menſchen 
erblikte, als einen Raub, der ihm geſchehen war. 
Er ward wuͤthend, wenn er ſich die unwuͤrdige 
Rakaille von Menſchheit dachte, unter welcher er, 
ſo tief unter ſeiner Wuͤrde, leben mußte. Er haßte 
Gott und Menſchen, weil ſie ungerecht handelten, 
und ihn, der auf dem Gipfel der Ehre und des! 
Gluͤks ſtehen ſolte, auf dem Poſten eines unbedeu⸗ 
tenden Hofraths eines unbedeutenden Fuͤrſten ſtehen 
lieſſen. — Hundertmal habe ich ſelbſt Verfluchungen 
ſeines Schikſals, und Bezeugungen der innigſten 
Verachtung der Menſchheit auſſer ihm, aus ſeinem 
Munde gehoͤrt. „age Und ich bin verfichert, daß aus 
dieſem gränzenloſen und oft bis zur Verruͤkkung ges’ 
ſtiegenen Hochmuthe ſein Menſchenhaß entſtanden 
iſt, welcher zuweilen in eine völlige Wuth gegen al⸗ 
les was ihm in den Weg kam, auszubtechen pflegte. 
Ad eee ene e e . 
Ill. B. € 


* 


dc Ich dee r e * 


ſich re die Unterthanen, a 
Bedienten des Landesherrn gefallen laſſen. Von 
den gröflichen Naͤthen felbft iſt keiner, der fie nicht 
einmal hätte, empfinden muͤſſen. Daher zitterten; 
und bebten auch alle vor ihm. Wenn er kam, 
ging ihm (on. alles tauſend Schritt weit aus dem 
Wege. Wenn er ſprach, wagte es kein Menſch, 
ſelbſt der Geheime-Rath nicht, ihm zu widerſpre⸗ 
chen. Und eher hätte. man einen Leininger bewe⸗ 
gen koͤnnen, eine Todſuͤnde zu begehen, als etwas 
zu unternehmen, was ihn in die Gefahr brachte, 
von Herrn Kühl, darüber zur Rede geſezt zu wer⸗ 
den. Denn der Fuͤrſt SFR: fuͤrchtete fi ic vor ihm. 
Hon einn! % enn BD Bu 
ESG waf 1 wie e er den Herrn einge⸗ 
nommen hatte. Der Fuͤrſt glaubte, Ruͤhl ſey die 
Stuͤzze ſeines Landes. Er hielt es fuͤr unmöglich, 
daß ohne ihn ſeine Proceſſe beim, Reichshofrath 
gewonnen, werden k koͤnten. Er ſahe ihn, mit einem 
Worte, für. eine unerſelliche Perſon an. Daher 
duldete er mit einer bewundernswuͤrdigen Geduld 
U G. 1 


1 = — 4 
J 5 


— 35 


N Launen, und ließ ſich oft a daß der 
u ſelbſt gegen ihn auffuhr, und wie ein un⸗ 
baͤndiger tobte. Er ging in einem ſolchen Falle 
res und wartete, bis das Blut ſich gefühlt hatte, | 


und i im n Grunde war * Rühl der armſes 
life Mensch, den man auf ſeinem Poſten finden 
konte. Er verſtand nichts von Rechtsgelehrſam⸗ 
keit, und benuzte blos, was der Hofrath puͤtter 
in Gottingen ihm ſagte, welcher die Hauptſchrif—⸗ 
ten in den Proceßangelegenheiten des Fuͤrſten, ver⸗ 
fertigte und von Ruͤhl manche hundert Yuisdior 
dafuͤr empfing, und — was er den alten Geh. 
Rath gutachtlich aufſezzen hieß. Er war auch 
ſonſt in keiner einzigen Wiſſenſchaft bewandert, 
und in Philoſophie am allerwenigſten. Und ſelbſt 
fein Franzoͤſiſch, womit er fo uͤbermaͤßig prahlte, 
war, wie Kenner verſicherten, hoͤchſt elend. Er 
machte mir die franzoͤſiſchen Ankuͤndigungen von 
meinem Erziehungsinſtitut in Heidesheim: und 
alle Welt nannte ſie erbaͤrmlich. 


Und nun werden meine Leſer, aus dieſen 
Schilderungen allererſt, von meiner Lage in Tuͤrk⸗ 
C 2 


m. 
36 — „ 
heim urtheilen, und die Triebfedern meiner nach⸗ | 
folgenden A N 70 Schieſcke bemerken 
koͤnnen. Ae es 
n uch 1 ANTRAT ee „ 
Da ic 100 5 Ziefeim 55 war der Hof⸗ 
rath Kühl mein Freund. Und ich bin gewiß, daß 5 
ſeine Ueberzeugung von meinem Werthe, und der 
Wunſch, einmal einen Mann von Talenten und 
aufgeklaͤrtem Geiſte in feinem Zirkel zu fehen, be⸗ 
wogen hat, mich dem Fuͤrſten vorzuſchlagen, und 
meine Vokation zu bewirken. Aber er fing auch 
gleich den Augenblik an, mich mit einiger Eifer⸗ 
ſucht zu betrachten, und auf das ſorgfaͤltigſte zu 
verhuͤten, daß ich dem Fuͤrſten nicht alzuſehr 
mich naͤhern, und auf ihn irgend einigen 7 
bekommen a | 


— 32 


Drittes Kapitel. 
f Meine häusliche Lage. 


Das Amt, welches ich erhalten hatte, naͤhrte 
feinen Mann, aber nicht uͤberfluͤßig. Die Eins 
kuͤnfte, die damit verbunden waren, blieben weit 
unter dem glaͤnzenden Titel deſſelben. Man ſchaͤzte 
die Stelle auf 1000 Gulden, aber ich wußte ſie 
nicht herauszurechnen. Das Hauptſaͤchlichſte be: 
ſtand in den Weinzehnten, welcher ohngefaͤhr jährs 
lich zwiſchen drei und vierhundert Gulden zu brin⸗ 
gen war. Alles uͤbrige waren kleine Poſten, und 
die Aceidenzien waren nicht von Bedeutung. Mir 
hatte der Fuͤrſt aus ſeiner Kaſſe noch 300 Gulden 
zugelegt. Und ich brachte es doch kaum auf reine 
tauſend Gulden. 


Ich habe immer fparfam gelebt, habe weder 
in Kleidung, noch durch Gaſtereien, noch durch 
ſonſt etwas großen Aufwand gemacht. Meine 
Kinder ließ ich nie in Seide gehen, und ſie haben 
noch bis auf den heutigen Tag alleſamt kein neues 
ſeidnes Kleid von mir erhalten. Auf meinen Tiſch 

C 3 


3* 


kam nie mehr als ein Gericht, Gemüfe mit Fleiſch 
oder, ſtatt deſſen, ein Braten. Ein Schoppen 
Wein, ländliches Gewaͤchs, war mein Deputat. 
Und wenn ich Gaͤſte hatte, wich ich nie von der 
Regel ab, ſelbſt dem Vornehmſten, bei welchem 
ich viele Schuͤſſeln genoß, mehr nicht als Mittags 
eine Suppe, zweierlei Gemuͤſe mit Beilagen, einen 
Braten und einen Kuchen zu geben. Torten ka⸗ 
men nicht leicht auf meinen Tiſch. So muͤſſen alle, 
die mich kennen und gekannt haben, mir es bezeu⸗ 
gen. Das Spiel hat mich nie Geld gekoſtet. Ich 
habe erſtlich wenig, (im Durchſchnitt alle drei 
Wochen zwei mal) mein L'homber geſpielt, und 
immer durch Gluͤk und Geſchiklichkeit, mich ohne 
Verluſt erhalten. — Und dennoch konte ich in 
Tuͤrkheim nicht recht fuͤglich auskommen. Ich 
lebte wirklich mit Nahrungsſorgen, und ward zu 
Zeiten von Verlegenheiten beunruhigt. Ob da⸗ 
mals ſchon mein liebes Weib eine Miturſache da⸗ 
von war, wie fie es fpäterhin erweislich geworden 
iſt, kan ich nicht ſagen. Ich war zu allen Zeiten 
auf nichts ſo wenig aufmerkſam „als auf mein 
Geld. Was noͤthig war, gab ich. Und was meine 
Frau verlangte, erhielt ſie. Ich habe mich nie 


| — 39 
dazu bringen können, uͤber Ausgabe und Einnahme 


eine volftändige und fortlaufende Rechnung zu 
halten. Es lag mir dieſe Sache zu wenig am Her⸗ 
zen. Erſt in Halle bin ich attenter geworden, 
nachdem der ſichtbar unn Sarg mich 9 4 


Ben hatte, 


Wenn uͤbrigens meine eiae liche groß 
waren, ſo war das Amt, das ich dafuͤr bekleidete, 
deſto bequemer. Ich hatte alle Sonntage fruͤh 
einmal zu predigen. Alle drei Wochen traf mich 
eine Wochenpredigt. Mit Katechiſationen hatte 
ich nichts zu thun. Beichtſtuhl war gar nicht: 
denn man hatte ſchon vor meiner Zeit die oͤffent— 
liche Beichte eingeführt. Auch mit Privatſeelſorge 
war ich verſchont. Krankenbeſuche, und Haus⸗ 
kommunionen beſorgten die andern beiden Pre⸗ 
von 

Das einzige laſtende waren mir die Konfir⸗ 
manden. Ich mußte fie, wenn ihr Vorbereitungs⸗ 
unterricht vollendet war, kurz vor Oſtern eine 
Woche lang, täglich zu mir kommen laſſen, und 
mit ihnen katechiſiren. Da fühlte ich wahres Lei⸗ 

84 


40 —-— 


den, wenn ich die Kinder, Begriffe und Säge 
mir vorſagen laſſen muſte, welche ich zum Theil 
fuͤr den groͤßten Unſinn hielt, und fie doch nicht 
eines beſſern belehren durfte. Ich ließ ſie auch ih⸗ 
ren dogmatiſchen Katechismus kram, und Gedaͤcht⸗ 
nißwerk blos herbeten, und beſchaͤftigte mich allein 
damit, ihnen gute moraliſche Ideen und Empfin⸗ 
dungen beizubringen. Am meiſten kraͤnkte es mich, 
wenn ich zulezt am Altare dieſe Kinder einen Glau⸗ 
ben bekennen, und deſſen Feſthaltung gleichſam 
eidlich angeloben laſſen mußte, der ſo vielfaͤllige 
Albernheiten enthielt, und ihnen gleichſam aufge⸗ 
drungen war. Denn es iſt doch wohl unleugbar, 
daß man Kindern ihren Glauben aufzwingt, wenn 
man ihnen Begriffe als goͤttliche Warheit eintrich⸗ 
tert, die ſie nicht verſtehen, und deren Grund und 
Ungrund ſie nicht kennen. Und kan etwas empoͤ⸗ 
renderes gedacht werden, als einen ſolchen Glau⸗ 
ben beſchwoͤren laſſen, der nicht in unſerm freien 
Willen ſteht? Iſt ſchwoͤren, daß man lebenslang 
ſo und ſo ſich etwas vorſtellen, und es fuͤr wahr 
halten wil, nicht eben ſo ungereimt als ſchwoͤren, 
daß man eine gewiſſe Sache immer lieben oder 
gut verdauen wil? So wenig es von mir abhaͤngt, 


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ob ich eine Sache lieben wil, ſondern davon, ob 
ſie liebenswuͤrdig iſt, und mir fortgeſezt als lie⸗ 


benswuͤrdig erſcheint, eben ſo wenig haͤngt es von 
mir ab, ob ich etwas fortgeſezt glauben wil oder 
nicht, ſondern davon, ob die Gruͤnde, die mich 
jezt beſtimmen, immer als ſolche mie erſcheinen 
oder von Gegengruͤnden werden verdraͤngt werden. 


Indeſſen hatte ich bei allen meinen Amtsar⸗ 
beiten die Freude, nicht nur bei Hofe, ſondern 
auch in der ganzen Stadt fie mit algemeinem Deis 
falle geehrt zu ſehn. Ich genoß die Achtung des 
Fuͤrſten und der Gemeine, und bei Vielen, auch 
herzliche Liebe und wahre Verehrung. 


Auſſerdem waren meine beſten Freuden auf 
meiner Studierſtube. Denn im haͤuslichen und 
geſelſchaftlichen Leben blieben ſie mir immer mit 
mancherlei Unannehmlichkeiten vermiſcht. 


Mein liebes Weib behielt ihre alte Krank— 
heit — Hypochondrie mit etwas Eiferſucht ver: 
ſezt. Es war vergeblich, ſie heilen zu wollen, weil 
es unmoͤglich war, ſie vom Daſeyn der Krankheit 
zu uͤberzeugen. Daß ſie eigentlich eiferſuͤchtig ſey, 
glaubte ſie nicht. Sie ſchalt ſo gar auf die Eifer⸗ 

0 6 5 


* 1 n 992 I u. 
1 Ne 4 \ 7 5 Ni 


ſucht, als auf bie größte Thorheit. Sie hielh ihre Ko 
Eiferſucht für Liebe, und verwechſelte die Wirkung © 
mit der Urſache. Und wenn fie grilligt und noͤrg⸗ 
licht war, behauptete ſie ftäts, mit Grunde zu kla⸗ 
gen, und nie aus Krankheit zu quängeln. — In 
Tuͤrkheim hatte ſie anfangs wenig Gelegenheit zur 
Eiferſucht, daher ſie auch in dem erſten Jahre we⸗ 
niger litte und Leiden verurſachte. Manchmal nur 
fiel ihr ein ſchwermuͤthiger Gedanke ein, wenn ſie 
von dem ſchöͤnen Fraͤulein hoͤrte, welche als Hof⸗ 
dame lebte, und des Fuͤrſten Geliebte war. Und 
ſpaͤterhin, war die Frau Roͤthin Sandherr, wenn 

ich dieſe mir wirklich ſchaͤßbare Frau etwas zu zaͤrt⸗ 

lich behandelte, die Gelegenheit zu einem geheimen 
Kummer oder — zu einer kleinen a 
predigt. 


Meine beiden Hausfreunde, welche beide ſo 
vortrefliche Herzen hatten, und mich ſo zaͤrtlich 
liebten, konten mir eben ſo wenig frohe Stunden 
machen, wie mein gutes Weib. Denn beide wa⸗ 
ren ſo hypochondriſch, daß ſie alle Augenblik em⸗ 
pfindlich oder mistrauiſch, und durch geargwohnte 
Beleidigung oder Beſchaͤdigung, aufgebracht wur⸗ 


Ä 43 

den. Daher ich wirklich ſagen kan, daß fie mit 
beide mein Leben mehr laſtvoll als angenehmer ge⸗ 
macht haben. Von meinem vortreflichen Heres 

bin ich verſichert, daß er das jezt ſelbſt eingeſtehen 
würde, wenn er dies leſen ſolte. Ich liebte und 
liebe ihn dennoch von ganzem Herzen. Er war 
immer mein redlichſter und waͤrmſter Freund, der 
Kür mich zu Aufopferungen bereit war, und vers 
dient daher meinen lebenslangen Dank. 


Mein Umgang mit auſſerhaͤuslichen Freunden 
war 17 eingeſchraͤnkt. Das obgedachte Sand⸗ 
herrſche Haus war faſt das einzige, und ich ver⸗ 
danke ihm manche frohe Stunde meines Lebens. 


In Frankenthal lernte ich bald einen Mann 
kennen, den ich unter meinen Freunden, die ich 
je in der Welt gehabt habe, und noch beſizze, wohl 
ohne Bedenken den erſten Plaz geben muß. In 
ihm fand ich wirklich alles, was man von einem 
Buſenfreunde erwartet. Er war ein Mann von 
Kopf und Kentniſſen. Er war der allerjoviali⸗ 
ſcheſte Geſelſchafter, bei dem ich drei Tage lang 
in einem hinſizzen, und nie gaͤhnen durfte. Un⸗ 


aufhoͤrlich floß ſein Mund entweder von gelehrten 
Geſpraͤchen, oder von den unterhaltendſten, und 
das Zwergfell maͤchtiglich erſchuͤtternden Scher⸗ 
zen und Erzählungen über, Und dabei beſaß er 
ein ſo reines, treues, und zaͤrtliches Herz, einen 
- fo feften Karakter, und fo viel geſundes und durch 
Erfahrung gereiftes Urtheil, daß man keinen beſ⸗ 
ſern Fuͤhrer und Rathgeber ſich wuͤnſchen, und 
ſein Herz in keine beſſere Verwahrung geben konte, 
als bei ihm. Es war der reformirte Prediger 
Böhme; der jezt in Heidelberg ſteht. — Scha⸗ 
de, daß ich ihn wegen Entfernung des Orts nur 
ſelten genieſſen konte. — Habe Dank edle Seele, 
fuͤr alle Liebe und Treue, die Du mit Deiner vor⸗ 
treflichen Gattin mir erwieſen haſt, und fuͤr jeden 
frohen Augenblik, den Du in ſo mancher truͤben 
Epoche mir ſchufſt! | 


| In Manheim war ein Herr v. La Roche, 
den ich faſt auf der Liſte meines Herzens gleich 
nach meinem Boͤhme ſezzen moͤchte. Auch ihn 
machten aufgeklaͤrte Kentniſſe, feiner Geſchmak, 
edle Grundſaͤzze und ein weiches, menfchenfreund- 
liches Herz mir im hoͤchſten Grade liebenswürdig 


— — ö 8 


und geniesbar. Er ward in der Folge, da ich 
meine meiſte Zeit in Heidesheim lebte, unter allen 
meinen Geſelſchaftern der einzige, in deſſen Um⸗ 
gange ich ein durch keine rd eg ge 
rg Vergnuͤgen 810 | G 


Daß ich bei 656 la KERN am 7 
e Leben fand, dafuͤr hatte ſchon der Hof⸗ 
rath Kühl geſorgt. Ich ward alle Sonntage zur 
Mittagstafel gebeten, von welcher ich gleich nach 
Tiſche mich wieder beurlaubte. Das war alles. 
Die Schweſtern und Toͤchter des Fuͤrſten, ſo wie 
die obgedachte Hofdame, und alle uͤbrige Perſonen 
des Hofes ſchaͤzten mich, und hätten es ſehr gerne 
geſehen, wenn ich oͤfter in ihrem Zirkel hätte ers 
ſcheinen konnen: aber der Fuͤrſt war nicht geneigt, 
etwas zuzugeben, wovon er wußte, daß es ſeinem 
Kühl jutoiber ſeyn wuͤrde. 


ir „ at in Marſchlinz geborne Kind erhielt ſich 

PB nicht lange. Es fiechte einige Monate 

und ſtarb. — Funfzehn Jahr fruͤher haͤtte ich 

vielleicht mich überredet, daß der Mangel an Iuthes 
viſcher Taufe einige Schuld gehabt habe. 


R — f 
dog Viertes Kapitel. 


— meines Amtes mit meinen Ueberzeugungen 
rn Fr sata 


e ee 
ag in cherche meine N und 
Philologie ganz liegen laſſen, und es ſchien, als 
ob mit der Unterbrechung ihres Gebrauchs, die 
Sache ihre Reize für mir verloren haͤtte. Meine 
Kritik, meine orientaliſchen Sprachen, auf welche 
ich ſo viel Fleiß und Zeit verwendet hatte, kamen 
gar nicht wieder zum Vorſchein. Ich erinnere 
mich, in den viertehalb Jahren, welche ich in der 
Pfalz verlebt habe, nicht eines einigen Tages, wo 
Wee mit dieſen Dingen beſchaͤftiget a 


g Die Haupturſache war! ich hatte den RB, 
ben an die Nuzbarkeit dieſer Kentniſſe verloren. 
Denn wenn ich gleich in der Schweiz fuͤr die Fort, 
ſchritte meiner theologiſchen Einſichten nicht zwek⸗ 
maͤßig und anhaltend ſorgen konte, ſondern alle 
meine Arbeitsſtunden der Paͤdagogik widmete; ſo 
gab es doch hier und da geſelſchaftliche Stunden, 
in welchen ich unabſichtlich meine Aufklaͤrung be⸗ 
förderte, Und wie z. B. die Unterredung mit 


i 


Lavatern meinen Wahnglauben ans Uebernatuͤrli⸗ 
che und Wunderbate erſchuͤtterte, und beinahe 
ganz wankend machte, ſo hatten auch die faſt taͤg⸗ 
lichen Unterhaltungen mit meinem Heres ſo man⸗ 
chen Gedanken aufgeregt, oder ihm Licht, Vol 
ſtaͤndigkeit und Feſtigkeit gegeben, welcher vorher 
unter den dunkeln Vorſtellungen gelegen hatte, 
und eben ſo unvolkommen und unausgebildet, als 
unanwendbar geblieben war. Und ich erinnere 
mich ſehr gut, daß ich mehrmalen mit dieſem 
Freunde uͤber das A. Teſtament mich unterredet 
habe, und daß wir beide gefliſſentlich die Spuren 
des Fabelhaften in demſelben aufſuchten, und uns 
darüber beluſtigten. Daher war es gekommen, 
daß ich immer mehr den Gedanken aufs Leine ge⸗ 
bracht hatte, daß das A. Teſtament ein fuͤr die 
Religion ganz entbehrliches Buch ſey, weil es zur 
Aufhellung oder Veſtaͤtigung deſſelben nicht das 
mindeſte nuͤzze, und gegenſeitig, durch feine Ueber⸗ 
ladung mit Wundern und Uebernatuͤrlichkeiten, 


den Verſtand des großen Haufens verwoͤhne, und 


die Vernunft unwirkſam mache. Wozu alſo, 
dachte ich zuweilen, iſis wohl nuͤzze, daß man fo 
viel Jahre und Krafte verſchwendet, für die Erler⸗ 


* 


n U 
Ar . 
* 


nung der sitähketirgen Ehren Tg wohl br 
Mühe werth/ ein fo muͤhſames und koſtbares Stu⸗ 
dium zu betreiben, welches mir keinen Vortheil 
gewaͤhrt, als daß ich ein paar dunkle Stellen eines 
Buchs vielleicht richtiger verſtehen lerne, deſſen 
ganzer Inhalt ſo wenig intreſſirt? Das bischen 
wahre Geſchichte, was es mich allenfals lehrt, kan 
jeder ohne Sprachkentniſſe daraus erlernen. Und 
um der wenigen Weiſſagungen willen, die es ver⸗ 
geblich aufſtellen ſol, ſolte man wohl eben ſo we⸗ 
nig nöthig haben, die hebraͤiſche Sprache mit ih⸗ 
ren verwandten Dialekten zu ſtudiren, und dieſem 
Studium eine Zeit zu widmen, welche im Felde 
der moraliſchen e ee kei 
eg EI NER RAN: | 
So verlor ſich nach und day: mein alter Ei⸗ 
fer fuͤr dasjenige Sprachſtudium, welches ich ehe⸗ 
dem fuͤr meine Bibeldolmetſchung getrieben hatte, 0 
und ſo wandte ich mich jezt in das Gebiet der mo⸗ 
raliſchen Religion „wo geſünde Philoſophie und 
gerade um ſo viel Kunde der helleniſtiſchen Spra⸗ 
che mir noͤthig war, als ich von meinem ehemali⸗ 


gen Studium, aus der Lektüre der griechiſchenn 
Ueber⸗ 


* 


— Er) 


7 


1 leberſennungen des A. Teſtaments, und der des 
he Joſephus und Philo, übrig behalten hatte. 


Manz erſte Sorge war nun auf zwei Dinge 
gerichtet. Zuerſt dachte ich nach, wie ich meine 
Kentniſſe im Fache der moraliſchen Warheiten er— 
weitern, und den Abgang der Dogmatik erſezzen 
wolte. Denn von poſitiven Warheiten war mir 
nun faſt gar nichts mehr uͤbrig. Dreieinigkeit, 
Verſoͤhnungstheorie, uͤbernatuͤrliche Gnade, Erb— 
ſuͤnde, ewige Hoͤllenſtrafen, — das alles hatte 
meine Vernunft gluͤklich verbannet. Ich hielt blos 
und allein noch feſt an der unmittelbaren Sendung. 
Jeſu, und an der Goͤttlichkeit der heil. Schrift, 
folglich auch — ah der Warheit der bibli— 
ſchen Geſchichte. Ich ſahe daher wohl ein, daß 
es mir an Materialien fuͤr die Kanzel fehlen wuͤr— 
de, wenn ich dieſe reichhaltigen Themata meiner 
Dogmatik, uͤber welche ſich ſo viel plaudern ließ, 
f nicht anderweit zu erſezzen, und mir neue Reich— 
thuͤmer für meine Predigten zu verſchaffen ſuchte, 
welche mich in den Stand ſezten, durch Mannig⸗ 
faltigkeit der Materien zu unterhalten, und in 
meinen Vorträgen immer neu zu bleiben, 

il. B. > 


— 


l 


ja REN: 


Natürlich mußte ich alſo dieſe neuen Neich⸗ 


thuͤmer in der Moral ſuchen. Denn ſelbſt das, 5 


was ich aus der Dogmatik noch uͤbrig behalten 
hatte, ſchien mir doch nicht fuͤr die Kanzel zu ſeyn. 
Ich fuͤhlte ſelbſt einen geheimen Wider willen, über 
die bibliſchen Wundergeſchichten zu predigen, ob 
ich ſie gleich noch in ſo weit glaubte, in ſo weit ich 
noch nicht auf ihre Widerlegungsgruͤnde gefallen 
war, ob ich gleich gegen Wunder und Uebernatuͤr⸗ 
lichkeiten überhaupt ſchon ſehr vieles einzuwenden 
hatte. Ich wußte nichts kluges darüber zu ſagen. 
Und doch wolte ich immer gern Materien haben, 
bei deren Bearbeitung ich im gleichen Grade den 
Verſtand meiner Zuhoͤrer aufklaͤren, und ihre 
Herzen mit recht heilſamen und feurigen Gefuͤhlen 
fuͤr Gott und Tugend beleben konte. Alſo ward 
Moral mein Hauptfach. 

Aber wie ſolte ich in dieſem duͤrren Felde 
Reichthuͤmer finden ? Das ewige Einerlei von 
Buſſe, Glauben und Heiligung aus dem erſten 
Theile, und von den Pflichten gegen Gott, gegen 
den Lrächften , und gegen uns ſelbſt aus dem 
zweiten, wolte mir nicht mehr behagen. Es war 


— 


— — » 311 


5 mir theils zu monotoniſch, theils hieng das meiſte 
aus dem erſten Theile mit derjenigen Dogmatik 
zuſammen, von welcher ich bereits meinen Geiſt ſo 
ziemlich gereiniget hatte. Und ſo ſchien auch die 
Moral eine wahre Hungerquelle für meine Pres 
digten zu ſeyn. 


Ich geſtehe, daß es mir viel Zeit und muͤhſa⸗ 
mes Nachdenken gekoſtet hat, ehe ich dahinter ges 
kommen bin, die großen Strekken des unbebauten 
Landes aufzuſuchen, und fuͤr die Kanzel fruchtbar 
zu machen, welche die Moraliſten ſeither übers 
ſehen hatten. 


Anfangs plagte ich mich blos damit, die alten 
Materien der Moral, welche fuͤr mich Warheit 
und Nuzbarkeit hatten, recht ſcharf zu analiſiren, 
und ſie gleichſam fuͤr mich zu erweitern, indem ich 
die Begriffe mehr entwikkelte, und in ihre klein⸗ 
ſten Theile aufloßte, die Beweiſe dazu theils ver: 
ſtaͤrkte, theils vermehrte, mit Beiſpielen und Er: 
fahrungen ſie verſinnlichte, und aufs menſchliche 
Leben anwendbar zu machen ſuchte. Allein das 
wolte in die Laͤnge nicht hinreichen. Ich fieng an, 
D 2 


23 —— 
52 n 


mich zu erſchöpfen. Es ward mir bange fir die 
Zukunft, daß ich wuͤrde gendthiget werden, nach 
einigen Jahren wieder von forne anzufangen, 
und dieſelben Materien wieder durchzupredigen, | 
die ich ſchon einmal für die Kanzel bearbeitet hatte. 


Ich war ſonach gezwungen, darauf auszuge⸗ 
hen, wie ich neues Land entdeffen wolte. Und 
ich fand eine Strekke nach der andern. Das erſte 
war das große Feld der Motiven. Staͤts war 
ich mit mir ſelbſt unzufrieden geweſen, wenn ich 
zu dem, was ich meinen Zuhoͤrern als gut oder 
boͤſe vorſtelte, nichts als Schriftbeweiſe aufftellen 
konte. Es ward mir widrig, die Ermahnungen 
zur Tugend nur mit göttlichen Befehlen zu unters 
ſtuͤzzen. Ich fieng an, das unleidliche des Zwan⸗ 
ges bei dem, was den Menſchen gluͤklich machen 
ſol, inne zu werden. Ich dachte mehr uͤber den 
Zuſammenhang der Foderungen und Warnungen 
der Moral mit der menſchlichen Gluͤkſeligkeit nach. 
Ich loͤßte mir ſelbſt den Begrif der Gluͤkſeligkeit 
mehr auf, und ſuchte aus meiner eignen Erfah⸗ 
rung alles auf, was man als Theile oder Erfor⸗ 
derniſſe der Gluͤkſeligkeit zu betrachten hat. Und 


ſo fand ich endlich das gränzenloſe Gebiet der Be⸗ 
wegungsgruͤnde, und freute mich meines Reich⸗ 
thums! Denn nun konte ich oft aus einer Materie, 
blos und allein von Seiten der Motiven, mehrere 
Piedigten machen, indem ich den mannigfaltigen 
Einfluß einer moraliſchen Foderung auf alle Theile 
der menſchlichen Gluͤkſeligkeit beſchrieb — auf die 
Veredlung des Geiſtes — auf die Geſundheit und 
Vervolkomnung des Körpers — auf die Vermeh⸗ 
rung, und Staͤrkung der Kraͤfte — auf Feinde — 
Freunde — geſelſchaftliches und haͤusliches Les 
ben — Ehre — Nahrung — Kinderzucht u. ſ. w. 
Und was das aller herrlichſte war, ich ſahe mich 
jezt nicht blos reicher und volftändiger in der Aus— 
fuͤhrung der moraliſchen Materien ſelbſt, ſondern 
auch in Abſicht auf die Erläuterungen derſelben 
aus Geſchichte und Erfahrung. Denn wie vor- 
her, bei dem bloſſen Gebrauche der heil. Schrift, 
meine Erlaͤuterungen lediglich darin beſtunden, 
daß ich die Sprüche der Bibel erklärte, und die 
Staͤrke des Beweiſes fuͤhlbar zu machen ſuchte, 
ſo konte ich nun in das große Feld der geſammelten 
Welt- und Menſchenkentniß übergehen. Und ich 
bemerkte dabei, daß meine Zuhoͤrer jezt weit mehr 
D 3 


unterhalten, und von meinen Vorträgen uͤberzeugt 
und gerührt wurden. Denn die Veeſinnlichung 
der Warheit machte die Warheit ſelbſt ihnen heller 
und angenehmer: und die immer ſtaͤrker werdende 
Ueberzeugung, daß ich als Moraliſt fie nur zu ih⸗ 
rer eignen Gluͤkſeligkeit belehrte, machte fie geneige 

ter, der Warheit zu folgen. Ja ſelbſt die Befehle 
Gottes aus der Schrift wuͤrkten dann beſſer auf 
ihre Herzen, weil ſie durch jene Ueberzeugung das 
Widrige des Zwanges verloren hatten. 


Aus dem Felde der Bewegungsgruͤnde kam 
ich in das Feld der Anweiſungen zur Befolgung 
des liebgewonnenen Guten. Denn bei meinem 
Nachdenken uͤber Motiven ward ich ſelbſt mehr 
fuͤr jede einzelne Foderung der Moral erwaͤrmt, 
und dadurch veranlaßt, uͤber die Frage nachzu⸗ 
denken: wie macht man es, daß man ſo wird, 
wie die Moral es fodert? Und ſo wie ich dieſe 
Frage nur einigemal an mein eignes Herz gethan 
hatte, ſo ward ſie auch gleich ein Gegenſtand des 
Nachdenkens fuͤr meine Zuhoͤrer. Ich ſahe auf 
einmal, daß das wieder ein weites Feld von Mate⸗ 
rialien war, welches unſere Moralen unbebaut ge⸗ 


laſſen hatten. Und ich ſtudierte nun darauf, Für 
jede Foderung der Moral, wo ich durch die Mes 
tiven die Zuhörer geneigt gemacht hatte, fie zu bes 
folgen, ihnen auch die einer jeden angemeſſene An— 
weiſung beizufuͤgen, wie man ſie befolgen, welche 
Mittel man dazu gebrauchen, welche beſondere Ue— 
bungen man vornehmen, wie man ſich die anfangs 
damit verbundenden Laſten erleichtern, wie man 
die Hindernſſſe und Schwierigkeiten derſelben bes 
ſiegen, und ſich endlich eine Fertigkeit darinnen ers 
werben muͤſſe. — Und dieſen Fleiß belohnte mir 
abermals der ſichtbare Ruzzen. Denn unſere Mo: 
raliſten ſchreien nur immer, das ſolſt du thun, das 
laſſen, und citiren goͤttliche Befehle aus der Bi— 
bel. Aber ſie lehren den Menſchen nicht, wie ers 
angreiffen ſol. Sie verweiſen ihn duf algemeine, 
und noch dazu unwirkſame Mittel. Sie heiſſen 
ihn um den Beiſtand des heil. Geiſtes beten. Das 
macht die Menſchen in gleichem Grade ungeſchikt 
und muthlos. Sie ſehen, daß das nichts fruͤch— 
tet, und ermuͤden. — Meine Methode erwekte 
den Eifer. Der Zuhörer lernte mit feinen Kraͤf— 
ten bekant werden, die Gelegenheiten benuzzen, 
die Hinderniſſe kennen und verhuͤten u. ſ. w. und 
D 4 


s6 — 


er gewann die Tugend lieb, weil er ſahe, daß er f 
auf natuͤrlichem Wege zu ihr gelangen konte. 


Dieieſe fuͤr jede einzelne Foderung der Moral 
nach und nach aufgefundene ſpecielle Methodologie 5 
brachte mich in kurzem auch zum Nachdenken über 
die Art und Weife, wie der Menſch ſich von feinen 
Laſtern entwoͤhnen fol, Denn ſo wie ich einge⸗ 
ſehen hatte, daß jedes Gute, das im Menſchen 
hervorgebracht werden ſol, ſeine eignen Mittel und 
Hinderniſſe hat, ſo fiel ich auch darauf, fuͤr jedes 
einzelne Böfe die ſpeciellen Regeln aufzuſuchen, 
nach welchen daſſelbe weggeſchaft, oder vermieden 
werden muß. So erwuchs mit der Zeit meine 
ſpecielle Therapie, welche in den gemeinen Mo⸗ 
ralen gaͤnzlich fehlt, und welche eine eigne Heil⸗ 
methode fuͤr jede Krankheit vortraͤgt (denn ich 
Tam ſehr bald darauf, alle Sünden und Laſter als 
Krankheiten zu behandeln,) und die Fragen bez 
antwortet, wie „durch welche Mittel, Uebungen, 
Praͤſervative u. ſ. w. ſol ſich der Geizige von ſei⸗ 
nen Geize, der Eigenfinnige von ſeinem Eigenſin⸗ 
ne, der Faule von ſeiner Traͤgheit u. ſ. w. ent⸗ 
wohnen, und die Krankheit aus dem Grunde 
heilen? 


* 


2 ’ ten * Ba. 
ET. 57 


pe Und durch dies Studium gerieth ich zulezt 


auch auf die Behandlung der Krankheiten ande⸗ 
rer Menſchen, und fand neue Reichthuͤmer für 
meine Kanzel. Ich warf die Frage auf: wie ſol 
ich mich, da ich einmal unter fehlerhaften d. h. 
unvolkomnen, und mit mancherlei Krankheiten be- 


hafteten Menſchen leben muß, gegen ſie verhalten, 


um mir ihre Fehler ertraͤglich zu machen, oder 
die Einffuͤſſe derſelben auf meine Ruhe zu verhuͤ⸗ 
ten, oder ſie ganz davon zu heilen? Wie ſol ich 
mich gegen zaͤnkiſche, mislaunigte, eigenſinnige, 
geizige, unverſchwiegene, neidiſche u. ſ. w. be⸗ 
tragen? Wie ſol ich gegen Narren, Schwaͤrmer, 
Aberglaͤubiſche, Intolerante mich verhalten? Wie 
ſol ich mich als Kind gegen gottloſe Eltern, als 
Unterthan gegen tiranniſche Obrigkeiten, als Gatte 
gegen einen treuloſen Ehegatten benehmen? u. ſ. w. 


Endlich entdekte ich noch das groͤßte Feld des 
Moraliſten in der Anwendung der algemeinen 
Vorſchriften der Moral auf die beſondern Situa⸗ 
tionen des Menſchen — in Krankheit, in Ara 


muth u. ſ. w. ſo wie auf die einzelnen Staͤnde, 
des Landmanns, der Soldaten, des Kaufmanns, 


D 5 


7 


28% 


0 


des Sachwalters, des Buͤrgers, bes Befindeg, des \ ; 


Lehrers, des Regenten u. d. m. 3 


5 


Das waren die Fortſchritte meiner Aufklärung 
in Tuͤrkheim, die ich jezt mit allen Kentniſſen der 
Kritik, und Sprachkunde nicht vertauſchen möchte, 
welche alle unſere Grotiuſſe, Schultenſe, Michae⸗ 
liſſe, zuſammen genommen, je beſeſſen haben. 
Denn ich ward erſtlich durch die Bearbeitung die— 
ſer moraliſchen Warheiten ein eigentlich nuzbarer 
Mann fuͤr die Welt: ich erlangte zweitens ein weit 
fruchtbareres Feld als Schriftſteller, zur Verbeſ⸗ 
ſerung meiner oͤkonomiſchen Lage, ob ich gleich die 
Fruͤchte erſt hernach in Halle geerndtet habe: und 
ich fand drittens in dieſem Studium den Weg zur 
Vollendung meiner Geiſtesbildung in Abſicht auf 
Religion. Denn ſo wie jezt täglich mehr meine 
Ueberzeugung zunahm, daß die moraliſche Reli⸗ 
gion allein nuzbar fuͤr die Menſchheit iſt, ſo ſezte ſich 
der (freilich anfangs dunkle) Gedanke immer 
feſter in mir, daß die poſitive Religion wenig 
Werth habe — welches mir, da in der Folge die 
ſer Gedanke immer heller in meiner Seele wurde, 
endlich die gaͤnzliche Wegwerfung des e e 

Krams erleichterte. 


> 5 


. Fuͤnftes Kapitel. 


Sort ſez zung. 


x 


Meine zweite Sorge war, wie ich auch an der 
dogmatiſchen Aufklaͤrung meiner Gemeine arbeiten, 
und ihnen meine vermeintlich beſſern Leberzeuguns 
gen mittheilen wolte, ohne doch gegen meinen Eid 
zu verſtoſſen, und mir, durch den Verdacht der 
Kezzerei, Liebe und Vertrauen des Volks zu ver⸗ 
ſcherzen. 


Denn meinen Amtseid betrachtete ich in ſo 
weit als verbindlich, daß ich dem eingeführten Lehr; 
begriffe nie widerſprechen, und gegen denſelben nie 
direkte lehren durfte. Und weiter, duͤnkt mich, 


| kan der Religionseid der Kirchenlehrer auch nie 


ausgedehnt werden. Denn kein vernuͤnftiger 
Menſch wird beſchwoͤren wollen, daß er gewiſſe 
Lehrſaͤzze zeitlebens glauben und für wahr halten 
wolle, da das ja nicht in ſeiner Freiheit ſteht, es 


8 ſey denn, daß er zugleich feiner Vernunft entſagte, 


und ſich entſchloͤſſe, feinen Geiſt für alles Hören, 
Leſen und Nachdenken zu verſchlieſſen. Und eben 


60 —— — 


1 \ 


fo wenig kan man vernuͤnftigerweiſe beſchwöͤren, 


daß man einen Saz ledenslang lehren wil, weil 
man ja nicht wiſſen kan, ob man ihn lebenslang 


fuͤr wahr halten werde. Es iſt alſo klar, daß ein 5 
Lehrer eigentlich nur dies beſchwoͤret, (und daß 


alſo der Sinn des Religionseides auch nur dahin 


gedeutet werden muß) daß er lebenslang mit dem 


Lehrbegriffe ſeiner Kirche uͤbereinſtimmend leh⸗ 
ren d. h. nichts anders vortragen wolle, als was 
die Kirche einſtimmig fuͤr wahr erkennt. 


Vermoͤge dieſer Deutung alſo machte ich mirs 
zur Pflicht, nie einem Lehrfazze meiner Kirche zu 
widerſprechen, und alle die Lehrfaͤzze derſelben, 
die ich nicht glaubte, wenigſtens ſo weit ich ſie 
nicht mehr glaubte, mit Stilſchweigen zu uͤberge⸗ 
hen. Aber ich nahm mir auch zugleich vor, ſelbſt 
aus den Lehren der Kirche, und den algemeinen 


Vernunft⸗ und Erfahrungswarheiten, welche meine 


Kirche als unftveitig gelten ließ, diejenigen fleißig 
auszuheben, welche den folgernden Zuhoͤrer zur 
Erkeniniß feiner dogmatiſchen Irthuͤmer von e 
fuͤhren mußten. 


0 


Dieſe Methode entdekte ich von ohngefaͤhr in 
1 den Reden Jeſu, welche die Evangeliſten uns auf⸗ 
behalten haben. Denn es ward, bei einem Ge— 


ſpraͤch mit meinen beiden Hausfreunden, einmal die 


Frage mir vorgelegt, wie es komme, daß Chriſtus 
nirgends gegen die Irthuͤmer der juͤdiſchen Theolo— 
gie geprediget, und immer nur moraliſche War— 
heiten vorgetragen habe, wie wenn es gar nicht 
zu dem Amte eines Volkslehrers gehöre, ſich mit 
den Irthuͤmern abzugeben, ſondern vielmehr rath— 
ſam ſey, das Volk dabei zu laſſen, und es in ſei⸗ 
nem Wahnglauben nicht irre zu machen? Ich be⸗ 
hauptete damals, daß ob es gleich ſeine Richtig⸗ 
keit habe, daß man in den Reden Jeſu keine di⸗ 
rekte Widerlegungen der juͤdiſchen Irthuͤmer finde, 
(3. B. daß ſie ſich fuͤr das ausſchlieſſende Eigen⸗ 
thumsvolk Gottes hielten, daß ſie den Tempel fuͤr 
eine heilige Wohnung der Gottheit anſahen, daß 

fic den Dämonen eine Herrſchaft und Gewalt über 
die Menſchen zuſchrieben, daß fie von den Opfern 
Beguͤtigung und Begnadigung Gottes erwarteten 

u. ſ. w) Daß, ſage ich, daraus gar nicht die 
Unſchaͤdlichkeit aller Irthuͤmer, und am wenigſten 
die Regel für den Bolisichrer folge, die Irthuͤ⸗ 

| & 


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62 irn 


mer zu ſchonen, und das Volk in denfelben zu lafs | 


fen. Aber ich wuſte meinen Freunden nicht gleich 


hinlaͤngliche Gruͤnde anzugeben, warum gleich⸗ 
wol Jeſus die Irthuͤmer der Juden geſchont, und 
ſich nie deutlich herausgelaſſen, und z. B. oͤffent⸗ 


lich geſagt habe: ihr ſeyd nicht das eigenthuͤmli⸗ 
che Volk Gottes: euer Jehovah wohnt nicht in 
eurem Tempel: eure Daͤmonenlehre iſt Wahnglau⸗ 


be: Beguͤtigung der Gottheit durch Opfer iſt Un⸗ 
ſinn u. ſ. w. Daher dachte ich hernach fuͤr mich 


der Sache weiter nach, und kam auf den Gedan⸗ 
ken, daß Jeſus aus wahrer Vorſicht und Paſtoral⸗ 
klugheit (um das gemeine Volk nicht gegen ſich zu 
empoͤren) die Volksirthuͤmer nicht angegriffen, 
wol aber indirekte ſie deſto eifriger beſtritten, und 
auszurotten geſucht habe. 


Und da ich dieſen Gedanken nur erſt aufge⸗ 


faßt hatte, ſo wurde er mir bei der Pruͤfung der 
Reden Jeſu, die ich dabei anſtelte, gar bald ein⸗ 


leuchtender und volftändiger. Das auffallendſte 
war mir, ſein beſtaͤndiger Lehrvortrag von Gott, 


den er recht abſichtlich unter einem Bilde vorſtelte, 
welches der Jude gar nicht gewohnt war, ich mei⸗ 


— 


een 


3 & 


ne das ld eines Vaters, und zwar eines alllies 
benden Vaters, der ſeine Sonne ſcheinen laͤßt uͤber 


Gerechte und Ungerechte — durch welche Benen— 
nungen fi die Juden von den Heiden zu untera 
ſcheiden pflegten. Hier ſchien mir es augenſchein⸗ 
lich zu werden, daß er durch dieſe einfoͤrmige Lehr⸗ 
art, nach welcher er nie ein anderes Bild wählte, 
nie des Jehova im Tempel, nie des juͤdiſchen 
Deſpoten erwähnte, abſichtlich, aber unvermerkt, 
die juͤdiſchen Irthuͤmer von der Gottheit verban— 
nen, und wuͤrdigere Begriffe einfuͤhren wolte, 
ohne jene geradehin zu beſtreiten. So ſchien mir 
hernach auch ſeine Lehre von einer ganz ſpeciellen 
Vorſehung, welche jedes Haar auf unſerm Haupte 
zaͤhlet, abſichtlich dem Irthume entgegen geſezt zu 
feyn, als ob die Dämonen die Welt beherſchten, 
und die Menſchen unter ihrer Gewalt haͤtten. So 
ſchien mir endlich fein beſtaͤndiges und unaufhörlie 


ches Ermahnen zur Verehrung Gottes im Geiſt, 


ausdruͤklich gegen den Glauben an die Verdienfts 
lichkeit des Tempeldienſtes gerichtet zu ſeyn, ſo wie 
ſeine einfoͤrmige Antwort auf alle Fragen: was 
muß ich thun, daß ich ſelig werde? Was iſt Got⸗ 
tes groͤßtes Gebot? Bei welchen er nie auf Opfer 


7 


und Gebete, ſondern auf Menſchenliebe verwieß, 5 


ganz offenbar fuͤr konſequente Zuhoͤrer beſtimt wa⸗ 
ren, welche daraus folgern ſolten, daß die Ge⸗ 
rechtigkeit des Menſchen oder das, was ihm Gott 


gefaͤllig und ſeiner Segnungen empfaͤnglich macht, 5 


nicht in Dienſten, die man Gott leiſtet, nicht in 
Andachtsuͤbungen, nicht in blutigen Opfern, ſon⸗ 


dern allein in einer nuzbaren Tugend zu ſuchen ſe9y. 


Dies brachte mich auf die Gedanken, auf 


gleiche Weiſe zu verfahren, und die Irthuͤmer der 
Dogmatik, und des Katechismus durch die bloſſe 
lichtvolle Darlegung der Warheit konſequenten Zu⸗ 
hoͤrern (denn nur ſolche find der Aufklaͤrung em⸗ 
pfaͤnglich) fo ſichtbar zu machen, daß fie von ſelbſt, 
und ohne meine ausdruͤkliche Beſtreitung derſelben, 
ſie ablegen mußten. 


ar 


So habe ich z. B. die alberne Lehre von der 


Erbſünde nie geleugnet oder widerlegt: aber ich 
habe Warheiten vorgetragen, aus denen die Ver⸗ 
werflichkeit derſelben gefolgert werden mußte. Ich 
zeigte die Anlage der menſchlichen Natur, zur 
moraliſchen Veredlung, und ich fand ſie in dem 

EN Frei⸗ 


i Breiheitstriebe , „in dem Triebe zur Thaͤtigkeit, 
4 ® und in dem iebestriebe. Es iſt allen Menſchen, 
ſagte ich, von Natur eigen, feine. Kräfte frei zu - 
brauchen, und ſich gegen allen Zwang zu empoͤ⸗ 
ren. Es iſt alſo unnatuͤrlich, und gehoͤrt ſchon 
eine beſondere Verwoͤhnung und Ausartung der 
menſchlichen Natur dazu, wenn Menſchen ihrem 
Verſtande Feſſeln anlegen laſſen, wenn ſie dem 
eignen Gebrauche ihrer Vernunft entſagen, und 
von Aberglauben ſich blindlings leiten laſſen. Und 
ſo hat der Menſch eine natuͤrliche Anlage zur Auf— 
klaͤrung, welche in einem freien Gebrauche der 
Vernunft beſteht, und allem Aberglauben entges 
gen geſezt iſt Es iſt ferner dem Menſchen ein im⸗ 
merwaͤhrendes Streben angeboren, ſeine Kraͤfte 
überhaupt zu gebrauchen, und thaͤtig zu ſeyn. 
Unthaͤtigkeit iſt wider die Ratur. Die Laſter der 
Faulheit und des Muͤſſigganges entſtehen allererſt 
durch Verwoͤhnung. Von Natur iſt der Menſch 
zu der groſſen Tugend der Arbeitſamkeit geneigt 
u. ſ. w. Endlich iſt es ein warhaftig goͤttlicher 
Trieb des Menſchen, daß er von Natur geneigt 
iſt, Freuden zu empfinden, wenn er andere Weſen 
froͤhlig ſieht, und noch mehr, wenn er ſelbſt Gele⸗ 
III. B. E 


9 


genheit findet, ihnen Freuden zu schaffen, und dag, 


er gegentheils Schmerz empfindet, wenn er leiden. 
de Mugeſchoͤpfe erblikt, und daß er dadurch an 
getrieben wird, ihre Leiden zu mindern oder ab⸗ 
zuwenden. Dieſe cheilnehmende Liebe, welche es 
ihm zur hoͤchſten Seligkeit macht, Freuden zu 
ſchaffen, und Leiden zu mildern, iſt allen Menſchen 
angeboren. Alſo bringt er das wahre Bild des⸗ 
jenigen Gottes mit auf die Welt, den Jeſus uns 
als einen allliebenden Vater kennen gelehrt hat: 
und welcher ſeine ganze Seligkeit in der Beſeli⸗ 
gung ſeiner Geſchoͤpfe findet. — Dieſe unleugba⸗ 
ren und mit dem Glauben meiner Kirche einſtim⸗ 
migen Warheiten trug ich vor, und uͤberließ es 
dann meinen an vernünftige Folgerungen gewoͤhn⸗ 
ten Zuhörern ob fie daraus die Thorheit des 
Glaubens an ein natuͤrliches Verderben, an eine 
angeborne Neigung zu allem 1 — Wes 
lernen wolten. 

Ein andermal predigte ich üben die Unmoͤg⸗ 
lichkeit das Wunderbare und Uebernatuͤrliche zu 
beurtheilen, welche ich aus verſchiedenen Gründen 
z. B. daraus einleuchtend zu machen ſuchte, weil 


1 7 
K in 


fein Menſch, ſelbſt der 5 Naturkenner nicht, 
eine hinreichende Bekantſchaft mit der Natur habe, 
und ſich ruͤhmen dürfe, alle Kräfte derſelben zu 
wiſſen, und ſagen zu koͤnnen, wo fie ihre Graͤn⸗ 
ze haben, welche ſie von der uͤbernatuͤrlichen 
Kraft der Gotcheit ſcheidet. Und ich that, als ob 
ich aus dieſer M aterie weiter nichts folgern wolte, 
als daß meine Zuhörer darinnen einen Grund fins 
den ſolten, allem Aberglauben zu entſagen, und 
auf keine uͤbernatuͤrliche Dinge, wenn fie ihnen 
vorgeſpiegelt wuͤrden, eiwas zu rechnen oder ſich 
davor zu fuͤrchten. Ich wünfchte aber heimlich, 
daß konſequente Zuhoͤrer weiter ſchlieſſen, und den 
Glauben an Wunder uͤberhaupt dadurch verwerf⸗ 
lich finden moͤchten. 


So redete ich in eben dieſer Abſicht von der 
unendlichen Weisheit Gottes, mit welcher er als 
Schoͤpfer die Geſezze der Natur eingerichtet, und 
feſtgeſtelt habe. Ich zeigte, daß dieſe Geſezze der 
Natur unverbeſſerlich, und zu allen Endzwekken 
des Schoͤpfers volkommen hinreichend ſeyn muͤßten. 
Ich folgerte daraus, daß Gott dieſe mit unendli⸗ 
cher Weisheit gemachten Geſezze ſelbſt nicht aufhe⸗ 

. 2 


ben, und davon abweichen Fünte, weil er das aus in 
keinem andern Geunde thun wuͤrde, als weil er 8 
dieſe Geſezze zu ſeinen Zwekken nicht zureichend 
fände, und in der Verlegenheit wäre, etwas durch 
gewaltſame Einwirkung und Uebertretung der Na⸗ 
turgeſezze auszurichten, was er durch die Ratur⸗ ö 
geſezze nicht zu bewerkſtelligen vermoͤgend geweſen 
ware. — Der Zuhoͤrer, der Verſtand hatte, “ 
mochte nun von ſelbſt ſchlieſſen, daß alſo Bott keine 
theologiſchen Wunder thun koͤnne, wiefern ie | 
die Geſezze der Natur abeſch nel, 


| 

Am haͤufigſten war ich bemuͤhet, folche War⸗ 
heiten aufzufinden, aus welchen ſich die Ungereimt⸗ 
heiten der Verſoͤhnungstheorie erkennen lieſſen. 
Dazu fand ich damals auſſer der oben Kap. 22. 
erwähnten Materie, von der Unerlaßbarkeit der 
Strafen Gottes, und der Unveraͤnderlichkeit ſeiner 
Liebe auch die von der nothwendigen Verbindung 
der Tugend mit der menſchlichen Glaͤkſeligkeit, am | 
bequemſten. Denn indem ich meinen Zuhoͤrern 
dies recht anſchauend machte, daß die Tugend 
nothwendig glůͤklich macht, daß Gtüffeligfeit und 
Tugend durch keine Almacht getrennt werden mda 


* * 


. 7 * 4 9 ET _ 


Y 7 1 2 j 


— — 69 


gen: daß hingegen moraliſche Verdorbenheit un— 
vermeidliches Elend nach ſich zieht, und daß bei- 
des, dieſes Elend und jene Gluͤkſeligkeit von der 
Willkuͤhr Gottes ganz unabhängig fen; da konte 
ich ſie ganz nahe zu den Schlußfolgen fuͤhren: alſo 
iſt die Imputation einer fremden Tugend Unſinn, 
alſo kann des Menſchen Gluͤtſeligkeit durch kein 
Opfer erkauft werden, alſo iſt Sundenvergebung 
als Aufhebung der nothwendigen Folgen der Laſter- 
haftigkeit, Wahnglauben u. ſ. w. 


So gab ich, nach aͤcht evangeliſcher vehrart, 
meinen Zuhörern die praͤmiſſen, und ließ ſie die 
Bonkluſionen ſelbſt finden. So lehrte ich immer 
Warheit, die mit dem Lehrbegriffe der Kirche ein⸗ 
ſtimte (denn keine dieſer Praͤmiſſen widerſprach 
ihr, keine konte von dem allerorthodoxeſten Lehrer 
für falſch erklart werden) ohne je einen Irthum 
dieſes Echrbegrifs namentlich zu beſtreiten, und 
mich einer Kezzerei ſchuldig zu machen. 


©; 


Sechſtes Kapitel. 


Verleitung zu neuen Thorheiten. 


— 


S 4 12 2 
Dede Predigt, die ich hielt, befeſtigte und erhöhte 
mir die Achtung und Gnade des Fuͤrſten, und ver⸗ 


mehrte die Zahl meiner Verehrer unter der Buͤr⸗ 


gerſchaft. Und in kurzem hatte ich alle boͤſen Ein⸗ 
druͤkke zerſtoͤrt, welche die Ausſircuungen derer, 
welche mich gern als einen gefährlichen Irlehrer 
verdaͤchtig machen wolten, bewirkt hatten. Wie 


ruhig und zufrieden konte ich leben, wenn ich nun 


den gluͤklichen Einfall dekam, zugleich als morali⸗ 
ſcher Schriftſteller aufzutreten, und meine Ein⸗ 


nahme durch dieſe nuzbare Art von Arbeiten zu 5 


vermehren. ö 


Aber was kan der Menſch dafuͤr, wenn ihm 
ein Gedanke nicht aufſtoͤßt? Kan irgend ein Sterb⸗ 
licher den Ideen ſeiner Seele gebieten, daß ſie zum 
Bewuſtſeyn kommen? Sind es nicht nothwendige 
Geſezze, nach denen die Tropfen des Oceans unſe⸗ 
rer Ideen ſich bewegen, und einige in der Tiefe als 
dunkle Vorſtellungen herumtreiden, andere als 


2222 ̃ — Vv— 


8 — vr 
deutliche Vorſtellungen auf der Oberfläche ſich bes 
finden und uns, ohne unſer Wollen und Suchen, 
gegenwaͤrtig werden und zum Bewuſtſeyn gelan⸗ 
gen? — N ö 

Ferner warum hatte ich keinen Freund, der 
auf jenen Gedanken mich brachte? der meine Kraft, 
die ich nicht zu kennen ſchien, mir bekant machte, 
und mir ſagte: Hier iſt deine Goldgrube: Hier iſt 
dein Pfund, mit dem du fuͤr dich und deine Welt 
wuchern kanſt? 


5 Endlich — warum mußte der Fürſt ſich mei⸗ 
nen Marſchlinzer Erziehungsplan ausbitten? was 
rum mußte er ihn bewundern, und mir ſeinen leb⸗ 
hafteſten Beifall bezeugen? warum mußte Ruͤhl 
mir ſagen, daß der Fuͤrſt ſo eine Anſtalt in ſeinen 
Landen ſich wuͤnſchte? Warum mußten alle Umſtaͤn⸗ 
de ſich vereinigen, um dieſe Unternehmung unwi⸗ 
derſtehlich reizend zu machen, und mich ſo zu be⸗ 
zaubern, daß ich fie fhr das Nuͤzlichſte zu halten 
genoͤthiget ward, was ich zur Verbeſſerung mei⸗ 
ner oͤkonomiſchen Lage ſo wol als zur Erhoͤhung 

meiner Ruzbarkeit für die Welt thun konte? 

E 4 


72 ETF TERROR EP 


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Er 2 2 
— 


Ach es iſt leider der Strohm der Umſtaͤnde, 
in welchem wir alle fortgetrieben werden, welchen 
auch mich hier ergrif, und in einen Wirbel don 
Sorgen und Leiden hineinfuͤhrte. Wol dem, den 
noch einen unſichtbaren Steuermann glaubt, we 
cher dieſen Strohm und alle, die er umhertreibt, 
leitet. Mir iſts feſter Glaube, daß es der Porz 
ſehung Wille fo war, daß ich gerade in einer ſol⸗ 
chen traurigen Epoche meines Lebens noch in Kent⸗ 
niſſen und Erfahrungen reifen, und gerade durch 
ſolche Stuͤrme in das Land verſchlagen werden | 
folte, wo ich allein fuͤr mich ſelbſt und fuͤr die | 
Welt das werden mußte, was ich geworden bin. 


Wie geſagt, der Fuͤrſt, ſprach mit Entzuͤk⸗ 
kung von meinem Erziehungsplane, und Ruͤhl wie⸗ 
derholte es, ſo oft er mich ſahe, daß ich dem Fuͤr⸗ 
ſten die größte Freude machen würde, wenn ich 
ein Philanthropin in ſeinem Lande ſtiftete. Er ver⸗ 
ſprach mir (und man befinne ſich, daß Ruͤhl 
Macht hatte, zu verſprechen, weil das Herz des 
Fuͤrſten ganz in ſeinen Haͤnden war) alle moͤgliche 
Unterſtuͤzzung. Er bot mir ein ganzes Schloß an, 
welches funfzig Zimmer enthielt, und einen ver⸗ 5 


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ſchloßnen und mit Linden beſchatteten Hofraum 
von vier Akker Land hatte. Dieſes Schloß, wel— 
ches ganz modern gebaut, und groſſentheils mit 
ſchoͤnen Tapeten, Wandſpiegeln und Taͤfelwerk 
verſehen war, ſolte ich unentgeldlich zum immer— 
waͤhrenden Gebrauche haben. Bei dieſem Schloſſe 
lag ein Garten, von ungeheurer Groͤße, der leicht 
zwoͤlf bis vierzehn Akker halten konte, dee eben— 
fals dazu geſchenkt werden ſolte. Auſſer dem 
Schloſſe ſtunden verſchiedene niedliche Haͤuſer, wel— 
che die Bedienten und Raͤthe der ehemahligen 
Herrſchaft (denn die Grafſchaft Heidesheim war 
dem Fuͤrſten durch Erbſchaft zugefallen) bewohnt 
hatten, und auch dieſe wurden mir angeboten. 
Auch wurde von Jad, Holz und andern Vorthei⸗ 
len geſprochen. Kurz der ſchlaue Hofmann machte 
mir alles ſo ſuͤß, ſo einladend, ſo federleicht, daß 
ich — endlich dem Gedanken, ein Philanthropin 
im Schloſſe Heidesheim zu ſtiften, nicht länger 
widerſtehen konte. | 


Röhl fuhr ſelbſt mit Hofequipage nach Heides⸗ 
heim, und fuͤhrte mich in das praͤchtige Schloß 
ein, ließ mir alle Schluͤſſel uͤbergeben, ſezte mich 

E 5 


* 


8 9 
in Poſſes des großen Gartens, welcher das ganze 


Inſtitut mit Gemuͤßen unterhalten, und den Zoͤg⸗ 


lingen das herrlichſte Vergnuͤgen gewaͤhren konte, 


und verſicherte mich dabei, daß es mir an keiner 
Art von benoͤthigter Unterſtuzzung fehlen würde, 


wenn der Fuͤrſt erſt ſaͤhe, daß die Sache gedeihe 
und ihm und mir Ehre mache. 


Der Fuͤrſt ließ ſich ſo gar bewegen, in ſo weit 
ſelbſt Antheil an dem Inſtitut zu nehmen, daß er 
alle Lehrer des Inſtituts, die ich waͤhlen und ihm 
praͤſentiren würde, als feine Diener anſehen, fie 
mit dem Profeſſortitel vociren, und ihnen die An⸗ 


wartſchaft auf anderweitige eee im 


Lande ertheilen wolte. . 


Konte mir es unter dieſen Umftänden wol im 


mindeſten bedenklich werden, ein Philanthropin zu 


errichten? Konte ich vor einer Unternehmung mich 
ſcheuen „welche dem Fuͤrſten ſelbſt Vergnuͤgen 


machte, und die von allen Seiten Unterſtuͤzzung 


fand, und — deren kuͤnftig erſt ſich ereignende 
Schwierigkeiten ich damals nicht kante? — Alle 
meine Freunde wuͤnſchten mir Gluͤk dazu und freu⸗ 


ten ſich, auf einer Laufbahn mich zu erblikken, auf 
welcher ich Ehre und Reichthum erjagen, und 
tauſendfaͤltigen Ruzzen ſtiften würde, 


Ich berechnete ſchon meinen Gewin. Ich 
nahm funfzig Zoͤglinge an, jeden zu funk zig Luis⸗ 
d'ors, dafür ich Koſt, Unterricht, Kleidung — 

mit einem Worte alles lieferte, was der Zoͤgling 
brauchte, fo daß Eltern und Vormuͤnder gar keine 
Fachrechnung erwarten durften. Ich fand, daß 
dieſe Summe, welche, den Luisd'or zu neun Gul⸗ 
den gerechnet, 22500 Gulden betrug, volkommen 
hinreichte, Lehrer, Maitres und Bedienten reichlich 
zu beſolden, und den Zoͤglingen Unterhalt und Er⸗ 
ziehung auf das volkommenſte zu verſchaffen, und 
doch noch einige tauſend Gulden jaͤhrlich zu eruͤbri⸗ 
gen, und damit meinen Fleiß hinlaͤnglich vergütet 
zu ſehen. 9 


Wenn ich uͤber dieſen ſichern Gewin mich 
freute; ſo machte mir es ein eben ſo großes Ver⸗ 
gnuͤgen, die Summe von Volkommenheiten zu uͤber⸗ 
ſchauen, welche ich meinem Inſtitut zu geben ge⸗ 
dachte. Denn ich hatte mich bereits ganz in das 


* „ 
paͤdagogiſche Weſen hinein ſtudirt. Ich hatte die ar 
Methodologie gelehrt, und durch Uebung erprobt. 
Ich hatte alles, was zur Diſelplin fo wol als zum 
Vergnuͤgen und Unterhaltung der Kinder gehört, 
durchdacht und durch Verſuche das Brauchbare 
von dem Unbrauchbaren unterſcheiden gelernt. Ich 
hatte die fo herrliche ſokratiſche Lehrart mir eigen 
gemacht. Ich hatte alle Theile der Oekonomie 
kennen lernen, welche ein ſolches Inſtitut erfodert. 4 
Ich hatte, was mir am meiften Hofnung machte, 
etwas volkomnes zu liefern, alle Fehler beobachtet, 
die in Deſſau und Marſchlinz begangen wurden, 
und glaubte, alles das vermeiden zu koͤnnen, was 
jenen beiden Philanthropinen nachtheilig geweſen | 
war. Kurz, ich ſahe mich hinlaͤnglich im Stande, 
ein ſolches Inſtitut zu errichten, zu dirigiren, 
und — meine beiden Vorgänger in vielem Be 
tracht zu uͤbertreffen. Und fo war ich von Freu— 
den berauſcht, wenn ich den Nuzzen erwog, den 
ich ſtiften, und den Beifall des Publikums, den 
ich durch dieſe Nuzbarkeit mir erringen wuͤrde. 
Ja, ich traͤumte mir bereits das Ende meiner Lauf⸗ 
bahn, an welchem ich, mit dem paͤdagogiſchen Lor⸗ 
ber umkraͤnzt, im Befiz eines kleinen Ritterguts, 


7 


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5 * 

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den Abend meines Lebens mit Ruhe und Zufrieden⸗ 


heit genieſſen, und mich am Ruͤkblik, auf die Reiz 


he des volbrachten Guten fo wol, als der übers 
ſtandenen Laſten und Leiden, ergoͤzzen wolte. 


Ich entwarf nun meinen Plan, und ließ ihn 
gedrukt, in deutſcher und franzoͤſiſcher Sprache, 
in Deutſchland, Frankreich und der Schweiz kur— 
ſiren. Der Hofrath Ruͤhl erbot fi ſelbſt, eine 
franzöfifche freie Ueberſezzung deſſelben zu entwer⸗ 
fen. Und ich erinnere mich noch, wie er, in fein 
Meiſterſtuͤk verliebt, mich mehrere Stunden damit 
quälte, daß er mir ſein ſchoͤnes franzoͤſiſch vor⸗ 
deklamirte, und bei jeder Zeile mich fragte, „wie 
„gefaͤlt Ihnen das?“ 


Mein Plan kuͤndigte nicht blos ein Philan⸗ 
thropin an. Es waren noch weit mehrere Vor— 
theile, die mit dem Philanthropin fuͤrs Publikum 
erwachſen ſolten. Ein Buchhaͤndler, deſſen Name 
mir entfallen iſt (er hatte, wo ich nicht irre, ſich 
zu Heidelberg geſezt) machte mir einen Plan, und 
erbot ſich zu Ausfuͤhrung deſſelben, vermoͤge deſſen 
das Philanthropin eine eigne Buchhandlung er⸗ 


halbe Welt an ſich ziehen ſelte. Der Mann ſchafte 


wirklich einen ganzen Laſtwagen vol Bücher ins 


Schloß, und zeigte Ernſt. Er machte ſich anhei⸗ 
ſchig die Verlagskoſten mit mir gemeinſchaftlich zu 


N - 1 8 \ e 
beſtreiten, und dazu eine hinlaͤngliche Summe herz 


beizuſchaffen. Er verpfaͤndete ſo gar ſchriftlich 
ſein Lager dafuͤr, welches bereits im Schloſſe 
war. — 95 der Buchhandlung ſolte auch eine 
eigene paͤdagogiſche Zeitung verbunden wer⸗ 


den. — Das alles wurde dem Publikum im 1 


um Poſaunenton verkündet, 


So bald die Nachrichten in die Welt waren, 
machte Ruͤhl den ruhigen Zuſchauer, und ließ mich 
nun nach Gutduͤnken ſchalten und walten. Er 
hatte verſprochen, ſogleich eine ſchriftliche Urkun⸗ 

de auszufertigen, in welcher der Fuͤrſt Schloß, 


Garten, und alles, was er mir verheiſſen hatte, ö 
rechtskraͤftig zuſichern ſolte: aber er zoͤgerte mit 


dieſer Urkunde, von einem Monate zum andern, 
und ich — war ſo eifrig mit meinen Vorbereitun⸗ 
gen beſchaͤftiget, daß ich den Verzug nicht achtete. 


Zuweilen erinnerte ich ihn wol, aber ich bezeigte 


richten, und durch Auferft herabgeſezte Preiſe, die 


3 
1 


* 


mich jedesmal ruhig bei der Antwort, daß er ehe⸗ 
ſtens alles zu Stande bringen werde. 18 W en 


* 1 
nee 


Ich kuͤndigte jezt vor allen Dingen eine neue 


— 
8540 


- Ausgabe meiner beruͤchtigten Ueberſezzung des N. 


Teſtaments an, und bot dieſe um die Häaͤlftendes 
Preiſes aus, welchen die erſte gekoſtet hatte. Zu⸗ 
gleich meldete ich, daß der gange Gewin dieſes 


Werks zum Beſten des neuen Inſtituts verwendet 


werden ſolte. Dies gelang. Der geringe Preis 
von einen Thaler, der ſo viele reizte, die das Buch 
laͤngſt gerne beſeſſen Hätten, und die pia cauſa, da⸗ 
fuͤr das Geld verwendet wurde, zog ein erſtaunend 
großes Publikum herbei. Ich ſieng ohngefaͤhr zu 
Michael an, zu arbeiten — verbeſſerte meine Ue⸗ 
berſezzung faft auf allen Seiten, merzte viel an⸗ 
ſtoͤſſig geweſenes z. B. das Wort Fabel u. d. aus, 
ſchuf den Brief an die Roͤmer ganz um, — und 
vollendete dies Geſchaͤft gegen Weinachten: wo ich 
alle Lieferungen der Handwerksleute beſtelt hatte, 
die fuͤr das Inſtitut beſtimt waren. Und ſiehe, ich 
hatte ſchon am Neujahrstage über 500 Gulden beis 
ſammen, und der ganze Gewin, den ich zu Oſtern 
berechnen konte, belief ſich nahe an 5000 Gulden. 


* — 


9 
N rei 
N 80 ’ 


Aber die Ausgabe, die ich hatte, war den⸗ 
noch weit groͤſſer als mein Kapital, das mir von 
der Vorſehung ſo unerwartet groß beſchieden wor⸗ 
den war. Ich brauchte vor der Hand 60 Bettſtel⸗ 
len, eben ſo viel Madrazzen von Pferdehaaren, 
eben ſo viel mit Baumwolle gefuͤlte Kuverts von 
Kattun, wenigſtens viermal ſo viel Bettuͤcher und 
Ueberzuͤge zu den Kopfkuͤſſen. — Ich brauchte in 
allen Zimmern Mobilien, Tiſche, Stühle, Spies 
gel, Schraͤnke ꝛe. — Ich brauchte eine ungeheure 
Menge Tiſchzeug, Handtücher, Zinn, Meſſer und 
Kuͤchengeraͤthſchaften. — Ich mußte die Kuͤche 
umſchaffen, und einen neuen Heerd mit Kaſtrollen 


von Eiſenguß machen laſſen, und die eiſernen Koch— 


toͤpfe anſchaffen. — Es waren Pferde zur Reit⸗ 
bahn noͤthig. Ich mußte ankommenden Lehrern 
Reiſekoſten, und Vorſchuͤſſe zahlen. Ich hatte die 
philanthropiniſchen Spiele, Kegelbahn, Karoſſel 


u. d. einzurichten. Da giengen ziemlich in dem 


erſten halben Jahre 10000 Gulden drauf, die ich 
theils baar ausgab, theils auf Mazten or 


dig blieb. | 0 


Gleich anfangs, ehe die W Gel⸗ 
der im Fluß kamen, gerieth ich durch den Buch⸗ 
drukker 


* a 81 


drukker Gegel in Frankenthal in Verlegenheit, 

welcher die obgedachte Ausgabe meiner Ueberſez⸗ 
zung des N. T. gedrukt hatte, und vor Ablie⸗ 
ferung derſelben, die volle Zahlung mit Ungeſtuͤm 
foderte, mit der Drohung, daß er kein Exemplar 
eher herausgeben werde, bevor er fein Geld erhal— 
ten habe. Ich wandte mich an einen Amtmann 
im Speierſchen, den ich vor kurzem als einen bies 
dern und edeldenkenden Mann hatte kennen lernen, 
und fragte bei ihm an, ob er mir, auf mein ehr⸗ 
lich Geſicht, ohne weitere Sicherheit, 480 Gulden 
borgen wolle. Der brafe Cramer ſchikte das 
Geld — was mir nie wieder ein Freund gethan 
hat — und riß mich aus dem Bekuͤmmernis. Zu 
Oſtern zahlte ichs ihm wieder. 


II. B. a 5 


U Siebentes Kapitel!?!;!¶ 
sr und Ungiät bei Errichtung des iitentropins a 
Y Heidesheim. 5 


— 


Vylles ſchien anfangs meine Wuͤnſche zu beguͤnſti⸗ 
gen. Ich bekam leicht verdientes Geld. Ich fand 
Freunde, die mir in Frankfurt Kredit machten. 
Ich erhielt alle Wochen neue Anmeldungen von 
Lehrern und Zoͤglingen. 1 


Meinen Seres, ſo nuzbar er mir geweſen ſehn 
wurde, hatte ich nicht zum Lehrer des Jnſtitits 
beſtimt, weil ich ihn nicht aus einem feſten Brode 
in ein unſicheres verfezzen wolte. Erſt dann, wenn 
mein Philanthropin in ſeinem völligen Flore ſeyn 
wuͤrde, ſolte er eine Zierde deſſelben werden. 


Der erſte Lehrer, der ſich meldete, war ein 
gewiſſer Weinmann, oder, Weidmann. Er 
war Kektor an einer kleinen Stadtſchule. Ich 
kan mich an den Namen des Orts nicht mehr er⸗ 
innern. Der Brief, in dem er ſich mir anbot 


war ſchoͤn und ruͤhrend geſchrieben. Er karakteu⸗ 


ſirte einen verdienſtvollen und geſchikten Schals 


191 


11 N 
# 


urn 
83 


mann, einen natürlichen und biedern Freund, eis 


nen hellen und aufgeklaͤrten Kopf, einen unermuͤ⸗ 


deten Arbeiter, und was fuͤr mein Herz das fühl: 
barſte war, einen Ungluͤklichen, den Verfolgung 
und aͤuſſerſte Armuth niederbeugte, und ſchon faſt 
bis an die Graͤnzen der Verzweiflung gebracht hatte. 


Ich zitterte vor Freuden bei Leſung dieſes 


Briefes. O, wie die Vorſehung es fuͤgt! dacht ich 


bei mir ſelbſt. Da muß ſich nun ſelbſt ein Mann 
melden, der im Schulſtaube gelebt, und ſich ge⸗ 
uͤbt hat — ein Mann von Kopf und Erfahrung — 
der des ganzen Schulweſens kundig iſt ꝛce. Da 
kqnſt du nun ſchon mit einem tuͤchtigen Schulman⸗ 
ne die oberſten Klaſſen⸗beſezzen, wo der Geiſt der 
Romer und Griechen ausgegoſſen werden fo. Da 
haſt du, einen Gehuͤlfen, der in deiner Abweſen⸗ 
heit die Maſchine regiren kan. Auf andern Phi⸗ 
lanthropinen muͤſſen ſie ſich mit Juͤnglingen behel⸗ 
fen die erſt Pädagogik lernen wollen: dieſer 
Mann verſteht ſie ſchon, und iſt durch Alter und 
Stand den Zöglingen reſpektabel. Und — welch 


ein Guͤk! du kanſt zu eben der Zeit, wo du dem 


Inſtitu einen wuͤrdigen Mann zum Lehrer giebſt, 


8 2 


einen Ungluͤklichen retten, und die Seligkeit genieſ⸗ 

ſen, Thraͤnen von ſeinen Augen zu troknen, und | 
ihn für fo viele Leiden zu entſchaͤdigen, die er bis⸗ | 
her erduldet hat. Wie wird der Mann dirs dan⸗ 
ken, wie wird ſein Herz an dir haͤngen, wie wird 

er dir und feinem Amte fo treu ſeyn, wie wird er 
ſich dem Inſtitut mit ganzer Seele widmen, aus 
W daß du ihm u. Tage hier ſchufſt. 


30 antwortete dem Mann in einem zone; 
der dieſen Geſinnungen entſprach, und efferirte 
ihm alles frei „ nebſt 200 Gulden Gehalt. Und 
war ſein erſter Brief ruͤhrend geweſen, ſo war der 
zweite, in welchem er mir für feine Annahme dank? 
te, ſo herzangreifend, daß man haͤtte weinen moͤ⸗ 
gen. Er beſtaͤtigte alle Hofnungen, die ni mir 
von ihm 8 hallt. M n ug og 

Nach lee eigteheh Prediger in Beck) 
heim, Sigmund. Sein Brief war minder died 
gant, als der Weinmanſche, aber in einem bieder 
Tone geſchrieben, welcher mich einnahm. Er er⸗ 
bot ſich zum Lehrer der Religion und Morel und 
zeigte ſich zugleich bereit die Direktion der Oekono⸗ 


a ce 87 


mie zu uͤbernehmen. Er ſprach wie ein alter er⸗ 


fahrner Oekonom, der Akkerbau, Brauerei, 


Brandeweinbrennerei und alles verſtund, was da⸗ 
mit zuſammenhaͤngt. Seine Finanzen beſchrjeb er 
fo;, daß ich einſehen ſolte, daß nicht Wunſch nach 
Verbeſſerung ſeiner Umſtaͤnde ihn antrieb, mir 
ſeine Dienſte anzubieten, ſondern Enthuſiasmus 
fuͤr mein Inſtitut, und — meine Perſon. Ja er 
war ſo weit entfernt, eigennuͤzzige Abſichten zu 
zeigen, daß er vielmehr ſelbſt bei 2000 Gulden zu 
inferiren verſprach, und mir zwei Handlungsarti⸗ 
kel zeigte, die er mit eignem Verlage bearbeiten, 
und fuͤr Rechnung des Inſtituts debitiren wolte. 
Der eine beſtund in einer Lichtgieſſerei, deren 
Produkte alles uͤbertreffen ſolten, was man aͤhnli⸗ 
ches hatte. Der andere Artikel, war die bekante 
Nürnberger grüne Wagenſchmiere, welche er in 
der groͤßten Volkommenheit verfertigen zu koͤnnen 
verſicherte. Er verpfaͤndete, wie der Buchhaͤnd⸗ 
ler, feine Illata, für die Sicherheit feiner Vers 
heiſſungen. Was wolte ich mehr? 


Ich freute mich, den Theologen und Oekonom 


des Inſtituts in einer Perſon vereinigen zu koͤnnen, 


F 3 


und zugleich kleine Handlungsvortheile vor Augen 

zu ſehen, deren erſterer um ſo wichtiger ſchien, da 
er ſich mit dem vielen Schlachtvieh kombinirte, 
welches die Konſumtion des Inſtituts erfoderte, 
und deſſen Talg⸗Ertrag nuzbar machte. — Ee 
ward alſo auch angenommen. 


Der dritte Anmeldende war Herr She 
ein privatiſirender Gelehrter von Heidelberg. Die: 
ſer ſchikte mir eine ſeiner Schriften, welche etwas 
Genie, Wiz, gluͤkliche Laune, eine lebhafte Ima⸗ 
gination, und einen ziemlich reinen und geſchmei⸗ 
digen Ausdruk mir zeigte. Er ſprach von ſeinem 
Enthusiasmus fuͤr Erziehung: verſicherte ganz der 
ſanfte, duldſame „ liebevolle philanthropiniſche 
Mann zu ſeyn, den ich brauchte: kündigte ſich als 
einen Virtuoſen in der Deklamation an. — Hier f 
hatte ich alſo den ſchönen Geiſt des philanthropins! 


Lange blieb ich verlegen um einen Lehrer, wel— 
cher Lektion in franzoͤſiſcher Sprache zu geben im 
Stande war, weil es mein Plan erfoderte, daß 
zum Behuf der franzoͤſiſchen Sprache einige Klaſſen 
waren, in welchen franzoͤſiſch doeirt wurde. Und auch 
dieſer kam mir von ſelbſt entgegen. Es ſchrieb ein 


junger Mann aus Geneve an mich, welcher im 
Begrif war, als franzoͤſiſcher Prediger angeſtelt zu 


er werden und mich berficherte, daß er alle Ausſich⸗ 


ten mit Freuden aufopfern wolte, wenn er im Phi, 
lanthropin mit mir verbunden werden koͤnte. Ee 
verſprach zwei reiche Schweizer mit zu dingen! 
Ich freute 00 uͤber dieſe Acquiſition. 


Bald auf erbot ſich der jezige Profeſſor 
der Naturgeſchichte in Fkankfurt, Herr Borows⸗ 
ky, der damals ſchon Profeſſor an einer Mili⸗ 
taͤrſchule war, in meinem Philanthropin, dieſe 
Wiſſenſchaft zu lehren. Auch mit dieſem, ward 
ich eins. 


Ihm folgten zwei wuͤrdige junge Maͤnner 
Geiger und Reinhold, welche beide jezt Prediger 
ſind, der erſte in der Pfalz, der andere in Saal⸗ 
bruͤkſchen. Sie wurden fuͤr' die untern Klaſſen 
beſtimt, um in der lateiniſchen Sprache, in der 
Hiſtorie und Geographie wir in der Religion Un 
terricht zu geben. | 


Auch der Lehrer derer fand ſich von ſelbſt, 
welche ſich der Kaufmanſchaft widmen wolten. 
54 


88 — ni ne 
— 


Er hatte ſchon in Hamburg vor der Hoͤhe eine 9 


Kaufmansſchule errichten wollen, und war als 
Avanturier ſchon an mehrern Orten merkwuͤrdig 
worden. Er war aus Danzig gebuͤrtig, erſchien 
bei mir unter dem angenommenen Namen Thom⸗ 
ſon, nahm durch große Verſprechungen mich ein, 
und ward hernach einer der ſchaͤndlichſten Stoͤhrer 
meiner Ruhe. Sein rechter Name war Ibbeken. 


Und nun fehlte mir noch ein Lehrer fuͤr katho⸗ 
liſche Zoͤglinge und ein Buchhalter, der ſo wol die 
Rechnungen des Inſtituts fuͤhren, als auch die 
Zoͤglinge, die es verlangten, in der doppelten Buch⸗ 
haltung unterrichten ſolte. Den lezten fand ich an 
Herrn Giro, welcher dem Eiſenhammer in Buͤn⸗ 
den vorſtand, deſſen ich oben B. 2. Kap. 29. er⸗ 
wähnt habe. Dieſer iſt der einzige Mann, den 
ich ſelbſt eingeladen hahe. Er uͤbernahm dieſe 
Stelle, und zog mit ſeiner Frau, welche die Waͤ⸗ 
ſche des Inſtituts zu beſorgen verſprach, aus der 
Schweiz nach Heidesheim. 


Der katholiſche Lehrer meldete ſich ſelbſt und 
ward hernach — der Stifter meines Ungluͤks. Es 


— 


1 war der Pfarrer Weimar in Bokenheim. Die⸗ 
ſer Mann hatte mir ſeither ganz auſſerordentlich 
geſchmeichelt, und mich genoͤthiget, wenn ich in 
Bokenheim Kirchenviſitation hielt, bei ihm zu 
uͤbernachten. Seine Phiſionomie war die eines 
Lipstullian, aber feine Worte und Geberden glis 
chen denen des ehrlichſten Mannes, und des treu⸗ 
ſten Freundes. — So bald dieſer Menſch die 
Nachricht erhielt, daß in Heidesheim ein hoch⸗ 
gräflih Leiningiſches Erziehungsinſtitut errichtet 
werden ſolte, in welchem Zoͤglinge ven allen Reli⸗ 
gionen Aufnahme zu erwarten haͤtten, ſchrieb er 
einen aͤuſſerſt hoͤflichen, und beinahe kriechenden 
Brief an mich, und bat auf das dringendſte, daß 
ich ihm, als dem einzigen katholiſchen Pfarrer in 
den Leiningiſchen Landen, eine Profeſſur geben, 
und als den Religionslehrer den katholiſchen Zoͤg⸗ 
lingen ankuͤndigen moͤchte. Ich hielt es der Klug⸗ 
heit gemaͤß, bei Beſezzung dieſes Poſtens nicht 
delikat in meiner Wahl zu ſeyn, und mir einen 
Pfaffen zum Feinde zu machen, der dem Inſtitut 
ſo nahe war. Daher antwortete ich ihm, daß ich 
bereit ſey, ihn zum Lehrer anzunehmen, ſo bald 
ſich katholiſche Zoͤglinge melden wuͤrden. 
85 


Der Mann ſchien, nach Erhaltung dieſes Ver: 


ſprechens, mein waͤrmſter Freund geworden zu 
ſeyn. Er beſuchte mich in Tuͤrkheim, und gieng 
in den Bezeugungen ſeiner Verehrung ſo weit, daß 
er mir die Hand kuͤßte. Er erbat ſich die Erlaub⸗ 

niß, für die neue Ausgabe meiner Ueberſezzung des 
N. T. Praͤnumeranten ſammeln zu duͤrfen. Er 
brachte über hundert Exemplare unter. Er po⸗ 
ſaunte mich unter ſeinen Glaubensgenoſſen, als 
den gelehrteſten und bravſten Mann, der weit und 
breit gefunden werden koͤnte. Er ward in Worms 
bei dem Weihbiſchof und Reichsbuͤcherkommiſſarius, 
Baron v. Scheben, mein Lobredner, und brachte 
dieſem Manne (der ſich auf Auſtern und Cham⸗ 
pagner beffer verſtand, als auf Gelehrſamkeit) ſo 
große Begriffe von mir bei, daß er begierig wur⸗ 
de, mich kennen zu lernen. Er uͤbernahm es ſelbſt, 
den lutheriſchen Superintendenten bei dem Weih⸗ 
piſchof einzufuͤhren. Er brachte es dahin, daß ich 
von Sr. Hochwuͤrden Gnaden foͤrmlich zur Tafel 
eingeladen wurde. Ja, er ſchloß eine Art von 
Freundſchaft zwiſchen mir und dem Herrn von 
Scheben, welche in eine wechſelſeitige Vertraulich⸗ 
keit uͤbergieng. 5 ie 


Mein Herz dachte nicht daran, daß je katho⸗ 
liſche Zoͤglinge kommen wuͤrden, und folglich eben 
ſo wenig daran, daß der Paſtor Weimar jemals 
die ihm verſprochne Profeſſur antreten wuͤrde. Er 
indeſſen betrieb die Sache weit ernſtlicher. Er kam 
in Maynz förmlich ein, und bat um Erlaubniß, 
dieſe Lehrſtelle annehmen zu duͤrfen. Und er nahm, 
nachdem er Konceſſion erhalten hatte, allenthalben 
Gratulation an, und ließ ſich vorlaͤuſig mit dem 
Profeſſortitel von jedem begruͤſſen, welcher Luft 
hatte, dem eiteln Narren etwas angenehmes zu 
erzeigen. ö ö 


So kam alles mir entgegen., So drang man 
ſich von allen Seiten zu der Ehre Heidesheimſcher 
Profeſſor zu werden. — Und doch hatte kein 
Profeſſor mehr als 150 Gulden nebſt Wohnung 
und Koſt. — Fuͤr die Reitbahn fand ſich ein 
Officier, der auſſer Dienſten war. Und zum Ins 
ſpektor meldete ſich ein alter preuſſiſcher Officier, 
der gewiſſer Urſachen halber nicht in fein Vaterland 
zuruͤkdurfte, und um Gotteswillen um Dienſte bat, 
bei denen er ſich ſatt eſſen koͤnte. 


Niue 


+ 


92 — 


Zulezt kam noch ein Schulmeiſter welcher 
einen recht guten Dienſt verließ, blos weil er ſich 
fuͤr ſeine Talente einen beſſern Wirkungskreis 
wuͤnſchte. Er war wirklich Genie: hatte ſehr viel 
geleſen: hatte theoretiſche Philoſophie zu ſeinem 
Lieblingsſtudium gemacht, und fi bis zum 
Atheiſten gegruͤbelt. Er war inſonderheit ein 


gruͤndlicher Mathematiker, und verfertigte nach⸗ 


her in Heidesheim einen Globus von zehn Schu⸗ 
hen im Durchmeſſer, welchen kein Kenner tadeln 
konte. Er war ſchon ein alter Mann, aber dem⸗ 
ohngeachtet war ſeine Laune nie verſtimt, und ſeine 
Sitten hatten nichts von dem Steifen und Pedan⸗ 


tiſchen, was Leuten ſeines Standes, die den Ge⸗ 


lehrten machen, eigen zu ſeyn pflegt. Er war ein 
munterer und beſcheidener Mann, welchen die 
Zoͤglinge ſchaͤzten, und dem ich taͤglich fuͤnferlei 


Lektionen aufhalſen konte. Er ſprach auch ertraͤg⸗ 


lich franzoͤſiſch. 


Nachdem ich ſo mein Inſtitut reichlich mit 


Lehrern beſezt, das ganze Schloß meublirt, und 


alles veranſtaltet hatte, zu Oſtern das philanthro⸗ 
piniſche Einweihungsfeſt zu begehen, und die Lek⸗ 


1 1 


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tionen zu eröfnen, erſchien endlich der Hofrath 
Ruͤhl mit der laͤngſt verſprochnen wanne, und 


| 2 nun aufe einmal feine Maske ab, - = 


10 Er zog eines Tages, da ich auf dem Konſiſto⸗ 
rio war, einen Aufſaz aus der Taſche, nahm eine 
Poſitur an, deren Anblik das ganze Kollegium in 
die geſpanteſte Erwartung ſezte, und began, mit 
einer affektirten Mine vol Erhabenheit und Mae; 
ſtaͤt, ohngefaͤhr folgende Anrede: 

„Herr Doktor! Sie haben von Sr. Hoch⸗ 
75 graͤfl. Gnaden „auf Ihr Anſuchen, die Erlaub⸗ 
u niß erhalten, ein ſogenanntes Philanthropin ans 
„zulegen, und diejenigen Stunden, die Ihnen 
„von Ihren Amtsarbeiten uͤbrig blieben, auf die 
„Direktion deſſelben zu verwenden. Sie werden 
„von ſelbſt begreifen, daß der Herr Graf nicht 
„gleichguͤltig dabei ſeyn kan, wie Sie ſich dieſer 
„Erlaubniß bedienen, ſondern daß er mit der noͤ⸗ 
„ thigen Vorſicht feine Landesherlichen Rechte fo 
„wol als ſeine Ehre vor dem Publikum wahren 
„muß. Er hat zu dem Ende mir den Auftrag er⸗ 


v theilt, eine Urkunde zu entwerfen, in welcher Ih⸗ 


94 — 


„nen dasjenige, was Sie der Billigkeit nach, von 
„der Gnade des Herrn erwarten koͤnnen, zugeſi⸗ 
„chert wird: aber in welcher auch Sie ſich gegen 
„den Herrn Grafen uͤber alle diejenigen Punkte 
„ rederſiren muͤſſen, ohne deren genauſte und 
„ſtrengſte Erfuͤllung, weder die ertheilte Erlaub⸗ 


„niß beſtehen, noch dis geſtatteten ae ihre BR 


RA haben koͤnnen e.“ 7 914 


Bei dieſer Einleitung ſchlug mir das Herz, 
wie wenn ich auf den Richtplaz geführt werden 
ſolte. Denn ich war jezt ſchon, durch unzaͤhlige 
Relationen von in und austwärtigen Freunden, von 
dem ſataniſchen Karakter des Mannes volkommen 
unterrichtet, und ich ſahe den Augenblik, was ich 
wegen meines bisherigen ununterbrochen freund⸗ 
ſchaftlichen Umganges mit ihm, mir gar nicht hätte 
träumen: laſſen „daß fein tükiſches Herz mir blos 
geheuchelt hatte, und daß ich, ſo gut wie alle an⸗ 
dere, die Ausbruͤche ſeiner Bosheit erfahren wür⸗ 

de! J Ich zweifelte ſchon nicht mehr, daß mir alle 
Bere geleugnet, und alle Vortheile zu⸗ 
ruͤkgenommen werden wuͤrden. Und es ſtelten ſich 
mir die ſchreklichſten Auftritte vor, die aus dieſer | 
Beränderiimg erfolgen mußken. c 


„Ei ſieng an zu leſen, und die ganze Urkunde 
war ein Gewebe von den ſtudierteſten Chikanen. 
Eeſtlich war vom ganzem Inſtitut in offenbar ver⸗ 


aͤchtlichen Ausdruͤkken geſprochen, und alles fo 


vorgeſtelt, als ob ich, ohne alle Veranlaſſung und 
Zuredung, aus eignem Kuͤzel, dieſes Unternehmen 
begonnen haͤtte, von welchem jeder Kluge ahnden 
muͤßte, daß es bald ſcheitern, und der Welt zum 
Gelaͤchter werden duͤrfte. Daher wurde ausdruͤk⸗ 
lich verlangt, daß ich im Publikum bekant machen 


ſolle, wie Sr. Hochgraͤfl. Gnaden nicht den minde⸗ 
ſten Autheil an dem Inſtitute naͤhmen, und daſſelbe 


tine bloſſe Privatſache ſey, welche ich fuͤr meinen 
Vortheil betriebe. 


Schon bei dieſer erſten Foderung ſahe ich 
mich genoͤthiget, den Vorleſer zu unterbrechen, 
und mich zu beklagen. Ich ſtelte mit aller mir 
möglichen Maͤſſigung und Veſcheidenheit dem Ruͤhl 
vor, daß ſchon die Art des Ausdruks mir bedenk⸗ 
lich vorkomme: daß derſelbe eine Veränderung in 
den Geſinnungen des Grafen anzeige, und mir alſo 
betruͤbte Ausſichten gebe: daß ich ohnmoͤglich die 


Sache als eignen Einfall vorſtellen laſſen koͤnte, da 


er 


Haden 


g 95 


es ihm und dem ganzen Hofe bekant ſey, daß der g 
Graf die Aeuſſerungen des hoͤchſten Wolgefallens 
an einem ſolchem Inſtitute gegeben habe? daß ich 
mich genoͤthiget ſaͤhe, ihn ſelbſt, den Ruͤhl, an. 
ſeine Zuredungen zu erinnern, durch welche allein 
mein Entſchluß zur Reife gediehen wäre: daß ja 
das ganze Publikum das Vertrauen verlieren, und 
alle Lehrer muthlos werden wuͤrden, wenn ich jene 
gefoderte Ankuͤndigung bekant machen muͤßte: daß 
es ungerecht ſey, mich ſo viele Monate hindurch 
die Theilnahme des Landesherrn am Inſtitut in 
Publikum verkuͤnden zu laſſen, und nun zu verlan⸗ 
gen, daß ich dieſe Theilnahme n 15 
u. ſ. w. 5 


Aber alle dieſe Gegenvorſtellungen waren wie 
ein Tropfen Waſſers, wenn er auf einen glühenden 
Stein falt. Bei jedem Worte, was ich ſagte, 
fuhr der Mann auf und perorirte, mit bruͤllender 
Stimme und geiferndem Munde, ein langes Ge⸗ 
waͤſch von Widerlegungen und geberdete ſich dabei 
ſo erhizt, und zulezt ſo wuͤthend, daß alle Raͤthe 
und Sekretaͤrs ihre Stuͤhle abzogen, und ſich auf 

die Flucht gefaßt machten, wenn es zur Schlägerei 
kommen 


. — 97 


kommen ſolte. Ich blieb zwar, durch die moͤg⸗ 
ichſte Anſtrengung meiner Beſonnenheit in unun— 


terbrochner Gelaſſenheit, ließ den tobenden Mens 


ſchen, der mir den Geifer ins Geſicht fprügte, jez 


desmal ganz ausreden, nahm immer mit dem ru— 


higſten Tone das Wort wieder, bat wiederholt, 


und allemal mit Ehrerbietigkeit, um Erlaubniß 
mich näher erflären zu dürfen, und dachte wenig— 
ſtens durch dieſes ſanfte Betragen den Unmenſchen 


zu beſaͤnftigen, und zu einer anſtaͤndigen Unterre- 


dung zu bringen. Aber meine Ruhe erhizte ſeinen 
Greim um deſtomehr. Er ſchrie und ſchaͤumte wie 
ein Raſender, und behauptete die dollſten Zumu— 
thungen, welche kein Graf einem Gelehrten von 
meinem Range, welche nur ein Ruͤhl einem ver— 
toorfenen Betruͤger antragen konte. Und er mies 
derholte es unzaͤhligemal, daß ich mein Inſtitut 
transportiren koͤnte, wo ich hin wolte, wenn mir 
das fo nicht gefiele, wie ers da mir vorlag, 


Die Theilnahme des Fuͤrſten ward aber auf: 
gehoben. Das Schloß Heidesheim war keines⸗ 
weges für das Joſtitut beſtimt, ſondern ſolte mir, 


aus beſonderer Gnade, nur auf gewiſſe Jahre eins 


III. B. G 


1 


zu Befoͤrderungen e Die ſerſtehenden Dau- 
fer vor dem Schloſſe folte ich nicht anders, als ge⸗ | i 
‚gen Erlegung einer Miethe haben. Ich ſolte mich 
von allen Unterſtͤͤzzungen des Landesherrn losſa⸗ 
gen. Das Philanthropin ſolte der Regierung un⸗ 
terworfen werden, und derſelben in Abſicht auf 
Lehrart, Diſciplin, Kaſſe u. ſ. w. reſponſabel 
ſeyn, damit Hert Ruhl mich ganz in feinen Haͤn⸗ 
den haben, und mich nach Belieben auf die Folter 
legen konte. Ich ſolte alles Rififo uͤbernehmen, 
wenn durch ohngefaͤhre Unglüfsfälle an dem weit 
laͤuftigen Schloßgebaͤude einiger Schade geſchehen 
ſolte. Es ſolten nur einige Tage mir geſtattet wer⸗ 
den, wo ich das Inſtitut beſuchen koͤnte, nicht aber 
volle Freiheit, mich da aufzuhalten, wann, und ſo 
lange ich es noͤthig faͤnde, und es ohne Verabſaͤu⸗ 
mung meines Amts geſchehen koͤnte u. ſ. w. 

So ſchreklich hatte dieſer Menſch mich hinter⸗ 
gangen. Ich mochte ihn erinnern, woran ich wolte: 
er leugnete alles ab, war frech genug, zu ſagen, 
daß er nichts habe verſprechen koͤnnen, daß der 
Graf jezt es nicht anders haben wolle Kurz, die 
glaͤnzendſten Ausſichten fuͤr mein Inſtitut waren 
dahin. 


— r P 3 4. 


5 2 . 10 700 Kapitel. 


RR | u S „ . 


s zutiich ich im Kollegio meine Gelaſſenheit 
behauptet hatte, ſo war doch mein Unwille und 
innerlicher Gram auf den hoͤchſten Grad geſtiegen. 
Ich kam in der leiden ſchaftlichſten Gemuͤthsbewe— 
gung nach Hauſe. Meine Frau und meine Haus— 
freunde ſahen an meinem blaſſen Geſicht und ſtieren 
Blikke, daß etwas auſſerordentliches vorgefallen 
ſeyn müßte. Und mein Heres ahndete gleich, daß 
Ruͤhl endlich auch mir die verſtekten Klauen ges 
zeigt habe. Die Mahlzeit wurde auf eine halbe 
Stunde verſchoben. Ich erzaͤhlte die Geſchichte. 
Eine Weile wurde geſpukt und gefchmält, Bald 
aber fiengen wir an, uͤber den armſeligen Wuͤtrich 
witzig zu werden und zu ſpotten. Es kamen Cut: 
wuͤrfe zum Vorſchein, wie die Sache ohne die 
Ruͤhliſche Protektion durchzufuͤhren ſey. Nach 
einer halben Stunde belachte ich den Vorfall, und 
genoß meine Mahlzeit mit heiterer Seele. 


0 ER 6 2 


200 


Nicht mehr in S aber see wenig mit 5 
ruhiger und reifer Ueberlegung, ſezte ich mich nach 

Tiſche hin und ſchrieb dem Hofrath ein Billet, 
ohngefaͤhr des Inhalt: 4 


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„Sie haben mir, mein lieber Herr Hofrath, 
„ſeither Merkmale von Achtung und Freund⸗ 
„ſchaft gegeben, welche mir um fo ſchmeichel- 

„hafter und angenehmer waren, jemehr ich 
„von allen Seiten her belehret wurde, daß 
„kein Menſch ſich einer aufrichtigen und dau⸗ 
„ernden Freundſchaft von Ihnen ruͤhmen 
„koͤnne. Aber heute haben Sie mir es be— 
„wieſen, daß ich ein Thor war, da ich bei 
„Ihnen eine Ausnahme zu machen mir ein⸗ 
„bildete. Sie haben mich auf eine Art be⸗ 
„handelt, die eben ſo ſehr unter meiner Wuͤr⸗ 
„de iſt, als dieſelbe Sie ſelbſt erniedrigt, und 
„zu der ſchlechteſten Menſchenklaſſe Sie her⸗ 
„abſezzen wuͤrde, wenn Sie fortfahren ſolten, 
„ſie gegen mich zu behaupten. Ich komme, 
„dieſe Schmach von Ihnen abzuwenden, und 
„Ihnen meine Hand zur Ausſöhnung zu bie⸗ 
„then. Wollen Sie die Urkunde zuruͤknehmen, 


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2 


„und die Verſicherungen noch erfuͤllen, die 


„Sie mir gegeben haben, und auf welche ich, 


„ weil ich Sie bei aller Hizze Ihres Tempera- 


„ments wirklich fuͤr einen Mann vom edeln 
„und feſten Karakter hielt, meine ganze Un⸗ 
„ternehmung gegruͤndet hatte; ſo ſol unſere 
„Freundſchaft unerſchuͤtterlich bleiben. Ber 
„ſtehen Sie aber auf dem allen, was Sie 
„heute mir zugemuthet haben; ſo muß ich 
„Ihnen ſagen, daß ich hinreichenden Muth 
„habe, Ihnen die Spizze zu biethen, und nun 
„gerade hier die einzige Ausnahme unter den 
„Tauſenden zu machen, die vor Ihrer Macht 
„und vor Ihrem Zorn zu zittern pflegen. 
„Denn ich fühle mich zu ſehr als Mann von 
„Werth und Verdienſten, als daß ich mich 
„von Ihnen tiranniſiren, und begeifern laſ— 
„ſen ſolte. Wählen Sie alſo jezt, ob ich Sie 
„verachten oder hochſchaͤzzen fol. Mir ſols 
„Freude ſeyn, wenn Sie eine Freundſchaft 
„fortfeszen wollen, welche mir, ich geſtehe 


„es Ihnen, bisher wahres Vergnügen gez 


„macht hat, und auf die ich gerade darum 
„ ſo ſtolz war, weil ich allein mich derſelben 
3 


„ ruͤhmen durfte. 
„es beruhen, ob 0 N ih ee 
„ ſol ze. , ee 

Dieſes Billet ſandte ich aufs Schloß, und 
harrte begierig auf eine Gegenſchrift. Aber fie 
blieb auſſen. Und che drei Stunden vergangen 
waren, erſcholl ſchon in der ganzen Stadt das Ge⸗ 
ruͤcht, daß das ganze Schloß in Feuer und Flam⸗ 
men ſtehe. Ruͤhl war bei Leſung deſſelben aufge⸗ 
ſprungen, wie ein Raſender. Sein graͤnzenle ſer 
Stolz hatte aufgelodert, wie eine Hoͤlle. Er war 
mit ſchaͤumendem Munde, und einem wahren Ti⸗ 
gerblik zum Fürsten gelaufen, hatte gleich um ſeine 
Dimiſſion angehalten und erklärt, daß er neben 
mir in ſeinem Dienſte keinen Augendlit mehr ver⸗ 
| bleiben koͤnne. 


Der Laͤrm war unbeſchreiblich. Der ganze 
Hof war zuſammengelaufen. Man hatte das wuͤ⸗ 
tende Thier aus dem Zimmer des Fuͤrſten bringen 
muͤſſen. Die Schweſter und Kinder des Fuͤrſten 
hatten ihn auf feine Stute begleitet, und waren 
beſchaͤftiget, mit Thraͤnen und Handeringen ihn 


103 


RR 75 5 
0 zu begätigen, und ſeine Wuth zu mildern. Man 
fuͤrchtete „es ſey Ernſt, daß er den Herrn verlaſ⸗ 

ſen wuͤrde, welcher ohne Rühlen nicht beſtehen zu 

koͤnnen (damals noch) waͤhnte. Denn der ſchlaue 
Wuͤtrich hatte ſich in einem ſchriftlichen Kontrakte 
mit dem Grafen 1000 Gulden Gehalt ausbeduns 
gen, die ihm lebenslang gezaͤhlt werden mußten, 
wenn er feinen Dienſt aufzugeben ſich gendihiget 
ſehen ſolte. 


In der Stadt war die Erſchuͤtterung noch 
heftiger. Es war, als wenn der Fuͤrſt in Lebens⸗ 
gefahr ſey. Kein Menſch getraute ſich, auf den 
Gaſſen ſtehen zu bleiben, und mit jemanden zu ſpre⸗ 
chen. Nur in den unerforſchbarſten Winkeln der 
Haͤuſer wagte mans, von der Sache zu reden. 
Alles war in aͤngſtlicher Erwartung des Ungewit— 
ters, welches der Donnerer Ruhl uͤber mich und 
uͤber das ganze Land ausbrechen laſſen wuͤrde. 


In meinem Hauſe war nicht minder Zerſtoͤh⸗ 

| rung. Mein Weib jammerte. Mein Heres fuhr 

auf mich los, wie eine Furie, da er von mir hoͤrte, 

daß mein Billet dieſe Flammen angezuͤndet hatte. 
G 4 


104 —— . 
Er ſchalt mich unuͤberlegt. Er weiſſagte meine 
Abſezzung. Kurz es war Sturm auf allen Seiten, . 
und ich allein blieb gelaſſen. Ich ſchloß mich in 
meine Studierſtube ein, um den Vorwuͤrfen und 
Lamenten zu entgehen. Ich dachte uͤber die Sache 
ruhig nach. Ich bereute, daß ich das Billet ge 
ſchrieben hatte. Aber ich fand uͤbrigens nichts, 
was mir neuen Kummer machen konte. Denn 
durch Ruͤhls Tuͤkke war einmal ſchon alles ver: 
ſcherzt, was ich fuͤr mein Inſtitut zu gewinnen ge⸗ 
glaubt hatte. Und nun ſchien mir es gleichgültig 

zu ſeyn, ob das Wetterglas des Ruͤhliſchen Grim⸗ 
mes funfzig Grad hoͤher ſteigen oder fallen wolte. 


Aber je ruhiger ich bei mir ſelbſt war, deſto 
empfindlicher peinigten mich meine Freunde. Ich 
hatte kaum eine Stunde in meiner Einſamkeit zu⸗ ö 
gebracht, als mein Zimmer förmlich belagert wur— 
de. Alle, die es nur einigermaßen mit mir gut 
meinten, hatten ſich in mein Haus geſchlichen, und 
mit meinem Weibe und Hausgenoſſen ſich vereinis 
get. Ich mußte aus meiner Klauſe heraus, und 
mich drein ergeben, von Vorwuͤrfen und Jammer⸗ 
klagen beſtuͤrmt zu werden. „ Gott, was haben 


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„Sie gemacht. Ach das, unglüͤkliche Billet! Der 


„Fuͤrſt wil nichts mehr von Ihnen hören. Sie 
„ muͤſſen hinauf und ſich dem Fuͤrſten zu Fuͤſſen wer⸗ 
„fen. Sie muͤſſen Ruͤhlen Abbitte thun. Sie find 


„zeitlebens ungluͤklich. Das Philanthropin ſtuͤrzt 


„zuſammen, ehe es ſeinen Anfang nimt.“ So 
ſchrie alles auf mich hinein. Und ich mußte ge⸗ 


duldig es hoͤren. — Unbegreiflich war allen meine 


Gelaſſenheit. Sie nenntens Leichtſin. — Ich ließ 
die Hizze verrauchen, welche Liebe zu mir und Bes 
ſorgniß meines Verderbens hervorgebracht hatte. 


Des andern Tages ließ ich auf dem Schloſſe 
mich melden. Der Fuͤrſt nahm mich an, empfieng 
mich aber mit der aͤuſſerſten Kaͤlte. Er war auf 
einen derben Wiſcher gefaßt. Aber ich ließ ihm 
nicht Zeit, ihn an den Mann zu bringen. Mit 
dem feurigſten Blikke ivat ich ihm unter die Aus 
gen, und mit dem maͤnnlichſten und entſchloſſenſten 
Tone verlangte ich, daß er gerecht ſeyn, und auch 
mich erſt hoͤren moͤchte, ehe er ein Urtheil uͤber 


mich fällte, „Ich weiß, gnaͤdigſter Herr, daß ich 


„angeklagt bin, und daß Sie, bei der Voraus⸗ 
„ſezzung, daß mein Kläger die Warheit auf feiner 
G 5 


Br. — 


> Seite hat, Urſache haben, auf mich zu and 0 0 x 


„Aber ich verſichere Sie vor dem Angeſichte Got⸗ 
„tes, daß ich nicht nur in der Hauptſache unſchul⸗ 
„dig bin, ſondern daß ich auch ſelbſt auf die 
„ſchnoͤdeſte Art gefränft, und gemißhandelt wor⸗ N 
„den bin. Ich rede mit einen Fuͤrſten, der Mens 
„ ſchenfreund iſt, und dem Gerechtigkeit heilig iſt. 
„Und das macht mich beherzt, Ihnen alles frei⸗ 
„müthig zu ſagen, was ich auf meinem Herzen 
„habe.“ Hier holte der Fuͤrſt Odem, fein ſtieres 
Auge ſenkte ſich, er trat einige Schritt zuruͤk, und 
ſagte ganz gelaſſen; daß ich mich ſezzen . Ich 
fuhr fort. 


„Gnaͤdigſter Herr! Ich erkenne und ſchaͤzze 
s die Verdienſte, welche der Hofrath Ruͤhl um das 
„ fuͤrſtliche Haus hat, und ich war vom Anfange 
„an ſtolz auf ſeine Freundſchaft. Mit dem ſorg⸗ 
„ faͤltigſten Benehmen ſuchte ich fie zu erhalten, 
„Und Sie wiſſen ſelbſt, wie achtungs doll er gegen 
„Sie bisher von mir geſprochen hat. Aber ſie 
„kennen auch, aus tauſend Erfahrungen, feinen 
„undeftändigen Karakter und feine ungeſtuͤme 
„ Hizze, mit welcher er den beften Freund aufzu⸗ 


2 


55 


* N . 255 N . * * | 7 


2 TE. — 1 
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beßfern rat; wenn feine Laune einmal verſtimt 
„worden iſt. Es kan Ihnen alſo nichts unerwar— 


13 tetes ſeyn, wenn ich Ihnen ſage, daß mich der 


„Hoflath Ruͤhl erſt ſelbſt, durch wiederholte Ver: 


„ ſicherungen, daß mein Jaſtitut Ihnen Vergnuͤ⸗ 
„gen machen wuͤrde, zu dieſen Unternehmungen 
„beredet hat — daß er mir freiwillig das — 
„das — das — verſprochen hat — und daß er 
„nun, (nachdem ich fuͤnftauſend Gulden aufge- 
„wandt, und Über 50% Gulden Schulden auf 
„mich geladen habe) das alles zuruͤkgenommen, 
„und Sie bewogen hat in der mir vorgeleſenen 
„Urkunde Zumuthungen zu machen, welche nicht 
„nur meiner Ehre nachtheilig ſind, (indem Sie 
„mich meinen Lehrern, die ich angenommen habe, 
„und dem ganzen Publikum als einen Prahler 
„und Betruͤger darſtellen) ſondern auch meine 


„ ganze Unternehmung zu vereiteln, und mich das 


„durch an den Bettelſtab zu bringen drohen: end— 
„lich — daß der Hofrath Ruͤhl geſtern, bei vol⸗ 
„ler Verſamlung des Kollegii, da er dieſe Urkunde 
„mir vorlas, meine beſcheidendſten Gegenvorſtel 
„lungen theils verlacht, theils mit den groͤbſten 
„Ausdruͤkken verworfen, und auf eine ſolche t0> 


108 | — 


„bende und ungeftüme Art mich behandelt hat, 


v welche der geringſte Schreiber ſelbſt von feinem 
„Fuͤrſten nicht dulden würde, wenn noch einiges 
„Ehrgefuͤhl in ihm uͤbrig waͤre. Und nun erſt, 


„gnaͤdigſter Herr, urtheilen Sie, nach den un⸗ 


„truͤglichen Gefuͤhlen der Billigkeit und der Ge⸗ 
„rechtigkeit, ob ich etwas verbrochen ai was 
„eine Strafe verdient?“ 


Der Fuͤrſt war ſichtbar verlegen. Noch fuͤhl⸗ 
te er den Schauder, den der tobende Ruͤhl in ihm 


erregt hatte. Und doch ſahe er jezt, daß mir offen⸗ 


bar unrecht geſchehen war. Seine Furcht vor 


dem Stuͤrmer, und ſeine unbegraͤnzte Liebe zur 
Gerechtigkeit kämpften. Endlich fagte er mit Guͤ⸗ 
te: „Herr Superintendent, ich ſehe, daß die Sache 
„Ueberlegung verdient. Mir iſt von alle dem noch 


„nichts zu Geſicht gekommen, woruͤber Sie ſich 


„beklagen. Der Hofrath hat mir die Urkunde ſo 
„wenig vorgelegt, als ich bis jezt weis, was er 
„Ihnen verſprochen hat. Ich werde nie zugeben, 
„daß Ihnen unrecht geſchehe. Verlaſſen Sie ſich 
„darauf, und halten ſich ruhig. Alles, was nur 
„irgend moͤglich iſt, und was zur Aufnahme des 


Va at, Arie A et 
= 1 ng 7 a — 
— 109 


| „ Philanthropins gereichen mag, ſol Ihnen bewil⸗ 
viliget werden.“ | 


Mit innigſter Beruhigung verließ ich jezt den 
guten Zürften und freute mich, eine fo ſchoͤne und 
unverkenbare Probe ſeines vortreflichen Herzens 
erhalten zu haben. Triumphirend erzaͤhlte ichs 
meinen Freunden, und ſie alle waren erſtaunt, daß 
die Sache, wider alles Vermuthen, einen ſo leid⸗ 
lichen Ausgang zu gewinnen ſchien. 


Aber auswaͤrts erhob ſich ein deſto groͤſſeres 
Ungewitter. Der Paſtor Hartmannus, der bei 
aller Freundſchgftlichkeit, die er mir bezeugte, doch 
ein wenig Eiferſucht gegen mich empfand (ſintemal 
er vor mir vom Fuͤrſten war zur Sontagstafel 
geladen worden, und ſeit meiner Ankunft nicht 
mehr verlangt wurde) mochte ſich heimlich daruͤ— 
ber kuͤtzeln, daß der Hofhimmel ſich über mir zu 
trüben begann, und ſchrieb daher nach Manheim 
und einigen Orten Relationen von dem Donnerwet— 
ter, welches Jupiter Kuͤhl gegen mich erregt hat— 
te. Und dieſe Relationen breiteten ſich aus, wie 
ein Lauffeuer. Den Rhein und den Mayn hinauf 


2 * > — 
4 ER 3 0 


110 — | 


und hinunter erſcholls: „Das Bahrdtiſche Philan⸗ f 
„ thropin iſt dahin! der Doktor iR mit dem Bär, 
5 fen 4 


? Ne * 


Da ſank allen Eltern der Muth, die ihre 
Söhne mir zugeſagt oder beſtimt hatten. Da ent? 
fiel allen Lehrern das Herz, die meine Profeffuren 
verlangt und erhalten hatten. Da kamen Briefe 
von allen Orten und Enden, welche die aͤngſtlich⸗ 
ſten Anfragen und Bedenklichkeiten enthielten, und 
in denen jeder um wie viele Schritte von mir zu— 
ruͤkzutreten ſchien. Und doch — ward ich nicht 
mu hlos. Es war einmal mein Wablſpeuen 
tu contra audentior ito! 0 


36,2 0 5 5 4 x 
NMeuntes Kapitel: 


1 Etwas helleres Wetter, aber eine ſchwarze Wolke in der 
in Tiefe des Horizonte. f 


Einweihung des Philanthropins. 


3 Fuͤrſt war beſaͤnftigt. Bei einer guten 
Stunde faßte er den Hofrath. „Thun Sie mir 
„den Gefallen und machen die Urkunde ſo, daß 
„der Mann beſtehen kan. Meine Theilnahme kan 
„ja in ſo weit bleiben, daß ich die Profeſſores 
„ bocire, und Ihnen Beförderung zuſage, wenn 
„fie. ſie verdienen. Das Inſtitut ſelbſt wollen wir 
„dem Superintendenten uͤberlaſſen. Die Regie- 
„rung muß ſich nicht drein meliren.“ — — So 
inſtruirte er die Urkunde. 


Ich freute mich herzlich, daß ich wenigſtens 
zum Theil obgeſiegt hatte: ob ich gleich vorhers 
ſahe, daß ich nun an Kühlen einen beſtaͤndigen 
Feind behalten, und tauſend Bedruͤkkungen aus⸗ 
geſezt ſeyn wuͤrde. Und ſchon die neue Urkunde 
belehrte mich, daß ich Urſach hatte, die Freud⸗ 
‚über meinen Sieg zu maͤſſigen. 


Sie enthielt zwar die obgedachten Haupt: 
punkte, aber mit einer Menge Verklauſulirungen, 
die den haͤmiſchen Koneipienten ſichtbar genug 
machten. Und alle uͤbrigen ehedem verheiſſenen 
Vortheile und Unterſtuͤzzungen waren dahin. Ich 
erhielt nichts, als das Schloß und den Garten — 
auf zehn Jahre nebſt dem Rechte, als Direktor N 
des Inſtituts von der Regierung unabhaͤngig zu 
handeln, und alle die Zeit in Heidesheim zuzubrin⸗ 
gen, welche mir von meinen Amtsarbeiten uͤbrig 
bleiben wuͤrde. | TEL Er 


Ich nahm vorlieb und eilte nun, das heran⸗ 
nahende Einweihungsfeſt zu veranſtalten. Ich 
ſchrieb an alle Lehrer und Eltern, daß es falſche 
Geruͤchte geweſen waͤren, die ſie beunruhiget haͤt⸗ 
ten: die Sache behalte ihren ungehinderten Fort- 
gang, der Fuͤrſt ſey Freund und Beſchuͤzzer des 
Inſtituts, u. fe w. Ich ließ die Vokationen für 
die Lehrer ausfertigen. Ich beſchied ſie, acht Tage 
vor dem Einweihungsfeſte ſich einzufinden. Ich 
brachte ſelbſt, mit meiner Familie, meine ganze 
Zeit in Heidesheim zu, und fuhr blos des Sonna⸗ 
bends nach der Stadt (welche drei ſtarke Stunden 

ent⸗ 


entfernt war) um meine Anteprediat zu ba, 
45 Des Sonntags Nach mittags aber fuhr ich ſchon 


wieder hinaus, und war unablaͤſſig beſchͤftiget, 
alles im Schloſſe ſo einzurichten, daß Lehrer und 
Zoͤglinge Ordnung, Reinlichkeit und Bequemlich⸗ 
keit finden moͤch ten. 


Das Publikum wurde wieder beruhigt, auſſer, 
daß hier und da feindſelige Leute die Weiſſoagung 
im Gange zu erhalten ſuchten, daß das Philan⸗ 
thropin doch nicht lange beſtehen wuͤrde, weil Ruͤhl 
einmal mein unverſoͤhnlicher Feind geworden ſey. 


Alle Wochen liefen Briefe ein, in welchen 


neue Zoͤglinge angemeldet wurden. Und ich genoß 


das entzüffende Vergnuͤgen, das Inſtitut gleich 


0 


mit etlichen und Zwanzig Eleven anfangen zu koͤn⸗ 
nen, und beinahe eben ſo viel in petto zu haben, 


welche noch im naͤchſten Sommer ankommen ſolten. 


Saͤmtliche Lehrer und Zglinge trafen acht 
bis vierſehn Tage vor dem Feſte im Schloſſe ein: 
und dies ſezte mich in den Stand, ſie alle vorher 
neu zu kleiden, und ſie den Zuſchauern in ſchoͤnen 


Uniformen aufzuſtellen. Die erſte Sommerklei⸗ 
dung, die ich ihnen gab, war von braunzoihen 


IIl. B. H 


Barkan mit blauen atlaßnen Aufſchlaͤgen und 
Stahlknoͤpfen. Sie beſtand aus einem braunen 
Kollet, blauer Weſte, und braunen Hoſen. Das 
zu gab ich weiſſe runde Hüte mit blauen Federbuͤ⸗ 
ſchen. — Es war fuͤrs Auge. Und das liebe 
Publikum ſieht ja leider mehr auf ſolche Dinge, als 
auf die Realitäten. — Nach gruͤndlicher Lehrart, 
fruchtbarer Methode, moraliſcher und phyſiſcher 
Erziehung fragten wenige, weil wenige ſie verſtun— 
den, und eben ſo wenige ſie fuͤr wichtig genug hiel⸗ 
ten. Wenn die Kinder huͤbſch aufgefuttert, und 
gepuzt ausſahen, war man zufrieden. 


Das Einweihungsfeſt koſtete mich ſchweres 
Geld und laſtende Sorgen. Ich hatte alles allein 
auf meiner Schulter. Ich mußte fuͤr die vielen 
Eltern ſorgen, die ihre Kinder brachten, und fuͤr 
die zahlreichen Gaͤſte, die als Zuſchauer ſich an- 
meldeten. Alle mußten mit Quartier und Schlaf⸗ 
ſtaͤtte verſorgt werden. Alle wolten geſpeiſet und 
bedient ſeyn. Viele lebten fuͤr ihr Geld, manche 
aber auch, wo es Verbindlichkeiten oder engere 
Freundſchaft erfoderte, auf meine Koſten. — Ich 
wil an den Sturm gedenken, der in meinem Kopfe 


— 1 115 


war. Und doch befand ich mich heiter und froͤhlich 
dabei. Jeden Tag ermuͤdete ich mich, mit Laufen 
und Beſtellen und Briefſchreiben bis zum Unſinken, 


und des Abends legte ich mich doch, froh wie ein 
Koͤnig, zu Bette. Die Ausſichten ermunter⸗ 


ten mich. 


Ich wil meine Leſer mit Beſchreibung des 
Feſtes nicht aufhalten. Das Schloß war voller 
Fremden, von Speier, Heidelberg, Manheim, 
Kreuznach ꝛc. und viele waren auf die nächften 
Doͤrfer einquartirt. Von Worms, Gruͤnſtadt, 
Frankenthal, Kirchheim bei Bolanden, Duͤrkheim 
und den umliegenden Dorfſchaften kamen eine 
Menge Menſchen erſt noch an dem Tage an, wo 
das Feſt beginnen ſolte, weil die genanten Orte ſo 
nahe lagen, daß ſie des Abends wieder nach Hauſe 
fahren konten. So wimmelte alles von Menſchen. 


Ich hatte in einem Winkel des Schloſſes eine 
große Kanzel errichtet, auf welcher ich die Ein⸗ 
weihungsrede halten wolte. Denn die Menge 
Menſchen in einen Saal zu bringen, war nicht 
moͤglich. Das Auditorium mußte unter freiem 


1 H 2 


7 


— — 


Himmel mir unten. es 3 | 
Aber um zeh Uhe „ da der große Hof voller Volk, 0 


und alle Fenſter mit Zuſchauern beſezt waren, bra⸗ 


chen ſich die Wolken, und die Sonne begrüßte das 


Feſt. Ich trat auf, hielt eine Rede über die phi⸗ 


lanthropiniſche Behandlungsart der Kinder, in 


Abſicht auf phyſiſche und moraliſche Erziehung, 


und bezauberte Vornehme und Geringe, daß ſie 


gern alle ihre Soͤhne hergegeben haͤtten, wenn es 


ihr Beutel hätte verſtatten, und die folgende Ge⸗ 


ſinnung dem erſten Enthuſiasmus hatte gleich blei⸗ 


ben wollen. | 2 


Des Mittags ſpeiſete das Ph lanthropin zur 
Schau. Und für die Gaͤſte waren vier große Zim⸗ 


mer voller Tafeln. Ich hatte bei 120 Fremde zu 


bewirthen. Die Einnah ne aus der Gaſtwirth⸗ 


ſchaft betrug dieſen Tag an 500 Gulden. or 


Publikum war Zenn 


Nachmittags foren es 00 Junker mit einer 
Vorleſung uͤber den Einfluß der ſchoͤnen Wiſſen⸗ 


ſchaften auf die Erzi ehung amuſiren. Es wolte 1 


aber nicht behagen. Die Materie war nicht un⸗ 


a 


lethaltend ausgefuͤhrt, und feine bochbekwbte De⸗ 
klamation war zum Einſchlafen. Meine Freunde 
kamen daher und werten mich aus dem Mittags⸗ 
ſchlafe: denn ich hatte wegen n Mudigkeit mich weg⸗ 
geſchlichen, um ein wenig zu ruhen, und baten mich 
dringend, den misvergnuͤgten Haufen wieder um⸗ 
zuſtimmen. „Treten Sie nur auf und ſagen, was 
Sie wollen. Wenn die Leute Sie nur ſehen. 
„Der Junker hat alles verdorben. Es ſchleicht 
3, fi) eins nach dem andern fort. — Sie behal⸗ 
„ten auf morgen keinen Gaſt mehr. Sie muͤſſen 
„warlich auf die Kanzel.“ So redeten alle auf 
mich los und trieben mich vor ſich hin. Ich wuſch 
mir den Schlaf mit friſchem Waſſer aus dem Ge⸗ 
fire, preßte den Ideenſchlauch zuſammen, trat auf, 
perorirte eine Viertelſtunde, und — alles kam 
wieder herbei, und der Haufe. war wieder ganz — 


philanthropiniſch! : 


Die Fremden wurden im Schloſſe herum ge⸗ 
führt, und bewunderten die Menge der Zimmer, 
die ſchoͤnen Wohnungen der Zoͤglinge, die Oꝛd⸗ 
nung und Reinlichkeit, welche uberall auffallend 
war ꝛc. Am ſtaͤrkſten war die große Tabelle um⸗ 


H 3 


118 1 


lagert, welche ich ſelbſt verfertiget und in ſchoͤner 
Abſchrift aufgehangen hatte, und wo auf jedem 
Tag alle Stunden der Zoͤglinge von früh um fünf: 
Uhr bis abends um neun Uhr vertheilt waren, wo 
folglich zu ſehen war, was jeder Zoͤgling in jeder 
Stunde lernte, oder zu ſeinem Vergnuͤgen unter 
Aufſicht eines Lehrers vornahm. Man erſtaunte 
uͤber die Sorgfalt, mit welcher die Zoͤglinge in 
beſtaͤndiger Beſchaͤftigung und Aufſicht erhalten, 
und doch zugleich durch den angenehmſten Wechſel 
der Lehr und Spielſtunden vergnuͤgt wurden. 


Die Gaͤſte verlieſſen das Schloß mit der groͤß⸗ 
ten Zufriedenheit, und fuͤr mich bluͤhte die ſchmei⸗ 
chelnde Hofnung, daß ich in kurzem nicht Raum 
genug haben wuͤrde, die Zoͤglinge zu beherbergen. 
Und wirklich kam ich noch im erſten Sommer auf 
achtzig Betten, die ich fuͤr Lehrer und Zöglinge 
aufſtellen muſte. 


Indeſſen ſo hell und reizend mein philanthro⸗ 
piniſcher Himmel in dieſen Tagen war, ſo gab's 
doch unten am Horizont einen Streif von einer 
pechſchwarzen Wolke, welche ein fernes Ungewit⸗ 
ter drohte. 


. — — 1 19 


Ziehntes Kapitel. 


Pfaffen kabale. 


Die. katholiſche Paſtor in Bokenheim mit der 
Lipstulliansphyſionomie hatte mich einige Wochen 
vor dem Einweihungsfeſte, da ich auf einer Kir— 
chenviſitation abermals bei ihm uͤbernachtete, we— 
gen der Profeſſur wieder angeredet, und alle meine 
Bemuͤhungen, ihm auszuweichen und das Geſpraͤch 
abzukuͤrzen, waren vergeblich geweſen. Mit einem 
wahren Banditenblik, der ſelbſt feine Schmeiche— 
leien jezt furchtbar machte, drang er auf mich ein, 
und zwang mich, ihm Red und Antwort zu geben. 


Er. Ew. Hochwuͤrden, werden ja in wenig 
Wochen das Philanthropin einweihen. Es wird 
alſo hohe Zeit, daß wir unſere Sache aufs reine 
bringen. Es wird noͤthig ſeyn, daß ich in Maynz 
den Antritt meines neuen Amts anzeige, und mei— 
ne Funktionen ſo wol, als Emolumente einberichte. 


Ich. Aber warum eilen Sie ſo, lieber 
Freund, wir haben ja noch keine katholiſchen 
Zoͤglinge? . 

9 4 


? 


empfohlen. und ich muß Ihnen ſagen, daß ich 


1 * * 
b — 1 N x - 
120 nn u N 


* 
1 


Er. O die werden Haufenweis n 
Ich habe das Philanthropin überall aufs beſte 


vieles vermag. Ich habe hohe Patrone. Sie 
wiſſen ſeloſt, wie viel der Weihbiſchof auf mich hält, 5 
Und oiſcher vieldermögenden Herren hab ich meh⸗ 
rere. Ueberall heißt es, ja wenn ich erſt Profeſ⸗ 
ſor waͤre, ſo wuͤrde man katholiſcher Seits Ver⸗ 
trauen zur Sache gewinnen. 


Ich. Ja, mein Gott, ich kan doch cher M 
keinen Profeſſor für katholiſche Zoͤglinge anſtellen, 
bis ich dergleichen wirklich im Schloſſe habe! Wie 
würde ich zum Gelächter werden, wenn der Prod 


feſſor da waͤre, und keine Zoͤglinge erfolgten? Und 


das iſt doch ein ſehr moͤglicher Fall? 
Er. (prozzig) Und ich ſage Ihnen, wenn 


ich nicht Profeſſor werde, ſo wird aus Ihrem gan⸗ 


zen Philanthropin nichts. Glauben Sie, ich kan 
ſchaͤden und nuͤzzen. | 
Ich. Ei, Sie ſollens ja werden. Schaf⸗ 
fen Sie doch nur erſt zwei bis drei Scholaren für 
Ihre Stelle. Wenn Sie ſo viel Anſehn und Kre⸗ 
dit haben; ſo wird man Ihnen ja wol glauben, 


— 121 


5 n Sie ſchreiben: „ich bin Profeſſor, und ich 
f „iets die Stelle an, ſo bald katholiſche Kinder 


da id.” 4 
700 fi 


306 Er. Nein, erſt muß ich mein Amt RS 
Denn es iſt noͤchig, daß ich die Vokation nobſt 
meinem Beſoldungsetat nach Maynz einſchikke, 


und daruͤber Approbation erhalte. 


Ich. Ich denke, Sie haben es ſchon gemel⸗ 
det, und Erlaubniß erhalten. 


7501 Er. Vorläufig. Aber man wil wiſſen, was 
ich fuͤr Geſchaͤfte und Einnahme habe. Und ich 


daͤchte, es ware Zeit, daß ich das ſelbſt erfuͤhre. 


50 Ich. (aͤuſſerſt verlegen — und voller Bes 
ſorgniß, einen giftigen Pfaffen mir zum Feinde zu 
machen. ) Freund, Sie wiſſen, daß mein ganzes 
Inſtitut noch auf ſchwachen Fuͤſſen ſtehht, daß ich 


auf 10000 Gulden aufgewandt habe, ohne noch 
zu wiſſen, ob die Sache Beſtand haben wird; daß 


ich jezt noch zuſezzen muß, daß überall Sorge und 


Geldmangel mich druͤkken — Sie werden alſo 


ſelbſt ſo menſchlich und billig denken, und vor 
anfangs keine groſſen Vortheile von mir erwarten, 


H 5 


= 
1 


Ja, ich muß doch leben! koͤnnen. 


Ich. Beſter Mann, Sie haben Ihre ſchöne 


Pfarre, und Sie koͤnnen im Philanthropin doch 


nicht mehr thun, als die wenigen Lektionen, die 
Ihnen als katholiſchem Lehrer obliegen, woͤchent⸗ 


lich abwarten: ſolten Sie da mehr von mir ver⸗ 
langen wollen, als was ich allen meinen Profeſſo⸗ 


ren gebe? 
Er. Wie viel iſt das? 


Ich. Sie haben alles frei, und 150 ee 
baares Geld. 


Er. (mit Stolz) O das darf ich dem 15 
fuͤrſten gar nicht melden. Man wuͤrde es uͤbel 


nehmen, wenn ein katholiſcher paſtor ſo ſchlecht 
beſoldet wuͤrde. Unter 500 Gulden zugeſicherte 
Beſoldung erfolgt gar keine Approtgten meiner 
Obern. 


Ich. Ich bitte Sie ums Himmelswillen 
Freund, wie koͤnnen Sie von einem armen Mann, 
der ſelbſt noch fuͤr ſeine unbeſchreiblichen Arbeiten, 
und Sorgen keinen Heller Gewinn bezieht, eine 


ſolche Summe fodern? Glauben Sie gewiß, daß 


. 


— 123 


ich Sie ſchaͤzze, und Ihren Eifer für das Inſtitut 
vor allen andern belohnen werde, wenn ich nur 
erſt das Inſtitut ſo in den Stand habe, daß ich 
einigen Aufwand machen kan. Ich habe die her⸗ 
lichſten Ausſichten. Und vieleicht kan ich in kurzem 
alle Ihre Wuͤnſche befriedigen. (Ihn umarmend ) 
Sie find ja mein beiter Freund, und werden nicht 
verlangen, daß ich Ihnen etwas heute ſchon zu— 
ſichern ſol, wenn ich nicht weiß, ob ich vermoͤgend 
ſeyn werde, es zu erfuͤllen. Haben Sie das ge— 
ringſte Vertrauen zu mir, ſo beruhigen und ge— 
dulden Sie ſich — vieleicht nur wenige Tage. 
Ich erwarte taͤglich die erfreulichſten Briefe und 
Anmeldungen. Ich hoffe alle Ihre Wuͤnſche zu 
befriedigen. 

Mit dieſen Liebkoſungen beſaͤnftigte ich end- 
lich den zudringlichen Menſchen, deſſen heftiges 
Betragen, und ſtieren Blikke mich wirklich in eine 
Art von Aengſtlichkeit verſezt hatten. — Ich war 
froh, da ich aus ſeinem Hauſe war und beſchloß, 
es nie wieder zu betreten. Mein Wille wars, ihm 
die Profeſſur zu geben, wenn katholiſche Zoͤglinge 
ſich melden ſolten. Aber eher wolte ich auch durch⸗ 
aus mich nicht mit ihm befaſſen. 


Er 16 blieb in eren ies wi 15 
fen wibklic Plofeſſor, und erſchien daher den 


Mogtrog nach oblbractem Einweihungsfeſte, da 


alle Lekttotnähten Anfang nahmen, im Schloſſe.⸗ 
Zum Unalük war ich ſelbſt nicht da. Ich mußts 


meines Amtes halber in Tuͤrkheim⸗ ſeyn, und hatte 


vorher alle Lehrer inſtruirt, nach Masgabe den 


aufgehangenen Tabelle, ihre Lektionen anzufangen 
Der Paſtor Weimar trat in den Saal und rufts 
im Tone eines Befehlshabers: nu, wo iſt der Lek⸗ 
tionskatalog? toie muͤſſen heute unſere Stunden 
anfangen. Herr Reinhold ſtund ihm eben am 
naͤchſten, und wuſte nicht, was er zu dieſem Auf⸗ 


rufe ſagen ſolte, da er noch nie davon gehoͤrt hakte, 1 


daß Weimar zum Philanthropin gehöre Er fuͤhr⸗ 
te ihn indeſſen mit Hoͤflichkeit an den Ort, wo die 
Tabelle aufgehangen war, und fragte ihn ganz 
beſcheiden: werden der Herr Paſtor auch Lektionen 
bei uns haben? Dem Pfaffen trat hier Feuerröͤthe 
ins braune Zigennergeſicht. Verſteht ſich, mein 
Bi Ich bin wa | i 


48 


Herr Reinhold machte ihn eine Schu 


und gieng. Andere blieben von ferne ſtehn. Der 5 


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21 


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u > * 


Pfaſfe trat an die Tabelle, ſahe, das bei allen 
Lektionen der Name des Lehrers ſtund, der fie gab, 


ſuchte alſo auch feinen Namen, und ſuchte natur⸗ 
lich umſonſtt. Da er lange geſucht und nichts ge⸗ 


funden hatte, drehte er ſich mit ergeimtem Blitke 


um: wo iſt der Herr Doktor? Ich wil doch wiſſen, 
watum ich als angeſtelter Profeſſor nicht mit auf 
der Tabelle ſtehe? Herr Geiger uͤbernahm es, 


ihm zu antworten. „Ich habe noch nicht gewußt, 


daß wir die Ehre haben, Sie als unſern Mitleh⸗ 
z rer begruͤſſen zu duͤrfen. Es iſt mir daher gänzs 
„lich unbekant, warum unſer Herr Fuͤrſorger 
„Sie in der Tabelle nicht mit aufgeführt hat. 
„Aber vermuthlich iſt es wol darum geſchehen, 


z weil wir bis jezt noch keine katholiſchen Zoͤglin⸗ 


„ge haben, für welche der Herr Doktor Sie beſtimt 
„haben wird.“ — „Ei, was! wipe der 
„Pfaffe, ich kan ſo gut, wie Ihr © seren, auch 
„für Proteſtanten Lektionen geben. Ich verſleh 
„auch Latein. Ein katholiſcher Paſtor iſt nicht 
„auf den Kopf gefallen. Das merkt euch nur. — 
Herr Geiger verſicherte dem ungeſtuͤmen Menſchen 


ſein größtes Vertrauen zu der Volkommenheit ſei⸗ 


ner Profeſſorkentniſſe, und geſtand, mit Achſelzuf⸗ 


iR 


ken, daß er dieſe Sache dem Fuͤrſorger anheim 
ſtellen, und indeſſen ohne ſich an andere Befehle 
zu kehren, die erhaltenen Vorſchriften befolgen 
muͤſſe. Und damit gieng er nach ſeiner Klaſſe und 
ließ den Paſtor ſtehen. “ur 


Der Menſch gieng jezt erboſt und mit glühens 
dem Geſicht im ganzen Schloſſe herum, beſchlich 
alle Stuben und Kammern bis auf die Abtritte, 
beroch und beſchnarchte jeden Winkel, zog bald 
den, bald jenen Bedienten auf die Seite, und be⸗ 
ſprach ſich mit ihm, entließ einige mit den Wor⸗ 
ten: ich wuͤnſche, daß er ſein Brod hier lange noch 
finden moͤge: kam in die Lektionszimmer, behorchte 
jeden Lehrer und blieb endlich, ungebeten, zum 
Mittagseſſen. — Die algemeine Klugheit, die in 
der Pfalz beobachtet wird, einen katholiſchen Pfaf⸗ 
fen nicht zu ſeinem Feinde zu machen (weil dieſe 
Menſchenrace fuͤr die allergefaͤhrlichſte gehalten 
wurde) verurfachte, daß ſich ihm nicht nur kein 
Menſch widerſezte, fondern daß ihm vielmehr je 
derman mit der groͤßten Hoͤflichkeit begegnete, 
und — daß mein Hausmeifter fo gleich eilte, ein 
Kuvert fuͤr ihn aufzulegen. 


— — 127 


Aber hier ereignete ſich ein neuer Zufall, wel⸗ 
cher die Erbitterung des Pfaffen aufs hoͤchſte trieb. 
So wie man ſich zu Tiſche ſezte, nahm jeder Lech: 
rer nach der von mir gemachten Rangordnung feis 
nen Plaz ein, ohne an den Paſtor weiter zu denken. 
Und dadurch geſchahe es ganz zufaͤllig, daß der 
Pfaffe unter den Lehrern den lezten Plaz bekam, 
und zwar gerade neben dem Fechtmeiſter, welcher 
durch ſeine etwas armſelige Kleidung, und noch 
mehr durch fein etwas entſtelltes Geſicht ſich aus⸗ 
zeichnete: denn der Menſch ſahe ſchwarzbraun wie 
der Pfaffe, und hatte nur ein Auge. Dieſe kari⸗ 
katurartige Nachbarſchaft hielt der Pfaffe fuͤr ab— 
ſichtliche Veranſtaltung. Er glaubte, man haͤtte 
ihm dieſen Plaz mit Fleiß uͤbriggelaſſen, um ihm 
zu zeigen, daß er noch unter dem einaͤugigen Fecht: 
meiſter gehoͤre. — Er aß und trank indeſſen, was 
da war, und ließ, ſeines Grimmes ohngeachtet, 
ſichs herzlich ſchmekken. Denn er war ein Viel 
fraß, der auch da, wo er verachtet wurde, nicht 
wich, fo lange die Schuͤſſeln noch ergiebig für ihn 
waren. Aber nach Tiſche ergrif er gleich ſeinen 
Hut, und ſagte im abſchiedloſen Weggehen: ich 
wills Eurem Doktor ſchon eintraͤnken. — 


18 
a Dieſe Geſchichte wurde mir des er Fo h 5 
ges einſtimmig erzählt: Ich erſchrak ein wenig: 4 . 
dachte aber nicht, daß dieſer armſelige Pfaffe mir ” 
ſonderlichen Schaden thun konte. Verleumdun⸗ 
gen, Ausſtreuungen, das war alles, was ich ihm 
zutraute. Und katholiſche Zoͤglinge hatte ich mir 
ohnehin nie vermuthet, und — wirklich auch, 
um moncherlei Urſachen willen, nicht gewuͤnſcht. | 
Ich dachte alſo bei mir ſelbſt — laßt den 
Pfaffen laufen! N 


es | * d ö 
ni Eilftes Kapitel. 


Fort ſez zung. 


Aber; Weimar gieng N deſſelben Tages nad; 
Worms zum Weihbiſchof, um Gift zu kochen. 25 
Er trat ihm mit der Mine des reuigen Suͤnders | 
unter die Augen. Er rang eine Haͤnde, und 
wiſchte ſich die Augen, als ob eine Bußihraͤne ſi ich 
her⸗ 


becken. 55 Gott, ich habe mich ſchwer⸗ 


bHlich an Ew. Hochwuͤrden Gnaden verfündigt, 


1 


„ 


„Ich habe einen Mann in ihr Haus gebracht, 
„welcher ein wahres Werkzeug der Hoͤlle iſt. Ich 
„habe ihn und ſeine gottloſe Schriften ſo vielen 
„katholiſchen Chriſten empfohlen, und das entſez⸗ 


„lichſte Gift dadurch unter fie ausgebreitet. Pe 


„gen Sie mir eine Buſſe auf. Ich ſchaͤme mich 
„unter Ihre Augen zu treten, bis ich alles das 
„Boͤſe abgebuͤßt habe, was durch meine Unbeſon⸗ 
„nenheit geſtiftet worden iſt.“ — f 


Der fromme Score erſchrak über die 
fe Anrede eben fo ſehr, als er durch die Geſtalt 
des bußfertigen Suͤnders geruͤhrt und erbaut 
wurde. Ei, was iſts denn? Was haben Sie 
denn boͤſes gethan. — „Ach, fuhr der argliſtige 


„Pfaffe fort, ich habe dem verfſuchteſten Men— 


„ſchen Ihre Freundſchaft zu wege gebracht, ich 


„habe die groͤßten Gotteslaͤſterungen, die ſeine 


„Ueberſezzung des R. Teſtaments enthält, vers 

„breitet. Ich weis vor Gewiſſensangſt nicht, 

„was ich anfangen fol, Mit chriſtlichem Ver⸗ 

„trauen hab ich mich von dem leutfeligen und 
III. B. 3 


7 


® fenden 2 Weſen des ruchloſen Maschen ı „ 


„blenden laſſen. Ich habe ſein boͤſes Herz nicht f 


„gekant. Ich habe ſein Buch nicht gepruͤft. 
„Und nun — ſehe ich zu ſpat, mit Schreklen 
„und Entſezzen, daß er der groͤßte Boͤſewicht iſt. 
„Ich habe dieſe Woche erſt das Vuch geleſen 
„und Gotteslaͤſterungen darin gefunden, bei 
„denen mir die Haare zu Berge geſtanden ſind. 
„Auch habe ich leider jezt erſt in Erfahrung ge⸗ 
„bracht, daß die angeſehendſten proteſtantiſchen 
„Theologen ſchon vor wenigen Jahren oͤffentlich 
„ dieſe Gotteslaͤſterungen geruͤgt haben. Ich ha⸗ 
„be da eine Schrift vom Senior Soͤtze, die Ew. 
„Hochw. Gnaden mit Entſezzen leſen werden. 
„Ach ſagen Sie, wie ich meine Suͤnde buͤſſen 
„fol! les 


Der gute Weibiſchof ſtand da, wie verſtei⸗ 
nert. Er war der Mann gar nicht, der ſich 
auf dergleichen Unterſuchungen einlaſſen konte. 
Er fpielte fein Lhomberchen und verſtand ſich 
auf ein Glas lieb' Frauen Milch oder Johan⸗ 
nisberger: aber Bücher und gelehrte Streitig⸗ 
keiten lagen gänzlich auſſer feiner Sphaͤre. So 


4 4 
© 1 7 y 
Be 


1 


N wie alſo dieſer Pfaffe ihm von Gotteslaͤſterung 
ſprach, wendete ſein Eingeweide ſich um, und es 
begann ihm ſchwarz vor den Augen zu werden. 
— Um Gotteswillen, bringen Sie mir den Mens 


131 


ſchen nicht wieder ins Haus. Er hat mir das 
verfluchte Buch ſelbſt uͤberſchikt. Da nehmen 
Sie es mit, daß es aus meinem Hauſe komt. 


Weimar. Aber das Seelenheil fo vieler 


chriſtkatholiſchen Leſer bleibt doch nun in der 


groͤſten Gefahr. Wenn Ew. Hochwuͤrden Gnas 
den ohnmaßgeblich nur darauf Rukſicht zu neh⸗ 
men geruhen wolten, das verfluchte Buch ihnen 
aus den Haͤnden zu bringen und ſie den Klauen 
des Satans zu entteiſſen. Es iſt das einichleis 
chendſte Gift, was der gottloſe Bahrdr in dieſer 
Ueberſezung verborgen hat. f 

V. Scheben. Ja, da wäre es wohl gut, 
wenn es konfiſcirt wurde; Ich wils dem Kapis 
tel vortragen. 


Weimar. O das thun Ew. Hochw. Gna⸗ 
den. Es ſind doch uͤber hundert Exemplare, die 
ich unglücklicher Menſch allein untergebracht has 
be. Ach, ich werde in meinem Gewiſſen nicht 

| 32 


* 


133 a — 


ruhig, ſo lange ich ſo viele Seelen dadurch in f 


Gefahr ſehen muß. Aber ſolte man denn den & 1 


gottloſen Verführer der Seelen fo ungeſtraft hin⸗ 
gehen laſſen? Ew. Hochw. e ſind ja N 
bücherfommiffarius. | 


V. Scheben. Ja, als Kommiffeeiud kann 
ich doch nur ſein Buch verbieten: aber ſeine per⸗ 
ſon ſteht nicht unter meiner Jurisdiktion. 


Weimar. Schadet nicht, Ew. Hochw. Gna⸗ 
den. Eine fiskaliſche Klage beim Reichshofrath, 
die ſollte doch wohl etwas ausrichten. Es iſt 
ein kleiner ohnmaͤchtiger Reichsſtand, unter wel⸗ 
chem der Bahrdt ſteht. Mit dem wird man 
nicht viel Umſtaͤnde machen. 


v. Scheben. Sie haben Recht, ich will 
das Ding uͤberlegen. 


Der Pfaffe ging. Die Konfiskation erfolge 
te. Ich — erfuhr von einem Wormſer Predi⸗ 
ger, der mein Freund war (ich habe eine merk⸗ 
wuͤrdige Lebensgeſchichte von ihm in Petto) daß 
der Weimar den Weihbiſchof aufgehezt, und 
die Konfiskation angezeddelt haͤtte. Er uͤber⸗ 


| tar „K 
ſchrieb mir den weſentlichen Inhalt des obgedach⸗ 
ten Geſpraͤchs, welches er aus dem Munde ei⸗ 
nes Domherrn haben wolte, der dabei geweſen 
war. Ich war willens die Schnurre in meiner 
paͤdagogiſchen Zeitung dem Publikum aufzuti⸗ 
ſchen. Meine Freunde widerriethen mirs. Ins 
deſſen wurde die Konfisfation publicirt, und ich 
ſezte ſogleich in die beſagte Zeitung als eine 
mein Philanthropin intereſſirende Neuigkeit: „Es 
„hat dem Hochwuͤrdigen Kapitel zu Worms ges 


„fallen, die neue und verbeſſerte Ausgabe der 


„Bahrdtiſchen Ueberſezzung des N. Teſtaments in 
den biſchoͤflichen Landen zu konfiſciren 1! 14 !! 
An 


Dieſe ſpoͤttiſche Anzeige verzieh ich mir, 
weil ich die Konſiskation eines Buchs fuͤr etwas 
altägliches und unbedeutendes hielt und in meis 
nem Leben nicht gehoͤrt hatte, daß unter den viel 
tauſend proteſtantiſchen Schriftſtellern, deren 
Bücher man in katholiſchen Landen Fonfiscirt 
und dem Catalogo librorum prohibitorum einver⸗ 
leibet hatte, einem einzigen ein Haar darüber ges 
kruͤmt worden ſey. — Ich hielt die ganze Sa⸗ 

J 3 


* 


* 


che fuͤr eine Kinderpoſſe, die auf mich, als den 
Diener eines proteſtantiſchen Reichsſtandes, vl ei⸗ 
nigen Einfluß haben konte. f e 


Aber Weimar machte ſich meinen Spott 
weislich zu nuzze. Er lief ſogleich mit dem Zei⸗ 
tungsblatte nach Worms und machte dem guten 
Weihbiſchof eine ſo graͤßliche Auslegung von mei⸗ 
nen ſechs Exklamations- und Fragzeichen, daß ſich 


das gluͤkliche Phlegma des frommen und ſanften 


Mannes in die tobendſte Koleram verwandelte, 
und den Entſchluß bei ihm zur Reife brachte, 
eine Reichsſiſcaliſche Klage gegen mich zu veran⸗ 
ſtalten. * 


91 


Der Pfaffe bewunderte m Eifer des Weihe 
biſchofs fuͤr die Ehre Gottes und ſeine heilige 
Kirche, und ſchmeichelte ſeinem Ehrgeize dabei ſo 


ſehr, daß er mit der lebhafteſten Betriebſamkeit 


die Sache behandelte und in wenig Wochen die 
Klage unterzeichnet war. | 


Man ſchrieb, auf Anrathen und mit Beihuͤl⸗ 
fe des Anſtifters uͤberal herum, um Zeugniſſe ges 
gen meine Kezzerhaftigkeit aufzutreiben. Unter an⸗ 
dern mochte man gehoͤrt haben, daß der D. Berk 


u — 185 


ner in Gieſſen ehmahls gegen mich geſchrieben has 
be. Man wandte ſich daher an ihn ſeldſt und er⸗ 
ſuchte ihn um Bericht von meinen ehemahligen 
geführten Streitigkeiten. Und D. Benner ergrif 
mit tauſend Freuden dieſe Gelegenheit, mir noch 
einen Nikfang zu verſezzen, ſchikte dem Weihbi⸗ 
ſchof alle ſeine Programmen, die er inſonderheit 
gegen meine dei Varrentrapp verlegten Predig⸗ 
ten geſchrieben hatte, nebſt der Vorſtellung, wel⸗ 
che er bei Hofe gegen mich eingegeben hatte, und 
allen den Reſcripten, die bereits Darüber ergangen 
waren, um ihn zu uͤberzeugen, daß ich ein be⸗ 
reits anerkanter Kezzer ſey, und in Gieſſen auf dem 
Sprunge geſtanden hätte, meiner Irrlehren hal⸗ 
ber kaſſirt zu werden. 


So bald dieſer treuherzige Bericht eines pro⸗ 
teſtantiſchen Theologen gegen einen proteſtanti⸗ 
ſchen Theologen, zum Behuf einer katholiſchen 
Inquiſitionsſache eingelaufen war, ſchrieb man 
nach frankfurth und erhielt vom Hofrath Deinet 
(der ſelbſt gleich nachher Reichs buͤcherkommiſſa⸗ 
rius wurde) auſſer einigen wohlgemeinten Zeug⸗ 
niſſen von meiner Verdammungswuͤrdigkeit, mei⸗ 


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136 


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ne von ihm verlegten Predigten, welche denn, Rn 3 


riger Weiſe, ſtatt der varremreppiſchen, zu den 
Akten genommen, und als Beilagen zur Klage 


nach Wien verſendet wurden. * 


Ich erhielt zu der Zeit, da dieſe Kabale ge⸗ 


gen mich in Gange war, nut wenig und unvol⸗ 
ſtaͤndige Nachrichten. Der Wormſer Prediger, 
welcher mir jene erſte Nachricht gegeben hatte, 


meldete mir blos, „daß der Bokenheimer Pfaffe 
„jezt oͤfter, als ſonſt, bei dem Weihbiſchofe ſey, 
„ und dem Vernehmen nach, halsbrechende Dinge 
„ inkaminire.“ Ein anderer Freund meldete mir 
beſtimmter, daß es auf eine Keichsfiskaliſche 
Klage angelegt ſey. Die ausfuͤhrlichere Relation 
erhielt ich erft im folgenden Jahre, da meine Fein⸗ 
de ſchon alles zur Reife gebracht hatten. 


Meine Arbeiten waren zu der Zeit zu weit⸗ 
läuftig und uͤberhaͤuft, als daß ich auf ſolche 
Nachrichten meine Aufmerkſamkeit haͤtte verwen⸗ 
den koͤnnen. Und zu dem hielt ich es in der That 
fuͤr unmoͤglich, daß eine katholiſche Parthei gegen 
einen proteſtantiſchen Theologen etwas entſcheiden⸗ 


des wirken ſolte, ſo lange ſein Landesherr ihn 


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.  &inationen des Pfaffen unbekuͤmmert, meines We⸗ 


5 ſchůzte, und ſeine Gemeine mit ſeiner Lehrart zu⸗ 
frieden wäre. Und ſo wandelte ich, um die Mas 


ges fort und war zufrieden, wenn ich durch die 
Laſten mich durcharbeiten konte, welche mein In⸗ 
ſtitut mir verurſachte. 


Zwolftes Kapitel. 


Nachwehen oder Philanthropiniſche Vildergalerie. 


6. groß meine Freude war bei der Geburt 
meines Philantropins, welche ich im ſiebenten Ka⸗ 
pitel beſchrieden habe, ſo empfindlich waren die 
Nachwehen, die auf dieſe Geburt erfolgten: der 
groͤßte Theil meiner Lehrer, von denen ich mir ſo 
viel ſuͤſſe Hofnungen gemacht hatte, war mir mis⸗ 
gerathen. Schöne Verſprechungen und Vorſpie— 
gelungen hatten mich getaͤuſcht. Ich fand, ſtatt 
wuͤrdiger Männer, aͤuſſerſt verdorbene Menſchen. 
— Man kan meine Lage nicht kennen lernen, wenn 


35 


1 ei 


ich dieſe nicht zeichne. — Gott gebe, daß ich kel“ 


nem, der noch lebt, damit Schaden thue. — Mich 
bindet der Ed, den ich vor den Altären der Wahr⸗ 


beit im Angeſicht des Publikums abgelegt habe, 


meine ehemahligen Verhaͤltmiſſe volſtaͤndig zu ſchil⸗ 
dern, wie ſehr auch einer und der andere ſein Ge⸗ 
ſicht daruͤber verzerren und auf Rache denken 
wird. Tauſend noch lebende Zeugen werden mich 


rechtfertigen, wenn Einzelne über mich Schmäs- 


hungen ausgießen ſolten. 


Geiger, Reinhold, Borowsky und der alte 
Schulmeiſter waren die einzigen, welche mit nuz⸗ 
baren Kentniſſen und Lehrergaben ausgeruͤſtet wa⸗ 
ren, und dieſelben zum Beſten des Inſtituts mit 
Treue, Eifer und Rechtſchaffenheit anwendeten: 
die einzigen, welche nie von ihren Pflichten abwi⸗ 
chen, nie bei ihren Geſchaͤften Nachlaͤſſigkeit zeig⸗ 
ten, nie in ihrer Freundſchaft gegen mich wank⸗ 
ten, nie an den Kabalen der uͤbrigen Antheil nah⸗ 
men: die einzigen, welche ich unaufhoͤrlich geliebt 
und hochgeſchaͤzt habe, und bei denen mirs zuwei⸗ 
len geheimen Kummer verurſachte, wenn ich ſie, 
wegen Unvermoͤgenheit, nicht ſo belohnen konte, 


ä 


. Ehen 


wie, es mein Herz ſehnlichſt wuͤnſchte, und ihre 
Verdienſte um mich, und das Inſtitut es erheiſch⸗ 


ten. — Die uͤbrigen alle haben mir tauſend⸗ 
faͤltige Aergerniſſe oder weten tk ver⸗ 
Keſacht )“ en | | 
fi at * 
Der Rektor Weidman zeigte mir leider 
gleich in den erſten Stunden ſeiner Ankunft, daß 
ich mit ihm betrogen war. Schon feine” ganze 
aͤuſſerliche Perſon verurſachte, beim erſten Anblik, 
daß mir der Muth entfiel. Er war eine unge 
heure lange Figur, und ſo duͤrre dabei an Koͤr— 
per und erdfahl von Geſicht, daß man ihn haͤtte 
mahlen muͤſſen, wenn man die Geſtalt des Hun— 
gers hätte aufſtellen wollen. Sein Auge war 
truͤb, ſeine Stirn niedrig, und ſein Mund breit 
genug, ein Pfennigbrod ganz zu verſchlingen. 
Doch das aͤuſſerliche ſchrekte ſo ſehr mich nicht, 
weil ich Lavaters Glauben nicht habe. Aber da 
ich mit ihm von Paͤdagogik anfing zu fprechen, 
da uͤberſiel mich Angſt und Bangigkeit. Ich fand 
auch nicht einen verdauten Gedanken in ihm. 
Bald kam ich auf Roͤmer und Griechen und er 


verſtand ſie nicht. Des andern Tages gab ich ihm 


meinen Entwurf zur . dab 
5 zu meiner Erleichterung, den aufs reine zu brin⸗ 
geͤn: und da er drei ganzer Tage daruber gebuüs 1 
| tet hatte, erſchien er endlich mit einer Tabelle, in N 
welcher auch nicht ein einziges Fach richtig und 
mit den andern uͤbereinſtimmend war. Und nun 
ſahe ich, daß der Mann kaum in den unterſten 
Klaſſen zu gebrauchen war. — Ich will meine 
Gemaͤlde vollenden. — Das Inſtitut hatte noch 
gar nicht lange ſeinen Anfang genommen, ſo hoͤr⸗ 
te ich ſchon uͤberal von den verdorbenſten Sit⸗ 
ten dieſes Mannes munkeln. Man hatte auf 
feine Stube Brantwein bemerkt. Man hats 
te ihn zu verſchiedenen Zeiten taumeln geſehen. 
Endlich hatte ihn gar ein erwachſener Schuͤ⸗ 
ler im Garten mit einer Dirne in der vertraulich⸗ 
ſten Stellung erblikt. — Man denke ſich meinen 
Kummer. Ich mußte ſelbſt anfangen, ihn aus⸗ 
zukundſchaften, um nicht durch Verleumdungen 
hintergangen zu werden. Und leider fand ich al 
les noch ſchlimmer, als man mirs berichtet hatte. 
Der Mann hatte ſich wuͤrklich an den Trunk ges 
woͤhnt, und das gute Leben bei mir, hatte ſeine 
Geſundheit und Kräfte in ſolchen Ueberfluß ver 


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4 kat, daß er faſt taglich Beduͤrfniſſe hatte, welche | 


2 


er an dieſem Orte nicht ohne einen nachtheiligen 


Eklat befriedigen konte. Ich mußte nach verfluß 


eines halben Jahres, um das Inſtitut nicht zu be⸗ 


ſchimpfen, eine Perſon abfinden, welche Anſpruͤ— 


che an ihn machen wolte und konte doch damit 


nicht verhuͤten, daß nicht meine Feinde die gehaͤſ— 


ſigſten Ausſtreuungen machten, und mich mit 


ſamt meinen Lehrern eines ͤrgerlichen Betragens 


beſchuldigten. 


Herr Junker war ein Herzensguter Mann, 
von unbeſtechlicher Rechtſchaffenheit. Aber — 
er hatte ſtudieret, wie jezt leider viele junge Leute 
ſtudiren, welche ſich einbilden, Genie's zu ſeyn, 
ihre Kollegia vernachlaͤſſigen „den ganzen Tag 
Romanen und Verschen leſen, bald auch ſelbſt ans 
fangen, ſchriftſtelleriſche Kontrebande zu liefern und 


mit einem von allen eigentlichen Wiſſenſchaften 


leergebliebenen Kopfe in die Welt treten. Er war 


ein ſchoͤner Geiſt d. h. er konte über einzelne Ge 
genſtaͤnde allerlei zuſammentragen, konnte das 
in einem gebluͤmelten Style vortragen, und ein 
ertraͤgliches Gedichtchen machen. Und das war 


alles Seine Detlämation war erbͤrmlich. * 1 5 
hatte nur wenig Toͤne und war von Natur heiſch. 0 


Und ſo beſtand fein Deklamiren in einem verdreh⸗ 1 


ten Auge, und einer affektirten Herausworgung des 


Tons, und — war nicht zu genieſſen. Er war faſt 
in keiner Klaſſe mit Nuzzen anzuſtellen. Im Um⸗ 
gange mit Kindern war er gut. Er wußte ihre 


Liebe zu gewinnen. Aber er that auch den Scha⸗ 


den, daß er Zoͤglinge, welche nur einige Weichheit 
des Herzens hatten, zur Empfindelei verführte, 
die, ihm ſelbſt eigen war. 


Siegmund — hatte mich am meiſten ge⸗ 
taͤuſcht. Er hatte eine bloͤkende Dis kantſtimme, 
die das Ohr ſo empoͤrte, daß jeder Fremde da⸗ 
von lief, ſo bald er ihn reden hoͤrte. Seine Sit⸗ 
ten waren völlig roh und er beſaß dabei eine Zu⸗ 
dringlichkeit und Unverſchaͤmtheit, die eben fo ſehr 
verſcheuchte, wie ſeine Stimme. — Seine vorgeb⸗ 
lichen 2000 Gulden Illata ſchraͤnkten ſich auf 
ſein Ehebette, ein halb Duzzend Stuͤhle und Ti⸗ 
ſche, einige Schraͤnke, und etliche Faß Brant⸗ 
wein ein. Die Lichter, die er goß, waren de⸗ 
nen gleich, die wir laͤngſt ſchon gegoſſen hatten: 


- 
2 


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Seine grüne Wagenſchmiere war gut: aber da 
wir ſie nach Frankfurth brachten, fand ſie keinen 
Debit, und man bot ſo wenig drauf, daß am 
Faſſe ein Thaler verloren wurde. Das alles haͤtte 
noch hingehen moͤgen. Aber der Mann beſaß ei⸗ 
nen Grad von Ignoranz, der ihn zu allen Arten 
der Lehrſtunden untauglich machte. Ich mußte 
ihn in die Oekonomie ſtekken und, ob er da gleich 
erträglich that, was zu thun war, fo ward mir 
doch dies auf einer andern Seite wieder verbittert, 
indem er ſich und ſein liebes Weib ſo wohl bedach⸗ 
te, daß ich haͤtte an ſeiner ſtatt vier tuͤchtige Leh⸗ 
rerſ unterhalten koͤnnen. Sein Karakter war Faul⸗ 
heit, Impertinenz und niedrige Habſucht. Uebri⸗ 
gens war er im ganzen Schloſſe der rechtglaubig⸗ 
fie Menſch, der an den ſymboliſchen Buͤchern kei— 
ne Sylbe bezweifelte, und ſich fuͤr die Exiſtenz 
des Teufels und die ewigen Hoͤllenſtrafen bis zum 
Schlagen herumzankte. Ich weis auch keinen 
Menſchen, der ſo algemein widrig und unausſteh⸗ 
lich geweſen waͤre, als er. 


Der reformirte franzoͤſiſche Kandidat aus Ge 
neve trug nicht wenig bei, mein Inſtitut in ſchlech⸗ 


1 


ten Ruf zu bringen und meinen perſoͤnlichen Fein⸗ ; 
den Gelegenheit zu geben, die Sitten meiner Yeh- 
rer und Zoͤglinge auf meine Rechnung zu ſchrei⸗ 
den oder bei ihren Anekdoten meinen eignen Na⸗ 
men unterzulegen. Ich kan ihn nicht beſſer ſkizi⸗ 
ren, als wenn ich ſage, er war ein kompleter jun⸗ 
ger Franzos. Ein Menſch von drei und zwanzig 
Jahren, gut gewachſen, ein ſchoͤnes Geſicht, mit 
einem bluͤhenden Roth und ſchwarzen Bart, die 
Geſundheit ſelbſt und nun — faſelhaft, winzig, 
drolligt, verliebt, dem Putze ergeben, unverſchaͤmt, 
ſich uͤber alles hinwegſezzend und — zu allen ern⸗ 
ſten Arbeiten verdroſſen. Früh war er nie mit 
den Zoͤglingen aus dem Bette zu bringen. Keine 
Lektion wartete er mit Puͤnktlichkeit ab Beim Ef 
ſen und Teinken war er der raſcheſte Bachant. 
Sitten und Wohlſtand achtete er nicht, wenn 
ſeine Laune Ausnahme erheiſchte. Kein huͤbſches 
Frauenzimmer durfte ſich vor ihm ſehen laſſen. So 
wie etwas von der Art im Schloſſe ſichtbar wur⸗ 
de, ließ er alles ſtehen und liegen, kleidete ſich wie | 
ein Adonis und draͤngte ſich herzu, und das mit 
fo ſichtbaren und unverholnen Zeichen der verlieb⸗ 
ten Raſerei, daß es den kleinſten Zoͤglingen auf⸗ 
fal⸗ 


* 


9 145 


fallend wurde. Des Abends konte man ihn ge⸗ 


woͤhnlich in den Armen einer feiſten Bauerndirne 


finden, und er war nie gewohnt, den Ort des Ren⸗ 
dern mit Delikateſſe zu waͤhlen und den Zoͤglingen 
auszuweichen. Sein Vergnuͤgen war, ſich auszu⸗ 
zeichnen und ſo genante Genieſtreiche zu ſpielen. 
So ließ er ſich z. B. einſtmalen von weiß und blau 
geſtreiftem Zwillig einen Matroſenhabit machen 


und fuhr in dieſer Hanswurſtkleidung auf einem 


Kahne in dem Schloßgraben herum, und gab ſich 
den Zoͤglingen und dem Publikum zur Schau. 
Auch fuͤr ihn hab ich eine Abfindung uͤbernehmen 


muͤſſen, die mich etliche funfzig Gulden gekoſtet 


hat. Ich that alles, um die Ehre des Inſtituts 
zu ſchonen und böfe Geruͤchte zu unterdruͤkken. 
Aber ich mußte dieſen Menſchen endlich doch fort⸗ 
ſchaffen und mir aus feiner Gegend dadurch mans 
chen Zoͤgling verſchlagen, weil alle meine Verſu— 
che, den Mann durch freundſchaftliche Vorſtellun— 
gen zu beſſern oder wenigſtens bei ſeinen Thor— 
heiten vorſichtiger und verborgner zu machen, 


fruchtlos blieben. 


III. B. K 


Dreizehntes Kapitel. 
Fortſezzung der Galerie. \ 


x (ſonſt Ibbeken genant) that mir nie 
durch ſeine Sitten, deſtomehr aber durch ſeine In⸗ 
trigen Schaden. Er war ein Mann, der ſich aͤu⸗ 
ſerlich vortreflich zu benehmen wußte. Seine 
Kentniſſe waren in allem Betracht ſeicht: aber er 
wußte ſich ein Air zu geben, als ob er der erſte 
Mann in ſeiner Art ſey. Hingegen ſein Kopf wim⸗ 
melte von großen Projekten, und er war dabei 
niederträchtig genug, Pflicht und Freundſchaft 
aufzuopfern, ſobald er Hofnung ſahe, eines der⸗ 
ſelben durchſezzen zu koͤnnen. Unaufhoͤrlich ſtrebte 
er darnach, in meinem Inſtitute die dirigirende 
Perſon zu werden: wenn ihm das nicht gelingen 
wolte, das Inſtitut zu ſtuͤrzen, und aus deſſen 


Truͤmmern eines neues zu errichten, welches er 


allein kommandiren koͤnnte. Ich wuͤrde viele Bo⸗ 
gen fuͤllen, wenn ich die vielfaͤltigen Kabalen er⸗ 
zaͤhlen wolte, welche der Menſch geſpielt hat, um 
zu dieſem Ziele zu gelangen. Aeuſerlich ſchmei⸗ 
chelte er mir beſtaͤndig, aber in keiner andern Ab⸗ 


a 17 
ſicht, als mein Vertrauen zu gewinnen und mich das 
hinzubringen, daß ich ihm eine Art von Mitdirektion 
übergeben möchte. Da Schmeicheleien nicht hel⸗ 
fen wolten, verſuchte er es durch Verſprechungen 
ungeheurer Vortheile, welche er mit romanhaften 
Erzaͤhlungen von ſeinen geheimen Verbindungen 
und Verhaͤltniſſen in Deutſchland und England 
zu unterſtuͤzzen wuſte. Als er ſahe, daß ich zu 
vorſichtig war, und mich nicht eher auf eine an— 
getragene Aſſociation mit ihm einlaſſen wolte, bis 
ein Theil der Summe, die er mir vorgeſpiegelt 
hatte, herbeigeſchaft, oder durch unverdaͤchtige 
Zeugen unter ſeinen geheimen Freunden in En— 
gland beglaubiget ſey, ſchlug er den Weg der Ver— 
hezzung ein. Mit der Mine des Bekuͤmmerten 
kam er von Zeit zu Zeit und theilte mir die trau 
rigſten Entdekkungen mit, die er an meinen uͤbri⸗ 
gen Lehrern gemacht haben wolte. Einige hatten 
Schein. Ich ward mistrauiſch. Und er, hofte 
auf dieſe Art mich und alle Lehrer nach und nach 
an einander zu hezzen, und mich mit Argwohn 
und ſie mit Verdruß uͤber mein verlornes Zutrauen 
zu erfüllen. Endlich da auch dies nicht durchgrei⸗ 
fend wirken wolte, ohngeachtet tauſend kleine 
K 2 


* 


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* 


Verdruͤßlichkeiten vorfielen und wirklich eine al 
gemeine Gaͤhrung der Gemuͤther entſtand, ber wel⸗ 


cher keiner mehr dem andern traute und auch u 


mir den alten Muth nicht mehr hatte, ſuchte er 
ſich einige heraus, die er zu einem foͤrmlichen 
Komplor brauchbar hielt. Siegmund war das 
runter, ſo viel erinnere ich mich genau. Mit die⸗ 
fen kam er des Nachts zuſammen, ſpiegelte ihnen die 
große Summen vor, die er heimlich beſizzen wolte, 
verſprach ihnen goldne Berge, und that den Vor— 
ſchlag, daß fie gemeinſchaftlich noch einige der beiten 
Lehrer an ſich ziehen und dann ploͤtzlich alle auf ein⸗ 
mal mir ihre Dienſte aufſagen und auch in einer 
Stunde abreiſen wolten. Wenn dann mit einemmal 
mein Inſtitut ohne Lehrer waͤre; ſo wolte er in ſeinem 
Namen eine Nabricht ins Publikum ergehen laſ— 
ſen, mich als einen unmoraliſchen Mann ſchildern, 
dazu er bereits durch verſchiedene Ausſtreuungen 
den Grund gelegt hatte, und das Publikum einla— 
den, ihm die Kinder anzuvertrauen, welche in allem 
Betracht bei mir hätten verderben muͤſſen. Vor- 
her aber wollte er ſich eines Plazzes verſichern, 
wo er foaleich die Zöalınge aufnehmen koͤnte, wel— 
che zu ihm übergehen wurden. Dabei wurde denn 


. 
1 


\ 1 


auch beſchloſſen, daß man die Zoͤglinge, durch vers 
traute Ge praͤcke, bei einſamen Promenaden, ge: 


gen mich einnehmen, gewiſſe ſchlechte Streiche der 
Lehrer (um mich veraͤchtlich zu machen) mir ſchuld 
geben, ihnen meine ſtrenge und eigenſinnige Be— 
handlung zuwider machen und durch Schilderun⸗ 
gen eines weit angenehmern Zuſtandes, der ſich 
vielleicht bald ihnen darbieten wuͤrde, ſie geneigt 
machen wollte, auf den erſten Wink an ihre Eltern 
zu ſchreiben und ſich ihre Verſezzung in das neue 
Thomſonſche Philanthropin zu erbitten. — Zu 
meinem Gluck entdeckte mein Reinhold dieſe naͤcht— 
lichen Zuſammenkuͤnfte und benachrichtigte mich 
davon. Wir fanden beide fuͤr rathſam, die Sache 
mit Vorſicht zu behandeln. Reinhold mußte den 
Thomſon aufſuchen und einige Klagen gegen mich 
bei ihm anbringen. Dieſer ward gleich vertraut 
und ſagte ihm, daß er ein Thor ſey wenn er ſich 
von einem Mann, wie ich, der ſo wenig Urſache haͤt⸗ 
te, auf etwas ſtolz zu ſeyn, ſo deſpotiſch behandeln 
lieſſe. Kurz, Reinhold beſchleicht ſein Herz und 
gewinnt fein Vertrauen dergeſtalt, daß er ihn ſelbſt 
zu den naͤchtlichen Zuſammenkuͤnften einladet. So 
bekam ich alle Protokolle, welche die Komplotir⸗ 
15 K z 


1850 —— 


ten dabei zu führen pflegten, und welche die Punk⸗ 0 ; 


te enthielten, worüber fie ſich nach und nach ver⸗ 
einbaret hatten, durch Herrn Reinhold in meine 
Gewalt, und konte meine Masregeln nehmen, 
die Konjuration in der Stille, (denn ſo wohl um 
des Publikums als um des gefaͤhrlichen Thomſons 
willen durfte ich nicht oͤffentlich und mit Sturm 
agiren) zu zerſtoͤren und das ganze Projekt zu 
vereiteln. Die meiſten komplotirten kamen auch, 
fo bald fie merkten, daß fie bei mir verrathen was 
ren, als busfertige Suͤnder uud baten um Gnade: 
und Thomſon ſelbſt wußte fo fein ſich zu bench- 
men, daß ich ſeine Reue fuͤr Ernſt hielt und ſeine 
Verſtoſſung wenigſtens aufſchob. 

Noch hatte ich einen Arzt im Philanthropin, 
einen gewiſſen D. Fries von Strasburg, welcher 
mir manche ſchlafloſe Nacht erzeugte. Er hatte 
ſich gegen Johannis mir angetragen und war, 
durch feine Verwandte in Gruͤnſtadt, mir auſſer⸗ 
ordentlich empfohlen worden. Und ich muß ge⸗ 
ſtehen, daß er meine Erwartungen als Lehrer und 
Arzt des Inſtituts nicht blos erfuͤllt, ſondern noch 
uͤbertroffen hat. Er war ein uͤberaus geſchikter 


Mann. Ich bin gewiß, daß er in der größten 
Stadt brilljirt haben wuͤrde. An vielen meiner 
Zoͤglinge und ſelbſt an einem meiner Kinder habe 
ich Gelegenheit gehabt, ſeine gruͤndliche Beurthei⸗ 
fung der Krankheit, feine geſchikte Wahl der Heils 
mittel, ſeine erſtaunende Aufmerkſamkeit auf die 
kleinſten Veraͤnderungen des Patienten, und dabei 
feine unermuͤdete Sorgfalt und Treue zu bewun— 
dern. Er wuͤrde auch bald in der ganzen Gegend 
bekant, und wuͤrde durch ſeinen guten Ruf von 
entfernten Patienten aufgefodert worden ſeyn, 
wenn nicht ein an ſich unbedeutender Umſtand ſei— 
ner Reputation auf einer andern Seite Schaden 
gethan hatte, Er mochte in Strasburg mit einem 
Maͤdchen in Verbindung gerathen ſeyn, welche 
ihn, wie ſie vorgab, bei ſeinem Studiren unter⸗ 
ſtuͤzt hatte (denn er war ſehr arm) und von ihm 
ſchwanger geworden war. Dieſe Perſon, in de⸗ 
ren Betragen ich in der That keine ſchlechte Dirne 
bemerkbar fand, kam ihm bald nach, und verlang⸗ 
te die Erfuͤllung ſeines Verſprechens, ſie zu hei⸗ 
rathen. Der Mann betrug ſich mit moͤglichſter 
Vorſicht. Er ſahe die Unmoͤglichkeit, ſie ins Phi⸗ 
lanthropin zu nehmen und von ſeinem Gehalt mit 
K 4 


452 7 — —— 


ihr zu leben. Er beredete ſie zum Abzug. Aber 
ſie kam wieder und brachte das Kind mit. Man 
ſahe fie täglih ums Schloß herum gehn und ih⸗ 
ren Geliebten aufpaſſen. Endlich miethete fie ſich 
gar auf einem benachbarten Dorfe ein. Und nun 
verbreiteten ſich gleich, durch Zuthun meiner bes 
triebſamen Feinde, die ſchaͤndlichſten Anekdoten, 
deren immer eine die andere an Abentheuerlich⸗ 
keit übertraf. Kurz die Ehre des armen Doktors 
ward mit der meinen zugleich auch dadurch ange⸗ 
griffen und vielfältig gebrandmarkt. 


Vierzehntes Kapitel. 


Fortſezzung. 
0 


N. Theure Sigismundus hatte mir ſtatt der 
2000 Gulden Illata einen Hausmeiſter zuge⸗ 
ſchanzt, der ebenfals jenem elenden Geſindel Stof 
gab, welches ſich damit beſchaͤftigte, von mir und 
dem Inſtitute Teufeleien zu verbreiten, und alle 
Eltern abzuſchrekken, welche ihre Kinder uns an⸗ 


1 


N u 


——— Sy 153 


vertrauen wolten. Es war ein Menſch, der an 
Geſchiklichkeit ſeines gleichen ſuchte, aber auch, 
wie ich glaube ein ausgelernter Galgenvogel. Ich 
hoͤrte auch ſehr bald allerlei Gemunkel, daß er 
in einem benachbarten Lande Streiche verübt hats 
te, und vieleicht nur durch die Flucht, dem obrig⸗ 
keitlichen Wuͤrgengel entgangen wor. Indeſſen 
leiſtete er mir ſehr gute Dienſte. Er war der ar— 
beitſamſte und unverdroſſenſte Menſch, den ich in 
meinem Leben geſehen habe. Er ſchlief nur we: 
nige Stunden. Fruͤh war er der erſte auf, und 
Abends der lezte im Bette. Alles, was ich ver— 
langte, konte er. Er war der perfekteſte Koch. 
Er verſtund Weinbehandlung, Viehzucht, und al: 
les, was in eine Wirthſchaft gehoͤrt. Er war ein 
volkomner Drechſler, Tiſcher, Hafner ꝛc. Er vers 
fertigte die kuͤnſtlichſten Werkzeuge. Kurz, er war 
ein Originalkopf und ſonach einer von denjenigen 
Menſchen, welche bei einer beſſern Erziehung und 
Anfuͤhrung wirklich groſſe Menſchen geworden 
waͤren, ſo wie er jezt, bei feiner ſchlechten Erzie— 
hung, auf dem Wege zum Galgen ſich befand. 
Dieſer Menſch diente mir als Koch und Haus— 
meiſter zugleich und verrichtete ſein Amt zu mei⸗ 
K 5 


” 


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4 N * 1 
154 Der ® 


ner volkommenſten Zufriedenheit. Er arbeitete 
leicht und mit Geſchik. Und er leiſtete, was 
kaum drei Mann gewoͤhnlich zu leiſten pflegen. 
Und bei aller ſeiner unermuͤdeten Thaͤtigkeit war 
er aͤuſerſt genuͤgſam. Er begnuͤgte ſich, ein Stuͤk 
trokken Brod aus der Taſche zu eſſen, wenn mei⸗ 
ne Geſchaͤfte es erforderten, daß er die Mahlzeit 
ausſezte. Sein einziger Fehler war, daß er gerz 
ne ſchnapſte. Er übernahm ſich zwar nicht leicht 
fo, daß mans ihm anſah, oder daß ſeine Geſchaͤf⸗ 
te litten. Aber einigemal fanden wir ihn doch in 
der Pfuͤzze. — Dieſer Menſch kam einſt und er: 
oͤfnete mir, daß er ein Geheimniß beſizze, ein ſil⸗ 
berfarbigtes Metall hervorzubringen und zu ver— 
arbeiten, welches ſich zu den feinſten Gefaͤſſen bez 
nuͤzzen lieſſe, und er that mir den Vorſchlag, 
vorerſt, für meine Wirthſchaft, Meſſer, Löffel, 
Leuchter u. dgl. zu verfertigen, und alsdann, wenn 
mir die Probe gefiele, und von Andern fuͤr Silber: 
arbeit angeſehen wuͤrde, die Sache ins Groſſe zu trei⸗ 
ben und mit dieſem weißen Metall einen Handel an⸗ 
zufangen. Ich warf dieſen Vorſchlag nicht weg, 
weil ich aus andern Proben ihn ſchon als einen 
raffinanten Kopf kante. Es wurde alſo das Bes 


male 


Ha, — — 155 


noͤthigte angeſchaft, um eine Probe zu machen. 
Aber die Verſuche misriethen. Ich ſahe wohl, 
daß der Menſch vom Zuſehen, allerlei Kentniſſe 
von Verbindung und Trennung der Metalle erz 
haſcht hatte: aber daß er die Sache doch nicht 
gruͤndlich verſtund. Wir arbeiteten in der Stille, 
ohngefaͤhr drei Wochen, und da bei weiderholten 
und veraͤnderten Verſuchen das nicht zum Bor— 
ſchein kam, was er verſprochen hatte; ſo ſchlug 
ich die ſchmelztigel entzwei und gab die Arbeit 
auf. — War es nun, daß er ſelbſt im Trunk ſich 
verrathen hatte, oder daß durch Spionerien des 
Thomſon oder eines andern Menſchen etwas ent— 
dekt worden war, kurz, es fingen an Maͤhrchen 
herumzuſchleichen, daß ich Alchymie triebe und 
mit Goldmacherei mich abgaͤbe, um meine ver— 
fallne Aktien auf dieſem Wege wieder herzuſtellen. 


Noch machte mir auch mein Giro manche 
Noth durch ſeine Kraͤnklichkeit. Dies war einer 
der rechtſchaffenſten Maͤnner, mit dem ich je in 
Verbindung geſtanden habe. Er war ein geuͤbter 
Kaufmann und führte meine weitlaͤuftigen oͤkono⸗ 
miſchen und merkantiliſchen Rechnungen ſo vol⸗ 


156 —— — 


kommen, als fie gewiß in keinem ähnlichen Inſti⸗ 
tute noch geführt worden find. Aber er kam leider 
ſchon mit der vollen Schwindſucht nach Heides⸗ 
heim. Es vergieng keine Woche, daß er nicht ei⸗ 
nen Tag oder mehrere bettlaͤgerig war: dadurch 
wurden alle Augenblik Lehrſtunden verſaͤumt, die 
er in der doppelten Buchhandlung zu geben hat⸗ 

te. Dadurch wurde oft die richtige Fortſezzung 
der Rechnungen unterbrochen, bis ich ſelbſt von 
ihm die doppelte Buchhaltung begrif, und im 
Nothfall ſeine Stelle vertreten konte. Dadurch 
endlich wurde mancher Verdruß fuͤr mich erzeugt, 
wenn ich alle Augenblik die ungezognen Zoͤglinge in 
Ordnung bringen mußte, die in feinen Lehrſtunden 
unfolgſam waren, um ihn nicht durch Aergerniß 
wieder bettlaͤgerig werden zu laſſen. Denn er 
war äuſſerſt empfindlich und eigenſinnig dabei, 
und es gab beſtaͤndig Faͤlle, wo ſeine Schuͤler ihn 
reizten, weil er theils immer von verſtimter Laune 
war theils wegen Engbruͤſtigkeit nicht laut und 


vernehmlich mit ihnen ſprechen konte. 


4 


—————————— — — on 


| 157 
9 n Funfzehntes Kapitel. 


uebermeuſchliche Laſten, und Leiden. 


Ja habe in den vorigen Abſchnitten meinen Les 
ſern Gemaͤlde meiner Lehrer aufgeſtellt: aber in 
der That zugleich die Geſchichte meiner Truͤbſale 
in ihr ſtaͤrſtes Licht geſezt. Und doch — iſt Ihe 
nen noch nicht der zehnte Theil von den Laſten und 
Leiden bekant, welche das liebe Philanthropin mie 


auferlegt hat. Gewiß, fie uͤberſnegen beinahe al- 


le menſchlichen Kraͤfte. 


Der Buchhaͤndler hielt ſo viel Wort, wie 


Siegmund. Der Laſtwagen voll Bücher war das 


erſte und lezte, womit er einigen Ernſt bezeigt hatz 
te, ſeine Verſprechungen zu erfuͤllen. Er that 


anfangs zwar ſehr eifrig. Er kam alle Wochen 
auf etliche Tage nach Heidesheim und beſorgte 


die Handlung. Er betrieb das Weſen mit ſolcher 
Hizze, daß ich mich von ihm bereden ließ, noch 
immer auf ſeine verheißnen Gelder rechnend, eine 


eeigne Drukkerei anzulegen. Ich widmete ihr eines 


der Na welche vor dem Schloſſe lagen, nn‘ 
mir vom Fuͤrſten zur Miethe überlaffen waren. 
Ich wendete ein paar hundert Gulden auf die noͤ⸗ 
thigen Reparaturen. Ich ſchloß mit dem Buch⸗ 
drukker Gegel in Frankenthal, der ſich ſelbſt dazu 
anſchmeichelte (denn der Menſch konte kriechen 
und grob ſeyn, wie ers noͤthig fand) einen Akkord, 
in welchem er ſich anheiſchig machte, zwei Preſ⸗ 
ſen nach Heidesheim zu ſchaffen, ſie mit den noͤ⸗ 
thigen Arbeitsleuten zu verſehen, die erforderli⸗ 
chen Schriften, Papiere, Farbe u. ſ. w. herbei 
zu ſchaffen sc. Dagegen machte ich mich verbindlich, 
dieſe beiden Preſſen ſtaͤts mit Arbeit zu verſor⸗ 
gen (denn wir hatten auſſer meinen eignen Schrifs 
ten, Schulbuͤchern, Ausgaben lateiniſcher und grie⸗ 
chiſcher Autoren, Auszuͤge aus nuͤzlichen Schrif⸗ 
ten u. d. im Sinne) und dieſe Arbeiten nach ei⸗ 
nem feſtgeſezten Preiſe halbjaͤhrig zu bezahlen. 
Dieſe Sache kam in ſo weit zu Stande, daß Ge— 
gel die Preſſen und Arbeiter transportirte. Ich 
fing gleich die paͤdagogiſche Zeitung an. Ich 
beſorgte eine neue Ausgabe meines marſchlinzer 
Erziehungsplans, welchem ich meine in Heides⸗ 
heim gehaltene Einweihungsrede und den Plan 


se - * „ 
\ 


. 


meines neuen Inſtituts beifuͤgte. Ich fing an, 
Lehrbuͤcher für die verſchiedenen Klaſſen zu fehreis 
ben. Ich kaufte die beſten Ausgaben der Klaſ— 
ſiker, um einen wohlfeilen Abdruk zu veranſtal— 
ten. Und da alles in der feurigſten Thaͤtigkeit 
war, fing mein Buchhändler an, auſſen zu blei— 
ben. Anfangs kam er noch auf einzelne Stunden, 
that geſchaͤftig, vertroͤſtete auf Geld und endlich 
— blieb er ganz weg und ließ mich im Stiche. 


Man denke ſich die unbeſchreibliche Laſt, die 
mir jezt auf dem Halſe lag. Ich mußte das 
Waarenlager in Obacht nehmen, aus welchem 
faſt täglich, bei der Menge der Fremden, die uns 
beſuchten, etwas verkauft wurde. Ich muſte in 
der Drukkerei den Faktor machen, und den Sez— 
zern und Drukkern ihre Arbeit zutheilen und Auf— 
ſicht halten: weil Gegel nur einen Tag woͤchent— 
lich herunter kommen konte. Ich mußte unab⸗ 
Käfig ſelbſt arbeiten, und Manuſcript ſchaffen, 
um die Sezzer und Drucker nie muͤſſig zu laſſen. 
Ich mußte alle Korrekturen beſorgen, da unter 
meinen Lehrern kein einziger ſich fand, der die 
Zeichen verſtand und Akkurateſſe genug hatte, alle 


160 | een 11 s > 


Fehler zu bemerken und eine gleichfoͤrmige Rechts 
ſchreibung zu behaupten. Ich mußte die Zeitung 
woͤchentlich ſchreiben, da auch für fie kein einzi⸗ 
ger Lehrer mir Huͤlfe leiſten konte, auffer Herrn 
Junker, der zuweilen etwas lieferte, das gewoͤhn⸗ 
lich ſeicht und ungenießbar war. Bei Gott, 
es war oft zum Verwirrt werden, wenn bald der, 


bald jener Sezzer Arbeit foderte, bald das Manu⸗ 


— 


ſcript zur Zeitung noch nicht ausreichte, bald in | 
der Drukkerei Zank und Uneinigkeit zu ſchlich⸗ 
ten war, bald Kaͤufer mich foderten, die ein Buch 
aus dem Laden haben wolten, bald Gegel um 
Vorſchuß mich plagte ꝛc. Und dieſe Beſtuͤrmun⸗ 
gen meines armen Kopfes nahmen taͤglich um 
deſtomehr uͤberhand, jemehr die Arbeit von Ge⸗ 
geln gefoͤrdert wurde, und die Vorraͤthe zum 
Druk abnahmen. Zulezt mußte ich alles zuſam⸗ 


menwerfen, und Gegeln mit all feinem Volke vers 


abſchieden, wobei der ehrenfeſte Mann eine 
Rechnung von 2000 Gulden gefaͤlligſt uͤberreich⸗ 
te, welche ich ihm in einer Zeit von fuͤnf Mona⸗ 
ten ſchuldig geworden ſeyn ſolte. Indeſſen ver⸗ 
ſtand ich mich ſehr gut darauf, ihm feine Sachen 
zu tapiren und die erſchlichnen Rubriken zu ent⸗ 

dek⸗ 


* 
+ 
h 
x 
5 


— zum 0 161 


dekken. Er nahm zulezt mit einer ganz kleinen 
Summe vorlieb und trollte ſich. 


Waͤhrend dieſer Drukkerei Epoche fuͤgte ſichs, 
daß ich ſogar von Berlin aus bombardirt und 
in meinem Schloſſe geaͤngſtet wurde. Ich hatte, 
von unzaͤhlichen Menſchen aufgefodert, es unter— 
nommen, aus Tikolai's algemeinen deutſchen Bis 
bliothek einen Auszug der theologiſchen Artikel der— 
ſelben zu veranſtalten, womit ich denen zu ſtat— 
ten kommen wolte, welche ſich nicht im Stan— 
de befanden, dieſe ganze Bibliothek ſich anzu— 
ſchaffen. Herr Nikolai konte dabei gar nichts 
verlieren. Und Auszüge aus Büchern zu mas 
chen und fie dem Deuk zu übergeben, ſchien mir 
eine fo gewöhnliche als rechtmaͤſſige Sache zu ſeyn, 
daß ich mirs gar nicht traͤumen ließ, mit jemand 
daruͤber in Krieg verwikkelt zu werden. Ueber— 
dem dünfte es mir ein aͤuſerſt wichtiges und nuz⸗ 
bares Unternehmen zu ſeyn. Denn es iſt unleug⸗ 
bar, daß die algemeine Bibiothek eine Hauptquelle 
der Aufklaͤrung in Deutſchland geweſen iſt, und 
das meiſte dazu beigetragen hat, eine liberale 
Denkungsart unter der Nation zu verbreiten. 

IL B. L 


162 — — 


Ich Hofte alſo ein recht gutes Werk zu thun, wenn 
ich ein Baͤchlein dieſer Quelle abſtach und es auf 
alle diejenigen leitete, welche unvermdgend waren, 
die ganze Quelle zu benuzzen. Aber Herr Nifos 
lai dachte: mit nichten! wer die ganze Bibliothek 
nicht kaufen kan, ſol gar nichts Davon ſchmau⸗ 
ſen. Er donnerte ſtraks in einem gedrukten Feh⸗ 
debriefe mich an, verſchrie mich als einen ſcheus⸗ 
lichen Nachdrukker, nannte mich einen Kolporteur 
oder Buͤcherhoͤker, drohte mit gerichtlicher Klage, 

ſchrie das Publikum aa, einen Raͤuber ſeines Ei⸗ 
genthums nicht zu beguͤnſtigen und begann einen 
Lärm, als ob die Suͤndfluth kommen und mich mit 
ſamt dem Philanthropin erfäufen muͤſte. 


Herr Ruͤhl ließ das Toben des Berliner littera⸗ 
riſchen Jupiters nicht unbenuzt. Er uͤberredete den 
Fuͤrſten, daß meine Ehre geſchaͤndet ſey. Und 
es erfolgte durch feine Veranſtaltung ein Reſeript, 
in welchem mir der fernere Druk der Auszuͤge aus 
der Bibliothek unterſagt wurde. Ich hatte bei 
der Sache erſtaunenden Verdruß, ſezte aber doch 
die Arbeit im Stillen fort, um das halbe Duzzend 
Stuͤkke vollzumachen und trat dann — von dieſer 


u 1 n 3 ta ip ® \ 173 j 1 N 
5 ö 1 f 15 5 e 163 


Zaentzühne ab. — Ib habe indeſſen doch bei der 


N Gelegenheit ein paar hundert rechtglaͤubige Prarz 
herren und Kirchendiener im Reiche, durch dieſe 
Auszuͤge, in Odem geſezt und einige Schuppen ih⸗ 
rer Orthodoxie ihnen von den Augen geriſſen, daß 


fie den Weg des eignen Nachdenkens über Reli- 


gion einſchlagen lernten. — Das freut mich! 


Sechszehntes Kapitel. 


Fortſezzung. 


K 3. dieſen Laſten und Bekuͤmmerniſſen geſellte 
ſich ſehr bald der leidige Geldmangel. Ich hat⸗ 
te das Inſtitut gleich anfangs auf einen alzuguten 
Fuß geſezt. Ich hatte zu viele Lehrer angeſtellt und 
fie zu reichlich beſoldet, in der guten Abfict freilich, 
dem Publikum Volkommenheit zu zeigen und den 


Lehrern ſelbſt Bequemlichkeit und Aufmumerung 


zu verſchaffen, daß ſie deſto redlicher ihre Pflichten 
‚erfüllen ſolten. Hiezu kam das verungluͤtte Pros 
28 


— 


jekt der Drukkerei und Buchhandlung, dazu mich 


der Heidelberger Windbeutel verführt hatte, und 
welches mich in ſchwere Koſten verſezte, ohne einen 
proportionirten Gewinn abzuwerfen. Endlich — 


und was die Hauptſache war — hatten ſich an- 


fangs faſt lauter Zoͤglinge aus der Pfalz eingefun⸗ 
den, deren Eltern ſich meiſtentheils in ſehr maͤſſi⸗ 


gen Guͤksumſtaͤnden befanden. Da geſchahe es 
denn, daß die meiſten Vaͤter mir ihre Söhne uns. 


ter der Bedingung anboten, daß ich für einen gez 
ringern Preis ſie annehmen ſolte. Der eine bot 
ſtatt funfzig 30, der andere 25, bis 18 Louisdor. 
Und meine Freunde riethen, was auch wirklich 


rachſam ſchien, anfangs nicht alzuſproͤde zu ſeyn, 


ſo dern die Kinder anzunehmen, um nur erſt das 


* 
1 


Philanthropin zu ſtiften und — darauf zu rech— 


nen, daß man kuͤnftig, wenn erſt die Sache in 


Ruf und Flor gebracht ſeyn wuͤrde, auf den ger 


festen Preis feſt holten und ſich alsdann ſeines 
Schadens erholen koͤnte. Ich hafte daher unter 


vierzig bis funfzig Zoͤglingen, welche in der Mit⸗ 


te des Sommers beiſammen waren, kaum ſechſe, 
welche die volle Zahlung leiſteten. Jeder Vater, 


dem ich auf fein dringendes Anſuchen einen Theil der | 


ee / 1 n 165 


geſeiten Penſion erließ, ver ſprach mir heilig, dies zu 
verſchweigen, und niemanden durch dieſe Wilfaͤh⸗ 


rigkeit zu gleichen Zumuthungen zu verleiten gegen— 


theils aber dahin bedacht zu ſeyn, durch Anwerdung 


volzahlender Penſioniſten mir meinen Verluſt zu 
vergüten. Aber kein einziger beinahe hielt Wort. 
Die Sache ward ruchtbar. Jeder glaubte nun, 
daß ich unter funfzig Louisdor's beſtehen konne: 
daß es nur an meinem guten Willen liege, leidli— 
chere Bedingungen zu machen: daß ich bei weni— 
ger Penſion doch noch ein reicher Mann werden 
koͤnte u ſ. w. Und fo kam es, daß ich viele 
Koſtgaͤnger und wenig Einnahme halte. Man 
forderte uͤberal Erlaß der Penſion, aber man gab 
mir nicht den geringſten Erlaß von meinen Ver— 
ſprechungen. Ich mußte Koſt, Unterricht, Klei— 
dung, Verpflegung, in der Volkommenheit liefern, 
wie ichs einmal zugeſagt und bereits geleiſtet hat— 
te. Ja diejenigen, die die ſchlechteſten Penſionen 
zahlten, waren gewoͤhnlich die intoleranteiten. 
Sie hatten, wenn ſie uns beſuchten, tauſend Din— 


ge zu tadeln. Jedes. Flekchen an der Kleidung 


warfen Sie mir als Bruch meiner Zuſage vor, 


die Kinder ftätd proper zu halten. Kurz, man 


53 


1 


166 — N 
| 3% 

hofmeiſterte mich gerade deſto ärger, je wohlfei⸗ 

ler man es bei mir haben konte. — 


Dieſe Umſtaͤnde waren die Quellen vieler 
Verlegenheiten, in welche ich in kurzer Zeit ges 
riet), und welche mich oft bis an die Graͤnzen 
der gaͤnzlichen Muthloſigkeit trieben. Ich kam 
zwar nie ſo weit, daß es an Nothwendigkeiten 
im Stoffe fehlte oder daß ich den Lehrern ihre 
Beſoldung vorenthalten mußte, aber es ging doch 
immer mit der Kaffe fo aͤngſtlich her, daß ſchlaf⸗ 
loſe Mächte mich verzehrten und ewige Sorgen 
meine Heiterkeit minderten. | 

Zu diefer Noth kamen die häufigen Verwir⸗ 
rungen, welche die Lehrer durch ihre Mishel⸗ 
ligkeiten mir verurſachten. Rie waren alle Leh⸗ 
rer wie es in Philanthropinen ſeyn ſol, ein Herz 
und eine Seele. Bald duͤnkte ſich der eine mehr 
Arbeit zu haben, als der andere. Bald klagte 
einer, daß er ſchlechter wohne, als ſein Kollege. 
Bald ſtritten ſie unter einander um die Rangord⸗ 
nung Bald wolte einer bequemere Stunden zu 
ſeinen Lektionen haben, und beſchwerte ſich, daß | 


1 25 — — 167 


ein anderer fie nach feinem Sinne ſich gewahlt haͤt⸗ 
te. Bald ward ein Maͤdchen oder eine huͤbſche 
Frau Urſache der Eiferſucht. Bald wurden bei 
Tiſche die beſſern Schuͤſſeln dem einen hingeſezt, 
welchen der andere beneidete. Bald ging einer 
dem andern zu galant und einem dritten zu ſalop ꝛe 
Bald hingen die Schuͤler dem einen zu ſehr an, | 
und ſchienen den andern minder zu lieben oder 
zu achten. Bald diſtinguirte ich einige zu ſehr! 
und ward von den andern beſchuldigt, daß ich ſie 
vernachlaͤſſigte: ſo viel ich auch mir Muͤhe gab, 


die moͤglichſte Gleichheit zu beobachten und allen 


Schein des Unterſchieds, in Abſicht auf mein Zu> 
trauen und meine Neigung, zu verhuͤten. Da; 
her war ewiger Reid, ewige Klatſcherei, ewige 
Verhezzung, ewige Stichelei: daher entſtund oft 
— der lauteſte Zank, wo ich dazwiſchen treten und 
meine koſtbarſten Stunden hingeben mufte, um 
die Partheien zu verhoͤren und mit einander aus⸗ 
zugleichen. Und zuweilen mußte ich dabei von 
groben, oder haͤmiſchen, oder einfaͤltigen Men— 
ſchen heftige Ausfaͤlle, oder bittere Sotiſen, oder 
laͤſtige Albernheiten einſchlukken und durch heim⸗ 


lichen Aerger mich vergiften laſſen. 


24 


Hatte ich zuweilen von den Kabalen und 
Streitigkeiten der Lehrer Ruhe; fo quälten mich 
die dummen Streiche der Söglinge, Denn ich 
hatte mit unter Leute von achtzehen, zwanzig 
und ſo gar einen von acht und zwanzig Jahren, 
welche die Welt ſchon zum Theil kanten und ſo 
voller Intrigen waren, daß mehr als Argusaugen 
dazu gehoͤrten, ſie zu uͤberſehen. Ein gewiſſer 
Herr v. Fr * * der natuͤrliche Sohn des Fuͤr⸗ 
ſten * * * m«èchte mir das meiſte zu ſchaffen. 
Seine Projekte, Geld zu erlangen, was ihm im⸗ 
merdar mangelte, und ſich der Aufſicht zu entzie⸗ 
hen, um dem Trunke und den Maͤdchen nachzu⸗ 
gehen, waren wirklich zahllos. Hundertmal 
taͤuſchte er mich, und machte mir nicht nur Aer 
gerniß, ſondern gab auch Gelegenheit, daß meine 
Feinde das Inſtitut verſchreien und die ſcheuslich⸗ 
ſten Anekdoten auf meine Koſten debitiren konten. 


War ich einmal mit einem muthwilligen, 
oder ſchweiniſchen, oder diebiſchen oder wolluͤſti⸗ 
gen Buben in Ordnung, ſo mußte ich noch eis 
nen Nachkampf mit den Eltern beginnen, wel⸗ 
che mir uͤber meine Diſciplin, die ich warlich al⸗ 


’ 
“ 


4 
— 
0 


3 
3 
* 


— 


lemal nach gepflogener forgfältiger Ueberlegung mit 


meinen beſten Lehrern einrichtete, oft die bitter⸗ 


ſten Vorwuͤrfe machten, und das Soͤhnchen gegen 
ſeinen Mentor in Schutz nahmen. Ich bin ein⸗ 
mal einige Tage bettlaͤgerich geworden, vor Aer— 
gerniß über einen ſolchen Brief. Ich hatte ci: 
nen jungen Menſchen, von guter Familie, wel— 
cher ſich ſchon einiger Dibereien verdächtig gemacht 
hatte, endlich einmal vollkommen ertappt und 
überführt. Und ich fand noͤthig, weil es der er» 
ſte Diebſtahl war, welcher publik wurde, denſelben 
auch mit einer gewiſſen Publicität zu beſtrafen. 
Die Strafe war mehr beſchaͤmend, als grauſam. 
Er bekam, bei oͤffentlicher Verſamlung, zwei 
Schlaͤge, und ich hielt eine Anrede an die Zoͤglin— 
ge, in welcher ich das Haͤßliche, Entehrende und 
Folgenreiche des Diebſtahls anſchauend machte, in 
der Hofnung, recht heilſame Eindruͤkke hervorzu— 
bringen. Nachdem die Strafe volzogen war, 
und ich meine Zoͤglinge alle durch meine vaͤterli— 
che Ermahnungen gerührt ſahe, verſoͤhnte ich den 
Beſtraften wieder feierlich mit mir und ſeinen 
Mitſchuͤlern, und nahm ihm ſo alle Entehrung 


wieder ab: ſo daß er keine erniedrigende Folge 


2 5 


170 8 rn 


weiter zu tragen hatte. Dieſes ſo uͤberlegten 
Verfahrens ohngeachtet, erhielt ich von den El⸗ 


tern einen Brief vol der bitterſten Vorwuͤrfe, 


mit der Erklärung, daß ſie den Sohn mit dem 
Ende des halben Jahres abholen würden. Ders 


gleichen Fälle; begegneten mir beftändig. Begins 
gen die Kinder boͤſe Streiche; ſo klagten die El⸗ 
tern über ſchlechte Zucht. Strafte ich ſie; fo 
ſchrien ſie uͤber harte Behandlung. Und ich blieb 
uͤberal der geplagte Mann, der bei den ſauerſten 


R | Arbeiten und eifrigften Beſtreben, alle Menfchen 


mit ſich zufrieden zu machen, nur wenige ganz 


aufgeklaͤrte und billige Beurtheiler auf ſeiner 


Seite behalten konte. 


— 


— TE 


* x 5 7 
1 / 
| Siebzehntes Kapitel. 
7 Plagen von allen Seiten, 


Fortſezzung des Vorigen. 


2 
Gan dulde ich Strapazen und Sorgen und 
ſelbſt Verfolgungen, wenn ſie blos meine Perſon 
betreffen, und meine individuelle Lage verſchlech— 
tern, und ich habe nie gefunden, daß ſie meine 
Heiterkeit ſonderlich geſtoͤrt oder meine Kräfte 
und Geſundheit angegriffen haben: aber Vermin— 
derung und Zerſtoͤhrung meiner Nuzbarkeit, durch 
boshaften Tadel meiner Handlungsweiſe und aus 
der Luft gegrifne Laͤſterungen meines beſten Eifers 
fürs Gute, kan mich zumeilen ganz niederbeugen 
und an meinem Leben nagen. 


In der That gab es in der Pfalz eine Race 
von Menſchen, welche dieſe Kunſt zu peinigen 
recht eigentlich ftudieret zu haben ſchienen. Sie 
beſtrebten ſich recht abſichtlich, jeden nuzbaren 
Mann zu verunglimpfen. Sie ſtellten die aller— 
muͤhſamſten Spionerien an, um nur alle Augens 


0 


172 unse 

ie 
blik eine Kleiniakeit von ihm aufzutreiben und die 
einzelne Baquatelle auf die ganze Art von Din⸗ 
gen anzuwenden und die Laufbahn feiner Ver⸗ 
dienſte auf jedem Schritte zu beflekken. Kurz, ſie 
thaten alles, um wo möglich entweder ihn ſelbſt 
zu ermuͤden oder fein Publikum von ihm abmwens 
dig zu machen und ihn aller Unterftüzjung zu 
berauben. 

Ich bin von dieſen giftigen Inſekten ganz 
vorzuͤglich heimgeſucht und gequält worden. Es 
verging keine Woche, wo nicht die ſchaͤndlichſten 
Anekdoten im Umlauf waren, — keine Woche, 
wo nicht Fremde im Schloſſe ſich herumſchlichen 
oder auch oͤffentlich einfuhren und mir die größs 
ten Komplimente machten, welche blos in der Ab⸗ 
ſicht kamen, zu ſpioniren und einzelne Tadel (von 
dem ja kein Sterblicher unter Gottes Sonne frei 
iſt) zu ganzen Gattungen von Schaͤndlichkeiten 
umzuſchaffen. 


Meine beſtaͤndige Sorge war der moͤglich⸗ 
fie Grad von Keinlichkeit, und jeder unpartheis 
iſche wird mir das Zeugniß geben muͤſſen, daß ich 


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—— 1 


fuͤr dieſen Zwek alles moͤgliche geleiſtet habe. 
Aber nun durfte ein einziges mal eine nicht blank 
geſcheuerte Schuͤſſel ins Auge fallen, welche der 
Hausmeifter in der Geſchwindigkeit ergriffen hat— 
te, oder der ſpionirende Fremde durfte etwa fruͤh 
um acht Uhr, neun Uhr die Schlafzimmer durch— 
wandern und da noch nicht gekehrt und geſaͤu— 


bert finden (denn vor zehn Uhr konten die dazu 


beſtelten Leute in dem weitlaͤuftigen Schloſſe nie 


herumkommen) ſo wurde die Einzelheit fuͤr die 


Gattung genommen, und man erzählte nun uͤber⸗ 
al, nicht: „Ich habe eine unreine Schuͤſſel geſe— 
„hen — nicht:“ ich habe fruͤh um acht Uhr 
einzelne Zimmer noch nicht geſaͤubert gefunden 
— ſondern: Das Philanthropin iſt ein Schwei— 
neſtall: keine Zimmer werden gefegt: keine Schuͤſ— 
ſeln werden gereiniget: die Kinder muͤſſen im 
Schmuz umkommen.“ Das war die pfaͤlzer Mes 
thode zu verleumden. 


Ich hielt eine beſondere Frau und ein eignes 
Zimmer, wo alle Zöglinge woͤchentlich zweimal 
von ihr durchgekaͤmt werden mußten. Wie viele 
Eltern gebrauchen ſo viel Sorgfalt? Und war es 


174 “a — 


bei dem allen wohl zu verhuͤten, daß nicht dem⸗ Be 
ohngeachtet einmal ein läftiger Haarbewohner zu⸗ 
ruͤckblieb oder wieder aufgeraft wurde, zumal 
unter einer ſolchen Menge von Kindern, darunter 
es natürlich immer einige vorzuͤglich nachläfiige 
und unreinliche Knaben giebt? Und wean denn 
ein Schnifler im Schloſſe ein ſolches Thierchen 
erblikte, das ungluͤcklicherweiſe gerade auf der 
Stirn eines Zoͤglings promenirte; fo erſcholl ſchon 
den folgenden Tag das Geruͤcht, die Kinder wers 
den in Heidesheim von den Laͤuſen gefreſſen, und 
ich — erhielt ein Duzzend Briefe von den er— 
ſchroknen Eltern, die mich zu beſſerer Aufſicht er⸗ 
mahnten. — Möchte ich nur alle die Briefe abs 
druͤkken laſſen koͤnnen, die ſolche Schuriegeleien 
enthielten: man wuͤrde ſich vor der Ehre eines ſol⸗ 
chen Fuͤrſorgeramts kreuzzen und ſegnen. 


Mein Tiſch war taglich fo beſchaffen, daß 
ſehr viele einſichtsbolle Beurtheiler ihn zu gut fans 
den. Aber ein gewiſſer Herr von * * bekam 
einmal ein Haar zu ſehn, das im Zugemuͤſe ſich 
verſtekt halte, und er verſchrie in ſeiner ganzen 


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Gegend die philanthropiniſche Koſt, daß ſie ſchlecht 
und unreinlich ſey. 


Meine Zoͤglinge waren regelmaͤſſig keine Stun⸗ 
del ohne Aufſicht. Aber dennoch war es möglich, 
daß ein Knabe ſich einmal wegſchlich und auſſer 
dem Schloſſe ſich ſehen ließ. Sahe ihn ein fols 
cher Spion, ſo erſcholls uͤberal: „Es iſt keine 
„Aufſicht: die Kinder laufen herum, wie ſie 
„wollen.“ 


Ein junger Edelmann hatte ſich mit einem 
andern Knaben gekampelt, und rante mit unbaͤn⸗ 
digem Geſchrei nach meinem Zimmer, um mich 
um Rache anzuſchreien. Er fiel meine Treppe 
herauf und ſchlug ſich ein Loch. Ein Fremder 
war eben zum Beſuche bei mir. Der Knabe war 
boshaft genug, feinen Gegner zu beſchuldigen, 
daß er ſelbſt ihm das Loch geſchlagen habe. Der 
Fremde ſchlich ſich fort und erzaͤhlte den folgens 
den Tag in Manheim, daß ſchwache Kinder ih— 
res Lebens nicht ſicher wären. NB. Der Fremde 
war ein Edelmann und — ein Narr auf ſeine 
ſeixe Quarr£es. 


£ 176 — 8 


Ich habe nie gelitten, daß die Lehrer im 
Schloſſe beſondere Geſelſchaft haben durften, an 
welcher meine Zoͤglinge nicht Antheil nahmen, 
und am wenigiten habe ich es geſtattet, daß Per⸗ 
ſonen weiblichen Geſchlechts, wenn ſie auch von 
Stande und in allem Betracht unverdaͤchtig wa⸗ 
ren, auf ein Wohnzimmer geführt werden durf⸗ 
ten. Aber das konte ich nicht hindern, daß zu⸗ 
weilen ein Lehrer mit Frauenzimmern, auch wohl 
mit ſchlechten Dirnen, auſſer dem Schloſſe geſe— 
hen wurde. Und es gab dennoch Leute, welche 
Heidesheim wie ein Vordel beſchrieben. 


Und dieſe Mediſanſe fand gewoͤhnlich eine 
neue Nahrung, wenn des Donnerſtags, wo oͤffent⸗ 
lich angekuͤndigte Aſſemblee war, bei welcher alle 
Fremde ſich einfinden konten, ſich Damen aus der 
Nachbarſchaft zeigten, die der Ruf minder, als an— 
dere, reſpektabel gemacht hatte. Denn da konte 
ich es auf keine Weiſe verhindern, daß ſolche Da⸗ 
men ſich ſo gut, wie die keuſcheſten Suſannen, in 
den Saal mit hinſezten und, wenn getanzt wurde, 
mit tanzten. Und nun ward ohne Barmherzig⸗ 
keit der Stab gebrochen und das Philanthropin 

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zum Schandhauſe gemacht, wo die Zoͤglinge ver: 


Führt und verdorben würden. 


Aber dieſes lezte Beiſpiel von unverſchulde⸗ 
ten Verlaͤumdungen fuͤhrt mich auf eine andere 
Art von Leiden, welche ſich mit jenen vereinigten 
und mich faſt täglich ſolterten. Mein liebes Weib 
fieng jezt, wo taͤglich Fremde bei uns einſprachen 
und vornehmlich Donnerſtags die maͤnnliche und 
weibliche Nachbarſchaft ſich einfand, mehr als ges - 
woͤhnlich an, ihre Krankheit zu fuͤhlen und um 
meine Liebe bekuͤmmert zu werden. Denn da ich 
theils als Herr von Haufe die Fremden emfpan⸗ 


gen, theils wegen der Aufſicht über meine Zöͤglin— 


ge beſtaͤndig unter der Geſelſchaft bleiben mußte; 
fo war es natuͤrlich, daß theils meine Lebhaktig— 
keit und Freundlichkeit, mit welcher ich in der 
Geſelſchaft jeden zu unterhalten und das ſchoͤne 
Geſchlecht inſonderheit zu behandeln pflegte, theils 
die verſchiedenen nachtheiligen Ideen, die ſie ſich von 
dem und jenem Frauenzimmer in ſpecie gemacht 
hatte, ſie in ſtaͤte Aufmerkſamkeit ſezte, und ihre 
Eiferſucht rege machte. Und da ſie nie bedachte, 
daß gerade in ſolchen öffentlichen Geſellſchaften, 
III. B. 19 M 


178 j N * \ 


wenn auch wirklich die allerliederlichſten Perfonen 
da geweſen waͤren, gar nichts boͤſes vorgehen 
kan, und daß ſie auſſer dem beſtaͤndig um mich 
war, da ſie gegenſeitig nur immer an meiner Mi⸗ 
ne, an meinen Blikken, an meiner Galanterie 


hieng, welche ich wirklich jeder Dame ohne Uun⸗ 


terſchied (und abſichtlich den alten wie den jun⸗ 
gen) erzeigte — da ihre Phantaſie, neben dieſem 
meinem Feuer im geſelſchaftlichen Leben, ſich im⸗ 
mer gewiſſe Frauenzimmer aus der Geſelſchaft 
als die verſchlagenſten Buhlerinnen vorſtelte, wel⸗ 
che gerade deswegen gekommen waͤren, ihr das 
Herz ihres Mannes zu ſtehlen, oder doch einen 
Theil ſeiner Gunſtbezeugungen zu genießen — ſo 
kan man leicht begreifen, wie unvermeidlich ihre 
Krankheit zunchmen und in die ſchaͤdlichſten Aus⸗ 
bruͤche uͤbergehen mußte. 


Wirklich that ſie jezt, was ſie in Gieſſen ge⸗ 
than hatte, weit haͤufiger, weil ſie einen groͤſſern 
Sccdeen des Rechts auf ihrer Seite hatte. Denn 
fie ſahe jezt wirklich zuweilen verliebte Choͤrinnen in 
Menge, welche meine Lehrer und manche auch der 
erwachſenen Zoͤglinge ins Feuer ſezten. Sie er⸗ 


| 179 
blikte gewiſſe Mädchen, die mit ihren Kuͤſſen ziem⸗ 
lich freigebig waren. Sie ſahe faſt taͤglich eines 
benachbarten alten Paſtors erſt erheirathetes, jun⸗ 
ges, ſchoͤnes, wildes Weib, welches die ganze Ges 
gend mit dem Rufe ihrer Wilfaͤhrigkeit erfüllte 
und doch als die Frau Paſtorin tolerirt werden 
mußte. Kurz, fie lebte nun mitten unter Gegen— 
ſtaͤnden, welche fie beunruhigen mußten, ſobald ſie 
einmal keinen feſten glauben an ihren Gatten 
mehr hatte, und an dem Feuer ſeiner Liebe 
zweifelhaft worden war. Und ſo geſchah es, 
daß fie fo manchen laſtvollen Tag mit einem trau⸗ 
rigen Abende endigte, und ſtatt der noͤthigen Ru⸗ 
he, mir und ſich durch Vorwuͤrfe Unruhe mach— 
te. So kam es, daß ſie jeder Freundin, die in 
ihrer Einbildung eine Heloiſe war, ob ſie gleich 
oft heimlich daſſelbe that, was andere nicht genug 
verbargen, ihre Klagen ausſchuͤttete und ihr das 
durch Stof in Menge gab, daß ſie an Koffetiſchen 
ſich von mir unterhalten und durch die ſelbſt ge⸗ 
hoͤrten Klagen meines Weibes die Aus ſagen mei⸗ 
ner Feinde beſtaͤtigen konte. Daher entſtand es, 
daß ſich ihre Laune immer mehr verſtimte, ihr ms 
gang immer ungenießbarer, ihre Nörgelei immer 
M 2 


180 EEE 


graͤmlicher, und fie eben fo für die Welt, wie die 
Welt für fie immer fäftiger wurde. Daraus erfolgte 
es endlich, daß in eben dem Grade, in welchem fie 
mir bei aller wirklichen Guͤte ihres Herzens und 
Redlichkeit Ihrer Liebe — blos aus Intoleranz 
und Eiferſutht — taglich mehr geheimen Kum⸗ 
mer und mehr oͤffentlichen Leumund machte, 
auch nach und nach meine Liebe zu ihr abnahm 


und ſelbſt mein aͤuſerliches Betragen froſtiger 


wurde — bis endlich das Uebel fo uͤberhand 
nahm, daß ich oft blos um meines Hauskreuzes 
willen, des Lebens ſatt und uͤberdruͤſſig wurde: 
denn es war gerade für mein fröliches Tempera: 
ment dies die groͤßte unter allen Martern, die mich 
treffen konte, daß ich mit einer Gattin leben muß⸗ 
te, bei welcher ich einen unaufhoͤrlichen Wechſel 
von lauten Klagen oder ſtillen Seufzern und nie, 
ganz — eigentlich nie, einen Einklang für die Stim⸗ 
mung meiner froͤhlichern Laune fand. — Ich ers 


fuhr die Wahrheit des Sazzes: daß oft die zaͤrt⸗ 


lichſte Liebe die Quelle des groͤßten Elendes iſt. 


Und nun bitte ich meine Leſer neben dieſen 


vielfältigen Uebeln, welche meine Gemuͤthsruhe 


—— 181 


beſtuͤrmten, noch folgende Laſten und Strapazen 
zu erwägen, welche meine Kraft zur Thaͤtigkeit 
und Duldſamkeit aufzehren halfen. 


Achtzehntes Kapitel. 


Beſchluß. 


Mn berechne einmal die tauſend Artikel, wel— 
che in eine ſolche Haushaltung gehören, in mel: 
cher alle Tage zwiſchen ſiebzig und achtzig Men; 
ſchen geſpeiſet, getraͤnkt, und mit Kleidung, Waͤ— 
ſche, Reinlichkeit und Aufwartung verſorgt wer— 
den muͤſſen, und denke ſichs, daß ich alle dieſe 
Artikel im Kopfe haben, und dafuͤr ſorgen mußte, 
daß an keinem Dinge Mangel war, daß alles 
zu rechter Zeit eingekauft, alles gehörig ver: 
wahrt, alles ordentlich verbraucht und angewen⸗ 
det wurde, daß jeder in dem Maße und der Zeit 
das bekam, was er zu finden berechtiget war, daß 
jedes Glied dieſer groſſen Maſchine in ſeinem 
M 3 


182 — 


Gange erhalten, jeder Arbeiter angewieſen, jeder g 
Bediente in Obacht genommen und uͤberal das - 


hin geſehen wurde, daß keiner ſeine Pflicht ver⸗ 
abſaͤumen und die erhaltenen Aufträge vernach⸗ 
laͤſſigen durfte. 


Man erwaͤge dabei die Menge der Geſchoͤf⸗ 
te und die Groͤße des Zenverluſts, welchen mir 
auſſer meiner ordentlichen Oekonomie die Gaſt⸗ 
wirthſchaft inſonderheit verurſachte. Denn ich 
war darauf eingerichtet, daß Fremde, welche das 


Inſtitut beſuchten, und vornehmlich die Eltern 


und Verwandten meiner Zoͤglinge, in Schloſſe 


logirt und für ihr Geld bewirthet werden kon⸗ 


ten. Und es iſt bekannt, daß wir oft Tage ges 


* 


habt haben, wo zwanzig Kutſchen im Schloſſe 


ftunden, und 50, 60, go Perſonen geſpeiſet wer⸗ 


den mußten. Selten waren wir, wegen der als 


zunahen Nachbarſchaft der obgenanten Staͤdte, 
ganz ohne Beſuch. Wenn auch zuweilen Mit⸗ 
tags kein Gaſt da war, ſo war des Nachmit⸗ 
tags der Saal deſto voller. Alle dieſe Fremden, 
wenn ſie von Stande waren, und die Eltern und 
Verwandten von Zoͤglingen ohne Ausnahme, muß⸗ 


— f 18 3 


te ich empfangen, ſie, wenn ſie das Inſtitut ken⸗ 
nen lernen wolten, uͤberal herumfuͤhren, ſie, ſo 
lange ſie da waren, unterhalten, und fuͤr ihre 
Einquartirung und Bewirthung Sorge tragen. 
Es war nichts, was ich nicht ſelbſt beordern und 
dann auch noch nachſehen mußte, ob es auch oh- 
ne Tadel volzogen war: weil jeder Fehler mei— 
ner Leute, immer auf meine Rechnung kam. 


Nicht weniger Laſt und Plage verurſachte 
mir die Verſorgung der Zoͤglinge mit Unter- 
richt. Aber davon koͤnnen nur wenige Lefer ſich 
einen Begrif machen, was es ſagen will, funf— 
zig Zoͤglinge, unter denen ſich ſiebenjaͤhrige Kin— 
der und etliche und zwanzigjaͤheige Juͤnglinge 


befanden, und die dabei ſo verſchiedenen Unter— 
richt genoſſen hatten, — in zwanzigerlei Unter— 


richtsarten, ſo in einander zu ſchichten, daß jeder 
in jeder Art des Unterrichts in feine ihm ange: 
meſſene Klaſſe zu ſtehen kam, daß jeder in jeder 
Art des Unterrichts gerade das zu lernen bekam, 
was er brauchte. Warlich, das war das ſauer— 
ſte unter allen Geſchaͤften, das ich in meinem 
Leben erfahren habe. Ich habe oft Angſtſchweiß 
M 4 


* 


vergoſſen, wenn ich meine vielen Lehrer mit fo. 


viel Stunden belaſtet hatte, als ich ihnen nur zu⸗ 


muthen konte, und dann doch keine Moͤglichkeit 
ſahe, alle Klaſſen zu verſorgen und alle die ver⸗ 


ſchiedenen Zoͤglinge mit allen Arten des ver— 


ſprochnen Unterrichts gehoͤrig zu verſehen. Drei 


Wochen ſaß ich oft uͤber einer Lektionstabelle, 
(welche ſich alle halbe Jahre veraͤnderte) und 
hatte doch, wenn ich alles mein Nachdenken an 
ihr erſchoͤpft hatte, das ganze halbe Jahr Hinz 
durch an ihr zu flikken und abzuaͤndern, weil 
alle Augenblik ein Lehrer zu klagen hatte, daß 
ſich wieder der und jener Zoͤgling in feiner Klaſ⸗ 
ſe nicht paſſen wolle, und entweder zu viel oder 


zu wenig wiſſe, um mit den andern gleich en 


Schritt halten zu koͤnnen. 


Man ſezze zu dieſen Beſtuͤrmungen meines 


Kopfs noch die erſtaunende weitlaͤuftige Korre- 


ſpondenz, die ich theils als Gelehrter mit 


Gelehrten unterhielt, theils als Fuͤrſorger des 
Inſtituts nicht nur mit den Eltern und Vor⸗ 


muͤndern fuͤhren mußte, welche mir ihre Kinder 


und Muͤndel anvertraut hatten, ſondern auch 


—— 185 


mit andern, welche erſt noch damit umgin⸗ 
gen und vorher taufend Anfragen thaten, che 


ihr Entſchluß zur Reife gediehe. Es reichten 


woͤchentlich keine funfzig Briefe dieſer Art. Und 
die meiſten waren halbe und ganze Bogen lang, 
weil des Fragens dieſer und des Klagens jener 
kein Ende war. Es iſt unglaublich, was oft 
die vornehmſten Perſonen fuͤr albernes und 
ſinloſes Zeug in ihre Erkundigungen miſch— 
ten, wie ſie oft Dinge fragten, die in den ge— 
drukten Nachrichten auf das deutlichſte ſchon 
erklaͤrt waren, was ſie zuweilen fuͤr Zumuthun⸗ 


gen mir machten, uͤber welche der Mann von 


Gefuͤhl erroͤcthen mußte. Und wenn man vol⸗ 
lends die Briefe leſen ſolte, in welchen die El— 
tern die Klatſchereien meiner Feinde und die Kla— 
gen ihrer Kinder mir berichteten, und mir bald 
Vorwuͤrfe machten, bald um Aufſchluß baten, 
bald Abſtellung verlangten, bald Gruͤnde und 
Urſachen meines Verfahrens angegeben wiſſen 
wolten, bald Vorſchlaͤge zur Verbeſſerung mei: 
nes Inſtituts thaten, und in Dinge ſich miſchten, 
die ſie gar nicht verſtunden, auch wohl gar die 
Realiſirung ihrer hochweiſen Räthe zur Bedin- 
M 5 


8 


gung machten, unter welcher fie die Penſion fort- 
zahlen wuͤrden; ſo würde man ſagen muͤſſen, daß 
uͤbermenſchliche Geduld erfodert wurde, eine ſol⸗ 
che Korreſpondenz ordentlich zu führen, und eben 


ſo uͤbermenſchliche Duldkraft, um nicht verwirrt 
dabei zu werden. 


Und nun fuͤge man noch zu dem allen die 
zahlloſen Machinationen des obgedachten Ruͤhls bei 
Hofe hinzu, welcher unablaͤſſig geſchaͤftig war, alle 
Klatſchereien aus dem Schloſſe und der Nachbar⸗ 

ſchaft auf das ſorgfaͤltigſte zu ſammeln, alle kleine 
Anekdoten aufzuhaſchen, alle Klagen meines Weiz 


bes, meiner Zoͤglinge, ja ſogar meiner Domeſti⸗ 


ken ingeheim zu protokolliren und den willigen 
Ohren des Fuͤrſten im Tone des ſeufzenden Ge— 
rechtigkeitsfreundes vorzutragen, und urtheile, 
was fuͤr eine Hoͤlle es fuͤr mich ſeyn mußte, wenn 
ich alle Woche mitten in meinen Arbeiten und 


Sorgen Nachricht von neuen Unzufriedenheiten 


des Fuͤrſten erhielt, und dann alles ſtehen und 


liegen laſſen mußte, um ſelbſt den Fuͤrſten anzu⸗ 
treten und mich zu rechtfertigen — und das war⸗ 


lich oft über Dinge, die fo unbedeutend oder fo 


* 


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unglaublich waren, daß ich mich ärgern mußte, 
ein Wort daruͤber verlieren zu ſollen. 


— 


Neunzehntes Kapitel. 


Oekonomiſche Geſelſchaft. 


Neue Geftalt des Philanthropins. 


Js hatte in Duͤrkheim zwei Freunde, welche 
bisher mit Rath und That mir vielfaͤltig beige— 
ſtanden hatten. Ihnen verdankte ich ſo manchen 
Zoͤgling, der durch ihre Betriebſamkeit mir war 
zugefuͤhret worden. Sie hatten mir in Frank⸗ 
furth bei Grundlegung des Inſtituts Kredit ges 
macht. Sie hatten, als eifrige Freunde, uͤber⸗ 
all mich vertheidigt und manche Klatſcherei und 
boͤſes Geruͤcht unterdrüft, Sie hatten endlich 
zu Zeiten, wenn das Gewirr der oͤkonomiſchen 
Geſchaͤfte meine Kräfte uͤberſteigen wolte, mich 
berathen und ſelbſt auch mit Hand angelegt, wenn 


meine Leute nicht hinreichend waren, alles su be⸗ 
ſtreiten. 


5 Dieſe Freunde, der Sa Koch 
und der Gaſthalter Specht, thaten mir jezt, in 
Verbindung mit dem Kaufmann Schellenberg 
aus Frankfurth, den Antrag, eine oͤkonomiſche 

Geſelſchaft zu errichten, durch welche die mir un⸗ 
erträglich werdende Laſt der Geſchaͤfte getheilt 
und die Direktion dieſer alzugroßen Maſchine er⸗ 
leichtert werden ſolte. | 


Ich war aͤuſſerſt erfreut, eine Gelegenheit 
zu erbliffen, durch welche ich meines Lebens 
wieder froh werden zu koͤnnen, Hofnung hat⸗ 
te. Ich willigte in das Anerbieten, und machte 5 
mir dies zur Hauptbedingung, daß ein ſchrift⸗ 
licher Kontrakt aufgeſezt und dem Fuͤrſten zur 
Beſtaͤtigung vorgelegt werden ſollte. Dies ward 
beliebt. j 


Die weſentlichen Punkte waren folgende. Die 
beſagten drei Maͤnner wolten ſich mit mir in Abſicht 
auf Oekonomie afjociiren, und in gewiſſer Maaße, 
Gewinn und Verluſt mit mir theilen. Das In⸗ i 


8 — — N 189 


ſtitut ſolte, in Abſicht auf Unterricht und Be⸗ 
handlung der Zoͤglinge, ganz allein von mir ab: 


hängen, fo wir die Wahl und Anftellung der Leh— 
rer. Alles, was ich den Lehrern und Zoͤglingen 
zu leiſten verſprochen hatte, ſolte puͤnktlich von 
der Geſelſchaft erfuͤlt und oͤffentlich garantiret 
werden. Die drei mit mir Verbuͤndeten ſolten 
fuͤr die Befriedigung meiner Kreditoren ſorgen: 
ſolten das Gros der Oekonomie ganz allein uͤber⸗ 
nehmen, die noͤthigen Vorraͤthe anſchaffen, das 
Geſinde anſtellen und dirigiren u. ſ. w. Die 
Kaſſe ſolte gemeinſchaftlich verwaltet, und nichts, 
ohne gemeinſchaftlichen Beſchluß, verwendet wers 
den. Neue Zoͤglinge, welche weniger, als die 
geſezte Penſion betrug, bezahlen wolten, durften 
nicht anders als mit Einwilligung der ganzen 
Geſelſchaft angenommen werden. Einer der Ge— 
ſelſchaft ſolte ſtaͤts in Heidesheim ſeyn. Das 
Publikum ſolte von Errichtung dieſer Geſellſchaft 


benachrichtiget, und dadurch, wegen aller aus den 


* 


> 
N 


Ausſtreuungen meiner Feinde entſtandenen Be⸗ 


Me beruhiget werden. 


Dieſer Kontrakt wurde aufgeſezt. Wir un⸗ 


terzeichneten ihn. Der Zürft beſtaͤtige ihn. Das 


\ 


190 hu. um: 


Publikum erhielt Nachricht davon und zwar 11 
ter fuͤrſtlicher Autorität. ez. ar 
Daß die beſagten Männer ſich auf ſolche Art 
mit mir verbanden, war ohnſtreitig Folge von 
Freundſchaft und Herzensguͤte. Sie ſchaͤzten mich. 
Sie hatten Mitleid mit mir, wenn ſie mich un⸗ 
ter meinen Laſten ſeufzen hoͤrten. Sie liebten 
das Inſtitut und wuͤnſchten deſſen Erhaltung. 


Aber die edelſten Abſichten ſchloſſen darum 
das algemeine Triebwerk nicht aus, von welchem 
der weiſe Rouſſeau behauptet, daß es alle menſch⸗ 
liſche Handlungen und Unternehmungen erzeugen 
helfe. Dieſe Freunde ſahen zwar, wie kuͤmmer⸗ 
lich ich mich durchwinden, wie aͤngſtlich ich mit 
meiner Kaſſe umgehen mußte, wenn ich alles be⸗ | 
ſtreiten wolte. Aber fie glaubten auch, daß durch 
die zu groſſe Menge der Dinge, die durch mei⸗ 
nen Kopf und Haͤnde gehen mußten, eine ganz 
volkomne Verwaltung der Kaſſe bisher unmoͤglich 
geworden ſey, und daß durch ſchaͤrfere Aufſicht 
und weiſere Berathung manches, was im Ge⸗ 
wirr verloren ging, erhalten, manches vortheil⸗ 


r 


— — 191 
1 


hafter eingekauft, manches geſpart, und ſo die 


Kaſſe ausreichender gemacht werden koͤnnte. Sie 


urtheilten ferner, daß ich im Ganzen genommen 
zu generoͤs handelte und manchen Zoͤgling zu 
wolfeil aufgenommen, manchen Lehrer zu fett be⸗ 
ſoldet, manches zu uͤberfluͤſſig geliefert hätte. Sie 


hoften entlich, mit Zuverlaͤſſigkeit, daß, wenn das 


Publikum wegen eines gefürchteten Bankeruts 
des Philanthropins beruhigt und von einer kuͤnf— 
tig volkomnern oͤkonomiſchen Einrichtung deſſel⸗ 
ben uͤberzeugt werden würde, ſich ungleich mehr 
Zoͤglinge finden und folglich — mit der Zeit ein 
erkleklicher Gewinn fuͤr die Herren Adminiſtrato⸗ 
ren abfallen dürfte. Und mit dieſen angeneh⸗ 
men Ausſichten verband ſich denn auch noch der 
ſchmeichelhafte Gedanke, daß fie in dieſer Ver— 
bindung, vor dem Publikum ſo wohl, als im 
Angeſicht der Eltern und Vormuͤnder meiner Pen— 
ſioniſten, die ehrenvolle Geſtalt der Nritdirektoren 
eines Philanthropins erhielten, und zugleich, durch 
die Theilnehmung an den geſelſchaftlichen Freu⸗ 
den des Inſtituts, fuͤr ihre Muͤhe entſchaͤdigt wer⸗ 
den, und (was auch geſchahe) fo manchen vergnüg: 
ten Tag und gute Mahlzeit genieſſen wuͤrden. 


gehemt. 


192 
Das ganze Unternehmen war gut gemeint, 


aber es ward nicht von den erfreulichen Folgen 


gekroͤnt, welche ich mir verſyrochen hatte. Meine 

Laſt wurde nicht gemindert. Die Unordnungen 
wurden nicht gehoben. Die Wirkungen des Nei⸗ 
des und der Verleumdungsſucht wurden nicht 


Die Hauptabſicht war, den Credit des In⸗ 
ſtituts wieder herzuſtellen, und dieſe ward darum 
nicht erreicht, weil die drei neuen Mitdirektoren 
ſaͤmtlich keine ſehr beguͤterten Männer waren, 
und folglich auf ihre Garantie nicht ſonderlich 
reflektirt zu werden ſchien. 


Die Lehrer des Inſtituts verloren im Grun⸗ 
de nichts, aber ſie wurden dennoch durch die oͤko⸗ 
nomiſche Geſelſchaft mismuͤthiger, als fie gemez 
ſen waren, theils weil die Herren Mitdirektoren 
in der Oekonmie allerlei Einſchraͤnkungen mach⸗ 
ten, welche ihnen nicht gefielen, theils weil ſie 
wirklich zuweilen über die Graͤnzen ihrer oͤkono— 
miſchen Direktion hinausgingen und ſich es her⸗ 
ausnahmen, dem und jenem eine moraliſche Wahr⸗ 

heit 


— — 493 


heit zu ſagen, welche er allenfals nur von mie 
anzuhoͤren willens war. | 


Ich ſelbſt bekam in einigen Stuͤkken Erleich⸗ 
terung und Ruhe, aber ich ward auf einer an— 
dern Seite durch ein gewiſſes Mistvauen deflo 
empfindlicher beunruhigt, welches die Herren Der 
konomiedirektoren, nur zu oft gegen mich bliffen 
lieſſen, weil ſie jezt die Kaſſe als ihren Beutel 
betrachteten, und daher jede meiner oͤkonomiſchen 
Handlungen auf die Goldwage legten, und jede 
Moͤglichkeit, wo etwas fuͤr meinen Nuzzen verwen— 
det ſeyn konte, zu einemGrunde des Argwohns 
machten, als ob das gemeinſchaftliche Intereſſe 
verlezt wuͤrde. 


Die Herren waren dabei ſo überfläffig beſorgt 
fuͤr dieſes gemeinſchaftliche Intereſſe, daß fie 
fo gar die Entfernung meiner Frau von aller 
Theilnahme an der Oekonomie verlangten, wel— 
che ohnehin ſehr gering geweſen war. Und 
dieſe Foderung (welche ich, um alles Mis⸗ 
trauen zu zernichten, herzlich gern bewilligte — 
zumal da ihre Hypochondrie ihre Einmiſchung ab 

n B. N 


/ 


194 3 


lerdings beſchwerlich machte) wurde durch nichts 
wichtigeres veranlaßt, als daß meine Frau eines 
Abends in der Kuͤche eine Eierkreme beſtelt hatte, 
welches die Herren Mitdirektoren mit ſchelen Au⸗ 
gen betrachteten und als einen Ueberfluß anſahen, 
der meiner lieben Frau nur zu gute kam (denn 
ſie aſſen alle drei keine Kreme) und der Kaſſe 
Abbruch that. 


Und doch konten ſie, bei aller ihrer Atten⸗ 
tion auf das gemeinſchaftliche Intereſſe der Geſel⸗ 
ſchaft, das Intereſſe des Inſtituts nicht behaupten. 
Sie leiſteten dem Inſtitut die Vorſorge bei wei— 
tem nicht, die ſie verſprochen hatten. Oft ließ 


ſich in acht Tagen keiner ſehen. Es fehlte bald 


an dieſem, bald an jenem, weil ich in ihrer Ab: 
weſenheit nicht freie Hand hatte, es anzuſchaffen. 
Ueberal entſtunden Maͤngel und Klagen. 


Wir wurden zulezt, da die Herren ſelbſt es ein⸗ 
ſahen, daß in ihrer Abweſenheit Mittel uͤbrig blei⸗ 
ben mußten, für Nothfaͤlle Rath zu ſchaffen, das 
rüber einig, daß ein Theil der Kaffe, die fie un 

ter ihrer Verwahrung hatten, in meinen oder des 


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7 5 Pr. . N are 
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aa. zu 


| 195 
Buchhalters Händen bleiben ſolte. Indem aber 
damit dem einem Uebel abgeholfen wurde, ent— 
ftund das andere, daß ihnen taufenderlei nicht 
anftändig war, wofuͤr das zuruͤkgelaſſene Geld 
verwendet wurde. Oft hatte es auch nicht zuge⸗ 
reicht. Denn die Summe war auf zwanzig Gul— 
den eingeſchraͤnkt, und konte daher nicht ausrei⸗ 
chen, wenn die Herren lange abweſend waren. 


Nachdem die Wirthſchaft ein paar Monat ſo 
gefuͤhrt worden war, erſchien der eine der Herren 
mit der Nachricht, daß ſich jezt ein Mann gemeldet 
hätte, welcher uns aus aller Noth erretten und 


„durch Beibringung einer anſehnlichen Summe, 


dem ganzen Jeſtitut Feſtigkeit geben wolte. Dies 
fer Mann ſey bereit, mit feiner Familie und feiz 
nem Vermoͤgen ſich nach Heidesheim zu wenden, 
der Adminiſtration der Oekonomie ſich zu unterzie— 
hen, und dafuͤr nichts weiter, als ſeinen Unterhalt 
zu verlangen. 


Wir freuten uns alle. Der Mann kam mit 
Weib und Kind und — da wirs beim Lichte be; 
fahen, wars ein Strasburger Bankerutteur, wel⸗ 

N 2 


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196 — EERPESER 


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cher nicht einen Heller Geld, ftatt deſſen aber u 
huͤbſches und — empfindſames Weibchen hatte und 
nichts anders im Sinne zu haben ſchien, als im 
Philanthropin ſich des Hungers zu erwaͤhren, und 
ſein armſeliges Leben, in welches ihn die Strenge 
ſeiner Kreditoren verſezt hatte, mit einem beque⸗ 
men nnd angenehmen zu vertauſchen. Er ſtand 
fruͤh um acht Uhr auf, ſpeiſete zu Mittage ſo gut 
wie ich, und ſchlich am Tage ganz behaglich im 
Schloſſe herum und ſpielte — den Adminiſtrator. 
Er koſtete uns vieleicht einige hundert Gulden 
und zog nach einiger Zeit wieder ab, 


Meinen alten obenbeſchriebenen Hausmeiſter, 
der ſeine Fehler, aber auch ſeine groſſen Meriten 
hatte, ſchafte die oͤkonomiſche Geſelſchaft ab, und 
ſtelte einen andern an, welcher anfangs that, als 
ob er Berge verſezzen koͤnte, aber ſehr bald als 
ein heimlicher Betrüger und Erzſaufhalz ſich zeige 
te und doch — protegirt wurde. — Er hatte 
ein ganzes Kupferbergwerk im Geſicht und fuͤhr⸗ 
te eine Maſe und ein paar niedergeſchlagene Au⸗ 
gen, daß man die Taſchen haͤtte vor ihm zuhalten 
mögen, 


arg 


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Ich ſahe jezt, daß alle meine a und 


Erwartungen, getaͤuſcht waren. Die Arbeiten, 


die mich uͤberſtroͤmten, die Sorgen, die mich 
druͤkten, die Verdruͤßlichkeiten, die mich ver⸗ 
zehrten, der kranke und armſelige Zuſtand des 


Inſtituts, der mich bekuͤmmerte, wurden mir 


unertraͤglich. Der Verluſt meiner Gemuͤthsruhe, 
meiner Geſundheit und meines Lebens war un— 
vermeidlich. Ich ſann auf Mittel, mich zu ret— 
ten. Das Philanthropin muß in ſeinen hoͤch⸗ 


ſten Flor kommen, war mein Entſchluß, oder es 
muß ganz zu Grunde gehen. Dieſer Mittelzu⸗ 


— 
4 * 


ſtand iſt unleidlich. Was volkomnes oder — gar 
nichts! 


Dieſe Betrachtungen erzeugten den, ich moͤch⸗ 
te ſagen, deſperaten Entſchluß, eine Reiſe nach 
Holland und England zu unternehmen, und das 
ſelbſt Zoͤglinge zu werben, welche beſſer bezahlten 
als die Pfälzer. Der Einfall ſchimmerte mir ent 
gegen, wie eine aufgehende Sonne. Die Reiſe 
ward raſch beſchloſſen, und eben ſo raſch unter⸗ 
nommen. 


N 3 


86 
Die ökonomiſche Geſelſchaft gab ihr Beifal. 
Sie bedachte, daß die engliſchen Guineen und 
hollaͤndiſchen Reuter beſſer behagten, als die pfaͤl⸗ 
ziſchen Gulden. Wir wurden eins, daß die Mit⸗ 
direktoren alles moͤgliche in meiner Abweſenheit 
thun wolten, das Inſtitut zu ethalten, und daß 
ich — ohne die Kaſſe anzugreifen, dieſe Reife auf 
Gottes Barmherzigkeit unternehmen wolte. 


Zwanzigſtes Kapitel. 


SHeldenmuͤthige Abfarth. 


W.. weis, ob einer von allen meinen Leſern ſo 
viel Entſchloſſenheit haͤtte, eine Reiſe mir nach⸗ 
zuthun, welche mit ſo vielen Schwierigkeiten und 
Gefahren umgeben war. ’ 


Alle meine Freunde auffer den Herren oͤkono⸗ 
miſchen Geſelſchaftern, wiederriethen ſie mir, und 
behaupteten einmüthig, daß aus ſo fernen Landen 


G 
23 199 


gar keine Hofnung fey, Zoͤglinge zu erhalten, fo 
lange nicht das Inſtitut durch den hoͤchſten Flor 
und die volkommenſte Reputation ſie ſelbſt anlok⸗ 
ken koͤnte. 


Mein Weib jammerte und weinte und meine 
Kinder fielen mir um den Hals und flehteu mich, 
ſie nicht zu verlaſſen. Sie bebten vor der Wuth 
der Wellen, die mich verſchlingen koͤnten. Sie 
zitterten vor Mangel und Noth, die in meiner Ab— 
weſenheit fie druͤken würde. Und die Mutter — 
beſorgte freilich dabei, daß eine engliſche Schoͤn⸗ 
heit mich feſſeln und entfuͤhren moͤchte. Es koſtete 
meinem Herzen Kampf, bei dieſem Gewinſel ſtand⸗ 
haft zu bleiben, und mich dabei uͤber alle noch 
uͤbrige Schwierigkeiten hinwegzuſezzen. 


Die größte war der Mangel der Keiſegelder. 
Die philanthropiniſche Kaſſe durfte ich nicht an⸗ 
greifen, theils weil ichs der oͤkonomiſchen Geſel— 
ſchaft verſprochen hatte, theils weil es ſich von 
ſelbſt begreift, daß das Inſtitut ohne Rettung 
verloren war, wenn ich die armſelige Kaſſe noch 
ſchwaͤchen wolte. Und andere Huͤlfs quellen hatte 

N 4 


208 f — — 


und kante ich nicht. Verſezzen konte ich nichts, 
denn alle Geraͤthſchaften, die etwa dazu taugten, 
z. E. Silberzeug, waren im Gebrauch des Inſti⸗ 
tuts. Auch war nichts von meinen Habſeligkeiten 
wichtig genug um eine ſolche Summe herauszu⸗ 
bringen, welche fuͤr eine ſo weite Reiſe erforder⸗ 
lich war Und Kredit hatte ich jezt gar nicht. We⸗ 
nigſtens haͤtte ich mich nicht unterſtanden, unter 
meinen vielen Freunden einen um hundert Gulden 
anzuſprechen. Denn ſie hielten mich alle fuͤr ſo 
arm und verſchuldet, daß ſie die Zumuthung für 
baare Erklaͤrung angenommen haben wuͤrden, daß 

fie mirs ſchenken folten, 


Eine andere Schwierigkeit lag in der Un⸗ 
kunde der Sprachen. Ich verſtund weder hol⸗ 
laͤndiſch noch engliſch. Die leztere Sprache kon⸗ 
te ich nicht einmal leſen. Franzoͤſiſch konte ich 
auch nicht ſprechen, ohngeachtet ich ein Buch 
nothduͤrftig zu uͤberſezzen vermochte. Und meine 
lateiniſche Sprache konte mich nicht durch die 
Welt bringen, weil lch erſtlich, bei meinem Vor⸗ 
haben gerade am wenigſten mit Gelehrten zu thun 
bekam, und weil zweitens dieſe Sprache in En⸗ 


S — 5 a0 


Rand völlig engliſch prononcirt wird, ſo daß ein 
Deutſcher in England weder lateinredende verſteht 
noch von ihm verſtanden wird. 


Ein drittes Hinderniß erzeugte der Mangel 
der Bekantſchaft. Ich kante in Holland und 
England keinen Menſchen (auffer einem gewiſſen 
Trieſt in Amſterdam) und wuſte mir auch keine 
wirkſamen Adreßbriefe zu verſchaffen, weil ich ge⸗ 
rade an den Adel und die Kaufmanſchaft empfoh- 
len ſeyn mußte, welches meine gelehrten Freunde 
in Deutſchland nicht vermochten. Und kaufmaͤn⸗ 
niſche Freunde, die dergleichen Empfehlungen 
mir mitgeben konten, wußte ich nicht zu finden. 


Hierzu kam viertens meine Geſundheit im 
Verhaͤltniß gegen die Jahreszeit. Ich war 
ſchwaͤchlich und von Sorgen und Arbeiten ent- 
Fräftet und ſolte gleichwohl im Spatherbſt eine 
ſolche Reiſe wagen, wo Kaͤlte und Seeſtuͤrme 
mich zu ergreifen und meine morſche Huͤtte zu 
zerftören drohten. Zudem war ich wegen Armuth 
nicht vermoͤgend, mir eine bequeme Reiſemethode 
zu waͤhlen oder mich, auf Fiſcherkaͤhnen und Poſt⸗ 


/ 
202 — — 


wagen, mit hinlaͤnglichen Kleidungsſtuͤkken zu 
verwahren. Ein Kireh war meine ganze Habſe⸗ 
ligkeit. oa 


Nicht weniger bedenklich mußte der Zuſtand 
des Inſtituts mich machen, welches ich verlaſſen 
wolte. Unter den Lehrern war beſtaͤndige Gaͤh⸗ 
rung. Kein Vand der Eintracht und des Patriotis⸗ 
mus hielt ſie zuſammen. Unter den Zoͤglingen 
waren unbaͤndige Roſſe, die ohne viele Autorität 
nicht zu zähmen waren. Und dieſe hatte kein einzi⸗ 
ger von den Lehrern. Thomſon und ähnliche Kom⸗ 
plotmacher waren noch vorhanden. Die Eltern 
und Vormuͤnder hatten, ſo viel ſie auch an mir 
ausſezten, dennoch ein ausſchlieſſendes Vertrauen 
zu mir, und glaubten, daß kein Menſch der Regie⸗ 
rung der Maſchine gewachſen ſey, wenn ich ihr 
fehlte. Die oͤkonomiſche Geſelſchaft ſahe nur auf 
das Beſte der Kaſſe, aber nicht auf die Erziehung 
der Kinder. Meine eigne Familie war unter frem⸗ 
der Gewalt und verlor ihren Beſchuͤzzer. 


Endlich — liefen uͤberal Nachrichten ein, daß 
der Bokenheimer Jeſuit unablaͤſſig in Worms liege 


1 - 
F. r * 4 


x 
} 


Ss 203 


und aufwiegle: es fen, hieß es, etwas gefährliches 


im Werke: man wolle mich durch den Reichshof⸗ 


rath ſtuͤrzen u. ſ. w. Was konte in meiner Ab⸗ 
weſenheit nicht alles geſchehen? Wie weit konten 
meine Feinde es treiben, wenn alle meine Gegen⸗ 
wirkung aufhoͤrte? 


Und dem allen ohngeachtet blieb ich dabei, 
— zu reiſen. Ich verſammelte meine Lehrer, und 
waͤhlte einige, welche mir die getreuſten zu ſeyn 
ſchienen, als dirigirende Perſonen, damit ſie in 
meiner Abweſenheit das, was Unterricht und Er⸗ 
ziehung betraf, nach meinem Plane eintichten 
und alles beforgen ſolten, was ich bisher geteiftet 
hatte. Ich ſchrieb an einige Freunde, infonders 
heit an den Kirchenrath Mieg, der in England 
geweſen war, und an den Prinzen Louis von 


Heſſendarmſtadt, welcher damals in traulichem 


Briefwechſel — mit mir ſtand, und bat um en⸗ 
gliſche und hollaͤndiſche Adreſſen. Ich übergab 
die Oekonomie der Geſelſchaft. Ich verſammelte 
die Zoͤglinge und ermahnte ſie zur Eintracht und 
Folgſamkeit. Ich umarmte mein Weib und meis 
ne Kinder und reiſete — bei Gott! mit der fro⸗ 


2204 | | — — 


RE 
heſten und heiterſten Seele und — zwei Gulden = 
und funfzig Kreuzern — von Heidesheim ab, f 

> 


In meinem Leben hatte ichs fo oft ſchon er 
fahren, daß die Vorfehung ungeſuchte und uner⸗ 
wartete Huͤlfe mir gerade in den Augenblikken ge 
ſandt hatte, wo ich ihrer am allerbeduͤrftigſten 
war. In Leipzig hatte ein unbekanter Freund 
Bels und Gotſcheds Grim beſaͤnftigt und mich 
von großen Demuͤthigungen gerettet. Eben da⸗ 
ſelbſt mußte in dem Augenblikke, wo über mein 
Leben eine ſchrekliche Nacht ſich verbreitete, mein 
aͤrgſter Feind, Kloz, erwekt und das Werkzeug wer⸗ 
den, durch welches ich die ehrenvolſte Laufbahn 
begann. In Erfurt mußte, eben da ich nichts 
mehr hatte und ſogar das Markgeld mir fehlte, 
das meine Frau verlangte, in derſelben Stunde 
der Brief mit dreiſſig Dukaten anlangen, welche 
eine mir unbekante Hand zugeſchikt hatte. In 
Gieſſen mußte mein Freund Koch einen unvermu⸗ 
theten Kanal entdekken, auf welchem er nach Pir⸗ 
maſens gelangen und mich von der oͤffentlichen 
Abbitte retten konte. In Buͤnden mußte, in den 
Augenblikken der Verzweiflung, eine Generalſu⸗ 


N 
0 
1 
4 


205 
perintendentur mir angetragen und ſonach eine Net- 
tungsart veranſtaltet werden, die ich fuͤr ganz 
unmöglich gehalten hatte. Beim Entſtehen des 
Inſtituts mußte ein unglaublicher Gewinn von 
sooo Gulden mir zur Anlage deſſelben gedeihen. 
Und ſo hatte ich ſchon unzaͤhligemal bei kleinen 
Vorfaͤllen und Verlegenheiten den Deus ex ma- 
china erfahren, und dachte alſo jezt — daß eben | 
derſelbe auch auf dieſer Reiſe mich beguͤnſtigen 
würde; 


Ich überließ mich dem Zufalle — gefaßt und 
— lebhaften Geiſtes genug, jeden kleinen Um⸗ 
ſtand zu benuzzen, der ſich mir darbieten wuͤrde, 
meiner Geldloſigkeit zu ftatten zu kommen. 


Alſo mit zwei Gulden und funfzig Kreuzern 
reiſete ich aus, lies mit meinen Pferden mich bis 
Frankfurth bringen, dahin ich eilf Meilen hatte, 
und traͤumte unter Wegens mir die reizendſten 


Aus ſichten. | 
Da ich nach Frankfurth kam, hatte ich noch 


einen Gulden und 25 Kreußer. Den Gulden gad 


ich meinem Knechte zum Ruͤkmarſch. Und fo quar— 


206 ——— 


tirte ich mich im Haufe des Herrn v. Reinek, deſ⸗ 
ſen Kompagnion mein Freund Schellenberg war, 
ein, um eine Nacht und — vielleicht auch einen 
Tag, wenn ein Gluͤksfal es erfoderte, auszuruhen. 
Es war niemand zu Hauſe. Folglich entging mir 
hier ſchon eine der Moͤglichkeiten, auf die ich et⸗ 
was gerechnet hatte. Allein es ſchrekte mich dies 
nicht, weil ich ſchon gewohnt war, daß das nie 
mir ward, was ich projektiret hatte, ſondern daß 
allemal auf ſolchen Wegen mir der gewuͤnſchte Bei⸗ 
ſtand kam, an die ich gar nicht gedacht hatte. Ich 
begnuͤgte mich alſo, im Hauſe mein Quartier zu 
finden. Denn die Herren hatten ſchon ein für alles 
mal Ordre gegeben, daß in ihrer Abweſenheit der 
Kuͤper mich aufnehmen, mein Bette mir anweiſen, 
mein Zimmer heizen, und von der Sorte alten 
Rheinweins, die ich verlangte, auf die Mane 
eine Flaſche reichen ſolte. 


Ich ließ mir demnach herzlich wohl ſeyn, ge⸗ 
noß mein Übendorod und trank des rheiniſchen 
Nektars fo viel, daß meine Müdigfeit verſchwand 
und meine ganze Seele neues Leben bekam. Das 
machte, daß ich noch auszugehen beſchloß, ohn⸗ 


* ca f 6 5 * 


7 —— 209 
geachtet es ſchon acht Uhr war, um durch Bewe⸗ 
gung mich deſto aufgelegter zu einem guten Schlafe 
zu machen. Denn Schlaf war von jeher mein 
ſummum bonum unter, allen ſo genanten irdi⸗ 
ſchen Dingen. 


Ein und zwanzigſtes Kapitel. 


Providenz. Neuer Muth. Reife bis Maynz. 


Siche da — mein Glaube an Providenz kam 
mir wieder in die Hand. Ich ging heiter und ſor⸗ 
genlos auf der Straße und bemerkte, daß ohnweit 
der Poft mir ein Mann zur Seite blied, der mich 
zu beobachten ſchien. Ich ſahe mich endlich um, 
blieb ſtehen und ehe ich ihn erkante, nahm er 


traulich meine Hand. „Ei, ſind Sie's denn, mein 


lieber Herr Superintendent? Ich dachte es doch 
gleich, da ich das kleine niedliche Stuzperuͤkchen 
wiederſah, und doch wußte ich nicht, ob ich trauen 


208 —— 


ſonſt etwas mich abzuhalten vermag. 


ſolte“ — „Ach, guten Abend, mein liebſter Herr 
Löw Bar Iſak. Ich feed mich, Sie noch ur 
zu ſehn.“ 

Er. Aber wie der tauſend kommen Sie jezt 
nach Frankfurth? Sie haben gewiß wichtige Ge⸗ 
ſchaͤfte. Kan ich mit etwas dienen | 


Ich. Wichtige Geſchͤͤfte freilich, liebſter 
Freund, aber nicht in Frankfurth. Ich reiſe hiet 
blos durch. Ich bin auf dem Wege nach England; 


Er. (zurükfahrend) Gott behüt! in dieſer 
Jahreszeit eine ſolche Reiſe! Wo denken Sie hin, 
beſter Herr Superintendent. Sie muͤſſen uͤber 
See. Wiſſen Sie das? Und das find g'rad die 
ſtuͤrmiſchſten Monate. Um Gotteswillen bleiben Sie 
zuruͤk. Was koͤnnen ſie in England thun? Sie 
haben ja das ſchoͤne Philanthropin, das ohne Sie 
nicht beſtehen kan! S'waͤr Schad ha wenns 
eingehen ſollt! 


Ich. Eben um es zu erhalten, und in beßre 
Aufnahme zu bringen, wil ich nach England. Und 
das iſt fo feſt beſchloſſen, daß weder Sturm, noch 


N 
7 t 
* 


Er. Nun das muß etwas großes ſeyn, was. 
Sie ſich da ausgeſonnen haben. Jezt laß ich Sie 
nicht von mir: Sie muͤſſen ein Glas alten Rhein⸗ 
wein mit mir trinken und mir Ihre Sache erzaͤh⸗ 
len. Sie wiſſen, daß Sie in meinem Hauſe lieb 
und werth ſind. 


Der alte Löw Baͤr Iſak druͤkte mir bei dies 
ſen Worten ſo herzlich und bruͤderlich die Hand, 
daß mirs ganz ſonderbar ums Herz ward. Das 
iſt der Mann, dachte ich augenbliklich, den der 
liebe Gott ſchikt. Was gilts? — Ich nahm die 
Einladung an. 


* 


Ich hatte nie mit dieſem Mann viel befants 
ſchaft gehabt. Ein paarmal hatt' ich ihn bei 
Schellenberg geſehn. Einmal hatte ich leichte 
Katune von ihm gekauft. Und einmal war ich 
in ſeinem Hauſe geweſen und hatte ſeiner ſchoͤnen 
Tochter einige Artigkeiten geſagt, da fie mich zum 
Zeugen ihrer muſikaliſchen Talente auf dem Fluͤ— 
gel machte. Das war die ganze Freundſchaft. 


Ich trat in das Zimmer und begruͤßte mit 
meiner gewoͤhnlichen Freundlichkeit das liebe Maͤd⸗ 
III. B. er O 


— 


i Vo R 3 
8 * 


„e — 


chen, und ward ſo bieder, ſo liebevol aufgenom⸗ ö 
men, als wenn ich unter meinen beſten Freunden 
mich befunden haͤtte. Der Alte ließ Semmel mit 
Kuͤmmel und Salz auftragen und hohlte ſelbſt eine 
Flaſche aus dem Mutterfaͤßchen. Die Tochter 
aber eilte an ihren Fluͤgel, weil ich ihr das lez⸗ 
temal geſagt hatte, daß Muſik eines meiner groͤß⸗ 
ten Labſale ſey, und ſpielte ſo entzuͤkkend, daß 
ich ihr einen Kuß gab, indem der alte Vater mir 
ein Spizglas reichte, und mich auf den Sofa zog. 


Er. Nun, Herr Superintendent, muͤſſen 
Sie mir ihr Projekt erzaͤhlen. Ich bin ein ehrlich 
Mann und habe Sie als einen großen und bra⸗ 
ven Mann ſo herzlich werth und lieb, daß ich al⸗ 
les in der Welt fuͤr Sie thaͤte, wenn ich Sie recht 
gluͤklich machen koͤnte. Und wer weis kan ich, 
bei diefer Reife, gute Dienfte leiſten. Ich habe 
viel K'reſpondenz in die Lande. 


Ich. Ja, Freund, mein Vorhaben iſt auf 
nichts geringers gerichtet, als in Holland und En⸗ 
gland Zoͤglinge für mein Inſtitut zu werben. Ich 
habe die Gabe zu ſprechen. Ich hoffe, daß es 


5 


3%] 


gehen wird. Die Pfalz kan mich nicht ernäh⸗ 
ren. Und ein verſtuͤmpertes Ding von Philan⸗ 


thropin mag ich nicht laͤnger haben. Ich arbei⸗ 
te und ſorge mich zu Tode und kann doch nichts 
volkomnes zu Stande bringen. Izt mag es biegen 
oder brechen, ich komme entweder gluͤklich, oder 
gar nicht wieder. 


Er. Ei der Tauſend, das heiſt Kurage. 
Wenn nur die Jahreszeit nicht ſo ſchlecht waͤre. 
Doch — Sie haben recht gethan. Gerade in die 
fer Jahreszeit finden Sie die Leute zu Haufe, Im 
Sommer ſind die reichen Herrn alle auf ihren 
Landhaͤuſern. Sie haben wirklich wol gethan. 
Der Gedanke gefaͤlt mir. Sie koͤnnen ihr Glüͤk 
machen. 


Ich. Das hoff ich. Nur ein Duzzend reis 
che Engländer und Holländer: die andern kom— 
men hernach von ſelbſt— 


Er. Und die bezahlen, ſo wahr Gott iſt, 
beſſer wie die Teutſchen. Sie werden ein reicher 
Mann, wenn Sie Ihre Sache gut machen. Aber 
haben Sie auch gute Adreßbriefe? Ich werde 

& S 2 


\ 


Ihnen einen an den reichen Boas mitgeben nach 


dem Haag. Das iſt ein Millionaͤr und — ein 4 


wahrer Menſchenfreund. 


Ich. Sie verbinden mich, Freund. Spans 
nen Sie immer Ihre Freunde ein wenig an, daß 
ſie helfen. 


Er. Aber wie ſtehts um Ihre Equipage? 


Ich. Wie Sie mich hier ſehen. Wie ich 
geh und ſtehe, ſo reiſe ich. 8 
Er. (die Achſeln zukkend) Ja, lieber Herr 
Superintendent, das wird nicht gehen. Ich muß 
Ihnen ſagen, daß in Holland beſonders der 
Mann im ſchlechten Rokke keinen Werth hat. Er⸗ 
ſcheinen Sie da in der Geſtalt der Armuth; fo 
ſieht Sie kein Menſch an. Der Holländer: ach⸗ 
tet nichts, als Geld. Und wenn Sie alle Gelehr— 
ſamkeit aus der weiten Welt beiſammen hätten, 
fo werden fie nicht geäftimirt, wenn man Sie 
für eine armen Mann anſieht. r 
Ich. Das iſt ſchlimm. Der bin ich. Und 


ich habe geglaubt, mich nicht ſchaͤmen zu dürfen, 
es zu ſeyn. 


* 


en Hier in Teutſchland findet man h 


R or 15 den groſſen Mann auch im ſchlech⸗ 


ten Kleide ehren. Aber in Holland gelten Sie 
warlich nichts, wenn Sie nicht reicher ſcheinen 


als ſie Sind. Sie haben keinen Kredit. Man 


vertraut Ihnen keinen Liar. Glauben Sie mir. 
— Wiſſen Sie was, Herr Superintendent, ich 
laſſe Sie ſo nicht reiſen. Wollen Sie mir e'mal 
folgen? 


Ich. Warum nicht, lieber Iſak? Sie find 
ein guter Mann. 


Er. Wohl. (zur Tochter) Laß mir ein— 
mal den Schneider * * * holen. — (zu mir) Es 
ſoll Ihnen nichts koſten. Wenn Sie einmal ein 
reicher Mann werden, ſo zahlen Sie mirs wie— 
der. Iſt's ſo recht? 


Ich. Ich bin alles zufrieden: und vergelten 
— wirds der Liebe Gott. 


Er. (nachſi nnend) Wie wollen Sie von 
hier weiter reiſen? 


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O 3 


% Be f 

Ich. Das hab ich noch nicht reſoloirt. Es 
gilt mir alles gleich. Die wolfeilſte eee 
die beſte. | 


Er. Die wolfeilſte a bequemſte iſt zu 
Waffer. Ich mache Ihnen heute noch ein Schif 
aus, mit dem Sie morgen nach Maynz reifen koͤn⸗ 
nen. Und in Maynz finden Sie alle Stunden einen 
Kahn auf Koͤun. Das iſt die ſchoͤnſte Manier zu 
reiſen. Ich ſchikke gleich nach dem Schiffe. 


Ich. Sie find zu guͤtig, lieber ⸗Iſak. Wenn 
ich uͤberal fo einen Freund zu finden wüßte, fo 
reiſete ich noch hundert Meilen weiter. 


Er, Es macht mir Freude, lieber guter Herr, 
wenn ich Ihnen etwas angenehmes erzeigen kan. 
Sie ade ein gar großer Mann. Ich hab' von 
einem gewiſſen gelehrten Herrn ſagen hoͤren, daß 
Sie noch vielen Ruhm in Teutſchland erlangen 
würden. — Wie ſtehts denn um die Voͤrſe? (laͤ⸗ 

chelnd) Iſt ſie auch in gutem Stande? | 


1 


Ich. Sechs und zwanzig Kreuzer, liebster 
Freund, iſt der Beſtand. Ich finde uͤberal Freun; 
de, die mir weiter helfen. 7 


* 


Er. (mit einem Blik, der Ruͤhrung verraͤht, 
8 welche er zu verbergen ſucht) Die finden Sie. Sie 
verdienen ſie auch.— ( Indem er das Glas mir 
reicht) Run wir muͤſſen auch eins trinken. Auf 
gluͤkliche Reiſe. (Nachdem er getrunken) Bei 
Gott, Sie koͤnnen Ihr Gluͤk machen. So ein 
Mann — — Jezt Tochter ſpiele noch eins. 


Die Tochter ſpielte und Loͤw Bär Iſak ging 
in ein Nebenzimmer und blieb lange. Ich trank 
und hoͤrte — in voller Andacht. Wein und Ge⸗ 
ſang und — alle Grillen ſchwinden! Und ich hatte 
ja ſchon keine mehr. 


Rach einer Weile kam der Schneider. Der 


Alte nahm ihn allein. Ich hoͤrte ſie diſputiren, 


und endlich eins werden. Der Schneider nahm 
mir das Maas zu Rok, Weſte und Hoſen. Ich 
ließ mit mir machen, was man wolte. 


Der Schneider ging. Wir tranken und plau⸗ 
derten noch. Der Alte bat mich, morgen bei ihm 
zu fruͤhſtuͤkken, und verſprach, mich zu rechter 
Zeit zum Schiffer bringen zu laſſen, mit dem 0 

wa Maynz reiſen ſolte. 
O 4 


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216 — — 


Ich erſchien des andern Tages zu geſezter 
Zeit. So, wie ich eintrat, kam der Alte mit dem 
hoͤchſten Ausdruke der innigſten Freude mir ent⸗ 
gegen. Er nahm mich mit ſeiner rechten bei der 
Hand, und zeigte mit der linken auf einen Tiſch. 
Nun, lieber Herr Superintendent, ich thue, was 
ich vermag. Gott ſchenke Ihnen mehrere Freun⸗ 
de, die auch etwas thun. Da liegt eine neue 
Kleidung fuͤr Sie und etwas Geld zur Reiſe und 
ein huͤbſcher Ring zum Scheinen. Den Ring ge⸗ 
ben Sie mir wieder, wenn Sie gluͤklich zuruͤkkom⸗ 
kommen, und das Geld, wenn Sie ein reicher 
Mann ſind. g 


Geruͤhrt von ſo viel Guͤte und entzuͤkt uͤber 
dieſe abermalige ſo unerwartete und ungeſuchte 
Huͤlfe faßte ich ſeine Hand an und ſchlug mit mei⸗ 
ner rechten ein. „Gott vergelt's Ihnen, biedrer 
Herzensmann *)!“ — Das liebe Mädchen ſaß 
am Fluͤgel und — heiſſe Thraͤnen rolten von ihren 
Wangen herab. — Nun ſpiel dein Abſchiedslied⸗ 


chen, ſagte der Alte. — Sie ſpielte, ſang, und 4 


) S. das Titelkupfer zum dritten Bande, Es iſt 570 An⸗ 
denken dieſes edlen Mannes gewidmet. 


— 217 
ſchluchzte. — Die Scene war herzangreifend. 
Ich umarmte Vater und Tochter wech ſelsweiſe 
und wußte vor Freuden mich nicht zu laſſen. — 
Aber unendlich groͤßer war das Wonngefuͤhl des 
Vaters und der Tochter. — O daß die Men: 


ſchen all es wuͤſten, wie viel im Wolthun Selig⸗ 


keit liegt! 


Die neue Kleidung war von einem ſchoͤnen 
violetnen Sammet mit mantuaner Taffet gefuͤttert. 
Darauf lag ein Beutel mit hundert Gulden. Der 
Ring war vier bis fuͤnfhundert Gulden werih und 
prahlte auſſerordentlich. Unterm Tiſche lag ein 
lederner Mantelſak, in welchem ich meine Waͤſche 
und Kleidung verwahren konte. 


Beim Kaffee gab mir der liebenswuͤrdige Alte 
noch eine Menge guter Regeln, wie ich auf Rei— 
fen und in großen Orten, vor den und jenen Ges 
fahren mich huͤten, und die und jene Klaſſe von 
Menſchen behandeln ſolte. Und ſo reiſete ich, nach 
dem zaͤrtlichſten Abſchiede, von Frankfurth ab, 
und dachte unterweges tauſendmal an die herrliche 
Scene beim Juden, und — fand bei der Gele— 

Dt 


a18 | — 


genheit einen Gedanken, weicher erſt nal einigen. 
Jahren feine vollen Bench trug. . 


Ich dachte bei mir ſabſt, „ ſolte ein Jud 
„der ſo denkt und handelt, dem lieben Gott nicht 
„ ſo lieb ſeyn, wie ein Chriſt? Solte die Erkent⸗ 
„ niß Chriſti und feine uns geoffenbarte Lehre vor 
„Gott einen ausſchlieſſenden Werth geben? Sol— 
„ten die Juden wirklich ihres Unglaubens wegen 
„verſtoſſen ſeyn?“ — Dieſe und aͤhnliche Gedan⸗ 
ken gingen wie Wellen durch einander und bes 
wegten die ganze Ideenmaſſe meiner Seele — 
und mehr als einmal erſchien unter ihr, aber 
dunkel, ſehr dunkel, der kuͤhne Gedanke: „ſols 
„wohl mit der ganzen poſitiven Religion nichts 
„ ſeyn, welche die Menſchen von Menſchen ſo ſchei⸗ 
„det? Sols wohl mit der ganzen Offenbarung 
„Taͤuſcherei ſeyn?“ — Mich ſchauderte es, wenn N 
ichs dachte, und doch kams immer wieder. So 
oft mein Herz die Gefuͤhle der Freude wiederhol⸗ | 
te, welche dort beim Juden die Tugend erzeug⸗ 5 
te, und wobei mirs ſo helle wurde, daß Tugend ! 
nur erkenbare und fühlbare Seligkeit ſchaft, ſo 
oft flieg der Gedanke wieder auf: „was bedarfs 


ze — 


— 2129 


55 denn alfo des pofitiven Krams? wozu denn Offen⸗ 
„ barung, wenn die menſchliche Natur den Stof 
u der Wahrheit und Seligkeit in ſich ſelbſt hat??? 


Ich war weit entfernt, dieſe Betrachtungen 
aufs reine zu bringen. Es war der erſte ftarfe 
Stos, welcher meinen Glauben an Offenbarung 
zwar erſchuͤtterte, aber keinesweges vermoͤgend 
war } das Gebäude deſſelben, welches die Erzies 
hang befeſtiget hatte, ganz über den Haufen zu 
werfen. So ein Gedanke des Unglaubens, wenn 
er zum erſtenmale zum Bewuſtſeyn komt, widert 
der Seele, wie eine neue Speiſe dem Munde. Er 
muß oft aufgeregt, oft gedacht werden. Und es 
muß, wenn er ſchon oft wiedergekehrt war, doch 
eine Art von Empfindung ihm zu Huͤlfe kommen, 
wenn er in der Seele Feſtigkeit erhalten und als 
Wahrheit geltend werden ſol. Das Geſchah erſt 
nach anderthalb Jahren: wie meine Leſer im vier⸗ 
ten Bande finden werden. 


Zwei und er N Kari. re 


Aufenthalt in Maynz. Der Verſucher⸗ 


Ales kan in der Welt nicht nach Wunſche ſeyn. 


Es war das ſchoͤnſte Wetter in meiner Seele, 
aber das ſchreklichſte auſſer mir. Die ganze Nacht 
hindurch hatte es ſo ſehr geregnet, daß die Gaſ— 
ſen floſſen: und dies Regenwetter, von Sturm 


und Kaͤlte begleitet, dauerte den ganzen lieben 


Tag, den ich von Frankfurth nach Maynz zu⸗ 
brachte. Ich hatte einen großen Fiſcherkahn mit 


einer Plane, den mir mein Wohlthaͤter ausge/ 
macht hatte, weil er ſchneller ging, als das Markt⸗ 


ſchif. Ich zahlte einen Gulden und dreiſſig 
Kreuzer. 


Der Genuß der ſchoͤnen Natur auf dieſer 


Waſſerfarth war mir verdorben. Ich hatte Noth, 


mich unter der Plane vor der Naͤſſe zu ſchuͤzzen. 


Ans Umſehen war nicht zu denken. Und waͤr es 
nur bei dieſem Uebel geblieben. Aber meinem 


Koͤrper war dieſer Auftritt zu neu. Es war mei⸗ 


— 


er RE e ee Re ENTE 2 14 or 28 > 3 . 
RD EN * 2 * N v 
3 e _ r K — 


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ne erſte Reife zu Waſſer. Daher machte die kal⸗ 
te und ſcharfe Luft, die auf den Stroͤhmen ſtaͤrker 
und durchdringender iſt als zu Lande, die heftig⸗ 
ſten Eindruͤkke. Ich bekam Schmerzen im Unter⸗ 
leibe, welche immer empfindlicher wurden. Und 
da ich nach Maynz kam, mußte ich mich augen: 


bllklich zu Bette legen. Ich fing an zu frieren, 


daß ich klapperte und ſelbſt im Bette mich nicht 
erwaͤrmen konte. Darauf folgte Hizze: aber die 
Kolik ließ nach und ging in der Nacht in dier 
jenige Erſcheinung uͤber, welche bei dem ſeligen 
Benner auf ein Aergerniß zu folgen pflegte. — 
Ich hatte mich im hoͤchſten Grade erkaͤltet. 
Mein Puls blieb fieberhaft, und ich fühlte 
mich aͤußerſt matt. Ich mußte beſchließen, einen 
Tag in Maynz zu bleiben. Ich ſchmaußte den 
Vormittag eine Quantitat Rhabarber, und huͤtete 
das Zimmer. Um aber auch aus dieſem Uebel 
Nuzzen zu ziehen, ſchikte ich gleich fruͤh zu den 
Herren Iſenbiehl und Molitor und ließ ſie, ſchon 
vorher mit ihnen bekant, um ihren Beſuch bitten. 
Sie kamen, und wir ergoſſen uns in unterhalten⸗ 
de und lehrreiche Geſpraͤche, und waren herzlich 
vergnuͤgt. | 


222 ———— 


Meine Eriſtenz mochte in Maynz ſchon euch 
bar ſeyn. Nach Tiſche kam der Aufwärter und 


meldete einen Herrn, der mich zu ſprechen ver⸗ 
langte. Ich ließ ihn hereintreten. Er hatte einen 
weiſſen Tuchrock mit ſchwarzer Garnirung an und 
Hie runde Peruͤke auf mit dem Zeichen der Ton⸗ 
fur. Er nennte ſich Rediger und gab ſich den Ti⸗ 
tel Kanonikus. Ich zweifle aber, daß das ſein 
rechter Name war. Sein aͤußerliches war ein⸗ 
nehmend. Er ſprach gut. Und in ſeinen Reden 
ſtach bald Wiz, bald philoſophiſcher Geiſt hervor 
Er machte den Freigeiſt. 


Unendliche Freude war es ihm, Gelegenheit 


zu haben, einen Mann kennen zu lernen, welcher 
ihm ſchon lange in allem Betracht verehrungs⸗ 
werth geweſen war. Er verſicherte, daß er mein 
Schuͤler ſey, daß meine Schriften ihm das erſte 
Licht angezuͤndet haͤtten. Er ſagte mir viel ſchmei⸗ 


chelhaftes über die Vorſicht, mit welcher ich in 


meinen Schriften die Vorurtheile geſchont und 
doch den denkenden Leſer in den Stand geſezt haͤt⸗ 
te, die Wahrheit zu ſinden. Er machte meiner 


Kanzelberedſamkeit Komplimente, Kurz, er gab 


K ˙¹ V 


2 R ? ren. 
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8 ur 3 5 — 
8 N * e * „ 
J * Pr} . + 
: * 


— N 223 


auf die gefaͤlligſte Art zu erkennen, daß er fuͤr mich 
im hoͤchſten Grade eingenommen ſey und mit mie 
uͤbereinſtimmend denke. 


Nach einer Weile, da er mir genugſames 
Vertrauen gegen feine unbefangene Denkungsart 
eingefloͤßt zu haben glaubte, leitete er das Geſpraͤch 
auf die Abſicht meiner Reiſe. Ich geſtand ſie ihm. 

Ich erzaͤhlte ihm die ganze armſelige Lage meines 
Philanthropins, und wie ich ſie jezt zu verbeſſern 
gedaͤchte. Er zukte die Achſeln, beklagte mein 
muͤhſeliges Leben und bedaurete mich wegen der 
ſchreklichen Strapazen, denen ich jezt mich unter⸗ 
ziehen wolte. Wir geriethen in einen langen Streit. 
Er behauptete, daß ich vergeblich mich plagte: 
und ich vertheidigte meine betretne Laufbahn. End⸗ 
lich wandte er das Geſpraͤch auf feinen Zwek. 


Er. Beſter Mann, ich wundere mich wars 
lich, daß ſie ſich fuͤr das Phantom von Gemein— 
nuͤzzigkeit fo ſakriſiziren. 


Ich. Warum, Freund? Es iſt ja ein frei 

| 
williges Opfer. Und ich finde mich dafuͤr belohnt. 
Ich ſtrebe nach Nuzbarkeit. Jemehr mir dies Ve⸗ 


9 


324 9 5 


ſtreben gelingt, je mehr ich Gutes in der Pr 


ſchaffe, je größer die Summe deſſen wird, was 
ich zur Bildung und Gluͤkſeligkeit der Menſchen 
beitrage, deſto hoͤher ſteigt mein Stolz und meine 
Selbſtzufriedenheit. 


Er. Aber was haben Sie am Ende davon, 


wenn Sie ihre Geſundheit zugeſezt, wenn Sie ſich 
uͤber ein undankbares Publikum zu ſchande geaͤr⸗ 
gert und bei Ihrem Fleiße Ihre Kraͤfte aufgezehrt 
haben? Wollen Sie denn gar nicht an ſich ſelbſt 


denken? Iſt Ihr Leben nur fuͤr die Welt, nicht 


für Sie ſelbſt beſtimmt? Sind Sie ſich nie Zwek? 

Ich. Ei, allerdings. Ich ſuche dabei nicht 
nur Nahrung und Unterhalt, ſondern auch Ares 
des Bergnuͤgens. 

Er. Wohl. Aber den finden Sie ja nicht. 
War nicht nach Ihrem eignen Geſtaͤndniſſe Ihr 
ganzes bisheriges Leben eine Kette von Strapazen 
und Verdruͤßlichkeiten? Iſt das Lebensgenuß? 


Ich. Der wird ſchon anch noch kommen. 
Laͤßt Gott mir mein Vorhaben gelingen, und er 


laßt es gewiß; fo bin ich ein gedorgner Mann. 


Denn 


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m wenn mein Institut holöndiſhe und engli⸗ 


ſche Zoͤglinge erhält, fo ſteigen meine Aktien au⸗ 


genſcheinlich fo hoch, daß ich jahrlich einige taus 


ſend Gulden eruͤbrigen kan. Und was fehlt mir 


dann an Bequemlichkeit und Sreude ngen 


Er. Armer Mann, wie Sie von ſuͤß en 


Traͤumen ſich taͤuſchen laſſen. Wie alt find Sie? 


Ich. Noch lange nicht vierzig. 


Er. Nun! Bald vierzig Jahr und noch 
erſt aufs Ungewiſſe los proiektiren, um — viel⸗ 


leicht im funfzigſten, wenn die Lebenskraft ver— 


zehrt und die Empfindung abgeſtumpft iſt, einen 
matten Lebensgenuß zu beginnen? Kan ein ſo 


großer Philoſoph, wie Sie, fo unphiloſophiſch 


handeln? Kan der das nahe liegende Gluͤr vers 
kennen und auf ſolche leere Moͤglich keiten Jagd 


machen, die, auch durch die unwahrſcheinliche 


Kombination der Umſtaͤnde realiſirt, ihm nur einen 
fpäten und halben Genuß verſprechen? 


Ich. Was verſtehen Sie unter dem nahe 


liegenden Gluͤk? 


Er. Darf ich offenherzig mit Ihnen ſprechen? 
11. B. P 


far 
* 


Ich. tesa nicht? Sie nennen mn S 5 


einen Philoſophen. Was koͤnten Sie denn dem 
ſagen, das ihm underdöuich wäre? SW 


Er. Sie haben recht — S Sie mir 
in aller Welt, ob es Ihnen denn noch nie ein⸗ 
gefallen iſt, daß Sie, als Mann von einer. fo 
ungeheuren Reputation, bei unſerer Kirche ihr 
Gluͤk machen koͤnten? Ein Mann, der jo in 
tereſſant iſt, deſſen Name in den entfernteften Ges 
genden genant wird, auf welchen das ganze Pu⸗ 
dlikum fo aufmerkſam ift: ein ſolcher Mann müßte 
unſer naͤrriſches Ding von Kieche bis zur Raſe⸗ 
rei verliebt machen und ſich die kleine Muͤhe, ſie 
durch eine Gunſtbezeugung zu aͤffen, mit unge⸗ 
heuren Summen bezahlen laſſen können, 


Ich. Mein Herr, Sie ſcherzen. 


Er. Bei Gott, nicht. Ich ſage Ihnen, 
daß eine Schnurre dieſer Art Sie — in einen Le⸗ 
bensgenuß verſezt, welchen Sie nie erlangen wer⸗ 
den, wenn Sie noch hundert Jahle lang mit dem 
unſaͤglichſten Fleiſſe ihn zu erlangen ſtrebten. 


- ET se Ve £ * j 223 


Ich. Wenn Sie im Ernſte mit mir reden, 
fo muß ich Sie bitten, dies Gefpräch ſogleich ab⸗ 
zubrechen. Denn ich ſage Ihnen, daß ich das, 
was Sie bereits geſagt haben, fuͤr die Zumu— 
thung der groͤßten Niedertraͤchtigkeit anſehe. 


Er. Beſter, vortreflicher Mann, gerathen 
Sie nicht uͤber die wohlgemeintſten Aeuſerungen 
ihres wahreſten Verehrers in Unwillen. Wie 
koͤnnen Sie eine Sache Ihrer Ehre nachtheilig 
halten, welche mit Ihrem motalifhen und buͤr— 
gerlichen Werthe in gar keiner Verbindung ſteht? 
Iſt aber wohl die aͤuſerliche Religion (ich rede 
mit einem Philoſophen) etwas anders, als eine 
Handwerksinnung? Kans Schande mir ſeyn, von 
einer Innung zur andern zu gehen, wenn ich 
mich bei der andern beſſer befinde? Oder halten 
Sie Ihr Lutherthum für ſo ausſchlieſſend goͤtt⸗ 
lich, daß Sie — doch dieſe Frage wuͤrde Sie 
beleidigen. Ich weiß, daß Sie zu aufgeklaͤrt 
denken, als daß Sie irgend einer Sektenreligion 
irgend einen, geſchweige einen ausſchlieſſenden 
Werth beilegen ſolten. Wie iſt es alſo moͤglich, 


— 
“x 


2 


ah Ehre natpeiig aden? 


Ich. Ich weis es ſo gut wie Sie, mein 
Herr, daß Sektenreligion Kinderpoſſe iſt, welche 
die Pfaffen erfanden, um ſich von ihr zu mäs 
ſten. Aber eben darum finde ich es niedertraͤch⸗ 
tig, mich dieſer Pfafferei gleich zu ſtellen und 


von dem veraͤchtlichſten Dinge unter dem Mon⸗ 


de meinen Lebensgenuß zu erbetteln, welchen ich 


ſchlechterdings gar nicht haben oder, allein meia- 


nem Fleiſſe und meinen Verdienſten zu verde 
ken haben wil. f N 


Er. Sie denken erhaben, aber nicht vor⸗ 
theilhaft für ſich ſelbſt. Ich geſtehe Ihnen of⸗ 


u 


fenherzig, daß ich, dieſen philoſophiſchen Stolz 


zu faſſen, nicht hinlaͤngliche — ſol ich ſagen 
Staͤrke oder Schwache? — beſizze. Mir waͤre 
doch warhaftig eine fette Pfründe von jährlichen 
tauſend Dukaten auch wohl Louisdor's, die ich 


im Augenblik haben koͤnte, lieber, als wenn ich 


ſie erſt mit Aufopferung meiner Ruhe und Ge⸗ 
fundheit erringen muͤßte. b 


El Ze > A RE >. 
* 7 1 5 ee en 
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* UF, 1 72 J 
2 a ae { 4 4 
5 — ů——— & 229 


* Ich. Sie machen die Vergleichung fein 


auffallend, Sie thun, als wenn die taufend 


— 


Louisdor's⸗ Pfruͤnden, wie die wilden Kaſtanien 
wüchſen. 


Er. (haſtig) Herr Doktor! — Gott ſol 
mich verdammen, wenn Sie nicht in einer Zeit 
von vier und zwanzig Stunden eine haben, wenn 
Sie einen einzigen Wink mir geben wollen. Es 
koſtet mich einen einzigen Gang, ein einziges 
Wort; ſo ſteht des Kurfuͤrſten Wagen vor Ihrer 
Thuͤre und Sie genieſſen eine Ehre, die noch kei— 
nem Manne Ihres Standes wiederfahren iſt. 
Sie wiſſen noch gar nicht, wie intereſſant Sie 
ſind. Sie gleichen einem Roſſe, das ſeine Kraft 
nicht kennt, und das blos darum ſo duldwillig 
ſich zuſammenreiten läßt. Sie koͤnten der freis 
ſte, der geehrteſte, der gluͤklichſte Mann ſeyn, 
wenn Sie mehr ſich fuͤhlten. 


Ich. Scherzen Sie nicht, mein Herr! Ich 
bin ein freier, ein nothduͤrftig geehrter und 
gluͤklicher Mann. Und auf dem Wege, auf 
welchem ich das angefangen habe zu ſeyn, wil ich 
P 3 


fortfahren, es noch mehr zu werden. Und einen FE 


andern Weg werde ich nie gehen. — Und mei⸗ 
nen Sie denn, daß Ihr Kurfuͤrſt und Ihr Dom⸗ 
kapitel mich ehren kan, wenn die ganze ehrbare 
Welt mich verachtet? Meinen Sie, daß ich die 


* 


Achtung der Edlen der Nation, die ich habe, fuͤr 


eine katholiſche Pfruͤnde verkaufen wil, die Sie 
mir vorſpiegeln? Bei Gott nicht, a 


Er. Herzensmann, wie ein Schatten Sie 
taͤuſcht! Was iſt denn Ehre, was iſt denn Uns 
ſterblichkeit des Namens? O des armſeligen 
Phantoms, dem Sie den Genuß des Lebens 
aufopfern. Sagen Sie doch, was Sie davon 


haben, wenn ſie Ihr Leben verarbeitet und fuͤr 
die ſogenante Ehre und Nuzbarkeiit es aufge⸗ 


zehrt haben und dann ſterben? Iſt das auch ein 


Gut zu nennen, was ich nicht ſchmekken kan? 


Ich. Mein Herr, laſſen Sie uns das Ge⸗ 
ſpraͤch enden. Es wuͤrde uns zu weit ‚Führen, 
wenn ich Ihnen aus meinem bischen Philoſophie 


f 7 „ „ 15 
ſagen wolte, wie ich noch nach meinem Tode 
meinen Nachruhm zu ſchmekken gedenke. Ges 


ne 7 9 23 


RR ich verkaufe ihn nicht. Und diefen Borsa 
werden Sie nie mir wankend machen. 


Er. Es thut mir leid, daß ein Mann, 
der's fo ſehr verdient gluͤklich zu ſeyn, fo vorſaͤz⸗ 
lich ſich der wahreſten Gluͤkſeligkeit berauben 
wil. Und ich bedaure Sie um ſoviel mehr, da 
ich Sie auf einer Laufbahn erblikke, auf welcher, 
ftatt gehoften Genuſſes, die e Leiden Sie 
erwarten. 


Ich. Ich fuͤrchte nichts. 


Er. Und ich ſage Ihnen, Sie haben viel 
zu fuͤrchten. (traulich) Ich rede warlich als 
Freund mit Ihnen. (leiſe) Haben Sie nichts 
gehoͤrt, was der Wormſer Weihbiſchaf gegen 
Sie vor hat? 


Ich. Ich habe etwas gehoͤrt. Aber dar⸗ 
‚ Über lache ich. Was hat der Menſch mir zu 
befehlen? 


Er. Glauben Sie mir, Sie werden einen 
Stand mit ihm bekommen und Ihr Philanthro⸗ 
pin wird mit allen Ihren ſchoͤnen Ausſichten von 


8 4 


ihm iu Grabe getragen werden. Jet wäre „ 
Zeit, dem ungluͤk vorzubeugen und —— 


Ich. (einfallend) Ich verſtehe Sie, 25 
Herr: Sie wollen jezt durch Furcht das zu ers 
zwingen ſuchen, was Ihnen durch vorgehalten 
Hofnungen nicht gingen wolte. 


Ich brach jezt das Geſpraͤch mit ewelt 
ab, und alle erneuerten Verſuche des Redigers, 
daſſelbe wieder anzuſpinnen, waren vergeblich. 
Er blieb wohl noch eine Stunde, ſprach von 
der vorteeflichen Denkungsart des Kurfüͤrſten, 
von der angenehmen Freiheit, die jezt Manner 
von aufgeklaͤrter Denkungsart genieſſen koͤnten, 
ſchilderte mir das gluͤkliche Leben der hohen 
Geiſtlichkeit — und mußte endlich, da ich durch⸗ 
aus allen fernern Angriffen ſtandhaft auswich, 
ſeinen Abzug nehmen. | 


Ich war der efelhaften Unterhaltung herz⸗ 
lich müde Mein Kopf war wuͤſte. Ich legte 
mich aufs Bette und dachte nach, wie ich es 
moͤglich machen wolte, auf das ſchleunigſte aus 
Maynz zu kommen. Denn es kam mir wirklich 


233 


a der Gedanke ein, daß mein gegebner Korb Er⸗ 


bitterung erregt haben koͤnte. Nach meinem an⸗ 
ſcheinenden Krankheitszuſtande mußte ich noch 
einen Tag liegen bleiben. Aber ich ließ den 


Aufwäͤrter kommen und befahl ihm, ſich nach 


einem Schifferkahn zu erkundigen, der nach Köln 
mich bringen ſolte. Ich hatte dem vorgeblichen 
Kanonikus geſagt, daß ich übermorgen erſt abreis 
ſen wuͤrde: und deſtomehr betrieb ich es, morgen 
zu verſchwinden. Der Aufwaͤrter brachte die Nach⸗ 
richt, daß ich fuͤr drei Dukaten und ein Trinkgeld 
einen eignen Kahn haben koͤnte, mit dem ich in 
zwei Tagen in Köln zu ſeyn Hofnung hätte. Ich 
ließ den Schiffer holen und machte den Handel rich⸗ 
tig. Die Abfarth wurde fruͤh um fuͤnf Uhr beſtelt. 


Was ich mit meinem Fieber machen ſolte, 
wußte ich nicht. Mit Medikamenten war in ſo 
kurzer Zeit nichts zu erzwingen. Endlich ließ 
ich mir den Wirth kommen und bat ihn inſtaͤn⸗ 
dig, mir eine Butelje Achten Achtundvierziger zu 
verſchaffen. Er brachte ſie, und ich muſte zwei 
Gulden funfzig Kreuzer dafuͤr bezahlen. Ich 
ließ mir Sardellen und Semmel dazu bringen, 


P 5 


- 1 * 
N 2 


und wolte eben meine Kur anfangen (es war au 
gen ſieben Uhr des Abends) als der Aufwärtee 
mir folgendes Billet brachte, welches ich noch 
im Original beſizze und zum Andenken aufhebe! 


Hochwuͤrdiger Herr Doktor! 


Es iſt Drang des redlichſten Herzens, welches 
von Verehrung und Freundſchaft gegen Sie 
gluͤht, wenn ich Ihnen noch einmal das 
Ende aller Ihrer Beſchwerlichkeiten und Ges 
fahren, mit dem reichſten Genuſſe aller 
menſchlichen Gluͤkſeligkeit, anbiete. Von ho⸗ 
her Hand habe ich den unmittelbarſten Auf⸗ 
trag, Ihnen ein Einkommen von 5000 Gul— 
den zuzuſichern, wenn Sie einen Ihrer Phi⸗ 
loſophie gemaͤßen Entſchluß faſſen wollen. 
Es ſteht blos bei Ihnen, die Art der Vol⸗ 
ziehung deſſelben vorzuſchreiben. Erdenken 
Sie ſich ſelbſt die allerſtrengſte Methode, 
nach welcher Sie ſich alles vorher ſichern 
moͤgen. Man verlangt nicht den geringſten 
Schritt von Ihnen eher, bis Ihnen alles 


24 

erfuͤlt worden ift, was Sie ſelbſt Punkt für 
Punkt vorzeichnen wollen. Sie koͤnnen alles 
fodern und alles verbitten, ſelbſt die Ab⸗ 
ſchwoͤrung. Sie koͤnnen ganz nach den ei⸗ 
genſinnigſten Grundſaͤzzen verfahren. Es 
wird Ihnen alles bewilligt werden. Nur 
ein halbes Ja — geben Sie vorerſt 


Ihrem treuergebenſten 
R. 


Ich mußte bei Leſung dieſes Billets bei mir 
ſelbſt lachen. Aber es war mir doch nun lieb, 
daß ich die Abreiſe feſtgeſezt hatte. Ich ging 
ſelbſt hinaus, ſagte dem Bedienten, der den Brief 
gebracht hatte, heimlich und in einem verſtelt, 
a traulichen Tone, daß ich morgen um acht Uhr 
ſeinen Herrn ſelbſt zu ſprechen wuͤnſchte. 


Jezt ſezte ich mich zu meiner lieben Bu: 
telſe und kam bis zehn Uhr gluͤklich mit ihe zu 
Ende. Ich ſchlief vortreflich. Um vier Uhr er⸗ 
wachte ich und befand mich in einem gemäffigten 
Schweiſſe, und fuͤhlte mich auſſerordentlich leicht 


N 4 
ur 


und r munter. Eil troknete ich mich A ah ni 
friſche Wache, und eilte, mein Früͤhſtuͤ zu Er 4 


zu nehmen, welches an Quantitat einer Mitt 5 


mahlzeit glich. So volkommen war mein Appe⸗ 89 
tit. Um fünf Uhr, da der Tag noch kaum grau⸗ 
te, ſtach ich ab, und fuhr den Rhein hinunter. 5 
— Ob die Komoedie des R. Ernſt oder Spas 
geweſen war, ließ ich unentſchieden. — Ich war 3 
froh, daß ich ſo geſund und heiter meine Reiſe | 


fortſezzen und mich wieder an meinen Ausſichten 


laben konte, welche die Rege Phantaſie ſich 
traͤumte. — Mein Aufenthalt hatte mich, mit 
der Reiſe von Frankfurth, bei dreizehn Gulden 
gekoſtet. Wie lange, dachte ich, werden die hun⸗ 
dert Gulden reichen? 


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65 Drei und Zwanzigſtes | Kapitel, 


Reiſe nach Koͤln. 


Dis Wetter hatte ſich wieder aufeeflärt, Die 
Sonne ging ſo herlich auf, als ich ſie noch nie 
geſehen hatte. O welche mir neuen Schoͤnheiten 
der Natur entdekte mein Auge. Welche Seenen, 
welche Abwechſelungen, welche Pracht der Schoͤ⸗ 
pfung! Wie viel verliert man, wenn man dieſe 
Gegenden in einem Wagen bereiſet. Hier auf 
meinem Kahne hatte ich beſtaͤndig in der Naͤhe 
und Ferne die mahleriſchſten Ausſichten. Und 
jeder Gegenſtand, jeder Berg, jedes Dorf, jede 
Stadt, jede Reihe Weingaͤrten mit ihren Huͤtten 
und Pallaͤſten, jede Burg: alles erſchien doppelt 
und dreifach, je nachdem wie nahe oder fern ih⸗ 
nen waren und mit dem Kahne uns wendeten 
und bald von dieſer bald von jener Seite und 
folglich immer in einer andern Verbindung und 


2 ‚ Gruppierung es beſchauten. Meine Seele war 


beſtaͤndig trunken von Vergnuͤgen. — Nicht ein 


es 


Eins fehlte mir nur zum vollen Genuß: ein 


mit mir ſympathiſirender Neiſegefaͤrthe. Es iſt 


wirklich in der Welt alles nur halb geniesbar, 3 


wo keine Theilnehmung iſt. Volle Seligkeit iſt 


warlich nur da, wenn ſich die Empfindungen durch 


Sprache ergieſſen und durch wechſelſeitige Mit⸗ 


theilung in Feuer gerathen konnen. Ich war 


auf dem Kahne allein. 


Mein Schiffer war — ein Schiffer, und da⸗ 
bei noch ein recht dikhaͤutiger Katholik. Er 


wußte nichts aus alle dem zu machen, was ich 


ſo ſchoͤn fand. Ein Stuͤk Schweinbraten und 
ein Schoppen Schnaps war ihm ſchmakhafter, 


als die ganze Pracht der Schöpfung, die mich 


entzuͤkte. f 


Da der Menſch merkte, daß mir Geſelſchaft 
fehlte — denn ich bedaurte einigemal, daß ich 


keinen Reiſekompagnon bei mir hätte, und bes 


gan zu Zeiten ſtil und in mich ſelbſt verſchloſſen 
zu werden — da fing er an, mich zu unterhal⸗ 


or 
re 
S 
Bi 


239 


ten, und natürlich gerade davon, was ſeine 
Phantaf e am reichlichſten beſaß, und was er 
ſelbſt am lebhafteſten empfand — von ſeinen 
Maͤhrchen, welche Pfaffen und alte Weiber ihm 
c hatten. 

Seine Imagination war ganz vol und fein 
Glaube glich dem Lavaterſchen Wunderglauben.“ 
Er. erzählte mir faſt lauter eigne Erfahrungen. 
Und ich Hätte von denen allein eine Legende in 
einem ſtarken Foliobande aufſtellen wollen, wenn 
ich alles protokolliret hätte. Ein einziges Bei⸗ 
ſpiel zu Probe! 


Er hatte mir ſehr viel von allerlei Wundern 
und Teufelaustreibungen vorgeſchwazt und ich 
war nicht im Stande geweſen, ihn, durch meine 
Zweifel und Bedenklichkeiten, die ich ihm entge— 
gnete, in feinen Ueberzeugungen wanfend zu mas 
chen. Er fuhr immer getroſt fort, zur Beſchaͤ— 
mung meines Unglaubens, eine Lüge mit der anz 
dern zu beftätigen, und ſagte endlich mit einer 
Einfalt, die mir beinahe ein gefaͤhrliches Lachen 
erpreßt haͤtte: ich ſehe wohl, daß der Herr ein 


* 


8 
2 


* 


Kezzer iſt: ich will ihm nur en wens, fi 


ich nicht allein Zeuge bin, fondern was noch le⸗ 
bende Perſonen atteſtiren koͤnnen. Ich hatte mei⸗ 
ne Frau ſchon zwei Jahr, und konte, ſo jung und 


ruͤſtig ich war, keine Befruchtung zuwegebrin⸗ 


gen. Ich befragte mich bei einem Maynzer Dok⸗ 
tor, aber der Kerl verſtund nichts. Er meinte, 
das ſey nicht zu erzwingen. Hernach ging ich zu 
meinem Beichtvater, der rieth mir zur Maria zu 
gehn, und ſie um Beiſtand anzurufen. Denke 
Er, was geſchah. Ich ging mit meiner Frau 
drei Meile Wegs von Maynz, in der ſchreklich⸗ 
ſten Kalte und tiefem Schnee, nach einer Maria 
in * und nahm etwa zehn Thaler werth mit 
mir, was ich ihr ſchenkte. Wir blieben die 
Nacht im Wirthshauſe, und mußten wegen 
der vielen Rekruten, die eben durchpaſſirten und 


ihre Nachtquartiere da hatten, uns erbaͤrmlich 


behelfen. Den andern Morgen gingen wir in die 
Meſſe und brachten unſer Opfer. So wie wir 
abgefertigt waren, reiſeten wir wieder nach Hau⸗ 
ſe, und meine Frau ward krank. Ich kriegte 
einen Brief von meiner Mutter, die ſterben 
wolte, und mußte nach dem Elſaß reiſen. Wie 


ich 


| eee 


ich wieder zuruͤkkam, war meine Frau ſchwanger. 


Was ſagt Er dazu? Und ich hatte, ſeitdem wir 


bei der Mutter Gottes geweſen waren, ſie nicht 
angeruͤhrt! 


Gern haͤtt' ich ihm meine Vermuthung in 
Betref der vielen Rekruten mitgetheilt. Aber 
ich mußte fuͤrchten, daß er mich in den Rhein 
warf und meine Kezzerei auf der Stelle ahndes 
te. Ich verſicherte ihn alſo, daß das allerdings 
eine merkwuͤrdige Schwangerſchaft ſey. 


Ja Herr, fuhr er fort, das iſt das wenig⸗ 
ſte. Im zweiten Monat ihrer Schwangerſchaft 
bekam ſie ein Kopfweh bis zum verruͤkt werden. 
Ich lief zum Apotheker und holte Medicin, und 
es half nicht. Ich ließ einen Doktor kommen, 
und auch der konte mit allen ſeinen Pulvern und 
Tropfen nichts ausrichten. Das arme Weib 
jammerte und winſelte. Auf einmal traͤumte ich, 
daß ich bei der Mutter Gottes war, und ſie ſag— 
te mir: bring die Frau zu mir, ich wil ſie geſund 
machen. Ich fagte den Traum meinen Schwie⸗ 
gereltern und einigen Nachbarsleuten. Wir mach⸗ 

III. B. O 


2 


* U 
7 


ten uns auf den Weg. Wir waren unſere acht. 
Meine Frau konte kaum kriechen. Sie mußte 


fort. Wir legten uns alle acht auf die Knie vor 
der Mutter Gottes nieder, und wie wiv eine 
Stunde gebetet hatten, ſahe ich die Maria ſo an, 
als wenn ich ihr ſagen wolte: wilſt du denn 
noch nicht? Und ſieht Er, Here, ich wil nicht 
zu Gott kommen, wenns nicht wahr iſt: die 
Mutter Gottes dreht den Kopf nach mir herum 
und nikt. Ich ſtieß meine Nachbarn an. Die 
ſehens auch. Wie die andern es merken, richten 
ſie ſich auch auf. Und alle ſehen, daß die Mut⸗ 
ter Gottes mit dem Kopfe nikte. Nu hoͤr' Er, 
Herr, was geſchah. Meine Frau lag wie todt da 
und betete und auf einmal ſteht ſie auf und laͤuft, 


ohne ein Wort zu ſagen, zur Kirchthuͤr hinaus, 


ſo munter und friſch, als wenn ſie zu Tanze 
gienge. Wir eilten ihr alle nach. Und ſieht Er, 
Herr, ſie war geſund wie ein Fiſch und hat ihr 


ſeit der Zeit kein Finger weh gethan, und fie hats 


te hernach alle fünf Vierteljahr ihr Kind. Nu? 
Meint Er noch, daß die Maria bei uns kein 
Wunder thut? 


Was wolt ich machen? Ich mußte meiner 
Sicherheit wegen ihm Beifal geben. Doch Font 
ichs nicht laſſen, mich zweideutig auszudruͤkken. 
Ich ſehe freilich, lieber Mann, daß die Mutter 
Gottes, die Motion geſegnet hat. — Aber der 
Kerl verhoͤrte meine Motion. Ja warlich, er⸗ 
wiederte er, wenns die Mutter Gottes nicht that, 
mein Weib wurde naͤrriſch. 


Vier und zwanzigſtes Kapitel. 


Fortſezzung. 


— —— —-—— 
1 


D wir des andern Tages der Stadt Köln 
uns naͤherten, ward er mit jeder Stunde geſpraͤ— 
chiger. Denn dieſer Ort gab ihm reichhaltige Ge— 
legenheit, mich mit Wundergeſchichten zu unterhal— 
ten. Einige waren ſo handgreiflich falſch, daß ich 
ihn ſelbſt zweifelhaft machen konte. Bei einer aber, 
da ich bereits mehrere ihm als hoͤchſtbedenklich 
zuruͤkgegeben hatte, beharrte er deſto feſter. 
Q 2 


Es giebt freilich manche Lüge, ſogte der ana 
me Tropf in feiner Einfalt, die man fo mit un 
ter aufgebunden kriegt: aber eine Geſchichte, die 
ich ihm erzaͤhten wil, iſt gewiß wahr, denn — 
ſie iſt gedrukt. Ich kan Ihm zu Hauſe das Buch 
weiſen, wo ſie ſteht. Und ich kenne ſelbſt einen 
Mann in der Mainzer Vorſtadt, der die Probe 
davon gemacht hat. Wenn wir nach Koln kom⸗ 
men, wil ich Ihm das Thor weiſen. Zu dem 
Thore iſt die H. Dreieinigkeit herausgegan⸗ 
gen, da die Kezzer einmal zu viel Laͤrmen in 
Koͤln machten, und feit der Zeit, Herr, iſt 
kein Menſch im Stande, durch das Thor zu 
gehen oder es aufzumachen. Und ſieht Er, Herr, 
der Mann in der Vorſtadt, von dem ich Ihm 
ſagte, iſt ſelbſt da geweſen: es iſt mein Gevat⸗ 
termann: und der hat mirs geſagt, daß er ſelbſt 
an dem Thor geweſen ift, wie er die Kraͤzze hats 
te, die ihm kein Doktor vertreiben konte: und 
da iſt er hingekniet, und hat die Hände an der 
Mauer gerieben, daß das Blut gelaufen iſt: und 
da hat es ihm drei Stiche in die Seite gegeben, 
wie mit Steknadeln: darauf iſt er nach Hauſe 
gereißt und feine Kräzze war fort. Seitdem find 


viel Kranke vor das zugemauerte Thor gegangen. 
und haben ſich gerieben, und find geſund ges 
worden, 8 ö 

Ich ſchwieg bei der Erzaͤhlung: aber da wir 
bei Köln ausſtiegen, und ich mich auſſer Gefahr 
ſahe, durch die Glaubenswuth meines Schiffers 
zum Maͤrtyrer zu werden, konte ichs doch nicht 
laſſen, ihm beim Anblik des Thores meinen Un⸗ 
glauben zu geſtehen. „Ei, Freund, das Thor. 
„iſt ja zugemauert. Nun warhaftig, da hat die 
„Koͤlner Dreieinigkeit gar leicht das Wunder ver⸗ 
„richten koͤnnen, daß niemand zu dem Thore mehr 
„heraus und hinein kan. Laßt Euch von euern 
„Pfaffen doch ſolch dummes Zeug nicht bereden, 
„und fepd verſichert, daß es auch gedrukte Lü⸗ 
„gen giebt.“ 


In Koͤln blieb ich uͤber Nacht, weil ich muß⸗ 
te. Denn ich kam gegen fuͤnf Uhr an und war 


kaum zum Thore herein, als es ſchon geſchloſſen 


wurde, von welchem Augenblikke an, kein Menſch 
mehr aus und eingelaſſen wird. Und beinahe haͤt⸗ 


te ich gar auf einen Monat Quartier bekommen. 
83 


_ 5 


Ich nahm mir im Gaſthofe einen Leh nlakel 
der mich, weils noch ein wenig Tag war, in der 
Stadt herumfuͤhren ſolte. Der Kerl war ein 


Gaudieb. Wir gingen vor einem groſſen Hauſe 


vorbei, wo in der unterſten Etage eine vornehm⸗ 
ſcheinende Dame im Fenſter lag und durch ihre 
Reize von weitem ſchon das Auge des Vorbeige— 
henden auf ſich zog. Er fuͤhrte mich ſo, daß wir 
ganz nahe an dem Fenſter vorbeikamen. Ich ſahe 
die Dame an. Sie bog ſich beſcheiden zuruͤk, nahm 


eine Mine vol Ernſt mit Grazie vermiſcht an, und 


machte eine Bewegung, als ob ſie mich gruͤſſen 
wolte, welches denn natuͤrlich meine Artigkeit ſo— 
gleich in Feuer ſezte, ſo daß ich mit dem vollen 
Kompliment ihr zuvorkam, und es von ihr erwie⸗ 
dern ſah. Ich fragte den Bedienten, ob er die 
Dame kenne? Er ſtelte ſich zweifelhaft, ob er 
fie für die oder die vornehme Frau halten ſolte. 
Ich achtete des Dinges nicht weiter. 


Ich ging bald in den Gaſthof zuruͤk, weil 
mich in dem alten Rauchneſte nichts intereſſiren 
wolte, und nahm eine gute Abendmahlzeit ein, 


nach der ich mich um ſo mehr ſehnte, je ſchlech⸗ 


c 


— EN 


ter die Koſt geweſen war, welche ich in der Ge⸗ 
ſelſchaft meines Schiffers genoſſen hatte. Denn 
der Kerl hatte ſeine Stationen, wo er ſich wohl 
befand, wo aber, fuͤr Reiſende meiner Art, Jahr 
aus Jahr ein Faſtenzeit iſt. | 


Mitten in diefer Mahlzeit meldete mir der 
Markeur, daß eine Dienſtmagd mich zu fprechen 
verlange. Ich gieng hinaus, und fand ein Mäds 
chen, welches mir von einer gewiſſen Frau Geh. 
Hofrͤͤthin ein Kompliment brachte, mit dem Vers 
melden: ſie haͤtte von meiner Ankunft Nachricht 
erhalten, ſie wuͤnſchte einen ſo beruͤhmten Mann 
perſoͤnlich kennen zu lernen, uud fie bäte daher, 
daß ich ihr die Ehre erzeigen und ſie beſuchen 
mochte. — So wunderlich mir das Ding vovs 
kam, ſo wenig hatte ich arges dabei im Herzen. 
Ich fragte die Magd, wo die Dame wohne? 
Sie offerirte ſich, mich ſelbſt zu geleiten. Ich 
ſagte den Beſuch zu und befahl, in einer halben 
Stunde mich abzuholen. Das Maͤdchen erklaͤr⸗ 
te, daß ſie unten an der Hausthuͤr zur geſezten 
Zeit meiner erwarten wolle. Dieſes leztere erz 
regte in mir die erſte Bedenklichkeit. Denn mit 

2 4 


— 


248 — | 


dem Erwarten an der Hausthuͤre fiel % 
eine dunkle Idee von Kuppelei. 


Indeſſen kehrte ich zu meiner Schüſſe anb 
Flaſche zuruͤk, und befriedigte vor allen Dingen 
den maͤchtigen Tirannen, welcher der ganzen 
Menſchheit erſter Geſezgeber iſt. Und beinahe 
haͤtte ich uͤber der Andacht, mit welcher ich die⸗ 
ſem gebietenden Herrn meine Pflichten erfuͤlte, n 
die ehrenvolle Viſite vergeſſen. Sie fiel mir wie⸗ 
der ein, da mein Nachbar am Tiſche nach der 
Uhr ſah. Und da, mit dem Gedanken an die 
Hauptſache, mir meine Phantaſie auch die Ne⸗ 
benſache vorſtelte, ich meine das Mädchen 
an der Hausthuͤr; ſo kam mirs an, meinen 
Wirth auf die Seite zu ziehen, und ihn zu 
fragen, ob er hier eine Srau Geh. Hofraͤthin 
N. N. kenne? 


I N. 1 

Wirth. Rein, mein werther Herr. Ih 
glaube auch nicht, daß in Koͤln eine — iſt. 
Ich. Das waͤr e Sie hat mich f 

auf heute Abend einladen laſſen. 5 ö 


> 


Wirth. Um Gottes willen gehn Sie nicht 


hin, ehe Sie einen von meinen Leuten adgefcıft 
und ſich genauer erkundig: haben. Es kan Ih⸗ 


nen die groͤßte Hefahr daraus erwachſen. 


Ich. Sie meinen vieleicht, daß ihr eifer⸗ 
ſuͤchtiger Mann — 


Wirth. (ein fallend) Bewahre Gott. Es 


iſt ſicher keine Dame, die Sie hat invititen laſ⸗ 


ſen. Das iſt eine von den Methoden der hieſt⸗ 
gen Huren, durch welche ſie Fremde an ſich lok⸗ 
ken. Wenn Sie hinkaͤmen, wuͤrden Sie ſehr 
artig empfangen werden, aber auch in wenig Mi⸗ 
nuten ſich in den Haͤnden der Gerichtsdiener be⸗ 
finden. Und dann hätten Sie die Ehre, einen 
Monat im Arreſt zu ſeyn, und mit einigen hun⸗ 
dert Gulden Unkoſten wieder erlaſſen zu werden. 


Ich. Iſt das moͤglich? Aber wie kan eine 
Hure von mir Nachricht haben, da ich erſt an⸗ 
derthalb Stunden hier bin? 


Wirth. Ich vermuthe, daß Sie durch die 
Kanaille, den Lehnlakai, verrathen ſind. Solche 
Rule ſtekken mi den Menſchern unter der Dekke. 

2 5 


Ich. Aber wie wäre es denn möglich, daß 
man ſo unſchuldig auf ſo lange Zeit koͤnte im 
Arreſt gehalten und um ſo vieles Geld SCORE 
werden? 


Wirts. (traulich) Ja, lieber Herr, hier 
ſtechen unſere Rathsherren ſelber mit den Huren 
durch. Die Hure lokt den Vogel und meldets 
ihrem Rathsherrn, der ſie protegirt, daß er ihn 
einfangen kan. Und dann erſcheint das Menſch 
als Klägerin, daß ihr der Eingefangne gemalt: 
ſame Unzucht angemuthet habe, und ſo wird der 
Proceß inſtruit. Alsdan ſucht man des Frem⸗ 
den Vermoͤgensumſtaͤnde zu erfahren, um ihn 
nach Masgabe derſelben, um ein, zwei, vier und 
mehrere hundert Gulden leichter zu machen und 
ſo wieder nach Hauſe zu ſchikken. 


Ich erſtaunte uͤber dieſe Koͤlniſche Statiſtik 
und dankte Gott, daß ich den geſunden Einfal 
gehabt hatte, meinen Wirth zum Konſulenten zu 
waͤhlen. Indeſſen war ich doch begierig, es ge 
wiß zu wiſſen, daß meine Einladung auf ein fol 
ches Spiel gemuͤnzt geweſen ſey. Ich bat alſo 


/ 


— | 251 


den Wirth, einen von feinen Leuten hinunter zu 
ſchikken, und die Magd fragen zu laſſen, wo die 
Herrſchaft wohne, zu welcher ſie mich abholen 
wolte. Das geſchah. Die Magd war frech ge: 
nug, dem Aufwaͤrter ein Haus zu nennen, und 
mir ſagen zu laſſen, daß die Dame mich erwarte. 
Ich wurde alſo jezt mit dem Wirthe eins, daß 
er zwei ſeiner Hausleute hinunter ſchikken und 
die Magd noͤthigen ſolte, ſie nach dem Hauſe 
der Dame hinzubringen, unter dem Vorwande, 
daß ich ihr etwas zuſchikken wolte. Aber das 
Mädchen mochte indeſſen ſchon die Lunte gero> 


chen haben und war, da die Leute hinunter ka— 


men, verſchwunden. 


Ich lernte alſo, was ich ſpaͤterhin aus der 
Gallerie der Teufel erfuhr, daß man in Koͤln ſehr 
vorſichtig mit den Damen zu Werke gehen muß. 


22 — 0. 
Fiuͤnf und Zwanzigſtes Kapitel. 13 


- 9372 


Crefeld. Kleve. 


w 


Meine Reiſe ging von Köln nach Crefeld, wo 


hin ich keine ordinaire Poſt fand. Das noͤthigte 
mich, einen Hauderer oder Lehnkutſcher zu nehmen. 
Dieſer zwang mir, des boͤſen Weges halber, 
drei Pferde auf, ohngeachtet ich mit meinem 
Mantelſak allein war, und ich mit ſamt meiner 
Kaſſe, keine 125 Pfund wog. Der ganze Vor⸗ 
mittag ging hin, ehe ich mit dem Handel fertig 
werden konte. Daher mußte ich noch in Koln 
eine Mittagsmahlzeit, bezahlen, welches meine 
Rechnung bis auf, fünf Gulden erhöhte, Die 
Fracht nach Crefeld koſtete mich uͤber zehn Tha⸗ 
ler, und ich wurde dafür fo langſam gefahren, 
daß ich vor langer Weile hätte umkommen md: 
gen. Der redſelige Schiffer von Mainz hatte 
mich auch nicht wolfeil bekoͤſtiget, ſo wenig auch 
mein Magen genoſſen hatte: daher war meine 
Boͤrſe ſchon ziemlich zuſammengeſchmolzen, fo daß 
ich recht ſehnlich auf Elias Naben wartete, — 


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— 


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_ 


Ich war uͤbrigens der jezt anhaltenden, kalten, 


naſſen und ſtuͤrmiſchen Witterung ohngeachtet, 
volkommen geſund und heiter im Geiſt 


In Crefeld hatte ich Spekulation auf die 
Herren von der Leihe, welche Millionen beſaßen 
und uͤber 3000 Abeitsleute Brod gaben. Wo 
ſolche Reichthuͤmer ſind, dachte ich, wird wohl 
für ein Philanthropin etwas abfallen. Durch 
Herrn De Greif, einen Weinhaͤndler, der ſchon 
einen Sohn fuͤr mein Inſtitut beſtimt hatte, ge⸗ 
dachte ich mit dieſem Hauſe in Bekantſchaft zu 
kommen und meine Suada — ad modum des 
heiligen Stifters des halliſchen Walſenhauſes — 
anbringen zu koͤnnen. 


Ich fuhr bei meinem Freunde an und ward 
mit Herzlichkeit aufgenommen. Er erſchrak uͤber 
meine Erſcheinung und erſtaunte, da ich ihm mein 
Vorhaben erzählte, in diefer Jahreszeit nach Hol⸗ 
land und England zu reifen. Indeſſen weiſſagte 
er mir Gluͤk, und gab mir verſchiedene Empfeh⸗ 


llungsſchreiben an groſſe Handelshaͤuſer mit. 


Auch nante er mir in London einen Mann, der 


eee Renee ere 
K * an 5 18 > 1 


— i 253 


2 


254 


fein Herzensfreund und ein Deutſcher war, wel⸗ 
cher als Bruder mich aufnehmen wuͤrde. Ich 
blieb zwei ganzer Tage in Erefeld und lebte 
hoͤchſt vergnuͤgt im Schooße der wee 
Familie. 


Herr De Greif war ein wolhabender aber 
kein reicher Mann und — hatte viel Kinder. 
Es war alſo auſſerordentlich viel Enthuſiasmus 
fuͤr mein Inſtitut, daß er mir ſeinen Liebling, 
einen Knaben von dreizehn Jahren anvertraute 
und dreihundert Gulden oder 33 Luis dor für ihn 
zu bezahlen verſprach. Das war der erſte Zoͤg⸗ 
ling, den ich auf meiner Werbungsreiſe bekam. 


Gleich den erſten Morgen gingen wir aus, 
bei den Herren von der Leihe, auf welche mein 
Freund ſelbſt etwas rechnete, eine Viſite abzule⸗ 
gen. Wir hatten uns die Erlaubniß erbitten laſ⸗ 
ſen, ihre Fabrikanſtalten, und beſonders die große 
Seidenſpinner-Maſchine zu ſehen, welche mit ei⸗ 
nem Pferde leiſtet, was ſonſt 36 Menſchen thun 
mußten. Wir wurden hoͤflich aufgenommen, und 
man fuͤhrte mich uͤberal herum, auch da, wo man 


Leute von Metier nicht hinſchauen ließ. Mein 
Freund kramte eine Geſchichte meines Philan— 
thropins aus, ließ fleiſſig dabei Worte der Er— 
mahnung zur freigebigen Menſchenliebe fallen, 
ruͤhmte meinen Heldenmuͤthigen Enthuſiasmus 
fürs Inſtitut, der aus dieſer Reife hervorleuch— 
tete und ſagte es den Zuhoͤrern ſo deutlich als 
moͤglich, daß fie Urſache hätten, ſich eine Ehren⸗ 
faule zu ſtiften. Aber — er predigte tauben 
Ohren. 


Wir machten hernach angenehme Bekant— 
ſchaften, mit einem aufgeklaͤrten Prediger, Heu— 
man, und dem Buchhaͤndler Ter Meer, einem 
Original von biedern und redlichen Manne, wel— 
cher hernach mein beſtaͤndiger Freund und Kor— 
reſpondent geblieben iſt, und genoſſen in ihrem Zir⸗ 
kel die reinſten Freuden des geſelligen Lebens. Ich 
ward im Orte als ein berufener Kezzer angeſehn, 
und man wieß hier und da, wenn ich auf der 
Straße ging, mit Fingern auf mich. — Ich fand 
hier, beiläufig gefagt, die erfte Spur von jener 
uͤbertriebnen hollaͤndiſchen Reinlichkeit in und vor 
den Haͤuſern. 


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256 y r — 5 > \ — 


— Rufe anne Welebes 


genoſſen hatte, beſtelte ich die Poſt für mich auf \ 


Kleve, wo mir Herr De Greif auch Bekantſchaf⸗ 
ten angewieſen hatte und dachte — was Crefeld 
nicht geliefert haͤtte, werde Klebe wohl geben. Als 
ich des Abends auf mein Zimmer kam und das 
leztemal in Crefeld entſchlafen wolte, erblikte ich 
auf meinem Nachttiſche zehn Dukaten. — Ha! 
funfzig Gulden unerwartet, ungeſucht! — Ich 
umarmte am Morgen meinen großmuͤthigen 
Freund, und ſchied vergnuͤgt von ihm. . 


In Kleve fand ich einen herrlichen Mann an 

D. Beuth. Er war ein Arzt, von den gründe 
lichſten Kentniſſen, der gewiſſenhafteſte Mann in 
ſeiner Proris, der angenehmſte Geſelſchafter, der 
gefaͤlligſte und eifrigſte Menſchenfreund. — Die⸗ 
ſer fuͤhrte mich gleich in das Haus des Herrn von 
Bachmann ein, wo ich auf das freund ſchaftlichſte 
aufgenommen und bewirthet wurde. Er, ein Mann 
von Geſchmak und den edelſten Grundſaͤzzen, Sie, 
das fanftefte, liebevollſte Weib, warben beide mit 
mir einig, uͤber zwei muntere Knaben, darunter 
der aͤlteſte ein wahres Genie war und mir deſto⸗ 
mehr 


2 5 2 N 


65 Vergnuͤgen machte, RR ich hoffen durfte, 


an dieſen Zoͤglingen Ehre zu erleben. f 


Es war uͤbel, daß ich an keinem Orte lange 
bleiben durfte, wenn ich die ganze Reiſe binnen 
vier Monaten, wie es beſchloſſen war, beendigen 
wolte. Denn ich würde überal in weitlaͤuftige Be—⸗ 
kantſchaften gerathen ſeyn und fuͤr mein Inſtitut 
Zuwachs erhalten haben. Indeſſen war ich froh, 
uͤberal nur etwas wirken zu koͤnnen, weil ich mir 
mit Recht Hofnung machte, daß die eine Familie, 
welche mir ihre Kinder anvertraute, das Lob mei⸗ 
nes Inſtituts in der Folge ſchon ſelbſt ausbreiten 
und dadurch die Zahl der Penſioniſten vermeh— 
ren wuͤrde. 


Von Kleve ging ich mit der Post nach Hol: 


land. Dieſes Fuhrwerk wolte mir nicht behagen. 


Es waren kurz gebaute bedekte Kaleſchen, ohne 

Deichſeln unſerer Art, blos mit einem zwiſchen den 

Vorderraͤdern verſehnen Horne, auf welches der 

Kutſcher oder Poſtilljon den Fuß ſtelt, und die Len⸗ 

kung des Wagens verrichtet. Dieſe Wagen, ſo 

eben die meiſten Wege ſind, ſtießen ſo entſezlich, 
III. B. R 


258 ——— 2 


daß meine ſämtlichen Gebeine auf der mein eu. 3 


tion ſchon muͤrbe waren. EEE 


Auf der dritten haͤtte ich mein Leben bald ein⸗ N 
büßen koͤnnen. Der Poſtilljon entſchlief und die 
Pferde gingen durch. Ich war allein auf dem 


Wagen, und hatte um mich herum eine erſtaunen⸗ 


de Menge Kiſten und Kaſten ſtehn. Zum Ungluͤk 
war der Weg ſteinigt, ſo daß der Wagen durch 
das Rennen der Pferde alle Augenblik in die Hoͤhe 
geſchnellt wurde, und die Poſtſtuͤkke durch einan⸗ 
der ſtuͤrzten. Eine mit Eiſen beſchlagene Kiſte 
ſtuͤrzte mir in die Seite, daß mir vor Schmerzen 
Hoͤren und Sehen verging. Ich glaubte, daß eine 
Ribbe verlezt wäre, Ich verlor Hut und Peruͤke, 
indem ich mich unter den Siz retiriren wolte, um 
nicht von den Poſtſtuͤkken erſchlagen zu werden. 
Und doch bekam ich an der rechten Hand und am 
Kopfe Wunden, daß das Blut floß. Endlich riſ⸗ 
ſen die Pferde ſeitwaͤrts den Wagen in einen Gra⸗ 
ben. Er uͤberſchlng ſich völlige. Ich ſtuͤrzte ges 
rade auf den Kopf und bekam noch einen Schlag ; 
don einem ledernen Felleiſen, daß ich von Sinnen 
kam. 


blieben endlich an einem Baume hängen Der 
Kerl war unbeſchaͤdigt und zog mich blutig und 


Der Poſtilljon fiel herunter, und die Pferde 


ſinnlos hervor. Ich erwachte bald und fand den 
armen Menſchen in Todesangſt. Was half Schel⸗ 
ten und Drohen? Er bat flehentlich, auf der 
Station nichts zu ſagen, holte aus dem Graben 
Waſſer in ſeinem Hute, wuſch mir das Blut ab, 
und ich war froh, daß es nichts mehr als Haut 
gekoſtet hatte. Aber der Schrek machte mich 
krank, daß ich alle Eßluſt verlor und einen ganzen 


Tag in Delft liegen biviben muſte. 


Sechs und zwanzigſtes Kapitel. 


8 Suͤderſee. Holländiſches Fruͤhſtzk. 


n den hollaͤndiſchen Orten fand ich Einfoͤrmig⸗ 
keit der Bauart und der aͤußerlichen Geſtalt der 
Häufer, Das auffallendſte war mie der Anblik 
* N 2 


3 an 


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250 — en \ Bi 2 L 


der Bauerweiber und Maͤgde, welche in BER. En 
nen Schuhen und Keifroͤkken einhertrabten. Ein 
ziemlich groſſer hoͤlzerner Reif war unter dem ‘ 
Rokke befeſtigt und die Schürze war hinten mit n 
Baͤndern zuſammengebunden, daß ſie nicht um 

den Reifrok pludern konte. Es ſah drolligt aus, 
wenn ein ſolches Weib mit einem Tragkorbe oder 

einer Milchkipe kam und ihre zerlumpten Roͤkke 
ſo geſpreizt hatte. f 15 


Wenn ich en und Kaffe verlangte, frag⸗ 
te man mich, ob ich deutſchen oder hollaͤndiſchen 
Kaffe haben wollte. Der deutſche ward ſtaͤrker 
gekocht. Aber er war dennoch ſo ſchwach und 
fade von Geſchmak, daß ich ihn kaum hinter⸗ 
bringen konte. Wie muß, dacht ich bei mir ſelbſt, 
der hollaͤndiſche ſeyn? In Amſterdam erfuhr ichs. 


Ich weis nicht mehr, war es in Delft oder 
in einem andern Orte, wo ich, nach des Herrn 
De Greif Rath, einen Gelehrten beſuchte, (ich 
habe den Namen ganzlich vergeſſen) welcher Ba⸗ 
ſedows Freund und ein ſteinreicher Mann ſeyn ſol⸗ 
te. Ich hub meinen Spruch gleich von dem Vater 


der deutſchen Paͤdagogik an, erzaͤhlte, was ich 
bereits für das philanthroptniſche Weſen in der 
Welt gethan und gelitten hatte und gab zu ver— 
ſtehen, daß ichs gar nicht uͤbel nehmen wuͤrde, 
wenn er ſich unterſtehen wolte, meinem Inſtitut 
etwa ein hundert gute Dukaten zu verehren. 
Aber — er unterſtand ſichs nicht. 


Ich ging nach Amſterdam uͤber die Suͤderſee. 
Schade, daß die Reiſe des Abends um ſieben 
Uhr erſt vor ſich ging. Ich konte weder mein 
Schif, noch die See, noch die Ufer ſehen, und 
mich durch Ausſicht fuͤr die Laſten der Reiſe ent⸗ 
ſchaͤdigen. Man ſtekte mich in die Kajuͤte, die 
nach Oehl und Tabak ſtank, das man hätte um⸗ 
fallen moͤgen. Ich war unter lauter gemeinem 
Volk. Furcht hatte ich nicht. Aber eine ganze 
Nacht, ohne Bett, ohne Wein, ohne Geſelſchaft, 
ohne ein Biſſen gutes Eſſen, ſelbſt ohne Pfeife — 
das war hart! | 


Da ich etwa eine Stunde auf der harten 
Bank geſeſſen und mich mit dem Gedanken be: 
ſchaͤftiget hatte, der mir jezt ſchon zuweilen aufs 

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ftieg — „biſt du nicht ein Thor, daß du dich ſo 
„herumtreibeſt und fatigireſt und quälſt und E“ 
ſing mir auf einmal ſchlimm zu werden. Ich 
hielts für Folge des Geſtanks, bat alſo den Schif⸗ 
fer, mich hinaus zu fuͤhren an die freie Luft und 
mir einen Stummel zu borgen, daß ich rauchen 
koͤnte. Der Schiffer thats. Ich ſtopfte meine 
Pfeife, trank ein Glas Waſſer und ſtieg aufs 
Verdek. Aber hier war ich nur wenig Minuten, 
als ſich auf einmal mein gebietender Herr em 
poͤrte und alles, was er enthielt, mit den heftigſten 
Konvulſionen von ſich gab. 


Ich ſtieg wieder in die Kajuͤte und klagte es 
meinem Schiffer. Ja, Myn Herr, das iſt die 
Seekrankheit: es wird noch beſſer kommen. Die 
Suͤderſee iſt ſchlimmer, als die offenbare See. 
Wer das Seefahren nicht gewohnt iſt, wird hietz 
am meiſten angegriffen. Ich erſuhrs leider. Das 
Erbrechen dauerte die ganze Nacht fort, daß ich 
glaubte, alle Eingeweide wuͤrden von mir gehen. 
Der Schmerz war deſto groͤſſer, weil ich nichts 
im Magen hatte, und nichts heraus worgen kon⸗ 
te, als ein wenig galligten Schleim. Wie froh 


2663 


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war ich, da ich am andern Morgen das Ei en 


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blikte, und um neun Uhr ans Land ſteigen konte. 


9 


Erbrechen und Uebligkeit verſchwanden im 


Moment. Und es ward mir fo leicht, als wenn 
ich neu geboren waͤre. Der ſtaͤrkſte Hunger uͤber— 


fiel mich. Ich ließ mir vom Kroy = er (fo ſpricht 


man den Ramen der Kerls aus, welche an allen 


Landungsplaͤzzen ſtehen und ſich anbieten, die Kof— 


fer und Effekten der Paſſagiers weiter zu tragen, 


** 


ein Wirthshaus zeigen, um zu fruͤhſtuͤkken. Aber 
wie erſchrak ich. 


Ich wurde in ein ſchoͤnes Zimmer gefuͤhrt 
und erwartete eine recht volle Befriedigung fuͤr 


meinen ungeſtuͤmen Foderer. Zum Ungluͤk hatte 


ich vergeſſen, deutſchen Kaffe zu beſtellen: und 
gefragt hatte man mich nicht. Es waren noch 
zwei Paſſagiers da. Und ſiehe, man trug auf 
— mitten auf den Tiſch eine große meſſingne Kan⸗ 


nue mit Kaffe, die wohl drei preuſſiſche Maas hal⸗ 
ten mochte — ein kleines porcellanes Näpfchen 


mit Zukker, welcher in Stuͤkchen geſchlagen war, 
die die Groͤſſe einer Erbſe hatten, und zuſammen 
R 4 


264 * k ö 2 


etwa anderthalb Loth wiegen mochten — ein Ha ‘ 
fen mit Milch, welche ganz blau ausſah. — Das 1 
war das Prätorium im Lager unſers Fruͤhſtuͤks, 
oder, das Hauptquartier. Nun wurden die Ekken 


beſezt. Auf der einen erſchien ein großes Waizen⸗ | 


brod oder Semmel, auf der andern ein großer 
hollaͤndiſcher Kaͤſe, auf der dritten ein ungeheu⸗ 


res Stuͤk ſteinharter Pumpernikel oder Kleien⸗ 
brod und auf der vierten eine Butterbuͤchſe. Als 


alles aufgetragen war, kam der Wirth und nö 1 


thigte uns zuzulangen. NR 


1 

Einer der Paſſagiers war ein Hollaͤnder. 
Den nahm ich mir zum Muſter, um ihm abzuler⸗ 
nen, wie man mit einem hollaͤndiſchen Fruͤhſtuͤk 
zu Werke gehen muͤſſe. Der Mann zog, mit ſei⸗ 
nem Hut auf der runden wolreichen Peruͤke, eis 
nen Seſſel an ſich, und ſezte fi) an den belade⸗ 


nen Tiſch. Er nahm das weiſſe Brod und ſchnitt 
eine groſſe Scheibe ſich ab. Darauf zog er die 
Butterbuͤchſe an ſich und beſtrich die Scheibe 


mit Butter. Sofort ergrif er den Pumpernikel 


und legte eine Scheibe von demſelben auf die be⸗ 


reits bebutterte Semmelſcheibe. Endlich holte er 


n 


— > a a Ze 75 
” 9 


den Käſe und belegte mit dieſem den Pumperni⸗ 
kel. Dieſe vierlagigte Bamme in der linken 


Hand haltend, ſchob er mit der Rechten die Taſ⸗ 
ſe unter den Hahn der groſſen Kaffekanne, that 


zwei einzige Stuͤkchen Zukker hinein, und ließ 


laufen. Ich gukte jezt mit der groͤßten Span⸗ 


nung meiner Sehnerve, um das Getraͤnk zu erz, 
blikken, das nun auch meinen Durft löfchen ſolte. 


Aber wie erſchrak ich. 


Haſtig fuhr ich auf. Lieber Herr Wirth, 
ich habe mir ja Kaffe beſtelt, Sie haben da 
Thee gebracht. — Mein Wirth klozte mich an. 
Es iſt Kaffe mein Herr, koſten Sie nur. — 
Run merkte ich den Irthum und beſann mich, 
daß ich deutſchen Kaffe zu verordnen vergeſſen 
hatte. Indeß, er war einmal da. Ich nahm 
eine Taſſe und ließ laufen, koſtete, mußte aber 
gleich den erſten Mundvol zur Thuͤr hinaustra⸗ 
gen und wieder fortſchikken. Es war ein greu— 
licher Geſchmak. Es konten in dieſen drei Maas 
Waſſer nicht mehr als zwei Loth Kaffe ſeyn. 
Denn der Geſchmak war gar nicht wie Kaffe. 
Ich glaube, daß ein zum viertenmal abgekochter 

R 5 


914 


deutſcher Kaſſe ohngefaͤhe ſo — Mi hte, 4 
Leider mußte ich mich am weiſſen Brode und: er 
Butter erholen, um meinen Magen nicht ge 
— pHerſchmachten zu laſſen. Und dafür. hatte i 150 
wie wenn ich, dem Holländer gleich, acht Ta 
getrunken, und den dritten Theil der ee, 
nen Waaren verzehrt gehabt hätte, zwoͤlf hollaͤn⸗ Pit | 
diſche Stuͤber zu bezahlen. — Der Holländer big 
wechſelsweiſe ein Stuͤk von der bierlagigten Bam⸗ 
me und nahm einen Schluk Kaffe dazu, kaute 
es durch einander und machte jo die Suppe im 
Munde. A 


4 
4 
9 
A 


Sieben und zwanzigſtes Kapitel. 


Am ſter d a m. 


I hatte für Amſterdam zwei Empfehlungss 
ſchreiben an große Handelshaͤuſer. Aber da ich 
einen hollaͤndiſch Redenden kaum verſtand, ge⸗ ge⸗ 


REN 


‘ eee 267 


1 ich nicht Muth, mich ſo gleich an ſie zu wenden. 


ſie mich um dieſer Empfehlungen willen gleich 
bei ſich einquartiren würden. Daher ſuchte ich 
eeinen Mann von geringerer Bedeutung auf, dem 
3 ich eher zutrauen konte, daß er auf die Ehre, 
eceinen deutſchen Doktor zu herbergen, etwas rech— 
nen wuͤrde. Das war ein gewiſſer Trieſt, der 
einen Diſtillateurladen hatte und mit Wein han⸗ 
delte. Er hatte mir bereits ſeinen Sohn mit 60 
Dukaten Penſion aufgehalſet, und war mir da⸗ 
durch einigermaſſen verbindlich geworden. 


Ich ließ durch einen Kroyer mich zu ihm 
bringen und ward mit Freundlichkeit und Herz— 
lichkeit empfangen. Ich ſahe es gleich, daß das 
Vater und Mutter Herz entbrannt war, den Ver⸗ 
ſorger des geliebten Soͤhnleins zu ſehn, und theils 
frohe Nachrichten von dem jungen Lieblinge zu 
erhalten, theils durch Liebkoſungen den ſtrengen 
Mentor zu verpflichten, daß er den Zoͤgling deſts 
beſſer behandeln und verpflegen möchte, 


u 


ſchweige ſelbſt zu ſprechen vermochte; ſo hatte | 


Und es war mir auch nicht wahrſcheinlich, daß 


- > 4 x * 5 = 
X Saar 


* 


Der Manes, ſo nente man den kleinen 2 
gott im Haufe, war ein Knabe von ohagefaͤhr 
funfzehn Jahren, und der einzige maͤnnliche Erbe 


des väterlichen Weinlagers. Er hatte ſieben Vien⸗ 


tel brabander Elle in der Laͤnge und drei Viertel 
im Durchmeſſer ſeines Bauches. Sein Kopf war 
anderthalb Viertel dik und ein Viertel hoch. Die 
Haut ſeines Angeſichts war von den Pokken verzo— 


gen und gleißte von Fettigkeit. Seine Bakken 


waren wol behalten, wie ſein Wanſt. Die klei⸗ 
nen Augen lagen tief und wurden von den ſtro—⸗ 
zenden Wangen ſo beſchuͤzt, daß man fie faum 
gewahr werden konte. Drei Stunden täglich 
brauchte er zum Kauen, zwoͤlfe zum Schlafen, 


zwei zum Ankleiden, eine zu den nothwendigſten 


Leibesbewegungen, welche die Natur erheiſcht. 
Seinen Leib bedekte ſiebenfache Kleidung: ein 
Rok, eine Weſte, ein Bruſtlaz, ein Oberhemde, 


ein Wammes, ein Unterhemde, und ein Molton 


auf dem bloſſen Leib. 


Der Vater dieſes kleinen Manes war ein 


kreuzbraver Mann, der in ſeiner Art eine hinlänge | 


liche Duantität ace Verſtandes beſaß einen 


2 


8 haftigkeit zeigte, und ein recht guter Haus⸗ 


vater dabei war. Uebrigens trug er, nach hol— 


laͤndiſcher Manier, eben die benanten ſieben 
Kleldungsſtuͤkke, nebſt einem dikken kunden Stuz, 
ſo daß der Leib von dem Andrange der feuchten 
Luft wohl verwahret, und die Transſpiration 
beſtaͤndig in gutem Fortgange war. Auch wa— 
ren ihm, wie jedem nicht ausgearteten Hollänz 
der, zehntauſend Gulden, wichtiger, als alle Ge⸗ 
lehrſamkeit und Weisheit 


95 logirte bel ihm und erhielt durch ihn 
auf der Börfe, die er taͤglich beſuchte, mancher⸗ 
lei Bekantſchaften, welche mir zum Theil nuͤzlich 
wurden und zum Theil noch fpate Ne hof⸗ 
15 ließen. 


Indeſſen war mein Hauptanſtoß, den ich in 
Holland fand, der Ruf meiner Irglaubigkeit. 


Alle rechtglaͤubigen Anhaͤnger der Dortrechter Sy— 


node oder der Augſpurgiſchen Konfeſſion ſcheuten 
ſich vor mir. Und die wenigen halbaufgeklaͤrten 


n 269 
gefaͤlligen freundſchaftlichen Karakter hatte, in 
ſeinen Geſchaͤften Puͤnktlichkeit und Gewiſſen⸗ 


3 — 


a au N 
Menſchen, bei denen das Verrunſtucht in der 1 
Daͤmmerung ſtund, muſten beſorgen, von ihren 1 

Beichtvätern zur Rede geſtelt und für Indifferen⸗ 

tiſten erklaͤrt zu werden, wenn ſie ſich Achtung 

und Vertrauen gegen mich zu deutlich merken 
ließen. Kurz die Furcht, daß ich die Kinder zur 

Atheiſterei und Gottloſigkeit verfuͤhrte, verſchloß 

jedes aͤchthollaͤndiſche Auge vor meinem Enie 

hungsplane. 


Im Grunde iſt freilich des Hollaͤnders Res 
ligion — Geld. Und ich habe, bei genauer Un⸗ 
terſuchung dieſer Menſchen, es ganz klar befun⸗ 
den, daß ſie die Religion wie eine Sache betrach⸗ 
ten, welche zu den Dingen gehoͤrt, die man wie 
ein altes Herkommen, wie ein durch Buͤndniſſe 
und Eide heilig gewordnen Gegenſtand des Paz, 
triotismus, in Ehren halten muß. Die Leute 
betrachtens, wie der deutfchei Bauer feine Gerach⸗ 
tigkeiten, fur die er ſich todt ſchlagen läßt, für 
die er Hab und Gut verproceſſirt, wenn ſie gleich 
oft keine Bohne werth ſind. Das Weſen der 
menſchlichen Gluͤkſeligkeit, das Ziel alles ihres 
Strebens, der hoͤchſte Gegenſtand ihrer Vereh⸗ 


en Je 1 \ 


—⏑—— an ET Te 


eeſorinm — der Ehre it, die Religion. Was 


ohngefaͤhr dem deutſchen Edelmann fein Von iſt, 
das iſt dem Holländer fein Sektenglaube. Wie 
der Edelmann nichts bei feinem Don dest, nicht 
davon ſelig wird, nicht davon ſich ſatt eſſen kan) 
nicht den geringſten wahren Werth damit erlangt, 
aber doch als ein durch Alterthum und VDorur— 
theil heilig gewordnes Ding es hochachtet und 
ſich damit bruͤſtet und es als einen Vorzug an⸗ 
ſieht, der ihn uͤber alle vonloſe Menſchenk inder 
erhebt, fo gehts dem Holländer mit feiner Nelli⸗ 
gion. Er hält fein Geld fur die einzige achte 
Quelle der Seligkeit, weis von der Religion nicht 
das mindeſte anzugeben, was fie ihm nüzt: aber 


er haͤlt fie einmal fuͤr den hollandiſchen Adels⸗ 


brief, den er ſich nicht nehmen laſſen darf, wenn 
er auch gleich keinen Werth hat und giebt. 


Unter keinem proteſtantiſchen Himmelsſtriche 
habe ich einen fo eigentlichen dummen Religions— 
eifer gefunden. Ganz wie der ahnenſtolze Deutſche, 
alle Verdienſte, allen Menſchenwerth verachtet, ſo 


verſchlieſt der ächte Holländer fein Auge vor jeder 


Dr begleitet if. Der Aber . 
lehrteſte, rechtſchaffenſte Mann iſt ihm Kehricht, 


wenn er nicht ſeiner Religion iſt. Und an dieſer PR 


wahnwizzigen Unduldſamkeit * die > 


* 7 a, . 

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7 


Denn 1 den Holländifhen ganzeln (ich 
glaube nicht, daß man in ganzem Lande ſechs 
Männer findet, welche eine Ausnahme machen) 
wird fait nichts, als Polemik getrieben. Da hört 
man faſt gar keine Moral. Entweder das Thema 


ſelbſt oder doch die ganze Applikation iſt Kon⸗ 


trovers. Alle Sontage, die Gott werden läft, 
erſchallen Zurechtweiſungen der irrenden Bruͤder. 


Und dieſes ewige und hirnloſe Polemiſiren iſt die 


Haupturſache, warum der große Haufe die dunkle 


Idee von Heiligkeit und Ehrwuͤrdigkeit de Sek⸗ ü 


tenglaubens nicht los werden kan. / 


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Acht 


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Acht und zwanzigſtes Kapitel. 
Vergebliche Verſuche, die holl. Kanzel zu beſteigen. 


Pisbidorchen. 


Men Hauswirth hatte, Gott weis wie, durch 
dieſe Nebelkappe durchſehen lernen. Er hielt die 
Religion fuͤr den Zankapfel der Prieſter, und je— 
der Mann von buͤrgerlichem und moraliſchem 
Werthe war ihm lieb, er mochte Chriſt oder Heiz 
de ſeyn. Er ließ ſich zwar nie mit mir auf Res 
ligionsgeſpraͤche ein: aber einzelne Urtheile, die 
er faͤte, waren mir Winkes genug, das verborge— 
ne Licht bei ihm zu entdekken. 


Sein Wunſch wor, daß der boͤſe Geruch 
meiner Kezzerhal seit vertrieben werden koͤnte. 
Er rieth mir daher, in Amſterdam zu predigen. 
Und gewiß iſt es, daß eine einzige Predigt alle uͤbeln 
Eindruͤkke, die meine Berſchrieenheit gemacht hat— 
te, vertilgt haben würde. Wir raihſchlagten lan— 
ge, wie das anzufangen ſey. Er meinte zwar 
anfangs, daß es nicht viel Schwierigkeit finden 
würde, in einer lutheriſchen Kirche zu predigen, 

III. B. * S 


da ic ja ein lutheriſcher Genesalfueentendent 13 
ſey, Gem fein Prediger mit Ehren es abſchlagen ak 
koͤnte. Aber er fand doch bald ſelbſt in dem 
Geiſte der Amſterdammer Prieſterſchaft triftige | 
Grunde, die ihn Schwierigkeiten ahnden hießen. 


Wir gingen langſam und vorſichtig. Zuerſt 
gaben wir einigen Geiſtlichen eine Viſite, und 
ſuchten fie durch Geſpraͤche, welche abſichtlich auf 
Hervorbringung guter Urtheile von meinen Re⸗ 
ligionsgeſinnungen gerichtet wurden, mie geneigt 
zu machen. Sodann wandte ſich Herr Trieſt an 
die Kirchenvorſteher, um dieſe vorzubereiten und 
fuͤr mich zu gewinnen. Endlich wurde dem ober⸗ 
ften Seelenhirten eine ehrerbietige Aufwartung 
| gemacht, und die Sache von weitem angetragen. 
Zulezt bat ſich denn Trieſt gerade zu von einem 
deutſchen lutheriſchen Geiſtlich “ eine Predigt fuͤr 
mich aus, und erhielt — zwar keinen eigentlichen 
Korb, aber doch ein Regiſter von Schwierigkei⸗ 
ten und Weitlaͤuftigkeiten, bei welchen ihm die 
Luſt verging, ſich weiter zu bewerben. 


Ich bin verſichert, daß man haͤtte tauſend 
Gulden bieten koͤnnen, und kein Prediger wuͤrde 


275 
mir dafur feine Kanzel geoͤfnet haben. — Es half 
nichts: ich mußte den Geſtank meiner Irrglaubig⸗ 
keit mit mir herumtragen. f 


So wenig mir der Weg der Kanzel gelingen 
wolte, meine philanthropiniſchen Werbungen zu 
unterſtuͤzzen, ſo wenig ſchienen mir meine Adreß— 
briefe zu helfen. Ich praͤſentirte ſie, ward kalt 
und majeſtaͤtiſch aufgenommen, und eine einzige 
Einladung zu einem Mittagseſſen war der ganze 
Vortheil, den ſie bewirkt hatten. 


Beides waren altholländiſche Haͤuſer, in des 
nen der ſteife und kalte Ton herſchte, der dem 
reichen Belgier vornehmlich eigen iſt. Ueber der 
Mahlzeit ward ich von einer mir damals noch 
Hunbekanten Sitte uͤberraſcht. Wir hatten die 
warmen Speiſen verzehrt und die Bedienten fin— 
gen an, das Deſert aufzutragen. Sobald Tor— 
ten, Obſt, und was dazu gehoͤrt, die lange Tafel 
bedekte, kam ein Bedienter und praͤſentirte mir 
eine geſtopfte Tabakspfeife mit einem brennen: 
den Fidibus. Dabei ſezte er mir ein Pisbidor⸗ 
chen oder Spuknapf auf den Teller. Ich er⸗ 
ſchrak, und ſahe geſchwind nach meinem Trieſt, 

S 2 


276 a 99 4 


der mit zu Tiſche geladen war 1 mir ae 
uͤberſaß. Dieſer hatte ſchon meine Verlegenheit | 
geahndet, und war auf meinen Blik gefaßt. Er 
nikte mit dem Kopfe und gab mir zu verſtehn, 
daß ichs annehmen ſolte. Alſo ſtekte ich nun 
ohne alle Erroͤthung meine Pfeife an, hielt ſie N 
über den Teller und fing an zu dampfen, wie — 
ein Holländer. Und ſo gleich erhielt alles, was 
maͤnnlichen Geſchlechts war, ſein Deſert, wie ich, 
und eine Wolke erhob ſich uͤber der Tafel. 


Das war fuͤr mich ein ganz neuer Anblik. 
Es war bunte Reihe. Jeder Herr hatte rechts 
und links eine Dame. Jeder ſchmauchte ſeine 
Pfeife, indeß die Damen ſich Konfekt, Obſt, u. 
d. vorlegen lieſſen und ſolches, von der Wolke | 
umnebelt, ohne alle Unbequemlichkeit verzehrten. 
Wir blieben noch wohl eine Stunde bei Tiſche 
und trunken Wein zum Tabak. Selbſt eine al⸗ 
te Matrone rauchte mit und opferte das weibli⸗ 
che Deſert dem maͤnnlichen auf. cha 

Mir behagte die Sitte, und ich bewun⸗ 
derte blos die Geduld der Damen, welche weder 


ihre Naſe dadurch beleidiget, noch ihre Vruft- 
beläftiget, noch ihre Geſchmeide und brabander 
Spizzen durch den Qualm gefaͤhrdet fanden. 
Ich achte kein Kuchenwerk und rauche gern auf 
die Mahlzeit eine Pfeife zu einem Glas Wein. 


Auch die Pisbidorchen beleidigten mich nicht. 
Sie waren ganz von Silber. Unterhalb hat das 
Ding einen dikken Bauch, welcher ſich oben in 
einen engen Hals zuſammenſchließt, der gleich 
wieder ſich weitert und in einen breiten Rand 
uͤbergeht. Wenn alſo der Spiechel auf den brei— 
ten Rand faͤlt; ſo ſchießt er ſchnel davon hinab 
in den engen Hals und wird unſichtbar. Daher 
giebt dieſe Sitte in der That fuͤr den unbefange— 
nen Schauer gar keinen Ekel. Man ſieht gar 
keine Unreinigkeit. Der Tabaksraucher ergreift 
das Ding, wenn er ausſpukken wil, beim Hen— 
kel, fuͤhrt es zum Munde und ſezt es wieder auf 
den Teller. Wahrhaftig es iſt in meinen Augen 
eine Art von Reinlichkeit. Denn hier erblikke 
ich nichts, als ein ſilbernes oder porcellanes Ge 
faͤß: dahingegen unſere Spuffaften, frei und 
offen, auf der Erde ſtehen und jeden zwingen, 

S 3 


die oft häßlichen Auſtern zu ſehen, die er öffent- 
lich darbietet. Wirklich hat nur die Imagina⸗ 3 


tion uns Deutſcheu die Pisbidorchen ſo widrig 
gemacht, 


Neun und zwanzigſtes Kapitel. 


Amſterdammer Kaffehäufer, Heimliche Vernunftfreunde, 


Ja hatte in der That in Amſterdam lange 
Weile, weil ich keinen einzigen Gelehrten da fand 
oder kante, mit dem ich mich haͤtte unterhalten 
koͤnnen. Mein tägliches Geſchaͤft war, daß ich 
auf der Voͤrſe und auf Kaffehaͤuſern Bekant⸗ 
ſchaften zu machen ſuchte, welche für den Zwek 


meiner Reiſe dienſam ſchienen. Und giebt es in 


der Welt etwas fades und ungenießbares, ſo ine 
ein hol aͤndiſches Kaffehaus. 

Alle, die ich beſucht habe, hatten folgende 
Schoͤnheiten gemein. Das ganze Weſen beſtand 


r 


aus einem longlichten Zimmer mit Tischen und 


Sltuͤhlen erfuͤlt. Wenn man eintrat, fo konte 


man nicht weiter, als drei Schritte vor ſich ſehn, 
wegen Tabaksqualm. Manchmal war es ſo ſtil, 
wie in einer Kirche. Die dikken Baͤuche und 
runden Peruͤken mit groſſen Huͤten beſezt, wa⸗ 
ren auf den Stühlen herum gepflanzt, wie wenn 
ſie aufgenagelt waͤren. Um den Kamin, wo der 
gluͤhende Torſhaufen auf der platten Erde liegt 
und erſt Mannshoch der Rauchfang beginnt, er⸗ 
blikt man einen halben Mond von zehn bis 
zwoͤlf Stuͤhlen, auf denen die Originale des hol⸗ 
laͤndiſchen Phlegma ſizzen: ihre Baͤuche in ruhig⸗ 
ſter Lage, beide Haͤnde, deren eine die Pfeife 
haͤlt, auf die dikken Lenden gebreitet, den Kopf 
haͤngend, die Augen aufs Feuer gerichtet, die 
Miene den meditirenden Gelehrten vorſtellend ꝛc. 
Zuweilen bewegt ſich ein Mund, und man hoͤrt 
eine Frage, ohne aus einer Kopfbewegung ab— 
nehmen zu koͤnnen, an wen ſie gerichtet ift, wel⸗ 


che ein anderer Mund eben ſo beantwortet. 


Links der Thuͤre findet man einen Tiſch mit ei⸗ 

nem Berge geſchnittenen Tabaks, hinter welchem 

ein Menſch ſteht, der unaufhoͤrlich Pfeifen ſtopft 
5 S 4 


— 


und mit einem hoͤlzernen Stempel den Tabak l 


hinein zwaͤngt. Denn die Pfeife ee nicht 


mehr als einen Deut (oder neuntel Stüber) und 


es werden daher lauter neue Pfeifen verraucht. 


Uebrigens ſahe ich nirgeuds ein Billard oder an⸗ 


deres Spiel, auſſer einigen Damenbretern. Dieſe 
Phlegmatik mitten im erſtikkenden Dampfe konte 
ich nie über eine halbe Stunde aushalten. 


Zu Promenaden war die Jahreszeit nicht. 


Denn ich lebte da im November und December: 
Und in der Stade felbft hatte ich in zwei bie 
drei Tagen mich ſatt geſehen. 


Ganz zulezt erfuhr ich erſt, daß es auch 


Philoſophen in Amſterdam giebt. Man entdek⸗ 


te mir, daß ein Klub von ohngefaͤhr funfzig hei: 
len Koͤpfen exiſtire, der alle Freitage ſich ver⸗ 
ſamlete, um ſich mit philoſophiſchen Geſpraͤchen 


und neuer Litteratur zu unterhalten. Man ſagte a 


mir zugleich, daß ein Sohn des beruͤhmten 


Schultens, der als Profeſſor in Amſterdam ſtand, 
mit in dieſem Klub ſich befinde. Ich ward be⸗ 


gierig, eingefuͤhrt zu werden. Mein Wirth ließ 


3 dem Herrn Schultens meinen Wunſch eroͤf⸗ 
7 nen. Und dieſer vortrefliche Mann kam ſelbſt, 
mich abzuholen. Er beklagte es, daß er jezt 
erſt von meinem Hierſein Nachricht erhalten haͤt— 
| te. Denn die klugen Leute leben da fo ſtil und 
einſam, wie wenn fie ihre eigne Exiſtenz verberz 
gen muͤßten, um nicht als kluge Leute entdekt und 
beintoleranzt zu werden. Wir giengen des Abends 
um ſieben Uhr erſt an den Verſamlungsort, weil 
um ſechs Uhr die Zuſammenkunft feſtgeſezt war. 
Es war ein Zimmer in einem Hintergebaͤude, ſo 
abgelegen und ftil als möglich. 


r 


| Als ich eintrat, erblifte ich lauter frohe und 
freundliche Geſichter, wie ich auf keinem Kaffe— 
hauſe gefunden hatte. Alle ſchienen ſich zu 
freuen, einen Kezzer mehr in ihrem Cirkel zu ſe— 
hen. Im Augenblikke war ein Kreis um mich 
geſchloſſen, und der alte Ca Fontaine, ein Greis 
von beinahe ſiebenzig Jahren, und ſeines Stan— 
des ein Advokat, ſtekte den Kopf durch die reihe 
Koͤpfe herein, und eilte, das erſte Wort anzu— 
bringen: „Mein Herr Bahrdt! — fagen Sie 
„uns, giebts bei Ihnen noch — 155. eine Drei⸗ 
„einigkeit glauben?“ 
S 5 


8 Dieſe drelligte Frage, die ſtatt alkr Bewil⸗ 


fommungsausdräffe erſchol, brachte ein alge⸗ 


meines Lachen hervor, und nun war mit einem 
Male der Ton angegeben. Ich ſtand in den 

hitte wie ein Kandidat, der examinixt werden 
ſolte. Jeder ſuchte ſeine Frage anzubringen. 


Und alles — was man mich fragte, war Saty⸗ 
re auf Dogmatik und Pvieſterdeſpotismus, wo⸗ 
ruͤber ich denn weidlich mich ergoß, und die 
Bruͤder durch meine Antworten herzlich vergnuͤg⸗ 
te. — Das war der einzige ſelige Abend, den 
ich in Amſterdam genoß. — Meine Seele war, 
bei der Nuͤkkehr, ohngefaͤhr in dem Zuſtande, in 
welchem ſich der Schwaͤrmer befindet, wenn er 


aus feinem Betſale komt, wo er durch fromme 


Phantaſien bis in den dritten Himmel entzuͤkt 
worden iſt. — Denn der Verſamlungsſaal dies 
ſer Bruͤder war mir wie ein Tempel geweſen, 
wo die Vernunft als Gottheit verehrt wurde, 
und wo ich meinen ſo langen Durſt nach Er⸗ 
gieſſungen des geſunden Menſchenverſtandes, end⸗ 
lich einmal wieder hatte loͤſchen koͤnnen. — Son⸗ 
derbar wars, daß die ganze Geſelſchaft ſich durch 
meine Jugend frappirt fand. Sie hatten mich 


* 


* 

— — 
* 
r 


n 


3 


ale als ein altes Männchen ſich gedacht. Es ift 
mir auch auf der ganzen Reiſe ſo gegangen. 
Ueberal ſtand man in der Erwartung, einen al⸗ 
ten Mann zu ſehen. 


* 


Dreiſſigſtes Kapitel. 
Eine gute Lehre. Domino Stuz. Werbungen, 


— 


E. war abends um zehn Uhr, da ich nach 
Hauſe gieng. Ich hatte meiſt geſtanden und zum 
Tabak getrunken, ſo daß ich an dem erſten Hau⸗ 
fe ſtehen bleiben und eine natürfiche Handlung 
verrichten muſte. Aber in dem Augenblikke, in 
welchem ich mich poſtirte, ergrif mich eine Hand 
von hinten: ums Himmels willen, was wollen 
Sie machen? Ich erſchrak und erkante meinen 
Wirth, der eben vom Kaffehauſe kam, und mich 
hier fand. Iſt dies, fragte ich, in Amſterdam 
verboten, oder iſts gar gegen die Dordrechter 
Synode? Nein Freund, erwiederte er: aber es 


ift wegen der Huren gefaͤhrlich. Thun Sie das 


ja nie des Abends, wenn Sie allein auf der 
Straſſe find. So wie ein ſolches Menſch Sie er⸗ 


blikt, ſchießt ſie gleich auf Sie hin und greift 


zu. Und Sie ſind verloren. Denn Sie gehen 
dann entweder mit ihr; ſo ſpielt ſie Sie nach 
Gelegenheit einem Seelenverkaͤufer in die Hände: 
oder Sie gehen nicht mit und widerſezzen fich 
ihrer Unverſchaͤmtheit, oder ſchlagen ſie wohl 
gar, wie billig, hinter die Ohren; ſo haͤlt fie 


Sie feſt und fängt an, über Gewalt zu 


ſchreien. Und im Augenblik iſt der Poͤbel da, 
und ein Friedensrichter fuͤhrt Sie in Arreſt. 
Das Menſch klagt Sie an, daß Sie ihr Unzucht 
zugemuthet hätten und Sie — haben Aergerniß, 


Proſtitution und Koſten. Ich fragte hernach 


andere Bekante, ob dem ſo ſey? Und alle beſtaͤ⸗ 
tigten es. — Alſo eine gute Lehre fuͤr Reiſende! 


Da ich mit meinem Herrn Trieſt nach 


Hauſe kam, fand derſelbe einen Brief vom deut⸗ 
ſchen lutheriſchen Prediger in Haag, Herrn Ruͤtz, 


welcher ihm ſchrieb, daß er in den Zeitungen 


geleſen habe, wie der bekante D. Bahrdt auf 


* x 
N 1 


— 285 s 


Reiſen gegangen ſey: er wiſſe, daß er mit mie 
in Konnerion ſtehe, und bitte ihn daher, wenn 
ich etwa nach Amſterdam kommen ſolte, wo ich 
ohnfehlbar ihn beſuchen wuͤrde, mir alsbald zu 
ſagen, daß er einer meiner waͤrmſten Freunde 
ſey und nichts ſehnlicher wuͤnſche, als mich im 
Haag zu ſehn und mir angenehme Dienſte leiſten 
zu koͤnnen. 


Ich glühte vor Freuden über dieſen Brief. 
Meine Boͤrſe war zuſammengeſchmolzen. In 
ganz Amſterdam war keine Huͤlfsquelle zu er— 
warten. Wie belebend war alſo der Gedanke, 
„das iſt wieder der Mann, den die Vorſicht er⸗ 
„wekte, dir ungeſuchte und unerwartete Huͤlfe 
„zu leiſten.“ Gern wäre ich den andern Mor: 
gen ſchon abgereiſet. Aber ich bekam eine ange⸗ 
nehme Abhaltung. 


Herr Muͤnich (mich duͤnkt, fo war der Na; 
me) ſchikte zu mir, und ließ mich zu ſich laden, 
mit der Anzeige, daß er wegen ſeines Sohnes 
mit mir Abrede nehmen wolle, den er fuͤr mein 
Inſtitut beſtimt habe. — Es war ein Kaufmann 


und zwar ein Deutſcher, der ſich in Mmplecbai 


etablirt hatte. — Aus einem altholläͤndiſchen 
Hauſe war kein Zoͤgling fuͤr mich zu erwarten. 


Mit frohem Herzen eilte ich, den Mann 1 5 


umarmen, der der erſte in dieſem Lande war 
welcher mir Vertrauen bezeigte. Und wie wur⸗ 


de meine Seele erſt begeiſtert, da ich einen ganz 


aufgeklärten Vater, eine junge, ſchoͤne, zaͤrtliche 
Mutter, und ein Knaͤbchen von ſieben Jahren 
erblikte, welches meinen Haͤnden uͤbergeben wur⸗ 
de. Ich war auſſerordentlich gerührt. Das 


holdeſte Weib hatte ihr einziges Kind an ihrem 
Schoos gelehnt, und ſahe mit naſſen Augen mir 
ins Geſicht, ob ich auch der gute, ſanfte, men⸗ 
ſchenfreundliche Mann wäre, dem fie ihr Klei⸗ 
nod anvertrauen duͤrfte. Sie fragte mit ſchmel⸗ 
zendem Tone nach dem kleinſten Detail der mo⸗ 
raliſchen und phyſiſchen Erziehung. Sie bat 
endlich mit vollen Thraͤnen, daß ich ja ihr Kind 
nie ohne Aufſicht laſſen, daß ich ja ganz Vater 


ihm ſeyn moͤchte. 


Ich war einen halben Tag unter dieſen vor⸗ 
treflichen Menſchen und fie gewannen mich fü 


* 


| lieb, daß fie mit dem ruhigſten Herzen und ohne 


ey 


287 


allen Reſt von derjenigen zaͤrtlichen Schwer⸗ 


muth, mit welcher der erſte Entſchluß gefaſt 
worden war, mit mir kontrahirten. 


Gleich den Tag darauf erhielt ich eine aͤhn⸗ 
liche Einladung zu einem deutſchen Kaufmanne, 


welcher zwei Knaben, einen von ſieben, und eis 


nen von neun Jahren, ebenfals für mein Inſti⸗ 
tut beſtimte. Beides waren Kinder von vielen 
Naturgaben. Und der kleinſte beſonders zeigte 
eine ganz auſſerordentliche Lebhaftigkeit des Gei⸗ 
ſtes und ſchnelle Faſſungskraft. Er hatte dabei 
die ganze volle Imagination des Bildhauers. 


Man konte ihm eine mahleriſche Idee ange⸗ 
ben, welche man wolte, ſo ſchnitte er ſie oh⸗ 
ne vorhergegangne Zeichnung in Papier. Der 
Kleine fragte mich ſelbſt, ob ich ein Jagdſtuͤk, 
eine Schäferei, ein Duel u. d. geſchnitten haben 
wolte. Ich foderte das erſtere. Und nun nahm 
er einen Streifen weiſſes Papier, ſchnitt mit ſol⸗ 
cher Geſchwindigkeit, daß das Papier immer um 
die Scheere ſich zu drehen ſchien, die ganze 


288 —ñ | 
Gruppe von Kägern, Hunden, Hirſchen und Baͤu: 
men, wohl zu merken, in der richtigſten Zeich⸗ N a 
nung, Stellung und Proportion ſo fein aus, 3 
daß man erſtaunen mußte. Der ganze Streifen 
war etwa ſechs Zol lang und anderthalb breit. 
Und die Figuren waren ſo fein, daß mancher 
Theil nicht jtarfer als ein Haar war. Nirgends 
ging ſeine Scheere zu tief oder zu flach. Nir⸗ 
gends trente ſich ein Faͤschen. In anderthalb 
Minuten war das Stuͤk fertig. Und er machte 
hernach mehrere vor meinen Augen mit gleicher 
Schnelligkeit und Genauigkeit der Zeichnung. 


2 


Nun eilte ich, durch dieſes Vorſpiel des 
Gluͤks mit den froheſten Ahndungen erfuͤlt, nach 
meinem Kutz, um zu ſehn, was Gott für einen 
Freund mir an ihm beſchert hatte. 


Ein 


Ein und dreiſſigſtes Kapitel. 
Haag. Abfarth nach England, 


— — 


Zum erſtenmale genoß iſt jezt die Ehre, in ei⸗ 
ner Trekſchuͤthe d. h. in einem Schifchen, wel: 
ches getrekt oder gezogen wird, zu reiſen. Das 
war ein herrliches Fuhrwerk. Es iſt ein großer 
Kahn, gemeiniglich funfzehn bis zwanzig Ellen 
lang und drei Ellen breit. Obenher iſt er uͤber 
und über bedekt, fo daß man allenfals drauf 
herumgehen kan, nur daß der Verdek kein Ge— 
laͤnder hat. Inwendig, die Laͤnge hinauf, ſtehen 
Tiſche und auf beiden Seiten Baͤnke. Im Ruͤk⸗ 
ken der Sizzenden find Fenſter oder wenigſtens 
Vorhaͤnge, ſo daß man ſich vor der Witterung 
ziemlich verwahren kan. Am Hintertheil des 
Kahns iſt eine Art von Kajuͤte, welche durch ei— 
nen Breterverſchlag von dem gemeinen Raume 
der Paſſagiers abgeſondert iſt. Dieſe Kajüte iſt 
ausgemahlt, mit einem Tiſchchen und vier Sizzen 
verſehn und ganz mit Tafelſcheiben umſchloſſen, 
ſo daß man die ſchoͤnſte Ausſicht und den vol 
III. B. . 


„ r ene Wr ee 
r * ra rn 


kommenſten Schuz vor Wind und Regen RE 1 
Die Zahlung iſt ſehr billig. Sie betraͤgt weni⸗ “ 
ge Stüber auf die Meile und man kan Kaffe, 
Pfeifen und andere Getraͤnke gewohnlich beim 
Schiffer haben. — Eine ſolche Trekſchuͤte iſt oft 
mit 30 bis 50 Paſſagieren beſezt, und giebt da⸗ 5 
her den Reiſenden mancherlei Unterhaltunhig. 

Re. 7 8 

Das beſchwerliche aber bei dieſer Art zu 

reiſen iſt dies, daß man ſehr oft ausſteigen muß. 
Denn ein Kanal iſt oft nur eine Stunde lang. 
Da muͤſſen die Paſſagiers ans Land und zu Fuß 

bis zu dem andern Kanale gehen und da die 
ſchon wartende Trekſchuͤte beſteigen. Dies iſt 
bei boͤſem Wetter laͤſtig, obgleich die Entfernun⸗ 
gen oft kaum 200 Schritte betragen, und wird 
durch die groben Kroyers noch laͤſtiger. Denn 
dieſe ſind gleich bei der Hand und nehmen den 
Paſſagieren, ungefragt, ihre Habſeligkeiten ab, 
und ſchleppen fie zum andern Kanal. Und wer 

da nicht ſeine Sachen ſelbſt anpakt und erſt fragt, 
woas der Kroyer haben wil, dem wird hernach, 
wenn der Kerl einmal den Transport gemacht 
hat, dreimal ſo viel abgefodert als er, gefragt, 


— 20 r 


zu fodern pflegt. und der Paſſagier hat dann kei⸗ 
ne Huͤlfe, ſondern muß den ungeſtuͤmen Foderer 
befriedigen. | 
Aber deſto angenehmer dabei iſt auch dafür 
die Schnelligkeit dieſes Fuhrwerks. An dem klei— 
nen Maſt des Kahns iſt ein Seil befeſtigt, etwa 
50 Lachtern lang, an welches ein Pferd geſpannt 
wird, das auf dem Ufer ſeinen gebahnten Weg 
hat und den Kahn trekt. Ein Kerl ſizt auf dem 
Pferde und reitet beſtaͤndig im ſchaͤrfſten Trabe, 
ſo daß das Schif alle Stunden ſeine Meile zuruͤk⸗ 
legt, troz der beſten deutſchen Extrapoſt. 


— W 


Ich kam des Abends ſpaͤt im Haag an, und 
ſand es unſchiklich, meinen Freund um dieſe Zeit 
zu uͤberfallen. Ich brachte alſo die Nacht in 
einem ſchoͤnen Gaſthofe zu und arbeitete einen 
hebraͤiſchen Brief aus, an den reichen Boas, zu 
dem mir der brave Loͤw Baͤr Iſak ſo viel Muth 

gemacht hatte. In aller Fruͤhe ſandte ich ihn 
aob und wurde ſogleich zum Fruͤhſtuͤk eingeladen. 
Aber der reiche Mann hatte keine Ohren fuͤr 
| meine Wünfche, So gar einen kleinen Vorſchuß 
T 2 


22 ———In 


zur Reife, um den ich bat, ſchlug er mir ab. — 2 


und ſo wars mit dem Millionair — nichts. Es 


war kein Low Baͤr Iſa!k! 9291230 


Aber der Prediger Ruͤtz war der Mann 


meines Herzens. Er empfing mich mit einer 
Herzlichkeit, die alle Schilderung uͤbertrift. Faſt 
vierzehn ſelige Tage habe ich bei ihm verlebt, 
Er und ſein liebes Weib ſind mir Muſter wahrer 


Aufklaͤrung, aͤchter Menſchenliebe, gefälliger Lau⸗ 


ne, und ſeltner Gattenliebe. Jeden Tag lernte 
ich, durch Gefprächsunterhaftuugen mit ihnen. 
Jeden Tag fuͤhlte ich das Gluͤk der Freundſchaft, 
in ihrem Umgange. — 


Er führte mich nach Schoͤveningen, und zeig⸗ 


te mir die offenbare See. Ihr majeſtaͤtiſcher An⸗ 


blik erſchuͤtterte mich. Es war gerade ein wenig 
ſtuͤrmiſch. Das Herz ſchlug mir hoch, da ich 
zum erſtenmale dieſe unuͤberſehbahre Fluthen 
mit ihren Bergehohen Wellen erblikte und ihr 
furchtbares Rauſchen in meinen Ohren tönte, 
Der felige Walch in Jena, ſagt man, ſei auch 
auf der Reiſe nach England geweſen und — ha⸗ 


BEE, 0 Dolan 


V 203 


be hier — beim erſten Anblik des Oceans, eine 
ſolche Bangigkeit empfunden, daß er auf der 


Stelle wieder umgekehrt ſey und die ee. 
aufgegeben habe. 


Eine der angenehmſten Bekantſchaften, die 


ich durch meinen Freund erhielt, war der D. 


Barkai, ein ehrwuͤrdiger Greis, deſſen Gelehr— 


ſamkeit mir eben ſo viel Bewunderung, als ſein 


vortrefliches Herz Verehrung einfloͤßte. Seine 
fo ſichtbare Freude, mich perſoͤnlich kennen zu ler 


nen, und mit mir uͤber die deutſche Theologie 


ſich zu ergieſſen, war mir eben ſo ſchmeichelhaft 
als bezaubernd. 


Werbungen gab's im Haag nicht, und eben 
ſo wenig in Leiden, wohin ich vom Haag aus 
reiſete, und einen Brief an einen reichen Men: 
ſchenfreund, wie ihn Herr Ruͤtz nante. mitnahm. 
Ich wurde mit auſſerordentlicher Güte aufgenom— 
men und lebte drei Tage hoͤchſt vergnuͤgt. Ich 
genoß ganz den Menſchenfreund, nur nicht — 


den Reichen. 


45 


294 2 — EN 0 


Aber eine Seligkeit ſchmekte ich, die ich nie 
vergeſſen werde. Ich ließ mich bei dem alten 


* 


Schultens melden. Als ich ins Haus eintrat, 
kam mir ein altes, aber bluͤhendes und wolbe⸗ 


bauchtes Männchen, mit ausgeſtrekten Armen ent⸗ 


gegen, und empfing mich mit einer Freundlichkeit 
und Freude, die uͤber allen Ausdruk geht. „O 
„mein Herzensbruder, wie erfreun Sie mich. 
„Das iſt ein Labſal, das mir ſeit langer Zeit 
v nicht wiederfahren iſt. Kommen Sie und ſeyn 
„mir tauſendmal wilkommen.“ Mit dieſen Wor⸗ 
ten nahm er meine Hand unter ſeinen Arm und 
fuͤhrte mich huͤpfend in ſeine Studierſtube. Ich 
konte kaum zum Worte kommen. Einen ſo mun⸗ 
tern, vergnuͤgten und freundlichen Greis habe 
ich nie geſehn. Er wußte vor Froͤhligkeit nicht, 
was er mir zuerſt bringen ſolte. Es war fruͤh 
und ich wählte mir ein Glas Malaga, a la Bas 
ſedow. Nun begann das Geſpraͤch. Aber er 
fragte in ſeinem Feuer mehr als ich antworten 
konte. Erſt gings uͤber die liebe Theologie her. 
Der liebenswuͤrdige Alte fpottete ihrer, mit einer 
Herzlichkeit, die mich entzuͤkte. „Ach was iſt das 
„für eine Freude, hub er bei einer Sinkung des 


* Geſpraͤchs an, wenn man hier zu Lande einmal 
Heinen Mann zu ſehn bekomt, bei dem man ohne 
Furcht, verkezzert zu werden, ſich ausſchuͤtten 
, kan!“ — In der Folge kam er auch auf fein 
KLlieblingsfach, auf das Arabiſche: und hier kon⸗ 
te ich vollends kein Wort aufbringen. In einem 
Strohme weg erzaͤhlte er mir, was er in dieſem 

Fache gearbeitet haͤtte, holte ein arabiſches Ma— 
nuſcript nach dem andern herbei, welches er mit 
eigner Hand geſchrieben hatte, und kam endlich 
auf den Ritter Michaelis und deſſen arabiſche 
Weisheit. Und bei dieſem Gegenſtande gerieth 
er erſt in volles Feuer. Die ganze Kraft ſeines 
Wizzes wurde erſchoͤpft, den Goͤttinger Monopo— 
liſten als den erſten Windbeutel mir vorzuſtellen, 
und als einen Mann, der gar nicht ſagen ſolte, 
daß er arabiſch verſtuͤnde, der vom Arabiſchen 
nicht viel mehr wiſſe, als ein Tertianer von der 
Sprache der alten Roͤmer. — Das war, bei 
Gott, das Reſultat feiner Deklamationen, an des 
nen mich blos die herrliche Laune und die uͤber⸗ 
ſtroͤhmende Freude ergoͤzte, womit er fie vortrug, 
und deren Schoͤpfer ich ſelbſt zu ſeyn ſchien. 
Denn das war ſichtbar, daß die auſſerordentliche 
2 T 4 


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wirken. Der ganze Ort roch nach Orthodopie. 


ſaͤchlich daher kam: weil er einmal einen Marn 


Heiterkeit dieſes liebenswuͤrdigen Greiſes haupte 


fand, von ſeinem Fache, vor dem er ganz frei 
ſich ergieſſen konte, und den er vielleicht in deiden 
gar nicht hatte, weil da die Männer feiner Art, 
ich meine die Theologen, vielleicht vernagelte Or⸗ 
thodogen waren, vor denen er feine lieberale Ges 
lehrſamkeit verborgen halten mußte, um disk 
gepeinigt zu werden. 


Vol von dieſer frohen Scene kehrte ich nach 3 
dem Haag zuruͤk, blieb noch einige Tage bei mei⸗ 
nem Freunde, welcher mich noch mit dem dama ß 
ligen engliſchen Legationsſekretaͤr bekant machte. 
Meine Ahndung traf ein. Mein Freund Ruͤtz 
gab mir fuͤnf Reuter d. h. fuͤnf und ſiebzig Gul⸗ 
den und ſezte mich in den Stand, meine Reife: 
koſten bis nach London zu beſtreiten und auch 
noch auf acht bis vierzehn Tage Unterhalt davon f 
zu eruͤbrigen. 17 


Vom Haag ging ich nach Rotterdam, blieb 
da zwei Tage, konte aber nichts für meinen Zwek 


en ſchien, als wenn die Befcheler der Glaubens 


5 bead da eingeftalt wären, 


— 


* 


Ich eilte alſo nun nach England. Es war 
das Ende des Decembers. Das Wetter war 
naß kalt und ſtuͤrmiſch. Ich ging uͤber Maasland⸗ 
ſluis nach Helvutſchluis. Erſt, auf Kanaͤlen und 
Trekſchuͤten, giengs gut. Aber da ich uͤber die 
verſchiednen Arme der Maas ſezzen mußte, wo 
ich bald eine Meile auf ofner Kaleſche mich zu 
ſchanden ſtauchen laſſen, bald auf einem ofnen 
Boote den Wellen preis geben mußte, da wars 
keine Freude mehr zu reiſen. 


Faſt anderthalb Tage brachte ich auf dieſem 
Wege zu und ſtund Strapazen aus, die ich von 
dieſer Art nie wieder erduldet habe. Ich wurde 
den ganzen Tag nicht trokken. Bald muſte ich 
laufen, und auch wohl mit unter meinen Man- 
telſak ſelbſt ſchleppen und mich erhizzen und er⸗ 
muͤden. Bald mußte ich mich auf einer Kales 


ſche oder auf einem Boote vom Sturme durch— 
wehen laſſen. 8 


T 5 


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125 


N 55 


Bei der Reiſe auf den Booten ſahe ic, N 
was das Beifpiel wirkt. Der Sturmwind war 
ſo heftig, daß das kleine Boot, welches nur von 1 
zwei Rudern geführt wurde, nicht nur von den 


ſechs bis ſieben Ellen hohen Wellen, wie ein Fe— 
derbal, hinauf und hinabglitſchte, ſondern auch 
unaufhörlich von den Gegenſchlaͤgen des Waſſers 


uͤberſpruͤzt wurde, ſo daß wir Paſſagiers, beſtaͤn⸗ 


dig ſchaufeln und das Boot vom Waſſer entle⸗ 
digen mußten. Und doch war ich ohne alle 


Furcht. Ich ſahe, daß die Vootsknechte und 


uͤbrigen Paſſagiers bei allen Bewegungen des 
Bootes und dem Getoͤſe der Wellen kalt und 


gleichguͤltig waren: und dieſer Anblik der Zeichen 


der Ruhe wirkte in mir die nämliche Empfin⸗ 


dung. Wenn, ohne dieſe Sympathie, der bloſſe 


Anbilk eines ſolchen Boots und ſolcher Wellen 
mir aufgeſtoſſen waͤre, ich haͤtte fuͤr viele tauſen⸗ 


de mich nicht entſchloſſen, mich ihnen anzuver⸗ 


trauen. 


Es waren noch drei Perſonen bei mir, zwei 
Juden und ein Schneidergeſelle. Man denke 


ſich mich in dieſer Geſelſchaft. Ich war noch RN 


# + 65 
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4% * 


299 


keine Stunde mit dieſen Leuten gereiſet, als der 
eine Jude mich mit der Frage beehrte: Sie ſind 


ja wohl auch e' Jud'? — Sie gingen beide et⸗ 
was ſchofel und mochten mich, in meinem Kireh 
mit Luchs aufgeſchlagen, und dem runden Peruͤk⸗ 


chen, wohl fuͤr einen reichen Juden anſehen, und 
daher meine nähere Bekantſchaft wuͤnſchen. Ich 
weis nicht, ob mein Geficht oder nur meine 


peruͤke fie in dieſe Vermuthung geſezt hatte. 
Meine Sprache war gewiß nicht die Urſache. 
Genug, ich mochte leugnen wie ich wolte, ſie 
lieſſen ſichs nicht ausreden, bis ich endlich in 
Heloutſchluis mir Porkſtiks oder Schweinekar⸗ 


bonade geben ließ, und ſie vor ihren Augen ver⸗ 
zehrte. 


Zwei und dreiſſigſtes Kapitel. 


Helvutſtuis. Die Hölle der Langenweile. 


— 


Ul. oergeblich iſt mir der Hafen von Helvutſluis. b 
Hier hab' ich aus Erfahrung gelernt, daß unthä⸗ 
tiges und geſchaͤftleeres Leben eine wahre Soͤlle 
fuͤr den iſt, der ſich an zwekmaͤſſige Thaͤtigkeit 
gewoͤhnt hat. h 


Wir hatten gehoft, in Helvutſluis gleich das 7 
Pafetboot fegelfertig zu finden. Denn nach allen 
tahrichten, die ich hatte, ging es noch am Ta⸗ 
ge meiner Ankunft ab. Und ich war deswegen 
mit aͤngſtlicher Eilfertigkeit gereiſet, weil im Haag 
und Rotterdam mir jeder geſagt hatte, daß ich 
an dem und dem Tage in Helvutſluis ſeyn muͤß⸗ 0 
te, wenn ich das Boot nicht verſaͤumen wolte. 1 
Und ſiehe, da wir hinkamen, hieß es, es ſey ges 
rade Gegenwind, der die Abfarth unmoͤglich ma— 
che: ſobald der Wind ſich aͤndern wuͤrde, werde 
augenbliklich die Abreiſe vor ſich gehn. 


N 


— 


7 — — 301 


Am Hafen lag ein einziges Wirthshaus, 


wo wir uns einquartierten. Vielleicht in wenig 


Stunden, dachten wir, aͤndert ſich der Wind. 
Er hatte ſchon einige Tage gewehet. Im Haufe 
war ein engliſcher Wirth. Schon ein Uebel, 
daß ich kein engliſch konte. Doch der Schnei⸗ 
dergeſelle redete dieſe Sprache ein wenig. Und 
konte alſo unſer Dolmetſcher ſeyn. Aber es war 
auch nur ein zimmer fuͤr Gaͤſte vorhanden: das 
uͤbrige waren Kammern, wo man ſchlafen konte. 
Und ſo entſtand ein zweites noch groͤſſeres Uebel: 
ich mußte mit den zwei Juden und dem Schnei— 
dergeſellen in einem Zimmer bleiben, und mit 
ihrer Geſelſchaft fuͤrlieb nehmen. Endlich waren 
hier beinahe völlig engliſche Preiſe der Lebensmit— 
tel, welches uns noͤthigte, alles, was wir begehrz 
ten, gleich zu bezahlen, und auch vorher, ehe 
wir es foderten, zu akkordiren, um mit unſern 
Beuteln auszureichen. Ich mußte mich alſo 
ſchlecht behelfen, und Wein und alle Erquikkun⸗ 
gen mir verſagen. Doch das war das wenigſte. 


Wir hatten einen halben Tag in dem klei⸗ 
nen Zimmer beiſammen geſeſſen und, ſo gut es 


— 2 
302 


gehen wolte, uns mit Gefprächen unterhalten und j 


dabei alle Augenblik nach dem Fenſter geſehen, 
ob die Wimpel noch nicht ſich gedreht haͤtten. 
Der Mittag kam. Wir muſten ein einziges Stuͤk 
Roſtbief mit fuͤnf Groſchen hieſiges Geldes be⸗ 


zahlen, und fuͤr ein Glas elendes Bier einen Gro⸗ = 


ſchen. Nach Tiſche ward das Geſpraͤch matt. 
Wir hatten uns, da keiner den andern intereſſirte, 
in dem, was algemein genießbar war, erſchoͤpft. 
Wir fingen an zu gaͤhnen. Alle Minuten ward 
geſeufzt. „Daß Gott! wir werden heute nicht 
„fort kommen.“ Der Schneider mußte nach 


dem Schiffe gehen und fragen. Es hieß: vor 


Morgen werde nichts draus werden. Der Muth 
entfiel uns. Einen ganzen Tag und den langen 
Abend hier zu ſizzen und nicht zu wiſſen, was 
man beginnen fol! Wir fühlten die Qual der lan— 
gen Weile, einer wie der andere. Ich fragte, 
ob hier kein Kaffehaus ſey? Ja, hieß es, im 
Staͤdtchen. N 

Ich ging vom Hafen nach der Stadt, die 
etwa aus 150 Haͤuſern beſtehen mochte. Meine 


Sinne vergiengen mir, da ich ins Kaffehaus ein⸗ 


der, Geſichter, Stellungen, Tabaksqualm alles 
vereinigte ſich, mich ſchaudern zu machen. Ich 
verbarg meine Alteration, weil ich einmal da 
war. Die ſchwarzbraune Geſelſchaft mit den run⸗ 
den Huͤten und kurzen Jakken, ſahe das Milch⸗ 
geſicht mit dem Abbeperuͤkchen und dem franzoͤſi⸗ 
ſchen Rokke verwundert an. Mancher trat herz 
zu und begafte mich mit völliger Unverſchäͤmtheit. 
Ich blieb, foderte ein Glas Vier, rauchte eine 
Pfeife, ſtelte mich in ein Fenſter und — floh 
nach einer Viertelſtunde, als wenn ich aus der 
unertraͤglichen Hoͤlle ins ertraͤglichere Fegefeuer 
eilte. 


Wir brachten den Abend mit Gaͤhnen 


und langweiligen Geſpraͤchen zu. Die Gabe, 


die ich beſizze, wenns gilt, acht bis zehn Stun⸗ 


den zu ſchlafen, kam mir zu ſtatten. Am Mor⸗ 
gen ward an das Schif gefandt: Vormittags, 
hieß es, wirds nichts. — Gott, was fangen 


wir an? die armen Leute zählten ihre Gel⸗ 


der. Ach, ſagte der eine, ich habe nicht viel 


303 
trat. Nichts wie Böotsbnechte und Matroſen 
85 waren zu hoͤren und zu ſehen. Stimmen, Klei⸗ 


304 RE 
mehr als nöthig it, die Schifsfracht zu ooch 5 FE 
len., Wenn ich doch nur in London ware. - 
Mein Anliegen war: was machen wir, die Lan⸗ 
geweile zu vertreiben? Da war kein Rath. End⸗ b 
lich trieb ich eine Karte auf. Aber keiner konte 

ein Spiel von denen, die ich konte. Noth macht 
erfinderiſch. Ich ſann ein Spiel aus, das leicht 

zu begreifen war, und doch einige Unterhaltung 
gab. Wir ſpielten um Papierſchnizchen. — 5 
Der Doktor Theologiaͤ, zwei Juden und ein 
Schneidergeſelle! 1 1 — Eine ganz neumodiſche 
Gruppe! i 


Mir ſezten unſern Tiſch ans Senfter, um 
beftändig die Wimpel im Auge zu haben. 
Das Spiel half ein wenig, die unertraͤgliche Laſt 6 
des Harrens und der Sehnſucht nach der Abfarth 
zu mildern. Wir ſezten es, unter gähnen, ſeu⸗ 
zen und Wimpelgukken bis zum Schlafengehen 
fort, und hatten ſo den zweiten Tag uͤberſtanden. 
Die Rachricht kam, morgen fruͤh ſolten wir uns 
marſchfertig halten. Wir legten uns ſchlafen 
und ſahen dem kommenden Tag als dem Tage 
der Erloͤſung entgegen. 


Aber 


£ a 305 


Aber die Erloͤſung erhielt neuen Aufſchub. 
Der Wind blieb nicht nur kontrair, fondern er 
war auch in der Racht noch weit ſtuͤrmiſcher ges 
worden, ſo daß das Schif unmoͤglich abgehen 
konte. Das Lamentiren meiner Reiſegefaͤhrten 
war zum erbarmen. Meine einzige Marter war 
die Langeweile. Ich troͤſtete ſie und holte die 
Karte. — Es war freilich auch Qual, ein fades 
Spiel, mit faden Menſchen, ohne Geld, ganze 
Tage lang fortzuſpielen. Aber es war doch noch 
groͤſſere Marter, den ganzen Tag zu ſizzen und 
nach den Wimpeln zu ſehen und ſich mit gar 
nichts beſchaͤftigen zu koͤnnen. — Es ward Mit: 
tag. Wir nahmen, um zu ſparen, unſrer zwei 
eine Portion Fleiſch. — Der Wind blieb. — 
Wir ſpielten wieder und gaͤhnten und jammerten 
bis wir zu Bette giengen. 


Der Himmel wird doch endlich ſich erbitten 
laſſen? — Nein, auch den vierten Tag muß⸗ 
ten wir ausſtehen. Ich hätte verzweifeln moͤ⸗ 
gen. Wir waren alle nun auch des Spielens ſo 
ſatt, daß es uns ekelte. Am Ende blieben wir 

am Fenſter ſtehen und ſahen die Wimpel an. 
u. B. u 


— 


Und alle Viertelſtunden that einer einen Seufzer, 1 
(wie die Poſten im Felde, die einander zurufen) 
welchen die andern mit einem dito beantworte: g 
ten. Warhaftig, mit einem halben Monate 
Marſchlinzer Sklavenleben haͤtte ich jeden md 


dieſes Lebens abgekauft. 


Aber bei Gott, den fuͤnften Tag ſtunden 


noch die Wimpel, wie fie geſtanden hatten. Der 
Schneidergeſelle vergoß heiſſe Thraͤnen. Denn er 
hatte nichts mehr, das Fruͤhſtuͤk zu bezahlen. 
Ueber dieſen Gegenſtand des Mitleids vergaß 
ich der Langenweile und troͤſtete ihn. Wir mu⸗ 
ſten noch eine Mittags mahlzeit beſtellen. Ich bez 
zahlte fuͤr den Schneider Fruͤhſtuͤk und Mittags⸗ 


brod. Aber nie iſt eine Mahlzeit mit ſo frohem 


Herzen genoſſen worden. Denn ich hatte kaum 


einige Biſſen gegeſſen, als ich in den Wimpeln 
bemerkte, daß ſich ihre Richtung veraͤnderte. 


Kinder, ſchrie ich, wir bekommen andern Wind! 
Sie wurden alle vor Freuden trunken. Unter 
lautem Jubel verzehrten wir unſer kleines Mahl 
und ich beſtieg, froh uͤber das Ende ſolcher noch 
nie erfahrnen Qualen, den Prinz von eien 


— — 


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2 


dan und breiffigftes Kapitel, 


Reiſe nach London. 


Dis Herz pochte mir ein wenig, da ich dieſts 
große Gebäude betrat, und die Segel ausſpan⸗ 
nen ſahe und die erſte wiegenartige Bewegung 
dieſer ungeheuren Maſchine unter mir fuͤhlte. 
Ich blieb auf dem Verdek und rauchte meine 
Pfeife, bei der feierlichſten Empfindung. Aber 
leider dauerte meine Begeiſterung, in welcher 


mich der majeſtaͤtiſche Anblik des Weltmeers ver; 


ſezte, kaum eine Stunde. Ich ward Seekrank. 


4 

Kaum konte ich noch die ſchoͤne Kajuͤte beſe⸗ 
hen, in welcher ich diesmal der einzige Paſſa⸗ 
gier war, und dafuͤr ich bis Harritſch eine Guinee 
bezahlen mußte. Es war ein Zimmer von etwa 
acht Ellen in der Laͤnge. Die Seitenwaͤnde wa— 
ren von Mahaoniholz mit vergoldeten Leiſten. 
Jede Seitenwand hatte drei Etagen, und jede 
Etage drei Abtheilungen, in deren jeder eine Ma; 
draze und ein Kopfkuͤſſen nebſt einem Kouvert lag, 

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- 308 ER | E i — - 


welches von ſehr feiner bunter Leinwand war. 


Eine ſolche Schlafſtaͤte war ohngefaͤhr ſechs vier⸗ 
tel Elle hoch, fo daß der Paſſagier nothduͤrftig 


darin aufſizzen konte. Zum Haupte des Lie⸗ 
genden war ein Bretchen angebracht mit einem 


feinen Gelaͤnder, hinter welchem der Nachttopf 


ſtand. An der Seite, dem Fenſter gegen uͤber, 


ſtand ein ſchoͤner Blechofen mit meſſingnen Ver⸗ 
zierungen. Rechter Hand deſſelben war die Thuͤ⸗ 
re des Eingangs. Eine andere Thuͤre linkerhand 
führte zum Abtritt. Auch dieſer war praͤchtig. 
Alles war gebohntes Holz. Rechter und linker 
Hand des Sizzes waren meſſingne Schrauben. 
Bei Herumdrehung der einen konte man friſch 
Waſſer in das Gefaͤß pumpen, und durch Bewe⸗ 
gung der andern ging das Waſſer mit dem Un⸗ 
flate wieder fort. Reinlichkeit und Propretaͤt 
war im hoͤchſten Grade! 


Ich hatte wenig Zeit, die Schoͤnheiten dieſer 
Wohnung mit zu beſehen. Denn das Eebrechen 
nahm ſehr bald ſeinen Anfang. Der Stuart 
blieb anfangs bei mir, ſchafte mich ins Bett, 
zeigte mir das Nachtgeſchirr über meinem Kopf, 


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und lehrte mich mit den Schrauben auf dem Pri⸗ 


vete umgehn. Nachher verließ er mich, kam 


aber doch meiſt wieder herein, wenn er mich wor⸗ 
gen hörte, um das Gefäß auszugieſſen. Und nun 
lag ich ſo ſechs und dreiſſig Stunden in einer 
Uebligkeit, ohne einen Biſſen zu eſſen und zu 


trinken. Die Empfindung war ſo ſchreklich, daß 


ich mein Ende erwartet haben wuͤrde, wenn ich 
nicht gewuſt hätte, daß es die Seekrankheit fo 
mit ſich bringe und daß dieſe Krankheit gar kei⸗ 


nen Schaden thue, ſondern vielmehr den Koͤrper 


reinige und die Geſundheit befoͤrdere. Ich ſtand 
fuͤrchterlich aus. Das Erbrechen nahm gar kein 
Ende. Alle halbe Stunden erneuerten ſich die 
Kraͤmpfe und ich marterte mich zwei, drei Minus 
ten lang, ehe ich einen Eßloͤffel vol galligten 
Schleims heraufworgen konte. — „Ach wär’ ich 
„zu Hauſe geblieben, dachte ich oft, und haͤtte 
„dieſe Qualen mir erſpart!“ 


Die Nacht war mir am folterndſten. Denn 
da wurde der Wind ſo heftig, daß das Schif 


ſich beſtaͤndig auf die Seite walzte. Dies ver- 


mehrte den Schwindel und die Ueblichkeiten auf 
U 3 


„4 


316 — 


das entfezlichſte. Mit der dreiſſigſten Stunde * 221 


N 


nahm indeß das Uebel ab. Und in den lezten 
Stunden vor der Anl konte ich auſſer dem 


Bette dauern. Aber auf das Verdek zu gehen 
und die reizende Ausſicht guf die engliſche Käfte N 


zu genieſſen, dazu war ich zu ſchwach und ſchwind⸗ 
licht. — Ich hatte mich gut mit Eſſen und Tein⸗ 
ken verſorgt: aber ich brachte alles unberuͤhrt 
mit nach Harritſch, wo ich mit zwoͤlf Paſſagi⸗ 
ren im Wirthshauſe ankam. N 


Bei der Viſitation des Paketboots begegnete 


mir ein ungluͤklicher Streich, welcher mich in 
großen Kummer verſezte. Ich wußte nicht, daß 


man keine verſiegelten Briefe bei ſich haben durf⸗ 


te. Und ſo wurden alle meine ſchoͤnen Adreß⸗ 
briefe mir weggenommen. Am meiſten jammer⸗ 
te mich der vom Prinzen Luis, an den Gros⸗ 
ſekretͤr der großen Loge von Grosbritanien, 
Herrn Heſſeltein. Ich ließ durch meinen Schnei⸗ 
dergeſellen, den ich jezt wiederfand, die beweglich⸗ 
ſten Vorſtellungen thun, daß ich ohne dieſe Brie⸗ 
fe in England nicht ſubſiſtiren koͤnne, daß es 


Empfehlungsſchreiben wären, von denen das Gluͤk 


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meiner Geſchäſte abhienge u. d. aber es war al⸗ 
les umſonſt. Man troͤſtete mich damit, daß man 
fagte, dieſe Briefe wuͤrden auf die Londner Poft 
geſandt, wo ich mich melden und um Ruͤkgabe 
derſelben bitten muͤßte. 


I 


Wir blieben die Nacht in Harritſch, und 
es hieſt, daß den andern Morgen fruͤh um vier 
Uhr eine Staͤtskotſch (Poſtwagen) nach London 
abgienge, wohin wir 70 engliſche Meilen haͤtten, 
die ohngefaͤhr, nach meiner Rechnung, zwoͤlf bis 
dreizehn deutſche Meilen betrugen. Das Wirths⸗ 
haus war ſchmuzzig und das Eſſen ſchlecht. 


Fruͤh erſtaunte ich uͤber den Anblik des Pofts 
wagens. Es war eine ordentliche Kutſche, mit 
Glasfenſtern und feinem Leder ausgepolſtert. Der 
Kaſten hieng in engliſchen Federn und war von un⸗ 
geheurer Groͤſſe. Ich freute mich auf dies praͤch⸗ 
tige Fuhrwerk, und dachte, dieſen Tag, in einem 
fo ſchoͤn haͤngenden Wagen, von meinen Stra⸗ 
bazen mich recht zu erholen und im wolluͤſtigen 
Gefühl der Behaglichkeit, des Anbliks der ſchoͤ⸗ 


nen Abwechs lungen der engliſchen Kountry's 


1 4 


z 


dläniigeh Gegenden und d Oriſchaftti zu vi 
fen. Aber wie hatte ich mich in meiner Neves 
nung ai N 
Da es zum Aufbruche kam, eilte ich mit 

meinem Mantelſakke nach der Kutſche und wolte 

einſteigen. Aber ein handfeſter Kerl, der den 

Schlag gedfnet hatte, ſtieß mich zuruͤk. Ich 
glaubte es geſchaͤhe, weil ich noch nicht bezahlt / 
hätte. Ich zog alfo meine paar Guineen heraus, 
die ich noch bei mir hatte, und gab ihm zu ver⸗ 
ſtehen, daß er nur fodern ſolte. Aber er blieb 
bei ſeiner Weigerung. Ich lief erſchrokken nach 
meinem Schneider. Dieſer erkundigte ſich und 
erfuhr, die Sizze im Wagen waͤren ſchon be— 
ſtelt: ich muͤſte auſſer dem Wagen mir einen Plaz 
nehmen. — Inwendig koſtete es bis London eine 
Guinee und auswendig eine halbe. — Was 
war zu thun. Ich ſahe mich um, wo noch ein 
Plaz ledig war, und fand keinen. Endlich er⸗ 
blikte ich oben auf der Kutſche Paſſagiers. Ich 
kletterte geſchwind am Hinterrade hinauf und 
erhielt mit genauer Noth noch einen Siz auf der 
Ekke des Kutſchkaſtens. Nach mir kam noch ein 


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— 313 


Handwerksgeſelle, welcher ſich mitten auf die 


Autſche oben drauf ſezzen, und die Füße nach tuͤr⸗ 


kiſcher Manier unter ſich ſchlagen muſte. 


5 So hatte ich in meinem Leben keine Kutſche 
bepakt geſehn. Es waren nicht weniger als 21 
Perſonen auf dem Wagen nebſt einigen Koffers 
und den Buͤndeln der Paſſagiers. Wie das moͤg—⸗ 
lich war, wil ich erklaͤren. Man ſtelle ſich die 


Dekke des Kutſchkaſtens vor. Auf jeder Ekke 


= 


war an der Seite ein eiſerner Spriegel ange: 
bracht, welcher in ſeiner hoͤchſten Woͤlbung nicht 
hoͤher war, als etwa ſechs bis ſieben Zoll. Der 
Kutſchkaſten ſelbſt, war reichlich eine halbe Elle 
breiter und länger, als die gewoͤhnlichen Kutſch— 
kaſten in Deutſchland. Auf dieſer Dekke ſaſſen 
drei Perſonen mit dem Geſichte nach dem Kut— 
ſcherſizze, und drei Perſonen mit dem Geſichte 
nach der hinterſten Schoßkelle. Auf jeder Seite 
ſaß eine Perſon, deren Füße über den Thuͤren 
der Kutſche herabhiengen. Und mitten auf der 
Dekke ſaß noch in tuͤrkiſcher Stellung der Hand⸗ 
werkspurſche. Das waren neun Perſonen. In⸗ 
wendig im Wagen ſaſſen ſechs. Drei hatten 
u 5 


ke neben dem Poſtillion. 


ihren Plaz drauſſen hinter bende eee, A 


Zwei ſaſſen in dem Korbe, welcher auf den Hin⸗ 
terraͤdern ſtand und die Koffers und Bündel den 
Paſſagiers enthielt, Und einer faßı auf dem 1 Bote 


Man ſolte nicht meien ein Wagen 
dieſe Laſt tragen koͤnte. Und in der That, „war 
mir beftändig Angſt, daß die vier engliſchen Stahl 


federn, in welchen der Kutſchkaſten hieng, dig 1 


Laſt von funfzehn Perſonen nicht aushalten wür⸗ 


den. Auch bin ich gewiß, daß auf unſern deutschen 50 


Straſſen, wo bald Loͤcher, bal d Steine die heftigften, 
Stoͤße verurſachen, dies Fuhrwerk in der erſten 
Stunde zerbrechen müßte, Nur auf englischen 


Wegen, welche mit groben Kiß bedekt und uͤberal 


eben find, wo alſo der Wagen ſtoͤts im Gleichge⸗ 


wicht bleibt und nie erſchuͤttert wird, war es 


moͤglich, ſolche Laſten fortzubringen. 


Es waren nicht mehr als vier brabe pferde 
vorgeſpannt. Und doch ging es unaufhoͤrlich im 
Trabe. Aber wir hatten auch alle zwei Stun⸗ 
den andere Pferde. Und nirgends dauerte das 
Umſpannen langer, als acht Minuten. Gn 


* 
8 


1 315 
Eos wäre fuͤr mich ein herrlicher Tag gewe⸗ 
ſen „ohngeachtet des harten Sizzes. Denn es ging 
ſchnel und wir hatten das angenehmſte Wetter 
von der ſtilſten und mildeſten Luft. Aber die 
Strapaze war zu groß, welche mir theils die Angſt 
theils das Anhalten verurſachte. Man denke ſich 
nur, daß ich ſo hoch ſaß, daß ich faſt aller Orten, 
wo wir durchfuhren, den Leuten, die eine Treppe 
hoch wohnten, in die Feſter hineinſteigen konte. 
Man nehme dazu, daß mich dieſe Hoͤhe, zumal da 
ich ruͤklings ſaß, was ich an ſich nicht vertragen 
kan, bei der Geſchwindigkeit des Fahrens, faſt 
immer ſchweimlicht machte. Man erwaͤge end— 
lich, daß ich keine Haltung hatte und mich blos 
an dem niedrigen Biegel, welcher nicht voͤllig uͤber 
meine Lenden heraufreichte, mit den Händen anz 
klammern und zugleich ſtemmen muſte, um nicht 
herabzuſtuͤrzen. Ich habe warlich dieſen Tag 
fuͤrchterlich ausgeſtanden. Meine Arme fuͤhlte 
ich zulezt nicht mehr. Und die Haͤnde ſchmerz⸗ 
ten mir beſtaͤndig theils vom Feſthalten des eiſer⸗ 
nen Diegeld, theil von Erftarrung. Und dazu 
kam denn die beſtaͤndige Angſt bei jeder kleinſten 
Senkung des Wagens auf meiner Seite, wenn 


316 
die Räder auch nur eine zwei zolligte Werten 


des Geleiſes zu paſſiren hatten. Und dieſe Mars - 9 


ter, bei welcher mir aller Genuß der Ausſicht, 


ſo wie des Eſſens und Trinkens vergieng, dauer⸗ 


te von fruͤh um vier Uhr bis abends um acht uhr R 


wo wir endlich in London anfangten, 


O wie froh war ich, da ich von ferne die 
brennenden Laternen erblikte, welche bis eine hal⸗ 


be Stunde weit vor die Stadt, zu allen Tho⸗ 


ren heraus, Alleen formiren und des Nachts einen 
prachtvollen Anblik gewähren, 


Aber bis zur Entzuͤkkung wurde iſt erſt dann 
überraſcht, da ich nach London kam, und in den 
Hauptſtraſſen die herrliche Erleuchtung ſahe. 
Man denke ſich von jedem Hauſe, die ganze Par⸗ 
terretage, die ganze Breite der Fronte hindurch, 
wie einen Kaufladen, mit lauter Tafelſcheiben 
bezogen. Man denke ſich hinter dieſen Fenſtern 
das praͤchtigſte Waaren Sortiment, und vor dem⸗ 
ſelben brennende Lichter, von oben bis unten, 


deren ich an manchem Hauſe etliche dreiſſig 


gezählt habe. Und nun ſtelle man ſich eine ganze 


—— — u 317 
Straße vor, in welcher das Parterr aller Haͤu⸗ 
ſer ſo erleuchtet iſt. Warlich es iſt beim erſten 
Aublik, als wenn die ganze Straſſe in Feuer 
ſtuͤnde. Und nun — auf beiden Seiten dieſes 
Sonnenganges ein Gewuͤhl von Menſchen, wie 
mans in Deutſchland nur auf den volkreichſten 
Meſſen zuweilen gewahr wird. — Ich war ganz 
beraubt und mußte alle meine Kraft anſtrengen, 
mich meiner bewuſt zu bleiben. 


| Meine Betäubung war auch wirklich Urſa— 

che, daß ich beim Abſteigen mein Buͤndel nicht 
genug in Obacht nahm, welches dem Lehnlakai, 
der ſich zu meinen Dienſten erbot, Gelegenheit 
gab, mir ein feines Oberhemde zu ſtehlen. — 
Ich ließ mich zu dem deutſchen Kaufmann Arnold 
bringen, (dem mich Herr De Greif bereits em— 
pfohlen, und meine Ankunft ihm gemeldet hatte) 
und bemuͤhte mich nur, den mir ſo groß vor— 
kommenden Gedanken zu faſſen: „Du biſt nun 
„in England.“ 


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* 2 


Vier und Hreiffigftes Kapitel. 
„ N | N 0 


” 


3 Arnold war kein reicher Mann, weil er 
ein alzuehrlicher Mann war. Ich habe ihn in 
vielen Verhaͤltniſſen und Situationen beobachtet 5 
und gefunden, daß er für den Kaufmann zu des 
likat, zu edel, zu grosmuͤthig handelte, um Schaͤ ⸗ 
ze ſammeln zu koͤnnen. Aber er war auch ein Phi⸗ 
loph d. h. ein Mann, der zur Gluͤkſeligkeit wenig 
Dedürfniffe hatte. Ich ſahe gleich, daß es une 
billig war, ihm mehr als freundſchaftliche Bera⸗ 
thung zuzumuthen, die er auch auf das volkom⸗ 
menſte und treuſte mir geleiſtet hat, ſo lange ich 
in London war. 


i 7 - 
„ { 2 
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Ich bat ihn gleich, mir ein eignes Quartier 
auszumachen, und mich anzuweiſen, wie ich am 
wolfeilſten ſpeiſen koͤnte. Er war, wie ich merk⸗ 
te, auf beides ſchon gefaſt. Ich fand durch ſeine 
Vermittlung in der Citty (Fleet Street No. 21.) 
bei dem Schneider Hammelburg ein kleines Stuͤb⸗ 


cken, dafür ich, die Steinfohfen Heizung mit 
eingerechnet, wöchentlich eine halbe Guinee bezah⸗ 


4 len mußte. Der größte Staat des Zimmers 


(wie das in England gewoͤhnlich iſt) war ein 
ſchoͤner wolner Fußteppich. Der Kamin mit 
Steinkohlenfeuer behagte mir. Ich fand die 
Waͤrme weit angenehmer als die Ofenheizung. 
Es duͤnkte mir ſonderbar, daß die Hizze der Stein— 
kohlen ſeitwaͤrts ins Zimmer ging und in der 
Feuermauer, wo ich die Hand uͤber dem Feuer 
hinein hielt, gar keine Hizze zu ſpuͤren war, ohn⸗ 
geachtet Rauch und Geruch volkommen abzog. 


Die engliſche Koſt wolte mir nicht ſchmekken, 
Ich fand ſie in dem Speiſehauſe, wo mein Freund 
mich hinfuͤhrte, theuer und einfoͤrmig. alle Tage 
ward auf und bei einem großen Steinkohlenka⸗ 
mine, der im Gaſtzimmer war, gebraten oder 
geroſtet. Man hatte alſo taͤglich entweder Rofts 
bief (gebraten Rindfleiſch) oder Roſt-Motten 
(Hammelskarbonade) oder Porkſtiks (Schweins⸗ 
karbonade.) Das Gemuͤſe beſtand damals faſt 
taglich in Kartoffeln. Ich bekam zu einer Por— 
tion ſolches geroͤſteten Fleiſches, die ſehr ſtark 


* 


320 nen 


U 


war, etliche Kartoffeln, nebſt ein wenig zerlaßnen 
Butter in einer Obertaſſe. Zuweilen war Wir⸗ 


ſing oder Savoyer Kohl zu haben. Dieſen kocht 


man, wie alle gruͤnen Gemuͤſe, in Waſſer, und 


giebt ihn ſo, aus dem Waſſer gezogen, ohne 


Schmelzung und Zubereitung auf den Tiſch und 


ſezt dem Gaſte ſein Naͤpfchen zerlaſſener Butter 
dazu, von welcher er ſich auf den Kohl ſo viel 
gießt, als ihm beliebt und ſo, mit Zuthuung des 
noͤthigen Salzes, ihn ſelbſt ſchmelzet und zube⸗ 
reitet. Fuͤr eine ſolche Portion Fleiſch mit ein 
wenig Gemuͤſe und einem Glaß Portwein, muſte 
ich zwei engliſche Schillinge bezahlen, deren 21 
eine Guinee ausmachen: alſo beinahe einen 
Gulden. | 


Ueberhaupt habe ich es in London faſt m) 
theuer gefunden, daß man zum Unterhalte beinahe 
ſoviel Dukaten und wohl gar Luisdors rechnen 
muͤßte, als man in Deutſchland Thaler zu rechnen 
hat. Ein Pfund des beſten (freilich mit dem 
deutſchen unvergleichbaren) Kalbfleiſches ſahe ich 
mit ſechs und ſieben Groſchen nach unſerm Gelde 


bezahlen: das Pfund Kaffee ſechs Schillinge, — 


und 


| 2 und fo alles nach Proportion. Und natürlich) 
ſtehen die Preife der Arbeiten mit den Preiſen 
der Lebensmittel im Verhuͤltniß. Mein Wieth 
mußte feinen Geſellen taglich drei Schillinge 
Lohn geben. Meine Schuhe zu puzzen koſtete 
täglich drei Penny, deren zwoͤlfe einen Schilling 
ausmachen: alſo ohngefaͤhr achtzehn deutſche 
Pfennige. Die Magd vom Hauſe that mie das 
nicht. Es ſind beſondere Leute, die taͤglich in den 
Haͤuſern herumgehen, wo ſie ihre Kundſchaft ha⸗ 
ben, und die Schuhe abholen. Kein Domeſtik 
thut dieſen Dienſt ſeiner Herrſchaft. Es iſt ein⸗ 
mal fo eingefuͤhet. Ein Schuh wichſer ſteht ſich 
nach Gelegenheit auf 50 Pfund Sterlinge jaͤhr— 
lich. Aber er komt darum mit ſeinem Gelde 
nicht viel weiter, als ein deutſcher Arbeitsmann, 

der die Woche etwa anderthalb Thaler verdient. 


An keinem Orte habe ich ſoviel Bettler und 
Elende geſehen, als in London. Ich möchte ſa⸗ 
gen, alle zehn Scheitt fiadet man einen ſolchen 
Ungluͤklichen, der auf der Erde einem entgegen 
kriecht und der durch Verſtuͤmlung feiner Glied⸗ 
maſſen oder Krebsſchaden oder des etwas das Mit⸗ 

III. B. K 


3222 — 


leid erregt. Und doch follen an keinem Orte „ “ 
viel Summen auf Arme verwendet werden. Wie | 
geht dies zu? x 
/ j 
Ich haste es meinem Freunde, daß mir der 
engliſche Tiſch nicht behage, beſonders weil ich 
unſer kraͤftiges Roggenbrod vermißte und die 
Semmel oder das Waizenbrod nicht gewohnt wer⸗ 
den koͤnte. Er verrieth mir ein Gaſthaus, wo 
deutſch geſpeiſet wurde. Und da fand ich einen 
erſtaunenden Unterſchied. Man gab auf den Tiſch, 
(die Geſelſchaft war ordentlicherweiſe zwoͤlf Pers 
ſonen ſtark) zweierlei Suppe (Fleiſch und Faſten⸗ 
ſuppe) eine Vorkoſt mit Beilage (d. h. z. B. 
Rindfleiſch mit Kartoffeln, Sauerkraut mit Schin⸗ 
ken, Savoyenkohl mit Karbonade ꝛc.) und einen 
Braten. Und dafuͤr zahlte ich, bas Glas Wein 
mit eingeſchloſſen, auch nicht mehr als zwei Schil⸗ 
linge und zwei Penny's. Alles war nach deut⸗ 
ſcher Art zubereitet und man konte ein kraͤftiges 
Roggenbrod dabei haben. Das Haus hies Tuͤrks⸗ 
het oder der Tuͤrkenkopf. Leider, war es drei 
engliſche Meilen von meinem Logis. Ich konte 
alſo nicht alle Tage hinkommen. 


i U 9 
6 323 

Sonderbar kam mirs vor, da ich mich ges 
woͤhnen mußte, erſt nachmittags gegen drei Uhr, 
drei engliſche Meilen (eine kleine Stunde) nach 
dem Gaſthauſe zu marſchiren, um zu Mittage 
zu ſpeiſen. Aber doch fand ich mich gleich da⸗ 
rein, fruͤhſtuͤkte nie (was der Englaͤnder thut) 
und aß auch abends nichts weiter. Und ich bin 
nirgends geſuͤnder und heiterer geweſen, als in 
England. Mein Hauswirth konte das gar nicht 
begreifen, wie ich um fuͤnf Uhr aufſtehen und 
ohne zu eſſen bis drei Uhr des Nachmittags 
dauern konte. 


Mein erſtes Geſchaͤft war, daß ich durch 
meinen Freund die weggenommenen Briefſchaf⸗ 
ten wieder zu bekommen ſuchte. Es machte anz 
fangs viel Schwierigkeiten. Endlich aber ſchien 
es der oberſte Poſtofficiant zu begreifen, daß es 
Barbarei ſeyn wuͤrde, einem Fremden ſeine Adreß— 
briefe vorzuenthalten. Ich mußte das volſtaͤndi⸗ 
ge Poſtgeld erlegen, welches eine halbe Guinee 
betrug, und ſo bekam ich ſie alle unerbrochen 
zuruͤk. 5 


— 


Fuͤnf und breifigiee Kapitel, RR 


Forſter. Prieſtlei. bemsed. 


Masten dieſer Stein vom Herzen war, ſuc⸗ 8 
te ich vor allen Dingen die Bekantſchaft eines 
Gelehrten, durch deſſen Huͤlfe ich meinen a 92 
thropiniſchen Erziehungsplan dem engliſchen Pu⸗ 
blikum bekant machen konte. Wenn mein Ge⸗ 
daͤchtniß mich nicht taͤuſcht, fo kam der Welt⸗ 
umſegler Forſter meinen Beſtrebungen zuvor, und 
beſuchte mich. Ich gewann ſeine Freundſchaft. 
Er bat mich, ein fuͤr allemal zum Mittagseſſen, 
ſo daß ich jeden Tag kommen konte: und er 
ſchmaͤlte, wenn ich mehr als zwei Tage ausſezte. 
Und ich muß geſtehen, ich bin nirgends ſo ſchoͤn 
und geſchmakvol bewirthet worden. Es war bei 
ihm engliſche Reinlichkeit und Schoͤnheit, und 
deutſche Koſt. Ich fand immer drei bis vier 
Schuͤſſeln, welche die Eßluſt eben fo ſehr reizten, 
als Kraft und Nahrung gaben. Mein Tuͤrken⸗ 
kopf, fo lieb er mir war, verhielt ſich zu For⸗ 
ſters Tafel, wie eine alte Jungfer zu einen bluͤ⸗ f 


g 


henden Maͤdchen, wie Seeburger zum Rheinwein. 
Aeuſſerlich war alles auf engliſchem Fuß. Selbſt 
bei Tiſche wurden nie die glaͤſernen Naͤpfe ver 


geſſen, die jedem am Ende der Mahlzeit, mit 


Waſſer gefült, vorgeſezt wurden, daß er am Ti⸗ 
ſche ſich waſchen mußte. 


Herr Forſter war aͤuſſerſt gefällig. — (Noch 
natuͤrlicher und herzlicher ſein aͤlteſter Sohn.) 
Er uͤberſezte nicht nur meinen Avis ans engliſche 
Publikum, ſondern er beſorgte auch die Abaͤnde⸗ 
rungen, welche die Denkungsart des Englaͤnders 
nothwendig machte. Ich mußte, ſtatt 50 Pfund, 
achtzig fodern. Ich mußte verſchiedene Stuͤkke 
der phyſilaliſchen Erziehung nach engliſchem Ge⸗ 
ſchmakke einrichten. Kurz, er arbeitete meinen 
Avis ganz um, und hauchte ihm den Geiſt der 
Nation ein. Ich ließ nicht viel Exemplare druk⸗ 
ken: und das Ganze betrug nur zwei Quart⸗ 
blaͤtter: aber es koſtete mich dennoch anderthalb 
Guineen 


Auf feinen Rath beftimte ich Doktors Com⸗ 
muns Kaffehaus zu dem Orte, wo man mich 
* 3 


* % os & 
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326 N — ee A: 
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ſprechen konte. Denn das ift Sitte, daß ein 9 
Fremder, der viel Bekantſchaften hat oder ſucht, u 
feinen Namen in die englifchen Öffentlichen Blaͤt⸗ 8 
ter fezjen läßt, und ein Kaffehaus anzeigt, wo 
man ihn zu gewiſſen Stunden ſprechen kan. Das 
mit erſpart er ſich viele Viſiten, welche die er⸗ 


ſtaunende Groͤſſe der Stadt laſtend, zeitverluſtig 
und koſtſpielich macht, und ſezt jeden in den 
Stand, nach ſeiner Bequemlichkeit ihn aufzuſu⸗ 


chen, mit der Gewißheit, daß er ihn finden wer⸗ 


de. So ging ich alle Tage um fuͤnf Uhr, wie 
ich es im Avis angezeigt hatte, auf mein Kaffe⸗ 
haus, und ward von allen denen geſprochen, wel⸗ 
che von meiner Erziehungsanſtalt nähere PR 
richt haben wolten. 


Ich hatte immer entweder H. Arnold oder 


ſonſt einen Freund bei mir (denn meine Bekant⸗ 
ſchaften mehrten ſich taglich) welcher mein Dol⸗ 
metſcher war. Indeſſen lernte ich auch bald ſo 
viel engliſch, daß ich ohne Dolmetſcher mich 
durchbringen konte, wo es keines zuſammenhaͤn⸗ 
genden Diſkurs bedurfte. 


Durch Herrn Forſter erhielt ich bald auch 
Bekantſchaft mit dem berühmten D. woid, ei⸗ 
nen ſehr fleiſſigen und großen Orientaliſten. Er 

hatte in ſeiner Perſonage und Laune viel aͤhnli— 
ches mit dem freundlichen und herzigen Schuls 
tens. Ich habe ſehr oft mit Forſtern bei ihm 
gegeſſen und hoͤchſt vergnuͤgte Stunden bei ihm 
genoſſen. 


Den D. Prieftlei ſuchte ich ſelbſt auf, weil 
ich hoͤrte, daß er mit Deutſchen das lateiniſche 
ſo ziemlich deutſch prononeirte. Ich fand es 
auch ſo. Ich habe manche Stunden mich mit 
ihm unterhalten und mich uͤber deutſche Theolo— 
gie und engliſche ſechs und dreiſſig Artifel: Re 
ligion ſpoͤttiſch ergoſſen. Ich fand einen philo: 
ſophiſchen Kopf und einen volſtaͤndigen Litterator 
an ihm. Aber in Exegeſe und Sprachkunde war 
ſeine Saͤrke nicht. 


Begierig war ich auch, den D. Harwood 
kennen zu lernen, deſſen theologiſche Abhandlun⸗ 
gen, vol geſunder Vernunft, Herr Schulz in 
Gieſſen uͤberſezt hat. Denn mein moraliſcher 

* 4 


N 8 wg r * 2 — 
* Fu 2 he 5 * 
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— 2 * * 


| Gaumen luͤſterte uͤberal az gener, 5 * ® e % 3 
ſtreitern der ſymboliſchen Zwangtheologie. Abel 
hier wurde ich haͤßlich getzͤuſcht. 30 . 
H. Forſtern nach feiner Wohnung, lief etliche 

enguſcde Meilen herum, und fand ſie nicht. Hier 2 
wohnt keln D. Harwood, hieß es immer. Ich 

brachte mehrere Tage mit Erkundigungen zu. 

Endlich ſagte mir jemand, daß er oft ſein Quar- 

tier veränderte und vor kurzem da und da hin⸗ 
gezogen wäre. Ich fand das Haus und pochte 

an. Es erſchien eine alte Frau. „Wohnt hier 

„D. Harwood?“ Ja, hieß es, der Spizbube iſt 
fort. Er hat hier gewohnt, aber er iſt dabon 
gelaufen. — Himmel, wie ſank die große Idee 
herab, die ich in der Ferne von dem beruͤhmten 

Manne gehabt hatte. — Nah der Zeit erfuhr 
ich die wahre Geſchichte. Harwood war ein 

Bonvivant und hatte die Aufſicht über einen jun ? 
gen Grafen uͤbernommen, deſſen Gelder er auf⸗ 
zehren half und den er ſelbſt in die Bordelle bes 
gleitete. Der Vater war dahinter geranunn 

Und Harwood hatte um der Rechenſchaft und — 

zugleich allen ſeinen zahlreichen Kreditoren zu 

entgehn, ſich aus dem Staube gemacht. Er ſoll 1 


Er a Mann, aber ein n ſchlechter a 
e ſeyn. e 


— 


Späterhin fand ich einen * v. Salis, 
einen alten wuͤrdigen Greis zwiſchen ſiebzig und 
achtzig Jahren, welcher in London von ſeinen 

Renten lebte und ſehr reich gemacht wurde. Er 
machte nicht viel aus dem Marſchlinzer Salis. 
Ich ward ſehr oft zur Tafel geladen, weil er 
meine Unterhaltung liebte: aber eine anfaͤngliche 
Spekulation auf Unterſtuͤzzung meines Inſtituts 
wolte mir nicht gelingen. 


Auch Herrn Raſpe, den ehemaligen Pro- 
feſſor in Kaſſel, lernte ich kennen. Aber ſeine 
armſeligen Umſtaͤnde verſtatteten ihm ſelbſt kei⸗ 
nen geſelſchaftlichen Umgang. Er lebte von 
Schriftſtellerei, aber duͤrftig, weil er auch in En⸗ 
gland noch kein Wirth geworden war. 


Meine liebſte Acquiſition war der Prediger 
Wendeborn. Das war ein Mann von Genie, 
vielen Kentniſſen, gutem Geſchmak und gereifter 
Welt und Menſchenkentniß. Er war Prediger 
in Ludgat⸗ Hill und hatte eine kleine en, * 

* 5 


250 1 


welche die ſtarke Speiſe bertrugen, . 4 b. 
nen von ſeiner Kanzel darreichte. Seine Reli⸗ 
gion war reiner Naturalismus. Er predigte 
Chriſtum, aber blos als dehrer der Wahrheit 
zur Gluͤkſeligkeit. Inhalt, Styl, und Deklama⸗ 
tion, alles war ſchoͤn. Ich habe hernach in ſei⸗ 
ner Kirche einmal gepredigt. | 


Herr Wendeborn wurde mein Freund und 


— der einzige, der mit Wärme ſich für mein 


Inſtitut verwendete. Alle Zoͤglinge, die ich in 


London fand, verdanke ich ſeinen Empfehlungen 


und wiederholten Zuredungen. Er war mit dm 
Forſterſchen Avis nicht recht zufrieden, fand auch 


die Sprache nicht rein genug. 


Durch ihn erhielt ich eine Menge von Be⸗ 
kantſchaften: durch ihn ward ich in die anſehn⸗ 


lichſten Häufer eingeführt: denn er ſtand in gro⸗ 


ßem Anſehn. Durch ihn lernte ich Sitte und 
Karakter der Nation und weiſe Regeln meines 
Verhaltens. O wie oft und mit wie vielem Ver⸗ 


gnuͤgen habe ich das, New Jan No. 10, aufge⸗ 


N 1 125 2 i ; „ 4 
ſucht! Er war mein Freund, mein Führer, mein 
angenehmſter Geſelſchafter. 


0 . 


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7 


Sechs und dreiſſigſtes Kapitel. 
London. Hungersnoth, 


—— ——— 


Jo hatte ohngefaͤhr vierzehn Tage in London 
gelebt, als ich meine Börfe auf wenige Schillin⸗ 


ge reducirt ſahe. Und gerade jezt fanden ſich ei⸗ 


ne Menge Beduͤrfniſſe, die zu beſtreiten waren. 
Ich bedurfte eine neue Fußbedekkung. Ich muß⸗ 
te einen Hut haben, weil mein deutſcher die en⸗ 
gliſche Form nicht annehmen wolte und auf der 
Reife auch mit dem Marasmus ſenilis war be⸗ 
fallen worden. Ich brauchte einen Redinggoat. 
Ich hatte Geld nöthig zu Tabak, welcher das 
fünfte Element iſt, in welchem ich lebe, zum Mit: 
tagstiſche, den ich im Tuͤrkenkopf fuͤhrte, und 
— zu meinem Thee und Toſt (mit Butter ge⸗ 


N 


ſchreit der Poͤbel nach: fraͤntſch Dok d. h. fran⸗ 


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7 . WANT ; 1 


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traͤnkte ub am Sbeinkohſenteter chte 
Semmel,) welche ich abends auf Bot an. 0 
muns Kaffehauſe genoß. Nor Br | 

Der Redinggoat war mir ee 10 
ſolte doch wenigſtens ſechszehn bis achtzehn Schil⸗ 
linge koſten. Denn in England tragen ſich alle 
Mannsperſonen, welche zu Fuße gehen, ganz fims 
pel. Ein Frak von einfarbigtem Tuche, ein ſtei⸗ 
fer Zopf, ein Stok, das iſt alles. Wer im Haar⸗ 
beutel und ſonſt im Staate ſich ſehen läßt, dem Rn 


zoͤſiſcher Hund. Das iſt nicht eben Verachtung b 
der franzoͤſiſchen Nation, ſondern eigentlich Ver⸗ 
achtung des gepuzten Narren. Denn da theils 
das Menſchengewuͤhl, theils der Schmuz, der ge⸗ 
woͤhnlich auf den Londner volkreichen Straſſen 
herrſcht, (denn es giebt auch unvolkreiche, die 
ſo todt ſind, daß man kaum alle hundert Schritt 
einem Menſchen begegnet, z. B. die meiften Straſ⸗ 
ſen in Maribone) mit einer gepuzten Kleidung 
ſich nicht verträgt und — da man natuͤrlich bor⸗ 
ausſezt, daß ein Mann, der zum ordinaͤren Aus⸗ 
gehn in Gold oder Seide erſcheinen kan, auch 


— 


N 


* 


| ein paar Schillinge an einen Viaker zu wenden 
im Stande iſt; ſo betrachtet man einen gepuzten 


333 


Fußgänger als einen franzoͤſiſchen Haaſenfuß, der 


ſich zeigen wil, und verlacht ihn. 

Wenn ich alſo Viſiten von einiger Bedeutung 
machen und in meinem geſchenkten Sammetrok 
erſcheinen wolte, ſo mußte ich ſchlechterdings, da 
ich die Schillinge fuͤr die Viakers nicht uͤbrig 
hatte, einen Redinggoat mir machen laſſen, den 
ich über das Sammetkleid ziehen konte, um nicht 
dem Poͤbel als beſamteter Fußgänger lächerlich 
zu werden. 

Ich war jezt in der aͤuſſerſten Verlegenheit. 
Alle meine Bekantſchaften waren noch zu neu, 
als daß ich ohne Unverſchaͤmtheit jemanden hätte 
anſprechen koͤnnen, mir Geld vorzuſchießen. Mein 


Arnold war an ſich nicht in der Lage, daß ers 


thun konte, und von Herrn Forſter hatte ich auch 
gehoͤrt, daß baares Geld bei ihm nicht uͤberfluͤſ— 


ſig zu haben war. Wendeborn hatte mir ſchon 


von Raſpen erzählt, daß dieſer hätte borgen wol⸗ 
len und — daß ihm nichts fataler ſey, als wenn 


> 


8 — 


einer bei ihm borgte. Ueberdies war 150 ik pr h 
mein eigner Grundſaz, lieber von Juden mit 1 
Schaden Geld zu leihen, als von einem Freunde, | 3 
weil dieſe Geſchichte jo gewoͤhnlich die Gelegene 
heit wird, daß Freunde ſich entzweien. Run. = 
ich wußte keinen Rath. | 
E 
Meinen Ring hätte ich verſezzen koͤnnen, 
das iſt wahr. Aber ich war auch dazu zu unbe⸗ 
kant, und mußte beſorgen, daß ich in Hände fiel, 
welche mich betrogen, und den Ring vertauſch⸗ 
ten oder ſich, nachdem ich eine kleine Summe 
darauf genommen haͤtte, gar unſichtbar machten. 
Und uͤberhaupt wolte ich mich nirgends, auch 
meinen Bekanten nicht, als einen ſo gar armen 
Schelm kund werden laſſen, eingedenk deſſen, was 
mir mein braver Löw Baͤr Iſak in Frankfurt 
geſagt hatte — daß ſich alles von mir zurüfzies 
hen wuͤrde, wenn man merkte, daß ich zu nahe 
an den Bettler graͤnzte. 


Es kam mit mir oufs aͤuſſerſte. Den Hun⸗ 
ger zwar hielt ich noch einige Tage ab, durch 
die gute Forſterſche Tafel. Aber ich konte doch 


335 


er alte Tage den Mann beſchmauſen und muß⸗ 
te alſo ſchlechterdings abbrechen, nachdem ich drei 


BR Tage hintereinander bei ihm gegeſſen hatte. Auch 


noͤthigte mich ohnehin dazu mein Fußwerk, wel 
ches nun eben ganz aufgerieben war, und kaum 
noch einen Gang zu Herr Forſtern geſtattete, zu 
welchem ich noch viel weiter, als nach meinem 
Tuͤrkenkopfe zu gehen hatte. 


Ich entſchloß mich, einen Tag zu Hauſe zu 
bleiben. Ein Philoſoph, dachte ich, muß ja auch 
einmal faſten koͤnnen. Wer weiß, komt nun bald 
etwas. Verderben laͤßt dich der liebe Gott doch 
nicht. — Ich blieb, kochte mir eine doppelte Por⸗ 
tion Theewaſſer in meinem Kamine — holte 
mir um die Mittagsſtunde d. h. um drei Uhr, 
ein Dreierbrod (bei dem einzigen Bekker, der in 
London Roggenbrod hat) blieb, — damit mein 
Wirth glauben moͤchte, ich ſei in einem nahelie— 
genden Gaſthauſe zu Tiſche geweſen, drei Vier— 
telſtunden auſſen — verzehrte dann großmuͤthig 
mein Brod zum Thee, und verdampfte meinen 
Tag mit heiterer Seele. — Um von keinen Gril— 
len beunruhigt zu wer den, ſchrieb ich den ganzen 


Gente und Shefenlnla, 


1 8 1 N RX 5 
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336 A 


Tag Briefe nach Deutſchland und vn dabei N a 


machina ſich einfinden, Ich dada N or 
mit allem hin und herſinnen wolte mir kein 
ander Mittel einfallen, mir den Geldmangel 
zu erleichtern, als die Methode des vorigen Ta⸗ 
ges. Ich beſchloß fie — merkte aber doch, daß, 


da es bald drei Uhr ward, mir der Tuͤrkenkopf 
mehr am Herzen lag, als mich meine Philoſophie 
geſtern uͤberreden wolte. Der Mund lief mir 


voll Waſſer, wenn ich an ihn dachte, und alle 


Bemühung war vergeblich, fein Bild von mir 


zu entfernen. Indeſſen Noth bricht Eiſen. Ich 
zog mich an, um mir meinen Dreiling zu holen. 
Eine Thraͤne war nahe, da ich zur Thuͤre hinaus 
ging. Ich ſchamte mich und verwiſchte ſie ge⸗ 


ſchwind, um nicht auf meiner ſchwachen Seite 
von jemanden ertappt zu werden. Der Hunger 


war groß. Mein Brod ſchmekte vortreflich. Und 


ſo wie ich es verzehrt hatte und der Hunger ge⸗ 


ſtilt war, ſchwand auch das Bild des Tuͤrken⸗ 


kopfs, und meine Seele erheiterte ſich. Qu biſt 


ja 


ja ſatt, ſagt ich zu mir felbft, und haft mit Wol⸗ 
geſchmak gegeſſen. Nun erſt ſchaͤmte ich mich ganz 
meiner vorigen Schwachheit. Ich ſchrieb an eis 
nem Plane, den ich einer Familie vorlegen wolte, 
welche mir Antraͤge gemacht hatte, nach England 
zu ziehen und da eine Penſion anzulegen. Ohne 
alle Sorgen und Unruhe war mein Schlaf und 
eben ſo erquikkend, als wenn ich beide Tage ge⸗ 
ſchmaußt gehabt haͤtte. 


Am dritten Tage ſezte ich den Plan fort, 
und das mit einem ſolchen Enthuſiasmus, daß 
nicht eine meiner Grillen mir einfiel und mich 
ſtoͤrte. Fünf Stunden hatte ich geſeſſen, geſchrie— 
ben und geraucht, ohne mich zu beſinnen, was 
auſſer mir vorging. Um neun Uhr machte ich 
eine Pauſe, um eine halbe Stunde lang auf und 
abzugehen und mich ein wenig zu erholen. Und 
ſiehe da, die abgeſpante Denkkraft gab der lieben 
Phantaſie Spielraum, und dies brachte leider den 
Tuͤrkenkopf herbei. Nun war meine Philoſophie 
dahin. Es war, als wenn mein Magen herauf 
ſich kruͤmmen, und mein Mund vom Waſſer der 
Luͤſternheit uͤberſtroͤnen wolte. Ich trank Thee 

11. B. 9 


* 


338 


und ſtopfte eine friſche Pfeife. Aber N 
der Hunger ſich ſtilte, ſo blieb doch die „ 
in ihrer unruhigen Thaͤtigkeit. Es iſt um K 
dachte ich, du haͤltſt es nicht laͤnger aus. de 
Ring muß fort. | a 


Ich entſchloß mich raſch und war eben fo bes 
hend bei der Volziehung. Meine Kleider wur⸗ 
den angelegt und ich eilte, den Ring mit mei⸗ 
nem Siegel zu verwahren. Mein Wille war, 
in einem deutſchen Kaufmannsladen zu gehen 
und mich geradehin zu erkundigen, wo man mit 
Sicherheit auf ein Pfand gelehnt bekommen koͤnne. 
Ich ging nach meinem Huthe und hatte die Thuͤ⸗ 
re ſchon in der Hand, als jemand anklopfte. 


Es war mein Wirth mit einem fremden Be⸗ 
dienten, den er, weil er kein Wort deutſch konte, 
heraufbegleitet hatte, um den Dolmetſcher zu ma⸗ 
chen. Er brachte ein Kompliment von dem Kauf⸗ 
mann Kaſch und haͤndigte mir 30 Guineen ein, 
als abfchläglihe Zahlung auf die Penſion feines 
Sohnes, mit dem Vermelden, daß Herr Wende⸗ 
born weitere Abrede mit mir nehmen wuͤrde. — 
War das nicht wieder unerwartete und ungeſuch⸗ 


70 | * 339 
te Huͤlfe — im Augenblik der hoͤchſten Verle⸗ 
genheit? 


= 


Warlich, das war ein feſtlicher Tag! — 
Kalvin kan fo nicht gefrohlokt haben, da er den 
Serbet zum Richtplage führen ſah, wie ich jezt 
mich freute, da der aͤrgſte Feind des Menſchen, 
Mangel und Hunger, vor mir fluͤchtig werden 
mußte. — Ich ließ gleich den Schneider und 
Schuſter holen und mir die nöthigen Kleidungs⸗ 
ſtuͤkke anmeſſen. Und dann ging ich bald langſam 
bald huͤpfend in meinem Zimmer auf und ab, und 
fühlte mich ſtolz auf meinen Muth, zwei Tage 
zu faſten (wie noch an keinem Leipziger Bußtage 
gefaſtet worden war) und meine Armuth verber⸗ 
gen zu koͤnnen: — empfand Himmelswonne bei 
dem Gedanken, daß fo oft mein Glaube an Borz 
ſicht mir durch Erfahrung geſtaͤrkt ward — genoß 
die Freuden der Ahndung noch glüfficherer Auf⸗ 
tritte, deren Vorbote mir nur der heutige ſchien 


O und zählte dabei die Viertelſtunden und end⸗ 


lich die Minuten, die noch vor meiner froͤhlichen 
Abreiſe nach dem geliebten Tuͤrkenkopfe verflieſſen 
mußten. in 


9 


‚349 ar 
Wie mir war, da es drei Viertel f 0 5 
ſchlug, und wie mir ward, da ich auftragen ſah, ar 
und wie mirs da ſchmekte, das kan meine Feder 
nicht beſchreiben. Das muß der geneigte eſer 
ſich denken und — wenn ihm an Wahrheit und 
Volſtaͤndigkeit feiner Vorſtellungen gelegen iſt — 
auch einmal zwei Tage ſo faſten und dann — 
es erfahren, wie mir zu Muthe war. 


Sieben und dreiſſigſtes Kapitel. 


Die Londner Schoͤnheiten. 8 


— 


Min Leſer würden mirs doch nicht glauben, 
wenn ich ſie verſichern wolte, daß ich mich um 
das engliſche Frauenzimmer nicht bekuͤmmert 
haͤtte. Ich wil alſo lieber ſelbſt alles geſtehen, 
was ich gethan habe. Und man wird finden, 
daß es fo ſchlim lange nicht war, als mein lies, 
bes Weib in Heidesheim ſichs denken mochte. 


Das engliſche Frauenzimmer überhaupt ge⸗ 
fiel mir, in allem Betracht. Sie find meiſten⸗ 
theils groß und von ſchlankem Wuchs. Im Au⸗ 
ge iſt eine gewiſſe majeſtaͤt durch Grazie gemil- 
dert. Dunkelbraunes Haar auf der halben Stirn 
herabgekaͤmt und verſchnitten und hinten im lok⸗ 
kigten Fluge, iſt der Schmuk ihres Hauptes und 
ihres weiſſen Nakkens. Eine gewoͤlbte Bruſt 
verbirgt ſich beſcheiden unter dem dichteſten Tu⸗ 
che. Sie zeichnen ſich durch den hoͤchſten Grad 
der Sittſamkeit aus und bezaubern doch zu glei— 
cher Zeit durch die angenehmſte Freundlichkeit 
und Geſpraͤchigkeit, welche zwiſchen franzoͤſiſcher 
Frechheit und deutſcher pinſelhafter Sproͤdigkeit 
die gluͤklichſte Mittelſtraße haͤlt. 


Man ſagt algemein, daß das engliſche 
Frauenzimmer die Sprache ſchoͤner prononcirt 
als das maͤnnliche Geſchlecht. Ich ward mit 
einer Dame bekant, die ſich die Muͤhe nahm, 
mir die Ausſprache beizubringen. Aber ſie war 
zu ſchoͤn, als daß ich hätte auf ihre Anweiſun— 
gen attent genug ſeyn koͤnnen. Ich ſahe nur auf 

ihren Mund, wenn ſie mir die Lage der Mus⸗ 


N 3 


34% 


fein zeigte, welche die Ausſprache genie But 
ſtaben erfoderte, AST 


Auf der Gaſſe tragen alle engliſche Dal | 
ohne Ausnahme Hufeiſen. Sie haben aparte 
Schuhe, welche unter den Abſaͤzzen eiſerne Süße 
haben, an die ein runder breiter Biegel befeſtiget 
iſt. Auf dieſen Biegel gehen ſie. Und dieſe 
Hufeiſen haben den Vortheil, daß ſie den Schmuz 
abwaͤrts ſchleudern, ſtatt daß die gewoͤhnlichen 
Abſaͤzze ihn aufwärts ſpruͤzzen und Rok und 
Strümpfe verunreinigen. Komt eine Dame ins 
Haus, ſo ſtelt ſie die Schuhe mit den Hufeiſen 
im Hauſe hin, und tritt mit den reinlichen Schu⸗ 
hen hervor, mit welchen ſie in jenen geſtanden 
hatte. Das iſt Reinlichkeit und Erſparniß zus 
gleich! denn was koſtet die Fußbedekkung unſerer 
Damen nicht, bei kothigem Wetter? 


Die engliſchen Freudenmaͤdchen gefielen mir 
nicht in allem Betracht. Was mir gefiel, war 
ihre Sittſamkeit. Herr Wendeborn ruͤhmte mir 
ſie, und da ich an der Wahrheit zweifelte, be⸗ 
ſchaͤmte er meinen Unglauben durch die Erfah⸗ 
rung. Sie muͤſſen es ſelbſt ſehn, ſagte er, wie 


| — 3 
weit auch die übrigens verächtlichften Kreaturen 
in England ſich uͤber die deutſche Plumpheit und 
Frechheit erheben. Wir gingen eines Abends 
mit einander aus, und — ich erſtaunte. 


Dir Dirnen dieſer Art pflegen taͤglich von 
fuͤnf Uhr des Nachmittags bis gegen Mitter— 
nacht auf den Hauptſtraſſen umher zu wandeln. 
Ehe ſie ihren Umlauf antreten, gehen die aͤrmern, 
welche keine eigne Kleidung haben, in eine Bu— 
tike, deren es fuͤr dieſes Gewerbe viele giebt, 
und laſſen ſich kleiden. Das Maͤdchen zahlt ſechs 
Penny's uud erhält dafür einen volſtaͤndigen Das 
menhabit, welcher meiftentheils aus einer ſchwarz 
grosduͤturnen Andriene mit Zubehoͤr beſteht, und 
wird dafuͤr auch noch koeffuͤret. Und daher komt 
es, daß alle engliſche Freudenmaͤdchen, auch die 
von der ſchlechteſten Klaſſe, die oft nicht ein 
Hemde auf dem Leibe haben, des Abends wie 
Prinzeſſinnen erſcheinen. Denn ihr ſchoͤner Wuchs, 
ihre weiſſe Haut, das braune Haar, die ausge— 
legte Bruſt mit dem ſchwarzen Kleide thut, zu— 
mal im Sonnengange der Abenderleuchtung, die 
allet vortheilhafteſte Wirkung. 

9 4 


A u ” N K. u _ EEE 
\ 5 x * 


? 344 5 . 0 5 = 

Wir gingen im Koventgarden eine zeitlang 
auf und ab, und lieſſen eine Menge dieſer Krea⸗ | 
turen vor uns vorbei paſſiren. Aller drei Schritt, 
kan ich ſagen, begegneten uns zwei, drei und 
mehrere derſelben. So wie eine oder mehrere 
auf uns trafen, redeten ſie uns an: Mei Dier 
gib mi Glas Wein, d. h. mein lieber, gieb 
mir ein Glas Wein. Antwortet man nicht und 
macht keine Bewegung mit dem Arme, ſo gehn 
ſie voruͤber und wagen es nicht, ein Wort wei⸗ 
ter zu ſagen. 


Da endlich eine Gruppe von drei ſolchen 
Maͤdchen uns ins Auge fiel, welche uns vorzuͤg⸗ 
lich ſchoͤn duͤnkten, hoben wir, bei der gedachten 
Anrede, unſere Arme auf, und im Augenblikke 
waren wir alle fünfe Arm in Arm und — im 
artigſten Geſpraͤch. Wendeborn unterhielt fie 
mit der Materie uͤber brittiſche Freiheit und die 
Maͤdchen ſprachen wie maͤnnliche Britten. 


In den Hauptſtraſſen iſt faſt ein Haus um 
das andere der Venus geweiht. Wir gingen in 
das erſte das Beſte. Ein Markeur kam uns mit 


n 


e 


* 


„ 245 
zwei Lichtern entgegen und fragte gleich, ob wir 
ein eignes Zimmer befählen. Auf Bejahung 
der Frage, eroͤfnete er uns Parterr ein Zimmer, 
das mit den koͤſtlichſten Tapeten geziert, unge 
mein ſchoͤn meublirt, und mit Betten verfchen 
war. Wendeborn beorderte ein Peint (Roͤſſel) 
Wein. Wir ſezten uns. Die angefangene Ma— 
terie wurde fortgeſezt. Die Maͤdchen ſprachen 
wie die Damen von Stande. Kein Wort, keine 
Mine, wobei etwas Unanſtaͤndiges gedacht wer— 
den konte! Paſtor Goͤzze haͤtte ohne alles gegebne 
und genommene Aergerniß dabei ſizzen koͤnnen. 
Wendeborn ſchenkte ein. Man hat in England 
gewoͤhnlich Weinglaͤſer, die unſern Schnapsglaͤ⸗ 
ſerchen gleichen. Die Maͤdchen tranken das 
Peint aus. Es dauerte eine Viertelſtunde, mel: 
che wir mit den artigſten Geſpraͤchen zubrach— 
ten. Wir ſtunden endlich auf. Die Maͤdchen 


bedankten ſich. Wendeborn bezahlte zwei Sci: 


linge. Und wir verlieſſen unſere Damen, oh⸗ 

ne ein liederliches Wort von ihnen gehoͤrt zu 

haben. — Ich erſtaunte uͤber dieſe Probe von 

Sittſamkeit und feinem Benehmen ſolcher Krea⸗ 
Y 5 


346 
turen, die mit der Frechheit der deutſchen dies 


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nen fo ſetſam e e 5. N) 


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— ————— — — 
9 * 


Acht und dreiſſigſtes Kapitn. 5 


Fortſezzung. 


us 
J. der Folge hatte ich Gelegenheit, auch eine 

vornehmere Gattung von Toͤchtern der Freude 

kennen zu lernen, wo ich weniger Sittſamkeit 

aber deſtomehr Pracht fand. Ein Freund frag⸗ 

te mich, ob ich eine halbe Guinee anwenden wol⸗ 

te, etwas ſchoͤnes zu ſehen, was ich gewiß noch 
nie geſehen haͤtte noch jemals ſehen wuͤrde. Ich 

war neugierig, und wolte doch nicht gern ſo vier” 

les Geld ausgeben, ohne die Valuta dafuͤr wies 

der zu haben. Aber er beſtand darauf, daß ich 
mich ihm auf Diſkretion uͤberlaſſen muͤßte. 


Unſer berhergegangnes Geſpraͤch ließ mich 
vermuthen, daß der Gegenſtand, den er mir zu 


zeigen verſprach, aus der Klaſſe jener ungluͤkli⸗ 


und ihre Ehre feil bieten. Ich wolte mich alſo 
durchaus nicht zu einer ſo ſtarken Ausgabe ver⸗ 
ſtehn. Denn das himliſche Wette, für deſſen 
Notiz man allenfals die halbe Guinee haͤtte an⸗ 
wenden koͤnnen, war damals noch nicht erfunden. 
Und für den bloſſen Anblik einer ſchönen Ge 
ſtalt, wenns auch die medicaͤiſche Venus geweſen 
waͤre, duͤnkte mir der Preis zu hoch. „Aber 
„ ich ſage Ihnen, verſicherte mein Freund, daß 
„Sie mehr als eine Venus ſehen ſollen, und 
„daß Sie etwas ganz auſſerordentliches erblik—⸗ 
„ken werden. Wenden Sie das Geld daran. 
„Ein Fremder muß alles ſehn, was der Muͤhe 
„werth iſt. Und der Ort, wo ich Sie hinfuͤh⸗ 

„ten werde, iſt der Mühe werth. Doch ſage 
id Ihnen nochmahls vorher, mehr als ſehen 
„ koͤnnen Sie für das Geld nicht. Eine halbe 
„ Guinee koſtet die bloſſe Entree. Es wird auch 
„nicht jeder zugelaſſen. Sie koͤnnen nur durch 
„ mich dieſe Seltenheit beſchauen.“ Meine Neu⸗ 
gierde wuchs. Endlich entſchloß ich mich. 


* : 347 


chen Geſchoͤpfe fein würde, welche ihren Leib 


9 | | 


Wir nahmen einen Wagen und fuhren in 
eine der entlegendſten Gegenden der Stadt. An 
einem große Hauſe hielt der Wagen ſtill. Mein 
Freund klingelte. Ein Bedienter in praͤchtiger | 
Libre eröfnete die Thür, ließ uns ein, hieß uns 
eine Treppe hinauf gehen, und ſchloß hinter uns 
her wieder zu. Oben an der Treppe fanden wir 
einen andern Livrebedienten, wecher eine Fluͤgel⸗ 
thuͤr eroͤfnete, die in einen prächtigen Vorſaal 
fuͤhrte, wo zwei Wandpfeiler mit den koſtbarſten 
Spiegeln prangten. Ich ſahe verſchiedene Tiſche 
von Mahaoni Holz und zwiſchen durch lehnloſe 
Seſſel mit Atlas uͤberzogen. Der Bediente oͤfne⸗ 
te die Haupthuͤr, und wir kamen in einen Sa⸗ 
lon, welcher ſchmal aber lang war, oben und un⸗ 
ten einen Kamin hatte, und durch Vergoldungen 
und Spiegelwerk mein Auge blendete. Es war 
fuͤrſtliche Pracht. Aber — welch ein Anblik! 
Oben und unten an den Kaminen ſtunden acht 
bis zehn nakkende Mädchen, fo ſchoͤn und blüs 
hend, wie man ſie mahlen muͤßte, wenn man et⸗ 
was Schoͤnes mahlen wolte. Die dunkelbraunen 
lokkenden Haare rollten auf den Nakken und Bu⸗ 


e e. Alles war wie — es im Patvdſſt 
en ſeyn fol. 5 


Und doch waren dieſe Maͤdchen, in dieſer 
frechſten Attitude, nicht frech. Wir ſprachen und 
ſcherzten und — keine that, als ob fie mehr er⸗ 
wartete. Aber ich — mochte doch den Anblik 
nicht lange ertragen. Mein Freund, ein aͤltli⸗ 
cher Mann, waͤre vielleicht noch lange geblieben. 
Ich — bat ihn, mich aus dieſem Feuer zuruͤkzu⸗ 
ziehen. Ich konte — die Steinkohlen Hizze nicht 
aushalten. 


Wir giengen und zahlten hernach im Vor⸗ 
ſale an eine Matrone, die uns erwartete, unſere 
halbe Guinnee. Fuͤr drei Guinee's, hieß es, kan 
man bei acht Schuͤſſeln mit einem oder zwei Maͤd— 
chen ſuppiren und Wein trinken, ſo viel man 
wil, und genieſſen, was man wil und — kan. 


Aber kan das, wird mancher denken, in Lon⸗ 
don ſo oͤffentlich geſchehen? Die Frage iſt wirklich 
gerecht. Ich glaube auch, daß es keinen Ort 
in der Welt giebt, wo die Wolluſt ſo oͤffentlich 
wandelt. In London iſt gar keine Polizei, wel⸗ 


che uͤber dieſe Menſchenart wacht. Da kan ſe, | 


der und ſede, ohne alle Berantwortlichkeit thun 
was ihnen beliebt, ſo lange nicht die Öffentliche 
Ruhe und Sicherheit geftört und anderer Men⸗ 
ſchen Rechte gekraͤnkt werden. Da gehn die 


Freudenmädchen frei und frank und laden jeden ö 


ein. Da ſtehen an allen Ekken der Straſſen Kerle, 
mit gedrukten Zetteln, welche mediciniſche Mit: 
tel ausbieten, — bald ſich zur Wolluſt zu ſtaͤr⸗ 
ken — bald ſich fuͤr Anſtekkung zu verwahren 
— bald ſich von Wolluſtkrankheiten zu kuriren 
auch wohl — Leibes frucht abzutreiben. Kurz, da 
iſt nichts ſo unſittlich und unkeuſch, was in Lon⸗ 
don nicht oͤffentlich beſprochen und verhandelt 
werden koͤnte. 

Man kan aus dieſem Grade der Freiheit 
ſichs begreiflich machen, warum ein Wendebornz 
welcher gewiß der rechtſchaffenſte, unbeſcholtenſte 
und ernſthafteſte Mann von der Welt iſt, ohne 
alles Bedenken mir jene Probe von Sittſamkeit 
der Buhldirnen geben konte, ohne die geeingſte 
Gefahr zu laufen, daß er von jemand geſehen 
und an ſeiner prieſterlichen Ehre angegriffen wer⸗ 


den mochte. Denn in Ländern und Orten, wo 
man gewohnt iſt, die Wolluſt heimlich zu treiben 
und, wo man nur das Sehnlaſſen fuͤr Schande 
haͤlt, da bekomt jeder Anblik eines nur ein wenig 
kokettirenden Frauenzimmers oder eines Mannes, 
der eine Buhlerinn am Arme hat, ein gewiſſes 
Intereſſe für die an ſolchen Orten deſto einhei⸗ 
miſchere Laſter des Neides, der Eiferſucht, und 
der Mediſance: und jederman, der ſo etwas ſieht, 
denkt ſich ein langes und breites daruͤber. Hin⸗ 
gegen in London, wo man jede menſchllche Thor⸗ 
heit auf Rechnung des Thoren gehen laͤßt und 
wo die Wolluſt inſonderheit, ungeſcheut und oͤffent⸗ 
lich wandelt, da hat ein ſolcher Anblik gar kein 
Intereſſe. Und eben, weil er kein Intereſſe hat, 
weil kein Menſch ihn achtet, weil man alſo auch 
keinem Menſchen, von dem man das Geſehene er— 
zählen wolte, ſchaden kan, eben darum ſieht kein 
Menſch mehr hin und ſpricht davon. 


Es iſt alles Konvention. In Berlin z. B. 
ſind die Menſchen einverſtanden, alle Arten der 
Wolluſt (ſelbſt die ſcheuslichſte und unnatuͤrlich⸗ 
fie der w.. B.. 2.) unter ſich heimlich 


ne — 


auszuüben: aber jeden, der etwas davon geht 


werden laͤßt, auf das aͤrgſte zu beraͤſonniren. In | 
London hingegen iſts eingeführt, die Wolluſt 
nicht zu verbergen und folglich auch nicht zu 
beraͤſonniren. Darum iſt das dort Schande, wos 


hier keine iſt. — 


Die engliſchen Pfarrherren, die Pfruͤnden 5 
600 bis 1000 Pfunden haben und ihre Vikare ſich 
halten, welche fie mit 30 Guinee's abſpeiſen und 
faſt verhungern laſſen, liegen Jahr aus Jahr ein 
in der Stadt und finden ſich unter den Freuden⸗ 
maͤdchen mehr ein, als unter ihren 5 und 
niemand ſpricht daruͤber. 


Herr Wendeborn ſagte mir, was hernach auch 
alle meine Bekanten beſtaͤtigten, daß es in Lon⸗ 
don volle 40000 Buhldirnen gebe, daß man aber 
auch unter dieſen vierzigtauſenden nicht fuͤnfhun⸗ 
dert finde, welche nicht auf das allerſtaͤrkſte inſi⸗ 
civt wären. — Dies iſt für jeden Fremden eine 
kraftige Warnung! — Ich bin auf die Vermu⸗ 
thung gekommen, daß der ſchrekliche Zuſtand 
dieſer Kreaturen der Grund iſt, warum man ſo 
eine ungeheure Menge blinder, verſtuͤmmelter, 
wahn⸗ 


353 


5 — und mit Sebeſcaden Sehaftier 
Menſchen in London gewahr wird. 


x 


Neun und dreiſſigſtes Kapitel. 


Verſuch ungen. 


Jo hatte in London viele Reizungen, mich da⸗ 
ſelbſt niederzulaſſen, darunter dieſe gewiß nicht 
die ſchwaͤchſte war, daß ich meinen reichlichen Un⸗ 
terhalt vor Augen ſehen konte. 


Es waren erſtlich verſchiedene Familien, wie 
ich ſchon oben gefagt habe, welchen mein Erzie— 
hungsplan ſo wohl gefiel, daß ſie denſelben in 
London realiſirt zu ſehen wuͤnſchten. Und ich 
konte um ſo viel ſichrer hoffen, damit mein Gluͤk 
zu machen und eine große Menge Zoͤglinge zu— 
ſammen zu bringen, weil in London die Gelegen— 
heiten faſt gaͤnzlich fehlen, Kindern eine gute Er⸗ 

III. B. 8 


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* * * * * — 


ziehung zu acc. Denn gute Hauslehrer Pe x | 


dort viel ſeltner als in Deutſchland, wo die vie⸗ 5 


len und zahlreichen Univerſitaͤten ſie liefern. Von 
Gymnaſien und aͤhnlichen Schulen habe ich in 
London gar nichts gehoͤrt. Und die gemeinen 
Erziehungsanſtalten, die man Bordſkols nennt, 
find das abſcheulichſte, was man ſich denken kan. 
Denn da legt jeder bankerutirter Kaufmann oder 
verdorbene Kandidat eine ſolche Penſion an und 
betrachtet ſie als ſeinen ſchmalztopf, aus dem er 
ſich maͤſten will. Da iſt der jaͤmmerlichſte Un⸗ 
terricht. Da iſt nichts von phyſikaliſcher Erzie⸗ 
hung. Da findet man, ſtatt der Moraliſchen, 
eine Schule aller Untugenden und Laſter. und 
dieſe Umſtaͤnde ſezzen verſtaͤndige Eltern oft in 
große Verlegenheit, und wuͤrden dem, der dieſe 
Verlegenheit heben und ein wirklich gutes Erzies. 
hungsinſtitut anlegen wolte, fuͤr ſeinen Sleiß reich⸗ 
liche Belohnung verſchaffen. 


Und wenn ich auch mit der Erziehung allein 
nicht hinreichendes Brod gefunden haͤtte; fo blie⸗ 
be mir boch noch eine Nebenarbeit frei, von wel 

ches ich jährlich zwei bis dreihundert Pfund ohne 


\ 


— 355 


große Muͤlhe gehabt haben wuͤrde. Ich konte 

mir eine Kirche miethen und Prediger werden, 
fo gut wie Wendeborn und der berühmte Wil: 
liam es war, den ich hernach noch perfönlich 
kennen lernte. 


Denn in London giebt es vielleicht dreißig Kir⸗ 
chen noch, welche leer ſtehen und Privatperſonen 
gehoͤren. Und jedem ſteht es frei, eine ſolche 
Kirche zu miethen, und ſich ſelbſt als Prediger 
anzuſtellen. Die Sache braucht wenig Umſtaͤnde. 
Ich werde mit dem Beſizzer der Kirche einig, 
und mache nun in oͤffentlichen Blättern bekant, 
„der D. B. aus Deutſchland iſt hier angekom⸗ 
„men und wird in der und der Kirche auf den 
„und den Sontag ſich als Kanzelredner hoͤren 
„ laſſen.“ Nun komt auf den geſezten Tag eine 
Menge Menſchen zuſammen, welche die Neugierde 
deſtomehr herbeilokt, jemehr ich ſelbſt die Kunſt 
verſtehe, durch allerlei Ausſtreuungen, oder Ver- 
wendungen meiner Freunde, die Erwartung von 
mir in Spannung zu ſezzen. Ich trete auf und 
frappire mein Auditorium durch meine Bered— 
ſamkeit. Ehe ich die Kanzel verlaſſe, kuͤndige 

3 2 


ich an, daß ich auf den wachen ee 
einmal predigen wolle. Nun verbreitet ſich der 
Ruf meiner Talente. Das Auditorium wird 
zahlreich. Ich erklaͤre nun von der Kanzel, daß 
ich in dieſer Kirche alle Sonntage predigen wuͤr⸗ \ 
de, wenn ſich eine hinlaͤnglche Subſeription fände, 
Sofort laſſe ich einen Zettel herumgehen. Ich 
erblikke zwei, drittehalb hundert Pfund. Nun 
iſt meine Gemeine da. Ich brauche keine Vo⸗ 
kation, kein Examen, keine Ordination. Ich ha⸗ 
be kein Konſiſtorium. Ich bin Prediger, ſo lange 
mir es gefaͤlt. — So ward es William. Und 
ſo konte ichs auch werden. 


Das waren wirklich große Verſuchungen fuͤr 
mich, der ich in Deutſchland ſoviel Feinde und ſo 
wenig Unterſtuͤzzung gefunden und zu hoffen hats 
te. Und dazu kam noch die Beſchaffenheit des 
Landes und der Einwohner, welche mich auſſer⸗ 
ordentlich reizten — ſo, daß ich noch jezt kein 
anderes Land mir waͤhlen wuͤrde, wo ich mein Le⸗ 
ben beſchlieſſen moͤchte, als England — ja, daß 
ich längft ſchon es gewählt haben wuͤrde, wenn 
ich in der Welt allein waͤre und meine Kinder 


mich nicht feſelten, denen zu diebe ich das aller: 
ſchlechteſte Gegenwaͤrtige dem ſchoͤnſten Zukuͤnfti⸗ 
gen und erſt zu Suchenden vorziehen muß. 


Vierzigſtes Kapitel. 


Fortſezzung. 


De Nation iſt in meinen Augen, unter denen, 
die ich kenne, die volkommenſte. Man muß nur 
unter Nation den Mittelſtand ſich denken. Denn 

der Bürger, der Kaufmann und allenfals dee 
Gelehrte machen eigentlich die Nation aus. Und 
aus dieſen Klaſſen muß man allein den National- 
karakter abſtrahiren. Die Nobleſſe in England 
iſt freilich das verdorbenſte Ding. Da herſcht 
franzoͤſiſcher Luxus, franzoͤſiſche Intrige, franzoͤ— 
ſiſches Laſter. Aber die rechnet man in England 
ſelbſt nicht zur Nation 


33 


\ 


Der nationelle Karakter des Engländers ff 
vortreflich. Seine Grundlage iſt Gefühl für Freien 
heit und Tugend. Der wahre (nicht ausgeartete) 
Englaͤnder iſt edel, treu, und durchaus unfaͤhig, 
eine ſchlechte Handlung zu begehen, welche die 
Geſezze der Billigkeit kranken, oder ihn bei gut⸗ 
denkenden Menſchen veraͤchtlich machen, oder die 
Freiheit beeinträchtigen koͤnte. Er ift als Freund 
feſt, unbewegbar, großmuͤthig. Wenn man in 
feine Bekantſchaft komt, iſt er kalt, gleichguͤltig 
und verſchloſſen. Er beobachtet den Fremden erſt 
mehrere Wochen. Aber hat man einmal ſein 
Vertrauen gewonnen, hat er einmal geſagt, ich 
bin dein Freund, dann wird er traulich, bieder, 
und — man kan ſicher auf ſeine thaͤtigſte Freund⸗ 
ſchaft rechnen. In feinem Umgange ift er natuͤr⸗ 
lich. Er iſt ein Feind von Steifheit, Pedanterei 
und lehrem Ceremoniel, 


Die Haupttugend des Englaͤnders in Abſicht 
auf Lebensart iſt Frugalitaͤt. Ich habe in den 
reichſten Haͤuſern keine Spur von unſerm deut⸗ 
ſchen Luxus und grosthuigten Weſen gefunden. 
Man ſchaͤzte den Herrn Xaſch für einen Mann 


— | | 359 


von 300000 Pfund und ich fand nie mehr, als 
eine Schuͤſſel Fiſch und einen Braten, nebſt einem 
ſchoͤnen Deſert und einem guten Portwein: — 
am Ende der Mahlzeit allenfals noch eine Flaſche 
Old = ook *) d. h. alten Rheinwein. Und al⸗ 
ler Wein ward aus kleinen Glaͤſern getrunken. 

= 


So frugal fand ich es uͤberal, ſelbſt wenn 
ſechszehn bis zwanzig Perſonen beiſammen waren 
und es ein Traktement hieß. Hoͤchſtens war eine 
Schuͤſſel mehr da. Der Wein kam nicht einmal 
auf den Tiſch. Jeder foderte ſich, wenn er Aps 
petit hatte, ein Glas von dem Bedienten. Und 
ich fand die ſonderbare Sitte dabei, daß man erſt 
eine Dame zum Mittrinken auffodern mußte, ſo 
wie umgekehrt auch die Dame einen Herrn auf— 
rufen mußte. „Madam wollen wir ein Glas 
„Wein trinken?“ — Ja. — dann zum Bediens 
ten: Gib my two Glaſſes Wein. Und ſo tran⸗ 
ken wirs einander zu, und gaben die Glaͤſerchen 
wieder ab. Erſt nach Tiſche kam der Wein auf 
den Tiſch. Das heiſt, wenn die warmen Speiſen 

34 


) In England iR das Vorurtheil für den Hochheimer. 
Daher nennt man jeden alten Rheinwein Oldhook. 


‚vorüber waren, wurde das weiſſe r Sücetuch a „ | 
nommen, und auf den entbloͤßten Mahamitifh } 
etwas Gebaknes und Obſt anfgeftelt. Da ſtelte 
der Bediente, vor dem Wirth, zwei bis drei Bu⸗ ö 
teljen mit verſcdiedenen Weinen, in ledernen Uns 
terlagen. Dann ſchenkte der Wirth ſich ein, und 
ſchob die drei Buteljen dem Nachbar zu, fo daß 
fie ihren Umgang hielten und jeder ſich einſchen? 

ken konte, wenn er wolte. War nun die Geſel⸗ 
ſchaft ein wenig ſtark, ſo kamen die Flaſchen ſel⸗ 
ten genug herum, und man ward zur Mäſſigkeit 
gendthi gt. 


Eben ſo wenig Luxus habe ich auf Koffehzu⸗ 
ſern und andern oͤffentlichen Orten gefunden. — 
Den ordinairen Punſch konte ich gar nicht trin⸗ 
ken. Ich foderte ihn einmal und es war Thee 9 
mit Rum. Ich ſchmekte weder Zukker noch Ei⸗ 
tronen: Es war nicht hinterzubringen. — Das 4 
ſchlimſte für mich war die Exulierung des Tabaks. 
unter 300 Kaffehaͤuſern gabs nur wenige, wo 
das Tabakrauchen verſtattet war. Der Poͤbel 
raucht viel. Aber unter den gefitteten Ständen 
iſt der Tabak wenig gangbar. Häufiger kaut 
man ihn. N f | 


i 


361 


Aber den größten Reiz für mich hatte die en, 
gaiſche Freiheit. Da fuͤhlt man doch, daß man 
freigeborner Menſch if. Da bin ich Herr von 


mir ſelbſt. Da kan ich reden, ſchreiben, und thun, 
was ich will. So lange ich nicht die öffentliche 
Sicherheit ſtoͤhre und Anderer Rechte verlezze, 
bin ich von aller Obrigkeit unabhängig. Ich 


bin Herr in meinem Haufe. Ich kan ein Ge 


werbe treiben, welches ich will. Und in mei⸗ 
ner Stube darf der König mich nicht irritiren. 
Selbſt meine Schuldner koͤnnen nicht anders an 
mich kommen und mich in Verhaft bringen, als 
wenn ſie mich auſſer meinem Zimmer er tappen. 
So ſicher, ſo frei, ſo fern von Deſpotismus und 


Wilkuͤhr der Richter lebt man nirgends. Und 


was ich erwerbe, iſt mein, und keine weltliche 


Macht hat uͤber mein Gut und meine Perſon zu 


gebieten. a 


Viel Kampf bei dem Gedanken an meine 
Ruͤkkehr nach Deutſchland, koſteten mich auch 
meine Maureriſchen Verbindungen. Ich war an 
Herrn Heſſeltein empfolen. Da ich die Briefe 

3:5 


362 | — 


des Prinzen abgab, las er fie mit Laͤcheln. „Der 
„ Prinz hat große Projekte. Ja, ja, wenn die 
„Millionen fo leicht zu erlangen waren, wie man 
„fie ausſpricht.“ — Er las weiter — „Ei ei, 
„das find windigte Sachen! — Luftſchloͤſſer! — 
„Nun der Prinz meinets recht gut.“ — Nach 

Beendigung der Lektuͤre ſagte er mir: „Sie find 
„ ſehr empfolen. Ich glaube, daß es keinen An⸗ 
„ ſtand haben wird, Ihre Wünfche zu erfuͤlen.“ 
— Nach einigen Tagen wurde ich zur großen 
Loge geladen und in Gegenwart der beiden Herren 
Sorfter, des Baters und Sohnes, welche mir 
alles dolmetſchten, was geſprochen wurde, recipirt. 
Es waren mehrere Novizen dabei. Mir gab man 
in einem Abende drei Grade: und ich erhielt 
ein Certifikat über den Meiſtergrad. — Man bes 
handelte mich Aufferft grosmuͤthig. Die ganze 
Geſchichte koſtete mich, wo ich nicht irre, fünf, 
hoͤchſtens ſechs Guineen. 


Wer Maurer ift, wird begreifen, daß ich 
mich durch die Reception wenig befriedigt fand. 
Denn was ich da geſehn, gehört und gelernt 
hatte, war nicht fuͤr den Geiſt. Es war allein 


für die Phantaſie. Es gab mir kein icht, keine 
Weisheit, keinen Zuwachs meiner Kentniffe, 


Ich ſuchte Bekantſchaften, und war fo glüfs 
lich, fie fo zu finden, wie ich fie wuͤnſchte. Ich 
gerieth in die Hände eines Bruders, der mir reis 
nen Wein einſchenkte. Ich lernte Grimaſſe von 
Realität uuterſcheiden. Ich wohnte auſſer London 
einer Bruͤderverſamlung bei, die mich entzuͤkte. 
Ich ward uͤber Geſchichte, über wahre und ers 
dichtete Zwekke des Ordens, über Mis braͤuche und 
Ausartungen deſſelben belehrt. Ich wurde vor 
Betrug und Windbeutelei gewarnt. Ich lernte 
den Orden lieben und nuzzen. Das war es, wor— 
nach ich geſtrebt hatte. Das allein machte mirs 
der Mühe werth, in England geweſen zu fern 
und für dieſe Reife fo viel erduldet zu haben. 
Und dieſe Maureriſchen Verbindungen, die ich 
jezt hatte, erfülten mich mit der lebhafteſten 
Sehnſucht, mein ganzes Leben in England izu⸗ 
bringen zu Fönnen, 


Aber meine thoͤrichten Einbildungen von der 
ſchon entſchiedenen Bluͤthe und Groͤße meines 


in Philanthropins been de N 3 
Uebergewicht. Ich ſahe den reichen Gewinn 1 
den ich von dieſem Inſtitut zu beziehen hofte, 1 


fuͤr das Gewiſſe an, das ich gegen das unge⸗ 
wiſſe nicht vertauſchen muͤßte. | 


Ein und vierzigſtes Kapitel. 


Der Reſt meiner Walfarth in England. 


% 


Jo wurde noch zulezt mit einem Manne be⸗ 
kant, der ſelbſt in deutſchen Zeitungen zu ſeiner 
Zeit Aufſehen gemacht hat. Es war der be⸗ 
ruͤhmte D. wachſel, welchen ſeine eigne Gemei⸗ 
ne nicht mehr dulden wolte, ob ſie ſchon hernach 
durch einen Ausſpruch des Parlements gezwun⸗ 
gen wurde, ihm ihren Kontrakt zu halten, durch 
welchen ſie ihn einmal zum Prediger engen 
men hatte, 


Di.ieſer Menſch war ein Original von Stolz, 
Unwiſſenheit und Impertinenz. Er hatte eine 
ſchrekliche Einbildung von ſich ſelbſt, und hielt 
alles für auſſerordentlich, was er that und ver⸗ 
mochte. Seine abſcheuliche Stimme hielt er fuͤr 
die ſchoͤnſte, die gehoͤrt werden konte. Seine 
Predigten waren ein Muſter der Kanzelberebſam⸗ 
keit. Seine Kirchenmuſik verdiente in ſeinen 
S Augen von allen Tonkuͤnſtlern Italiens beſucht 
zu werden. Sein Gottesdienſt duͤnkte ihm der 
feierlichſte, ruͤhrendſte, und erhabendſte zu ſeyn. 
Und wer ihn in dieſer Meinung von ſich ſelbſt 
durch Worte und Handlungen die Gegenpart 
hielt, dem begegnete er mit der furidſeſten 
Grobheit. j 

Unaufhoͤrlich hatte der Menſch neue Pro: 
jekte im Sinne. Bald erfand er eine nene Art 


Liturgie. Bald hekte er eine neue Methode von 


Kirchenmuſik aus. Bald fiel es ihm ein, feine 
meiſterhafte Predigt, die er Irüh deutſch gehal⸗ 
ten hatte, nachmittags in engliſcher Sprache ab⸗ 
zulegen. Und er ladete allemal bei ſolchen Ein⸗ 
Fällen in öffentlichen Blättern das Publikum ein. 


ee 


366 er e 1 ä — N . 


0 


Das Publikum kam auch. Denn man kane 1 
te den Narren und wußte, daß mit ihm Komoͤ s 
die zu ſpielen war. Wenn er ſo etwas neues 
ankuͤndigte, war ſeine Kirche gedraͤngt voll und 
es ward darin nicht nur gelacht, ſondern auch ſo 
gar die plumpeſte Unzucht getrieben. | 


Erl invitirte mich ſelbſt, bewirthete mich koͤſts 
lich und trug mir eine Predigt an. Ich hielte ſie 
vor einer groſſen Menge Zuhoͤrer, und wurde 
gebeten, vierzehn Tage nachher mich noch einmal 1 
hoͤren zu laffen; 939 


Uebrigens koſtete mich mein philanthropini⸗ 
ſches Werbungsgeſchaͤft, ob ich gleich nur vier 
Zoͤglinge in London zuſammenbrachte, fo viel 
Zeit, daß ich wenig in England ſehen und genieſ⸗ 
ſen konte. Ich war zwei Monat in London und 
habe weder St. James, noch die Themſe, noch 
Vauxhall, noch des etwas in Wat ge⸗ 
nommen. 


Nach Wolwitſch reiſete ich, um ein Kriegs, 
ſchif zu ſehen. Ein Freund führte mich bei dem 
Kapitain Schmitt ein, welcher dort Direktor der 


. aa, 
rs oa se 357 
Militairſchuble war. Da wurde ich auf das 
Kriegsſchif Juſtitia von zo Kanonen geführt 
und genoß das Vergnuͤgen, eine ſolche ungeheure 
Maſchine in allen ihren Etogen und Abtheilun⸗ 
gen zu beſehen. — Bei Tiſche erfuhr ich eine 
ſonderbare Wirkung des Porten -Aals. Ich 
war den ganzen Vormittag gegangen und hung— 
tig und durſtig geworden. Daher foderte ich 
zeitig zu trinken und da ich gefragt wurde, ob 
ich Appetit hätte, ein Glas recht altes Porten— 
Aal zu trinken? (Man hat dies Bier, wie den 
Rheinwein, zwölf und ſechszehnjaͤhrig.) Ich nahme 
an, trank zwei Spizglaͤſer haſtig aus und ward 
ſo trunken, daß ich eine ziemliche Zeit brauchte, 
meine ganze Beſonnenheit wieder zu bekommen. 


Eine engliſche Univerfität zu ſehn, hatte ich 
gar kein Verlangen. Ich kante die elenden Klo— 
ſterſchulen ſchon. Es ſind nicht viel wichtigere In⸗ 
ſtitute als unſere Gymnaſien. Latein, Griechiſch 
und Mathematik ſind faſt die Herrlichkeiten alle, 
die da getrieben werden. Und den dikken und 
wohlgemaͤſteten Rennikot in Augenſchein zu neha 
men, welcher durch ſchlecht bezahlte Leute ſeine 


kritiſche Sbbelausgabe ſich PER 1 Ex 
und, ohne Geift und Talent und Bene n 
beſizzen und angewendet zu haben, Geld und 4 
Ruhm allein ſchmaußte, darnach luͤſterte mich 
vollends gar nicht. Solche fette und hochpo⸗ 
ſaunte Schafskoͤpfe haben wir in Deutſchland ja 
genug — an Höfen und in Fakultaͤten. Warum 
ſolte ich erſt Geld ausgeben, um nach OGxfort zu : 
reifen? — Weit mehr intereſſire und vergnuͤgte ; 
mich Brimmingham, wo ich die herrlichen Fa- 
briken beſah, in denen faſt lauter Deutſche find, 
deren Talent und Fleiß den engliſchen Waaren 
Ruf und Abgang verſchaft. ö 
ö ! 
In London war ich, durch mein betriebfas 
mes Umherlaufen fuͤr den Zwek meiner Reiſe, 
ſo bekannt, daß ich in die entfernteſten Gegen- 
den dieſer Stadt in der Mitternacht mich allein 
finden konte. London hat doch in ſeinem laͤng⸗ 
ſten Durchſchnitt bei fuͤnf engliſche Meilen. Und 
ich war gleichwohl in den erſten vierzehn Tagen 
ſchon fo weit, durch Huͤlfe einer Karte, die ich 
ſtudierte, daß ich allenthalben ohne Führer wan⸗ 


derte. | 
Die 


Die Komoedie in Koventgarten habe ich nur 
ceinmal beſucht, weil ich der engliſchen Sprache 

nicht mächtig genug war. Aber ich muß ge 
ſtehen, daß ich die Akteurs, im ganzen genommen, 
weit volkomner gefunden habe, als in Deutſch⸗ 
land. Ich hoͤrte Stellen deklamiren und ſahe 
Pantomimen, die mir auf keinem deutſchen The⸗ 
ater ſo meiſterhaft vorgekommen waren. — Es 
war die Skol of Skandals. 


In Tyburn habe ich auch einmal hängen 
ſehen. Das iſt wirklich eine Methode der Hin⸗ 
richtung, dabei auch der weichmuͤthigſte Menſch 
Faſſung behält. Der Delinquent ſaß im Wagen 
ſo ruhig, als wenn es gar nicht nach dem Richt⸗ 
plazze gienge. Seine Verwandten begleiteten ihn 
ohne Thraͤnen. In allen Geſichtern ſahe mans, 
daß gehaͤngt werden hier keine Schande iſt, ſon⸗ 
dern als ein Zufall betrachtet wird, der nicht viel 
mehr ſagen wil, als wenn einer in eine Pfuͤzze 
fält. Der Delinquent nimmt von feinen Freun⸗ 
den Abſchied. Dieſe umarmen ihn, wie werm 
er verreiſen wolte. Er ſteigt ganz ernſthaft hin⸗ 
auf auf den Wagen. Der Henker folgt ihm, 

Ill. B. A a 


. 
ce 


‚370 BR ee 


bindet ihm den Strik um den Hals, und fteigt 
herab. Die Verwandten rufen noch ein Vale 
hinauf. Der Wagen faͤhrt unter dem Gehenkten 
weg. Seine Freunde ziehen ihn an den Beinen, \ 
damit der Strik ſcharf anſchleifen muß, und de 
Gehenkte ſich nicht lange mit dem Sterben in⸗ 
kommodiren darf. Und ſo geht alles ganz ge⸗ 
laſſen wieder nach Haufe, und die Geſchichte if 
vergeſſen. 8 


Es war das Ende des Februars 1778, wo 
ich endlich Anſtalt zu meiner Abreiſe machte. Ich 
kaſſirte die halbjaͤhrigen Vorauszahlungen der 
Penſion von meinen vier Zoͤglingen, nebſt den 
Reiſegeldern ein. Ich kontrahirte mit einem 
Bedienten, welcher engliſch und deutſch konte, 
der auf ein Jahr ſich bei mir engagirte. Ich 
brachte meine Neiſeequipage in Ordnung, die 
nun eine ganz honorable Geſtalt hatte, gegen 
die, mit welcher 52 ee war. | 


Wir giengen mit zwei dreiſigzigen e 
poſtkutſchen von London auf Harritſch. Das 
war doch ein Fuhrwerk, wo das Reiſen zum 


5 — 371 


Vergnuͤgen wird. Wenn man die deutſchen 
Karreten beſteigt, die auf den Poſtſtationen den 
Paſſagiren gegeben werden, da meint man auf 


allen Schritten liegen zu bleiben, wird von allen 


vier Winden durchweht, und im ganzen Leibe 
zerſtaucht. Hier fahe ich zweiſizzige Glaßwagen, 
mit einem kleinen Ruͤkſiz, die in Stahlfedern 
hiengen, ſo lakkirt und bekleidet, wie man ſie 
zur Noth in Deutſchland, als Staats- Equi⸗ 
pagen gebrauchen koͤnte. 


Von Harritſch gieng ich mit einem Schiffe 
gerade auf Amſterdam. Wir brachten nicht 
mehr als 23 Stunden diesmal zu. Ich ward 
abermals ſeekrank, ſo wie alle meine Zoͤglinge 
bis auf den kleinſten. Dies war ein Knabe von 
eilf Jahren und ein uͤberaus zartes und ſchwaͤch⸗ 
liches Kind. Die andern waren Rieſen gegen 
ihn. Und gerade die ſtarken und gefunden er⸗ 
lagen und dieſes Kind blieb munter, und lief 
bald in der Kajuͤte, bald auf dem Verdek her⸗ 
um, und ergoͤzte die Schifleute mit den Aeufes 
rungen des engliſchen Nationalgeiſtes. Er trat 
immer an die Kanonen und wuͤnſchte, daß ein 

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Amerikaner uns aufſtoſſen ace, wee 
ſchieſſen konten. — Doch war meine“ Krankheit 3 
diesmal weit erträglicher. Ich konte meiſt auſſer ; 
dem Bette ſeyn, und meine kranken Zöglinge 8 4 
verpflegen helfen. Und in den lezten ſechs Stun⸗ 
den vermochte ich Speiſen zu genieſſen. Ohnfehl⸗ a 
bar waͤre ich das Seereiſen gewohnt worden 1 
und bei fernern Schiffürehen von hi STAR: 
frei geblieben. 5 


In Amſterdam blieben wit nüt "Ole au, 7 
und ich genoß ſehr viel Vergnuͤgen bei der Vers 
einigung meiner engliſchen und holländischen Re⸗ 
kruten. Ueberal hoͤrte ich, daß man Muth zu 
meinem Philanthropin bekam, da ich ſelbſt in 
„England Vertrauen gefunden hatte. Und ich 
erhielt aus verſchiednen Hänfern Verſicherung, 
daß in kurzem mehrere Kinder nachfolgen ſolten. 
Meine Freunde wuͤnſchten mir SHE und ich 
fuͤhlte mich ganz im Beſiz meines ertraumten 
Wolſtandes, den ich mir durch ſo viel Strapa⸗ 
zen und Gefahren errungen hatte. h 


R — 373 


* 


23oei und vierzigſtes Kapitel. 


Triumph und — Einſturz 


des ganzen Gebäudes ertraͤumter Gtöffeligkeit, 


E. waren mit die ſeligſten Tage meines Lebens, 
welche ich auf meiner Heimreiſe verlebte. An 
allen Orten, wo ich vor vier Monaten noch in 
der Geſtalt des armen Mannes erſchienen war 
und mich ſehnſuchtsvol nach der wolthaͤtigen 
Hand eines Menſchenfreundes umgeſehen hatte, 
zog ich jezt wie im Triumphe ein. Ich hatte 
von London und Amſterdam aus alle meine 
Freunde von meiner Ankunft benachrichtiget. 
Man war gefaßt, mich zu empfangen. Gluͤk⸗ 
wuͤnſchungen ſtroͤhmten von allen Seiten mir 
entgegen. 


In allen Städten, wo ich durchreiſte und an⸗ 
hielt, (ich fuhr von Amſterdam mit zwei Kutſchen 
ab, und von Crefeld hatte ich drei Wagen vol) 
wurde ich von einer Menge Menſchen umringt, 

A a 2 f 


7 5 n 
Wo ich in einem Gaſthofe ſpeiſte oder Abe 
nachtete, war ein Zulauf, wie wenn ein Mann 
mit auslaͤndiſchen Thieren ſich da aufhielte. Es | 
war überal eine ungewohnte Erſcheinung, eine 
ſolche Menge Kinder bei einem Vater zu ſehen. 
Und an einigen Orten gab ich ſie wirklich, zum 
Scherz, alle für meine Kinder aus, und ergoͤzte 
mich an dem Erftaunen des Poͤbels. Ich haͤtte 
koͤnnen Geld damit verdienen, wenn ich den Va⸗ 
ter mit dreizehen Soͤhnen fuͤr einen Hane 
Preis haͤtte ſehen laſſen wollen. 


In Cleve wurden wir bei dem Herrn 5 
Bachmann herrlich bewirthet uud mit zwei Re⸗ 
kruten verſtaͤrket. In Crefeld kamen noch zwei da⸗ 
zu: und Herr De Greif feierte meine gluͤkliche 
Zuruͤkkunft. Ueberal war Freude uͤber Freude, 
und meine Herz vergaß alle vorige Leiden und 
entgluͤhte vom Danke gegen die Vorſicht, die ſo 
die Zeit der Truͤbſal geendigt und fo glängenbe, 
Aus ſichten mir eroͤfnet hatte. 


Alle, die mein Unternehmen als Thorheit 
und Wahnwiz verſchrieen hatten, ſchaͤmten ſich 
jezt. Der D. Bahrdt, hieß es, hat doch einen 


— 0.35 


erſchreklichen Treffer. Wer haͤtte ſichs traͤumen 
laſſen, daß es ihm gluͤken wuͤrde. Nun iſt er 


freilich geborgen und kan die Pfaͤlzer entbehren. 


— — Leute, die mich auf der Hinreiſe nicht ans 
geſehen hatten, wuͤrdigten mich jezt ihrer Freund— 
ſchaftsverſichrungen. — Das iſt der Welt Lauf! 


Nachdem wir ohne allen Anſtoß an dem Rhei⸗ 
ne heraufgefahren waren, hielt ich einen Raſttag, 
um die lezte Nacht, welche ich haͤtte in Maynz zu⸗ 


bringen muͤſſen, ohne die Kinder zu ſehr anzugrei⸗ 


fen, der Reiſe zu widmen, und auf dieſe Art in 


Maynz alles Aufſehn zu vermeiden. Ich richtete es 


ſo ein, daß wir um Mitternacht nach Maynz kamen 
| und, ohne auszufteigen, friſche Poſtpferde nahmen 
und in aller Fruͤhe in Oppenheim eintrafen, wo 
wir das lezte Frühftüf einnehmen wolten. 


Ich hatte mein liebes Weib davon benach— 
richtiget, und dieſe war mir deshalb von Hei: 
desheim bis Bechtheim entgegen gekommen und 
hatte eine Mittagsmahlzeit daſelbſt veranſtaltet. 


Aber eben in Oppenheim — wo meine 
ganze Seele von ſtiller Freude uͤberſtroͤhmt wur⸗ 
Aa 4 


2 


„ 
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8 1 u . - I; v. — 
N — mer f 5 np 
376 Pr Ba 


de, welche mir der Gedanke an mein Weib, an N 
meine Kinder, an mein Inſtitut und — an die 
gluͤkliche Zukunft ſchuf — eben in Oppenheim 
— es laͤuft mir noch ein kalter Schauer uͤber 1 
meinen Leib, wenn ichs denke — fand ich das 
Ende meiner Freuden. Meine Zoͤglinge huͤpften 
froͤhlich um ihr Fruͤhſtuͤk herum und jubelten 
dem ſchoͤnen Heidesheim entgegen, als ich, recht 
inniglich vergnuͤgt, in der Stube auf und abging 
und von ohngefaͤhr das Frankfurther Biſtretto 
auf einem Tiſche erblikte und — las: ö 


Am . . . dieſes Monats iſt gegen den 
D. Bahrdt — ein Kaiſerl. Reichshof⸗ 
raths Concluſum ergangen, durch wel⸗ 0 
ches derſelbe von allen feinen Aemtern 1 
ſuſpendirt und — 


Hier ſank meine Hand und mir ward, als wenn 
ein Blizſtrahl mich getroffen haͤtte. 


Man denke ſich den Zuſtand meiner Seele. 
Zu beſchreiben iſt er nicht. — Das war das 
erſte, was mein Weib, mein Inſtitut, meine Ge 
meine, mein Fuͤrſt erfuhr. — Welch ein Schlag 


Noch ſieben Stunden von Heidesheim, mit ei⸗ 
nem Sakke vol Geld, mit dreizehn neuen und 
zum Theil doppelt zahlenden Zoͤglingen, mitten 
im Jubel und ſeligen Aafblik in eine Freuden⸗ 
volle Zukunft — war ich ſchon wieder elend und 
arm und — ein Gegenſtand des Mitleids. 


Ich ſah nun ſchon im Geiſte alles zu Truͤm⸗ 
mern ſtuͤrzen, was ich for muͤhſam aufgebaut 
hatte. Ich ſahe mein Weib weinen, meine Zoͤg⸗ 
linge trauern. Ich ſahe den Ruͤhl wie Satan 
grinzen und meine Feinde triumphiren. Und 
über. alle dieſe graͤßlichen Gegenſtaͤnde hinaus 
ſahe ich ungluͤkliche Schikſale in eine ſchreklich 
finſtere Zukunft gehält. 8 


In meiner Seele waren nun alle Freuden 
auf einmal erſtorben aber — in meinem Aeu— 
ſerlichen mußte Lavater ſelbſt keine Veraͤnderung 
leſen. Mein Geſicht erblaßte nicht. Meine Fuͤſ⸗ 
ſe wankten nicht. Ich ſpannte alle meine 
Kraft an, meine ruhige Mine und Stellung zu 
behaupten, um meine muntern Zoͤglinge nicht 
niederzuſchlagen. Ich ſtieg mit meinen Kindern 

A a 5 


378 —— 


om 


wieder ein, wie ich ausgeſtiegen war. Aber 
Anſtrengung koſtete michs, unveraͤndert zu er | 


feinen 


Meine Freunde, die in Bechtheim mich ers 


warteten, hatten ſchon den Tag vorher die traus 
rige Zeitungsnachricht geleſen und es koſtete 
mich unendliche Muͤhe, in der Geſchwindigkeit 
ihre Thraͤnen zu ſtillen und meinen Zoͤglingen 
wenigſtens trokne Geſichter vorzuſtellen. Es war 
eine traurige Mahlzeit. Wir hatten uns alle 
ſo viel zu ſagen, und wir muſten doch um der 
Kinder willen, alle unſere Seufzer unterdruͤkken, 


und den vollen Herzen die lindernde Ergieſſung 


verſagen. 


Ich hielt mich. — Mit der Mine des Tri⸗ 
umphirenden zog ich in Heidesheim ein und 
ſtelte mich, gegen alle meine Lehrer und Freun⸗ 
de, die mir mit ihren Klagen entgegen kamen, 
als ob ich das Konkluſum des Reichshofraths 
als Spiegelgefecht verlachte und den gluͤklichſten 


Zeiten entgegen ſaͤhe. Tief in meiner Seele ver⸗ 
wundet, preßte ich alle Trauerbilder ins Ideen⸗ 


7 


| — — 1 379 
Dunkel hinab und ſezte mich in volle Thaͤtigkeit 

für mein neugebornes Inſtitut. Ich beſorgte die 
CEinquartirug meiner Rekruten und war unaufs 
hoͤrlich bemuͤht, alles zu veranſtalten, was dieſe 
Ankoͤmlinge vergnuͤgt machen konte. 


Da den erſten Tag alles zu Bette war, 

ließ ich erſt mein Weib und meine vertraulich: 

| ſten Lehrer auf mein Zimmer zuſammenkommen, 

um bis Mitternacht mein Herz auszuſchuͤtten, 

und auch dem ihrigen Luft zu machen, Und ach 

— wie floſſen da die Thraͤnen, die wir nicht 
mehr zu verbergen noͤthig hatten! 


Mein armes Weib gab mir jezt, mit Ein⸗ 
ſtimmung der redlichen Maͤnner, die dem Nacht⸗ 
konſeil beiwohnten, die weitlaͤuftigern Berichte, 
von den Unordnungen, Vedruͤkungen, Zerſtoͤrun— 

gen, die fie in meiner Abweſenheit hatte erleben 
muͤſſen, und davon ſie in ihren wenigen Briefen 
nach England mir nur einzelne Winke hatte er— 
theilen koͤnnen. 


Ich wil meine Leſer mit dieſer lamentablen 
Geſchichte nicht aufhalten. Die oͤkonomiſche 


Geſelſchaft hatte das arme Weib ſchr wii uns x 


terſtuͤzt. Sie hatte mit Sorgen, Mangel, bite 


tern und unverſchuldeten Vorwürfen und taͤgli⸗ 
chen Verdruͤßlichkeiten kaͤmpfen muͤſſen, und nur 
wenig treue Freunde im Schloſſe waren ihr uͤbrig 


geblieben, deren ohnmaͤchtige Huͤlfe fie nur ges 
tröſtet, ſelten aber etwas entſchieden hatte. Un⸗ 


ter den Lehrern war wieder ein foͤrmliches Kom⸗ 


plot angeſponnen worden, an deſſen Spizze der 
elende Thomſon ſtand. Und nur die Uneinig⸗ 
keit, die unter den Verſchwornen ſelbſt ſich ein⸗ 
gef chen hatte, war Urſache geweſen, daß es 
nicht zum Sturz des ganzen Inſtituts bereits 
ausgebrochen war. 


Mein Muth war dahin und die Kraft mei⸗ 
nes Geiſtes fanf mit jedem Tage mehr. Ich 


mußte fie völlig uͤberſpannen, um nur noch Aus 


ſerlich der Mann zu ſcheinen, der ich geweſen 
war. 


Chomſon wurde gleich des folgenden Ta⸗ 
ges verabſchiedet, und noch zwei andere mußten 
in kurzem ihm folgen. Ich richtete die Maſchie⸗ 


7 
1 x 


* — 2587 
ne ſo gut ein, wie ich konte, und war immer 
zufrieden, wenn ich meine Zöglinge, beſonders 
die neuern, nur bei gutem Muthe ſahe. Dies 
gelang mir auch vorzuͤglich dadurch, daß ich ei⸗ 
nen neuen Lehrer bekam, der engliſch dociren 
konte und — daß jezt eine Menge Fremde aus 
der Nachbarſchaft ſich einfanden, (die neuen An⸗ 
koͤmlinge zu ſehn) und das geſelſchaftliche Leben, 
das in meiner Abweſenheit entſchlafen war, wie— 
der auffriſchten. 

Indeſſen ſahe mein Philanthropin (wenig⸗ 
ſtens in den Augen des geuͤbten Beobachters) 
doch ſchon einem Greiſe gleich, der nur noch 
munter thut, aber im Stillen ſich fuͤhlt, daß es 
mit ihm zum Ende geht. Alles, was im Schloſ— 
ſe noch der Heiterkeit und Betriebſamkeit glich, 
war nichts als Rolle. Die Zoͤglinge fingen 
ſelbſt an, es zu merken. 


382 i > 3 0 15 ö 
Drei und biene Sante. n g 


Meine Vertreibung aus dem beugen Sehe, 30 
2 


Jo war nicht vier 0 im IRRE als 
ſchon Briefe aus Holland und England anka⸗ 
kamen, welche die Kinder reklamirten. Meine 
Feinde hatten treufleißig dafuͤr geſorgt. Sie 
hatten theils an die Eltern ſelbſt, theils an an⸗ 
dere Bekante die Zeitungsblaͤtter verſendet, in 
welchen meine Suſpenſion angekuͤndiget wurde. 
Sie hatten dabei nicht ermangelt, mich als ei⸗ 
nen Menſchen ohne Religion und Sitten zu 
ſchildern. Sie hatten auch wohl obendrein die 
ſchrekliche Drohung hinzugefuͤgt, daß ich in 
kurzem mit Kindern und ee ee 
wuͤrde. 0 

Einige durch dieſe Nachrichten erſchrekten 
Eltern kamen ſelbſt, andre ſchikten an Frankfur⸗ 
ther Handelshaͤuſer Volmacht, die Kinder abzu⸗ 
fodern. Nun ward das Inſtitut zu Grabe ge⸗ 
tragen. | 


— 383 


Was aus mir ſelbſt werden ſolte, wußt ich 
noch nicht. Vor meinen Augen war Finſterniß. 
| Ich verwochte nicht, etwas zu beſchlieſſen. Ich 
war im Zuſtande der Betaͤubung. Zwar arbei⸗ 
tete ich fort, that taͤglich meine Gefhäfte, wie 
ich ſie beſtaͤndig gethan hatte, und ward in kei⸗ 
nem Augenblike fo niedergeſchlagen, daß ich eine 
Thrane dergoſſen oder eine uͤbermaͤſſige Aengſt⸗ 
lichkeit empfunden hätte, Ja, ich konte ſogar 
noch in froͤhlichen Geſelſchaften heiter und lebhaft 
ſeyn. Aber zu fiharfem Nachdenken und fortge⸗ 
ſezten Ueberlegungen war ich ganz unfaͤhig. Kalt 
und ruhig erwartete ich, was Gott mit mir ma: 
chen wuͤrde. Furcht vor großer und dauernder 
Noth hatte ich gar nicht. Denn ich verließ 
mich auf meine Kraft. Ein unbeſtimtes: „es 
wird ſich ſchon geben!“ war die Stuͤzze meiner 
Gelaſſenheit. 


Meine Suſpenſion verurſachte viel Redens 
in Deutſchland, aber die algemeine Traͤgheit der 
Menſchen machte, daß ſich niemand meiner ans 
nahm. Das Intereſſe lag zu entfernt. Der Ge— 
danke, daß das Eingrif in die Rechte der deut⸗ 


u 
ſchen Fürſten fi, wenn der 680 vo 


Diener eines Reichsfuͤrſten, um Aae 5 4 


Meinungen willen, de facto abſezte, und daß 
dies, einmal geduldet, mehrmalen geſchehen koͤn⸗ 
te, lag zu weit im Reiche der Moͤglichkeiten, als 


daß Schriftſteller und Fuͤrſten davon Hätten ers 
waͤrmt werden koͤnnen. Und die Menſchen ſind 


gemeinhin, auch bei den erſchuͤtterndſten Fällen, 
ganz eifrige Zuſchauer und Beſprecher der Sa⸗ 
che, aber in Thätigfeit find fie nicht anders 
zu ſezzen, als bis fie perſoͤnlich, durch gewiſ⸗ 
ſen und nahen Vortheil oder Schaden, en 
werden. 


Meinem Fuͤrſten oder damals Grafen v. 
Leiningen war dieſer Unfall aͤuſerſt empfindlich: 


aber er hatte ſelbſt ein paar delikate Proceſſe, 


die beim Reichshofrathe anhaͤngig waren, und 
bei denen er favorem judicis ſich, durch eine et⸗ 


was ernſte Verwendung fuͤr ſeinen Superinten⸗ 


denten, nicht gern verſcherzen wolte. Und Herr 


Ruͤhl haͤtte es auch ſchon aus Feindſchaft gegen 
mich zu einer ſolchen Verwendung nicht kom⸗ 


men laſſen. Er ſchlug alſo blos den Weg des 
. 8 Sup⸗ 


\ 


Ar u; - 4 4 
a FR, 5 1 a 9 
x . 0 

* * 
. . . 2 . - 
et — 385 


erte ein, und bat bei kaiſerlicher Ma⸗ 
jüeſtaͤt um meine ape 

Mack 511900 271 

Auch meine e wandte ſich in einer 
„alleruntecthänigiten Vorſtellung an das Reiche: 
oberhaupt, und ſtelte in einer ſehr gut abgefaß⸗ 
ten Schrift vor, daß ſie bisher in meinem xehe⸗ 
amte keinen Anſtoß gefunden, und mit meiner 
Lehre volkommen zufrieden ſey, und bat daher, 
daß man ihr ihren Superintendenten laſſen 
moͤchte. Aber auf beide Suppliken folgte nichts. 


Ich kam ſelbſt beim Reichshofrath ein 
(durch den Agent v. Fiſcher) und bat um Kom— 
munikation der Klage und Erlaubniß, mich da⸗ 
gegen verantworten zu duͤrfen: aber ich erhielt 
keine Antwort, obgleich hernach der Herr v. Fi 
ſcher fuͤr ſeine Agentſchaftsarbeiten 42 Gulden 
liquidirte, die ich noch in Halle ſeiner Wittwe 
ausgezahlt habe. 


Im Anfang des Maimonats wurde mein 
Schikſal entſchieden. Ohne daß mein Fuͤrſt, 
meine Gemeine und ich ſelbſt gehoͤrt worden 

III. B. B b 


ER ONE F al 
war, ohne daß mir eine Defenfion geſtattet wur⸗ 
de — folglich, blos auf einſeitige Reichsſiskali | 
ſche Anklage, daß ich Saͤzze vorgetragen hätte, 
welche gegen die im Reiche herrſchende Religion 
verſtieſſen — ohne Vorhalt, ohne Geſtaͤndniß — 
ließ der Reichshofroth gegen mich ein verdam⸗ 
mendes Urtheil ergehen, in welchem ich 


aller meiner Aemter entſezt und mir auf 

gelegt wurde, entweder die mir ſchuld 
gegebnen Irthuͤmer in Punkto der Drei⸗ 
einigkeitslehre ꝛc. zu wiederrufen oder das 
deutſche Reich zu meiden. 


Zugleich erhielt mein Fuͤrſt ein Mandat, in 
welchem ihm anbefohlen wurde, mich ſogleich 
und ohne allen weitern Einwand meiner geiſt⸗ 
lichen Funktionen derluſtig zu machen und mei⸗ 
nes Dienſtes zu entlaſſen. Das war das beis 
ſpielloſe Verfahren, unter welchem ich blos da⸗ 
rum erliegen muſte, weil ich der Diener eines 
zu kleinen Fuͤrſten war, mit dem, wie ſich der 
H. v. Scheben ausgedruͤkt hatte, der Reichs⸗ 
hofrath nicht viel Umſtaͤnde macht. 


— 


D 


— 387 


„ 


Dias lächerliche bei der Sache war, daß 


5 das Reichshofraths conclufum zugleich meine fo l 


algemein fuͤr orthodox gehaltenen Predigten 
über die Perſon und das Amt Jeſu mit kon⸗ 
ſiſcirte, weil d. H. v. Scheben, zu den Benner— 
ſchen Programmen, welche gegen die Varren— 
trappiſche Samlung gerichtet waren, gerade die⸗ 
ſe Eichenbergeriſche Samlung beigelegt hatte. 
Woraus man alſo ſehn konte, daß man in Wien 
die corpora delicti gar nicht beſehen und vergli⸗ 
chen, ſondern ſich zu dem Klaͤger verlaffen und 
friſch drauf los geurtelt hatte. 

Ich hatte jezt keine Wahl mehr. Daß ich 
nicht wiederrufen wuͤrde, verſtund ſich von ſelbſt. 
Und der Reichshofrath wird auch hoffentlich 


nicht im Ernſte es gefodert haben. Denn von 


einem ehrlichen Manne im Ernſte verlangen, daß er 
feine ſubjektive Wahrheit, die ihm durch ſo vieljaͤh⸗ 
rige und gewiſſenhafte Pruͤfungen heilig und ehr⸗ 
wuͤrdig geworden war, nicht mehr fuͤr Wahrheit 
erkennen und oͤffentlich, wider ſeine Ueberzeugung 
für Irthum ausgeben ſolle, würde eben fo viel heiſ— 
ſen, als verlangen, daß er wahnwizzig werden 
V ba 


388 


us, % 


N A Kr, 2 


oder als ein 1 echte euer handeln ſolle. eso 

war alſo dieſes Reichshofraths concluſum im 
Grunde nichts anders, als eine ſeit den Zeiten, 
des paͤbſtiſchen Deſpotismus zum erſtenmale er⸗ 
neuerte Achtserklaͤrung eines ſo genanten Keys 
zers, dergeſtalt, daß mir nun nichts weiter übrig. 
blieb, als das deutſche Reich wirklich zu meiden, 
oder zu einem Reichsfuͤrſten zu flüchten, welcher fi ich 
ſolche Mandate nicht inſinuiren zu laſſen gewohnt 
war, oder — 15 welchem der Reichshofrath ts 
was mehr Umftände zu machen genoͤthiget war. 


Freilich, hätte Joſeph der zweite von dieſer 
Sache hinlaͤngliche Notiz gehabt; fo würde dies 


fer erſte aufgeklaͤrte deutſche Kaiſer, nach ſeinen 4 


Toleranzprinzipis, gewiß dieſe Schritte des 
Reichshofraths gemisbilligt, und das ganze Ver⸗ 
fahren kaſſirt haben. So aber ereignete ſich 
diefe ganze Geſchichte gerade in der Zeit des fo 


genanten Kartoffelkrieges, wo die Aufmerkſam F 


keit des Monarchen auf ſolche kleine Wee 
de nicht hingeleitet werden konte. 


Ich erhielt damals von Berlin und Halle 
Verſicherungen in Menge, daß ich in den Preuſ⸗ 


* 


—— 389 


| ſiſchen Staaten Schuz finden wuͤrde: und es 


waren auch natuͤrlich dieſe Staaten die einzigen, 
wo ich ihn finden konte. Aber viele meiner 


Freunde machten mir dieſen Ausweg dadurch 


bedenklich, daß fie mich heimliche Nachſtelungen 


der katholiſchen Parthei in der Pfalz fürchten 


hieſſen. Denn ſie hielten es fuͤr moͤglich, daß 
man den angetragnen Wiederruf erzwingen und 
mich, wenn ich mich ins Preuſſiſche retiriren wol— 


te, unterwegens aufgreifen wuͤrde. Ja einige 


machten mir gar bange, daß man mich auf der 
Rufe, wo ich uͤberal durch katholiſche Lande 
mußte, heimlich kapern und in einem Kloſter 


einmauern koͤnnte, aus dem nie meine Stimme 


zu den Ohren eines Retters dringen wuͤrde. 
Und mich duͤnkten auch dieſe Moglichkeiten, wer 
gen des bekanten Verfolgungs- und Rache⸗ 
Geiſtes des Katholicismus, ſehr reel zu ſeyn. 


Als ich mich mit der Ueberlegung quälte, 
wie ich meinen Feinden am ſicherſten entgehen 


wolte, ließ mir der Hofrath Ruͤhl ſagen, daß 


er an meinem Schikſale Theil nehme und den 
Fuͤrſten bewogen habe, mir eine menſchenfreund⸗ 
B b 3 


’ 390 m 

liche Hand zu bieten. Diefe Nachricht feste „ 
in Erſtaunen und Ruͤhrung. So haͤßlich mir 2% 
der Karakter dieſes Mannes geſchienen hatte, ſo 9 
war ich doch nach meiner leichtſinnigen Guther 
zigkeit augenbliklich geneigt, dieſes fuͤr einen Zug 
der Menſchlichkeit zu halten und mich zu uͤber⸗ 
reden, daß auch der boͤſeſte Menſch noch wohl 
durch das Ungluͤk eines andern erweicht werden 
koͤnte. Und bei dem Ruͤhl hielt ich es darum 
für deſto möglicher, weil ich wußte, daß er wirk⸗ 
lich Talente ſchaͤzte, und daß ihn bei aller Haͤr⸗ 
te des Herzens, mit welcher er das Elend der 
Unterthanen anſahe und behandelte, dennoch 
ein Mann von Werth, wenn er in tiefes un⸗ 
glüf geriethe, vielleicht rühren möchte, * 


Es war mir daher wirklich eben ſo ſchmei⸗ 
chelhaft als erfreulich, daß dieſer Mann, der 
ſo lange mein erbitterter Feind geweſen war, 
jezt ſo gar mich zu ſprechen verlangte. Er kam 
nach Heidesheim, trat auſſer dem Schloſſe im 
Wirthshauſe ab, und beſchied mich in ſein Zim⸗ 
mer zu einer geheimen Unterredung. Er that 
keine Anträge mit der Mine der Grosmuth und 


55 
55 „ 391 
der Vedaurung. Sie beſtunden in zwei Stuͤkken. 
Er erflärte mir erſtlich, daß er ſelbſt das In⸗ 
ſtitut nun, da ich nicht bleiben koͤnte, uͤberneh⸗ 
men und, nach einem eignen Plane, von dem 
er mir ein langes und breites vorlas, fortſezzen 
wolle, und verlangte daruͤber von mir eine Men⸗ 
ge Auskuͤnfte und Losſagungen, die ich ohne 
Bedenken ihm gab. Alsdann offerirte er mir 
400 Gulden aus der Chatulle des Fuͤrſten (bei 
welchem ich um Auszahlung einer halbiaͤhrigen 
Beſoldung nachgeſucht hatte) und rieth mir, 
mich im Stillen fortzumachen, um allen Nach⸗ 
ſtellungen meiner Feinde zu entgehen. Und er 
ſezte ausdruͤklich hinzu, daß der Fuͤrſt dies wuͤn⸗ 
ſche, und zum Behuf dieſer Flucht, mir dieſe 
400 Gulden gnaͤdigſt zuflieſſen laſſen wolle. Er 
ſtelte ſich dabei, als mein verſoͤhnter Freund, 
konteſtirte mir ſein Mitleid, empfahl mir die 
heiligſte Verſchwiegenheit und NB. erflärte zus 
gleich, daß er mir die 400 Gulden im Wirths⸗ 
hauſe zu Dienheim in der Stunde aus zahlen 
laſſen wuͤrde, in welcher ich daft einzutreffen 
ihn verſichern wolte. 
B b 4 


8 + . ; A 2 * 
392 . 


Je zen bh dieſe Nübüſchen Unrdge mei, 


meiner vertrauteſten rehrer, welche die einzigen 


Menſchen waren, mit denen ich in dieſem un⸗ 5 
gluͤkuch ſten Zeitpunkte meines Lebens mich bera⸗ 


then konte. Dieſe ſchuͤttelten die Koͤpfe und be⸗ 
haupteten gerade zu, das ſey nichts nders, als 


eine ausſtudirte Bosheit des Ruͤhls, der noch | 


zulezt feine Rache Fühlen wolle: es ſey zwar 
noch nicht zu ergruͤnden, was er eigentlich im 
Schilde fuͤhre, aber das ein tuͤkkiſcher Streich 


im Hinterhalte liege, waͤre theils aus feinem bes 


kanten ſchwarzen Karakter, theils aus der Art 
des Antrages klar, welcher einem unbefangenen 
und gutgemeinten Vorhaben durchaus nicht aͤhn⸗ 
lich ſaͤhe, ſondern vielmehr, durch die ſonderbare 
Foderung, daß ich ihm die Stunde anzeigen 


ſolte, wenn ich in Dienheim einzutreffen gedaͤch „ 
te, einen haͤmiſchen Anſchlag verrathe 


9850 

Dieſes Gutachten meiner Freunde machte 

mir fuͤrchterliche Unruhe. Ich war ſo arm, daß 
ich nicht zwanzig Meilen weit reiſen konte und 
hatte daher die hoͤchſte Urſache, die ange⸗ 
botne Wolthat des Fuͤrſten anzunehmen: und 


5 N * 
x”, 7 0 5 , 


Ur 
[2 


— t 


doch muſte ichs aus den angegebnen Gründen 
für möglich halten, daß mich Rühl auf eine 
ſchaͤndliche und mir ſchrekliche Art hintergehen 
koͤnte. 

Nach mehrern ſchlafloſen Nächten neigte 
ſich mein Entſchluß auf die Ruͤhliſchen Anträge, 
Ich hatte alle mir erdenkbaren Moͤglichkeiten 
durchgedacht, wie Ruͤhl an mir einen haͤmiſchen 
Streich veruͤben konte, und-hatte keine ausfuͤhr— 
bar gefunden. Gegen alle beruhigte mich haup— 
ſaͤchlich der Gedanke, daß der Fuͤrſt doch um 
die 400 Thaler wiſſen muͤſſe: (denn Ruͤhl hatte 
eine eigenhaͤndige Erkloͤrung des Fuͤrſten produ— 
eirt) und daß ſonach, Ruͤhl keinen ekletanten 
Schurkenſtreich begehen koͤnte, ohne ſich ſelbſt 
bei dem Fuͤrſten, der mir wohl wolte, und alle 
| Ungerechtigkeit verabſcheute, im hoͤchſten Grade 
ſchwarz zu machen. Und ſo folgerte ich, aus 
der Unbegreiflichkeit und anſcheinenden Unmoͤg⸗ 
lichkeit haͤmiſcher Abſichten, daß Ruhl es dies⸗ 
mal recht im Ernſte mit mir meine, und bes 
ſcloß, mich auf die Zahlung des Geldes zu 

B b 5 


verlaſſen, und in der Stille meine Flucht abe 


preuſſiſchen Staaten zu veranſtalten. 


Vier und vierzigſtes Kapitel, or 


Flucht. Gefangenſchaft. 


1 


Jo ſchrieb an den Herrn Oberkonſiſtorialrath 
Teller in Berlin, und Herrn D. Semler in. 
Halle, und machte beiden mein Vorhaben bes, 
kant, mich heimlich davon zu machen und in 
Halle meine Retirade zu ſuchen. Mit beiden 
hatte ich bisher in Korreſpondenz geſtanden. 
Beide hatten mich vielfältig verſichert, daß fie; 
meine Freunde waͤren. Und vom leztern wuſte 
ich inſonderheit, daß er in oͤffentlichen Kollegiis 
auf das ruͤhmlichſte von mir ſprach und mit 
Waͤrme ſeinen Saber meine Schriften em 
pfahl. 


4 


32 395 


“Herrn Teller ſchrieb ich am weitlauftigſten 

und traulichſten. Ich meldete ihm meine feſte 
Enuſchloſenheit, auf keine Weiſe und unter kei⸗ 
ner Bedingung meinen Ueberzeugungen untreg 
zu werden. Ich bat ihn, mir freundſchaftlich 
zu rathen, wo ich mich hinwenden ſolte, und ob 
Salle ein ſchiklicher Ort fuͤr mich ſey? Ich 
ſchikte ihm endlich mein Slaubensbekentniß 
(von welchem tauſende hinterher ſagten, daß es 
die einzige entſcheidende Urſache geweſen ſey, 
warum ich in den preuſſiſchen Staaten zu keiner 
anderweitigen Verſorgung haͤtte gelangen Fön, 
nen) und bat ihn ausdruͤklich, 


nicht blos mit Theologen ſondern auch 
und vornehmlich mit Rechtskundigen, 
welche die Reichs verfaſſung kennten und 
die Sache juriſtiſch zu beurtheilen vers 
moͤchten, ſorgfaͤltig zu uͤberlegen: ob es 
rathſam ſey, dieſes Glaubens bekentniß 
drukken zu laſſen, und mir ſodann, weil 
ich, in meiner ungluͤklichen Lage und bei 
dem hoͤchſten Grade von Uuruhe meiner 
Seele, mir nicht ſelbſt zu rathen wuͤſte, 


i 


296 — . 
ein ſtatthaftes Ben e er⸗ 


Im 


N theilen. Insten U 


Dabei gab ich ihm die genen 1 ö 


. | 
JE 4 or 2 120 5 


male Glaubensbekentniß, wie ers gut 

ſinden wuͤrde, zu meiſtern, alles anſtoͤßige 

zu tilgen, alles fehlerhafte zu berichtigen 

und — daſſelbe dem Drukke zu berge; 

ben oder — zu verbrennen. . 

9 n 

Auf dieſen Brief erhielt ich die ſchleunig⸗ 

ſte und freundſchaftlichſte Antwort. Er billig⸗ 

te meinen Entſchluß, nie zu wiederrufen, vers 

ſicherte mich, daß ich jede preuſſiſche Univerſitaͤt 

mir wahlen koͤnte, und daß ich wohl thun 

wuͤrde, wenn ich mich nach Halle begäbe, und 

meldete mir zugleich, daß mein Glaubensbe⸗ 

kentniß bereits unter der Preſſe ſey. — Ei⸗ 

nen Poſttag darauf erhielt ich ſelbſt Ae 

davon. 

Aber Herr Semler verſchob ſeine Ant⸗ 

wort. Acht Tage ſpaͤter erhielt ich feinen Brief, 


— 397 


* in welchem er mir auf das dringendſte wie⸗ 
f derrieth, nach Halle zu kommen, und mir zu 
erkennen gab, daß er daſelbſt mir entgegen 
zu handeln gendͤthigt ſeyn wuͤrde. Er hielt 
es fuͤr beſſer, wenn ich nach Duisburg fluͤch⸗ 
tete. 
Dieſes Schreiben machte mich ſtuzzig. 
Ich ſchaͤzte und ſchaͤzze Herrn Semlers Freund— 
ſchaft und ehre feine Raͤthe. Und es ſchmerz⸗ 
te mich um ſo mehr, daß ich einem Manne, 
der meinem Herzen ſo theuer mar, zuwider 
handlen muſte. Ich hatte nun ſchon ſeit acht 
Tagen Herr Tellern meinen Entſchluß, nach 
Halle zu gehen, bekant gemacht, hatte allen 
meinen Freunden dies geſchrieben, hatte ſelbſt 
um ein Quartier in Halle mich beworben und 
— ich konte uͤberdem keinen befriedigenden 
Grund mir erdenken, warum Herr Semler mir 
von Halle abgerathen hatte. Ich blieb alſo 
bei meinem Vorſazze und machte nun Anſtal— 
ten zur Flucht, die ich um ſo eilfertiger betreis 
ben muſte, da mein Glaubensbekentniß ſchon im 
Vegrif war, Aufſehn zu erregen. 


Br De — 


Mein Geidesheimiſches Jibentotium 3 
trug nach einer neuerlich aufgenommenen 8 5 1 
die ich noch beſizze, ıroco Gulden. Dieſes 9 
mußte ich im Stiche laſſen. Denn erſtlich konte 
ich bei einer heimlichen Flucht es nicht mit fort? 
bringen. Zweitens hatte ich noch Schulden, 
welche erſt davon bezahlt werden mußten. Drit⸗ e 
tens hatte die oͤkonomiſche Geſelſchaft ſo lange 
Auſpruͤche daran, als fie wegen der Kreditoren 
nicht gedekt worden waren. ) Ich hofte in⸗ 
deß von der Gerechtigkeitsliebe meines Fuͤrſten, 
daß er daſſelbe in VBeſchlag nehmen und mir 
dasjenige, was nach befriedigung der Kredito⸗ 
ren uͤbrig blieb, hinterher Ane re 
wuͤrde. | 


5 Der H. Anmerker, welcher, in den beliebten Ann a⸗ 
len der th. Litteratur und Kirchengeſchich⸗ 
te, in einer daſelbſt eingeruͤkten Skizze meiner Les 
bensgeſchichte, dieſes ſtarke Inventarium mit meiner 
vom Verfaſſer der Skizze beſchriebenen Armuth im 
Widerſpruch fand, wird ſich das Raͤthſel nun wohl 
auföfen koͤnnen: da er ficht, daß meine eigne Voͤrſe e 
von dem Beſtzſtande des Inſtituts gar fehr verſchieden 
war und verſchieden bleiben mußte, wenn 9 als ehr⸗ 4 
licher Mann handeln wolte. . | 


Auſſer dieſem Inventario hatte ich i 


Diethelm in meiner eee dee 
wenn ichs gering rechnen ſol, noch den Werth 
von 1000 Thalern. Denn ich hatte die meiſten 
Zimmer tapeziren laſſen. Ich beſaß ein volſtaͤn⸗ 
diges Meublement an Tiſchen, Stuͤhlen, Schraͤn⸗ 
ken, Kommoden u. ſ. w. Die Kuͤche war mit 
den volſtaͤndigſten Geraͤthſchaften verſehn. Die 
Fenſter hatten zum Theil ſehr ſchoͤne Vorhaͤnge, 
die Betten waren volſtaͤndig und gut uͤberzogen, 
u. ſ. w. Auch dieß blieb auf die obgedachte 
Hofnung zuruͤk, ob ſie gleich ſehr ſchwach war, 
da ich mir vom Hofrath Ruͤhl, welcher alle 
Geſchaͤfte dirigirte, wenig Gutes verſprechen 
konte. 


Das einzige, was ich retten zu koͤnnen 
glaubte, waren einige Kleider und Leibwaͤſche. 
Aber meine Feinde wolten auch, daß ich mit 
meinen Kindern ganz nakkend und blos davon 
ziehen ſolte. Man ſtelte mir uͤberal auf und 
beobachtete jeden Schritt, den ich that. Und 
nur unter der unbeſchreiblichſten Angſt gelang 
es mir, bei Nacht, ein paar Körbe mit Kleidern 


er 


— 


und Wuüſche auf einen ee Ort u 


ſchaffen und es zu veranſtalten, daß ſie * 
nachgeſchikt wurden. Und auch bei . 
Transport bin ich auf das ſchaͤndlichſte von den 
Leuten beſtohlen worden, welche die Sachen 
fortgeſchaft hatten. Und was ich zulezt, durch 
die Treue des redlichen Freundes erhielt, der die Ä 
Verſendung beſorgte, war noch zum Theil durch 
die Naͤſſe verdorben worden, weil in die 
ſchlecht verwahrte Kiſte das Regenmchien Br 
drungen war. 


Eine meiner druͤkkendſten Sorgen war mein 


jüngftes Kind, Namens Dorchen, welches nog a 


an der Bruſt lag, und an einem Schlagfluſſe 


toͤdlich krank war, daß wir es auf einer ſolchen 


Reiſe, wo wir mit Angſt, die Naͤchte hindurch 
reiſeten, und ihrer ſechſe in meiner kleinen arm? 
ſeligen Halbſchaͤſe ſchon keinen hinlaͤnglichen 
Raum hatten, ſchlechterdings nicht mitnehmen 
konten. Ein edler Menſchenfreund, der Herr 
Hofprediger Wolf in Gruͤnſtadt, deſſen Gemah⸗ 
lin des Kindes Pathe war, entſchloß ſich, es 
aufzunehmen und ſo lange zu verſorgen, bis es 
geſund 


3 


x 2 25 ame 485 | 


| geſund und ich im Stande ſeyn wuͤrde, es wie⸗ 
der abzuholen.) — 


Ein emballirtes Paket, in welches ich mein 

beſtes Tiſchzeug und einige Stuͤk neue nnd ſelbſt⸗ 

gemachte Leinwand verwahrt hatte, muſte ich 

wegen Eilfertigkeit zuruͤklaſſen. Von Dingen, 
die zum Inventario des inſtituts gehörten, habe 
ich mir keinen Heller werths angemaßt. Und von 
porräthigen Geldern nahm ich nicht mehr als acht 
Gulden zu mir, mit denen ich bis nach Dien⸗ 
heim zu kommen gedachte, und ließ 20 Gulden 
in meinem Pulte zuruͤk: wie die noch lebenden 
Mitglieder der oͤkonomiſchen Geſelſchaft bezeu⸗ 
gen muͤſſen. 


Ein einziger Koffer, welcher die nothwendig⸗ 
ſten Habſeligkeiten von mir, meiner Frau, drei 
Kindern und einem Hausmaͤdchen, welches uns 
auf unſerer betruͤbten Flucht begleitete, in ſich 
faßte, war alles, was ich aus dieſem Sturme 

meines rebens rettete und mit nach Halle nahm. 


) Es iſt wenig Tage nach meiner Abreiſe geſtorben, 
III. B. g C 6 


> 


Ich waͤhlte 5 meiner Flucht einen 200 Pr; * ; 
gerade das Schloß voller Geſelſchaft war. Mein 
Freund, der wuͤrdige La Roche, war auch eins 3 
geladen und hatte vorher mit mir Abrede genom: 


men, daß wir im großen Sale eine Thomber⸗ 


partie machen und mit heiterer Mine an der 
Geſelſchaft theilnehmen wolten, um uns recht 
volkommen zu verbergen. Meine Frau und Kin⸗ 
der hatte ich nckb der Mittagsmahlzeit, in der 
offnen Chaiſe, nach Duͤrkheim fahren laſſen, 
aber fie beordert, auf der Straſſe ſich zu wen— 
den und den Weg nach Monsheim zu nehmen. 
Einer der oͤkonomiſchen Geſelſchaft, Herr Koch, 
ſahe fie fortfahren, und bezeigte feine Befrem— 
dung daruͤber, daß meine Frau an einem Ge— 
ſelſchaftstage nach der Stadt fahre. Ich gab 
nothwendige Hausgeſchaͤfte vor, und blieb mit 
meiner gewoͤhnlichen Heiterkeit und munterſten 
Laune bis gegen Abend in der Geſelſchaft. Es 
ward Abend. Die Geſelſchaft fing an, ſich zu 
verlieren. Mein Freund La Roche ſprach auch 
von Aufbruch. Wir beſchloſſen, das Spiel zu 
enden. „Ich erwarte heute abend noch Geſel⸗ 
„ſchaft in Monsheim, ſing mein Freund an, 


4 | 403 
wwie wäre es, Herr Superintendent, wenn Ste 
„ mit mir führen 2 Sie haben doch hrute keine Ge⸗ 
„ſchaͤfte. Und der Herr v. — der von Worms zu 
„mir komt, hat laͤngſt gewuͤnſcht, Sie kennen zu 
„lernen. Ich daͤchte, Sie fuͤhren mit mir. Ich 
„laſſe Sie mit meinem Wagen wieder zurükbrin⸗ 
„gen.“ — Ich ſtelte mich, als ob ich nach⸗ 
dachte, und flüchtig mich entſchloͤſſe, die Partie 
anzunehmen. Ich ließ mir, in einem leichten 
Haushabit gekleidet, meinen Hut und Stok brin⸗ 
gen, und gab vorher einige Ordren für die Haus: 
haltung, nebſt der an einen Bedienten, daß er 
auf mich warten und am Thore Licht parat hal: 
ten ſolle, weil ich um 11 Uhr laͤngſtens zuruͤk⸗ 
kommen wuͤrde. 


So fuhr ich, wie zu einer Spazierfarth, 
zum Schloſſe hinaus und fand in Monsheim mei⸗ 
ne Frau und Kinder. Mein Kutſcher ward in 
die Schaͤferei quartiert und befehligt, ſich des 
andern Morgens um acht Uhr fertig zu halten. 
Wir aber ſezten uns, die lezte Mahlzeit in der 
Pfalz zu halten, und nahmen um Mitternacht, 
wo mein Freund ſeine Pferde vor meinen Wagen 

Ce 2 


44 


ſpannte n auch die Pferde ließ ich, als zun 
Inventarium gehörig, des andern Tages mit dem 
Kutſcher zuruͤkſchikken) einen Thraͤnenvollen * 
ſchied. 5 0 | 

Ich werde in meinem Leben dieſe Nacht nicht 
vergeſſen, wo wir, in der fuͤrchterlichſten Stille 
und Finſterniß, bald von dem Gedanken, daß 
wir verrathen ſeyn und aufgefangen werden wuͤr⸗ 
den, bald von der Vorſtellung des ſchmerzlichſten 
Verluſts, den wir erlitten, bald von der Unge⸗ 
wißheit unſerer kuͤnftigen Schikſale geaͤngſtet 
wurden. Aber grauſamer als dieſe Nacht war 
— der Morgen. 


Wir kamen um vier Uhr nach Dienheim, 
welches eine halbe Viertelſtunde von Oppenheim 
liegt. Ich war unzaͤhligemal durchgefahren und 
kante den Wirth, welcher zugleich Zolleinnehmer 
war, als meinen Freund. Ich ließ meine Frau 
und Kinder im Wagen und ſtieg blos aus, mir 
Poſtpferde geben zu laſſen, und das von Ruͤhl 
verſprochene Geld in Empfang zu nehmen. Ein 
fuͤrſtlicher Sekretaͤr war bereits angekommen, 


ER „ 

F 45 | — * * 405 
und kam mir in der Thuͤr entgegen. Das Geld 

? lag ſchon in Rollen auf der Bank. Hier, fagte er, 
fol ich ihnen vom Fuͤrſten vierhundert Thaler eins 
haͤndigen. Er praͤſentirte mir eine Quittung, die 
ich unter ſchreiben muſte. Und fo wie dies geſche⸗ 
hen war, und ich das Geld in Empfang genoms 
men hatte, ſezte er ſich auf das ſchon oder noch an⸗ 
geſpante Carriol und fuhr ſchnel davon. 


Ich ließ den Kutſcher des Herrn v. fa Roche 
aus ſpannen, und trieb mit einer Aengſtlichkeit, die 
ich mir ſelbſt nicht zu etklaͤren wuſte, auf die Bes 
ſchleunigung der Poſtpferde. Der Inſpektor Muͤl— 
ler (ſo hieß der Wirth) verſicherte mich, daß ſie 
den Augenblik kommen wuͤrden. Ich harrte noch 
ein paar Minuten, trieb wieder, und erhielt die 
naͤmliche Antwort. Es verging eine Biertelftunde, 
Meine Angſt wurde mit jedem Augenblikke groͤſſer. 
Ich erklaͤrte endlich, daß ich meine vorigen Pferde 
wieder einſpannen laſſen und weiter fahren wuͤrde, 
wenn nicht den Augenblik die Pferde vorgefuͤhret 
wuͤrden. Indem hoͤre ich oben auf der Treppe den 
Inſpektor mich rufen. Ich ſahe hinauf, und fragte, 

was er begehre. Er winkte mir geheimnißvol und 
i Cc 3 


a | 
fagte mit einer er freundſchaftlichen Mine: e 5 . 
tor, kommen Sie doch ein wenig herauf. Jezt AN | 


ward aus Angſt Ahndung. Was fol ich denn da a 
oben bei Ihnen, erwiederte ich, warum kommen 
Sie nicht herunter? Er bat ſehr, ich moͤchte foma 


men. Ich ging nicht. Endlich kam er herunter, und 

ſagte mir ins Ohr: Herr Doktor, Sie ſind hier R 
Arreſtant, ich rathe Ihnen als Ihr Freund, wei⸗ 
ter kein Aufſehn zu machen. Es iſt einmal nicht 
anders. Die Wache iſt da. Gehen Sie im Stillen 
hinauf, es wird ja nicht viel zu bedeuten haben. 


Ich ſahe die Unmoͤglichkeit hier, mitten im ka⸗ 
tholiſchen, unter einer fremden Gerichtsbarkeit, wo 
die Wache ſchon zur Hand war, und meine Kinder 
im Wagen gepakt ſaſſen, zu entrinnen. Ich faßte 
mich alſo augenbliklich und ging ganz ſtoiſch die 
Treppe hinauf. Der Inſpcktor folgte mir, führte 

rich in ein huͤbſches Zimmer, ließ aus einer andern 
Thuͤr ſechs Bauern hervortreten, und auſſen vor 
meiner Thuͤr Poſto faſſen, und — verließ mich. 


Ende des dritten Bandes. | 


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